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University of Toronto
http://www.archive.org/details/luciusannaeussenOObaum
Lucius Annaeus Seneca
und
das Christenthum
in der
tief gesunkenen antiken Weltzeit.
Von
Michael Baumgarten,
wail. Professor und Dr. der Theologie.
-^ Nachgelassenes Werk. «^-
Rostock.
Wilh. VVerther's Verlag.
1895.
Alle Rechte, auch das der Uebersetzung vorbehalten.
THL iNSTiTi IE er ^^r'- ' •' eiuuts
IC LLMSLEY ^
TCRÜMTO 5, CANAOA,
JAN221S32
Druck von Adler'e Erben in Ilostock.
Vorwort.
i3ie Blätter dieses Werkes enthalten eine summarische
aber doch wortgetreue Wiedergabe eines sehr umfangreichen
Manuscripts des verstorbenen Professors und Doktors der
Theologie Michael B a u m g a r t e n.
Dem handschriftlichen Nachlass, welchem die nachstehende
Veröffentlichung entnommen ist, liegen eingehende Studien der
Schriften Senecas wie nicht minder des Urchristenthums 7ai
Grunde. Mit grosser Hingabe und Ausdauer hat der Verfasser
dieser litterarischen Arbeit obgelegen und dieselbe noch im
Jahre 1887 einer letzten Durchsicht unterworfen.
Professor B. ist von jeher ein erklärter Gegner jenes
Gelehrtenthums gewesen, das, angekränkelt vom saft- und
kraftlosen Doctrinärismus, Gedanken und That von einander
trennt und durch Buchstaben und Bücher die Menschen dem
Leben entfremdet. Dagegen fordert er unbedingt von aller
das Gebiet des geistigen Seins umfassenden Wissenschaft, zumal
auch von der theologischen, dass sie darin sich fruchtbar
erweise, die ewigen, unverbrüchlichen sittlichen, religiösen
und christlichen Grundgesetze nicht bloss zur theoretischen
Anerkennung, sondern vor allen Dingen zur thatsächlich
unmittelbaren Auswirkung und Durchführung zu bringen. Wie
sich diese Tendenz, so scharf ausgeprägt wie kaum bei sonst
einem Schriftsteller des Jahrhunderts, in der ganzen litterarischen
Thätigkeit B.'s bekundet, so nicht minder in dem handschriftlich
von ihm hinterlassenen Werk, das hiermit seinem wesentlichen
Inhalte nach der Oeffentlichkeit übergeben wird. Aus seiner
Leetüre ergiebt sich unwiderleglich, dass es B. schliesslich und
zuletzt lediglich darum zu thun ist, seinen Zeitgenossen das
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lebendige Bewusstsein zu vermitteln, wovon in allen dunklen,
wirren Zeitläuften für die Menschheit kein Heil erhofft werden
kann, und wodurch andererseits allein ihr eine bessere Zukunft
verbürgt ist.
In der Ueberzeugung nun, dass es B. bei der Fertig-
stellung des bezüglichen Manuscripts nicht so sehr darauf
abgesehen hat, einem specifisch wissenschaftlichen Interesse
zu dienen, als vielmehr durch klare, lichtvolle Einführung in
die wichtigste und entscheidungsvollste Epoche der ganzen
Weltzeit gleichsam den unbeweglichen Polarstern scharf umgrenzt
aufzuzeigen, nach dem in dem wechselnden Wogendrang des
Lebens der Curs zum höheren Hafen gefunden und eingehalten
werden kann, wird so zu sagen nur die Quintessenz des Werkes
veröffentlicht, indem alles mehr wissenschaftliche Beiwerk aus-
geschieden ist. Dergestalt wird der bedeutungsvolle Inhalt
auch dem weiteren Kreise der Gebildeten zugänglicher gemacht
und überdies dem Werk durch seine Verbilligung hoffentlich
eine reichliche Abnahme gesichert. Zahlreiche Citate aus den
Schriften Senecas und anderer, die aus Seneca bis zu drei-
hundert wörtlich niedergeschriebenen Parallelstellen zu biblischen
Sentenzen, vielfache Nachweisungen der Quellen u. dergl. mehr
sind unberücksichtigt geblieben. Dagegen sind die Aus-
führungen Baumgartens selbst mit möglichster Genauigkeit
unverkürzt wiedergegeben.
Möge Baumgartens ,, Seneca und das Christenthum" in
weiteren Kreisen die wohlverdiente Beachtung finden. In dieser
Hoffnung vor allem und sodann in der Absicht, dem Heim-
gegangenen damit ein bleibendes, ehrenvolles Denkmal bei der
Nachwelt zu errichten, hat pietätvolle kindliche Liebe die Druck-
legung des nachgelassenen Manuscriptes veranstaltet.
Zur Empfehlung des Werkes bedarf es keines weiteren
Wortes; bei allen Lesern erschlossenen, empfänglichen Sinnes
wird es genugsam für sich selbst reden.
Seh. . St.
Inhaltsverzcichniss.
Einleitung 1—7.
I. Seneca in dem Urtheil der Jahrhunderte 8—34.
Sokiates und Seneca 8. Columella, Plinius, Quintilian, Juvenal, Plinius
jun. über Seneca 9 — 10. Tacitu^ über S. 11 ff. Seneca im Kreise der
Patrioten 14. Senecas Martyrium 14. Suilius Ankläger S.'s 15. Qaintilians
Urtheil 10. Fronto, Gellius kleingeistige Verächter S.'s 16. Marc Aurel 17.
Cassius Dies überwiegend nachtheiliges Urtheil 17. Cassius I)io
unkritisch 18 ff. Erotische Skandalgeschichten in den Zeiten des Verfalls 19.
Erasmus' Urtheil 21. Urtheil der strengen Philologie 22. Vorliebe der
Patres für Seneca 24. Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca 25.
Augustinus 25. Seneca im christlichen Mittelalter 26. Seneca in England 28.
Seneca in Deutschland 28. Franzosen enthusiastische Bew^underer Senecas 31.
Diderot 32. Amadee Fleury 83. Fabricius über die den Seneca betreffenden
Widersprüche 34.
II. Senecas Lichtseiten 35—99.
Christliches vor Christus? 35. Caesarischo Monarchie 37. Maecenas
und Agrippa über Republik und Monarchie 38. Stillstand im Reich des
Geistes 39. Ennius, Lucilius 39. Usus virtutis maximus 40- Cunctos
dulcedine olii pellexit 40. Summus pontifex summus homo 41. Die
Schlechten sind den Guten über 42. Horaz und Vergil für otium cum digni-
tate 42. Ovid für otium sine dignitate 43. Ruere in servitium 43-
L. Vitellius im Orient und in Rom 48. Die Familie der Annaei 44. Der
Vater Marcus Seneca 45. Geschichte Roms wie der Gang des Menschen-
lebens 46. Schola Romani roboris 47. Soxtius 47. Fabianus 48. Sotion
und Attalus 48. Senecas Askese 49. Senecas Theologie 50. Rechtgläubig-
keit in der Familie der Annaeer 51, Gegen sacrilegium 52. Gegen die
Götterfabeln der Dichter 52. Gegen die theologia urbana vel civilis 52.
Aseität der Gottheit 54. Monotheismus 54. Homo non opus tumultuarium 56.
Deus parens noster magnificus 56. In delicias amamur 57. Deus tecum
est, intus est 58. Primus cultus deos credere 59. Vetns praeceptum : deum
sequcre! 59. In den Anklagen communicative Redeform 61. Ad morccdem
pii sumus, ad mercedem impii 61. Trrupit avaritia 62. Animo certamen
cum carne 62. Spiritus in affectum ipse mutatur 63. Gulae et libidini
addicti sumus 63. Apicius 64. Allgemeine Sittenverderbniss; Mammon,
Sinnenlust, Lüge 65. Objective Macht der Sittlichkeit im Untergang 65.
Populus, turba 06. Corrumpore et corrumpi saeculum vocatur 67. Epicur 68.
66?
o
0
VI
Die verfälschte Sprache ist eine Ansteckung 68. Fama, conscientia 69.
Gesetzlichkeit noch keine Sittlichkeit 70. Yitia sine magistro discuntur 71.
Numquam sumus singuli 72. Praecipue vitanda turba 73. Intel! ige me
transfigurari 74. Sextius 74. Conscientia 74. Triumpf des Gewissens über
Marter und Strafe 75. Sompcr idem velle et ideui noUe 76. Non possumus
nolumus 76. Impetus insignis et totus 77. Nihil honeste fit, nisi cui totus
animus incubuit 77. Bonus vir sine deo nemo est 78. Philosophia in ad-
mirationem sui rapit 79. Ein Sieger über das Schicksal 80. Demetrius 80.
Der Tod ein Tribunal 81. Marter und infamia 82. Egregium factum fama
sceleris emere 83. Cato virtutum viva imago 83. Invicti iter sequentibus
ostendere dobent 85. Miser res Sacra est 85. Immune regnum est possc
sine rcgno pati 86. Mundus est nobis patria 87. Sancimus societatom
humani generis 87. Natura homini hominem conciliat 87. Für die Sclaven 88.
Für die Gladiatoren und für die Feinde 88. Für die Nachwelt 8S. Das
Leben ein Kriegsdienst 88. Wahre und bleibende Freude 89. Tugend ist
immer initiativ 89. Hochmuth der Vielwisserei 90. Wahrhaftigkeit sei
Grundgesetz jeder ßede 90. Turpius aliud scribere aliud sentire 90- Seneca
Erzieher und Lehrer des Nero 91. Lucilius 92. De beneficiis 94. Gestäod-
niss moralischer Gebrechen 95. Eine reine Freude 96, Unsterblichkeit 97.
Jovi liberatori 98. Biblische Parallelen 99.
III. Senecas Nachtseiten 100—147.
Weltfinsterniss 100. Ausgesuchte Schmeichelei 101. Dreistigkeit eine
Kunst 102. Gallio 102. Wettlauf der Schmeichler 102. Augustus, Agrippa
und Maecenas 103. Widerspruch zwischen Schreiben und Handeln 104.
,,Ad Polybium'' 104. Claudius heilbringendes Gestirn 107. Claudius
numen 107. Niederträchtige Schmeichelei S.'s 108. „Ludus de morto
Claudii" 108. Ungeheure Gegensätze 109. Officielle Lobrede auf Claudius 110.
Aurca descendunt saecula 111. Nero Phoebus Apollo 112. ,,De dementia''
112. Künstliche Methode 114. Die Säule der gereinigten Gotteslehre umge-
stürzt 115. In stationo mori 115. Mens parens mundus est 116. Krass
doistischo Aeusserungen 117. Nicht Providentia sondern fatum 118. Epicurus
in 29 Briefen 118. Thrasea und seine Anhänger 120. Philosophia in
aula 120. Demetrius 122. Das otium der Philosophen ein Geschenk der
Fürsten 123. Preisgeben der Gegenwart 123. Caesarenvergötterung Sturz
aller Ideale 124. Anti-Thrasea 124. Persius 125. Vir fortis spectaculum
dci 126. Spes est vitium 127. Felicissimuin non nasci 129. Omnis vita
su])i)licium est 130. Die stoische Apathie gewährt keinen Trost 130.
Miscricordia vitium animi 131. Der Stoiker Stilbon ein abschreckendes
Beispiel 132. Selbstmord 134. Quousque eademV 134. Sapiens semper in
actu 135. Virtuti etiam in lectulo locus 136. Selbstmord 136. Cato
Uticensis 138. Cicero über Cato 139. Unsterblichkeit? 1-59. Agrippina 141.
Ihirrus und Seneca 143. Acte 144. Maximum saeculi malum 144. Senecas
Vcrtheidigung des Muttermordes 146.
IV . Das Attentat zweier sacrilegischer Lügen wider
die antike Menschheit 148—231.
Abgrund der Wcltverderbniss 148. Ilollönen und Barbaren 119.
Alexander in Hellas vergijttert 1.^0. Demetrius, der Städtebezwinger 151.
Antonius-Dionysos 1.52. Julius Caesar 152. Caesarcultus 1,57. Heiligung
des Gottosnamons 155. Caesarcultus Gottesdienst 157. Geistesleben Domäne
vif
des Caesarhofes 158. Marcus Aurelius 158. Ver^if, Horaz, Ovid 159.
Caesarcuftus im Volksbcwusstsein 159. Vernachliissigung der Götter 161.
Unter Tiberius IGl. Cafigula 103. Caesari oinnia liccut, Claudius
163. Cacsarcnwahnsinn ? 164. Domitiaa dominus et deus 165.
Quintilian 166. Trojan 167. lladrian und Antinous 168. Commodus 168.
Heliogabal 169. Tempel für apotheosirte Caesaren 170. Diocletian 170.
Historia Augusta 172. Vopiscus 173. Der weltgeschichtliche Wendepunkt
in dem menschlichen Individuum 174. Caesarcultus corrumpirend 175.
Unnatur und AVidernatur 176. Paulus 177. Caesar und Augustus 178.
Blasphemie am Kaiserhofe 182. Caligula, Claudius, Nero 183. Baurs
Irrthum; Yespasian, Titus 184. Domitian 185. Hadrian 185. Marc Aurel 186.
Die beiden Yeri 186. Sanctitas Marci Aurelii Philosophi 187. Commodus
18S. Si übet licet, Caracalla 189- Carinus 190. Caesarcultus Lüge 192.
Augustinus 192. Baalkultus 194. Homer 196. Plato 196. Aristoteles 197.
ISokratcs 200. Enthüllung des Heidenthums 201. Arnobius 203. Wachs-
thum der Unreinheit im Cultus 205. Anfänge der Mysterien 206. Aristo-
phanes 207. Allegorie? 209. Phallus 212. Carmina ithyphallica 212. Ciceros
Beschreibung des Phallus 212. Plutarch 213. Lampsakos 214. Floralia215.
Pantomimen 217. Pylades und Bathyllos 218. Ares und Aphrodite 220-
Ovid und Augustus 222. Die Kirchenväter über den Baalkultus 224.
Tatian 225. Lactanz 226. Augustinus 227.
V. Senecas Abwehr ohne Sieg 232—263.
Seneca in der "Weltkrisis 232. Gegen Verachtung Senecas 233. Ueber-
Schätzung Senecas 235. Aus der Zeit Vespasians 237. Plinius sen., Juvenal,
Quintilian, Plinius jun. 238. Das wahre Bild des Lebens nach Seneca 239.
Genus humanuni und Gladiatores 240. Gladiatorenspiel 241. Symmachus 241.
Telemachus 241. Senecas weltgeschichtliche Stelle 243. Senecas Sterben
nach Tacitus 243. Paulina 246. Vorbereitung auf das Sterben 248. Der
Gerechte nach Plato 248. Der Tod spricht das Urtheil 251. NuUi sis malo
tiro 252. Das Bild des Gerechten nach Seneca 252. Kanus Junius 254.
Die Lehre vom Tod durch die That bewährt 255. Vom Caesarcultus nicht
überwunden 256. Selbstlose Liebe wider Baalkultus 258. Paulus 260. Das
Martyrium S.'s schafft nicht Nachfolge sondern das Gegentheil 261.
VL Christus der Sieger in seinen Blutzeugen 264—338.
Griechen und Römer 265. Höchste Menschenkraft 266. Das Christen-
thum in der Stille 266. Der Chor des Friedens 267. Das Idyll im Sturm
267. Apostolische Väter 268. Die Tugend der Schweigsamkeit 269. -ßes
sevora est gaudium verum 269. Keine Zweizüngigkeit 270- Zurückgezogen-
heit der ersten Christen 271. Die „Unmündigen" reden über göttliche
Dinge 271. Tertium genus dicimur 273. Gegensatz gegen öffentliche Feste
und Schauspiele 273. Erster Bericht über Christenverfolgung 274. Der
Kampf zwischen dem bewaffneten Caesaren- und Heidenthum und der wehr-
losen Christenheit eingeleitet 276. Die Christen nicht republikanisch
gesinnt 278. Apologie 279. Christengebet für das Reich 280. Pro mora
finis 281. Dualistische Natur des Reiches 282. Das staatsbürgerliche Ver-
halten der ersten Christen 283. Staatsbürgerlicher Eifer der Christon 285.
Vorbild der heidnischen Tugenden nach Augustinus 286. Kriegsdienst der
Christen 287. Was ist Wahrheit"? Pilatus, Scaevola und Varro 288.
Epiktet 289. Es fehlt die Kraft, das Böse zu hassen 290. Mentiri nescio
vm
bei Heiden und bei Christen 291. Gegen Hausruth 292. Christen wie
andere Menschen 294. Erhaltung der antiken Cultur 295. Das Pallium der
Christen 296- Augustin über Ciceros Hortensius 298. Maneat publica
pcrsuasio sine ratione 299. CoUcgia illicita 300. Julius Paulus 300. Philo-
sophen wie Juristen 301. Baalcultus 302. Sibi credere 302. Christianus
libertatem suarn adversus reges crigit 303. Princip der Autorität und der
Freiheit 304. Gegen Hausrath 304. Apologie 305. Justinus Apologet 306.
Justins Apologie geschmäht 311. Christliches Martyrium 312. Ignatius
Märtyrer 313. Justinus Märtyrer 318. Marc Aureis unüberwindliches Vor-
urtheil gegen die Christen 320. Paeon der Märtyrer 322. Polycarpus
Märtyrer 323. Verfolgung in Gallien 325. Folter-Instrument der Lüge 326.
Blandina, Ponticus, Photinus 327. Das Beispiel Paeons wiederholt in
erhöhtem Masse 327. Origenes Märtyrer 328. Gegen Celsus 328. Origenes
an Ambrosius 329. Cyprianus Märtyrer 330. Lapsi 332. Lapsed but not
lost 333. Martyrium Cypriani 335.
VII. Caesar — Christus 339— Schluss.
Diocletian 339. Die vier Yerfolgungsedicte 341. Der Name der
Christen soll vertilgt werden 341. Märtyrer ypiatocfopoi 343. Galerius'
Fdict vom Jahre 311 344. Verkündigung der Toleranz 345. Edict
von Mailand 346. Lactanz über Religionsfreiheit 350. Caesaren geben Gott
was Gottes ist 351. Corpus Christianorum 352. Ratio martyrii 354.
Christus gegenwärtig in seinen Blutzeugen 355. Irenäus apostolicus
episcopus et martyr. 358. Homo vcrus rationabiliter nos redimit 361. Fürst
der Welt 362. Jesus reinigt den Tempel 362. Von Gott verlassen aber an
Gott haltend 364. Ecciesia praemittit martyres ad patrem 365. Letzter
Kampf 366. Christus als die Kraft Gottes in^dcn Märtyrern 367.
Druckfehler.
Man lese: S. 2 Z. 17 v. o. F. Baur. S. 6 Z. 11 v. u. Octaeus, S. 10
Z. 11 V. u. Ann. XV statt IV, S. 11 Z. 4 v. u. 61 statt 62, Ö. 16 Z. 15 v. o.
8 statt 2, S. 17 Z. 10 v. u. 155—231, S. 17 Z. 7 v. u. 80, S. 24 F. D.
Gerlach, IS. 25 Z. 9 v. o. ignaro statt ignoto, ö. 26 Z. 6 v. o. Jovianus,
!S. 28 Z. 8 v. u. spiritu, S. 57 Z. 17 v. o. deiis, S. 89 Z. 11 v. o. welches,
S. 102 Z. 10 V. 0. Kunst statt Kraft, S. 102 Z. 14 v. o. aggressiv, S. 103
Z. 4 v. u. Demnach, S. 110 Z. 14 v. o. Staatsreden, S. 153 Z. 16 v. u.
H. F. IV, S. 174 Z. 6 v. o. auch, ö. 178 Z. 14 v. o. Arnobius, S. 184
Z. 13 V. 0. ist Aurelius zu streichen, S. 216 Z. 9 v. u. ludos, S. 274 Z. 19
V. u. Trajan, S. 281 Z. 14 v. o. precandus, S. 298 Z. 19 v. o. Viluit, S. 333
Z. 7 V. 0. Libellatici, S. 335 Z. 10 v. u. decoUemur.
Einleitung.
Ein Mann wie Lucius Annäus Seneca, gestorben im J. 66
nach Christo, über dessen Werth und Unwerth Jahrhunderte
lang Heiden und Christen gestritten und über welchen die
Urtheile gegenwärtig weiter denn je auseinandergehen — ein
solcher Mann ist jedenfalls eine Merkwürdigkeit. Dieser Mann
stellte den Kanon auf: „immer dasselbe wollen und immer
dasselbe nicht wollen". Aber es ist schwer, vielleicht gar
nicht möglich, Jemand zu finden, der durch sein Lehren und
Handeln an diesem Grundsatz sich schwerer versündigt hat, als
Lucius Seneca selbst, welcher nicht bloss mit seinen Lehren in
den krassesten Widerspruch geräth, sondern auch mit seinen
öffentlichen Handlungen seine eigene Lehren durchkreuzt.
Dieses Problem findet seine Erklärung in der abgrundmässigen
Verderbniss der römischen Welt, in welcher Seneca eine
beispiellos versuchliche Stelle einnimmt. Jene Weltverderbniss
hat ihre tiefsten Wurzeln in der sich vollendenden Lüge des
römischen Kultus. Man muss hineinschauen in den Abgrund
der beiden sakrilegischen Lügen, um die Nachtseiten Senecas
zu verstehen.
Wer in dem antiken Heidenthum die Pflicht der Mensch-
heit erfüllen wollte, musste nicht blos in den Kampf gegen
die im Heiligthum herrschende Lüge eintreten, sondern den-
selben auch siegreich bestehen. Einen Ehrenplatz in der Welt-
geschichte hat Seneca sich erworben. Besiegt zwar hat er die
feindliche Lügenmacht nicht, aber unterjochen lassen hat er sich
1
auch nicht. Mit seiner letzten Anstrengung hat er hingewiesen
auf die Kraft einer höheren Ordnung, die nicht bloss kämpft,
sondern auch siegt. Das Höchste nämhch, was Seneca geleistet
hat, ist die vStandhaftigkeit in seiner Weisheit und Tugend,
während er unter Qualen sein IMut vergiesst. Das Martyrium
gewährt diesem Stoiker einen furchtlosen, resignirten Abschied
vom Leben, aber für seine Umgebung erwirkt es nicht Furcht-
losigkeit, sondern Schrecken und Feigheit. Sein Martyrium
wird aber dadurch zu einer ahnungsvollen Weissagung auf ein
höheres Martyrium, welches Leben und Sieg über alles Böse
in immer weitere Kreise verbreitet.
Was von dem römischen Stoiker und Staatsmann L. A.
Seneca zu halten sei, wird seit Jahrhunderten auf heidnischem
und christlichem Gebiete verschieden und gegensätzlich be-
antwortet. Ueberschätzung bis zur Kanonisirung und Unter-
schätzung bis zur Verachtung stossen hier gegen einander.
F"". Bauer hat durch seine Abhandlung über Paulus und Seneca
die Aufmerksamkeit auf's Neue auf das Verhältniss zw^ischen
Seneca und Stoicismus einerseits und Christenthum anderer-
seits hingelenkt. Sind doch in diesem laufenden Decennio
(1880 — 90) drei Monographien über diesen Gegenstand
erschienen, wodurch nicht die Klarheit, sondern nur die Ver-
dunkelung gefördert worden ist*).
Die Controverse über Seneca, welche durch die ganze Zeit
der christlichen Aera hindurch besteht, ist jetzt auf die Spitze
gekommen. Im zweiten Jahrhundert hat ein müssiger Christ,
in der Voraussetzung, dass Seneca Christ gewesen, einen Brief-
wechsel zwischen Paulus und Seneca erdichtet. Diese Voraus-
setzung theilt der Kirchenvater Hieronymus, der den Seneca
vermittelst seines Katalogus in das christliche Gebiet versetzt.
Wie durch einen Kreislauf kommen nun neuerdings der Franzose
Amadee Fleury (Saint Paul et Seneque, Paris, 1853) und der
*) ,, Der Ursprung der Sage, dass Seneca Christ gewesen" von E. Westen -
berg, Berlin, 1881. ,, Seneca und seine Beziehungen zum Urchristenthum" von
J. Kreyher, Berlin, 1887. ,, Seneca, der Philosoph, und sein Verhältniss zu
Epicur, Plato und dem Christenthum" von W. Ribbeck, Hannover, 1887.
"deutsche Kreyher (1887) auf die Behauptung von Senecas
Bekehrung- zum Christenthum zurück. Auf dem Extrem der
Kehrseite behauptet dagegen der Historiker Nissen: ,,der
römischen Herrschaft verdankt die Menschheit das Christen-
thum, die Entstehung des letzteren ist ohne den Kosmopohtis-
mus der römischen Kaiserzeit undenkbar" (Sybels historische
Zeitschrift, 1868; 2, 142). Dr. Weygoldt kommt in seiner
Schrift: ,,die Philosophie der Stoa, 1883" zu folgendem ähn-
lichen Resultate: ,,der Stoicismus hat sich zum Christenthum
nicht empfangend, sondern gebend verhalten: gebend in der
Christusauffassung der 4 Evangelien, in dem Hebräer- und
Kolosserbrief, gebend sodann in der allegorischen Schrift-
auslegung". Der alte Literatur-Historiker Fabricius hat nun
die Meinung, dass wenn über eine geschichtliche Person gegen-
sätzliche Urtheile hartnäckig und anhaltend gegen einander
streiten, in einer solchen Persönlichkeit eine nicht gewöhnliche
Bedeutsamkeit beschlossen sein müsse. Sollte nicht der hier
vorliegende Gegensatz seinen letzten Grund darin haben, dass
die eigentliche Bedeutung der umstrittenen Persönlichkeit bisher
noch nicht zum vollen Bewusstsein gebracht worden ist?
Meines Erachtens ist die Zeit gekommen, in welcher über
-die geschichtliche Stellung und Bedeutung des merkwürdigen
Mannes, den der Titel der vorliegender Schrift namhaft macht,
^in bis dahin noch nicht vorhandener Aufschluss gegeben
werden soll. Ich muss bestätigen, was Bestmann schreibt :
,,wenn man Seneca lange und in einem Zuge liest, dann ist es
unmöglich, dass man nicht einen bleibenden Eindruck von ihm
bekommt" (Geschichte der christlichen Sitte II 383 84). Oft
abgestossen von Seneca, werde ich immer wieder von ihm
angezogen, und vor die Frage gestellt: was ist eigentlich in
und an diesem Manne .^ Augustinus ist es gewesen, der mir
bei diesem meinem beharrlichen Suchen den ersten Lichtstrahl
angezündet hat. Augustinus erhebt die Gotteserkenntniss des
Seneca weit über die theologische Gelehrsamkeit des berühmten
Varro. Andererseits betont Augustinus mit grossem Nach-
druck, dass Seneca als Senator des erlauchten Römervolkes
nicht den Muth hat, seiner besseren Gotteserkenntniss angesichts
1*
des Volkes thatsächlich Folge zu geben und somit durch sein
amtliches Verhalten die Frucht seiner besseren Gotteserkenntniss
vernichtet. Diese Bemerkung des grossen Kirchenvaters ver-
weist die Hauptfrage i^ber Seneca aus dem Gebiet der Doctrin
in das Gebiet des öffentlichen Handelns und Verhaltens Es
enthüllt sich uns die Existenz einer der Wahrheit feindlichen
Macht, vor welcher die bessere Erkenntniss und die staatliche
Amtsgewalt sich dergestalt beugt, dass das Bessere durch das-
Schlechtere beseitigt wird. Bei der somit unabweislichen Unter-
suchung über diese Lügenmacht ergab sich mir, dass dieselbe
in dem antiken Heidenthum tief gewurzelt und weit v^erbreitet
ist, ja, dass dieselbe in dem römischen Cäsarenthum sich zu
vollenden und die Menschheit in den Abgrund der vollendeten
Gottlosigkeit zu stürzen droht. Senecas Geistesrichtung und
Weltstellung bringt ihn mit Nothwendigkeit in Konflikt mit
jener wahrheitsfeindlichen Weltv^erderbniss. In diesem Konflikt
muss sich das wahre Wesen Senecas herausstellen, hier muss-
sich zeigen, was der Mann vermag und was er nicht vermag.
Vor Allem giebt sich kund, dass Seneca jene verderbliche
Weltmacht zu brechen nicht im Stande ist, aber auch das
zeigt sich, dass in Seneca eine geistige Potenz wohnt, welche
von der Weltlüge allerdings afficirt, aber nicht vernichtet wird.
Wer nun diesen weltgeschichtlichen Geisteskampf bis dahin
verfolgt, der kann, als selbst mitbegriffen in diesen Weltkampf,
hier nicht stehen bleiben, er muss fragen: wird der letzte
Geistesfunken ausgelöscht, oder wird aus der Mitternacht ein
neuer Welttag g^ boren r In der That kommt auf der grossen
Schaubühne der römischen Welt eine Geistesmacht zur Er-
scheinung, welche den Kampf da, wo Seneca ihn hat liegen
lassen, aufnimmt und sieghaft vollendet. Aus dem Geheimniss
der unsichtbaren Welt tritt die Christenheit auf den Schauplatz,
und im blutigen Ringkampf besiegt sie die auf das Verderben
der Menschheit gerichtete Lügenmacht. Die voraufgehenden
Kämpfe der römischen Menschheit, vor Allem Senecas Wider-
stand am römischen Hofe bis zu seinem Martyrium, beweisen,
dass es in diesem Kampfe ankommt auf Kraft, nicht physische,
nicht logische, sondern moralische. Senecas Geschichte und
Lebensende machten es anschaulich, dass hier das Vollmass der
menschh'chen Kraft aufgeboten wird, ohne etwas Anderes zu
•erreichen, als die Behauptung der nackten Existenz eines
unfruchtbaren Willens. Wenn nun anderweitig die Lügenmacht
gebrochen wird und auf dem Boden des angerichteten Ver-
derbens eine neue Welt ersteht, wie der weitere Verlauf der
Geschichte zeigt, dann muss eine moralische Kraft vorhanden
und wirksam sein, welche hinausragt über das höchste Mass
•der der natürlichen Menschheit innewohnenden Kraft, mit anderen
Worten : das, was in der Christenheit die verlorene Welt rettet
imd erneuert, ist nicht die natürliche Menschenkraft, wenn auch
in der höchsten Potenz, sondern die schöpferische Gotteskraft.
Auf einem Umwege gelangen wir von Seneca zu der
Verkündigung des Apostels Paulus, ,,das Evangelium ist Gottes-
kraft zur Rettung für Jeden, welcher glaubt" (Rom. i, 16).
Dieser Umweg ist lohnend, denn er veranschaulicht uns das
Wesen der Rettung und das Wesen der Gotteskraft, welcher
die Rettung möglich geworden ist. Es ist nämlich ein irre-
führender Mangel, dass sowohl in der lateinischen, als in der
deutschen Uebersetzung die negative Seite des hochbedeutsamen
neutestamentlichen Wortes aojxrjpia verdeckt wird. Die neu-
testamentliche Anschauung von dem natürlichen Zustand der
Welt und der Menschheit ist die, dass drohende Gefahr und
Noth vorhanden ist und also die nächste und nöthigste Hülfe
nicht Heil, sondern Rettung ist. Diese Nachtseite der Welt
wird uns durch Senecas Schrift und Wandel in dem Lichte der
eben angeführten Bemerkung des Augustinus in concreten
Zügen offenbar. Und was die Gotteskraft anlangt, so ist es
sehr wesentlich, dass wir in dem Vollmass der natürlichen
Kraft, w/e wir es in Seneca finden, einen Massstab haben, den
Avir an die Kraft und Leistung des christlichen Kampfes wider
die abgrundmässige Gefahr und Noth der Menschheit legen,
um zu verstehen, wie unendlich weit die Kraft der Christenheit
-die höchste Kraft des antiken Heidenthums überbietet.
Die Neigung, Seneca und Christenthum in nahe Verwandt-
schaft zu bringen, geht durch alle Jahrhunderte. Diese Neigung
tritt aber sehr häufig in entgegengesetzter Weise der Wahrheit
6
zu nahe; um es kurz auszudrücken, können wir sagen: entweder
man säkularisirt das Christenthum, oder man apotheosirt den
Seneca. Der Weg, der hier betreten wird, um die Senecafrage
zu lösen, trägt jener Verwandtschaft gleichfalls Rechnung, sucht
aber die bezeichneten Verirrungen zu vermeiden.
Wir verhehlen die ganz ungewöhnlichen Schwächen und
Niederlagen Senecas nicht, aber indem wir dieselben aus seiner
Stellung am Cäsarhofe zu verstehen suchen, können wir vor-
nämlich auf dem Grunde des Berichtes von Tacitus iiber sein
Martyrium den Glauben an eine in ihm wohnende moralische
Persönlichkeit festhalten. Damit aber, dass dieser Kämpfer in
der Geistesschlacht wenigstens seinen Schild gerettet hat, weist
er über sich selbst hinaus. Denn nach einer Weltanschauung,
welche in den grossen Kampf einen Blick gethan, kann der
siegreiche Widerstand das Ende nicht sein. Der Kampf wird
fortgesetzt und die Summe der moralischen Kraft des antiken
Heidenthums wird zum weltgeschichtlichen Zeugniss, dass. die
Kraft der christlichen Kämpfer göttlichen Ursprunges ist.
Mit der Frage nach der weltgeschichtlichen Bedeutung
Senecas habe ich die ganze Hinterlassenschaft desselben unter-
sucht und also auch die 9 Tragödien, natürlicli mit Ausschluss
der zehnten, der allgemein als unächt anerkannten ,,Octavia",
herangezogen. Der sententiöse Inhalt der Tragödien bietet für
das in den prosaischen Schriften h^nthaltene hin und v/ieder
Bestätigungen und Erklärungen (S. F. Leo : De Senecae
tragoediis, p. 147 — 59). Es gilt das auch in zweiter Linie von
den beiden Tragödien: ,, Agamemnon" und ,, Hercules Octaeus",
welche R. Bentley dem Seneca abgesprochen, denn die beiden
neuesten Herausgeber der Tragödien Senecas, R. Peiper und
G. Richter, welche diese Ansicht Bentleys theilen, bekennen
ausdrücklich, dass die beiden Tragödien, deren Aechtheit
bestritten wird, sich offenbar den ächten Seneca zum Vorbild
genommen haben (Praefatio p. 8). Auch die nicht unwichtigen
Fragmente, worunter ich die im dritten Bande der Ausgabe
von Friedrich Haase p. 418 — 6^ enthaltenen verstehe, sind
berücksichtigt worden. Citirt wird in Folgendem nach der
Handausgabe von F. Haase III Vols. Lipsiae 1852 und 1853.
Gäbe es nun eine erhebliche Veränderung in der Gesinnung"
und Denkart Senecas in dem einen Zeitraum von 20 Jahren
umfassenden Schriftthum desselben, so müssten wir uns in die
genauere Untersuchung über die Zeitfolge dieser Schriften,
welche von Ruhkopf u. A. angestellt ist, einlassen. Aber eine
solche für den hier zAir Frage stehenden Gesichtspunkt inhalt-
lich erhebliche Veränderung ist nicht nachweisbar. Zwar spricht
Seneca in seinen Briefen an Lucilius von seiner späten Bekehrung
zur wahren Weisheit, meint damit aber nicht eine fort-
geschrittene Weltansicht, sondern die längst ersehnte und spät
erlangte Zurückziehung vom öffentlichen Leben in seinen letzten
Jahren. Das früheste nachweisliche Datum seiner Schrift-
stellerei ist die Zeit seines Exils auf Corsica unter Claudius,
als er bereits sein vierzigstes Lebensjahr überschritten hatte.
Diesei^eit gehören erwiesenermassen die Schriften ,,ad Helviam",
,,ad Polybium" und die 9 Epigramme an. In diesen Schriften
findet sich im Wesentlichen ganz dieselbe überwiegend stoische
Denkart, die uns in den spätesten Schriften, den Briefen an
Lucilius und in den Quaestiones naturales begegnet ; aber daneben
auch dieselbe aus verschiedenen Systemen schöpfende Weitherzig-
keit in Anbequemung an die gegebenen Zeitverhältnisse, welche
Inconsequenzen ebenfalls in den Briefen an Lucilius vorkommen.
Man kann also nicht sagen, dass erst die Erfahrungen am Hofe
Neros ihm diese Inconsequenzen aufgenöthigt hätten. Waren
ja doch auch die Erlebnisse, welche Seneca unter Caligula und
Claudius vor Augen hatte und an sich selber machte, den
späteren am Hofe Neros im Wesentlichen gleichartig. Ein
wichtiges Moment in unserer Untersuchung ist der bekannte
Parallelismus vieler Sätze Senecas mit den Gnomen der Bibel.
Aber auch in dieser Beziehung ist die Zeitfrage von keinem
Belang, denn dieser Parallelismus findet sich bereits in den
frühesten Schriften (Kreyher p. 128 und 129). Wir sind also
berechtigt, für unsern Zweck von der Zeitfolge der Schriften
Senecas abzusehen.
Seneca in dem Urtheil der Jahrhunderte.
Die Persönlichkeit und die Geschichte des Sokrates hat
zu allen Zeiten die Aufmerksamkeit der christlichen Wissenschaft
auf sich gezogen, und bei jeder kommenden Epoche der
Theologie wird diese hervorragende einzigartige Erscheinung
der antiken Welt den christlichen Forschergeist auf's Neue
beschäftigen. Aber den Hauptantheil an dem Verständniss
und an der Würdigung dieses höchst einflussreichen und ehr-
würdigen Denkers hat immer die Alterthumswissenschaft und
die Geschichte der Philosophie für sich in Anspruch genommen,
und so wird es auch in Zukunft bleiben. Ganz anders steht
die Sache mit Seneca. Die Philosophie und Historie hat an
diesem Schriftsteller überwiegend, so zu sagen, nur ein stoff-
liches Interesse, gegen ein persönliches Verhältniss zu ihm
verhält sie sich vielfach abweisend, ja nicht selten verurtheilend.
Dagegen hat die Kirche von den ersten Zeiten an bis heute
eine merkwürdige und nachhaltige Sympathie für ihn bekundet.'^)
Wäre nun jene kühle Abweisung oder die gar nicht selten
strenge Verurtheilung Senecas von Seiten der weltlichen
Wissenschaft objectiv begründet, dann A\ürde die starke und
zähe Sympathie der Kirchenmänner auf einem vollständigen
und schmachvollen Missverständniss beruhen. Allein, wenn
man auch zugeben würde, dass in dieser Sympathie viel Un-
*) Die bereits genannte Schrift von Kreyher hat es sogar gewagt, in dem
Theophilus (Luc. i, 3 u. Apostelgeschichte i, i) und in dem das Veiderben
Aufhaltenden (2. Thessal. 2. 7) den Seneca zu vermulhen.
9
klarheit, Inthuni und auch Selbstwiderspruch zum Vorschein
kommen, so wird man doch niclit umhin können, für eine so
beharrh'che Zuneigung der christlichen Jahrhunderte einen
gewissen richtigen Instinkt vorauszusetzen. Wie nun die ent-
gegengesetzten (Jrtheile ijbcr Seneca dermalen vorliegen, so
schliessen sie, für sich betrachtet, eine Ausgleichung aus. Die,
welche das tadelnde und verwerfende Urtheil vertreten, fühlen
nicht das Bedürfniss, sich mit den Lichtseiten Senecas aus-
einander zu setzen, und die, welche ihn für ein Orakel der
Wahrheit oder für einen ganzen oder halben Christen halten,
geben uns keinen Aufschluss, wie sie die unleugbaren Schatten-
seiten dieses moralischen Meisters erklären.
Verschaffen wir uns zunächst eine Uebersicht über den
Befund dieses merkwürdigen Widerspruches.
Derselbe verständnissvolle Aurelius Victor, welcher über
Nero urtheilt, wie es zu erwähnen widerlich sei, dass überhaupt
ein Beherrscher der Völker dieser Art existirt habe, berichtet,
Trajan habe die ersten 5 Jahre des Nero gelobt. Was nun die
Naturanlage des Nero anlangt, so erzählt Sueton, sein Vater
Domitius habe gesagt: ,,was von mir und der Agrippina
gezeugt wird, kann nur etwas Entsetzliches sein." (Nero VI)
Demnach wird, was Löbliches von der ersten Regierungszeit
Neros zu rühmen sein mag, auf den seiner jugeiid gewidmeten
erziehlichen Einfluss zurückgeführt. Die vornehmsten Rath-
geber Neros in seiner ersten Regierungszeit waren der
Philosoph Seneca und der Praefekt Burrus, von denen Seneca
den Knaben Nero 5 Jahre vor dem Antritt der Regierung
unterrichtet und erzogen hat.
Der moralische Ruf, in welchem Senecas Name gleich-
zeitig und in der nächsten P^olgezeit steht, wird unter Anderem
getragen von der guten Meinung, welche von dem heilsamen
Einfluss des Philosophen auf die Jugend Neros gehegt wurde.
(Merivale : history of the Romans under the empire, VI 1 1 5 u. 1 16.)
Columella, Zeitgenosse und Landsmann Senecas, spricht mit
grosser Anerkennung von ihm und nennt ihn einen Mann von
ausgezeichneter Geistesanlage und Gelehrsamkeit. Plinius der
Aeltere nennt ihn einen P^ürsten der Wissenschaft, der erhaben
10
sei über die Bewunderung der Eitelkeiten. Ein grosses Lob
von diesem strengen Forscher und Schriftsteller, diesem Kriegs-
obersten zu Wasser und zu Lande. Obwohl Quintilian vom
rhetorischen Standpunkt aus Vieles an Seneca auszusetzen hat,
will er es doch auf keinen Fall Wort haben, als ob er diesen
Schriftsteller, der zu einer gewissen Zeit der einzige Liebling
der Jugend war, verwerfen wolle. Quintilian giebt zu, dass
Seneca viele vortreffliche Gedanken vortrage, dass der Gehalt
seiner Schriften gewichtig sei, dass Vieles bei ihm zu billigen
und zu bewundern sei, er nennt ihn nicht blos einen vortreff-
lichen Sittenrichter der Laster, sondern riihmt auch seine
Fähigkeit, auszuführen, was er sich vorgenommen: ,,egregius
vitiorum insectator, natura quod voluit effecit" (Inst. X i
125 — 31). Den reichhaltigen Tadel schliesst also Quintilian
mit der Anerkennung einer Seneca innewohnenden, nicht
gewöhnlichen, moralischen Kraft. Der charakterlose Martial
kann für sich selber Seneca in moralischer Hinsicht weder
Etwas geben, noch Etwas nehmen, aber wenn dieser Epigram-
matiker die l'^amilie der Annaei» seiner spanischen Landsleute,
in welcher Lucius der V^ornehmste war, rühmend erwähnt,
dann haben wir darin die (iffentliche Meinung zu erkennen.
Mehr zu bedeuten aber hat es, wenn der strenge Juvenal, der
den grossen Reichthum Senecas kennt, den Stoiker wegen
seiner Freigebigkeit belobt, und sogar anspielt auf den an-
geblichen Plan von Einigen der mit Piso Verschworenen, den
Seneca wegen seiner hervorragenden Tugenden auf den Thron
Neros zu setzen (VIII 21 2, cfr. Tacitus: Ann. IV 65). Plinius
der Jüngere nennt Seneca unter denen, welche auch, wenn sie
sich einmal in Scherzen ergehen, ihr moralisches Ansehen nicht
verlieren, und ausserdem weisen manche Sätze dieses Schrift-
stellers allem Anscheine nach auf Lektüre und Hochschätzung
des Seneca zurück (P2p. II 4 7). Da die ,,Octavia", die dem
Seneca allgemein abgesprochen wird, aus einer Zeit stammt,
in welcher das Andenken unseres Philosophen noch lebendig
war, so gehört diese Tragödie, in welcher die Tugend und
Weisheit Senecas gefeiert wird, zu denjenigen Zeugnissen,
welche für den moralischen Charakter desselben einstehen.
11
Eine ganz hervorragende Bedeutung für und über Seneca hat
Tacitus. Man hat in jüngster Zeit das Vollmass arcliivaUscher
Studien an Tacitus vermisst, vergisst aber bei diesem Tadel
nur zu leicht, dass Tacitus in einem ungewöhnHchen Grade
begabt ist mit derjenigen Eigenschaft, welche Luther mit Recht
als das vornehmste Erforderniss, als die eigentliche Kardinal-
tugend eines Historikers preist, nämlich den ,, löwenherzlichen
Muth" überall die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie Anderen
Schmerzen macht , auch wo sie einem selbst wehe thut.
Tacitus hat seinen scharfen psychologischen Blick überall vor-
nämlich gerichtet auf den moralischen Gehalt der Personen,
der Zustände und der Ereignisse, über welche er zu berichten
hat, und dabei scheut er sich nicht, den Leser in die ganze
Tiefe der hoffnungslosen Verderbniss der römischen Welt
hineinschauen zu lassen, ohne den eignen namenlosen Schmerz,
der, wie Niebuhr sagt, den eigentlichen Stil des Tacitus-
gebildet, dem sinnigen Leser zu verhehlen. Dieser tiefe
Schmerz über den unabwendlichen, nach dem Rath der
,, zürnenden Götter" sich vollziehenden Niedergang und Unter-
gang des römischen Lebens und Wesens ist das edle Salz,
welches der Taciteischen Geschichtsschreibung einen unnach-
ahmlichen Reiz verleiht und eine auf dem profanen Gebiet
beispiellose Glaubwürdigkeit verbürgt. Nach diesem Charakter
der Geschichtsschreibung des Tacitus ist es natürlich, dass
derselbe in der Geschichte des Neronischen Kaiserthums sich
viel und mit Vorliebe mit Seneca, dem Erzieher, späteren
Minister und vertrauten Rathgeber des Nero, beschäftigt. Im
Ganzen ist es richtig, was Lipsius ad Ann. XIII i8 bemerkt,
Tacitus sei dem Seneca überall wohl geneigt und freundlich
gesonnen. Aber diese wohlwollende Gesinnung und Haltung
des Historikers dem Philosophen gegenüber ist durchaus nicht
kritiklos. Für seine Nachrichten über Seneca beruft sich
Tacitus dreimal auf P'^abius Rusticus (Ann. XIII 20, XIV 2,
XV 62). Diesen Historiker Fabius Rusticus schätzt Tacitus
so hoch, dass er ihn mit Livius zusammenstellt. Aber da
Tacitus nicht unterlässt, zu bemerken, dass Rusticus, weil mit
Seneca befreundet, geneigt sei, ihn zu loben (Ann. XIII 20),
12
so ist klar, dass Tacitus sich zu schützen sucht vor einseitiger
Parteihchkeit zu Gunsten Senecas, es hat demnach seine dem
Seneca gespendete Anerkennung natürhch um so grösseres
Gewicht. Tacitus parallehsirt das tragische Ende der beiden
Männer, Senecas und Thraseas, welche beide wegen ihrer
Tugenden als Opfer der despotischen Grausamkeit Neros fallen
mussten. Beide will Tacitus durch seinen Bericht über ihren
Tod als freimüthige Bekämpfer der Tyrannei gleicherweise
ehren, es ist aber offenbar, dass er dem Thrasea den Sieges-
preis zuerkennt. Diesen nennt er: ,,virtus ipsa" — die Tugend
selbst, ein so eihabenes Lob kann er bei allem Wohlwollen
Seneca nicht zuerkennen. Es ist Verschiedenes, was er über
diesen Philosophen , in aula" berichtet, wobei er seinen Tadel
nicht zurückhält. Die Cäsaren vor Nero hielten darauf, ihre
Staatsreden selbst zu verfassen, Nero war der erste, der sich
für seine Staatsreden einer fremden Eeder und Zunge bediente.
Sein früherer Instructor Seneca wurde sein Kabinetssekretair
und sein Sprecher im vSenat. Nach Quintilian (XIII 5 18)
schreibt Seneca im Namen des Nero an den Senat. Dabei
kann Tacitus die Rüge nicht unterdrücken, dass Seneca in
dieser Thätigkeit einer Eitelkeit gefröhnt habe, entweder mit
seinen moralischen Grundsätzen de dementia oder mit seiner
Gelehrsamkeit zu glänzen (Ann. XIII 12). Viermal ferner
erwähnt Tacitus die Thatsache, dass Seneca bei der ersten
Ausschweifung des jungen Kaisers freilich in der Absicht, um
Schlimmeres zu verhüten, betheiligt gewesen. Seneca und
Burrus suchten Nero, der an seiner Gemahlin Octavia, der
Kaisertochter, kein Gefallen fand, also den Weg der Tugend
zu betreten sich weigerte, um offenbare Aergernisse zu ver-
meiden, bei sogenannten erlaubten Genüssen festzuhalten
(Ann. XIII 2 12 13, XIV 2). Es wird dabei dem Tacitus
nicht entgangen sein, dass dieses Verhalten des Stoikers mit
seinen Grundsätzen in Widerspruch steht. Denn Seneca lehrt
ausdrücklich, dass unter keinen Umständen Gutes durch Böses
erreicht werden kann (De ira I 9 10 12 18, II 13). Und wie
schlecht bewährte sich der bedenkliche Rath! Bis zu welchen
Tiefen widernatürlicher Wollust ist Kaiser Nero herabgesunken,
13
nachdem der erste Schritt auf der Bahn der eheHchen Untreue
gethan! (Tacit. XIV 2, Cassius Dio LXIII 13). Unter allen
Gewaltthaten Neros wurde keine von der öffentHchen Meinung
so heftig verurtheilt, wie der Mordanschlag gegen seine Mutter»
der in seiner abscheulich hinterlistigen Gestalt misslang und
dann mit brutaler Gewalt ausgeführt wurde. Von einer Mit-
schuld Senecas an dem anfänglichen Plan des Muttermordes
will Tacitus nichts wissen, dagegen berichtet er ohne Hehl,
dass Seneca das Schreiben verfasst, in welchem Nero vor dem
Senat die Ermordung seiner Mutter durch eine offenbare Lüge
zu rechtfertigen gesucht (Ann. XIV 11). Da Quintilian aus
dieser Rede ein rhetorisches Beispiel unter dem Namen Senecas
anführt, so muss diese Rede als ein unbestreitbares Product
unseres Stoikers bekannt gewesen sein (Instit. VIII 5 18).
Tacitus verschweigt nicht, dass diese Thatsache öffentlichen
Unwille I gegen Seneca erregt habe (Ann. XIV 11). Hätte
Tacitus von dem späteren Beispiel des Juristen Papinian,
welcher dem Tyrannen Caracalla, der von ihm die Vertheidi-
gung des Brudermordes verlangte, antwortete: ,,ein Brudermord
ist leichter ausgeführt, als vertheidigt", Kunde gehabt, so
würde er wahrscheinlich, wie Edward Gibbon, die Unthat
Senecas durch dieses Beispiel beleuchtet haben. Auch von
einer anderen Rede Senecas, welche Nero im Senat vortrug,
berichtet Tacitus. Dieselbe hat zwar nicht einen gleichen
sittlichen Unwillen hervorgerufen, aber sie hat durch ihre
lügenhafte Uebertreibung allgemeines Lachen erregt, es war
die Lobrede auf den vergifteten Kaiser Claudius (Ann. XIII 3).
Also nicht wenige und geringe Verstösse hat Tacitus von
dem Philosophen am Hofe des Nero berichtet. Dessungeachtet
steht für diesen strengen historischen Sittenrichter der Total-
eindruck Senecas, als der einer moralischen Persönlichkeit,
unzweifelhaft fest. Seneca und Burrus werden von Tacitus als
die guten Geister bezeichnet, welche den äussersten Excessen
der dämonischen Natur des Kaisers Widerstand leisteten
(Ann. XIII 2, XIV 14). Aber fast noch grösser gilt der
moralische Werth des Widerstandes, den die Beiden nach
Tacitus gegen die rasende Herrschsucht der Kaisermutter auf-
14
geboten, denn Beide waren durch eben diese Agrippina zu
ihren hohen Stellen gelangt (Ann. XII 37 57, XIII 2 14).
Ferner berichtet Tacitus, dass Seneca Kunde hatte von der
wider ihn schleichenden Verleumdung durch diejenigen, „denen
das Gute noch etwas galt" (Ann. XIV 53). In der allgemeinen
Verderbniss kennt also Tacitus einen Kreis von solchen, die er
als die Guten und Edlen bezeichnet, und mit diesen steht Seneca
nach Tacitus in vertrauter Gemeinschaft. Wenn nun Tacitus
des Gerüchtes Erwähnung thut, dass unter den Verschworenen
des Piso der Plan bestanden, den Seneca wegen seiner hervor-
ragenden Tugend und Unbescholtenheit auf den Thron zu
erheben, so will er ohne Zweifel soviel damit sagen, dass
Seneca in dem Kreise der Patrioten ein hohes sittliches Ansehen
genossen hat. Tacitus unterlässt auch nicht, einzelne moralische
Züge aus den letzten Zeiten Senecas anzuführen: Seneca will
unverworren sein mit der sacrilegischen Beraubung der Tempel,
<larf sich auch noch am Ende seiner Laufbahn berufen auf
seine gegen den Kaiser aufrecht erhaltene PVeimüthigkeit, und
wenn, wie Tacitus schreibt, die Ermordung Senecas dem Nero
sehr erwünscht gewesen, so liegt darin das beste Zeugniss, dass
Seneca bis zu seinem Ende für Nero ein lebendes Gewissen
gewesen ist (Ann. XV 60). Vor Allem aber ist der ausführ-
liche Bericht des Tacitus über den Tod des Seneca, dessen
hohe Bedeutung wir später genauer erörtern müssen, ein
bestätigendes Siegel für die Hochschätzung, mit welcher der
strenge Historiker den moralischen Werth des Seneca geehrt
wissen will.
Das Zeugniss des Tacitus über und für Seneca ist dadurch
ausgezeichnet, dass obwohl die grossen Aergernisse in dem
Verhalten des Seneca am Hofe des Nero nicht verschwiegen
werden, ja auch nicht ungerügt bleiben, dennoch im Ganzen
und Grossen der Philosoph in seiner hohen versuchungsvollen
Weltstellung als eine bedeutsame moralische Persönlichkeit
beglaubigt erscheint. Allerdings wird der Gegensatz des Guten
und Bösen in Seneca von dem Historiker nicht ausgeglichen,
aber da Beides neben einander festgehalten wird, kann uns das
als ein vorläufiger, später weiter zu verfolgender Fingerzeig
15
sein, dass bei den sich widersprechenden Urtheilen über Seneca
doch schHesshch an einer Lösung nicht zu verzweifeln sein
dürfte.
Noch bei seinen Lebzeiten erfuhr Seneca den scharfen
Widerspruch der über seinen Charakter verlautenden Urtheile.
Trotz des moralischen Ansehens, in welchem, wie wir gesehen,
Seneca bei den besseren Zeitgenossen stand, erhob sich ein
öffentlicher Ankläger, der auf ihn die schwersten Beschuldi-
gungen häufte. Suilius, ein berufsmässiger Sachwalt und An-
kläger, •■••■) machte dem Seneca den Vorwurf, dass er ein todtes
Wissen pflege (studia inertia) und nur mit unerfahrenen Jüng-
lingen verkehre, dass er im Hause des Claudius mit des
Kaisers Nichte Julia Buhlerei getrieben und deshalb verbannt
worden, vor Allem aber beschuldigte er ihn, dass er im Wider-
spruch mit seinen philosophischen Grundsätzen ein fürstliches
Vermögen erworben und die Provinzen drücke mit seinem
W'ucher (Tacit. : Ann. XIII 42). Obwohl Suilius verurtheilt
wurde, bemerkt doch Tacitus, dass diese Verurtheilung nicht
ohne Benachtheiligung der Ehre des Seneca erfolgte, womit
ohne Zweifel angedeutet werden soll, dass bei der stattgehabten
Verhandlung die Beschuldigungen sich als nicht ganz grundlos
-erwiesen. Tacitus verschweigt auch nicht, dass später noch
Andere als Suilius dem Seneca sein über das Mass eines
Bürgers hinaus gewachsenes Vermögen zum Vorwurf machten
(Ann. XIV 52). Es scheint aber nicht, dass diese Vorwürfe
bei den Zeitgenossen nachhaltigen Eindruck gemacht haben,
denn, wie wir gesehen, ist das Lob Juvenals eine vollständige
Freisprechung Senecas von dieser Beschuldigung. Indessen
ein Jahrhundert später wachen, wie wir sehen werden, alle die
Anklagen des Suilius wieder auf.
In ethischer Beziehung bleibt im Ganzen der Ruhm
Senecas während des ersten Jahrhunderts unangetastet, anders
ist es in ästhetischer Hinsicht. Ein neuester Historiker nennt
Seneca ,,den glänzendsten Geist seiner Zeit" (Geschichte des
*) Peter: römische Geschichte III 276. Nach Scaliger und Heinsius
derselbe, an den der Brief des Ovid „ex Ponto" (IV 8) gerichtet ist.
16
römischen Kaiserreichs unter der Regierung des Nero von
H. Schiller 1872 p. 215). OtTenbar war dies auch das allgemein
verbreitete Urtheil der Zeitgenossen. Tacitus führt Seneca ein
als einen den Sitten damaliger Zeit wohlgefälligen Geist
(Ann. XIII 3). Dass der Kaiser Caligula über die Schrift-
stellerei Senecas verächtlich spricht und seinen Stil ,,Sand ohne
Kalk" genannt hat (Sueton: Caligula LIII), ist bei der bekannten
Missgunst dieses Kaisers gegen literarische Vorzüge eher als
ein Zeugniss für den literarischen Ruhm des Emporkömmlings
aus Cordoba zu betrachten. Trotz seines mehrjährigen Exils
auf Corsica erblasst der Glanz seines gelehrten Namens so
wenig, dass Agrippina, offenbar bewogen durch seinen literari-
schen Ruf, den Verbannten nach Rom zurückruft und ihm
ihren elfjährigen Sohn Domitius, den nachherigen Kaiser
Nero, zur Unterweisung übergiebt (Tacit. Ann. XII 2, Sueton
Nero VII).
Mit Quintilian tritt eine Wendung ein in dem Urtheil über
Senecas Stil. Bei aller Anerkennung der Persönlichkeit Senecas
tadelt Quintilian in wiederholten Wendungen den verderbten
und durch viele Mängel geschwächten Stil desselben und beklagt,
dass er den gewichtigen Inhalt seiner Schriften durch kiemlich
zerstückelte Satzformen geschädigt habe (Instit. X i 130),
Dieses Missfallen an dem Stil des einst so gefeierten Lieblings
der römischen Jugend wird im weiteren Verlauf eine herrschende
Geringschätzung. Nach dem Geschmack der zweiten Hälfte
des zweiten Jahrhunderts galt als hohe Autorität in literarischen
Dingen Cornelius Fronto. Nachdem seine opera von Angelo
Mai entdeckt und herausgegeben sind (18 16), wird Jedermann
Niebuhr Recht geben, dass dieser Mann in hohem Grade
geistlos ist (Vorträge über römische Geschichte III 232 — 44).
Aber als Lehrer der beiden Kaiser Marcus Aurelius und Lucius
Verus hatte er, dem damaligen Geschmack entsprechend, ein
noch für lange entscheidendes Ansehen, wie die Testimonia
veterum de Frontone bei Mai (p. 107 — II2) ergeben. Dieser
Aristarch einer im Untergang begriffenen Literaturperiode
spricht von Seneca ganz geringschätzig. Fronto erstreckt
seinen Tadel auch auf den Neffen des Seneca, den Dichter
17
"Lucanus. Die opera p. 178 über Seneca hingeworfene scheinbar
anerkennende Aeusserung wird mit Mai für Ironie zu halten
sein. Zeitgenosse und Bewunderer Frontos ist A. Gelhus
(N. A. II 26, XIII 27, XIX 8 und 10). Kein Wunder, dass
derselbe sich gleichfalls ein sehr abschätziges Urtheil über
Seneca erlaubt. Für Gellius ist das Verwerfungsurtheil über
Seneca schon dadurch vollzogen, dass er gewagt hat, den Stil
von Ennius, Cicero und Virgil zu kritisiren (N. A. XII 2).
Nichts aber beweist deutlicher die gänzliche Abwendung
des öffentlichen Urtheils in Rom von dem Stoiker Seneca, wie
das absolute Stillschweigen Marc Aureis über seinen einst so
bewunderten Gesinnungsgenossen. Nicht bloss verschweigt dieser
Kaiser in seinen Selbstgesprächen da, wo er die berühmten
stoischen Auctoritäten aus der früheren Römerzeit anführt, den
Namen Senecas (Comment. I 14), sondern auch nirgends sonst
beruft er sich auf denselben. Und doch stand dem Stoiker auf
dem Thron geistig keiner so nahe, keiner war ihm so verwandt,
wie derjenige Meister der Stoa, der einst dem Kaisersitz am
nächsten gestanden und an dessen Sentenzen die kaiserlichen
Monologen Marc Aureis unzählig oft erinnern. Dieses absolute
li^noriren Senecas von Seiten Marc Aureis ist wohl nur daraus
zu erklären, dass neben den stilistischen Verstössen Senecas
gegen den herrschenden Zeitgeschmack auch das Andenken
an seine moralischen Anstösse im Laufe der Zeit das Ueber-
gewicht über die frühere Hochschätzung seiner sittlichen Persön-
lichkeit gewonnen hatte.
Die letzte Stimme über Seneca aus dem heidnischen Rom
vernehmen wir aus dem grossen Geschichtswerke des Cassius
Dio (151 — 231 p. Chr.), der, ein Kleinasiate von Geburt, Sohn
eines angesehenen Vaters und selbst in hohen Stellungen, in
70 Büchern eine römische Geschichte verfasst hat. Derselbe
hat, reichlich ein Jahrhundert nach Seneca lebend, über
Charakter und Leben dieses Stoikers viel Nachtheiliges berichtet.
Lipsius, ein enthusiastischer Bewunderer Senecas, will diesen
nachtheiligen Bericht des Dio über Seneca daraus erklären,
dass dieser kleinasiatische Geschichtschreiber überhaupt es
geliebt habe, die römischen Patrioten, wie Cicero, Brutus, anzu-
2
18
schwärzen (Lipsius ad Tacit. Ann. XIII 42). Dass diese
Ansiebt in ihrer Allgemeinheit falsch ist, beweist allein schor»
hinlänglich das hohe Lob, welches Dio dem jüngeren Cato,.
dem leuchtenden Vorbilde aller späteren freiheitliebenden
Römer gewidmet hat (XLIII 11, cfr. XXXVII 22). Zur
Erklärung und Würdigung der Angaben Dios über Seneca
müssen wir uns daran erinnern, dass Dio selbst bekennt, mit
dem Aufhören der freien Oeffentlichkeit bei Einführung der
Monarchie sei die Geschichte unsicher geworden (LIII 19).
Es ist dieselbe Bemerkung, welche auch Seneca der Aeltere und'
Tacitus gemacht haben. Da nun Dio an der vollen Wahrheit
der Geschichte seit dem Ende der Republik verzweifelte, so-
erklärt er, dass er berichten werde, was von der herrschenden
Meinung angenommen sei ohne die Wahrheit zu verbürgen.
Aber nicht bloss aus dem angegebenen Grunde verzichtet Dio
auf Kritik. Man darf nicht übersehen, wenn man seine Berichte
richtig würdigen will, dass er ganz naiv erzählt, wie in seinen
Tagen der Sinn für Wahrhaftigkeit ganz abhanden gekommen
war. Der Kaiser Pertinax war mit Dio befreundet. Dieser
wird ermordet, und Julianus, den Dio wegen seiner Laster
verabscheut, tritt auf als Prätendent. Sofort huldigt Dio mit
dem Senat dem schändlichen Usurpator. Das höchst Charak-
teristische dabei ist dieses, dass der Historiker Dio diese seine
und seiner senatorischen CoUegen offenbare Gesinnungslosigkeit
und Unwahrhaftigkeit ohne alles Erröthen selbst bezeichnet als
etwas, das sich bereits von selbst verstand ^LXXIII 10 — 14).
Den Sinn für geschichtliche Wahrheit ersetzt bei Dio sozu-
sagen sein robuster Aberglaube an Träume und Mirakel. Wir
haben demnach in dem Bericht dieses nicht übelwollenden,
aber unkritischen und leichtgläubigen Historikers über Seneca
das Bild zu erkennen, welches sich die römische Welt Ende
des zweiten und Anfang des dritten Jahrhunderts von dem
einst berühmten und hochgestellten Seneca machte.
Wenn, wie wir gesehen, die massgebende Literatur des
zweiten Jahrhunderts den Stil und die Sprache Senecas ver-
urtheilt, und der Philosoph auf dem Thron den Namen Senecas
mit tiefem Stillschweigen bedeckt, was sollen wir von der
19
öffentlichen Meinung einer noch späteren, tief verirrten und
wüsten Zeit über den moralischen Gehalt unseres Seneca er-
warten ? Nicht ganz jedoch ist die leuchtende Gestalt des
Erziehers, Mahners und Märtyrers des Kaisers Nero verdunkelt.
Dio erzählt, dass, als Nero einst im Begriffe stand, durch einen
Massenmord ein drohendes Orakel abzuwenden, er durch ein
freimüthiges Wort des Seneca davon zurückgehalten wurde.
Seneca rief ihm zu: ,,so viele Du auch immerhin tödtest,
Deinen Nachfolger kannst Du nicht tödten" (LXI i8). Dieses
spitze von Dio berichtete Wort trägt nach Form und Inhalt
den Stempel des echten Seneca; denn was sich später Aehn-
liches findet, ist offenbar dem Seneca nachgeahmt. Auch der
Ruhm des wohlthätigen Regimentes der beiden Verbündeten
Seneca und Burrus, ist auch in den Tagen des Dio noch nicht
völlig erloschen (LXI 3, LIX 19, LXI 48). Auch das berichtet
Dio zum Lobe Senecas, dass er seinen Reichthum Nero zur
Verfügung gestellt (LXII 25), was er, nach Tacitus, in einer
ausführlichen Rede motivirt hat. Im Uebrigen thut Dio des
Seneca häufig Erwähnung, im Ganzen und Grossen im ent-
schieden nachtheiiigen Sinne. Gleich die erste Erwähnung
Senecas bei Dio bringt den wegen seiner Weisheit berühmten
Philosophen in den Verdacht eines Umganges mit einem
berüchtigten Frauenzimmer (LIX 19). Es ist eine bekannte
Sache, und Athenaeus liefert reichliche Belege dazu, dass die
späteren Zeiten der antiken Klassicität erfinderisch sind in
erotischen Skandalgeschichten berühmter Männer der früheren
Epochen. Dio beschuldigt den Seneca nicht nur der Buhlerei
mit der Julia, sondern er geht so weit, dem Seneca ein ehe-
brecherisches Verhältniss mit der Kaiserin ^grippina vorzu-
werfen (LXI 10). Es entgeht dem unkritischen Historiker,
dass der energische Widerstand, den Seneca der bis zur Raserei
herrschsüchtigen Agrippina leistete (Tacit. : XIII 5, Dio; LXI, 3},
bei einem solchen verbrecherischen Verhältniss Senecas zur
Kaiserin nicht denkbar ist. Was der Ankläger Suilius dem
Seneca Schuld gegeben, dass sein Verhalten mit seinen philo-
sophischen Grundsätzen nicht übereinstimme, hat Dio wiederholt
und erweitert. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Dio bei
2*
20
diesem Tadel die Erfalirung vor Augen hat, welche Marc Aurel
mit den Philosophen am Hofe gemacht, dass nämlich die
Philosophen unter diesem Stoiker auf dem Thron reich w urden
(LXXI 35, cfr. Vita Marc. A. XXIII, XXIX). Wie Suiüus dem
Seneca seinen übermässigen Reichthum und daneben seinen
AVucher zum Vorwurf macht, so wiederholt Dio diesen A'orwurf
mit dem Zusatz, dass Seneca einem übertriebenen Luxus sich
ergeben habe (LXI lo). Reimarus bemerkt, dass die Summe
des Vermögens, welche Dio namhaft macht, mit den Zahlen
des Suilius (Tacit. : Ann. XIII 42) übereinstimmt, und dass
dadurch wahrscheinlich wird, was auch Lipsius annimmt, dass
Dio die Anklage des berüchtigten und schliesslich verurtheilten
Delatoren als urkundlichen Beweis angenommen hat (II p. 989 900,
Kreyher: L. A. Seneca, p. 25). Der Vorwurf der geschlecht-
lichen Sünden Senecas steigert sich bei Dio bis zu der un-
geheuerlichen Beschuldigung, dass dieser stoische Pädagogus
am kaiserlichen Hofe nicht bloss selbst den griechischen Lastern
ergeben gewesen, sondern sogar seinen kaiserlichen Zögling zu
denselben verführt und angeleitet habe (LXI 10). Aber eine
mit diesem entsetzlichen Vorwurf verbundene Notiz wird durch
das bestimmte Zeugniss des Tacitus Lügen gestraft. Dio
behauptet, dass Seneca den Nero gebeten habe, ihn nicht zu
küssen, während Tacitus ausdrücklich berichtet, dass nach einer
feierlichen Konferenz Nero von Seneca unter Umarmung und
Küssen Abschied genommen habe (Ann. XIV 56). Ferner,
während nach Tacitus Seneca dem ersten Mordanschlag Neros
auf die Mutter ganz fernsteht und mit dieser Angelegenheit
erst in Berührung kommt, als der Mord halb vollendet nicht
mehr rückgängig gemacht werden konnte, berichtet Dio, dass
Seneca den Kaiser zu dem Muttermorde überredet habe (LXI 12).
Dass Dio an dem Trostschreiben Senecas ,,ad Polybium"
Anstoss genommen (LXI 10), ist nicht zu verwundern, da
selbst der begeisterte Verehrer desselben, Justus Lipsius, an
diesem Brief schweres Aergerniss nimmt. Endlich, einen aus-
geprägt gehässigen Charakter verräth der Bericht Dios über
das Ende Senecas. Während nach Tacitus' ausführlichem
und genauem Bericht Seneca angesichts des Todes seine
21
geliebte Gattin zu trösten sucht, sie aber in römischer Todes-
v^erachtung mit ihm zu sterben begehrt, und damit die
Philosophie ihres Mannes durch ihr Beispiel bestätigt, fordert
der selbstsüchtige Seneca des Dio den Tod der Paulina und
öffnet ihre Adern (LXII 25),
Niebuhr, kein Freund des Seneca, schreibt: ,,Das Urtheil
des Dio Cassius über Seneca enthält viel Wahres und Richtiges,
ist aber übertrieben und allzu gehässig" (Vorträge über römische
Geschichte III 185).
Mit diesem entschieden ungünstigen Votum entlässt das
iieidnische Alterthum den Seneca. Und wie hat die Renaissance
diesen einst so gefeierten und hochgestellten Schriftsteller auf-
genommen? Ein Hauptvertreter der Renaissance hat ein aus-
führliches Urtheil über Seneca abgegeben. In der Ausgabe
der Opera L. A. Senecae von Th. de Juges Genevae 1628 ist
vorgedruckt: ,, Judicium Erasmi Roterodami de L. Seneca".
,, Diesen Schriftsteller", schreibt Erasmus, ,, haben die alten
Christen mit einem gewissen Eifer für sich in Anspruch
genommen und ihn beinahe als rechtgläubig anerkannt". Er
erwähnt, dass diese Ansicht über Seneca in dem erdichteten
Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca durchgeführt sei.
Mit aller Entschiedenheit aber erklärt er diesen Briefwechsel
für ein Falsum und giebt den Rath, dass man den Seneca
nicht als einen Christen, sondern als einen Heiden lesen soll.
Erasmus referirt sodann die verschiedenen Urtheile von
Quintilian, Gellius, Tacitus über Seneca. Erasmus klagt
über den Mangel an logischer Anlage und Durchführung der
Gedanken in den Schriften Senecas. Was er in seinen bezüg-
lichen Ausführungen rügt, beruht auf richtiger Beobachtung.
Das feine Urtheil des Humanisten vermisst mit Recht vor
Allem die Formvollendung des Gedankens und des Ausdrucks,
diesen unnachahmlichen Stempel der antiken Klassicität. In-
dessen dieser Formmangel hielt Erasmus nicht ab, eine
Blumenlese aus Senecas Schriften (,,Flores Senecae") heraus-
zugeben und dabei über den Inhalt derselben sich sehr
lobend auszusprechen (Fleury: St. Paul et Seneque I 6).
22
Die strenge Philologie hat in seinem Tadel dem Erasmus
Recht gegeben und verhält sich daher dem Seneca gegenüber
überwiegend kühl und abweisend. Und wenn die moralischen
Anstösse, welche das Leben Senecas bietet, früher durch die
Hochschät/Aing der freimüthigen Opposition gegen die cäsarische
Tyrannei, welche sich in seinem Martyrium vollendet, reichlich
compensirt wurden, so macht sich in neuester Zeit eine vor-
nehme Geringschätzung dieses inopportunen Restes republi-
kanischer Tugend geltend, und so hat sich neben der ästhetischen
auch noch eine ethische Missstimmung gegen Seneca aus-
gebildet. Lipsius wünschte einst, dass Männer kommen
möchten, welche sich mit kritischem Geschick des Textes der
Schriften Senecas annehmen würden. Dieselben sind gekommen.
Aber Schweighäuser, Ruhkopf, Fickert, Haase lassen sich von
der Begeisterung für den erhabenen Inhalt dieser Schriften,
welche Lipsius ihnen wünscht, nicht das Mindeste oder doch
nur wenig merken (Epistolae morales, ed. Schweighäuserp. 232),
sie beobachten dem gegenüber eine sehr bemessene Zurück-
haltung (J. Lipsii opera I 783, Ves. 1675). Da jedoch dieser Schrift-
steller zu denen gehört, welche fortwährend das Gewissen des
Lesers interpelliren, so ist es geradezu unnatürlich, ihn wie ein
blosses Repertorium für den antiquarischen Sprach- und Sach-
apparat zu behandeln. Dieser Eigenthümlichkeit entsprechend
ist es, wenn B. Niebuhr rundweg erklärt, dass er den Seneca
nicht leiden könne (Vorträge über röm. Geschichte III 185).
F. A. Wolf hebt einerseits mit einer gewissen Wärme einige
stilistische Vorzüge Senecas hervor, wenn er aber dann anderer-
seits den von Suilius und Dio Cassius gerügten schwer-
wiegenden Widerspruch zwischen Lehren und Leben sich
aneignet, so ist offenbar der Tadel überwiegend (Vorlesungen
über röm. Literatur 335 ff.). Auch die Ausstellungen Bern-
hardys an dem stilistischen und wissenschaftlichen Charakter
unseres Stoikers überwiegen die Anerkennung einzelner Vor-
züge (Grundriss der röm. Literatur p. 314 124). In der zweiten
Auflage des Grundrisses nennt Bernhardy Seneca den Ovid
unter den Prosaisten, was wohl mehr Tadel, als Lob bedeutet.
Gleicherweise lautet das Urtheil H. Ritters über Senecas
23
Wissenschaftlichkeit und Gesinnung entschieden ungünstig"
{Geschichte der Philosophie IV 183 184). Auch bei Teufifel
ist der Tadel vorherrschend, wenn auch Senecas Sterben als
, .entschlossener Verzicht auf die Güter dieses Lebens" anerkannt
^vird (Geschichte der röm. Literatur. 2. Aufl. p. 616 ff.).
Auf meine Frage, was er von L. Seneca halte, antwortete
mir Th. Mommsen: ,,von dem kann man nicht schlecht eenug
-denken". In dem Sinne dieses Meisters urtheilt auch der
Jünger Hermann Schiller. Derselbe nennt zwar Seneca ,,den
glänzendsten Geist seiner Zeit", ,,den Abgott und Führer des
Senats" (Geschichte des römischen Kaiserreichs unter der
Regierung Neros p. 68, 377); aber moralisch stellt Schiller
den Seneca sehr tief. Er hält ihn ,, seinem Charakter nach"
für schuldig des ehebrecherischen Verhältnisses mit der von
ihm selbst verabscheuten Agrippina (p. 69). Wie nun daneben
■das Lob bestehen soll, dass Seneca nicht ein selbstsüchtig
schlechter Mensch gewesen sein soll, ist nicht wohl zu verstehen
(P- 303). Obwohl Schiller es mit Recht als ein Verdienst des
Seneca anerkennt, dass er in dem Sclaven den Menschen
geehrt wissen will (p. 509 \ behauptet er dennoch, dass in
seiner ,, weitläufigen literarischen Thätigkeit kein einziger neuer
Gedanke sich findet" (p. 627). Was bleibt demnach dem
Seneca eigenthümlich Anderes als ,, Phrase" und ,,eine viel-
seitige nicht in die Tiefe dringende Gelehrsamkeit" (p. 612)^
In seinem Verhalten gegen Kaiser Claudius wird ihm von
Schiller vorgeworfen ,, erbärmliche Feigheit und perfide
Schmeichelei" (p. 620) und mit einem Strich: ,, der bedeutende
Mann schwankte haltlos wie ein Rohr im Winde" (p. 295),
wird endlich des Mannes moralische Persönlichkeit vernichtet.
Als einen verdammenden Sittenrichter über Seneca erweist sich
auch Latour de Set. Ybars: ,,Wenn man Seneca unpartheiisch
beurtheilt, dann kann man ihm nicht verzeihen, dass er weder
seinen Fürsten, noch die Tugend aufrichtig geliebt hat" (Nero
sa vie et son epoque, Paris 1867 p. 246). Wer die ganzen in
Betracht kommenden Verhältnisse ins Auge fasst, wird immer
•einen bedeutenden Eindruck empfangen von der Mahnung des
sterbenden Seneca an seine Gattin und an seine Freunde, das
24
Andenken seines Lebens als ein theures Vermächtniss zu
bewahren. Nicht strenger kann man daher den ganzen Mann
verurtheilen und verwerfen, als wenn man, wie Latour de Set.
Ybars thut, sich darüber entrüstet, dass Seneca sein Leben als^
Vorbild aufgestellt (p. 461). Die Reihe der verurtheilenden
Tadler Senecas möge Einer schliessen, der obwohl er sich
ernstlich mit der Untersuchung des literarischen und moralischen
Charakters dieses Mannes befasst hat, sein vernichtendes End-
urtheil folgendermassen zusammen fasst: ,, Trotz des Glanzes-
seiner Rede, trotz des düstern Pathos seiner stoischen Lehre,,
wird er auf gesunde Gemüther keinen tiefen Eindruck machen,
durch die Form seiner Rede kann er höchstens verderblich
wirken" (F. B. Gerlach, Historische Studien 271 ff.).
Hätte die lange und schwere Last der Verurtheilungen
Senecas, von dem gehässigen Delator Suilius bis zu dem
strengen Censor F. B. Gerlach, nicht ein starkes Gegengewicht,
dann wären ohne Zweifel die meisten, wenn nicht alle Schriften
desselben in den finsteren Zeiten des Mittelalters verloren
gegangen. Erasmus, dem auch Haase (Seneca III p. VI) bei-
stimmt, hat Recht, wenn er behauptet, dass die Vorliebe der
christlichen Schriftsteller für Seneca, welche bereits in der
patristischen Zeit beginnt, wesentlich dazu beigetragen, dass-
von der reichen Literatur Senecas so vieles erhalten ist. Das
erste bedeutsame Zeichen einer christlichen Anerkennung dieses-
heidnischen Philosophen begegnet uns beim TertuUian. Nicht
bloss nennt TertuUian die Schriften Senecas (De resurrectione
carnis I), nicht bloss beruft er sich auf ihn (Apolog. XII 2),.
sondern auch, indem er sich einmal einen Satz des Seneca
aneignet, nennt er ihn ,,saepe noster" (De anima XX). Diese
Bezeichnung ,,saepe noster" kann hier nicht auf die römische
Nationalität gehen, wie sich dieser Sprachgebrauch allerdings-
bei Lactanz findet (z. B. Instit. I 5 11), sondern muss wegen
des ,,saepe" auf die Gemeinschaft in der Denkart bezogen
werden. Der gegen alles Heidnische streng eifernde TertuUian
findet also gar nicht selten bei diesem heidnischen Hofphilosophen
Sätze, von denen er sich als Christ persönlich angesprocher^
fühlt. Weiter noch als TertuUian geht Lactanz, der den Seneca
25
häufig ausschreibt, dem wir deshalb manche Sät/e aus verlorenen
Schriften verdanken. Lactanz preist den Seneca ausdrückhch
als ,,morum vitiorumque pubhcorum et descriptor verissimus et
accusator acerrimus (Inst. V 9 19) und wegen seiner vielen
richtigen und den christlichen ähnlichen Aussprüche über das
Wesen der Gottheit (Inst. I 5 28). Während aber Lactanz
sich dabei sehr bestimmt des heidnischen Gegensatzes bewusst
bleibt (quid verius dici potest ab eo, qui Deum nosset, quam
dictum est ab homine verae religionis ignoto ? (Inst. VI 24 13).
versetzt Hieronymus den Stoiker bereits auf das christliche
Gebiet. Freilich wenn Lactanz gewisse Sätze Senecas als
geradezu himmlische Rede feiert (Inst. VI 24 15), und von
ihm rühmt, dass er ,,paene divinitus" gesprochen habe
(Inst. V 22 12), so ist der Uebergang zai jener Annahme des
Hieronymus leicht gefunden.
Zwischen Lactanz und Hieronymus Hegt das Falsum des
Briefwechsels zwischen Paulus und Seneca. So geistlos dieses
Machwerk ist, so verlangt es doch eine Erklärung, welche
meines Erachtens noch nicht gegeben ist. Offenbar hat sich
die Vorstellung von dem höheren Wahrheitsgehalt der Schriften
Senecas, deren Zeugnisse wir bei Tertullian und Lactanz an-
treffen, zu der Wahrscheinlichkeit der Bekehrung des heidnischen
Philosophen ausgebildet. Der Falsarius nimmt diese Wahr-
scheinlichkeit als Thatsache, und seine Tendenz geht dahin, die
Schriften Senecas wegen ihrer stilistischen Vorzüge seinen
Glaubensgenossen zu empfehlen. Der Falsarius hat insoweit
seinen Zweck erreicht, als Seneca in der christlichen Literatur
vor allen heidnischen Schriftstellern mit wenig oder ohne Kritik
verehrt und benutzt wird.
Augustinus macht eine rühmliche Ausnahme. Derselbe
weiss zwar von der Existenz der Briefe Senecas an Paulus,
aber obwohl er die Vorzüge Senecas zu schätzen weiss
(C. D. VI 10, Confess. V 6), hat er doch an die Bekehrung
Senecas, mithin an die Aechtheit dieser Briefe, nicht geglaubt.
Wir werden uns später überzeugen, dass Augustinus mit
scharfem Blick die geheime Macht erkannt hat, welche den
moralisirenden Denker und Schriftsteller innerhalb des Heiden-
2()
tliums festgehalten hat. Hieronymiis, dem dies verborgen
bleibt, lässt sich, wie es scheint, durch den fingirten Brief-
wechsel dermassen imponiren, dass er den Seneca in den
Catalogus sanctorum aufnimmt. Von nun an hat Seneca fast
das Gewicht einer christlichen Autorität. Zunächst hat Hiero-
nymus selber in seiner Schrift gegen Jovinian von Senecas
verlorenem Buch ,,de matrimonio" einen sehr ausgedehnten
-Gebrauch gemacht. Denn ich glaube nicht, dass Haase in der
-Annahme dieser Entlehnung weiter gegangen ist (III 428 — 434)
:als die Andeutung des Hieronymus und ausserdem Sprache
tmd Inhalt der fraglichen Abschnitte wirklich erlauben. Dass
Seneca in den christlichen Kreisen bereits im 4. Jahrhundert
geschätzt wairde, beweist auch wohl der Umstand, dass der
Manichäer Faustus seine Schriften las (Augustini Confess. V 6}
Das Concil von Tours im Jahre 567 beruft sich für eine
moralische Sentenz auf die Auctorität des Seneca. Sodann
ist es im Mittelalter nicht blos Gebrauch, einzelne Sätze, so-
genannte Flosculi, aus den Schriften Senecas zu sammeln und
7Ai verwenden, wie dies von Vincenz von Beauvais und Anderen
vorliegt (Haase III 446), sondern auch ganze sonst verlorene
Bücher desselben wurden fast ohne Weiteres, nur mit Ein-
leitungen und einzelnen Zusätzen und christlichen Umbiegungen
versehen, für den asketischen Gebrauch verwendet. Auf diese
Weise ist ein guter Theil des Buches ,,de remediis" erhalten
{Haase III 446 ff,). Denn meines Erachtens hat Haase den
Zweifel der holländischen Gelehrten mit Recht zurückgewiesen.
Ferner sind auf diese Art ansehnliche Fragmente der Bücher
,,de paupertate" und ,,de moribus" auf uns gekommen*). Da-
gegen hat die Bearbeitung des Buches ,,de formula honestae
vitae" durch den Bischof Martinus so starke Veränderungen
•erhalten, dass Seneca darin kaum wieder erkannt werden kann,
-aber dessen ungeachtet ging das Büchlein unter dem Namen
desselben (Haase III XXI). Beda Venerabilis spricht in seiner
Chronik mit der grössten Hochachtung von den Grundsätzen
*) Senecas Buch ,,de moribus" war an deutschen Ftirstenhöfen im 15. Jahr-
hundert bekannt und geschätzt (Gervinus Nationalliteratur 2. Aufl. II 232).
27
und dem Streben Senecas (Fleury, Set. Paul et Seneque I 297).
Friculf von Lizieux und Honoiius Augustodunensis erwähnen
des Briefwechsels zwischen Paulus und Seneca (Fleury I 300).
Nach Lipsius in der vita Senecae schreibt Otto von Freisingen
im 12. Jahrhundert: ,, Seneca muss nicht so sehr Philosoph,
als Christ genannt werden". Johannes Sarisberiensis widmet
dem Seneca ein ganz überschwängliches Lob (Fleury I 307).
Ueber andere Citate Senecas bei christlichen Schriftstellern des
Mittelalters siehe man Haase III 420 421 434436. Der heilige
Bernhard ermahnt den Papst Eugenius mit dem Spruche
Senecas; ,,non est vir fortis, cui non crescit animus in ipsa
rerum difficultate" (Giesebrecht Deutsche Kaiserzeit IV 339\
Die Legende des Mittelalters versetzt Seneca sogar in
die Zahl der 70 Jünger (Fleury I 321 — 36). In welchem
Grade die Vorstellung von der Christlichkeit Senecas im
Mittelalter verbreitet war, davon giebt auch die grosse Zahl
der Abschriften des gefälschten Briefwechsels Zeugniss Allein
auf der Pariser Bibliothek zählt P^leury 29, im Ganzen über 60
und bemerkt, dass in Wirklichkeit noch weit mehr existiren
(II 290)
Nachdem nun die Schriften des Alterthums durch den
Buchdruck allgemein zugänglich gemacht waren, ist es mit in
erster Linie Lucius Seneca, der unter allen ^ europäischen
Nationen die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Folgend dem
Vorgange der lateinischen Väter findet man in den Schriften
Senecas zahlreiche Anklänge an das Christenthum, und es
entsteht das Bestreben, diesen Schatz im apologetischen und
praktischen Sinn auch den Nichtgelehrten nahe zu bringen.
Man begnügte sich dabei nicht mit der Herausgabe und
Erklärung dieser Schriften, man übersetzte sie im Ganzen und
vorzugsweise die moralischen Briefe und andere besonders
geschätzte Abhandlungen in fast alle europäischen Sprachen
ja, man verfasste einen ,, Seneca Christianus", sowie einen
, »christlichen Seneca" (Fabricii Bibliotheca latina. Ed. J. A.
Ernesti II 103 — 22). Der volle Gegensatz zu jenen den Seneca
verurtheilenden Stimmen wird uns aber erst klar, wenn wir aus
den drei Nationen Englands, Deutschlands und Frankreichs
28
einzelne Repräsentanten, welche das Lob Senecas bis in die
neueste Zeit fortgesetzt haben, vernehmen.
Thomas Gataker, ein sehr achtbarer Theologe des 17. Jahr-
hunderts, hält den Seneca für sehr würdig, dass er nicht nur von
denen, welche der profanen Wissenschaft, sondern auch von
denen, welche der Theologie sich befleissigen, sorgsam gelesen
werde (Comment. Th. G. London 1645 praef). Joseph Haie,
Bischof von Norwich ( -j- 1656), welcher der englische Seneca
genannt wurde, behauptet: „nie hat ein Heide göttlicher
geschrieben als Seneca" (Fleury I 4^ Charles Merivale
gesteht zwar Schwächen zu, ja sogar einzelne verbrecherische
Thaten des Seneca, dessen ungeachtet findet er bedeutsame
Berührungspunkte zwischen Paulus und Seneca und rühmt an
Seneca das Bestreben, die Menschen bilden und von ihren
moralischen Krankheiten heilen zu wollen, in welcher Beziehung
Seneca einen höheren sittlichen Ernst offenbare, als Cicero
(History of the Romans under the empire VI 233, 234 291 292
London 1858).
Was Deutschland anbelangt, so ist vor Allem merkwürdig,
dass zwei Männer, welche anerkanntermassen tief in den Geist
des Christenlhums eingedrungen sind, eine Geistesgemeinschaft
mit Seneca nicht verleugnen. Thomas a Kempis, den wir zu
den Deutschen im weitesten Sinne zählen müssen, schreibt:
,,dixit quidam : quoties inter homines fui, minor homo vadii"
(De imitatione Christi, I 20 2). Dieser ,, quidam", der nach
Thomas das Geheimniss der Einsamkeit erkannt hat, ist Seneca
(Epist. VII 3). Noch merkwürdiger ist der Ausspruch von
Johann Arndt, dem Verfasser des ,, Wahren Christenthums".
Derselbe schreibt an Joh. Gerhard: ,, Inter omnes philosophos
neminem scio qui ex spirito scripserit (qui ubi vult spirat)
praeter unum Senecam" (Herzogs Realencyclopädic I 537).
David Chytraeus hat Senecas Schreiben ad Marciam heraus-
gegeben und commentirt. Der fromme Graf Rochus von
Lynar (7 178 1) übersetzte Senecas ,,de dementia" und andere
Schriften desselben. Auffallend ist, dass ein deutscher Ver-
treter des modernen Lutherthums sich den entschiedenen
Verurtheilern Senecas zugesellt hat. Uhlhorn sieht in den
29
Moralpredigten Senecas nichts als Worte und behandelt alle
bösen Gerüchte über Seneca als Wahrheit (Kampf des Christen-
thums mit dem Heidenthum p. 6^ 68, cfr. p. 97). Ein anderer
Lutheraner der Gegenwart, Luthardt, hält es für möglich, dass
Seneca vielleicht einige christliche Worte gehört und sie für
seine Gedanken verwendet (Die antike E>thik, 1887, p. 154)-
Auf das deutsche Gemüth hat der Bericht des Tacitus
über das Ende Senecas grossen Eindruck gemacht. Ewald
von Kleist hat diesen Bericht zu einem formal allerdings ver-
fehlten dramatischen Versuch verarbeitet. Spalding, ein sitten-
strenger Philologe, wie er uns aus seinem Briefwechsel mit
Schleiermacher und aus der Biographie seines Vaters bekannt
ist, hat am lo. November 1803 in der Berliner Akademie eine
Abhandlung über die Trostschrift Senecas an Polybius vor-
getragen. Das Schreiben Senecas aus dem Exil an den
freigelassenen Polybius ist der grösste Stein des Anstosses für
alle, denen an Seneca etwas gelegen ist, die sich aber bei
dem Ausspruch von Theodor Mommsen nicht beruhigen
können; es ist diejenige Schrift, über welche Lipsius ausruft:
,,pudet, pudet!" Einige haben durch Annahme der Unächt-
heit Senecas Ehre retten wollen. Obwohl Spalding diese
verzweifelte Ausrede verwirft und also das in der unerhört
servilen Schmeichelrede liegende Aergerniss zugeben muss,
lässt er sich in dem Glauben an den sittlichen Gesammt-
charakter des Mannes nicht irre machen. Spalding behauptet:
,,wer eine Seele wie Tacitus so einnehmen, so begeistern
konnte, der musste nach glaubwürdigen Zeugnissen in Rom
ein edler, ein grosser Mann gewesen sein". Spalding leugnet
nicht die Schwächen Senecas, aber er warnt: ,,die Tadler
müssen nicht als Niederträchtigkeit rügen jede Anbequemung
zum Sprachgebrauch der Höfe" (Abhandlungen der Akademie
1806, p. 217 225). Schlosser beruft sich in seiner Würdigung
Senecas auf die erhabene Schilderuno; seines Todes bei
Tacitus, den er einen Schüler Senecas nennt (Universal-
geschichte der alten Welt III i 42) C. Brandis urtheilt über
Seneca wie folgt: ,, nicht selten durchbricht die Wärme sittlicher
Ueberzeugung das Pathos hohler Rhetorik", ,,eine edlere Natur
30
ringt mit den Verlockungen seiner schlüpfrigen Stellung in
einer verderbten Zeit" (Griechische Philosophie im römischen
Reich, 1862 u 64, III 258) F. Baur kommt in seiner Ab-
handlung über das Verhältniss zwischen Paulus und Seneca zu
dem Ergebniss, dass gewisse durchschlagende religiöse und
moralische Hauptgedanken in den Schriften Senecas ganz nahe
an die Grenze der christlichen Denkart, wie sie namentlich in
den Briefen des Paulus dargestellt ist, anstreifen (Hilgenfeld:
Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie I 171 207 212 450),
was ja im Wesentlichen mit dem Standpunkt des Lactanz
übereinstimmt. Aehnlich behauptet der Strassburger Theologe
C. Schmidt, dass gewisse Grundgedanken, die in Senecas
Schriften enthalten sind, nicht ohne bewusste, oder auch un-
bewusste Wirkung des Christenthums erklärt werden können
(C. Schmidt: Die bürgerliche Gesellschaft und ihre Umwand-
lung durch das Christenthum. Aus dem T^anzösischen von
Richard, p. 201 202). Friedländer rühmt Seneca als den
Einzigen, der seine Stimme gegen den unmenschlichen
Gladiatorenkampf erhoben hat (Sittengeschichte II 373, 5. Aufl.,
cfr. Seneca : Ep. YII 2, XC 45), und behauptet von der Sittenlehre
Senecas, dass sie wesentlich mit der christlichen übereinstimmt.
Zeller zählt Seneca zu den besten Männern seiner Zeit (Ge-
schichte der griechischen Philosophie III i 640). Und wenn
er von der Stoa überhaupt urtheilt, dass, wenn sie selbst in den
Zeiten des tiefsten Sittenverfalls noch einen Musonius, einen
Epiktet und einen Marc Aurel bilden konnte, dieses der stoischen
Philosophie zum unvergänglichen Ruhme gereiche (III i 684),
so kann dem an der versuchlichsten Stelle lebenden und
wirkenden Stoiker sein Theil an diesem Ruhme nicht ab-
gesprochen werden. Peter schreibt: „Seneca erhebt sich über
Alles, was sonst die Ethik des Alterthums hervorgebracht", --
,,er berührt sich in den Ausdrücken nicht selten in auffallender
Weise mit dem Christenthum" (Geschichte Roms III 345 346 2. A).
A. Schmidt lobt Seneca neben Thrasea und Musonius als
öffentlichen Charakter und als Märtyrer der Freimüthigkeit
(Geschichte der Denk- und Glaubensfreiheit 223 345 346),
Nissen erkennt in der humanen Ansicht Senecas von dem
Sclaventhum einen entschiedenen Fortschritt (Sybels historische
Zeitschrift i868 2 242). Dr. Bestmann schreibt über
Seneca: ,,er macht einen bleibenden Eindruck; er ist der
einzige selbstständige Philosoph, den Rom hervorgebracht"
(Geschichte der christlichen Sitte II 383 384). In seiner
römischen Geschichte hat Peter sorgfältig Licht- und Schatten-
seiten Senecas neben einander gestellt (III 344 352). Eine
ausführlich motivirte Anerkennung der politischen, moralischen
und humanen Grundsätze Senecas hat jüngst L. v. Ranke
veröffentlicht (Weltgeschichte III i 132 — 142). Eine Apologie
des Seneca bietet das Schulprogramm: L. Annaeus Seneca
und sein Werth auch für unsere Zeit von F. Boehm, Berlin
1856. Die Schrift enthält treffliche Bemerkungen gegen die
Ankläger Senecas, von dem nur bedauert wird, dass er den
Selbstmord vertheidigt. Der Verfasser gelangt zu folgendem
Ergebniss: ,, Seneca ist ohne zu wissen und zu ahnen eirt
Commentator des gleichzeitig mit ihm lebenden und wirkenden
grossen Apostels der Heiden (p. 43). Auch Keim betont
nachdrücklich die Verwandtschaft vieler sittlicher und religiöser
Ideen bei Seneca mit dem Christenthum (Rom und Christen-
thum, herausgegeben von H. Ziegler 1881 p. 32 33 144).
Vor Allen aber sind es die Franzosen, welche, wie
Niebuhr (Vorträge über röm. Geschichte III 185)^ und Gerlach
(Histor. Studien, p. 285) richtig bemerken, sich zu Seneca
hingezogen fühlen. Den Uebergang mögen machen Lipsius,
dieser Halbgermane und Halbromane. Derselbe, ein sehr
beweglicher Geist, hegt bekanntlich für Seneca eine begeisterte
Bewunderung. Er bekennt, dass Seneca ihm immer als ein
grosser Mann erschienen sei (Fabricius, II 107). Ueberhaupt
ist zwischen Lipsius und Seneca eine merkwürdige Geistes-.
Verwandtschaft. Ueber der Arbeit am Seneca ist dieser
holländische Philologe gestorben, und die letzten Worte aus
seiner Feder athmen ganz und gar Geist und Stil des
römischen Stoikers (Fromond in der Ausgabe des Seneca.
Amstd. 1672, II 870). Kein Geringerer als Calvin ist der-
jenige, welcher nach dem Ende des Mittelalters die Reihe der
auf französischem Boden dem Seneca gewidmeten Arbeiten
32
eröffnet: ,,Lucii Annaei Senecae Romani senatoris et philo-
sophi clarissimi libri duo de dementia ad Neronem Caesarem
illustrati commentarii J. Calvini. Paris, 1572 (Corpus Reforma-
torum, Vol. XXXIII, p. 6 — 162). Eine Jugendarbeit, in welcher
Calvin seine Belesenheit in der antiken Literatur darlegt und
den Seneca gegen einige Vorwürfe von Quintilian und Gellius
in Schutz nimmt. Antonius Muretus hat am 3. Juni 1573 in
Rom eine Rede gehalten über Senecas Schrift ,,de Providentia"
und bei diesem Anlass den Stoiker verherrlicht. Höchst
bemerkenswerth ist das Urtheil des Isaak Casaubonus, dass
nämlich Seneca Vieles schreibe, was ohne den Sinn wahrer
Frömmigkeit nicht verstanden oder geglaubt werden könne
(Bei Friedländer: Roms Sittengeschichte III 601). Lange
bevor Diderot dem Namen Senecas in Frankreich einen neuen
Glanz verlieh, war man dort darauf aus, die Gedanken Senecas
für das sitthche Leben zu verwerthen. Beweis dafür ist
folgende Schrift: ,,L'esprit de Seneque ou les belles pensees
de ce grand philosophe enseignant 1 art de bien vivre pour
servir de guide ä nos passions, practiquer la vertu et fuir les
vices." (Paris, 1680, 1681, 4 Bände). Der neueren Zeit an-
gehörig hat eine ähnliche Tendenz: ,, Pensees de Seneque par
Beumelle pour servir ä l'cducation de la jeunesse." (Gotha, 1754,
2 Theile). Im 9. und 10. Band der Oeuvres de D. Diderot,
herausgegeben von J. A. Xaigeon, Uebersetzer des Seneca,
Paris 1798, finden sich die höchst charakteristischen Urtheile
Diderots über Seneca. Im 60. Lebensjahre hat er dieses Urtheil
widerrufen und in sein Gegentheil verwandelt (T. VIII 320)
Früher Einer ihres Gleichen erklärt er jetzt die Verächter
Senecas, zu denen auch de la Mettrie zählt, Verfasser von
,,rhomme machine" und von ,,Anti-Seneca" (p. 389 — 39 ij, ent-
weder für engherzige Verkleinerer der heidnischen Tugenden
oder für epikureische Hasser der sittlichen Strenge (IX 158).
Diderot leugnet die Schwächen Senecas nicht, aber er ruft
den Tadlern und Verächtern desselben das auch heute noch
beherzigenswerthe Wort zu: ,, Versetzt euch in die Tage des
Erziehers und Ministers in den Tagen des Claudius und des
Nero und dann macht es besser" (VIII 108). F.v behauptet, es
33
ist unmöglich, einem Menschen eine Bahn vorzuzeichnen, , »welche
schwieriger und schRipfriger für die Tugend wäre, als das
Geschick Senecas" (IX 170 171). Zu folgendem Bekenntniss
angesichts der Schriften Senecas sieht sich Diderot veranlasst:
,,Seneca ist das Brevier der rechtschaffenen Leute" (VIII 420),
,,ich schäme mich meiner Schwachheit und beuge mich vor
der Tugend Senecas" (p. 479), ,,die Bücher de beneficiis
habe ich viermal gelesen und war zu Thränen gerührt" (IX 38),
,,ach, wäre ich im 30. Jahr eingeweiht in die Principien
Senecas, welche Freude würde ich diesem Philosophen ver-
danken oder vielmehr, wie viel Kummer würde ich mir erspart
haben ; in einem Alter, in welchem man sich nicht mehr
bessert, lese ich Seneca nicht ohne Nutzen" (p. 150 159).
Das überschwängliche Lob Senecas von Diderot hat nichts
gemein mit der im Mittelalter herrschenden Voraussetzung
einer mehr oder minder intimen Berührung Senecas mit dem
Christenthum. Diese Voraussetzung ist in neuester Zeit auf
französischem Boden mit einer unglaublichen Kühnheit von
Unkritik wieder aufgenommen worden. Schon früher hatte
sich der Strassburger Schmidt für die Annahme einer bewussten
oder unbewussten Einwirkung des Christenthums auf Seneca
auf Troplong und Villemain berufen. Unter dem Titel:
,, Saint Paul et Seneque. Recherches sur les rapports du
philosophe avec l'apötre et sur l'infiltration du christianisme
naissant ä travers le paganisme. Paris, 1853 hat Amadee
Fleury ein zweibändiges Werk veröffentlicht. Fleury hat mit
Hinwegsetzung über alle Gesetze der Kritik die Christlichkeit
Senecas nicht mehr als Hypothese, sondern als ausgemachte
Thatsache behandelt. Nachdem Fleury eine Reise Senecas
nach Palästina angenommen hat, auf welcher er seine erste
Bekanntschaft mit der Bibel gemacht (I 154—157), ist es ihm
nicht mehr allzu gewagt, den Stoiker für einen biblischen,
orthodoxen Christen zu erklären; die Briefe des Johannes (I 61),
Trinität (I 96 97), apostolisches Symbolum (1 162) sind diesem
Seneca bekannte Sachen, der Gruss aus des Kaisers Hause
Philipp. II 22 ist Senecas Gruss (I 290 291). Seneca
schweigt von seinem Christenthum nach Fleury, weil er es
3
34
weder angreifen wollte, noch vertheidigen konnte (II 65 83 84).
Senecas Bekanntschaft mit den Evangelien und den Briefen
des Paulus (II 131) wird als unzweifelhaft vorausgesetzt.
Die Verdammung Senecas durch Suilius und die Christia-
nisirung desselben durch Fleury und Kreyher bilden die beiden
entgegengesetzten Pole der Beurtheilung dieses Mannes, jedoch
so, dass die Spuren jener Verdammung und dieser Kanonisirung
sich durch die Jahrhunderte hindurchziehen, ohne dass eine
Ausgleichung erfolgt oder auch nur ernstlich versucht worden
wäre. Fabricius macht in dem Abschnitt der Bibliotheca latina
über Seneca folgende Bemerkung: ,,est fatum haud infrequens
magnorum virorum, qui per encomiorum et obtrectationum sese
mutuo conficientium certamina famam ingentem ad posteros
propagant" (II 102). Wenn nun, wie P'abricius bemerkt, ein
so hartnäckiger Widerspruch zwischen Lob und Tadel das
Zeichen einer bedeutenden Persönlichkeit ist, dann muss es
unsere Aufgabe sein, den Werth dieser Persönlichkeit festzu-
stellen und damit zu versuchen, das vorliegende Problem zu
lösen.
II.
Senecas Lichtseiten.
Es giebt ein Gebiet, auf welchem man mit vollem Recht
vom Christlichen vor Christus sprechen kann. Es ist das
Gebiet der alttestamentlichen Ofifenbarung, und das Christliche
vor Christus ist hier das sogenannte Messianische : Die Yoraus-
darstellung Christi in typischen Schattenbildern, oder die
Vorausverkündigung Christi in prophetischen Gesichten und
Reden. Abgesehen aber von diesem Gebiet ist es, meines
Erachtens, mehr als fraglich, ob der erwähnte Sprachgebrauch
richtig ist, ob es erlaubt ist, auf dem Gebiet des Heidenthums
von Christlichem vor Christus zu sprechen. Dass hier diese
Frage aufgeworfen wird, erklärt sich daraus, dass, wenn dieser
Sprachgebrauch überall statthaft ist, kein Schriftsteller des
Heidenthums einen stärkeren Anspruch auf diese Ehre haben
würde als Lucius Annaeus Seneca. Vorhanden ist aber dieser
Sprachgebrauch und zwar nicht ohne berühmte Beispiele. Am
bekanntesten ist der Titel des Ackermannschen Buches: ,,Das
Christliche im Plato, 1835"-, gleichzeitig ist: ,,Das Christhche
im Tacitus" von Bötticher, 1840, und ähnlich ist der Titel:
^.Christliche Anklänge aus den griechischen und lateinischen
Klassikern" von R. Schneider, 2. A. 1877. Ja selbst das alt-
ehrwürdige Zeugniss eines strengen Grenzwächters zwischen
Christenthum und Heidenthum lässt sich für diesen Sprach-
gebrauch anführen (Tertullian : Apolog, XIII. De testimonio
animae, I 11 VI). Desungeachtet müssen wir uns doch zur
Benennung dessen, worin wir die götdiche Pädagogie auf
Christum innerhalb des Heidenthums erkennen, nach einer
3*
36
etwas g"enaueren Bezeichnung umsehen. Denn so wichtig und
nothwendig es ist, einem falsclien Supranaturahsmus gegenüber
ein ursprünghches und inneres Verliältniss zwischen Christen-
thum und der menschlichen Natur überhaupt und also auch
innerhalb des Heidenthums festzuhalten, so verlangt es anderer-
seits die Würde des Christenthums, dass Alles, was vermöge
dieses Verhältnisses von der menschlichen Seele auszusagen ist,
auf den Hegriff der reinen und blossen Empfänglichkeit zurück-
geführt werden muss. Diese Empfänglichkeit für Christum
beruht auf der Ereiheit und Selbstverantwortlichkeit, aufweiche
die Menschennatur angelegt ist. Die wirkliche Aktualität und
Vollendung dieser sittlichen Anlage ist im vollen Sinne einzige
und allein in Christus vorhanden, und jede zielbewusste An-
näherung an diese Vollendung beruht einzig und allein auf der
Wirkung Christi. Alles Christwerden, Christsein und alles
Christliche im vollen Sinne geht nur von Christus aus, hat
einzig und allein in ihm seinen Ursprung. Demnach kann es
Christliches im wahren Sinne nur geben seit dem Eintritt
Christi in die Geschichte und ist nur da vorhanden, wo die
menschhche Empfänglichkeit von diesem in die Geschichte
eingetretenen Christus befruchtet und in Aktivität gesetzt
worden ist. Da jedoch nach dem Zeugniss der heiligen Schrift
innerhalb Israels der Geist Christi auf den Eintritt Christi in
die Geschichte vorbereitet (i. Petri i, ii. 2. Petri i, 21), so
kann man allerdings im abgeleiteten Sinne von einer alttesta-
mentlichen Christlichkeit vor der Erscheinung Christi reden.
Ausserhalb der alttestamentlichen Offenbarung aber giebt es
ein anderes Verhältniss zu Christus nicht, als die in der all-
gemeinen sittlichen IVlenschennatur gestiftete Empfänglichkeit
für Christum und die so oder anders sich kundgebende
Aeusserung dieser Empfänglichkeit. Nun ist es eine That-
sache, dass man von Alters her bis auf den heutigen Tag in
Senecas Schriften eine Eülle von Gedanken, Sätzen und Aus-
drucken gefunden, welche an das Christenthum erinnern. Wir
werden diese Erscheinung nicht das Christliche in Seneca
nennen sondern dieselbe mit einem zusammenfassenden Aus-
druck als Senecas Lichtseiten bezeichnen und beschreiben.
37
Die so bezeichnete Eigenthümlichkeit in der Literatur
Senecas können wir nur verstehen und anschauHch machen,
wenn wir uns einen vorlaufenden EinbHck in den Charakter
derjenigen Welt und Zeit, welcher Seneca angehört, verschafft
jiaben.
Durch die Aufhebung der republikanischen Verfassung in
Rom und durch die Einsetzung des monarchischen Cäsarismus
ist eine gewaltige Veränderung in der römischen Welt vor
sich gegangen. ,,In Julius Cäsar war die höchste weltliche
und geistliche Macht vereinigt." So bezeichnet Drumann die
Allgewalt des beginnenden Cäsarismus (Geschichte Roms,
III 662, vgl. Keim: Aus dem Urchristenthum, p. 174, Tacit. :
Ann. III 58). Darum ward der Name Cäsar der Titel der
höchsten irdischen Grösse bis auf den heutigen Tag (Spartianus :
Vita Aelii Veri II ,,Caesaris nomen darum et duraturum cum
aeternitate mundi"). Man übersehe nicht, dass die Macht-
vollkommenheit Cäsars sich nicht bloss auf das äussere,
sondern auch auf das innere, auf das religiöse Gebiet erstreckt.
Was Cäsar begonnen, setzt Augustus mit aller Bewusstheit
und Absichtlichkeit fort. Nach dem Tode des Antonius wird
im Senat der Antrag gestellt, die eingetretene Epoche das
,,saeculum Augustum" zu nennen (Sueton. Octav. C). Dieser
Antrag entsprach auch dem Selbstbewusstsein^ des Augustus
selber, derselbe hatte von der mit ihm beginnenden Aera eine
sehr ausgeprägte Vorstellung, er konnte daher die ,,Alterthümler''
(antiquarios Suet. LXXXVI), die republikanisch Gesinnten
nicht leiden. Der Hauptcharakter dieser neuen Aera ist die
Erhöhung eines Einzelnen nicht bloss zum Herrscher der
Römer, sondern auch zum Haupt der Menschheit (Tacit:
Ann. III 58 59, XIII 14, XV 47. Histor. III 68, IV 54. Plin. :
Ep. X 60 103. Ovid ad Liviam, 473). Wie sehr aber das
.altrömische Bewusstsein gegen die Alleinherrschaft eines
Einzelnen sich auflehnt, beweist noch der späte Victor, welcher
schreibt: ,,etiam mos Romae incessit, uni prorsus parendi
-(Caesares, I).
Die Umwälzung des antiken Bewusstseins, welche mit der
Aufrichtung der Monarchie in Rom in der Gestalt des Cäsaren-
:]8
thums verbunden war, zeigt sich uns am übersichtlichsten, wenrr
wir uns die Berathung, welche Augustus mit Agrippa und Maecenas
über die Wahl der künftigen Regierungform anstellte, vergegen-
wärtigen. Es wird nämlich allgemein und mit Recht an-
genommen, dass die Reden der beiden Staatsmänner, welche
Cassius Dio LH 36 i — 4 berichtet, wenn auch nicht wörtlich sa
gehalten, doch der öffentlichen Sachlage entsprechen und die
Grundzüge darlegen, nach welchen die Staatsverwaltung der
Cäsaren sich im Grossen und Ganzen thatsächlich gerichtet hat.
Agrippa, der die Republik vertheidigte, bemerkte, ein Haupt-
gebrechen der Monarchie sei, dass Jeder mit seinem besten
Wissen zurückhalte, dagegen die Denkart des Fürsten sich
zur Richtschnur nehme, so dass auch Niemand nur scheinen
wolle, überhaupt das Gute selbst zu kennen und zu haben
(.,0'JOEi: O'JT C103V7.1 O'JT 2/31V OOXclV j3ouAET7.l TO aYOcOo'v). Mit
diesem starken Wort ist also ausgesprochen, dass die Monarchie
die moralische Selbstständigkeit der Einzelnen sogar bis auf
den Schein vernichtet. Schärfer ist die in dem Absolutismus
liegende V^ersuchung niemials verurtheilt worden. Man beachte,,
dass bereits in dem Beginn des Cäsarismus ein klares Bewusst-
sein über die Versuchung und Gefahr des Absolutismus für
den Bestand der Sittlichkeit vorhanden ist. Diesem gegenüber
errichtet nun Maecenas, als Ersatz dieser individuellen Selbst-
ständigkeit das absolute Regiment der Monarchie, vornämlich
in der höchsten Angelegenheit der Menschheit, in der Religion,
sowie in dem Gebiet des Denkens überhaupt. Maecenas giebt
dem Augustus folgenden Rath : ,, Verehre selbst die Götter, wie
sie das Vaterland verehrt, und halte die Anderen dazu an.
Wer fremden Gottesdienst einführen will, den hasse und
bestrafe, weil solche Menschen Viele auch zu fremden Sitten
v^erführen. Daraus entstehen Verschwörungen und Parteiungen,
gleichwie Gesellschaften. Dulde daher keinen Verächter der
Götter, keinen Wunderthäter. Viele sind durch solche Leute zu
kühnen Unternehmuns^en verleitet worden. Dasselbe thun auch
Viele, die sich den Namen von Philosophen geben, auch mit
diesen musst du dich in Acht nehmen, unzähliges Unheil haben
.solche Leute mit diesem Namen über Städte und Einzelne
gebracht." Mit diesem Ratli ist die religiöse, moralische
intellectuellc Selbstständigkeit von vorneherein verdächtigt und
verdammt, und wird der absolute Stillstand im Reich des
Cieistes, überwacht durch die Gewalt, als Heil der Welt
proclamirt.
Die Tragweite der grossen Verwandlung, welche in diesen
Rathschliigen der beiden Politiker des Augustus enthalten ist,
und die nach dem Rath des Maeccnas im Lauf der Zeit zur
Ausführung und zur Verwirklichung gelangen, können wir erst
dann ermessen, wenn wir auf den moralischen Charakter der
republikanischen Zeiten in Rom zurückschauen Zwei Dichter,
die den beiden letzten Jahrhunderten vor Christus angehören,
bezeichnen uns diesen Charakter in folgenden Versen :
,,Antiquis moribus stat res Romana virisque"
(Ennius Cicero de republ. V i).
,,Virtus id dare, quod re ipsa debetur honori
Hosten! esse atque inimicum hominum morumque malorum ;
Contra defensorem hominum morumque bonorum,
Magnificare hos, his bene velle, his vivere amicum.
Commoda praeterea patriae prima putare,
Deinde parentum, tertia jam postremaque nostra."
(Lucilius Anthologia latina, ed. Meier p. 8 g)
Was Ennius unter den Sitten und Männern der Vorzeit,
diesen Säulen des römischen Staates versteht, das hat Lucilius
allerdings nicht in so eleganten Versen, wie Horaz sie liebt,
aber mit desto deutlicheren Worten beschrieben, indem er den
Gehalt der altrömischen virtus darlegt , Hass gegen alles
Böse, Schutz für alles Gute fordert und in der Rangordnung
der sittlichen Güter obenan das Vaterland stellt, darauf die
Familie folgen lässt und an den dritten und letzten Platz das
Individuum verweist. Ebenso beschreibt Lucanus den jüngeren
Cato, dieses Vorbild republikanischer Tugend in den Augen
aller republikanisch Gesinnten in der Cäsarenzeit (Pharsal. III
379 — 390- Je schmerzlicher Cicero sich überzeugt, dass das
Wesen der altrömischen Republik bereits vor der Zeit des
ersten Triumvirats untergegangen war (,,reni publicam verbo
retinemus, re ipsa jam pridem amisimus" De republ. V i),
40
desto ernstlicher bemüht er sich, die staatsbürgerliche Gesinnung,
Leistung und Opferfähigkeit als den wahren Sinn der römischen
virtus festzuhalten. ,,Usus virtutis maximus civitatis guber-
natio" (De republ. I 2). ,,Neque est ulla res, in qua propius
ad deorum numen accedat virtus humana, quam civitates aut
condere aut conservare jam conditas" (ibid. I 7 20, III 3, V 6).
Uebrigens ist diese Grundbeziehung der römischen virtus auf
das öffentliche und politische Leben der antiken Moral über-
haupt eigenthümlich. Die Politik bildet in der Schule des
Pythagoras den Schluss. Nur den gereiften Schülern wurde
diese Wissenschaft mitgetheilt, denn diese Disciplin sollte
Männer bilden, welche in dem Meer des öffentlichen Lebens
der Brandung wie ein Felsenriff Trotz bieten könnten. Es ist
aber für die sittliche Schätzung Senecas nicht unwichtig
zu bemerken, dass dieser Grundgedanke der antiken Moral
zugleich einen allgemein menschlichen und absoluten Werth
hat. Augustinus, der scharfe christliche Censor des heidnischen
Wesens, unterlässt nicht, die grossen Beispiele der römischen
virtus seinen christlichen Brüdern als Vorbilder zu empfehlen,
und eben die gepriesene virtus, dieser grosse hohe Sinn lür die
Hauptgüter der Menschheit, dieser sittliche Kern der antiken
Kultur ist das, was Niebuhr sich und seinen Kindern wünscht
(Kleine Schriften I 478J, ist das, was Dante und Milton in
der antiken Humanität finden und verehren.
So lange nun die republikanische Staatsform in Rom noch
nicht zerbrochen und in eine monarchische umgewandelt war,
ist die Versuchung, von der virtus abzufallen, noch nicht
allgemein. Als aber Augustus die Zügel in die Hand nahm, trat
ein, was uns Tacitus mit seinem klassischen Satz beschreibt :
,,cunctos dulcedine otii pellexit" (Ann. I 2). Nachdem das
öffentliche Wesen dem Volke entzogen, einem Einzelnen in die
Hand gelegt war, fing man allgemein an, beim Epicur in die
Schule zu gehen, der die Enthaltung von öffentlichen Geschäften
empfahl, den der ältere Plinius daher äusserst treffend den
,,magister otii", den Schulmeister des Schlaraffenthums nennt
(H. N. XIX 19, cfr. Seneca de constantia XV 4 ,,Epicurus
patronus inertiae").
