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Full text of "Ludwig Uhland, die Entwicklung des Lyrikers und die Genesis des Gedichtes"

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Ludwig  Uhland 


Die  Entwicklung  des  Lyrikers 


und 


die  Genesis  des  Gedichtes 


Von 


Hans  Haag 


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STUTTGART  UND  BERLIN  1907 
J.  G.  COTTA'SCHE  BUCHHANDLUNG  NACHFOLGER 


/ 
/ 


Alle  Rechte  vorbehalten 


Drnek  der  Union  Danttcbe  VcrlugigeaelUcbaft  in  Stuttgart 


Herrn  Professor  Henri  Lichtenberger 

in  Paris 


in  Dankbarkeit  gewidmet 


Vorwort 


Der  erste  Abschnitt  der  vorliegenden  Untersuchung  will  eine 
zusammenhängende  Schilderung  des  inneren  Entwicklungsganges 
des  Lpikers  geben.  Es  sollen  die  Perioden  lyrischer  Stimmung 
und  Produktion  nach  Umfang,  Intensität  und  Wesenheit  hervor- 
gehoben werden.  Das  Hauptaugenmerk  wird  dabei  gerichtet 
sein  auf  den  Zusammenhang  von  Leben  und  Dichtung,  während 
der  Beziehungen  Uhlands  zur  Literatur,  die  in  zahlreichen  Unter- 
suchungen allgemeiner  und  besonderer  Art  eine  ausgiebige  Er- 
örterung gefunden  haben,  hier  hauptsächlich  nur  so  Erwähnung 
getan  wird,  daß  der  literarische  Dunstkreis,  in  dem  sich  der 
Dichter  jeweils  befand,  als  der  Hintergrund  gedacht  ist,  von  dem 
sich  die  Darstellung  abzuheben  hat.  Die  episch-lyrischen  Ge- 
dichte sind  nur  insoweit  in  Betracht  gezogen,  als  dies  für  die  Ab- 
schätzung der  dichterischen  Produktion  überhaupt  unerläßlich 
war.  Einzelne  mußten  auch  wegen  des  ihnen  innewohnenden 
lyrischen   Stimmungselementes  gelegentlich  Erwähnung   finden. 

Im  zweiten  Abschnitt  soll  untersucht  werden,  wie  sich  der 
dichterische  Vorgang  bei  Uhland  gestaltet,  von  den  Produktions- 
bedingungen allgemeinster  Art  bis  zur  Werkstattarbeit  im  engsten 
Sinne  des  Worts. 

Der  Verfasser. 


Inhalt 


Seite 
Einleitung 1 

Erster  Teil 
Die  EntTvieklnng  des  Lyrikers 

1.  Frühzeit  (bis  1804).    Irrungen  und  Wandlungen 4 

2.  Das  Jahr  1805.    Reifende  Eigenart 14 

Fruchtbarkeit  und  vielfältiges  Streben  14.  Wehmutsstimmung 
und  Todesgedanken  17.  Übrige  Gegenstände  der  Lyrik  19. 
^Zustandslieder"  20.  Deren  Bedeutung  für  Uhlands  dich- 
terische Eigenart  22. 

3.  1806  bis  Anfang  1810 23 

Stocken  der  Produktion,  Krisis;  Abwendung  von  der  Senti- 
mentalität, neue  Pläne  23.  Erste  nähere  Berührung  mit  der 
Romantik  (Sonntagsblatt-Kreis)  25.  Ein  poetisches  Glaubens- 
bekenntnis (der  Aufsatz  über  das  Romantische)  26.  Bedeutung 
der  Romantik  und  des  Sonntagsblatt-Kreises  im  besonderen 
für  Uhlands  Entwicklung  28.  Inniges  Verhältnis  zu  Kunst 
und  Natur  (Goethe)  33.  Liebeslyrik  35.  Deren  Zusammen- 
hang mit  dem  Leben;  das  Problem  der  toten  Geliebten  36. 
Innere  Zustände  1808  und  1809,  Schwanken  der  Produktion, 
Zweifel  41. 

4.  Mitte  1810  bis  Ende  1812.     Stärkste  Intensität  des  lyrischen 
Dranges 42 

Negatives  Ergebnis  des  Pariser  Aufenthalts  für  die  Lyrik  42. 
Schaffensdisposition  nach  der  Heimkehr,  Klagen  43.  Reiche 
Entfaltung  der  lyrischen  Produktion  und  Schaffensglück  44. 
Erneute  Zweifel  46.  Deren  Begründung;  Lyrik,  Erlebnis  und 
Charakter  47.    Gemüt,  Religiosität  51.  Dichter  und  Heimat  52. 

5.  1813  bis  1817.    Die  Ära  der  politischen  Lyrik 55 

Die  Übersiedelung  nach  Stuttgart  und  deren  Folgen  55.  Ein- 
wirkung der  Zeitereignisse  56.  Des  Dichters  Stellung  zu  den- 
selben 1813  und  1814;  57.    Eine  neue  Stilgattung  58.    Zu- 


YIII    — 


Seite 


sammengehörigkeit  der  politischen  und  der  , vaterländischen" 
Lyrik  60.  "Wie  ühland  die  Wendung  zur  politischen  Lyrik 
vollzog  61.  Folgen  derselben  für  ühlands  übrige  Lyrik ;  Ge- 
sellige und  Gelegenheitsgedichte  62.  Stellung  zur  Romantik 
65.     Poetische  Bilanz  der  Lyrik  dieser  Periode  67. 

6.  Nach  1817.  Spätzeit.  Versiegen  der  lyrischen  Produktion  .  68 
Entstehung  der  Liebe  zu  Emilie  Vischer  und  ihre  Bedeutung 
für  Uhlands  Lyrik  68.  Spärlichkeit  der  lyrischen  Produktion 
71,  Vorwiegen  der  Gelegenheitsdichtung  und  deren  Ab- 
stufung 72.  Stellung  ühlands  zu  seinem  Schicksal  74.  Kurzer 
Nachsommer  der  Lyrik  75.  Bedeutung  desselben  innerhalb 
der  Uhlandschen  Lyrik  überhaupt  76.  Resignation  78.  Gründe 
des  frühen  Versiegens  der  dichterischen  Kraft  79. 

