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Full text of "Lucius Annaeus Seneca und das Christenthum in der tief gesunkenen antiken Weltzeit"

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in  2011  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/luciusannaeussenOObaum 


Lucius  Annaeus  Seneca 

und 

das  Christenthum 

in  der 

tief    gesunkenen    antiken    Weltzeit. 


Von 

Michael   Baumgarten, 

wail.  Professor  und  Dr.  der  Theologie. 


-^   Nachgelassenes  Werk.   «^- 


Rostock. 

Wilh.   VVerther's   Verlag. 
1895. 


Alle  Rechte,  auch  das  der  Uebersetzung  vorbehalten. 


THL  iNSTiTi IE  er  ^^r'-    '  •'  eiuuts 

IC  LLMSLEY  ^ 

TCRÜMTO  5,  CANAOA, 

JAN221S32 


Druck  von  Adler'e  Erben  in  Ilostock. 


Vorwort. 

i3ie  Blätter  dieses  Werkes  enthalten  eine  summarische 
aber  doch  wortgetreue  Wiedergabe  eines  sehr  umfangreichen 
Manuscripts  des  verstorbenen  Professors  und  Doktors  der 
Theologie  Michael  B  a  u  m  g  a  r  t  e  n. 

Dem  handschriftlichen  Nachlass,  welchem  die  nachstehende 
Veröffentlichung  entnommen  ist,  liegen  eingehende  Studien  der 
Schriften  Senecas  wie  nicht  minder  des  Urchristenthums  7ai 
Grunde.  Mit  grosser  Hingabe  und  Ausdauer  hat  der  Verfasser 
dieser  litterarischen  Arbeit  obgelegen  und  dieselbe  noch  im 
Jahre   1887  einer  letzten  Durchsicht  unterworfen. 

Professor  B.  ist  von  jeher  ein  erklärter  Gegner  jenes 
Gelehrtenthums  gewesen,  das,  angekränkelt  vom  saft-  und 
kraftlosen  Doctrinärismus,  Gedanken  und  That  von  einander 
trennt  und  durch  Buchstaben  und  Bücher  die  Menschen  dem 
Leben  entfremdet.  Dagegen  fordert  er  unbedingt  von  aller 
das  Gebiet  des  geistigen  Seins  umfassenden  Wissenschaft,  zumal 
auch  von  der  theologischen,  dass  sie  darin  sich  fruchtbar 
erweise,  die  ewigen,  unverbrüchlichen  sittlichen,  religiösen 
und  christlichen  Grundgesetze  nicht  bloss  zur  theoretischen 
Anerkennung,  sondern  vor  allen  Dingen  zur  thatsächlich 
unmittelbaren  Auswirkung  und  Durchführung  zu  bringen.  Wie 
sich  diese  Tendenz,  so  scharf  ausgeprägt  wie  kaum  bei  sonst 
einem  Schriftsteller  des  Jahrhunderts,  in  der  ganzen  litterarischen 
Thätigkeit  B.'s  bekundet,  so  nicht  minder  in  dem  handschriftlich 
von  ihm  hinterlassenen  Werk,  das  hiermit  seinem  wesentlichen 
Inhalte  nach  der  Oeffentlichkeit  übergeben  wird.  Aus  seiner 
Leetüre  ergiebt  sich  unwiderleglich,  dass  es  B.  schliesslich  und 
zuletzt   lediglich    darum   zu   thun    ist,    seinen    Zeitgenossen   das 


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lebendige  Bewusstsein  zu  vermitteln,  wovon  in  allen  dunklen, 
wirren  Zeitläuften  für  die  Menschheit  kein  Heil  erhofft  werden 
kann,  und  wodurch  andererseits  allein  ihr  eine  bessere  Zukunft 
verbürgt  ist. 

In  der  Ueberzeugung  nun,  dass  es  B.  bei  der  Fertig- 
stellung des  bezüglichen  Manuscripts  nicht  so  sehr  darauf 
abgesehen  hat,  einem  specifisch  wissenschaftlichen  Interesse 
zu  dienen,  als  vielmehr  durch  klare,  lichtvolle  Einführung  in 
die  wichtigste  und  entscheidungsvollste  Epoche  der  ganzen 
Weltzeit  gleichsam  den  unbeweglichen  Polarstern  scharf  umgrenzt 
aufzuzeigen,  nach  dem  in  dem  wechselnden  Wogendrang  des 
Lebens  der  Curs  zum  höheren  Hafen  gefunden  und  eingehalten 
werden  kann,  wird  so  zu  sagen  nur  die  Quintessenz  des  Werkes 
veröffentlicht,  indem  alles  mehr  wissenschaftliche  Beiwerk  aus- 
geschieden ist.  Dergestalt  wird  der  bedeutungsvolle  Inhalt 
auch  dem  weiteren  Kreise  der  Gebildeten  zugänglicher  gemacht 
und  überdies  dem  Werk  durch  seine  Verbilligung  hoffentlich 
eine  reichliche  Abnahme  gesichert.  Zahlreiche  Citate  aus  den 
Schriften  Senecas  und  anderer,  die  aus  Seneca  bis  zu  drei- 
hundert wörtlich  niedergeschriebenen  Parallelstellen  zu  biblischen 
Sentenzen,  vielfache  Nachweisungen  der  Quellen  u.  dergl.  mehr 
sind  unberücksichtigt  geblieben.  Dagegen  sind  die  Aus- 
führungen Baumgartens  selbst  mit  möglichster  Genauigkeit 
unverkürzt  wiedergegeben. 

Möge  Baumgartens  ,, Seneca  und  das  Christenthum"  in 
weiteren  Kreisen  die  wohlverdiente  Beachtung  finden.  In  dieser 
Hoffnung  vor  allem  und  sodann  in  der  Absicht,  dem  Heim- 
gegangenen damit  ein  bleibendes,  ehrenvolles  Denkmal  bei  der 
Nachwelt  zu  errichten,  hat  pietätvolle  kindliche  Liebe  die  Druck- 
legung des  nachgelassenen    Manuscriptes  veranstaltet. 

Zur  Empfehlung  des  Werkes  bedarf  es  keines  weiteren 
Wortes;  bei  allen  Lesern  erschlossenen,  empfänglichen  Sinnes 
wird  es  genugsam  für  sich  selbst  reden. 

Seh.  .  St. 


Inhaltsverzcichniss. 


Einleitung  1—7. 


I.   Seneca  in  dem  Urtheil  der  Jahrhunderte  8—34. 

Sokiates  und  Seneca  8.  Columella,  Plinius,  Quintilian,  Juvenal,  Plinius 
jun.  über  Seneca  9 — 10.  Tacitu^  über  S.  11  ff.  Seneca  im  Kreise  der 
Patrioten  14.  Senecas  Martyrium  14.  Suilius  Ankläger  S.'s  15.  Qaintilians 
Urtheil  10.  Fronto,  Gellius  kleingeistige  Verächter  S.'s  16.  Marc  Aurel  17. 
Cassius  Dies  überwiegend  nachtheiliges  Urtheil  17.  Cassius  I)io 
unkritisch  18  ff.  Erotische  Skandalgeschichten  in  den  Zeiten  des  Verfalls  19. 
Erasmus'  Urtheil  21.  Urtheil  der  strengen  Philologie  22.  Vorliebe  der 
Patres  für  Seneca  24.  Briefwechsel  zwischen  Paulus  und  Seneca  25. 
Augustinus  25.  Seneca  im  christlichen  Mittelalter  26.  Seneca  in  England  28. 
Seneca  in  Deutschland  28.  Franzosen  enthusiastische  Bew^underer  Senecas  31. 
Diderot  32.  Amadee  Fleury  83.  Fabricius  über  die  den  Seneca  betreffenden 
Widersprüche  34. 


II.    Senecas  Lichtseiten  35—99. 

Christliches  vor  Christus?  35.  Caesarischo  Monarchie  37.  Maecenas 
und  Agrippa  über  Republik  und  Monarchie  38.  Stillstand  im  Reich  des 
Geistes  39.  Ennius,  Lucilius  39.  Usus  virtutis  maximus  40-  Cunctos 
dulcedine  olii  pellexit  40.  Summus  pontifex  summus  homo  41.  Die 
Schlechten  sind  den  Guten  über  42.  Horaz  und  Vergil  für  otium  cum  digni- 
tate  42.  Ovid  für  otium  sine  dignitate  43.  Ruere  in  servitium  43- 
L.  Vitellius  im  Orient  und  in  Rom  48.  Die  Familie  der  Annaei  44.  Der 
Vater  Marcus  Seneca  45.  Geschichte  Roms  wie  der  Gang  des  Menschen- 
lebens 46.  Schola  Romani  roboris  47.  Soxtius  47.  Fabianus  48.  Sotion 
und  Attalus  48.  Senecas  Askese  49.  Senecas  Theologie  50.  Rechtgläubig- 
keit in  der  Familie  der  Annaeer  51,  Gegen  sacrilegium  52.  Gegen  die 
Götterfabeln  der  Dichter  52.  Gegen  die  theologia  urbana  vel  civilis  52. 
Aseität  der  Gottheit  54.  Monotheismus  54.  Homo  non  opus  tumultuarium  56. 
Deus  parens  noster  magnificus  56.  In  delicias  amamur  57.  Deus  tecum 
est,  intus  est  58.  Primus  cultus  deos  credere  59.  Vetns  praeceptum :  deum 
sequcre!  59.  In  den  Anklagen  communicative  Redeform  61.  Ad  morccdem 
pii  sumus,  ad  mercedem  impii  61.  Trrupit  avaritia  62.  Animo  certamen 
cum  carne  62.  Spiritus  in  affectum  ipse  mutatur  63.  Gulae  et  libidini 
addicti  sumus  63.  Apicius  64.  Allgemeine  Sittenverderbniss;  Mammon, 
Sinnenlust,  Lüge  65.  Objective  Macht  der  Sittlichkeit  im  Untergang  65. 
Populus,  turba  06.     Corrumpore  et  corrumpi  saeculum  vocatur  67.    Epicur  68. 


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VI 


Die  verfälschte  Sprache  ist  eine  Ansteckung  68.  Fama,  conscientia  69. 
Gesetzlichkeit  noch  keine  Sittlichkeit  70.  Yitia  sine  magistro  discuntur  71. 
Numquam  sumus  singuli  72.  Praecipue  vitanda  turba  73.  Intel! ige  me 
transfigurari  74.  Sextius  74.  Conscientia  74.  Triumpf  des  Gewissens  über 
Marter  und  Strafe  75.  Sompcr  idem  velle  et  ideui  noUe  76.  Non  possumus 
nolumus  76.  Impetus  insignis  et  totus  77.  Nihil  honeste  fit,  nisi  cui  totus 
animus  incubuit  77.  Bonus  vir  sine  deo  nemo  est  78.  Philosophia  in  ad- 
mirationem  sui  rapit  79.  Ein  Sieger  über  das  Schicksal  80.  Demetrius  80. 
Der  Tod  ein  Tribunal  81.  Marter  und  infamia  82.  Egregium  factum  fama 
sceleris  emere  83.  Cato  virtutum  viva  imago  83.  Invicti  iter  sequentibus 
ostendere  dobent  85.  Miser  res  Sacra  est  85.  Immune  regnum  est  possc 
sine  rcgno  pati  86.  Mundus  est  nobis  patria  87.  Sancimus  societatom 
humani  generis  87.  Natura  homini  hominem  conciliat  87.  Für  die  Sclaven  88. 
Für  die  Gladiatoren  und  für  die  Feinde  88.  Für  die  Nachwelt  8S.  Das 
Leben  ein  Kriegsdienst  88.  Wahre  und  bleibende  Freude  89.  Tugend  ist 
immer  initiativ  89.  Hochmuth  der  Vielwisserei  90.  Wahrhaftigkeit  sei 
Grundgesetz  jeder  ßede  90.  Turpius  aliud  scribere  aliud  sentire  90-  Seneca 
Erzieher  und  Lehrer  des  Nero  91.  Lucilius  92.  De  beneficiis  94.  Gestäod- 
niss  moralischer  Gebrechen  95.  Eine  reine  Freude  96,  Unsterblichkeit  97. 
Jovi  liberatori  98.     Biblische  Parallelen  99. 


III.   Senecas  Nachtseiten  100—147. 

Weltfinsterniss  100.  Ausgesuchte  Schmeichelei  101.  Dreistigkeit  eine 
Kunst  102.  Gallio  102.  Wettlauf  der  Schmeichler  102.  Augustus,  Agrippa 
und  Maecenas  103.  Widerspruch  zwischen  Schreiben  und  Handeln  104. 
,,Ad  Polybium''  104.  Claudius  heilbringendes  Gestirn  107.  Claudius 
numen  107.  Niederträchtige  Schmeichelei  S.'s  108.  „Ludus  de  morto 
Claudii"  108.  Ungeheure  Gegensätze  109.  Officielle  Lobrede  auf  Claudius  110. 
Aurca  descendunt  saecula  111.  Nero  Phoebus  Apollo  112.  ,,De  dementia'' 
112.  Künstliche  Methode  114.  Die  Säule  der  gereinigten  Gotteslehre  umge- 
stürzt 115.  In  stationo  mori  115.  Mens  parens  mundus  est  116.  Krass 
doistischo  Aeusserungen  117.  Nicht  Providentia  sondern  fatum  118.  Epicurus 
in  29  Briefen  118.  Thrasea  und  seine  Anhänger  120.  Philosophia  in 
aula  120.  Demetrius  122.  Das  otium  der  Philosophen  ein  Geschenk  der 
Fürsten  123.  Preisgeben  der  Gegenwart  123.  Caesarenvergötterung  Sturz 
aller  Ideale  124.  Anti-Thrasea  124.  Persius  125.  Vir  fortis  spectaculum 
dci  126.  Spes  est  vitium  127.  Felicissimuin  non  nasci  129.  Omnis  vita 
su])i)licium  est  130.  Die  stoische  Apathie  gewährt  keinen  Trost  130. 
Miscricordia  vitium  animi  131.  Der  Stoiker  Stilbon  ein  abschreckendes 
Beispiel  132.  Selbstmord  134.  Quousque  eademV  134.  Sapiens  semper  in 
actu  135.  Virtuti  etiam  in  lectulo  locus  136.  Selbstmord  136.  Cato 
Uticensis  138.  Cicero  über  Cato  139.  Unsterblichkeit?  1-59.  Agrippina  141. 
Ihirrus  und  Seneca  143.  Acte  144.  Maximum  saeculi  malum  144.  Senecas 
Vcrtheidigung  des  Muttermordes  146. 


IV .   Das  Attentat  zweier  sacrilegischer  Lügen  wider 

die  antike  Menschheit  148—231. 

Abgrund  der  Wcltverderbniss  148.  Ilollönen  und  Barbaren  119. 
Alexander  in  Hellas  vergijttert  1.^0.  Demetrius,  der  Städtebezwinger  151. 
Antonius-Dionysos  1.52.  Julius  Caesar  152.  Caesarcultus  1,57.  Heiligung 
des  Gottosnamons  155.    Caesarcultus  Gottesdienst  157.    Geistesleben  Domäne 


vif 


des  Caesarhofes  158.  Marcus  Aurelius  158.  Ver^if,  Horaz,  Ovid  159. 
Caesarcuftus  im  Volksbcwusstsein  159.  Vernachliissigung  der  Götter  161. 
Unter  Tiberius  IGl.  Cafigula  103.  Caesari  oinnia  liccut,  Claudius 
163.  Cacsarcnwahnsinn  ?  164.  Domitiaa  dominus  et  deus  165. 
Quintilian  166.  Trojan  167.  lladrian  und  Antinous  168.  Commodus  168. 
Heliogabal  169.  Tempel  für  apotheosirte  Caesaren  170.  Diocletian  170. 
Historia  Augusta  172.  Vopiscus  173.  Der  weltgeschichtliche  Wendepunkt 
in  dem  menschlichen  Individuum  174.  Caesarcultus  corrumpirend  175. 
Unnatur  und  AVidernatur  176.  Paulus  177.  Caesar  und  Augustus  178. 
Blasphemie  am  Kaiserhofe  182.  Caligula,  Claudius,  Nero  183.  Baurs 
Irrthum;  Yespasian,  Titus  184.  Domitian  185.  Hadrian  185.  Marc  Aurel  186. 
Die  beiden  Yeri  186.  Sanctitas  Marci  Aurelii  Philosophi  187.  Commodus 
18S.  Si  übet  licet,  Caracalla  189-  Carinus  190.  Caesarcultus  Lüge  192. 
Augustinus  192.  Baalkultus  194.  Homer  196.  Plato  196.  Aristoteles  197. 
ISokratcs  200.  Enthüllung  des  Heidenthums  201.  Arnobius  203.  Wachs- 
thum  der  Unreinheit  im  Cultus  205.  Anfänge  der  Mysterien  206.  Aristo- 
phanes  207.  Allegorie?  209.  Phallus  212.  Carmina  ithyphallica  212.  Ciceros 
Beschreibung  des  Phallus  212.  Plutarch  213.  Lampsakos  214.  Floralia215. 
Pantomimen  217.  Pylades  und  Bathyllos  218.  Ares  und  Aphrodite  220- 
Ovid  und  Augustus  222.  Die  Kirchenväter  über  den  Baalkultus  224. 
Tatian  225.    Lactanz  226.    Augustinus  227. 


V.    Senecas  Abwehr  ohne  Sieg  232—263. 

Seneca  in  der  "Weltkrisis  232.  Gegen  Verachtung  Senecas  233.  Ueber- 
Schätzung  Senecas  235.  Aus  der  Zeit  Vespasians  237.  Plinius  sen.,  Juvenal, 
Quintilian,  Plinius  jun.  238.  Das  wahre  Bild  des  Lebens  nach  Seneca  239. 
Genus  humanuni  und  Gladiatores  240.  Gladiatorenspiel  241.  Symmachus  241. 
Telemachus  241.  Senecas  weltgeschichtliche  Stelle  243.  Senecas  Sterben 
nach  Tacitus  243.  Paulina  246.  Vorbereitung  auf  das  Sterben  248.  Der 
Gerechte  nach  Plato  248.  Der  Tod  spricht  das  Urtheil  251.  NuUi  sis  malo 
tiro  252.  Das  Bild  des  Gerechten  nach  Seneca  252.  Kanus  Junius  254. 
Die  Lehre  vom  Tod  durch  die  That  bewährt  255.  Vom  Caesarcultus  nicht 
überwunden  256.  Selbstlose  Liebe  wider  Baalkultus  258.  Paulus  260.  Das 
Martyrium  S.'s  schafft  nicht  Nachfolge  sondern  das  Gegentheil  261. 


VL  Christus  der  Sieger  in  seinen  Blutzeugen  264—338. 

Griechen  und  Römer  265.  Höchste  Menschenkraft  266.  Das  Christen- 
thum  in  der  Stille  266.  Der  Chor  des  Friedens  267.  Das  Idyll  im  Sturm 
267.  Apostolische  Väter  268.  Die  Tugend  der  Schweigsamkeit  269.  -ßes 
sevora  est  gaudium  verum  269.  Keine  Zweizüngigkeit  270-  Zurückgezogen- 
heit der  ersten  Christen  271.  Die  „Unmündigen"  reden  über  göttliche 
Dinge  271.  Tertium  genus  dicimur  273.  Gegensatz  gegen  öffentliche  Feste 
und  Schauspiele  273.  Erster  Bericht  über  Christenverfolgung  274.  Der 
Kampf  zwischen  dem  bewaffneten  Caesaren-  und  Heidenthum  und  der  wehr- 
losen Christenheit  eingeleitet  276.  Die  Christen  nicht  republikanisch 
gesinnt  278.  Apologie  279.  Christengebet  für  das  Reich  280.  Pro  mora 
finis  281.  Dualistische  Natur  des  Reiches  282.  Das  staatsbürgerliche  Ver- 
halten der  ersten  Christen  283.  Staatsbürgerlicher  Eifer  der  Christon  285. 
Vorbild  der  heidnischen  Tugenden  nach  Augustinus  286.  Kriegsdienst  der 
Christen  287.  Was  ist  Wahrheit"?  Pilatus,  Scaevola  und  Varro  288. 
Epiktet  289.    Es  fehlt  die  Kraft,   das  Böse  zu  hassen  290.     Mentiri  nescio 


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bei  Heiden  und  bei  Christen  291.  Gegen  Hausruth  292.  Christen  wie 
andere  Menschen  294.  Erhaltung  der  antiken  Cultur  295.  Das  Pallium  der 
Christen  296-  Augustin  über  Ciceros  Hortensius  298.  Maneat  publica 
pcrsuasio  sine  ratione  299.  CoUcgia  illicita  300.  Julius  Paulus  300.  Philo- 
sophen wie  Juristen  301.  Baalcultus  302.  Sibi  credere  302.  Christianus 
libertatem  suarn  adversus  reges  crigit  303.  Princip  der  Autorität  und  der 
Freiheit  304.  Gegen  Hausrath  304.  Apologie  305.  Justinus  Apologet  306. 
Justins  Apologie  geschmäht  311.  Christliches  Martyrium  312.  Ignatius 
Märtyrer  313.  Justinus  Märtyrer  318.  Marc  Aureis  unüberwindliches  Vor- 
urtheil  gegen  die  Christen  320.  Paeon  der  Märtyrer  322.  Polycarpus 
Märtyrer  323.  Verfolgung  in  Gallien  325.  Folter-Instrument  der  Lüge  326. 
Blandina,  Ponticus,  Photinus  327.  Das  Beispiel  Paeons  wiederholt  in 
erhöhtem  Masse  327.  Origenes  Märtyrer  328.  Gegen  Celsus  328.  Origenes 
an  Ambrosius  329.  Cyprianus  Märtyrer  330.  Lapsi  332.  Lapsed  but  not 
lost  333.    Martyrium  Cypriani  335. 


VII.    Caesar  —  Christus  339— Schluss. 

Diocletian  339.  Die  vier  Yerfolgungsedicte  341.  Der  Name  der 
Christen  soll  vertilgt  werden  341.  Märtyrer  ypiatocfopoi  343.  Galerius' 
Fdict  vom  Jahre  311  344.  Verkündigung  der  Toleranz  345.  Edict 
von  Mailand  346.  Lactanz  über  Religionsfreiheit  350.  Caesaren  geben  Gott 
was  Gottes  ist  351.  Corpus  Christianorum  352.  Ratio  martyrii  354. 
Christus  gegenwärtig  in  seinen  Blutzeugen  355.  Irenäus  apostolicus 
episcopus  et  martyr.  358.  Homo  vcrus  rationabiliter  nos  redimit  361.  Fürst 
der  Welt  362.  Jesus  reinigt  den  Tempel  362.  Von  Gott  verlassen  aber  an 
Gott  haltend  364.  Ecciesia  praemittit  martyres  ad  patrem  365.  Letzter 
Kampf  366.     Christus  als  die  Kraft  Gottes  in^dcn  Märtyrern  367. 


Druckfehler. 

Man  lese:  S.  2  Z.  17  v.  o.  F.  Baur.  S.  6  Z.  11  v.  u.  Octaeus,  S.  10 
Z.  11  V.  u.  Ann.  XV  statt  IV,  S.  11  Z.  4  v.  u.  61  statt  62,  Ö.  16  Z.  15  v.  o. 
8  statt  2,  S.  17  Z.  10  v.  u.  155—231,  S.  17  Z.  7  v.  u.  80,  S.  24  F.  D. 
Gerlach,  IS.  25  Z.  9  v.  o.  ignaro  statt  ignoto,  ö.  26  Z.  6  v.  o.  Jovianus, 
!S.  28  Z.  8  v.  u.  spiritu,  S.  57  Z.  17  v.  o.  deiis,  S.  89  Z.  11  v.  o.  welches, 
S.  102  Z.  10  V.  0.  Kunst  statt  Kraft,  S.  102  Z.  14  v.  o.  aggressiv,  S.  103 
Z.  4  v.  u.  Demnach,  S.  110  Z.  14  v.  o.  Staatsreden,  S.  153  Z.  16  v.  u. 
H.  F.  IV,  S.  174  Z.  6  v.  o.  auch,  ö.  178  Z.  14  v.  o.  Arnobius,  S.  184 
Z.  13  V.  0.  ist  Aurelius  zu  streichen,  S.  216  Z.  9  v.  u.  ludos,  S.  274  Z.  19 
V.  u.  Trajan,  S.  281  Z.  14  v.  o.  precandus,  S.  298  Z.  19  v.  o.  Viluit,  S.  333 
Z.  7  V.  0.  Libellatici,  S.  335  Z.  10  v.  u.  decoUemur. 


Einleitung. 

Ein  Mann  wie  Lucius  Annäus  Seneca,  gestorben  im  J.  66 
nach  Christo,  über  dessen  Werth  und  Unwerth  Jahrhunderte 
lang  Heiden  und  Christen  gestritten  und  über  welchen  die 
Urtheile  gegenwärtig  weiter  denn  je  auseinandergehen  —  ein 
solcher  Mann  ist  jedenfalls  eine  Merkwürdigkeit.  Dieser  Mann 
stellte  den  Kanon  auf:  „immer  dasselbe  wollen  und  immer 
dasselbe  nicht  wollen".  Aber  es  ist  schwer,  vielleicht  gar 
nicht  möglich,  Jemand  zu  finden,  der  durch  sein  Lehren  und 
Handeln  an  diesem  Grundsatz  sich  schwerer  versündigt  hat,  als 
Lucius  Seneca  selbst,  welcher  nicht  bloss  mit  seinen  Lehren  in 
den  krassesten  Widerspruch  geräth,  sondern  auch  mit  seinen 
öffentlichen  Handlungen  seine  eigene  Lehren  durchkreuzt. 
Dieses  Problem  findet  seine  Erklärung  in  der  abgrundmässigen 
Verderbniss  der  römischen  Welt,  in  welcher  Seneca  eine 
beispiellos  versuchliche  Stelle  einnimmt.  Jene  Weltverderbniss 
hat  ihre  tiefsten  Wurzeln  in  der  sich  vollendenden  Lüge  des 
römischen  Kultus.  Man  muss  hineinschauen  in  den  Abgrund 
der  beiden  sakrilegischen  Lügen,  um  die  Nachtseiten  Senecas 
zu  verstehen. 

Wer  in  dem  antiken  Heidenthum  die  Pflicht  der  Mensch- 
heit erfüllen  wollte,  musste  nicht  blos  in  den  Kampf  gegen 
die  im  Heiligthum  herrschende  Lüge  eintreten,  sondern  den- 
selben auch  siegreich  bestehen.  Einen  Ehrenplatz  in  der  Welt- 
geschichte hat  Seneca  sich  erworben.  Besiegt  zwar  hat  er  die 
feindliche  Lügenmacht  nicht,  aber  unterjochen  lassen  hat  er  sich 

1 


auch  nicht.  Mit  seiner  letzten  Anstrengung  hat  er  hingewiesen 
auf  die  Kraft  einer  höheren  Ordnung,  die  nicht  bloss  kämpft, 
sondern  auch  siegt.  Das  Höchste  nämhch,  was  Seneca  geleistet 
hat,  ist  die  vStandhaftigkeit  in  seiner  Weisheit  und  Tugend, 
während  er  unter  Qualen  sein  IMut  vergiesst.  Das  Martyrium 
gewährt  diesem  Stoiker  einen  furchtlosen,  resignirten  Abschied 
vom  Leben,  aber  für  seine  Umgebung  erwirkt  es  nicht  Furcht- 
losigkeit, sondern  Schrecken  und  Feigheit.  Sein  Martyrium 
wird  aber  dadurch  zu  einer  ahnungsvollen  Weissagung  auf  ein 
höheres  Martyrium,  welches  Leben  und  Sieg  über  alles  Böse 
in  immer  weitere  Kreise  verbreitet. 

Was  von  dem  römischen  Stoiker  und  Staatsmann  L.  A. 
Seneca  zu  halten  sei,  wird  seit  Jahrhunderten  auf  heidnischem 
und  christlichem  Gebiete  verschieden  und  gegensätzlich  be- 
antwortet. Ueberschätzung  bis  zur  Kanonisirung  und  Unter- 
schätzung bis  zur  Verachtung  stossen  hier  gegen  einander. 
F"".  Bauer  hat  durch  seine  Abhandlung  über  Paulus  und  Seneca 
die  Aufmerksamkeit  auf's  Neue  auf  das  Verhältniss  zw^ischen 
Seneca  und  Stoicismus  einerseits  und  Christenthum  anderer- 
seits hingelenkt.  Sind  doch  in  diesem  laufenden  Decennio 
(1880  —  90)  drei  Monographien  über  diesen  Gegenstand 
erschienen,  wodurch  nicht  die  Klarheit,  sondern  nur  die  Ver- 
dunkelung gefördert  worden  ist*). 

Die  Controverse  über  Seneca,  welche  durch  die  ganze  Zeit 
der  christlichen  Aera  hindurch  besteht,  ist  jetzt  auf  die  Spitze 
gekommen.  Im  zweiten  Jahrhundert  hat  ein  müssiger  Christ, 
in  der  Voraussetzung,  dass  Seneca  Christ  gewesen,  einen  Brief- 
wechsel zwischen  Paulus  und  Seneca  erdichtet.  Diese  Voraus- 
setzung theilt  der  Kirchenvater  Hieronymus,  der  den  Seneca 
vermittelst  seines  Katalogus  in  das  christliche  Gebiet  versetzt. 
Wie  durch  einen  Kreislauf  kommen  nun  neuerdings  der  Franzose 
Amadee    Fleury  (Saint  Paul   et  Seneque,  Paris,    1853)   und    der 


*)  ,, Der  Ursprung  der  Sage,  dass  Seneca  Christ  gewesen"  von  E.  Westen - 
berg,  Berlin,  1881.  ,, Seneca  und  seine  Beziehungen  zum  Urchristenthum"  von 
J.  Kreyher,  Berlin,  1887.  ,, Seneca,  der  Philosoph,  und  sein  Verhältniss  zu 
Epicur,  Plato  und  dem  Christenthum"  von  W.  Ribbeck,   Hannover,  1887. 


"deutsche  Kreyher  (1887)  auf  die  Behauptung  von  Senecas 
Bekehrung-  zum  Christenthum  zurück.  Auf  dem  Extrem  der 
Kehrseite  behauptet  dagegen  der  Historiker  Nissen:  ,,der 
römischen  Herrschaft  verdankt  die  Menschheit  das  Christen- 
thum, die  Entstehung  des  letzteren  ist  ohne  den  Kosmopohtis- 
mus  der  römischen  Kaiserzeit  undenkbar"  (Sybels  historische 
Zeitschrift,  1868;  2,  142).  Dr.  Weygoldt  kommt  in  seiner 
Schrift:  ,,die  Philosophie  der  Stoa,  1883"  zu  folgendem  ähn- 
lichen Resultate:  ,,der  Stoicismus  hat  sich  zum  Christenthum 
nicht  empfangend,  sondern  gebend  verhalten:  gebend  in  der 
Christusauffassung  der  4  Evangelien,  in  dem  Hebräer-  und 
Kolosserbrief,  gebend  sodann  in  der  allegorischen  Schrift- 
auslegung".  Der  alte  Literatur-Historiker  Fabricius  hat  nun 
die  Meinung,  dass  wenn  über  eine  geschichtliche  Person  gegen- 
sätzliche Urtheile  hartnäckig  und  anhaltend  gegen  einander 
streiten,  in  einer  solchen  Persönlichkeit  eine  nicht  gewöhnliche 
Bedeutsamkeit  beschlossen  sein  müsse.  Sollte  nicht  der  hier 
vorliegende  Gegensatz  seinen  letzten  Grund  darin  haben,  dass 
die  eigentliche  Bedeutung  der  umstrittenen  Persönlichkeit  bisher 
noch  nicht  zum  vollen  Bewusstsein  gebracht  worden  ist? 

Meines  Erachtens  ist  die  Zeit  gekommen,  in  welcher  über 
-die  geschichtliche  Stellung  und  Bedeutung  des  merkwürdigen 
Mannes,  den  der  Titel  der  vorliegender  Schrift  namhaft  macht, 
^in  bis  dahin  noch  nicht  vorhandener  Aufschluss  gegeben 
werden  soll.  Ich  muss  bestätigen,  was  Bestmann  schreibt : 
,,wenn  man  Seneca  lange  und  in  einem  Zuge  liest,  dann  ist  es 
unmöglich,  dass  man  nicht  einen  bleibenden  Eindruck  von  ihm 
bekommt"  (Geschichte  der  christlichen  Sitte  II  383  84).  Oft 
abgestossen  von  Seneca,  werde  ich  immer  wieder  von  ihm 
angezogen,  und  vor  die  Frage  gestellt:  was  ist  eigentlich  in 
und  an  diesem  Manne  .^  Augustinus  ist  es  gewesen,  der  mir 
bei  diesem  meinem  beharrlichen  Suchen  den  ersten  Lichtstrahl 
angezündet  hat.  Augustinus  erhebt  die  Gotteserkenntniss  des 
Seneca  weit  über  die  theologische  Gelehrsamkeit  des  berühmten 
Varro.  Andererseits  betont  Augustinus  mit  grossem  Nach- 
druck, dass  Seneca  als  Senator  des  erlauchten  Römervolkes 
nicht  den  Muth  hat,  seiner  besseren  Gotteserkenntniss  angesichts 

1* 


des  Volkes  thatsächlich  Folge  zu  geben  und  somit  durch  sein 
amtliches  Verhalten  die  Frucht  seiner  besseren  Gotteserkenntniss 
vernichtet.  Diese  Bemerkung  des  grossen  Kirchenvaters  ver- 
weist die  Hauptfrage  i^ber  Seneca  aus  dem  Gebiet  der  Doctrin 
in  das  Gebiet  des  öffentlichen  Handelns  und  Verhaltens  Es 
enthüllt  sich  uns  die  Existenz  einer  der  Wahrheit  feindlichen 
Macht,  vor  welcher  die  bessere  Erkenntniss  und  die  staatliche 
Amtsgewalt  sich  dergestalt  beugt,  dass  das  Bessere  durch  das- 
Schlechtere  beseitigt  wird.  Bei  der  somit  unabweislichen  Unter- 
suchung über  diese  Lügenmacht  ergab  sich  mir,  dass  dieselbe 
in  dem  antiken  Heidenthum  tief  gewurzelt  und  weit  v^erbreitet 
ist,  ja,  dass  dieselbe  in  dem  römischen  Cäsarenthum  sich  zu 
vollenden  und  die  Menschheit  in  den  Abgrund  der  vollendeten 
Gottlosigkeit  zu  stürzen  droht.  Senecas  Geistesrichtung  und 
Weltstellung  bringt  ihn  mit  Nothwendigkeit  in  Konflikt  mit 
jener  wahrheitsfeindlichen  Weltv^erderbniss.  In  diesem  Konflikt 
muss  sich  das  wahre  Wesen  Senecas  herausstellen,  hier  muss- 
sich  zeigen,  was  der  Mann  vermag  und  was  er  nicht  vermag. 
Vor  Allem  giebt  sich  kund,  dass  Seneca  jene  verderbliche 
Weltmacht  zu  brechen  nicht  im  Stande  ist,  aber  auch  das 
zeigt  sich,  dass  in  Seneca  eine  geistige  Potenz  wohnt,  welche 
von  der  Weltlüge  allerdings  afficirt,  aber  nicht  vernichtet  wird. 
Wer  nun  diesen  weltgeschichtlichen  Geisteskampf  bis  dahin 
verfolgt,  der  kann,  als  selbst  mitbegriffen  in  diesen  Weltkampf, 
hier  nicht  stehen  bleiben,  er  muss  fragen:  wird  der  letzte 
Geistesfunken  ausgelöscht,  oder  wird  aus  der  Mitternacht  ein 
neuer  Welttag  g^  boren  r  In  der  That  kommt  auf  der  grossen 
Schaubühne  der  römischen  Welt  eine  Geistesmacht  zur  Er- 
scheinung, welche  den  Kampf  da,  wo  Seneca  ihn  hat  liegen 
lassen,  aufnimmt  und  sieghaft  vollendet.  Aus  dem  Geheimniss 
der  unsichtbaren  Welt  tritt  die  Christenheit  auf  den  Schauplatz, 
und  im  blutigen  Ringkampf  besiegt  sie  die  auf  das  Verderben 
der  Menschheit  gerichtete  Lügenmacht.  Die  voraufgehenden 
Kämpfe  der  römischen  Menschheit,  vor  Allem  Senecas  Wider- 
stand am  römischen  Hofe  bis  zu  seinem  Martyrium,  beweisen, 
dass  es  in  diesem  Kampfe  ankommt  auf  Kraft,  nicht  physische, 
nicht    logische,    sondern    moralische.       Senecas    Geschichte   und 


Lebensende  machten  es  anschaulich,  dass  hier  das  Vollmass  der 
menschh'chen  Kraft  aufgeboten  wird,  ohne  etwas  Anderes  zu 
•erreichen,  als  die  Behauptung  der  nackten  Existenz  eines 
unfruchtbaren  Willens.  Wenn  nun  anderweitig  die  Lügenmacht 
gebrochen  wird  und  auf  dem  Boden  des  angerichteten  Ver- 
derbens eine  neue  Welt  ersteht,  wie  der  weitere  Verlauf  der 
Geschichte  zeigt,  dann  muss  eine  moralische  Kraft  vorhanden 
und  wirksam  sein,  welche  hinausragt  über  das  höchste  Mass 
•der  der  natürlichen  Menschheit  innewohnenden  Kraft,  mit  anderen 
Worten :  das,  was  in  der  Christenheit  die  verlorene  Welt  rettet 
imd  erneuert,  ist  nicht  die  natürliche  Menschenkraft,  wenn  auch 
in  der  höchsten  Potenz,  sondern  die   schöpferische  Gotteskraft. 

Auf  einem  Umwege  gelangen  wir  von  Seneca  zu  der 
Verkündigung  des  Apostels  Paulus,  ,,das  Evangelium  ist  Gottes- 
kraft zur  Rettung  für  Jeden,  welcher  glaubt"  (Rom.  i,  16). 
Dieser  Umweg  ist  lohnend,  denn  er  veranschaulicht  uns  das 
Wesen  der  Rettung  und  das  Wesen  der  Gotteskraft,  welcher 
die  Rettung  möglich  geworden  ist.  Es  ist  nämlich  ein  irre- 
führender Mangel,  dass  sowohl  in  der  lateinischen,  als  in  der 
deutschen  Uebersetzung  die  negative  Seite  des  hochbedeutsamen 
neutestamentlichen  Wortes  aojxrjpia  verdeckt  wird.  Die  neu- 
testamentliche  Anschauung  von  dem  natürlichen  Zustand  der 
Welt  und  der  Menschheit  ist  die,  dass  drohende  Gefahr  und 
Noth  vorhanden  ist  und  also  die  nächste  und  nöthigste  Hülfe 
nicht  Heil,  sondern  Rettung  ist.  Diese  Nachtseite  der  Welt 
wird  uns  durch  Senecas  Schrift  und  Wandel  in  dem  Lichte  der 
eben  angeführten  Bemerkung  des  Augustinus  in  concreten 
Zügen  offenbar.  Und  was  die  Gotteskraft  anlangt,  so  ist  es 
sehr  wesentlich,  dass  wir  in  dem  Vollmass  der  natürlichen 
Kraft,  w/e  wir  es  in  Seneca  finden,  einen  Massstab  haben,  den 
Avir  an  die  Kraft  und  Leistung  des  christlichen  Kampfes  wider 
die  abgrundmässige  Gefahr  und  Noth  der  Menschheit  legen, 
um  zu  verstehen,  wie  unendlich  weit  die  Kraft  der  Christenheit 
-die  höchste  Kraft  des  antiken  Heidenthums  überbietet. 

Die  Neigung,  Seneca  und  Christenthum  in  nahe  Verwandt- 
schaft zu  bringen,  geht  durch  alle  Jahrhunderte.  Diese  Neigung 
tritt  aber  sehr  häufig  in  entgegengesetzter  Weise  der  Wahrheit 


6 

zu  nahe;  um  es  kurz  auszudrücken,  können  wir  sagen:  entweder 
man  säkularisirt  das  Christenthum,  oder  man  apotheosirt  den 
Seneca.  Der  Weg,  der  hier  betreten  wird,  um  die  Senecafrage 
zu  lösen,  trägt  jener  Verwandtschaft  gleichfalls  Rechnung,  sucht 
aber  die  bezeichneten  Verirrungen  zu  vermeiden. 

Wir  verhehlen  die  ganz  ungewöhnlichen  Schwächen  und 
Niederlagen  Senecas  nicht,  aber  indem  wir  dieselben  aus  seiner 
Stellung  am  Cäsarhofe  zu  verstehen  suchen,  können  wir  vor- 
nämlich auf  dem  Grunde  des  Berichtes  von  Tacitus  iiber  sein 
Martyrium  den  Glauben  an  eine  in  ihm  wohnende  moralische 
Persönlichkeit  festhalten.  Damit  aber,  dass  dieser  Kämpfer  in 
der  Geistesschlacht  wenigstens  seinen  Schild  gerettet  hat,  weist 
er  über  sich  selbst  hinaus.  Denn  nach  einer  Weltanschauung, 
welche  in  den  grossen  Kampf  einen  Blick  gethan,  kann  der 
siegreiche  Widerstand  das  Ende  nicht  sein.  Der  Kampf  wird 
fortgesetzt  und  die  Summe  der  moralischen  Kraft  des  antiken 
Heidenthums  wird  zum  weltgeschichtlichen  Zeugniss,  dass. die 
Kraft  der  christlichen  Kämpfer  göttlichen  Ursprunges  ist. 

Mit  der  Frage  nach  der  weltgeschichtlichen  Bedeutung 
Senecas  habe  ich  die  ganze  Hinterlassenschaft  desselben  unter- 
sucht und  also  auch  die  9  Tragödien,  natürlicli  mit  Ausschluss 
der  zehnten,  der  allgemein  als  unächt  anerkannten  ,,Octavia", 
herangezogen.  Der  sententiöse  Inhalt  der  Tragödien  bietet  für 
das  in  den  prosaischen  Schriften  h^nthaltene  hin  und  v/ieder 
Bestätigungen  und  Erklärungen  (S.  F.  Leo :  De  Senecae 
tragoediis,  p.  147  —  59).  Es  gilt  das  auch  in  zweiter  Linie  von 
den  beiden  Tragödien:  ,, Agamemnon"  und  ,, Hercules  Octaeus", 
welche  R.  Bentley  dem  Seneca  abgesprochen,  denn  die  beiden 
neuesten  Herausgeber  der  Tragödien  Senecas,  R.  Peiper  und 
G.  Richter,  welche  diese  Ansicht  Bentleys  theilen,  bekennen 
ausdrücklich,  dass  die  beiden  Tragödien,  deren  Aechtheit 
bestritten  wird,  sich  offenbar  den  ächten  Seneca  zum  Vorbild 
genommen  haben  (Praefatio  p.  8).  Auch  die  nicht  unwichtigen 
Fragmente,  worunter  ich  die  im  dritten  Bande  der  Ausgabe 
von  Friedrich  Haase  p.  418 — 6^  enthaltenen  verstehe,  sind 
berücksichtigt  worden.  Citirt  wird  in  Folgendem  nach  der 
Handausgabe   von    F.  Haase  III  Vols.    Lipsiae   1852  und   1853. 


Gäbe  es  nun  eine  erhebliche  Veränderung  in  der  Gesinnung" 
und  Denkart  Senecas  in  dem  einen  Zeitraum  von  20  Jahren 
umfassenden  Schriftthum  desselben,  so  müssten  wir  uns  in  die 
genauere  Untersuchung  über  die  Zeitfolge  dieser  Schriften, 
welche  von  Ruhkopf  u.  A.  angestellt  ist,  einlassen.  Aber  eine 
solche  für  den  hier  zAir  Frage  stehenden  Gesichtspunkt  inhalt- 
lich erhebliche  Veränderung  ist  nicht  nachweisbar.  Zwar  spricht 
Seneca  in  seinen  Briefen  an  Lucilius  von  seiner  späten  Bekehrung 
zur  wahren  Weisheit,  meint  damit  aber  nicht  eine  fort- 
geschrittene Weltansicht,  sondern  die  längst  ersehnte  und  spät 
erlangte  Zurückziehung  vom  öffentlichen  Leben  in  seinen  letzten 
Jahren.  Das  früheste  nachweisliche  Datum  seiner  Schrift- 
stellerei  ist  die  Zeit  seines  Exils  auf  Corsica  unter  Claudius, 
als  er  bereits  sein  vierzigstes  Lebensjahr  überschritten  hatte. 
Diesei^eit  gehören  erwiesenermassen  die  Schriften  ,,ad  Helviam", 
,,ad  Polybium"  und  die  9  Epigramme  an.  In  diesen  Schriften 
findet  sich  im  Wesentlichen  ganz  dieselbe  überwiegend  stoische 
Denkart,  die  uns  in  den  spätesten  Schriften,  den  Briefen  an 
Lucilius  und  in  den  Quaestiones  naturales  begegnet ;  aber  daneben 
auch  dieselbe  aus  verschiedenen  Systemen  schöpfende  Weitherzig- 
keit in  Anbequemung  an  die  gegebenen  Zeitverhältnisse,  welche 
Inconsequenzen  ebenfalls  in  den  Briefen  an  Lucilius  vorkommen. 
Man  kann  also  nicht  sagen,  dass  erst  die  Erfahrungen  am  Hofe 
Neros  ihm  diese  Inconsequenzen  aufgenöthigt  hätten.  Waren 
ja  doch  auch  die  Erlebnisse,  welche  Seneca  unter  Caligula  und 
Claudius  vor  Augen  hatte  und  an  sich  selber  machte,  den 
späteren  am  Hofe  Neros  im  Wesentlichen  gleichartig.  Ein 
wichtiges  Moment  in  unserer  Untersuchung  ist  der  bekannte 
Parallelismus  vieler  Sätze  Senecas  mit  den  Gnomen  der  Bibel. 
Aber  auch  in  dieser  Beziehung  ist  die  Zeitfrage  von  keinem 
Belang,  denn  dieser  Parallelismus  findet  sich  bereits  in  den 
frühesten  Schriften  (Kreyher  p.  128  und  129).  Wir  sind  also 
berechtigt,  für  unsern  Zweck  von  der  Zeitfolge  der  Schriften 
Senecas  abzusehen. 


Seneca  in  dem  Urtheil  der  Jahrhunderte. 


Die  Persönlichkeit  und  die  Geschichte  des  Sokrates  hat 
zu  allen  Zeiten  die  Aufmerksamkeit  der  christlichen  Wissenschaft 
auf  sich  gezogen,  und  bei  jeder  kommenden  Epoche  der 
Theologie  wird  diese  hervorragende  einzigartige  Erscheinung 
der  antiken  Welt  den  christlichen  Forschergeist  auf's  Neue 
beschäftigen.  Aber  den  Hauptantheil  an  dem  Verständniss 
und  an  der  Würdigung  dieses  höchst  einflussreichen  und  ehr- 
würdigen Denkers  hat  immer  die  Alterthumswissenschaft  und 
die  Geschichte  der  Philosophie  für  sich  in  Anspruch  genommen, 
und  so  wird  es  auch  in  Zukunft  bleiben.  Ganz  anders  steht 
die  Sache  mit  Seneca.  Die  Philosophie  und  Historie  hat  an 
diesem  Schriftsteller  überwiegend,  so  zu  sagen,  nur  ein  stoff- 
liches Interesse,  gegen  ein  persönliches  Verhältniss  zu  ihm 
verhält  sie  sich  vielfach  abweisend,  ja  nicht  selten  verurtheilend. 
Dagegen  hat  die  Kirche  von  den  ersten  Zeiten  an  bis  heute 
eine  merkwürdige  und  nachhaltige  Sympathie  für  ihn  bekundet.'^) 
Wäre  nun  jene  kühle  Abweisung  oder  die  gar  nicht  selten 
strenge  Verurtheilung  Senecas  von  Seiten  der  weltlichen 
Wissenschaft  objectiv  begründet,  dann  A\ürde  die  starke  und 
zähe  Sympathie  der  Kirchenmänner  auf  einem  vollständigen 
und  schmachvollen  Missverständniss  beruhen.  Allein,  wenn 
man  auch   zugeben  würde,    dass   in    dieser  Sympathie   viel  Un- 


*)  Die  bereits  genannte  Schrift  von  Kreyher  hat  es  sogar  gewagt,  in  dem 
Theophilus  (Luc.  i,  3  u.  Apostelgeschichte  i,  i)  und  in  dem  das  Veiderben 
Aufhaltenden  (2.  Thessal.  2.   7)  den  Seneca  zu  vermulhen. 


9 

klarheit,  Inthuni  und  auch  Selbstwiderspruch  zum  Vorschein 
kommen,  so  wird  man  doch  niclit  umhin  können,  für  eine  so 
beharrh'che  Zuneigung  der  christlichen  Jahrhunderte  einen 
gewissen  richtigen  Instinkt  vorauszusetzen.  Wie  nun  die  ent- 
gegengesetzten (Jrtheile  ijbcr  Seneca  dermalen  vorliegen,  so 
schliessen  sie,  für  sich  betrachtet,  eine  Ausgleichung  aus.  Die, 
welche  das  tadelnde  und  verwerfende  Urtheil  vertreten,  fühlen 
nicht  das  Bedürfniss,  sich  mit  den  Lichtseiten  Senecas  aus- 
einander zu  setzen,  und  die,  welche  ihn  für  ein  Orakel  der 
Wahrheit  oder  für  einen  ganzen  oder  halben  Christen  halten, 
geben  uns  keinen  Aufschluss,  wie  sie  die  unleugbaren  Schatten- 
seiten dieses  moralischen  Meisters  erklären. 

Verschaffen  wir  uns  zunächst  eine  Uebersicht  über  den 
Befund  dieses  merkwürdigen  Widerspruches. 

Derselbe  verständnissvolle  Aurelius  Victor,  welcher  über 
Nero  urtheilt,  wie  es  zu  erwähnen  widerlich  sei,  dass  überhaupt 
ein  Beherrscher  der  Völker  dieser  Art  existirt  habe,  berichtet, 
Trajan  habe  die  ersten  5  Jahre  des  Nero  gelobt.  Was  nun  die 
Naturanlage  des  Nero  anlangt,  so  erzählt  Sueton,  sein  Vater 
Domitius  habe  gesagt:  ,,was  von  mir  und  der  Agrippina 
gezeugt  wird,  kann  nur  etwas  Entsetzliches  sein."  (Nero  VI) 
Demnach  wird,  was  Löbliches  von  der  ersten  Regierungszeit 
Neros  zu  rühmen  sein  mag,  auf  den  seiner  jugeiid  gewidmeten 
erziehlichen  Einfluss  zurückgeführt.  Die  vornehmsten  Rath- 
geber  Neros  in  seiner  ersten  Regierungszeit  waren  der 
Philosoph  Seneca  und  der  Praefekt  Burrus,  von  denen  Seneca 
den  Knaben  Nero  5  Jahre  vor  dem  Antritt  der  Regierung 
unterrichtet  und  erzogen  hat. 

Der  moralische  Ruf,  in  welchem  Senecas  Name  gleich- 
zeitig und  in  der  nächsten  P^olgezeit  steht,  wird  unter  Anderem 
getragen  von  der  guten  Meinung,  welche  von  dem  heilsamen 
Einfluss  des  Philosophen  auf  die  Jugend  Neros  gehegt  wurde. 
(Merivale  :  history  of  the  Romans  under  the  empire,  VI  1 1 5  u.  1 16.) 
Columella,  Zeitgenosse  und  Landsmann  Senecas,  spricht  mit 
grosser  Anerkennung  von  ihm  und  nennt  ihn  einen  Mann  von 
ausgezeichneter  Geistesanlage  und  Gelehrsamkeit.  Plinius  der 
Aeltere  nennt  ihn  einen  P^ürsten  der  Wissenschaft,   der  erhaben 


10 


sei  über  die  Bewunderung  der  Eitelkeiten.  Ein  grosses  Lob 
von  diesem  strengen  Forscher  und  Schriftsteller,  diesem  Kriegs- 
obersten zu  Wasser  und  zu  Lande.  Obwohl  Quintilian  vom 
rhetorischen  Standpunkt  aus  Vieles  an  Seneca  auszusetzen  hat, 
will  er  es  doch  auf  keinen  Fall  Wort  haben,  als  ob  er  diesen 
Schriftsteller,  der  zu  einer  gewissen  Zeit  der  einzige  Liebling 
der  Jugend  war,  verwerfen  wolle.  Quintilian  giebt  zu,  dass 
Seneca  viele  vortreffliche  Gedanken  vortrage,  dass  der  Gehalt 
seiner  Schriften  gewichtig  sei,  dass  Vieles  bei  ihm  zu  billigen 
und  zu  bewundern  sei,  er  nennt  ihn  nicht  blos  einen  vortreff- 
lichen Sittenrichter  der  Laster,  sondern  riihmt  auch  seine 
Fähigkeit,  auszuführen,  was  er  sich  vorgenommen:  ,,egregius 
vitiorum  insectator,  natura  quod  voluit  effecit"  (Inst.  X  i 
125 — 31).  Den  reichhaltigen  Tadel  schliesst  also  Quintilian 
mit  der  Anerkennung  einer  Seneca  innewohnenden,  nicht 
gewöhnlichen,  moralischen  Kraft.  Der  charakterlose  Martial 
kann  für  sich  selber  Seneca  in  moralischer  Hinsicht  weder 
Etwas  geben,  noch  Etwas  nehmen,  aber  wenn  dieser  Epigram- 
matiker die  l'^amilie  der  Annaei»  seiner  spanischen  Landsleute, 
in  welcher  Lucius  der  V^ornehmste  war,  rühmend  erwähnt, 
dann  haben  wir  darin  die  (iffentliche  Meinung  zu  erkennen. 
Mehr  zu  bedeuten  aber  hat  es,  wenn  der  strenge  Juvenal,  der 
den  grossen  Reichthum  Senecas  kennt,  den  Stoiker  wegen 
seiner  Freigebigkeit  belobt,  und  sogar  anspielt  auf  den  an- 
geblichen Plan  von  Einigen  der  mit  Piso  Verschworenen,  den 
Seneca  wegen  seiner  hervorragenden  Tugenden  auf  den  Thron 
Neros  zu  setzen  (VIII  21  2,  cfr.  Tacitus:  Ann.  IV  65).  Plinius 
der  Jüngere  nennt  Seneca  unter  denen,  welche  auch,  wenn  sie 
sich  einmal  in  Scherzen  ergehen,  ihr  moralisches  Ansehen  nicht 
verlieren,  und  ausserdem  weisen  manche  Sätze  dieses  Schrift- 
stellers allem  Anscheine  nach  auf  Lektüre  und  Hochschätzung 
des  Seneca  zurück  (P2p.  II  4  7).  Da  die  ,,Octavia",  die  dem 
Seneca  allgemein  abgesprochen  wird,  aus  einer  Zeit  stammt, 
in  welcher  das  Andenken  unseres  Philosophen  noch  lebendig 
war,  so  gehört  diese  Tragödie,  in  welcher  die  Tugend  und 
Weisheit  Senecas  gefeiert  wird,  zu  denjenigen  Zeugnissen, 
welche    für    den    moralischen    Charakter    desselben    einstehen. 


11 

Eine  ganz  hervorragende  Bedeutung  für  und  über  Seneca  hat 
Tacitus.  Man  hat  in  jüngster  Zeit  das  Vollmass  arcliivaUscher 
Studien  an  Tacitus  vermisst,  vergisst  aber  bei  diesem  Tadel 
nur  zu  leicht,  dass  Tacitus  in  einem  ungewöhnHchen  Grade 
begabt  ist  mit  derjenigen  Eigenschaft,  welche  Luther  mit  Recht 
als  das  vornehmste  Erforderniss,  als  die  eigentliche  Kardinal- 
tugend eines  Historikers  preist,  nämlich  den  ,, löwenherzlichen 
Muth"  überall  die  Wahrheit  zu  sagen,  auch  wenn  sie  Anderen 
Schmerzen  macht  ,  auch  wo  sie  einem  selbst  wehe  thut. 
Tacitus  hat  seinen  scharfen  psychologischen  Blick  überall  vor- 
nämlich gerichtet  auf  den  moralischen  Gehalt  der  Personen, 
der  Zustände  und  der  Ereignisse,  über  welche  er  zu  berichten 
hat,  und  dabei  scheut  er  sich  nicht,  den  Leser  in  die  ganze 
Tiefe  der  hoffnungslosen  Verderbniss  der  römischen  Welt 
hineinschauen  zu  lassen,  ohne  den  eignen  namenlosen  Schmerz, 
der,  wie  Niebuhr  sagt,  den  eigentlichen  Stil  des  Tacitus- 
gebildet,  dem  sinnigen  Leser  zu  verhehlen.  Dieser  tiefe 
Schmerz  über  den  unabwendlichen,  nach  dem  Rath  der 
,, zürnenden  Götter"  sich  vollziehenden  Niedergang  und  Unter- 
gang des  römischen  Lebens  und  Wesens  ist  das  edle  Salz, 
welches  der  Taciteischen  Geschichtsschreibung  einen  unnach- 
ahmlichen Reiz  verleiht  und  eine  auf  dem  profanen  Gebiet 
beispiellose  Glaubwürdigkeit  verbürgt.  Nach  diesem  Charakter 
der  Geschichtsschreibung  des  Tacitus  ist  es  natürlich,  dass 
derselbe  in  der  Geschichte  des  Neronischen  Kaiserthums  sich 
viel  und  mit  Vorliebe  mit  Seneca,  dem  Erzieher,  späteren 
Minister  und  vertrauten  Rathgeber  des  Nero,  beschäftigt.  Im 
Ganzen  ist  es  richtig,  was  Lipsius  ad  Ann.  XIII  i8  bemerkt, 
Tacitus  sei  dem  Seneca  überall  wohl  geneigt  und  freundlich 
gesonnen.  Aber  diese  wohlwollende  Gesinnung  und  Haltung 
des  Historikers  dem  Philosophen  gegenüber  ist  durchaus  nicht 
kritiklos.  Für  seine  Nachrichten  über  Seneca  beruft  sich 
Tacitus  dreimal  auf  P'^abius  Rusticus  (Ann.  XIII  20,  XIV  2, 
XV  62).  Diesen  Historiker  Fabius  Rusticus  schätzt  Tacitus 
so  hoch,  dass  er  ihn  mit  Livius  zusammenstellt.  Aber  da 
Tacitus  nicht  unterlässt,  zu  bemerken,  dass  Rusticus,  weil  mit 
Seneca  befreundet,    geneigt  sei,    ihn   zu   loben    (Ann.   XIII  20), 


12 

so  ist  klar,  dass  Tacitus  sich  zu  schützen  sucht  vor  einseitiger 
Parteihchkeit  zu  Gunsten  Senecas,  es  hat  demnach  seine  dem 
Seneca  gespendete  Anerkennung  natürhch  um  so  grösseres 
Gewicht.  Tacitus  parallehsirt  das  tragische  Ende  der  beiden 
Männer,  Senecas  und  Thraseas,  welche  beide  wegen  ihrer 
Tugenden  als  Opfer  der  despotischen  Grausamkeit  Neros  fallen 
mussten.  Beide  will  Tacitus  durch  seinen  Bericht  über  ihren 
Tod  als  freimüthige  Bekämpfer  der  Tyrannei  gleicherweise 
ehren,  es  ist  aber  offenbar,  dass  er  dem  Thrasea  den  Sieges- 
preis zuerkennt.  Diesen  nennt  er:  ,,virtus  ipsa"  —  die  Tugend 
selbst,  ein  so  eihabenes  Lob  kann  er  bei  allem  Wohlwollen 
Seneca  nicht  zuerkennen.  Es  ist  Verschiedenes,  was  er  über 
diesen  Philosophen  ,  in  aula"  berichtet,  wobei  er  seinen  Tadel 
nicht  zurückhält.  Die  Cäsaren  vor  Nero  hielten  darauf,  ihre 
Staatsreden  selbst  zu  verfassen,  Nero  war  der  erste,  der  sich 
für  seine  Staatsreden  einer  fremden  Eeder  und  Zunge  bediente. 
Sein  früherer  Instructor  Seneca  wurde  sein  Kabinetssekretair 
und  sein  Sprecher  im  vSenat.  Nach  Quintilian  (XIII  5  18) 
schreibt  Seneca  im  Namen  des  Nero  an  den  Senat.  Dabei 
kann  Tacitus  die  Rüge  nicht  unterdrücken,  dass  Seneca  in 
dieser  Thätigkeit  einer  Eitelkeit  gefröhnt  habe,  entweder  mit 
seinen  moralischen  Grundsätzen  de  dementia  oder  mit  seiner 
Gelehrsamkeit  zu  glänzen  (Ann.  XIII  12).  Viermal  ferner 
erwähnt  Tacitus  die  Thatsache,  dass  Seneca  bei  der  ersten 
Ausschweifung  des  jungen  Kaisers  freilich  in  der  Absicht,  um 
Schlimmeres  zu  verhüten,  betheiligt  gewesen.  Seneca  und 
Burrus  suchten  Nero,  der  an  seiner  Gemahlin  Octavia,  der 
Kaisertochter,  kein  Gefallen  fand,  also  den  Weg  der  Tugend 
zu  betreten  sich  weigerte,  um  offenbare  Aergernisse  zu  ver- 
meiden, bei  sogenannten  erlaubten  Genüssen  festzuhalten 
(Ann.  XIII  2  12  13,  XIV  2).  Es  wird  dabei  dem  Tacitus 
nicht  entgangen  sein,  dass  dieses  Verhalten  des  Stoikers  mit 
seinen  Grundsätzen  in  Widerspruch  steht.  Denn  Seneca  lehrt 
ausdrücklich,  dass  unter  keinen  Umständen  Gutes  durch  Böses 
erreicht  werden  kann  (De  ira  I  9  10  12  18,  II  13).  Und  wie 
schlecht  bewährte  sich  der  bedenkliche  Rath!  Bis  zu  welchen 
Tiefen  widernatürlicher  Wollust  ist  Kaiser  Nero  herabgesunken, 


13 

nachdem  der  erste  Schritt  auf  der  Bahn  der  eheHchen  Untreue 
gethan!  (Tacit.  XIV  2,  Cassius  Dio  LXIII  13).  Unter  allen 
Gewaltthaten  Neros  wurde  keine  von  der  öffentHchen  Meinung 
so  heftig  verurtheilt,  wie  der  Mordanschlag  gegen  seine  Mutter» 
der  in  seiner  abscheulich  hinterlistigen  Gestalt  misslang  und 
dann  mit  brutaler  Gewalt  ausgeführt  wurde.  Von  einer  Mit- 
schuld Senecas  an  dem  anfänglichen  Plan  des  Muttermordes 
will  Tacitus  nichts  wissen,  dagegen  berichtet  er  ohne  Hehl, 
dass  Seneca  das  Schreiben  verfasst,  in  welchem  Nero  vor  dem 
Senat  die  Ermordung  seiner  Mutter  durch  eine  offenbare  Lüge 
zu  rechtfertigen  gesucht  (Ann.  XIV  11).  Da  Quintilian  aus 
dieser  Rede  ein  rhetorisches  Beispiel  unter  dem  Namen  Senecas 
anführt,  so  muss  diese  Rede  als  ein  unbestreitbares  Product 
unseres  Stoikers  bekannt  gewesen  sein  (Instit.  VIII  5  18). 
Tacitus  verschweigt  nicht,  dass  diese  Thatsache  öffentlichen 
Unwille  I  gegen  Seneca  erregt  habe  (Ann.  XIV  11).  Hätte 
Tacitus  von  dem  späteren  Beispiel  des  Juristen  Papinian, 
welcher  dem  Tyrannen  Caracalla,  der  von  ihm  die  Vertheidi- 
gung  des  Brudermordes  verlangte,  antwortete:  ,,ein  Brudermord 
ist  leichter  ausgeführt,  als  vertheidigt",  Kunde  gehabt,  so 
würde  er  wahrscheinlich,  wie  Edward  Gibbon,  die  Unthat 
Senecas  durch  dieses  Beispiel  beleuchtet  haben.  Auch  von 
einer  anderen  Rede  Senecas,  welche  Nero  im  Senat  vortrug, 
berichtet  Tacitus.  Dieselbe  hat  zwar  nicht  einen  gleichen 
sittlichen  Unwillen  hervorgerufen,  aber  sie  hat  durch  ihre 
lügenhafte  Uebertreibung  allgemeines  Lachen  erregt,  es  war 
die  Lobrede  auf  den  vergifteten  Kaiser  Claudius  (Ann.  XIII  3). 
Also  nicht  wenige  und  geringe  Verstösse  hat  Tacitus  von 
dem  Philosophen  am  Hofe  des  Nero  berichtet.  Dessungeachtet 
steht  für  diesen  strengen  historischen  Sittenrichter  der  Total- 
eindruck Senecas,  als  der  einer  moralischen  Persönlichkeit, 
unzweifelhaft  fest.  Seneca  und  Burrus  werden  von  Tacitus  als 
die  guten  Geister  bezeichnet,  welche  den  äussersten  Excessen 
der  dämonischen  Natur  des  Kaisers  Widerstand  leisteten 
(Ann.  XIII  2,  XIV  14).  Aber  fast  noch  grösser  gilt  der 
moralische  Werth  des  Widerstandes,  den  die  Beiden  nach 
Tacitus   gegen  die  rasende  Herrschsucht   der  Kaisermutter  auf- 


14 

geboten,  denn  Beide  waren  durch  eben  diese  Agrippina  zu 
ihren  hohen  Stellen  gelangt  (Ann.  XII  37  57,  XIII  2  14). 
Ferner  berichtet  Tacitus,  dass  Seneca  Kunde  hatte  von  der 
wider  ihn  schleichenden  Verleumdung  durch  diejenigen,  „denen 
das  Gute  noch  etwas  galt"  (Ann.  XIV  53).  In  der  allgemeinen 
Verderbniss  kennt  also  Tacitus  einen  Kreis  von  solchen,  die  er 
als  die  Guten  und  Edlen  bezeichnet,  und  mit  diesen  steht  Seneca 
nach  Tacitus  in  vertrauter  Gemeinschaft.  Wenn  nun  Tacitus 
des  Gerüchtes  Erwähnung  thut,  dass  unter  den  Verschworenen 
des  Piso  der  Plan  bestanden,  den  Seneca  wegen  seiner  hervor- 
ragenden Tugend  und  Unbescholtenheit  auf  den  Thron  zu 
erheben,  so  will  er  ohne  Zweifel  soviel  damit  sagen,  dass 
Seneca  in  dem  Kreise  der  Patrioten  ein  hohes  sittliches  Ansehen 
genossen  hat.  Tacitus  unterlässt  auch  nicht,  einzelne  moralische 
Züge  aus  den  letzten  Zeiten  Senecas  anzuführen:  Seneca  will 
unverworren  sein  mit  der  sacrilegischen  Beraubung  der  Tempel, 
<larf  sich  auch  noch  am  Ende  seiner  Laufbahn  berufen  auf 
seine  gegen  den  Kaiser  aufrecht  erhaltene  PVeimüthigkeit,  und 
wenn,  wie  Tacitus  schreibt,  die  Ermordung  Senecas  dem  Nero 
sehr  erwünscht  gewesen,  so  liegt  darin  das  beste  Zeugniss,  dass 
Seneca  bis  zu  seinem  Ende  für  Nero  ein  lebendes  Gewissen 
gewesen  ist  (Ann.  XV  60).  Vor  Allem  aber  ist  der  ausführ- 
liche Bericht  des  Tacitus  über  den  Tod  des  Seneca,  dessen 
hohe  Bedeutung  wir  später  genauer  erörtern  müssen,  ein 
bestätigendes  Siegel  für  die  Hochschätzung,  mit  welcher  der 
strenge  Historiker  den  moralischen  Werth  des  Seneca  geehrt 
wissen  will. 

Das  Zeugniss  des  Tacitus  über  und  für  Seneca  ist  dadurch 
ausgezeichnet,  dass  obwohl  die  grossen  Aergernisse  in  dem 
Verhalten  des  Seneca  am  Hofe  des  Nero  nicht  verschwiegen 
werden,  ja  auch  nicht  ungerügt  bleiben,  dennoch  im  Ganzen 
und  Grossen  der  Philosoph  in  seiner  hohen  versuchungsvollen 
Weltstellung  als  eine  bedeutsame  moralische  Persönlichkeit 
beglaubigt  erscheint.  Allerdings  wird  der  Gegensatz  des  Guten 
und  Bösen  in  Seneca  von  dem  Historiker  nicht  ausgeglichen, 
aber  da  Beides  neben  einander  festgehalten  wird,  kann  uns  das 
als    ein    vorläufiger,    später   weiter    zu   verfolgender   Fingerzeig 


15 

sein,  dass  bei  den  sich  widersprechenden  Urtheilen  über  Seneca 
doch  schHesshch  an  einer  Lösung  nicht  zu  verzweifeln  sein 
dürfte. 

Noch  bei  seinen  Lebzeiten  erfuhr  Seneca  den  scharfen 
Widerspruch  der  über  seinen  Charakter  verlautenden  Urtheile. 
Trotz  des  moralischen  Ansehens,  in  welchem,  wie  wir  gesehen, 
Seneca  bei  den  besseren  Zeitgenossen  stand,  erhob  sich  ein 
öffentlicher  Ankläger,  der  auf  ihn  die  schwersten  Beschuldi- 
gungen häufte.  Suilius,  ein  berufsmässiger  Sachwalt  und  An- 
kläger, •■••■)  machte  dem  Seneca  den  Vorwurf,  dass  er  ein  todtes 
Wissen  pflege  (studia  inertia)  und  nur  mit  unerfahrenen  Jüng- 
lingen verkehre,  dass  er  im  Hause  des  Claudius  mit  des 
Kaisers  Nichte  Julia  Buhlerei  getrieben  und  deshalb  verbannt 
worden,  vor  Allem  aber  beschuldigte  er  ihn,  dass  er  im  Wider- 
spruch mit  seinen  philosophischen  Grundsätzen  ein  fürstliches 
Vermögen  erworben  und  die  Provinzen  drücke  mit  seinem 
W'ucher  (Tacit. :  Ann.  XIII  42).  Obwohl  Suilius  verurtheilt 
wurde,  bemerkt  doch  Tacitus,  dass  diese  Verurtheilung  nicht 
ohne  Benachtheiligung  der  Ehre  des  Seneca  erfolgte,  womit 
ohne  Zweifel  angedeutet  werden  soll,  dass  bei  der  stattgehabten 
Verhandlung  die  Beschuldigungen  sich  als  nicht  ganz  grundlos 
-erwiesen.  Tacitus  verschweigt  auch  nicht,  dass  später  noch 
Andere  als  Suilius  dem  Seneca  sein  über  das  Mass  eines 
Bürgers  hinaus  gewachsenes  Vermögen  zum  Vorwurf  machten 
(Ann.  XIV  52).  Es  scheint  aber  nicht,  dass  diese  Vorwürfe 
bei  den  Zeitgenossen  nachhaltigen  Eindruck  gemacht  haben, 
denn,  wie  wir  gesehen,  ist  das  Lob  Juvenals  eine  vollständige 
Freisprechung  Senecas  von  dieser  Beschuldigung.  Indessen 
ein  Jahrhundert  später  wachen,  wie  wir  sehen  werden,  alle  die 
Anklagen  des  Suilius  wieder  auf. 

In  ethischer  Beziehung  bleibt  im  Ganzen  der  Ruhm 
Senecas  während  des  ersten  Jahrhunderts  unangetastet,  anders 
ist  es  in  ästhetischer  Hinsicht.  Ein  neuester  Historiker  nennt 
Seneca    ,,den  glänzendsten  Geist    seiner  Zeit"    (Geschichte  des 


*)    Peter:    römische    Geschichte    III    276.     Nach    Scaliger    und  Heinsius 
derselbe,  an  den  der  Brief  des  Ovid  „ex  Ponto"  (IV  8)  gerichtet  ist. 


16 

römischen  Kaiserreichs  unter  der  Regierung  des  Nero  von 
H.  Schiller  1872  p.  215).  OtTenbar  war  dies  auch  das  allgemein 
verbreitete  Urtheil  der  Zeitgenossen.  Tacitus  führt  Seneca  ein 
als  einen  den  Sitten  damaliger  Zeit  wohlgefälligen  Geist 
(Ann.  XIII  3).  Dass  der  Kaiser  Caligula  über  die  Schrift- 
stellerei  Senecas  verächtlich  spricht  und  seinen  Stil  ,,Sand  ohne 
Kalk"  genannt  hat  (Sueton:  Caligula  LIII),  ist  bei  der  bekannten 
Missgunst  dieses  Kaisers  gegen  literarische  Vorzüge  eher  als 
ein  Zeugniss  für  den  literarischen  Ruhm  des  Emporkömmlings 
aus  Cordoba  zu  betrachten.  Trotz  seines  mehrjährigen  Exils 
auf  Corsica  erblasst  der  Glanz  seines  gelehrten  Namens  so 
wenig,  dass  Agrippina,  offenbar  bewogen  durch  seinen  literari- 
schen Ruf,  den  Verbannten  nach  Rom  zurückruft  und  ihm 
ihren  elfjährigen  Sohn  Domitius,  den  nachherigen  Kaiser 
Nero,  zur  Unterweisung  übergiebt  (Tacit.  Ann.  XII  2,  Sueton 
Nero  VII). 

Mit  Quintilian  tritt  eine  Wendung  ein  in  dem  Urtheil  über 
Senecas  Stil.  Bei  aller  Anerkennung  der  Persönlichkeit  Senecas 
tadelt  Quintilian  in  wiederholten  Wendungen  den  verderbten 
und  durch  viele  Mängel  geschwächten  Stil  desselben  und  beklagt, 
dass  er  den  gewichtigen  Inhalt  seiner  Schriften  durch  kiemlich 
zerstückelte  Satzformen  geschädigt  habe  (Instit.  X  i  130), 
Dieses  Missfallen  an  dem  Stil  des  einst  so  gefeierten  Lieblings 
der  römischen  Jugend  wird  im  weiteren  Verlauf  eine  herrschende 
Geringschätzung.  Nach  dem  Geschmack  der  zweiten  Hälfte 
des  zweiten  Jahrhunderts  galt  als  hohe  Autorität  in  literarischen 
Dingen  Cornelius  Fronto.  Nachdem  seine  opera  von  Angelo 
Mai  entdeckt  und  herausgegeben  sind  (18 16),  wird  Jedermann 
Niebuhr  Recht  geben,  dass  dieser  Mann  in  hohem  Grade 
geistlos  ist  (Vorträge  über  römische  Geschichte  III  232 — 44). 
Aber  als  Lehrer  der  beiden  Kaiser  Marcus  Aurelius  und  Lucius 
Verus  hatte  er,  dem  damaligen  Geschmack  entsprechend,  ein 
noch  für  lange  entscheidendes  Ansehen,  wie  die  Testimonia 
veterum  de  Frontone  bei  Mai  (p.  107  —  II2)  ergeben.  Dieser 
Aristarch  einer  im  Untergang  begriffenen  Literaturperiode 
spricht  von  Seneca  ganz  geringschätzig.  Fronto  erstreckt 
seinen  Tadel    auch    auf   den  Neffen    des    Seneca,    den   Dichter 


17 

"Lucanus.  Die  opera  p.  178  über  Seneca  hingeworfene  scheinbar 
anerkennende  Aeusserung  wird  mit  Mai  für  Ironie  zu  halten 
sein.  Zeitgenosse  und  Bewunderer  Frontos  ist  A.  Gelhus 
(N.  A.  II  26,  XIII  27,  XIX  8  und  10).  Kein  Wunder,  dass 
derselbe  sich  gleichfalls  ein  sehr  abschätziges  Urtheil  über 
Seneca  erlaubt.  Für  Gellius  ist  das  Verwerfungsurtheil  über 
Seneca  schon  dadurch  vollzogen,  dass  er  gewagt  hat,  den  Stil 
von  Ennius,   Cicero  und  Virgil  zu  kritisiren  (N.   A.  XII  2). 

Nichts  aber  beweist  deutlicher  die  gänzliche  Abwendung 
des  öffentlichen  Urtheils  in  Rom  von  dem  Stoiker  Seneca,  wie 
das  absolute  Stillschweigen  Marc  Aureis  über  seinen  einst  so 
bewunderten  Gesinnungsgenossen.  Nicht  bloss  verschweigt  dieser 
Kaiser  in  seinen  Selbstgesprächen  da,  wo  er  die  berühmten 
stoischen  Auctoritäten  aus  der  früheren  Römerzeit  anführt,  den 
Namen  Senecas  (Comment.  I  14),  sondern  auch  nirgends  sonst 
beruft  er  sich  auf  denselben.  Und  doch  stand  dem  Stoiker  auf 
dem  Thron  geistig  keiner  so  nahe,  keiner  war  ihm  so  verwandt, 
wie  derjenige  Meister  der  Stoa,  der  einst  dem  Kaisersitz  am 
nächsten  gestanden  und  an  dessen  Sentenzen  die  kaiserlichen 
Monologen  Marc  Aureis  unzählig  oft  erinnern.  Dieses  absolute 
li^noriren  Senecas  von  Seiten  Marc  Aureis  ist  wohl  nur  daraus 
zu  erklären,  dass  neben  den  stilistischen  Verstössen  Senecas 
gegen  den  herrschenden  Zeitgeschmack  auch  das  Andenken 
an  seine  moralischen  Anstösse  im  Laufe  der  Zeit  das  Ueber- 
gewicht  über  die  frühere  Hochschätzung  seiner  sittlichen  Persön- 
lichkeit gewonnen  hatte. 

Die  letzte  Stimme  über  Seneca  aus  dem  heidnischen  Rom 
vernehmen  wir  aus  dem  grossen  Geschichtswerke  des  Cassius 
Dio  (151 — 231  p.  Chr.),  der,  ein  Kleinasiate  von  Geburt,  Sohn 
eines  angesehenen  Vaters  und  selbst  in  hohen  Stellungen,  in 
70  Büchern  eine  römische  Geschichte  verfasst  hat.  Derselbe 
hat,  reichlich  ein  Jahrhundert  nach  Seneca  lebend,  über 
Charakter  und  Leben  dieses  Stoikers  viel  Nachtheiliges  berichtet. 
Lipsius,  ein  enthusiastischer  Bewunderer  Senecas,  will  diesen 
nachtheiligen  Bericht  des  Dio  über  Seneca  daraus  erklären, 
dass  dieser  kleinasiatische  Geschichtschreiber  überhaupt  es 
geliebt  habe,  die  römischen  Patrioten,  wie  Cicero,  Brutus,  anzu- 

2 


18 

schwärzen  (Lipsius  ad  Tacit.  Ann.  XIII  42).  Dass  diese 
Ansiebt  in  ihrer  Allgemeinheit  falsch  ist,  beweist  allein  schor» 
hinlänglich  das  hohe  Lob,  welches  Dio  dem  jüngeren  Cato,. 
dem  leuchtenden  Vorbilde  aller  späteren  freiheitliebenden 
Römer  gewidmet  hat  (XLIII  11,  cfr.  XXXVII  22).  Zur 
Erklärung  und  Würdigung  der  Angaben  Dios  über  Seneca 
müssen  wir  uns  daran  erinnern,  dass  Dio  selbst  bekennt,  mit 
dem  Aufhören  der  freien  Oeffentlichkeit  bei  Einführung  der 
Monarchie  sei  die  Geschichte  unsicher  geworden  (LIII  19). 
Es  ist  dieselbe  Bemerkung,  welche  auch  Seneca  der  Aeltere  und' 
Tacitus  gemacht  haben.  Da  nun  Dio  an  der  vollen  Wahrheit 
der  Geschichte  seit  dem  Ende  der  Republik  verzweifelte,  so- 
erklärt  er,  dass  er  berichten  werde,  was  von  der  herrschenden 
Meinung  angenommen  sei  ohne  die  Wahrheit  zu  verbürgen. 
Aber  nicht  bloss  aus  dem  angegebenen  Grunde  verzichtet  Dio 
auf  Kritik.  Man  darf  nicht  übersehen,  wenn  man  seine  Berichte 
richtig  würdigen  will,  dass  er  ganz  naiv  erzählt,  wie  in  seinen 
Tagen  der  Sinn  für  Wahrhaftigkeit  ganz  abhanden  gekommen 
war.  Der  Kaiser  Pertinax  war  mit  Dio  befreundet.  Dieser 
wird  ermordet,  und  Julianus,  den  Dio  wegen  seiner  Laster 
verabscheut,  tritt  auf  als  Prätendent.  Sofort  huldigt  Dio  mit 
dem  Senat  dem  schändlichen  Usurpator.  Das  höchst  Charak- 
teristische dabei  ist  dieses,  dass  der  Historiker  Dio  diese  seine 
und  seiner  senatorischen  CoUegen  offenbare  Gesinnungslosigkeit 
und  Unwahrhaftigkeit  ohne  alles  Erröthen  selbst  bezeichnet  als 
etwas,  das  sich  bereits  von  selbst  verstand  ^LXXIII  10 — 14). 
Den  Sinn  für  geschichtliche  Wahrheit  ersetzt  bei  Dio  sozu- 
sagen sein  robuster  Aberglaube  an  Träume  und  Mirakel.  Wir 
haben  demnach  in  dem  Bericht  dieses  nicht  übelwollenden, 
aber  unkritischen  und  leichtgläubigen  Historikers  über  Seneca 
das  Bild  zu  erkennen,  welches  sich  die  römische  Welt  Ende 
des  zweiten  und  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  von  dem 
einst  berühmten  und  hochgestellten  Seneca  machte. 

Wenn,  wie  wir  gesehen,  die  massgebende  Literatur  des 
zweiten  Jahrhunderts  den  Stil  und  die  Sprache  Senecas  ver- 
urtheilt,  und  der  Philosoph  auf  dem  Thron  den  Namen  Senecas 
mit    tiefem    Stillschweigen    bedeckt,    was    sollen    wir    von    der 


19 

öffentlichen  Meinung  einer  noch  späteren,  tief  verirrten  und 
wüsten  Zeit  über  den  moralischen  Gehalt  unseres  Seneca  er- 
warten ?  Nicht  ganz  jedoch  ist  die  leuchtende  Gestalt  des 
Erziehers,  Mahners  und  Märtyrers  des  Kaisers  Nero  verdunkelt. 
Dio  erzählt,  dass,  als  Nero  einst  im  Begriffe  stand,  durch  einen 
Massenmord  ein  drohendes  Orakel  abzuwenden,  er  durch  ein 
freimüthiges  Wort  des  Seneca  davon  zurückgehalten  wurde. 
Seneca  rief  ihm  zu:  ,,so  viele  Du  auch  immerhin  tödtest, 
Deinen  Nachfolger  kannst  Du  nicht  tödten"  (LXI  i8).  Dieses 
spitze  von  Dio  berichtete  Wort  trägt  nach  Form  und  Inhalt 
den  Stempel  des  echten  Seneca;  denn  was  sich  später  Aehn- 
liches  findet,  ist  offenbar  dem  Seneca  nachgeahmt.  Auch  der 
Ruhm  des  wohlthätigen  Regimentes  der  beiden  Verbündeten 
Seneca  und  Burrus,  ist  auch  in  den  Tagen  des  Dio  noch  nicht 
völlig  erloschen  (LXI  3,  LIX  19,  LXI  48).  Auch  das  berichtet 
Dio  zum  Lobe  Senecas,  dass  er  seinen  Reichthum  Nero  zur 
Verfügung  gestellt  (LXII  25),  was  er,  nach  Tacitus,  in  einer 
ausführlichen  Rede  motivirt  hat.  Im  Uebrigen  thut  Dio  des 
Seneca  häufig  Erwähnung,  im  Ganzen  und  Grossen  im  ent- 
schieden nachtheiiigen  Sinne.  Gleich  die  erste  Erwähnung 
Senecas  bei  Dio  bringt  den  wegen  seiner  Weisheit  berühmten 
Philosophen  in  den  Verdacht  eines  Umganges  mit  einem 
berüchtigten  Frauenzimmer  (LIX  19).  Es  ist  eine  bekannte 
Sache,  und  Athenaeus  liefert  reichliche  Belege  dazu,  dass  die 
späteren  Zeiten  der  antiken  Klassicität  erfinderisch  sind  in 
erotischen  Skandalgeschichten  berühmter  Männer  der  früheren 
Epochen.  Dio  beschuldigt  den  Seneca  nicht  nur  der  Buhlerei 
mit  der  Julia,  sondern  er  geht  so  weit,  dem  Seneca  ein  ehe- 
brecherisches Verhältniss  mit  der  Kaiserin  ^grippina  vorzu- 
werfen (LXI  10).  Es  entgeht  dem  unkritischen  Historiker, 
dass  der  energische  Widerstand,  den  Seneca  der  bis  zur  Raserei 
herrschsüchtigen  Agrippina  leistete  (Tacit. :  XIII  5,  Dio;  LXI,  3}, 
bei  einem  solchen  verbrecherischen  Verhältniss  Senecas  zur 
Kaiserin  nicht  denkbar  ist.  Was  der  Ankläger  Suilius  dem 
Seneca  Schuld  gegeben,  dass  sein  Verhalten  mit  seinen  philo- 
sophischen Grundsätzen  nicht  übereinstimme,  hat  Dio  wiederholt 
und    erweitert.     Es    ist    nicht    unwahrscheinlich,    dass   Dio   bei 

2* 


20 

diesem  Tadel  die  Erfalirung  vor  Augen  hat,  welche  Marc  Aurel 
mit  den  Philosophen  am  Hofe  gemacht,  dass  nämlich  die 
Philosophen  unter  diesem  Stoiker  auf  dem  Thron  reich  w  urden 
(LXXI  35,  cfr.  Vita  Marc.  A.  XXIII,  XXIX).  Wie  Suiüus  dem 
Seneca  seinen  übermässigen  Reichthum  und  daneben  seinen 
AVucher  zum  Vorwurf  macht,  so  wiederholt  Dio  diesen  A'orwurf 
mit  dem  Zusatz,  dass  Seneca  einem  übertriebenen  Luxus  sich 
ergeben  habe  (LXI  lo).  Reimarus  bemerkt,  dass  die  Summe 
des  Vermögens,  welche  Dio  namhaft  macht,  mit  den  Zahlen 
des  Suilius  (Tacit. :  Ann.  XIII  42)  übereinstimmt,  und  dass 
dadurch  wahrscheinlich  wird,  was  auch  Lipsius  annimmt,  dass 
Dio  die  Anklage  des  berüchtigten  und  schliesslich  verurtheilten 
Delatoren  als  urkundlichen  Beweis  angenommen  hat  (II  p.  989  900, 
Kreyher:  L.  A.  Seneca,  p.  25).  Der  Vorwurf  der  geschlecht- 
lichen Sünden  Senecas  steigert  sich  bei  Dio  bis  zu  der  un- 
geheuerlichen Beschuldigung,  dass  dieser  stoische  Pädagogus 
am  kaiserlichen  Hofe  nicht  bloss  selbst  den  griechischen  Lastern 
ergeben  gewesen,  sondern  sogar  seinen  kaiserlichen  Zögling  zu 
denselben  verführt  und  angeleitet  habe  (LXI  10).  Aber  eine 
mit  diesem  entsetzlichen  Vorwurf  verbundene  Notiz  wird  durch 
das  bestimmte  Zeugniss  des  Tacitus  Lügen  gestraft.  Dio 
behauptet,  dass  Seneca  den  Nero  gebeten  habe,  ihn  nicht  zu 
küssen,  während  Tacitus  ausdrücklich  berichtet,  dass  nach  einer 
feierlichen  Konferenz  Nero  von  Seneca  unter  Umarmung  und 
Küssen  Abschied  genommen  habe  (Ann.  XIV  56).  Ferner, 
während  nach  Tacitus  Seneca  dem  ersten  Mordanschlag  Neros 
auf  die  Mutter  ganz  fernsteht  und  mit  dieser  Angelegenheit 
erst  in  Berührung  kommt,  als  der  Mord  halb  vollendet  nicht 
mehr  rückgängig  gemacht  werden  konnte,  berichtet  Dio,  dass 
Seneca  den  Kaiser  zu  dem  Muttermorde  überredet  habe  (LXI  12). 
Dass  Dio  an  dem  Trostschreiben  Senecas  ,,ad  Polybium" 
Anstoss  genommen  (LXI  10),  ist  nicht  zu  verwundern,  da 
selbst  der  begeisterte  Verehrer  desselben,  Justus  Lipsius,  an 
diesem  Brief  schweres  Aergerniss  nimmt.  Endlich,  einen  aus- 
geprägt gehässigen  Charakter  verräth  der  Bericht  Dios  über 
das  Ende  Senecas.  Während  nach  Tacitus'  ausführlichem 
und     genauem    Bericht    Seneca    angesichts    des    Todes    seine 


21 

geliebte  Gattin  zu  trösten  sucht,  sie  aber  in  römischer  Todes- 
v^erachtung  mit  ihm  zu  sterben  begehrt,  und  damit  die 
Philosophie  ihres  Mannes  durch  ihr  Beispiel  bestätigt,  fordert 
der  selbstsüchtige  Seneca  des  Dio  den  Tod  der  Paulina  und 
öffnet  ihre  Adern  (LXII  25), 

Niebuhr,  kein  Freund  des  Seneca,  schreibt:  ,,Das  Urtheil 
des  Dio  Cassius  über  Seneca  enthält  viel  Wahres  und  Richtiges, 
ist  aber  übertrieben  und  allzu  gehässig"  (Vorträge  über  römische 
Geschichte  III   185). 

Mit  diesem  entschieden  ungünstigen  Votum  entlässt  das 
iieidnische  Alterthum  den  Seneca.  Und  wie  hat  die  Renaissance 
diesen  einst  so  gefeierten  und  hochgestellten  Schriftsteller  auf- 
genommen? Ein  Hauptvertreter  der  Renaissance  hat  ein  aus- 
führliches Urtheil  über  Seneca  abgegeben.  In  der  Ausgabe 
der  Opera  L.  A.  Senecae  von  Th.  de  Juges  Genevae  1628  ist 
vorgedruckt:  ,, Judicium  Erasmi  Roterodami  de  L.  Seneca". 
,, Diesen  Schriftsteller",  schreibt  Erasmus,  ,, haben  die  alten 
Christen  mit  einem  gewissen  Eifer  für  sich  in  Anspruch 
genommen  und  ihn  beinahe  als  rechtgläubig  anerkannt".  Er 
erwähnt,  dass  diese  Ansicht  über  Seneca  in  dem  erdichteten 
Briefwechsel  zwischen  Paulus  und  Seneca  durchgeführt  sei. 
Mit  aller  Entschiedenheit  aber  erklärt  er  diesen  Briefwechsel 
für  ein  Falsum  und  giebt  den  Rath,  dass  man  den  Seneca 
nicht  als  einen  Christen,  sondern  als  einen  Heiden  lesen  soll. 
Erasmus  referirt  sodann  die  verschiedenen  Urtheile  von 
Quintilian,  Gellius,  Tacitus  über  Seneca.  Erasmus  klagt 
über  den  Mangel  an  logischer  Anlage  und  Durchführung  der 
Gedanken  in  den  Schriften  Senecas.  Was  er  in  seinen  bezüg- 
lichen Ausführungen  rügt,  beruht  auf  richtiger  Beobachtung. 
Das  feine  Urtheil  des  Humanisten  vermisst  mit  Recht  vor 
Allem  die  Formvollendung  des  Gedankens  und  des  Ausdrucks, 
diesen  unnachahmlichen  Stempel  der  antiken  Klassicität.  In- 
dessen dieser  Formmangel  hielt  Erasmus  nicht  ab,  eine 
Blumenlese  aus  Senecas  Schriften  (,,Flores  Senecae")  heraus- 
zugeben und  dabei  über  den  Inhalt  derselben  sich  sehr 
lobend  auszusprechen  (Fleury:  St.   Paul  et  Seneque  I  6). 


22 

Die  strenge  Philologie  hat  in  seinem  Tadel  dem  Erasmus 
Recht  gegeben  und  verhält  sich  daher  dem  Seneca  gegenüber 
überwiegend  kühl  und  abweisend.  Und  wenn  die  moralischen 
Anstösse,  welche  das  Leben  Senecas  bietet,  früher  durch  die 
Hochschät/Aing  der  freimüthigen  Opposition  gegen  die  cäsarische 
Tyrannei,  welche  sich  in  seinem  Martyrium  vollendet,  reichlich 
compensirt  wurden,  so  macht  sich  in  neuester  Zeit  eine  vor- 
nehme Geringschätzung  dieses  inopportunen  Restes  republi- 
kanischer Tugend  geltend,  und  so  hat  sich  neben  der  ästhetischen 
auch  noch  eine  ethische  Missstimmung  gegen  Seneca  aus- 
gebildet. Lipsius  wünschte  einst,  dass  Männer  kommen 
möchten,  welche  sich  mit  kritischem  Geschick  des  Textes  der 
Schriften  Senecas  annehmen  würden.  Dieselben  sind  gekommen. 
Aber  Schweighäuser,  Ruhkopf,  Fickert,  Haase  lassen  sich  von 
der  Begeisterung  für  den  erhabenen  Inhalt  dieser  Schriften, 
welche  Lipsius  ihnen  wünscht,  nicht  das  Mindeste  oder  doch 
nur  wenig  merken  (Epistolae  morales,  ed.  Schweighäuserp.  232), 
sie  beobachten  dem  gegenüber  eine  sehr  bemessene  Zurück- 
haltung (J.  Lipsii  opera  I  783,  Ves.  1675).  Da  jedoch  dieser  Schrift- 
steller zu  denen  gehört,  welche  fortwährend  das  Gewissen  des 
Lesers  interpelliren,  so  ist  es  geradezu  unnatürlich,  ihn  wie  ein 
blosses  Repertorium  für  den  antiquarischen  Sprach-  und  Sach- 
apparat zu  behandeln.  Dieser  Eigenthümlichkeit  entsprechend 
ist  es,  wenn  B.  Niebuhr  rundweg  erklärt,  dass  er  den  Seneca 
nicht  leiden  könne  (Vorträge  über  röm.  Geschichte  III  185). 
F.  A.  Wolf  hebt  einerseits  mit  einer  gewissen  Wärme  einige 
stilistische  Vorzüge  Senecas  hervor,  wenn  er  aber  dann  anderer- 
seits den  von  Suilius  und  Dio  Cassius  gerügten  schwer- 
wiegenden Widerspruch  zwischen  Lehren  und  Leben  sich 
aneignet,  so  ist  offenbar  der  Tadel  überwiegend  (Vorlesungen 
über  röm.  Literatur  335  ff.).  Auch  die  Ausstellungen  Bern- 
hardys  an  dem  stilistischen  und  wissenschaftlichen  Charakter 
unseres  Stoikers  überwiegen  die  Anerkennung  einzelner  Vor- 
züge (Grundriss  der  röm.  Literatur  p.  314  124).  In  der  zweiten 
Auflage  des  Grundrisses  nennt  Bernhardy  Seneca  den  Ovid 
unter  den  Prosaisten,  was  wohl  mehr  Tadel,  als  Lob  bedeutet. 
Gleicherweise     lautet     das    Urtheil     H.    Ritters     über    Senecas 


23 

Wissenschaftlichkeit  und  Gesinnung  entschieden  ungünstig" 
{Geschichte  der  Philosophie  IV  183  184).  Auch  bei  Teufifel 
ist  der  Tadel  vorherrschend,  wenn  auch  Senecas  Sterben  als 
, .entschlossener  Verzicht  auf  die  Güter  dieses  Lebens"  anerkannt 
^vird  (Geschichte  der  röm.  Literatur.   2.   Aufl.  p.  616  ff.). 

Auf  meine  Frage,  was  er  von  L.  Seneca  halte,  antwortete 
mir  Th.  Mommsen:  ,,von  dem  kann  man  nicht  schlecht  eenug 
-denken".     In    dem    Sinne     dieses    Meisters    urtheilt    auch    der 
Jünger  Hermann  Schiller.     Derselbe    nennt    zwar  Seneca    ,,den 
glänzendsten  Geist  seiner  Zeit",    ,,den  Abgott    und  Führer  des 
Senats"     (Geschichte    des     römischen    Kaiserreichs     unter    der 
Regierung   Neros   p.  68,    377);     aber    moralisch    stellt   Schiller 
den  Seneca    sehr    tief.     Er   hält    ihn  ,, seinem  Charakter  nach" 
für    schuldig   des   ehebrecherischen  Verhältnisses    mit    der    von 
ihm  selbst  verabscheuten   Agrippina  (p.  69).     Wie  nun  daneben 
■das    Lob    bestehen    soll,     dass    Seneca    nicht    ein    selbstsüchtig 
schlechter  Mensch  gewesen  sein  soll,  ist  nicht  wohl  zu  verstehen 
(P-  303).     Obwohl  Schiller  es  mit  Recht  als  ein  Verdienst  des 
Seneca    anerkennt,     dass    er    in    dem    Sclaven    den    Menschen 
geehrt    wissen    will   (p.    509 \    behauptet    er    dennoch,    dass    in 
seiner  ,, weitläufigen  literarischen  Thätigkeit  kein  einziger  neuer 
Gedanke    sich    findet"    (p.    627).     Was    bleibt    demnach    dem 
Seneca    eigenthümlich    Anderes    als   ,, Phrase"  und    ,,eine    viel- 
seitige  nicht    in    die  Tiefe  dringende  Gelehrsamkeit"  (p.  612)^ 
In    seinem    Verhalten    gegen    Kaiser    Claudius    wird    ihm    von 
Schiller     vorgeworfen      ,, erbärmliche      Feigheit      und      perfide 
Schmeichelei"  (p.  620)  und  mit  einem  Strich:  ,, der  bedeutende 
Mann    schwankte    haltlos    wie    ein   Rohr    im  Winde"    (p.  295), 
wird  endlich   des   Mannes    moralische  Persönlichkeit  vernichtet. 
Als  einen  verdammenden  Sittenrichter  über  Seneca  erweist  sich 
auch  Latour  de  Set.  Ybars:  ,,Wenn  man  Seneca  unpartheiisch 
beurtheilt,  dann  kann  man  ihm  nicht  verzeihen,    dass  er  weder 
seinen  Fürsten,  noch  die  Tugend  aufrichtig  geliebt  hat"  (Nero 
sa  vie  et  son  epoque,  Paris   1867  p.  246).     Wer  die  ganzen  in 
Betracht  kommenden  Verhältnisse  ins  Auge  fasst,    wird   immer 
•einen  bedeutenden  Eindruck  empfangen  von  der  Mahnung  des 
sterbenden  Seneca   an  seine  Gattin  und  an  seine  Freunde,    das 


24 

Andenken  seines  Lebens  als  ein  theures  Vermächtniss  zu 
bewahren.  Nicht  strenger  kann  man  daher  den  ganzen  Mann 
verurtheilen  und  verwerfen,  als  wenn  man,  wie  Latour  de  Set. 
Ybars  thut,  sich  darüber  entrüstet,  dass  Seneca  sein  Leben  als^ 
Vorbild  aufgestellt  (p.  461).  Die  Reihe  der  verurtheilenden 
Tadler  Senecas  möge  Einer  schliessen,  der  obwohl  er  sich 
ernstlich  mit  der  Untersuchung  des  literarischen  und  moralischen 
Charakters  dieses  Mannes  befasst  hat,  sein  vernichtendes  End- 
urtheil  folgendermassen  zusammen  fasst:  ,, Trotz  des  Glanzes- 
seiner Rede,  trotz  des  düstern  Pathos  seiner  stoischen  Lehre,, 
wird  er  auf  gesunde  Gemüther  keinen  tiefen  Eindruck  machen, 
durch  die  Form  seiner  Rede  kann  er  höchstens  verderblich 
wirken"  (F.  B.  Gerlach,  Historische  Studien  271   ff.). 

Hätte  die  lange  und  schwere  Last  der  Verurtheilungen 
Senecas,  von  dem  gehässigen  Delator  Suilius  bis  zu  dem 
strengen  Censor  F.  B.  Gerlach,  nicht  ein  starkes  Gegengewicht, 
dann  wären  ohne  Zweifel  die  meisten,  wenn  nicht  alle  Schriften 
desselben  in  den  finsteren  Zeiten  des  Mittelalters  verloren 
gegangen.  Erasmus,  dem  auch  Haase  (Seneca  III  p.  VI)  bei- 
stimmt, hat  Recht,  wenn  er  behauptet,  dass  die  Vorliebe  der 
christlichen  Schriftsteller  für  Seneca,  welche  bereits  in  der 
patristischen  Zeit  beginnt,  wesentlich  dazu  beigetragen,  dass- 
von  der  reichen  Literatur  Senecas  so  vieles  erhalten  ist.  Das 
erste  bedeutsame  Zeichen  einer  christlichen  Anerkennung  dieses- 
heidnischen  Philosophen  begegnet  uns  beim  TertuUian.  Nicht 
bloss  nennt  TertuUian  die  Schriften  Senecas  (De  resurrectione 
carnis  I),  nicht  bloss  beruft  er  sich  auf  ihn  (Apolog.  XII  2),. 
sondern  auch,  indem  er  sich  einmal  einen  Satz  des  Seneca 
aneignet,  nennt  er  ihn  ,,saepe  noster"  (De  anima  XX).  Diese 
Bezeichnung  ,,saepe  noster"  kann  hier  nicht  auf  die  römische 
Nationalität  gehen,  wie  sich  dieser  Sprachgebrauch  allerdings- 
bei  Lactanz  findet  (z.  B.  Instit.  I  5  11),  sondern  muss  wegen 
des  ,,saepe"  auf  die  Gemeinschaft  in  der  Denkart  bezogen 
werden.  Der  gegen  alles  Heidnische  streng  eifernde  TertuUian 
findet  also  gar  nicht  selten  bei  diesem  heidnischen  Hofphilosophen 
Sätze,  von  denen  er  sich  als  Christ  persönlich  angesprocher^ 
fühlt.     Weiter  noch  als  TertuUian  geht  Lactanz,   der  den  Seneca 


25 

häufig  ausschreibt,  dem  wir  deshalb  manche  Sät/e  aus  verlorenen 
Schriften  verdanken.  Lactanz  preist  den  Seneca  ausdrückhch 
als  ,,morum  vitiorumque  pubhcorum  et  descriptor  verissimus  et 
accusator  acerrimus  (Inst.  V  9  19)  und  wegen  seiner  vielen 
richtigen  und  den  christlichen  ähnlichen  Aussprüche  über  das 
Wesen  der  Gottheit  (Inst.  I  5  28).  Während  aber  Lactanz 
sich  dabei  sehr  bestimmt  des  heidnischen  Gegensatzes  bewusst 
bleibt  (quid  verius  dici  potest  ab  eo,  qui  Deum  nosset,  quam 
dictum  est  ab  homine  verae  religionis  ignoto  ?  (Inst.  VI  24  13). 
versetzt  Hieronymus  den  Stoiker  bereits  auf  das  christliche 
Gebiet.  Freilich  wenn  Lactanz  gewisse  Sätze  Senecas  als 
geradezu  himmlische  Rede  feiert  (Inst.  VI  24  15),  und  von 
ihm  rühmt,  dass  er  ,,paene  divinitus"  gesprochen  habe 
(Inst.  V  22  12),  so  ist  der  Uebergang  zai  jener  Annahme  des 
Hieronymus  leicht  gefunden. 

Zwischen  Lactanz  und  Hieronymus  Hegt  das  Falsum  des 
Briefwechsels  zwischen  Paulus  und  Seneca.  So  geistlos  dieses 
Machwerk  ist,  so  verlangt  es  doch  eine  Erklärung,  welche 
meines  Erachtens  noch  nicht  gegeben  ist.  Offenbar  hat  sich 
die  Vorstellung  von  dem  höheren  Wahrheitsgehalt  der  Schriften 
Senecas,  deren  Zeugnisse  wir  bei  Tertullian  und  Lactanz  an- 
treffen, zu  der  Wahrscheinlichkeit  der  Bekehrung  des  heidnischen 
Philosophen  ausgebildet.  Der  Falsarius  nimmt  diese  Wahr- 
scheinlichkeit als  Thatsache,  und  seine  Tendenz  geht  dahin,  die 
Schriften  Senecas  wegen  ihrer  stilistischen  Vorzüge  seinen 
Glaubensgenossen  zu  empfehlen.  Der  Falsarius  hat  insoweit 
seinen  Zweck  erreicht,  als  Seneca  in  der  christlichen  Literatur 
vor  allen  heidnischen  Schriftstellern  mit  wenig  oder  ohne  Kritik 
verehrt  und  benutzt  wird. 

Augustinus  macht  eine  rühmliche  Ausnahme.  Derselbe 
weiss  zwar  von  der  Existenz  der  Briefe  Senecas  an  Paulus, 
aber  obwohl  er  die  Vorzüge  Senecas  zu  schätzen  weiss 
(C.  D.  VI  10,  Confess.  V  6),  hat  er  doch  an  die  Bekehrung 
Senecas,  mithin  an  die  Aechtheit  dieser  Briefe,  nicht  geglaubt. 
Wir  werden  uns  später  überzeugen,  dass  Augustinus  mit 
scharfem  Blick  die  geheime  Macht  erkannt  hat,  welche  den 
moralisirenden  Denker    und  Schriftsteller  innerhalb  des  Heiden- 


2() 

tliums  festgehalten  hat.  Hieronymiis,  dem  dies  verborgen 
bleibt,  lässt  sich,  wie  es  scheint,  durch  den  fingirten  Brief- 
wechsel dermassen  imponiren,  dass  er  den  Seneca  in  den 
Catalogus  sanctorum  aufnimmt.  Von  nun  an  hat  Seneca  fast 
das  Gewicht  einer  christlichen  Autorität.  Zunächst  hat  Hiero- 
nymus  selber  in  seiner  Schrift  gegen  Jovinian  von  Senecas 
verlorenem  Buch  ,,de  matrimonio"  einen  sehr  ausgedehnten 
-Gebrauch  gemacht.  Denn  ich  glaube  nicht,  dass  Haase  in  der 
-Annahme  dieser  Entlehnung  weiter  gegangen  ist  (III  428 — 434) 
:als  die  Andeutung  des  Hieronymus  und  ausserdem  Sprache 
tmd  Inhalt  der  fraglichen  Abschnitte  wirklich  erlauben.  Dass 
Seneca  in  den  christlichen  Kreisen  bereits  im  4.  Jahrhundert 
geschätzt  wairde,  beweist  auch  wohl  der  Umstand,  dass  der 
Manichäer  Faustus  seine  Schriften  las  (Augustini  Confess.  V  6} 
Das  Concil  von  Tours  im  Jahre  567  beruft  sich  für  eine 
moralische  Sentenz  auf  die  Auctorität  des  Seneca.  Sodann 
ist  es  im  Mittelalter  nicht  blos  Gebrauch,  einzelne  Sätze,  so- 
genannte Flosculi,  aus  den  Schriften  Senecas  zu  sammeln  und 
7Ai  verwenden,  wie  dies  von  Vincenz  von  Beauvais  und  Anderen 
vorliegt  (Haase  III  446),  sondern  auch  ganze  sonst  verlorene 
Bücher  desselben  wurden  fast  ohne  Weiteres,  nur  mit  Ein- 
leitungen und  einzelnen  Zusätzen  und  christlichen  Umbiegungen 
versehen,  für  den  asketischen  Gebrauch  verwendet.  Auf  diese 
Weise  ist  ein  guter  Theil  des  Buches  ,,de  remediis"  erhalten 
{Haase  III  446  ff,).  Denn  meines  Erachtens  hat  Haase  den 
Zweifel  der  holländischen  Gelehrten  mit  Recht  zurückgewiesen. 
Ferner  sind  auf  diese  Art  ansehnliche  Fragmente  der  Bücher 
,,de  paupertate"  und  ,,de  moribus"  auf  uns  gekommen*).  Da- 
gegen hat  die  Bearbeitung  des  Buches  ,,de  formula  honestae 
vitae"  durch  den  Bischof  Martinus  so  starke  Veränderungen 
•erhalten,  dass  Seneca  darin  kaum  wieder  erkannt  werden  kann, 
-aber  dessen  ungeachtet  ging  das  Büchlein  unter  dem  Namen 
desselben  (Haase  III  XXI).  Beda  Venerabilis  spricht  in  seiner 
Chronik    mit    der    grössten    Hochachtung  von  den  Grundsätzen 


*)  Senecas  Buch  ,,de  moribus"  war  an  deutschen  Ftirstenhöfen  im  15.  Jahr- 
hundert bekannt  und  geschätzt  (Gervinus  Nationalliteratur  2.  Aufl.   II   232). 


27 

und  dem  Streben  Senecas  (Fleury,  Set.  Paul  et  Seneque  I  297). 
Friculf  von  Lizieux  und  Honoiius  Augustodunensis  erwähnen 
des  Briefwechsels  zwischen  Paulus  und  Seneca  (Fleury  I  300). 
Nach  Lipsius  in  der  vita  Senecae  schreibt  Otto  von  Freisingen 
im  12.  Jahrhundert:  ,, Seneca  muss  nicht  so  sehr  Philosoph, 
als  Christ  genannt  werden".  Johannes  Sarisberiensis  widmet 
dem  Seneca  ein  ganz  überschwängliches  Lob  (Fleury  I  307). 
Ueber  andere  Citate  Senecas  bei  christlichen  Schriftstellern  des 
Mittelalters  siehe  man  Haase  III  420  421  434436.  Der  heilige 
Bernhard  ermahnt  den  Papst  Eugenius  mit  dem  Spruche 
Senecas;  ,,non  est  vir  fortis,  cui  non  crescit  animus  in  ipsa 
rerum  difficultate"  (Giesebrecht  Deutsche  Kaiserzeit  IV  339\ 
Die  Legende  des  Mittelalters  versetzt  Seneca  sogar  in 
die  Zahl  der  70  Jünger  (Fleury  I  321 — 36).  In  welchem 
Grade  die  Vorstellung  von  der  Christlichkeit  Senecas  im 
Mittelalter  verbreitet  war,  davon  giebt  auch  die  grosse  Zahl 
der  Abschriften  des  gefälschten  Briefwechsels  Zeugniss  Allein 
auf  der  Pariser  Bibliothek  zählt  P^leury  29,  im  Ganzen  über  60 
und  bemerkt,  dass  in  Wirklichkeit  noch  weit  mehr  existiren 
(II  290) 

Nachdem  nun  die  Schriften  des  Alterthums  durch  den 
Buchdruck  allgemein  zugänglich  gemacht  waren,  ist  es  mit  in 
erster  Linie  Lucius  Seneca,  der  unter  allen  ^  europäischen 
Nationen  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zieht.  Folgend  dem 
Vorgange  der  lateinischen  Väter  findet  man  in  den  Schriften 
Senecas  zahlreiche  Anklänge  an  das  Christenthum,  und  es 
entsteht  das  Bestreben,  diesen  Schatz  im  apologetischen  und 
praktischen  Sinn  auch  den  Nichtgelehrten  nahe  zu  bringen. 
Man  begnügte  sich  dabei  nicht  mit  der  Herausgabe  und 
Erklärung  dieser  Schriften,  man  übersetzte  sie  im  Ganzen  und 
vorzugsweise  die  moralischen  Briefe  und  andere  besonders 
geschätzte  Abhandlungen  in  fast  alle  europäischen  Sprachen 
ja,  man  verfasste  einen  ,, Seneca  Christianus",  sowie  einen 
, »christlichen  Seneca"  (Fabricii  Bibliotheca  latina.  Ed.  J.  A. 
Ernesti  II  103  —  22).  Der  volle  Gegensatz  zu  jenen  den  Seneca 
verurtheilenden  Stimmen  wird  uns  aber  erst  klar,  wenn  wir  aus 
den    drei   Nationen    Englands,    Deutschlands    und    Frankreichs 


28 

einzelne  Repräsentanten,  welche  das  Lob  Senecas  bis  in  die 
neueste  Zeit  fortgesetzt  haben,  vernehmen. 

Thomas  Gataker,  ein  sehr  achtbarer  Theologe  des  17.  Jahr- 
hunderts, hält  den  Seneca  für  sehr  würdig,  dass  er  nicht  nur  von 
denen,  welche  der  profanen  Wissenschaft,  sondern  auch  von 
denen,  welche  der  Theologie  sich  befleissigen,  sorgsam  gelesen 
werde  (Comment.  Th.  G.  London  1645  praef).  Joseph  Haie, 
Bischof  von  Norwich  (  -j-  1656),  welcher  der  englische  Seneca 
genannt  wurde,  behauptet:  „nie  hat  ein  Heide  göttlicher 
geschrieben  als  Seneca"  (Fleury  I  4^  Charles  Merivale 
gesteht  zwar  Schwächen  zu,  ja  sogar  einzelne  verbrecherische 
Thaten  des  Seneca,  dessen  ungeachtet  findet  er  bedeutsame 
Berührungspunkte  zwischen  Paulus  und  Seneca  und  rühmt  an 
Seneca  das  Bestreben,  die  Menschen  bilden  und  von  ihren 
moralischen  Krankheiten  heilen  zu  wollen,  in  welcher  Beziehung 
Seneca  einen  höheren  sittlichen  Ernst  offenbare,  als  Cicero 
(History  of  the  Romans  under  the  empire  VI  233,  234  291  292 
London  1858). 

Was  Deutschland  anbelangt,  so  ist  vor  Allem  merkwürdig, 
dass  zwei  Männer,  welche  anerkanntermassen  tief  in  den  Geist 
des  Christenlhums  eingedrungen  sind,  eine  Geistesgemeinschaft 
mit  Seneca  nicht  verleugnen.  Thomas  a  Kempis,  den  wir  zu 
den  Deutschen  im  weitesten  Sinne  zählen  müssen,  schreibt: 
,,dixit  quidam :  quoties  inter  homines  fui,  minor  homo  vadii" 
(De  imitatione  Christi,  I  20  2).  Dieser  ,, quidam",  der  nach 
Thomas  das  Geheimniss  der  Einsamkeit  erkannt  hat,  ist  Seneca 
(Epist.  VII  3).  Noch  merkwürdiger  ist  der  Ausspruch  von 
Johann  Arndt,  dem  Verfasser  des  ,, Wahren  Christenthums". 
Derselbe  schreibt  an  Joh.  Gerhard:  ,, Inter  omnes  philosophos 
neminem  scio  qui  ex  spirito  scripserit  (qui  ubi  vult  spirat) 
praeter  unum  Senecam"  (Herzogs  Realencyclopädic  I  537). 
David  Chytraeus  hat  Senecas  Schreiben  ad  Marciam  heraus- 
gegeben und  commentirt.  Der  fromme  Graf  Rochus  von 
Lynar  (7  178 1)  übersetzte  Senecas  ,,de  dementia"  und  andere 
Schriften  desselben.  Auffallend  ist,  dass  ein  deutscher  Ver- 
treter des  modernen  Lutherthums  sich  den  entschiedenen 
Verurtheilern    Senecas    zugesellt    hat.     Uhlhorn    sieht    in    den 


29 

Moralpredigten  Senecas  nichts  als  Worte  und  behandelt  alle 
bösen  Gerüchte  über  Seneca  als  Wahrheit  (Kampf  des  Christen- 
thums  mit  dem  Heidenthum  p.  6^  68,  cfr.  p.  97).  Ein  anderer 
Lutheraner  der  Gegenwart,  Luthardt,  hält  es  für  möglich,  dass 
Seneca  vielleicht  einige  christliche  Worte  gehört  und  sie  für 
seine  Gedanken  verwendet  (Die  antike  E>thik,   1887,  p.   154)- 

Auf  das  deutsche  Gemüth  hat  der  Bericht  des  Tacitus 
über  das  Ende  Senecas  grossen  Eindruck  gemacht.  Ewald 
von  Kleist  hat  diesen  Bericht  zu  einem  formal  allerdings  ver- 
fehlten dramatischen  Versuch  verarbeitet.  Spalding,  ein  sitten- 
strenger Philologe,  wie  er  uns  aus  seinem  Briefwechsel  mit 
Schleiermacher  und  aus  der  Biographie  seines  Vaters  bekannt 
ist,  hat  am  lo.  November  1803  in  der  Berliner  Akademie  eine 
Abhandlung  über  die  Trostschrift  Senecas  an  Polybius  vor- 
getragen. Das  Schreiben  Senecas  aus  dem  Exil  an  den 
freigelassenen  Polybius  ist  der  grösste  Stein  des  Anstosses  für 
alle,  denen  an  Seneca  etwas  gelegen  ist,  die  sich  aber  bei 
dem  Ausspruch  von  Theodor  Mommsen  nicht  beruhigen 
können;  es  ist  diejenige  Schrift,  über  welche  Lipsius  ausruft: 
,,pudet,  pudet!"  Einige  haben  durch  Annahme  der  Unächt- 
heit  Senecas  Ehre  retten  wollen.  Obwohl  Spalding  diese 
verzweifelte  Ausrede  verwirft  und  also  das  in  der  unerhört 
servilen  Schmeichelrede  liegende  Aergerniss  zugeben  muss, 
lässt  er  sich  in  dem  Glauben  an  den  sittlichen  Gesammt- 
charakter  des  Mannes  nicht  irre  machen.  Spalding  behauptet: 
,,wer  eine  Seele  wie  Tacitus  so  einnehmen,  so  begeistern 
konnte,  der  musste  nach  glaubwürdigen  Zeugnissen  in  Rom 
ein  edler,  ein  grosser  Mann  gewesen  sein".  Spalding  leugnet 
nicht  die  Schwächen  Senecas,  aber  er  warnt:  ,,die  Tadler 
müssen  nicht  als  Niederträchtigkeit  rügen  jede  Anbequemung 
zum  Sprachgebrauch  der  Höfe"  (Abhandlungen  der  Akademie 
1806,  p.  217  225).  Schlosser  beruft  sich  in  seiner  Würdigung 
Senecas  auf  die  erhabene  Schilderuno;  seines  Todes  bei 
Tacitus,  den  er  einen  Schüler  Senecas  nennt  (Universal- 
geschichte der  alten  Welt  III  i  42)  C.  Brandis  urtheilt  über 
Seneca  wie  folgt:  ,, nicht  selten  durchbricht  die  Wärme  sittlicher 
Ueberzeugung  das  Pathos  hohler  Rhetorik",  ,,eine  edlere  Natur 


30 

ringt  mit  den  Verlockungen  seiner  schlüpfrigen  Stellung  in 
einer  verderbten  Zeit"  (Griechische  Philosophie  im  römischen 
Reich,  1862  u  64,  III  258)  F.  Baur  kommt  in  seiner  Ab- 
handlung über  das  Verhältniss  zwischen  Paulus  und  Seneca  zu 
dem  Ergebniss,  dass  gewisse  durchschlagende  religiöse  und 
moralische  Hauptgedanken  in  den  Schriften  Senecas  ganz  nahe 
an  die  Grenze  der  christlichen  Denkart,  wie  sie  namentlich  in 
den  Briefen  des  Paulus  dargestellt  ist,  anstreifen  (Hilgenfeld: 
Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Theologie  I  171  207  212  450), 
was  ja  im  Wesentlichen  mit  dem  Standpunkt  des  Lactanz 
übereinstimmt.  Aehnlich  behauptet  der  Strassburger  Theologe 
C.  Schmidt,  dass  gewisse  Grundgedanken,  die  in  Senecas 
Schriften  enthalten  sind,  nicht  ohne  bewusste,  oder  auch  un- 
bewusste  Wirkung  des  Christenthums  erklärt  werden  können 
(C.  Schmidt:  Die  bürgerliche  Gesellschaft  und  ihre  Umwand- 
lung durch  das  Christenthum.  Aus  dem  T^anzösischen  von 
Richard,  p.  201  202).  Friedländer  rühmt  Seneca  als  den 
Einzigen,  der  seine  Stimme  gegen  den  unmenschlichen 
Gladiatorenkampf  erhoben  hat  (Sittengeschichte  II  373,  5.  Aufl., 
cfr.  Seneca  :  Ep.  YII  2,  XC  45),  und  behauptet  von  der  Sittenlehre 
Senecas,  dass  sie  wesentlich  mit  der  christlichen  übereinstimmt. 
Zeller  zählt  Seneca  zu  den  besten  Männern  seiner  Zeit  (Ge- 
schichte der  griechischen  Philosophie  III  i  640).  Und  wenn 
er  von  der  Stoa  überhaupt  urtheilt,  dass,  wenn  sie  selbst  in  den 
Zeiten  des  tiefsten  Sittenverfalls  noch  einen  Musonius,  einen 
Epiktet  und  einen  Marc  Aurel  bilden  konnte,  dieses  der  stoischen 
Philosophie  zum  unvergänglichen  Ruhme  gereiche  (III  i  684), 
so  kann  dem  an  der  versuchlichsten  Stelle  lebenden  und 
wirkenden  Stoiker  sein  Theil  an  diesem  Ruhme  nicht  ab- 
gesprochen werden.  Peter  schreibt:  „Seneca  erhebt  sich  über 
Alles,  was  sonst  die  Ethik  des  Alterthums  hervorgebracht",  -- 
,,er  berührt  sich  in  den  Ausdrücken  nicht  selten  in  auffallender 
Weise  mit  dem  Christenthum"  (Geschichte  Roms  III  345  346  2.  A). 
A.  Schmidt  lobt  Seneca  neben  Thrasea  und  Musonius  als 
öffentlichen  Charakter  und  als  Märtyrer  der  Freimüthigkeit 
(Geschichte  der  Denk-  und  Glaubensfreiheit  223  345  346), 
Nissen    erkennt    in    der    humanen    Ansicht    Senecas    von    dem 


Sclaventhum  einen  entschiedenen  Fortschritt  (Sybels  historische 
Zeitschrift  i868  2  242).  Dr.  Bestmann  schreibt  über 
Seneca:  ,,er  macht  einen  bleibenden  Eindruck;  er  ist  der 
einzige  selbstständige  Philosoph,  den  Rom  hervorgebracht" 
(Geschichte  der  christlichen  Sitte  II  383  384).  In  seiner 
römischen  Geschichte  hat  Peter  sorgfältig  Licht-  und  Schatten- 
seiten Senecas  neben  einander  gestellt  (III  344  352).  Eine 
ausführlich  motivirte  Anerkennung  der  politischen,  moralischen 
und  humanen  Grundsätze  Senecas  hat  jüngst  L.  v.  Ranke 
veröffentlicht  (Weltgeschichte  III  i  132  —  142).  Eine  Apologie 
des  Seneca  bietet  das  Schulprogramm:  L.  Annaeus  Seneca 
und  sein  Werth  auch  für  unsere  Zeit  von  F.  Boehm,  Berlin 
1856.  Die  Schrift  enthält  treffliche  Bemerkungen  gegen  die 
Ankläger  Senecas,  von  dem  nur  bedauert  wird,  dass  er  den 
Selbstmord  vertheidigt.  Der  Verfasser  gelangt  zu  folgendem 
Ergebniss:  ,, Seneca  ist  ohne  zu  wissen  und  zu  ahnen  eirt 
Commentator  des  gleichzeitig  mit  ihm  lebenden  und  wirkenden 
grossen  Apostels  der  Heiden  (p.  43).  Auch  Keim  betont 
nachdrücklich  die  Verwandtschaft  vieler  sittlicher  und  religiöser 
Ideen  bei  Seneca  mit  dem  Christenthum  (Rom  und  Christen- 
thum,  herausgegeben  von  H.  Ziegler  1881   p.   32  33    144). 

Vor  Allen  aber  sind  es  die  Franzosen,  welche,  wie 
Niebuhr  (Vorträge  über  röm.  Geschichte  III  185)^  und  Gerlach 
(Histor.  Studien,  p.  285)  richtig  bemerken,  sich  zu  Seneca 
hingezogen  fühlen.  Den  Uebergang  mögen  machen  Lipsius, 
dieser  Halbgermane  und  Halbromane.  Derselbe,  ein  sehr 
beweglicher  Geist,  hegt  bekanntlich  für  Seneca  eine  begeisterte 
Bewunderung.  Er  bekennt,  dass  Seneca  ihm  immer  als  ein 
grosser  Mann  erschienen  sei  (Fabricius,  II  107).  Ueberhaupt 
ist  zwischen  Lipsius  und  Seneca  eine  merkwürdige  Geistes-. 
Verwandtschaft.  Ueber  der  Arbeit  am  Seneca  ist  dieser 
holländische  Philologe  gestorben,  und  die  letzten  Worte  aus 
seiner  Feder  athmen  ganz  und  gar  Geist  und  Stil  des 
römischen  Stoikers  (Fromond  in  der  Ausgabe  des  Seneca. 
Amstd.  1672,  II  870).  Kein  Geringerer  als  Calvin  ist  der- 
jenige, welcher  nach  dem  Ende  des  Mittelalters  die  Reihe  der 
auf   französischem    Boden    dem    Seneca    gewidmeten    Arbeiten 


32 

eröffnet:  ,,Lucii  Annaei  Senecae  Romani  senatoris  et  philo- 
sophi  clarissimi  libri  duo  de  dementia  ad  Neronem  Caesarem 
illustrati  commentarii  J.  Calvini.  Paris,  1572  (Corpus  Reforma- 
torum,  Vol.  XXXIII,  p.  6 — 162).  Eine  Jugendarbeit,  in  welcher 
Calvin  seine  Belesenheit  in  der  antiken  Literatur  darlegt  und 
den  Seneca  gegen  einige  Vorwürfe  von  Quintilian  und  Gellius 
in  Schutz  nimmt.  Antonius  Muretus  hat  am  3.  Juni  1573  in 
Rom  eine  Rede  gehalten  über  Senecas  Schrift  ,,de  Providentia" 
und  bei  diesem  Anlass  den  Stoiker  verherrlicht.  Höchst 
bemerkenswerth  ist  das  Urtheil  des  Isaak  Casaubonus,  dass 
nämlich  Seneca  Vieles  schreibe,  was  ohne  den  Sinn  wahrer 
Frömmigkeit  nicht  verstanden  oder  geglaubt  werden  könne 
(Bei  Friedländer:  Roms  Sittengeschichte  III  601).  Lange 
bevor  Diderot  dem  Namen  Senecas  in  Frankreich  einen  neuen 
Glanz  verlieh,  war  man  dort  darauf  aus,  die  Gedanken  Senecas 
für  das  sitthche  Leben  zu  verwerthen.  Beweis  dafür  ist 
folgende  Schrift:  ,,L'esprit  de  Seneque  ou  les  belles  pensees 
de  ce  grand  philosophe  enseignant  1  art  de  bien  vivre  pour 
servir  de  guide  ä  nos  passions,  practiquer  la  vertu  et  fuir  les 
vices."  (Paris,  1680,  1681,  4  Bände).  Der  neueren  Zeit  an- 
gehörig hat  eine  ähnliche  Tendenz:  ,, Pensees  de  Seneque  par 
Beumelle  pour  servir  ä  l'cducation  de  la  jeunesse."  (Gotha,  1754, 
2  Theile).  Im  9.  und  10.  Band  der  Oeuvres  de  D.  Diderot, 
herausgegeben  von  J.  A.  Xaigeon,  Uebersetzer  des  Seneca, 
Paris  1798,  finden  sich  die  höchst  charakteristischen  Urtheile 
Diderots  über  Seneca.  Im  60.  Lebensjahre  hat  er  dieses  Urtheil 
widerrufen  und  in  sein  Gegentheil  verwandelt  (T.  VIII  320) 
Früher  Einer  ihres  Gleichen  erklärt  er  jetzt  die  Verächter 
Senecas,  zu  denen  auch  de  la  Mettrie  zählt,  Verfasser  von 
,,rhomme  machine"  und  von  ,,Anti-Seneca"  (p.  389 — 39 ij,  ent- 
weder für  engherzige  Verkleinerer  der  heidnischen  Tugenden 
oder  für  epikureische  Hasser  der  sittlichen  Strenge  (IX  158). 
Diderot  leugnet  die  Schwächen  Senecas  nicht,  aber  er  ruft 
den  Tadlern  und  Verächtern  desselben  das  auch  heute  noch 
beherzigenswerthe  Wort  zu:  ,, Versetzt  euch  in  die  Tage  des 
Erziehers  und  Ministers  in  den  Tagen  des  Claudius  und  des 
Nero  und  dann  macht  es  besser"  (VIII  108).    F.v  behauptet,  es 


33 

ist  unmöglich,  einem  Menschen  eine  Bahn  vorzuzeichnen,  , »welche 
schwieriger  und  schRipfriger  für  die  Tugend  wäre,  als  das 
Geschick  Senecas"  (IX  170  171).  Zu  folgendem  Bekenntniss 
angesichts  der  Schriften  Senecas  sieht  sich  Diderot  veranlasst: 
,,Seneca  ist  das  Brevier  der  rechtschaffenen  Leute"  (VIII  420), 
,,ich  schäme  mich  meiner  Schwachheit  und  beuge  mich  vor 
der  Tugend  Senecas"  (p.  479),  ,,die  Bücher  de  beneficiis 
habe  ich  viermal  gelesen  und  war  zu  Thränen  gerührt"  (IX  38), 
,,ach,  wäre  ich  im  30.  Jahr  eingeweiht  in  die  Principien 
Senecas,  welche  Freude  würde  ich  diesem  Philosophen  ver- 
danken oder  vielmehr,  wie  viel  Kummer  würde  ich  mir  erspart 
haben ;  in  einem  Alter,  in  welchem  man  sich  nicht  mehr 
bessert,  lese  ich  Seneca  nicht  ohne  Nutzen"  (p.  150  159). 
Das  überschwängliche  Lob  Senecas  von  Diderot  hat  nichts 
gemein  mit  der  im  Mittelalter  herrschenden  Voraussetzung 
einer  mehr  oder  minder  intimen  Berührung  Senecas  mit  dem 
Christenthum.  Diese  Voraussetzung  ist  in  neuester  Zeit  auf 
französischem  Boden  mit  einer  unglaublichen  Kühnheit  von 
Unkritik  wieder  aufgenommen  worden.  Schon  früher  hatte 
sich  der  Strassburger  Schmidt  für  die  Annahme  einer  bewussten 
oder  unbewussten  Einwirkung  des  Christenthums  auf  Seneca 
auf  Troplong  und  Villemain  berufen.  Unter  dem  Titel: 
,, Saint  Paul  et  Seneque.  Recherches  sur  les  rapports  du 
philosophe  avec  l'apötre  et  sur  l'infiltration  du  christianisme 
naissant  ä  travers  le  paganisme.  Paris,  1853  hat  Amadee 
Fleury  ein  zweibändiges  Werk  veröffentlicht.  Fleury  hat  mit 
Hinwegsetzung  über  alle  Gesetze  der  Kritik  die  Christlichkeit 
Senecas  nicht  mehr  als  Hypothese,  sondern  als  ausgemachte 
Thatsache  behandelt.  Nachdem  Fleury  eine  Reise  Senecas 
nach  Palästina  angenommen  hat,  auf  welcher  er  seine  erste 
Bekanntschaft  mit  der  Bibel  gemacht  (I  154—157),  ist  es  ihm 
nicht  mehr  allzu  gewagt,  den  Stoiker  für  einen  biblischen, 
orthodoxen  Christen  zu  erklären;  die  Briefe  des  Johannes  (I  61), 
Trinität  (I  96  97),  apostolisches  Symbolum  (1  162)  sind  diesem 
Seneca  bekannte  Sachen,  der  Gruss  aus  des  Kaisers  Hause 
Philipp.  II  22  ist  Senecas  Gruss  (I  290  291).  Seneca 
schweigt    von    seinem    Christenthum    nach   Fleury,    weil    er   es 

3 


34 

weder  angreifen  wollte,  noch  vertheidigen  konnte  (II  65  83  84). 
Senecas  Bekanntschaft  mit  den  Evangelien  und  den  Briefen 
des  Paulus  (II   131)  wird  als  unzweifelhaft  vorausgesetzt. 

Die  Verdammung  Senecas  durch  Suilius  und  die  Christia- 
nisirung  desselben  durch  Fleury  und  Kreyher  bilden  die  beiden 
entgegengesetzten  Pole  der  Beurtheilung  dieses  Mannes,  jedoch 
so,  dass  die  Spuren  jener  Verdammung  und  dieser  Kanonisirung 
sich  durch  die  Jahrhunderte  hindurchziehen,  ohne  dass  eine 
Ausgleichung  erfolgt  oder  auch  nur  ernstlich  versucht  worden 
wäre.  Fabricius  macht  in  dem  Abschnitt  der  Bibliotheca  latina 
über  Seneca  folgende  Bemerkung:  ,,est  fatum  haud  infrequens 
magnorum  virorum,  qui  per  encomiorum  et  obtrectationum  sese 
mutuo  conficientium  certamina  famam  ingentem  ad  posteros 
propagant"  (II  102).  Wenn  nun,  wie  P'abricius  bemerkt,  ein 
so  hartnäckiger  Widerspruch  zwischen  Lob  und  Tadel  das 
Zeichen  einer  bedeutenden  Persönlichkeit  ist,  dann  muss  es 
unsere  Aufgabe  sein,  den  Werth  dieser  Persönlichkeit  festzu- 
stellen und  damit  zu  versuchen,  das  vorliegende  Problem  zu 
lösen. 


II. 

Senecas  Lichtseiten. 

Es  giebt  ein  Gebiet,  auf  welchem  man  mit  vollem  Recht 
vom  Christlichen  vor  Christus  sprechen  kann.  Es  ist  das 
Gebiet  der  alttestamentlichen  Ofifenbarung,  und  das  Christliche 
vor  Christus  ist  hier  das  sogenannte  Messianische  :  Die  Yoraus- 
darstellung  Christi  in  typischen  Schattenbildern,  oder  die 
Vorausverkündigung  Christi  in  prophetischen  Gesichten  und 
Reden.  Abgesehen  aber  von  diesem  Gebiet  ist  es,  meines 
Erachtens,  mehr  als  fraglich,  ob  der  erwähnte  Sprachgebrauch 
richtig  ist,  ob  es  erlaubt  ist,  auf  dem  Gebiet  des  Heidenthums 
von  Christlichem  vor  Christus  zu  sprechen.  Dass  hier  diese 
Frage  aufgeworfen  wird,  erklärt  sich  daraus,  dass,  wenn  dieser 
Sprachgebrauch  überall  statthaft  ist,  kein  Schriftsteller  des 
Heidenthums  einen  stärkeren  Anspruch  auf  diese  Ehre  haben 
würde  als  Lucius  Annaeus  Seneca.  Vorhanden  ist  aber  dieser 
Sprachgebrauch  und  zwar  nicht  ohne  berühmte  Beispiele.  Am 
bekanntesten  ist  der  Titel  des  Ackermannschen  Buches:  ,,Das 
Christliche  im  Plato,  1835"-,  gleichzeitig  ist:  ,,Das  Christhche 
im  Tacitus"  von  Bötticher,  1840,  und  ähnlich  ist  der  Titel: 
^.Christliche  Anklänge  aus  den  griechischen  und  lateinischen 
Klassikern"  von  R.  Schneider,  2.  A.  1877.  Ja  selbst  das  alt- 
ehrwürdige  Zeugniss  eines  strengen  Grenzwächters  zwischen 
Christenthum  und  Heidenthum  lässt  sich  für  diesen  Sprach- 
gebrauch anführen  (Tertullian :  Apolog,  XIII.  De  testimonio 
animae,  I  11  VI).  Desungeachtet  müssen  wir  uns  doch  zur 
Benennung  dessen,  worin  wir  die  götdiche  Pädagogie  auf 
Christum    innerhalb    des    Heidenthums    erkennen,     nach    einer 

3* 


36 

etwas  g"enaueren  Bezeichnung  umsehen.  Denn  so  wichtig  und 
nothwendig  es  ist,  einem  falsclien  Supranaturahsmus  gegenüber 
ein  ursprünghches  und  inneres  Verliältniss  zwischen  Christen- 
thum  und  der  menschlichen  Natur  überhaupt  und  also  auch 
innerhalb  des  Heidenthums  festzuhalten,  so  verlangt  es  anderer- 
seits die  Würde  des  Christenthums,  dass  Alles,  was  vermöge 
dieses  Verhältnisses  von  der  menschlichen  Seele  auszusagen  ist, 
auf  den  Hegriff  der  reinen  und  blossen  Empfänglichkeit  zurück- 
geführt werden  muss.  Diese  Empfänglichkeit  für  Christum 
beruht  auf  der  Ereiheit  und  Selbstverantwortlichkeit,  aufweiche 
die  Menschennatur  angelegt  ist.  Die  wirkliche  Aktualität  und 
Vollendung  dieser  sittlichen  Anlage  ist  im  vollen  Sinne  einzige 
und  allein  in  Christus  vorhanden,  und  jede  zielbewusste  An- 
näherung an  diese  Vollendung  beruht  einzig  und  allein  auf  der 
Wirkung  Christi.  Alles  Christwerden,  Christsein  und  alles 
Christliche  im  vollen  Sinne  geht  nur  von  Christus  aus,  hat 
einzig  und  allein  in  ihm  seinen  Ursprung.  Demnach  kann  es 
Christliches  im  wahren  Sinne  nur  geben  seit  dem  Eintritt 
Christi  in  die  Geschichte  und  ist  nur  da  vorhanden,  wo  die 
menschhche  Empfänglichkeit  von  diesem  in  die  Geschichte 
eingetretenen  Christus  befruchtet  und  in  Aktivität  gesetzt 
worden  ist.  Da  jedoch  nach  dem  Zeugniss  der  heiligen  Schrift 
innerhalb  Israels  der  Geist  Christi  auf  den  Eintritt  Christi  in 
die  Geschichte  vorbereitet  (i.  Petri  i,  ii.  2.  Petri  i,  21),  so 
kann  man  allerdings  im  abgeleiteten  Sinne  von  einer  alttesta- 
mentlichen  Christlichkeit  vor  der  Erscheinung  Christi  reden. 
Ausserhalb  der  alttestamentlichen  Offenbarung  aber  giebt  es 
ein  anderes  Verhältniss  zu  Christus  nicht,  als  die  in  der  all- 
gemeinen sittlichen  IVlenschennatur  gestiftete  Empfänglichkeit 
für  Christum  und  die  so  oder  anders  sich  kundgebende 
Aeusserung  dieser  Empfänglichkeit.  Nun  ist  es  eine  That- 
sache,  dass  man  von  Alters  her  bis  auf  den  heutigen  Tag  in 
Senecas  Schriften  eine  Eülle  von  Gedanken,  Sätzen  und  Aus- 
drucken gefunden,  welche  an  das  Christenthum  erinnern.  Wir 
werden  diese  Erscheinung  nicht  das  Christliche  in  Seneca 
nennen  sondern  dieselbe  mit  einem  zusammenfassenden  Aus- 
druck als  Senecas  Lichtseiten  bezeichnen  und  beschreiben. 


37 

Die  so  bezeichnete  Eigenthümlichkeit  in  der  Literatur 
Senecas  können  wir  nur  verstehen  und  anschauHch  machen, 
wenn  wir  uns  einen  vorlaufenden  EinbHck  in  den  Charakter 
derjenigen  Welt  und  Zeit,  welcher  Seneca  angehört,  verschafft 
jiaben. 

Durch  die  Aufhebung  der  republikanischen  Verfassung  in 
Rom  und  durch  die  Einsetzung  des  monarchischen  Cäsarismus 
ist  eine  gewaltige  Veränderung  in  der  römischen  Welt  vor 
sich  gegangen.  ,,In  Julius  Cäsar  war  die  höchste  weltliche 
und  geistliche  Macht  vereinigt."  So  bezeichnet  Drumann  die 
Allgewalt  des  beginnenden  Cäsarismus  (Geschichte  Roms, 
III  662,  vgl.  Keim:  Aus  dem  Urchristenthum,  p.  174,  Tacit. : 
Ann.  III  58).  Darum  ward  der  Name  Cäsar  der  Titel  der 
höchsten  irdischen  Grösse  bis  auf  den  heutigen  Tag  (Spartianus : 
Vita  Aelii  Veri  II  ,,Caesaris  nomen  darum  et  duraturum  cum 
aeternitate  mundi").  Man  übersehe  nicht,  dass  die  Macht- 
vollkommenheit Cäsars  sich  nicht  bloss  auf  das  äussere, 
sondern  auch  auf  das  innere,  auf  das  religiöse  Gebiet  erstreckt. 
Was  Cäsar  begonnen,  setzt  Augustus  mit  aller  Bewusstheit 
und  Absichtlichkeit  fort.  Nach  dem  Tode  des  Antonius  wird 
im  Senat  der  Antrag  gestellt,  die  eingetretene  Epoche  das 
,,saeculum  Augustum"  zu  nennen  (Sueton.  Octav.  C).  Dieser 
Antrag  entsprach  auch  dem  Selbstbewusstsein^  des  Augustus 
selber,  derselbe  hatte  von  der  mit  ihm  beginnenden  Aera  eine 
sehr  ausgeprägte  Vorstellung,  er  konnte  daher  die  ,,Alterthümler'' 
(antiquarios  Suet.  LXXXVI),  die  republikanisch  Gesinnten 
nicht  leiden.  Der  Hauptcharakter  dieser  neuen  Aera  ist  die 
Erhöhung  eines  Einzelnen  nicht  bloss  zum  Herrscher  der 
Römer,  sondern  auch  zum  Haupt  der  Menschheit  (Tacit: 
Ann.  III  58  59,  XIII  14,  XV  47.  Histor.  III  68,  IV  54.  Plin. : 
Ep.  X  60  103.  Ovid  ad  Liviam,  473).  Wie  sehr  aber  das 
.altrömische  Bewusstsein  gegen  die  Alleinherrschaft  eines 
Einzelnen  sich  auflehnt,  beweist  noch  der  späte  Victor,  welcher 
schreibt:  ,,etiam  mos  Romae  incessit,  uni  prorsus  parendi 
-(Caesares,  I). 

Die  Umwälzung  des  antiken  Bewusstseins,  welche  mit  der 
Aufrichtung  der  Monarchie  in  Rom  in  der  Gestalt  des  Cäsaren- 


:]8 

thums  verbunden  war,  zeigt  sich  uns  am  übersichtlichsten,  wenrr 
wir  uns  die  Berathung,  welche  Augustus  mit  Agrippa  und  Maecenas 
über  die  Wahl  der  künftigen  Regierungform  anstellte,  vergegen- 
wärtigen. Es  wird  nämlich  allgemein  und  mit  Recht  an- 
genommen, dass  die  Reden  der  beiden  Staatsmänner,  welche 
Cassius  Dio  LH  36  i — 4  berichtet,  wenn  auch  nicht  wörtlich  sa 
gehalten,  doch  der  öffentlichen  Sachlage  entsprechen  und  die 
Grundzüge  darlegen,  nach  welchen  die  Staatsverwaltung  der 
Cäsaren  sich  im  Grossen  und  Ganzen  thatsächlich  gerichtet  hat. 
Agrippa,  der  die  Republik  vertheidigte,  bemerkte,  ein  Haupt- 
gebrechen der  Monarchie  sei,  dass  Jeder  mit  seinem  besten 
Wissen  zurückhalte,  dagegen  die  Denkart  des  Fürsten  sich 
zur  Richtschnur  nehme,  so  dass  auch  Niemand  nur  scheinen 
wolle,    überhaupt    das    Gute    selbst    zu  kennen    und    zu   haben 

(.,0'JOEi:     O'JT      C103V7.1      O'JT       2/31V     OOXclV      j3ouAET7.l    TO    aYOcOo'v).        Mit 

diesem  starken  Wort  ist  also  ausgesprochen,  dass  die  Monarchie 
die  moralische  Selbstständigkeit  der  Einzelnen  sogar  bis  auf 
den  Schein  vernichtet.  Schärfer  ist  die  in  dem  Absolutismus 
liegende  V^ersuchung  niemials  verurtheilt  worden.  Man  beachte,, 
dass  bereits  in  dem  Beginn  des  Cäsarismus  ein  klares  Bewusst- 
sein  über  die  Versuchung  und  Gefahr  des  Absolutismus  für 
den  Bestand  der  Sittlichkeit  vorhanden  ist.  Diesem  gegenüber 
errichtet  nun  Maecenas,  als  Ersatz  dieser  individuellen  Selbst- 
ständigkeit das  absolute  Regiment  der  Monarchie,  vornämlich 
in  der  höchsten  Angelegenheit  der  Menschheit,  in  der  Religion, 
sowie  in  dem  Gebiet  des  Denkens  überhaupt.  Maecenas  giebt 
dem  Augustus  folgenden  Rath :  ,,  Verehre  selbst  die  Götter,  wie 
sie  das  Vaterland  verehrt,  und  halte  die  Anderen  dazu  an. 
Wer  fremden  Gottesdienst  einführen  will,  den  hasse  und 
bestrafe,  weil  solche  Menschen  Viele  auch  zu  fremden  Sitten 
v^erführen.  Daraus  entstehen  Verschwörungen  und  Parteiungen, 
gleichwie  Gesellschaften.  Dulde  daher  keinen  Verächter  der 
Götter,  keinen  Wunderthäter.  Viele  sind  durch  solche  Leute  zu 
kühnen  Unternehmuns^en  verleitet  worden.  Dasselbe  thun  auch 
Viele,  die  sich  den  Namen  von  Philosophen  geben,  auch  mit 
diesen  musst  du  dich  in  Acht  nehmen,  unzähliges  Unheil  haben 
.solche  Leute    mit    diesem    Namen    über    Städte    und    Einzelne 


gebracht."  Mit  diesem  Ratli  ist  die  religiöse,  moralische 
intellectuellc  Selbstständigkeit  von  vorneherein  verdächtigt  und 
verdammt,  und  wird  der  absolute  Stillstand  im  Reich  des 
Cieistes,  überwacht  durch  die  Gewalt,  als  Heil  der  Welt 
proclamirt. 

Die  Tragweite  der  grossen  Verwandlung,  welche  in  diesen 
Rathschliigen    der    beiden  Politiker    des  Augustus    enthalten  ist, 
und   die   nach   dem    Rath   des  Maeccnas    im  Lauf  der  Zeit  zur 
Ausführung  und  zur  Verwirklichung  gelangen,  können  wir  erst 
dann  ermessen,    wenn    wir    auf  den  moralischen  Charakter  der 
republikanischen  Zeiten  in  Rom  zurückschauen      Zwei  Dichter, 
die    den   beiden   letzten  Jahrhunderten    vor  Christus  angehören, 
bezeichnen  uns  diesen  Charakter  in  folgenden  Versen : 
,,Antiquis  moribus  stat  res  Romana  virisque" 
(Ennius  Cicero  de  republ.  V   i). 
,,Virtus  id  dare,  quod  re  ipsa  debetur  honori 
Hosten!  esse  atque  inimicum  hominum  morumque  malorum ; 
Contra  defensorem  hominum  morumque  bonorum, 
Magnificare  hos,  his  bene  velle,  his  vivere  amicum. 
Commoda  praeterea  patriae  prima  putare, 
Deinde  parentum,  tertia  jam  postremaque  nostra." 
(Lucilius  Anthologia  latina,  ed.   Meier  p.   8  g) 
Was    Ennius    unter    den  Sitten  und  Männern  der   Vorzeit, 
diesen  Säulen  des  römischen  Staates  versteht,  das  hat  Lucilius 
allerdings    nicht    in    so    eleganten  Versen,   wie  Horaz  sie  liebt, 
aber  mit  desto  deutlicheren  Worten  beschrieben,    indem  er  den 
Gehalt     der    altrömischen    virtus    darlegt  ,     Hass    gegen    alles 
Böse,    Schutz    für    alles  Gute  fordert  und  in  der  Rangordnung 
der    sittlichen  Güter    obenan    das  Vaterland    stellt,    darauf    die 
Familie  folgen  lässt   und    an   den  dritten  und  letzten  Platz  das 
Individuum  verweist.     Ebenso  beschreibt  Lucanus  den  jüngeren 
Cato,    dieses  Vorbild    republikanischer    Tugend    in    den    Augen 
aller    republikanisch  Gesinnten    in   der  Cäsarenzeit  (Pharsal.  III 
379 — 390-     Je  schmerzlicher    Cicero    sich   überzeugt,    dass  das 
Wesen    der    altrömischen    Republik    bereits    vor    der  Zeit    des 
ersten   Triumvirats    untergegangen   war    (,,reni   publicam   verbo 
retinemus,    re    ipsa    jam    pridem  amisimus"    De    republ.  V   i), 


40 

desto  ernstlicher  bemüht  er  sich,  die  staatsbürgerliche  Gesinnung, 
Leistung  und  Opferfähigkeit  als  den  wahren  Sinn  der  römischen 
virtus  festzuhalten.  ,,Usus  virtutis  maximus  civitatis  guber- 
natio"  (De  republ.  I  2).  ,,Neque  est  ulla  res,  in  qua  propius 
ad  deorum  numen  accedat  virtus  humana,  quam  civitates  aut 
condere  aut  conservare  jam  conditas"  (ibid.  I  7  20,  III  3,  V  6). 
Uebrigens  ist  diese  Grundbeziehung  der  römischen  virtus  auf 
das  öffentliche  und  politische  Leben  der  antiken  Moral  über- 
haupt eigenthümlich.  Die  Politik  bildet  in  der  Schule  des 
Pythagoras  den  Schluss.  Nur  den  gereiften  Schülern  wurde 
diese  Wissenschaft  mitgetheilt,  denn  diese  Disciplin  sollte 
Männer  bilden,  welche  in  dem  Meer  des  öffentlichen  Lebens 
der  Brandung  wie  ein  Felsenriff  Trotz  bieten  könnten.  Es  ist 
aber  für  die  sittliche  Schätzung  Senecas  nicht  unwichtig 
zu  bemerken,  dass  dieser  Grundgedanke  der  antiken  Moral 
zugleich  einen  allgemein  menschlichen  und  absoluten  Werth 
hat.  Augustinus,  der  scharfe  christliche  Censor  des  heidnischen 
Wesens,  unterlässt  nicht,  die  grossen  Beispiele  der  römischen 
virtus  seinen  christlichen  Brüdern  als  Vorbilder  zu  empfehlen, 
und  eben  die  gepriesene  virtus,  dieser  grosse  hohe  Sinn  lür  die 
Hauptgüter  der  Menschheit,  dieser  sittliche  Kern  der  antiken 
Kultur  ist  das,  was  Niebuhr  sich  und  seinen  Kindern  wünscht 
(Kleine  Schriften  I  478J,  ist  das,  was  Dante  und  Milton  in 
der  antiken  Humanität  finden  und  verehren. 

So  lange  nun  die  republikanische  Staatsform  in  Rom  noch 
nicht  zerbrochen  und  in  eine  monarchische  umgewandelt  war, 
ist  die  Versuchung,  von  der  virtus  abzufallen,  noch  nicht 
allgemein.  Als  aber  Augustus  die  Zügel  in  die  Hand  nahm,  trat 
ein,  was  uns  Tacitus  mit  seinem  klassischen  Satz  beschreibt : 
,,cunctos  dulcedine  otii  pellexit"  (Ann.  I  2).  Nachdem  das 
öffentliche  Wesen  dem  Volke  entzogen,  einem  Einzelnen  in  die 
Hand  gelegt  war,  fing  man  allgemein  an,  beim  Epicur  in  die 
Schule  zu  gehen,  der  die  Enthaltung  von  öffentlichen  Geschäften 
empfahl,  den  der  ältere  Plinius  daher  äusserst  treffend  den 
,,magister  otii",  den  Schulmeister  des  Schlaraffenthums  nennt 
(H.  N.  XIX  19,  cfr.  Seneca  de  constantia  XV  4  ,,Epicurus 
patronus  inertiae"). 


41 

Wir  können  diese  entsittlichende  Wirkung  des  Cäsaren- 
thums  in  Thatsachen  verfolgen.  Der  Herrscher  auf  dem 
Cäsarenthron,  so  wurde  bereits  unter  Tiberius  im  römischen 
Senat  verkündigt,  ist  durch  göttliche  Gnade  in  einer  Person 
der  höchste  Priester  und  der  höchste  Mensch,  keiner  Eifersucht, 
keinem  Hass,  überhaupt  menschlichen  Eindrücken  nicht  unter- 
worfen. Der  höchst  merkwürdige  Ausspruch  lautet:  ,,Deum 
munere  summum  pontificum  etiam  summum  hominum  esse, 
non  aemulationi,  non  odio  aut  privatis  affectionibus  obnoxium" 
(Tacit.  Ann.  III  58).  Eine  offenbar  ganz  übermenschliche 
Vorstellung  von  dem  römischen  Cäsar  und  dem  Oberpriester 
auf  dem  Thron  der  Weltherrschaft,  eine  heidnische  Vor- 
bedeutung des  infallibeln  Papstthums  mit  der  gleichen  verderb- 
lichen Wirkung.  Unter  dem  Einfluss  einer  solchen  über- 
spannten Vorstellung  und  Selbstüberhebung  unternimmt  Augustus 
vermittelst  der  ihm  übertragenen  ,,cura  legum  et  morum" 
(Peter  Geschichte  Roms  III  35  36)  das  Werk  auf  neuer  Grund- 
lage zu  fördern.  Seine  Mittel  sind  Lockungen  und  Schrecken, 
die  auf  die  Sinnlichkeit  gerichteten  Werkzeuge  der  höchsten 
unentrinnbaren  Weltherrschaft.  Die  Consequenz  ist,  dass  die 
wahre  Absolutheit  des  Gewissens  verwandelt  wird  in  die  Ab- 
hängigkeit von  der  falschen  Absolutheit  der  höchsten  weltlichen 
Gewalt.  Hinfort  giebt  es  demnach  keine  wahrhaft  absoluten 
Güter,  Pflichten  und  Tugenden,  es  giebt  nur  Opportunes  und 
Unopportunes,  beides  abhängig  von  der  jedesmaligen  Willkür 
der  höchsten  weltlichen  Gewalt.  Es  droht  also  die  Gefahr, 
dass  die  sittliche  Anlage  der  Menschennatur  ausgelöscht,  und 
damit  die  Voraussetzung,  unter  welcher  allein  die  neu- 
schaffende Einwirkung  Gottes  auf  die  Menschheit  möglich  ist, 
zerstört  wird. 