41
Wir können diese entsittlichende Wirkung des Cäsaren-
thums in Thatsachen verfolgen. Der Herrscher auf dem
Cäsarenthron, so wurde bereits unter Tiberius im römischen
Senat verkündigt, ist durch göttliche Gnade in einer Person
der höchste Priester und der höchste Mensch, keiner Eifersucht,
keinem Hass, überhaupt menschlichen Eindrücken nicht unter-
worfen. Der höchst merkwürdige Ausspruch lautet: ,,Deum
munere summum pontificum etiam summum hominum esse,
non aemulationi, non odio aut privatis affectionibus obnoxium"
(Tacit. Ann. III 58). Eine offenbar ganz übermenschliche
Vorstellung von dem römischen Cäsar und dem Oberpriester
auf dem Thron der Weltherrschaft, eine heidnische Vor-
bedeutung des infallibeln Papstthums mit der gleichen verderb-
lichen Wirkung. Unter dem Einfluss einer solchen über-
spannten Vorstellung und Selbstüberhebung unternimmt Augustus
vermittelst der ihm übertragenen ,,cura legum et morum"
(Peter Geschichte Roms III 35 36) das Werk auf neuer Grund-
lage zu fördern. Seine Mittel sind Lockungen und Schrecken,
die auf die Sinnlichkeit gerichteten Werkzeuge der höchsten
unentrinnbaren Weltherrschaft. Die Consequenz ist, dass die
wahre Absolutheit des Gewissens verwandelt wird in die Ab-
hängigkeit von der falschen Absolutheit der höchsten weltlichen
Gewalt. Hinfort giebt es demnach keine wahrhaft absoluten
Güter, Pflichten und Tugenden, es giebt nur Opportunes und
Unopportunes, beides abhängig von der jedesmaligen Willkür
der höchsten weltlichen Gewalt. Es droht also die Gefahr,
dass die sittliche Anlage der Menschennatur ausgelöscht, und
damit die Voraussetzung, unter welcher allein die neu-
schaffende Einwirkung Gottes auf die Menschheit möglich ist,
zerstört wird.
Cicero hat den Verlauf des sittlichen Niederganges in der
grossen Zeitwende der inneren Auflösung der Republik vor-
trefflich geschildert In der Rede pro Caelio sagt er : ,,Die
Tugenden der Vorzeit sind im Leben nicht mehr zu finden,
selbst die Bücher, in denen dieselben beschrieben werden, sind
veraltet" (XVII). In der Rede pro Sestio giebt er eine für
alle Zeiten lehrreiche Charakteristik des Verhaltens der Guten
42
einerseits und der Schlechten andererseits in grossen Krisen,
„Das Staatswesen", sagt er, ,,\vird mit viel grösseren Macht-
und Hülfsmitteln feindhch angegriffen als vertheidigt; denn die
Schlechten sind viel wachsamer und rascher, als die Guten.
Diese trachten nach dem otium, natürlich nach dem otium
cum dignitate, aber da sie zu langsam und zu schwerfällig
sind, kommen ihnen die Schlechten zuvor, und die Guten sinken
weit hinab, indem sie sich sogar mit otium sine dignitate
begnügen, wovon denn die Folge ist, dass sie sowohl die
Würde als auch das bequeme Wohlleben verlieren" (Pro
Sestio XLV XLVI).
Sallust und Attikus ziehen sich vom öffentlichen Leben
zurück, sie suchen und erlangen das otium cum dignitate. Die
beiden gefeierten Dichter, welche die Gunst des Cäsarhofes
geniessen, was lieben und \'erherrlichen sie mehr, als das
otium, als den Stand procul negotiis.' (Horaz Carm. II i6 i — 8,
IV J5 1/ i8, Ep. I 7 36, Yirgil P:cl. I 6, ,,Deus (Augustus)
nobishaec otia fecit", Georg. IV 564, II 468, III 377, A. IV 271,
VI 813). Diesen Beiden wird man auch wohl neben otium die
dignitas zuerkennen müssen. Bei Lucretius dagegen sind wir
schon an der Grenze der zweiten .Stufe nach Ciceros Beschreibung
angelangt.
Lucretius beschreibt sein Zeitalter als ein Missgeschick
des Vaterlandes, ,, patriae tempus indignum" (I 42), und darum
verkehrt er den altrömischen Grundtrieb (Virgil A. VI 851) in
das gerade Gegentheil (V 11 24 1126). Catull war nicht bloss
innerlich zerfallen mit Cäsar und seinen Geno.ssen, sondern
äusserte auch seinen bitteren Unwillen öffentlich (Carm, XXIX
LIV LVII) und war allgemein bekannt als Verfasser von
leidenschaftlichen Invectiven gegen Cäsar (Tacit. Ann. IV 34,
Sueton Caes LXXIll). Nun zeigen viele Spuren in den
Dichtungen Catulls, dass ihr leidenschaftlicher Verfasser,
abo^estossen von der Verderbniss des öffentlichen Lebens, tief
in das Sündenleben des otium sine dignitate versunken gewesen.
Keiner aber ist so tief, man möchte sagen, so innig eingetaucht
in den neuen Geist und Geschmack der cäsarischen Zeit, als
Ovid. Wenn er aucli den Epicur nicht nennt, der Grundsatz
43
dieses Meisters des verborgenen Stilllebens ist ihm geläufig:
,,Crede mihi, bene qui latuit bene vixit" (Trist. III 4 25).
Eigene Erfahrung und Beobachtung Anderer haben Ovid
gelehrt, dass otium die Geburtsstätte und die Wohnung der
ungezügelten Sinnlichkeit ist, dass daher, wer sich von dem
Joch dieser Leidenschaft befreien wolle, sich mit den ernsten
Geschäften des öffentlichen Lebens befassen miasse (Rem.
A. 136-154). Wenn man diesen psychologischen Erfahrungssatz
eines eingeweihten Kenners zusammmenhält mit der Behauptung
des Tacitus: ,,Augustus dulcedine otii cunctos pellexit", dann
kann man sich einigermassen eine Vorstellung machen von
dem jähen und allgemeinen Niedergang der römischen virtus
in Folge des cäsarischen Regiments, welches Alles in die
Hand nahm und dann das unmündige und müssige Volk mit
Schauspielen ergötzte.
Es eab aber in der cäsarischen Zeit nicht bloss ein
otium, welches der sittlichen Menschennatur feindlich war,
sondern auch ein mit dem otium eng verbundenes servitium,
welches ebenso sehr die sittliche Anlage gefährdete. Nachdem
Tacitus in wenigen drastischen Zügen die Selbsterhebung des
Cäsar, der die bisherige Machtvollkommenheit der Magistrate
und der Gesetze auf seine Person übertrug, geschildert, schreibt
er (Ann. I 7) ein furchtbar vernichtendes (Jrtheil nieder über
Alles, was ausser dem Cäsar in der römischen Welt vornehm
war, und das thut der Historiker, den Viele in neuester Zeit
der Parteilichkeit für die Aristokratie beschuldigen! Dieser
ernste Historiker, der seine Berichterstattung als ein sittliches
Censoramt betrachtet und behandelt (Ann. III 65), charakterisirt
das römische Staatswesen mit diesem kurzen Worte: ,,Civitas
pavida et servitio parata" (Hist. IV 2). Tacitus hat auc
nicht versäumt, an einem hervorragenden Bei.spiel den sittlich
verderblichen P^influss des cäsarischen Absolutismus auf die
Gesinnung der Staatsbeamten aufzuweisen. Er erzählt, dass
L. Vitellius unter Tiberius eine grosse Präfektur im Orient
verwaltete und zwar ,,prisca virtute". Derselbe versank nach
seiner Rückkehr unter Caligula und Claudius in die nieder-
trächtigste Unterwürfigkeit. Wenn Tacitus hinzufügt, dass
44
Vitellius in der Folgezeit als Exempel kriechender Ehrlosig-
keit galt (Ann. VI 32), so hat Sueton dieses widrige Bild
eines hochstehenden durch den Cäsarkultus verdorbenen Staats-
mannes weiter ausgeführt (Vitellius II). Wohin diese Ver-
derbniss schliesslich führt, enthüllt uns Cassius Dio, der. schon
oben als Senator und hochgestellter Staatsbeamter erwähnt,
ohne Scham und Gram den ganzen römischen Senat in einer
schamlosen Lüge und Niederträchtigkeit handelnd darstellt
(LXXIX 2).
Otium und servitium sind zwei verderbliche Mächte der
Cäsarenzeit, welche darnach angethan sind, alles in der
Menschennatur angelegte Ideale zu vernichten. Die unter dem
Einfluss des Cäsarismus verderbte Sprache nannte ,, Verführen"
und ,, Verführt werden" Lebensart oder Zeitgeist (,,Corrumpere
et corrumpi saeculum vocatur'^ Tacit. Germ. XIX). Das
Saeculum, welches ursprünglich Augustum, das Hochhehre,
genannt wurde, wird in kurzer Zeit die conventioneile Bezeich-
nung eines Sumpfes sittlicher Fäulniss und Falschheit I
Aus dieser vorläufigen Signatur des römischen Cäsarismus
erhellt fürs erste soviel, dass wenn von Lichtseiten in einer
Persönlichkeit dieser Zeit die Rede sein soll, diese Persönlichkeit
vor Allem in einem unzweifelhaften Antagonismus gegen den Geist
dieser universalen sittlichen Verderbtheit begriffen sein muss.
Dieser Antagonismus nun ist bei Lucius Seneca ein Erbtheil
seiner Familie. Seneca stammt aus der Provinz und nicht aus
Rom, wo sich die Hefe der Corruption von allen Seiten her
(laex mundi) anhäufte. Zu den ersten Schriften Senecas
<'-ehört die ,,Consolatio ad Helviam matrem". Indem er hier die
Mutter wegen seiner Verbannung auf Corsica zu trösten sucht,
erfahren wir einzelne Züge, welche die Mutter als eine vortreff-
liche Matrone charakterisiren. Es ist ein grosses Lob, welches
der Sohn dieser Mutter ertheilt hat (XVI 3), und wenn auch
die rhetorische Paeder des Sohnes etwas übertreibt, so viel
muss jedenfalls anerkannt werden, dass die Helvia in einer sehr
verderbten Zeit und Umgebung — (sie war zu Zeiten auch in
^om) — als ein Vorbild weiblicher Tugend dasteht. Und
mit einer solchen Mutter steht der mehr als 40jährige Sohn in
45
einem zärtlichen Liebesverhältniss. Auch die ausgezeichnete
Schwester der Mutter ist hier um so weniger zu übergehen, da
diese Tante den jugendhchen Seneca in Rom einführt und für
ihn die Bewerbung um die Quästur unterstützt hat. Die Liebe,
mit welcher Seneca das Bild dieser Tante als einer der edelsten
Römerinnen jener Zeit beschreibt, beweist, dass ihre Tugend
auf das Gemüth des Neffen einen bleibenden Eindruck gemacht
hat. Auch von dem Vater Senecas wissen wir genug, um ihn
in den Orden derjenigen einzureihen, welche in dem Bewusst-
sein früherer besserer Zeiten sich dem Andrang des wachsenden
allgemeinen Verderbens entgegenstemmten. Marcus Seneca
lebte eine Zeit lang als Rhetor in Rom, ist sich dessen aber
bewusst, dass die Redekunst mit dem Aufhören der Oeffent-
lichkeit in Verfall gerathen ist. ,,Jam res taedio est", sagt er
seinen Söhnen, ,,jam pudet, quamdiu non seriam rem agam, —
scholastica studia leviter tractata delectant, contrectata et
propius admota fastidio sunt" (M. A. Senecae Rhetoris opera
p. 318). Dabei ist es ein liebenswürdiger Zug, dass er in
seinem hohen Alter auf Bitten seiner Söhne sich dazu versteht,
Redestücke von berühmten Autoritäten, die er in Rom gehört,
vor ihnen aus dem Gedächtniss zu recitiren. In der Vorrede
zu dem ersten Buch der Controversiae stellt er seinen Söhnen
der verderbten Zeit gegenüber den Cato als göttliches Orakel
vor (p. 61 62). In der Vorrede zum fünften Buch erzählt er
die ergreifende Geschichte des Labienus, der, entrüstet über
die gewaltsame Verbrennung seiner Schriften, sich in dem
Grabmal seiner Vorfahren einschloss und sich nicht bloss
tödtete, sondern sich auch selbst begrub (p. 319 — 321). In der
Vorrede zum zweiten Buch der Controversiae an seinen Sohn
Meta erwähnt er die Philosophen Fabianus und Sextius (p. 139),
welche, wie wir später genauer sehen werden, durch ihren
sittlichen Ernst auf den Sohn Lucius einen grossen Einfluss hatten.
Dagegen fällt der ältere Seneca in dem gleichen sittlichen Ernst
über Ovid folgendes Urtheil: ,,hoc saeculum amatoriis non
tantum artibus, sed etiam sententiis implevit" (Controv. III 7).
Noch ist ein bedeutsames authentisches Zeugniss für die
streng republikanische Gesinnung des älteren Seneca zu
46
beachten. In den von Xiebuhr aufgefundenen Fragmenten des
Lucius Seneca (Rom, 1820J ist eine Notiz, welche besagt,
dass Seneca, der Vater, eine römische Geschichte von Anfang
der Bürgerkriege bis zu seinem Tode als fertiges Manuscript
hinterlassen habe. Da nun der Sohn erklärt, dass er dieses
für die Oeffentlichkeit bestimmte ruhmwürdige Werk nicht
herausgegeben (L. Seneca, ed. Haase, III 436 437), so ist anzu-
nehmen, dass dasselbe in dem strengen Sinne der anticäsarischen
Opposition verfasst war. Es ist demnach auch sehr wahr-
scheinlich, dass das von Lactanz (Inst. VII 14 15) erhaltene
Fragment, das gewöhnlich dem L. Seneca zugeschrieben wird,
dem Marcus Seneca angehört und jenem Geschichtswerk ent-
nommen ist. In diesem Fragment wird der Verlauf der
römischen Geschichte verglichen mit dem Gang des Menschen-
lebens, dergestalt, dass die Zeit der Könige mit dem Kindes-
und Knabenalter, die Zeiten der die Welt erobernden Republik
mit dem Jünglings- und Mannesalter verglichen werden, nach dem
Bürgerkrieg und dem Verlust der Freiheit kommt das Greisen-
alter, welches sich in der Rückkehr zur Alleinherrschaft voll-
endet und als Rückkehr zur zweiten Kindheit darstellt (L. Seneca,
ed. Haase III 437. cfr. Flori res Romanae. Praefatio). Nach
dem Allen begreift es sich, dass Seneca den Vater nennt
,,virorum optimus, nimis majorum consuetudini deditus ' und
ihm ,,antiquus vigor" beilegt (Ad Helviam XVII 3 4); was
übrigens nicht so zu verstehen ist, als ob ihm alle Zärtlichkeit
abzusprechen sei, wogegen er ihn, die Mutter anredend, nennt:
,,carissimum virum tuum" (Ad Helviam II 4) und zweimal
ausdrücklich des Vaters liebende Fürsorge für des jugendlichen
Sohnes Gesundheit rühmt (Ep. LXXVIII 2, CXIII 2). Dass
Seneca die Erinnerung an den sittlichen Ernst seines Eltern-
hauses und seiner Verwandtschaft in seinem männlichen Alter
festhält und pflegt, das verdankt er vornämlich der sittlichen
Würde und Strenge derjenigen Lehrer, welche er in seiner
Jugend hörte, und deren Andenken er bis zum spätesten Alter
in begeisterter Liebe gefeiert hat.
Der Vater Seneca gedenkt in der Vorrede zum zweiten
Buch der Controversiae, wie schon erwähnt, des Sextius, den
47.
Fabianus gehört habe. In der Zeit des beginnenden grossen
Wendepunktes in den römischen Angelegenheiten entstand eine
Phiiosophenschule mit römischem Gepräge. An der Spitze
derselben standen die Sextii, Vater und Sohn, vornämlich der
Vater (S. Ep. LIX 7). Zwar ist Sextius Senior auch in Athen
gewesen (Plin. H. N. XVIII 28) und schreibt sogar griechisch,
aber sein Leben blieb römisch. ,,Virum acrem" nennt ihn
Seneca ,,graecis verbis romanis moribus philosophantem", und
zwar ist es offenbar das republikanische Römerthum, welches
er vertritt, denn er hat den Senatorenrang, den ihm Juhus
Cäsar anbot, ausgeschlagen. ,,Honores repulit pater Sextius''
(S. Ep. XCVIII 13). Nun gewinnen die Worte: ,,Sextiorum
nova et Romani roboris secta" (S. Q. N. VII 32 2) einen
gewichtigen Sinn. Hier ist die Spur, die uns von dem
älteren Seneca zu dem jüngeren hinüberführt. Dieser hat den
Sextius nicht m.ehr gehört, aber er liest ihn im hohen Alter
mit einer Begeisterung, als wenn er lebendig vor ihm stände.
,,Cum legeris Sextium", schreibt er (Ep. LXIV 3), ,,dices:
vivit, viget, liber est, supra hominem est, dimittit me plenum
ingentis liduciae". Nicht selten beruft sich unser Seneca auf
Sextius und folgt seinem Beispiel (De ira II 36 i, III 36.
Ep. LIX 7, LXXIII 12 15. Fragm. 84). Dass aber Seneca
im Stande ist, als Greis den Sextius mit so lebendiger Ver-
gegenwärtigung zu lesen, verdankt er ohne Zweifel dem
Umstand, dass er in seiner Jugend die Vorträge ernstgesinnter
Lehrer mit grosser Hingebung und Gewissenhaftigkeit gehört
hat. Aus den Abhandlungen Plutarchs ,,de audiendis poetis"
und ,,de auditione" ersieht man, dass die Tendenz der Vorträge
ernstgesinnter Philosophen eine überwiegend moralische war
(Plutarch: Opp. II 39 a, 42 a b). Sextius wollte offenbar mit
seiner Schule dem einreissenden Sittenverderben einen Damm
entgegenstellen. Aber er musste erfahren, dass auch die Kraft
einer strengeren Schule den herrschenden bösen Mächten nicht
gewachsen war. ,,Sextiorum nova et Romani roboris secta
inter initia exstincta est" (N. Q. VII 32 2). Dessenungeachtet
hatte Sextius in Rom Nachfolger, und diese hat unser Seneca
gehört und hat mit lebendigen Farben geschildert, welchen
48
Eindruck er von diesen Vorträgen empfangen habe. Wir sahen,
dass Seneca, der Vater, den Fabianus, den Zuhörer des Sextius,
rühmend erwähnt ; dem entsprechend bezeichnet der Sohn den
Fabianus mit den Worten: ,,F. non ex his cathedrariis, sed ex
veris et antiquis (De brevitate vitae X i); F. vir egregius et
vita et scientia" (Ep. XL 12, XI 4, LH 11). Aus den Aeusse-
rungen des L. Seneca über Fabianus muss man schHessen,
dass er auf die Empfehlung des Vaters diesen Jünger des
Sextius gehört hat. Die beiden Lehrer aber, welche auf den
jugendlichen Geist des Seneca am meisten Einfluss gehabt
waren Sotion, der Pythagoreer, und Attalus, der Stoiker. Den
ersteren hat Seneca noch im Knabenalter gehört (Apud
Sotionem philosophum puer sedi. Ep. XLIX 2) und wie sehr
er sich seinem Einfluss hingab, erhellt daraus, dass er sich der
Fleischspeisen zu enthalten anfing, zumal auch der römische
Stoiker Sextius dasselbe gethan. Nachdem er die Argumente
des Pythagoras vorgetragen, fährt er fort: ,,his argumentis ego
instinctus abstinere animalibus coepi et anno peracto non tantum
facilis erat mihi consuetudo, sed dulcis" (P2p. CVIII 17 — 22).
Nach diesem Selbstbekenntniss nannten Lactanz (Inst. VI 24 14)
und Hieronymus im Catalogo Sanctorum unseren Seneca mit
vollem Recht einen Schüler des Sotion und der letztere fügt
hinzu: ,,continentissimae vitae fuit." Mächtiger aber noch als
von Sotion war Senecas Jugend ergriffen von Attalus.'^*) Noch
als Greis beschreibt er diesen Eindruck so ergreifend, dass
man heute noch die Bewegungen eines leicht erregbaren
Gemüthes in jener gährungsvoUen Zeitwende sich lebhaft ver-
gegenwärtigen kann (Ep. CVIII 13 14). Dieser Attalus bleibt
Seneca nicht bloss die Hauptauctorität (Ep. LXIII 5, LXVII 15»
LXXII, 8 LXXXI 22), sondern auch, was mehr sagen will, die
Richtung auf ein streng enthaltsames Leben mitten in der Welt
einer unersättlichen Genusssucht und einer an Raserei grenzenden
Ueppigkeit, welche er zu den Füssen des Sotion und Attalus
mit jugendlicher Begeisterung einsog, hat er bis ans Ende und
*) Dass Attalus von Sejan vertrieben wurde (L. v. Ranke : Weltgeschichte
III 1 132) gereicht ihm nur zur Ehre.
49
zwar mitten in der Ueberfülle von Glücksgütern und in
lebendicreni Verkehr mit dem kaiserlichen Hofe und der vor-
nehmen Welt festgehalten, wenn er auch kein Hehl hat, dass
er, nachdem er in das staatliche Leben eingetreten, manches
von seiner jugendlichen Askese aufgegeben hat (Ep. CVIII 15).
Uebrigens war er in Folge seiner Enthaltsamkeit krank
geworden, und es bedurfte der Mahnung des Vaters, dass er
sich wiederum dem Fleischgenuss zuw^andte (Ep. CVIII 22,
LXXVIII 2). Aber der vornehmsten römischen Leckereien,
der Austern und Pilze, hat er sich auch später enthalten und
im Uebrigen bei allen Genüssen Mass zu halten gesucht, was,
wie er mit gutem Grund hinzufügt, oft schwerer sei, als die
gänzliche Enthaltsamkeit (Ep. CVIII 16). Ausserdem suchte
Seneca sich durch zwei Mittel gegen Verweichlichung zu
schützen. Auf die Empfehlung des Attalus bediente er sich
bis ins Alter eines harten Pfühles (Ep. LXXXVII 2, CVIII 23.
cfr. Hippolytus 520 521), welcher Abhärtung sich auch der
-stoische Kaiser Marc Aurel von Jugend auf befleissigte
(Comment. i 6. cfr. Capitolinus II, III). Sodann enthielt sich
Seneca, was kein Römer von Lebensart entbehren mochte, der
warmen Bäder (Ep. CVIII 16), dagegen liebte er das kalte
Wasser (Ep. LIII 3, LXXX 14 5) und ist im Alter noch ein
tüchtiger Schwimmer (Ep. LIII 3). Es ist merkwürdig, dass
der ältere Plinius, obwohl er sich sonst gegen die Verweichlichung
seiner Zeitgenossen ereifert und auch, wie wir gesehen, den
Seneca übrigens hochhält, sich über die Sucht des Stoikers
nach kaltem Wasser ärgert (H. N. XXIX 5). Uebrigens hat
unser Seneca durch diese Massigkeit und Abhärtung eine grosse
Gewalt über seinen Körper erlangt. Obwohl er von Jugend
an kränklich gewesen (Ad Helviam XIX 2, Ep. LXXVIII i),
darf er doch noch im hohen Alter sich schwere Strapazen und
harte Entbehrungen zumuthen (Ep. LXXX 5, LXXXVII 2—4,
,,In se ipsum habere magnam potestatem" Ep. LXXV 18).
Auch Tacitus bezeugt die ungewöhnlich einfache und ländliche
Lebensart des Seneca (Ann. XV 45 63).
Wir haben somit den thatsächlichen Beweis, dass jene
begeisterte Schilderung von dem mächtigen Eindruck der
50
philosophischen Vorträge auf den JüngHng nicht auf Rechnung"
rhetorischer Uebertreibung gesetzt werden darf. Demnach
werden wir urtheilen, dass Seneca durch Elternhaus und Ver-
wandtschaft sowie durch die strenge Philosophenschule vorbereitet
und ausgerüstet ist, den grossen in seiner Zeit und Umgebung
Hegenden Versuchungen und Verführungen Widerstand zu
leisten und die in seiner Menschennatur begründete sittliche
Anlage zu schützen und zu pflegen. Inwieweit er durch seine
Leistung dieser Vorbereitung und Ausrüstung in seinem ferneren
Leben entsprochen habe, ist der Gegenstand unserer Darlegung
in diesem zweiten Abschnitt. —
Nach der Schrift sind die Heiden die, welche Gott nicht
kennen (Gal. IV 8) oder genauer die Gottvergessenden (Ps. IX i8,
L 22, XXII 28, Rom. I 19—22). In dem Zustand der Ver-
gessenheit liegt aber die Möglichkeit des Erinnerns, und dass
diese Möglichkeit nicht immer eine todte bleibt, ist, wenn auch
diese Möglichkeit niemals zur wahren Gotteserkenntniss führt,
der thatsächliche Beweis von der ursprünglichen und nicht
untergegangenen Anlage und Empfänglichkeit der heidnischen
Menschheit für die Offenbarung Gottes in Christo. Wie bereits
bemerkt, sind es insbesondere manche hervortretende Aeusse-
rungen seiner Gotteslehre, welche dem Seneca die Auf-
merksamkeit und die Zuneigung der Kirchenväter erworben
haben.
Allem, was Seneca über das göttliche Wesen zu sagen
hat, schickt er die ernste Mahnung vorauf: ,,nunquam vere-
cundiores esse debemus, quam cum de diis agitur" (N. Q. VII 30 i).
Zwei Thatsachen in dem Leben des Seneca beweisen meines
Erachtens, dass er in Ansehung der göttlichen Dinge, im
Vergleich mit seinen Zeitgenossen, ein wacheres Gewissen
muss gehabt haben. In dem 108. Briefe bekennt Seneca, dass
sein oben erwähnter Eifer für Enthaltung von Fleischspeisen,
zu dem er durch die philosophischen Vorträge begeistert
wurde, in jene Zeit gefallen sei, als unter Tiberius eine
Bewegung wegen fremder Götterculte entstand, und ein Stück
dieses Aberglaubens bestand gleichfalls in der Enthaltung von
Fleischspeisen (Ep. CVIII 22). In der That kamen unter
51
Tiberius ägyptische und jüdische Heiligthümer in Verdacht,
und die Anhänger wurden verbannt (Tacit. : Ann. II 85). In
dieser Zeit konnte Jemand, der der pythagoreischen Askese
zugethan war, in den Verdacht eines fremden Aberglaubens
kommen. Der Vater Seneca bat damals den Sohn, von seiner
Gewohnheit abzulassen, und das ist geschehen auf Bitten des
Vaters. Sonderbar klingt nun die Motivirung des Vaters:
,,qui non calumniam timebat, sed philosophiam oderat"
(Ep. CVIII 22), darum vor Allem sonderbar, weil wir aus der
Vorrede zu dem zweiten Buch der Controversiae wissen, dass
der Vater ein Verehrer des Philosophen Fabianus war. Lipsius
macht den verzweifelten Vorschlag, zu lesen: ,,qui non
philosophiam timebat, sed calumniam oderat" Will man
diesen Ausweg nicht, dann muss man die Worte: ,, philo-
sophiam oderat" in einem durch den Zusammenhang be-
schränkten Sinne verstehen. Marcus Seneca hasste die
Philosophie nicht überhaupt, sondern jene bestimmte Philo-
sophie, welche Fleischspeisen verbot und sich dadurch mit
dem fremden unerlaubten Kultus berührte. Der Sinn ist: der
Vater fürchtete nicht Verdacht und Verleumdung wegen fremden
Aberglaubens, er und seine Familie waren sich ihrer Recht-
gläubigkeit so sehr bewusst, dass er auch einen Schein von
verdächtigem Kultus nicht zu fürchten brauchte. Es ist also
nicht die äusserliche Rücksicht, sondern die innere Gesinnung,
welche dem Vater den Rath an seinen Sohn eingegeben hat.
Der Vater hasste eine Philosophie, welche im Punkte der Ent-
haltung mit einem damals grassirenden fremden Kultus
harmonirte. Dass überall der Rath des Vaters durch die Notiz
über die durch den fremden Kultus veranlasste Gährung der
Gemüther motivirt wird, beweist auf alle Fälle, dass in dem
Hause der Annaei die Religion eine geistige Macht war, die
nicht auf Accommodation, sondern auf Gesinnung beruhte. Da
Lucius Seneca dem so motivirten Rathe des Vaters folgte und
eine ihm lieb gewordene Sitte verliess, so ergiebt sich, dass er
diesem religiösen Familiensinn auch für seine Person gehuldigt
hat. Eine zweite Thatsache ist die folgende. Als Nero zum
Wiederaufbau von Rom sich nicht scheute, auch die Heilig'
52
thümer anzugreifen, entfernte sich Seneca von Rom, um nicht
den Vorwurf eines Sacrilegiums auf sich zu laden (Tacit. :
Ann XV 45). Damit stimmt, dass Seneca in seinen Schriften
es hebt, mit besonderem Abscheu von dem Sacriiegium zu
sprechen (B. I 4, VII 7, Ep. LXXXVII 22 23 24). Tacitus
hat auch nicht unterlassen, jenen Tempeh-aub Neros als einen
besonderen Frevel zu brandmarken, was dem Seneca so gut
wie Agricola, dem Schwiegervater des Tacitus, zum Lobe
gereichen muss (Agricol. VI).
Mit Recht loben die Väter an Seneca zuvörderst, dass er
die gangbaren anstössigen Vorstellungen des Heidenthums von
dem Götterwesen mit Nachdruck bekämpft. Da es unter den
ernsteren Philosophen, namentlich seit Plato, hergebracht war,
gegen die Verunreinigung des Gottesbegriffs durch die Dichter
sich auszusprechen und zu verwahren, so werden wir es nach
Allem, was wir bereits von Seneca wissen, als Selbstverstand
ansehen, dass er sich diesem für die Gottheit eifernden Protest
anschhessen werde. Er geisselt die ,,ineptiae", den ,,furor
poetarum" und findet in vielen Götterfabeln der Dichter ,, nihil
ahud actum, quam ut pudor hominibus peccandi demeretur,
si tales deos credidissent" (De vita beata XXVI 6). ,,Q'-iid
aliud est vitia nostra incendere quam auctores illis inscribere
deos et dare morbo exemplo divinitatis excusatam licentiam?"
(De brev. vitae XVI 5, cfr. B. VII 2 — 3). Einen ähnlichen
Ausspruch dieser Polemik hat Lactanz aus den nicht mehr
vorhandenen Büchern der Moralphilosophie uns erhalten (Inst. I
16 10). Aber es ist nicht bloss die ,,theologia fabulosa", welche
Seneca bekämpft, er hat auch den Muth der ,,theologia civilis'*
oder ,,urbana" entgegenzutreten, was Augustinus ihm mit Recht
hoch anrechnet (C. D. VI 10). Denn das Ansehen der Dichter
beruht vorzugsweise auf dem Urtheil der Gebildeten, die immer
nur eine Minorität darstellen. Die Geltung der Kultushandlungen
aber, was Augustinus unter theologia civilis oder urbana
versteht, ruht auf den Gesetzen und dem Herkommen des
bürgerlichen Gemeinwesens. Gegen diese Macht des öffentlichen
Wesens aufzutreten, forderte den höchsten Mannesmuth. Nach
Lactanz (Inst. II 2 14) verwirft nun Seneca in seiner Moral-
53
Philosophie den Götterkultus, insofern derselbe durch materielle
Mittel, als da sind Bilder, Geschenke, Tempelgebäude, Thieropfer,
vollzogen wird, und nach dem Zusammenhang ist sein Spott,
dass die Römer nicht bloss, wie das Sprichwort sagt, zweimal
Kinder sind, sondern immer Kinder bleiben, auf die Bilder-
verehrung zu beziehen (Inst. II 4 13 14). Die Verwerfung der
Götterbilder spricht Seneca positiv aus: ,,Deus effugit oculos,
•cogitatione visendus est" (Q. N. VII 30 3). Von TertuUian,
Augustin und dem Grammatiker Diomedes erfahren wir, dass
Seneca einen eigenen Dialog ,,de superstitione" geschrieben.
In dieser Schrift habe er, wie TertuUian bemerkt, den Poly-
theisten so bittere Wahrheiten gesagt, dass sie ihren Tadel
nicht zurückgehalten (Apolog. XII), Nach Augustinus, der
ausführliche Exzerpte aus dieser Schrift beibringt (C. D. VI 10),
eifert Seneca nicht bloss gegen die Bilder der Götter, nicht
bloss gegen die Verehrung einzelner römischer Gottheiten,
sondern vornämlich gegen die Lächerlichkeiten und Schandbar'
keiten des Ritus überhaupt.
Es leuchtet ein, dass ein so ernstlicher höchst unpopulärer
Widerstand gegen die Verderbnisse des heidnischen Mythus
und Kultus auf eine ethische Anschauung von dem göttlichen
Wesen zurückkommt. Auch fehlt es keinesweges an positiven
Zeugnissen für diese Anschauung. Bei der heidnischen Ver-
dunkelung des Gottesbewusstseins will es schon nicht wenig
bedeuten, wenn die göttliche Absolutheit unumwunden aus-
gesprochen wird. An einer Stelle, wo Seneca ausdrücklich
das Universum als opus bezeichnet und nun zu diesem opus
nach der ersten und hervorbringenden Ursache fragt, sagt er,
diese causa sei Gott, indem er für causa noch ratio scilicet
faciens substituirt (E LXV 11 — 14). Gott ist also nicht bloss
Ursache des Universums, sondern auch intelligente Ursache.
Gott ist aber ferner nicht bloss universal wirkende, schaffende
Vernunft, er ist auch nichts Anderes, als eben dieses, es ist in
und an ihm nichts als Geist und Vernunft: ,,in Deo nuUa
pars extra animum, totus ratio est" (N. Q. I praef 14, cfr.
Joh. IV 24). Seneca hat auch nicht verfehlt, einige wichtige
Folgerungen aus diesem Grundgedanken zu ziehen. Wenn wir
54
es auch als einen Schatten des allgemeinen heidnischen Bewusst-
seins ansehen wollen, dass er neben dem höchsten Gott
selbstständige überirdische Wesen statuirt : ,,ut omnia sub
ducibus suis irent", so hat er doch nicht unterlassen, Alles,
und zwar mit ausdrücklichem Einschluss dieser numina von
dem rector orbis terrarum coelique, dem Dens omnium deorum,
abhängig hinzustellen, indem noch ausdrücklich hinzugefügt
wird: ,,ministros regni sui Deus genuit", denn nach Lactanz
(Inst. I 5 26 27): ,,Seneca dixit, genuisse regni sui ministros
Deum". Was in diesen Sätzen implicite enthalten ist, nämlich
die Anerkennung der Aseität Gottes, wird von Seneca auch
ausdrücklich ausgesprochen: ,,Deus ipse ante omnia ex se ipso
procreatus est" (Lact. Inst. I 7 13); ,,Deus ipse se fecit"
(ibid.). Die Aseität Gottes erzeugt im Menschen das Gefühl
der absoluten Abhängigkeit. ,,Nos aliunde pendemus, itaque
ad aliquem respicimus, cui quod est Optimum in nobis de-
beamus, alius nos edidit, alius instruxit, Deus ipse se fecit"
(Lact. Inst. I 7 14). Der sich selbst Ursache seiende Gott ist
aber nicht bloss Urheber des Universums, er steht auch dem
Ganzen wissend gegenüber. ,,Deo nihil clusum est"(E. LXXXIII i)-
,,Deo patemus" (Lact. Inst. VI 24 12 15): ,,divina lux, deos
omnium rerum testes esse ait, illis nos approbari jubet'*
(E. CII 29). ,, deorum notitiam nulla res effugit" (B. V 25 4). So
ist der Urheber des Ganzen nicht bloss der sein selbst Bewusste,
sondern auch der auf sich selbst ruhende Leiter und Regierer
des Universums: ,,Deus rector universi in exteriora quidem
tendit, sed tarnen in totum undique in se redit" (De beat.
vit. VIII 4); ,,ipse ille omnium conditor et rector scripsit
fata" (De provident. V 8). Der höchste Gott ist der, welcher
das All in Bewegung setzt : ,,Deus ille maximus potentissi-
musque ipse vehit omnia" (E. XXXI 10). Sehr deutlich tritt
in diesen und ähnlichen Aussagen der den Polytheismus
abstossende Monotheismus hervor. Der höchste Gott ist nach
diesen Sätzen der Urheber des Universums und der gegenwärtige
Alleswissende und wesenhaft geistige Regierer aller Dinge.
Aber nicht bloss geistig ist sein Wesen, sondern auch ethisch.
Das die Gottheit Bestimmende ist ihr eigener Wille: ,,Non
55
externa cogunt deos, sed siia voluntas" (B. VI 23 i). Die
Götter haben die Tugend nicht gelernt, sondern dass sie gut
sind, gehört zu ihrer ursprüngHchen Natur. ,,Dn immortales
nullam didicere virtutem cum omni editi et pars naturae eorum
est bonos esse" (E. XCV 36). ,,Ergo Deum non laudabimus,
cui naturahs est virtus ? Nee illam didicit ex ullo ; immo laudabi-
mus, quamvis enim naturalis illi sit, sibi illam dedit, quoniam
Deus ipse (so liest Bünemann) natura est" (Lact, Inst. II 8 23).
Dieses von Lactanz erhaltene Fragment verdient darum
besondere Beachtung, weil der Satz ,,sibi illam dedit" aus-
drücklich den Gedanken abwehrt, die göttliche virtus bloss
physisch oder logisch zu denken, die göttliche virtus ist das
Erzeugniss eines Willens, beruht also auf Freiheit. Dass nun
diese Freiheit zugleich Nothwendigkeit ist, liegt in dem
zweimal gesetzten ,, naturalis". Die Einheit von Freiheit und
Nothwendigkeit constituirt den Begriff des höchstens Gutes.
Dass Seneca diesen Begriff des höchstens Gutes in Gott erfasst
hat, ergiebt sich am deutlichsten daraus, dass er dem Menschen
dieses höchste Gut als Ziel gesetzt hat. ,, Maximum argumentum
est, firmae voluntatis ne mutari quidem posse, vir bonus non
potest non facere, quod facit, non enim erit bonus nisi fecerit"
(ß. VI 21 2); ,, bonus idem erat semper et in omni actu par
sibi, jam non consilio bonus, sed more eo perductus est, ut
non tantum recte facere posset, sed nisi recte facere non
posset" (E. CXX 10) • ,, bonus vir est, qui eo perduxit animum,
ut non tantum peccare non velit, sed etiam non possit"
(Fragmenta 140, Haase III 467). Desshalb soll man auch
nicht meinen, dass, weil jenes Fragment bei Lactanz mit dem
Satze schliesst: ,,Deus ipse natura est", die Jdee der freien
sittlichen Persönlichkeit zuletzt in ein unpersönliches Abstractum
aufgelöst werden müsse, denn für Seneca ist ,, natura non
nesciens, quid faciat" (Q. N. I praef. 15), und kann daher jener
Satz eben so gut umgekehrt werden, wie es B. IV 7 i heisst:
,,quid aliud est natura, quam Deus et divina ratio toti mundo
partibusque ejus inserta."
Nach allen diesen Aussagen über das göttliche Wesen
begreift sich, wie Lactanz schreiben kann: „Quam saepe
56
Annaeus Seneca summum Deum merita laude prosequitur"
(Inst I 5 26). Jedoch zu der biblischen Anschauung, dass die
Menschheit das Centrum des Universums ist, kann Seneca sich
nicht erheben: ,,non omnia Deus homini fecit (Q. N. VII 29 3),
nimis nos suspicimus, si digni nobis videmur, propter quos
tanta moveantur" (De ira II 27 2). Aber darin stimmt Seneca
mit der Bibel überein, dass er die Schöpfung des Menschen mit
Nachdruck auf einen besonderen göttlichen Entschluss und Plan
zurückführt: ,.cogitavit nos ante natura, quam fecit, nee tam leve
opus sumus, ut illi potuerimus excidere ; scies, non esse hominem
tumultuarium et incogitatum opus" (B. VI 23 5 — 7). Diesem
ursprünglichen Vorzug des Menschen entspricht es, dass das
Wirken der Gottheit in der Welt sich vornämlich auf den
Menschen bezieht. Dieses Wirken wird als lauter Güte
bezeichnet: ,, natura diis est mitis et placida, tam longe remota
ab aliena injuria quam a sua" (De ira II 27 i), und diese
Güte erstreckt sich über Alle, auch, wie Seneca mit der Bibel
behauptet, über die Bösen: ,,et sceleratis sol oritur, non
cessant dii beneficia congerere de beneficiorum auctore
dubitantibus" (B. IV 26 i, VII 31 4). Was aber die Guten
betrifft, so zeigt sich das nähere Verhältniss der Gottheit zu
ihnen keinesweges immer in einer Bevorzugung durch Verleihen
von äusserlichen Gütern, worin Seneca wiederum mit der
heiligen Schrift harmonirt, sondern dies Verhältniss ist ein
überwiegend innerliches, zu dessen Bezeichnung Seneca starke
Ausdrücke gebraucht. Inter bonos viros ac deum amicitia
est conciliante virtute ; amicitiam dicor immo etam nccessitudo
et similitudo (De provid. I 5).
Seneca bezeichnet die Gottheit mit dem Vaternamen :
,,parens ille magnificus" (De prov. I 5)-, parens noster
(B. II 29 4, E. CX 10). Es ist also ein Irrthum, in welchem
sich Viele befinden, welche meinen, dass die Uebertragung des
Vaternamens auf Gott das unterscheidende Hauptmerkmal des
Christenthums ist. Seneca lässt es übrigens nicht bei dem
blossen Vaternamen bewenden, er zieht auch die Folgerungen,
die in diesem bedeutsamen Namen liegen. Er spricht von der
väterlichen Gesinnung Gottes gegen die Guten: ,,patrium Deus
57
habet adversus bonos animum, et illos fortitcr amat (De
prov. II 6), er spricht von der brünstigen Liebe Gottes, mit der
wir gehebt werden : ,,sic nos amantissima nostri natura
disposuit, ut dolorem aut tolerabilem aut brevem faceret
(E. LXXVIII 7), neque tantummodo necessitatibus provisum
est: iisque in dehcias amamur (B. IV 5 i), bene aestimata
naturae indulgentia confitearis necesse est, in dehciis te iU^
fuisse" (B. II 29 5).
Dass an den beiden zuletzt citirten Stehen der Ausdruck
,,in dehciis habere" in der bewussten Absicht gebraucht wird,
um das höchste Mass der götthchen Liebe auszudrücken, ähn-
hch wie in der lieihgen Schrift Gottes Liebe für seine erwählte
Gemeinde als eine eheliche dargestellt wird, erhellt daraus,
dass an anderen Stellen vermittelst desselben Ausdrucks in
negativer Richtung der Gedanke einer Verzärtelung und Ver-
weichlichung der Guten von Gott fern gehalten werden soll.
De provident. I 6 heisst es nämlich: ,,Deum bonum virum
in dehciis non habet : experitur, indurat, sibi illum parat",
und Ep. LXVII 15: ,,Attalus Stoicus dicere solebat, malo
me fortuna in castris suis quam in dehciis habeat" (cfr.
Ep. XCVI 4). Seneca braucht also einen Ausdruck von der
göttlichen Liebe zu den Guten, von dem er weiss, dass er
missverstanden und gemissbraucht werden kann,^ er scheut sich
aber nichtsdestoweniger diesen Ausdruck zu gebrauchen, weil
ihm darum zu thun ist, den höchsten Grad dieser Liebe zum
Ausdruck zu bringen.
Unserem Philosophen entsteht nun die Frage, die in der
Bibel oft verhandelt wird, warum die Guten leiden und die
Bösen Wohlleben, und ganz ähnlich wie in der Schrift wird
dieses quälende Räthsel gelöst. Die brünstige Vaterliebe
Gottes gegen die Guten kann mit keinem schwächeren Aus-
druck, als mit den Worten ,,in deliciis habere" genügend
bezeichnet werden, diese Worte nämlich in einem höheren
Sinne genommen; der niedere und gewöhnliche Sinn dieser
Worte bezeichnet dagegen ein Verhalten, von welchem das
Verhalten Gottes gegen die Guten das Gegentheil ist. Das
höhere und wahre ,,in deliciis habere" ist nämlich Grund und
58
Ursache von dem ,,non habere in dehciis", im gemeinen Sinne
genommen. Wenn nun Seneca lehrt, dass es eben väterhche
Liebe ist, wenn die Söhne strenger gehalten werden, als die
Haussclaven (De prov. I 6), so erinnert das ganz an die Schrift-
stelle Hebr. XII 6 — 8 : welchen den Herrn lieb hat, den er-
zieht er, er züchtiget aber einen jeglichen Sohn, den er annimmt ;
wenn ihr aber ohne Zucht seid, an welcher sie alle Theil
haben, so seid ihr Bastarde und keine Söhne". Lactanz führt
aus dem Buche Senecas ,,de Providentia", welches er mit
seinem ursprünglichen Titel citirt, einen Satz an, in welchem
derselbe Gedanke ausgesprochen wird (Inst. V 22 1 1 22). Da
aber dieses Citat in der unversehrt erhaltenen Schrift Senecas
,,de Providentia" wörtlich sich nirgends findet, so muss man
vermuthen, dass Lactanz den Inhalt der drei ersten Kapitel
seines Buches, welche sich über die Absicht Gottes bei den
Leiden der Guten verbreiten, hier zusammen gefasst habe.
Die ethische Auffassung der Gottesidee bei Seneca gewährt
für das Verhalten des Menschen Gott gegenüber, sowie über-
haupt für sein ganzes sittliches Thun und Verhalten, die
allgemeingültigste Norm. ,,Der Glaube an die Einheit Gottes
und an die Gleichheit aller Menschen und ihrer sittlichen Auf-
gaben bedingen sich gegenseitig" (Zeller Vorträge und Abhand-
lungen 1865 p. 27). Wie die Schrift von einem Innewohnen
Gottes in dem guten Menschen spricht, so auch Seneca:
,,prope est a te deus, tecum est, intus est, — in unoquoque
virorum bonorum habitat deus" (Ep. XLI i 2); ,,Deus in
corpore hospitans" (Ep. XXXI ii), was übrigens nicht
pantheistisch zu verstehen ist, denn ,,deus conversatur nobiscum,
sed haeret origini suae" (Ep. XLI 5). ,,Deus ad homines
venit, immo quod propius est, in homines venit, nulla sine Deo
mens bona est" CEp. LXXIII 16). Diese göttliche Einwohnung
ist nicht müssig, sondern ist die sittliche Grundkraft im
Men.schen, ,,bonus vero sine Deo nemo est, an potest aliquis
supra fortunam nisi ab illo adjutus exsurgerer Ille dat consilia
magnifica et erecta" (Ep. XLI 2). Da aber auch diese
innerste Gotteswirkung nicht physisch ist, sondern ethisch, so
kommt es für die Auswirkung auf das Verhalten des Menschen
59
an. Im Einklang mit Hebr. XI 6 heisst es in dieser Beziehung"
bei Seneca: ,,primus est deorum cultus, deos credere"
(Ep. XCV 50). Ferner: ,,ita dico, sacer intra nos Spiritus
sedet, malorum bonorumque observator et custos, hie prout a
nobis tractatus est, ita nos ipse tractat" (Ep. XLI 2), welche
Worte an die Mahnung des Paulus, den Geist nicht zu betrüben
oder zu dämpfen (Eph. IV 30, i. Thess. IV 8), erinnern.
Wenn nun die inwohnende Gottheit heiliger Geist (sacer
Spiritus intra nos) ist, so kann auch von Seiten des Menschen
dieser göttlichen Einwohnung und Wirkung nichts Geringeres
entsprechen, als heilige Gesinnung. ,,Deus non immolationibus
et sanguine multo colendus est, sed mente pura, bono
honestoque proposito, in suo cuique pectore consecrandus est"
(Seneca bei Lactanz VI 25 3). Die Gottheit non colitur
taurorum opimis corporibus contrucidatis, nee auro argentoque
suspenso, nee in thesaurus stipe infusa, sed pia et recta
voluntate (Ep. CXV 5, cfr. B. I 6 2, IV 25 i). Im Allgemeinen
ist der Menschengeist das Göttliche aufzunehmen fähig: ,,Dei
socii sumus et membra, capax est noster animus" (Ep. XCII 30),
aber in Wirklichkeit ist es nur der reine und heilige Sinn, der
Gott erfasst, ,,animus nisi purus et sanctus est Deum non
capit" (Ep. LXXXVII 21); ,,perfertur illo, si vitia non
deprimant" (Ep. XCII 30). Aber diese innerliche gott-
empfängliche Gesinnung soll sich auch äusserlich darstellen,
was nicht sowohl durch die Handlungen des Kultus geschieht,
als vielmehr durch Nachfolge Gottes und Verähnlichung mit
Gott: ,, Habebit bonus in animo vetus illud praeceptum: Deum
sequerel" (De vita beata XV 5). Diese vornämlich von Plato ein-
geschärfte altehrwürdige und höchst wichtige Vorschrift hat Seneca
sich sehr bestrebt, in immer neuen Wendungen einzuschärfen.
„Bonus aemulator Dei" (De prov. I 5). ,, Sapiens similis Deo"
(De const. VIII 2). ,,Homo solus Deum imitatur" (De ira II 16 2).
„Sapiens non nosse tantum sed sequi docuit deos" (Ep. XC 34).
,,Animus emendatus ac purus aemulator Dei super humana se
extollens" (Ep. CXXIV 23). Man beachte, dass diese von
Seneca mit solchen und ähnlichen Aussprüchen vorgetragene
Vorschrift nicht bloss die Handlungsweise des Menschen,
GO
sondern auch seine Persönlichkeit einschhesst. Der Mensch
soll sich selbst zum Bilde Gottes machen, er soll Gott dar-
stellen ; was nicht durch Silber und Gold erreicht werden
kann, soll der Mensch durch sich selber vollbringen, er selber
sei das lebendige Bild Gottes (Ep. XYIII 12, XXXI 11).
Wenn nun Seneca von dieser höchsten Höhe der sittlichen
Anschauung seine Zeitgenossen und überhaupt das menschliche
Geschlecht betrachtet, so begreifen wir, dass er von dem
sündlichen Verderben einen starken Eindruck hat. In der
Schilderung nicht bloss der einzelnen Sünden und Laster,
sondern auch der allgemeinen Sündhaftigkeit, hat Seneca auf
dem ausserbiblischen Gebiet überall seines Gleichen nicht.
Ohngefähr gleichzeitig mit dem Täufer, dem Bussprediger für
die Juden, ist Seneca der Bussprediger für die Heiden
geworden, und wenn man sich überzeugen will, dass der
Heidenapostel in seiner Klagschrift wider die Heiden
(Rom. I 18—32) nicht die Linie der Wahrheit überschritten
hat, dann muss man diesen freiwilligen und gleichzeitigen
Zeugen, der, auf die höchste Warte des heidnischen Gebietes
gestellt, seine Beobachtungen und Bekenntnisse uns hinterlassen
hat, vernehmen. Was auch Ouintilian und Gellius an der
Schriftstellerei Senecas auszusetzen haben, sein sittliches
Censoramt müssen sie anerkennen. Auch den Kirchenvätern
ist, wie wir gesehen haben, in dieser Hinsicht sein Zeugniss
von grossem Werth. Es muss allerdings zugestanden werden,
dass Seneca einestheils befangen in einer theilweise düstern
Verstimmtheit, anderentheils seinem rhetorischen Zuge hin-
gegeben, manche Schilderungen seines verderbten Zeitalters
entworfen habe, ohne das furchtbare Gewicht seiner Anklagen
immer vollaus selber zu fühlen. Aber wer seinen Enthüllungen
im Ganzen und Einzelnen mit voller Aufmerksamkeit und
Gewissenhaftigkeit nachgegangen ist, kann unmöglich verkennen,
dass dieser Feinheit, Schärfe, Anschaulichkeit und Allseitig-
keit, mit welcher hier die Nachtseiten des heidnischen Lebens
auf der Höhe der antiken Kultur aufgedeckt werden, ein nicht
gewöhnlicher sittlicher Ernst zu Grunde liegen muss. Schon
das muss für diesen sittlichen Ernst als ein gutes Zeichen
61
gelten, dass Seneca bei den Rügen gegen die Sünden seiner
Zeit durchvv-eg, wie auch die Männer Gottes im alten
Testament, meistens die communicative Redeform gebraucht,
mithin nicht von pharisäischer Höhe hernieder seine Strafreden
erschallen lässt, sondern sich selber in die allgemeine Ver-
dammniss mit einschliesst. Wenn wir nunmehr dieses Vor-
läuferamt unseres Stoikers auf dem heidnischen Boden darzu-
stellen versuchen, so müssen wir uns auf einige hervortretende
Züge beschränken, Vieles aber lediglich anzudeuten uns
begnügen. Es ist ein wesentliches Stück der Lichtseiten
Senecas, dass er so ernstlich bemüht ist, die Finsternisse seiner
Zeit zu beschreiben.
Beginnen wir nun mit der Frage, wie sich die römische
Menschheit zur Zeit Senecas zur' Gottheit verhält, so gehört
es nach unserm Seneca zum Charakter des guten Mannes
„summae pietatis erga deos esse" (Ep. LXXVI 23); aber er
bemerkt dass die Wirklichkeit des Lebens damit im grellen
Widerspruch steht, denn das alle Frömmigkeit vernichtende
Urtheil lautet nach Seneca: ,,ad mercedem pii sumus, ad
mercedem inpii" (Ep. CXV io\ Seneca erörtert an dieser
Stelle die Wahrnehmung, dass ,,pecunia" den Werth aller
Dinge bestimmt: ,,mercatores et venales invicem facti quaerimus,
non quäle sit quidque, sed quanti". Demnach haben alle Götter
ihren Kurs auf der Börse, wofür der traurigste Beweis dieser
ist, dass auch die Frömmigkeit, welche nach der wahren Idee
allen Dingen ihren richtigen Preis bestimmen sollte, selber über
allen Preis erhaben, sich in Wirklichkeit nach dem Geldpreise
richtet. Wir sind demnach fromm ,,ad mercedem", weil es
Etwas einbringt, indem die Frömmigkeit ein Nahrungszweig
geworden, wie Dahlmann einmal diesen Krebsschaden bezeichnet.
Eine solche Frömmigkeit schlägt sofort in das Gegentheil um,
sobald die Gottlosigkeit mehr einbringt, ,,ad mercedem impii
sumus." Demnach klagt Seneca ,,multos inveni aequos ad-
versus homines, adversus deos neminem" (Ep. XCIII i), also
einen wahrhaft frommen Menschen kennt Seneca überall nicht.
,Es ist keiner, der nach Gott fragt" (Rom. III 11). An den
heiligen Mächten hat also die Menschheit nach Seneca keinen
ry2
Halt mehr, mithin schaut er sie in dem Bann von unheihgen
Mächten, von denen er vornämHch drei hervorhebt: das Geld,
den sinnlichen Genuss und die falsche öffentliche Meinung^.
Von der Verfiihrungsmacht des Geldes schreibt Seneca:
,,avaritia vehementissima humani generis pestis" (Ad Helv. XIII 2).
Und diese Pest ist in Rom epidemisch geworden (siehe
Ep. CXV II, XC 38, B. II 27 3, O.K. V 15). Wenn endlich
Seneca den vollendeten Wahnsinn der Habsucht beschreibt als
ein ,,incubare acervis auri argentique" (De ira I 21 2), so ist
das nicht eine Phantasie, sondern ein schwacher Ausdruck für
das, was der Kaiser Cajus leibhaftig aufgeführt. ,,Contractandae
pecuniae cupidine incensus saepe super aureorum acervos
patentissimo diffusos loco et nudis pedibus spatiatus et toto
corpore aliquamdiu volutatus est" (Sueton : Caligula XLII,
Cassius Dio LIX 28).
Das Reich des Geniessbaren reizt die Lust des Körpers,
oder wie Seneca dreimal in Aehnlichkeit des biblischen Sprach-
gebrauchs, namentlich des paulinischen, schreibt ,,des Fleisches".
,,Omni animo cum hac carne grave certamen est, ne abstrahatur
et sidat" (Ad Marc. XXIV 5). ,,Non est summa felicitatis
nostrae in carne ponenda" (Ep. LXXIV, 16). ,,Nunquam me
caro ista compellet ad metum" (Ep. LXV 22). Dessungeachtet
sucht sich Seneca vor der spiritualistischen Verachtung des
Leiblichen zu bewahren. Bei aller stoischen Strenge, die er,
wie wir wissen, gegen sich selber übte, stellt er eine vernünftige
Pflege des Leibes als unab weisliche Pflicht auf. ,,Hanc sanam
et salubrem formam vitae tenere memento, ut corpori tantum
indulgens, quantum bonae valetudini satis est" (Ep. VIII 5).
,,Agatur corporis diligentissime cura" (Ep. XIV 2). ,, Corpus
in honorem animi colitur" (Ep. XCII i, cfr. Rom. XIII 14,
Koloss. II 23). Aber gleich daneben verlangt Seneca die
rechtmässige Einschränkung der auf den Leib zu richtenden
Sorgfalt und Pflege. ,,Durius tractandum est corpus, ne
animo male pareat" (Ep. VIII 5, cfr. i. Kor. IX 27,
Ep. XIV 2, LI 5, XIV i). Dienstbar wird nämlich nur
zu leicht der Geist dem Körper, wie Seneca mit nicht
gewöhnlichem Scharfblick bemerkt, dass jener bei leiden-
G3
schaftlicher Erregung" nicht etwa nur von aussen zuschaue,
sondern selbst in den leidenschafthchen Affect verwandelt
werde. ,,Neque enim sepositus est Spiritus et extrinsecus
speculatur affectus, sed in affectum ipse mutatur, ideoque non
potest utilem illam vim et salutarem, proditam infirmatamque
revocare" (De ira I 8 2). Sinnengenüsse nun, welche nach
Senecas Beschreibung unter seinen Zeitgenossen den Geist zum
Sclaven des Körpers machten, waren vornämlich Fleischeslust
und Gaumenlust. ,,Gulae et libidini addictos improbamus et
contemnimus, qui nihil ausuri sunt doloris metu"(Ep. CXXIV3 4).
Petronius, Zeitgenosse Senecas, beschreibt gleichlautend den
Charakter jener Periode: ,,vino et scortis demersi sumus"
(Satyric. LXXXVIII). Den sinnlichen Zeitgenossen ruft Seneca
zu, dass das wahre Gut intelligibile sei, ,,liber animus et rectus,
alia subjiciens sibi, se nuUi" (Ep. CXXIV 2 12). In Bezug
auf Keuschheit denkt Seneca strenger, als selbst unter den
besseren Zeitgenossen gewöhnlich war. Plutarch missbilligt zwar
den ausserehelichen Umgang der verheiratheten Männer, giebt
aber den Frauen den Rath, sich über eine solche Unregel-
mässigkeit nicht zu erzürnen (Praecepta conjugalia II 144 d 140 b).
Dagegen Seneca: ,,scis ut uxori nihil cum adultero, sie nihil
tibi esse debere cum pellice" (Ep. XCIV 26, cfr. XC V 37). Die
Zärtlichkeit, mit welcher Seneca während seiner Verbannung
seines Söhnleins Marcus gedenkt (Ad Helv. XVIII 4, XY i,
Epigr. VIII), sticht auffallend ab gegen die Kälte, mit der er
von der Mutter, von seiner Gattin spricht oder sie an anderer
Stelle übergeht (Ad Helv. XV i, XVIII 6, Epigr. VIII). Es
ist demnach zu vermuthen, dass die erste Ehe Senecas das
Schicksal der meisten Ehen dieser römischen Zeit getheilt hat.
Entweder ist die erste Frau früh gestorben, oder Seneca hat
sich von ihr geschieden, und ist demnach die Paulina, welche
in dem 104. Briefe erwähnt wird, die zweite Frau. Diese
Paulina nennt er in dem angeführten Brief nicht nur zweimal
,,mea", sondern beschreibt auch das Verhältniss als gegenseitige
Liebe mit den Worten: ,,quid jucundius, quam uxori tam
carum esse, ut propter hoc tibi carior fias?" (Ep. CIV 5).
Diesem Selbstbewusstsein drückt, wie wir sehen werden,
G4
Tacitus das bestätigende Siegel auf. Selber in glücklicher
Ehe lebend, hat das Zeugniss Senecas gegen die grassirenden
Fleischessünden um so grösseres Gewicht. Sein allgemeines
Urtheil in dieser Beziehung lautet kurz und bündig: ,,impu-
dicitia maximum saeculi malum (Ad Helv. XVI 3). Es ist
dahin gekommen, bezeugt er weiter, dass das eheliche Band
ganz gewöhnlich die anständige Form des beiderseitigen Ehe-
bruchs ist: ,,Conjugibus alienis non clam quidem, sed aperte
ludibrio aditis suas alienis permisere; hinc decentissimum
sponsaliorum genus adulterium" (B. I 9 3 4). Wie der Apostel
Paulus, um die Sünden der Heidenwelt aufzudecken, sich nicht
scheut, seine Leser in den Abgrund der widerwärtigen Greuel
hineinschauen zu lassen, so auch unser stoischer Philosoph,
welcher dem Apostel noch darin gleicht, dass er die Wider-
natur vornämlich in dem weiblichen Geschlechte straft.
,,Feminae libidine nee maribus cedunt. Dii illas denique male
perdanti" (Ep. XCV 21. cfr. Rom. I 26). Endlich hat Seneca
nicht unterlassen, einzelne Beispiele namhaft zu machen, welche
zeigen, bis zu welcher grauenhafter Tiefe die in der heid-
nischen Weltstadt entfesselte Widernatur sich verirrt hat
(B. IV 31, Ep. LXXXVII 16).
Was die Gaumenlust anlangt, so sagt Seneca von dem
berüchtigten Kochkünstler Apicius, dessen verzweifeltes Ende
er berichtet: ,,scientiam propinae professus disciplina sua
saeculum infecit" (Ad. Helv. X cS). Da er selbst von Jugend
auf bis ins höchste Alter sehr massig lebte, so ist ihm die
kolossale Raffinirtheit und Unmässigkeit der römischen Welt
im Geniessen von Speise und Trank ein wahrer Greuel.
,,Undique convehunt omnia nota fastidienti gulae. Quod disso-
lutus deliciis stomachus vix admittat, ab ultimo portatur oceano;
vomunt ut edant, edunt ut vomant" (Ad Helv. X 3. cfr.
B. VII 9 3. Ep. LXXXIII 24, XCV 24—28. N. Q. III 18 7,
cfr. IV 13 I — II).
Wo Habsucht und Sinneslust mit so entsetzlicher Gewalt
und in solchem Umfange ihr Regiment führen, da muss zuerst
alles häusliche Glück zusammenbrechen und der Frieden der
Familienglieder in offenen Krieg umschlagen. Seneca beschreibt
65
diese Zerrüttung des römischen Hauses mit den düsteren
Farben Ovids, dessen Versen er eine bestätigende Schilderung
hin7Aifügt :
,,Non hospes ab hospite tutus,
Non socer a genero, fratrumque gratia rara est. sequ."
(Ovid: Metam. I 144 — 149. Seneca: de ira II 9 i).
Die entsetzHchen Ausbrüche der Sittenverderbniss in der
römischen Welt unter den Cäsaren haben auch Andere
beschrieben, wenn freilich Keiner mit solchem beharrlichen
Ernst wie Seneca, aber am meisten zeichnet sich dieser
Stoiker in diesem Gebiet dadurch vor Anderen aus, dass er
sich nicht begnügt mit der Schilderung der sittlichen Greuel
sondern in die innere Ursache derselben tiefer einzudringen
sucht. Wir sagten, die von der Gottheit losgerissene Mensch-
heit befindet sich in der Gewalt von drei unheiligen Mächten.
Den Mammon und die Sinneslust, diese beiden Mächte, hat uns
in den obigen Citaten Seneca beschrieben. Die dritte unheilige
Macht ist die Lüge und Verführung der öffentlichen Meinung.
Die Enthüllung dieser unheimlichen Macht, welche in das
innere Geheimniss des herrschenden Sittenverderbens hinein-
schauen lässt, ist recht eigentlich ein persönliches Verdienst
unseres Stoikers.
So lange und so weit das öffentliche Weisen in einer
richtigen und gesunden Ordnung sich bewegt, ist in dem
Gesetz und in der Verwaltung, in dem Volksurtheil, der
Volkssitte und der Volkssprache eine sittliche Macht, eine
objective Sittlichkeit, welche viele Mängel der subjectiven
individuellen Sittlichkeit ergänzt. Verfall und Niedergang des
öffentlichen Wesens bedeutet sofort ein Sinken jener objectiven
Sitdichkeit und schlägt schliesslich um in das Gegentheil,
indem das, was leiten und führen sollte, in Versuchung und
Verführung sich verv/andelt. Seneca hat in der Erfahrung der
tiefsten sittlichen Weltkrisis die dritte dämonische Macht
erkannt, welche nebst dem Mammon und der Fleischeslust den
Bau des römischen Reiches zerstört hat. Die Verzweifelung
Senecas an der sittlichen Macht des öffentlichen Gewissens
zeigt sich nicht bloss in einem constant ausgeprägten Sprach-
5
m
gebrauch, sondern auch in einer praktischen Folge seiner
Gesinnung und Lebensstellung.
Das Wort ,,populus" ist in der altrömischen Sprache von
einem gewaltigen Nimbus umgeben: man bedenke nur, dass in
dem officiellen Sprachgebrauch der alten Zeit die majestas
recht eigentlich dem populus zuerkannt wurde (Tacit. Ann. I 72).
Vor dem ernsten Blick des Seneca ist nicht bloss dieser
Nimbus verschwunden, sondern hat sich ihm in das Gegentheil
verwandelt. Populus. nicht etwa plebs, nicht etwa vulgus, ist
in dem Lexikon des Seneca eine sehr gew^öhnliche Bezeichnung
für die allgemeinste und unwiderstehlichste Verführungsmacht.
,,In vitia alter alterum trudimus, quomodo autem ad salutem revocari
possunt, quos nemo retinet, populus impellit?" (Ep. XLI 9,
XLIV 52, De beat. vit. I 5, Ep. XCIV 6S, CXV 11, VII 6,
XLIII 6, Ad. Helv. V 5, De const. II 3). ,,Nunquam volui
populo placere", diese Sentenz Epicurs wird empfohlen
Ep. XXIX 10. Natürlich fehlt auch nicht das abgeleitete
popularis, welches den Nebenbegrift" plebejischer Gemeinheit
und Schlechtigkeit hat (Ep. XXX 1, XL 4, CII 16, De
provid. IV 6).
Nachdem nun für Seneca das Wort populus seines
ursprünglichen organischen und sittlichen Gehaltes (Cicero:
de repub. I 25. Augustinus: C. D. XIX 21 29) entkleidet ist^
braucht er für populus auch gemeinere Ausdrücke wie vulgus,
coetus und vor Allen turba, die Masse. ,, Vulgus veritatis
pessimus interpres" (De vit. beata II 2). ,,Sanabimur, si modo
separamur a coeto" (De v. b. I 5). Turba, als vox media,
bezeichnet den Volkshaufen, das Volksgewühl (B. VI 9 i).
Da aber das Volk nach Senecas Urtheil eine blosse nicht nur
urtheilslose, sondern verderbte und verführerische Masse geworden,
so haftet in dem Stil Senecas dem W^orte turba ein starker
sittlicher Makel an. ,, Turba praecipue vitanda est. — Omnis
turba in voluptates procubuit" (Ep. VII i, cfr. CXIV 12,
O. N. IV praef. 3, De v. b. II i, Fragmenta Haase III 425).
Seneca urtheilt ganz richtig, dass diese allgemeine und öffent-
liche Corruption des Gewissens sich verfestet einestheils in
verderbten Sitten, anderntheils in einem verführerischen Sprach-
G7
frebraiich. In Beziif^r auf das Erstere schreibt Seneca mit
furchtbarer Wahrheit: ,,Desinit esse remedio locus, ubi quae
fuerunt vitia, mores sunt" (Ep. XXXIX 6, cfr. Ep. CXXII 17).
Und noch allgemeiner lautet das Urtheil i.iber die herrschenden
Sitten: ,,Hic tritissima quaeque via et celeberrima maxime
decipit (De vit. beata I 2, cfr. Matth. VII 13). ,,Inter causas
malorum est, quod ad exempla vivimus" (Ep. CXXIII 6).
Weit gefährlicher noch erscheint mit Recht dem Seneca aber
die Verführungsmacht, welche nach solchem Verderbniss des
Volkslebens in die Sprache eindringt. Was ernste Historiker,
wie Thucydides, Sallust, Tacitus, als bedeutsame Zeichen der
Zeit anzumerken pflegen, dass nämlich mit grossen, namentlich
mit sittlichen Veränderungen des Volkslebens entsprechende
Veränderungen in der Redeweise vor sich gehen, ist auch
unserem Philosophen nicht entgangen. ,,Qualis vita, talis oratio"
(Ep. CXIV I, CXV 2). ,,Wie das Leben, so die Rede", das
gilt nicht bloss von Einzelnen, sondern auch von ganzen Zeit-
altern der Völker. Unvergesslich muss bleiben der Markstein,
welchen Tacitus zwischen der Sprache der Germanen und der
Sprache der verderbten Römer aufgerichtet hat: ,,Nemo illic
vitia ridet, nee corrumpere et corrumpi saeculum (Lebensart)
vocatur" (Tacit. Germ. XIX). Damit im Einklang beschreibt
Seneca die Vergiftung der Sprache folgendermassen: ,,Ubi
audiunt laudari voluptatem sub titulo philosophiae ad nomen
ipsum advolant, quaerentes libidinibus patrocinium, itaque quod
unum habebant in malis bonum perdunt, peccandi verecundiam"
(De V. b. XII 4 5). Seneca unterscheidet den wahren geschicht-
lichen Epicur von dem falschen Bilde, welches das entartete
Rom unter diesem Namen sich vorstellte. Der wirkliche
Epicur war ein Mann, der seinen Grundsatz: ,, sinnliches Wohl-
sein ist das höchste Gut" mit strenger Selbstbeherrschung
ausführte. L^m dieses seinen Zeitgenossen zu veranschaulichen,
hat Seneca in den drei ersten Büchern seiner Briefe ad Lucilium,
nämlich in den ersten 29 Briefen, einen ganzen Kranz von Aus-
sprüchen Epicurs vorgelegt, welche diesen strengen Charakter einer
eudaemonistischen Lebensweisheit an sich tragen. In der gemeinen
Vorstellung der römischen Cäsarenzeit bedeutete der Name Epicurs
5*
68
die Empfehlung einer ungezügelten Sinnlichkeit, welche sich durch
den Namen einer berühmten Philosophie aus der ehrwürdigen
Vorzeit zu decken suchte. Selbst Horaz scheut sich nicht, in diesen
Missbrauch, den man in Rom mit dem Namen Epicurs und
seiner Lehre zu treiben begann, einzustimmen (Horat. Ep. I 416).
Das ist also, was Seneca rügt und beklagt, dass der herrschende
Sprachgebrauch durch Missbrauch des Namens Epicur und
seiner Philosophie für alle Arten von Sinnengenuss Empfehlung
und Schutz verleiht. ¥Än gleichzeitiges Beispiel von dem, was
Seneca rügt, ist die Berufung des Petronius auf den ,, Pater
Epicurus" (Antologia latina ed. B. I p. 681). Es ist dies ein
Beispiel, wie nach Seneca falsche Benennungen das moralische
Urtheil bestechen und verführen oder durch falsche Schrecken
einschüchtern. ,,Adhibe diligentiam et intuere, quid sint res
nostrae, non quid vocentur — lucescere, si velimus, potest —
si quis quaesierit, quae sint bona, quae mala, quibus hoc falso
sit nomen adscriptum" (Ep. CX 3 8, Ad Helv. V 6, Ep. XL 7,
Hercules für. 251, Thyestes 454). Demnach hält Seneca die
gewöhnliche Sprechweise über das Gebiet der sittlichen Dinge
für eine ungeheure Versuchung, vor der sich jeder zu hüten
hat. ,,Nulla ad aures nostras vox inipune perfertur, nocent qui
Optant, nocent qui exsecrantur, — non licet ire recta via,
trahunt in pravum parentes, trahunt servi, nemo errat uni sibi,
sed dementiam spargit in proximos, accipitque invicem"
(Keiner irrt bloss zum eigenen Schaden, den Wahn pflanzt er
fort auf Andere und empfängt ihn von Anderen. Ep. XCIV 53 54).
, »Plenum malis sermonibus pectus exhauriendum est" (Das
Herz angefüllt von bösen Reden muss erst ausgeschöpft werden.
Ep. XCIV 68). Auf feiner Psychologie beruht die P^rfahrung,
welche Seneca folgendermassen beschreibt : Es giebt Solche,
welche Laster mit sich führen, sie verbreiten dieselben von
einem Ort zum andern; deren Sprache muss man meiden, es
ist die schlimmste Sorte von Menschen. Die Rede von
Solchen, welche Laster mit sich führen, ist sehr schädlich,
wenn sie nicht gleich wirkt, so lässt sie doch einen Samen in
der Seele zurück, der uns nachfolgt, wenn wir von ihnen
gehen, und nachher wacht das Uebel auf (P2p. CXXIII 8).
69
]ki dieser Anschauung- des Lebens sucht Seneca nach
einem Wort, mit welchem er die gewahige Verführungsmacht,
die in der Sitte und Sprache des allgemeinen Lebens enthalten
ist, bezeichnen könne. Er hat ein solches Wort gefunden^,
es ist ,,fama", jenes erdgeborene, die Welt erschütternde
tausendzüngige Ungeheuer (Virgil. Aen. IV 174—188), welches
Seneca aus dem Physischen des Virgil in das Ethische über-
trägt. Fama im Sinne des Seneca umfasst die gesammte
öffentliche Meinung sowie den falschen Schein der Dinge und
Verhältnisse, insofern das Eine wie das Andere täuscht und
betrügt. Welches ist nun der Gegensatz zu dieser P'ama? Der
Gegensatz heisst bei Seneca ,,conscientia". Dieses AVort erhält
durch den scharf ausgeprägten Charakter der fama eine sehr
gehaltvolle Bedeutung. Senecas Hauptregel lautet : ,,Conscientiae
satis hat. nihil in famam laboremus: sequatur vel mala, dum
bene mcrentis" (De ira III 41 2). ,,Dem Gewissen muss sein
Recht werden, der öffentlichen Meinung sind wir nichts
schuldig, auch wenn sie den verdienstvollen Mann beschimpft."
— , »Niemand ist der Tugend mehr ergeben, als derjenige,
der den Ruf des guten Mannes preisgiebt, um das Gewissen
nicht zu schädigen" (Ep. LXXXI 20). ,,Das Gewissen, auch
wenn es Gewalt leidet, gewährt Freude, es widerspricht der
Volksversammlung und der öffentlichen Meinung und macht
Alles von sich abhängig" (B. IV 21 5). ,,Der handelt schlecht, der
mit Rücksicht auf die Meinung Anderer dankbar ist und nicht
aus Drang des Gewissens" (B. VI 22 2, cfr. Hippolyt. 265 270).
Der ganze Bau der antiken Sittlichkeit ist gestürzt,
Volksthum, Obrigkeit, Gesetz, öffentliches Urtheil, Zucht der
Sitte und Sprache, diese Säulen, auf denen das sittliche Leben
der Einzelnen ruht, sind zur fama geworden, diesem ,,regimen
incertissimuni" (Ep. XCV 58). Jetzt begreifen wir, wie
Seneca dazu kommt, obwohl er eine Erbsünde nicht annimmt
(De ira II 13 i, XCIV 55), die thatsächliche Allgemeinheit der
Sünde nicht bloss zu behaupten, sondern auch dieselbe mit
grossem Ernste zu betonen. ,,Nemo inquam invenitur, qui se
possit absolvere" (De ira III 24 4). ,,Omnes mali sumus,
mali inter malos vivimus" (De ira III 26 4, cfr. De ira II 31 8,
70
ir 28 I, De dem. I 2 6, B. IV 27 3, B. I 10 2, V 15 3,
Q. N. VII 31 I — 3). Inwiefern dieses schreckliche Werk der
Vollendung des Lasters noch nicht zu Stande gekommen ist,
wird im Einzelnen geschildert: ,,Adhuc in processu vitia sunt,
invenit luxuria aliquid novi, in quod insaniat, invenit impudi-
citia novam contumeliam sibi, inv^enit deliciarum dissolutio et
tabes aliquid tenerius moUiusque" (Q. N. I.e.). Ebenso scharf wie
tief ist die folgende Gedankenreihe: ,,Wenn wir wollen nach
allen Seiten hin gerechte Richter sein, so müssen wir uns
zuerst liberzeugt halten, dass unser Keiner ohne Schuld ist.
Daraus entsteht nun grosser Unwille. ,,Ich habe nicht
gesündigt, ich habe nichts gethan." Freilich, Du bekennst
nichts. Wir werden unwillig, wenn irgend eine Mahnung oder
Rüge uns züchtigt, wodurch wir uns denn nur weiter
versündigen, indem wir den Missethaten noch Stolz und Hart-
näckigkeit hinzufügen. Wer ist, der sich den Gesetzen gegen-
über als unschuldig bekennt: Und gesetzt diesen Fall, wie
beschränkt ist die Unschuld, nach dem Gesetz gerecht zu sein !
Wie viel weiter reicht das Gebiet der Pflichten als die Regel
des Gesetzes I Wie Vieles gebietet Frömmigkeit, Menschlich-
keit, Edelmuth, Gerechtigkeit, Treue, was alles in den Gesetz-
tafeln nicht steht! Und nicht einmal vor diesen dürftigen
Buchstaben der Unschuld können wir bestehen!" (De ira 11
28 I — 3). Wie nahe kommt hier der Stoiker in der geistigen
Auffassung des Gesetzes dem Apostel (Phil. III 5 6, IV 8) !
Und nicht minder berühren sich darin Beide, dass auch Seneca
wie gleichfalls Paulus, ausdrücklich hervorhebt, dass die Sünde
vorhanden sein könne, wenn sie auch nicht immer zur That
werde. ,,Sic omnes malos dicimus, non quia ista omnia
singulis magna et nota \itia sunt, sed quia esse possunt et
sunt etiamsi latent" (B. IV 26 2, V 142). ,, Omnia in omnibus
vitia sunt, sed non omnia in singulis exstant" (B. IV 27 3).
Und indem Seneca mit diesen Sätzen die Sünde bis in ihre
verborgene Geburtsstätte verfolgt, kann er nicht umhin, eine
der menschlichen Natur anhaftende sündhafte Neigung anzu-
nehmen. Obwohl er als stoischer Verehrer der Natur die
angeborene .Sündhaftigkeit, wie schon bemerkt, in Abrede
71
nimmt, wird er doch zuweilen durch die Wahrnehmung der
Allgemeinheit und Tiefe der menschlichen Sünde genöthigt, eine
verderbliche Voreingenommenheit des Menschen für das Schlechte
vorauszusetzen. Obwohl er im Allgemeinen nach stoischen
Grundsätzen lehrt: ,,Omnia vitia contra naturam pugnant"
(Ep. CXXII 5), spricht er doch von ,, vitia naturalia", nicht
bloss corporis, sondern auch animi, sowie von der Pflicht
,, naturam vincere" (Ep. XI i. De brev. vitae XIV 2). Und
mit dieser Anschauung in Uebereinstimmung stehen folgende
Aeusserungeni ,,Ad neminem ante bona mens venit, quam
mala" (Ep. L 7). ,,Animus sua sponte in ista (avaritia,
querela, discordia) fertur" (B. lll 14). ,,Ad deteriora faciles
sumus — non pronum tantum ad vitia, sed praeceps"
(Ep. XCVIl 10). „Vitia sine magistro discuntur (Q. N. III 30 8).
Seneca weiss, dass initium salutis notitia peccati est
{Ep. XXIX 8), und mit grossem Ernst dringt er darauf, dass
die Erkenntniss der Sünde auch zum Bekenntniss führen muss
(Ep. LIII 8). Insbesondere ist es die jedem Menschen in-
wohnende Selbstüberschätzung, welche sowohl die Erkenntniss,
als auch das Bekenntniss der Sünde zu hindern pflegt
(B. II 26 1-2, IV 17 2, VII 26 4, De ira II 31 32).
Wo ist nun Rettung zu finden vor dieser Verstrickung
der Selbsttäuschung? Cicero beruft sich noch, mit getroster
Zuversicht auf die hohe Instanz des Volkes: ,,Populum
Romanum disceptatorem non modo non recuso, sed etiam
deposco" (Pro Flacco XXXVIII). Seneca erkennt und spricht
es ohne Hehl aus, dass die Säulen der objectiven Sittlichkeit
umgestürzt sind. Populus ist zur turba geworden, der sermo
zur fama oder zum error publicus (Ep. CXXIII 6, cfr. XCIV 68,
XLV 10, Hippol. 918-922, B. IV 34 I, Ep. XXIV 13, De
ira III 27 3) Noch tiefer in den Abgrund der Lüge steigt
ein Satz aus den von Niebuhr 1820 herausgegebenen Frag-
menten. Erinnernd an das Wort des Augustinus: ,, Grande pro-
fundum est homo ipse", schreibt Seneca: ,,die Falschheit
erscheint mit der Miene der Tugend, boshafte Gedanken im
Herzen, strahlende Güte im Angesicht" (Fragm. 96). Die
Macht des falschen Scheines, der Lüge oder Heuchelei hat
72
den objectiven Halt der antiken Sittlichkeit gebrochen, und
die Folge dieses ungeheuren Ruins ist, dass die Einzelnen
alles wahren sittlichen Gehaltes baar und ledig werden, dass
sie sich selber verlieren, ein Spielball der verderbten turba, ein
Echo der lügenhaften fama, ein Durchgang der herrschenden
verderbten Meinungen und Sitten werden (De otio I 3,
De V. b. I 3, De tranq. XV 6, Ep. LXIII 2, IC 16).
Was schon Lucrez, aber mit leichtem Muthe von seinen
Zeitgenossen singt, dass Jeder sich vor sich selber zu flüchten
sucht (De rerum natura III 1081, cfr. S. de tranq. II 14), in
diese Wahrnehmung hat der ernste Stoiker sich ganz vertieft.
Das Ergebniss dieser Versenkung ist der Satz: ,,Ouod est
miserrimum, nunquam sumus singuli" (Q. N. IV, praef. 2),.
,,was das Leidvollste ist, wir sind niemals individuell, niemals
allein". In immer anderer Weise bemüht sich Seneca, diese
schmerzliche Wahrnehmung auszudrücken. Niemanden findet
Einer schwerer zu Hause, als sich selber (De tranq. XV 6).
Ist Einer sich selbst überlassen, so mag er sich nicht beschauen
(De tranq. II 9), und so bleibt er doch geschieden von sich
selber (De v. b. III i). Man kann nicht bei sich verweilen
(Ep. II i),kann sich selber nicht ertragen (,,pati" Q. N IV, praef. i).
Man kann sich selber nicht finden (B. V 12 6). Niemand hat
für sich selber Zeit (De brev. v. II 5). Niemand nimmt sich
seiner selber an, wir verzehren uns untereinander (,,alius in
alium consumimur" De brev. v. II 4), wir v^ergeuden uns selber,
und darum gehören wir uns selber nicht an, haben uns selber
nicht in Besitz, sind uns selber fremd (Ep. XLII 7 8 10). Diesen
tief kranken Zustand der Selbstentfremdung, des Aus.sersicbseins
nennt Seneca ein Leben ,,sub persona", ein Leben als Copie
von Anderen (De tranq. XVII i).
Den Götzendienst des Mammons und der Sinnenlust haben
auch, wie bereits erwähnt, Andere geschildert und gezüchtigt,
aber diesem Moloch der öffentlichen Meinung, der in sich selber leer
geworden und eine allverstrickende Lüge und Verführung ist,^
diesem Götzen, der die Wurzel und Kraft aller inneren und sitt-
lichen Selbstständigkeit aufzehrt, der, weil er den Menschen
sich selbst entfremdet, ihn zu einem Flüchtling vor sich selber
73
macht, sonder Rast und Ruhe in der wüsten Welt, diesem
Ungeheuer hat Niemand so ins Angesicht geschaut wie Seneca.
Bei diesem Tiefpunkt der Weltverderbniss ist es, wo
Seneca alle Kraft einsetzt, um von da eine Umkehr zu ermög-
lichen. Das Erste, was nach Seneca nöthig ist, ist die Selbst-
emancipation des Einzelnen von jener allgemeinen geistigen
Fremdherrschaft. ,,Fuge", schreibt er an seinen Lucilius,
,,multitudinem, fuge paucitatem, fuge etiam unum" (Ep. X i,
L 8, LXXV i8, cfr. XX i, Q. N. IV, praef. 3). Weil der
Irrthum publicus geworden (Ep. CXXIII 6) und damit den
Schein und die Geltung des Rechten hat (,,recti apud nos locum
tenet"), ^nid weil die Sünde nicht die Sünde des Einzelnen ist,
sondern der Völker (,,in singulis vitia populorum sunt"
Ep. XCIV $4), und damit unter dem Schutz der Sitte und der
Sprache steht, darum besteht der Anfang der Besserung und
Bekehrung in der energischen Selbstbefreiung von den das
Ganze beherrschenden verderblichen Mächten.
Demnach verlangt Seneca, dass die innere Gesinnung in
allen Stücken dem gemeinen Denken und Reden entgegen-
gesetzt sein soll, wenn auch die Aussenseite des Lebens
(frons) mit der Volkssitte in Einklang sein mag (Ep. V 2,
XIV 14). Dies letztere soll aber nicht ohne Einschränkung
verstanden werden. Lucilius wird ermahnt,- während der
römischen Saturnalien, also während des römischen Karnevals,
einige Tage ganz ernstlich zu fasten, also auch äusserlich der
allgemeinen Sitte Trotz zu bieten (Ep. XVIII i — 7, XX 13).
Was Seneca hier seinem Freunde räth und vorschreibt, hat er
auch selber befolgt und ausgeübt. Was er im Allgemeinen
preist: ,,proderit secedere, meliores singuli erimus" (De otio I i),
hat er selbst ausgeführt (Ep. VIII 2). Dieses otium, seit lange
seine Sehnsucht, hat er nach seiner Unterredung mit Nero
erreicht (Tacit. Ann. XIV 56, XV 45). Auf diese letzte ruhige
Lebenszeit haben wir auch diejenigen Aussagen zu beziehen,
welche eine höhere Selbstbefriedigung ausdrücken. ,,Quaeris
quid profecerim? Amicus esse mihi coepi" (Ep. VI 7). In
demselben Brief schreibt er von einer ,, subita mei mutatio".
ja, er steigert im Anfang dieses Briefes seinen Ausdruck noch
74
höher: ,,intellige non emendari me tantum sed transfigurari".
Ueber den letzten Ausdruck, der Ep. XCIV 4(S noch einmal
wiederkehrt, sagt Lipsius: ,,haec niutatio sive \iz-:cf.T/r^\x'y.-'.j\i6z
animorum est". Also eine innere Umwandlung, eine Bekehrung,
eine Art Wiedergeburt sagt Seneca von sich aus. Und in der
That, nicht \erborgen sind die Spuren seiner sittlichen Arbeit
an sich selber. Da das Reich der objectiven Sittlichkeit
zertrümmert ist, so muss die Sittlichkeit ihren Thron im
Innern des einzelnen Menschen aufbauen. Es beginnt die Zeit
der Selbstbesinnung, der Innerlichkeit, der Subjectivität, die
Zeit des Geistes. Zeichen dieser grossen Zeitwende finden sich
in den Schriften Senecas.
Von dem hochgeachteten Sextius, dem V^ater, der durch eine
strenge Philosophenschule der Fluth des wachsenden Verderbens
in Rom einen Damm entgegensetzen wollte, wusste Seneca,
dass er die Sitte gehabt, jeden Abend sich folgende Fragen
vorzulegen, welches Schlechte er geheilet, welchem Fehler er
Widerstand geleistet habe, in welchem Stück er gebessert sei r
Dem Beispiel des Sextius folgend bezeugt Seneca von sich :
,, Dieses Amt des Geistes übe ich, und täglich halte ich bei mir
Gericht ; wenn die Lampe weggenommen ist und meine Frau,
welche meine Sitte kennt, stillschweigt, durchforsche ich den
ganzen Tag und gehe meine Werke und W'orte durch Nichts
■ verberge ich mir, nichts übergehe ich" (De ira III 36 i — 3),
Diese Sitte scheint Seneca bis in sein hohes Alter beobachtet
zu haben (Ep. LXXXIII 2).
Bei dieser Sitte der täglichen Selbstprüfung entsteht nun
die Frage: Da die allgemeinen Normen ihre Wahrheit ver-
loren, nach welcher Richtschnur hat nunmehr der Mensch sein
Thun und Verhalten zu prüfen: An dieser Stelle offenbart
sich unserm Denker die Bedeutung des Gewissens, und er fühlt
sich berufen, ein Herold dieses inneren, den Untergang der
objectiven Normen überdauernden Gesetzes zu werden. Der
fama, dieser grossen Weltlüge, welcher, wie wir gesehen, Seneca
den Krieg erklärt, stellt er die conscientia entgegen, welcher
Gegensatz schon früher zur Sprache gekommen ist. Sehr
beachtenswert!! sind aber Senecas weitere reformatorische
Aussagen über das Gewissen. Allem vorab bezeugt er, was
für sein eignes Selbstbewusstsein das Gewissen bedeutet.
,,Wenn dereinst", sagt Seneca, ,,die Natur meinen Odem
zurück fordert, dann werde ich davon gehen mit dem Zeugniss,
dass ich mich eines guten Gewissens befleissigt habe"
(De V. b. XX 5). Die Censur des Gewissens trügt nicht
(De brev. v. X 3). Alles Gute belohnt sich auch ohne
äussere Vergeltung durch das gute Gewissen (B. IV 11 3, 12 4).
Das gute Gewissen ruft das Volk herbei (,,wer Gutes thut,
kommt an das Licht" Joh. III 21), das böse Gewissen ist auch
in der Einsamkeit ängstlich und besorgt; thust Du Böses, was
nützt es, dass es Niemand weiss, da Du selbst es weisst?
O Unglückseliger, wenn Du diesen Zeugen verachtest (Ep. XLIII 4) !
Alle Menschen verhehlen ihre Sünden, und wenn dieselben
auch glücklich von Statten gegangen, geniessen sie zwar ihre
Frucht, die Sünden selbst aber verbergen sie, dagegen hat das
gute Gewissen den Willen, offenbar und sichtbar zu werden
(Ep. XCVII 12). Die Höhe der Sittlichkeit ist, sein Gewissen
vor den Göttern aufschliessen : ,,conscientiam suam diis aperuit,
semperque tamquam in publico vivit, se magis veritus quam
alios" (B. VII I 7, cfr. De v. b. XX 5, B. III 6 2). Besonders
beachtenswerth ist, was Seneca B. tV 21 56 ausführt: ,,Ich
will mehr sagen, es kann einer dankbar sein, ^ der undankbar
scheint, den eine falsch deutende Meinung des Gegentheils
bezüchtigt. Wonach anders richtet sich ein Solcher, als nach
dem blossen Gewissen? Dieses, auch wenn ihm Gewalt
angethan wird, gewährt Freude ; laut protestirt es gegen
Volksversammlung und Volksgerede und macht sich selbst
zum allgemeinen Mittelpunkt, und wenn es die ungeheure
Masse der Andersgesinnten auf der entgegengesetzten Seite
anschaut, zählt es nicht die Stimmen, sondern spricht sich
frei mit seiner eignen einzelnen Stimme, wenn es aber sieht,
dass Treue mit den Strafen der Treulosigkeit belegt w^ird,
steigt es dessungeachtet nicht herab, sondern erhebt sich über
seine eigene Strafe."
Es ist dem Seneca klar, dass diese Selbsterhebung des
Gewissens über alle Autoritäten und Gewalten eine innere
76
Umwandlung bedeutet , die nicht auf einem blossen Denk-
prozess, sondern auf einem starken und beharrlichen Willens-
akte beruht, der auf eine neue, auf den Trümmern der Ver-
gangenheit aufzubauende Zeit hinweist. Alles, was bisher
Säulenhaft gewesen ist, jetzt ist es ins Wanken gekommen,
die Säule der Zukunft muss von innen her aufgerichtet werden,
diese Säule ist die unwandelbare Beständigkeit im Wollen und
Nichtwollen: ,,Quid est sapientiae: Semper idem velle atque
idem nolle" (Ep. XX 5). Seneca fügt hinzu, dass selbst-
verständlich diese Beständigkeit des Willens nur da sein kann,
wo der Wille auf das Rechte gerichtet ist (Ep. XCV 58).
Seneca bemerkt : ,,Illud dulcissimum et honestissimum ,,idem
velle atque idem nolle" sapiens sapienti praestabit" (Ep. CIX 16).
Dabei bietet sich die folgende lehrreiche Parallele dar.
Augustinus hatte sich f^elbst verloren und konnte sich nicht
wieder finden (,,ego a me discesseram, nee nie inveniebam"
Confess. V 2). Gleichwie nun der Philosoph zur Zeit Neros
bezeichnet Augustinus die Erlangung des ungetheilten
unwandelbaren Willens als den W^endepunkt seiner Bekehrung
oder seines Zusichselberkommens (Confess. V^III 7). Der
Mangel an der Beständigkeit und Reinheit des Willens ist eine
allgemeine menschliche Krankheit. Ks ist, wie Seneca bemerkt,
etwas in uns, das uns hindert, etwas ganz unbedingt und für
immer zu wollen (Plp. LXX i). Um gut zu sein, ist weiter
nichts nöthig, als es wirklich zu wollen: ,,Q^iJtl tibi opus est,
ut sis bonus ? velle" (Ep. LXXX 4). Aber Vieles wollen wir
scheinen zu wollen, wollen es aber eigentlich nicht (Ep. XCV 2,
Hippolyt 604 605). Wo das Nichtkönnen vorgeschützt wird,
da ist das Xichtwollen die eigentliche Ursache. ,, Nolle in
cau.sa est, non posse praetenditur" (Ep. CXVI 8, cfr. CIV 26).
Das päpstliche ,,non possumus" ist nach der Beobachtung
unseres römischen Philosophen gemeiniglich ,,nolumus". Mit
voller Ruhe und Klarheit bezeugt nun Seneca von sich selber:
,, magna pars profectus est velle proficere" (cfr. Hippolyt 249),
,,hujus rei mihi conscius sum, volo et tota mente v^olo'
(Ep. LXXI 36}. Den starken und wirksamen Willen Senecas
muss selbst Ouintilian bezeugen: , .natura quae quod voluit
77
efficit" (Inst. X i 132). Wenn nun Seneca schreibt: ,,velle
non discitur" (Ep. LXXXI 13), so meint er wohl nichts
Anderes, als dass die wahre Willenskraft Niemandem abgelernt
werden kann, sondern allemal auf sich selbst ruht und sich,
so zu sagen, selbst erzeugen muss. Er drückt dies auch so
aus: ,,cogenda mens est, ut incipiat" (Ep. L 9). Zu dem
Ende verlangt er einen ,,impetus totus". ,,Stultitia ita nos
tarn tenaciter tenet, quia non toto ad salutem impetu nitimur"
(Ep. LIX 9, cfr. Ep. LXIX 13). Aber selbst der Impetus
insignis reicht nicht aus, um einen heilsamen Eindruck nicht
wieder zu verlieren (Ep. CVIII 7). Der heilsame impetus
erreicht erst dann sein Ziel, wenn er eine ruhige Gleich-
mäösigkeit erzeugt, der vollkommne Mann ist ,,placidus et
lenis (Ep. CXX 13), ,,nec quidquam magnum nisi quod simul
placidum" (De ira I 21 4). Wer bloss durch Entschluss
(consilio) gut ist, ist noch nicht vollkommen, nur in dem ist
vollkommne Tugend, der durch seine Sitte dahin gekommen
ist, dass er nicht nur recht zu thun und zu handeln vermag,
sondern auch nicht anders, als recht zu handeln, im Stande
ist (Ep. CXX 10). Es kommt also, um vollkommen zu sein^
nicht bloss auf einen kräftigen Willensentschluss an, denn
hinter dem Willen steht auch der ,,habitus animi et mentis'',
dieser habitus, dieser Gesammtzustand des inneren Menschen,
muss in richtiger Verfassung sein. ,,Voluntas non erit recta.
nisi habitus animi rectus fuerit" (Ep. XCV 57). ,,Sapientia
habitus perfectae mentis est, sapere usus perfectae mentis"
(Ep. CXVII 16). Um das ,,honestum" zu vollbringen, muss
der ganze ungetheilte Menschengeist ringen und gegenwärtig
sein: ,, nihil honeste fit, nisi cui totus animus incubuit atque
afifuit, cui nulla parte sui repugnavit" (Ep. LXXXII 18).
Durch den geistigen Kampf gegen die Lüge und Verführung
der fama gelangt Seneca zu der Anschauung, dass von innen
her von Grund aus ein Neues anheben muss. Für dieses
Neue ist die absolute Norm das Gewissen und die wirkende
Kraft der unwandelbare, ruhige Wille, der auf das Gute und
Wahre gerichtet ist. Hier wird nun Seneca inne, dass der
Mensch sich nicht mit eigner Kraft aus seiner Versunkenheit
78
erheben kann. ,,Nemo per se satis valet, ut emergat" (Ep. LH 2),
Das Uebel kommt uns nicht von aussen, es ist in uns und
sitzt in unseren Eingeweiden. ,,Malum nostrum intra nos est,
in visceribus ipsis sedet" (Ep. L 4, cfr. Rom. VII 23). Daher
die strenge Forderung : ,,cor ipsum cum voluptatibus re\'ellendum
est" (Ep. LI 13, cfr. Ezechiel XI 19). Steht es aber so
schHmm mit uns, dann kann auch jenes Loslassen, jene Ab-
sonderung von allem natürlichen und gewohnten Zusammen-
hang, jenes Zusichselbstkommen, jener kräftige Entschluss, was
Alles Seneca so sehr empfiehlt und fordert, dann kann dieses
Alles nicht ausreichen. ,,Non est per se magistra soHtudo
innocentiae" (Ep. XCIV 69); ,,nemo est, cui non satius sit cum
quolibet esse, quam secum, tibi a te recedendum est", es muss
einer noch von sich selbst befreit werden (Ep. XXV^ 7).
Die Hülfe, die der Mensch braucht, um von sich selbst
loszukommen, um nicht bloss einen guten Entschluss, sondern
auch den recti animi habitus zu erringen, kann keine andere
als eine göttliche sein. Wie Paulus lehrt, dass das Gesetz
nicht gerecht macht, so schreibt auch Seneca : ,,praecepta non
sufficiunt" (Ep. XLIV 21); einem Kranken die Werke des
Gesunden zu befehlen, ist thöricht (Ep. XCIV 22 37), ,,animus
solvendus est, ut ad praecepta possit ire" (Ep. XCV 38).
Daher: ,,bonus vir sine Deo nemo est" (Ep. XLI 2), ,,nulla
sine Deo mens bona" (Ep, LXXIII 16). Aber diese göttliche
Hülfe und Einwirkung muss, bei der durch den Menschen
verschuldeten Entfremdung zwischen Gott und Mensch, mensch-
lich nahe gebracht, menschlich vermittelt werden. ,, Oportet
manum aliquis porrigat, aliquis educat (Ep. LH 2). Virtus difficilis
inventu est, rectorem ducemque desiderat" (Q. N. III 30 S).
Hier erhebt sich nun die vorchristliche Ahnung des Heiden-
thums auf ihre eigentliche Höhe, und was Casaubonus von der
Vorahnung Senecas sagt, hier vor Allem hat es seine Stelle.
Er lehrt: Des Menschen Geist bedarf eines Vorbildes, welches
er als heiliges Urbild in sich tragen kann. ,,Aliquem habeat
animus, quem vereatur, cujus auctoritate etiam secretum suum
sanctius faciat. O felicem illum, qui non praesens tantum, sed
etiam cogitatus emendat. O felicem, qui sie aliquem vereri
79
potest, iit ad memoriam quoque ejus se componat atque ordinet '^
(Ep. XI 9). Die Anschauung eines solchen Vorbildes hat
Seneca in seiner Jugend gewonnen, als er 7ai den Füssen seiner
Lehrer Sotion und Attalus sass. Diese Meister machten auf
ihn den Eindruck einer übermenschlichen Erhabenheit. ,,Illum
(Attalum) sublimem altioremque humano fastigio credidi
(Ep. CVIII 13)' denn ein vollendeter Weiser leuchtet wie ein
Licht in den Finsternissen und zieht alle Geister an (Ep. CXX 13).
An hohem Orte steht der Philosoph bewundernswürdig erhaben,
wahrhaft einem Gebirge zu vergleichen (Ep. CXI 3). Wenn
Jemand eine solche Erscheinung schaut, die erhabener und
leuchtender ist, als sie unter menschlichen Verhältnissen gesehen
wird, muss er nicht staunend über die Begegnung der Gottheit
stille stehen und, damit ihm die Erscheinung nicht verderblich
sei, im Geiste beten? (Ep. CXV 4). Ja nach Weise der Götter
sind die Philosophen zu verehren (Ep. LXIV 9). Die Philosophie
ist etwas Heiliges (Ep. LV 4, XIV 11), Anbetungswürdiges
(Ep. LH 13), und könnte es sich ereignen, dass die Philosophie
selber sich den Blicken darstellte, sie würde alle Sterblichen
zur Bewunderung hinreissen, und sie würde Alles hinter sich
lassen, was wir jetzt, weil wir das wahrhaft Grosse nicht
kennen, für gross halten (Ep. LXXXIX i). Weil nun in dem
Hören und Schauen seiner philosophischen Meister das Gött-
liche in Menschengestalt ihm nahegetreten ist, so kann Seneca
die mit ihm dadurch bewirkte Veränderung als eine neue
Geburt bezeichnen (De brev. vit. XV 3). Wer wird nicht an
Plato erinnert? Da aber diese Anschauung in Seneca indivi-
dueller begründet ist, als in Plato, so werden wir nicht an eine
Entlehnung zu denken haben. Wir werden später noch ein ganz
ähnliches Verhältniss zwischen Plato und Seneca kennen lernen.
Es ist jedoch das Bedürfniss einer menschlichen Vermittelung
der umwandelnden, neugebärenden göttlichen Hülfe durch jene
philosophischen Lehrer noch nicht befriedigt. Jene Lehrer sind
zwar nicht von der Klasse der griechischen Wortmacher und
Sophisten, sie beschämen allerdings durch ihr strenges Leben
die üppigen Zeitgenossen, aber sie halten sich innerhalb der
stillen Räume der Schule, denn dass Sotion und Attalus
80
irgendwo in das grosse öffentliche Leben eingegriffen, wie das
Tacitus von einem verfehlten Versuch des Musonius Rufus
berichtet (Histor. IV ii), davon fehlt jede Spur. Dass Sejan
den Attalus verbannte, wie wir bemerkt haben, mag einen rein
persönlichen Grund gehabt haben. Nun ist aber Seneca zu
sehr vertieft in die Anschauung von der abgrundmässigen
Corruption der allgemeinen Verhältnisse und Zustände, als dass
er nicht das vorleuchtende göttliche Ideal der Weisheit und
Tugend auf dem Gebiete des offenen Kampfes gegen die
höchsten Gewalten der allgemeinen öffentlichen Verderbniss
suchen sollte. ,,Es ist ein Bedürfniss des Gemeinwohls", so
schliesst er seine Abhandlung über die Standhaftigkeit, ,,dass
es ein Unbezwingliches giebt (aliquid lesen Fickert und Haase),
dass Einer vorhanden sei, über den das Schicksal nichts
vermag." Es reicht aber nicht aus, dass ein solcher Sieger
über das, was alle Menschen gefangen hält, vorhanden ist, er
muss auch offenbar sein, auf offenem Plan muss er streiten
und den Sieg erringen. Mammon, Fleischeslust und der
öffentlichen Meinung Zwingherrschaft waren die Götzen, denen
die ganze römische Welt opferte. Es gab aber Einen, der
öffentlich zeigte, dass er diesen Kultus verabscheute. Der
Cyniker Demetrius war in Rom eine wandelnde Busspredigt
gegen diesen Götzendienst. Caligula wollte ihn durch eine
Summe Geldes gewinnen. Demetrius lachte und sagte, er
halte es nicht einmal für einen Ruhm, eine .solche Summe
auszuschlagen, wenn der Cäsar ihn wirklich versuchen wolle,
dann müsse er ihm sein Kaiserreich anbieten (B. VII ii i — 2).
Ein ganzes Menschenalter später zeigte dieser Cyniker dem
Kaiser Vespasian ,, seine Zähne" (Sueton Vespas. XIII), und
während der Zeit des Nero finden wir ihn in der Umgebung
des Thrasea Paetus, der sich angesichts des Todes mit ihm
über die Natur des Sterbens unterhielt (Tacit. Ann. XVI 34 35).
Keinen seiner Zeitgenossen hat Seneca so oft und so unbedingt
gelobt und gefeiert, wie diesen Cyniker, dessen ganze Erscheinung
zu Seneca, dem fürstlich begüterten und hochgestellten Mann
den grellsten Kontrast bildete. Er giebt ihm folgendes
Zeugniss: ,,Die Natur scheint mir ihn in unseren Zeiten
81
geschaffen zu haben, um zu zeigen, dass er weder von uns
verderbt, noch wir von ihm gebessert werden können ; ich
zweifle nicht, dass die Vorsehung ihm ein solches Leben und
eine solche Zunge verliehen hat, damit unserem Zeitalter weder
tlas Vorbild, noch die Strafpredigt (convicium) abgehen
möchte" (B. VII 8 2 3). ,, Unter vielen herrlichen Sprüchen
unseres Demetrius tönt und zittert der folgende jüngst von
mir gehörte noch immer in meinen Ohren: ,, Nichts scheint
mir unglückseliger zu sein, als ein Mann, dem nie ein Leid
widerfahren ist" (De provid. III 3). ,, Dieser Cyniker ist ein
Mann von sehr scharfem Geist und liegt im Kampf mit allen
Wünschen der Natur" (De vit. beat. XVIII 3). ,,Der Cyniker
Demetrius ist nach meinem Urtheil ein grosser Mann, auch
wenn er mit den Grossesten verglichen wird" (B. VII i 3).
,, Demetrius ist nicht sowohl ein Lehrer der Wahrheit, als
vielmehr ein Zeuge derselben" (Ep. XX 9 lo, B. VII 21,9 i — 4,
Ep. CXI 19, Q. N. IV, praef. 7). Was er im Allgemeinen
von der sittlichen Einwirkung des rechten Vorbildes gerühmt
hat, das bekennt Seneca aus eigner Erfahrung mit Demetrius.
,,Demetrium optimum virorum mecum circumfero, cum illo
seminudo loquor, illum admiror" (Ep. LXII 3). Aber die letzte
und höchste Probe der Bewährung in dem Kampf mit dem
Geschick, auf welche Seneca am Ende der Schrift ,,de con-
stantia", als auf die Bedingung und Ursache der allgemeinen
Wohlfahrt hinweist, hat auch dieser Cyniker noch nicht bestanden.
Der Tod erscheint dem Seneca als ein grosses Tribunal,
vor welchem die Wahrheit offenbar werden wird, und meistens
denkt er sich den Tod der Guten umgeben mit den Schrecken
und Martern der Gewaltthätigkeit, wie wir das später noch
weiter zu erörtern haben werden. Wer also die Menschheit
aus ihrer Versunkenheit emporheben soll, wer, um mit Seneca
zu sprechen, die Hand ausstrecken soll, um mit übermensch-
licher Kraft die menschliche Ohnmacht aus der Tiefe empor-
zuziehen, der muss das Schicksal auch in der Gestalt der
grausigen Todesschrecken überwunden haben. Das ist die
Idee der Tragödie des Seneca: Hercules auf Oeta
(V 1946 ff. 1966 ff.). Eine bereits oben angeführte Stelle kommt
6
82
hier in erweiterter Fassung in Betracht. ,,Wenn der Gute
wahrnimmt, dass die wahre Treue mit den Strafen der Treu-
losigkeit belegt wird, dann steigt er nicht herab von seiner
Höhe, sondern erhebt sich über seine Strafe und spricht : ich
habe was ich wollte, was ich suchte, es reut mich nicht und
wird mich nicht reuen; durch keine Unbill wird das Schicksal
mich dahin bringen, von mir eine solche Sprache zu hören :
was habe ich für mich gewollt? was nützt mir jetzt der gute
Wille? Ja, er nützt auch am Marterpfahl, er nützt auch in
Feuersgluth. Wenn das Feuer den einzelnen Gliedern nahe
gebracht wird und allmählich den lebendigen Leib umgiebt,
dann mag immerhin das Herz, welches erfüllt ist von dem
guten Gewissen, zerschmelzen, ein solches Feuer, durch welches
die ächte Treue soll beleuchtet werden, wird dem Manne
Wohlgefallen" (B. IV 21 6). ,,Ich brenne", sagt der Gute,
,,aber bleibe unbesiegt. Warum sollte das nicht erwünscht
sein? Erwünscht ist es nicht, weil das Feuer brennt, sondern
weil es nicht besiegt. Nichts ist herrlicher, nichts schöner
als die Tugend, und gut und erwünscht ist Alles, was auf ihr
Geheiss vollbracht wird" (Ep. LXVII 16).
Zu der Marter muss aber noch Eines hinzukommen, um
die Probe zu vollenden. Weil alle Richtigkeit und Wahrheit
nach Senecas Auffassung dem öffentlichen Urtheil abhanden
gekommen ist, weil die öffentliche Meinung zur fama, zur Lüge,
zur Heuchelei geworden ist, so muss der voUkommne, der rettende
und befreiende Sieger zugleich die Macht der fama unter die
Füsse treten. Während in besseren Zeiten die öffenthche
Anerkennung und Ehre ein allgemein gültiges Zeichen der
Tugend war, ist es in den Zeiten des Cäsarismus dahin
gekommen, dass die Tugend Jemandes nicht eher die Feuer-
probe bestanden hat (Ep. XIII i, cfr. i Petr. i 7), als bis sie sich
auch gegen die Infamie behauptet hat. Dieser Gedanke ,,virtus
cum infamia" bezeichnet das innerste Geheimniss der Denk-
und Sinnesart unseres Stoikers. Denn dieser Gedanke ist nicht
ein flüchtiger Einfall, nicht eine rhetorische Redewendung,
sondern eine auf tiefer und ernster Beobachtung der zeit-
geschichtlichen Wirklichkeit beruhende Weltanschauung. Dies
83
zeigt sich darin, dass Seneca diesen wahrhaft originellen
Gedanken in immer neuen Wendungen wiederholt : ,,Aequissimo
animo ad honestum consilium per mediam infamiam tendam,
nemo mihi videtur pluris aestimare virtutem, quam qui boni
viri famam perdidit, ne conscientiam perderet" (Ep. LXXXI 20,
cfr. CXin 32, CXV 6). Es ergiebt sich leicht, was zu halten
sei von der Behauptung H. Schillers, dass in Seneca nicht
■ein einziger origineller Gedanke zu finden sei. ,,Wenn wir
unsern Geistesblick schärfen, indem wir die Hindernisse
entfernen, dann werden wir im Stande sein, die Tugend zu
schauen, auch wenn sie durch ihre körperliche, äussere
Erscheinung verdeckt ist, auch wenn Armuth, Niedrigkeit,
Schmach und Schande sie verhüllen, wir werden, sage ich,
ihre Schönheit schauen, auch wenn sie durch Schmutz verdeckt
ist." ,, Glaube mir, es ist nicht die Art eines sclavischen Sinnes,
<;ine edle That zu ermöglichen um den Preis, scheinbar ein
Verbrechen zu begehen" (B. III 23 4, cfr. De ira III 41 2,
Ep. XCI 20, ad Helv. XIII 4—8, Ep. LXXVI 4).
Durch Beides nun, durch gelassenes Ertragen der Schmach
und durch den Widerstand gegen die Gewalt bis zum Tode,
leuchtet hervor Marcus Cato, „quo nemo altior" (Ep. XCV 70),
und darum preist ihn Seneca als das rettende Ideal der
Menschheit. Dieser in grundverderbter Zeit ~für musterhaft
geltende römische Staatsbürger hat die Schande erlebt, dass er
bei den Bewerbungen um die Prätur und das Consulat von
dem Volk einem Unwürdigen hintan gesetzt wurde (De
prov. III 14), und dass er bei einer anderen Gelegenheit von
der Volksmasse, wie Diogenes (De ira III 38 i) und Aristides
(Ad Helv. XIII 7) beschimpft, angespeit und gemisshandelt
wurde (De const. I 3, Ep. XIV 13, ad Helv. XIII 7), und als
er ins Angesicht geschlagen ward, hat er die Beleidigung nicht
gerächt noch vergolten (De const. XIV^ 3, cfr. i Petr. 2 23).
Dieser war dazu bestimmt, mit den drei höchsten Gewalthabern
des Weltkreises zu kämpfen und unterliegend durch Ver-
achtung des Todes die Freiheit zu erringen (De provid. III 14,
Ep. CIV 29—33). Die ungewöhnliche Schlechtigkeit und
Bosheit der Mehrzahl der Zeitgenossen musste dazu dienen,
6*
84
dass Cato verstanden würde, indem er im Gegensatz zu seine«
schlechten Zeitgenossen Gelegenheit bekam, seine Kraft zu-
erproben (De tranq. VII 3). Cato ist das lebende Bild der
Tugend ,,virtutum viva imago" (De tranq. XIV i), der, in
dessen Gegenwart das Volk nicht den Muth hatte, der sündigen
Lust zu fröhnen (Ep. XCVII 3, cfr. Valerius Maximus II 10 8).
Er ist nicht bloss ein Musterbild (,,exemplar" De const. VII i,
Ep. XI 10, XXV 6), sondern auch ein Schauspiel ohne gleichen
für Menschen (Ad Helv. XIII 6) und selbst für Götter (De
provid. II 9 12). Die unvergleichliche Hochhaltung und Ver-
ehrung des Cato war in dem Hause der Annaeer, wie bereits
beiläufig bemerkt, Familientradition. Marcus Seneca nennt in
einer Zuschrift an seine drei Söhne einen Ausspruch des Cato ein
göttliches Orakel, eine Willenserklärung der Gottheit an das
menschliche Geschlecht, ausgesprochen durch einen mensch-
lichen Mund (Controv. I praef ). Unzählig oft beschäftigt sich
Lucius Seneca in seinen Schriften mit dem jüngeren Cato, und
zwar meistens von Bewunderung erfüllt, und der Enkel des
Marcus Seneca, der Neffe unseres Stoikers, Lucanus der
Dichter, verherrlicht Cato als den Haupthelden in seiner
Pharsalia.
Durch die Erhebung der beiden Männer Demetrius und
Cato zu Vorbildern der Menschheit ist die bisher herrschende
Weltanschauung nicht bloss verändert, sondern in ihr Gegen-
theil umgewandelt. Wir haben erkannt, dass die römische
Welt in den Tagen Senecas gefangen liegt in dem Dienst der
drei Götzen : Mammon, Genusssucht und lügenhafte Fama.
Jene Beiden haben das, was die Sclaven dieses Götzendienstes-
am meisten hassten und flohen, die Armuth, die Entsagung
und die Infamie und Cato ausserdem noch der Uebel
grösstes, den Tod, nicht bloss ertragen, sondern, nach Senecas
Lehre, zu Denkmälern leuchtender Tugend verklärt. Ein
solches Leben ist ein Kriegsdienst und ein Werk des Weisen,
welches Allen zu Gute kommen soll. Es ist die Absicht
Gottes und des Weisen, Allen zu zeigen, dass das, was das
Volk begehrt oder verabscheut, weder das Gute, noch das-
Böse ist (De provid. V i). Dazu sind jene Vorbilder geboren,.
85
^,ut alios pati doceant" (De provid. VI 3). ,,Invicti iter seqiien-
tibus ostendere debent (De remed. Haase III 451). Wie jene
A^orangehen im Leiden, so ist es Allen bestimmt, ihnen im
Leiden nachzufolgen. Das Leiden hat aber durch den Vorgang
jener einen anderen Charakter erhalten. Nunmehr sind die
Leiden ein heiliger Schmuck (Ad Helv. XIII 6, cfr. Rom. V 3).
Alle Widerwärtigkeiten sind Uebungen (De provid. II 2).
,,Gaudent magni viri aliquando rebus adversis" (De provid. IV 4,
•cfr. Jacob. I 2). Die ganze Schätzung von Glück und Unglück
kehrt sich um ins Gegentheil. ,,Felicitas est magna servitus;
miserum te judico, quod nunquam fuisti miser" (De provid. IV 3).
,,,Magnifica vox Demetrii : nihil mihi videtur infelicius eo, cui
jiihil unquam evenit adversi" (De provid. III 3). Die ,,epistolae
morales ad Lucilium" schliessen mit folgenden Sätzen:
,, Brevem tibi formulam dabo, qua te metiaris, qua perfectum
•esse jam sentias: bonum tunc habebis tuum cum intelliges
infelicissimos esse felices." Von nun an ist der ,,fortiter miser"
Gegenstand der höchsten Bewunderung (Ad Helv. XIH 6), ja,
•der Leidende ist ein Heiligthum (Epigr. IV 9). Es tritt uns
in diesem Gedankenzusammenhang mit einem Wort eine Welt-
anschauung entgegen, welche ihren vollendeten Ausdruck in
-der Bergrede erhalten hat. Eine besondere Erwähnung verdient
am Schlüsse dieser Gedankenreihe noch die Thatsache, dass
der fürstlich begüterte Mann die Armuth, welche im ganzen
heidnischen Alterthum verachtet war und in der Zeit Senecas
sogar unter dem Fluche stand (,,maledicta", Ep. CXV 11),
:zum Gegenstand seiner Empfehlung und seines Lobes macht
-(De remed. III 451 452 453, ed. Haase, de paupertate
p. 458 — 461). Jedoch dieses nicht im mönchischen Sinn,
-denn wenn allerdings der Reichthum auch gefährlich ist
<Ep. LXXXVII 28, cfr. Matth. XIX 23), so schliesst nach
Seneca der Besitz des Reichthums an sich die rechte Gesinnung
•der Armuth nicht aus (Ep, XX 10 13, Ad Marciam X 3,
Ep. XCVIII 3), ja, ,,infirmi animi est pati non divitias"
(Ep. V 6, cfr. Philipp. IV 12).