Zweiter  Teil 
Die  Genesis  des  Gedichtes 

1.  Produktionsbedingungen 82 

a)  Die  Art  der  dichterischen  Produktion  und  die  Produktions- 
bedingungen bei  ühland  im  allgemeinen 82 

Das  Erlebnis  83.  Ruhe  und  Sammlung  84.  Jahres- 
und Tageszeit  84. 

b)  Besondere  produktionsfördemde  Faktoren 86 

Berührung  mit  der  Natur  (Spaziergänge)  86.  Akustische 
Eindrücke  (Geräusch,  Klang,  Ton,  Musik)  87.  Träume 
88.    Lektüre  89.    Aufforderung  90. 

c)  Kombination  dieser  Faktoren  in  konkreten  Fällen  ...      91 

5.  Verfahren 93 

a)  Gestaltung  der  Eindrücke 93 

Wiedergabe  94.  Steigerung  95.  Umdeutung  97.  Viel- 
fältige Verwendung  eines  Eindrucks  98.  Mangelhafte 
Poetisierung  99.  Unerklärliche  Entstehung  des  dichte- 
rischen Dranges  99. 

b)  Gentaltung  des  Gedichtes 99 

Andere  Bedingungen  als  bei  der  Konzeption  100.  Öko- 
nomie 101. 

c)  Die  Werkstattarbeit  im  engsten  Sinn 102 

a)  Änderungen  nach  inhaltlichen  Gesichtspunkten  108. 
ß)  Änderungen  nach  formellen  Gesichtspunkten  107. 
Y)  Eingreifende  Änderungen  111. 

oa)  Umstellung,  Einfügung,   Streichung  von  Stro- 
phen 111. 
ßß)  Völlige  Umgestaltung  des  Gedichtes  118. 
•Schluß 117 


Einleitung 

Das  Bild,  das  man  von  Uhlands  dichterischer  Persönlichkeit 
auf  Grund  der  von  ihm  selbst  veranstalteten  Sammlung  der 
Gedichte  gewinnt,  stellt  sich  von  Anfang  an  als  ein  so  in  sich 
geschlossenes  und  von  seiner  Umgebung  streng  abgegrenztes  dar, 
daß  es  den  Anschein  hat,  als  habe  es  sich  rein  aus  eigenen  Ge- 
setzen von  innen  heraus  gestaltet.  Der  Literaturgeschichte,  welche 
ühland  in  den  Zusammenhang  der  literarischen  Erscheinungen 
seiner  Zeit  einzugliedern  hat,  erwächst  daher  eine  schwierige 
Aufgabe  Doch  steht  sie  meist  nicht  an,  Uhland  ohne  weiteres 
dem  bunten  Zuge  der  Romantiker  folgen  zu  lassen,  in  welchem 
sich  freilich  der  ernst  und  bedächtig  einherschreitende  Meister 
eigenartig  ausnimmt.  Hat  doch  das  Ganze  seiner  Persönlichkeit, 
wenn  man  nicht  einzelne  Triebe  seines  Dichtens  im  Auge  hat,  mit 
der  Gesamterscheinung  der  Romantik  scheinbar  so  wenig  ge- 
meinsam, daß  eine  solche  Zusammenstellung  fast  paradox  an- 
mutet. D.  F.  Strauß  hat  für  dieses  in  den  Tatsachen  begründete 
Paradoxon  ein  oft  wiederholtes,  geistreiches  Wort  geprägt,  indem 
er  Uhland  als  den  „Klassiker  der  Romantik"  bezeichnete,  und 
diese  schillernde  Bemerkung  ist  vielleicht  das  Treffendste,  was 
sich  über  Uhlands  Zusammenhang  mit  der  Literaturgeschichte 
sagen  läßt.  Mag  Uhland  in  engste  Fühlung  mit  den  Romantikern 
getreten  sein,  mag  er  selbst  eine  „romantische  Periode"  gehabt 
haben,  ja  noch  mehr:  mag  er  sich  selbst  als  Romantiker  gefühlt 
haben  —  es  bleibt  in  seiner  dichterischen  Persönlichkeit  doch 
immer  ein  bedeutender  Rest,  der  in  der  Romantik  nicht  aufgeht. 

Diese  besondere  Stellung,  die  Uhland  in  der  Literaturgeschichte 
einnimmt,  ist  in  seinem  innersten  Wesen  begründet.  Die  Zeit,  in 
der  Uhland  zum  Dichter  reifte,  war  von  literarischen  Anregungen 
derart  gesättigt,  daß  es  schwer  schien,  sich  nicht  wenigstens 
zeitweise  einer  derselben  voll  hinzugeben:  Klopstock,   Herder, 

Haag,  Uhland  1 


—     2     — 

Sturm  und  Drang,  Goethe,  Schiller,  die  Romantik  —  lauter  Er- 
scheinungen, denen  faszinierende  Kräfte  innewohnten,  wohl  ge- 
eignet, einen  aufstrebenden,  suchenden  Dichter  zu  Widerspruch 
und  leidenschaftlicher  Parteinahme  hinzureißen.  Und  doch 
findet  man  wenig  davon  bei  Uhland.  In  seinen  ersten  Jugend- 
jahren zwar  neigte  er  sich  bald  diesen,  bald  jenen  Vorbildern  zu, 
deren  Spuren  eine  eingehende  Untersuchung  wohl  zu  verfolgen 
vermag^),  imd  auch  später  noch  finden  sich  in  seinen  Werken 
Fäden,  die  ihn  mit  anderen  Dichtern  verknüpfen.  Aber  die  Jugend- 
vorbilder waren  von  ephemerer  Bedeutung  und  die  späteren  Be- 
ziehungen zu  einzelnen  Dichtem,  selbst  diejenige  zu  Goethe,  die 
nach  seinem  eigenen  Geständnis  die  engste  war,  haben  auf  sein 
Schaffen  nicht  in  der  Weise  einen  bestimmenden  Einfluß  geübt, 
daß  man  sich  ohne  sie  das  Bild  von  Uhlands  dichterischem  Ent- 
wicklungsgang in  wesentüchen  Stücken  verändert  vorzustellen 
hätte.  Wichtiger  sind  die  Anregungen,  die  Uhland  von  ganzen 
Gattungen,  wie  vom  mittelalterlichen  Heldenepos,  vom  Minne- 
sang und  Volkshed  empfangen  hat.  In  allen  seinen  Uterarischen 
Beziehungen  aber  kennzeichnet  Uhland  ein  besonderes  Ver- 
halten. Seine  Natur  war,  nach  den  Schwankungen  der  ersten 
Jugendzeit,  darin  konsequent,  daß  sie,  bei  aller  fein  nachfühlenden 
Sensibilität,  die  sie  auszeichnete,  nur  annahm,  was  ihr  homogen 
war,  alles  andere  einfach  ablehnte;  es  gab  Gebiete  und  Erschei- 
nungen, zu  denen  Uhland,  da  seine  Natur  sie  als  schlechthin  fremd 
empfand,  keinerlei  Stellimg  nahm,  auch  nicht  feindUch  oder 
kritisch  tadelnd.  Sie  mochten  wohl  auch  ihre  Existenzberech- 
tigung haben,  aber  —  sie  berührten  ihn  nicht  und  er  sah  keine 
Veranlassung,  sich  mit  ihnen  auseinanderzusetzen.  So  kommt  es, 
daß  man  in  den  Äußerungen  Uhlands,  die  uns  überkommen 
sind,  vergebens  nach  einer  kräftigen  Verurteilung  irgendwelcher 
ihm  von  Grund  aus  fremder  poetischer  Produkte  sucht  und  daß 
aach  Auslassungen  lobender  Art  über  zeitgenössische  Dichter 
oder  über  solche  der  Vergangenheit  bei  Uhland  selten  sind'). 