Cicero  hat  den  Verlauf  des  sittlichen  Niederganges  in  der 
grossen  Zeitwende  der  inneren  Auflösung  der  Republik  vor- 
trefflich geschildert  In  der  Rede  pro  Caelio  sagt  er  :  ,,Die 
Tugenden  der  Vorzeit  sind  im  Leben  nicht  mehr  zu  finden, 
selbst  die  Bücher,  in  denen  dieselben  beschrieben  werden,  sind 
veraltet"  (XVII).  In  der  Rede  pro  Sestio  giebt  er  eine  für 
alle  Zeiten  lehrreiche  Charakteristik  des  Verhaltens    der  Guten 


42 

einerseits  und  der  Schlechten  andererseits  in  grossen  Krisen, 
„Das  Staatswesen",  sagt  er,  ,,\vird  mit  viel  grösseren  Macht- 
und  Hülfsmitteln  feindhch  angegriffen  als  vertheidigt;  denn  die 
Schlechten  sind  viel  wachsamer  und  rascher,  als  die  Guten. 
Diese  trachten  nach  dem  otium,  natürlich  nach  dem  otium 
cum  dignitate,  aber  da  sie  zu  langsam  und  zu  schwerfällig 
sind,  kommen  ihnen  die  Schlechten  zuvor,  und  die  Guten  sinken 
weit  hinab,  indem  sie  sich  sogar  mit  otium  sine  dignitate 
begnügen,  wovon  denn  die  Folge  ist,  dass  sie  sowohl  die 
Würde  als  auch  das  bequeme  Wohlleben  verlieren"  (Pro 
Sestio  XLV  XLVI). 

Sallust  und  Attikus  ziehen  sich  vom  öffentlichen  Leben 
zurück,  sie  suchen  und  erlangen  das  otium  cum  dignitate.  Die 
beiden  gefeierten  Dichter,  welche  die  Gunst  des  Cäsarhofes 
geniessen,  was  lieben  und  \'erherrlichen  sie  mehr,  als  das 
otium,  als  den  Stand  procul  negotiis.'  (Horaz  Carm.  II  i6  i — 8, 
IV  J5  1/  i8,  Ep.  I  7  36,  Yirgil  P:cl.  I  6,  ,,Deus  (Augustus) 
nobishaec  otia  fecit",  Georg.  IV  564,  II  468,  III  377,  A.  IV  271, 
VI  813).  Diesen  Beiden  wird  man  auch  wohl  neben  otium  die 
dignitas  zuerkennen  müssen.  Bei  Lucretius  dagegen  sind  wir 
schon  an  der  Grenze  der  zweiten  .Stufe  nach  Ciceros  Beschreibung 
angelangt. 

Lucretius  beschreibt  sein  Zeitalter  als  ein  Missgeschick 
des  Vaterlandes,  ,, patriae  tempus  indignum"  (I  42),  und  darum 
verkehrt  er  den  altrömischen  Grundtrieb  (Virgil  A.  VI  851)  in 
das  gerade  Gegentheil  (V  11 24  1126).  Catull  war  nicht  bloss 
innerlich  zerfallen  mit  Cäsar  und  seinen  Geno.ssen,  sondern 
äusserte  auch  seinen  bitteren  Unwillen  öffentlich  (Carm,  XXIX 
LIV  LVII)  und  war  allgemein  bekannt  als  Verfasser  von 
leidenschaftlichen  Invectiven  gegen  Cäsar  (Tacit.  Ann.  IV  34, 
Sueton  Caes  LXXIll).  Nun  zeigen  viele  Spuren  in  den 
Dichtungen  Catulls,  dass  ihr  leidenschaftlicher  Verfasser, 
abo^estossen  von  der  Verderbniss  des  öffentlichen  Lebens,  tief 
in  das  Sündenleben  des  otium  sine  dignitate  versunken  gewesen. 
Keiner  aber  ist  so  tief,  man  möchte  sagen,  so  innig  eingetaucht 
in  den  neuen  Geist  und  Geschmack  der  cäsarischen  Zeit,  als 
Ovid.     Wenn  er  aucli  den  Epicur    nicht   nennt,    der   Grundsatz 


43 

dieses  Meisters  des  verborgenen  Stilllebens  ist  ihm  geläufig: 
,,Crede  mihi,  bene  qui  latuit  bene  vixit"  (Trist.  III  4  25). 
Eigene  Erfahrung  und  Beobachtung  Anderer  haben  Ovid 
gelehrt,  dass  otium  die  Geburtsstätte  und  die  Wohnung  der 
ungezügelten  Sinnlichkeit  ist,  dass  daher,  wer  sich  von  dem 
Joch  dieser  Leidenschaft  befreien  wolle,  sich  mit  den  ernsten 
Geschäften  des  öffentlichen  Lebens  befassen  miasse  (Rem. 
A.  136-154).  Wenn  man  diesen  psychologischen  Erfahrungssatz 
eines  eingeweihten  Kenners  zusammmenhält  mit  der  Behauptung 
des  Tacitus:  ,,Augustus  dulcedine  otii  cunctos  pellexit",  dann 
kann  man  sich  einigermassen  eine  Vorstellung  machen  von 
dem  jähen  und  allgemeinen  Niedergang  der  römischen  virtus 
in  Folge  des  cäsarischen  Regiments,  welches  Alles  in  die 
Hand  nahm  und  dann  das  unmündige  und  müssige  Volk  mit 
Schauspielen  ergötzte. 

Es  eab  aber  in  der  cäsarischen  Zeit  nicht  bloss  ein 
otium,  welches  der  sittlichen  Menschennatur  feindlich  war, 
sondern  auch  ein  mit  dem  otium  eng  verbundenes  servitium, 
welches  ebenso  sehr  die  sittliche  Anlage  gefährdete.  Nachdem 
Tacitus  in  wenigen  drastischen  Zügen  die  Selbsterhebung  des 
Cäsar,  der  die  bisherige  Machtvollkommenheit  der  Magistrate 
und  der  Gesetze  auf  seine  Person  übertrug,  geschildert,  schreibt 
er  (Ann.  I  7)  ein  furchtbar  vernichtendes  (Jrtheil  nieder  über 
Alles,  was  ausser  dem  Cäsar  in  der  römischen  Welt  vornehm 
war,  und  das  thut  der  Historiker,  den  Viele  in  neuester  Zeit 
der  Parteilichkeit  für  die  Aristokratie  beschuldigen!  Dieser 
ernste  Historiker,  der  seine  Berichterstattung  als  ein  sittliches 
Censoramt  betrachtet  und  behandelt  (Ann.  III  65),  charakterisirt 
das  römische  Staatswesen  mit  diesem  kurzen  Worte:  ,,Civitas 
pavida  et  servitio  parata"  (Hist.  IV  2).  Tacitus  hat  auc 
nicht  versäumt,  an  einem  hervorragenden  Bei.spiel  den  sittlich 
verderblichen  P^influss  des  cäsarischen  Absolutismus  auf  die 
Gesinnung  der  Staatsbeamten  aufzuweisen.  Er  erzählt,  dass 
L.  Vitellius  unter  Tiberius  eine  grosse  Präfektur  im  Orient 
verwaltete  und  zwar  ,,prisca  virtute".  Derselbe  versank  nach 
seiner  Rückkehr  unter  Caligula  und  Claudius  in  die  nieder- 
trächtigste   Unterwürfigkeit.      Wenn    Tacitus     hinzufügt,     dass 


44 

Vitellius  in  der  Folgezeit  als  Exempel  kriechender  Ehrlosig- 
keit galt  (Ann.  VI  32),  so  hat  Sueton  dieses  widrige  Bild 
eines  hochstehenden  durch  den  Cäsarkultus  verdorbenen  Staats- 
mannes weiter  ausgeführt  (Vitellius  II).  Wohin  diese  Ver- 
derbniss  schliesslich  führt,  enthüllt  uns  Cassius  Dio,  der.  schon 
oben  als  Senator  und  hochgestellter  Staatsbeamter  erwähnt, 
ohne  Scham  und  Gram  den  ganzen  römischen  Senat  in  einer 
schamlosen  Lüge  und  Niederträchtigkeit  handelnd  darstellt 
(LXXIX  2). 

Otium  und  servitium  sind  zwei  verderbliche  Mächte  der 
Cäsarenzeit,  welche  darnach  angethan  sind,  alles  in  der 
Menschennatur  angelegte  Ideale  zu  vernichten.  Die  unter  dem 
Einfluss  des  Cäsarismus  verderbte  Sprache  nannte  ,, Verführen" 
und  ,,  Verführt  werden"  Lebensart  oder  Zeitgeist  (,,Corrumpere 
et  corrumpi  saeculum  vocatur'^  Tacit.  Germ.  XIX).  Das 
Saeculum,  welches  ursprünglich  Augustum,  das  Hochhehre, 
genannt  wurde,  wird  in  kurzer  Zeit  die  conventioneile  Bezeich- 
nung eines  Sumpfes  sittlicher  Fäulniss  und  Falschheit  I 

Aus  dieser  vorläufigen  Signatur  des  römischen  Cäsarismus 
erhellt  fürs  erste  soviel,  dass  wenn  von  Lichtseiten  in  einer 
Persönlichkeit  dieser  Zeit  die  Rede  sein  soll,  diese  Persönlichkeit 
vor  Allem  in  einem  unzweifelhaften  Antagonismus  gegen  den  Geist 
dieser  universalen  sittlichen  Verderbtheit  begriffen  sein  muss. 
Dieser  Antagonismus  nun  ist  bei  Lucius  Seneca  ein  Erbtheil 
seiner  Familie.  Seneca  stammt  aus  der  Provinz  und  nicht  aus 
Rom,  wo  sich  die  Hefe  der  Corruption  von  allen  Seiten  her 
(laex  mundi)  anhäufte.  Zu  den  ersten  Schriften  Senecas 
<'-ehört  die  ,,Consolatio  ad  Helviam  matrem".  Indem  er  hier  die 
Mutter  wegen  seiner  Verbannung  auf  Corsica  zu  trösten  sucht, 
erfahren  wir  einzelne  Züge,  welche  die  Mutter  als  eine  vortreff- 
liche Matrone  charakterisiren.  Es  ist  ein  grosses  Lob,  welches 
der  Sohn  dieser  Mutter  ertheilt  hat  (XVI  3),  und  wenn  auch 
die  rhetorische  Paeder  des  Sohnes  etwas  übertreibt,  so  viel 
muss  jedenfalls  anerkannt  werden,  dass  die  Helvia  in  einer  sehr 
verderbten  Zeit  und  Umgebung  —  (sie  war  zu  Zeiten  auch  in 
^om)  —  als  ein  Vorbild  weiblicher  Tugend  dasteht.  Und 
mit  einer  solchen  Mutter  steht  der  mehr  als  40jährige  Sohn  in 


45 

einem    zärtlichen    Liebesverhältniss.      Auch    die   ausgezeichnete 
Schwester  der  Mutter  ist  hier  um  so  weniger  zu  übergehen,   da 
diese  Tante  den  jugendhchen  Seneca    in  Rom  einführt  und  für 
ihn  die  Bewerbung  um  die  Quästur  unterstützt  hat.     Die  Liebe, 
mit  welcher  Seneca  das  Bild  dieser  Tante  als  einer  der  edelsten 
Römerinnen  jener  Zeit  beschreibt,    beweist,    dass    ihre  Tugend 
auf  das  Gemüth  des  Neffen  einen  bleibenden  Eindruck  gemacht 
hat.     Auch  von  dem  Vater  Senecas  wissen  wir  genug,  um  ihn 
in  den  Orden  derjenigen  einzureihen,   welche   in    dem  Bewusst- 
sein  früherer  besserer  Zeiten  sich  dem  Andrang  des  wachsenden 
allgemeinen    Verderbens    entgegenstemmten.       Marcus    Seneca 
lebte  eine  Zeit    lang   als   Rhetor  in  Rom,    ist    sich  dessen  aber 
bewusst,   dass   die    Redekunst    mit    dem  Aufhören   der  Oeffent- 
lichkeit  in  Verfall  gerathen  ist.     ,,Jam  res  taedio  est",    sagt  er 
seinen  Söhnen,   ,,jam  pudet,  quamdiu  non  seriam  rem  agam,  — 
scholastica    studia     leviter     tractata    delectant,     contrectata    et 
propius  admota  fastidio  sunt"   (M.    A.   Senecae  Rhetoris    opera 
p.   318).     Dabei    ist    es   ein    liebenswürdiger    Zug,    dass    er    in 
seinem  hohen  Alter  auf  Bitten  seiner  Söhne  sich  dazu  versteht, 
Redestücke  von  berühmten  Autoritäten,  die  er  in  Rom  gehört, 
vor  ihnen  aus  dem  Gedächtniss    zu    recitiren.     In    der   Vorrede 
zu  dem  ersten  Buch  der  Controversiae  stellt   er  seinen  Söhnen 
der  verderbten  Zeit  gegenüber  den  Cato  als    göttliches  Orakel 
vor  (p.  61   62).     In    der   Vorrede  zum    fünften  Buch  erzählt  er 
die    ergreifende   Geschichte    des   Labienus,    der,    entrüstet   über 
die     gewaltsame    Verbrennung    seiner    Schriften,    sich    in    dem 
Grabmal     seiner    Vorfahren     einschloss     und     sich    nicht    bloss 
tödtete,  sondern  sich  auch  selbst  begrub  (p.  319 — 321).    In  der 
Vorrede    zum    zweiten   Buch  der  Controversiae    an  seinen  Sohn 
Meta  erwähnt  er  die  Philosophen  Fabianus  und  Sextius  (p.  139), 
welche,    wie    wir    später    genauer    sehen    werden,    durch    ihren 
sittlichen  Ernst  auf  den  Sohn  Lucius  einen  grossen  Einfluss  hatten. 
Dagegen  fällt  der  ältere  Seneca  in  dem  gleichen  sittlichen  Ernst 
über    Ovid    folgendes    Urtheil:    ,,hoc    saeculum    amatoriis    non 
tantum  artibus,    sed   etiam    sententiis  implevit"   (Controv.  III  7). 
Noch   ist    ein   bedeutsames   authentisches  Zeugniss    für  die 
streng     republikanische     Gesinnung     des     älteren     Seneca     zu 


46 

beachten.  In  den  von  Xiebuhr  aufgefundenen  Fragmenten  des 
Lucius  Seneca  (Rom,  1820J  ist  eine  Notiz,  welche  besagt, 
dass  Seneca,  der  Vater,  eine  römische  Geschichte  von  Anfang 
der  Bürgerkriege  bis  zu  seinem  Tode  als  fertiges  Manuscript 
hinterlassen  habe.  Da  nun  der  Sohn  erklärt,  dass  er  dieses 
für  die  Oeffentlichkeit  bestimmte  ruhmwürdige  Werk  nicht 
herausgegeben  (L.  Seneca,  ed.  Haase,  III  436  437),  so  ist  anzu- 
nehmen, dass  dasselbe  in  dem  strengen  Sinne  der  anticäsarischen 
Opposition  verfasst  war.  Es  ist  demnach  auch  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  das  von  Lactanz  (Inst.  VII  14  15)  erhaltene 
Fragment,  das  gewöhnlich  dem  L.  Seneca  zugeschrieben  wird, 
dem  Marcus  Seneca  angehört  und  jenem  Geschichtswerk  ent- 
nommen ist.  In  diesem  Fragment  wird  der  Verlauf  der 
römischen  Geschichte  verglichen  mit  dem  Gang  des  Menschen- 
lebens, dergestalt,  dass  die  Zeit  der  Könige  mit  dem  Kindes- 
und  Knabenalter,  die  Zeiten  der  die  Welt  erobernden  Republik 
mit  dem  Jünglings-  und  Mannesalter  verglichen  werden,  nach  dem 
Bürgerkrieg  und  dem  Verlust  der  Freiheit  kommt  das  Greisen- 
alter, welches  sich  in  der  Rückkehr  zur  Alleinherrschaft  voll- 
endet und  als  Rückkehr  zur  zweiten  Kindheit  darstellt  (L.  Seneca, 
ed.  Haase  III  437.  cfr.  Flori  res  Romanae.  Praefatio).  Nach 
dem  Allen  begreift  es  sich,  dass  Seneca  den  Vater  nennt 
,,virorum  optimus,  nimis  majorum  consuetudini  deditus  '  und 
ihm  ,,antiquus  vigor"  beilegt  (Ad  Helviam  XVII  3  4);  was 
übrigens  nicht  so  zu  verstehen  ist,  als  ob  ihm  alle  Zärtlichkeit 
abzusprechen  sei,  wogegen  er  ihn,  die  Mutter  anredend,  nennt: 
,,carissimum  virum  tuum"  (Ad  Helviam  II  4)  und  zweimal 
ausdrücklich  des  Vaters  liebende  Fürsorge  für  des  jugendlichen 
Sohnes  Gesundheit  rühmt  (Ep.  LXXVIII  2,  CXIII  2).  Dass 
Seneca  die  Erinnerung  an  den  sittlichen  Ernst  seines  Eltern- 
hauses und  seiner  Verwandtschaft  in  seinem  männlichen  Alter 
festhält  und  pflegt,  das  verdankt  er  vornämlich  der  sittlichen 
Würde  und  Strenge  derjenigen  Lehrer,  welche  er  in  seiner 
Jugend  hörte,  und  deren  Andenken  er  bis  zum  spätesten  Alter 
in  begeisterter  Liebe  gefeiert  hat. 

Der  Vater    Seneca    gedenkt    in    der  Vorrede   zum  zweiten 
Buch  der  Controversiae,    wie   schon  erwähnt,    des  Sextius,    den 


47. 

Fabianus  gehört  habe.  In  der  Zeit  des  beginnenden  grossen 
Wendepunktes  in  den  römischen  Angelegenheiten  entstand  eine 
Phiiosophenschule  mit  römischem  Gepräge.  An  der  Spitze 
derselben  standen  die  Sextii,  Vater  und  Sohn,  vornämlich  der 
Vater  (S.  Ep.  LIX  7).  Zwar  ist  Sextius  Senior  auch  in  Athen 
gewesen  (Plin.  H.  N.  XVIII  28)  und  schreibt  sogar  griechisch, 
aber  sein  Leben  blieb  römisch.  ,,Virum  acrem"  nennt  ihn 
Seneca  ,,graecis  verbis  romanis  moribus  philosophantem",  und 
zwar  ist  es  offenbar  das  republikanische  Römerthum,  welches 
er  vertritt,  denn  er  hat  den  Senatorenrang,  den  ihm  Juhus 
Cäsar  anbot,  ausgeschlagen.  ,,Honores  repulit  pater  Sextius'' 
(S.  Ep.  XCVIII  13).  Nun  gewinnen  die  Worte:  ,,Sextiorum 
nova  et  Romani  roboris  secta"  (S.  Q.  N.  VII  32  2)  einen 
gewichtigen  Sinn.  Hier  ist  die  Spur,  die  uns  von  dem 
älteren  Seneca  zu  dem  jüngeren  hinüberführt.  Dieser  hat  den 
Sextius  nicht  m.ehr  gehört,  aber  er  liest  ihn  im  hohen  Alter 
mit  einer  Begeisterung,  als  wenn  er  lebendig  vor  ihm  stände. 
,,Cum  legeris  Sextium",  schreibt  er  (Ep.  LXIV  3),  ,,dices: 
vivit,  viget,  liber  est,  supra  hominem  est,  dimittit  me  plenum 
ingentis  liduciae".  Nicht  selten  beruft  sich  unser  Seneca  auf 
Sextius  und  folgt  seinem  Beispiel  (De  ira  II  36  i,  III  36. 
Ep.  LIX  7,  LXXIII  12  15.  Fragm.  84).  Dass  aber  Seneca 
im  Stande  ist,  als  Greis  den  Sextius  mit  so  lebendiger  Ver- 
gegenwärtigung zu  lesen,  verdankt  er  ohne  Zweifel  dem 
Umstand,  dass  er  in  seiner  Jugend  die  Vorträge  ernstgesinnter 
Lehrer  mit  grosser  Hingebung  und  Gewissenhaftigkeit  gehört 
hat.  Aus  den  Abhandlungen  Plutarchs  ,,de  audiendis  poetis" 
und  ,,de  auditione"  ersieht  man,  dass  die  Tendenz  der  Vorträge 
ernstgesinnter  Philosophen  eine  überwiegend  moralische  war 
(Plutarch:  Opp.  II  39  a,  42  a  b).  Sextius  wollte  offenbar  mit 
seiner  Schule  dem  einreissenden  Sittenverderben  einen  Damm 
entgegenstellen.  Aber  er  musste  erfahren,  dass  auch  die  Kraft 
einer  strengeren  Schule  den  herrschenden  bösen  Mächten  nicht 
gewachsen  war.  ,,Sextiorum  nova  et  Romani  roboris  secta 
inter  initia  exstincta  est"  (N.  Q.  VII  32  2).  Dessenungeachtet 
hatte  Sextius  in  Rom  Nachfolger,  und  diese  hat  unser  Seneca 
gehört    und    hat   mit   lebendigen    Farben    geschildert,    welchen 


48 

Eindruck  er  von  diesen  Vorträgen  empfangen  habe.  Wir  sahen, 
dass  Seneca,  der  Vater,  den  Fabianus,  den  Zuhörer  des  Sextius, 
rühmend  erwähnt ;  dem  entsprechend  bezeichnet  der  Sohn  den 
Fabianus  mit  den  Worten:  ,,F.  non  ex  his  cathedrariis,  sed  ex 
veris  et  antiquis  (De  brevitate  vitae  X  i);  F.  vir  egregius  et 
vita  et  scientia"  (Ep.  XL  12,  XI  4,  LH  11).  Aus  den  Aeusse- 
rungen  des  L.  Seneca  über  Fabianus  muss  man  schHessen, 
dass  er  auf  die  Empfehlung  des  Vaters  diesen  Jünger  des 
Sextius  gehört  hat.  Die  beiden  Lehrer  aber,  welche  auf  den 
jugendlichen  Geist  des  Seneca  am  meisten  Einfluss  gehabt 
waren  Sotion,  der  Pythagoreer,  und  Attalus,  der  Stoiker.  Den 
ersteren  hat  Seneca  noch  im  Knabenalter  gehört  (Apud 
Sotionem  philosophum  puer  sedi.  Ep.  XLIX  2)  und  wie  sehr 
er  sich  seinem  Einfluss  hingab,  erhellt  daraus,  dass  er  sich  der 
Fleischspeisen  zu  enthalten  anfing,  zumal  auch  der  römische 
Stoiker  Sextius  dasselbe  gethan.  Nachdem  er  die  Argumente 
des  Pythagoras  vorgetragen,  fährt  er  fort:  ,,his  argumentis  ego 
instinctus  abstinere  animalibus  coepi  et  anno  peracto  non  tantum 
facilis  erat  mihi  consuetudo,  sed  dulcis"  (P2p.  CVIII  17 — 22). 
Nach  diesem  Selbstbekenntniss  nannten  Lactanz  (Inst.  VI  24  14) 
und  Hieronymus  im  Catalogo  Sanctorum  unseren  Seneca  mit 
vollem  Recht  einen  Schüler  des  Sotion  und  der  letztere  fügt 
hinzu:  ,,continentissimae  vitae  fuit."  Mächtiger  aber  noch  als 
von  Sotion  war  Senecas  Jugend  ergriffen  von  Attalus.'^*)  Noch 
als  Greis  beschreibt  er  diesen  Eindruck  so  ergreifend,  dass 
man  heute  noch  die  Bewegungen  eines  leicht  erregbaren 
Gemüthes  in  jener  gährungsvoUen  Zeitwende  sich  lebhaft  ver- 
gegenwärtigen kann  (Ep.  CVIII  13  14).  Dieser  Attalus  bleibt 
Seneca  nicht  bloss  die  Hauptauctorität  (Ep.  LXIII  5,  LXVII  15» 
LXXII,  8  LXXXI  22),  sondern  auch,  was  mehr  sagen  will,  die 
Richtung  auf  ein  streng  enthaltsames  Leben  mitten  in  der  Welt 
einer  unersättlichen  Genusssucht  und  einer  an  Raserei  grenzenden 
Ueppigkeit,  welche  er  zu  den  Füssen  des  Sotion  und  Attalus 
mit  jugendlicher  Begeisterung  einsog,  hat  er  bis  ans  Ende  und 


*)  Dass  Attalus  von  Sejan  vertrieben  wurde  (L.  v.  Ranke  :   Weltgeschichte 
III  1   132)  gereicht  ihm  nur  zur  Ehre. 


49 

zwar  mitten  in  der  Ueberfülle  von  Glücksgütern  und  in 
lebendicreni  Verkehr  mit  dem  kaiserlichen  Hofe  und  der  vor- 
nehmen  Welt  festgehalten,  wenn  er  auch  kein  Hehl  hat,  dass 
er,  nachdem  er  in  das  staatliche  Leben  eingetreten,  manches 
von  seiner  jugendlichen  Askese  aufgegeben  hat  (Ep.  CVIII  15). 
Uebrigens  war  er  in  Folge  seiner  Enthaltsamkeit  krank 
geworden,  und  es  bedurfte  der  Mahnung  des  Vaters,  dass  er 
sich  wiederum  dem  Fleischgenuss  zuw^andte  (Ep.  CVIII  22, 
LXXVIII  2).  Aber  der  vornehmsten  römischen  Leckereien, 
der  Austern  und  Pilze,  hat  er  sich  auch  später  enthalten  und 
im  Uebrigen  bei  allen  Genüssen  Mass  zu  halten  gesucht,  was, 
wie  er  mit  gutem  Grund  hinzufügt,  oft  schwerer  sei,  als  die 
gänzliche  Enthaltsamkeit  (Ep.  CVIII  16).  Ausserdem  suchte 
Seneca  sich  durch  zwei  Mittel  gegen  Verweichlichung  zu 
schützen.  Auf  die  Empfehlung  des  Attalus  bediente  er  sich 
bis  ins  Alter  eines  harten  Pfühles  (Ep.  LXXXVII  2,  CVIII  23. 
cfr.  Hippolytus  520  521),  welcher  Abhärtung  sich  auch  der 
-stoische  Kaiser  Marc  Aurel  von  Jugend  auf  befleissigte 
(Comment.  i  6.  cfr.  Capitolinus  II,  III).  Sodann  enthielt  sich 
Seneca,  was  kein  Römer  von  Lebensart  entbehren  mochte,  der 
warmen  Bäder  (Ep.  CVIII  16),  dagegen  liebte  er  das  kalte 
Wasser  (Ep.  LIII  3,  LXXX  14  5)  und  ist  im  Alter  noch  ein 
tüchtiger  Schwimmer  (Ep.  LIII  3).  Es  ist  merkwürdig,  dass 
der  ältere  Plinius,  obwohl  er  sich  sonst  gegen  die  Verweichlichung 
seiner  Zeitgenossen  ereifert  und  auch,  wie  wir  gesehen,  den 
Seneca  übrigens  hochhält,  sich  über  die  Sucht  des  Stoikers 
nach  kaltem  Wasser  ärgert  (H.  N.  XXIX  5).  Uebrigens  hat 
unser  Seneca  durch  diese  Massigkeit  und  Abhärtung  eine  grosse 
Gewalt  über  seinen  Körper  erlangt.  Obwohl  er  von  Jugend 
an  kränklich  gewesen  (Ad  Helviam  XIX  2,  Ep.  LXXVIII  i), 
darf  er  doch  noch  im  hohen  Alter  sich  schwere  Strapazen  und 
harte  Entbehrungen  zumuthen  (Ep.  LXXX  5,  LXXXVII  2—4, 
,,In  se  ipsum  habere  magnam  potestatem"  Ep.  LXXV  18). 
Auch  Tacitus  bezeugt  die  ungewöhnlich  einfache  und  ländliche 
Lebensart  des  Seneca  (Ann.  XV  45  63). 

Wir    haben    somit    den    thatsächlichen    Beweis,    dass    jene 
begeisterte    Schilderung     von    dem    mächtigen    Eindruck    der 


50 

philosophischen  Vorträge  auf  den  JüngHng  nicht  auf  Rechnung" 
rhetorischer  Uebertreibung  gesetzt  werden  darf.  Demnach 
werden  wir  urtheilen,  dass  Seneca  durch  Elternhaus  und  Ver- 
wandtschaft sowie  durch  die  strenge  Philosophenschule  vorbereitet 
und  ausgerüstet  ist,  den  grossen  in  seiner  Zeit  und  Umgebung 
Hegenden  Versuchungen  und  Verführungen  Widerstand  zu 
leisten  und  die  in  seiner  Menschennatur  begründete  sittliche 
Anlage  zu  schützen  und  zu  pflegen.  Inwieweit  er  durch  seine 
Leistung  dieser  Vorbereitung  und  Ausrüstung  in  seinem  ferneren 
Leben  entsprochen  habe,  ist  der  Gegenstand  unserer  Darlegung 
in  diesem  zweiten  Abschnitt.  — 

Nach  der  Schrift  sind  die  Heiden  die,  welche  Gott  nicht 
kennen  (Gal.  IV  8)  oder  genauer  die  Gottvergessenden  (Ps.  IX  i8, 
L  22,  XXII  28,  Rom.  I  19—22).  In  dem  Zustand  der  Ver- 
gessenheit liegt  aber  die  Möglichkeit  des  Erinnerns,  und  dass 
diese  Möglichkeit  nicht  immer  eine  todte  bleibt,  ist,  wenn  auch 
diese  Möglichkeit  niemals  zur  wahren  Gotteserkenntniss  führt, 
der  thatsächliche  Beweis  von  der  ursprünglichen  und  nicht 
untergegangenen  Anlage  und  Empfänglichkeit  der  heidnischen 
Menschheit  für  die  Offenbarung  Gottes  in  Christo.  Wie  bereits 
bemerkt,  sind  es  insbesondere  manche  hervortretende  Aeusse- 
rungen  seiner  Gotteslehre,  welche  dem  Seneca  die  Auf- 
merksamkeit und  die  Zuneigung  der  Kirchenväter  erworben 
haben. 

Allem,  was  Seneca  über  das  göttliche  Wesen  zu  sagen 
hat,  schickt  er  die  ernste  Mahnung  vorauf:  ,,nunquam  vere- 
cundiores  esse  debemus,  quam  cum  de  diis  agitur"  (N.  Q.  VII  30  i). 
Zwei  Thatsachen  in  dem  Leben  des  Seneca  beweisen  meines 
Erachtens,  dass  er  in  Ansehung  der  göttlichen  Dinge,  im 
Vergleich  mit  seinen  Zeitgenossen,  ein  wacheres  Gewissen 
muss  gehabt  haben.  In  dem  108.  Briefe  bekennt  Seneca,  dass 
sein  oben  erwähnter  Eifer  für  Enthaltung  von  Fleischspeisen, 
zu  dem  er  durch  die  philosophischen  Vorträge  begeistert 
wurde,  in  jene  Zeit  gefallen  sei,  als  unter  Tiberius  eine 
Bewegung  wegen  fremder  Götterculte  entstand,  und  ein  Stück 
dieses  Aberglaubens  bestand  gleichfalls  in  der  Enthaltung  von 
Fleischspeisen    (Ep.    CVIII    22).      In    der    That    kamen    unter 


51 

Tiberius  ägyptische  und  jüdische  Heiligthümer  in  Verdacht, 
und  die  Anhänger  wurden  verbannt  (Tacit. :  Ann.  II  85).  In 
dieser  Zeit  konnte  Jemand,  der  der  pythagoreischen  Askese 
zugethan  war,  in  den  Verdacht  eines  fremden  Aberglaubens 
kommen.  Der  Vater  Seneca  bat  damals  den  Sohn,  von  seiner 
Gewohnheit  abzulassen,  und  das  ist  geschehen  auf  Bitten  des 
Vaters.  Sonderbar  klingt  nun  die  Motivirung  des  Vaters: 
,,qui  non  calumniam  timebat,  sed  philosophiam  oderat" 
(Ep.  CVIII  22),  darum  vor  Allem  sonderbar,  weil  wir  aus  der 
Vorrede  zu  dem  zweiten  Buch  der  Controversiae  wissen,  dass 
der  Vater  ein  Verehrer  des  Philosophen  Fabianus  war.  Lipsius 
macht  den  verzweifelten  Vorschlag,  zu  lesen:  ,,qui  non 
philosophiam  timebat,  sed  calumniam  oderat"  Will  man 
diesen  Ausweg  nicht,  dann  muss  man  die  Worte:  ,, philo- 
sophiam oderat"  in  einem  durch  den  Zusammenhang  be- 
schränkten Sinne  verstehen.  Marcus  Seneca  hasste  die 
Philosophie  nicht  überhaupt,  sondern  jene  bestimmte  Philo- 
sophie, welche  Fleischspeisen  verbot  und  sich  dadurch  mit 
dem  fremden  unerlaubten  Kultus  berührte.  Der  Sinn  ist:  der 
Vater  fürchtete  nicht  Verdacht  und  Verleumdung  wegen  fremden 
Aberglaubens,  er  und  seine  Familie  waren  sich  ihrer  Recht- 
gläubigkeit so  sehr  bewusst,  dass  er  auch  einen  Schein  von 
verdächtigem  Kultus  nicht  zu  fürchten  brauchte.  Es  ist  also 
nicht  die  äusserliche  Rücksicht,  sondern  die  innere  Gesinnung, 
welche  dem  Vater  den  Rath  an  seinen  Sohn  eingegeben  hat. 
Der  Vater  hasste  eine  Philosophie,  welche  im  Punkte  der  Ent- 
haltung mit  einem  damals  grassirenden  fremden  Kultus 
harmonirte.  Dass  überall  der  Rath  des  Vaters  durch  die  Notiz 
über  die  durch  den  fremden  Kultus  veranlasste  Gährung  der 
Gemüther  motivirt  wird,  beweist  auf  alle  Fälle,  dass  in  dem 
Hause  der  Annaei  die  Religion  eine  geistige  Macht  war,  die 
nicht  auf  Accommodation,  sondern  auf  Gesinnung  beruhte.  Da 
Lucius  Seneca  dem  so  motivirten  Rathe  des  Vaters  folgte  und 
eine  ihm  lieb  gewordene  Sitte  verliess,  so  ergiebt  sich,  dass  er 
diesem  religiösen  Familiensinn  auch  für  seine  Person  gehuldigt 
hat.  Eine  zweite  Thatsache  ist  die  folgende.  Als  Nero  zum 
Wiederaufbau   von  Rom   sich   nicht  scheute,    auch    die    Heilig' 


52 

thümer  anzugreifen,  entfernte  sich  Seneca  von  Rom,  um  nicht 
den  Vorwurf  eines  Sacrilegiums  auf  sich  zu  laden  (Tacit. : 
Ann  XV  45).  Damit  stimmt,  dass  Seneca  in  seinen  Schriften 
es  hebt,  mit  besonderem  Abscheu  von  dem  Sacriiegium  zu 
sprechen  (B.  I  4,  VII  7,  Ep.  LXXXVII  22  23  24).  Tacitus 
hat  auch  nicht  unterlassen,  jenen  Tempeh-aub  Neros  als  einen 
besonderen  Frevel  zu  brandmarken,  was  dem  Seneca  so  gut 
wie  Agricola,  dem  Schwiegervater  des  Tacitus,  zum  Lobe 
gereichen  muss  (Agricol.  VI). 

Mit  Recht  loben  die  Väter  an  Seneca  zuvörderst,  dass  er 
die  gangbaren  anstössigen  Vorstellungen  des  Heidenthums  von 
dem  Götterwesen  mit  Nachdruck  bekämpft.  Da  es  unter  den 
ernsteren  Philosophen,  namentlich  seit  Plato,  hergebracht  war, 
gegen  die  Verunreinigung  des  Gottesbegriffs  durch  die  Dichter 
sich  auszusprechen  und  zu  verwahren,  so  werden  wir  es  nach 
Allem,  was  wir  bereits  von  Seneca  wissen,  als  Selbstverstand 
ansehen,  dass  er  sich  diesem  für  die  Gottheit  eifernden  Protest 
anschhessen  werde.  Er  geisselt  die  ,,ineptiae",  den  ,,furor 
poetarum"  und  findet  in  vielen  Götterfabeln  der  Dichter  ,, nihil 
ahud  actum,  quam  ut  pudor  hominibus  peccandi  demeretur, 
si  tales  deos  credidissent"  (De  vita  beata  XXVI  6).  ,,Q'-iid 
aliud  est  vitia  nostra  incendere  quam  auctores  illis  inscribere 
deos  et  dare  morbo  exemplo  divinitatis  excusatam  licentiam?" 
(De  brev.  vitae  XVI  5,  cfr.  B.  VII  2 — 3).  Einen  ähnlichen 
Ausspruch  dieser  Polemik  hat  Lactanz  aus  den  nicht  mehr 
vorhandenen  Büchern  der  Moralphilosophie  uns  erhalten  (Inst.  I 
16  10).  Aber  es  ist  nicht  bloss  die  ,,theologia  fabulosa",  welche 
Seneca  bekämpft,  er  hat  auch  den  Muth  der  ,,theologia  civilis'* 
oder  ,,urbana"  entgegenzutreten,  was  Augustinus  ihm  mit  Recht 
hoch  anrechnet  (C.  D.  VI  10).  Denn  das  Ansehen  der  Dichter 
beruht  vorzugsweise  auf  dem  Urtheil  der  Gebildeten,  die  immer 
nur  eine  Minorität  darstellen.  Die  Geltung  der  Kultushandlungen 
aber,  was  Augustinus  unter  theologia  civilis  oder  urbana 
versteht,  ruht  auf  den  Gesetzen  und  dem  Herkommen  des 
bürgerlichen  Gemeinwesens.  Gegen  diese  Macht  des  öffentlichen 
Wesens  aufzutreten,  forderte  den  höchsten  Mannesmuth.  Nach 
Lactanz  (Inst.  II  2    14)    verwirft    nun    Seneca    in    seiner  Moral- 


53 

Philosophie  den  Götterkultus,  insofern  derselbe  durch  materielle 
Mittel,  als  da  sind  Bilder,  Geschenke,  Tempelgebäude,  Thieropfer, 
vollzogen  wird,  und  nach  dem  Zusammenhang  ist  sein  Spott, 
dass  die  Römer  nicht  bloss,  wie  das  Sprichwort  sagt,  zweimal 
Kinder  sind,  sondern  immer  Kinder  bleiben,  auf  die  Bilder- 
verehrung zu  beziehen  (Inst.  II  4  13  14).  Die  Verwerfung  der 
Götterbilder  spricht  Seneca  positiv  aus:  ,,Deus  effugit  oculos, 
•cogitatione  visendus  est"  (Q.  N.  VII  30  3).  Von  TertuUian, 
Augustin  und  dem  Grammatiker  Diomedes  erfahren  wir,  dass 
Seneca  einen  eigenen  Dialog  ,,de  superstitione"  geschrieben. 
In  dieser  Schrift  habe  er,  wie  TertuUian  bemerkt,  den  Poly- 
theisten  so  bittere  Wahrheiten  gesagt,  dass  sie  ihren  Tadel 
nicht  zurückgehalten  (Apolog.  XII),  Nach  Augustinus,  der 
ausführliche  Exzerpte  aus  dieser  Schrift  beibringt  (C.  D.  VI  10), 
eifert  Seneca  nicht  bloss  gegen  die  Bilder  der  Götter,  nicht 
bloss  gegen  die  Verehrung  einzelner  römischer  Gottheiten, 
sondern  vornämlich  gegen  die  Lächerlichkeiten  und  Schandbar' 
keiten  des  Ritus  überhaupt. 

Es  leuchtet  ein,  dass  ein  so  ernstlicher  höchst  unpopulärer 
Widerstand  gegen  die  Verderbnisse  des  heidnischen  Mythus 
und  Kultus  auf  eine  ethische  Anschauung  von  dem  göttlichen 
Wesen  zurückkommt.  Auch  fehlt  es  keinesweges  an  positiven 
Zeugnissen  für  diese  Anschauung.  Bei  der  heidnischen  Ver- 
dunkelung des  Gottesbewusstseins  will  es  schon  nicht  wenig 
bedeuten,  wenn  die  göttliche  Absolutheit  unumwunden  aus- 
gesprochen wird.  An  einer  Stelle,  wo  Seneca  ausdrücklich 
das  Universum  als  opus  bezeichnet  und  nun  zu  diesem  opus 
nach  der  ersten  und  hervorbringenden  Ursache  fragt,  sagt  er, 
diese  causa  sei  Gott,  indem  er  für  causa  noch  ratio  scilicet 
faciens  substituirt  (E  LXV  11  — 14).  Gott  ist  also  nicht  bloss 
Ursache  des  Universums,  sondern  auch  intelligente  Ursache. 
Gott  ist  aber  ferner  nicht  bloss  universal  wirkende,  schaffende 
Vernunft,  er  ist  auch  nichts  Anderes,  als  eben  dieses,  es  ist  in 
und  an  ihm  nichts  als  Geist  und  Vernunft:  ,,in  Deo  nuUa 
pars  extra  animum,  totus  ratio  est"  (N.  Q.  I  praef  14,  cfr. 
Joh.  IV  24).  Seneca  hat  auch  nicht  verfehlt,  einige  wichtige 
Folgerungen  aus  diesem  Grundgedanken  zu  ziehen.    Wenn  wir 


54 

es  auch  als  einen  Schatten  des  allgemeinen  heidnischen  Bewusst- 
seins  ansehen  wollen,  dass  er  neben  dem  höchsten  Gott 
selbstständige  überirdische  Wesen  statuirt :  ,,ut  omnia  sub 
ducibus  suis  irent",  so  hat  er  doch  nicht  unterlassen,  Alles, 
und  zwar  mit  ausdrücklichem  Einschluss  dieser  numina  von 
dem  rector  orbis  terrarum  coelique,  dem  Dens  omnium  deorum, 
abhängig  hinzustellen,  indem  noch  ausdrücklich  hinzugefügt 
wird:  ,,ministros  regni  sui  Deus  genuit",  denn  nach  Lactanz 
(Inst.  I  5  26  27):  ,,Seneca  dixit,  genuisse  regni  sui  ministros 
Deum".  Was  in  diesen  Sätzen  implicite  enthalten  ist,  nämlich 
die  Anerkennung  der  Aseität  Gottes,  wird  von  Seneca  auch 
ausdrücklich  ausgesprochen:  ,,Deus  ipse  ante  omnia  ex  se  ipso 
procreatus  est"  (Lact.  Inst.  I  7  13);  ,,Deus  ipse  se  fecit" 
(ibid.).  Die  Aseität  Gottes  erzeugt  im  Menschen  das  Gefühl 
der  absoluten  Abhängigkeit.  ,,Nos  aliunde  pendemus,  itaque 
ad  aliquem  respicimus,  cui  quod  est  Optimum  in  nobis  de- 
beamus,  alius  nos  edidit,  alius  instruxit,  Deus  ipse  se  fecit" 
(Lact.  Inst.  I  7  14).  Der  sich  selbst  Ursache  seiende  Gott  ist 
aber  nicht  bloss  Urheber  des  Universums,  er  steht  auch  dem 
Ganzen  wissend  gegenüber.  ,,Deo  nihil  clusum  est"(E.  LXXXIII  i)- 
,,Deo  patemus"  (Lact.  Inst.  VI  24  12  15):  ,,divina  lux,  deos 
omnium  rerum  testes  esse  ait,  illis  nos  approbari  jubet'* 
(E.  CII  29).  ,, deorum  notitiam  nulla  res  effugit"  (B.  V  25  4).  So 
ist  der  Urheber  des  Ganzen  nicht  bloss  der  sein  selbst  Bewusste, 
sondern  auch  der  auf  sich  selbst  ruhende  Leiter  und  Regierer 
des  Universums:  ,,Deus  rector  universi  in  exteriora  quidem 
tendit,  sed  tarnen  in  totum  undique  in  se  redit"  (De  beat. 
vit.  VIII  4);  ,,ipse  ille  omnium  conditor  et  rector  scripsit 
fata"  (De  provident.  V  8).  Der  höchste  Gott  ist  der,  welcher 
das  All  in  Bewegung  setzt :  ,,Deus  ille  maximus  potentissi- 
musque  ipse  vehit  omnia"  (E.  XXXI  10).  Sehr  deutlich  tritt 
in  diesen  und  ähnlichen  Aussagen  der  den  Polytheismus 
abstossende  Monotheismus  hervor.  Der  höchste  Gott  ist  nach 
diesen  Sätzen  der  Urheber  des  Universums  und  der  gegenwärtige 
Alleswissende  und  wesenhaft  geistige  Regierer  aller  Dinge. 
Aber  nicht  bloss  geistig  ist  sein  Wesen,  sondern  auch  ethisch. 
Das    die  Gottheit    Bestimmende    ist   ihr   eigener    Wille:     ,,Non 


55 

externa  cogunt  deos,  sed  siia  voluntas"  (B.  VI  23  i).  Die 
Götter  haben  die  Tugend  nicht  gelernt,  sondern  dass  sie  gut 
sind,  gehört  zu  ihrer  ursprüngHchen  Natur.  ,,Dn  immortales 
nullam  didicere  virtutem  cum  omni  editi  et  pars  naturae  eorum 
est  bonos  esse"  (E.  XCV  36).  ,,Ergo  Deum  non  laudabimus, 
cui  naturahs  est  virtus  ?  Nee  illam  didicit  ex  ullo ;  immo  laudabi- 
mus, quamvis  enim  naturalis  illi  sit,  sibi  illam  dedit,  quoniam 
Deus  ipse  (so  liest  Bünemann)  natura  est"  (Lact,  Inst.  II  8  23). 
Dieses  von  Lactanz  erhaltene  Fragment  verdient  darum 
besondere  Beachtung,  weil  der  Satz  ,,sibi  illam  dedit"  aus- 
drücklich den  Gedanken  abwehrt,  die  göttliche  virtus  bloss 
physisch  oder  logisch  zu  denken,  die  göttliche  virtus  ist  das 
Erzeugniss  eines  Willens,  beruht  also  auf  Freiheit.  Dass  nun 
diese  Freiheit  zugleich  Nothwendigkeit  ist,  liegt  in  dem 
zweimal  gesetzten  ,, naturalis".  Die  Einheit  von  Freiheit  und 
Nothwendigkeit  constituirt  den  Begriff  des  höchstens  Gutes. 
Dass  Seneca  diesen  Begriff  des  höchstens  Gutes  in  Gott  erfasst 
hat,  ergiebt  sich  am  deutlichsten  daraus,  dass  er  dem  Menschen 
dieses  höchste  Gut  als  Ziel  gesetzt  hat.  ,, Maximum  argumentum 
est,  firmae  voluntatis  ne  mutari  quidem  posse,  vir  bonus  non 
potest  non  facere,  quod  facit,  non  enim  erit  bonus  nisi  fecerit" 
(ß.  VI  21  2);  ,, bonus  idem  erat  semper  et  in  omni  actu  par 
sibi,  jam  non  consilio  bonus,  sed  more  eo  perductus  est,  ut 
non  tantum  recte  facere  posset,  sed  nisi  recte  facere  non 
posset"  (E.  CXX  10)  •  ,, bonus  vir  est,  qui  eo  perduxit  animum, 
ut  non  tantum  peccare  non  velit,  sed  etiam  non  possit" 
(Fragmenta  140,  Haase  III  467).  Desshalb  soll  man  auch 
nicht  meinen,  dass,  weil  jenes  Fragment  bei  Lactanz  mit  dem 
Satze  schliesst:  ,,Deus  ipse  natura  est",  die  Jdee  der  freien 
sittlichen  Persönlichkeit  zuletzt  in  ein  unpersönliches  Abstractum 
aufgelöst  werden  müsse,  denn  für  Seneca  ist  ,, natura  non 
nesciens,  quid  faciat"  (Q.  N.  I  praef.  15),  und  kann  daher  jener 
Satz  eben  so  gut  umgekehrt  werden,  wie  es  B.  IV  7  i  heisst: 
,,quid  aliud  est  natura,  quam  Deus  et  divina  ratio  toti  mundo 
partibusque  ejus  inserta." 

Nach    allen    diesen  Aussagen    über    das    göttliche    Wesen 
begreift    sich,    wie    Lactanz    schreiben     kann:     „Quam    saepe 


56 

Annaeus  Seneca  summum  Deum  merita  laude  prosequitur" 
(Inst  I  5  26).  Jedoch  zu  der  biblischen  Anschauung,  dass  die 
Menschheit  das  Centrum  des  Universums  ist,  kann  Seneca  sich 
nicht  erheben:  ,,non  omnia  Deus  homini  fecit  (Q.  N.  VII  29  3), 
nimis  nos  suspicimus,  si  digni  nobis  videmur,  propter  quos 
tanta  moveantur"  (De  ira  II  27  2).  Aber  darin  stimmt  Seneca 
mit  der  Bibel  überein,  dass  er  die  Schöpfung  des  Menschen  mit 
Nachdruck  auf  einen  besonderen  göttlichen  Entschluss  und  Plan 
zurückführt:  ,.cogitavit  nos  ante  natura,  quam  fecit,  nee  tam  leve 
opus  sumus,  ut  illi  potuerimus  excidere ;  scies,  non  esse  hominem 
tumultuarium  et  incogitatum  opus"  (B.  VI  23  5 — 7).  Diesem 
ursprünglichen  Vorzug  des  Menschen  entspricht  es,  dass  das 
Wirken  der  Gottheit  in  der  Welt  sich  vornämlich  auf  den 
Menschen  bezieht.  Dieses  Wirken  wird  als  lauter  Güte 
bezeichnet:  ,, natura  diis  est  mitis  et  placida,  tam  longe  remota 
ab  aliena  injuria  quam  a  sua"  (De  ira  II  27  i),  und  diese 
Güte  erstreckt  sich  über  Alle,  auch,  wie  Seneca  mit  der  Bibel 
behauptet,  über  die  Bösen:  ,,et  sceleratis  sol  oritur,  non 
cessant  dii  beneficia  congerere  de  beneficiorum  auctore 
dubitantibus"  (B.  IV  26  i,  VII  31  4).  Was  aber  die  Guten 
betrifft,  so  zeigt  sich  das  nähere  Verhältniss  der  Gottheit  zu 
ihnen  keinesweges  immer  in  einer  Bevorzugung  durch  Verleihen 
von  äusserlichen  Gütern,  worin  Seneca  wiederum  mit  der 
heiligen  Schrift  harmonirt,  sondern  dies  Verhältniss  ist  ein 
überwiegend  innerliches,  zu  dessen  Bezeichnung  Seneca  starke 
Ausdrücke  gebraucht.  Inter  bonos  viros  ac  deum  amicitia 
est  conciliante  virtute ;  amicitiam  dicor  immo  etam  nccessitudo 
et  similitudo  (De  provid.  I   5). 

Seneca  bezeichnet  die  Gottheit  mit  dem  Vaternamen : 
,,parens  ille  magnificus"  (De  prov.  I  5)-,  parens  noster 
(B.  II  29  4,  E.  CX  10).  Es  ist  also  ein  Irrthum,  in  welchem 
sich  Viele  befinden,  welche  meinen,  dass  die  Uebertragung  des 
Vaternamens  auf  Gott  das  unterscheidende  Hauptmerkmal  des 
Christenthums  ist.  Seneca  lässt  es  übrigens  nicht  bei  dem 
blossen  Vaternamen  bewenden,  er  zieht  auch  die  Folgerungen, 
die  in  diesem  bedeutsamen  Namen  liegen.  Er  spricht  von  der 
väterlichen  Gesinnung  Gottes  gegen  die  Guten:    ,,patrium  Deus 


57 

habet  adversus  bonos  animum,  et  illos  fortitcr  amat  (De 
prov.  II  6),  er  spricht  von  der  brünstigen  Liebe  Gottes,  mit  der 
wir  gehebt  werden :  ,,sic  nos  amantissima  nostri  natura 
disposuit,  ut  dolorem  aut  tolerabilem  aut  brevem  faceret 
(E.  LXXVIII  7),  neque  tantummodo  necessitatibus  provisum 
est:  iisque  in  dehcias  amamur  (B.  IV  5  i),  bene  aestimata 
naturae  indulgentia  confitearis  necesse  est,  in  dehciis  te  iU^ 
fuisse"  (B.  II  29  5). 

Dass  an  den  beiden  zuletzt  citirten  Stehen  der  Ausdruck 
,,in  dehciis  habere"  in  der  bewussten  Absicht  gebraucht  wird, 
um  das  höchste  Mass  der  götthchen  Liebe  auszudrücken,  ähn- 
hch  wie  in  der  lieihgen  Schrift  Gottes  Liebe  für  seine  erwählte 
Gemeinde  als  eine  eheliche  dargestellt  wird,  erhellt  daraus, 
dass  an  anderen  Stellen  vermittelst  desselben  Ausdrucks  in 
negativer  Richtung  der  Gedanke  einer  Verzärtelung  und  Ver- 
weichlichung der  Guten  von  Gott  fern  gehalten  werden  soll. 
De  provident.  I  6  heisst  es  nämlich:  ,,Deum  bonum  virum 
in  dehciis  non  habet  :  experitur,  indurat,  sibi  illum  parat", 
und  Ep.  LXVII  15:  ,,Attalus  Stoicus  dicere  solebat,  malo 
me  fortuna  in  castris  suis  quam  in  dehciis  habeat"  (cfr. 
Ep.  XCVI  4).  Seneca  braucht  also  einen  Ausdruck  von  der 
göttlichen  Liebe  zu  den  Guten,  von  dem  er  weiss,  dass  er 
missverstanden  und  gemissbraucht  werden  kann,^  er  scheut  sich 
aber  nichtsdestoweniger  diesen  Ausdruck  zu  gebrauchen,  weil 
ihm  darum  zu  thun  ist,  den  höchsten  Grad  dieser  Liebe  zum 
Ausdruck  zu  bringen. 

Unserem  Philosophen  entsteht  nun  die  Frage,  die  in  der 
Bibel  oft  verhandelt  wird,  warum  die  Guten  leiden  und  die 
Bösen  Wohlleben,  und  ganz  ähnlich  wie  in  der  Schrift  wird 
dieses  quälende  Räthsel  gelöst.  Die  brünstige  Vaterliebe 
Gottes  gegen  die  Guten  kann  mit  keinem  schwächeren  Aus- 
druck, als  mit  den  Worten  ,,in  deliciis  habere"  genügend 
bezeichnet  werden,  diese  Worte  nämlich  in  einem  höheren 
Sinne  genommen;  der  niedere  und  gewöhnliche  Sinn  dieser 
Worte  bezeichnet  dagegen  ein  Verhalten,  von  welchem  das 
Verhalten  Gottes  gegen  die  Guten  das  Gegentheil  ist.  Das 
höhere  und  wahre    ,,in  deliciis  habere"  ist  nämlich  Grund  und 


58 

Ursache  von  dem  ,,non  habere  in  dehciis",  im  gemeinen  Sinne 
genommen.  Wenn  nun  Seneca  lehrt,  dass  es  eben  väterhche 
Liebe  ist,  wenn  die  Söhne  strenger  gehalten  werden,  als  die 
Haussclaven  (De  prov.  I  6),  so  erinnert  das  ganz  an  die  Schrift- 
stelle Hebr.  XII  6 — 8 :  welchen  den  Herrn  lieb  hat,  den  er- 
zieht er,  er  züchtiget  aber  einen  jeglichen  Sohn,  den  er  annimmt ; 
wenn  ihr  aber  ohne  Zucht  seid,  an  welcher  sie  alle  Theil 
haben,  so  seid  ihr  Bastarde  und  keine  Söhne".  Lactanz  führt 
aus  dem  Buche  Senecas  ,,de  Providentia",  welches  er  mit 
seinem  ursprünglichen  Titel  citirt,  einen  Satz  an,  in  welchem 
derselbe  Gedanke  ausgesprochen  wird  (Inst.  V  22  1 1  22).  Da 
aber  dieses  Citat  in  der  unversehrt  erhaltenen  Schrift  Senecas 
,,de  Providentia"  wörtlich  sich  nirgends  findet,  so  muss  man 
vermuthen,  dass  Lactanz  den  Inhalt  der  drei  ersten  Kapitel 
seines  Buches,  welche  sich  über  die  Absicht  Gottes  bei  den 
Leiden  der  Guten  verbreiten,  hier  zusammen  gefasst  habe. 

Die  ethische  Auffassung  der  Gottesidee  bei  Seneca  gewährt 
für  das  Verhalten  des  Menschen  Gott  gegenüber,  sowie  über- 
haupt für  sein  ganzes  sittliches  Thun  und  Verhalten,  die 
allgemeingültigste  Norm.  ,,Der  Glaube  an  die  Einheit  Gottes 
und  an  die  Gleichheit  aller  Menschen  und  ihrer  sittlichen  Auf- 
gaben bedingen  sich  gegenseitig"  (Zeller  Vorträge  und  Abhand- 
lungen 1865  p.  27).  Wie  die  Schrift  von  einem  Innewohnen 
Gottes  in  dem  guten  Menschen  spricht,  so  auch  Seneca: 
,,prope  est  a  te  deus,  tecum  est,  intus  est,  —  in  unoquoque 
virorum  bonorum  habitat  deus"  (Ep.  XLI  i  2);  ,,Deus  in 
corpore  hospitans"  (Ep.  XXXI  ii),  was  übrigens  nicht 
pantheistisch  zu  verstehen  ist,  denn  ,,deus  conversatur  nobiscum, 
sed  haeret  origini  suae"  (Ep.  XLI  5).  ,,Deus  ad  homines 
venit,  immo  quod  propius  est,  in  homines  venit,  nulla  sine  Deo 
mens  bona  est"  CEp.  LXXIII  16).  Diese  göttliche  Einwohnung 
ist  nicht  müssig,  sondern  ist  die  sittliche  Grundkraft  im 
Men.schen,  ,,bonus  vero  sine  Deo  nemo  est,  an  potest  aliquis 
supra  fortunam  nisi  ab  illo  adjutus  exsurgerer  Ille  dat  consilia 
magnifica  et  erecta"  (Ep.  XLI  2).  Da  aber  auch  diese 
innerste  Gotteswirkung  nicht  physisch  ist,  sondern  ethisch,  so 
kommt  es  für  die  Auswirkung  auf  das  Verhalten  des  Menschen 


59 

an.  Im  Einklang  mit  Hebr.  XI  6  heisst  es  in  dieser  Beziehung" 
bei  Seneca:  ,,primus  est  deorum  cultus,  deos  credere" 
(Ep.  XCV  50).  Ferner:  ,,ita  dico,  sacer  intra  nos  Spiritus 
sedet,  malorum  bonorumque  observator  et  custos,  hie  prout  a 
nobis  tractatus  est,  ita  nos  ipse  tractat"  (Ep.  XLI  2),  welche 
Worte  an  die  Mahnung  des  Paulus,  den  Geist  nicht  zu  betrüben 
oder  zu  dämpfen  (Eph.  IV  30,   i.  Thess.  IV  8),  erinnern. 

Wenn  nun  die  inwohnende  Gottheit  heiliger  Geist  (sacer 
Spiritus  intra  nos)  ist,  so  kann  auch  von  Seiten  des  Menschen 
dieser  göttlichen  Einwohnung  und  Wirkung  nichts  Geringeres 
entsprechen,  als  heilige  Gesinnung.  ,,Deus  non  immolationibus 
et  sanguine  multo  colendus  est,  sed  mente  pura,  bono 
honestoque  proposito,  in  suo  cuique  pectore  consecrandus  est" 
(Seneca  bei  Lactanz  VI  25  3).  Die  Gottheit  non  colitur 
taurorum  opimis  corporibus  contrucidatis,  nee  auro  argentoque 
suspenso,  nee  in  thesaurus  stipe  infusa,  sed  pia  et  recta 
voluntate  (Ep.  CXV  5,  cfr.  B.  I  6  2,  IV  25  i).  Im  Allgemeinen 
ist  der  Menschengeist  das  Göttliche  aufzunehmen  fähig:  ,,Dei 
socii  sumus  et  membra,  capax  est  noster  animus"  (Ep.  XCII  30), 
aber  in  Wirklichkeit  ist  es  nur  der  reine  und  heilige  Sinn,  der 
Gott  erfasst,  ,,animus  nisi  purus  et  sanctus  est  Deum  non 
capit"  (Ep.  LXXXVII  21);  ,,perfertur  illo,  si  vitia  non 
deprimant"  (Ep.  XCII  30).  Aber  diese  innerliche  gott- 
empfängliche Gesinnung  soll  sich  auch  äusserlich  darstellen, 
was  nicht  sowohl  durch  die  Handlungen  des  Kultus  geschieht, 
als  vielmehr  durch  Nachfolge  Gottes  und  Verähnlichung  mit 
Gott:  ,, Habebit  bonus  in  animo  vetus  illud  praeceptum:  Deum 
sequerel"  (De  vita  beata  XV  5).  Diese  vornämlich  von  Plato  ein- 
geschärfte altehrwürdige  und  höchst  wichtige  Vorschrift  hat  Seneca 
sich  sehr  bestrebt,  in  immer  neuen  Wendungen  einzuschärfen. 
„Bonus  aemulator  Dei"  (De  prov.  I  5).  ,, Sapiens  similis  Deo" 
(De  const.  VIII  2).  ,,Homo  solus  Deum  imitatur"  (De  ira  II  16  2). 
„Sapiens  non  nosse  tantum  sed  sequi  docuit  deos"  (Ep.  XC  34). 
,,Animus  emendatus  ac  purus  aemulator  Dei  super  humana  se 
extollens"  (Ep.  CXXIV  23).  Man  beachte,  dass  diese  von 
Seneca  mit  solchen  und  ähnlichen  Aussprüchen  vorgetragene 
Vorschrift     nicht     bloss     die    Handlungsweise    des    Menschen, 


GO 

sondern  auch  seine  Persönlichkeit  einschhesst.  Der  Mensch 
soll  sich  selbst  zum  Bilde  Gottes  machen,  er  soll  Gott  dar- 
stellen ;  was  nicht  durch  Silber  und  Gold  erreicht  werden 
kann,  soll  der  Mensch  durch  sich  selber  vollbringen,  er  selber 
sei  das  lebendige  Bild  Gottes  (Ep.  XYIII   12,  XXXI   11). 

Wenn  nun  Seneca  von  dieser  höchsten  Höhe  der  sittlichen 
Anschauung  seine  Zeitgenossen  und  überhaupt  das  menschliche 
Geschlecht  betrachtet,  so  begreifen  wir,  dass  er  von  dem 
sündlichen  Verderben  einen  starken  Eindruck  hat.  In  der 
Schilderung  nicht  bloss  der  einzelnen  Sünden  und  Laster, 
sondern  auch  der  allgemeinen  Sündhaftigkeit,  hat  Seneca  auf 
dem  ausserbiblischen  Gebiet  überall  seines  Gleichen  nicht. 
Ohngefähr  gleichzeitig  mit  dem  Täufer,  dem  Bussprediger  für 
die  Juden,  ist  Seneca  der  Bussprediger  für  die  Heiden 
geworden,  und  wenn  man  sich  überzeugen  will,  dass  der 
Heidenapostel  in  seiner  Klagschrift  wider  die  Heiden 
(Rom.  I  18—32)  nicht  die  Linie  der  Wahrheit  überschritten 
hat,  dann  muss  man  diesen  freiwilligen  und  gleichzeitigen 
Zeugen,  der,  auf  die  höchste  Warte  des  heidnischen  Gebietes 
gestellt,  seine  Beobachtungen  und  Bekenntnisse  uns  hinterlassen 
hat,  vernehmen.  Was  auch  Ouintilian  und  Gellius  an  der 
Schriftstellerei  Senecas  auszusetzen  haben,  sein  sittliches 
Censoramt  müssen  sie  anerkennen.  Auch  den  Kirchenvätern 
ist,  wie  wir  gesehen  haben,  in  dieser  Hinsicht  sein  Zeugniss 
von  grossem  Werth.  Es  muss  allerdings  zugestanden  werden, 
dass  Seneca  einestheils  befangen  in  einer  theilweise  düstern 
Verstimmtheit,  anderentheils  seinem  rhetorischen  Zuge  hin- 
gegeben, manche  Schilderungen  seines  verderbten  Zeitalters 
entworfen  habe,  ohne  das  furchtbare  Gewicht  seiner  Anklagen 
immer  vollaus  selber  zu  fühlen.  Aber  wer  seinen  Enthüllungen 
im  Ganzen  und  Einzelnen  mit  voller  Aufmerksamkeit  und 
Gewissenhaftigkeit  nachgegangen  ist,  kann  unmöglich  verkennen, 
dass  dieser  Feinheit,  Schärfe,  Anschaulichkeit  und  Allseitig- 
keit, mit  welcher  hier  die  Nachtseiten  des  heidnischen  Lebens 
auf  der  Höhe  der  antiken  Kultur  aufgedeckt  werden,  ein  nicht 
gewöhnlicher  sittlicher  Ernst  zu  Grunde  liegen  muss.  Schon 
das    muss    für    diesen    sittlichen  Ernst    als    ein   gutes   Zeichen 


61 

gelten,  dass  Seneca  bei  den  Rügen  gegen  die  Sünden  seiner 
Zeit  durchvv-eg,  wie  auch  die  Männer  Gottes  im  alten 
Testament,  meistens  die  communicative  Redeform  gebraucht, 
mithin  nicht  von  pharisäischer  Höhe  hernieder  seine  Strafreden 
erschallen  lässt,  sondern  sich  selber  in  die  allgemeine  Ver- 
dammniss  mit  einschliesst.  Wenn  wir  nunmehr  dieses  Vor- 
läuferamt unseres  Stoikers  auf  dem  heidnischen  Boden  darzu- 
stellen versuchen,  so  müssen  wir  uns  auf  einige  hervortretende 
Züge  beschränken,  Vieles  aber  lediglich  anzudeuten  uns 
begnügen.  Es  ist  ein  wesentliches  Stück  der  Lichtseiten 
Senecas,  dass  er  so  ernstlich  bemüht  ist,  die  Finsternisse  seiner 
Zeit  zu  beschreiben. 

Beginnen  wir  nun  mit  der  Frage,  wie  sich  die  römische 
Menschheit  zur  Zeit  Senecas  zur'  Gottheit  verhält,  so  gehört 
es  nach  unserm  Seneca  zum  Charakter  des  guten  Mannes 
„summae  pietatis  erga  deos  esse"  (Ep.  LXXVI  23);  aber  er 
bemerkt  dass  die  Wirklichkeit  des  Lebens  damit  im  grellen 
Widerspruch  steht,  denn  das  alle  Frömmigkeit  vernichtende 
Urtheil  lautet  nach  Seneca:  ,,ad  mercedem  pii  sumus,  ad 
mercedem  inpii"  (Ep.  CXV  io\  Seneca  erörtert  an  dieser 
Stelle  die  Wahrnehmung,  dass  ,,pecunia"  den  Werth  aller 
Dinge  bestimmt:  ,,mercatores  et  venales  invicem  facti  quaerimus, 
non  quäle  sit  quidque,  sed  quanti".  Demnach  haben  alle  Götter 
ihren  Kurs  auf  der  Börse,  wofür  der  traurigste  Beweis  dieser 
ist,  dass  auch  die  Frömmigkeit,  welche  nach  der  wahren  Idee 
allen  Dingen  ihren  richtigen  Preis  bestimmen  sollte,  selber  über 
allen  Preis  erhaben,  sich  in  Wirklichkeit  nach  dem  Geldpreise 
richtet.  Wir  sind  demnach  fromm  ,,ad  mercedem",  weil  es 
Etwas  einbringt,  indem  die  Frömmigkeit  ein  Nahrungszweig 
geworden,  wie  Dahlmann  einmal  diesen  Krebsschaden  bezeichnet. 
Eine  solche  Frömmigkeit  schlägt  sofort  in  das  Gegentheil  um, 
sobald  die  Gottlosigkeit  mehr  einbringt,  ,,ad  mercedem  impii 
sumus."  Demnach  klagt  Seneca  ,,multos  inveni  aequos  ad- 
versus  homines,  adversus  deos  neminem"  (Ep.  XCIII  i),  also 
einen  wahrhaft  frommen  Menschen  kennt  Seneca  überall  nicht. 
,Es  ist  keiner,  der  nach  Gott  fragt"  (Rom.  III  11).  An  den 
heiligen  Mächten   hat   also  die  Menschheit  nach  Seneca  keinen 


ry2 

Halt  mehr,  mithin  schaut  er  sie  in  dem  Bann  von  unheihgen 
Mächten,  von  denen  er  vornämHch  drei  hervorhebt:  das  Geld, 
den  sinnlichen  Genuss  und  die  falsche  öffentliche  Meinung^. 

Von  der  Verfiihrungsmacht  des  Geldes  schreibt  Seneca: 
,,avaritia  vehementissima  humani  generis  pestis"  (Ad  Helv.  XIII 2). 
Und  diese  Pest  ist  in  Rom  epidemisch  geworden  (siehe 
Ep.  CXV  II,  XC  38,  B.  II  27  3,  O.K.  V  15).  Wenn  endlich 
Seneca  den  vollendeten  Wahnsinn  der  Habsucht  beschreibt  als 
ein  ,,incubare  acervis  auri  argentique"  (De  ira  I  21  2),  so  ist 
das  nicht  eine  Phantasie,  sondern  ein  schwacher  Ausdruck  für 
das,  was  der  Kaiser  Cajus  leibhaftig  aufgeführt.  ,,Contractandae 
pecuniae  cupidine  incensus  saepe  super  aureorum  acervos 
patentissimo  diffusos  loco  et  nudis  pedibus  spatiatus  et  toto 
corpore  aliquamdiu  volutatus  est"  (Sueton :  Caligula  XLII, 
Cassius  Dio  LIX  28). 

Das  Reich  des  Geniessbaren  reizt  die  Lust  des  Körpers, 
oder  wie  Seneca  dreimal  in  Aehnlichkeit  des  biblischen  Sprach- 
gebrauchs, namentlich  des  paulinischen,  schreibt  ,,des  Fleisches". 
,,Omni  animo  cum  hac  carne  grave  certamen  est,  ne  abstrahatur 
et  sidat"  (Ad  Marc.  XXIV  5).  ,,Non  est  summa  felicitatis 
nostrae  in  carne  ponenda"  (Ep.  LXXIV,  16).  ,,Nunquam  me 
caro  ista  compellet  ad  metum"  (Ep.  LXV  22).  Dessungeachtet 
sucht  sich  Seneca  vor  der  spiritualistischen  Verachtung  des 
Leiblichen  zu  bewahren.  Bei  aller  stoischen  Strenge,  die  er, 
wie  wir  wissen,  gegen  sich  selber  übte,  stellt  er  eine  vernünftige 
Pflege  des  Leibes  als  unab weisliche  Pflicht  auf.  ,,Hanc  sanam 
et  salubrem  formam  vitae  tenere  memento,  ut  corpori  tantum 
indulgens,  quantum  bonae  valetudini  satis  est"  (Ep.  VIII  5). 
,,Agatur  corporis  diligentissime  cura"  (Ep.  XIV  2).  ,, Corpus 
in  honorem  animi  colitur"  (Ep.  XCII  i,  cfr.  Rom.  XIII  14, 
Koloss.  II  23).  Aber  gleich  daneben  verlangt  Seneca  die 
rechtmässige  Einschränkung  der  auf  den  Leib  zu  richtenden 
Sorgfalt  und  Pflege.  ,,Durius  tractandum  est  corpus,  ne 
animo  male  pareat"  (Ep.  VIII  5,  cfr.  i.  Kor.  IX  27, 
Ep.  XIV  2,  LI  5,  XIV  i).  Dienstbar  wird  nämlich  nur 
zu  leicht  der  Geist  dem  Körper,  wie  Seneca  mit  nicht 
gewöhnlichem    Scharfblick     bemerkt,     dass    jener    bei    leiden- 


G3 

schaftlicher  Erregung"  nicht  etwa  nur  von  aussen  zuschaue, 
sondern  selbst  in  den  leidenschafthchen  Affect  verwandelt 
werde.  ,,Neque  enim  sepositus  est  Spiritus  et  extrinsecus 
speculatur  affectus,  sed  in  affectum  ipse  mutatur,  ideoque  non 
potest  utilem  illam  vim  et  salutarem,  proditam  infirmatamque 
revocare"  (De  ira  I  8  2).  Sinnengenüsse  nun,  welche  nach 
Senecas  Beschreibung  unter  seinen  Zeitgenossen  den  Geist  zum 
Sclaven  des  Körpers  machten,  waren  vornämlich  Fleischeslust 
und  Gaumenlust.  ,,Gulae  et  libidini  addictos  improbamus  et 
contemnimus,  qui  nihil  ausuri  sunt  doloris  metu"(Ep.  CXXIV3  4). 
Petronius,  Zeitgenosse  Senecas,  beschreibt  gleichlautend  den 
Charakter  jener  Periode:  ,,vino  et  scortis  demersi  sumus" 
(Satyric.  LXXXVIII).  Den  sinnlichen  Zeitgenossen  ruft  Seneca 
zu,  dass  das  wahre  Gut  intelligibile  sei,  ,,liber  animus  et  rectus, 
alia  subjiciens  sibi,  se  nuUi"  (Ep.  CXXIV  2  12).  In  Bezug 
auf  Keuschheit  denkt  Seneca  strenger,  als  selbst  unter  den 
besseren  Zeitgenossen  gewöhnlich  war.  Plutarch  missbilligt  zwar 
den  ausserehelichen  Umgang  der  verheiratheten  Männer,  giebt 
aber  den  Frauen  den  Rath,  sich  über  eine  solche  Unregel- 
mässigkeit nicht  zu  erzürnen  (Praecepta  conjugalia  II  144  d  140  b). 
Dagegen  Seneca:  ,,scis  ut  uxori  nihil  cum  adultero,  sie  nihil 
tibi  esse  debere  cum  pellice"  (Ep.  XCIV  26,  cfr.  XC  V  37).  Die 
Zärtlichkeit,  mit  welcher  Seneca  während  seiner  Verbannung 
seines  Söhnleins  Marcus  gedenkt  (Ad  Helv.  XVIII  4,  XY  i, 
Epigr.  VIII),  sticht  auffallend  ab  gegen  die  Kälte,  mit  der  er 
von  der  Mutter,  von  seiner  Gattin  spricht  oder  sie  an  anderer 
Stelle  übergeht  (Ad  Helv.  XV  i,  XVIII  6,  Epigr.  VIII).  Es 
ist  demnach  zu  vermuthen,  dass  die  erste  Ehe  Senecas  das 
Schicksal  der  meisten  Ehen  dieser  römischen  Zeit  getheilt  hat. 
Entweder  ist  die  erste  Frau  früh  gestorben,  oder  Seneca  hat 
sich  von  ihr  geschieden,  und  ist  demnach  die  Paulina,  welche 
in  dem  104.  Briefe  erwähnt  wird,  die  zweite  Frau.  Diese 
Paulina  nennt  er  in  dem  angeführten  Brief  nicht  nur  zweimal 
,,mea",  sondern  beschreibt  auch  das  Verhältniss  als  gegenseitige 
Liebe  mit  den  Worten:  ,,quid  jucundius,  quam  uxori  tam 
carum  esse,  ut  propter  hoc  tibi  carior  fias?"  (Ep.  CIV  5). 
Diesem    Selbstbewusstsein     drückt,     wie     wir     sehen     werden, 


G4 

Tacitus  das  bestätigende  Siegel  auf.  Selber  in  glücklicher 
Ehe  lebend,  hat  das  Zeugniss  Senecas  gegen  die  grassirenden 
Fleischessünden  um  so  grösseres  Gewicht.  Sein  allgemeines 
Urtheil  in  dieser  Beziehung  lautet  kurz  und  bündig:  ,,impu- 
dicitia  maximum  saeculi  malum  (Ad  Helv.  XVI  3).  Es  ist 
dahin  gekommen,  bezeugt  er  weiter,  dass  das  eheliche  Band 
ganz  gewöhnlich  die  anständige  Form  des  beiderseitigen  Ehe- 
bruchs ist:  ,,Conjugibus  alienis  non  clam  quidem,  sed  aperte 
ludibrio  aditis  suas  alienis  permisere;  hinc  decentissimum 
sponsaliorum  genus  adulterium"  (B.  I  9  3  4).  Wie  der  Apostel 
Paulus,  um  die  Sünden  der  Heidenwelt  aufzudecken,  sich  nicht 
scheut,  seine  Leser  in  den  Abgrund  der  widerwärtigen  Greuel 
hineinschauen  zu  lassen,  so  auch  unser  stoischer  Philosoph, 
welcher  dem  Apostel  noch  darin  gleicht,  dass  er  die  Wider- 
natur  vornämlich  in  dem  weiblichen  Geschlechte  straft. 
,,Feminae  libidine  nee  maribus  cedunt.  Dii  illas  denique  male 
perdanti"  (Ep.  XCV  21.  cfr.  Rom.  I  26).  Endlich  hat  Seneca 
nicht  unterlassen,  einzelne  Beispiele  namhaft  zu  machen,  welche 
zeigen,  bis  zu  welcher  grauenhafter  Tiefe  die  in  der  heid- 
nischen Weltstadt  entfesselte  Widernatur  sich  verirrt  hat 
(B.  IV  31,  Ep.  LXXXVII  16). 

Was  die  Gaumenlust  anlangt,  so  sagt  Seneca  von  dem 
berüchtigten  Kochkünstler  Apicius,  dessen  verzweifeltes  Ende 
er  berichtet:  ,,scientiam  propinae  professus  disciplina  sua 
saeculum  infecit"  (Ad.  Helv.  X  cS).  Da  er  selbst  von  Jugend 
auf  bis  ins  höchste  Alter  sehr  massig  lebte,  so  ist  ihm  die 
kolossale  Raffinirtheit  und  Unmässigkeit  der  römischen  Welt 
im  Geniessen  von  Speise  und  Trank  ein  wahrer  Greuel. 
,,Undique  convehunt  omnia  nota  fastidienti  gulae.  Quod  disso- 
lutus  deliciis  stomachus  vix  admittat,  ab  ultimo  portatur  oceano; 
vomunt  ut  edant,  edunt  ut  vomant"  (Ad  Helv.  X  3.  cfr. 
B.  VII  9  3.  Ep.  LXXXIII  24,  XCV  24—28.  N.  Q.  III  18  7, 
cfr.  IV   13    I  —  II). 

Wo  Habsucht  und  Sinneslust  mit  so  entsetzlicher  Gewalt 
und  in  solchem  Umfange  ihr  Regiment  führen,  da  muss  zuerst 
alles  häusliche  Glück  zusammenbrechen  und  der  Frieden  der 
Familienglieder  in  offenen  Krieg  umschlagen.    Seneca  beschreibt 


65 

diese  Zerrüttung  des  römischen  Hauses  mit  den  düsteren 
Farben  Ovids,  dessen  Versen  er  eine  bestätigende  Schilderung 
hin7Aifügt : 

,,Non  hospes  ab  hospite  tutus, 
Non  socer  a  genero,  fratrumque  gratia  rara  est.  sequ." 

(Ovid:  Metam.  I   144 — 149.    Seneca:    de  ira  II  9   i). 

Die  entsetzHchen  Ausbrüche  der  Sittenverderbniss  in  der 
römischen  Welt  unter  den  Cäsaren  haben  auch  Andere 
beschrieben,  wenn  freilich  Keiner  mit  solchem  beharrlichen 
Ernst  wie  Seneca,  aber  am  meisten  zeichnet  sich  dieser 
Stoiker  in  diesem  Gebiet  dadurch  vor  Anderen  aus,  dass  er 
sich  nicht  begnügt  mit  der  Schilderung  der  sittlichen  Greuel 
sondern  in  die  innere  Ursache  derselben  tiefer  einzudringen 
sucht.  Wir  sagten,  die  von  der  Gottheit  losgerissene  Mensch- 
heit befindet  sich  in  der  Gewalt  von  drei  unheiligen  Mächten. 
Den  Mammon  und  die  Sinneslust,  diese  beiden  Mächte,  hat  uns 
in  den  obigen  Citaten  Seneca  beschrieben.  Die  dritte  unheilige 
Macht  ist  die  Lüge  und  Verführung  der  öffentlichen  Meinung. 
Die  Enthüllung  dieser  unheimlichen  Macht,  welche  in  das 
innere  Geheimniss  des  herrschenden  Sittenverderbens  hinein- 
schauen lässt,  ist  recht  eigentlich  ein  persönliches  Verdienst 
unseres  Stoikers. 

So  lange  und  so  weit  das  öffentliche  Weisen  in  einer 
richtigen  und  gesunden  Ordnung  sich  bewegt,  ist  in  dem 
Gesetz  und  in  der  Verwaltung,  in  dem  Volksurtheil,  der 
Volkssitte  und  der  Volkssprache  eine  sittliche  Macht,  eine 
objective  Sittlichkeit,  welche  viele  Mängel  der  subjectiven 
individuellen  Sittlichkeit  ergänzt.  Verfall  und  Niedergang  des 
öffentlichen  Wesens  bedeutet  sofort  ein  Sinken  jener  objectiven 
Sitdichkeit  und  schlägt  schliesslich  um  in  das  Gegentheil, 
indem  das,  was  leiten  und  führen  sollte,  in  Versuchung  und 
Verführung  sich  verv/andelt.  Seneca  hat  in  der  Erfahrung  der 
tiefsten  sittlichen  Weltkrisis  die  dritte  dämonische  Macht 
erkannt,  welche  nebst  dem  Mammon  und  der  Fleischeslust  den 
Bau  des  römischen  Reiches  zerstört  hat.  Die  Verzweifelung 
Senecas  an  der  sittlichen  Macht  des  öffentlichen  Gewissens 
zeigt  sich  nicht  bloss  in  einem  constant    ausgeprägten  Sprach- 

5 


m 

gebrauch,  sondern  auch  in  einer  praktischen  Folge  seiner 
Gesinnung  und  Lebensstellung. 

Das  Wort  ,,populus"  ist  in  der  altrömischen  Sprache  von 
einem  gewaltigen  Nimbus  umgeben:  man  bedenke  nur,  dass  in 
dem  officiellen  Sprachgebrauch  der  alten  Zeit  die  majestas 
recht  eigentlich  dem  populus  zuerkannt  wurde  (Tacit.  Ann.  I  72). 
Vor  dem  ernsten  Blick  des  Seneca  ist  nicht  bloss  dieser 
Nimbus  verschwunden,  sondern  hat  sich  ihm  in  das  Gegentheil 
verwandelt.  Populus.  nicht  etwa  plebs,  nicht  etwa  vulgus,  ist 
in  dem  Lexikon  des  Seneca  eine  sehr  gew^öhnliche  Bezeichnung 
für  die  allgemeinste  und  unwiderstehlichste  Verführungsmacht. 
,,In  vitia  alter  alterum  trudimus,  quomodo  autem  ad  salutem  revocari 
possunt,  quos  nemo  retinet,  populus  impellit?"  (Ep.  XLI  9, 
XLIV  52,  De  beat.  vit.  I  5,  Ep.  XCIV  6S,  CXV  11,  VII  6, 
XLIII  6,  Ad.  Helv.  V  5,  De  const.  II  3).  ,,Nunquam  volui 
populo  placere",  diese  Sentenz  Epicurs  wird  empfohlen 
Ep.  XXIX  10.  Natürlich  fehlt  auch  nicht  das  abgeleitete 
popularis,  welches  den  Nebenbegrift"  plebejischer  Gemeinheit 
und  Schlechtigkeit  hat  (Ep.  XXX  1,  XL  4,  CII  16,  De 
provid.  IV  6). 

Nachdem  nun  für  Seneca  das  Wort  populus  seines 
ursprünglichen  organischen  und  sittlichen  Gehaltes  (Cicero: 
de  repub.  I  25.  Augustinus:  C.  D.  XIX  21  29)  entkleidet  ist^ 
braucht  er  für  populus  auch  gemeinere  Ausdrücke  wie  vulgus, 
coetus  und  vor  Allen  turba,  die  Masse.  ,, Vulgus  veritatis 
pessimus  interpres"  (De  vit.  beata  II  2).  ,,Sanabimur,  si  modo 
separamur  a  coeto"  (De  v.  b.  I  5).  Turba,  als  vox  media, 
bezeichnet  den  Volkshaufen,  das  Volksgewühl  (B.  VI  9  i). 
Da  aber  das  Volk  nach  Senecas  Urtheil  eine  blosse  nicht  nur 
urtheilslose,  sondern  verderbte  und  verführerische  Masse  geworden, 
so  haftet  in  dem  Stil  Senecas  dem  W^orte  turba  ein  starker 
sittlicher  Makel  an.  ,, Turba  praecipue  vitanda  est.  —  Omnis 
turba  in  voluptates  procubuit"  (Ep.  VII  i,  cfr.  CXIV  12, 
O.  N.  IV  praef.  3,  De  v.  b.  II  i,  Fragmenta  Haase  III  425). 
Seneca  urtheilt  ganz  richtig,  dass  diese  allgemeine  und  öffent- 
liche Corruption  des  Gewissens  sich  verfestet  einestheils  in 
verderbten  Sitten,  anderntheils  in  einem  verführerischen  Sprach- 


G7 

frebraiich.  In  Beziif^r  auf  das  Erstere  schreibt  Seneca  mit 
furchtbarer  Wahrheit:  ,,Desinit  esse  remedio  locus,  ubi  quae 
fuerunt  vitia,  mores  sunt"  (Ep.  XXXIX  6,  cfr.  Ep.  CXXII  17). 
Und  noch  allgemeiner  lautet  das  Urtheil  i.iber  die  herrschenden 
Sitten:  ,,Hic  tritissima  quaeque  via  et  celeberrima  maxime 
decipit  (De  vit.  beata  I  2,  cfr.  Matth.  VII  13).  ,,Inter  causas 
malorum  est,  quod  ad  exempla  vivimus"  (Ep.  CXXIII  6). 
Weit  gefährlicher  noch  erscheint  mit  Recht  dem  Seneca  aber 
die  Verführungsmacht,  welche  nach  solchem  Verderbniss  des 
Volkslebens  in  die  Sprache  eindringt.  Was  ernste  Historiker, 
wie  Thucydides,  Sallust,  Tacitus,  als  bedeutsame  Zeichen  der 
Zeit  anzumerken  pflegen,  dass  nämlich  mit  grossen,  namentlich 
mit  sittlichen  Veränderungen  des  Volkslebens  entsprechende 
Veränderungen  in  der  Redeweise  vor  sich  gehen,  ist  auch 
unserem  Philosophen  nicht  entgangen.  ,,Qualis  vita,  talis  oratio" 
(Ep.  CXIV  I,  CXV  2).  ,,Wie  das  Leben,  so  die  Rede",  das 
gilt  nicht  bloss  von  Einzelnen,  sondern  auch  von  ganzen  Zeit- 
altern der  Völker.  Unvergesslich  muss  bleiben  der  Markstein, 
welchen  Tacitus  zwischen  der  Sprache  der  Germanen  und  der 
Sprache  der  verderbten  Römer  aufgerichtet  hat:  ,,Nemo  illic 
vitia  ridet,  nee  corrumpere  et  corrumpi  saeculum  (Lebensart) 
vocatur"  (Tacit.  Germ.  XIX).  Damit  im  Einklang  beschreibt 
Seneca  die  Vergiftung  der  Sprache  folgendermassen:  ,,Ubi 
audiunt  laudari  voluptatem  sub  titulo  philosophiae  ad  nomen 
ipsum  advolant,  quaerentes  libidinibus  patrocinium,  itaque  quod 
unum  habebant  in  malis  bonum  perdunt,  peccandi  verecundiam" 
(De  V.  b.  XII  4  5).  Seneca  unterscheidet  den  wahren  geschicht- 
lichen Epicur  von  dem  falschen  Bilde,  welches  das  entartete 
Rom  unter  diesem  Namen  sich  vorstellte.  Der  wirkliche 
Epicur  war  ein  Mann,  der  seinen  Grundsatz:  ,, sinnliches  Wohl- 
sein ist  das  höchste  Gut"  mit  strenger  Selbstbeherrschung 
ausführte.  L^m  dieses  seinen  Zeitgenossen  zu  veranschaulichen, 
hat  Seneca  in  den  drei  ersten  Büchern  seiner  Briefe  ad  Lucilium, 
nämlich  in  den  ersten  29  Briefen,  einen  ganzen  Kranz  von  Aus- 
sprüchen Epicurs  vorgelegt,  welche  diesen  strengen  Charakter  einer 
eudaemonistischen  Lebensweisheit  an  sich  tragen.  In  der  gemeinen 
Vorstellung  der  römischen  Cäsarenzeit  bedeutete  der  Name  Epicurs 

5* 


68 

die  Empfehlung  einer  ungezügelten  Sinnlichkeit,  welche  sich  durch 
den  Namen  einer  berühmten  Philosophie  aus  der  ehrwürdigen 
Vorzeit  zu  decken  suchte.  Selbst  Horaz  scheut  sich  nicht,  in  diesen 
Missbrauch,  den  man  in  Rom  mit  dem  Namen  Epicurs  und 
seiner  Lehre  zu  treiben  begann,  einzustimmen  (Horat.  Ep.  I  416). 
Das  ist  also,  was  Seneca  rügt  und  beklagt,  dass  der  herrschende 
Sprachgebrauch  durch  Missbrauch  des  Namens  Epicur  und 
seiner  Philosophie  für  alle  Arten  von  Sinnengenuss  Empfehlung 
und  Schutz  verleiht.  ¥Än  gleichzeitiges  Beispiel  von  dem,  was 
Seneca  rügt,  ist  die  Berufung  des  Petronius  auf  den  ,, Pater 
Epicurus"  (Antologia  latina  ed.  B.  I  p.  681).  Es  ist  dies  ein 
Beispiel,  wie  nach  Seneca  falsche  Benennungen  das  moralische 
Urtheil  bestechen  und  verführen  oder  durch  falsche  Schrecken 
einschüchtern.  ,,Adhibe  diligentiam  et  intuere,  quid  sint  res 
nostrae,  non  quid  vocentur  —  lucescere,  si  velimus,  potest  — 
si  quis  quaesierit,  quae  sint  bona,  quae  mala,  quibus  hoc  falso 
sit  nomen  adscriptum"  (Ep.  CX  3  8,  Ad  Helv.  V  6,  Ep.  XL  7, 
Hercules  für.  251,  Thyestes  454).  Demnach  hält  Seneca  die 
gewöhnliche  Sprechweise  über  das  Gebiet  der  sittlichen  Dinge 
für  eine  ungeheure  Versuchung,  vor  der  sich  jeder  zu  hüten 
hat.  ,,Nulla  ad  aures  nostras  vox  inipune  perfertur,  nocent  qui 
Optant,  nocent  qui  exsecrantur,  —  non  licet  ire  recta  via, 
trahunt  in  pravum  parentes,  trahunt  servi,  nemo  errat  uni  sibi, 
sed  dementiam  spargit  in  proximos,  accipitque  invicem" 
(Keiner  irrt  bloss  zum  eigenen  Schaden,  den  Wahn  pflanzt  er 
fort  auf  Andere  und  empfängt  ihn  von  Anderen.  Ep.  XCIV  53  54). 
, »Plenum  malis  sermonibus  pectus  exhauriendum  est"  (Das 
Herz  angefüllt  von  bösen  Reden  muss  erst  ausgeschöpft  werden. 
Ep.  XCIV  68).  Auf  feiner  Psychologie  beruht  die  P^rfahrung, 
welche  Seneca  folgendermassen  beschreibt :  Es  giebt  Solche, 
welche  Laster  mit  sich  führen,  sie  verbreiten  dieselben  von 
einem  Ort  zum  andern;  deren  Sprache  muss  man  meiden,  es 
ist  die  schlimmste  Sorte  von  Menschen.  Die  Rede  von 
Solchen,  welche  Laster  mit  sich  führen,  ist  sehr  schädlich, 
wenn  sie  nicht  gleich  wirkt,  so  lässt  sie  doch  einen  Samen  in 
der  Seele  zurück,  der  uns  nachfolgt,  wenn  wir  von  ihnen 
gehen,   und  nachher  wacht  das  Uebel  auf  (P2p.   CXXIII  8). 


69 

]ki  dieser  Anschauung-  des  Lebens  sucht  Seneca  nach 
einem  Wort,  mit  welchem  er  die  gewahige  Verführungsmacht, 
die  in  der  Sitte  und  Sprache  des  allgemeinen  Lebens  enthalten 
ist,  bezeichnen  könne.  Er  hat  ein  solches  Wort  gefunden^, 
es  ist  ,,fama",  jenes  erdgeborene,  die  Welt  erschütternde 
tausendzüngige  Ungeheuer  (Virgil.  Aen.  IV  174—188),  welches 
Seneca  aus  dem  Physischen  des  Virgil  in  das  Ethische  über- 
trägt. Fama  im  Sinne  des  Seneca  umfasst  die  gesammte 
öffentliche  Meinung  sowie  den  falschen  Schein  der  Dinge  und 
Verhältnisse,  insofern  das  Eine  wie  das  Andere  täuscht  und 
betrügt.  Welches  ist  nun  der  Gegensatz  zu  dieser  P'ama?  Der 
Gegensatz  heisst  bei  Seneca  ,,conscientia".  Dieses  AVort  erhält 
durch  den  scharf  ausgeprägten  Charakter  der  fama  eine  sehr 
gehaltvolle  Bedeutung.  Senecas  Hauptregel  lautet :  ,,Conscientiae 
satis  hat.  nihil  in  famam  laboremus:  sequatur  vel  mala,  dum 
bene  mcrentis"  (De  ira  III  41  2).  ,,Dem  Gewissen  muss  sein 
Recht  werden,  der  öffentlichen  Meinung  sind  wir  nichts 
schuldig,  auch  wenn  sie  den  verdienstvollen  Mann  beschimpft." 
—  , »Niemand  ist  der  Tugend  mehr  ergeben,  als  derjenige, 
der  den  Ruf  des  guten  Mannes  preisgiebt,  um  das  Gewissen 
nicht  zu  schädigen"  (Ep.  LXXXI  20).  ,,Das  Gewissen,  auch 
wenn  es  Gewalt  leidet,  gewährt  Freude,  es  widerspricht  der 
Volksversammlung  und  der  öffentlichen  Meinung  und  macht 
Alles  von  sich  abhängig"  (B.  IV  21  5).  ,,Der  handelt  schlecht,  der 
mit  Rücksicht  auf  die  Meinung  Anderer  dankbar  ist  und  nicht 
aus  Drang  des  Gewissens"  (B.  VI  22  2,  cfr.  Hippolyt.  265  270). 

Der  ganze  Bau  der  antiken  Sittlichkeit  ist  gestürzt, 
Volksthum,  Obrigkeit,  Gesetz,  öffentliches  Urtheil,  Zucht  der 
Sitte  und  Sprache,  diese  Säulen,  auf  denen  das  sittliche  Leben 
der  Einzelnen  ruht,  sind  zur  fama  geworden,  diesem  ,,regimen 
incertissimuni"  (Ep.  XCV  58).  Jetzt  begreifen  wir,  wie 
Seneca  dazu  kommt,  obwohl  er  eine  Erbsünde  nicht  annimmt 
(De  ira  II  13  i,  XCIV  55),  die  thatsächliche  Allgemeinheit  der 
Sünde  nicht  bloss  zu  behaupten,  sondern  auch  dieselbe  mit 
grossem  Ernste  zu  betonen.  ,,Nemo  inquam  invenitur,  qui  se 
possit  absolvere"  (De  ira  III  24  4).  ,,Omnes  mali  sumus, 
mali    inter  malos  vivimus"  (De  ira  III  26  4,  cfr.   De  ira  II  31  8, 


70 

ir  28  I,  De  dem.  I  2  6,  B.  IV  27  3,  B.  I  10  2,  V  15  3, 
Q.  N.  VII  31  I — 3).  Inwiefern  dieses  schreckliche  Werk  der 
Vollendung  des  Lasters  noch  nicht  zu  Stande  gekommen  ist, 
wird  im  Einzelnen  geschildert:  ,,Adhuc  in  processu  vitia  sunt, 
invenit  luxuria  aliquid  novi,  in  quod  insaniat,  invenit  impudi- 
citia  novam  contumeliam  sibi,  inv^enit  deliciarum  dissolutio  et 
tabes  aliquid  tenerius  moUiusque"  (Q.  N.  I.e.).  Ebenso  scharf  wie 
tief  ist  die  folgende  Gedankenreihe:  ,,Wenn  wir  wollen  nach 
allen  Seiten  hin  gerechte  Richter  sein,  so  müssen  wir  uns 
zuerst  liberzeugt  halten,  dass  unser  Keiner  ohne  Schuld  ist. 
Daraus  entsteht  nun  grosser  Unwille.  ,,Ich  habe  nicht 
gesündigt,  ich  habe  nichts  gethan."  Freilich,  Du  bekennst 
nichts.  Wir  werden  unwillig,  wenn  irgend  eine  Mahnung  oder 
Rüge  uns  züchtigt,  wodurch  wir  uns  denn  nur  weiter 
versündigen,  indem  wir  den  Missethaten  noch  Stolz  und  Hart- 
näckigkeit hinzufügen.  Wer  ist,  der  sich  den  Gesetzen  gegen- 
über als  unschuldig  bekennt:  Und  gesetzt  diesen  Fall,  wie 
beschränkt  ist  die  Unschuld,  nach  dem  Gesetz  gerecht  zu  sein ! 
Wie  viel  weiter  reicht  das  Gebiet  der  Pflichten  als  die  Regel 
des  Gesetzes  I  Wie  Vieles  gebietet  Frömmigkeit,  Menschlich- 
keit, Edelmuth,  Gerechtigkeit,  Treue,  was  alles  in  den  Gesetz- 
tafeln nicht  steht!  Und  nicht  einmal  vor  diesen  dürftigen 
Buchstaben  der  Unschuld  können  wir  bestehen!"  (De  ira  11 
28  I — 3).  Wie  nahe  kommt  hier  der  Stoiker  in  der  geistigen 
Auffassung  des  Gesetzes  dem  Apostel  (Phil.  III  5  6,  IV  8)  ! 
Und  nicht  minder  berühren  sich  darin  Beide,  dass  auch  Seneca 
wie  gleichfalls  Paulus,  ausdrücklich  hervorhebt,  dass  die  Sünde 
vorhanden  sein  könne,  wenn  sie  auch  nicht  immer  zur  That 
werde.  ,,Sic  omnes  malos  dicimus,  non  quia  ista  omnia 
singulis  magna  et  nota  \itia  sunt,  sed  quia  esse  possunt  et 
sunt  etiamsi  latent"  (B.  IV  26  2,  V  142).  ,, Omnia  in  omnibus 
vitia  sunt,  sed  non  omnia  in  singulis  exstant"  (B.  IV  27  3). 
Und  indem  Seneca  mit  diesen  Sätzen  die  Sünde  bis  in  ihre 
verborgene  Geburtsstätte  verfolgt,  kann  er  nicht  umhin,  eine 
der  menschlichen  Natur  anhaftende  sündhafte  Neigung  anzu- 
nehmen. Obwohl  er  als  stoischer  Verehrer  der  Natur  die 
angeborene     .Sündhaftigkeit,     wie    schon    bemerkt,     in    Abrede 


71 

nimmt,  wird  er  doch  zuweilen  durch  die  Wahrnehmung  der 
Allgemeinheit  und  Tiefe  der  menschlichen  Sünde  genöthigt,  eine 
verderbliche  Voreingenommenheit  des  Menschen  für  das  Schlechte 
vorauszusetzen.  Obwohl  er  im  Allgemeinen  nach  stoischen 
Grundsätzen  lehrt:  ,,Omnia  vitia  contra  naturam  pugnant" 
(Ep.  CXXII  5),  spricht  er  doch  von  ,, vitia  naturalia",  nicht 
bloss  corporis,  sondern  auch  animi,  sowie  von  der  Pflicht 
,, naturam  vincere"  (Ep.  XI  i.  De  brev.  vitae  XIV  2).  Und 
mit  dieser  Anschauung  in  Uebereinstimmung  stehen  folgende 
Aeusserungeni  ,,Ad  neminem  ante  bona  mens  venit,  quam 
mala"  (Ep.  L  7).  ,,Animus  sua  sponte  in  ista  (avaritia, 
querela,  discordia)  fertur"  (B.  lll  14).  ,,Ad  deteriora  faciles 
sumus  —  non  pronum  tantum  ad  vitia,  sed  praeceps" 
(Ep.  XCVIl  10).    „Vitia  sine  magistro  discuntur  (Q.  N.  III  30  8). 

Seneca  weiss,  dass  initium  salutis  notitia  peccati  est 
{Ep.  XXIX  8),  und  mit  grossem  Ernst  dringt  er  darauf,  dass 
die  Erkenntniss  der  Sünde  auch  zum  Bekenntniss  führen  muss 
(Ep.  LIII  8).  Insbesondere  ist  es  die  jedem  Menschen  in- 
wohnende Selbstüberschätzung,  welche  sowohl  die  Erkenntniss, 
als  auch  das  Bekenntniss  der  Sünde  zu  hindern  pflegt 
(B.  II  26   1-2,  IV   17  2,  VII  26  4,  De  ira  II  31    32). 

Wo  ist  nun  Rettung  zu  finden  vor  dieser  Verstrickung 
der  Selbsttäuschung?  Cicero  beruft  sich  noch,  mit  getroster 
Zuversicht  auf  die  hohe  Instanz  des  Volkes:  ,,Populum 
Romanum  disceptatorem  non  modo  non  recuso,  sed  etiam 
deposco"  (Pro  Flacco  XXXVIII).  Seneca  erkennt  und  spricht 
es  ohne  Hehl  aus,  dass  die  Säulen  der  objectiven  Sittlichkeit 
umgestürzt  sind.  Populus  ist  zur  turba  geworden,  der  sermo 
zur  fama  oder  zum  error  publicus  (Ep.  CXXIII  6,  cfr.  XCIV  68, 
XLV  10,  Hippol.  918-922,  B.  IV  34  I,  Ep.  XXIV  13,  De 
ira  III  27  3)  Noch  tiefer  in  den  Abgrund  der  Lüge  steigt 
ein  Satz  aus  den  von  Niebuhr  1820  herausgegebenen  Frag- 
menten. Erinnernd  an  das  Wort  des  Augustinus:  ,, Grande  pro- 
fundum  est  homo  ipse",  schreibt  Seneca:  ,,die  Falschheit 
erscheint  mit  der  Miene  der  Tugend,  boshafte  Gedanken  im 
Herzen,  strahlende  Güte  im  Angesicht"  (Fragm.  96).  Die 
Macht    des    falschen  Scheines,    der   Lüge    oder    Heuchelei    hat 


72 

den  objectiven  Halt  der  antiken  Sittlichkeit  gebrochen,  und 
die  Folge  dieses  ungeheuren  Ruins  ist,  dass  die  Einzelnen 
alles  wahren  sittlichen  Gehaltes  baar  und  ledig  werden,  dass 
sie  sich  selber  verlieren,  ein  Spielball  der  verderbten  turba,  ein 
Echo  der  lügenhaften  fama,  ein  Durchgang  der  herrschenden 
verderbten  Meinungen  und  Sitten  werden  (De  otio  I  3, 
De  V.  b.  I  3,  De  tranq.  XV  6,  Ep.  LXIII  2,  IC   16). 

Was  schon  Lucrez,  aber  mit  leichtem  Muthe  von  seinen 
Zeitgenossen  singt,  dass  Jeder  sich  vor  sich  selber  zu  flüchten 
sucht  (De  rerum  natura  III  1081,  cfr.  S.  de  tranq.  II  14),  in 
diese  Wahrnehmung  hat  der  ernste  Stoiker  sich  ganz  vertieft. 
Das  Ergebniss  dieser  Versenkung  ist  der  Satz:  ,,Ouod  est 
miserrimum,  nunquam  sumus  singuli"  (Q.  N.  IV,  praef.  2),. 
,,was  das  Leidvollste  ist,  wir  sind  niemals  individuell,  niemals 
allein".  In  immer  anderer  Weise  bemüht  sich  Seneca,  diese 
schmerzliche  Wahrnehmung  auszudrücken.  Niemanden  findet 
Einer  schwerer  zu  Hause,  als  sich  selber  (De  tranq.  XV  6). 
Ist  Einer  sich  selbst  überlassen,  so  mag  er  sich  nicht  beschauen 
(De  tranq.  II  9),  und  so  bleibt  er  doch  geschieden  von  sich 
selber  (De  v.  b.  III  i).  Man  kann  nicht  bei  sich  verweilen 
(Ep.  II  i),kann  sich  selber  nicht  ertragen  (,,pati"  Q.  N  IV,  praef.  i). 
Man  kann  sich  selber  nicht  finden  (B.  V  12  6).  Niemand  hat 
für  sich  selber  Zeit  (De  brev.  v.  II  5).  Niemand  nimmt  sich 
seiner  selber  an,  wir  verzehren  uns  untereinander  (,,alius  in 
alium  consumimur"  De  brev.  v.  II  4),  wir  v^ergeuden  uns  selber, 
und  darum  gehören  wir  uns  selber  nicht  an,  haben  uns  selber 
nicht  in  Besitz,  sind  uns  selber  fremd  (Ep.  XLII  7  8  10).  Diesen 
tief  kranken  Zustand  der  Selbstentfremdung,  des  Aus.sersicbseins 
nennt  Seneca  ein  Leben  ,,sub  persona",  ein  Leben  als  Copie 
von  Anderen  (De  tranq.  XVII   i). 

Den  Götzendienst  des  Mammons  und  der  Sinnenlust  haben 
auch,  wie  bereits  erwähnt,  Andere  geschildert  und  gezüchtigt, 
aber  diesem  Moloch  der  öffentlichen  Meinung,  der  in  sich  selber  leer 
geworden  und  eine  allverstrickende  Lüge  und  Verführung  ist,^ 
diesem  Götzen,  der  die  Wurzel  und  Kraft  aller  inneren  und  sitt- 
lichen Selbstständigkeit  aufzehrt,  der,  weil  er  den  Menschen 
sich  selbst  entfremdet,   ihn  zu  einem  Flüchtling  vor  sich  selber 


73 

macht,  sonder  Rast  und  Ruhe  in  der  wüsten  Welt,  diesem 
Ungeheuer  hat  Niemand  so  ins  Angesicht  geschaut  wie  Seneca. 

Bei  diesem  Tiefpunkt  der  Weltverderbniss  ist  es,  wo 
Seneca  alle  Kraft  einsetzt,  um  von  da  eine  Umkehr  zu  ermög- 
lichen. Das  Erste,  was  nach  Seneca  nöthig  ist,  ist  die  Selbst- 
emancipation  des  Einzelnen  von  jener  allgemeinen  geistigen 
Fremdherrschaft.  ,,Fuge",  schreibt  er  an  seinen  Lucilius, 
,,multitudinem,  fuge  paucitatem,  fuge  etiam  unum"  (Ep.  X  i, 
L  8,  LXXV  i8,  cfr.  XX  i,  Q.  N.  IV,  praef.  3).  Weil  der 
Irrthum  publicus  geworden  (Ep.  CXXIII  6)  und  damit  den 
Schein  und  die  Geltung  des  Rechten  hat  (,,recti  apud  nos  locum 
tenet"),  ^nid  weil  die  Sünde  nicht  die  Sünde  des  Einzelnen  ist, 
sondern  der  Völker  (,,in  singulis  vitia  populorum  sunt" 
Ep.  XCIV  $4),  und  damit  unter  dem  Schutz  der  Sitte  und  der 
Sprache  steht,  darum  besteht  der  Anfang  der  Besserung  und 
Bekehrung  in  der  energischen  Selbstbefreiung  von  den  das 
Ganze  beherrschenden  verderblichen  Mächten. 

Demnach  verlangt  Seneca,  dass  die  innere  Gesinnung  in 
allen  Stücken  dem  gemeinen  Denken  und  Reden  entgegen- 
gesetzt sein  soll,  wenn  auch  die  Aussenseite  des  Lebens 
(frons)  mit  der  Volkssitte  in  Einklang  sein  mag  (Ep.  V  2, 
XIV  14).  Dies  letztere  soll  aber  nicht  ohne  Einschränkung 
verstanden  werden.  Lucilius  wird  ermahnt,-  während  der 
römischen  Saturnalien,  also  während  des  römischen  Karnevals, 
einige  Tage  ganz  ernstlich  zu  fasten,  also  auch  äusserlich  der 
allgemeinen  Sitte  Trotz  zu  bieten  (Ep.  XVIII  i  —  7,  XX  13). 
Was  Seneca  hier  seinem  Freunde  räth  und  vorschreibt,  hat  er 
auch  selber  befolgt  und  ausgeübt.  Was  er  im  Allgemeinen 
preist:  ,,proderit  secedere,  meliores  singuli  erimus"  (De  otio  I  i), 
hat  er  selbst  ausgeführt  (Ep.  VIII  2).  Dieses  otium,  seit  lange 
seine  Sehnsucht,  hat  er  nach  seiner  Unterredung  mit  Nero 
erreicht  (Tacit.  Ann.  XIV  56,  XV  45).  Auf  diese  letzte  ruhige 
Lebenszeit  haben  wir  auch  diejenigen  Aussagen  zu  beziehen, 
welche  eine  höhere  Selbstbefriedigung  ausdrücken.  ,,Quaeris 
quid  profecerim?  Amicus  esse  mihi  coepi"  (Ep.  VI  7).  In 
demselben  Brief  schreibt  er  von  einer  ,, subita  mei  mutatio". 
ja,  er  steigert  im  Anfang  dieses  Briefes   seinen  Ausdruck  noch 


74 

höher:  ,,intellige  non  emendari  me  tantum  sed  transfigurari". 
Ueber  den  letzten  Ausdruck,  der  Ep.  XCIV  4(S  noch  einmal 
wiederkehrt,  sagt  Lipsius:  ,,haec  niutatio  sive  \iz-:cf.T/r^\x'y.-'.j\i6z 
animorum  est".  Also  eine  innere  Umwandlung,  eine  Bekehrung, 
eine  Art  Wiedergeburt  sagt  Seneca  von  sich  aus.  Und  in  der 
That,  nicht  \erborgen  sind  die  Spuren  seiner  sittlichen  Arbeit 
an  sich  selber.  Da  das  Reich  der  objectiven  Sittlichkeit 
zertrümmert  ist,  so  muss  die  Sittlichkeit  ihren  Thron  im 
Innern  des  einzelnen  Menschen  aufbauen.  Es  beginnt  die  Zeit 
der  Selbstbesinnung,  der  Innerlichkeit,  der  Subjectivität,  die 
Zeit  des  Geistes.  Zeichen  dieser  grossen  Zeitwende  finden  sich 
in  den  Schriften  Senecas. 

Von  dem  hochgeachteten  Sextius,  dem  V^ater,  der  durch  eine 
strenge  Philosophenschule  der  Fluth  des  wachsenden  Verderbens 
in  Rom  einen  Damm  entgegensetzen  wollte,  wusste  Seneca, 
dass  er  die  Sitte  gehabt,  jeden  Abend  sich  folgende  Fragen 
vorzulegen,  welches  Schlechte  er  geheilet,  welchem  Fehler  er 
Widerstand  geleistet  habe,  in  welchem  Stück  er  gebessert  sei  r 
Dem  Beispiel  des  Sextius  folgend  bezeugt  Seneca  von  sich : 
,, Dieses  Amt  des  Geistes  übe  ich,  und  täglich  halte  ich  bei  mir 
Gericht ;  wenn  die  Lampe  weggenommen  ist  und  meine  Frau, 
welche  meine  Sitte  kennt,  stillschweigt,  durchforsche  ich  den 
ganzen  Tag  und  gehe  meine  Werke  und  W'orte  durch  Nichts 
■  verberge  ich  mir,  nichts  übergehe  ich"  (De  ira  III  36  i — 3), 
Diese  Sitte  scheint  Seneca  bis  in  sein  hohes  Alter  beobachtet 
zu  haben  (Ep.  LXXXIII  2). 

Bei  dieser  Sitte  der  täglichen  Selbstprüfung  entsteht  nun 
die  Frage:  Da  die  allgemeinen  Normen  ihre  Wahrheit  ver- 
loren, nach  welcher  Richtschnur  hat  nunmehr  der  Mensch  sein 
Thun  und  Verhalten  zu  prüfen:  An  dieser  Stelle  offenbart 
sich  unserm  Denker  die  Bedeutung  des  Gewissens,  und  er  fühlt 
sich  berufen,  ein  Herold  dieses  inneren,  den  Untergang  der 
objectiven  Normen  überdauernden  Gesetzes  zu  werden.  Der 
fama,  dieser  grossen  Weltlüge,  welcher,  wie  wir  gesehen,  Seneca 
den  Krieg  erklärt,  stellt  er  die  conscientia  entgegen,  welcher 
Gegensatz  schon  früher  zur  Sprache  gekommen  ist.  Sehr 
beachtenswert!!     sind     aber    Senecas     weitere     reformatorische 


Aussagen  über  das  Gewissen.  Allem  vorab  bezeugt  er,  was 
für  sein  eignes  Selbstbewusstsein  das  Gewissen  bedeutet. 
,,Wenn  dereinst",  sagt  Seneca,  ,,die  Natur  meinen  Odem 
zurück  fordert,  dann  werde  ich  davon  gehen  mit  dem  Zeugniss, 
dass  ich  mich  eines  guten  Gewissens  befleissigt  habe" 
(De  V.  b.  XX  5).  Die  Censur  des  Gewissens  trügt  nicht 
(De  brev.  v.  X  3).  Alles  Gute  belohnt  sich  auch  ohne 
äussere  Vergeltung  durch  das  gute  Gewissen  (B.  IV  11  3,  12  4). 
Das  gute  Gewissen  ruft  das  Volk  herbei  (,,wer  Gutes  thut, 
kommt  an  das  Licht"  Joh.  III  21),  das  böse  Gewissen  ist  auch 
in  der  Einsamkeit  ängstlich  und  besorgt;  thust  Du  Böses,  was 
nützt  es,  dass  es  Niemand  weiss,  da  Du  selbst  es  weisst? 
O  Unglückseliger,  wenn  Du  diesen  Zeugen  verachtest  (Ep.  XLIII 4) ! 
Alle  Menschen  verhehlen  ihre  Sünden,  und  wenn  dieselben 
auch  glücklich  von  Statten  gegangen,  geniessen  sie  zwar  ihre 
Frucht,  die  Sünden  selbst  aber  verbergen  sie,  dagegen  hat  das 
gute  Gewissen  den  Willen,  offenbar  und  sichtbar  zu  werden 
(Ep.  XCVII  12).  Die  Höhe  der  Sittlichkeit  ist,  sein  Gewissen 
vor  den  Göttern  aufschliessen :  ,,conscientiam  suam  diis  aperuit, 
semperque  tamquam  in  publico  vivit,  se  magis  veritus  quam 
alios"  (B.  VII  I  7,  cfr.  De  v.  b.  XX  5,  B.  III  6  2).  Besonders 
beachtenswerth  ist,  was  Seneca  B.  tV  21  56  ausführt:  ,,Ich 
will  mehr  sagen,  es  kann  einer  dankbar  sein,  ^  der  undankbar 
scheint,  den  eine  falsch  deutende  Meinung  des  Gegentheils 
bezüchtigt.  Wonach  anders  richtet  sich  ein  Solcher,  als  nach 
dem  blossen  Gewissen?  Dieses,  auch  wenn  ihm  Gewalt 
angethan  wird,  gewährt  Freude ;  laut  protestirt  es  gegen 
Volksversammlung  und  Volksgerede  und  macht  sich  selbst 
zum  allgemeinen  Mittelpunkt,  und  wenn  es  die  ungeheure 
Masse  der  Andersgesinnten  auf  der  entgegengesetzten  Seite 
anschaut,  zählt  es  nicht  die  Stimmen,  sondern  spricht  sich 
frei  mit  seiner  eignen  einzelnen  Stimme,  wenn  es  aber  sieht, 
dass  Treue  mit  den  Strafen  der  Treulosigkeit  belegt  w^ird, 
steigt  es  dessungeachtet  nicht  herab,  sondern  erhebt  sich  über 
seine  eigene  Strafe." 

Es    ist    dem  Seneca   klar,    dass   diese    Selbsterhebung   des 
Gewissens    über    alle    Autoritäten    und    Gewalten     eine    innere 


76 

Umwandlung  bedeutet ,  die  nicht  auf  einem  blossen  Denk- 
prozess,  sondern  auf  einem  starken  und  beharrlichen  Willens- 
akte beruht,  der  auf  eine  neue,  auf  den  Trümmern  der  Ver- 
gangenheit aufzubauende  Zeit  hinweist.  Alles,  was  bisher 
Säulenhaft  gewesen  ist,  jetzt  ist  es  ins  Wanken  gekommen, 
die  Säule  der  Zukunft  muss  von  innen  her  aufgerichtet  werden, 
diese  Säule  ist  die  unwandelbare  Beständigkeit  im  Wollen  und 
Nichtwollen:  ,,Quid  est  sapientiae:  Semper  idem  velle  atque 
idem  nolle"  (Ep.  XX  5).  Seneca  fügt  hinzu,  dass  selbst- 
verständlich diese  Beständigkeit  des  Willens  nur  da  sein  kann, 
wo  der  Wille  auf  das  Rechte  gerichtet  ist  (Ep.  XCV  58). 
Seneca  bemerkt :  ,,Illud  dulcissimum  et  honestissimum  ,,idem 
velle  atque  idem  nolle"  sapiens  sapienti  praestabit"  (Ep.  CIX  16). 
Dabei  bietet  sich  die  folgende  lehrreiche  Parallele  dar. 
Augustinus  hatte  sich  f^elbst  verloren  und  konnte  sich  nicht 
wieder  finden  (,,ego  a  me  discesseram,  nee  nie  inveniebam" 
Confess.  V  2).  Gleichwie  nun  der  Philosoph  zur  Zeit  Neros 
bezeichnet  Augustinus  die  Erlangung  des  ungetheilten 
unwandelbaren  Willens  als  den  W^endepunkt  seiner  Bekehrung 
oder  seines  Zusichselberkommens  (Confess.  V^III  7).  Der 
Mangel  an  der  Beständigkeit  und  Reinheit  des  Willens  ist  eine 
allgemeine  menschliche  Krankheit.  Ks  ist,  wie  Seneca  bemerkt, 
etwas  in  uns,  das  uns  hindert,  etwas  ganz  unbedingt  und  für 
immer  zu  wollen  (Plp.  LXX  i).  Um  gut  zu  sein,  ist  weiter 
nichts  nöthig,  als  es  wirklich  zu  wollen:  ,,Q^iJtl  tibi  opus  est, 
ut  sis  bonus  ?  velle"  (Ep.  LXXX  4).  Aber  Vieles  wollen  wir 
scheinen  zu  wollen,  wollen  es  aber  eigentlich  nicht  (Ep.  XCV  2, 
Hippolyt  604  605).  Wo  das  Nichtkönnen  vorgeschützt  wird, 
da  ist  das  Xichtwollen  die  eigentliche  Ursache.  ,, Nolle  in 
cau.sa  est,  non  posse  praetenditur"  (Ep.  CXVI  8,  cfr.  CIV  26). 
Das  päpstliche  ,,non  possumus"  ist  nach  der  Beobachtung 
unseres  römischen  Philosophen  gemeiniglich  ,,nolumus".  Mit 
voller  Ruhe  und  Klarheit  bezeugt  nun  Seneca  von  sich  selber: 
,, magna  pars  profectus  est  velle  proficere"  (cfr.  Hippolyt  249), 
,,hujus  rei  mihi  conscius  sum,  volo  et  tota  mente  v^olo' 
(Ep.  LXXI  36}.  Den  starken  und  wirksamen  Willen  Senecas 
muss    selbst    Ouintilian    bezeugen:    , .natura    quae    quod    voluit 


77 

efficit"  (Inst.  X  i  132).  Wenn  nun  Seneca  schreibt:  ,,velle 
non  discitur"  (Ep.  LXXXI  13),  so  meint  er  wohl  nichts 
Anderes,  als  dass  die  wahre  Willenskraft  Niemandem  abgelernt 
werden  kann,  sondern  allemal  auf  sich  selbst  ruht  und  sich, 
so  zu  sagen,  selbst  erzeugen  muss.  Er  drückt  dies  auch  so 
aus:  ,,cogenda  mens  est,  ut  incipiat"  (Ep.  L  9).  Zu  dem 
Ende  verlangt  er  einen  ,,impetus  totus".  ,,Stultitia  ita  nos 
tarn  tenaciter  tenet,  quia  non  toto  ad  salutem  impetu  nitimur" 
(Ep.  LIX  9,  cfr.  Ep.  LXIX  13).  Aber  selbst  der  Impetus 
insignis  reicht  nicht  aus,  um  einen  heilsamen  Eindruck  nicht 
wieder  zu  verlieren  (Ep.  CVIII  7).  Der  heilsame  impetus 
erreicht  erst  dann  sein  Ziel,  wenn  er  eine  ruhige  Gleich- 
mäösigkeit  erzeugt,  der  vollkommne  Mann  ist  ,,placidus  et 
lenis  (Ep.  CXX  13),  ,,nec  quidquam  magnum  nisi  quod  simul 
placidum"  (De  ira  I  21  4).  Wer  bloss  durch  Entschluss 
(consilio)  gut  ist,  ist  noch  nicht  vollkommen,  nur  in  dem  ist 
vollkommne  Tugend,  der  durch  seine  Sitte  dahin  gekommen 
ist,  dass  er  nicht  nur  recht  zu  thun  und  zu  handeln  vermag, 
sondern  auch  nicht  anders,  als  recht  zu  handeln,  im  Stande 
ist  (Ep.  CXX  10).  Es  kommt  also,  um  vollkommen  zu  sein^ 
nicht  bloss  auf  einen  kräftigen  Willensentschluss  an,  denn 
hinter  dem  Willen  steht  auch  der  ,,habitus  animi  et  mentis'', 
dieser  habitus,  dieser  Gesammtzustand  des  inneren  Menschen, 
muss  in  richtiger  Verfassung  sein.  ,,Voluntas  non  erit  recta. 
nisi  habitus  animi  rectus  fuerit"  (Ep.  XCV  57).  ,,Sapientia 
habitus  perfectae  mentis  est,  sapere  usus  perfectae  mentis" 
(Ep.  CXVII  16).  Um  das  ,,honestum"  zu  vollbringen,  muss 
der  ganze  ungetheilte  Menschengeist  ringen  und  gegenwärtig 
sein:  ,, nihil  honeste  fit,  nisi  cui  totus  animus  incubuit  atque 
afifuit,  cui  nulla  parte  sui  repugnavit"  (Ep.  LXXXII  18). 
Durch  den  geistigen  Kampf  gegen  die  Lüge  und  Verführung 
der  fama  gelangt  Seneca  zu  der  Anschauung,  dass  von  innen 
her  von  Grund  aus  ein  Neues  anheben  muss.  Für  dieses 
Neue  ist  die  absolute  Norm  das  Gewissen  und  die  wirkende 
Kraft  der  unwandelbare,  ruhige  Wille,  der  auf  das  Gute  und 
Wahre  gerichtet  ist.  Hier  wird  nun  Seneca  inne,  dass  der 
Mensch   sich   nicht    mit   eigner  Kraft   aus   seiner  Versunkenheit 


78 

erheben  kann.  ,,Nemo  per  se  satis  valet,  ut  emergat"  (Ep.  LH  2), 
Das  Uebel  kommt  uns  nicht  von  aussen,  es  ist  in  uns  und 
sitzt  in  unseren  Eingeweiden.  ,,Malum  nostrum  intra  nos  est, 
in  visceribus  ipsis  sedet"  (Ep.  L  4,  cfr.  Rom.  VII  23).  Daher 
die  strenge  Forderung :  ,,cor  ipsum  cum  voluptatibus  re\'ellendum 
est"  (Ep.  LI  13,  cfr.  Ezechiel  XI  19).  Steht  es  aber  so 
schHmm  mit  uns,  dann  kann  auch  jenes  Loslassen,  jene  Ab- 
sonderung von  allem  natürlichen  und  gewohnten  Zusammen- 
hang, jenes  Zusichselbstkommen,  jener  kräftige  Entschluss,  was 
Alles  Seneca  so  sehr  empfiehlt  und  fordert,  dann  kann  dieses 
Alles  nicht  ausreichen.  ,,Non  est  per  se  magistra  soHtudo 
innocentiae"  (Ep.  XCIV  69);  ,,nemo  est,  cui  non  satius  sit  cum 
quolibet  esse,  quam  secum,  tibi  a  te  recedendum  est",  es  muss 
einer  noch  von  sich  selbst  befreit  werden  (Ep.  XXV^  7). 

Die  Hülfe,  die  der  Mensch  braucht,  um  von  sich  selbst 
loszukommen,  um  nicht  bloss  einen  guten  Entschluss,  sondern 
auch  den  recti  animi  habitus  zu  erringen,  kann  keine  andere 
als  eine  göttliche  sein.  Wie  Paulus  lehrt,  dass  das  Gesetz 
nicht  gerecht  macht,  so  schreibt  auch  Seneca  :  ,,praecepta  non 
sufficiunt"  (Ep.  XLIV  21);  einem  Kranken  die  Werke  des 
Gesunden  zu  befehlen,  ist  thöricht  (Ep.  XCIV  22  37),  ,,animus 
solvendus  est,  ut  ad  praecepta  possit  ire"  (Ep.  XCV  38). 
Daher:  ,,bonus  vir  sine  Deo  nemo  est"  (Ep.  XLI  2),  ,,nulla 
sine  Deo  mens  bona"  (Ep,  LXXIII  16).  Aber  diese  göttliche 
Hülfe  und  Einwirkung  muss,  bei  der  durch  den  Menschen 
verschuldeten  Entfremdung  zwischen  Gott  und  Mensch,  mensch- 
lich nahe  gebracht,  menschlich  vermittelt  werden.  ,, Oportet 
manum  aliquis  porrigat,  aliquis  educat  (Ep.  LH  2).  Virtus  difficilis 
inventu  est,  rectorem  ducemque  desiderat"  (Q.  N.  III  30  S). 
Hier  erhebt  sich  nun  die  vorchristliche  Ahnung  des  Heiden- 
thums  auf  ihre  eigentliche  Höhe,  und  was  Casaubonus  von  der 
Vorahnung  Senecas  sagt,  hier  vor  Allem  hat  es  seine  Stelle. 
Er  lehrt:  Des  Menschen  Geist  bedarf  eines  Vorbildes,  welches 
er  als  heiliges  Urbild  in  sich  tragen  kann.  ,,Aliquem  habeat 
animus,  quem  vereatur,  cujus  auctoritate  etiam  secretum  suum 
sanctius  faciat.  O  felicem  illum,  qui  non  praesens  tantum,  sed 
etiam    cogitatus    emendat.     O    felicem,    qui   sie    aliquem    vereri 


79 

potest,  iit  ad  memoriam  quoque  ejus  se  componat  atque  ordinet  '^ 
(Ep.  XI  9).  Die  Anschauung  eines  solchen  Vorbildes  hat 
Seneca  in  seiner  Jugend  gewonnen,  als  er  7ai  den  Füssen  seiner 
Lehrer  Sotion  und  Attalus  sass.  Diese  Meister  machten  auf 
ihn  den  Eindruck  einer  übermenschlichen  Erhabenheit.  ,,Illum 
(Attalum)  sublimem  altioremque  humano  fastigio  credidi 
(Ep.  CVIII  13)'  denn  ein  vollendeter  Weiser  leuchtet  wie  ein 
Licht  in  den  Finsternissen  und  zieht  alle  Geister  an  (Ep.  CXX  13). 
An  hohem  Orte  steht  der  Philosoph  bewundernswürdig  erhaben, 
wahrhaft  einem  Gebirge  zu  vergleichen  (Ep.  CXI  3).  Wenn 
Jemand  eine  solche  Erscheinung  schaut,  die  erhabener  und 
leuchtender  ist,  als  sie  unter  menschlichen  Verhältnissen  gesehen 
wird,  muss  er  nicht  staunend  über  die  Begegnung  der  Gottheit 
stille  stehen  und,  damit  ihm  die  Erscheinung  nicht  verderblich 
sei,  im  Geiste  beten?  (Ep.  CXV  4).  Ja  nach  Weise  der  Götter 
sind  die  Philosophen  zu  verehren  (Ep.  LXIV  9).  Die  Philosophie 
ist  etwas  Heiliges  (Ep.  LV  4,  XIV  11),  Anbetungswürdiges 
(Ep.  LH  13),  und  könnte  es  sich  ereignen,  dass  die  Philosophie 
selber  sich  den  Blicken  darstellte,  sie  würde  alle  Sterblichen 
zur  Bewunderung  hinreissen,  und  sie  würde  Alles  hinter  sich 
lassen,  was  wir  jetzt,  weil  wir  das  wahrhaft  Grosse  nicht 
kennen,  für  gross  halten  (Ep.  LXXXIX  i).  Weil  nun  in  dem 
Hören  und  Schauen  seiner  philosophischen  Meister  das  Gött- 
liche in  Menschengestalt  ihm  nahegetreten  ist,  so  kann  Seneca 
die  mit  ihm  dadurch  bewirkte  Veränderung  als  eine  neue 
Geburt  bezeichnen  (De  brev.  vit.  XV  3).  Wer  wird  nicht  an 
Plato  erinnert?  Da  aber  diese  Anschauung  in  Seneca  indivi- 
dueller begründet  ist,  als  in  Plato,  so  werden  wir  nicht  an  eine 
Entlehnung  zu  denken  haben.  Wir  werden  später  noch  ein  ganz 
ähnliches  Verhältniss  zwischen  Plato  und  Seneca  kennen  lernen. 
Es  ist  jedoch  das  Bedürfniss  einer  menschlichen  Vermittelung 
der  umwandelnden,  neugebärenden  göttlichen  Hülfe  durch  jene 
philosophischen  Lehrer  noch  nicht  befriedigt.  Jene  Lehrer  sind 
zwar  nicht  von  der  Klasse  der  griechischen  Wortmacher  und 
Sophisten,  sie  beschämen  allerdings  durch  ihr  strenges  Leben 
die  üppigen  Zeitgenossen,  aber  sie  halten  sich  innerhalb  der 
stillen    Räume    der    Schule,     denn    dass    Sotion    und   Attalus 


80 

irgendwo  in  das  grosse  öffentliche  Leben  eingegriffen,  wie  das 
Tacitus  von  einem  verfehlten  Versuch  des  Musonius  Rufus 
berichtet  (Histor.  IV  ii),  davon  fehlt  jede  Spur.  Dass  Sejan 
den  Attalus  verbannte,  wie  wir  bemerkt  haben,  mag  einen  rein 
persönlichen  Grund  gehabt  haben.  Nun  ist  aber  Seneca  zu 
sehr  vertieft  in  die  Anschauung  von  der  abgrundmässigen 
Corruption  der  allgemeinen  Verhältnisse  und  Zustände,  als  dass 
er  nicht  das  vorleuchtende  göttliche  Ideal  der  Weisheit  und 
Tugend  auf  dem  Gebiete  des  offenen  Kampfes  gegen  die 
höchsten  Gewalten  der  allgemeinen  öffentlichen  Verderbniss 
suchen  sollte.  ,,Es  ist  ein  Bedürfniss  des  Gemeinwohls",  so 
schliesst  er  seine  Abhandlung  über  die  Standhaftigkeit,  ,,dass 
es  ein  Unbezwingliches  giebt  (aliquid  lesen  Fickert  und  Haase), 
dass  Einer  vorhanden  sei,  über  den  das  Schicksal  nichts 
vermag."  Es  reicht  aber  nicht  aus,  dass  ein  solcher  Sieger 
über  das,  was  alle  Menschen  gefangen  hält,  vorhanden  ist,  er 
muss  auch  offenbar  sein,  auf  offenem  Plan  muss  er  streiten 
und  den  Sieg  erringen.  Mammon,  Fleischeslust  und  der 
öffentlichen  Meinung  Zwingherrschaft  waren  die  Götzen,  denen 
die  ganze  römische  Welt  opferte.  Es  gab  aber  Einen,  der 
öffentlich  zeigte,  dass  er  diesen  Kultus  verabscheute.  Der 
Cyniker  Demetrius  war  in  Rom  eine  wandelnde  Busspredigt 
gegen  diesen  Götzendienst.  Caligula  wollte  ihn  durch  eine 
Summe  Geldes  gewinnen.  Demetrius  lachte  und  sagte,  er 
halte  es  nicht  einmal  für  einen  Ruhm,  eine  .solche  Summe 
auszuschlagen,  wenn  der  Cäsar  ihn  wirklich  versuchen  wolle, 
dann  müsse  er  ihm  sein  Kaiserreich  anbieten  (B.  VII  ii  i — 2). 
Ein  ganzes  Menschenalter  später  zeigte  dieser  Cyniker  dem 
Kaiser  Vespasian  ,, seine  Zähne"  (Sueton  Vespas.  XIII),  und 
während  der  Zeit  des  Nero  finden  wir  ihn  in  der  Umgebung 
des  Thrasea  Paetus,  der  sich  angesichts  des  Todes  mit  ihm 
über  die  Natur  des  Sterbens  unterhielt  (Tacit.  Ann.  XVI  34  35). 
Keinen  seiner  Zeitgenossen  hat  Seneca  so  oft  und  so  unbedingt 
gelobt  und  gefeiert,  wie  diesen  Cyniker,  dessen  ganze  Erscheinung 
zu  Seneca,  dem  fürstlich  begüterten  und  hochgestellten  Mann 
den  grellsten  Kontrast  bildete.  Er  giebt  ihm  folgendes 
Zeugniss:     ,,Die    Natur    scheint    mir    ihn    in    unseren    Zeiten 


81 

geschaffen  zu  haben,  um  zu  zeigen,  dass  er  weder  von  uns 
verderbt,  noch  wir  von  ihm  gebessert  werden  können ;  ich 
zweifle  nicht,  dass  die  Vorsehung  ihm  ein  solches  Leben  und 
eine  solche  Zunge  verliehen  hat,  damit  unserem  Zeitalter  weder 
tlas  Vorbild,  noch  die  Strafpredigt  (convicium)  abgehen 
möchte"  (B.  VII  8  2  3).  ,, Unter  vielen  herrlichen  Sprüchen 
unseres  Demetrius  tönt  und  zittert  der  folgende  jüngst  von 
mir  gehörte  noch  immer  in  meinen  Ohren:  ,, Nichts  scheint 
mir  unglückseliger  zu  sein,  als  ein  Mann,  dem  nie  ein  Leid 
widerfahren  ist"  (De  provid.  III  3).  ,, Dieser  Cyniker  ist  ein 
Mann  von  sehr  scharfem  Geist  und  liegt  im  Kampf  mit  allen 
Wünschen  der  Natur"  (De  vit.  beat.  XVIII  3).  ,,Der  Cyniker 
Demetrius  ist  nach  meinem  Urtheil  ein  grosser  Mann,  auch 
wenn  er  mit  den  Grossesten  verglichen  wird"  (B.  VII  i  3). 
,, Demetrius  ist  nicht  sowohl  ein  Lehrer  der  Wahrheit,  als 
vielmehr  ein  Zeuge  derselben"  (Ep.  XX  9  lo,  B.  VII  21,9  i — 4, 
Ep.  CXI  19,  Q.  N.  IV,  praef.  7).  Was  er  im  Allgemeinen 
von  der  sittlichen  Einwirkung  des  rechten  Vorbildes  gerühmt 
hat,  das  bekennt  Seneca  aus  eigner  Erfahrung  mit  Demetrius. 
,,Demetrium  optimum  virorum  mecum  circumfero,  cum  illo 
seminudo  loquor,  illum  admiror"  (Ep.  LXII  3).  Aber  die  letzte 
und  höchste  Probe  der  Bewährung  in  dem  Kampf  mit  dem 
Geschick,  auf  welche  Seneca  am  Ende  der  Schrift  ,,de  con- 
stantia",  als  auf  die  Bedingung  und  Ursache  der  allgemeinen 
Wohlfahrt  hinweist,  hat  auch  dieser  Cyniker  noch  nicht  bestanden. 
Der  Tod  erscheint  dem  Seneca  als  ein  grosses  Tribunal, 
vor  welchem  die  Wahrheit  offenbar  werden  wird,  und  meistens 
denkt  er  sich  den  Tod  der  Guten  umgeben  mit  den  Schrecken 
und  Martern  der  Gewaltthätigkeit,  wie  wir  das  später  noch 
weiter  zu  erörtern  haben  werden.  Wer  also  die  Menschheit 
aus  ihrer  Versunkenheit  emporheben  soll,  wer,  um  mit  Seneca 
zu  sprechen,  die  Hand  ausstrecken  soll,  um  mit  übermensch- 
licher Kraft  die  menschliche  Ohnmacht  aus  der  Tiefe  empor- 
zuziehen, der  muss  das  Schicksal  auch  in  der  Gestalt  der 
grausigen  Todesschrecken  überwunden  haben.  Das  ist  die 
Idee  der  Tragödie  des  Seneca:  Hercules  auf  Oeta 
(V  1946  ff.  1966  ff.).     Eine  bereits  oben  angeführte  Stelle  kommt 

6 


82 

hier  in  erweiterter  Fassung  in  Betracht.  ,,Wenn  der  Gute 
wahrnimmt,  dass  die  wahre  Treue  mit  den  Strafen  der  Treu- 
losigkeit belegt  wird,  dann  steigt  er  nicht  herab  von  seiner 
Höhe,  sondern  erhebt  sich  über  seine  Strafe  und  spricht :  ich 
habe  was  ich  wollte,  was  ich  suchte,  es  reut  mich  nicht  und 
wird  mich  nicht  reuen;  durch  keine  Unbill  wird  das  Schicksal 
mich  dahin  bringen,  von  mir  eine  solche  Sprache  zu  hören : 
was  habe  ich  für  mich  gewollt?  was  nützt  mir  jetzt  der  gute 
Wille?  Ja,  er  nützt  auch  am  Marterpfahl,  er  nützt  auch  in 
Feuersgluth.  Wenn  das  Feuer  den  einzelnen  Gliedern  nahe 
gebracht  wird  und  allmählich  den  lebendigen  Leib  umgiebt, 
dann  mag  immerhin  das  Herz,  welches  erfüllt  ist  von  dem 
guten  Gewissen,  zerschmelzen,  ein  solches  Feuer,  durch  welches 
die  ächte  Treue  soll  beleuchtet  werden,  wird  dem  Manne 
Wohlgefallen"  (B.  IV  21  6).  ,,Ich  brenne",  sagt  der  Gute, 
,,aber  bleibe  unbesiegt.  Warum  sollte  das  nicht  erwünscht 
sein?  Erwünscht  ist  es  nicht,  weil  das  Feuer  brennt,  sondern 
weil  es  nicht  besiegt.  Nichts  ist  herrlicher,  nichts  schöner 
als  die  Tugend,  und  gut  und  erwünscht  ist  Alles,  was  auf  ihr 
Geheiss  vollbracht  wird"  (Ep.   LXVII   16). 

Zu  der  Marter  muss  aber  noch  Eines  hinzukommen,  um 
die  Probe  zu  vollenden.  Weil  alle  Richtigkeit  und  Wahrheit 
nach  Senecas  Auffassung  dem  öffentlichen  Urtheil  abhanden 
gekommen  ist,  weil  die  öffentliche  Meinung  zur  fama,  zur  Lüge, 
zur  Heuchelei  geworden  ist,  so  muss  der  voUkommne,  der  rettende 
und  befreiende  Sieger  zugleich  die  Macht  der  fama  unter  die 
Füsse  treten.  Während  in  besseren  Zeiten  die  öffenthche 
Anerkennung  und  Ehre  ein  allgemein  gültiges  Zeichen  der 
Tugend  war,  ist  es  in  den  Zeiten  des  Cäsarismus  dahin 
gekommen,  dass  die  Tugend  Jemandes  nicht  eher  die  Feuer- 
probe bestanden  hat  (Ep.  XIII  i,  cfr.  i  Petr.  i  7),  als  bis  sie  sich 
auch  gegen  die  Infamie  behauptet  hat.  Dieser  Gedanke  ,,virtus 
cum  infamia"  bezeichnet  das  innerste  Geheimniss  der  Denk- 
und  Sinnesart  unseres  Stoikers.  Denn  dieser  Gedanke  ist  nicht 
ein  flüchtiger  Einfall,  nicht  eine  rhetorische  Redewendung, 
sondern  eine  auf  tiefer  und  ernster  Beobachtung  der  zeit- 
geschichtlichen Wirklichkeit  beruhende  Weltanschauung.     Dies 


83 

zeigt  sich  darin,  dass  Seneca  diesen  wahrhaft  originellen 
Gedanken  in  immer  neuen  Wendungen  wiederholt :  ,,Aequissimo 
animo  ad  honestum  consilium  per  mediam  infamiam  tendam, 
nemo  mihi  videtur  pluris  aestimare  virtutem,  quam  qui  boni 
viri  famam  perdidit,  ne  conscientiam  perderet"  (Ep.  LXXXI  20, 
cfr.  CXin  32,  CXV  6).  Es  ergiebt  sich  leicht,  was  zu  halten 
sei  von  der  Behauptung  H.  Schillers,  dass  in  Seneca  nicht 
■ein  einziger  origineller  Gedanke  zu  finden  sei.  ,,Wenn  wir 
unsern  Geistesblick  schärfen,  indem  wir  die  Hindernisse 
entfernen,  dann  werden  wir  im  Stande  sein,  die  Tugend  zu 
schauen,  auch  wenn  sie  durch  ihre  körperliche,  äussere 
Erscheinung  verdeckt  ist,  auch  wenn  Armuth,  Niedrigkeit, 
Schmach  und  Schande  sie  verhüllen,  wir  werden,  sage  ich, 
ihre  Schönheit  schauen,  auch  wenn  sie  durch  Schmutz  verdeckt 
ist."  ,, Glaube  mir,  es  ist  nicht  die  Art  eines  sclavischen  Sinnes, 
<;ine  edle  That  zu  ermöglichen  um  den  Preis,  scheinbar  ein 
Verbrechen  zu  begehen"  (B.  III  23  4,  cfr.  De  ira  III  41  2, 
Ep.  XCI  20,  ad  Helv.  XIII  4—8,  Ep.  LXXVI  4). 

Durch  Beides  nun,  durch  gelassenes  Ertragen  der  Schmach 
und  durch  den  Widerstand  gegen  die  Gewalt  bis  zum  Tode, 
leuchtet  hervor  Marcus  Cato,  „quo  nemo  altior"  (Ep.  XCV  70), 
und  darum  preist  ihn  Seneca  als  das  rettende  Ideal  der 
Menschheit.  Dieser  in  grundverderbter  Zeit  ~für  musterhaft 
geltende  römische  Staatsbürger  hat  die  Schande  erlebt,  dass  er 
bei  den  Bewerbungen  um  die  Prätur  und  das  Consulat  von 
dem  Volk  einem  Unwürdigen  hintan  gesetzt  wurde  (De 
prov.  III  14),  und  dass  er  bei  einer  anderen  Gelegenheit  von 
der  Volksmasse,  wie  Diogenes  (De  ira  III  38  i)  und  Aristides 
(Ad  Helv.  XIII  7)  beschimpft,  angespeit  und  gemisshandelt 
wurde  (De  const.  I  3,  Ep.  XIV  13,  ad  Helv.  XIII  7),  und  als 
er  ins  Angesicht  geschlagen  ward,  hat  er  die  Beleidigung  nicht 
gerächt  noch  vergolten  (De  const.  XIV^  3,  cfr.  i  Petr.  2  23). 
Dieser  war  dazu  bestimmt,  mit  den  drei  höchsten  Gewalthabern 
des  Weltkreises  zu  kämpfen  und  unterliegend  durch  Ver- 
achtung des  Todes  die  Freiheit  zu  erringen  (De  provid.  III  14, 
Ep.  CIV  29—33).  Die  ungewöhnliche  Schlechtigkeit  und 
Bosheit   der  Mehrzahl   der   Zeitgenossen    musste    dazu    dienen, 

6* 


84 

dass  Cato  verstanden  würde,  indem  er  im  Gegensatz  zu  seine« 
schlechten  Zeitgenossen  Gelegenheit  bekam,  seine  Kraft  zu- 
erproben  (De  tranq.  VII  3).  Cato  ist  das  lebende  Bild  der 
Tugend  ,,virtutum  viva  imago"  (De  tranq.  XIV  i),  der,  in 
dessen  Gegenwart  das  Volk  nicht  den  Muth  hatte,  der  sündigen 
Lust  zu  fröhnen  (Ep.  XCVII  3,  cfr.  Valerius  Maximus  II  10  8). 
Er  ist  nicht  bloss  ein  Musterbild  (,,exemplar"  De  const.  VII  i, 
Ep.  XI  10,  XXV  6),  sondern  auch  ein  Schauspiel  ohne  gleichen 
für  Menschen  (Ad  Helv.  XIII  6)  und  selbst  für  Götter  (De 
provid.  II  9  12).  Die  unvergleichliche  Hochhaltung  und  Ver- 
ehrung des  Cato  war  in  dem  Hause  der  Annaeer,  wie  bereits 
beiläufig  bemerkt,  Familientradition.  Marcus  Seneca  nennt  in 
einer  Zuschrift  an  seine  drei  Söhne  einen  Ausspruch  des  Cato  ein 
göttliches  Orakel,  eine  Willenserklärung  der  Gottheit  an  das 
menschliche  Geschlecht,  ausgesprochen  durch  einen  mensch- 
lichen Mund  (Controv.  I  praef ).  Unzählig  oft  beschäftigt  sich 
Lucius  Seneca  in  seinen  Schriften  mit  dem  jüngeren  Cato,  und 
zwar  meistens  von  Bewunderung  erfüllt,  und  der  Enkel  des 
Marcus  Seneca,  der  Neffe  unseres  Stoikers,  Lucanus  der 
Dichter,  verherrlicht  Cato  als  den  Haupthelden  in  seiner 
Pharsalia. 

Durch  die  Erhebung  der  beiden  Männer  Demetrius  und 
Cato  zu  Vorbildern  der  Menschheit  ist  die  bisher  herrschende 
Weltanschauung  nicht  bloss  verändert,  sondern  in  ihr  Gegen- 
theil  umgewandelt.  Wir  haben  erkannt,  dass  die  römische 
Welt  in  den  Tagen  Senecas  gefangen  liegt  in  dem  Dienst  der 
drei  Götzen :  Mammon,  Genusssucht  und  lügenhafte  Fama. 
Jene  Beiden  haben  das,  was  die  Sclaven  dieses  Götzendienstes- 
am  meisten  hassten  und  flohen,  die  Armuth,  die  Entsagung 
und  die  Infamie  und  Cato  ausserdem  noch  der  Uebel 
grösstes,  den  Tod,  nicht  bloss  ertragen,  sondern,  nach  Senecas 
Lehre,  zu  Denkmälern  leuchtender  Tugend  verklärt.  Ein 
solches  Leben  ist  ein  Kriegsdienst  und  ein  Werk  des  Weisen, 
welches  Allen  zu  Gute  kommen  soll.  Es  ist  die  Absicht 
Gottes  und  des  Weisen,  Allen  zu  zeigen,  dass  das,  was  das 
Volk  begehrt  oder  verabscheut,  weder  das  Gute,  noch  das- 
Böse  ist  (De  provid.  V  i).    Dazu  sind  jene  Vorbilder  geboren,. 


85 

^,ut  alios  pati  doceant"  (De  provid.  VI  3).    ,,Invicti  iter  seqiien- 
tibus   ostendere   debent    (De  remed.  Haase  III  451).     Wie  jene 
A^orangehen    im    Leiden,    so    ist  es   Allen   bestimmt,    ihnen    im 
Leiden  nachzufolgen.    Das  Leiden  hat  aber  durch  den  Vorgang 
jener    einen    anderen    Charakter    erhalten.     Nunmehr    sind    die 
Leiden  ein  heiliger  Schmuck  (Ad  Helv.  XIII  6,  cfr.  Rom.  V  3). 
Alle    Widerwärtigkeiten    sind     Uebungen    (De    provid.    II    2). 
,,Gaudent  magni  viri  aliquando  rebus  adversis"  (De  provid.  IV  4, 
•cfr.  Jacob.  I  2).     Die  ganze  Schätzung  von  Glück  und  Unglück 
kehrt   sich    um    ins  Gegentheil.     ,,Felicitas  est  magna  servitus; 
miserum  te  judico,  quod  nunquam  fuisti  miser"  (De  provid.  IV  3). 
,,,Magnifica  vox  Demetrii :    nihil  mihi   videtur   infelicius    eo,   cui 
jiihil  unquam  evenit  adversi"  (De  provid.  III  3).    Die  ,,epistolae 
morales     ad     Lucilium"      schliessen      mit      folgenden     Sätzen: 
,, Brevem    tibi    formulam  dabo,    qua  te  metiaris,    qua   perfectum 
•esse  jam   sentias:    bonum    tunc    habebis    tuum    cum    intelliges 
infelicissimos  esse  felices."    Von  nun  an  ist  der  ,,fortiter  miser" 
Gegenstand  der  höchsten  Bewunderung  (Ad  Helv.  XIH  6),    ja, 
•der  Leidende    ist  ein  Heiligthum    (Epigr.  IV  9).     Es    tritt   uns 
in  diesem  Gedankenzusammenhang  mit  einem  Wort  eine  Welt- 
anschauung   entgegen,    welche    ihren   vollendeten    Ausdruck    in 
-der  Bergrede  erhalten  hat.    Eine  besondere  Erwähnung  verdient 
am    Schlüsse    dieser  Gedankenreihe   noch    die    Thatsache,    dass 
der   fürstlich   begüterte  Mann    die  Armuth,    welche    im    ganzen 
heidnischen  Alterthum  verachtet  war    und    in  der  Zeit  Senecas 
sogar    unter    dem    Fluche    stand    (,,maledicta",  Ep.  CXV   11), 
:zum    Gegenstand   seiner   Empfehlung    und    seines  Lobes  macht 
-(De    remed.    III     451     452    453,     ed.     Haase,     de    paupertate 
p.    458  —  461).     Jedoch    dieses    nicht    im    mönchischen    Sinn, 
-denn     wenn     allerdings     der    Reichthum    auch    gefährlich    ist 
<Ep.   LXXXVII    28,    cfr.   Matth.  XIX  23),    so    schliesst    nach 
Seneca  der  Besitz  des  Reichthums  an  sich  die  rechte  Gesinnung 
•der   Armuth   nicht   aus    (Ep,    XX    10    13,    Ad   Marciam    X    3, 
Ep.    XCVIII    3),     ja,    ,,infirmi    animi    est    pati    non    divitias" 
(Ep.  V  6,  cfr.  Philipp.  IV   12). 

Nach    derjenigen    Anschauung,    welche    in    dem    Vorbilde 
eines    Demetrius    und    eines    Cato    ihre    Norm    findet,    ist    die 


86 

gesammte  äussere  Weltordnung,  wie  sie  bisher  gewaltet,  unter- 
gegangen. Centrum  dieser  verderbten  Weltordnung  ist  das 
Cäsarenthum,  welches  Seneca,  wie  er  es  selber  in  allernächster 
Nähe  gesehen  und  erfahren  hat,  als  das  regnum  der  schranken- 
losen Selbstsucht,  Willkür,  Ungerechtigkeit  und  Frivolität 
schildert  (Thyestes  205 — 207  214  215  217  218,  Agamemnon 
269 — 272).  Seneca  ist  einsichtig  genug,  um  zu  wissen,  dass 
dieses  sündenbeladene  Weltreich  die  weltgeschichtliche  Aus- 
bildung einer  Anlage  ist,  die  in  jedem  Menschen  liegt.  ,,Regis 
quisque  intra  se  animum  habet,  ut  licentiam  sibi  dari  velit,  in 
se  nolit"  (De  ira  II  31  3,  Ep.  XLVII  20).  Als  dem  Augustinus 
seine  bisherige  Welt  untergegangen  war,  wusste  er  nicht, 
wohin  er  seinen  Blick  richten  und  seinen  Lauf  nehmen  sollte 
(Confess.  VI  10,  VIII  7),  bis  sein  Geist  gewiss  wurde,  dass  in 
der  Welt  ein  Reich  Gottes  (civitas  Dei)  gegründet  ist,  welches- 
mit  der  sieghaften  Kraft  wider  alle  Feinde  ausgerüstet  ist 
Nachdem  das  äusserliche  Weltreich  vor  dem  Geistesauge 
Senecas  zerschlagen  ist,  ist  es  auch  nichts  Geringeres,  als  die 
Vorstellung  eines  anderen,  eines  geistigen  Reiches,  was  ihm 
einen  Ersatz  zu  gewähren  vermag.  Da  er  aber,  im  Gegensatz 
zu  Augustinus,  weder  Kunde  noch  Gewissheit  hat  von  einem 
thatsächlich  gegründeten  und  wirklich  vorhandenen  Reiche 
Gottes,  so  ist  er  genöthigt,  sein  neues  Reich  lediglich  mit 
Hülfe  seiner  blossen  Gedanken  aufzubauen. 