Nach derjenigen Anschauung, welche in dem Vorbilde
eines Demetrius und eines Cato ihre Norm findet, ist die
86
gesammte äussere Weltordnung, wie sie bisher gewaltet, unter-
gegangen. Centrum dieser verderbten Weltordnung ist das
Cäsarenthum, welches Seneca, wie er es selber in allernächster
Nähe gesehen und erfahren hat, als das regnum der schranken-
losen Selbstsucht, Willkür, Ungerechtigkeit und Frivolität
schildert (Thyestes 205 — 207 214 215 217 218, Agamemnon
269 — 272). Seneca ist einsichtig genug, um zu wissen, dass
dieses sündenbeladene Weltreich die weltgeschichtliche Aus-
bildung einer Anlage ist, die in jedem Menschen liegt. ,,Regis
quisque intra se animum habet, ut licentiam sibi dari velit, in
se nolit" (De ira II 31 3, Ep. XLVII 20). Als dem Augustinus
seine bisherige Welt untergegangen war, wusste er nicht,
wohin er seinen Blick richten und seinen Lauf nehmen sollte
(Confess. VI 10, VIII 7), bis sein Geist gewiss wurde, dass in
der Welt ein Reich Gottes (civitas Dei) gegründet ist, welches-
mit der sieghaften Kraft wider alle Feinde ausgerüstet ist
Nachdem das äusserliche Weltreich vor dem Geistesauge
Senecas zerschlagen ist, ist es auch nichts Geringeres, als die
Vorstellung eines anderen, eines geistigen Reiches, was ihm
einen Ersatz zu gewähren vermag. Da er aber, im Gegensatz
zu Augustinus, weder Kunde noch Gewissheit hat von einem
thatsächlich gegründeten und wirklich vorhandenen Reiche
Gottes, so ist er genöthigt, sein neues Reich lediglich mit
Hülfe seiner blossen Gedanken aufzubauen.
Es giebt nach Seneca ein Königreich, welches die gute
Gesinnung sich selber erbaut. ,,Rex est, qui metuet nihil.
Rex est, qui cupiet nihil. Mens regnum bona possidet. Hoc
regnum sibi quisque dat" (Thyestes 388 — 390). ,, Immune
regnum est posse sine regno pati" (Thyestes 470). Ein
unermessliches Königreich steht dem zu Gebote, der es ohne
Königreich aushalten kann. ,,Ego", lässt Seneca den Demetrius
sagen, ,,ego regnum sapientiae novi, magnum, securum"
(B. VII 10 6). Uebrigens schliesst sich diese Anschauung von
einem geistigen Königreich an den bekannten stoischen Sprach-
gebrauch an: ,,Attalus se ipse regem esse dicebat" (Ep. CVIII 13),
welcher Sprachgebrauch freilich auch nicht anders als aus einer
neuen Weltansicht erklärt werden kann. Die Anerkennung dieses-
87
geistigen Reiches zerschlägt den antiken Partikularismus, sei
derselbe nun territorial oder national. An die Stelle des
Vaterlandes tritt die Welt, und an die Stelle des Volkes tritt
die Menschheit. ,, Magno animo nos non unius urbis moenibus
clusimus, sed in totius orbis commercium emisimus, patriamque
nobis mundum professi sumus, ut liceret latiorem virtuti campum
dare" (De tranq. IV 4, cfr. Ep. XXVIII 4, LXVIII 2, CII 21,
CXX 12). Wichtig ist, dass durch diesen Universalismus der
Begriff der Menschheit zum ersten Mal auf dem heidnischen
Gebiete Leben gewinnt. Seneca weiss, dass humanitas, die
menschliche Gesinnung, in homine rarum bonum est (Ep. CXV 3),
und erst durch die Weisheit erworben werden muss. Wir, die
Philosophen, sagt er, ,,sancimus societatem humani generis'^
(B. I 15 i), wir erheben das menschliche Geschlecht zu einer
heihgen Gemeinschaft. ,,Wir", heisst es Ep. CV 52, sind
Gliedmassen eines grossen Leibes, als familienverwandt hat uns
die Natur erzeugt, die wir denselben Ursprung und dasselbe
Ziel haben, die Natur hat uns die gegenseitige Liebe
eingepflanzt und uns zur Geselligkeit erschaffen. Du musst
für den Anderen leben, wenn Du für Dich selber leben willst,
die.se gewissenhaft und heilig gepflegte Gemeinschaft bringt
uns als Menschen mit Menschen in Verbindung" (Ep. XLVIII 3).
Aehnlich wie im Neuen Testament gewiniit in solchem
Zusammenhang das Wort Liebe bei Seneca einen allgemein
ethischen Sinn (De ira III 28 i, B. II 18 3, IV 21 i,
Ep. XLVII 18).
Diesem Universalismus erscheint es als eine Bornirtheit,
wenn Jemand sich auf sein Volk und sein Zeitalter beschränkt
(Ep. LXXIX 17). Während in der herrschenden Anschauung
des heidnischen Alterthums der Mensch in dem Bürger auf-
ging, überragt gemäss diesem philosophischen Universalismus
das Menschsein das Staatsbürgerthum. ,,Nefas est nocere
homini, nam hie in majore tibi urbe civis est" (De ira II 31 7).
,, Natura hominem homini conciliat" (Ep. IX 17). Der Mensch
als solcher ohne weitere Empfehlung ist dem Menschen werth
(De dem. I i 3), Ja, ein Heiligthum ist der Mensch dem
Menschen: ,,homo sacra res homini" (Ep. XIV 33). Seneca
88
scheut sich auch nicht, die Anwendung dieser wahrhaft
humanen Anschauung auf die concreten Zustände zu machen.
Nachdem die Schranken der partikularistischen Weltansicht
gefallen sind, erscheint der Mensch in seiner alle Kreatur
überragenden Würde, was wir bereits als eine Folge der
monotheistischen Theologie Senecas erkannt haben (B. VI 23 6).
Es gehört zu den anerkanntesten \'orzügen Senecas, dass er
auch in dem Sclaven den Menschen anerkannt hat (Nero von
Schiller p. 509). Erfüllt \'on der Anschauung der Menschen-
würde erscheinen dem Seneca die Standesunterschiede lediglich
als Namen, die der Ehrgeiz und die Ungerechtigkeit erzeugt
haben (Ep. XXXI 11). Auch der Gladiator wird in dieses
menschheitliche Bewusstsein aufgenommen, denn die Lust an
dem blutigen Schauspiel wird als eine \'erderbniss des Zeit-
alters geschildert (Ep. XC\' 33, De tranq. II 13). Endlich
wird auch der Feind in den Schutz der allgemeinen Menschlich-
keit eingeschlossen (De vit. beat. XX 5, De otio I 4, B. VII 3.1 i).
Dieses Königreich der sapientia und humanitas ist auch
insofern dem neutestamentlichen Königreich ähnlich, als es
nach den Versicherungen des Seneca über die Zeitgrenzen der
übrigen menschlichen Dinge hinausreicht. Wer, nicht eingeengt
in die Staatsgeschäfte, dem Menschengeschlecht seine Thätig-
keit widmet, ,,der leitet die zukünftigen Jahrhunderte, der
predigt nicht vor Wenigen, sondern vor allen Menschen, allen
Völkern, vor Allen, welche sind und sein werden" (De otio \'I 4).
,,Ich sorge für die Nachkommen; was ihnen nützen kann, fasse
ich in Schrift" (Ep. VIII 2). ,,Für uns thut sich auf eine
grosse Tiefe der Zeit, mir werden die Nachkommen dankbar
sein, ich werde mit mir unvergängliche Namen auf die Nach-
welt bringen" (Ep. XXI 5). ,,Wir behaupten, dass Zeno und
Chrysippus Grösseres geleistet, als wenn sie Heere angeführt ;
sie haben Gesetze gegeben nicht für einen einzelnen Staat,
sondern für die ganze Menschheit" (De otio \T 4).
Das Leben in diesem geistigen Reich ist kein Spiel und
Scherz, ,,non est delicata res vivere" (Ep. C\TI 2, LX\' 18,
XCVI 5, De provid. I 5). Der Weise ist ein Bürger und
Krieger des Universums (Ep. CXX 12). Dem Dienste in
89
diesem Reiche, also der wahren Weisheit und Tugend, ermüdet
Seneca nicht, immer aufs Neue eine unüberwindliche Freudig-
keit zu versprechen. ,,Scio gaudium nisi sapienti non contin-
gere" (Ep. LIX 2, cfr. LIX i6 i8, LXXII 4 8). ,;Sola
virtus praestat gaudium perpetuum securum" (Ep. XXVTI 3,
cfr. XCVIII I, De vita beata III 4, IV 4, De const. 1X3). Von
dieser vollkommenen ununterbrochenen Freude gilt das bekannte
Wort Senecas: ,,Mihi crede, res severa est verum gaudium"
(Ep. XXIII 4).
Die virtus, der Hauptcharakter des geistigen Reiches,
welche Seneca theils aus den Grundsätzen der Stoa, theils aus
seiner eigenen Erfahrung und Anschauung aufbaut, erhält von
Seneca weitere beachtenswerthe Prädikate. Seneca hat eine
so hohe Anschauung von der virtus, dass er wiederholt
behauptet, einmal erworben, könne sie nicht wieder verloren
gehen (Ep. L 8). Die Tugend, Richterin über Alles, wird
selbst von Nichts gerichtet (Ep. LXXI 20). Die Tugend des
Weisen besitzt und beherrscht Alles (B. VII 63). Tugend
ist nie secundär, sondern immer initiativ (B. IV 2 2). In
dieser absoluten Führerschaft des Guten ist es begründet, dass
das Böse dem Guten unterliegen muss. ,,Succumbunt vitia
virtutibus, si illa non cito odisse properaveris (B. V i 5). ,,Vincit
malos pertinax bonitas" (B. VTI 31 i). Dieser letzte Satz
erklärt den voraufgehenden. Nur die beharrliche Güte besiegt
das Böse, wer sich aber keine Zeit lässt, das Böse zu über-
winden, wer eilig und rasch zufährt mit dem Ilass gegen das
Böse, dem gelingt es nicht, das Böse zum Unterliegen zu
bringen. ,, Nihil est, quod non expugnet pertinax opera et
intenta ac diligens cura" (Ep. L 6).
Damit man nun aber diese weitreichenden Gesichtspunkte,
diese grossen Vorsätze und W^rheissungen nicht für eine leere
Grandiloquentia halte, welche Erasmus an Seneca zu tadeln
hat, müssen wir uns über die Eigenthümlichkeit der Sprache
Senecas klar werden. Mag Tacitus immerhin Recht haben,
dass das anmuthige Talent Senecas dem Geschmack seiner
Zeitgenossen entsprach, aber so ist dies auf keinen Fall zu
verstehen, dass Seneca sich ohne Weiteres dem Stil der
90
damaligen Bildung anbequemt habe. In den Augen unseres
Stoikers ist die gesammte gelehrte Bildung seiner Zeitgenossen
in die allgemeine Verderbniss verstrickt. ,,Postquam docti
prodierunt boni desunt. Simplex enim illa et aperta virtus in
obscuram et solertem scientiam versa est, docemurque disputare
non vivere" (Ep. XCV 13, cfr. Ep. CVI 11 12). Er klagt
i.iber den Hochmuth der Vielwisserei (Ep. LXXXVIII 37).
Alle Erfindungen scheinen ihm vom Uebel zu sein (Ep.XC 9 — 19).
Darum wendet er sich wie die christliche \"erkündigung an
den schlichten und einfachen Sinn, an das Gewissen der
Menschen. Weil es Seneca um praktische Weisheit zu thun
ist, widerspricht er Plato, indem er behauptet, dass die
philosophische Wahrheit für Jedermann ist. ,,Patet omnibus
veritas" (Ep. XXXIII 11). ,,Philosophia omnibus lucet"
(Ep. XLIV 2). Wir haben gesehen, dass Seneca die \^erderbniss
wie in den Sitten, so auch in dem Verfall der Sprache aus-
geprägt findet. Daraus entsteht fijr Seneca die \>rpflichtung,
den Sprachgebrauch zu reinigen. Zu dem Ende stellt er die
Regel auf, dass die Sprache dem subjectiven Sinn und Gefühl
des Redenden entsprechen müsse, die Sprache muss subjectiv
wahr sein. Wahrhaftigkeit ist also Grundgesetz jeder Rede.
,,Quod sentimus loquamur, quod loquimur sentiamus" (Ep.
LXXV 4, cfr. C II, IX 20). Senera verlangt von dem
Redenden, dass er der Sprache den Stempel seiner inneren
P^igenthümlichkeit aufdrücke (,,veluti signum" Ep. CXV^ ij.
Vornämlich für den schriftlichen Stil will er das Gesetz
strenger Wahrhaftigkeit befolgt wissen. ,,Turpe est aliud
loqui, aliud sentire, quanto turpius aliud scribere, aliud
sentire!" (Ep. XXIV 19). ,,Quotiens scribes aliquid quod
editurus es, scito morum tuorum te hominibus chirographum
dare" (,,De moribus" Haase III 467). Der Einzelne soll also
nicht ein blosser Durchgangspunkt der \'olkssprache sein,
sondern der selbstständige Anfang einer gereinigten Sprache
nach dem Grundgedanken von W. v. Humboldt, dass die
Sprache nicht sowohl ein ipvov, sondern eine ivip^Eia ist.
Man wird nicht leugnen können, dass die Sprache Senecas
eine sehr deutliche Spur dieser Grundsätze aufweist. Vielfach
91
muss man allerdings Ouintilian und Erasmiis in ihren Aus-
stellungen an dem Stil Senecas Recht geben, aber das Eine
wird man ihm lassen müssen, dass er für moralische Sentenzen
eine Form von klassischer Mustergültigkeit geschaffen hat. Da
wir nun in dieser Stilart, namentlich im Hinblick auf die
soeben angeführten Grundsätze, die Wirkung seiner ganzen
moralischen Weltbetrachtung erkennen müssen, so ist die
Aehnlichkeit dieser Schreibart mit der neutestamentlichen
Gnomenform keinesweges zufällig.
Ausgerüstet nun mit diesem Werkzeug eines selbst-
geschaftenen, individuell ausgeprägten Idioms, hat Seneca
vermittelst seiner Lehren und Schriftstellerei als pädagogus
generis humani nicht bloss ins Allgemeine zu wirken gesucht
(Ep. LXXXIX 13), was ihm als ungenügend erscheint
(Ep. XXIX 2 3), sondern den Ernst seines praktischen
Strebens auch dadurch bewiesen, dass er seine philosophische
Heilkraft auf concrete Fälle anwandte (Ep. CXI 2, CVII 13).
Der grossartigste Versuch der Art ist die Erziehung und
Berathung des Nero. Man darf über den unleugbaren grossen
Schwächen, die hier zum Vorschein kommen, und die wir
später besprechen müssen, die rühmliche Seite dieses Ver-
hältnisses nicht übersehen. Selbst Cassius Dio kann einen
heilsamen Einfluss Senecas auf seinen kaiserlichen Zögling
nicht in Abrede stellen, und wenn Tacitus behauptet, dass der
Tod Senecas für Nero ein sehr erfreuliches Ereigniss gewesen
(,,caedes Annaei Senecae laetissima principi" (Ann. XV 60)^
so ist dies ein starkes Zeugniss von dem nachhaltigen
moralischen Eindruck, den jener auch in seiner Zurück-
gezogenheit und in seinem Alter noch auf den Tyrannen machte.
Die beiden Bücher ,,de dementia ad Neronem Caesarem"
sind ein noch heute redendes Denkmal von dem Versuch einer
erziehlichen Einwirkung Senecas auf das junge Gemüth des
Weltherrschers. Schwerlich sind die beiden Anekdoten, nach
denen Seneca schon früh die bösartige Natur seines Zöglings
erkannte (Sueton Nero VII Scholiast zu Juvenal V 109) ohne
historischen Grund. Dann hatte er um so mehr Ursache, zur
Milde zu ermahnen und vor Grausamkeit zu warnen, worauf er
92
<es ja in den beiden Büchern ,,de dementia" angelegt hat.
Ohne Zweifel haben wir auch die erste Aeusserung aus dem
Munde Neros: ,, Vollem nescirem literas" (De dem. II i 2,
Sueton Nero X, cfr. XII) auf die Energie solcher Paränesen
zurückzuführen. Der Umstand, dass Nero den griechischen
Vers: ,,Nach meinem Tod mögen Erde und Feuer sich
mischen", den Seneca ihm als den Ausbruch einer verab-
scheuungsvvürdigen Sinnesart zur Warnung vorgehalten (De
-dem. II I I, Dio Cassius LVIÜ 23 4), in späterer Zeit sich
angeeignet und zwar in verschärfter Form (Sueton NeroXXXVHI),
ist ein indirecter Beweis von der nachhaltigen Wirkung der
Firmahnungen Senecas auf Nero. Man kann sicher sein, dass
Seneca sich nicht damit begnügt haben wird, dem Kaiser seine
Staatsreden zu \erfertigen, worüber sich Fronto so ärgert
(Opp. p. 119 120). Sueton berichtet aus den ersten Regierungs-
jahren Neros mehr als einen Zug, der auf den moralischen
Einfluss Senecas schliessen lässt, wohin ich rechne . die
Schonung beim Gladiatorenkampf (XII) und die Beschränkung
der öffentlichen Ausgaben (,,graviora vectigalia aut abolevit
aut minuit" (CX, cfr. Plutarch II 461). Es ist mehr als
wahrscheinlich, dass einzelne Gewissensregungen in den späteren
Jahren der vollendeten Wüstheit, wie die Furcht vor den
eleusinischen Mysterien (Sueton Nero XXXIV), die nach seinem
Tode in einem Schrank gefundenen Abbitten (Sueton XL\TI),
-eben dieser Einwirkung Senecas zuzuschreiben sind. V^or Allem
möchte ich dahin rechnen die lauten und schweren Selbstanklagen
Neros (Suet. XLIX), aus denen man die strenge Sprache des
stoischen Pädagogen leicht heraushören kann. Da der heroische
Tod Othos bei der schlaffen und wüsten Lebensweise dieses
Mannes auffallend ist, so hat Lipsius auch bei diesem, mit
Nero sehr intimen Genossen einen Einfluss unseres Stoikers
•wahrscheinlich gefunden.
Erfreulicher jedenfalls ist die Wirksamkeit, welche Seneca
-einem jüngeren P'reunde, dem Lucilius, zuwendet. An diesen
sind gerichtet die Abhandlung ,,de Providentia", die sieben Bücher
der ,,quaestiones naturales" und vor Allem die ,,epistolae
morales". Die letztgenannte Briefsammlung ist ein gross
93
angelegter Versuch, den begabten, aber über die gewöhnlicheiT
Versuchungen römischer Beamter der damaHgen Zeit nicht
erhabenen Freund für den stoischen Lebensernst zai gewinnen
und zu erziehen. Es giebt viele Spuren, welche das lebhafte
innere Interesse des Briefstellers an der sittlichen Förderung
und die Freude desselben über die Fortschritte des Freundes
bekunden (Ep. II i, IV 6, V i, XIX i, XX i, XXX i,
XXXIV I, XXXV I, L I, LXXXIl 2). So stark ist sich
Seneca seines bekehrenden Verdienstes um den Lucilius
bewusst, dass er den Ausdruck gebraucht: ,,assero te mihi,
meum opus es" (Ep. XXXIV" 2), welche Worte unwillkürlich
an die Sprache des Paulus dem Philemon gegenüber erinnern
(Ad Phil. XIX). Sehr lehrreich ist in dieser Beziehung auch,
was Seneca in dem Briefe an Lucilius (XXIX i — 8) von einem
gewissen ihm näher stehenden Marcellinus erzählt. Dieser begabte
Jüngling hatte offenbar durch wüstes Leben seine Gesundheit
zerrüttet (Ep. LXXVII 5), ohne durch Schaden klug geworden
zu sein. Seneca bemüht sieht nun ernstlich, ihn auf einen
besseren Weg zu bringen, aber jener fürchtet die Wahrheit zu
hören und sucht sich dadurch zu wehren, dass er auf die
schlechten Sitten und offenbaren Aergernisse der professionirten
Philosophen hinweist, wie jetzt Manche den Ernst der Christen-
lehre dadurch abzuweisen versuchen, dass sie^ sich auf die
Schwächen und Sünden vieler Geistlichen berufen. Dessungeachtet
giebt Seneca ihn nicht auf: ,,propositum est, aggredi illum,
vitia ejus, etiamsi non excidero, inhibebo". Wir sehen aus den
bei diesem Anlass ausgesprochenen Erklärungen, dass Seneca
über diese Art der Seelsorge sich förmliche Grundsätze aus-
gebildet hat. • Von zwei anderen Freunden schreibt er Folgendes :
,,Quod ad duos amicos nostros attinet, diversa via eundum
est, alterius vitia enim emendanda sunt, alterius frangenda.
utar libertate tota, non amo illum, nisi ofifendo" (Ep. XXV i).
Noch ein anderes derartiges Beispiel beschreibt er Ep. CXII.
Hier hat er zu thun mit einem alten Lüstling, der sich gerne
bekehren möchte, aber der rechten Willenskraft ermangelt.
Wir sehen bei diesem ganz deutlich, wie wenig sich Seneca
durch blosse Vorsätze und Anläufe zum Guten befriedigen
94
lässt. Diese concreten Fälle gewähren den überzeugenden
Eindruck, dass die Schilderung, welche Seneca von der leib-
lichen und geistigen Notli seiner Zeit macht, weder eine hoch-
müthige, noch eine müssige Betrachtung ist, sondern aus
einem wahren Mitgefühl geboren ist. Seneca schreibt von ,,den
ausgestreckten Händen", von ,,dem verlorenen und unter-
gehenden Leben so Vieler": ,,rogant ut ex tanta illos
volutatione extrahas, ut disjectis et errantibus darum veritatis
lumen ostendas" (Ep. XLVIII S). Wie Paulus in Troas den
macedonischen Mann in einem nächtlichen Gesicht schaut und
von ihm den Ruf nach Europa zu kommen und ,,uns zu
helfen" vernimmt, so schaut auch Seneca die grosse Seelen-
noth seiner Zeitgenossen, wie sie die Arme nach Hülfe aus-
strecken.
Es giebt ein grösseres Schriftwerk Senecas, welches durch
seine blosse Existenz die Moral, welche es lehrt, zugleich auch
bewährt. Dies sind die sieben Bücher ,,de beneficiis", von denen
Diderot bekennt, dass er sie viermal und zwar unter Thränen
gelesen habe. Die von Erasmus gerügten Mängel der
Schreibart sind hier so gross, wie kaum in irgend einer anderen
Schrift des Verfassers, Lipsius sagt ganz mit Recht : ,,libri
boni, sed mehercle in ordine confusi, quos vix est vel anni-
tentem expedire". Aber für den Charakter Senecas ist diese
Schrift von grosser Bedeutung. Ein immer wiederkehrender
Grundgedanke dieser Schrift ist, dass wir in Wohlthun der
Gottheit folgen sollen. ,,Deos sequamur duces, quantum
humana imbecillitas patitur" (B. I i 9, cfr. B. IV 26 i). Die
weit verbreitete Klage der Wohlthäter über Undankbarkeit
lässt Seneca nicht gelten, die falsche Art der Wohlthätigkeit
ist nach seiner Behauptung meistens Schuld an der Undank-
barkeit. ,,Multos experimur ingratos, plures facimus" (B. I i 4).
„Facimus plerumque ingratos, et ut sint favemus (B. II 17 5).
Wenn Einer, der erklärt, das Schändlichste sei, anders zu
denken als man schreibt (Ep. XXIV 19), solche Grundsätze
veröffentlicht, der muss entschlossen sein, mit seinem Reichthum
diese Grundsätze wahr zu machen und auszuüben. Zumal
eilt das von Seneca> dem der Ankläger Suilius sein fürstliches
95
Vermögen öffentlich zum Vorwurf macht. Die Bücher über
die Wohlthätigkeit sind eine noch viel kräftigere Widerlegung
der Beschuldigung des SuiUus, als die Abhandlung ,,de vita
beata", auf die man sich zur Vertheidigung Senecas meistens
beruft. Die sieben Bücher bilden ein starkes argumentum ad
hominem gegen jenen Ankläger. Bestärkt wird dieses
argumentum noch durch das Zeugniss des Juvenal (V^ 109)
und Martial (XII 36 8), welche die Freigebigkeit Senecas
als eine bekannte Thatsache exemplificiren.
Ein weiterer Beweis, dass das Ideal der Weisheit und
Tugend, welches Seneca so herrlich zu schildern versteht,
nicht bloss von dem V^erstand und der Phantasie desselben
getragen wird, liegt in dem offenen Geständniss eigner Unvoll-
kommenheit. Es ist schon früher bemerkt, dass Seneca in den
Schilderungen der Zeitsünden die communicative Redeweise
gebraucht, mithin sich selber mit einschliesst. Eine noch
grössere Strenge beweist er dadurch, dass er sich nicht scheut,
ausdrücklich eigene moralische Mängel zu berichten. Die hohe
Würde, welche die stoische Lehre dem Menschen zuschreibt,
verleitet ihn nicht, die Nichtigkeit des Menschen zu übersehen.
,,Wie sehr wir nichts sind, zeigt jeder Tag, jede Stunde."
,,Omnis dies, omnis hora quam nihil simus ostendit" (Ep. CI i).
Wiederholt erklärt er, dass er die Stufe des vollendeten Weisen
nicht erstiegen habe, ja, dieselbe auch nicht erreichen werde.
,,Non sum sapiens, nee ero, multum ab homine tolerabili nedum
a perfecto absum" (Ad Helv. V 2, De vita beata XVII 3,
Ep. LH 3, LVII 3, LXXI 31, LXXV 16). Mehr Gewicht
haben noch diejenigen Geständnisse, welche einzelne Schwach-
heiten, die zumal in den Augen eines Stoikers beschämend
sind, an das Licht der Oeffentlichkeit stellen. Er gesteht, nicht
diejenige Festigkeit des Geistes zu besitzen, welche sich mitten
in dem Getümmel der allgemeinen Verderbniss unversehrt zu
behaupten weiss; insonderheit bemerkt er, dass ihm der zu-
fällige Anblick eines blutigen Gladiatorenspiels zur Grausamkeit
gestimmt habe (Ep. VII i - 6). Damit man übrigens dies
Geständniss nicht gänzlich unter aller Würde unseres Philosophen
finde, lese man die ungemein lehrreiche Geschichte von dem
96
Freunde des Augustinus, Alpius (August. Confess. VI 7 8).
Seneca bedarf, wie er weiter bemerkt, keines Narren, um zu
lachen, er findet an sich selber genug Belachenswerthes-
(Ep, I 2). Wider seine eigenen Grundsätze hat er den Tod
eines Freundes so masslos beweint, dass er fürchtet, zu denen
gezählt zu werden, die sich vom Schmerz haben besiegen lassen
(Ep. LXIII 14). Am beschämendsten ist für ihn die Wahr-
nehmung, dass er einmal ob seines schlechten Fuhrwerkes, ais-
er den stolzen Karossen der Vornehmen begegnet, schamrcth
geworden. Für diese Schwachheit hat er sich die Strafe auf-
erlegt, dass er auf diesen seinen eigenen Fall öffentlich den Satz
anwendet: ,,qui sordido vehiculo- erubescit, pretioso gloriatur"
(Ep. LXXXV^II 4). Er verwahrt sich ausdrücklich dagegen,
dass man ihn nicht deswegen, weil er moralische Heilmittel
anbiete, für vollkommen sittlich gesund halten solle (Ep. XXVII i,
LXVIII 9). Er stellt in dieser Beziehung den Grundsatz auf:
,,quidquid dicturus es ante quam aliis dicito tibi" (De moribus
105, III 466, Haase). Er behauptet, bei seinen Züchtigungen
der Laster vor Allem sich selbst im Auge zu haben (De vita
beata X\TII i, Ep. LXVIII 9). Und während er in einer
früheren Schrift klagt über die Menge und Tiefe der Fehler,
in denen er stecke (De v. b. XVIII i, XXIV 4), kann er in
seinem Alter nichts Höheres von sich rühmen, als dass die
Laster mit den schwindenden Kräften abnehmen (Ep. XXVI 2,
XXVII 2, LXVIII 13). Jedoch unterlässt er nicht, seinem
Freunde Lucilius eine ihm erfreuliche Beobachtung, die er
in seinem Alter mit sich selber angestellt, mitzutheilen.
An der Seeküste von Campanien stand er unter dem
Volkshaufen, um die Ankunft der alexandrinischen Schiffe
abzuwarten. Bei diesem Anlass hat Seneca sich geprüft, ob
er wohl von Unruhe nach Briefen von seinen afrikanischen
Besitzungen geplagt würde. Zu seiner Freude hat er gefunden,,
dass er von solcher leidenschaftlichen Unruhe frei geblieben
(Ep. LXXII 3).
Aus diesem Allen überzeugen wir uns, dass in Seneca ein
sittlicher Kern lebt, der sich in der allgemeinen Corruption
erhält und behauptet. So weit aber ein sitdicher Kern in einem
97
Menschen wohnt, so weit reicht auch das Bewusstsein von der
Unzerstörbarkeit dieses Kernes.
Es ist eine einfache Folge dessen, was sich uns über
Senecas sitthches Leben und Streben ergeben hat, dass wir bei
ihm eine ganze Reihe von Aussprüchen finden, welche nicht
nur die Fortdauer der menschlichen Persönlichkeit behaupten,
sondern sich auch auf die Beschreibung dieser Fortdauer ein-
lassen. Der menschliche Geist ist ,,sacer et aeternus" (Ad
Helv. XII 7, Ad Marciam XXIV 5). „Aeternitatis suae memor"
(Ad Helv. XX 2). ,,Anima perpetua" (Ep. XC 28). Ja, der
Tod ist eine neue Geburt und der Sterbetag der Geburtstag
der Ewigkeit. ,,Dies iste aeterni natalis" (Ep. CII 26). Ein
Ausdruck, der an den Sprachgebrauch der ersten Christen
erinnert. Da der menschliche Geist als ein Ausfluss des gött-
lichen Geistes gedacht wird (De otio V 5), so wird der
Zustand nach dem Tode als die Rückkehr in die obere
und göttliche Weltsphäre vorgestellt (Ad Polyb. IX 3, Ep.
XXXVI 10 11). Beschrieben wird dieser Zustand als ein
Gegensatz zu der irdischen Finsterniss, Knechtschaft, Pilgrim-
schaft, als ein Leben in dem reinen Licht und als die
vollendete Freiheit (Ad Marc. XXIV 5, Ep. CII 28). Hier
erfolgt auch die Wiedervereinigung mit den Vorangegangenen,
eine heilige Gemeinde nimmt die Heimgegangenen auf
,,Excipit illum coetus sacer" (Ad Marc. XXV i). Und
gleichwie im Neuen Testament das ewige und himmlische
Leben nicht in das absolute Jenseits verlegt wird, sondern
schon in dem Diesseits seinen Anfang hat, so dringt auch
Seneca darauf, dass der Wandel nach dem Himmel, nach
•den Sternen, dass die Erleuchtung mit dem himmlischen
Licht schon hier beginnen müsse, abhängig aber sei dieses
Hineinleuchten der Ewigkeit in die Zeitlichkeit von dem Ab-
legen der Fehler (Ep. CII 28, XCIII 5 10, LXXII 12 15,
LXXIX 12 13).
Allerdings fehlt viel daran, dass diese Höhe von Seneca
immer innegehalten worden ist, aber das dürfen wir wohl an-
nehmen, dass es die Kraft eben dieser Anschauungen gewesen
ist, welche den letzten schweren Stunden dieses Mannes eine
98
so bewundernswerthe Ruhe und Erhabenheit verheben hat. Wir
werden namenthch sein letztes Wort in dem Lichte jener
Anschauungen zu verstehen haben. ,Jovi hberatori" spendet
er das Nass, dessen Wärme und Dampf ihn von seinen letzten
Qualen befreien soll. Wie die Griechen das Höchste und
Reinste des Gottesgedankens, dessen ihre Seele fähig war, auf
Zeus zu übertragen pflegten, so machten es die Römer mit dem
Namen Jupiters. ,Jovem Varro credit etiam ab his coli, qui
unum Deum solum sine simulacro colunt, sed alio nomine
nuncupari" (Augustinus C. D. 1\^ 9). Aehnlich auch Seneca:
,,Ne hoc quidem crediderunt (Etrusci), Jovem, qualem in capitoho
et in ceteris aedibus colimus mittere manu fulmina, sed eumdem,
quem nos, Jovem intelligunt, rectorem custodemque universi,
animum et spiritum mundi, operis hujus dominum et artificem"
(O. N. I[ 45 i). Das Höchste nun, was Seneca von diesem
Jupiter in Gemässheit der stoischen Lehre auszusagen weiss,
ist dieses, dass derselbe den Weltuntergang, der auch die
Götter verschlingen wird, überdauert, ,, seiner Ruhe und seinen
Gedanken anheimgegeben". ,, Jupiter resoluto mundo et diis in
unum confusis paulisper cessante natura adquiescit sibi cogi-
tationibusque suis traditus" (Ep. IX 16).
Wir werden annehmen dürfen, dass es der Gedanke an
diese transmundane Gottheit gewesen ist, an welcher sich die
letzte Kraftanstrengung des sterbenden Philosophen gehalten
hat. Wir werden demnach auch sagen dürfen, dass Seneca
soweit Gott gefunden hat, um in der tiefsten heidnischen
Finsterniss als ein hohes Zeichen dazustehen, dass auch inner-
halb der natürlichen menschlichen Sündhaftigkeit und Sterb-
lichkeit eine Kraft möglich ist, welche selbst von den äussersten
Schrecken des Todes nicht überwunden wird. Aber nur das
Zeichen dieser Möglichkeit ist der tapfere und fromme Tod
des Heiden, von dem wir übrigens später in anderem Zu-
sammenhang noch ausführlicher zu reden haben werden ; da-
gegen diese vor dem Tode nicht weichende Geistesmacht mit-
zutheilen und zu verbreiten, dieselbe als Anfang einer neuen
Weltgeschichte hinzustellen, das ist einem Anderen, höher
Entsprossenen, vorbehalten.
99
Wir haben Senecas Lichtseiten in seinen Götterlehren und
in seinen Tugend- und Weisheitslehren kennen gelernt. Um
nun aber das ganze Bild des Mannes zu gewinnen, müssen wir
vor Allem die Kehrseite, die Nachtseiten desselben anschauen.
Was die zahlreichen Berührungen der Schriften Senecas
mit den Urkunden der göttlichen Offenbarung anlangt, so sei
hier noch bemerkt, dass der berühmte Jurist Dionysius Gotho-
fredus ,,loci communes ex Seneca facti" geschrieben hat.
(Anhang zu der Ausgabe: ,,L. A. Senecae opera, ed. Th. de
Juges 1628). Folgende Kategorien dieser Sammlung: Theologica,
P^thica, Juridica, Politica bringen zur Anschauung, was wir
unter den Lichtseiten Senecas verstehen. Schneider in seinen
,, christlichen Klängen aus den griechischen und römischen
Klassikern" (2. Aufl. Leipzig 1877) hätte viel öfter, als es
geschehen ist, den Seneca citiren können und sollen. Denn
unter allen griechischen und römischen Klassikern giebt es
keinen, dessen Töne so oft und so rein an die heiligen Offen-
barungen anklingen. Auch Kreyher hat nach Fleury ein
Verzeichniss von biblischen Parallelen in Senecas Schriften
aufgeführt (S. 75—97).
III.
Senecas Nachtseiten.
In jeder menschlichen Persönh'chkeit wird man Licht- und
vSchattenseiten bei einander finden, aber bei unserm Stoiker
hat dieser Gegensatz eine ganz ungewöhnHche Schärfe. Die
vielen Parallelstellen mit den biblischen Biichern beweisen ein
ausserordentliches Licht geistlicher Erkenntniss in einem Heiden.
Aber auch ganz dem entsprechend ist die Finsterniss, welche
die Kehrseite dieser Persönlichkeit aufweist. Diesem er-
leuchteten Manne erscheint die Welt als eine Finsterniss,
welche ihn selbst verschlingt; und so grosse und schwere
Finsternisse umringen und verwirren ihn, dass die Lichtseiten
von diesen Finsternissen völlig verdeckt und vernichtet werden.
In der Abhandlung über die Ruhe der Seele beschreibt Seneca
seine Weltanschauung folgendermassen : ,,Es nützt nichts, die
Ursachen der persönlichen Traurigkeit zu entfernen. Denn
es geschieht, dass überhand nimmt der Hass gegen das
Menschengeschlecht, und wir stossen auf einen solchen Haufen
von gelungenen Verbrechen, wenn man bedenkt, wie selten
Einfalt ist, wie unbekannt Unschuld, wie Treue fast nur da
vorhanden ist, wo sie Vortheil bringt. — Der Geist versinkt in
Nacht, und nachdem die Tugenden, auf die man nicht hoffen
darf und deren Besitz nichts nützt, umgestürzt sind, treten
nächtliche P^insternisse ein" (De tranq. XV).
Wir wollen beginnen mit der Darlegung derjenigen
Stellung, die Seneca sich selber zu der biblischen Wahrheit
anweist. Nach den von uns aufgewiesenen Lichtstrahlen seiner
Gotteskenntniss sollte man denken, dass es ihm gelingen müsse,
101
das Wesen der Christen und der Juden zu verstehen. Es ist
nicht der Fall. Ueber die Christen lehnt er von vorneherein
ab, ein Urtheil zu fällen. An den Juden rühmt er dies und
jenes, schliesslich nennt er sie aber ,,sceleratissima gens"
(Seneca III 427, ed. Haase), im Einklang mit Apion und
anderen leidenschaftlichen Judenfeinden.
Betrachten wir Seneca auf seinem Posten, wie er sich
selber mit eigner Handschrift uns darstellt. Die knechtische
Gesinnung der römischen Aristokraten und Magistraten, welche
zuerst unter Tiberius in solchem Wetteifer zum Vorschein
kommt, dass sie selbst dem Despoten verächtlich wurde
(Tacit. Ann. III 65), äusserte sich vornämlich in der steigenden
Schmeichelei vor der cäsarischen Person und Gewalt. Tacitus
bemerkt, dass der Senat, wenn er eine passende Gelegenheit
hatte, förmlich studirte, um die Schmeicheleien recht aus-
gesucht zu machen (adulatio quaesitior), und nachdem er über
eine Senatssitzung von so servilem Charakter berichtet hat,
unterlässt Tacitus nicht, noch zwei Vorschläge hinzuzufügen,
welche die allgemeine Niederträchtigkeit noch überboten, von
denen der eine einen alten Mann zum Urheber hatte, der selbst
in solcher Umgebung durch ein Unmass von Schamlosigkeit
sich lächerlich machen wollte (Ann. III 57). Ein anderes Mal
braucht Tacitus die Wendung, dass alle Arten von.Schmeicheleien
erschöpft seien, nur die eine sei noch übrig geblieben, dass
man zu schmeicheln wagt, wohl wissend, dass man mit seinem
Schmeicheln selbst bei dem Angeredeten Anstoss erregt (ea
sola species adulandi supererat. Ann. I 8). Auch Plutarch
berichtet in seiner Abhandlung über den Unterschied des
Schmeichlers und des Freundes eine solche Schmeichelei unter
Tiberius (II 60). Noch weiter hat die Steigerung dieses
Lasters Seneca selbst verfolgt.
In der Vorrede zum 4. Buch der ,, Naturales quaestiones"
warnt Seneca seinen Freund Lucilius, der damals als Prokurator
Sicilien verwaltete, sich nicht durch Schmeichelei verführen zu
lassen. Diese Warnung wird auch so ausgesprochen, Lucilius
solle das, was doch nur bescheidentlich eine Prokuratur sei,
nicht zu einem Imperium machen, er solle als Prokurator in
1C2
Sicilien nicht verfahren wie der Imperator in Rom. In Rom
hat sich die Schmeichelei, wie Seneca hier ausführt, zu einer
furchtbaren, fast unwiderstehhchen Macht ausgebildet. Es ist
nicht mehr das Höchste, was Tacitus und Plutarch gerügt
haben, dass Einer zu schmeicheln wagt zum eigenen Schaden,
darüber sind wir hinaus. Jetzt heisst es: ,,wer siegen und
erobern, wer Etwas erreichen will, der gehe nur dreist und
frech mit Schmeichelreden vor, er erreicht seinen Zweck, wie
die Buhlerin, die nicht bloss reizt, sondern auch Gewalt
braucht. Dreistigkeit ist nicht mehr Einfalt, sondern Kraft."
,,So w^eit sind wir schon in dem Wahnsinn fortgeschritten, dass
wer nur massig hohnlächelt, bereits als ein römischer Feind
betrachtet wird." Darum will Seneca seinen Freund dieser
agressiven Verführung gegenüber zu einem vir inexpugnabilis
adversus insidias machen. Zu dem Ende stellt er ihm seinen
Bruder zum Beispiel auf. Dieser Bruder Novatus, mit seinem
späteren Adoptivnamen Gallio genannt, ist der Actor. XVIII
12 — 1/ rühmlich erwähnte Proconsul von Achaia. Von diesem
Bruder versichert nun Seneca in der angeführten Praefatio,
dass demselben andere Laster fremd seien, dieses aber, das
Laster der Schmeichelei hasse er vor allem. Und nun schildert
er durch Vorführung verschiedener Fälle, wie dieser Gallio
jeden von fern drohenden Versuch von Schmeichelei mit der
grössten Rücksichtslosigkeit zurückweise. — Wir ersehen also,
dass Seneca die Moral des Tacitus und des Plutarch in An-
sehung der in Rom grassirenden Schmeichelei sich vollständig
angeeignet hat. Wir werden darin noch weiter bestärkt durch
die Schrift de beneficiis. In diesem Buche über die Wohl-
thätigkeit bespricht Seneca die Materie dieses Lasters der
wachsenden Schmeichelei gegen die Mächtigen von einer
anderen Seite (VI 29—33). E^ hatte gesucht, die Mächtigen
zu waffnen wider die Versuchung der Schmeichelei ; jetzt lehrt
er, welche Wohlthat diejenigen, welche das Ohr der Mächtigen
haben, ihren Gönnern erweisen können, indem sie statt der
beliebten Schmeichelreden ihnen die Wahrheit sagen. Es ist
ein Irrthum, lehrt Seneca, zu wähnen, dass man den Höchst-
gestellten keine Wohlthat mehr erweisen könne. ,,So hoch
103
hat das Geschick Niemand gestellt, dass ihm nicht in dem-
selben Masse ein Freund fehlt, als ihm sonst Nichts abgeht."
,,Ich will Dir zeigen, woran die Hohen der Welt Mangel
leiden, was denen fehlt, die Alles besitzen. Nämlich ein
Solcher fehlt ihnen, der die Wahrheit sagt, und der denjenigen,
der die Lügen anstaunt und durch die Gewohnheit, anstatt der
Wahrheit Schmeichelei zu hören, der Kunde der Wahrheit
verlustig gegangen ist, aus dem Zauberbann der Lügen wieder
zu sich bringt." ,, Siehst Du nicht, wie die erloschene Freiheit
tmd die in knechtische Unterwürfigkeit verwandelte Treue jene
Männer ins Verderben stürzt, indem Niemand nach seines
Herzens Meinung für oder wider redet, sondern es gilt einen
Wettlauf der Schmeicheleien, und alle Freunde haben ein
Geschäft und ein Bestreben, nämlich wer am lieblichsten
betrügen könne." Wir erinnern uns hier der Schilderung der
Monarchie und ihrer die Wahrheit zerstörenden Folgen in dem
Rath des Agrippa an Augustus.
Denn unter den Grossen und Mächtigen, welche dahin
kommen, dass sie die Wahrheit nicht mehr hören können, die
Seneca hier im Sinne hat, sind vor Allen die Monarchen zu
verstehen, w^as aus den angeführten Beispielen des Xerxes und
Augustus erhellt. Der letztere Name führt uns an der Hand
Senecas noch weiter. Augustus hat sich in der späteren Zeit
seiner Regierung selber beklagt, dass ihm Agrippa und
Maecenas nicht mehr zur Seite stehen, um von ihnen die
Wahrheit zu vernehmen ; worauf Seneca bemerkt, dass Augustus
sich auch in Bezug auf die beiden Genannten getäuscht habe,
weil dieselben, auch wenn sie noch gelebt hätten, ebenso wae
■die Anderen die unangenehme Wahrheit verhehlt haben würden.
Seneca setzt also voraus, dass mit dem Anfang der Monarchie
luiter Augustus die Wahrheit am cäsarischen Hofe Noth zu
leiden begonnen hat, in welcher Voraussetzung er mit Tacitus,
Cassius Dio und Marcus Seneca, dem Vater, übereinstimmt.
Dennoch hat Seneca nicht bloss Kunde von dem Laster
der Schmeichelei gegen die Hohen, sondern er bestrebt sich
auch, durch ernste Lehre und Ermahnung an seinem Theil
•dieses Unheil zu bekämpfen. Da nun Seneca 20 Jahre am
104
cäsarischen Hofe in hohen Stellungen gelebt hat, ist es nicht,.
als ob er in diesen vortrefflichen Lehren sein eigenes
Programm für sein Verhalten am Hofe veröffentlicht hat ? Um
so gewichtiger muss uns diese Belehrung und Mahnung über
die Pflicht der Wahrhaftigkeit vor den Höhen der Welt in
dem Munde Senecas erscheinen, da er den Grundsatz, dass
Wort und Werk zusammenstimmen müssen, vornämlich wenn
das Wort ein geschriebenes ist, mit nachdrücklicher Strenge
vertritt (E. XX 2, XXIV 15, De vita b. XXIV 4, E. LXXV 4,
E. XII 3, XXIV 19, III 467 Haase).
Nun liegen uns drei Schriften Senecas vor, welche durch ihren
Inhalt das thatsächliche Verhalten dieses Philosophen in Betreff
der oben dargelegten Lehren über die Wahrheit vor den
Mächtigen offenkundig und unzweideutig darlegen, und wir
müssen gleich hinzufügen, im grellsten Widerspruch gegen
seine eigenen Mahnungen.
Es gilt von folgenden drei Schriften Senecas: I. Consulatio
ad Polybium, IL Ludus de morte Claudii Caesaris, III. De
dementia ad Neronem, was Seneca ,,de moribus" mit grossem
Nachdruck, wie wir auch sonst, hier aber vor Allem betonen
müssen, verkündigt: ,,quotiens scribes aliquid, quod editurus es
scito morum tuorum te hominibus chirographum dare" (III 467
Haase). In den genannten drei Schriften besitzen wir also
nach Senecas selbsteigener Erklärung die authentische Hand-
schrift Senecas über sein Verhalten gegen hohe und höchste
Mächte.
In der Trostschrift ad Polybium, deren Anfang verloren
gegangen, müssen wir unterscheiden die vorgegebene und die
wirkliche Absicht. Als Seneca in der Verbannung auf Corsica
lebte, verlor Polybius, ein Freigelassener, der als Literat am
Hofe des Claudius eine angesehene Stellung hatte, einen seiner
Brüder durch den Tod und war über diesen Verlust untröstlich.
Diesen Anlass ergreift Seneca, an den genannten Hofbeamten
ein Trostschreiben zu richten. P2r bemerkt, dass er selber sich
in einer sehr traurigen Lage befinde, nicht um anzudeuten,
dass er um so besser den Traurigen verstehe und ihn zu
trösten fähig sei, sondern um anzudeuten, dass es ihm um
105
desto schwerer falle und es darum um so verdienstlicher sei;,
dass er, dessen Thränenquelle erschöpft (II i) und dessen Geist
in einer langwierigen Oede stumpf geworden (XIII 9), sich
trotzdem aufgemacht habe, den trauernden Herrn zu trösten.
Da nun aber in der ganzen Schrift Nichts von wahrhaft tröst-
lichem Gehalt zum Vorschein kommt, sondern lediglich die
herzlosen Reflexionen des stoischen Pessimismus, wie wenn
,,omnis vita supplicium est" als eine tiefsinnige Weisheit an-
gepriesen wird (IX 6), als Tröstungen angeboten werden, ohne
dass in der ganzen Schrift eine persönliche Beziehung und
Theilnahme zwischen dem Schreibenden und dem Empfänger
zu erkennen ist, so ist der Gedanke nicht abzuweisen, dass die
angegebene Absicht dieses Schreibens nur als Verschleierung
der wahren Absicht gelten kann. Die Kunst, welche Seneca-
in der Rhetorenschule gelernt hat, wird hier aufgeboten, um
einen an sich löblichen Zweck auf eine wenig löbliche Weise
zu erwirken. Von Anfang bis zu Ende drängt sich in dieser
Schrift Name, Person und Macht des Kaisers so künstlich, ja
so gewaltsam in den Vordergrund, dass es. hier vor Allem auf
die Gewinnung des Kaisers fijr einen bestimmten Zweck ab-
gesehen sein muss. Das Wahrste, was in der ganzen Schrift
vorkommt, ist das, was Seneca über seine Lage und seine
Hoffnung ausspricht (XIII 2—4). Bekanntlich sind wir über
die Ursache der Verbannung Senecas nach Corsica nicht
aufgeklärt, er selbst giebt uns hier auch keine Klarheit, er
klagt sich nicht an, aber rechtfertigt sich auch nicht, er sieht
in seiner Verbannung eine Schonung des Kaisers, man weiss
aber nicht, ob wegen eines wirklichen oder nur wegen eines
angedichteten Verbrechens. In dieser Schonung aber begrüsst
Seneca die Hoffnung auf Befreiung, wobei es ihm gleich sein
soll, ob der Kaiser ihn als unschuldig erkennt, oder ihm seine
Schuld verzeiht. Diese Gleichgültigkeit könnte man leicht als
Eingeständniss seiner Schuld auffassen. In normalen Verhält-
nissen wäre dieser Schluss auch richtig, aber unter Kaiser
Claudius, unter dem Senatoren, Ritter und Andere wie eine
Heerde auf die Schlachtbank geführt wurden (Sueton
Claud. XXXIV, Ludus de morte Claudii XIV i), kann Mangel
lOf)
an Vertrauen zur Justiz nicht als Beweis des Schuldbewusstseins
gelten. Nach diesem sehr persönhchen Geständniss leuchtet
ein, dass es dem Verfasser vor allen Dingen darum zu thun
sein muss, den Kaiser für die günstige Wendung seines Schick-
sals zu gewinnen. Und selbst ein flüchtiger Ueberblick über-
zeugt uns, dass das vorliegende Schreiben eben dieser Haupt-
absicht gewidmet ist. Direkt an den Kaiser sich zu wenden,
das wagt der Verfasser nicht, auch vermeidet er, seinen
Wunsch ohne Umschweif auszusprechen. Er wendet sich an
einen Hofbeamten aus der einflussreichen Klasse der Frei-
gelassenen, und zwar wählt er denjenigen, den Sueton
bezeichnet ,,a studiis" (Claud. XXVIII), zu dem Seneca also
durch gemeinsames literarisches Interesse eine Beziehung hatte.
Zunächst kommt es nun darauf an, diesen Adressaten günstig
zu stimmen, was dadurch erstrebt wird, dass dem Polybius und
seinen Brüdern reichlich Lob gespendet wird (II, III). Ob
nun Polybius in der übelberüchtigten Klasse der kaiserlichen
Libertinen eine rühmliche Ausnahme machte, oder ob derselbe
sittlich nicht höher stand, wie die übrigen Libertinen, und also
die ihm hier gespendeten Lobreden offenbare Schmeicheleien
sind, wie Cassius Dio meint, das muss dahin gestellt bleiben.
Jedenfalls macht Seneca eine interessante Thatsache namhaft,
welche dem Polybius als ein Verdienst muss angerechnet
werden. An drei Stellen jener Trostschrift theilt Seneca mit,
dass Polybius den Homer ins Lateinische und den Vergil ins
Griechische übersetzt und damit also einen Grund zur Welt-
literatur gelegt hat (IV 6, VIII 2, XI 5).
Ob nun Seneca den Polybius lobt, oder tröstet, oder
belehrt, oder ermahnt, in Allem, was er an ihn richtet, ist das
letzte Absehen die masslose Verherrlichung des Kaisers. Es
ist bekannt, dass der von Livius gebildete Kaiser Claudius eine
Liebhaberei für historische Gelehrsamkeit hatte. Was thut nun
Seneca? Er führt den Kaiser redend ein, wie er durch
historische Beispiele den Polybius zu trösten sucht. Das ist
nicht, meint Seneca, eine gewöhnliche Belehrung, das ist, weil
aus dem Munde des Kaisers kommend, eine aus dem Orakel
gesandte Stimme (verba ab oraculo missa XIV 2, XVI 3).
107
Unter Caligula, so lässt sich Seneca hier vernehmen, war das
menschHche Geschlecht im Zustand der Erschöpftheit (,,Lassis
hominum rebus'' XVI 6) und eines langen Siechthums
(XIII i). Der Weltkreis war in Finsterniss versunken und in
einen jähen Abgrund gestürzt (XIII i). Diesem Verderben
und Untergang gegenüber erschien Claudius als heilbringendes
,, Gestirn", als der Arzt der kranken Menschheit, als der Retter
in der allgemeinen Hülflosigkeit, denn was die Schiffer der-
einst dem Augustus zuriefen : ,, Durch dich leben wir", das
sagen jetzt nach Seneca alle Römer: ,,Wir leben durch den
Cäsar". Vor Allem wird an Claudius diejenige löbliche
Eigenschaft gerühmt, welche diesem sehr unbegabten Kaiser
am meisten mangelte, nämlich die Milde (mitissimus VI 5,
XVI 6, dementia XVII 3). Bekanntlich lebte in dem dürftig
beanlagten Kaiser ein starker Zug böser Grausamkeit (,,Saevum
€t sanguinarium natura fuisse magnis minimisque apparuit
rebus" Suet. XXXIV).
Doch mit diesem Allen haben wir den Gipfel der Ueber-
schwenglichkeit, mit welcher Seneca hier den Kaiser Claudius ver-
herrlicht, noch nicht erreicht. Die Prädicate und Wirkungen,
welche in weiterer Steigerung dem Claudius zugeschrieben
werden, lassen alles menschliche Mass weit"i hinter sich.
Dass dieser Cäsar nicht bloss der Herrschej* des römischen
Reiches ist, sondern auch das Haupt aller menschlichen
Angelegenheiten (,,illo rebus humanis praeside" XII 3), das ist
nach Seneca aller Menschen offenkundiger Trost (,, publicum
omnium hominum solatium" XIV i). Er ist Eigenthümer des
ganzen Erdkreises und widmet demselben seine Kraft (,,Caesare
orbem terrarum possidente, Caesar orbi terrarum se dedicavit"
VII 2 3). Dieses und Aehnliches kommt in dem Curialstil jener
Zeiten auch sonst vor. Aber was hier vor Allem von dem
geheimnissvollen, von dem mystischen Einfluss des Kaisers auf
seine Umgebung und namentlich auf Polybius gefabelt wird, das
hat sonst seines Gleichen nicht, muss also auf Senecas Erfindung
zurückgeführt werden. Claudius wird nicht bloss bei seinen
Lebzeiten das göttliche Prädicat ,,Numen" beigelegt, sondern
es wird auch die alles creatürliche Mass überbietende Wirkung
108
dieses Numen auf Polybius ungescheut und ohne Einschränkung
gepriesen. Dem Polybius wird nämlich gesagt: ,,quamdiu
numen tuum" (also Caesar Claudius) ,,intueberis, nuUum
tristitia ad te accessum inveniet, omnia in te Caesar tenebit"
(VIII I, XII 3). Ja, selbst der Gedanke an den Kaiser genügt,
um diese übernatürHche Wirkung hervorzubringen : ,,Hic tibi,
quem tu diebus intueris et noctibus, a quo nunquam dejicis
animum, cogitandus est" (XII 4, cfr. VII 4). ,,Cum voles
omnium rerum oblivisci cogita Caesarem" (VII i). Cäsar,
diese gegenwärtige Gottheit, ist selbst gegen das Schicksal
anzurufen (,,hic contra fortunam advocandus est" XII 4).
So hat Seneca geschrieben aus seiner Verbannung auf
Corsica an einen Hofbeamten in Rom und ohne Zweifel mit
der Tendenz, dass sein Schreiben am cäsarischen Hofe bekannt
werde. Dass man schon im Alterthum an dieser Schrift den
grössten Anstoss genommen, ist aus Cassius Dio zu ersehen.
Die Verehrer Senecas, z. B. Ruhkopf, sind zuweilen auf den
Gedanken gekommen, diese Schrift als eine untergeschobene
anzusehen. Aber wenn selbst der begeistertste Lobredner
Senecas, Justus Lipsius, diese Ausrede der Verzweiflung ab-
weist, dann bleibt Nichts übrig, wir müssen die Thatsache
zugestehen, dass Seneca in seiner Verbannung einem Frei-
gelassenen und einem sehr unrühmlichen Kaiser gegenüber in
dieser Schrift ein Denkmal nicht bloss unwürdiger, sondern
niederträchtiger Schmeichelei aufgerichtet hat, und zwar dieses
im offenbarsten Widerspruch gegen seine erklärten Grund-
sätze über W^ahrhaftigkeit den Grossen gegenüber.
In der zweiten hier in Betracht kommenden Schrift :
,,Ludus de morte Claudii" ist die ganze soeben beschriebene
Scene in das volle Gegentheil verwandelt. Der einst ver-
götterte Kaiser ist durch einen Pilz vergiftet gestorben. Seneca,
längst aus seiner Verbannung erlöst, spielt am Hofe des neuen
Kaisers eine hervorragende Rolle. Es giebt keine Schrift
Senecas, in welcher das ,,ingenium amoenum", welches Tacitus
an diesem Schriftsteller rühmt, so zum Vorschein kommt wie
in dieser Satire. Es ist ein übermüthig sprudelnder Humor,
der sich in dieser Schrift in Vers und Prosa ergiesst. Der
109
todte Kaiser Claudius ist hier der satirischen Feder voll-
ständig preisgegeben, und je mehr Zwang Seneca sich in der
Schrift ad Polybium mit seiner Vergötterung des Claudius
angethan hat, desto mehr sucht er sich jetzt in beissendem
Spott gütlich zu thun. Ueber seinen lahmen Gang, seinen
wackelnden Kopf, seine schlechte Aussprache ergeht sich die
Satire, vor Allem aber wird seine Grausamkeit, seine Mordlust
Gegenstand der strengsten Verurtheilung. In der Götter-
versammlung des Olymps nimmt Augustus das Wort und
erklärt den Claudius wegen seines Blutdurstes für unfähig in
die Zahl der Götter aufgenommen zu werden. Er wird in
Folge dessen dem Mercur überantwortet zur Ablieferung in
den Tartarus, wo er wegen seiner Spielwuth verurtheilt wird
mit durchlöcherten Würfeln zu spielen. Die tödtliche Feind-
schaft der Agrippina gegen Claudius machte es möglich, dass
dem Seneca in seiner privaten Satire freier Spielraum gewährt
wurde, sich an dem Andenken desjenigen Kaisers zu rächen,
der ihn dereinst in die Verbannung geschickt.
Wir haben also zwei Schriften von der Hand Senecas
über denselben Mann, aber aus zwei verschiedenen Zeiten, die
eine, als dieser Mann die Welt beherrschte, die andere, als
dieser Mann ein Opfer der jetzt die Welt beherrschenden
Macht geworden war, die eine Schrift erhebt diesen Mann
über alle irdischen Schranken hinaus, die andere stösst den-
selben Mann, unter bitterem Hohn, in den Abgrund hinunter.
Die eine Schrift ist verfasst, als Seneca in seiner trostlosen
Verbannung verschmachtete, die andere hat er geschrieben,
als er soeben die höchste Stufe des Ansehens und der Macht
in der Beamtenschaft des Weltreiches erstiegen hatte. Die Gegen-
sätze zwischen dem Claudius auf dem Thron und dem Claudius
als dem von Agrippina vergifteten Leichnam, und zwischen
dem Seneca auf dem öden Felsen von Corsica und dem Seneca
in unmittelbarer Nähe des cäsarischen Thrones, diese Gegen-
sätze sind so ungeheuer, dass sie nur in der Zeit der grössten
Weltkrisis möglich sind. Diese Ungeheuerlichkeit der Gegen-
sätze kann uns die Möglichkeit eines solchen Selbstwiderspruchs,
wie er in den beiden Schriften vorliegt, ahnen lassen, aber es
110
bleibt dieser Selbstwiderspruch, der ausserdem das von Seneca
aufgestellte Gebot der Wahrhaftigkeit im Verkehr mit den
Hohen auf eine unauslöschliche Art Lügen straft, eine finstere
Nachtseite in dem Charakter Senecas.
Es kommt dazu, dass Seneca in derselben Zeit, als er in
seiner satirischen Privatschrift seiner Leidenschaft gegen den
todten Claudius die Zügel schiessen lässt, in seiner amtlichen
Stellung genöthigt ist, die officielle Anschauung eines gestorbenen
Cäsars durch einen öffentlichen Act zur Geltung zu bringen.
Nach Sueton erfolgte die förmliche Apotheosis des Claudius erst
durch Vespasian (Claudius XLV) Aber dem Anstand zu genügen,
musste Nero Leichenbegängniss, Lobrede und Consecration
des Claudius veranstalten (Nero IX). Die Lobrede auf Claudius,
welche Nero im Senate hielt, war, wie die Standreden Neros
überhaupt, von Seneca verfasst und muss daher von ihm auch
verantwortet werden. Nun erzählt Tacitus, dass, so lange
Nero von der Wissenschaft und von der äusseren Politik des
Claudius sprach, er aufmerksames Gehör fand, als er aber zu
der Selbstbeherrschung und Weisheit desselben überging,
konnte Niemand sich des Lachens enthalten (Tacit. Ann. XIII 3).
Diese Rede von der Hand Senecas, welche gleichzeitig mit
dem ,,Ludus" verfasst ist, hält sich also in der Bahn der
Schrift ad Polybium, beweist demnach, dass Seneca in der-
selben Zeit, als er seine Satire auf Claudius schrieb, sich den
Zwang auferlegte, auf Claudius eine lächerliche Lobrede zu
verfassen. Wenn Seneca bei Abfassung seines ,,Ludus" sein
Gewissen zu Rathe gezogen hätte, dann musste ihm vor x^Uem
leid sein, dass er einst in der Zuschrift ad Polybium der Neigung
zur Kaiservergötterung, von welcher Neigung die römische
Luft seit dem Tode Julius Cäsars geschwängert ist, in Bezug
auf Claudius in einer überaus masslosen Weise nachgegeben.
Es ist klar, dass Seneca zu einer solchen gewissenhaften
Besinnung, zu der er sich selber, wie wir gesehen, verpflichtet
hatte, nicht gekommen ist. Zwar schreibt er gleich zu Anfang
seiner Satire ,, nihil ofifensae vel gratiae dabitur." Er weiss
also recht gut, dass hier reichlich Gelegenheit gegeben ist,
leidenschaftlichem Hass oder Gunst Raum zu geben. Aber
111
anstatt mit diesem Wissen Ernst zu machen, macht er daraus eine
Redensart, und anstatt die Sünde der Consolatio ad Polybium
wieder gut zu machen, verstrickt er sich in dieselbe Sünde in
einer anderen Richtung, nur noch viel tiefer. Vergegenwärtigen
wir uns die Lage.
Der alte Cäsar ist gestorben, ein neuer Cäsar, Nero,
Senecas Zögling, setzt sich auf den Thron der Weltherrschaft.
Dieser noch unreife Jüngling soll sich in seiner beispiellos
versuchlichen Stellung noch erst bewähren, und Seneca hat es
unübertrefflich schön und ergreifend dargelegt, dass für dieses
hohe Ziel des jugendlichen Weltherrschers Nichts so wichtig
und nothwendig sei, als dass ihm das Wort der Wahrheit zur
Seite stehen müsse. Dass aber Niemand mehr berufen sei,
dieses kostbarste und seltenste Gut dem jungen Weltherrscher
mitzutheilen, als er selber, das hat er mehr als einmal mit
grosser Beredsamkeit öffentlich bewiesen.
Trotz alledem beginnt der ,,Ludus" damit, das neue
Kaiserthum in voreiligster Weise als den Anfang einer höchst
glücklichen Aera (initium saeculi felicissimi (I i ), ja, als eine
Kette von goldenen aus dem Himmel gesendeten Zeitaltern
,,aurea descendunt saecula" IV i) zu begrüssen. Nicht genug,
mit dieser allgemeinen Ankündigung spricht er unumwunden
aus, dass der junge Cäsar es ist, welcher -der erschöpften
Menschheit die glücklichen Zeitalter verschaffen wird (,,felicia
lassis saecula praestabit"), und der die stumm gewordenen
Gesetze wiederum wirksam machen wird, ,,legum silentia
rumpet" (IV 24). ,,Invalidum legum auxilium" (Tacit. Ann. I 2).
Schlimmer noch als dieses ist aber, dass Seneca, der Lehrer,.
Erzieher, der erste Staatsrath es ist, der Allen voraus dem
jungen Cäsar gegenüber sofort den verführerischen Ton der
Kaiservergötterung anstimmt. Er führt Phoebus Apollo redend
ein, und dieser verkündigt: ,,der junge Cäsar ist mir ähnlich
im Angesicht und edlem Anstand, er steht mir nicht nach in
Gesang und Stimme ,,nec cantu nee voce minor" (Ludus IV i)^
er gleicht dem Abendstern und dem Morgenstern, ja, der
leuchtenden Sonne selber." Es ist bekannt, dass der Kaiser
Nero fast durch Nichts das Gefühl des römischen Volkes so
112
sehr verletzte, wie durch sein öffentHches Auftreten als Sänger
und Spieler (Tacit. Ann. XIV 14, XVI 14). Nero berief sich
für diese anstössige Neuerung auf das Beispiel Apollos, der
durch seinen Vorgang diese seine kijnstlerische Schaustellung
geheiligt habe (Tacit. XIV 14). Wenn nun unter den Vor-
würfen, welche dem Thrasea Paetus gemacht wurden, hervor-
gehoben wird, dass er niemals für die himmlische Stimme
geopfert habe ,,nunquam pro caelesti voce immolasse" (Ann.
XVI 22), so ersieht man, dass Neros Stimme allgemein als
eine himmlische gefeiert wurde, und dass es Sitte war, für die
Erhaltung dieser Stimme Opfer zu bringen. Wer aber hat zu
diesem Sprachgebrauch und zu dieser Sitte den ersten Anstoss
gegeben? Wir haben den Beweis in Händen, dass Seneca in
seiner Satire auf den eben verstorbenen Cäsar dem Apollo das
Geständniss in den Mund legt, dass Nero sein Abbild sei und
in Spiel und Gesang sein Rival (,,voce non minor"). Wir
können das Geständniss nicht zurückhalten : Seneca, der
Erzieher und Reichsrath, hat den jungen Kaiser mit dem
Wahn einer übermenschlichen Begabung vergiftet und hat
nachher erfahren müssen, dass der böse Geist, den er gerufen,
ihm selber zu mächtig geworden ist (Tacit. Ann. XIV 14).
Die dritte der oben genannten Schriften, die beiden Bücher
,,de dementia ad Neronem Caesarem" ist offenbar in einer
moralischen Absicht geschrieben und hat demnach ganz die
Anlage, den Fehler der beiden anderen Schriften zu berichtigen.
Die Anlage ist allerdings vorhanden, denn hier wird der junge
Cäsar belehrt und ermahnt, das cäsarische Laster, die absolute
Gewalt durch Grausamkeit zu missbrauchen, wie dieses
namentlich in den beiden voraufgehenden Regierungen geschehen,
zu meiden und anstatt dessen die Milde und Versöhnlichkeit,
die dementia walten zu lassen. Dass diese Schrift einen
wirklichen Erfolg nicht gehabt hat, kann an sich keinen Tadel
begründen, eine Frage aber ist es, ob nicht Seneca selbst an
diesem Misserfolge wenigstens mitschuldig ist. Warum schreibt
Seneca ad Neronem Caesarem nicht lieber ,,de justitia" statt
,,de dementia"? Die strenge Gerechtigkeit ist ein weit
strafferer Zügel für das absolutistische Belieben als die Milde,
na
die doch immer leicht als Ausfluss des gnädigen Beliebens
und insofern als eine Bestärkung in der cäsarischen Willkür
empfunden wird. Es scheint, als wenn Seneca durch eine
gewisse künstliche Fiction auf sein Thema geführt worden ist.
Der Scholiast zu Juvenal (V 109) bringt die an sich glaub-
würdige Anekdote, dass Seneca die grausame Natur seines
kaiserlichen Zöglings sehr bald erkannt und im vertrauten
Kreise geäussert habe, wenn der Löwe erst Menschenblut
geschmeckt habe, werde seine angeborene Grausamkeit offenbar
werden (Lipsius ad Tacit. Ann, XII 8). Abgesehen von dieser
Anekdote, ist es Thatsache, dass Britanniens, der Sohn des
Claudius, in der ersten Zeit Neros ermordet ist und Nero bei
diesem Verbrechen eine abscheuliche Rolle spielt.*) Dem
entgegen macht Seneca in der Zuschrift an Nero die Voraus-
setzung, dass Nero von Natur ungewöhnlich milde beanlagt ist.
Er führt dafür mit grossem Nachdruck als Beweis an das
Wort des jungen Kaisers: ,,vellem nescire literas" (II i 3), als
Burrus ihm das erste Todesurtheil zur Unterschrift präsentirte.
Ueber dieses Wort, welches auch sonst beglaubigt ist (Sueton
Nero X), ruft Seneca aus: ,,0 vocem publicam generis humani
innocentia dignam, cui redderetur antiquum illud saeculum!''
Dieses Wort wird als Beweis für ,,animi mansuetudo" verwerthet
(II 2 1). Seneca behauptet von Nero ,,naturalis^ bonitas" und
bemerkt ausdrücklich : ,,nemo potest personam diu ferre" (I i 6).
Wir kommen demnach zu der Annahme, dass die Päda-
gogik Senecas bei Nero eine gute Naturanlage voraussetzt,
während er von dem Gegentheil überzeugt ist, er will also
dem bösen Naturell dadurch entgegenwirken, dass er beharrlich
ihm das Gegentheil als sein wahres Bild vorhält. Ganz ohne
Wirkung ist auch diese Pädagogik nicht geblieben. Jenes von
Seneca so hoch gefeierte Wort des jugendlichen Imperators
beweist, dass Nero unter dieser Anleitung zu der Vorstellung
gebracht ist, dass er einen starken Widerwillen selbst gegen
gerechte Todesstrafe hat. Wir können uns um so unbedenk-
*) Britannicus im 5. Monat des Nero ermordet (L. v, Ranke : Weltgeschichte
III 1 112).
8
114
lieber zu dieser Annahme bekennen, da Seneca selber eben in
dieser Schrift an Nero ein solches Verfahren, wie wir hier
voraussetzen, zu rechtfertigen sucht (De dem. I 17 2). Aber
weil diese künstliche [Methode das angeborene Uebel nicht bei
der Wurzel anfasst, musste Seneca die Wahrheit seines Satzes
,,nemo potest personam diu ferre" an Nero erfahren. Der
künstliche Widerwille Neros gegen die Unterschrift eines
TodesLirtheils schlug ebenso in das Gegentheil um, wie die
Sentimentalität des obscuren Advocaten zu Arras, der sich später
als Maximilian Robespierre weltkundig machte (Th, Carlyle:
Gesammelte Schriften IV 46).
Das AUerbedenklichste in dieser moralischen Zuschrift an
Nero ist aber, dass, während diese Mahnung nach ihrer
Haupttendenz vor Allem ein Antidotum sein sollte gegen jene
in dem ,,Ludus" enthaltene Verführung zur Selbstvergötterung,
diese Vergiftung, wenn auch nicht in so grober, doch in
subtiler Weise hier fortgesetzt wird. Allerdings erklärt Seneca
hier seinen Vorsatz, nicht zu schmeicheln, ja, bekennt sich
sogar zu dem Grundsatz, lieber durch Wahrheit anzustossen,.
als durch Schmeichelei zu gefallen (De dem. II 2). Aber um
so schlimmer ist es, dass Seneca kein Bewusstsein davon hat,.
dass er diesem seinem erklärten Grundsatz untreu wird, indem
er das süsse Gift der Cäsarenvergötterung dem jungen Kaiser
mit eigener Hand in die Seele träufelt. ]\Ian höre, welchen
Monolog der strenge Moralist dem jungen Cäsar in den Mund
legt: ,,Vor allen Sterblichen ruht auf mir das Wohlgefallen,
und ich bin der Auserkorene, der auf Erden die Stelle der
Götter vertreten soll, ich, Herr über Leben und Tod unter
den Völkern : welches Loos und welchen Stand ein Jeder haben
soll, in meine Hand ist es gelegt- was das Schicksal Jedem
der Sterblichen bestimmt hat, durch meinen Mund giebt es
solches kund, aus meiner Antwort erfahren die Völker und
Städte, ob sie sich freuen dürfen ; ohne meine Gnade blühet
Nichts allüberall" (De dem. I i 2). ,,Dem Herrscher ist dieselbe
j\Iacht zu Theil geworden, welche die Götter besitzen, durch
deren Wohlthat wir ans Licht geboren werden, somit darf der
Fürst die Weltansicht der Götter sich aneignen" (I 5 7)^
115
Solche Worte, vor den Ohren eines jungen Weltherrschers
gesungen von der Stimme dessen, den er von seiner Knaben-
zeit her als Orakel der Weisheit und Tugend verehrt hat,
können nicht anders, als unwiderstehlich berauschend und
bezaubernd wirken.
Wo ist nun das Wort der Wahrheit vor dem Thron der
Herrscher, zu welchem sich Seneca hoch und heilig verpflichtet
und öffentlich bekannt hat? Wo ist die Lehre, die Säule der
geläuterten Gotteserkenntniss, an welcher sich eine sittliche
Weltanschauung aufrichten kann, an welcher dereinst die Väter
der alten Kirche ihr Wohlgefallen gehabt r Das Wort der
Wahrheit ist in diesen Schriften ein mit Lügen gefälschter
Zaubertrunk geworden, und die Säule der gereinigten Gottes-
lehre liegt am Boden. Mit Recht sagt Augustus in jener
Götterversammlung in dem ,,Ludus": ,,wenn solche Subjecte,
wie Claudius, zu Göttern erhoben werden, dann wird der
Götterglaube aufhören" (,,Dum tales deos facitis, nemo vos
deos esse credet" (Ludus XI 4). Nun ist nicht bloss Claudius
trotz dieses unwiderleglichen Protestes in der officiellen Sprache
,,divus" geworden, sondern Seneca selber hat ihn auch in
seiner Trostschrift ad Polybium mit einem unerhörten Pathos
schon bei seinen Lebzeiten als ,,numen" vergöttert und hat in
seinen Schriften ,, Ludus" und ,,De dementia" an einen ebenso
Verworfenen die göttlichen Prädicate sacrilegisch vergeudet.
Seneca spricht von einem angewiesenen Posten, den der gute
Mensch behaupten müsse : ,,ad ultimam usque diem vitae
stabit paratus et in hac statione morietur" (B. V 2 4).
,, Magnus animus dat operam, ut in hac statione, qua positus
est, honeste se atque industrie gerat" (Ep. CXX 18). Seneca
weiss und hat auch dessen kein Hehl, dass er bestellt ist zum
Wächter, Erzieher und Berather des jungen Cäsar. Musste es
ihm nicht zu tiefer Beschämung über seine Untreue auf seinem
Posten gereichen, dass in den Tagen der ärgsten Raserei des
Nero die Schmeichelei des Volkes nicht über das hinausging,
was Seneca selber in seinem ,, Ludus" dem Jüngling auf dem
Kaiserthron zugerufen hatte: ,, dieser ist Apollo, dieser allein
ist Pythius !" (Cassius Dio LXI 20 3 — 5). Seneca hat den
116
göttlichen Namen, der ihm, wie wir gesehen, nach seiner
erleuchteten Erkenntniss die Personification der sittlichen
Uridee bezeichnet, nicht behütet vor \'ermischung mit solchen
Erscheinungen, welche auf unerhörte Weise alle göttlichen
Charaktere profanirt haben, und darum muss er nun erfahren
an sich selber, was er als Folge einer \'ersündigung an dem
innewohnenden Gottesgeist ausgesprochen hat (,,Sacer intra
nos Spiritus sedet, malorum bonorumque observator et custos,
hie prout a nobis tractatus est ita nos ipse tractat" (Ep. XLI 2).
Um die ganze X^erfinsterung, in welche Senecas Geist
versinkt, zu fühlen, müssen wir uns noch einmal versetzen in
die Vorschrift, welche Seneca selber sich für seinen Posten
gegeben hat. Seneca lehrt, dass den Hohen und Grossen in
der Welt Nichts so heilsam und nöthig ist, wie die Wahrheit,
und dass die, welche ihnen nahe stehen, die Spendung der
W'ahrheit als den grossesten und einzigen P'reundschaftsdienst
ihnen erweisen sollen. Mit grellen Farben hat Seneca
geschildert, dass anstatt dieser Pflicht der Wahrhaftigkeit das
Laster der Lüge und Schmeichelei den Verkehr der Menschen
beherrscht. Und Seneca selber? In den drei charakterisirten
öffentlichen Schriften hat er den höchsten Herren nicht das
Wort der Wahrheit gespendet, sondern in der Nachahmung
des herrschenden Lasters frecher Lüge hat er ein nicht zu über-
bietendes Beispiel schmeichlerischer niederträchtiger Lüge vor
dem Cäsarthron aufgestellt.
In allen drei genannten Schriften hat Seneca sich an dem
besseren Wissen und Gewissen seiner Gotteserkenntniss thatsäch-
lich versündigt, wovon die weitere Folge ist, dass sich ihm das
Licht seiner geläuterten Gotteslehre verdunkeln muss ; Seneca
sinkt in alle Verdunkelungen und Finsternisse des heidnischen
Polytheismus zurück. An die Stelle der göttlichen Absolutheit
tritt Identificirung von Gott und Welt, von Geist und Materie,
von Vorsehung und Fatum. Die erhabene Idee der gött-
lichen \^aterschaft wird ohne Bedenken an die Welt abgetreten :
,,unu5 omnium parens mundus est" (B. III 28 2). Die Welt
mit ihren starren Gesetzen, mit ihren blinden Kräften, das
Leben ebenso fortwährend verschlingend, wie es immer neu
117
gebährend, ist in jenen Tagen ebenso kalt und ohne Liebe
gewesen wie heute. Die an diese Welt abgetretene Vater-
schaft weiss und fühlt Nichts von Allem, was Seneca sonst
von göttlicher Liebe und Güte gerühmt hat. Ebenso ist es
eine Depotenzirung der anderweitigen Gotteslehre Senecas,
wenn Sonne und Mond als Götter gedacht und verehrt v/erden
sollen (B. IV 23, VI 20 — 22). Am Schluss der Einleitung zu
dem ersten Buch der ,,Quaestiones naturales" werden allerlei
Fragen aufgeworfen: ,,quantum deus possit, materiam ipse sibi
formet an data utatur?" (I. praefat, 16) Schon die Fassung
dieser Fragen beweist die Verdunkelung der Gottesidee und
präjudicirt die Antworten zu Gunsten der Selbstständigkeit der
Welt und der Materie. Und so finden wir es auch: Gott
konnte die Menschen nicht unsterblich machen, ,,quia materia
prohibebat" (Ep. LVIII 27 1), womit gleichbedeutend ist, dass
die ,,lex mortalitatis" und das menschliche Leiden unabhängig
von Gott gedacht wird (De ira II 28 4). Auch das Erdbeben
ist unabhängig von der Gottheit und hat in sich seine ander-
weitigen Ursachen (N. Q. VI 3 i). Krass deistisch lautet
folgende Aeusserung: ,,etiamsi Jupiter fulmina non facit nunc,
Jupiter fecit, ut fierent; singulis non adest et tamen vim et
causam omnibus dedit" (N. Q. II 46, cfr. De provid. V 8).
Am unfrommsten gestaltet sich die kosmische Anschauung in
Beziehung auf die menschlichen Geschicke. Wir haben uns
gewundert über die Höhe, zu welcher sich Seneca erhebt,
wenn er mit aller Bestimmtheit in den Leiden der Tugend-
haften die Weisheit der göttlichen Vaterliebe preist. Wie
traurig werden wir nun überrascht, wenn wir bei demselben
auf folgende Gedanken stossen: ,, Nur zuweilen bekümmern die
Götter, welche die Welt regieren, sich um den Einzelnen"
(Ep. XCV 50, N. Q. I I 4). Grade wo es vor Allem darauf
ankommt, dass der Einzelne der unzweifelhaften Aufsicht
Gottes versichert ist, im Zustand des Leidens, gewinnt es
Seneca über sich, auf diesen Trost zu verzichten. ,,Bei der
Allgemeinheit des Leidens können die Götter die einzelnen
Guten nicht verschonen" (B. IV 28 i 3, De provid. V 9, VI 6).
Darnach kann man sich nicht wundern, wenn an die Stelle
118
der sonst von Seneca sehr gepriesenen Providentia das fatum
tritt. Der Makel des Unfrommen, der dem letzten Wort
(fatum) anhängt, wird zwar zuweilen absichtlich zu verwischen
gesucht, indem fatum synonym mit Providentia und deus
erklärt wird (N. Q. 11 45, ad Helviam VIIT 3); oder wenn
dem fatum ,, Jupiter" als ,, prima omnium causa, ex qua
ceterae pendent" vorgesetzt wird (B. IV 7 2), oder wenn sogar
die Wirkung der- Gebete und Opfer in die X^erkettung des
fatum eingeschlossen wird (N. Q. H 36 37 i 2). Aber da die
Kraft der reinen Gottesidee, der allein es gegeben ist, alle
abstracten Bezeichnungen für das höchste Walten immer wieder
in das Licht der ewigen Liebe zu verklären, thatsächlich
gebrochen ist, wie die oben angeführten Aussprüche beweisen,
so kann es nicht fehlen, dass ein anderes Mal die uralte
Finsterniss des heidnischen Fatums alle jene Milderungen
verschlingt (De pro\id. V 8). Der letzte Trost, den das
fatum gewährt, ist also, dass in dem allgemeinen Untergang
die Götter vor den Menschen Nichts voraushaben !
W^ir haben gesehen, dass Seneca, getragen von einer reinen
Gottesidee, zur Anschauung eines geistigen Reiches gelangte,
eines Reiches, erhaben über dieses sichtbare Weltreich, voll
hoher sittlicher Ideale, welche an das Gottesreich der Offen-
barung erinnern. Nachdem wir nun aber erkannt, dass Seneca
der Wirklichkeit und Gegenwart des Cäsarenthums gegenüber
sein besseres Wissen von Gott verleugnet, werden wir uns
nicht wundern können, wenn wir neben jenen herrlichen Licht-
seiten finstere Schatten antreffen, welche aus der Tiefe der
widergöttlichen Selbstsucht stammen und alle himmlische
Erleuchtung vertreiben.
Man könnte nun leicht auf den Gedanken kommen, dass
dieser Abfall Senecas von seinem sittlichen Ideal in den drei
ersten Büchern seiner ,,epistolae morales" sich schon dadurch
handgreiflich darstelle, dass in jedem der ersten 29 Briefe eine
Sentenz Epikurs als eine werthvolle Beigabe eingeschärft wird.
Allein das wäre ein falscher Schluss. Mit diesen Citaten
Epikurs hat Seneca offenbar einen guten Zweck verbunden,
worauf wir schon beiläufig: aufmerksam p;emacht. Es ^ab
119
nämlich in jener Zeit zu Rom Menschen, welche Seneca
beschreibt wie folgt: ,,ad nomen (Epicuri et philosophiae)
advolant, qiiaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod et
velamentum, itaque quod unum habebant in malis bonum
perdunt; peccandi verecundiam — honestus turpi desidiae titulus
accessit" (De vit. beat. XII 4 5). Gegen dieses Unwesen ist
gerichtet die Mahnung: ,,non debet excusationes vitio philosophia
suggerere, nullam habet spem salutis aeger, quem ad in-
temperantiam medicus hortatur (Ep. CXXIII 17). Diese
Menschen werden auch so beschrieben : ,,quosdam nee pudor
vitiorum tenet, sed patrocinia turpitudini suae fingunt ut etiam
honeste peccare videantur" (Fragmenta XVIII, III p. 422 Haase).
Diese schamlosen Lüstlinge berufen sich auf Epikur, der als
Stifter einer Philosophenschule immer einen angesehenen Namen
hatte und einen gewissen moralischen Schutz gewährte. Es ist
•daher ein an sich ehrenwerthes, ernstes Bestreben Senecas, diesen
zucht- und schamlosen Sündern ihren erheuchelten Schutz zu
entreissen. Zu dem Ende bemüht er sich, seinen jüngeren
Freund Lucilius mit einer Reihe von Aussprüchen Epikurs
bekannt zu machen, welche einen unleugbaren Ernst coii-
sequenten Denkens und strenger Selbstbeherrschung aufweisen,
von welchen jenes leichtsinnige gevvissenlose Völklein keine
entfernte Ahnung hatte.
Um so williger wir aber Seneca in dieser Beziehung gegen
-einen falschen Schein in Schutz nehmen, um so rücksichtsloser
müssen wir ihn in anderen Stücken des offenbaren Abfalls von
seinen ausgesprochenen eigenen sittlichen Idealen anklagen.
Im Bereich des Handelns haben wir gefunden, dass Seneca
in drei veröffentlichten Schriften den von ihm für sein Handeln
aufgestellten Grundsatz nicht bloss nicht befolgt, sondern durch
sein thatsächliches Gegentheil vernichtet. Ein solcher that-
sächlicher jäher Abfall muss seine Schatten werfen in das ganze
Gebiet des Denkens und Lehrens.
Die Philosophie ist ein Gesetz des Lebens (Ep. XCIV 39),
sie nimmt uns auf in die Stammliste der Männer (Ep. IV 2).
Seneca nimmt es mit der Philosophie so ernst, dass er auch
den Epikur als ernsten Denker behandelt. Er ist so erfüllt
120
von den sittlichen Idealen, welche er in seiner Jugend von
Sotion und Attalus aufgenommen hat, dass dieser Eindruck
ihm bis ins Alter lebendig bleibt. Aber in der Philosophie
steckt ein oppositionelles Element, vor welchem Maecenas den
Augustus warnt, und der Cäsarische Hof hat sich diese Warnung^
sehr zu Herzen genommen. Seneca weiss, dass der Xame
der Philosophie verhasst ist (Ep. V 2), dass die Philosophen
gelten als aufsätzig, widerspenstig, Verächter der Obrigkeit
und Fürsten (Ep. LXXIII i, cfr. Tacit. Ann. XIV 57, XVI 22,
Sueton Vespas. XIII, Cassius Dio LXVI 12 13 15). Seneca
hat auf der Höhe seiner stoischen Weisheit das Weltverderben
zum Kampf herausgefordert, und seine tapferen Grundsätze
erheben sich überschwänglich weit und siegreich über alles
Böse, das in der Welt ist. Aber auch abgesehen von der
Probe dieser hohen Gedanken, in dem wirklichen Leben und
Handeln kommen Zeiten, in welchem ihm innerhalb seines
Denkens und Schreibens, überwältigt von der Anschauung der
schlechten Wirklichkeit, jene Ideale wankend werden und sich
in gemeine Klugheit, Schwachheit und Niederlage verwandeln.
Dagegen kann man freilich Nichts einwenden, dass er nicht
diejenigen für seinen näheren Umgang auswählt und vorzieht^
welche immer traurig sind und Alles beweinen und beklagen^
wenn er ihnen auch das Lob des Wohlwollens spendet
(De tranq. VII 6, cfr. De ira II 10 5). Es scheint, als wenn
Seneca in dieser Schilderung den Stoiker Thrasea und seinen
Anhang im Auge hat, welche als ,,rigidi" und ,, tristes"
bezeichnet werden (Tacit. Ann. XVI 22), und denen das traurige
und finstere Wesen als Opposition gegen den cäsarischen Hof
ausgelegt wurde. Wir werden noch öfter auf die Aehnlichkeit
und Gegensätzlichkeit der beiden Männer Thrasea und Seneca
zurückkommen. An sich wird es auch kein Vorwurf sein für
einen Philosophen, am Hofe zu leben, sass doch hundert Jahre
später sogar auf dem Throne des Weltreiches ein ernster
Philosoph. Aber versuchlich im hohen Grade ist der Stand
eines Philosophen am Hofe Neros, und der Neffe Senecas
Lucanus giebt daher auch den Rath, vielleicht mit Anspielung
auf den Onkel:
121
,,Exeat aula
Olli volet esse pius" (Phars. VIII 493 494).
Und in diesem versuchlichen Stande drängt sich dem Philo-
sophen der Gedanke auf, wie gefährlich der pflichtmässige
Widerstand gegen das in der Welt waltende Böse, dessen
Anblick dem Philosophen am Hofe immerdar vor Augen steht,
werden könne, ja werden müsse. Dann ersteht der grosse
Kampf, ob man unter Lebensgefahr die anerkannten Grundsätze
behaupten oder sich zur Verleugnung derselben erniedrigen
wolle. Thrasea, fern vom Hof, wählt das bessere Theil,
Seneca, nahe am Thron, das schlechtere. Und so geschieht es,
dass mitten in den stoischen Büchern Senecas die herrschenden
Maximen der gemeinen Weltklugheit nackt und bloss auf-
tauchen. ,,Iniquum est et periculosum irasci publico vitio"
(De ira II 10 4). Diesen Satz schreibt Seneca hin als wohl-
gemeinten Rath, sich durch herrschende Laster nicht aufregen
zu lassen, obwohl ihm sehr wohl bewusst ist, dass ein
herrschendes Verderben nur durch furchtlosen Widerstand der
Guten und Weisen gebrochen werden kann. Noch bedenklicher
leidet die Moral, und noch offener ist der Abfall von seiner
besseren Erkenntniss und Gesinnung in folgenden Sätzen :
, .sapiens nunquam potentium iras provocabit" (Ep. XIV 7);
,,philosophandum sine ulla potentioris offensa" (Ep. XIV 14);
,,philosophia tranquille modesteque tractanda est" (Ep. XIV 11).
So lehrt, mahnt und warnt der Mann, der sich sonst zum
Geschäft macht, die List, Bosheit und Grausamkeit der
Mächtigen sich zu vergegenwärtigen, um sich zu jener Höhe
zu erheben, auf welcher der Weise mitten in der Qual aller
Bosheit trotzet und aus der Marter selbst sich einen heilioen
o
Schmuck bereitet. Im offenen Widerspruch gegen diese
heroische Weisheit wird ferner, um den Anstoss von Seiten
der Mächtigen wie von Seiten der Volksmasse zu vermeiden,
wird immer aufs Neue das otium empfohlen. Diese dem Alter-
thum im Allgemeinen fremde Abwendung vom öffentlichen
Leben, diese recht eigentlich epikurische Seelenverfassung und
Lebensart soll weiter nach gelegentlichen Vorschriften Senecas
so klug eingerichtet sein, dass sie nicht als ein zu auffallendes
122
Abweichen vom Gewöhnlichen die Leute verletze (Ep. CHI 5).
So weit lässt sich diese Ermahnung zur Vorsicht noch einiger-
massen hören, wenn nur nicht derselbe Mann sonst keine
Gelegenheit vorübergehen liesse, den Cyniker Demetrius, der
von Caligula bis Vespasian auf den Strassen Roms in der an-
stössigsten und verletzendsten Weise philosophirt, in den
Himmel zu erheben 1 Aber nun vernehme man erst, wie
Seneca unmittelbar nach jener Mahnung fortfährt: ,,vitia tibi
detrahat philosophia, non aliis exprobret, non abhorreat a
publicis moribus nee hoc agat, ut quidquid non facit damnare
videatur. Licet sapere sine pompa, sine invidia" (Ep. CHI 5).
In derselben Richtung bewegt sich der 73. Brief, welcher die
in den cäsarischen Zeiten oft erhobene Anklage, dass die
Philosophie staatsgefährlich sei, beseitigen will. Um dieses
Ziel zu erreichen, wird ein hoher Preis eingesetzt. Das, was
nach dem idealistischen Standpunkt Senecas als ein Verlassen
und Preisgeben des erhabenen Berufes eines philosophischen
Mannes anzusehen ist, wird hier als eine Höhe und als ein
Fortschritt bezeichnet. ,,Ille vir sincerus et purus, qui reliquit
curiam et forum et omnem administrationem rei publicae, ut ad
ampliora secederet, diligit eos, propter quos hoc ei facere licet"
(Ep. LXXIII 4). Vor Allem bemerkt man, dass hier die Er-
wählung des otium als ,,secedere ad ampliora" bezeichnet
wird. Seneca will sagen, die Philosophen, welche sich vom
öffentlichen Leben zurückziehen, um der literarischen Müsse zu
leben und dieses als ihr höchstes Glück betrachten, werden
denen, welchen sie dieses Glück verdanken, mit Liebe zugethan
sein, werden, wie es im Anfang dieses Briefes heisst, um so
dankbarer sein, da ihnen von jenen vergönnt sei, ihre Müsse
in ungestörter Ruhe zu geniessen. Wem nun verdanken jene
Glücklichen diese ihre Müsse? Darüber lässt Seneca den Leser
nicht in Zweifel. Das gefeiertste Geschenk ist das von Vergil
besungene:
,,0 Meliboee, deus nobis haec otia fecit:
Namque crit illc mihi semper deus/'
Diese berühmten Verse Vergils führt Seneca in dem bezeich-
neten Briefe an und will damit auf die nachdrücklichste Weise
123
VAX verstehet! geben, dass das otiuni der Philosophen ein fürst-
liches Geschenk ist. Wie Augustus dem V^ergil das Geschenk
des otium gemacht hat, so hat Nero dem Seneca dasselbe
fürstliche Geschenk gemacht (Tacit. Ann. XIV^ 56, XV 45,
Seneca Ep. VIII i). Steht die Sache nun so, sind es die
Fürsten, welche den Philosophen den Genuss der ungefährdeten
Müsse verleihen, dann werden die Philosophen den Fürsten
dankbar sein, und kann deshalb der Vorwurf, dass Philosophen
aufsätzige Feinde der öffentlichen Ruhe und Ordnung sind,
nicht bestehen. Es ist ein grosses Angebot, welches Seneca
hier macht, um die Philosophen von jener Anklage frei zu
machen: er verpflichtet die Philosophen, die Mächtigen und
die Volksmasse durch ihre Vorwürfe und Lebensweise nicht
zu verletzen und zu stören. Es wird also in diesem Zusammen-
hang Verzicht geleistet auf die sonst von Seneca hochgepriesene
Mission, die todtkranke Zeit durch die Arznei der starken
Wahrheit auch vor den Ohren der Mächtigen zu heilen.
Die Gegenwart wird preisgegeben, die Philosophie widmet
ihre bessernde und bekehrende Thätigkeit der fernen Nachwelt
durch das Mittel des Schriftthums ihrer Müsse. ,, Posterorum
negotia ago. illis aliqua, quae possint prodesse, conscribo.
salutares admonitiones veluti medicamentorum utilium com-
positiones literis mando" (Ep. VIII 2, cfr. Ep.^XXI 5, LXIV 7,
VIII 6, De otio VI 4). Seneca übersieht hier, was ihm sonst
nicht verborgen ist, dass der, welcher keine Gegenwart hat,
welcher die Gegenwart preisgicbt, auch auf eine Zukunft nicht
hoffen kann. Wenn die Gegenwart ihrer eigenen Verderbniss
überlassen bleibt, einer abgrundmässigen Verderbniss, welche
Niemand besser kennt als Seneca, wo soll dann die Zukunft
herkommen, auf welche Seneca durch jene Bücher wirken
will: Dazu kommt noch ein bedenkliches Zeichen, Seneca
beruft sich auf V^ergil, der in der fürstlichen Verleihung der
Müsse die ewige Gottheit des Augustus erkennt und preist.
Nun spricht es Seneca zwar nicht aus, dass auch er in der
fürstlichen V^erleihung Neros ein Zeichen der Gottheit verehrt,
aber durch das gefeierte Analogon ist dieser Gedanke nahe
gelegt. Wir befinden uns also auch hier wieder in dem Zauber-
124
kreis der Cäsarenvergötterung, durch welche sich Seneca an
Nero gleich beim Beginn seiner Regierung schwer versündigt
hat. Die Cäsarenvergötterung, bezogen auf Claudius und
Nero, ist der Sturz aller Ideale, die Versinkung in den Sumpf
abgrundmässiger Finsterniss. Es ist recht eigentlich eine
Nachtseite, mit der wir hier zu thun haben. Es ist mir mehr
als wahrscheinlich, dass Seneca bei dieser, eines Stoikers wenig
würdigen Schutzrede für die Philosophie etwas ganz Bestimmtes
im Auge hat und sich recht absichtlich von einem gefährlichen
Beispiel unterscheiden will. Wie kommt es doch, dass Seneca,
der unter seinen Zeitgenossen Niemand so oft und so hoch
erhebt als jenen Cyniker Demetrius, obwohl derselbe in einem
bestimmten Falle eine verdächtige Rolle spielt (Tacit. Hist.
IV 40), mit keiner Silbe dessen gedenkt, dessen Verurtheilung
Tacitus mit den Worten einleitet: ,,Trucidatis tot insignibus
viris, ad postremum Nero virtutem ipsam excindere concupivit"
(Ann. XV^I 2i\ Dieser mit dem höchsten Prädicat von Tacitus
gefeierte Stoiker hat, wie derselbe Tacitus berichtet, durch
seine Strenge in vielfacher solcher Weise öffentlich Anstoss
gegeben, welche Seneca in den zuletzt hervorgehobenen Sätzen
getadelt hat. Thrasea entfernte sich in auffälliger Weise aus
dem Senat und zog sich in die Einsamkeit zurück, aber selbst
sein otium vermeidet nicht, wie Seneca räth, den anstössigen
Charakter. Unter den wider ihn erhobenen Anklagen wird als
ein Zeichen seiner tiefen Staatsgefährlichkeit bemerkt, dass
nach seiner Entfernung aus dem Senat die römische Staats-
zeitung in den Provinzen und in der Armee um so eifriger
gelesen wurde, um zu erfahren, was Thrasea nicht gesagt und
bei welchen Verhandlungen er nicht zugegen gewesen. F'erner
werden seine und seiner Freunde traurige und finstere Mienen
wie ein Vorwurf gegen die Ausgelassenheit des Kaisers auf-
gefasst (Ann. XVI 22). Hier zeigt sich an einem deutlichen
Beispiel, was Seneca oben charakterisirt. Der Stoiker Thrasea
hat sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, vermeidet
also das, was man dem activ im öffentlichen Leben stehenden
Philosophen vorwerfen konnte. Thrasea lebt im otium. Aber
Seneca lehrt, man muss auch sein otium so einrichten, dass es
125
iinanstössig ist, ,,nün hoc agat ut quidquid non facit damnare
videatur; licet sapere sine pompa, sine invidia." Das ist aber,
worin es Thrasea versieht, es ist, als hätte Seneca in diesen
Sätzen den Thrasea beschreiben wollen. Seneca verwahrt sich
gegen diese passive Art von Opposition.
Ebenso scheint Seneca Thrasea, seinen Schwiegersohn
Helvidius (Dialogus V) und seine Freunde im Auge zu haben,
wenn er sich über einen falschen Sprachgebrauch folgender-
massen vernehmen lässt: ,,temeritas sub titulo fortitudinis latet,
moderatio vocatur ignavia" (Ep. XLV 7). Ist es nicht, als
hörten wir hier die Selbstvertheidigung Senecas gegen die
Stimmen Thraseas und seiner Gleichgesinnten, welche den
Gtoischen . Hofphilosophen der Untreue bezichtigten ? Wenn
das, was Dio dem Thrasea in den Mund legt und was ganz
den Charakter der Authentie an sich trägt (LXI 15 3), gleich
nach seinem Weggang aus dem Senat gesprochen ist, so
konnte Seneca nicht verkennen, dass das Verhalten jenes
Senators zugleich gegen ihn gerichtet war, und musste diese
Wahrnehmung in ihm einen Stachel zurücklassen. Eine
Bemerkung Suetons giebt uns gleichfalls einen Beitrag zudem
Gegensatz zwischen dem Stoiker am Hofe Neros und den
Stoikern der lauten und der schweigenden Opposition. Sueton
bemerkt in der ,,Vita Persii", dass dieser ernste Dichter den
Seneca zwar gekannt aber von seinem Geiste nicht angezogen
worden sei: ,,Sero cognovit vSenecam, sed non ut caperetur
ejus ingenio". Kein Wunder, denn Persius war nicht bloss mit
Thrasea verwandt sondern auch innig mit ihm befreundet.
Wenn man nun die von Seneca vorgetragenen erbärmlichen
argumenta a tuto mit dem grundsätzlichen correcten Verhalten
des Stoikers Thrasea vergleicht, dann muss man die Anklage
erheben, dass Seneca an seinem Standpunkt sittlicher Idealität
sophistischen Verrath geübt hat.
Wir fahren fort, die sophistischen Verleugnungen der sitt-
lichen Grundsätze in den Schriften Senecas weiter zu verfolgen.
Wir haben in unserem zweiten Abschnitt gefunden, wie richtig
Seneca in dem allgemeinen menschhchen Hochmuth ein Haupt-
hinderniss des sittlichen Denkens und Lebens erkannt hat. Da
126
ihm aber der Gottesgedanke, der allein dem Menschen sein
richtiges Mass anzuweisen geeignet ist, zu Zeiten gänzlich
verdunkelt wird, so kann er nicht verhüten, dass er nicht mit
Unterdrückung jener Erkenntniss in Selbstüberhebung, sogar
Gott gegenüber verfällt. Zwar ist dahin nicht zu rechnen, dass
dem Weisen der Kampf mit der Fortuna verordnet ist, noch
auch dass in solchem Zusammenhang anstatt Fortuna Jupiter
genannt wird. ,,Valentior omni fortunaanimus est" (Ep. XCVIII 2)»
,,Esse aliquem, in quem nihil fortuna possit, e republica
humani generis est" (De constant. XIX 4). Selbst dem
strengsten Monotheismus ist der Gedanke an Kampf und Sieg
der Guten der Gottheit gegenüber durchaus nicht anstössig
(Gen. XXXII 24—28). Auch das ist nicht m.it Baur (p. 178)
auf Rechnung der unchristlichcn stoischen Selbstüberhebung zu
setzen, dass der standhafte Cato ein würdiges Schauspiel für
die Gottheit genannt wird: ,,Ecce spectaculum dignum, ad quod
respiciat intentus operi suo deus, ecce par deo dignum, vir
fortis cum mala fortuna compositus, utique si et provocavit"
(De prov. II 9). Denn Minutius Felix braucht von der Stand-
haftigkeit der christlichen Märtyrer ganz denselben Ausdruck:
,,quam pulchrum spectaculum deo, cum christianus cum dolore
congreditur" (C. XXXV II). Aber ohne Zweifel überschreitet
es die Linie, welche jedes wahrhaft religiöse Gefühl ziehen
wird, wenn alles Ernstes in Ansehung von Macht und Güte
eine Gleichung zwischen Gott und Mensch angestellt wird :
,, solebat Sextius dicere, Jovem plus non posse, quam bonum
virum, Jupiter quo antecedit virum bonum.' diutius bonus est,
sapiens nihilo se minoris aestimat" (Ep. LXXIII 12). Zu
geschweigen, dass selbst die Behauptung nicht gescheut wird,
dass der Mensch vor Gott Vorzüge besitze: ,,animos vestros
adversus omnia armavi, ferte fortiter, hoc est, quo deum
antecedatis" (De prov. VI 6, Ep. LIII 11). Nachdem Seneca
sich des Raubes an dem heiligen Gottesnamen zu Gunsten des
Claudius und Nero schuldig gemacht, ist diese Sprache, welche
an die älteste Versuchung und Verführung der Menschheit
erinnert, nicht sehr auffallend. Aber auch hier kommt
Hochmuth vor dem Fall. Auf die sacrilegische Selbstüber-
127
hcbung des Menschen folgt eine schreckliche Entleerung der
irdischen und zeitlichen Existenz des Menschengeschlechts,
welche nur mit krampfhafter Anstrengung einen gewissen
Schein von Erträglichkeit zu erhalten vermag, wenn sie nicht
gar zur ausgesprochenen Verzweiflung führt.
Mit Recht eifert Seneca gegen diejenigen, welche vor lauter i
Zukunft keine Gegenwart haben. , ^Nullius non vita spectat in \
crastinum — non vivunt, sed victuri sunt, omnia differunt"
(Ep. XLV 12 13, De brevit. vit. VII 8, IX i). Man beachte,
dass Seneca in diesen Aussprüchen die falsche Präoccupation
der Zukunft und die Entleerung der Gegenwart nicht als Fehler
Einzelner rügt , sondern als eine allgemeine Krankheit
beschreibt. Welches ist nun das Heilmittel gegen diese
Krankheit? Es ist klar, so wenig die Zukunft die Gegenwart
entleeren darf, so wenig soll es auch umgekehrt sein. Eine
Entleerung der Zukunft schädigt und vernichtet die Gegenwart
ebenso sehr wie die Ueberspanntheit der Zukunft. Die dem
richtigen Werth und Gebrauch der Gegenwart entsprechende
Geistesstellung zur Zukunft ist die Hoffnung.
Was Hesiod, um die immer tiefer sinkende Verschlechterung^
der Zeiten bemerklich zu machen, gesagt, dass von allen Gott-
heiten nur die Hoffnung auf der Erde zurückgeblieben, das
wiederholt Ovid von dem Zeitalter des Augustus mit Nach-
druck (Ex Pont. I 16 27 30).
Mit Augustus ist nun die Weltverderbniss in weiterem
Niedergang begriffen, und es entsteht die Frage, ob die
Hoffnung auch dann noch auf Erden Stand hält. In-
sofern dieser Name jener unrechtmässigen Präoccupation
der Zukunft untergeschoben wird, ist am Bleiben der Hoffnung
Nichts gelegen, ja im Gegentheil muss sie mit Seneca bekämpft
werden. Dieser Kampf hat aber nur dann einen richtigen Sinn,
wenn er dazu dient, das hohe Recht der wahren Hoffnung
festzustellen. Aber wie kann der Hoffnung überhaupt eine
Berechtigung zugesprochen werden, wenn man keine andere
Hoffnung kennt, als jene trügerischen, die Gegenwart störenden
Gaukelbilder? Und diesen traurigen Niedergang der Hoffnung
treffen wir bei Seneca. Seneca steht unter demselben ver-^
128
nichtenden Eindruck, der sich in den Tagen des Tiberius laut
klagend vernehmen Hess: concidisse rempublicam, nihil spei
reliquum clamitabant (Tacit. Ann. III 4). Der Name, der sonst
als ein letzter und höchster Trost geliebt und verherrlicht wird,
ward in der Sprache Senecas aus der Reihe der menschlichen
Güter gestrichen. ,,Spes" wird von Seneca unter die ,,vitia"
gerechnet. ,,Vitio vitium repelle : spe metum tempera"
(Ep. XIII 12). ,,Spes incerti boni nomen est" (Ep. X 2).
,, Sapiens es, si nulla spes animum tuum futuri exspectatione
sollicitat" (Ep. LIX 14). Keiner ist seiner selbst sicher, den
noch irgend eine Hoffnung aufregt (Ep. XXIII 2). Nur der
hört auf zu fürchten, der der Hoffnung entsagt hat. ,,Desine5
timere, si sperare desieris" (Ep. V 7). Unter den Uebeln,
die die Menschen ins Verderben stürzen, wird in der Reihe
von invidia, odium, metus, contemptus vorangestellt spes
(Ep. CV i). Als eine Höhe des Lebens wird es bezeichnet:
nihil dignum putare, quod speres" (N. Q. III praef. .11).
Der auf eine bestimmt begrenzte Situation bezogene Vers
Vergils :
,,Una Salus victis nullam sperare salutem" (A. II 354) soll
nach Seneca dem ganzen Menschengeschlecht als beständiger
Wahlspruch gelten (N. Q. VI 2 2). Wenn nun schliesslich
der einzige Dienst, der von der Hoffnung erwartet wird, nach
Seneca in Folgendem bestehen soll: ,,si sapis, alterum alteri
misces, nee speraveris sine desperatione, nee desperaveris sine
spe" (Ep. CIV 12), so kann das kaum anders als wie eine
Ironie auf die Hoffnung verstanden werden. Denn wenn \^er-
zweiflung und Hoffnung sich gegenseitig corrigiren sollen, so
dass keine Hoffnung aufkommen darf ohne die Correktur der
Verzweifelung, dann wird die Verzweifelung die Hoffnung der-
gestalt übermeistern, dass es gar nicht erst zu einer Hoffnung
kommt. In der That, diese entschlossene Polemik gegen die
Hoffnung als solche erinnert an die Inschrift des Höllenthores
bei Dante und überträgt diese Inschrift auf diese wirkliche
Welt. Wenn wir uns hier nun daran erinnern, dass Seneca
dem Philosophen die Weisung giebt, die verderbte Gegenwart
sich selbst zu überlassen und durch seine Bücher auf die ferne
129
Zukunft zu wirken, dann stossen wir auf einen der tödtlichsten
Selbstwidersprüche in dem Denken Senecas.
Fragen wir nun, was für die Gegenwart bei dieser Aus-
rottung der Hoffnung herauskommt, so werden wir es in der
Natur der zwingenden Zeitcontinuität begründet finden, dass
das Verbot der Hoffnung oder das Abschneiden der Zukunft
dieselbe Wirkung hat wie die unerlaubte Vorwegnahme der
Zukunft, das Eine wie das Andere verdirbt und zerstört die
Gegenwart. Was bedeutet denn für Seneca diese Gegenwart,
dieser laufende Tag, dieser Augenblick, was bedeutet dieses
Jetzt, welches so sehr sich selbst genügen soll, dass jeder
Hinblick über diese Schranke hinaus als eine Thorheit, ja als
eine Sünde angesehen wird? Hören wir ihn, wie er sich selber
vernehmen lässt. ,, Nihil tam insidiosum est quam vita humana.
non mehercle quisquam illam accepisset, nisi daretur insciis,
itaque fehcissimum est non nasci'' (Ad Marc. XXII 3). Man
übersehe nicht, dass dieser wahrhaft schreckliche Ausspruch
enthalten ist in einer Trostschrift, welche Seneca an eine edle
Gönnerin richtet, welche als Wittwe ihren erwachsenen Sohn
durch den Tod verloren. Der Wittwe zu Nain wurde gesagt:
,, weine nicht", und der dieses sagte rief den gestorbenen Sohn
ins Leben zurück und gab ihn seiner Mutter wieder. Das Weinen
der Mutter wird in dieser Erzählung dadurch gerechtfertigt,
dass die Auferweckung des Gestorbenen das Leben als ein Gut
und den Tod als einen schmerzlichen Verlust aufweist. Seneca
will den Schmerz der trauernden Wittwe und Mutter dadurch
heben, dass er das menschliche Leben überhaupt mit den aller-
schwersten Beschuldigungen auf die Anklagebank bringt. Das
Leben, sagt er, ist ein heimtückisches Ding (insidiosum est
vita), es wird uns förmlich octroyirt, wir werden damit über-
fallen, ohne und ehe wir es wissen, denn wüssten wir davon,
so würden wir es abgelehnt haben. Kann man die göttliche
Gabe des Lebens, Anfang und Voraussetzung aller göttlichen
Wohlthaten lästerlicher schmähen? Nicht tröstlicher lautet in
derselben Trostschrift ad Marciam der folgende Spruch: „mors
efficit, ut nasci non sit supplicium" (XX 2). Wenn es keinen
Tod gäbe, dann wäre dieses Leben eine ewige Strafe, der Tod
9
130
macht es, dass die Strafe des Lebens venvandelt wird, ohne
die SterbHchkeit wäre das Leben eine ewige Strafe, nämHch
die ewige Verdammniss, der Tod mildert die ewige Ver-
dammniss in eine zeitweilige Kerkerstrafe. Bekanntlich hält
Seneca die gewöhnliche Sprache für verfälscht, ist es nun nicht,
als wenn er, um das Geschäft des Tröstens zu vereinfachen,
den auf dem natürlichen Gemeingefühl der Menschheit ruhenden
Sprachgebrauch über Leben und Sterben, über Glück und
Unglück gradezu auf den Kopf stellt? Diesem pessimistischen
Sprachgebrauch gehören auch folgende Aussprüche an: ,,si vis
credere altius veritatem intuentibus omnis vita supplicium est" (Ad
Polyb. IX 6); ,,tota vita flebilis est" (Ad Marc. XI i); „Cur vivere
expeditr Cur loquir cui vita non tormentum est?" (N. Q. V i8 15).
Die finstersten Klagen über den Jammer des allgemeinen
Lebens, welche wir aus dem Munde Hiobs mitten in seinen
schwersten Anfechtungen vernehmen, ertönen hier als Weisheits-
sprüche zum Tröste der Menschheit. Zugleich aber entdecken
wir auch hier an diesem finsteren Ort die Quelle, aus welcher
die wortreichen Tröstungen Senecas in seinen drei Trost-
schriften und in seinen beiden Trostbriefen (Ep. XCI u. Ep. IC)
geflossen sind. Abgesehen nämlich von einzelnen Partien, wo
eine wärmere Theilnahme durchschlägt, wie namentlich in der
Schrift ,,ad Helviam matrem" besteht die ganze Tröstung in
der überschwenglichen Verkündigung, dass Alles, was Einer
verloren hat, keinen Werth besitzt, oder dass der Verlust in
dem Gesetz einer fatalistischen Nothwendigkeit begründet ist.
Mit dem ersten oder mit dem zweiten Argument sucht auch
die in Fragmenten erhaltene Schrift ,,ad Gallionem de remediis
fortuitorum liber" die durch das Schicksal gestörte Ruhe
des Menschen wieder herzustellen. Es klagt Einer: ,,oculos
perdidi", darauf trösten dieRemedia: ,, habet" auch ,,nox suas
voluptates" (XII i). ,.Moneris" sagt ein Furchtsamer zu sich
selbst, die Remedia rufen ihm zu: ,,stultum est timere, quod
vitare non possis" (II 3). Wer Trauernde trösten und Furcht-
same beruhigen und ermuntern will, muss vor Allem auf die
Seele dieser Leidenden den Eindruck machen, dass er selber
in sich fühlt, was jene Leidenden bekümmert und bedrückt.
131
Darum sagt der Apostel: ,, weinet mit den Weinenden". Hinzu
kommen muss aber dann ein zweiter Eindruck, nämlich die
Leidenden müssen mit Sicherheit merken, dass die Zusprechen-
den nicht bloss mitleiden, selbst ihr Leiden fühlen und tragen,
sondern auch mit der Geisteskraft begabt sind, welche das
Leiden überwindet. Wie weit ist Seneca entfernt von dieser
einzig wahren und wohlthuenden Hülfe für die Leidenden?
Der Vorwurf, den Lactanz, sonst ein Bewunderer Senecas,
gegen die Philosophen überhaupt erhebt, trifft vor Allem eben
diesen Stoiker. ,,Si in homine praeclarum et excellens bonum
misericordia, idque divinis testimoniis et bonorum malorumque
consensu Optimum judicatur, apparet philosophos longe abfuisse
ab humano bono, qui neque praeceperunt ejusmodi quidquam
neque fecerunt, sed virtutem, quae in homine propemodum
singularis pro vitio semper habuerunt" (Instit. VI 14 i). Bei
diesem Vorwurf theoretischer und praktischer Unmenschlichkeit
hat Lactanz offenbar den Seneca vor Augen. Seneca schreibt
eben in derjenigen Abhandlung, welche den Titel ,,de dementia"
führt: ,,plerique misericordiam ut virtutem laudant et bonum
hominem misericordem vocant. Et haec vitium animi est."
Wie die Grausamkeit eine Uebertreibung der Strenge ist, so
ist die Barmherzigkeit eine Ueberspannung der Milde (De dem.
II 4 4). ,, Misericordia est vitium pusilli animi"~ (1. c. V. i).
,, Misericordia est aegritudo animi" (1. c. V 4). Man komme,
lehrt Seneca, den Thränen zu Hülfe, aber man weine nicht mit
den Weinenden. ,,Succurret sapiens alienis lacrimis, non accedet"
(1. c. II 6 2). Sapiens donabit lacrimis maternis filium — sed
faciet ista tranquilla mente, vultu suo; non miserebitur, sed
succurret, sed proderit" (1. c). Seneca weiss es, dass die
stoische Philosophie wegen ihrer unmenschlichen Härte und
Unempfindlichkeit getadelt wird: „scio male audire apud
imperitos sectam Stoicorum tamquam nimis duram, objicitur
illi quod sapientem negat misereri, negat ignoscere" (II 5 2).
Obgleich er im Allgemeinen diesen Vorwurf nicht gelten lässt,
so gestattet er sich zuweilen Nachlass von der ganzen Strenge
der Schule, bekennt auch wohl, dass er nicht gebunden sei an
die strenge Regel der Stoa, sondern sich eine gewisse Freiheit
9*
132
vorbehalte. Aber man übersehe nicht, dass Lactanz nicht
bloss die Lehre der Philosophen über die Barmherzigkeit
tadelt, sondern auch ihr thatsächliches Verhalten dem mensch-
lichen Leiden gegenüber. Was nun Seneca anlangt, so kennen
wir nicht bloss seine Lehre über die misericordia als eine
Seelenkrankheit, sondern es liegt uns auch sein Verhalten in
seinen Trostschriften offen vor Augen. In diesem Verhalten
ist die strenge Regel der stoischen Apathie durchgeführt, indem
entweder das verlorene Gut als ein werthloses, in einen
täuschenden Schein gehülltes Ding dargestellt wird, oder auch
die Erwägung der starren Nothwendigkeit des Verlustes jedem
Gefühl des V^erlustes zuvorkommt und dasselbe erstickt vor
seiner Geburt. Nach Ausweis dieses thatsächlichen Verhaltens
will Seneca das grosse Werk der Tröstung und Beruhigung
leidender Seelen durch eine blosse Verstandesoperation, welche
den auf dem menschlichen Gemeingefühl beruhenden Sprach-
gebrauch über Leben und Sterben, über Glück und Unglück
gewaltsam durchbricht und zum Theil ins Gegentheil verkehrt,
zu Stande bringen.
An zwei verschiedenen Stellen spricht Seneca von dem
Stoiker Stilbon und stellt denselben hier als leuchtendes Vor-
bild der vollständigen Ueberlegenheit des Weisen über jedes
auch das schwerste äussere Schicksal. Stilbon wohnte in
Megara. Diese Stadt wurde von Demetrius, dem Städte-
bezwinger erobert, Stilbon verlor Vaterland, Frau und Kinder,
er allein rettete sich aus der brennenden Stadt. Vor den
Sieger geführt ward er gefragt, ob er Etwas verloren habe ;
er antwortete: ,,alle meine Güter sind bei mir, verloren habe
ich Nichts". ,, Siehe da", sagt Seneca, ,,das ist ein tapferer
und wackerer Mann". ,,Ecce vir fortis ac strenuus" (Ep. IX 1 8 19).