')  J>ie  meisten  positiven  Ergebnisse  im  einzelnen  bietet  Harry  Mayno 
(Uhlands  Jugenddiohtung,  Berlin,  Diss.  1899),  der  die  verschiedenen 
Einflüsse "  auch  noch  in  spätere  Zeit  hinein  verfolgt. 

')  Vgl.  Netter,  Ludwig  Uhland,  sein  Leben  und  seine  Dichtungen, 
1863  (Netter).  K.  367. 


Waren  sie  ihm  wesensfeind,  so  bewirkte  seine  fast  allzu  passive 
Toleranz,  daß  er  sich  nicht  kritisch  mit  ihnen  auseinandersetzte. 
Waren  sie  ihm  wesensfreund,  so  nahm  er,  was  verwandte  Saiten 
bei  ihm  in  Schwingung  versetzte,  stillschweigend  so  in  sich  auf, 
daß  es  sich  mit  seinem  Eigenen  ganz  verschmolz. 

Dieses  wichtige  prinzipielle  Verhalten  Uhlands  fremden  Ein- 
flüssen gegenüber  weist  darauf  hin,  daß  für  das  Verständnis 
des  Lyrikers  von  der  Bewertung  der  in  dem  Subjekt  des 
Dichters  selbst  liegenden  Faktoren  und  von  der  Untersuchung 
ihres  Zusammenwirkens  mit  den  wechselnden,  im  Lebensgang 
begründeten  Bedingungen  (worin  der  Schwerpunkt  dieser  Ab- 
handlung liegt)  sich  Ergebnisse  erwarten  lassen,  welche  die 
vielfach  unternommene^)  Herstellung  der  literarischen  Zu- 
sammenhänge zu  ergänzen  geeignet  sind.  Man  hat  gezweifelt,  ob 
es  überhaupt  möglich  sei,  dem  Persönlichen  und  Erlebten  in 
Uhlands  Dichtungen  auf  die  Spur  zu  kommen').  Allein  diese 
Möglichkeit  kurzweg  leugnen,  hieße  sich  den  Hauptweg  zum 
Verständnis  eines  großen  Teils  der  Dichtungen  Uhlands  ver- 
schließen. Die  Schwierigkeit  eines  solchen  Versuches  bei  einem 
Lyriker,  der  im  allgemeinen  so  wenig  aus  sich  heraustrat  und 
frühzeitig  zur  Objektivität  des  epischen  Gedichtes  hinneigte,  soll 
nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  aber  gerade  sie  mag  zu  einem 
Unternehmen  herausfordern,  das  umso  verlockender  erscheint, 
als  Uhland  sich  nicht  jederzeit  so  verschlossen  zeigte  wie  in 
späteren  Jahren.  Kennen  wir  doch  auch  den  nach  eigenem  Zeug- 
nis^) in  jugendlichen  Ergüssen  sich  ergehenden  Lyriker,  der 
uns  tief  in  seine  Brust  blicken  läßt.  Immer  mehr  wird  freiUch 
später  der  Blick  in  sein  Inneres  verengt,  immer  mehr  verstummen 
dann  auch  die  lyrischen  Töne,  und  gerade  das  soll  unsere  Aufgabe 
sein,  den  Wurzeln  des  lyrischen  Dranges  und  den  Bedingungen 
seines  Wirkens  auf  den  verschiedenen  Lebensstufen  so  weit  wie 
möghch  nachzudringen. 

^)  Am  umfassendsten  von  Herrn.  Fischer,  Ludwig  Uhland.     Eine 
Studie  zu  seiner  Säkularfeier.     1887. 

^)  Herrn.  Grimm,  Deutsche  Rundschau  LI  (1887),  S.  63. 

^)  Ludwig  Uhlands  Leben  von  seiner  Witwe,  1874  (Leben),  S.  34. 