Es  giebt  nach  Seneca  ein  Königreich,  welches  die  gute 
Gesinnung  sich  selber  erbaut.  ,,Rex  est,  qui  metuet  nihil. 
Rex  est,  qui  cupiet  nihil.  Mens  regnum  bona  possidet.  Hoc 
regnum  sibi  quisque  dat"  (Thyestes  388  —  390).  ,, Immune 
regnum  est  posse  sine  regno  pati"  (Thyestes  470).  Ein 
unermessliches  Königreich  steht  dem  zu  Gebote,  der  es  ohne 
Königreich  aushalten  kann.  ,,Ego",  lässt  Seneca  den  Demetrius 
sagen,  ,,ego  regnum  sapientiae  novi,  magnum,  securum" 
(B.  VII  10  6).  Uebrigens  schliesst  sich  diese  Anschauung  von 
einem  geistigen  Königreich  an  den  bekannten  stoischen  Sprach- 
gebrauch an:  ,,Attalus  se  ipse  regem  esse  dicebat"  (Ep.  CVIII  13), 
welcher  Sprachgebrauch  freilich  auch  nicht  anders  als  aus  einer 
neuen  Weltansicht  erklärt  werden  kann.    Die  Anerkennung  dieses- 


87 

geistigen  Reiches  zerschlägt  den  antiken  Partikularismus,  sei 
derselbe  nun  territorial  oder  national.  An  die  Stelle  des 
Vaterlandes  tritt  die  Welt,  und  an  die  Stelle  des  Volkes  tritt 
die  Menschheit.  ,, Magno  animo  nos  non  unius  urbis  moenibus 
clusimus,  sed  in  totius  orbis  commercium  emisimus,  patriamque 
nobis  mundum  professi  sumus,  ut  liceret  latiorem  virtuti  campum 
dare"  (De  tranq.  IV  4,  cfr.  Ep.  XXVIII  4,  LXVIII  2,  CII  21, 
CXX  12).  Wichtig  ist,  dass  durch  diesen  Universalismus  der 
Begriff  der  Menschheit  zum  ersten  Mal  auf  dem  heidnischen 
Gebiete  Leben  gewinnt.  Seneca  weiss,  dass  humanitas,  die 
menschliche  Gesinnung,  in  homine  rarum  bonum  est  (Ep.  CXV  3), 
und  erst  durch  die  Weisheit  erworben  werden  muss.  Wir,  die 
Philosophen,  sagt  er,  ,,sancimus  societatem  humani  generis'^ 
(B.  I  15  i),  wir  erheben  das  menschliche  Geschlecht  zu  einer 
heihgen  Gemeinschaft.  ,,Wir",  heisst  es  Ep.  CV  52,  sind 
Gliedmassen  eines  grossen  Leibes,  als  familienverwandt  hat  uns 
die  Natur  erzeugt,  die  wir  denselben  Ursprung  und  dasselbe 
Ziel  haben,  die  Natur  hat  uns  die  gegenseitige  Liebe 
eingepflanzt  und  uns  zur  Geselligkeit  erschaffen.  Du  musst 
für  den  Anderen  leben,  wenn  Du  für  Dich  selber  leben  willst, 
die.se  gewissenhaft  und  heilig  gepflegte  Gemeinschaft  bringt 
uns  als  Menschen  mit  Menschen  in  Verbindung"  (Ep.  XLVIII  3). 
Aehnlich  wie  im  Neuen  Testament  gewiniit  in  solchem 
Zusammenhang  das  Wort  Liebe  bei  Seneca  einen  allgemein 
ethischen  Sinn  (De  ira  III  28  i,  B.  II  18  3,  IV  21  i, 
Ep.  XLVII   18). 

Diesem  Universalismus  erscheint  es  als  eine  Bornirtheit, 
wenn  Jemand  sich  auf  sein  Volk  und  sein  Zeitalter  beschränkt 
(Ep.  LXXIX  17).  Während  in  der  herrschenden  Anschauung 
des  heidnischen  Alterthums  der  Mensch  in  dem  Bürger  auf- 
ging, überragt  gemäss  diesem  philosophischen  Universalismus 
das  Menschsein  das  Staatsbürgerthum.  ,,Nefas  est  nocere 
homini,  nam  hie  in  majore  tibi  urbe  civis  est"  (De  ira  II  31  7). 
,, Natura  hominem  homini  conciliat"  (Ep.  IX  17).  Der  Mensch 
als  solcher  ohne  weitere  Empfehlung  ist  dem  Menschen  werth 
(De  dem.  I  i  3),  Ja,  ein  Heiligthum  ist  der  Mensch  dem 
Menschen:    ,,homo    sacra   res    homini"    (Ep.  XIV  33).     Seneca 


88 

scheut  sich  auch  nicht,  die  Anwendung  dieser  wahrhaft 
humanen  Anschauung  auf  die  concreten  Zustände  zu  machen. 
Nachdem  die  Schranken  der  partikularistischen  Weltansicht 
gefallen  sind,  erscheint  der  Mensch  in  seiner  alle  Kreatur 
überragenden  Würde,  was  wir  bereits  als  eine  Folge  der 
monotheistischen  Theologie  Senecas  erkannt  haben  (B.  VI  23  6). 
Es  gehört  zu  den  anerkanntesten  \'orzügen  Senecas,  dass  er 
auch  in  dem  Sclaven  den  Menschen  anerkannt  hat  (Nero  von 
Schiller  p.  509).  Erfüllt  \'on  der  Anschauung  der  Menschen- 
würde erscheinen  dem  Seneca  die  Standesunterschiede  lediglich 
als  Namen,  die  der  Ehrgeiz  und  die  Ungerechtigkeit  erzeugt 
haben  (Ep.  XXXI  11).  Auch  der  Gladiator  wird  in  dieses 
menschheitliche  Bewusstsein  aufgenommen,  denn  die  Lust  an 
dem  blutigen  Schauspiel  wird  als  eine  \'erderbniss  des  Zeit- 
alters geschildert  (Ep.  XC\'  33,  De  tranq.  II  13).  Endlich 
wird  auch  der  Feind  in  den  Schutz  der  allgemeinen  Menschlich- 
keit eingeschlossen  (De  vit.  beat.  XX  5,  De  otio  I  4,  B.  VII  3.1  i). 

Dieses  Königreich  der  sapientia  und  humanitas  ist  auch 
insofern  dem  neutestamentlichen  Königreich  ähnlich,  als  es 
nach  den  Versicherungen  des  Seneca  über  die  Zeitgrenzen  der 
übrigen  menschlichen  Dinge  hinausreicht.  Wer,  nicht  eingeengt 
in  die  Staatsgeschäfte,  dem  Menschengeschlecht  seine  Thätig- 
keit  widmet,  ,,der  leitet  die  zukünftigen  Jahrhunderte,  der 
predigt  nicht  vor  Wenigen,  sondern  vor  allen  Menschen,  allen 
Völkern,  vor  Allen,  welche  sind  und  sein  werden"  (De  otio  \'I  4). 
,,Ich  sorge  für  die  Nachkommen;  was  ihnen  nützen  kann,  fasse 
ich  in  Schrift"  (Ep.  VIII  2).  ,,Für  uns  thut  sich  auf  eine 
grosse  Tiefe  der  Zeit,  mir  werden  die  Nachkommen  dankbar 
sein,  ich  werde  mit  mir  unvergängliche  Namen  auf  die  Nach- 
welt bringen"  (Ep.  XXI  5).  ,,Wir  behaupten,  dass  Zeno  und 
Chrysippus  Grösseres  geleistet,  als  wenn  sie  Heere  angeführt ; 
sie  haben  Gesetze  gegeben  nicht  für  einen  einzelnen  Staat, 
sondern  für  die  ganze  Menschheit"   (De  otio  \T  4). 

Das  Leben  in  diesem  geistigen  Reich  ist  kein  Spiel  und 
Scherz,  ,,non  est  delicata  res  vivere"  (Ep.  C\TI  2,  LX\'  18, 
XCVI  5,  De  provid.  I  5).  Der  Weise  ist  ein  Bürger  und 
Krieger    des    Universums    (Ep.    CXX    12).      Dem    Dienste    in 


89 

diesem  Reiche,  also  der  wahren  Weisheit  und  Tugend,  ermüdet 
Seneca  nicht,  immer  aufs  Neue  eine  unüberwindliche  Freudig- 
keit zu  versprechen.  ,,Scio  gaudium  nisi  sapienti  non  contin- 
gere"  (Ep.  LIX  2,  cfr.  LIX  i6  i8,  LXXII  4  8).  ,;Sola 
virtus  praestat  gaudium  perpetuum  securum"  (Ep.  XXVTI  3, 
cfr.  XCVIII  I,  De  vita  beata  III  4,  IV  4,  De  const.  1X3).  Von 
dieser  vollkommenen  ununterbrochenen  Freude  gilt  das  bekannte 
Wort  Senecas:  ,,Mihi  crede,  res  severa  est  verum  gaudium" 
(Ep.  XXIII  4). 

Die  virtus,  der  Hauptcharakter  des  geistigen  Reiches, 
welche  Seneca  theils  aus  den  Grundsätzen  der  Stoa,  theils  aus 
seiner  eigenen  Erfahrung  und  Anschauung  aufbaut,  erhält  von 
Seneca  weitere  beachtenswerthe  Prädikate.  Seneca  hat  eine 
so  hohe  Anschauung  von  der  virtus,  dass  er  wiederholt 
behauptet,  einmal  erworben,  könne  sie  nicht  wieder  verloren 
gehen  (Ep.  L  8).  Die  Tugend,  Richterin  über  Alles,  wird 
selbst  von  Nichts  gerichtet  (Ep.  LXXI  20).  Die  Tugend  des 
Weisen  besitzt  und  beherrscht  Alles  (B.  VII  63).  Tugend 
ist  nie  secundär,  sondern  immer  initiativ  (B.  IV  2  2).  In 
dieser  absoluten  Führerschaft  des  Guten  ist  es  begründet,  dass 
das  Böse  dem  Guten  unterliegen  muss.  ,,Succumbunt  vitia 
virtutibus,  si  illa  non  cito  odisse  properaveris  (B.  V  i  5).  ,,Vincit 
malos  pertinax  bonitas"  (B.  VTI  31  i).  Dieser  letzte  Satz 
erklärt  den  voraufgehenden.  Nur  die  beharrliche  Güte  besiegt 
das  Böse,  wer  sich  aber  keine  Zeit  lässt,  das  Böse  zu  über- 
winden, wer  eilig  und  rasch  zufährt  mit  dem  Ilass  gegen  das 
Böse,  dem  gelingt  es  nicht,  das  Böse  zum  Unterliegen  zu 
bringen.  ,, Nihil  est,  quod  non  expugnet  pertinax  opera  et 
intenta  ac  diligens  cura"   (Ep.  L  6). 

Damit  man  nun  aber  diese  weitreichenden  Gesichtspunkte, 
diese  grossen  Vorsätze  und  W^rheissungen  nicht  für  eine  leere 
Grandiloquentia  halte,  welche  Erasmus  an  Seneca  zu  tadeln 
hat,  müssen  wir  uns  über  die  Eigenthümlichkeit  der  Sprache 
Senecas  klar  werden.  Mag  Tacitus  immerhin  Recht  haben, 
dass  das  anmuthige  Talent  Senecas  dem  Geschmack  seiner 
Zeitgenossen  entsprach,  aber  so  ist  dies  auf  keinen  Fall  zu 
verstehen,     dass    Seneca    sich    ohne    Weiteres    dem    Stil    der 


90 

damaligen  Bildung  anbequemt  habe.  In  den  Augen  unseres 
Stoikers  ist  die  gesammte  gelehrte  Bildung  seiner  Zeitgenossen 
in  die  allgemeine  Verderbniss  verstrickt.  ,,Postquam  docti 
prodierunt  boni  desunt.  Simplex  enim  illa  et  aperta  virtus  in 
obscuram  et  solertem  scientiam  versa  est,  docemurque  disputare 
non  vivere"  (Ep.  XCV  13,  cfr.  Ep.  CVI  11  12).  Er  klagt 
i.iber  den  Hochmuth  der  Vielwisserei  (Ep.  LXXXVIII  37). 
Alle  Erfindungen  scheinen  ihm  vom  Uebel  zu  sein  (Ep.XC  9 — 19). 
Darum  wendet  er  sich  wie  die  christliche  \"erkündigung  an 
den  schlichten  und  einfachen  Sinn,  an  das  Gewissen  der 
Menschen.  Weil  es  Seneca  um  praktische  Weisheit  zu  thun 
ist,  widerspricht  er  Plato,  indem  er  behauptet,  dass  die 
philosophische  Wahrheit  für  Jedermann  ist.  ,,Patet  omnibus 
veritas"  (Ep.  XXXIII  11).  ,,Philosophia  omnibus  lucet" 
(Ep.  XLIV  2).  Wir  haben  gesehen,  dass  Seneca  die  \^erderbniss 
wie  in  den  Sitten,  so  auch  in  dem  Verfall  der  Sprache  aus- 
geprägt findet.  Daraus  entsteht  fijr  Seneca  die  \>rpflichtung, 
den  Sprachgebrauch  zu  reinigen.  Zu  dem  Ende  stellt  er  die 
Regel  auf,  dass  die  Sprache  dem  subjectiven  Sinn  und  Gefühl 
des  Redenden  entsprechen  müsse,  die  Sprache  muss  subjectiv 
wahr  sein.  Wahrhaftigkeit  ist  also  Grundgesetz  jeder  Rede. 
,,Quod  sentimus  loquamur,  quod  loquimur  sentiamus"  (Ep. 
LXXV  4,  cfr.  C  II,  IX  20).  Senera  verlangt  von  dem 
Redenden,  dass  er  der  Sprache  den  Stempel  seiner  inneren 
P^igenthümlichkeit  aufdrücke  (,,veluti  signum"  Ep.  CXV^  ij. 
Vornämlich  für  den  schriftlichen  Stil  will  er  das  Gesetz 
strenger  Wahrhaftigkeit  befolgt  wissen.  ,,Turpe  est  aliud 
loqui,  aliud  sentire,  quanto  turpius  aliud  scribere,  aliud 
sentire!"  (Ep.  XXIV  19).  ,,Quotiens  scribes  aliquid  quod 
editurus  es,  scito  morum  tuorum  te  hominibus  chirographum 
dare"  (,,De  moribus"  Haase  III  467).  Der  Einzelne  soll  also 
nicht  ein  blosser  Durchgangspunkt  der  \'olkssprache  sein, 
sondern  der  selbstständige  Anfang  einer  gereinigten  Sprache 
nach  dem  Grundgedanken  von  W.  v.  Humboldt,  dass  die 
Sprache  nicht  sowohl  ein  ipvov,  sondern  eine  ivip^Eia  ist. 

Man  wird  nicht  leugnen  können,  dass  die  Sprache  Senecas 
eine  sehr  deutliche  Spur  dieser  Grundsätze    aufweist.     Vielfach 


91 

muss  man  allerdings  Ouintilian  und  Erasmiis  in  ihren  Aus- 
stellungen an  dem  Stil  Senecas  Recht  geben,  aber  das  Eine 
wird  man  ihm  lassen  müssen,  dass  er  für  moralische  Sentenzen 
eine  Form  von  klassischer  Mustergültigkeit  geschaffen  hat.  Da 
wir  nun  in  dieser  Stilart,  namentlich  im  Hinblick  auf  die 
soeben  angeführten  Grundsätze,  die  Wirkung  seiner  ganzen 
moralischen  Weltbetrachtung  erkennen  müssen,  so  ist  die 
Aehnlichkeit  dieser  Schreibart  mit  der  neutestamentlichen 
Gnomenform  keinesweges  zufällig. 

Ausgerüstet  nun  mit  diesem  Werkzeug  eines  selbst- 
geschaftenen,  individuell  ausgeprägten  Idioms,  hat  Seneca 
vermittelst  seiner  Lehren  und  Schriftstellerei  als  pädagogus 
generis  humani  nicht  bloss  ins  Allgemeine  zu  wirken  gesucht 
(Ep.  LXXXIX  13),  was  ihm  als  ungenügend  erscheint 
(Ep.  XXIX  2  3),  sondern  den  Ernst  seines  praktischen 
Strebens  auch  dadurch  bewiesen,  dass  er  seine  philosophische 
Heilkraft  auf  concrete  Fälle  anwandte  (Ep.  CXI  2,  CVII  13). 
Der  grossartigste  Versuch  der  Art  ist  die  Erziehung  und 
Berathung  des  Nero.  Man  darf  über  den  unleugbaren  grossen 
Schwächen,  die  hier  zum  Vorschein  kommen,  und  die  wir 
später  besprechen  müssen,  die  rühmliche  Seite  dieses  Ver- 
hältnisses nicht  übersehen.  Selbst  Cassius  Dio  kann  einen 
heilsamen  Einfluss  Senecas  auf  seinen  kaiserlichen  Zögling 
nicht  in  Abrede  stellen,  und  wenn  Tacitus  behauptet,  dass  der 
Tod  Senecas  für  Nero  ein  sehr  erfreuliches  Ereigniss  gewesen 
(,,caedes  Annaei  Senecae  laetissima  principi"  (Ann.  XV  60)^ 
so  ist  dies  ein  starkes  Zeugniss  von  dem  nachhaltigen 
moralischen  Eindruck,  den  jener  auch  in  seiner  Zurück- 
gezogenheit und  in  seinem  Alter  noch  auf  den  Tyrannen  machte. 
Die  beiden  Bücher  ,,de  dementia  ad  Neronem  Caesarem" 
sind  ein  noch  heute  redendes  Denkmal  von  dem  Versuch  einer 
erziehlichen  Einwirkung  Senecas  auf  das  junge  Gemüth  des 
Weltherrschers.  Schwerlich  sind  die  beiden  Anekdoten,  nach 
denen  Seneca  schon  früh  die  bösartige  Natur  seines  Zöglings 
erkannte  (Sueton  Nero  VII  Scholiast  zu  Juvenal  V  109)  ohne 
historischen  Grund.  Dann  hatte  er  um  so  mehr  Ursache,  zur 
Milde  zu  ermahnen  und  vor  Grausamkeit  zu  warnen,  worauf  er 


92 

<es  ja  in  den  beiden  Büchern  ,,de  dementia"  angelegt  hat. 
Ohne  Zweifel  haben  wir  auch  die  erste  Aeusserung  aus  dem 
Munde  Neros:  ,, Vollem  nescirem  literas"  (De  dem.  II  i  2, 
Sueton  Nero  X,  cfr.  XII)  auf  die  Energie  solcher  Paränesen 
zurückzuführen.  Der  Umstand,  dass  Nero  den  griechischen 
Vers:  ,,Nach  meinem  Tod  mögen  Erde  und  Feuer  sich 
mischen",  den  Seneca  ihm  als  den  Ausbruch  einer  verab- 
scheuungsvvürdigen  Sinnesart  zur  Warnung  vorgehalten  (De 
-dem.  II  I  I,  Dio  Cassius  LVIÜ  23  4),  in  späterer  Zeit  sich 
angeeignet  und  zwar  in  verschärfter  Form  (Sueton  NeroXXXVHI), 
ist  ein  indirecter  Beweis  von  der  nachhaltigen  Wirkung  der 
Firmahnungen  Senecas  auf  Nero.  Man  kann  sicher  sein,  dass 
Seneca  sich  nicht  damit  begnügt  haben  wird,  dem  Kaiser  seine 
Staatsreden  zu  \erfertigen,  worüber  sich  Fronto  so  ärgert 
(Opp.  p.  119  120).  Sueton  berichtet  aus  den  ersten  Regierungs- 
jahren Neros  mehr  als  einen  Zug,  der  auf  den  moralischen 
Einfluss  Senecas  schliessen  lässt,  wohin  ich  rechne  .  die 
Schonung  beim  Gladiatorenkampf  (XII)  und  die  Beschränkung 
der  öffentlichen  Ausgaben  (,,graviora  vectigalia  aut  abolevit 
aut  minuit"  (CX,  cfr.  Plutarch  II  461).  Es  ist  mehr  als 
wahrscheinlich,  dass  einzelne  Gewissensregungen  in  den  späteren 
Jahren  der  vollendeten  Wüstheit,  wie  die  Furcht  vor  den 
eleusinischen  Mysterien  (Sueton  Nero  XXXIV),  die  nach  seinem 
Tode  in  einem  Schrank  gefundenen  Abbitten  (Sueton  XL\TI), 
-eben  dieser  Einwirkung  Senecas  zuzuschreiben  sind.  V^or  Allem 
möchte  ich  dahin  rechnen  die  lauten  und  schweren  Selbstanklagen 
Neros  (Suet.  XLIX),  aus  denen  man  die  strenge  Sprache  des 
stoischen  Pädagogen  leicht  heraushören  kann.  Da  der  heroische 
Tod  Othos  bei  der  schlaffen  und  wüsten  Lebensweise  dieses 
Mannes  auffallend  ist,  so  hat  Lipsius  auch  bei  diesem,  mit 
Nero  sehr  intimen  Genossen  einen  Einfluss  unseres  Stoikers 
•wahrscheinlich  gefunden. 

Erfreulicher  jedenfalls  ist  die  Wirksamkeit,  welche  Seneca 
-einem  jüngeren  P'reunde,  dem  Lucilius,  zuwendet.  An  diesen 
sind  gerichtet  die  Abhandlung  ,,de  Providentia",  die  sieben  Bücher 
der  ,,quaestiones  naturales"  und  vor  Allem  die  ,,epistolae 
morales".       Die     letztgenannte    Briefsammlung     ist     ein    gross 


93 

angelegter  Versuch,  den  begabten,  aber  über  die  gewöhnlicheiT 
Versuchungen  römischer  Beamter  der  damaHgen  Zeit  nicht 
erhabenen  Freund  für  den  stoischen  Lebensernst  zai  gewinnen 
und  zu  erziehen.  Es  giebt  viele  Spuren,  welche  das  lebhafte 
innere  Interesse  des  Briefstellers  an  der  sittlichen  Förderung 
und  die  Freude  desselben  über  die  Fortschritte  des  Freundes 
bekunden  (Ep.  II  i,  IV  6,  V  i,  XIX  i,  XX  i,  XXX  i, 
XXXIV  I,  XXXV  I,  L  I,  LXXXIl  2).  So  stark  ist  sich 
Seneca  seines  bekehrenden  Verdienstes  um  den  Lucilius 
bewusst,  dass  er  den  Ausdruck  gebraucht:  ,,assero  te  mihi, 
meum  opus  es"  (Ep.  XXXIV"  2),  welche  Worte  unwillkürlich 
an  die  Sprache  des  Paulus  dem  Philemon  gegenüber  erinnern 
(Ad  Phil.  XIX).  Sehr  lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  auch, 
was  Seneca  in  dem  Briefe  an  Lucilius  (XXIX  i  —  8)  von  einem 
gewissen  ihm  näher  stehenden  Marcellinus  erzählt.  Dieser  begabte 
Jüngling  hatte  offenbar  durch  wüstes  Leben  seine  Gesundheit 
zerrüttet  (Ep.  LXXVII  5),  ohne  durch  Schaden  klug  geworden 
zu  sein.  Seneca  bemüht  sieht  nun  ernstlich,  ihn  auf  einen 
besseren  Weg  zu  bringen,  aber  jener  fürchtet  die  Wahrheit  zu 
hören  und  sucht  sich  dadurch  zu  wehren,  dass  er  auf  die 
schlechten  Sitten  und  offenbaren  Aergernisse  der  professionirten 
Philosophen  hinweist,  wie  jetzt  Manche  den  Ernst  der  Christen- 
lehre dadurch  abzuweisen  versuchen,  dass  sie^  sich  auf  die 
Schwächen  und  Sünden  vieler  Geistlichen  berufen.  Dessungeachtet 
giebt  Seneca  ihn  nicht  auf:  ,,propositum  est,  aggredi  illum, 
vitia  ejus,  etiamsi  non  excidero,  inhibebo".  Wir  sehen  aus  den 
bei  diesem  Anlass  ausgesprochenen  Erklärungen,  dass  Seneca 
über  diese  Art  der  Seelsorge  sich  förmliche  Grundsätze  aus- 
gebildet hat.  •  Von  zwei  anderen  Freunden  schreibt  er  Folgendes : 
,,Quod  ad  duos  amicos  nostros  attinet,  diversa  via  eundum 
est,  alterius  vitia  enim  emendanda  sunt,  alterius  frangenda. 
utar  libertate  tota,  non  amo  illum,  nisi  ofifendo"  (Ep.  XXV  i). 
Noch  ein  anderes  derartiges  Beispiel  beschreibt  er  Ep.  CXII. 
Hier  hat  er  zu  thun  mit  einem  alten  Lüstling,  der  sich  gerne 
bekehren  möchte,  aber  der  rechten  Willenskraft  ermangelt. 
Wir  sehen  bei  diesem  ganz  deutlich,  wie  wenig  sich  Seneca 
durch    blosse    Vorsätze    und    Anläufe    zum    Guten    befriedigen 


94 

lässt.  Diese  concreten  Fälle  gewähren  den  überzeugenden 
Eindruck,  dass  die  Schilderung,  welche  Seneca  von  der  leib- 
lichen und  geistigen  Notli  seiner  Zeit  macht,  weder  eine  hoch- 
müthige,  noch  eine  müssige  Betrachtung  ist,  sondern  aus 
einem  wahren  Mitgefühl  geboren  ist.  Seneca  schreibt  von  ,,den 
ausgestreckten  Händen",  von  ,,dem  verlorenen  und  unter- 
gehenden Leben  so  Vieler":  ,,rogant  ut  ex  tanta  illos 
volutatione  extrahas,  ut  disjectis  et  errantibus  darum  veritatis 
lumen  ostendas"  (Ep.  XLVIII  S).  Wie  Paulus  in  Troas  den 
macedonischen  Mann  in  einem  nächtlichen  Gesicht  schaut  und 
von  ihm  den  Ruf  nach  Europa  zu  kommen  und  ,,uns  zu 
helfen"  vernimmt,  so  schaut  auch  Seneca  die  grosse  Seelen- 
noth  seiner  Zeitgenossen,  wie  sie  die  Arme  nach  Hülfe  aus- 
strecken. 

Es  giebt  ein  grösseres  Schriftwerk  Senecas,  welches  durch 
seine  blosse  Existenz  die  Moral,  welche  es  lehrt,  zugleich  auch 
bewährt.  Dies  sind  die  sieben  Bücher  ,,de  beneficiis",  von  denen 
Diderot  bekennt,  dass  er  sie  viermal  und  zwar  unter  Thränen 
gelesen  habe.  Die  von  Erasmus  gerügten  Mängel  der 
Schreibart  sind  hier  so  gross,  wie  kaum  in  irgend  einer  anderen 
Schrift  des  Verfassers,  Lipsius  sagt  ganz  mit  Recht :  ,,libri 
boni,  sed  mehercle  in  ordine  confusi,  quos  vix  est  vel  anni- 
tentem  expedire".  Aber  für  den  Charakter  Senecas  ist  diese 
Schrift  von  grosser  Bedeutung.  Ein  immer  wiederkehrender 
Grundgedanke  dieser  Schrift  ist,  dass  wir  in  Wohlthun  der 
Gottheit  folgen  sollen.  ,,Deos  sequamur  duces,  quantum 
humana  imbecillitas  patitur"  (B.  I  i  9,  cfr.  B.  IV  26  i).  Die 
weit  verbreitete  Klage  der  Wohlthäter  über  Undankbarkeit 
lässt  Seneca  nicht  gelten,  die  falsche  Art  der  Wohlthätigkeit 
ist  nach  seiner  Behauptung  meistens  Schuld  an  der  Undank- 
barkeit. ,,Multos  experimur  ingratos,  plures  facimus"  (B.  I  i  4). 
„Facimus  plerumque  ingratos,  et  ut  sint  favemus  (B.  II  17  5). 
Wenn  Einer,  der  erklärt,  das  Schändlichste  sei,  anders  zu 
denken  als  man  schreibt  (Ep.  XXIV  19),  solche  Grundsätze 
veröffentlicht,  der  muss  entschlossen  sein,  mit  seinem  Reichthum 
diese  Grundsätze  wahr  zu  machen  und  auszuüben.  Zumal 
eilt  das  von  Seneca>  dem  der  Ankläger  Suilius  sein  fürstliches 


95 

Vermögen  öffentlich  zum  Vorwurf  macht.  Die  Bücher  über 
die  Wohlthätigkeit  sind  eine  noch  viel  kräftigere  Widerlegung 
der  Beschuldigung  des  SuiUus,  als  die  Abhandlung  ,,de  vita 
beata",  auf  die  man  sich  zur  Vertheidigung  Senecas  meistens 
beruft.  Die  sieben  Bücher  bilden  ein  starkes  argumentum  ad 
hominem  gegen  jenen  Ankläger.  Bestärkt  wird  dieses 
argumentum  noch  durch  das  Zeugniss  des  Juvenal  (V^  109) 
und  Martial  (XII  36  8),  welche  die  Freigebigkeit  Senecas 
als  eine  bekannte  Thatsache  exemplificiren. 

Ein  weiterer  Beweis,  dass  das  Ideal  der  Weisheit  und 
Tugend,  welches  Seneca  so  herrlich  zu  schildern  versteht, 
nicht  bloss  von  dem  V^erstand  und  der  Phantasie  desselben 
getragen  wird,  liegt  in  dem  offenen  Geständniss  eigner  Unvoll- 
kommenheit.  Es  ist  schon  früher  bemerkt,  dass  Seneca  in  den 
Schilderungen  der  Zeitsünden  die  communicative  Redeweise 
gebraucht,  mithin  sich  selber  mit  einschliesst.  Eine  noch 
grössere  Strenge  beweist  er  dadurch,  dass  er  sich  nicht  scheut, 
ausdrücklich  eigene  moralische  Mängel  zu  berichten.  Die  hohe 
Würde,  welche  die  stoische  Lehre  dem  Menschen  zuschreibt, 
verleitet  ihn  nicht,  die  Nichtigkeit  des  Menschen  zu  übersehen. 
,,Wie  sehr  wir  nichts  sind,  zeigt  jeder  Tag,  jede  Stunde." 
,,Omnis  dies,  omnis  hora  quam  nihil  simus  ostendit"  (Ep.  CI  i). 
Wiederholt  erklärt  er,  dass  er  die  Stufe  des  vollendeten  Weisen 
nicht  erstiegen  habe,  ja,  dieselbe  auch  nicht  erreichen  werde. 
,,Non  sum  sapiens,  nee  ero,  multum  ab  homine  tolerabili  nedum 
a  perfecto  absum"  (Ad  Helv.  V  2,  De  vita  beata  XVII  3, 
Ep.  LH  3,  LVII  3,  LXXI  31,  LXXV  16).  Mehr  Gewicht 
haben  noch  diejenigen  Geständnisse,  welche  einzelne  Schwach- 
heiten, die  zumal  in  den  Augen  eines  Stoikers  beschämend 
sind,  an  das  Licht  der  Oeffentlichkeit  stellen.  Er  gesteht,  nicht 
diejenige  Festigkeit  des  Geistes  zu  besitzen,  welche  sich  mitten 
in  dem  Getümmel  der  allgemeinen  Verderbniss  unversehrt  zu 
behaupten  weiss;  insonderheit  bemerkt  er,  dass  ihm  der  zu- 
fällige Anblick  eines  blutigen  Gladiatorenspiels  zur  Grausamkeit 
gestimmt  habe  (Ep.  VII  i  -  6).  Damit  man  übrigens  dies 
Geständniss  nicht  gänzlich  unter  aller  Würde  unseres  Philosophen 
finde,    lese   man    die    ungemein   lehrreiche  Geschichte  von  dem 


96 

Freunde  des  Augustinus,  Alpius  (August.  Confess.  VI  7  8). 
Seneca  bedarf,  wie  er  weiter  bemerkt,  keines  Narren,  um  zu 
lachen,  er  findet  an  sich  selber  genug  Belachenswerthes- 
(Ep,  I  2).  Wider  seine  eigenen  Grundsätze  hat  er  den  Tod 
eines  Freundes  so  masslos  beweint,  dass  er  fürchtet,  zu  denen 
gezählt  zu  werden,  die  sich  vom  Schmerz  haben  besiegen  lassen 
(Ep.  LXIII  14).  Am  beschämendsten  ist  für  ihn  die  Wahr- 
nehmung, dass  er  einmal  ob  seines  schlechten  Fuhrwerkes,  ais- 
er den  stolzen  Karossen  der  Vornehmen  begegnet,  schamrcth 
geworden.  Für  diese  Schwachheit  hat  er  sich  die  Strafe  auf- 
erlegt, dass  er  auf  diesen  seinen  eigenen  Fall  öffentlich  den  Satz 
anwendet:  ,,qui  sordido  vehiculo-  erubescit,  pretioso  gloriatur" 
(Ep.  LXXXV^II  4).  Er  verwahrt  sich  ausdrücklich  dagegen, 
dass  man  ihn  nicht  deswegen,  weil  er  moralische  Heilmittel 
anbiete,  für  vollkommen  sittlich  gesund  halten  solle  (Ep.  XXVII  i, 
LXVIII  9).  Er  stellt  in  dieser  Beziehung  den  Grundsatz  auf: 
,,quidquid  dicturus  es  ante  quam  aliis  dicito  tibi"  (De  moribus 
105,  III  466,  Haase).  Er  behauptet,  bei  seinen  Züchtigungen 
der  Laster  vor  Allem  sich  selbst  im  Auge  zu  haben  (De  vita 
beata  X\TII  i,  Ep.  LXVIII  9).  Und  während  er  in  einer 
früheren  Schrift  klagt  über  die  Menge  und  Tiefe  der  Fehler, 
in  denen  er  stecke  (De  v.  b.  XVIII  i,  XXIV  4),  kann  er  in 
seinem  Alter  nichts  Höheres  von  sich  rühmen,  als  dass  die 
Laster  mit  den  schwindenden  Kräften  abnehmen  (Ep.  XXVI  2, 
XXVII  2,  LXVIII  13).  Jedoch  unterlässt  er  nicht,  seinem 
Freunde  Lucilius  eine  ihm  erfreuliche  Beobachtung,  die  er 
in  seinem  Alter  mit  sich  selber  angestellt,  mitzutheilen. 
An  der  Seeküste  von  Campanien  stand  er  unter  dem 
Volkshaufen,  um  die  Ankunft  der  alexandrinischen  Schiffe 
abzuwarten.  Bei  diesem  Anlass  hat  Seneca  sich  geprüft,  ob 
er  wohl  von  Unruhe  nach  Briefen  von  seinen  afrikanischen 
Besitzungen  geplagt  würde.  Zu  seiner  Freude  hat  er  gefunden,, 
dass  er  von  solcher  leidenschaftlichen  Unruhe  frei  geblieben 
(Ep.  LXXII  3). 

Aus  diesem  Allen  überzeugen  wir  uns,  dass  in  Seneca  ein 
sittlicher  Kern  lebt,  der  sich  in  der  allgemeinen  Corruption 
erhält  und  behauptet.    So  weit  aber  ein  sitdicher  Kern  in  einem 


97 

Menschen  wohnt,  so  weit  reicht  auch  das  Bewusstsein  von  der 
Unzerstörbarkeit  dieses  Kernes. 

Es  ist  eine  einfache  Folge  dessen,  was  sich  uns  über 
Senecas  sitthches  Leben  und  Streben  ergeben  hat,  dass  wir  bei 
ihm  eine  ganze  Reihe  von  Aussprüchen  finden,  welche  nicht 
nur  die  Fortdauer  der  menschlichen  Persönlichkeit  behaupten, 
sondern  sich  auch  auf  die  Beschreibung  dieser  Fortdauer  ein- 
lassen. Der  menschliche  Geist  ist  ,,sacer  et  aeternus"  (Ad 
Helv.  XII  7,  Ad  Marciam  XXIV  5).  „Aeternitatis  suae  memor" 
(Ad  Helv.  XX  2).  ,,Anima  perpetua"  (Ep.  XC  28).  Ja,  der 
Tod  ist  eine  neue  Geburt  und  der  Sterbetag  der  Geburtstag 
der  Ewigkeit.  ,,Dies  iste  aeterni  natalis"  (Ep.  CII  26).  Ein 
Ausdruck,  der  an  den  Sprachgebrauch  der  ersten  Christen 
erinnert.  Da  der  menschliche  Geist  als  ein  Ausfluss  des  gött- 
lichen Geistes  gedacht  wird  (De  otio  V  5),  so  wird  der 
Zustand  nach  dem  Tode  als  die  Rückkehr  in  die  obere 
und  göttliche  Weltsphäre  vorgestellt  (Ad  Polyb.  IX  3,  Ep. 
XXXVI  10  11).  Beschrieben  wird  dieser  Zustand  als  ein 
Gegensatz  zu  der  irdischen  Finsterniss,  Knechtschaft,  Pilgrim- 
schaft,  als  ein  Leben  in  dem  reinen  Licht  und  als  die 
vollendete  Freiheit  (Ad  Marc.  XXIV  5,  Ep.  CII  28).  Hier 
erfolgt  auch  die  Wiedervereinigung  mit  den  Vorangegangenen, 
eine  heilige  Gemeinde  nimmt  die  Heimgegangenen  auf 
,,Excipit  illum  coetus  sacer"  (Ad  Marc.  XXV  i).  Und 
gleichwie  im  Neuen  Testament  das  ewige  und  himmlische 
Leben  nicht  in  das  absolute  Jenseits  verlegt  wird,  sondern 
schon  in  dem  Diesseits  seinen  Anfang  hat,  so  dringt  auch 
Seneca  darauf,  dass  der  Wandel  nach  dem  Himmel,  nach 
•den  Sternen,  dass  die  Erleuchtung  mit  dem  himmlischen 
Licht  schon  hier  beginnen  müsse,  abhängig  aber  sei  dieses 
Hineinleuchten  der  Ewigkeit  in  die  Zeitlichkeit  von  dem  Ab- 
legen der  Fehler  (Ep.  CII  28,  XCIII  5  10,  LXXII  12  15, 
LXXIX   12   13). 

Allerdings  fehlt  viel  daran,  dass  diese  Höhe  von  Seneca 
immer  innegehalten  worden  ist,  aber  das  dürfen  wir  wohl  an- 
nehmen, dass  es  die  Kraft  eben  dieser  Anschauungen  gewesen 
ist,   welche   den   letzten  schweren  Stunden   dieses   Mannes  eine 


98 

so  bewundernswerthe  Ruhe  und  Erhabenheit  verheben  hat.  Wir 
werden  namenthch  sein  letztes  Wort  in  dem  Lichte  jener 
Anschauungen  zu  verstehen  haben.  ,Jovi  hberatori"  spendet 
er  das  Nass,  dessen  Wärme  und  Dampf  ihn  von  seinen  letzten 
Qualen  befreien  soll.  Wie  die  Griechen  das  Höchste  und 
Reinste  des  Gottesgedankens,  dessen  ihre  Seele  fähig  war,  auf 
Zeus  zu  übertragen  pflegten,  so  machten  es  die  Römer  mit  dem 
Namen  Jupiters.  ,Jovem  Varro  credit  etiam  ab  his  coli,  qui 
unum  Deum  solum  sine  simulacro  colunt,  sed  alio  nomine 
nuncupari"  (Augustinus  C.  D.  1\^  9).  Aehnlich  auch  Seneca: 
,,Ne  hoc  quidem  crediderunt  (Etrusci),  Jovem,  qualem  in  capitoho 
et  in  ceteris  aedibus  colimus  mittere  manu  fulmina,  sed  eumdem, 
quem  nos,  Jovem  intelligunt,  rectorem  custodemque  universi, 
animum  et  spiritum  mundi,  operis  hujus  dominum  et  artificem" 
(O.  N.  I[  45  i).  Das  Höchste  nun,  was  Seneca  von  diesem 
Jupiter  in  Gemässheit  der  stoischen  Lehre  auszusagen  weiss, 
ist  dieses,  dass  derselbe  den  Weltuntergang,  der  auch  die 
Götter  verschlingen  wird,  überdauert,  ,, seiner  Ruhe  und  seinen 
Gedanken  anheimgegeben".  ,, Jupiter  resoluto  mundo  et  diis  in 
unum  confusis  paulisper  cessante  natura  adquiescit  sibi  cogi- 
tationibusque  suis  traditus"  (Ep.  IX   16). 

Wir  werden  annehmen  dürfen,  dass  es  der  Gedanke  an 
diese  transmundane  Gottheit  gewesen  ist,  an  welcher  sich  die 
letzte  Kraftanstrengung  des  sterbenden  Philosophen  gehalten 
hat.  Wir  werden  demnach  auch  sagen  dürfen,  dass  Seneca 
soweit  Gott  gefunden  hat,  um  in  der  tiefsten  heidnischen 
Finsterniss  als  ein  hohes  Zeichen  dazustehen,  dass  auch  inner- 
halb der  natürlichen  menschlichen  Sündhaftigkeit  und  Sterb- 
lichkeit eine  Kraft  möglich  ist,  welche  selbst  von  den  äussersten 
Schrecken  des  Todes  nicht  überwunden  wird.  Aber  nur  das 
Zeichen  dieser  Möglichkeit  ist  der  tapfere  und  fromme  Tod 
des  Heiden,  von  dem  wir  übrigens  später  in  anderem  Zu- 
sammenhang noch  ausführlicher  zu  reden  haben  werden ;  da- 
gegen diese  vor  dem  Tode  nicht  weichende  Geistesmacht  mit- 
zutheilen  und  zu  verbreiten,  dieselbe  als  Anfang  einer  neuen 
Weltgeschichte  hinzustellen,  das  ist  einem  Anderen,  höher 
Entsprossenen,  vorbehalten. 


99 

Wir  haben  Senecas  Lichtseiten  in  seinen  Götterlehren  und 
in  seinen  Tugend-  und  Weisheitslehren  kennen  gelernt.  Um 
nun  aber  das  ganze  Bild  des  Mannes  zu  gewinnen,  müssen  wir 
vor  Allem  die  Kehrseite,  die  Nachtseiten   desselben  anschauen. 

Was  die  zahlreichen  Berührungen  der  Schriften  Senecas 
mit  den  Urkunden  der  göttlichen  Offenbarung  anlangt,  so  sei 
hier  noch  bemerkt,  dass  der  berühmte  Jurist  Dionysius  Gotho- 
fredus  ,,loci  communes  ex  Seneca  facti"  geschrieben  hat. 
(Anhang  zu  der  Ausgabe:  ,,L.  A.  Senecae  opera,  ed.  Th.  de 
Juges  1628).  Folgende  Kategorien  dieser  Sammlung:  Theologica, 
P^thica,  Juridica,  Politica  bringen  zur  Anschauung,  was  wir 
unter  den  Lichtseiten  Senecas  verstehen.  Schneider  in  seinen 
,, christlichen  Klängen  aus  den  griechischen  und  römischen 
Klassikern"  (2.  Aufl.  Leipzig  1877)  hätte  viel  öfter,  als  es 
geschehen  ist,  den  Seneca  citiren  können  und  sollen.  Denn 
unter  allen  griechischen  und  römischen  Klassikern  giebt  es 
keinen,  dessen  Töne  so  oft  und  so  rein  an  die  heiligen  Offen- 
barungen anklingen.  Auch  Kreyher  hat  nach  Fleury  ein 
Verzeichniss  von  biblischen  Parallelen  in  Senecas  Schriften 
aufgeführt  (S.  75—97). 


III. 

Senecas  Nachtseiten. 

In  jeder  menschlichen  Persönh'chkeit  wird  man  Licht-  und 
vSchattenseiten  bei  einander  finden,  aber  bei  unserm  Stoiker 
hat  dieser  Gegensatz  eine  ganz  ungewöhnHche  Schärfe.  Die 
vielen  Parallelstellen  mit  den  biblischen  Biichern  beweisen  ein 
ausserordentliches  Licht  geistlicher  Erkenntniss  in  einem  Heiden. 
Aber  auch  ganz  dem  entsprechend  ist  die  Finsterniss,  welche 
die  Kehrseite  dieser  Persönlichkeit  aufweist.  Diesem  er- 
leuchteten Manne  erscheint  die  Welt  als  eine  Finsterniss, 
welche  ihn  selbst  verschlingt;  und  so  grosse  und  schwere 
Finsternisse  umringen  und  verwirren  ihn,  dass  die  Lichtseiten 
von  diesen  Finsternissen  völlig  verdeckt  und  vernichtet  werden. 
In  der  Abhandlung  über  die  Ruhe  der  Seele  beschreibt  Seneca 
seine  Weltanschauung  folgendermassen :  ,,Es  nützt  nichts,  die 
Ursachen  der  persönlichen  Traurigkeit  zu  entfernen.  Denn 
es  geschieht,  dass  überhand  nimmt  der  Hass  gegen  das 
Menschengeschlecht,  und  wir  stossen  auf  einen  solchen  Haufen 
von  gelungenen  Verbrechen,  wenn  man  bedenkt,  wie  selten 
Einfalt  ist,  wie  unbekannt  Unschuld,  wie  Treue  fast  nur  da 
vorhanden  ist,  wo  sie  Vortheil  bringt.  —  Der  Geist  versinkt  in 
Nacht,  und  nachdem  die  Tugenden,  auf  die  man  nicht  hoffen 
darf  und  deren  Besitz  nichts  nützt,  umgestürzt  sind,  treten 
nächtliche  P^insternisse  ein"  (De  tranq.  XV). 

Wir  wollen  beginnen  mit  der  Darlegung  derjenigen 
Stellung,  die  Seneca  sich  selber  zu  der  biblischen  Wahrheit 
anweist.  Nach  den  von  uns  aufgewiesenen  Lichtstrahlen  seiner 
Gotteskenntniss  sollte  man  denken,  dass  es  ihm  gelingen  müsse, 


101 

das  Wesen  der  Christen  und  der  Juden  zu  verstehen.  Es  ist 
nicht  der  Fall.  Ueber  die  Christen  lehnt  er  von  vorneherein 
ab,  ein  Urtheil  zu  fällen.  An  den  Juden  rühmt  er  dies  und 
jenes,  schliesslich  nennt  er  sie  aber  ,,sceleratissima  gens" 
(Seneca  III  427,  ed.  Haase),  im  Einklang  mit  Apion  und 
anderen  leidenschaftlichen  Judenfeinden. 

Betrachten  wir  Seneca  auf  seinem  Posten,  wie  er  sich 
selber  mit  eigner  Handschrift  uns  darstellt.  Die  knechtische 
Gesinnung  der  römischen  Aristokraten  und  Magistraten,  welche 
zuerst  unter  Tiberius  in  solchem  Wetteifer  zum  Vorschein 
kommt,  dass  sie  selbst  dem  Despoten  verächtlich  wurde 
(Tacit.  Ann.  III  65),  äusserte  sich  vornämlich  in  der  steigenden 
Schmeichelei  vor  der  cäsarischen  Person  und  Gewalt.  Tacitus 
bemerkt,  dass  der  Senat,  wenn  er  eine  passende  Gelegenheit 
hatte,  förmlich  studirte,  um  die  Schmeicheleien  recht  aus- 
gesucht zu  machen  (adulatio  quaesitior),  und  nachdem  er  über 
eine  Senatssitzung  von  so  servilem  Charakter  berichtet  hat, 
unterlässt  Tacitus  nicht,  noch  zwei  Vorschläge  hinzuzufügen, 
welche  die  allgemeine  Niederträchtigkeit  noch  überboten,  von 
denen  der  eine  einen  alten  Mann  zum  Urheber  hatte,  der  selbst 
in  solcher  Umgebung  durch  ein  Unmass  von  Schamlosigkeit 
sich  lächerlich  machen  wollte  (Ann.  III  57).  Ein  anderes  Mal 
braucht  Tacitus  die  Wendung,  dass  alle  Arten  von.Schmeicheleien 
erschöpft  seien,  nur  die  eine  sei  noch  übrig  geblieben,  dass 
man  zu  schmeicheln  wagt,  wohl  wissend,  dass  man  mit  seinem 
Schmeicheln  selbst  bei  dem  Angeredeten  Anstoss  erregt  (ea 
sola  species  adulandi  supererat.  Ann.  I  8).  Auch  Plutarch 
berichtet  in  seiner  Abhandlung  über  den  Unterschied  des 
Schmeichlers  und  des  Freundes  eine  solche  Schmeichelei  unter 
Tiberius  (II  60).  Noch  weiter  hat  die  Steigerung  dieses 
Lasters  Seneca  selbst  verfolgt. 

In  der  Vorrede  zum  4.  Buch  der  ,, Naturales  quaestiones" 
warnt  Seneca  seinen  Freund  Lucilius,  der  damals  als  Prokurator 
Sicilien  verwaltete,  sich  nicht  durch  Schmeichelei  verführen  zu 
lassen.  Diese  Warnung  wird  auch  so  ausgesprochen,  Lucilius 
solle  das,  was  doch  nur  bescheidentlich  eine  Prokuratur  sei, 
nicht  zu    einem  Imperium    machen,    er   solle    als  Prokurator  in 


1C2 

Sicilien  nicht  verfahren  wie  der  Imperator  in  Rom.  In  Rom 
hat  sich  die  Schmeichelei,  wie  Seneca  hier  ausführt,  zu  einer 
furchtbaren,  fast  unwiderstehhchen  Macht  ausgebildet.  Es  ist 
nicht  mehr  das  Höchste,  was  Tacitus  und  Plutarch  gerügt 
haben,  dass  Einer  zu  schmeicheln  wagt  zum  eigenen  Schaden, 
darüber  sind  wir  hinaus.  Jetzt  heisst  es:  ,,wer  siegen  und 
erobern,  wer  Etwas  erreichen  will,  der  gehe  nur  dreist  und 
frech  mit  Schmeichelreden  vor,  er  erreicht  seinen  Zweck,  wie 
die  Buhlerin,  die  nicht  bloss  reizt,  sondern  auch  Gewalt 
braucht.  Dreistigkeit  ist  nicht  mehr  Einfalt,  sondern  Kraft." 
,,So  w^eit  sind  wir  schon  in  dem  Wahnsinn  fortgeschritten,  dass 
wer  nur  massig  hohnlächelt,  bereits  als  ein  römischer  Feind 
betrachtet  wird."  Darum  will  Seneca  seinen  Freund  dieser 
agressiven  Verführung  gegenüber  zu  einem  vir  inexpugnabilis 
adversus  insidias  machen.  Zu  dem  Ende  stellt  er  ihm  seinen 
Bruder  zum  Beispiel  auf.  Dieser  Bruder  Novatus,  mit  seinem 
späteren  Adoptivnamen  Gallio  genannt,  ist  der  Actor.  XVIII 
12 — 1/  rühmlich  erwähnte  Proconsul  von  Achaia.  Von  diesem 
Bruder  versichert  nun  Seneca  in  der  angeführten  Praefatio, 
dass  demselben  andere  Laster  fremd  seien,  dieses  aber,  das 
Laster  der  Schmeichelei  hasse  er  vor  allem.  Und  nun  schildert 
er  durch  Vorführung  verschiedener  Fälle,  wie  dieser  Gallio 
jeden  von  fern  drohenden  Versuch  von  Schmeichelei  mit  der 
grössten  Rücksichtslosigkeit  zurückweise.  —  Wir  ersehen  also, 
dass  Seneca  die  Moral  des  Tacitus  und  des  Plutarch  in  An- 
sehung der  in  Rom  grassirenden  Schmeichelei  sich  vollständig 
angeeignet  hat.  Wir  werden  darin  noch  weiter  bestärkt  durch 
die  Schrift  de  beneficiis.  In  diesem  Buche  über  die  Wohl- 
thätigkeit  bespricht  Seneca  die  Materie  dieses  Lasters  der 
wachsenden  Schmeichelei  gegen  die  Mächtigen  von  einer 
anderen  Seite  (VI  29—33).  E^  hatte  gesucht,  die  Mächtigen 
zu  waffnen  wider  die  Versuchung  der  Schmeichelei ;  jetzt  lehrt 
er,  welche  Wohlthat  diejenigen,  welche  das  Ohr  der  Mächtigen 
haben,  ihren  Gönnern  erweisen  können,  indem  sie  statt  der 
beliebten  Schmeichelreden  ihnen  die  Wahrheit  sagen.  Es  ist 
ein  Irrthum,  lehrt  Seneca,  zu  wähnen,  dass  man  den  Höchst- 
gestellten   keine    Wohlthat    mehr    erweisen    könne.      ,,So   hoch 


103 

hat  das  Geschick  Niemand  gestellt,  dass  ihm  nicht  in  dem- 
selben Masse  ein  Freund  fehlt,  als  ihm  sonst  Nichts  abgeht." 
,,Ich  will  Dir  zeigen,  woran  die  Hohen  der  Welt  Mangel 
leiden,  was  denen  fehlt,  die  Alles  besitzen.  Nämlich  ein 
Solcher  fehlt  ihnen,  der  die  Wahrheit  sagt,  und  der  denjenigen, 
der  die  Lügen  anstaunt  und  durch  die  Gewohnheit,  anstatt  der 
Wahrheit  Schmeichelei  zu  hören,  der  Kunde  der  Wahrheit 
verlustig  gegangen  ist,  aus  dem  Zauberbann  der  Lügen  wieder 
zu  sich  bringt."  ,, Siehst  Du  nicht,  wie  die  erloschene  Freiheit 
tmd  die  in  knechtische  Unterwürfigkeit  verwandelte  Treue  jene 
Männer  ins  Verderben  stürzt,  indem  Niemand  nach  seines 
Herzens  Meinung  für  oder  wider  redet,  sondern  es  gilt  einen 
Wettlauf  der  Schmeicheleien,  und  alle  Freunde  haben  ein 
Geschäft  und  ein  Bestreben,  nämlich  wer  am  lieblichsten 
betrügen  könne."  Wir  erinnern  uns  hier  der  Schilderung  der 
Monarchie  und  ihrer  die  Wahrheit  zerstörenden  Folgen  in  dem 
Rath  des  Agrippa  an  Augustus. 

Denn  unter  den  Grossen  und  Mächtigen,  welche  dahin 
kommen,  dass  sie  die  Wahrheit  nicht  mehr  hören  können,  die 
Seneca  hier  im  Sinne  hat,  sind  vor  Allen  die  Monarchen  zu 
verstehen,  w^as  aus  den  angeführten  Beispielen  des  Xerxes  und 
Augustus  erhellt.  Der  letztere  Name  führt  uns  an  der  Hand 
Senecas  noch  weiter.  Augustus  hat  sich  in  der  späteren  Zeit 
seiner  Regierung  selber  beklagt,  dass  ihm  Agrippa  und 
Maecenas  nicht  mehr  zur  Seite  stehen,  um  von  ihnen  die 
Wahrheit  zu  vernehmen ;  worauf  Seneca  bemerkt,  dass  Augustus 
sich  auch  in  Bezug  auf  die  beiden  Genannten  getäuscht  habe, 
weil  dieselben,  auch  wenn  sie  noch  gelebt  hätten,  ebenso  wae 
■die  Anderen  die  unangenehme  Wahrheit  verhehlt  haben  würden. 
Seneca  setzt  also  voraus,  dass  mit  dem  Anfang  der  Monarchie 
luiter  Augustus  die  Wahrheit  am  cäsarischen  Hofe  Noth  zu 
leiden  begonnen  hat,  in  welcher  Voraussetzung  er  mit  Tacitus, 
Cassius  Dio  und  Marcus  Seneca,  dem  Vater,  übereinstimmt. 

Dennoch  hat  Seneca  nicht  bloss  Kunde  von  dem  Laster 
der  Schmeichelei  gegen  die  Hohen,  sondern  er  bestrebt  sich 
auch,  durch  ernste  Lehre  und  Ermahnung  an  seinem  Theil 
•dieses  Unheil    zu    bekämpfen.     Da    nun    Seneca    20  Jahre    am 


104 

cäsarischen  Hofe  in  hohen  Stellungen  gelebt  hat,  ist  es  nicht,. 
als  ob  er  in  diesen  vortrefflichen  Lehren  sein  eigenes 
Programm  für  sein  Verhalten  am  Hofe  veröffentlicht  hat  ?  Um 
so  gewichtiger  muss  uns  diese  Belehrung  und  Mahnung  über 
die  Pflicht  der  Wahrhaftigkeit  vor  den  Höhen  der  Welt  in 
dem  Munde  Senecas  erscheinen,  da  er  den  Grundsatz,  dass 
Wort  und  Werk  zusammenstimmen  müssen,  vornämlich  wenn 
das  Wort  ein  geschriebenes  ist,  mit  nachdrücklicher  Strenge 
vertritt  (E.  XX  2,  XXIV  15,  De  vita  b.  XXIV  4,  E.  LXXV  4, 
E.  XII  3,  XXIV   19,  III  467  Haase). 

Nun  liegen  uns  drei  Schriften  Senecas  vor,  welche  durch  ihren 
Inhalt  das  thatsächliche  Verhalten  dieses  Philosophen  in  Betreff 
der  oben  dargelegten  Lehren  über  die  Wahrheit  vor  den 
Mächtigen  offenkundig  und  unzweideutig  darlegen,  und  wir 
müssen  gleich  hinzufügen,  im  grellsten  Widerspruch  gegen 
seine  eigenen  Mahnungen. 

Es  gilt  von  folgenden  drei  Schriften  Senecas:  I.  Consulatio 
ad  Polybium,  IL  Ludus  de  morte  Claudii  Caesaris,  III.  De 
dementia  ad  Neronem,  was  Seneca  ,,de  moribus"  mit  grossem 
Nachdruck,  wie  wir  auch  sonst,  hier  aber  vor  Allem  betonen 
müssen,  verkündigt:  ,,quotiens  scribes  aliquid,  quod  editurus  es 
scito  morum  tuorum  te  hominibus  chirographum  dare"  (III  467 
Haase).  In  den  genannten  drei  Schriften  besitzen  wir  also 
nach  Senecas  selbsteigener  Erklärung  die  authentische  Hand- 
schrift Senecas  über  sein  Verhalten  gegen  hohe  und  höchste 
Mächte. 

In  der  Trostschrift  ad  Polybium,  deren  Anfang  verloren 
gegangen,  müssen  wir  unterscheiden  die  vorgegebene  und  die 
wirkliche  Absicht.  Als  Seneca  in  der  Verbannung  auf  Corsica 
lebte,  verlor  Polybius,  ein  Freigelassener,  der  als  Literat  am 
Hofe  des  Claudius  eine  angesehene  Stellung  hatte,  einen  seiner 
Brüder  durch  den  Tod  und  war  über  diesen  Verlust  untröstlich. 
Diesen  Anlass  ergreift  Seneca,  an  den  genannten  Hofbeamten 
ein  Trostschreiben  zu  richten.  P2r  bemerkt,  dass  er  selber  sich 
in  einer  sehr  traurigen  Lage  befinde,  nicht  um  anzudeuten, 
dass  er  um  so  besser  den  Traurigen  verstehe  und  ihn  zu 
trösten  fähig  sei,    sondern    um    anzudeuten,    dass    es    ihm    um 


105 

desto  schwerer  falle  und  es  darum  um  so  verdienstlicher  sei;, 
dass  er,  dessen  Thränenquelle  erschöpft  (II  i)  und  dessen  Geist 
in  einer  langwierigen  Oede  stumpf  geworden  (XIII  9),  sich 
trotzdem  aufgemacht  habe,  den  trauernden  Herrn  zu  trösten. 
Da  nun  aber  in  der  ganzen  Schrift  Nichts  von  wahrhaft  tröst- 
lichem Gehalt  zum  Vorschein  kommt,  sondern  lediglich  die 
herzlosen  Reflexionen  des  stoischen  Pessimismus,  wie  wenn 
,,omnis  vita  supplicium  est"  als  eine  tiefsinnige  Weisheit  an- 
gepriesen wird  (IX  6),  als  Tröstungen  angeboten  werden,  ohne 
dass  in  der  ganzen  Schrift  eine  persönliche  Beziehung  und 
Theilnahme  zwischen  dem  Schreibenden  und  dem  Empfänger 
zu  erkennen  ist,  so  ist  der  Gedanke  nicht  abzuweisen,  dass  die 
angegebene  Absicht  dieses  Schreibens  nur  als  Verschleierung 
der  wahren  Absicht  gelten  kann.  Die  Kunst,  welche  Seneca- 
in  der  Rhetorenschule  gelernt  hat,  wird  hier  aufgeboten,  um 
einen  an  sich  löblichen  Zweck  auf  eine  wenig  löbliche  Weise 
zu  erwirken.  Von  Anfang  bis  zu  Ende  drängt  sich  in  dieser 
Schrift  Name,  Person  und  Macht  des  Kaisers  so  künstlich,  ja 
so  gewaltsam  in  den  Vordergrund,  dass  es. hier  vor  Allem  auf 
die  Gewinnung  des  Kaisers  fijr  einen  bestimmten  Zweck  ab- 
gesehen sein  muss.  Das  Wahrste,  was  in  der  ganzen  Schrift 
vorkommt,  ist  das,  was  Seneca  über  seine  Lage  und  seine 
Hoffnung  ausspricht  (XIII  2—4).  Bekanntlich  sind  wir  über 
die  Ursache  der  Verbannung  Senecas  nach  Corsica  nicht 
aufgeklärt,  er  selbst  giebt  uns  hier  auch  keine  Klarheit,  er 
klagt  sich  nicht  an,  aber  rechtfertigt  sich  auch  nicht,  er  sieht 
in  seiner  Verbannung  eine  Schonung  des  Kaisers,  man  weiss 
aber  nicht,  ob  wegen  eines  wirklichen  oder  nur  wegen  eines 
angedichteten  Verbrechens.  In  dieser  Schonung  aber  begrüsst 
Seneca  die  Hoffnung  auf  Befreiung,  wobei  es  ihm  gleich  sein 
soll,  ob  der  Kaiser  ihn  als  unschuldig  erkennt,  oder  ihm  seine 
Schuld  verzeiht.  Diese  Gleichgültigkeit  könnte  man  leicht  als 
Eingeständniss  seiner  Schuld  auffassen.  In  normalen  Verhält- 
nissen wäre  dieser  Schluss  auch  richtig,  aber  unter  Kaiser 
Claudius,  unter  dem  Senatoren,  Ritter  und  Andere  wie  eine 
Heerde  auf  die  Schlachtbank  geführt  wurden  (Sueton 
Claud.  XXXIV,  Ludus  de  morte  Claudii  XIV  i),   kann  Mangel 


lOf) 

an  Vertrauen  zur  Justiz  nicht  als  Beweis  des  Schuldbewusstseins 
gelten.  Nach  diesem  sehr  persönhchen  Geständniss  leuchtet 
ein,  dass  es  dem  Verfasser  vor  allen  Dingen  darum  zu  thun 
sein  muss,  den  Kaiser  für  die  günstige  Wendung  seines  Schick- 
sals zu  gewinnen.  Und  selbst  ein  flüchtiger  Ueberblick  über- 
zeugt uns,  dass  das  vorliegende  Schreiben  eben  dieser  Haupt- 
absicht gewidmet  ist.  Direkt  an  den  Kaiser  sich  zu  wenden, 
das  wagt  der  Verfasser  nicht,  auch  vermeidet  er,  seinen 
Wunsch  ohne  Umschweif  auszusprechen.  Er  wendet  sich  an 
einen  Hofbeamten  aus  der  einflussreichen  Klasse  der  Frei- 
gelassenen, und  zwar  wählt  er  denjenigen,  den  Sueton 
bezeichnet  ,,a  studiis"  (Claud.  XXVIII),  zu  dem  Seneca  also 
durch  gemeinsames  literarisches  Interesse  eine  Beziehung  hatte. 
Zunächst  kommt  es  nun  darauf  an,  diesen  Adressaten  günstig 
zu  stimmen,  was  dadurch  erstrebt  wird,  dass  dem  Polybius  und 
seinen  Brüdern  reichlich  Lob  gespendet  wird  (II,  III).  Ob 
nun  Polybius  in  der  übelberüchtigten  Klasse  der  kaiserlichen 
Libertinen  eine  rühmliche  Ausnahme  machte,  oder  ob  derselbe 
sittlich  nicht  höher  stand,  wie  die  übrigen  Libertinen,  und  also 
die  ihm  hier  gespendeten  Lobreden  offenbare  Schmeicheleien 
sind,  wie  Cassius  Dio  meint,  das  muss  dahin  gestellt  bleiben. 
Jedenfalls  macht  Seneca  eine  interessante  Thatsache  namhaft, 
welche  dem  Polybius  als  ein  Verdienst  muss  angerechnet 
werden.  An  drei  Stellen  jener  Trostschrift  theilt  Seneca  mit, 
dass  Polybius  den  Homer  ins  Lateinische  und  den  Vergil  ins 
Griechische  übersetzt  und  damit  also  einen  Grund  zur  Welt- 
literatur gelegt  hat  (IV  6,  VIII  2,  XI  5). 

Ob  nun  Seneca  den  Polybius  lobt,  oder  tröstet,  oder 
belehrt,  oder  ermahnt,  in  Allem,  was  er  an  ihn  richtet,  ist  das 
letzte  Absehen  die  masslose  Verherrlichung  des  Kaisers.  Es 
ist  bekannt,  dass  der  von  Livius  gebildete  Kaiser  Claudius  eine 
Liebhaberei  für  historische  Gelehrsamkeit  hatte.  Was  thut  nun 
Seneca?  Er  führt  den  Kaiser  redend  ein,  wie  er  durch 
historische  Beispiele  den  Polybius  zu  trösten  sucht.  Das  ist 
nicht,  meint  Seneca,  eine  gewöhnliche  Belehrung,  das  ist,  weil 
aus  dem  Munde  des  Kaisers  kommend,  eine  aus  dem  Orakel 
gesandte    Stimme   (verba    ab    oraculo    missa    XIV    2,    XVI   3). 


107 

Unter  Caligula,  so  lässt  sich  Seneca  hier  vernehmen,  war  das 
menschHche  Geschlecht  im  Zustand  der  Erschöpftheit  (,,Lassis 
hominum  rebus''  XVI  6)  und  eines  langen  Siechthums 
(XIII  i).  Der  Weltkreis  war  in  Finsterniss  versunken  und  in 
einen  jähen  Abgrund  gestürzt  (XIII  i).  Diesem  Verderben 
und  Untergang  gegenüber  erschien  Claudius  als  heilbringendes 
,, Gestirn",  als  der  Arzt  der  kranken  Menschheit,  als  der  Retter 
in  der  allgemeinen  Hülflosigkeit,  denn  was  die  Schiffer  der- 
einst dem  Augustus  zuriefen :  ,, Durch  dich  leben  wir",  das 
sagen  jetzt  nach  Seneca  alle  Römer:  ,,Wir  leben  durch  den 
Cäsar".  Vor  Allem  wird  an  Claudius  diejenige  löbliche 
Eigenschaft  gerühmt,  welche  diesem  sehr  unbegabten  Kaiser 
am  meisten  mangelte,  nämlich  die  Milde  (mitissimus  VI  5, 
XVI  6,  dementia  XVII  3).  Bekanntlich  lebte  in  dem  dürftig 
beanlagten  Kaiser  ein  starker  Zug  böser  Grausamkeit  (,,Saevum 
€t  sanguinarium  natura  fuisse  magnis  minimisque  apparuit 
rebus"  Suet.  XXXIV). 

Doch  mit  diesem  Allen  haben  wir  den  Gipfel  der  Ueber- 
schwenglichkeit,  mit  welcher  Seneca  hier  den  Kaiser  Claudius  ver- 
herrlicht, noch  nicht  erreicht.  Die  Prädicate  und  Wirkungen, 
welche  in  weiterer  Steigerung  dem  Claudius  zugeschrieben 
werden,  lassen  alles  menschliche  Mass  weit"i  hinter  sich. 
Dass  dieser  Cäsar  nicht  bloss  der  Herrschej*  des  römischen 
Reiches  ist,  sondern  auch  das  Haupt  aller  menschlichen 
Angelegenheiten  (,,illo  rebus  humanis  praeside"  XII  3),  das  ist 
nach  Seneca  aller  Menschen  offenkundiger  Trost  (,, publicum 
omnium  hominum  solatium"  XIV  i).  Er  ist  Eigenthümer  des 
ganzen  Erdkreises  und  widmet  demselben  seine  Kraft  (,,Caesare 
orbem  terrarum  possidente,  Caesar  orbi  terrarum  se  dedicavit" 
VII  2  3).  Dieses  und  Aehnliches  kommt  in  dem  Curialstil  jener 
Zeiten  auch  sonst  vor.  Aber  was  hier  vor  Allem  von  dem 
geheimnissvollen,  von  dem  mystischen  Einfluss  des  Kaisers  auf 
seine  Umgebung  und  namentlich  auf  Polybius  gefabelt  wird,  das 
hat  sonst  seines  Gleichen  nicht,  muss  also  auf  Senecas  Erfindung 
zurückgeführt  werden.  Claudius  wird  nicht  bloss  bei  seinen 
Lebzeiten  das  göttliche  Prädicat  ,,Numen"  beigelegt,  sondern 
es  wird   auch  die  alles  creatürliche  Mass    überbietende  Wirkung 


108 

dieses  Numen  auf  Polybius  ungescheut  und  ohne  Einschränkung 
gepriesen.  Dem  Polybius  wird  nämlich  gesagt:  ,,quamdiu 
numen  tuum"  (also  Caesar  Claudius)  ,,intueberis,  nuUum 
tristitia  ad  te  accessum  inveniet,  omnia  in  te  Caesar  tenebit" 
(VIII  I,  XII  3).  Ja,  selbst  der  Gedanke  an  den  Kaiser  genügt, 
um  diese  übernatürHche  Wirkung  hervorzubringen :  ,,Hic  tibi, 
quem  tu  diebus  intueris  et  noctibus,  a  quo  nunquam  dejicis 
animum,  cogitandus  est"  (XII  4,  cfr.  VII  4).  ,,Cum  voles 
omnium  rerum  oblivisci  cogita  Caesarem"  (VII  i).  Cäsar, 
diese  gegenwärtige  Gottheit,  ist  selbst  gegen  das  Schicksal 
anzurufen  (,,hic  contra  fortunam  advocandus  est"  XII  4). 

So  hat  Seneca  geschrieben  aus  seiner  Verbannung  auf 
Corsica  an  einen  Hofbeamten  in  Rom  und  ohne  Zweifel  mit 
der  Tendenz,  dass  sein  Schreiben  am  cäsarischen  Hofe  bekannt 
werde.  Dass  man  schon  im  Alterthum  an  dieser  Schrift  den 
grössten  Anstoss  genommen,  ist  aus  Cassius  Dio  zu  ersehen. 
Die  Verehrer  Senecas,  z.  B.  Ruhkopf,  sind  zuweilen  auf  den 
Gedanken  gekommen,  diese  Schrift  als  eine  untergeschobene 
anzusehen.  Aber  wenn  selbst  der  begeistertste  Lobredner 
Senecas,  Justus  Lipsius,  diese  Ausrede  der  Verzweiflung  ab- 
weist, dann  bleibt  Nichts  übrig,  wir  müssen  die  Thatsache 
zugestehen,  dass  Seneca  in  seiner  Verbannung  einem  Frei- 
gelassenen und  einem  sehr  unrühmlichen  Kaiser  gegenüber  in 
dieser  Schrift  ein  Denkmal  nicht  bloss  unwürdiger,  sondern 
niederträchtiger  Schmeichelei  aufgerichtet  hat,  und  zwar  dieses 
im  offenbarsten  Widerspruch  gegen  seine  erklärten  Grund- 
sätze über  W^ahrhaftigkeit  den  Grossen  gegenüber. 

In  der  zweiten  hier  in  Betracht  kommenden  Schrift : 
,,Ludus  de  morte  Claudii"  ist  die  ganze  soeben  beschriebene 
Scene  in  das  volle  Gegentheil  verwandelt.  Der  einst  ver- 
götterte Kaiser  ist  durch  einen  Pilz  vergiftet  gestorben.  Seneca, 
längst  aus  seiner  Verbannung  erlöst,  spielt  am  Hofe  des  neuen 
Kaisers  eine  hervorragende  Rolle.  Es  giebt  keine  Schrift 
Senecas,  in  welcher  das  ,,ingenium  amoenum",  welches  Tacitus 
an  diesem  Schriftsteller  rühmt,  so  zum  Vorschein  kommt  wie 
in  dieser  Satire.  Es  ist  ein  übermüthig  sprudelnder  Humor, 
der  sich   in    dieser  Schrift    in    Vers    und    Prosa   ergiesst.      Der 


109 

todte  Kaiser  Claudius  ist  hier  der  satirischen  Feder  voll- 
ständig preisgegeben,  und  je  mehr  Zwang  Seneca  sich  in  der 
Schrift  ad  Polybium  mit  seiner  Vergötterung  des  Claudius 
angethan  hat,  desto  mehr  sucht  er  sich  jetzt  in  beissendem 
Spott  gütlich  zu  thun.  Ueber  seinen  lahmen  Gang,  seinen 
wackelnden  Kopf,  seine  schlechte  Aussprache  ergeht  sich  die 
Satire,  vor  Allem  aber  wird  seine  Grausamkeit,  seine  Mordlust 
Gegenstand  der  strengsten  Verurtheilung.  In  der  Götter- 
versammlung des  Olymps  nimmt  Augustus  das  Wort  und 
erklärt  den  Claudius  wegen  seines  Blutdurstes  für  unfähig  in 
die  Zahl  der  Götter  aufgenommen  zu  werden.  Er  wird  in 
Folge  dessen  dem  Mercur  überantwortet  zur  Ablieferung  in 
den  Tartarus,  wo  er  wegen  seiner  Spielwuth  verurtheilt  wird 
mit  durchlöcherten  Würfeln  zu  spielen.  Die  tödtliche  Feind- 
schaft der  Agrippina  gegen  Claudius  machte  es  möglich,  dass 
dem  Seneca  in  seiner  privaten  Satire  freier  Spielraum  gewährt 
wurde,  sich  an  dem  Andenken  desjenigen  Kaisers  zu  rächen, 
der  ihn  dereinst  in  die  Verbannung  geschickt. 

Wir  haben  also  zwei  Schriften  von  der  Hand  Senecas 
über  denselben  Mann,  aber  aus  zwei  verschiedenen  Zeiten,  die 
eine,  als  dieser  Mann  die  Welt  beherrschte,  die  andere,  als 
dieser  Mann  ein  Opfer  der  jetzt  die  Welt  beherrschenden 
Macht  geworden  war,  die  eine  Schrift  erhebt  diesen  Mann 
über  alle  irdischen  Schranken  hinaus,  die  andere  stösst  den- 
selben Mann,  unter  bitterem  Hohn,  in  den  Abgrund  hinunter. 
Die  eine  Schrift  ist  verfasst,  als  Seneca  in  seiner  trostlosen 
Verbannung  verschmachtete,  die  andere  hat  er  geschrieben, 
als  er  soeben  die  höchste  Stufe  des  Ansehens  und  der  Macht 
in  der  Beamtenschaft  des  Weltreiches  erstiegen  hatte.  Die  Gegen- 
sätze zwischen  dem  Claudius  auf  dem  Thron  und  dem  Claudius 
als  dem  von  Agrippina  vergifteten  Leichnam,  und  zwischen 
dem  Seneca  auf  dem  öden  Felsen  von  Corsica  und  dem  Seneca 
in  unmittelbarer  Nähe  des  cäsarischen  Thrones,  diese  Gegen- 
sätze sind  so  ungeheuer,  dass  sie  nur  in  der  Zeit  der  grössten 
Weltkrisis  möglich  sind.  Diese  Ungeheuerlichkeit  der  Gegen- 
sätze kann  uns  die  Möglichkeit  eines  solchen  Selbstwiderspruchs, 
wie  er  in  den  beiden  Schriften   vorliegt,   ahnen  lassen,    aber  es 


110 

bleibt  dieser  Selbstwiderspruch,  der  ausserdem  das  von  Seneca 
aufgestellte  Gebot  der  Wahrhaftigkeit  im  Verkehr  mit  den 
Hohen  auf  eine  unauslöschliche  Art  Lügen  straft,  eine  finstere 
Nachtseite  in  dem  Charakter  Senecas. 

Es  kommt  dazu,  dass  Seneca  in  derselben  Zeit,  als  er  in 
seiner  satirischen  Privatschrift  seiner  Leidenschaft  gegen  den 
todten  Claudius  die  Zügel  schiessen  lässt,  in  seiner  amtlichen 
Stellung  genöthigt  ist,  die  officielle  Anschauung  eines  gestorbenen 
Cäsars  durch  einen  öffentlichen  Act  zur  Geltung  zu  bringen. 
Nach  Sueton  erfolgte  die  förmliche  Apotheosis  des  Claudius  erst 
durch  Vespasian  (Claudius  XLV)  Aber  dem  Anstand  zu  genügen, 
musste  Nero  Leichenbegängniss,  Lobrede  und  Consecration 
des  Claudius  veranstalten  (Nero  IX).  Die  Lobrede  auf  Claudius, 
welche  Nero  im  Senate  hielt,  war,  wie  die  Standreden  Neros 
überhaupt,  von  Seneca  verfasst  und  muss  daher  von  ihm  auch 
verantwortet  werden.  Nun  erzählt  Tacitus,  dass,  so  lange 
Nero  von  der  Wissenschaft  und  von  der  äusseren  Politik  des 
Claudius  sprach,  er  aufmerksames  Gehör  fand,  als  er  aber  zu 
der  Selbstbeherrschung  und  Weisheit  desselben  überging, 
konnte  Niemand  sich  des  Lachens  enthalten  (Tacit.  Ann.  XIII  3). 
Diese  Rede  von  der  Hand  Senecas,  welche  gleichzeitig  mit 
dem  ,,Ludus"  verfasst  ist,  hält  sich  also  in  der  Bahn  der 
Schrift  ad  Polybium,  beweist  demnach,  dass  Seneca  in  der- 
selben Zeit,  als  er  seine  Satire  auf  Claudius  schrieb,  sich  den 
Zwang  auferlegte,  auf  Claudius  eine  lächerliche  Lobrede  zu 
verfassen.  Wenn  Seneca  bei  Abfassung  seines  ,,Ludus"  sein 
Gewissen  zu  Rathe  gezogen  hätte,  dann  musste  ihm  vor  x^Uem 
leid  sein,  dass  er  einst  in  der  Zuschrift  ad  Polybium  der  Neigung 
zur  Kaiservergötterung,  von  welcher  Neigung  die  römische 
Luft  seit  dem  Tode  Julius  Cäsars  geschwängert  ist,  in  Bezug 
auf  Claudius  in  einer  überaus  masslosen  Weise  nachgegeben. 
Es  ist  klar,  dass  Seneca  zu  einer  solchen  gewissenhaften 
Besinnung,  zu  der  er  sich  selber,  wie  wir  gesehen,  verpflichtet 
hatte,  nicht  gekommen  ist.  Zwar  schreibt  er  gleich  zu  Anfang 
seiner  Satire  ,, nihil  ofifensae  vel  gratiae  dabitur."  Er  weiss 
also  recht  gut,  dass  hier  reichlich  Gelegenheit  gegeben  ist, 
leidenschaftlichem    Hass    oder    Gunst    Raum    zu  geben.     Aber 


111 

anstatt  mit  diesem  Wissen  Ernst  zu  machen,  macht  er  daraus  eine 
Redensart,  und  anstatt  die  Sünde  der  Consolatio  ad  Polybium 
wieder  gut  zu  machen,  verstrickt  er  sich  in  dieselbe  Sünde  in 
einer  anderen  Richtung,  nur  noch  viel  tiefer.  Vergegenwärtigen 
wir  uns  die  Lage. 

Der  alte  Cäsar  ist  gestorben,  ein  neuer  Cäsar,  Nero, 
Senecas  Zögling,  setzt  sich  auf  den  Thron  der  Weltherrschaft. 
Dieser  noch  unreife  Jüngling  soll  sich  in  seiner  beispiellos 
versuchlichen  Stellung  noch  erst  bewähren,  und  Seneca  hat  es 
unübertrefflich  schön  und  ergreifend  dargelegt,  dass  für  dieses 
hohe  Ziel  des  jugendlichen  Weltherrschers  Nichts  so  wichtig 
und  nothwendig  sei,  als  dass  ihm  das  Wort  der  Wahrheit  zur 
Seite  stehen  müsse.  Dass  aber  Niemand  mehr  berufen  sei, 
dieses  kostbarste  und  seltenste  Gut  dem  jungen  Weltherrscher 
mitzutheilen,  als  er  selber,  das  hat  er  mehr  als  einmal  mit 
grosser  Beredsamkeit  öffentlich  bewiesen. 

Trotz  alledem  beginnt  der  ,,Ludus"  damit,  das  neue 
Kaiserthum  in  voreiligster  Weise  als  den  Anfang  einer  höchst 
glücklichen  Aera  (initium  saeculi  felicissimi  (I  i ),  ja,  als  eine 
Kette  von  goldenen  aus  dem  Himmel  gesendeten  Zeitaltern 
,,aurea  descendunt  saecula"  IV  i)  zu  begrüssen.  Nicht  genug, 
mit  dieser  allgemeinen  Ankündigung  spricht  er  unumwunden 
aus,  dass  der  junge  Cäsar  es  ist,  welcher  -der  erschöpften 
Menschheit  die  glücklichen  Zeitalter  verschaffen  wird  (,,felicia 
lassis  saecula  praestabit"),  und  der  die  stumm  gewordenen 
Gesetze  wiederum  wirksam  machen  wird,  ,,legum  silentia 
rumpet"  (IV  24).  ,,Invalidum  legum  auxilium"  (Tacit.  Ann.  I  2). 
Schlimmer  noch  als  dieses  ist  aber,  dass  Seneca,  der  Lehrer,. 
Erzieher,  der  erste  Staatsrath  es  ist,  der  Allen  voraus  dem 
jungen  Cäsar  gegenüber  sofort  den  verführerischen  Ton  der 
Kaiservergötterung  anstimmt.  Er  führt  Phoebus  Apollo  redend 
ein,  und  dieser  verkündigt:  ,,der  junge  Cäsar  ist  mir  ähnlich 
im  Angesicht  und  edlem  Anstand,  er  steht  mir  nicht  nach  in 
Gesang  und  Stimme  ,,nec  cantu  nee  voce  minor"  (Ludus  IV  i)^ 
er  gleicht  dem  Abendstern  und  dem  Morgenstern,  ja,  der 
leuchtenden  Sonne  selber."  Es  ist  bekannt,  dass  der  Kaiser 
Nero    fast    durch  Nichts   das  Gefühl   des    römischen  Volkes   so 


112 

sehr  verletzte,  wie  durch  sein  öffentHches  Auftreten  als  Sänger 
und  Spieler  (Tacit.  Ann.  XIV  14,  XVI  14).  Nero  berief  sich 
für  diese  anstössige  Neuerung  auf  das  Beispiel  Apollos,  der 
durch  seinen  Vorgang  diese  seine  kijnstlerische  Schaustellung 
geheiligt  habe  (Tacit.  XIV  14).  Wenn  nun  unter  den  Vor- 
würfen, welche  dem  Thrasea  Paetus  gemacht  wurden,  hervor- 
gehoben wird,  dass  er  niemals  für  die  himmlische  Stimme 
geopfert  habe  ,,nunquam  pro  caelesti  voce  immolasse"  (Ann. 
XVI  22),  so  ersieht  man,  dass  Neros  Stimme  allgemein  als 
eine  himmlische  gefeiert  wurde,  und  dass  es  Sitte  war,  für  die 
Erhaltung  dieser  Stimme  Opfer  zu  bringen.  Wer  aber  hat  zu 
diesem  Sprachgebrauch  und  zu  dieser  Sitte  den  ersten  Anstoss 
gegeben?  Wir  haben  den  Beweis  in  Händen,  dass  Seneca  in 
seiner  Satire  auf  den  eben  verstorbenen  Cäsar  dem  Apollo  das 
Geständniss  in  den  Mund  legt,  dass  Nero  sein  Abbild  sei  und 
in  Spiel  und  Gesang  sein  Rival  (,,voce  non  minor").  Wir 
können  das  Geständniss  nicht  zurückhalten :  Seneca,  der 
Erzieher  und  Reichsrath,  hat  den  jungen  Kaiser  mit  dem 
Wahn  einer  übermenschlichen  Begabung  vergiftet  und  hat 
nachher  erfahren  müssen,  dass  der  böse  Geist,  den  er  gerufen, 
ihm  selber  zu  mächtig  geworden  ist  (Tacit.  Ann.  XIV   14). 

Die  dritte  der  oben  genannten  Schriften,  die  beiden  Bücher 
,,de  dementia  ad  Neronem  Caesarem"  ist  offenbar  in  einer 
moralischen  Absicht  geschrieben  und  hat  demnach  ganz  die 
Anlage,  den  Fehler  der  beiden  anderen  Schriften  zu  berichtigen. 
Die  Anlage  ist  allerdings  vorhanden,  denn  hier  wird  der  junge 
Cäsar  belehrt  und  ermahnt,  das  cäsarische  Laster,  die  absolute 
Gewalt  durch  Grausamkeit  zu  missbrauchen,  wie  dieses 
namentlich  in  den  beiden  voraufgehenden  Regierungen  geschehen, 
zu  meiden  und  anstatt  dessen  die  Milde  und  Versöhnlichkeit, 
die  dementia  walten  zu  lassen.  Dass  diese  Schrift  einen 
wirklichen  Erfolg  nicht  gehabt  hat,  kann  an  sich  keinen  Tadel 
begründen,  eine  Frage  aber  ist  es,  ob  nicht  Seneca  selbst  an 
diesem  Misserfolge  wenigstens  mitschuldig  ist.  Warum  schreibt 
Seneca  ad  Neronem  Caesarem  nicht  lieber  ,,de  justitia"  statt 
,,de  dementia"?  Die  strenge  Gerechtigkeit  ist  ein  weit 
strafferer  Zügel    für    das  absolutistische  Belieben  als  die  Milde, 


na 

die  doch  immer  leicht  als  Ausfluss  des  gnädigen  Beliebens 
und  insofern  als  eine  Bestärkung  in  der  cäsarischen  Willkür 
empfunden  wird.  Es  scheint,  als  wenn  Seneca  durch  eine 
gewisse  künstliche  Fiction  auf  sein  Thema  geführt  worden  ist. 
Der  Scholiast  zu  Juvenal  (V  109)  bringt  die  an  sich  glaub- 
würdige Anekdote,  dass  Seneca  die  grausame  Natur  seines 
kaiserlichen  Zöglings  sehr  bald  erkannt  und  im  vertrauten 
Kreise  geäussert  habe,  wenn  der  Löwe  erst  Menschenblut 
geschmeckt  habe,  werde  seine  angeborene  Grausamkeit  offenbar 
werden  (Lipsius  ad  Tacit.  Ann,  XII  8).  Abgesehen  von  dieser 
Anekdote,  ist  es  Thatsache,  dass  Britanniens,  der  Sohn  des 
Claudius,  in  der  ersten  Zeit  Neros  ermordet  ist  und  Nero  bei 
diesem  Verbrechen  eine  abscheuliche  Rolle  spielt.*)  Dem 
entgegen  macht  Seneca  in  der  Zuschrift  an  Nero  die  Voraus- 
setzung, dass  Nero  von  Natur  ungewöhnlich  milde  beanlagt  ist. 
Er  führt  dafür  mit  grossem  Nachdruck  als  Beweis  an  das 
Wort  des  jungen  Kaisers:  ,,vellem  nescire  literas"  (II  i  3),  als 
Burrus  ihm  das  erste  Todesurtheil  zur  Unterschrift  präsentirte. 
Ueber  dieses  Wort,  welches  auch  sonst  beglaubigt  ist  (Sueton 
Nero  X),  ruft  Seneca  aus:  ,,0  vocem  publicam  generis  humani 
innocentia  dignam,  cui  redderetur  antiquum  illud  saeculum!'' 
Dieses  Wort  wird  als  Beweis  für  ,,animi  mansuetudo"  verwerthet 
(II 2  1).  Seneca  behauptet  von  Nero  ,,naturalis^  bonitas"  und 
bemerkt  ausdrücklich :  ,,nemo  potest  personam  diu  ferre"  (I  i  6). 
Wir  kommen  demnach  zu  der  Annahme,  dass  die  Päda- 
gogik Senecas  bei  Nero  eine  gute  Naturanlage  voraussetzt, 
während  er  von  dem  Gegentheil  überzeugt  ist,  er  will  also 
dem  bösen  Naturell  dadurch  entgegenwirken,  dass  er  beharrlich 
ihm  das  Gegentheil  als  sein  wahres  Bild  vorhält.  Ganz  ohne 
Wirkung  ist  auch  diese  Pädagogik  nicht  geblieben.  Jenes  von 
Seneca  so  hoch  gefeierte  Wort  des  jugendlichen  Imperators 
beweist,  dass  Nero  unter  dieser  Anleitung  zu  der  Vorstellung 
gebracht  ist,  dass  er  einen  starken  Widerwillen  selbst  gegen 
gerechte  Todesstrafe  hat.     Wir  können   uns   um   so  unbedenk- 


*)  Britannicus  im  5.  Monat  des  Nero  ermordet  (L.  v,  Ranke  :  Weltgeschichte 
III  1  112). 

8 


114 

lieber  zu  dieser  Annahme  bekennen,  da  Seneca  selber  eben  in 
dieser  Schrift  an  Nero  ein  solches  Verfahren,  wie  wir  hier 
voraussetzen,  zu  rechtfertigen  sucht  (De  dem.  I  17  2).  Aber 
weil  diese  künstliche  [Methode  das  angeborene  Uebel  nicht  bei 
der  Wurzel  anfasst,  musste  Seneca  die  Wahrheit  seines  Satzes 
,,nemo  potest  personam  diu  ferre"  an  Nero  erfahren.  Der 
künstliche  Widerwille  Neros  gegen  die  Unterschrift  eines 
TodesLirtheils  schlug  ebenso  in  das  Gegentheil  um,  wie  die 
Sentimentalität  des  obscuren  Advocaten  zu  Arras,  der  sich  später 
als  Maximilian  Robespierre  weltkundig  machte  (Th,  Carlyle: 
Gesammelte  Schriften  IV  46). 

Das  AUerbedenklichste   in   dieser  moralischen  Zuschrift  an 
Nero     ist     aber,     dass,     während     diese    Mahnung     nach    ihrer 
Haupttendenz  vor  Allem  ein  Antidotum    sein  sollte  gegen  jene 
in  dem  ,,Ludus"  enthaltene  Verführung  zur  Selbstvergötterung, 
diese    Vergiftung,    wenn    auch    nicht    in    so    grober,    doch    in 
subtiler  Weise    hier  fortgesetzt  wird.    Allerdings  erklärt  Seneca 
hier    seinen  Vorsatz,    nicht    zu    schmeicheln,    ja,    bekennt    sich 
sogar   zu    dem  Grundsatz,    lieber    durch  Wahrheit  anzustossen,. 
als  durch  Schmeichelei  zu  gefallen  (De  dem.  II  2).     Aber  um 
so  schlimmer  ist  es,    dass   Seneca  kein  Bewusstsein  davon  hat,. 
dass  er  diesem  seinem  erklärten  Grundsatz  untreu  wird,  indem 
er  das  süsse  Gift  der  Cäsarenvergötterung   dem   jungen  Kaiser 
mit  eigener  Hand    in   die  Seele    träufelt.     ]\Ian    höre,    welchen 
Monolog  der  strenge  Moralist  dem  jungen  Cäsar  in  den  Mund 
legt:    ,,Vor    allen  Sterblichen    ruht   auf   mir  das  Wohlgefallen, 
und    ich    bin    der  Auserkorene,    der   auf  Erden    die  Stelle    der 
Götter    vertreten    soll,    ich,    Herr    über  Leben  und  Tod    unter 
den  Völkern :  welches  Loos  und  welchen  Stand  ein  Jeder  haben 
soll,    in    meine  Hand   ist   es    gelegt-    was  das  Schicksal  Jedem 
der    Sterblichen    bestimmt    hat,    durch   meinen   Mund    giebt   es 
solches    kund,    aus    meiner  Antwort    erfahren    die  Völker    und 
Städte,    ob    sie   sich    freuen   dürfen ;    ohne  meine  Gnade  blühet 
Nichts  allüberall"  (De  dem.  I  i  2).    ,,Dem  Herrscher  ist  dieselbe 
j\Iacht   zu  Theil   geworden,    welche   die  Götter  besitzen,    durch 
deren  Wohlthat  wir  ans  Licht  geboren  werden,  somit  darf  der 
Fürst    die    Weltansicht    der    Götter    sich    aneignen"     (I  5   7)^ 


115 

Solche  Worte,  vor  den  Ohren  eines  jungen  Weltherrschers 
gesungen  von  der  Stimme  dessen,  den  er  von  seiner  Knaben- 
zeit her  als  Orakel  der  Weisheit  und  Tugend  verehrt  hat, 
können  nicht  anders,  als  unwiderstehlich  berauschend  und 
bezaubernd  wirken. 

Wo  ist  nun  das  Wort  der  Wahrheit  vor  dem  Thron  der 
Herrscher,  zu  welchem  sich  Seneca  hoch  und  heilig  verpflichtet 
und  öffentlich  bekannt  hat?  Wo  ist  die  Lehre,  die  Säule  der 
geläuterten  Gotteserkenntniss,  an  welcher  sich  eine  sittliche 
Weltanschauung  aufrichten  kann,  an  welcher  dereinst  die  Väter 
der  alten  Kirche  ihr  Wohlgefallen  gehabt  r  Das  Wort  der 
Wahrheit  ist  in  diesen  Schriften  ein  mit  Lügen  gefälschter 
Zaubertrunk  geworden,  und  die  Säule  der  gereinigten  Gottes- 
lehre liegt  am  Boden.  Mit  Recht  sagt  Augustus  in  jener 
Götterversammlung  in  dem  ,,Ludus":  ,,wenn  solche  Subjecte, 
wie  Claudius,  zu  Göttern  erhoben  werden,  dann  wird  der 
Götterglaube  aufhören"  (,,Dum  tales  deos  facitis,  nemo  vos 
deos  esse  credet"  (Ludus  XI  4).  Nun  ist  nicht  bloss  Claudius 
trotz  dieses  unwiderleglichen  Protestes  in  der  officiellen  Sprache 
,,divus"  geworden,  sondern  Seneca  selber  hat  ihn  auch  in 
seiner  Trostschrift  ad  Polybium  mit  einem  unerhörten  Pathos 
schon  bei  seinen  Lebzeiten  als  ,,numen"  vergöttert  und  hat  in 
seinen  Schriften  ,, Ludus"  und  ,,De  dementia"  an  einen  ebenso 
Verworfenen  die  göttlichen  Prädicate  sacrilegisch  vergeudet. 
Seneca  spricht  von  einem  angewiesenen  Posten,  den  der  gute 
Mensch  behaupten  müsse :  ,,ad  ultimam  usque  diem  vitae 
stabit  paratus  et  in  hac  statione  morietur"  (B.  V  2  4). 
,, Magnus  animus  dat  operam,  ut  in  hac  statione,  qua  positus 
est,  honeste  se  atque  industrie  gerat"  (Ep.  CXX  18).  Seneca 
weiss  und  hat  auch  dessen  kein  Hehl,  dass  er  bestellt  ist  zum 
Wächter,  Erzieher  und  Berather  des  jungen  Cäsar.  Musste  es 
ihm  nicht  zu  tiefer  Beschämung  über  seine  Untreue  auf  seinem 
Posten  gereichen,  dass  in  den  Tagen  der  ärgsten  Raserei  des 
Nero  die  Schmeichelei  des  Volkes  nicht  über  das  hinausging, 
was  Seneca  selber  in  seinem  ,, Ludus"  dem  Jüngling  auf  dem 
Kaiserthron  zugerufen  hatte:  ,, dieser  ist  Apollo,  dieser  allein 
ist  Pythius !"    (Cassius  Dio    LXI    20    3  —  5).     Seneca    hat    den 


116 

göttlichen  Namen,  der  ihm,  wie  wir  gesehen,  nach  seiner 
erleuchteten  Erkenntniss  die  Personification  der  sittlichen 
Uridee  bezeichnet,  nicht  behütet  vor  \'ermischung  mit  solchen 
Erscheinungen,  welche  auf  unerhörte  Weise  alle  göttlichen 
Charaktere  profanirt  haben,  und  darum  muss  er  nun  erfahren 
an  sich  selber,  was  er  als  Folge  einer  \'ersündigung  an  dem 
innewohnenden  Gottesgeist  ausgesprochen  hat  (,,Sacer  intra 
nos  Spiritus  sedet,  malorum  bonorumque  observator  et  custos, 
hie  prout  a  nobis  tractatus  est  ita  nos  ipse  tractat"  (Ep.  XLI  2). 

Um  die  ganze  X^erfinsterung,  in  welche  Senecas  Geist 
versinkt,  zu  fühlen,  müssen  wir  uns  noch  einmal  versetzen  in 
die  Vorschrift,  welche  Seneca  selber  sich  für  seinen  Posten 
gegeben  hat.  Seneca  lehrt,  dass  den  Hohen  und  Grossen  in 
der  Welt  Nichts  so  heilsam  und  nöthig  ist,  wie  die  Wahrheit, 
und  dass  die,  welche  ihnen  nahe  stehen,  die  Spendung  der 
W'ahrheit  als  den  grossesten  und  einzigen  P'reundschaftsdienst 
ihnen  erweisen  sollen.  Mit  grellen  Farben  hat  Seneca 
geschildert,  dass  anstatt  dieser  Pflicht  der  Wahrhaftigkeit  das 
Laster  der  Lüge  und  Schmeichelei  den  Verkehr  der  Menschen 
beherrscht.  Und  Seneca  selber?  In  den  drei  charakterisirten 
öffentlichen  Schriften  hat  er  den  höchsten  Herren  nicht  das 
Wort  der  Wahrheit  gespendet,  sondern  in  der  Nachahmung 
des  herrschenden  Lasters  frecher  Lüge  hat  er  ein  nicht  zu  über- 
bietendes Beispiel  schmeichlerischer  niederträchtiger  Lüge  vor 
dem  Cäsarthron  aufgestellt. 

In  allen  drei  genannten  Schriften  hat  Seneca  sich  an  dem 
besseren  Wissen  und  Gewissen  seiner  Gotteserkenntniss  thatsäch- 
lich  versündigt,  wovon  die  weitere  Folge  ist,  dass  sich  ihm  das 
Licht  seiner  geläuterten  Gotteslehre  verdunkeln  muss ;  Seneca 
sinkt  in  alle  Verdunkelungen  und  Finsternisse  des  heidnischen 
Polytheismus  zurück.  An  die  Stelle  der  göttlichen  Absolutheit 
tritt  Identificirung  von  Gott  und  Welt,  von  Geist  und  Materie, 
von  Vorsehung  und  Fatum.  Die  erhabene  Idee  der  gött- 
lichen \^aterschaft  wird  ohne  Bedenken  an  die  Welt  abgetreten : 
,,unu5  omnium  parens  mundus  est"  (B.  III  28  2).  Die  Welt 
mit  ihren  starren  Gesetzen,  mit  ihren  blinden  Kräften,  das 
Leben    ebenso    fortwährend    verschlingend,   wie    es    immer  neu 


117 

gebährend,  ist  in  jenen  Tagen  ebenso  kalt  und  ohne  Liebe 
gewesen  wie  heute.  Die  an  diese  Welt  abgetretene  Vater- 
schaft weiss  und  fühlt  Nichts  von  Allem,  was  Seneca  sonst 
von  göttlicher  Liebe  und  Güte  gerühmt  hat.  Ebenso  ist  es 
eine  Depotenzirung  der  anderweitigen  Gotteslehre  Senecas, 
wenn  Sonne  und  Mond  als  Götter  gedacht  und  verehrt  v/erden 
sollen  (B.  IV  23,  VI  20 — 22).  Am  Schluss  der  Einleitung  zu 
dem  ersten  Buch  der  ,,Quaestiones  naturales"  werden  allerlei 
Fragen  aufgeworfen:  ,,quantum  deus  possit,  materiam  ipse  sibi 
formet  an  data  utatur?"  (I.  praefat,  16)  Schon  die  Fassung 
dieser  Fragen  beweist  die  Verdunkelung  der  Gottesidee  und 
präjudicirt  die  Antworten  zu  Gunsten  der  Selbstständigkeit  der 
Welt  und  der  Materie.  Und  so  finden  wir  es  auch:  Gott 
konnte  die  Menschen  nicht  unsterblich  machen,  ,,quia  materia 
prohibebat"  (Ep.  LVIII  27  1),  womit  gleichbedeutend  ist,  dass 
die  ,,lex  mortalitatis"  und  das  menschliche  Leiden  unabhängig 
von  Gott  gedacht  wird  (De  ira  II  28  4).  Auch  das  Erdbeben 
ist  unabhängig  von  der  Gottheit  und  hat  in  sich  seine  ander- 
weitigen Ursachen  (N.  Q.  VI  3  i).  Krass  deistisch  lautet 
folgende  Aeusserung:  ,,etiamsi  Jupiter  fulmina  non  facit  nunc, 
Jupiter  fecit,  ut  fierent;  singulis  non  adest  et  tamen  vim  et 
causam  omnibus  dedit"  (N.  Q.  II  46,  cfr.  De  provid.  V  8). 
Am  unfrommsten  gestaltet  sich  die  kosmische  Anschauung  in 
Beziehung  auf  die  menschlichen  Geschicke.  Wir  haben  uns 
gewundert  über  die  Höhe,  zu  welcher  sich  Seneca  erhebt, 
wenn  er  mit  aller  Bestimmtheit  in  den  Leiden  der  Tugend- 
haften die  Weisheit  der  göttlichen  Vaterliebe  preist.  Wie 
traurig  werden  wir  nun  überrascht,  wenn  wir  bei  demselben 
auf  folgende  Gedanken  stossen:  ,, Nur  zuweilen  bekümmern  die 
Götter,  welche  die  Welt  regieren,  sich  um  den  Einzelnen" 
(Ep.  XCV  50,  N.  Q.  I  I  4).  Grade  wo  es  vor  Allem  darauf 
ankommt,  dass  der  Einzelne  der  unzweifelhaften  Aufsicht 
Gottes  versichert  ist,  im  Zustand  des  Leidens,  gewinnt  es 
Seneca  über  sich,  auf  diesen  Trost  zu  verzichten.  ,,Bei  der 
Allgemeinheit  des  Leidens  können  die  Götter  die  einzelnen 
Guten  nicht  verschonen"  (B.  IV  28  i  3,  De  provid.  V  9,  VI  6). 
Darnach   kann    man    sich    nicht   wundern,    wenn   an  die  Stelle 


118 

der  sonst  von  Seneca  sehr  gepriesenen  Providentia  das  fatum 
tritt.  Der  Makel  des  Unfrommen,  der  dem  letzten  Wort 
(fatum)  anhängt,  wird  zwar  zuweilen  absichtlich  zu  verwischen 
gesucht,  indem  fatum  synonym  mit  Providentia  und  deus 
erklärt  wird  (N.  Q.  11  45,  ad  Helviam  VIIT  3);  oder  wenn 
dem  fatum  ,, Jupiter"  als  ,, prima  omnium  causa,  ex  qua 
ceterae  pendent"  vorgesetzt  wird  (B.  IV  7  2),  oder  wenn  sogar 
die  Wirkung  der-  Gebete  und  Opfer  in  die  X^erkettung  des 
fatum  eingeschlossen  wird  (N.  Q.  H  36  37  i  2).  Aber  da  die 
Kraft  der  reinen  Gottesidee,  der  allein  es  gegeben  ist,  alle 
abstracten  Bezeichnungen  für  das  höchste  Walten  immer  wieder 
in  das  Licht  der  ewigen  Liebe  zu  verklären,  thatsächlich 
gebrochen  ist,  wie  die  oben  angeführten  Aussprüche  beweisen, 
so  kann  es  nicht  fehlen,  dass  ein  anderes  Mal  die  uralte 
Finsterniss  des  heidnischen  Fatums  alle  jene  Milderungen 
verschlingt  (De  pro\id.  V  8).  Der  letzte  Trost,  den  das 
fatum  gewährt,  ist  also,  dass  in  dem  allgemeinen  Untergang 
die  Götter  vor  den  Menschen  Nichts  voraushaben ! 

W^ir  haben  gesehen,  dass  Seneca,  getragen  von  einer  reinen 
Gottesidee,  zur  Anschauung  eines  geistigen  Reiches  gelangte, 
eines  Reiches,  erhaben  über  dieses  sichtbare  Weltreich,  voll 
hoher  sittlicher  Ideale,  welche  an  das  Gottesreich  der  Offen- 
barung erinnern.  Nachdem  wir  nun  aber  erkannt,  dass  Seneca 
der  Wirklichkeit  und  Gegenwart  des  Cäsarenthums  gegenüber 
sein  besseres  Wissen  von  Gott  verleugnet,  werden  wir  uns 
nicht  wundern  können,  wenn  wir  neben  jenen  herrlichen  Licht- 
seiten finstere  Schatten  antreffen,  welche  aus  der  Tiefe  der 
widergöttlichen  Selbstsucht  stammen  und  alle  himmlische 
Erleuchtung  vertreiben. 

Man  könnte  nun  leicht  auf  den  Gedanken  kommen,  dass 
dieser  Abfall  Senecas  von  seinem  sittlichen  Ideal  in  den  drei 
ersten  Büchern  seiner  ,,epistolae  morales"  sich  schon  dadurch 
handgreiflich  darstelle,  dass  in  jedem  der  ersten  29  Briefe  eine 
Sentenz  Epikurs  als  eine  werthvolle  Beigabe  eingeschärft  wird. 
Allein  das  wäre  ein  falscher  Schluss.  Mit  diesen  Citaten 
Epikurs  hat  Seneca  offenbar  einen  guten  Zweck  verbunden, 
worauf    wir    schon    beiläufig:    aufmerksam    p;emacht.      Es    ^ab 


119 

nämlich  in  jener  Zeit  zu  Rom  Menschen,  welche  Seneca 
beschreibt  wie  folgt:  ,,ad  nomen  (Epicuri  et  philosophiae) 
advolant,  qiiaerentes  libidinibus  suis  patrocinium  aliquod  et 
velamentum,  itaque  quod  unum  habebant  in  malis  bonum 
perdunt;  peccandi  verecundiam  —  honestus  turpi  desidiae  titulus 
accessit"  (De  vit.  beat.  XII  4  5).  Gegen  dieses  Unwesen  ist 
gerichtet  die  Mahnung:  ,,non  debet  excusationes  vitio  philosophia 
suggerere,  nullam  habet  spem  salutis  aeger,  quem  ad  in- 
temperantiam  medicus  hortatur  (Ep.  CXXIII  17).  Diese 
Menschen  werden  auch  so  beschrieben :  ,,quosdam  nee  pudor 
vitiorum  tenet,  sed  patrocinia  turpitudini  suae  fingunt  ut  etiam 
honeste  peccare  videantur"  (Fragmenta  XVIII,  III  p.  422  Haase). 
Diese  schamlosen  Lüstlinge  berufen  sich  auf  Epikur,  der  als 
Stifter  einer  Philosophenschule  immer  einen  angesehenen  Namen 
hatte  und  einen  gewissen  moralischen  Schutz  gewährte.  Es  ist 
•daher  ein  an  sich  ehrenwerthes,  ernstes  Bestreben  Senecas,  diesen 
zucht-  und  schamlosen  Sündern  ihren  erheuchelten  Schutz  zu 
entreissen.  Zu  dem  Ende  bemüht  er  sich,  seinen  jüngeren 
Freund  Lucilius  mit  einer  Reihe  von  Aussprüchen  Epikurs 
bekannt  zu  machen,  welche  einen  unleugbaren  Ernst  coii- 
sequenten  Denkens  und  strenger  Selbstbeherrschung  aufweisen, 
von  welchen  jenes  leichtsinnige  gevvissenlose  Völklein  keine 
entfernte  Ahnung  hatte. 

Um  so  williger  wir  aber  Seneca  in  dieser  Beziehung  gegen 
-einen  falschen  Schein  in  Schutz  nehmen,  um  so  rücksichtsloser 
müssen  wir  ihn  in  anderen  Stücken  des  offenbaren  Abfalls  von 
seinen  ausgesprochenen  eigenen  sittlichen  Idealen  anklagen. 

Im  Bereich  des  Handelns  haben  wir  gefunden,  dass  Seneca 
in  drei  veröffentlichten  Schriften  den  von  ihm  für  sein  Handeln 
aufgestellten  Grundsatz  nicht  bloss  nicht  befolgt,  sondern  durch 
sein  thatsächliches  Gegentheil  vernichtet.  Ein  solcher  that- 
sächlicher  jäher  Abfall  muss  seine  Schatten  werfen  in  das  ganze 
Gebiet  des  Denkens  und  Lehrens. 

Die  Philosophie  ist  ein  Gesetz  des  Lebens  (Ep.  XCIV  39), 
sie  nimmt  uns  auf  in  die  Stammliste  der  Männer  (Ep.  IV  2). 
Seneca  nimmt  es  mit  der  Philosophie  so  ernst,  dass  er  auch 
den  Epikur    als    ernsten    Denker   behandelt.     Er  ist   so   erfüllt 


120 

von  den  sittlichen  Idealen,  welche  er  in  seiner  Jugend  von 
Sotion  und  Attalus  aufgenommen  hat,  dass  dieser  Eindruck 
ihm  bis  ins  Alter  lebendig  bleibt.  Aber  in  der  Philosophie 
steckt  ein  oppositionelles  Element,  vor  welchem  Maecenas  den 
Augustus  warnt,  und  der  Cäsarische  Hof  hat  sich  diese  Warnung^ 
sehr  zu  Herzen  genommen.  Seneca  weiss,  dass  der  Xame 
der  Philosophie  verhasst  ist  (Ep.  V  2),  dass  die  Philosophen 
gelten  als  aufsätzig,  widerspenstig,  Verächter  der  Obrigkeit 
und  Fürsten  (Ep.  LXXIII  i,  cfr.  Tacit.  Ann.  XIV  57,  XVI  22, 
Sueton  Vespas.  XIII,  Cassius  Dio  LXVI  12  13  15).  Seneca 
hat  auf  der  Höhe  seiner  stoischen  Weisheit  das  Weltverderben 
zum  Kampf  herausgefordert,  und  seine  tapferen  Grundsätze 
erheben  sich  überschwänglich  weit  und  siegreich  über  alles 
Böse,  das  in  der  Welt  ist.  Aber  auch  abgesehen  von  der 
Probe  dieser  hohen  Gedanken,  in  dem  wirklichen  Leben  und 
Handeln  kommen  Zeiten,  in  welchem  ihm  innerhalb  seines 
Denkens  und  Schreibens,  überwältigt  von  der  Anschauung  der 
schlechten  Wirklichkeit,  jene  Ideale  wankend  werden  und  sich 
in  gemeine  Klugheit,  Schwachheit  und  Niederlage  verwandeln. 
Dagegen  kann  man  freilich  Nichts  einwenden,  dass  er  nicht 
diejenigen  für  seinen  näheren  Umgang  auswählt  und  vorzieht^ 
welche  immer  traurig  sind  und  Alles  beweinen  und  beklagen^ 
wenn  er  ihnen  auch  das  Lob  des  Wohlwollens  spendet 
(De  tranq.  VII  6,  cfr.  De  ira  II  10  5).  Es  scheint,  als  wenn 
Seneca  in  dieser  Schilderung  den  Stoiker  Thrasea  und  seinen 
Anhang  im  Auge  hat,  welche  als  ,,rigidi"  und  ,, tristes" 
bezeichnet  werden  (Tacit.  Ann.  XVI  22),  und  denen  das  traurige 
und  finstere  Wesen  als  Opposition  gegen  den  cäsarischen  Hof 
ausgelegt  wurde.  Wir  werden  noch  öfter  auf  die  Aehnlichkeit 
und  Gegensätzlichkeit  der  beiden  Männer  Thrasea  und  Seneca 
zurückkommen.  An  sich  wird  es  auch  kein  Vorwurf  sein  für 
einen  Philosophen,  am  Hofe  zu  leben,  sass  doch  hundert  Jahre 
später  sogar  auf  dem  Throne  des  Weltreiches  ein  ernster 
Philosoph.  Aber  versuchlich  im  hohen  Grade  ist  der  Stand 
eines  Philosophen  am  Hofe  Neros,  und  der  Neffe  Senecas 
Lucanus  giebt  daher  auch  den  Rath,  vielleicht  mit  Anspielung 
auf  den  Onkel: 


121 

,,Exeat  aula 
Olli  volet  esse  pius"  (Phars.  VIII  493  494). 
Und  in  diesem  versuchlichen  Stande  drängt  sich  dem  Philo- 
sophen der  Gedanke  auf,  wie  gefährlich  der  pflichtmässige 
Widerstand  gegen  das  in  der  Welt  waltende  Böse,  dessen 
Anblick  dem  Philosophen  am  Hofe  immerdar  vor  Augen  steht, 
werden  könne,  ja  werden  müsse.  Dann  ersteht  der  grosse 
Kampf,  ob  man  unter  Lebensgefahr  die  anerkannten  Grundsätze 
behaupten  oder  sich  zur  Verleugnung  derselben  erniedrigen 
wolle.  Thrasea,  fern  vom  Hof,  wählt  das  bessere  Theil, 
Seneca,  nahe  am  Thron,  das  schlechtere.  Und  so  geschieht  es, 
dass  mitten  in  den  stoischen  Büchern  Senecas  die  herrschenden 
Maximen  der  gemeinen  Weltklugheit  nackt  und  bloss  auf- 
tauchen. ,,Iniquum  est  et  periculosum  irasci  publico  vitio" 
(De  ira  II  10  4).  Diesen  Satz  schreibt  Seneca  hin  als  wohl- 
gemeinten Rath,  sich  durch  herrschende  Laster  nicht  aufregen 
zu  lassen,  obwohl  ihm  sehr  wohl  bewusst  ist,  dass  ein 
herrschendes  Verderben  nur  durch  furchtlosen  Widerstand  der 
Guten  und  Weisen  gebrochen  werden  kann.  Noch  bedenklicher 
leidet  die  Moral,  und  noch  offener  ist  der  Abfall  von  seiner 
besseren  Erkenntniss  und  Gesinnung  in  folgenden  Sätzen : 
, .sapiens  nunquam  potentium  iras  provocabit"  (Ep.  XIV  7); 
,,philosophandum  sine  ulla  potentioris  offensa"  (Ep.  XIV  14); 
,,philosophia  tranquille  modesteque  tractanda  est"  (Ep.  XIV  11). 
So  lehrt,  mahnt  und  warnt  der  Mann,  der  sich  sonst  zum 
Geschäft  macht,  die  List,  Bosheit  und  Grausamkeit  der 
Mächtigen  sich  zu  vergegenwärtigen,  um  sich  zu  jener  Höhe 
zu  erheben,  auf  welcher  der  Weise  mitten  in  der  Qual  aller 
Bosheit  trotzet    und    aus   der  Marter   selbst  sich  einen  heilioen 

o 

Schmuck  bereitet.  Im  offenen  Widerspruch  gegen  diese 
heroische  Weisheit  wird  ferner,  um  den  Anstoss  von  Seiten 
der  Mächtigen  wie  von  Seiten  der  Volksmasse  zu  vermeiden, 
wird  immer  aufs  Neue  das  otium  empfohlen.  Diese  dem  Alter- 
thum  im  Allgemeinen  fremde  Abwendung  vom  öffentlichen 
Leben,  diese  recht  eigentlich  epikurische  Seelenverfassung  und 
Lebensart  soll  weiter  nach  gelegentlichen  Vorschriften  Senecas 
so  klug  eingerichtet  sein,    dass  sie  nicht  als  ein  zu  auffallendes 


122 

Abweichen  vom  Gewöhnlichen  die  Leute  verletze  (Ep.  CHI  5). 
So  weit  lässt  sich  diese  Ermahnung  zur  Vorsicht  noch  einiger- 
massen  hören,  wenn  nur  nicht  derselbe  Mann  sonst  keine 
Gelegenheit  vorübergehen  liesse,  den  Cyniker  Demetrius,  der 
von  Caligula  bis  Vespasian  auf  den  Strassen  Roms  in  der  an- 
stössigsten  und  verletzendsten  Weise  philosophirt,  in  den 
Himmel  zu  erheben  1  Aber  nun  vernehme  man  erst,  wie 
Seneca  unmittelbar  nach  jener  Mahnung  fortfährt:  ,,vitia  tibi 
detrahat  philosophia,  non  aliis  exprobret,  non  abhorreat  a 
publicis  moribus  nee  hoc  agat,  ut  quidquid  non  facit  damnare 
videatur.  Licet  sapere  sine  pompa,  sine  invidia"  (Ep.  CHI  5). 
In  derselben  Richtung  bewegt  sich  der  73.  Brief,  welcher  die 
in  den  cäsarischen  Zeiten  oft  erhobene  Anklage,  dass  die 
Philosophie  staatsgefährlich  sei,  beseitigen  will.  Um  dieses 
Ziel  zu  erreichen,  wird  ein  hoher  Preis  eingesetzt.  Das,  was 
nach  dem  idealistischen  Standpunkt  Senecas  als  ein  Verlassen 
und  Preisgeben  des  erhabenen  Berufes  eines  philosophischen 
Mannes  anzusehen  ist,  wird  hier  als  eine  Höhe  und  als  ein 
Fortschritt  bezeichnet.  ,,Ille  vir  sincerus  et  purus,  qui  reliquit 
curiam  et  forum  et  omnem  administrationem  rei  publicae,  ut  ad 
ampliora  secederet,  diligit  eos,  propter  quos  hoc  ei  facere  licet" 
(Ep.  LXXIII  4).  Vor  Allem  bemerkt  man,  dass  hier  die  Er- 
wählung des  otium  als  ,,secedere  ad  ampliora"  bezeichnet 
wird.  Seneca  will  sagen,  die  Philosophen,  welche  sich  vom 
öffentlichen  Leben  zurückziehen,  um  der  literarischen  Müsse  zu 
leben  und  dieses  als  ihr  höchstes  Glück  betrachten,  werden 
denen,  welchen  sie  dieses  Glück  verdanken,  mit  Liebe  zugethan 
sein,  werden,  wie  es  im  Anfang  dieses  Briefes  heisst,  um  so 
dankbarer  sein,  da  ihnen  von  jenen  vergönnt  sei,  ihre  Müsse 
in  ungestörter  Ruhe  zu  geniessen.  Wem  nun  verdanken  jene 
Glücklichen  diese  ihre  Müsse?  Darüber  lässt  Seneca  den  Leser 
nicht  in  Zweifel.  Das  gefeiertste  Geschenk  ist  das  von  Vergil 
besungene: 

,,0  Meliboee,  deus  nobis  haec  otia  fecit: 
Namque  crit  illc  mihi  semper  deus/' 
Diese  berühmten  Verse  Vergils   führt  Seneca    in    dem  bezeich- 
neten Briefe  an  und  will  damit  auf  die  nachdrücklichste  Weise 


123 

VAX  verstehet!  geben,  dass  das  otiuni  der  Philosophen  ein  fürst- 
liches Geschenk  ist.  Wie  Augustus  dem  V^ergil  das  Geschenk 
des  otium  gemacht  hat,  so  hat  Nero  dem  Seneca  dasselbe 
fürstliche  Geschenk  gemacht  (Tacit.  Ann.  XIV^  56,  XV  45, 
Seneca  Ep.  VIII  i).  Steht  die  Sache  nun  so,  sind  es  die 
Fürsten,  welche  den  Philosophen  den  Genuss  der  ungefährdeten 
Müsse  verleihen,  dann  werden  die  Philosophen  den  Fürsten 
dankbar  sein,  und  kann  deshalb  der  Vorwurf,  dass  Philosophen 
aufsätzige  Feinde  der  öffentlichen  Ruhe  und  Ordnung  sind, 
nicht  bestehen.  Es  ist  ein  grosses  Angebot,  welches  Seneca 
hier  macht,  um  die  Philosophen  von  jener  Anklage  frei  zu 
machen:  er  verpflichtet  die  Philosophen,  die  Mächtigen  und 
die  Volksmasse  durch  ihre  Vorwürfe  und  Lebensweise  nicht 
zu  verletzen  und  zu  stören.  Es  wird  also  in  diesem  Zusammen- 
hang Verzicht  geleistet  auf  die  sonst  von  Seneca  hochgepriesene 
Mission,  die  todtkranke  Zeit  durch  die  Arznei  der  starken 
Wahrheit  auch  vor  den  Ohren  der  Mächtigen  zu  heilen. 

Die  Gegenwart  wird  preisgegeben,  die  Philosophie  widmet 
ihre  bessernde  und  bekehrende  Thätigkeit  der  fernen  Nachwelt 
durch  das  Mittel  des  Schriftthums  ihrer  Müsse.  ,, Posterorum 
negotia  ago.  illis  aliqua,  quae  possint  prodesse,  conscribo. 
salutares  admonitiones  veluti  medicamentorum  utilium  com- 
positiones  literis  mando"  (Ep.  VIII  2,  cfr.  Ep.^XXI  5,  LXIV  7, 
VIII  6,  De  otio  VI  4).  Seneca  übersieht  hier,  was  ihm  sonst 
nicht  verborgen  ist,  dass  der,  welcher  keine  Gegenwart  hat, 
welcher  die  Gegenwart  preisgicbt,  auch  auf  eine  Zukunft  nicht 
hoffen  kann.  Wenn  die  Gegenwart  ihrer  eigenen  Verderbniss 
überlassen  bleibt,  einer  abgrundmässigen  Verderbniss,  welche 
Niemand  besser  kennt  als  Seneca,  wo  soll  dann  die  Zukunft 
herkommen,  auf  welche  Seneca  durch  jene  Bücher  wirken 
will:  Dazu  kommt  noch  ein  bedenkliches  Zeichen,  Seneca 
beruft  sich  auf  V^ergil,  der  in  der  fürstlichen  Verleihung  der 
Müsse  die  ewige  Gottheit  des  Augustus  erkennt  und  preist. 
Nun  spricht  es  Seneca  zwar  nicht  aus,  dass  auch  er  in  der 
fürstlichen  V^erleihung  Neros  ein  Zeichen  der  Gottheit  verehrt, 
aber  durch  das  gefeierte  Analogon  ist  dieser  Gedanke  nahe 
gelegt.    Wir  befinden  uns  also  auch  hier  wieder  in  dem  Zauber- 


124 

kreis  der  Cäsarenvergötterung,  durch  welche  sich  Seneca  an 
Nero  gleich  beim  Beginn  seiner  Regierung  schwer  versündigt 
hat.  Die  Cäsarenvergötterung,  bezogen  auf  Claudius  und 
Nero,  ist  der  Sturz  aller  Ideale,  die  Versinkung  in  den  Sumpf 
abgrundmässiger  Finsterniss.  Es  ist  recht  eigentlich  eine 
Nachtseite,  mit  der  wir  hier  zu  thun  haben.  Es  ist  mir  mehr 
als  wahrscheinlich,  dass  Seneca  bei  dieser,  eines  Stoikers  wenig 
würdigen  Schutzrede  für  die  Philosophie  etwas  ganz  Bestimmtes 
im  Auge  hat  und  sich  recht  absichtlich  von  einem  gefährlichen 
Beispiel  unterscheiden  will.  Wie  kommt  es  doch,  dass  Seneca, 
der  unter  seinen  Zeitgenossen  Niemand  so  oft  und  so  hoch 
erhebt  als  jenen  Cyniker  Demetrius,  obwohl  derselbe  in  einem 
bestimmten  Falle  eine  verdächtige  Rolle  spielt  (Tacit.  Hist. 
IV  40),  mit  keiner  Silbe  dessen  gedenkt,  dessen  Verurtheilung 
Tacitus  mit  den  Worten  einleitet:  ,,Trucidatis  tot  insignibus 
viris,  ad  postremum  Nero  virtutem  ipsam  excindere  concupivit" 
(Ann.  XV^I  2i\  Dieser  mit  dem  höchsten  Prädicat  von  Tacitus 
gefeierte  Stoiker  hat,  wie  derselbe  Tacitus  berichtet,  durch 
seine  Strenge  in  vielfacher  solcher  Weise  öffentlich  Anstoss 
gegeben,  welche  Seneca  in  den  zuletzt  hervorgehobenen  Sätzen 
getadelt  hat.  Thrasea  entfernte  sich  in  auffälliger  Weise  aus 
dem  Senat  und  zog  sich  in  die  Einsamkeit  zurück,  aber  selbst 
sein  otium  vermeidet  nicht,  wie  Seneca  räth,  den  anstössigen 
Charakter.  Unter  den  wider  ihn  erhobenen  Anklagen  wird  als 
ein  Zeichen  seiner  tiefen  Staatsgefährlichkeit  bemerkt,  dass 
nach  seiner  Entfernung  aus  dem  Senat  die  römische  Staats- 
zeitung in  den  Provinzen  und  in  der  Armee  um  so  eifriger 
gelesen  wurde,  um  zu  erfahren,  was  Thrasea  nicht  gesagt  und 
bei  welchen  Verhandlungen  er  nicht  zugegen  gewesen.  F'erner 
werden  seine  und  seiner  Freunde  traurige  und  finstere  Mienen 
wie  ein  Vorwurf  gegen  die  Ausgelassenheit  des  Kaisers  auf- 
gefasst  (Ann.  XVI  22).  Hier  zeigt  sich  an  einem  deutlichen 
Beispiel,  was  Seneca  oben  charakterisirt.  Der  Stoiker  Thrasea 
hat  sich  aus  dem  öffentlichen  Leben  zurückgezogen,  vermeidet 
also  das,  was  man  dem  activ  im  öffentlichen  Leben  stehenden 
Philosophen  vorwerfen  konnte.  Thrasea  lebt  im  otium.  Aber 
Seneca  lehrt,   man  muss  auch  sein  otium  so  einrichten,  dass  es 


125 

iinanstössig  ist,  ,,nün  hoc  agat  ut  quidquid  non  facit  damnare 
videatur;  licet  sapere  sine  pompa,  sine  invidia."  Das  ist  aber, 
worin  es  Thrasea  versieht,  es  ist,  als  hätte  Seneca  in  diesen 
Sätzen  den  Thrasea  beschreiben  wollen.  Seneca  verwahrt  sich 
gegen  diese  passive  Art  von  Opposition. 

Ebenso  scheint  Seneca  Thrasea,  seinen  Schwiegersohn 
Helvidius  (Dialogus  V)  und  seine  Freunde  im  Auge  zu  haben, 
wenn  er  sich  über  einen  falschen  Sprachgebrauch  folgender- 
massen  vernehmen  lässt:  ,,temeritas  sub  titulo  fortitudinis  latet, 
moderatio  vocatur  ignavia"  (Ep.  XLV  7).  Ist  es  nicht,  als 
hörten  wir  hier  die  Selbstvertheidigung  Senecas  gegen  die 
Stimmen  Thraseas  und  seiner  Gleichgesinnten,  welche  den 
Gtoischen  .  Hofphilosophen  der  Untreue  bezichtigten  ?  Wenn 
das,  was  Dio  dem  Thrasea  in  den  Mund  legt  und  was  ganz 
den  Charakter  der  Authentie  an  sich  trägt  (LXI  15  3),  gleich 
nach  seinem  Weggang  aus  dem  Senat  gesprochen  ist,  so 
konnte  Seneca  nicht  verkennen,  dass  das  Verhalten  jenes 
Senators  zugleich  gegen  ihn  gerichtet  war,  und  musste  diese 
Wahrnehmung  in  ihm  einen  Stachel  zurücklassen.  Eine 
Bemerkung  Suetons  giebt  uns  gleichfalls  einen  Beitrag  zudem 
Gegensatz  zwischen  dem  Stoiker  am  Hofe  Neros  und  den 
Stoikern  der  lauten  und  der  schweigenden  Opposition.  Sueton 
bemerkt  in  der  ,,Vita  Persii",  dass  dieser  ernste  Dichter  den 
Seneca  zwar  gekannt  aber  von  seinem  Geiste  nicht  angezogen 
worden  sei:  ,,Sero  cognovit  vSenecam,  sed  non  ut  caperetur 
ejus  ingenio".  Kein  Wunder,  denn  Persius  war  nicht  bloss  mit 
Thrasea  verwandt  sondern  auch  innig  mit  ihm  befreundet. 
Wenn  man  nun  die  von  Seneca  vorgetragenen  erbärmlichen 
argumenta  a  tuto  mit  dem  grundsätzlichen  correcten  Verhalten 
des  Stoikers  Thrasea  vergleicht,  dann  muss  man  die  Anklage 
erheben,  dass  Seneca  an  seinem  Standpunkt  sittlicher  Idealität 
sophistischen  Verrath  geübt  hat. 

Wir  fahren  fort,  die  sophistischen  Verleugnungen  der  sitt- 
lichen Grundsätze  in  den  Schriften  Senecas  weiter  zu  verfolgen. 
Wir  haben  in  unserem  zweiten  Abschnitt  gefunden,  wie  richtig 
Seneca  in  dem  allgemeinen  menschhchen  Hochmuth  ein  Haupt- 
hinderniss  des  sittlichen  Denkens  und  Lebens  erkannt  hat.    Da 


126 

ihm  aber  der  Gottesgedanke,  der  allein  dem  Menschen  sein 
richtiges  Mass  anzuweisen  geeignet  ist,  zu  Zeiten  gänzlich 
verdunkelt  wird,  so  kann  er  nicht  verhüten,  dass  er  nicht  mit 
Unterdrückung  jener  Erkenntniss  in  Selbstüberhebung,  sogar 
Gott  gegenüber  verfällt.  Zwar  ist  dahin  nicht  zu  rechnen,  dass 
dem  Weisen  der  Kampf  mit  der  Fortuna  verordnet  ist,  noch 
auch  dass  in  solchem  Zusammenhang  anstatt  Fortuna  Jupiter 
genannt  wird.  ,,Valentior  omni  fortunaanimus  est"  (Ep.  XCVIII  2)» 
,,Esse  aliquem,  in  quem  nihil  fortuna  possit,  e  republica 
humani  generis  est"  (De  constant.  XIX  4).  Selbst  dem 
strengsten  Monotheismus  ist  der  Gedanke  an  Kampf  und  Sieg 
der  Guten  der  Gottheit  gegenüber  durchaus  nicht  anstössig 
(Gen.  XXXII  24—28).  Auch  das  ist  nicht  m.it  Baur  (p.  178) 
auf  Rechnung  der  unchristlichcn  stoischen  Selbstüberhebung  zu 
setzen,  dass  der  standhafte  Cato  ein  würdiges  Schauspiel  für 
die  Gottheit  genannt  wird:  ,,Ecce  spectaculum  dignum,  ad  quod 
respiciat  intentus  operi  suo  deus,  ecce  par  deo  dignum,  vir 
fortis  cum  mala  fortuna  compositus,  utique  si  et  provocavit" 
(De  prov.  II  9).  Denn  Minutius  Felix  braucht  von  der  Stand- 
haftigkeit  der  christlichen  Märtyrer  ganz  denselben  Ausdruck: 
,,quam  pulchrum  spectaculum  deo,  cum  christianus  cum  dolore 
congreditur"  (C.  XXXV II).  Aber  ohne  Zweifel  überschreitet 
es  die  Linie,  welche  jedes  wahrhaft  religiöse  Gefühl  ziehen 
wird,  wenn  alles  Ernstes  in  Ansehung  von  Macht  und  Güte 
eine  Gleichung  zwischen  Gott  und  Mensch  angestellt  wird : 
,, solebat  Sextius  dicere,  Jovem  plus  non  posse,  quam  bonum 
virum,  Jupiter  quo  antecedit  virum  bonum.'  diutius  bonus  est, 
sapiens  nihilo  se  minoris  aestimat"  (Ep.  LXXIII  12).  Zu 
geschweigen,  dass  selbst  die  Behauptung  nicht  gescheut  wird, 
dass  der  Mensch  vor  Gott  Vorzüge  besitze:  ,,animos  vestros 
adversus  omnia  armavi,  ferte  fortiter,  hoc  est,  quo  deum 
antecedatis"  (De  prov.  VI  6,  Ep.  LIII  11).  Nachdem  Seneca 
sich  des  Raubes  an  dem  heiligen  Gottesnamen  zu  Gunsten  des 
Claudius  und  Nero  schuldig  gemacht,  ist  diese  Sprache,  welche 
an  die  älteste  Versuchung  und  Verführung  der  Menschheit 
erinnert,  nicht  sehr  auffallend.  Aber  auch  hier  kommt 
Hochmuth    vor   dem    Fall.     Auf  die    sacrilegische    Selbstüber- 


127 

hcbung  des  Menschen  folgt  eine  schreckliche  Entleerung  der 
irdischen  und  zeitlichen  Existenz  des  Menschengeschlechts, 
welche  nur  mit  krampfhafter  Anstrengung  einen  gewissen 
Schein  von  Erträglichkeit  zu  erhalten  vermag,  wenn  sie  nicht 
gar  zur  ausgesprochenen  Verzweiflung  führt. 

Mit  Recht  eifert  Seneca  gegen  diejenigen,  welche  vor  lauter  i 
Zukunft  keine  Gegenwart  haben.  , ^Nullius  non  vita  spectat  in  \ 
crastinum  —  non  vivunt,  sed  victuri  sunt,  omnia  differunt" 
(Ep.  XLV  12  13,  De  brevit.  vit.  VII  8,  IX  i).  Man  beachte, 
dass  Seneca  in  diesen  Aussprüchen  die  falsche  Präoccupation 
der  Zukunft  und  die  Entleerung  der  Gegenwart  nicht  als  Fehler 
Einzelner  rügt ,  sondern  als  eine  allgemeine  Krankheit 
beschreibt.  Welches  ist  nun  das  Heilmittel  gegen  diese 
Krankheit?  Es  ist  klar,  so  wenig  die  Zukunft  die  Gegenwart 
entleeren  darf,  so  wenig  soll  es  auch  umgekehrt  sein.  Eine 
Entleerung  der  Zukunft  schädigt  und  vernichtet  die  Gegenwart 
ebenso  sehr  wie  die  Ueberspanntheit  der  Zukunft.  Die  dem 
richtigen  Werth  und  Gebrauch  der  Gegenwart  entsprechende 
Geistesstellung  zur  Zukunft  ist  die  Hoffnung. 

Was  Hesiod,  um  die  immer  tiefer  sinkende  Verschlechterung^ 
der  Zeiten  bemerklich  zu  machen,  gesagt,  dass  von  allen  Gott- 
heiten nur  die  Hoffnung  auf  der  Erde  zurückgeblieben,  das 
wiederholt  Ovid  von  dem  Zeitalter  des  Augustus  mit  Nach- 
druck (Ex  Pont.  I   16  27   30). 

Mit  Augustus  ist  nun  die  Weltverderbniss  in  weiterem 
Niedergang  begriffen,  und  es  entsteht  die  Frage,  ob  die 
Hoffnung  auch  dann  noch  auf  Erden  Stand  hält.  In- 
sofern dieser  Name  jener  unrechtmässigen  Präoccupation 
der  Zukunft  untergeschoben  wird,  ist  am  Bleiben  der  Hoffnung 
Nichts  gelegen,  ja  im  Gegentheil  muss  sie  mit  Seneca  bekämpft 
werden.  Dieser  Kampf  hat  aber  nur  dann  einen  richtigen  Sinn, 
wenn  er  dazu  dient,  das  hohe  Recht  der  wahren  Hoffnung 
festzustellen.  Aber  wie  kann  der  Hoffnung  überhaupt  eine 
Berechtigung  zugesprochen  werden,  wenn  man  keine  andere 
Hoffnung  kennt,  als  jene  trügerischen,  die  Gegenwart  störenden 
Gaukelbilder?  Und  diesen  traurigen  Niedergang  der  Hoffnung 
treffen    wir    bei  Seneca.      Seneca    steht    unter    demselben    ver-^ 


128 

nichtenden  Eindruck,  der  sich  in  den  Tagen  des  Tiberius  laut 
klagend  vernehmen  Hess:  concidisse  rempublicam,  nihil  spei 
reliquum  clamitabant  (Tacit.  Ann.  III  4).  Der  Name,  der  sonst 
als  ein  letzter  und  höchster  Trost  geliebt  und  verherrlicht  wird, 
ward  in  der  Sprache  Senecas  aus  der  Reihe  der  menschlichen 
Güter  gestrichen.  ,,Spes"  wird  von  Seneca  unter  die  ,,vitia" 
gerechnet.  ,,Vitio  vitium  repelle :  spe  metum  tempera" 
(Ep.  XIII  12).  ,,Spes  incerti  boni  nomen  est"  (Ep.  X  2). 
,, Sapiens  es,  si  nulla  spes  animum  tuum  futuri  exspectatione 
sollicitat"  (Ep.  LIX  14).  Keiner  ist  seiner  selbst  sicher,  den 
noch  irgend  eine  Hoffnung  aufregt  (Ep.  XXIII  2).  Nur  der 
hört  auf  zu  fürchten,  der  der  Hoffnung  entsagt  hat.  ,,Desine5 
timere,  si  sperare  desieris"  (Ep.  V  7).  Unter  den  Uebeln, 
die  die  Menschen  ins  Verderben  stürzen,  wird  in  der  Reihe 
von  invidia,  odium,  metus,  contemptus  vorangestellt  spes 
(Ep.  CV  i).  Als  eine  Höhe  des  Lebens  wird  es  bezeichnet: 
nihil  dignum  putare,  quod  speres"  (N.  Q.  III  praef.  .11). 
Der  auf  eine  bestimmt  begrenzte  Situation  bezogene  Vers 
Vergils : 

,,Una  Salus  victis  nullam  sperare  salutem"  (A.  II  354)  soll 
nach  Seneca  dem  ganzen  Menschengeschlecht  als  beständiger 
Wahlspruch  gelten  (N.  Q.  VI  2  2).  Wenn  nun  schliesslich 
der  einzige  Dienst,  der  von  der  Hoffnung  erwartet  wird,  nach 
Seneca  in  Folgendem  bestehen  soll:  ,,si  sapis,  alterum  alteri 
misces,  nee  speraveris  sine  desperatione,  nee  desperaveris  sine 
spe"  (Ep.  CIV  12),  so  kann  das  kaum  anders  als  wie  eine 
Ironie  auf  die  Hoffnung  verstanden  werden.  Denn  wenn  \^er- 
zweiflung  und  Hoffnung  sich  gegenseitig  corrigiren  sollen,  so 
dass  keine  Hoffnung  aufkommen  darf  ohne  die  Correktur  der 
Verzweifelung,  dann  wird  die  Verzweifelung  die  Hoffnung  der- 
gestalt übermeistern,  dass  es  gar  nicht  erst  zu  einer  Hoffnung 
kommt.  In  der  That,  diese  entschlossene  Polemik  gegen  die 
Hoffnung  als  solche  erinnert  an  die  Inschrift  des  Höllenthores 
bei  Dante  und  überträgt  diese  Inschrift  auf  diese  wirkliche 
Welt.  Wenn  wir  uns  hier  nun  daran  erinnern,  dass  Seneca 
dem  Philosophen  die  Weisung  giebt,  die  verderbte  Gegenwart 
sich  selbst  zu  überlassen  und  durch  seine  Bücher  auf  die  ferne 


129 

Zukunft  zu  wirken,  dann  stossen  wir  auf  einen  der  tödtlichsten 
Selbstwidersprüche  in  dem  Denken  Senecas. 

Fragen  wir  nun,  was  für  die  Gegenwart  bei  dieser  Aus- 
rottung der  Hoffnung  herauskommt,  so  werden  wir  es  in  der 
Natur  der  zwingenden  Zeitcontinuität  begründet  finden,  dass 
das  Verbot  der  Hoffnung  oder  das  Abschneiden  der  Zukunft 
dieselbe  Wirkung  hat  wie  die  unerlaubte  Vorwegnahme  der 
Zukunft,  das  Eine  wie  das  Andere  verdirbt  und  zerstört  die 
Gegenwart.  Was  bedeutet  denn  für  Seneca  diese  Gegenwart, 
dieser  laufende  Tag,  dieser  Augenblick,  was  bedeutet  dieses 
Jetzt,  welches  so  sehr  sich  selbst  genügen  soll,  dass  jeder 
Hinblick  über  diese  Schranke  hinaus  als  eine  Thorheit,  ja  als 
eine  Sünde  angesehen  wird?  Hören  wir  ihn,  wie  er  sich  selber 
vernehmen  lässt.  ,, Nihil  tam  insidiosum  est  quam  vita  humana. 
non  mehercle  quisquam  illam  accepisset,  nisi  daretur  insciis, 
itaque  fehcissimum  est  non  nasci''  (Ad  Marc.  XXII  3).  Man 
übersehe  nicht,  dass  dieser  wahrhaft  schreckliche  Ausspruch 
enthalten  ist  in  einer  Trostschrift,  welche  Seneca  an  eine  edle 
Gönnerin  richtet,  welche  als  Wittwe  ihren  erwachsenen  Sohn 
durch  den  Tod  verloren.  Der  Wittwe  zu  Nain  wurde  gesagt: 
,, weine  nicht",  und  der  dieses  sagte  rief  den  gestorbenen  Sohn 
ins  Leben  zurück  und  gab  ihn  seiner  Mutter  wieder.  Das  Weinen 
der  Mutter  wird  in  dieser  Erzählung  dadurch  gerechtfertigt, 
dass  die  Auferweckung  des  Gestorbenen  das  Leben  als  ein  Gut 
und  den  Tod  als  einen  schmerzlichen  Verlust  aufweist.  Seneca 
will  den  Schmerz  der  trauernden  Wittwe  und  Mutter  dadurch 
heben,  dass  er  das  menschliche  Leben  überhaupt  mit  den  aller- 
schwersten  Beschuldigungen  auf  die  Anklagebank  bringt.  Das 
Leben,  sagt  er,  ist  ein  heimtückisches  Ding  (insidiosum  est 
vita),  es  wird  uns  förmlich  octroyirt,  wir  werden  damit  über- 
fallen, ohne  und  ehe  wir  es  wissen,  denn  wüssten  wir  davon, 
so  würden  wir  es  abgelehnt  haben.  Kann  man  die  göttliche 
Gabe  des  Lebens,  Anfang  und  Voraussetzung  aller  göttlichen 
Wohlthaten  lästerlicher  schmähen?  Nicht  tröstlicher  lautet  in 
derselben  Trostschrift  ad  Marciam  der  folgende  Spruch:  „mors 
efficit,  ut  nasci  non  sit  supplicium"  (XX  2).  Wenn  es  keinen 
Tod  gäbe,  dann  wäre  dieses  Leben  eine  ewige  Strafe,  der  Tod 

9 


130 

macht  es,  dass  die  Strafe  des  Lebens  venvandelt  wird,  ohne 
die  SterbHchkeit  wäre  das  Leben  eine  ewige  Strafe,  nämHch 
die  ewige  Verdammniss,  der  Tod  mildert  die  ewige  Ver- 
dammniss  in  eine  zeitweilige  Kerkerstrafe.  Bekanntlich  hält 
Seneca  die  gewöhnliche  Sprache  für  verfälscht,  ist  es  nun  nicht, 
als  wenn  er,  um  das  Geschäft  des  Tröstens  zu  vereinfachen, 
den  auf  dem  natürlichen  Gemeingefühl  der  Menschheit  ruhenden 
Sprachgebrauch  über  Leben  und  Sterben,  über  Glück  und 
Unglück  gradezu  auf  den  Kopf  stellt?  Diesem  pessimistischen 
Sprachgebrauch  gehören  auch  folgende  Aussprüche  an:  ,,si  vis 
credere  altius  veritatem  intuentibus  omnis  vita  supplicium  est"  (Ad 
Polyb.  IX  6);  ,,tota  vita  flebilis  est"  (Ad  Marc.  XI  i);  „Cur  vivere 
expeditr  Cur  loquir  cui  vita  non  tormentum  est?"  (N.  Q.  V  i8  15). 
Die  finstersten  Klagen  über  den  Jammer  des  allgemeinen 
Lebens,  welche  wir  aus  dem  Munde  Hiobs  mitten  in  seinen 
schwersten  Anfechtungen  vernehmen,  ertönen  hier  als  Weisheits- 
sprüche zum  Tröste  der  Menschheit.  Zugleich  aber  entdecken 
wir  auch  hier  an  diesem  finsteren  Ort  die  Quelle,  aus  welcher 
die  wortreichen  Tröstungen  Senecas  in  seinen  drei  Trost- 
schriften und  in  seinen  beiden  Trostbriefen  (Ep.  XCI  u.  Ep.  IC) 
geflossen  sind.  Abgesehen  nämlich  von  einzelnen  Partien,  wo 
eine  wärmere  Theilnahme  durchschlägt,  wie  namentlich  in  der 
Schrift  ,,ad  Helviam  matrem"  besteht  die  ganze  Tröstung  in 
der  überschwenglichen  Verkündigung,  dass  Alles,  was  Einer 
verloren  hat,  keinen  Werth  besitzt,  oder  dass  der  Verlust  in 
dem  Gesetz  einer  fatalistischen  Nothwendigkeit  begründet  ist. 
Mit  dem  ersten  oder  mit  dem  zweiten  Argument  sucht  auch 
die  in  Fragmenten  erhaltene  Schrift  ,,ad  Gallionem  de  remediis 
fortuitorum  liber"  die  durch  das  Schicksal  gestörte  Ruhe 
des  Menschen  wieder  herzustellen.  Es  klagt  Einer:  ,,oculos 
perdidi",  darauf  trösten  dieRemedia:  ,, habet"  auch  ,,nox  suas 
voluptates"  (XII  i).  ,.Moneris"  sagt  ein  Furchtsamer  zu  sich 
selbst,  die  Remedia  rufen  ihm  zu:  ,,stultum  est  timere,  quod 
vitare  non  possis"  (II  3).  Wer  Trauernde  trösten  und  Furcht- 
same beruhigen  und  ermuntern  will,  muss  vor  Allem  auf  die 
Seele  dieser  Leidenden  den  Eindruck  machen,  dass  er  selber 
in  sich  fühlt,    was  jene    Leidenden    bekümmert    und    bedrückt. 


131 

Darum  sagt  der  Apostel:  ,, weinet  mit  den  Weinenden".  Hinzu 
kommen  muss  aber  dann  ein  zweiter  Eindruck,  nämlich  die 
Leidenden  müssen  mit  Sicherheit  merken,  dass  die  Zusprechen- 
den nicht  bloss  mitleiden,  selbst  ihr  Leiden  fühlen  und  tragen, 
sondern  auch  mit  der  Geisteskraft  begabt  sind,  welche  das 
Leiden  überwindet.  Wie  weit  ist  Seneca  entfernt  von  dieser 
einzig  wahren  und  wohlthuenden  Hülfe  für  die  Leidenden? 

Der  Vorwurf,  den  Lactanz,  sonst  ein  Bewunderer  Senecas, 
gegen  die  Philosophen  überhaupt  erhebt,  trifft  vor  Allem  eben 
diesen  Stoiker.  ,,Si  in  homine  praeclarum  et  excellens  bonum 
misericordia,  idque  divinis  testimoniis  et  bonorum  malorumque 
consensu  Optimum  judicatur,  apparet  philosophos  longe  abfuisse 
ab  humano  bono,  qui  neque  praeceperunt  ejusmodi  quidquam 
neque  fecerunt,  sed  virtutem,  quae  in  homine  propemodum 
singularis  pro  vitio  semper  habuerunt"  (Instit.  VI  14  i).  Bei 
diesem  Vorwurf  theoretischer  und  praktischer  Unmenschlichkeit 
hat  Lactanz  offenbar  den  Seneca  vor  Augen.  Seneca  schreibt 
eben  in  derjenigen  Abhandlung,  welche  den  Titel  ,,de  dementia" 
führt:  ,,plerique  misericordiam  ut  virtutem  laudant  et  bonum 
hominem  misericordem  vocant.  Et  haec  vitium  animi  est." 
Wie  die  Grausamkeit  eine  Uebertreibung  der  Strenge  ist,  so 
ist  die  Barmherzigkeit  eine  Ueberspannung  der  Milde  (De  dem. 
II  4  4).  ,, Misericordia  est  vitium  pusilli  animi"~  (1.  c.  V.  i). 
,, Misericordia  est  aegritudo  animi"  (1.  c.  V  4).  Man  komme, 
lehrt  Seneca,  den  Thränen  zu  Hülfe,  aber  man  weine  nicht  mit 
den  Weinenden.  ,,Succurret  sapiens  alienis  lacrimis,  non  accedet" 
(1.  c.  II  6  2).  Sapiens  donabit  lacrimis  maternis  filium  —  sed 
faciet  ista  tranquilla  mente,  vultu  suo;  non  miserebitur,  sed 
succurret,  sed  proderit"  (1.  c).  Seneca  weiss  es,  dass  die 
stoische  Philosophie  wegen  ihrer  unmenschlichen  Härte  und 
Unempfindlichkeit  getadelt  wird:  „scio  male  audire  apud 
imperitos  sectam  Stoicorum  tamquam  nimis  duram,  objicitur 
illi  quod  sapientem  negat  misereri,  negat  ignoscere"  (II  5  2). 
Obgleich  er  im  Allgemeinen  diesen  Vorwurf  nicht  gelten  lässt, 
so  gestattet  er  sich  zuweilen  Nachlass  von  der  ganzen  Strenge 
der  Schule,  bekennt  auch  wohl,  dass  er  nicht  gebunden  sei  an 
die  strenge  Regel  der  Stoa,  sondern  sich  eine  gewisse  Freiheit 

9* 


132 

vorbehalte.  Aber  man  übersehe  nicht,  dass  Lactanz  nicht 
bloss  die  Lehre  der  Philosophen  über  die  Barmherzigkeit 
tadelt,  sondern  auch  ihr  thatsächliches  Verhalten  dem  mensch- 
lichen Leiden  gegenüber.  Was  nun  Seneca  anlangt,  so  kennen 
wir  nicht  bloss  seine  Lehre  über  die  misericordia  als  eine 
Seelenkrankheit,  sondern  es  liegt  uns  auch  sein  Verhalten  in 
seinen  Trostschriften  offen  vor  Augen.  In  diesem  Verhalten 
ist  die  strenge  Regel  der  stoischen  Apathie  durchgeführt,  indem 
entweder  das  verlorene  Gut  als  ein  werthloses,  in  einen 
täuschenden  Schein  gehülltes  Ding  dargestellt  wird,  oder  auch 
die  Erwägung  der  starren  Nothwendigkeit  des  Verlustes  jedem 
Gefühl  des  V^erlustes  zuvorkommt  und  dasselbe  erstickt  vor 
seiner  Geburt.  Nach  Ausweis  dieses  thatsächlichen  Verhaltens 
will  Seneca  das  grosse  Werk  der  Tröstung  und  Beruhigung 
leidender  Seelen  durch  eine  blosse  Verstandesoperation,  welche 
den  auf  dem  menschlichen  Gemeingefühl  beruhenden  Sprach- 
gebrauch über  Leben  und  Sterben,  über  Glück  und  Unglück 
gewaltsam  durchbricht  und  zum  Theil  ins  Gegentheil  verkehrt, 
zu  Stande  bringen. 