Durch dieses Beispiel will Seneca thatsächlich darthun, dass
auch ein noch so grosser Verlust auf den Weisen darum keinen
Eindruck macht, weil der Verlust von Dingen, die für den
Weisen deshalb keinen Werth haben, weil sie nicht zu ihm
gehören, schlechterdings nicht gefühlt wird, ja gar nicht an
ihn herankommt. Zu dem Ende wird Stilbon in der Abhand-
lung ,,de constantia" ausführlich redend eingeführt (V 6 7,
133
VI I — 7). Stilbon wiederholt sein stolzes Wort : „verloren habe
ich Nichts", ,, Alles was mir gehört, ist bei mir" und legt
dieses Wort folgendermassen aus: ,, einsam, Alles in Feindes Hand
schauend, bekenne ich, dass mein Vermögensstand vollständig
und unversehrt ist, ich besitze und halte Alles, was ich gehabt,
wo aber das ist, was hinfällig ist und seinen Besitzer wechselt,
weiss ich nicht; was meine Sachen betrifft, so sind sie bei mir
und werden bei mir bleiben". Vielleicht kann sich ein Leser
vermittelst seiner Phantasie einen Augenblick in diese
schwindelnde Höhe stoischer Apathie versetzen, aber bei
ruhiger Betrachtung dieser überspannten Rede wird er
erschrecken. Stilbon hatte mehrere Töchter, auch diese sind
verloren, er rechnete sie aber unter die Dinge, die nicht zu
ihm gehören. Es ist schon schlimm, dass er sich nicht begnügt,
den Verlust der Töchter wenigstens stillschweigend zu tragen,
sondern die Töchter als Dinge, die nicht zu ihm gehören,
ausdrücklich noch nennen muss. Aber das Wort, mit welchem
er der Töchter gedenkt, ist wahrhaft entsetzlich. ,,Filias meas,
quis casus habeat an pejor publico nescio.". Dieser Vater kann
es über sich gewinnen, nicht bloss kalt und stolz zu erklären,
er wisse nicht, was in einer erstürmten Stadt aus seinen
Töchtern geworden ist, sondern sogar auszusprechen, dass
ihnen vielleicht noch etwas Aergeres als Tod, als das allgemeine
Loos, könnte w^iderfahren sein. Lipsius erklärt richtig:
,, publicum ad vulgus aliosque refert, qui honeste perierunt,
istae cum dedecore aut post illud vivent". Ob Stilbon dieses
unmenschliche Wort wirklich gesagt, ist für uns hier gleich-
gültig. Seneca führt es an, um die vermeintliche Erhabenheit
dieses Stoikers zu veranschaulichen. Wenn das unbekannte
Schicksal verlassener Töchter in einer eben von einem grau-
samen und wollüstigen Tyrannen im Sturm eroberten Stadt
dem Vater gleichgültig ist, und wenn diese Gleichgültigkeit dem
Seneca als ein Zeichen hoher Weisheit gilt, dann ist diese Weis-
heit die Erstarrung des letzten Tropfens der Menschlichkeit*).
*) Uebrigens zeigt Plutarchs Anekdote von Stilbon II 467 f bis 468 a die-
selbe unmenschliche Gefühllosigkeit dieses Stoikers in einer noch krasseren Gestalt.
134
Wenn nun dennoch durch diese Weisheit alle Güter des
Lebens ihren Werth verlieren, und das Leben selbst für eine
Strafe erklärt wird, was soll dann den Menschen abhalten,
unter Umständen dieses Leben von sich zu werfen ? In
der That giebt es wohl keinen Schriftsteller, der so oft und
so beredt dem Selbstmord eine Lobrede gehalten wie Seneca.
Aber erst dann verstehen wir die Verwerflichkeit dieser
Empfehlung des Selbstmordes recht, wenn wir uns ander-
seits klar machen, dass Seneca zu gewissen Zeiten trotz
der angeführten pessimistischen Sätze den Werth des Lebens
sehr wohl zu schätzen weiss. Wie denn überhaupt, wir müssen
das wiederholen, der Irrthum und die Sünde Senecas nicht die
allgemein heidnische Verderbtheit ist, sondern eine Steigerung
derselben, ein Abfall von einem besseren Wissen und Gewissen.
So starr und so oft Seneca auch den Selbstmord empfiehlt
und lobt, so will er doch nicht jede Weise billigen, wenn
Einer seinem Leben eigenmächtig ein Ziel setzt. Seneca
entwirft eine meisterhafte Schilderung des ,,marcor" und
,,languor", dieser kolossalsten Blasirtheit auf der Höhe der
römischen W^eltanschauung. ,,Man hat alle Genüsse und alle
Abwechselungen durchgekostet bis zur Augenweide an den
Blutströmen des Amphitheaters, aber der unersättliche Durst
der matten Seele nach dem Labsal einer wirklichen Ver-
änderung lässt sich nicht stillen; bei jedem scheinbar Neuem
ruft dieser Römer: ,,quousque eademr" Wie lange dies ewige
Einerlei?" Diese Schilderung schliesst mit den Worten : ,,infirmi
sumus ad omne tolerandum, nee laboris patientes nee voluptatis
nee uUius rei diutius. hoc quosdam egit ad mortem" (De
tranq. II 15). Es ist klar, dass Seneca den Selbstmord solcher
Schwächlinge nicht als eine löbliche That sondern als eine
unwürdige Impotenz ansieht. Er zählt auch verschiedene
,,causae frivolae" auf, welche Menschen zum Selbstmord
bestimmen. ,,Alius ante amicae fores laqueo pependit, alius se
praecipitavit e tecto, ne dominum stomachantem diutius audiret"
(Ep. IV 4). ,,Vir fortis et sapiens non fugerc debet e vita sed
exire" (Ep. XXIV 25). Er hält es unter gegebenen Um-
ständen für Pflicht, der Sehnsucht nach dem Sterben zu
J35
wehren und das Leben fortzusetzen. Es giebt nach Seneca
Umstände, unter denen es moralisch verwerflich ist, seine
Zuflucht zum Tode zu nehmen. Wenn Einer nicht seiner
selbst wegen, sondern für die, denen er nützlich sein kann,
sein Leben erhält, von dem wird geurtheilt: ,,liberaliter facit,
quod vivit" (Ep. XCVIII 15 16). Li diesem Fall ist Seneca
selbst zweimal gewesen. Aus seiner Jugend erzählt er: ,,ad
summam maciem deductus saepe impetum cepi abrumpendae
vitae, patris me indulgentissimi senectus retinuit; cogitavi enim
non quam fortiter ego mori possem, sed quam ille fortiter
desiderare non posset, itaque imperavi mihi, ut viverem"
(Ep. LXXVIII 2). Und was er in seiner Jugend seinem Vater
zu Liebe gethan, das hat er im Alter für seine geliebte Gattin
Paulina gethan. Es ist der Mühe werth, ihn darüber zu ver-
nehmen. ,,Bono viro vivendum est non quamdiu juvat, sed
quamdiu oportet: ille qui non uxorem, non amicum tanti
putat, ut diutius in vita commoretur, qui perseverabit mori
delicatus est. Quid jucundius quam uxori tam carum esse, ut
propter hoc tibi carior fias?" (Ep. CIV 3 — 5). Hier sind nun
freilich ganz besonders naheliegende Rücksichten vorhanden,
welche dem Leben besonderen Werth und Inhalt verleihen,
aber bietet denn nicht auch der Denkart unseres Philosophen
eine jede Lage des Lebens Gelegenheit und Anlass, das Gute
zu üben ? Der stoische Grundsatz, dass das ganze Leben ein
fortgehender actus sein soll, ist ihm sehr geläufig und wichtig-
,, Sapiens semper in actu est" (Ep. LXXXV 37). ,,Est, crede
mihi, virtuti etiam in lectulo locus" (Ep. LXXVIII 21).
,,Praecepta nostra imperant in actu mori" (Ep. VIII i).
Seneca fasst diesen Grundsatz nicht etwa so, dass diese Thätig-
keit ausgeschlossen wäre, so oft ein äusseres Hinderniss die
Auswirkung seiner Absichten und Kräfte unmöglich macht, im
Gegentheil, er findet ganz wie die christliche Ethik in solchen
Hemmungen die besten Anlässe und Aufforderungen, die wahre
Kraft zu üben und die reinste Thätigkeit zu entwickeln.
„Sapienti non nocetur a paupertate, non a dolore, non ab aliis
tempestatibus vitae. non enim prohibentur opera eins omnia, sed
tantum ad alios pertinentia: ipse semper in actu est, in effectu,
136
tunc maximus, cum illi fortuna se opposuit" (Ep. LXXXV 37),
Nach dieser Anschauung heisst es ganz folgerichtig und wahr-
haft erhaben : ,,numquam usque eo interclusa sunt omnia, ut nullt
actioni honestae locus sit" (De tranq. IV 8). ,,Numquam potest
non esse virtuti locus" (Medea 161). Noch bedeutsamer ist
es, wenn dieser Grundsatz auf bestimmte Fälle der gehemmten
Thätigkeit ausdrücklich angewandt wird. So heisst es von der
Armuth : ,,propter paupertatem prohibetur docere, quemad-
modum tractanda respublica sit, at illud docet, quemadmodum
tractanda sit paupertas. per totam vitam opus eius extenditur.
ita nulla fortuna, nulla res actus sapientis excludit, id enim
ipsum agit, quo alia agere prohibetur" (Ep. LXXXV 38).
Ausdrücklich ferner wird dieser Grundsatz angewandt auf den
Zustand der Krankheit. Auf die Einwendung ,, nihil agere
sinit morbus, quod me omnibus abduxit officiis", heisst es:
„corpus tuum valetudo tenet non animum. si animus tibi esse
in usu solet, suadebis, docebis, audies, disces, quaeres, recorda-
beris. quid porro? nihil agere te credis, si temperans aeger sis r
ostendes morbum posse superari vel certe sustineri. est mihi
crede virtuti etiam in lectulo locus" (Ep. LXXVIII 20). Und
damit übereinstimmend heisst es de remediis fort. VI i r
,,Aegroto". ,,Venit tempus, quo experimentum mei caperem,
non in mari tantum aut in proelio vir fortis apparet : exhibetur
etiam in lectulo virtus."
Man muss gestehen, dass diese Lehre, welche jeden
Leidenszustand als eine sittliche Aufgabe fasst, jeder Ver-
suchung zum Selbstmord gewachsen ist. Der universale trefflich
geformte Grundsatz : ,, sapiens id ipsum agit, quo alia agere
prohibetur" umschliesst alle Fälle, selbst den allerbedenklichsten,
den Augustinus C D. I 21 — 28 behandelt. Aber eben dieser
Lichtseite steht eine finstere Nachtseite gegenüber. Einen um
so traurigeren Eindruck nämlich macht es nun, dass derselbe
Seneca dessungeachtet dem Selbstmord in so ausgedehnter
Weise das Wort redet, obwohl der Versuch zum Selbstmord
in dem damaligen Rom als ein Makel vor dem Censor galt
(Sueton Claudius XVI). Die Anpreisung des Selbstmordes
geht durch alle Schriften Senecas hindurch, durch die früheren
137
wie die späteren, durch die poetischen wie die prosaischen.
Charakteristisch bei diesen Anpreisungen ist es, dass dabei von
jener erhabenen Lehre über die sitthche Behandlung aller
Leidenszustände gänzlich abgesehen wird. Es muss also, so
oft es zu dieser Empfehlung des Selbstmordes kommt, zuvor
jene Erleuchtung verdunkelt und zurückgedrängt worden sein.
Um den vollen Eindruck dieser düsteren Schattenseite Senecas
zu empfangen, müssen wir die vornehmsten dahin gehörenden
Aussprüche zum Nachlesen anmerken (De ira III 15 3, ad
Marc. XX 3, de provid. VI 7, Ep. XVII 9, XII 10, LVIII 35,
LXIX 6, LXX 5 16, XCI 20, N. Q. VI 32 5, Oed. fragm.
151 — 153, Phaedra 878 — 886). ,,Cum velis mori, in tua manu
est" (Ep. CXVII 22).
Was ergiebt sich uns aus dieser entsetzlichen Leichtigkeit
und Kunstfertigkeit, den eigenmächtigen Tod zu preisen ? Wir
ersehen daraus, dass Seneca mitten in der Wirklichkeit des
menschlichen Lebens, welches immerdar voller Anstösse und
Hemmungen ist, von der herrlichen Höhe jener Grundsätze,
nach welchen jede Lebenshemmung eine Steigerung der sitt-
lichen Kraft indicirt und eben darin ihre göttliche Bestimmung
hat, jeden Augenblick wieder in die trostlose Wirklichkeit ver-
sinkt, in welcher er den äusseren Gütern allen Werth abspricht,
ohne die geistigen Güter zum Besitzthum iind als festen
sicheren Inhalt des Lebens erringen zu können. Wenn aber
dies, was bedeutet dann die gepriesene Freiheit, welche er
durch den Tod als durch einen Raub an sich reissen will?
Muss dasselbe Gesetz, dessen Wirkung wir schon einmal
erkannt haben, dass alle Zukunft durch die Gegenwart bedingt
ist, auch hier wiederkehren? Wenn die Gegenwart diesseits
des Todes allen Inhalt aufgezehrt hat, was kann dann die
Zukunft jenseits des Todes bringen? Wir haben in dem
voraufgehenden Abschnitt nachgewiesen, dass Seneca Augen-
blicke kennt, in welchen er den Tod als die Geburt eines
neuen Lebens feiert, es entging uns aber nicht, dass er darauf
besteht, dass diese himmlische Zukunft in dem irdischen
Dasein ihren Anfang haben müsse. Wie wird es nun aber mit
dieser Aussicht, wenn ihm, wie wir nunmehr sehen, für
138
gewöhnlich in den Bedrängnissen des Lebens die Gegenwart
aller Empfänglichkeit für die ewigen Güter baar und ledig
erscheint? Mit überraschender Wahrheit und Deutlichkeit sagt
Seneca Ep. XXII 17, ,,dass die Todesfurcht darin ihren Grund
habe, dass wir uns all der Güter entblösst finden, nach denen
wir uns am Ende des Lebens so schmerzlich sehnen", denn
es heisst: ,, Nichts ist vom Leben haften geblieben, verbraucht
ist es und verflossen". Nun ist aber doch diese Armuth an
allem wahren Erwerb des Lebens in all den Fällen gewiss am
grossesten, in welchen die Zuflucht zu eigenmächtigem Tode
in Aussicht gestellt wird. Dann aber tritt der ungeheure
Widerspruch zu Tage, dass derselbe Tod einmal als die
hoffnungsloseste Nichtigkeit, ein andermal als der höchste Trost
dargestellt wird. In der That verbirgt sich dieser Widerspruch
auch da nicht, wo Seneca von dem höchsten Vorbild des
Lebens und Sterbens spricht.
Cato Uticensis, ,,Cato ille virtutum viva imago" (De tranq.
XVI i) wird von Seneca wiederholt auch wegen eigenhändigen
Todes gepriesen. Der berühmte stolze Vers des Lucanus,
Neffen des Seneca:
,,Victrix causa diis placuit, sed victa Catoni" (Phars. I 128)
ist ein Nachhall der begeisterten Verehrung des Onkels. Cato
wird genöthigt, sich in das Schwert stürzend, was es mit ihm
selbst und mit der Republik auf sich habe, mit einem Schlag
off"enbar zu machen (Ep. XIII 14, LXV 7, LXXXII 12,
XCVIII 12). Cato hat sich für das Vaterland und für die
Freiheit den mächtigen Triumvirn, welche die Welt beherrschten,
und in denen Cato die Gefährdung der alten republikanischen
Freiheit erkannte, entgegengestellt. Cato unterlag und jene,
,,die Räuber der Freiheit und Verwüster des Staatswesens",
gewannen den Sieg. Als nun Cato, in einen entfernten Winkel
der römischen Welt zurückgedrängt, die letzte Hoffnung auf
Rettung der Freiheit in der Welt verschwinden sah, da gab
er sich den Tod durch einen zweimaligen Gewaltact (De prov.
II II 12, De tranq. XVI 4). Lucanus stellt den freiwilligen
Tod Catos dar als ein Opfer, das er darbringt, um mit seinem
Blut die Völker loszukaufen und die schlechten Sitten der
139
Römer zu sühnen (Phars. II 306 307 312 313). Aber das ist
eine poetische Zuthat, welche der Dichter aus den mythischen
Zeiten des Codrus und Curtius in die nüchterne Gegenwart
versetzt. Cicero, der wie Seneca in Cato einen vollendeten
Stoiker verehrt und diesen Charakter gleichfalls in dem frei-
willigen Tode Catos bewährt findet, sagt sehr einfach: „Cato
wollte lieber sterben als das Angesicht der Tyrannen sehen"
(De off. I 31). Und Seneca schreibt, den Cato redend ein-
führend: ,, nihil egisti, fortuna, omnibus conatibus meis obstando.
non pro mea adhuc, sed pro patriae libertate pugnavi" (Ep.
XXIV 7). ,,Per vulnus Catonis ultimum et fortissimum
libertas araisit animam" (Ep. XCV 72). Die Freiheit des
römischen Wesens ist hin für immer, sie stirbt mit Cato, denn
er allein repräsentirt sie. Auf der einen Seite steht die blinde
Volksmasse, auf der Gegenseite stehen die Träger der
beginnenden Tyrannei, in der Mitte zwischen Beiden stehen
Cato und die Republik, und diese Beiden sterben zugleich.
,,Die Wunde, welche Cato tödtet, nimmt zugleich der Freiheit
das Leben." Und weil die Freiheit hin ist ein für allemal, so
wird selbst Brutus von Seneca der Thorheit bezichtigt. Etwas
erstrebt zu haben, dessen Zeit vorüber ist, was, da die alten
Sitten abhanden gekommen, nicht wieder hergestellt werden
kann (B. II 20 2). Es waltet also die Verzweiflung, welche
in dem diesseitigen Leben alles wahrhaft Gute für verloren
hält. ,,Cato, cum aevum animo percurrit, dicet: omne humanum
genus, quodque est, quodque erit morte damnatum est" (Ep.
LXXI 15). Weil Cato die Sache der ganzen Menschheit für
verloren hält, diese Verzweiflung ist es, die ihn in den Tod
treibt. Er stirbt nicht für irgend Etwas, denn es giebt Nichts
mehr, was des Lebens oder des Sterbens werth gehalten werden
könnte, Cato stirbt durch seine eigene Hand, um sich selbst,
wie Seneca sagt, ,,in Sicherheit zu bringen".
Und was für eine Sicherheit ist das ? Es findet sich
grade so, wie wir es erwarten müssen. Die Verzweiflung an
dem Diesseits ist zugleich die Verzweiflung an dem Jenseits,
Mit der Erlöschung des göttlichen Lichtes in der irdischen
Dunkelheit ist auch das Licht für das himmlische Dasein
140
dahin. An den allermeisten Stellen, wo Seneca von dem Tode
und dessen Folgen redet, ist er in den Stricken des in dem
heidnischen Alterthum allgemein verbreiteten Zweifels und Un-
glaubens an die Fortdauer gefangen. Die zuweilen aus-
gesprochene Hoffnung auf jenseitiges Leben hält diesem
Zweifel gegenüber nicht Stand. Es fragt sich, sagt Seneca,
ob diese ,,fama sapientium" von der Unsterblichkeit wahr ist
(Ep. LXIII i6). „Mors aut finis est aut transitus !" (Ep. LXV24) ;
,,animus aut in meliorem emittitur vitam aut revertetur in
totum" (Ep. LXXI 16). ,,Juvabat de aeternitate animarum
quaerere imo mehercle credere", und diese angenehme Besehäfti-
gung vergleicht er in demselben Athem mit einem schönen
Traum, aus dem er aufgeweckt worden (Ep. CII i 2).
Auf wie schwankenden Füssen hier der Glaube an ewiges
Leben steht, erhellt am deutlichsten aus dem eben angeführten
Brief Dieser Brief erhebt sich in seinem Hauptinhalt zu der
höchsten Höhe dieses Glaubens: ,,dies iste, quem tamquam
extremum reformidas, aeterni natalis est" (26). Dessungeachtet
beginnt eben dieser Brief mit der Klage: ,,molestus est
jucundum somnium videnti, qui excitat. bellum somnium
perdidi" und schliesst mit der trostlosen Annahme: ,,animum
solutum statim spargi" (30). In der Regel steht es mit der
Behandlung dieser Materie so, dass die Wage des Zweifels
sich stark auf die negative Seite neigt und eben gegen das
Nichtsein nur noch irgend ein tapferer Spruch ausgespielt wird.
,,Non potest miser esse, qui nuUus est" (Ad Marc. XIX 5).
,,Mors est, non esse id quod ante fuit, sed quäle sit jam scio,
hoc erit post me, quod ante me fuit" (Ep. LIV 4). ,,Nulla enim
res eum laedit, qui nullus est" (Ep. XLIX 30). ,, Nonne tibi
videbitur stultissimus omnium, qui flevit, quod ante mille
annos non vixerat? Aeque stultus est, qui flet, quod post
mille annos non vivet'- (Ep. LXXVII 11, cfr. Ep XCII 35,
XCII 10). Es klingt gar herrlich, wenn die ,,vita beata" als
,,securitas" und ,,perpetua tranquillitas" beschrieben wird
(Ep. XCIII 3), und wenn diese Sicherheit und Ruhe im Gegen-
satz- zu allen Fährlichkeiten und Störungen dieses Lebens als
eine Gabe des Todes gepriesen wird. Aber wie wird man
141
«enttäuscht, wenn nun die ,,tranquillitas" nach dem Tode mit
derjenigen Tranquillitas identificirt wird, welche dem Leben
voraufgegangen ist (Ad Marc. XIX 5)! Wahrlich, das ist eine
Securitas, welche Demetrius das ,,mare mortuum" nennt
(Ep. LXVII 14), um Nichts besser, als das buddhistische
Nirwana, ein Nihilismus in der Gestalt einer scheintugendlichen
Resignation !
In den drei Schriften Consolatio ad Polybium, Ludus
de morte Claudii, De dementia ad Neronem haben wir einen
offenbaren thatsächlichen Abfall Senecas von seinem besseren
Selbst erkennen müssen. Wir haben es sodann als eine Selbst-
folge dieses thatsächlichen Abfalls constatiren müssen, dass
Seneca auch in seinem Denken und Lehren mit seinen
stoischen Idealen, die wir im zweiten Abschnitt kennen gelernt,
in handgreiflichen Widerspruch geräth. Um die volle Ver-
dunkelung der im zweiten Abschnitt geschilderten Lichtseiten
zu erkennen, müssen wir uns mit einem noch übrigen
Stück jenes thatsächlichen Abfalls bekannt machen. Jene drei
genannten Schriften, welche die thatsächliche Verleugnung des
Grundsatzes über die Pflicht der Wahrhaftigkeit offenkundig
machen, gehören der früheren Zeit Senecas an. Eine ähn-
liche thatsächliche Verleugnung ist constatirt aus der letzten
Zeit vor dem tragischen Ende Senecas. Es handelt sich um
das letzte Verhalten Senecas zu Agrippina, der Mutter Neros.
Die Schmachwürdigkeit dieses letzten Verhaltens können wir
dann erst richtig taxiren, wenn wir das ganze Verhältniss
Senecas zu diesem dämonischen Weibe übersehen.
Agrippina, die Enkelin des Augustus, war in erster Ehe
vermählt mit Domitius, und aus dieser Ehe stammt der Kaiser
Nero, über welchen, wie schon erwähnt, der Vater das Urtheil
gefällt haben soll: von ihm und Agrippina könne unmögHch
ein guter Mensch erzeugt worden sein (Cassius Die LXI 2 — 3).
Nach dem Tode des Domitius weiss Agrippina den Kaiser
Claudius in ihre Netze zu verstricken (Sueton Claudius XXVI,
cfr. Galba V), und nachdem sie ihn geheirathet, die Adoption
ihres Sohnes durchzusetzen. Sobald der Kaiser ihr diesen
Dienst geleistet, beseitigt sie diesen durch einen vergifteten
142
Pilz (Sueton Claud. XLIV), und da sie die bewaffnete Macht
auf ihrer Seite hat, Burrus, der Präfect, ist ihr Schützhng",
verschafft sie mit Hintansetzung ihres Stiefsohnes ihrem leib-
Hchen Sohn den Kaiserthron (Dio LXI i i). Unter so
verhängnissvollen Umständen soll Seneca auf einer Welthöhe,
wie sie keinem Gelehrten jemals einflussreicher zuertheilt
werden kann, die Probe seiner Grundsätze bestehen. Seit
sechs Jahren hat er, von Agrippina aus dem Exil berufen, den
kaiserlichen Prinzen unterwiesen, der nun mehr achtzehn-
jährige Kaiser steht auch in der That in einer so vertrauens-
vollen Abhängigkeit zu seinem Lehrer, dass er ihm
überlässt, das Programm seiner Regierung zu verfassen und
zu veröffentlichen (Dio LXI 3 i). Nun stand aber dem
durchgreifenden Einfluss Senecas auf den Kaiser Nichts so sehr
entgegen wie die Mutter. In der Tragödie Phaedra oder
Hippolytus schildert Seneca die Verderbtheit der Welt mit
denselben düsteren Farben, wie De ira II 9 i — 3, dann aber
fügt er mit Nachdruck hinzu, dass das Weib in diesen Greueln
die Führung hat:
,,Sed dux malorum femina, haec scelerum artifex 567
O scelere vincens omne femineum genus 695
Quid sinat inausum feminae praeceps furor?" 832
Eine Stimme im Senat liess sich unter Tiberius folgender-
massen vernehmen : ,,mulieres vinclis exsolutis domos, fora jam
et exercitus regunt" (Tacit. Ann. III 33). Einzelne Beispiele
dieser Ausartung römischer Weiblichkeit gab es übrigens schon
in den letzten Zeiten der Republik (Sallust Catilina XXV).
In dem Personal dieser weiblichen Frivolhaftigkeit und Raserei
spielt Agrippina eine hervorragende Rolle. Das Höchste ist
ihr nicht, wie der Messalina, Genuss und Glanz, sondern recht
eigentlich Macht und Herrschaft, und zwar will sie nicht im
Verborgenen herrschen sondern öffentlich, als die wirkliche
Kaiserin der Welt (L. v. Ranke Weltgeschichte III i 109),
Tacitus, der die Herrschsucht für die brennendste aller Leiden-
schaften erklärt (Ann. XV 53), schreibt von der Zeit nach der
Vermählung der Agrippina mit Claudius: ,, versa ex eo civitas
et cuncta feminae obediebant, non per lasciviam ut Messalina,
143
rebus Romanis illudenti". Tacitus verweilt bei dieser That-
sache, um die Unwürdigkeit eines solchen Zustandes noch
deutHcher zu machen ("Ann. XII 7 64). Auch Narciss, der in die
Geheimnisse des Hofes eingeweihte Freigelassene, bezeugt, dass
der Agrippina Ehre, Tugend, ihre Person, überhaupt Alles
weniger gelte als die Herrschaft (,,regnum" Ann. XII 65).
Ohne Zweifel war dieselbe Empörung des römischen Selbst-
bewusstseins über die leidenschaftliche Usurpation der Agrippina,
welche wir bei Tacitus finden, auch in Seneca lebendig. Dem
gegenüber lässt sich Agrippina so vernehmen: auf der einen
Seite steht des Germanicus Tochter, nämlich sie selber, auf
der anderen Seite der Schwächling Burrus und der Exulant
Seneca-, jener mit einer lahmen Hand und dieser mit einer
Schulmeisterzunge das Regiment über das Menschengeschlecht
in Anspruch nehmend (Tacit. Ann. XIII 14). Die Agrippina
musste jetzt einsehen, dass sie mit der Berufung Senecas einen
Fehler gemacht, sie wollte keinen Philosophen (Suet. Nero Ell)
sondern einen Schöngeist. Seneca ist nun derjenige, welcher
der dämonischen Herrschsucht der Agrippina den kräftigsten
Widerstand leistet. Bei Gelegenheit einer armenischen Gesandt-
schaft in Rom, in einer öffentlichen Staatsaction war Agrippina
entschlossen, den Vorsitz in Anspruch zu nehmen und den
kaiserlichen Thron zu besteigen. Nero hatte nicht die Kraft,
diesem Gebahren der Mutter entgegen zu treten. Niemand
ausser Seneca war dazu im Stande, und Seneca ist es, der
diesen Scandal: ,,feminam signis Romanis praesidere" (Tacit.
Ann. XII 37) abwandte, dafür aber nun den wüthenden Hass
der Agrippina zu tragen hatte. In dieser überaus schwierigen
Lage kommt Seneca zweimal zu Fall.
Agrippinas Hauptbestreben war darauf gerichtet, den
jungen Kaiser Nero, ihren Sohn, gänzlich in ihre Gewalt zu
bekommen. Nach Cluvius berichtet Tacitus: ,,aus brennender
Begierde, Herrscherin zu bleiben, habe sich Agrippina soweit
vergessen, dass sie Mittags, zu welcher Zeit Neros Blut vom
Trinken und Essen heiss geworden, sich öfters dem Trunkenen
aufgeputzt und zur Blutschande bereitwillig in den Weg
gestellt; und nachdem die nächste Umgebung bereits wollüstige
144
Küsse und Liebkosungen als Vorspiel der Wollust bemerkt,
habe Seneca diesem Greuel zu wehren gesucht'' (Ann. XLV 2).
Nero ist vermählt mit der tugendhaften Kaisertochter Octavia,
aber er findet keinen Gefallen an seiner Gemahlin. Dieser
Zustand setzt ihn einer zweifachen Gefahr aus. Einmal ist er,
wie erwähnt, der Verführung seiner schamlosen Mutter zur
Blutschande preisgegeben. Die zweite Gefahr wird von Tacitus
mit den Worten bezeichnet: ,,metuebatur, ne in stupra feminarum
illustrium prorumperet" (Ann. XIII 12). Von Cäsar und
Augustus an hatte die cäsarische Selbstüberhebung über Gesetz,
Sitte und Moral in steigender Zuchtlosigkeit und Wollust
gewüthet, und diese cäsarische Scandalgeschichte war für den
lebhaften Jüngling auf dem Thron eine übermächtige Ver-
suchung. Nun fand sich eine Ableitung für diese Doppelgefahr
in einer Liebschaft Neros für eine Freigelassene Namens Acte,
die sich durch Vermittelung von zwei jungen Freunden Senecas
angesponnen hatte (Ann. XIII 12). Als in Folge dieser Lieb-
schaft Nero sich von der Mutter losgemacht und sich Seneca
angeschlossen hatte, übernahm Serenus, ein intimer Freund Senecas
(,,carissimus mihi" Ep. LXIII 14) das Geschäft, jenes Verbältniss
mit der Freigelassenen fortzusetzen und zu einem dauernden zu
machen. Aufs Aeusserste gedrängt durch den Kampf auf Leben
und Tod mit der Kaiserin, greift Seneca zu einem Mittel, das
er selber nicht loben kann. Was die Alten ,, Venus concessa"
nannten (Horat. Serm. I 4 113 114, I 5 82 83, Ovid A. A. i i 33,
Ex Ponto III 3 68, Trist. II 249), scheint auch Seneca nicht
unerlaubt zu sein (De tranq. IX 2, X 5, B. VII 30 3). Aber
hier handelt es sich nicht um einfache Unzucht sondern um
eine Störung der Ehe. Die Ehe will Seneca geheiligt wissen;
^ und nicht umsonst spricht er, wie wir gesehen, seine Mutter
frei von dem ,,maximum saeculi malum". Seneca stellt als
Grundsatz auf: ,,improbum esse, qui ab uxore pudicitiam
exigit, ipse alienarum corruptor uxorum, scis ut Uli nihil cum
adultero, sie tibi nil esse debere cum pellice" (Ep. XCIV 26).
Tacitus schreibt von Nero: ,, uxore ab Octavia nobili quidem
et probitatis spectatae, fato quodam, an quia praevalent illicita,
abhorrebat" (Ann. XIII 12). Die Tragödie ,, Octavia", welche
\4b
den ächten Dramen nicht beigezählt werden kann, aber ganz
in dem Sinne Senecas gedichtet ist, zeigt, dass nach Senecas
Grundsätzen das Verhältniss Neros, des Gemahls von Octavia,
zur Acte unerlaubt ist. Nicht bloss wird hier die Poppaea,
als ,,pellex" verabscheut, sondern auch die famula der Acte
wird beschuldigt, zuerst das Ehebett der Octavia befleckt zu
haben (198 670). Zur Entschuldigung Senecas gereicht
es, dass er durch das kleinere Uebel, welches in jener zucht-
losen Zeit weit reichende Verzeihung fand, jenem zweifachen
grösseren Uebel vorbeugen wollte. Aber als eine Recht-
fertigung vor dem Gewissen Senecas kann dieses nicht gelten.
Es wird von ihm, wie schon früher bemerkt, mit grosser
Strenge eingeschärft, dass das Gute niemals gefördert wird
durch irgend Etwas, das nicht gut ist: ,,nunquam virtus vitio
adjuvanda est se contenta" (De ira I 9 i), ,, virtus nihil vitiis
eget" (De ira I 13 4). Allerdings erreicht Seneca, dass die
Acte den Nero eine Zeit lang fesselt, dergestalt, dass er sogar
einmal daran dachte, sie zu heirathen (Sueton XXVIII), und
sie ihrerseits bewies ihm noch nach seinem Tode Anhänglich-
keit (Sueton L). Aber der Teufel lässt sich nicht durch
Beelzebub austreiben. Die ehrwürdige Gestalt des Erziehers
war und blieb von nun an in den Augen Neros mit einem
Makel behaftet. Sodann weiss Niemand besser als Seneca,
dass jede Lust, einmal eingelassen, keinem andern Gesetz als
ihrem eigenen gehorcht. Seneca durfte sich nicht wundern,
dass die Lust, welche mit seiner Billigung die eheliche Ver-
bindlichkeit hintansetzte, nachher in die entsetzlichsten Greuel
ausartete. Was Cicero Tusc. Q. IV 18 41 in einem grossen
Bilde veranschaulicht, dass der Keim der Sünde mit unauf-
haltsamer Kraft sich entwickelt, das drückt Seneca aus in dem
kurzen Wort: ,,res est profecto stulta modus nequitiae"
(Agam. 151).
Aber noch weniger entschuldbar als diese thatsächliche
Abweichung von dem Wege der Tugend ist die That, mit
welcher Seneca auf der Höhe seiner Stellung gegen Ende
seiner Laufbahn dem Ruf seiner sittlichen Integrität einen
Stoss versetzte. Dios Beschuldigung, dass Seneca den Plan
10
HG
zum Muttermorde dem Nero an die Hand gegeben, dürfen
wir auf Grund des genauen Berichtes von Tacitus abweisen.
Nach Tacitus ist das teuflische Kunststück mit dem Schiff
von einem Freigelassenen angegeben (Ann. XIV 3). Burrus
und Seneca werden erst zu Rathe gezogen, als Agrippina
jenen Mordversuch überlebt hatte, und es sich nun darum
handelte, ob dieses immer höchst staatsgefährliche Weib restituirt
oder dem von Nero beschlossenen Verhängniss überlassen
werden sollte. Tacitus lässt die Möglichkeit offen, dass jene
Beiden von dem was voraufgegangen vielleicht eine Kunde
gehabt, aber deutet sehr bestimmt an, dass noch jetzt sowohl
der Eine wie der Andere zur weiteren Verfolgung des Mord-
plans mitzuwirken sich weigerte (Ann. XIV 7), und dass dieses
nicht im Widerspruch steht mit Ann. XIII 7, zeigt J. F. Gronow
zu Ann. XIV 7. Nachdem nun aber die That geschehen war,
hat Seneca allerdings, wie nicht bloss Tacitus (Ann. XIV 11)
sondern auch Quintilian (Inst. VIII 5 18) bezeugt, obgleich
Dio merkwürdigerweise darüber schweigt, die für den Senat
bestimmte Vertheidigung dieses Verbrechens verfasst. Dass
es Seneca nicht an annehmbaren Gründen für die Beseitigung
der Agrippina des Staatswohles wegen gefehlt haben wird,
werden wir annehmen. Aber die That des Muttermordes zu
vertheidigen oder, wie ihm von Nero aufgegeben war (Tacit.
Ann. XIV 11, Dio LXI 14 3), wider eigenes Besserwissen
öffentlich zu lügen, dass Agrippina einen Anschlag auf Nero
gemacht und nach Misslingen desselben selbst an sich Hand
gelegt habe — auf welch unheilvoller Bahn treffen wir hier
diesen strengen Sittenrichter ! Er, der vor einigen Jahren die
angeborene Milde Neros öffentlich gepriesen und der Welt ein
reines und glückliches Jahrhundert unter Nero geweissagt, giebt
sich nun dazu her, die mit Mutterblut befleckte Hand dieses
Kaisers vermittelst einer öffentlichen Lüge im römischen Senat
rein zu waschen! Es kann uns gleich sein, ob das gesinnungs-
lose Römervolk in dieser grundverderbten Zeit den Nero, wie
Sueton XXXIX und Dio LXI 18 1 — 3 erzählen, wegen dieser
That verfluchte oder nach Tacitus Ann. XIV 13 feierte,
wahrscheinlich that es nach Gelegenheit bald das Eine, bald
147
das Andere — , jedenfalls aber entfremdete sich Seneca durch
sein unsauberes Werk den tugendhaftesten Mann unter all
seinen Zeitgenossen für immer. Als im Senat in Folge der
officiellen Lüge Senecas Nero gefeiert und Agrippina verflucht
wurde, entfernte sich Thrasea Paetus aus dem Senat und gab
damit das Signal zu seiner Verfolgung (Tacit. Ann. XIV 12).
Finster geht Senecas leuchtender Stern unter, er unternimmt
es, in einer Lügenrede den mit Mutterblut befleckten Cäsar im
Senat des römischen Volkes zu rechtfertigen, und thatsächlich
verurtheilt dieses sein schmachvolles Verhalten der tugend-
hafteste Mann der Zeit.
Wir stehen hier bei demjenigen Punkt, wo der Name
unseres Stoikers in die grosse Weltgeschichte verflochten ist.
Nero ist der erste Weltherrscher, der Christenblut vergossen
hat und um deswillen der ersten Christenheit als Antichrist
oder dessen Vorläufer gilt. Bei diesem antichristlichen Namen
treffen wir denjenigen, der sich selbst, den Göttern, der Welt, dem
Kaiser die Wahrheit als die werthvoUste Gabe gelobt hat, diesen
treffen wir in einer Zeit, aufweiche die Augen der Welt für immer
gerichtet bleiben, als einen öffentlichen Lügenpropheten. Alles
was wir an diesem römischen Repräsentanten des antiken
Alterthums an lichten Gedanken, Anschauungen und Ahnungen
bewundern mussten, diese ganze Lichterscheinung, hier sehen"
wir sie in der Finsterniss einer widerchristlichen Weltströmung
versenkt.
Wir stossen in Seneca auf einen Gegensatz von Licht und
Finsterniss, der an sich nicht zu lösen ist. Augustinus, den
B. Niebuhr ,, einen der grossesten, mit dem richtigsten Blicke
begabten Geister" nennt, giebt uns einen Fingerzeig, der von
Seneca hinüberweist zunächst in die weltbeherrschende Ver-
derbniss des antiken Heidenthums, sodann aber weiter den
Blick öffnet für die welterrettende und welterneuernde Gottes-
kraft.
10^
IV.
Das Attentat zweier sacrilegischer Lügen
wider die antike Menschheit.
Der grelle Contrast zwischen den Licht- und den Nachtseiten
in Seneca findet seine Erklärung in der beispiellosen Welt-
verderbniss, in welche Seneca durch seine hohe Stellung
verstrickt ist. Diese Weltverderbniss hat ihre Pfahlwurzel in der
doppelten Lüge, welche den polytheistischen Cultus vergiftet.
Nach der heiligen Urkunde, welche Jeder, der auf sich selbst und
auf die Menschheit gewissenhaft achtet, alle Tage bestätigt findet,
ist es die in Göttlichkeit gekleidete Lüge, welche den Menschen
versucht und verführt, und nachdem dies im Anfang geschehen
ist, hat die scheinheilige Lüge eine Macht über diese Welt
gewonnen. Sollte diese Lügenmacht sich vollenden, dann ist die
Menschheit auf ewig gottlos und verloren. In dem cäsarischen
Römerreich ist die scheinheilige Lügenmacht auf diesem Wege
zum Abgrund. Das ist der furchtbare Ernst dieser Zeit, in
welcher in der vergehenden und verderbten alten Welt die
neue Gotteswelt entsteht. Dieser erschütternde Ernst ist es^
der einem grossen Historiker den Rath eingegeben hat, dass
man nur wie vor dem Angesichte Gottes die alte Geschichte
erforschen und verstehen könne. Und in der That, wer anders
als der den festen Blick nach oben gerichtet hat, wer anders
hat den Muth und die Kraft in die Abgründe der Weltver-
derbniss hinabzuschauen und der Menschheit ohne geheimen
Vorbehalt zu sagen, was in den unheimlichen Tiefen der
Völkerwelt sich regt r Es ist nicht ohne grossen Segen, in
das finstere Reich der schemheiligen Lüge hineinzuschauen.
149
Wir lernen auf diesem Wege in Seneca das kennen, was durch die
äusserste Verderbensmacht nicht hat vernichtet werden können,
und was uns dann die Kraft zeigt, die nicht bloss nicht kann
überwunden werden sondern sieghaft die Verderbensmacht
weit überwindet.
Nach Aristoteles (Polit. III 9 3) giebt es Völker, welche
von Natur zAir Knechtschaft geneigt sind, die Barbaren und
Asiaten ertragen im Gegensatz zu den Hellenen und Europäern
ohne Beschwerde die despotische Herrschaft. Die Satzung der
,, Perser und Meder" kann nicht widerrufen werden, weil der
orientalische Grosskönig gleich der gegenwärtigen Gottheit
verehret wird (Daniel VI 8 15, Esth. I 19, VIII 8). Der
Gegensatz dieses orientalischen Wesens zu dem europäischen
Hellenenthum gelangte zu einer weltgeschichtlichen Darstellung
und Entscheidung in dem grossen Kampf der Perser mit den
Hellenen, und der spartanische Exkönig Demaratus ist in dem
Gespräch mit dem Grosskönig Xerxes der richtige Dolmetscher
über die weltgeschichtliche Bedeutung der Perserkriege. Was
Xerxes zuerst in der Rede des Demaratus verlachte (Herod.
VII 105), das hat er schliesslich durch seine eigene Niederlage
als wahr bestätigen müssen. Demaratus sagte, die Hellenen
sind freie Menschen, nur in Einem sind sie nicht frei, sie
stehen unter dem Gesetz, und dieses Gesetz Mst ein viel mehr
gefürchteter Herr als der Grosskönig (Herod. VII 104). Diesen
moralischen Gegensatz übersetzt Xenophon ganz richtig in das
Religiöse. Xenophon erinnert seine hellenischen Commihtonen
an den grossen Perserkönig und sagt ihnen, sie wären die
Nackkommen derer, welche das unzählbare Feindesheer besiegt
zu Wasser und zu Lande, und als Trophäe besässen sie die
Freiheit, vermöge w^elcher sie keinen Menschen sondern ledig-
lich die Götter anbeten (Cyri expedit. III 2 13). Aber schon
Demaratus und noch mehr Xenophon sind nicht mehr ächte
Hellenen, sie sind Ueberläufer. Die Verführung zur Menschen-
vergötterung geht aus vom Orient, wo Despotismus und
Knechtssinn zu Hause sind, und reisst schliesslich die moralische
und religiöse Scheidewand zwischen Morgenland und Abend-
land nieder. Der gewaltige Mann, der vom Abend her mit
150
überlegener Kraft in die asiatische Welt hineinbricht, ist zu-
gleich der, welcher das geistige Bollwerk, welches hellenische
Freiheit gegen orientalische Erschlaffung und Niederträchtig-
keit schützt, niederwirft. ,,Ihr habt nicht mehr die Kraft, das
Böse zu hassen", sagte Demosthenes in den Tagen des
macedonischen Philipp und Alexander zu seinen atheniensi-
schen Mitbürgern. Und in seiner schlimmsten Gestalt trat das
Böse an Alle heran, als Alexander von den Griechen die
orientalische Menschenvergötterung für sich in Anspruch nahm
und damit jenen Vorzug, den Demaratus und Xenophon auf
Grund grosser Thatsachen den Hellenen zugesprochen, auszu-
löschen unternahm. Demosthenes schaut in den Schlechtig-
keiten und Falschheiten Philipps, welche durch Alexander fort-
gesetzt wurden, nicht ein particulares Uebel, sondern ein
allgemeines Missgeschick und schweres Leiden, welches auf der
Menschheit lastet. Demosthenes spricht am Schluss der Rede
,,Pro Corona" in dem strengen Bewusstsein einer religiösen
Krisis: ,, möchte doch, o ihr Götter, Keiner von euch das
bestätigen, was jene gottlosen Landesverräther wünschen,,
sondern mögt ihr wo möglich auch diesen Menschen eine
bessere Gesinnung einflössen; wenn sie aber unheilbar sind, so-
schlagt sie zu Land und Meer mit Verderben, uns Uebrigen
aber gewährt die schnellste Erlösung von der obschwebenden
Gefahr und beständiges Heil" (Schäfer ,, Demosthenes und seine
Zeit" III I 261). Das Gebet eines hohen Geistes, das an die
Psalmen erinnert! Alexander verlangte von den Griechen die
Anerkennung seiner Gottheit. Die Lacedämonier erwiderten ►
,,Wenn denn Alexander Gott sein will, so sei er Gott**^
(Schäfer S. 285). Athen aber nahm diese Sache ernster. Der
alte Lycurg, Mitkämpfer des Demosthenes für politische Frei-
heit, sagte: ,,was ist das für ein Gott, wenn man nicht beim
Eintritt sondern beim Austritt aus dem Heiligthum sich von
der Befleckung reinigen mussr" (a. a. O. S. 286) Als Alexander
sein Verlangen mit Drohungen unterstützte, rieth Demosthenes,.
ihm die Ehre an dem Himmel nicht streitig zu machen, jedoch
unter V^orbehalt der politischen Selbstständigkeit (S. 290). Die
neue Gottheit soll also keinen Einfluss liaben auf die Staats-
151
angelcgenheiten, eine Verwahrung der Staatssouveränität gegen
hierarchische Uebergriffe ! Der Widerstand des althellenischen
Bewusstseins ward aber endlich gebrochen durch das immer
noch einflussreiche Orakel der Pythia. Nach dem Kirchen-
historiker Sokrates hat die Pythia den Alexander als den Zeus
in Menschengestalt, als den Sohn des Zeus gefeiert. Sokrates
hat die den Alexander betreffenden Sprüche der Pythia
erhalten (Histor. Ecc. III 23). Jedoch bleibt das Widerstreben
gegen die falsch religiöse Neuerung noch eine Zeitlang in
Griechenland in Kraft und macht uns immer wieder aufmerksam
auf die allgemeine Bedeutsamkeit der sich hier vollziehenden
Wandelung. In der Leichenrede auf Demosthenes sagt
Hvperides: ,, Bilder, Altäre und Tempel für die Götter werden
nachlässig gepflegt, dagegen der Cultus der Menschen, nämlich
Alexanders und seines Freundes Hephästion, wird mit Sorgfalt
behandelt". Es zeigt sich sofort, dass die Einführung des
Menschencultus den Göttercultus beeinträchtigt. Von Antipater
sagt Suidas, er sei der einzige unter den Diadochen, der es für
gottlos gehalten, Alexander Gott zu nennen. Andererseits
machten dem Demodes, der wegen mancher Dinge beschuldigt
wurde, die Athenienser vor allem Anderen den V^orwurf, dass
er die Gottheit des Alexander beantragt und eingeführt, und
Aelian nennt diesen Antrag des Demodes eine masslose Gott-
losigkeit (Schäfer S. 29).
Somit wurde also der asiatische Despotencultus in Europa
eingeführt und zwar zunächst in Griechenland und zwar unter
dem deutlichen Zeichen eines bösen Gewissens. Wie Paulus die
Heiden wegen des Götzendienstes verantwortlich macht
(Rom. I 21), so verurtheilt das hellenische Gewissen die An-
fänge des Menschencultus. Aber es dauert nicht lange, da
schauen wir diesen Cultus in Griechenland mit seinen arg
verwüstenden P'olgen. Demetrius, mit dem Beinamen ,, Städte-
bezwinger", ein Mann von bezaubernder Schönheit und aus-
gezeichneter kriegerischer Tüchtigkeit, hatte Athen erobert.
Nachdem er sodann die Republik in Königthum verwandelt,
wurde das Bacchusfest Demetria genannt, und ein Gesetz feiert
Demetrius als 0(67/^0 und verordnet, dass sein Ausspruch gelten
152
soll wie ein Orakel, worüber Plutarch schreibt: ,,sie haben
den, der ohnehin nicht gesunden Sinnes war, verdorben, denn
er war wollüstiger als alle Könige jener Zeit" (Plutarch I 895 b).
Er nannte die Göttin Athene seine ältere Schwester und führte
in dem Pantheon ein so greuelvolles Leben, dass Plutarch
erklärt, er könne das Einzelne dieses wüsten Wesens nicht
einmal nennen (990 c). Die Athenienser verfielen in den
Wahn, dass Alles, was Demetrius befehle, vor den Göttern
heilig und vor den Menschen gerecht sei (899 f ). Den Hetären
des Demetrius wurden unter dem Namen der Aphrodite Tempel
errichtet (Athenäus VI 6j). Sie feierten den Demetrius, als
wäre er allein der wahre Gott, die anderen aber schliefen oder
wären abwesend oder existirten überall nicht. Sie richteten
Bitten an ihn und beteten ihn an und sangen ihm zu Ehren
das unzüchtige gotteslästerliche Lied, welches Athenäus erhalten
hat (VI 63). Dieses gotteslästerliche Lied sangen, wie selbst
Athenäus bemerkt, diejenigen, welche einst Sieger bei Marathon
waren und diejenigen mit dem Tode bestraften, welche vor
dem Perserkönig angebetet hatten (VI 64). Nachdem es so weit
mit den frommen hellenischen Freiheitshelden gekommen war,
werden wir uns nicht wundern, dass dreihundert Jahre später
die Athenienser den Antonius, der dem Demetrius an Schönheit
und Tapferkeit ähnlich war, auf sein Verlangen Dionysos
nannten (Lipsius ad Tacitum, ed. Gronow I 1148).
Trotz aller Abwehr von Seiten der altrömischen Denkart
und Sitte drangen dennoch die Neuerungen des Orients und
Hellas nach Rom, und was die Menschenvergötterung des
Herrschers anlangt, so ist dieselbe nirgends eine so welt-
geschichtliche Macht geworden wie in Rom. Die absolute
Gewalt in derjenigen urbs, welche, wie Rutilius sagt, den
orbis in sich aufgenommen, ist ein Zauber, wie er bisher noch
nicht dagewesen, vor welchem in der haltlos gewordenen Welt,
die an keine Ideale mehr glaubt. Alles und Jedes sich beugt.
Auf den Trümmern der römischen Republik und Freiheit
erhob sich ein Herrschergenie sonder Gleichen, Julius Cäsar,
der durch allseitige eminente Talente und eine die Gemüther
erobernde Liebenswürdigkeit in der erschlafften römischen Welt
153
einen übermenschlichen Eindruck machte. ,, Cäsar hatte die
Wahl, als Feldherr, Staatsmann, Gesetzgeber, Rechtsgelehrter,
Redner, Dichter, Geschichtsschreiber, Sprachforscher, Mathe-
matiker und Architekt zu glänzen" (Drumann: römische
Geschichte III).
Sulla sah in dem von der Mutter Aurelia sorgfältig
•erzogenen Knaben Cäsar mehr als einen Marius (Drumann
III 131). Nachdem Cäsar seine eminente Ueberlegenheit allseitig
bewiesen hatte, da vermochte das bezauberte Rom sich nicht
länger in den bisherigen Schranken der Verehrung zu halten.
Als Cäsar von den Bürgerkriegen heimkehrte, beschloss der
Senat, dass sein Triumphwagen im Capitol der Statue Jupiters
gegenüber stehen sollte, dass ihm eine Statue von Erz mit der
von ihm später getilgten Inschrift ,;dem Halbgott'', so dass
seine Füsse auf einer Weltkugel ruhten, errichtet werden sollte
(Drumann a. a. O. p. 610). 'Nach der schrecklichen Schlacht
bei Munda wurden Cäsar in Rom göttliche Ehren erwiesen.
Seine Statue von Elfenbein sollte bei den circensischen Spielen
mit den Götterstatuen in einem Prachtwagen aufgeführt werden.
Jetzt begann auch die Sitte, bei dem Heil und der Wohlfahrt
(x'j/r,) Cäsars zu schwören, eine Sitte, deren Weigerung für
die Christen tödtlich werden sollte (Eusebius h. c. 14 15).
Endlich (tsXoc) ging man so weit, sagt Dio, ihn Julius Jupiter
zu nennen und ihm mit Rücksicht auf seine Milde einen Tempel
zu weihen, und zum Beweis, wie ernstlich dies gemeint sei,
Antonius zum ,,flamen Dialis" zu machen (Dio XLIV 6,
Cicero Philippica I 43). Antonius nennt Cäsar in der Leichen-
rede ohne Umschweif nicht bloss 6 r^poyz, sondern auch
o {>£o; (Dio XLIX 49, cfr. Dio XLIV 51). Dio bemerkt
wiederholt, dass Cäsar an diesen göttlichen Ehren Freude
gehabt und Sueton schreibt: ,,ampliora etiam humano fastigio
decerni sibi passus est (Cäsar c. LXXVI). Die Wahrnehmung
von Cäsars Wohlgefallen trieb seine Schmeichler immer weiter
(Dio XLIV 6 7). Nach einem Senatsbeschluss im Jahre 45 wurde
Cäsars Bild auf die Münzen gesetzt, eine Ehre, die bisher
keinem Lebenden zu Theil geworden (Drumann a. a. O. p. 663).
Cäsar erkannte es auf diesem Wege der steigenden Selbst-
154
Vergötterung als eine Nothwendigkeit, dass ihm auch das
ganze Sacralwesen überantwortet werden müsse. Drumann
beweist aus Cäsars Münzen, dass er auf die priesterhche
Würde einen grossen Werth legte. Cäsar war seit 74 v. C.
Pontifex, seit 63 Pontifex mäximus, und später wurde ihm das
Priesterthum des Oberpontifex als erbliches übergeben, und
auch- das Censoramt unter dem neuen Titel ,,Praefectus moribus"
ward ihm lebenslänglich zugesprochen (Drumann III 662). Es
war ganz folgerichtig, dass in dem, welcher als Gott bezeichnet
und verehrt wurde, die höchste weltliche und geistliche Gewalt
vereinigt geschaut wurde.
Cäsar hat durch seine allseitige eminente Ueberlegenheit
an diesem Ort und in dieser Zeit seinen Namen zu einem
Titel und Typus gemacht, der von nun an der Weltgeschichte
auf Jahrtausende eingeprägt ist. Das -bedeutsamste Zeichen
dieses Namens und dieses Titels ist aber der aus dem Morgen-
land in das Abendland übertragene Cäsarcultus.
Die angeführten Thatsachen beweisen, dass die Menschen-
vergötterung des absoluten Herrschers in Rom von Cäsar ihren
Anfang nimmt. Diese Neuerung erweist sich als der ver-
hängnissvolle Anfang einer grossen weltgeschichtlichen Un-
wahrheit. Manches hier in Betracht kommende Material ist
längst aus den Classikern und den Patres gesammelt von
Julius Cäsar Bulenger, Professor in Pisa, in Libri XII de
imperatore et imperio Romano, 1618; aber die welt-
geschichtliche Bedeutung dieses römischen Cäsarcultus ist auch
gegenwärtig noch nicht genügend gewürdigt. Es ist zu
bedauern, dass Drumann, der sich durch seine biographischen
Forschungen um die Geschichte dieser Zeit ein bleibendes
Verdienst erworben, die unheilvolle Bedeutung jener Neuerung
nicht erkannt hat. Drumann schreibt: ,, längst dienten die
Götter den Optimaten nur noch zu Hebeln der Staatsmaschinc,
Avarum sie nicht auch an dem neuen Hofe einführen, um ihn
mit Glanz zu umgeben, sinnlose Namen und Gebräuche bei
seiner Ausstattung verschwenden?" (III 666). Aehnlich äussern
sich auch Andere, welche die Bedeutung des Cäsarcultus
herabzustimmen versuchen. Ich bedaure, dass auch Bestmann
155
den Cäsarciiltus nicht ernstlich genug genommen hat. Das
rehgiöse Gebiet ist ein sehr empfindHches, Veränderungen von
Namen und Gebräuchen wollen hier allemal als etwas hoch
Bedeutsames mit grossem Ernst erkannt und gewürdigt werden.
Da, wo das göttliche Licht der Welt leuchtet, gilt der
Name Gottes als der Inbegriff der der Menschheit zugewandten
und geoffenbarten Gottheit und wird dadurch von Allem, was
weltlich, was ungöttlich, was widergöttlich ist,' streng geschieden.
Es ist das dritte Wort vom Sinai, welches verbietet, den
Namen Gottes hinzutragen und in Verbindung zu bringen mit
irgend Etwas, was nichtig und eitel ist. Nichtig aber, eitel
und Lüge ist nach alttestamentlicher Offenbarung Alles, was
nicht Gott ist oder was nicht von Gott geheiligt und getragen
wird. Im neuen Testament steigert sich noch die Heilig-
haltung des göttlichen Namens. — Die erste Bitte des Herrn-
gebetes fleht um die Heiligung des göttlichen Vaternamens;
es ist das erste und vornehmste Anliegen der gesammten
Christenheit, dass das höchste Kleinod, welches der Menschheit
anvertraut ist, der heilige Name, geschützt und bewahrt bleibe
vor aller Befleckung aus dem Reiche der Lüge und der Un-
gerechtigkeit dieser Welt. — Allerdings, diese scharfe Scheidung
zwischen Gott und Nichtgott, welche die Offenbarung auf-
richtet, finden wir im Heidenthum nicht, aber^ die allgemeine
Sitte des Eides bei dem göttlichen Namen beweist doch, dass
der Name Gottes als das Höchste verehrt wurde, das man
nicht mit der Lüge in Verbindung zu bringen wagen dürfe.
Aus diesem, auch im Heidenthum vorhandenen Bewusstsein
von der ausschliesslichen Hoheit des göttlichen Namens erklärt
sich die Scheu, den göttlichen Namen auf einen noch so
gewaltigen Menschen zu übertragen, welche Scheu wir bei den
Hellenen gefunden haben. Und den Spuren dieser Scheu
werden wir auch bei dem weiteren Verfolgen des Cäsarcultus
noch öfter begegnen; haben wir doch schon bemerkt, dass
Cäsar selbst die seiner Statue eingegrabene Inschrift ,,Dem
Halbgott" wieder tilgen liess. Die Anfänge des Cäsarcultus
sind zur Zeit Cäsars nicht ohne Regung des bösen Gewissens
in der römischen Welt eingeführt (Cicero Philipp. II 43, cfr.
156
Dio XLIV 6). Aber die ganze Tragweite dieses abgöttischen
Cultus kommt eist dann zum Vorschein, wenn der Kampf
zwischen dem Namen Cäsars und der Gottheit Christi durch
das bhitige Martyrium der Christen auf dem offenen Weltplan
-entschieden wird, und kein Christ sollte jemals vergessen, um
welchen theuren Preis die Menschheit aus der Sclaverei dieser
abgöttischen Cäsaranbetung erlöset worden ist.
Der Cultus des Julius Cäsar, der Anfang des Cäsarcultus
in Rom, erhielt seine officielle Einführung unter Augustus.
Denn keineswegs wurde diese Neuerung ohne thätlichen Wider-
stand durchgesetzt. Die Consuln zerstörten den Altar, der
bei der Leichenfeier Cäsars ihm zu Ehren errichtet war und
bedrohten mit dem Tode Alle, welche diese That verurtheilen
würden (Dio XLIV 5), und Cicero belobt den Dolabella, dass
€r sich der durch Augustus eingeleiteten Apotheose widersetzt
habe (Ad famil. IX 14). Aber als die Verschworenen geschlagen
und vernichtet waren, erschien die Apotheose Cäsars als eine
gerechte Sühne. Die Triumvirn decretirten, dass wer den
Geburtstag Cäsars nicht feiere mit Lorberkränzen und Festfreude,
dem Jupiter und dem Cäsar zu Ehren, verflucht sein solle
(Dio XLVII 18). Wenn nun Suetonius am Ende der ,,Vita
Caesaris" schreibt: ,,in deorum numerum relatus est, non ore
modo decernentium, sed et persuasione vulgi" so ist damit an-
gedeutet, dass dem anfänglichen Widerstand eine allgemeine
Volksüberzeugung von der Vergötterung Cäsars gefolgt sei.
Während der Spiele, welche Augustus zu Ehren Cäsars ver-
anstaltete, erschien sieben Tage lang ein Komet, und es wurde
geglaubt, dass dieser Stern die Erscheinung des in den Himmel
aufgenommenen Cäsar sei, und wurde deshalb an der Stirn seines
Bildes ein Stern angebracht (Sueton Julius C. LXXXVIII). Der
Volkstribun Pacuvius setzte es gegen das Widerstreben des
Augustus durch, dass das ganze \^erhältniss der Unterthanen
zu dem Cäsar als eine religiöse Selbsthingabe aufgefasst und
bezeichnet wurde, und Dio, ein Mann von senatorischem und
consularischem Range, fügt hinzu, dass nach zweihundert Jahren
der Sprachgebrauch diese Anschauung als eine allgemein
geltende aufgewiesen habe (Dio LITT 20, vgl. Vegetius De re
107
militari II 5). Das Zeugniss Dios beweist, dass die politische
Gesinnung, welche mit dem Cäsarcultus innerlich verwandt ist,
zweihundert Jahre nach dem Ende der Republik der römischen
Welt in Saft und Blut übergegangen ist, woraus mit Noth-
wendigkeit hervorgeht, dass der Cäsarcultus nicht ein zufälliges
und beiläufiges Phänomen in dem römischen Kaiserreich gewesen,
sondern eine die gesammte Anschauung, Sitte und Sprache beherr-
schende Macht. DassAugustus dem Pacuvius Widerstand geleistet,
ist wiederum ein Beweis, dass die grosse Neuerung sich mit Mühe
durchzuarbeiten hat, dass aber dieser Widerstand, der bei
Augustus anfänglich nur äusserlich und aus kluger Berück-
sichtigung der noch nicht völlig überwundenen republikanischen
Volksmeinung hervorgegangen, wirkungslos bleibt, beweist, dass
nachdem einmal die Scheu überwunden ist, den hohen Gottes-
namen in die Welt des Cäsarenthums zu versenken, diese Pro-
fanation sich auch ausleben und auswirken muss und wird. Wir
können aber nicht umhin, schon hier zu bemerken, dass sich in
Rom eine Macht und ein Cultus erhebt, welcher, vollendet, die
Völkerwelt von dem wahren Gott für immer loszureissen geartet
ist. Nur dadurch ist dieses Verhängniss abzuwehren, dass was
in Cäsar falscher Schein ist in Christo That und Wahrheit wird.
Die Bahn des verhängnissvollen Cultus war durch Julius
Cäsar gebrochen, die Regierung des zweiten Cäsar geht auf
dieser Bahn vorwärts. Was dem Augustus an Geistesgrösse
im Vergleich mit Cäsar abgeht, das ersetzt er durch die
Eminenz seiner kalten Klugheit, mit der er als Jüngling schon,
die Klügsten überlistet und sein ganzes Regiment als ein
Schaustück auf offener Weltbühne vollendete, wie er selbst auf
dem Sterbebett bekannt hat. Cäsar suchte das ganze Sacral-
wesen in seine Gewalt zu bekommen, um nicht bloss den
Körper sondern auch die geistigen Funktionen des V^olkes zu
beherrschen. Augustus ist auch hier sein Nachfolger. Er
besetzt die ,,cura legum et morum" (Peter Römische Ge-
schichte III 37), er führt das Oberpriesteramt (Dio LIII 17),
er hat das ganze Orakelwesen in seiner Hand, auf seinen Befehl
werden Weissagebücher verbrannt, über die sibyllinischen
Bücher führt er die Aufsicht (Sueton XXXI, Dio LIV 17,
158
Marquardt: Römische Staatsverfassung 3. Band Sacralwesen
S. 341). Diese Beschlagnahme des gesammten ReHgionswesens,
dieses cäsarische Summepiscopat macht den Eindruck, als sei
das ganze Geistesleben eine Domäne des Cäsarhofes, Zu Grunde
liegt die Anschauung, dass, so wie die äussere Welt unter der
Herrschaft Cäsars in stille Ruhe eingehüllt ist, so auch das
Geistesleben zu dem Ziel eines festen Stillstandes gekommen
ist. Die Folge dieser officiellen Anschauung ist diese, dass
jede Geistesbevvegung namentlich auf dem Gebiete, auf welchem
die Geister am entzündbarsten sind, nämlich auf dem religiösen
Gebiet von vornherein in hohem Grade für den Staat als
verdächtig angesehen wird. Der officielle Ausdruck für diese
Anschauung hat in dem ,, Corpus juris" eine Stelle gefunden:
,,Si quis aliquid fecerit, quo leves Romanorum animi superstitione
numinis terrentur, D. Marcus ejusmodi homines in insulam
relegari jussit" (De poen. 30, lib. 48, tit. 19J. Der Urheber dieses
höchst charakteristischen Gesetzes, wie ausdrücklich gesagt wird,
ist Divus Marcus, also Marcus Aurelius Philosophus, also der
berühmte stoische Philosoph auf dem Kaiserthron. Wie der
Cäsarcultus das Oberpriesteramt zu einer infallibelen Hierarchie,
so macht diese Menschenvergötterung die Philosophie zu einer
Dictatur im Reich der Gedanken. Marc Aurel hat sich vor-
genommen, sich nicht verkaisern zu lassen, aber der Cäsarcultus
ist stärker als sein Wille. Als Philosoph weiss er, dass nicht
die Leidenschaft sondern die Vernunft gelten soll. Aber der
vergötterte Cäsar fragt nicht, ob die leicht beweglichen Seelen
der Römer von Vernunft und Gewissen oder von fantastischen
Schrecken bewegt werden. Die Schrecken sind das Störende, nicht
die Motive, wer die Seelen in Unruh versetzt, mag er die besten
Gründe und Absichten haben, er bricht den Bürgerfrieden, er
hat sein Bürgerrecht verwirkt, er wird ins Exil verbannt. Der
Rath des Maecenas an Augustus, fremde Culte zu meiden und
auszurotten, wird hier modificirt. Es kommt darauf an, ob der
fremde Cultus die leicht beweglichen Römer beunruhigt, ist das
nicht der Fall, dann ist derselbe nicht strafbar, wie denn
Maecenas selbst ein Anhänger des neueingeführten Cybele-
cultus war (Anthologia latina ed. Burmann I 29). Das Gesetz
159
des Diviis Marcus gewinnt eine drohende Gestalt, wenn man
bedenkt, dass eine gründliche Erschütterung der römischen
Gemüther nicht bloss heilsam sondern sogar nothwendig war.
Diese gründliche Erschütterung gilt für ein Verbrechen, damit
ist ein radicaler Conflict in Aussicht gestellt. Wir werden
übrigens auf die Stellung des Philosophen auf dem Cäsarthron
zu der menschlichen Gewissensfrage später zurückkommen.
Das Vernunftwidrige und Seelengefährliche des Cäsarcultus
zeigt sich sofort in den Anfängen und in dem eben charakteri-
sirten Gesetz des Gefeiertsten aller Cäsaren. Die ganze Tiefe
dieses Verderbens enthüllt sich aber erst, wenn wir die ganze
Breite dieses Unheils durch die Zeiten des ungebrochenen
Cäsarcultus verfolgen.
In Folge des Cäsarcultus bildete sich ein eigenthümlicher
Sprachgebrauch in den höchsten Kreisen wie in den niedrigsten
Schichten des Volkslebens.
Allbekannt ist, wie die berühmten Dichter Vergil, Horaz
und Ovid demselben ergeben sind.
In seiner Verbannung hat Ovid die Bilder des Augustus,
Tiberius und der Livia erhalten. Er nennt diese Bilder ohne
Weiteres ,,deos" (Ex Pont. II 8 i — 4). An diese Götterbilder
wendet er sich: ,,Adnuite o timidis mitissima numina votis" (51),
und er schmeichelt sich mit der Hoffnung auf Erhörung seiner
Bitte, da sich das Angesicht der Bilder erheitere (73). Dieses
Spiel des unglücklichen Dichters beweist, dass der Cäsarcultus
unter Augustus dem allgemeinen Bewusstsein muss ganz
geläufig gewesen sein, sonst hätte Ovid diese krasse Apotheose
der Kaiserbilder nicht wagen dürfen. Und in der That finden
wir einen Beleg, dass das einfache Volksbewusstsein die
Menschenvergötterung des Kaisers bereits in sich aufgenommen
und sich in der Volkssprache in ursprünglicher Weise aus-
spricht. Als Augustus auf seiner letzten Reise Unteritalien
besuchte, wurde er durch eine merkwürdige Scene überrascht
und hoch erfreut. Steuerleute und Matrosen eines alexandrini-
schen Schiffes kamen ihm in einem feierlichen Aufzug in
weissen Kleidern, bekränzt und Weihrauch spendend entgegen
und begrüssten ihn folgendermassen : ,, Durch dich leben wir,
160
durch dich fahren wir, durch dich geniessen wir Freiheit und
Glück" (Sueton XC VIII). Es ist die überschwängliche, über das
menschhche Mass hinausgehende Sprache, welche wir nicht
anders als Anbetung nennen können. Was die Schiffer hier
aus ihrem eigenen Berufsleben aussprechen, das verkündigt
der Historiker Vellejus aus seinem geschichtlichen Bewusstsein,
,, Nihil optare a diis homines, nihil dii hominibus praestare
possunt, nihil voto concipi, nihil felicius consummari potest^
quod non Augustus post reditum in urbem rei publicae popu-
loque Romano terrarumque orbi repraesentaverit" (II 89). *)
Dieses Evangelium des Cäsarcultus, nachdem es einmal unter
Augustus verkündigt worden, hat sich fortgesetzt, wie wir hier
vorausgreifend bemerken wollen, bis zum Schluss der antiken
Aera, wie folgende Schriftstellen ergeben : Seneca ad Polybium
XXVI, PHnius Hist. XXV 2, Historia Augusta Lugd. Bat,
I 892, Panegyricus Pacati ad Theodosium c. VI.
Es muss aber wiederholt daran erinnert werden, dass
dieses heidnische Evangelium immer noch nicht das ganze
Volksbewusstsein gefangen nimmt, es giebt immer noch einen
Widerspruch des Volksgewissens, der trotz aller officiellen und
Conventionellen Lügen immer wieder auftaucht.
Weil Augustus keineswegs immer und überall mit seiner
übermenschlichen Anmassung der Zustimmung des Volkes
sicher ist, sondert er die Soldaten von der Bürgerschaft und
bewaffnet den Cäsarcultus mit dem Schwert der Soldatesca
(Sueton XLIV). Der Widerspruch gegen Cäsarcultus ist
immer noch vorhanden und lässt sich hören als eine nationale
Gewissensstimme. Die Klage, welche wir schon aus Athen
vernommen, dass der Menschencultus den Göttercultus schädigt,
wiederholt sich in Folge des Cäsarcultus auch in Rom.
Augustus wird angeklagt, dass für die Verehrung der Götter
Nichts übrig gelassen sei, nachdem Augustus Tempel und
Bilder, Priester und Erzpriester für sich in Anspruch genommen
*) Ich freue mich, dass Peter Denen entgegen getreten ist, welche den
Vellejus gegen den Vorwurf der Schmeichelei in Schutz nehmen wollen (Geschichte
Roms III I 342).
161
(Tacit. Ann. I lo). Sejanus rühmt sich, dass er seine Wünsche
zuerst dem Tiberius vortrug und dann erst den Göttern (Tacit.
Ann. IV 39). Da die durch das Herkommen verehrten Götter
durch die neuen menschhchen cäsarischen Gottheiten zurück-
gesetzt wurden, so verstärkte sich im Lauf der Zeit diese
Klage noch immer mehr, dieselbe nahm schon in den Tagen
des Augustus die bedenkliche Wendung: ,,die Götter verlassen
die Erde", und was das bedeutet, wird uns erst ganz verständlich,
wenn wir Leben und Wandel der neuen Götter kennen lernen.
Natürlich wurden die dissentirenden Stimmen überhört,
und es fehlte nicht an einem prätorischen Mann, der den Eid
leistete, dass er die Auffahrt des Augustus zum Himmel
gesehen. Das Ergebniss war, was Seneca so ausdrückt:
,,Augustum deum esse non tamquam jussi credimus" (De dem.
I 10 3), das heisst: die Gottheit des Augustus ist nicht, wie
es bei Späteren öfter geschehen, beschlossen und befohlen,
sondern sie ruht wie die des göttlichen Julius (Sueton LXXXVII)
auf der Ueberzeugung der grossen Majorität.
Tiberius hatte nicht bloss Witz sondern auch gesunden
Verstand, der ihn bestimmte, ein starkes Hervortreten des
immerhin noch neuen Cäsarcultus, soweit derselbe ihn persönlich
betraf, abzuweisen. Er wollte nicht mit dominus angeredet
werden und gestattete nicht, die Bezeichnung ^acrae für seine
occupationes (Sueton XXVII). Als es sich um die Einweihung
eines Tempels für ihn handelte, verhielt er sich abwehrend, in-
dem er im Senat öffentlich erklärte, dass er sterblich sei und
sein Amt als Mensch verwalte (Tacit. Ann. IV 37 38). Diese
Abweisungen bestätigen im letzten Grunde, dass der Cäsar-
cultus in der Zeit der beiden ersten Cäsaren bereits so feste
Wurzeln in Rom geschlagen hat, dass solche Aeusserungen,
wie die von Tiberius angeführten, denselben in keiner Weise
mehr erschüttern können. Ist doch auch das höchste
Gesetz Tibers das ihm von Augustus überlieferte Programm
(Suet. Octav. XCVIII, Tiber. XXI, Tacit. Ann. I 11, IV 37,
Agricola XIII, Strabo nach Lipsius ad Tacit. Ann. IV 37).
In dem Programm des Augustus hat aber ohne Frage der
Cäsarcultus eine hervorragende Stelle. Tiberius lässt es
11
162
geschehen, dass im Senat auf der Grundlage: ,,principes instar
deorum esse" Anklagen erhoben wurden (Tacit. Ann. III 37),
ferner, dass das ,, crimen majestatis", welches durch den Cäsar-
cultus merklich verschärft war, was ein Beispiel bei Seneca de
benef. III 26 beweist ,,omnium accusationum complementum
erat" (Tacit. Ann. III 38). Tiberius hat es ferner geduldet,
dass dem Sejan, seinem Grossvezier, den Tacitus als eine
Strafe des göttlichen Zornes für Rom bezeichnet (Tacit. Ann.
IV i), ein Bild neben dem des Kaisers errichtet wird, dass
bei beiden geopfert und gebetet, dass bei dem Glück des
Sejan, wie bei dem des Cäsar, geschworen wurde (Tiberius
von Stahr p. 2i2j. Vellejus, der Bewunderer des Tiberius, ist
zugleich ein begeisterter Lobredner des Sejanus, dieser durfte
bei Lebzeiten des Tiberius, als Sejanus noch auf schwindelnder
Höhe stand, wie bereits erwähnt, öffentlich schreiben: ,,es
können Menschen von den Göttern Nichts wünschen, die Götter
können Menschen Nichts leisten, es kann Nichts gewünscht, es
kann Nichts geschenkt werden, was nicht Augustus nach seiner
Rückkehr in die Stadt dem Staat, dem römischen Volk und
dem Weltkreis geleistet hat" (Vellejus II 89). So schreibt ein
Historiker in den Tagen des Tiberius, den der Zauber des
Cäsarcultus trunken gemacht. Aehnlich hat ein Mann der
Gelehrsamkeit C. \'algius unter Tiberius die Majestas des ver-
götterten Augustus gepriesen als die Macht, welche alles Uebel
der Menschheit heilen kann (Plin. h. n. XXV 2). Was die
Stellung des Tiberius zum Cäsarcultus anlangt, so kommen
noch die Aussagen des Vellejus in Betracht. Tiberius wird
es zum Ruhm angerechnet, dass er sich für die Erbauung
eines dem Vater, nämlich Augustus, geweihten Tempels bemüht
(Vellejus II 130). Tiberius hat den Vater, also Augustus,
geheiligt (sacravit), nicht durch Gesetz sondern durch Glauben
(religione), so hat er ihn nicht durch den Namen sondern
durch die That zum Gott gemacht („sed fecit deum"j (II 126).
Von der Kaiserin Mutter schreibt dieser Historiker, sie sei in
allen Stücken den Göttern ähnlicher gewesen als den Menschen
(II 136). Die bezeichnenden Worte in diesen Aussprüchen
sind alles Beweise von dem anerkannten und geltenden Kaiser-
1G3
cultus in der Zeit des Tiberius. Ein authentisches Zeugniss
ferner über den Cäsarcultus unter Tiberius finden wir in der
Schrift des römischen Valerius Maximus. In der Vorrede ruft
dieser Schriftsteller den Cäsar an, der dem „väterlichen Gestirn
im Himmel durch seine irdische Gegenwart gleich steht".
Valerius schreibt: ,,wie die alten Redner und Dichter in ihren
Vorreden den Jupiter um Beistand angerufen, so wende ich mich
an Cäsar um Hülfe'' (Vgl. Quintilian Instit. IV, Prooemium).
Hier ist also in den Tagen des Cäsars Tiberius der Cäsarcultus
in ipso actu unter den Augen des Kaisers in Uebung. Die
gelegentliche Abweisung von Klagen wegen Sacrilegien ist in
•dem Munde des Tiberius: deorum injuriae diis curae (Tacit.
Ann. I 73) ein akademischer Satz, der nicht das Gewicht von
Freisinnigkeit, welches Stahr ihm beigelegt, besitzt (p. 349).
Bei den drei ersten Cäsaren finden wir in dem Cäsarcultus
noch einige Spuren von Zurückhaltung, der Vierte dagegen, nach-
dem er in dem ersten Augenblick seines Sitzens auf dem
Thron Mass gehalten, stürzt sich sodann mit unmenschlicher
Begier in den Genuss der cäsarischen Ungebundenheit und
trinkt den dämonischen Kelch des Cäsarcultus bis auf die
Hefe. Er liess sich begrüssen als Jupiter Latialis (Suet. XXII),
es wurden ihm Tempel und Opfer als gegenwärtiger Gottheit
geweiht (Dio LIX 4), Gebete, Gelübde und Opfer wurden ihm
dargebracht (Dio LIX 26). Dio sagt von diesem Cäsar Cajus,
er wolle lieber alles Andere scheinen denn als Mensch (LIX 26),
und Sueton nennt ihn ein Monstrum (XXII). Wenn wir uns diese
beiden Worte von zwei Historikern merken, dann brauchen
wir nicht die unsagbaren Greuel, die er vollbringt und die er
mit sich vornehmen lässt, anzurühren. Nur wollen wir uns ein
verhängnissvolles Wort merken, das Cajus im Munde führt
und das seitdem eine Geschichte hat, eine Ausgeburt des
Cäsarcultus. Cajus sagt zur Antonia seiner Grossmutter:
„memento omnia mihi et in omnes licere" (Suet. XXIX).
Unter Claudius war bereits dieser Grundsatz : ,,Caesari
omnia licent" (Seneca ad Polyb. VII 2) geläufig, und wenn
Sueton schreibt, dass Nero in die Fussstapfen Caligulas getreten,
so denkt er vielleicht vorzugsweise an das Wort des, wie Seneca
11*
164
sagt, ,, aufgeblasenen" Kaisers: ,,der sei kein rechter Fürst, der
nicht wisse, wie viel ihm erlaubt sei" (Suet. Nero XXXVII).
Gleichfalls wird unter Xero der Spruch verkündigt: ,,non
tantum honesta dominanti licent, qua juvat reges eant"
(Thyest. 214 218). Die unverschämte Frechheit eines cäsari-
schen Weibes gab diesem entsetzlichen Grundsatz durch Wort
und That seine infernale Vollendung: ,, Julia noverca Antonini
Caracallae cum esset pulcherrima et quasi per negligentiam se
maxima corporis parte nudasset dixissetque Antoninus : vellem
si liceret, respondisse fertur: si libet licet, an nescis te impera-
torem esse et leges dare et usu accipere? Quo audito furor
inconditus ad effectum criminis roboratus est nuptiasque celebravit,.
quas si sciret se leges dare vere solus prohibere debuisset, matrem.
enim (non alio dicenda erat nomine) duxit uxorem, ad parri-
cidium junxit incestum, si quidem eam matrimonio sociavit,
cujus filium nuper occiderat" (Hist. August. I 730, Aurelius
Victor de Caesaribus XXI, vgl. Ovid. Fast. V 370).
Man hat bekanntlich versucht, die enormen Excesse an
dem Cäsarenhofe aus wiederholten Geistesstörungen zu erklären.
Diese Hypothese hat den Vortheil, dass die Beschämung, die
uns bei dem Anblick dieser Dinge überkommt, durch dieselbe
etwas gemildert wird. Aber da diese Hypothese sich nicht
beweisen lässt, so müssen wir uns darein ergeben, dass die
menschliche Natur in dem Stande der äussersten Versuchung,
die in dem Cäsarcultus enthalten ist, vor solchen aus dem
Abgrund stammenden Ungeheuerlichkeiten nicht geschützt ist.
Man muss sich Mühe geben, zwei Dinge zu verstehen; einmal
den Gipfel einer beispiellosen Macht des römichen Cäsar und
dann den zur freiwilligen Knechtschaft herabgesunkenen Nieder-
gang der römischen Welt. Der Cäsar ist der, vor dessen^
Zorn, wie Ovid klagt, die Welt vom Aufgang bis zum Nieder-
gang erzittert, vor dessen Arm es kein Entrinnen giebt, wie
Gibbon richtig bemerkt. Und die römische Welt unter den
Cäsaren? So beschreibt sie ein competenter Zeuge Petronius:
,,Heu heu nos miseros, quam totus homuncio nihil estl"
(Anthol. ed. Burmann I 579), ,,nos vino scortisque demersi"
(Satyr. LXXXVIII). Wenn man diese beiden Momente jedes
165
für sich und beide in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung ernst-
lich erwägt, dann kann man sich die Greuel des Cäsarcultus
mögHch denken, freihch nicht ohne tiefe Beschämung über den
Fall der Menschheit.
Wir wollen fortfahren, um den weiteren Verlauf des
Cäsarcultus in seinen Hauptmomenten zu verfolgen. Der durch
•die Schändlichkeiten des Caligula erregte Abscheu war nicht
stark genug, um die Menschenvergötterung der Cäsaren zu
•corrigiren. Wir haben bereits in dem dritten Abschnitt nach-
gewiesen, dass der Mann, welcher nach seiner ganzen Denkart
und nach seiner Weltstellung den Beruf hatte, diese Abgötterei
zu bekämpfen, dass eben dieser Mann unter dem traurigen
Regiment des Claudius sich selber in schimpflicher, ja nieder-
trächtiger Weise zu dem herrschenden Cäsarcultus bekannt hat.
Und was die Zeit des Nero anlangt, so ist uns derselbe Mann
schon als ein förmlicher Verführer des jungen Cäsar zur Selbst-
vergötterung bekannt geworden.
Damit man aber nicht meine, dass die Tugend der ersten'
beiden Flavier das Unheil gebessert, zu welcher Meinung Baur
neigt, wie wir später noch näher sehen werden, müssen wir bei
Domitian etwas verweilen. Wenn Tacitus sagt, dass Domitian
mit einem Streich dem Freistaat garaus gemacht ,,velut uno
ictu rempublicam exhausit" (Agric. XLIV), so kündigt sich dieser
Gewaltstreich durch Nichts so deutlich an, w'iq durch die
Ueberschrift der kaiserlichen Edicte, welche nach Sueton so
lauteten: ,, dominus et deus noster sie fieri jubet" (XIII).
Martial, ein Schmeichler des Domitian, hat diese Ueberschrift
{Ep. V 8 i)' nachgebildet: ,,edictum domini deique nostri".
Wie sehr hat der Cäsarcultus seine anfängliche theilweise Ver-
schämtheit abgelegt! ,,Augustus domini appellationem ut
maledictum et opprobrium semper abhorruit" (Octav. LIII),
,,Tiberius dominus appellatus a quodam denunciavit, ne se
amplius contumeliae causa nominaret" (Tiber. XXVII, Tacit.
Ann. II 87). Dem officiellen Anspruch Domitians an seine
Göttlichkeit entspricht die Haltung des römischen Volks. Der
Dichter Papinius Statius spendet dem Kaiser seinen Dank für
die Einladung an die kaiserliche Tafel. Das kaiserliche Gast-
166
mahl beschreibt nun Statius als ein Fest, das nicht mehr auf
der Erde gefeiert wird sondern unter den Sternen in Gemein-
schaft mit Göttern, und der Wein ist Nectar, und mit diesem Tage
bricht an die selige Zeit der Menschheit (Silvae IV 2 lo— 16).
Dies ist dem Martial noch nicht genug, derselbe entblödet sich
nicht Folgendes zu schreiben: ,,wenn ich eingeladen werde einer-
seits von Cäsar, andererseits von Jupiter, mögen die Sterne
nahebei sein und der Kaiserpalast weit entfernt, ich würde
antworten, sucht euch Einen, der lieber beim Donnerer zu
Gast sein will, ich bin hier auf Erden bei meinem Jupiter
versagt" (Ep. IX 92), denn ,, hehrer und heiliger ist Cäsars
Geburtstag als der Tag, da der Berg Ida den kretischen Jupiter
gebar" (IV i i 2). Die schamlose Schmeichelei der Cäsar-
vergötterung unter Domitian geht soweit, dass Martial zu
behaupten wagt, ,,die Thiere im Amphitheater haben eine
Empfindung von dem Numen des Domitian" (XXVII de
spectaculis). Mancher ist geneigt, in diesen Ueberschwenglich-
keiten Nichts als harmlose Ausbrüche einer damals gestatteten
licentia poetica zu sehen. Aber es darf nie ausser Acht
gelassen werden, dass in dem Gebiet des Heiligen und Gött-
lichen auch die licentia poetica zu allen Zeiten ihre Schranke
hat. Uebrigens liegt aus den Tagen Domitians eine Thatsache
vor, welche beweist, dass auch auf ernsthafte Gemüther der
Titel ,, dominus et Deus noster" einen tief corrumpirenden Ein-
fluss gehabt hat. Es ist der strenggesinnte, allgemein verehrte
Quintilian, der dem Cäsar Domitian den Tribut der Anbetung
darbringt. Domitian hat seine Grossneffen dem Quintilian
zur Unterweisung übergeben, und durch diesen Umstand fühlt
sich dieser Meister der Wohlredenheit für seinen Beruf um sa
höher verpflichtet. Nun erinnert er sich, dass die grossen
Dichter die Musen zum Beistand anrufen, dass er dagegen im
Anfang seines Werkes ,,Institutiones" diese fromme Sitte ver-
säumt habe und müsse nun im Anfang des vierten Buches das
Versäumte nachholen, und das thut Quintilian auf solche Weise,
dass er vor Allen die Gottheit anruft, welche am gegen-
wärtigsten ist, und welche mit göttlicher Gnade den Studien
zugewandt ist (,,quo neque praesentius aliud neque studiis magis
167
proprium numen est"). Und wer ist diese gegenwärtige gnaden-
reiche Gottheit, zu welcher Quintilian für das Gelingen seiner
Bücher betet? Der Cäsar Domitian! Dieser wird von dem
ernsten Meister angerufen: ,,ut quantum nobis exspectationis
adfecit, tantum ingenii adspiret, dexterque ac volens adsit et
me, qualem esse credidit faciat" (Instit. IV praefatio). Quin-
tilian that also unter Domitian ganz dasselbe, was der
Anekdotensammler Valerius Maximus gethan, der mit seinem
Weihegebet für sein Buch an die gegenwärtige Gottheit des
Tiberius sich wendet! Der, von dem Tacitus schreibt: ,,in-
fensus virtutibus princeps" (Ag. 41), ist derjenige, den Quin-
tilian um seinen göttlichen Beistand für sein Schriftwerk
anruft !
Wir werden es begreiflich finden, dass Trajan die krass-
anstössige Anmassung des Domitian zu massigen sucht. Plinius
lobt das desfällige Verhalten Trajans: ,,Sic fit, ut dii summum
inter homines fastigium servent, quum deorum ipse non appetas"
(Panegyr. LH). Aber mit diesem Verzicht Trajans war die
Gesinnung der Römer nicht umgewandelt. So wenig die Laster
der Cäsaren den Cäsarcultus ausrotten konnten, ebensowenig
ihre Tugenden, welche sogar zu einer neuen Stufe dieses
Cultus dienen mussten. ,,Pro nobis ipsis", sagt Plinius in seiner
Lobrede auf Trajan : ,,haec fuit summa votorum, ut nos sie dii
amarent quomodo tu, ut dii Caesarem imitentur (Paneg.LXXIV).
Also erst kommt Cäsar, dann erst die Götter, in der Liebe und
Fürsorge für die Menschheit 1 Ja, der gefeierte Trajan verdunkelt
und verdrängt den Jupiter ganz und gar, denn Trajan verwaltet
auf Erden das Geschäft Jupiters, somit hat dieser im Himmel
inzwischen Müsse (a. a. O. LXXX) ! ,,Es taucht die Ansicht
immer wieder auf, als ob in der Kaiserzeit, in welcher nach
unserer Meinung fast Alles, was Rom gross gemacht hat,
erloschen oder ausgeartet ist, die Blüthezeit des römischen
Staates zu erkennen sei" (Peter Geschichte Roms III 2 Vor-
rede). Gibbon, Hegewisch und jüngst Professor Hausrath
sehen innerhalb der römischen Kaiserzeit ,,die glücklichste Periode
der Menschheit". Der letztgenannte Gelehrte behauptet: „die
mit Geist am reichsten erfüllte Periode der menschlichen
168
Geschichte ist die römische Kaiserzeit. Man zeige uns doch
in der ganzen Weltgeschichte zwei Jahrhunderte, welche etwas
Aehnliches geleistet hätten wie die Kaiserzeit von Augustus
bis Septimius Severus" (Kleine Schriften S. 3). Einen stärkeren
Gegensatz zwischen dieser Geschichtsauffassung und derjenigen,
welche wir hier unter dem Titel Cäsarcultus vertreten, kann es
nicht geben. Wir denken daher auch nicht daran, diesen
Gegensatz hier principiell zu behandeln, wir wollen durch
Thatsachen beweisen, dass das, was wir als die Lüge des
Cäsarcultus darlegen, der Wurm ist, welcher, was noch an alter
Herrlichkeit des römischen Wesens vorhanden ist, von innenher
zerstört. Es wird sich zeigen, dass eben die drei Cäsaren,
welche sich vor Anderen durch Tugend und Weisheit aus-
zeichnen, eben diejenigen sind, an denen das Verderben der
sacrilegischen Lüge am handgreiflichsten offenbar wird, näm-
lich Trajan, Marc Aurel und Diocletian.
Das was Plinius an Trajan am meisten lobt, dass er auf
Erden als Cäsar das Amt Jupiters verwaltet und ihm im
Himmel Müsse schafft, das ist das, was die wahre Gottesidee
vernichtet, wovon die Folge ist, dass die angemasste Gottheit
ihre Gewalt braucht, um die Träger der wahren Gottesidee zu
vertilgen.
Die von Hadrian bewirkte, von Christen und Heiden viel
besprochene Apotheose des i\ntinous kann nur als ein Stück
des Cäsarcultus verstanden werden. Selbst die abscheuHche
Geschichte des Commodus muss einen Beitrag zum Cäsarcultus
liefern. Mitten unter seinen Greueln hat sich Commodus Gott
genannt und hat sich opfern lassen (Histor. August. I 496).
Was noch an sittlichem Gehalt in dem römischen Senat vor-
handen war, das bricht nach der Ermordung des Commodus
in einem unaufhaltsamen Strom von Flüchen über ihn hervor,
und unter diesen Flüchen wird er wiederholt als ,,hostis
deorum" bezeichnet (Hist. Aug. I 524 — 528). Trotz alledem
hat Kaiser Severus diesen Commodus unter die Götter versetzt
(a. a. O. 524 610). Und nach dem Tode des Severus wird
die Apotheose dieses Commodus feierlich vollzogen, wie
Herodian dieselbe ausführlich beschrieben hat (IV 2).
169
Heliogabal, ein entsetzlicher Mensch, wie er aus dem
Morgenlande stammt, so hat er die ganze abgrundmässige
Wüstheit des Orients nach Rom verpflanzt. Durch ihn wird
der syrische Sonnencultus in Rom Cäsarcultus. Er als Priester
der Sonne hat den Namen der Sonne selber sich angeeignet,
und identisch mit dieser seiner Gottheit will er in Rom keine
andere Gottheit anerkennen, und alle bisherigen Götter sind
Diener seiner Götter und damit seine Diener (Hist. Aug.
I 802 —808). Damit ist das theilweise anfängliche Widerstreben
gegen die Menschenvergötterung, welche wir in Hellas und
Rom gefunden haben, vollständig überwunden und ausgerottet,
Dieser radicale Umsturz aller göttlichen Heiligkeit offenbart
sich in unsagbaren Greueln. Lampridius erklärt wiederholt,
dass er mit äusserstem Widerstreben an die Erzählung dieser
Dinge herangetreten sei und versichert, dass er das Schlimmere
überall verschwiegen und was er berichtet möglichst ver-
schleiert habe. Wenn er dann am Schluss seiner Biographie
des Heliogabal sich wundert, dass das römische Volk diesen
entmenschten Wüstling in dem Nimbus des vergötterten Cäsars
ertragen habe, so ist die Erklärung diese, dass das Volk
durch die niemals gründlich beleuchtete und bekämpfte
Gewohnheit des Cäsarcultus für die Unterscheidung von Wahr-
heit und Lüge, von Gut und Böse vollständig schlaff und
stumpf geworden war.
Die nächstfolgende Regierung des Alexander Severus
bietet zwar keine besonderen Thatsachen des Cäsarcultus, aber
da ebensowenig ein Widerstand dagegen constatirt, so bleibt
natürlich das Verderben in seinem Bestände, Die Bilder der
neuernannten Cäsaren Maximus, Balbinus und Gordianus junior
werden zur Anbetung aufgestellt, und sie selbst werden in
einem Senatsbeschluss sanctissimi genannt (Hist. Aug. II 56
loi 142); die beiden älteren Gordiani werden apotheosirt
(ibid. p. 58), der dritte Gordianus wird von Philippus Arabs
erst gestürzt und demnächst apotheosirt (Hist. Aug. II 128 135).
Die Cäsaren Pupienus (oder Maximus) und Balbinus werden
von dem Consul ,,domini sanctissimi" genannt (ibid. p. 162).
Valerianus redet den Decius an : ,,sanctissime Imperator" (ibid. 177).
170
Selbst dem Piso, einem der sogenannten dreissig Tyrannen,
werden durch Senatsbeschluss göttliche Ehren zuerkannt (ibid.
II 316), Claudius wird als divus verehrt (ibid. p. 325), ebenso
Aurelianus (p. 515 525 527). Der Kaiser Tacitus decretirt die
Erbauung eines Tempels für die apotheosirten Cäsaren, denen
an ihren Geburtstagen und sonstigen Festen Spenden zu
bringen sind (p. 609). Die Anbetung des neuen Cäsar erscheint
als selbstverständliche Sitte (p. 701). (Ueber den Cäsarcultus
mit officiellem Charakter (adoratio von Augustus an) siehe
Römisches Sacralwesen von Marquardt p. 446 448 — 455,
,,Diocletianus adorari se jussit" Eutropius IX 26.)
Es ist merkwürdig, dass man auf diese häufigen, durch
drei Jahrhunderte immer wiederkehrenden Thatsachen des
Cäsarcultus so wenig Acht gegeben hat.*) Man ist offenbar
der Meinung, dass die auf den Cäsarcultus bezüglichen Namen
und Ceremonien nichtssagende Förmlichkeiten seien, die im
Lauf der Zeit alle Bedeutung verloren haben. Dem gegenüber
muss immer wieder hervorgehoben werden, dass, wo es sich
um göttliche Namen und um religiöse Sitten und Gebräuche
handelt, vor dem Richterstuhl des Gewissens zu allen Zeiten und
unter allen Umständen entweder Heiligung oder Entheiligung
vorhanden ist, auf keinen Fall aber eine indifferente Formalität
oder Nullität. Es darf nimmer vergessen werden, wie stark
das hellenische und auch das römische Gewissen gegen die
Anfänge dieses von Asien her eingeführten Menschencultus
protestirt hat. Wie in den Anfängen dieses Menschencultus
auf europäischem Boden die Thatsache dieses gewissenhaften
Protestes hoch bedeutsam ist, so ist der letzte Cäsar, der von
dem römischen Senat auf heidnische Weise apotheosirt worden
ist (ßurckhardt: Die Zeit Constantins des Grossen, 1853, p. 365),
ein gewichtiger Zeuge, dass diese Sache sehr ernstlich zu
nehmen ist.
Diocletian war einer der kräftigsten und selbstständigsten
Kaiser. Bisher hatte immer noch eine gewisse Wahrheit, wie
*) Die Conlinuität des Cäsarcultus ist mit vieler Sorgfalt constatirt in
dem Breviarium des Eutropius.
171
Tacitus schreibt: ,,manebat nihilo minus quaedam imago rei-
publicae" (Ann. XIII 28). Augustus hatte den absokitistischen
Cäsarismus in repubhkanische Formen gekleidet. Diesem
täuschenden Schein machte Diocletian ein Ende. Er residirte
meistens auf asiatischem Boden in Nikomedien, und ausserdem
umgab er seine Person und seinen Hof mit einem orientaHschen
Ceremoniell und Pomp. Aus dem Orient stammt der Cäsar-
cultus, Diocletian kleidet ihn in das Gewand seines Ursprungs.
,,Diocletianus imperio Romano primus regiae consuetudinis
formam magis quam Romanae libertatis invexit, adorari se
jussif* (Eutropius IX 26). Aurelius Victor, ein gleichzeitiger
nüchterner Historiker, der die Neuerung Diocletians am tiefsten
aufgefasst, schreibt, nachdem er jene äussere Umwandlung
berichtet hat: ,,prae ceteris se primus omnium Caligulam post
Domitianumque dominum palam dici passus et adorari se
appellarique uti deum" (De Caesaribus XXXIX). Die anfäng-
liche Scheu der Cäsaren vor dem Titel dominus ist hier von
dem Orientalen völlig überwunden. Victor begnügt sich nicht
mit den angeführten bedeutsamen Worten, er erklärt auch
nach einer Reflexion über die Unersättlichkeit derer, die aus
niedrigen Sphären, wie Diocletian. zu Ansehen emporsteigen,
dass diese gesteigerte Selbsterhöhung Diocletians von den
Unterthanen grade so aufgenommen sei, wie sie von dem
Kaiser gemeint gewesen. ,,Die Unterthanen haben zu Diocletian
aufgeschaut wie zu einem Vater, wie zu einer grossen
Gottheit." Und wie viel dies zu bedeuten gehabt (,,quod
quäle quantumque sit"), das ersehe man aus der Parallele
Diocletians nicht etwa nur mit Julius Cäsar oder Augustus,
sondern mit keinem Geringeren als dem Gründer von Rom,
der nach altrömischem Glauben unter die Götter versetzt ist
und mit Tempel und Flamen verehrt wird (Ovid. fast,
II 475 — 510)' Dieser Parallelisirung seiner selbst mit Romulus
entspricht die Benennung Jovius und Herculius für ihn selbst
und für seinen Mitkaiser Maximianus (Burckhardt: Constantin
p. 41 63 64). Das Cäsarenamt wird durch solche Parallelen
und Namen in die himmlische Sphäre versetzt. Ueberhaupt
behandelt Diocletian den Cäsarcultus mit religiösem Ernst.
172
Victor schreibt über die Regierung Diocletians : ,,veterrimae
religiones, castissime curatae" ,,je älter ein religiöses Moment,
desto gewissenhafter wird es gepflegt". —
Die ,,Historia x^ugusta'' macht durch ihre Einrichtung wie
durch ihren Inhalt die Aera des Diocletian noch deutlicher.
Folgende sechs Schriftsteller: Spartianus, Capitolinus, Lampridius,
PolliO; Vopiscus, Vulcatius sind die Verfasser der späteren
Kaisergeschichte, welche unter dem Namen Historia Augusta
bekannt ist. Meistens haben diese Historien eine Adresse,
sie sind theils überwiegend ,,ad Diocletianum", theils ,,ad
Constantinum" adressirt. Diocletianus war Liebhaber und
Verehrer des Alterthums. Capitolinus redet ihn an: ,,te
cupidum veterum imperatorum perspeximus" (Hist. Aug. I 770).
Die beiden Adressaten der Historia Augusta stehen sich
gegenüber, der Eine schliesst die alte Aera, der Andere leitet
die neue Aera ein, und Beide haben die Neigung, Jeder seine
Weltanschauung historisch zu begründen, und die genannten
Schriftsteller suchen diesen cäsarischen Wunsch durch ihre
biographischen Notizen zu befriedigen. Durch die Adressen
ist ein Gegensatz angedeutet, derselbe wird aber auch wieder aus-
geglichen. Capitolinus dedicirt seine Maximinos an Constantinus
(Hist. Aug. II 3 74) ; derselbe redet aber auch den Diocletian an:
,,sacratissime Imperator Diocletiane" (I 363), Zwischen Heiden-
thum und Christenthum ist auf diesem literarischen Gebiet
Neutralität. Der christliche Name ist aus diesen Büchern, in
deren Zeitraum der grosse Kampf zwischen Christus und Cäsar
geführt wird, bis auf zwei Stellen (Hist. Aug. I. 720 912)
verbannt, und wenn einmal in heidnischen Geschichtsbüchern
dieser Zeit der heilige Name genannt wird, so wird sofort
bemerkt, dass die Verfolgung des Christenthums nicht blutig
gewesen sei (Eutrop. X 16).
Eben deshalb, weil der Cäsarcultus nicht, wie man meistens
denkt, eine leere Redensart oder Ceremonie gewesen sondern
eine feindliche Macht, die durch ihre Lüge an dem moralischen
Capital der antiken Menschheit wie ein „nicht sterbender
Wurm" fortwährend bohrte, ist es wichtig, zu zeigen, dass in
dem letzten Cäsar, dem die Apotheose förmlich zuerkannt
173
worden ist, der Cäsarcultus sich ausgewirkt hat, ehe er auf
dem öffentHchen Plan seine Todeswunde empfangen. Der beste
Zeuge für diese Thatsache ist derjenige, der überhaupt unter
den sechs Schriftstellern der Historia Augusta den meisten
Glauben verdient, wie Casaubonus mit Recht urtheilt, und der
dem Diocletian am nächsten steht, Flavius Vopiscus. Der
Grossvater dieses Vopiscus war in der Begleitung des Diocletian,
als dieser in seinem gerechten Zorn den Aper erstach und das
Heer ihn dafür einmüthig ,,divino consensu" z.um Kaiser aus-
rief (Hist. A. II 792). Mit Recht kann sich nun Vopiscus
mehrfach auf die Mittheilungen seines Grossvaters berufen
(p. 770 793). Zum Schreiben wurde er aufgefordert von
Tiberianus, dem Präfekten von Rom, und wurde ihm die
Ulpia-Bibliothek zur Benutzung angewiesen (II 416 417).
Vopiscus ist ein Mann von politischem Urtheil, er spricht von
der Anarchie in den letzten Zeiten der römischen Republik
und fährt dann fort : ,,bellis civilibus confecta consenuit, per
Augustum deinde reparata, si reparata dici potest libertate
deposita" (II 779). Es will Etwas sagen, dass dieser Mann
in solcher Umgebung kein Heil für Rom zu denken vermag,
so lange die Freiheit nicht wieder hergestellt ist. Die offen-
bare moralische Fäulniss des römischen Wesens sieht Vopiscus
in dem monströsen Carinus vollendet. Nach diesem aber erfolgt
ein wirklich besserer Zustand, der nach Diocletianus und seinen
Genossen genannt wird: ,,post Carinum dii dederunt principes
Diocletianum et ceteros" (H. A. II 813). Vopiscus schreibt:
,, Diocletianus et qui sequuntur majore stilo dicendi sunt"
(H. A. II 775). Die Vorstellung, dass mit Diocletian einer-
seits und mit Constantin andererseits eine neue Aera beginnt,
liegt der ganzen Sammlung der späteren Kaiserbiographien zu
Grunde. Diocletian wird ,,parens aurei saeculi" genannt. Das
Interesse für Rehgionswesen ist in Diocletian überwiegend. In
dem Manichäergesetz desselben zeigt sich ein streng religiöser,
ja fanatischer Conservatismus : ,,Maximi criminis tractari quae
semel ab antiquis tractata et definita sunt ac statum et cursum
tenent. Neque reprehendi a nova vetus religio debet" (Neander
Denkwürdigkeiten L 413, Burckhardt, Constantin, p. 327). Den
174
Glauben an seine Prädestination zum Cäsarenthron stützte
Diocletian auf die Weissagung einer Druidin (Histor. Aug. II 794).
Nach diesen Zeugnissen muss man sagen, dass Keiner von
allen Cäsaren den Cäsarcultus so ernstlich und feierlich
genommen hat wie Diocletian, und insofern kann man
behaupten, dass sich in ihm der Cäsarcultus, der hier noch in
seiner ursprünglichen orientalischen Gestalt erscheint, vollendet.
In dieser Vollendung des Cäsarcultus vollendet sich gleichfalls
der Rath des Maecenas an Augustus, alle Bewegung auf dem
religiösen und geistigen Gebiete zu unterdrücken. Die Sätze
Diocletians: ,,das Uralte in der Rehgion muss mit äusserster
Sorgfalt gepflegt werden" ; ,,was einmal vorhanden und fest-
gestellt ist und demnach in Uebung und Geltung steht, kann
nicht ohne Frevel angetastet werden"; ,,das Neue in der Religion
darf das Alte nicht tadeln". Die mit der cäsarischen Gewalt
gestützte und gerüstete Aufstellung dieser Sätze ist die Kriegs-
erklärung gegen das im Wachsen begriffene Christenthum.
Gibbons Niedergang des Römerreiches, Tschirners P'all
des Heidenthums, Uhlhorns Kampf des Christenthums, Keims
Rom und das Christenthum, diese Schriften über den grossen
weltgeschichtlichen Wendepunkt geben ein überreiches, schwer
zu fassendes Bild von einem grossen geschichtlichen Leben.
Und doch ist dieses Bild nur die sphärische Erweiterung des
Mikrokosmus in jedem Gliede der Menschheit. Dieses grosse
weltgeschichtliche Drama spiegelt sich in dem Leben des
menschlichen Individuums. Am gewinnreichsten wird daher
derjenige diese grosse Geschichte studiren und verstehen, der
den wesentlichen Sinn der grossen Gegensätze und Bewegungen
in seinem inneren Selbstleben zu erfassen sich bestrebt, was
Niebuhr mit den W^orten ausspricht, dass man die alte Geschichte
als vor dem Angesichte Gottes studiren müsse. Durch die
grosse Fülle und Mannigfaltigkeit der hier in Betracht kommen-
den äusseren und inneren Thatsachen kann man sich leicht
zerstreuen und verwirren ; es ist nothwendig, die Centralmächte
im Guten und im Bösen aufzusuchen und klarzustellen. Eine
solche Centralmacht auf der feindlichen Seite ist der Cäsar-
cultus, die Lüge der Menschenvergötterung auf der Höhe der
175
Macht und Auctorität. Wir haben die Hauptmomente dieser
gekrönten und bewaffneten Lüge von Julius Cäsar bis Diocletian
übersichtlich kennen gelernt. Wie grundverderblich diese Lüge
ist, wird sich erst völlig offenbaren, wenn sie in dem heiligen
Kampf der Wahrheit ihre Bosheit entfalten muss.
Wir haben aber schon Gelegenheit gehabt, zu bemerken,
dass diese Bedeutung des Cäsarcultus bisher durchaus nicht
genügend anerkannt ist. Um so nöthiger ist es, dass wir die
moralischen Consequenzen dieses abgöttischen Cultus verfolgen
und auf diesem Wege zu einem zweiten ähnlichen sacrilegischen
Cultus geführt werden.
Der Cäsarcultus zeigt sich als eine die Religion und
Humanität der besseren Zeiten corrumpirende Macht, er depotenzirt
was noch an religiösem Gehalt im Volksbewusstsein vorhanden
ist, indem seine Lüge das Göttliche überträgt auf das Nicht-
göttliche. Statins und Martial erklären öffentlich, dass sie auf
die Gemeinschaft mit den Göttern und auf den Himmel ver-
zichten, wenn der Cäsar Domitian sie zur Tafel ladet. Der
Historiker Lampridius schreibt: ,,omnes sciunt, Antoninos pluris
fuisse quam deos" (Hist. Aug. I 786). Zosimus, ein strenger
Polytheist, ereifert sich darüber, dass der Schwur beim Haupt
des Kaisers für unverbrüchlicher gehalten werde als der Schwur
bei den Göttern. Heine, in Annotationibus ad, Zosimum, ed.
Reitemeier p. 646, zürnt mit Zosimus über dieses flagitium,
scheint aber zu meinen, dass dieser Frevel jenen ,,temporibus
flagitiosissimis", nämlich den Zeiten des Honorius eigenthüm-
lich gewesen, während diese Nichtachtung der Gottheit offenbar
aus dem heidnischen Cäsarcultus stammt. Minutius Felix
schreibt: ,,tutius per Jovis genium pejerare quam regis" (XXIX),
und TertuUian: ,,Citius denique apud vos per omnes deos quam per
unum genium Caesaris pejerantur" (TertuUian Apolog. XXXVII).
Wäre nun auch der moralische Charakter der Cäsaren von
einem erträglichen Durchschnittsgehalt, so würde doch diese
falsche Gottheit mit ihren unmittelbar auf das Volk wirkenden
materiellen Lockungen und Drohungen das Gottesbewusstsein
wirksam entkräften. Nun aber ist der Cäsarcultus für die
Cäsaren selber eine übermächtige Versuchung und Verführung.
176
Der von dem Volk als gegenwärtiges Numen verehrte und
angebetete Cäsar steht auf einer schwindelnden Höhe der Selbst-
überhebung, auf welcher nur derjenige ohne sittliche Selbst-
beschädigung sich erhalten könnte, der die Kraft und den Muth
hätte, den Wahn des Cäsarcultus durch gründliche Selbst-
entsagung zu zerstören. Diese Kraft und diesen Muth hat aber
keiner der Cäsaren gehabt, auch nicht, was wir später deutlich
sehen werden, Marc Aurel, obwohl er sich vorgenommen hat,
sich nicht verkaisern zu lassen. Es sind demnach die Cäsaren
selbst der Uebermacht der Versuchung und Verführung des
Cäsarcultus unterstellt und verfallen. Die entsetzlichen Folgen
dieser Uebermacht enthüllt die Sittengeschichte des cäsarischen
Hofes von Julius Cäsar bis zu den Kaisern der Diocletiani-
schen Aera.
Tacitus beschreibt das Wesen des Cäsarismus mit folgenden
Worten: ,,munia senatus, magistratuum, legum in se trahere"
(Ann. I 2) und den Cäsar selbst wie folgt: ,,omnia legum et
magistratuum munia in se trahens princeps" (Ann. XI 5). In
Uebereinstimmung mit dieser Beschreibung nannten die Juristen
den Cäsar ,, legibus solutus". Dieser Anschauung von der ab-
soluten Ungebundenheit drückte der Cäsarcultus das Siegel der
absoluten Unverantwortlichkeit und Rücksichtslosigkeit auf. W^ie
es nun weder vorher noch nachher eine solche Höhe der
Selbstvergötterung in der Weltgeschichte gegeben hat, so folgt
mit Naturnothwendigkeit, dass solche Excesse menschlicher
Ungebundenheit, Unverantwortlichkeit und Rücksichtslosigkeit
wie hier nie und nirgends sich ereignet haben.
Der stärkste Trieb der Natur ist geadelt durch die
Bestimmung, das grosseste Werk der göttlichen Schöpfung
creatürlicherweise fortzusetzen. Innerhalb des zur Selbst-
vergötterung gesteigerten Cäsarismus wird dieser stärkste
Naturtrieb von der Beziehung auf seinen ihm innewohnenden
Zweck entfesselt und losgebunden, und damit beginnt eine Aus-
schweifung in den unbegrenzten Tiefen der Unnatur und Wider-
natur, welche menschlichen Ohren und Augen nicht mehr
zugänglich ist. Man hat gemeint, dass man dieses Gebiet der
cäsarischen Ausschweifungen culturgeschichtlich mit Still-
177
schweigen übergehen könne, müsse oder dürfe, indem man es
den Medicinern überweiset (Marquardt: Privatleben der Römer
I jS). Allein durch ein solches Absehen und Verschweigen
verschliesst man sich das volle Verständniss der antiken Welt,
mehr aber noch die Einsicht in diejenige Kraft, welche die
ersterbende Menschheit erneuert und wiedergeboren hat. Man
pflegt sich über das nähere Eingehen auf das Gebiet der
cäsarischen Wollustgreuel durch Verweisung auf die Parallelen
in der päpstlichen Curie unter Alexander VI und an den
Höfen Ludwig XV und August des Starken hinwegzuhelfen.
Aber durch solche oberflächliche Analogie verdirbt man sich
den wahren Segen, den die gründliche Geschichte auf allen
Gebieten für die Erziehung des Menschengeschlechtes hat.
Wir haben ein grosses Beispiel, welches uns anleitet und
anweist, wie wir uns zu dem bezeichneten, schwierig zu
behandelnden Gebiete zu stellen haben, wenn wir uns nicht
Täuschungen hingeben sondern der Wahrheit dienen wollen,
Paulus eröffnet seinen grossen Brief an die römische Gemeinde
mit der Darlegung der heidnischen Weltsünden. Paulus
behauptet, dass Gott sich auch den Heiden offenbart, nämlich
durch seine Werke in der Schöpfung und in der Natur, es sei
daher eine Versündigung der Heidenwelt, wenn die Idee, der
Name und die Verehrung auf Etwas, was nicht Gott ist, auf
etwas Creatürliches übertragen werde. Es ist damit das
allgemeine Wesen des Heidenthums bezeichnet, und ist dieses
damit gerichtet als ein zweiter Sündenfall der gesammten
heidnischen Menschheit. Nach dem Gesetz der moralischen
Weltordnung erfolgt, so argumentirt Paulus weiter, auf den Ab-
fall von Gott, der sich immer aufs Neue in dem heidnischen
Cultus vollzieht, auf dieses sich immer wiederholende Loslassen
von Gott, der einzigen und ewigen Säule aller Ordnung, ein
Uebergebenwerden an die entfesselten Gewalten der Unnatur
und Widernatur. Und Paulus, in dem Bewusstsein, dass nur
das heilige Licht der enthüllten Wahrheit Heil und Rettung
bringen kann, scheut sich nicht in das Nachtgebiet der ent-
fesselten Unnatur und Widernatur mit der P'ackel des apostoli-
schen Zeugnisses hineinzuleuchten. Paulus straft zu allererst
12
178
eben das, worin sich die Widernatur am schandbarsten aus-
prägt, und scheut sich nicht, vor Allem ab, mit unverhüllten
Worten das zu sagen, was den Inhalt eines Hetärengespräches
Lucians ausmacht, von welchem Wieland urtheilt, dass es könne
in keine lebende Sprache der Gegenwart übersetzt werden.
Die Kirchenväter haben kein Bedenken gehabt, dem Apostel
auf diesem Wege nachzufolgen Clemens Alexandrinus schreibt:
ich will das Verborgene und Heimliche ans Licht ziehen, und
die Schamhaftigkeit wird mich nicht abhalten, das vorzutragen,
was ihr Heiden euch nicht schämt, mit göttlichen Ehren aus-
zuzeichnen (,,Cohort. ad gentes" p. lOc ed. Sylburg). Die ver-
abscheuenswürdigsten Greuel des heidnischen Cultus kennen
wir aus den Enthüllungen von Clemens Alexandrinus, Tatianus,
TertuUianus, Minutius Felix, Acrobius, Lactantius, Eusebius,
Augustinus, Theodoret. Indem wir den Fussstapfen dieser
heiligen Männer folgen, haben wir zu beachten, dass derselbe
Paulus, welcher sich nicht scheut, die heimlichen Greuel zu
nennen, andererseits es für schändlich erklärt, das was von den
Sündern im Verborgenen geschieht uns nur namhaft zu
machen (Eph. V 12). Nach diesem apostolischen Wort giebt
es für uns eine bestimmte Schranke, welche darin bestehen
wird, dass wir das enthüllende Wort nur soweit führen, dass
das Schweigen eine beredte Appellation an das Gewissen des
Lesers wird, sich durch energischen Abscheu gegen die Ver-
giftung der stummen Greuel zu schützen. Demnach werden
wir das Schifflein der Rede zwischen diesen beiden Klippen
hindurch zu führen haben.
Die cäsarische Entstehung der Unzucht zeigt sich von
allem Anfang her darin, wie von Julius Cäsar und Augustus,
den beiden Gründern des Cäsarcultus, die Ehe thatsächlich
behandelt wird. Julius Cäsai* war als ein notorisch in fort-
währendem Ehebruch mit namhaften Römerinnen und Pro-
vinzialinnen lebender Mann bekannt (Sueton XLIX — LH).
Augustus entliess die Scribonia, nachdem er sich bereits von
zwei Anderen geschieden hatte und heirathete die Frau des
Domitiu^ Nero im schwangeren Zustande (Suet. Octav. LXII).
Cäsar soll sogar den Plan gehabt haben, sich gesetzlich das
179
Privilegium beizulegen, welche und wie viele Frauen er sich
wolle zueignen, also mit dem orientalischen Sultancultus auch
den orientalischen Harem ins Abendland zu verpflanzen
(Suet. LXII). Die Gesetze, mit denen Augustus als der
cäsarische Sittenwächter die in und ausserhalb des Cäsarhofes
grassirenden Laster der Unzucht zu bessern suchte, sind so
wenig ein Beweis von Besserung, dass durch dieselben, wie ein
gründlicher Kenner des römischen Wesens behauptet, das Uebel
nur ärger geworden ist (Marquardt Privatleben der Römer
I ']6 — 78). Die Missachtung und Misshandlung der Ehe, dieses
Fundamentes aller sittlichen Ordnung, wie dieselbe in den
vielen Scheidungen und notorischen Ehebrüchen der cäsarischen
Anfänger vorliegt, ist und bleibt das traurige schändende
Muttermal der ganzen Zeit des Cäsarismus.