I 
Die  Entwicklung  des  Lyrikers 


1.  Frühzeit  (bis  1804) 

Jüie  ersten  Gedichte,  die  Uliland  veröffentlicht  hat,  stammen 
aus  dem  Jahr  1805^).  Daraus  geht  hervor,  daß  Uhland  die  Jahre 
1800  bis  1804,  in  denen  er  sich  zum  Teil  schon  lebhaft  dichterisch 
betätigt  hat,  als  Lehrjahre  auffaßte,  deren  Früchte  auf  allge- 
meines und  bleibendes  Interesse  nach  seiner  Ansicht  keinen  An- 
spruch machen  konnten.  Man  hat  heute  keinen  Grund,  Uhlands 
eigener  Abgrenzung  dieser  Jugendperiode  entgegenzutreten;  denn 
in  der  Tat  findet  sich  unter  den  in  jenen  vier  bis  fünf  Jahren 
entstandenen  Gedichten^)  keines,  das  ganz  den  Stempel  seiner 
Persönlichkeit  trägt  und  dabei  zugleich  den  von  ihm  selbst  später 
an  die  Form  gestellten  Ansprüchen  genügt,  während  anderseits 
manches  Gedicht  des  Achtzehnjährigen  neben  dem  Reifsten, 
was  Uhland  geschaffen  hat,  wohl  bestehen  kann.  —  Eine  so 
frühe  Meisterschaft  setzt,  wie  hoch  man  auch  das  dem  Dichter 
verliehene  Maß  natürlicher  Begabung  veranschlagen  mag,  eine 
sich  über  Jahre  erstreckende  Übung  voraus.  Man  darf  bei  Uhland, 
wenn  auch  seine  Gedichte  im  Vergleich  mit  denjenigen  der  meisten 
Dichter  eine  auffallende  Gleichmäßigkeit,  jene  „Staete"  zeigen, 
die  auch  den  Grundzug  seines  ('harakters  bildet,  doch  den  Ge- 
sichtspunkt der  Entwicklung  nicht  vernachlässigen.     Nur  daß 


')  „Der  blinde  König"  und  „Die  sterbenden  Helden",  beide  vom 
Jahr  1804,  sind  erst  in  der  Umarbeitung  von  1814  erschienen. 

')  Sämtliche  Gedichte  Uhlands  liegen  in  der  größten  erreichbaren 
Vollständigkeit  und  Ordnung  vor  in  der  von  £.  Schmidt  und  J.  Hart- 
mMin  b«forgten  vollständigen,  kritischen  Ausgabe  in  2  Bänden,  1898 
(Gedichte). 


-    5    — 

sich  diese  letztere  mehr  in  ruhigem  Fluß  vollzieht  als  in  heftigen 
Krisen  und  Umwälzungen.  So  finden  sich  schon  im  Verlauf  der 
ersten  Jugendperiode  Züge,  die  Uhlands  spätere,  eigene  Art  im 
Keim  erkennen  lassen  und,  wenn  sie  auch  besonders  im  Anfang  von 
einer  großen  Anzahl  nach  Form  und  Inhalt  konventioneller  Ge- 
dichte überwuchert  sind,  von  Jahr  zu  Jahr  zu  größerer  Entfaltung 
gelangen.  Nur  diesen  lebensfähigen  Elementen  von  Uhlands 
Dichtung  soll  im  folgenden  eingehendere  Betrachtung  geschenkt 
werden. 

Die  wenigen  kindlichen  Versuche  des  Jahres  1800,  sowie  die 
durch  die  mittelbare  oder  unmittelbare  Veranlassung  des  Schul- 
unterrichts entstandenen  antikisierenden  Gedichte  des  folgen- 
den Jahres  sind  von  keinem  Belang.  Im  übrigen  steht  dieses 
letztere  sichtlich  im  Zeichen  des  Religionsunterrichts  und  der 
Vorbereitung  zur  Konfirmation.  Breite  Beschreibung,  didaktische 
Betrachtung  und  paränetische  Reflexion,  die  ganz  mit  den  her- 
kömmlichen Mitteln  kirchlicher  oder  rehgiöser  Dichtung  arbeitet 
—  Klopstock  hinterläßt  eine  breite  Spur  —  und  deren  ganzer 
Apparat  von  Rhetorik  und  Allegorie,  von  schwülstigen  Metaphern, 
stark  aufgetragenen  und  aufgeregten  Bildern  und  drastischen 
Ausdrücken^)  reichlichen  Gebrauch  macht.  Dabei  war  der  Vier- 
zehnjährige von  seinem  Gegenstand  jedenfalls  tief  durchdrungen; 
auch  da,  wo  er  das  Ende  des  Sünders  mit  den  Worten  beschreibt : 

Und  in  der  Tiefe  wüst  und  graus 
Schnaubt  er  zerquetscht  die  Seele  aus 

meint  er  es  völlig  ernst.  Doch  bleibt  die  religiöse  Lyrik  auf  dieses 
Jahr  beschränkt,  und  wenn  sich  auch  Spuren  eines  tief  religiösen 
Gemütes  in  seinen  Gedichten  später,  und  gerade  in  der  letzten 
Periode  seines  Dichtens  häufiger,  finden,  so  hat  er  doch  die  dich- 
terische Behandlung  religiöser  Stoffe  von  nun  an  mit  Bewußtsein*) 
unterlassen. 

Neben  diesen  zahlreichen  Gedichten  reUgiösen  oder  morali- 
sierenden Inhalts  stehen  einige  wenige,  in  denen  sich  der  junge 
Dichter  die  Natur  zum  Gegenstande  genommen  hat.    Auch  sie 

^)  Vgl.  Maync,  a.  a.  0.  S.  16  ff. 

)  Vgl.  Herrn.  Fischer  in  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Literatur- 
geschichte I  (1887),  S.  379. 


—     6     — 

bewegen  sich  in  breiter,  umständlicher  Schilderung,  die  mehr  auf 
den  klassischen  Vorbildern  der  Schullektüre  als  auf  selbständiger 
Verarbeitung  der  Natureindrücke  zu  beruhen  scheint.  Und  doch, 
sieht  man  näher  zu,  so  überrascht  gerade  in  dem  frühesten  dieser 
Versuche,  in  dem  „Zufriedenheit"  überschriebenen  Gedicht  vom 
Januar  1801,  ein  Zug,  der,  kurz  aufleuchtend,  auf  ein  Lieblings- 
motiv von  Uhlands  späterer,  reifer  Naturljn-ik  hindeutet :  die  Ver- 
einigung eines  stimmungsvollen  Naturbildes  mit  religiöser  An- 
dacht. Von  hier  aus  führen  Fäden  z.  B.  zu  „Des  Dichters  Abend- 
gang", „Frühlingsfeier",  besonders  aber  „Schäfers  Sonntagslied" ^). 
Dazu  kommt  noch  der  für  Uhlands  Art  so  bezeichnende  Zug, 
daß  der  Dichter  jene  andächtige  Stimmung  in  einer  in  die  Land- 
schaft passend  eingefügten  Gestalt  zusammenfaßt  und  so  die 
IjTische  Stimmung  objektiviert.  Mag  auch  das  künstlerische  Ver- 
fahren in  diesem  Jugendgedicht  noch  so  primitiv  und  dem  Dichter 
selbst  gewiß  nicht  zum  Bewußtsein  gekommen  sein  (waren  ihm 
diese  Eingangsstrophen  doch  sichtlich  Nebensache  im  Vergleich 
mit  dem  moralisierenden  Hauptteil  des  Gedichts)  —  dem  Eindruck, 
daß  hier  ein  bedeutsamer  Hinweis  auf  Uhlands  spätere  Art  vor- 
liegt, wird  man  sich  nicht  entziehen  können. 