An  zwei  verschiedenen  Stellen  spricht  Seneca  von  dem 
Stoiker  Stilbon  und  stellt  denselben  hier  als  leuchtendes  Vor- 
bild der  vollständigen  Ueberlegenheit  des  Weisen  über  jedes 
auch  das  schwerste  äussere  Schicksal.  Stilbon  wohnte  in 
Megara.  Diese  Stadt  wurde  von  Demetrius,  dem  Städte- 
bezwinger erobert,  Stilbon  verlor  Vaterland,  Frau  und  Kinder, 
er  allein  rettete  sich  aus  der  brennenden  Stadt.  Vor  den 
Sieger  geführt  ward  er  gefragt,  ob  er  Etwas  verloren  habe ; 
er  antwortete:  ,,alle  meine  Güter  sind  bei  mir,  verloren  habe 
ich  Nichts".  ,, Siehe  da",  sagt  Seneca,  ,,das  ist  ein  tapferer 
und  wackerer  Mann".  ,,Ecce  vir  fortis  ac  strenuus"  (Ep.  IX  1 8  19). 
Durch  dieses  Beispiel  will  Seneca  thatsächlich  darthun,  dass 
auch  ein  noch  so  grosser  Verlust  auf  den  Weisen  darum  keinen 
Eindruck  macht,  weil  der  Verlust  von  Dingen,  die  für  den 
Weisen  deshalb  keinen  Werth  haben,  weil  sie  nicht  zu  ihm 
gehören,  schlechterdings  nicht  gefühlt  wird,  ja  gar  nicht  an 
ihn  herankommt.  Zu  dem  Ende  wird  Stilbon  in  der  Abhand- 
lung  ,,de   constantia"    ausführlich    redend    eingeführt    (V    6   7, 


133 

VI  I — 7).  Stilbon  wiederholt  sein  stolzes  Wort :  „verloren  habe 
ich  Nichts",  ,, Alles  was  mir  gehört,  ist  bei  mir"  und  legt 
dieses  Wort  folgendermassen  aus:  ,, einsam,  Alles  in  Feindes  Hand 
schauend,  bekenne  ich,  dass  mein  Vermögensstand  vollständig 
und  unversehrt  ist,  ich  besitze  und  halte  Alles,  was  ich  gehabt, 
wo  aber  das  ist,  was  hinfällig  ist  und  seinen  Besitzer  wechselt, 
weiss  ich  nicht;  was  meine  Sachen  betrifft,  so  sind  sie  bei  mir 
und  werden  bei  mir  bleiben".  Vielleicht  kann  sich  ein  Leser 
vermittelst  seiner  Phantasie  einen  Augenblick  in  diese 
schwindelnde  Höhe  stoischer  Apathie  versetzen,  aber  bei 
ruhiger  Betrachtung  dieser  überspannten  Rede  wird  er 
erschrecken.  Stilbon  hatte  mehrere  Töchter,  auch  diese  sind 
verloren,  er  rechnete  sie  aber  unter  die  Dinge,  die  nicht  zu 
ihm  gehören.  Es  ist  schon  schlimm,  dass  er  sich  nicht  begnügt, 
den  Verlust  der  Töchter  wenigstens  stillschweigend  zu  tragen, 
sondern  die  Töchter  als  Dinge,  die  nicht  zu  ihm  gehören, 
ausdrücklich  noch  nennen  muss.  Aber  das  Wort,  mit  welchem 
er  der  Töchter  gedenkt,  ist  wahrhaft  entsetzlich.  ,,Filias  meas, 
quis  casus  habeat  an  pejor  publico  nescio.".  Dieser  Vater  kann 
es  über  sich  gewinnen,  nicht  bloss  kalt  und  stolz  zu  erklären, 
er  wisse  nicht,  was  in  einer  erstürmten  Stadt  aus  seinen 
Töchtern  geworden  ist,  sondern  sogar  auszusprechen,  dass 
ihnen  vielleicht  noch  etwas  Aergeres  als  Tod,  als  das  allgemeine 
Loos,  könnte  w^iderfahren  sein.  Lipsius  erklärt  richtig: 
,, publicum  ad  vulgus  aliosque  refert,  qui  honeste  perierunt, 
istae  cum  dedecore  aut  post  illud  vivent".  Ob  Stilbon  dieses 
unmenschliche  Wort  wirklich  gesagt,  ist  für  uns  hier  gleich- 
gültig. Seneca  führt  es  an,  um  die  vermeintliche  Erhabenheit 
dieses  Stoikers  zu  veranschaulichen.  Wenn  das  unbekannte 
Schicksal  verlassener  Töchter  in  einer  eben  von  einem  grau- 
samen und  wollüstigen  Tyrannen  im  Sturm  eroberten  Stadt 
dem  Vater  gleichgültig  ist,  und  wenn  diese  Gleichgültigkeit  dem 
Seneca  als  ein  Zeichen  hoher  Weisheit  gilt,  dann  ist  diese  Weis- 
heit   die  Erstarrung  des  letzten  Tropfens  der  Menschlichkeit*). 


*)  Uebrigens  zeigt  Plutarchs  Anekdote  von  Stilbon  II  467  f  bis  468  a  die- 
selbe unmenschliche  Gefühllosigkeit  dieses  Stoikers  in  einer  noch  krasseren  Gestalt. 


134 

Wenn  nun  dennoch  durch  diese  Weisheit  alle  Güter  des 
Lebens  ihren  Werth  verlieren,  und  das  Leben  selbst  für  eine 
Strafe  erklärt  wird,  was  soll  dann  den  Menschen  abhalten, 
unter  Umständen  dieses  Leben  von  sich  zu  werfen  ?  In 
der  That  giebt  es  wohl  keinen  Schriftsteller,  der  so  oft  und 
so  beredt  dem  Selbstmord  eine  Lobrede  gehalten  wie  Seneca. 
Aber  erst  dann  verstehen  wir  die  Verwerflichkeit  dieser 
Empfehlung  des  Selbstmordes  recht,  wenn  wir  uns  ander- 
seits klar  machen,  dass  Seneca  zu  gewissen  Zeiten  trotz 
der  angeführten  pessimistischen  Sätze  den  Werth  des  Lebens 
sehr  wohl  zu  schätzen  weiss.  Wie  denn  überhaupt,  wir  müssen 
das  wiederholen,  der  Irrthum  und  die  Sünde  Senecas  nicht  die 
allgemein  heidnische  Verderbtheit  ist,  sondern  eine  Steigerung 
derselben,  ein  Abfall  von  einem  besseren  Wissen  und  Gewissen. 

So  starr  und  so  oft  Seneca  auch  den  Selbstmord  empfiehlt 
und  lobt,  so  will  er  doch  nicht  jede  Weise  billigen,  wenn 
Einer  seinem  Leben  eigenmächtig  ein  Ziel  setzt.  Seneca 
entwirft  eine  meisterhafte  Schilderung  des  ,,marcor"  und 
,,languor",  dieser  kolossalsten  Blasirtheit  auf  der  Höhe  der 
römischen  W^eltanschauung.  ,,Man  hat  alle  Genüsse  und  alle 
Abwechselungen  durchgekostet  bis  zur  Augenweide  an  den 
Blutströmen  des  Amphitheaters,  aber  der  unersättliche  Durst 
der  matten  Seele  nach  dem  Labsal  einer  wirklichen  Ver- 
änderung lässt  sich  nicht  stillen;  bei  jedem  scheinbar  Neuem 
ruft  dieser  Römer:  ,,quousque  eademr"  Wie  lange  dies  ewige 
Einerlei?"  Diese  Schilderung  schliesst  mit  den  Worten :  ,,infirmi 
sumus  ad  omne  tolerandum,  nee  laboris  patientes  nee  voluptatis 
nee  uUius  rei  diutius.  hoc  quosdam  egit  ad  mortem"  (De 
tranq.  II  15).  Es  ist  klar,  dass  Seneca  den  Selbstmord  solcher 
Schwächlinge  nicht  als  eine  löbliche  That  sondern  als  eine 
unwürdige  Impotenz  ansieht.  Er  zählt  auch  verschiedene 
,,causae  frivolae"  auf,  welche  Menschen  zum  Selbstmord 
bestimmen.  ,,Alius  ante  amicae  fores  laqueo  pependit,  alius  se 
praecipitavit  e  tecto,  ne  dominum  stomachantem  diutius  audiret" 
(Ep.  IV  4).  ,,Vir  fortis  et  sapiens  non  fugerc  debet  e  vita  sed 
exire"  (Ep.  XXIV  25).  Er  hält  es  unter  gegebenen  Um- 
ständen   für    Pflicht,     der    Sehnsucht    nach    dem    Sterben    zu 


J35 

wehren   und    das   Leben   fortzusetzen.      Es   giebt   nach    Seneca 
Umstände,     unter    denen    es    moralisch    verwerflich    ist,    seine 
Zuflucht    zum    Tode    zu    nehmen.      Wenn    Einer    nicht    seiner 
selbst   wegen,    sondern    für    die,    denen    er   nützlich    sein    kann, 
sein  Leben  erhält,    von   dem   wird  geurtheilt:    ,,liberaliter  facit, 
quod  vivit"  (Ep.  XCVIII   15    16).      Li    diesem  Fall   ist  Seneca 
selbst  zweimal    gewesen.      Aus   seiner  Jugend   erzählt   er:    ,,ad 
summam  maciem    deductus    saepe    impetum    cepi  abrumpendae 
vitae,  patris  me  indulgentissimi  senectus  retinuit;  cogitavi   enim 
non    quam    fortiter    ego   mori    possem,    sed    quam    ille    fortiter 
desiderare     non     posset,     itaque    imperavi     mihi,     ut  viverem" 
(Ep.  LXXVIII  2).     Und  was  er  in  seiner  Jugend  seinem  Vater 
zu  Liebe  gethan,  das  hat  er  im  Alter  für  seine  geliebte  Gattin 
Paulina  gethan.     Es  ist  der  Mühe  werth,    ihn   darüber    zu  ver- 
nehmen.    ,,Bono    viro    vivendum    est   non  quamdiu    juvat,    sed 
quamdiu    oportet:    ille    qui     non    uxorem,     non    amicum    tanti 
putat,    ut   diutius   in    vita   commoretur,    qui    perseverabit    mori 
delicatus  est.     Quid  jucundius  quam  uxori  tam   carum  esse,  ut 
propter  hoc  tibi  carior  fias?"  (Ep.   CIV  3 — 5).     Hier  sind  nun 
freilich   ganz   besonders    naheliegende    Rücksichten    vorhanden, 
welche    dem  Leben    besonderen    Werth    und    Inhalt    verleihen, 
aber  bietet  denn   nicht   auch  der  Denkart  unseres   Philosophen 
eine  jede  Lage  des   Lebens  Gelegenheit  und  Anlass,    das  Gute 
zu  üben  ?     Der  stoische  Grundsatz,    dass   das    ganze  Leben  ein 
fortgehender  actus   sein  soll,  ist  ihm  sehr  geläufig  und  wichtig- 
,, Sapiens  semper  in  actu  est"  (Ep.  LXXXV  37).     ,,Est,  crede 
mihi,     virtuti     etiam     in    lectulo    locus"    (Ep.    LXXVIII    21). 
,,Praecepta    nostra     imperant    in    actu    mori"      (Ep.     VIII     i). 
Seneca  fasst  diesen  Grundsatz  nicht  etwa  so,  dass  diese  Thätig- 
keit    ausgeschlossen    wäre,    so    oft    ein    äusseres  Hinderniss  die 
Auswirkung  seiner  Absichten  und  Kräfte  unmöglich  macht,  im 
Gegentheil,  er  findet  ganz  wie  die  christliche  Ethik  in   solchen 
Hemmungen  die  besten  Anlässe  und  Aufforderungen,  die  wahre 
Kraft     zu     üben     und     die    reinste    Thätigkeit    zu    entwickeln. 
„Sapienti  non  nocetur  a  paupertate,  non  a  dolore,  non  ab  aliis 
tempestatibus  vitae.  non  enim  prohibentur  opera  eins  omnia,  sed 
tantum  ad  alios  pertinentia:  ipse  semper  in  actu  est,  in  effectu, 


136 

tunc  maximus,  cum  illi  fortuna  se  opposuit"  (Ep.  LXXXV  37), 
Nach  dieser  Anschauung  heisst  es  ganz  folgerichtig  und  wahr- 
haft erhaben :  ,,numquam  usque  eo  interclusa  sunt  omnia,  ut  nullt 
actioni  honestae  locus  sit"  (De  tranq.  IV  8).  ,,Numquam  potest 
non  esse  virtuti  locus"  (Medea  161).  Noch  bedeutsamer  ist 
es,  wenn  dieser  Grundsatz  auf  bestimmte  Fälle  der  gehemmten 
Thätigkeit  ausdrücklich  angewandt  wird.  So  heisst  es  von  der 
Armuth :  ,,propter  paupertatem  prohibetur  docere,  quemad- 
modum  tractanda  respublica  sit,  at  illud  docet,  quemadmodum 
tractanda  sit  paupertas.  per  totam  vitam  opus  eius  extenditur. 
ita  nulla  fortuna,  nulla  res  actus  sapientis  excludit,  id  enim 
ipsum  agit,  quo  alia  agere  prohibetur"  (Ep.  LXXXV  38). 
Ausdrücklich  ferner  wird  dieser  Grundsatz  angewandt  auf  den 
Zustand  der  Krankheit.  Auf  die  Einwendung  ,, nihil  agere 
sinit  morbus,  quod  me  omnibus  abduxit  officiis",  heisst  es: 
„corpus  tuum  valetudo  tenet  non  animum.  si  animus  tibi  esse 
in  usu  solet,  suadebis,  docebis,  audies,  disces,  quaeres,  recorda- 
beris.  quid  porro?  nihil  agere  te  credis,  si  temperans  aeger  sis  r 
ostendes  morbum  posse  superari  vel  certe  sustineri.  est  mihi 
crede  virtuti  etiam  in  lectulo  locus"  (Ep.  LXXVIII  20).  Und 
damit  übereinstimmend  heisst  es  de  remediis  fort.  VI  i  r 
,,Aegroto".  ,,Venit  tempus,  quo  experimentum  mei  caperem, 
non  in  mari  tantum  aut  in  proelio  vir  fortis  apparet :  exhibetur 
etiam  in  lectulo  virtus." 

Man  muss  gestehen,  dass  diese  Lehre,  welche  jeden 
Leidenszustand  als  eine  sittliche  Aufgabe  fasst,  jeder  Ver- 
suchung zum  Selbstmord  gewachsen  ist.  Der  universale  trefflich 
geformte  Grundsatz :  ,, sapiens  id  ipsum  agit,  quo  alia  agere 
prohibetur"  umschliesst  alle  Fälle,  selbst  den  allerbedenklichsten, 
den  Augustinus  C  D.  I  21 — 28  behandelt.  Aber  eben  dieser 
Lichtseite  steht  eine  finstere  Nachtseite  gegenüber.  Einen  um 
so  traurigeren  Eindruck  nämlich  macht  es  nun,  dass  derselbe 
Seneca  dessungeachtet  dem  Selbstmord  in  so  ausgedehnter 
Weise  das  Wort  redet,  obwohl  der  Versuch  zum  Selbstmord 
in  dem  damaligen  Rom  als  ein  Makel  vor  dem  Censor  galt 
(Sueton  Claudius  XVI).  Die  Anpreisung  des  Selbstmordes 
geht  durch  alle  Schriften  Senecas  hindurch,  durch  die  früheren 


137 

wie  die  späteren,  durch  die  poetischen  wie  die  prosaischen. 
Charakteristisch  bei  diesen  Anpreisungen  ist  es,  dass  dabei  von 
jener  erhabenen  Lehre  über  die  sitthche  Behandlung  aller 
Leidenszustände  gänzlich  abgesehen  wird.  Es  muss  also,  so 
oft  es  zu  dieser  Empfehlung  des  Selbstmordes  kommt,  zuvor 
jene  Erleuchtung  verdunkelt  und  zurückgedrängt  worden  sein. 
Um  den  vollen  Eindruck  dieser  düsteren  Schattenseite  Senecas 
zu  empfangen,  müssen  wir  die  vornehmsten  dahin  gehörenden 
Aussprüche  zum  Nachlesen  anmerken  (De  ira  III  15  3,  ad 
Marc.  XX  3,  de  provid.  VI  7,  Ep.  XVII  9,  XII  10,  LVIII  35, 
LXIX  6,  LXX  5  16,  XCI  20,  N.  Q.  VI  32  5,  Oed.  fragm. 
151 — 153,  Phaedra  878 — 886).  ,,Cum  velis  mori,  in  tua  manu 
est"  (Ep.  CXVII  22). 

Was  ergiebt  sich  uns  aus  dieser  entsetzlichen  Leichtigkeit 
und  Kunstfertigkeit,  den  eigenmächtigen  Tod  zu  preisen  ?  Wir 
ersehen  daraus,  dass  Seneca  mitten  in  der  Wirklichkeit  des 
menschlichen  Lebens,  welches  immerdar  voller  Anstösse  und 
Hemmungen  ist,  von  der  herrlichen  Höhe  jener  Grundsätze, 
nach  welchen  jede  Lebenshemmung  eine  Steigerung  der  sitt- 
lichen Kraft  indicirt  und  eben  darin  ihre  göttliche  Bestimmung 
hat,  jeden  Augenblick  wieder  in  die  trostlose  Wirklichkeit  ver- 
sinkt, in  welcher  er  den  äusseren  Gütern  allen  Werth  abspricht, 
ohne  die  geistigen  Güter  zum  Besitzthum  iind  als  festen 
sicheren  Inhalt  des  Lebens  erringen  zu  können.  Wenn  aber 
dies,  was  bedeutet  dann  die  gepriesene  Freiheit,  welche  er 
durch  den  Tod  als  durch  einen  Raub  an  sich  reissen  will? 
Muss  dasselbe  Gesetz,  dessen  Wirkung  wir  schon  einmal 
erkannt  haben,  dass  alle  Zukunft  durch  die  Gegenwart  bedingt 
ist,  auch  hier  wiederkehren?  Wenn  die  Gegenwart  diesseits 
des  Todes  allen  Inhalt  aufgezehrt  hat,  was  kann  dann  die 
Zukunft  jenseits  des  Todes  bringen?  Wir  haben  in  dem 
voraufgehenden  Abschnitt  nachgewiesen,  dass  Seneca  Augen- 
blicke kennt,  in  welchen  er  den  Tod  als  die  Geburt  eines 
neuen  Lebens  feiert,  es  entging  uns  aber  nicht,  dass  er  darauf 
besteht,  dass  diese  himmlische  Zukunft  in  dem  irdischen 
Dasein  ihren  Anfang  haben  müsse.  Wie  wird  es  nun  aber  mit 
dieser    Aussicht,     wenn    ihm,     wie    wir    nunmehr    sehen,     für 


138 

gewöhnlich  in  den  Bedrängnissen  des  Lebens  die  Gegenwart 
aller  Empfänglichkeit  für  die  ewigen  Güter  baar  und  ledig 
erscheint?  Mit  überraschender  Wahrheit  und  Deutlichkeit  sagt 
Seneca  Ep.  XXII  17,  ,,dass  die  Todesfurcht  darin  ihren  Grund 
habe,  dass  wir  uns  all  der  Güter  entblösst  finden,  nach  denen 
wir  uns  am  Ende  des  Lebens  so  schmerzlich  sehnen",  denn 
es  heisst:  ,, Nichts  ist  vom  Leben  haften  geblieben,  verbraucht 
ist  es  und  verflossen".  Nun  ist  aber  doch  diese  Armuth  an 
allem  wahren  Erwerb  des  Lebens  in  all  den  Fällen  gewiss  am 
grossesten,  in  welchen  die  Zuflucht  zu  eigenmächtigem  Tode 
in  Aussicht  gestellt  wird.  Dann  aber  tritt  der  ungeheure 
Widerspruch  zu  Tage,  dass  derselbe  Tod  einmal  als  die 
hoffnungsloseste  Nichtigkeit,  ein  andermal  als  der  höchste  Trost 
dargestellt  wird.  In  der  That  verbirgt  sich  dieser  Widerspruch 
auch  da  nicht,  wo  Seneca  von  dem  höchsten  Vorbild  des 
Lebens  und  Sterbens  spricht. 

Cato  Uticensis,  ,,Cato  ille  virtutum  viva  imago"  (De  tranq. 
XVI  i)  wird  von  Seneca  wiederholt  auch  wegen  eigenhändigen 
Todes  gepriesen.  Der  berühmte  stolze  Vers  des  Lucanus, 
Neffen  des  Seneca: 

,,Victrix  causa  diis  placuit,  sed  victa  Catoni"  (Phars.  I  128) 
ist  ein  Nachhall  der  begeisterten  Verehrung  des  Onkels.  Cato 
wird  genöthigt,  sich  in  das  Schwert  stürzend,  was  es  mit  ihm 
selbst  und  mit  der  Republik  auf  sich  habe,  mit  einem  Schlag 
off"enbar  zu  machen  (Ep.  XIII  14,  LXV  7,  LXXXII  12, 
XCVIII  12).  Cato  hat  sich  für  das  Vaterland  und  für  die 
Freiheit  den  mächtigen  Triumvirn,  welche  die  Welt  beherrschten, 
und  in  denen  Cato  die  Gefährdung  der  alten  republikanischen 
Freiheit  erkannte,  entgegengestellt.  Cato  unterlag  und  jene, 
,,die  Räuber  der  Freiheit  und  Verwüster  des  Staatswesens", 
gewannen  den  Sieg.  Als  nun  Cato,  in  einen  entfernten  Winkel 
der  römischen  Welt  zurückgedrängt,  die  letzte  Hoffnung  auf 
Rettung  der  Freiheit  in  der  Welt  verschwinden  sah,  da  gab 
er  sich  den  Tod  durch  einen  zweimaligen  Gewaltact  (De  prov. 
II  II  12,  De  tranq.  XVI  4).  Lucanus  stellt  den  freiwilligen 
Tod  Catos  dar  als  ein  Opfer,  das  er  darbringt,  um  mit  seinem 
Blut    die   Völker    loszukaufen    und    die    schlechten    Sitten    der 


139 

Römer  zu  sühnen  (Phars.  II  306  307  312  313).  Aber  das  ist 
eine  poetische  Zuthat,  welche  der  Dichter  aus  den  mythischen 
Zeiten  des  Codrus  und  Curtius  in  die  nüchterne  Gegenwart 
versetzt.  Cicero,  der  wie  Seneca  in  Cato  einen  vollendeten 
Stoiker  verehrt  und  diesen  Charakter  gleichfalls  in  dem  frei- 
willigen Tode  Catos  bewährt  findet,  sagt  sehr  einfach:  „Cato 
wollte  lieber  sterben  als  das  Angesicht  der  Tyrannen  sehen" 
(De  off.  I  31).  Und  Seneca  schreibt,  den  Cato  redend  ein- 
führend: ,, nihil  egisti,  fortuna,  omnibus  conatibus  meis  obstando. 
non  pro  mea  adhuc,  sed  pro  patriae  libertate  pugnavi"  (Ep. 
XXIV  7).  ,,Per  vulnus  Catonis  ultimum  et  fortissimum 
libertas  araisit  animam"  (Ep.  XCV  72).  Die  Freiheit  des 
römischen  Wesens  ist  hin  für  immer,  sie  stirbt  mit  Cato,  denn 
er  allein  repräsentirt  sie.  Auf  der  einen  Seite  steht  die  blinde 
Volksmasse,  auf  der  Gegenseite  stehen  die  Träger  der 
beginnenden  Tyrannei,  in  der  Mitte  zwischen  Beiden  stehen 
Cato  und  die  Republik,  und  diese  Beiden  sterben  zugleich. 
,,Die  Wunde,  welche  Cato  tödtet,  nimmt  zugleich  der  Freiheit 
das  Leben."  Und  weil  die  Freiheit  hin  ist  ein  für  allemal,  so 
wird  selbst  Brutus  von  Seneca  der  Thorheit  bezichtigt.  Etwas 
erstrebt  zu  haben,  dessen  Zeit  vorüber  ist,  was,  da  die  alten 
Sitten  abhanden  gekommen,  nicht  wieder  hergestellt  werden 
kann  (B.  II  20  2).  Es  waltet  also  die  Verzweiflung,  welche 
in  dem  diesseitigen  Leben  alles  wahrhaft  Gute  für  verloren 
hält.  ,,Cato,  cum  aevum  animo  percurrit,  dicet:  omne  humanum 
genus,  quodque  est,  quodque  erit  morte  damnatum  est"  (Ep. 
LXXI  15).  Weil  Cato  die  Sache  der  ganzen  Menschheit  für 
verloren  hält,  diese  Verzweiflung  ist  es,  die  ihn  in  den  Tod 
treibt.  Er  stirbt  nicht  für  irgend  Etwas,  denn  es  giebt  Nichts 
mehr,  was  des  Lebens  oder  des  Sterbens  werth  gehalten  werden 
könnte,  Cato  stirbt  durch  seine  eigene  Hand,  um  sich  selbst, 
wie  Seneca  sagt,  ,,in  Sicherheit  zu  bringen". 

Und  was  für  eine  Sicherheit  ist  das  ?  Es  findet  sich 
grade  so,  wie  wir  es  erwarten  müssen.  Die  Verzweiflung  an 
dem  Diesseits  ist  zugleich  die  Verzweiflung  an  dem  Jenseits, 
Mit  der  Erlöschung  des  göttlichen  Lichtes  in  der  irdischen 
Dunkelheit    ist    auch     das    Licht    für    das    himmlische    Dasein 


140 

dahin.  An  den  allermeisten  Stellen,  wo  Seneca  von  dem  Tode 
und  dessen  Folgen  redet,  ist  er  in  den  Stricken  des  in  dem 
heidnischen  Alterthum  allgemein  verbreiteten  Zweifels  und  Un- 
glaubens an  die  Fortdauer  gefangen.  Die  zuweilen  aus- 
gesprochene Hoffnung  auf  jenseitiges  Leben  hält  diesem 
Zweifel  gegenüber  nicht  Stand.  Es  fragt  sich,  sagt  Seneca, 
ob  diese  ,,fama  sapientium"  von  der  Unsterblichkeit  wahr  ist 
(Ep.  LXIII  i6).  „Mors  aut  finis  est  aut  transitus !"  (Ep.  LXV24)  ; 
,,animus  aut  in  meliorem  emittitur  vitam  aut  revertetur  in 
totum"  (Ep.  LXXI  16).  ,,Juvabat  de  aeternitate  animarum 
quaerere  imo  mehercle  credere",  und  diese  angenehme  Besehäfti- 
gung  vergleicht  er  in  demselben  Athem  mit  einem  schönen 
Traum,  aus  dem  er  aufgeweckt  worden  (Ep.  CII   i   2). 

Auf  wie  schwankenden  Füssen  hier  der  Glaube  an  ewiges 
Leben  steht,  erhellt  am  deutlichsten  aus  dem  eben  angeführten 
Brief  Dieser  Brief  erhebt  sich  in  seinem  Hauptinhalt  zu  der 
höchsten  Höhe  dieses  Glaubens:  ,,dies  iste,  quem  tamquam 
extremum  reformidas,  aeterni  natalis  est"  (26).  Dessungeachtet 
beginnt  eben  dieser  Brief  mit  der  Klage:  ,,molestus  est 
jucundum  somnium  videnti,  qui  excitat.  bellum  somnium 
perdidi"  und  schliesst  mit  der  trostlosen  Annahme:  ,,animum 
solutum  statim  spargi"  (30).  In  der  Regel  steht  es  mit  der 
Behandlung  dieser  Materie  so,  dass  die  Wage  des  Zweifels 
sich  stark  auf  die  negative  Seite  neigt  und  eben  gegen  das 
Nichtsein  nur  noch  irgend  ein  tapferer  Spruch  ausgespielt  wird. 
,,Non  potest  miser  esse,  qui  nuUus  est"  (Ad  Marc.  XIX  5). 
,,Mors  est,  non  esse  id  quod  ante  fuit,  sed  quäle  sit  jam  scio, 
hoc  erit  post  me,  quod  ante  me  fuit"  (Ep.  LIV  4).  ,,Nulla  enim 
res  eum  laedit,  qui  nullus  est"  (Ep.  XLIX  30).  ,, Nonne  tibi 
videbitur  stultissimus  omnium,  qui  flevit,  quod  ante  mille 
annos  non  vixerat?  Aeque  stultus  est,  qui  flet,  quod  post 
mille  annos  non  vivet'-  (Ep.  LXXVII  11,  cfr.  Ep  XCII  35, 
XCII  10).  Es  klingt  gar  herrlich,  wenn  die  ,,vita  beata"  als 
,,securitas"  und  ,,perpetua  tranquillitas"  beschrieben  wird 
(Ep.  XCIII  3),  und  wenn  diese  Sicherheit  und  Ruhe  im  Gegen- 
satz- zu  allen  Fährlichkeiten  und  Störungen  dieses  Lebens  als 
eine    Gabe    des  Todes    gepriesen  wird.     Aber    wie    wird    man 


141 

«enttäuscht,  wenn  nun  die  ,,tranquillitas"  nach  dem  Tode  mit 
derjenigen  Tranquillitas  identificirt  wird,  welche  dem  Leben 
voraufgegangen  ist  (Ad  Marc.  XIX  5)!  Wahrlich,  das  ist  eine 
Securitas,  welche  Demetrius  das  ,,mare  mortuum"  nennt 
(Ep.  LXVII  14),  um  Nichts  besser,  als  das  buddhistische 
Nirwana,  ein  Nihilismus  in  der  Gestalt  einer  scheintugendlichen 
Resignation ! 

In  den  drei  Schriften  Consolatio  ad  Polybium,  Ludus 
de  morte  Claudii,  De  dementia  ad  Neronem  haben  wir  einen 
offenbaren  thatsächlichen  Abfall  Senecas  von  seinem  besseren 
Selbst  erkennen  müssen.  Wir  haben  es  sodann  als  eine  Selbst- 
folge dieses  thatsächlichen  Abfalls  constatiren  müssen,  dass 
Seneca  auch  in  seinem  Denken  und  Lehren  mit  seinen 
stoischen  Idealen,  die  wir  im  zweiten  Abschnitt  kennen  gelernt, 
in  handgreiflichen  Widerspruch  geräth.  Um  die  volle  Ver- 
dunkelung der  im  zweiten  Abschnitt  geschilderten  Lichtseiten 
zu  erkennen,  müssen  wir  uns  mit  einem  noch  übrigen 
Stück  jenes  thatsächlichen  Abfalls  bekannt  machen.  Jene  drei 
genannten  Schriften,  welche  die  thatsächliche  Verleugnung  des 
Grundsatzes  über  die  Pflicht  der  Wahrhaftigkeit  offenkundig 
machen,  gehören  der  früheren  Zeit  Senecas  an.  Eine  ähn- 
liche thatsächliche  Verleugnung  ist  constatirt  aus  der  letzten 
Zeit  vor  dem  tragischen  Ende  Senecas.  Es  handelt  sich  um 
das  letzte  Verhalten  Senecas  zu  Agrippina,  der  Mutter  Neros. 
Die  Schmachwürdigkeit  dieses  letzten  Verhaltens  können  wir 
dann  erst  richtig  taxiren,  wenn  wir  das  ganze  Verhältniss 
Senecas  zu  diesem  dämonischen  Weibe  übersehen. 

Agrippina,  die  Enkelin  des  Augustus,  war  in  erster  Ehe 
vermählt  mit  Domitius,  und  aus  dieser  Ehe  stammt  der  Kaiser 
Nero,  über  welchen,  wie  schon  erwähnt,  der  Vater  das  Urtheil 
gefällt  haben  soll:  von  ihm  und  Agrippina  könne  unmögHch 
ein  guter  Mensch  erzeugt  worden  sein  (Cassius  Die  LXI  2 — 3). 
Nach  dem  Tode  des  Domitius  weiss  Agrippina  den  Kaiser 
Claudius  in  ihre  Netze  zu  verstricken  (Sueton  Claudius  XXVI, 
cfr.  Galba  V),  und  nachdem  sie  ihn  geheirathet,  die  Adoption 
ihres  Sohnes  durchzusetzen.  Sobald  der  Kaiser  ihr  diesen 
Dienst    geleistet,   beseitigt    sie    diesen    durch    einen   vergifteten 


142 

Pilz  (Sueton  Claud.  XLIV),  und  da  sie  die  bewaffnete  Macht 
auf  ihrer  Seite  hat,  Burrus,  der  Präfect,  ist  ihr  Schützhng", 
verschafft  sie  mit  Hintansetzung  ihres  Stiefsohnes  ihrem  leib- 
Hchen  Sohn  den  Kaiserthron  (Dio  LXI  i  i).  Unter  so 
verhängnissvollen  Umständen  soll  Seneca  auf  einer  Welthöhe, 
wie  sie  keinem  Gelehrten  jemals  einflussreicher  zuertheilt 
werden  kann,  die  Probe  seiner  Grundsätze  bestehen.  Seit 
sechs  Jahren  hat  er,  von  Agrippina  aus  dem  Exil  berufen,  den 
kaiserlichen  Prinzen  unterwiesen,  der  nun  mehr  achtzehn- 
jährige Kaiser  steht  auch  in  der  That  in  einer  so  vertrauens- 
vollen Abhängigkeit  zu  seinem  Lehrer,  dass  er  ihm 
überlässt,  das  Programm  seiner  Regierung  zu  verfassen  und 
zu  veröffentlichen  (Dio  LXI  3  i).  Nun  stand  aber  dem 
durchgreifenden  Einfluss  Senecas  auf  den  Kaiser  Nichts  so  sehr 
entgegen  wie  die  Mutter.  In  der  Tragödie  Phaedra  oder 
Hippolytus  schildert  Seneca  die  Verderbtheit  der  Welt  mit 
denselben  düsteren  Farben,  wie  De  ira  II  9  i  —  3,  dann  aber 
fügt  er  mit  Nachdruck  hinzu,  dass  das  Weib  in  diesen  Greueln 
die  Führung  hat: 

,,Sed  dux  malorum  femina,  haec  scelerum  artifex  567 
O  scelere  vincens  omne  femineum  genus  695 
Quid  sinat  inausum  feminae  praeceps  furor?"  832 
Eine  Stimme  im  Senat  liess  sich  unter  Tiberius  folgender- 
massen  vernehmen :  ,,mulieres  vinclis  exsolutis  domos,  fora  jam 
et  exercitus  regunt"  (Tacit.  Ann.  III  33).  Einzelne  Beispiele 
dieser  Ausartung  römischer  Weiblichkeit  gab  es  übrigens  schon 
in  den  letzten  Zeiten  der  Republik  (Sallust  Catilina  XXV). 
In  dem  Personal  dieser  weiblichen  Frivolhaftigkeit  und  Raserei 
spielt  Agrippina  eine  hervorragende  Rolle.  Das  Höchste  ist 
ihr  nicht,  wie  der  Messalina,  Genuss  und  Glanz,  sondern  recht 
eigentlich  Macht  und  Herrschaft,  und  zwar  will  sie  nicht  im 
Verborgenen  herrschen  sondern  öffentlich,  als  die  wirkliche 
Kaiserin  der  Welt  (L.  v.  Ranke  Weltgeschichte  III  i  109), 
Tacitus,  der  die  Herrschsucht  für  die  brennendste  aller  Leiden- 
schaften erklärt  (Ann.  XV  53),  schreibt  von  der  Zeit  nach  der 
Vermählung  der  Agrippina  mit  Claudius:  ,, versa  ex  eo  civitas 
et    cuncta  feminae  obediebant,   non  per  lasciviam  ut  Messalina, 


143 

rebus  Romanis  illudenti".  Tacitus  verweilt  bei  dieser  That- 
sache,  um  die  Unwürdigkeit  eines  solchen  Zustandes  noch 
deutHcher  zu  machen  ("Ann.  XII  7  64).  Auch  Narciss,  der  in  die 
Geheimnisse  des  Hofes  eingeweihte  Freigelassene,  bezeugt,  dass 
der  Agrippina  Ehre,  Tugend,  ihre  Person,  überhaupt  Alles 
weniger  gelte  als  die  Herrschaft  (,,regnum"  Ann.  XII  65). 
Ohne  Zweifel  war  dieselbe  Empörung  des  römischen  Selbst- 
bewusstseins  über  die  leidenschaftliche  Usurpation  der  Agrippina, 
welche  wir  bei  Tacitus  finden,  auch  in  Seneca  lebendig.  Dem 
gegenüber  lässt  sich  Agrippina  so  vernehmen:  auf  der  einen 
Seite  steht  des  Germanicus  Tochter,  nämlich  sie  selber,  auf 
der  anderen  Seite  der  Schwächling  Burrus  und  der  Exulant 
Seneca-,  jener  mit  einer  lahmen  Hand  und  dieser  mit  einer 
Schulmeisterzunge  das  Regiment  über  das  Menschengeschlecht 
in  Anspruch  nehmend  (Tacit.  Ann.  XIII  14).  Die  Agrippina 
musste  jetzt  einsehen,  dass  sie  mit  der  Berufung  Senecas  einen 
Fehler  gemacht,  sie  wollte  keinen  Philosophen  (Suet.  Nero  Ell) 
sondern  einen  Schöngeist.  Seneca  ist  nun  derjenige,  welcher 
der  dämonischen  Herrschsucht  der  Agrippina  den  kräftigsten 
Widerstand  leistet.  Bei  Gelegenheit  einer  armenischen  Gesandt- 
schaft in  Rom,  in  einer  öffentlichen  Staatsaction  war  Agrippina 
entschlossen,  den  Vorsitz  in  Anspruch  zu  nehmen  und  den 
kaiserlichen  Thron  zu  besteigen.  Nero  hatte  nicht  die  Kraft, 
diesem  Gebahren  der  Mutter  entgegen  zu  treten.  Niemand 
ausser  Seneca  war  dazu  im  Stande,  und  Seneca  ist  es,  der 
diesen  Scandal:  ,,feminam  signis  Romanis  praesidere"  (Tacit. 
Ann.  XII  37)  abwandte,  dafür  aber  nun  den  wüthenden  Hass 
der  Agrippina  zu  tragen  hatte.  In  dieser  überaus  schwierigen 
Lage  kommt  Seneca  zweimal  zu  Fall. 

Agrippinas  Hauptbestreben  war  darauf  gerichtet,  den 
jungen  Kaiser  Nero,  ihren  Sohn,  gänzlich  in  ihre  Gewalt  zu 
bekommen.  Nach  Cluvius  berichtet  Tacitus:  ,,aus  brennender 
Begierde,  Herrscherin  zu  bleiben,  habe  sich  Agrippina  soweit 
vergessen,  dass  sie  Mittags,  zu  welcher  Zeit  Neros  Blut  vom 
Trinken  und  Essen  heiss  geworden,  sich  öfters  dem  Trunkenen 
aufgeputzt  und  zur  Blutschande  bereitwillig  in  den  Weg 
gestellt;  und  nachdem  die  nächste  Umgebung  bereits  wollüstige 


144 

Küsse  und  Liebkosungen  als  Vorspiel  der  Wollust  bemerkt, 
habe  Seneca  diesem  Greuel  zu  wehren  gesucht''  (Ann.  XLV  2). 
Nero  ist  vermählt  mit  der  tugendhaften  Kaisertochter  Octavia, 
aber  er  findet  keinen  Gefallen  an  seiner  Gemahlin.  Dieser 
Zustand  setzt  ihn  einer  zweifachen  Gefahr  aus.  Einmal  ist  er, 
wie  erwähnt,  der  Verführung  seiner  schamlosen  Mutter  zur 
Blutschande  preisgegeben.  Die  zweite  Gefahr  wird  von  Tacitus 
mit  den  Worten  bezeichnet:  ,,metuebatur,  ne  in  stupra  feminarum 
illustrium  prorumperet"  (Ann.  XIII  12).  Von  Cäsar  und 
Augustus  an  hatte  die  cäsarische  Selbstüberhebung  über  Gesetz, 
Sitte  und  Moral  in  steigender  Zuchtlosigkeit  und  Wollust 
gewüthet,  und  diese  cäsarische  Scandalgeschichte  war  für  den 
lebhaften  Jüngling  auf  dem  Thron  eine  übermächtige  Ver- 
suchung. Nun  fand  sich  eine  Ableitung  für  diese  Doppelgefahr 
in  einer  Liebschaft  Neros  für  eine  Freigelassene  Namens  Acte, 
die  sich  durch  Vermittelung  von  zwei  jungen  Freunden  Senecas 
angesponnen  hatte  (Ann.  XIII  12).  Als  in  Folge  dieser  Lieb- 
schaft Nero  sich  von  der  Mutter  losgemacht  und  sich  Seneca 
angeschlossen  hatte,  übernahm  Serenus,  ein  intimer  Freund  Senecas 
(,,carissimus  mihi"  Ep.  LXIII  14)  das  Geschäft,  jenes  Verbältniss 
mit  der  Freigelassenen  fortzusetzen  und  zu  einem  dauernden  zu 
machen.  Aufs  Aeusserste  gedrängt  durch  den  Kampf  auf  Leben 
und  Tod  mit  der  Kaiserin,  greift  Seneca  zu  einem  Mittel,  das 
er  selber  nicht  loben  kann.  Was  die  Alten  ,, Venus  concessa" 
nannten  (Horat.  Serm.  I  4  113  114,  I  5  82  83,  Ovid  A.  A.  i  i  33, 
Ex  Ponto  III  3  68,  Trist.  II  249),  scheint  auch  Seneca  nicht 
unerlaubt  zu  sein  (De  tranq.  IX  2,  X  5,  B.  VII  30  3).  Aber 
hier  handelt  es  sich  nicht  um  einfache  Unzucht  sondern  um 
eine  Störung  der  Ehe.  Die  Ehe  will  Seneca  geheiligt  wissen; 
^  und  nicht  umsonst  spricht  er,  wie  wir  gesehen,  seine  Mutter 
frei  von  dem  ,,maximum  saeculi  malum".  Seneca  stellt  als 
Grundsatz  auf:  ,,improbum  esse,  qui  ab  uxore  pudicitiam 
exigit,  ipse  alienarum  corruptor  uxorum,  scis  ut  Uli  nihil  cum 
adultero,  sie  tibi  nil  esse  debere  cum  pellice"  (Ep.  XCIV  26). 
Tacitus  schreibt  von  Nero:  ,, uxore  ab  Octavia  nobili  quidem 
et  probitatis  spectatae,  fato  quodam,  an  quia  praevalent  illicita, 
abhorrebat"   (Ann.  XIII  12).     Die  Tragödie  ,, Octavia",  welche 


\4b 

den  ächten  Dramen  nicht  beigezählt  werden  kann,  aber  ganz 
in  dem  Sinne  Senecas  gedichtet  ist,  zeigt,  dass  nach  Senecas 
Grundsätzen  das  Verhältniss  Neros,  des  Gemahls  von  Octavia, 
zur  Acte  unerlaubt  ist.  Nicht  bloss  wird  hier  die  Poppaea, 
als  ,,pellex"  verabscheut,  sondern  auch  die  famula  der  Acte 
wird  beschuldigt,  zuerst  das  Ehebett  der  Octavia  befleckt  zu 
haben  (198  670).  Zur  Entschuldigung  Senecas  gereicht 
es,  dass  er  durch  das  kleinere  Uebel,  welches  in  jener  zucht- 
losen Zeit  weit  reichende  Verzeihung  fand,  jenem  zweifachen 
grösseren  Uebel  vorbeugen  wollte.  Aber  als  eine  Recht- 
fertigung vor  dem  Gewissen  Senecas  kann  dieses  nicht  gelten. 
Es  wird  von  ihm,  wie  schon  früher  bemerkt,  mit  grosser 
Strenge  eingeschärft,  dass  das  Gute  niemals  gefördert  wird 
durch  irgend  Etwas,  das  nicht  gut  ist:  ,,nunquam  virtus  vitio 
adjuvanda  est  se  contenta"  (De  ira  I  9  i),  ,, virtus  nihil  vitiis 
eget"  (De  ira  I  13  4).  Allerdings  erreicht  Seneca,  dass  die 
Acte  den  Nero  eine  Zeit  lang  fesselt,  dergestalt,  dass  er  sogar 
einmal  daran  dachte,  sie  zu  heirathen  (Sueton  XXVIII),  und 
sie  ihrerseits  bewies  ihm  noch  nach  seinem  Tode  Anhänglich- 
keit (Sueton  L).  Aber  der  Teufel  lässt  sich  nicht  durch 
Beelzebub  austreiben.  Die  ehrwürdige  Gestalt  des  Erziehers 
war  und  blieb  von  nun  an  in  den  Augen  Neros  mit  einem 
Makel  behaftet.  Sodann  weiss  Niemand  besser  als  Seneca, 
dass  jede  Lust,  einmal  eingelassen,  keinem  andern  Gesetz  als 
ihrem  eigenen  gehorcht.  Seneca  durfte  sich  nicht  wundern, 
dass  die  Lust,  welche  mit  seiner  Billigung  die  eheliche  Ver- 
bindlichkeit hintansetzte,  nachher  in  die  entsetzlichsten  Greuel 
ausartete.  Was  Cicero  Tusc.  Q.  IV  18  41  in  einem  grossen 
Bilde  veranschaulicht,  dass  der  Keim  der  Sünde  mit  unauf- 
haltsamer Kraft  sich  entwickelt,  das  drückt  Seneca  aus  in  dem 
kurzen  Wort:  ,,res  est  profecto  stulta  modus  nequitiae" 
(Agam.   151). 

Aber  noch  weniger  entschuldbar  als  diese  thatsächliche 
Abweichung  von  dem  Wege  der  Tugend  ist  die  That,  mit 
welcher  Seneca  auf  der  Höhe  seiner  Stellung  gegen  Ende 
seiner  Laufbahn  dem  Ruf  seiner  sittlichen  Integrität  einen 
Stoss  versetzte.     Dios   Beschuldigung,    dass    Seneca    den   Plan 

10 


HG 

zum  Muttermorde  dem  Nero  an  die  Hand  gegeben,  dürfen 
wir  auf  Grund  des  genauen  Berichtes  von  Tacitus  abweisen. 
Nach  Tacitus  ist  das  teuflische  Kunststück  mit  dem  Schiff 
von  einem  Freigelassenen  angegeben  (Ann.  XIV  3).  Burrus 
und  Seneca  werden  erst  zu  Rathe  gezogen,  als  Agrippina 
jenen  Mordversuch  überlebt  hatte,  und  es  sich  nun  darum 
handelte,  ob  dieses  immer  höchst  staatsgefährliche  Weib  restituirt 
oder  dem  von  Nero  beschlossenen  Verhängniss  überlassen 
werden  sollte.  Tacitus  lässt  die  Möglichkeit  offen,  dass  jene 
Beiden  von  dem  was  voraufgegangen  vielleicht  eine  Kunde 
gehabt,  aber  deutet  sehr  bestimmt  an,  dass  noch  jetzt  sowohl 
der  Eine  wie  der  Andere  zur  weiteren  Verfolgung  des  Mord- 
plans mitzuwirken  sich  weigerte  (Ann.  XIV  7),  und  dass  dieses 
nicht  im  Widerspruch  steht  mit  Ann.  XIII  7,  zeigt  J.  F.  Gronow 
zu  Ann.  XIV  7.  Nachdem  nun  aber  die  That  geschehen  war, 
hat  Seneca  allerdings,  wie  nicht  bloss  Tacitus  (Ann.  XIV  11) 
sondern  auch  Quintilian  (Inst.  VIII  5  18)  bezeugt,  obgleich 
Dio  merkwürdigerweise  darüber  schweigt,  die  für  den  Senat 
bestimmte  Vertheidigung  dieses  Verbrechens  verfasst.  Dass 
es  Seneca  nicht  an  annehmbaren  Gründen  für  die  Beseitigung 
der  Agrippina  des  Staatswohles  wegen  gefehlt  haben  wird, 
werden  wir  annehmen.  Aber  die  That  des  Muttermordes  zu 
vertheidigen  oder,  wie  ihm  von  Nero  aufgegeben  war  (Tacit. 
Ann.  XIV  11,  Dio  LXI  14  3),  wider  eigenes  Besserwissen 
öffentlich  zu  lügen,  dass  Agrippina  einen  Anschlag  auf  Nero 
gemacht  und  nach  Misslingen  desselben  selbst  an  sich  Hand 
gelegt  habe  —  auf  welch  unheilvoller  Bahn  treffen  wir  hier 
diesen  strengen  Sittenrichter !  Er,  der  vor  einigen  Jahren  die 
angeborene  Milde  Neros  öffentlich  gepriesen  und  der  Welt  ein 
reines  und  glückliches  Jahrhundert  unter  Nero  geweissagt,  giebt 
sich  nun  dazu  her,  die  mit  Mutterblut  befleckte  Hand  dieses 
Kaisers  vermittelst  einer  öffentlichen  Lüge  im  römischen  Senat 
rein  zu  waschen!  Es  kann  uns  gleich  sein,  ob  das  gesinnungs- 
lose Römervolk  in  dieser  grundverderbten  Zeit  den  Nero,  wie 
Sueton  XXXIX  und  Dio  LXI  18  1  —  3  erzählen,  wegen  dieser 
That  verfluchte  oder  nach  Tacitus  Ann.  XIV  13  feierte, 
wahrscheinlich  that   es    nach   Gelegenheit   bald  das  Eine,    bald 


147 

das  Andere  — ,  jedenfalls  aber  entfremdete  sich  Seneca  durch 
sein  unsauberes  Werk  den  tugendhaftesten  Mann  unter  all 
seinen  Zeitgenossen  für  immer.  Als  im  Senat  in  Folge  der 
officiellen  Lüge  Senecas  Nero  gefeiert  und  Agrippina  verflucht 
wurde,  entfernte  sich  Thrasea  Paetus  aus  dem  Senat  und  gab 
damit  das  Signal  zu  seiner  Verfolgung  (Tacit.  Ann.  XIV  12). 
Finster  geht  Senecas  leuchtender  Stern  unter,  er  unternimmt 
es,  in  einer  Lügenrede  den  mit  Mutterblut  befleckten  Cäsar  im 
Senat  des  römischen  Volkes  zu  rechtfertigen,  und  thatsächlich 
verurtheilt  dieses  sein  schmachvolles  Verhalten  der  tugend- 
hafteste Mann  der  Zeit. 

Wir  stehen  hier  bei  demjenigen  Punkt,  wo  der  Name 
unseres  Stoikers  in  die  grosse  Weltgeschichte  verflochten  ist. 
Nero  ist  der  erste  Weltherrscher,  der  Christenblut  vergossen 
hat  und  um  deswillen  der  ersten  Christenheit  als  Antichrist 
oder  dessen  Vorläufer  gilt.  Bei  diesem  antichristlichen  Namen 
treffen  wir  denjenigen,  der  sich  selbst,  den  Göttern,  der  Welt,  dem 
Kaiser  die  Wahrheit  als  die  werthvoUste  Gabe  gelobt  hat,  diesen 
treffen  wir  in  einer  Zeit,  aufweiche  die  Augen  der  Welt  für  immer 
gerichtet  bleiben,  als  einen  öffentlichen  Lügenpropheten.  Alles 
was  wir  an  diesem  römischen  Repräsentanten  des  antiken 
Alterthums  an  lichten  Gedanken,  Anschauungen  und  Ahnungen 
bewundern  mussten,  diese  ganze  Lichterscheinung,  hier  sehen" 
wir  sie  in  der  Finsterniss  einer  widerchristlichen  Weltströmung 
versenkt. 

Wir  stossen  in  Seneca  auf  einen  Gegensatz  von  Licht  und 
Finsterniss,  der  an  sich  nicht  zu  lösen  ist.  Augustinus,  den 
B.  Niebuhr  ,, einen  der  grossesten,  mit  dem  richtigsten  Blicke 
begabten  Geister"  nennt,  giebt  uns  einen  Fingerzeig,  der  von 
Seneca  hinüberweist  zunächst  in  die  weltbeherrschende  Ver- 
derbniss  des  antiken  Heidenthums,  sodann  aber  weiter  den 
Blick  öffnet  für  die  welterrettende  und  welterneuernde  Gottes- 
kraft. 


10^ 


IV. 

Das  Attentat  zweier  sacrilegischer  Lügen 
wider  die  antike  Menschheit. 

Der  grelle  Contrast  zwischen  den  Licht-  und  den  Nachtseiten 
in  Seneca  findet  seine  Erklärung  in  der  beispiellosen  Welt- 
verderbniss,  in  welche  Seneca  durch  seine  hohe  Stellung 
verstrickt  ist.  Diese  Weltverderbniss  hat  ihre  Pfahlwurzel  in  der 
doppelten  Lüge,  welche  den  polytheistischen  Cultus  vergiftet. 
Nach  der  heiligen  Urkunde,  welche  Jeder,  der  auf  sich  selbst  und 
auf  die  Menschheit  gewissenhaft  achtet,  alle  Tage  bestätigt  findet, 
ist  es  die  in  Göttlichkeit  gekleidete  Lüge,  welche  den  Menschen 
versucht  und  verführt,  und  nachdem  dies  im  Anfang  geschehen 
ist,  hat  die  scheinheilige  Lüge  eine  Macht  über  diese  Welt 
gewonnen.  Sollte  diese  Lügenmacht  sich  vollenden,  dann  ist  die 
Menschheit  auf  ewig  gottlos  und  verloren.  In  dem  cäsarischen 
Römerreich  ist  die  scheinheilige  Lügenmacht  auf  diesem  Wege 
zum  Abgrund.  Das  ist  der  furchtbare  Ernst  dieser  Zeit,  in 
welcher  in  der  vergehenden  und  verderbten  alten  Welt  die 
neue  Gotteswelt  entsteht.  Dieser  erschütternde  Ernst  ist  es^ 
der  einem  grossen  Historiker  den  Rath  eingegeben  hat,  dass 
man  nur  wie  vor  dem  Angesichte  Gottes  die  alte  Geschichte 
erforschen  und  verstehen  könne.  Und  in  der  That,  wer  anders 
als  der  den  festen  Blick  nach  oben  gerichtet  hat,  wer  anders 
hat  den  Muth  und  die  Kraft  in  die  Abgründe  der  Weltver- 
derbniss hinabzuschauen  und  der  Menschheit  ohne  geheimen 
Vorbehalt  zu  sagen,  was  in  den  unheimlichen  Tiefen  der 
Völkerwelt  sich  regt  r  Es  ist  nicht  ohne  grossen  Segen,  in 
das    finstere    Reich    der    schemheiligen    Lüge    hineinzuschauen. 


149 

Wir  lernen  auf  diesem  Wege  in  Seneca  das  kennen,  was  durch  die 
äusserste  Verderbensmacht  nicht  hat  vernichtet  werden  können, 
und  was  uns  dann  die  Kraft  zeigt,  die  nicht  bloss  nicht  kann 
überwunden  werden  sondern  sieghaft  die  Verderbensmacht 
weit  überwindet. 

Nach  Aristoteles  (Polit.  III  9  3)  giebt  es  Völker,  welche 
von  Natur  zAir  Knechtschaft  geneigt  sind,  die  Barbaren  und 
Asiaten  ertragen  im  Gegensatz  zu  den  Hellenen  und  Europäern 
ohne  Beschwerde  die  despotische  Herrschaft.  Die  Satzung  der 
,, Perser  und  Meder"  kann  nicht  widerrufen  werden,  weil  der 
orientalische  Grosskönig  gleich  der  gegenwärtigen  Gottheit 
verehret  wird  (Daniel  VI  8  15,  Esth.  I  19,  VIII  8).  Der 
Gegensatz  dieses  orientalischen  Wesens  zu  dem  europäischen 
Hellenenthum  gelangte  zu  einer  weltgeschichtlichen  Darstellung 
und  Entscheidung  in  dem  grossen  Kampf  der  Perser  mit  den 
Hellenen,  und  der  spartanische  Exkönig  Demaratus  ist  in  dem 
Gespräch  mit  dem  Grosskönig  Xerxes  der  richtige  Dolmetscher 
über  die  weltgeschichtliche  Bedeutung  der  Perserkriege.  Was 
Xerxes  zuerst  in  der  Rede  des  Demaratus  verlachte  (Herod. 
VII  105),  das  hat  er  schliesslich  durch  seine  eigene  Niederlage 
als  wahr  bestätigen  müssen.  Demaratus  sagte,  die  Hellenen 
sind  freie  Menschen,  nur  in  Einem  sind  sie  nicht  frei,  sie 
stehen  unter  dem  Gesetz,  und  dieses  Gesetz  Mst  ein  viel  mehr 
gefürchteter  Herr  als  der  Grosskönig  (Herod.  VII  104).  Diesen 
moralischen  Gegensatz  übersetzt  Xenophon  ganz  richtig  in  das 
Religiöse.  Xenophon  erinnert  seine  hellenischen  Commihtonen 
an  den  grossen  Perserkönig  und  sagt  ihnen,  sie  wären  die 
Nackkommen  derer,  welche  das  unzählbare  Feindesheer  besiegt 
zu  Wasser  und  zu  Lande,  und  als  Trophäe  besässen  sie  die 
Freiheit,  vermöge  w^elcher  sie  keinen  Menschen  sondern  ledig- 
lich die  Götter  anbeten  (Cyri  expedit.  III  2  13).  Aber  schon 
Demaratus  und  noch  mehr  Xenophon  sind  nicht  mehr  ächte 
Hellenen,  sie  sind  Ueberläufer.  Die  Verführung  zur  Menschen- 
vergötterung geht  aus  vom  Orient,  wo  Despotismus  und 
Knechtssinn  zu  Hause  sind,  und  reisst  schliesslich  die  moralische 
und  religiöse  Scheidewand  zwischen  Morgenland  und  Abend- 
land   nieder.     Der   gewaltige    Mann,    der  vom  Abend   her   mit 


150 

überlegener  Kraft  in  die  asiatische  Welt  hineinbricht,  ist  zu- 
gleich der,  welcher  das  geistige  Bollwerk,  welches  hellenische 
Freiheit  gegen  orientalische  Erschlaffung  und  Niederträchtig- 
keit schützt,  niederwirft.  ,,Ihr  habt  nicht  mehr  die  Kraft,  das 
Böse  zu  hassen",  sagte  Demosthenes  in  den  Tagen  des 
macedonischen  Philipp  und  Alexander  zu  seinen  atheniensi- 
schen  Mitbürgern.  Und  in  seiner  schlimmsten  Gestalt  trat  das 
Böse  an  Alle  heran,  als  Alexander  von  den  Griechen  die 
orientalische  Menschenvergötterung  für  sich  in  Anspruch  nahm 
und  damit  jenen  Vorzug,  den  Demaratus  und  Xenophon  auf 
Grund  grosser  Thatsachen  den  Hellenen  zugesprochen,  auszu- 
löschen unternahm.  Demosthenes  schaut  in  den  Schlechtig- 
keiten und  Falschheiten  Philipps,  welche  durch  Alexander  fort- 
gesetzt wurden,  nicht  ein  particulares  Uebel,  sondern  ein 
allgemeines  Missgeschick  und  schweres  Leiden,  welches  auf  der 
Menschheit  lastet.  Demosthenes  spricht  am  Schluss  der  Rede 
,,Pro  Corona"  in  dem  strengen  Bewusstsein  einer  religiösen 
Krisis:  ,, möchte  doch,  o  ihr  Götter,  Keiner  von  euch  das 
bestätigen,  was  jene  gottlosen  Landesverräther  wünschen,, 
sondern  mögt  ihr  wo  möglich  auch  diesen  Menschen  eine 
bessere  Gesinnung  einflössen;  wenn  sie  aber  unheilbar  sind,  so- 
schlagt  sie  zu  Land  und  Meer  mit  Verderben,  uns  Uebrigen 
aber  gewährt  die  schnellste  Erlösung  von  der  obschwebenden 
Gefahr  und  beständiges  Heil"  (Schäfer  ,, Demosthenes  und  seine 
Zeit"  III  I  261).  Das  Gebet  eines  hohen  Geistes,  das  an  die 
Psalmen  erinnert!  Alexander  verlangte  von  den  Griechen  die 
Anerkennung  seiner  Gottheit.  Die  Lacedämonier  erwiderten  ► 
,,Wenn  denn  Alexander  Gott  sein  will,  so  sei  er  Gott**^ 
(Schäfer  S.  285).  Athen  aber  nahm  diese  Sache  ernster.  Der 
alte  Lycurg,  Mitkämpfer  des  Demosthenes  für  politische  Frei- 
heit, sagte:  ,,was  ist  das  für  ein  Gott,  wenn  man  nicht  beim 
Eintritt  sondern  beim  Austritt  aus  dem  Heiligthum  sich  von 
der  Befleckung  reinigen  mussr"  (a.  a.  O.  S.  286)  Als  Alexander 
sein  Verlangen  mit  Drohungen  unterstützte,  rieth  Demosthenes,. 
ihm  die  Ehre  an  dem  Himmel  nicht  streitig  zu  machen,  jedoch 
unter  V^orbehalt  der  politischen  Selbstständigkeit  (S.  290).  Die 
neue  Gottheit   soll   also   keinen    Einfluss   liaben   auf  die  Staats- 


151 

angelcgenheiten,  eine  Verwahrung  der  Staatssouveränität  gegen 
hierarchische  Uebergriffe !  Der  Widerstand  des  althellenischen 
Bewusstseins  ward  aber  endlich  gebrochen  durch  das  immer 
noch  einflussreiche  Orakel  der  Pythia.  Nach  dem  Kirchen- 
historiker Sokrates  hat  die  Pythia  den  Alexander  als  den  Zeus 
in  Menschengestalt,  als  den  Sohn  des  Zeus  gefeiert.  Sokrates 
hat  die  den  Alexander  betreffenden  Sprüche  der  Pythia 
erhalten  (Histor.  Ecc.  III  23).  Jedoch  bleibt  das  Widerstreben 
gegen  die  falsch  religiöse  Neuerung  noch  eine  Zeitlang  in 
Griechenland  in  Kraft  und  macht  uns  immer  wieder  aufmerksam 
auf  die  allgemeine  Bedeutsamkeit  der  sich  hier  vollziehenden 
Wandelung.  In  der  Leichenrede  auf  Demosthenes  sagt 
Hvperides:  ,, Bilder,  Altäre  und  Tempel  für  die  Götter  werden 
nachlässig  gepflegt,  dagegen  der  Cultus  der  Menschen,  nämlich 
Alexanders  und  seines  Freundes  Hephästion,  wird  mit  Sorgfalt 
behandelt".  Es  zeigt  sich  sofort,  dass  die  Einführung  des 
Menschencultus  den  Göttercultus  beeinträchtigt.  Von  Antipater 
sagt  Suidas,  er  sei  der  einzige  unter  den  Diadochen,  der  es  für 
gottlos  gehalten,  Alexander  Gott  zu  nennen.  Andererseits 
machten  dem  Demodes,  der  wegen  mancher  Dinge  beschuldigt 
wurde,  die  Athenienser  vor  allem  Anderen  den  V^orwurf,  dass 
er  die  Gottheit  des  Alexander  beantragt  und  eingeführt,  und 
Aelian  nennt  diesen  Antrag  des  Demodes  eine  masslose  Gott- 
losigkeit (Schäfer  S.  29). 

Somit  wurde  also  der  asiatische  Despotencultus  in  Europa 
eingeführt  und  zwar  zunächst  in  Griechenland  und  zwar  unter 
dem  deutlichen  Zeichen  eines  bösen  Gewissens.  Wie  Paulus  die 
Heiden  wegen  des  Götzendienstes  verantwortlich  macht 
(Rom.  I  21),  so  verurtheilt  das  hellenische  Gewissen  die  An- 
fänge des  Menschencultus.  Aber  es  dauert  nicht  lange,  da 
schauen  wir  diesen  Cultus  in  Griechenland  mit  seinen  arg 
verwüstenden  P'olgen.  Demetrius,  mit  dem  Beinamen  ,, Städte- 
bezwinger", ein  Mann  von  bezaubernder  Schönheit  und  aus- 
gezeichneter kriegerischer  Tüchtigkeit,  hatte  Athen  erobert. 
Nachdem  er  sodann  die  Republik  in  Königthum  verwandelt, 
wurde  das  Bacchusfest  Demetria  genannt,  und  ein  Gesetz  feiert 
Demetrius  als  0(67/^0  und  verordnet,  dass  sein  Ausspruch  gelten 


152 

soll  wie  ein  Orakel,  worüber  Plutarch  schreibt:  ,,sie  haben 
den,  der  ohnehin  nicht  gesunden  Sinnes  war,  verdorben,  denn 
er  war  wollüstiger  als  alle  Könige  jener  Zeit"  (Plutarch  I  895  b). 
Er  nannte  die  Göttin  Athene  seine  ältere  Schwester  und  führte 
in  dem  Pantheon  ein  so  greuelvolles  Leben,  dass  Plutarch 
erklärt,  er  könne  das  Einzelne  dieses  wüsten  Wesens  nicht 
einmal  nennen  (990  c).  Die  Athenienser  verfielen  in  den 
Wahn,  dass  Alles,  was  Demetrius  befehle,  vor  den  Göttern 
heilig  und  vor  den  Menschen  gerecht  sei  (899  f ).  Den  Hetären 
des  Demetrius  wurden  unter  dem  Namen  der  Aphrodite  Tempel 
errichtet  (Athenäus  VI  6j).  Sie  feierten  den  Demetrius,  als 
wäre  er  allein  der  wahre  Gott,  die  anderen  aber  schliefen  oder 
wären  abwesend  oder  existirten  überall  nicht.  Sie  richteten 
Bitten  an  ihn  und  beteten  ihn  an  und  sangen  ihm  zu  Ehren 
das  unzüchtige  gotteslästerliche  Lied,  welches  Athenäus  erhalten 
hat  (VI  63).  Dieses  gotteslästerliche  Lied  sangen,  wie  selbst 
Athenäus  bemerkt,  diejenigen,  welche  einst  Sieger  bei  Marathon 
waren  und  diejenigen  mit  dem  Tode  bestraften,  welche  vor 
dem  Perserkönig  angebetet  hatten  (VI  64).  Nachdem  es  so  weit 
mit  den  frommen  hellenischen  Freiheitshelden  gekommen  war, 
werden  wir  uns  nicht  wundern,  dass  dreihundert  Jahre  später 
die  Athenienser  den  Antonius,  der  dem  Demetrius  an  Schönheit 
und  Tapferkeit  ähnlich  war,  auf  sein  Verlangen  Dionysos 
nannten  (Lipsius  ad  Tacitum,  ed.  Gronow  I   1148). 

Trotz  aller  Abwehr  von  Seiten  der  altrömischen  Denkart 
und  Sitte  drangen  dennoch  die  Neuerungen  des  Orients  und 
Hellas  nach  Rom,  und  was  die  Menschenvergötterung  des 
Herrschers  anlangt,  so  ist  dieselbe  nirgends  eine  so  welt- 
geschichtliche Macht  geworden  wie  in  Rom.  Die  absolute 
Gewalt  in  derjenigen  urbs,  welche,  wie  Rutilius  sagt,  den 
orbis  in  sich  aufgenommen,  ist  ein  Zauber,  wie  er  bisher  noch 
nicht  dagewesen,  vor  welchem  in  der  haltlos  gewordenen  Welt, 
die  an  keine  Ideale  mehr  glaubt.  Alles  und  Jedes  sich  beugt. 
Auf  den  Trümmern  der  römischen  Republik  und  Freiheit 
erhob  sich  ein  Herrschergenie  sonder  Gleichen,  Julius  Cäsar, 
der  durch  allseitige  eminente  Talente  und  eine  die  Gemüther 
erobernde  Liebenswürdigkeit  in  der  erschlafften  römischen  Welt 


153 

einen  übermenschlichen  Eindruck  machte.  ,, Cäsar  hatte  die 
Wahl,  als  Feldherr,  Staatsmann,  Gesetzgeber,  Rechtsgelehrter, 
Redner,  Dichter,  Geschichtsschreiber,  Sprachforscher,  Mathe- 
matiker und  Architekt  zu  glänzen"  (Drumann:  römische 
Geschichte  III). 

Sulla  sah  in  dem  von  der  Mutter  Aurelia  sorgfältig 
•erzogenen  Knaben  Cäsar  mehr  als  einen  Marius  (Drumann 
III  131).  Nachdem  Cäsar  seine  eminente  Ueberlegenheit  allseitig 
bewiesen  hatte,  da  vermochte  das  bezauberte  Rom  sich  nicht 
länger  in  den  bisherigen  Schranken  der  Verehrung  zu  halten. 
Als  Cäsar  von  den  Bürgerkriegen  heimkehrte,  beschloss  der 
Senat,  dass  sein  Triumphwagen  im  Capitol  der  Statue  Jupiters 
gegenüber  stehen  sollte,  dass  ihm  eine  Statue  von  Erz  mit  der 
von  ihm  später  getilgten  Inschrift  ,;dem  Halbgott'',  so  dass 
seine  Füsse  auf  einer  Weltkugel  ruhten,  errichtet  werden  sollte 
(Drumann  a.  a.  O.  p.  610).  'Nach  der  schrecklichen  Schlacht 
bei  Munda  wurden  Cäsar  in  Rom  göttliche  Ehren  erwiesen. 
Seine  Statue  von  Elfenbein  sollte  bei  den  circensischen  Spielen 
mit  den  Götterstatuen  in  einem  Prachtwagen  aufgeführt  werden. 
Jetzt  begann  auch  die  Sitte,  bei  dem  Heil  und  der  Wohlfahrt 
(x'j/r,)  Cäsars  zu  schwören,  eine  Sitte,  deren  Weigerung  für 
die  Christen  tödtlich  werden  sollte  (Eusebius  h.  c.  14  15). 
Endlich  (tsXoc)  ging  man  so  weit,  sagt  Dio,  ihn  Julius  Jupiter 
zu  nennen  und  ihm  mit  Rücksicht  auf  seine  Milde  einen  Tempel 
zu  weihen,  und  zum  Beweis,  wie  ernstlich  dies  gemeint  sei, 
Antonius  zum  ,,flamen  Dialis"  zu  machen  (Dio  XLIV  6, 
Cicero  Philippica  I  43).  Antonius  nennt  Cäsar  in  der  Leichen- 
rede ohne  Umschweif  nicht  bloss  6  r^poyz,  sondern  auch 
o  {>£o;  (Dio  XLIX  49,  cfr.  Dio  XLIV  51).  Dio  bemerkt 
wiederholt,  dass  Cäsar  an  diesen  göttlichen  Ehren  Freude 
gehabt  und  Sueton  schreibt:  ,,ampliora  etiam  humano  fastigio 
decerni  sibi  passus  est  (Cäsar  c.  LXXVI).  Die  Wahrnehmung 
von  Cäsars  Wohlgefallen  trieb  seine  Schmeichler  immer  weiter 
(Dio  XLIV  6  7).  Nach  einem  Senatsbeschluss  im  Jahre  45  wurde 
Cäsars  Bild  auf  die  Münzen  gesetzt,  eine  Ehre,  die  bisher 
keinem  Lebenden  zu  Theil  geworden  (Drumann  a.  a.  O.  p.  663). 
Cäsar    erkannte    es    auf   diesem  Wege    der    steigenden    Selbst- 


154 

Vergötterung  als  eine  Nothwendigkeit,  dass  ihm  auch  das 
ganze  Sacralwesen  überantwortet  werden  müsse.  Drumann 
beweist  aus  Cäsars  Münzen,  dass  er  auf  die  priesterhche 
Würde  einen  grossen  Werth  legte.  Cäsar  war  seit  74  v.  C. 
Pontifex,  seit  63  Pontifex  mäximus,  und  später  wurde  ihm  das 
Priesterthum  des  Oberpontifex  als  erbliches  übergeben,  und 
auch-  das  Censoramt  unter  dem  neuen  Titel  ,,Praefectus  moribus" 
ward  ihm  lebenslänglich  zugesprochen  (Drumann  III  662).  Es 
war  ganz  folgerichtig,  dass  in  dem,  welcher  als  Gott  bezeichnet 
und  verehrt  wurde,  die  höchste  weltliche  und  geistliche  Gewalt 
vereinigt  geschaut  wurde. 

Cäsar  hat  durch  seine  allseitige  eminente  Ueberlegenheit 
an  diesem  Ort  und  in  dieser  Zeit  seinen  Namen  zu  einem 
Titel  und  Typus  gemacht,  der  von  nun  an  der  Weltgeschichte 
auf  Jahrtausende  eingeprägt  ist.  Das  -bedeutsamste  Zeichen 
dieses  Namens  und  dieses  Titels  ist  aber  der  aus  dem  Morgen- 
land in  das  Abendland  übertragene  Cäsarcultus. 

Die  angeführten  Thatsachen  beweisen,  dass  die  Menschen- 
vergötterung des  absoluten  Herrschers  in  Rom  von  Cäsar  ihren 
Anfang  nimmt.  Diese  Neuerung  erweist  sich  als  der  ver- 
hängnissvolle Anfang  einer  grossen  weltgeschichtlichen  Un- 
wahrheit. Manches  hier  in  Betracht  kommende  Material  ist 
längst  aus  den  Classikern  und  den  Patres  gesammelt  von 
Julius  Cäsar  Bulenger,  Professor  in  Pisa,  in  Libri  XII  de 
imperatore  et  imperio  Romano,  1618;  aber  die  welt- 
geschichtliche Bedeutung  dieses  römischen  Cäsarcultus  ist  auch 
gegenwärtig  noch  nicht  genügend  gewürdigt.  Es  ist  zu 
bedauern,  dass  Drumann,  der  sich  durch  seine  biographischen 
Forschungen  um  die  Geschichte  dieser  Zeit  ein  bleibendes 
Verdienst  erworben,  die  unheilvolle  Bedeutung  jener  Neuerung 
nicht  erkannt  hat.  Drumann  schreibt:  ,, längst  dienten  die 
Götter  den  Optimaten  nur  noch  zu  Hebeln  der  Staatsmaschinc, 
Avarum  sie  nicht  auch  an  dem  neuen  Hofe  einführen,  um  ihn 
mit  Glanz  zu  umgeben,  sinnlose  Namen  und  Gebräuche  bei 
seiner  Ausstattung  verschwenden?"  (III  666).  Aehnlich  äussern 
sich  auch  Andere,  welche  die  Bedeutung  des  Cäsarcultus 
herabzustimmen  versuchen.     Ich  bedaure,    dass  auch  Bestmann 


155 

den    Cäsarciiltus    nicht   ernstlich    genug    genommen    hat.     Das 
rehgiöse  Gebiet  ist  ein  sehr  empfindHches,  Veränderungen  von 
Namen  und  Gebräuchen    wollen    hier    allemal    als    etwas    hoch 
Bedeutsames  mit  grossem  Ernst  erkannt  und  gewürdigt  werden. 
Da,    wo   das   göttliche    Licht    der  Welt    leuchtet,    gilt    der 
Name  Gottes  als  der  Inbegriff  der  der  Menschheit  zugewandten 
und  geoffenbarten  Gottheit  und  wird  dadurch  von  Allem,   was 
weltlich,  was  ungöttlich,  was  widergöttlich  ist,'  streng  geschieden. 
Es    ist    das    dritte    Wort    vom    Sinai,    welches    verbietet,    den 
Namen  Gottes  hinzutragen    und  in  Verbindung  zu  bringen  mit 
irgend  Etwas,    was    nichtig   und   eitel   ist.     Nichtig  aber,    eitel 
und  Lüge   ist   nach   alttestamentlicher   Offenbarung   Alles,   was 
nicht  Gott  ist  oder  was  nicht  von  Gott  geheiligt  und  getragen 
wird.     Im    neuen    Testament    steigert    sich    noch    die    Heilig- 
haltung des  göttlichen  Namens.  —    Die  erste  Bitte  des  Herrn- 
gebetes   fleht   um    die  Heiligung    des   göttlichen    Vaternamens; 
es    ist    das    erste    und    vornehmste    Anliegen    der    gesammten 
Christenheit,  dass  das  höchste  Kleinod,  welches  der  Menschheit 
anvertraut  ist,  der  heilige  Name,  geschützt  und  bewahrt  bleibe 
vor  aller  Befleckung    aus   dem  Reiche   der  Lüge   und    der  Un- 
gerechtigkeit dieser  Welt.  —  Allerdings,  diese  scharfe  Scheidung 
zwischen    Gott    und    Nichtgott,    welche    die    Offenbarung    auf- 
richtet,   finden   wir   im  Heidenthum   nicht,    aber^  die  allgemeine 
Sitte  des  Eides  bei  dem  göttlichen  Namen  beweist  doch,   dass 
der   Name    Gottes    als    das    Höchste   verehrt   wurde,    das    man 
nicht   mit   der  Lüge   in  Verbindung    zu   bringen   wagen   dürfe. 
Aus    diesem,    auch    im    Heidenthum    vorhandenen    Bewusstsein 
von  der  ausschliesslichen  Hoheit  des  göttlichen  Namens  erklärt 
sich    die    Scheu,    den    göttlichen    Namen    auf   einen    noch    so 
gewaltigen  Menschen  zu  übertragen,  welche  Scheu  wir  bei  den 
Hellenen    gefunden    haben.      Und    den    Spuren    dieser    Scheu 
werden   wir  auch    bei  dem  weiteren  Verfolgen  des  Cäsarcultus 
noch    öfter   begegnen;    haben    wir    doch    schon   bemerkt,    dass 
Cäsar    selbst    die    seiner  Statue    eingegrabene    Inschrift    ,,Dem 
Halbgott"    wieder    tilgen   liess.     Die    Anfänge    des  Cäsarcultus 
sind  zur  Zeit  Cäsars    nicht    ohne  Regung  des  bösen  Gewissens 
in   der   römischen  Welt  eingeführt    (Cicero  Philipp.  II  43,    cfr. 


156 

Dio  XLIV  6).  Aber  die  ganze  Tragweite  dieses  abgöttischen 
Cultus  kommt  eist  dann  zum  Vorschein,  wenn  der  Kampf 
zwischen  dem  Namen  Cäsars  und  der  Gottheit  Christi  durch 
das  bhitige  Martyrium  der  Christen  auf  dem  offenen  Weltplan 
-entschieden  wird,  und  kein  Christ  sollte  jemals  vergessen,  um 
welchen  theuren  Preis  die  Menschheit  aus  der  Sclaverei  dieser 
abgöttischen  Cäsaranbetung  erlöset  worden  ist. 

Der  Cultus  des  Julius  Cäsar,  der  Anfang  des  Cäsarcultus 
in  Rom,  erhielt  seine  officielle  Einführung  unter  Augustus. 
Denn  keineswegs  wurde  diese  Neuerung  ohne  thätlichen  Wider- 
stand durchgesetzt.  Die  Consuln  zerstörten  den  Altar,  der 
bei  der  Leichenfeier  Cäsars  ihm  zu  Ehren  errichtet  war  und 
bedrohten  mit  dem  Tode  Alle,  welche  diese  That  verurtheilen 
würden  (Dio  XLIV  5),  und  Cicero  belobt  den  Dolabella,  dass 
€r  sich  der  durch  Augustus  eingeleiteten  Apotheose  widersetzt 
habe  (Ad  famil.  IX  14).  Aber  als  die  Verschworenen  geschlagen 
und  vernichtet  waren,  erschien  die  Apotheose  Cäsars  als  eine 
gerechte  Sühne.  Die  Triumvirn  decretirten,  dass  wer  den 
Geburtstag  Cäsars  nicht  feiere  mit  Lorberkränzen  und  Festfreude, 
dem  Jupiter  und  dem  Cäsar  zu  Ehren,  verflucht  sein  solle 
(Dio  XLVII  18).  Wenn  nun  Suetonius  am  Ende  der  ,,Vita 
Caesaris"  schreibt:  ,,in  deorum  numerum  relatus  est,  non  ore 
modo  decernentium,  sed  et  persuasione  vulgi"  so  ist  damit  an- 
gedeutet, dass  dem  anfänglichen  Widerstand  eine  allgemeine 
Volksüberzeugung  von  der  Vergötterung  Cäsars  gefolgt  sei. 
Während  der  Spiele,  welche  Augustus  zu  Ehren  Cäsars  ver- 
anstaltete, erschien  sieben  Tage  lang  ein  Komet,  und  es  wurde 
geglaubt,  dass  dieser  Stern  die  Erscheinung  des  in  den  Himmel 
aufgenommenen  Cäsar  sei,  und  wurde  deshalb  an  der  Stirn  seines 
Bildes  ein  Stern  angebracht  (Sueton  Julius  C.  LXXXVIII).  Der 
Volkstribun  Pacuvius  setzte  es  gegen  das  Widerstreben  des 
Augustus  durch,  dass  das  ganze  \^erhältniss  der  Unterthanen 
zu  dem  Cäsar  als  eine  religiöse  Selbsthingabe  aufgefasst  und 
bezeichnet  wurde,  und  Dio,  ein  Mann  von  senatorischem  und 
consularischem  Range,  fügt  hinzu,  dass  nach  zweihundert  Jahren 
der  Sprachgebrauch  diese  Anschauung  als  eine  allgemein 
geltende  aufgewiesen   habe  (Dio  LITT  20,    vgl.  Vegetius   De   re 


107 

militari  II  5).  Das  Zeugniss  Dios  beweist,  dass  die  politische 
Gesinnung,  welche  mit  dem  Cäsarcultus  innerlich  verwandt  ist, 
zweihundert  Jahre  nach  dem  Ende  der  Republik  der  römischen 
Welt  in  Saft  und  Blut  übergegangen  ist,  woraus  mit  Noth- 
wendigkeit  hervorgeht,  dass  der  Cäsarcultus  nicht  ein  zufälliges 
und  beiläufiges  Phänomen  in  dem  römischen  Kaiserreich  gewesen, 
sondern  eine  die  gesammte  Anschauung,  Sitte  und  Sprache  beherr- 
schende Macht.  DassAugustus  dem  Pacuvius  Widerstand  geleistet, 
ist  wiederum  ein  Beweis,  dass  die  grosse  Neuerung  sich  mit  Mühe 
durchzuarbeiten  hat,  dass  aber  dieser  Widerstand,  der  bei 
Augustus  anfänglich  nur  äusserlich  und  aus  kluger  Berück- 
sichtigung der  noch  nicht  völlig  überwundenen  republikanischen 
Volksmeinung  hervorgegangen,  wirkungslos  bleibt,  beweist,  dass 
nachdem  einmal  die  Scheu  überwunden  ist,  den  hohen  Gottes- 
namen in  die  Welt  des  Cäsarenthums  zu  versenken,  diese  Pro- 
fanation  sich  auch  ausleben  und  auswirken  muss  und  wird.  Wir 
können  aber  nicht  umhin,  schon  hier  zu  bemerken,  dass  sich  in 
Rom  eine  Macht  und  ein  Cultus  erhebt,  welcher,  vollendet,  die 
Völkerwelt  von  dem  wahren  Gott  für  immer  loszureissen  geartet 
ist.  Nur  dadurch  ist  dieses  Verhängniss  abzuwehren,  dass  was 
in  Cäsar  falscher  Schein  ist  in  Christo  That  und  Wahrheit  wird. 
Die  Bahn  des  verhängnissvollen  Cultus  war  durch  Julius 
Cäsar  gebrochen,  die  Regierung  des  zweiten  Cäsar  geht  auf 
dieser  Bahn  vorwärts.  Was  dem  Augustus  an  Geistesgrösse 
im  Vergleich  mit  Cäsar  abgeht,  das  ersetzt  er  durch  die 
Eminenz  seiner  kalten  Klugheit,  mit  der  er  als  Jüngling  schon, 
die  Klügsten  überlistet  und  sein  ganzes  Regiment  als  ein 
Schaustück  auf  offener  Weltbühne  vollendete,  wie  er  selbst  auf 
dem  Sterbebett  bekannt  hat.  Cäsar  suchte  das  ganze  Sacral- 
wesen  in  seine  Gewalt  zu  bekommen,  um  nicht  bloss  den 
Körper  sondern  auch  die  geistigen  Funktionen  des  V^olkes  zu 
beherrschen.  Augustus  ist  auch  hier  sein  Nachfolger.  Er 
besetzt  die  ,,cura  legum  et  morum"  (Peter  Römische  Ge- 
schichte III  37),  er  führt  das  Oberpriesteramt  (Dio  LIII  17), 
er  hat  das  ganze  Orakelwesen  in  seiner  Hand,  auf  seinen  Befehl 
werden  Weissagebücher  verbrannt,  über  die  sibyllinischen 
Bücher    führt    er    die    Aufsicht    (Sueton    XXXI,    Dio   LIV   17, 


158 

Marquardt:  Römische  Staatsverfassung  3.  Band  Sacralwesen 
S.  341).  Diese  Beschlagnahme  des  gesammten  ReHgionswesens, 
dieses  cäsarische  Summepiscopat  macht  den  Eindruck,  als  sei 
das  ganze  Geistesleben  eine  Domäne  des  Cäsarhofes,  Zu  Grunde 
liegt  die  Anschauung,  dass,  so  wie  die  äussere  Welt  unter  der 
Herrschaft  Cäsars  in  stille  Ruhe  eingehüllt  ist,  so  auch  das 
Geistesleben  zu  dem  Ziel  eines  festen  Stillstandes  gekommen 
ist.  Die  Folge  dieser  officiellen  Anschauung  ist  diese,  dass 
jede  Geistesbevvegung  namentlich  auf  dem  Gebiete,  auf  welchem 
die  Geister  am  entzündbarsten  sind,  nämlich  auf  dem  religiösen 
Gebiet  von  vornherein  in  hohem  Grade  für  den  Staat  als 
verdächtig  angesehen  wird.  Der  officielle  Ausdruck  für  diese 
Anschauung  hat  in  dem  ,, Corpus  juris"  eine  Stelle  gefunden: 
,,Si  quis  aliquid  fecerit,  quo  leves  Romanorum  animi  superstitione 
numinis  terrentur,  D.  Marcus  ejusmodi  homines  in  insulam 
relegari  jussit"  (De  poen.  30,  lib.  48,  tit.  19J.  Der  Urheber  dieses 
höchst  charakteristischen  Gesetzes,  wie  ausdrücklich  gesagt  wird, 
ist  Divus  Marcus,  also  Marcus  Aurelius  Philosophus,  also  der 
berühmte  stoische  Philosoph  auf  dem  Kaiserthron.  Wie  der 
Cäsarcultus  das  Oberpriesteramt  zu  einer  infallibelen  Hierarchie, 
so  macht  diese  Menschenvergötterung  die  Philosophie  zu  einer 
Dictatur  im  Reich  der  Gedanken.  Marc  Aurel  hat  sich  vor- 
genommen, sich  nicht  verkaisern  zu  lassen,  aber  der  Cäsarcultus 
ist  stärker  als  sein  Wille.  Als  Philosoph  weiss  er,  dass  nicht 
die  Leidenschaft  sondern  die  Vernunft  gelten  soll.  Aber  der 
vergötterte  Cäsar  fragt  nicht,  ob  die  leicht  beweglichen  Seelen 
der  Römer  von  Vernunft  und  Gewissen  oder  von  fantastischen 
Schrecken  bewegt  werden.  Die  Schrecken  sind  das  Störende,  nicht 
die  Motive,  wer  die  Seelen  in  Unruh  versetzt,  mag  er  die  besten 
Gründe  und  Absichten  haben,  er  bricht  den  Bürgerfrieden,  er 
hat  sein  Bürgerrecht  verwirkt,  er  wird  ins  Exil  verbannt.  Der 
Rath  des  Maecenas  an  Augustus,  fremde  Culte  zu  meiden  und 
auszurotten,  wird  hier  modificirt.  Es  kommt  darauf  an,  ob  der 
fremde  Cultus  die  leicht  beweglichen  Römer  beunruhigt,  ist  das 
nicht  der  Fall,  dann  ist  derselbe  nicht  strafbar,  wie  denn 
Maecenas  selbst  ein  Anhänger  des  neueingeführten  Cybele- 
cultus  war  (Anthologia  latina  ed.  Burmann  I  29).     Das   Gesetz 


159 

des  Diviis  Marcus  gewinnt  eine  drohende  Gestalt,  wenn  man 
bedenkt,  dass  eine  gründliche  Erschütterung  der  römischen 
Gemüther  nicht  bloss  heilsam  sondern  sogar  nothwendig  war. 
Diese  gründliche  Erschütterung  gilt  für  ein  Verbrechen,  damit 
ist  ein  radicaler  Conflict  in  Aussicht  gestellt.  Wir  werden 
übrigens  auf  die  Stellung  des  Philosophen  auf  dem  Cäsarthron 
zu  der  menschlichen  Gewissensfrage  später  zurückkommen. 

Das  Vernunftwidrige  und  Seelengefährliche  des  Cäsarcultus 
zeigt  sich  sofort  in  den  Anfängen  und  in  dem  eben  charakteri- 
sirten  Gesetz  des  Gefeiertsten  aller  Cäsaren.  Die  ganze  Tiefe 
dieses  Verderbens  enthüllt  sich  aber  erst,  wenn  wir  die  ganze 
Breite  dieses  Unheils  durch  die  Zeiten  des  ungebrochenen 
Cäsarcultus  verfolgen. 

In  Folge  des  Cäsarcultus  bildete  sich  ein  eigenthümlicher 
Sprachgebrauch  in  den  höchsten  Kreisen  wie  in  den  niedrigsten 
Schichten  des  Volkslebens. 

Allbekannt  ist,  wie  die  berühmten  Dichter  Vergil,  Horaz 
und  Ovid  demselben  ergeben  sind. 

In  seiner  Verbannung  hat  Ovid  die  Bilder  des  Augustus, 
Tiberius  und  der  Livia  erhalten.  Er  nennt  diese  Bilder  ohne 
Weiteres  ,,deos"  (Ex  Pont.  II  8  i — 4).  An  diese  Götterbilder 
wendet  er  sich:  ,,Adnuite  o  timidis  mitissima  numina  votis"  (51), 
und  er  schmeichelt  sich  mit  der  Hoffnung  auf  Erhörung  seiner 
Bitte,  da  sich  das  Angesicht  der  Bilder  erheitere  (73).  Dieses 
Spiel  des  unglücklichen  Dichters  beweist,  dass  der  Cäsarcultus 
unter  Augustus  dem  allgemeinen  Bewusstsein  muss  ganz 
geläufig  gewesen  sein,  sonst  hätte  Ovid  diese  krasse  Apotheose 
der  Kaiserbilder  nicht  wagen  dürfen.  Und  in  der  That  finden 
wir  einen  Beleg,  dass  das  einfache  Volksbewusstsein  die 
Menschenvergötterung  des  Kaisers  bereits  in  sich  aufgenommen 
und  sich  in  der  Volkssprache  in  ursprünglicher  Weise  aus- 
spricht. Als  Augustus  auf  seiner  letzten  Reise  Unteritalien 
besuchte,  wurde  er  durch  eine  merkwürdige  Scene  überrascht 
und  hoch  erfreut.  Steuerleute  und  Matrosen  eines  alexandrini- 
schen  Schiffes  kamen  ihm  in  einem  feierlichen  Aufzug  in 
weissen  Kleidern,  bekränzt  und  Weihrauch  spendend  entgegen 
und  begrüssten  ihn  folgendermassen :     ,, Durch   dich   leben  wir, 


160 

durch  dich  fahren  wir,  durch  dich  geniessen  wir  Freiheit  und 
Glück"  (Sueton  XC  VIII).  Es  ist  die  überschwängliche,  über  das 
menschhche  Mass  hinausgehende  Sprache,  welche  wir  nicht 
anders  als  Anbetung  nennen  können.  Was  die  Schiffer  hier 
aus  ihrem  eigenen  Berufsleben  aussprechen,  das  verkündigt 
der  Historiker  Vellejus  aus  seinem  geschichtlichen  Bewusstsein, 
,, Nihil  optare  a  diis  homines,  nihil  dii  hominibus  praestare 
possunt,  nihil  voto  concipi,  nihil  felicius  consummari  potest^ 
quod  non  Augustus  post  reditum  in  urbem  rei  publicae  popu- 
loque  Romano  terrarumque  orbi  repraesentaverit"  (II  89).  *) 
Dieses  Evangelium  des  Cäsarcultus,  nachdem  es  einmal  unter 
Augustus  verkündigt  worden,  hat  sich  fortgesetzt,  wie  wir  hier 
vorausgreifend  bemerken  wollen,  bis  zum  Schluss  der  antiken 
Aera,  wie  folgende  Schriftstellen  ergeben :  Seneca  ad  Polybium 
XXVI,  PHnius  Hist.  XXV  2,  Historia  Augusta  Lugd.  Bat, 
I  892,  Panegyricus  Pacati  ad  Theodosium  c.  VI. 

Es  muss  aber  wiederholt  daran  erinnert  werden,  dass 
dieses  heidnische  Evangelium  immer  noch  nicht  das  ganze 
Volksbewusstsein  gefangen  nimmt,  es  giebt  immer  noch  einen 
Widerspruch  des  Volksgewissens,  der  trotz  aller  officiellen  und 
Conventionellen  Lügen  immer  wieder  auftaucht. 

Weil  Augustus  keineswegs  immer  und  überall  mit  seiner 
übermenschlichen  Anmassung  der  Zustimmung  des  Volkes 
sicher  ist,  sondert  er  die  Soldaten  von  der  Bürgerschaft  und 
bewaffnet  den  Cäsarcultus  mit  dem  Schwert  der  Soldatesca 
(Sueton  XLIV).  Der  Widerspruch  gegen  Cäsarcultus  ist 
immer  noch  vorhanden  und  lässt  sich  hören  als  eine  nationale 
Gewissensstimme.  Die  Klage,  welche  wir  schon  aus  Athen 
vernommen,  dass  der  Menschencultus  den  Göttercultus  schädigt, 
wiederholt  sich  in  Folge  des  Cäsarcultus  auch  in  Rom. 
Augustus  wird  angeklagt,  dass  für  die  Verehrung  der  Götter 
Nichts  übrig  gelassen  sei,  nachdem  Augustus  Tempel  und 
Bilder,  Priester  und  Erzpriester  für  sich  in  Anspruch  genommen 


*)  Ich  freue  mich,  dass  Peter  Denen  entgegen  getreten  ist,  welche  den 
Vellejus  gegen  den  Vorwurf  der  Schmeichelei  in  Schutz  nehmen  wollen  (Geschichte 
Roms  III   I    342). 


161 

(Tacit.  Ann.  I  lo).  Sejanus  rühmt  sich,  dass  er  seine  Wünsche 
zuerst  dem  Tiberius  vortrug  und  dann  erst  den  Göttern  (Tacit. 
Ann.  IV  39).  Da  die  durch  das  Herkommen  verehrten  Götter 
durch  die  neuen  menschhchen  cäsarischen  Gottheiten  zurück- 
gesetzt wurden,  so  verstärkte  sich  im  Lauf  der  Zeit  diese 
Klage  noch  immer  mehr,  dieselbe  nahm  schon  in  den  Tagen 
des  Augustus  die  bedenkliche  Wendung:  ,,die  Götter  verlassen 
die  Erde",  und  was  das  bedeutet,  wird  uns  erst  ganz  verständlich, 
wenn   wir  Leben    und  Wandel  der  neuen  Götter  kennen  lernen. 

Natürlich  wurden  die  dissentirenden  Stimmen  überhört, 
und  es  fehlte  nicht  an  einem  prätorischen  Mann,  der  den  Eid 
leistete,  dass  er  die  Auffahrt  des  Augustus  zum  Himmel 
gesehen.  Das  Ergebniss  war,  was  Seneca  so  ausdrückt: 
,,Augustum  deum  esse  non  tamquam  jussi  credimus"  (De  dem. 
I  10  3),  das  heisst:  die  Gottheit  des  Augustus  ist  nicht,  wie 
es  bei  Späteren  öfter  geschehen,  beschlossen  und  befohlen, 
sondern  sie  ruht  wie  die  des  göttlichen  Julius  (Sueton  LXXXVII) 
auf  der  Ueberzeugung  der  grossen  Majorität. 

Tiberius  hatte  nicht  bloss  Witz  sondern  auch  gesunden 
Verstand,  der  ihn  bestimmte,  ein  starkes  Hervortreten  des 
immerhin  noch  neuen  Cäsarcultus,  soweit  derselbe  ihn  persönlich 
betraf,  abzuweisen.  Er  wollte  nicht  mit  dominus  angeredet 
werden  und  gestattete  nicht,  die  Bezeichnung  ^acrae  für  seine 
occupationes  (Sueton  XXVII).  Als  es  sich  um  die  Einweihung 
eines  Tempels  für  ihn  handelte,  verhielt  er  sich  abwehrend,  in- 
dem er  im  Senat  öffentlich  erklärte,  dass  er  sterblich  sei  und 
sein  Amt  als  Mensch  verwalte  (Tacit.  Ann.  IV  37  38).  Diese 
Abweisungen  bestätigen  im  letzten  Grunde,  dass  der  Cäsar- 
cultus in  der  Zeit  der  beiden  ersten  Cäsaren  bereits  so  feste 
Wurzeln  in  Rom  geschlagen  hat,  dass  solche  Aeusserungen, 
wie  die  von  Tiberius  angeführten,  denselben  in  keiner  Weise 
mehr  erschüttern  können.  Ist  doch  auch  das  höchste 
Gesetz  Tibers  das  ihm  von  Augustus  überlieferte  Programm 
(Suet.  Octav.  XCVIII,  Tiber.  XXI,  Tacit.  Ann.  I  11,  IV  37, 
Agricola  XIII,  Strabo  nach  Lipsius  ad  Tacit.  Ann.  IV  37). 
In  dem  Programm  des  Augustus  hat  aber  ohne  Frage  der 
Cäsarcultus     eine     hervorragende     Stelle.       Tiberius     lässt     es 

11 


162 

geschehen,  dass  im  Senat  auf  der  Grundlage:  ,,principes  instar 
deorum  esse"  Anklagen  erhoben  wurden  (Tacit.  Ann.  III  37), 
ferner,  dass  das  ,, crimen  majestatis",  welches  durch  den  Cäsar- 
cultus  merklich  verschärft  war,  was  ein  Beispiel  bei  Seneca  de 
benef.  III  26  beweist  ,,omnium  accusationum  complementum 
erat"  (Tacit.  Ann.  III  38).  Tiberius  hat  es  ferner  geduldet, 
dass  dem  Sejan,  seinem  Grossvezier,  den  Tacitus  als  eine 
Strafe  des  göttlichen  Zornes  für  Rom  bezeichnet  (Tacit.  Ann. 
IV  i),  ein  Bild  neben  dem  des  Kaisers  errichtet  wird,  dass 
bei  beiden  geopfert  und  gebetet,  dass  bei  dem  Glück  des 
Sejan,  wie  bei  dem  des  Cäsar,  geschworen  wurde  (Tiberius 
von  Stahr  p.  2i2j.  Vellejus,  der  Bewunderer  des  Tiberius,  ist 
zugleich  ein  begeisterter  Lobredner  des  Sejanus,  dieser  durfte 
bei  Lebzeiten  des  Tiberius,  als  Sejanus  noch  auf  schwindelnder 
Höhe  stand,  wie  bereits  erwähnt,  öffentlich  schreiben:  ,,es 
können  Menschen  von  den  Göttern  Nichts  wünschen,  die  Götter 
können  Menschen  Nichts  leisten,  es  kann  Nichts  gewünscht,  es 
kann  Nichts  geschenkt  werden,  was  nicht  Augustus  nach  seiner 
Rückkehr  in  die  Stadt  dem  Staat,  dem  römischen  Volk  und 
dem  Weltkreis  geleistet  hat"  (Vellejus  II  89).  So  schreibt  ein 
Historiker  in  den  Tagen  des  Tiberius,  den  der  Zauber  des 
Cäsarcultus  trunken  gemacht.  Aehnlich  hat  ein  Mann  der 
Gelehrsamkeit  C.  \'algius  unter  Tiberius  die  Majestas  des  ver- 
götterten Augustus  gepriesen  als  die  Macht,  welche  alles  Uebel 
der  Menschheit  heilen  kann  (Plin.  h.  n.  XXV  2).  Was  die 
Stellung  des  Tiberius  zum  Cäsarcultus  anlangt,  so  kommen 
noch  die  Aussagen  des  Vellejus  in  Betracht.  Tiberius  wird 
es  zum  Ruhm  angerechnet,  dass  er  sich  für  die  Erbauung 
eines  dem  Vater,  nämlich  Augustus,  geweihten  Tempels  bemüht 
(Vellejus  II  130).  Tiberius  hat  den  Vater,  also  Augustus, 
geheiligt  (sacravit),  nicht  durch  Gesetz  sondern  durch  Glauben 
(religione),  so  hat  er  ihn  nicht  durch  den  Namen  sondern 
durch  die  That  zum  Gott  gemacht  („sed  fecit  deum"j  (II  126). 
Von  der  Kaiserin  Mutter  schreibt  dieser  Historiker,  sie  sei  in 
allen  Stücken  den  Göttern  ähnlicher  gewesen  als  den  Menschen 
(II  136).  Die  bezeichnenden  Worte  in  diesen  Aussprüchen 
sind  alles  Beweise  von  dem  anerkannten  und  geltenden  Kaiser- 


1G3 

cultus  in  der  Zeit  des  Tiberius.  Ein  authentisches  Zeugniss 
ferner  über  den  Cäsarcultus  unter  Tiberius  finden  wir  in  der 
Schrift  des  römischen  Valerius  Maximus.  In  der  Vorrede  ruft 
dieser  Schriftsteller  den  Cäsar  an,  der  dem  „väterlichen  Gestirn 
im  Himmel  durch  seine  irdische  Gegenwart  gleich  steht". 
Valerius  schreibt:  ,,wie  die  alten  Redner  und  Dichter  in  ihren 
Vorreden  den  Jupiter  um  Beistand  angerufen,  so  wende  ich  mich 
an  Cäsar  um  Hülfe''  (Vgl.  Quintilian  Instit.  IV,  Prooemium). 
Hier  ist  also  in  den  Tagen  des  Cäsars  Tiberius  der  Cäsarcultus 
in  ipso  actu  unter  den  Augen  des  Kaisers  in  Uebung.  Die 
gelegentliche  Abweisung  von  Klagen  wegen  Sacrilegien  ist  in 
•dem  Munde  des  Tiberius:  deorum  injuriae  diis  curae  (Tacit. 
Ann.  I  73)  ein  akademischer  Satz,  der  nicht  das  Gewicht  von 
Freisinnigkeit,  welches  Stahr  ihm  beigelegt,  besitzt  (p.  349). 

Bei  den  drei  ersten  Cäsaren  finden  wir  in  dem  Cäsarcultus 
noch  einige  Spuren  von  Zurückhaltung,  der  Vierte  dagegen,  nach- 
dem er  in  dem  ersten  Augenblick  seines  Sitzens  auf  dem 
Thron  Mass  gehalten,  stürzt  sich  sodann  mit  unmenschlicher 
Begier  in  den  Genuss  der  cäsarischen  Ungebundenheit  und 
trinkt  den  dämonischen  Kelch  des  Cäsarcultus  bis  auf  die 
Hefe.  Er  liess  sich  begrüssen  als  Jupiter  Latialis  (Suet.  XXII), 
es  wurden  ihm  Tempel  und  Opfer  als  gegenwärtiger  Gottheit 
geweiht  (Dio  LIX  4),  Gebete,  Gelübde  und  Opfer  wurden  ihm 
dargebracht  (Dio  LIX  26).  Dio  sagt  von  diesem  Cäsar  Cajus, 
er  wolle  lieber  alles  Andere  scheinen  denn  als  Mensch  (LIX  26), 
und  Sueton  nennt  ihn  ein  Monstrum  (XXII).  Wenn  wir  uns  diese 
beiden  Worte  von  zwei  Historikern  merken,  dann  brauchen 
wir  nicht  die  unsagbaren  Greuel,  die  er  vollbringt  und  die  er 
mit  sich  vornehmen  lässt,  anzurühren.  Nur  wollen  wir  uns  ein 
verhängnissvolles  Wort  merken,  das  Cajus  im  Munde  führt 
und  das  seitdem  eine  Geschichte  hat,  eine  Ausgeburt  des 
Cäsarcultus.  Cajus  sagt  zur  Antonia  seiner  Grossmutter: 
„memento  omnia  mihi  et  in  omnes  licere"  (Suet.  XXIX). 

Unter  Claudius  war  bereits  dieser  Grundsatz :  ,,Caesari 
omnia  licent"  (Seneca  ad  Polyb.  VII  2)  geläufig,  und  wenn 
Sueton  schreibt,  dass  Nero  in  die  Fussstapfen  Caligulas  getreten, 
so  denkt  er  vielleicht  vorzugsweise  an  das  Wort  des,  wie  Seneca 

11* 


164 

sagt,  ,, aufgeblasenen"  Kaisers:  ,,der  sei  kein  rechter  Fürst,  der 
nicht  wisse,  wie  viel  ihm  erlaubt  sei"  (Suet.  Nero  XXXVII). 
Gleichfalls  wird  unter  Xero  der  Spruch  verkündigt:  ,,non 
tantum  honesta  dominanti  licent,  qua  juvat  reges  eant" 
(Thyest.  214  218).  Die  unverschämte  Frechheit  eines  cäsari- 
schen Weibes  gab  diesem  entsetzlichen  Grundsatz  durch  Wort 
und  That  seine  infernale  Vollendung:  ,, Julia  noverca  Antonini 
Caracallae  cum  esset  pulcherrima  et  quasi  per  negligentiam  se 
maxima  corporis  parte  nudasset  dixissetque  Antoninus :  vellem 
si  liceret,  respondisse  fertur:  si  libet  licet,  an  nescis  te  impera- 
torem  esse  et  leges  dare  et  usu  accipere?  Quo  audito  furor 
inconditus  ad  effectum  criminis  roboratus  est  nuptiasque  celebravit,. 
quas  si  sciret  se  leges  dare  vere  solus  prohibere  debuisset,  matrem. 
enim  (non  alio  dicenda  erat  nomine)  duxit  uxorem,  ad  parri- 
cidium  junxit  incestum,  si  quidem  eam  matrimonio  sociavit, 
cujus  filium  nuper  occiderat"  (Hist.  August.  I  730,  Aurelius 
Victor  de  Caesaribus  XXI,  vgl.  Ovid.  Fast.  V  370). 

Man  hat  bekanntlich  versucht,  die  enormen  Excesse  an 
dem  Cäsarenhofe  aus  wiederholten  Geistesstörungen  zu  erklären. 
Diese  Hypothese  hat  den  Vortheil,  dass  die  Beschämung,  die 
uns  bei  dem  Anblick  dieser  Dinge  überkommt,  durch  dieselbe 
etwas  gemildert  wird.  Aber  da  diese  Hypothese  sich  nicht 
beweisen  lässt,  so  müssen  wir  uns  darein  ergeben,  dass  die 
menschliche  Natur  in  dem  Stande  der  äussersten  Versuchung, 
die  in  dem  Cäsarcultus  enthalten  ist,  vor  solchen  aus  dem 
Abgrund  stammenden  Ungeheuerlichkeiten  nicht  geschützt  ist. 
Man  muss  sich  Mühe  geben,  zwei  Dinge  zu  verstehen;  einmal 
den  Gipfel  einer  beispiellosen  Macht  des  römichen  Cäsar  und 
dann  den  zur  freiwilligen  Knechtschaft  herabgesunkenen  Nieder- 
gang der  römischen  Welt.  Der  Cäsar  ist  der,  vor  dessen^ 
Zorn,  wie  Ovid  klagt,  die  Welt  vom  Aufgang  bis  zum  Nieder- 
gang erzittert,  vor  dessen  Arm  es  kein  Entrinnen  giebt,  wie 
Gibbon  richtig  bemerkt.  Und  die  römische  Welt  unter  den 
Cäsaren?  So  beschreibt  sie  ein  competenter  Zeuge  Petronius: 
,,Heu  heu  nos  miseros,  quam  totus  homuncio  nihil  estl" 
(Anthol.  ed.  Burmann  I  579),  ,,nos  vino  scortisque  demersi" 
(Satyr.    LXXXVIII).     Wenn   man  diese  beiden  Momente  jedes 


165 


für  sich  und  beide  in  ihrer  gegenseitigen  Wechselwirkung  ernst- 
lich erwägt,  dann  kann  man  sich  die  Greuel  des  Cäsarcultus 
mögHch  denken,  freihch  nicht  ohne  tiefe  Beschämung  über  den 
Fall  der  Menschheit. 

Wir  wollen  fortfahren,  um  den  weiteren  Verlauf  des 
Cäsarcultus  in  seinen  Hauptmomenten  zu  verfolgen.  Der  durch 
•die  Schändlichkeiten  des  Caligula  erregte  Abscheu  war  nicht 
stark  genug,  um  die  Menschenvergötterung  der  Cäsaren  zu 
•corrigiren.  Wir  haben  bereits  in  dem  dritten  Abschnitt  nach- 
gewiesen, dass  der  Mann,  welcher  nach  seiner  ganzen  Denkart 
und  nach  seiner  Weltstellung  den  Beruf  hatte,  diese  Abgötterei 
zu  bekämpfen,  dass  eben  dieser  Mann  unter  dem  traurigen 
Regiment  des  Claudius  sich  selber  in  schimpflicher,  ja  nieder- 
trächtiger Weise  zu  dem  herrschenden  Cäsarcultus  bekannt  hat. 
Und  was  die  Zeit  des  Nero  anlangt,  so  ist  uns  derselbe  Mann 
schon  als  ein  förmlicher  Verführer  des  jungen  Cäsar  zur  Selbst- 
vergötterung bekannt  geworden. 

Damit  man  aber  nicht  meine,  dass  die  Tugend  der  ersten' 
beiden  Flavier  das  Unheil  gebessert,  zu  welcher  Meinung  Baur 
neigt,  wie  wir  später  noch  näher  sehen  werden,  müssen  wir  bei 
Domitian  etwas  verweilen.  Wenn  Tacitus  sagt,  dass  Domitian 
mit  einem  Streich  dem  Freistaat  garaus  gemacht  ,,velut  uno 
ictu  rempublicam  exhausit"  (Agric.  XLIV),  so  kündigt  sich  dieser 
Gewaltstreich  durch  Nichts  so  deutlich  an,  w'iq  durch  die 
Ueberschrift  der  kaiserlichen  Edicte,  welche  nach  Sueton  so 
lauteten:  ,, dominus  et  deus  noster  sie  fieri  jubet"  (XIII). 
Martial,  ein  Schmeichler  des  Domitian,  hat  diese  Ueberschrift 
{Ep.  V  8  i)'  nachgebildet:  ,,edictum  domini  deique  nostri". 
Wie  sehr  hat  der  Cäsarcultus  seine  anfängliche  theilweise  Ver- 
schämtheit abgelegt!  ,,Augustus  domini  appellationem  ut 
maledictum  et  opprobrium  semper  abhorruit"  (Octav.  LIII), 
,,Tiberius  dominus  appellatus  a  quodam  denunciavit,  ne  se 
amplius  contumeliae  causa  nominaret"  (Tiber.  XXVII,  Tacit. 
Ann.  II  87).  Dem  officiellen  Anspruch  Domitians  an  seine 
Göttlichkeit  entspricht  die  Haltung  des  römischen  Volks.  Der 
Dichter  Papinius  Statius  spendet  dem  Kaiser  seinen  Dank  für 
die  Einladung   an  die  kaiserliche  Tafel.     Das  kaiserliche  Gast- 


166 

mahl  beschreibt  nun  Statius  als  ein  Fest,  das  nicht  mehr  auf 
der  Erde  gefeiert  wird  sondern  unter  den  Sternen  in  Gemein- 
schaft mit  Göttern,  und  der  Wein  ist  Nectar,  und  mit  diesem  Tage 
bricht  an  die  selige  Zeit  der  Menschheit  (Silvae  IV  2  lo— 16). 
Dies  ist  dem  Martial  noch  nicht  genug,  derselbe  entblödet  sich 
nicht  Folgendes  zu  schreiben:  ,,wenn  ich  eingeladen  werde  einer- 
seits von  Cäsar,  andererseits  von  Jupiter,  mögen  die  Sterne 
nahebei  sein  und  der  Kaiserpalast  weit  entfernt,  ich  würde 
antworten,  sucht  euch  Einen,  der  lieber  beim  Donnerer  zu 
Gast  sein  will,  ich  bin  hier  auf  Erden  bei  meinem  Jupiter 
versagt"  (Ep.  IX  92),  denn  ,, hehrer  und  heiliger  ist  Cäsars 
Geburtstag  als  der  Tag,  da  der  Berg  Ida  den  kretischen  Jupiter 
gebar"  (IV  i  i  2).  Die  schamlose  Schmeichelei  der  Cäsar- 
vergötterung unter  Domitian  geht  soweit,  dass  Martial  zu 
behaupten  wagt,  ,,die  Thiere  im  Amphitheater  haben  eine 
Empfindung  von  dem  Numen  des  Domitian"  (XXVII  de 
spectaculis).  Mancher  ist  geneigt,  in  diesen  Ueberschwenglich- 
keiten  Nichts  als  harmlose  Ausbrüche  einer  damals  gestatteten 
licentia  poetica  zu  sehen.  Aber  es  darf  nie  ausser  Acht 
gelassen  werden,  dass  in  dem  Gebiet  des  Heiligen  und  Gött- 
lichen auch  die  licentia  poetica  zu  allen  Zeiten  ihre  Schranke 
hat.  Uebrigens  liegt  aus  den  Tagen  Domitians  eine  Thatsache 
vor,  welche  beweist,  dass  auch  auf  ernsthafte  Gemüther  der 
Titel  ,, dominus  et  Deus  noster"  einen  tief  corrumpirenden  Ein- 
fluss  gehabt  hat.  Es  ist  der  strenggesinnte,  allgemein  verehrte 
Quintilian,  der  dem  Cäsar  Domitian  den  Tribut  der  Anbetung 
darbringt.  Domitian  hat  seine  Grossneffen  dem  Quintilian 
zur  Unterweisung  übergeben,  und  durch  diesen  Umstand  fühlt 
sich  dieser  Meister  der  Wohlredenheit  für  seinen  Beruf  um  sa 
höher  verpflichtet.  Nun  erinnert  er  sich,  dass  die  grossen 
Dichter  die  Musen  zum  Beistand  anrufen,  dass  er  dagegen  im 
Anfang  seines  Werkes  ,,Institutiones"  diese  fromme  Sitte  ver- 
säumt habe  und  müsse  nun  im  Anfang  des  vierten  Buches  das 
Versäumte  nachholen,  und  das  thut  Quintilian  auf  solche  Weise, 
dass  er  vor  Allen  die  Gottheit  anruft,  welche  am  gegen- 
wärtigsten ist,  und  welche  mit  göttlicher  Gnade  den  Studien 
zugewandt  ist  (,,quo  neque  praesentius  aliud  neque  studiis  magis 


167 

proprium  numen  est").  Und  wer  ist  diese  gegenwärtige  gnaden- 
reiche Gottheit,  zu  welcher  Quintilian  für  das  Gelingen  seiner 
Bücher  betet?  Der  Cäsar  Domitian!  Dieser  wird  von  dem 
ernsten  Meister  angerufen:  ,,ut  quantum  nobis  exspectationis 
adfecit,  tantum  ingenii  adspiret,  dexterque  ac  volens  adsit  et 
me,  qualem  esse  credidit  faciat"  (Instit.  IV  praefatio).  Quin- 
tilian that  also  unter  Domitian  ganz  dasselbe,  was  der 
Anekdotensammler  Valerius  Maximus  gethan,  der  mit  seinem 
Weihegebet  für  sein  Buch  an  die  gegenwärtige  Gottheit  des 
Tiberius  sich  wendet!  Der,  von  dem  Tacitus  schreibt:  ,,in- 
fensus  virtutibus  princeps"  (Ag.  41),  ist  derjenige,  den  Quin- 
tilian um  seinen  göttlichen  Beistand  für  sein  Schriftwerk 
anruft ! 

Wir  werden  es  begreiflich  finden,  dass  Trajan  die  krass- 
anstössige  Anmassung  des  Domitian  zu  massigen  sucht.  Plinius 
lobt  das  desfällige  Verhalten  Trajans:  ,,Sic  fit,  ut  dii  summum 
inter  homines  fastigium  servent,  quum  deorum  ipse  non  appetas" 
(Panegyr.  LH).  Aber  mit  diesem  Verzicht  Trajans  war  die 
Gesinnung  der  Römer  nicht  umgewandelt.  So  wenig  die  Laster 
der  Cäsaren  den  Cäsarcultus  ausrotten  konnten,  ebensowenig 
ihre  Tugenden,  welche  sogar  zu  einer  neuen  Stufe  dieses 
Cultus  dienen  mussten.  ,,Pro  nobis  ipsis",  sagt  Plinius  in  seiner 
Lobrede  auf  Trajan :  ,,haec  fuit  summa  votorum,  ut  nos  sie  dii 
amarent  quomodo  tu,  ut  dii  Caesarem  imitentur  (Paneg.LXXIV). 
Also  erst  kommt  Cäsar,  dann  erst  die  Götter,  in  der  Liebe  und 
Fürsorge  für  die  Menschheit  1  Ja,  der  gefeierte  Trajan  verdunkelt 
und  verdrängt  den  Jupiter  ganz  und  gar,  denn  Trajan  verwaltet 
auf  Erden  das  Geschäft  Jupiters,  somit  hat  dieser  im  Himmel 
inzwischen  Müsse  (a.  a.  O.  LXXX) !  ,,Es  taucht  die  Ansicht 
immer  wieder  auf,  als  ob  in  der  Kaiserzeit,  in  welcher  nach 
unserer  Meinung  fast  Alles,  was  Rom  gross  gemacht  hat, 
erloschen  oder  ausgeartet  ist,  die  Blüthezeit  des  römischen 
Staates  zu  erkennen  sei"  (Peter  Geschichte  Roms  III  2  Vor- 
rede). Gibbon,  Hegewisch  und  jüngst  Professor  Hausrath 
sehen  innerhalb  der  römischen  Kaiserzeit  ,,die  glücklichste  Periode 
der  Menschheit".  Der  letztgenannte  Gelehrte  behauptet:  „die 
mit    Geist    am     reichsten     erfüllte    Periode     der    menschlichen 


168 

Geschichte  ist  die  römische  Kaiserzeit.  Man  zeige  uns  doch 
in  der  ganzen  Weltgeschichte  zwei  Jahrhunderte,  welche  etwas 
Aehnliches  geleistet  hätten  wie  die  Kaiserzeit  von  Augustus 
bis  Septimius  Severus"  (Kleine  Schriften  S.  3).  Einen  stärkeren 
Gegensatz  zwischen  dieser  Geschichtsauffassung  und  derjenigen, 
welche  wir  hier  unter  dem  Titel  Cäsarcultus  vertreten,  kann  es 
nicht  geben.  Wir  denken  daher  auch  nicht  daran,  diesen 
Gegensatz  hier  principiell  zu  behandeln,  wir  wollen  durch 
Thatsachen  beweisen,  dass  das,  was  wir  als  die  Lüge  des 
Cäsarcultus  darlegen,  der  Wurm  ist,  welcher,  was  noch  an  alter 
Herrlichkeit  des  römischen  Wesens  vorhanden  ist,  von  innenher 
zerstört.  Es  wird  sich  zeigen,  dass  eben  die  drei  Cäsaren, 
welche  sich  vor  Anderen  durch  Tugend  und  Weisheit  aus- 
zeichnen, eben  diejenigen  sind,  an  denen  das  Verderben  der 
sacrilegischen  Lüge  am  handgreiflichsten  offenbar  wird,  näm- 
lich Trajan,  Marc  Aurel  und  Diocletian. 

Das  was  Plinius  an  Trajan  am  meisten  lobt,  dass  er  auf 
Erden  als  Cäsar  das  Amt  Jupiters  verwaltet  und  ihm  im 
Himmel  Müsse  schafft,  das  ist  das,  was  die  wahre  Gottesidee 
vernichtet,  wovon  die  Folge  ist,  dass  die  angemasste  Gottheit 
ihre  Gewalt  braucht,  um  die  Träger  der  wahren  Gottesidee  zu 
vertilgen. 

Die  von  Hadrian  bewirkte,  von  Christen  und  Heiden  viel 
besprochene  Apotheose  des  i\ntinous  kann  nur  als  ein  Stück 
des  Cäsarcultus  verstanden  werden.  Selbst  die  abscheuHche 
Geschichte  des  Commodus  muss  einen  Beitrag  zum  Cäsarcultus 
liefern.  Mitten  unter  seinen  Greueln  hat  sich  Commodus  Gott 
genannt  und  hat  sich  opfern  lassen  (Histor.  August.  I  496). 
Was  noch  an  sittlichem  Gehalt  in  dem  römischen  Senat  vor- 
handen war,  das  bricht  nach  der  Ermordung  des  Commodus 
in  einem  unaufhaltsamen  Strom  von  Flüchen  über  ihn  hervor, 
und  unter  diesen  Flüchen  wird  er  wiederholt  als  ,,hostis 
deorum"  bezeichnet  (Hist.  Aug.  I  524 — 528).  Trotz  alledem 
hat  Kaiser  Severus  diesen  Commodus  unter  die  Götter  versetzt 
(a.  a.  O.  524  610).  Und  nach  dem  Tode  des  Severus  wird 
die  Apotheose  dieses  Commodus  feierlich  vollzogen,  wie 
Herodian  dieselbe  ausführlich  beschrieben  hat  (IV  2). 


169 

Heliogabal,  ein  entsetzlicher  Mensch,  wie  er  aus  dem 
Morgenlande  stammt,  so  hat  er  die  ganze  abgrundmässige 
Wüstheit  des  Orients  nach  Rom  verpflanzt.  Durch  ihn  wird 
der  syrische  Sonnencultus  in  Rom  Cäsarcultus.  Er  als  Priester 
der  Sonne  hat  den  Namen  der  Sonne  selber  sich  angeeignet, 
und  identisch  mit  dieser  seiner  Gottheit  will  er  in  Rom  keine 
andere  Gottheit  anerkennen,  und  alle  bisherigen  Götter  sind 
Diener  seiner  Götter  und  damit  seine  Diener  (Hist.  Aug. 
I  802  —808).  Damit  ist  das  theilweise  anfängliche  Widerstreben 
gegen  die  Menschenvergötterung,  welche  wir  in  Hellas  und 
Rom  gefunden  haben,  vollständig  überwunden  und  ausgerottet, 
Dieser  radicale  Umsturz  aller  göttlichen  Heiligkeit  offenbart 
sich  in  unsagbaren  Greueln.  Lampridius  erklärt  wiederholt, 
dass  er  mit  äusserstem  Widerstreben  an  die  Erzählung  dieser 
Dinge  herangetreten  sei  und  versichert,  dass  er  das  Schlimmere 
überall  verschwiegen  und  was  er  berichtet  möglichst  ver- 
schleiert habe.  Wenn  er  dann  am  Schluss  seiner  Biographie 
des  Heliogabal  sich  wundert,  dass  das  römische  Volk  diesen 
entmenschten  Wüstling  in  dem  Nimbus  des  vergötterten  Cäsars 
ertragen  habe,  so  ist  die  Erklärung  diese,  dass  das  Volk 
durch  die  niemals  gründlich  beleuchtete  und  bekämpfte 
Gewohnheit  des  Cäsarcultus  für  die  Unterscheidung  von  Wahr- 
heit und  Lüge,  von  Gut  und  Böse  vollständig  schlaff  und 
stumpf  geworden  war. 

Die  nächstfolgende  Regierung  des  Alexander  Severus 
bietet  zwar  keine  besonderen  Thatsachen  des  Cäsarcultus,  aber 
da  ebensowenig  ein  Widerstand  dagegen  constatirt,  so  bleibt 
natürlich  das  Verderben  in  seinem  Bestände,  Die  Bilder  der 
neuernannten  Cäsaren  Maximus,  Balbinus  und  Gordianus  junior 
werden  zur  Anbetung  aufgestellt,  und  sie  selbst  werden  in 
einem  Senatsbeschluss  sanctissimi  genannt  (Hist.  Aug.  II  56 
loi  142);  die  beiden  älteren  Gordiani  werden  apotheosirt 
(ibid.  p.  58),  der  dritte  Gordianus  wird  von  Philippus  Arabs 
erst  gestürzt  und  demnächst  apotheosirt  (Hist.  Aug.  II  128  135). 
Die  Cäsaren  Pupienus  (oder  Maximus)  und  Balbinus  werden 
von  dem  Consul  ,,domini  sanctissimi"  genannt  (ibid.  p.  162). 
Valerianus  redet  den  Decius  an :  ,,sanctissime  Imperator"  (ibid.  177). 


170 

Selbst  dem  Piso,  einem  der  sogenannten  dreissig  Tyrannen, 
werden  durch  Senatsbeschluss  göttliche  Ehren  zuerkannt  (ibid. 
II  316),  Claudius  wird  als  divus  verehrt  (ibid.  p.  325),  ebenso 
Aurelianus  (p.  515  525  527).  Der  Kaiser  Tacitus  decretirt  die 
Erbauung  eines  Tempels  für  die  apotheosirten  Cäsaren,  denen 
an  ihren  Geburtstagen  und  sonstigen  Festen  Spenden  zu 
bringen  sind  (p.  609).  Die  Anbetung  des  neuen  Cäsar  erscheint 
als  selbstverständliche  Sitte  (p.  701).  (Ueber  den  Cäsarcultus 
mit  officiellem  Charakter  (adoratio  von  Augustus  an)  siehe 
Römisches  Sacralwesen  von  Marquardt  p.  446  448  —  455, 
,,Diocletianus  adorari  se  jussit"  Eutropius  IX  26.) 

Es  ist  merkwürdig,  dass  man  auf  diese  häufigen,  durch 
drei  Jahrhunderte  immer  wiederkehrenden  Thatsachen  des 
Cäsarcultus  so  wenig  Acht  gegeben  hat.*)  Man  ist  offenbar 
der  Meinung,  dass  die  auf  den  Cäsarcultus  bezüglichen  Namen 
und  Ceremonien  nichtssagende  Förmlichkeiten  seien,  die  im 
Lauf  der  Zeit  alle  Bedeutung  verloren  haben.  Dem  gegenüber 
muss  immer  wieder  hervorgehoben  werden,  dass,  wo  es  sich 
um  göttliche  Namen  und  um  religiöse  Sitten  und  Gebräuche 
handelt,  vor  dem  Richterstuhl  des  Gewissens  zu  allen  Zeiten  und 
unter  allen  Umständen  entweder  Heiligung  oder  Entheiligung 
vorhanden  ist,  auf  keinen  Fall  aber  eine  indifferente  Formalität 
oder  Nullität.  Es  darf  nimmer  vergessen  werden,  wie  stark 
das  hellenische  und  auch  das  römische  Gewissen  gegen  die 
Anfänge  dieses  von  Asien  her  eingeführten  Menschencultus 
protestirt  hat.  Wie  in  den  Anfängen  dieses  Menschencultus 
auf  europäischem  Boden  die  Thatsache  dieses  gewissenhaften 
Protestes  hoch  bedeutsam  ist,  so  ist  der  letzte  Cäsar,  der  von 
dem  römischen  Senat  auf  heidnische  Weise  apotheosirt  worden 
ist  (ßurckhardt:  Die  Zeit  Constantins  des  Grossen,  1853,  p.  365), 
ein  gewichtiger  Zeuge,  dass  diese  Sache  sehr  ernstlich  zu 
nehmen  ist. 

Diocletian  war  einer  der  kräftigsten  und  selbstständigsten 
Kaiser.     Bisher  hatte   immer  noch  eine  gewisse  Wahrheit,   wie 


*)    Die  Conlinuität    des    Cäsarcultus    ist   mit    vieler  Sorgfalt   constatirt   in 
dem  Breviarium  des  Eutropius. 


171 

Tacitus  schreibt:  ,,manebat  nihilo  minus  quaedam  imago  rei- 
publicae"  (Ann.  XIII  28).  Augustus  hatte  den  absokitistischen 
Cäsarismus  in  repubhkanische  Formen  gekleidet.  Diesem 
täuschenden  Schein  machte  Diocletian  ein  Ende.  Er  residirte 
meistens  auf  asiatischem  Boden  in  Nikomedien,  und  ausserdem 
umgab  er  seine  Person  und  seinen  Hof  mit  einem  orientaHschen 
Ceremoniell  und  Pomp.  Aus  dem  Orient  stammt  der  Cäsar- 
cultus,  Diocletian  kleidet  ihn  in  das  Gewand  seines  Ursprungs. 
,,Diocletianus  imperio  Romano  primus  regiae  consuetudinis 
formam  magis  quam  Romanae  libertatis  invexit,  adorari  se 
jussif*  (Eutropius  IX  26).  Aurelius  Victor,  ein  gleichzeitiger 
nüchterner  Historiker,  der  die  Neuerung  Diocletians  am  tiefsten 
aufgefasst,  schreibt,  nachdem  er  jene  äussere  Umwandlung 
berichtet  hat:  ,,prae  ceteris  se  primus  omnium  Caligulam  post 
Domitianumque  dominum  palam  dici  passus  et  adorari  se 
appellarique  uti  deum"  (De  Caesaribus  XXXIX).  Die  anfäng- 
liche Scheu  der  Cäsaren  vor  dem  Titel  dominus  ist  hier  von 
dem  Orientalen  völlig  überwunden.  Victor  begnügt  sich  nicht 
mit  den  angeführten  bedeutsamen  Worten,  er  erklärt  auch 
nach  einer  Reflexion  über  die  Unersättlichkeit  derer,  die  aus 
niedrigen  Sphären,  wie  Diocletian.  zu  Ansehen  emporsteigen, 
dass  diese  gesteigerte  Selbsterhöhung  Diocletians  von  den 
Unterthanen  grade  so  aufgenommen  sei,  wie  sie  von  dem 
Kaiser  gemeint  gewesen.  ,,Die  Unterthanen  haben  zu  Diocletian 
aufgeschaut  wie  zu  einem  Vater,  wie  zu  einer  grossen 
Gottheit."  Und  wie  viel  dies  zu  bedeuten  gehabt  (,,quod 
quäle  quantumque  sit"),  das  ersehe  man  aus  der  Parallele 
Diocletians  nicht  etwa  nur  mit  Julius  Cäsar  oder  Augustus, 
sondern  mit  keinem  Geringeren  als  dem  Gründer  von  Rom, 
der  nach  altrömischem  Glauben  unter  die  Götter  versetzt  ist 
und  mit  Tempel  und  Flamen  verehrt  wird  (Ovid.  fast, 
II  475 — 510)'  Dieser  Parallelisirung  seiner  selbst  mit  Romulus 
entspricht  die  Benennung  Jovius  und  Herculius  für  ihn  selbst 
und  für  seinen  Mitkaiser  Maximianus  (Burckhardt:  Constantin 
p.  41  63  64).  Das  Cäsarenamt  wird  durch  solche  Parallelen 
und  Namen  in  die  himmlische  Sphäre  versetzt.  Ueberhaupt 
behandelt    Diocletian    den    Cäsarcultus    mit    religiösem    Ernst. 


172 

Victor  schreibt  über  die  Regierung  Diocletians :  ,,veterrimae 
religiones,  castissime  curatae"  ,,je  älter  ein  religiöses  Moment, 
desto  gewissenhafter   wird   es  gepflegt".  — 

Die  ,,Historia  x^ugusta''  macht  durch  ihre  Einrichtung  wie 
durch  ihren  Inhalt  die  Aera  des  Diocletian  noch  deutlicher. 
Folgende  sechs  Schriftsteller:  Spartianus,  Capitolinus,  Lampridius, 
PolliO;  Vopiscus,  Vulcatius  sind  die  Verfasser  der  späteren 
Kaisergeschichte,  welche  unter  dem  Namen  Historia  Augusta 
bekannt  ist.  Meistens  haben  diese  Historien  eine  Adresse, 
sie  sind  theils  überwiegend  ,,ad  Diocletianum",  theils  ,,ad 
Constantinum"  adressirt.  Diocletianus  war  Liebhaber  und 
Verehrer  des  Alterthums.  Capitolinus  redet  ihn  an:  ,,te 
cupidum  veterum  imperatorum  perspeximus"  (Hist.  Aug.  I  770). 
Die  beiden  Adressaten  der  Historia  Augusta  stehen  sich 
gegenüber,  der  Eine  schliesst  die  alte  Aera,  der  Andere  leitet 
die  neue  Aera  ein,  und  Beide  haben  die  Neigung,  Jeder  seine 
Weltanschauung  historisch  zu  begründen,  und  die  genannten 
Schriftsteller  suchen  diesen  cäsarischen  Wunsch  durch  ihre 
biographischen  Notizen  zu  befriedigen.  Durch  die  Adressen 
ist  ein  Gegensatz  angedeutet,  derselbe  wird  aber  auch  wieder  aus- 
geglichen. Capitolinus  dedicirt  seine  Maximinos  an  Constantinus 
(Hist.  Aug.  II  3  74) ;  derselbe  redet  aber  auch  den  Diocletian  an: 
,,sacratissime  Imperator  Diocletiane"  (I  363),  Zwischen  Heiden- 
thum  und  Christenthum  ist  auf  diesem  literarischen  Gebiet 
Neutralität.  Der  christliche  Name  ist  aus  diesen  Büchern,  in 
deren  Zeitraum  der  grosse  Kampf  zwischen  Christus  und  Cäsar 
geführt  wird,  bis  auf  zwei  Stellen  (Hist.  Aug.  I.  720  912) 
verbannt,  und  wenn  einmal  in  heidnischen  Geschichtsbüchern 
dieser  Zeit  der  heilige  Name  genannt  wird,  so  wird  sofort 
bemerkt,  dass  die  Verfolgung  des  Christenthums  nicht  blutig 
gewesen  sei  (Eutrop.  X   16). 

Eben  deshalb,  weil  der  Cäsarcultus  nicht,  wie  man  meistens 
denkt,  eine  leere  Redensart  oder  Ceremonie  gewesen  sondern 
eine  feindliche  Macht,  die  durch  ihre  Lüge  an  dem  moralischen 
Capital  der  antiken  Menschheit  wie  ein  „nicht  sterbender 
Wurm"  fortwährend  bohrte,  ist  es  wichtig,  zu  zeigen,  dass  in 
dem    letzten    Cäsar,    dem    die    Apotheose    förmlich    zuerkannt 


173 

worden   ist,    der  Cäsarcultus   sich   ausgewirkt   hat,    ehe    er    auf 
dem  öffentHchen  Plan  seine  Todeswunde  empfangen.     Der  beste 
Zeuge  für  diese  Thatsache  ist    derjenige,    der   überhaupt    unter 
den    sechs    Schriftstellern    der    Historia    Augusta   den  meisten 
Glauben  verdient,  wie  Casaubonus  mit  Recht  urtheilt,  und  der 
dem    Diocletian    am    nächsten    steht,    Flavius  Vopiscus.      Der 
Grossvater  dieses  Vopiscus  war  in  der  Begleitung  des  Diocletian, 
als  dieser  in  seinem  gerechten  Zorn  den  Aper  erstach  und  das 
Heer  ihn  dafür   einmüthig  ,,divino    consensu"   z.um    Kaiser  aus- 
rief (Hist.    A.    II    792).     Mit    Recht    kann    sich    nun  Vopiscus 
mehrfach     auf    die    Mittheilungen    seines     Grossvaters    berufen 
(p.    770    793).      Zum    Schreiben     wurde     er    aufgefordert    von 
Tiberianus,    dem    Präfekten    von    Rom,    und    wurde    ihm    die 
Ulpia-Bibliothek     zur     Benutzung     angewiesen     (II    416    417). 
Vopiscus  ist  ein  Mann  von  politischem  Urtheil,    er  spricht  von 
der  Anarchie    in    den  letzten    Zeiten    der    römischen    Republik 
und    fährt    dann   fort :    ,,bellis  civilibus   confecta  consenuit,   per 
Augustum    deinde    reparata,    si    reparata    dici    potest    libertate 
deposita"    (II  779).     Es  will    Etwas    sagen,    dass   dieser   Mann 
in    solcher  Umgebung   kein  Heil   für  Rom  zu  denken  vermag, 
so  lange  die  Freiheit   nicht   wieder  hergestellt  ist.       Die  offen- 
bare moralische  Fäulniss  des  römischen  Wesens  sieht  Vopiscus 
in  dem  monströsen  Carinus  vollendet.    Nach  diesem  aber  erfolgt 
ein  wirklich  besserer  Zustand,  der  nach  Diocletianus  und  seinen 
Genossen  genannt  wird:  ,,post  Carinum    dii  dederunt  principes 
Diocletianum  et  ceteros"   (H.    A.   II  813).     Vopiscus    schreibt: 
,, Diocletianus     et     qui     sequuntur     majore     stilo  dicendi  sunt" 
(H.  A.  II  775).     Die  Vorstellung,    dass   mit    Diocletian    einer- 
seits und  mit  Constantin  andererseits    eine  neue  Aera  beginnt, 
liegt  der  ganzen  Sammlung  der  späteren  Kaiserbiographien  zu 
Grunde.     Diocletian  wird  ,,parens  aurei  saeculi"  genannt.     Das 
Interesse  für  Rehgionswesen  ist  in  Diocletian  überwiegend.     In 
dem  Manichäergesetz  desselben  zeigt  sich  ein  streng  religiöser, 
ja  fanatischer  Conservatismus :    ,,Maximi    criminis   tractari   quae 
semel  ab  antiquis  tractata  et  definita  sunt  ac  statum  et  cursum 
tenent.     Neque  reprehendi  a  nova  vetus  religio  debet"  (Neander 
Denkwürdigkeiten  L  413,  Burckhardt,  Constantin,  p.  327).    Den 


174 

Glauben  an  seine  Prädestination  zum  Cäsarenthron  stützte 
Diocletian  auf  die  Weissagung  einer  Druidin  (Histor.  Aug.  II 794). 
Nach  diesen  Zeugnissen  muss  man  sagen,  dass  Keiner  von 
allen  Cäsaren  den  Cäsarcultus  so  ernstlich  und  feierlich 
genommen  hat  wie  Diocletian,  und  insofern  kann  man 
behaupten,  dass  sich  in  ihm  der  Cäsarcultus,  der  hier  noch  in 
seiner  ursprünglichen  orientalischen  Gestalt  erscheint,  vollendet. 
In  dieser  Vollendung  des  Cäsarcultus  vollendet  sich  gleichfalls 
der  Rath  des  Maecenas  an  Augustus,  alle  Bewegung  auf  dem 
religiösen  und  geistigen  Gebiete  zu  unterdrücken.  Die  Sätze 
Diocletians:  ,,das  Uralte  in  der  Rehgion  muss  mit  äusserster 
Sorgfalt  gepflegt  werden" ;  ,,was  einmal  vorhanden  und  fest- 
gestellt ist  und  demnach  in  Uebung  und  Geltung  steht,  kann 
nicht  ohne  Frevel  angetastet  werden";  ,,das  Neue  in  der  Religion 
darf  das  Alte  nicht  tadeln".  Die  mit  der  cäsarischen  Gewalt 
gestützte  und  gerüstete  Aufstellung  dieser  Sätze  ist  die  Kriegs- 
erklärung gegen  das  im  Wachsen  begriffene  Christenthum. 

Gibbons  Niedergang  des  Römerreiches,  Tschirners  P'all 
des  Heidenthums,  Uhlhorns  Kampf  des  Christenthums,  Keims 
Rom  und  das  Christenthum,  diese  Schriften  über  den  grossen 
weltgeschichtlichen  Wendepunkt  geben  ein  überreiches,  schwer 
zu  fassendes  Bild  von  einem  grossen  geschichtlichen  Leben. 
Und  doch  ist  dieses  Bild  nur  die  sphärische  Erweiterung  des 
Mikrokosmus  in  jedem  Gliede  der  Menschheit.  Dieses  grosse 
weltgeschichtliche  Drama  spiegelt  sich  in  dem  Leben  des 
menschlichen  Individuums.  Am  gewinnreichsten  wird  daher 
derjenige  diese  grosse  Geschichte  studiren  und  verstehen,  der 
den  wesentlichen  Sinn  der  grossen  Gegensätze  und  Bewegungen 
in  seinem  inneren  Selbstleben  zu  erfassen  sich  bestrebt,  was 
Niebuhr  mit  den  W^orten  ausspricht,  dass  man  die  alte  Geschichte 
als  vor  dem  Angesichte  Gottes  studiren  müsse.  Durch  die 
grosse  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  der  hier  in  Betracht  kommen- 
den äusseren  und  inneren  Thatsachen  kann  man  sich  leicht 
zerstreuen  und  verwirren ;  es  ist  nothwendig,  die  Centralmächte 
im  Guten  und  im  Bösen  aufzusuchen  und  klarzustellen.  Eine 
solche  Centralmacht  auf  der  feindlichen  Seite  ist  der  Cäsar- 
cultus, die  Lüge    der  Menschenvergötterung   auf  der  Höhe  der 


175 

Macht  und  Auctorität.  Wir  haben  die  Hauptmomente  dieser 
gekrönten  und  bewaffneten  Lüge  von  Julius  Cäsar  bis  Diocletian 
übersichtlich  kennen  gelernt.  Wie  grundverderblich  diese  Lüge 
ist,  wird  sich  erst  völlig  offenbaren,  wenn  sie  in  dem  heiligen 
Kampf  der  Wahrheit  ihre  Bosheit  entfalten  muss. 

Wir  haben  aber  schon  Gelegenheit  gehabt,  zu  bemerken, 
dass  diese  Bedeutung  des  Cäsarcultus  bisher  durchaus  nicht 
genügend  anerkannt  ist.  Um  so  nöthiger  ist  es,  dass  wir  die 
moralischen  Consequenzen  dieses  abgöttischen  Cultus  verfolgen 
und  auf  diesem  Wege  zu  einem  zweiten  ähnlichen  sacrilegischen 
Cultus  geführt  werden. 

Der  Cäsarcultus  zeigt  sich  als  eine  die  Religion  und 
Humanität  der  besseren  Zeiten  corrumpirende  Macht,  er  depotenzirt 
was  noch  an  religiösem  Gehalt  im  Volksbewusstsein  vorhanden 
ist,  indem  seine  Lüge  das  Göttliche  überträgt  auf  das  Nicht- 
göttliche. Statins  und  Martial  erklären  öffentlich,  dass  sie  auf 
die  Gemeinschaft  mit  den  Göttern  und  auf  den  Himmel  ver- 
zichten, wenn  der  Cäsar  Domitian  sie  zur  Tafel  ladet.  Der 
Historiker  Lampridius  schreibt:  ,,omnes  sciunt,  Antoninos  pluris 
fuisse  quam  deos"  (Hist.  Aug.  I  786).  Zosimus,  ein  strenger 
Polytheist,  ereifert  sich  darüber,  dass  der  Schwur  beim  Haupt 
des  Kaisers  für  unverbrüchlicher  gehalten  werde  als  der  Schwur 
bei  den  Göttern.  Heine,  in  Annotationibus  ad,  Zosimum,  ed. 
Reitemeier  p.  646,  zürnt  mit  Zosimus  über  dieses  flagitium, 
scheint  aber  zu  meinen,  dass  dieser  Frevel  jenen  ,,temporibus 
flagitiosissimis",  nämlich  den  Zeiten  des  Honorius  eigenthüm- 
lich  gewesen,  während  diese  Nichtachtung  der  Gottheit  offenbar 
aus  dem  heidnischen  Cäsarcultus  stammt.  Minutius  Felix 
schreibt:  ,,tutius  per  Jovis  genium  pejerare  quam  regis"  (XXIX), 
und  TertuUian:  ,,Citius  denique  apud  vos  per  omnes  deos  quam  per 
unum  genium  Caesaris  pejerantur"  (TertuUian  Apolog.  XXXVII). 
Wäre  nun  auch  der  moralische  Charakter  der  Cäsaren  von 
einem  erträglichen  Durchschnittsgehalt,  so  würde  doch  diese 
falsche  Gottheit  mit  ihren  unmittelbar  auf  das  Volk  wirkenden 
materiellen  Lockungen  und  Drohungen  das  Gottesbewusstsein 
wirksam  entkräften.  Nun  aber  ist  der  Cäsarcultus  für  die 
Cäsaren  selber  eine  übermächtige  Versuchung  und  Verführung. 


176 

Der  von  dem  Volk  als  gegenwärtiges  Numen  verehrte  und 
angebetete  Cäsar  steht  auf  einer  schwindelnden  Höhe  der  Selbst- 
überhebung, auf  welcher  nur  derjenige  ohne  sittliche  Selbst- 
beschädigung sich  erhalten  könnte,  der  die  Kraft  und  den  Muth 
hätte,  den  Wahn  des  Cäsarcultus  durch  gründliche  Selbst- 
entsagung zu  zerstören.  Diese  Kraft  und  diesen  Muth  hat  aber 
keiner  der  Cäsaren  gehabt,  auch  nicht,  was  wir  später  deutlich 
sehen  werden,  Marc  Aurel,  obwohl  er  sich  vorgenommen  hat, 
sich  nicht  verkaisern  zu  lassen.  Es  sind  demnach  die  Cäsaren 
selbst  der  Uebermacht  der  Versuchung  und  Verführung  des 
Cäsarcultus  unterstellt  und  verfallen.  Die  entsetzlichen  Folgen 
dieser  Uebermacht  enthüllt  die  Sittengeschichte  des  cäsarischen 
Hofes  von  Julius  Cäsar  bis  zu  den  Kaisern  der  Diocletiani- 
schen  Aera. 

Tacitus  beschreibt  das  Wesen  des  Cäsarismus  mit  folgenden 
Worten:  ,,munia  senatus,  magistratuum,  legum  in  se  trahere" 
(Ann.  I  2)  und  den  Cäsar  selbst  wie  folgt:  ,,omnia  legum  et 
magistratuum  munia  in  se  trahens  princeps"  (Ann.  XI  5).  In 
Uebereinstimmung  mit  dieser  Beschreibung  nannten  die  Juristen 
den  Cäsar  ,, legibus  solutus".  Dieser  Anschauung  von  der  ab- 
soluten Ungebundenheit  drückte  der  Cäsarcultus  das  Siegel  der 
absoluten  Unverantwortlichkeit  und  Rücksichtslosigkeit  auf.  W^ie 
es  nun  weder  vorher  noch  nachher  eine  solche  Höhe  der 
Selbstvergötterung  in  der  Weltgeschichte  gegeben  hat,  so  folgt 
mit  Naturnothwendigkeit,  dass  solche  Excesse  menschlicher 
Ungebundenheit,  Unverantwortlichkeit  und  Rücksichtslosigkeit 
wie  hier  nie  und  nirgends  sich  ereignet  haben. 

Der  stärkste  Trieb  der  Natur  ist  geadelt  durch  die 
Bestimmung,  das  grosseste  Werk  der  göttlichen  Schöpfung 
creatürlicherweise  fortzusetzen.  Innerhalb  des  zur  Selbst- 
vergötterung gesteigerten  Cäsarismus  wird  dieser  stärkste 
Naturtrieb  von  der  Beziehung  auf  seinen  ihm  innewohnenden 
Zweck  entfesselt  und  losgebunden,  und  damit  beginnt  eine  Aus- 
schweifung in  den  unbegrenzten  Tiefen  der  Unnatur  und  Wider- 
natur,  welche  menschlichen  Ohren  und  Augen  nicht  mehr 
zugänglich  ist.  Man  hat  gemeint,  dass  man  dieses  Gebiet  der 
cäsarischen     Ausschweifungen      culturgeschichtlich     mit      Still- 


177 

schweigen  übergehen  könne,  müsse  oder  dürfe,  indem  man  es 
den  Medicinern  überweiset  (Marquardt:  Privatleben  der  Römer 
I  jS).  Allein  durch  ein  solches  Absehen  und  Verschweigen 
verschliesst  man  sich  das  volle  Verständniss  der  antiken  Welt, 
mehr  aber  noch  die  Einsicht  in  diejenige  Kraft,  welche  die 
ersterbende  Menschheit  erneuert  und  wiedergeboren  hat.  Man 
pflegt  sich  über  das  nähere  Eingehen  auf  das  Gebiet  der 
cäsarischen  Wollustgreuel  durch  Verweisung  auf  die  Parallelen 
in  der  päpstlichen  Curie  unter  Alexander  VI  und  an  den 
Höfen  Ludwig  XV  und  August  des  Starken  hinwegzuhelfen. 
Aber  durch  solche  oberflächliche  Analogie  verdirbt  man  sich 
den  wahren  Segen,  den  die  gründliche  Geschichte  auf  allen 
Gebieten  für  die  Erziehung  des  Menschengeschlechtes  hat. 
Wir  haben  ein  grosses  Beispiel,  welches  uns  anleitet  und 
anweist,  wie  wir  uns  zu  dem  bezeichneten,  schwierig  zu 
behandelnden  Gebiete  zu  stellen  haben,  wenn  wir  uns  nicht 
Täuschungen  hingeben  sondern  der  Wahrheit  dienen  wollen, 
Paulus  eröffnet  seinen  grossen  Brief  an  die  römische  Gemeinde 
mit  der  Darlegung  der  heidnischen  Weltsünden.  Paulus 
behauptet,  dass  Gott  sich  auch  den  Heiden  offenbart,  nämlich 
durch  seine  Werke  in  der  Schöpfung  und  in  der  Natur,  es  sei 
daher  eine  Versündigung  der  Heidenwelt,  wenn  die  Idee,  der 
Name  und  die  Verehrung  auf  Etwas,  was  nicht  Gott  ist,  auf 
etwas  Creatürliches  übertragen  werde.  Es  ist  damit  das 
allgemeine  Wesen  des  Heidenthums  bezeichnet,  und  ist  dieses 
damit  gerichtet  als  ein  zweiter  Sündenfall  der  gesammten 
heidnischen  Menschheit.  Nach  dem  Gesetz  der  moralischen 
Weltordnung  erfolgt,  so  argumentirt  Paulus  weiter,  auf  den  Ab- 
fall von  Gott,  der  sich  immer  aufs  Neue  in  dem  heidnischen 
Cultus  vollzieht,  auf  dieses  sich  immer  wiederholende  Loslassen 
von  Gott,  der  einzigen  und  ewigen  Säule  aller  Ordnung,  ein 
Uebergebenwerden  an  die  entfesselten  Gewalten  der  Unnatur 
und  Widernatur.  Und  Paulus,  in  dem  Bewusstsein,  dass  nur 
das  heilige  Licht  der  enthüllten  Wahrheit  Heil  und  Rettung 
bringen  kann,  scheut  sich  nicht  in  das  Nachtgebiet  der  ent- 
fesselten Unnatur  und  Widernatur  mit  der  P'ackel  des  apostoli- 
schen   Zeugnisses    hineinzuleuchten.     Paulus    straft    zu  allererst 

12 


178 

eben  das,  worin  sich  die  Widernatur  am  schandbarsten  aus- 
prägt, und  scheut  sich  nicht,  vor  Allem  ab,  mit  unverhüllten 
Worten  das  zu  sagen,  was  den  Inhalt  eines  Hetärengespräches 
Lucians  ausmacht,  von  welchem  Wieland  urtheilt,  dass  es  könne 
in  keine  lebende  Sprache  der  Gegenwart  übersetzt  werden. 
Die  Kirchenväter  haben  kein  Bedenken  gehabt,  dem  Apostel 
auf  diesem  Wege  nachzufolgen  Clemens  Alexandrinus  schreibt: 
ich  will  das  Verborgene  und  Heimliche  ans  Licht  ziehen,  und 
die  Schamhaftigkeit  wird  mich  nicht  abhalten,  das  vorzutragen, 
was  ihr  Heiden  euch  nicht  schämt,  mit  göttlichen  Ehren  aus- 
zuzeichnen (,,Cohort.  ad  gentes"  p.  lOc  ed.  Sylburg).  Die  ver- 
abscheuenswürdigsten  Greuel  des  heidnischen  Cultus  kennen 
wir  aus  den  Enthüllungen  von  Clemens  Alexandrinus,  Tatianus, 
TertuUianus,  Minutius  Felix,  Acrobius,  Lactantius,  Eusebius, 
Augustinus,  Theodoret.  Indem  wir  den  Fussstapfen  dieser 
heiligen  Männer  folgen,  haben  wir  zu  beachten,  dass  derselbe 
Paulus,  welcher  sich  nicht  scheut,  die  heimlichen  Greuel  zu 
nennen,  andererseits  es  für  schändlich  erklärt,  das  was  von  den 
Sündern  im  Verborgenen  geschieht  uns  nur  namhaft  zu 
machen  (Eph.  V  12).  Nach  diesem  apostolischen  Wort  giebt 
es  für  uns  eine  bestimmte  Schranke,  welche  darin  bestehen 
wird,  dass  wir  das  enthüllende  Wort  nur  soweit  führen,  dass 
das  Schweigen  eine  beredte  Appellation  an  das  Gewissen  des 
Lesers  wird,  sich  durch  energischen  Abscheu  gegen  die  Ver- 
giftung der  stummen  Greuel  zu  schützen.  Demnach  werden 
wir  das  Schifflein  der  Rede  zwischen  diesen  beiden  Klippen 
hindurch  zu  führen  haben. 

Die  cäsarische  Entstehung  der  Unzucht  zeigt  sich  von 
allem  Anfang  her  darin,  wie  von  Julius  Cäsar  und  Augustus, 
den  beiden  Gründern  des  Cäsarcultus,  die  Ehe  thatsächlich 
behandelt  wird.  Julius  Cäsai*  war  als  ein  notorisch  in  fort- 
währendem Ehebruch  mit  namhaften  Römerinnen  und  Pro- 
vinzialinnen  lebender  Mann  bekannt  (Sueton  XLIX — LH). 
Augustus  entliess  die  Scribonia,  nachdem  er  sich  bereits  von 
zwei  Anderen  geschieden  hatte  und  heirathete  die  Frau  des 
Domitiu^  Nero  im  schwangeren  Zustande  (Suet.  Octav.  LXII). 
Cäsar   soll   sogar    den   Plan    gehabt   haben,    sich  gesetzlich  das 


179 

Privilegium  beizulegen,  welche  und  wie  viele  Frauen  er  sich 
wolle  zueignen,  also  mit  dem  orientalischen  Sultancultus  auch 
den  orientalischen  Harem  ins  Abendland  zu  verpflanzen 
(Suet.  LXII).  Die  Gesetze,  mit  denen  Augustus  als  der 
cäsarische  Sittenwächter  die  in  und  ausserhalb  des  Cäsarhofes 
grassirenden  Laster  der  Unzucht  zu  bessern  suchte,  sind  so 
wenig  ein  Beweis  von  Besserung,  dass  durch  dieselben,  wie  ein 
gründlicher  Kenner  des  römischen  Wesens  behauptet,  das  Uebel 
nur  ärger  geworden  ist  (Marquardt  Privatleben  der  Römer 
I  ']6 — 78).  Die  Missachtung  und  Misshandlung  der  Ehe,  dieses 
Fundamentes  aller  sittlichen  Ordnung,  wie  dieselbe  in  den 
vielen  Scheidungen  und  notorischen  Ehebrüchen  der  cäsarischen 
Anfänger  vorliegt,  ist  und  bleibt  das  traurige  schändende 
Muttermal  der  ganzen  Zeit  des  Cäsarismus. 