Die Entfesselung der Natur zur Unnatur und Widernatur
kommt sofort in dem öffentlich berüchtigten Verhältniss von
Julius Caesar zu dem König Nikomedes von Bithynien zum
Vorschein. Der Biograph von Julius Cäsar schreibt: ,,pudi-
citiae famam ejus nihil quidem praeter Nikomedis contu-
bernium laesit, gravi tamen et perenni opprobrio et ad omnium
convicia exposito" (XLIX). Sueton beruft sich für diesen
Schandfleck Cäsars auf sehr bekannte Spottverse, zum Theil
von namhaften Dichtern, ferner auf öffentliche Verhandlung,
auf Cicero und andere namhafte Zeugen. Was bedeutet da-
gegen nun die Anmerkung von Isaak Casaubonus: „Serio
hunc maculum a se removit Caesar" (apud Dionem CXLIIl)?
Wenn man sich den Dio ansieht, dann erfährt man, dass Cäsar
sich über die anderweitigen Vorwürfe wegen seiner geschlecht-
lichen Sünden leicht hinweggesetzt habe, dagegen den Hohn
über sein schandbares Verhältniss zu Nikomedes sehr empfind-
lich aufgenommen habe, denn dagegen habe er sich zu ver-'
theidigen gesucht, aber, sagt Dio ohne weiteren Zusatz: „er
wurde damit ausgelacht". Die Bemerkung von Casaubonus
hat offenbar die Absicht, den furchtbaren Ernst dieser über-
reichlich bezeugten Thatsache abzulenken, damit der Glanz dieses
gefeierten Genius der klassischen Welt nicht getrübt werde.
Wer wäre nicht geneigt, im Interesse der Menschheit diesen so
12*
180
verschwenderisch ausgestatteten Geist von einem tief schimpf-
lichen Fleck zu befreien? Aber in einem noch höheren Interesse
der Menschheit liegt hier für den Historiker eine ganz andere
Pflicht, nämlich auf das strenge Gesetz der sittlichen Welt-
ordnung hinzuweisen, nach welchem eine durch das öffentliche
Gewissen gerichtete Missethat des Urhebers einer neuen
geschichtlichen Reihe so lange auf den sittlichen Gesammt-
zustand verwüstend und zerstörend wirkt, bis sie durch über-
legene Gegenwirkung des sittlichen Geistes gesühnt und ge-
bessert ist.
Homer kannte noch nicht die widernatürlichen Laster der
späteren Zeiten (Nägelsbach homerische Theologie 226). Die
anfänglich, wie es scheint (Jakobs vermischte Schriften III
212 — 254, Franke Kaiser Trajan p. 639—646), nicht sünd-
liche Männerliebe artete in Griechenland aus in das Laster
unnatürlicher Unzucht (Wachsmuth griechische Alterthums-
künde III 2 48 49). Und diese Ausartung war unter den
späteren Hellenen so verbeitet und so corrumpirend, dass
man, wie die schmutzigen Anekdoten bei Athenäus ausweisen,
sich nicht schämte, die edelsten Männer der besseren Zeiten
dieses Lasters zu beschuldigen. Auf asiatischem Boden
setzt Cäsar in seiner cäsarischen Uno;ebundenheit sich über
römische Sitte und Moral hinweg und erniedrigt sich zum
Sclaven einer widernatürlichen Wollust. Er hat offenbar nicht
gedacht, dass diese Schandthat ein so ungeheures Aergerniss
hervorrufen werde. Dieses Aergerniss zwingt ihn, den Versuch
der Leugnung zu machen, damit aber zu verrathen, dass sein
eigenes Gewissen diese Missethat verdammen muss. Die Misse-
that, von dem Volksgewissen und von seinem eigenen Gewissen
verurtheilt, bleibt in ihrer öffentlichen Nacktheit und Ungesühnt-
heit stehen. Da sie nun aber die Vergötterung Cäsars nicht
hindert noch stört, so wird diese Vergötterung Schutz und
Schirm einer offenbaren Missethat und einer öffentlichen Schande.
Der nach dem krassen Ausdruck Suetons : ,,in Bithynia con-
taminatus" ist der als ,,divus" und ,,deus" vergöttlichte Cäsar!
Das ist also der verhängnissvolle Beginn des Cäsarcultus in
Rom, dass dieser Cultus nicht bloss das Gottesbewusstseia
181
sondern auch das sittliche Bewusstsein zum Umsturz bringt.
Dieser Anfang des Cäsarcultus ist ein Attentat auf das höchste
Gut der Menschheit, auf dasjenige in der Menschheit, vermöge
dessen sie noch mit dem Urquell alles Daseins und Lebens
verbunden ist.
Augustus that sich viel darauf zu Gute, dass er den
Göttern Tempel gebaut, und Horaz hat ihm auch nachgerühmt,
dass er die Frömmigkeit befördert habe. Indessen das
unbefangene Volksurtheil lautete anders.
Zwei Schriftstücke, ein Brief des Antonius an Octavius
und ein Epigramm des Octavius, kamen zur Kunde des
Publicums. Den Brief des Antonius hat Sueton mitgetheilt
{Octav. LXIX); das Epigramm des Octavius ist allem Anschein
nach das einzige Ueberbleibsel aus dem Buch der Epigrammata
des Augustus, dessen Sueton LXXXV Erwähnung thut, und
als solches ist dasselbe von Burmann in die Anthologia latina
genommen (II 675). Die Authentie der sechs Verse dieses
Epigramms ist übrigens durch Martial Epigr. XI 21 hinlänglich
verbürgt. Diese beiden cäsarischen Männer, beide auf dem Wege
der Selbstvergötterung, werden in den bezeichneten Schriftstücken
so schamlos obscön, dass man selbst im Lateinischen ihre
Worte zu wiederholen nicht wagen darf Uebrigens ist wohl
sicher, dass, v/enn diese Männer mit und unter einander eine
solche Sprache führen, und wenn sie dann nicht Sorge tragen,
dass solche Verse nackter Lasterhaftigkeit nicht in die
Oeffentlichkeit gelangen, dann auch kein Grund vorliegt, die
«xcessivsten Anstössigkeiten, die namentlich von Augustus
erzählt werden, zu bezweifeln. Es wird erzählt, dass das
gesammte Volk mit rauschendem Beifall im Theater einen
Vers auf den Weltregierer Augustus bezog, der dieselbe
Schande, mit welcher Julius Cäsar befleckt war, seinem Nach-
folger anheftete (Sueton Octav. LXVIII). Die unaussprechlichen
Attentate auf Frauen und Jungfrauen, welche Sueton von
Augustus berichtet (LXIX), sind also nicht erst unter den
Cäsaren Caligula und Nero möglich geworden. Dieselben
stigmatisiren bereits die Anfänge des Cäsarcultus; ja es
kommt in diesen Anfängen zu dem Alleräussersten, zu einer
182
offenbaren Blasphemie in den inneren Räumen des Kaiserhofes,
Alle Feinde sind überwunden, die ganze Welt ist in süssen
Friedensschlummer eingelullt, anstatt der Unruhe der republi-
kanischen Freiheit und Selbstständigkeit überwacht jetzt ein
Herrscher den Weltkreis und bestimmt, was Gesetz und Sitte
sein soll, und die mit der Gabe der Musen ausgerüsteten
Männer feiern diesen Weltherrscher und Friedensheros wie den
gegenwärtigen Jupiter. Da schäumt der Zaubertrank der alten
Schlange über den Rand des Kelches, der Raub an der Gott-
heit will nicht bloss in Reden und Liedern, in Tempeln und
Bildern, sondern thatsächlich so zu sagen substantiell dargestellt
und verwirklicht werden. Es ward in Rom erzählt, ein
erhaltenes Epigramm bestätigt es und die innere Wahr-
scheinlichkeit stimmt zu, es habe unter Anführung des Augustus
ein Zwölfgöttermahl (oojosxa Osoi) Statt gehabt, die zwölf
olympischen Götter nach der Aufzählung des Ennius wären
dargestellt durch zwölf Personen, sechs männlichen und sechs
weiblichen Geschlechts, diese zwölf Personen hätten aber nicht
bloss mit einander getafelt, sondern Alles aufgeführt, was der
Mythos von den Olympiern erzählt, und das Epigramm scheut
sich nicht, als solches zu nennen: ,,Phoebi mendacia, nova
divorum adulteria" (Sueton Octav. LXX, Antholog. latina I 224).
Die Thatsache und die Kunde davon war ein sacrilegischer
Angriff auf den letzten Rest von Frömmigkeit, der noch im
römischen Volk vorhanden war. Dieser Rest von römischer
Frömmigkeit hatte doch noch so viel Kraft, sich gegen diese
drastische Blasphemie zu empören und sprach diese Empörung
über diese beiden letzten Verse des bezüglichen Epigramms
dahin aus, dass diese in den inneren Räumen des Kaiserpalastes
aufgeführte Blasphemie Jupiter und die übrigen Götter von
der Erde verscheucht habe. Aber wie lange wird dieser
Abscheu vorhalten gegen diese infernale Verführung einer in
den höchsten Regionen vollbrachten Blasphemie? Denn nur zu
wahr ist, was Tacitus bemerkt: ,,vitia dominantium amantur"
(Hist. I 5). Die Ansteckung der bösen Beispiele auf derk
Höhen der Welt wirkt ein scharfes verborgenes Gift aus in
den Eingeweiden der Menschheit, nicht bloss obgleich, sondern
183
oft, weil die hohen Missethäter im Lauf der Zeit in dem
Nimbus von Tugendhelden strahlen, wie Augustus von Eutropius
gefeiert wird als ,,vir, qui non immerito ex maxima parte deo
similis est putatus" (VII 5).
Was den dritten Cäsar anlangt, so wird man zugeben,
dass sich das Bild desselben, namentlich nach den Darlegungen
von A. Stahr (Tiberius 2. Aufl. 1873), günstiger gestaltet, als
die bisherige traditionelle Anschauung gestattete. Ob man
aber so weit gehen darf, die Greuel, welche mit dem Auf-
enthalt auf der Insel Capreae zusammenhängen, die nicht bloss
von Sueton, Dio und Victor erzählt werden sondern auch von
Tacitus, als erfundene Scandalgeschichten zu verwerfen, scheint
mir unberechtigt zu sein. Tacitus ist nicht ein Mann, der
Freude daran hat, Scandalgeschichten zu verbreiten.
Dass in dem Cäsarcultus ein Dämon der Unsittlichkeit
waltet, beweist unleugbar das Beispiel des an vierter Stelle
folgenden Cäsar. Es mag genügen, aus dem Register der
Schamlosigkeiten, zu welchen die mit dem Privilegium der
Selbstvergötterung begabten Cäsaren das Recht zu haben
wähnten, ein Beispiel aus der Geschichte des Cajus hervorzu-
heben. Dass Caligula mit seinen Schwestern in Blutschande
lebte, erzählen Sueton und Dio. Dem fügt nun Aurelius Victor,
ein ernster Historiker, hinzu, dass Caligula, , dessen Selbst-
vergötterungswahn bekanntlich bis zur Herausforderung Jupiters
stieg, sich rühmte, eben in dem offenen Incest mit seinen
Schwestern den ächten Jupiter darzustellen (de Caesaribus IV).
Wie Sittenverderbniss des Cäsarcultus in der Zeit des
Claudius wirkt, ist uns aus Senecas Trostschrift an Polybius
hinlänglich klar geworden. In welche grauenhaften Tiefen
aber der von Seneca als Apollo begrüsste Nero versunken ist,
müssen wir mit einigen lateinischen Strichen andeuten. Tacitus
nennt Nero ,,cupitor incredibilium" (Ann. XV 42), und in der
That, wären seine Greuel nicht glaubwürdig bezeugt, man
müsste den Glauben daran versagen. Der schreckliche Libertiner
Tigellinus, ein mächtiger Hofbeamter Neros, war nicht bloss
grausam sondern auch ein Erfinder von Wollüsten für seinen
Cäsar, es gab aber am Hofe Neros noch Einen, der ihn in
184
dieser teuflischen Kunst noch, übertraf, näniHch Petronius, der
unter lüsternen Gesprächen dem Tod ins Angesicht schaute,
und der Nero ein versiegeltes Verzeichniss von unzüchtigen
Männern und Weibern vermachte (Tacit. Ann. XVI i8 19)^
Tacitus bemerkt, um nicht dieselben Ungeheuerlichkeiten öfter
erzählen zu müssen, wolle er Einzelnes hervorheben (XV 37).
Als ein solches Einzelne beschreibt Tacitus ein Fest nach
der Erfindung des Tigellinus. Im verkürzten Auszug findet sich
diese Beschreibung Ann. XV 37. Sueton und Dio berichten
den umgekehrten Greuel des Nero mit dem entmannten Sporns,
den Tacitus, wie es scheint, aus Ekel verschweigen zu dürfen
glaubt, weil er das Umgekehrte mit dem Pythagoras aus-
führlich berichtet hat. Aurelius Sueton, Dio und Victor
berichten übereinstimmend noch einen Zug aus diesem schreck-
lichen Nachtgebiet, der diesem Cäsar seinen eigentlichen Charakter
aufdrückt: Sueton Nero XXIX, Dio LXIII 13, Victor de
Caesaribus V. So ist es recht, nicht in Menschengestalt
sondern in Thiergestalt vollbringt dieser Cäsar seine bestiali-
schen Lüste I
Die Geschichte des Julischen Cäsarhofes zeigt, dass die
cäsarische Selbstvergötterung die Zuchtlosigkeit über alle
Schranken hinaus steigert. Da nun Tacitus die Selbst-
beherrschung Vespasians rühmt und in Folge davon von
einer gewissen Besserung redet, so hat Baur gemeint, einen
wirklichen Fortschritt der öffentlichen Moral von jenem Zeit-
punkt an datiren zu können. Wir werden später zeigen, dass
Baur den Tacitus missverstanden hat. Baur hätte seinen
Irrthum aus Victor ,,de Caesaribus" leicht berichtigen können.
Victor schreibt: ,,\'espasianus exsanguinem fessumque terrarum
orbem brevi refecit" (IX). ,,Vespasian hat den ermatteten
Weltkreis auf kure Zeit erquickt.'* Wir werden überhaupt
nicht eher eine wirkliche Besserung des sittlichen Zustandes in
Rom für möglich halten können, als wenn wir eine wirkliche
Correctur des sacrilegischen Cäsarcultus geschaut haben.
Da nun Vespasian und Titus den Cäsarcultus einfach fort-
gepflanzt haben, so ist es ganz begreiflich, dass wir das,
was wir als verderbliche Wirkung des Cäsarcultus erkannt
185
haben, unter Domitian wiederfinden, und zwar in erhöhtem
Grade. Im Allgemeinen bemerkt Sueton über Domitian: ,,ali-
quanto celerius ad saevitium descivit quam ad cupiditatem"
(X). Aber alle Leidenschaften Domitians sind nach Tacitus
,,indomitae" (Hist. IV 68), und von seiner Jugend schreibt
Tacitus: ,,stupris et adulteriis filium principis egit" (Hist. IV 2).
Was er als Princeps begonnen, das hat er als Cäsar vollendet.
Wie wenig nachhaltig die theilweise Mässigung Vespasians,
von der man so viel Wesens gemacht hat, gewirkt, das erkennt
man aus dem Zeugniss Quintilians, eines ernsten Sittenrichters
zur Zeit Domitians, ,,apud veteres Latinos fuit sanctitas et
virilitas, nos in omnia deliciarum defluximus" (Inst. I 8 89);
und jedes convivium rauscht in unzüchtiger Ueppigkeit ,,omne
convivium obscoenis canticis strepit" (Inst. I 2 8j. Wenn nun,
wie wir wissen, Domitians Gastmahl dem Geschmack Martials
so sehr zusagte, dass er dasselbe der olympischen Tafel
Jupiters vorzog, dann ist es ausgemacht, dass an dieser Cäsar-
tafel in jeder Beziehung das äusserste Gegentheil von Mässigung
Statt gehabt hat. Ueber die Ehe Domitians schreibt Sueton :
,,uxorem Domitiani Paridis histrionis amore deperditam repu-
diavit intraque breve tempus impatiens discidii reduxit" (III).
Ueber Domitians Ausschweifungen berichtet Sueton XXII, cfr.
A. Victor de Caesaribus XI.
Von Apulejus wissen wir, dass Hadrian lüsterne Verse
verfasst hat, die Historia Augusta vervollständigt diese Notiz
dahin, dass dieser vielseitige Cäsar erotische Gedichte über
seine Liebschaften gemacht, wobei zweimal hervorgehoben
wird, dass Hadrian in der Wollust unmässig gewesen (,,nimia
voluptas Hadriani, in voluptatibus nimius"). Diese Thatsache
bestätigt, wie Spartianus schreibt, die Annahme, dass das oft-
erwähnte Verhältniss Hadrians zu Antinous, dem schönen
Bithunischen Jüngling, nicht ein reines sondern ein un-
sittliches gewesen ist. Wenn Hadrian vermöge seiner
cäsarischen Göttlichkeit den im Nil ertrunkenen Antinous
apotheosirt und damit Glauben findet, so sehen wir hier
wiederum den Cäsarcultus eingetaucht in den Abgrund wider-
natürlicher Wollust.
186
An dem gefeierten Hofe des Marcus Aurelius lebte die
öffentliche Schande der Faustina, und diese Schande war
nicht die einzige, welche die Tugend des vergötterten Philo-
sophen auf dem Cäsarthron duldete und schliesslich apotheosirte.
Von dem älteren Verus, den Hadrian adoptirte, ist bekannt,
dass er neue Genüsse und Wollüste erfunden (Histor. Augusta
I231 — 234), und dass er Ovids Liebesbücher immer in seinem
Bett gehabt und den Martial seinen Vergil genannt hat (ibid.
p. 235), und als seine Frau sich beschwerte, gab er die
Antwort, welche in der Laxheit der Cäsarenzeit eine classische
Geltung hatte: ,,patere me per alias exercere cupiditates meas,
uxor enim dignitatis nomen est, non voluptatis" (ibid. p. 236,
cfr. Ausonii epigr. LXXVIII, CXLII). Nachdem dieser Wollüst-
ling gestorben war, wurden ihm zu Ehren Säulen und Tempel
errichtet (ibid. p. 241 242). Sein Sohn ist der jüngere Verus,
der elf Jahre ^Mitkaiser und Schwiegersohn des Antoninus
Philosophus gewesen, also im intimsten Verhältniss zum Hofe
des tugendhaftesten Cäsar gestanden ist. Dieser jüngere Verus
wird vornherein eingeführt als ,,voluptarius, nimis laetus, et
Omnibus deliciis, ludis, jocis decenter aptissimus" (ibid. p. 400).
Es ist eine verbreitete Meinung, dass, nachdem der Cäsarwahn
in den Unmenschlichkeiten Caligulas und Neros sich ausgetobt
hatte, der Cäsarhof, einzelne Excesse ausgenommen, sich der
m.enschlichen Sitte mehr genähert habe. Diese Meinung streitet
mit den Thatsachen. Von dem jüngeren Verus, also dem
Mitkaiser des Philosophen, berichtet Capitolinus die Ueber-
lieferung: ,,in tantum vitiorum Cajanorum et Neronianorum
fuisse aemulum, ut vagaretur nocte per tabernas et lupanaria"
(p. 415). Aber nicht bloss die Lüste des Cajiis und Nero
wiederholen sich in Verus, dieser hat im Orient, dieser Pflanz-
stätte der Ausschweifungen (Rosenbaum: ,,Die Lustseuche im
Alterthum" 3. Aufl. 1882 p. 242 — 311 \ die Lasterhaftigkeit
studirt und hat nach syrischem Muster ein Gastmahl an-
gerichtet, an welchem auch der eingeladene Philosoph auf dem
Thron Theil genommen (p. 414 430). Die Nichtswürdigkeit
dieses jüngeren Verus erhält durch den Briefwechsel zwischen
ihm und Fronto noch eine besondere Beleuchtung (Cornelius
187
Fronto opera edidit Majus Frankfurt 1826 p. 83 — 122). Verus
wie auch Marcus war ein Schüler des damals berühmtesten
Rhetors Fronto. Es ist dem Verus ein grosses Anliegen, dass
über seinen sogenannten Parthischen Feldzug ein öffentliches
Denkmal errichtet werde. Obgleich nun die Wahrheit dieses
Feldzuges darin bestand, dass die Generale Alles gethan,
während Verus fern vom Kriegstheater in asiatischen Wollüsten
seine Gesundheit vergeudete, war Fronto trotzdem bereit, zu
Ehren des Verus das erbetene historische Werk zu schreiben.
So tief ist in der nächsten Nähe des philosophischen Cäsar
das sittliche Urtheil gesunken! Der Tiefpunkt jedoch ist der,
dass der Cäsar Marcus Aurelius Philosophus selber vor den
Abscheulichkeiten dieses seines Mitkaisers die Augen verschloss.
,, Marcus haec omnia quasi nesciens dissimulabat rem, pudore
illo ne reprehenderet fratrem" (p. 417 401 412). Ja, der
officielle Cäsarcultus zwang den Philosophen- Kaiser, die Laster
seines CoUegen nicht bloss zu ignoriren sondern auch mit dem
Nimbus der Vergötterung zu bedecken. ,,Tantae fuit sanctitatis
Marcus, ut Veri vitia et celaverit et defenderit, quum ei vehc-
mentissime displicerent, mortuumque eum divum appellaverit
— sacris eum plurimis honoravit, et omnes honores qui
divis habentur eidem dedicavit" (p. 346 347). Was Marcus
hier leistet, ist weit mehr, als was seine stoische Apathie fordert,,
und was der Mangel an Schneidigkeit, dessen Marcus sich
zeiht, oder die mollities, die an ihm getadelt wird (p. 473), zur
Noth entschuldigen können. Während andere Cäsaren in ihrem
Götterwahn sich in die Abgründe der Fleischeslust stürzen,,
muss der Tugendheld auf dem Thron, genöthigt durch den
Cäsarcultus, sich an fremden Sünden und Schandthaten theil-
haftig und mitschuldig machen, und das nennt die Cäsarhistorie
Sanctitas ! Man kann die Frage aufwerfen, was im Grunde
den letzten Rest des Gottesbewusstseins jäher in den Abgrund
stürzt, das Beispiel eines verruchten Cäsar wie Cajus oder
die Apotheose, welche der sittenreinste Kaiser an einem
öffentlichen Wüstling vollzieht, und welche die gleichzeitige
Meinung der Gebildeten als ein Werk der Heiligkeit
charakterisirt!
188
Was half alle Liebe und Verehrung, welche Marcus
Antoninus noch lange nach seinem Tode genoss (Niebuhr:
Vorträge über Römische Geschichte III 239^, sein Sohn ist
■ein Scheusal auf dem Thron, wie wir kaum eines gesehen,
und noch tiefer sinkt in Rom das sittliche Bewusstsein.
-Commodus war von frühester Knabenzeit her den unreinsten
Lüsten ergeben. ,,A prima statim pueritia turpis — libidinosus,
oreque poUutus et constupratus fuit" (Hist. Aug. I 473); ,,etiam
puer et gulosus et impudicus fuit" (p. 500). Was aus einem
solchen Sprössling der Faustina werden muss, wenn derselbe
in frühen Jahren den Cäsarthron besteigt, sich Gott nennen
und opfern lässt und zwar unter dem Beifall des Volks
(p. 496 510), das wird alle Denkbarkeit und Vorstellung über-
steigen Die Verfasser der Historia Augusta haben keinen
Ueberfluss weder an Geist noch an Gelehrsamkeit, aber wir
verdanken ihrem trockenen Sammelfleiss eine Fülle von That-
sachen aus der späteren Cäsarenzeit, die sie nicht selten durch
Citate aus den Quellen bewahrheiten. Lampridius hat aus
dem Scandalleben des Commodus verschiedene Züge mit-
getheilt, die sich selbst im Lateinischen schwer wiedergeben
lassen. Es mag genügen, die eine Thatsache herauszuheben,
dass dieser monströse Cäsar, der Sohn des gefeierten Philo-
sophen auf dem Thron, dreihundert Buhldirnen und dreihundert
Lustknaben hielt, und mit diesen in Gastmählern und Bädern
seine Bacchanalien feierte (p 487). Ueber die anderweitigen
Thaten seiner unsagbaren Schande wollen wir um so lieber
den Schleier des Stillschweigens decken, als Commodus sich
nicht schämte, aus seiner Schande sich eine Ehre zu machen,
indem er Alles, was er Schändliches vollbracht, actenmässig
veröffentlichen liess (p. 514). Mitten in solchem greuelvollen
Leben forderte dieser Mensch die Anerkennung seiner Gottheit
und er erreichte es, dass das Volk ihm zustimmte (p. 446514).
Ist nicht dieser Cäsarcultus eine sacrilegische Lüge, welche die
letzte Spur menschlicher Moral zu v^ernichten droht r Und doch
^iebt es hier Etwas, das noch ärger ist.
Nachdem das Volk zwölf Jahre dieses Ungeheuer ertragen
hatte, hat der Senat die Fluth seines Zornes und Abscheues
189
ergossen, wie Lampridius die ungezählten Flüche der Senatoren
aus Marius Maximus in authentischer Gestalt überliefert.
Mehr als einmal wird Commodus als ,,hostis deorum saevior
Domitiano impurior Nerone" verflucht. Nun sollte man denken,
dass mit diesem schauerlichen Abschied der Name des Com-
modus auf ewig ausgelöscht wäre. Das ist nicht der Fall..
Septimius Severus hat diesen Commodus apotheosirt, und hat
den Priester, den Commodus sich bei Lebzeiten ernannt,
bestätigt (Histor. Augusta I 524) ■■^■). Welch' eine entsetzlich
böse Macht tritt uns hier entgegen ! Der Senat hat sich
ermannt, den meuchlings gemordeten Unmenschen mit einem.
Hochgericht entsetzlicher Flüche zu begraben. Trotzdem wird
dieser auf die schimpflichste Weise abgethane Cäsar apotheosirt,.
und wird ihm der seiner Gottheit von ihm selbst zuerkannte
Flamen als persönlicher Priester von dem folgenden Cäsar
bestätigt. Dio fügt hinzu, dass Septimius Severus den Com-
modus im Senat vertheidigt und ihn seinen Bruder genannt
hat (LXXV 7 8). Der Cäsarcultus erweist sich hier als eine
Lüge, welche die letzten Fundamente der menschlichen Sitt-
lichkeit zerstört. Pertinax war nur zwei Monate und fünfund-
zwanzig Tage Cäsar und obwohl mit seinem Weibe schamloser
Unzucht bezichtigt, ist er feierlich apotheosirt: ,,per senatum
et populum in deos relatus est" (Hist. Aug. I 5-68). Aus der
Zeit des Caracalla haben wir uns schon das Wort einer
dämonischen Frechheit in dem Munde der Kaiserin Julia.
,,si übet licet" gemerkt. Hinzufügen wollen wir noch den-
frivolen Witz Caracallas über seinen von ihm tödtlich gehassten.
Bruder: ,,sit divus dummodo non sit vivus" (p. 727), welches
Wort beweist, dass die Terminologie des Cäsarcultus sich besser
zur Vertheidigung des Brudermordes verwenden lässt als die Juris-
prudenz des Papinianus. Trotz alledem v/ird Caracalla apotheosirt
(p. 732). In Betreff" der Masse von Notizen über Anstössig-
keiten des Cäsarhofes verdient beachtet zu werden, dass die
Historia Augusta oft auf Junius Cordus verweist als denjenigen,
*) Septimius Severus ist nach Hausrath der Schluss der mit Geist an*
reichsten erfüllten Periode der menschlichen Geschichte !
190
der diese Notizen in noch weit grösserer Fülle aufgezeichnet
(I 699 716, II 68 70 71 109 142 143). Heliogabal, dessen
Geschichte Lampridius, wie schon erwähnt, nur mit äusserstem
Widerstreben geschrieben, dieser geborene Orientale bringt den
ganzen asiatischen Orgiasmus auf dreizehn Jahre nach Rom.
Es sei gestattet, zwei Dinge von ihm anzumerken. ,,Nec erat
ei", sagt Lampridius, ,,ulla vita nisi exquaerere novas volup-
tates" (I 830), und Herodian sagt, es war sein Wille, nicht im
Verborgenen zu sündigen (V 6 6). Valerianus ist der einzige
Kaiser, der in Feindes Hände fiel, derselbe wurde in persischer
Gefangenschaft schimpflich behandelt. Das römische Volk hatte
Mitleid mit diesem tragischen Geschick seines tapfern Kaisers,
um so greller zeigt sich die Herzlosigkeit seines eigenen Sohnes,
des Cäsar Gallienus, von welchem Nichts so bekannt geworden
wie sein Fragen nach täglich neuen Vergnügungen. ,,Obstupe-
facto voluptatibus corde Gallienus requirebat, quid habemus in
prandio? et quae voluptates paratae sunt? qualis cras. erit
scena? quales circenses?" (PoUio Hist. Aug. II 209 — 210).
,, Gallienus natus abdomini et voluptatibus dies noctesque vino
et stupris perdidit orbem terrarum" (p. 230). Wie Valerianus
an Gallienus einen widernatürlichen Sohn hatte, so hatte Carus
dasselbe Schicksal an seinem Sohn Carinus. Von diesem letzten
Vorgänger Diocletians im Cäsarenamt schreibt die Historia
Augusta: ,,ubi patrem fulmine absumtum, fratrem a socero
interemptum , Diocletianum Augustum appellatum comperit,
majora vitia et scelera edidit, etc." (II 312). Um eine An-
schauung zu geben von der Ungeheuerlichkeit des Sinnes-
taumels dieses Carinus zählt Vopiscus auf, was dieser Cäsar
unter Anderem Alles angeschafft und veranstaltet hat
(II 818—820, cfr. Victor de Cäsaribus XXXIX). Die Historia
Augusta schliesst mit Carinus und giebt zu seinem Bild folgende
Unterschrift: ,,C. homo omnium contaminatissimus, adulter,
frequens corruptor juventutis (pudet dicere, quod in literas
Onesimus retulit), ipse quoque male arsus genio sexus sui"
(in 795).
Jetzt können wir einigermassen übersehen, welche Wirkung
der Cäsarcultus von Julius Cäsar an, der sich dem Asiaten
191
Nikomedes Preis gegeben, bis zu Diocletian, der sich in dem
asiatischen Nikomedien auf orientalische Weise anbeten Hess,
in der römischen Welt gehabt hat. Man kann von dem Cäsar-
cultus ziemHch harmlos reden, wie wenn zum Beispiel Vegetius
schreibt: ,,wenn der Kaiser den Namen Augustus empfangen
hat, so ist man ihm, wie einem gegenwärtigen und leibhaftigen
Gott, Treue und Gehorsam und rastlosen Dienst schuldig, denn
im Kriege wie im Frieden ist es ein Dienst Gottes, wenn man
dem treu anhängt, der nach Gottes Ordnung herrscht" (De re
militari II 5, Burckhardt Constantin 415). Es giebt Solche,
welche in diesen Worten die richtige Erklärung und Anwendung'
des Paulinischen Spruches Rom. XIII 1 finden wollen. Es
wird aber in einer solchen Identifizirung von Cäsar und Jupiter
das eigentliche Wesen des Cäsarcultus nicht erkannt. Vopiscus,
dessen Vater mit Diocletian bekannt war, der daher mit der
Cäsarengeschichte durch Familienerinnerungen vertraut war,
erzählt Folgendes: ,,ein Narr des Kaisers Claudius habe
gesagt, in einem einzigen Ring könne man die guten Fürsten
alle beschreiben". Vopiscus stimmt dem bei, indem er fort-
fährt: ,,Wie gross ist dem entgegen die Reihe der Schlechten !
Um die Vitellius, Caligulas und Neronen auszulassen, wer
erträgt die Maximinen und Philipper und di^ ganze Hefe der
wiisten Masse!" Vopiscus wirft sodann die Frage auf: ,,was
ist das, was die Fürsten schlecht macht .^" Er antwortet:
,, zuerst, mein Freund, ist es die Ungebundenheit (Hcentia),
dann der Ueberfluss von Allem, ausserdem schlechte Freunde,
und so weiter". Vopiscus fügt über dieses Thema einzelne
höchst interessante Daten hinzu. Diocletian hat, nachdem er
in den Privatstand zurückgetreten, wie Vopiscus von seinem
Vater gehört, gesagt : ,, Nichts sei schwerer, als gut zu regieren.
Vier oder Fünf vereinigen sich, um den Kaiser zu hintergehen.
Der Kaiser sitzt zu Hause, erfährt die V/ahrheit nicht, ist ver-
hindert, etwas anderes zu wissen, als was jene sagen". ,,Kurz",
das sind Diocletians eigene Worte: ,,der gute, der vorsichtige,
der beste Kaiser wird verkauft" (Histor. Aug. II 531 532).
Auch Vopiscus erschöpft die Sache nicht. Das Wesen des
Cäsarcultus ist, wie sich derselbe in Hellas durch Alexander
192
einleitet und seit Cäsar auf römischen Boden verpflanzt, die
Lüge, nicht etwa diese oder jene Lüge sondern die Erstgeburt
von dem Vater der Lüge, die Mutter aller Lügen, die in dem
Weltreich sich vollendende Selbsterhebung der Menschen an die
Stelle Gottes. Aus dieser lügnerischen Substanz des Cäsarcultus
erstehen all' die Greuel der Cäsarengeschichte, die angemasste
erlogene Göttlichkeit schlägt um in titanenhalten Umsturz
aller Schamhaftigkeit und Menschlichkeit. Es haben sich sogar
Spuren von Bestialität gezeigt, und in Allem, was etwa noch
nicht ganz verderbt ist, ist jedenfalls keine Kraft vorhanden,
dieser Versinkung in das Thierische wirksamen Widerstand zu
leisten, mithin ist die Gefahr vorhanden, dass das letzte Band der
Menschheit mit der Gottheit zerstöret wird. Der Cäsarcultus
erweist sich als grundstürzende Lüge der antiken Welt. Diese
Lüge ist seit Julius Cäsar und Augustus unantastbare Voraus-
setzung in der römischen Welt. Sie braucht nicht einmal aus-
gesprochen zu werden, sie herrscht auch schweigend, wie der
,, Starke seinen Pallast behauptet im Frieden". Man mache ihm
.seine Herrschaft streitig, alsobald wird er seine Macht beweisen
und zeigen, dass er da ist, dass er auch da gewesen ist, als
man ihn nicht gekannt, als man ihn geleugnet hat.
Es giebt aber neben dem Cäsarcultus noch einen zweiten
abgöttischen Cultus, dessen Lüge ebenso grundstürzend ist.
Es ist Augustinus, der durch eine geniale Bemerkung über eine
Schwachheit Senecas eine ganze Nachtseite der antiken Welt
aufgedeckt. In dem sechsten Buch des grossen Werkes ,,de
Civitate Dei" belobt Augustinus den Lucius Seneca, weil er
tapferer als der gelehrte und berühmte Varro in seinen
Schriften die Anstössigkeiten des heidnischen Mythus und
Cultus besprochen habe, nach diesem Lobe fährt Augustinus
fort: ,,tamen, quia illustris populi Romani Senator erat, colebat
quod reprehendebat, agebat quod arguebat, quod culpabat
adorabat, quia videlicet magnum aliquid eum philo.sophia
docuerat, ne superstitiosus esset in mundo, sed propter leges
civium moresque hominum non quidem ageret fingentem
scenicum in theatro, sed imitaretur in templo, eo damnabilius,
quo illa quae mendaciter agebat, sie ageret, ut eum populus
193
veraciter agere existimaret. Scenicis autem ludendo potius
delcctaret, quam fallendo deciperet" (C. D. VI lo). Diese
Sätze des grossen Kirchenvaters decken auf eine ganze
Welt von Sünden und Lastern, welche durch die Lüge der
Beamten dem Volk als Heiligthümer dargestellt werden. Denn
in der Lage des Seneca sind alle übrigen Beamten, denn Alle,
wenn sie sich auch nicht so scharf aussprechen wie der,
welcher sich öffentlich zur Philosophie bekennt, sind der
Meinung, dass das was nach Herkommen und Gesetz in dem
Volksbewusstsein als Heiligthum und als Cultus gilt, nach
moralischen Grundsätzen unheilig und sündlich ist. Wenn nun
desungeachtet die Staatsbeamten, wie es als selbstverständlich
angesehen wird, sich thatsächlich bei diesen Cultusacten be-
theiiigen, so kommen sie, wie Augustinus es von Seneca scharf
ausspricht, in den ungeheuren Selbstwiderspruch, dass sie das
was sie nach ihrem Gewissen und nach ihrem Wort und
Bekenntniss verdammen, durch ihr öffentliches Handeln innerhalb
des Cultusgebietes als ein Heiligthum verehren und anbeten.
Augustinus bemerkt, dass dieser Widerspruch viel unsittlicher
ist, als wenn ein Schauspieler auf der Bühne unsittliche Hand-
lungen darstellt, denn man weiss, dass der Schauspieler spielt,
von dem Senator setzt man aber voraus, dass, wenn er im
officiellen Cultus handelt, er mit seiner Persönlichkeit das,
worin er handelt und, wie es in der Regel der Fall ist, als
leitende Hauptperson vertritt. Das was Augustinus in seinen
kurzen vernichtenden Antithesen meint, war seinen Lesern
bekannt und verständlich. Wir müssen suchen aus dem, was
wir über das Sacralwesen der antiken Welt wissen, die kurzen
Andeutungen des Augustinus zu erklären.
Die scharfe Censur des Augustinus besagt, dass das was
in Wort und Schrift von den Mythen als anstössig freimüthig
getadelt und verurtheilt wird, sobald aber eine solche Anstössig-
keit als Theil eines anerkannten Cultus erscheint, alsdann der
Tadel verstummt und die competente Magistratsperson durch
amtliches Handeln jenes Aergerniss als unantastbares Stück der
Staatsreligion verherrlicht. Die Schlussfolge überlässt Augustinus
seinem Leser, es ist aber folgende: wenn Jemand das Ver-
13
194
derbniss des Heidenthums gründlich bekämpfen will, der muss
den Muth haben, vor Allem diejenigen Verderbnisse anzugreifen,
welche als Theile des bestehenden Cultus anerkannt und unter
den Schutz der höchsten Gewalt gestellt sind. So sind wir
auf den Cäsarcultus geführt worden und haben uns überzeugt,
dass sowenig Seneca selber die in diesem Cultus liegende Ver-
führungsmacht siegreich bekämpft hat, auch sonst Niemand
gegen den Cäsarcultus von Julius Cäsar bis Diocletian mit
vollem Nachdruck aufzutreten gewagt hat.
Es giebt aber noch einen anderen Cultus in dem antiken
Heidenthum, vor dem die besseren Elemente des Polytheismus
eben so scheu zurückweichen, wie vor dem Cäsarcultus. Wir
finden von Heraklit an bis zu Kaiser Julianus und den letzten
Neuplatonikern eine Reaction des mehr oder weniger mono-
theistischen und theistischen Gottesbewusstseins gegen die herr-
schende und immer mehr in Materialismus versinkende Idolatrie.
Diese Reaction verurtheilt die in dem. ganzen Heidenthum vor-
herrschende und immer mehr steigende Fleischeslust, aber diese
Gewissensstimme verstummt bei einer gewissen Klasse der
sündigen Gelüste Nach dem Sündenfall überfährt den Menschen
das verschämte Gefühl über seine Nacktheit, dass der ursprüng-
lich reine Naturtrieb unrein geworden ist. Beim weiteren Fort-
gang der Sünde verschwindet das in der Schamhaftigkeit
lebende Gewissen immer mehr, bis es überwältigt und so zu
sagen in das Gegentheil verkehret wird, indem die entfesselte
Fleischeslust als etwas Göttliches angesehen und behandelt
wird. Unter diesem Gesichtspunkt v^erdammt das alte Testament
den Götzendienst, wie sich in dem Sprachgebrauch des Wortes
r;:" (sanah) zu erkennen giebt. Dass dieses Wort nicht bloss im
figürlichen Sinn, sondern auch im realistischen Sinn gebraucht
wird, beweist vornämlich die Geschichte von dem Abfall
Israels zu dem Götzen der Midianiter, dem Baal Peor. Der
Abfall Israels zu dem Baal Peor vollzog sich dadurch, dass die
Söhne Israels auf die Einladung der midianitischen Weiber zu
dem Feste des Baal Peor kamen, und was weiter folgte, ist
durch die freche That des Simri und die Eiferthat des Pinehas
deutlich veranschaulicht (Num. XXV). Hieronymus sagt über
195
Baal Peor: ,,colentibus maxime feminis Baal Pheyor ob
obscöni magnitudinem, quem nos Priapum possumus appellare,
Pheyor in lingua hebräa Priapus appellatur" (Ad H.
IV 14, In Jov. I 12). Da nun der Abfall zu den anderen
Baals mit demselben Wort: n:T (sanah) gebrandmarkt wird
(Num. XIV 33, XV 39, XXV i 2, Lev. XVII 7, XIX 29,
XX 5 6, Deut. XXXI 16, Jud. II 17, VIII 27 33, Ps.
LXXIII 27, I. Chron. V 25, IL Chron. XXI 11 13, Sap.
XIV 12), so mag es gestattet sein, mit dem Wort Baal-
cultus das Alles zu bezeichnen, was die entblösste und ent-
fesselte Fleischeslust in der Heidenwelt mit der Auctorität
des anerkannten Religionswesens zu sanctioniren unternimmt.
Die Sache selbst ist von Ambrosius ganz richtig bezeichnet:
,,quid dicam de orgiis Liberi, ubi religionis mysterium est in-
centivum libidinis ?" (De virginibus IV 16).
Es ist ein tief wehmüthiges Gefühl, wahrzunehmen, dass
in der wundervollen Schöpfung der antiken Welt ein innerer
Schade sich findet, der von innen her die ganze Herrlichkeit zer-
stört. Ein gelehrter Mediciner, der dem klassischen Alterthum
den Puls gefühlt hat, schreibt: ,, Wollust zerstört das Mark der
Völker, weil ihre Genesis im Verborgenen vor sich geht"
(Rosenbaum die Lustseuche im Alterthum, 3. Aufl. 1882 p. 47).
Der Abfall von Gott ist der Hinfall in die Macht der
emancipirten Fleischeslust. Diese Lehre des Paulus wird von
der Geschichte bestätigt, nur will die Geschichte richtig ver-
standen werden Es findet sich hier eine zweifache Einseitisf-
keit. Denen, welche ihr Auge auf den Fall des Heidenthums
gerichtet haben, fehlt es meistens an wahrhaft begeisterter und
verständnissvoller Bewunderung der Schönheit und Gross-
artigkeit der antiken Welt. Diejenigen dagegen, die ihr
Studium und Leben der Auffassung und dem Verständniss des
Alterthums widmen, verschliessen ihre Augen gerne vor den
Schatten der antiken Menschheit. Beides muss zusammen gehen,
und zwar muss die Freude an der unvergleichlichen Schöpfung
Gottes in der grossen Natur und Anlage der klassischen
Völker den Vortritt haben, und diese Freude an diesem
Schöpfungswerk Gottes ist es, welche die Trauer über
13*
196
das sündhafte Menschenwerk weihet und den Schmerz
heihget.
Die reinste Gestalt des antiken Volkslebens ist in der
unsterblichen Dichtung Homers. Ein ernster Forscher hat
nachgewiesen, ,,dass der Strahl der ewigen Gottheit durch das
bunte und weltliche Treiben der olympischen Gottheiten
Homers hindurchbricht und Menschenherzen zu wahrer
Frömmigkeit zu erleuchten und zu erwärmen vermag" (Nägels-
bach homerische Theologie 1840). Und hoch bedeutsam ist
es, dass als die frömmste Persönlichkeit in der homerischen
Welt Eumäus, der Knecht und Sauhirt, erscheint. Ein anderes
Zeichen der relativen Reinheit dieser altgriechischen Welt
ist der tiefe Hass gegen die Lüge, wie er sich Ilias X 312
ausspricht:
,, Wahrlich, verhasst ist mir der, gleichwie die Pforten
der Hölle,
Welcher was Anders birgt im Gemüth und was
Anderes redet."
Wir wollen dem gegenüberstellen die idyllische Be-
schreibung einer ländlichen Frömmigkeit aus den spätesten
Zeiten des römischen Heidenthums, nämlich Avieni ,,epigramma
ad amicos" (Anthol. latina, ed. P. Burmann II 496), zum Be-
lege, dass auch in den wüstesten Zeiten der Vielgötterei das
Band zwischen dem wahren Gott und den menschlichen Seelen
noch nicht ganz zerrissen war.
Mit Recht legt man ein grosses Gewicht darauf, dass es
von früh an bis in die spätesten Zeiten des hellenisch-römischen
Heidenthums eine Reaction gegen den corrumpirenden Poly-
theismus mit monotheistischer und theistischer Tendenz gegeben
hat. Die beiden bedeutendsten Philosophen des ganzen Alter-
thums finden wir in dieser ethischen Reaction thätig. Noch
vor Plato hatte der strenge Heraklit seinen Protest gegen die
Auswüchse des Polytheismus erhoben. ,,Ille cen.sor morum
publicorum in libro de natura rerum Bacchanalium et pomparum^
phallicarum turpitudinem notavit (Lobeck Aglaophamus I 368).
Plato hat sich in der bezeichneten Richtung sehr ausführlich,
und nachdrücklich ausgesprochen (De republica II 377,
197
III 39^; X 399» De legib. II 656, III 817). Plato macht eine
grosse Reihe von sittUchen Aergernissen des Polytheismus in
den Dichtungen namenthch des Homer und des Aeschylos
namhaft und verlangt, dass Alles dergleichen in seinem Staat
weder gelesen, noch gehört, noch dargestellt werden soll. Also
Verbannung des unkastrirten Homer und des volksthümlichen
Dramas aus dem Platonischen Staat. Eine radicale Massregel,
die ungefähr mit der Einführung der Weibergemeinschaft auf
■einer Linie der radicalen Umwälzung steht. Es muss ein starker
sittlicher Zorn erwacht sein, ehe ein solcher Prophet des
Schönguten, wie Plato, sich entschliesst, an den kanonischen
Theil der hellenischen Literatur die Hand zu legen. Er selbst
hat uns die Erklärung dieses seines Zornes an die Hand
gegeben. Plato schreibt: ,, Jeder wird sichs verzeihen, schlecht
zu sein, wenn er überzeugt ist, dass ja eben Solches thun und
thaten Götter und frisch Entsprossene, dem Zeus Verwandte,
weswegen wir diese Fabeln abschaffen müssen, damit sie uns
nicht in der Jugend alle Scheu von dem Bösen ersticken"
(De republ. III 391). Dieses Wort ist nicht etwa die
Rede eines christlichen Apologeten oder Kirchenvaters
sondern das Wort eines ersten Wortführers des griechischen
Heidenthums.
Dass Aristoteles nicht ein blinder Nachfolger Piatos
ist, bewies er durch die scharfe Censur gegen die Weiber-
gemeinschaft des Platonischen Staates, um so mehr fällt ins
Gewicht die Uebereinstimmung des Aristoteles mit dem Plato-
nischen Protest gegen den polytheistischen Mythos, Zwar
schont Aristoteles das hellenische Bewusstsein etwas mehr als
Plato, indem er weder Homer noch einen Dramatiker mit
Namen nennt, aber da er alles Reden von Anstössigkeiten des
Mythos sogar mit Strafen belegt und alles Schauen von
unanständigen Gemälden und Schilderungen, die des ethischen
Gehaltes entbehren, verbeut und namentlich der Jugend das
Hören und Anschauen von Komödien und Spottgedichten streng
untersagt, ist seine Stellung zu dem Mythos und Cultus im
Wesentlichen dieselbe, wie die des Plato (De polit. VII 15 7
VIII 5 7, De poet. VI).
198
Nun aber kommt die Kehrseite. Die strenge Censur der
beiden Philosophen gegen Mythus und Cultus ist eine sittHche,
der sitthche Standpunkt lässt aber keine Ausnahme zu, denn
das Gute muss herrschen immer und überall, und das Schlechte
hat keinen Anspruch auf Existenz an keinem Ort und in
keinem Augenblick. Desungeachtet haben unsere beiden
grossen Philosophen eben an der Stelle, wo sie sich am ent-
schiedensten gegen die Verführungsmacht des herrschenden
Cultus und Mythus aussprechen, auf eigene Hand ihrem Protest
eine Schranke gesetzt, und was sie Anfangs absolut verdammt
haben, dem haben sie in ihrem Staat hinterher unter gewissen
Umständen trotzdem eine berechtigte Stelle eingeräumt. Plata
schreibt: ,,Die Thaten und Leiden des Kronos sollen ver-
schwiegen bleiben, wenn aber eine Nothwendigkeit zu reden
existirt (De republ. 11 378), dann soll es wie ein Geheimniss
behandelt werden und soll auf sehr Wenige beschränkt sein."
Und ähnhch heisst es III 388: ,,wenn man auch gestatten
wolle, dass die übrigen Götter wehklagen, von dem Obersten
der Götter wenigstens dürfe so Etwas nicht gesagt werden."
Plato gestattet also in seinem Staat, dass man von den übrigen
Göttern, mit Ausnahme des Zeus, menschliche Schwächen aus-
sagen dürfe. Ja, Plato statuirt eine Nothwendigkeit, nach
welcher auch das Allerschlimmste in einem kleinen Kreise
gesprochen werden darf. Es giebt also nach Plato eine andere
Nothwendigkeit, welche über der sittlichen Nothwendigkeit
steht und das an sich Unsittliche unter Umständen sanctionirt.
Es ist das ein Abfall von dem sittlichen Standpunkt und ein
Rückfall in die Macht der herrschenden Lüge, welche von
dem wahren Staat ausgeschlossen sein soll. Bedenklicher aber
noch ist das Zugeständniss von Aristoteles. xA-nstössigkeiten
sind verboten, schreibt Aristoteles, ausser bei den Göttern,
welchen das Gesetz sogar muthwillige Frechheit gestattet, bei
diesen erlaubt das Gesetz denen, welche das gehörige Alter
haben, für sich und für ihre Weiber und Kinder ihren Gottes-
dienst zu verrichten (Polit. VII 15 8). Hier bekommt nun die
avaYxrj des Plato ihren Namen, diese Nothwendigkeit ist das
Staatsgesetz, dieses Gesetz gestattet bei gewissen Gottheiten
199
das sonst Verbotene, gestattet sogar die offenbare ,, Frechheit",
was Wachsmuth dem Sinne nach gewiss richtig von Priapus
versteht (Hellenische Alterthumskunde II 2 75). Vermöge
dieses Gesetzes kehrt sich das sittliche Urtheil um, was sonst
verabscheut, was mit gesetzlicher Strafe belegt wird, vermöge
dieses Gesetzes wird es für gereifte Männer mit ihren Familien
ein Gottesdienst. In der monotheistisch -ethischen Abwehr der
in dem Mythus und Cultus enthaltenen Verführung weicht
Plato zurück vor einer ungenannten Nothwendigkeit und
Aristoteles vor dem Staatsgesetz, welches orgiastische Gebräuche
nicht bloss gestattet sondern als Gottesdienst sanctionirt. Hier
zeigt sich nun deutlich, was wir oben Baalcultus nannten. Es
giebt nämlich im Cultus Solches, welches nicht 'etwa nur das
christliche, sondern nachweislich auch das heidnische Gewissen
als sündhafte Fleischeslust verurtheilt. Aber es wird diesem
verurtheilenden Gewissen Halt geboten, denn das Bezeichnete
steht unter dem Schutz einer Nothwendigkeit, welche Gesetz
heisst und jene Sünde für einen religiösen Cultus erklärt. Es
kann den beiden grossen und ernsten Denkern nicht entgangen
sein, wie sehr sie ihre Censur gegen die Unsittlichkeiten des
herrschenden Polytheismus durch einen solchen Freipass selber
schädigen und stören. Denn es ist klar, dass sie selber und
ihre Schulen nach einer solchen Ausnahmetheorie in die Lage
kommen, jene Sanction des Unsittlichen als Bürger oder gar
als Beamte durch ihre eigene That zu vollziehen, damit aber
ihren Beruf, durch ihre moralische Ueberlegenheit die Gefahren
und Verderbniss des Götzendienstes zu besiegen, Angesichts
des Volkes untergraben.
Man hat zuweilen gemeint, dass die allegorische Auslegung
des anstössigen Mythus und Cultus eine genügende Abwehr
gegen die in dem herrschenden Polytheismus liegende Ver-
führung darbiete. Aber schon Plato hat gesagt, dass die
allegorische Ausdeutung (die uTrovoict) keineswegs das sittliche
Aergerniss beseitige (De republ. II 378).
Die an sich löbliche Reaction des reineren Polytheismus
gegen die corrumpirende Macht des herrschenden Götzen-
dienstes leidet an einer handgreiflichen Schwäche. Die
200
Erklärung dieser Schwäche in den beiden vornehmsten Sokra-
tikern liegt in dem Schicksal des Sokrates. Sokrates ist
angeklagt und verurtheilt, ,,weil er nicht die Götter verehrt,
die der Staat verehrt, sondern andere neue dämonische Wesen"
(Plat. Apolog. d. Socrates c. XI). Das Verhalten des Sokrates
dieser Anklage und Verurtheilung gegenüber, sein Verhalten
in den letzten Tagen seines Lebens überhaupt, wie es Plato
in den vier Schriften Kriton, Eutyphron, Apologie und Phaedon
geschildert hat, ist die grossartigste sittliche und religiöse Er-
scheinung in dem gesammten classischen Alterthum. Dieses
thatsächliche Verhalten des Sokrates, Angesichts der Un-
gerechtigkeit seines Volkes und des nahen Todes, diese Ruhe,
diese Klarheit, diese Ueberlegenheit, dieses Selbstbewusstsein,
diese Menschenfreundlichkeit, diese an Freudigkeit grenzende
Furchtlosigkeit im Sterben, dieses Alles beweist, dass die
monotheistische und ethische Reaction gegen die Verführung
der Vielgötterei in Sokrates personificirt erscheint. In Piatos
Apologie, die durchaus den Stempel der Geschichtlichkeit an
sich trägt, legt Sokrates vor seinen Richtern sein ganzes Leben
dar als geleitet und bestimmt durch die Gottheit, und genau
das, was die Apostel dem jüdischen Synedrium gegenüber er-
klären (Act. V 29), sagt Sokrates seinen Richtern (Apolog.
XVII, cfr. XXVIII). Wenn Sokrates in dieser grundernsten
Verhandlung sich auf sein Dämonion beruft, so ist das nicht
eine rhetorische Fiction oder ein frommes Spiel, sondern dieses
im Munde des Sokrates geheimnissvolle Wort bezeichnet die
noch vorhandene Verbindung des wahren Gottes mit der heid-
nischen Menschheit. In der Platonischen Apologie sagt Sokrates:
,,wenn Menschen im Sterben sind, haben sie die Gabe der
Weissagung." Sokrates hat im Angesicht des Todes geweis-
sagt, er sagt zweimal: ,,ihr könnt mich tödten, aber so leicht
werdet ihr keinen wiederfinden wie mich; wenn ihr euch an
mir versündigt, so werdet ihr einem ununterbrochenen
Schlaf verfallen, bis Gott aus Fürsorge für euch einen
Anderen sendet." Sie haben in Athen keinen zweiten Sokrates
wieder gefunden, bis Gott ihnen einen Anderen und Höheren
gesandt hat.
201
So viel Muth haben Sokrates Schüler besessen, dass sie
sein Martyrium beschrieben haben, aber den Fussstapfen seines
Martyriums nachzufolgen, das haben sie nicht vermocht.
Nachdem Athen seinen Frevel an Sokrates verübt, verlassen
die Sokratiker Athen und wandern nach Megara, und Niebuhr
giebt sein Urtheil dahin ab, dass Plato kein guter und Xenophon
ein grundschlechter Bürger gewesen sei (Kleine historische und
philosophische Schriften p. 470).
Also die Furcht vor dem Martyrium des Sokrates hat
jene ,,Nothwendigkeit" des Plato und jenes ,, Gesetz'' des
Aristoteles, welches die freche Zügellosigkeit als einen Cultusact
zur Pflicht macht, geschaffen. ,,Und wenn dies am Grünen
geschieht, was soll am Dürren werden?" In der That, diese
Furcht vor dem Martyrium wirft einen finsteren Schatten über
die folgenden Jahrhunderte, bis ein Martyrium kommt, welches
Kraft und Muth der Nachfolge schafft. Sehr richtig schreibt
Lactanz: ,, Plato somniaverat deum; non cognoverat. — Quod
si quis ipse vel quilibet alius implere voluisset justitiae defen-
sionem, in primis deorum religiones evertere debuit, quia con-
trariae sunt pietati. Quod quidem Socrates quia facere
tentavit, in carcerem conjectus est, ut jam tum appareret, quod
esset futurum in hominibus, qui justitiam veram defendere
deoque singulari servire coepissent" (Inst. V 14 L3 14, cfr. II 3 5).
Nach Athenäus (XV 196) wurde Aristoteles von dem Hiero-
phanten Eurymedon in Athen auf Gottlosigkeit verklagt. Und
Aelian V. H. III 36 bemerkt, dass Aristoteles wegen dieser
Anklage Athen verlassen, damit nicht die Athenienser zweimal
an der Philosophie versündigten, eingedenk, wie Aelian schreibt,
des Todesurtheils gegen Sokrates und seiner eigenen Gefahr.
Um eine Vorstellung zu gewinnen von dem Umfang und
von der Tiefe dessen, was wir Baalcultus genannt haben,
müssen wir uns entschliessen, nach dem Vorgang des Paulus
und der Kirchenväter einige Züge von den Orgien der durch
die öffentliche Auctorität sanctionirten Augen- und Fleisches-
lust, welche kein Philosoph und kein Beamter anzutasten
wagte, zu vergegenwärtigen. Mitten in die Sache hinein ver-
setzt uns Cyprian durch das, was er schreibt ad Donatum
202
VIII. Also, wenn die öffentliche Auctorität sündig geworden,
dann wird sie zu einer Kupplerin. Ich setze Leser voraus,
welche mit mir darin einig sind, dass die Sünde als der Leute
Verderben zu verabscheuen und nach Kräften zu bekämpfen
ist. Somit können und sollen wir uns nicht bloss die Lage
der Apologeten und Kirchenväter mitten in der ungebrochenen
Heidenwelt vergegenwärtigen, sondern sind auch verpflichtet,
für sie einzutreten, denn unser bestes Erbtheil ist durch ihren
Kampf und Sieg errungen.
Die christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte
haben die finstersten Schattenseiten des antiken Heidenthums
aufgedeckt ; dieselben w^erden deshalb von den Humanisten oft
für bornirt gehalten. Mit Unrecht, denn so wenig Paulus
durch seine scharfe Anklage gegen das Heidenthum sich ab-
halten lässt, den Heiden zuzugestehen, dass es Solche giebt,
welche von Natur thun, was das Gesetz enthält und dadurch
selbst ein Gesetz sind, so haben die christlichen Väter, welche
am schärfsten mit dem Heidenthum ins Gericht gehen,
Tertullianus, Clemens Alexandrinus, Minutius, Justinus, Arnobius,
Lactantius, Augustinus, Eusebius sich andererseits ernstlich
bemüht, die in dem Heidenthum enthaltenen Ueberbleibsel
einer reineren und ursprünglichen Gotteserkenntniss ins Licht
zu stellen. Mit grösserem Recht ist der Vorwurf der Ein-
seitigkeit den Humanisten zu machen. Diese nämlich lieben
es, vor den unheimlichen Tiefen des dämonischen Wesens die
Augen zu verschliessen, oder, wo die Gründe sich nicht ver-
decken lassen, mit falschen Gründen zu entschuldigen, und es
wird damit der volle Segen, der in dem antiken Alterthum
für die Menschheit enthalten ist, durch diese Fälschung
geschwächt und verkümmert. Es ist noch heute Bedingung
für das wahre Verständniss der antiken Menschheit, in erster
Linie diejenigen zu vernehmen, welche das ungebrochene
Heidenthum angeschaut und erfahren haben und bereit waren,
ihre Anklagen mit ihrem Blute zu beweisen. Nur durch den
Kampf und Sieg dieser heroischen Christenheit ist die wahre
Erkenntniss Gottes für die Menschheit erhalten, und nur durch
diesen Kampf und Sieg ist in der Welt ein Raum geschaffen.
203
auf welchem die Schätze der antiken Humanität nicht bloss
aufbewahrt werden sondern auch ein neues Leben und eine
neue Wirkung innerhalb der Menschheit erlangen konnten.
Nur derjenige, welcher versteht, wie in dieser zwiefachen Weise
unser höchstes Interesse mit diesem patristischen Schriftthum
verknüpft ist, ist im Stande, diese Polemik des heroischen
Christenthums zu würdigen.
Wer mit am schärfsten das antike Heidenthum verklagt
und namentlich mit am unverholensten seine finsteren Greuel
aufgedeckt, ist der Afrikaner Arnobius. Da nun dieser zugleich
das Bedürfniss empfindet, sich wegen seiner Schärfe und seiner
Unverfälschtheit zu rechtfertigen, so ist es besonders lehrreich,
ihn zu vernehmen. Ungefähr seit dreihundert Jahren, schreibt
Arnobius, giebt es ein christliches Volk (I 14), aber noch immer
ist der Stand der Christen die Gefahr des Martyriums. Die
heidnischen Götter dürsten nach Christenblut, sie sind wüthend
gegen uns ergrimmt (I 25), alle Arten grausamster Christen-
verfolgung sind in voller Uebung (I 26, IV 36, V 29). Die
Christen sind auf den Tod verklagt vor den Magistraten und
vor der Volksmasse, weil sie die anerkannten Götter nicht
verehren. In diesem Stande der Nothwehr hält es Arnobius
für seine Pflicht der Vertheidigung (,, officium defensionis")
(V 18, V 20), die Greuel der Götter, welche die Christen zu
verehren gezwungen werden sollen, zu enthüllen. ,,Non quo
nobis dulce sit tam foedis inequitare mysteriis, sed ut ipsis
vobis promptum etiam atque etiam fiat, quid in eos congeratis
injuriae, quorum profiteamini vos esse custodes" (V 20). Man
beachte die Worte: ,,ut ipsis vobis promptum fiat", der christ-
liche Apologet weiss es, dass die besseren Polytheisten vor
der massenhaften Wüstheit und Unflätigkeit der Götterfabeln
und Cultusarten gerne die Augen verschliessen. Aus diesem
Grunde sieht sich Arnobius genöthigt, um der Selbstvertheidi-
gung willen und zur Steuer der Wahrheit, diese Abgründe
der bestehenden Religion in ihrer ganzen Scheusslichkeit vor
Augen zu stellen. Arnobius, sich an die besseren Heiden
wendend, will sagen: ,,ihr bekennt euch als Vertheidiger der
Götter und uns als ihre Feinde; wenn ich nun in pflicht-
204
massiger V^ertheidigung die Greuel des Mythus und Cultus auf-
decke, dann zeigt sich, das ihr vor Allen es seid, die den
-Göttern Schande bereiten." Er bemerkt dabei, dass er nicht
Alles, was dahin gehört, zur Sprache bringe. ,,ne, dum explicare
contendimus cuncta, expositionis ipsius contaminationibus pollu-
amur" (V i8). Nur ist dieses Uebergehen und Schweigen
nach Arnobius bei denjenigen Ceremonien und Mythen nicht
statthaft, welche mit dem Namen Jupiters verwachsen sind
(V 20).
Wir wollen aber nicht verschweigen, dass die Schrift des
Arnobius ,,adversus gentes" in zwiefacher Beziehung den
Polytheisten zu nahe gethan hat. Hin und wieder nämlich
bekämpft Arnobius den Polytheismus auf Grund der Voraus-
setzung des flachen Euhemerismus, was er auch mit Anderen z. B.
Lactanz gemein hat. Nun hatte allerdings diese rationalistische
Erklärung der Mythen eine weite Verbreitung gefunden, die
Schrift: „Upa ^-va^pa^^r^" war durch die Uebersetzung des Ennius
■den Römern als eine griechische Aufklärung früh bekannt
geworden. Aber so lange Männer wie Plutarch mit solchem
Nachdruck diesen Rationalismus als Gottlosigkeit verwerfen,
kann man nicht das Heidenthum als solches für den Euheme-
rismus verantwortlich machen. Aehnlich ist es mit solchen
Erzählungen, welche von einzelnen Schriftstellern ersonnen sind,
um gewisse Mythen oder Riten verständlich zu machen. Als
solche Schriftsteller nennt Arnobius Timotheos (V i), Clodius
(V 5), Butas, Flaccus (V i8), vor Allem gehört dahin ,die
schmutzige Erzählung von Prosomnus. Die Linie zwischen
solchen privaten Glossen und dem officiellen Heidenthum ist
jedenfalls von Arnobius nicht scharf genug gezogen, obwohl er
(III lo) meint: das, was unter frommem Vorwand von den
Göttern Ungöttliches und Unheiliges gedacht und gesagt wird,
ist eine ärgere Gottlosigkeit als eine offene Schmähung der
Götter, was den Christen mit Unrecht vorgeworfen wird.
Das ist nun eben das, was wir Baalcultus nennen. Es
sind solche offenbare und unleugbare Unsittlichkeiten an den
Göttern, welche als Festgebräuche, Cultushandlungen und
Cultusobjecte durch die öffentliche Auctorität und durch
205
religiösen V^orwand geschützt und sanctionirt werden. Es
waltet hier die officielle Lüge, vermöge welcher das Unheilige
als Heiliges dargestellt und als solches durch die öffentliche
Auctorität gesichert ist.
So wie es nun Arnobius für eine Pflicht der Nothwehr
erachtet, die finsteren Greuel des Baalcultus ans Licht zu
ziehen, so erklärt auch Clemens Alexandrinus, wie schon oben
bemerkt: ,,ich will das Verborgene und das Heimliche vor
Allem ans Licht stellen und die Schamhaftigkeit soll mich
nicht abhalten, das vorzutragen, was ihr Heiden euch nicht
schämt mit göttlichen Ehren auszuzeichnen. O der offenbaren
Schamlosigkeit ! Einst, als die Menschen noch züchtig waren,
war die schweigende Nacht die Hülle der Lust, jetzt ver-
kündigt für die Eingeweihten die Nacht die Unzucht im
Heiligthum" (Cohort. ad gent. Patrolog. Series Graeca V 75 89).
Clemens verweist auf eine frühere und züchtigere Zeit. Es
ist schon erwähnt, dass Homer von den unnatürlichen Sünden
noch nichts weiss. Asien ist die Heimath der geschlechtlichen,
unnatürlichen Ausschweifungen (Rosenbaum die Lustseuche im
Alterthum I 291 311). Das, was Herodot als das Schand-
barste der babylonischen Gesetze bezeichnet (I 199), ist der
Baalcultus im eigentlichen Sinne, nämlich die Preisgebung der
jungen Mädchen im Tempel zu Ehren der Venus. Dieser
monströse Cultus findet sich gleichfalls in Armenien, Lydien,
Karthago, Phönizien (Rosenbaum II 53 54 55 88). Die öffent-
lichen Weihgeschenke von Hetären an Aphrodite haben den-
selben schandbaren Charakter und beweisen somit die Ueber-
tragung dieses Cultus nach Hellas. Auf Samos haben die
Hetären der Aphrodite einen Tempel gebaut mit dem Gelde
ihrer Schande (Anthol. Graeca, ed. Jakobs Anim. I 415).
Nach Timaeus und Theopompus haben Korinthische Hetären
in den Tagen der Persernoth für die Erhältung des Vaterlandes
die Aphrodite angefleht, und ist ihnen eine Gedenktafel
gestiftet, auf welcher die Hetären abgebildet sind mit einem
Epigramm von Simonides (Athenäus XIII 32). Ob Friedrich
Jakobs (Vermischte Schriften III 212 — 254) darin Recht hat,
dass in Hellas der männliche Eros ursprünglich einen reinen
206
Sinn hat und sogar eine eigenthümlich nationale Tugend
bedeutet, muss ich dahin gestellt sein lassen.
Wenn die Heiden den Anklagen der Christen gegenüber
erwiderten, dass man die Fabeln der Dichter nicht allzuernst
nehmen dürfe, so lässt Arnobius dies in gewisser Weise gelten,
beruft sich aber auf die Feste und Mysterien, welche unter
dem öffentlichen Gesetz und Herkommen standen (IV 35, V 24,
vgl. Keim Christenthum und Rom 112 113 114). Und eben
hier hat der Baalcultus seinen festesten und verderblichsten Sitz.
Nicht als ob die Götterfeste, die Mysterien und Spiele von
vornherein einen ausgeprägt unsittlichen Charakter gehabt
hätten. Die Grundelemente der menschlichen Gesittung, Ehe,
Ackerbau und Rechtsordnung werden mit religiösem Sinn auf-
gefasst und demnach als Werke übermenschlicher, aber
menschfreundlicher Gewalten verehrt und heilig gehalten.
Daher die Forderung der reinen Geister und der reinen
Hände als Bedingung für den Eintritt. Weil dieser Kern der
elementaren Frömmigkeit zwar von der wachsenden Verderbniss
angefochten, aber nicht vernichtet wird, so erhält sich auch
das Lob der Mysterien durch alle Zeiten. xA-ber nachdem der
heroische Widerstand der Marathonischen und Salaminischen
Zeit gegen asiatische Weichlichkeit und Ueppigkeit nach-
gelassen, drang die Verunreinigung des Cultus und Mythus
mit Macht aus dem Orient in Hellas herein. In der von
Thracien, Phrygien und Aegypten ausgehenden orphischen
Mythologie ward die Gestalt des Zeus immer tiefer in den
Abgrund der widernatürlichen Unzucht versenkt. Alle Schranken
der Scham und Zucht wurden niedergerissen (Lobeck
II 818 — 827). Von Haus aus unsaubere Wesen, wie Bendis,
Cotytto, Orthanes, Tychon u. a. erhalten Gastrecht bei den
Griechen (Wachsmuth hellenische Alterthumskunde II 2 209,
Lobeck II 1026). Den Zustand der rehgiösen Feste und
Mysterien in diesen Zeiten der tiefen Verderbtheit schildern die
Kirchenväter, aber verdienen deshalb nicht den Vorwurf, den
Lobeck I 196 ihnen macht. Denn da zu Gegenständen des
nächtlichen Schauens auch die ,,x':sic", das membrum feminale
gehörte, so kann man sich die Ausgelassenheit bei der Masse
207
der Epopten in solchen wüsten Zeiten nicht arg genug denken.
Jedenfalls gehörte der am sechsten Tage aufgeführte Jacchuszug
zum Feste und dieser Theil des Festes bestand in entfesselter
Augen- und Fleischeslust (Meursius Eleus. p. i6o 162 — 166)-
Den Sinn dieser ausgelassenen Dionysien bezeichnet Castellanus
in Thesaurus (ed. Gronov. VII 627) ganz treffend, und ist
damit genau ausgedrückt, was wir unter Baalcultus verstehen.
Was an den ausgelassenen Dionysien in Athen keinen
besseren Namen verdient als Baalcultus, wird uns noch jetzt,
so zu sagen, vor Augen gestellt durch die Komödien des
Aristophanes. Den Gegensatz zwischen Aeschylus und
Euripides, der in den ,, Fröschen" mit grossem Nachdruck aus-
geführt wird, muss man wohl als charakterisches Selbst-
bekenntniss des Aristophanes ansehen. Demnach ist Aristophanes
dem Hauptcharakter nach ein Vertreter der alten Zeit im
Gegensatz zu der Gegenwart der Aufklärung und Auflösung.
Aristophanes erkennt den Preis dem Aeschylus zu, welcher den
Grundsatz aufstellt, dass auf dem Theater Unanständiges und
Unzüchtiges nicht erscheinen darf Mit dieser theoretischen
Anständigkeit des Aristophanes verhält es sich aber ähnlich wie
mit der oben besprochenen Verwahrung des Plato und Aristoteles
gegen die Anstössigkeiten des Mythus und Cultus. Es giebt
nämlich auch für Aristophanes eine höhere Macht, welche diese
Verwahrung durchbricht und aufhebt. Was Plato eine nicht
näher bezeichnete Nothwendigkeit, Aristoteles ein die Aus-
gelassenheit herausforderndes Herkommen nennt, ist bei
Aristophanes ein mit der Leichtfertigkeit seiner Zeitgenossen
übereinstimmender Naturtrieb. Die Anstössigkeiten des
Aristophanes gehen aus naiver Ausgelassenheit und unbefangen
übersprudelnder Lebenslust hervor (Aristophanes und die
historische Kritik von H. Müller Strübing 1873 p. 114). Und
was die Zeitgenossen anlangt, so sagt Droysen: ,,man ist
damals gar nicht mehr so unschuldig in Athen, der Kitzel der
Sinnlichkeit ist unerschöpflich, der Athener liebt es, von
schmutzigen Dingen reden zu hören, ja sie selbst leibhaftig
zu sehen" (Aristophanes übersetzt 2. Aufl. 1871 I pag. VI).
Nun werden die Komödien wie die Tragödien aufgeführt in
208
den hohen Festen und stehen unter der öffentlichen Auctorität
(VVachsmuth hellen. Alterthümer i 2 158^ was also auf der
Bühne vorgeht, ist ein Theil der öffentlichen Festfeier.
In gewisser Weise seilen wir in den ,.Acharnern" noch
heute, wie in einem bürgerlichen Hause in Athen das
Dionysusfest gefeiert wird. Der Bürger Dikaiopolis beginnt
mit Frau und Töchtern die Feier unter Aufforderung zur
schweigenden Andacht. Dann fordert er die Sclaven auf, den
Phallus grade empor zu richten, das Zeichen der nackten
]\Iannheit nicht in seiner Ruhe, sondern in dem Zustand der
Anreizung darzustellen. Nachdem dies geschehen, beginnt
Dikaiopolis seinen Jacchuszug, indem er das Phalluslied an-
stimmt unter Aufforderung an die Frau, ihn mit den Augen
zu begleiten. Das wilde Feuer hat sofort die Wirkung, dass
Dikaiopolis mit einer von Wollust entzündeten Zunge die
Scene eines ehebrecherischen Actes mit einer hübschen
Thracierin ausmalt (Acharner I 237 — 279). Damit nicht genug,
die ,, Acharner" schliessen damit, dass das was Dikaiopolis sich
ausgemalt, er selber in nackter Wirklichkeit auf der Bühne vor
dem Volk darstellt. Dikaiopolis erscheint in der Mitte von
zwei Dirnen und redet mit ihnen die Sprache des Bordells.
Ist hier nicht eine offenbare Nachbildung der Versündigung
Jsraels mit Baal Peor auf dem Gefilde Moabs ? Ist nicht der
aufgerichtete besungene Phallus der midianitische Baal Peor, den
der falsche Prophet Bileam zu einer Verführung für Jsrael
gemacht hat (Num. XXXI 16)? Wenn die ursprüngliche
Komödie ein Phalluszug zu Ehren des Dionysus und der ver-
wandten Gottheiten war, wie Droysen sagt (II 262), dann haben
die ,, Acharner" diesen Charakterzug in derber Ausführung
ausgeprägt. In dem ,, Frieden" löst sich die Festfeier auf in
ein krass sinnliches Bacchanal. Man pflegt nun wohl zu sagen,
dass man diese Dinge nach dem damaligen Standpunkt des
sittlichen Urtheils schätzen müsse, und so betrachtet, würden
sie den grössten Theil ihrer Anstössigkeit verlieren. Es giebt
allerdings Anstössigkeiten, bei denen diese Mahnung berechtigt
ist, aber bei den P>scheinungen, die wir als' Baalcultus
bezeichnen müssen, kommen die unwandelbaren Gesetze der
209
moralischen Weltordnung in Betracht, und nach Massgabe
dieser Gesetze müssen wir sagen: so wie diese unzüchtigen
Darstelhmgen aus einem unreinen Sinn hervorgegangen sind,
so müssen und werden sie in einer Volksmasse zu allen Zeiten
und unter allen Zonen die in der gefallenen Menscbennatur
schlummernde Lust erwecken und entzünden und werden dann
auch zur Vollbringung der sündigen Lust treiben und schliess-
lich, wie Jakobus schreibt (I 15), den Tod gebären. Und
dieser ganze sündige Process steht nun Offenkundigermassen
unter dem Schutz der Staatsreligion und stellt sich somit dar
als einen Theil des Cultus, und darin liegt eine Versuchung
und Verführung für die Volksseele ohne Gleichen.
um nun diese allerschwerste Anklage gegen den Mythus
und Cultus abzuwehren, kommt man wieder auf die Ein-
wendung : die anstössigen Götterfabeln sind Allegorien von
natürlichen Dingen, so dass die Sage von Jupiters Vermählung
mit Ceres, seiner Mutter, nicht einen Incest bedeutet sondern
die Naturerscheinung, dass der Regen die Erde befruchtet
(Arnobius V 32, IV 33). Es ist nicht unsere Aufgabe, zu
untersuchen, ob und wie weit Mythus und Cultus ursprünglich
diese natürliche Erklärung zulassen oder fordern, für uns ist
lediglich die Frage, ob die allegorische Erklärung das Gift,
welches in diesen schlüpfrigen Erzählungen und Darstellungen
enthalten ist, unwirksam macht. Das müssen wir aus dem-
selben Grunde verneinen, den schon Plato anführt. — Denn
was Plato von den Kindern sagt, das gilt noch viel mehr von
der Volksmasse. Die Kinder, sagt Plato, unterscheiden nicht,
was einen anderen Sinn hat und was nicht, was sie aber auf-
nehmen in ihre Seele, das ist schwer austilgbar (De repub.
II 379). Nun ist offenbar, dass das, was in dem Mythus und
Cultus die fleischliche Lust reizt, von der Seele der Volksmasse
so gierig und nachhaltig aufgenommen wird, dass eine auch
noch so begründete anderweitige Erklärung daneben keinen
Raum hat. Es ist durchaus richtig, was Arnobius bemerkt,
dass der Volksverstand aus den allegorischen Erklärungen
nichts Anderes herausnimmt, als ,,deorum nominibus res
appellare turpissimas" oder ,,turpibus deorum factis negotia
14
210
significare vulgaria" (V 40). Wenn immerhin die Fesselung
von Mars und Venus im Ehebruch von der Bändigung der
Laster zu verstehen sein sollte, so nimmt, wie Arnobius
behauptet V 41, die Schandbarkeit der Bilder den Geist
voraus gefangen und lässt einen sittlichen und religiösen Sinn
gar nicht aufkommen.
Dass auch der grossartigste \'ersuch der allegorischen
Erklärung nicht im Stande ist, das wilde Feuer in den
Lüsternheiten des Mythus und Cultus auszulöschen, beweist
der Neuplatonismus. Der Neuplatonismus war der letzte
grossartige Versuch, das Heidenthum vor dem Unglauben und
dem Christenthum zu retten. Die Neuplatoniker betrieben
eine solche spiritualistische Ueberspanntheit, dass es für eine
Ehre gehalten wurde, sich zu schämen, ein Mensch zu sein
und einen Körper zu haben. Aber daneben fehlte es ihnen an
der Kraft, sich von dem Materialismus des hergebrachten
Mythus und Cultus loszumachen. Porphyrius findet in der
Homerischen Beschreibung der Nymphengrotte (Odyss. XIII)
einen mysteriösen Sinn (Porphyrius de antro Nympharum
1765). Aber in dieser überschwenglichen Allegorie bleiben
die Fabeln von Uranus und Saturnus unangetastet stehen
(Cap. XVI), und nach Jamblichus (De vita Pythagorae ed.
Kiessling I 310) und Eunapius (Fragm. ed. Boissonade
p. 486 487) galt das Festhalten an dem hergebrachten Cultus
als ein hohes Lob. Auch Julian, der kaiserliche Schüler des
Neuplatonismus, sieht das Heil in der Verehrung der väter-
lichen Götter (Juliani epistolae ed. Heyler 1828 ep. XL p. 74).
Und ganz allgemein behauptet Eusebius: ,, diejenigen, welche
sich der schandbaren Mythen und Riten schämen, versuchen
eine natürliche Erklärung, aber Niemand von diesen hat es
gewagt, die natürlichen Gebräuche zu ändern, sondern sie Alle
vertheidigen mit Eifer die Tradition" (Praepar. Evang. II 6).
Derselbe schreibt ferner: ,,auch die natürliche Erklärung der
Mythen von Porphyrius befasst sich mit der Enthüllung der
anstössigen Nacktheiten" (II 11 13), was Eusebius durch das
treffende Bild erläutert : ,, nachdem diese neuen Philosophen
auf hohen Bergen die Mythen aus der Natur erklärt haben,
211
steigen sie hernieder zu dem Standpunkt des Volkes" (III 14),
welchen Standpunkt er schliesslich bezeichnet als das Halten
an dem Alten, ,, Vaterländischen", dass ein Jeder das Vater-
ländische annehmen, das Unbewegliche nicht anrühren sondern
•der Frömmigkeit der Vorfahren folgen solle und Nichts aus
Liebe zur Neuerung unternehmen dürfe, wer daher diese
Satzung übertrete, verfalle der Todesstrafe (VI i). Zusammen-
fassend schreibt endlich Augustinus: ,,Plotinus, Jamblichus,
Porphyrius, Apulejus hi omnes et ceteri ejusmodi et ipse Plato
diis Sacra facienda putaverunt" (C. D. VIII 12). Man ersieht
aus diesen Citaten, dass der Vorwurf, den jüngst Hausrath den
Apologeten macht, als hätten sie durch Nichtberücksichtigung
der allegorischen Erklärung der Mythen den Polytheisten
grosses Unrecht gethan (Kleine Schriften p. 40 91), längst
von den christlichen Schriftstellern widerlegt worden ist. Man
vergleiche auch Marquardt Sacralwesen p. 63.
Es zeigt sich uns, was vor siebenhundert Jahren in Athen
der Fanatismus und die Missethat der Sophisten war, das ist
später Grundsatz der Weisesten, obwohl das, was Sokrates in
frommem Eifer zu reinigen und zu berichtigen suchte, sich
sehr merklich verschlimmert hat. Diesen Fortschritt der Ver-
schlimmerung in dem heidnischen Religionswesen bezeichnet
ein einziges Wort, nämlich das Wort Phallus.
Es giebt im Alterthum Schriftsteller, welche mit sünd-
lichem Behagen die Worte und Werke der Wollust ans Licht
ziehen. Auch unter den Erforschern und Darstellern des
Alterthums giebt es Solche, die den Verdacht erwecken, dass
sie die Abgründe der P'insterniss mit einem unreinen Sinn
beleuchten. Auch das ist verwerflich, diese Abgründe mit
einer parteiischen Befriedigung zur vermeintlichen Ehre des
Christenthums aufzudecken. Vielmehr muss es unser Schmerz
sein, dass das herrliche Gotteswerk der antiken Menschheit
einem solchen dämonischen Attentat ausgesetzt gewesen ist.
Und dieser Schmerz wird dadurch erhöht, dass wir den
Adel der antiken Menschheit von einer neuen Seite kennen
lernen, indem wir uns vergegenwärtigen, dass die geistige
Lebenskraft der antiken Menschheit tausend Jahre dem
14*
212
Dämon des Baalcultus Widerstand geleistet hat. ,,Virtus
majorum vitia nostra sustentat", schreibt Einer, der das
wachsende und sich vollendende Verderben mit tiefem Kummer
anschaut.
Das Symbol der Mannheit hat ursprünglich ohne Zweifel
eine religiöse Bedeutung. Es beruht auf der Anerkennung der
der menschlichen Natur verliehenen göttlichen Zeugungskraft
(Diodor. IV 6, cfr. Creuzer Symbolik u. Mythologie 2. Aufl.
I 583 — 586. Ueber den ägyptischen Phallus siehe Creuzer
II 262, II 662). Mit dem Dionysusdienst kam der Phallus
nach Europa (Lobeck Agl. I 661). Der italischen Sitte der
Bekränzung des Phallus, welche Augustinus beschreibt (C. D.
VII 21), mag ein verhältnissmässig reiner Sinn zu Grunde
liegen. Wenn irgend wo, so gilt von diesem Gebiet, was
Grüneisen sagt: ,,es ist die Gefahr vorhanden, in das Gebiet
des Unsittlichen zu verfallen" (Grüneisen über das Sittliche in
der bildenden Kunst der Griechen 1833 p. 87, vgl. Wachsmuth
Alterthumskunde II 2 244). Nachdem die Procession mit dem
aufgerichteten Phallus eine häufige P'estgewohnheit geworden
war (Castellanus in Thesaur. ed. I, VII 643 — 646), wurde in
dem Volksbewusstsein das religiöse Moment dieses Zeichens
von der lüsternen Sinnlichkeit mehr und mehr verschlungen.
Denn das Bild stellt nicht mehr die einfache Gestalt der
Mannesnatur dar sondern lässt geflissentlich dieselbe so er-
scheinen, dass sie die ruhende Sinnlichkeit aufwecken muss.
Die Beschreibung (Anthol. Graec. ed. Jakobs II 296 b) ist
darauf angelegt, diesen lüsternen Charakter deutlich zu machen.
Daher ist die den Griechen ganz geläufige Bezeichnung
..iiiu'iotAAo;", welchen Ausdruck Wieland in seiner schlimmsten
Zeit dem deutschen Lesepublicum vor Augen gestellt hat.
Dieselbe Anschauung wollen in den ,,Carminibus ithyphallicis"
die Ausdrücke ,,tenta vena", ,,hasta rudis" (Anth. lat. ed.
Burmann II 508 516 496) besagen, wie denn diese carmina
die beabsichtigte Wirkung dieser Gestalt nicht verschweigen
(p- 534 500)- J^> ^^'^s wollen wir uns wundern über die
Nacktheit der lasciven Gedichte, wenn Cicero sich nicht
scheut, in seiner Lehrschrift über die Natur der Götter die in
213
jenen Ausdrücken angedeutete Sache mit dürren Worten zu
beschreiben? (N. D. III 221).
Uebrigens wurde diese herausfordernde Lüsternheit des
Phallus in Aegypten noch gesteigert. Im ägyptischen Religions-
wesen spielt der Phallus überhaupt eine ganz hervorragende
Rolle (Plutarch de Iside III 365 b c 376 f 379 o, Diodor IV 6).
Herodot bemerkt, dass in den häufigen Festzügen das Glied
nicht bloss eben so gross war wie der übrige Körper sondern
auch, wie Herodot zweim.al hervorhebt, sich bewegt und erhebt,
während die Weiber dem Aufzug folgen und den Dionysus
besingen, ähnlich, wie es Aristophanes in den Acharnern den
Atheniensern zum Anschauen dargestellt (II 48 49). Was
mehr als eine solche öffentliche Darstellung auf die Schwach-
heit weiblicher Natur einstürmen könnte, ist nicht denkbar,
geschweige denn sagbar. Wie sehr wir uns hier in einem
Gebiet befinden, wo die Schamhaftigkeit den Mund verschliessen
und die Augen verhüllen soll, es sei denn, dass eine höhere
Pflicht anders gebietet, mag sich uns noch dadurch vergegen-
wärtigen, dass ein so frommer und züchtiger Mann, wie
Plutarch, überwunden durch die Macht der in dieser Materie
herrschenden Zuchtlosigkeit, sich nicht gescheut hat, vor den
Augen und Ohren der Klea, einer von Vater und Mutter in
die Mysterien eingeweihten Persönlichkeit (De Iside II 364 d),
die von Incesten, Phallophorien angefüllte Religion der Aegypter
vorzutragen.
Wenn man übrigens hier allein die lateinischen Schrift-
steller zu Rathe zieht, so kommt man leicht auf den Gedanken,
dass der Priapus bei den Römern nur in Privatgärten seinen
Platz gehabt und deshalb eine öffentliche und all-gemeine
Bedeutung nicht habe. Dass diese Vorstellung irrig sei, würde
sich uns wohl schon aus der Abhängigkeit ergeben, in welcher
die späteren Römer in den geistigen Gebieten überhaupt zu
den Griechen stehen. Bei den Griechen ist der Phallus schon
wegen der Festordnungen ein Moment des öffentlichen Lebens
und behauptet daher seinen Platz in der Oefifentlichkeit. ,,In
tota Graecia mos per oppida phallos subrigit et veneratur"
{Arnobius V 29 39). Ich wüsste nun in der That nicht, wie
214
man die hier vorliegende Verbindung der beiderseitigen
Ausdrücke, welche einerseits die offenbare Obscönität, anderer-
seits Anbetung bedeuten, kürzer und correcter bezeichnen will
als durch das Wort ,,Baalcultus". Wie nun die anderen Gott-
heiten besondere Städte und Inseln sich zueigneten, so hat
auch der Phallus in Griechenland einen Lieblingssitz, seine Stadt
ist Lampsakos, wo sein Standbild eine besondere Berühmtheit
geniesst (Anthol. graec. ed. Jakobs II 196, cfr. II 83 84).
,,Priapum prae ceteris diis venerantur Lampsaceni" (Thesaur.
antiquitatum" ed. Graevius T. XII 975). Wie die übrigen
Götter, sagte ich, denn es hat den Anschein, dass je mehr das
ursprüngliche religiöse Moment dieses Symbols von der Sinn-
lichkeit verdrängt wird, man um so mehr geflissentlich die
Gottheit des Priapus betonte (Anthol. lat. II 503 513 515 517,
Horat. Sat. I 8 3). Diese Benennung ist dann freilich ein
schrecklicher Missbrauch des heiligen Gottesnamens und eine
schlagende Bestätigung dafür, dass wir es hier mit einem
unleugbaren Baalcultus zu thun haben. Was übrigens bei den
Griechen für die Oefifentlichkeit dieses Cultus die Berühmtheit
v^on Lampsakos bedeutet, ist bei den Römern die Sammlung
der ,,carmina ithyphallica", von Lessing die ,, unsauberen Thor-
heiten" genannt, an denen CatuU und Tibull, und nach Einigen
Vergil, betheiligt sind, welche in frechen Versen Gestalt und
Sinn dieses Symbols Jedermann aufdrängen.
Dieser Priapismus der lateinischen Verse ist das Signal,
welches uns anweist, nunmehr die Verwüstung des Baalcultus
auf dem Grund und Boden des römischen Reiches, besonders
in der Cäsarenzeit, zur Anschauung zu bringen. Die späteren
Griechen, welche die Verwüstungen, die der unreine Mythus
und Cultus in ihrem Volksleben angerichtet, vor Augen hatten,
bewunderten die Reinheit und Zucht der römischen Staats-
religion. Der Skeptiker Polybius erkennt und preist den
Nutzen, den das straffe Religionswesen in Rom den staatlichen
Einrichtungen gewährt. Eusebius giebt uns einen Auszug aus
der Schrift des Dionysus von Halikarnass über die Religion
der Römer, in welcher derselbe der römischen Staatsreligion
den Vorzug zuerkennt, weil diese frei sei von dem anstössigen
215
Mythus und Ritus der Griechen (Praepar. II 8). Plinius der
Aeltere macht den Griechen den schweren Vorwurf: ,,Graeca
res est nihil velare" (H. N. XXXIV lO 5). Und schon Ennius
hatte mit Bezug auf die Sitte der griechischen Gymnasien
gesagt: ,,flagitii principium est nudare inter cives corpora"
(Cicero Tusc. IV 33). In der That wehrte sich altrömisches
Bewusstsein und Sitte gegen das Eindringen fremder unreiner
Cultusformen. Im Jahr 186 a. C. hatte sich in Rom eine
geheime bacchanahsche Secte gebildet, welche siebentausend
Mitglieder zählte. Sobald diese Sache ruchbar wurde, ward
vom Staat eine grosse Strenge aufgeboten, um diese innere
Verschwörung auszurotten (Livius XXXIX 8 etc.). Von dieser
Zeit schreibt Firmicus Maternus: ,,erant adhuc in urbe Roma
integri mores". Als es sich in der Noth des zweiten punischen
Kriegs um die Ueberführung der ,, Magna mater" von Pessinus
handelte, sollte für dieses Werk der beste Mann ausfindig
gemacht werden, und einstimmig ward vom Senat Scipio Nasica
dafür erkannt. Um den Gegensatz zwischen der alten und
neuen Zeit in Rom bemerklich zu machen, verweist Augustinus
auf den Umstand, dass dieser Scipio Nasica ein Gegner der
neuen und verführerischen Spiele gewesen (C. D. I 3 1 32).
Es gehören nämlich die späteren Erscheinungen eben dieses
fremden Cultus zu den anstössigsten Excessen. Man sieht also,
dass, wenn die Aufnahme eines fremden Cultus in Rom unter
strenger Vorsicht geschieht, im weiteren Verlauf dieser Cultus
im römischen Volk den schlimmsten Ausartungen unterliegen
kann. Indessen zu solchen Entartungen würde es überall nicht
kommen, wenn nicht auch in dem römischen Volk ein arger
Zunder der Verführbarkeit verborgen gewesen. Diese sünd-
hafte Anlage kommt auf eine augenfällige Weise zum Vor-
schein in dem nicht entlehnten, sondern ursprünglich römischen
Ritus der Floralia. Von diesem Cultus, den Lactanz zu den
,,religiones Romanorum propriae" zählt, schreibt derselbe
Lactanz: ,,celebrantur ludi, quos floralia appellant, cum omni
lascivia. Nam praeter verborum licentiam, quibus cbscoenitas
omnis effunditur, exuuntur etiam vestibus populo flagitante
meretrices, quae tunc mimarum funguntur officio, et in conspectu
216
populi usque ad satietatem impudicorum cum pudendis motibus
detinentur" (Instit. I 20 10). Und dieses Floralienfest stand
unter der Leitung des Praetors (Grysar der römische Mimus im
Sitzungsberichte der Wiener Akademie 1854 277). Die Ein-
rede, zu welcher die einseitigen Verehrer des klassischen Alte r-
thums leicht geneigt sind, dass bei dieser Scene der obscönsten
Nacktheit eine Uebertreibung der christlichen Apologeten anzu-
nehmen sei, lässt sich hier auf das Vollkommenste widerlegen.
Nicht bloss ist die Thatsache auch anderweitig bezeugt (T. Varro
de lingua latina ed. Stephanus IV 39, Juvenal VI 249, Ovid
Fast. V 183 ff., Histor. Aug. I 802, Arnobius III 23, VII 33,
Minutius Fehx c. XXV), sondern wir empfangen aus dem
Heidenthum selber ein Urtheil über diesen schandbaren Ritus,
welches mit der Strenge der christlichen Apologeten voll-
kommen stimmt (Val. Maximus III 10 8, Seneca ep. XCVII 8).
Cato erscheint hier als das Gewissen des Volkes, dessen
schweigende Gegenwart das römische Volk abhielt, jenes
schnöde Schauspiel zu verlangen. Denselben Gegensatz zwischen
Cato und jenem öffentlichen Schauspiel spricht Martial aus Ep. ad
lectorem Epigr. I 35. Aber das stärkste Brandmal der Ver-
werflichkeit hat Cicero diesem Ritus aufgedrückt, wenn er in
einer Volksrede folgendes Geständniss ablegt: ,,nunc sum
designatus aedilis, habeo rationem, quid a populo Romano
acceperim, mihi ludos sanctissimos maxima cum ceremonia
Cereri, Libero Liberaeque faciundos, mihi Floram matrem populo
plebique Romanae ludorum celebritate placandam esse" (In
Verrem V 14). Cicero erklärt also, dass er als ernannter
Aedil von dem römischen Volk die Verpflichtung übernommen,
jenes Schauspiel schamloser Nacktheit, welches er ,,flores
sanctissimos" nennt, aufzuführen und zwar als einen Sühneact,
den das Volk der Mutter Flora schuldig sei. Man beachte,
mit welcher beispiellosen Ungenirtheit ein consularischer Mann,
und ein Moralphilosoph wie Cicero in einer Volksrede von einer
unter seiner Auctorität öffentlich aufzuführenden Obscönität
sich ausspricht. Diese Thatsache ist gar nicht zu begreifen,
wenn nicht der Baalcultus als eine öffentliche Institution
anerkannt wäre. Also das, was Cato und in seiner Gegenwart
217
das ganze Volk für eine Schamlosigkeit erkennt, erklärt Cicero
als römische Magistratsperson fiar eine heiligste Pflicht religiöser
Sühne. Eine stärkere Bekräftigung des Vorwurfes , den
Augustinus gegen die heidnischen Magistrate erhebt, dass sie
durch ihre amtliche Betheiligung an manchen sündhaften Acten
des Cultus ihr besseres Wissen und Gewissen vernichteten, kann
es gar nicht geben. Und ist es nicht der wirkliche Baalcultus,
wenn diese sündhafte Befriedigung der Augenlust, deren sich
das Volk, so bald es sich besinnt, schämen muss, von dem
Meister der römischen Beredsamkeit für einen allerheiligsten
Gottesdienst erklärt wird ? !
Die Römer waren genug geistig begabt, um die Ueber-
legenheit des griechischen Idealismus zu fühlen und anzuerkennen.
Es war daher der natürliche Gang der Dinge, dass griechische
Sprache, griechische Literatur, griechische Bildung im Lauf
der Zeit mit steigender Intensivität aufgenommen wurden.
Natürlicherweise verpflanzte sich die Bekanntschaft mit dem
griechischen Mythus und Cultus gleichfalls auf den römischen
Boden, die lateinischen Dichter schwelgten in der Aneignung
der üppigen Fülle der griechischen Fabeln. Aber diese
literarische Aneignung des griechischen Geistes wurde durch
ein neu hinzukommendes Moment in dem Augusteischen Zeit-
alter ausserordentlich gesteigert. Dieses neue Moment war die
durch Augustus und Maecenas auf römischen Boden verpflanzte
Pantomime. Lessing hatte offenbar eine starke Ahnung von
der Wirkung dieses pantomimischen Spieles. Er hat sehr
fleissig die Hauptstellen der alten Literatur über diesen Gegen-
stand gesammelt. Hätte er es erreicht, dieses Material zu
verarbeiten, ohne Zweifel würden dann seine Abhandlungen über
Catull, Horaz und Martial an moralischem Gehalt gewonnen
haben. In seinem Apparat über die Pantomimen bei den
Römern hat Lessing ein bedeutsames Citat übersehen. Zosimus,
ein kaiserlicher Finanzbeamter in Konstantinopel gegen Ende
des fünften Jahrhunderts, ein eifriger Heide und Gegner des
Christenthums, schreibt in seiner römischen Geschichte: ,,die
von Pylades und Bathyllos unter Augustus nach Rom verpflanzte
Pantomime ist nebst Anderem Ursache der vielen Uebel, die
218
jetzt herrschen" (Zosimus historiae, ed. Reitemeier I 6). Diese
scharfe Anklage eines Heiden gegen dieses Augusteische
Kunstprodukt von Einem, der die fast vierhundertjährige
Wirkung jener Schaustellung übersehen konnte, verdient in
culturhistorischer Beziehung die vollste Beachtung, zumal wenn
wir das übereinstimmende Urtheil eines neuesten anerkannten
Censors hinzufügen. Friedländer sagt : ,,die entsittlichenden
Wirkungen der römischen Schauspiele in der Cäsarenzeit (in
denen die Pantomime, wie wir gleich sehen werden, die Haupt-
rolle spielt), kann man sich kaum gross, kaum entsetzlich
genug denken" (Friedländer Roms Sittengeschichte 5. Aufl.
I 433).
Wenn wir nun auf Grund dieser zwiefachen Zeugnisse
voraussetzen, dass die Wirkung dieser römischen Pantomime
unsittlich ist und dann hinzunehmen, dass Inhalt und Anlass
derselben meistens religiöser Natur ist, so haben wir wiederum
ein Stück Volkslebens, in welchem Sünde und Laster, Unzucht
und Ehebruch sanctionirt wird durch religiöse Namen und
Veranstaltungen der öffentlichen Auctorität, mit einem Wort,
wir befinden uns hier in dem Gebiet des Baalcultus.
Salmasius hat in seinen Noten ad Historiam Augustam
(II 828 — 847) eine grosse Fülle von Nachweisungen der antiken
Literatur über diesen Gegenstand ausgeschüttet, aus welchen
sich ergiebt, dass die Neuheit der hergebrachten Pantomime
darin besteht, dass dieselbe durch Pylades und Bathyllos zu
einer selbstständigen Kunstleistung ausgebildet worden und
sodann unter der Gunst der cäsarischen Zeit eine cultur-
geschichtliche Bedeutung gewinnt. Die geschichtliche Bedeut-
samkeit der erneuerten Pantomime erhellt schon, wenn man
die Reihe der antiken Schriftsteller überblickt, welche sich über
diese Erscheinung ausgelassen haben, es sind folgende: Marcus
und Lucius Seneca, Plinius, Juvenal, Plutarcli, Galenus, LucianuSr
Macrobius, Athenaeus, Antipater, Boetius, Cassiodorus, Suidas.
Denksäulen werden erwähnt, welche berühmten Pantomimen
errichtet worden. Der Geschmack der Zeit war mehr auf das
Sehen als auf das Hören gerichtet. In den grossen geschicht-
lichen Zeiten war das Steuerruder des öffentlichen Lebens in
219
Athen und Rom das freie öffentliche V/ort. Mit dem süssen
Gift des otium bereitet Augustus dem freien öffentHchen Wort
ein langsames Sterben. An die Stelle des öffentlichen Redens
und Hörens tritt nun das Darstellen und das Schauen :
,,Segnius irritant animos demissa per aurem,
Quam quae sunt oculis subjecta fidelibus, at quae
Ipse sibi tradit spectator."
(Horat. de arte poetica i8o — 182.)
Die alten Autoren sind erfüllt von Bewunderung über
die Vollkommenheit, mit welcher Pylades und Bathyllos und
ihre Nachfolger vermittelst ihrer Glieder, namentlich ihrer
Hände, ohne Worte zu reden verstanden, dergestalt, dass sie
einen hartnäckigen Zweifler, wie den Cyniker Demetrius zur
Anerkennung ihrer Kunst gezwungen haben (Grysar der
römische Mimus a. a. O. 252 268 272 277). Augustus war
ein leidenschaftlicher Liebhaber von Schaustellungen (Sueton
Octav. XLIII, XLV, Mommsen bei Friedländer II 259).
Charakteristisch ist ein Wort des Pylades an Augustus-, der
Kaiser war unwillig über einen Zank, der wegen der Pantomime
in Rom ausgebrochen war, da sagte dem erzürnten Kaiser
Pylades: es kommt dir zu Gute, dass das Volk über uns in
Streit geräth; du bist undankbar, lass sie nur ihre Müsse aus-
füllen, indem sie sich mit uns beschäftigen (Cassius Dio ed.
Reimarus I 747, Macrobius II 7). Wenn Augustus sogar bei
seinen Ehebrüchen von politischen Motiven sich bestimmen
Hess, so wird ihm der politische Nutzen der Pantomime sehr
einleuchtend gewesen sein. Einen weiteren Grund für diese
Liebhaberei des Augustus fügt Tacitus hinzu : civile rebatur
Augustus misceri voluptatibus vulgi'' (Ann. I 54). Noch
intimer war das Verhältniss des Maecenas zu der Pantomime.
Bathyllos spielte vorzugsweise die lüsternen Rollen (Juven. VI63),
diesen Bathyllos nennt Seneca ,,Bathyllum Maecenatis" und
Tacitus schreibt: ,, Maecenas effusus in amorem Bathylli'* (Ann,
I 54, cfr. Seneca Ep. XIX 9 10, CI 10, Tacit. Dial. XXVI).
Die Pantomime blieb eine stehende Liebhaberei am cäsarischen
Hofe, nicht bloss Cajus, Nero und Domitian, sondern auch
Trajan und Antoninus Pius sind wegen dieser Liebhaberei
220
bekannt (Friedländer II 426 429 432 255 256). Bei dieser
hohen Gunst der Pantomime ist es erklärlich, dass sich in
Rom eine permanente Schule für Pantomimen etablirte
(Seneca N. Q. MI 32 3). Die beliebtesten Gegenstände der
Pantomimen sind nun die Liebesabenteuer des Jupiter, Venus
und Adonis, Venus und Mars im Netze des Vulkan, Apollo
und Daphne (Friedländer II 408, Rohde der griechische
Roman 37 38). Tacitus preist die germanischen Frauen, weil
ihre Keuschheit nicht angegriffen wird von den Reizungen der
Schaustellungen (Germ. XIX). Properz freut sich, dass seine
Cynthia Rom verlassen und sich aufs Land begeben hat, denn
,,Illic te nulli poterunt corrumpere ludi
Fanaque peccatis plurima causa tuis" (II 19 9 10).
Die Leidenschaft der römischen Frauen für Schaustellungen
war gross (Friedländer I 431), und an hundertfünfundsiebenzig
Tagen im Jahr gab es festliche Spiele (Marquardt das Sacral-
wesen 282).
Tholuck hatte in seiner bekannten Abhandlung über das
Heidenthum behauptet: ,, Keiner hat alle Laster, insbesondere
die Wollust, reizender zu schildern gewusst als Homer"
(Neanders Denkwürdigkeiten! 144). Das ist nun jedenfalls eine
Uebertreibung. Wenn nun aber dem gegenüber von Nägels-
bach behauptet wird: ,, Homer behandelt das Sinnliche ohne
Lüsternheit und ist einer der unschuldigsten Dichter aller
Zeiten" (Homerische Theologie 216), so widerspricht dies selbst
der antiken Moral, wie wir dies vorher durch Berufung auf
Plato und Aristoteles bewiesen haben. Jedenfalls hat Nägels-
bach einen Umstand in der Episode von Ares und Aphrodite,
auf den schon das Alterthum als einen bedenklichen hin-
gewiesen hat, ausser Acht gelassen. Es handelt sich hier um
einen offenbaren Ehebruch in dem Kreise der Olympier. Diesen
Frevel bezeichnet der beleidigte Gatte vor Augen und Ohren der
versammelten Götter als eine Lächerlichkeit, giebt damit als der
berufenste Censor das sittliche Urtheil Preis. Ferner betheuert
auf die Frage des Apollo an Hermes, ob Hermes an der Stelle
und in den Fesseln des Ares bei der Aphrodite liegen möchte,
der Anoferedete unter dem Gelächter der Unsterblichen, trotz
221
der eisernen Fesseln und in Gegenwart aller Götter und
Göttinnen möchte er liegen bei der goldenen Aphrodite
(Odyss. IX 335 — 342). Es ist dieses Wort doch ein unleug-
bares Stück frivoler Lüsternheit und Frechheit in dem Hause
der Olympier. Wie weit die Zweifel an der Aechtheit der
bezeichneten Episode, von denen Nägelsbach redet, begründet
sind oder nicht, geht uns hier Nichts an, da wir es lediglich
mit dem Homer, wie er seit Augustus vorliegt, zai thun haben.
Von jener Episode des traditionellen Homer sagt nun Ovid
zweimal : ,,haec fuit in toto notissima fabula caelo" (Metam.
IV 189, A. a. II 561). Derselbe Ovid ist es, der auf jenen
allerfrechsten Zug in diesem Gemälde hinweist. An der zweiten
Stelle heisst es von Mercur:
,,Hic aliquis ridens, in me fortissime Mavors
Si tibi sint oneri vincula transfer, ait."
An der ersten Stelle wird von Mercur gesagt:
,, Aliquis de diis non tristibus optet
Sic fieri turpis."
Die Scene wird von Ovid ohne Umschweif
Adulterium Veneris cum Marte (Metam. IV 171, cfr.
Trist. II 377)
genannt.
Dass Homer und auch diese bedauerliche -Episode in der
römischen Welt durch Uebersetzung und im Original bekannt
war, ist das Geringere, sondern darauf ist in diesem Zusammen-
hang unser Augenmerk zu richten, dass durch die Pantomime
die griechische Mythologie mit all' ihren schlimmsten Lüstern-
heiten der römischen Volksmasse in drastischer Weise vor
Augen gestellt wurde. Grade in Bezug auf die erwähnte
homerische Episode haben wir von der Wirkung der Pantomime
eine bestimmte Nachricht. Lucian erzählt in der Abhandlung
von der Tanzkunst, dass der Cyniker Demetrius sich sehr
ungünstig über die römischen Darstellungen ausgesprochen
habe. Ein Pantomime erbot sich nun durch eine Probe seiner
Kunst das Vorurtheil des Cynikers zu vernichten. Der Panto-
mime erwählte den Gegenstand jener homerischen Episode,
indem er alles begleitende Beiwerk in Musik und Gesang ent-
222
fernte. Der Cyniker bekannte sich überwunden und sagte voll
Bewunderung: ,,ich verstehe Alles, was du mit deinen Händen
redest." Und nun denke man sich diesen Ehebruch im Olymp
durch eine Pantomime dargestellt vor den Augen des ganzen
Volkes, vor den Augen, von w^elchen Properz sagt: ,,oculi
sunt in amore duces." Wenn man auf der einen Seite die
allgemeine, in der sündigen Menschennatur liegende Entzünd-
barkeit bedenkt und auf der anderen Seite einen solchen
öffentlichen durch hohe Auctorität geschützten Angriff auf die
Schamhaftigkeit erwägt, dann wird man nicht mehr von Ueber-
treibung der Kirchenväter sprechen können (cfr. Juvenal
VI 63 — 66). Ich glaube nicht, dass Quintilian, welcher
schreibt, Ovid sei selbst in den ,, Heroides" unzüchtig, und dass
Friedländer, welcher sagt: ,,Ovids Elegien und Kunst zu lieben
sind an Unsittlichkeit im höheren Sinn kaum zu übertreffen"
(I 436), der übertriebenen Strenge zu beschuldigen sind. Aber
derselbe Ovid hat Recht, wenn er sagt: es giebt in Rom noch
etwas Schlimmeres als meine Verse. Obwohl der Grund
seiner Verbannung nicht aufgeklärt ist, so haben doch ohne
Zweifel seine lasciven Verse einen Theil der Schuld. Aber
man wird ihm darin völlig beistimmen müssen, dass die
officielle Pantomime in Rom weit sittengefährlicher ist, als
seine obscönsten Worte. Man wird auf diese seine Selbst-
vertheidigung um so mehr Acht geben müssen, da die
Neigung, namentlich bei den Philologen, immer wieder auf-
taucht, durch unstatthafte Vergleichung die weltgeschichtliche
Tiefe der Corruption im römischen Cäsarenthum zu verdecken.
Von äusserster, meines Wissens immer noch nicht gewür-
digter Merkwürdigkeit ist das von Ovid an Augustus selbst
gerichtete Wort über die Pantomime Trist. II 497 — 516. Die
Tristien sind von Ovid geschrieben in der Verbannung, in
welcher Lage er sich aufs Aeusserste bemühte, den erzürnten
Cäsar zu versöhnen und zu gewinnen und sich deshalb vor
Nichts mehr hütet, als den gegen ihn ohnehin aufgebrachten
Herrn der W^elt auf irgend eine Weise aufs Neue zu verletzen.
Wenn man diese äussere und innere Lage des verbannten und
gebrochenen Dichters bedenkt, dann wird man voraussetzen
223
müssen, dass er an der bezeichneten Stelle in einer an den
Kaiser gerichteten Rede kein Wort wird gebraucht haben, das
den mindesten Anstoss hätte erregen können. Welch eine
Tragweite erhält nun diese Anrede an Augustus über Bedeutung
und Wirkung der Pantomime in dem cäsarischen Rom! Im
Vorhergehenden hat Ovid einen ganzen Katalog von griechi-
schen und lateinischen Erotikern aufgeführt, und das Ergebniss
ist, dass er in dieser Gesellschaft der Einzige ist, der für seinen
ppetischen Eros schwere Strafe leiden muss und zwar auf
Befehl dessen, der in Rom die Pantomimen eingeführt !
Zunächst betont nun Ovid, dass das beliebte Thema der Panto-
mimen der Eros ist und zwar nicht der unschuldige oder
erlaubte sondern der verbrecherische (crimen vetiti amoris) und
weiter wird das Obscöne nicht gesprochen sondern vor Augen
dargestellt (mimos obscoena jocantes). Das crimen besteht
darin, dass der Mann adulter ist und das Weib nupta, das
Thema ist also der qualificirte Ehebruch. Das Publicum nun,
vor welchem dieses aufgeführt wird, wird so beschrieben :
,,Nubilis hos virgo matronaque, virque, puerque
Spectat et e magna parte senatus adest."
Wer erschreckt nicht, wenn er sich ein solches Publicum
vor einem solchen Thema vergegenwärtigt! Aber Ovid spannt
unsern Schreck noch höher mit dem sehr schlagenden Zusatz,
dass das Schauen noch schlimmer ist, als das Hören:
,,Nec satis incestis temerari vocibus aures
Adsuescunt oculi multa pudenda pati."
Und noch sind wir nicht auf der Höhe, die Gewalt dieser
ungeheuren Verführung zu überschauen. Ovid erinnert weiter
daran, dass nicht zufällig beinahe der ganze Senat zuschaut,
der Praetor ist es ja, der das ganze Schau werk veranstaltet.
Der Praetor hat die Pantomime von dem Dichter gekauft und
hat dieselbe um so theurer bezahlt natürlich, je besser sie
ist, wofür Ovid zu sagen wagt: „quo minus prodest" ,,je weniger
sie nützt", was euphemistisch ausgedrückt so viel bedeutet
als: je mehr sie Unheil anrichtet, je mehr sie verführt. Also
die obscönsten Pantomimen bezahlt der Praetor am theuersten
(,,tanta crimina"). Und nunmehr appeUirt Ovid auf dieser
224
Grundlage an die höchste Instanz mit offenem Namen: , .bedenke
Augustus, es sind deine Spiele, mit grossen Kosten hast du sie
hergestellt, du schauest sie an und gewährst nach deiner
allseitigen Milde auch Andern die Anschauung, mit deinen
Augen, welche den Erdkreis regieren, erblickst du in gemäch-
licher Ruhe die Ehebrüche, welche auf der Bühne dargestellt
w^erden. '"•'') Hätte ein Stoiker oder Cyniker dem Augustus
eine solche \'orhaltung über die Sittengefährlichkeit der Pan-
tomimen gemacht, sicherlich würde man über eine grosse
Uebertreibung klagen. Wogegen, da wir jetzt diese Verse an
einem Orte finden, der die strengste Objectivität voraussetzt,
so haben wir auf heidnischem Boden dasselbe Ürtheil über die
römische Pantomime, welches mit den Schilderungen und
Urtheilen der christlichen Schriftsteller übereinstimmt.
Hören wir zunächst eine christliche Stimme, welche sich
im Allgemeinen ähnlich wie Ovid über die Versetzung der
Obscönitäten aus dem Bereich der Hörbarkeit in den Bereich
der Sichtbarkeit vernehmen lässt. Clemens Alexandrinus.
schreibt in der Ansprache an die Heiden: ,,Eure Schändlich-
keiten zwingen mich auszurufen, wenn ich auch lieber
schweigen möchte, o die Gottlosigkeit, den Himmel macht ihr
zur Komödie, und das Heilige macht ihr durch dämonische
Larven lächerlich, und die wahre Frömmigkeit gebt ihr dem
Gelächter Preis. Lass ab von deinem Gesang Homer, er ist
nicht schön, er lehrt Ehebruch, unsere Ohren sollen keine Un-
zucht hören, wir tragen das Bild Gottes in diesem menschlichen
Leibe, — aber so ist die Masse nicht gesonnen, sondern, Furcht
und Scham bei Seite gesetzt, machen sie jene Episode von
Mars und Venus zum Gemälde" (Cohort. p. 39 40). Was hier
der sittliche Zorn des Clemens ausspricht, das wird durch eine
ganze Reihe von christlichen Vätern bestätigt, welche die
Greuel des Baalcultus geschaut haben, indem sie zum Theil
selbst in dessen Netzen verstrickt gewesen sind. Den vollen
*) Uebrigens nimmt auch Martial denselben Schutz für seine Epigramme
in Anspruch. Martial sagt: ,,die Mimen, welche von den Matronen angeschaut
wurden, sind nicht weniger unzüchtig als meine Verse" (III Si).
225
Eindruck von der dämonischen Lüge des Baalcultus können
wir nicht anders empfangen, als wenn wir uns eine Uebersicht
von diesen Zeugnissen der alten Kirche gegen den Baalcultus
verschaffen. Die humanistische Einseitigkeit mag von diesen
Zeugnissen nichts hören. ,,Apologetis christianis non assentimur"
schreibt der gelehrte Lobeck (Aglaopham. I i86 187). Es
handelt sich hier aber nicht um Meinungen sondern um offen-
kundige und controlirbare Thatsachen, und für diese Thatsachen
sind die christlichen Apologeten hinlängliche Bürgschaft.
Uebrigens sind nicht alle Philologen so parteiisch, Niebuhr
nennt Augustinus einen der grossesten Geister (Vorträge über
römische Geschichte I 227), und dieser Augustinus ist der
Hauptzeuge für die Thatsachen des Baalcultus und zugleich
der vornehmste Ankläger wider die Sünde und Lüge dieses
Cultus. Auch ein junger Philologe findet den ,, grimmigen Spott"
der christlichen Apologeten über den fatalen Beigeschmack
der erotischen Götterfabeln berechtigt (E. Rohde: Roman der
Griechen p. 107).
Auch Lobeck ist unbefangen genug, um zuzugeben, dass
ein apologetisches Zeugniss, das auf wirklicher Wahrnehmung
beruht, von Gewicht ist, und wir beginnen deshalb um so lieber
mit Tatian, da Lobeck diesen als Zeugen ausdrücklich gelten
lässt (1. c. 197). In seiner Rede an die Griechen bezeichnet
sich Tatian mit seinem Namen und nach seiner assyrischen
Herkunft als einen Solchen, der auf langen Wanderungen
geforscht, Rom und Athen besucht und nunmehr dem Heiden-
thum entsagend als Christ sein Bekenntniss vor den Hellenen
ablegt. Dieser spricht als Augenzeuge und Eingeweihter über
die heidnischen Feste. Er erzählt, dass er bekannt gewesen
mit einem berühmten Mimen, der bald die Venus, bald den
Apollo dargestellt und zwar im Ehebruch und Knaben-
schändung, und sei von Allen bewundert worden, er selber
habe ihn erst angestaunt, nachher verachten gelernt. In diesem
Zusammenhang schreibt Tatian, die Hellenen anredend, über
ihre P'este: ,, diese üppigen, lüsternen, verächtlichen Schauspieler,
die Ankläger aller eurer Götter, die Lästerer eurer Heroen,
die Mimen der Mordthaten, die Kommentatoren des Ehebruchs,
15
226
die Hofmeister der Unzucht für eure Söhne und Töchter, der
Wegweiser zum Gericht" (Keim: Rom und das Christenthum,
Herausgegeben von Ziegler p. 446, Tatian. ad Graecos XXII,.