Das  erste  Gedicht  Uhlands,  das  rein  Persönliches  ausspricht, 
sind  die  übrigens  unbedeutenden  zwei  Strophen,  die  er  im  Dezem- 
ber desselben  Jahres  „In  das  Stammbuch  einer  Freundin"  ge- 
schrieben. Es  bildet  den  Übergang  zu  einer  neuen  Entwicklungs- 
stufe des  Dichters,  die  sich  schon  im  Jahre  1802  deutlich  ausprägt. 
Wenn  sich  in  diesem  auch  noch  Nachklänge  der  moralisierenden, 
allegorißierenden  Art  des  Vorjahrs  finden,  so  gewährt  es  im  ganzen 
doch  ein  völlig  verändertes  Bild  dadurch,  daß  nunmehr  das 
dichterische  Subjekt  in  den  Vordergrund  tritt').  Freilich  nimmt 
diese  erste  Betätigung  der  Subjektivität  alsbald  eine  bedenk- 
liche Wendung.     Das  zeigt  sich  schon  in  dem  ersten  Gedicht 


^)  Ein  Qedioht,  das  auch  £.  Nägele  hier  beigezogen:  Beiträge  zu 
Uhland,  TQb.  Progr.  1893.  S.  30. 

')  Nur  in  diesem  Sinne  sehe  ich  mit  Nägele  (S.  36  f.)  schon  im  Jahr 
1803  einen  Fortschritt,  der  aber,  wie  sich  zeigen  wird,  nach  einer  anderen 
Seite  stark  einzuschränken  ist.  Wehmut  und  Liobo  sind  nicht,  wie 
Nägele  anzunehmen  scheint,  gleichzeitig  in  des  Jünglings  Seele 
eingezogen. 


_     7     — 

des  Jahres,  das  „Im  Tannenhain"  betitelt  ist  und  in  den 
Versen : 

Unter  der  Tannen  ümschattung,  im  Heiligtume  der  Schwer- 
mut, 
Sitz'  ich  verschlungenen  Arms,  über  bemoostem  Gestein,  — 

treffend  den  Grundakkord  der  nächsten  Jahre  anschlägt.  Dieses 
Gedicht  bezeichnet  den  Anfang  der  „mystisch  -  sentimentalen 
Wehmutschwelgerei",  die  Gotthold  Schmidt^)  wohl  mit  Recht 
bis  in  das  Jahr  1806  herab  verfolgen  zu  können  glaubt,  wenn  sie 
auch  im  Verlauf  dieser  Jahre,  wie  wir  sehen  werden,  starken 
Modifikationen  unterworfen  war.  Die  Tatsache,  daß  diese  Grund- 
stimmung Uhlands  Dichtergemüt  so  lange  Zeit  beherrschte,  legt 
von  vornherein  die  Vermutung  nahe,  daß  in  der  sonst  so  kräftigen 
Persönlichkeit  Uhlands  doch  eine  Strömung  vorhanden  gewesen 
sein  muß,  die  sentimentalen  Anwandlungen  Vorschub  leistete. 
Zunächst  freilich,  in  den  Jahren  1802  und  1803,  ninmit  diese 
Stimmung  einen  so  unnatürlichen  Ausdruck  an  und  tritt  gleich 
anfangs  in  einem  so  krankhaft  gesteigerten  Maße  auf,  daß  man  die 
Einwirkung  der  Dichter  Hölty,  Matthisson  und  Salis  nicht  leicht 
zu  hoch  anschlagen  kann.  So  selbständig  sich  Uhland,  von  seinem 
ersten  Auftreten  in  der  Öffentlichkeit  an,  fremden  Einflüssen 
gegenüber  gezeigt  hat,  so  völlig  begibt  sich  der  jugendliche  Dichter 
seiner  Eigenart  in  den  Jahren  1802  und  1803.  Nie  ist  er  dem 
Leitstern  seiner  Dichtung  so  ferne  gestanden,  wie  in  dieser  Zeit, 
in  der  er  „horchend  dem  Stöhnen  des  Winds  in  mondbeglänzten 
Ruinen"  auf  Gräbern  wandelte  und  (in  dem  Gedicht  „An  einen 
Freund")  sich  die  Wehmut  zur  Freundin  erwählt  und  ihre  Losung: 
„fühle  weich  und  weine!"  zu  der  seinen  macht. 

Es  ist  kein  Zufall,  daß  er  gerade  in  dieser  Zeit  größter  Un- 
selbständigkeit auch  einem  Dichter  bedeutende  Konzessionen 
machte,  zu  dem  er,  wenigstens  in  seiner  Jugend ,  kein  näheres 
Verhältnis  zu  gewinnen  vermochte:  Schiller^).     Am  unverkenn- 

^)  Gotthold  Schmidt,  Uhlands  Poetik.  Tüb.  Diss.  1906,  S.  7. 
)  In  späteren  Jahren  scheint  er  Schiller  eher  gerecht  geworden  zu 
sein,  wie  aus  einem  Brief  Karl  Mayers  an  Uhland  vom  22.  September  1835 
(Karl  Mayer,  Ludwig  Uhland,  1867  [Mayer]  II,  S.  153)  hervorgeht: 
„Vielleicht  könntest  Du  die  Bemerkung,  die  Du  mir  neulich  machtest, 
daß  Dich  Schillers  Gedichte  jetzt,  im  späteren  Alter,  mehr  als  früher 


—     8     — 


barsten  ist  dessen  Einfluß  in  den  Gedichten  „Der  Dichter"  und 
„Dithyrambe",  sowohl  hinsichtlich  der  Strophenform ^)  als  auch 
in  der  überschwengUchen,  dem  Anschauungskreis  der  Antike 
entsprechenden  Diktion :  wie  befremdend  klingen  bei  Uhland 
Namen  wie  Phöbus,  Helikon,  Orkus,  Aurora,  Philomele,  Elysium ! 
Ja  selbst  die  Elegidien  des  Jahrs  1803,  die  noch  am  ehesten  Per- 
sönHches  aussprechen,  zeigen  noch  starke  schillerische  Anklänge, 
wie  aus  dem  Distichon  zu  ersehen  ist: 

Leiht  auch  das  Auge  mir  blos  der  Schönheit  größeren  Umriß, 
Schöner  füllet  der  Geist  und  idealisch  ihn  aus^). 