Die  Entfesselung  der  Natur  zur  Unnatur  und  Widernatur 
kommt  sofort  in  dem  öffentlich  berüchtigten  Verhältniss  von 
Julius  Caesar  zu  dem  König  Nikomedes  von  Bithynien  zum 
Vorschein.  Der  Biograph  von  Julius  Cäsar  schreibt:  ,,pudi- 
citiae  famam  ejus  nihil  quidem  praeter  Nikomedis  contu- 
bernium  laesit,  gravi  tamen  et  perenni  opprobrio  et  ad  omnium 
convicia  exposito"  (XLIX).  Sueton  beruft  sich  für  diesen 
Schandfleck  Cäsars  auf  sehr  bekannte  Spottverse,  zum  Theil 
von  namhaften  Dichtern,  ferner  auf  öffentliche  Verhandlung, 
auf  Cicero  und  andere  namhafte  Zeugen.  Was  bedeutet  da- 
gegen nun  die  Anmerkung  von  Isaak  Casaubonus:  „Serio 
hunc  maculum  a  se  removit  Caesar"  (apud  Dionem  CXLIIl)? 
Wenn  man  sich  den  Dio  ansieht,  dann  erfährt  man,  dass  Cäsar 
sich  über  die  anderweitigen  Vorwürfe  wegen  seiner  geschlecht- 
lichen Sünden  leicht  hinweggesetzt  habe,  dagegen  den  Hohn 
über  sein  schandbares  Verhältniss  zu  Nikomedes  sehr  empfind- 
lich aufgenommen  habe,  denn  dagegen  habe  er  sich  zu  ver-' 
theidigen  gesucht,  aber,  sagt  Dio  ohne  weiteren  Zusatz:  „er 
wurde  damit  ausgelacht".  Die  Bemerkung  von  Casaubonus 
hat  offenbar  die  Absicht,  den  furchtbaren  Ernst  dieser  über- 
reichlich bezeugten  Thatsache  abzulenken,  damit  der  Glanz  dieses 
gefeierten  Genius  der  klassischen  Welt  nicht  getrübt  werde. 
Wer  wäre  nicht  geneigt,  im  Interesse  der  Menschheit  diesen  so 

12* 


180 

verschwenderisch  ausgestatteten  Geist  von  einem  tief  schimpf- 
lichen Fleck  zu  befreien?  Aber  in  einem  noch  höheren  Interesse 
der  Menschheit  liegt  hier  für  den  Historiker  eine  ganz  andere 
Pflicht,  nämlich  auf  das  strenge  Gesetz  der  sittlichen  Welt- 
ordnung hinzuweisen,  nach  welchem  eine  durch  das  öffentliche 
Gewissen  gerichtete  Missethat  des  Urhebers  einer  neuen 
geschichtlichen  Reihe  so  lange  auf  den  sittlichen  Gesammt- 
zustand  verwüstend  und  zerstörend  wirkt,  bis  sie  durch  über- 
legene Gegenwirkung  des  sittlichen  Geistes  gesühnt  und  ge- 
bessert ist. 

Homer  kannte  noch  nicht  die  widernatürlichen  Laster  der 
späteren  Zeiten  (Nägelsbach  homerische  Theologie  226).  Die 
anfänglich,  wie  es  scheint  (Jakobs  vermischte  Schriften  III 
212 — 254,  Franke  Kaiser  Trajan  p.  639—646),  nicht  sünd- 
liche Männerliebe  artete  in  Griechenland  aus  in  das  Laster 
unnatürlicher  Unzucht  (Wachsmuth  griechische  Alterthums- 
künde  III  2  48  49).  Und  diese  Ausartung  war  unter  den 
späteren  Hellenen  so  verbeitet  und  so  corrumpirend,  dass 
man,  wie  die  schmutzigen  Anekdoten  bei  Athenäus  ausweisen, 
sich  nicht  schämte,  die  edelsten  Männer  der  besseren  Zeiten 
dieses  Lasters  zu  beschuldigen.  Auf  asiatischem  Boden 
setzt  Cäsar  in  seiner  cäsarischen  Uno;ebundenheit  sich  über 
römische  Sitte  und  Moral  hinweg  und  erniedrigt  sich  zum 
Sclaven  einer  widernatürlichen  Wollust.  Er  hat  offenbar  nicht 
gedacht,  dass  diese  Schandthat  ein  so  ungeheures  Aergerniss 
hervorrufen  werde.  Dieses  Aergerniss  zwingt  ihn,  den  Versuch 
der  Leugnung  zu  machen,  damit  aber  zu  verrathen,  dass  sein 
eigenes  Gewissen  diese  Missethat  verdammen  muss.  Die  Misse- 
that, von  dem  Volksgewissen  und  von  seinem  eigenen  Gewissen 
verurtheilt,  bleibt  in  ihrer  öffentlichen  Nacktheit  und  Ungesühnt- 
heit  stehen.  Da  sie  nun  aber  die  Vergötterung  Cäsars  nicht 
hindert  noch  stört,  so  wird  diese  Vergötterung  Schutz  und 
Schirm  einer  offenbaren  Missethat  und  einer  öffentlichen  Schande. 
Der  nach  dem  krassen  Ausdruck  Suetons :  ,,in  Bithynia  con- 
taminatus"  ist  der  als  ,,divus"  und  ,,deus"  vergöttlichte  Cäsar! 
Das  ist  also  der  verhängnissvolle  Beginn  des  Cäsarcultus  in 
Rom,    dass    dieser    Cultus    nicht    bloss    das    Gottesbewusstseia 


181 

sondern  auch  das  sittliche  Bewusstsein  zum  Umsturz  bringt. 
Dieser  Anfang  des  Cäsarcultus  ist  ein  Attentat  auf  das  höchste 
Gut  der  Menschheit,  auf  dasjenige  in  der  Menschheit,  vermöge 
dessen  sie  noch  mit  dem  Urquell  alles  Daseins  und  Lebens 
verbunden  ist. 

Augustus  that  sich  viel  darauf  zu  Gute,  dass  er  den 
Göttern  Tempel  gebaut,  und  Horaz  hat  ihm  auch  nachgerühmt, 
dass  er  die  Frömmigkeit  befördert  habe.  Indessen  das 
unbefangene  Volksurtheil  lautete  anders. 

Zwei  Schriftstücke,  ein  Brief  des  Antonius  an  Octavius 
und  ein  Epigramm  des  Octavius,  kamen  zur  Kunde  des 
Publicums.  Den  Brief  des  Antonius  hat  Sueton  mitgetheilt 
{Octav.  LXIX);  das  Epigramm  des  Octavius  ist  allem  Anschein 
nach  das  einzige  Ueberbleibsel  aus  dem  Buch  der  Epigrammata 
des  Augustus,  dessen  Sueton  LXXXV  Erwähnung  thut,  und 
als  solches  ist  dasselbe  von  Burmann  in  die  Anthologia  latina 
genommen  (II  675).  Die  Authentie  der  sechs  Verse  dieses 
Epigramms  ist  übrigens  durch  Martial  Epigr.  XI  21  hinlänglich 
verbürgt.  Diese  beiden  cäsarischen  Männer,  beide  auf  dem  Wege 
der  Selbstvergötterung,  werden  in  den  bezeichneten  Schriftstücken 
so  schamlos  obscön,  dass  man  selbst  im  Lateinischen  ihre 
Worte  zu  wiederholen  nicht  wagen  darf  Uebrigens  ist  wohl 
sicher,  dass,  v/enn  diese  Männer  mit  und  unter  einander  eine 
solche  Sprache  führen,  und  wenn  sie  dann  nicht  Sorge  tragen, 
dass  solche  Verse  nackter  Lasterhaftigkeit  nicht  in  die 
Oeffentlichkeit  gelangen,  dann  auch  kein  Grund  vorliegt,  die 
«xcessivsten  Anstössigkeiten,  die  namentlich  von  Augustus 
erzählt  werden,  zu  bezweifeln.  Es  wird  erzählt,  dass  das 
gesammte  Volk  mit  rauschendem  Beifall  im  Theater  einen 
Vers  auf  den  Weltregierer  Augustus  bezog,  der  dieselbe 
Schande,  mit  welcher  Julius  Cäsar  befleckt  war,  seinem  Nach- 
folger anheftete  (Sueton  Octav.  LXVIII).  Die  unaussprechlichen 
Attentate  auf  Frauen  und  Jungfrauen,  welche  Sueton  von 
Augustus  berichtet  (LXIX),  sind  also  nicht  erst  unter  den 
Cäsaren  Caligula  und  Nero  möglich  geworden.  Dieselben 
stigmatisiren  bereits  die  Anfänge  des  Cäsarcultus;  ja  es 
kommt    in   diesen  Anfängen    zu    dem  Alleräussersten,    zu    einer 


182 

offenbaren  Blasphemie  in  den  inneren  Räumen  des  Kaiserhofes, 
Alle  Feinde  sind  überwunden,  die  ganze  Welt  ist  in  süssen 
Friedensschlummer  eingelullt,  anstatt  der  Unruhe  der  republi- 
kanischen Freiheit  und  Selbstständigkeit  überwacht  jetzt  ein 
Herrscher  den  Weltkreis  und  bestimmt,  was  Gesetz  und  Sitte 
sein  soll,  und  die  mit  der  Gabe  der  Musen  ausgerüsteten 
Männer  feiern  diesen  Weltherrscher  und  Friedensheros  wie  den 
gegenwärtigen  Jupiter.  Da  schäumt  der  Zaubertrank  der  alten 
Schlange  über  den  Rand  des  Kelches,  der  Raub  an  der  Gott- 
heit will  nicht  bloss  in  Reden  und  Liedern,  in  Tempeln  und 
Bildern,  sondern  thatsächlich  so  zu  sagen  substantiell  dargestellt 
und  verwirklicht  werden.  Es  ward  in  Rom  erzählt,  ein 
erhaltenes  Epigramm  bestätigt  es  und  die  innere  Wahr- 
scheinlichkeit stimmt  zu,  es  habe  unter  Anführung  des  Augustus 
ein  Zwölfgöttermahl  (oojosxa  Osoi)  Statt  gehabt,  die  zwölf 
olympischen  Götter  nach  der  Aufzählung  des  Ennius  wären 
dargestellt  durch  zwölf  Personen,  sechs  männlichen  und  sechs 
weiblichen  Geschlechts,  diese  zwölf  Personen  hätten  aber  nicht 
bloss  mit  einander  getafelt,  sondern  Alles  aufgeführt,  was  der 
Mythos  von  den  Olympiern  erzählt,  und  das  Epigramm  scheut 
sich  nicht,  als  solches  zu  nennen:  ,,Phoebi  mendacia,  nova 
divorum  adulteria"  (Sueton  Octav.  LXX,  Antholog.  latina  I  224). 
Die  Thatsache  und  die  Kunde  davon  war  ein  sacrilegischer 
Angriff  auf  den  letzten  Rest  von  Frömmigkeit,  der  noch  im 
römischen  Volk  vorhanden  war.  Dieser  Rest  von  römischer 
Frömmigkeit  hatte  doch  noch  so  viel  Kraft,  sich  gegen  diese 
drastische  Blasphemie  zu  empören  und  sprach  diese  Empörung 
über  diese  beiden  letzten  Verse  des  bezüglichen  Epigramms 
dahin  aus,  dass  diese  in  den  inneren  Räumen  des  Kaiserpalastes 
aufgeführte  Blasphemie  Jupiter  und  die  übrigen  Götter  von 
der  Erde  verscheucht  habe.  Aber  wie  lange  wird  dieser 
Abscheu  vorhalten  gegen  diese  infernale  Verführung  einer  in 
den  höchsten  Regionen  vollbrachten  Blasphemie?  Denn  nur  zu 
wahr  ist,  was  Tacitus  bemerkt:  ,,vitia  dominantium  amantur" 
(Hist.  I  5).  Die  Ansteckung  der  bösen  Beispiele  auf  derk 
Höhen  der  Welt  wirkt  ein  scharfes  verborgenes  Gift  aus  in 
den  Eingeweiden  der  Menschheit,  nicht  bloss  obgleich,  sondern 


183 

oft,  weil  die  hohen  Missethäter  im  Lauf  der  Zeit  in  dem 
Nimbus  von  Tugendhelden  strahlen,  wie  Augustus  von  Eutropius 
gefeiert  wird  als  ,,vir,  qui  non  immerito  ex  maxima  parte  deo 
similis  est  putatus"  (VII  5). 

Was  den  dritten  Cäsar  anlangt,  so  wird  man  zugeben, 
dass  sich  das  Bild  desselben,  namentlich  nach  den  Darlegungen 
von  A.  Stahr  (Tiberius  2.  Aufl.  1873),  günstiger  gestaltet,  als 
die  bisherige  traditionelle  Anschauung  gestattete.  Ob  man 
aber  so  weit  gehen  darf,  die  Greuel,  welche  mit  dem  Auf- 
enthalt auf  der  Insel  Capreae  zusammenhängen,  die  nicht  bloss 
von  Sueton,  Dio  und  Victor  erzählt  werden  sondern  auch  von 
Tacitus,  als  erfundene  Scandalgeschichten  zu  verwerfen,  scheint 
mir  unberechtigt  zu  sein.  Tacitus  ist  nicht  ein  Mann,  der 
Freude  daran  hat,  Scandalgeschichten  zu  verbreiten. 

Dass  in  dem  Cäsarcultus  ein  Dämon  der  Unsittlichkeit 
waltet,  beweist  unleugbar  das  Beispiel  des  an  vierter  Stelle 
folgenden  Cäsar.  Es  mag  genügen,  aus  dem  Register  der 
Schamlosigkeiten,  zu  welchen  die  mit  dem  Privilegium  der 
Selbstvergötterung  begabten  Cäsaren  das  Recht  zu  haben 
wähnten,  ein  Beispiel  aus  der  Geschichte  des  Cajus  hervorzu- 
heben. Dass  Caligula  mit  seinen  Schwestern  in  Blutschande 
lebte,  erzählen  Sueton  und  Dio.  Dem  fügt  nun  Aurelius  Victor, 
ein  ernster  Historiker,  hinzu,  dass  Caligula,  ,  dessen  Selbst- 
vergötterungswahn bekanntlich  bis  zur  Herausforderung  Jupiters 
stieg,  sich  rühmte,  eben  in  dem  offenen  Incest  mit  seinen 
Schwestern  den  ächten  Jupiter  darzustellen  (de  Caesaribus  IV). 

Wie  Sittenverderbniss  des  Cäsarcultus  in  der  Zeit  des 
Claudius  wirkt,  ist  uns  aus  Senecas  Trostschrift  an  Polybius 
hinlänglich  klar  geworden.  In  welche  grauenhaften  Tiefen 
aber  der  von  Seneca  als  Apollo  begrüsste  Nero  versunken  ist, 
müssen  wir  mit  einigen  lateinischen  Strichen  andeuten.  Tacitus 
nennt  Nero  ,,cupitor  incredibilium"  (Ann.  XV  42),  und  in  der 
That,  wären  seine  Greuel  nicht  glaubwürdig  bezeugt,  man 
müsste  den  Glauben  daran  versagen.  Der  schreckliche  Libertiner 
Tigellinus,  ein  mächtiger  Hofbeamter  Neros,  war  nicht  bloss 
grausam  sondern  auch  ein  Erfinder  von  Wollüsten  für  seinen 
Cäsar,   es   gab   aber   am    Hofe   Neros    noch  Einen,    der   ihn    in 


184 

dieser  teuflischen  Kunst  noch,  übertraf,  näniHch  Petronius,  der 
unter  lüsternen  Gesprächen  dem  Tod  ins  Angesicht  schaute, 
und  der  Nero  ein  versiegeltes  Verzeichniss  von  unzüchtigen 
Männern  und  Weibern  vermachte  (Tacit.  Ann.  XVI  i8  19)^ 
Tacitus  bemerkt,  um  nicht  dieselben  Ungeheuerlichkeiten  öfter 
erzählen  zu  müssen,  wolle  er  Einzelnes  hervorheben  (XV  37). 
Als  ein  solches  Einzelne  beschreibt  Tacitus  ein  Fest  nach 
der  Erfindung  des  Tigellinus.  Im  verkürzten  Auszug  findet  sich 
diese  Beschreibung  Ann.  XV  37.  Sueton  und  Dio  berichten 
den  umgekehrten  Greuel  des  Nero  mit  dem  entmannten  Sporns, 
den  Tacitus,  wie  es  scheint,  aus  Ekel  verschweigen  zu  dürfen 
glaubt,  weil  er  das  Umgekehrte  mit  dem  Pythagoras  aus- 
führlich berichtet  hat.  Aurelius  Sueton,  Dio  und  Victor 
berichten  übereinstimmend  noch  einen  Zug  aus  diesem  schreck- 
lichen Nachtgebiet,  der  diesem  Cäsar  seinen  eigentlichen  Charakter 
aufdrückt:  Sueton  Nero  XXIX,  Dio  LXIII  13,  Victor  de 
Caesaribus  V.  So  ist  es  recht,  nicht  in  Menschengestalt 
sondern  in  Thiergestalt  vollbringt  dieser  Cäsar  seine  bestiali- 
schen Lüste  I 

Die  Geschichte  des  Julischen  Cäsarhofes  zeigt,  dass  die 
cäsarische  Selbstvergötterung  die  Zuchtlosigkeit  über  alle 
Schranken  hinaus  steigert.  Da  nun  Tacitus  die  Selbst- 
beherrschung Vespasians  rühmt  und  in  Folge  davon  von 
einer  gewissen  Besserung  redet,  so  hat  Baur  gemeint,  einen 
wirklichen  Fortschritt  der  öffentlichen  Moral  von  jenem  Zeit- 
punkt an  datiren  zu  können.  Wir  werden  später  zeigen,  dass 
Baur  den  Tacitus  missverstanden  hat.  Baur  hätte  seinen 
Irrthum  aus  Victor  ,,de  Caesaribus"  leicht  berichtigen  können. 
Victor  schreibt:  ,,\'espasianus  exsanguinem  fessumque  terrarum 
orbem  brevi  refecit"  (IX).  ,,Vespasian  hat  den  ermatteten 
Weltkreis  auf  kure  Zeit  erquickt.'*  Wir  werden  überhaupt 
nicht  eher  eine  wirkliche  Besserung  des  sittlichen  Zustandes  in 
Rom  für  möglich  halten  können,  als  wenn  wir  eine  wirkliche 
Correctur  des  sacrilegischen  Cäsarcultus  geschaut  haben. 
Da  nun  Vespasian  und  Titus  den  Cäsarcultus  einfach  fort- 
gepflanzt haben,  so  ist  es  ganz  begreiflich,  dass  wir  das, 
was    wir  als     verderbliche  Wirkung     des    Cäsarcultus    erkannt 


185 

haben,  unter  Domitian  wiederfinden,  und  zwar  in  erhöhtem 
Grade.  Im  Allgemeinen  bemerkt  Sueton  über  Domitian:  ,,ali- 
quanto  celerius  ad  saevitium  descivit  quam  ad  cupiditatem" 
(X).  Aber  alle  Leidenschaften  Domitians  sind  nach  Tacitus 
,,indomitae"  (Hist.  IV  68),  und  von  seiner  Jugend  schreibt 
Tacitus:  ,,stupris  et  adulteriis  filium  principis  egit"  (Hist.  IV  2). 
Was  er  als  Princeps  begonnen,  das  hat  er  als  Cäsar  vollendet. 
Wie  wenig  nachhaltig  die  theilweise  Mässigung  Vespasians, 
von  der  man  so  viel  Wesens  gemacht  hat,  gewirkt,  das  erkennt 
man  aus  dem  Zeugniss  Quintilians,  eines  ernsten  Sittenrichters 
zur  Zeit  Domitians,  ,,apud  veteres  Latinos  fuit  sanctitas  et 
virilitas,  nos  in  omnia  deliciarum  defluximus"  (Inst.  I  8  89); 
und  jedes  convivium  rauscht  in  unzüchtiger  Ueppigkeit  ,,omne 
convivium  obscoenis  canticis  strepit"  (Inst.  I  2  8j.  Wenn  nun, 
wie  wir  wissen,  Domitians  Gastmahl  dem  Geschmack  Martials 
so  sehr  zusagte,  dass  er  dasselbe  der  olympischen  Tafel 
Jupiters  vorzog,  dann  ist  es  ausgemacht,  dass  an  dieser  Cäsar- 
tafel in  jeder  Beziehung  das  äusserste  Gegentheil  von  Mässigung 
Statt  gehabt  hat.  Ueber  die  Ehe  Domitians  schreibt  Sueton : 
,,uxorem  Domitiani  Paridis  histrionis  amore  deperditam  repu- 
diavit  intraque  breve  tempus  impatiens  discidii  reduxit"  (III). 
Ueber  Domitians  Ausschweifungen  berichtet  Sueton  XXII,  cfr. 
A.  Victor  de  Caesaribus  XI. 

Von  Apulejus  wissen  wir,  dass  Hadrian  lüsterne  Verse 
verfasst  hat,  die  Historia  Augusta  vervollständigt  diese  Notiz 
dahin,  dass  dieser  vielseitige  Cäsar  erotische  Gedichte  über 
seine  Liebschaften  gemacht,  wobei  zweimal  hervorgehoben 
wird,  dass  Hadrian  in  der  Wollust  unmässig  gewesen  (,,nimia 
voluptas  Hadriani,  in  voluptatibus  nimius").  Diese  Thatsache 
bestätigt,  wie  Spartianus  schreibt,  die  Annahme,  dass  das  oft- 
erwähnte Verhältniss  Hadrians  zu  Antinous,  dem  schönen 
Bithunischen  Jüngling,  nicht  ein  reines  sondern  ein  un- 
sittliches gewesen  ist.  Wenn  Hadrian  vermöge  seiner 
cäsarischen  Göttlichkeit  den  im  Nil  ertrunkenen  Antinous 
apotheosirt  und  damit  Glauben  findet,  so  sehen  wir  hier 
wiederum  den  Cäsarcultus  eingetaucht  in  den  Abgrund  wider- 
natürlicher Wollust. 


186 

An  dem  gefeierten  Hofe  des  Marcus  Aurelius  lebte  die 
öffentliche  Schande  der  Faustina,  und  diese  Schande  war 
nicht  die  einzige,  welche  die  Tugend  des  vergötterten  Philo- 
sophen auf  dem  Cäsarthron  duldete  und  schliesslich  apotheosirte. 
Von  dem  älteren  Verus,  den  Hadrian  adoptirte,  ist  bekannt, 
dass  er  neue  Genüsse  und  Wollüste  erfunden  (Histor.  Augusta 
I231  —  234),  und  dass  er  Ovids  Liebesbücher  immer  in  seinem 
Bett  gehabt  und  den  Martial  seinen  Vergil  genannt  hat  (ibid. 
p.  235),  und  als  seine  Frau  sich  beschwerte,  gab  er  die 
Antwort,  welche  in  der  Laxheit  der  Cäsarenzeit  eine  classische 
Geltung  hatte:  ,,patere  me  per  alias  exercere  cupiditates  meas, 
uxor  enim  dignitatis  nomen  est,  non  voluptatis"  (ibid.  p.  236, 
cfr.  Ausonii  epigr.  LXXVIII,  CXLII).  Nachdem  dieser  Wollüst- 
ling gestorben  war,  wurden  ihm  zu  Ehren  Säulen  und  Tempel 
errichtet  (ibid.  p.  241  242).  Sein  Sohn  ist  der  jüngere  Verus, 
der  elf  Jahre  ^Mitkaiser  und  Schwiegersohn  des  Antoninus 
Philosophus  gewesen,  also  im  intimsten  Verhältniss  zum  Hofe 
des  tugendhaftesten  Cäsar  gestanden  ist.  Dieser  jüngere  Verus 
wird  vornherein  eingeführt  als  ,,voluptarius,  nimis  laetus,  et 
Omnibus  deliciis,  ludis,  jocis  decenter  aptissimus"  (ibid.  p.  400). 
Es  ist  eine  verbreitete  Meinung,  dass,  nachdem  der  Cäsarwahn 
in  den  Unmenschlichkeiten  Caligulas  und  Neros  sich  ausgetobt 
hatte,  der  Cäsarhof,  einzelne  Excesse  ausgenommen,  sich  der 
m.enschlichen  Sitte  mehr  genähert  habe.  Diese  Meinung  streitet 
mit  den  Thatsachen.  Von  dem  jüngeren  Verus,  also  dem 
Mitkaiser  des  Philosophen,  berichtet  Capitolinus  die  Ueber- 
lieferung:  ,,in  tantum  vitiorum  Cajanorum  et  Neronianorum 
fuisse  aemulum,  ut  vagaretur  nocte  per  tabernas  et  lupanaria" 
(p.  415).  Aber  nicht  bloss  die  Lüste  des  Cajiis  und  Nero 
wiederholen  sich  in  Verus,  dieser  hat  im  Orient,  dieser  Pflanz- 
stätte der  Ausschweifungen  (Rosenbaum:  ,,Die  Lustseuche  im 
Alterthum"  3.  Aufl.  1882  p.  242  — 311  \  die  Lasterhaftigkeit 
studirt  und  hat  nach  syrischem  Muster  ein  Gastmahl  an- 
gerichtet, an  welchem  auch  der  eingeladene  Philosoph  auf  dem 
Thron  Theil  genommen  (p.  414  430).  Die  Nichtswürdigkeit 
dieses  jüngeren  Verus  erhält  durch  den  Briefwechsel  zwischen 
ihm  und  Fronto    noch    eine    besondere  Beleuchtung    (Cornelius 


187 

Fronto  opera  edidit  Majus  Frankfurt  1826  p.  83 — 122).  Verus 
wie  auch  Marcus  war  ein  Schüler  des  damals  berühmtesten 
Rhetors  Fronto.  Es  ist  dem  Verus  ein  grosses  Anliegen,  dass 
über  seinen  sogenannten  Parthischen  Feldzug  ein  öffentliches 
Denkmal  errichtet  werde.  Obgleich  nun  die  Wahrheit  dieses 
Feldzuges  darin  bestand,  dass  die  Generale  Alles  gethan, 
während  Verus  fern  vom  Kriegstheater  in  asiatischen  Wollüsten 
seine  Gesundheit  vergeudete,  war  Fronto  trotzdem  bereit,  zu 
Ehren  des  Verus  das  erbetene  historische  Werk  zu  schreiben. 
So  tief  ist  in  der  nächsten  Nähe  des  philosophischen  Cäsar 
das  sittliche  Urtheil  gesunken!  Der  Tiefpunkt  jedoch  ist  der, 
dass  der  Cäsar  Marcus  Aurelius  Philosophus  selber  vor  den 
Abscheulichkeiten  dieses  seines  Mitkaisers  die  Augen  verschloss. 
,, Marcus  haec  omnia  quasi  nesciens  dissimulabat  rem,  pudore 
illo  ne  reprehenderet  fratrem"  (p.  417  401  412).  Ja,  der 
officielle  Cäsarcultus  zwang  den  Philosophen- Kaiser,  die  Laster 
seines  CoUegen  nicht  bloss  zu  ignoriren  sondern  auch  mit  dem 
Nimbus  der  Vergötterung  zu  bedecken.  ,,Tantae  fuit  sanctitatis 
Marcus,  ut  Veri  vitia  et  celaverit  et  defenderit,  quum  ei  vehc- 
mentissime  displicerent,  mortuumque  eum  divum  appellaverit 
—  sacris  eum  plurimis  honoravit,  et  omnes  honores  qui 
divis  habentur  eidem  dedicavit"  (p.  346  347).  Was  Marcus 
hier  leistet,  ist  weit  mehr,  als  was  seine  stoische  Apathie  fordert,, 
und  was  der  Mangel  an  Schneidigkeit,  dessen  Marcus  sich 
zeiht,  oder  die  mollities,  die  an  ihm  getadelt  wird  (p.  473),  zur 
Noth  entschuldigen  können.  Während  andere  Cäsaren  in  ihrem 
Götterwahn  sich  in  die  Abgründe  der  Fleischeslust  stürzen,, 
muss  der  Tugendheld  auf  dem  Thron,  genöthigt  durch  den 
Cäsarcultus,  sich  an  fremden  Sünden  und  Schandthaten  theil- 
haftig  und  mitschuldig  machen,  und  das  nennt  die  Cäsarhistorie 
Sanctitas !  Man  kann  die  Frage  aufwerfen,  was  im  Grunde 
den  letzten  Rest  des  Gottesbewusstseins  jäher  in  den  Abgrund 
stürzt,  das  Beispiel  eines  verruchten  Cäsar  wie  Cajus  oder 
die  Apotheose,  welche  der  sittenreinste  Kaiser  an  einem 
öffentlichen  Wüstling  vollzieht,  und  welche  die  gleichzeitige 
Meinung  der  Gebildeten  als  ein  Werk  der  Heiligkeit 
charakterisirt! 


188 

Was  half  alle  Liebe  und  Verehrung,  welche  Marcus 
Antoninus  noch  lange  nach  seinem  Tode  genoss  (Niebuhr: 
Vorträge  über  Römische  Geschichte  III  239^,  sein  Sohn  ist 
■ein  Scheusal  auf  dem  Thron,  wie  wir  kaum  eines  gesehen, 
und  noch  tiefer  sinkt  in  Rom  das  sittliche  Bewusstsein. 
-Commodus  war  von  frühester  Knabenzeit  her  den  unreinsten 
Lüsten  ergeben.  ,,A  prima  statim  pueritia  turpis  —  libidinosus, 
oreque  poUutus  et  constupratus  fuit"  (Hist.  Aug.  I  473);  ,,etiam 
puer  et  gulosus  et  impudicus  fuit"  (p.  500).  Was  aus  einem 
solchen  Sprössling  der  Faustina  werden  muss,  wenn  derselbe 
in  frühen  Jahren  den  Cäsarthron  besteigt,  sich  Gott  nennen 
und  opfern  lässt  und  zwar  unter  dem  Beifall  des  Volks 
(p.  496  510),  das  wird  alle  Denkbarkeit  und  Vorstellung  über- 
steigen Die  Verfasser  der  Historia  Augusta  haben  keinen 
Ueberfluss  weder  an  Geist  noch  an  Gelehrsamkeit,  aber  wir 
verdanken  ihrem  trockenen  Sammelfleiss  eine  Fülle  von  That- 
sachen  aus  der  späteren  Cäsarenzeit,  die  sie  nicht  selten  durch 
Citate  aus  den  Quellen  bewahrheiten.  Lampridius  hat  aus 
dem  Scandalleben  des  Commodus  verschiedene  Züge  mit- 
getheilt,  die  sich  selbst  im  Lateinischen  schwer  wiedergeben 
lassen.  Es  mag  genügen,  die  eine  Thatsache  herauszuheben, 
dass  dieser  monströse  Cäsar,  der  Sohn  des  gefeierten  Philo- 
sophen auf  dem  Thron,  dreihundert  Buhldirnen  und  dreihundert 
Lustknaben  hielt,  und  mit  diesen  in  Gastmählern  und  Bädern 
seine  Bacchanalien  feierte  (p  487).  Ueber  die  anderweitigen 
Thaten  seiner  unsagbaren  Schande  wollen  wir  um  so  lieber 
den  Schleier  des  Stillschweigens  decken,  als  Commodus  sich 
nicht  schämte,  aus  seiner  Schande  sich  eine  Ehre  zu  machen, 
indem  er  Alles,  was  er  Schändliches  vollbracht,  actenmässig 
veröffentlichen  liess  (p.  514).  Mitten  in  solchem  greuelvollen 
Leben  forderte  dieser  Mensch  die  Anerkennung  seiner  Gottheit 
und  er  erreichte  es,  dass  das  Volk  ihm  zustimmte  (p.  446514). 
Ist  nicht  dieser  Cäsarcultus  eine  sacrilegische  Lüge,  welche  die 
letzte  Spur  menschlicher  Moral  zu  v^ernichten  droht  r  Und  doch 
^iebt  es  hier  Etwas,  das  noch  ärger  ist. 

Nachdem  das  Volk  zwölf  Jahre  dieses  Ungeheuer  ertragen 
hatte,    hat    der  Senat    die  Fluth    seines  Zornes   und  Abscheues 


189 

ergossen,  wie  Lampridius  die  ungezählten  Flüche  der  Senatoren 
aus  Marius  Maximus  in  authentischer  Gestalt  überliefert. 
Mehr  als  einmal  wird  Commodus  als  ,,hostis  deorum  saevior 
Domitiano  impurior  Nerone"  verflucht.  Nun  sollte  man  denken, 
dass  mit  diesem  schauerlichen  Abschied  der  Name  des  Com- 
modus auf  ewig  ausgelöscht  wäre.  Das  ist  nicht  der  Fall.. 
Septimius  Severus  hat  diesen  Commodus  apotheosirt,  und  hat 
den  Priester,  den  Commodus  sich  bei  Lebzeiten  ernannt, 
bestätigt  (Histor.  Augusta  I  524)  ■■^■).  Welch'  eine  entsetzlich 
böse  Macht  tritt  uns  hier  entgegen !  Der  Senat  hat  sich 
ermannt,  den  meuchlings  gemordeten  Unmenschen  mit  einem. 
Hochgericht  entsetzlicher  Flüche  zu  begraben.  Trotzdem  wird 
dieser  auf  die  schimpflichste  Weise  abgethane  Cäsar  apotheosirt,. 
und  wird  ihm  der  seiner  Gottheit  von  ihm  selbst  zuerkannte 
Flamen  als  persönlicher  Priester  von  dem  folgenden  Cäsar 
bestätigt.  Dio  fügt  hinzu,  dass  Septimius  Severus  den  Com- 
modus im  Senat  vertheidigt  und  ihn  seinen  Bruder  genannt 
hat  (LXXV  7  8).  Der  Cäsarcultus  erweist  sich  hier  als  eine 
Lüge,  welche  die  letzten  Fundamente  der  menschlichen  Sitt- 
lichkeit zerstört.  Pertinax  war  nur  zwei  Monate  und  fünfund- 
zwanzig Tage  Cäsar  und  obwohl  mit  seinem  Weibe  schamloser 
Unzucht  bezichtigt,  ist  er  feierlich  apotheosirt:  ,,per  senatum 
et  populum  in  deos  relatus  est"  (Hist.  Aug.  I  5-68).  Aus  der 
Zeit  des  Caracalla  haben  wir  uns  schon  das  Wort  einer 
dämonischen  Frechheit  in  dem  Munde  der  Kaiserin  Julia. 
,,si  übet  licet"  gemerkt.  Hinzufügen  wollen  wir  noch  den- 
frivolen  Witz  Caracallas  über  seinen  von  ihm  tödtlich  gehassten. 
Bruder:  ,,sit  divus  dummodo  non  sit  vivus"  (p.  727),  welches 
Wort  beweist,  dass  die  Terminologie  des  Cäsarcultus  sich  besser 
zur  Vertheidigung  des  Brudermordes  verwenden  lässt  als  die  Juris- 
prudenz des  Papinianus.  Trotz  alledem  v/ird  Caracalla  apotheosirt 
(p.  732).  In  Betreff"  der  Masse  von  Notizen  über  Anstössig- 
keiten  des  Cäsarhofes  verdient  beachtet  zu  werden,  dass  die 
Historia  Augusta  oft  auf  Junius  Cordus  verweist  als  denjenigen, 


*)  Septimius  Severus  ist    nach  Hausrath    der  Schluss    der   mit  Geist    an* 
reichsten  erfüllten  Periode  der  menschlichen  Geschichte  ! 


190 

der  diese  Notizen  in  noch  weit  grösserer  Fülle  aufgezeichnet 
(I  699  716,  II  68  70  71  109  142  143).  Heliogabal,  dessen 
Geschichte  Lampridius,  wie  schon  erwähnt,  nur  mit  äusserstem 
Widerstreben  geschrieben,  dieser  geborene  Orientale  bringt  den 
ganzen  asiatischen  Orgiasmus  auf  dreizehn  Jahre  nach  Rom. 
Es  sei  gestattet,  zwei  Dinge  von  ihm  anzumerken.  ,,Nec  erat 
ei",  sagt  Lampridius,  ,,ulla  vita  nisi  exquaerere  novas  volup- 
tates"  (I  830),  und  Herodian  sagt,  es  war  sein  Wille,  nicht  im 
Verborgenen  zu  sündigen  (V  6  6).  Valerianus  ist  der  einzige 
Kaiser,  der  in  Feindes  Hände  fiel,  derselbe  wurde  in  persischer 
Gefangenschaft  schimpflich  behandelt.  Das  römische  Volk  hatte 
Mitleid  mit  diesem  tragischen  Geschick  seines  tapfern  Kaisers, 
um  so  greller  zeigt  sich  die  Herzlosigkeit  seines  eigenen  Sohnes, 
des  Cäsar  Gallienus,  von  welchem  Nichts  so  bekannt  geworden 
wie  sein  Fragen  nach  täglich  neuen  Vergnügungen.  ,,Obstupe- 
facto  voluptatibus  corde  Gallienus  requirebat,  quid  habemus  in 
prandio?  et  quae  voluptates  paratae  sunt?  qualis  cras.  erit 
scena?  quales  circenses?"  (PoUio  Hist.  Aug.  II  209 — 210). 
,, Gallienus  natus  abdomini  et  voluptatibus  dies  noctesque  vino 
et  stupris  perdidit  orbem  terrarum"  (p.  230).  Wie  Valerianus 
an  Gallienus  einen  widernatürlichen  Sohn  hatte,  so  hatte  Carus 
dasselbe  Schicksal  an  seinem  Sohn  Carinus.  Von  diesem  letzten 
Vorgänger  Diocletians  im  Cäsarenamt  schreibt  die  Historia 
Augusta:  ,,ubi  patrem  fulmine  absumtum,  fratrem  a  socero 
interemptum ,  Diocletianum  Augustum  appellatum  comperit, 
majora  vitia  et  scelera  edidit,  etc."  (II  312).  Um  eine  An- 
schauung zu  geben  von  der  Ungeheuerlichkeit  des  Sinnes- 
taumels dieses  Carinus  zählt  Vopiscus  auf,  was  dieser  Cäsar 
unter  Anderem  Alles  angeschafft  und  veranstaltet  hat 
(II  818—820,  cfr.  Victor  de  Cäsaribus  XXXIX).  Die  Historia 
Augusta  schliesst  mit  Carinus  und  giebt  zu  seinem  Bild  folgende 
Unterschrift:  ,,C.  homo  omnium  contaminatissimus,  adulter, 
frequens  corruptor  juventutis  (pudet  dicere,  quod  in  literas 
Onesimus  retulit),    ipse   quoque    male    arsus    genio    sexus    sui" 

(in  795). 

Jetzt  können  wir  einigermassen  übersehen,  welche  Wirkung 
der  Cäsarcultus    von  Julius    Cäsar    an,    der    sich    dem    Asiaten 


191 

Nikomedes  Preis  gegeben,  bis  zu  Diocletian,  der  sich  in  dem 
asiatischen  Nikomedien  auf  orientalische  Weise  anbeten  Hess, 
in  der  römischen  Welt  gehabt  hat.  Man  kann  von  dem  Cäsar- 
cultus  ziemHch  harmlos  reden,  wie  wenn  zum  Beispiel  Vegetius 
schreibt:  ,,wenn  der  Kaiser  den  Namen  Augustus  empfangen 
hat,  so  ist  man  ihm,  wie  einem  gegenwärtigen  und  leibhaftigen 
Gott,  Treue  und  Gehorsam  und  rastlosen  Dienst  schuldig,  denn 
im  Kriege  wie  im  Frieden  ist  es  ein  Dienst  Gottes,  wenn  man 
dem  treu  anhängt,  der  nach  Gottes  Ordnung  herrscht"  (De  re 
militari  II  5,  Burckhardt  Constantin  415).  Es  giebt  Solche, 
welche  in  diesen  Worten  die  richtige  Erklärung  und  Anwendung' 
des  Paulinischen  Spruches  Rom.  XIII  1  finden  wollen.  Es 
wird  aber  in  einer  solchen  Identifizirung  von  Cäsar  und  Jupiter 
das  eigentliche  Wesen  des  Cäsarcultus  nicht  erkannt.  Vopiscus, 
dessen  Vater  mit  Diocletian  bekannt  war,  der  daher  mit  der 
Cäsarengeschichte  durch  Familienerinnerungen  vertraut  war, 
erzählt  Folgendes:  ,,ein  Narr  des  Kaisers  Claudius  habe 
gesagt,  in  einem  einzigen  Ring  könne  man  die  guten  Fürsten 
alle  beschreiben".  Vopiscus  stimmt  dem  bei,  indem  er  fort- 
fährt: ,,Wie  gross  ist  dem  entgegen  die  Reihe  der  Schlechten ! 
Um  die  Vitellius,  Caligulas  und  Neronen  auszulassen,  wer 
erträgt  die  Maximinen  und  Philipper  und  di^  ganze  Hefe  der 
wiisten  Masse!"  Vopiscus  wirft  sodann  die  Frage  auf:  ,,was 
ist  das,  was  die  Fürsten  schlecht  macht .^"  Er  antwortet: 
,, zuerst,  mein  Freund,  ist  es  die  Ungebundenheit  (Hcentia), 
dann  der  Ueberfluss  von  Allem,  ausserdem  schlechte  Freunde, 
und  so  weiter".  Vopiscus  fügt  über  dieses  Thema  einzelne 
höchst  interessante  Daten  hinzu.  Diocletian  hat,  nachdem  er 
in  den  Privatstand  zurückgetreten,  wie  Vopiscus  von  seinem 
Vater  gehört,  gesagt :  ,, Nichts  sei  schwerer,  als  gut  zu  regieren. 
Vier  oder  Fünf  vereinigen  sich,  um  den  Kaiser  zu  hintergehen. 
Der  Kaiser  sitzt  zu  Hause,  erfährt  die  V/ahrheit  nicht,  ist  ver- 
hindert, etwas  anderes  zu  wissen,  als  was  jene  sagen".  ,,Kurz", 
das  sind  Diocletians  eigene  Worte:  ,,der  gute,  der  vorsichtige, 
der  beste  Kaiser  wird  verkauft"  (Histor.  Aug.  II  531  532). 
Auch  Vopiscus  erschöpft  die  Sache  nicht.  Das  Wesen  des 
Cäsarcultus   ist,    wie   sich   derselbe   in   Hellas   durch  Alexander 


192 

einleitet  und  seit  Cäsar  auf  römischen  Boden  verpflanzt,  die 
Lüge,  nicht  etwa  diese  oder  jene  Lüge  sondern  die  Erstgeburt 
von  dem  Vater  der  Lüge,  die  Mutter  aller  Lügen,  die  in  dem 
Weltreich  sich  vollendende  Selbsterhebung  der  Menschen  an  die 
Stelle  Gottes.  Aus  dieser  lügnerischen  Substanz  des  Cäsarcultus 
erstehen  all'  die  Greuel  der  Cäsarengeschichte,  die  angemasste 
erlogene  Göttlichkeit  schlägt  um  in  titanenhalten  Umsturz 
aller  Schamhaftigkeit  und  Menschlichkeit.  Es  haben  sich  sogar 
Spuren  von  Bestialität  gezeigt,  und  in  Allem,  was  etwa  noch 
nicht  ganz  verderbt  ist,  ist  jedenfalls  keine  Kraft  vorhanden, 
dieser  Versinkung  in  das  Thierische  wirksamen  Widerstand  zu 
leisten,  mithin  ist  die  Gefahr  vorhanden,  dass  das  letzte  Band  der 
Menschheit  mit  der  Gottheit  zerstöret  wird.  Der  Cäsarcultus 
erweist  sich  als  grundstürzende  Lüge  der  antiken  Welt.  Diese 
Lüge  ist  seit  Julius  Cäsar  und  Augustus  unantastbare  Voraus- 
setzung in  der  römischen  Welt.  Sie  braucht  nicht  einmal  aus- 
gesprochen zu  werden,  sie  herrscht  auch  schweigend,  wie  der 
,, Starke  seinen  Pallast  behauptet  im  Frieden".  Man  mache  ihm 
.seine  Herrschaft  streitig,  alsobald  wird  er  seine  Macht  beweisen 
und  zeigen,  dass  er  da  ist,  dass  er  auch  da  gewesen  ist,  als 
man  ihn  nicht  gekannt,  als  man  ihn  geleugnet  hat. 

Es  giebt  aber  neben  dem  Cäsarcultus  noch  einen  zweiten 
abgöttischen  Cultus,  dessen  Lüge  ebenso  grundstürzend  ist. 
Es  ist  Augustinus,  der  durch  eine  geniale  Bemerkung  über  eine 
Schwachheit  Senecas  eine  ganze  Nachtseite  der  antiken  Welt 
aufgedeckt.  In  dem  sechsten  Buch  des  grossen  Werkes  ,,de 
Civitate  Dei"  belobt  Augustinus  den  Lucius  Seneca,  weil  er 
tapferer  als  der  gelehrte  und  berühmte  Varro  in  seinen 
Schriften  die  Anstössigkeiten  des  heidnischen  Mythus  und 
Cultus  besprochen  habe,  nach  diesem  Lobe  fährt  Augustinus 
fort:  ,,tamen,  quia  illustris  populi  Romani  Senator  erat,  colebat 
quod  reprehendebat,  agebat  quod  arguebat,  quod  culpabat 
adorabat,  quia  videlicet  magnum  aliquid  eum  philo.sophia 
docuerat,  ne  superstitiosus  esset  in  mundo,  sed  propter  leges 
civium  moresque  hominum  non  quidem  ageret  fingentem 
scenicum  in  theatro,  sed  imitaretur  in  templo,  eo  damnabilius, 
quo    illa    quae    mendaciter  agebat,    sie   ageret,    ut  eum  populus 


193 

veraciter  agere  existimaret.  Scenicis  autem  ludendo  potius 
delcctaret,  quam  fallendo  deciperet"  (C.  D.  VI  lo).  Diese 
Sätze  des  grossen  Kirchenvaters  decken  auf  eine  ganze 
Welt  von  Sünden  und  Lastern,  welche  durch  die  Lüge  der 
Beamten  dem  Volk  als  Heiligthümer  dargestellt  werden.  Denn 
in  der  Lage  des  Seneca  sind  alle  übrigen  Beamten,  denn  Alle, 
wenn  sie  sich  auch  nicht  so  scharf  aussprechen  wie  der, 
welcher  sich  öffentlich  zur  Philosophie  bekennt,  sind  der 
Meinung,  dass  das  was  nach  Herkommen  und  Gesetz  in  dem 
Volksbewusstsein  als  Heiligthum  und  als  Cultus  gilt,  nach 
moralischen  Grundsätzen  unheilig  und  sündlich  ist.  Wenn  nun 
desungeachtet  die  Staatsbeamten,  wie  es  als  selbstverständlich 
angesehen  wird,  sich  thatsächlich  bei  diesen  Cultusacten  be- 
theiiigen,  so  kommen  sie,  wie  Augustinus  es  von  Seneca  scharf 
ausspricht,  in  den  ungeheuren  Selbstwiderspruch,  dass  sie  das 
was  sie  nach  ihrem  Gewissen  und  nach  ihrem  Wort  und 
Bekenntniss  verdammen,  durch  ihr  öffentliches  Handeln  innerhalb 
des  Cultusgebietes  als  ein  Heiligthum  verehren  und  anbeten. 
Augustinus  bemerkt,  dass  dieser  Widerspruch  viel  unsittlicher 
ist,  als  wenn  ein  Schauspieler  auf  der  Bühne  unsittliche  Hand- 
lungen darstellt,  denn  man  weiss,  dass  der  Schauspieler  spielt, 
von  dem  Senator  setzt  man  aber  voraus,  dass,  wenn  er  im 
officiellen  Cultus  handelt,  er  mit  seiner  Persönlichkeit  das, 
worin  er  handelt  und,  wie  es  in  der  Regel  der  Fall  ist,  als 
leitende  Hauptperson  vertritt.  Das  was  Augustinus  in  seinen 
kurzen  vernichtenden  Antithesen  meint,  war  seinen  Lesern 
bekannt  und  verständlich.  Wir  müssen  suchen  aus  dem,  was 
wir  über  das  Sacralwesen  der  antiken  Welt  wissen,  die  kurzen 
Andeutungen  des  Augustinus  zu  erklären. 

Die  scharfe  Censur  des  Augustinus  besagt,  dass  das  was 
in  Wort  und  Schrift  von  den  Mythen  als  anstössig  freimüthig 
getadelt  und  verurtheilt  wird,  sobald  aber  eine  solche  Anstössig- 
keit  als  Theil  eines  anerkannten  Cultus  erscheint,  alsdann  der 
Tadel  verstummt  und  die  competente  Magistratsperson  durch 
amtliches  Handeln  jenes  Aergerniss  als  unantastbares  Stück  der 
Staatsreligion  verherrlicht.  Die  Schlussfolge  überlässt  Augustinus 
seinem  Leser,    es    ist    aber    folgende:    wenn  Jemand    das    Ver- 

13 


194 

derbniss  des  Heidenthums  gründlich  bekämpfen  will,  der  muss 
den  Muth  haben,  vor  Allem  diejenigen  Verderbnisse  anzugreifen, 
welche  als  Theile  des  bestehenden  Cultus  anerkannt  und  unter 
den  Schutz  der  höchsten  Gewalt  gestellt  sind.  So  sind  wir 
auf  den  Cäsarcultus  geführt  worden  und  haben  uns  überzeugt, 
dass  sowenig  Seneca  selber  die  in  diesem  Cultus  liegende  Ver- 
führungsmacht siegreich  bekämpft  hat,  auch  sonst  Niemand 
gegen  den  Cäsarcultus  von  Julius  Cäsar  bis  Diocletian  mit 
vollem  Nachdruck  aufzutreten  gewagt  hat. 

Es  giebt  aber  noch  einen  anderen  Cultus  in  dem  antiken 
Heidenthum,  vor  dem  die  besseren  Elemente  des  Polytheismus 
eben  so  scheu  zurückweichen,  wie  vor  dem  Cäsarcultus.  Wir 
finden  von  Heraklit  an  bis  zu  Kaiser  Julianus  und  den  letzten 
Neuplatonikern  eine  Reaction  des  mehr  oder  weniger  mono- 
theistischen und  theistischen  Gottesbewusstseins  gegen  die  herr- 
schende und  immer  mehr  in  Materialismus  versinkende  Idolatrie. 
Diese  Reaction  verurtheilt  die  in  dem.  ganzen  Heidenthum  vor- 
herrschende und  immer  mehr  steigende  Fleischeslust,  aber  diese 
Gewissensstimme  verstummt  bei  einer  gewissen  Klasse  der 
sündigen  Gelüste  Nach  dem  Sündenfall  überfährt  den  Menschen 
das  verschämte  Gefühl  über  seine  Nacktheit,  dass  der  ursprüng- 
lich reine  Naturtrieb  unrein  geworden  ist.  Beim  weiteren  Fort- 
gang der  Sünde  verschwindet  das  in  der  Schamhaftigkeit 
lebende  Gewissen  immer  mehr,  bis  es  überwältigt  und  so  zu 
sagen  in  das  Gegentheil  verkehret  wird,  indem  die  entfesselte 
Fleischeslust  als  etwas  Göttliches  angesehen  und  behandelt 
wird.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  v^erdammt  das  alte  Testament 
den  Götzendienst,  wie  sich  in  dem  Sprachgebrauch  des  Wortes 
r;:"  (sanah)  zu  erkennen  giebt.  Dass  dieses  Wort  nicht  bloss  im 
figürlichen  Sinn,  sondern  auch  im  realistischen  Sinn  gebraucht 
wird,  beweist  vornämlich  die  Geschichte  von  dem  Abfall 
Israels  zu  dem  Götzen  der  Midianiter,  dem  Baal  Peor.  Der 
Abfall  Israels  zu  dem  Baal  Peor  vollzog  sich  dadurch,  dass  die 
Söhne  Israels  auf  die  Einladung  der  midianitischen  Weiber  zu 
dem  Feste  des  Baal  Peor  kamen,  und  was  weiter  folgte,  ist 
durch  die  freche  That  des  Simri  und  die  Eiferthat  des  Pinehas 
deutlich  veranschaulicht  (Num.  XXV).     Hieronymus  sagt  über 


195 

Baal  Peor:  ,,colentibus  maxime  feminis  Baal  Pheyor  ob 
obscöni  magnitudinem,  quem  nos  Priapum  possumus  appellare, 
Pheyor  in  lingua  hebräa  Priapus  appellatur"  (Ad  H. 
IV  14,  In  Jov.  I  12).  Da  nun  der  Abfall  zu  den  anderen 
Baals  mit  demselben  Wort:  n:T  (sanah)  gebrandmarkt  wird 
(Num.  XIV  33,  XV  39,  XXV  i  2,  Lev.  XVII  7,  XIX  29, 
XX  5  6,  Deut.  XXXI  16,  Jud.  II  17,  VIII  27  33,  Ps. 
LXXIII  27,  I.  Chron.  V  25,  IL  Chron.  XXI  11  13,  Sap. 
XIV  12),  so  mag  es  gestattet  sein,  mit  dem  Wort  Baal- 
cultus  das  Alles  zu  bezeichnen,  was  die  entblösste  und  ent- 
fesselte Fleischeslust  in  der  Heidenwelt  mit  der  Auctorität 
des  anerkannten  Religionswesens  zu  sanctioniren  unternimmt. 
Die  Sache  selbst  ist  von  Ambrosius  ganz  richtig  bezeichnet: 
,,quid  dicam  de  orgiis  Liberi,  ubi  religionis  mysterium  est  in- 
centivum  libidinis  ?"  (De  virginibus  IV   16). 

Es  ist  ein  tief  wehmüthiges  Gefühl,  wahrzunehmen,  dass 
in  der  wundervollen  Schöpfung  der  antiken  Welt  ein  innerer 
Schade  sich  findet,  der  von  innen  her  die  ganze  Herrlichkeit  zer- 
stört. Ein  gelehrter  Mediciner,  der  dem  klassischen  Alterthum 
den  Puls  gefühlt  hat,  schreibt:  ,, Wollust  zerstört  das  Mark  der 
Völker,  weil  ihre  Genesis  im  Verborgenen  vor  sich  geht" 
(Rosenbaum  die  Lustseuche  im  Alterthum,  3.  Aufl.  1882  p.  47). 
Der  Abfall  von  Gott  ist  der  Hinfall  in  die  Macht  der 
emancipirten  Fleischeslust.  Diese  Lehre  des  Paulus  wird  von 
der  Geschichte  bestätigt,  nur  will  die  Geschichte  richtig  ver- 
standen werden  Es  findet  sich  hier  eine  zweifache  Einseitisf- 
keit.  Denen,  welche  ihr  Auge  auf  den  Fall  des  Heidenthums 
gerichtet  haben,  fehlt  es  meistens  an  wahrhaft  begeisterter  und 
verständnissvoller  Bewunderung  der  Schönheit  und  Gross- 
artigkeit der  antiken  Welt.  Diejenigen  dagegen,  die  ihr 
Studium  und  Leben  der  Auffassung  und  dem  Verständniss  des 
Alterthums  widmen,  verschliessen  ihre  Augen  gerne  vor  den 
Schatten  der  antiken  Menschheit.  Beides  muss  zusammen  gehen, 
und  zwar  muss  die  Freude  an  der  unvergleichlichen  Schöpfung 
Gottes  in  der  grossen  Natur  und  Anlage  der  klassischen 
Völker  den  Vortritt  haben,  und  diese  Freude  an  diesem 
Schöpfungswerk    Gottes     ist     es,      welche     die     Trauer     über 

13* 


196 

das      sündhafte     Menschenwerk      weihet      und      den     Schmerz 
heihget. 

Die  reinste  Gestalt  des  antiken  Volkslebens  ist  in  der 
unsterblichen  Dichtung  Homers.  Ein  ernster  Forscher  hat 
nachgewiesen,  ,,dass  der  Strahl  der  ewigen  Gottheit  durch  das 
bunte  und  weltliche  Treiben  der  olympischen  Gottheiten 
Homers  hindurchbricht  und  Menschenherzen  zu  wahrer 
Frömmigkeit  zu  erleuchten  und  zu  erwärmen  vermag"  (Nägels- 
bach homerische  Theologie  1840).  Und  hoch  bedeutsam  ist 
es,  dass  als  die  frömmste  Persönlichkeit  in  der  homerischen 
Welt  Eumäus,  der  Knecht  und  Sauhirt,  erscheint.  Ein  anderes 
Zeichen  der  relativen  Reinheit  dieser  altgriechischen  Welt 
ist  der  tiefe  Hass  gegen  die  Lüge,  wie  er  sich  Ilias  X  312 
ausspricht: 

,, Wahrlich,    verhasst   ist  mir  der,  gleichwie  die  Pforten 

der  Hölle, 
Welcher     was    Anders     birgt     im    Gemüth    und    was 

Anderes  redet." 

Wir  wollen  dem  gegenüberstellen  die  idyllische  Be- 
schreibung einer  ländlichen  Frömmigkeit  aus  den  spätesten 
Zeiten  des  römischen  Heidenthums,  nämlich  Avieni  ,,epigramma 
ad  amicos"  (Anthol.  latina,  ed.  P.  Burmann  II  496),  zum  Be- 
lege, dass  auch  in  den  wüstesten  Zeiten  der  Vielgötterei  das 
Band  zwischen  dem  wahren  Gott  und  den  menschlichen  Seelen 
noch  nicht  ganz  zerrissen  war. 

Mit  Recht  legt  man  ein  grosses  Gewicht  darauf,  dass  es 
von  früh  an  bis  in  die  spätesten  Zeiten  des  hellenisch-römischen 
Heidenthums  eine  Reaction  gegen  den  corrumpirenden  Poly- 
theismus mit  monotheistischer  und  theistischer  Tendenz  gegeben 
hat.  Die  beiden  bedeutendsten  Philosophen  des  ganzen  Alter- 
thums  finden  wir  in  dieser  ethischen  Reaction  thätig.  Noch 
vor  Plato  hatte  der  strenge  Heraklit  seinen  Protest  gegen  die 
Auswüchse  des  Polytheismus  erhoben.  ,,Ille  cen.sor  morum 
publicorum  in  libro  de  natura  rerum  Bacchanalium  et  pomparum^ 
phallicarum  turpitudinem  notavit  (Lobeck  Aglaophamus  I  368). 
Plato  hat  sich  in  der  bezeichneten  Richtung  sehr  ausführlich, 
und     nachdrücklich     ausgesprochen     (De      republica     II     377, 


197 

III  39^;  X  399»  De  legib.  II  656,  III  817).  Plato  macht  eine 
grosse  Reihe  von  sittUchen  Aergernissen  des  Polytheismus  in 
den  Dichtungen  namenthch  des  Homer  und  des  Aeschylos 
namhaft  und  verlangt,  dass  Alles  dergleichen  in  seinem  Staat 
weder  gelesen,  noch  gehört,  noch  dargestellt  werden  soll.  Also 
Verbannung  des  unkastrirten  Homer  und  des  volksthümlichen 
Dramas  aus  dem  Platonischen  Staat.  Eine  radicale  Massregel, 
die  ungefähr  mit  der  Einführung  der  Weibergemeinschaft  auf 
■einer  Linie  der  radicalen  Umwälzung  steht.  Es  muss  ein  starker 
sittlicher  Zorn  erwacht  sein,  ehe  ein  solcher  Prophet  des 
Schönguten,  wie  Plato,  sich  entschliesst,  an  den  kanonischen 
Theil  der  hellenischen  Literatur  die  Hand  zu  legen.  Er  selbst 
hat  uns  die  Erklärung  dieses  seines  Zornes  an  die  Hand 
gegeben.  Plato  schreibt:  ,, Jeder  wird  sichs  verzeihen,  schlecht 
zu  sein,  wenn  er  überzeugt  ist,  dass  ja  eben  Solches  thun  und 
thaten  Götter  und  frisch  Entsprossene,  dem  Zeus  Verwandte, 
weswegen  wir  diese  Fabeln  abschaffen  müssen,  damit  sie  uns 
nicht  in  der  Jugend  alle  Scheu  von  dem  Bösen  ersticken" 
(De  republ.  III  391).  Dieses  Wort  ist  nicht  etwa  die 
Rede  eines  christlichen  Apologeten  oder  Kirchenvaters 
sondern  das  Wort  eines  ersten  Wortführers  des  griechischen 
Heidenthums. 

Dass  Aristoteles  nicht  ein  blinder  Nachfolger  Piatos 
ist,  bewies  er  durch  die  scharfe  Censur  gegen  die  Weiber- 
gemeinschaft des  Platonischen  Staates,  um  so  mehr  fällt  ins 
Gewicht  die  Uebereinstimmung  des  Aristoteles  mit  dem  Plato- 
nischen Protest  gegen  den  polytheistischen  Mythos,  Zwar 
schont  Aristoteles  das  hellenische  Bewusstsein  etwas  mehr  als 
Plato,  indem  er  weder  Homer  noch  einen  Dramatiker  mit 
Namen  nennt,  aber  da  er  alles  Reden  von  Anstössigkeiten  des 
Mythos  sogar  mit  Strafen  belegt  und  alles  Schauen  von 
unanständigen  Gemälden  und  Schilderungen,  die  des  ethischen 
Gehaltes  entbehren,  verbeut  und  namentlich  der  Jugend  das 
Hören  und  Anschauen  von  Komödien  und  Spottgedichten  streng 
untersagt,  ist  seine  Stellung  zu  dem  Mythos  und  Cultus  im 
Wesentlichen  dieselbe,  wie  die  des  Plato  (De  polit.  VII  15  7 
VIII  5  7,  De  poet.  VI). 


198 

Nun  aber  kommt  die  Kehrseite.  Die  strenge  Censur  der 
beiden  Philosophen  gegen  Mythus  und  Cultus  ist  eine  sittHche, 
der  sitthche  Standpunkt  lässt  aber  keine  Ausnahme  zu,  denn 
das  Gute  muss  herrschen  immer  und  überall,  und  das  Schlechte 
hat  keinen  Anspruch  auf  Existenz  an  keinem  Ort  und  in 
keinem  Augenblick.  Desungeachtet  haben  unsere  beiden 
grossen  Philosophen  eben  an  der  Stelle,  wo  sie  sich  am  ent- 
schiedensten gegen  die  Verführungsmacht  des  herrschenden 
Cultus  und  Mythus  aussprechen,  auf  eigene  Hand  ihrem  Protest 
eine  Schranke  gesetzt,  und  was  sie  Anfangs  absolut  verdammt 
haben,  dem  haben  sie  in  ihrem  Staat  hinterher  unter  gewissen 
Umständen  trotzdem  eine  berechtigte  Stelle  eingeräumt.  Plata 
schreibt:  ,,Die  Thaten  und  Leiden  des  Kronos  sollen  ver- 
schwiegen bleiben,  wenn  aber  eine  Nothwendigkeit  zu  reden 
existirt  (De  republ.  11  378),  dann  soll  es  wie  ein  Geheimniss 
behandelt  werden  und  soll  auf  sehr  Wenige  beschränkt  sein." 
Und  ähnhch  heisst  es  III  388:  ,,wenn  man  auch  gestatten 
wolle,  dass  die  übrigen  Götter  wehklagen,  von  dem  Obersten 
der  Götter  wenigstens  dürfe  so  Etwas  nicht  gesagt  werden." 
Plato  gestattet  also  in  seinem  Staat,  dass  man  von  den  übrigen 
Göttern,  mit  Ausnahme  des  Zeus,  menschliche  Schwächen  aus- 
sagen dürfe.  Ja,  Plato  statuirt  eine  Nothwendigkeit,  nach 
welcher  auch  das  Allerschlimmste  in  einem  kleinen  Kreise 
gesprochen  werden  darf.  Es  giebt  also  nach  Plato  eine  andere 
Nothwendigkeit,  welche  über  der  sittlichen  Nothwendigkeit 
steht  und  das  an  sich  Unsittliche  unter  Umständen  sanctionirt. 
Es  ist  das  ein  Abfall  von  dem  sittlichen  Standpunkt  und  ein 
Rückfall  in  die  Macht  der  herrschenden  Lüge,  welche  von 
dem  wahren  Staat  ausgeschlossen  sein  soll.  Bedenklicher  aber 
noch  ist  das  Zugeständniss  von  Aristoteles.  xA-nstössigkeiten 
sind  verboten,  schreibt  Aristoteles,  ausser  bei  den  Göttern, 
welchen  das  Gesetz  sogar  muthwillige  Frechheit  gestattet,  bei 
diesen  erlaubt  das  Gesetz  denen,  welche  das  gehörige  Alter 
haben,  für  sich  und  für  ihre  Weiber  und  Kinder  ihren  Gottes- 
dienst zu  verrichten  (Polit.  VII  15  8).  Hier  bekommt  nun  die 
avaYxrj  des  Plato  ihren  Namen,  diese  Nothwendigkeit  ist  das 
Staatsgesetz,    dieses    Gesetz   gestattet   bei    gewissen    Gottheiten 


199 

das  sonst  Verbotene,  gestattet  sogar  die  offenbare  ,, Frechheit", 
was  Wachsmuth  dem  Sinne  nach  gewiss  richtig  von  Priapus 
versteht  (Hellenische  Alterthumskunde  II  2  75).  Vermöge 
dieses  Gesetzes  kehrt  sich  das  sittliche  Urtheil  um,  was  sonst 
verabscheut,  was  mit  gesetzlicher  Strafe  belegt  wird,  vermöge 
dieses  Gesetzes  wird  es  für  gereifte  Männer  mit  ihren  Familien 
ein  Gottesdienst.  In  der  monotheistisch -ethischen  Abwehr  der 
in  dem  Mythus  und  Cultus  enthaltenen  Verführung  weicht 
Plato  zurück  vor  einer  ungenannten  Nothwendigkeit  und 
Aristoteles  vor  dem  Staatsgesetz,  welches  orgiastische  Gebräuche 
nicht  bloss  gestattet  sondern  als  Gottesdienst  sanctionirt.  Hier 
zeigt  sich  nun  deutlich,  was  wir  oben  Baalcultus  nannten.  Es 
giebt  nämlich  im  Cultus  Solches,  welches  nicht  'etwa  nur  das 
christliche,  sondern  nachweislich  auch  das  heidnische  Gewissen 
als  sündhafte  Fleischeslust  verurtheilt.  Aber  es  wird  diesem 
verurtheilenden  Gewissen  Halt  geboten,  denn  das  Bezeichnete 
steht  unter  dem  Schutz  einer  Nothwendigkeit,  welche  Gesetz 
heisst  und  jene  Sünde  für  einen  religiösen  Cultus  erklärt.  Es 
kann  den  beiden  grossen  und  ernsten  Denkern  nicht  entgangen 
sein,  wie  sehr  sie  ihre  Censur  gegen  die  Unsittlichkeiten  des 
herrschenden  Polytheismus  durch  einen  solchen  Freipass  selber 
schädigen  und  stören.  Denn  es  ist  klar,  dass  sie  selber  und 
ihre  Schulen  nach  einer  solchen  Ausnahmetheorie  in  die  Lage 
kommen,  jene  Sanction  des  Unsittlichen  als  Bürger  oder  gar 
als  Beamte  durch  ihre  eigene  That  zu  vollziehen,  damit  aber 
ihren  Beruf,  durch  ihre  moralische  Ueberlegenheit  die  Gefahren 
und  Verderbniss  des  Götzendienstes  zu  besiegen,  Angesichts 
des  Volkes  untergraben. 

Man  hat  zuweilen  gemeint,  dass  die  allegorische  Auslegung 
des  anstössigen  Mythus  und  Cultus  eine  genügende  Abwehr 
gegen  die  in  dem  herrschenden  Polytheismus  liegende  Ver- 
führung darbiete.  Aber  schon  Plato  hat  gesagt,  dass  die 
allegorische  Ausdeutung  (die  uTrovoict)  keineswegs  das  sittliche 
Aergerniss  beseitige  (De  republ.  II  378). 

Die  an  sich  löbliche  Reaction  des  reineren  Polytheismus 
gegen  die  corrumpirende  Macht  des  herrschenden  Götzen- 
dienstes    leidet     an     einer     handgreiflichen     Schwäche.       Die 


200 

Erklärung  dieser  Schwäche  in  den  beiden  vornehmsten  Sokra- 
tikern  liegt  in  dem  Schicksal  des  Sokrates.  Sokrates  ist 
angeklagt  und  verurtheilt,  ,,weil  er  nicht  die  Götter  verehrt, 
die  der  Staat  verehrt,  sondern  andere  neue  dämonische  Wesen" 
(Plat.  Apolog.  d.  Socrates  c.  XI).  Das  Verhalten  des  Sokrates 
dieser  Anklage  und  Verurtheilung  gegenüber,  sein  Verhalten 
in  den  letzten  Tagen  seines  Lebens  überhaupt,  wie  es  Plato 
in  den  vier  Schriften  Kriton,  Eutyphron,  Apologie  und  Phaedon 
geschildert  hat,  ist  die  grossartigste  sittliche  und  religiöse  Er- 
scheinung in  dem  gesammten  classischen  Alterthum.  Dieses 
thatsächliche  Verhalten  des  Sokrates,  Angesichts  der  Un- 
gerechtigkeit seines  Volkes  und  des  nahen  Todes,  diese  Ruhe, 
diese  Klarheit,  diese  Ueberlegenheit,  dieses  Selbstbewusstsein, 
diese  Menschenfreundlichkeit,  diese  an  Freudigkeit  grenzende 
Furchtlosigkeit  im  Sterben,  dieses  Alles  beweist,  dass  die 
monotheistische  und  ethische  Reaction  gegen  die  Verführung 
der  Vielgötterei  in  Sokrates  personificirt  erscheint.  In  Piatos 
Apologie,  die  durchaus  den  Stempel  der  Geschichtlichkeit  an 
sich  trägt,  legt  Sokrates  vor  seinen  Richtern  sein  ganzes  Leben 
dar  als  geleitet  und  bestimmt  durch  die  Gottheit,  und  genau 
das,  was  die  Apostel  dem  jüdischen  Synedrium  gegenüber  er- 
klären (Act.  V  29),  sagt  Sokrates  seinen  Richtern  (Apolog. 
XVII,  cfr.  XXVIII).  Wenn  Sokrates  in  dieser  grundernsten 
Verhandlung  sich  auf  sein  Dämonion  beruft,  so  ist  das  nicht 
eine  rhetorische  Fiction  oder  ein  frommes  Spiel,  sondern  dieses 
im  Munde  des  Sokrates  geheimnissvolle  Wort  bezeichnet  die 
noch  vorhandene  Verbindung  des  wahren  Gottes  mit  der  heid- 
nischen Menschheit.  In  der  Platonischen  Apologie  sagt  Sokrates: 
,,wenn  Menschen  im  Sterben  sind,  haben  sie  die  Gabe  der 
Weissagung."  Sokrates  hat  im  Angesicht  des  Todes  geweis- 
sagt, er  sagt  zweimal:  ,,ihr  könnt  mich  tödten,  aber  so  leicht 
werdet  ihr  keinen  wiederfinden  wie  mich;  wenn  ihr  euch  an 
mir  versündigt,  so  werdet  ihr  einem  ununterbrochenen 
Schlaf  verfallen,  bis  Gott  aus  Fürsorge  für  euch  einen 
Anderen  sendet."  Sie  haben  in  Athen  keinen  zweiten  Sokrates 
wieder  gefunden,  bis  Gott  ihnen  einen  Anderen  und  Höheren 
gesandt  hat. 


201 

So  viel  Muth  haben  Sokrates  Schüler  besessen,  dass  sie 
sein  Martyrium  beschrieben  haben,  aber  den  Fussstapfen  seines 
Martyriums  nachzufolgen,  das  haben  sie  nicht  vermocht. 
Nachdem  Athen  seinen  Frevel  an  Sokrates  verübt,  verlassen 
die  Sokratiker  Athen  und  wandern  nach  Megara,  und  Niebuhr 
giebt  sein  Urtheil  dahin  ab,  dass  Plato  kein  guter  und  Xenophon 
ein  grundschlechter  Bürger  gewesen  sei  (Kleine  historische  und 
philosophische  Schriften  p.  470). 

Also  die  Furcht  vor  dem  Martyrium  des  Sokrates  hat 
jene  ,,Nothwendigkeit"  des  Plato  und  jenes  ,, Gesetz''  des 
Aristoteles,  welches  die  freche  Zügellosigkeit  als  einen  Cultusact 
zur  Pflicht  macht,  geschaffen.  ,,Und  wenn  dies  am  Grünen 
geschieht,  was  soll  am  Dürren  werden?"  In  der  That,  diese 
Furcht  vor  dem  Martyrium  wirft  einen  finsteren  Schatten  über 
die  folgenden  Jahrhunderte,  bis  ein  Martyrium  kommt,  welches 
Kraft  und  Muth  der  Nachfolge  schafft.  Sehr  richtig  schreibt 
Lactanz:  ,, Plato  somniaverat  deum;  non  cognoverat.  —  Quod 
si  quis  ipse  vel  quilibet  alius  implere  voluisset  justitiae  defen- 
sionem,  in  primis  deorum  religiones  evertere  debuit,  quia  con- 
trariae  sunt  pietati.  Quod  quidem  Socrates  quia  facere 
tentavit,  in  carcerem  conjectus  est,  ut  jam  tum  appareret,  quod 
esset  futurum  in  hominibus,  qui  justitiam  veram  defendere 
deoque  singulari  servire  coepissent"  (Inst.  V  14  L3  14,  cfr.  II  3  5). 
Nach  Athenäus  (XV  196)  wurde  Aristoteles  von  dem  Hiero- 
phanten  Eurymedon  in  Athen  auf  Gottlosigkeit  verklagt.  Und 
Aelian  V.  H.  III  36  bemerkt,  dass  Aristoteles  wegen  dieser 
Anklage  Athen  verlassen,  damit  nicht  die  Athenienser  zweimal 
an  der  Philosophie  versündigten,  eingedenk,  wie  Aelian  schreibt, 
des  Todesurtheils   gegen  Sokrates    und   seiner   eigenen   Gefahr. 

Um  eine  Vorstellung  zu  gewinnen  von  dem  Umfang  und 
von  der  Tiefe  dessen,  was  wir  Baalcultus  genannt  haben, 
müssen  wir  uns  entschliessen,  nach  dem  Vorgang  des  Paulus 
und  der  Kirchenväter  einige  Züge  von  den  Orgien  der  durch 
die  öffentliche  Auctorität  sanctionirten  Augen-  und  Fleisches- 
lust, welche  kein  Philosoph  und  kein  Beamter  anzutasten 
wagte,  zu  vergegenwärtigen.  Mitten  in  die  Sache  hinein  ver- 
setzt   uns  Cyprian    durch    das,    was    er    schreibt    ad  Donatum 


202 

VIII.  Also,  wenn  die  öffentliche  Auctorität  sündig  geworden, 
dann  wird  sie  zu  einer  Kupplerin.  Ich  setze  Leser  voraus, 
welche  mit  mir  darin  einig  sind,  dass  die  Sünde  als  der  Leute 
Verderben  zu  verabscheuen  und  nach  Kräften  zu  bekämpfen 
ist.  Somit  können  und  sollen  wir  uns  nicht  bloss  die  Lage 
der  Apologeten  und  Kirchenväter  mitten  in  der  ungebrochenen 
Heidenwelt  vergegenwärtigen,  sondern  sind  auch  verpflichtet, 
für  sie  einzutreten,  denn  unser  bestes  Erbtheil  ist  durch  ihren 
Kampf  und  Sieg  errungen. 

Die  christlichen  Schriftsteller  der  ersten  Jahrhunderte 
haben  die  finstersten  Schattenseiten  des  antiken  Heidenthums 
aufgedeckt ;  dieselben  w^erden  deshalb  von  den  Humanisten  oft 
für  bornirt  gehalten.  Mit  Unrecht,  denn  so  wenig  Paulus 
durch  seine  scharfe  Anklage  gegen  das  Heidenthum  sich  ab- 
halten lässt,  den  Heiden  zuzugestehen,  dass  es  Solche  giebt, 
welche  von  Natur  thun,  was  das  Gesetz  enthält  und  dadurch 
selbst  ein  Gesetz  sind,  so  haben  die  christlichen  Väter,  welche 
am  schärfsten  mit  dem  Heidenthum  ins  Gericht  gehen, 
Tertullianus,  Clemens  Alexandrinus,  Minutius,  Justinus,  Arnobius, 
Lactantius,  Augustinus,  Eusebius  sich  andererseits  ernstlich 
bemüht,  die  in  dem  Heidenthum  enthaltenen  Ueberbleibsel 
einer  reineren  und  ursprünglichen  Gotteserkenntniss  ins  Licht 
zu  stellen.  Mit  grösserem  Recht  ist  der  Vorwurf  der  Ein- 
seitigkeit den  Humanisten  zu  machen.  Diese  nämlich  lieben 
es,  vor  den  unheimlichen  Tiefen  des  dämonischen  Wesens  die 
Augen  zu  verschliessen,  oder,  wo  die  Gründe  sich  nicht  ver- 
decken lassen,  mit  falschen  Gründen  zu  entschuldigen,  und  es 
wird  damit  der  volle  Segen,  der  in  dem  antiken  Alterthum 
für  die  Menschheit  enthalten  ist,  durch  diese  Fälschung 
geschwächt  und  verkümmert.  Es  ist  noch  heute  Bedingung 
für  das  wahre  Verständniss  der  antiken  Menschheit,  in  erster 
Linie  diejenigen  zu  vernehmen,  welche  das  ungebrochene 
Heidenthum  angeschaut  und  erfahren  haben  und  bereit  waren, 
ihre  Anklagen  mit  ihrem  Blute  zu  beweisen.  Nur  durch  den 
Kampf  und  Sieg  dieser  heroischen  Christenheit  ist  die  wahre 
Erkenntniss  Gottes  für  die  Menschheit  erhalten,  und  nur  durch 
diesen  Kampf  und  Sieg   ist   in  der  Welt  ein  Raum  geschaffen. 


203 

auf  welchem  die  Schätze  der  antiken  Humanität  nicht  bloss 
aufbewahrt  werden  sondern  auch  ein  neues  Leben  und  eine 
neue  Wirkung  innerhalb  der  Menschheit  erlangen  konnten. 
Nur  derjenige,  welcher  versteht,  wie  in  dieser  zwiefachen  Weise 
unser  höchstes  Interesse  mit  diesem  patristischen  Schriftthum 
verknüpft  ist,  ist  im  Stande,  diese  Polemik  des  heroischen 
Christenthums  zu  würdigen. 

Wer  mit  am  schärfsten  das  antike  Heidenthum  verklagt 
und  namentlich  mit  am  unverholensten  seine  finsteren  Greuel 
aufgedeckt,  ist  der  Afrikaner  Arnobius.  Da  nun  dieser  zugleich 
das  Bedürfniss  empfindet,  sich  wegen  seiner  Schärfe  und  seiner 
Unverfälschtheit  zu  rechtfertigen,  so  ist  es  besonders  lehrreich, 
ihn  zu  vernehmen.  Ungefähr  seit  dreihundert  Jahren,  schreibt 
Arnobius,  giebt  es  ein  christliches  Volk  (I  14),  aber  noch  immer 
ist  der  Stand  der  Christen  die  Gefahr  des  Martyriums.  Die 
heidnischen  Götter  dürsten  nach  Christenblut,  sie  sind  wüthend 
gegen  uns  ergrimmt  (I  25),  alle  Arten  grausamster  Christen- 
verfolgung sind  in  voller  Uebung  (I  26,  IV  36,  V  29).  Die 
Christen  sind  auf  den  Tod  verklagt  vor  den  Magistraten  und 
vor  der  Volksmasse,  weil  sie  die  anerkannten  Götter  nicht 
verehren.  In  diesem  Stande  der  Nothwehr  hält  es  Arnobius 
für  seine  Pflicht  der  Vertheidigung  (,, officium  defensionis") 
(V  18,  V  20),  die  Greuel  der  Götter,  welche  die  Christen  zu 
verehren  gezwungen  werden  sollen,  zu  enthüllen.  ,,Non  quo 
nobis  dulce  sit  tam  foedis  inequitare  mysteriis,  sed  ut  ipsis 
vobis  promptum  etiam  atque  etiam  fiat,  quid  in  eos  congeratis 
injuriae,  quorum  profiteamini  vos  esse  custodes"  (V  20).  Man 
beachte  die  Worte:  ,,ut  ipsis  vobis  promptum  fiat",  der  christ- 
liche Apologet  weiss  es,  dass  die  besseren  Polytheisten  vor 
der  massenhaften  Wüstheit  und  Unflätigkeit  der  Götterfabeln 
und  Cultusarten  gerne  die  Augen  verschliessen.  Aus  diesem 
Grunde  sieht  sich  Arnobius  genöthigt,  um  der  Selbstvertheidi- 
gung  willen  und  zur  Steuer  der  Wahrheit,  diese  Abgründe 
der  bestehenden  Religion  in  ihrer  ganzen  Scheusslichkeit  vor 
Augen  zu  stellen.  Arnobius,  sich  an  die  besseren  Heiden 
wendend,  will  sagen:  ,,ihr  bekennt  euch  als  Vertheidiger  der 
Götter    und    uns    als    ihre   Feinde;    wenn    ich    nun    in   pflicht- 


204 

massiger  V^ertheidigung  die  Greuel  des  Mythus  und  Cultus  auf- 
decke, dann  zeigt  sich,  das  ihr  vor  Allen  es  seid,  die  den 
-Göttern  Schande  bereiten."  Er  bemerkt  dabei,  dass  er  nicht 
Alles,  was  dahin  gehört,  zur  Sprache  bringe.  ,,ne,  dum  explicare 
contendimus  cuncta,  expositionis  ipsius  contaminationibus  pollu- 
amur"  (V  i8).  Nur  ist  dieses  Uebergehen  und  Schweigen 
nach  Arnobius  bei  denjenigen  Ceremonien  und  Mythen  nicht 
statthaft,  welche  mit  dem  Namen  Jupiters  verwachsen  sind 
(V    20). 

Wir  wollen  aber  nicht  verschweigen,  dass  die  Schrift  des 
Arnobius  ,,adversus  gentes"  in  zwiefacher  Beziehung  den 
Polytheisten  zu  nahe  gethan  hat.  Hin  und  wieder  nämlich 
bekämpft  Arnobius  den  Polytheismus  auf  Grund  der  Voraus- 
setzung des  flachen  Euhemerismus,  was  er  auch  mit  Anderen  z.  B. 
Lactanz  gemein  hat.  Nun  hatte  allerdings  diese  rationalistische 
Erklärung  der  Mythen  eine  weite  Verbreitung  gefunden,  die 
Schrift:  „Upa  ^-va^pa^^r^"  war  durch  die  Uebersetzung  des  Ennius 
■den  Römern  als  eine  griechische  Aufklärung  früh  bekannt 
geworden.  Aber  so  lange  Männer  wie  Plutarch  mit  solchem 
Nachdruck  diesen  Rationalismus  als  Gottlosigkeit  verwerfen, 
kann  man  nicht  das  Heidenthum  als  solches  für  den  Euheme- 
rismus verantwortlich  machen.  Aehnlich  ist  es  mit  solchen 
Erzählungen,  welche  von  einzelnen  Schriftstellern  ersonnen  sind, 
um  gewisse  Mythen  oder  Riten  verständlich  zu  machen.  Als 
solche  Schriftsteller  nennt  Arnobius  Timotheos  (V  i),  Clodius 
(V  5),  Butas,  Flaccus  (V  i8),  vor  Allem  gehört  dahin  ,die 
schmutzige  Erzählung  von  Prosomnus.  Die  Linie  zwischen 
solchen  privaten  Glossen  und  dem  officiellen  Heidenthum  ist 
jedenfalls  von  Arnobius  nicht  scharf  genug  gezogen,  obwohl  er 
(III  lo)  meint:  das,  was  unter  frommem  Vorwand  von  den 
Göttern  Ungöttliches  und  Unheiliges  gedacht  und  gesagt  wird, 
ist  eine  ärgere  Gottlosigkeit  als  eine  offene  Schmähung  der 
Götter,  was  den  Christen  mit  Unrecht  vorgeworfen  wird. 

Das  ist  nun  eben  das,  was  wir  Baalcultus  nennen.  Es 
sind  solche  offenbare  und  unleugbare  Unsittlichkeiten  an  den 
Göttern,  welche  als  Festgebräuche,  Cultushandlungen  und 
Cultusobjecte     durch     die     öffentliche    Auctorität     und    durch 


205 

religiösen  V^orwand  geschützt  und  sanctionirt  werden.  Es 
waltet  hier  die  officielle  Lüge,  vermöge  welcher  das  Unheilige 
als  Heiliges  dargestellt  und  als  solches  durch  die  öffentliche 
Auctorität  gesichert  ist. 

So  wie  es  nun  Arnobius  für  eine  Pflicht  der  Nothwehr 
erachtet,  die  finsteren  Greuel  des  Baalcultus  ans  Licht  zu 
ziehen,  so  erklärt  auch  Clemens  Alexandrinus,  wie  schon  oben 
bemerkt:  ,,ich  will  das  Verborgene  und  das  Heimliche  vor 
Allem  ans  Licht  stellen  und  die  Schamhaftigkeit  soll  mich 
nicht  abhalten,  das  vorzutragen,  was  ihr  Heiden  euch  nicht 
schämt  mit  göttlichen  Ehren  auszuzeichnen.  O  der  offenbaren 
Schamlosigkeit !  Einst,  als  die  Menschen  noch  züchtig  waren, 
war  die  schweigende  Nacht  die  Hülle  der  Lust,  jetzt  ver- 
kündigt für  die  Eingeweihten  die  Nacht  die  Unzucht  im 
Heiligthum"  (Cohort.  ad  gent.  Patrolog.  Series  Graeca  V  75  89). 

Clemens  verweist  auf  eine  frühere  und  züchtigere  Zeit.  Es 
ist  schon  erwähnt,  dass  Homer  von  den  unnatürlichen  Sünden 
noch  nichts  weiss.  Asien  ist  die  Heimath  der  geschlechtlichen, 
unnatürlichen  Ausschweifungen  (Rosenbaum  die  Lustseuche  im 
Alterthum  I  291  311).  Das,  was  Herodot  als  das  Schand- 
barste  der  babylonischen  Gesetze  bezeichnet  (I  199),  ist  der 
Baalcultus  im  eigentlichen  Sinne,  nämlich  die  Preisgebung  der 
jungen  Mädchen  im  Tempel  zu  Ehren  der  Venus.  Dieser 
monströse  Cultus  findet  sich  gleichfalls  in  Armenien,  Lydien, 
Karthago,  Phönizien  (Rosenbaum  II  53  54  55  88).  Die  öffent- 
lichen Weihgeschenke  von  Hetären  an  Aphrodite  haben  den- 
selben schandbaren  Charakter  und  beweisen  somit  die  Ueber- 
tragung  dieses  Cultus  nach  Hellas.  Auf  Samos  haben  die 
Hetären  der  Aphrodite  einen  Tempel  gebaut  mit  dem  Gelde 
ihrer  Schande  (Anthol.  Graeca,  ed.  Jakobs  Anim.  I  415). 
Nach  Timaeus  und  Theopompus  haben  Korinthische  Hetären 
in  den  Tagen  der  Persernoth  für  die  Erhältung  des  Vaterlandes 
die  Aphrodite  angefleht,  und  ist  ihnen  eine  Gedenktafel 
gestiftet,  auf  welcher  die  Hetären  abgebildet  sind  mit  einem 
Epigramm  von  Simonides  (Athenäus  XIII  32).  Ob  Friedrich 
Jakobs  (Vermischte  Schriften  III  212 — 254)  darin  Recht  hat, 
dass    in  Hellas    der    männliche    Eros  ursprünglich  einen  reinen 


206 

Sinn    hat    und    sogar    eine    eigenthümlich    nationale    Tugend 
bedeutet,  muss  ich  dahin  gestellt  sein  lassen. 

Wenn  die  Heiden  den  Anklagen  der  Christen  gegenüber 
erwiderten,  dass  man  die  Fabeln  der  Dichter  nicht  allzuernst 
nehmen  dürfe,  so  lässt  Arnobius  dies  in  gewisser  Weise  gelten, 
beruft  sich  aber  auf  die  Feste  und  Mysterien,  welche  unter 
dem  öffentlichen  Gesetz  und  Herkommen  standen  (IV  35,  V  24, 
vgl.  Keim  Christenthum  und  Rom  112  113  114).  Und  eben 
hier  hat  der  Baalcultus  seinen  festesten  und  verderblichsten  Sitz. 
Nicht  als  ob  die  Götterfeste,  die  Mysterien  und  Spiele  von 
vornherein  einen  ausgeprägt  unsittlichen  Charakter  gehabt 
hätten.  Die  Grundelemente  der  menschlichen  Gesittung,  Ehe, 
Ackerbau  und  Rechtsordnung  werden  mit  religiösem  Sinn  auf- 
gefasst  und  demnach  als  Werke  übermenschlicher,  aber 
menschfreundlicher  Gewalten  verehrt  und  heilig  gehalten. 
Daher  die  Forderung  der  reinen  Geister  und  der  reinen 
Hände  als  Bedingung  für  den  Eintritt.  Weil  dieser  Kern  der 
elementaren  Frömmigkeit  zwar  von  der  wachsenden  Verderbniss 
angefochten,  aber  nicht  vernichtet  wird,  so  erhält  sich  auch 
das  Lob  der  Mysterien  durch  alle  Zeiten.  xA-ber  nachdem  der 
heroische  Widerstand  der  Marathonischen  und  Salaminischen 
Zeit  gegen  asiatische  Weichlichkeit  und  Ueppigkeit  nach- 
gelassen, drang  die  Verunreinigung  des  Cultus  und  Mythus 
mit  Macht  aus  dem  Orient  in  Hellas  herein.  In  der  von 
Thracien,  Phrygien  und  Aegypten  ausgehenden  orphischen 
Mythologie  ward  die  Gestalt  des  Zeus  immer  tiefer  in  den 
Abgrund  der  widernatürlichen  Unzucht  versenkt.  Alle  Schranken 
der  Scham  und  Zucht  wurden  niedergerissen  (Lobeck 
II  818 — 827).  Von  Haus  aus  unsaubere  Wesen,  wie  Bendis, 
Cotytto,  Orthanes,  Tychon  u.  a.  erhalten  Gastrecht  bei  den 
Griechen  (Wachsmuth  hellenische  Alterthumskunde  II  2  209, 
Lobeck  II  1026).  Den  Zustand  der  rehgiösen  Feste  und 
Mysterien  in  diesen  Zeiten  der  tiefen  Verderbtheit  schildern  die 
Kirchenväter,  aber  verdienen  deshalb  nicht  den  Vorwurf,  den 
Lobeck  I  196  ihnen  macht.  Denn  da  zu  Gegenständen  des 
nächtlichen  Schauens  auch  die  ,,x':sic",  das  membrum  feminale 
gehörte,  so  kann   man    sich   die  Ausgelassenheit  bei  der  Masse 


207 

der  Epopten  in  solchen  wüsten  Zeiten  nicht  arg  genug  denken. 
Jedenfalls  gehörte  der  am  sechsten  Tage  aufgeführte  Jacchuszug 
zum  Feste  und  dieser  Theil  des  Festes  bestand  in  entfesselter 
Augen-  und  Fleischeslust  (Meursius  Eleus.  p.  i6o  162 — 166)- 
Den  Sinn  dieser  ausgelassenen  Dionysien  bezeichnet  Castellanus 
in  Thesaurus  (ed.  Gronov.  VII  627)  ganz  treffend,  und  ist 
damit  genau  ausgedrückt,  was  wir  unter  Baalcultus  verstehen. 
Was  an  den  ausgelassenen  Dionysien  in  Athen  keinen 
besseren  Namen  verdient  als  Baalcultus,  wird  uns  noch  jetzt, 
so  zu  sagen,  vor  Augen  gestellt  durch  die  Komödien  des 
Aristophanes.  Den  Gegensatz  zwischen  Aeschylus  und 
Euripides,  der  in  den  ,, Fröschen"  mit  grossem  Nachdruck  aus- 
geführt wird,  muss  man  wohl  als  charakterisches  Selbst- 
bekenntniss  des  Aristophanes  ansehen.  Demnach  ist  Aristophanes 
dem  Hauptcharakter  nach  ein  Vertreter  der  alten  Zeit  im 
Gegensatz  zu  der  Gegenwart  der  Aufklärung  und  Auflösung. 
Aristophanes  erkennt  den  Preis  dem  Aeschylus  zu,  welcher  den 
Grundsatz  aufstellt,  dass  auf  dem  Theater  Unanständiges  und 
Unzüchtiges  nicht  erscheinen  darf  Mit  dieser  theoretischen 
Anständigkeit  des  Aristophanes  verhält  es  sich  aber  ähnlich  wie 
mit  der  oben  besprochenen  Verwahrung  des  Plato  und  Aristoteles 
gegen  die  Anstössigkeiten  des  Mythus  und  Cultus.  Es  giebt 
nämlich  auch  für  Aristophanes  eine  höhere  Macht,  welche  diese 
Verwahrung  durchbricht  und  aufhebt.  Was  Plato  eine  nicht 
näher  bezeichnete  Nothwendigkeit,  Aristoteles  ein  die  Aus- 
gelassenheit herausforderndes  Herkommen  nennt,  ist  bei 
Aristophanes  ein  mit  der  Leichtfertigkeit  seiner  Zeitgenossen 
übereinstimmender  Naturtrieb.  Die  Anstössigkeiten  des 
Aristophanes  gehen  aus  naiver  Ausgelassenheit  und  unbefangen 
übersprudelnder  Lebenslust  hervor  (Aristophanes  und  die 
historische  Kritik  von  H.  Müller  Strübing  1873  p.  114).  Und 
was  die  Zeitgenossen  anlangt,  so  sagt  Droysen:  ,,man  ist 
damals  gar  nicht  mehr  so  unschuldig  in  Athen,  der  Kitzel  der 
Sinnlichkeit  ist  unerschöpflich,  der  Athener  liebt  es,  von 
schmutzigen  Dingen  reden  zu  hören,  ja  sie  selbst  leibhaftig 
zu  sehen"  (Aristophanes  übersetzt  2.  Aufl.  1871  I  pag.  VI). 
Nun   werden    die  Komödien   wie    die   Tragödien   aufgeführt   in 


208 

den  hohen  Festen  und  stehen  unter  der  öffentlichen  Auctorität 
(VVachsmuth  hellen.  Alterthümer  i  2  158^  was  also  auf  der 
Bühne  vorgeht,  ist  ein  Theil  der  öffentlichen  Festfeier. 

In  gewisser  Weise  seilen  wir  in  den  ,.Acharnern"  noch 
heute,  wie  in  einem  bürgerlichen  Hause  in  Athen  das 
Dionysusfest  gefeiert  wird.  Der  Bürger  Dikaiopolis  beginnt 
mit  Frau  und  Töchtern  die  Feier  unter  Aufforderung  zur 
schweigenden  Andacht.  Dann  fordert  er  die  Sclaven  auf,  den 
Phallus  grade  empor  zu  richten,  das  Zeichen  der  nackten 
]\Iannheit  nicht  in  seiner  Ruhe,  sondern  in  dem  Zustand  der 
Anreizung  darzustellen.  Nachdem  dies  geschehen,  beginnt 
Dikaiopolis  seinen  Jacchuszug,  indem  er  das  Phalluslied  an- 
stimmt unter  Aufforderung  an  die  Frau,  ihn  mit  den  Augen 
zu  begleiten.  Das  wilde  Feuer  hat  sofort  die  Wirkung,  dass 
Dikaiopolis  mit  einer  von  Wollust  entzündeten  Zunge  die 
Scene  eines  ehebrecherischen  Actes  mit  einer  hübschen 
Thracierin  ausmalt  (Acharner  I  237  — 279).  Damit  nicht  genug, 
die  ,,  Acharner"  schliessen  damit,  dass  das  was  Dikaiopolis  sich 
ausgemalt,  er  selber  in  nackter  Wirklichkeit  auf  der  Bühne  vor 
dem  Volk  darstellt.  Dikaiopolis  erscheint  in  der  Mitte  von 
zwei  Dirnen  und  redet  mit  ihnen  die  Sprache  des  Bordells. 
Ist  hier  nicht  eine  offenbare  Nachbildung  der  Versündigung 
Jsraels  mit  Baal  Peor  auf  dem  Gefilde  Moabs  ?  Ist  nicht  der 
aufgerichtete  besungene  Phallus  der  midianitische  Baal  Peor,  den 
der  falsche  Prophet  Bileam  zu  einer  Verführung  für  Jsrael 
gemacht  hat  (Num.  XXXI  16)?  Wenn  die  ursprüngliche 
Komödie  ein  Phalluszug  zu  Ehren  des  Dionysus  und  der  ver- 
wandten Gottheiten  war,  wie  Droysen  sagt  (II  262),  dann  haben 
die  ,, Acharner"  diesen  Charakterzug  in  derber  Ausführung 
ausgeprägt.  In  dem  ,, Frieden"  löst  sich  die  Festfeier  auf  in 
ein  krass  sinnliches  Bacchanal.  Man  pflegt  nun  wohl  zu  sagen, 
dass  man  diese  Dinge  nach  dem  damaligen  Standpunkt  des 
sittlichen  Urtheils  schätzen  müsse,  und  so  betrachtet,  würden 
sie  den  grössten  Theil  ihrer  Anstössigkeit  verlieren.  Es  giebt 
allerdings  Anstössigkeiten,  bei  denen  diese  Mahnung  berechtigt 
ist,  aber  bei  den  P>scheinungen,  die  wir  als'  Baalcultus 
bezeichnen    müssen,    kommen    die    unwandelbaren  Gesetze    der 


209 

moralischen  Weltordnung  in  Betracht,  und  nach  Massgabe 
dieser  Gesetze  müssen  wir  sagen:  so  wie  diese  unzüchtigen 
Darstelhmgen  aus  einem  unreinen  Sinn  hervorgegangen  sind, 
so  müssen  und  werden  sie  in  einer  Volksmasse  zu  allen  Zeiten 
und  unter  allen  Zonen  die  in  der  gefallenen  Menscbennatur 
schlummernde  Lust  erwecken  und  entzünden  und  werden  dann 
auch  zur  Vollbringung  der  sündigen  Lust  treiben  und  schliess- 
lich, wie  Jakobus  schreibt  (I  15),  den  Tod  gebären.  Und 
dieser  ganze  sündige  Process  steht  nun  Offenkundigermassen 
unter  dem  Schutz  der  Staatsreligion  und  stellt  sich  somit  dar 
als  einen  Theil  des  Cultus,  und  darin  liegt  eine  Versuchung 
und  Verführung  für  die  Volksseele  ohne  Gleichen. 

um  nun  diese  allerschwerste  Anklage  gegen  den  Mythus 
und  Cultus  abzuwehren,  kommt  man  wieder  auf  die  Ein- 
wendung :  die  anstössigen  Götterfabeln  sind  Allegorien  von 
natürlichen  Dingen,  so  dass  die  Sage  von  Jupiters  Vermählung 
mit  Ceres,  seiner  Mutter,  nicht  einen  Incest  bedeutet  sondern 
die  Naturerscheinung,  dass  der  Regen  die  Erde  befruchtet 
(Arnobius  V  32,  IV  33).  Es  ist  nicht  unsere  Aufgabe,  zu 
untersuchen,  ob  und  wie  weit  Mythus  und  Cultus  ursprünglich 
diese  natürliche  Erklärung  zulassen  oder  fordern,  für  uns  ist 
lediglich  die  Frage,  ob  die  allegorische  Erklärung  das  Gift, 
welches  in  diesen  schlüpfrigen  Erzählungen  und  Darstellungen 
enthalten  ist,  unwirksam  macht.  Das  müssen  wir  aus  dem- 
selben Grunde  verneinen,  den  schon  Plato  anführt.  —  Denn 
was  Plato  von  den  Kindern  sagt,  das  gilt  noch  viel  mehr  von 
der  Volksmasse.  Die  Kinder,  sagt  Plato,  unterscheiden  nicht, 
was  einen  anderen  Sinn  hat  und  was  nicht,  was  sie  aber  auf- 
nehmen in  ihre  Seele,  das  ist  schwer  austilgbar  (De  repub. 
II  379).  Nun  ist  offenbar,  dass  das,  was  in  dem  Mythus  und 
Cultus  die  fleischliche  Lust  reizt,  von  der  Seele  der  Volksmasse 
so  gierig  und  nachhaltig  aufgenommen  wird,  dass  eine  auch 
noch  so  begründete  anderweitige  Erklärung  daneben  keinen 
Raum  hat.  Es  ist  durchaus  richtig,  was  Arnobius  bemerkt, 
dass  der  Volksverstand  aus  den  allegorischen  Erklärungen 
nichts  Anderes  herausnimmt,  als  ,,deorum  nominibus  res 
appellare    turpissimas"    oder    ,,turpibus  deorum    factis    negotia 

14 


210 

significare  vulgaria"  (V  40).  Wenn  immerhin  die  Fesselung 
von  Mars  und  Venus  im  Ehebruch  von  der  Bändigung  der 
Laster  zu  verstehen  sein  sollte,  so  nimmt,  wie  Arnobius 
behauptet  V  41,  die  Schandbarkeit  der  Bilder  den  Geist 
voraus  gefangen  und  lässt  einen  sittlichen  und  religiösen  Sinn 
gar  nicht  aufkommen. 

Dass  auch  der  grossartigste  \'ersuch  der  allegorischen 
Erklärung  nicht  im  Stande  ist,  das  wilde  Feuer  in  den 
Lüsternheiten  des  Mythus  und  Cultus  auszulöschen,  beweist 
der  Neuplatonismus.  Der  Neuplatonismus  war  der  letzte 
grossartige  Versuch,  das  Heidenthum  vor  dem  Unglauben  und 
dem  Christenthum  zu  retten.  Die  Neuplatoniker  betrieben 
eine  solche  spiritualistische  Ueberspanntheit,  dass  es  für  eine 
Ehre  gehalten  wurde,  sich  zu  schämen,  ein  Mensch  zu  sein 
und  einen  Körper  zu  haben.  Aber  daneben  fehlte  es  ihnen  an 
der  Kraft,  sich  von  dem  Materialismus  des  hergebrachten 
Mythus  und  Cultus  loszumachen.  Porphyrius  findet  in  der 
Homerischen  Beschreibung  der  Nymphengrotte  (Odyss.  XIII) 
einen  mysteriösen  Sinn  (Porphyrius  de  antro  Nympharum 
1765).  Aber  in  dieser  überschwenglichen  Allegorie  bleiben 
die  Fabeln  von  Uranus  und  Saturnus  unangetastet  stehen 
(Cap.  XVI),  und  nach  Jamblichus  (De  vita  Pythagorae  ed. 
Kiessling  I  310)  und  Eunapius  (Fragm.  ed.  Boissonade 
p.  486  487)  galt  das  Festhalten  an  dem  hergebrachten  Cultus 
als  ein  hohes  Lob.  Auch  Julian,  der  kaiserliche  Schüler  des 
Neuplatonismus,  sieht  das  Heil  in  der  Verehrung  der  väter- 
lichen Götter  (Juliani  epistolae  ed.  Heyler  1828  ep.  XL  p.  74). 
Und  ganz  allgemein  behauptet  Eusebius:  ,, diejenigen,  welche 
sich  der  schandbaren  Mythen  und  Riten  schämen,  versuchen 
eine  natürliche  Erklärung,  aber  Niemand  von  diesen  hat  es 
gewagt,  die  natürlichen  Gebräuche  zu  ändern,  sondern  sie  Alle 
vertheidigen  mit  Eifer  die  Tradition"  (Praepar.  Evang.  II  6). 
Derselbe  schreibt  ferner:  ,,auch  die  natürliche  Erklärung  der 
Mythen  von  Porphyrius  befasst  sich  mit  der  Enthüllung  der 
anstössigen  Nacktheiten"  (II  11  13),  was  Eusebius  durch  das 
treffende  Bild  erläutert :  ,, nachdem  diese  neuen  Philosophen 
auf   hohen  Bergen    die  Mythen    aus    der  Natur    erklärt  haben, 


211 

steigen  sie  hernieder  zu  dem  Standpunkt  des  Volkes"  (III  14), 
welchen  Standpunkt  er  schliesslich  bezeichnet  als  das  Halten 
an  dem  Alten,  ,, Vaterländischen",  dass  ein  Jeder  das  Vater- 
ländische annehmen,  das  Unbewegliche  nicht  anrühren  sondern 
•der  Frömmigkeit  der  Vorfahren  folgen  solle  und  Nichts  aus 
Liebe  zur  Neuerung  unternehmen  dürfe,  wer  daher  diese 
Satzung  übertrete,  verfalle  der  Todesstrafe  (VI  i).  Zusammen- 
fassend schreibt  endlich  Augustinus:  ,,Plotinus,  Jamblichus, 
Porphyrius,  Apulejus  hi  omnes  et  ceteri  ejusmodi  et  ipse  Plato 
diis  Sacra  facienda  putaverunt"  (C.  D.  VIII  12).  Man  ersieht 
aus  diesen  Citaten,  dass  der  Vorwurf,  den  jüngst  Hausrath  den 
Apologeten  macht,  als  hätten  sie  durch  Nichtberücksichtigung 
der  allegorischen  Erklärung  der  Mythen  den  Polytheisten 
grosses  Unrecht  gethan  (Kleine  Schriften  p.  40  91),  längst 
von  den  christlichen  Schriftstellern  widerlegt  worden  ist.  Man 
vergleiche  auch  Marquardt  Sacralwesen  p.  63. 

Es  zeigt  sich  uns,  was  vor  siebenhundert  Jahren  in  Athen 
der  Fanatismus  und  die  Missethat  der  Sophisten  war,  das  ist 
später  Grundsatz  der  Weisesten,  obwohl  das,  was  Sokrates  in 
frommem  Eifer  zu  reinigen  und  zu  berichtigen  suchte,  sich 
sehr  merklich  verschlimmert  hat.  Diesen  Fortschritt  der  Ver- 
schlimmerung in  dem  heidnischen  Religionswesen  bezeichnet 
ein  einziges  Wort,  nämlich  das  Wort  Phallus. 

Es  giebt  im  Alterthum  Schriftsteller,  welche  mit  sünd- 
lichem Behagen  die  Worte  und  Werke  der  Wollust  ans  Licht 
ziehen.  Auch  unter  den  Erforschern  und  Darstellern  des 
Alterthums  giebt  es  Solche,  die  den  Verdacht  erwecken,  dass 
sie  die  Abgründe  der  P'insterniss  mit  einem  unreinen  Sinn 
beleuchten.  Auch  das  ist  verwerflich,  diese  Abgründe  mit 
einer  parteiischen  Befriedigung  zur  vermeintlichen  Ehre  des 
Christenthums  aufzudecken.  Vielmehr  muss  es  unser  Schmerz 
sein,  dass  das  herrliche  Gotteswerk  der  antiken  Menschheit 
einem  solchen  dämonischen  Attentat  ausgesetzt  gewesen  ist. 
Und  dieser  Schmerz  wird  dadurch  erhöht,  dass  wir  den 
Adel  der  antiken  Menschheit  von  einer  neuen  Seite  kennen 
lernen,  indem  wir  uns  vergegenwärtigen,  dass  die  geistige 
Lebenskraft      der     antiken     Menschheit     tausend     Jahre      dem 

14* 


212 

Dämon  des  Baalcultus  Widerstand  geleistet  hat.  ,,Virtus 
majorum  vitia  nostra  sustentat",  schreibt  Einer,  der  das 
wachsende  und  sich  vollendende  Verderben  mit  tiefem  Kummer 
anschaut. 

Das  Symbol  der  Mannheit  hat  ursprünglich  ohne  Zweifel 
eine  religiöse  Bedeutung.  Es  beruht  auf  der  Anerkennung  der 
der  menschlichen  Natur  verliehenen  göttlichen  Zeugungskraft 
(Diodor.    IV  6,    cfr.  Creuzer  Symbolik  u.  Mythologie    2.  Aufl. 

I  583  —  586.     Ueber    den    ägyptischen   Phallus    siehe    Creuzer 

II  262,  II  662).  Mit  dem  Dionysusdienst  kam  der  Phallus 
nach  Europa  (Lobeck  Agl.  I  661).  Der  italischen  Sitte  der 
Bekränzung  des  Phallus,  welche  Augustinus  beschreibt  (C.  D. 
VII  21),  mag  ein  verhältnissmässig  reiner  Sinn  zu  Grunde 
liegen.  Wenn  irgend  wo,  so  gilt  von  diesem  Gebiet,  was 
Grüneisen  sagt:  ,,es  ist  die  Gefahr  vorhanden,  in  das  Gebiet 
des  Unsittlichen  zu  verfallen"  (Grüneisen  über  das  Sittliche  in 
der  bildenden  Kunst  der  Griechen  1833  p.  87,  vgl.  Wachsmuth 
Alterthumskunde  II  2  244).  Nachdem  die  Procession  mit  dem 
aufgerichteten  Phallus  eine  häufige  P'estgewohnheit  geworden 
war  (Castellanus  in  Thesaur.  ed.  I,  VII  643  —  646),  wurde  in 
dem  Volksbewusstsein  das  religiöse  Moment  dieses  Zeichens 
von  der  lüsternen  Sinnlichkeit  mehr  und  mehr  verschlungen. 
Denn  das  Bild  stellt  nicht  mehr  die  einfache  Gestalt  der 
Mannesnatur  dar  sondern  lässt  geflissentlich  dieselbe  so  er- 
scheinen, dass  sie  die  ruhende  Sinnlichkeit  aufwecken  muss. 
Die  Beschreibung  (Anthol.  Graec.  ed.  Jakobs  II  296  b)  ist 
darauf  angelegt,  diesen  lüsternen  Charakter  deutlich  zu  machen. 
Daher  ist  die  den  Griechen  ganz  geläufige  Bezeichnung 
..iiiu'iotAAo;",  welchen  Ausdruck  Wieland  in  seiner  schlimmsten 
Zeit  dem  deutschen  Lesepublicum  vor  Augen  gestellt  hat. 
Dieselbe  Anschauung  wollen  in  den  ,,Carminibus  ithyphallicis" 
die  Ausdrücke  ,,tenta  vena",  ,,hasta  rudis"  (Anth.  lat.  ed. 
Burmann  II  508  516  496)  besagen,  wie  denn  diese  carmina 
die  beabsichtigte  Wirkung  dieser  Gestalt  nicht  verschweigen 
(p-  534  500)-  J^>  ^^'^s  wollen  wir  uns  wundern  über  die 
Nacktheit  der  lasciven  Gedichte,  wenn  Cicero  sich  nicht 
scheut,    in  seiner  Lehrschrift   über  die  Natur  der  Götter  die  in 


213 

jenen  Ausdrücken  angedeutete  Sache  mit  dürren  Worten  zu 
beschreiben?  (N.  D.  III  221). 

Uebrigens  wurde  diese  herausfordernde  Lüsternheit  des 
Phallus  in  Aegypten  noch  gesteigert.  Im  ägyptischen  Religions- 
wesen spielt  der  Phallus  überhaupt  eine  ganz  hervorragende 
Rolle  (Plutarch  de  Iside  III  365  b  c  376  f  379  o,  Diodor  IV  6). 
Herodot  bemerkt,  dass  in  den  häufigen  Festzügen  das  Glied 
nicht  bloss  eben  so  gross  war  wie  der  übrige  Körper  sondern 
auch,  wie  Herodot  zweim.al  hervorhebt,  sich  bewegt  und  erhebt, 
während  die  Weiber  dem  Aufzug  folgen  und  den  Dionysus 
besingen,  ähnlich,  wie  es  Aristophanes  in  den  Acharnern  den 
Atheniensern  zum  Anschauen  dargestellt  (II  48  49).  Was 
mehr  als  eine  solche  öffentliche  Darstellung  auf  die  Schwach- 
heit weiblicher  Natur  einstürmen  könnte,  ist  nicht  denkbar, 
geschweige  denn  sagbar.  Wie  sehr  wir  uns  hier  in  einem 
Gebiet  befinden,  wo  die  Schamhaftigkeit  den  Mund  verschliessen 
und  die  Augen  verhüllen  soll,  es  sei  denn,  dass  eine  höhere 
Pflicht  anders  gebietet,  mag  sich  uns  noch  dadurch  vergegen- 
wärtigen, dass  ein  so  frommer  und  züchtiger  Mann,  wie 
Plutarch,  überwunden  durch  die  Macht  der  in  dieser  Materie 
herrschenden  Zuchtlosigkeit,  sich  nicht  gescheut  hat,  vor  den 
Augen  und  Ohren  der  Klea,  einer  von  Vater  und  Mutter  in 
die  Mysterien  eingeweihten  Persönlichkeit  (De  Iside  II  364  d), 
die  von  Incesten,  Phallophorien  angefüllte  Religion  der  Aegypter 
vorzutragen. 

Wenn  man  übrigens  hier  allein  die  lateinischen  Schrift- 
steller zu  Rathe  zieht,  so  kommt  man  leicht  auf  den  Gedanken, 
dass  der  Priapus  bei  den  Römern  nur  in  Privatgärten  seinen 
Platz  gehabt  und  deshalb  eine  öffentliche  und  all-gemeine 
Bedeutung  nicht  habe.  Dass  diese  Vorstellung  irrig  sei,  würde 
sich  uns  wohl  schon  aus  der  Abhängigkeit  ergeben,  in  welcher 
die  späteren  Römer  in  den  geistigen  Gebieten  überhaupt  zu 
den  Griechen  stehen.  Bei  den  Griechen  ist  der  Phallus  schon 
wegen  der  Festordnungen  ein  Moment  des  öffentlichen  Lebens 
und  behauptet  daher  seinen  Platz  in  der  Oefifentlichkeit.  ,,In 
tota  Graecia  mos  per  oppida  phallos  subrigit  et  veneratur" 
{Arnobius  V  29  39).     Ich   wüsste    nun   in  der  That  nicht,  wie 


214 

man  die  hier  vorliegende  Verbindung  der  beiderseitigen 
Ausdrücke,  welche  einerseits  die  offenbare  Obscönität,  anderer- 
seits Anbetung  bedeuten,  kürzer  und  correcter  bezeichnen  will 
als  durch  das  Wort  ,,Baalcultus".  Wie  nun  die  anderen  Gott- 
heiten besondere  Städte  und  Inseln  sich  zueigneten,  so  hat 
auch  der  Phallus  in  Griechenland  einen  Lieblingssitz,  seine  Stadt 
ist  Lampsakos,  wo  sein  Standbild  eine  besondere  Berühmtheit 
geniesst  (Anthol.  graec.  ed.  Jakobs  II  196,  cfr.  II  83  84). 
,,Priapum  prae  ceteris  diis  venerantur  Lampsaceni"  (Thesaur. 
antiquitatum"  ed.  Graevius  T.  XII  975).  Wie  die  übrigen 
Götter,  sagte  ich,  denn  es  hat  den  Anschein,  dass  je  mehr  das 
ursprüngliche  religiöse  Moment  dieses  Symbols  von  der  Sinn- 
lichkeit verdrängt  wird,  man  um  so  mehr  geflissentlich  die 
Gottheit  des  Priapus  betonte  (Anthol.  lat.  II  503  513  515  517, 
Horat.  Sat.  I  8  3).  Diese  Benennung  ist  dann  freilich  ein 
schrecklicher  Missbrauch  des  heiligen  Gottesnamens  und  eine 
schlagende  Bestätigung  dafür,  dass  wir  es  hier  mit  einem 
unleugbaren  Baalcultus  zu  thun  haben.  Was  übrigens  bei  den 
Griechen  für  die  Oefifentlichkeit  dieses  Cultus  die  Berühmtheit 
v^on  Lampsakos  bedeutet,  ist  bei  den  Römern  die  Sammlung 
der  ,,carmina  ithyphallica",  von  Lessing  die  ,, unsauberen  Thor- 
heiten"  genannt,  an  denen  CatuU  und  Tibull,  und  nach  Einigen 
Vergil,  betheiligt  sind,  welche  in  frechen  Versen  Gestalt  und 
Sinn  dieses  Symbols  Jedermann  aufdrängen. 

Dieser  Priapismus  der  lateinischen  Verse  ist  das  Signal, 
welches  uns  anweist,  nunmehr  die  Verwüstung  des  Baalcultus 
auf  dem  Grund  und  Boden  des  römischen  Reiches,  besonders 
in  der  Cäsarenzeit,  zur  Anschauung  zu  bringen.  Die  späteren 
Griechen,  welche  die  Verwüstungen,  die  der  unreine  Mythus 
und  Cultus  in  ihrem  Volksleben  angerichtet,  vor  Augen  hatten, 
bewunderten  die  Reinheit  und  Zucht  der  römischen  Staats- 
religion. Der  Skeptiker  Polybius  erkennt  und  preist  den 
Nutzen,  den  das  straffe  Religionswesen  in  Rom  den  staatlichen 
Einrichtungen  gewährt.  Eusebius  giebt  uns  einen  Auszug  aus 
der  Schrift  des  Dionysus  von  Halikarnass  über  die  Religion 
der  Römer,  in  welcher  derselbe  der  römischen  Staatsreligion 
den  Vorzug  zuerkennt,  weil  diese  frei  sei  von  dem  anstössigen 


215 

Mythus  und  Ritus  der  Griechen  (Praepar.  II  8).  Plinius  der 
Aeltere  macht  den  Griechen  den  schweren  Vorwurf:  ,,Graeca 
res  est  nihil  velare"  (H.  N.  XXXIV  lO  5).  Und  schon  Ennius 
hatte  mit  Bezug  auf  die  Sitte  der  griechischen  Gymnasien 
gesagt:  ,,flagitii  principium  est  nudare  inter  cives  corpora" 
(Cicero  Tusc.  IV  33).  In  der  That  wehrte  sich  altrömisches 
Bewusstsein  und  Sitte  gegen  das  Eindringen  fremder  unreiner 
Cultusformen.  Im  Jahr  186  a.  C.  hatte  sich  in  Rom  eine 
geheime  bacchanahsche  Secte  gebildet,  welche  siebentausend 
Mitglieder  zählte.  Sobald  diese  Sache  ruchbar  wurde,  ward 
vom  Staat  eine  grosse  Strenge  aufgeboten,  um  diese  innere 
Verschwörung  auszurotten  (Livius  XXXIX  8  etc.).  Von  dieser 
Zeit  schreibt  Firmicus  Maternus:  ,,erant  adhuc  in  urbe  Roma 
integri  mores".  Als  es  sich  in  der  Noth  des  zweiten  punischen 
Kriegs  um  die  Ueberführung  der  ,, Magna  mater"  von  Pessinus 
handelte,  sollte  für  dieses  Werk  der  beste  Mann  ausfindig 
gemacht  werden,  und  einstimmig  ward  vom  Senat  Scipio  Nasica 
dafür  erkannt.  Um  den  Gegensatz  zwischen  der  alten  und 
neuen  Zeit  in  Rom  bemerklich  zu  machen,  verweist  Augustinus 
auf  den  Umstand,  dass  dieser  Scipio  Nasica  ein  Gegner  der 
neuen  und  verführerischen  Spiele  gewesen  (C.  D.  I  3 1  32). 
Es  gehören  nämlich  die  späteren  Erscheinungen  eben  dieses 
fremden  Cultus  zu  den  anstössigsten  Excessen.  Man  sieht  also, 
dass,  wenn  die  Aufnahme  eines  fremden  Cultus  in  Rom  unter 
strenger  Vorsicht  geschieht,  im  weiteren  Verlauf  dieser  Cultus 
im  römischen  Volk  den  schlimmsten  Ausartungen  unterliegen 
kann.  Indessen  zu  solchen  Entartungen  würde  es  überall  nicht 
kommen,  wenn  nicht  auch  in  dem  römischen  Volk  ein  arger 
Zunder  der  Verführbarkeit  verborgen  gewesen.  Diese  sünd- 
hafte Anlage  kommt  auf  eine  augenfällige  Weise  zum  Vor- 
schein in  dem  nicht  entlehnten,  sondern  ursprünglich  römischen 
Ritus  der  Floralia.  Von  diesem  Cultus,  den  Lactanz  zu  den 
,,religiones  Romanorum  propriae"  zählt,  schreibt  derselbe 
Lactanz:  ,,celebrantur  ludi,  quos  floralia  appellant,  cum  omni 
lascivia.  Nam  praeter  verborum  licentiam,  quibus  cbscoenitas 
omnis  effunditur,  exuuntur  etiam  vestibus  populo  flagitante 
meretrices,  quae  tunc  mimarum  funguntur  officio,  et  in  conspectu 


216 

populi  usque  ad  satietatem  impudicorum  cum  pudendis  motibus 
detinentur"  (Instit.  I  20  10).  Und  dieses  Floralienfest  stand 
unter  der  Leitung  des  Praetors  (Grysar  der  römische  Mimus  im 
Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie  1854  277).  Die  Ein- 
rede, zu  welcher  die  einseitigen  Verehrer  des  klassischen  Alte  r- 
thums  leicht  geneigt  sind,  dass  bei  dieser  Scene  der  obscönsten 
Nacktheit  eine  Uebertreibung  der  christlichen  Apologeten  anzu- 
nehmen sei,  lässt  sich  hier  auf  das  Vollkommenste  widerlegen. 
Nicht  bloss  ist  die  Thatsache  auch  anderweitig  bezeugt  (T.  Varro 
de  lingua  latina  ed.  Stephanus  IV  39,  Juvenal  VI  249,  Ovid 
Fast.  V  183  ff.,  Histor.  Aug.  I  802,  Arnobius  III  23,  VII  33, 
Minutius  Fehx  c.  XXV),  sondern  wir  empfangen  aus  dem 
Heidenthum  selber  ein  Urtheil  über  diesen  schandbaren  Ritus, 
welches  mit  der  Strenge  der  christlichen  Apologeten  voll- 
kommen stimmt  (Val.  Maximus  III  10  8,  Seneca  ep.  XCVII  8). 
Cato  erscheint  hier  als  das  Gewissen  des  Volkes,  dessen 
schweigende  Gegenwart  das  römische  Volk  abhielt,  jenes 
schnöde  Schauspiel  zu  verlangen.  Denselben  Gegensatz  zwischen 
Cato  und  jenem  öffentlichen  Schauspiel  spricht  Martial  aus  Ep.  ad 
lectorem  Epigr.  I  35.  Aber  das  stärkste  Brandmal  der  Ver- 
werflichkeit hat  Cicero  diesem  Ritus  aufgedrückt,  wenn  er  in 
einer  Volksrede  folgendes  Geständniss  ablegt:  ,,nunc  sum 
designatus  aedilis,  habeo  rationem,  quid  a  populo  Romano 
acceperim,  mihi  ludos  sanctissimos  maxima  cum  ceremonia 
Cereri,  Libero  Liberaeque  faciundos,  mihi  Floram  matrem  populo 
plebique  Romanae  ludorum  celebritate  placandam  esse"  (In 
Verrem  V  14).  Cicero  erklärt  also,  dass  er  als  ernannter 
Aedil  von  dem  römischen  Volk  die  Verpflichtung  übernommen, 
jenes  Schauspiel  schamloser  Nacktheit,  welches  er  ,,flores 
sanctissimos"  nennt,  aufzuführen  und  zwar  als  einen  Sühneact, 
den  das  Volk  der  Mutter  Flora  schuldig  sei.  Man  beachte, 
mit  welcher  beispiellosen  Ungenirtheit  ein  consularischer  Mann, 
und  ein  Moralphilosoph  wie  Cicero  in  einer  Volksrede  von  einer 
unter  seiner  Auctorität  öffentlich  aufzuführenden  Obscönität 
sich  ausspricht.  Diese  Thatsache  ist  gar  nicht  zu  begreifen, 
wenn  nicht  der  Baalcultus  als  eine  öffentliche  Institution 
anerkannt  wäre.    Also  das,  was  Cato  und  in  seiner  Gegenwart 


217 

das  ganze  Volk  für  eine  Schamlosigkeit  erkennt,  erklärt  Cicero 
als  römische  Magistratsperson  fiar  eine  heiligste  Pflicht  religiöser 
Sühne.  Eine  stärkere  Bekräftigung  des  Vorwurfes ,  den 
Augustinus  gegen  die  heidnischen  Magistrate  erhebt,  dass  sie 
durch  ihre  amtliche  Betheiligung  an  manchen  sündhaften  Acten 
des  Cultus  ihr  besseres  Wissen  und  Gewissen  vernichteten,  kann 
es  gar  nicht  geben.  Und  ist  es  nicht  der  wirkliche  Baalcultus, 
wenn  diese  sündhafte  Befriedigung  der  Augenlust,  deren  sich 
das  Volk,  so  bald  es  sich  besinnt,  schämen  muss,  von  dem 
Meister  der  römischen  Beredsamkeit  für  einen  allerheiligsten 
Gottesdienst  erklärt  wird  ? ! 

Die  Römer  waren  genug  geistig  begabt,  um  die  Ueber- 
legenheit  des  griechischen  Idealismus  zu  fühlen  und  anzuerkennen. 
Es  war  daher  der  natürliche  Gang  der  Dinge,  dass  griechische 
Sprache,  griechische  Literatur,  griechische  Bildung  im  Lauf 
der  Zeit  mit  steigender  Intensivität  aufgenommen  wurden. 
Natürlicherweise  verpflanzte  sich  die  Bekanntschaft  mit  dem 
griechischen  Mythus  und  Cultus  gleichfalls  auf  den  römischen 
Boden,  die  lateinischen  Dichter  schwelgten  in  der  Aneignung 
der  üppigen  Fülle  der  griechischen  Fabeln.  Aber  diese 
literarische  Aneignung  des  griechischen  Geistes  wurde  durch 
ein  neu  hinzukommendes  Moment  in  dem  Augusteischen  Zeit- 
alter ausserordentlich  gesteigert.  Dieses  neue  Moment  war  die 
durch  Augustus  und  Maecenas  auf  römischen  Boden  verpflanzte 
Pantomime.  Lessing  hatte  offenbar  eine  starke  Ahnung  von 
der  Wirkung  dieses  pantomimischen  Spieles.  Er  hat  sehr 
fleissig  die  Hauptstellen  der  alten  Literatur  über  diesen  Gegen- 
stand gesammelt.  Hätte  er  es  erreicht,  dieses  Material  zu 
verarbeiten,  ohne  Zweifel  würden  dann  seine  Abhandlungen  über 
Catull,  Horaz  und  Martial  an  moralischem  Gehalt  gewonnen 
haben.  In  seinem  Apparat  über  die  Pantomimen  bei  den 
Römern  hat  Lessing  ein  bedeutsames  Citat  übersehen.  Zosimus, 
ein  kaiserlicher  Finanzbeamter  in  Konstantinopel  gegen  Ende 
des  fünften  Jahrhunderts,  ein  eifriger  Heide  und  Gegner  des 
Christenthums,  schreibt  in  seiner  römischen  Geschichte:  ,,die 
von  Pylades  und  Bathyllos  unter  Augustus  nach  Rom  verpflanzte 
Pantomime  ist  nebst  Anderem  Ursache    der   vielen    Uebel,    die 


218 

jetzt  herrschen"  (Zosimus  historiae,  ed.  Reitemeier  I  6).  Diese 
scharfe  Anklage  eines  Heiden  gegen  dieses  Augusteische 
Kunstprodukt  von  Einem,  der  die  fast  vierhundertjährige 
Wirkung  jener  Schaustellung  übersehen  konnte,  verdient  in 
culturhistorischer  Beziehung  die  vollste  Beachtung,  zumal  wenn 
wir  das  übereinstimmende  Urtheil  eines  neuesten  anerkannten 
Censors  hinzufügen.  Friedländer  sagt :  ,,die  entsittlichenden 
Wirkungen  der  römischen  Schauspiele  in  der  Cäsarenzeit  (in 
denen  die  Pantomime,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  die  Haupt- 
rolle spielt),  kann  man  sich  kaum  gross,  kaum  entsetzlich 
genug    denken"  (Friedländer    Roms    Sittengeschichte    5.    Aufl. 

I  433). 

Wenn    wir    nun    auf   Grund    dieser    zwiefachen     Zeugnisse 

voraussetzen,  dass  die  Wirkung  dieser  römischen  Pantomime 
unsittlich  ist  und  dann  hinzunehmen,  dass  Inhalt  und  Anlass 
derselben  meistens  religiöser  Natur  ist,  so  haben  wir  wiederum 
ein  Stück  Volkslebens,  in  welchem  Sünde  und  Laster,  Unzucht 
und  Ehebruch  sanctionirt  wird  durch  religiöse  Namen  und 
Veranstaltungen  der  öffentlichen  Auctorität,  mit  einem  Wort, 
wir  befinden  uns  hier  in  dem  Gebiet  des  Baalcultus. 

Salmasius  hat  in  seinen  Noten  ad  Historiam  Augustam 
(II  828  —  847)  eine  grosse  Fülle  von  Nachweisungen  der  antiken 
Literatur  über  diesen  Gegenstand  ausgeschüttet,  aus  welchen 
sich  ergiebt,  dass  die  Neuheit  der  hergebrachten  Pantomime 
darin  besteht,  dass  dieselbe  durch  Pylades  und  Bathyllos  zu 
einer  selbstständigen  Kunstleistung  ausgebildet  worden  und 
sodann  unter  der  Gunst  der  cäsarischen  Zeit  eine  cultur- 
geschichtliche  Bedeutung  gewinnt.  Die  geschichtliche  Bedeut- 
samkeit der  erneuerten  Pantomime  erhellt  schon,  wenn  man 
die  Reihe  der  antiken  Schriftsteller  überblickt,  welche  sich  über 
diese  Erscheinung  ausgelassen  haben,  es  sind  folgende:  Marcus 
und  Lucius  Seneca,  Plinius,  Juvenal,  Plutarcli,  Galenus,  LucianuSr 
Macrobius,  Athenaeus,  Antipater,  Boetius,  Cassiodorus,  Suidas. 
Denksäulen  werden  erwähnt,  welche  berühmten  Pantomimen 
errichtet  worden.  Der  Geschmack  der  Zeit  war  mehr  auf  das 
Sehen  als  auf  das  Hören  gerichtet.  In  den  grossen  geschicht- 
lichen Zeiten   war   das  Steuerruder   des   öffentlichen   Lebens   in 


219 

Athen  und  Rom  das   freie   öffentliche  V/ort.     Mit    dem    süssen 
Gift  des  otium  bereitet  Augustus  dem  freien  öffentHchen  Wort 
ein  langsames  Sterben.     An  die  Stelle  des  öffentlichen  Redens 
und  Hörens  tritt  nun  das  Darstellen  und  das  Schauen  : 
,,Segnius  irritant  animos  demissa  per  aurem, 
Quam  quae  sunt  oculis  subjecta  fidelibus,  at  quae 
Ipse  sibi  tradit  spectator." 

(Horat.  de  arte  poetica  i8o — 182.) 
Die  alten  Autoren  sind  erfüllt  von  Bewunderung  über 
die  Vollkommenheit,  mit  welcher  Pylades  und  Bathyllos  und 
ihre  Nachfolger  vermittelst  ihrer  Glieder,  namentlich  ihrer 
Hände,  ohne  Worte  zu  reden  verstanden,  dergestalt,  dass  sie 
einen  hartnäckigen  Zweifler,  wie  den  Cyniker  Demetrius  zur 
Anerkennung  ihrer  Kunst  gezwungen  haben  (Grysar  der 
römische  Mimus  a.  a.  O.  252  268  272  277).  Augustus  war 
ein  leidenschaftlicher  Liebhaber  von  Schaustellungen  (Sueton 
Octav.  XLIII,  XLV,  Mommsen  bei  Friedländer  II  259). 
Charakteristisch  ist  ein  Wort  des  Pylades  an  Augustus-,  der 
Kaiser  war  unwillig  über  einen  Zank,  der  wegen  der  Pantomime 
in  Rom  ausgebrochen  war,  da  sagte  dem  erzürnten  Kaiser 
Pylades:  es  kommt  dir  zu  Gute,  dass  das  Volk  über  uns  in 
Streit  geräth;  du  bist  undankbar,  lass  sie  nur  ihre  Müsse  aus- 
füllen, indem  sie  sich  mit  uns  beschäftigen  (Cassius  Dio  ed. 
Reimarus  I  747,  Macrobius  II  7).  Wenn  Augustus  sogar  bei 
seinen  Ehebrüchen  von  politischen  Motiven  sich  bestimmen 
Hess,  so  wird  ihm  der  politische  Nutzen  der  Pantomime  sehr 
einleuchtend  gewesen  sein.  Einen  weiteren  Grund  für  diese 
Liebhaberei  des  Augustus  fügt  Tacitus  hinzu :  civile  rebatur 
Augustus  misceri  voluptatibus  vulgi''  (Ann.  I  54).  Noch 
intimer  war  das  Verhältniss  des  Maecenas  zu  der  Pantomime. 
Bathyllos  spielte  vorzugsweise  die  lüsternen  Rollen  (Juven.  VI63), 
diesen  Bathyllos  nennt  Seneca  ,,Bathyllum  Maecenatis"  und 
Tacitus  schreibt:  ,, Maecenas  effusus  in  amorem  Bathylli'*  (Ann, 
I  54,  cfr.  Seneca  Ep.  XIX  9  10,  CI  10,  Tacit.  Dial.  XXVI). 
Die  Pantomime  blieb  eine  stehende  Liebhaberei  am  cäsarischen 
Hofe,  nicht  bloss  Cajus,  Nero  und  Domitian,  sondern  auch 
Trajan    und    Antoninus    Pius    sind    wegen    dieser  Liebhaberei 


220 

bekannt  (Friedländer  II  426  429  432  255  256).  Bei  dieser 
hohen  Gunst  der  Pantomime  ist  es  erklärlich,  dass  sich  in 
Rom  eine  permanente  Schule  für  Pantomimen  etablirte 
(Seneca  N.  Q.  MI  32  3).  Die  beliebtesten  Gegenstände  der 
Pantomimen  sind  nun  die  Liebesabenteuer  des  Jupiter,  Venus 
und  Adonis,  Venus  und  Mars  im  Netze  des  Vulkan,  Apollo 
und  Daphne  (Friedländer  II  408,  Rohde  der  griechische 
Roman  37  38).  Tacitus  preist  die  germanischen  Frauen,  weil 
ihre  Keuschheit  nicht  angegriffen  wird  von  den  Reizungen  der 
Schaustellungen  (Germ.  XIX).  Properz  freut  sich,  dass  seine 
Cynthia  Rom  verlassen  und  sich  aufs  Land  begeben  hat,  denn 
,,Illic  te  nulli  poterunt  corrumpere  ludi 
Fanaque  peccatis  plurima  causa  tuis"  (II   19  9   10). 

Die  Leidenschaft  der  römischen  Frauen  für  Schaustellungen 
war  gross  (Friedländer  I  431),  und  an  hundertfünfundsiebenzig 
Tagen  im  Jahr  gab  es  festliche  Spiele  (Marquardt  das  Sacral- 
wesen  282). 

Tholuck  hatte  in  seiner  bekannten  Abhandlung  über  das 
Heidenthum  behauptet:  ,, Keiner  hat  alle  Laster,  insbesondere 
die  Wollust,  reizender  zu  schildern  gewusst  als  Homer" 
(Neanders  Denkwürdigkeiten!  144).  Das  ist  nun  jedenfalls  eine 
Uebertreibung.  Wenn  nun  aber  dem  gegenüber  von  Nägels- 
bach behauptet  wird:  ,, Homer  behandelt  das  Sinnliche  ohne 
Lüsternheit  und  ist  einer  der  unschuldigsten  Dichter  aller 
Zeiten"  (Homerische  Theologie  216),  so  widerspricht  dies  selbst 
der  antiken  Moral,  wie  wir  dies  vorher  durch  Berufung  auf 
Plato  und  Aristoteles  bewiesen  haben.  Jedenfalls  hat  Nägels- 
bach einen  Umstand  in  der  Episode  von  Ares  und  Aphrodite, 
auf  den  schon  das  Alterthum  als  einen  bedenklichen  hin- 
gewiesen hat,  ausser  Acht  gelassen.  Es  handelt  sich  hier  um 
einen  offenbaren  Ehebruch  in  dem  Kreise  der  Olympier.  Diesen 
Frevel  bezeichnet  der  beleidigte  Gatte  vor  Augen  und  Ohren  der 
versammelten  Götter  als  eine  Lächerlichkeit,  giebt  damit  als  der 
berufenste  Censor  das  sittliche  Urtheil  Preis.  Ferner  betheuert 
auf  die  Frage  des  Apollo  an  Hermes,  ob  Hermes  an  der  Stelle 
und  in  den  Fesseln  des  Ares  bei  der  Aphrodite  liegen  möchte, 
der  Anoferedete    unter   dem  Gelächter    der  Unsterblichen,  trotz 


221 

der  eisernen  Fesseln  und  in  Gegenwart  aller  Götter  und 
Göttinnen  möchte  er  liegen  bei  der  goldenen  Aphrodite 
(Odyss.  IX  335  —  342).  Es  ist  dieses  Wort  doch  ein  unleug- 
bares Stück  frivoler  Lüsternheit  und  Frechheit  in  dem  Hause 
der  Olympier.  Wie  weit  die  Zweifel  an  der  Aechtheit  der 
bezeichneten  Episode,  von  denen  Nägelsbach  redet,  begründet 
sind  oder  nicht,  geht  uns  hier  Nichts  an,  da  wir  es  lediglich 
mit  dem  Homer,  wie  er  seit  Augustus  vorliegt,  zai  thun  haben. 
Von  jener  Episode  des  traditionellen  Homer  sagt  nun  Ovid 
zweimal :  ,,haec  fuit  in  toto  notissima  fabula  caelo"  (Metam. 
IV  189,  A.  a.  II  561).  Derselbe  Ovid  ist  es,  der  auf  jenen 
allerfrechsten  Zug  in  diesem  Gemälde  hinweist.  An  der  zweiten 
Stelle  heisst  es  von  Mercur: 

,,Hic  aliquis  ridens,  in  me  fortissime  Mavors 

Si  tibi  sint  oneri  vincula  transfer,  ait." 
An  der  ersten  Stelle  wird  von  Mercur  gesagt: 

,, Aliquis  de  diis  non  tristibus  optet 

Sic  fieri  turpis." 
Die  Scene  wird  von  Ovid  ohne  Umschweif 

Adulterium  Veneris  cum  Marte    (Metam.  IV    171,    cfr. 

Trist.  II  377) 
genannt. 

Dass  Homer  und  auch  diese  bedauerliche  -Episode  in  der 
römischen  Welt  durch  Uebersetzung  und  im  Original  bekannt 
war,  ist  das  Geringere,  sondern  darauf  ist  in  diesem  Zusammen- 
hang unser  Augenmerk  zu  richten,  dass  durch  die  Pantomime 
die  griechische  Mythologie  mit  all'  ihren  schlimmsten  Lüstern- 
heiten der  römischen  Volksmasse  in  drastischer  Weise  vor 
Augen  gestellt  wurde.  Grade  in  Bezug  auf  die  erwähnte 
homerische  Episode  haben  wir  von  der  Wirkung  der  Pantomime 
eine  bestimmte  Nachricht.  Lucian  erzählt  in  der  Abhandlung 
von  der  Tanzkunst,  dass  der  Cyniker  Demetrius  sich  sehr 
ungünstig  über  die  römischen  Darstellungen  ausgesprochen 
habe.  Ein  Pantomime  erbot  sich  nun  durch  eine  Probe  seiner 
Kunst  das  Vorurtheil  des  Cynikers  zu  vernichten.  Der  Panto- 
mime erwählte  den  Gegenstand  jener  homerischen  Episode, 
indem  er  alles  begleitende  Beiwerk   in  Musik   und  Gesang  ent- 


222 

fernte.     Der  Cyniker  bekannte  sich  überwunden  und  sagte  voll 
Bewunderung:  ,,ich  verstehe  Alles,  was  du  mit  deinen  Händen 
redest."    Und  nun  denke  man  sich  diesen  Ehebruch  im  Olymp 
durch  eine  Pantomime   dargestellt   vor   den  Augen  des  ganzen 
Volkes,    vor    den   Augen,    von    w^elchen   Properz    sagt:    ,,oculi 
sunt  in  amore  duces."      Wenn    man    auf   der    einen    Seite    die 
allgemeine,    in  der  sündigen  Menschennatur    liegende   Entzünd- 
barkeit   bedenkt    und    auf    der    anderen    Seite    einen    solchen 
öffentlichen    durch  hohe  Auctorität  geschützten  Angriff  auf  die 
Schamhaftigkeit  erwägt,  dann  wird  man  nicht  mehr  von  Ueber- 
treibung     der     Kirchenväter     sprechen     können     (cfr.     Juvenal 
VI    63  —  66).      Ich    glaube    nicht,     dass    Quintilian,    welcher 
schreibt,    Ovid  sei  selbst  in  den ,, Heroides"  unzüchtig,  und  dass 
Friedländer,  welcher  sagt:  ,,Ovids  Elegien  und  Kunst  zu  lieben 
sind  an  Unsittlichkeit   im   höheren  Sinn   kaum    zu    übertreffen" 
(I  436),  der  übertriebenen  Strenge  zu  beschuldigen  sind.    Aber 
derselbe  Ovid  hat  Recht,  wenn  er  sagt:  es  giebt  in  Rom  noch 
etwas    Schlimmeres    als    meine    Verse.       Obwohl    der    Grund 
seiner  Verbannung    nicht   aufgeklärt   ist,    so   haben    doch   ohne 
Zweifel    seine    lasciven  Verse    einen  Theil    der    Schuld.     Aber 
man    wird    ihm    darin    völlig    beistimmen    müssen,     dass    die 
officielle    Pantomime    in    Rom    weit    sittengefährlicher    ist,    als 
seine    obscönsten    Worte.     Man    wird    auf    diese    seine    Selbst- 
vertheidigung     um     so     mehr    Acht    geben    müssen,     da    die 
Neigung,    namentlich    bei    den  Philologen,    immer   wieder   auf- 
taucht,   durch   unstatthafte  Vergleichung    die  weltgeschichtliche 
Tiefe  der  Corruption  im  römischen  Cäsarenthum  zu  verdecken. 
Von  äusserster,  meines  Wissens    immer  noch  nicht  gewür- 
digter Merkwürdigkeit   ist    das   von    Ovid   an   Augustus   selbst 
gerichtete  Wort  über  die  Pantomime   Trist.  II  497 — 516.     Die 
Tristien    sind    von    Ovid    geschrieben  in    der    Verbannung,    in 
welcher  Lage    er  sich  aufs  Aeusserste  bemühte,    den  erzürnten 
Cäsar    zu  versöhnen    und    zu    gewinnen    und    sich  deshalb  vor 
Nichts  mehr  hütet,    als   den   gegen   ihn   ohnehin   aufgebrachten 
Herrn  der  W^elt  auf  irgend  eine  Weise  aufs  Neue  zu  verletzen. 
Wenn  man  diese  äussere  und  innere  Lage  des  verbannten  und 
gebrochenen  Dichters    bedenkt,    dann    wird    man    voraussetzen 


223 

müssen,    dass    er    an    der    bezeichneten  Stelle    in  einer  an  den 
Kaiser  gerichteten  Rede  kein  Wort  wird  gebraucht  haben,  das 
den    mindesten    Anstoss    hätte    erregen    können.     Welch    eine 
Tragweite  erhält  nun  diese  Anrede  an  Augustus  über  Bedeutung 
und  Wirkung    der  Pantomime    in    dem   cäsarischen   Rom!     Im 
Vorhergehenden    hat  Ovid   einen   ganzen   Katalog   von  griechi- 
schen und  lateinischen  Erotikern  aufgeführt,  und  das  Ergebniss 
ist,  dass  er  in  dieser  Gesellschaft  der  Einzige  ist,  der  für  seinen 
ppetischen    Eros    schwere    Strafe    leiden    muss    und    zwar    auf 
Befehl     dessen,     der     in    Rom     die    Pantomimen     eingeführt ! 
Zunächst  betont  nun  Ovid,  dass  das  beliebte  Thema  der  Panto- 
mimen   der    Eros    ist    und    zwar    nicht    der    unschuldige    oder 
erlaubte  sondern  der  verbrecherische  (crimen  vetiti  amoris)    und 
weiter  wird  das  Obscöne  nicht  gesprochen  sondern  vor  Augen 
dargestellt    (mimos  obscoena    jocantes).     Das    crimen    besteht 
darin,    dass    der  Mann    adulter    ist    und  das  Weib  nupta,    das 
Thema  ist  also  der  qualificirte  Ehebruch.     Das  Publicum  nun, 
vor  welchem  dieses  aufgeführt  wird,  wird  so  beschrieben : 
,,Nubilis  hos  virgo  matronaque,  virque,  puerque 
Spectat  et  e  magna  parte  senatus  adest." 
Wer  erschreckt  nicht,    wenn  er   sich  ein  solches  Publicum 
vor  einem  solchen  Thema  vergegenwärtigt!    Aber  Ovid  spannt 
unsern  Schreck  noch   höher  mit  dem  sehr  schlagenden  Zusatz, 
dass  das  Schauen  noch  schlimmer  ist,  als  das  Hören: 
,,Nec  satis  incestis  temerari  vocibus  aures 
Adsuescunt  oculi  multa  pudenda  pati." 
Und  noch  sind  wir  nicht  auf  der  Höhe,  die  Gewalt  dieser 
ungeheuren  Verführung  zu  überschauen.     Ovid   erinnert   weiter 
daran,    dass   nicht    zufällig  beinahe   der   ganze  Senat  zuschaut, 
der  Praetor   ist   es  ja,    der   das   ganze  Schau  werk   veranstaltet. 
Der  Praetor  hat  die  Pantomime  von  dem  Dichter  gekauft  und 
hat    dieselbe    um    so    theurer    bezahlt    natürlich,   je    besser  sie 
ist,  wofür  Ovid  zu  sagen  wagt:  „quo  minus  prodest"  ,,je  weniger 
sie    nützt",    was    euphemistisch    ausgedrückt    so    viel    bedeutet 
als:   je    mehr  sie  Unheil  anrichtet,  je  mehr  sie  verführt.     Also 
die  obscönsten  Pantomimen  bezahlt  der  Praetor  am  theuersten 
(,,tanta   crimina").      Und    nunmehr    appeUirt    Ovid    auf   dieser 


224 

Grundlage  an  die  höchste  Instanz  mit  offenem  Namen:  , .bedenke 
Augustus,  es  sind  deine  Spiele,  mit  grossen  Kosten  hast  du  sie 
hergestellt,  du  schauest  sie  an  und  gewährst  nach  deiner 
allseitigen  Milde  auch  Andern  die  Anschauung,  mit  deinen 
Augen,  welche  den  Erdkreis  regieren,  erblickst  du  in  gemäch- 
licher Ruhe  die  Ehebrüche,  welche  auf  der  Bühne  dargestellt 
w^erden. '"•'')  Hätte  ein  Stoiker  oder  Cyniker  dem  Augustus 
eine  solche  \'orhaltung  über  die  Sittengefährlichkeit  der  Pan- 
tomimen gemacht,  sicherlich  würde  man  über  eine  grosse 
Uebertreibung  klagen.  Wogegen,  da  wir  jetzt  diese  Verse  an 
einem  Orte  finden,  der  die  strengste  Objectivität  voraussetzt, 
so  haben  wir  auf  heidnischem  Boden  dasselbe  Ürtheil  über  die 
römische  Pantomime,  welches  mit  den  Schilderungen  und 
Urtheilen  der  christlichen  Schriftsteller  übereinstimmt. 

Hören  wir  zunächst  eine  christliche  Stimme,  welche  sich 
im  Allgemeinen  ähnlich  wie  Ovid  über  die  Versetzung  der 
Obscönitäten  aus  dem  Bereich  der  Hörbarkeit  in  den  Bereich 
der  Sichtbarkeit  vernehmen  lässt.  Clemens  Alexandrinus. 
schreibt  in  der  Ansprache  an  die  Heiden:  ,,Eure  Schändlich- 
keiten zwingen  mich  auszurufen,  wenn  ich  auch  lieber 
schweigen  möchte,  o  die  Gottlosigkeit,  den  Himmel  macht  ihr 
zur  Komödie,  und  das  Heilige  macht  ihr  durch  dämonische 
Larven  lächerlich,  und  die  wahre  Frömmigkeit  gebt  ihr  dem 
Gelächter  Preis.  Lass  ab  von  deinem  Gesang  Homer,  er  ist 
nicht  schön,  er  lehrt  Ehebruch,  unsere  Ohren  sollen  keine  Un- 
zucht hören,  wir  tragen  das  Bild  Gottes  in  diesem  menschlichen 
Leibe,  —  aber  so  ist  die  Masse  nicht  gesonnen,  sondern,  Furcht 
und  Scham  bei  Seite  gesetzt,  machen  sie  jene  Episode  von 
Mars  und  Venus  zum  Gemälde"  (Cohort.  p.  39  40).  Was  hier 
der  sittliche  Zorn  des  Clemens  ausspricht,  das  wird  durch  eine 
ganze  Reihe  von  christlichen  Vätern  bestätigt,  welche  die 
Greuel  des  Baalcultus  geschaut  haben,  indem  sie  zum  Theil 
selbst   in   dessen  Netzen   verstrickt   gewesen  sind.     Den    vollen 


*)  Uebrigens  nimmt  auch  Martial  denselben  Schutz  für  seine  Epigramme 
in  Anspruch.  Martial  sagt:  ,,die  Mimen,  welche  von  den  Matronen  angeschaut 
wurden,   sind  nicht  weniger  unzüchtig  als  meine  Verse"   (III   Si). 


225 

Eindruck  von  der  dämonischen  Lüge  des  Baalcultus  können 
wir  nicht  anders  empfangen,  als  wenn  wir  uns  eine  Uebersicht 
von  diesen  Zeugnissen  der  alten  Kirche  gegen  den  Baalcultus 
verschaffen.  Die  humanistische  Einseitigkeit  mag  von  diesen 
Zeugnissen  nichts  hören.  ,,Apologetis  christianis  non  assentimur" 
schreibt  der  gelehrte  Lobeck  (Aglaopham.  I  i86  187).  Es 
handelt  sich  hier  aber  nicht  um  Meinungen  sondern  um  offen- 
kundige und  controlirbare  Thatsachen,  und  für  diese  Thatsachen 
sind  die  christlichen  Apologeten  hinlängliche  Bürgschaft. 
Uebrigens  sind  nicht  alle  Philologen  so  parteiisch,  Niebuhr 
nennt  Augustinus  einen  der  grossesten  Geister  (Vorträge  über 
römische  Geschichte  I  227),  und  dieser  Augustinus  ist  der 
Hauptzeuge  für  die  Thatsachen  des  Baalcultus  und  zugleich 
der  vornehmste  Ankläger  wider  die  Sünde  und  Lüge  dieses 
Cultus.  Auch  ein  junger  Philologe  findet  den  ,, grimmigen  Spott" 
der  christlichen  Apologeten  über  den  fatalen  Beigeschmack 
der  erotischen  Götterfabeln  berechtigt  (E.  Rohde:  Roman  der 
Griechen  p.   107). 

Auch  Lobeck  ist  unbefangen  genug,  um  zuzugeben,  dass 
ein  apologetisches  Zeugniss,  das  auf  wirklicher  Wahrnehmung 
beruht,  von  Gewicht  ist,  und  wir  beginnen  deshalb  um  so  lieber 
mit  Tatian,  da  Lobeck  diesen  als  Zeugen  ausdrücklich  gelten 
lässt  (1.  c.  197).  In  seiner  Rede  an  die  Griechen  bezeichnet 
sich  Tatian  mit  seinem  Namen  und  nach  seiner  assyrischen 
Herkunft  als  einen  Solchen,  der  auf  langen  Wanderungen 
geforscht,  Rom  und  Athen  besucht  und  nunmehr  dem  Heiden- 
thum  entsagend  als  Christ  sein  Bekenntniss  vor  den  Hellenen 
ablegt.  Dieser  spricht  als  Augenzeuge  und  Eingeweihter  über 
die  heidnischen  Feste.  Er  erzählt,  dass  er  bekannt  gewesen 
mit  einem  berühmten  Mimen,  der  bald  die  Venus,  bald  den 
Apollo  dargestellt  und  zwar  im  Ehebruch  und  Knaben- 
schändung, und  sei  von  Allen  bewundert  worden,  er  selber 
habe  ihn  erst  angestaunt,  nachher  verachten  gelernt.  In  diesem 
Zusammenhang  schreibt  Tatian,  die  Hellenen  anredend,  über 
ihre  P'este:  ,, diese  üppigen,  lüsternen,  verächtlichen  Schauspieler, 
die  Ankläger  aller  eurer  Götter,  die  Lästerer  eurer  Heroen, 
die  Mimen  der  Mordthaten,  die  Kommentatoren  des  Ehebruchs, 

15 


226 

die  Hofmeister  der  Unzucht  für  eure  Söhne  und  Töchter,  der 
Wegweiser  zum  Gericht"  (Keim:  Rom  und  das  Christenthum, 
Herausgegeben  von  Ziegler  p.  446,  Tatian.  ad  Graecos  XXII,. 
XXIX).  Auch  TertuUian  beruft  sich  auf  seine  Augenzeugen- 
schaft und  nennt  das  Theater:  ,,sacrarium  Veneris"  und  ,,arx 
omnium  turpitudinum"  (Apolog.  XV,  De  spect.  X,  XVII), 
Die  Aufforderung  an  den  Senat  und  an  die  sämmthchen 
Stände  beweist,  dass  es  sich  hier  handelt  um  solche  Schänd- 
lichkeiten, die  unter  dem  öffentlichen  Schutz  stehen.  (Man  ver- 
gleiche auch  Minutius  Fehx  Octavius  c.  XXXVII.) 