XXIX). Auch TertuUian beruft sich auf seine Augenzeugen-
schaft und nennt das Theater: ,,sacrarium Veneris" und ,,arx
omnium turpitudinum" (Apolog. XV, De spect. X, XVII),
Die Aufforderung an den Senat und an die sämmthchen
Stände beweist, dass es sich hier handelt um solche Schänd-
lichkeiten, die unter dem öffentlichen Schutz stehen. (Man ver-
gleiche auch Minutius Fehx Octavius c. XXXVII.)
Lactanz, wahrscheinlich aus Africa, lebte in Nikomedieiv
und Gallien, war Instructor des Prinzen Crispus, kannte die
römische Welt. Er ist sehr bemüht, in dem Heidenthum die
Spuren einer monotheistischen Richtung nachzuweisen, um so-
schwerer wiegen seine Anklagen, welche er über die Greuel
erhebt, die von den heidnischen Obrigkeiten und Auctoritäten
gefördert und beschützt werden. Lactanz weiss sehr wohl^
dass die Philosophen sich von jeher bemüht haben, die in dem
Mythos enthaltenen falschen Gedanken über die Gottheit zu
berichtigen, und bezieht sich in dieser Hinsicht auf Keinerv
öfter und lieber als auf Seneca. Aber sehr bestimmt bezeichnet
Lactanz andererseits die Grenze dieser Correctur der Philosophen-
schulen. Cicero, sagt er, habe sich in der Bekämpfung der
Anstössigkeit der mythologischen Göttergeschichte eine Schranke
gesetzt: ,,defuit fiducia ignoranti veritatem" (Instit. I 17 4).
.,Oui sibi sapientes videbantur metuebant malum, si contra
publicam persuasionem faterentur quod erat verum" (I 18 14,
20 5). ,, Publica persuasio" ist vor Allem das, was in der
Staatsreligion, in den Festen und den hergebrachten Ceremonien
sanctionirt ist. Und in dieser Hinsicht steht in der griechischere
und römischen Gelehrtenwelt das Schicksal des Sokrates als
ein drohendes Zeichen. Auf dieses bedeutsame Zeichen immer
aufs Neue hinzuweisen ist darum nicht überflüssig, weil dasselbe
von den Neueren viel zu wenig beachtet wird. Lactanz redet
Cicero an: ,,nimium Socratis carcerem times, ideoque patro-
cinium veritatis suscipere non audes" (II 357, cfr. V 14 13 14).
Nun zeigt Lactanz, dass eben das, was durch diese unter den
227
Heiden vvegen Todesfurcht unantastbare Auctorität geschützt
war, das Alleranstössigste und Sittenverderblichste ist. Lactanz
ist es, der die öffentHche Obscönität der ludi florales, wie
bereits oben erwähnt, gerügt hat. Derselbe schreibt : ,,quo-
modo libidines coercebunt, qui Jovem, Herculem, Liberum,
Apollinem ceterosque venerantur, quorum adulteria et stupra
in mares et feminas non tantum doctis nota sunt, sed ex-
primuntur etiam in theatris atque cantantur, ut sint omnibus
notiora" (V lo i6). Man beachte, dass das Hauptgewicht gelegt
wird auf die verführerische Veranschaulichung der anstössigen
Mythen durch die Bühne und auf die durch dieselbe bewirkte
allgemeine Notorietät dieser reizenden Laster. In der Vergegen-
wärtigung dieser auf das ganze Volk gerichteten Verführung
schüttet Lactanz an einer anderen Stelle seine ganze Zorn-
schale aus: ,,Histrionum impudicissimi motus quid aliud nisi
libidines docent et instigant? u. s. w." (VI 20 29 — 32).
Keiner aber hat mit solchem Gewicht die Augenzeugen-
schaft und mit solchem Nachdruck die sittenverheerenden Dar-
stellungen des officiellen Cultus ans Licht gestellt wie
Augustinus. In drei grossen Städten des weströmischen Reiches
hat Augustinus gelebt, und er bezeugt ausdrücklich, dass er
als Heide den unsittlichen Aufführungen der öffentlichen Bühne
beigewohnt und daran seine Lust gehabt habe.
In seinen Bekenntnissen erzählt Augustinus, dass er als
Knabe die verführerischen Erzählungen des Mythos gelernt
und später m Karthago von den Bühnendarstellungen hin-
gerissen und von unheihgem Feuer entzündet worden sei
(Confess. I 16, III 2). Seine späteren Erfahrungen beschreibt
Augustinus wie folgt: ,,Veniebamus etiam nos aliquando
adolescentes ad spectacula ludibriaque sacrilegiorum; specta-
bamus arreptitios, audiebamus symphoniacos ; ludis turpissimis,
qui diis deabusque exhibebantur, oblectabamur, Caelesti virgini
et Berecynthiae matri omnium: ante cujus lecticam die solemni
lavationis ejus talia per publicum cantitabantur a nequissimis
scenicis, qualia, non dico matrem deorum sed matrem qualium-
cumque senatorum vel quorumlibet honestorum virorum, non
deceret audire. Illam turpitudinem obscoenorum dictorum
lo*
228
atque factorum per publicum agebant coram deüm matre,
spectante et audiente utriusque sexus frequentissima multitudine"
(C. D. II 4). Dass es sich um einen öffentlichen und
darum unantastbaren Cultusact handelt, erhellt aus der Er-
wähnung der Senatoren und der zuschauenden Volksmasse.
Es ist aber dem Augustinus bei diesem Anlass darum
7A\ thun, zu zeigen, dass der Cultus dieser Göttermutter
im Lauf der Zeiten in immer tiefere Verderbtheit versunken
sei. Er beruft sich, wie schon oben erwähnt, auf das Zeugniss
des Scipio Nasica, der, obwohl kein Freund von Schau-
stellungen, in Folge eines Orakels diesen aus dem Orient
stammenden Cultus in Rom eingeführt hat. Welch ein Abstand
zwischen damals und jetzt ! Augustinus erwähnt auch sonst
den gegenwärtigen Greuel dieses Cultus, den in seiner früheren
unschuldigeren Gestalt der ,, Beste" der Römer eingeführt hat
(In Psalmos LXII 7, XCVIII 14, Sermon. CV 12). Durch
die Berufung auf die Zeiten des Scipio Nasica, des ,, besten
Mannes" unter den Römern, gewinnt Augustinus Zweierlei.
Einmal empfängt er ein Gewissenszeugniss aus dem Heiden-
thum selber wider den vorhandenen Greuel, wie ihn auch
Lucian 'und Apulejus beschreiben, und zweitens kann er die
vom heidnischen Standpunkt nicht zu beantwortende Frage
aufvverfen: ,,was habt ihr für Mittel, um dieses rollende Rad
einer immer zunehmenden namenlosen Verderbniss aufzuhalten?"
Dass es sich hier auch nach Augustinus um Baalcultus handelt,
macht er dadurch deutlich, dass er die berüchtigte Festfeier,
die als sacrum benannt und behandelt wird, sacrilegium nennt.
Augustinus kommt übrigens nach dieser Erörterung noch
einmal zurück auf den Cultus der Himmelsgöttin, wie die
Göttermutter auch genannt wird. Hier räumt er ein, dass in
diesem Cultus einzelne gute Lehren mitgetheilt werden, aber
das geschehe so geheim und beiläufig, dass dieses nur als ein
Schein gelten könne, der die teuflische Verführung zu ver-
decken bestimmt ist. Und nun geht Augustinus daran, die
sich in den Gemüthern vollziehende Verführung, diesen die
Sinne fesselnden Cultus nach seiner eigenen Erfahrung zu
beschreiben. ,,Nonnullae pudentiores avertebant faciem ab
229
inipuris motibus scenicorum, et artem flagitii furtiva intentione
discebant. Hominibus namque verecundabantur, ne auderent
impudicos gestus ore libero cernere; sed multo minus audebant
Sacra ejus, quam venerabantur, casto corde damnare. Hoc
tarnen palam discendum praebebatur in templo, ad quod
perpetrandum saltem secretum quaerebatur in domo: mirante
nimium (si uUus ibi erat) pudore mortalium, quod humana
flagitia non libere homines committerent, quae apud deos
etiam religiöse discerent, iratos habituri, nisi etiam exhibere
curarent" (C. D. II 26 2). Noch tiefer in das Geheimniss der
Finsterniss hinein führt Augustinus uns, indem er das ,, iratos
habituri" erklärt. ,,Daemones crimina celebrari per sua festa
voluerunt, ut a perpetrandis damnabihbus factis humana revocari
non possit infirmitas, dum ad haec imitanda vekit divina prae-
betur auctoritas" (C. D. IV I). Augustinus ist sich strenger
Objectivität bewusst in der Schilderung dieser Dinge: ,,Haec
non ex nostra conjectura probavimus sed partim ex recenti
memoria, quia et ipsi vidimus talia ac talibus numinibus
exhiberi, partim ex litteris eorum, qui non tamquam in contu-
meliam sed tamquam in honorem deorum suorum ista conscripta
posteris reliquerunt" (e. 1.). Wenn Cicero schreibt, dass er als
ernannter Aedil sich verpflichtet hält, sich bei Herstellung der
ludi florales zu betheiligen, um die Göttin Flora zu versöhnen,
so ist dies ein vollgültiges Zeugniss für die schwerste Anklage,
welche Augustinus wider die dämonische Verführung in den
unsittlichen Schaustellungen erhoben hat.
Keiner hat die Sünden und Labyrinthe des ungebrochenen
Heidenthums mit so klarem Bewusstsein durchlebt, aber auch
Keiner hat mit solchem gründlichen Ernst die sündhafte Ver-
gangenheit von sich abzuthun sich bestrebt, wie Augustinus,
und darum ist es von grosser Wichtigkeit, ihn als Zeugen der
antiken Verderbniss abzuhören. Wir wollen daher fortfahren,
die Aussprüche dieses Kirchenvaters über die finsterste Macht-
habe des Heidenthums zu vermerken.
,,Dii flagitia per theatricas celebritates populis innotescere
cupientes, ut tamquam auctoritate divina sua sponte nequissima
libido accenderetur humana" (C. D. II 14). ,,0 Scaevola pontifex
230
maxime, ludos tolle si potes" (C. D. IV 27). Augustinus will
(C. D. IV 27) sagen: ,, reinigt den Mythos, corrigirt die
Dichter, lehret Moral, gebt heilsame Gesetze, aber wenn die
höchste geistliche Macht versuchen wollte, an den hergebrachten
Schaustellungen der Götterfeste zu rütteln, so würde sie ihre
Schranke fühlen. Bleiben aber die Götterfeste unangetastet,
dann werden alle Besserungsversuche von jenen dämonischen
Einflüssen verschlungen. Denn was im Heiligthum geschieht,
was unmittelbar mit dem Gottesdienst verbunden ist, das ist
noch verwerflicher und auch verderblicher, als was auf der
Bühne aufgeführt wird" (C. D. VI 7 10, VII 21). Augustinus
kommt noch einmal zurück auf das Fest der ,, Magna mater",
was ihm von seinem Aufenthalt in Karthago vor allem
Anderen besondern Eindruck scheint gemacht zu haben. Ueber
die Schandbarkeit : Magna mater etiam romanis templis castratos
intulit schreibt Augustinus: ,, nihil Varro dicere voluit, defecit
interpretatio, erubuit ratio, conticuit oratio" (C. D. VII 26).
Nach diesem Allen kann Augustinus die Theater ,,caveae
turpitudinum" nennen (De consensu Evangelist. I 51) und kann
sich dafür berufen auf die Fasti des Ovid, wo für die ,,ob-
scoenitates in sacris" sich viele Belege finden (Ovidii fasti,
ed. Merkel 1841 p. CLXXXV— CLXXXVIII).
Wir haben die vornehmsten Thatsachen des Cäsarcultus
und des Baalcultus kennen gelernt, Diese Thatsachen sind nicht
einzelne losgerissene Momente des antiken Heidenthums, sondern
in ihnen offenbart sich ein mächtiger Geist, dessen dämonischer
Charakter sich darin zu erkennen giebt, dass die besseren
Elemente und ihre Regungen sich derselben erwehren wollen, aber
von diesem Geiste überwältigt werden. Erst wenn wir diejenige
Kraft erkannt haben, welche diesem Geiste nicht bloss gewachsen
ist, sondern ihn entmächtigt, erst dann werden wir diesen Geist
und seine Bosheit recht v^erstehen. Aber soweit können wir
ihn jetzt schon charakterisiren, dass er das Gegentheil von dem
ist, was er zu sein vorgiebt. Cultus ist die heilige Anbetung
Gottes, aber der Cäsarcultus setzt an die Stelle Gottes den
Menschen Cäsar, und der Baalcultus verwandelt die Heiligkeit
der Anbetung in die Unheiligkeit und macht, wie Augustin
231
sagt, das Sacrum zu eimen Sacrilegium. Diese zwiefache Lüge
im Heiligthum vergreift sich an dem Heiligthum, begeht einen
Raub an dem Heiligen, ist ein Sacrilegium. Der zwiefache
falsche Cultus ist demnach eine Lüge, die auf dem Wege ist,
die erste Lüge, welche den Menschen verführt hat, zu vollenden.
Diese zwiefache sacrilegische Lügenmacht ist die von Anfang
her thätige Verführungsmacht, welche die Menschheit durch
List und Gewalt von dem wahren Gott losreissen will. So
lange dieses Bollwerk der Verführung besteht, ist Alles, was
an guten Kräften in der Menschheit noch vorhanden ist,
gefährdet, und dagegen, was es Versuchliches und Verführerisches
giebt, in seiner bösen Kraft bestärkt. Das römische Reich ist
der Inbegriff der Güter, welche in der göttlichen Schöpfung der
Menschheit beschlossen sind. Die zwiefache sacrilegische Lüge
ist an der x-^rbeit, durch Zerstörung des römischen Reiches den
Abfall von Gott zu vollenden. Angesichts dieser Lage ist die
weltgeschichtliche Frage: ob es eine Macht giebt, welche diese
grundstürzenden Lügen zu überwinden und zu entmächtigen im
Stande ist.
V.
Senecas Abwehr ohne Sieg.
Wir könnten noch tiefer in die Abgründe des antikert
Heidenthums hinabsteigen, um die Macht der beiden Lügen
noch weiter zu belegen, aber wir w^ollen es nicht thun, denn
das Vorgetragene genügt, um eine bestimmte Vorstellung von
der vollendeten Verderbniss der antiken Welt zu erhalten. Die
doppelte sacrilegische Lüge, welche den Nichtgott als Gott
anbetet und das Unheilige als Heiliges feiert, ist das Attentat
auf die der Menschheit eingepflanzte EmpfänglichkeiTlurTjÖ^.
Wird dieses Attentat nicht überwunden, so zerreisst das Band,
welches Gottheit und Menschheit verbindet. Mit Logik und
Rhetorik kann man dieses Attentat nicht übenvinden, denn jene
Doppellüge ist bew^affnet mit dem Schwert der höchsten
Gew^alt und mit der Macht der Gesetze und der Volkssitte.
Von dem gelehrtesten Mann des römischen Volks sagt
Augustinus : ,,Varro oppressus est suae civitatis legibus et
consuetudine" (C. D. VI 2). Seneca ist nach seiner ganzen
Geistesrichtung als Moralphilosoph und als Censor der Zeit
und nach seiner Lebensstellung als Prinzeninstructor und als
. Staatsminister angewiesen auf diesen Kampf mit dem genannten
«Attentat. Seneca hat also die Aufgabe, die beiden grund-
stürzenden Lügen nicht bloss mit seinem Wort sondern auch
mit Dransetzung von Leib und Leben zu bekämpfen. Hier
vor Allem ist also der Platz, wo Seneca zeigen soll, was er
vermag und was er nicht vermag. Allerdings so in die
schwerste Weltkrisis hineingesetzt, wird an diesem Manne viel
Negatives offenbar, aber ein beachtenswerther Rest bleibt,.
233
welcher auf die Zukunft hinausweist und von der Vollendung-
dessen weissagt, was in der Gegenwart mangelhaft erscheint.
Es ist nicht Willkür oder Belieben sondern Nothwendig-
keit seiner Persönlichkeit und seiner Lebensstellung, dass Seneca
mit den grundstürzenden Lügenmächten der damaligen Welt
den Kampf aufnehmen muss, und dass wir demnach aus dieser
Probe seines eigensten Wesens seine weltgeschichtliche Bedeutung
erkennen können. Wir bahnen uns den Zugang zur Lösung
dieser unserer Aufgabe, indem wir einen zwiefachen Irrthum
zu beseitigen suchen.
Einestheils unterschätzt man Seneca, anderntheils über-
schätzt man ihn; durch den einen wie durch den anderen
Irrthum versperrt man sich den Weg zum richtigen Ver-
ständniss dieses Mannes. Wenn wir zurückblicken auf die
grellen Widersprüche Senecas, die sich theils zwischen seinen
verschiedenen Lehrsätzen, theils zwischen seinen Vorschriften
und seinem Verhalten finden, so begreifen wir, dass es von den
Tagen des Thrasea Paetus bis heute immer Manche gegeben
hat, welche den wirklichen Seneca lediglich in der dunklen
Seite dieser Widersprüche finden wollen, den Glanz und die
Lichtseiten dagegen für den blossen Wiederschein einestheils
seiner rhetorischen Kunst, anderntheils seiner stoischen Ueber-
spanntheit erklären. In der That steigt dem Leser in der
Beschäftigung mit den Schriften Senecas zuweilen der Zweifel
auf, ob dieser Mann überall einer eingehenden Untersuchung
und Darstellung wirklich werth sei.
Aber eine dreifache Erwägung muss diesen Zweifel jedes-
mal zur Ruhe verweisen. Wenn man bedenkt, dass eine solche
Fülle von Anklängen an die neutestamentliche Schrift, eine
solche Menge von Anknüpfungen an die biblische Literatur
bei keinem antiken Schriftsteller gefunden wird wie bei Seneca,
so muss man doch wohl sagen, dass solche Vorahnungen
biblischer Gedanken und Anschauungen, wie Jsaak Casaubonus
einmal diese biblischen Anspielungen in Seneca genannt hat,
unmöglich die Zugabe einer oberflächlichen, auf Täuschung
angelegten Bildung sein kann. Eine allgemein gehaltene
Mahnung Senecas findet in dieser Beziehung eine Anwendung
234
auf ihn selber. Die Philosophen gegen diese frivole Ein-
-vvendung, sie leisten nicht, was sie lehren, in Schutz
-nehmend, schreibt Seneca: ,,non est quod contemnas bona
verba et bonis cogitationibus plena praecordia ; studiorum
salutarium etiam citra effectum laudanda tractatio est" (De
vita beata XX i). Der Ausdruck ,, bonis cogitationibus plena
praecordia" ist eine treffende Bezeichnung der inneren
Stimmung, welche der Fülle von moralischen Sentenzen zu
'Grunde liegt. Wenn nun Seneca sich bescheidet, dass morali-
schen Sentenzen die Wirkung nicht immer entspricht, so wird
man ihm wohl zugeben müssen, dass die innere Seelen-
stimmung, von welcher der Schatz von Gnomen ein Ausfluss
ist, nicht ohne moralischen Werth sein kann. Ich möchte
sagen, der Ausdruck ,, bonis cogitationibus plena praecordia" an
sich ist derartig, dass man die subjective Wahrheit desselben
-deutlich spürt. Ein zweites Argument gegen den angeführten
Zweifel bietet das Sterben dieses Mannes.
Schon die flüchtige Vergegenwärtigung dieser Todesart
kann eines grossen Eindrucks nicht verfehlen. Wenn man die
^genaue Uebereinstimmung der einzelnen Züge dieses Sterbeactes
mit den überlieferten Vorsätzen und Gelübden des Lebenden
wahrnimmt, worauf wir später zurückkommen werden, so kann
man sich nicht verhehlen, dass einem solchen Ende ein nicht
gewöhnlicher Lebensernst hat voraufgehen müssen. Endlich
drittens muss der Gedanke durchschlagen, dass, wenn die An-
nahme, Seneca sei Einer aus der verächtlichen Sekte der
Aretalogen, wenn auch ein recht glänzender gewesen, richtig
Aväre, seine Heuchelei von so ausgebildeter und verstockter Art
müsse gewesen sein, dass die moralischen Züge, welche die
•beglaubigte Geschichte von ihm berichtet, nicht wahr sein
könnten. Mit einem Wort, wenn dem Seneca nicht ein wirklich
sittlicher und religiöser Gehalt zuerkannt wird, dann muss er
grundschlecht, ein wahrer Erzschelm gewesen sein. Da aber
dies mit den geschichtlichen Zeugnissen im Widerspruch steht,
so muss man sich auch von jenem geringschätzigen \'orurtheil
gründlich lossagen. Wenn uns nun demnach ein ernstes
Interesse an diesem Manne hindern muss, den in ihm
235
beschlossenen Widerspruch auf die angegebene bequeme Art
zu lösen, so sind wir auf den Versuch einer gründlicheren
Lösung angewiesen.
In den entgegengesetzten Irrthum von dem eben beleuch-
teten Vorurtheil iiber Seneca verfällt F. Baur, der wie einige
Kirchenväter nur in anderer Weise den Seneca zu einem halben
Christen macht und somit im W^iderspruch mit der wirklichen
Sachlage von einem Siege träumt ohne voraufgegangenen
Kampf.
In seiner Abhandlung über Paulus und Seneca (a. a. O.
p. 459) entwirft Baur eine Schilderung der inneren Entwick-
lung in Rom unter den Cäsaren folgendermassen :
,, Durch die Errichtung der Monarchie in Rom ist ein all-
gemeiner Umschwung des Geistes aus der äusseren Welt in
die innere erfolgt. Man zog sich in sich selbst zurück, der
Geist wurde nüchterner und besonnener, die Sitte und Lebens-
weise eingezogener, häuslicher, sittlich ernster, statt wie zuvor
nur mit dem Oeffentlichen beschäftigte man sich mit dem
Eigenen und Persönlichen und richtete seine Gedanken auf den
inneren Menschen, seine sittliche Lebensaufgabe, die Grundsätze,
Maximen, Regeln des Verhaltens in den verschiedenen Lebens-
verhältnissen. Wenn nun auch diese Veränderung erst allmählich
und, wie sich von selbst versteht, nicht bei der, grossen Masse
des Volkes sondern nur bei den Gebildeten und Verständigen
eintrat, so war sie doch die natürliche Folge des allgemeinen
Umschwungs der Zeitverhältnisse."
Baur hat es gewagt, für diese Schilderung sich auf Tacitus
zu berufen. Tacitus bemerkt, dass durch und seit Vespasian
eine grössere Sparsamkeit eingetreten sei, und spricht dabei
die Vermuthung aus, dass es auch in Ansehung der Sitten
einen Kreislauf des Steigens und Fallens geben möge (Ann,
III 55). Baur behauptet, ,,dass in dieser von Tacitus bezeugten
Veränderung seit Vespasian der Uebergang zu der christlichen
Civilisation zu erkennen sei." Mit diesem letzten Wort spricht
Baur das Geheimniss seiner Gedanken aus, er will, dass das
israelitische Haupt der Menschheit den Ruhm des Christen-
thums, die Errettung und Erneuerung der Welt mit dem
236
Cäsar von Rom mindestens theilen soll. Ein etwas weniger
oberflächliches Studium des Seneca hätte hingereicht, ihn von
diesem schweren Irrthum zu befreien. Was Baur als den aus-
gemachten Thatbestand des geistigen und sittlichen Um-
schwungs und des Uebergangs zur christlichen Civihsation
beschreibt, ist nicht aus dem w^irklichen Leben entnommen,
sondern aus denjenigen Stellen der Bücher Senecas abgeschrieben,
in denen dieser Stoiker in erhöhten Stimmungen seine Grund-
sätze, seine Absichten, seine Bestrebungen dargelegt. Wir
wissen aber, dass das thatsächliche Verhalten Senecas nicht
selten mit diesen geschriebenen Gedanken in starrem, tödt-
lichem Widerspruch steht. Ausserdem wissen wir, dass, wenn
Seneca den durchschnittlichen geistigen und sittlichen That-
bestand seiner Zeitgenossen beschreibt, seine düsteren Schilde-
rungen jene Beschreibung Baurs von dem , »Umschwung" und
,,Uebergang zur christlichen Civihsation" vollständig vernichten.
Und was Tacitus anlangt, so würde derselbe sich höchlich
gewundert haben über eine solche Verwerthung seiner
Bemerkung über Vespasians Nüchternheit. Denn nachdem
Tacitus nicht bloss Vespasian sondern auch Titus, Nerva und
Trajan erlebt hat, weiss er so wenig von einer nennenswerthen
sittlichen Besserung, von einer Verinnerlichung des gebildeten
Römerthums, dass er gradezu an der Zukunft Roms verzweifelt
(Germ. XXXIII, Agr. XII). Tacitus ist sich daneben sehr
wohl des Gegensatzes von Domitian einerseits und Nerva und
Trajan andererseits bewusst (Agr. II, III). Aber gleich daneben
bemerkt er: ,,subit ipsius inertiae dulcedo, et invisa prius desidia
postremo amatur" (Agr. III). Tacitus hat von der tödtenden
Kraft der Vergiftung des römischen Volkes durch den
Absolutismus des Augustus, also durch Errichtung eben der
Monarchie, in welcher Baur eine geistige Lebens- und Segens-
quelle schaut, eine so starke Vorstellung (Ann. I 4 ,, nihil
usquam prisci et integri moris"), dass er sich eine wirkliche
Besserung, welche das ,,grande documentum patientiae" (Agr. II)
vernichtet, gar nicht vorstellen kann. Es ist durchaus im
Sinne des Tacitus, wenn Tiberius das Bekenntniss ablegt, dass
das cäsarische Regiment den im Schwansi'e ^^^ehenden Lastern
237
nicht mehr gewachsen ist (Ann. III 53). Um übrigens gründ-
lich mit jenem Irrthum Baurs abzurechnen, wollen wir einige
competente Zeugen aus den Tagen Vespasians und der
nächsten Zeit, in welcher der vermeintliche ,, Umschwung" und
,,Uebergang" soll Statt gehabt haben, vernehmen. Plinius der
Aeltere, ein vertrauter Grossbeamter Vespasians, der diesen
Kaiser noch überlebte, ein Mann, der mitten in den Bewegungen
des grossen öffentlichen Lebens seine Stellung hatte, dieser ist
völlig im Stande, das, was Baur den „Umschwung" und
,,Uebergang" nennt, zu schätzen. Plinius beschreibt in hoher
Begeisterung das cäsarische Italien und Rom wie folgt: ,,Ich
weiss, ich würde der Undankbarkeit und der Trägheit
beschuldigt werden, wenn ich nur kurz und beiläufig von
Italien und Rom handeln wollte. Dieses Land ist die Mutter
und Erzieherin aller Länder, erwählt vom hohen Rath der
Götter, macht selbst den Himmel heiterer, vereinigt die
getrennten Reiche, verbindet durch Verkehr die fremden und
rohen Völkersprachen, setzt den Menschen ein in seine
Menschenwürde und wird ein einigendes Vaterland für alle
Völker des Erdkreises; die Stadt Rom, sie allein, mit welchem
Kunstwerk ist sie würdig darzustellen?" (H. N. III 6). ,,Roma
terrarum caput" (III 6). ,, Romanos dii velut alteram lucem
dedisse rebus humanis videntur" (XXIII i). In ^dem durch die
Offenbarung erleuchteten Volke Gottes ist die Einheit des
Menschengeschlechts ein unantastbares Moment der Welt-
anschauung. In dem Heidenthum ist Rom die Warte, auf der
sich die Weltanschauung erweitert und Völker und Sprachen
zur Einheit des Menschengeschlechts erhöht. Was Baur von
dem durch das römische Kaiserthum bewirkten Umschwung
und seinen Folgen preist, das ist Alles, wie eben gezeigt, von
Plinius anerkannt. Aber ist das ein Uebergang zur christlichen
Civilisation ? Das ,,genus humanum" ist allerdings entdeckt, und
Niemand hat von dieser sprachlichen Errungenschaft einen so
reichlichen und redseligen Gebrauch gemacht wie Seneca. Auch
soll nicht verhehlt werden, dass die zum ,,orbis terrarum" und
zum ,,genus humanum" erweiterte Weltanschauung zu einzelnen
humanen Regungen und Bestrebungen in Bezug auf Sclaven
238
und sociale NothständeAnlass wurde (Peter römische Geschichte
III 2 149). Ein dunkles Gefühl, eine Vorahnung, um mit
Casaubonus zu reden, von einer vorhandenen VVeltkrisis wurde
der höchsten Macht ein Antrieb, womöglich den öffenthchen
Zustand moralisch zu heben und der Höhe der äusserlichen
Macht gleichförmig zu machen. In dem Ancyranischen Denk-
mal rühmt sich Augustus seiner Fürsorge für die öffentliche
Religion, und in der That hat er zweiundachtzig Tempel her-
gestellt (Marquardt römisches Sacralwesen 71 73). A.Schmidt
schreibt: ,,die meisten Hebel setzte die Monarchie zur Erhaltung
der Orthodoxie und des bestehenden Cultus in Bewegung"
(Geschichte der Denk- und Glaubensfreiheit p. 324 326). Aber
dieses Alles ist kein Umschwung und kein Uebergang zur
christlichen Civilisation. Was die moralischen Bestrebungen
der Imperatoren betrifft, so urtheilt Marquardt : ,,der despotische
Eingriff der Ehegesetze des Augustus in die persönliche Freiheit
hat, anstatt die Sittlichkeit zu heben und dem Bedürfniss des
Staates zu helfen, durch das Eindringen in die Geheimnisse
des Hauses zu den alten Uebeln ein neues hinzugefügt (Privat-
leben der Römer I p. 'j6 jy). Rom und Italien, durch die
julischen Gesetze nicht gebessert, sinkt in der Kaiserzeit in die
tiefste Stufe des sittlichen Verfalles herab (Rosenbaum Lust-
seuche im Alterthum p. 104). Der begeisterte Verkündiger
der neuen Weltanschauung in Rom, des von Baur gerühmten
Umschwungs, Plinius der Aeltere, bemerkt : ,, stolz ist der
Mensch, aber so gross wie sein Stolz ist seine Erbärmlichkeit"
(H. N. II 5, VII i); ,,der Gehalt des Lebens ist dahin, ,, argu-
menta vitae perierunt", und unser Eigen können wir Nichts
nennen als den sinnlichen Genuss (XXIX 8). Demnach ist
die grosseste Wohlthat, grösser als das Leben, der Tod" (II 5,
VII 4, XXVIII 2). Vor solchen Klagen aus der Tiefe von
einem solchen thatkräftigen Mann muss verstummen Baurs
Rühmen von Umschwung und Uebergang. Was kann die
,,parsimonia domestica" Vespasians bedeuten, wenn der gleich-
zeitige Juvenal entgegensetzt:
,,Nunc patimur longae pacis mala, et saevior armis
Luxuria incubuit victumque ulciscitur orbem" (VT 292 293) ^
239
Der strenge Satiriker wird bestätigt durch den gleich-
zeitigen sittlich ernsten Meister der Rhetorik. Quintiliarr
schreibt: ,,omne convivium obscoenis canticis strepit, pudenda
dictLi spectantur" (Inst. I 4 7). Da die das neue Leben-
repräsentirende Gemeinde, wie Baur meint, unter den Gebildeterb
in Rom sich finden soll, so möge Plinius der Jüngere, der in-
dem erleuchteten Zeitalter Trajans seine Blüthe hat, für seine
Standesgenossen das Wort führen. Plinius schreibt: ,,eadem'
mala jam senatores, jam participes malorum multos per annos-
vidimus tulimusque, quibus ingenia nostra in posteros quoque
hebetata, fracta. contusa sunt" (Ep. VIII 14 9, cfr. Ep.
IV 25 5). Von der Erziehung in den gebildeten Familien
Roms sagt Messala in dem ,,Dialogus de oratoribus" XXIX:
,,propria et peculiaria huius urbis vitia paene in utero matris
concipi mihi videntur".
Da nun Baur die den vermeintlichen Umschwung con-
statirenden Gedanken und Maximen vornämlich in Senecas
Büchern entdeckt haben will, so wollen wir aus der Fülle der
Beschreibungen, mit denen Seneca den sittlichen Gesam.mt-
zustand seiner Zeit darstellt, hier einige Züge vorlegen, um
augenscheinlich zu beweisen, dass Baurs ,, Umschwung" und
.,Uebergang" von dem Zeugniss Senecas ganz und gar
verleugnet werden. Seneca schreibt: ,, wenn ~ dir das wahre
Bild unseres Lebens entgegentritt, so wirst du zu sehen glauben
das Schauspiel einer so eben eroberten Stadt, in welcher die
Rücksicht auf Anstand und Gerechtigkeit abgethan ist, wo die
Gewalt die Leitung übernimmt und gleichsam das Signal
gegeben hat, um Alles über einander zu stürzen, Feuer und
Schwert ist erlaubt, die Verbrechen haben den Zügel ab-
geworfen. Die Religion, welche in der Schlacht die Schutz-
flehenden annimmt, ist kein Hinderniss derer, welche sich auf
die Beute stürzen" (B. VII 27 i). An einer anderen Stelle
führt Seneca das Bild einer erstürmten Stadt noch weiter aus :
,, Alles ist voll von Freveln und Lastern, es wird mehr ver-
brochen als was durch Strafe geheilt werden kann ; heftig wird
gewetteifert um den Preis der Verruchtheit, täglich wächst die
Lust der Sünde, und Schamhaftigkeit nimmt ab, abgethan ist
240
die Rücksicht auf Tugend und Rechtschaffenheit, wohin es
beliebt, bricht die Wollust hinein, nicht mehr heimlich sind die
Frevel, offen gehen sie einher, öffentlich wirft sich die Verrucht-
heit auf, und solche Macht hat sie in allen Herzen gewonnen,
dass Unschuld nicht mehr selten sondern überall nicht mehr
vorhanden ist. Sind es etwa Einzelne oder Wenige, die das
Gesetz brechen? Nein von allen Seiten stürzen sie heran, wie
auf ein gegebenes Signal, um jede sittliche Schranke niederzu-
reissen" (De ira II 9 i). Der Zeiten Lauf ist in sein letztes
Stadium getreten:
,,In nos aetas ultima venit
O nos dura sorte creatos
Seu perdidimus solem miseri
Sive expulimus" (Thyestes 878 — 881).
Hoch tragisch und nicht ohne bitterste Empfindung klagt
Seneca: ,,das Eine, was wir mit ganzer Seele betreiben, was
wir aber noch nicht vollbracht haben, ist das, dass wir den
Gipfel der Schlechtigkeit erreichen, denn noch sind die Laster im
Fortschreiten begriffen" (N. Q. VII 31 i). So wenig weiss
Seneca von dem Uebergang zur christlichen Civilisation, dass
er vielmehr das äusserste Gegentheil eines solchen Fortschrittes
als den wirklichen Zustand in Rom mit den lebendigsten
Farben zu schildern sich genöthigt sieht.
Wir wollen schliesslich aus dem Gesammtzustande des
römischen Lebens in der Cäsarenzeit ein Moment hervorheben,
um einestheils daran zu zeigen, wie leicht Baur sich hat ver-
führen lassen, um zu dem falschen Ruhm eines sittlichen Um-
schwunges und Fortschrittes zu gelangen, um anderntheils an
diesem Moment deutlich zu machen, dass es hier nicht aufs
Reden, sondern aufs Handeln und Leiden ankommt. Es ist
richtig, dass Wort und Begriff von ,,genus humanum" dem
gebildeten Bewusstsein der Römer in der Zeit des römischen
Weltreiches geläufig wurde.
Als eine verstandesmässige Folgerung dieses Bewusstseins
. spricht Seneca den erhabenen Satz aus: ,,homo sacra res
homini" (Ep. XCV 33). Mit diesem correcten und eleganten
tSatz streitet nun wie die Faust aufs Auge der blutige Greuel
241
des Gladiatorenwesens. So viel Wirkung hat nun der
Stoicismus, dass Marcus Aurelius das Gladiatorenunwesen ein
wenig mässigt (Hist. Aug. I 332—417). i\ber was will das
sagen, wenn sein Nefte die Fechterspiele als Hochgenuss bei
seinen nächtlichen Gastmählern einführt (1. c. p. 417)? Oder
wenn der feingebildete Plinius junior bedauert, dass die
gekauften Panther aus Afrika für das Gladiatorenspiel seines
Freundes Maximus zu spät angekommen sind (Ep. VI 24)?
In einer Zeit, in welcher das Christenthum seinen humanitären
Einfluss bereits siegend geltend machte, war der Präfect
Symmachus ein eifriger Kämpfer des Heidenthums gegen das
vordringende Christenthum. Diesem waren neunundzwanzig
kriegsgefangene Sachsen übergeben, welche er zur Lust des
Volkes im Amphitheater wollte morden lassen. Als nun diese
Germanen ihm durch gegenseitige Tödtung zuvorkamen, war
der Mann ausser sich über diesen Frevel (Epist. S. II 46) !
Welchen Werth haben alle durch den vermeintlichen Umschwung
erzeugten humanen Worte, Gedanken und Regungen, wenn ein
Mann, der sich mit dem Beispiel des Sokrates zu trösten
sucht, die Ausübung der abscheulichsten römischen Barbarei
als ein heiliges Recht in Anspruch nimmt ? Theodoret erzählt:
,,zur Zeit des Kaisers Honorius kam ein Mönch Namens
Telemachus aus dem Morgenland nach Rom, amd als er das
blutige Fechterspiel sah, ward er so vom Mitleid ergriffen,
dass er sich in die Arena stürzte, um dieses gefeierte Menschen-
morden zu hindern und somit ein Opfer der Volkswuth wurde
(Theodor, hist. eccl. V 26). Nicht Senecas Spruch sondern
des Mönches Selbstopfer hat, wenn auch nicht das Unwesen
sofort aufgehoben, doch einen wirksamen Anstoss gegen diesen
barbarischen Greuel in Rom gegeben.
Diese alles stoische Pathos überbietende und verdunkelnde
That des Mönches Telemachus führt uns zurück zu dem Inhalt
unseres vierten Abschnittes. Als die beiden grundstürzenden
Lügenmächte der Weltzeit enthüllten sich uns in dem vierten
Abschnitt der Cäsarcultus und der Baalcultus dergestalt, dass
die Errettung der Menschheit aus dem Abgrund der welt-
mächtigen Lüge davon abhängt, dass diese Gewalten besiegt
16
242
und cntmächtigt werden. Die Geschichte der Menschheit tritt
ein in eine entscheidende Krisis, und Seneca, ein auf die welt-
geschichtUche Höhe gestellter Mann, ist nach seiner Geistes-
richtung und Thätigkeit seiner Zeit und Weltlage gegenüber
bei dieser Krisis betheiligt, und die Art dieser Betheiligung
wird uns weiteren x-\ufschluss geben sowohl über diesen Mann
als über die feindliche Grundmacht.
Aus den Thatsachen, die wir im dritten Abschnitt erörtert
haben, hat sich ergeben, dass Seneca weit entfernt ist, die
beiden feindlichen Gewalten zu überwinden. Wir haben eine
Reihe von Thatsachen kennen gelernt, welche mit höchst
beschämender Deutlichkeit beweisen, dass Seneca anstatt den
Cäsarcultus zu brechen, nicht bloss in seiner Stellung zu
Claudius sondern auch in seinem Verhalten zu Nero über den
sacrilegischen Cäsarcultus so wenig erhaben ist, dass er viel-
mehr dieses grundverderbliche Unheil durch sein einflussreiches
Beispiel an seinem Theil noch verstärkt hat. Und was den
Baalcultus anlangt, so bleibt immer die Anklage des Augustinus
von Bestand, dass Seneca zwar tapferer als \'arro gegen die
volksverführende Unsauberkeit des Cultus geschrieben, aber
als Senator ebenso wie seine Collegen durch die Anwohnung
und Leitung der anstössigen Feste und Ceremonien jene
Censur vernichtet und durch sein Beispiel das Volk jenen
Attentaten auf den Rest seiner Sittlichkeit Preis gegeben habe.
Ausserdem bleibt an Seneca der Makel hängen, dass er dem
jungen Cäsar auf seiner jähen Bahn zu dem Abgrund der
Lüste den ersten Anstoss gegeben hat. Somit selbst ver-
flochten in die \'erführungsmacht jener beiden Gewalten,
stellt sich Seneca als einen Solchen dar, dem in der welt-
geschichtlichen Krisis jener Zeit ein Siegespreis nicht zuerkannt
werden kann. Aber andererseits zeigt sich gleichfalls, dass
die bösen Gewalten Seneca gegenüber nicht widerstandlos
gesiegt haben, ja, dass ein Widerstand ihnen gegenüber sich
behauptet hat. Allerdings hat Seneca die abgöttische Burg
nicht erobert, aber auch jene Feinde haben nicht den
Ruhm, dass sie den Widerstand des Stoikers stumm und
todt gemacht haben. Hier muss demnach die weltgeschicht-
243
liehe Stelle sein, die durch den Namen Senecas bezeichnet
wird.
Dass Seneca von den bösen Gewalten, welche in jener
Zeit die Welt beherrschten und darauf gerichtet waren, die
Menschheit für immer von dem schöpferischen Quell ihres
Daseins loszureissen, nicht überwältigt worden ist, freilich
andererseits auch nicht die Macht besass, diese feindlichen
Gewalten zu besiegen, das zeigt sich Beides auf unzweideutige
Weise in seinem Sterben.
Das antike Heidenthum hat sich in Gedanken viel mit
dem Tode beschäftigt, und es giebt zwei Fälle im Heidenthum,
in welchen wir das Sterben bis zum letzen Hauch begleiten
können. Die Jünger des Sokrates haben dafür gesorgt, dass
wir von den letzten Tagen und Stunden ihres Meisters uns
eine anschauliche Vorstellung machen können. Diesem Sterben
des Sokrates in der Metropole der hellenischen Bildung steht
gegenüber das Sterben Senecas in der Hauptstadt des
römischen Reiches. Der ehrwürdigste Historiker des heid-
nischen Alterthums hat seinen Griffel angesetzt, um das Sterben
Senecas, des literarisch berühmten und staatlich hochgestellten
Römers zu beschreiben. Man merkt es dem Ton der aus-
führlichen Erzählung an, dass sie auf einer tiefen Empfindung
des tragischen Vorganges beruht, und man muss dem Philologen
Spalding Recht geben, dass es ein bedeutender Mann muss
gewesen sein, dessen Sterben den Tacitus zu einem solchen
Bericht inspiriit hat.
Aber obwohl die Erzählung des Tacitus von dem Ende
Senecas in sich selber und abgesehen von allem Anderen bei
keinem empfänglichen Leser ihres bleibenden Eindruckes ver-
fehlen kann, so fehlt doch noch viel an der vollen Würdigung
derselben. Dieses Sterben mus von dem Gesichtspunkt der
ganzen öffentlichen und individuellen Lage, in welcher sich
Seneca befindet, gewürdigt werden.
Da meines Erachtens dieses merkwürdige Schriftstück
viel zu wenig beachtet wird, ja auch viel zu wenig bekannt ist,
so schien es mir angemessen und dem Zweck meiner Schrift
entsprechend zu sein, wenn ich an dieser Stelle den ausführ-
16*
244
liehen Bericht des Tacitus nach der Uebersetzung (von Roth)
mittheiie. Nachdem Tacitus die Thatsachen der Verschwörung-
des Piso berichtet, fährt er folgendermassen fort (Ann. XV 60):
,, Zunächst Hess Nero den Tod des Consuls Plautius
Lateranus folgen mit solcher Eilfertigkeit, dass er ihm keine
Umarmung seiner Kinder, nicht die paar Minuten zur Wahl
seines Todes gönnte. Plötzlich nach dem Ort geschleppt, wo
man nur die Sclaven hinrichtet, wurde er durch die Hand des
Tribunus Statins hingewürgt, mannhaft schweigend, ohne dem
Tribun dessen Theilnahme an derselben Sache zum Vorwurf
zu machen. Dann kam Annaeus Senecas gewaltsamer Tod,
dem Regenten das Erwünschteste, nicht weil er denselben als
erklärten Mitverschworenen erkannt hatte, sondern um blutige
Gewalt anwenden zu können, weil es mit dem Gift nicht
gegangen war. *) Ein Tribun, der Prätorianer Gavius Silvanus,
erhielt Befehl, Seneca zu befragen, ob er die Aussage des
Natalis über seine Verbindung mit Piso anerkenne. ■•'■**) Seneca war
zufälligerweise oder vielleicht absichtlich auf denselben Tag aus
Campanien zurückgekehrt und auf einem Landsitz im Weichbild
der Hauptstadt eine Meile von da abgestiegen. Dahin kam
der Tribun kurz vor Abendzeit und sperrte das Landhaus
durch Soldaten ab, dann machte er ihn, der mit seiner Gattin
Pompeja Paulina bei Tische sass, mit dem bekannt, was der
Kaiser ihm aufgetragen hatte. Seneca antwortete, dass er Piso
nicht vorgelassen, habe er mit der Rücksicht auf seine Umstände
und mit seinem Verlangen nach Ruhe entschuldigt. Uebrigens
aber die Existenz eines Privatmannes höher anzuschlagen als
seine eigene, habe er keinen Grund gehabt, und ein Freund
von Complimenten sei er nicht, das wisse Niemand so gut als
Nero, der in Seneca öfter den freimüthigen Mann als den
*) Einige berichten, sagt Tacitus Ann. XV 45, dass auf Neros Geheiss
dem Seneca von seinem Freigelassenen Cleonicus Gift beigebracht worden sei,
ohne dass dasselbe Wirkung gehabt.
**) Natalis hatte als eine Aeusserung Senecas das Wort berichtet, seine
Existenz hange an der des Piso; Seneca leugnet, dieses Wort gesagt zu haben ;
es stehe im Widerspruch mit seiner wirklichen Lage und mit seiner bekannten
Freimüthigkeit.
245
gehorsamen Diener gefunden habe. Als der Tribun im Beisein
Poppaeas und Tigellinus', welche mit Nero das geheime Cabinet
des mordsüchtigen Fürsten bildeten, die Antwort Senecas
berichtete, fragte er (Nero), ob Seneca Anstalten zum frei-
willigen Tode mache ? Der Tribun antwortete : Nichts habe
Furcht verrathen, keine Niedergeschlagenheit sei in seinen
Aeusserungen oder in seinem Angesicht zu finden gewesen.
So musste er denn wieder hingehen und den Tod ansagen.
Fabius Rusticus erzählt, der Tribun habe denselben Weg, den
er hergenommen, nicht wieder gemacht, sondern sei abseits zu
dem Obersten Faenius gegangen, habe diesem des Kaisers
Befehl mitgetheilt und gefragt, ob er gehorchen solle, und der
habe ihn angewiesen, denselben zu vollziehen. Alle mussten
Memmen sein. Denn auch Silvanus war im Complott und
förderte noch die Frevelthaten, für welche auch mit seiner Zu-
stimmung Rache zu nehmen war. Doch die Ansprache und
das Zuschauen mied er und schickte den Centurio hinein zu
Seneca, ihm anzukündigen, dass er sterben müsse ■"^*) Ohne
Bestürzung verlangt Seneca sein Testament, und auf des
Centurios Verbot richtete er an seine Freunde das Wort, weil
man es ihm versage, sich thätig dankbar für das Gute zu er-
weisen, das er von ihnen empfangen, so vermache er ihnen
das Einzige, aber auch das Schönste, was er noch habe, das
Bild seines Lebens, wenn sie das im Herzen trügen, würden
sie sich als Männer von edlem Sinn und dazu noch als treue
Freunde einen Namen machen. Zugleich suchte er bald im
Tone der Unterhaltung, bald ernsthafter in dem der Zurecht-
weisung, die weinenden Männer zur Fassung zu bringen, indem
er fragte: wo denn die Lehren der Weisheit seien, wo das
Verhalten gegenüber dem Geschick, worauf sie so viele Jahre
her sich vorbereitet hätten ? Denn welcher Mensch Neros
*) Obwohl Faenius und Silvanus zu den Verschworenen gehörten und
also das Racheamt gegen Nero ausüben wollten, gaben sie sich dazu her, den
Mordbefehl Neros gegen Seneca zu vollziehen, obgleich Silvanus die persönliche
Begegnung mit Seneca fürchtete und deshalb einen Centurio beauftragte, Neros
Todesurtheil zu vollziehen. Alle mussten Memmen sein, sagt Tacitus im Zorn
und Abscheu.
246
Mordlust nicht gekannt habe? Und nachdem dieser Mutter
und Geschwister umgebracht, bleibe ihm ja nichts Weiteres
noch zu thun, als dass er des Erziehers und Lehrers Blut
vergiesse.
Als er Solches und Aehnliches zu Allen geredet, umfasste
er seine Gattin, und im Widerspruch mit der Entschlossenheit
des vorigen Augenblicks etwas weicher gestimmt, bittet und
beschwört er dieselbe, sie möchte doch ja sich nicht endlosem
Leide hingeben sondern in Beschauung seines tugendhaft
geführten Lebens sich den Schmerz um den Gemahl durch
edle Trostmittel erträglich machen. Sie dagegen erklärt mit
Ernst, der Tod sei auch ihr zugedacht, und begehrt durch
fremde Hand zu sterben, Seneca darauf, ihr ruhmwürdiges
Beginnen nicht zu hindern und auch aus zärtlicher Vorsorge,
das einzig geliebte Wesen nicht künftiger Misshandlung preis-
zugeben, spricht: ,,ich habe dich auf die Dinge hingewiesen,,
welche zum Leben einladen, du wählst einen schönen Tod,
ich lasse dir den Vortritt, so soll denn unsere Willensstärke
in so muthigem Scheiden die gleiche, aber dein Sterben das
ehrenreichere sein". Hierauf Hessen sie sich mit einem Schnitt
die Arme öffnen. Da aber aus Senecas altem, durch spärliche
Kost noch geschwächtem Körper das Blut nur langsamen Ab-
gang fand, so Hess er auch an den Beinen und Kniekehlen
sich die Adern schlagen. Und durch grausame Qualen
erschöpft, fürchtete er durch seine Schmerzen den Muth seiner
Gattin schwächer werden zu sehen und selbst im Anschauen
ihrer Pein kleinmüthig zu werden, und rieth ihr darum, sich
nach einem anderen Zimmer zu begeben. Und selbst noch im
letzten Augenblicke seiner Redegabe mächtig, gab er seinen
Schreibern, die er herkommen Hess, gar Vieles in die Feder,
was mit seinen eigenen Worten bekannt gemacht worden ist
und ,,ich darum zu übertragen, fügt Tacitus hinzu, nicht nöthig
erachte". Doch Nero, welcher keinen persönlichen Hass gegen
Paulina hatte und den üblen Eindruck der Grausamkeit nicht
wollte stärker werden lassen, gebot ihren Tod zu verhindern.
Aufgefordert von den Soldaten, verbanden ihre Sclaven und
Freigelassene die Arme und stillten das Blut, man weiss nicht.
247
ob ohne dass sie es wahrnahm. Denn wie ja die Leute Heber
das Schhmmere annehmen, man glaubte zum Theil, so lange
sie in Nero den unversöhnlichen Feind fürchtete, habe sie in
der Todesgemeinschaft mit ihrem Gemahl sich einen Namen
machen wollen, aber dann dem Reize des Fortlebens nicht
widerstanden, als sich die bessere Aussicht eröffnete. Sie lebte
von da an noch wenige Jahre in löblichem Andenken an ihren
Gemahl und so weiss durch völlige Entfärbung des Gesichts
und der Glieder, dass die Entweichung eines grossen Theiles
des Lebenselementes unverkennbar war. Da indessen bei Seneca
das unmerklich langsame Absterben fortdauerte, bat er einen
lange schon als treuen Freund und geschickten Arzt er-
probten Mann, Statins Annaeus, den Gifttrank, womit er sich
geraume Zeit vorher versehen, den, wodurch man in Athen die
vom Staatsgerichtshof Verurtheilten sterben lasse, herbeizu-
bringen, und als der kam, trank er ihn ohne Erfolg, schon
erkaltet an den Gliedern und unempfänglich für die Wirkung
des Giftes. Zuletzt trat er in ein Bassin mit warmem Wasser
und besprengte die nächststehenden Sclaven, indem er sagte,
das sei sein Trankopfer für Jupiter den Befreier ■"•'•■). Dann noch
ins heisse Bad gebracht und durch dessen Dampf entseelt,
wurde er ohne alle Leichenfeier verbrannt. So hatte er letzt-
willig verordnet zu einer Zeit, wo er noch auf der Höhe des
Reichthums und der Macht doch schon über seine Bestattung
verfügte" (Tacitus Annal. XV" 60—64).
Dass dieser Bericht zu den bedeutsamsten und w^erth-
vollsten Stücken der antiken Literatur gehört, leuchtet ohne
Weiteres ein, aber unvergleichlich gewinnt die Bedeutsamkeit
*) Ein religiöser Zug des sterbenden Philosophen, worin Thrasea Paetus
ihm nachfolgt (Tacit. Ann. XVI 35}. Nach Lipsius (ad Tacit. Ann. XVI 35)
war das Trankopfer eine übliche Spende beim Gastmahl. Die beiden
sterbenden Philosophen wollen durch diese Ceremonie zu erkennen geben,
dass sie ihr Schicksal hinnehmen als eine Wohlthat. Wie Cato durch Selbst-
tödiung zur Sicherheit und Befreiung gelangt, so denken sich Seneca und
Thrasea durch Neros Mörderhand aus dem Stande der allgemeinen Knecht-
schaft befreit. Die einzige Aufgabe ist, mit Ehren sterben (Dio 60 16).
248
derselben, wenn man sich überzeugt, dass das Verhalten Senecas
Angesichts des Todes, wie er hier ausführHch beschrieben ist,
ganz genau dem entspricht, was dieser Stoiker während
seines Lebens in Ansehung des Sterbens erstrebt und sich vor-
gesetzt hat.
Von Alters her ist in der antiken Welt die Betrachtung des
Todes und die Vorbereitung auf das Sterben für ein Haupt-
werk der Philosophie angesehen worden. ,,Tota vita philoso-
phorum, ait Socrates, commentatio mortis est" (Cicero Tuscul.
Quaest. I 30). Dieser Ausspruch des Socrates findet sich in
Piatos Phaedon c. IX, XII, XXIX. Der Platoniker Apulejus
drückt denselben Gedanken noch stärker aus: ,,philosophiam
esse existimandam mortis affectum consuetudinemque moriendi"
(De Plat. dog. Opera II p. 251 ed. Oudendorp). Seneca
erinnert an Plato: ,,Plato clamat, sapientis animum totum in
mortem prominere, hoc velle, hoc meditari, hac semper cupidine
ferri in exteriora tendentem" (Ad Marc. XXIII 2). Nach-
drücklicher jedoch kann die Todesbetrachtung als charakteristi-
scher Zug der antiken Philosophie überhaupt nicht aus-
gesprochen werden als dadurch, dass Seneca selbst den Epikur
als Wahrheitszeugen für diesen philosophischen Ernst anführt :
,,Epicurus ait: egregia res est, mortem condiscere ; meditare
mortem" (Ep. XXVI 8 9). Seneca selber wird nicht müde, an
diese Pflicht zu mahnen. ,,Tu ut mortem nunquam timeas semper
cogita" (Ep. XXX 18); ,,nulla res magis proderit quam cogitatio
mortalitatis" (de ira III 42 2). Mit demselben Ernst wird
gewarnt vor ,,voluntaria mortis oblivio" (Ad Polyb. XI i).
Diese pflichtmässige Betrachtung des Todes nimmt aber bei
Seneca eine ganz bestimmte Richtung, eine Richtung, welche
bereits von Plato in einem begeisterten Augenblick vor-
gezeichnet ist. Wir haben schon gelegentlich auf diese Richtung
hingewiesen, hier aber ist die Stelle, wo wir mit ganzem
Nachdruck dieselbe zu betrachten und darzulegen haben.
In dem zweiten Buch vom Staat legt es Plato darauf an,
das Standbild des wahrhaft Gerechten vor den Augen seiner
Leser aufzurichten. Der wahrhaft Gerechte, sagt Plato, muss
nicht mürbe zu machen sein durch den bösen Ruf und dessen
249
Folgen, sondern er sei unwandelbar bis zum Tode, dem Scheine
nach ein Ungerechter sein Leben lang, in der That ein
Gerechter ; der wahrhaft Gerechte wird behandelt als der
Ungerechte, er wird gegeisselt, gefoltert, gebunden, mit
glühendem Eisen geblendet und zuletzt gespiesst" (II 361).
Wer erkennt nicht in diesem Standbild des Gerechten die
Grundzüge des Weisesten unter den Hellenen, der eben in-
dem er von der höchsten Staatsgewalt als ein Gottloser und
Volksverführer hingerichtet wurde, seine Gerechtigkeit auf eine
neue und unzweifelhafte Weise thatsächlich offenbar machte.
In der Verurtheilung des Sokrates hat sich gezeigt, dass das
bestehende Staatswesen in das völlige Gegentheil seiner ursprüng-
lichen Bestimmung verkehrt ist. Eine verderbliche Wirkung
dieser in der Verurtheilung des Sokrates sich enthüllenden
Verkehrung der Staatsordnung hat sich uns gezeigt in der
Halbheit, mit welcher Plato seine Censur der mythischen An-
stössigkeiten abschwächt. Eine heilsame Wirkung jener Ver-
kehrung der öffentlichen Ordnung auf Plato ist die Auf-
richtung jenes grossen Standbildes des wahren Gerechten, die
tiefsinnigste Weissagung des heidnischen Alterthums auf die
höchste Offenbarung des wahrhaft Gerechten,
Die Richtung, welche die Todesbetrachtung Senecas nahm,
ist die, dass er sich den Tod meistens vorsteUt umgeben von
[grausamer Gewalt und öffentlicher Schmach und Schande. Das
grausame Cäsarenregiment unter Tiberius, Caligula, Claudius
Nero, welches vielfach gegen Tugend und Rechtschaffenheit
Verfolgung erhob, gab einem Mann, der in Rom wohnte und
dreissig Jahre in unmittelbarer Nähe des Hofes lebte, Anlass
genug, die Scenen grausamer und ungerechter Todesarten sich
zu vergegenwärtigen. Unauslöschlich steht vor der Seele
Senecas das schreckliche Bild des Kaisers Cajus, von dem er
schreibt: ,,hunc videtur rerum natura edidisse, ut ostenderet,
quid summa vitia in summa fortuna possent" (Ad Helv. X 4).
,,Hunc rerum natura in exitium et opprobrium humani generis
•edidit" (Ad Polyb. XVII 3). Seneca lässt es sich angelegen
sein, die grausamen Handlungen dieses Cäsar im Einzelnen
zu beschreiben und zum Theil auszumalen (De ira II 33 3 — 6,
250
III t8 3 4, 19 1 — 5, Ad Polyb. XIII 4, XVII 4-6). Diese
Schilderungen finden sich in den frühesten Schriften Senecas und
beweisen also, dass er sich früh gewöhnt, gegen ,,das frei-
wilhge Vergessen des Todes", wie er es nennt, sich zu wehren.
Die Beobachtung und Erfahrung in der Nähe der cäsarischen
Gewalt erweitert seinen Blick dergestalt, dass er sich auch
vertraut macht mit der ,,Saevitia intra peregrina exempla"
(De ira III 18 i). Die Beispiele von Cambyses, Harpagus,.
Xerxes, Alexander, Phalaris, Apollodorus erwähnt Seneca nicht
bloss, sondern er bringt dem Leser die einzelnen Züge der
barbarischen Despoten auch zur Anschauung (De ira II 5,
III 15, Q. N. II 17). Desgleichen verweilt Seneca gerne bei
den Leiden und Qualen, welche Männer wegen ihrer Recht-
schaffenheit von der ungerechten Gewalt erfahren haben. Ihm
sind Regulus und Cato junior ehrwürdige und nie genug zu
betrachtende Beispiele (De provid. III 9 — 11, De tranq. XVI 4,
Ep. LXVII 7 12, LXXI 17). Seneca theilt nicht die jetzt
sehr verbreitete Anschauung, welche in der Freimüthigkeit der
republikanischen Denkart Nichts als unnütze Ueberspanntheit
und Thorheit finden will. Weiter verallgemeinern sich ihm die
einzelnen Beispiele der Art zu einer Totalanschauung, nach
welcher die Macht und Gewalt als feindlich und die Tugend
und Gerechtigkeit als bedroht und gefährdet erscheint. ,,Iratae
leges et saevissimi domini minitantur" (De const. VIII 3).
,,Homines potentes manus fortunae sunt" (ibid.) ,,Non
adhortabimur ferre imperia carnificum" (De ira III 15 3).
,, Video cruces non unius quidem generis, sed aliter ab aliis
fabricatas, capite quidam conversos in terram suspendere, alii
per obscoena stipitem egerunt, alii brachia patibulo explicuerunt,
video fidiculas, video verbera, et membris singulis et articulif>
singula docuerant machinamenta" (Ad Marc. XX 3, N. Q.
IV praef 17).
Wollte man diese Weltanschauung Pessimismus nennen, so
würde man den ganzen Sinn Senecas nicht treffen. Diese
Vergegenwärtigung der bösen Gewalt und der gefährdeten
Tugend dient ihm dazu, nicht bloss des Todes überhaupt ein-
gedenk zu sein, sondern vornämlich die Kraft zu gewinnen,
251
einen, wenn es sein soll, gewaltsamen und schimpflichen Tod
in den höchsten moralischen Sieg zu verklären.
Es sind folgende Lehren, welche Seneca aus jener seiner
Betrachtung der vorhandenen, für das Gute gefährdeten Welt-
lage gewinnt. Man muss jeden Tag als den letzten betrachten:
,,omnis dies velut ultimus judicandus est" (De moribus. III 462 '
ed. Haase). In Bereitschaft muss der Geist stehen : ,,in pro-
cinctu stet animus" (Ad Polyb.j'XI 3). ,,Ad ultimum usque
diem vitae bonus vir stabit paratus et in hac statione morietur"
(B. V 2 4). Von dem Ernst der Todesstunde hat Seneca
einen hohen Begriff. Da jener Tag sein Urtheil fällen wird
über alle meine Jahre, so sage ich zu mir : ,, Nichts ist Alles,
was wir in Worten und Werken geschafft haben, leichte und
trügerische Unterpfänder der Seele sind es, in viele schmeich-
lerische Hüllen eingewickelt, der Tod soll mich lehren, was ich
erreicht habe. Jener Tag soll sein Urtheil abgeben, ob ich
bloss tapfer rede oder wirklich so gesinnt bin, ob es Verstellung
und Komödie gewesen, wessen ich mich mit hohen Worten
gegen das Schicksal gerühmt habe. Fort mit dem Rühmen
der Menschen, es ist immer zweifelhaft, fort mit den Studien
des ganzen Lebens, der Tod soll über dich das Urtheil ver-
kündigen" (Ep. XXVI 5 6). ,,Wir sollen die letzte Stunde,
deren Schrecken allen anderen Stunden die Ruhe nimmt, mit
Gelassenheit erwarten" (Ep. IV 9). ,,Wenn man den Tod in
der Nähe sieht, soll man nicht bestürzt werden, als ob man
etwas Neues sieht" (Fragmenta III 444 ed. Haase). ,,Oft hört
man von Solchen, denen der Tod ferne ist, dass sie sich aus
Todesfurcht Nichts machen, aber der hat bei mir mehr
Gewicht, der in der Nähe des Todes sich ausspricht. Meine
eigentliche Meinung ist: im Sterben selber kann ein Mann
seine Tapferkeit besser bewähren, als Einer, dem der Tod
noch bevorsteht" (Ep. XXX 7 8).
Man sieht, das Ziel, welchem Seneca zustrebt, ist, was die
Stoiker ,,in actu mori" nennen. Er weiss und spricht es aus- /
drücklich aus, dass, wer dieses Ziel erreichen will, sich lange
darauf vorbereiten muss. Immer wieder ruft er sich ins
Gedächtniss, dass der schwerste Tod der ist, der durch eine
252
fremde Gewalt dem Menschen angethan wird. ,,Timentur, quae
per potentiores eveniunt. Ex his omnibus nihil magis nos
concutit, quam quod ex ahena potentia impendet" (Ep. XIV 3 4).
Diese fremde Gewalt umgiebt das Todesleiden mit Feuer und
Schwert, mit Geissein und Foltern, mit dem Geschrei der
Henker (Ep. XXIV 3 4). Seneca verlangt, dass dieser
ganze Apparat eines gewaltsamen Todes wie des Todes Larve
solle angesehen und verachtet werden, aber er weiss, dass
dieses nicht durch Worte oder durch Verstandesschlüsse, wie
gewisse Griechen meinen, ausgerichtet werden kann (Ep.
LXXXII 8 9). Seneca hat an Beispielen erlebt, er weiss es,
w^elch ein ungeheurer Ernst in den Angriffen der höchsten
Gewalt auf Leib und Leben ist. Aus dem wirklichen Leben
entnommen sind seine folgenden Sätze: ,, magna verba excidunt,
quum tortor poscit manum" (Ep. LXXXII 7;; ,,magnifica
verba mors prope admota exuit" (Troades 584). Die Tapfer-
keit gegen diesen bedrohlichen Eindruck des gegenwärtigen
gewaltsamen Todes muss errungen werden durch beharrliches
Besinnen: ,,faciat pectus firmum assidua meditatio, si non verba
^xercueris sed animum, si contra mortem te praeparaveris"
(Ep. LXXX 8), welche Mahnung Seneca an einer anderen
Stelle so ausdrückt: ,,nemo non fortius ad id, cui se diu com-
posuerit accessit et duris quoque si praemeditata erant obstabit.
Haec assidua cogitatio praestabit, ut nulli sis malo tiro" (Ep.
CVTI 4). Durch diese beharrliche und ernstliche Besinnung ist
Seneca inmitten seiner Erlebnisse in der Hauptstadt des
cäsarischen Reiches und am cäsarischen Hofe zu der Erkenntniss
gekommen, dass es ein Erforderniss für das Gemeinwohl der
Menschheit ist, dass Einer vorhanden sei, über den das
Schicksal Nichts vermöge (De constant XIX 4).
So entsteht dem Seneca, allem Anschein nach unabhängig
von Plato, auf dem Boden seiner eigenen Erfahrung und
Besinnung das Bild des zum Heil der Menschheit noth-
wendigen vollkommen Gerechten, ähnlich jener Platonischen
Inspiration.
Da seit den Tagen des Sokrates die Ungerechtigkeit dei
höchsten Gewalt zugenommen hat, so ist Seneca genötbigt und
253
befähigt, das Bild des Gerechten noch weiter auszumalen als
es Plato vermochte und bedurfte. ,,Der Weise ist gegen jeden
Angriff gewaffnet, er weicht keinen Schritt zurück — mag
Schande, mag Sclimerz ihn bestürmen, unerschrocken wird er
dem entgegengehen und mitten unter Solchem wandeln''
(Ep. LIX 8). ,, Durch keine Unbill soll das Schicksal mich
dahin bringen, dass ich das Wort höre : was nützt mir jetzt der
gute Wille? Der gute Wille nützt auch auf dem Folterblock,
nützt auch im Feuer. Wenn das Feuer an die einzelnen
Glieder gebracht wird und allmählich den lebendigen Körper
umgiebt, wenn das Feuer den Körper, in welchem das gute
Gewissen wohnt, auflöst, so wird ihm dieses Feuer, durch
welches die gute Gesinnung verklärt wird, Wohlgefallen"
(B. IV 21 22).
Seneca verstärkt das Platonische Bild namentlich noch
dadurch, dass er das Moment der Schmach und Schande, die
den Gerechten umgiebt, weit mehr hervortreten lässt, weil in-
zwischen in dem römischen Cäsarenreich das öffentliche Urtheil
noch weit mehr verfälscht ist, als in den Tagen Piatos, Wir
müssen uns hier wieder vergegenwärtigen die grossen und
schönen Aussprüche Senecas über den Gegensatz von fama und
conscientia. ,,Mit vollem Gleichmuth", schreibt Seneca, ,, werde
ich meinen Vorsatz ausführen, auch wenn er mitten durch
Schande hindurch geht. Niemand scheint mir die Tugend
höher zu achten. Niemand ihr mehr ergeben zu sein, als wer
den Ruf des guten Mannes preisgiebt, um das Gewissen nicht
zu verletzen" (Ep. LXXXI 20). ,,Die Unschuld muss oft einen
Makel auf sich nehmen und muss bösen Gerüchten preis-
gegeben werden" (Ep. LXXXI 27). ,, Wahrlich, oft musst du
gerecht sein mit Schande behaftet, und dann macht, falls du
weise bist, der üble Ruf, den du dir auf rechtmässige Weise
erworben, dir Freude" (Ep. CXIII 32). ,,Wir schauen die
Tugend erdrückt von Niedrigkeit und Schmach" (Ep. CXV 6).
,,Das gute Gewissen erfreut auch, wenn es unterdrückt wird,
es widerspricht der öffentlichen Meinung, macht von sich Alles
abhängig und wenn es den grossen Haufen der Gegner auf der
anderen Seite erblickt, zählt es nicht die Stimmen sondern
254
gewinnt den Sieg durch eine einzige Stimme. Wenn es aber
sieht, dass die gute Gesinnung mit den Strafen der Ungerechtig-
keit belegt wird, steigt es nicht herab von seiner Höhe sondern
erhebt sich über seine Strafe" (B. IV 21 5 — 6). Es wird hier
der ausserordenthche Fall gesetzt, dass der Gerechte von seiner
ganzen Volksgemeinde verworfen wird.
Als eine besondere Höhe erscheint es Seneca, dass der
mit dem gewaltsamen Tode Bedrohte Angesichts des Todes
sich über den Tod vernehmen lässt. Das ist die Höhe, auf
welcher er den Sokrates bewundert : ,,Socrates de morte dis-
putavit usque ad ipsam" (De provid. III 12). Etwas Aehn-
liches hat Seneca an einem edlen Römer in den Tagen des
Caligula erlebt. Kanus Junius, von Caligula mit dem Tode
bedroht, sprach dem Kaiser seinen Dank aus, und als der
Centurio ihn zu seinem Todesgang abholen wollte, traf er ihn
beim Würfelspiel, sofort gab er das Spiel auf und sagte zu
seinem Mitspieler: ,,ich rathe dir, dass du nach meinem Tode
nicht sagst, du habest gewonnen, und rief den Officier zum
Zeugen auf, da.s3 er um ein Auge im Vortheil sei". Zu seinen
trauernden Freunden sagte er: ,,ihr fragt noch, ob die Seelen
unsterblich sind, ich weiss es". Ein Philosoph, der ihn begleitete,
fragte Kanus: ,,was denkst du! wie ist dir zu Muthe r" Kanus
antwortete: ,,ich habe mir vorgenommen, zu beobachten, ob
die Seele in jenem flüchtigen Augenblick merkt, dass sie davon
geht". ,, Dieser", sagt Seneca, ,, macht sein Schicksal zu einem
Beweisgrund der Wahrheit, er forscht nicht nur bis zum Tode
sondern lässt sich durch den Tod selber belehren ; länger hat
Keiner philosophirt". Begeistert ruft Seneca aus: ,, über diesen
grossen Mann soll man nicht oberflächlich hinweggehen, man
soll seiner mit Bedacht erwähnen, wir wollen dieses ruhmwürdige
Haupt einem immerwährenden Andenken weihen, er behauptet
unter den Schlachtopfern des Cäsar eine hohe Grösse" (De
tranq. XIV 4—6). *j
*) Wer kennt selbst unter den Gelehrten trotz dieses feierlichen
Gelübdes diesen Kanus Tunius -
255
Schliesslich müssen wir uns noch einen Zug merken, den
Seneca für den Weisen und Gerechten Angesichts des Todes
für wesentlich hält. ,,Kgo mortem eodem vultu, cum quo
audiam, videbo" (De vit. beat. XX 3). ,, Nihil ex vultu mutat;
adversus apparatus terribilium rectos oculos tenet" (De
const. V 5).
Nach dem Bericht des Tacitus hat der Officier Cäsars
bezeugen müssen, dass Seneca Angesichts des Todes das, was
er sich vorgenommen, wahr gemacht hat.
Nicht wahr? Angesichts dieser ernsten Vorsätze in An-
sehung des Sterbens, welche wir in den Schriften Senecas so
zahlreich finden, gewinnt die Erzählung des Tacitus von dem
Ende dieses Philosophen noch ein viel bedeutenderes Gewicht,
als diese Erzählung schon an sich selber besitzt. Nicht bloss,
müssen wir sagen, ist das Verhalten Senecas in seinen letzten
Stunden ein an sich höchst würdiges und rühmliches sondern
dieses Verhalten ist genau so, wie er es sich in den gehobensten
Augenblicken seines Lebens und Denkens gedacht und vor-
genommen hat. Wir haben verschiedene Widersprüche
zwischen Verhalten und Lehren unseres Philosophen aufdecken
müssen, aber in der Hauptprobe des menschlichen Lebens, auf
welche Seneca mit grossem Ernst sich selbst hingewiesen hat,
in dem Sterben, ist kein Widerspruch zwischen Lehren und
Verhalten. Hier zeigt sich, dass eine sehr verbreitete Ansicht,
dass Senecas Tugend- und Weisheits-Lehren Nichts als Phrasen
seien, gründlich falsch sein muss.
Wie bedeutsam ist es, dass Nero fragt, wie sich Seneca
benommen habe bei der Ankündigung der bedrohenden Todes-
gefahr. Nero kann bei aller Wüstheit seines Lebens den Ein-
druck der moralischen Persönlichkeit seines alten Lehrers nicht
los werden ; so gerne er es möchte, so kann er es doch nicht
über sich gewinnen, dass es ihm gleichgültig sei, wie sich
Seneca in dieser gegenwärtigen Lage verhalte. Nero erfährt
nun zu seiner Beschämung, dass Seneca sich genau so verhält,
wie er sich oft vorgenommen, was Nero nicht kann verborgen
geblieben sein. Der Tribun antwortet: nuUa pavoris signa,
nihil triste in verbis ejus aut vultu deprehensum". Seneca
256
hatte sich vorgenommen: ,,mit derselben Miene werde ich den
Tod anschauen, mit welcher ich von ihm höre". ,,Wenn man
den Tod in seiner Nähe sieht, soll man nicht bestürzt werden,
als ob man etwas Neues sieht." Der römische Officier, der
Kaiser Nero und sein Cabinet, Poppäa und Tigellinus müssen-
bezeugen, dass Seneca gerade so dem Tod ins Angesicht
schaut, wie er es sich gelobt hatte. Seneca hatte gelehrt, dass
die Nähe und Gegenwart des Todes die, Selbsttäuschung und
den Betrug des Lebens vernichtet und den Mann so zeigt,
wie er wirklich ist. Seneca bewährt sich in dieser Prüfung
so, wie er den weisen und gerechten Mann beschrieben hat.
Seine Miene verändert sich nicht, seine Augen zeigen keine
Furcht; dieser furchtlosen Haltung entspricht auch seine Rede
und sein ganzes Verhalten bis zum letzten Hauch. Er lässt
dem Kaiser durch den Tribun sagen: Nero habe öfter in
Seneca den freimüthigen Mann als den gehorsamen Diener
gefunden, und in Gegenwart des Tribuns spricht er von Neros
Mordlust, ,,er habe Mutter und Geschwister umgebracht und
nun wolle er seines Erziehers und Lehrers Blut vergiessen".
Da wir wissen, dass Seneca dem Nero oft geschmeichelt, dass
er einst sogar die officielle Vertheidigung des Muttermordes
auf sich genommen hat, so könnte Seneca nicht, wie er hier
that, sprechen, wenn nicht die Nähe des Todes ihm eine
gehobene Stimmung verleiht, in welcher er sich erhaben fühlte
über seine eigenen Schwächen und Fehler. Wir wissen, dass
Seneca, wie alle Römer, verstrickt gewesen in den Cäsarcultus,
ja dass er recht eigentlich diesen widergöttlichen Cultus
gepflegt und gefördert hat; jetzt aber, da Cäsar seine äusserste
Gewalt aufbietet und sein Schwert zieht, zeigt Seneca im
Sterben eine mannhafte Freiheit, welche beweist, dass der
Cäsarcultus ihn nicht überwältigt hat.
Gleicherweise beweist das Sterben Senecas eine selbstlose
Liebe, welche zeigt, dass das andere sacrilegische Attentat auf
die menschliche Empfänglichkeit für das Göttliche, nämlich
der Baalcultus, trotz aller Schwächen, ihn doch nicht unter-
jocht hat. Die durch den abgöttischen Cultus privilegirte
Augenlust, Fleischeslust und Unzucht hat vor Allem das grös.ste
257
Gotteswerk innerhalb der natürlichen Schöpfung, die Ehe,
gestürmt und zerrüttet. Die Unzucht ist das grösste Unheil
des Jahrhunderts geworden, sagt Seneca (Ad Helv. XVI 3).
Es ist dahin gekommen, dass keine Römerin einen Mann hat,
ohne den Ehebrecher anzulocken (B. III 16 3), dass eine sehr
anständige Art von Verlöbniss der Ehebruch ist (B. I 9 4), und
Viele sich des Ehebruchs rühmen, wie Ovid von CatuU berichtet
{Ep. LXXXVIII 23). Nun hatte, wie wir wissen, Seneca selber zu
der ersten Störung der Ehe des Nero die Hand geboten, und
Nero war auf dieser unheilvollen Bahn fortgegangen bis zur
Ermordung seiner edlen Gemahlin und zu den entsetzlichsten
Ausschweifungen. Ausserdem wissen wir, dass Seneca den
Muth und die Kraft nicht besass, dem officiellen Baalcultus,
dieser infernalen Giftquelle aller Unzucht, entgegenzutreten.
Um so bedeutsamer ist es, dass wir aus dieser Zeit der zucht-
losen Zerrüttung des Ehelebens ein Zeugniss aus der Hand
Senecas besitzen über die Reinheit und Zärtlichkeit seiner Ehe
mit Pompeja Paulina. Je seltener Seneca den Lehrton seiner
Schriften verlässt, um gemüthlichen Aeusserungen Raum zu
geben, desto werthvoUer ist uns seine Auslassung über sein
Verhältniss zu seiner Gattin Paulina im Anfang seines
104. Briefes an Lucilius. Dreimal braucht er hier das zärtliche
Wort mea von seiner Paulina. Wichtiger aber ist, was er von
ihr mittheilt. Er erzählt, dass er sich in seinen alten Tagen
in Rom unwohl gefühlt, und deshalb habe er sich auf sein
Landgut Nomentanum begeben, um sich zu schonen und zu
pflegen. Er macht dabei bemerklich, dass diese Rücksicht-
nahme auf seinen körperlichen Zustand eigentlich mit seinen
strengen Grundsätzen nicht stimme, aber er habe diese Rück-
sicht genommen und diese Abweichung sich erlaubt, nicht
seinetwegen sondern seiner Gattin wegen. Da er nämlich
wisse, dass ,,ihr Odem an seinem hänge", so fange er an, für
sich selbst zu sorgen, damit er für sie sorge. ,, Diese Sache",
fährt er fort, ,, trägt in sich grosse Freude und grossen
Lohn, denn was ist erfreulicher, als einer Gattin so theuer
zu sein, dass man sich ihretwegen selber theurer wird".
Dahin gehört auch die Aufforderung Senecas an den
17
258
Tugendlehrer: ,,hoc me doce, quomodo uxorem amem" (Ep.
LXXXVIII 7).
Dieses schöne eigenhändige Zeugniss Senecas über seine
Ehe mit PauHna wird nun vollauf bestätigt und besiegelt durch
den Bericht des Tacitus iiber die letzten Stunden Senecas.
Nachdem Seneca sich im Allgemeinen über das ihm bevor-
stehende Schicksal vor seinen Freunden mit würdevoller
Haltung ausgesprochen, lässt er den strengen Ton fallen,
wendet sich mit zärtlicher Liebe an seine Gattin, sucht sie zu
trösten und zu bewegen, dass sie durch edle Trostgründe die
Sehnsucht nach dem Gatten erträglich mache. Es will etwas
sagen, dass der Stoiker eben jetzt, da er sich rüstet gegen
den Tod, seine grundsatzmässige Apathie überwindet und
seiner Gattin gegenüber das Recht des Gemüthes walten lässt.
Als aber Paulina den gleichen Tod mit ihm verlangt, giebt er
nach, da ihm diese Freimüthigkeit zum Sterben nach seinen
Grundsätzen als höchster Adel in einer Zeit, die keine Hoff-
nung mehr bietet, erscheinen muss, und räumt ihr willig ein den
Ehrenpreis des höheren Ruhmes. Seine letzte Fürsorge ist, zu
verhüten, dass Paulina nicht durch den Anblick seiner Qualen
mehr als nöthig gepeinigt werden möchte, oder beweist er
noch grössere Liebe, dass er fürchtet, durch den Anblick ihrer
Leiden selber erweicht zu werden r Paulina wurde noch auf
einige Jahre am Leben erhalten, aber Tacitus, der auf Alles,
was sich in diesen wüsten Zeiten an wahrer Menschlichkeit
noch regt. Acht giebt, unterlässt es nicht, anzumerken, " dass
Paulina in löblichem Andenken an ihren Gatten verharrte und
das Zeichen des mit ihm erlittenen Martyriums in Gesicht
und Gliedern sichtbar machte.
Wie der Cäsarcultus darauf gerichtet ist, das göttliche
Ebenbild der menschlichen Selbstständigkeit und Freiheit
durch eine Menschenknechtschaft sonder Gleichen auszulöschen,
so will der Baalcultus das göttliche Ebenbild der menschlichen
Liebe und Hingebung durch die Fleischeslust der Selbstsucht
vertilgen. In dem Sterben Senecas liegt der Beweis, dass die
mannhafte Freiheit durch den Cäsarcultus in der Welt noch
nicht hat vernichtet werden können. Ebenso beweist dieses
259
Sterben an der höchsten Stelle der Welt, dass auch die selbst-
lose Liebe durch den Baalcultus noch nicht ausgerottet ist.
Während das Sterben den in Sinnlichkeit versunkenen Menschen
in starre Selbstsucht bannt, ist der sterbende Seneca so weit
von sich selber los, dass Liebe und Sorge für seine Nächsten,
seine Gattin und seine Freunde stärker sich beweisen als seine
Todesleiden.
Ja nicht bloss für die Nächsten waltet hier Liebe und
Sorge, sondern wie er sich immer am liebsten dachte als einen
Lehrer, einen Mahner und Warner an die Menschheit der
Gegenwart und Zukunft, so will Seneca den letzten Augenblick
und die letzte Kraft noch aufbieten, um das, was er als das
letzte Ergebniss seines Lebens und Denkens betrachtet, so weit
es ihm möglich ist, zum Gemeingut der Menschheit zu machen.
Er lässt seine Schreiber kommen und dictirt ihnen seine letzten
Gedanken. Mit dieser allerletzten Anstrengung, indem ihm,
wie Tacitus schreibt, noch ,,im allerletzten Augenblick die
Redegabe zu Gebote stand", erreicht Seneca eben das, was er
als das Höchste und Herrlichste in den letzten Augenblicken
des Sokrates und des Kanus gerühmt hat.
Die mannhafte Freiheit und die selbstlose Liebe, welches
beides in dem Sterben Senecas offenbar wird, beweist, dass der
Widerstand Senecas gegen die beiden dämonischen Gewalten
Cäsarcultus und Baalcultus nicht gebrochen ist. Aber wie
Tacitus diesen bedeutsamen Widerstand bezeugt, ebenso belehrt
uns derselbe Tacitus, dass jene beiden feindlichen Gewalten
keineswegs durch den Widerstand Senecas überwunden und
entmächtigt sind und daher ihr tödtliches Attentat weiter
wirken lassen.
Die Bemerkung des Tacitus über die letzte Anstrengung
und That des Seneca führt uns sofort hinüber zu der Kehrseite
des Widerstandes unseres Stoikers. Tacitus bemerkt, dass er
für überflüssig halte, die letzten Schriftwerke Senecas zu
referiren, da dieselben öffentlich bekannt seien. Aber wo ist
diese Schrift, das letzte Vermächtniss des sterbenden Seneca
an die Nachwelt geblieben? Justus Lipsius klagt: ,,Constantiae
et sapientiae mera praecepta. Quia edita Tacitus omisit. O
17*
260
improvide factum ! Utinam nobis quoque illas voces audire vel
levi aure possibile esset!
Was der gefangene Jude Paulus ungefähr in derselben Zeit in
der römischen Hauptstadt wahrscheinlich mit gefesselter Hand
oder mit Hül!"e eines Schreibers geschrieben, das lesen wir
noch heute. Was aber der hochgestellte und sehr berühmte
Römer im Kreise der Seinen als sterbender Mann dictirt, das ist ein
verwehtes Blatt, und vergebens beklagt man, dass Niemand weiss,
was es enthalten. Woher dieser Gegensatz zwischen Paulus und
Seneca? Um den verhassten, verfolgten, dem Tode geweihten
Juden stand eine kleine unscheinbare, aber todesmuthige Schaar,
die an seinen Lippen hing, und diese obwohl gleichfalls dem nahen
Tode geweihte Schaar hat eine geistige Nachkommenschaft, die
noch heute lebt und blüht. Den Römer umgiebt ein Chor
literarischer und politischer Grössen, aber dieser Tod von Cäsars
Hand, mag er noch so tapfer ertragen sein, verbreitet nicht
Muth und Begeisterung sondern einen Schrecken über alle
Verwandte, Freunde und V^erehrer Senecas. In einer seiner
frühesten Schriften wagt Seneca noch die Behauptung: ,,non
usque eo in possessionem generis humani vitia venerunt, ut dubium
sit, an electione fati data, plures nasci Reguli quam Maecenates
velint". Die Laster haben die Menschheit noch nicht in Besitz
genommen, denn die Zahl derer, welche lieber Regulus sein
wollen als Mäcenas ist grösser als die, welche lieber das Gegen-
theil erwählen (De prov. III ii). In derselben Zeit als er
dieses schrieb, beantwortete er die Frage: ,,quare bonis viris
patitur aliquid mali deus fieri ?" mit dem kühnen Satz: ,,ut
alios pati doceant, nati sunt in exemplar" (De prov^ VI i — 3);
Seneca hat den Wunsch und den Vorsatz: ,,nos quoque aliquid
ipse faciamus animose, simus inter exempla" (Ep. XCVIII 13).
Nach seinem eigenen Zeugniss, welches er im Angesicht des
Todes ablegt, jiat er das erreicht, er darf es wagen, seinen
PVeunden als das schönste Vermächtniss das ,,Bild seines
Lebens" anzubieten (Tacit. Ann. XV 62). Wenn also in Rom
noch Etwas fehlt an dem rechten Todesmuth, so sollte man
nach diesen Bekenntnissen und Lehren Senecas erwarten, dass
das grosse Beispiel des Sterbens, in welchem Seneca voranging,
261
dieses hätte ergänzen müssen. Aber es wiederholt sich der
traurige Vorgang, den wir bei dem Tode des Sokrates kennen.
Keiner unter den Schülern, Freunden und Verehrern des
Sokrates hat den Muth, seinen Fussstapfen nachzufolgen, es
erfüllt sich schnell, was Sokrates den Richtern vorher gesagt,
,,so Einen wie mich werdet ihr nicht leicht wieder finden".
Alle, auch die Athenienser unter ihnen, fliehen und meiden die
Stadt, welche den Meister getödtet. Ein noch traurigeres Bild
zeigt die römische Welt beim Tode des Seneca, das Böse ist
inzwischen fortgeschritten. Wer steht dem Seneca näher als
sein Bruder Gallio, ein consularischer Mann, der einst als
Proconsul in Achaia den Apostel Paulus in Schutz nahm
gegen die Juden, an welchen die schöne Schrift ,,de vita
beata", das Buch ,,de remediis fortuitorum", die drei Bücher vom
Zorn gerichtet sind, der von Seneca als ein hohes IMuster von
Bescheidenheit und Aufrichtigkeit gepriesen wird (N. Q. IV,
praef. lo — 12), den unser Seneca wegen seiner Vornehmheit
,, dominus meus" anredet (Ep. CIV i) ? Von diesem Gallio
bezeugt Tacitus, dass er im Senat als Feind und Verräther
angeklagt worden, aber, furchtsam gemacht durch den Tod des
Bruders, um Erbarmen gefleht (Ann. XV 73). Noch schimipf-
licher benimmt sich Lucanus, der berühmte Neffe Senecas.
Dieser gefeierte Dichter der Pharsalia, der in^dem Hass gegen
Nero und in der Bewunderung Catos dem Onkel nacheiferte.
Tacitus macht ihm zum Vorwurf, dass er die Mitverschworenen
denuncirt (Ann. XV 57). Nach Sueton (Vita Lucani) hat
dieser Dichter sogar seine eigene Mutter verrathen, um sich
selber zu schützen. Tacitus deckt über diese tiefste Schande
des Dichters noch dadurch einen Schleier, dass er berichtet,
im letzten Augenblick habe Lucanus sich zu einer mannhaften
Aeusserung, die aber eine W^irkung nicht mehr haben konnte,
aufgerafft (Ann. XV 70). Tacitus ist so entrüstet über die
allgemeine Feigheit der Verschwörer, die mit Seneca mehr oder
weniger verbunden waren, dass er das Beispiel eines gemeinen
Weibes hervorhebt, welches grossartig handelte, während Frei-
geborene und Männer, Ritter und Senatoren das Liebste und
Theuerste feigherzig verriethen (XV 57). Und so wenig war
262
die dämonische Gewalt durch Senecas tapferen Widerstand
gebrochen, dass Neros Verfolgung einen neuen Anlauf nahm
und endlich ein Aeusserstes erreichte, indem es ihn gelüstete,
,,die Tugend selbst" zu vernichten: ,,Nero värtutem ipsam
exscindere concupivit" (Ann. XV 21), nämlich Thrasea Paetus
zu tödten. Auch dieser gab im Sterben ein hohes Beispiel
edler Standhaftigkeit, aber eben über diesen fällt Tacitus das
Urtheil, er habe durch seine Freimüthigkeit nur sich selber
geschadet, ohne der Freiheit aufzuhelfen.
Als einst im alten Rom sich auf dem Forum ein Abgrund
aufthat, den man durch gewöhnliche Mittel nicht schliessen
konnte, da sprang ein geharnischter Ritter in den Abgrund
und die gähnende Kluft schloss ihren Rachen. Jetzt vergiessen
die edelsten Männer, Seneca und Thrasea ihr Blut, aber dieses
Blut schafft der Freiheit keine Bahn. Jedes Laster hat seinen
Gipfel erstiegen, sagt Juvenal, und daher reicht die alleredelste
Kraft des Widerstandes, welche auf dem Boden der natürlichen
Moral möglich ist, nicht hin, um eine Entscheidung zu Wege
zu bringen. Zwar behauptet sich diese höchste Macht des Wider-
standes im heissesten Kampf, aber einen Sieg erringt sie nicht,
denn die feindliche Lügenmacht wüthet nur um so heftiger.
Entweder, es muss eine Kraft aus der Höhe kommen, oder
das Menschengeschlecht wird verschlungen von den Pforten
der Hölle.
Wir haben gesehen, dass Plato den vollendeten Gerechten
darstellt als den in der verderbten Welt Gewalt und Schmach
Erleidenden, und dass Seneca dieses Bild auf Grund seiner
weiteren Erfahrung von der wachsenden Bosheit und Lüge
vervollständigt hat. Sowohl Clemens Alexandrinus (Strom. V
p. 600 a) als Eusebius (Praepar. XV 11) erkennen in jener
Schilderung des Plato mit Recht die bedeutsamste Weissagung
des Heidenthums. Allerdings hat diese heidnische Ahnung
von dem vollendeten Gerechten nicht die Klarheit und Bestimmt-
heit der alttestamentlichen Propheten von dem gerechten Knecht
Jehovas (Jes. LIII). Der Knecht Jehovas besteht nicht bloss
selbst in der Krisis, er schafft Rettung, er gewinnt die Starken,
das Erleiden des Todes und der Schmach ist hier der dunkle
2C)3
Hintergrund, auf dem sich das Reich einer neuen Menschheit
und einer neuen Weh erhebt. Das, was Plato und Seneca
schildern, ist in seinen Hauptzügen in dem Sterben des Sokrates
und Seneca erfüht, und ist damit ein edles Kleinod sittlichen
Widerstandes gegen die bösen Mächte in der Welt anerkannt.
Aber andererseits zeigt sich die Schranke, dass dieser Wider-
stand nicht die Kraft besitzt, sich mitzutheilen, er reicht eben
aus, um den Gerechten in der Krisis der Welt nicht untergehen
zu lassen, aber auf die gefährdete Menschheit, auf die sterbende
Welt gesehen, verbreitet dieser Widerstand mehr Finsterniss
als Licht, mehr Schrecken als Muth.
Aber trotzdem verdient die werthvoUe Ahnung Piatos und
Senecas von Seiten der christlichen Lehre eine grössere
Beachtung und Würdigung, als ihr zu Theil zu werden pflegt.
Charles Kingsley hat in seiner herrlichen Dichtung ,,Hypatia"
einen sehr lehrreichen Gebrauch von dieser Platonischen
Inspiration gemacht (II 256 257). Wer nun das Sterben
Senecas in dem Lichte dieser traumartigen Weissagung an-
schaut, der wird sich von selber getrieben fühlen, weiter hinaus
zu blicken, um zu sehen, wie das, was hier abgebrochen
erscheint, sich im weiteren Verlauf vollendet.
VI.
Christus der Sieger in seinen Blutzeugen.
Einen Zeitabschnitt, wie der von Augustus bis Septimius,
dessen moralischen Charakter weltbekannte Greuel und gleich-
zeitige Sittenrichter verdammen, verherrlicht, wie schon
früher bemerkt, der Professor Hausrath als die Blüthe einer
unvergleichlichen Geistesepoche der Menschheit. Derselbe
Zeitraum ist erfüllt von dem Kampf, den das Christenthum
beginnt und mit steigendem Siege gegen die zwiefache, das
öffentliche Leben vergiftende sacrilegische Lüge führt. Da nun
Hausrath seines Zeichens christhcher Theologe ist und unter
seinen Fachgenossen nicht geringes Ansehen hat, so muss in
der gegenwärtigen Theologie ein grosses Misskennen und Miss-
achten des Christenthums vorhanden sein. Diese Theologenschaft
versteht nicht den in der Stille verborgenen Grund und
Ursprung des Christenthums, darum aber auch eben so wenig
die gewaltige und sich vollendende That des öffentlichen
christlichen Blutzeugnisses.
Die von Paulus angekündete Gotteskraft (Rom. i i6)
offenbart ihre erste weltgeschichtliche Auswirkung eben auf dem
Boden, auf dem wir das Ringen der menschlichen Natur mit
den ungöttlichen Mächten angeschaut, auf dem wir sodann das
immermehr offenbar werdende tragische Unterliegen der
wundervollen antiken Gottesschöpfung den ungöttlichen Mächten
und Wirkungen gegenüber haben constatiren müssen. Um so
erhebender und belehrender ist es, den Kampf und Sieg einer
neuen Gotteskraft auf demselben Gebiete anzuschauen, wo die
265
Trümmer der ersten Gottesschöpfung liegen In einseitigem
Enthusiasmus für die antike Cultur pflegt man die Geschichte
der Griechen und Römer mit dem Auftreten des Christen-
thums abzuschHessen, gleichsam als ob die aus den Heiden
Getauften nicht mehr Griechen und Römer wären, und in Folge
davon pflegt man dann die Weltgeschichte auf dem germani-
schen Boden, wo das Christenthum national und politisch zu
werden beginnt, fortzusetzen, als ob das Christenthum bis dahin
auf dem klassischen Boden nur eine literarische und individuelle
Existenz gehabt hätte. Dieser traditionelle Pragmatismus ist
ein zwiefacher Raub, ein Raub an dem vollen Ruhm der beiden
antiken Völker und ein Raub an dem höchsten Preise des
Christenthums. Der christliche Geist hat die beiden klassischen
Sprachen zu seinem vornehmsten Organ gemacht und hat aus
der untergehenden Nation der Griechen und Römer sich eine
Gemeinde geschaffen, die mitten in der Welt ein neues Geistes-
reich darstellt, vor welchem sowohl das Ende des Römerreichs,
wie die Erstlingschaft der germanischen Welt sich beugen
mussten. Griechen und Römer sind nicht bloss berufen, die
antike Welt und Cultur classisch darzustellen, sondern haben
die ebenso auserwählte Mission, das Material für den geistigen
Unterbau der neuen Welt darzubieten. In diesem antik
nationalen Charakter des ersten Christenthums^ ist zugleich die
Möghchkeit gegeben, dass die antike Cultur noch ein neues
Leben empfängt als renata humanitas, wie es sich in der
Reformationszeit erwiesen hat, aber, wie wir hoffen, noch voll-
kommener offenbaren wird, wenn es mit der Herstellung der
freien und wahren christlichen Volkskirche voller Ernst
werden wird.
Was sodann das Christenthum anlangt, so ist nach der
Schwäche der menschlichen Natur und nach dem ganzen Ver-
lauf der bisherigen Geschichte der Begriff des Christenthums
immer in Gefahr verweltlicht zu werden. Dieser Versuchung
wird Vorschub geleistet, wenn man die christliche Welt-
geschichte erst auf dem germanischen Boden beginnen lässt.
Die innersten und heiligsten Kräfte kommen zum Vorschein
und zur Geltung in dem grossen Kampfe, den das erste
266
Christenthum mit der Weltmacht des römischen Reiches zu
bestehen hat.
Es ist im strengen Sinne des Wortes ein Kampf auf
Leben und Tod, den das Christenthum mit der römischen
Weltmacht auszufechten hat, und in welchem das Christenthum
sich offenbart als eine göttliche Kraft, an welche die höchste
Menschenkraft, wie wir sie in Seneca anschauen, nicht hinan-
reicht, eine Kraft, welche eben da einsetzt, wo die menschliche
Kraft aufhört. Diese Kraft, welche bald auf offenem Plan
kämpfend, siegend und erobernd auftritt, dieser christliche
Heroismus wird nur dann richtig verstanden, wenn man zuv^or
die tiefe Stille und Ruhe anschaut, aus welcher dieser Herois-
mus geboren ist. Wir haben gesehen, wie Seneca sich an-
strengt, aus der Verwirrung und Unruhe der Welt zu sich
selbst zu kommen, mit sich zum stillen Frieden zu gelangen,
sich selbst in Besitz zu nehmen, seiner selbst mächtig zu
werden. Aber er konnte es nicht erreichen: ,,nunquam singuli
sumus". Wir haben ferner gesehen, wie das Leben der römi-
schen Gesellschaft des wahren Gehaltes leer geworden und
darum in den Strudel und Wirbel der Lust dahingegeben ist.
Wie aus einer ausserweltlichen Sphäre tritt in diese Unruhe,
Leerheit und Wüstheit eine Lebenserscheinung von stiller und
tiefer Insichgekehrtheit.
Zwei Documente des christlichen Alterthums mögen uns
das Bild des neuen göttlichen Lebens in der Stille in anschau-
lichen Zügen vergegenwärtigen : der Hymnus des Clemens
Alexandrinus auf den göttlichen Pädagogus der jugendlichen
Christenheit und das Idyll im Sturm von Minutius Felix. Am
Schluss der drei Bücher des Pädagogus von Clemens Alexan-
drinus findet sich eine begeisterte Dichtung auf Christus, den
himmlischen Pädagogus. Die jugendliche Christenheit sammelt
sich um ihren himmlischen Führer und Meister, um im feier-
Hchen Chor ihm Lob, Preis und Dank darzubringen. Es ist
nicht die Armee der ,, Athleten und Krieger Christi", welche
in den Fussstapfen ihres kämpfenden Königs wandelnd ihr
Blut vergiessen, es sind die jungen Knaben, aus dem Geist
geboren ,,wie Thau aus dem Morgenroth", liegend an der
267
Brust ihres Meisters und trinkend seine Seligkeit in tiefem
Frieden und grosser Stille. ,,Wir, die Christgeborenen", so
lassen sie sich vernehmen, ,,wir, der Chor des Friedens, das
Volk der Wahrheit, wir singen einmüthig, wir singen einfältig,
wir singen miteinander dem Gott des Friedens." Es ist das
Echo in Menschenzungen von dem Friedenspsalm der Engel-
schaaren über den Fluren von Bethlehem.
Auf dem römischen Boden, der frühe Ströme von
Christenblut getrunken, lebten zwei christliche Freunde, Minutius
und Octavius, ihres Standes Rechtsanwälte. Von Minutius
besitzen wir eine Schrift, welche einestheils zeigt, unter welchem
Druck und in welcher Gefahr das christliche Bekenntniss
damals stand, wie aber diese Freunde trotzdem das Banner
des verfolgten Glaubens hochhielten, und wie andererseits diese
Männer auf diesem vulcanischen Boden in heiterer Lebenslust
und Seelenruhe wandelten. Wie gemüthlich Avird der Spazier-
gang der beiden Männer am Strande von Ostia beschrieben !
Und obwohl der Gegensatz, der die ganze Geisterwelt in Auf-
ruhr brachte, durch die Anwesenheit eines ihnen bekannten
Heiden zur Sprache gebracht wird, fahren die beiden Christen
in ihrer angenehmen Unterhaltung fort und beobachten mit
Selbstvergessenheit das Scherbenspiel der Knaben, als gäbe es
für sie nichts Wichtigeres. Während Caecilius,- der Heide, ein
Parteimann der herrschenden mächtigen Majorität, verdriesslich
und mürrisch einhergeht, ergötzen sich die beiden Christen
an jenem Knabenspiel."'') O wie still, wie in sich befriedigt
ist diese neue Gemeinde mitten in der Verachtung und Ver-
folgung !
Als ein neues Leben innerhalb und an dem Ort des ab-
sterbenden Heidenthums kündigt sich das Christenthum an,
und das ist die Bedeutung der kleinen, bescheidenen nach-
apostolischen Literatur, von dem Dasein und von der Kraft
*) Hausrath (Kleine Schriften p. 76) scheint dieses Knabenspiel mit
Scherbenwerfen über die glatte Wasserfläche nicht zu kennen. Ausserdem irrt
Hausrath darin, dass er die beiden Freunde spielen lässt, während Minutiust
erzählt, dass die beiden Freunde dem Knabenspiel zuschauen.
268
dieses neuen Lebens Zeugniss abzulegen. Klein und unschein-
bar ist die Literatur des ältesten Heidenchristenthums im
Vergleich mit der grandiosen Bibliothek des antiken Heiden-
thums, denn hier fliesst nicht der wogende Strom griechischer
Begeisterung und römischer Beredsamkeit. Aber der Prophet
mahnt, ,, nicht zu verachten das Wasser von Siloa, das stille
gehet". Diese Erstlingschaft der christlichen Literatur auf
heidnischem Boden würde mehr in Ehren gehalten werden,
wenn nicht der leidige Doctrinärismus das Christenthum vor-
zugsweise und in erster Linie als Lehre zu betrachten und zu
behandeln pflegte, und aus diesem Grunde in der Erforschung
und Erörterung dieser Literatur vor Allem Jagd machte auf
Entdeckung etwaiger doctrinärer Phänomene."^)
Die rechte Schätzung dieser meistens kleinen Schriften
gewinnt man, wenn man herkommt von der Leetüre jener
Bücher, welche den Process des hinsiechenden und absterben-
den Heidenthums immer noch mit schönen Formen auszu-
schmücken suchen. Wer mit richtigem Sinn für Geist und
Leben begabt aus der Atmosphäre des späteren Heidenthums
etwa von der Leetüre Martials, Frontos, Lucians, Apulejus
herkommt und dann an jene christliche Literatur herantritt,
den muthet es an wie der frische Morgenhauch eines neuen
Welttages.
Innerhalb des Heidenthums war die Freude an der Gegen-
wart und die Hoffnung für die Zukunft verloren gegangen.
Ein Christ auf dem Gange zu einem grausamen Tode ruft voll
Begeisterung: , .Aller Zauber wurde aufgelöst, alle P^esseln der
Bosheit wurden vernichtet, Unwissenheit ward aufgehoben, was
zum alten Reich gehört ward zerstört • seit der Sohn in mensch-
licher Wei.se sich geoffenbaret, ist das All in Bewegung gesetzt,
weil es abgesehen ist auf die Auflösung des Todes und einen
Anfang gewinnt, was bei Gott bereitet war" (Ignatius ad
p:phes. XIX). „Es ist nicht erlaubt", heisst es in dem so-
*) Dieser Doctrinärismus ist auch die Ursache der Geringschätzung, mit
welcher Ilausralh (Kleine Schriften p. 11 — 34) die sogenannten apostolischen
Väter behandelt.
269
genannten zweiten Brief des Clemens Romanus, ,,von unserer
Rettung gering zu denken". ,,Das Christenthum ist eine Sache
der Grossheit" (Ignat. ad Rom. III). ,,Die Thaten Gottes, auf
denen dieses Christenthum ruht, sind nicht Dinge der platten
Wirklichkeit, sie sind vor profanen Augen verborgen, sie sind in
göttliches Schweigen gehüllt und dadurch dem Teufel ent-
rückt" (Ignat. ad Ephes. XIX ^. Daher ruht das Geheimniss
der göttlichen Offenbarung in einer tiefen Schweigsamkeit der
Christen. TertuUian schreibt von den Christen: ,,er hat seinen
Mund versiegelt mit der Tugend der Schweigsamkeit" (De
patientia XV) und Lactanz fügt hinzu: ,,Deus jussit, ut quieti
ac silentes arcanum ejus in abdito atque intra nostram con-
scientiam teneamus" {Instit. VII 21 8 — 10). ,,Der Christ ist
ein vertrauter Freund der Einsamkeit, der Ruhe, der Stille
und des Friedens" (Clemens Alexandrinus Paedag. II 7). Wegen
dieser Schweigsamkeit nennt der heidnische Spötter Caecilius
die Christen: ,,natio latebrosa, lucifuga, in publicum muta".
Dem gegenüber aber schreibt Cyprianus das stolze Wort :
,,non magna loquimur, sed vivimus" (De patient. II). Die
Schweigsamkeit der Christen stammt nicht aus der geistigen
Leerheit sondern im Gegentheil aus der Fülle und Grösse des
geistigen Gehaltes, in welchem sie leben. Hier ist jenem
unseligen Zustande, den Plinius beschreibt: ,, argumenta vitae
perierunt" ein Ende gemacht.
Und weil das Leben einen grossen göttlichen und ewigen
Gehalt gewonnen hat, so ist auch der traurige Folgesatz :
,, nihil pro nostro habemus quam delicias" in ein erfreuliches
Gegentheil verwandelt. Seneca hat gesagt: ,,res severa est
gaudium verum". Jene ,,deliciae" sind eine hässliche Carricatur
von dem ,, verum gaudium". Die Möglichkeit und Wirklich-
keit der wahren Freude ist erst mit dem Christenthum gegeben,
und diex\echtheit des ältesten Christenthums auf dem heidnischen
Gebiet offenbart sich darin, dass in den Urkunden dieses
Christenthums die Freude mit grossem Nachdruck als wesent-
licher Charakter wahrer Christlichkeit bezeichnet wird. Barnabas
beginnt seinen Brief mit Freude und Dank und erklärt, dass
die fromme Uebung ein Werk der Freudigkeit ist (X). Die
270
strenge Busspredigt des Hermas mahnt: ,,thue von dir die
Traurigkeit, sie ist eine Schwester des Zweifels, ziehe an die
Freudigkeit, die immerdar bei Gott Gnade hat und ihm wohl-
gefäUig ist, lass es dir wohl sein in der Freudigkeit, denn jeder
Mann, der freudig ist, thut Gutes, denkt Gutes und verachtet
die Traurigkeit, die Frommen weisen von sich die Traurigkeit
und ziehen an unter allen Umständen die Freudigkeit" (Hermas
Mandat. X i — 3, cfr. Vis. III 11, Sim. IX 15). Diese strenge
Verurtheilung der Traurigkeit von Hermas ist so wenig
individuell, dass die kirchlich asketische Sprache die tristitia
als Laster brandmarkt. Dem Satze des Clemens Alexandrinus
,, Jesus gewinnt die Menschen durch das süsse Leben" (p. 267 b)
entspricht seine Mahnung, dass die Kleider der Christen weiss
sein sollen (p. 244 c). Ein hohes Beispiel christlicher Freudig-
keit ist Perpetua, die patriotische Märtyrin von Carthago, sie
schrieb in dem Tagebuch ihrer Kerkerhaft Angesichts ihres
am folgenden Tage bevorstehenden Thierkampfes : ,,ich bin
heiter gewesen in meinem Fleischesleben und werde hernach
noch heiterer sein".
Wie betrübend ist uns der innere Zwiespalt in Seneca
entgegengetreten : der Zwiespalt zwischen entgegengesetzten
Aussagen und Lehrsprüchen und der Zwiespalt zwischen Lehren
und Handeln. Auch dieser tiefe Schatten der menschlichen
Schwäche wird im Christenthum verklärt. Erfüllt von dem
Gehalt des göttlichen Reiches, freudig gestimmt aus den
Höhen des ewigen Lebens ist der Christ befreit aus der Gewalt
des inneren Gegensatzes und straff und unerschlafft gerichtet
auf das Eine, in welchem alles Einzelne enthalten ist. In der
Kraft dieses Sinnes und Geistes bekämpft die älteste heiden-
christliche Literatur das Laster der inneren Getheiltheit unter
dem Namen ZvW/yx, Zr;ho:jQ'.'-j. (Clem. Rom. II 23, Barnabas XIX,
Hermas Mand. IX, X).
Im Gegensatz zu dem sinkenden und sterbenden Heiden-
thum finden wir also auf dem Boden des römischen Reiches
eine Gemeinde, in welcher neues, ewiges und heiliges Leben pulsirt.
Einstweilen lebt diese Gemeinde abgekehrt von der Oefifent-
lichkeit in einer sabbatlichen Stille. Sehr verkehrt aber ist es,
271
diesen Zustand der ersten Heidenchristengemeinde, nach Uhl-
horn (Kampf des Christenthum mit dem Heidenthum 262)
mit dem Pietismus und dem Conventikelthum zu vergleichen.
Diese Kirche der Katakomben ist sehr verschieden von der
AengstHchkeit und Bornirtheit des Pietismus und von der
Schwächhchkeit des Conventikels.
Die Zurückgezogenheit der ersten Christen war keine
schroffe Abgeschlossenheit sondern die unbefangene Darstellung
der durch Christum im Geheimen wieder hergestellten Mensch-
lichkeit. Die christliche Menschenfreundlichkeit sprach zunächst
und vornehmlich diejenigen an, deren Menschenwürde am
meisten verkannt und verachtet wurde, die Sclaven und die
Frauen. Tertullian wendet sich an die unverbildete mensch-
liche Seele (De testimonio animae LI). Noch schärfer dringt
Tertullian auf den innersten Kern der Menschheit mit folgendem
Wort : ,,Certe prior anima quam litera, et prior servus quam
liber, prior sensus quam stilus, prior homo ipse quam philo-
sophus" (ibid. V). Indem nun die einfache Selbstdarstellung
des Christenthums sich an diese, wie Tertullian sich ausdrückt,
,,naturaliter christiana anima" wendet, wird in den ungelehrten
einfältigen, aber für die Wahrheit empfänglichen Gemüthern eine
kräftige Ueberzeugung von der Wahrheit Christi erzeugt, so
dass Sclaven und Weiber mit Selbstgewissheit und Klarheit
von den himmlischen und göttlichen Dingen, worüber selbst
die Philosophen zweifelhaft und unsicher reden, sich auszu-
sprechen im Stande sind (Just. Apolog. I 60, II 10, Irenäus
III 4 2, Tatian XXXIII,' Athenagoras XI, XVII). Mit wahrer
Empörung nun sprechen über diese Erscheinung Caecilius,
Celsus, offenbar weil durch dieses Hervortreten der bisher für
unmündig gehaltenen Menschheit in der allerwichtigsten An-
gelegenheit die bisher anerkannte und bestehende Rangordnung
der Menschenklassen gestürzt wird. Die Geistesaristokratie der
antiken Menschheit schickt sich an, von dieser empörenden
Anmassung der christlichen Sclaven, Handwerker und Frauen
Rechenschaft zu fordern.
Innerhalb des häuslichen Lebens ferner musste die christ-
liche Gewissenhaftigkeit und Heiligkeit nicht selten mit der
272
heidnischen Laxheit und Unsitte in Conflict kommen. Solche
Conflicte verfehlen nicht die Aufmerksamkeit auf das neue
Christenthum zu richten. Einen solchen aus dem Leben
gegriffenen Conflict erzählt Justin im Anfang der zweiten
Apologia. Eine Christin in Rom hatte früher mit ihrem
Mann ein wüstes Leben geführt. Nachdem sie bekehrt war,
versuchte sie ihren Mann zu bessern, da aber alle ihre
Bemühungen vergeblich waren, hielt sie es für ihre Pflicht,
sich von ihm zu scheiden. Darüber aufgebracht denuncirte der
Mann seine Frau als eine Christin und aus weiterer Rachsucht
ihren Lehrer Ptolemäus, welcher sofort verhaftet wurde. Es
ist hier das erfüllt, was Christus den Seinen vorhergesagt, dass
der Gegensatz innerhalb der Familien durch den Hass gegen
das christliche Leben und Wesen in die Oefl*entlichkeit hinaus-
getragen wird. Aehnlich ist es, wenn Octavius dem Minutius
Vorwürfe macht, dass er seinen Freund Caecilius nicht darüber
zur Rede stellt, dass er dem Priapusbild abgöttische Ehre
erweist.*) Dieser Vorwurf innerhalb des Freundeskreises ver-
anlasst den scharfen Kampf zwischen Christenthum und Heiden-
thum am Meeresstrand von Ostia.
Der sehr belesene Eusebius von Cäsarea fasst den Haupt-
vorwurf der NichtChristen gegen das Christenthum in folgen-
dem Wort zusammen : ,,ihr steht im Gegensatz zu allen
Völkern, ihr habt den Glauben, den Cultus und die Sitten
eurer Väter verlassen, höchstens habt ihr noch einen Zusammen-
hang mit den Juden, diese aber sind allgemein verhasst, und
ausserdem seid ihr ja auch dem jüdischen Ritus nicht treu
geblieben" (Praeparat. evang. I i 2). Im Alterthum, wo der
Einzelne in seinem Volk verschwindet und nur im Zusammen-
hang mit seinem Volk eine Bedeutung hat, wiegt dieser Vor-
wurf noch viel schwerer als in unseren Tagen, und es ist
begreiflich, dass mit diesem Vorwurf, der sich im Ganzen und
Grossen durch den Augenschein bewährte, für die meisten
Menschen das Christenthum unwiderruflich gerichtet war.
*) Vermöge eines sonderbaren Missbrauchs der Sprache nennt Hausrath
diese christliche Mahnung eine ,, Verfolgung" (Kleine Schriften p. 76).
27
o
TertuUian schreibt: ,,tertium genus dicimur, cynopennae aliqui,
vel sciapodes vel aliqui de subterranea antipodes" (Ad nationes
I 7, cfr. 8 20, Scorp. X). TertuUian will im Sinne der heid-
nischen Gegner sagen : da ihr weder Römer noch Juden seid,
sondern eine dritte Gattung, die keinen Namen hat, so ist
Nichts im Wege, dass ihr eine Art von Ungeheuer seid.
Unter diesem Gesichtspunkt hat sich viel Stoff zur Ver-
spottung und Anklage gegen die Christen angehäuft, und es
fehlte nicht an Literaten in diesen aufgeklärten Zeiten, welche
sich an der schriftstellerischen Bekämpfung des Christenthums
betheiligten. Als Solche werden genannt Crescens, Fronto,
Porphyrius, Celsus, Hierokles, und sind uns von diesen, nament-
lich von Celsus durch die Gegenschrift des Origenes Fragmente
dieser antichristlichen Polemik erhalten. Aber eben dieser
Origenes, der wissenschaftlichste und gelehrteste Christ der
•ersten Jahrhunderte, urtheilt, dass die grosse Zeitfrage nicht
entschieden wird durch Reden und Schriften, sondern durch
■die göttlichen Kräfte des sittlichen und heiligen Lebens.
Diese göttlichen Kräfte, die Anfangs verborgen und un-
sichtbar sind, sollen offenbar werden auf der grossen Welt-
bühne. So gab es später einen Tag von Worms, an welchem
vor der Welt offenbar wurde die Errungenschaft der klösterlichen
und nächtlichen Kämpfe eines christlichen Helden; so gab es einen
Tag zu Augsburg, an welchem die Erstlinge der evangelischen
Predigt vor Kaiser und Reich ihre christliche Kraft bewährten.
Aber für die erste weltgeschichtliche Offenbarung der christ-
lichen Gotteskraft auf dem offenen Plan reichten einzelne Tage
nicht hin, eine i\era von drei Jahrhunderten schlug das hohe
Tribunal auf, vor welchem die jugendliche Christenheit ihren
von oben her empfangenen Heldengeist offenbaren sollte. Was
am meisten dazu beitrug, die Christenfrage aus ihrer Verborgen-
heit und aus den privaten Kreisen in die Oeffentlichkeit
hinüberzuführen und eine öffentliche Entscheidung herbeizu-
führen, das war der Gegensatz und Anstoss, welchem die
Christengemeinde sich aussetzte durch das Wegbleiben und
Meiden der öffentlichen Feste und Schauspiele. In der
Oeffentlichkeit der Feste und Schauspiele schaute das Volk
18
274
sich selber an, feierte sein Selbstbewusstsein und genoss so zu
sagen seine eigene Existenz. Wenn nun eine Minorität grund-
satzmässig diese feierliche Höhe des nationalen Lebens mied
und verabscheute, so war das eine sehr empfindliche Verletzung
des Gemeingefühls. ,, Warum nehmt ihr nicht Theil an den
Volksfesten: Warum nehmt ihr nicht Theil an unseren Opfer-
mahlzeiten?" (Origenes c. Cels. VIII 2 24). Noch schärfer
zeichnet TertuUian diesen Anstoss. ,,Odisse debemus istos
conventus et coetus ethnicorum, quod illic nomen Dei blasphe-
matur, illic quotidiani in nos leones expostulantur, inde perse-
quutiones decernuntur, inde tentationes emittuntur" (De spect.