Dieselbe  Unwahrheit  in  Ausdruck  und  Empfindung  läßt  auch 
den  Versuch  scheitern,  eine  Naturstimmung  festzuhalten:  das 
Gedicht  „Novembergedanken",  in  welchem  der  Dichter  sich  nach 
der  Jahreszeit  zurücksehnt,  die  „einst  der  Freude  göttlichen  Pokal 
uns  bot",  mutet  uns  so  fremd  an,  wie  kaum  ein  anderes  Erzeugnis 
von  Uhlands  Naturljrik.  Und  ebensowenig  will  ihm  noch  die 
Ballade  geüngen,  in  der  er  sich  deutlich  an  ein  weiteres  Vorbild, 
an  Bürger,  anschließt^). 

Aber  lange  konnte  dieser  Zustand  der  Abhängigkeit  bei  einer 
Natur  wie  der  Uhlandschen  nicht  dauern.  In  der  Tat  sehen  wir 
im  Jahr  1804  eine  Reaktion  sich  anbahnen,  die  ihn,  freilich  nach 
mancherlei  Rückfällen  und  Irrwegen,  in  kurzer  Zeit  seiner  wahren 
Eigenart  zuführte.  Gleich  das  erste  Gedicht  des  Jahres  „An 
F.  H."  („Einsam  wandert'  ich")  nimmt  in  der  Entwicklung  des 
jungen  Lyrikers  eine  hervorragende  Stellung  ein.  Nach  Form  und 


ansprechen,  zu  ein  paar  anerkennenden  Versen  benützen."  —  Übrigens 
TFar  zweierlei:  das  rhetorische  und  das  philosophische  Element  in  Schillers 
Dichtung,  Uhlands  Wesen  gleich  fremd,  und  es  ist  eine  Frage,  ob  er, 
■elbst  später,  sich  mit  beidem  befreundet  hat.  Näheres  über  den  Zu» 
•ammenhang  mit  Schiller  siehe  Maync  S.  24  f!. 

^)  Die  Strophe  des  ersteren  Gedichtes  ist,  von  einer  kleinen  Ab- 
weichung im  letzten  Vers  abgesehen,  identisch  mit  derjenigen  der  „Götter 
Griechenlands". 

')  Wie  Düntzer  (Erläuterungen  zu  den  deutschen  Klassikern, 
7.  Abt.  1890,  S.  6)  gerade  in  diesem  Vers  der  Elegidien  den  Einfluß 
Ton  Goethea  Römischen  Elegien  erkennen  kann,  ist  unverständlich. 
Dagegen  kann  man  in  den  Worten:  „Andre  schwelgen  im  Schaun"  eine 
Anspielung  auf  Goethe  finden. 

')  Nigela  S.  34 


Inhalt  ist  es,  wenn  auch  noch  jugendlich  unreif,  das  erste  lyrische 
Gedicht  Uhlands,  in  dem  er  sich  ungezwungen  gibt^).  Nichts  mehr 
von  der  ihm  wesensfremden  Reflexionspoesie  früherer  Jahre  mit 
ihrer  schwulstigen,  metaphernreichen  Diktion,  nichts  mehr  von 
dem  ihm  nicht  minder  unnatürlichen,  auf  künstlicher  Steigerung 
des  Gefühls  beruhenden  Wehmutstaumel  —  es  ist,  als  ob  sich 
ihm  der  Nebel,  mit  dem  ihm  „die  Götter  frühe  das  Auge  um- 
florten"^), wenigstens  vorübergehend  plötzlich  gelichtet  hätte. 
Rein  an  persönlich  Erlebtes  und  Selbstgefühltes  anknüpfend  er- 
wächst ihm  das  Gedicht.  „Ein  einsamer  Spaziergang"  im  Mai 
bringt  ihm  die  Bilder  eines  mit  dem  Freunde  unternommenen 
Ausflugs  mit  schlichten  Frühlingssensationen  zurück,  und  daraus 
ergibt  sich  ihm  —  der  Matthisson- Jünger  fällt  glücklich  aus  der 
Rolle  —  der  Gedanke  der  Notwendigkeit,  sich  der  Jugend  zu 
freuen,  solange  es  Zeit  ist :  das  uralte  Thema  aller  Frühlingslyrik. 
Die  gute  Natur  des  Dichters  hilft  sich  hier  selbst.  Die  durch 
Lektüre  und  auch  durch  jugendliche  Schwärmerei  genährte  Schwer- 
mut hatte  einen  ungesunden  Grad  erreicht.  Sie  forderte  ein  Gegen- 
gewicht, und  dieses  bot  sich  in  der  dem  jugendlichen  Alter  nicht 
minder  als  die  Sentimentalität  eignenden  Lebenslust.  Zugleich 
wird  dieses  Gedicht,  das  entschieden  unter  einem  günstigen 
Stern  geboren  wurde,  zum  Gefäß  einer  tiefen  Wahrheit  für  den 
Dichter.  Es  enthält  in  seinem  Schluß  eine  Prophezeiung,  die 
auch  schon  Frau  Uhland  aufgefallen  ist")  und  die  sich  dem 
Dichter  später  buchstäblich  erfüllen  sollte: 

Will  der  Mann  noch  mit  der  Muse  ringen: 
Wird's  ein  ernstes,  dämmeriges  Lied; 
Will  der  Greis  die  goldnen  Saiten  rühren: 
Wird's  ein  Denkspruch,  seinen  Stein  zu  zieren. 