Lactanz,  wahrscheinlich  aus  Africa,  lebte  in  Nikomedieiv 
und  Gallien,  war  Instructor  des  Prinzen  Crispus,  kannte  die 
römische  Welt.  Er  ist  sehr  bemüht,  in  dem  Heidenthum  die 
Spuren  einer  monotheistischen  Richtung  nachzuweisen,  um  so- 
schwerer  wiegen  seine  Anklagen,  welche  er  über  die  Greuel 
erhebt,  die  von  den  heidnischen  Obrigkeiten  und  Auctoritäten 
gefördert  und  beschützt  werden.  Lactanz  weiss  sehr  wohl^ 
dass  die  Philosophen  sich  von  jeher  bemüht  haben,  die  in  dem 
Mythos  enthaltenen  falschen  Gedanken  über  die  Gottheit  zu 
berichtigen,  und  bezieht  sich  in  dieser  Hinsicht  auf  Keinerv 
öfter  und  lieber  als  auf  Seneca.  Aber  sehr  bestimmt  bezeichnet 
Lactanz  andererseits  die  Grenze  dieser  Correctur  der  Philosophen- 
schulen. Cicero,  sagt  er,  habe  sich  in  der  Bekämpfung  der 
Anstössigkeit  der  mythologischen  Göttergeschichte  eine  Schranke 
gesetzt:  ,,defuit  fiducia  ignoranti  veritatem"  (Instit.  I  17  4). 
.,Oui  sibi  sapientes  videbantur  metuebant  malum,  si  contra 
publicam  persuasionem  faterentur  quod  erat  verum"  (I  18  14, 
20  5).  ,, Publica  persuasio"  ist  vor  Allem  das,  was  in  der 
Staatsreligion,  in  den  Festen  und  den  hergebrachten  Ceremonien 
sanctionirt  ist.  Und  in  dieser  Hinsicht  steht  in  der  griechischere 
und  römischen  Gelehrtenwelt  das  Schicksal  des  Sokrates  als 
ein  drohendes  Zeichen.  Auf  dieses  bedeutsame  Zeichen  immer 
aufs  Neue  hinzuweisen  ist  darum  nicht  überflüssig,  weil  dasselbe 
von  den  Neueren  viel  zu  wenig  beachtet  wird.  Lactanz  redet 
Cicero  an:  ,,nimium  Socratis  carcerem  times,  ideoque  patro- 
cinium  veritatis  suscipere  non  audes"  (II  357,  cfr.  V  14  13  14). 
Nun  zeigt  Lactanz,    dass  eben  das,  was  durch  diese  unter  den 


227 

Heiden  vvegen  Todesfurcht  unantastbare  Auctorität  geschützt 
war,  das  Alleranstössigste  und  Sittenverderblichste  ist.  Lactanz 
ist  es,  der  die  öffentHche  Obscönität  der  ludi  florales,  wie 
bereits  oben  erwähnt,  gerügt  hat.  Derselbe  schreibt :  ,,quo- 
modo  libidines  coercebunt,  qui  Jovem,  Herculem,  Liberum, 
Apollinem  ceterosque  venerantur,  quorum  adulteria  et  stupra 
in  mares  et  feminas  non  tantum  doctis  nota  sunt,  sed  ex- 
primuntur  etiam  in  theatris  atque  cantantur,  ut  sint  omnibus 
notiora"  (V  lo  i6).  Man  beachte,  dass  das  Hauptgewicht  gelegt 
wird  auf  die  verführerische  Veranschaulichung  der  anstössigen 
Mythen  durch  die  Bühne  und  auf  die  durch  dieselbe  bewirkte 
allgemeine  Notorietät  dieser  reizenden  Laster.  In  der  Vergegen- 
wärtigung dieser  auf  das  ganze  Volk  gerichteten  Verführung 
schüttet  Lactanz  an  einer  anderen  Stelle  seine  ganze  Zorn- 
schale aus:  ,,Histrionum  impudicissimi  motus  quid  aliud  nisi 
libidines  docent  et  instigant?  u.  s.  w."  (VI  20  29 — 32). 

Keiner  aber  hat  mit  solchem  Gewicht  die  Augenzeugen- 
schaft und  mit  solchem  Nachdruck  die  sittenverheerenden  Dar- 
stellungen des  officiellen  Cultus  ans  Licht  gestellt  wie 
Augustinus.  In  drei  grossen  Städten  des  weströmischen  Reiches 
hat  Augustinus  gelebt,  und  er  bezeugt  ausdrücklich,  dass  er 
als  Heide  den  unsittlichen  Aufführungen  der  öffentlichen  Bühne 
beigewohnt  und  daran  seine  Lust  gehabt  habe. 

In  seinen  Bekenntnissen  erzählt  Augustinus,  dass  er  als 
Knabe  die  verführerischen  Erzählungen  des  Mythos  gelernt 
und  später  m  Karthago  von  den  Bühnendarstellungen  hin- 
gerissen und  von  unheihgem  Feuer  entzündet  worden  sei 
(Confess.  I  16,  III  2).  Seine  späteren  Erfahrungen  beschreibt 
Augustinus  wie  folgt:  ,,Veniebamus  etiam  nos  aliquando 
adolescentes  ad  spectacula  ludibriaque  sacrilegiorum;  specta- 
bamus  arreptitios,  audiebamus  symphoniacos ;  ludis  turpissimis, 
qui  diis  deabusque  exhibebantur,  oblectabamur,  Caelesti  virgini 
et  Berecynthiae  matri  omnium:  ante  cujus  lecticam  die  solemni 
lavationis  ejus  talia  per  publicum  cantitabantur  a  nequissimis 
scenicis,  qualia,  non  dico  matrem  deorum  sed  matrem  qualium- 
cumque  senatorum  vel  quorumlibet  honestorum  virorum,  non 
deceret    audire.       Illam    turpitudinem     obscoenorum    dictorum 

lo* 


228 

atque  factorum  per  publicum  agebant  coram  deüm  matre, 
spectante  et  audiente  utriusque  sexus  frequentissima  multitudine" 
(C.  D.  II  4).  Dass  es  sich  um  einen  öffentlichen  und 
darum  unantastbaren  Cultusact  handelt,  erhellt  aus  der  Er- 
wähnung der  Senatoren  und  der  zuschauenden  Volksmasse. 
Es  ist  aber  dem  Augustinus  bei  diesem  Anlass  darum 
7A\  thun,  zu  zeigen,  dass  der  Cultus  dieser  Göttermutter 
im  Lauf  der  Zeiten  in  immer  tiefere  Verderbtheit  versunken 
sei.  Er  beruft  sich,  wie  schon  oben  erwähnt,  auf  das  Zeugniss 
des  Scipio  Nasica,  der,  obwohl  kein  Freund  von  Schau- 
stellungen, in  Folge  eines  Orakels  diesen  aus  dem  Orient 
stammenden  Cultus  in  Rom  eingeführt  hat.  Welch  ein  Abstand 
zwischen  damals  und  jetzt !  Augustinus  erwähnt  auch  sonst 
den  gegenwärtigen  Greuel  dieses  Cultus,  den  in  seiner  früheren 
unschuldigeren  Gestalt  der  ,, Beste"  der  Römer  eingeführt  hat 
(In  Psalmos  LXII  7,  XCVIII  14,  Sermon.  CV  12).  Durch 
die  Berufung  auf  die  Zeiten  des  Scipio  Nasica,  des  ,, besten 
Mannes"  unter  den  Römern,  gewinnt  Augustinus  Zweierlei. 
Einmal  empfängt  er  ein  Gewissenszeugniss  aus  dem  Heiden- 
thum  selber  wider  den  vorhandenen  Greuel,  wie  ihn  auch 
Lucian  'und  Apulejus  beschreiben,  und  zweitens  kann  er  die 
vom  heidnischen  Standpunkt  nicht  zu  beantwortende  Frage 
aufvverfen:  ,,was  habt  ihr  für  Mittel,  um  dieses  rollende  Rad 
einer  immer  zunehmenden  namenlosen  Verderbniss  aufzuhalten?" 
Dass  es  sich  hier  auch  nach  Augustinus  um  Baalcultus  handelt, 
macht  er  dadurch  deutlich,  dass  er  die  berüchtigte  Festfeier, 
die  als  sacrum  benannt  und  behandelt  wird,  sacrilegium  nennt. 
Augustinus  kommt  übrigens  nach  dieser  Erörterung  noch 
einmal  zurück  auf  den  Cultus  der  Himmelsgöttin,  wie  die 
Göttermutter  auch  genannt  wird.  Hier  räumt  er  ein,  dass  in 
diesem  Cultus  einzelne  gute  Lehren  mitgetheilt  werden,  aber 
das  geschehe  so  geheim  und  beiläufig,  dass  dieses  nur  als  ein 
Schein  gelten  könne,  der  die  teuflische  Verführung  zu  ver- 
decken bestimmt  ist.  Und  nun  geht  Augustinus  daran,  die 
sich  in  den  Gemüthern  vollziehende  Verführung,  diesen  die 
Sinne  fesselnden  Cultus  nach  seiner  eigenen  Erfahrung  zu 
beschreiben.       ,,Nonnullae    pudentiores    avertebant    faciem    ab 


229 

inipuris  motibus  scenicorum,  et  artem  flagitii  furtiva  intentione 
discebant.  Hominibus  namque  verecundabantur,  ne  auderent 
impudicos  gestus  ore  libero  cernere;  sed  multo  minus  audebant 
Sacra  ejus,  quam  venerabantur,  casto  corde  damnare.  Hoc 
tarnen  palam  discendum  praebebatur  in  templo,  ad  quod 
perpetrandum  saltem  secretum  quaerebatur  in  domo:  mirante 
nimium  (si  uUus  ibi  erat)  pudore  mortalium,  quod  humana 
flagitia  non  libere  homines  committerent,  quae  apud  deos 
etiam  religiöse  discerent,  iratos  habituri,  nisi  etiam  exhibere 
curarent"  (C.  D.  II  26  2).  Noch  tiefer  in  das  Geheimniss  der 
Finsterniss  hinein  führt  Augustinus  uns,  indem  er  das  ,, iratos 
habituri"  erklärt.  ,,Daemones  crimina  celebrari  per  sua  festa 
voluerunt,  ut  a  perpetrandis  damnabihbus  factis  humana  revocari 
non  possit  infirmitas,  dum  ad  haec  imitanda  vekit  divina  prae- 
betur  auctoritas"  (C.  D.  IV  I).  Augustinus  ist  sich  strenger 
Objectivität  bewusst  in  der  Schilderung  dieser  Dinge:  ,,Haec 
non  ex  nostra  conjectura  probavimus  sed  partim  ex  recenti 
memoria,  quia  et  ipsi  vidimus  talia  ac  talibus  numinibus 
exhiberi,  partim  ex  litteris  eorum,  qui  non  tamquam  in  contu- 
meliam  sed  tamquam  in  honorem  deorum  suorum  ista  conscripta 
posteris  reliquerunt"  (e.  1.).  Wenn  Cicero  schreibt,  dass  er  als 
ernannter  Aedil  sich  verpflichtet  hält,  sich  bei  Herstellung  der 
ludi  florales  zu  betheiligen,  um  die  Göttin  Flora  zu  versöhnen, 
so  ist  dies  ein  vollgültiges  Zeugniss  für  die  schwerste  Anklage, 
welche  Augustinus  wider  die  dämonische  Verführung  in  den 
unsittlichen  Schaustellungen  erhoben  hat. 

Keiner  hat  die  Sünden  und  Labyrinthe  des  ungebrochenen 
Heidenthums  mit  so  klarem  Bewusstsein  durchlebt,  aber  auch 
Keiner  hat  mit  solchem  gründlichen  Ernst  die  sündhafte  Ver- 
gangenheit von  sich  abzuthun  sich  bestrebt,  wie  Augustinus, 
und  darum  ist  es  von  grosser  Wichtigkeit,  ihn  als  Zeugen  der 
antiken  Verderbniss  abzuhören.  Wir  wollen  daher  fortfahren, 
die  Aussprüche  dieses  Kirchenvaters  über  die  finsterste  Macht- 
habe des  Heidenthums  zu  vermerken. 

,,Dii  flagitia  per  theatricas  celebritates  populis  innotescere 
cupientes,  ut  tamquam  auctoritate  divina  sua  sponte  nequissima 
libido  accenderetur  humana"  (C.  D.  II  14).    ,,0  Scaevola  pontifex 


230 

maxime,  ludos  tolle  si  potes"  (C.  D.  IV  27).  Augustinus  will 
(C.  D.  IV  27)  sagen:  ,, reinigt  den  Mythos,  corrigirt  die 
Dichter,  lehret  Moral,  gebt  heilsame  Gesetze,  aber  wenn  die 
höchste  geistliche  Macht  versuchen  wollte,  an  den  hergebrachten 
Schaustellungen  der  Götterfeste  zu  rütteln,  so  würde  sie  ihre 
Schranke  fühlen.  Bleiben  aber  die  Götterfeste  unangetastet, 
dann  werden  alle  Besserungsversuche  von  jenen  dämonischen 
Einflüssen  verschlungen.  Denn  was  im  Heiligthum  geschieht, 
was  unmittelbar  mit  dem  Gottesdienst  verbunden  ist,  das  ist 
noch  verwerflicher  und  auch  verderblicher,  als  was  auf  der 
Bühne  aufgeführt  wird"  (C.  D.  VI  7  10,  VII  21).  Augustinus 
kommt  noch  einmal  zurück  auf  das  Fest  der  ,, Magna  mater", 
was  ihm  von  seinem  Aufenthalt  in  Karthago  vor  allem 
Anderen  besondern  Eindruck  scheint  gemacht  zu  haben.  Ueber 
die  Schandbarkeit :  Magna  mater  etiam  romanis  templis  castratos 
intulit  schreibt  Augustinus:  ,, nihil  Varro  dicere  voluit,  defecit 
interpretatio,  erubuit  ratio,  conticuit  oratio"  (C.  D.  VII  26). 
Nach  diesem  Allen  kann  Augustinus  die  Theater  ,,caveae 
turpitudinum"  nennen  (De  consensu  Evangelist.  I  51)  und  kann 
sich  dafür  berufen  auf  die  Fasti  des  Ovid,  wo  für  die  ,,ob- 
scoenitates  in  sacris"  sich  viele  Belege  finden  (Ovidii  fasti, 
ed.  Merkel   1841  p.  CLXXXV— CLXXXVIII). 

Wir  haben  die  vornehmsten  Thatsachen  des  Cäsarcultus 
und  des  Baalcultus  kennen  gelernt,  Diese  Thatsachen  sind  nicht 
einzelne  losgerissene  Momente  des  antiken  Heidenthums,  sondern 
in  ihnen  offenbart  sich  ein  mächtiger  Geist,  dessen  dämonischer 
Charakter  sich  darin  zu  erkennen  giebt,  dass  die  besseren 
Elemente  und  ihre  Regungen  sich  derselben  erwehren  wollen,  aber 
von  diesem  Geiste  überwältigt  werden.  Erst  wenn  wir  diejenige 
Kraft  erkannt  haben,  welche  diesem  Geiste  nicht  bloss  gewachsen 
ist,  sondern  ihn  entmächtigt,  erst  dann  werden  wir  diesen  Geist 
und  seine  Bosheit  recht  v^erstehen.  Aber  soweit  können  wir 
ihn  jetzt  schon  charakterisiren,  dass  er  das  Gegentheil  von  dem 
ist,  was  er  zu  sein  vorgiebt.  Cultus  ist  die  heilige  Anbetung 
Gottes,  aber  der  Cäsarcultus  setzt  an  die  Stelle  Gottes  den 
Menschen  Cäsar,  und  der  Baalcultus  verwandelt  die  Heiligkeit 
der   Anbetung    in    die   Unheiligkeit  und   macht,    wie  Augustin 


231 

sagt,  das  Sacrum  zu  eimen  Sacrilegium.  Diese  zwiefache  Lüge 
im  Heiligthum  vergreift  sich  an  dem  Heiligthum,  begeht  einen 
Raub  an  dem  Heiligen,  ist  ein  Sacrilegium.  Der  zwiefache 
falsche  Cultus  ist  demnach  eine  Lüge,  die  auf  dem  Wege  ist, 
die  erste  Lüge,  welche  den  Menschen  verführt  hat,  zu  vollenden. 
Diese  zwiefache  sacrilegische  Lügenmacht  ist  die  von  Anfang 
her  thätige  Verführungsmacht,  welche  die  Menschheit  durch 
List  und  Gewalt  von  dem  wahren  Gott  losreissen  will.  So 
lange  dieses  Bollwerk  der  Verführung  besteht,  ist  Alles,  was 
an  guten  Kräften  in  der  Menschheit  noch  vorhanden  ist, 
gefährdet,  und  dagegen,  was  es  Versuchliches  und  Verführerisches 
giebt,  in  seiner  bösen  Kraft  bestärkt.  Das  römische  Reich  ist 
der  Inbegriff  der  Güter,  welche  in  der  göttlichen  Schöpfung  der 
Menschheit  beschlossen  sind.  Die  zwiefache  sacrilegische  Lüge 
ist  an  der  x-^rbeit,  durch  Zerstörung  des  römischen  Reiches  den 
Abfall  von  Gott  zu  vollenden.  Angesichts  dieser  Lage  ist  die 
weltgeschichtliche  Frage:  ob  es  eine  Macht  giebt,  welche  diese 
grundstürzenden  Lügen  zu  überwinden  und  zu  entmächtigen  im 
Stande  ist. 


V. 
Senecas  Abwehr  ohne  Sieg. 

Wir  könnten  noch  tiefer  in  die  Abgründe  des  antikert 
Heidenthums  hinabsteigen,  um  die  Macht  der  beiden  Lügen 
noch  weiter  zu  belegen,  aber  wir  w^ollen  es  nicht  thun,  denn 
das  Vorgetragene  genügt,  um  eine  bestimmte  Vorstellung  von 
der  vollendeten  Verderbniss  der  antiken  Welt  zu  erhalten.  Die 
doppelte  sacrilegische  Lüge,  welche  den  Nichtgott  als  Gott 
anbetet  und  das  Unheilige  als  Heiliges  feiert,  ist  das  Attentat 
auf  die  der  Menschheit  eingepflanzte  EmpfänglichkeiTlurTjÖ^. 
Wird  dieses  Attentat  nicht  überwunden,  so  zerreisst  das  Band, 
welches  Gottheit  und  Menschheit  verbindet.  Mit  Logik  und 
Rhetorik  kann  man  dieses  Attentat  nicht  übenvinden,  denn  jene 
Doppellüge  ist  bew^affnet  mit  dem  Schwert  der  höchsten 
Gew^alt  und  mit  der  Macht  der  Gesetze  und  der  Volkssitte. 
Von  dem  gelehrtesten  Mann  des  römischen  Volks  sagt 
Augustinus :  ,,Varro  oppressus  est  suae  civitatis  legibus  et 
consuetudine"  (C.  D.  VI  2).  Seneca  ist  nach  seiner  ganzen 
Geistesrichtung  als  Moralphilosoph  und  als  Censor  der  Zeit 
und  nach  seiner  Lebensstellung  als  Prinzeninstructor  und  als 
.  Staatsminister  angewiesen  auf  diesen  Kampf  mit  dem  genannten 
«Attentat.  Seneca  hat  also  die  Aufgabe,  die  beiden  grund- 
stürzenden Lügen  nicht  bloss  mit  seinem  Wort  sondern  auch 
mit  Dransetzung  von  Leib  und  Leben  zu  bekämpfen.  Hier 
vor  Allem  ist  also  der  Platz,  wo  Seneca  zeigen  soll,  was  er 
vermag  und  was  er  nicht  vermag.  Allerdings  so  in  die 
schwerste  Weltkrisis  hineingesetzt,  wird  an  diesem  Manne  viel 
Negatives    offenbar,     aber    ein    beachtenswerther    Rest    bleibt,. 


233 

welcher  auf  die  Zukunft  hinausweist  und  von  der  Vollendung- 
dessen  weissagt,  was  in  der  Gegenwart  mangelhaft  erscheint. 

Es  ist  nicht  Willkür  oder  Belieben  sondern  Nothwendig- 
keit  seiner  Persönlichkeit  und  seiner  Lebensstellung,  dass  Seneca 
mit  den  grundstürzenden  Lügenmächten  der  damaligen  Welt 
den  Kampf  aufnehmen  muss,  und  dass  wir  demnach  aus  dieser 
Probe  seines  eigensten  Wesens  seine  weltgeschichtliche  Bedeutung 
erkennen  können.  Wir  bahnen  uns  den  Zugang  zur  Lösung 
dieser  unserer  Aufgabe,  indem  wir  einen  zwiefachen  Irrthum 
zu  beseitigen  suchen. 

Einestheils  unterschätzt  man  Seneca,  anderntheils  über- 
schätzt man  ihn;  durch  den  einen  wie  durch  den  anderen 
Irrthum  versperrt  man  sich  den  Weg  zum  richtigen  Ver- 
ständniss  dieses  Mannes.  Wenn  wir  zurückblicken  auf  die 
grellen  Widersprüche  Senecas,  die  sich  theils  zwischen  seinen 
verschiedenen  Lehrsätzen,  theils  zwischen  seinen  Vorschriften 
und  seinem  Verhalten  finden,  so  begreifen  wir,  dass  es  von  den 
Tagen  des  Thrasea  Paetus  bis  heute  immer  Manche  gegeben 
hat,  welche  den  wirklichen  Seneca  lediglich  in  der  dunklen 
Seite  dieser  Widersprüche  finden  wollen,  den  Glanz  und  die 
Lichtseiten  dagegen  für  den  blossen  Wiederschein  einestheils 
seiner  rhetorischen  Kunst,  anderntheils  seiner  stoischen  Ueber- 
spanntheit  erklären.  In  der  That  steigt  dem  Leser  in  der 
Beschäftigung  mit  den  Schriften  Senecas  zuweilen  der  Zweifel 
auf,  ob  dieser  Mann  überall  einer  eingehenden  Untersuchung 
und  Darstellung  wirklich  werth  sei. 

Aber  eine  dreifache  Erwägung  muss  diesen  Zweifel  jedes- 
mal zur  Ruhe  verweisen.  Wenn  man  bedenkt,  dass  eine  solche 
Fülle  von  Anklängen  an  die  neutestamentliche  Schrift,  eine 
solche  Menge  von  Anknüpfungen  an  die  biblische  Literatur 
bei  keinem  antiken  Schriftsteller  gefunden  wird  wie  bei  Seneca, 
so  muss  man  doch  wohl  sagen,  dass  solche  Vorahnungen 
biblischer  Gedanken  und  Anschauungen,  wie  Jsaak  Casaubonus 
einmal  diese  biblischen  Anspielungen  in  Seneca  genannt  hat, 
unmöglich  die  Zugabe  einer  oberflächlichen,  auf  Täuschung 
angelegten  Bildung  sein  kann.  Eine  allgemein  gehaltene 
Mahnung   Senecas  findet  in   dieser  Beziehung  eine  Anwendung 


234 

auf  ihn  selber.  Die  Philosophen  gegen  diese  frivole  Ein- 
-vvendung,  sie  leisten  nicht,  was  sie  lehren,  in  Schutz 
-nehmend,  schreibt  Seneca:  ,,non  est  quod  contemnas  bona 
verba  et  bonis  cogitationibus  plena  praecordia ;  studiorum 
salutarium  etiam  citra  effectum  laudanda  tractatio  est"  (De 
vita  beata  XX  i).  Der  Ausdruck  ,, bonis  cogitationibus  plena 
praecordia"  ist  eine  treffende  Bezeichnung  der  inneren 
Stimmung,  welche  der  Fülle  von  moralischen  Sentenzen  zu 
'Grunde  liegt.  Wenn  nun  Seneca  sich  bescheidet,  dass  morali- 
schen Sentenzen  die  Wirkung  nicht  immer  entspricht,  so  wird 
man  ihm  wohl  zugeben  müssen,  dass  die  innere  Seelen- 
stimmung, von  welcher  der  Schatz  von  Gnomen  ein  Ausfluss 
ist,  nicht  ohne  moralischen  Werth  sein  kann.  Ich  möchte 
sagen,  der  Ausdruck  ,, bonis  cogitationibus  plena  praecordia"  an 
sich  ist  derartig,  dass  man  die  subjective  Wahrheit  desselben 
-deutlich  spürt.  Ein  zweites  Argument  gegen  den  angeführten 
Zweifel  bietet  das  Sterben  dieses  Mannes. 

Schon  die  flüchtige  Vergegenwärtigung  dieser  Todesart 
kann  eines  grossen  Eindrucks  nicht  verfehlen.  Wenn  man  die 
^genaue  Uebereinstimmung  der  einzelnen  Züge  dieses  Sterbeactes 
mit  den  überlieferten  Vorsätzen  und  Gelübden  des  Lebenden 
wahrnimmt,  worauf  wir  später  zurückkommen  werden,  so  kann 
man  sich  nicht  verhehlen,  dass  einem  solchen  Ende  ein  nicht 
gewöhnlicher  Lebensernst  hat  voraufgehen  müssen.  Endlich 
drittens  muss  der  Gedanke  durchschlagen,  dass,  wenn  die  An- 
nahme, Seneca  sei  Einer  aus  der  verächtlichen  Sekte  der 
Aretalogen,  wenn  auch  ein  recht  glänzender  gewesen,  richtig 
Aväre,  seine  Heuchelei  von  so  ausgebildeter  und  verstockter  Art 
müsse  gewesen  sein,  dass  die  moralischen  Züge,  welche  die 
•beglaubigte  Geschichte  von  ihm  berichtet,  nicht  wahr  sein 
könnten.  Mit  einem  Wort,  wenn  dem  Seneca  nicht  ein  wirklich 
sittlicher  und  religiöser  Gehalt  zuerkannt  wird,  dann  muss  er 
grundschlecht,  ein  wahrer  Erzschelm  gewesen  sein.  Da  aber 
dies  mit  den  geschichtlichen  Zeugnissen  im  Widerspruch  steht, 
so  muss  man  sich  auch  von  jenem  geringschätzigen  \'orurtheil 
gründlich  lossagen.  Wenn  uns  nun  demnach  ein  ernstes 
Interesse     an     diesem     Manne     hindern     muss,     den     in     ihm 


235 

beschlossenen  Widerspruch  auf  die  angegebene  bequeme  Art 
zu  lösen,  so  sind  wir  auf  den  Versuch  einer  gründlicheren 
Lösung  angewiesen. 

In  den  entgegengesetzten  Irrthum  von  dem  eben  beleuch- 
teten Vorurtheil  iiber  Seneca  verfällt  F.  Baur,  der  wie  einige 
Kirchenväter  nur  in  anderer  Weise  den  Seneca  zu  einem  halben 
Christen  macht  und  somit  im  W^iderspruch  mit  der  wirklichen 
Sachlage  von  einem  Siege  träumt  ohne  voraufgegangenen 
Kampf. 

In  seiner  Abhandlung  über  Paulus  und  Seneca  (a.  a.  O. 
p.  459)  entwirft  Baur  eine  Schilderung  der  inneren  Entwick- 
lung in  Rom  unter  den  Cäsaren  folgendermassen : 

,, Durch  die  Errichtung  der  Monarchie  in  Rom  ist  ein  all- 
gemeiner Umschwung  des  Geistes  aus  der  äusseren  Welt  in 
die  innere  erfolgt.  Man  zog  sich  in  sich  selbst  zurück,  der 
Geist  wurde  nüchterner  und  besonnener,  die  Sitte  und  Lebens- 
weise eingezogener,  häuslicher,  sittlich  ernster,  statt  wie  zuvor 
nur  mit  dem  Oeffentlichen  beschäftigte  man  sich  mit  dem 
Eigenen  und  Persönlichen  und  richtete  seine  Gedanken  auf  den 
inneren  Menschen,  seine  sittliche  Lebensaufgabe,  die  Grundsätze, 
Maximen,  Regeln  des  Verhaltens  in  den  verschiedenen  Lebens- 
verhältnissen. Wenn  nun  auch  diese  Veränderung  erst  allmählich 
und,  wie  sich  von  selbst  versteht,  nicht  bei  der, grossen  Masse 
des  Volkes  sondern  nur  bei  den  Gebildeten  und  Verständigen 
eintrat,  so  war  sie  doch  die  natürliche  Folge  des  allgemeinen 
Umschwungs  der  Zeitverhältnisse." 

Baur  hat  es  gewagt,  für  diese  Schilderung  sich  auf  Tacitus 
zu  berufen.  Tacitus  bemerkt,  dass  durch  und  seit  Vespasian 
eine  grössere  Sparsamkeit  eingetreten  sei,  und  spricht  dabei 
die  Vermuthung  aus,  dass  es  auch  in  Ansehung  der  Sitten 
einen  Kreislauf  des  Steigens  und  Fallens  geben  möge  (Ann, 
III  55).  Baur  behauptet,  ,,dass  in  dieser  von  Tacitus  bezeugten 
Veränderung  seit  Vespasian  der  Uebergang  zu  der  christlichen 
Civilisation  zu  erkennen  sei."  Mit  diesem  letzten  Wort  spricht 
Baur  das  Geheimniss  seiner  Gedanken  aus,  er  will,  dass  das 
israelitische  Haupt  der  Menschheit  den  Ruhm  des  Christen- 
thums,    die    Errettung    und    Erneuerung    der    Welt    mit    dem 


236 

Cäsar  von  Rom  mindestens  theilen  soll.  Ein  etwas  weniger 
oberflächliches  Studium  des  Seneca  hätte  hingereicht,  ihn  von 
diesem  schweren  Irrthum  zu  befreien.  Was  Baur  als  den  aus- 
gemachten Thatbestand  des  geistigen  und  sittlichen  Um- 
schwungs und  des  Uebergangs  zur  christlichen  Civihsation 
beschreibt,  ist  nicht  aus  dem  w^irklichen  Leben  entnommen, 
sondern  aus  denjenigen  Stellen  der  Bücher  Senecas  abgeschrieben, 
in  denen  dieser  Stoiker  in  erhöhten  Stimmungen  seine  Grund- 
sätze, seine  Absichten,  seine  Bestrebungen  dargelegt.  Wir 
wissen  aber,  dass  das  thatsächliche  Verhalten  Senecas  nicht 
selten  mit  diesen  geschriebenen  Gedanken  in  starrem,  tödt- 
lichem  Widerspruch  steht.  Ausserdem  wissen  wir,  dass,  wenn 
Seneca  den  durchschnittlichen  geistigen  und  sittlichen  That- 
bestand seiner  Zeitgenossen  beschreibt,  seine  düsteren  Schilde- 
rungen jene  Beschreibung  Baurs  von  dem  , »Umschwung"  und 
,,Uebergang  zur  christlichen  Civihsation"  vollständig  vernichten. 
Und  was  Tacitus  anlangt,  so  würde  derselbe  sich  höchlich 
gewundert  haben  über  eine  solche  Verwerthung  seiner 
Bemerkung  über  Vespasians  Nüchternheit.  Denn  nachdem 
Tacitus  nicht  bloss  Vespasian  sondern  auch  Titus,  Nerva  und 
Trajan  erlebt  hat,  weiss  er  so  wenig  von  einer  nennenswerthen 
sittlichen  Besserung,  von  einer  Verinnerlichung  des  gebildeten 
Römerthums,  dass  er  gradezu  an  der  Zukunft  Roms  verzweifelt 
(Germ.  XXXIII,  Agr.  XII).  Tacitus  ist  sich  daneben  sehr 
wohl  des  Gegensatzes  von  Domitian  einerseits  und  Nerva  und 
Trajan  andererseits  bewusst  (Agr.  II,  III).  Aber  gleich  daneben 
bemerkt  er:  ,,subit  ipsius  inertiae  dulcedo,  et  invisa  prius  desidia 
postremo  amatur"  (Agr.  III).  Tacitus  hat  von  der  tödtenden 
Kraft  der  Vergiftung  des  römischen  Volkes  durch  den 
Absolutismus  des  Augustus,  also  durch  Errichtung  eben  der 
Monarchie,  in  welcher  Baur  eine  geistige  Lebens-  und  Segens- 
quelle schaut,  eine  so  starke  Vorstellung  (Ann.  I  4  ,, nihil 
usquam  prisci  et  integri  moris"),  dass  er  sich  eine  wirkliche 
Besserung,  welche  das  ,,grande  documentum  patientiae"  (Agr.  II) 
vernichtet,  gar  nicht  vorstellen  kann.  Es  ist  durchaus  im 
Sinne  des  Tacitus,  wenn  Tiberius  das  Bekenntniss  ablegt,  dass 
das  cäsarische  Regiment    den   im   Schwansi'e    ^^^ehenden  Lastern 


237 

nicht  mehr  gewachsen  ist  (Ann.  III  53).  Um  übrigens  gründ- 
lich mit  jenem  Irrthum  Baurs  abzurechnen,  wollen  wir  einige 
competente  Zeugen  aus  den  Tagen  Vespasians  und  der 
nächsten  Zeit,  in  welcher  der  vermeintliche  ,, Umschwung"  und 
,,Uebergang"  soll  Statt  gehabt  haben,  vernehmen.  Plinius  der 
Aeltere,  ein  vertrauter  Grossbeamter  Vespasians,  der  diesen 
Kaiser  noch  überlebte,  ein  Mann,  der  mitten  in  den  Bewegungen 
des  grossen  öffentlichen  Lebens  seine  Stellung  hatte,  dieser  ist 
völlig  im  Stande,  das,  was  Baur  den  „Umschwung"  und 
,,Uebergang"  nennt,  zu  schätzen.  Plinius  beschreibt  in  hoher 
Begeisterung  das  cäsarische  Italien  und  Rom  wie  folgt:  ,,Ich 
weiss,  ich  würde  der  Undankbarkeit  und  der  Trägheit 
beschuldigt  werden,  wenn  ich  nur  kurz  und  beiläufig  von 
Italien  und  Rom  handeln  wollte.  Dieses  Land  ist  die  Mutter 
und  Erzieherin  aller  Länder,  erwählt  vom  hohen  Rath  der 
Götter,  macht  selbst  den  Himmel  heiterer,  vereinigt  die 
getrennten  Reiche,  verbindet  durch  Verkehr  die  fremden  und 
rohen  Völkersprachen,  setzt  den  Menschen  ein  in  seine 
Menschenwürde  und  wird  ein  einigendes  Vaterland  für  alle 
Völker  des  Erdkreises;  die  Stadt  Rom,  sie  allein,  mit  welchem 
Kunstwerk  ist  sie  würdig  darzustellen?"  (H.  N.  III  6).  ,,Roma 
terrarum  caput"  (III  6).  ,, Romanos  dii  velut  alteram  lucem 
dedisse  rebus  humanis  videntur"  (XXIII  i).  In  ^dem  durch  die 
Offenbarung  erleuchteten  Volke  Gottes  ist  die  Einheit  des 
Menschengeschlechts  ein  unantastbares  Moment  der  Welt- 
anschauung. In  dem  Heidenthum  ist  Rom  die  Warte,  auf  der 
sich  die  Weltanschauung  erweitert  und  Völker  und  Sprachen 
zur  Einheit  des  Menschengeschlechts  erhöht.  Was  Baur  von 
dem  durch  das  römische  Kaiserthum  bewirkten  Umschwung 
und  seinen  Folgen  preist,  das  ist  Alles,  wie  eben  gezeigt,  von 
Plinius  anerkannt.  Aber  ist  das  ein  Uebergang  zur  christlichen 
Civilisation  ?  Das  ,,genus  humanum"  ist  allerdings  entdeckt,  und 
Niemand  hat  von  dieser  sprachlichen  Errungenschaft  einen  so 
reichlichen  und  redseligen  Gebrauch  gemacht  wie  Seneca.  Auch 
soll  nicht  verhehlt  werden,  dass  die  zum  ,,orbis  terrarum"  und 
zum  ,,genus  humanum"  erweiterte  Weltanschauung  zu  einzelnen 
humanen   Regungen    und    Bestrebungen    in   Bezug   auf  Sclaven 


238 

und  sociale  NothständeAnlass  wurde  (Peter  römische  Geschichte 
III  2  149).  Ein  dunkles  Gefühl,  eine  Vorahnung,  um  mit 
Casaubonus  zu  reden,  von  einer  vorhandenen  VVeltkrisis  wurde 
der  höchsten  Macht  ein  Antrieb,  womöglich  den  öffenthchen 
Zustand  moralisch  zu  heben  und  der  Höhe  der  äusserlichen 
Macht  gleichförmig  zu  machen.  In  dem  Ancyranischen  Denk- 
mal rühmt  sich  Augustus  seiner  Fürsorge  für  die  öffentliche 
Religion,  und  in  der  That  hat  er  zweiundachtzig  Tempel  her- 
gestellt (Marquardt  römisches  Sacralwesen  71  73).  A.Schmidt 
schreibt:  ,,die  meisten  Hebel  setzte  die  Monarchie  zur  Erhaltung 
der  Orthodoxie  und  des  bestehenden  Cultus  in  Bewegung" 
(Geschichte  der  Denk-  und  Glaubensfreiheit  p.  324  326).  Aber 
dieses  Alles  ist  kein  Umschwung  und  kein  Uebergang  zur 
christlichen  Civilisation.  Was  die  moralischen  Bestrebungen 
der  Imperatoren  betrifft,  so  urtheilt  Marquardt :  ,,der  despotische 
Eingriff  der  Ehegesetze  des  Augustus  in  die  persönliche  Freiheit 
hat,  anstatt  die  Sittlichkeit  zu  heben  und  dem  Bedürfniss  des 
Staates  zu  helfen,  durch  das  Eindringen  in  die  Geheimnisse 
des  Hauses  zu  den  alten  Uebeln  ein  neues  hinzugefügt  (Privat- 
leben der  Römer  I  p.  'j6  jy).  Rom  und  Italien,  durch  die 
julischen  Gesetze  nicht  gebessert,  sinkt  in  der  Kaiserzeit  in  die 
tiefste  Stufe  des  sittlichen  Verfalles  herab  (Rosenbaum  Lust- 
seuche im  Alterthum  p.  104).  Der  begeisterte  Verkündiger 
der  neuen  Weltanschauung  in  Rom,  des  von  Baur  gerühmten 
Umschwungs,  Plinius  der  Aeltere,  bemerkt :  ,, stolz  ist  der 
Mensch,  aber  so  gross  wie  sein  Stolz  ist  seine  Erbärmlichkeit" 
(H.  N.  II  5,  VII  i);  ,,der  Gehalt  des  Lebens  ist  dahin,  ,, argu- 
menta vitae  perierunt",  und  unser  Eigen  können  wir  Nichts 
nennen  als  den  sinnlichen  Genuss  (XXIX  8).  Demnach  ist 
die  grosseste  Wohlthat,  grösser  als  das  Leben,  der  Tod"  (II  5, 
VII  4,  XXVIII  2).  Vor  solchen  Klagen  aus  der  Tiefe  von 
einem  solchen  thatkräftigen  Mann  muss  verstummen  Baurs 
Rühmen  von  Umschwung  und  Uebergang.  Was  kann  die 
,,parsimonia  domestica"  Vespasians  bedeuten,  wenn  der  gleich- 
zeitige Juvenal  entgegensetzt: 

,,Nunc  patimur  longae  pacis  mala,  et  saevior  armis 
Luxuria  incubuit  victumque  ulciscitur  orbem"  (VT   292  293) ^ 


239 

Der  strenge  Satiriker  wird  bestätigt  durch  den  gleich- 
zeitigen sittlich  ernsten  Meister  der  Rhetorik.  Quintiliarr 
schreibt:  ,,omne  convivium  obscoenis  canticis  strepit,  pudenda 
dictLi  spectantur"  (Inst.  I  4  7).  Da  die  das  neue  Leben- 
repräsentirende  Gemeinde,  wie  Baur  meint,  unter  den  Gebildeterb 
in  Rom  sich  finden  soll,  so  möge  Plinius  der  Jüngere,  der  in- 
dem erleuchteten  Zeitalter  Trajans  seine  Blüthe  hat,  für  seine 
Standesgenossen  das  Wort  führen.  Plinius  schreibt:  ,,eadem' 
mala  jam  senatores,  jam  participes  malorum  multos  per  annos- 
vidimus  tulimusque,  quibus  ingenia  nostra  in  posteros  quoque 
hebetata,  fracta.  contusa  sunt"  (Ep.  VIII  14  9,  cfr.  Ep. 
IV  25  5).  Von  der  Erziehung  in  den  gebildeten  Familien 
Roms  sagt  Messala  in  dem  ,,Dialogus  de  oratoribus"  XXIX: 
,,propria  et  peculiaria  huius  urbis  vitia  paene  in  utero  matris 
concipi  mihi  videntur". 

Da  nun  Baur  die  den  vermeintlichen  Umschwung  con- 
statirenden  Gedanken  und  Maximen  vornämlich  in  Senecas 
Büchern  entdeckt  haben  will,  so  wollen  wir  aus  der  Fülle  der 
Beschreibungen,  mit  denen  Seneca  den  sittlichen  Gesam.mt- 
zustand  seiner  Zeit  darstellt,  hier  einige  Züge  vorlegen,  um 
augenscheinlich  zu  beweisen,  dass  Baurs  ,, Umschwung"  und 
.,Uebergang"  von  dem  Zeugniss  Senecas  ganz  und  gar 
verleugnet  werden.  Seneca  schreibt:  ,, wenn  ~ dir  das  wahre 
Bild  unseres  Lebens  entgegentritt,  so  wirst  du  zu  sehen  glauben 
das  Schauspiel  einer  so  eben  eroberten  Stadt,  in  welcher  die 
Rücksicht  auf  Anstand  und  Gerechtigkeit  abgethan  ist,  wo  die 
Gewalt  die  Leitung  übernimmt  und  gleichsam  das  Signal 
gegeben  hat,  um  Alles  über  einander  zu  stürzen,  Feuer  und 
Schwert  ist  erlaubt,  die  Verbrechen  haben  den  Zügel  ab- 
geworfen. Die  Religion,  welche  in  der  Schlacht  die  Schutz- 
flehenden annimmt,  ist  kein  Hinderniss  derer,  welche  sich  auf 
die  Beute  stürzen"  (B.  VII  27  i).  An  einer  anderen  Stelle 
führt  Seneca  das  Bild  einer  erstürmten  Stadt  noch  weiter  aus : 
,, Alles  ist  voll  von  Freveln  und  Lastern,  es  wird  mehr  ver- 
brochen als  was  durch  Strafe  geheilt  werden  kann ;  heftig  wird 
gewetteifert  um  den  Preis  der  Verruchtheit,  täglich  wächst  die 
Lust  der  Sünde,  und  Schamhaftigkeit   nimmt  ab,    abgethan  ist 


240 

die  Rücksicht  auf  Tugend  und  Rechtschaffenheit,  wohin  es 
beliebt,  bricht  die  Wollust  hinein,  nicht  mehr  heimlich  sind  die 
Frevel,  offen  gehen  sie  einher,  öffentlich  wirft  sich  die  Verrucht- 
heit auf,  und  solche  Macht  hat  sie  in  allen  Herzen  gewonnen, 
dass  Unschuld  nicht  mehr  selten  sondern  überall  nicht  mehr 
vorhanden  ist.  Sind  es  etwa  Einzelne  oder  Wenige,  die  das 
Gesetz  brechen?  Nein  von  allen  Seiten  stürzen  sie  heran,  wie 
auf  ein  gegebenes  Signal,  um  jede  sittliche  Schranke  niederzu- 
reissen"  (De  ira  II  9  i).  Der  Zeiten  Lauf  ist  in  sein  letztes 
Stadium  getreten: 

,,In  nos  aetas  ultima  venit 

O  nos  dura  sorte  creatos 

Seu  perdidimus  solem  miseri 

Sive  expulimus"  (Thyestes  878 — 881). 
Hoch  tragisch  und  nicht  ohne  bitterste  Empfindung  klagt 
Seneca:  ,,das  Eine,  was  wir  mit  ganzer  Seele  betreiben,  was 
wir  aber  noch  nicht  vollbracht  haben,  ist  das,  dass  wir  den 
Gipfel  der  Schlechtigkeit  erreichen,  denn  noch  sind  die  Laster  im 
Fortschreiten  begriffen"  (N.  Q.  VII  31  i).  So  wenig  weiss 
Seneca  von  dem  Uebergang  zur  christlichen  Civilisation,  dass 
er  vielmehr  das  äusserste  Gegentheil  eines  solchen  Fortschrittes 
als  den  wirklichen  Zustand  in  Rom  mit  den  lebendigsten 
Farben  zu  schildern  sich  genöthigt  sieht. 

Wir  wollen  schliesslich  aus  dem  Gesammtzustande  des 
römischen  Lebens  in  der  Cäsarenzeit  ein  Moment  hervorheben, 
um  einestheils  daran  zu  zeigen,  wie  leicht  Baur  sich  hat  ver- 
führen lassen,  um  zu  dem  falschen  Ruhm  eines  sittlichen  Um- 
schwunges und  Fortschrittes  zu  gelangen,  um  anderntheils  an 
diesem  Moment  deutlich  zu  machen,  dass  es  hier  nicht  aufs 
Reden,  sondern  aufs  Handeln  und  Leiden  ankommt.  Es  ist 
richtig,  dass  Wort  und  Begriff  von  ,,genus  humanum"  dem 
gebildeten  Bewusstsein  der  Römer  in  der  Zeit  des  römischen 
Weltreiches  geläufig  wurde. 

Als  eine  verstandesmässige  Folgerung    dieses  Bewusstseins 

.  spricht    Seneca    den    erhabenen    Satz    aus:     ,,homo    sacra    res 

homini"  (Ep.  XCV  33).     Mit  diesem    correcten    und  eleganten 

tSatz  streitet  nun  wie  die  Faust   aufs  Auge    der  blutige  Greuel 


241 

des  Gladiatorenwesens.  So  viel  Wirkung  hat  nun  der 
Stoicismus,  dass  Marcus  Aurelius  das  Gladiatorenunwesen  ein 
wenig  mässigt  (Hist.  Aug.  I  332—417).  i\ber  was  will  das 
sagen,  wenn  sein  Nefte  die  Fechterspiele  als  Hochgenuss  bei 
seinen  nächtlichen  Gastmählern  einführt  (1.  c.  p.  417)?  Oder 
wenn  der  feingebildete  Plinius  junior  bedauert,  dass  die 
gekauften  Panther  aus  Afrika  für  das  Gladiatorenspiel  seines 
Freundes  Maximus  zu  spät  angekommen  sind  (Ep.  VI  24)? 
In  einer  Zeit,  in  welcher  das  Christenthum  seinen  humanitären 
Einfluss  bereits  siegend  geltend  machte,  war  der  Präfect 
Symmachus  ein  eifriger  Kämpfer  des  Heidenthums  gegen  das 
vordringende  Christenthum.  Diesem  waren  neunundzwanzig 
kriegsgefangene  Sachsen  übergeben,  welche  er  zur  Lust  des 
Volkes  im  Amphitheater  wollte  morden  lassen.  Als  nun  diese 
Germanen  ihm  durch  gegenseitige  Tödtung  zuvorkamen,  war 
der  Mann  ausser  sich  über  diesen  Frevel  (Epist.  S.  II  46) ! 
Welchen  Werth  haben  alle  durch  den  vermeintlichen  Umschwung 
erzeugten  humanen  Worte,  Gedanken  und  Regungen,  wenn  ein 
Mann,  der  sich  mit  dem  Beispiel  des  Sokrates  zu  trösten 
sucht,  die  Ausübung  der  abscheulichsten  römischen  Barbarei 
als  ein  heiliges  Recht  in  Anspruch  nimmt ?  Theodoret  erzählt: 
,,zur  Zeit  des  Kaisers  Honorius  kam  ein  Mönch  Namens 
Telemachus  aus  dem  Morgenland  nach  Rom,  amd  als  er  das 
blutige  Fechterspiel  sah,  ward  er  so  vom  Mitleid  ergriffen, 
dass  er  sich  in  die  Arena  stürzte,  um  dieses  gefeierte  Menschen- 
morden zu  hindern  und  somit  ein  Opfer  der  Volkswuth  wurde 
(Theodor,  hist.  eccl.  V  26).  Nicht  Senecas  Spruch  sondern 
des  Mönches  Selbstopfer  hat,  wenn  auch  nicht  das  Unwesen 
sofort  aufgehoben,  doch  einen  wirksamen  Anstoss  gegen  diesen 
barbarischen  Greuel  in  Rom  gegeben. 

Diese  alles  stoische  Pathos  überbietende  und  verdunkelnde 
That  des  Mönches  Telemachus  führt  uns  zurück  zu  dem  Inhalt 
unseres  vierten  Abschnittes.  Als  die  beiden  grundstürzenden 
Lügenmächte  der  Weltzeit  enthüllten  sich  uns  in  dem  vierten 
Abschnitt  der  Cäsarcultus  und  der  Baalcultus  dergestalt,  dass 
die  Errettung  der  Menschheit  aus  dem  Abgrund  der  welt- 
mächtigen Lüge    davon    abhängt,    dass    diese  Gewalten  besiegt 

16 


242 

und  cntmächtigt  werden.  Die  Geschichte  der  Menschheit  tritt 
ein  in  eine  entscheidende  Krisis,  und  Seneca,  ein  auf  die  welt- 
geschichtUche  Höhe  gestellter  Mann,  ist  nach  seiner  Geistes- 
richtung und  Thätigkeit  seiner  Zeit  und  Weltlage  gegenüber 
bei  dieser  Krisis  betheiligt,  und  die  Art  dieser  Betheiligung 
wird  uns  weiteren  x-\ufschluss  geben  sowohl  über  diesen  Mann 
als  über  die  feindliche  Grundmacht. 

Aus  den  Thatsachen,  die  wir  im  dritten  Abschnitt  erörtert 
haben,  hat  sich  ergeben,  dass  Seneca  weit  entfernt  ist,  die 
beiden  feindlichen  Gewalten  zu  überwinden.  Wir  haben  eine 
Reihe  von  Thatsachen  kennen  gelernt,  welche  mit  höchst 
beschämender  Deutlichkeit  beweisen,  dass  Seneca  anstatt  den 
Cäsarcultus  zu  brechen,  nicht  bloss  in  seiner  Stellung  zu 
Claudius  sondern  auch  in  seinem  Verhalten  zu  Nero  über  den 
sacrilegischen  Cäsarcultus  so  wenig  erhaben  ist,  dass  er  viel- 
mehr dieses  grundverderbliche  Unheil  durch  sein  einflussreiches 
Beispiel  an  seinem  Theil  noch  verstärkt  hat.  Und  was  den 
Baalcultus  anlangt,  so  bleibt  immer  die  Anklage  des  Augustinus 
von  Bestand,  dass  Seneca  zwar  tapferer  als  \'arro  gegen  die 
volksverführende  Unsauberkeit  des  Cultus  geschrieben,  aber 
als  Senator  ebenso  wie  seine  Collegen  durch  die  Anwohnung 
und  Leitung  der  anstössigen  Feste  und  Ceremonien  jene 
Censur  vernichtet  und  durch  sein  Beispiel  das  Volk  jenen 
Attentaten  auf  den  Rest  seiner  Sittlichkeit  Preis  gegeben  habe. 
Ausserdem  bleibt  an  Seneca  der  Makel  hängen,  dass  er  dem 
jungen  Cäsar  auf  seiner  jähen  Bahn  zu  dem  Abgrund  der 
Lüste  den  ersten  Anstoss  gegeben  hat.  Somit  selbst  ver- 
flochten in  die  \'erführungsmacht  jener  beiden  Gewalten, 
stellt  sich  Seneca  als  einen  Solchen  dar,  dem  in  der  welt- 
geschichtlichen Krisis  jener  Zeit  ein  Siegespreis  nicht  zuerkannt 
werden  kann.  Aber  andererseits  zeigt  sich  gleichfalls,  dass 
die  bösen  Gewalten  Seneca  gegenüber  nicht  widerstandlos 
gesiegt  haben,  ja,  dass  ein  Widerstand  ihnen  gegenüber  sich 
behauptet  hat.  Allerdings  hat  Seneca  die  abgöttische  Burg 
nicht  erobert,  aber  auch  jene  Feinde  haben  nicht  den 
Ruhm,  dass  sie  den  Widerstand  des  Stoikers  stumm  und 
todt    gemacht    haben.     Hier   muss   demnach  die   weltgeschicht- 


243 

liehe  Stelle  sein,  die  durch  den  Namen  Senecas  bezeichnet 
wird. 

Dass  Seneca  von  den  bösen  Gewalten,  welche  in  jener 
Zeit  die  Welt  beherrschten  und  darauf  gerichtet  waren,  die 
Menschheit  für  immer  von  dem  schöpferischen  Quell  ihres 
Daseins  loszureissen,  nicht  überwältigt  worden  ist,  freilich 
andererseits  auch  nicht  die  Macht  besass,  diese  feindlichen 
Gewalten  zu  besiegen,  das  zeigt  sich  Beides  auf  unzweideutige 
Weise  in  seinem  Sterben. 

Das  antike  Heidenthum  hat  sich  in  Gedanken  viel  mit 
dem  Tode  beschäftigt,  und  es  giebt  zwei  Fälle  im  Heidenthum, 
in  welchen  wir  das  Sterben  bis  zum  letzen  Hauch  begleiten 
können.  Die  Jünger  des  Sokrates  haben  dafür  gesorgt,  dass 
wir  von  den  letzten  Tagen  und  Stunden  ihres  Meisters  uns 
eine  anschauliche  Vorstellung  machen  können.  Diesem  Sterben 
des  Sokrates  in  der  Metropole  der  hellenischen  Bildung  steht 
gegenüber  das  Sterben  Senecas  in  der  Hauptstadt  des 
römischen  Reiches.  Der  ehrwürdigste  Historiker  des  heid- 
nischen Alterthums  hat  seinen  Griffel  angesetzt,  um  das  Sterben 
Senecas,  des  literarisch  berühmten  und  staatlich  hochgestellten 
Römers  zu  beschreiben.  Man  merkt  es  dem  Ton  der  aus- 
führlichen Erzählung  an,  dass  sie  auf  einer  tiefen  Empfindung 
des  tragischen  Vorganges  beruht,  und  man  muss  dem  Philologen 
Spalding  Recht  geben,  dass  es  ein  bedeutender  Mann  muss 
gewesen  sein,  dessen  Sterben  den  Tacitus  zu  einem  solchen 
Bericht  inspiriit  hat. 

Aber  obwohl  die  Erzählung  des  Tacitus  von  dem  Ende 
Senecas  in  sich  selber  und  abgesehen  von  allem  Anderen  bei 
keinem  empfänglichen  Leser  ihres  bleibenden  Eindruckes  ver- 
fehlen kann,  so  fehlt  doch  noch  viel  an  der  vollen  Würdigung 
derselben.  Dieses  Sterben  mus  von  dem  Gesichtspunkt  der 
ganzen  öffentlichen  und  individuellen  Lage,  in  welcher  sich 
Seneca  befindet,  gewürdigt  werden. 

Da  meines  Erachtens  dieses  merkwürdige  Schriftstück 
viel  zu  wenig  beachtet  wird,  ja  auch  viel  zu  wenig  bekannt  ist, 
so  schien  es  mir  angemessen  und  dem  Zweck  meiner  Schrift 
entsprechend    zu    sein,    wenn   ich    an  dieser  Stelle  den  ausführ- 

16* 


244 

liehen  Bericht  des  Tacitus    nach    der  Uebersetzung  (von  Roth) 
mittheiie.     Nachdem  Tacitus  die  Thatsachen  der  Verschwörung- 
des  Piso  berichtet,  fährt  er  folgendermassen  fort  (Ann.  XV  60): 
,, Zunächst     Hess     Nero    den    Tod     des    Consuls    Plautius 
Lateranus    folgen    mit  solcher  Eilfertigkeit,    dass    er  ihm  keine 
Umarmung   seiner  Kinder,    nicht    die    paar  Minuten    zur  Wahl 
seines  Todes  gönnte.     Plötzlich  nach  dem   Ort  geschleppt,    wo 
man  nur  die  Sclaven  hinrichtet,  wurde  er  durch  die  Hand  des 
Tribunus  Statins  hingewürgt,  mannhaft  schweigend,    ohne  dem 
Tribun   dessen  Theilnahme   an    derselben    Sache    zum   Vorwurf 
zu    machen.      Dann   kam   Annaeus    Senecas   gewaltsamer   Tod, 
dem  Regenten    das  Erwünschteste,    nicht  weil  er  denselben  als 
erklärten  Mitverschworenen    erkannt  hatte,    sondern  um  blutige 
Gewalt    anwenden    zu    können,     weil    es    mit    dem    Gift    nicht 
gegangen  war.  *)    Ein  Tribun,   der  Prätorianer  Gavius  Silvanus, 
erhielt  Befehl,    Seneca    zu    befragen,    ob    er    die  Aussage    des 
Natalis  über  seine  Verbindung  mit  Piso  anerkenne.  ■•'■**)  Seneca  war 
zufälligerweise  oder  vielleicht  absichtlich  auf  denselben  Tag  aus 
Campanien  zurückgekehrt  und  auf  einem  Landsitz  im  Weichbild 
der  Hauptstadt    eine  Meile    von    da    abgestiegen.     Dahin    kam 
der    Tribun    kurz    vor    Abendzeit    und    sperrte    das    Landhaus 
durch  Soldaten  ab,  dann  machte  er  ihn,    der  mit  seiner  Gattin 
Pompeja  Paulina    bei  Tische   sass,    mit    dem  bekannt,    was  der 
Kaiser  ihm  aufgetragen  hatte.     Seneca  antwortete,  dass  er  Piso 
nicht  vorgelassen,  habe  er  mit  der  Rücksicht  auf  seine  Umstände 
und  mit  seinem   Verlangen  nach  Ruhe  entschuldigt.    Uebrigens 
aber    die  Existenz   eines  Privatmannes   höher   anzuschlagen    als 
seine  eigene,    habe    er    keinen  Grund    gehabt,    und    ein  Freund 
von  Complimenten  sei  er  nicht,    das  wisse  Niemand  so  gut  als 
Nero,    der    in    Seneca    öfter    den    freimüthigen    Mann    als    den 


*)  Einige  berichten,  sagt  Tacitus  Ann.  XV  45,  dass  auf  Neros  Geheiss 
dem  Seneca  von  seinem  Freigelassenen  Cleonicus  Gift  beigebracht  worden  sei, 
ohne  dass  dasselbe  Wirkung  gehabt. 

**)  Natalis  hatte  als  eine  Aeusserung  Senecas  das  Wort  berichtet,  seine 
Existenz  hange  an  der  des  Piso;  Seneca  leugnet,  dieses  Wort  gesagt  zu  haben ; 
es  stehe  im  Widerspruch  mit  seiner  wirklichen  Lage  und  mit  seiner  bekannten 
Freimüthigkeit. 


245 

gehorsamen  Diener  gefunden  habe.  Als  der  Tribun  im  Beisein 
Poppaeas  und  Tigellinus',  welche  mit  Nero  das  geheime  Cabinet 
des  mordsüchtigen  Fürsten  bildeten,  die  Antwort  Senecas 
berichtete,  fragte  er  (Nero),  ob  Seneca  Anstalten  zum  frei- 
willigen Tode  mache  ?  Der  Tribun  antwortete :  Nichts  habe 
Furcht  verrathen,  keine  Niedergeschlagenheit  sei  in  seinen 
Aeusserungen  oder  in  seinem  Angesicht  zu  finden  gewesen. 
So  musste  er  denn  wieder  hingehen  und  den  Tod  ansagen. 
Fabius  Rusticus  erzählt,  der  Tribun  habe  denselben  Weg,  den 
er  hergenommen,  nicht  wieder  gemacht,  sondern  sei  abseits  zu 
dem  Obersten  Faenius  gegangen,  habe  diesem  des  Kaisers 
Befehl  mitgetheilt  und  gefragt,  ob  er  gehorchen  solle,  und  der 
habe  ihn  angewiesen,  denselben  zu  vollziehen.  Alle  mussten 
Memmen  sein.  Denn  auch  Silvanus  war  im  Complott  und 
förderte  noch  die  Frevelthaten,  für  welche  auch  mit  seiner  Zu- 
stimmung Rache  zu  nehmen  war.  Doch  die  Ansprache  und 
das  Zuschauen  mied  er  und  schickte  den  Centurio  hinein  zu 
Seneca,  ihm  anzukündigen,  dass  er  sterben  müsse  ■"^*)  Ohne 
Bestürzung  verlangt  Seneca  sein  Testament,  und  auf  des 
Centurios  Verbot  richtete  er  an  seine  Freunde  das  Wort,  weil 
man  es  ihm  versage,  sich  thätig  dankbar  für  das  Gute  zu  er- 
weisen, das  er  von  ihnen  empfangen,  so  vermache  er  ihnen 
das  Einzige,  aber  auch  das  Schönste,  was  er  noch  habe,  das 
Bild  seines  Lebens,  wenn  sie  das  im  Herzen  trügen,  würden 
sie  sich  als  Männer  von  edlem  Sinn  und  dazu  noch  als  treue 
Freunde  einen  Namen  machen.  Zugleich  suchte  er  bald  im 
Tone  der  Unterhaltung,  bald  ernsthafter  in  dem  der  Zurecht- 
weisung, die  weinenden  Männer  zur  Fassung  zu  bringen,  indem 
er  fragte:  wo  denn  die  Lehren  der  Weisheit  seien,  wo  das 
Verhalten  gegenüber  dem  Geschick,  worauf  sie  so  viele  Jahre 
her    sich    vorbereitet    hätten  ?     Denn    welcher    Mensch    Neros 


*)  Obwohl  Faenius  und  Silvanus  zu  den  Verschworenen  gehörten  und 
also  das  Racheamt  gegen  Nero  ausüben  wollten,  gaben  sie  sich  dazu  her,  den 
Mordbefehl  Neros  gegen  Seneca  zu  vollziehen,  obgleich  Silvanus  die  persönliche 
Begegnung  mit  Seneca  fürchtete  und  deshalb  einen  Centurio  beauftragte,  Neros 
Todesurtheil  zu  vollziehen.  Alle  mussten  Memmen  sein,  sagt  Tacitus  im  Zorn 
und  Abscheu. 


246 

Mordlust  nicht  gekannt  habe?  Und  nachdem  dieser  Mutter 
und  Geschwister  umgebracht,  bleibe  ihm  ja  nichts  Weiteres 
noch  zu  thun,  als  dass  er  des  Erziehers  und  Lehrers  Blut 
vergiesse. 

Als  er  Solches  und  Aehnliches  zu  Allen  geredet,  umfasste 
er  seine  Gattin,  und  im  Widerspruch  mit  der  Entschlossenheit 
des  vorigen  Augenblicks  etwas  weicher  gestimmt,  bittet  und 
beschwört  er  dieselbe,  sie  möchte  doch  ja  sich  nicht  endlosem 
Leide  hingeben  sondern  in  Beschauung  seines  tugendhaft 
geführten  Lebens  sich  den  Schmerz  um  den  Gemahl  durch 
edle  Trostmittel  erträglich  machen.  Sie  dagegen  erklärt  mit 
Ernst,  der  Tod  sei  auch  ihr  zugedacht,  und  begehrt  durch 
fremde  Hand  zu  sterben,  Seneca  darauf,  ihr  ruhmwürdiges 
Beginnen  nicht  zu  hindern  und  auch  aus  zärtlicher  Vorsorge, 
das  einzig  geliebte  Wesen  nicht  künftiger  Misshandlung  preis- 
zugeben, spricht:  ,,ich  habe  dich  auf  die  Dinge  hingewiesen,, 
welche  zum  Leben  einladen,  du  wählst  einen  schönen  Tod, 
ich  lasse  dir  den  Vortritt,  so  soll  denn  unsere  Willensstärke 
in  so  muthigem  Scheiden  die  gleiche,  aber  dein  Sterben  das 
ehrenreichere  sein".  Hierauf  Hessen  sie  sich  mit  einem  Schnitt 
die  Arme  öffnen.  Da  aber  aus  Senecas  altem,  durch  spärliche 
Kost  noch  geschwächtem  Körper  das  Blut  nur  langsamen  Ab- 
gang fand,  so  Hess  er  auch  an  den  Beinen  und  Kniekehlen 
sich  die  Adern  schlagen.  Und  durch  grausame  Qualen 
erschöpft,  fürchtete  er  durch  seine  Schmerzen  den  Muth  seiner 
Gattin  schwächer  werden  zu  sehen  und  selbst  im  Anschauen 
ihrer  Pein  kleinmüthig  zu  werden,  und  rieth  ihr  darum,  sich 
nach  einem  anderen  Zimmer  zu  begeben.  Und  selbst  noch  im 
letzten  Augenblicke  seiner  Redegabe  mächtig,  gab  er  seinen 
Schreibern,  die  er  herkommen  Hess,  gar  Vieles  in  die  Feder, 
was  mit  seinen  eigenen  Worten  bekannt  gemacht  worden  ist 
und  ,,ich  darum  zu  übertragen,  fügt  Tacitus  hinzu,  nicht  nöthig 
erachte".  Doch  Nero,  welcher  keinen  persönlichen  Hass  gegen 
Paulina  hatte  und  den  üblen  Eindruck  der  Grausamkeit  nicht 
wollte  stärker  werden  lassen,  gebot  ihren  Tod  zu  verhindern. 
Aufgefordert  von  den  Soldaten,  verbanden  ihre  Sclaven  und 
Freigelassene  die  Arme  und  stillten  das  Blut,  man  weiss  nicht. 


247 

ob  ohne  dass  sie  es  wahrnahm.  Denn  wie  ja  die  Leute  Heber 
das  Schhmmere  annehmen,  man  glaubte  zum  Theil,  so  lange 
sie  in  Nero  den  unversöhnlichen  Feind  fürchtete,  habe  sie  in 
der  Todesgemeinschaft  mit  ihrem  Gemahl  sich  einen  Namen 
machen  wollen,  aber  dann  dem  Reize  des  Fortlebens  nicht 
widerstanden,  als  sich  die  bessere  Aussicht  eröffnete.  Sie  lebte 
von  da  an  noch  wenige  Jahre  in  löblichem  Andenken  an  ihren 
Gemahl  und  so  weiss  durch  völlige  Entfärbung  des  Gesichts 
und  der  Glieder,  dass  die  Entweichung  eines  grossen  Theiles 
des  Lebenselementes  unverkennbar  war.  Da  indessen  bei  Seneca 
das  unmerklich  langsame  Absterben  fortdauerte,  bat  er  einen 
lange  schon  als  treuen  Freund  und  geschickten  Arzt  er- 
probten Mann,  Statins  Annaeus,  den  Gifttrank,  womit  er  sich 
geraume  Zeit  vorher  versehen,  den,  wodurch  man  in  Athen  die 
vom  Staatsgerichtshof  Verurtheilten  sterben  lasse,  herbeizu- 
bringen, und  als  der  kam,  trank  er  ihn  ohne  Erfolg,  schon 
erkaltet  an  den  Gliedern  und  unempfänglich  für  die  Wirkung 
des  Giftes.  Zuletzt  trat  er  in  ein  Bassin  mit  warmem  Wasser 
und  besprengte  die  nächststehenden  Sclaven,  indem  er  sagte, 
das  sei  sein  Trankopfer  für  Jupiter  den  Befreier  ■"•'•■).  Dann  noch 
ins  heisse  Bad  gebracht  und  durch  dessen  Dampf  entseelt, 
wurde  er  ohne  alle  Leichenfeier  verbrannt.  So  hatte  er  letzt- 
willig verordnet  zu  einer  Zeit,  wo  er  noch  auf  der  Höhe  des 
Reichthums  und  der  Macht  doch  schon  über  seine  Bestattung 
verfügte"  (Tacitus  Annal.  XV"  60—64). 

Dass  dieser  Bericht  zu  den  bedeutsamsten  und  w^erth- 
vollsten  Stücken  der  antiken  Literatur  gehört,  leuchtet  ohne 
Weiteres  ein,  aber  unvergleichlich    gewinnt    die   Bedeutsamkeit 


*)  Ein  religiöser  Zug  des  sterbenden  Philosophen,  worin  Thrasea  Paetus 
ihm  nachfolgt  (Tacit.  Ann.  XVI  35}.  Nach  Lipsius  (ad  Tacit.  Ann.  XVI  35) 
war  das  Trankopfer  eine  übliche  Spende  beim  Gastmahl.  Die  beiden 
sterbenden  Philosophen  wollen  durch  diese  Ceremonie  zu  erkennen  geben, 
dass  sie  ihr  Schicksal  hinnehmen  als  eine  Wohlthat.  Wie  Cato  durch  Selbst- 
tödiung  zur  Sicherheit  und  Befreiung  gelangt,  so  denken  sich  Seneca  und 
Thrasea  durch  Neros  Mörderhand  aus  dem  Stande  der  allgemeinen  Knecht- 
schaft befreit.     Die  einzige  Aufgabe  ist,   mit  Ehren  sterben  (Dio  60   16). 


248 

derselben,  wenn  man  sich  überzeugt,  dass  das  Verhalten  Senecas 
Angesichts  des  Todes,  wie  er  hier  ausführHch  beschrieben  ist, 
ganz  genau  dem  entspricht,  was  dieser  Stoiker  während 
seines  Lebens  in  Ansehung  des  Sterbens  erstrebt  und  sich  vor- 
gesetzt hat. 

Von  Alters  her  ist  in  der  antiken  Welt  die  Betrachtung  des 
Todes  und  die  Vorbereitung  auf  das  Sterben  für  ein  Haupt- 
werk der  Philosophie  angesehen  worden.  ,,Tota  vita  philoso- 
phorum,  ait  Socrates,  commentatio  mortis  est"  (Cicero  Tuscul. 
Quaest.  I  30).  Dieser  Ausspruch  des  Socrates  findet  sich  in 
Piatos  Phaedon  c.  IX,  XII,  XXIX.  Der  Platoniker  Apulejus 
drückt  denselben  Gedanken  noch  stärker  aus:  ,,philosophiam 
esse  existimandam  mortis  affectum  consuetudinemque  moriendi" 
(De  Plat.  dog.  Opera  II  p.  251  ed.  Oudendorp).  Seneca 
erinnert  an  Plato:  ,,Plato  clamat,  sapientis  animum  totum  in 
mortem  prominere,  hoc  velle,  hoc  meditari,  hac  semper  cupidine 
ferri  in  exteriora  tendentem"  (Ad  Marc.  XXIII  2).  Nach- 
drücklicher jedoch  kann  die  Todesbetrachtung  als  charakteristi- 
scher Zug  der  antiken  Philosophie  überhaupt  nicht  aus- 
gesprochen werden  als  dadurch,  dass  Seneca  selbst  den  Epikur 
als  Wahrheitszeugen  für  diesen  philosophischen  Ernst  anführt : 
,,Epicurus  ait:  egregia  res  est,  mortem  condiscere ;  meditare 
mortem"  (Ep.  XXVI  8  9).  Seneca  selber  wird  nicht  müde,  an 
diese  Pflicht  zu  mahnen.  ,,Tu  ut  mortem  nunquam  timeas  semper 
cogita"  (Ep.  XXX  18);  ,,nulla  res  magis  proderit  quam  cogitatio 
mortalitatis"  (de  ira  III  42  2).  Mit  demselben  Ernst  wird 
gewarnt  vor  ,,voluntaria  mortis  oblivio"  (Ad  Polyb.  XI  i). 
Diese  pflichtmässige  Betrachtung  des  Todes  nimmt  aber  bei 
Seneca  eine  ganz  bestimmte  Richtung,  eine  Richtung,  welche 
bereits  von  Plato  in  einem  begeisterten  Augenblick  vor- 
gezeichnet ist.  Wir  haben  schon  gelegentlich  auf  diese  Richtung 
hingewiesen,  hier  aber  ist  die  Stelle,  wo  wir  mit  ganzem 
Nachdruck  dieselbe  zu  betrachten  und  darzulegen  haben. 

In  dem  zweiten  Buch  vom  Staat  legt  es  Plato  darauf  an, 
das  Standbild  des  wahrhaft  Gerechten  vor  den  Augen  seiner 
Leser  aufzurichten.  Der  wahrhaft  Gerechte,  sagt  Plato,  muss 
nicht  mürbe  zu  machen   sein  durch    den  bösen  Ruf  und  dessen 


249 

Folgen,  sondern  er  sei  unwandelbar  bis  zum  Tode,  dem  Scheine 
nach  ein  Ungerechter  sein  Leben  lang,  in  der  That  ein 
Gerechter ;  der  wahrhaft  Gerechte  wird  behandelt  als  der 
Ungerechte,  er  wird  gegeisselt,  gefoltert,  gebunden,  mit 
glühendem  Eisen  geblendet  und  zuletzt  gespiesst"  (II  361). 
Wer  erkennt  nicht  in  diesem  Standbild  des  Gerechten  die 
Grundzüge  des  Weisesten  unter  den  Hellenen,  der  eben  in- 
dem er  von  der  höchsten  Staatsgewalt  als  ein  Gottloser  und 
Volksverführer  hingerichtet  wurde,  seine  Gerechtigkeit  auf  eine 
neue  und  unzweifelhafte  Weise  thatsächlich  offenbar  machte. 
In  der  Verurtheilung  des  Sokrates  hat  sich  gezeigt,  dass  das 
bestehende  Staatswesen  in  das  völlige  Gegentheil  seiner  ursprüng- 
lichen Bestimmung  verkehrt  ist.  Eine  verderbliche  Wirkung 
dieser  in  der  Verurtheilung  des  Sokrates  sich  enthüllenden 
Verkehrung  der  Staatsordnung  hat  sich  uns  gezeigt  in  der 
Halbheit,  mit  welcher  Plato  seine  Censur  der  mythischen  An- 
stössigkeiten  abschwächt.  Eine  heilsame  Wirkung  jener  Ver- 
kehrung der  öffentlichen  Ordnung  auf  Plato  ist  die  Auf- 
richtung jenes  grossen  Standbildes  des  wahren  Gerechten,  die 
tiefsinnigste  Weissagung  des  heidnischen  Alterthums  auf  die 
höchste  Offenbarung  des  wahrhaft  Gerechten, 

Die  Richtung,  welche  die  Todesbetrachtung  Senecas  nahm, 
ist  die,  dass  er  sich  den  Tod  meistens  vorsteUt  umgeben  von 
[grausamer  Gewalt  und  öffentlicher  Schmach  und  Schande.  Das 
grausame  Cäsarenregiment  unter  Tiberius,  Caligula,  Claudius 
Nero,  welches  vielfach  gegen  Tugend  und  Rechtschaffenheit 
Verfolgung  erhob,  gab  einem  Mann,  der  in  Rom  wohnte  und 
dreissig  Jahre  in  unmittelbarer  Nähe  des  Hofes  lebte,  Anlass 
genug,  die  Scenen  grausamer  und  ungerechter  Todesarten  sich 
zu  vergegenwärtigen.  Unauslöschlich  steht  vor  der  Seele 
Senecas  das  schreckliche  Bild  des  Kaisers  Cajus,  von  dem  er 
schreibt:  ,,hunc  videtur  rerum  natura  edidisse,  ut  ostenderet, 
quid  summa  vitia  in  summa  fortuna  possent"  (Ad  Helv.  X  4). 
,,Hunc  rerum  natura  in  exitium  et  opprobrium  humani  generis 
•edidit"  (Ad  Polyb.  XVII  3).  Seneca  lässt  es  sich  angelegen 
sein,  die  grausamen  Handlungen  dieses  Cäsar  im  Einzelnen 
zu  beschreiben  und  zum  Theil  auszumalen  (De  ira  II  33   3  —  6, 


250 

III  t8  3  4,  19  1  —  5,  Ad  Polyb.  XIII  4,  XVII  4-6).  Diese 
Schilderungen  finden  sich  in  den  frühesten  Schriften  Senecas  und 
beweisen  also,  dass  er  sich  früh  gewöhnt,  gegen  ,,das  frei- 
wilhge  Vergessen  des  Todes",  wie  er  es  nennt,  sich  zu  wehren. 
Die  Beobachtung  und  Erfahrung  in  der  Nähe  der  cäsarischen 
Gewalt  erweitert  seinen  Blick  dergestalt,  dass  er  sich  auch 
vertraut  macht  mit  der  ,,Saevitia  intra  peregrina  exempla" 
(De  ira  III  18  i).  Die  Beispiele  von  Cambyses,  Harpagus,. 
Xerxes,  Alexander,  Phalaris,  Apollodorus  erwähnt  Seneca  nicht 
bloss,  sondern  er  bringt  dem  Leser  die  einzelnen  Züge  der 
barbarischen    Despoten    auch    zur   Anschauung    (De    ira    II    5, 

III  15,  Q.  N.  II  17).  Desgleichen  verweilt  Seneca  gerne  bei 
den  Leiden  und  Qualen,  welche  Männer  wegen  ihrer  Recht- 
schaffenheit von  der  ungerechten  Gewalt  erfahren  haben.  Ihm 
sind  Regulus  und  Cato  junior  ehrwürdige  und  nie  genug  zu 
betrachtende  Beispiele  (De  provid.  III  9 — 11,  De  tranq.  XVI  4, 
Ep.  LXVII  7  12,  LXXI  17).  Seneca  theilt  nicht  die  jetzt 
sehr  verbreitete  Anschauung,  welche  in  der  Freimüthigkeit  der 
republikanischen  Denkart  Nichts  als  unnütze  Ueberspanntheit 
und  Thorheit  finden  will.  Weiter  verallgemeinern  sich  ihm  die 
einzelnen  Beispiele  der  Art  zu  einer  Totalanschauung,  nach 
welcher  die  Macht  und  Gewalt  als  feindlich  und  die  Tugend 
und  Gerechtigkeit  als  bedroht  und  gefährdet  erscheint.  ,,Iratae 
leges  et  saevissimi  domini  minitantur"  (De  const.  VIII  3). 
,,Homines  potentes  manus  fortunae  sunt"  (ibid.)  ,,Non 
adhortabimur  ferre  imperia  carnificum"  (De  ira  III  15  3). 
,, Video  cruces  non  unius  quidem  generis,  sed  aliter  ab  aliis 
fabricatas,  capite  quidam  conversos  in  terram  suspendere,  alii 
per  obscoena  stipitem  egerunt,  alii  brachia  patibulo  explicuerunt, 
video  fidiculas,  video  verbera,  et  membris  singulis  et  articulif> 
singula    docuerant    machinamenta"    (Ad  Marc.    XX    3,    N.  Q. 

IV  praef   17). 

Wollte  man  diese  Weltanschauung  Pessimismus  nennen,  so 
würde  man  den  ganzen  Sinn  Senecas  nicht  treffen.  Diese 
Vergegenwärtigung  der  bösen  Gewalt  und  der  gefährdeten 
Tugend  dient  ihm  dazu,  nicht  bloss  des  Todes  überhaupt  ein- 
gedenk   zu    sein,    sondern    vornämlich    die  Kraft    zu    gewinnen, 


251 

einen,  wenn  es  sein   soll,    gewaltsamen  und    schimpflichen  Tod 
in  den  höchsten  moralischen  Sieg  zu  verklären. 

Es  sind  folgende  Lehren,  welche  Seneca  aus  jener  seiner 
Betrachtung  der  vorhandenen,  für  das  Gute  gefährdeten  Welt- 
lage gewinnt.  Man  muss  jeden  Tag  als  den  letzten  betrachten: 
,,omnis  dies  velut  ultimus  judicandus  est"  (De  moribus.  III  462  ' 
ed.  Haase).  In  Bereitschaft  muss  der  Geist  stehen :  ,,in  pro- 
cinctu  stet  animus"  (Ad  Polyb.j'XI  3).  ,,Ad  ultimum  usque 
diem  vitae  bonus  vir  stabit  paratus  et  in  hac  statione  morietur" 
(B.  V  2  4).  Von  dem  Ernst  der  Todesstunde  hat  Seneca 
einen  hohen  Begriff.  Da  jener  Tag  sein  Urtheil  fällen  wird 
über  alle  meine  Jahre,  so  sage  ich  zu  mir :  ,, Nichts  ist  Alles, 
was  wir  in  Worten  und  Werken  geschafft  haben,  leichte  und 
trügerische  Unterpfänder  der  Seele  sind  es,  in  viele  schmeich- 
lerische Hüllen  eingewickelt,  der  Tod  soll  mich  lehren,  was  ich 
erreicht  habe.  Jener  Tag  soll  sein  Urtheil  abgeben,  ob  ich 
bloss  tapfer  rede  oder  wirklich  so  gesinnt  bin,  ob  es  Verstellung 
und  Komödie  gewesen,  wessen  ich  mich  mit  hohen  Worten 
gegen  das  Schicksal  gerühmt  habe.  Fort  mit  dem  Rühmen 
der  Menschen,  es  ist  immer  zweifelhaft,  fort  mit  den  Studien 
des  ganzen  Lebens,  der  Tod  soll  über  dich  das  Urtheil  ver- 
kündigen" (Ep.  XXVI  5  6).  ,,Wir  sollen  die  letzte  Stunde, 
deren  Schrecken  allen  anderen  Stunden  die  Ruhe  nimmt,  mit 
Gelassenheit  erwarten"  (Ep.  IV  9).  ,,Wenn  man  den  Tod  in 
der  Nähe  sieht,  soll  man  nicht  bestürzt  werden,  als  ob  man 
etwas  Neues  sieht"  (Fragmenta  III  444  ed.  Haase).  ,,Oft  hört 
man  von  Solchen,  denen  der  Tod  ferne  ist,  dass  sie  sich  aus 
Todesfurcht  Nichts  machen,  aber  der  hat  bei  mir  mehr 
Gewicht,  der  in  der  Nähe  des  Todes  sich  ausspricht.  Meine 
eigentliche  Meinung  ist:  im  Sterben  selber  kann  ein  Mann 
seine  Tapferkeit  besser  bewähren,  als  Einer,  dem  der  Tod 
noch  bevorsteht"  (Ep.  XXX  7   8). 

Man  sieht,  das  Ziel,  welchem  Seneca  zustrebt,  ist,  was  die 
Stoiker  ,,in  actu  mori"  nennen.     Er  weiss    und    spricht  es  aus-     / 
drücklich  aus,    dass,    wer  dieses  Ziel  erreichen  will,   sich  lange 
darauf    vorbereiten    muss.      Immer     wieder    ruft    er    sich    ins 
Gedächtniss,    dass   der   schwerste  Tod    der   ist,    der  durch  eine 


252 

fremde  Gewalt  dem  Menschen  angethan  wird.  ,,Timentur,  quae 
per  potentiores  eveniunt.  Ex  his  omnibus  nihil  magis  nos 
concutit,  quam  quod  ex  ahena  potentia  impendet"  (Ep.  XIV  3  4). 
Diese  fremde  Gewalt  umgiebt  das  Todesleiden  mit  Feuer  und 
Schwert,  mit  Geissein  und  Foltern,  mit  dem  Geschrei  der 
Henker  (Ep.  XXIV  3  4).  Seneca  verlangt,  dass  dieser 
ganze  Apparat  eines  gewaltsamen  Todes  wie  des  Todes  Larve 
solle  angesehen  und  verachtet  werden,  aber  er  weiss,  dass 
dieses  nicht  durch  Worte  oder  durch  Verstandesschlüsse,  wie 
gewisse  Griechen  meinen,  ausgerichtet  werden  kann  (Ep. 
LXXXII  8  9).  Seneca  hat  an  Beispielen  erlebt,  er  weiss  es, 
w^elch  ein  ungeheurer  Ernst  in  den  Angriffen  der  höchsten 
Gewalt  auf  Leib  und  Leben  ist.  Aus  dem  wirklichen  Leben 
entnommen  sind  seine  folgenden  Sätze:  ,, magna  verba  excidunt, 
quum  tortor  poscit  manum"  (Ep.  LXXXII  7;;  ,,magnifica 
verba  mors  prope  admota  exuit"  (Troades  584).  Die  Tapfer- 
keit gegen  diesen  bedrohlichen  Eindruck  des  gegenwärtigen 
gewaltsamen  Todes  muss  errungen  werden  durch  beharrliches 
Besinnen:  ,,faciat  pectus  firmum  assidua  meditatio,  si  non  verba 
^xercueris  sed  animum,  si  contra  mortem  te  praeparaveris" 
(Ep.  LXXX  8),  welche  Mahnung  Seneca  an  einer  anderen 
Stelle  so  ausdrückt:  ,,nemo  non  fortius  ad  id,  cui  se  diu  com- 
posuerit  accessit  et  duris  quoque  si  praemeditata  erant  obstabit. 
Haec  assidua  cogitatio  praestabit,  ut  nulli  sis  malo  tiro"  (Ep. 
CVTI  4).  Durch  diese  beharrliche  und  ernstliche  Besinnung  ist 
Seneca  inmitten  seiner  Erlebnisse  in  der  Hauptstadt  des 
cäsarischen  Reiches  und  am  cäsarischen  Hofe  zu  der  Erkenntniss 
gekommen,  dass  es  ein  Erforderniss  für  das  Gemeinwohl  der 
Menschheit  ist,  dass  Einer  vorhanden  sei,  über  den  das 
Schicksal  Nichts  vermöge  (De  constant    XIX  4). 

So  entsteht  dem  Seneca,  allem  Anschein  nach  unabhängig 
von  Plato,  auf  dem  Boden  seiner  eigenen  Erfahrung  und 
Besinnung  das  Bild  des  zum  Heil  der  Menschheit  noth- 
wendigen  vollkommen  Gerechten,  ähnlich  jener  Platonischen 
Inspiration. 

Da  seit  den  Tagen    des  Sokrates    die  Ungerechtigkeit  dei 
höchsten  Gewalt  zugenommen  hat,  so  ist  Seneca  genötbigt  und 


253 

befähigt,  das  Bild  des  Gerechten  noch  weiter  auszumalen  als 
es  Plato  vermochte  und  bedurfte.  ,,Der  Weise  ist  gegen  jeden 
Angriff  gewaffnet,  er  weicht  keinen  Schritt  zurück  —  mag 
Schande,  mag  Sclimerz  ihn  bestürmen,  unerschrocken  wird  er 
dem  entgegengehen  und  mitten  unter  Solchem  wandeln'' 
(Ep.  LIX  8).  ,, Durch  keine  Unbill  soll  das  Schicksal  mich 
dahin  bringen,  dass  ich  das  Wort  höre :  was  nützt  mir  jetzt  der 
gute  Wille?  Der  gute  Wille  nützt  auch  auf  dem  Folterblock, 
nützt  auch  im  Feuer.  Wenn  das  Feuer  an  die  einzelnen 
Glieder  gebracht  wird  und  allmählich  den  lebendigen  Körper 
umgiebt,  wenn  das  Feuer  den  Körper,  in  welchem  das  gute 
Gewissen  wohnt,  auflöst,  so  wird  ihm  dieses  Feuer,  durch 
welches     die     gute    Gesinnung     verklärt     wird,     Wohlgefallen" 

(B.    IV    21    22). 

Seneca  verstärkt  das  Platonische  Bild  namentlich  noch 
dadurch,  dass  er  das  Moment  der  Schmach  und  Schande,  die 
den  Gerechten  umgiebt,  weit  mehr  hervortreten  lässt,  weil  in- 
zwischen in  dem  römischen  Cäsarenreich  das  öffentliche  Urtheil 
noch  weit  mehr  verfälscht  ist,  als  in  den  Tagen  Piatos,  Wir 
müssen  uns  hier  wieder  vergegenwärtigen  die  grossen  und 
schönen  Aussprüche  Senecas  über  den  Gegensatz  von  fama  und 
conscientia.  ,,Mit  vollem  Gleichmuth",  schreibt  Seneca,  ,, werde 
ich  meinen  Vorsatz  ausführen,  auch  wenn  er  mitten  durch 
Schande  hindurch  geht.  Niemand  scheint  mir  die  Tugend 
höher  zu  achten.  Niemand  ihr  mehr  ergeben  zu  sein,  als  wer 
den  Ruf  des  guten  Mannes  preisgiebt,  um  das  Gewissen  nicht 
zu  verletzen"  (Ep.  LXXXI  20).  ,,Die  Unschuld  muss  oft  einen 
Makel  auf  sich  nehmen  und  muss  bösen  Gerüchten  preis- 
gegeben werden"  (Ep.  LXXXI  27).  ,, Wahrlich,  oft  musst  du 
gerecht  sein  mit  Schande  behaftet,  und  dann  macht,  falls  du 
weise  bist,  der  üble  Ruf,  den  du  dir  auf  rechtmässige  Weise 
erworben,  dir  Freude"  (Ep.  CXIII  32).  ,,Wir  schauen  die 
Tugend  erdrückt  von  Niedrigkeit  und  Schmach"  (Ep.  CXV  6). 
,,Das  gute  Gewissen  erfreut  auch,  wenn  es  unterdrückt  wird, 
es  widerspricht  der  öffentlichen  Meinung,  macht  von  sich  Alles 
abhängig  und  wenn  es  den  grossen  Haufen  der  Gegner  auf  der 
anderen  Seite    erblickt,    zählt    es    nicht    die  Stimmen    sondern 


254 

gewinnt  den  Sieg  durch  eine  einzige  Stimme.  Wenn  es  aber 
sieht,  dass  die  gute  Gesinnung  mit  den  Strafen  der  Ungerechtig- 
keit belegt  wird,  steigt  es  nicht  herab  von  seiner  Höhe  sondern 
erhebt  sich  über  seine  Strafe"  (B.  IV  21  5 — 6).  Es  wird  hier 
der  ausserordenthche  Fall  gesetzt,  dass  der  Gerechte  von  seiner 
ganzen  Volksgemeinde  verworfen  wird. 

Als  eine  besondere  Höhe  erscheint  es  Seneca,  dass  der 
mit  dem  gewaltsamen  Tode  Bedrohte  Angesichts  des  Todes 
sich  über  den  Tod  vernehmen  lässt.  Das  ist  die  Höhe,  auf 
welcher  er  den  Sokrates  bewundert :  ,,Socrates  de  morte  dis- 
putavit  usque  ad  ipsam"  (De  provid.  III  12).  Etwas  Aehn- 
liches  hat  Seneca  an  einem  edlen  Römer  in  den  Tagen  des 
Caligula  erlebt.  Kanus  Junius,  von  Caligula  mit  dem  Tode 
bedroht,  sprach  dem  Kaiser  seinen  Dank  aus,  und  als  der 
Centurio  ihn  zu  seinem  Todesgang  abholen  wollte,  traf  er  ihn 
beim  Würfelspiel,  sofort  gab  er  das  Spiel  auf  und  sagte  zu 
seinem  Mitspieler:  ,,ich  rathe  dir,  dass  du  nach  meinem  Tode 
nicht  sagst,  du  habest  gewonnen,  und  rief  den  Officier  zum 
Zeugen  auf,  da.s3  er  um  ein  Auge  im  Vortheil  sei".  Zu  seinen 
trauernden  Freunden  sagte  er:  ,,ihr  fragt  noch,  ob  die  Seelen 
unsterblich  sind,  ich  weiss  es".  Ein  Philosoph,  der  ihn  begleitete, 
fragte  Kanus:  ,,was  denkst  du!  wie  ist  dir  zu  Muthe  r"  Kanus 
antwortete:  ,,ich  habe  mir  vorgenommen,  zu  beobachten,  ob 
die  Seele  in  jenem  flüchtigen  Augenblick  merkt,  dass  sie  davon 
geht".  ,, Dieser",  sagt  Seneca,  ,, macht  sein  Schicksal  zu  einem 
Beweisgrund  der  Wahrheit,  er  forscht  nicht  nur  bis  zum  Tode 
sondern  lässt  sich  durch  den  Tod  selber  belehren ;  länger  hat 
Keiner  philosophirt".  Begeistert  ruft  Seneca  aus:  ,, über  diesen 
grossen  Mann  soll  man  nicht  oberflächlich  hinweggehen,  man 
soll  seiner  mit  Bedacht  erwähnen,  wir  wollen  dieses  ruhmwürdige 
Haupt  einem  immerwährenden  Andenken  weihen,  er  behauptet 
unter  den  Schlachtopfern  des  Cäsar  eine  hohe  Grösse"  (De 
tranq.  XIV  4—6).  *j 


*)    Wer    kennt    selbst     unter     den     Gelehrten     trotz      dieses      feierlichen 
Gelübdes  diesen  Kanus  Tunius  - 


255 

Schliesslich  müssen  wir  uns  noch  einen  Zug  merken,  den 
Seneca  für  den  Weisen  und  Gerechten  Angesichts  des  Todes 
für  wesentlich  hält.  ,,Kgo  mortem  eodem  vultu,  cum  quo 
audiam,  videbo"  (De  vit.  beat.  XX  3).  ,, Nihil  ex  vultu  mutat; 
adversus  apparatus  terribilium  rectos  oculos  tenet"  (De 
const.  V  5). 

Nach  dem  Bericht  des  Tacitus  hat  der  Officier  Cäsars 
bezeugen  müssen,  dass  Seneca  Angesichts  des  Todes  das,  was 
er  sich  vorgenommen,  wahr  gemacht  hat. 

Nicht  wahr?  Angesichts  dieser  ernsten  Vorsätze  in  An- 
sehung des  Sterbens,  welche  wir  in  den  Schriften  Senecas  so 
zahlreich  finden,  gewinnt  die  Erzählung  des  Tacitus  von  dem 
Ende  dieses  Philosophen  noch  ein  viel  bedeutenderes  Gewicht, 
als  diese  Erzählung  schon  an  sich  selber  besitzt.  Nicht  bloss, 
müssen  wir  sagen,  ist  das  Verhalten  Senecas  in  seinen  letzten 
Stunden  ein  an  sich  höchst  würdiges  und  rühmliches  sondern 
dieses  Verhalten  ist  genau  so,  wie  er  es  sich  in  den  gehobensten 
Augenblicken  seines  Lebens  und  Denkens  gedacht  und  vor- 
genommen hat.  Wir  haben  verschiedene  Widersprüche 
zwischen  Verhalten  und  Lehren  unseres  Philosophen  aufdecken 
müssen,  aber  in  der  Hauptprobe  des  menschlichen  Lebens,  auf 
welche  Seneca  mit  grossem  Ernst  sich  selbst  hingewiesen  hat, 
in  dem  Sterben,  ist  kein  Widerspruch  zwischen  Lehren  und 
Verhalten.  Hier  zeigt  sich,  dass  eine  sehr  verbreitete  Ansicht, 
dass  Senecas  Tugend-  und  Weisheits-Lehren  Nichts  als  Phrasen 
seien,  gründlich  falsch  sein  muss. 

Wie  bedeutsam  ist  es,  dass  Nero  fragt,  wie  sich  Seneca 
benommen  habe  bei  der  Ankündigung  der  bedrohenden  Todes- 
gefahr. Nero  kann  bei  aller  Wüstheit  seines  Lebens  den  Ein- 
druck der  moralischen  Persönlichkeit  seines  alten  Lehrers  nicht 
los  werden ;  so  gerne  er  es  möchte,  so  kann  er  es  doch  nicht 
über  sich  gewinnen,  dass  es  ihm  gleichgültig  sei,  wie  sich 
Seneca  in  dieser  gegenwärtigen  Lage  verhalte.  Nero  erfährt 
nun  zu  seiner  Beschämung,  dass  Seneca  sich  genau  so  verhält, 
wie  er  sich  oft  vorgenommen,  was  Nero  nicht  kann  verborgen 
geblieben  sein.  Der  Tribun  antwortet:  nuUa  pavoris  signa, 
nihil    triste    in    verbis    ejus    aut    vultu    deprehensum".     Seneca 


256 

hatte  sich  vorgenommen:  ,,mit  derselben  Miene  werde  ich  den 
Tod  anschauen,  mit  welcher  ich  von  ihm  höre".  ,,Wenn  man 
den  Tod  in  seiner  Nähe  sieht,  soll  man  nicht  bestürzt  werden, 
als  ob  man  etwas  Neues  sieht."  Der  römische  Officier,  der 
Kaiser  Nero  und  sein  Cabinet,  Poppäa  und  Tigellinus  müssen- 
bezeugen,  dass  Seneca  gerade  so  dem  Tod  ins  Angesicht 
schaut,  wie  er  es  sich  gelobt  hatte.  Seneca  hatte  gelehrt,  dass 
die  Nähe  und  Gegenwart  des  Todes  die,  Selbsttäuschung  und 
den  Betrug  des  Lebens  vernichtet  und  den  Mann  so  zeigt, 
wie  er  wirklich  ist.  Seneca  bewährt  sich  in  dieser  Prüfung 
so,  wie  er  den  weisen  und  gerechten  Mann  beschrieben  hat. 
Seine  Miene  verändert  sich  nicht,  seine  Augen  zeigen  keine 
Furcht;  dieser  furchtlosen  Haltung  entspricht  auch  seine  Rede 
und  sein  ganzes  Verhalten  bis  zum  letzten  Hauch.  Er  lässt 
dem  Kaiser  durch  den  Tribun  sagen:  Nero  habe  öfter  in 
Seneca  den  freimüthigen  Mann  als  den  gehorsamen  Diener 
gefunden,  und  in  Gegenwart  des  Tribuns  spricht  er  von  Neros 
Mordlust,  ,,er  habe  Mutter  und  Geschwister  umgebracht  und 
nun  wolle  er  seines  Erziehers  und  Lehrers  Blut  vergiessen". 
Da  wir  wissen,  dass  Seneca  dem  Nero  oft  geschmeichelt,  dass 
er  einst  sogar  die  officielle  Vertheidigung  des  Muttermordes 
auf  sich  genommen  hat,  so  könnte  Seneca  nicht,  wie  er  hier 
that,  sprechen,  wenn  nicht  die  Nähe  des  Todes  ihm  eine 
gehobene  Stimmung  verleiht,  in  welcher  er  sich  erhaben  fühlte 
über  seine  eigenen  Schwächen  und  Fehler.  Wir  wissen,  dass 
Seneca,  wie  alle  Römer,  verstrickt  gewesen  in  den  Cäsarcultus, 
ja  dass  er  recht  eigentlich  diesen  widergöttlichen  Cultus 
gepflegt  und  gefördert  hat;  jetzt  aber,  da  Cäsar  seine  äusserste 
Gewalt  aufbietet  und  sein  Schwert  zieht,  zeigt  Seneca  im 
Sterben  eine  mannhafte  Freiheit,  welche  beweist,  dass  der 
Cäsarcultus  ihn  nicht  überwältigt  hat. 

Gleicherweise  beweist  das  Sterben  Senecas  eine  selbstlose 
Liebe,  welche  zeigt,  dass  das  andere  sacrilegische  Attentat  auf 
die  menschliche  Empfänglichkeit  für  das  Göttliche,  nämlich 
der  Baalcultus,  trotz  aller  Schwächen,  ihn  doch  nicht  unter- 
jocht hat.  Die  durch  den  abgöttischen  Cultus  privilegirte 
Augenlust,   Fleischeslust  und  Unzucht  hat  vor  Allem  das  grös.ste 


257 

Gotteswerk  innerhalb  der  natürlichen  Schöpfung,  die  Ehe, 
gestürmt  und  zerrüttet.  Die  Unzucht  ist  das  grösste  Unheil 
des  Jahrhunderts  geworden,  sagt  Seneca  (Ad  Helv.  XVI  3). 
Es  ist  dahin  gekommen,  dass  keine  Römerin  einen  Mann  hat, 
ohne  den  Ehebrecher  anzulocken  (B.  III  16  3),  dass  eine  sehr 
anständige  Art  von  Verlöbniss  der  Ehebruch  ist  (B.  I  9  4),  und 
Viele  sich  des  Ehebruchs  rühmen,  wie  Ovid  von  CatuU  berichtet 
{Ep.  LXXXVIII  23).  Nun  hatte,  wie  wir  wissen,  Seneca  selber  zu 
der  ersten  Störung  der  Ehe  des  Nero  die  Hand  geboten,  und 
Nero  war  auf  dieser  unheilvollen  Bahn  fortgegangen  bis  zur 
Ermordung  seiner  edlen  Gemahlin  und  zu  den  entsetzlichsten 
Ausschweifungen.  Ausserdem  wissen  wir,  dass  Seneca  den 
Muth  und  die  Kraft  nicht  besass,  dem  officiellen  Baalcultus, 
dieser  infernalen  Giftquelle  aller  Unzucht,  entgegenzutreten. 
Um  so  bedeutsamer  ist  es,  dass  wir  aus  dieser  Zeit  der  zucht- 
losen Zerrüttung  des  Ehelebens  ein  Zeugniss  aus  der  Hand 
Senecas  besitzen  über  die  Reinheit  und  Zärtlichkeit  seiner  Ehe 
mit  Pompeja  Paulina.  Je  seltener  Seneca  den  Lehrton  seiner 
Schriften  verlässt,  um  gemüthlichen  Aeusserungen  Raum  zu 
geben,  desto  werthvoUer  ist  uns  seine  Auslassung  über  sein 
Verhältniss  zu  seiner  Gattin  Paulina  im  Anfang  seines 
104.  Briefes  an  Lucilius.  Dreimal  braucht  er  hier  das  zärtliche 
Wort  mea  von  seiner  Paulina.  Wichtiger  aber  ist,  was  er  von 
ihr  mittheilt.  Er  erzählt,  dass  er  sich  in  seinen  alten  Tagen 
in  Rom  unwohl  gefühlt,  und  deshalb  habe  er  sich  auf  sein 
Landgut  Nomentanum  begeben,  um  sich  zu  schonen  und  zu 
pflegen.  Er  macht  dabei  bemerklich,  dass  diese  Rücksicht- 
nahme auf  seinen  körperlichen  Zustand  eigentlich  mit  seinen 
strengen  Grundsätzen  nicht  stimme,  aber  er  habe  diese  Rück- 
sicht genommen  und  diese  Abweichung  sich  erlaubt,  nicht 
seinetwegen  sondern  seiner  Gattin  wegen.  Da  er  nämlich 
wisse,  dass  ,,ihr  Odem  an  seinem  hänge",  so  fange  er  an,  für 
sich  selbst  zu  sorgen,  damit  er  für  sie  sorge.  ,, Diese  Sache", 
fährt  er  fort,  ,, trägt  in  sich  grosse  Freude  und  grossen 
Lohn,  denn  was  ist  erfreulicher,  als  einer  Gattin  so  theuer 
zu  sein,  dass  man  sich  ihretwegen  selber  theurer  wird". 
Dahin     gehört      auch      die     Aufforderung     Senecas      an     den 

17 


258 

Tugendlehrer:  ,,hoc  me  doce,  quomodo  uxorem  amem"  (Ep. 
LXXXVIII  7). 

Dieses  schöne  eigenhändige  Zeugniss  Senecas  über  seine 
Ehe  mit  PauHna  wird  nun  vollauf  bestätigt  und  besiegelt  durch 
den  Bericht  des  Tacitus  iiber  die  letzten  Stunden  Senecas. 
Nachdem  Seneca  sich  im  Allgemeinen  über  das  ihm  bevor- 
stehende Schicksal  vor  seinen  Freunden  mit  würdevoller 
Haltung  ausgesprochen,  lässt  er  den  strengen  Ton  fallen, 
wendet  sich  mit  zärtlicher  Liebe  an  seine  Gattin,  sucht  sie  zu 
trösten  und  zu  bewegen,  dass  sie  durch  edle  Trostgründe  die 
Sehnsucht  nach  dem  Gatten  erträglich  mache.  Es  will  etwas 
sagen,  dass  der  Stoiker  eben  jetzt,  da  er  sich  rüstet  gegen 
den  Tod,  seine  grundsatzmässige  Apathie  überwindet  und 
seiner  Gattin  gegenüber  das  Recht  des  Gemüthes  walten  lässt. 
Als  aber  Paulina  den  gleichen  Tod  mit  ihm  verlangt,  giebt  er 
nach,  da  ihm  diese  Freimüthigkeit  zum  Sterben  nach  seinen 
Grundsätzen  als  höchster  Adel  in  einer  Zeit,  die  keine  Hoff- 
nung mehr  bietet,  erscheinen  muss,  und  räumt  ihr  willig  ein  den 
Ehrenpreis  des  höheren  Ruhmes.  Seine  letzte  Fürsorge  ist,  zu 
verhüten,  dass  Paulina  nicht  durch  den  Anblick  seiner  Qualen 
mehr  als  nöthig  gepeinigt  werden  möchte,  oder  beweist  er 
noch  grössere  Liebe,  dass  er  fürchtet,  durch  den  Anblick  ihrer 
Leiden  selber  erweicht  zu  werden  r  Paulina  wurde  noch  auf 
einige  Jahre  am  Leben  erhalten,  aber  Tacitus,  der  auf  Alles, 
was  sich  in  diesen  wüsten  Zeiten  an  wahrer  Menschlichkeit 
noch  regt.  Acht  giebt,  unterlässt  es  nicht,  anzumerken, "  dass 
Paulina  in  löblichem  Andenken  an  ihren  Gatten  verharrte  und 
das  Zeichen  des  mit  ihm  erlittenen  Martyriums  in  Gesicht 
und  Gliedern  sichtbar  machte. 

Wie  der  Cäsarcultus  darauf  gerichtet  ist,  das  göttliche 
Ebenbild  der  menschlichen  Selbstständigkeit  und  Freiheit 
durch  eine  Menschenknechtschaft  sonder  Gleichen  auszulöschen, 
so  will  der  Baalcultus  das  göttliche  Ebenbild  der  menschlichen 
Liebe  und  Hingebung  durch  die  Fleischeslust  der  Selbstsucht 
vertilgen.  In  dem  Sterben  Senecas  liegt  der  Beweis,  dass  die 
mannhafte  Freiheit  durch  den  Cäsarcultus  in  der  Welt  noch 
nicht    hat    vernichtet    werden    können.     Ebenso   beweist    dieses 


259 

Sterben  an  der  höchsten  Stelle  der  Welt,  dass  auch  die  selbst- 
lose Liebe  durch  den  Baalcultus  noch  nicht  ausgerottet  ist. 
Während  das  Sterben  den  in  Sinnlichkeit  versunkenen  Menschen 
in  starre  Selbstsucht  bannt,  ist  der  sterbende  Seneca  so  weit 
von  sich  selber  los,  dass  Liebe  und  Sorge  für  seine  Nächsten, 
seine  Gattin  und  seine  Freunde  stärker  sich  beweisen  als  seine 
Todesleiden. 

Ja  nicht  bloss  für  die  Nächsten  waltet  hier  Liebe  und 
Sorge,  sondern  wie  er  sich  immer  am  liebsten  dachte  als  einen 
Lehrer,  einen  Mahner  und  Warner  an  die  Menschheit  der 
Gegenwart  und  Zukunft,  so  will  Seneca  den  letzten  Augenblick 
und  die  letzte  Kraft  noch  aufbieten,  um  das,  was  er  als  das 
letzte  Ergebniss  seines  Lebens  und  Denkens  betrachtet,  so  weit 
es  ihm  möglich  ist,  zum  Gemeingut  der  Menschheit  zu  machen. 
Er  lässt  seine  Schreiber  kommen  und  dictirt  ihnen  seine  letzten 
Gedanken.  Mit  dieser  allerletzten  Anstrengung,  indem  ihm, 
wie  Tacitus  schreibt,  noch  ,,im  allerletzten  Augenblick  die 
Redegabe  zu  Gebote  stand",  erreicht  Seneca  eben  das,  was  er 
als  das  Höchste  und  Herrlichste  in  den  letzten  Augenblicken 
des  Sokrates  und  des  Kanus  gerühmt  hat. 

Die  mannhafte  Freiheit  und  die  selbstlose  Liebe,  welches 
beides  in  dem  Sterben  Senecas  offenbar  wird,  beweist,  dass  der 
Widerstand  Senecas  gegen  die  beiden  dämonischen  Gewalten 
Cäsarcultus  und  Baalcultus  nicht  gebrochen  ist.  Aber  wie 
Tacitus  diesen  bedeutsamen  Widerstand  bezeugt,  ebenso  belehrt 
uns  derselbe  Tacitus,  dass  jene  beiden  feindlichen  Gewalten 
keineswegs  durch  den  Widerstand  Senecas  überwunden  und 
entmächtigt  sind  und  daher  ihr  tödtliches  Attentat  weiter 
wirken  lassen. 

Die  Bemerkung  des  Tacitus  über  die  letzte  Anstrengung 
und  That  des  Seneca  führt  uns  sofort  hinüber  zu  der  Kehrseite 
des  Widerstandes  unseres  Stoikers.  Tacitus  bemerkt,  dass  er 
für  überflüssig  halte,  die  letzten  Schriftwerke  Senecas  zu 
referiren,  da  dieselben  öffentlich  bekannt  seien.  Aber  wo  ist 
diese  Schrift,  das  letzte  Vermächtniss  des  sterbenden  Seneca 
an  die  Nachwelt  geblieben?  Justus  Lipsius  klagt:  ,,Constantiae 
et    sapientiae    mera   praecepta.     Quia   edita  Tacitus  omisit.     O 

17* 


260 

improvide  factum !    Utinam  nobis  quoque  illas  voces  audire  vel 
levi  aure  possibile  esset! 

Was  der  gefangene  Jude  Paulus  ungefähr  in  derselben  Zeit  in 
der  römischen  Hauptstadt  wahrscheinlich  mit  gefesselter  Hand 
oder  mit  Hül!"e  eines  Schreibers  geschrieben,  das  lesen  wir 
noch  heute.  Was  aber  der  hochgestellte  und  sehr  berühmte 
Römer  im  Kreise  der  Seinen  als  sterbender  Mann  dictirt,  das  ist  ein 
verwehtes  Blatt,  und  vergebens  beklagt  man,  dass  Niemand  weiss, 
was  es  enthalten.  Woher  dieser  Gegensatz  zwischen  Paulus  und 
Seneca?  Um  den  verhassten,  verfolgten,  dem  Tode  geweihten 
Juden  stand  eine  kleine  unscheinbare,  aber  todesmuthige  Schaar, 
die  an  seinen  Lippen  hing,  und  diese  obwohl  gleichfalls  dem  nahen 
Tode  geweihte  Schaar  hat  eine  geistige  Nachkommenschaft,  die 
noch  heute  lebt  und  blüht.  Den  Römer  umgiebt  ein  Chor 
literarischer  und  politischer  Grössen,  aber  dieser  Tod  von  Cäsars 
Hand,  mag  er  noch  so  tapfer  ertragen  sein,  verbreitet  nicht 
Muth  und  Begeisterung  sondern  einen  Schrecken  über  alle 
Verwandte,  Freunde  und  V^erehrer  Senecas.  In  einer  seiner 
frühesten  Schriften  wagt  Seneca  noch  die  Behauptung:  ,,non 
usque  eo  in  possessionem  generis  humani  vitia  venerunt,  ut  dubium 
sit,  an  electione  fati  data,  plures  nasci  Reguli  quam  Maecenates 
velint".  Die  Laster  haben  die  Menschheit  noch  nicht  in  Besitz 
genommen,  denn  die  Zahl  derer,  welche  lieber  Regulus  sein 
wollen  als  Mäcenas  ist  grösser  als  die,  welche  lieber  das  Gegen- 
theil  erwählen  (De  prov.  III  ii).  In  derselben  Zeit  als  er 
dieses  schrieb,  beantwortete  er  die  Frage:  ,,quare  bonis  viris 
patitur  aliquid  mali  deus  fieri  ?"  mit  dem  kühnen  Satz:  ,,ut 
alios  pati  doceant,  nati  sunt  in  exemplar"  (De  prov^  VI  i — 3); 
Seneca  hat  den  Wunsch  und  den  Vorsatz:  ,,nos  quoque  aliquid 
ipse  faciamus  animose,  simus  inter  exempla"  (Ep.  XCVIII  13). 
Nach  seinem  eigenen  Zeugniss,  welches  er  im  Angesicht  des 
Todes  ablegt,  jiat  er  das  erreicht,  er  darf  es  wagen,  seinen 
PVeunden  als  das  schönste  Vermächtniss  das  ,,Bild  seines 
Lebens"  anzubieten  (Tacit.  Ann.  XV  62).  Wenn  also  in  Rom 
noch  Etwas  fehlt  an  dem  rechten  Todesmuth,  so  sollte  man 
nach  diesen  Bekenntnissen  und  Lehren  Senecas  erwarten,  dass 
das  grosse  Beispiel  des  Sterbens,  in  welchem  Seneca  voranging, 


261 

dieses  hätte  ergänzen  müssen.  Aber  es  wiederholt  sich  der 
traurige  Vorgang,  den  wir  bei  dem  Tode  des  Sokrates  kennen. 
Keiner  unter  den  Schülern,  Freunden  und  Verehrern  des 
Sokrates  hat  den  Muth,  seinen  Fussstapfen  nachzufolgen,  es 
erfüllt  sich  schnell,  was  Sokrates  den  Richtern  vorher  gesagt, 
,,so  Einen  wie  mich  werdet  ihr  nicht  leicht  wieder  finden". 
Alle,  auch  die  Athenienser  unter  ihnen,  fliehen  und  meiden  die 
Stadt,  welche  den  Meister  getödtet.  Ein  noch  traurigeres  Bild 
zeigt  die  römische  Welt  beim  Tode  des  Seneca,  das  Böse  ist 
inzwischen  fortgeschritten.  Wer  steht  dem  Seneca  näher  als 
sein  Bruder  Gallio,  ein  consularischer  Mann,  der  einst  als 
Proconsul  in  Achaia  den  Apostel  Paulus  in  Schutz  nahm 
gegen  die  Juden,  an  welchen  die  schöne  Schrift  ,,de  vita 
beata",  das  Buch  ,,de  remediis  fortuitorum",  die  drei  Bücher  vom 
Zorn  gerichtet  sind,  der  von  Seneca  als  ein  hohes  IMuster  von 
Bescheidenheit  und  Aufrichtigkeit  gepriesen  wird  (N.  Q.  IV, 
praef.  lo — 12),  den  unser  Seneca  wegen  seiner  Vornehmheit 
,, dominus  meus"  anredet  (Ep.  CIV  i)  ?  Von  diesem  Gallio 
bezeugt  Tacitus,  dass  er  im  Senat  als  Feind  und  Verräther 
angeklagt  worden,  aber,  furchtsam  gemacht  durch  den  Tod  des 
Bruders,  um  Erbarmen  gefleht  (Ann.  XV  73).  Noch  schimipf- 
licher  benimmt  sich  Lucanus,  der  berühmte  Neffe  Senecas. 
Dieser  gefeierte  Dichter  der  Pharsalia,  der  in^dem  Hass  gegen 
Nero  und  in  der  Bewunderung  Catos  dem  Onkel  nacheiferte. 
Tacitus  macht  ihm  zum  Vorwurf,  dass  er  die  Mitverschworenen 
denuncirt  (Ann.  XV  57).  Nach  Sueton  (Vita  Lucani)  hat 
dieser  Dichter  sogar  seine  eigene  Mutter  verrathen,  um  sich 
selber  zu  schützen.  Tacitus  deckt  über  diese  tiefste  Schande 
des  Dichters  noch  dadurch  einen  Schleier,  dass  er  berichtet, 
im  letzten  Augenblick  habe  Lucanus  sich  zu  einer  mannhaften 
Aeusserung,  die  aber  eine  W^irkung  nicht  mehr  haben  konnte, 
aufgerafft  (Ann.  XV  70).  Tacitus  ist  so  entrüstet  über  die 
allgemeine  Feigheit  der  Verschwörer,  die  mit  Seneca  mehr  oder 
weniger  verbunden  waren,  dass  er  das  Beispiel  eines  gemeinen 
Weibes  hervorhebt,  welches  grossartig  handelte,  während  Frei- 
geborene und  Männer,  Ritter  und  Senatoren  das  Liebste  und 
Theuerste  feigherzig  verriethen  (XV  57).     Und   so   wenig  war 


262 

die  dämonische  Gewalt  durch  Senecas  tapferen  Widerstand 
gebrochen,  dass  Neros  Verfolgung  einen  neuen  Anlauf  nahm 
und  endlich  ein  Aeusserstes  erreichte,  indem  es  ihn  gelüstete, 
,,die  Tugend  selbst"  zu  vernichten:  ,,Nero  värtutem  ipsam 
exscindere  concupivit"  (Ann.  XV  21),  nämlich  Thrasea  Paetus 
zu  tödten.  Auch  dieser  gab  im  Sterben  ein  hohes  Beispiel 
edler  Standhaftigkeit,  aber  eben  über  diesen  fällt  Tacitus  das 
Urtheil,  er  habe  durch  seine  Freimüthigkeit  nur  sich  selber 
geschadet,  ohne  der  Freiheit  aufzuhelfen. 

Als  einst  im  alten  Rom  sich  auf  dem  Forum  ein  Abgrund 
aufthat,  den  man  durch  gewöhnliche  Mittel  nicht  schliessen 
konnte,  da  sprang  ein  geharnischter  Ritter  in  den  Abgrund 
und  die  gähnende  Kluft  schloss  ihren  Rachen.  Jetzt  vergiessen 
die  edelsten  Männer,  Seneca  und  Thrasea  ihr  Blut,  aber  dieses 
Blut  schafft  der  Freiheit  keine  Bahn.  Jedes  Laster  hat  seinen 
Gipfel  erstiegen,  sagt  Juvenal,  und  daher  reicht  die  alleredelste 
Kraft  des  Widerstandes,  welche  auf  dem  Boden  der  natürlichen 
Moral  möglich  ist,  nicht  hin,  um  eine  Entscheidung  zu  Wege 
zu  bringen.  Zwar  behauptet  sich  diese  höchste  Macht  des  Wider- 
standes im  heissesten  Kampf,  aber  einen  Sieg  erringt  sie  nicht, 
denn  die  feindliche  Lügenmacht  wüthet  nur  um  so  heftiger. 
Entweder,  es  muss  eine  Kraft  aus  der  Höhe  kommen,  oder 
das  Menschengeschlecht  wird  verschlungen  von  den  Pforten 
der  Hölle. 

Wir  haben  gesehen,  dass  Plato  den  vollendeten  Gerechten 
darstellt  als  den  in  der  verderbten  Welt  Gewalt  und  Schmach 
Erleidenden,  und  dass  Seneca  dieses  Bild  auf  Grund  seiner 
weiteren  Erfahrung  von  der  wachsenden  Bosheit  und  Lüge 
vervollständigt  hat.  Sowohl  Clemens  Alexandrinus  (Strom.  V 
p.  600  a)  als  Eusebius  (Praepar.  XV  11)  erkennen  in  jener 
Schilderung  des  Plato  mit  Recht  die  bedeutsamste  Weissagung 
des  Heidenthums.  Allerdings  hat  diese  heidnische  Ahnung 
von  dem  vollendeten  Gerechten  nicht  die  Klarheit  und  Bestimmt- 
heit der  alttestamentlichen  Propheten  von  dem  gerechten  Knecht 
Jehovas  (Jes.  LIII).  Der  Knecht  Jehovas  besteht  nicht  bloss 
selbst  in  der  Krisis,  er  schafft  Rettung,  er  gewinnt  die  Starken, 
das  Erleiden  des  Todes  und  der  Schmach   ist  hier  der  dunkle 


2C)3 

Hintergrund,  auf  dem  sich  das  Reich  einer  neuen  Menschheit 
und  einer  neuen  Weh  erhebt.  Das,  was  Plato  und  Seneca 
schildern,  ist  in  seinen  Hauptzügen  in  dem  Sterben  des  Sokrates 
und  Seneca  erfüht,  und  ist  damit  ein  edles  Kleinod  sittlichen 
Widerstandes  gegen  die  bösen  Mächte  in  der  Welt  anerkannt. 
Aber  andererseits  zeigt  sich  die  Schranke,  dass  dieser  Wider- 
stand nicht  die  Kraft  besitzt,  sich  mitzutheilen,  er  reicht  eben 
aus,  um  den  Gerechten  in  der  Krisis  der  Welt  nicht  untergehen 
zu  lassen,  aber  auf  die  gefährdete  Menschheit,  auf  die  sterbende 
Welt  gesehen,  verbreitet  dieser  Widerstand  mehr  Finsterniss 
als  Licht,  mehr  Schrecken  als  Muth. 

Aber  trotzdem  verdient  die  werthvoUe  Ahnung  Piatos  und 
Senecas  von  Seiten  der  christlichen  Lehre  eine  grössere 
Beachtung  und  Würdigung,  als  ihr  zu  Theil  zu  werden  pflegt. 
Charles  Kingsley  hat  in  seiner  herrlichen  Dichtung  ,,Hypatia" 
einen  sehr  lehrreichen  Gebrauch  von  dieser  Platonischen 
Inspiration  gemacht  (II  256  257).  Wer  nun  das  Sterben 
Senecas  in  dem  Lichte  dieser  traumartigen  Weissagung  an- 
schaut, der  wird  sich  von  selber  getrieben  fühlen,  weiter  hinaus 
zu  blicken,  um  zu  sehen,  wie  das,  was  hier  abgebrochen 
erscheint,  sich  im  weiteren  Verlauf  vollendet. 


VI. 
Christus  der  Sieger  in  seinen  Blutzeugen. 

Einen  Zeitabschnitt,  wie  der  von  Augustus  bis  Septimius, 
dessen  moralischen  Charakter  weltbekannte  Greuel  und  gleich- 
zeitige Sittenrichter  verdammen,  verherrlicht,  wie  schon 
früher  bemerkt,  der  Professor  Hausrath  als  die  Blüthe  einer 
unvergleichlichen  Geistesepoche  der  Menschheit.  Derselbe 
Zeitraum  ist  erfüllt  von  dem  Kampf,  den  das  Christenthum 
beginnt  und  mit  steigendem  Siege  gegen  die  zwiefache,  das 
öffentliche  Leben  vergiftende  sacrilegische  Lüge  führt.  Da  nun 
Hausrath  seines  Zeichens  christhcher  Theologe  ist  und  unter 
seinen  Fachgenossen  nicht  geringes  Ansehen  hat,  so  muss  in 
der  gegenwärtigen  Theologie  ein  grosses  Misskennen  und  Miss- 
achten des  Christenthums  vorhanden  sein.  Diese  Theologenschaft 
versteht  nicht  den  in  der  Stille  verborgenen  Grund  und 
Ursprung  des  Christenthums,  darum  aber  auch  eben  so  wenig 
die  gewaltige  und  sich  vollendende  That  des  öffentlichen 
christlichen  Blutzeugnisses. 

Die  von  Paulus  angekündete  Gotteskraft  (Rom.  i  i6) 
offenbart  ihre  erste  weltgeschichtliche  Auswirkung  eben  auf  dem 
Boden,  auf  dem  wir  das  Ringen  der  menschlichen  Natur  mit 
den  ungöttlichen  Mächten  angeschaut,  auf  dem  wir  sodann  das 
immermehr  offenbar  werdende  tragische  Unterliegen  der 
wundervollen  antiken  Gottesschöpfung  den  ungöttlichen  Mächten 
und  Wirkungen  gegenüber  haben  constatiren  müssen.  Um  so 
erhebender  und  belehrender  ist  es,  den  Kampf  und  Sieg  einer 
neuen  Gotteskraft  auf  demselben  Gebiete  anzuschauen,    wo    die 


265 

Trümmer  der  ersten  Gottesschöpfung  liegen  In  einseitigem 
Enthusiasmus  für  die  antike  Cultur  pflegt  man  die  Geschichte 
der  Griechen  und  Römer  mit  dem  Auftreten  des  Christen- 
thums  abzuschHessen,  gleichsam  als  ob  die  aus  den  Heiden 
Getauften  nicht  mehr  Griechen  und  Römer  wären,  und  in  Folge 
davon  pflegt  man  dann  die  Weltgeschichte  auf  dem  germani- 
schen Boden,  wo  das  Christenthum  national  und  politisch  zu 
werden  beginnt,  fortzusetzen,  als  ob  das  Christenthum  bis  dahin 
auf  dem  klassischen  Boden  nur  eine  literarische  und  individuelle 
Existenz  gehabt  hätte.  Dieser  traditionelle  Pragmatismus  ist 
ein  zwiefacher  Raub,  ein  Raub  an  dem  vollen  Ruhm  der  beiden 
antiken  Völker  und  ein  Raub  an  dem  höchsten  Preise  des 
Christenthums.  Der  christliche  Geist  hat  die  beiden  klassischen 
Sprachen  zu  seinem  vornehmsten  Organ  gemacht  und  hat  aus 
der  untergehenden  Nation  der  Griechen  und  Römer  sich  eine 
Gemeinde  geschaffen,  die  mitten  in  der  Welt  ein  neues  Geistes- 
reich darstellt,  vor  welchem  sowohl  das  Ende  des  Römerreichs, 
wie  die  Erstlingschaft  der  germanischen  Welt  sich  beugen 
mussten.  Griechen  und  Römer  sind  nicht  bloss  berufen,  die 
antike  Welt  und  Cultur  classisch  darzustellen,  sondern  haben 
die  ebenso  auserwählte  Mission,  das  Material  für  den  geistigen 
Unterbau  der  neuen  Welt  darzubieten.  In  diesem  antik 
nationalen  Charakter  des  ersten  Christenthums^  ist  zugleich  die 
Möghchkeit  gegeben,  dass  die  antike  Cultur  noch  ein  neues 
Leben  empfängt  als  renata  humanitas,  wie  es  sich  in  der 
Reformationszeit  erwiesen  hat,  aber,  wie  wir  hoffen,  noch  voll- 
kommener offenbaren  wird,  wenn  es  mit  der  Herstellung  der 
freien  und  wahren  christlichen  Volkskirche  voller  Ernst 
werden  wird. 

Was  sodann  das  Christenthum  anlangt,  so  ist  nach  der 
Schwäche  der  menschlichen  Natur  und  nach  dem  ganzen  Ver- 
lauf der  bisherigen  Geschichte  der  Begriff  des  Christenthums 
immer  in  Gefahr  verweltlicht  zu  werden.  Dieser  Versuchung 
wird  Vorschub  geleistet,  wenn  man  die  christliche  Welt- 
geschichte erst  auf  dem  germanischen  Boden  beginnen  lässt. 
Die  innersten  und  heiligsten  Kräfte  kommen  zum  Vorschein 
und    zur    Geltung    in    dem    grossen    Kampfe,    den    das    erste 


266 

Christenthum  mit  der  Weltmacht  des  römischen  Reiches  zu 
bestehen  hat. 

Es  ist  im  strengen  Sinne  des  Wortes  ein  Kampf  auf 
Leben  und  Tod,  den  das  Christenthum  mit  der  römischen 
Weltmacht  auszufechten  hat,  und  in  welchem  das  Christenthum 
sich  offenbart  als  eine  göttliche  Kraft,  an  welche  die  höchste 
Menschenkraft,  wie  wir  sie  in  Seneca  anschauen,  nicht  hinan- 
reicht, eine  Kraft,  welche  eben  da  einsetzt,  wo  die  menschliche 
Kraft  aufhört.  Diese  Kraft,  welche  bald  auf  offenem  Plan 
kämpfend,  siegend  und  erobernd  auftritt,  dieser  christliche 
Heroismus  wird  nur  dann  richtig  verstanden,  wenn  man  zuv^or 
die  tiefe  Stille  und  Ruhe  anschaut,  aus  welcher  dieser  Herois- 
mus geboren  ist.  Wir  haben  gesehen,  wie  Seneca  sich  an- 
strengt, aus  der  Verwirrung  und  Unruhe  der  Welt  zu  sich 
selbst  zu  kommen,  mit  sich  zum  stillen  Frieden  zu  gelangen, 
sich  selbst  in  Besitz  zu  nehmen,  seiner  selbst  mächtig  zu 
werden.  Aber  er  konnte  es  nicht  erreichen:  ,,nunquam  singuli 
sumus".  Wir  haben  ferner  gesehen,  wie  das  Leben  der  römi- 
schen Gesellschaft  des  wahren  Gehaltes  leer  geworden  und 
darum  in  den  Strudel  und  Wirbel  der  Lust  dahingegeben  ist. 
Wie  aus  einer  ausserweltlichen  Sphäre  tritt  in  diese  Unruhe, 
Leerheit  und  Wüstheit  eine  Lebenserscheinung  von  stiller  und 
tiefer  Insichgekehrtheit. 

Zwei  Documente  des  christlichen  Alterthums  mögen  uns 
das  Bild  des  neuen  göttlichen  Lebens  in  der  Stille  in  anschau- 
lichen Zügen  vergegenwärtigen :  der  Hymnus  des  Clemens 
Alexandrinus  auf  den  göttlichen  Pädagogus  der  jugendlichen 
Christenheit  und  das  Idyll  im  Sturm  von  Minutius  Felix.  Am 
Schluss  der  drei  Bücher  des  Pädagogus  von  Clemens  Alexan- 
drinus findet  sich  eine  begeisterte  Dichtung  auf  Christus,  den 
himmlischen  Pädagogus.  Die  jugendliche  Christenheit  sammelt 
sich  um  ihren  himmlischen  Führer  und  Meister,  um  im  feier- 
Hchen  Chor  ihm  Lob,  Preis  und  Dank  darzubringen.  Es  ist 
nicht  die  Armee  der  ,, Athleten  und  Krieger  Christi",  welche 
in  den  Fussstapfen  ihres  kämpfenden  Königs  wandelnd  ihr 
Blut  vergiessen,  es  sind  die  jungen  Knaben,  aus  dem  Geist 
geboren    ,,wie    Thau    aus    dem    Morgenroth",    liegend    an    der 


267 

Brust  ihres  Meisters  und  trinkend  seine  Seligkeit  in  tiefem 
Frieden  und  grosser  Stille.  ,,Wir,  die  Christgeborenen",  so 
lassen  sie  sich  vernehmen,  ,,wir,  der  Chor  des  Friedens,  das 
Volk  der  Wahrheit,  wir  singen  einmüthig,  wir  singen  einfältig, 
wir  singen  miteinander  dem  Gott  des  Friedens."  Es  ist  das 
Echo  in  Menschenzungen  von  dem  Friedenspsalm  der  Engel- 
schaaren  über  den  Fluren  von  Bethlehem. 

Auf  dem  römischen  Boden,  der  frühe  Ströme  von 
Christenblut  getrunken,  lebten  zwei  christliche  Freunde,  Minutius 
und  Octavius,  ihres  Standes  Rechtsanwälte.  Von  Minutius 
besitzen  wir  eine  Schrift,  welche  einestheils  zeigt,  unter  welchem 
Druck  und  in  welcher  Gefahr  das  christliche  Bekenntniss 
damals  stand,  wie  aber  diese  Freunde  trotzdem  das  Banner 
des  verfolgten  Glaubens  hochhielten,  und  wie  andererseits  diese 
Männer  auf  diesem  vulcanischen  Boden  in  heiterer  Lebenslust 
und  Seelenruhe  wandelten.  Wie  gemüthlich  Avird  der  Spazier- 
gang der  beiden  Männer  am  Strande  von  Ostia  beschrieben ! 
Und  obwohl  der  Gegensatz,  der  die  ganze  Geisterwelt  in  Auf- 
ruhr brachte,  durch  die  Anwesenheit  eines  ihnen  bekannten 
Heiden  zur  Sprache  gebracht  wird,  fahren  die  beiden  Christen 
in  ihrer  angenehmen  Unterhaltung  fort  und  beobachten  mit 
Selbstvergessenheit  das  Scherbenspiel  der  Knaben,  als  gäbe  es 
für  sie  nichts  Wichtigeres.  Während  Caecilius,-  der  Heide,  ein 
Parteimann  der  herrschenden  mächtigen  Majorität,  verdriesslich 
und  mürrisch  einhergeht,  ergötzen  sich  die  beiden  Christen 
an  jenem  Knabenspiel."'')  O  wie  still,  wie  in  sich  befriedigt 
ist  diese  neue  Gemeinde  mitten  in  der  Verachtung  und  Ver- 
folgung ! 

Als  ein  neues  Leben  innerhalb  und  an  dem  Ort  des  ab- 
sterbenden Heidenthums  kündigt  sich  das  Christenthum  an, 
und  das  ist  die  Bedeutung  der  kleinen,  bescheidenen  nach- 
apostolischen  Literatur,   von   dem    Dasein   und    von   der    Kraft 


*)  Hausrath  (Kleine  Schriften  p.  76)  scheint  dieses  Knabenspiel  mit 
Scherbenwerfen  über  die  glatte  Wasserfläche  nicht  zu  kennen.  Ausserdem  irrt 
Hausrath  darin,  dass  er  die  beiden  Freunde  spielen  lässt,  während  Minutiust 
erzählt,   dass  die  beiden  Freunde  dem  Knabenspiel  zuschauen. 


268 

dieses  neuen  Lebens  Zeugniss  abzulegen.  Klein  und  unschein- 
bar ist  die  Literatur  des  ältesten  Heidenchristenthums  im 
Vergleich  mit  der  grandiosen  Bibliothek  des  antiken  Heiden- 
thums,  denn  hier  fliesst  nicht  der  wogende  Strom  griechischer 
Begeisterung  und  römischer  Beredsamkeit.  Aber  der  Prophet 
mahnt,  ,, nicht  zu  verachten  das  Wasser  von  Siloa,  das  stille 
gehet".  Diese  Erstlingschaft  der  christlichen  Literatur  auf 
heidnischem  Boden  würde  mehr  in  Ehren  gehalten  werden, 
wenn  nicht  der  leidige  Doctrinärismus  das  Christenthum  vor- 
zugsweise und  in  erster  Linie  als  Lehre  zu  betrachten  und  zu 
behandeln  pflegte,  und  aus  diesem  Grunde  in  der  Erforschung 
und  Erörterung  dieser  Literatur  vor  Allem  Jagd  machte  auf 
Entdeckung  etwaiger  doctrinärer  Phänomene."^) 

Die  rechte  Schätzung  dieser  meistens  kleinen  Schriften 
gewinnt  man,  wenn  man  herkommt  von  der  Leetüre  jener 
Bücher,  welche  den  Process  des  hinsiechenden  und  absterben- 
den Heidenthums  immer  noch  mit  schönen  Formen  auszu- 
schmücken suchen.  Wer  mit  richtigem  Sinn  für  Geist  und 
Leben  begabt  aus  der  Atmosphäre  des  späteren  Heidenthums 
etwa  von  der  Leetüre  Martials,  Frontos,  Lucians,  Apulejus 
herkommt  und  dann  an  jene  christliche  Literatur  herantritt, 
den  muthet  es  an  wie  der  frische  Morgenhauch  eines  neuen 
Welttages. 

Innerhalb  des  Heidenthums  war  die  Freude  an  der  Gegen- 
wart und  die  Hoffnung  für  die  Zukunft  verloren  gegangen. 
Ein  Christ  auf  dem  Gange  zu  einem  grausamen  Tode  ruft  voll 
Begeisterung:  , .Aller  Zauber  wurde  aufgelöst,  alle  P^esseln  der 
Bosheit  wurden  vernichtet,  Unwissenheit  ward  aufgehoben,  was 
zum  alten  Reich  gehört  ward  zerstört  •  seit  der  Sohn  in  mensch- 
licher Wei.se  sich  geoffenbaret,  ist  das  All  in  Bewegung  gesetzt, 
weil  es  abgesehen  ist  auf  die  Auflösung  des  Todes  und  einen 
Anfang  gewinnt,  was  bei  Gott  bereitet  war"  (Ignatius  ad 
p:phes.    XIX).     „Es    ist    nicht    erlaubt",   heisst   es    in   dem   so- 


*)  Dieser  Doctrinärismus  ist  auch  die  Ursache  der  Geringschätzung,  mit 
welcher  Ilausralh  (Kleine  Schriften  p.  11  —  34)  die  sogenannten  apostolischen 
Väter  behandelt. 


269 

genannten  zweiten  Brief  des  Clemens  Romanus,  ,,von  unserer 
Rettung  gering  zu  denken".  ,,Das  Christenthum  ist  eine  Sache 
der  Grossheit"  (Ignat.  ad  Rom.  III).  ,,Die  Thaten  Gottes,  auf 
denen  dieses  Christenthum  ruht,  sind  nicht  Dinge  der  platten 
Wirklichkeit,  sie  sind  vor  profanen  Augen  verborgen,  sie  sind  in 
göttliches  Schweigen  gehüllt  und  dadurch  dem  Teufel  ent- 
rückt" (Ignat.  ad  Ephes.  XIX ^.  Daher  ruht  das  Geheimniss 
der  göttlichen  Offenbarung  in  einer  tiefen  Schweigsamkeit  der 
Christen.  TertuUian  schreibt  von  den  Christen:  ,,er  hat  seinen 
Mund  versiegelt  mit  der  Tugend  der  Schweigsamkeit"  (De 
patientia  XV)  und  Lactanz  fügt  hinzu:  ,,Deus  jussit,  ut  quieti 
ac  silentes  arcanum  ejus  in  abdito  atque  intra  nostram  con- 
scientiam  teneamus"  {Instit.  VII  21  8  — 10).  ,,Der  Christ  ist 
ein  vertrauter  Freund  der  Einsamkeit,  der  Ruhe,  der  Stille 
und  des  Friedens"  (Clemens  Alexandrinus  Paedag.  II  7).  Wegen 
dieser  Schweigsamkeit  nennt  der  heidnische  Spötter  Caecilius 
die  Christen:  ,,natio  latebrosa,  lucifuga,  in  publicum  muta". 
Dem  gegenüber  aber  schreibt  Cyprianus  das  stolze  Wort : 
,,non  magna  loquimur,  sed  vivimus"  (De  patient.  II).  Die 
Schweigsamkeit  der  Christen  stammt  nicht  aus  der  geistigen 
Leerheit  sondern  im  Gegentheil  aus  der  Fülle  und  Grösse  des 
geistigen  Gehaltes,  in  welchem  sie  leben.  Hier  ist  jenem 
unseligen  Zustande,  den  Plinius  beschreibt:  ,, argumenta  vitae 
perierunt"  ein  Ende  gemacht. 

Und  weil  das  Leben  einen  grossen  göttlichen  und  ewigen 
Gehalt  gewonnen  hat,  so  ist  auch  der  traurige  Folgesatz : 
,, nihil  pro  nostro  habemus  quam  delicias"  in  ein  erfreuliches 
Gegentheil  verwandelt.  Seneca  hat  gesagt:  ,,res  severa  est 
gaudium  verum".  Jene  ,,deliciae"  sind  eine  hässliche  Carricatur 
von  dem  ,, verum  gaudium".  Die  Möglichkeit  und  Wirklich- 
keit der  wahren  Freude  ist  erst  mit  dem  Christenthum  gegeben, 
und  diex\echtheit  des  ältesten Christenthums  auf  dem  heidnischen 
Gebiet  offenbart  sich  darin,  dass  in  den  Urkunden  dieses 
Christenthums  die  Freude  mit  grossem  Nachdruck  als  wesent- 
licher Charakter  wahrer  Christlichkeit  bezeichnet  wird.  Barnabas 
beginnt  seinen  Brief  mit  Freude  und  Dank  und  erklärt,  dass 
die   fromme  Uebung   ein   Werk    der  Freudigkeit    ist  (X).     Die 


270 

strenge  Busspredigt  des  Hermas  mahnt:  ,,thue  von  dir  die 
Traurigkeit,  sie  ist  eine  Schwester  des  Zweifels,  ziehe  an  die 
Freudigkeit,  die  immerdar  bei  Gott  Gnade  hat  und  ihm  wohl- 
gefäUig  ist,  lass  es  dir  wohl  sein  in  der  Freudigkeit,  denn  jeder 
Mann,  der  freudig  ist,  thut  Gutes,  denkt  Gutes  und  verachtet 
die  Traurigkeit,  die  Frommen  weisen  von  sich  die  Traurigkeit 
und  ziehen  an  unter  allen  Umständen  die  Freudigkeit"  (Hermas 
Mandat.  X  i — 3,  cfr.  Vis.  III  11,  Sim.  IX  15).  Diese  strenge 
Verurtheilung  der  Traurigkeit  von  Hermas  ist  so  wenig 
individuell,  dass  die  kirchlich  asketische  Sprache  die  tristitia 
als  Laster  brandmarkt.  Dem  Satze  des  Clemens  Alexandrinus 
,, Jesus  gewinnt  die  Menschen  durch  das  süsse  Leben"  (p.  267  b) 
entspricht  seine  Mahnung,  dass  die  Kleider  der  Christen  weiss 
sein  sollen  (p.  244  c).  Ein  hohes  Beispiel  christlicher  Freudig- 
keit ist  Perpetua,  die  patriotische  Märtyrin  von  Carthago,  sie 
schrieb  in  dem  Tagebuch  ihrer  Kerkerhaft  Angesichts  ihres 
am  folgenden  Tage  bevorstehenden  Thierkampfes :  ,,ich  bin 
heiter  gewesen  in  meinem  Fleischesleben  und  werde  hernach 
noch  heiterer  sein". 

Wie  betrübend  ist  uns  der  innere  Zwiespalt  in  Seneca 
entgegengetreten :  der  Zwiespalt  zwischen  entgegengesetzten 
Aussagen  und  Lehrsprüchen  und  der  Zwiespalt  zwischen  Lehren 
und  Handeln.  Auch  dieser  tiefe  Schatten  der  menschlichen 
Schwäche  wird  im  Christenthum  verklärt.  Erfüllt  von  dem 
Gehalt  des  göttlichen  Reiches,  freudig  gestimmt  aus  den 
Höhen  des  ewigen  Lebens  ist  der  Christ  befreit  aus  der  Gewalt 
des  inneren  Gegensatzes  und  straff  und  unerschlafft  gerichtet 
auf  das  Eine,  in  welchem  alles  Einzelne  enthalten  ist.  In  der 
Kraft  dieses  Sinnes  und  Geistes  bekämpft  die  älteste  heiden- 
christliche Literatur  das  Laster  der  inneren  Getheiltheit  unter 
dem  Namen  ZvW/yx,  Zr;ho:jQ'.'-j.  (Clem.  Rom.  II  23,  Barnabas  XIX, 
Hermas  Mand.  IX,  X). 

Im  Gegensatz  zu  dem  sinkenden  und  sterbenden  Heiden- 
thum  finden  wir  also  auf  dem  Boden  des  römischen  Reiches 
eine  Gemeinde,  in  welcher  neues,  ewiges  und  heiliges  Leben  pulsirt. 
Einstweilen  lebt  diese  Gemeinde  abgekehrt  von  der  Oefifent- 
lichkeit  in  einer  sabbatlichen  Stille.      Sehr  verkehrt  aber  ist  es, 


271 

diesen  Zustand  der  ersten  Heidenchristengemeinde,  nach  Uhl- 
horn  (Kampf  des  Christenthum  mit  dem  Heidenthum  262) 
mit  dem  Pietismus  und  dem  Conventikelthum  zu  vergleichen. 
Diese  Kirche  der  Katakomben  ist  sehr  verschieden  von  der 
AengstHchkeit  und  Bornirtheit  des  Pietismus  und  von  der 
Schwächhchkeit  des  Conventikels. 

Die  Zurückgezogenheit  der  ersten  Christen  war  keine 
schroffe  Abgeschlossenheit  sondern  die  unbefangene  Darstellung 
der  durch  Christum  im  Geheimen  wieder  hergestellten  Mensch- 
lichkeit. Die  christliche  Menschenfreundlichkeit  sprach  zunächst 
und  vornehmlich  diejenigen  an,  deren  Menschenwürde  am 
meisten  verkannt  und  verachtet  wurde,  die  Sclaven  und  die 
Frauen.  Tertullian  wendet  sich  an  die  unverbildete  mensch- 
liche Seele  (De  testimonio  animae  LI).  Noch  schärfer  dringt 
Tertullian  auf  den  innersten  Kern  der  Menschheit  mit  folgendem 
Wort :  ,,Certe  prior  anima  quam  litera,  et  prior  servus  quam 
liber,  prior  sensus  quam  stilus,  prior  homo  ipse  quam  philo- 
sophus"  (ibid.  V).  Indem  nun  die  einfache  Selbstdarstellung 
des  Christenthums  sich  an  diese,  wie  Tertullian  sich  ausdrückt, 
,,naturaliter  christiana  anima"  wendet,  wird  in  den  ungelehrten 
einfältigen,  aber  für  die  Wahrheit  empfänglichen  Gemüthern  eine 
kräftige  Ueberzeugung  von  der  Wahrheit  Christi  erzeugt,  so 
dass  Sclaven  und  Weiber  mit  Selbstgewissheit  und  Klarheit 
von  den  himmlischen  und  göttlichen  Dingen,  worüber  selbst 
die  Philosophen  zweifelhaft  und  unsicher  reden,  sich  auszu- 
sprechen im  Stande  sind  (Just.  Apolog.  I  60,  II  10,  Irenäus 
III  4  2,  Tatian  XXXIII,'  Athenagoras  XI,  XVII).  Mit  wahrer 
Empörung  nun  sprechen  über  diese  Erscheinung  Caecilius, 
Celsus,  offenbar  weil  durch  dieses  Hervortreten  der  bisher  für 
unmündig  gehaltenen  Menschheit  in  der  allerwichtigsten  An- 
gelegenheit die  bisher  anerkannte  und  bestehende  Rangordnung 
der  Menschenklassen  gestürzt  wird.  Die  Geistesaristokratie  der 
antiken  Menschheit  schickt  sich  an,  von  dieser  empörenden 
Anmassung  der  christlichen  Sclaven,  Handwerker  und  Frauen 
Rechenschaft  zu  fordern. 

Innerhalb  des  häuslichen  Lebens  ferner  musste  die  christ- 
liche   Gewissenhaftigkeit    und    Heiligkeit   nicht    selten    mit   der 


272 

heidnischen  Laxheit  und  Unsitte  in  Conflict  kommen.  Solche 
Conflicte  verfehlen  nicht  die  Aufmerksamkeit  auf  das  neue 
Christenthum  zu  richten.  Einen  solchen  aus  dem  Leben 
gegriffenen  Conflict  erzählt  Justin  im  Anfang  der  zweiten 
Apologia.  Eine  Christin  in  Rom  hatte  früher  mit  ihrem 
Mann  ein  wüstes  Leben  geführt.  Nachdem  sie  bekehrt  war, 
versuchte  sie  ihren  Mann  zu  bessern,  da  aber  alle  ihre 
Bemühungen  vergeblich  waren,  hielt  sie  es  für  ihre  Pflicht, 
sich  von  ihm  zu  scheiden.  Darüber  aufgebracht  denuncirte  der 
Mann  seine  Frau  als  eine  Christin  und  aus  weiterer  Rachsucht 
ihren  Lehrer  Ptolemäus,  welcher  sofort  verhaftet  wurde.  Es 
ist  hier  das  erfüllt,  was  Christus  den  Seinen  vorhergesagt,  dass 
der  Gegensatz  innerhalb  der  Familien  durch  den  Hass  gegen 
das  christliche  Leben  und  Wesen  in  die  Oefl*entlichkeit  hinaus- 
getragen wird.  Aehnlich  ist  es,  wenn  Octavius  dem  Minutius 
Vorwürfe  macht,  dass  er  seinen  Freund  Caecilius  nicht  darüber 
zur  Rede  stellt,  dass  er  dem  Priapusbild  abgöttische  Ehre 
erweist.*)  Dieser  Vorwurf  innerhalb  des  Freundeskreises  ver- 
anlasst den  scharfen  Kampf  zwischen  Christenthum  und  Heiden- 
thum  am  Meeresstrand  von  Ostia. 

Der  sehr  belesene  Eusebius  von  Cäsarea  fasst  den  Haupt- 
vorwurf der  NichtChristen  gegen  das  Christenthum  in  folgen- 
dem Wort  zusammen :  ,,ihr  steht  im  Gegensatz  zu  allen 
Völkern,  ihr  habt  den  Glauben,  den  Cultus  und  die  Sitten 
eurer  Väter  verlassen,  höchstens  habt  ihr  noch  einen  Zusammen- 
hang mit  den  Juden,  diese  aber  sind  allgemein  verhasst,  und 
ausserdem  seid  ihr  ja  auch  dem  jüdischen  Ritus  nicht  treu 
geblieben"  (Praeparat.  evang.  I  i  2).  Im  Alterthum,  wo  der 
Einzelne  in  seinem  Volk  verschwindet  und  nur  im  Zusammen- 
hang mit  seinem  Volk  eine  Bedeutung  hat,  wiegt  dieser  Vor- 
wurf noch  viel  schwerer  als  in  unseren  Tagen,  und  es  ist 
begreiflich,  dass  mit  diesem  Vorwurf,  der  sich  im  Ganzen  und 
Grossen  durch  den  Augenschein  bewährte,  für  die  meisten 
Menschen     das     Christenthum     unwiderruflich     gerichtet     war. 


*)    Vermöge    eines   sonderbaren  Missbrauchs  der  Sprache  nennt  Hausrath 
diese  christliche  Mahnung  eine   ,, Verfolgung"   (Kleine  Schriften  p.   76). 


27 


o 


TertuUian  schreibt:  ,,tertium  genus  dicimur,  cynopennae  aliqui, 
vel  sciapodes  vel  aliqui  de  subterranea  antipodes"  (Ad  nationes 
I  7,  cfr.  8  20,  Scorp.  X).  TertuUian  will  im  Sinne  der  heid- 
nischen Gegner  sagen :  da  ihr  weder  Römer  noch  Juden  seid, 
sondern  eine  dritte  Gattung,  die  keinen  Namen  hat,  so  ist 
Nichts  im  Wege,  dass  ihr  eine  Art  von  Ungeheuer  seid. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  hat  sich  viel  Stoff  zur  Ver- 
spottung und  Anklage  gegen  die  Christen  angehäuft,  und  es 
fehlte  nicht  an  Literaten  in  diesen  aufgeklärten  Zeiten,  welche 
sich  an  der  schriftstellerischen  Bekämpfung  des  Christenthums 
betheiligten.  Als  Solche  werden  genannt  Crescens,  Fronto, 
Porphyrius,  Celsus,  Hierokles,  und  sind  uns  von  diesen,  nament- 
lich von  Celsus  durch  die  Gegenschrift  des  Origenes  Fragmente 
dieser  antichristlichen  Polemik  erhalten.  Aber  eben  dieser 
Origenes,  der  wissenschaftlichste  und  gelehrteste  Christ  der 
•ersten  Jahrhunderte,  urtheilt,  dass  die  grosse  Zeitfrage  nicht 
entschieden  wird  durch  Reden  und  Schriften,  sondern  durch 
■die  göttlichen  Kräfte  des  sittlichen  und  heiligen  Lebens. 

Diese  göttlichen  Kräfte,  die  Anfangs  verborgen  und  un- 
sichtbar sind,  sollen  offenbar  werden  auf  der  grossen  Welt- 
bühne. So  gab  es  später  einen  Tag  von  Worms,  an  welchem 
vor  der  Welt  offenbar  wurde  die  Errungenschaft  der  klösterlichen 
und  nächtlichen  Kämpfe  eines  christlichen  Helden;  so  gab  es  einen 
Tag  zu  Augsburg,  an  welchem  die  Erstlinge  der  evangelischen 
Predigt  vor  Kaiser  und  Reich  ihre  christliche  Kraft  bewährten. 
Aber  für  die  erste  weltgeschichtliche  Offenbarung  der  christ- 
lichen Gotteskraft  auf  dem  offenen  Plan  reichten  einzelne  Tage 
nicht  hin,  eine  i\era  von  drei  Jahrhunderten  schlug  das  hohe 
Tribunal  auf,  vor  welchem  die  jugendliche  Christenheit  ihren 
von  oben  her  empfangenen  Heldengeist  offenbaren  sollte.  Was 
am  meisten  dazu  beitrug,  die  Christenfrage  aus  ihrer  Verborgen- 
heit und  aus  den  privaten  Kreisen  in  die  Oeffentlichkeit 
hinüberzuführen  und  eine  öffentliche  Entscheidung  herbeizu- 
führen, das  war  der  Gegensatz  und  Anstoss,  welchem  die 
Christengemeinde  sich  aussetzte  durch  das  Wegbleiben  und 
Meiden  der  öffentlichen  Feste  und  Schauspiele.  In  der 
Oeffentlichkeit    der    Feste    und  Schauspiele    schaute    das  Volk 

18 


274 

sich  selber  an,  feierte  sein  Selbstbewusstsein  und  genoss  so  zu 
sagen  seine  eigene  Existenz.  Wenn  nun  eine  Minorität  grund- 
satzmässig  diese  feierliche  Höhe  des  nationalen  Lebens  mied 
und  verabscheute,  so  war  das  eine  sehr  empfindliche  Verletzung 
des  Gemeingefühls.  ,, Warum  nehmt  ihr  nicht  Theil  an  den 
Volksfesten:  Warum  nehmt  ihr  nicht  Theil  an  unseren  Opfer- 
mahlzeiten?" (Origenes  c.  Cels.  VIII  2  24).  Noch  schärfer 
zeichnet  TertuUian  diesen  Anstoss.  ,,Odisse  debemus  istos 
conventus  et  coetus  ethnicorum,  quod  illic  nomen  Dei  blasphe- 
matur,  illic  quotidiani  in  nos  leones  expostulantur,  inde  perse- 
quutiones  decernuntur,  inde  tentationes  emittuntur"  (De  spect. 
XXVII).  Wie  können  wir  feiern  die  Orte  und  die  Versamm- 
lungen, von  denen  die  Aufforderung  zu  unserer  Hinrichtung 
ausgeht?  Diese  Klage  TertuUians  bestätigt  Friedländer:  Aus- 
brüche feindlicher  Gesinnung  gegen  die  Christen  erfolgten  vor- 
zugsweise im  Circus  und  im  Amphitheater  (Sittengeschichte 
II  264).  Die  Empfindlichkeit  der  heidnischen  Majorität  musste 
auf  das  Aeusserste  gereizt  werden,  wenn  das  eintrat,  was  nach 
Plinius  in  Bithynien  bereits  unter  Trojan  Statt  fand:  ,,prope 
jam  desolata  templa ;  sacra  solemnia  diu  intermissa". 

Mit  dieser  beginnenden  öffentlichen  Niederlage  des  Heiden- 
thums  war  das  Mass  der  Anstösse  voll.  Jetzt  wird  die 
Christenheit  vor  das  Tribunal  über  Leben  und  Tod  zur  Ver- 
antwortung gezogen. 