XXVII). Wie können wir feiern die Orte und die Versamm-
lungen, von denen die Aufforderung zu unserer Hinrichtung
ausgeht? Diese Klage TertuUians bestätigt Friedländer: Aus-
brüche feindlicher Gesinnung gegen die Christen erfolgten vor-
zugsweise im Circus und im Amphitheater (Sittengeschichte
II 264). Die Empfindlichkeit der heidnischen Majorität musste
auf das Aeusserste gereizt werden, wenn das eintrat, was nach
Plinius in Bithynien bereits unter Trojan Statt fand: ,,prope
jam desolata templa ; sacra solemnia diu intermissa".
Mit dieser beginnenden öffentlichen Niederlage des Heiden-
thums war das Mass der Anstösse voll. Jetzt wird die
Christenheit vor das Tribunal über Leben und Tod zur Ver-
antwortung gezogen.
Wer sich noch nicht aus unserer Darlegung im vierten
Abschnitt überzeugt hat, dass die beiden dort enthüllten
Lügenmächte auf den Ruin der antiken Menschheit gerichtet
sind, wer sodann auch aus dem fünften Abschnitt nicht erkannt
hat, dass die höchste Anspannung der natürlichen Kraft nicht
ausreicht, diese grundstürzenden Mächte zu brechen, der kann
sich von Beidem aus dem ersten amtlichen Bericht über die
Christenverfolgung überzeugen (Plinii epist. X 97). Zwei
Forderungen stellt Plinius, der Statthalter von Bithynien, an
diejenigen, welche ihm als des Christenthums verdächtig
denuncirt worden sind. ,,Qui negarint, se esse Christianos-
quum praeeunte me deos appellarent et imagini tuae (Domine
Caesar), quam propter hoc jusseram cum simulacris numinum
275
adferri, thure et vino sacrificarent", deren Leugnung ist von
Plinius als vollgültig aufgenommen, ,,dum horum nihil cogi
posse dicuntur, qui sunt re vera Christiani". Von denselben
Verleugnern sagt er noch einmal: ,,omnes et imaginem tuam
deorumque simulacra venerati sunt" (Ep. X 97). Beide Male
wird noch „maledicere Christo" hinzugefügt; es ist aber dieses
die einfache und selbstverständliche Consequenz der beiden
anderen thatsächlichen Leistungen und ihnen daher auch nicht
gleichwerthig. Denn wer den Göttern und dem Cäsar den
Cultus der Anbetung thatsächlich widmet, der muss Christus,
welcher Beides verbietet, für einen gottlosen Rebellen halten,
wie Celsus ihn auch bezeichnet. Es ist keine geringe Kunde
und Vorstellung, welche Plinius vom Christenthum hat, er
weiss, dass die wahren Christen zu keinem von den genannten
zwei oder drei Stücken gezwungen werden können. Daraus
folgt, nach Plinius, dass wer eins von diesen drei Stücken
thut oder gar alle drei, für einen Christen nicht mehr gelten
kann. Demnach ist das wirkliche Christenthum die stricte
Negation oder auf dem Standpunkt des damaligen römischen
Staatsrechts angeschaut, die entschlossene RebelHon gegen den
herkömmlichen zwiefachen Cultus des Kaisers und der Götter.
Daher braucht Plinius gegen die wahren Christen keine weitere
Untersuchung als die dreimalige Frage unter^ Androhung des
Todes: seid ihr Christen? Bejahen sie diese Frage dreimal,
dann gelten sie als überführt und werden dem Henker über-
geben. Man braucht nach ihrer Lehre nicht zu fragen. Das
Christenthum ist strafbar, unbeugsame Widersetzlichkeit gegen
den anerkannten Cultus des Kaisers und der Götter. —
Daneben muss Plinius bezeugen, dass die Christen im Uebrigen
dem kaiserlichen Mandat sich folgsam beweisen, auch kann
der Präfect nicht umhin, den Christen ein schönes Sitten-
zeugniss auszustellen. Obwohl diese ganze Angelegenheit dem
Plinius neu ist und er sich selber in der Behandlung derselben
unsicher fühlt, so ist doch darüber ihm kein Zweifel, dass die-
jenigen, welche grundsatzmässig jenen doppelten Cultus ver-
werfen, des Todes schuldig sind. Da ihm nun ausserdem
ausgemacht ist, dass das Christenthum diese Verwerfung auch
18*
276
unter Drohung und Gefahr des Todes fordert, so bedeutet
diese Auffassung des römischen Staatsmannes die offene
Kriegserklärung des römischen Reiches gegen das Christen-
thum. Zugleich enthält diese erste amtliche Kunde von der
Christenverfolgung die Thatsache, dass die Christen, welche es
wirklich waren, diese Kriegserklärung des römischen Reiches
in aller Gelassenheit aufgenommen haben und dafür in den
Tod gegangen sind. Durch den amtlichen Bericht und das
amtliche \'erfahren des Plinius, welches von dem Kaiser
bestätigt wurde, ist der Kampf zwischen dem weltbeherrschen-
den vergötterten Cäsarenthum und Heidenthum und der wehr-
losen todesmuthigen Christenschaar auf dem offenen Plan
eingeleitet.
Soll nun dieser Kampf der Christenheit wider die welt-
beherrschenden Lügen siegreich sein, dann muss er auf gewissen
sittlichen Voraussetzungen ruhen. Der Cäsarcultus kann als
Lüge nur dann erfolgreich bekämpft werden, wenn dem Kaiser
wirklich und völlig gegeben wird, was des Kaisers ist. Ebenso
kann die hergebrachte Cultusgewohnheit nur dann siegreich
als unheilige Volksverführung verurtheilt werden, wenn die
Christenheit, was in dem allgemeinen Herkommen berechtigt
ist, anerkennt. Und endlich kann der christliche Kampf gegen
die weltgeschichtlichen Lügen nur dann den vollen Sieg
gewinnen, wenn die Christenheit die preisgegebene Wahrheit
wiederum zu Ehren bringt, oder wenn in der Christenheit die
abhandengekommene Wahrhaftigkeit ein neues Leben gewinnt.
Die Heiden machten den Christen den Vorwurf, dass sie
ihrer römischen Nationalität und ihrer Zugehörigkeit zum
römischen Reich abgesagt hätten. Wäre das wirklich der Fall,
dann hätten die Christen in ihrem gegen den Cäsarcultus
gerichteten Kampf ein völlig gutes Gewissen nicht haben können.
In der Versuchung zu dieser absoluten Negation dem Römer-
thum gegenüber standen allerdings die Christen, welche im
Namen des römischen Volkes und Reiches feindlich genug
behandelt wurden. Und wirklich fand sich in dem \'erhalten
der Christen auch Manches, was den heidnischen Vorwurf
dass sie ein ,,genus tertium" seien, weder Römer, noch Juden,
277
zu begründen schien. Aber trotzdem behaupten die Christen
ihr Anrecht an den römischen Namen und zwar mit vollem
Recht. Die zweite Apologie des Justin ist an den römischen
Senat gerichtet und beginnt mit der Anrede ,,a> 'PtojxaioL",
welche als naturverwandt und als Brüder bezeichnet werden.
Wie tief der römische Namen auch den Christen ins Herz
geschrieben ist, zeigt der eschatologische Ausspruch des
Lactanz in Inst. VII 15 11. Das römische Reich ist nach
Lactanz die heilsame Weltordnung, welche Alles zusammen-
hält und deshalb als hohes Gut geschätzt werden muss. , ,111a est
civitas, quae adhuc omnia sustentat" (Instit. VII 25 8). Im
vierten Buch ,,de civitate Dei" führt Augustinus aus, dass die
Macht des römischen Reiches nicht von Jupiter sondern von
Gott geordnet ist. Im fünften Buch (c. 21) schreibt derselbe:
,,ille unus verus Deus, qui nee judicio, nee adjutorio deserit
genus humanum, quando voluit et quantum voluit, Romanis
regnum dedit". Es will aber noch mehr bedeuten, dass auch
in der Zeit, als das Schwert der Verfolgung über ihrem
Haupte hing, und die dämonische Macht in der Welt noch
ungebrochen waltete, der göttliche Ursprung des römischen
Reiches von den Christen aufrecht erhalten wurde, Athenagoras
redet Marc Aurel und seinen Sohn Commodus an als Solche,
die das Königreich von oben (avojÖsv) empfangen haben (Ad
Graecos XVIII). Melito von Sardes preist in Zeiten der
actuellen Verfolgung die seit Augustus wachsende Macht des
römischen Reiches (Eusebius H. E. IV 26).
Es ist kein gerechtes Urtheil, wenn man die republikanische
Opposition der Stoiker und Cyniker gegen das Cäsarenthum
als eine lächerliche Thorheit verspottet, wie Hausrath den
Helvidius Priscus einen Narren nennt (N. T. Zeitgeschichte
IV 29) und auf den Grimm der Republikaner schilt (Kleine
Schriften p. 3). Dem Liebhaber der Menschheit wird dieses
letzte Aufleuchten der antiken Tugend mitten in der allgemeinen
Verderbniss und Fäulniss immer tröstlich sein. Obgleich nun
die Christen weit mehr als die Philosophen unter der absoluten
Gewalt zu leiden hatten und weit mehr als die Philosophen des
Schutzes freiheitlicher Institutionen bedurften, waren die
278
Christen nicht repubhkanisch sondern monarchisch gesinnt.
Die Christen waren durchdrungen von der Ueberzeugung, dass
durch Christus der Schwerpunkt aller heilsamen Entwickelung
von aussen nach innen verlegt sei, dass daher die Freiheit vor
Allem in dem innersten Centrum der Menschheit, in dem Ver-
hältniss des Menschen zu Gott, aufgerichtet werden müsse, und
dass die Freiheit des äusseren Lebens, die politische Freiheit
nur von da aus ihre wahre Kraft und ihre wahrhaft gesegnete
Wirkung empfangen werde. Demnach erkennen die Christen
den vorhandenen politischen Zustand als feststehende Basis an.
Cäsares, sagt Tertullian, sind für das gegenwärtige Saeculum
nothwendig (Apclog. XXI). Wir Christen, heisst es bei dem-
selben, betrachten den Cäsar mehr als den Unsrigen, weil von
unserem Gott eingesetzt: ,,noster est magis Caesar, a nostro
Deo constitutus" (Apolog. XXXIII); in demselben Masse, sagt
also Tertullian, ist Cäsar mehr der Unsrige, als unser Gott
höher ist, denn der Jupiter der Heiden. Die cäsarische
Monarchie wird mit voller Bewusstheit und Entschiedenheit als
göttliche Institution bezeichnet. ,,Xos Judicium Dei suspicimus
in imperatoribus, qui gentibus illos praefecit; idem in iis
scimus esse, quod Deus voluit" (Tertullian Apolog. XXXIIj.
Die letzten Worte besagen: die Imperatores mögen beschaften
sein, wie sie wollen, mögen handeln, wie es ihnen beliebt, wir
wissen soviel, dass trotz alledem in ihnen ist und bleibt, was
Gottes Weltregierung ordnet. ,, Christianus nullius est hostis
nedum imperatoris, quem sciens a Deo suo constitutum necesse
est, ut ipsum diligat et revereatur et honoret et salvum velit
cum toto romano imperio quousque saeculum stabit" (TertuU.
ad Scapul. II). Mit kurzem Wort v/eist Tertullian dem Cäsar
seinen ausschliesslichen Rang an: ,, Caesar homo a Deo secundus
et solo Deo minor" (Ad nation. II 2, Ad Scapulam II). Persön-
liche Vorzüge der Cäsaren wurden von den Christen anerkannt
und geehrt. Athenagoras begrüsst die Kaiser Marc Aurel und
Aurelius Commodus als menschenfreundliche, der Wissenschaft
beflissene Selbstherrscher (Legat, pro Christianis II). Diese
Kaiser übertreffen Andere an Einsicht und Frömmigkeit, sagt
derselbe (VII, XXXI). Justinus redet die Cäsaren an als der
279
Philosophie Beflissene (Apolog. I i), und da er selbst den
Philosophentitel in Anspruch nimmt, so ist jene Anrede ein
hochehrendes Prädicat. Bei allem Vorhandensein tiefer und
hartnäckiger Vorurtheile gegen die Christen wird doch den
cäsarischen Gewalten die Fähigkeit zugetraut, über das Ver-
halten der Christen ein richtiges, sittliches Urtheil zu fällen.
Die ,,ärj'/ov-zz", von denen Clemens Romanus I 60 spricht, sind
,,TiYou»jLiVoi r,|jLc5v £-1 xr^z 7^;", also die weltlichen Herrscher.
Von diesen wird vorausgesetzt, dass sie das, was gut und
wohlgefäUig an den Christen sich findet, anerkennen. Da nun
C. 59 und C. 60 von Gefangenen und von Erlösung aus der
Gewalt die Rede ist, so befindet sich die damalige Christenheit
im Zustand der Verfolgung. Also auch die Feindschaft und
Verfolgung vernichtet in den Christen nicht die Hoffnung, dass
bei den heidnischen Gewalten ein Verständniss für ihre
Tugenden nicht unmöglich sei. Auf diesen bedeutsamen und
werthvollen Rest eines inneren Verhältnisses der Christen zu
den feindlichen Gewalten beruht auch alle apologetische Thätig-
keit der ältesten Christen. Denn ohne Hoffnung auf sittliches
Verständniss wären die Apologien Producte eines unsittlichen
Geistes.
Es ist sehr bekannt, dass die Christen in und trotz den
Verfolgungen festgehalten an der apostolischen Vorschrift der
Fürbitte für die obrigkeitlichen Gewalten, und dass die Apologeten
mit grossem Nachdruck sich auf diese Thatsache berufen.
Und gewiss legen die Apologeten mit vollem Recht ein grosses
Gewicht auf diese Fürbitte als auf ein bedeutsames Zeichen
eines guten Gewissens der Christenheit der staatlichen Gewalt
gegenüber. Man soll sich aber nicht damit begnügen, diese
nackte Thatsache an sich zum Schutz der Christen anzuführen.
Die christliche Fürbitte für die Gewalten gewinnt erst dann
ihr volles apologetisches Gewicht, wenn man nachweist, dass
die ganze Weltanschauung und das Verhalten der Christen den
Staatspflichten gegenüber mit dieser Fürbitte in vollem Ein-
klang steht. Ausserdem gewinnt diese Fürbitte ihren ganzen
Nachdruck erst dann, wenn berücksichtigt wird, dass nach
christlichem Glauben in denselben Gewalten, für welche gebetet
280
wird, das Instrument der gottwidrigen und dämonischen Macht
enthalten ist.
Was das Erstere anlangt, so haben wir gezeigt, dass nach
dem Glauben der ältesten Christenheit in dem römischen
Reich eine göttliche Stiftung zu verehren ist, und wir werden
nachher sehen, dass das staatsbürgerliche Verhalten der
Christen mit dem Sinn des Gemeindegebetes für die Obrig-
keit übereinstimmt. Auf das Andere, was bei dieser Fürbitte
nicht genug beachtet wird, wird uns die patristische Aussage
über die eschatologische Bedeutung der Fürbitte von selber
hinführen.
Es verdient beachtet zu werden, dass das Christengebet
für das heidnische Cäsarenthum grade so lautet, wie wir es im
Wesentlichen noch heute jeden Sonntag in dem Gottesdienst
für unsere christliche Obrigkeit vernehmen. Die christliche
Fürbitte umfasst nach Tertullian: ,,vitam Caesaribus prolixam,,
imperium securum, domum tutam, exercitus fortes, senatum
fidelem, populum probum, orbem quietum, et quaecunque
hominis et Caesaris vota sunt" (Apol. XXX). Athenagoras
schreibt: ,,wir beten für die rechtmässige Thronfolge*) von
Vater auf Sohn — für Mehrung und Wachsthum des Kaiser-
reiches" (XXXVII). Arnobius beschreibt das christliche
Gemeindegebet folgendermassen: ,,oratus Deus, pax cunctis et
venia postulatur magistratibus, exercitibus, regibus, familiaribus^
inimicis adhuc vitam degentibus et resolutis corporum vinctione"
(IV 36). Während jetzt in der Regel das officielle Gemeinde-
gebet mit geringer Andacht begleitet wird, bezeugt Tertullian
die starke Inbrunst, mit welcher dieses Gebet in der ersten
Christenheit gleichsam Gott im Himmel Gewalt anzuthun sich
beeiferte. ,,Ad Deum quasi manu facta precationibus ambimus.
Haec res Deo grata est. Oramus etiam pro imperatoribus,
pro ministeriis eorum et potestatibus, pro statu saeculi, pro
rerum quiete, pro mora finis" (Apolog. XXXIX). Was die
*) Hier wird das Princip der Legitimität in der Erbfolge als ein christ-
liches betrachtet, in dem ersten Jahrhundert des Staatskirchenthums ist das
nicht der Fall (II. Richter Das weströmische Reich p. 287 — 291).
281
letzten Worte anlangt: ,,wir beten für den Aufschub des
Endes", so giebt uns darüber die folgende Stelle weiteren
Aufschluss. Nachdem TertuUian Bezug genommen auf die
apostolische Vorschrift der Gemeindefürbitte, fährt er fort:
,,est et major necessitas nobis orandi pro imperatoribus, etiam
pro omni statu imperii rebusque romanis, qui vim maximam
universo orbi imminentem ipsamque clausulam saeculi acerbitates
horrendas comminentem Romani imperii commeatu scimus
retardari. Ita quae nolumus experiri ea dum precamur differri
romanae diuturnitati favemus" (Apolog. XXXII). Dieselbe
Weltanschauung zur Begründung der Gemeindefürbitte für die
Erhaltung der Gottesordnung in dem letzten Weltreich trägt
auch Lactanz vor, indem er schreibt: ,,ista (Roma) est civitas,
quae adhuc sustentat omnia, praecandusque nobis et adorandus
est Deus coeli, si tamen statuta ejus et placita differri possunt,
ne citius, quam putemus tyrannus ille abominandus veniat, qui
tantum facinus moliatur ac lumen illud effodiat, cujus interitu
mundus ipse lapsurus est" (Inst. VII 25 8). Der Bestand des
römischen Reiches wird also als ein hohes Gut betrachtet^
weil dieser Bestand den letzten Feind und die letzte Noth
aufhält. Die Fürbitte für das römische Reich ist also die
Bitte um Aufschub des letzten Endes. Schliesslich dient es
zur weiteren Charakteristik dieser innersten- Stellung der
Christenheit zu der bestehenden Macht, dass Arnobius die
christliche Fürbitte so beschreibt, dass sie als eine Hülfe
erscheint für diejenige Noth des allgemeinen Wesens, für
welche die heidnischen Römer keinen Rath mehr wissen.
,,Nos omnes Deum colimus rerum patrem atque ab eo deposci'
mus rebus fessis languentibusque tutamina" (I 28). Plinius
Senior nennt den Gesammtzustand des römischen Wesens ,,res
fessae" (H. N. II 5). Mit demselben Wort bezeichnet Tacitus
diesen Zustand (Ann. XV 50), und Seneca braucht dafür das
Synonymon ,,lassae" (Ad Polyb. XVI 6, Ludus IV i).
Arnobius sieht nun in der christlichen Fürbitte diejenige gött-
liche Macht und Hülfe, welche dem Verfall des gemeinen
Wesens, den die Vertreter des Heidenthums bekennen und
hülflos beklagen, stützenden Halt gewährt. So tief versenkt
282
sich die christliche Fürbitte in den gegenwärtigen Zustand
des römischen Reiches, dass sie der schmerzHchen Klage
römischer Patrioten wohhvollend entgegenkommt! Nur darin
weicht schhessHch die christhche Auffassung der Weltlage von
dem römischen Heidenthum ab, dass sie nicht von einer
ewigen Roma träumt, sondern im Gegentheil ein jähes und
schreckliches Ende des abendländischen Babylon nicht bloss
weissagt, sondern auch hofft. Aber dieser Unterschied macht
die christliche Fürbitte für das römische Reich um so dring-
licher. Nach dem biblischen Prophetenwort wohnt in der
höchsten Weltgewalt eine gottwidrige Macht, welche nur
dadurch überwunden und entmächtigt wird, dass sie ihre letzte
Kraft und Bosheit aufbietet, aber eben damit das heilige Volk
durch das willige Erleiden der letzten Bosheit und Gewalt
vollendet und den endlichen Sieg des Guten herbeiführt. Nun
ist aber nach der Schrift seit der Sündfluth bis zum Ausbruch
der letzten Bosheit in der höchsten Gewalt auch eine göttliche
Ordnung und Institution enthalten, welche während des Welt-
laufs dem Wirken und Walten des Bösen das Gegengewicht
hält. Die Christen der ersten Jahrhunderte hatten eine un-
mittelbare und lebendige Anschauung von der dualistischen
Natur der höchsten Weltmacht : einestheils erfuhren und fühlten
sie in der gegen sie gerichteten Feindschaft und Verfolgung
die der Weltmacht innewohnende Bosheit, andererseits aber
kam ihnen gleichfalls zur Anschauung und zum Bewusstsein,
dass in der römischen Obrigkeit immer noch eine göttliche
Schutzwehr gegen ungerechte Gewalt gestiftet sei, wie es
Paulus erfahren, und wie es selbst aus manchen Spuren der
Martyreracten zu erkennen ist. Nun legt sich die christliche
Fürbitte ein und ringt um Erhaltung und Stärkung des gött-
lichen Elementes in dem bestehenden Zustande und kämpft
dagegen wider den ungöttlichen und dämonischen Geist in
der herrschenden Weltmacht. Die Gemeinde weiss aber, dass
trotz dieses ringenden und kämpfenden Gebetes der Augenblick
kommen wird, in welchem der Dämon der Weltmacht die
göttliche Stiftung der Obrigkeit ausrotten und das heilige
Volk verstören wird. Das ist die Zeit der ,,acerbitates
283
horrendae", wie TertuUian schreibt, der Schrecken, deren Tage
um der Auservvählten willen verkürzt werden. In menschlicher
Furcht vor dieser letzten Versuchung bittet die Gemeinde um
,,mora finis", um Aufschub dieses Endes, und stimmt mit den
Heiden ein in den Wunsch nach ,,diuturnitas romana".
Diese Fürbitte um Erhaltung der bestehenden Ordnung
und um Aufschub der letzten Katastrophe entspricht dem
gewöhnlichen Zustand der christlichen Gemeinde in der Welt.
Es giebt aber Momente, die den Charakter der letzten
Katastrophe haben, in denen die gottlose Gewalt alle Macht
in Händen hat, und die Heiligen der losgelassenen Bosheit
preisgegeben sind. In solchen Momenten spricht der Geist
und die Braut „komme!" (Apocal. XXII 17), in solchen
Momenten heisst es nach der kürzlich aufgefundenen ,, Apostel-
lehre": ,,es komme die Gnade und es vergehe die Welt".
Dieses auf dem gewaltigen Ernst der biblischen Welt-
anschauung ruhende Gemeindegebet für Kaiser und Reich ist
die innerste und heiligste Berührung der ersten Christenheit
mit dem römischen Weltreich. In dieser innersten Sacristei
hatte die Christenheit ein gutes und reines Gewissen allen
Verdächtigungen, Verleumdungen, Verlästerungen und Ver-
folgungen gegenüber. In dieser ihrer Fürbitte ist sich die
Christenheit bewusst, dass sie Alles, was in dem Weltreich
göttlich, gut und heilig ist, nicht bloss anerkennt, sondern
auch mit inbrünstiger Liebe umfasst und vertheidigt. Auf
■dem tiefen Grunde dieses guten Gewissens ruht und aus dem-
selben erklärt sich der grossartige Charakter des christlichen
Martyriums in der römischen Verfolgung.
Das gute Gewissen des Gemeindegebetes könnte aber das
Martyrium nicht begleiten und stützen, wenn nicht auch das
übrige Verhalten der Christen der Staatsordnung gegenüber
mit jener Anerkennung des Staates in dem Gemeindegebet
im vollen Einkang stände. Zwar sagt TertuUian: ,,non uUa
magis res nobis aliena est quam publica" (x\polog. XXXVIII).
Ohne Zweifel will der Apologet mit diesem Satze das
Geständniss machen, dass die Christen einstweilen nicht in
selbstständiger Weise, das heisst als Beamte in die Functionen
284
des öffentlichen Wesens eintreten können, aus dem einfachen
Grunde, weil alle Amtsgeschäfte irgendwie mit dem ab-
göttischen Cultus in Beziehung standen. Wenn deshalb die
Christen ,,infructuosi in negotiis" genannt wurden, so hält
Tertullian dem entgegen : ,,neque Brachmanae nee Indorum
gymnosophistae sumus, sylvicolae et exules vitae. Non sine
foro, non sine macello, non sine balneis, tabernis, officinis,
Stabulis, nundinis vestris ceterisque commerciis cohabitamur in
hoc saeculo. Navigamus et nos vobiscum et militamus, et
rusticamur et mercamur, proinde miscemus artes, operas
nostras publicamus usui vestro" (Apolog. XLII). Sehr
beachtenswerth ist, was Origenes in dieser Beziehung dem
Celsus entgegnet, welcher von den Christen verlangt, dass sie
obrigkeitliche Aemter übernehmen sollen, ,,wir kämpfen", sagt
Origenes, ,, verborgenerweise, indem wir für alle Obrigkeiten
beten, und ausserdem stellen wir die unter uns Tüchtigen in
der Kirche an für das himmlische Vaterland" (Contra Cels.
VIII 74 75)-
Auf diesem inneren Gebiete des Kirchenwesens entwickelte
sich bei den Christen nach dem Zeugniss des Lucian (Celsus'
wahres Wort von Keim p. 149) eine bisher unbekannte Rasch-
heit und Tüchtigkeit in Behandlung von Gemeindesachen.
Man denke an die organisatorische Thätigkeit von Cyprian in
Karthago und Dionysius in Alexandrien in Zuständen massen-
hafter Noth. Nicht bloss Lucian hat das anerkannt, sondern
auch der Kaiser Alexander Severus. Dieser Kaiser hatte
bemerkt, dass bei den Christen und Juden, wenn es sich um
Anstellung von Beamten innerhalb ihres Religionswesens
handelte, der öffentlichen Volksstimme ein Gewicht beigelegt
wurde. Alexander Severus erkannte in dieser Einrichtung
einen Segen und empfahl deshalb diese christliche und jüdische
Sitte als ein V^orbild für das staatliche Gebiet (Histor. Aug.
I 997). Wir sehen hier, wie die freiheitliche Bewegung von
dem inneren Gebiet der Christengemeinde in das weltliche
Gebiet des Staatslebens hinüberzugreifen beginnt.
Was sodann die allgemeinen Staatspflichten der Unter-
thanen anlangt, so wurden dieselben von den Christen nicht
285
bloss erfüllt, sondern die Christen beeifern sich, es den
NichtChristen zuvor zu thun. Im Namen seiner Brüder rühmt
sich Justin vor dem Kaiser: ,,wir gehen in der Erfüllung
unserer Staatspflichten nach der Lehre Christi voran, und mit
Freuden leisten wir diesen Dienst" (Apol. I 17). Derselbe
behauptet gleichfalls Angesichts des Kaisers: ,,mehr als alle
Menschen sind wir euch Helfer und Mitkämpfer für den
Frieden" (Apol. I 12). Der Verfasser des Briefes an Diognet
schreibt: ,,die Christen gehorchen nicht bloss den bestehenden
Gesetzen, sondern leisten mehr als die Gesetze fordern" (C. V).
Für die sittliche Stellung und Haltung der Christen dem
Staat gegenüber kommt ferner der Umstand in Betracht, dass
die christlichen Lehrer sich zur Nacheiferung auf die Beispiele
und Lehren der heidnischen Tugend berufen, ein Umstand, der
bisher viel zu wenig beachtet worden ist. Indem man den dem
Augustinus gewöhnlich zugeschriebenen Satz: ,,die Tugenden
der Heiden sind glänzende Laster" als massgebend an die
Spitze stellt*), übersieht man oder unterschätzt man wenigstens
jene wesentliche Thatsache. Jener Satz, so wie er ausgedrückt
wird, findet sich in dieser wörtlichen Crassheit überall bei
Augustinus nicht. Die Stelle, welche dem Sinne jenes Satzes
am meisten entspricht, ist folgende: ,,virtutes, quas anima et
ratio sibi habere videtur, per quas imperat corpori et vitiis
ad quodlibet adipiscendum vel tenendum nisi ad Deum
retulerit etiam ipsae vitia sunt potius, quam virtutes" (C. D.
XIX 25). Jeder Christ, welcher weiss, dass nur das wirklich
gut ist, was Gott durch Christum in dem Menschen geschaffen
hat, alles Andere aber, was lediglich durch natürliche Vernunft
und Kraft erzeugt ist, wenn es auch für das allgemeine
Menschenleben gut und nützlich ist, für sündig gehalten werden
muss, jeder Christ, der dieses aus Erfahrung weiss, wird dem
obigen Satz des Augustinus völlig beistimmen. Um so mehr
muss es aber beachtet und gewürdigt werden, dass eben dieser
grosse Kirchenlehrer, der so scharf wie kein Anderer Natur
und Gnade scheidet, mit grossem Nachdruck die Christen zur
') Hausrath Kleine Schriften p. 5.
286
Nacheiferung hinweist auf die Beispiele des heidnischen
Heroismus. Den ReguUis und seines Gleichen beschreibt
Augustinus wie folgt: ,,forti3simi et praeclarissimi viri terrenae
patriae defensores, deorumque licet falsorum, non tarnen fallaces
cultores, sed veracissimi etiam juratores". Dieser Beschreibung
fügt Augustinus hinzu: ,, Christen müssen auch den Regulus
übertreffen" (C. D. I 24). Dahin gehört ferner die Anrede
des Augustinus an die Römer: ,,0 indoles romana laudabilis,
o progenies Regulorum, Scaevolarum, Scipionum, Fabriciorum,
siquid in te laudabile naturaliter eminet nonnisi vera pietate
purgatur atque perficitur, impietate disperditur atque punitur"
(C. D. II 29). Die Meinung ist: die jetzige entartete Nach-
kommenschaft der alten Römer soll sich durch die hohen Bei-
spiele der besseren \^ergangenheit beschämen und erheben
lassen. Aber um so mehr sollen die Christen sich durch diese
Beispiele der römischen Vorzeit belehren und beschämen lassen:
,,cives aeternae civitatis quamdiu hie peregrinantur. diligenter et
sobrie illa Romanorum intueantur exempla et videant quanta
dilectio debeatur supernae patriae propter vitam aeternam, si
tantum a suis civibus terrena dilecta est propter hominum
gloriam" (C. D. V 16). Augustinus preist die Vergangenheit
des römischen Volkes, weil sie durch Freiheitssinn und Ruhm-
begierde zu grossen Thaten angetrieben und die Laster der
Gegenwart niedergehalten hat. Durch Liebe zum Ruhm unter-
drücken die Römer der Vorzeit die Geldsucht und viele andere
Laster (C. D. V 13). ,,Haec duo sunt illa, libertas et cupiditas
laudis humanae, quae ad facta compulere miranda Romanos'*
(C. D. V 18). Die Römer der Vorzeit werden belobt wegen
ihres Gemeinsinnes für das öffentliche Wesen: ,,privatas res
suas pro re communi hoc est republica et pro ejus aerario^
contempserunt, avaritieie restiterunt, consuluerunt patriae libero
consilio, neque delicto secundum suas leges neque libidini obnoxii
— honorati sunt in omnibus fere gentibus — hodieque literis
et historia gloriosi sunt paene in omnibus gentibus" (C. D. V 15).
Augustinus betrachtet es als eine göttliche Gnadenwohlthat,
dass die Christen die Möglichkeit haben, die grossen Tugenden
der heidnischen Vorfahren anzuschauen und zu verwerthen.
287
„Utamur etiam in his rebus beneficio Domini Dei nostri^.
consideremiis quanta contempserint, quae pertulerint, quas
CLipiditates subegerint pro humana gloria, qui eam tamquam
mercedeni talium virtutum accipere meruerunt" (C. D. V 17).
Was in diesen inhaltreichen Sätzen des Augustinus zum Theil
deutHch ausgesprochen wird, dass die hier zum Vorbild
hingestellten Tugenden und Vorzüge der Vorzeit entschieden
staatsbürgerlichen Charakter haben, wird in diesem Zusammen-
hang noch einmal nachdrücklich zusammengefasst : ,,illi qui
vera pietate praediti bene vivunt, si habent scientiam regendi
populos, nihil est felicius rebus humanis, quam si Deo miserante
habeant potestatem" (C. D. V 19). Die höchste menschliche
Glückseligkeit wird also nach Augustinus erreicht, wenn die
wahre Frömmigkeit sich einigt mit der Staatsweisheit und der
Herrschermacht.
Bei diesem innerlich normalen Verhältniss des ältesten
Christenthums zum Staatswesen ist es erklärlich, dass der
christliche Wandel TroAiTsusaOai (cfr. Phil. III 20) und die
Christen wegen der Werke gute Staatsbürger (Justin Apol. I 65)
genannt werden.
Was nun speciell den Kriegsdienst anlangt, so ist es jeden-
falls nicht richtig, wenn Hausrath ganz allgemein sagt: ,,die
Christen meiden den Kriegsdienst" (Kleine Sehr. p. 59). Denn
Tertullian schreibt da, wo er die Beschäftigungen der Christen
aufzählt, ohne Einschränkung ,,militamus" (Apolog. XLII),
auch nennt Tertullian ,,castra ipsa" als Oertlichkeit, wo Christen
sich finden (Apolog. XXXIII). Auch die Abhandlung Ter-
tuUians ,,de Corona" setzt voraus, dass christliche Soldaten im
römischen Heer schon Ende des zweiten Jahrhunderts nicht
selten waren (cfr. Irenäus IV 49). Unter den zahlreichen
christlichen Oberbeamten des Kaiserthums im dritten Jahr-
hundert (Euseb. H. E. VI 28 41, VII 10, VIII i 9 11, Vita
Const. I 13 15 16 32) gab es auch Officiere (Euseb. H. E.
VII 15). Wenn nun desungeachtet entschiedene Weigerungen
des Kriegsdienstes von Seiten der Christen vorkamen, so beruht
das nicht auf einem allgemeinen Grundsatz sondern auf
individuellen Gewissensbedenken. Der Widerstand gegen den
288
Kriegsdienst ist nicht eingelernt, sondern, wie man aus den
Erklärungen der Widerstehenden erkennt, ist Gehorsam gegen
eine unmittelbare Gewissensstimme. F'erreolus erklärt: ,,impera-
toribus, quamdiu salva religione licuit militare — adversus
noxios non adversus Christianos militare proposui" (Rainarti acta
martyrum sincera p. 461 463). Marcellus, ein Centurio, bekennt:
,,si talis est conditio militantium, ut diis et imperatoribus sacra
facere compellantur, projicio cingulum, renuntio signis et
militare recuso" (Rainart. p. 303). Wenn bis vor Kurzem die
christlichen Regierungen in den Gewissensbedenken der
Mennoniten gegen den Kriegsdienst eine Aufkijndigung des
staatlichen Gehorsams nicht gefunden haben, so darf es nicht
als Staatsfeindlichkeit verklagt werden, wenn einzelne Christen
in den Tagen der Verfolgung ihren vollen Gewissensernst gegen
den Missbrauch der Waffengewalt aufgeboten.
. Das Ergebniss dieser Erörterungen ist nun dies, dass die
Christenheit dem cäsarischen Staate gegenüber sowohl in Bezug
auf ihre innere Stellung, wie in Ansehung ihres äusseren A'er-
haltens ein vollkommen gutes Gewissen hat. Aus diesem
Grunde ist die Christenheit sowohl verpflichtet als auch
berechtigt und befähigt, die Lüge des Cäsarcultus zu bekämpfen
und für die Wahrheit in dem Centrum des öffentlichen Lebens
einzustehen. Wir haben gesehen, dass seit Julius Cäsar der
Cäsarcultus in Rom als eine herrschende officielle Lüge waltete.
Diese Lüge auf der Höhe der Welt verdunkelt das ganze
Gebiet der Wirklichkeit, macht alles Denken unsicher, macht
alles Wissen ungewiss. Das Product dieser Lüge ist die
skeptische Frage des römischen Procurators Pontius Pilatus:
,,was ist Wahrheit?" Unter der Wirkung dieser Lüge klagt
Seneca: ,,tota mihi vita mentitur" (Ep. XLV 10); ,,0 vita
fallax" (Hippolyt. 418); und Epiktet bekennt: ,, eine vornehmste
Pflicht ist es, nicht zu lügen, aber obwohl wir dieses wissen,
lügen wir Nichts desto weniger" (Enchiridion 52, Theophrastus,
Marcus Aurelius, Epictetus etc. ed. Duebner Par. 1840). Die
tiefste Wurzel jener officiellen Lüge war die von berühmten
Auctoritäten der letzten republikanischen Zeiten ausgeheckte
Lehre, dass in dem religiösen Gebiete die Wahrheit keineswegs
289
nothwendig sei, im Ge<^entheil der Schein und die Unwahrheit
zuweilen nützhch sein könne. ,,Scaevola, pontifex maximus,
expedire existimat, faUi in rehgione civitates" (Augustinus
C. D. IV 27). Diesen Pontifex nennt Cicero: ,, juris peritorum
eloquentissimus et eloquentium juris peritissimus" (Brut XXXIX).
Mit diesem berühmten Pontifex stimmt Varro : ,, utile esse
civitatibus dicit, ut se viri fortes etiamsi falsum sit diis genitos
esse credant". Augustin fügt hinzu: ,,quae Varronis sententia
expressa, ut potui, meis verbis, cernis quam latum locum
aperiat falsitati, ut ibi intelligamus plura jam sacra et quasi
religiosa potuisse confingi, ubi putata sunt civibus etiam de
ipsis diis prodesse mendacia" (C. D. III 4). Und dieser Varro
ist nach Cicero ,,omnium facile acutissimus et sine uUa dubitatione
doctissimus" (August. C. D. IV 27, cfr. IV 31, VI 2). Es vereinigt
sich also, so zu sagen, die höchste kirchliche und die höchste
wissenschaftliche Auctorität in dem entsetzlichen Sophisma,
dass die Lüge im Heiligthum von Nutzen sein könne. So
lange ein solches seelenverstrickendes Sophisma von solchen
Auctoritäten nicht von Grund aus beseitigt und gerichtet ist,
bleibt auch die Lüge des Cäsarcultus geschützt. Wir haben
gesehen, dass die Vertreter strenger Observanz zwar rütteln an
dieser Lügensäule, aber dieselbe zu stürzen unvermögend sind.
Sollte der spätere Epiktet, der sich, wie gezeigt, als Lügen-
feind ankündigt, mehr vermögen ? Allerdings ragt dieser dem
niedrigsten Stande angehörende Stoiker durch seine moralischen
und religiösen Grundsätze, die nicht wie bei Seneca durch
entgegengesetzte Maximen gekreuzt werden, hervor. Etwas
Religiöseres alsdasTedeum desHeidenthums in den Dissertationen
I 16 19—21, etwas Erhabeneres in sittlicher Hinsicht wie die
Ankündigung der Botschaft vom Himmel III 22 26 - 69 hat die
ganze antike Literatur nicht aufzuweisen. Da nun dieser ehr-
würdige Stoiker auch über den Kaiser sich sehr freimüthig
vernehmen lässt, so könnte man auf den Gedanken kommen,
dass hier eine nachhaltige Correctur der Kaiservergötterung
ohne Einfluss des Christenthums vorliege, ja man könnte hinzu-
fügen, während es Seneca nicht gelang weder durch sein Wort,
noch durch sein Blut, den Cäsarcultus auszurotten, habe
19
290
Epiktet, der durch Rusticus ein Lehrer des Marc Aurel
geworden, in diesem philosophischen Kaiser den Grundsatz,
sich nicht ,,verkaisern zu lassen" (Marc. Aurelii de rebus suis
libri XII, ed. Thomas Gatakerus Londin. 1697 VI 30) erzeugt.
Aber wenn man glaubt, dass Epiktet oder jener Vorsatz
Marc Aureis dem Cärarcultus Abbruch gethan, dann ist man
im Irrthum. Allerdings wissen wir, dass Epiktet einige tapfere
Sprüche wider den Tyrannen gewagt hat (I i 21, III 9 18).
Da nun aber Arrian sagt, dass die Reden Epiktets wider sein
Wollen und Wissen bekannt geworden, so liegt die Vermuthung
nahe, dass diese Reden nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt
waren, zumal Simplicius, Epiktets Commentator, erklärt: .,in
schlechten Zeiten enthält der Weise sich der Geschäfte und
macht es wie Epiktet, der Domitians Tyrannei vermeidend
nach Nikopolis ging" (Commentarius in Enchiridion ed.
Duebner p. 65).
Wir haben den Cäsarcultus als eine Macht kennen gelernt,
welche durch die absolute Gewalt des Weltherrschers und
ausserdem durch den Mangel an Wahrhaftigkeit im Heiligthum
geschützt war. Diese Macht kann nur durch ein überlegenes
und gegenwärtiges Gegengewicht, nicht aber durch noch so
weisheitsvolle Reden, zumal aus der Ferne, gebrochen werden.
Und was den Einfluss Epiktets auf Marc Aurel anlangt, so
werden wir uns nachher noch augenscheinlicher überzeugen,
dass der Stoiker auf dem Thron trotz jenes berühmten Vor-
satzes keinesweges von der hergebrachten Selbstvergötterung
frei ist.
Als die Dinge in Athen sich immer bedrohlicher gestalteten,
sagte Demosthenes zu seinen Mitbürgern: ,,ihr habt nicht mehr
die Kraft, das Böse zu hassen". Eben dieser Mangel an sitt-
lichem Hass und Zorn wider das Böse ward die facies Hippo-
cratica des gesammten Heidenthums im römischen Reiche.
Das einzige Salz, weiches der allgemeinen Fäulniss noch
wehren konnte, war der Stoicismus. Aber dem wachsenden
Verderben gegenüber ward dieses Salz immer dummer. Dem
wogenden Wirbel und Strudel des Weltlebens gegenüber
musste der Stoiker immer ängstlicher seine Leidenschaftslosig-
291
keit hüten, sich immer fester verschhessen gegen das Mitleiden
mit der allgemeinen Noth wie gegen die sittliche Erregung
über den Ansturm der Sünden und Laster. Von daher wird
die übermächtig gewordene Lüge des Cäsarcultus nicht gestürzt
werden sondern nur von einem Gebiet, wo der kräftige Hass
gegen die Lüge als gegen ein Grundverderben seine Stätte
hat, also einzig und allein von einer höheren Kraft.
Der Hass der christlichen Gesinnung wider die Lüge
äussert sich in den ersten Jahrhunderten wie folgt. Justin
schreibt an den Kaiser : ,,wir wollen nicht leben mit der Lüge
auf der Zunge" (Apolog. I 8). ,,Der Wahrheitsfreund ist in
jeder Rücksicht, aucli wenn er mit dem Tode bedroht werden
sollte, verbunden, die Behauptung der Wahrheit mit Mund
und l'hat seinem eigenen Leben vorzuziehen" (ibid. c. 2).
,,Die Vernunft gebietet dem wahrhaft Frommen und Philo-
sophischen, ausschliesslich das Wahre zu ehren und zu lieben"
(ibid.). ,,Um nicht zu lügen und den Richter zu betrügen,
gehen wir Christum bekennend gerne in den Tod" (ibid. c. 39).
Tertullian schreibt: ,,jam. quidem intelligi subjacet, veritatis esse
cultores qui mendacii non sunt." ,,Hoc prius capite", sagt er
den Heiden, ,,et omnem hinc sacramenti ordinem haurite,
repercussis ante omnia opinionibus falsis" (Apolog. XV).
Tertullian will sagen, ihr Heiden denkt euch die Christen-
gemeinde als eine geheime Verschwörung, ihr habt ganz Recht,
wir haben einen Fahneneid und bilden einen Orden, aber das
ganze Geheimniss besteht darin, dass wir Anbeter der Wahr-
heit und damit Todfeinde der Lüge sind, das haltet fest und
alle anderen Gedanken über uns lasset fahren."
Der ernstgesinnte Juvenal braucht das schöne Wort
,,mentiri nescio" (III 41), und dieselbe Gesinnung schreibt
Nepos dem Atticus zu (c. XV); aber dieser Hass gegen die
Lüge hat nicht die Kraft, dem Cäsarcultus entgegenzutreten.
Hier zeigt sich der Unterschied zwischen der heidnischen und
christlichen Wahrhaftigkeit. Tertullian sagt: ,,non Deum
imperatorem dicam, quia mentiri nescio" (Apolog. XXXIII).
Diese Anwendung der einfachen Wahrhaftigkeit auf die
brennendste Frage jener Zeit finden wir in den Märtyreracten
19*
292
der Perpetua und Felicitas veranschaulicht. Die Perpetua sagt
dem heidnischen Vater, der sie zur X'^erleugnung bewegen will:
,,numquid urceolum vas hoc jacens alio nomine vocari potest
quam quod est?" Als der Vater dies verneint, fährt sie fort:
,,sic et ego aliud me dicere non possum, nisi quod sum
Christiana" (Rainart. p. 93). Die Lage, in welcher Perpetua
diese Aussage that, wird von Tertullian beschrieben: ,,proelium
nominis nobis est, quod provocamur ad tribunalia, ut illic sub
discrimine capitis pro veritate certemus" (Apolog. II). Wir
geben für die Wahrheit ohne Zaudern das Leben hin, sagt
Athenagoras (Ad Graecos III), was Arnobius so veranschaulicht:
,,animae veritatis ipsius vi victae et dederunt se Deo nee in
magnis posuere dispendiis, membra vobis projicere et viscera
nostra lanianda praebere" (II 55). Tertullian hat die ganz
richtige Vorstellung, dass in diesen Tagen die Offenbarung
der göttlichen Wahrheit zu einer Vollendung oder zu einer
Reife gekommen sei. ,,Veritas divinitatis nostri temporis aetate
maturavit" (Apolog. XXXVIII). In dieser Reife und Voll-
endung der göttlichen Offenbarung ist zugleich die Möglichkeit
und Nothwendigkeit einer weltgeschichtlichen Entscheidung
gegeben. Wir werden sehen, wie das blutige Martyrium den
entschlossenen Hass gegen die Lüge und die todesmuthige
Liebe für die Wahrheit besiegelt und damit eine grosse Ent-
scheidung auf der Höhe der Welt zu Wege bringt. Die
officielle Lüge im Heiligthum des Cäsarcultus und jenes
Sophisma von der Nützlichkeit der Täuschung in der Religion
hatte die hohe Säule der Wahrheit in der Menschheit um-
gestürzt. Der christliche Hass gegen die Lüge, die christliche
Liebe für die Wahrheit hat in dem Centrum des Geisteslebens
die hehre Säule der Wahrheit wieder aufgerichtet und damit
für die P'ahrt auf dem Meere der unzähligen Irrthümer,
Täuschungen, Betrüge und Fälschungen einen Leuchtthurm
geschaffen.
Trotzdem charakterisirt Hausrath die christliche Literatur
der ersten Jahrhunderte mit folgenden Sätzen: ,,es gab
.schlechthin kein Object, das den Kirchenvätern so viel Respect
eingeflösst hätte, um es der Umbildung, Verfälschung und
293
Entstellung zu entziehen"; ,,das Geschichtliche war diesen
Leuten ein vollkommen flüssiger Stoff, den sie ganz nach
Belieben formten, je nachdem ein kirchliches oder dogmatisches
Interesse oder das der Vertheidigung gegen die Heiden die
eine oder die andere Erzählungsweise mehr empfahl" (Kleine
Schriften 128 130). Dass von Einzelnen und in einzelnen
Fällen zu dieser Anklage Anlass gegeben worden ist, soll
nicht geleugnet werden. Aber wird dieser Mangel an Kritik
in der altkirchlichen Literatur so allgemein ausgesprochen,
wie hier von Hausrath geschieht, ohne und bevor die grosse
weltgeschichtliche Thatsache der siegenden Wahrhaftigkeit
gegen die die römische Welt beherrschende Lüge im Heilig-
thum anerkannt und gebührend gewürdigt worden ist, dann
ist ein solcher Historiker von dem wesenhaften Kern der
geschichtlichen Wahrhaftigkeit jener grossen Heroenzeit un-
ermesslich weiter entfernt als der mit Recht getadelte Eusebius
von Caesarea. In welchem Grade übrigens eine solche ein-
seitige Kritik sich an dem Geiste dieser Epoche versündigt, das
wird sich erst zeigen, wenn wir dem heiligen Ernst des ersten
christlichen Martyriums näher ins Angesicht schauen werden.
Ehe wir jedoch zu der Darstellung des christlichen
Martyriums in dem römischen Kaiserreich schreiten, müssen
wir zuvor die Stellung der Christenheit zu jener anderen
grundfeindlichen Geistesmacht, demBaalcultus in Betracht ziehen.
In dem heidnischen Cultus und Ritual gab es, wie wir gesehen
haben, Darstellungen und Ceremonien, welche offenbar Augen-
und Fleischeslust zum Inhalt hatten und diesen Inhalt als
Theil der Staatsreligion vor den höchsten Behörden wie vor
der Volksmasse sanctionirten. Obwohl dieser Cultus des
emancipirten Fleisches auch von dem heidnischen Gewissen,
wie wir verschiedentlich nachgewiesen haben, verurtheilt wurde,
so war doch die Macht der Gewohnheit und der herrschenden
Auctorität so gross, dass auch die achtbarsten Männer sich
davor beugten, und wenn auch ein Widerstand vorhanden war,
wie wir einen solchen 'in dem sterbenden Seneca anerkennen
mussten, so setzte sich doch diese das Volksgewissen mordende
Verführungsmacht ungebrochen fort. So wie nun der Weih-
294
rauch vor dem Bild des Kaisers die thatsächlichc Anerkennung
des Cäsarcultus war, so war das für die Götter geforderte
Opfer in den Augen der Christen vor Allem die thatsächliche
Billigung des Baalcultus. So wie es nun in der Christenheit
eine Wahrheitsmacht gab, welche über die absolute Gewalt
des Cäsarcultus siegte, so gab es in der Christenheit eine aus
der Wahrheit geborene Freiheitsmacht, welche die knechtende
Auctorität des Baalcultus überwand.
Das gute Gewissen des Widerstandes gegen den Cäsar-
cultus bis aufs Blut beruhte darauf, dass die Christen dem
cäsarischen Staatswesen als einer göttlichen Ordnung innerlich
und äusserlich vollkommen gerecht wurden. Gleicherweise
hatten die Christen auch darin ein gutes Gewissen, dass sie
der menschlichen Sitte und Gewohnheit, so weit dieselbe ohne
Sünde und vernünftig war, sich anschlössen. In diesem guten
Gewissen hatten sie die Kraft, dem in dem Herkommen
wurzelnden Baalcultus ihre christliche Freiheit und Wahrhaftig-
keit entgegenzusetzen.
Der Brief an Diognet bezeugt: ,, Christen unterscheiden
sich nicht von den übrigen Menschen in Vaterland, in Sprache,
in Sitten • wir heirathen wie Alle, zeugen Kinder, aber setzen
das Neugeborene nicht aus" (C. V). Aber auch der strenge
Tertullian ruft den Heiden zu: ,,wir sind keine Brahmanen oder
indische Gymnosophisten, keine Waldmenschen noch Ungesellige,
wir leben nicht ohne Markt, ohne Fleischbank, ohne Bäder, ohne
Buden, ohne Werkstätte, ohne Ställe, ohne eure Märkte und
wohnen nicht in dieser Welt ohne Verkehr mit euch. Wir
fahren zu Schiff mit euch und dienen im Heer, wir treiben
Ackerbau, wir treiben Handel, was wir an Kunst und Hand-
werk haben, theilen wir mit und machen es gemein zu eurem
Nutzen'* (Apolog. XLII). An einer anderen Stelle zählt
Tertullian die Oertlichkeiten auf, welche die Christen mit den
Heiden gemeinsam haben, lediglich Theater und Tempel werden
von dieser Zahl ausgeschlossen. Nichts stand dem Ernst des
Christenthums so entgegen wie das antike Wirthshaus (cfr.
Antholog. latina ed. Burman I 707 — 718). Und doch war
Theodotus zu Ancyra in Galatien, der Gastwirth, nicht bloss
295
ein Christ sondern sogar ein Märtyrer" (Neander Denkwürdig-
keiten 2. A. II 375). Hieher gehört auch die schöne Be-
schreibung des christHchen Lebens von Clemens Alexandrinus :
,,ini ganzen Leben jeden Tag festUch begehend, überzeugt,
dass Gott allenthalben gegenwärtig ist, bauen wir das Feld unter
Lobgesang, fahren wir zu Schiff Hymnen singend und behandeln
das ganze Leben wie ein Kunstwerk" (Strom. VII 7).
Clemens Alexandrinus ist überhaupt derjenige unter den alt-
christlichen Lehrern, der dem hellenischen Cultus des Schönen
am meisten Gerechtigkeit widerfahren lässt. Bekanntlich artet
der hellenische Cultus des Schönen später in Weichhchkeit aus.
Clemens ist ein strenger Richter gegen Wollust und Ueppig-
keit und ein Lobredner der wahren Mannhaftigkeit, aber da-
neben kündigt er sich an als einen Verehrer wahrer Schönheit.
Den unsauberen Cultus des schönen Antinous im Auge, ruft er
dem Kaiser Hadrian zu: ,,sei ein König der Schönheit und
nicht ihr Tyrann; ich verehre wahre Schönheit, welche ein
Urbild des Schönen ist" (Patrolog. ed. Migne Series Graeca
VIII 141). ,, Alles Schöne, sei es hellenisch oder christlich,
hat seinen Ursprung in Gottes Geist" (Strom. I 5). ,,Die
Schönheit der Blume ergötze uns, wenn wir sie anschauen, und
für das, was schön ist, sollen wir Gott loben und preisen"
(Paedag. II 8, III i). Wäre nun aber richtig, was Hausrath
behauptet, dass die christlichen Apologeten die gesammte
römisch-griechische Cultur zum Gegenstand ihrer Angriffe
machen, dass sie sogar nicht frei sind von semitischem Rassen-
hass gegen Griechen und Römer (Kleine Schrift, p. 85 86), so
läge eine ungerechtfertigte Schroffheit vor, welche die Bekämpfung
des Baalcultus schädigen müsste. Aber es ist diese Anklage ein
Product der einseitigen Parteitendenz, welcher die genannte Ab-
handlung Hausraths unterworfen ist. Wäre die Anklage Hausraths
begründet, wer hätte dann die Producte der antiken Literatur
und Cultur unter dem Walten der zerstörenden Mächte der
Barbarei und der Zeit erhalten sollen? Bei allem Gegensatz
gegen die dämonischen Elemente des Heidenthums ist es theils
ein natürlicher Instinkt, theils bewusste Werthschätzung der
Christen, was die Erhaltung der für die Entwickelung der
296
Humanität unschätzbaren Werke der antiken Cultur ermöglicht
hat. TertuUian, einer der strengsten Bekämpfer alles dessen,
was irgendwie als heidnisch inficirt erscheinen mochte, wirft
mit einem vollen Verständniss die Culturfrage auf: ,,cum
instrumentum sit ad omnem vitam literatura quomodo repudiamus
saecularia studia, sine quibus divina non possuntr" (De ido-
lolatria X). Aus diesem Grunde öffnet TertuUian für die
lernende Jugend die bestehenden Schulen (Neander Antignosticus
p. 42). Das Pallium war das Kleid des Philosophen, wir
könnten sagen, des studirten Mannes; wer dieses Kleid trug,
gab damit zu erkennen, dass er sich, was in der griechischen
und lateinischen Literatur als probehaltig galt, dergestalt an-
geeignet, dass er dasselbe durch Leben und Lehren zu vertreten
und zu verbreiten vermöge. Von zwei hervorragenden christ-
lichen Schriftstellern wissen wir nun, dass sie dieses Zeichen
eines höheren Culturgrades mit vollem Bewusstsein öffentlich
an sich trugen, dass sie also absichtlich als Solche sich dar-
stellten, welche bei allem Gegensatz gegen den herrschenden
Cultus den Anspruch machten, für diejenigen zu gelten, welche
den wahren Gehalt aller humanen Bildung sich angeeignet
hatten.
Im Anfang des Gespräches mit dem Juden Tryphon
erzählt Justinus, dass er lustwandelnd in den öffentlichen Hallen
von Tryphon als Philosoph angeredet worden, und bei weiterer
Nachfrage habe Tryphon gesagt, er wisse von einem Sokratiker,
dass man dem im Philosophenkleide Einhergehenden Achtung
beweisen müsse, deswegen habe er, da er Justinus in diesem
Kleide erblickt, sich an ihn gewandt, um etwas Nützliches zu
lernen. Wir wissen ausserdem, dass Justinus selber es liebt,
sich als Philosoph zu bezeichnen, und der belesenste Schrift-
steller der ersten Jahrhunderte, Eusebius von Cäsarea, zeichnet
Justinus wiederholt aus als einen ächten Liebhaber der wahren
Philosophie (H. E. IV 8, VI 11, III 37, IV 26, V 18, VI 3
10 13 14, MI 32). Dieser Justinus im antiken Philosophen-
mantel ist der, welchen Hausrath des semitischen Rassenhasses
beschuldigt! Dem Justin zur Seite steht TertuUian, der eine
eigene Abhandlung ,,de paliio" geschrieben. In dieser Abhandlung
297
erklärt Tertullian, dass er dieses Kleid angenommen, lun das
in christlicher Weise zu vertreten und zu üben, was dieses
Ehrenzeichen auf dem natürlichen Gebiete bedeute. Stünde
die christliche Apologetik in einem solchen radicalen Gegensatz
zu der antiken Cultur, wie Hausrath behauptet, dann würde
Tertullian das Ordenskleid der antiken Bildung nicht an-
genommen haben. Tertullian schliesst die Abhandlung ,,de
pallio" mit folgender Anrede: ,,gaude pallium et exalta,
melior jam te philosophia dignata est, ex quo christianum
vestire coepisti."
Die Anerkennung der höchsten Bildungsstufe in der
antiken Cultur, welche in dem Pallium der beiden genannten
Apologeten zum Vorschein kommt, zeigt sich ferner in der
ausgebreiteten Kunde der heidnischen Literatur, die wir bei
mehreren christlichen Schriftstellern der ersten Jahrhunderte
antreffen. Die Polyhistorie in der antiken Literatur, die in
den massenhaften Citaten von Tatian (Ad Graecos XXXI,
XXXIII, XXXIV) von Clemens Alexandrinus in den ,,Stromata",
von Eusebius in der ,,Praeparatio evangelica" zum Vorschein
kommt, bedeutet nicht bloss eine ehrende Notiznahme von der
antiken Literatur, sondern geht auch nicht selten darauf aus,
einen bleibenden Gehalt in den heidnischen Autoren nach-
zuweisen. Wie Tertullian in den Aussprüchen des einfachen
Volksbewusstseins das Zeugniss einer reineren Gotteserkenntniss,
als in dem geltenden Cultus enthalten war, nachweist, so haben
andere Apologeten in den Lehren und Sprüchen der Philosophen
und Dichter Ahnungen nachgewiesen, welche Mythos, Cultus
und Sitte zu corrigiren geeignet sind. Die Entdeckung dieses
höheren Gehaltes in der antiken Literatur macht zuweilen auf
die christlichen Apologeten einen überwältigenden Eindruck.
So sagt Justinus: ,,die mit Vernunft gelebt haben vor Christus,
sind Christen, wenn sie auch für aOsoi gehalten wurden wie
Sokrates und Heraclitus (Apol. I 46). Octavius: ,,exposui
opiniones omnium ferme philosophorum, quibus illustrior
gloria est, Deum unum multis licet designasse nominibus, ut
quivis arbitretur, aut nunc Christianos philosophos esse aut
philosophos fuisse jam tunc Christianos" (c. XX). Mögen
298
diese Aussprüche die Grenze der geschichtlichen Wahrheit
überschreiten, gegen Hausraths obige Anklage haben sie volle
Competenz.
Von besonderem Gewicht ist hier ferner das Zeugniss des
Augustinus. Wir haben v^on keines Christen der ersten Jahr-
hunderte innerem Lebensgang eine so anschauliche und zuver-
lässige Vorstellung wie von dem Leben des Augustinus. Seine
Bekenntnisse sind ein aufgeschlossenes Buch der heidnischen
Irrungen und Verderbnisse, sie zeigen aber auch in klarer und
deutlicher Folge die Züge der göttlichen Führung, welche die
infernalisch verstrickte Seele eines höchst begabten und äusserst
liebenswürdigen Menschen, den Niebuhr mit Recht einen der
grossesten Geister nennt, aus den Labyrinthen der feinen und
groben Selbstsucht errettet. Dieser Mann giebt dem verloren
gegangenen Buche Ciceros, betitelt ,,Hortensius", einer mahnen-
den Anleitung zur Philosophie (,,exhortatio ad philosophiam")
folgendes Zeugniss: ,,ille vero liber mutavit affectum meum, et
ad te ipsum Domine mutavit preces meas et vota ac desideria
mea fecit alia. Vi luit mihi repente omnis vana spes et immor-
talitatem sapientiae concupiscebam, aestu cordis incredibili et
surgere coeperam, ut ad te redirem" (Confess III 4). Augustinus
weiss es und bemerkt bei dieser Erwähnung des ,,Hortensius",
dass Ciceros moralische Bildung (pectus) hinter seiner intellec-
tuellen und ästhetischen Bildung (lingua) zurücksteht, aber diese
Wahrnehmung hat ihn nicht gehindert, dem ,,Hortensius" Ciceros
ein hohes Lob zu spenden; welches Verhalten des grossen
Kirchenvaters den gegenwärtigen Tadlern Ciceros sehr zu
empfehlen wäre. In der That, dieses moralische Zeugniss des
Augustinus für jene praktisch philosophische Abhandlung
Ciceros ist ein grosses Zeichen, dass das christliche Alterthum
trotz seiner strengen Gegensätze gegen alle heidnischen
Corruptionen dennoch im Stande war, den moralischen Gehalt
der antiken Cultur anzuerkennen und zu schätzen.
Wir werden demnach sagen, dass die Christenheit Alles,
was in Gewohnheit, Herkommen, Gesetz, Sitte und Bildung
ihr gut und löblich erschien, sich anzueignen bestrebt ist.
Damit ist der Tradition ihr Recht widerfahren, und kann dem-
299
nach die Christenheit mit gutem Gewissen abweisen und
bekämpfen, was in der Tradition Verwerfliches enthalten ist.
Wir finden nun die Thatsache, dass das Princip der äusseren
unvermittelten Auctorität des Herkommens nicht bloss für das
sociale und politische Leben, sondern auch für das Verhältniss
der Menschen zu Gott innerhalb des antiken Heidenthums ent-
scheidend gewesen ist. Sehr richtig charakterisirt Lactanz
dieses heidnische Princip in seiner Anwendung auf die Religion:
Von den heidnischen Gegnern sprechend, schreibt Lactanz:
,,a quibus si persuasionis ejus rationem requiras, nuUam possint
reddere, sed ad majorum judicia confugiunt. quod illi sapientes
fuerint, illi probaverint, illi scierint, quid esset Optimum, seque
ipsos sensibus spoliant, ratione abdicant, dum alienis erroribus
credunt" (List. V 19 3, cfr. II 6 7). Da nun Alle noch diesem
Princip der gebieterischen Geltung des Hergebrachten unter-
stellt sind, so ergiebt sich nothwendig eine Uebereinstimmung,
eine , »publica persuasio", und diese ist sodann entscheidend und
macht dem Schwanken auch der Weisen ein Ende. Diese
Uebereinstimmung setzt sich fort durch den unbedingten
Glauben der Kinder an die Eltern: ,,inconsulte gestiunt
parentibus obedire, dum fieri malunt alieni erroris accessio,
quam sibi credere" (Octavius XXII). Diese vernunftlose Art
des Glaubens verspottet Cicero als eine althergebrachte Unart
(Lactanz II 6 8). Um so weniger dürfen wir uns wundern,
wenn sich uns in dem Kampf zwischen dem Heiden Caecilius
und dem Christen Octavius diese entscheidende Geltung der
äusseren Auctorität in der höchsten Angelegenheit des
Menschen vor Augen stellt. Caecilius spricht es aus als sein
Ultimatum: ,,mag immerhin Grund und Ursprung der Menschen-
gedanken über die Gottheiten ungewiss sein, es muss bleiben
eine feste Uebereinstimmung (,,maneat firma consensio") und
diese alte, nützliche, heilsame Religion lasse ich von keinem
unfrommen Weisheitsdünkel antasten" (Octavius VIII). Mit
ausgesprochenem Verzicht auf Vernunft und Untersuchung
vertheidigt also dieser gebildete Heide die herrschende Gesammt-
überzeugung in der Religion als ein unantastbares Erbstück
der Menschheit.
300
Diese verfestete Auctorität in der Religion erhielt einen
strengen gesetzlichen Halt durch das Cäsarenthum. Vereinigte
doch, wie wir gesehen, in sich Julius Cäsar die höchste welt-
liche und geistliche Gewalt, und was Cäsar begonnen in der
Concentration aller Potenzen des allgemeinen Lebens, das
setzte Augustus fort. Freie Bewegung und Selbstständigkeit
ward immer mehr eingeschränkt, insbesondere waltete auf dem
Thron eine geheime Angst vor allen Verbindungen, ,,collegia"
und ,,Hetaeriae", als hätte man in Rom eine Ahnung, dass eben in
jener Zeit eine V^erbindung ins Dasein getreten, welche bestimmt
ist, den cäsarischen Bann aller geistigen Selbstständigkeit und
Bewegung zu stijrzen und ein Reich der wahren und geistigen
Freiheit der Menschheit aufzurichten. ,,Juhus Caesar cuncta
collegia praeter antiquitus constituta destruxit" (Sueton c. XLII).
,, Augustus collegia praeter antiqua et legitima dissolvit secundum
mandata" (Sueton XXXIF. Augustus verfuhr nach dem
Princip der Unfreiheit in der Religion, welches Mäcenas ihm
empfohlen (Keim Rom und Christenthum 120 121, A. Schmidt
Geschichte der Denk- und Glaubensfreiheit in dem ersten
Jahrhundert 156 — 158). Aengstliche Beschränkung der Vereins-
freiheit finden wir ferner vorgeschrieben Digest. II 4, XLVII 22.
Wie sich dieses Princip der staatlichen Auctorität in der
Religion und der Intoleranz gegen alle religiöse Bewegung und
Veränderung immer strenger und criminalistischer gestaltet,
das ist am deutlichsten in den sieben Büchern der Sententiae
Julii Pauli zu ersehen. In diesen Sentenzen des Julius Paulus,
eines angesehenen Juristen im Rathe des Septimius und Caracalla
ist besonders der Umstand zu beachten, dass er als das Ver-
derbliche und Strafwijrdige in den religiösen Neuerungen die
Bewegung der Gemüther bezeichnet. ,,\'aticinatores, qui se
Deo plenos assimulant idcirco expelli civitate placuit, ne
humana credulitate publici mores ad spem alicuius rei corrum-
perentur, vel certe ex co populäres animi turbarentur" (V 21)
,,Qui novas et usu vel ratione incognitas religiones inducunt,
ex quibus animi hominum moventur, honestiores deportantur,
humiliores capite puniuntur" (Ibidem). ,,De magica arte",
schreibt Paulus: ,,non tantum huius artis professio sed etiam
301
sententia prohibita est" (V. 23). Nicht bloss die Aeusserung
ist strafbar, auch die Gesinnung (sententia). ,, Crimen majestatis
verbis impiis et maledictis maxime exacerbatur" (V 29). Dass
mit dieser Auffassung von der strafbaren Aufregung der
Gemüther auf dem religiösen Gebiet auch der Stoiker auf dem
Thron einverstanden ist, beweist das Fragment von Modestinus
Digest. XLVIII 29 30: ,,Siquis aliquid fecerit, quo leves
hominum animi superstitione numinis terreantur Divus Marcus
huiusmodi homines in insulam relegari rescripsit". Durch
diese Aussprüche und Decrete ist dem menschlichen Geist in
seinen vornehmsten Functionen ewiger Stillstand auferlegt, die
freie Wechselbeziehung zwischen Gottheit und Menschheit ist
aufgehoben, an die Stelle des lebendigen Gottes tritt die durch
kaiserliches Gesetz stabilirte religiöse Gewohnheit und Satzung.
Wo bleibt aber der Vorsatz des kaiserlichen Stoikers,
sich nicht „verkaisern" zu lassen ? Denn es ist eine über-
menschliche kaiserliche Anmassung, Jedermann bei Strafe zu
verbieten, Etwas zu thun oder zu lehren, wodurch die leicht
beweglichen Gemüther religiös könnten aufgeregt werden.
Dieser Bann der religiösen Erstarrung der in diesen kaiser-
lichen und juristischen Decreten ausgesprochen ist, wird noch
dadurch verstärkt, dass auch die Philosophen diesem starren
Zwang des religiösen Traditionalismus das^ Wort reden.
Plutarch lehrt: es heisst Unbewegliches bewegen, wenn man
in Ansehung der Götterlehre, welche wir haben, von jedem
Einzelnen Grund und Beweis verlangt, denn es genügt der
väterliche und der alte Glaube. Wenn an einem Punkt das
Feste und das Gesetz des Glaubens angetastet und erschüttert
wird, dann wird er in Allem unsicher und verdächtig (II 756 a b).
Wenn nun Porphyrius, Vertreter des Neuplatonismus, der
doch in Lehre und Uebung auf dem religiösen Gebiete allerlei
Neuerungen aufbrachte, ebenso streng wie die Cäsaren die
religiöse Neuerung als Verbrechen verurtheilt, dann erkennt
man, dass diese heidnische Abwehr es auf eine ganz bestimmte
Art von religiöser Neuerung abgesehen hat. Neuerungen durch
Aufnahme der asiatischen Culte haben zuweilen in Rom wohl
einige Aufregung verursacht, aber das ist immer vorübergehend.
302
im Ganzen gelten die Culte der ,,Dea magna, Isis, Serapis,
Osiris, Mithras" nicht für bedenkliche Neuerungen. Aber eine
Gotteslehre, für welche ein einfacher Handwerker sein Leben
einsetzt, eine Gotteslehre, welche den Anspruch auf absolute
Wahrheit macht, das war eine Neuerung, welche das ganze
Gebäude des antiken Denkens, Glaubens, Lebens und Handelns
in seinen Grundlagen erschütterte.
Aber nur vermittelst dieser radicalen Neuerung ist das
verderblichste Unheil, das durch den starren mit dem Schwert
bewaffneten Traditionalismus gestützt wird, auszurotten. Dieses
verderbhchste Unheil, diese Pest der Volksseele, ist der Baal-
cultus, der nicht angetastet werden darf, so lange was im
Cultus herkömmlich ist, durch Lehre und Gesetz sanctionirt ist.
Seneca rang darnach mit aller Anstrengung, zu sich selbst
zu kommen, konnte aber dieses Ziel nicht erreichen. Octavius
bezeichnet das ,,sibi credere" als den christlichen Standpunkt
(XXIV). Nicht in der Aussenwelt der Auctoritäten, der Gesetze,
der Drohungen und Lockungen liegt der Schwerpunkt der
Entscheidung sondern tief innerlich in der Seele, die für die
Gottheit und für das Wahrheitszeugniss, wie TertuUian lehrt,
geschaffen ist. ,,Vos", sagt Octavius den Heiden, ,,timetis
conscios, nos etiam solam conscientiam, sine qua esse non
possumus" (XXXV). Dieses Selbstvertrauen, dieses in sich
ruhende (sola) Gewissen wohnt in der Tiefe der menschlichen
Seele, zu der keine Creatur Zugang hat sondern nur die ewige
Gottheit. Hier ist der Mensch zu sich selbst gekommen, frei
von allen Aussendingen, ruhend in dem, der ihn geschaffen
hat, also in der Wahrheit, die ihn frei macht. Nur in dieser
Freiheit, die nur aus der Wahrheit geboren ist, ist die Kraft,
welche denjenigen abgöttischen Cultus, den auch das heidnische
Gew^issen verurtheilt, die aber die erleuchtetsten Heiden wider
ihr eigenes Gewissen durch ihr Verhalten bestätigen und damit
eine abgrund massige Volksverführung stiften, wirksam zu
bekämpfen unternimmt. Von dem Standpunkt dieser inneren
Freiheit lassen sich die Christen durch keine Gewalt verdrängen,
,,pro libertate mori novimus", sagt TertuUian (Ad nationes I 4).
Noch tapferer spricht sich Octavius aus : ,, Christianus libertatem
303
suam adversus reges et principes erigit" (XXXVII). Könige
und Fürsten sind diejenigen, welche vor Anderen die Freiheit
zu Boden gestürzt haben, soll die Freiheit wieder aufgerichtet
werden, dann muss sie den Königen und Fürsten abgetrotzt
werden-, das ist die Sache keines Anderen als des Christen.
Soll aber der Freiheit in der Welt wieder Bahn gemacht
werden, dann muss sie nicht nur durch einen einmaligen Act,
sondern durch eine fortgesetzte Thätigkeit aufgerichtet werden
(Octavius XXXVIII).
Der energische Widerstand gegen die Volksverführung in
dem abgöttischen Baalcultus offenbart sich zunächst und
unmittelbar darin, dass die christlichen Schriftsteller sich
berufen halten, rücksichtslos aufzudecken, was dieser Cultus
an Abscheulichkeiten den Augen und Ohren des Volkes preis-
gab. Den christlichen Schriftstellern vornehmlich verdanken
wir die Kunde von diesen Satanstiefen des officiellen Heiden-
thums, dieselben berufen sich zum Theil, wie Tatian und
Augustin, für ihre desfälligen Mittheilungen auf ihre Augen-
zeugenschaft. Man könnte nun sagen, dass darin ein Verdienst
der christlichen Literatur nicht zu erkennen sei, da einestheils
Aristophanes und Lucian die ,,crimina coelestia" ohne Rück-
halt dem öffentlichen Spott preisgeben, anderntheils Philosophen,
wie Plato und Aristoteles, Vorkehrungen gegen jene Volks-
verführungen zu treffen empfehlen. Allein es gilt von jenen
Spöttern so gut wie von den Philosophen, was Tertullian über
den Gegensatz zwischen den heidnischen und christlichen
Censoren des Mythos bemerkt. Dass die heidnischen Censoren
geehrt, die christlichen dagegen gestraft wurden, hat nach
Tertullian darin seinen Grund, dass die Wahrheit nur dann und nur
soweit Hass erzeugt, als Jemand die Wahrheit mit vollem Ernst
vertritt (,,qui eam ex fide praestat"). Das gilt nicht von den
Philosophen und Dichtern, welche sich mit der Wahrheit
befassen als mit einem Spiel (,,mimice affectant veritatem"),
aber dagegen gilt es in vollem Masse von den Christen, unter
denen jeder Handwerker ,,Gott findet und darstellt und darnach
Alles, was in Gott Gegenstand der Forschung ist, mit der
That auch besiegelt" (Apolog. XLVI).
304
Der Baalcultus ist der Auswuchs des falschen Princips der
Auctorität, des Herkommens, der Sitte und Gewohnheit in den
reh"giösen Angelegenheiten. So lange dieses Princip die Geister
bindet und knechtet, so lange bleibt auch jede moralische
Censur jener Verführungsmacht gegenüber ohnmächtig. Nur
dadurch ist die Christenheit jenes \^erderbens mächtig geworden,
da.ss sie auf einem höheren Princip als dem der traditionellen
Auctorität, auf dem Princip der Freiheit und inneren Selbst-
ständigkeit ruht. ,, Dominus noster veritatem se non consuetudinem
cognominavit" (Tertullian de rel. virg. I). ,,Consuetudo sine
veritate vetustas erroris est" (Cyprian Ep. 74 9). ,,Satis est
demonstrare summo ingenio viros attigisse veritatem ac paene
tenuisse, nisi eos retrorsum infatuata pravis opinionibus consue-
tudo rapuisset" (Lact. Inst. I 5 28). Die Wahrheit wird hier
der Gewohnheit entgegengesetzt, weil sie sich durch sich selber
dem Geiste bewährt, weil sie den Geist frei macht und frei
lässt. Diese christliche Freiheit beschreibt Justin also: ,,wir
sollen nicht Kinder einer blinden Nothwendigkeit, was wir von
Natur sind, bleiben, sondern Kinder der Wahlfreiheit und des
Wissens .sein" (Apol. I 6 i). Demnach stellt sich der Gegen-
satz zwischen den heidnischen und christlichen Censoren des
abgöttischen Cultus folgendermassen dar: was die Philosophen
mit halbem Ernst an dem Cultus tadeln, was die Satiriker mit
frivolem Spott profaniren, das besprechen die christlichen
Schriftsteller mit der ganzen Entrüstung ihres sittlichen Zornes.
Wir brauchen hier nicht zu wiederholen, was wir im vierten
Abschnitt aus Minutius I-^elix, Tatian, Tertullian, Cyprian,
Clemens Alexandrinus, Arnobius, Lactantius, Eusebius über den
sittenverderblichen Cultus angeführt haben Nach allem Vor-
hergehenden ist die einfache Zurückweisung auf jene Citate
das Signal, dass die Christenheit dem heidnischen Baalcultus
den Krieg auf Leben und Tod ankündigt.
Eine staunenswerthe Verirrung ist es nun, wenn Hausrath
(Kleine Schriften p. 91) der Meinung ist, dass es dem philo-
sophischen Censor als ein Verdien.st anzurechnen sei, dass er
trotz .seiner Censur die ,,caeremonias publicas" mitmachte,
während die Enthaltung von diesen Ceremonien von Seiten
305
der Christen eine mit Recht als anstössig befundene Schroffheit
sei. Als wenn es nicht durch Origenes und Augustinus
bewiesen wäre, dass in jenem Mitmachen die tiefste Wurzel
der heidnischen Ohnmacht und in dieser Enthaltung die Kraft
und Consequenz des christlichen Heroismus zum Vorschein
kommt. Es ist eine unheimliche Erscheinung, dass ein Theologe,
der in seinem ,,Antinous" bewiesen hat, dass er die Nachtseiten
des Heidenthums kennt, in der Abhandlung über die , »Kirchen-
väter des zweiten Jahrhunderts" redet, wie ein Apologet des
Polytheismus.
Sokrates vertheidigt sich erst, als er vor Gericht gestellt
war, die Christen wissen im Voraus, dass ihnen das Gericht
bevorsteht ; sie rüsten sich daher auf den Kampf, ehe es zur
letzten Entscheidung kommt. Das ist die christliche Apologie,
Mit Tertullian müssen wir uns auch hier vergegenwärtigen die
feindlichen Miichte, die den Christen entgegenstehen und
welche sie zu bekämpfen haben: ,,das ist es, womit wir zu
kämpfen haben, Institutionen der Vorfahren, Auctoritäten des
Herkommens, Gesetze der Herrscher, Urtheile der Weisen,
Alterthum, Gewohnheit, Nothwendigkeit, Beispiel, Vorzeichen,
Wunder, was alles die falsche Religion stark gemacht hat"
(Ad nationes II i). Tertullian will bemerklich machen, dass
es nicht bloss Unwissenheit und Irrthum des Verstandes ist,
wogegen das Christenthum zu kämpfen hat, sondern vielmehr
Realitäten und Mächte ersten Ranges. Alle diese Mächte
standen zum Angriff gegen das Christenthum bereit, ja, sie
kämpfen heimlich und öffentlich gegen die Christenheit. Das
Christenthum war genöthigt, sich zu vertheidigen. In dem
Bewusstsein der guten Sache ist das Christenthum bereit, die
Herausforderung anzunehmen. Da die Christen wissen, dass
das ihnen anvertraute Geheimniss für die ganze Menschheit
bestimmt ist, so erwacht in ihnen, nachdem die Aufmerksam-
keit auf die neue religiöse Erscheinung hingelenkt ist, ein
starkes Verlangen, die grosse Angelegenheit öffentlich zu ver-
handeln. Justin schreibt: ,, möchte jetzt nur Einer eine hohe
Rednerbühne besteigen und mit mächtiger Stimme rufen:
,, schämt euch des Verlästerns und kommt zur Besinnung"
20
306
(Apol. II 12). Tatian, der Schüler Justins, ruft: ,, höret ihr
Hellenen, die ich rufe als von einer hohen Stätte und führet
mich belehrend eure Unvernunft gegen den Herold der Wahr-
heit ins Feld" (Ad Graecos XVII). Und Justinus bekennt,
dass er sich verpflichtet fühlt, bei seiner Verantwortung im
jüngsten Gericht, ohne Lohn und ohne Neid sein Verständniss
der heiligen Schrift Allen zugänglich zu machen" (Dialog.
LVII, LXXXII). Justinus wünscht, dass zwischen ihm und
seinem Ankläger Crescens eine öffentliche Verhandlung Statt
finde und bezeichnet es als ein königliches Geschäft, wenn die
Römer auf Grund einer öffentlichen Verhandlung das Urtheil
fällen (II Apolog. 3). Dieser innere, hohe Gewissensdrang ist
die Geburtsstätte der christlichen Apologien. Sie sind meistens
ausgesprochenermassen gerichtet an die höchsten Stellen im
römischen Reich. Die erste Apologie Justins ist addressirt an
den Kaiser, an den Senat und an das ganze römische Volk.
In der Zuschrift bezeichnet er die Christen als die ,, ungerecht
Gehassten und Verfolgten" und sich selber mit vollem Namen
und nach seiner Herkunft als ,, Einen dieser ungerecht Gehassten
und Verfolgten". Mit einer solchen hohen Offenheit und Frei-
müthigkeit führt sich die erste Apologie Justins in die römische
Welt ein. Die zweite Apologie desselben ist an die Römer
gerichtet, wie auch eine kleinere Apologie TertuUians ,,ad
nationes". Die Apologie des Athenagoras wendet sich an den
Kaiser Marcus Aurelius und an den Mitkaiser AureliusCommodus.
Tertullian nennt in der Adresse seiner grossen Apologie die
Kaiser nicht, bezeichnet sie aber allem Anschein nach als ,,die
Vorsteher des römischen Reichs, die auf dem hohen Gipfel
des Staates zum Richter Berufenen". Eine zweite kleinere
Apologie richtet Tertullian an Scapula, Proconsul von Africa,
dessen Würde und Macht er im 4. Kapitel beschreibt.
Es ist eine neue Tonart, die sich hier in griechischer und
lateinischer Sprache vor dem höchsten Thron der Welt ver-
nehmen lässt. Der Stil zwar reicht bei weitem nicht an die
classische Vollendung des Demosthenes oder Cicero, aber der
schwellende Muth für Wahrheit, Freiheit und Recht, der sich
hier in zum Theil ungefügen Perioden vor den Ohren und
307
Augen der höchsten Gewalten der Welt vernehmen lässt, über-
trifft weit Alles, was man in Athen und Rom an mannhafter
Rede bewundert hat. Anstatt aller Beschreibung wollen wir
den hören, der seine Vertheidigung später auf eine höchst
merkwürdige Weise in Rom mit seinem Blute besiegelt hat.
So spricht Justinus, der philosophische Märtyrer, vor den
cäsarischen Majestäten:
,,Die Vernunft gebietet den wahrhaft Frommen und
Philosophischen, ausschliesslich das Wahre zu ehren und zu
ieben, entschlossen, den Vorfahren, wenn sie im Irrthum sind,
nicht zu folgen, denn die rechte Vernunft gebietet nicht nur
unrechtem Thun und Denken nicht bloss nicht nachzugeben,
sondern der Wahrheitsfreund ist in jeder Rücksicht, auch
wenn er mit dem Tode bedroht werden sollte, verbunden, die
Behauptung des Rechts mit Mund und That seinem eigenen
Leben vorzuziehen. Ihr nun werdet allenthalben gerühmt als
Fromme und als Philosophen, als Wächter der Gerechtigkeit,
als Liebhaber der Wissenschaft, ob ihr es aber wirklich seid,
wird sich zeigen. Denn nicht euch schmeichelnd, noch um
Gnade bittend treten wir an euch heran, sondern wir verlangen,
dass das Gericht nach genauer und sorgfältiger Begründung-
gehalten werde, damit ihr nicht befangen in Vorurtheil oder
in menschengefälligem Aberglauben oder in Folge einer unver-
nünftigen Leidenschaft oder eines seit lange herkömmlichen
bösen Gerüchtes ein Urtheil fället, das euch selbst verurtheilet.
Denn wir sind überzeugt, dass Niemand uns etwas Böses thun
kann, wenn wir nicht als Uebelthäter überführt oder als Sünder
erwiesen werden. Ihr aber könnt uns zwar tödten, schaden
aber nicht. Jedoch, dass nicht Jemand unsere Worte für eine
unvernünftige und vermessene Rede halte, so bitten wir, dass
man die Anklagen gegen die Christen untersuche, und wenn
sie sich als richtig erweisen, dass dann die Ueberführten, wie
es recht ist, bestraft werden. Wenn aber Einer Nichts beweisen
kann, dann verbietet die wahre Vernunft, unschuldigen Menschen
um eines bösen Gerüchtes willen Unrecht zu thun, vielmehr
thut ihr euch Unrecht, die ihr es billig findet, die Klagsachen
zu betreiben, nicht nach Recht sondern mit Leidenschaft.
20*
308
Jeder Vernünftige wird das einzig gute und richtige Rechts-
verfahren das folgende nennen : wenn nämlich die Unterthanen
von ihren Werken und Worten eine untadelige Rechenschaft
geben, gleichfalls aber auch die Obrigkeiten nicht gewaltthätig,
noch tyrannisch sondern nach der Vorschrift der Frömmigkeit
und Philosophie ihr Urtheil abgeben. Denn auf diese Weise
würden Obrigkeiten und Unterthanen glücklich sein. —
Unsere Sache nun ist es, Allen Einsicht zu gewähren in unser
Leben und Lehren, damit wir nicht für die, welche glauben,
das unsrige ignoriren zu können, die Strafe ihrer in Blindheit
begangenen Fehler uns selber aufladen. Eure Sache aber ist es,
wie es vernünftig ist, dass ihr höret und euch als gute Richter
erfinden lasset. Denn unverantwortlich wird es sein vor Gott,
wenn ihr, nachdem ihr unterrichtet seid, nicht das, was recht ist,
thun werdet. Ein Beinam.e wird, abgesehen von den mit diesem
Namen verbundenen Handlungen, weder für etwas Gutes noch für
etwas Böses gehalten. So weit man nach unserem unter An-
klage stehenden Namen urtheilen kann, gehören wir zu den
Besten (Wackersten). Aber da wir es nicht für gerecht halten,
um des Namens willen, falls wir der Bosheit überführt werden,
um Vergebung zu bitten, so ist es andererseits eure Sache,
wenn wir wieder wegen des Namens, noch wegen des Verhaltens
als Verbrecher erfunden werden, euch zu bemühen, dass ihr,
wenn ihr die nicht Ueberführten ungerecht bestrafet, nicht der
gerechten Strafe unterlieget. Alle, die bei euch verklagt
werden, straft ihr nicht, bevor sie überführt sind, bei uns aber^
nehmt ihr den Namen als Ueberführung, obgleich, so weit es
auf den Namen ankommt, ihr lieber müsstet die Ankläger
strafen. Wenn einer der unter Anklage Stehenden ein Ver-
leugner wird, indem er bloss sagt, er sei es nicht, dann
entlasst ihr ihn als Einen, den ihr keines Vergehens überführen
könnt, wenn aber Einer bekennt, es zu sein, so bestraft ihr
ihn wegen "des Bekenntnisses. Es ist Pflicht, sowohl das Leben
des Bekennenden zu prüfen, als auch das des Leugnenden,
damit durch die Thaten offenbar werde, wie ein Jeder ist.
Denn gleichwie Einige dem Befehl Christi, des Lehrers, nicht
zu verleugnen, gehorsam in der Untersuchung bekehrend
309
wirken, so geben vielleicht Andere, welche ein schlechtes
Leben führen, denen einen willkommenen Anlass, die ohnehin
sich schon vorgenommen, allen Christen Gottlosigkeit und
Schlechtigkeit vorzuwerfen. — lieber uns, die wir bekennen,
nichts Böses zu thun noch gottlose Meinungen zu hegen, stellt
ihr keine gerichtlichen Untersuchungen an, sondern getrieben
von einer unvernünftigen Leidenschaft und der Geissei schlechter
Dämonen*) straft ihr ohne Untersuchung und Ueberlegung.
— Wir bitten, dass von Allen, die bei euch angeklagt
werden, ihre Thaten untersucht werden, damit der Ueberführte
als Uebelthäter bestraft werde, aber nicht als Christ, wenn er
aber nicht als überwiesen sich darstellt, freigesprochen werde
als Christ ohne Schuld. Denn wir werden euch nicht angehen,
die Ankläger zu bestrafen, denn sie haben genug an ihrer
Schlechtigkeit und an ihrer schändlichen Unwissenheit. —
Wir wollen nicht leben mit Lügen auf der Zunge. Denn die
wir uns sehnen nach dem ewigen und reinen Leben, trachten
nach dem Umgang mit Gott, dem Vater und Schöpfer des
Alls, berufen, uns zu bekennen als die, welche überzeugt sind
und glauben, dass dieser Güter theilhaftig werden, welche
thatsächlich Gott beweisen, dass sie ihm folgen und seines
Umganges, wo das Böse keine Macht hat, sich freuen. — Das
Reich, welches wir erwarten, ist nicht ein menschliches. Wir
bekennen Christen zu sein, wissend, dass dem Bekennenden
von euch Tod als Strafe verordnet ist. Wir aber machen uns
Nichts aus denen, . welche die Macht zu tödten besitzen. —
Bei uns kann man die Wahrheit hören und lernen von Solchen,
welche nicht einmal die Buchstaben kennen, die ungebildet
sind und von uncivilisirter Ausdrucksweise, der Gesinnung nach
aber weise und gläubig, damit erkannt werde, dass dieses nicht
auf menschlicher Weisheit beruhe sondern durch Gottes Kraft
verkündigt werde." —
Nachdem nun Justinus zuletzt den Vorhang weggezogen
und den Kaisern den Einblick in die Feier der heiligen
*) Dämonen als Urheber der Christenverfolgung Justin. Apol. I 44,
II I 3 8, Dialog. XXXIX, Tertullian Apol. XXVII, Lactanz Inst. V 21.
310
Mysterien der Christenheit eröffnet hat, nimmt er mit folgendem
mannhaften Schluss Abschied von den hohen Gewalten.
,,Wir haben euch dieses zur Erwägung ijberreicht, und wenn
es euch vernünftig und richtig erscheint, so haltet es in Ehren,
scheint es euch aber ein Geschwätz zu sein, so verachtet es
als Geschwätz, nur verhängt nicht den Tod als gegen Feinde
über die, welche nichts Unrechtes thun. Wir haben euch
vorhergesagt, dass ihr dem künftigen Gericht nicht entfliehen
werdet, wenn ihr beharret in der Ungerechtigkeit, und wir
werden ausrufen: was Gott gefällt, das möge geschehen."
Diese Zuschrift, welche durch thatsächliche Verhältnisse
veranlasst ist, geht zurück auf die alleruntersten Grundsätze des
Rechtes und des vernünftigen Denkens. Sie ist gerichtet an
einen Weltherrscher, der sich bemüht, auf dem Thron wie im
Feldlager gegen die Quaden- durch Selbstbesinnung über sich
und seine Pflichten klar zu werden, der durch sein Verhalten
sich grosse und allgemeine Verehrung erworben hat. Nun ist
es Thatsache, dass dieser Cäsar diese Appellation eines
philosophischen Mannes an seine kaiserliche Gerechtigkeit
gänzlich ignorirt und verachtet liat. Justinus hat sodann
seine Apologie vor den Augen und Ohren des Kaisers
durch sein Blut besiegelt. Wir werden nachher beweisen,
dass auch dieses Blutzeugniss auf diesen Kaiser nicht den
allermindesten Eindruck gemacht. Wer an eine göttliche Welt-
ordnung glaubt, muss durch diese Thatsachen zu der Ueber-
zeugung kommen, dass eine grosse Wendung in dem Weltlauf
bevorsteht.
Es ist nicht eine Schul- oder Doctorfrage, welche Justinus
in seiner ersten Apologie behandelt, es ist die weltgeschicht-
liche Gewissensfrage, welche die alte und die neue Zeit scheidet.
Und Justinus erweist sich hier als der Mann, der des Wortes
mächtig ist, eine solche Frage mit der nöthigen Kraft und
Würde zu behandeln. Aber trotzdem ist diese grandiose christ-
liche Schutzrede auch heute noch nicht vor Missverständniss,
ja nicht vor Missachtung gesichert. Theodor Keim verehrt
zwar den hohen Ton dieser Apologie, ,, diesen sittlichen Muth,
dies Product religiöser Begeisterung und eines hohen Selbst-
311
gefühles", aber findet doch, dass Justinus das Wort gegen die
Fürsten ,,fast zu kräftig handhabt" (Rom u. das Christenthufii
p. 424). Dem letzten Urtheil Keims werden heute Viele bei-
stimmen, ohne dass sie sich das voraufgehende Lob anzueignen
vermögen. Aber was sollen wir sagen, wenn Hausrath sich
über den Charakter dieser christlichen Selbstvertheidigung ver-
nehmen lässt wie folgt : ,,in seinem Sendschreiben an die
Cäsaren schlägt Justinus durchaus nicht den Ton der Petition
an sondern den der aggressivsten Petulanz". ,,Man wird nicht
leugnen können, dass Justinus die Sprache der cynischen
Majestätsbeleidigung redet, und wenn er sich für dieselbe die
Strafe der Auspeitschung verdient haben sollte, so entsprach
das nur der damaligen Ordnung" (Kleine Schriften p. 83).
Ebenso urtheilt Hausrath über die andere Apologie Justins:
,,von Demuth gegen die Gewalthaber ist diese Apologetik des
zweiten Jahrhunderts sehr weit entfernt" (p. 83), ,, diese Schutz-
schriften erschienen eher als eine Provocation der Obrigkeit
denn als eine Bitte um Schonung" (p. ']6), ,,von einem
demüthigen, wehmüthigen apologetischen Auftreten der Christen
ist hier gewiss Nichts zu spüren" (p. ^6). Was den Vorwurf
des Aggressiven und Provocatorischen betrifft, so entgeht es
Hausrath, dass das Christenthum nicht vertheidigt werden
kann, ohne das Heidenthum zu bekämpfen. - Die de- und
wehmüthige Bitte um Schonung, welche Hausrath vermisst
(p. 'j^ 83), wäre der Verzicht des Christenthums auf seine
Existenz gewesen. Das Christenthum musste entweder ab-
danken oder erobern. Wenn ferner Hausrath der Meinung ist,
dass Justinus wegen cynischer Majestätsbeleidigung nach
römischem Recht Auspeitschung verdient und Straflosigkeit
vor einer christlichen Obrigkeit eine unverdiente Milde wäre,
so giebt er einen solchen Mangel an christlichem Verständniss
kund, dass es vergeblich sein mag, mit ihm über die vor-
liegende Materie mit Worten zu streiten. Wie aber Justinus
noch ein anderes Beweismittel für die von ihm vertheidigte
Sache besass als Wort und Schrift, so wird es das Beste sein,
um ihn gegen diese Schmähungen eines christlichen Theologen
zu schützen, wenn wir auf jene ultima ratio, wenn wir schon
312
hier im Voraus auf sein Blutzeugniss verweisen, welches wir
später uns zu vergegenwärtigen haben werden.
Der Bericht des Tacitus über den Tod Senecas hat uns
Aufschluss gegeben, was dieser Mann für Bekämpfung des
Bösen und zur Förderung des Guten vermag und was er nicht
vermag; wir haben in dem Martyrium dieses Mannes das
höchste Mass des moraUschen Vermögens in der natürHchen
Menschheit innerhalb der damaligen Weltlage erkannt. Ver-
gegenwärtigen wir uns nun das christliche Martyrium, so wird
sich uns darin eine Kraft offenbaren, welche über jenes Mass
hinausreicht und einen höheren, einen göttlichen Ursprung auf-
weist. Da es sich um einen Thatbeweis handelt — ,,wir
disputiren nicht", sagt Athenagoras, ,, sondern beweisen durch
Thatsachen" — , so werden wir uns die Hauptmomente dieser
Thatsache anschaulich vorführen müssen.
Das dreihundertjährige Blutzeugniss der Kirche ist eine
weltgeschichtliche Thatsache ohne Gleichen. Es ist daher bei
der menschlichen Schwachheit ganz natürlich, dass sich an
diese Thatsache Uebertreibungen und Verzerrungen angeheftet
haben. Seit Doddwall und Gibbon ist es anerkannt, dass die
Zahl der Märtyrer in der kirchlichen Tradition sehr übertrieben
ist. Ferner hat es hie und da, dann und wann Solche gegeben,
welche eigenwillig und eigenmächtig das Martyrium an sich
rissen, was aber sofort von der Kirche als Sacrilegium ver-
urtheilt wurde. Auch hat es nicht lange gedauert, dass die
Verehrung der Märtyrerreliquien in Aberglauben ausartete.
Aber in diese Nebendinge hat man sich oft so vertieft, dass
man die grosse Hauptsache fast aus den Augen verlor. Die
Sache selbst ist gross und heilig und Jeder mag sich
wohl rüsten mit christlichem Ernst, um die hehren Blut-
zeugen auf ihrem letzten Gange zu verstehen und zu würdigen!
Ignatius, Bichof von Antiochien, eröffnet die Reihe der
Märtyrer. Ein viel umstrittener Name, den der Doctrinärismus
zum Problem in der Kirchenverfassungsfrage und zu einem
Hauptobject des kritischen Scharfsinnes gemacht hat. V^or
Allem sollte aber Niemand an diesen Namen herantreten, der
sich nicht zuvor eine lebendige Anschauung von der Fäulniss
313
der damaligen vergehenden Welt gemacht hat. Denn erst
dann ist man im Stande, die gewaltige Sprache dieses bischöf-
lichen Märtyrers zu verstehen. Frivol muss man es nennen,
dass Hausrath sich nicht entblödet, die Briefe dieses Märtyrers
,,die Rede eines Coulissenreissers und den Anfang der hierarchi-
schen Pfaffenliteratur" zu nennen (Kleine Schriften p. 32). Die
beiden gründlichen Schriften von Th. Zahn Ignatius von
Antiochien 1873 und Ignatii et Polycarpi epistolae et martyria
1875 haben mich sowohl von der Authentie der Briefe des Ignatius
als auch von der Geschichtlichkeit seines Martyriums überzeugt.
Ignatius, Bischof von Antiochien, als Christ unter Trajan
verurtheilt, in Rom den Thierkampf zu bestehen, wurde in
Ketten gelegt und einer Abtheilung von zehn Soldaten über-
geben, um nach Rom theils zu Lande, theils zu Wasser für
die bevorstehenden Spiele transportirt zu werden. Ein Bischof
in Ketten, übergeben römischen Kriegern, die er wegen ihrer
Herzlosigkeit seine Leoparden nennt, auf einer langen Reise,
mit der Aussicht von den Löwen zur Belustigung des römischen
Volkes zerrissen zu werden ! Diese Thatsache beweist in sehr
anschaulicher Weise, dass das römische Cäsarenreich seine
Gewalt aufbietet, um die kleine wehrlose Christenschaar zu
zermalmen. Das römische Weltreich offenbart seinen thierischen
Charakter, mit welchem die Bibel es bezeichnet, um die neue
Menschheit zu vertilgen. Diese Stellung des römischen Reiches
zum Christenthum wird der ganzen Welt durch die Aufsehen
machende Reise des bischöflichen Märtyrers vom fernen
Morgenland bis zum Mittelpunkt der Welt kundgemacht, und
es muss sich in der inneren Haltung der Christenheit zu dieser
drohenden Thatsache auf offenem Plane offenbaren, wem endlich
die Zukunft gehören wird, Rom oder Christus. Zunächst zeigt
sich, dass Bischöfe und Gemeinden durch dieses drohende
Zeichen keineswegs erschüttert werden, Bischöfe und Gemeinden
beeifern sich, dem Gefangenen und Verurtheilten mit grosser
Verehrung und Liebe zu nahen. Das ist ein grosses Zeichen.
Wo auf dem natürlichen Gebiet die Gewalt sich regt, da
werden die Bande der Gemeinschaft gelöst. Wie klagt Ovid
über seine Verlassenheit von allen Freunden, nachdem Augustus
314
ihm seine Gunst entzogen! Hier dagegen zeigt sich, dass die
christHche Gemeinschaft der Bischöfe und Gemeinden ein Boll-
werk ist, welches nicht erschüttert wird, wenn auch die höchste
Weltmacht ihre Schrecken entfaltet. Der zunächst Bedrohte
erkennt in seiner jetzigen Lage die grosse Bedeutung des
Zusammenhaltens der Gemeinden und der Bischöfe, und im
Hinblick auf die kommenden Gefahren empfiehlt er auf das
Dringendste die Erhaltung der kirchlichen Organisation. Vor
allem Anderen aber kommt es an auf die Haltung dessen, der
als ein Schlachtopfer durch die römischen Provinzen seinem
grausamen Tode in dem Amphitheater der Hauptstadt ent-
gegengeführt wird. Es ist ein Werk der göttlichen Vorsehung,
die über die dunklen Wege, welche die Kirche Christi geführt
wird, wacht, dass dem Märtyrer von Antiochien Gelegenheit
und Freudigkeit gegeben wird, während seiner Reise sein
Inneres vollständig auszusprechen. In sieben Briefen, die von
Alters her berühmt sind, auf welche Irenäus (V 28) und Eusebius
(H. E. III 36) mit Nachdruck verweisen, hat Ignatius während
seiner Reise und in einer peinlichen Lage ohne Gleichen seinen
innersten Gedanken und Empfindungen Ausdruck gegeben. *)
Wer wird in diesen Briefen aber nur gewöhnliche Gedanken
zu finden erwarten? So viel ist von vornherein klar, wenn
nicht ein ungewöhnlicher Inhalt in diesen Briefen zum Vor-
schein kommt, dann sind sie gewiss nicht aus einer Lage, wie die
des Ignatius beschrieben wird, hervorgegangen, dann sind sie
unächt. In der That fehlt es nicht an ungewöhnlichem Inhalt
in diesen Briefen an Männer, welche in der grossen Feld-
schlacht zwischen Christen und Cäsar betheiligt und Augen-
zeugen waren. Polycarp, Irenäus, Eusebius haben eben an dem
ungewöhnlichen Inhalt dieser Briefe sich gestärkt und erbaut.
Wenn man nun in der Neuzeit eben an diesem Ungewöhn-
lichen zum Theil sehr starken Anstoss genommen, so hat das
grossentheih darin seinen Grund, weil wir uns viel zu sehr an
*) Die Einwendungen, welche gegen das Thatsächliche der Reise des
Ignatius erhoben sind, hat Zalin berücksichtigt und nach meinem Urtheil
erledigt (Ignatius von Antiochien p. 250 — 295),
315
die Schatten des kirchlichen Stilllebens gewöhnt haben und
deshalb den Heroismus der christlichen Athleten in dem
offenen Kampfe nicht zu fassen vermögen. Ueber den geist-
lichen Heroismus des Paulus (Rom. IX 3) bemerkt Bengel:
,,non capit hoc anima non valde provecta. De mensura amoris
in Mose et Paulo non facile est existimare. Etenim modulus
ratiocinatiorum nostrarum non capit, sicut heroum bellicorum
animos non capit parvulus".
Wie erscheint dem Märtyrer auf seiner via dolorosa der
Stand der Christenheit? Ist irgend eine Spur von Gedrückt-
heit oder Verzagtheit in seinen Briefen zu spüren? Im Gegen-
theil, er erfüllt die Vorschrift von Clemens Romanus II: ,,wir
dürfen nicht klein und gering denken von unserem Heil"«
Was wir früher von Ignatius angeführt, um den Anbruch einer
neuen Zeit zu charakterisiren, zeigt in diesem Zusammenhang
die Grossheit der Weltanschauung eines dem grausamsten Tode
entgegengehenden Christen. Es ist von Werth, den Märtyrer
hier noch einmal zu hören. Ignatius schreibt: ,, nachdem der
Stern Christi erschienen, wurde aufgelöst jeder Zauber, und jede
Fessel der Bosheit ward vernichtet, Unwissenheit hatte ein
Ende, das alte Reich ward zerstört, als Gott in menschhcher
Gestalt erschien, um ewiges Leben neu zu schaffen. Einen
Anfang aber gewann der Rathschluss Gottes. Von da an kam
Alles in Bewegung, weil es sich handelte um Aufhebung des
Todes" (Ad Ephes XIX). Kein Gedanke, dass die grausame
und weltmächtige Verfolgungsgewalt die Schöpfung des neuen
Reiches und Lebens zerstören könnte. Die feindlichen Gewalten
kommen vor dem Geistesblick des Märtyrers, der ganz ver-
sunken ist in die Anschauung der göttlichen Rathschlüsse und
Wunder, gar nicht in Betracht. Aber so gross Ignatius von
dem Reiche Christi denkt, so klein erscheint er sich selber.
Aber seine Demuth ist gekleidet in eine Gestalt, die uns fremd-
artig erscheint. ,, Feuer und Kreuz, Thiere in Massen, Ver-
wundungen, Zerfleischungen, Zermalmungen der Knochen, Ab-
trennung der Glieder, Zerknirschung des ganzen Körpers, arge
Qualen des Teufels, dies Alles mag über mich kommen, wenn
ich nur Christi theilhaft werde" (Ad Romanos V). Wir in
316
unserer Kleinheit denken leicht, eine fromme Ergebung in das
ihm bestimmte Schicksal wäre die richtige Stimmung des
Ignatius gewesen Das wäre allerdings das christliche Leiden
und Sterben eines treuen Bekenners. Aber es ist hier auf
etwas Höheres abgesehen. Die römische Verfolgungsmacht
hat in der Verurtheilung, in der langen Reise und in dem
grausamen Tode des Ignatius zum ersten Mal ihren ganzen
furchtbaren Apparat vor den Augen der Welt entfaltet. Dagegen
genügt nicht ein Blutzeugniss, welches nur eben nicht zuriack-
weicht vor diesem Apparat, sondern nur ein solches, welches
durch seine innere Kraft jene äusserste Gewalt überbietet und
durch seine unzweifelhafte Ueberlegenheit den entsetzlichen
Terrorismus der Verfolgungsmacht in den Augen der Gläubigen
und auch der Ungläubigen vernichtet. Das Martyrium des Ignatius
sollte wie eine Feuersäule dastehen, welche den folgenden
Märtyrern im Morgen- und Abendland sichere Leitung und
hohen Muth gewähren könnte. Was Stephanus in der judenchrist-
lichen Gemeinde ist, das soll Ignatius für die heidenchristliche
Gemeinde sein. ,, Ignatius ist der erste öffentliche Zeuge nicht
des christlichen Glaubens aber der christlichen Gemeinde. In
der Person des antiochensischen Bischofs stehen sich die beiden
feindlichen Mächte zum ersten Mal gegenüber, um sich zu
messen" (Bestmann II 168). Das Verlangen des Ignatius nach
dem grausamen Tode im Amphitheater ist so übermächtig,
dass er die römische Gemeinde anfleht, dass sie für ihn keine
Fürbitte einlegen möge, damit das Urtheil ohne Aufschub und
Hinderniss an ihm vollzogen werde. Anstatt aber Anstoss zu
nehmen an diesem staunenswerthen Verhalten dieses Märtyrers
sollte man nur genauer zusehen, worauf eigentlich dieses
starke Verlangen nach der Zermalmung durch die Bestien
gerichtet ist. Es ist nicht ein Verlangen nach Märtyrerruhm,
überhaupt kein Verlangen, das sich auf irgend etwas Aeusser-
liches bezieht, es ist ein Verlangen der selbstlosesten Demuth,
weil es seine Kraft hat in dem tiefen Bewusstsein der Un-
vollendetheit und in der überschwänglichen Sehnsucht nach
Vollendung. In Ignatius lebt der starke Wille, das in vollem
Sinne wirklich zu werden, was er seinem Glauben nach bereits
317
ist. Ignatius gehört Gott und Christo an, aber Gottes
und Christi vöUig theilhaftig zu werden , das ist das
Ziel seines Weges nach Rom. Ignatius ist ein Jünger
Jesu, aber ein unvollkommener, er sehnt sich darnach, in
voller Wirklichkeit Christi Jünger zu werden (Ad Rom. I, II, IV).
Noch tiefer greift der Ausdruck: ,,wenn ich dorthin gelange,
dann werde ich ein Mensch Gottes sein" (Ad Rom. VI).
Ignatius in der Gewalt der zehn Leoparden, in Aussicht die
Löwen des Amphitheaters, fühlt den Gegensatz zwischen
Menschheit und Thierheit, er fühlt es, dass durch die Ver-
führung Satans Thierisches in die Menschheit und mithin auch
in sein eigenes menschliches Dasein eingedrungen ist; er sehnt
sich darnach, ein Mensch Gottes im vollen Sinne des Wortes,
ein voller Mensch wie aus den Händen Gottes zu werden. Er
sehnt .sich nach dem reinen Licht (Ad Rom. VI). Auf der
Reise nach dem Amphitheater merkt er, dass das Begehren
und Gelüsten in ihm ablä.sst (Ad Rom. IV), dass jenes Feuer,
welches nach äusserem Stoff begehrt, aufzuhören beginnt und
dem reinen Feuer des Geistes Raum schafft. Er sehnt sich
darnach, nicht ein blosses Echo zu sein, sondern ein wirkliches
Wort Gottes zu werden (Ad Rom. II). Alles, was Rom auf-
bieten mag, von der Verurtheilung des christlichen Bischofs
in Antiochien an bis zu dem Loslassen der Bestien gegen ihn,
es ist in den Augen des Ignatius Alles Mittel und Weg zu
seiner eigenen Vollendung, und daher ist alle Marter ihm von
Herzen willkommen. Der Hauptgedanke in den Briefen des
Ignatius ist die Vollendung dessen, was hier im Glauben
begonnen ist. Da nun für ihn die Vollendung bestimmt ist
durch den Tod im Amphitheater, so ist für ihn das starke
Verlangen nach Vollendung zugleich das starke Verlangen
nach der Marter. Zugleich ist klar, dass durch diese Auf-
fassung und Aufnahme die Verfolgungsmacht innerlich voll-
kommen entmächtigt und damit durch einen solchen leuchten-
den Anfang die Bahn für die künftigen Märtyrer eröffnet ist.
Dass nun Ignatius sich berufen hält, diesen christlichen
Werdeprocess in solcher typischen Vorbildlichkeit auszuführen,
dafür scheint er einen individuellen Grund anzudeuten, indem
318
er sich mit einem Ausdruck bezeichnet, mit welchem Paulus
seine specifische Sünde und Unwürdigkeit charakterisirt. Wie
Paulus I. Kor. XV 8, so nennt sich auch Ignatius (Ad Rom. IX)
,, Verfolger". Es ist demnach zu vermuthen, dass auch
Ignatius in seinem Vorleben sich wie Paulus an der Gemeinde
v^ersündigt hat, und deshalb seine Führung wie bei Paulus
durch ungewöhnliche Tiefen geht.
Unter den Neueren haben Bunsen und Zahn den christ-
lichen Eifer des bischöflichen Märtyrers anerkannt und gewürdigt.
Aber Beide finden doch an den Aussagen desselben zu tadeln.
,,Es bleibt in diesen Aeusserungen des Ignatius etwas Krank-
haftes zurück", sagt Bunsen (B. Ignatius von Antiochien und
seine Zeit p. 226), und Zahn nennt das Verlangen des Ignatius
nach dem Martyrium ,, leidenschaftlich überspannt" (Ignatius
von Antiochien p. 405 418). Aber Beide verrathen auch bei
ihrer Anerkennung dieses Märtyrers einen offenbaren Mangel
in der Beurtheilung dieses Martyriums. Bunsen stellt als
Vorbild für Ignatius das Martyrium des Sokrates auf. Aber
wäre in dem Martyrium des Ignatius nicht eine specifisch
höhere Kraft als in dem Martyrium des Sokrates, dann hätte
eben so wenig, als die sokratische Schule eine geschichtliche
Macht geworden ist, die christliche Gemeinde den abgöttischen
Cultus stürzen können. Und was Zahn betrifft, so hat er in
seinem Satz: ,, Ignatius drückt sich lebhafter und stärker aus,
als es dem Abendländer und namentlich dem gelehrten Leser
gefällt" (p. 418) einen offenbar incompetenten Massstab auf-
gestellt. Die abendländische Gelehrsamkeit der Gegenwart
bedarf einer starken Geistestaufe, um in der vorliegenden
Frage urtheilsfähig zu werden. Man muss nicht ausser Acht
lassen, dass das christliche Martyrium im römischen Reich die
Bestimmung hatte, zu ringen mit dem antiken Geist. Was
der Stoicismus lehrt aber nicht ausführen kann, soll der
Glaube leisten und dadurch den antiken Geist überwinden.
Wir kommen zu Justinus, der seine freimüthige Apologie
unter Marc Aurel durch einen glorreichen Märtyrertod besiegelt
hat. Ueber das Martyrium des Justin und seiner sechs Genossen
haben wir einen actenmässigen Bericht (Justini Opera ed. Otto
319
II 266 — 278, Rainarti Acta Martyrum p. 58 — 60). Das
christliche Martyrium ist die That der eigensten und innersten
Persönhchkeit eines Christen und hat daher jedesmal nach der
Individualität und nach den Umständen einen eigenthümlichen
Charakter. Welch ein Abstand zwischen Ignatius und Justinus !
Der Bischof von Antiochien wird in Ketten aus Syrien mit
einer soldatischen Wache unter grossem Aufsehen durch die
römischen Provinzen nach der Hauptstadt geführt, Bischöfe
und Gemeinden werden allenthalben durch diesen Zug, der
den Gegensatz zwischen Heidenthum und Christenthum augen-
fällig darstellte, auf das Heftigste bewegt und ergriffen, und
das Ende dieser Aufsehen erregenden Reise ist das grause
Schauspiel eines christlichen Martyriums vor den Augen und
Ohren der römischen Volksmasse. Der Oefifentlichkeit und
dem Aufsehen dieses Martyriums entspricht es, dass Ignatius
in solcher Lage ohne Gleichen seine Gedanken und Em-
pfindungen offen und ausführlich dargelegt hat, so dass wir
heute noch das Aeussere und das Innere dieses grossen
Martyriums miteinander vergleichen und das Eine durch das
Andere verstehen können. Wie still und einfach ist nun dem
gegenüber das Martyrium des Justinus und seiner sechs
Genos.sen ! Diese sieben Christen werden vor dem Tribunal
des Stadtpräfecten von Rom, des Stoikers Rusticus verhört,
sie bekennen sich schlicht und kurz, aber Jeder eigenthümlich
zum Christenthum, verweigern nach Bedrohung mit dem Tode,
dem Götzen zu opfern und dem Edict des Cäsars zu gehorchen.
Ohne Weiteres werden sie darnach abgeführt, gegeisselt und
enthauptet. Die grosse Weltstadt nimmt von dieser Scene
keine Notiz: sieben Fremdlinge ohne Ansehen atis Palästina,
Kappadokien, Phrygien, unter ihnen eine Frau und ein Sclave,
sie werden enthauptet, weil sie die Götter und den Cäsar
nicht anbeten wollen. Ueber eine solche Geringfügigkeit geht
Rom zur Tagesordnung über. Und doch ist eine sichere Spur
dieser Thatsache übrig geblieben, welche uns zeigt, dass der
grosse Wendepunkt zwischen der alten und neuen Welt durch
diese Thatsache eine höchst bedeutsame Beleuchtung empfängt.
Das oft erwähnte Dictat Senecas, des sterbenden Staatsmannes
320
und Philosophen ist spurlos verloren, aber was der kappadokische,
der phrygische, der palästinische Christ, was die Charitana,
was der Sclav Euelpiscus Angesichts des Todes gesagt haben,
das ist uns actenmässig überliefert!
Dieses Actenstück beweist erstlich, dass der Kaiser Marc
Aurel schuldig ist an dem Christenblut, und zweitens, dass es
keinen anderen Weg mehr giebt zur Rettung der Menschheit,
als der durch das Blut der Märtyrer neu gebahnet wird. Der
genannte Kaiser glänzt in alter und neuer Zeit in dem Nimbus
einer übertriebenen Verehrung. Obwohl unter seinem Regiment
grausame Christenverfolgungen Statt gefunden, träumen Tertuilian
und Lactanz von Toleranzedicten dieses Kaisers (Keim Rom
und Christenthum 581). Thomas Gataker, ein englischer
Geistlicher, hat sich über vierzig Jahr mit der Herausgabe der
Monologen des Marc Aurel beschäftigt und kann nicht genug
seine Uebereinstimmung mit dem Neuen Testament und
namentlich mit der Bergpredigt rühmen. Die Frage, wie
dieser Kaiser die Christenverfolgung gestatten oder gar befehlen
konnte, hat Gataker nicht aufgeworfen. D'Acherius spricht
ihn von der Verantwortlichkeit der Christenverfolgung frei.
Hausrath schreibt jüngst das überschwängliche Urtheil: ,,Marc
Aurel ist eine der ehrwürdigsten Erscheinungen der alten Welt.
Wo wäre unter allen christlichen Fürsten Einer, der mehr innere
Anstrengung und Arbeit darauf verwendet hätte, gut zu sein"
(Kleine Schriften p. 47). ,,Ein so gearteter Fürst kann für
Greuelscenen, wie sie die christlichen Martyrologien berichten,
unmöglich verantwortlich sein" (p. 49). Wir wollen hier dieses
überschwängliche Lob nicht dämpfen durch Hinweisung auf die
grossen Schwächen dieses Stoikers auf dem Thron gegen die
Laster in seiner nächsten Umgebung, wir wollen lediglich ins
Auge fassen das Verhalten dieses Kaisers dem Martyrium des
Justinus und seiner Genossen gegenüber. Rusticus, der Präfect,.
der die Untersuchung gegen diese Christen führt und sie zum
Tode verurtheilt, ist ein Stoiker und zugleich der gefeierte
Lehrer des Kaisers, der ihn namentlich mit Epiktet bekannt
gemacht hat. Epiktet nun beschuldigt die Christen des Wahn-
sinnes und der gcwohnheitsmässigen Verhärtung (Hausrath p. 60).
321
Genau dieses Urtheil hat sich auch der stoische Kaiser an-
eignet, er schreibt in seinen Selbstgesprächen : ,, welch eine
erhabene Seele, wenn die Bereitschaft zum Tode eine Wirkung
eigener Ueberzeugung ist und nicht eine blosse Widerspenstig-
keit, wie bei den Christen, sondern sich bedächtig, mit V/ürde
und um Andere zu überzeugen, ohne allen tragischen Pomp
äussert,, (Comment. XI 3). Es ist nicht wahrscheinlich, dass
Epiktet mit Christen in persönliche Berührung gekommen
ist, aber der Kaiser war nicht bloss ex officio verpflichtet,
von den Christen ernstlich Notiz zu nehmen, das christliche
Zeugniss kam an ihn persönlich heran durch die feierliche
Appellation an seine Gerechtigkeit in der Apologie des Justinus.