Freilich  sollte  das  Losringen  von  der  düster -sentimentalen 
Gefühlsschwelgerei  sich  nicht  so  schnell  vollziehen.  Namentlich 
bildete  Ossian  eine  Gefahr,  dessen  Gesänge,  soweit  sie  nicht 
schon  bisher  wirksam  gewesen  waren,  in  dem  ohnehin  erweichten 

)  Auch  der  antithetische  Parallelismus  einzelner  Verse,  wie  er 
zwischen  Vers  27  f.  und  Vers  29  f.  besteht,  entspricht  ganz  Uhlands 
späterer  Technik. 

2)  Elegidien  I,  Vers  1.     Gedichte  II,  S.  258. 

^)  Siehe  Leben  S.  252. 


—     10     — 

Gemüt  des  Dichters  und  in  seiner  durch  die  jetzt  hinzutretende, 
noch  unklare  Kenntnis  der  Heldensage  und  -dichtung  bereicherten 
Phantasiewelt  einen  doppelt  empfänglichen  Boden  fanden.  So 
entsteht  die  abstoßende  Verquickung  weinerlicher  Stimmung 
mit  den  verblaßten  Bildern  eines  entschwundenen  nordischen 
Elraftheldentums,  wie  sie  im  „Mailied"  und  in  der  „Zauberin" 
zum  Ausdruck  kommt,  von  welchen  Gedichten  das  erstere  gerade- 
zu mit  einer  Anrufung  Ossians  schließt.  In  einer  nicht  minder 
unnatürlichen  Weise  werden  in  der  kurz  vorher  entstandenen 
Elegie  erotische  Gedanken  mit  Todesgedanken  verknüpft.  Doch 
schlägt  gerade  dieses  Gedicht  in  seiner  Schlußzeile  die  zwei 
Themen  an,  die  wenigstens  aus  der  ganz  plan-  und  haltlosen 
Schwelgerei  in  dem  Todesgedanken  allmähUch  herausführen  und 
in  der  nächstfolgenden  Zeit  im  Vordergrund  stehen:  „Schöner 
Vergangenheit  Traum,  Ahnung  des  schönern  Vereins".  Das 
letztere  wird  Uhland  ein  beliebtes  Balladenmotiv :  die  Vereinigung 
der  Liebenden  im  Tode^).  Das  erstere  wird  ein  neuer  Ton  seiner 
Empfindungslyrik :  die  Erinnerung,  der  in  diesem  Jahr  ein  eigenes 
Lied  geweiht  wird,  wie  im  Vorjahr  der  Wehmut.  Der  junge 
Dichter  hat  nun  schon  des  innerlich  Erlebten  genug  hinter  sich, 
um  es  in  seiner  Einbildungskraft  „mit  der  Verklärung  Kleid  um- 
flossen" erscheinen  zu  lassen.  Wenn  sich  dieses  angenehme 
Dämmerlicht^)  der  Bilder  der  Erinnerung  einerseits  vortrefflich 
in  die  allgemeine  Wehmutstimmimg  der  vorangegangenen  Zeit 
fügt,  so  ist  es  doch  anderseits  geeignet,  aus  der  reinen  Schatten- 
welt der  „Ahndung"  und  des  „Traumes"  den  Dichter  hinüber- 
zuführen in  die  lichteren  Regionen  der  Seele,  und  hierzu  wirkt 
als  fördernder  Hebel  ein  Konflikt  mit,  der  sich  in  dem  Dichter 
inzwischen  vorbereitet  und  aus  dem  Zusammenstoß  seiner  er- 
träumten Tränen  weit  mit  der  Wirklichkeit  sich  ergeben  hat. 
Wir  lernen  ihn  aus  dem  interessanten  „Fragment"  vom  28.  Juni') 

*)  Vgl,  Düntzer  8.  6. 

')  Und  in  deiner  Mondbelouchtung  gatten 

Wehmutd&mmorad  Helle  sich  und  Schatten. 

(„Die   Erinnerung",  Vers  17  f.) 

')  Warum   Erioh   Schmidt  in  dem    „chronologischen   Verzeichnis" 

•einer  Ausgabe  das  Gedicht  endgültig  auf  den  8.  Juni  datiert,  ist  nicht 

ersichtlich ,    da  in  der  Anmerkung  8.  333  die  freiere  erste  Fassung  (H  ') 

von  Vers  1—23  als  „Auf  dem  Spitzberg,  den  28.  Juni  1804"  entstanden 


—   11   — 

1804  kennen.  Dieses  Gedicht  gehört  mit  den  kurz  vorher,  im  Mai, 
an  Harpprecht  gerichteten  Strophen  und  mit  dem  folgenden 
„Die  Berge"  zu  den  ganz  wenigen  Produkten  der  Frühzeit,  in 
denen  der  Dichter  rein  persönliche,  äußere  oder  innere, 
Erlebnisse  und  Empfindungen  ausspricht  und  uns  einen  Einblick 
in  sein  Inneres  gewährt.  Besonders  in  diesem  Fragment  gibt 
sich  Uhland  weit  aufrichtiger  und  einfacher,  als  in  der  übrigen, 
der  Wehmut  geweihten  Dichtung.  Er  setzt  diese,  wie  auch  die 
Todesgedanken  und  die  Heldenwelt,  für  den  Augenblick  beiseite 
und  gibt  sich  Rechenschaft  über  sein  Leben.  Schon  die  Objek- 
tivität, mit  der  er  dies  tut,  und  der  gründliche  Ernst,  der  auch 
vor  den  nüchternsten  Erwägungen  und  Konsequenzen  nicht  zu- 
rückscheut, lassen  den  wahren  Uhland  erkennen,  den  Mann,  der 
unter  allen  Umständen  die  Forderungen  des  Lebens  zu  erfüllen 
gesonnen  ist,  müßte  es  selbst  unter  Verzicht  auf  sein  bestes  Gut, 
die  Dichtung,  geschehen. 