Wer  sich  noch  nicht  aus  unserer  Darlegung  im  vierten 
Abschnitt  überzeugt  hat,  dass  die  beiden  dort  enthüllten 
Lügenmächte  auf  den  Ruin  der  antiken  Menschheit  gerichtet 
sind,  wer  sodann  auch  aus  dem  fünften  Abschnitt  nicht  erkannt 
hat,  dass  die  höchste  Anspannung  der  natürlichen  Kraft  nicht 
ausreicht,  diese  grundstürzenden  Mächte  zu  brechen,  der  kann 
sich  von  Beidem  aus  dem  ersten  amtlichen  Bericht  über  die 
Christenverfolgung  überzeugen  (Plinii  epist.  X  97).  Zwei 
Forderungen  stellt  Plinius,  der  Statthalter  von  Bithynien,  an 
diejenigen,  welche  ihm  als  des  Christenthums  verdächtig 
denuncirt  worden  sind.  ,,Qui  negarint,  se  esse  Christianos- 
quum  praeeunte  me  deos  appellarent  et  imagini  tuae  (Domine 
Caesar),    quam    propter  hoc  jusseram  cum  simulacris  numinum 


275 

adferri,  thure  et  vino  sacrificarent",  deren  Leugnung  ist  von 
Plinius  als  vollgültig  aufgenommen,  ,,dum  horum  nihil  cogi 
posse  dicuntur,  qui  sunt  re  vera  Christiani".  Von  denselben 
Verleugnern  sagt  er  noch  einmal:  ,,omnes  et  imaginem  tuam 
deorumque  simulacra  venerati  sunt"  (Ep.  X  97).  Beide  Male 
wird  noch  „maledicere  Christo"  hinzugefügt;  es  ist  aber  dieses 
die  einfache  und  selbstverständliche  Consequenz  der  beiden 
anderen  thatsächlichen  Leistungen  und  ihnen  daher  auch  nicht 
gleichwerthig.  Denn  wer  den  Göttern  und  dem  Cäsar  den 
Cultus  der  Anbetung  thatsächlich  widmet,  der  muss  Christus, 
welcher  Beides  verbietet,  für  einen  gottlosen  Rebellen  halten, 
wie  Celsus  ihn  auch  bezeichnet.  Es  ist  keine  geringe  Kunde 
und  Vorstellung,  welche  Plinius  vom  Christenthum  hat,  er 
weiss,  dass  die  wahren  Christen  zu  keinem  von  den  genannten 
zwei  oder  drei  Stücken  gezwungen  werden  können.  Daraus 
folgt,  nach  Plinius,  dass  wer  eins  von  diesen  drei  Stücken 
thut  oder  gar  alle  drei,  für  einen  Christen  nicht  mehr  gelten 
kann.  Demnach  ist  das  wirkliche  Christenthum  die  stricte 
Negation  oder  auf  dem  Standpunkt  des  damaligen  römischen 
Staatsrechts  angeschaut,  die  entschlossene  RebelHon  gegen  den 
herkömmlichen  zwiefachen  Cultus  des  Kaisers  und  der  Götter. 
Daher  braucht  Plinius  gegen  die  wahren  Christen  keine  weitere 
Untersuchung  als  die  dreimalige  Frage  unter^  Androhung  des 
Todes:  seid  ihr  Christen?  Bejahen  sie  diese  Frage  dreimal, 
dann  gelten  sie  als  überführt  und  werden  dem  Henker  über- 
geben. Man  braucht  nach  ihrer  Lehre  nicht  zu  fragen.  Das 
Christenthum  ist  strafbar,  unbeugsame  Widersetzlichkeit  gegen 
den  anerkannten  Cultus  des  Kaisers  und  der  Götter.  — 
Daneben  muss  Plinius  bezeugen,  dass  die  Christen  im  Uebrigen 
dem  kaiserlichen  Mandat  sich  folgsam  beweisen,  auch  kann 
der  Präfect  nicht  umhin,  den  Christen  ein  schönes  Sitten- 
zeugniss  auszustellen.  Obwohl  diese  ganze  Angelegenheit  dem 
Plinius  neu  ist  und  er  sich  selber  in  der  Behandlung  derselben 
unsicher  fühlt,  so  ist  doch  darüber  ihm  kein  Zweifel,  dass  die- 
jenigen, welche  grundsatzmässig  jenen  doppelten  Cultus  ver- 
werfen, des  Todes  schuldig  sind.  Da  ihm  nun  ausserdem 
ausgemacht  ist,    dass  das  Christenthum  diese  Verwerfung  auch 

18* 


276 

unter  Drohung  und  Gefahr  des  Todes  fordert,  so  bedeutet 
diese  Auffassung  des  römischen  Staatsmannes  die  offene 
Kriegserklärung  des  römischen  Reiches  gegen  das  Christen- 
thum.  Zugleich  enthält  diese  erste  amtliche  Kunde  von  der 
Christenverfolgung  die  Thatsache,  dass  die  Christen,  welche  es 
wirklich  waren,  diese  Kriegserklärung  des  römischen  Reiches 
in  aller  Gelassenheit  aufgenommen  haben  und  dafür  in  den 
Tod  gegangen  sind.  Durch  den  amtlichen  Bericht  und  das 
amtliche  \'erfahren  des  Plinius,  welches  von  dem  Kaiser 
bestätigt  wurde,  ist  der  Kampf  zwischen  dem  weltbeherrschen- 
den  vergötterten  Cäsarenthum  und  Heidenthum  und  der  wehr- 
losen todesmuthigen  Christenschaar  auf  dem  offenen  Plan 
eingeleitet. 

Soll  nun  dieser  Kampf  der  Christenheit  wider  die  welt- 
beherrschenden Lügen  siegreich  sein,  dann  muss  er  auf  gewissen 
sittlichen  Voraussetzungen  ruhen.  Der  Cäsarcultus  kann  als 
Lüge  nur  dann  erfolgreich  bekämpft  werden,  wenn  dem  Kaiser 
wirklich  und  völlig  gegeben  wird,  was  des  Kaisers  ist.  Ebenso 
kann  die  hergebrachte  Cultusgewohnheit  nur  dann  siegreich 
als  unheilige  Volksverführung  verurtheilt  werden,  wenn  die 
Christenheit,  was  in  dem  allgemeinen  Herkommen  berechtigt 
ist,  anerkennt.  Und  endlich  kann  der  christliche  Kampf  gegen 
die  weltgeschichtlichen  Lügen  nur  dann  den  vollen  Sieg 
gewinnen,  wenn  die  Christenheit  die  preisgegebene  Wahrheit 
wiederum  zu  Ehren  bringt,  oder  wenn  in  der  Christenheit  die 
abhandengekommene  Wahrhaftigkeit  ein  neues  Leben  gewinnt. 
Die  Heiden  machten  den  Christen  den  Vorwurf,  dass  sie 
ihrer  römischen  Nationalität  und  ihrer  Zugehörigkeit  zum 
römischen  Reich  abgesagt  hätten.  Wäre  das  wirklich  der  Fall, 
dann  hätten  die  Christen  in  ihrem  gegen  den  Cäsarcultus 
gerichteten  Kampf  ein  völlig  gutes  Gewissen  nicht  haben  können. 
In  der  Versuchung  zu  dieser  absoluten  Negation  dem  Römer- 
thum  gegenüber  standen  allerdings  die  Christen,  welche  im 
Namen  des  römischen  Volkes  und  Reiches  feindlich  genug 
behandelt  wurden.  Und  wirklich  fand  sich  in  dem  \'erhalten 
der  Christen  auch  Manches,  was  den  heidnischen  Vorwurf 
dass  sie  ein  ,,genus  tertium"  seien,  weder  Römer,    noch  Juden, 


277 

zu  begründen  schien.  Aber  trotzdem  behaupten  die  Christen 
ihr  Anrecht  an  den  römischen  Namen  und  zwar  mit  vollem 
Recht.  Die  zweite  Apologie  des  Justin  ist  an  den  römischen 
Senat  gerichtet  und  beginnt  mit  der  Anrede  ,,a> 'PtojxaioL", 
welche  als  naturverwandt  und  als  Brüder  bezeichnet  werden. 
Wie  tief  der  römische  Namen  auch  den  Christen  ins  Herz 
geschrieben  ist,  zeigt  der  eschatologische  Ausspruch  des 
Lactanz  in  Inst.  VII  15  11.  Das  römische  Reich  ist  nach 
Lactanz  die  heilsame  Weltordnung,  welche  Alles  zusammen- 
hält und  deshalb  als  hohes  Gut  geschätzt  werden  muss.  , ,111a  est 
civitas,  quae  adhuc  omnia  sustentat"  (Instit.  VII  25  8).  Im 
vierten  Buch  ,,de  civitate  Dei"  führt  Augustinus  aus,  dass  die 
Macht  des  römischen  Reiches  nicht  von  Jupiter  sondern  von 
Gott  geordnet  ist.  Im  fünften  Buch  (c.  21)  schreibt  derselbe: 
,,ille  unus  verus  Deus,  qui  nee  judicio,  nee  adjutorio  deserit 
genus  humanum,  quando  voluit  et  quantum  voluit,  Romanis 
regnum  dedit".  Es  will  aber  noch  mehr  bedeuten,  dass  auch 
in  der  Zeit,  als  das  Schwert  der  Verfolgung  über  ihrem 
Haupte  hing,  und  die  dämonische  Macht  in  der  Welt  noch 
ungebrochen  waltete,  der  göttliche  Ursprung  des  römischen 
Reiches  von  den  Christen  aufrecht  erhalten  wurde,  Athenagoras 
redet  Marc  Aurel  und  seinen  Sohn  Commodus  an  als  Solche, 
die  das  Königreich  von  oben  (avojÖsv)  empfangen  haben  (Ad 
Graecos  XVIII).  Melito  von  Sardes  preist  in  Zeiten  der 
actuellen  Verfolgung  die  seit  Augustus  wachsende  Macht  des 
römischen  Reiches  (Eusebius  H.  E.  IV  26). 

Es  ist  kein  gerechtes  Urtheil,  wenn  man  die  republikanische 
Opposition  der  Stoiker  und  Cyniker  gegen  das  Cäsarenthum 
als  eine  lächerliche  Thorheit  verspottet,  wie  Hausrath  den 
Helvidius  Priscus  einen  Narren  nennt  (N.  T.  Zeitgeschichte 
IV  29)  und  auf  den  Grimm  der  Republikaner  schilt  (Kleine 
Schriften  p.  3).  Dem  Liebhaber  der  Menschheit  wird  dieses 
letzte  Aufleuchten  der  antiken  Tugend  mitten  in  der  allgemeinen 
Verderbniss  und  Fäulniss  immer  tröstlich  sein.  Obgleich  nun 
die  Christen  weit  mehr  als  die  Philosophen  unter  der  absoluten 
Gewalt  zu  leiden  hatten  und  weit  mehr  als  die  Philosophen  des 
Schutzes      freiheitlicher     Institutionen      bedurften,     waren     die 


278 

Christen  nicht  repubhkanisch  sondern  monarchisch  gesinnt. 
Die  Christen  waren  durchdrungen  von  der  Ueberzeugung,  dass 
durch  Christus  der  Schwerpunkt  aller  heilsamen  Entwickelung 
von  aussen  nach  innen  verlegt  sei,  dass  daher  die  Freiheit  vor 
Allem  in  dem  innersten  Centrum  der  Menschheit,  in  dem  Ver- 
hältniss  des  Menschen  zu  Gott,  aufgerichtet  werden  müsse,  und 
dass  die  Freiheit  des  äusseren  Lebens,  die  politische  Freiheit 
nur  von  da  aus  ihre  wahre  Kraft  und  ihre  wahrhaft  gesegnete 
Wirkung  empfangen  werde.  Demnach  erkennen  die  Christen 
den  vorhandenen  politischen  Zustand  als  feststehende  Basis  an. 
Cäsares,  sagt  Tertullian,  sind  für  das  gegenwärtige  Saeculum 
nothwendig  (Apclog.  XXI).  Wir  Christen,  heisst  es  bei  dem- 
selben,  betrachten  den  Cäsar  mehr  als  den  Unsrigen,  weil  von 
unserem  Gott  eingesetzt:  ,,noster  est  magis  Caesar,  a  nostro 
Deo  constitutus"  (Apolog.  XXXIII);  in  demselben  Masse,  sagt 
also  Tertullian,  ist  Cäsar  mehr  der  Unsrige,  als  unser  Gott 
höher  ist,  denn  der  Jupiter  der  Heiden.  Die  cäsarische 
Monarchie  wird  mit  voller  Bewusstheit  und  Entschiedenheit  als 
göttliche  Institution  bezeichnet.  ,,Xos  Judicium  Dei  suspicimus 
in  imperatoribus,  qui  gentibus  illos  praefecit;  idem  in  iis 
scimus  esse,  quod  Deus  voluit"  (Tertullian  Apolog.  XXXIIj. 
Die  letzten  Worte  besagen:  die  Imperatores  mögen  beschaften 
sein,  wie  sie  wollen,  mögen  handeln,  wie  es  ihnen  beliebt,  wir 
wissen  soviel,  dass  trotz  alledem  in  ihnen  ist  und  bleibt,  was 
Gottes  Weltregierung  ordnet.  ,, Christianus  nullius  est  hostis 
nedum  imperatoris,  quem  sciens  a  Deo  suo  constitutum  necesse 
est,  ut  ipsum  diligat  et  revereatur  et  honoret  et  salvum  velit 
cum  toto  romano  imperio  quousque  saeculum  stabit"  (TertuU. 
ad  Scapul.  II).  Mit  kurzem  Wort  v/eist  Tertullian  dem  Cäsar 
seinen  ausschliesslichen  Rang  an:  ,, Caesar  homo  a  Deo  secundus 
et  solo  Deo  minor"  (Ad  nation.  II  2,  Ad  Scapulam  II).  Persön- 
liche Vorzüge  der  Cäsaren  wurden  von  den  Christen  anerkannt 
und  geehrt.  Athenagoras  begrüsst  die  Kaiser  Marc  Aurel  und 
Aurelius  Commodus  als  menschenfreundliche,  der  Wissenschaft 
beflissene  Selbstherrscher  (Legat,  pro  Christianis  II).  Diese 
Kaiser  übertreffen  Andere  an  Einsicht  und  Frömmigkeit,  sagt 
derselbe  (VII,  XXXI).     Justinus  redet    die  Cäsaren    an  als  der 


279 

Philosophie  Beflissene  (Apolog.  I  i),  und  da  er  selbst  den 
Philosophentitel  in  Anspruch  nimmt,  so  ist  jene  Anrede  ein 
hochehrendes  Prädicat.  Bei  allem  Vorhandensein  tiefer  und 
hartnäckiger  Vorurtheile  gegen  die  Christen  wird  doch  den 
cäsarischen  Gewalten  die  Fähigkeit  zugetraut,  über  das  Ver- 
halten der  Christen  ein  richtiges,  sittliches  Urtheil  zu  fällen. 
Die  ,,ärj'/ov-zz",  von  denen  Clemens  Romanus  I  60  spricht,  sind 
,,TiYou»jLiVoi  r,|jLc5v  £-1  xr^z  7^;",  also  die  weltlichen  Herrscher. 
Von  diesen  wird  vorausgesetzt,  dass  sie  das,  was  gut  und 
wohlgefäUig  an  den  Christen  sich  findet,  anerkennen.  Da  nun 
C.  59  und  C.  60  von  Gefangenen  und  von  Erlösung  aus  der 
Gewalt  die  Rede  ist,  so  befindet  sich  die  damalige  Christenheit 
im  Zustand  der  Verfolgung.  Also  auch  die  Feindschaft  und 
Verfolgung  vernichtet  in  den  Christen  nicht  die  Hoffnung,  dass 
bei  den  heidnischen  Gewalten  ein  Verständniss  für  ihre 
Tugenden  nicht  unmöglich  sei.  Auf  diesen  bedeutsamen  und 
werthvollen  Rest  eines  inneren  Verhältnisses  der  Christen  zu 
den  feindlichen  Gewalten  beruht  auch  alle  apologetische  Thätig- 
keit  der  ältesten  Christen.  Denn  ohne  Hoffnung  auf  sittliches 
Verständniss  wären  die  Apologien  Producte  eines  unsittlichen 
Geistes. 

Es  ist  sehr  bekannt,  dass  die  Christen  in  und  trotz  den 
Verfolgungen  festgehalten  an  der  apostolischen  Vorschrift  der 
Fürbitte  für  die  obrigkeitlichen  Gewalten,  und  dass  die  Apologeten 
mit  grossem  Nachdruck  sich  auf  diese  Thatsache  berufen. 
Und  gewiss  legen  die  Apologeten  mit  vollem  Recht  ein  grosses 
Gewicht  auf  diese  Fürbitte  als  auf  ein  bedeutsames  Zeichen 
eines  guten  Gewissens  der  Christenheit  der  staatlichen  Gewalt 
gegenüber.  Man  soll  sich  aber  nicht  damit  begnügen,  diese 
nackte  Thatsache  an  sich  zum  Schutz  der  Christen  anzuführen. 
Die  christliche  Fürbitte  für  die  Gewalten  gewinnt  erst  dann 
ihr  volles  apologetisches  Gewicht,  wenn  man  nachweist,  dass 
die  ganze  Weltanschauung  und  das  Verhalten  der  Christen  den 
Staatspflichten  gegenüber  mit  dieser  Fürbitte  in  vollem  Ein- 
klang steht.  Ausserdem  gewinnt  diese  Fürbitte  ihren  ganzen 
Nachdruck  erst  dann,  wenn  berücksichtigt  wird,  dass  nach 
christlichem  Glauben  in  denselben  Gewalten,  für  welche  gebetet 


280 

wird,  das  Instrument  der  gottwidrigen  und  dämonischen  Macht 
enthalten  ist. 

Was  das  Erstere  anlangt,  so  haben  wir  gezeigt,  dass  nach 
dem  Glauben  der  ältesten  Christenheit  in  dem  römischen 
Reich  eine  göttliche  Stiftung  zu  verehren  ist,  und  wir  werden 
nachher  sehen,  dass  das  staatsbürgerliche  Verhalten  der 
Christen  mit  dem  Sinn  des  Gemeindegebetes  für  die  Obrig- 
keit übereinstimmt.  Auf  das  Andere,  was  bei  dieser  Fürbitte 
nicht  genug  beachtet  wird,  wird  uns  die  patristische  Aussage 
über  die  eschatologische  Bedeutung  der  Fürbitte  von  selber 
hinführen. 

Es  verdient  beachtet  zu  werden,  dass  das  Christengebet 
für  das  heidnische  Cäsarenthum  grade  so  lautet,  wie  wir  es  im 
Wesentlichen  noch  heute  jeden  Sonntag  in  dem  Gottesdienst 
für  unsere  christliche  Obrigkeit  vernehmen.  Die  christliche 
Fürbitte  umfasst  nach  Tertullian:  ,,vitam  Caesaribus  prolixam,, 
imperium  securum,  domum  tutam,  exercitus  fortes,  senatum 
fidelem,  populum  probum,  orbem  quietum,  et  quaecunque 
hominis  et  Caesaris  vota  sunt"  (Apol.  XXX).  Athenagoras 
schreibt:  ,,wir  beten  für  die  rechtmässige  Thronfolge*)  von 
Vater  auf  Sohn  —  für  Mehrung  und  Wachsthum  des  Kaiser- 
reiches" (XXXVII).  Arnobius  beschreibt  das  christliche 
Gemeindegebet  folgendermassen:  ,,oratus  Deus,  pax  cunctis  et 
venia  postulatur  magistratibus,  exercitibus,  regibus,  familiaribus^ 
inimicis  adhuc  vitam  degentibus  et  resolutis  corporum  vinctione" 
(IV  36).  Während  jetzt  in  der  Regel  das  officielle  Gemeinde- 
gebet mit  geringer  Andacht  begleitet  wird,  bezeugt  Tertullian 
die  starke  Inbrunst,  mit  welcher  dieses  Gebet  in  der  ersten 
Christenheit  gleichsam  Gott  im  Himmel  Gewalt  anzuthun  sich 
beeiferte.  ,,Ad  Deum  quasi  manu  facta  precationibus  ambimus. 
Haec  res  Deo  grata  est.  Oramus  etiam  pro  imperatoribus, 
pro  ministeriis  eorum  et  potestatibus,  pro  statu  saeculi,  pro 
rerum  quiete,    pro    mora   finis"    (Apolog.  XXXIX).     Was    die 


*)  Hier  wird  das  Princip  der  Legitimität  in  der  Erbfolge  als  ein  christ- 
liches betrachtet,  in  dem  ersten  Jahrhundert  des  Staatskirchenthums  ist  das 
nicht  der  Fall  (II.   Richter  Das  weströmische  Reich  p.  287 — 291). 


281 

letzten  Worte  anlangt:  ,,wir  beten  für  den  Aufschub  des 
Endes",  so  giebt  uns  darüber  die  folgende  Stelle  weiteren 
Aufschluss.  Nachdem  TertuUian  Bezug  genommen  auf  die 
apostolische  Vorschrift  der  Gemeindefürbitte,  fährt  er  fort: 
,,est  et  major  necessitas  nobis  orandi  pro  imperatoribus,  etiam 
pro  omni  statu  imperii  rebusque  romanis,  qui  vim  maximam 
universo  orbi  imminentem  ipsamque  clausulam  saeculi  acerbitates 
horrendas  comminentem  Romani  imperii  commeatu  scimus 
retardari.  Ita  quae  nolumus  experiri  ea  dum  precamur  differri 
romanae  diuturnitati  favemus"  (Apolog.  XXXII).  Dieselbe 
Weltanschauung  zur  Begründung  der  Gemeindefürbitte  für  die 
Erhaltung  der  Gottesordnung  in  dem  letzten  Weltreich  trägt 
auch  Lactanz  vor,  indem  er  schreibt:  ,,ista  (Roma)  est  civitas, 
quae  adhuc  sustentat  omnia,  praecandusque  nobis  et  adorandus 
est  Deus  coeli,  si  tamen  statuta  ejus  et  placita  differri  possunt, 
ne  citius,  quam  putemus  tyrannus  ille  abominandus  veniat,  qui 
tantum  facinus  moliatur  ac  lumen  illud  effodiat,  cujus  interitu 
mundus  ipse  lapsurus  est"  (Inst.  VII  25  8).  Der  Bestand  des 
römischen  Reiches  wird  also  als  ein  hohes  Gut  betrachtet^ 
weil  dieser  Bestand  den  letzten  Feind  und  die  letzte  Noth 
aufhält.  Die  Fürbitte  für  das  römische  Reich  ist  also  die 
Bitte  um  Aufschub  des  letzten  Endes.  Schliesslich  dient  es 
zur  weiteren  Charakteristik  dieser  innersten-  Stellung  der 
Christenheit  zu  der  bestehenden  Macht,  dass  Arnobius  die 
christliche  Fürbitte  so  beschreibt,  dass  sie  als  eine  Hülfe 
erscheint  für  diejenige  Noth  des  allgemeinen  Wesens,  für 
welche  die  heidnischen  Römer  keinen  Rath  mehr  wissen. 
,,Nos  omnes  Deum  colimus  rerum  patrem  atque  ab  eo  deposci' 
mus  rebus  fessis  languentibusque  tutamina"  (I  28).  Plinius 
Senior  nennt  den  Gesammtzustand  des  römischen  Wesens  ,,res 
fessae"  (H.  N.  II  5).  Mit  demselben  Wort  bezeichnet  Tacitus 
diesen  Zustand  (Ann.  XV  50),  und  Seneca  braucht  dafür  das 
Synonymon  ,,lassae"  (Ad  Polyb.  XVI  6,  Ludus  IV  i). 
Arnobius  sieht  nun  in  der  christlichen  Fürbitte  diejenige  gött- 
liche Macht  und  Hülfe,  welche  dem  Verfall  des  gemeinen 
Wesens,  den  die  Vertreter  des  Heidenthums  bekennen  und 
hülflos   beklagen,    stützenden   Halt   gewährt.     So    tief  versenkt 


282 

sich  die  christliche  Fürbitte  in  den  gegenwärtigen  Zustand 
des  römischen  Reiches,  dass  sie  der  schmerzHchen  Klage 
römischer  Patrioten  wohhvollend  entgegenkommt!  Nur  darin 
weicht  schhessHch  die  christhche  Auffassung  der  Weltlage  von 
dem  römischen  Heidenthum  ab,  dass  sie  nicht  von  einer 
ewigen  Roma  träumt,  sondern  im  Gegentheil  ein  jähes  und 
schreckliches  Ende  des  abendländischen  Babylon  nicht  bloss 
weissagt,  sondern  auch  hofft.  Aber  dieser  Unterschied  macht 
die  christliche  Fürbitte  für  das  römische  Reich  um  so  dring- 
licher. Nach  dem  biblischen  Prophetenwort  wohnt  in  der 
höchsten  Weltgewalt  eine  gottwidrige  Macht,  welche  nur 
dadurch  überwunden  und  entmächtigt  wird,  dass  sie  ihre  letzte 
Kraft  und  Bosheit  aufbietet,  aber  eben  damit  das  heilige  Volk 
durch  das  willige  Erleiden  der  letzten  Bosheit  und  Gewalt 
vollendet  und  den  endlichen  Sieg  des  Guten  herbeiführt.  Nun 
ist  aber  nach  der  Schrift  seit  der  Sündfluth  bis  zum  Ausbruch 
der  letzten  Bosheit  in  der  höchsten  Gewalt  auch  eine  göttliche 
Ordnung  und  Institution  enthalten,  welche  während  des  Welt- 
laufs dem  Wirken  und  Walten  des  Bösen  das  Gegengewicht 
hält.  Die  Christen  der  ersten  Jahrhunderte  hatten  eine  un- 
mittelbare und  lebendige  Anschauung  von  der  dualistischen 
Natur  der  höchsten  Weltmacht :  einestheils  erfuhren  und  fühlten 
sie  in  der  gegen  sie  gerichteten  Feindschaft  und  Verfolgung 
die  der  Weltmacht  innewohnende  Bosheit,  andererseits  aber 
kam  ihnen  gleichfalls  zur  Anschauung  und  zum  Bewusstsein, 
dass  in  der  römischen  Obrigkeit  immer  noch  eine  göttliche 
Schutzwehr  gegen  ungerechte  Gewalt  gestiftet  sei,  wie  es 
Paulus  erfahren,  und  wie  es  selbst  aus  manchen  Spuren  der 
Martyreracten  zu  erkennen  ist.  Nun  legt  sich  die  christliche 
Fürbitte  ein  und  ringt  um  Erhaltung  und  Stärkung  des  gött- 
lichen Elementes  in  dem  bestehenden  Zustande  und  kämpft 
dagegen  wider  den  ungöttlichen  und  dämonischen  Geist  in 
der  herrschenden  Weltmacht.  Die  Gemeinde  weiss  aber,  dass 
trotz  dieses  ringenden  und  kämpfenden  Gebetes  der  Augenblick 
kommen  wird,  in  welchem  der  Dämon  der  Weltmacht  die 
göttliche  Stiftung  der  Obrigkeit  ausrotten  und  das  heilige 
Volk     verstören     wird.        Das    ist    die    Zeit    der    ,,acerbitates 


283 

horrendae",  wie  TertuUian  schreibt,  der  Schrecken,  deren  Tage 
um  der  Auservvählten  willen  verkürzt  werden.  In  menschlicher 
Furcht  vor  dieser  letzten  Versuchung  bittet  die  Gemeinde  um 
,,mora  finis",  um  Aufschub  dieses  Endes,  und  stimmt  mit  den 
Heiden  ein  in  den  Wunsch  nach  ,,diuturnitas  romana". 

Diese  Fürbitte  um  Erhaltung  der  bestehenden  Ordnung 
und  um  Aufschub  der  letzten  Katastrophe  entspricht  dem 
gewöhnlichen  Zustand  der  christlichen  Gemeinde  in  der  Welt. 
Es  giebt  aber  Momente,  die  den  Charakter  der  letzten 
Katastrophe  haben,  in  denen  die  gottlose  Gewalt  alle  Macht 
in  Händen  hat,  und  die  Heiligen  der  losgelassenen  Bosheit 
preisgegeben  sind.  In  solchen  Momenten  spricht  der  Geist 
und  die  Braut  „komme!"  (Apocal.  XXII  17),  in  solchen 
Momenten  heisst  es  nach  der  kürzlich  aufgefundenen  ,, Apostel- 
lehre": ,,es  komme  die  Gnade  und  es  vergehe  die  Welt". 

Dieses  auf  dem  gewaltigen  Ernst  der  biblischen  Welt- 
anschauung ruhende  Gemeindegebet  für  Kaiser  und  Reich  ist 
die  innerste  und  heiligste  Berührung  der  ersten  Christenheit 
mit  dem  römischen  Weltreich.  In  dieser  innersten  Sacristei 
hatte  die  Christenheit  ein  gutes  und  reines  Gewissen  allen 
Verdächtigungen,  Verleumdungen,  Verlästerungen  und  Ver- 
folgungen gegenüber.  In  dieser  ihrer  Fürbitte  ist  sich  die 
Christenheit  bewusst,  dass  sie  Alles,  was  in  dem  Weltreich 
göttlich,  gut  und  heilig  ist,  nicht  bloss  anerkennt,  sondern 
auch  mit  inbrünstiger  Liebe  umfasst  und  vertheidigt.  Auf 
■dem  tiefen  Grunde  dieses  guten  Gewissens  ruht  und  aus  dem- 
selben erklärt  sich  der  grossartige  Charakter  des  christlichen 
Martyriums  in  der  römischen  Verfolgung. 

Das  gute  Gewissen  des  Gemeindegebetes  könnte  aber  das 
Martyrium  nicht  begleiten  und  stützen,  wenn  nicht  auch  das 
übrige  Verhalten  der  Christen  der  Staatsordnung  gegenüber 
mit  jener  Anerkennung  des  Staates  in  dem  Gemeindegebet 
im  vollen  Einkang  stände.  Zwar  sagt  TertuUian:  ,,non  uUa 
magis  res  nobis  aliena  est  quam  publica"  (x\polog.  XXXVIII). 
Ohne  Zweifel  will  der  Apologet  mit  diesem  Satze  das 
Geständniss  machen,  dass  die  Christen  einstweilen  nicht  in 
selbstständiger  Weise,  das  heisst  als  Beamte  in  die  Functionen 


284 

des  öffentlichen  Wesens  eintreten  können,  aus  dem  einfachen 
Grunde,  weil  alle  Amtsgeschäfte  irgendwie  mit  dem  ab- 
göttischen Cultus  in  Beziehung  standen.  Wenn  deshalb  die 
Christen  ,,infructuosi  in  negotiis"  genannt  wurden,  so  hält 
Tertullian  dem  entgegen :  ,,neque  Brachmanae  nee  Indorum 
gymnosophistae  sumus,  sylvicolae  et  exules  vitae.  Non  sine 
foro,  non  sine  macello,  non  sine  balneis,  tabernis,  officinis, 
Stabulis,  nundinis  vestris  ceterisque  commerciis  cohabitamur  in 
hoc  saeculo.  Navigamus  et  nos  vobiscum  et  militamus,  et 
rusticamur  et  mercamur,  proinde  miscemus  artes,  operas 
nostras  publicamus  usui  vestro"  (Apolog.  XLII).  Sehr 
beachtenswerth  ist,  was  Origenes  in  dieser  Beziehung  dem 
Celsus  entgegnet,  welcher  von  den  Christen  verlangt,  dass  sie 
obrigkeitliche  Aemter  übernehmen  sollen,  ,,wir  kämpfen",  sagt 
Origenes,  ,, verborgenerweise,  indem  wir  für  alle  Obrigkeiten 
beten,  und  ausserdem  stellen  wir  die  unter  uns  Tüchtigen  in 
der  Kirche  an  für  das  himmlische  Vaterland"  (Contra  Cels. 
VIII  74  75)- 

Auf  diesem  inneren  Gebiete  des  Kirchenwesens  entwickelte 
sich  bei  den  Christen  nach  dem  Zeugniss  des  Lucian  (Celsus' 
wahres  Wort  von  Keim  p.  149)  eine  bisher  unbekannte  Rasch- 
heit und  Tüchtigkeit  in  Behandlung  von  Gemeindesachen. 
Man  denke  an  die  organisatorische  Thätigkeit  von  Cyprian  in 
Karthago  und  Dionysius  in  Alexandrien  in  Zuständen  massen- 
hafter Noth.  Nicht  bloss  Lucian  hat  das  anerkannt,  sondern 
auch  der  Kaiser  Alexander  Severus.  Dieser  Kaiser  hatte 
bemerkt,  dass  bei  den  Christen  und  Juden,  wenn  es  sich  um 
Anstellung  von  Beamten  innerhalb  ihres  Religionswesens 
handelte,  der  öffentlichen  Volksstimme  ein  Gewicht  beigelegt 
wurde.  Alexander  Severus  erkannte  in  dieser  Einrichtung 
einen  Segen  und  empfahl  deshalb  diese  christliche  und  jüdische 
Sitte  als  ein  V^orbild  für  das  staatliche  Gebiet  (Histor.  Aug. 
I  997).  Wir  sehen  hier,  wie  die  freiheitliche  Bewegung  von 
dem  inneren  Gebiet  der  Christengemeinde  in  das  weltliche 
Gebiet  des  Staatslebens  hinüberzugreifen  beginnt. 

Was  sodann  die  allgemeinen  Staatspflichten  der  Unter- 
thanen  anlangt,     so    wurden    dieselben  von  den    Christen    nicht 


285 

bloss  erfüllt,  sondern  die  Christen  beeifern  sich,  es  den 
NichtChristen  zuvor  zu  thun.  Im  Namen  seiner  Brüder  rühmt 
sich  Justin  vor  dem  Kaiser:  ,,wir  gehen  in  der  Erfüllung 
unserer  Staatspflichten  nach  der  Lehre  Christi  voran,  und  mit 
Freuden  leisten  wir  diesen  Dienst"  (Apol.  I  17).  Derselbe 
behauptet  gleichfalls  Angesichts  des  Kaisers:  ,,mehr  als  alle 
Menschen  sind  wir  euch  Helfer  und  Mitkämpfer  für  den 
Frieden"  (Apol.  I  12).  Der  Verfasser  des  Briefes  an  Diognet 
schreibt:  ,,die  Christen  gehorchen  nicht  bloss  den  bestehenden 
Gesetzen,  sondern  leisten  mehr  als  die  Gesetze  fordern"  (C.  V). 
Für  die  sittliche  Stellung  und  Haltung  der  Christen  dem 
Staat  gegenüber  kommt  ferner  der  Umstand  in  Betracht,  dass 
die  christlichen  Lehrer  sich  zur  Nacheiferung  auf  die  Beispiele 
und  Lehren  der  heidnischen  Tugend  berufen,  ein  Umstand,  der 
bisher  viel  zu  wenig  beachtet  worden  ist.  Indem  man  den  dem 
Augustinus  gewöhnlich  zugeschriebenen  Satz:  ,,die  Tugenden 
der  Heiden  sind  glänzende  Laster"  als  massgebend  an  die 
Spitze  stellt*),  übersieht  man  oder  unterschätzt  man  wenigstens 
jene  wesentliche  Thatsache.  Jener  Satz,  so  wie  er  ausgedrückt 
wird,  findet  sich  in  dieser  wörtlichen  Crassheit  überall  bei 
Augustinus  nicht.  Die  Stelle,  welche  dem  Sinne  jenes  Satzes 
am  meisten  entspricht,  ist  folgende:  ,,virtutes,  quas  anima  et 
ratio  sibi  habere  videtur,  per  quas  imperat  corpori  et  vitiis 
ad  quodlibet  adipiscendum  vel  tenendum  nisi  ad  Deum 
retulerit  etiam  ipsae  vitia  sunt  potius,  quam  virtutes"  (C.  D. 
XIX  25).  Jeder  Christ,  welcher  weiss,  dass  nur  das  wirklich 
gut  ist,  was  Gott  durch  Christum  in  dem  Menschen  geschaffen 
hat,  alles  Andere  aber,  was  lediglich  durch  natürliche  Vernunft 
und  Kraft  erzeugt  ist,  wenn  es  auch  für  das  allgemeine 
Menschenleben  gut  und  nützlich  ist,  für  sündig  gehalten  werden 
muss,  jeder  Christ,  der  dieses  aus  Erfahrung  weiss,  wird  dem 
obigen  Satz  des  Augustinus  völlig  beistimmen.  Um  so  mehr 
muss  es  aber  beachtet  und  gewürdigt  werden,  dass  eben  dieser 
grosse  Kirchenlehrer,  der  so  scharf  wie  kein  Anderer  Natur 
und  Gnade  scheidet,  mit  grossem   Nachdruck    die  Christen  zur 


')    Hausrath  Kleine  Schriften  p.  5. 


286 

Nacheiferung     hinweist     auf    die     Beispiele     des     heidnischen 
Heroismus.       Den    ReguUis     und     seines    Gleichen    beschreibt 
Augustinus  wie  folgt:   ,,forti3simi  et  praeclarissimi   viri   terrenae 
patriae  defensores,  deorumque  licet  falsorum,  non  tarnen  fallaces 
cultores,  sed  veracissimi  etiam  juratores".    Dieser  Beschreibung 
fügt  Augustinus    hinzu:     ,, Christen    müssen   auch   den  Regulus 
übertreffen"    (C.    D.   I  24).     Dahin    gehört    ferner    die    Anrede 
des  Augustinus    an    die  Römer:    ,,0  indoles  romana  laudabilis, 
o  progenies  Regulorum,  Scaevolarum,    Scipionum,  Fabriciorum, 
siquid  in    te    laudabile    naturaliter  eminet   nonnisi    vera  pietate 
purgatur  atque  perficitur,  impietate   disperditur   atque  punitur" 
(C.  D.  II  29).     Die   Meinung    ist:    die   jetzige    entartete  Nach- 
kommenschaft der  alten  Römer  soll  sich  durch  die  hohen  Bei- 
spiele   der    besseren    \^ergangenheit    beschämen    und    erheben 
lassen.     Aber  um  so  mehr  sollen  die  Christen  sich  durch  diese 
Beispiele  der  römischen  Vorzeit  belehren  und  beschämen  lassen: 
,,cives  aeternae  civitatis  quamdiu  hie  peregrinantur.  diligenter  et 
sobrie    illa  Romanorum    intueantur  exempla  et    videant   quanta 
dilectio  debeatur    supernae    patriae    propter  vitam  aeternam,  si 
tantum  a    suis    civibus    terrena    dilecta    est    propter     hominum 
gloriam"  (C.  D.   V   16).      Augustinus   preist    die  Vergangenheit 
des  römischen  Volkes,  weil  sie  durch  Freiheitssinn  und  Ruhm- 
begierde   zu    grossen  Thaten    angetrieben   und    die  Laster   der 
Gegenwart  niedergehalten  hat.     Durch  Liebe  zum  Ruhm  unter- 
drücken die  Römer  der  Vorzeit  die  Geldsucht  und  viele  andere 
Laster  (C.  D.  V   13).     ,,Haec  duo  sunt  illa,  libertas  et  cupiditas 
laudis  humanae,   quae   ad    facta  compulere    miranda  Romanos'* 
(C.  D.  V   18).     Die  Römer   der  Vorzeit   werden  belobt  wegen 
ihres    Gemeinsinnes    für    das   öffentliche   Wesen:    ,,privatas    res 
suas    pro    re    communi    hoc    est  republica   et  pro  ejus  aerario^ 
contempserunt,   avaritieie  restiterunt,  consuluerunt  patriae  libero 
consilio,  neque  delicto  secundum  suas  leges  neque  libidini  obnoxii 
—  honorati    sunt    in    omnibus  fere  gentibus  —  hodieque  literis 
et  historia  gloriosi  sunt  paene  in  omnibus  gentibus"  (C.  D.  V  15). 
Augustinus    betrachtet    es    als   eine    göttliche   Gnadenwohlthat, 
dass  die  Christen  die  Möglichkeit  haben,  die  grossen  Tugenden 
der    heidnischen    Vorfahren    anzuschauen    und    zu    verwerthen. 


287 

„Utamur  etiam  in  his  rebus  beneficio  Domini  Dei  nostri^. 
consideremiis  quanta  contempserint,  quae  pertulerint,  quas 
CLipiditates  subegerint  pro  humana  gloria,  qui  eam  tamquam 
mercedeni  talium  virtutum  accipere  meruerunt"  (C.  D.  V  17). 
Was  in  diesen  inhaltreichen  Sätzen  des  Augustinus  zum  Theil 
deutHch  ausgesprochen  wird,  dass  die  hier  zum  Vorbild 
hingestellten  Tugenden  und  Vorzüge  der  Vorzeit  entschieden 
staatsbürgerlichen  Charakter  haben,  wird  in  diesem  Zusammen- 
hang noch  einmal  nachdrücklich  zusammengefasst :  ,,illi  qui 
vera  pietate  praediti  bene  vivunt,  si  habent  scientiam  regendi 
populos,  nihil  est  felicius  rebus  humanis,  quam  si  Deo  miserante 
habeant  potestatem"  (C.  D.  V  19).  Die  höchste  menschliche 
Glückseligkeit  wird  also  nach  Augustinus  erreicht,  wenn  die 
wahre  Frömmigkeit  sich  einigt  mit  der  Staatsweisheit  und  der 
Herrschermacht. 

Bei  diesem  innerlich  normalen  Verhältniss  des  ältesten 
Christenthums  zum  Staatswesen  ist  es  erklärlich,  dass  der 
christliche  Wandel  TroAiTsusaOai  (cfr.  Phil.  III  20)  und  die 
Christen  wegen  der  Werke  gute  Staatsbürger  (Justin  Apol.  I  65) 
genannt  werden. 

Was  nun  speciell  den  Kriegsdienst  anlangt,  so  ist  es  jeden- 
falls nicht  richtig,  wenn  Hausrath  ganz  allgemein  sagt:  ,,die 
Christen  meiden  den  Kriegsdienst"  (Kleine  Sehr.  p.  59).  Denn 
Tertullian  schreibt  da,  wo  er  die  Beschäftigungen  der  Christen 
aufzählt,  ohne  Einschränkung  ,,militamus"  (Apolog.  XLII), 
auch  nennt  Tertullian  ,,castra  ipsa"  als  Oertlichkeit,  wo  Christen 
sich  finden  (Apolog.  XXXIII).  Auch  die  Abhandlung  Ter- 
tuUians  ,,de  Corona"  setzt  voraus,  dass  christliche  Soldaten  im 
römischen  Heer  schon  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  nicht 
selten  waren  (cfr.  Irenäus  IV  49).  Unter  den  zahlreichen 
christlichen  Oberbeamten  des  Kaiserthums  im  dritten  Jahr- 
hundert  (Euseb.  H.  E.  VI  28  41,  VII  10,  VIII  i  9  11,  Vita 
Const.  I  13  15  16  32)  gab  es  auch  Officiere  (Euseb.  H.  E. 
VII  15).  Wenn  nun  desungeachtet  entschiedene  Weigerungen 
des  Kriegsdienstes  von  Seiten  der  Christen  vorkamen,  so  beruht 
das  nicht  auf  einem  allgemeinen  Grundsatz  sondern  auf 
individuellen  Gewissensbedenken.     Der  Widerstand    gegen    den 


288 

Kriegsdienst  ist  nicht  eingelernt,  sondern,  wie  man  aus  den 
Erklärungen  der  Widerstehenden  erkennt,  ist  Gehorsam  gegen 
eine  unmittelbare  Gewissensstimme.  F'erreolus  erklärt:  ,,impera- 
toribus,  quamdiu  salva  religione  licuit  militare  —  adversus 
noxios  non  adversus  Christianos  militare  proposui"  (Rainarti  acta 
martyrum  sincera  p.  461  463).  Marcellus,  ein  Centurio,  bekennt: 
,,si  talis  est  conditio  militantium,  ut  diis  et  imperatoribus  sacra 
facere  compellantur,  projicio  cingulum,  renuntio  signis  et 
militare  recuso"  (Rainart.  p.  303).  Wenn  bis  vor  Kurzem  die 
christlichen  Regierungen  in  den  Gewissensbedenken  der 
Mennoniten  gegen  den  Kriegsdienst  eine  Aufkijndigung  des 
staatlichen  Gehorsams  nicht  gefunden  haben,  so  darf  es  nicht 
als  Staatsfeindlichkeit  verklagt  werden,  wenn  einzelne  Christen 
in  den  Tagen  der  Verfolgung  ihren  vollen  Gewissensernst  gegen 
den  Missbrauch  der  Waffengewalt  aufgeboten. 

.  Das  Ergebniss  dieser  Erörterungen  ist  nun  dies,  dass  die 
Christenheit  dem  cäsarischen  Staate  gegenüber  sowohl  in  Bezug 
auf  ihre  innere  Stellung,  wie  in  Ansehung  ihres  äusseren  A'er- 
haltens  ein  vollkommen  gutes  Gewissen  hat.  Aus  diesem 
Grunde  ist  die  Christenheit  sowohl  verpflichtet  als  auch 
berechtigt  und  befähigt,  die  Lüge  des  Cäsarcultus  zu  bekämpfen 
und  für  die  Wahrheit  in  dem  Centrum  des  öffentlichen  Lebens 
einzustehen.  Wir  haben  gesehen,  dass  seit  Julius  Cäsar  der 
Cäsarcultus  in  Rom  als  eine  herrschende  officielle  Lüge  waltete. 
Diese  Lüge  auf  der  Höhe  der  Welt  verdunkelt  das  ganze 
Gebiet  der  Wirklichkeit,  macht  alles  Denken  unsicher,  macht 
alles  Wissen  ungewiss.  Das  Product  dieser  Lüge  ist  die 
skeptische  Frage  des  römischen  Procurators  Pontius  Pilatus: 
,,was  ist  Wahrheit?"  Unter  der  Wirkung  dieser  Lüge  klagt 
Seneca:  ,,tota  mihi  vita  mentitur"  (Ep.  XLV  10);  ,,0  vita 
fallax"  (Hippolyt.  418);  und  Epiktet  bekennt:  ,, eine  vornehmste 
Pflicht  ist  es,  nicht  zu  lügen,  aber  obwohl  wir  dieses  wissen, 
lügen  wir  Nichts  desto  weniger"  (Enchiridion  52,  Theophrastus, 
Marcus  Aurelius,  Epictetus  etc.  ed.  Duebner  Par.  1840).  Die 
tiefste  Wurzel  jener  officiellen  Lüge  war  die  von  berühmten 
Auctoritäten  der  letzten  republikanischen  Zeiten  ausgeheckte 
Lehre,  dass  in  dem  religiösen  Gebiete  die  Wahrheit  keineswegs 


289 

nothwendig  sei,  im  Ge<^entheil  der  Schein  und  die  Unwahrheit 
zuweilen  nützhch  sein  könne.  ,,Scaevola,  pontifex  maximus, 
expedire  existimat,  faUi  in  rehgione  civitates"  (Augustinus 
C.  D.  IV  27).  Diesen  Pontifex  nennt  Cicero:  ,, juris  peritorum 
eloquentissimus  et  eloquentium  juris  peritissimus"  (Brut  XXXIX). 
Mit  diesem  berühmten  Pontifex  stimmt  Varro :  ,, utile  esse 
civitatibus  dicit,  ut  se  viri  fortes  etiamsi  falsum  sit  diis  genitos 
esse  credant".  Augustin  fügt  hinzu:  ,,quae  Varronis  sententia 
expressa,  ut  potui,  meis  verbis,  cernis  quam  latum  locum 
aperiat  falsitati,  ut  ibi  intelligamus  plura  jam  sacra  et  quasi 
religiosa  potuisse  confingi,  ubi  putata  sunt  civibus  etiam  de 
ipsis  diis  prodesse  mendacia"  (C.  D.  III  4).  Und  dieser  Varro 
ist  nach  Cicero  ,,omnium  facile  acutissimus  et  sine  uUa  dubitatione 
doctissimus"  (August.  C.  D.  IV  27, cfr.  IV  31,  VI  2).  Es  vereinigt 
sich  also,  so  zu  sagen,  die  höchste  kirchliche  und  die  höchste 
wissenschaftliche  Auctorität  in  dem  entsetzlichen  Sophisma, 
dass  die  Lüge  im  Heiligthum  von  Nutzen  sein  könne.  So 
lange  ein  solches  seelenverstrickendes  Sophisma  von  solchen 
Auctoritäten  nicht  von  Grund  aus  beseitigt  und  gerichtet  ist, 
bleibt  auch  die  Lüge  des  Cäsarcultus  geschützt.  Wir  haben 
gesehen,  dass  die  Vertreter  strenger  Observanz  zwar  rütteln  an 
dieser  Lügensäule,  aber  dieselbe  zu  stürzen  unvermögend  sind. 
Sollte  der  spätere  Epiktet,  der  sich,  wie  gezeigt,  als  Lügen- 
feind ankündigt,  mehr  vermögen  ?  Allerdings  ragt  dieser  dem 
niedrigsten  Stande  angehörende  Stoiker  durch  seine  moralischen 
und  religiösen  Grundsätze,  die  nicht  wie  bei  Seneca  durch 
entgegengesetzte  Maximen  gekreuzt  werden,  hervor.  Etwas 
Religiöseres  alsdasTedeum  desHeidenthums  in  den  Dissertationen 
I  16  19—21,  etwas  Erhabeneres  in  sittlicher  Hinsicht  wie  die 
Ankündigung  der  Botschaft  vom  Himmel  III  22  26  -  69  hat  die 
ganze  antike  Literatur  nicht  aufzuweisen.  Da  nun  dieser  ehr- 
würdige Stoiker  auch  über  den  Kaiser  sich  sehr  freimüthig 
vernehmen  lässt,  so  könnte  man  auf  den  Gedanken  kommen, 
dass  hier  eine  nachhaltige  Correctur  der  Kaiservergötterung 
ohne  Einfluss  des  Christenthums  vorliege,  ja  man  könnte  hinzu- 
fügen, während  es  Seneca  nicht  gelang  weder  durch  sein  Wort, 
noch    durch    sein    Blut,     den    Cäsarcultus     auszurotten,     habe 

19 


290 

Epiktet,  der  durch  Rusticus  ein  Lehrer  des  Marc  Aurel 
geworden,  in  diesem  philosophischen  Kaiser  den  Grundsatz, 
sich  nicht  ,,verkaisern  zu  lassen"  (Marc.  Aurelii  de  rebus  suis 
libri  XII,  ed.  Thomas  Gatakerus  Londin.  1697  VI  30)  erzeugt. 
Aber  wenn  man  glaubt,  dass  Epiktet  oder  jener  Vorsatz 
Marc  Aureis  dem  Cärarcultus  Abbruch  gethan,  dann  ist  man 
im  Irrthum.  Allerdings  wissen  wir,  dass  Epiktet  einige  tapfere 
Sprüche  wider  den  Tyrannen  gewagt  hat  (I  i  21,  III  9  18). 
Da  nun  aber  Arrian  sagt,  dass  die  Reden  Epiktets  wider  sein 
Wollen  und  Wissen  bekannt  geworden,  so  liegt  die  Vermuthung 
nahe,  dass  diese  Reden  nicht  für  die  Oeffentlichkeit  bestimmt 
waren,  zumal  Simplicius,  Epiktets  Commentator,  erklärt:  .,in 
schlechten  Zeiten  enthält  der  Weise  sich  der  Geschäfte  und 
macht  es  wie  Epiktet,  der  Domitians  Tyrannei  vermeidend 
nach  Nikopolis  ging"  (Commentarius  in  Enchiridion  ed. 
Duebner  p.  65). 

Wir  haben  den  Cäsarcultus  als  eine  Macht  kennen  gelernt, 
welche  durch  die  absolute  Gewalt  des  Weltherrschers  und 
ausserdem  durch  den  Mangel  an  Wahrhaftigkeit  im  Heiligthum 
geschützt  war.  Diese  Macht  kann  nur  durch  ein  überlegenes 
und  gegenwärtiges  Gegengewicht,  nicht  aber  durch  noch  so 
weisheitsvolle  Reden,  zumal  aus  der  Ferne,  gebrochen  werden. 
Und  was  den  Einfluss  Epiktets  auf  Marc  Aurel  anlangt,  so 
werden  wir  uns  nachher  noch  augenscheinlicher  überzeugen, 
dass  der  Stoiker  auf  dem  Thron  trotz  jenes  berühmten  Vor- 
satzes keinesweges  von  der  hergebrachten  Selbstvergötterung 
frei  ist. 

Als  die  Dinge  in  Athen  sich  immer  bedrohlicher  gestalteten, 
sagte  Demosthenes  zu  seinen  Mitbürgern:  ,,ihr  habt  nicht  mehr 
die  Kraft,  das  Böse  zu  hassen".  Eben  dieser  Mangel  an  sitt- 
lichem Hass  und  Zorn  wider  das  Böse  ward  die  facies  Hippo- 
cratica  des  gesammten  Heidenthums  im  römischen  Reiche. 
Das  einzige  Salz,  weiches  der  allgemeinen  Fäulniss  noch 
wehren  konnte,  war  der  Stoicismus.  Aber  dem  wachsenden 
Verderben  gegenüber  ward  dieses  Salz  immer  dummer.  Dem 
wogenden  Wirbel  und  Strudel  des  Weltlebens  gegenüber 
musste  der  Stoiker  immer  ängstlicher    seine  Leidenschaftslosig- 


291 

keit  hüten,  sich  immer  fester  verschhessen  gegen  das  Mitleiden 
mit  der  allgemeinen  Noth  wie  gegen  die  sittliche  Erregung 
über  den  Ansturm  der  Sünden  und  Laster.  Von  daher  wird 
die  übermächtig  gewordene  Lüge  des  Cäsarcultus  nicht  gestürzt 
werden  sondern  nur  von  einem  Gebiet,  wo  der  kräftige  Hass 
gegen  die  Lüge  als  gegen  ein  Grundverderben  seine  Stätte 
hat,  also  einzig  und  allein  von  einer  höheren  Kraft. 

Der  Hass  der  christlichen  Gesinnung  wider  die  Lüge 
äussert  sich  in  den  ersten  Jahrhunderten  wie  folgt.  Justin 
schreibt  an  den  Kaiser :  ,,wir  wollen  nicht  leben  mit  der  Lüge 
auf  der  Zunge"  (Apolog.  I  8).  ,,Der  Wahrheitsfreund  ist  in 
jeder  Rücksicht,  aucli  wenn  er  mit  dem  Tode  bedroht  werden 
sollte,  verbunden,  die  Behauptung  der  Wahrheit  mit  Mund 
und  l'hat  seinem  eigenen  Leben  vorzuziehen"  (ibid.  c.  2). 
,,Die  Vernunft  gebietet  dem  wahrhaft  Frommen  und  Philo- 
sophischen, ausschliesslich  das  Wahre  zu  ehren  und  zu  lieben" 
(ibid.).  ,,Um  nicht  zu  lügen  und  den  Richter  zu  betrügen, 
gehen  wir  Christum  bekennend  gerne  in  den  Tod"  (ibid.  c.  39). 
Tertullian  schreibt:  ,,jam.  quidem  intelligi  subjacet,  veritatis  esse 
cultores  qui  mendacii  non  sunt."  ,,Hoc  prius  capite",  sagt  er 
den  Heiden,  ,,et  omnem  hinc  sacramenti  ordinem  haurite, 
repercussis  ante  omnia  opinionibus  falsis"  (Apolog.  XV). 
Tertullian  will  sagen,  ihr  Heiden  denkt  euch  die  Christen- 
gemeinde als  eine  geheime  Verschwörung,  ihr  habt  ganz  Recht, 
wir  haben  einen  Fahneneid  und  bilden  einen  Orden,  aber  das 
ganze  Geheimniss  besteht  darin,  dass  wir  Anbeter  der  Wahr- 
heit und  damit  Todfeinde  der  Lüge  sind,  das  haltet  fest  und 
alle  anderen  Gedanken  über  uns  lasset  fahren." 

Der  ernstgesinnte  Juvenal  braucht  das  schöne  Wort 
,,mentiri  nescio"  (III  41),  und  dieselbe  Gesinnung  schreibt 
Nepos  dem  Atticus  zu  (c.  XV);  aber  dieser  Hass  gegen  die 
Lüge  hat  nicht  die  Kraft,  dem  Cäsarcultus  entgegenzutreten. 
Hier  zeigt  sich  der  Unterschied  zwischen  der  heidnischen  und 
christlichen  Wahrhaftigkeit.  Tertullian  sagt:  ,,non  Deum 
imperatorem  dicam,  quia  mentiri  nescio"  (Apolog.  XXXIII). 
Diese  Anwendung  der  einfachen  Wahrhaftigkeit  auf  die 
brennendste  Frage   jener  Zeit  finden  wir  in  den  Märtyreracten 

19* 


292 

der  Perpetua  und  Felicitas  veranschaulicht.  Die  Perpetua  sagt 
dem  heidnischen  Vater,  der  sie  zur  X'^erleugnung  bewegen  will: 
,,numquid  urceolum  vas  hoc  jacens  alio  nomine  vocari  potest 
quam  quod  est?"  Als  der  Vater  dies  verneint,  fährt  sie  fort: 
,,sic  et  ego  aliud  me  dicere  non  possum,  nisi  quod  sum 
Christiana"  (Rainart.  p.  93).  Die  Lage,  in  welcher  Perpetua 
diese  Aussage  that,  wird  von  Tertullian  beschrieben:  ,,proelium 
nominis  nobis  est,  quod  provocamur  ad  tribunalia,  ut  illic  sub 
discrimine  capitis  pro  veritate  certemus"  (Apolog.  II).  Wir 
geben  für  die  Wahrheit  ohne  Zaudern  das  Leben  hin,  sagt 
Athenagoras  (Ad  Graecos  III),  was  Arnobius  so  veranschaulicht: 
,,animae  veritatis  ipsius  vi  victae  et  dederunt  se  Deo  nee  in 
magnis  posuere  dispendiis,  membra  vobis  projicere  et  viscera 
nostra  lanianda  praebere"  (II  55).  Tertullian  hat  die  ganz 
richtige  Vorstellung,  dass  in  diesen  Tagen  die  Offenbarung 
der  göttlichen  Wahrheit  zu  einer  Vollendung  oder  zu  einer 
Reife  gekommen  sei.  ,,Veritas  divinitatis  nostri  temporis  aetate 
maturavit"  (Apolog.  XXXVIII).  In  dieser  Reife  und  Voll- 
endung der  göttlichen  Offenbarung  ist  zugleich  die  Möglichkeit 
und  Nothwendigkeit  einer  weltgeschichtlichen  Entscheidung 
gegeben.  Wir  werden  sehen,  wie  das  blutige  Martyrium  den 
entschlossenen  Hass  gegen  die  Lüge  und  die  todesmuthige 
Liebe  für  die  Wahrheit  besiegelt  und  damit  eine  grosse  Ent- 
scheidung auf  der  Höhe  der  Welt  zu  Wege  bringt.  Die 
officielle  Lüge  im  Heiligthum  des  Cäsarcultus  und  jenes 
Sophisma  von  der  Nützlichkeit  der  Täuschung  in  der  Religion 
hatte  die  hohe  Säule  der  Wahrheit  in  der  Menschheit  um- 
gestürzt. Der  christliche  Hass  gegen  die  Lüge,  die  christliche 
Liebe  für  die  Wahrheit  hat  in  dem  Centrum  des  Geisteslebens 
die  hehre  Säule  der  Wahrheit  wieder  aufgerichtet  und  damit 
für  die  P'ahrt  auf  dem  Meere  der  unzähligen  Irrthümer, 
Täuschungen,  Betrüge  und  Fälschungen  einen  Leuchtthurm 
geschaffen. 

Trotzdem  charakterisirt  Hausrath  die  christliche  Literatur 
der  ersten  Jahrhunderte  mit  folgenden  Sätzen:  ,,es  gab 
.schlechthin  kein  Object,  das  den  Kirchenvätern  so  viel  Respect 
eingeflösst    hätte,     um    es    der    Umbildung,    Verfälschung    und 


293 

Entstellung  zu  entziehen";  ,,das  Geschichtliche  war  diesen 
Leuten  ein  vollkommen  flüssiger  Stoff,  den  sie  ganz  nach 
Belieben  formten,  je  nachdem  ein  kirchliches  oder  dogmatisches 
Interesse  oder  das  der  Vertheidigung  gegen  die  Heiden  die 
eine  oder  die  andere  Erzählungsweise  mehr  empfahl"  (Kleine 
Schriften  128  130).  Dass  von  Einzelnen  und  in  einzelnen 
Fällen  zu  dieser  Anklage  Anlass  gegeben  worden  ist,  soll 
nicht  geleugnet  werden.  Aber  wird  dieser  Mangel  an  Kritik 
in  der  altkirchlichen  Literatur  so  allgemein  ausgesprochen, 
wie  hier  von  Hausrath  geschieht,  ohne  und  bevor  die  grosse 
weltgeschichtliche  Thatsache  der  siegenden  Wahrhaftigkeit 
gegen  die  die  römische  Welt  beherrschende  Lüge  im  Heilig- 
thum  anerkannt  und  gebührend  gewürdigt  worden  ist,  dann 
ist  ein  solcher  Historiker  von  dem  wesenhaften  Kern  der 
geschichtlichen  Wahrhaftigkeit  jener  grossen  Heroenzeit  un- 
ermesslich  weiter  entfernt  als  der  mit  Recht  getadelte  Eusebius 
von  Caesarea.  In  welchem  Grade  übrigens  eine  solche  ein- 
seitige Kritik  sich  an  dem  Geiste  dieser  Epoche  versündigt,  das 
wird  sich  erst  zeigen,  wenn  wir  dem  heiligen  Ernst  des  ersten 
christlichen  Martyriums  näher  ins  Angesicht  schauen  werden. 
Ehe  wir  jedoch  zu  der  Darstellung  des  christlichen 
Martyriums  in  dem  römischen  Kaiserreich  schreiten,  müssen 
wir  zuvor  die  Stellung  der  Christenheit  zu  jener  anderen 
grundfeindlichen  Geistesmacht,  demBaalcultus  in  Betracht  ziehen. 
In  dem  heidnischen  Cultus  und  Ritual  gab  es,  wie  wir  gesehen 
haben,  Darstellungen  und  Ceremonien,  welche  offenbar  Augen- 
und  Fleischeslust  zum  Inhalt  hatten  und  diesen  Inhalt  als 
Theil  der  Staatsreligion  vor  den  höchsten  Behörden  wie  vor 
der  Volksmasse  sanctionirten.  Obwohl  dieser  Cultus  des 
emancipirten  Fleisches  auch  von  dem  heidnischen  Gewissen, 
wie  wir  verschiedentlich  nachgewiesen  haben,  verurtheilt  wurde, 
so  war  doch  die  Macht  der  Gewohnheit  und  der  herrschenden 
Auctorität  so  gross,  dass  auch  die  achtbarsten  Männer  sich 
davor  beugten,  und  wenn  auch  ein  Widerstand  vorhanden  war, 
wie  wir  einen  solchen 'in  dem  sterbenden  Seneca  anerkennen 
mussten,  so  setzte  sich  doch  diese  das  Volksgewissen  mordende 
Verführungsmacht   ungebrochen   fort.     So  wie    nun   der   Weih- 


294 

rauch  vor  dem  Bild  des  Kaisers  die  thatsächlichc  Anerkennung 
des  Cäsarcultus  war,  so  war  das  für  die  Götter  geforderte 
Opfer  in  den  Augen  der  Christen  vor  Allem  die  thatsächliche 
Billigung  des  Baalcultus.  So  wie  es  nun  in  der  Christenheit 
eine  Wahrheitsmacht  gab,  welche  über  die  absolute  Gewalt 
des  Cäsarcultus  siegte,  so  gab  es  in  der  Christenheit  eine  aus 
der  Wahrheit  geborene  Freiheitsmacht,  welche  die  knechtende 
Auctorität  des  Baalcultus  überwand. 

Das  gute  Gewissen  des  Widerstandes  gegen  den  Cäsar- 
cultus bis  aufs  Blut  beruhte  darauf,  dass  die  Christen  dem 
cäsarischen  Staatswesen  als  einer  göttlichen  Ordnung  innerlich 
und  äusserlich  vollkommen  gerecht  wurden.  Gleicherweise 
hatten  die  Christen  auch  darin  ein  gutes  Gewissen,  dass  sie 
der  menschlichen  Sitte  und  Gewohnheit,  so  weit  dieselbe  ohne 
Sünde  und  vernünftig  war,  sich  anschlössen.  In  diesem  guten 
Gewissen  hatten  sie  die  Kraft,  dem  in  dem  Herkommen 
wurzelnden  Baalcultus  ihre  christliche  Freiheit  und  Wahrhaftig- 
keit entgegenzusetzen. 

Der  Brief  an  Diognet  bezeugt:  ,, Christen  unterscheiden 
sich  nicht  von  den  übrigen  Menschen  in  Vaterland,  in  Sprache, 
in  Sitten  •  wir  heirathen  wie  Alle,  zeugen  Kinder,  aber  setzen 
das  Neugeborene  nicht  aus"  (C.  V).  Aber  auch  der  strenge 
Tertullian  ruft  den  Heiden  zu:  ,,wir  sind  keine  Brahmanen  oder 
indische  Gymnosophisten,  keine  Waldmenschen  noch  Ungesellige, 
wir  leben  nicht  ohne  Markt,  ohne  Fleischbank,  ohne  Bäder,  ohne 
Buden,  ohne  Werkstätte,  ohne  Ställe,  ohne  eure  Märkte  und 
wohnen  nicht  in  dieser  Welt  ohne  Verkehr  mit  euch.  Wir 
fahren  zu  Schiff  mit  euch  und  dienen  im  Heer,  wir  treiben 
Ackerbau,  wir  treiben  Handel,  was  wir  an  Kunst  und  Hand- 
werk haben,  theilen  wir  mit  und  machen  es  gemein  zu  eurem 
Nutzen'*  (Apolog.  XLII).  An  einer  anderen  Stelle  zählt 
Tertullian  die  Oertlichkeiten  auf,  welche  die  Christen  mit  den 
Heiden  gemeinsam  haben,  lediglich  Theater  und  Tempel  werden 
von  dieser  Zahl  ausgeschlossen.  Nichts  stand  dem  Ernst  des 
Christenthums  so  entgegen  wie  das  antike  Wirthshaus  (cfr. 
Antholog.  latina  ed.  Burman  I  707 — 718).  Und  doch  war 
Theodotus   zu  Ancyra   in  Galatien,    der  Gastwirth,    nicht   bloss 


295 

ein  Christ  sondern  sogar  ein  Märtyrer"  (Neander  Denkwürdig- 
keiten 2.  A.  II  375).  Hieher  gehört  auch  die  schöne  Be- 
schreibung des  christHchen  Lebens  von  Clemens  Alexandrinus : 
,,ini  ganzen  Leben  jeden  Tag  festUch  begehend,  überzeugt, 
dass  Gott  allenthalben  gegenwärtig  ist,  bauen  wir  das  Feld  unter 
Lobgesang,  fahren  wir  zu  Schiff  Hymnen  singend  und  behandeln 
das  ganze  Leben  wie  ein  Kunstwerk"  (Strom.  VII  7). 
Clemens  Alexandrinus  ist  überhaupt  derjenige  unter  den  alt- 
christlichen Lehrern,  der  dem  hellenischen  Cultus  des  Schönen 
am  meisten  Gerechtigkeit  widerfahren  lässt.  Bekanntlich  artet 
der  hellenische  Cultus  des  Schönen  später  in  Weichhchkeit  aus. 
Clemens  ist  ein  strenger  Richter  gegen  Wollust  und  Ueppig- 
keit  und  ein  Lobredner  der  wahren  Mannhaftigkeit,  aber  da- 
neben kündigt  er  sich  an  als  einen  Verehrer  wahrer  Schönheit. 
Den  unsauberen  Cultus  des  schönen  Antinous  im  Auge,  ruft  er 
dem  Kaiser  Hadrian  zu:  ,,sei  ein  König  der  Schönheit  und 
nicht  ihr  Tyrann;  ich  verehre  wahre  Schönheit,  welche  ein 
Urbild  des  Schönen  ist"  (Patrolog.  ed.  Migne  Series  Graeca 
VIII  141).  ,,  Alles  Schöne,  sei  es  hellenisch  oder  christlich, 
hat  seinen  Ursprung  in  Gottes  Geist"  (Strom.  I  5).  ,,Die 
Schönheit  der  Blume  ergötze  uns,  wenn  wir  sie  anschauen,  und 
für  das,  was  schön  ist,  sollen  wir  Gott  loben  und  preisen" 
(Paedag.  II  8,  III  i).  Wäre  nun  aber  richtig,  was  Hausrath 
behauptet,  dass  die  christlichen  Apologeten  die  gesammte 
römisch-griechische  Cultur  zum  Gegenstand  ihrer  Angriffe 
machen,  dass  sie  sogar  nicht  frei  sind  von  semitischem  Rassen- 
hass  gegen  Griechen  und  Römer  (Kleine  Schrift,  p.  85  86),  so 
läge  eine  ungerechtfertigte  Schroffheit  vor,  welche  die  Bekämpfung 
des  Baalcultus  schädigen  müsste.  Aber  es  ist  diese  Anklage  ein 
Product  der  einseitigen  Parteitendenz,  welcher  die  genannte  Ab- 
handlung Hausraths  unterworfen  ist.  Wäre  die  Anklage  Hausraths 
begründet,  wer  hätte  dann  die  Producte  der  antiken  Literatur 
und  Cultur  unter  dem  Walten  der  zerstörenden  Mächte  der 
Barbarei  und  der  Zeit  erhalten  sollen?  Bei  allem  Gegensatz 
gegen  die  dämonischen  Elemente  des  Heidenthums  ist  es  theils 
ein  natürlicher  Instinkt,  theils  bewusste  Werthschätzung  der 
Christen,    was    die    Erhaltung    der    für    die   Entwickelung    der 


296 

Humanität  unschätzbaren  Werke  der  antiken  Cultur  ermöglicht 
hat.  TertuUian,  einer  der  strengsten  Bekämpfer  alles  dessen, 
was  irgendwie  als  heidnisch  inficirt  erscheinen  mochte,  wirft 
mit  einem  vollen  Verständniss  die  Culturfrage  auf:  ,,cum 
instrumentum  sit  ad  omnem  vitam  literatura  quomodo  repudiamus 
saecularia  studia,  sine  quibus  divina  non  possuntr"  (De  ido- 
lolatria  X).  Aus  diesem  Grunde  öffnet  TertuUian  für  die 
lernende  Jugend  die  bestehenden  Schulen  (Neander  Antignosticus 
p.  42).  Das  Pallium  war  das  Kleid  des  Philosophen,  wir 
könnten  sagen,  des  studirten  Mannes;  wer  dieses  Kleid  trug, 
gab  damit  zu  erkennen,  dass  er  sich,  was  in  der  griechischen 
und  lateinischen  Literatur  als  probehaltig  galt,  dergestalt  an- 
geeignet, dass  er  dasselbe  durch  Leben  und  Lehren  zu  vertreten 
und  zu  verbreiten  vermöge.  Von  zwei  hervorragenden  christ- 
lichen Schriftstellern  wissen  wir  nun,  dass  sie  dieses  Zeichen 
eines  höheren  Culturgrades  mit  vollem  Bewusstsein  öffentlich 
an  sich  trugen,  dass  sie  also  absichtlich  als  Solche  sich  dar- 
stellten, welche  bei  allem  Gegensatz  gegen  den  herrschenden 
Cultus  den  Anspruch  machten,  für  diejenigen  zu  gelten,  welche 
den  wahren  Gehalt  aller  humanen  Bildung  sich  angeeignet 
hatten. 

Im  Anfang  des  Gespräches  mit  dem  Juden  Tryphon 
erzählt  Justinus,  dass  er  lustwandelnd  in  den  öffentlichen  Hallen 
von  Tryphon  als  Philosoph  angeredet  worden,  und  bei  weiterer 
Nachfrage  habe  Tryphon  gesagt,  er  wisse  von  einem  Sokratiker, 
dass  man  dem  im  Philosophenkleide  Einhergehenden  Achtung 
beweisen  müsse,  deswegen  habe  er,  da  er  Justinus  in  diesem 
Kleide  erblickt,  sich  an  ihn  gewandt,  um  etwas  Nützliches  zu 
lernen.  Wir  wissen  ausserdem,  dass  Justinus  selber  es  liebt, 
sich  als  Philosoph  zu  bezeichnen,  und  der  belesenste  Schrift- 
steller der  ersten  Jahrhunderte,  Eusebius  von  Cäsarea,  zeichnet 
Justinus  wiederholt  aus  als  einen  ächten  Liebhaber  der  wahren 
Philosophie  (H.  E.  IV  8,  VI  11,  III  37,  IV  26,  V  18,  VI  3 
10  13  14,  MI  32).  Dieser  Justinus  im  antiken  Philosophen- 
mantel  ist  der,  welchen  Hausrath  des  semitischen  Rassenhasses 
beschuldigt!  Dem  Justin  zur  Seite  steht  TertuUian,  der  eine 
eigene  Abhandlung  ,,de  paliio"  geschrieben.  In  dieser  Abhandlung 


297 

erklärt  Tertullian,  dass  er  dieses  Kleid  angenommen,  lun  das 
in  christlicher  Weise  zu  vertreten  und  zu  üben,  was  dieses 
Ehrenzeichen  auf  dem  natürlichen  Gebiete  bedeute.  Stünde 
die  christliche  Apologetik  in  einem  solchen  radicalen  Gegensatz 
zu  der  antiken  Cultur,  wie  Hausrath  behauptet,  dann  würde 
Tertullian  das  Ordenskleid  der  antiken  Bildung  nicht  an- 
genommen haben.  Tertullian  schliesst  die  Abhandlung  ,,de 
pallio"  mit  folgender  Anrede:  ,,gaude  pallium  et  exalta, 
melior  jam  te  philosophia  dignata  est,  ex  quo  christianum 
vestire  coepisti." 

Die  Anerkennung  der  höchsten  Bildungsstufe  in  der 
antiken  Cultur,  welche  in  dem  Pallium  der  beiden  genannten 
Apologeten  zum  Vorschein  kommt,  zeigt  sich  ferner  in  der 
ausgebreiteten  Kunde  der  heidnischen  Literatur,  die  wir  bei 
mehreren  christlichen  Schriftstellern  der  ersten  Jahrhunderte 
antreffen.  Die  Polyhistorie  in  der  antiken  Literatur,  die  in 
den  massenhaften  Citaten  von  Tatian  (Ad  Graecos  XXXI, 
XXXIII,  XXXIV)  von  Clemens  Alexandrinus  in  den  ,,Stromata", 
von  Eusebius  in  der  ,,Praeparatio  evangelica"  zum  Vorschein 
kommt,  bedeutet  nicht  bloss  eine  ehrende  Notiznahme  von  der 
antiken  Literatur,  sondern  geht  auch  nicht  selten  darauf  aus, 
einen  bleibenden  Gehalt  in  den  heidnischen  Autoren  nach- 
zuweisen. Wie  Tertullian  in  den  Aussprüchen  des  einfachen 
Volksbewusstseins  das  Zeugniss  einer  reineren  Gotteserkenntniss, 
als  in  dem  geltenden  Cultus  enthalten  war,  nachweist,  so  haben 
andere  Apologeten  in  den  Lehren  und  Sprüchen  der  Philosophen 
und  Dichter  Ahnungen  nachgewiesen,  welche  Mythos,  Cultus 
und  Sitte  zu  corrigiren  geeignet  sind.  Die  Entdeckung  dieses 
höheren  Gehaltes  in  der  antiken  Literatur  macht  zuweilen  auf 
die  christlichen  Apologeten  einen  überwältigenden  Eindruck. 
So  sagt  Justinus:  ,,die  mit  Vernunft  gelebt  haben  vor  Christus, 
sind  Christen,  wenn  sie  auch  für  aOsoi  gehalten  wurden  wie 
Sokrates  und  Heraclitus  (Apol.  I  46).  Octavius:  ,,exposui 
opiniones  omnium  ferme  philosophorum,  quibus  illustrior 
gloria  est,  Deum  unum  multis  licet  designasse  nominibus,  ut 
quivis  arbitretur,  aut  nunc  Christianos  philosophos  esse  aut 
philosophos    fuisse    jam    tunc    Christianos"     (c.    XX).      Mögen 


298 

diese  Aussprüche  die  Grenze  der  geschichtlichen  Wahrheit 
überschreiten,  gegen  Hausraths  obige  Anklage  haben  sie  volle 
Competenz. 

Von  besonderem  Gewicht  ist  hier  ferner  das  Zeugniss  des 
Augustinus.  Wir  haben  v^on  keines  Christen  der  ersten  Jahr- 
hunderte innerem  Lebensgang  eine  so  anschauliche  und  zuver- 
lässige Vorstellung  wie  von  dem  Leben  des  Augustinus.  Seine 
Bekenntnisse  sind  ein  aufgeschlossenes  Buch  der  heidnischen 
Irrungen  und  Verderbnisse,  sie  zeigen  aber  auch  in  klarer  und 
deutlicher  Folge  die  Züge  der  göttlichen  Führung,  welche  die 
infernalisch  verstrickte  Seele  eines  höchst  begabten  und  äusserst 
liebenswürdigen  Menschen,  den  Niebuhr  mit  Recht  einen  der 
grossesten  Geister  nennt,  aus  den  Labyrinthen  der  feinen  und 
groben  Selbstsucht  errettet.  Dieser  Mann  giebt  dem  verloren 
gegangenen  Buche  Ciceros,  betitelt  ,,Hortensius",  einer  mahnen- 
den Anleitung  zur  Philosophie  (,,exhortatio  ad  philosophiam") 
folgendes  Zeugniss:  ,,ille  vero  liber  mutavit  affectum  meum,  et 
ad  te  ipsum  Domine  mutavit  preces  meas  et  vota  ac  desideria 
mea  fecit  alia.  Vi  luit  mihi  repente  omnis  vana  spes  et  immor- 
talitatem  sapientiae  concupiscebam,  aestu  cordis  incredibili  et 
surgere  coeperam,  ut  ad  te  redirem"  (Confess  III  4).  Augustinus 
weiss  es  und  bemerkt  bei  dieser  Erwähnung  des  ,,Hortensius", 
dass  Ciceros  moralische  Bildung  (pectus)  hinter  seiner  intellec- 
tuellen  und  ästhetischen  Bildung  (lingua)  zurücksteht,  aber  diese 
Wahrnehmung  hat  ihn  nicht  gehindert,  dem  ,,Hortensius"  Ciceros 
ein  hohes  Lob  zu  spenden;  welches  Verhalten  des  grossen 
Kirchenvaters  den  gegenwärtigen  Tadlern  Ciceros  sehr  zu 
empfehlen  wäre.  In  der  That,  dieses  moralische  Zeugniss  des 
Augustinus  für  jene  praktisch  philosophische  Abhandlung 
Ciceros  ist  ein  grosses  Zeichen,  dass  das  christliche  Alterthum 
trotz  seiner  strengen  Gegensätze  gegen  alle  heidnischen 
Corruptionen  dennoch  im  Stande  war,  den  moralischen  Gehalt 
der  antiken  Cultur  anzuerkennen  und  zu  schätzen. 

Wir  werden  demnach  sagen,  dass  die  Christenheit  Alles, 
was  in  Gewohnheit,  Herkommen,  Gesetz,  Sitte  und  Bildung 
ihr  gut  und  löblich  erschien,  sich  anzueignen  bestrebt  ist. 
Damit  ist  der  Tradition  ihr  Recht  widerfahren,  und  kann  dem- 


299 

nach  die  Christenheit  mit  gutem  Gewissen  abweisen  und 
bekämpfen,  was  in  der  Tradition  Verwerfliches  enthalten  ist. 
Wir  finden  nun  die  Thatsache,  dass  das  Princip  der  äusseren 
unvermittelten  Auctorität  des  Herkommens  nicht  bloss  für  das 
sociale  und  politische  Leben,  sondern  auch  für  das  Verhältniss 
der  Menschen  zu  Gott  innerhalb  des  antiken  Heidenthums  ent- 
scheidend gewesen  ist.  Sehr  richtig  charakterisirt  Lactanz 
dieses  heidnische  Princip  in  seiner  Anwendung  auf  die  Religion: 
Von  den  heidnischen  Gegnern  sprechend,  schreibt  Lactanz: 
,,a  quibus  si  persuasionis  ejus  rationem  requiras,  nuUam  possint 
reddere,  sed  ad  majorum  judicia  confugiunt.  quod  illi  sapientes 
fuerint,  illi  probaverint,  illi  scierint,  quid  esset  Optimum,  seque 
ipsos  sensibus  spoliant,  ratione  abdicant,  dum  alienis  erroribus 
credunt"  (List.  V  19  3,  cfr.  II  6  7).  Da  nun  Alle  noch  diesem 
Princip  der  gebieterischen  Geltung  des  Hergebrachten  unter- 
stellt sind,  so  ergiebt  sich  nothwendig  eine  Uebereinstimmung, 
eine  , »publica  persuasio",  und  diese  ist  sodann  entscheidend  und 
macht  dem  Schwanken  auch  der  Weisen  ein  Ende.  Diese 
Uebereinstimmung  setzt  sich  fort  durch  den  unbedingten 
Glauben  der  Kinder  an  die  Eltern:  ,,inconsulte  gestiunt 
parentibus  obedire,  dum  fieri  malunt  alieni  erroris  accessio, 
quam  sibi  credere"  (Octavius  XXII).  Diese  vernunftlose  Art 
des  Glaubens  verspottet  Cicero  als  eine  althergebrachte  Unart 
(Lactanz  II  6  8).  Um  so  weniger  dürfen  wir  uns  wundern, 
wenn  sich  uns  in  dem  Kampf  zwischen  dem  Heiden  Caecilius 
und  dem  Christen  Octavius  diese  entscheidende  Geltung  der 
äusseren  Auctorität  in  der  höchsten  Angelegenheit  des 
Menschen  vor  Augen  stellt.  Caecilius  spricht  es  aus  als  sein 
Ultimatum:  ,,mag  immerhin  Grund  und  Ursprung  der  Menschen- 
gedanken über  die  Gottheiten  ungewiss  sein,  es  muss  bleiben 
eine  feste  Uebereinstimmung  (,,maneat  firma  consensio")  und 
diese  alte,  nützliche,  heilsame  Religion  lasse  ich  von  keinem 
unfrommen  Weisheitsdünkel  antasten"  (Octavius  VIII).  Mit 
ausgesprochenem  Verzicht  auf  Vernunft  und  Untersuchung 
vertheidigt  also  dieser  gebildete  Heide  die  herrschende  Gesammt- 
überzeugung  in  der  Religion  als  ein  unantastbares  Erbstück 
der  Menschheit. 


300 

Diese  verfestete  Auctorität  in  der  Religion  erhielt  einen 
strengen  gesetzlichen  Halt  durch  das  Cäsarenthum.  Vereinigte 
doch,  wie  wir  gesehen,  in  sich  Julius  Cäsar  die  höchste  welt- 
liche und  geistliche  Gewalt,  und  was  Cäsar  begonnen  in  der 
Concentration  aller  Potenzen  des  allgemeinen  Lebens,  das 
setzte  Augustus  fort.  Freie  Bewegung  und  Selbstständigkeit 
ward  immer  mehr  eingeschränkt,  insbesondere  waltete  auf  dem 
Thron  eine  geheime  Angst  vor  allen  Verbindungen,  ,,collegia" 
und  ,,Hetaeriae",  als  hätte  man  in  Rom  eine  Ahnung,  dass  eben  in 
jener  Zeit  eine  V^erbindung  ins  Dasein  getreten,  welche  bestimmt 
ist,  den  cäsarischen  Bann  aller  geistigen  Selbstständigkeit  und 
Bewegung  zu  stijrzen  und  ein  Reich  der  wahren  und  geistigen 
Freiheit  der  Menschheit  aufzurichten.  ,,Juhus  Caesar  cuncta 
collegia  praeter  antiquitus  constituta  destruxit"  (Sueton  c.  XLII). 
,,  Augustus  collegia  praeter  antiqua  et  legitima  dissolvit  secundum 
mandata"  (Sueton  XXXIF.  Augustus  verfuhr  nach  dem 
Princip  der  Unfreiheit  in  der  Religion,  welches  Mäcenas  ihm 
empfohlen  (Keim  Rom  und  Christenthum  120  121,  A.  Schmidt 
Geschichte  der  Denk-  und  Glaubensfreiheit  in  dem  ersten 
Jahrhundert  156  — 158).  Aengstliche  Beschränkung  der  Vereins- 
freiheit finden  wir  ferner  vorgeschrieben  Digest.  II  4,  XLVII  22. 

Wie  sich  dieses  Princip  der  staatlichen  Auctorität  in  der 
Religion  und  der  Intoleranz  gegen  alle  religiöse  Bewegung  und 
Veränderung  immer  strenger  und  criminalistischer  gestaltet, 
das  ist  am  deutlichsten  in  den  sieben  Büchern  der  Sententiae 
Julii  Pauli  zu  ersehen.  In  diesen  Sentenzen  des  Julius  Paulus, 
eines  angesehenen  Juristen  im  Rathe  des  Septimius  und  Caracalla 
ist  besonders  der  Umstand  zu  beachten,  dass  er  als  das  Ver- 
derbliche und  Strafwijrdige  in  den  religiösen  Neuerungen  die 
Bewegung  der  Gemüther  bezeichnet.  ,,\'aticinatores,  qui  se 
Deo  plenos  assimulant  idcirco  expelli  civitate  placuit,  ne 
humana  credulitate  publici  mores  ad  spem  alicuius  rei  corrum- 
perentur,  vel  certe  ex  co  populäres  animi  turbarentur"  (V  21) 
,,Qui  novas  et  usu  vel  ratione  incognitas  religiones  inducunt, 
ex  quibus  animi  hominum  moventur,  honestiores  deportantur, 
humiliores  capite  puniuntur"  (Ibidem).  ,,De  magica  arte", 
schreibt  Paulus:    ,,non    tantum  huius    artis   professio  sed  etiam 


301 

sententia  prohibita  est"  (V.  23).  Nicht  bloss  die  Aeusserung 
ist  strafbar,  auch  die  Gesinnung  (sententia).  ,, Crimen  majestatis 
verbis  impiis  et  maledictis  maxime  exacerbatur"  (V  29).  Dass 
mit  dieser  Auffassung  von  der  strafbaren  Aufregung  der 
Gemüther  auf  dem  religiösen  Gebiet  auch  der  Stoiker  auf  dem 
Thron  einverstanden  ist,  beweist  das  Fragment  von  Modestinus 
Digest.  XLVIII  29  30:  ,,Siquis  aliquid  fecerit,  quo  leves 
hominum  animi  superstitione  numinis  terreantur  Divus  Marcus 
huiusmodi  homines  in  insulam  relegari  rescripsit".  Durch 
diese  Aussprüche  und  Decrete  ist  dem  menschlichen  Geist  in 
seinen  vornehmsten  Functionen  ewiger  Stillstand  auferlegt,  die 
freie  Wechselbeziehung  zwischen  Gottheit  und  Menschheit  ist 
aufgehoben,  an  die  Stelle  des  lebendigen  Gottes  tritt  die  durch 
kaiserliches  Gesetz  stabilirte  religiöse  Gewohnheit  und  Satzung. 

Wo  bleibt  aber  der  Vorsatz  des  kaiserlichen  Stoikers, 
sich  nicht  „verkaisern"  zu  lassen  ?  Denn  es  ist  eine  über- 
menschliche kaiserliche  Anmassung,  Jedermann  bei  Strafe  zu 
verbieten,  Etwas  zu  thun  oder  zu  lehren,  wodurch  die  leicht 
beweglichen  Gemüther  religiös  könnten  aufgeregt  werden. 
Dieser  Bann  der  religiösen  Erstarrung  der  in  diesen  kaiser- 
lichen und  juristischen  Decreten  ausgesprochen  ist,  wird  noch 
dadurch  verstärkt,  dass  auch  die  Philosophen  diesem  starren 
Zwang  des  religiösen  Traditionalismus  das^  Wort  reden. 
Plutarch  lehrt:  es  heisst  Unbewegliches  bewegen,  wenn  man 
in  Ansehung  der  Götterlehre,  welche  wir  haben,  von  jedem 
Einzelnen  Grund  und  Beweis  verlangt,  denn  es  genügt  der 
väterliche  und  der  alte  Glaube.  Wenn  an  einem  Punkt  das 
Feste  und  das  Gesetz  des  Glaubens  angetastet  und  erschüttert 
wird,  dann  wird  er  in  Allem  unsicher  und  verdächtig  (II  756  a  b). 

Wenn  nun  Porphyrius,  Vertreter  des  Neuplatonismus,  der 
doch  in  Lehre  und  Uebung  auf  dem  religiösen  Gebiete  allerlei 
Neuerungen  aufbrachte,  ebenso  streng  wie  die  Cäsaren  die 
religiöse  Neuerung  als  Verbrechen  verurtheilt,  dann  erkennt 
man,  dass  diese  heidnische  Abwehr  es  auf  eine  ganz  bestimmte 
Art  von  religiöser  Neuerung  abgesehen  hat.  Neuerungen  durch 
Aufnahme  der  asiatischen  Culte  haben  zuweilen  in  Rom  wohl 
einige  Aufregung  verursacht,  aber  das  ist  immer  vorübergehend. 


302 

im  Ganzen  gelten  die  Culte  der  ,,Dea  magna,  Isis,  Serapis, 
Osiris,  Mithras"  nicht  für  bedenkliche  Neuerungen.  Aber  eine 
Gotteslehre,  für  welche  ein  einfacher  Handwerker  sein  Leben 
einsetzt,  eine  Gotteslehre,  welche  den  Anspruch  auf  absolute 
Wahrheit  macht,  das  war  eine  Neuerung,  welche  das  ganze 
Gebäude  des  antiken  Denkens,  Glaubens,  Lebens  und  Handelns 
in  seinen  Grundlagen  erschütterte. 

Aber  nur  vermittelst  dieser  radicalen  Neuerung  ist  das 
verderblichste  Unheil,  das  durch  den  starren  mit  dem  Schwert 
bewaffneten  Traditionalismus  gestützt  wird,  auszurotten.  Dieses 
verderbhchste  Unheil,  diese  Pest  der  Volksseele,  ist  der  Baal- 
cultus,  der  nicht  angetastet  werden  darf,  so  lange  was  im 
Cultus  herkömmlich  ist,  durch  Lehre  und  Gesetz  sanctionirt  ist. 

Seneca  rang  darnach  mit  aller  Anstrengung,  zu  sich  selbst 
zu  kommen,  konnte  aber  dieses  Ziel  nicht  erreichen.  Octavius 
bezeichnet  das  ,,sibi  credere"  als  den  christlichen  Standpunkt 
(XXIV).  Nicht  in  der  Aussenwelt  der  Auctoritäten,  der  Gesetze, 
der  Drohungen  und  Lockungen  liegt  der  Schwerpunkt  der 
Entscheidung  sondern  tief  innerlich  in  der  Seele,  die  für  die 
Gottheit  und  für  das  Wahrheitszeugniss,  wie  TertuUian  lehrt, 
geschaffen  ist.  ,,Vos",  sagt  Octavius  den  Heiden,  ,,timetis 
conscios,  nos  etiam  solam  conscientiam,  sine  qua  esse  non 
possumus"  (XXXV).  Dieses  Selbstvertrauen,  dieses  in  sich 
ruhende  (sola)  Gewissen  wohnt  in  der  Tiefe  der  menschlichen 
Seele,  zu  der  keine  Creatur  Zugang  hat  sondern  nur  die  ewige 
Gottheit.  Hier  ist  der  Mensch  zu  sich  selbst  gekommen,  frei 
von  allen  Aussendingen,  ruhend  in  dem,  der  ihn  geschaffen 
hat,  also  in  der  Wahrheit,  die  ihn  frei  macht.  Nur  in  dieser 
Freiheit,  die  nur  aus  der  Wahrheit  geboren  ist,  ist  die  Kraft, 
welche  denjenigen  abgöttischen  Cultus,  den  auch  das  heidnische 
Gew^issen  verurtheilt,  die  aber  die  erleuchtetsten  Heiden  wider 
ihr  eigenes  Gewissen  durch  ihr  Verhalten  bestätigen  und  damit 
eine  abgrund  massige  Volksverführung  stiften,  wirksam  zu 
bekämpfen  unternimmt.  Von  dem  Standpunkt  dieser  inneren 
Freiheit  lassen  sich  die  Christen  durch  keine  Gewalt  verdrängen, 
,,pro  libertate  mori  novimus",  sagt  TertuUian  (Ad  nationes  I  4). 
Noch  tapferer  spricht  sich  Octavius  aus  :  ,, Christianus  libertatem 


303 

suam  adversus  reges  et  principes  erigit"  (XXXVII).  Könige 
und  Fürsten  sind  diejenigen,  welche  vor  Anderen  die  Freiheit 
zu  Boden  gestürzt  haben,  soll  die  Freiheit  wieder  aufgerichtet 
werden,  dann  muss  sie  den  Königen  und  Fürsten  abgetrotzt 
werden-,  das  ist  die  Sache  keines  Anderen  als  des  Christen. 
Soll  aber  der  Freiheit  in  der  Welt  wieder  Bahn  gemacht 
werden,  dann  muss  sie  nicht  nur  durch  einen  einmaligen  Act, 
sondern  durch  eine  fortgesetzte  Thätigkeit  aufgerichtet  werden 
(Octavius  XXXVIII). 

Der  energische  Widerstand  gegen  die  Volksverführung  in 
dem  abgöttischen  Baalcultus  offenbart  sich  zunächst  und 
unmittelbar  darin,  dass  die  christlichen  Schriftsteller  sich 
berufen  halten,  rücksichtslos  aufzudecken,  was  dieser  Cultus 
an  Abscheulichkeiten  den  Augen  und  Ohren  des  Volkes  preis- 
gab. Den  christlichen  Schriftstellern  vornehmlich  verdanken 
wir  die  Kunde  von  diesen  Satanstiefen  des  officiellen  Heiden- 
thums,  dieselben  berufen  sich  zum  Theil,  wie  Tatian  und 
Augustin,  für  ihre  desfälligen  Mittheilungen  auf  ihre  Augen- 
zeugenschaft. Man  könnte  nun  sagen,  dass  darin  ein  Verdienst 
der  christlichen  Literatur  nicht  zu  erkennen  sei,  da  einestheils 
Aristophanes  und  Lucian  die  ,,crimina  coelestia"  ohne  Rück- 
halt dem  öffentlichen  Spott  preisgeben,  anderntheils  Philosophen, 
wie  Plato  und  Aristoteles,  Vorkehrungen  gegen  jene  Volks- 
verführungen zu  treffen  empfehlen.  Allein  es  gilt  von  jenen 
Spöttern  so  gut  wie  von  den  Philosophen,  was  Tertullian  über 
den  Gegensatz  zwischen  den  heidnischen  und  christlichen 
Censoren  des  Mythos  bemerkt.  Dass  die  heidnischen  Censoren 
geehrt,  die  christlichen  dagegen  gestraft  wurden,  hat  nach 
Tertullian  darin  seinen  Grund,  dass  die  Wahrheit  nur  dann  und  nur 
soweit  Hass  erzeugt,  als  Jemand  die  Wahrheit  mit  vollem  Ernst 
vertritt  (,,qui  eam  ex  fide  praestat").  Das  gilt  nicht  von  den 
Philosophen  und  Dichtern,  welche  sich  mit  der  Wahrheit 
befassen  als  mit  einem  Spiel  (,,mimice  affectant  veritatem"), 
aber  dagegen  gilt  es  in  vollem  Masse  von  den  Christen,  unter 
denen  jeder  Handwerker  ,,Gott  findet  und  darstellt  und  darnach 
Alles,  was  in  Gott  Gegenstand  der  Forschung  ist,  mit  der 
That  auch  besiegelt"  (Apolog.  XLVI). 


304 

Der  Baalcultus  ist  der  Auswuchs  des  falschen  Princips  der 
Auctorität,  des  Herkommens,  der  Sitte  und  Gewohnheit  in  den 
reh"giösen  Angelegenheiten.  So  lange  dieses  Princip  die  Geister 
bindet  und  knechtet,  so  lange  bleibt  auch  jede  moralische 
Censur  jener  Verführungsmacht  gegenüber  ohnmächtig.  Nur 
dadurch  ist  die  Christenheit  jenes  \^erderbens  mächtig  geworden, 
da.ss  sie  auf  einem  höheren  Princip  als  dem  der  traditionellen 
Auctorität,  auf  dem  Princip  der  Freiheit  und  inneren  Selbst- 
ständigkeit ruht.  ,, Dominus  noster  veritatem  se  non  consuetudinem 
cognominavit"  (Tertullian  de  rel.  virg.  I).  ,,Consuetudo  sine 
veritate  vetustas  erroris  est"  (Cyprian  Ep.  74  9).  ,,Satis  est 
demonstrare  summo  ingenio  viros  attigisse  veritatem  ac  paene 
tenuisse,  nisi  eos  retrorsum  infatuata  pravis  opinionibus  consue- 
tudo  rapuisset"  (Lact.  Inst.  I  5  28).  Die  Wahrheit  wird  hier 
der  Gewohnheit  entgegengesetzt,  weil  sie  sich  durch  sich  selber 
dem  Geiste  bewährt,  weil  sie  den  Geist  frei  macht  und  frei 
lässt.  Diese  christliche  Freiheit  beschreibt  Justin  also:  ,,wir 
sollen  nicht  Kinder  einer  blinden  Nothwendigkeit,  was  wir  von 
Natur  sind,  bleiben,  sondern  Kinder  der  Wahlfreiheit  und  des 
Wissens  .sein"  (Apol.  I  6  i).  Demnach  stellt  sich  der  Gegen- 
satz zwischen  den  heidnischen  und  christlichen  Censoren  des 
abgöttischen  Cultus  folgendermassen  dar:  was  die  Philosophen 
mit  halbem  Ernst  an  dem  Cultus  tadeln,  was  die  Satiriker  mit 
frivolem  Spott  profaniren,  das  besprechen  die  christlichen 
Schriftsteller  mit  der  ganzen  Entrüstung  ihres  sittlichen  Zornes. 
Wir  brauchen  hier  nicht  zu  wiederholen,  was  wir  im  vierten 
Abschnitt  aus  Minutius  I-^elix,  Tatian,  Tertullian,  Cyprian, 
Clemens  Alexandrinus,  Arnobius,  Lactantius,  Eusebius  über  den 
sittenverderblichen  Cultus  angeführt  haben  Nach  allem  Vor- 
hergehenden ist  die  einfache  Zurückweisung  auf  jene  Citate 
das  Signal,  dass  die  Christenheit  dem  heidnischen  Baalcultus 
den  Krieg  auf  Leben  und  Tod  ankündigt. 

Eine  staunenswerthe  Verirrung  ist  es  nun,  wenn  Hausrath 
(Kleine  Schriften  p.  91)  der  Meinung  ist,  dass  es  dem  philo- 
sophischen Censor  als  ein  Verdien.st  anzurechnen  sei,  dass  er 
trotz  .seiner  Censur  die  ,,caeremonias  publicas"  mitmachte, 
während    die    Enthaltung    von    diesen    Ceremonien    von  Seiten 


305 

der  Christen  eine  mit  Recht  als  anstössig  befundene  Schroffheit 
sei.  Als  wenn  es  nicht  durch  Origenes  und  Augustinus 
bewiesen  wäre,  dass  in  jenem  Mitmachen  die  tiefste  Wurzel 
der  heidnischen  Ohnmacht  und  in  dieser  Enthaltung  die  Kraft 
und  Consequenz  des  christlichen  Heroismus  zum  Vorschein 
kommt.  Es  ist  eine  unheimliche  Erscheinung,  dass  ein  Theologe, 
der  in  seinem  ,,Antinous"  bewiesen  hat,  dass  er  die  Nachtseiten 
des  Heidenthums  kennt,  in  der  Abhandlung  über  die  , »Kirchen- 
väter des  zweiten  Jahrhunderts"  redet,  wie  ein  Apologet  des 
Polytheismus. 

Sokrates  vertheidigt  sich  erst,  als  er  vor  Gericht  gestellt 
war,  die  Christen  wissen  im  Voraus,  dass  ihnen  das  Gericht 
bevorsteht ;  sie  rüsten  sich  daher  auf  den  Kampf,  ehe  es  zur 
letzten  Entscheidung  kommt.  Das  ist  die  christliche  Apologie, 
Mit  Tertullian  müssen  wir  uns  auch  hier  vergegenwärtigen  die 
feindlichen  Miichte,  die  den  Christen  entgegenstehen  und 
welche  sie  zu  bekämpfen  haben:  ,,das  ist  es,  womit  wir  zu 
kämpfen  haben,  Institutionen  der  Vorfahren,  Auctoritäten  des 
Herkommens,  Gesetze  der  Herrscher,  Urtheile  der  Weisen, 
Alterthum,  Gewohnheit,  Nothwendigkeit,  Beispiel,  Vorzeichen, 
Wunder,  was  alles  die  falsche  Religion  stark  gemacht  hat" 
(Ad  nationes  II  i).  Tertullian  will  bemerklich  machen,  dass 
es  nicht  bloss  Unwissenheit  und  Irrthum  des  Verstandes  ist, 
wogegen  das  Christenthum  zu  kämpfen  hat,  sondern  vielmehr 
Realitäten  und  Mächte  ersten  Ranges.  Alle  diese  Mächte 
standen  zum  Angriff  gegen  das  Christenthum  bereit,  ja,  sie 
kämpfen  heimlich  und  öffentlich  gegen  die  Christenheit.  Das 
Christenthum  war  genöthigt,  sich  zu  vertheidigen.  In  dem 
Bewusstsein  der  guten  Sache  ist  das  Christenthum  bereit,  die 
Herausforderung  anzunehmen.  Da  die  Christen  wissen,  dass 
das  ihnen  anvertraute  Geheimniss  für  die  ganze  Menschheit 
bestimmt  ist,  so  erwacht  in  ihnen,  nachdem  die  Aufmerksam- 
keit auf  die  neue  religiöse  Erscheinung  hingelenkt  ist,  ein 
starkes  Verlangen,  die  grosse  Angelegenheit  öffentlich  zu  ver- 
handeln. Justin  schreibt:  ,, möchte  jetzt  nur  Einer  eine  hohe 
Rednerbühne  besteigen  und  mit  mächtiger  Stimme  rufen: 
,, schämt    euch    des    Verlästerns    und    kommt    zur    Besinnung" 

20 


306 

(Apol.  II  12).  Tatian,  der  Schüler  Justins,  ruft:  ,, höret  ihr 
Hellenen,  die  ich  rufe  als  von  einer  hohen  Stätte  und  führet 
mich  belehrend  eure  Unvernunft  gegen  den  Herold  der  Wahr- 
heit ins  Feld"  (Ad  Graecos  XVII).  Und  Justinus  bekennt, 
dass  er  sich  verpflichtet  fühlt,  bei  seiner  Verantwortung  im 
jüngsten  Gericht,  ohne  Lohn  und  ohne  Neid  sein  Verständniss 
der  heiligen  Schrift  Allen  zugänglich  zu  machen"  (Dialog. 
LVII,  LXXXII).  Justinus  wünscht,  dass  zwischen  ihm  und 
seinem  Ankläger  Crescens  eine  öffentliche  Verhandlung  Statt 
finde  und  bezeichnet  es  als  ein  königliches  Geschäft,  wenn  die 
Römer  auf  Grund  einer  öffentlichen  Verhandlung  das  Urtheil 
fällen  (II  Apolog.  3).  Dieser  innere,  hohe  Gewissensdrang  ist 
die  Geburtsstätte  der  christlichen  Apologien.  Sie  sind  meistens 
ausgesprochenermassen  gerichtet  an  die  höchsten  Stellen  im 
römischen  Reich.  Die  erste  Apologie  Justins  ist  addressirt  an 
den  Kaiser,  an  den  Senat  und  an  das  ganze  römische  Volk. 
In  der  Zuschrift  bezeichnet  er  die  Christen  als  die  ,, ungerecht 
Gehassten  und  Verfolgten"  und  sich  selber  mit  vollem  Namen 
und  nach  seiner  Herkunft  als  ,, Einen  dieser  ungerecht  Gehassten 
und  Verfolgten".  Mit  einer  solchen  hohen  Offenheit  und  Frei- 
müthigkeit  führt  sich  die  erste  Apologie  Justins  in  die  römische 
Welt  ein.  Die  zweite  Apologie  desselben  ist  an  die  Römer 
gerichtet,  wie  auch  eine  kleinere  Apologie  TertuUians  ,,ad 
nationes".  Die  Apologie  des  Athenagoras  wendet  sich  an  den 
Kaiser  Marcus  Aurelius  und  an  den  Mitkaiser  AureliusCommodus. 
Tertullian  nennt  in  der  Adresse  seiner  grossen  Apologie  die 
Kaiser  nicht,  bezeichnet  sie  aber  allem  Anschein  nach  als  ,,die 
Vorsteher  des  römischen  Reichs,  die  auf  dem  hohen  Gipfel 
des  Staates  zum  Richter  Berufenen".  Eine  zweite  kleinere 
Apologie  richtet  Tertullian  an  Scapula,  Proconsul  von  Africa, 
dessen  Würde  und  Macht  er  im  4.  Kapitel  beschreibt. 

Es  ist  eine  neue  Tonart,  die  sich  hier  in  griechischer  und 
lateinischer  Sprache  vor  dem  höchsten  Thron  der  Welt  ver- 
nehmen lässt.  Der  Stil  zwar  reicht  bei  weitem  nicht  an  die 
classische  Vollendung  des  Demosthenes  oder  Cicero,  aber  der 
schwellende  Muth  für  Wahrheit,  Freiheit  und  Recht,  der  sich 
hier    in    zum  Theil    ungefügen    Perioden    vor    den    Ohren    und 


307 

Augen  der  höchsten  Gewalten  der  Welt  vernehmen  lässt,  über- 
trifft weit  Alles,  was  man  in  Athen  und  Rom  an  mannhafter 
Rede  bewundert  hat.  Anstatt  aller  Beschreibung  wollen  wir 
den  hören,  der  seine  Vertheidigung  später  auf  eine  höchst 
merkwürdige  Weise  in  Rom  mit  seinem  Blute  besiegelt  hat. 
So  spricht  Justinus,  der  philosophische  Märtyrer,  vor  den 
cäsarischen  Majestäten: 

,,Die  Vernunft  gebietet  den  wahrhaft  Frommen  und 
Philosophischen,  ausschliesslich  das  Wahre  zu  ehren  und  zu 
ieben,  entschlossen,  den  Vorfahren,  wenn  sie  im  Irrthum  sind, 
nicht  zu  folgen,  denn  die  rechte  Vernunft  gebietet  nicht  nur 
unrechtem  Thun  und  Denken  nicht  bloss  nicht  nachzugeben, 
sondern  der  Wahrheitsfreund  ist  in  jeder  Rücksicht,  auch 
wenn  er  mit  dem  Tode  bedroht  werden  sollte,  verbunden,  die 
Behauptung  des  Rechts  mit  Mund  und  That  seinem  eigenen 
Leben  vorzuziehen.  Ihr  nun  werdet  allenthalben  gerühmt  als 
Fromme  und  als  Philosophen,  als  Wächter  der  Gerechtigkeit, 
als  Liebhaber  der  Wissenschaft,  ob  ihr  es  aber  wirklich  seid, 
wird  sich  zeigen.  Denn  nicht  euch  schmeichelnd,  noch  um 
Gnade  bittend  treten  wir  an  euch  heran,  sondern  wir  verlangen, 
dass  das  Gericht  nach  genauer  und  sorgfältiger  Begründung- 
gehalten  werde,  damit  ihr  nicht  befangen  in  Vorurtheil  oder 
in  menschengefälligem  Aberglauben  oder  in  Folge  einer  unver- 
nünftigen Leidenschaft  oder  eines  seit  lange  herkömmlichen 
bösen  Gerüchtes  ein  Urtheil  fället,  das  euch  selbst  verurtheilet. 
Denn  wir  sind  überzeugt,  dass  Niemand  uns  etwas  Böses  thun 
kann,  wenn  wir  nicht  als  Uebelthäter  überführt  oder  als  Sünder 
erwiesen  werden.  Ihr  aber  könnt  uns  zwar  tödten,  schaden 
aber  nicht.  Jedoch,  dass  nicht  Jemand  unsere  Worte  für  eine 
unvernünftige  und  vermessene  Rede  halte,  so  bitten  wir,  dass 
man  die  Anklagen  gegen  die  Christen  untersuche,  und  wenn 
sie  sich  als  richtig  erweisen,  dass  dann  die  Ueberführten,  wie 
es  recht  ist,  bestraft  werden.  Wenn  aber  Einer  Nichts  beweisen 
kann,  dann  verbietet  die  wahre  Vernunft,  unschuldigen  Menschen 
um  eines  bösen  Gerüchtes  willen  Unrecht  zu  thun,  vielmehr 
thut  ihr  euch  Unrecht,  die  ihr  es  billig  findet,  die  Klagsachen 
zu    betreiben,    nicht    nach  Recht     sondern     mit    Leidenschaft. 

20* 


308 

Jeder  Vernünftige  wird  das  einzig  gute  und  richtige  Rechts- 
verfahren das  folgende  nennen  :  wenn  nämlich  die  Unterthanen 
von  ihren  Werken  und  Worten  eine  untadelige  Rechenschaft 
geben,  gleichfalls  aber  auch  die  Obrigkeiten  nicht  gewaltthätig, 
noch  tyrannisch  sondern  nach  der  Vorschrift  der  Frömmigkeit 
und  Philosophie  ihr  Urtheil  abgeben.  Denn  auf  diese  Weise 
würden  Obrigkeiten  und  Unterthanen  glücklich  sein.  — 
Unsere  Sache  nun  ist  es,  Allen  Einsicht  zu  gewähren  in  unser 
Leben  und  Lehren,  damit  wir  nicht  für  die,  welche  glauben, 
das  unsrige  ignoriren  zu  können,  die  Strafe  ihrer  in  Blindheit 
begangenen  Fehler  uns  selber  aufladen.  Eure  Sache  aber  ist  es, 
wie  es  vernünftig  ist,  dass  ihr  höret  und  euch  als  gute  Richter 
erfinden  lasset.  Denn  unverantwortlich  wird  es  sein  vor  Gott, 
wenn  ihr,  nachdem  ihr  unterrichtet  seid,  nicht  das,  was  recht  ist, 
thun  werdet.  Ein  Beinam.e  wird,  abgesehen  von  den  mit  diesem 
Namen  verbundenen  Handlungen,  weder  für  etwas  Gutes  noch  für 
etwas  Böses  gehalten.  So  weit  man  nach  unserem  unter  An- 
klage stehenden  Namen  urtheilen  kann,  gehören  wir  zu  den 
Besten  (Wackersten).  Aber  da  wir  es  nicht  für  gerecht  halten, 
um  des  Namens  willen,  falls  wir  der  Bosheit  überführt  werden, 
um  Vergebung  zu  bitten,  so  ist  es  andererseits  eure  Sache, 
wenn  wir  wieder  wegen  des  Namens,  noch  wegen  des  Verhaltens 
als  Verbrecher  erfunden  werden,  euch  zu  bemühen,  dass  ihr, 
wenn  ihr  die  nicht  Ueberführten  ungerecht  bestrafet,  nicht  der 
gerechten  Strafe  unterlieget.  Alle,  die  bei  euch  verklagt 
werden,  straft  ihr  nicht,  bevor  sie  überführt  sind,  bei  uns  aber^ 
nehmt  ihr  den  Namen  als  Ueberführung,  obgleich,  so  weit  es 
auf  den  Namen  ankommt,  ihr  lieber  müsstet  die  Ankläger 
strafen.  Wenn  einer  der  unter  Anklage  Stehenden  ein  Ver- 
leugner  wird,  indem  er  bloss  sagt,  er  sei  es  nicht,  dann 
entlasst  ihr  ihn  als  Einen,  den  ihr  keines  Vergehens  überführen 
könnt,  wenn  aber  Einer  bekennt,  es  zu  sein,  so  bestraft  ihr 
ihn  wegen  "des  Bekenntnisses.  Es  ist  Pflicht,  sowohl  das  Leben 
des  Bekennenden  zu  prüfen,  als  auch  das  des  Leugnenden, 
damit  durch  die  Thaten  offenbar  werde,  wie  ein  Jeder  ist. 
Denn  gleichwie  Einige  dem  Befehl  Christi,  des  Lehrers,  nicht 
zu    verleugnen,     gehorsam     in     der    Untersuchung     bekehrend 


309 

wirken,  so  geben  vielleicht  Andere,  welche  ein  schlechtes 
Leben  führen,  denen  einen  willkommenen  Anlass,  die  ohnehin 
sich  schon  vorgenommen,  allen  Christen  Gottlosigkeit  und 
Schlechtigkeit  vorzuwerfen.  —  lieber  uns,  die  wir  bekennen, 
nichts  Böses  zu  thun  noch  gottlose  Meinungen  zu  hegen,  stellt 
ihr  keine  gerichtlichen  Untersuchungen  an,  sondern  getrieben 
von  einer  unvernünftigen  Leidenschaft  und  der  Geissei  schlechter 
Dämonen*)  straft  ihr  ohne  Untersuchung  und  Ueberlegung. 
—  Wir  bitten,  dass  von  Allen,  die  bei  euch  angeklagt 
werden,  ihre  Thaten  untersucht  werden,  damit  der  Ueberführte 
als  Uebelthäter  bestraft  werde,  aber  nicht  als  Christ,  wenn  er 
aber  nicht  als  überwiesen  sich  darstellt,  freigesprochen  werde 
als  Christ  ohne  Schuld.  Denn  wir  werden  euch  nicht  angehen, 
die  Ankläger  zu  bestrafen,  denn  sie  haben  genug  an  ihrer 
Schlechtigkeit  und  an  ihrer  schändlichen  Unwissenheit.  — 
Wir  wollen  nicht  leben  mit  Lügen  auf  der  Zunge.  Denn  die 
wir  uns  sehnen  nach  dem  ewigen  und  reinen  Leben,  trachten 
nach  dem  Umgang  mit  Gott,  dem  Vater  und  Schöpfer  des 
Alls,  berufen,  uns  zu  bekennen  als  die,  welche  überzeugt  sind 
und  glauben,  dass  dieser  Güter  theilhaftig  werden,  welche 
thatsächlich  Gott  beweisen,  dass  sie  ihm  folgen  und  seines 
Umganges,  wo  das  Böse  keine  Macht  hat,  sich  freuen.  —  Das 
Reich,  welches  wir  erwarten,  ist  nicht  ein  menschliches.  Wir 
bekennen  Christen  zu  sein,  wissend,  dass  dem  Bekennenden 
von  euch  Tod  als  Strafe  verordnet  ist.  Wir  aber  machen  uns 
Nichts  aus  denen,  .  welche  die  Macht  zu  tödten  besitzen.  — 
Bei  uns  kann  man  die  Wahrheit  hören  und  lernen  von  Solchen, 
welche  nicht  einmal  die  Buchstaben  kennen,  die  ungebildet 
sind  und  von  uncivilisirter  Ausdrucksweise,  der  Gesinnung  nach 
aber  weise  und  gläubig,  damit  erkannt  werde,  dass  dieses  nicht 
auf  menschlicher  Weisheit  beruhe  sondern  durch  Gottes  Kraft 
verkündigt  werde."  — 

Nachdem    nun  Justinus   zuletzt    den  Vorhang   weggezogen 
und    den    Kaisern    den    Einblick    in    die    Feier    der    heiligen 


*)    Dämonen    als    Urheber   der    Christenverfolgung    Justin.    Apol.    I    44, 
II  I   3  8,  Dialog.  XXXIX,  Tertullian  Apol.  XXVII,  Lactanz  Inst.  V  21. 


310 

Mysterien  der  Christenheit  eröffnet  hat,  nimmt  er  mit  folgendem 
mannhaften  Schluss  Abschied  von  den  hohen  Gewalten. 
,,Wir  haben  euch  dieses  zur  Erwägung  ijberreicht,  und  wenn 
es  euch  vernünftig  und  richtig  erscheint,  so  haltet  es  in  Ehren, 
scheint  es  euch  aber  ein  Geschwätz  zu  sein,  so  verachtet  es 
als  Geschwätz,  nur  verhängt  nicht  den  Tod  als  gegen  Feinde 
über  die,  welche  nichts  Unrechtes  thun.  Wir  haben  euch 
vorhergesagt,  dass  ihr  dem  künftigen  Gericht  nicht  entfliehen 
werdet,  wenn  ihr  beharret  in  der  Ungerechtigkeit,  und  wir 
werden  ausrufen:  was  Gott  gefällt,  das  möge  geschehen." 

Diese  Zuschrift,  welche  durch  thatsächliche  Verhältnisse 
veranlasst  ist,  geht  zurück  auf  die  alleruntersten  Grundsätze  des 
Rechtes  und  des  vernünftigen  Denkens.  Sie  ist  gerichtet  an 
einen  Weltherrscher,  der  sich  bemüht,  auf  dem  Thron  wie  im 
Feldlager  gegen  die  Quaden-  durch  Selbstbesinnung  über  sich 
und  seine  Pflichten  klar  zu  werden,  der  durch  sein  Verhalten 
sich  grosse  und  allgemeine  Verehrung  erworben  hat.  Nun  ist 
es  Thatsache,  dass  dieser  Cäsar  diese  Appellation  eines 
philosophischen  Mannes  an  seine  kaiserliche  Gerechtigkeit 
gänzlich  ignorirt  und  verachtet  liat.  Justinus  hat  sodann 
seine  Apologie  vor  den  Augen  und  Ohren  des  Kaisers 
durch  sein  Blut  besiegelt.  Wir  werden  nachher  beweisen, 
dass  auch  dieses  Blutzeugniss  auf  diesen  Kaiser  nicht  den 
allermindesten  Eindruck  gemacht.  Wer  an  eine  göttliche  Welt- 
ordnung glaubt,  muss  durch  diese  Thatsachen  zu  der  Ueber- 
zeugung  kommen,  dass  eine  grosse  Wendung  in  dem  Weltlauf 
bevorsteht. 

Es  ist  nicht  eine  Schul-  oder  Doctorfrage,  welche  Justinus 
in  seiner  ersten  Apologie  behandelt,  es  ist  die  weltgeschicht- 
liche Gewissensfrage,  welche  die  alte  und  die  neue  Zeit  scheidet. 
Und  Justinus  erweist  sich  hier  als  der  Mann,  der  des  Wortes 
mächtig  ist,  eine  solche  Frage  mit  der  nöthigen  Kraft  und 
Würde  zu  behandeln.  Aber  trotzdem  ist  diese  grandiose  christ- 
liche Schutzrede  auch  heute  noch  nicht  vor  Missverständniss, 
ja  nicht  vor  Missachtung  gesichert.  Theodor  Keim  verehrt 
zwar  den  hohen  Ton  dieser  Apologie,  ,, diesen  sittlichen  Muth, 
dies  Product    religiöser  Begeisterung    und    eines  hohen  Selbst- 


311 

gefühles",  aber  findet  doch,  dass  Justinus  das  Wort  gegen  die 
Fürsten  ,,fast  zu  kräftig  handhabt"  (Rom  u.  das  Christenthufii 
p.  424).  Dem  letzten  Urtheil  Keims  werden  heute  Viele  bei- 
stimmen, ohne  dass  sie  sich  das  voraufgehende  Lob  anzueignen 
vermögen.  Aber  was  sollen  wir  sagen,  wenn  Hausrath  sich 
über  den  Charakter  dieser  christlichen  Selbstvertheidigung  ver- 
nehmen lässt  wie  folgt :  ,,in  seinem  Sendschreiben  an  die 
Cäsaren  schlägt  Justinus  durchaus  nicht  den  Ton  der  Petition 
an  sondern  den  der  aggressivsten  Petulanz".  ,,Man  wird  nicht 
leugnen  können,  dass  Justinus  die  Sprache  der  cynischen 
Majestätsbeleidigung  redet,  und  wenn  er  sich  für  dieselbe  die 
Strafe  der  Auspeitschung  verdient  haben  sollte,  so  entsprach 
das  nur  der  damaligen  Ordnung"  (Kleine  Schriften  p.  83). 
Ebenso  urtheilt  Hausrath  über  die  andere  Apologie  Justins: 
,,von  Demuth  gegen  die  Gewalthaber  ist  diese  Apologetik  des 
zweiten  Jahrhunderts  sehr  weit  entfernt"  (p.  83),  ,, diese  Schutz- 
schriften erschienen  eher  als  eine  Provocation  der  Obrigkeit 
denn  als  eine  Bitte  um  Schonung"  (p.  ']6),  ,,von  einem 
demüthigen,  wehmüthigen  apologetischen  Auftreten  der  Christen 
ist  hier  gewiss  Nichts  zu  spüren"  (p.  ^6).  Was  den  Vorwurf 
des  Aggressiven  und  Provocatorischen  betrifft,  so  entgeht  es 
Hausrath,  dass  das  Christenthum  nicht  vertheidigt  werden 
kann,  ohne  das  Heidenthum  zu  bekämpfen.  -  Die  de-  und 
wehmüthige  Bitte  um  Schonung,  welche  Hausrath  vermisst 
(p.  'j^  83),  wäre  der  Verzicht  des  Christenthums  auf  seine 
Existenz  gewesen.  Das  Christenthum  musste  entweder  ab- 
danken oder  erobern.  Wenn  ferner  Hausrath  der  Meinung  ist, 
dass  Justinus  wegen  cynischer  Majestätsbeleidigung  nach 
römischem  Recht  Auspeitschung  verdient  und  Straflosigkeit 
vor  einer  christlichen  Obrigkeit  eine  unverdiente  Milde  wäre, 
so  giebt  er  einen  solchen  Mangel  an  christlichem  Verständniss 
kund,  dass  es  vergeblich  sein  mag,  mit  ihm  über  die  vor- 
liegende Materie  mit  Worten  zu  streiten.  Wie  aber  Justinus 
noch  ein  anderes  Beweismittel  für  die  von  ihm  vertheidigte 
Sache  besass  als  Wort  und  Schrift,  so  wird  es  das  Beste  sein, 
um  ihn  gegen  diese  Schmähungen  eines  christlichen  Theologen 
zu   schützen,   wenn   wir   auf  jene  ultima  ratio,  wenn  wir  schon 


312 

hier  im  Voraus  auf  sein  Blutzeugniss  verweisen,  welches  wir 
später  uns  zu  vergegenwärtigen  haben  werden. 

Der  Bericht  des  Tacitus  über  den  Tod  Senecas  hat  uns 
Aufschluss  gegeben,  was  dieser  Mann  für  Bekämpfung  des 
Bösen  und  zur  Förderung  des  Guten  vermag  und  was  er  nicht 
vermag;  wir  haben  in  dem  Martyrium  dieses  Mannes  das 
höchste  Mass  des  moraUschen  Vermögens  in  der  natürHchen 
Menschheit  innerhalb  der  damaligen  Weltlage  erkannt.  Ver- 
gegenwärtigen wir  uns  nun  das  christliche  Martyrium,  so  wird 
sich  uns  darin  eine  Kraft  offenbaren,  welche  über  jenes  Mass 
hinausreicht  und  einen  höheren,  einen  göttlichen  Ursprung  auf- 
weist. Da  es  sich  um  einen  Thatbeweis  handelt  —  ,,wir 
disputiren  nicht",  sagt  Athenagoras,  ,, sondern  beweisen  durch 
Thatsachen"  — ,  so  werden  wir  uns  die  Hauptmomente  dieser 
Thatsache  anschaulich  vorführen  müssen. 

Das  dreihundertjährige  Blutzeugniss  der  Kirche  ist  eine 
weltgeschichtliche  Thatsache  ohne  Gleichen.  Es  ist  daher  bei 
der  menschlichen  Schwachheit  ganz  natürlich,  dass  sich  an 
diese  Thatsache  Uebertreibungen  und  Verzerrungen  angeheftet 
haben.  Seit  Doddwall  und  Gibbon  ist  es  anerkannt,  dass  die 
Zahl  der  Märtyrer  in  der  kirchlichen  Tradition  sehr  übertrieben 
ist.  Ferner  hat  es  hie  und  da,  dann  und  wann  Solche  gegeben, 
welche  eigenwillig  und  eigenmächtig  das  Martyrium  an  sich 
rissen,  was  aber  sofort  von  der  Kirche  als  Sacrilegium  ver- 
urtheilt  wurde.  Auch  hat  es  nicht  lange  gedauert,  dass  die 
Verehrung  der  Märtyrerreliquien  in  Aberglauben  ausartete. 
Aber  in  diese  Nebendinge  hat  man  sich  oft  so  vertieft,  dass 
man  die  grosse  Hauptsache  fast  aus  den  Augen  verlor.  Die 
Sache  selbst  ist  gross  und  heilig  und  Jeder  mag  sich 
wohl  rüsten  mit  christlichem  Ernst,  um  die  hehren  Blut- 
zeugen auf  ihrem  letzten  Gange  zu  verstehen  und  zu  würdigen! 

Ignatius,  Bichof  von  Antiochien,  eröffnet  die  Reihe  der 
Märtyrer.  Ein  viel  umstrittener  Name,  den  der  Doctrinärismus 
zum  Problem  in  der  Kirchenverfassungsfrage  und  zu  einem 
Hauptobject  des  kritischen  Scharfsinnes  gemacht  hat.  V^or 
Allem  sollte  aber  Niemand  an  diesen  Namen  herantreten,  der 
sich  nicht   zuvor   eine   lebendige  Anschauung   von  der  Fäulniss 


313 

der  damaligen  vergehenden  Welt  gemacht  hat.  Denn  erst 
dann  ist  man  im  Stande,  die  gewaltige  Sprache  dieses  bischöf- 
lichen Märtyrers  zu  verstehen.  Frivol  muss  man  es  nennen, 
dass  Hausrath  sich  nicht  entblödet,  die  Briefe  dieses  Märtyrers 
,,die  Rede  eines  Coulissenreissers  und  den  Anfang  der  hierarchi- 
schen Pfaffenliteratur"  zu  nennen  (Kleine  Schriften  p.  32).  Die 
beiden  gründlichen  Schriften  von  Th.  Zahn  Ignatius  von 
Antiochien  1873  und  Ignatii  et  Polycarpi  epistolae  et  martyria 
1875  haben  mich  sowohl  von  der  Authentie  der  Briefe  des  Ignatius 
als  auch  von  der  Geschichtlichkeit  seines  Martyriums  überzeugt. 
Ignatius,  Bischof  von  Antiochien,  als  Christ  unter  Trajan 
verurtheilt,  in  Rom  den  Thierkampf  zu  bestehen,  wurde  in 
Ketten  gelegt  und  einer  Abtheilung  von  zehn  Soldaten  über- 
geben, um  nach  Rom  theils  zu  Lande,  theils  zu  Wasser  für 
die  bevorstehenden  Spiele  transportirt  zu  werden.  Ein  Bischof 
in  Ketten,  übergeben  römischen  Kriegern,  die  er  wegen  ihrer 
Herzlosigkeit  seine  Leoparden  nennt,  auf  einer  langen  Reise, 
mit  der  Aussicht  von  den  Löwen  zur  Belustigung  des  römischen 
Volkes  zerrissen  zu  werden !  Diese  Thatsache  beweist  in  sehr 
anschaulicher  Weise,  dass  das  römische  Cäsarenreich  seine 
Gewalt  aufbietet,  um  die  kleine  wehrlose  Christenschaar  zu 
zermalmen.  Das  römische  Weltreich  offenbart  seinen  thierischen 
Charakter,  mit  welchem  die  Bibel  es  bezeichnet,  um  die  neue 
Menschheit  zu  vertilgen.  Diese  Stellung  des  römischen  Reiches 
zum  Christenthum  wird  der  ganzen  Welt  durch  die  Aufsehen 
machende  Reise  des  bischöflichen  Märtyrers  vom  fernen 
Morgenland  bis  zum  Mittelpunkt  der  Welt  kundgemacht,  und 
es  muss  sich  in  der  inneren  Haltung  der  Christenheit  zu  dieser 
drohenden  Thatsache  auf  offenem  Plane  offenbaren,  wem  endlich 
die  Zukunft  gehören  wird,  Rom  oder  Christus.  Zunächst  zeigt 
sich,  dass  Bischöfe  und  Gemeinden  durch  dieses  drohende 
Zeichen  keineswegs  erschüttert  werden,  Bischöfe  und  Gemeinden 
beeifern  sich,  dem  Gefangenen  und  Verurtheilten  mit  grosser 
Verehrung  und  Liebe  zu  nahen.  Das  ist  ein  grosses  Zeichen. 
Wo  auf  dem  natürlichen  Gebiet  die  Gewalt  sich  regt,  da 
werden  die  Bande  der  Gemeinschaft  gelöst.  Wie  klagt  Ovid 
über  seine  Verlassenheit  von  allen  Freunden,  nachdem  Augustus 


314 

ihm  seine  Gunst  entzogen!  Hier  dagegen  zeigt  sich,  dass  die 
christHche  Gemeinschaft  der  Bischöfe  und  Gemeinden  ein  Boll- 
werk ist,  welches  nicht  erschüttert  wird,  wenn  auch  die  höchste 
Weltmacht  ihre  Schrecken  entfaltet.  Der  zunächst  Bedrohte 
erkennt  in  seiner  jetzigen  Lage  die  grosse  Bedeutung  des 
Zusammenhaltens  der  Gemeinden  und  der  Bischöfe,  und  im 
Hinblick  auf  die  kommenden  Gefahren  empfiehlt  er  auf  das 
Dringendste  die  Erhaltung  der  kirchlichen  Organisation.  Vor 
allem  Anderen  aber  kommt  es  an  auf  die  Haltung  dessen,  der 
als  ein  Schlachtopfer  durch  die  römischen  Provinzen  seinem 
grausamen  Tode  in  dem  Amphitheater  der  Hauptstadt  ent- 
gegengeführt wird.  Es  ist  ein  Werk  der  göttlichen  Vorsehung, 
die  über  die  dunklen  Wege,  welche  die  Kirche  Christi  geführt 
wird,  wacht,  dass  dem  Märtyrer  von  Antiochien  Gelegenheit 
und  Freudigkeit  gegeben  wird,  während  seiner  Reise  sein 
Inneres  vollständig  auszusprechen.  In  sieben  Briefen,  die  von 
Alters  her  berühmt  sind,  auf  welche  Irenäus  (V  28)  und  Eusebius 
(H.  E.  III  36)  mit  Nachdruck  verweisen,  hat  Ignatius  während 
seiner  Reise  und  in  einer  peinlichen  Lage  ohne  Gleichen  seinen 
innersten  Gedanken  und  Empfindungen  Ausdruck  gegeben.  *) 
Wer  wird  in  diesen  Briefen  aber  nur  gewöhnliche  Gedanken 
zu  finden  erwarten?  So  viel  ist  von  vornherein  klar,  wenn 
nicht  ein  ungewöhnlicher  Inhalt  in  diesen  Briefen  zum  Vor- 
schein kommt,  dann  sind  sie  gewiss  nicht  aus  einer  Lage,  wie  die 
des  Ignatius  beschrieben  wird,  hervorgegangen,  dann  sind  sie 
unächt.  In  der  That  fehlt  es  nicht  an  ungewöhnlichem  Inhalt 
in  diesen  Briefen  an  Männer,  welche  in  der  grossen  Feld- 
schlacht zwischen  Christen  und  Cäsar  betheiligt  und  Augen- 
zeugen waren.  Polycarp,  Irenäus,  Eusebius  haben  eben  an  dem 
ungewöhnlichen  Inhalt  dieser  Briefe  sich  gestärkt  und  erbaut. 
Wenn  man  nun  in  der  Neuzeit  eben  an  diesem  Ungewöhn- 
lichen zum  Theil  sehr  starken  Anstoss  genommen,  so  hat  das 
grossentheih  darin  seinen  Grund,  weil  wir  uns  viel    zu  sehr  an 


*)  Die  Einwendungen,  welche  gegen  das  Thatsächliche  der  Reise  des 
Ignatius  erhoben  sind,  hat  Zalin  berücksichtigt  und  nach  meinem  Urtheil 
erledigt  (Ignatius  von  Antiochien  p.   250 — 295), 


315 

die  Schatten  des  kirchlichen  Stilllebens  gewöhnt  haben  und 
deshalb  den  Heroismus  der  christlichen  Athleten  in  dem 
offenen  Kampfe  nicht  zu  fassen  vermögen.  Ueber  den  geist- 
lichen Heroismus  des  Paulus  (Rom.  IX  3)  bemerkt  Bengel: 
,,non  capit  hoc  anima  non  valde  provecta.  De  mensura  amoris 
in  Mose  et  Paulo  non  facile  est  existimare.  Etenim  modulus 
ratiocinatiorum  nostrarum  non  capit,  sicut  heroum  bellicorum 
animos  non  capit  parvulus". 

Wie  erscheint  dem  Märtyrer  auf  seiner  via  dolorosa  der 
Stand  der  Christenheit?  Ist  irgend  eine  Spur  von  Gedrückt- 
heit oder  Verzagtheit  in  seinen  Briefen  zu  spüren?  Im  Gegen- 
theil,  er  erfüllt  die  Vorschrift  von  Clemens  Romanus  II:  ,,wir 
dürfen  nicht  klein  und  gering  denken  von  unserem  Heil"« 
Was  wir  früher  von  Ignatius  angeführt,  um  den  Anbruch  einer 
neuen  Zeit  zu  charakterisiren,  zeigt  in  diesem  Zusammenhang 
die  Grossheit  der  Weltanschauung  eines  dem  grausamsten  Tode 
entgegengehenden  Christen.  Es  ist  von  Werth,  den  Märtyrer 
hier  noch  einmal  zu  hören.  Ignatius  schreibt:  ,, nachdem  der 
Stern  Christi  erschienen,  wurde  aufgelöst  jeder  Zauber,  und  jede 
Fessel  der  Bosheit  ward  vernichtet,  Unwissenheit  hatte  ein 
Ende,  das  alte  Reich  ward  zerstört,  als  Gott  in  menschhcher 
Gestalt  erschien,  um  ewiges  Leben  neu  zu  schaffen.  Einen 
Anfang  aber  gewann  der  Rathschluss  Gottes.  Von  da  an  kam 
Alles  in  Bewegung,  weil  es  sich  handelte  um  Aufhebung  des 
Todes"  (Ad  Ephes  XIX).  Kein  Gedanke,  dass  die  grausame 
und  weltmächtige  Verfolgungsgewalt  die  Schöpfung  des  neuen 
Reiches  und  Lebens  zerstören  könnte.  Die  feindlichen  Gewalten 
kommen  vor  dem  Geistesblick  des  Märtyrers,  der  ganz  ver- 
sunken ist  in  die  Anschauung  der  göttlichen  Rathschlüsse  und 
Wunder,  gar  nicht  in  Betracht.  Aber  so  gross  Ignatius  von 
dem  Reiche  Christi  denkt,  so  klein  erscheint  er  sich  selber. 
Aber  seine  Demuth  ist  gekleidet  in  eine  Gestalt,  die  uns  fremd- 
artig erscheint.  ,, Feuer  und  Kreuz,  Thiere  in  Massen,  Ver- 
wundungen, Zerfleischungen,  Zermalmungen  der  Knochen,  Ab- 
trennung der  Glieder,  Zerknirschung  des  ganzen  Körpers,  arge 
Qualen  des  Teufels,  dies  Alles  mag  über  mich  kommen,  wenn 
ich    nur  Christi    theilhaft    werde"  (Ad   Romanos  V).      Wir    in 


316 

unserer  Kleinheit  denken  leicht,  eine  fromme  Ergebung  in  das 
ihm  bestimmte  Schicksal  wäre  die  richtige  Stimmung  des 
Ignatius  gewesen  Das  wäre  allerdings  das  christliche  Leiden 
und  Sterben  eines  treuen  Bekenners.  Aber  es  ist  hier  auf 
etwas  Höheres  abgesehen.  Die  römische  Verfolgungsmacht 
hat  in  der  Verurtheilung,  in  der  langen  Reise  und  in  dem 
grausamen  Tode  des  Ignatius  zum  ersten  Mal  ihren  ganzen 
furchtbaren  Apparat  vor  den  Augen  der  Welt  entfaltet.  Dagegen 
genügt  nicht  ein  Blutzeugniss,  welches  nur  eben  nicht  zuriack- 
weicht  vor  diesem  Apparat,  sondern  nur  ein  solches,  welches 
durch  seine  innere  Kraft  jene  äusserste  Gewalt  überbietet  und 
durch  seine  unzweifelhafte  Ueberlegenheit  den  entsetzlichen 
Terrorismus  der  Verfolgungsmacht  in  den  Augen  der  Gläubigen 
und  auch  der  Ungläubigen  vernichtet.  Das  Martyrium  des  Ignatius 
sollte  wie  eine  Feuersäule  dastehen,  welche  den  folgenden 
Märtyrern  im  Morgen-  und  Abendland  sichere  Leitung  und 
hohen  Muth  gewähren  könnte.  Was  Stephanus  in  der  judenchrist- 
lichen Gemeinde  ist,  das  soll  Ignatius  für  die  heidenchristliche 
Gemeinde  sein.  ,, Ignatius  ist  der  erste  öffentliche  Zeuge  nicht 
des  christlichen  Glaubens  aber  der  christlichen  Gemeinde.  In 
der  Person  des  antiochensischen  Bischofs  stehen  sich  die  beiden 
feindlichen  Mächte  zum  ersten  Mal  gegenüber,  um  sich  zu 
messen"  (Bestmann  II  168).  Das  Verlangen  des  Ignatius  nach 
dem  grausamen  Tode  im  Amphitheater  ist  so  übermächtig, 
dass  er  die  römische  Gemeinde  anfleht,  dass  sie  für  ihn  keine 
Fürbitte  einlegen  möge,  damit  das  Urtheil  ohne  Aufschub  und 
Hinderniss  an  ihm  vollzogen  werde.  Anstatt  aber  Anstoss  zu 
nehmen  an  diesem  staunenswerthen  Verhalten  dieses  Märtyrers 
sollte  man  nur  genauer  zusehen,  worauf  eigentlich  dieses 
starke  Verlangen  nach  der  Zermalmung  durch  die  Bestien 
gerichtet  ist.  Es  ist  nicht  ein  Verlangen  nach  Märtyrerruhm, 
überhaupt  kein  Verlangen,  das  sich  auf  irgend  etwas  Aeusser- 
liches  bezieht,  es  ist  ein  Verlangen  der  selbstlosesten  Demuth, 
weil  es  seine  Kraft  hat  in  dem  tiefen  Bewusstsein  der  Un- 
vollendetheit und  in  der  überschwänglichen  Sehnsucht  nach 
Vollendung.  In  Ignatius  lebt  der  starke  Wille,  das  in  vollem 
Sinne  wirklich  zu  werden,  was  er  seinem  Glauben  nach  bereits 


317 

ist.  Ignatius  gehört  Gott  und  Christo  an,  aber  Gottes 
und  Christi  vöUig  theilhaftig  zu  werden ,  das  ist  das 
Ziel  seines  Weges  nach  Rom.  Ignatius  ist  ein  Jünger 
Jesu,  aber  ein  unvollkommener,  er  sehnt  sich  darnach,  in 
voller  Wirklichkeit  Christi  Jünger  zu  werden  (Ad  Rom.  I,  II,  IV). 
Noch  tiefer  greift  der  Ausdruck:  ,,wenn  ich  dorthin  gelange, 
dann  werde  ich  ein  Mensch  Gottes  sein"  (Ad  Rom.  VI). 
Ignatius  in  der  Gewalt  der  zehn  Leoparden,  in  Aussicht  die 
Löwen  des  Amphitheaters,  fühlt  den  Gegensatz  zwischen 
Menschheit  und  Thierheit,  er  fühlt  es,  dass  durch  die  Ver- 
führung Satans  Thierisches  in  die  Menschheit  und  mithin  auch 
in  sein  eigenes  menschliches  Dasein  eingedrungen  ist;  er  sehnt 
sich  darnach,  ein  Mensch  Gottes  im  vollen  Sinne  des  Wortes, 
ein  voller  Mensch  wie  aus  den  Händen  Gottes  zu  werden.  Er 
sehnt  .sich  nach  dem  reinen  Licht  (Ad  Rom.  VI).  Auf  der 
Reise  nach  dem  Amphitheater  merkt  er,  dass  das  Begehren 
und  Gelüsten  in  ihm  ablä.sst  (Ad  Rom.  IV),  dass  jenes  Feuer, 
welches  nach  äusserem  Stoff  begehrt,  aufzuhören  beginnt  und 
dem  reinen  Feuer  des  Geistes  Raum  schafft.  Er  sehnt  sich 
darnach,  nicht  ein  blosses  Echo  zu  sein,  sondern  ein  wirkliches 
Wort  Gottes  zu  werden  (Ad  Rom.  II).  Alles,  was  Rom  auf- 
bieten mag,  von  der  Verurtheilung  des  christlichen  Bischofs 
in  Antiochien  an  bis  zu  dem  Loslassen  der  Bestien  gegen  ihn, 
es  ist  in  den  Augen  des  Ignatius  Alles  Mittel  und  Weg  zu 
seiner  eigenen  Vollendung,  und  daher  ist  alle  Marter  ihm  von 
Herzen  willkommen.  Der  Hauptgedanke  in  den  Briefen  des 
Ignatius  ist  die  Vollendung  dessen,  was  hier  im  Glauben 
begonnen  ist.  Da  nun  für  ihn  die  Vollendung  bestimmt  ist 
durch  den  Tod  im  Amphitheater,  so  ist  für  ihn  das  starke 
Verlangen  nach  Vollendung  zugleich  das  starke  Verlangen 
nach  der  Marter.  Zugleich  ist  klar,  dass  durch  diese  Auf- 
fassung und  Aufnahme  die  Verfolgungsmacht  innerlich  voll- 
kommen entmächtigt  und  damit  durch  einen  solchen  leuchten- 
den Anfang  die  Bahn  für  die  künftigen  Märtyrer  eröffnet  ist. 
Dass  nun  Ignatius  sich  berufen  hält,  diesen  christlichen 
Werdeprocess  in  solcher  typischen  Vorbildlichkeit  auszuführen, 
dafür   scheint   er   einen  individuellen  Grund  anzudeuten,    indem 


318 

er  sich  mit  einem  Ausdruck  bezeichnet,  mit  welchem  Paulus 
seine  specifische  Sünde  und  Unwürdigkeit  charakterisirt.  Wie 
Paulus  I.  Kor.  XV  8,  so  nennt  sich  auch  Ignatius  (Ad  Rom.  IX) 
,,  Verfolger".  Es  ist  demnach  zu  vermuthen,  dass  auch 
Ignatius  in  seinem  Vorleben  sich  wie  Paulus  an  der  Gemeinde 
v^ersündigt  hat,  und  deshalb  seine  Führung  wie  bei  Paulus 
durch  ungewöhnliche  Tiefen  geht. 

Unter  den  Neueren  haben  Bunsen  und  Zahn  den  christ- 
lichen Eifer  des  bischöflichen  Märtyrers  anerkannt  und  gewürdigt. 
Aber  Beide  finden  doch  an  den  Aussagen  desselben  zu  tadeln. 
,,Es  bleibt  in  diesen  Aeusserungen  des  Ignatius  etwas  Krank- 
haftes zurück",  sagt  Bunsen  (B.  Ignatius  von  Antiochien  und 
seine  Zeit  p.  226),  und  Zahn  nennt  das  Verlangen  des  Ignatius 
nach  dem  Martyrium  ,, leidenschaftlich  überspannt"  (Ignatius 
von  Antiochien  p.  405  418).  Aber  Beide  verrathen  auch  bei 
ihrer  Anerkennung  dieses  Märtyrers  einen  offenbaren  Mangel 
in  der  Beurtheilung  dieses  Martyriums.  Bunsen  stellt  als 
Vorbild  für  Ignatius  das  Martyrium  des  Sokrates  auf.  Aber 
wäre  in  dem  Martyrium  des  Ignatius  nicht  eine  specifisch 
höhere  Kraft  als  in  dem  Martyrium  des  Sokrates,  dann  hätte 
eben  so  wenig,  als  die  sokratische  Schule  eine  geschichtliche 
Macht  geworden  ist,  die  christliche  Gemeinde  den  abgöttischen 
Cultus  stürzen  können.  Und  was  Zahn  betrifft,  so  hat  er  in 
seinem  Satz:  ,, Ignatius  drückt  sich  lebhafter  und  stärker  aus, 
als  es  dem  Abendländer  und  namentlich  dem  gelehrten  Leser 
gefällt"  (p.  418)  einen  offenbar  incompetenten  Massstab  auf- 
gestellt. Die  abendländische  Gelehrsamkeit  der  Gegenwart 
bedarf  einer  starken  Geistestaufe,  um  in  der  vorliegenden 
Frage  urtheilsfähig  zu  werden.  Man  muss  nicht  ausser  Acht 
lassen,  dass  das  christliche  Martyrium  im  römischen  Reich  die 
Bestimmung  hatte,  zu  ringen  mit  dem  antiken  Geist.  Was 
der  Stoicismus  lehrt  aber  nicht  ausführen  kann,  soll  der 
Glaube  leisten  und  dadurch  den  antiken  Geist  überwinden. 

Wir  kommen  zu  Justinus,  der  seine  freimüthige  Apologie 
unter  Marc  Aurel  durch  einen  glorreichen  Märtyrertod  besiegelt 
hat.  Ueber  das  Martyrium  des  Justin  und  seiner  sechs  Genossen 
haben  wir  einen  actenmässigen  Bericht  (Justini  Opera  ed.  Otto 


319 

II  266  —  278,  Rainarti  Acta  Martyrum  p.  58  —  60).  Das 
christliche  Martyrium  ist  die  That  der  eigensten  und  innersten 
Persönhchkeit  eines  Christen  und  hat  daher  jedesmal  nach  der 
Individualität  und  nach  den  Umständen  einen  eigenthümlichen 
Charakter.  Welch  ein  Abstand  zwischen  Ignatius  und  Justinus ! 
Der  Bischof  von  Antiochien  wird  in  Ketten  aus  Syrien  mit 
einer  soldatischen  Wache  unter  grossem  Aufsehen  durch  die 
römischen  Provinzen  nach  der  Hauptstadt  geführt,  Bischöfe 
und  Gemeinden  werden  allenthalben  durch  diesen  Zug,  der 
den  Gegensatz  zwischen  Heidenthum  und  Christenthum  augen- 
fällig darstellte,  auf  das  Heftigste  bewegt  und  ergriffen,  und 
das  Ende  dieser  Aufsehen  erregenden  Reise  ist  das  grause 
Schauspiel  eines  christlichen  Martyriums  vor  den  Augen  und 
Ohren  der  römischen  Volksmasse.  Der  Oefifentlichkeit  und 
dem  Aufsehen  dieses  Martyriums  entspricht  es,  dass  Ignatius 
in  solcher  Lage  ohne  Gleichen  seine  Gedanken  und  Em- 
pfindungen offen  und  ausführlich  dargelegt  hat,  so  dass  wir 
heute  noch  das  Aeussere  und  das  Innere  dieses  grossen 
Martyriums  miteinander  vergleichen  und  das  Eine  durch  das 
Andere  verstehen  können.  Wie  still  und  einfach  ist  nun  dem 
gegenüber  das  Martyrium  des  Justinus  und  seiner  sechs 
Genos.sen !  Diese  sieben  Christen  werden  vor  dem  Tribunal 
des  Stadtpräfecten  von  Rom,  des  Stoikers  Rusticus  verhört, 
sie  bekennen  sich  schlicht  und  kurz,  aber  Jeder  eigenthümlich 
zum  Christenthum,  verweigern  nach  Bedrohung  mit  dem  Tode, 
dem  Götzen  zu  opfern  und  dem  Edict  des  Cäsars  zu  gehorchen. 
Ohne  Weiteres  werden  sie  darnach  abgeführt,  gegeisselt  und 
enthauptet.  Die  grosse  Weltstadt  nimmt  von  dieser  Scene 
keine  Notiz:  sieben  Fremdlinge  ohne  Ansehen  atis  Palästina, 
Kappadokien,  Phrygien,  unter  ihnen  eine  Frau  und  ein  Sclave, 
sie  werden  enthauptet,  weil  sie  die  Götter  und  den  Cäsar 
nicht  anbeten  wollen.  Ueber  eine  solche  Geringfügigkeit  geht 
Rom  zur  Tagesordnung  über.  Und  doch  ist  eine  sichere  Spur 
dieser  Thatsache  übrig  geblieben,  welche  uns  zeigt,  dass  der 
grosse  Wendepunkt  zwischen  der  alten  und  neuen  Welt  durch 
diese  Thatsache  eine  höchst  bedeutsame  Beleuchtung  empfängt. 
Das  oft  erwähnte  Dictat  Senecas,  des  sterbenden  Staatsmannes 


320 

und  Philosophen  ist  spurlos  verloren,  aber  was  der  kappadokische, 
der  phrygische,  der  palästinische  Christ,  was  die  Charitana, 
was  der  Sclav  Euelpiscus  Angesichts  des  Todes  gesagt  haben, 
das  ist  uns  actenmässig  überliefert! 

Dieses  Actenstück  beweist  erstlich,  dass  der  Kaiser  Marc 
Aurel  schuldig  ist  an  dem  Christenblut,  und  zweitens,  dass  es 
keinen  anderen  Weg  mehr  giebt  zur  Rettung  der  Menschheit, 
als  der  durch  das  Blut  der  Märtyrer  neu  gebahnet  wird.  Der 
genannte  Kaiser  glänzt  in  alter  und  neuer  Zeit  in  dem  Nimbus 
einer  übertriebenen  Verehrung.  Obwohl  unter  seinem  Regiment 
grausame  Christenverfolgungen  Statt  gefunden,  träumen  Tertuilian 
und  Lactanz  von  Toleranzedicten  dieses  Kaisers  (Keim  Rom 
und  Christenthum  581).  Thomas  Gataker,  ein  englischer 
Geistlicher,  hat  sich  über  vierzig  Jahr  mit  der  Herausgabe  der 
Monologen  des  Marc  Aurel  beschäftigt  und  kann  nicht  genug 
seine  Uebereinstimmung  mit  dem  Neuen  Testament  und 
namentlich  mit  der  Bergpredigt  rühmen.  Die  Frage,  wie 
dieser  Kaiser  die  Christenverfolgung  gestatten  oder  gar  befehlen 
konnte,  hat  Gataker  nicht  aufgeworfen.  D'Acherius  spricht 
ihn  von  der  Verantwortlichkeit  der  Christenverfolgung  frei. 
Hausrath  schreibt  jüngst  das  überschwängliche  Urtheil:  ,,Marc 
Aurel  ist  eine  der  ehrwürdigsten  Erscheinungen  der  alten  Welt. 
Wo  wäre  unter  allen  christlichen  Fürsten  Einer,  der  mehr  innere 
Anstrengung  und  Arbeit  darauf  verwendet  hätte,  gut  zu  sein" 
(Kleine  Schriften  p.  47).  ,,Ein  so  gearteter  Fürst  kann  für 
Greuelscenen,  wie  sie  die  christlichen  Martyrologien  berichten, 
unmöglich  verantwortlich  sein"  (p.  49).  Wir  wollen  hier  dieses 
überschwängliche  Lob  nicht  dämpfen  durch  Hinweisung  auf  die 
grossen  Schwächen  dieses  Stoikers  auf  dem  Thron  gegen  die 
Laster  in  seiner  nächsten  Umgebung,  wir  wollen  lediglich  ins 
Auge  fassen  das  Verhalten  dieses  Kaisers  dem  Martyrium  des 
Justinus  und  seiner  Genossen  gegenüber.  Rusticus,  der  Präfect,. 
der  die  Untersuchung  gegen  diese  Christen  führt  und  sie  zum 
Tode  verurtheilt,  ist  ein  Stoiker  und  zugleich  der  gefeierte 
Lehrer  des  Kaisers,  der  ihn  namentlich  mit  Epiktet  bekannt 
gemacht  hat.  Epiktet  nun  beschuldigt  die  Christen  des  Wahn- 
sinnes und  der  gcwohnheitsmässigen  Verhärtung  (Hausrath  p.  60). 