Nicht ohne grosse Pflichtverletzung konnte Marc Aurel ein
solches gewichtiges Schreiben ignoriren. Noch näher und
persönlicher kam die Christenfrage an ihn heran, als Rusticus,
sein verehrter Lehrer und Rath, die Criminaluntersuchung
wider sieben Christen, unter denen der Verfasser der Apologie,
zu führen hatte und im Namen des Kaisers das Todesurtheil
über sie verhängte. Der Kaiser, der sich vor Jupiter gerühmt,
kein Blut vergossen zu haben, musste sich durch sein Amts-
gewissen gedrungen fühlen, durch Rusticus über das Verhalten
dieser Christen sich Bericht erstatten zu lassen. Nun ist das
Verhalten dieser Christen in dem Verhör und in dem Erleiden
des Bluturtheils eine thatsächliche genaue und vollständige
Widerlegung des Urtheils, welches sich Marc Aurel über die
Christen nach Epiktet, also aus zweiter Hand, gebildet hatte.
Marc Aurel fordert eine Bereitschaft zum Tode, die auf Ueber-
zeugung ruht und Ueberzeugung wirkt, die schlicht und recht
ohne Pomp sich ofifenbart. Diese Forderung des Stoikers ist
die ganz genaue Beschreibung des thatsächlichen Verhaltens,
welches in dem actenmässigen Martyrologium der sieben
Christen vor dem Tribunal des Rusticus vorliegt. Die Bereit-
schaft zum Tode kann nicht deutlicher documentirt werden,
als es hier vorliegt, denn während Alle durch ein einziges
Wort der Verleugnung das Leben retten konnten, wählten
Alle in freier Entscheidung den Tod und bitten um rasche
Execution. Und dass hier Ueberzeugung waltet, ist aus zwei
21
322
Zeichen deutlich zu erkennen. Als der Richter den Justinus
fragt: bist du der Meinung, dass du zum Himmel steigen und
einen Lohn empfangen wirst? antwortete Justin: ,,ich meine
das nicht, ich weiss es und bin dessen so sicher, dass kein
Zweifel übrig bleibt." Das andere Zeichen ist noch beweisender.
Ausser Justinus sind die Uebrigen einfache Leute, sie werden
jeder Einzelne befragt, und Jeder giebt eine kurze, aber deut-
liche, das Todesurtheil einschliessende Antwort, die nicht
eingelernt ist sondern einen ganz individuellen Charakter trägt.
Der Stoiker verlangt ferner, dass die Bereitschaft zum Tode
Anderen zur Nacheiferung gereichen soll. Marc Aurel mag
nur einmal Umschau halten, wo diese Propaganda der Todes-
bereitschaft sich verwirklicht hat, er wird finden, dass die
Männer seiner Secte Cato Uticensis, L. Seneca, Thrasea Paetus
durch ihr Sterben Anderen keinen Todesmuth sondern eher
Todesfurcht eingeflösst haben. Was aber begiebt sich vor
dem Tribunal des Rusticus? Es ist Einer zugegen Namens
Paeon, der nicht mit angeklagt ist und daher ausserhalb der
Gefahr steht, er wird aber durch das Verhalten der sechs
Christen so ermuthigt, dass er dem Richter aus freien Stücken
zuruft: ,,auch ich bin ein Christ", und darnach tritt er in Reih
und Glied mit den Uebrigen, die dem Tode geweiht sind.
Das, was der Cäsar von der Wirkung der wahren Ueber-
zeugung verlangt, tritt hier in ipso actu auf Endlich verlangt
der Kaiser von der wahren Todesbereitschaft, dass sie sich
ohne tragischen Pomp darstellen soll. Ich frage: giebt es
etwas Grossartigeres in Schlichtheit und Einfachheit, als diesen
Vorgang des Martyriums der sieben Christen ? In kurzen
Fragen und ebenso kurzen Antworten ist das ganze Verhör
erledigt, auf das sofort erfolgte Todesurtheil gehen die Sieben
schweigend hin zur Geisselung und Enthauptung. Alle Züge,
welche der kaiserliche Stoiker von der pflichtmässigen Todes-
bereitschaft- verlangt, hier in diesem christlichen Martyrium
finden sie sich mit thatsächlicher Genauigkeit erfüllt. Und
nun bedenke man das Erstaunliche, dass der Kaiser an der-
selben Stelle, wo er diese Forderung aufstellt, behauptet: bei
(}en Christen finde sich das Gegentheil I Umgekehrt ist es
323
richtig. Der Tod des Sokrates wie der Tod Senecas hat
Furcht und Schrecken verbreitet, der Märtyrer Paeon dagegen
ist ein lebendiger Zeuge für die Wirkung, welche der Stoiker
bei den Heiden vergebens sucht. Während der Kaiser in Rom
anwesend ist (Keim Rom und Christenthum p. 584), haben
die von ihm verachteten Christen sein Programm bis auf den
Buchstaben verwirklicht. Nichtsdestoweniger liat er sein Urtheil
nicht corrigirt, sondern im Gegentheil hat er auf die von
Lyon kommende Anfrage, was mit den gefangenen Christen
zu thun sei, das Gesetz Trajans, also die Hinrichtung der
bekennenden Christen erneuert (Euseb. H. E. V i).
Reden und Schreiben, Erörtern und Beweisen hat sein
Werk gethan, aber das Vorurtheil gegen die Christen wird
selbst von der besten Weisheit und von der gefeiertsten Tugend
festgehalten wie eine Felswand. Da verstummt der Mund der
Christen, und ihr Blut beginnt eine neue Sprache zu führen,
die Sprache, deren Sokrates und Seneca nicht mächtig waren,
die Sprache der hohen Freudigkeit und der lebendigen Hoff-
nung mitten im Sterben. Das ist die neue Sprache, vor
welcher jene Felswand zusammenbricht. Freilich die auf dem
Thron und auf der Lehrkanzel sind nicht die Ersten, welche
diese neue Sprache verstehen, sondern einfache Seelen, wie
jener Paeon, wurden, zuerst ergriffen von dieser feurigen Zunge
der Todesbegeisterung, und wenn sich so in den niedrigen
Schichten der Menschheit eine stille Gemeinde gebildet hat,
dann wird auch allmählich auf den Höhen der Welt das Ver-
ständniss aufgeschlossen. Von unten nach oben geht die
christliche Bewegung, das zeigt sich hier in drastischen Zügen,
nicht von oben nach unten, wie das heutige Weltchristenthum
wähnt.
Wie verschieden ist das Martyrium des Justinus von dem
des Ignatius, und wie wiederum in anderer Weise abweichend
ist das Martyrium des Polycarpus von dem seines Freundes,
Landsmannes und Collegen Ignatius ! Ueber den Feuertod
des Polycarpus, Bischofs von Smyrna, hat uns Eusebius den
ausführlichen Bericht seiner Gemeinde erhalten (H. E. IV 15).
Wie in Gallien, so wüthet die Christenverfolgung unter Marc
21*
324
Aurel auch in Kleinasien, an beiden Stellen offenbar durch
die Leidenschaft der Volksmasse veranlasst. In Smyrna
hat die Verfolgung schon eine Weile getobt und ihre Opfer
gefordert, ohne dass dem Bischof Etwas zu Leide geschehen.
Polycarpus scheint in seiner bischöflichen Thätigkeit mehr
irenisch als polemisch zu Werke gegangen zu sein. Er war
aber dem Volk bekannt als der einflussreichste Mann unter
den Christen, sie nannten ihn ,,den Lehrer Asiens", ,,den Vater
der Christen", ,,den Zerstörer unserer Götter". Die letzte
Bezeichnung macht es wahrscheinlich, dass die Wirksamkeit
des Polycarpus dem Götzendienst fühlbaren Abbruch that und
dadurch den Hass der heidnischen Volksmasse aufgeregt hatte.
Endlich kommt die Losung auf: ,,man suche den Polycarpus".
Im Gegensatz zu dem heiligen Feuer des Ignatius weicht
Polycarpus dem drohenden Sturme aus, er verlässt die Stadt
und geht aufs Land, und als man ihn auch hier aufsucht,
vertauscht er auf Zureden seiner Freunde seinen Aufenthalt
auf dem Lande mit einem anderen. Als nun aber die Verfolger
auch hier seine Spur entdecken, weigert sich Polycarpus, zum
dritten Mal eine neue Zuflucht zu suchen, jetzt ist es ihm
ausgemacht, dass die Stunde des Leidens geschlagen hat,
,,des Herrn Wille geschehe", ist jetzt seine Losung. Sein
menschenfreundlicher Sinn, seine Lindigkeit bleibt unverändert,
er bewirthct seine Verfolger mit einem reichlichen Mahl, und
er erbittet sich von ihnen nur eine freie Stunde für sein Gebet.
In diesem Gebet zeigt sich sein hoher Sinn ; nicht mit sich,
nicht mit seinem Schicksal ist er beschäftigt, die Sorge der
gesammten katholischen Kirche auf Erden liegt auf seiner
Seele. Seine Verfolger sind erstaunt über seine Liebenswürdig-
keit, auch der Friedensrichter Herodes, selbst der Proconsul
hätten ihn gerne errettet. Hätte nicht die dämonische Wuth
der Volkmasse der Heiden und der Juden das ausersehene
Opfer gefordert, so wäre der ehrwürdige, menschenfreund-
liche Greis verschont geblieben. Aber das Mass sollte voll
werden, und Christus wollte zeigen, das.s auch den mildesten
Jüngern des Friedens der siegende Heldenmuth des Wider-
standes nicht fehlt. Als der Proconsul Polycarpus auffordert
325
Christum zu lästern, gab er die berijhmte Antwort, in welcher
sich Lindigkeit und Festigkeit durchdringen: ,,86 Jahr", sagte
er, ,, diene ich ihm, und er hat mir Nichts zu Leide gethan,
wie könnte ich denn jetzt meinen König und Heiland lästern ?"
Der Proconsul drohte ihm mit den wilden Thieren, ,,lass sie
herkommen", antwortet Polycarpus, ,,ein Besinnen vom Besseren
zum Schlimmen findet bei uns nicht statt" ; ,,ich will dich mit
Feuer zwingen", sagte der Richter, ,,dein Feuer brennt nur
kurze Zeit", antwortet Polycarpus, „das Feuer des Gerichtes
brennt ewig" ; ,, wohlan was zögerst du, bring heran was du
willst". Und ehe er den Scheiterhaufen bestieg, brachte er der
göttlichen Dreieinigkeit sein Lobopfer dar. Scahger schreibt
über das Martyrologium Polycarpi Folgendes: ,,eorum lectione
piorum animus ita afficitur, ut nunquam satur inde redeat,
quod quidem ita esse unusquisque pro captu suo et con-
scientiae modo sentire potest. Gerte ego nihil unquam in
historia ecclesiastica vidi, a cuius lectione commotior recedam,
ut non amplius meus esse videar" (Rainart. acta Martyrum
p. 46).
Etwas später, aber gleichfalls unter der Regierung des
Stoikers, tobte eine äusserst grausame Ghristenverfolgung in
den gallischen Gemeinden zu Lyon und Vienne, über welche
wir durch ein ausführliches Schreiben dieser Gemeinden an die
Brüder in Kleinasien genaue Nachricht haben (Euseb. H. E.
Vi 23). Aehnlich wie in Smyrna ist es auch hier die
Volksmasse, welche in rasender Wuth gegen die Christen
tobt, und der Gewalt dieser Volksleidenschaft geben die
Behörden nach, und auf die Todesstrafen der Christen drückt
der Kaiser Marc Aurel sein Siegel. Was aber diese Ver-
folgung besonders auszeichnet, das ist die unmenschliche Grau-
samkeit, mit welcher man die Bekenner zur Verleugnung und
Lästerung Christi zu zwingen suchte.
Da nach Tacitus, Plinius und Trajan das Christenthum
als Hochverrath gegen das Reich angesehen wurde, so war
die richtige Consequenz dieser Anschauung die Todesstrafe
auf das offene Bekenntniss zum Christenthum. So ist Plinius,
wie auch Rusticus, verfahren, so hat es Trajan gebilligt, und
326
so hat Marc Aurel es bestätigt. Nun aber wird diese Todes-
strafe, wie es sich namenthch in dem Martyrium des Justinus
und seiner Genossen zeigt, mit siegender Freudigkeit als
Durchgang zur Herrlichkeit hingenommen. Diese siegende
Freudigkeit offenbarte in dem Christennamen eine moralische
Ueberlegenheit, welcher das Schwert der Gewalt Nichts an-
haben konnte und .erzeugte in den Verfolgern das beschämende
Gefühl einer Ohnmacht und einer Niederlage, welches Gefühl
um so drückender war, wenn das Blut der Bekenner nicht ab-
schreckend sondern begeisternd wirkte, wie es in dem Beispiel
des Paeon der Fall war. Die Beunruhigung des Gemüthes,
die Störung des Gewissens, welche durch das aufgerichtete
Panier des christlichen Namens bewirkt wurde, und welche die
römischen Juristen und Cäsaren, wie wir nachgewiesen, für ein
todeswürdiges Verbrechen hielten, kann nur dadurch gestillt
werden, dass dieses Panier vollständig zu Boden geworfen
wird. Das geschieht aber nicht durch das Blut der Bekenner,
das geschieht nur durch die Verleugnung der Bekeiiner.
Daher ist nach heidnischer Auffassung das einzig wirksame
Instrument zur Wiederherstellung der Ruhe die Marter und
Folter, welche die Bekenner zur Verleugnung zwingt. Mit
vollem Recht machen nun die Apologeten aufmerksam auf das
Unsinnige dieses Verfahrens- in allen anderen Fällen, sagen die
Apologeten, wird die Folter angewandt, um die Wahrheit ans
Licht zu bringen, gegen die Christen wird die Folter an-
gewandt, um die Unwahrheit, um die Lüge zu erzeugen. Mit
wahrhaft vernichtender Logik haben die Apologeten die Un-
vernunft dieses Verfahrens aufgewiesen. Die Verfolger aber
geben sich nicht die Mühe, diesen triftigen Einwand zu wider-
legen, sondern sie fahren fort^ immer neue Marter zu erfinden,
um das christliche Bekenntniss zu brechen. Und die Kinder
der Welt sind klug genug, um zu wissen, dass die Unlogik
des Verfahrens kein Hinderniss ist, dass das Christenthum,
wenn die Folter ihren diabolischen Zweck erreicht, ausgerottet
wird, und die Welt mit der Lüge ihres zwiefachen abgöttischen
Cultus ungestört dem Abgrund entgegengeht. Also nicht mit
Gründen der Vernunft und des Rechts ist hier Etwas auszu-
327
richten, sondern nur durch die unüberwindliche Kraft der Er-
tragung alles dessen, was menschliche List und Bosheit, mit
der baaren Unvernunft im Bündniss, an Martern erfinden kann,
wird das Christenthum erhalten und die Menschheit gerettet.
Das ist die grosse Bedeutung des Berichtes über die gallische
Verfolgung, dass hier die Gewalt der grausamsten Marter an
der Kraft des christlichen Ertragens in schwachen und zarten
Körpern zu Schanden wird.
Der Bericht beginnt mit dem beschämenden Geständniss,
dass bei dem ersten Anlauf der Verfolgung zehn Christen zu
Fall gekommen sind und verleugnet haben. Nach diesem sieg-
haften Anfang lässt die Verfolgung kein Mittel unversucht,
um auch die Uebrigen in diese Niederlage hinabzustürzen.
Um Einzelnes zu nennen, so wurden gegen eine schwache
Sclavin Blandina, einen Knaben Ponticus und gegen den
neunzigjährigen Bischof Photinus unnennbare Martern ersonnen
und angewandt, um aus ihren zerrissenen Leibern das Wort
der Verleugnung herauszuzwingen. Die Augenzeugen berichten,
dass die Torturknechte und Marterwerkzeuge an der Wider-
standskraft dieser schwachen Personen ohnmächtig geworden
sind, weil, wie sie auf Grund eigener Erfahrung versichern, in
den Bekennern der heilige Geist der Fürsprecher, weil in ihnen
Christus selber lebte. Ja, die Zeugenkraft der Märtyrer war
so gross und wunderbar, dass die Marter nicht bloss den beab-
sichtigten Erfolg nicht hatte sondern schliesslich das grade
Gegentheil bewirkte: während die Bekenner durch die Marter
den Verleugnern gleich werden sollten, wurden umgekehrt die
Verleugner durch die Standhaftigkeit der Bekenner unter ihren
Martern beschämt, aus ihrem tiefen Fall errettet und den Be-
kennern zugezählt. Die Sprache, welche die altchristliche
Anschauung über diesen Kampf führte, lautet also: ,,das war
der grösste Krieg, den diese Märtyrer mit dem Satan aus
ächter Liebe führten, dass die Bestie gezwungen wurde, die-
jenigen wieder lebendig auszuspeien, welche sie glaubte schon
verschlungen zu haben" (Euseb. H. E. V 3). Es zeigt sich
in dieser Bekehrung der Lapsi eine noch grössere Wirkung des
Martyriums als bei jenem Paeon.
328
Origenes, der gründlichst gebildete Geist der ersten christ-
lichen Jahrhunderte, dem selbst der christenfeindliche Neu-
platoniker Porphyrius seine Anerkennung nicht versagt (Euseb.
H. E. VI 19), ist ein wichtiger Repräsentant des christlichen
Martyriums und ein lebendiger Beweis, dass Wissenschaft und
Kritik sich sehr wohl vertragen mit dem heroischen Mannes-
muth für Christi Reich. Origenes war ein Knabe, als sein
Vater Leonidas als Christ eingekerkert wurde. Nur mit List
und Gewalt konnte die Mutter den Knaben abhalten, sich aus
freien Stücken in den offenen Kampf zwischen Christus und
Belial zu stürzen. Der Knabe konnte es nicht unterlassen, an
den Vater im Gefängniss zu schreiben: ,, ändere ja nicht deine
Gesinnung aus Rücksicht auf uns". Und als der Vater ent-
hauptet und sein Vermögen confiscirt wurde, übernahm er, der
siebenzehnjährige Jüngling, die Mutter und sechs Geschwister
durch Unterrichtgeben zu unterhalten Origenes erhielt den
Beinamen des Diamantenen, weil er einen unglaublichen Fleiss
aufbot, um die ausserordentlich schwierige und mühsame
Grundlage für die Bibelkritik zu beschaffen. Dabei blieb seiner
Mannesseele sein Jugendideal, ein Kämpfer für Christi Sache
auf offenem Plan zu werden, frisch und lebendig. Aus seinen
frühesten Erinnerungen bewahrte und pflegte Origenes den ge-
waltigen Ernst des blutigen Martyriums, und unter Kaiser Decius
hat er als Bekenner solche Qualen erlitten, dass er in Folge der-
selben gestorben ist (Euseb. H. E. VI 39). Seine tapfere Stimmung,
seine heroische Haltung einem drohenden Martyrium gegenüber
hat Origenes ausgesprochen in einer Zuschrift an seinen Gönner
Ambrosius, welcher mit seiner Familie der Verfolgung des
christenfeindlichen Maximus ausgesetzt war. Im 63. Jahr
schrieb Origenes auf Bitten seines Freundes Ambrosius seine
sechs Bücher gegen Celsus, den unterrichtetsten und feindlich-
sten Schriftsteller gegen das Christenthum. Wir sehen hier,
mit welcher Zuversicht und Ruhe der gelehrte Apologet
die damalige Weltlage der Christenheit anschaut. Schon jetzt
in der Mitte des dritten Jahrhunderts schaut er Jesum, den
Celsus als das Haupt der Rebellion brandmarkt, als den
Ueberwinder über alle gegnerischen Mächte, Könige und
329
Herrscher, über den Senat der Römer und die Obrigkeiten
aller Orten und über alles Volk (Contra Geis. II 79). Aber
nicht etwa so, als ob jetzt die Schreibfeder Alles ausrichten
könnte und es eines weiteren Kampfes mit Einsetzung von
Leib und Leben nicht mehr bedürfe. Im Gegentheil, Origenes
warnt: ,,die jetzige Ruhe wird nicht lange währen; das gött-
liche Wort ermahnt, im Frieden nicht schlaff zu werden, noch
sich der Lässigkeit hinzugeben" (Contra Cels. III 15). Es
giebt nicht bloss ein offenbares sondern auch ein verborgenes
Martyrium (Exhortatio ad martyrium XXI). Eines solchen
inneren Martyriums mag er sich bewusst gewesen sein, als er,
im kappadokischen Cäsarea einstweilen geschützt an seine bloss-
gestellten Brüder im palästinensischen Cäsarea die Ermahnung
zum Martyrium an Ambrosius erliess. Obwohl Ambrosius in
der Ehe lebt und Kinder hat (Exhort. XXXVII, XXXVIII),
kommt es Origenes nicht in den Sinn, ihm Schonung
seiner selbst zu empfehlen, sondern er fordert ihn auf, der
drohenden Todesgefahr muthig ins Angesicht zu schauen.
,,Wie einst Nebucadnezar den Juden befahl, sein Bild anzubeten,
so gebietet auch jetzt Nebucadnezar uns, den wahren Hebräern,
das Gleiche zu thun" (XXXIII). ,, Möchte niemals die Seele
verwirrt werden, sondern stehend vor dem Richterstuhl und
vor dem blossen Schwert bewahrt bleiben von dem Frieden,
der alle Vernunft übertrifft". ,,Wenn wir aber Solche nicht
sind, dass wir immer die Ruhe der Seele bewahren, so lasst
uns wenigstens an uns halten und den Feinden die Erschütte-
rung der Seele nicht zeigen." ,,Es gilt einen Kampf, dass wir
nicht nur nicht verleugnen sondern auch überall uns nicht
schämen, wenn die Feinde Gottes meinen, dass wir Schimpf-
liches erleiden, und besonders wenn Einer wie du, heiliger
Ambrosius, geehrt und geschätzt von vielen Städten wie ein
Opferthier im Aufzug geführt wird, tragend das Kreuz Jesu
und ihm folgend, der vorangehend dich hinführt zu den
Obrigkeiten und Königen, damit er mit dir gehend dir verleihe
Mund und Weisheit und dir, seinem Mitkämpfer, und uns, den
verbundenen Blutzeugen, die wir ausfüllen, was noch fehlt an
dem Leiden Christi, verleihe, dass er mit uns sei vor dem
330
Paradiese Gottes, indem er zeigt, wie ihr vorbeikommt dem
Cherubim und dem feurigen Schwert, welches den Weg zum
Baum des Lebens bewacht" (XXXVI). ,,Die Freudigkeit zum
Martyrium gewährt dem Geiste, der in denen redet, die um
der Frömmigkeit willen preisgegeben sind, freien Raum, wenn
sie gehasst, verabscheut und für gottlos gehalten werden"
(XXXIX). ,, Welche Zeit ist angenehmer, als die, wenn wir
um der christlichen Frömmigkeit willen in der Welt unter
Wacht und im öffentlichen Aufzug und mehr triumphirend als
im Triumph abgeführt werden." ,,Denn die Märtyrer Christi
entkleiden mit ihm die Herrschaften und Gewalten und haben
Theil an seinem Triumph, gleichwie sie Genossen seiner
Leiden, werden sie also auch Genossen seiner in den Leiden
ausgewirkten Grossthaten" (XLII).
Origenes schliesst seine Mahnschrift zum Martyrium mit
dem Wunsch, ,,dass den Freunden aus der Fülle der göttlichen
Geheimnisse etwas Besseres und Wirksameres zu Theil werden
möchte, dann könnten sie das Seinige als etwas Geringfügiges
verachten." Möchte doch niemals aus den Schulen der gelehrten
Theologie, als deren Vater wir Origenes zu halten haben,
dieser Geist der mannhaften Kraft, Freudigkeit und Tapferkeit
entschwunden sein!
Cyprianus, Bischof von Carthago, ist eine sehr hervor-
ragende Persönlichkeit in der Geschichte des christlichen
Martyriums. Eusebius hat offenbar die kirchengeschichtliche
Bedeutung dieses Mannes nicht gekannt, dagegen hat Augustinus
fünfmal den Carthageniensern den hohen Ruhm Cyprians ver-
kündigt, er nennt ihn ,,tuba, qua ad prosternendum pretiosis
martyrum mortibus diabolum Christo militantes et devoti
martyres excitabantur" (August. Serm. 309 310 311 312 313).
Cyprianus war ein vornehmer reicher Mann in der wüsten
Weltstadt Carthago. Seine Bekehrung aus den Labyrinthen
des Heidenthums hat er in dem Briefe ad Donatum selbst
beschrieben. Zwei Jahre nach seiner Bekehrung ward er zum
Bischof erwählt. Die zehn Jahre seines Bischofsamtes sind er-
füllt von heftigen Verfolgungen und ausserdem von der Heim-
suchung der Pest. Zahlreiche Briefe und Abhandlungen über
331
die moralischen Fragen der Zeit gewähren ein anschauliches
Bild, wie dieser Mann an hohem Orte in solchen überaus
schwierigen und gefahrvollen Zeiten waltet, bis er sein Haupt
auf den Block zu legen gezwungen wird. Verschiedene merk-
würdige Züge aus der christlichen Märtyrerzeit kommen dabei
zum Vorschein. Seine Reichthümer stellt Cyprianus den noth-
leidenden Brüdern, insbesondere den zu den Metallgruben ver-
urtheilten Bekennern zur Verfügung, wobei namentlich in der
Pestzeit auch die Noth der Heiden nicht übersehen wird,
Cyprianus entwickelt bei dieser grossartigen Wohlthätigkeit
sein organisatorisches Talent. Sein Hauptaugenmerk aber war
gerichtet auf die Leitung der Gemeinden in den mancherlei
Zuständen und Fällen der gewaltsamen Verfolgung. Und in
dieser Thätigkeit haben wir einen merkwürdigen unumstöss-
lichen Beweis, dass das christliche Martyrium auch bei Auf-
bietung grosser Vorsicht und Klugheit an seiner Kraft und
Wirkung Nichts verliert. Bei dem ersten heftigen Anlauf der
Verfolgung entfernte sich Cyprian von Carthago, dem Hauptsitz
der Angriffe, und verharrte in der gefundenen Zufluchtsstätte
über zwei Jahre, während die Verfolgung in Carthago und
namentlich auch in Rom heftig wüthete. Was lag in solchen
Zuständen näher als die Verdächtigung: ,, dieser vornehme
und verwöhnte Bischof sucht sich zu schonen, er erweist sich
als einen Miethling, der den Wolf fürchtet". Cyprianus aber
wusste mit solcher Kraft und Klarheit seine Flucht zu recht-
fertigen, dass trotz des bösen Scheines sein Ansehen keinen
Schaden litt. Er überzeugte seine Brüder, dass seine Zurück-
gezogenheit dem Ganzen zu Gute komme, indem er sich zur
Führung der Gemeinden in der Gefahr der Zeiten zu erhalten
suche, während er, in Carthago bleibend, sofort als Opfer
gefallen und damit die Gemeinden verwaist gewesen wären.
Es beweist einen hohen sittlichen Stand der Christen dieser
Zeit, dass das Vertrauen zu dem flüchtigen Bischof nicht er-
schüttert wurde, sondern dass man seiner Vertheidigung
Glauben schenkte. Die römische Gemeinde, welche schwer zu
leiden hatte, war allerdings, als sie die Nachricht von der
Flucht Cyprianus erhielt, anfangs bedenklich, aber auch diese
332
beruhigte sich, als sie Näheres über diese Angelegenheit
erfuhr. Dass aber auch nicht ein Hauch von Verdacht und
Misstrauen vorhanden blieb, das zeigte sich am deutlichsten
in dem ungetrübten Verhältniss zwischen den in den Metall-
gruben leidenden Bekennern und ihrem Bischof. Cyprianus
sandte von seinem geschützten Platze aus an diese leidenden
Bekenner Trostbriefe und ermahnte sie, dem Märtyrertode
standhaft ins Angesicht zu schauen, und die Bekenner nahmen
.diese Zuschriften hin mit der gerührtesten Dankbarkeit.
Ein weiteres Zeugniss über den hohen sittlichen Stand der
Christengemeinden in jenen Zeiten der Verfolgung erfahren wir
in dem, was Cyprians Briefe und Abhandlungen über die
Lapsi, die in dem Sturm der Verfolgung zu Fall gebrachten
Christen mittheilen. Ueber die vielverhandelte Frage, ob die
Lapsi von der Kirche wieder aufgenommen werden dürfen, oder
ob man ihr Schicksal lediglich Gott vorbehalten müsse, über-
sieht man leicht, welch' ein neues helles Licht das Verhalten
dieser Lapsi auf das Innenleben der Gemeinden verbreitet
Schon der Umstand beweist eine grosse sittliche Strenge, dass
der Begriff der Lapsi in dieser Zeit erweitert wird. In der
Decischen Verfolgung, um die Mitte des dritten Jahrhunderts,
zeigte sich, dass die Behörden hie und da geneigt waren, die
Christen zu verschonen. Wir dürfen gewiss annehmen, dass
die Unschuld der Christen mehr und mehr anerkannt wurde
und zum Mitleid anregte, wie denn schon bei der ersten Ver-
folgung unter Nero, wie Tacitus berichtet, das Mitleid mit den
Opfern der unmenschlichen Grausamkeit grösser wurde als der
Hass gegen die Christen. Je schärfer nun das Verfolgungs-
edict des Decius war, desto öfter fand sich ein Richter, der
den Christen behülflich war, durch einen für rechtsgültig
anerkannten Schein dem Zwang der offenbaren Verleugnung zu
entgehen. Dabei kam nun aufs Neue zum Vorschein, dass das
Christenthum den Beruf und die Kraft hat, die von dem
Heidenthum umgestürzte Säule der Wahrheit zuerst und vor
Allem in dem Heiligthum wieder aufzurichten und die
sacrilegische Irrlehre des Scaevola und Varro auszurotten.
Cyprianus ist ein eifriger Vertheidiger der Wahrhaftigkeit.
333
,,Perquam grave est, si epistolae clericae veritas mendacio aliquo
et fraude corrupta est" (Ep. 4); er hat es kein Hehl, dass
die Christenheit sehr daniederliegt: ,,adspice totum orbem
paene vastatum et ubique jacere dejectorum reHquias et ruinas"
(Ep. XXXI), und dass vorzugsv/eise die unwürdigen GeistHchen
daran schuldig sind (Ep. LXV). Vermöge dieser strengen
Wahrhaftigkeit galten die Sacrificati, Turrificati und Libellatui,
welche durch die Nachgiebigkeit der Behörden ohne Ver-
leugnung ausser Verfolgung gesetzt waren, in der Kirche für
Lapsi: ,,se ipsos infideles illicita nefariorum libellorum professione
prodiderunt" (Cyprian Ep. XXXI). Damit ist constatirt, dass
in dem christlichen Heiligthum Alles, was nicht völlig der
Wahrheit entspricht, wenn es auch in der Welt für legitim
anerkannt wird, für Lüge zu achten ist. Aus den Briefen
Cyprians und aus seinem Tractat ,,de lapsis" ersieht man nun,
mit welchem unbeschreiblichen Verlangen viele aus der Kirchen-
gemeinschaft ausgeschlossene Lapsi wieder aufgenommen zu
werden sich sehnten.
Jene edle Schottin, welche eingeweiht in die Geheimnisse
des Reiches Gottes so manche den Schriftgelehrten verschlossene
Lehren der Kirchengeschichte allgemein verständlich gemacht,
hat in ihrem geschichtlichen kürzlich, erschienenen Roman
,,Lapsed but not lost" den äusseren und inneren Zustand der
von der alten Kirche ausgeschlossenen Lapsi anschaulich
beschrieben. Ueberwältigt durch die Qualen der Folter oder
schon durch den grausen Anblick der Marterwerkzeuge haben
sie Christum verleugnet, damit sind sie aller Gefahr und alles
Leidens von Seiten der Welt erledigt. Da sie nun Christo
aufgekündigt und nunmehr in das Weltleben zurückgefallen
sind, warum schliessen sie sich nicht wiederum den Heiden an
und leben mit diesen nach ihren Gelüsten? Sie können es
nicht, sie vermögen nicht, sich innerlich loszumachen von jener
Gemeinschaft, in welcher sie sich einst selig gefühlt haben, ob-
wohl sie wissen, erfahren und fühlen, dass die Gemeinde ein
Grauen vor ihnen hat. Sie sind erstarrt in ihrem Seelenleben,
zu dem innern Heiligthum können .sie nicht gelangen, aber das
äussere Kirchenthum ist wie ein unwiderstehlicher Magnet, der
334
ihre Sinne gefangen hält, weil in dieser Hülle das lebte und
waltete, was in besseren Tagen ihre Seele erhoben und beseligte.
O, dass aus dem inneren Heiligthum der Gemeinde, aus dem
heiligen Feuer der Liebe und des Erbarmens, welches in den
Seelen der Gläubigen glüht, ein einziger Strahl in die Er-
starrung und Erstorbenheit dieser Elenden dringen möchte !
Strengster Busse werden sie sich gerne unterziehen, wenn nur
die Gemeinde die Hand ausstrecken wollte, sie wiederum an-
zunehmen! Hat denn etwa die Verfolgung aufgehört? Finden
die Lapsi durch Wiederannahme Schutz und Schirm von
Seiten der Welt? Umgekehrt: ,,gravior nunc et ferocior pugna
imminet" (Cyprian Epist. 58, cfr. 6^]). Cyprian schreibt mit
einundvierzig Collegen an Cornelius in Rom, dass sie den
Beschuss gefasst, dass man denjenigen Gefallenen, welche Busse
thun, nunmehr die Thür der kirchlichen Gemeinschaft öffnen
wolle, weil ein neuer und schwerer Kampf bevorsteht. ,,Omnes
omnino milites, qui arma desiderant et proelium flagitant, intra
castra dominica colligamus" (Ep. L\TI), ,,Acies adhuc geritur,
et agon quotidie celebratur, qui differri non potest, potest
coronari" (Ep. XIV). Die Lapsi kennen aus mehr oder weniger
unmittelbarer Erfahrung die Schrecken und Gewaltmittel der
Verfolgung, sie haben die Aussicht, dass der furchtbare Kampf
sich steigern wird, was will es bedeuten, dass diese sich heran-
drängen, in die kirchliche Gemeinschaft wieder aufgenommen
zu werden? Das hiess mit den übrigen Verfolgten wiederum
in Reihe und Glied treten und dem bisher genossenen Schutz
entsagen! Beispielsweise berichtet Cyprian von drei Christen,
welche durch grausame Folter zu Fall gebracht nun drei Jahre
Busse gethan hatten. Cyprian giebt den Rath, diese büssenden
Lapsi wiederum in die Kirchengemeinschaft aufzunehmen
(Ep. LVI). Welch eine Fülle von göttlichem Leben, Liebe
und Kraft muss in den Gemeinden wohnen, welche unter
solchen Umständen eine solche Anziehung für solche Seelen
besitzen !
Als zum zweiten Mal die Verfolgung ausbrach, erkannte
Cyprian, dass nunmehr seine Stunde geschlagen, in welcher er
seinen Spruch: .,Sacerdos Dei evangelium tenens occidi potest,
335
vinci non potest" mit seinem christlichen Bhite besiegeln sollte.
Als man allgemein ein letztes Urtheil gegen Cyprian erwartete,
erboten sich Männer von höchstem Range und Ansehen dem
Bischof zum abermaligen Entweichen und Verbergen behülf-
lich zu sein. Aber Cyprian ,,suspensa ad coelum mente" wies
dieses ab. Sein Wunsch war, da er erkannte, dass die Feind-
schaft der Welt ihre Höhe erreicht hatte, zu erreichen, was
die Stoiker ,,in actu mori" nannten, zu vollenden, was im
Heidenthum unvollkommen versucht worden (Seneca de provid.
II 9 12), nämlich vor Gott und Welt ein würdiges Schauspiel
darzustellen (Cyprian Ep. IX, XVI, LVIII, LX, cfr. Octavius
XXXVII). Was Cyprian ersehnt und was er wirklich erreicht,
das ist der stoische Tod ,,in actu mori", aber mit der Beigabe
eines den Tod überbietenden Triumphes, v/ovon das Sterben
des Sokrates, des Cato, des Thrasea und des Seneca keine
Spur aufweist. Was Cyprian in dem neunten Briefe den
Bekennern und Märtyrern zuruft: ,,non cessistis suppliciis sed
supplicia vobis potius cessant", nicht ihr weicht vor den Mord-
waffen zurück, sondern die Mordwaffen weichen vor euch
zurück. Das erinnert an das Wort des christlichen Helden
Henry Vane, der Angesichts des Schafottes zu seinen Freunden
sagte: ,,mich dünkt, der Tod fürchtet sich mehr vor mir als
ich vor ihm".
Eine solche ungezählte Menge folgte Cyprian auf seinem
letzten Gange, als wenn man darauf ausging, mit erhobener
Hände dem Tode Garaus zu machen (Rainart. p. 204). Und
als der Spruch über Cyprian gefällt wurde, rief das christliche
Volk: ,,et nos cum ipso docollemur". So wenig wird also das
christliche Volk durch dieses tragische Ende seines Führers
abgeschreckt, dass es vielmehr der höchsten Gewalt Trotz
bietet. Noch beweisender für die begeisternde Kraft dieses
Blutzeugnisses ist der Umstand, dass die Märtyrer Martianus,
Lucius und Andere als Schüler und Nachfolger des Cyprian
bezeichnet werden (Rainart. p. 234), mithin das gerade Gegen-
stück zu der Flucht der Schüler des hingerichteten Sokrates
darstellen, sowie das Gegentheil von der Feigheit und
Niederträchtigkeit der Verwandten des Märtyrers Seneca.
336
Cyprianus war ein stattlicher Mann von iniponirender und
anziehender Haltung. So beschreibt ihn die ,,Vita" des
Diaconus Pontius: ,,sein Angesicht war ernst und heiter, frei von
übertriebenem Ernst wie von übertriebener Freundhchkeit, Beides
in angemessener Mischung, ebenso war seine Kleidung fern von
Aufwand wie von affectirter Dürftigkeit. Auf seinem letzten
Gange zum Märtyrertode ging er einher hohen und auf-
gerichteten Geistes, '"••■) Heiterkeit im Angesicht und Mannhaftig-
keit im Herzen".
Welche Stimmung und Gesinnung Cyprian im Angesicht
der drohenden und tödtenden Verfolgungsgewalt von den
Christen fordert und voraussetzt, hat er im ']6. Briefe an die
Bekenner und Märtyrer ausgesprochen. ,, Welch eine Kraft
des siegreichen Gewissens, welche Hoheit des Geistes, welche
Wonne des Gefühls, welch' Triumph in der Brust, dass Jeder
von euch seinen Stand hat im Angesicht des verheissenen
Lohnes Gottes, wegen des Gerichtstages in Sicherheit, einher-
gehend in den Metallgruben, dem Körper nach ein Sclave,
dem Herzen nach ein König, zu wissen, dass Christus ihm
gegenwärtig ist und sich freut des Erduldens seiner Diener,
welche in seinen Fussstapfen und seinen Wegen hinanschreiten
zu dem ewigen Königreiche! Freudig erwartet ihr täglich den
gesegneten Tag eurer Abreise; auf dem Sprung, die Welt zu
verlassen, eilet ihr den Belohnungen der Märtyrer und den
göttlichen Wohnungen entgegen, nach den Finsternissen der
Welt das hellste Licht zu schauen und zu empfangen die alle
Leiden und Drangsale überstrahlende Herrlichkeit" (Ep. LXXVI7).
Und diesen hohen Sinn und Geist hat Cyprian selber in dem
Verhör vor zwei Proconsuln thatsächlich bewiesen, wie das
aus den ,,Acta Proconsularia" (Rainart. p. 216—218) zu er-
sehen ist. Seneca hatte sich vorgenommen, Angesichts des
Todes keine Miene zu verziehen. Nach Tacitus hat er diesen
Vorsatz erfüllt. Cyprianus verlangt von den Christen eine
über den gewaltsamen Tod triumphirende Stimmung. Cyprianus
*) ,,Erectus" ein Lieblingsprädicat Senecas.
337
hat diese Vorschrift durch sein eigenes Beispiel erfüllt. Als
Feind der Götter und Gegner der ,,pii et sacratissimi
Augusti et Caesares" wird Cyprian verurtheilt. Sehr
charakteristisch lautet das Urtheil des Proconsuls Galerius
Maximus: ,,sanguine tuo sancietur disciplina". Die ,,disciplina"
verlangt nach der officiellen Auffassung die Aufrechthaltung
des zwiefachen Cultus, des Cäsarcultus und des Baalcultus.
Aber diese Disciplina wird durch das Blut des Märtyrers
nicht, wie der Proconsul wähnt, geheiligt und bestätigt
sondern im Gegentheil gebrochen und vernichtet.
In dem 8i. Brief erlässt Cyprian seine letzte Weisung an
seine Gemeinde. Er wünscht als Bischof im Angesicht seiner
Gemeinde sein Martyrium zu bestehen. Was die Gemeinde
anlangt, so ist seine Mahnung : ,,quietem et tranquillitatem
tenete, nee quisquam vestrum aliquem tumultum fratribus
moveat, aut ultro se gentibus ofiferat, apprehensus enim et
traditus loqui debet, si quidem Deus in nobis positus
illa hora loquatur, qui nos confiteri magis voluit quam
profiteri. "■*''■■)
Es war eine richtige Empfindung, als Cyprianus eine
Verfolgung, heftiger als alles Bisherige kommen sah. Es
lag in der Natur der Sache, dass die beiden gegnerischen
Weltpotenzen, Christenthum und Heidenthum, schliesslich
zu einem Entscheidungskampf gedrängt würden. So radical
dieser Gegensatz war, so blieb dennoch bisher die Verfolgung
mehr oder weniger particular und local, der inwohnende
Gegensatz musste das Cäsarreich zu einem HauptangrifF
auf Christi Reich zusammenfassen. Nach einer ziemlich
langen Stille brach der letzte Sturm los und fällte Viele,
welche sich durch die Ruhe in Sicherheit hatten einlullen
lassen, bis der Kern der Christenheit, durch die Heftigkeit
*) Wie Hausrath es wagen kann, nach einer solchen grossartig fried-
lichen Weisung des sterbenden Bischofs von ,,Anlass zum Einschreiten" und
,, aufrührerischen Rottungen" zu reden (Kleine Schriften p, 40) ist nur
aus der gänzlich verfehlten Tendenz der oft genannten Abhandlung zu
erklären.
22
338
der Angriffe aufgerüttelt, seine weltüberwindende Kraft ent-
faltete und den Feind zum offenen Geständniss seiner
Niederlage zwang. Wir haben im fünften Abschnitt
Diocletian als Vollender des Cäsarcultus kennen gelernt, hier
betrachten wir ihn als denjenigen, der die Christenverfolgung
vollendet.
VII.
Cäsar — Christus.
Sonderbarerweise hat man geglaubt, nach ganz entlegenen
Thatsachen suchen zu müssen, welche die Christenverfolgung
Diocletians veranlasst haben sollen. Diocletian ist eine kraft-
volle Persönlichkeit, welche auf dem Cäsarenthron mit dem
Herrntitel Ernst machte. Er regierte wirklich: ,,ejus ante
omnia gerebantur" (Victor de Caesaribus XXXIX), ,,vir insignis,
ad omnia, quae tempus quaesierat paratus" (Histor. Augusta
II 792); er drückte seiner Zeit den Stempel auf ,,parens aurei
saeculi" (Hist. Aug. II 879). Dieser Cäsar wurde, wie Victor
bezeugt, von seinen Unterthanen wie ein Vater, ja wie Gott
verehrt. , .Gleichwohl", bemerkt Heinrich Richter (Das west-
römische Reich 46 66^ gegen Burckhardt Constantin p. 330 — 333),
,,gab es ein Gebiet, wo der Despot ohnmächtig war. Eine
geistige Macht, welche ihre Organe durch alle Provinzen
erstreckt, dieser völlig unabhängige Staat in dem absolutesten
aller Staaten war die christliche Kirche". Die Thatsache einer
solchen Schranke des absoluten Willens eines thatkräftigen
Cäsars war an sich schon Anlass genug zur thatsächlichen
Bekämpfung der Christengemeinden. Aber dieser natürliche
Gegensatz Diocletians gegen die christliche Freiheit wird durch
den heidnischen Aberglauben desselben ein fanatischer. Eine
Druide hat ihm einst die cäsarische Würde geweissagt, und
von der Zeit her liegt ihm das Reich im Sinn (Hist. Aug.
II 794) und gewinnt für ihn den religiösen Nimbus eines
unantastbaren Alterthums, und je älter daher ein Stück Cultus
ist, desto eifriger ist er dafür besorgt. ,,Veterrimae religiones
22*
340
castissime curatae" (Victor 1. c). In seinem Ehegesetz (295)
erklärt Diocletian: ,,die unsterblichen Götter werden dem
römischen Namen wie bisher günstig und mild sein, wenn wir
dafür sorgen, dass alle unsere Unterthanen einen frommen,
ruhigen, sittenreinen Wandel führen" (Burckhardt Constantin 331).
Die cäsarischen Beinamen Jovius und Herculius, welche
Diocletian aufbrachte ,,cultu numinis", wie Victor bemerkt,
bekunden das Bestreben, den althergebrachten Cultus zu
restauriren. Wie sehr ihm alle religiöse Neuerung verhasst
war, und wie eifrig er die alte Religion gegen jede Neuerung
in Schutz nimmt, nach dem Grundsatz und Vorgang des
ersten Augustus, ist in dem Gesetz gegen die Manichäer aus-
gesprochen. ,,Maximi criminis tractare, quae semel ab antiquis
tractata et definita sunt, statum et cursum tenent ac possident,
neque reprehendi a nova vetus religio debet'" (Neander Denk-
würdigkeiten I 412 413).
Wer den principiellen Gegensatz zwischen Christenthum
und Heidenthum, zwischen Christus und Cäsar, wie sich der-
selbe in dreihundert Jahren herausgestellt, kennt und würdigt,
wer sodann den orientalischen, abergläubisch-heidnischen Auto-
kraten Diocletian, wie die Quellen ihn schildern, anschaut, der
braucht nicht nach geheimen, entlegenen Gründen zu suchen,
welche die grössste und letzte Christenverfolgung im römischen
Reich veranlasst haben. Auch Keim bestreitet, dass Diocletian
durch äussere Gründe zur Christenverfolgung bewogen worden
und findet den Grund in seiner heidnischen Religion (Ueber-
tritt Constantins zum Christenthum 1862 p. 72 73).
Nachdem sich Diocletian zu einem Vorgehen gegen die
Christen entschlossen hat, wird der, welcher überall kraftvoll
und systematisch zu handeln liebt (,,Consilii semper alti non
nunquam effrontis" Hist. Aug. II 792), zum ersten Mal eine
Verfolgung einleiten, welche es auf die Vertilgung des christ-
lichen Namens, der, wie Diocletian immer deutlicher zu sehen
glaubt, zu dem römischen Namen in tödtlichem Gegensatz
steht, abgesehen hat.
Dass der ungebildete Cäsar sein christusfeindliches Zer-
störungswerk mit sachgemässer Einsicht anlegte, erklärt sich
341
wohl daraus, dass zwei heidnische Schriftsteller in Nikomedien
bei Diocletian in Ansehen standen (Lactanz Inst. V 2 lO 12,
De mort. pers. c. XVI). Das erste Verfolgungsedict Diocletians
befiehlt die Zerstörung der christlichen Kirchen und der heiligen
Schriften, das zweite legte die Vorsteher der christlichen
Gemeinden in Banden, das dritte wirft die gefangenen Vor-
steher auf die Folterbank zur Erzwingung der Verleugnung,
das vierte verordnet die Folter gegen alle Christen, um sie zur
Verleugnung zu nöthigen. Zum ersten Male tritt die Ver-
folgung auf mit einem festen Plan, und dieser Plan ist mittelst
des vollen Verständnisses des christlichen Organismus entworfen.
Die Kirchengebäude und die heiligen Schriften bilden die
materielle Unterlage der Gemeinden. Es entspricht der
heidnischen Weltanschauung, dass die Verfolgung mit diesem
Angriff beginnt und wähnt, durch Zerstörung der materiellen
Basis der Gemeinde sie selbst zerstören zu können. Es zeigt
sich bald, dass dies ein Irrthum war. Es bleiben die lebendigen
Führer und Leiter der Gemeinden. Man trenne dieselben von
den Gemeinden, heisst es nun, und lege sie ins Gefängniss.
Werden nun gar die Vorsteher zur Verleugnung gebracht,
dann ist die geistige Auctorität bleibend erschüttert. Immer
aber bleibt noch die christliche Volksmasse, diese soll nicht
nach dem Gesetz des Trajan und Marc Aurel hingerichtet
werden sondern soll die Marter erleiden bis zur Abschwörung
des christlichen Namens, denn erst durch den geistigen Selbst-
mord der Christen, durch die von der Folter erzwungene Ver-
leugnung Christi ist der hergebrachte und von den Christen
bekämpfte Cultus gesühnt.
Der gewaltige Apparat des von Diocletian neugeordneten
römischen Weltreiches (,,parens aurei saeculi"), an dessen Spitze
vier Kaiser und der Erste unter ihnen ein entschlossener, seiner
selbst bewusster Selbstherrscher, wird mobil gemacht zur Aus-
rottung des christlichen Namens von dem Erdboden. Zwar
war Einer der vier Kaiser, der über Gallien gebietende Con-
stantius Chlorus, gegen die Christen nachsichtig, aber auch
dieser konnte nicht umhin, die Christentempel dem Erdboden
gleich zu machen (Lactanz De mort. perseq. XVI). Die Gewalt
342
und List des mächtigsten Weltreiches schickt sich an zur
Vertilgung der Christenheit, und menschlichem Ansehen nach
ist keine Rettung vorhanden. Eusebius von Caesarea, der als
Augenzeuge diese Verfolgung erlebt und viele Urkunden über
diese Katastrophe gesammelt hat, berichtet, dass die Seele
vieler Christen durch die drohende Gefahr erschüttert worden
und beim ersten Anblick der Gewalt den Muth verloren
(H. E. VIII 13). Aber andererseits gab es unter den Christen
auch solche muthige Seelen, welche von vornherein erkannten,
dass jetzt die Hauptschlacht bevorstehe, in welcher entschieden
wird, ob Christus oder Cäsar als Herr der Welt gelten soll.
Lactanz, der in Nikomedien die Verfolgung erlebt hat, giebt
folgende Beschreibung: ,,Nemo huius tantae belluae immanitatem
potest pro merito describere, quae uno loco recubans, tamen
per totum orbem dentibus ferreis saevit et non tantum artus
hominum dissipat, sed et ossa ipsa comminuit et in cineres
saevit, ne quis exstet sepulturae locus" (cfr. Eusebius H. E.
IV 15). ,,Quis voluminum numerus capiet tam infinita, tam
varia genera crudelitatisr i\ccepta enim potestate pro suis
moribus quisque saeviit" (Inst. V 11 6—10). Eusebius hat im
achten Buch seiner Kirchengeschichte Berichte von standhaften
Märtyrern in dieser Verfolgung mitgetheilt und ausserdem
einen Tractat über die Märtyrer in Palästina geschrieben.
Einen Zug teuflicher Grausamkeit hat diese letzte Verfolgung
vervollkommnet. Im Einzelnen ist es auch früher vorgekommen,
dass man die Bekenner so folterte, dass man ihnen eben das
Leben fristete, um endlich das erwünschte Ziel, nämlich die
Verleugnung Christi, zu erreichen (Euseb. H. E. IV 39,
Octavius XXVIII). In der Diocletianischen Verfolgung machte
man ein Studium daraus, auf diese Weise, wie Lactanz sagt,
nicht zu tödten (Inst. V 11 11 — 16, Epitome LH 5, Euseb. H.
E. VIII 10 22). Der Bekenner Donatus, an den die Schrift
,,De mortibus persequutorum" gerichtet ist, hat neunmal die
Folter bestanden (c. XVI). Die Märtyrer in allen Städten und
Ländern während der letzten Verfolgung aufzuzählen, ist nicht
möglich, sagt Eusebius H. E. VIII 4, cfr. 6. Der Kaiser
Maximus gelobte vor der Schlacht dem Jupiter, falls er siegen
343
würde, den Namen der Christen 7a\ vertilgen und sie selbst
von Grund aus auszurotten (De mort. perseq. XLVI). Diesem
Kaiser und Jupiter zum Trotz berichten Augenzeugen, dass
Christus in seinen Gläubigen und Bekennern augenscheinlich
und thatsächlich sich behauptet hat. ,,Wir sind selbst dabei
gewesen, als wir die göttliche Kraft unseres Heilandes Jesu Christi
wahrnahmen, wie sie sich kräftig erwies in den Märtyrern",
schreibt Eusebius H. E. VIII 7. In der Thebais hat Eusebius
Männer, Weiber und Kinder mit Heiterkeit in den Tod gehen
gesehen (a. a. O. 9). Eusebius theilt einen Brief mit, in
welchem der nachherige Märtyrer Philios die entsetzlichen
Qualen der Christen in Alexandrien beschreibt, in diesem
Briefe nennt er diese standhaften Christen -/piatocpopoi, Christus-
träger, um anzudeuten, dass der in ihnen wohnende Christus
sie ausgerüstet habe, die unmenschlichen Martern zu ertragen
(Euseb. H. E. VIII 10). ,,Die Märtyrer stellten in sich selber
dar die augenscheinlichen Wahrzeichen der göttlichen und in
der That unaussprechlichen Kraft unseres Heilandes" (Euseb.
H. E. VIII 12). H. Richter spricht sich über diesen Sieg der
Christen in der letzten Verfolgung aus wie folgt: ,,Der Kern
der Christen zeigte eine Standhaftigkeit, die so hoch über dem
Heroismus der Schlachten steht, wie der Himmel über der
Erde" (Das weström. Reich p. 54).
Aber nicht bloss die Gläubigen sollen die Kraft Gottes in
den Märtyrern bewundern, diesmal sollen auch die Ungläubigen
von dieser Kraft überwältigt werden. Der Mächtigste unter
den Verfolgern ist der Erste, der von dem Kampfplatz scheidet
Am I. Mai 305 dankt Diocletian ab ,,curam rei publicae
abjecit", wie Victor sagt, und geht in die Einsamkeit, wo er
sein trauriges Ende gefunden. Diocletian mag auch sonst
Gründe zu seiner Abdankung gehabt haben, aber da er zwei
Jahre, von Februar 303 bis Mai 305, dem Kampf gegen das
Christenthum von seiner kaiserlichen Höhe herab zugeschaut
hat, so werden wir nicht irren, wenn wir annehmen, dass die
Erfahrung, welche er in diesem Kampf gemacht hat, wesentlich
zu dieser Veränderung beigetragen hat. Bei seiner Erfahrung
und bei seinem politischen Scharfblick musste Diocletian nach
344
dem zweijährigen Kampf erkennen, dass in den Christen eine
Kraft wohnte, welche den staathchen Gewaltmitteln gewachsen
war. Diese Erfahrung musste den stolzesten Cäsar, der über-
zeugt war, dass die Christen den Staat umstürzen (Burckhardt
Constantin p. 333) und den hergebrachten Cultus ausrotten
wollten, in innerster Seele erschüttern. ,,Die Verfolgungsgreuel,
welche erschütternd bis in das Haus des Kaisers verliefen,
sind die beste Erklärung der Krankheit und Abdankung"
(Keim Uebertritt Constantins p. 78). Wenn wir, so musste
ein Mann wie Diocletian denken, mit unserer ganzen Reichs-
gewalt diesen kleinen gotteslästerlichen, hochverrätherischen
Haufen nicht bezwingen können, dann ist ja unsere jovische
und herculische Cäsarmacht ein nichtiger Schein, werth ihn
abzuthun und wegzuwerfen. Wir wissen, dass Diocletian un-
befangen genug war, um Wesen und Schein der Herrschaft zu
unterscheiden. Diocletian, verzagend in dem Kampf der
Gewalt gegen den Glauben, zieht sich zurück in die Einsam-
keit, gleichwie in späterer Zeit ein Kaiser, in dessen Reich die
Sonne nicht unterging, und der sich auch vermass, den Geist
Christi mit Gewalt zu dämpfen, der Krone überdrüssig wurde,
sie niederlegte und in dem Kloster Set. Yuste seine letzten
Tage trübe zu Ende brachte.
Was Diocletian stillschweigend anerkannte, musste sein
College Galerius förmlich und feierlich der Welt kund thun.
Dieser grimmige Christenfeind, in Folge seiner Wollust auf
das qualvollste Lager hingeworfen, erliess 311 ein Edict, in
welchem er offen gestand, dass der Zwang, vermittelst dessen
die cäsarische Gewalt die Christen zu dem hergebrachten
Cultus zurückzuführen beschlossen hatte, Viele getödtet, bei
den Meisten aber erfolglos geblieben (Euseb. H. E. VIII 17,
Lactanz De mort. pers. XXXIV). Welch' ein Geständnissl
Man muss die Welt aufwecken, dass sie höre und zu Herzen
nehme dieses Cäsarwort ! Die stolze Cäsargewalt bekennt sich
öffentlich ohnmächtig, ja überwunden von der christlichen, seit
Jahrhunderten verachteten und verfolgten Minorität in einer
Angelegenheit, die seit Jahrhunderten gesetzlich geordnet war,
in welcher man die gefeiertsten Kaiser Trajan und Marc Aurel
345
auf seiner Seite hatte. Die zweite gewaltige Neuerung in
diesem Edicte ist die Verkündigung der Toleranz ,,indulgentiam
nostram credidinius porrigendam, ut denuo sint Christiani et
conventicula sua componant." Existenz und Name der
Christen galt seit Jahrhunderten als Reichsfeindschaft und
Staatsgefahr. Jetzt wird ihnen im römischen Reich Duldung
gewährt! Ja, noch tiefer beugt sich der Kaiser vor der
Christenheit. Die Christen haben zum Beweise ihrer Loyalität
sich darauf berufen, dass sie für das Heil des Kaisers beteten.
Diese Berufung wie alle andere Vertheidigung wurde bisher
für Nichts geachtet. Jetzt nimmt Galerius das christliche Gebet
,,pro Salute nostra et reipublicae ac sua" in Anspruch. ,,Juxta
hanc indulgentiam debebunt Deum suum orare pro salute
nostra et reipublicae et sua, ut undique versum res publica
perstet incolumis et securi vivere in sedibus suis possint"
(Lactanz De mort. pers. XXXIV).
Ohne Zweifel bezeichnet das Edict des Galerius das
Heranrücken eines grossen weltgeschichtlichen Wendepunktes.
Aber noch unzweifelhafter muss die Entscheidung in dem
grossen Streitpunkt ans Licht treten. Obwohl Galerius sich
den Christen gegenüber geschlagen bekennt, obwohl er ihnen
Duldung gewährt und ihr Gebet in Anspruch nimmt, ist doch
ein Rest der alten cäsarischen Anmassung des Pontifex
Maximus, welchen Titel Galerius nach Eusebius H. E. VIII 17
sich auch in der Ueberschrift dieses seines Edictes beilegt,
übrig geblieben. Denn er erlaubt sich eine Kritik über das
religiöse Verhalten der Christen, die er der Thorheit beschuldigt,
weil sie die Sitte ihrer Väter verlassen und sich demnächst
eine willkürliche Ordnung eingerichtet hätten.'^*) Es ist daher
*) Keim findet in dem Edict des Galerius das Bestreben, die Christen
zu ihrer ursprünglichen Einheit im Gegensatz zu dem eingerissenen Sectenwesen
zurückzuführen (Theol. Jahrb. 1852 207 — 259}. Allein wenn auch die litera-
rischen Polemiker gegen das Christenthum Kunde hatten von den Secten, aus
dem Edict von Mailand 313 ergiebt sich, dass die officielle Anschauung die
Christenheit als eine corporative Einheit auffasst. Nicht das Sectenwesen ist
dem Cäsar anstössig, sondern die Abwendung des Heidenchristenthums von dem
ursprünglichen Judenchristenthum (Augustinus C. J). XIX 23).
346
von grösster Bedeutung, dass das Rescript des Galerius durch
ein anderes höheres cäsarisches Gesetz verbessert und vervoll-
kommnet worden ist, nämHch durch das berühmte Edict der
beiden Kaiser Constantinus und Licinius, erlassen in Mailand
313 (Euseb. H. E. X 5, Lact. De mort. pers. XLVIII). Man
nennt dieses Document gewöhnlich ,,Toleranzedict". Aber
H. Richter hat Recht, wenn er sagt, dass man dieses Edict
nicht sowohl ein Toleranz-, als vielmehr ein ,,Freiheitsedict"
nennen muss, weil es das ganz neue, eigentlich unantike christ-
liche ^rincip allgemeiner Religions- und Gewissensfreiheit ein-
führt (Das weström. Reich p. 668). Denn ,,ohne das Christen-
thum wäre das Princip der Glaubens- und Gewissensfreiheit
nie in die Welt gekommen, hat es doch überhaupt erst den
Glauben zu einer Gewissenssache gemacht'"-') (a. a. O. p. 65).
Es ist wiederum die Folge von dem Mangel an principiellem
Verständniss der hier vorhandenen weltgeschichtlichen Krisis,
dass Burckhardt behaupten kann, in dem Edict von Mailand
wäre nicht einmal etwas Neues enthalten (Die Zeit Constantins
p. 363). Galerius hatte dem ,,arbitrium" und ,, libitum" in der
Religion Duldung versprochen, während bis dahin in dem
Religionswesen Alles vom Staat entweder geboten oder ver-
boten war. In dem cäsarischen Edict von Mailand ist die
Freiheit in der Religion der Grundton. Eusebius hat dieses
Edict aus dem Lateinischen übersetzt, hat aber seiner Ueber-
setzung einen Zusatz voraufgeschickt, aus dem man ersieht,
dass dem Edict vom Jahre 313 ein anderes ähnlichen Inhalts
voraufgegangen ist, in welchem die Religionsfreiheit bereits
unumwunden ausgesprochen war: ,,^vir haben erkannt", heisst
es, ,,dass die Freiheit der Gottesverehrung nicht länger zu
versagen ist." Aus dem weiteren Zusatz des Eusebius ersieht
*) Obwohl auch Keim das Edict von 313 ein Toleranzedict nennt, so
corrigirt er diese Bezeichnung durch die Erklärung: der Staat spricht den
Grundsatz völliger Religionsfreiheit aus für die Christen und für Jedermann aus
Rücksicht der inneren Ruhe (Theol. Jahrbücher 1852 p. 236). Noch deutlicher
schreibt Keim 1862: „das Mailänder Religionsedict mit dem genialen und
welthistorischen Gedanken der allgemeinen Religionsfreiheit lag hoch über den
kirchenpolitischen Gesetzen Constantins" (Uebertrilt Constantins p. 48).
347
man nun, dass das frühere Edict Vielen noch nicht genügt
habe, um von dieser Freiheit Gebrauch zu machen ; um diesen
nunmehr volle Sicherheit zu gewähren, sei das Edict vom
Jahre 313 erlassen. Wir müssen uns daran erinnern, wie streng
der Grundsatz des Zwanges und der Stabilität in religiösen
Dingen festgehalten wurde, dass der Kaiser, von Julius Cäsar
an, das ganze Religionswesen in seiner Hand hatte, dass vor
Allem das Christenthum nach gesetzlicher, juristischer und
moralischer Auffassung als eine Neuerung angesehen wurde,
welche das Gewissen und damit die bestehende Grundordnung
in ihren Fundamenten erschüttern muss. Man muss sich
gegenwärtig halten, dass diese Auffassung durch ein blutiges
und grausames Verfahren drei Jahrhunderte hindurch den
Gemüthern und, so zu sagen, dem Erdboden des römischen
Reiches eingeprägt worden ist. Wenn man dieses Alles im
Auge behält, dann kann man ermessen, welch' eine radicale
innere Umwandlung muss vorgegangen sein, ehe die Cäsaren
eine solche Sprache führen konnten, wie wir in dem Edict
von Mailand vernehmen. '"')
Um keinen Zweifel übrig zu lassen, kann sich dieses
zweite Edict vom Jahre 313 nicht genug darin thun, die all-
gemeine Religionsfreiheit nachdrücklich und wiederholentlich
zu verkündigen. ,,Ut daremus et Christianis et omnibus liberam
potestatem sequendi religionem, quam quisque voluisset. Ut
nulli omnino facultatem abnegandam putaremus, qui vel
Observation! Cliristianorum vel ei religioni mentem suam
dederet, quam ipse sibi aptissimam esse sentiret. Divinitatis
summae religioni liberis mentibus obsequimur. Intelliget dignatio
tua, etiami aliis (praeter Christianis) religionis suae vel obser-
vantiae potestatem similiter apertam et liberam pro quiete
temporis nostri esse concessam, ut in colendo quod quisque
delegerit habeat liberam facultatem." Insbesondere wird aus-
drücklich den Christen die Religionsfreiheit zugesprochen,
*) Keim mag darin Recht haben, dass in dem von Eusebius angedeuteten
früheren Edict der Uebertritt vom Heidenthum zum Christenthum nicht aus-
drücklich in die Religionsfreiheit einbegriffen war.
348
natürlich deshalb, weil ja der Religionszwang seit zweihundert
Jahren vor Allem gegen die Christen gerichtet war. Während
Rom Jahre lang die monströse Neuerung des Sonnendienstes
unter Heliogabal ertrug, decretirten die tugendhaften Kaiser
Trajan und Marc Aurel, dass das Bekenntniss zum Christen-
thum mit dem Tode zu bestrafen sei. Darum werden hier
ausdrücklich die früheren Rescripte gegen die Christen auf-
gehoben. Die sowohl negativ als positiv denselben Gedanken
enthaltenden Sätze beweisen, dass die Cäsaren hier nicht eine
lediglich äusserliche Zurücknahme der früheren Verfolgungs-
edicte decretiren, sondern dass sie ihre Auffassung über diese
Angelegenheit gründlich geändert haben. Offenbar vertreten
diese Kaiser hier die richtige Vorstellung, dass der Sturm des
Hasses und der Verfolgung, der durch die früheren Edicte
heraufbeschworen ist, nicht durch die blosse Zurücknahme
jener Edicte beschwichtigt wird, wie denn in der That auch
nach 313 viele Verfolgungen und Gewaltthaten gegen die
Christen im römischen Reich noch vorgekommen sind. Man
vergegenwärtige sich nur, um welchen Gegensatz es sich hier
handelt. Zwei Jahrhunderte hindurch ist Verbot und Zwang
bei Todesstrafe gegen das Christenthum aufrecht erhalten, weil
man Beunruhigung und Erschütterung der Gemüther fürchtete,
jetzt wird dem Christenthum Freiheit gewährt im Interesse
der öffentlichen Ruhe und Wohlfahrt ! Weil es den beiden
Kaisern um die öffentliche Ruhe (,,ut quieti publicae consulatur")
zu thun ist, so wird dem Präses, an den das Rescript gerichtet
ist, aufgegeben, dass er gegen etwaige Störungen und
Hinderungen der den Christen nunmehr gewährten Freiheit
Vorkehrungen treffen solle. Demselben Zweck dient auch die
am Schluss des Edicts ausgesprochene Verfügung, dass dieser
kaiserliche Erlass öffentlich bekannt gemacht werden soll.
Um einem naheliegenden Missverständniss vorzubeugen,
mu.ss aber bemerkt werden, dass dieser der Freiheit der
Christen gewidmete Nachdruck des Rescripts nicht eine staat-
liche Bevorzugung des Christenthums bedeutet. Das Edict
behauptet den Standpunkt des staatlichen Indifferentismus für
die religiöse Frage, den correcten Standpunkt der wahren
349
Religionsfreiheit, welcher Standpunkt nicht die Religion gering-
schätzt sondern im Gegentheil im wahren Verständniss der
Religion das höchste Heiligthum der Menschheit in die innere
Sakristei verlegt, zu der nur Gott den Zugang hat.
Die Anerkennung und Verkündigung der Religionsfreiheit
giebt der Weltanschauung der beiden Kaiser ein neues Licht.
Kein Privilegium, aber Gerechtigkeit soll den Christen werden.
Das was ihnen an Grund und Boden genommen ist, soll ihnen
wieder gegeben werden, und der kaiserliche Fiscus soll im
Nothfall die Zurückerstattung ermöglichen. Die Sinnesände-
rung ist so ernstlich gemeint, dass sie sich gedrungen fühlt,
früheres Unrecht thatsächlich wieder gut zu machen. Früher
erschien den Heiden die brüderliche Liebe und Gemeinschaft
wie eine gefährliche Verschwörung, jetzt nennt das Mailänder
Rescript die Christenheit viermal ,, Corpus", mit welchem
bedeutungsvollen Ausdruck auch der Apostel Paulus die
Christengemeinde bezeichnet. Die neue Religionsfreiheit gewährt
auch einen neuen und reineren Gottesbegrifif. Bisher war die
Vorstellung, dass die Gottheiten ihren Cultus mit Zwangs-
gewalt aufrecht zu halten geboten, auf diesem Standpunkt war
Freiheit der Religion und des Cultus gottloser Ungehorsam
gegen die Götter, eine Vorstellung, welche die Christen-
verfolgung als einen Act der Frömmigkeit vertheidigte und
rechtfertigte. Das Edict von Mailand ist soweit entfernt,
wegen der Religionsfreiheit den Zorn der Götter zu fürchten,
dass es vielmehr von dieser Freiheit einen Segen der wahren
Gottheit, die hier nicht definirt wird, erwartet. Endlich, sowie sich
die Vorstellung der Gottheit verklärt, so ergiebt die Religions-
freiheit auch einen geläuterten Begriff vom Staatswesen. Das
Edict hat von vornherein den höchsten Staatszweck im Auge:
,,universa quae ad commoda et securitatem publicam pertinent"
und schliesst mit dem Gesichtspunkt ,,ut quieti publicae con-
sulatur". Das Edict sieht nun in der Feststellung der Religions-
freiheit denjenigen Gegenstand, dessen Ordnung für den Staats-
zweck das Vornehmste ist: ,,haec inprimis ordinanda esse
credidimus, quibus divinitatis reverentia continebatur". Bis
dahin galt die Zwangsordnung in der Religion und in dem
350
Cultus für die vornehmste Säule des Staatswesens, wenn die-
selbe erschüttert wird, das war die allgemeine Ueberzeugung,
dann muss Alles übereinander stürzen. Und jetzt erwarten die
beiden Cäsaren Glück und Gedeihen für das Reich, wenn
Religion und Cultus Jedermanns Urtheil und Wahl frei gegeben
wird. Dieses Edict ist in seinen Hauptsätzen die cäsarische
Anerkennung dessen, was die christlichen Lehrer bisher mit
Nachdruck verkündigt und gefordert haben, was aber der
Hochmuth und die Herrschsucht des Cäsarismus verachtet hat.
Freilich war die Forderung der Freiheit in der Religion und
für die Religion eine vor Christus in der Welt unerhörte
Sprache. In der antiken Welt hatte die Freiheit einen hohen
Klang, aber es war die politische Freiheit ; in dem Religions-
wesen galt das Herkommen als höchstes Gesetz. Die politische
Freiheit war einst vorhanden, aber sie konnte sich durch sich
selbst nicht erhalten, sie ist längst vom Cäsarismus verschlungen.
Soll die Freiheit leben, so muss sie tiefer begründet werden.
Christus wendet sich an die einzelne Seele und fordert persön-
liche Selbsthingabe auch auf die Gefahr des Gegensatzes gegen
die Bande des Bluts und gegen die Auctorität der Gewalt.
Was Christus fordert und was er schafft, das ist Freiheit der
Seele vor Gott und in Gott. Was Christus vorhergesagt, die
Weisheit und die Gewalt der Welt werde sich dieser seiner
Forderung an die Seelen w^ider.setzen, das erfolgte in vollem
Umfang auf dem Boden des römischen Reichs. Aber um so
nachdrücklicher vertheidigten und begründeten die christlichen
Lehrer dieses Princip der christlichen Freiheit. Die christ-
lichen Apologeten bekämpften das von den Heiden gegen die
Christen angewandte Verfahren nicht bloss als unvernünftig
sondern auch als irreligiös. ,,Sed nee religionis est, cogere
religionem, quae sponte suscipi debet non vi" (Tertullian, ad
Scapulam XI). ,,Irreligiositatis est, adimere libertatem religionis."
Am nachdrücklichsten und überzeugendsten hat das Princip der
Freiheit in der Religion Lactanz, der den letzten Kampf zwischen
Christenthum und Cäsarthum als Augenzeuge erlebt hat, vertreten.
Sehr richtig und scharf bezeichnet Lactanz, was vor Allem
dieser Freiheit entgegensteht. ,,Homines furiosi et impotentes
351
minui dominationem suani putant, si sit aliquid in rebus
humanis liberum" (Epitome LIV i). Wer anders als der
römische Cäsar ist so wahnsinnig und seiner selbst nicht
mächtig, 7A\ meinen, dass seine Herrschaft verkürzt wird, wenn
überhaupt Etwas in menschlichen Dingen frei ist? Dieser
cäsarische Wahn muss sich vor allen Dingen gegen die Frei-
heit in der Religion auflehnen, da die wahre Religion ein
Gebiet ist, welches allen Zwang ausschliesst, wie schon der
erste Bericht eines römischen Beamten über das Christenthum
bezeugen muss: ,, Nihil cogi posse dicuntur, qui sunt re vera
Christiani" (Plin. Ep. X 97). Dem Satz über den cäsarischen
Wahn, dass jede menschliche Freiheit eine Beschränkung der
Cäsarherrschaft sei, fügt Lactanz das grosse Wort hinzu:
,, religio sola est, in qua libertas domiciHum collocavit ; res
est enim praeter ceteras voluntaria, nee imponi cuiquam
necessitas potest, ut colat, quod non vult" (Epit. LIV i).
Lactanz will sagen, die Freiheit ist entschwunden und verloren,
so denken seit Augustus die Edelsten und Besten, aber was
diese nicht wissen, das verkündigt Lactanz: ,,es giebt noch
eine Heimath, wohin sich die Freiheit geflüchtet hat, das ist
die Religion, in diesem Heiligthum waltet die Freiheit, und von
da kann sie sich auch wieder ausbreiten in die Welt hinein.
Diese grosse Lehre von der christlichen Religionsfreiheit hat
ein christlicher Prinzeninstructor am cäsarischen Hofe vor-
getragen. Was aber mehr sagen will, ist dieses, dass die
beiden römischen Kaiser in Mailand diese Lehre als die ihrige
dem römischen Reich amtlich kundgethan haben. Das grosse
Weltgesetz, das Jesus einst injudäa aufgestellt: ,, gebet dem Kaiser,
was des Kaisers ist, Gott was Gottes ist", wird hier in Mailand
von den beiden Cäsaren thatsächlich anerkannt. Der Cäsarcultus
war ein Eingriff in die göttliche Prärogative, weil er Allem,
was Gott in menschlichen Dingen frei gelassen, seinen Stempel
aufdrückt, der Cäsarcultus ist vor Allem ein Raub an der
Gottheit, weil er die einzige Zuflucht, welche für die Freiheit
noch vorhanden ist, das Heiligthum der Religion durch Zwang
und Gewalt zerstört. Hier anerkennen die beiden Cäsaren,
schämen und scheuen sich nicht, ihre christusfeindlichen Zwangs-
352
edicte öffentlich /ai cassiren, aber nicht bloss das, sie erklären
wiederholt und feierlich, dass sie die Religion als ein Heilig-
thum betrachten, dessen Schwelle keine Gewalt überschreiten
darf. Damit legen sie ihre bisher angemasste Gewalt zu
den Füssen Gottes nieder, sie geben Gott, was Gottes ist. Durch
diese Selbstentäusserung bereiten die Cäsaren dem Kaiserthum
seine berechtigte Stellung und Bedeutung für die Christenheit.
Gleicherweise ist die Bezeichnung der Christenheit als
eines ,, Corpus" von den beiden Cäsaren nicht erfunden sondern
von der Lehre und dem Leben der Christen angeeignet. In
der Welt gilt die Regel : ,,wo die Ungerechtigkeit überhand
nimmt, wird die Liebe erkalten." So hat die Ungerechtigkeit
gegen Sokrates die Liebe zum Vaterland in Plato und
Xenophon erstickt; als Cäsars Zorn wider Ovid entbrannte,
wollte von seinen Freunden ihn Niemand weiter kennen, und
Neros Grausamkeit gegen Seneca hat den Neffen Lucanus zur
ehrlosen Feigheit verführt. In der Christenheit der ersten
Jahrhunderte zeigte sich das Gegentheil. Der Spötter Lucian
beschreibt, wie die verfolgten und eingekerkerten Christen
nicht gemieden sondern mit grossem Eifer geehrt und gepflegt
wurden, und während zweier heftiger Verfolgungen verband die
christliche Liebe Morgenland und Abendland, wie uns dies
heute noch in brieflichen Documenten vorliegt. Der bedeut-
same Ausdruck ,, Corpus" von der Christenheit hat das Edict
von Mailand aus der christlichen Sprache entlehnt. Tertullian
schreibt: ,, corpus sumus de conscientia religionis et disciplinae
divinitate et spei foedere" (Apol. XXXIX). Cyprianus :
catholicae ecclesiae corpus unum" (Ep. XLI, LXII). Lactantius :
,,populus noster conjunctus mente est et cohaeret sicut unus
homo" (VI 12 38). Die Cäsaren haben ohne Zweifel in den
Jahren der Verfolgung an den Christen Manches gesehen und
gehört, was ihnen diese corporative Solidarität derselben an-
schaulich machte.
Die weltgeschichtliche Haupturkunde von Mailand ist das
offene Bekenntniss der höchsten weltlichen Macht, dass der
Bann, der auf der antiken Menschheit liegt, gebrochen ist.
Was noch an gei.stiger und sittlicher Kraft der ursprünglichen
353
Menschheit vorhanden ist, das ist Alles gefährdet durch zwei
feindliche Gewalten, mittelst welcher der Feind Gottes und der
Menschheit sein Verführungswerk vollenden und seine Herrschaft
über die Menschheit krönen will. So selbstbewusst ist der
Cäsarcultus noch nie aufgetreten wie in Diocletian, von dem
Victor schreibt: namque se primus omnium Caligulam post
Domitianumque dominum palam dici passus et adorari se
appellarique uti Deum". Und an dem cäsarischen Hofe dieser
Zeit herrschte schamlose Unzucht und Wollust, dieses unaus-
rottbare Erzeugniss des Baalcultus (De mort. pers. VIII, XXI,
XXVII, XXXVIII, Euseb. H. E. X 7). Gegen diese beiden
Ungeheuer besteht die Militia Christi den letzten Kampf und
gewinnt nach dem offenen Zeugniss der höchsten Auctorität
der Welt den Sieg. Obwohl das Edict von Mailand keine
Silbe enthält über den Widerstand und das Blutzeugniss der
Christen, so ist doch ganz offenbar dieses Edict von Anfang
bis zu Ende dictirt von dem Geist des christlichen Martyriums.
Man hat gesagt : alle grossen weltgeschichtlichen Urkunden
sind mit Blut geschrieben. Eine der denkwürdigsten Urkunden
der Weltgeschichte ist das cäsarische Edict von Mailand 313.
Diese Urkunde ist geschrieben mit dem Blut der christlichen
Märtyrer in den drei ersten Jahrhunderten.
Das Martyrium Senecas ist bei aller Würdigkeit und
Ehrenhaftigkeit unfruchtbar, das beweist vor allem Anderen
der orientalische Hof Diocletians. Das Martyrium der Christen
stürzt den Cäsarcultus, nachdem derselbe seine ganze Kraft
zusammengefasst hat. Jetzt werden wir den specifischen
Unterschied zwischen beiden Martyrien gründlich erkennen
und damit die unendliche Erhabenheit des Christenthums über
das höchste moralische Vermögen der natürlichen Menschheit,
als dessen vornehmster Repräsentant sich uns L. Seneca dar-
gestellt hat, behaupten können.
Nach Clemens Alexandrinus haben alle Christen ohne
Unterschied, nämlich Männer und Frauen, Freie und Sclaven,
Alte und Junge gleichen Beruf zum Martyrium (Strom. IV 9).
Und so zeigt es sich auch in den ersten christlichen Jahr-
hunderten ; beispielsweise gehören die Martyrien der Sclavin
23
354
Blandina in Lyon und der jungen Patricierin Perpetua in
Carthago zu den leuchtendsten Proben des christlichen Helden-
muthes. Selbst Gibbon, auf den sich Hausrath für seine
tendenziöse Bemängelung des christlichen Martyriums beruft,
erkennt in dem christlichen Martyrium einen hohen providen-
tiellen Zweck für die Welt. ,,Primitiv^e saints and martyrs
sacrificed their lives for the important propose of the intro-
ducing Christianity into the world" (II 404). lieber das
wirkliche Verhältniss zwischen dem Martyrium und der
Einführung des Christenthums werden wir nun nicht von
Edward Gibbon näheren Aufschluss erwarten, wohl aber von
den christlichen Lehrern, welche dem grossen Kampf bei-
gewohnt und an demselben mit ihrer Feder oder auch mit
ihrem Blute betheiligt gewesen sind. Diese ehrwürdigen
Lehrer erkennen in dem Martyrium ein Geheimniss, aber ein
Geheimniss, das mit der göttlichen und menschlichen Vernunft
im Einklang steht. Tertullian schreibt: ,, nihil Deus non
ratione praecipit". Und noch allgemeiner: ,,res Dei ratio
est, quia Deus omnium conditor nihil non ratione tractari
intelligique voluit" (De poenit. I). Diese ratio Dei ist aber, wie
ausdrücklich bemerkt wird, nicht auf der Oberfläche sondern
,,in medulla et plerumque aemula manifestis". Da nun auch
dem Menschen die Vernunft innewohnt (Octavius XVI, XVII),
so ist der Mensch, wenn er nur nicht an der Oberfläche hängt,
fähig, die göttliche Vernunft zu begreifen, also auch den gött-
lichen Grund in der Vorschrift des Martyriums zu verstehen.
Das göttliche Gebot des Blutzeugnisses ist also nicht ein
Gesetz für Knechte oder für Unmündige, welche den Willen
des Herrn nicht verstehen, sondern für Freunde, welche in den
Sinn des Vorgeschriebenen eingeweiht sind. ,,Non intelligitis
6 miseri, neminem esse, qui aut sine ratione velit poenam
subire aut tormenta sine Deo possit sustinere" (Octav. XXXVII).
Dasjenige nun, was das Martyrium veranlasst, ist das Bekenntniss
zu Christus. In Christus wird daher der innere und vernünftige
Grund zum Martyrium liegen. Die göttliche \'orschrift des
blutigen Zeugnisses ist zunächst die oft wiederholte Vorschrift
Christi (Tertull. Scorp. c. IX). Aber was mehr besagt, Christus
355
selber ist auf diesem Wege vorangegangen. ,,Du Ambrosius",
schreibt Origenes, ,, wirst wie ein Opferthier im Aufzug geführt,
tragend das Kreuz Jesu und ihm folgend, der vorangehend
dich hinführt zu den Obrigkeiten und Königen, damit er mit
dir gehend dir v^erleihe Mund und Weisheit" (Cohort, ad
Martyrium XXXVI). Hier ist mehr als Gebot und Beispiel,
was an sich noch keine Kraft verleiht, das Gebot zu befolgen
und dem Beispiel nachzukommen. Es giebt einen thatsächlichen,
einen wesentlichen Zusammenhang zwischen Christus und den
Gläubigen. Die Gotteskraft, die in Christo wohnt, wird uns
durch Christus vermittelt (Just. Dial. CXVI). Aber nicht
bloss die Kraft Gottes ist durch Christus in die Christen über-
gegangen, sie sind durch Christus neugeboren, sind also seines
Wesens theilhaftig (Justin. Apol. I 6r). Und wenn Einer
•Christus bekennt, so ist er nicht für sich, auf sich beschränkt,
sondern er ist Christi, ihm thatsächlich angehörend (Tertull.
Scorp. IX). Eusebius, der den letzten und schwersten Kampf
an verschiedenen Orten angeschaut, bezeugt: ,,die Märtyrer
stellten in sich selber dar die augenscheinlichen Wahrzeichen
der göttlichen und wahrhaft unaussprechlichen Kraft unseres
Heilandes" (H. E. VIII 12); ,,wir sind selber dabei gewesen,
als wir die göttliche Kraft unseres Heilandes Jesu Christi wahr-
nahmen, wie sie sich kräftig erwies an den Märtyrern" (H. E.
VIII 7). In der Marter ist der Christ mit Gott verbunden
(Octav. XXXVII). Da nun die Geheimnisse Gottes sich in
der Menschheit auswirken sollen (,,In genere humano perficiuntur
mysteria Dei" Irenäus V 36 3), so ist das christliche Martyrium,
in welchem sich die göttliche Kraft Christi und die Gegenwart
Gottes der Welt auf die augenscheinlichste Weise offenbart,
ein Höhepunkt in der Geschichte der göttlichen Geheimnisse
und beweist somit durch sich selber seinen göttlichen Grund
und seine weltgeschichtliche Bedeutung. Cäsar macht seine
weltliche Allgewalt mobil, um den christlichen Namen auszu-
rotten, da offenbart Christus vor allen Tribunalen und vor
dem ganzen Volk des römischen Reiches in den Qualen der
Märtyrer seine göttliche überweltliche Kraft, vor deren Wirkung
Gäsar sich schliesslich beugen muss. Diese Gotteskraft Christi
23*
356
in den Märtyrern ist die Signatur des christlichen Martyriums
im Unterschied von dem Martyrium Senecas, welches darum
keine Wirkung hat, weil ihm der überweltliche Archimedische
Stützpunkt fehlt.
Philios, selbst Märtyrer, nennt, wie schon erwähnt, die
Märtyrer Christusträger als Solche, in denen Christus lebt
(Euseb. H. E. VIII lo). Die Gemeinde von Lyon sagt voa
der Blandina, sie habe Christum, den grossen Athleten an-
gezogen (Euseb. H. E. V 2 43), von dem Märtyrer Sanctus,
Christus habe in ihm leidend grosse Herrlichkeit vollbracht
(ibid. V 2 23). Alle drei Aussagen haben denselben Sinn, sie
bezeichnen kurz und bündig das Hauptmerkmal des christlichen
Martyriums, darin bestehend, dass Christus selber in seinen
Blutzeugen mit seiner göttlichen Kraft gegenwärtig ist.
Diese geheimnissvolle Thatsache ward den ältesten Christen
auf zwiefachem Wege vermittelt. Irenäus nennt Christum den
Meister des Martyriums. ,,Per omnia martyrii magisti-um
imitans", heisst es von Stephanus (Iren. III 12 13). Das Ur-
martyrium Christi ward den Christen vornämlich dadurch
verständlich, dass die äussere Weltlage für Christum und für
.seine Jünger in den ersten Jahrhunderten im Wesentlichen
dieselbe war. Christus ist zuerst dem Hass der Juden aus-
gesetzt, und dieser jüdische Hass setzt sodann die feindliche
Macht der Heiden in Bewegung. Beides zusammen bewirkt
das Kreuz Christi. Dieser Hass der Juden überträgt sich auf
die Christen in den ersten Jahrhunderten, wie die Geschichte
des Paulus, die Anfänge der Gemeinde zu Thessalonich und
das Martyrium des Polycarp beweisen. In dem Masse jedoch,
als die Wirkung des jüdischen Ha.sses auf dem ausserpalästinen-
sischen Gebiete schwächer wird, verschärft sich die Feindschaft
der Heiden, nachdem sie in mehr unmittelbare Berührung mit
dem Geiste Christi gekommen sind. Wie die Träger des
widerchristlichen Hasses dieselben sind, so ist auch der
Charakter dieses christenfeindlichen Hasses derselbe. ,,Sie
hassen mich ohne Ursach", so heisst es zur Zeit Christi, so
heisst es noch in den Tagen des Irenäus. Es ist ein Hass der
Unvernunft und der Unmenschlichkeit, es ist ein Hass der
4) •' >"
reinen Bosheit, die nicht auf ursprüngHch menschhchem Boden
^gewachsen ist, sondern ein aussermenschliches Böse zum
Urheber hat. Unsere EvangeHen lassen in der Erzählung von
den letzten Tagen Christi, in welchen sich das Böse in der
Welt vollendet, den Namen des Urfeindes aus dem verschwiegenen
Dunkel der Geschichte mit Nachdruck hervortreten. Und die
christlichen Gemeinden in Kleinasien, in Rom, in Gallien, in
Africa haben den dämonischen Hintergrund in der heidnischen
Verfolgungswuth in innerster Seele erfahren. So ward das
wirkliche Kreuz Christi den Christen der ersten Jahrhunderte
thatsächlich nahe gebracht.
Ein zweites wesentliches Hülfsmittel für die ersten Christen,
das innere Geheimniss des Martyriums, die göttliche ratio der-
selben zu verstehen, das war ihre Herzensstellung zum Alten
Testament. Allerdings in Kritik und Exegese der alttestament-
lichen Schriften war die erste Christenheit schwach, aber was
vielen Kritikern und Exegeten auch in unserer Zeit abgeht,
was aber wesentlicher ist als der gelehrte Apparat, das ist die
Herzensstellung zu dem Hauptinhalt dieser heiligen Bücher.
Hier sind niedergelegt die Grundzüge zu dem grossen Drama,
welches heisst die Menschheitsgeschichte. Hier stehen die
-ewigen Marksteine, welche scheiden Gott und Teufel, Gutes
und Böses, Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, Licht und
Finsterniss, Freiheit und Knechtschaft, endlich Seligkeit und
Verdammniss. Sodann ist hier ein Aufriss gegeben zu dem
grandiosen Gang, der den Kampf dieser Gegensätze von den
ersten Anfängen bis zu dem Siege vor den Thoren der Ewig-
keit hindurchführt. Es kommt darauf an, den Muth zu besitzen,
der dem heiligen Ernst dieses Herz und Nieren prüfenden
Dramas ins Angesicht schaut und diesem Anblick gegenüber
Stand hält Tag und Nacht. Wer diesen Muth nicht besitzt,
dem bleiben diese Heiligthümer bei allem sonstigen Wissen
ein sinnverwirrendes Labyrinth. Diesen Muth hatten die ersten
Christen, und darum war das Alte Testament bei aller sonstigen
Unwissenheit und allen Fehlgriffen ihnen eine Leuchte auf
ihrem dunklen Wege durch die Welt und zu dem sieghaften
Martyrium, denn es zeigt ihnen Anfang und Ende und in der
358
Mitte den Knecht Jehovas, der durch Leiden zur Macht und
HerrHchkeit gelangt.
Die Gleichheit der Weltlage und das Licht der alttestament-
lichen Offenbarung und Schrift machen das Martyrium Christi
als die einzige Quelle alles Heiles dem schlichten, unver-
künstelten menschlichen Bewusstsein verständlich. TertuUian
lehrt, wie wir gesehen, dass das Martyrium der Gläubigen irr
der göttlichen Vernunft seinen Grund hat, nur muss man
diesen Grund nicht auf der Oberfläche sondern in tiefer Inner-
lichkeit suchen. Dieser göttliche verborgene Grund wird auf-
gedeckt durch die Ursache und durch die Beschaffenheit des
Martyriums Christi, und Irenäus ist es, den wir als Repräsentanten
des altchristlichen Bewusstseins über Ursache und Beschaffen-
heit des Urmartyriums zu betrachen haben. Irenäus, in Kiem-
asien geboren, hat als Knabe den Polycarpus, den Schüler des
Johannes, den Märtyrer, in Smyrna gesehen und erinnert sich
seiner im Alter (Euseb. H. E. V 20), er ist bekannt, mit
Ignatius (Adv. Haeres. V 28 9), mit Papias (V 33 4), mit
Justinus (IV 6 2), ist in der Gemeinde zu Lyon während der
grausamen Verfolgung ein angesehener ]\Iann (Euseb. H. E.
V 4), ist vertraut mit dem Matyrium des Sanctus und der
Blandina (Irenaei Opp. ed. Stieren I p. 832), endet als Nach-
folger des Bischofs und Märtyrers Pothinus und selber als-
Märtyrer (Hieronymus ad Jes. LXIV : Irenaeus apostolicus
episcopus Lugdunensis et martyr). Dieser apostolische Mann^
wie Hieronymus ihn nennt, hat die ersten Grundzüge für eine
christliche Geschichtsphilosophie gezeichnet. Wir haben als die
ahnungsvollste Anschauung des Heidenthums die Darstellung
der vollkommnen Gerechten von Plato und Seneca erkannt.
Auch das Alte Testament zeigt uns den vollkommnen Gerechten
in ähnlicher Weise (Jes. LIII, Irenäus IV 33 12). Die Summe
aller Schmerzen und aller Schmach ist die Signatur des-
Gerechten in beiden Anschauungen. Nun sagt zwar Seneca r
es sei ein Erforderniss des Gemeinwohles der Menschheit, dass
ein Solcher existire. Allein wie das menschliche Gemeinwohl
durch diese einzige Persönlichkeit gefördert werden soll, das
hat Seneca, wie wir gezeigt, nicht nachgewiesen, und ebenso
359
wenig hat Plato das gethan. Das ist nun der grosse Unter-
schied des Gerechten in der alttestamenthchen Anschauung,
dass dieser nicht für sich ist als einzelnes Individuum sondern
als Vertreter der Gesammtheit auf sich ladet die Schmerzen,
die Schmach, die Schuld des Volkes und der Sünder, und weil
er dadurch erlangt Samen und Macht auch über die Starken,
so hat jenes Tragen die Wirkung des Wegnehmens, des
Erledigens. Der Gerechte des Plato und des Seneca ist ein
einsam dastehendes Zeichen, welches darthut, dass alle Mittel
und Möglichkeiten des sittlichen Wirkens erschöpft sind, ohne
dass das Leiden fähig ist, den Bann zu brechen. Der Gerechte
des prophetischen Wortes dagegen wirft ein Licht auf die
Vergangenheit des Anfanges und schafft einen Schattenriss der
neuen und schliesslichen Zukunft.
Die ernste und grosse Arbeit des Lenäus in dem Kampf
mit den Häretikern besteht hauptsächlich darin, die Nebel-
und Traumbilder, mit denen die Gnostiker den Anfang der
Dinge einhüllen, zu zerstören und dagegen darzuthun, dass der
Anfang der Dinge die Schöpfung des einen und wahren Gottes
ist, und dass die gegenwärtige irdische und zeitliche Wirklich-
keit mit diesem Anfang der göttlichen Schöpfung in causalem
Zusammenhange steht. In der Schöpfung ist das Haupt-
moment die Bildung des Menschen durch Gottes Hand und
Hauch. Das nennt Irenäus Plasmatio, und er wird nicht müde
auf diese Plasmatio immer wieder zurückzuweisen. Der erste
Mensch ist aber nicht ein Einzelner wie jeder Andere, sondern
er ist ,,homo principalis" (Irenäus V 21 i), er ist das Haupt
der natürlichen Menschheit, so dass es einen ersten und einen
zweiten Adam giebt. Deshalb betrifft Alles, was den ersten
Menschen angeht, zugleich das ganze Geschlecht; sowie die
Verleihung der Herrschaft an den ersten Menschen für uns
Gegenwärtige noch heute die gleiche Prärogative der Mensch-
heit in der Welt begründet, so sind wir gleicherweise auch in
den Fall Adams verstrickt, sind in ihm besiegt. Der Urheber
des Falles bleibt im Alten Testament ziemlich verhüllt, sein
Name und sein Werk wird erst dann durch die göttliche
Oekonomie aufgedeckt, nachdem die Kraft diesen Urfeind zu
360
besiegen, offenbar geworden. In den Zeiten, als die Christen
standen unter der Wolke des dämonischen Hasses, war es ein
PLrforderniss der Kampfrüstung, den Erzfeind zu kennen und
zu nennen. Keiner hat in diesen Zeiten dieses altchristhche
Bewusstsein nach dieser Seite hin so klar und allgemein
verständlich dargelegt wie Irenäus. Die Engel sind als freie,
daher fehlsame Geister geschaffen (Advers. Haeres. IV 37 6),
und unter diesen ist Einer aus eigenstem Entschluss abtrünnig
geworden (IV 40 3). Dieser ist es, der den Menschen zum
Ungehorsam gegen Gott verführt hat (IV^ 41 i). Seitdem hat
der Feind Macht über den Menschen, (,,in initio in Adam
captivos nos duxerat" V 21 i), Adam war besiegt und ihm
alles Leben genommen, wiederum wird der Feind besiegt und
Adam empfängt wiederum Leben (III 23 7)), und der Tod hat
die Palme des Sieges über die Menschheit erlangt (V 21 i).
Der Besiegte und Gefallene kann sich selber nicht wieder auf-
richten (IV 18 2), was auch Seneca erkannt hat, ohne dass er
eine wirkliche Hülfe nachweisen konnte. Nach christlicher
Lehre handelt es sich nun im letzten Grunde um Gottes, des
Menschenschöpfers, Ehre. Innerhalb des Menschengeschlechtes
sollen sich, wie schon erwähnt, Gottes Geheimnisse auswirken
(Iren. V 36 3). Mit diesem grossen Gedanken schliesst Irenäus
sein bedeutsames Werk wider die Irrlehrer. Denselben
Gedanken drückt er auch so aus: ,,der Mensch ist das Gefäss
der ganzen Weisheit und Macht Gottes (III 20 2). Gott
könnte nun das widergöttliche Böse in der Geisterwelt durch
seine Macht vertilgen, denn ..nihil in totum diabolus invenitur
fecisse, videlicet quum et ipse creatura sit Dei quemadmodum
et reliqui angeli" (IV 41 i ). Denn die christliche Satanslehre
hat mk Dualismus und Manichäismus Nichts zu schaffen. Aber
es ist nicht Gottes Wille, das Böse durch Gewalt zu vernichten
(IV 37 i). Gott hat den Menschen frei geschaffen. ,,Nulli
Deus infert necessitatem, imperiosa formidine nullum terret"
(Arnobius II 64). Wie das ürböse durch creatürliche Freiheit ent-
standen ist, so soll es durch creatürliche Freiheit überwunden
werden, erst damit ist die durch den Sündenfall verdunkelte Ehre
Gottes wieder hergestellt. Weil dies der Gottesgedanke bei
361
der Schöpfung des Menseben ist, so bezeichnet Irenäus die
Versuchung im Paradiese als den Kampf zwischen Mensch und
Schlange und nennt den Ausgang Sieg der Schlange und
Niederlage des Menschen. Irenäus scheut sich nicht, diese
Sachlage als eine Niederlage Gottes zu bezeichnen, fügt dann
aber gleich hinzu, dass es dabei nicht bleiben könne (III 23 i).
Nun tritt die göttliche Hülfe ein als das Werk Gottes für den
gefallenen Menschen und wider den siegreichen Feind des
Menschen. Aber das ist die Wirkung des unentwegten Fest-
haltens der Schöpfung wider die Verdunkelungen des ersten
Werkes Gottes von Seiten der Irrlehrer, dass mit allem Nach-
druck betont wird, das zweite Werk Gottes für den Menschen
müsse genau die Ordnung innehalten, welche dem ersten Werk
Gottes, der Bildung des Menschen, eingestiftet ist. Nach
diesem ursprünglichen Gesetz der Menschenschöpfung kann und
will Gott den Feind des gefallenen Menschen nicht anders
besiegen, als indem der Sieg innerhalb der wirklichen Mensch-
heit errungen wird. ,,Neque enim juste victus fuisset inimicus,
nisi ex muliere homo esset, qui vicit eum" (V 21 i). ,, Juste
suo sanguine redimens nos ab apostasia" (V 2 i). Wenn
der Sieger des gefallenen Menschen durch einen wirklichen
Menschen besiegt wird, dann muss die Vernunft diese That-
sache für eine gerechte Erlösung von den Folgen des Falles
erkennen. ,,Verbum potens et homo verus sanguine suo
rationabiliter redimens nos"(V i i). Nun ist aber der Sünden-
fall nicht der Fall eines einzelnen Menschen sondern der Fall
des Hauptes und somit des ganzen Geschlechtes. Demnach
kann die gerechte Befreiung v^on den Folgen der Niederlage
nur dann vollkommen sein, wenn der Besieger des Feindes
gleichfalls nicht ein Einzelner ist sondern ein Haupt der
Menschheit. Es liegt dem Irenäus Alles daran, eben dieses von
der göttlichen Menschwerdung zu behaupten. Er verwendet
dafür einen Ausdruck des Apostels Paulus, der Christum als
das allgemeine, zusammenfassende Haupt der Dinge im Himmel
und auf Erden bezeichnet (Eph. i 10). Es giebt kein Wort,
welches die Eigenthümlichkeit des Irenäus, so charakterisirt
wie dieser paulinische Ausdruck 7.vfr/.i'^c(A7.io'jv ; ich kann daher
362
auch nicht glauben, was Engelhardt annimmt (Das Christen-
thum Justins des Märtyrers p. 430), dass Irenäus dieses Wort
von Justin entlehnt habe. ,,Recapitulatio" in verschiedenen
Wendungen und Beziehungen bezeichnet bei Irenäus im Gegen-
satz zu der atomistischen Anschauung die organische Auf-
fassung der menschheitlichen Heilsgeschichte. Das Fleisch-
gewordene Wort hat das ganze Menschengeschlecht in sich
zusammengefasst, ,,longam hominum expositionem in se ipso
recapitulavit" (III 18 i). Dieser Mensch geht in die menschliche
Geschichte ein, wie sie nach dem Fall geworden ist. Die
gefallene Menschheit wohnt nicht mehr im Paradiese sondern
auf der Erde, auf welcher der Fluch ruht. Darum wohnt
Christus nicht auf den Höhen der Welt sondern steigt herab
zu den Niederungen der Erde (III 19 3, IV 24 11, 27 2).
Christus geht durch die gesammte Heilsordnung hindurch und
fasst Alles in sich zusammen (III 16 6). Darum muss er auch
da beginnen, wo der Abfall seinen Anfang hat. Nachdem er
durch die Taufe in sein Amt als Christus eingesetzt ist, wird
er durch den innewohnenden Geist angeleitet, dem Feinde zu
begegnen. Der Versuchung in dem Paradiese entspricht die
Versuchung in der Wüste. Die dreifache Versuchung in der
Wüste besteht darin, dass dem Menschen Christus zugemuthet
wird, sein Reich mit weltlichen Mitteln und Kräften, an denen
der durch den Willen des Menschen machthabehde Fürst der
Welt einen Antheil hat, zu bauen und aufzurichten (V 21 2).
Der Versucher wird abgewiesen, und somit ist Christus ,,salvans
in semet ipso quod perierat" (V 14 i). Die weitere Folge ist
aber, dass der Versucher nunmehr als Feind Christi auftritt
und als Fürst der Welt die Gewalt wider ihn aufbietet.
Als der Retter vom Bösen und vom Uebel ist der zweite
Adam angekündigt, und als solcher tritt er auf in
Jerusalem, indem er den Tempel, das Haus seines Vaters
reiniget (Joh. II 13 — 22). Sobald er aber erkennt, dass die,
welche die Auctorität und die Gewalt haben, seinen Sinn
nicht verstehen, geht er sofort vom Wirken zum Leiden über.
,, Brechet diesen Tempel ab", er fordert seine mächtigen
Gegner auf, ihre Gewalt gegen seinen Leib zu brauchen in der
363
Gewissheit, dass mit diesem Aufsichnehmen und Uebersich-
ergehenlassen der feindHchen Gewalt diese Gewalt damit über-
wunden und entmächtigt ist. Denn er sagt, ,,ich werde den
abgebrochenen Tempel in dreien Tagen wiederaufrichten".
Hier, in dem Tempel zu Jerusalem, vor der jüdischen Obrig-
keit und dem versammelten Volk wird das Geheimniss der
Kraft des Martyriums Christi verkündigt. Das Charakteristische
in der Verkündigung ist die Herausforderung, welche Ircnäus
als eine habituelle Eigenschaft Christi hervorhebt: ,,adversus
inimicum nostrum bellum provocans" (V 21 i). Die Homeri-
schen Helden fordern ihre Gegner heraus, um an ihnen ihre
überlegene Stärke und Gewandtheit zu zeigen, Christus fordert
seine Feinde heraus, um ihre Gewalt an sich selber zu erleiden
und in diesem Erleiden einen Sieg zu erringen, der nicht
v/ieder angefochten werden kann. Diese Herausforderung erfolgt
noch zweimal (Matth. XXIII 32, Joh. XIII 28). Es ist aber
streng nach der Ordnung der ursprünglichen Menschenbildung,,
welche auf Wirken und Herrschen angelegt ist, dass der zweite
Adam ,, wirkt so lange es Tag ist", das heisst wirkt, so lange
noch ein Tropfen der Empfänglichkeit vorhanden ist, bis auch
seine Jünger ihn nicht mehr verstehen, und er verstummen
muss wie das Lamm vor seinem Scheerer. Dieses Lamm
Gottes trägt die Sünde der Welt, Christus schaut und fühlt
den Bann der Verkettung der Sünden, wie sie sich steigern
von dem Blute Abels und sich vollenden in diesem jüdischen
Geschlecht, welches den Heiligen verräth an die Heiden
(Matth. XXIII 33, Luc. XI 50 51). Er hat die böse Gewalt
herausgefordert, jetzt wendet die vollendete Weltsünde sich
gegen ihn und fordert sein Blut. „Recapitulationem effusionis
sanguinis ab initio omnium justorum et prophetarum in semet
ipsum futuram indicans" (Irenäus V 14 i). Hinter und in
dieser Weltsünde schaut und fühlt der Mensch Christus die
dämonische Macht des Urhebers alles Bösen, der in der Stunde
der Finsterniss die Menschheit so verstrickt, dass auch den
Jüngern das Herz erstarrt und nur die einzige Seele des
Mörders und Gehenkten ihm zugewendet bleibt. „Recapitulans
Universum hominem in se ab initio usque ad finem recapitulatus
364
-est et mortem ejus" (V 23 2). Der Tod, der gedroht ist,
wurde durch Gottes Gnade bisher gemildert; den Tod ohne
•Gott (/cDpic OiOu Hebr. II 9) muss Christus leiden, um den
ganzen Anfang wieder herzustellen. In diese Tiefe versenkt,
ist Christus der feindlichen Macht ohne Rückhalt überlassen
und ist von Gott verlassen. Er spricht diesen unausdenkbaren
Zustand ohne Hehl und Milderung aus mit dem tiefsten Klage-
laut ,, warum"; aber nicht eher und nicht anders lässt er diese
Klage vernehmen, als bis er Gott zweimal als seinen Gott
angerufen. Gott hat ihn verlassen, aber er hat nicht von Gott
gelassen, aus dem tiefsten Abgrund ergreift seine starke
Glaubenshand die göttliche Majestät in der Höhe. Damit ist
der Abfall der Menschheit wieder hergestellt. Aber der Mensch,
-der in dem Sterben ohne Gott in keinem Augenblick v^on
Gott loslässt, kann nicht eine Creatur sein, muss mit Gott in
VVesensgemeinschaft stehen, des Menschen Sohn offenbart sich
in diesem Martyrium, wie in nichts Anderem, als Gottes Sohn.
Durch den Gehorsam bis zum Kreuzestode dessen, welcher ist
-des Menschen Sohn und Gottes Sohn in einer Person, ist ,,das
Alte erledigt und abgethan und einen Anfang gewinnt, was
Gott bereitet hatte, und das AU wird in neue Bewegung
gesetzt", wie Ignatius auf dem Wege zum Thierkampfe schreibt.
Die ganze Menschheit ist jetzt vor eine neue Entscheidung
gestellt. Allen, die verloren waren, wird nun die Rettung
ermöglicht. Diese neue Entscheidung soll sich geschichtlich
vollziehen, nämlich nach der Ordnung der Schöpfung, nach
der Ordnung der Gerechtigkeit und der Vernunft, gleichwie
die Folge der ersten Entscheidung regelrecht geschehen ist.
Christus hat eine Gemeinde um sich gesammelt und diese
rüstet er aus, das durch ihn erworbene Heil der Menschheit
und allen Völkern anzubieten. Diese Ausrüstung besteht aber
darin, dass Christi Boten nicht bloss Träger seines Wortes
sind, sondern dass sie durch Mittheilung der Lebens- und
Wesens -Gemeinschaft neue Menschen Christi werden. Nicht
eher traten die Apostel ihr Amt an, als bis der Geist sie aus
dem alten Stande zu einem neuen Wesen umgestaltet (Iren.
III 17 i). Christi Werk ist auf die Wiedergeburt der Menschen
365
angelegt, was Irenäus IV 33 11 beschreibt: ,,purus pure purani
aperiens vulvam, quae regenerat homines in Deum". Der neue
Mensch entsteht durch Selbstmittheilung Christi (IV 38 i). Auf
dieser thatsächlichen Grundlage kann dann Irenäus sagen, Gottes
V/irken zur Vollendung der Menschen sei dahin gerichtet, ,,ut
ecclesia ad figuram imaginis filii coaptetur" (IV 37 7). Die
Kirche soll dem Bilde des Sohnes Gottes ähnlich gestaltet
werden. Also auf Grundlage der Lebens- und Wesens-
Gemeinschaft zwischen Christus und der Kirche soll auch die
Erscheinung der Kirche der Erscheinung Christi entsprechen.
Die Erscheinung Christi ist theils Wirken, theils Leiden, er
wirkt so lange es Tag ist, alle zwölf Stunden bis zur Er-
schöpfung ; nachdem aber die Möglichkeit des Wirkens durch
die Herzenshärtigkeit der Menschen aufgehört hat, vollendet
er sein Werk durch Leiden. Ebenso wandelt die älteste
Kirche in dem Wirken, wie es die ursprüngliche Ordnung der
Menschheit mit sich bringt, was Irenäus sehr anschaulich so
beschreibt: ,,mundus pacem habet per Romanos et nos sine
timore in viis ambulamus et navigamus quocunque voluerimus"^
(IV 30 3). Weil aber die Weltlage in den ersten Jahr-
hunderten in Rom dieselbe ist wie in Jerusalem, so ist die
älteste Kirche vornämlich im Leiden ihrem Herrn und Haupte
ähnlich. Diesen Charakter der ersten Christer.heit bezeichnet
Irenäus mit folgendem merkwürdigen Wort: ,, ecclesia omni in
loco ob eam, quam habet erga Deum dilectionem, multitudinem
martyrum in omni tempore praemittit ad patrem" (IV 33 9).
Hier sind wir an dem Punkt angelangt, wo sich uns der
geheimnissvolle Grund des Unterschiedes und Gegensatzes
zwischen dem Martyrium des Seneca und dem Martyrium des
Justinus am klarsten herausstellt. Wie wunderbar ist das eben
angeführte Wort des Irenäus ! Hier redet nicht Einer, der
nur aus weiter Ferne von dem Martyrium vernommen, sondern
Einer, der die entsetzlichsten Scenen des christlichen Blut-
zeugnisses in unmittelbarer Nähe erlebt hat. Einer, der nächstens
jenen Gemarterten nachfolgen soll. Und wie himmelan erhaben
über den ganzen äusseren Vorgang des Martyriums spricht
dieser Mann über die Sache! Der Cäsar, der Richter, der
3GG
Henker, der Scheiterhaufen, der Löwe — dieses Alles ist für
ihn gar nicht vorhanden, die Kirche ist es, welche die Blut-
zeugen voranschickt! Zwischen der Gemeinde und dem Vater
in der Höhe ist eine herzliche Gemeinschaft, welche Liebe
heisst, zwar ist einstweilen noch eine Kluft zwischen Beiden,
aber diese Kluft wird aufhören, und ehe dies geschieht, sendet
die Kirche ihre theuersten Glieder voraus als Boten der Liebe.
Wie ist diese Anschauung möglich? Es giebt nur eine Er-
klärung dafür. Unmittelbar vor seinen Leiden sagt Jesus:
,,ich verlasse die Welt und gehe zum Vater". Juden und
Heiden, Judas und Satan, Sterben und Grab, dieses Alles ist
nicht vorhanden, oder vielmehr, da er dieses Alles weiss und
schaut, dieses Alles ist ihm verwandelt in eine geebnete Bahn,
die von der Erde zum Himmel führt. L-enäus hat jenes
erhabene Wort nicht etwa aus dem Evangelium Johannes ab-
gelernt, sondern der Herr Jesus Christus, der im Voraus seines
Sieges sich bewusst war, derselbe ist es, der in der Seele des
Kirchenvaters und künftigen Märtyrers einen so hohen Glauben
und Muth gewirkt hat. Der Sieger, Jesus Christus, ist es, der
in den gläubigen Märtyrern lebt und siegt. Das natürliche
Martyrium setzt das natürliche Leben ein, das ohnehin dem
Tode verfallen ist, hat daher auch nicht die Kraft, die feind-
liche Gewalt zu brechen, wie wir es in der Geschichte Senecas
gesehen haben. Der christliche Märtyrer, mit Christus ver-
bunden und geeinigt, setzt göttliches und ewiges Leben ein
und hat daher die volle Zuversicht, dass er die feindliche
Gewalt, indem er sie über sich ergehen lässt, überwindet und
entmächtigt, so gewiss Christus den Urfeind, dessen Gewalt
erleidend, rechtmässig überwunden und gefangen geführt.
Darum, so wie Christus, wenn er sich überzeugt, dass die
Stunde des Leidens gekommen ist, den Feind herausfordert,
so äussert sich der christliche Zeugenmuth in ähnlicher Lage
als Trotz gegen den Feind.
Die erste Christenheit überwindet aber nicht bloss den
gegenwärtigen Feind durch das Innewohnen Christi des Ueber-
winders in freudiger Zuversicht, sondern schaut auch dem
künftigen und letzten Feind muthig ins Angesicht. In der
367
römischen Weltmacht schaut die Christenheit trotz aller anti-
christlichen Feindschaft das Vorhandensein göttlicher Stiftung
(Iren. I\^ 36 6), sie hofft daher auch diese Feindschaft durch
ihr Gutesthun zu bekehren, wie es ihr auch wirklich laut des
grossen Zeugnisses in dem Edict von Mailand gelungen ist.
Aber aus dem prophetischen Wort weiss die Christenheit, dass
das Böse in der Weltmacht das Gute verschlingen und die
ganze Verkettung der Sünde von dem Falle her in einer
Person zusammenfassen wird, welcher als dem ausgewirkten
Antichristenthum die Gewalt in der Welt übergeben wird.
Der Macht dieser vollendeten Bosheit und List wird die
Gemeinde Christi in den letzten Tagen übergeben, denn es
soll, wie Irenäus sagt, die Kirche ganz und gar dem Bilde
des Sohnes, also auch dem Leiden ohne Hülfe und Milderung
ähnlich werden. Der christliche Blutzeuge steht also nicht nur
der Flamme des gegenwärtigen Scheiterhaufens gegenüber, er
schaut auch die letzte Verfolgung des Thieres aus dem Ab-
grund und bleibt dennoch getrost und siegesgewiss. Dazu
reicht nicht aus Wort oder Lehre, Bild oder Beispiel Christi,
nichts Geringeres als Christus selber muss in solchen Menschen
wohnen, leiden und überwinden. Und nur durch diese
geheimnissvolle Einigung zwischen Christus und seinen Blut-
zeugen erklärt es sich, dass diese Christen, vor deren leiblichen
Augen die irdische Welt in gewaltthätiger Todesfeindschaft
gegen Christus und sein Volk wüthet, mit ihrem geistigen
Auge hinausblicken auf einen Zustand dieser irdischen Dinge,
welcher als das erweiterte und vollendete Paradies erscheint.
Man pflegt zwar zu lächeln über die ungeheuren Zahlen, mit
denen der ,, schwachsinnige" Papias sich abmüht, die Glück-
seligkeit des künftigen Friedensreiches auf Erden zu beschreiben.
Man sollte schon aus dem Grunde sich dieses Spottes enthalten,
weil der sehr ehrwürdige Irenäus diese chiliastischen Zahlen
mit den eschatologischen Weissagungen der alttestamentlichen
Prophetie zusammenstellt (V 33 3 4). Liegt es denn nicht
nahe genug, dass diese christlichen Altväter mit diesen Zahlen
einestheils die Realität der künftigen Güter in dem endlichen
Friedensreich, anderntheils den unendlichen Abstand zwischen
368
dem gegenwärtigen und zukünftigen Zustand anschaulich zu
machen in etwas unbeholfener Weise sich bemühen. Anstatt
zu spotten, sollte man aus dieser mangelhaften Darstellungsform
den grossen Inhalt herauslesen, dass diese für Christus freudig
in den Tod gehenden Christen mit ihrem Glauben an die volle
Realität der Menschenerlösung durch des Menschen und
Gottes Sohn ganzen, rückhaltlosen Ernst gemacht haben.
Christus hat vermöge seiner Erniedrigung in Leiden und Tod
die gefallene Menschheit, welche geschaffen war zur Ueber-
windung des Bösen und Beherrschung der Erde, wieder her-
gestellt, und ist daher Leiden und Tod auch das nächste
Stadium auf dem Wege dieser Zeiten, auf dem tausend Jahre
wie ein Tag sind, zu den Ewigkeiten, die Einsetzung der
Heiligen in die Herrschaft der Erde, nachdem die letzte
Bosheit durch Erleiden der Gewalt entmächtigt ist. Wenn
man einen Märtyrer anschaute, wie er in aufrechter Haltung
einem grausamen Tode entgegenging, oder wie er unter un-
menschlichen Qualen standhaft blieb, dann entstand, wie
Tertullian sagt (Apolog. I), die Frage: ,,quid intus in re sitr"
Diese Frage beantwortet Eusebius, der Augenzeuge gewesen
ist bei vielen Blutzeugen : es ist die göttliche Kraft, die in
ihnen lebt und wirkt, und wir sagen noch kürzer: es ist
Christus selber, der ihr Herz erfüllt.
Das Martyrium des Seneca ist die höchste Leistung,
welche auf dem Boden der natürlichen Menschheit möglich
war, aber es fehlt ihm die Kraft, den abgöttischen Cultus zu
brechen. Vor dem christlichen Martyrium beugt sich der
römische Cäsar, und es beweist damit eine übermenschliche Kraft,
und diese übermenschliche Kraft ist Christus selber, der
römische Cäsar legt seine angemasste Gottheit zu den Füssen
dessen nieder, welcher als wahrer Gott offenbar geworden ist.
Es ist demnach mit Zugrundelegung des Zeugnisses Senecas
bewiesen, dass das Christenthum übermenschlichen, übernatür-
lichen, göttlichen Ursprunges und Wesens ist. Athenagoras
sagt: ,, Unsere Sache ruht nicht auf Redeübung sondern auf
Beweisung und Belehrung durch Thatsachen".
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