321 

Genau  dieses  Urtheil  hat  sich  auch  der  stoische  Kaiser  an- 
eignet, er  schreibt  in  seinen  Selbstgesprächen :  ,, welch  eine 
erhabene  Seele,  wenn  die  Bereitschaft  zum  Tode  eine  Wirkung 
eigener  Ueberzeugung  ist  und  nicht  eine  blosse  Widerspenstig- 
keit, wie  bei  den  Christen,  sondern  sich  bedächtig,  mit  V/ürde 
und  um  Andere  zu  überzeugen,  ohne  allen  tragischen  Pomp 
äussert,,  (Comment.  XI  3).  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass 
Epiktet  mit  Christen  in  persönliche  Berührung  gekommen 
ist,  aber  der  Kaiser  war  nicht  bloss  ex  officio  verpflichtet, 
von  den  Christen  ernstlich  Notiz  zu  nehmen,  das  christliche 
Zeugniss  kam  an  ihn  persönlich  heran  durch  die  feierliche 
Appellation  an  seine  Gerechtigkeit  in  der  Apologie  des  Justinus. 
Nicht  ohne  grosse  Pflichtverletzung  konnte  Marc  Aurel  ein 
solches  gewichtiges  Schreiben  ignoriren.  Noch  näher  und 
persönlicher  kam  die  Christenfrage  an  ihn  heran,  als  Rusticus, 
sein  verehrter  Lehrer  und  Rath,  die  Criminaluntersuchung 
wider  sieben  Christen,  unter  denen  der  Verfasser  der  Apologie, 
zu  führen  hatte  und  im  Namen  des  Kaisers  das  Todesurtheil 
über  sie  verhängte.  Der  Kaiser,  der  sich  vor  Jupiter  gerühmt, 
kein  Blut  vergossen  zu  haben,  musste  sich  durch  sein  Amts- 
gewissen gedrungen  fühlen,  durch  Rusticus  über  das  Verhalten 
dieser  Christen  sich  Bericht  erstatten  zu  lassen.  Nun  ist  das 
Verhalten  dieser  Christen  in  dem  Verhör  und  in  dem  Erleiden 
des  Bluturtheils  eine  thatsächliche  genaue  und  vollständige 
Widerlegung  des  Urtheils,  welches  sich  Marc  Aurel  über  die 
Christen  nach  Epiktet,  also  aus  zweiter  Hand,  gebildet  hatte. 
Marc  Aurel  fordert  eine  Bereitschaft  zum  Tode,  die  auf  Ueber- 
zeugung ruht  und  Ueberzeugung  wirkt,  die  schlicht  und  recht 
ohne  Pomp  sich  ofifenbart.  Diese  Forderung  des  Stoikers  ist 
die  ganz  genaue  Beschreibung  des  thatsächlichen  Verhaltens, 
welches  in  dem  actenmässigen  Martyrologium  der  sieben 
Christen  vor  dem  Tribunal  des  Rusticus  vorliegt.  Die  Bereit- 
schaft zum  Tode  kann  nicht  deutlicher  documentirt  werden, 
als  es  hier  vorliegt,  denn  während  Alle  durch  ein  einziges 
Wort  der  Verleugnung  das  Leben  retten  konnten,  wählten 
Alle  in  freier  Entscheidung  den  Tod  und  bitten  um  rasche 
Execution.     Und  dass  hier  Ueberzeugung  waltet,    ist   aus  zwei 

21 


322 

Zeichen  deutlich  zu  erkennen.  Als  der  Richter  den  Justinus 
fragt:  bist  du  der  Meinung,  dass  du  zum  Himmel  steigen  und 
einen  Lohn  empfangen  wirst?  antwortete  Justin:  ,,ich  meine 
das  nicht,  ich  weiss  es  und  bin  dessen  so  sicher,  dass  kein 
Zweifel  übrig  bleibt."  Das  andere  Zeichen  ist  noch  beweisender. 
Ausser  Justinus  sind  die  Uebrigen  einfache  Leute,  sie  werden 
jeder  Einzelne  befragt,  und  Jeder  giebt  eine  kurze,  aber  deut- 
liche, das  Todesurtheil  einschliessende  Antwort,  die  nicht 
eingelernt  ist  sondern  einen  ganz  individuellen  Charakter  trägt. 
Der  Stoiker  verlangt  ferner,  dass  die  Bereitschaft  zum  Tode 
Anderen  zur  Nacheiferung  gereichen  soll.  Marc  Aurel  mag 
nur  einmal  Umschau  halten,  wo  diese  Propaganda  der  Todes- 
bereitschaft sich  verwirklicht  hat,  er  wird  finden,  dass  die 
Männer  seiner  Secte  Cato  Uticensis,  L.  Seneca,  Thrasea  Paetus 
durch  ihr  Sterben  Anderen  keinen  Todesmuth  sondern  eher 
Todesfurcht  eingeflösst  haben.  Was  aber  begiebt  sich  vor 
dem  Tribunal  des  Rusticus?  Es  ist  Einer  zugegen  Namens 
Paeon,  der  nicht  mit  angeklagt  ist  und  daher  ausserhalb  der 
Gefahr  steht,  er  wird  aber  durch  das  Verhalten  der  sechs 
Christen  so  ermuthigt,  dass  er  dem  Richter  aus  freien  Stücken 
zuruft:  ,,auch  ich  bin  ein  Christ",  und  darnach  tritt  er  in  Reih 
und  Glied  mit  den  Uebrigen,  die  dem  Tode  geweiht  sind. 
Das,  was  der  Cäsar  von  der  Wirkung  der  wahren  Ueber- 
zeugung  verlangt,  tritt  hier  in  ipso  actu  auf  Endlich  verlangt 
der  Kaiser  von  der  wahren  Todesbereitschaft,  dass  sie  sich 
ohne  tragischen  Pomp  darstellen  soll.  Ich  frage:  giebt  es 
etwas  Grossartigeres  in  Schlichtheit  und  Einfachheit,  als  diesen 
Vorgang  des  Martyriums  der  sieben  Christen  ?  In  kurzen 
Fragen  und  ebenso  kurzen  Antworten  ist  das  ganze  Verhör 
erledigt,  auf  das  sofort  erfolgte  Todesurtheil  gehen  die  Sieben 
schweigend  hin  zur  Geisselung  und  Enthauptung.  Alle  Züge, 
welche  der  kaiserliche  Stoiker  von  der  pflichtmässigen  Todes- 
bereitschaft- verlangt,  hier  in  diesem  christlichen  Martyrium 
finden  sie  sich  mit  thatsächlicher  Genauigkeit  erfüllt.  Und 
nun  bedenke  man  das  Erstaunliche,  dass  der  Kaiser  an  der- 
selben Stelle,  wo  er  diese  Forderung  aufstellt,  behauptet:  bei 
(}en    Christen    finde    sich    das    Gegentheil  I     Umgekehrt    ist    es 


323 

richtig.  Der  Tod  des  Sokrates  wie  der  Tod  Senecas  hat 
Furcht  und  Schrecken  verbreitet,  der  Märtyrer  Paeon  dagegen 
ist  ein  lebendiger  Zeuge  für  die  Wirkung,  welche  der  Stoiker 
bei  den  Heiden  vergebens  sucht.  Während  der  Kaiser  in  Rom 
anwesend  ist  (Keim  Rom  und  Christenthum  p.  584),  haben 
die  von  ihm  verachteten  Christen  sein  Programm  bis  auf  den 
Buchstaben  verwirklicht.  Nichtsdestoweniger  liat  er  sein  Urtheil 
nicht  corrigirt,  sondern  im  Gegentheil  hat  er  auf  die  von 
Lyon  kommende  Anfrage,  was  mit  den  gefangenen  Christen 
zu  thun  sei,  das  Gesetz  Trajans,  also  die  Hinrichtung  der 
bekennenden  Christen  erneuert  (Euseb.  H.  E.  V   i). 

Reden  und  Schreiben,  Erörtern  und  Beweisen  hat  sein 
Werk  gethan,  aber  das  Vorurtheil  gegen  die  Christen  wird 
selbst  von  der  besten  Weisheit  und  von  der  gefeiertsten  Tugend 
festgehalten  wie  eine  Felswand.  Da  verstummt  der  Mund  der 
Christen,  und  ihr  Blut  beginnt  eine  neue  Sprache  zu  führen, 
die  Sprache,  deren  Sokrates  und  Seneca  nicht  mächtig  waren, 
die  Sprache  der  hohen  Freudigkeit  und  der  lebendigen  Hoff- 
nung mitten  im  Sterben.  Das  ist  die  neue  Sprache,  vor 
welcher  jene  Felswand  zusammenbricht.  Freilich  die  auf  dem 
Thron  und  auf  der  Lehrkanzel  sind  nicht  die  Ersten,  welche 
diese  neue  Sprache  verstehen,  sondern  einfache  Seelen,  wie 
jener  Paeon,  wurden,  zuerst  ergriffen  von  dieser  feurigen  Zunge 
der  Todesbegeisterung,  und  wenn  sich  so  in  den  niedrigen 
Schichten  der  Menschheit  eine  stille  Gemeinde  gebildet  hat, 
dann  wird  auch  allmählich  auf  den  Höhen  der  Welt  das  Ver- 
ständniss  aufgeschlossen.  Von  unten  nach  oben  geht  die 
christliche  Bewegung,  das  zeigt  sich  hier  in  drastischen  Zügen, 
nicht  von  oben  nach  unten,  wie  das  heutige  Weltchristenthum 
wähnt. 

Wie  verschieden  ist  das  Martyrium  des  Justinus  von  dem 
des  Ignatius,  und  wie  wiederum  in  anderer  Weise  abweichend 
ist  das  Martyrium  des  Polycarpus  von  dem  seines  Freundes, 
Landsmannes  und  Collegen  Ignatius !  Ueber  den  Feuertod 
des  Polycarpus,  Bischofs  von  Smyrna,  hat  uns  Eusebius  den 
ausführlichen  Bericht  seiner  Gemeinde  erhalten  (H.  E.  IV  15). 
Wie  in  Gallien,    so    wüthet    die  Christenverfolgung    unter  Marc 

21* 


324 

Aurel  auch  in  Kleinasien,  an  beiden  Stellen  offenbar  durch 
die  Leidenschaft  der  Volksmasse  veranlasst.  In  Smyrna 
hat  die  Verfolgung  schon  eine  Weile  getobt  und  ihre  Opfer 
gefordert,  ohne  dass  dem  Bischof  Etwas  zu  Leide  geschehen. 
Polycarpus  scheint  in  seiner  bischöflichen  Thätigkeit  mehr 
irenisch  als  polemisch  zu  Werke  gegangen  zu  sein.  Er  war 
aber  dem  Volk  bekannt  als  der  einflussreichste  Mann  unter 
den  Christen,  sie  nannten  ihn  ,,den  Lehrer  Asiens",  ,,den  Vater 
der  Christen",  ,,den  Zerstörer  unserer  Götter".  Die  letzte 
Bezeichnung  macht  es  wahrscheinlich,  dass  die  Wirksamkeit 
des  Polycarpus  dem  Götzendienst  fühlbaren  Abbruch  that  und 
dadurch  den  Hass  der  heidnischen  Volksmasse  aufgeregt  hatte. 
Endlich  kommt  die  Losung  auf:  ,,man  suche  den  Polycarpus". 
Im  Gegensatz  zu  dem  heiligen  Feuer  des  Ignatius  weicht 
Polycarpus  dem  drohenden  Sturme  aus,  er  verlässt  die  Stadt 
und  geht  aufs  Land,  und  als  man  ihn  auch  hier  aufsucht, 
vertauscht  er  auf  Zureden  seiner  Freunde  seinen  Aufenthalt 
auf  dem  Lande  mit  einem  anderen.  Als  nun  aber  die  Verfolger 
auch  hier  seine  Spur  entdecken,  weigert  sich  Polycarpus,  zum 
dritten  Mal  eine  neue  Zuflucht  zu  suchen,  jetzt  ist  es  ihm 
ausgemacht,  dass  die  Stunde  des  Leidens  geschlagen  hat, 
,,des  Herrn  Wille  geschehe",  ist  jetzt  seine  Losung.  Sein 
menschenfreundlicher  Sinn,  seine  Lindigkeit  bleibt  unverändert, 
er  bewirthct  seine  Verfolger  mit  einem  reichlichen  Mahl,  und 
er  erbittet  sich  von  ihnen  nur  eine  freie  Stunde  für  sein  Gebet. 
In  diesem  Gebet  zeigt  sich  sein  hoher  Sinn ;  nicht  mit  sich, 
nicht  mit  seinem  Schicksal  ist  er  beschäftigt,  die  Sorge  der 
gesammten  katholischen  Kirche  auf  Erden  liegt  auf  seiner 
Seele.  Seine  Verfolger  sind  erstaunt  über  seine  Liebenswürdig- 
keit, auch  der  Friedensrichter  Herodes,  selbst  der  Proconsul 
hätten  ihn  gerne  errettet.  Hätte  nicht  die  dämonische  Wuth 
der  Volkmasse  der  Heiden  und  der  Juden  das  ausersehene 
Opfer  gefordert,  so  wäre  der  ehrwürdige,  menschenfreund- 
liche Greis  verschont  geblieben.  Aber  das  Mass  sollte  voll 
werden,  und  Christus  wollte  zeigen,  das.s  auch  den  mildesten 
Jüngern  des  Friedens  der  siegende  Heldenmuth  des  Wider- 
standes   nicht    fehlt.     Als    der  Proconsul   Polycarpus  auffordert 


325 

Christum  zu  lästern,  gab  er  die  berijhmte  Antwort,  in  welcher 
sich  Lindigkeit  und  Festigkeit  durchdringen:  ,,86  Jahr",  sagte 
er,  ,, diene  ich  ihm,  und  er  hat  mir  Nichts  zu  Leide  gethan, 
wie  könnte  ich  denn  jetzt  meinen  König  und  Heiland  lästern  ?" 
Der  Proconsul  drohte  ihm  mit  den  wilden  Thieren,  ,,lass  sie 
herkommen",  antwortet  Polycarpus,  ,,ein  Besinnen  vom  Besseren 
zum  Schlimmen  findet  bei  uns  nicht  statt" ;  ,,ich  will  dich  mit 
Feuer  zwingen",  sagte  der  Richter,  ,,dein  Feuer  brennt  nur 
kurze  Zeit",  antwortet  Polycarpus,  „das  Feuer  des  Gerichtes 
brennt  ewig" ;  ,, wohlan  was  zögerst  du,  bring  heran  was  du 
willst".  Und  ehe  er  den  Scheiterhaufen  bestieg,  brachte  er  der 
göttlichen  Dreieinigkeit  sein  Lobopfer  dar.  Scahger  schreibt 
über  das  Martyrologium  Polycarpi  Folgendes:  ,,eorum  lectione 
piorum  animus  ita  afficitur,  ut  nunquam  satur  inde  redeat, 
quod  quidem  ita  esse  unusquisque  pro  captu  suo  et  con- 
scientiae  modo  sentire  potest.  Gerte  ego  nihil  unquam  in 
historia  ecclesiastica  vidi,  a  cuius  lectione  commotior  recedam, 
ut  non  amplius  meus  esse  videar"  (Rainart.  acta  Martyrum 
p.  46). 

Etwas  später,  aber  gleichfalls  unter  der  Regierung  des 
Stoikers,  tobte  eine  äusserst  grausame  Ghristenverfolgung  in 
den  gallischen  Gemeinden  zu  Lyon  und  Vienne,  über  welche 
wir  durch  ein  ausführliches  Schreiben  dieser  Gemeinden  an  die 
Brüder  in  Kleinasien  genaue  Nachricht  haben  (Euseb.  H.  E. 
Vi  23).  Aehnlich  wie  in  Smyrna  ist  es  auch  hier  die 
Volksmasse,  welche  in  rasender  Wuth  gegen  die  Christen 
tobt,  und  der  Gewalt  dieser  Volksleidenschaft  geben  die 
Behörden  nach,  und  auf  die  Todesstrafen  der  Christen  drückt 
der  Kaiser  Marc  Aurel  sein  Siegel.  Was  aber  diese  Ver- 
folgung besonders  auszeichnet,  das  ist  die  unmenschliche  Grau- 
samkeit, mit  welcher  man  die  Bekenner  zur  Verleugnung  und 
Lästerung  Christi  zu  zwingen  suchte. 

Da  nach  Tacitus,  Plinius  und  Trajan  das  Christenthum 
als  Hochverrath  gegen  das  Reich  angesehen  wurde,  so  war 
die  richtige  Consequenz  dieser  Anschauung  die  Todesstrafe 
auf  das  offene  Bekenntniss  zum  Christenthum.  So  ist  Plinius, 
wie  auch  Rusticus,    verfahren,    so  hat  es  Trajan  gebilligt,    und 


326 

so  hat  Marc  Aurel  es  bestätigt.  Nun  aber  wird  diese  Todes- 
strafe, wie  es  sich  namenthch  in  dem  Martyrium  des  Justinus 
und  seiner  Genossen  zeigt,  mit  siegender  Freudigkeit  als 
Durchgang  zur  Herrlichkeit  hingenommen.  Diese  siegende 
Freudigkeit  offenbarte  in  dem  Christennamen  eine  moralische 
Ueberlegenheit,  welcher  das  Schwert  der  Gewalt  Nichts  an- 
haben konnte  und  .erzeugte  in  den  Verfolgern  das  beschämende 
Gefühl  einer  Ohnmacht  und  einer  Niederlage,  welches  Gefühl 
um  so  drückender  war,  wenn  das  Blut  der  Bekenner  nicht  ab- 
schreckend sondern  begeisternd  wirkte,  wie  es  in  dem  Beispiel 
des  Paeon  der  Fall  war.  Die  Beunruhigung  des  Gemüthes, 
die  Störung  des  Gewissens,  welche  durch  das  aufgerichtete 
Panier  des  christlichen  Namens  bewirkt  wurde,  und  welche  die 
römischen  Juristen  und  Cäsaren,  wie  wir  nachgewiesen,  für  ein 
todeswürdiges  Verbrechen  hielten,  kann  nur  dadurch  gestillt 
werden,  dass  dieses  Panier  vollständig  zu  Boden  geworfen 
wird.  Das  geschieht  aber  nicht  durch  das  Blut  der  Bekenner, 
das  geschieht  nur  durch  die  Verleugnung  der  Bekeiiner. 
Daher  ist  nach  heidnischer  Auffassung  das  einzig  wirksame 
Instrument  zur  Wiederherstellung  der  Ruhe  die  Marter  und 
Folter,  welche  die  Bekenner  zur  Verleugnung  zwingt.  Mit 
vollem  Recht  machen  nun  die  Apologeten  aufmerksam  auf  das 
Unsinnige  dieses  Verfahrens-  in  allen  anderen  Fällen,  sagen  die 
Apologeten,  wird  die  Folter  angewandt,  um  die  Wahrheit  ans 
Licht  zu  bringen,  gegen  die  Christen  wird  die  Folter  an- 
gewandt, um  die  Unwahrheit,  um  die  Lüge  zu  erzeugen.  Mit 
wahrhaft  vernichtender  Logik  haben  die  Apologeten  die  Un- 
vernunft dieses  Verfahrens  aufgewiesen.  Die  Verfolger  aber 
geben  sich  nicht  die  Mühe,  diesen  triftigen  Einwand  zu  wider- 
legen, sondern  sie  fahren  fort^  immer  neue  Marter  zu  erfinden, 
um  das  christliche  Bekenntniss  zu  brechen.  Und  die  Kinder 
der  Welt  sind  klug  genug,  um  zu  wissen,  dass  die  Unlogik 
des  Verfahrens  kein  Hinderniss  ist,  dass  das  Christenthum, 
wenn  die  Folter  ihren  diabolischen  Zweck  erreicht,  ausgerottet 
wird,  und  die  Welt  mit  der  Lüge  ihres  zwiefachen  abgöttischen 
Cultus  ungestört  dem  Abgrund  entgegengeht.  Also  nicht  mit 
Gründen    der  Vernunft   und    des  Rechts   ist   hier  Etwas  auszu- 


327 

richten,  sondern  nur  durch  die  unüberwindliche  Kraft  der  Er- 
tragung alles  dessen,  was  menschliche  List  und  Bosheit,  mit 
der  baaren  Unvernunft  im  Bündniss,  an  Martern  erfinden  kann, 
wird  das  Christenthum  erhalten  und  die  Menschheit  gerettet. 
Das  ist  die  grosse  Bedeutung  des  Berichtes  über  die  gallische 
Verfolgung,  dass  hier  die  Gewalt  der  grausamsten  Marter  an 
der  Kraft  des  christlichen  Ertragens  in  schwachen  und  zarten 
Körpern  zu  Schanden  wird. 

Der  Bericht  beginnt  mit  dem  beschämenden  Geständniss, 
dass  bei  dem  ersten  Anlauf  der  Verfolgung  zehn  Christen  zu 
Fall  gekommen  sind  und  verleugnet  haben.  Nach  diesem  sieg- 
haften Anfang  lässt  die  Verfolgung  kein  Mittel  unversucht, 
um  auch  die  Uebrigen  in  diese  Niederlage  hinabzustürzen. 
Um  Einzelnes  zu  nennen,  so  wurden  gegen  eine  schwache 
Sclavin  Blandina,  einen  Knaben  Ponticus  und  gegen  den 
neunzigjährigen  Bischof  Photinus  unnennbare  Martern  ersonnen 
und  angewandt,  um  aus  ihren  zerrissenen  Leibern  das  Wort 
der  Verleugnung  herauszuzwingen.  Die  Augenzeugen  berichten, 
dass  die  Torturknechte  und  Marterwerkzeuge  an  der  Wider- 
standskraft dieser  schwachen  Personen  ohnmächtig  geworden 
sind,  weil,  wie  sie  auf  Grund  eigener  Erfahrung  versichern,  in 
den  Bekennern  der  heilige  Geist  der  Fürsprecher,  weil  in  ihnen 
Christus  selber  lebte.  Ja,  die  Zeugenkraft  der  Märtyrer  war 
so  gross  und  wunderbar,  dass  die  Marter  nicht  bloss  den  beab- 
sichtigten Erfolg  nicht  hatte  sondern  schliesslich  das  grade 
Gegentheil  bewirkte:  während  die  Bekenner  durch  die  Marter 
den  Verleugnern  gleich  werden  sollten,  wurden  umgekehrt  die 
Verleugner  durch  die  Standhaftigkeit  der  Bekenner  unter  ihren 
Martern  beschämt,  aus  ihrem  tiefen  Fall  errettet  und  den  Be- 
kennern zugezählt.  Die  Sprache,  welche  die  altchristliche 
Anschauung  über  diesen  Kampf  führte,  lautet  also:  ,,das  war 
der  grösste  Krieg,  den  diese  Märtyrer  mit  dem  Satan  aus 
ächter  Liebe  führten,  dass  die  Bestie  gezwungen  wurde,  die- 
jenigen wieder  lebendig  auszuspeien,  welche  sie  glaubte  schon 
verschlungen  zu  haben"  (Euseb.  H.  E.  V  3).  Es  zeigt  sich 
in  dieser  Bekehrung  der  Lapsi  eine  noch  grössere  Wirkung  des 
Martyriums  als  bei  jenem  Paeon. 


328 

Origenes,  der  gründlichst  gebildete  Geist  der  ersten  christ- 
lichen Jahrhunderte,  dem  selbst  der  christenfeindliche  Neu- 
platoniker  Porphyrius  seine  Anerkennung  nicht  versagt  (Euseb. 
H.  E.  VI  19),  ist  ein  wichtiger  Repräsentant  des  christlichen 
Martyriums  und  ein  lebendiger  Beweis,  dass  Wissenschaft  und 
Kritik  sich  sehr  wohl  vertragen  mit  dem  heroischen  Mannes- 
muth  für  Christi  Reich.  Origenes  war  ein  Knabe,  als  sein 
Vater  Leonidas  als  Christ  eingekerkert  wurde.  Nur  mit  List 
und  Gewalt  konnte  die  Mutter  den  Knaben  abhalten,  sich  aus 
freien  Stücken  in  den  offenen  Kampf  zwischen  Christus  und 
Belial  zu  stürzen.  Der  Knabe  konnte  es  nicht  unterlassen,  an 
den  Vater  im  Gefängniss  zu  schreiben:  ,, ändere  ja  nicht  deine 
Gesinnung  aus  Rücksicht  auf  uns".  Und  als  der  Vater  ent- 
hauptet und  sein  Vermögen  confiscirt  wurde,  übernahm  er,  der 
siebenzehnjährige  Jüngling,  die  Mutter  und  sechs  Geschwister 
durch  Unterrichtgeben  zu  unterhalten  Origenes  erhielt  den 
Beinamen  des  Diamantenen,  weil  er  einen  unglaublichen  Fleiss 
aufbot,  um  die  ausserordentlich  schwierige  und  mühsame 
Grundlage  für  die  Bibelkritik  zu  beschaffen.  Dabei  blieb  seiner 
Mannesseele  sein  Jugendideal,  ein  Kämpfer  für  Christi  Sache 
auf  offenem  Plan  zu  werden,  frisch  und  lebendig.  Aus  seinen 
frühesten  Erinnerungen  bewahrte  und  pflegte  Origenes  den  ge- 
waltigen Ernst  des  blutigen  Martyriums,  und  unter  Kaiser  Decius 
hat  er  als  Bekenner  solche  Qualen  erlitten,  dass  er  in  Folge  der- 
selben gestorben  ist  (Euseb.  H.  E.  VI 39).  Seine  tapfere  Stimmung, 
seine  heroische  Haltung  einem  drohenden  Martyrium  gegenüber 
hat  Origenes  ausgesprochen  in  einer  Zuschrift  an  seinen  Gönner 
Ambrosius,  welcher  mit  seiner  Familie  der  Verfolgung  des 
christenfeindlichen  Maximus  ausgesetzt  war.  Im  63.  Jahr 
schrieb  Origenes  auf  Bitten  seines  Freundes  Ambrosius  seine 
sechs  Bücher  gegen  Celsus,  den  unterrichtetsten  und  feindlich- 
sten Schriftsteller  gegen  das  Christenthum.  Wir  sehen  hier, 
mit  welcher  Zuversicht  und  Ruhe  der  gelehrte  Apologet 
die  damalige  Weltlage  der  Christenheit  anschaut.  Schon  jetzt 
in  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  schaut  er  Jesum,  den 
Celsus  als  das  Haupt  der  Rebellion  brandmarkt,  als  den 
Ueberwinder     über    alle    gegnerischen    Mächte,     Könige     und 


329 

Herrscher,  über  den  Senat  der  Römer  und  die  Obrigkeiten 
aller  Orten  und  über  alles  Volk  (Contra  Geis.  II  79).  Aber 
nicht  etwa  so,  als  ob  jetzt  die  Schreibfeder  Alles  ausrichten 
könnte  und  es  eines  weiteren  Kampfes  mit  Einsetzung  von 
Leib  und  Leben  nicht  mehr  bedürfe.  Im  Gegentheil,  Origenes 
warnt:  ,,die  jetzige  Ruhe  wird  nicht  lange  währen;  das  gött- 
liche Wort  ermahnt,  im  Frieden  nicht  schlaff  zu  werden,  noch 
sich  der  Lässigkeit  hinzugeben"  (Contra  Cels.  III  15).  Es 
giebt  nicht  bloss  ein  offenbares  sondern  auch  ein  verborgenes 
Martyrium  (Exhortatio  ad  martyrium  XXI).  Eines  solchen 
inneren  Martyriums  mag  er  sich  bewusst  gewesen  sein,  als  er, 
im  kappadokischen  Cäsarea  einstweilen  geschützt  an  seine  bloss- 
gestellten  Brüder  im  palästinensischen  Cäsarea  die  Ermahnung 
zum  Martyrium  an  Ambrosius  erliess.  Obwohl  Ambrosius  in 
der  Ehe  lebt  und  Kinder  hat  (Exhort.  XXXVII,  XXXVIII), 
kommt  es  Origenes  nicht  in  den  Sinn,  ihm  Schonung 
seiner  selbst  zu  empfehlen,  sondern  er  fordert  ihn  auf,  der 
drohenden  Todesgefahr  muthig  ins  Angesicht  zu  schauen. 
,,Wie  einst  Nebucadnezar  den  Juden  befahl,  sein  Bild  anzubeten, 
so  gebietet  auch  jetzt  Nebucadnezar  uns,  den  wahren  Hebräern, 
das  Gleiche  zu  thun"  (XXXIII).  ,, Möchte  niemals  die  Seele 
verwirrt  werden,  sondern  stehend  vor  dem  Richterstuhl  und 
vor  dem  blossen  Schwert  bewahrt  bleiben  von  dem  Frieden, 
der  alle  Vernunft  übertrifft".  ,,Wenn  wir  aber  Solche  nicht 
sind,  dass  wir  immer  die  Ruhe  der  Seele  bewahren,  so  lasst 
uns  wenigstens  an  uns  halten  und  den  Feinden  die  Erschütte- 
rung der  Seele  nicht  zeigen."  ,,Es  gilt  einen  Kampf,  dass  wir 
nicht  nur  nicht  verleugnen  sondern  auch  überall  uns  nicht 
schämen,  wenn  die  Feinde  Gottes  meinen,  dass  wir  Schimpf- 
liches erleiden,  und  besonders  wenn  Einer  wie  du,  heiliger 
Ambrosius,  geehrt  und  geschätzt  von  vielen  Städten  wie  ein 
Opferthier  im  Aufzug  geführt  wird,  tragend  das  Kreuz  Jesu 
und  ihm  folgend,  der  vorangehend  dich  hinführt  zu  den 
Obrigkeiten  und  Königen,  damit  er  mit  dir  gehend  dir  verleihe 
Mund  und  Weisheit  und  dir,  seinem  Mitkämpfer,  und  uns,  den 
verbundenen  Blutzeugen,  die  wir  ausfüllen,  was  noch  fehlt  an 
dem  Leiden  Christi,    verleihe,    dass    er    mit    uns    sei    vor  dem 


330 

Paradiese  Gottes,  indem  er  zeigt,  wie  ihr  vorbeikommt  dem 
Cherubim  und  dem  feurigen  Schwert,  welches  den  Weg  zum 
Baum  des  Lebens  bewacht"  (XXXVI).  ,,Die  Freudigkeit  zum 
Martyrium  gewährt  dem  Geiste,  der  in  denen  redet,  die  um 
der  Frömmigkeit  willen  preisgegeben  sind,  freien  Raum,  wenn 
sie  gehasst,  verabscheut  und  für  gottlos  gehalten  werden" 
(XXXIX).  ,, Welche  Zeit  ist  angenehmer,  als  die,  wenn  wir 
um  der  christlichen  Frömmigkeit  willen  in  der  Welt  unter 
Wacht  und  im  öffentlichen  Aufzug  und  mehr  triumphirend  als 
im  Triumph  abgeführt  werden."  ,,Denn  die  Märtyrer  Christi 
entkleiden  mit  ihm  die  Herrschaften  und  Gewalten  und  haben 
Theil  an  seinem  Triumph,  gleichwie  sie  Genossen  seiner 
Leiden,  werden  sie  also  auch  Genossen  seiner  in  den  Leiden 
ausgewirkten  Grossthaten"  (XLII). 

Origenes  schliesst  seine  Mahnschrift  zum  Martyrium  mit 
dem  Wunsch,  ,,dass  den  Freunden  aus  der  Fülle  der  göttlichen 
Geheimnisse  etwas  Besseres  und  Wirksameres  zu  Theil  werden 
möchte,  dann  könnten  sie  das  Seinige  als  etwas  Geringfügiges 
verachten."  Möchte  doch  niemals  aus  den  Schulen  der  gelehrten 
Theologie,  als  deren  Vater  wir  Origenes  zu  halten  haben, 
dieser  Geist  der  mannhaften  Kraft,  Freudigkeit  und  Tapferkeit 
entschwunden  sein! 

Cyprianus,  Bischof  von  Carthago,  ist  eine  sehr  hervor- 
ragende Persönlichkeit  in  der  Geschichte  des  christlichen 
Martyriums.  Eusebius  hat  offenbar  die  kirchengeschichtliche 
Bedeutung  dieses  Mannes  nicht  gekannt,  dagegen  hat  Augustinus 
fünfmal  den  Carthageniensern  den  hohen  Ruhm  Cyprians  ver- 
kündigt, er  nennt  ihn  ,,tuba,  qua  ad  prosternendum  pretiosis 
martyrum  mortibus  diabolum  Christo  militantes  et  devoti 
martyres  excitabantur"  (August.  Serm.  309  310  311  312  313). 
Cyprianus  war  ein  vornehmer  reicher  Mann  in  der  wüsten 
Weltstadt  Carthago.  Seine  Bekehrung  aus  den  Labyrinthen 
des  Heidenthums  hat  er  in  dem  Briefe  ad  Donatum  selbst 
beschrieben.  Zwei  Jahre  nach  seiner  Bekehrung  ward  er  zum 
Bischof  erwählt.  Die  zehn  Jahre  seines  Bischofsamtes  sind  er- 
füllt von  heftigen  Verfolgungen  und  ausserdem  von  der  Heim- 
suchung der  Pest.     Zahlreiche  Briefe   und  Abhandlungen    über 


331 

die  moralischen  Fragen  der  Zeit  gewähren  ein  anschauliches 
Bild,  wie  dieser  Mann  an  hohem  Orte  in  solchen  überaus 
schwierigen  und  gefahrvollen  Zeiten  waltet,  bis  er  sein  Haupt 
auf  den  Block  zu  legen  gezwungen  wird.  Verschiedene  merk- 
würdige Züge  aus  der  christlichen  Märtyrerzeit  kommen  dabei 
zum  Vorschein.  Seine  Reichthümer  stellt  Cyprianus  den  noth- 
leidenden  Brüdern,  insbesondere  den  zu  den  Metallgruben  ver- 
urtheilten  Bekennern  zur  Verfügung,  wobei  namentlich  in  der 
Pestzeit  auch  die  Noth  der  Heiden  nicht  übersehen  wird, 
Cyprianus  entwickelt  bei  dieser  grossartigen  Wohlthätigkeit 
sein  organisatorisches  Talent.  Sein  Hauptaugenmerk  aber  war 
gerichtet  auf  die  Leitung  der  Gemeinden  in  den  mancherlei 
Zuständen  und  Fällen  der  gewaltsamen  Verfolgung.  Und  in 
dieser  Thätigkeit  haben  wir  einen  merkwürdigen  unumstöss- 
lichen  Beweis,  dass  das  christliche  Martyrium  auch  bei  Auf- 
bietung grosser  Vorsicht  und  Klugheit  an  seiner  Kraft  und 
Wirkung  Nichts  verliert.  Bei  dem  ersten  heftigen  Anlauf  der 
Verfolgung  entfernte  sich  Cyprian  von  Carthago,  dem  Hauptsitz 
der  Angriffe,  und  verharrte  in  der  gefundenen  Zufluchtsstätte 
über  zwei  Jahre,  während  die  Verfolgung  in  Carthago  und 
namentlich  auch  in  Rom  heftig  wüthete.  Was  lag  in  solchen 
Zuständen  näher  als  die  Verdächtigung:  ,, dieser  vornehme 
und  verwöhnte  Bischof  sucht  sich  zu  schonen,  er  erweist  sich 
als  einen  Miethling,  der  den  Wolf  fürchtet".  Cyprianus  aber 
wusste  mit  solcher  Kraft  und  Klarheit  seine  Flucht  zu  recht- 
fertigen, dass  trotz  des  bösen  Scheines  sein  Ansehen  keinen 
Schaden  litt.  Er  überzeugte  seine  Brüder,  dass  seine  Zurück- 
gezogenheit dem  Ganzen  zu  Gute  komme,  indem  er  sich  zur 
Führung  der  Gemeinden  in  der  Gefahr  der  Zeiten  zu  erhalten 
suche,  während  er,  in  Carthago  bleibend,  sofort  als  Opfer 
gefallen  und  damit  die  Gemeinden  verwaist  gewesen  wären. 
Es  beweist  einen  hohen  sittlichen  Stand  der  Christen  dieser 
Zeit,  dass  das  Vertrauen  zu  dem  flüchtigen  Bischof  nicht  er- 
schüttert wurde,  sondern  dass  man  seiner  Vertheidigung 
Glauben  schenkte.  Die  römische  Gemeinde,  welche  schwer  zu 
leiden  hatte,  war  allerdings,  als  sie  die  Nachricht  von  der 
Flucht  Cyprianus  erhielt,    anfangs  bedenklich,    aber  auch  diese 


332 

beruhigte  sich,  als  sie  Näheres  über  diese  Angelegenheit 
erfuhr.  Dass  aber  auch  nicht  ein  Hauch  von  Verdacht  und 
Misstrauen  vorhanden  blieb,  das  zeigte  sich  am  deutlichsten 
in  dem  ungetrübten  Verhältniss  zwischen  den  in  den  Metall- 
gruben leidenden  Bekennern  und  ihrem  Bischof.  Cyprianus 
sandte  von  seinem  geschützten  Platze  aus  an  diese  leidenden 
Bekenner  Trostbriefe  und  ermahnte  sie,  dem  Märtyrertode 
standhaft  ins  Angesicht  zu  schauen,  und  die  Bekenner  nahmen 
.diese  Zuschriften  hin  mit  der  gerührtesten  Dankbarkeit. 

Ein  weiteres  Zeugniss  über  den  hohen  sittlichen  Stand  der 
Christengemeinden  in  jenen  Zeiten  der  Verfolgung  erfahren  wir 
in  dem,  was  Cyprians  Briefe  und  Abhandlungen  über  die 
Lapsi,  die  in  dem  Sturm  der  Verfolgung  zu  Fall  gebrachten 
Christen  mittheilen.  Ueber  die  vielverhandelte  Frage,  ob  die 
Lapsi  von  der  Kirche  wieder  aufgenommen  werden  dürfen,  oder 
ob  man  ihr  Schicksal  lediglich  Gott  vorbehalten  müsse,  über- 
sieht man  leicht,  welch'  ein  neues  helles  Licht  das  Verhalten 
dieser  Lapsi  auf  das  Innenleben  der  Gemeinden  verbreitet 
Schon  der  Umstand  beweist  eine  grosse  sittliche  Strenge,  dass 
der  Begriff  der  Lapsi  in  dieser  Zeit  erweitert  wird.  In  der 
Decischen  Verfolgung,  um  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts, 
zeigte  sich,  dass  die  Behörden  hie  und  da  geneigt  waren,  die 
Christen  zu  verschonen.  Wir  dürfen  gewiss  annehmen,  dass 
die  Unschuld  der  Christen  mehr  und  mehr  anerkannt  wurde 
und  zum  Mitleid  anregte,  wie  denn  schon  bei  der  ersten  Ver- 
folgung unter  Nero,  wie  Tacitus  berichtet,  das  Mitleid  mit  den 
Opfern  der  unmenschlichen  Grausamkeit  grösser  wurde  als  der 
Hass  gegen  die  Christen.  Je  schärfer  nun  das  Verfolgungs- 
edict  des  Decius  war,  desto  öfter  fand  sich  ein  Richter,  der 
den  Christen  behülflich  war,  durch  einen  für  rechtsgültig 
anerkannten  Schein  dem  Zwang  der  offenbaren  Verleugnung  zu 
entgehen.  Dabei  kam  nun  aufs  Neue  zum  Vorschein,  dass  das 
Christenthum  den  Beruf  und  die  Kraft  hat,  die  von  dem 
Heidenthum  umgestürzte  Säule  der  Wahrheit  zuerst  und  vor 
Allem  in  dem  Heiligthum  wieder  aufzurichten  und  die 
sacrilegische  Irrlehre  des  Scaevola  und  Varro  auszurotten. 
Cyprianus    ist    ein    eifriger    Vertheidiger    der    Wahrhaftigkeit. 


333 

,,Perquam  grave  est,  si  epistolae  clericae  veritas  mendacio  aliquo 
et  fraude  corrupta  est"  (Ep.  4);  er  hat  es  kein  Hehl,  dass 
die  Christenheit  sehr  daniederliegt:  ,,adspice  totum  orbem 
paene  vastatum  et  ubique  jacere  dejectorum  reHquias  et  ruinas" 
(Ep.  XXXI),  und  dass  vorzugsv/eise  die  unwürdigen  GeistHchen 
daran  schuldig  sind  (Ep.  LXV).  Vermöge  dieser  strengen 
Wahrhaftigkeit  galten  die  Sacrificati,  Turrificati  und  Libellatui, 
welche  durch  die  Nachgiebigkeit  der  Behörden  ohne  Ver- 
leugnung ausser  Verfolgung  gesetzt  waren,  in  der  Kirche  für 
Lapsi:  ,,se  ipsos  infideles  illicita  nefariorum  libellorum  professione 
prodiderunt"  (Cyprian  Ep.  XXXI).  Damit  ist  constatirt,  dass 
in  dem  christlichen  Heiligthum  Alles,  was  nicht  völlig  der 
Wahrheit  entspricht,  wenn  es  auch  in  der  Welt  für  legitim 
anerkannt  wird,  für  Lüge  zu  achten  ist.  Aus  den  Briefen 
Cyprians  und  aus  seinem  Tractat  ,,de  lapsis"  ersieht  man  nun, 
mit  welchem  unbeschreiblichen  Verlangen  viele  aus  der  Kirchen- 
gemeinschaft ausgeschlossene  Lapsi  wieder  aufgenommen  zu 
werden  sich  sehnten. 

Jene  edle  Schottin,  welche  eingeweiht  in  die  Geheimnisse 
des  Reiches  Gottes  so  manche  den  Schriftgelehrten  verschlossene 
Lehren  der  Kirchengeschichte  allgemein  verständlich  gemacht, 
hat  in  ihrem  geschichtlichen  kürzlich,  erschienenen  Roman 
,,Lapsed  but  not  lost"  den  äusseren  und  inneren  Zustand  der 
von  der  alten  Kirche  ausgeschlossenen  Lapsi  anschaulich 
beschrieben.  Ueberwältigt  durch  die  Qualen  der  Folter  oder 
schon  durch  den  grausen  Anblick  der  Marterwerkzeuge  haben 
sie  Christum  verleugnet,  damit  sind  sie  aller  Gefahr  und  alles 
Leidens  von  Seiten  der  Welt  erledigt.  Da  sie  nun  Christo 
aufgekündigt  und  nunmehr  in  das  Weltleben  zurückgefallen 
sind,  warum  schliessen  sie  sich  nicht  wiederum  den  Heiden  an 
und  leben  mit  diesen  nach  ihren  Gelüsten?  Sie  können  es 
nicht,  sie  vermögen  nicht,  sich  innerlich  loszumachen  von  jener 
Gemeinschaft,  in  welcher  sie  sich  einst  selig  gefühlt  haben,  ob- 
wohl sie  wissen,  erfahren  und  fühlen,  dass  die  Gemeinde  ein 
Grauen  vor  ihnen  hat.  Sie  sind  erstarrt  in  ihrem  Seelenleben, 
zu  dem  innern  Heiligthum  können  .sie  nicht  gelangen,  aber  das 
äussere  Kirchenthum  ist  wie  ein  unwiderstehlicher  Magnet,  der 


334 

ihre  Sinne  gefangen  hält,  weil  in  dieser  Hülle  das  lebte  und 
waltete,  was  in  besseren  Tagen  ihre  Seele  erhoben  und  beseligte. 
O,  dass  aus  dem  inneren  Heiligthum  der  Gemeinde,  aus  dem 
heiligen  Feuer  der  Liebe  und  des  Erbarmens,  welches  in  den 
Seelen  der  Gläubigen  glüht,  ein  einziger  Strahl  in  die  Er- 
starrung und  Erstorbenheit  dieser  Elenden  dringen  möchte ! 
Strengster  Busse  werden  sie  sich  gerne  unterziehen,  wenn  nur 
die  Gemeinde  die  Hand  ausstrecken  wollte,  sie  wiederum  an- 
zunehmen! Hat  denn  etwa  die  Verfolgung  aufgehört?  Finden 
die  Lapsi  durch  Wiederannahme  Schutz  und  Schirm  von 
Seiten  der  Welt?  Umgekehrt:  ,,gravior  nunc  et  ferocior  pugna 
imminet"  (Cyprian  Epist.  58,  cfr.  6^]).  Cyprian  schreibt  mit 
einundvierzig  Collegen  an  Cornelius  in  Rom,  dass  sie  den 
Beschuss  gefasst,  dass  man  denjenigen  Gefallenen,  welche  Busse 
thun,  nunmehr  die  Thür  der  kirchlichen  Gemeinschaft  öffnen 
wolle,  weil  ein  neuer  und  schwerer  Kampf  bevorsteht.  ,,Omnes 
omnino  milites,  qui  arma  desiderant  et  proelium  flagitant,  intra 
castra  dominica  colligamus"  (Ep.  L\TI),  ,,Acies  adhuc  geritur, 
et  agon  quotidie  celebratur,  qui  differri  non  potest,  potest 
coronari"  (Ep.  XIV).  Die  Lapsi  kennen  aus  mehr  oder  weniger 
unmittelbarer  Erfahrung  die  Schrecken  und  Gewaltmittel  der 
Verfolgung,  sie  haben  die  Aussicht,  dass  der  furchtbare  Kampf 
sich  steigern  wird,  was  will  es  bedeuten,  dass  diese  sich  heran- 
drängen, in  die  kirchliche  Gemeinschaft  wieder  aufgenommen 
zu  werden?  Das  hiess  mit  den  übrigen  Verfolgten  wiederum 
in  Reihe  und  Glied  treten  und  dem  bisher  genossenen  Schutz 
entsagen!  Beispielsweise  berichtet  Cyprian  von  drei  Christen, 
welche  durch  grausame  Folter  zu  Fall  gebracht  nun  drei  Jahre 
Busse  gethan  hatten.  Cyprian  giebt  den  Rath,  diese  büssenden 
Lapsi  wiederum  in  die  Kirchengemeinschaft  aufzunehmen 
(Ep.  LVI).  Welch  eine  Fülle  von  göttlichem  Leben,  Liebe 
und  Kraft  muss  in  den  Gemeinden  wohnen,  welche  unter 
solchen  Umständen  eine  solche  Anziehung  für  solche  Seelen 
besitzen ! 

Als  zum  zweiten  Mal  die  Verfolgung  ausbrach,  erkannte 
Cyprian,  dass  nunmehr  seine  Stunde  geschlagen,  in  welcher  er 
seinen  Spruch:  .,Sacerdos  Dei  evangelium  tenens  occidi  potest, 


335 

vinci  non  potest"  mit  seinem  christlichen  Bhite  besiegeln  sollte. 
Als  man  allgemein  ein  letztes  Urtheil  gegen  Cyprian  erwartete, 
erboten  sich  Männer  von  höchstem  Range  und  Ansehen  dem 
Bischof  zum  abermaligen  Entweichen  und  Verbergen  behülf- 
lich  zu  sein.  Aber  Cyprian  ,,suspensa  ad  coelum  mente"  wies 
dieses  ab.  Sein  Wunsch  war,  da  er  erkannte,  dass  die  Feind- 
schaft der  Welt  ihre  Höhe  erreicht  hatte,  zu  erreichen,  was 
die  Stoiker  ,,in  actu  mori"  nannten,  zu  vollenden,  was  im 
Heidenthum  unvollkommen  versucht  worden  (Seneca  de  provid. 
II  9  12),  nämlich  vor  Gott  und  Welt  ein  würdiges  Schauspiel 
darzustellen  (Cyprian  Ep.  IX,  XVI,  LVIII,  LX,  cfr.  Octavius 
XXXVII).  Was  Cyprian  ersehnt  und  was  er  wirklich  erreicht, 
das  ist  der  stoische  Tod  ,,in  actu  mori",  aber  mit  der  Beigabe 
eines  den  Tod  überbietenden  Triumphes,  v/ovon  das  Sterben 
des  Sokrates,  des  Cato,  des  Thrasea  und  des  Seneca  keine 
Spur  aufweist.  Was  Cyprian  in  dem  neunten  Briefe  den 
Bekennern  und  Märtyrern  zuruft:  ,,non  cessistis  suppliciis  sed 
supplicia  vobis  potius  cessant",  nicht  ihr  weicht  vor  den  Mord- 
waffen zurück,  sondern  die  Mordwaffen  weichen  vor  euch 
zurück.  Das  erinnert  an  das  Wort  des  christlichen  Helden 
Henry  Vane,  der  Angesichts  des  Schafottes  zu  seinen  Freunden 
sagte:  ,,mich  dünkt,  der  Tod  fürchtet  sich  mehr  vor  mir  als 
ich  vor  ihm". 

Eine  solche  ungezählte  Menge  folgte  Cyprian  auf  seinem 
letzten  Gange,  als  wenn  man  darauf  ausging,  mit  erhobener 
Hände  dem  Tode  Garaus  zu  machen  (Rainart.  p.  204).  Und 
als  der  Spruch  über  Cyprian  gefällt  wurde,  rief  das  christliche 
Volk:  ,,et  nos  cum  ipso  docollemur".  So  wenig  wird  also  das 
christliche  Volk  durch  dieses  tragische  Ende  seines  Führers 
abgeschreckt,  dass  es  vielmehr  der  höchsten  Gewalt  Trotz 
bietet.  Noch  beweisender  für  die  begeisternde  Kraft  dieses 
Blutzeugnisses  ist  der  Umstand,  dass  die  Märtyrer  Martianus, 
Lucius  und  Andere  als  Schüler  und  Nachfolger  des  Cyprian 
bezeichnet  werden  (Rainart.  p.  234),  mithin  das  gerade  Gegen- 
stück zu  der  Flucht  der  Schüler  des  hingerichteten  Sokrates 
darstellen,  sowie  das  Gegentheil  von  der  Feigheit  und 
Niederträchtigkeit     der     Verwandten    des     Märtyrers     Seneca. 


336 

Cyprianus  war  ein  stattlicher  Mann  von  iniponirender  und 
anziehender  Haltung.  So  beschreibt  ihn  die  ,,Vita"  des 
Diaconus  Pontius:  ,,sein  Angesicht  war  ernst  und  heiter,  frei  von 
übertriebenem  Ernst  wie  von  übertriebener  Freundhchkeit,  Beides 
in  angemessener  Mischung,  ebenso  war  seine  Kleidung  fern  von 
Aufwand  wie  von  affectirter  Dürftigkeit.  Auf  seinem  letzten 
Gange  zum  Märtyrertode  ging  er  einher  hohen  und  auf- 
gerichteten Geistes, '"••■)  Heiterkeit  im  Angesicht  und  Mannhaftig- 
keit im  Herzen". 

Welche  Stimmung  und  Gesinnung  Cyprian  im  Angesicht 
der  drohenden  und  tödtenden  Verfolgungsgewalt  von  den 
Christen  fordert  und  voraussetzt,  hat  er  im  ']6.  Briefe  an  die 
Bekenner  und  Märtyrer  ausgesprochen.  ,, Welch  eine  Kraft 
des  siegreichen  Gewissens,  welche  Hoheit  des  Geistes,  welche 
Wonne  des  Gefühls,  welch'  Triumph  in  der  Brust,  dass  Jeder 
von  euch  seinen  Stand  hat  im  Angesicht  des  verheissenen 
Lohnes  Gottes,  wegen  des  Gerichtstages  in  Sicherheit,  einher- 
gehend in  den  Metallgruben,  dem  Körper  nach  ein  Sclave, 
dem  Herzen  nach  ein  König,  zu  wissen,  dass  Christus  ihm 
gegenwärtig  ist  und  sich  freut  des  Erduldens  seiner  Diener, 
welche  in  seinen  Fussstapfen  und  seinen  Wegen  hinanschreiten 
zu  dem  ewigen  Königreiche!  Freudig  erwartet  ihr  täglich  den 
gesegneten  Tag  eurer  Abreise;  auf  dem  Sprung,  die  Welt  zu 
verlassen,  eilet  ihr  den  Belohnungen  der  Märtyrer  und  den 
göttlichen  Wohnungen  entgegen,  nach  den  Finsternissen  der 
Welt  das  hellste  Licht  zu  schauen  und  zu  empfangen  die  alle 
Leiden  und  Drangsale  überstrahlende  Herrlichkeit"  (Ep.  LXXVI7). 
Und  diesen  hohen  Sinn  und  Geist  hat  Cyprian  selber  in  dem 
Verhör  vor  zwei  Proconsuln  thatsächlich  bewiesen,  wie  das 
aus  den  ,,Acta  Proconsularia"  (Rainart.  p.  216—218)  zu  er- 
sehen ist.  Seneca  hatte  sich  vorgenommen,  Angesichts  des 
Todes  keine  Miene  zu  verziehen.  Nach  Tacitus  hat  er  diesen 
Vorsatz  erfüllt.  Cyprianus  verlangt  von  den  Christen  eine 
über  den  gewaltsamen  Tod  triumphirende  Stimmung.    Cyprianus 


*)   ,,Erectus"  ein  Lieblingsprädicat  Senecas. 


337 

hat  diese  Vorschrift  durch  sein  eigenes  Beispiel  erfüllt.  Als 
Feind  der  Götter  und  Gegner  der  ,,pii  et  sacratissimi 
Augusti  et  Caesares"  wird  Cyprian  verurtheilt.  Sehr 
charakteristisch  lautet  das  Urtheil  des  Proconsuls  Galerius 
Maximus:  ,,sanguine  tuo  sancietur  disciplina".  Die  ,,disciplina" 
verlangt  nach  der  officiellen  Auffassung  die  Aufrechthaltung 
des  zwiefachen  Cultus,  des  Cäsarcultus  und  des  Baalcultus. 
Aber  diese  Disciplina  wird  durch  das  Blut  des  Märtyrers 
nicht,  wie  der  Proconsul  wähnt,  geheiligt  und  bestätigt 
sondern  im  Gegentheil  gebrochen  und  vernichtet. 

In  dem  8i.  Brief  erlässt  Cyprian  seine  letzte  Weisung  an 
seine  Gemeinde.  Er  wünscht  als  Bischof  im  Angesicht  seiner 
Gemeinde  sein  Martyrium  zu  bestehen.  Was  die  Gemeinde 
anlangt,  so  ist  seine  Mahnung :  ,,quietem  et  tranquillitatem 
tenete,  nee  quisquam  vestrum  aliquem  tumultum  fratribus 
moveat,  aut  ultro  se  gentibus  ofiferat,  apprehensus  enim  et 
traditus  loqui  debet,  si  quidem  Deus  in  nobis  positus 
illa  hora  loquatur,  qui  nos  confiteri  magis  voluit  quam 
profiteri.  "■*''■■) 

Es  war  eine  richtige  Empfindung,  als  Cyprianus  eine 
Verfolgung,  heftiger  als  alles  Bisherige  kommen  sah.  Es 
lag  in  der  Natur  der  Sache,  dass  die  beiden  gegnerischen 
Weltpotenzen,  Christenthum  und  Heidenthum,  schliesslich 
zu  einem  Entscheidungskampf  gedrängt  würden.  So  radical 
dieser  Gegensatz  war,  so  blieb  dennoch  bisher  die  Verfolgung 
mehr  oder  weniger  particular  und  local,  der  inwohnende 
Gegensatz  musste  das  Cäsarreich  zu  einem  HauptangrifF 
auf  Christi  Reich  zusammenfassen.  Nach  einer  ziemlich 
langen  Stille  brach  der  letzte  Sturm  los  und  fällte  Viele, 
welche  sich  durch  die  Ruhe  in  Sicherheit  hatten  einlullen 
lassen,    bis    der    Kern    der    Christenheit,    durch    die   Heftigkeit 


*)  Wie  Hausrath  es  wagen  kann,  nach  einer  solchen  grossartig  fried- 
lichen Weisung  des  sterbenden  Bischofs  von  ,,Anlass  zum  Einschreiten"  und 
,, aufrührerischen  Rottungen"  zu  reden  (Kleine  Schriften  p,  40)  ist  nur 
aus  der  gänzlich  verfehlten  Tendenz  der  oft  genannten  Abhandlung  zu 
erklären. 

22 


338 

der  Angriffe  aufgerüttelt,  seine  weltüberwindende  Kraft  ent- 
faltete und  den  Feind  zum  offenen  Geständniss  seiner 
Niederlage  zwang.  Wir  haben  im  fünften  Abschnitt 
Diocletian  als  Vollender  des  Cäsarcultus  kennen  gelernt,  hier 
betrachten  wir  ihn  als  denjenigen,  der  die  Christenverfolgung 
vollendet. 


VII. 
Cäsar  —  Christus. 

Sonderbarerweise  hat  man  geglaubt,  nach  ganz  entlegenen 
Thatsachen  suchen  zu  müssen,  welche  die  Christenverfolgung 
Diocletians  veranlasst  haben  sollen.  Diocletian  ist  eine  kraft- 
volle Persönlichkeit,  welche  auf  dem  Cäsarenthron  mit  dem 
Herrntitel  Ernst  machte.  Er  regierte  wirklich:  ,,ejus  ante 
omnia  gerebantur"  (Victor  de  Caesaribus  XXXIX),  ,,vir  insignis, 
ad  omnia,  quae  tempus  quaesierat  paratus"  (Histor.  Augusta 
II  792);  er  drückte  seiner  Zeit  den  Stempel  auf  ,,parens  aurei 
saeculi"  (Hist.  Aug.  II  879).  Dieser  Cäsar  wurde,  wie  Victor 
bezeugt,  von  seinen  Unterthanen  wie  ein  Vater,  ja  wie  Gott 
verehrt.  , .Gleichwohl",  bemerkt  Heinrich  Richter  (Das  west- 
römische Reich  46  66^  gegen  Burckhardt  Constantin  p.  330 — 333), 
,,gab  es  ein  Gebiet,  wo  der  Despot  ohnmächtig  war.  Eine 
geistige  Macht,  welche  ihre  Organe  durch  alle  Provinzen 
erstreckt,  dieser  völlig  unabhängige  Staat  in  dem  absolutesten 
aller  Staaten  war  die  christliche  Kirche".  Die  Thatsache  einer 
solchen  Schranke  des  absoluten  Willens  eines  thatkräftigen 
Cäsars  war  an  sich  schon  Anlass  genug  zur  thatsächlichen 
Bekämpfung  der  Christengemeinden.  Aber  dieser  natürliche 
Gegensatz  Diocletians  gegen  die  christliche  Freiheit  wird  durch 
den  heidnischen  Aberglauben  desselben  ein  fanatischer.  Eine 
Druide  hat  ihm  einst  die  cäsarische  Würde  geweissagt,  und 
von  der  Zeit  her  liegt  ihm  das  Reich  im  Sinn  (Hist.  Aug. 
II  794)  und  gewinnt  für  ihn  den  religiösen  Nimbus  eines 
unantastbaren  Alterthums,  und  je  älter  daher  ein  Stück  Cultus 
ist,  desto  eifriger  ist  er  dafür  besorgt.     ,,Veterrimae    religiones 

22* 


340 

castissime  curatae"  (Victor  1.  c).  In  seinem  Ehegesetz  (295) 
erklärt  Diocletian:  ,,die  unsterblichen  Götter  werden  dem 
römischen  Namen  wie  bisher  günstig  und  mild  sein,  wenn  wir 
dafür  sorgen,  dass  alle  unsere  Unterthanen  einen  frommen, 
ruhigen,  sittenreinen  Wandel  führen"  (Burckhardt  Constantin  331). 
Die  cäsarischen  Beinamen  Jovius  und  Herculius,  welche 
Diocletian  aufbrachte  ,,cultu  numinis",  wie  Victor  bemerkt, 
bekunden  das  Bestreben,  den  althergebrachten  Cultus  zu 
restauriren.  Wie  sehr  ihm  alle  religiöse  Neuerung  verhasst 
war,  und  wie  eifrig  er  die  alte  Religion  gegen  jede  Neuerung 
in  Schutz  nimmt,  nach  dem  Grundsatz  und  Vorgang  des 
ersten  Augustus,  ist  in  dem  Gesetz  gegen  die  Manichäer  aus- 
gesprochen. ,,Maximi  criminis  tractare,  quae  semel  ab  antiquis 
tractata  et  definita  sunt,  statum  et  cursum  tenent  ac  possident, 
neque  reprehendi  a  nova  vetus  religio  debet'"  (Neander  Denk- 
würdigkeiten I  412  413). 

Wer  den  principiellen  Gegensatz  zwischen  Christenthum 
und  Heidenthum,  zwischen  Christus  und  Cäsar,  wie  sich  der- 
selbe in  dreihundert  Jahren  herausgestellt,  kennt  und  würdigt, 
wer  sodann  den  orientalischen,  abergläubisch-heidnischen  Auto- 
kraten Diocletian,  wie  die  Quellen  ihn  schildern,  anschaut,  der 
braucht  nicht  nach  geheimen,  entlegenen  Gründen  zu  suchen, 
welche  die  grössste  und  letzte  Christenverfolgung  im  römischen 
Reich  veranlasst  haben.  Auch  Keim  bestreitet,  dass  Diocletian 
durch  äussere  Gründe  zur  Christenverfolgung  bewogen  worden 
und  findet  den  Grund  in  seiner  heidnischen  Religion  (Ueber- 
tritt  Constantins  zum  Christenthum   1862  p.   72  73). 

Nachdem  sich  Diocletian  zu  einem  Vorgehen  gegen  die 
Christen  entschlossen  hat,  wird  der,  welcher  überall  kraftvoll 
und  systematisch  zu  handeln  liebt  (,,Consilii  semper  alti  non 
nunquam  effrontis"  Hist.  Aug.  II  792),  zum  ersten  Mal  eine 
Verfolgung  einleiten,  welche  es  auf  die  Vertilgung  des  christ- 
lichen Namens,  der,  wie  Diocletian  immer  deutlicher  zu  sehen 
glaubt,  zu  dem  römischen  Namen  in  tödtlichem  Gegensatz 
steht,  abgesehen  hat. 

Dass  der  ungebildete  Cäsar  sein  christusfeindliches  Zer- 
störungswerk   mit    sachgemässer    Einsicht    anlegte,    erklärt  sich 


341 

wohl  daraus,  dass  zwei  heidnische  Schriftsteller  in  Nikomedien 
bei  Diocletian  in  Ansehen  standen  (Lactanz  Inst.  V  2  lO  12, 
De  mort.  pers.  c.  XVI).  Das  erste  Verfolgungsedict  Diocletians 
befiehlt  die  Zerstörung  der  christlichen  Kirchen  und  der  heiligen 
Schriften,  das  zweite  legte  die  Vorsteher  der  christlichen 
Gemeinden  in  Banden,  das  dritte  wirft  die  gefangenen  Vor- 
steher auf  die  Folterbank  zur  Erzwingung  der  Verleugnung, 
das  vierte  verordnet  die  Folter  gegen  alle  Christen,  um  sie  zur 
Verleugnung  zu  nöthigen.  Zum  ersten  Male  tritt  die  Ver- 
folgung auf  mit  einem  festen  Plan,  und  dieser  Plan  ist  mittelst 
des  vollen  Verständnisses  des  christlichen  Organismus  entworfen. 
Die  Kirchengebäude  und  die  heiligen  Schriften  bilden  die 
materielle  Unterlage  der  Gemeinden.  Es  entspricht  der 
heidnischen  Weltanschauung,  dass  die  Verfolgung  mit  diesem 
Angriff  beginnt  und  wähnt,  durch  Zerstörung  der  materiellen 
Basis  der  Gemeinde  sie  selbst  zerstören  zu  können.  Es  zeigt 
sich  bald,  dass  dies  ein  Irrthum  war.  Es  bleiben  die  lebendigen 
Führer  und  Leiter  der  Gemeinden.  Man  trenne  dieselben  von 
den  Gemeinden,  heisst  es  nun,  und  lege  sie  ins  Gefängniss. 
Werden  nun  gar  die  Vorsteher  zur  Verleugnung  gebracht, 
dann  ist  die  geistige  Auctorität  bleibend  erschüttert.  Immer 
aber  bleibt  noch  die  christliche  Volksmasse,  diese  soll  nicht 
nach  dem  Gesetz  des  Trajan  und  Marc  Aurel  hingerichtet 
werden  sondern  soll  die  Marter  erleiden  bis  zur  Abschwörung 
des  christlichen  Namens,  denn  erst  durch  den  geistigen  Selbst- 
mord der  Christen,  durch  die  von  der  Folter  erzwungene  Ver- 
leugnung Christi  ist  der  hergebrachte  und  von  den  Christen 
bekämpfte  Cultus  gesühnt. 

Der  gewaltige  Apparat  des  von  Diocletian  neugeordneten 
römischen  Weltreiches  (,,parens  aurei  saeculi"),  an  dessen  Spitze 
vier  Kaiser  und  der  Erste  unter  ihnen  ein  entschlossener,  seiner 
selbst  bewusster  Selbstherrscher,  wird  mobil  gemacht  zur  Aus- 
rottung des  christlichen  Namens  von  dem  Erdboden.  Zwar 
war  Einer  der  vier  Kaiser,  der  über  Gallien  gebietende  Con- 
stantius  Chlorus,  gegen  die  Christen  nachsichtig,  aber  auch 
dieser  konnte  nicht  umhin,  die  Christentempel  dem  Erdboden 
gleich  zu  machen  (Lactanz  De  mort.  perseq.  XVI).    Die  Gewalt 


342 

und  List  des  mächtigsten  Weltreiches  schickt  sich  an  zur 
Vertilgung  der  Christenheit,  und  menschlichem  Ansehen  nach 
ist  keine  Rettung  vorhanden.  Eusebius  von  Caesarea,  der  als 
Augenzeuge  diese  Verfolgung  erlebt  und  viele  Urkunden  über 
diese  Katastrophe  gesammelt  hat,  berichtet,  dass  die  Seele 
vieler  Christen  durch  die  drohende  Gefahr  erschüttert  worden 
und  beim  ersten  Anblick  der  Gewalt  den  Muth  verloren 
(H.  E.  VIII  13).  Aber  andererseits  gab  es  unter  den  Christen 
auch  solche  muthige  Seelen,  welche  von  vornherein  erkannten, 
dass  jetzt  die  Hauptschlacht  bevorstehe,  in  welcher  entschieden 
wird,  ob  Christus  oder  Cäsar  als  Herr  der  Welt  gelten  soll. 
Lactanz,  der  in  Nikomedien  die  Verfolgung  erlebt  hat,  giebt 
folgende  Beschreibung:  ,,Nemo  huius  tantae  belluae  immanitatem 
potest  pro  merito  describere,  quae  uno  loco  recubans,  tamen 
per  totum  orbem  dentibus  ferreis  saevit  et  non  tantum  artus 
hominum  dissipat,  sed  et  ossa  ipsa  comminuit  et  in  cineres 
saevit,  ne  quis  exstet  sepulturae  locus"  (cfr.  Eusebius  H.  E. 
IV  15).  ,,Quis  voluminum  numerus  capiet  tam  infinita,  tam 
varia  genera  crudelitatisr  i\ccepta  enim  potestate  pro  suis 
moribus  quisque  saeviit"  (Inst.  V  11  6—10).  Eusebius  hat  im 
achten  Buch  seiner  Kirchengeschichte  Berichte  von  standhaften 
Märtyrern  in  dieser  Verfolgung  mitgetheilt  und  ausserdem 
einen  Tractat  über  die  Märtyrer  in  Palästina  geschrieben. 
Einen  Zug  teuflicher  Grausamkeit  hat  diese  letzte  Verfolgung 
vervollkommnet.  Im  Einzelnen  ist  es  auch  früher  vorgekommen, 
dass  man  die  Bekenner  so  folterte,  dass  man  ihnen  eben  das 
Leben  fristete,  um  endlich  das  erwünschte  Ziel,  nämlich  die 
Verleugnung  Christi,  zu  erreichen  (Euseb.  H.  E.  IV  39, 
Octavius  XXVIII).  In  der  Diocletianischen  Verfolgung  machte 
man  ein  Studium  daraus,  auf  diese  Weise,  wie  Lactanz  sagt, 
nicht  zu  tödten  (Inst.  V  11  11  — 16,  Epitome  LH  5,  Euseb.  H. 
E.  VIII  10  22).  Der  Bekenner  Donatus,  an  den  die  Schrift 
,,De  mortibus  persequutorum"  gerichtet  ist,  hat  neunmal  die 
Folter  bestanden  (c.  XVI).  Die  Märtyrer  in  allen  Städten  und 
Ländern  während  der  letzten  Verfolgung  aufzuzählen,  ist  nicht 
möglich,  sagt  Eusebius  H.  E.  VIII  4,  cfr.  6.  Der  Kaiser 
Maximus  gelobte  vor  der  Schlacht  dem  Jupiter,  falls  er  siegen 


343 

würde,  den  Namen  der  Christen  7a\  vertilgen  und  sie  selbst 
von  Grund  aus  auszurotten  (De  mort.  perseq.  XLVI).  Diesem 
Kaiser  und  Jupiter  zum  Trotz  berichten  Augenzeugen,  dass 
Christus  in  seinen  Gläubigen  und  Bekennern  augenscheinlich 
und  thatsächlich  sich  behauptet  hat.  ,,Wir  sind  selbst  dabei 
gewesen,  als  wir  die  göttliche  Kraft  unseres  Heilandes  Jesu  Christi 
wahrnahmen,  wie  sie  sich  kräftig  erwies  in  den  Märtyrern", 
schreibt  Eusebius  H.  E.  VIII  7.  In  der  Thebais  hat  Eusebius 
Männer,  Weiber  und  Kinder  mit  Heiterkeit  in  den  Tod  gehen 
gesehen  (a.  a.  O.  9).  Eusebius  theilt  einen  Brief  mit,  in 
welchem  der  nachherige  Märtyrer  Philios  die  entsetzlichen 
Qualen  der  Christen  in  Alexandrien  beschreibt,  in  diesem 
Briefe  nennt  er  diese  standhaften  Christen  -/piatocpopoi,  Christus- 
träger, um  anzudeuten,  dass  der  in  ihnen  wohnende  Christus 
sie  ausgerüstet  habe,  die  unmenschlichen  Martern  zu  ertragen 
(Euseb.  H.  E.  VIII  10).  ,,Die  Märtyrer  stellten  in  sich  selber 
dar  die  augenscheinlichen  Wahrzeichen  der  göttlichen  und  in 
der  That  unaussprechlichen  Kraft  unseres  Heilandes"  (Euseb. 
H.  E.  VIII  12).  H.  Richter  spricht  sich  über  diesen  Sieg  der 
Christen  in  der  letzten  Verfolgung  aus  wie  folgt:  ,,Der  Kern 
der  Christen  zeigte  eine  Standhaftigkeit,  die  so  hoch  über  dem 
Heroismus  der  Schlachten  steht,  wie  der  Himmel  über  der 
Erde"  (Das  weström.  Reich  p.   54). 

Aber  nicht  bloss  die  Gläubigen  sollen  die  Kraft  Gottes  in 
den  Märtyrern  bewundern,  diesmal  sollen  auch  die  Ungläubigen 
von  dieser  Kraft  überwältigt  werden.  Der  Mächtigste  unter 
den  Verfolgern  ist  der  Erste,  der  von  dem  Kampfplatz  scheidet 
Am  I.  Mai  305  dankt  Diocletian  ab  ,,curam  rei  publicae 
abjecit",  wie  Victor  sagt,  und  geht  in  die  Einsamkeit,  wo  er 
sein  trauriges  Ende  gefunden.  Diocletian  mag  auch  sonst 
Gründe  zu  seiner  Abdankung  gehabt  haben,  aber  da  er  zwei 
Jahre,  von  Februar  303  bis  Mai  305,  dem  Kampf  gegen  das 
Christenthum  von  seiner  kaiserlichen  Höhe  herab  zugeschaut 
hat,  so  werden  wir  nicht  irren,  wenn  wir  annehmen,  dass  die 
Erfahrung,  welche  er  in  diesem  Kampf  gemacht  hat,  wesentlich 
zu  dieser  Veränderung  beigetragen  hat.  Bei  seiner  Erfahrung 
und  bei  seinem  politischen  Scharfblick  musste  Diocletian  nach 


344 

dem  zweijährigen  Kampf  erkennen,  dass  in  den  Christen  eine 
Kraft  wohnte,  welche  den  staathchen  Gewaltmitteln  gewachsen 
war.  Diese  Erfahrung  musste  den  stolzesten  Cäsar,  der  über- 
zeugt war,  dass  die  Christen  den  Staat  umstürzen  (Burckhardt 
Constantin  p.  333)  und  den  hergebrachten  Cultus  ausrotten 
wollten,  in  innerster  Seele  erschüttern.  ,,Die  Verfolgungsgreuel, 
welche  erschütternd  bis  in  das  Haus  des  Kaisers  verliefen, 
sind  die  beste  Erklärung  der  Krankheit  und  Abdankung" 
(Keim  Uebertritt  Constantins  p.  78).  Wenn  wir,  so  musste 
ein  Mann  wie  Diocletian  denken,  mit  unserer  ganzen  Reichs- 
gewalt diesen  kleinen  gotteslästerlichen,  hochverrätherischen 
Haufen  nicht  bezwingen  können,  dann  ist  ja  unsere  jovische 
und  herculische  Cäsarmacht  ein  nichtiger  Schein,  werth  ihn 
abzuthun  und  wegzuwerfen.  Wir  wissen,  dass  Diocletian  un- 
befangen genug  war,  um  Wesen  und  Schein  der  Herrschaft  zu 
unterscheiden.  Diocletian,  verzagend  in  dem  Kampf  der 
Gewalt  gegen  den  Glauben,  zieht  sich  zurück  in  die  Einsam- 
keit, gleichwie  in  späterer  Zeit  ein  Kaiser,  in  dessen  Reich  die 
Sonne  nicht  unterging,  und  der  sich  auch  vermass,  den  Geist 
Christi  mit  Gewalt  zu  dämpfen,  der  Krone  überdrüssig  wurde, 
sie  niederlegte  und  in  dem  Kloster  Set.  Yuste  seine  letzten 
Tage  trübe  zu  Ende  brachte. 

Was  Diocletian  stillschweigend  anerkannte,  musste  sein 
College  Galerius  förmlich  und  feierlich  der  Welt  kund  thun. 
Dieser  grimmige  Christenfeind,  in  Folge  seiner  Wollust  auf 
das  qualvollste  Lager  hingeworfen,  erliess  311  ein  Edict,  in 
welchem  er  offen  gestand,  dass  der  Zwang,  vermittelst  dessen 
die  cäsarische  Gewalt  die  Christen  zu  dem  hergebrachten 
Cultus  zurückzuführen  beschlossen  hatte,  Viele  getödtet,  bei 
den  Meisten  aber  erfolglos  geblieben  (Euseb.  H.  E.  VIII  17, 
Lactanz  De  mort.  pers.  XXXIV).  Welch'  ein  Geständnissl 
Man  muss  die  Welt  aufwecken,  dass  sie  höre  und  zu  Herzen 
nehme  dieses  Cäsarwort !  Die  stolze  Cäsargewalt  bekennt  sich 
öffentlich  ohnmächtig,  ja  überwunden  von  der  christlichen,  seit 
Jahrhunderten  verachteten  und  verfolgten  Minorität  in  einer 
Angelegenheit,  die  seit  Jahrhunderten  gesetzlich  geordnet  war, 
in   welcher  man  die  gefeiertsten  Kaiser  Trajan  und  Marc  Aurel 


345 

auf  seiner  Seite  hatte.  Die  zweite  gewaltige  Neuerung  in 
diesem  Edicte  ist  die  Verkündigung  der  Toleranz  ,,indulgentiam 
nostram  credidinius  porrigendam,  ut  denuo  sint  Christiani  et 
conventicula  sua  componant."  Existenz  und  Name  der 
Christen  galt  seit  Jahrhunderten  als  Reichsfeindschaft  und 
Staatsgefahr.  Jetzt  wird  ihnen  im  römischen  Reich  Duldung 
gewährt!  Ja,  noch  tiefer  beugt  sich  der  Kaiser  vor  der 
Christenheit.  Die  Christen  haben  zum  Beweise  ihrer  Loyalität 
sich  darauf  berufen,  dass  sie  für  das  Heil  des  Kaisers  beteten. 
Diese  Berufung  wie  alle  andere  Vertheidigung  wurde  bisher 
für  Nichts  geachtet.  Jetzt  nimmt  Galerius  das  christliche  Gebet 
,,pro  Salute  nostra  et  reipublicae  ac  sua"  in  Anspruch.  ,,Juxta 
hanc  indulgentiam  debebunt  Deum  suum  orare  pro  salute 
nostra  et  reipublicae  et  sua,  ut  undique  versum  res  publica 
perstet  incolumis  et  securi  vivere  in  sedibus  suis  possint" 
(Lactanz  De  mort.  pers.  XXXIV). 

Ohne  Zweifel  bezeichnet  das  Edict  des  Galerius  das 
Heranrücken  eines  grossen  weltgeschichtlichen  Wendepunktes. 
Aber  noch  unzweifelhafter  muss  die  Entscheidung  in  dem 
grossen  Streitpunkt  ans  Licht  treten.  Obwohl  Galerius  sich 
den  Christen  gegenüber  geschlagen  bekennt,  obwohl  er  ihnen 
Duldung  gewährt  und  ihr  Gebet  in  Anspruch  nimmt,  ist  doch 
ein  Rest  der  alten  cäsarischen  Anmassung  des  Pontifex 
Maximus,  welchen  Titel  Galerius  nach  Eusebius  H.  E.  VIII  17 
sich  auch  in  der  Ueberschrift  dieses  seines  Edictes  beilegt, 
übrig  geblieben.  Denn  er  erlaubt  sich  eine  Kritik  über  das 
religiöse  Verhalten  der  Christen,  die  er  der  Thorheit  beschuldigt, 
weil  sie  die  Sitte  ihrer  Väter  verlassen  und  sich  demnächst 
eine  willkürliche  Ordnung   eingerichtet  hätten.'^*)     Es  ist  daher 


*)  Keim  findet  in  dem  Edict  des  Galerius  das  Bestreben,  die  Christen 
zu  ihrer  ursprünglichen  Einheit  im  Gegensatz  zu  dem  eingerissenen  Sectenwesen 
zurückzuführen  (Theol.  Jahrb.  1852  207  —  259}.  Allein  wenn  auch  die  litera- 
rischen Polemiker  gegen  das  Christenthum  Kunde  hatten  von  den  Secten,  aus 
dem  Edict  von  Mailand  313  ergiebt  sich,  dass  die  officielle  Anschauung  die 
Christenheit  als  eine  corporative  Einheit  auffasst.  Nicht  das  Sectenwesen  ist 
dem  Cäsar  anstössig,  sondern  die  Abwendung  des  Heidenchristenthums  von  dem 
ursprünglichen  Judenchristenthum  (Augustinus  C.  J).  XIX  23). 


346 

von  grösster  Bedeutung,  dass  das  Rescript  des  Galerius  durch 
ein  anderes  höheres  cäsarisches  Gesetz  verbessert  und  vervoll- 
kommnet worden  ist,  nämHch  durch  das  berühmte  Edict  der 
beiden  Kaiser  Constantinus  und  Licinius,  erlassen  in  Mailand 
313  (Euseb.  H.  E.  X  5,  Lact.  De  mort.  pers.  XLVIII).  Man 
nennt  dieses  Document  gewöhnlich  ,,Toleranzedict".  Aber 
H.  Richter  hat  Recht,  wenn  er  sagt,  dass  man  dieses  Edict 
nicht  sowohl  ein  Toleranz-,  als  vielmehr  ein  ,,Freiheitsedict" 
nennen  muss,  weil  es  das  ganz  neue,  eigentlich  unantike  christ- 
liche ^rincip  allgemeiner  Religions-  und  Gewissensfreiheit  ein- 
führt (Das  weström.  Reich  p.  668).  Denn  ,,ohne  das  Christen- 
thum  wäre  das  Princip  der  Glaubens-  und  Gewissensfreiheit 
nie  in  die  Welt  gekommen,  hat  es  doch  überhaupt  erst  den 
Glauben  zu  einer  Gewissenssache  gemacht'"-')  (a.  a.  O.  p.  65). 
Es  ist  wiederum  die  Folge  von  dem  Mangel  an  principiellem 
Verständniss  der  hier  vorhandenen  weltgeschichtlichen  Krisis, 
dass  Burckhardt  behaupten  kann,  in  dem  Edict  von  Mailand 
wäre  nicht  einmal  etwas  Neues  enthalten  (Die  Zeit  Constantins 
p.  363).  Galerius  hatte  dem  ,,arbitrium"  und  ,, libitum"  in  der 
Religion  Duldung  versprochen,  während  bis  dahin  in  dem 
Religionswesen  Alles  vom  Staat  entweder  geboten  oder  ver- 
boten war.  In  dem  cäsarischen  Edict  von  Mailand  ist  die 
Freiheit  in  der  Religion  der  Grundton.  Eusebius  hat  dieses 
Edict  aus  dem  Lateinischen  übersetzt,  hat  aber  seiner  Ueber- 
setzung  einen  Zusatz  voraufgeschickt,  aus  dem  man  ersieht, 
dass  dem  Edict  vom  Jahre  313  ein  anderes  ähnlichen  Inhalts 
voraufgegangen  ist,  in  welchem  die  Religionsfreiheit  bereits 
unumwunden  ausgesprochen  war:  ,,^vir  haben  erkannt",  heisst 
es,  ,,dass  die  Freiheit  der  Gottesverehrung  nicht  länger  zu 
versagen  ist."     Aus  dem  weiteren  Zusatz    des  Eusebius  ersieht 


*)  Obwohl  auch  Keim  das  Edict  von  313  ein  Toleranzedict  nennt,  so 
corrigirt  er  diese  Bezeichnung  durch  die  Erklärung:  der  Staat  spricht  den 
Grundsatz  völliger  Religionsfreiheit  aus  für  die  Christen  und  für  Jedermann  aus 
Rücksicht  der  inneren  Ruhe  (Theol.  Jahrbücher  1852  p.  236).  Noch  deutlicher 
schreibt  Keim  1862:  „das  Mailänder  Religionsedict  mit  dem  genialen  und 
welthistorischen  Gedanken  der  allgemeinen  Religionsfreiheit  lag  hoch  über  den 
kirchenpolitischen  Gesetzen  Constantins"  (Uebertrilt  Constantins  p.  48). 


347 

man  nun,  dass  das  frühere  Edict  Vielen  noch  nicht  genügt 
habe,  um  von  dieser  Freiheit  Gebrauch  zu  machen ;  um  diesen 
nunmehr  volle  Sicherheit  zu  gewähren,  sei  das  Edict  vom 
Jahre  313  erlassen.  Wir  müssen  uns  daran  erinnern,  wie  streng 
der  Grundsatz  des  Zwanges  und  der  Stabilität  in  religiösen 
Dingen  festgehalten  wurde,  dass  der  Kaiser,  von  Julius  Cäsar 
an,  das  ganze  Religionswesen  in  seiner  Hand  hatte,  dass  vor 
Allem  das  Christenthum  nach  gesetzlicher,  juristischer  und 
moralischer  Auffassung  als  eine  Neuerung  angesehen  wurde, 
welche  das  Gewissen  und  damit  die  bestehende  Grundordnung 
in  ihren  Fundamenten  erschüttern  muss.  Man  muss  sich 
gegenwärtig  halten,  dass  diese  Auffassung  durch  ein  blutiges 
und  grausames  Verfahren  drei  Jahrhunderte  hindurch  den 
Gemüthern  und,  so  zu  sagen,  dem  Erdboden  des  römischen 
Reiches  eingeprägt  worden  ist.  Wenn  man  dieses  Alles  im 
Auge  behält,  dann  kann  man  ermessen,  welch'  eine  radicale 
innere  Umwandlung  muss  vorgegangen  sein,  ehe  die  Cäsaren 
eine  solche  Sprache  führen  konnten,  wie  wir  in  dem  Edict 
von  Mailand  vernehmen. '"') 

Um  keinen  Zweifel  übrig  zu  lassen,  kann  sich  dieses 
zweite  Edict  vom  Jahre  313  nicht  genug  darin  thun,  die  all- 
gemeine Religionsfreiheit  nachdrücklich  und  wiederholentlich 
zu  verkündigen.  ,,Ut  daremus  et  Christianis  et  omnibus  liberam 
potestatem  sequendi  religionem,  quam  quisque  voluisset.  Ut 
nulli  omnino  facultatem  abnegandam  putaremus,  qui  vel 
Observation!  Cliristianorum  vel  ei  religioni  mentem  suam 
dederet,  quam  ipse  sibi  aptissimam  esse  sentiret.  Divinitatis 
summae  religioni  liberis  mentibus  obsequimur.  Intelliget  dignatio 
tua,  etiami  aliis  (praeter  Christianis)  religionis  suae  vel  obser- 
vantiae  potestatem  similiter  apertam  et  liberam  pro  quiete 
temporis  nostri  esse  concessam,  ut  in  colendo  quod  quisque 
delegerit  habeat  liberam  facultatem."  Insbesondere  wird  aus- 
drücklich    den    Christen     die    Religionsfreiheit     zugesprochen, 


*)  Keim  mag  darin  Recht  haben,  dass  in  dem  von  Eusebius  angedeuteten 
früheren  Edict  der  Uebertritt  vom  Heidenthum  zum  Christenthum  nicht  aus- 
drücklich in  die  Religionsfreiheit  einbegriffen  war. 


348 

natürlich  deshalb,  weil  ja  der  Religionszwang  seit  zweihundert 
Jahren  vor  Allem  gegen  die  Christen  gerichtet  war.  Während 
Rom  Jahre  lang  die  monströse  Neuerung  des  Sonnendienstes 
unter  Heliogabal  ertrug,  decretirten  die  tugendhaften  Kaiser 
Trajan  und  Marc  Aurel,  dass  das  Bekenntniss  zum  Christen- 
thum  mit  dem  Tode  zu  bestrafen  sei.  Darum  werden  hier 
ausdrücklich  die  früheren  Rescripte  gegen  die  Christen  auf- 
gehoben. Die  sowohl  negativ  als  positiv  denselben  Gedanken 
enthaltenden  Sätze  beweisen,  dass  die  Cäsaren  hier  nicht  eine 
lediglich  äusserliche  Zurücknahme  der  früheren  Verfolgungs- 
edicte  decretiren,  sondern  dass  sie  ihre  Auffassung  über  diese 
Angelegenheit  gründlich  geändert  haben.  Offenbar  vertreten 
diese  Kaiser  hier  die  richtige  Vorstellung,  dass  der  Sturm  des 
Hasses  und  der  Verfolgung,  der  durch  die  früheren  Edicte 
heraufbeschworen  ist,  nicht  durch  die  blosse  Zurücknahme 
jener  Edicte  beschwichtigt  wird,  wie  denn  in  der  That  auch 
nach  313  viele  Verfolgungen  und  Gewaltthaten  gegen  die 
Christen  im  römischen  Reich  noch  vorgekommen  sind.  Man 
vergegenwärtige  sich  nur,  um  welchen  Gegensatz  es  sich  hier 
handelt.  Zwei  Jahrhunderte  hindurch  ist  Verbot  und  Zwang 
bei  Todesstrafe  gegen  das  Christenthum  aufrecht  erhalten,  weil 
man  Beunruhigung  und  Erschütterung  der  Gemüther  fürchtete, 
jetzt  wird  dem  Christenthum  Freiheit  gewährt  im  Interesse 
der  öffentlichen  Ruhe  und  Wohlfahrt !  Weil  es  den  beiden 
Kaisern  um  die  öffentliche  Ruhe  (,,ut  quieti  publicae  consulatur") 
zu  thun  ist,  so  wird  dem  Präses,  an  den  das  Rescript  gerichtet 
ist,  aufgegeben,  dass  er  gegen  etwaige  Störungen  und 
Hinderungen  der  den  Christen  nunmehr  gewährten  Freiheit 
Vorkehrungen  treffen  solle.  Demselben  Zweck  dient  auch  die 
am  Schluss  des  Edicts  ausgesprochene  Verfügung,  dass  dieser 
kaiserliche  Erlass  öffentlich  bekannt  gemacht  werden  soll. 

Um  einem  naheliegenden  Missverständniss  vorzubeugen, 
mu.ss  aber  bemerkt  werden,  dass  dieser  der  Freiheit  der 
Christen  gewidmete  Nachdruck  des  Rescripts  nicht  eine  staat- 
liche Bevorzugung  des  Christenthums  bedeutet.  Das  Edict 
behauptet  den  Standpunkt  des  staatlichen  Indifferentismus  für 
die    religiöse    Frage,     den     correcten    Standpunkt    der    wahren 


349 

Religionsfreiheit,  welcher  Standpunkt  nicht  die  Religion  gering- 
schätzt sondern  im  Gegentheil  im  wahren  Verständniss  der 
Religion  das  höchste  Heiligthum  der  Menschheit  in  die  innere 
Sakristei  verlegt,  zu  der  nur  Gott  den  Zugang  hat. 

Die  Anerkennung  und  Verkündigung  der  Religionsfreiheit 
giebt  der  Weltanschauung  der  beiden  Kaiser  ein  neues  Licht. 
Kein  Privilegium,  aber  Gerechtigkeit  soll  den  Christen  werden. 
Das  was  ihnen  an  Grund  und  Boden  genommen  ist,  soll  ihnen 
wieder  gegeben  werden,  und  der  kaiserliche  Fiscus  soll  im 
Nothfall  die  Zurückerstattung  ermöglichen.  Die  Sinnesände- 
rung ist  so  ernstlich  gemeint,  dass  sie  sich  gedrungen  fühlt, 
früheres  Unrecht  thatsächlich  wieder  gut  zu  machen.  Früher 
erschien  den  Heiden  die  brüderliche  Liebe  und  Gemeinschaft 
wie  eine  gefährliche  Verschwörung,  jetzt  nennt  das  Mailänder 
Rescript  die  Christenheit  viermal  ,, Corpus",  mit  welchem 
bedeutungsvollen  Ausdruck  auch  der  Apostel  Paulus  die 
Christengemeinde  bezeichnet.  Die  neue  Religionsfreiheit  gewährt 
auch  einen  neuen  und  reineren  Gottesbegrifif.  Bisher  war  die 
Vorstellung,  dass  die  Gottheiten  ihren  Cultus  mit  Zwangs- 
gewalt aufrecht  zu  halten  geboten,  auf  diesem  Standpunkt  war 
Freiheit  der  Religion  und  des  Cultus  gottloser  Ungehorsam 
gegen  die  Götter,  eine  Vorstellung,  welche  die  Christen- 
verfolgung als  einen  Act  der  Frömmigkeit  vertheidigte  und 
rechtfertigte.  Das  Edict  von  Mailand  ist  soweit  entfernt, 
wegen  der  Religionsfreiheit  den  Zorn  der  Götter  zu  fürchten, 
dass  es  vielmehr  von  dieser  Freiheit  einen  Segen  der  wahren 
Gottheit,  die  hier  nicht  definirt  wird,  erwartet.  Endlich,  sowie  sich 
die  Vorstellung  der  Gottheit  verklärt,  so  ergiebt  die  Religions- 
freiheit auch  einen  geläuterten  Begriff  vom  Staatswesen.  Das 
Edict  hat  von  vornherein  den  höchsten  Staatszweck  im  Auge: 
,,universa  quae  ad  commoda  et  securitatem  publicam  pertinent" 
und  schliesst  mit  dem  Gesichtspunkt  ,,ut  quieti  publicae  con- 
sulatur".  Das  Edict  sieht  nun  in  der  Feststellung  der  Religions- 
freiheit denjenigen  Gegenstand,  dessen  Ordnung  für  den  Staats- 
zweck das  Vornehmste  ist:  ,,haec  inprimis  ordinanda  esse 
credidimus,  quibus  divinitatis  reverentia  continebatur".  Bis 
dahin    galt    die    Zwangsordnung   in    der   Religion    und    in    dem 


350 

Cultus  für  die  vornehmste  Säule  des  Staatswesens,  wenn  die- 
selbe erschüttert  wird,  das  war  die  allgemeine  Ueberzeugung, 
dann  muss  Alles  übereinander  stürzen.  Und  jetzt  erwarten  die 
beiden  Cäsaren  Glück  und  Gedeihen  für  das  Reich,  wenn 
Religion  und  Cultus  Jedermanns  Urtheil  und  Wahl  frei  gegeben 
wird.  Dieses  Edict  ist  in  seinen  Hauptsätzen  die  cäsarische 
Anerkennung  dessen,  was  die  christlichen  Lehrer  bisher  mit 
Nachdruck  verkündigt  und  gefordert  haben,  was  aber  der 
Hochmuth  und  die  Herrschsucht  des  Cäsarismus  verachtet  hat. 
Freilich  war  die  Forderung  der  Freiheit  in  der  Religion  und 
für  die  Religion  eine  vor  Christus  in  der  Welt  unerhörte 
Sprache.  In  der  antiken  Welt  hatte  die  Freiheit  einen  hohen 
Klang,  aber  es  war  die  politische  Freiheit ;  in  dem  Religions- 
wesen galt  das  Herkommen  als  höchstes  Gesetz.  Die  politische 
Freiheit  war  einst  vorhanden,  aber  sie  konnte  sich  durch  sich 
selbst  nicht  erhalten,  sie  ist  längst  vom  Cäsarismus  verschlungen. 
Soll  die  Freiheit  leben,  so  muss  sie  tiefer  begründet  werden. 
Christus  wendet  sich  an  die  einzelne  Seele  und  fordert  persön- 
liche Selbsthingabe  auch  auf  die  Gefahr  des  Gegensatzes  gegen 
die  Bande  des  Bluts  und  gegen  die  Auctorität  der  Gewalt. 
Was  Christus  fordert  und  was  er  schafft,  das  ist  Freiheit  der 
Seele  vor  Gott  und  in  Gott.  Was  Christus  vorhergesagt,  die 
Weisheit  und  die  Gewalt  der  Welt  werde  sich  dieser  seiner 
Forderung  an  die  Seelen  w^ider.setzen,  das  erfolgte  in  vollem 
Umfang  auf  dem  Boden  des  römischen  Reichs.  Aber  um  so 
nachdrücklicher  vertheidigten  und  begründeten  die  christlichen 
Lehrer  dieses  Princip  der  christlichen  Freiheit.  Die  christ- 
lichen Apologeten  bekämpften  das  von  den  Heiden  gegen  die 
Christen  angewandte  Verfahren  nicht  bloss  als  unvernünftig 
sondern  auch  als  irreligiös.  ,,Sed  nee  religionis  est,  cogere 
religionem,  quae  sponte  suscipi  debet  non  vi"  (Tertullian,  ad 
Scapulam  XI).  ,,Irreligiositatis  est,  adimere  libertatem  religionis." 
Am  nachdrücklichsten  und  überzeugendsten  hat  das  Princip  der 
Freiheit  in  der  Religion  Lactanz,  der  den  letzten  Kampf  zwischen 
Christenthum  und  Cäsarthum  als  Augenzeuge  erlebt  hat,  vertreten. 
Sehr  richtig  und  scharf  bezeichnet  Lactanz,  was  vor  Allem 
dieser  Freiheit  entgegensteht.      ,,Homines  furiosi  et  impotentes 


351 

minui     dominationem    suani    putant,     si     sit    aliquid    in    rebus 
humanis    liberum"    (Epitome    LIV    i).      Wer    anders    als    der 
römische    Cäsar     ist    so    wahnsinnig     und    seiner    selbst    nicht 
mächtig,  7A\  meinen,  dass  seine  Herrschaft  verkürzt  wird,  wenn 
überhaupt    Etwas    in    menschlichen    Dingen    frei    ist?     Dieser 
cäsarische  Wahn    muss   sich   vor   allen  Dingen  gegen  die  Frei- 
heit   in    der    Religion    auflehnen,    da    die   wahre    Religion    ein 
Gebiet  ist,  welches    allen    Zwang   ausschliesst,    wie    schon    der 
erste  Bericht  eines    römischen  Beamten   über  das  Christenthum 
bezeugen  muss:    ,, Nihil    cogi  posse  dicuntur,    qui   sunt  re  vera 
Christiani"    (Plin.  Ep.  X  97).     Dem  Satz  über  den  cäsarischen 
Wahn,  dass  jede  menschliche    Freiheit   eine  Beschränkung    der 
Cäsarherrschaft    sei,     fügt    Lactanz     das     grosse    Wort    hinzu: 
,, religio   sola   est,    in   qua   libertas     domiciHum     collocavit ;    res 
est     enim    praeter     ceteras    voluntaria,     nee    imponi    cuiquam 
necessitas    potest,     ut    colat,    quod    non   vult"    (Epit.    LIV    i). 
Lactanz  will  sagen,  die  Freiheit  ist  entschwunden  und  verloren, 
so  denken    seit    Augustus   die    Edelsten  und    Besten,    aber  was 
diese   nicht   wissen,    das   verkündigt  Lactanz:     ,,es    giebt  noch 
eine  Heimath,    wohin   sich    die    Freiheit   geflüchtet  hat,  das  ist 
die  Religion,  in  diesem  Heiligthum  waltet  die  Freiheit,  und  von 
da  kann    sie    sich  auch    wieder    ausbreiten    in  die  Welt  hinein. 
Diese    grosse  Lehre    von    der    christlichen  Religionsfreiheit  hat 
ein    christlicher     Prinzeninstructor    am     cäsarischen    Hofe    vor- 
getragen.    Was    aber    mehr    sagen    will,    ist    dieses,    dass    die 
beiden  römischen  Kaiser    in  Mailand  diese  Lehre  als  die  ihrige 
dem  römischen  Reich  amtlich  kundgethan   haben.     Das  grosse 
Weltgesetz,  das  Jesus  einst  injudäa  aufgestellt:  ,, gebet  dem  Kaiser, 
was  des  Kaisers  ist,  Gott  was  Gottes  ist",  wird  hier  in  Mailand 
von  den  beiden  Cäsaren  thatsächlich  anerkannt.    Der  Cäsarcultus 
war    ein  Eingriff   in    die    göttliche  Prärogative,  weil  er  Allem, 
was  Gott  in  menschlichen  Dingen  frei  gelassen,  seinen  Stempel 
aufdrückt,    der    Cäsarcultus    ist    vor   Allem    ein    Raub   an    der 
Gottheit,  weil  er  die  einzige  Zuflucht,    welche   für    die  Freiheit 
noch  vorhanden  ist,  das  Heiligthum  der  Religion  durch  Zwang 
und    Gewalt    zerstört.      Hier    anerkennen    die    beiden  Cäsaren, 
schämen  und  scheuen  sich  nicht,  ihre  christusfeindlichen  Zwangs- 


352 

edicte  öffentlich  /ai  cassiren,  aber  nicht  bloss  das,  sie  erklären 
wiederholt  und  feierlich,  dass  sie  die  Religion  als  ein  Heilig- 
thum  betrachten,  dessen  Schwelle  keine  Gewalt  überschreiten 
darf.  Damit  legen  sie  ihre  bisher  angemasste  Gewalt  zu 
den  Füssen  Gottes  nieder,  sie  geben  Gott,  was  Gottes  ist.  Durch 
diese  Selbstentäusserung  bereiten  die  Cäsaren  dem  Kaiserthum 
seine  berechtigte  Stellung  und  Bedeutung   für  die  Christenheit. 

Gleicherweise  ist  die  Bezeichnung  der  Christenheit  als 
eines  ,, Corpus"  von  den  beiden  Cäsaren  nicht  erfunden  sondern 
von  der  Lehre  und  dem  Leben  der  Christen  angeeignet.  In 
der  Welt  gilt  die  Regel :  ,,wo  die  Ungerechtigkeit  überhand 
nimmt,  wird  die  Liebe  erkalten."  So  hat  die  Ungerechtigkeit 
gegen  Sokrates  die  Liebe  zum  Vaterland  in  Plato  und 
Xenophon  erstickt;  als  Cäsars  Zorn  wider  Ovid  entbrannte, 
wollte  von  seinen  Freunden  ihn  Niemand  weiter  kennen,  und 
Neros  Grausamkeit  gegen  Seneca  hat  den  Neffen  Lucanus  zur 
ehrlosen  Feigheit  verführt.  In  der  Christenheit  der  ersten 
Jahrhunderte  zeigte  sich  das  Gegentheil.  Der  Spötter  Lucian 
beschreibt,  wie  die  verfolgten  und  eingekerkerten  Christen 
nicht  gemieden  sondern  mit  grossem  Eifer  geehrt  und  gepflegt 
wurden,  und  während  zweier  heftiger  Verfolgungen  verband  die 
christliche  Liebe  Morgenland  und  Abendland,  wie  uns  dies 
heute  noch  in  brieflichen  Documenten  vorliegt.  Der  bedeut- 
same Ausdruck  ,, Corpus"  von  der  Christenheit  hat  das  Edict 
von  Mailand  aus  der  christlichen  Sprache  entlehnt.  Tertullian 
schreibt:  ,, corpus  sumus  de  conscientia  religionis  et  disciplinae 
divinitate  et  spei  foedere"  (Apol.  XXXIX).  Cyprianus : 
catholicae  ecclesiae  corpus  unum"  (Ep.  XLI,  LXII).  Lactantius : 
,,populus  noster  conjunctus  mente  est  et  cohaeret  sicut  unus 
homo"  (VI  12  38).  Die  Cäsaren  haben  ohne  Zweifel  in  den 
Jahren  der  Verfolgung  an  den  Christen  Manches  gesehen  und 
gehört,  was  ihnen  diese  corporative  Solidarität  derselben  an- 
schaulich machte. 

Die  weltgeschichtliche  Haupturkunde  von  Mailand  ist  das 
offene  Bekenntniss  der  höchsten  weltlichen  Macht,  dass  der 
Bann,  der  auf  der  antiken  Menschheit  liegt,  gebrochen  ist. 
Was  noch  an  gei.stiger  und    sittlicher  Kraft  der  ursprünglichen 


353 

Menschheit  vorhanden  ist,  das  ist  Alles  gefährdet  durch  zwei 
feindliche  Gewalten,  mittelst  welcher  der  Feind  Gottes  und  der 
Menschheit  sein  Verführungswerk  vollenden  und  seine  Herrschaft 
über  die  Menschheit  krönen  will.  So  selbstbewusst  ist  der 
Cäsarcultus  noch  nie  aufgetreten  wie  in  Diocletian,  von  dem 
Victor  schreibt:  namque  se  primus  omnium  Caligulam  post 
Domitianumque  dominum  palam  dici  passus  et  adorari  se 
appellarique  uti  Deum".  Und  an  dem  cäsarischen  Hofe  dieser 
Zeit  herrschte  schamlose  Unzucht  und  Wollust,  dieses  unaus- 
rottbare Erzeugniss  des  Baalcultus  (De  mort.  pers.  VIII,  XXI, 
XXVII,  XXXVIII,  Euseb.  H.  E.  X  7).  Gegen  diese  beiden 
Ungeheuer  besteht  die  Militia  Christi  den  letzten  Kampf  und 
gewinnt  nach  dem  offenen  Zeugniss  der  höchsten  Auctorität 
der  Welt  den  Sieg.  Obwohl  das  Edict  von  Mailand  keine 
Silbe  enthält  über  den  Widerstand  und  das  Blutzeugniss  der 
Christen,  so  ist  doch  ganz  offenbar  dieses  Edict  von  Anfang 
bis  zu  Ende  dictirt  von  dem  Geist  des  christlichen  Martyriums. 
Man  hat  gesagt :  alle  grossen  weltgeschichtlichen  Urkunden 
sind  mit  Blut  geschrieben.  Eine  der  denkwürdigsten  Urkunden 
der  Weltgeschichte  ist  das  cäsarische  Edict  von  Mailand  313. 
Diese  Urkunde  ist  geschrieben  mit  dem  Blut  der  christlichen 
Märtyrer  in  den  drei  ersten  Jahrhunderten. 

Das  Martyrium  Senecas  ist  bei  aller  Würdigkeit  und 
Ehrenhaftigkeit  unfruchtbar,  das  beweist  vor  allem  Anderen 
der  orientalische  Hof  Diocletians.  Das  Martyrium  der  Christen 
stürzt  den  Cäsarcultus,  nachdem  derselbe  seine  ganze  Kraft 
zusammengefasst  hat.  Jetzt  werden  wir  den  specifischen 
Unterschied  zwischen  beiden  Martyrien  gründlich  erkennen 
und  damit  die  unendliche  Erhabenheit  des  Christenthums  über 
das  höchste  moralische  Vermögen  der  natürlichen  Menschheit, 
als  dessen  vornehmster  Repräsentant  sich  uns  L.  Seneca  dar- 
gestellt hat,  behaupten  können. 

Nach  Clemens  Alexandrinus  haben  alle  Christen  ohne 
Unterschied,  nämlich  Männer  und  Frauen,  Freie  und  Sclaven, 
Alte  und  Junge  gleichen  Beruf  zum  Martyrium  (Strom.  IV  9). 
Und  so  zeigt  es  sich  auch  in  den  ersten  christlichen  Jahr- 
hunderten ;    beispielsweise    gehören    die   Martyrien    der  Sclavin 

23 


354 

Blandina  in  Lyon  und  der  jungen  Patricierin  Perpetua  in 
Carthago  zu  den  leuchtendsten  Proben  des  christlichen  Helden- 
muthes.  Selbst  Gibbon,  auf  den  sich  Hausrath  für  seine 
tendenziöse  Bemängelung  des  christlichen  Martyriums  beruft, 
erkennt  in  dem  christlichen  Martyrium  einen  hohen  providen- 
tiellen  Zweck  für  die  Welt.  ,,Primitiv^e  saints  and  martyrs 
sacrificed  their  lives  for  the  important  propose  of  the  intro- 
ducing  Christianity  into  the  world"  (II  404).  lieber  das 
wirkliche  Verhältniss  zwischen  dem  Martyrium  und  der 
Einführung  des  Christenthums  werden  wir  nun  nicht  von 
Edward  Gibbon  näheren  Aufschluss  erwarten,  wohl  aber  von 
den  christlichen  Lehrern,  welche  dem  grossen  Kampf  bei- 
gewohnt und  an  demselben  mit  ihrer  Feder  oder  auch  mit 
ihrem  Blute  betheiligt  gewesen  sind.  Diese  ehrwürdigen 
Lehrer  erkennen  in  dem  Martyrium  ein  Geheimniss,  aber  ein 
Geheimniss,  das  mit  der  göttlichen  und  menschlichen  Vernunft 
im  Einklang  steht.  Tertullian  schreibt:  ,, nihil  Deus  non 
ratione  praecipit".  Und  noch  allgemeiner:  ,,res  Dei  ratio 
est,  quia  Deus  omnium  conditor  nihil  non  ratione  tractari 
intelligique  voluit"  (De  poenit.  I).  Diese  ratio  Dei  ist  aber,  wie 
ausdrücklich  bemerkt  wird,  nicht  auf  der  Oberfläche  sondern 
,,in  medulla  et  plerumque  aemula  manifestis".  Da  nun  auch 
dem  Menschen  die  Vernunft  innewohnt  (Octavius  XVI,  XVII), 
so  ist  der  Mensch,  wenn  er  nur  nicht  an  der  Oberfläche  hängt, 
fähig,  die  göttliche  Vernunft  zu  begreifen,  also  auch  den  gött- 
lichen Grund  in  der  Vorschrift  des  Martyriums  zu  verstehen. 
Das  göttliche  Gebot  des  Blutzeugnisses  ist  also  nicht  ein 
Gesetz  für  Knechte  oder  für  Unmündige,  welche  den  Willen 
des  Herrn  nicht  verstehen,  sondern  für  Freunde,  welche  in  den 
Sinn  des  Vorgeschriebenen  eingeweiht  sind.  ,,Non  intelligitis 
6  miseri,  neminem  esse,  qui  aut  sine  ratione  velit  poenam 
subire  aut  tormenta  sine  Deo  possit  sustinere"  (Octav.  XXXVII). 
Dasjenige  nun,  was  das  Martyrium  veranlasst,  ist  das  Bekenntniss 
zu  Christus.  In  Christus  wird  daher  der  innere  und  vernünftige 
Grund  zum  Martyrium  liegen.  Die  göttliche  \'orschrift  des 
blutigen  Zeugnisses  ist  zunächst  die  oft  wiederholte  Vorschrift 
Christi  (Tertull.  Scorp.  c.  IX).    Aber  was  mehr  besagt,  Christus 


355 

selber  ist  auf  diesem  Wege  vorangegangen.  ,,Du  Ambrosius", 
schreibt  Origenes,  ,, wirst  wie  ein  Opferthier  im  Aufzug  geführt, 
tragend  das  Kreuz  Jesu  und  ihm  folgend,  der  vorangehend 
dich  hinführt  zu  den  Obrigkeiten  und  Königen,  damit  er  mit 
dir  gehend  dir  v^erleihe  Mund  und  Weisheit"  (Cohort,  ad 
Martyrium  XXXVI).  Hier  ist  mehr  als  Gebot  und  Beispiel, 
was  an  sich  noch  keine  Kraft  verleiht,  das  Gebot  zu  befolgen 
und  dem  Beispiel  nachzukommen.  Es  giebt  einen  thatsächlichen, 
einen  wesentlichen  Zusammenhang  zwischen  Christus  und  den 
Gläubigen.  Die  Gotteskraft,  die  in  Christo  wohnt,  wird  uns 
durch  Christus  vermittelt  (Just.  Dial.  CXVI).  Aber  nicht 
bloss  die  Kraft  Gottes  ist  durch  Christus  in  die  Christen  über- 
gegangen, sie  sind  durch  Christus  neugeboren,  sind  also  seines 
Wesens  theilhaftig  (Justin.  Apol.  I  6r).  Und  wenn  Einer 
•Christus  bekennt,  so  ist  er  nicht  für  sich,  auf  sich  beschränkt, 
sondern  er  ist  Christi,  ihm  thatsächlich  angehörend  (Tertull. 
Scorp.  IX).  Eusebius,  der  den  letzten  und  schwersten  Kampf 
an  verschiedenen  Orten  angeschaut,  bezeugt:  ,,die  Märtyrer 
stellten  in  sich  selber  dar  die  augenscheinlichen  Wahrzeichen 
der  göttlichen  und  wahrhaft  unaussprechlichen  Kraft  unseres 
Heilandes"  (H.  E.  VIII  12);  ,,wir  sind  selber  dabei  gewesen, 
als  wir  die  göttliche  Kraft  unseres  Heilandes  Jesu  Christi  wahr- 
nahmen, wie  sie  sich  kräftig  erwies  an  den  Märtyrern"  (H.  E. 
VIII  7).  In  der  Marter  ist  der  Christ  mit  Gott  verbunden 
(Octav.  XXXVII).  Da  nun  die  Geheimnisse  Gottes  sich  in 
der  Menschheit  auswirken  sollen  (,,In  genere  humano  perficiuntur 
mysteria  Dei"  Irenäus  V  36  3),  so  ist  das  christliche  Martyrium, 
in  welchem  sich  die  göttliche  Kraft  Christi  und  die  Gegenwart 
Gottes  der  Welt  auf  die  augenscheinlichste  Weise  offenbart, 
ein  Höhepunkt  in  der  Geschichte  der  göttlichen  Geheimnisse 
und  beweist  somit  durch  sich  selber  seinen  göttlichen  Grund 
und  seine  weltgeschichtliche  Bedeutung.  Cäsar  macht  seine 
weltliche  Allgewalt  mobil,  um  den  christlichen  Namen  auszu- 
rotten, da  offenbart  Christus  vor  allen  Tribunalen  und  vor 
dem  ganzen  Volk  des  römischen  Reiches  in  den  Qualen  der 
Märtyrer  seine  göttliche  überweltliche  Kraft,  vor  deren  Wirkung 
Gäsar  sich  schliesslich  beugen  muss.     Diese  Gotteskraft  Christi 

23* 


356 

in  den  Märtyrern  ist  die  Signatur  des  christlichen  Martyriums 
im  Unterschied  von  dem  Martyrium  Senecas,  welches  darum 
keine  Wirkung  hat,  weil  ihm  der  überweltliche  Archimedische 
Stützpunkt  fehlt. 

Philios,  selbst  Märtyrer,  nennt,  wie  schon  erwähnt,  die 
Märtyrer  Christusträger  als  Solche,  in  denen  Christus  lebt 
(Euseb.  H.  E.  VIII  lo).  Die  Gemeinde  von  Lyon  sagt  voa 
der  Blandina,  sie  habe  Christum,  den  grossen  Athleten  an- 
gezogen (Euseb.  H.  E.  V  2  43),  von  dem  Märtyrer  Sanctus, 
Christus  habe  in  ihm  leidend  grosse  Herrlichkeit  vollbracht 
(ibid.  V  2  23).  Alle  drei  Aussagen  haben  denselben  Sinn,  sie 
bezeichnen  kurz  und  bündig  das  Hauptmerkmal  des  christlichen 
Martyriums,  darin  bestehend,  dass  Christus  selber  in  seinen 
Blutzeugen  mit  seiner  göttlichen  Kraft  gegenwärtig  ist. 

Diese  geheimnissvolle  Thatsache  ward  den  ältesten  Christen 
auf  zwiefachem  Wege  vermittelt.  Irenäus  nennt  Christum  den 
Meister  des  Martyriums.  ,,Per  omnia  martyrii  magisti-um 
imitans",  heisst  es  von  Stephanus  (Iren.  III  12  13).  Das  Ur- 
martyrium  Christi  ward  den  Christen  vornämlich  dadurch 
verständlich,  dass  die  äussere  Weltlage  für  Christum  und  für 
.seine  Jünger  in  den  ersten  Jahrhunderten  im  Wesentlichen 
dieselbe  war.  Christus  ist  zuerst  dem  Hass  der  Juden  aus- 
gesetzt, und  dieser  jüdische  Hass  setzt  sodann  die  feindliche 
Macht  der  Heiden  in  Bewegung.  Beides  zusammen  bewirkt 
das  Kreuz  Christi.  Dieser  Hass  der  Juden  überträgt  sich  auf 
die  Christen  in  den  ersten  Jahrhunderten,  wie  die  Geschichte 
des  Paulus,  die  Anfänge  der  Gemeinde  zu  Thessalonich  und 
das  Martyrium  des  Polycarp  beweisen.  In  dem  Masse  jedoch, 
als  die  Wirkung  des  jüdischen  Ha.sses  auf  dem  ausserpalästinen- 
sischen  Gebiete  schwächer  wird,  verschärft  sich  die  Feindschaft 
der  Heiden,  nachdem  sie  in  mehr  unmittelbare  Berührung  mit 
dem  Geiste  Christi  gekommen  sind.  Wie  die  Träger  des 
widerchristlichen  Hasses  dieselben  sind,  so  ist  auch  der 
Charakter  dieses  christenfeindlichen  Hasses  derselbe.  ,,Sie 
hassen  mich  ohne  Ursach",  so  heisst  es  zur  Zeit  Christi,  so 
heisst  es  noch  in  den  Tagen  des  Irenäus.  Es  ist  ein  Hass  der 
Unvernunft    und    der    Unmenschlichkeit,    es    ist    ein    Hass    der 


4)  •'    >" 

reinen  Bosheit,  die  nicht  auf  ursprüngHch  menschhchem  Boden 
^gewachsen  ist,  sondern  ein  aussermenschliches  Böse  zum 
Urheber  hat.  Unsere  EvangeHen  lassen  in  der  Erzählung  von 
den  letzten  Tagen  Christi,  in  welchen  sich  das  Böse  in  der 
Welt  vollendet,  den  Namen  des  Urfeindes  aus  dem  verschwiegenen 
Dunkel  der  Geschichte  mit  Nachdruck  hervortreten.  Und  die 
christlichen  Gemeinden  in  Kleinasien,  in  Rom,  in  Gallien,  in 
Africa  haben  den  dämonischen  Hintergrund  in  der  heidnischen 
Verfolgungswuth  in  innerster  Seele  erfahren.  So  ward  das 
wirkliche  Kreuz  Christi  den  Christen  der  ersten  Jahrhunderte 
thatsächlich  nahe  gebracht. 

Ein  zweites  wesentliches  Hülfsmittel  für  die  ersten  Christen, 
das  innere  Geheimniss  des  Martyriums,  die  göttliche  ratio  der- 
selben zu  verstehen,    das   war   ihre    Herzensstellung  zum  Alten 
Testament.     Allerdings  in  Kritik  und  Exegese  der  alttestament- 
lichen  Schriften    war  die    erste    Christenheit  schwach,  aber  was 
vielen  Kritikern    und  Exegeten    auch    in    unserer  Zeit    abgeht, 
was  aber  wesentlicher  ist  als  der  gelehrte  Apparat,  das  ist  die 
Herzensstellung    zu    dem    Hauptinhalt    dieser    heiligen  Bücher. 
Hier  sind  niedergelegt  die  Grundzüge  zu  dem  grossen  Drama, 
welches    heisst    die    Menschheitsgeschichte.       Hier     stehen    die 
-ewigen  Marksteine,    welche    scheiden  Gott    und    Teufel,    Gutes 
und  Böses,  Wahrheit  und  Lüge,  Recht  und  Unrecht,  Licht  und 
Finsterniss,   Freiheit   und   Knechtschaft,   endlich    Seligkeit    und 
Verdammniss.     Sodann    ist   hier   ein    Aufriss   gegeben    zu    dem 
grandiosen  Gang,    der   den    Kampf  dieser  Gegensätze  von  den 
ersten  Anfängen  bis  zu  dem  Siege  vor  den  Thoren    der  Ewig- 
keit hindurchführt.     Es  kommt  darauf  an,  den  Muth  zu  besitzen, 
der    dem    heiligen    Ernst    dieses    Herz    und    Nieren    prüfenden 
Dramas  ins  Angesicht   schaut  und    diesem  Anblick    gegenüber 
Stand   hält  Tag   und   Nacht.      Wer   diesen  Muth  nicht  besitzt, 
dem    bleiben    diese  Heiligthümer    bei   allem    sonstigen    Wissen 
ein  sinnverwirrendes  Labyrinth.     Diesen  Muth  hatten  die  ersten 
Christen,  und  darum  war  das  Alte  Testament  bei  aller  sonstigen 
Unwissenheit    und    allen    Fehlgriffen    ihnen    eine    Leuchte    auf 
ihrem    dunklen  Wege    durch    die  Welt   und  zu  dem  sieghaften 
Martyrium,  denn  es  zeigt  ihnen  Anfang  und   Ende  und  in  der 


358 

Mitte   den   Knecht  Jehovas,    der   durch  Leiden  zur  Macht  und 
HerrHchkeit  gelangt. 

Die  Gleichheit  der  Weltlage  und  das  Licht  der  alttestament- 
lichen  Offenbarung  und  Schrift  machen  das  Martyrium  Christi 
als  die  einzige  Quelle  alles  Heiles  dem  schlichten,  unver- 
künstelten  menschlichen  Bewusstsein  verständlich.  TertuUian 
lehrt,  wie  wir  gesehen,  dass  das  Martyrium  der  Gläubigen  irr 
der  göttlichen  Vernunft  seinen  Grund  hat,  nur  muss  man 
diesen  Grund  nicht  auf  der  Oberfläche  sondern  in  tiefer  Inner- 
lichkeit suchen.  Dieser  göttliche  verborgene  Grund  wird  auf- 
gedeckt durch  die  Ursache  und  durch  die  Beschaffenheit  des 
Martyriums  Christi,  und  Irenäus  ist  es,  den  wir  als  Repräsentanten 
des  altchristlichen  Bewusstseins  über  Ursache  und  Beschaffen- 
heit des  Urmartyriums  zu  betrachen  haben.  Irenäus,  in  Kiem- 
asien geboren,  hat  als  Knabe  den  Polycarpus,  den  Schüler  des 
Johannes,  den  Märtyrer,  in  Smyrna  gesehen  und  erinnert  sich 
seiner  im  Alter  (Euseb.  H.  E.  V  20),  er  ist  bekannt,  mit 
Ignatius  (Adv.  Haeres.  V  28  9),  mit  Papias  (V  33  4),  mit 
Justinus  (IV  6  2),  ist  in  der  Gemeinde  zu  Lyon  während  der 
grausamen  Verfolgung  ein  angesehener  ]\Iann  (Euseb.  H.  E. 
V  4),  ist  vertraut  mit  dem  Matyrium  des  Sanctus  und  der 
Blandina  (Irenaei  Opp.  ed.  Stieren  I  p.  832),  endet  als  Nach- 
folger des  Bischofs  und  Märtyrers  Pothinus  und  selber  als- 
Märtyrer  (Hieronymus  ad  Jes.  LXIV :  Irenaeus  apostolicus 
episcopus  Lugdunensis  et  martyr).  Dieser  apostolische  Mann^ 
wie  Hieronymus  ihn  nennt,  hat  die  ersten  Grundzüge  für  eine 
christliche  Geschichtsphilosophie  gezeichnet.  Wir  haben  als  die 
ahnungsvollste  Anschauung  des  Heidenthums  die  Darstellung 
der  vollkommnen  Gerechten  von  Plato  und  Seneca  erkannt. 
Auch  das  Alte  Testament  zeigt  uns  den  vollkommnen  Gerechten 
in  ähnlicher  Weise  (Jes.  LIII,  Irenäus  IV  33  12).  Die  Summe 
aller  Schmerzen  und  aller  Schmach  ist  die  Signatur  des- 
Gerechten  in  beiden  Anschauungen.  Nun  sagt  zwar  Seneca  r 
es  sei  ein  Erforderniss  des  Gemeinwohles  der  Menschheit,  dass 
ein  Solcher  existire.  Allein  wie  das  menschliche  Gemeinwohl 
durch  diese  einzige  Persönlichkeit  gefördert  werden  soll,  das 
hat  Seneca,    wie  wir  gezeigt,    nicht    nachgewiesen,    und  ebenso 


359 

wenig  hat  Plato  das  gethan.  Das  ist  nun  der  grosse  Unter- 
schied des  Gerechten  in  der  alttestamenthchen  Anschauung, 
dass  dieser  nicht  für  sich  ist  als  einzelnes  Individuum  sondern 
als  Vertreter  der  Gesammtheit  auf  sich  ladet  die  Schmerzen, 
die  Schmach,  die  Schuld  des  Volkes  und  der  Sünder,  und  weil 
er  dadurch  erlangt  Samen  und  Macht  auch  über  die  Starken, 
so  hat  jenes  Tragen  die  Wirkung  des  Wegnehmens,  des 
Erledigens.  Der  Gerechte  des  Plato  und  des  Seneca  ist  ein 
einsam  dastehendes  Zeichen,  welches  darthut,  dass  alle  Mittel 
und  Möglichkeiten  des  sittlichen  Wirkens  erschöpft  sind,  ohne 
dass  das  Leiden  fähig  ist,  den  Bann  zu  brechen.  Der  Gerechte 
des  prophetischen  Wortes  dagegen  wirft  ein  Licht  auf  die 
Vergangenheit  des  Anfanges  und  schafft  einen  Schattenriss  der 
neuen  und  schliesslichen  Zukunft. 

Die  ernste  und  grosse  Arbeit  des  Lenäus  in  dem  Kampf 
mit  den  Häretikern  besteht  hauptsächlich  darin,  die  Nebel- 
und  Traumbilder,  mit  denen  die  Gnostiker  den  Anfang  der 
Dinge  einhüllen,  zu  zerstören  und  dagegen  darzuthun,  dass  der 
Anfang  der  Dinge  die  Schöpfung  des  einen  und  wahren  Gottes 
ist,  und  dass  die  gegenwärtige  irdische  und  zeitliche  Wirklich- 
keit mit  diesem  Anfang  der  göttlichen  Schöpfung  in  causalem 
Zusammenhange  steht.  In  der  Schöpfung  ist  das  Haupt- 
moment die  Bildung  des  Menschen  durch  Gottes  Hand  und 
Hauch.  Das  nennt  Irenäus  Plasmatio,  und  er  wird  nicht  müde 
auf  diese  Plasmatio  immer  wieder  zurückzuweisen.  Der  erste 
Mensch  ist  aber  nicht  ein  Einzelner  wie  jeder  Andere,  sondern 
er  ist  ,,homo  principalis"  (Irenäus  V  21  i),  er  ist  das  Haupt 
der  natürlichen  Menschheit,  so  dass  es  einen  ersten  und  einen 
zweiten  Adam  giebt.  Deshalb  betrifft  Alles,  was  den  ersten 
Menschen  angeht,  zugleich  das  ganze  Geschlecht;  sowie  die 
Verleihung  der  Herrschaft  an  den  ersten  Menschen  für  uns 
Gegenwärtige  noch  heute  die  gleiche  Prärogative  der  Mensch- 
heit in  der  Welt  begründet,  so  sind  wir  gleicherweise  auch  in 
den  Fall  Adams  verstrickt,  sind  in  ihm  besiegt.  Der  Urheber 
des  Falles  bleibt  im  Alten  Testament  ziemlich  verhüllt,  sein 
Name  und  sein  Werk  wird  erst  dann  durch  die  göttliche 
Oekonomie   aufgedeckt,    nachdem   die   Kraft   diesen  Urfeind  zu 


360 

besiegen,  offenbar  geworden.  In  den  Zeiten,  als  die  Christen 
standen  unter  der  Wolke  des  dämonischen  Hasses,  war  es  ein 
PLrforderniss  der  Kampfrüstung,  den  Erzfeind  zu  kennen  und 
zu  nennen.  Keiner  hat  in  diesen  Zeiten  dieses  altchristhche 
Bewusstsein  nach  dieser  Seite  hin  so  klar  und  allgemein 
verständlich  dargelegt  wie  Irenäus.  Die  Engel  sind  als  freie, 
daher  fehlsame  Geister  geschaffen  (Advers.  Haeres.  IV  37  6), 
und  unter  diesen  ist  Einer  aus  eigenstem  Entschluss  abtrünnig 
geworden  (IV  40  3).  Dieser  ist  es,  der  den  Menschen  zum 
Ungehorsam  gegen  Gott  verführt  hat  (IV^  41  i).  Seitdem  hat 
der  Feind  Macht  über  den  Menschen,  (,,in  initio  in  Adam 
captivos  nos  duxerat"  V  21  i),  Adam  war  besiegt  und  ihm 
alles  Leben  genommen,  wiederum  wird  der  Feind  besiegt  und 
Adam  empfängt  wiederum  Leben  (III  23  7)),  und  der  Tod  hat 
die  Palme  des  Sieges  über  die  Menschheit  erlangt  (V  21  i). 
Der  Besiegte  und  Gefallene  kann  sich  selber  nicht  wieder  auf- 
richten (IV  18  2),  was  auch  Seneca  erkannt  hat,  ohne  dass  er 
eine  wirkliche  Hülfe  nachweisen  konnte.  Nach  christlicher 
Lehre  handelt  es  sich  nun  im  letzten  Grunde  um  Gottes,  des 
Menschenschöpfers,  Ehre.  Innerhalb  des  Menschengeschlechtes 
sollen  sich,  wie  schon  erwähnt,  Gottes  Geheimnisse  auswirken 
(Iren.  V  36  3).  Mit  diesem  grossen  Gedanken  schliesst  Irenäus 
sein  bedeutsames  Werk  wider  die  Irrlehrer.  Denselben 
Gedanken  drückt  er  auch  so  aus:  ,,der  Mensch  ist  das  Gefäss 
der  ganzen  Weisheit  und  Macht  Gottes  (III  20  2).  Gott 
könnte  nun  das  widergöttliche  Böse  in  der  Geisterwelt  durch 
seine  Macht  vertilgen,  denn  ..nihil  in  totum  diabolus  invenitur 
fecisse,  videlicet  quum  et  ipse  creatura  sit  Dei  quemadmodum 
et  reliqui  angeli"  (IV  41  i ).  Denn  die  christliche  Satanslehre 
hat  mk  Dualismus  und  Manichäismus  Nichts  zu  schaffen.  Aber 
es  ist  nicht  Gottes  Wille,  das  Böse  durch  Gewalt  zu  vernichten 
(IV  37  i).  Gott  hat  den  Menschen  frei  geschaffen.  ,,Nulli 
Deus  infert  necessitatem,  imperiosa  formidine  nullum  terret" 
(Arnobius  II  64).  Wie  das  ürböse  durch  creatürliche  Freiheit  ent- 
standen ist,  so  soll  es  durch  creatürliche  Freiheit  überwunden 
werden,  erst  damit  ist  die  durch  den  Sündenfall  verdunkelte  Ehre 
Gottes    wieder   hergestellt.      Weil    dies    der    Gottesgedanke  bei 


361 

der  Schöpfung  des  Menseben  ist,  so  bezeichnet  Irenäus  die 
Versuchung  im  Paradiese  als  den  Kampf  zwischen  Mensch  und 
Schlange  und  nennt  den  Ausgang  Sieg  der  Schlange  und 
Niederlage  des  Menschen.  Irenäus  scheut  sich  nicht,  diese 
Sachlage  als  eine  Niederlage  Gottes  zu  bezeichnen,  fügt  dann 
aber  gleich  hinzu,  dass  es  dabei  nicht  bleiben  könne  (III  23  i). 
Nun  tritt  die  göttliche  Hülfe  ein  als  das  Werk  Gottes  für  den 
gefallenen  Menschen  und  wider  den  siegreichen  Feind  des 
Menschen.  Aber  das  ist  die  Wirkung  des  unentwegten  Fest- 
haltens der  Schöpfung  wider  die  Verdunkelungen  des  ersten 
Werkes  Gottes  von  Seiten  der  Irrlehrer,  dass  mit  allem  Nach- 
druck betont  wird,  das  zweite  Werk  Gottes  für  den  Menschen 
müsse  genau  die  Ordnung  innehalten,  welche  dem  ersten  Werk 
Gottes,  der  Bildung  des  Menschen,  eingestiftet  ist.  Nach 
diesem  ursprünglichen  Gesetz  der  Menschenschöpfung  kann  und 
will  Gott  den  Feind  des  gefallenen  Menschen  nicht  anders 
besiegen,  als  indem  der  Sieg  innerhalb  der  wirklichen  Mensch- 
heit errungen  wird.  ,,Neque  enim  juste  victus  fuisset  inimicus, 
nisi  ex  muliere  homo  esset,  qui  vicit  eum"  (V  21  i).  ,, Juste 
suo  sanguine  redimens  nos  ab  apostasia"  (V  2  i).  Wenn 
der  Sieger  des  gefallenen  Menschen  durch  einen  wirklichen 
Menschen  besiegt  wird,  dann  muss  die  Vernunft  diese  That- 
sache  für  eine  gerechte  Erlösung  von  den  Folgen  des  Falles 
erkennen.  ,,Verbum  potens  et  homo  verus  sanguine  suo 
rationabiliter  redimens  nos"(V  i  i).  Nun  ist  aber  der  Sünden- 
fall nicht  der  Fall  eines  einzelnen  Menschen  sondern  der  Fall 
des  Hauptes  und  somit  des  ganzen  Geschlechtes.  Demnach 
kann  die  gerechte  Befreiung  v^on  den  Folgen  der  Niederlage 
nur  dann  vollkommen  sein,  wenn  der  Besieger  des  Feindes 
gleichfalls  nicht  ein  Einzelner  ist  sondern  ein  Haupt  der 
Menschheit.  Es  liegt  dem  Irenäus  Alles  daran,  eben  dieses  von 
der  göttlichen  Menschwerdung  zu  behaupten.  Er  verwendet 
dafür  einen  Ausdruck  des  Apostels  Paulus,  der  Christum  als 
das  allgemeine,  zusammenfassende  Haupt  der  Dinge  im  Himmel 
und  auf  Erden  bezeichnet  (Eph.  i  10).  Es  giebt  kein  Wort, 
welches  die  Eigenthümlichkeit  des  Irenäus,  so  charakterisirt 
wie   dieser  paulinische  Ausdruck  7.vfr/.i'^c(A7.io'jv ;  ich  kann  daher 


362 

auch  nicht  glauben,  was  Engelhardt  annimmt  (Das  Christen- 
thum  Justins  des  Märtyrers  p.  430),  dass  Irenäus  dieses  Wort 
von  Justin  entlehnt  habe.  ,,Recapitulatio"  in  verschiedenen 
Wendungen  und  Beziehungen  bezeichnet  bei  Irenäus  im  Gegen- 
satz zu  der  atomistischen  Anschauung  die  organische  Auf- 
fassung der  menschheitlichen  Heilsgeschichte.  Das  Fleisch- 
gewordene Wort  hat  das  ganze  Menschengeschlecht  in  sich 
zusammengefasst,  ,,longam  hominum  expositionem  in  se  ipso 
recapitulavit"  (III  18  i).  Dieser  Mensch  geht  in  die  menschliche 
Geschichte  ein,  wie  sie  nach  dem  Fall  geworden  ist.  Die 
gefallene  Menschheit  wohnt  nicht  mehr  im  Paradiese  sondern 
auf  der  Erde,  auf  welcher  der  Fluch  ruht.  Darum  wohnt 
Christus  nicht  auf  den  Höhen  der  Welt  sondern  steigt  herab 
zu  den  Niederungen  der  Erde  (III  19  3,  IV  24  11,  27  2). 
Christus  geht  durch  die  gesammte  Heilsordnung  hindurch  und 
fasst  Alles  in  sich  zusammen  (III  16  6).  Darum  muss  er  auch 
da  beginnen,  wo  der  Abfall  seinen  Anfang  hat.  Nachdem  er 
durch  die  Taufe  in  sein  Amt  als  Christus  eingesetzt  ist,  wird 
er  durch  den  innewohnenden  Geist  angeleitet,  dem  Feinde  zu 
begegnen.  Der  Versuchung  in  dem  Paradiese  entspricht  die 
Versuchung  in  der  Wüste.  Die  dreifache  Versuchung  in  der 
Wüste  besteht  darin,  dass  dem  Menschen  Christus  zugemuthet 
wird,  sein  Reich  mit  weltlichen  Mitteln  und  Kräften,  an  denen 
der  durch  den  Willen  des  Menschen  machthabehde  Fürst  der 
Welt  einen  Antheil  hat,  zu  bauen  und  aufzurichten  (V  21  2). 
Der  Versucher  wird  abgewiesen,  und  somit  ist  Christus  ,,salvans 
in  semet  ipso  quod  perierat"  (V  14  i).  Die  weitere  Folge  ist 
aber,  dass  der  Versucher  nunmehr  als  Feind  Christi  auftritt 
und  als  Fürst  der  Welt  die  Gewalt  wider  ihn  aufbietet. 
Als  der  Retter  vom  Bösen  und  vom  Uebel  ist  der  zweite 
Adam  angekündigt,  und  als  solcher  tritt  er  auf  in 
Jerusalem,  indem  er  den  Tempel,  das  Haus  seines  Vaters 
reiniget  (Joh.  II  13 — 22).  Sobald  er  aber  erkennt,  dass  die, 
welche  die  Auctorität  und  die  Gewalt  haben,  seinen  Sinn 
nicht  verstehen,  geht  er  sofort  vom  Wirken  zum  Leiden  über. 
,, Brechet  diesen  Tempel  ab",  er  fordert  seine  mächtigen 
Gegner  auf,   ihre  Gewalt  gegen  seinen  Leib  zu  brauchen  in  der 


363 

Gewissheit,  dass  mit  diesem  Aufsichnehmen  und  Uebersich- 
ergehenlassen  der  feindHchen  Gewalt  diese  Gewalt  damit  über- 
wunden und  entmächtigt  ist.  Denn  er  sagt,  ,,ich  werde  den 
abgebrochenen  Tempel  in  dreien  Tagen  wiederaufrichten". 
Hier,  in  dem  Tempel  zu  Jerusalem,  vor  der  jüdischen  Obrig- 
keit und  dem  versammelten  Volk  wird  das  Geheimniss  der 
Kraft  des  Martyriums  Christi  verkündigt.  Das  Charakteristische 
in  der  Verkündigung  ist  die  Herausforderung,  welche  Ircnäus 
als  eine  habituelle  Eigenschaft  Christi  hervorhebt:  ,,adversus 
inimicum  nostrum  bellum  provocans"  (V  21  i).  Die  Homeri- 
schen Helden  fordern  ihre  Gegner  heraus,  um  an  ihnen  ihre 
überlegene  Stärke  und  Gewandtheit  zu  zeigen,  Christus  fordert 
seine  Feinde  heraus,  um  ihre  Gewalt  an  sich  selber  zu  erleiden 
und  in  diesem  Erleiden  einen  Sieg  zu  erringen,  der  nicht 
v/ieder  angefochten  werden  kann.  Diese  Herausforderung  erfolgt 
noch  zweimal  (Matth.  XXIII  32,  Joh.  XIII  28).  Es  ist  aber 
streng  nach  der  Ordnung  der  ursprünglichen  Menschenbildung,, 
welche  auf  Wirken  und  Herrschen  angelegt  ist,  dass  der  zweite 
Adam  ,, wirkt  so  lange  es  Tag  ist",  das  heisst  wirkt,  so  lange 
noch  ein  Tropfen  der  Empfänglichkeit  vorhanden  ist,  bis  auch 
seine  Jünger  ihn  nicht  mehr  verstehen,  und  er  verstummen 
muss  wie  das  Lamm  vor  seinem  Scheerer.  Dieses  Lamm 
Gottes  trägt  die  Sünde  der  Welt,  Christus  schaut  und  fühlt 
den  Bann  der  Verkettung  der  Sünden,  wie  sie  sich  steigern 
von  dem  Blute  Abels  und  sich  vollenden  in  diesem  jüdischen 
Geschlecht,  welches  den  Heiligen  verräth  an  die  Heiden 
(Matth.  XXIII  33,  Luc.  XI  50  51).  Er  hat  die  böse  Gewalt 
herausgefordert,  jetzt  wendet  die  vollendete  Weltsünde  sich 
gegen  ihn  und  fordert  sein  Blut.  „Recapitulationem  effusionis 
sanguinis  ab  initio  omnium  justorum  et  prophetarum  in  semet 
ipsum  futuram  indicans"  (Irenäus  V  14  i).  Hinter  und  in 
dieser  Weltsünde  schaut  und  fühlt  der  Mensch  Christus  die 
dämonische  Macht  des  Urhebers  alles  Bösen,  der  in  der  Stunde 
der  Finsterniss  die  Menschheit  so  verstrickt,  dass  auch  den 
Jüngern  das  Herz  erstarrt  und  nur  die  einzige  Seele  des 
Mörders  und  Gehenkten  ihm  zugewendet  bleibt.  „Recapitulans 
Universum  hominem  in  se  ab  initio  usque  ad  finem  recapitulatus 


364 

-est  et  mortem  ejus"  (V  23  2).  Der  Tod,  der  gedroht  ist, 
wurde  durch  Gottes  Gnade  bisher  gemildert;  den  Tod  ohne 
•Gott  (/cDpic  OiOu  Hebr.  II  9)  muss  Christus  leiden,  um  den 
ganzen  Anfang  wieder  herzustellen.  In  diese  Tiefe  versenkt, 
ist  Christus  der  feindlichen  Macht  ohne  Rückhalt  überlassen 
und  ist  von  Gott  verlassen.  Er  spricht  diesen  unausdenkbaren 
Zustand  ohne  Hehl  und  Milderung  aus  mit  dem  tiefsten  Klage- 
laut ,, warum";  aber  nicht  eher  und  nicht  anders  lässt  er  diese 
Klage  vernehmen,  als  bis  er  Gott  zweimal  als  seinen  Gott 
angerufen.  Gott  hat  ihn  verlassen,  aber  er  hat  nicht  von  Gott 
gelassen,  aus  dem  tiefsten  Abgrund  ergreift  seine  starke 
Glaubenshand  die  göttliche  Majestät  in  der  Höhe.  Damit  ist 
der  Abfall  der  Menschheit  wieder  hergestellt.  Aber  der  Mensch, 
-der  in  dem  Sterben  ohne  Gott  in  keinem  Augenblick  v^on 
Gott  loslässt,  kann  nicht  eine  Creatur  sein,  muss  mit  Gott  in 
VVesensgemeinschaft  stehen,  des  Menschen  Sohn  offenbart  sich 
in  diesem  Martyrium,  wie  in  nichts  Anderem,  als  Gottes  Sohn. 
Durch  den  Gehorsam  bis  zum  Kreuzestode  dessen,  welcher  ist 
-des  Menschen  Sohn  und  Gottes  Sohn  in  einer  Person,  ist  ,,das 
Alte  erledigt  und  abgethan  und  einen  Anfang  gewinnt,  was 
Gott  bereitet  hatte,  und  das  AU  wird  in  neue  Bewegung 
gesetzt",  wie  Ignatius  auf  dem  Wege  zum  Thierkampfe  schreibt. 
Die  ganze  Menschheit  ist  jetzt  vor  eine  neue  Entscheidung 
gestellt.  Allen,  die  verloren  waren,  wird  nun  die  Rettung 
ermöglicht.  Diese  neue  Entscheidung  soll  sich  geschichtlich 
vollziehen,  nämlich  nach  der  Ordnung  der  Schöpfung,  nach 
der  Ordnung  der  Gerechtigkeit  und  der  Vernunft,  gleichwie 
die  Folge  der  ersten  Entscheidung  regelrecht  geschehen  ist. 
Christus  hat  eine  Gemeinde  um  sich  gesammelt  und  diese 
rüstet  er  aus,  das  durch  ihn  erworbene  Heil  der  Menschheit 
und  allen  Völkern  anzubieten.  Diese  Ausrüstung  besteht  aber 
darin,  dass  Christi  Boten  nicht  bloss  Träger  seines  Wortes 
sind,  sondern  dass  sie  durch  Mittheilung  der  Lebens-  und 
Wesens -Gemeinschaft  neue  Menschen  Christi  werden.  Nicht 
eher  traten  die  Apostel  ihr  Amt  an,  als  bis  der  Geist  sie  aus 
dem  alten  Stande  zu  einem  neuen  Wesen  umgestaltet  (Iren. 
III  17  i).    Christi  Werk  ist  auf  die  Wiedergeburt  der  Menschen 


365 

angelegt,  was  Irenäus  IV  33  11  beschreibt:  ,,purus  pure  purani 
aperiens  vulvam,  quae  regenerat  homines  in  Deum".  Der  neue 
Mensch  entsteht  durch  Selbstmittheilung  Christi  (IV  38  i).  Auf 
dieser  thatsächlichen  Grundlage  kann  dann  Irenäus  sagen,  Gottes 
V/irken  zur  Vollendung  der  Menschen  sei  dahin  gerichtet,  ,,ut 
ecclesia  ad  figuram  imaginis  filii  coaptetur"  (IV  37  7).  Die 
Kirche  soll  dem  Bilde  des  Sohnes  Gottes  ähnlich  gestaltet 
werden.  Also  auf  Grundlage  der  Lebens-  und  Wesens- 
Gemeinschaft  zwischen  Christus  und  der  Kirche  soll  auch  die 
Erscheinung  der  Kirche  der  Erscheinung  Christi  entsprechen. 
Die  Erscheinung  Christi  ist  theils  Wirken,  theils  Leiden,  er 
wirkt  so  lange  es  Tag  ist,  alle  zwölf  Stunden  bis  zur  Er- 
schöpfung ;  nachdem  aber  die  Möglichkeit  des  Wirkens  durch 
die  Herzenshärtigkeit  der  Menschen  aufgehört  hat,  vollendet 
er  sein  Werk  durch  Leiden.  Ebenso  wandelt  die  älteste 
Kirche  in  dem  Wirken,  wie  es  die  ursprüngliche  Ordnung  der 
Menschheit  mit  sich  bringt,  was  Irenäus  sehr  anschaulich  so 
beschreibt:  ,,mundus  pacem  habet  per  Romanos  et  nos  sine 
timore  in  viis  ambulamus  et  navigamus  quocunque  voluerimus"^ 
(IV  30  3).  Weil  aber  die  Weltlage  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten in  Rom  dieselbe  ist  wie  in  Jerusalem,  so  ist  die 
älteste  Kirche  vornämlich  im  Leiden  ihrem  Herrn  und  Haupte 
ähnlich.  Diesen  Charakter  der  ersten  Christer.heit  bezeichnet 
Irenäus  mit  folgendem  merkwürdigen  Wort:  ,, ecclesia  omni  in 
loco  ob  eam,  quam  habet  erga  Deum  dilectionem,  multitudinem 
martyrum  in  omni  tempore  praemittit  ad  patrem"  (IV  33  9). 
Hier  sind  wir  an  dem  Punkt  angelangt,  wo  sich  uns  der 
geheimnissvolle  Grund  des  Unterschiedes  und  Gegensatzes 
zwischen  dem  Martyrium  des  Seneca  und  dem  Martyrium  des 
Justinus  am  klarsten  herausstellt.  Wie  wunderbar  ist  das  eben 
angeführte  Wort  des  Irenäus !  Hier  redet  nicht  Einer,  der 
nur  aus  weiter  Ferne  von  dem  Martyrium  vernommen,  sondern 
Einer,  der  die  entsetzlichsten  Scenen  des  christlichen  Blut- 
zeugnisses in  unmittelbarer  Nähe  erlebt  hat.  Einer,  der  nächstens 
jenen  Gemarterten  nachfolgen  soll.  Und  wie  himmelan  erhaben 
über  den  ganzen  äusseren  Vorgang  des  Martyriums  spricht 
dieser   Mann    über    die    Sache!     Der    Cäsar,    der  Richter,    der 


3GG 

Henker,  der  Scheiterhaufen,  der  Löwe  —  dieses  Alles  ist  für 
ihn  gar  nicht  vorhanden,  die  Kirche  ist  es,  welche  die  Blut- 
zeugen voranschickt!  Zwischen  der  Gemeinde  und  dem  Vater 
in  der  Höhe  ist  eine  herzliche  Gemeinschaft,  welche  Liebe 
heisst,  zwar  ist  einstweilen  noch  eine  Kluft  zwischen  Beiden, 
aber  diese  Kluft  wird  aufhören,  und  ehe  dies  geschieht,  sendet 
die  Kirche  ihre  theuersten  Glieder  voraus  als  Boten  der  Liebe. 
Wie  ist  diese  Anschauung  möglich?  Es  giebt  nur  eine  Er- 
klärung dafür.  Unmittelbar  vor  seinen  Leiden  sagt  Jesus: 
,,ich  verlasse  die  Welt  und  gehe  zum  Vater".  Juden  und 
Heiden,  Judas  und  Satan,  Sterben  und  Grab,  dieses  Alles  ist 
nicht  vorhanden,  oder  vielmehr,  da  er  dieses  Alles  weiss  und 
schaut,  dieses  Alles  ist  ihm  verwandelt  in  eine  geebnete  Bahn, 
die  von  der  Erde  zum  Himmel  führt.  L-enäus  hat  jenes 
erhabene  Wort  nicht  etwa  aus  dem  Evangelium  Johannes  ab- 
gelernt, sondern  der  Herr  Jesus  Christus,  der  im  Voraus  seines 
Sieges  sich  bewusst  war,  derselbe  ist  es,  der  in  der  Seele  des 
Kirchenvaters  und  künftigen  Märtyrers  einen  so  hohen  Glauben 
und  Muth  gewirkt  hat.  Der  Sieger,  Jesus  Christus,  ist  es,  der 
in  den  gläubigen  Märtyrern  lebt  und  siegt.  Das  natürliche 
Martyrium  setzt  das  natürliche  Leben  ein,  das  ohnehin  dem 
Tode  verfallen  ist,  hat  daher  auch  nicht  die  Kraft,  die  feind- 
liche Gewalt  zu  brechen,  wie  wir  es  in  der  Geschichte  Senecas 
gesehen  haben.  Der  christliche  Märtyrer,  mit  Christus  ver- 
bunden und  geeinigt,  setzt  göttliches  und  ewiges  Leben  ein 
und  hat  daher  die  volle  Zuversicht,  dass  er  die  feindliche 
Gewalt,  indem  er  sie  über  sich  ergehen  lässt,  überwindet  und 
entmächtigt,  so  gewiss  Christus  den  Urfeind,  dessen  Gewalt 
erleidend,  rechtmässig  überwunden  und  gefangen  geführt. 
Darum,  so  wie  Christus,  wenn  er  sich  überzeugt,  dass  die 
Stunde  des  Leidens  gekommen  ist,  den  Feind  herausfordert, 
so  äussert  sich  der  christliche  Zeugenmuth  in  ähnlicher  Lage 
als  Trotz  gegen  den  Feind. 

Die  erste  Christenheit  überwindet  aber  nicht  bloss  den 
gegenwärtigen  Feind  durch  das  Innewohnen  Christi  des  Ueber- 
winders  in  freudiger  Zuversicht,  sondern  schaut  auch  dem 
künftigen    und    letzten    Feind    muthig    ins    Angesicht.     In    der 


367 

römischen  Weltmacht  schaut  die  Christenheit  trotz  aller  anti- 
christlichen Feindschaft  das  Vorhandensein  göttlicher  Stiftung 
(Iren.  I\^  36  6),  sie  hofft  daher  auch  diese  Feindschaft  durch 
ihr  Gutesthun  zu  bekehren,  wie  es  ihr  auch  wirklich  laut  des 
grossen  Zeugnisses  in  dem  Edict  von  Mailand  gelungen  ist. 
Aber  aus  dem  prophetischen  Wort  weiss  die  Christenheit,  dass 
das  Böse  in  der  Weltmacht  das  Gute  verschlingen  und  die 
ganze  Verkettung  der  Sünde  von  dem  Falle  her  in  einer 
Person  zusammenfassen  wird,  welcher  als  dem  ausgewirkten 
Antichristenthum  die  Gewalt  in  der  Welt  übergeben  wird. 
Der  Macht  dieser  vollendeten  Bosheit  und  List  wird  die 
Gemeinde  Christi  in  den  letzten  Tagen  übergeben,  denn  es 
soll,  wie  Irenäus  sagt,  die  Kirche  ganz  und  gar  dem  Bilde 
des  Sohnes,  also  auch  dem  Leiden  ohne  Hülfe  und  Milderung 
ähnlich  werden.  Der  christliche  Blutzeuge  steht  also  nicht  nur 
der  Flamme  des  gegenwärtigen  Scheiterhaufens  gegenüber,  er 
schaut  auch  die  letzte  Verfolgung  des  Thieres  aus  dem  Ab- 
grund und  bleibt  dennoch  getrost  und  siegesgewiss.  Dazu 
reicht  nicht  aus  Wort  oder  Lehre,  Bild  oder  Beispiel  Christi, 
nichts  Geringeres  als  Christus  selber  muss  in  solchen  Menschen 
wohnen,  leiden  und  überwinden.  Und  nur  durch  diese 
geheimnissvolle  Einigung  zwischen  Christus  und  seinen  Blut- 
zeugen erklärt  es  sich,  dass  diese  Christen,  vor  deren  leiblichen 
Augen  die  irdische  Welt  in  gewaltthätiger  Todesfeindschaft 
gegen  Christus  und  sein  Volk  wüthet,  mit  ihrem  geistigen 
Auge  hinausblicken  auf  einen  Zustand  dieser  irdischen  Dinge, 
welcher  als  das  erweiterte  und  vollendete  Paradies  erscheint. 
Man  pflegt  zwar  zu  lächeln  über  die  ungeheuren  Zahlen,  mit 
denen  der  ,, schwachsinnige"  Papias  sich  abmüht,  die  Glück- 
seligkeit des  künftigen  Friedensreiches  auf  Erden  zu  beschreiben. 
Man  sollte  schon  aus  dem  Grunde  sich  dieses  Spottes  enthalten, 
weil  der  sehr  ehrwürdige  Irenäus  diese  chiliastischen  Zahlen 
mit  den  eschatologischen  Weissagungen  der  alttestamentlichen 
Prophetie  zusammenstellt  (V  33  3  4).  Liegt  es  denn  nicht 
nahe  genug,  dass  diese  christlichen  Altväter  mit  diesen  Zahlen 
einestheils  die  Realität  der  künftigen  Güter  in  dem  endlichen 
Friedensreich,    anderntheils    den  unendlichen  Abstand  zwischen 


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dem  gegenwärtigen  und  zukünftigen  Zustand  anschaulich  zu 
machen  in  etwas  unbeholfener  Weise  sich  bemühen.  Anstatt 
zu  spotten,  sollte  man  aus  dieser  mangelhaften  Darstellungsform 
den  grossen  Inhalt  herauslesen,  dass  diese  für  Christus  freudig 
in  den  Tod  gehenden  Christen  mit  ihrem  Glauben  an  die  volle 
Realität  der  Menschenerlösung  durch  des  Menschen  und 
Gottes  Sohn  ganzen,  rückhaltlosen  Ernst  gemacht  haben. 
Christus  hat  vermöge  seiner  Erniedrigung  in  Leiden  und  Tod 
die  gefallene  Menschheit,  welche  geschaffen  war  zur  Ueber- 
windung  des  Bösen  und  Beherrschung  der  Erde,  wieder  her- 
gestellt, und  ist  daher  Leiden  und  Tod  auch  das  nächste 
Stadium  auf  dem  Wege  dieser  Zeiten,  auf  dem  tausend  Jahre 
wie  ein  Tag  sind,  zu  den  Ewigkeiten,  die  Einsetzung  der 
Heiligen  in  die  Herrschaft  der  Erde,  nachdem  die  letzte 
Bosheit  durch  Erleiden  der  Gewalt  entmächtigt  ist.  Wenn 
man  einen  Märtyrer  anschaute,  wie  er  in  aufrechter  Haltung 
einem  grausamen  Tode  entgegenging,  oder  wie  er  unter  un- 
menschlichen Qualen  standhaft  blieb,  dann  entstand,  wie 
Tertullian  sagt  (Apolog.  I),  die  Frage:  ,,quid  intus  in  re  sitr" 
Diese  Frage  beantwortet  Eusebius,  der  Augenzeuge  gewesen 
ist  bei  vielen  Blutzeugen :  es  ist  die  göttliche  Kraft,  die  in 
ihnen  lebt  und  wirkt,  und  wir  sagen  noch  kürzer:  es  ist 
Christus  selber,  der  ihr  Herz  erfüllt. 

Das  Martyrium  des  Seneca  ist  die  höchste  Leistung, 
welche  auf  dem  Boden  der  natürlichen  Menschheit  möglich 
war,  aber  es  fehlt  ihm  die  Kraft,  den  abgöttischen  Cultus  zu 
brechen.  Vor  dem  christlichen  Martyrium  beugt  sich  der 
römische  Cäsar,  und  es  beweist  damit  eine  übermenschliche  Kraft, 
und  diese  übermenschliche  Kraft  ist  Christus  selber,  der 
römische  Cäsar  legt  seine  angemasste  Gottheit  zu  den  Füssen 
dessen  nieder,  welcher  als  wahrer  Gott  offenbar  geworden  ist. 
Es  ist  demnach  mit  Zugrundelegung  des  Zeugnisses  Senecas 
bewiesen,  dass  das  Christenthum  übermenschlichen,  übernatür- 
lichen, göttlichen  Ursprunges  und  Wesens  ist.  Athenagoras 
sagt:  ,, Unsere  Sache  ruht  nicht  auf  Redeübung  sondern  auf 
Beweisung  und  Belehrung  durch  Thatsachen". 


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