Der  Gedankengang  des  „Fragments"  ist  der  folgende:  Zuerst 
beschreibt  der  Jüngling  seinen  bisherigen  Seelenzustand,  das 
Schwelgen  in  einer  dem  Licht  der  Wirklichkeit  entrückten  idealen 
Fabelwelt.  Dann  aber  tritt  eine  Macht  in  sein  Dasein  ein,  die 
einerseits  „des  Himmels  Sphären"  entstammt  und  auch  wieder 
zu  ihnen  zurückkehrt,  anderseits  aber  doch  „auf  Erden  weilt": 
sie  lockt  den  Jüngling  aus  dem  höheren  Leben  im  Ideal  herab 
und  „vertraut"  ihn  der  Wirklichkeit.  Wir  belauschen  also  hier 
den  Dichter  in  dem  Zeitpunkt,  wo  er  zum  erstenmal  sich  mit  der 
Liebe  abfindet  und  sich  ihr  zwiespältiges  Wesen,  das  sinnliche 
und  das  ideale  Element  in  ihr  zum  Bewußtsein  bringt.  Nicht 
ohne  Bedauern  nimmt  er  von  dem  rein  idealen  Schwärmen  der 
ersten  Jugendzeit  Abschied  und  setzt  mit  einer  gewissen  Resig- 
nation seinen  Fuß  auf  den  Boden  der  Wirklichkeit,  wie  der  Pilger 

—  dieses  ansprechenden  Bildes  bedient  er  sich  —  des  Abends 
von  den  Höhen  in  das  wirtliche  Dörflein  niedersteigt.  Doppelt 
schmerzlich  ist  ihm  dieses  Niedersteigen:  nicht  nur,  weil  er  damit 
dem  materiellen  Naturtrieb  seinen  Tribut  zahlt,  sondern  auch 

—  wie  zielbewußt  faßt  Uhland  gleich  diese  realen  Konsequenzen 
ms  Auge!  —  weil  es  zugleich  ein  Herabsteigen  von  den  Höhen 

gedacht  ist,  H'  aber  im  Datum  eine  undeuthche  oder  irrtümliche,  von 
E.  Schmidt  selbst  in  Zweifel  gezogene  Ziffer  bietet. 


—     12     — 

der  Dichtung  bedeutet,  die  hinfort  hinter  den  notwendigen 
Pflichten  des  täglichen  Lebens  in  Familie  und  Öffentlichkeit 
zurückzutreten  hat.  Noch  einmal,  wie  in  dem  Gedicht  „An  F.  H." 
gibt  hier  Uhland  einen  prophetischen  Hinweis  auf  sein  späteres 
Dichterschicksal:  in  der  Tat  ist  ja  die  Zeit  der  großen 
Neigung,  die  für  sein  Leben  entscheidend  wurde,  der  Anfang 
seiner  poetischen  Unfruchtbarkeit  geworden^). 

Man  mag  sich,  angesichts  dieser  weitblickenden  Reflexionen, 
wohl  mit  Recht  fragen,  ob  nicht  irgend  ein  persönliches  Erlebnis 
den  Anstoß  dazu  gegeben  habe,  daß  der  siebzehnjährige  Wehmut- 
sänger sich  auf  einmal  gedrungen  sah,  in  so  ernster  Weise  über 
das  Wesen  der  Liebe  und  ihre  Bedeutung  für  das  Leben  nachzu- 
denken, und  es  muß  sehr  bezweifelt  werden,  ob  ein  bloß  erträumtes 
Liebesgefühl  vermögend  gewesen  wäre,  gerade  ein  solches  Gedicht 
hervorzurufen.  Nun  gewähren  allerdings  die  Biographien  keinerlei 
Anhaltspunkte  für  eine  solche  Vermutung  und  bieten  sie 
auch  für  die  späteren  Jahre  nur  in  sehr  spärlichem  Maße.  Das 
erklärt  sich  aus  der  keuschen,  spröden  und  unbeholfenen  Art, 
die  Uhlands  Beziehungen  zum  weibHchen  Geschlecht  zeitlebens 
gekennzeichnet  und  —  eingeschränkt  hat.  Auf  „Abenteuer",  auch 
bescheidener  Art,  wird  man  sich  bei  Uhland  von  vornherein  nicht 
gefaßt  machen  dürfen.  Daß  er  aber,  so  gut  wie  ein  anderer,  die 
Erfahrung  der  ersten  Liebe  schon  in  jungen  Jahren  durchgemacht 
hat,  dafür  bedarf  es  keiner  weiteren  Belege  als  derjenigen,  die 
in  seinen  lyrischen  Gedichten  selbst  zu  finden  sind.  Geht  man 
dem  erotischen  Element  in  den  Gedichten  der  Frühzeit  nach,  so  wird 
man  es  zuerst  in  den  Elegidien  vom  Spätjahr  1803  gewahr;  doch 
ist  die  Form,  in  der  es  sich  hier  äußert,  derart,  daß  man  sich  nicht 
berechtigt  sieht,  schon  hier  ein  zu  Grunde  liegendes  Erlebnis 
anzunehmen.  Anders  verhält  es  sich  schon  mit  dem  nächsten 
Fall,  der  zweiten  Strophe  des  Gedichts  an  F.  H.  vom  5.  April 
des  nächsten  Jahres.  Das  Bild  des  „Mädchens  mit  dem  Halmen- 
hute" und  dem  Körbchen  in  der  Hand,  das  dem  Rudernden  gegen- 
übersitzt und  ihn  mit  dem  Blick  ihres  „blauen  Auges"  zur  Ent- 
faltung seiner  jungen  Kraft  anspornt,  ist  so  anziehend,  so  präzis 
und  anschaulich  skizziert,  daß  es,  vollends  wenn  man  bedenkt, 


')  Hiehe  2.  AlMohnitt 


—     13     — 

daß  der  Dichter  sich  bisher  nur  mit  der  prätentiösen  Darstellung 
aufgebauschter  Gemütszustände  und  phantastischer  Begeben- 
heiten und  Situationen  abgegeben  hatte,  unbedingt  den  Eindruck 
der  Naturwahrheit  machen  muß.  Die  überspannte  „Elegie"  fällt 
wieder  aus  der  Reihe,  Dagegen  setzt  dann  gleich  im  Juni  die 
kräftig-ernste  Note  des  besprochenen  Fragmentes  ein,  das  trotz 
seiner  allgemeinen  Haltung  schwer  ins  Gewicht  fällt.  —  Das  bald 
darauf,  im  Juli  oder  August,  entstandene  Gedicht  „Die  Berge" 
scheint  dann  wieder  an  eine  bestimmte  Begebenheit  anzuknüpfen, 
etwa  einen  Ausflug,  den  er  in  Gemeinschaft  mit  anderen  mit  dem 
Mädchen  machte,  das  ihm  damals  im  Sinne  lag.  Man  erkennt 
die  Szenerie  der  Tübingen  vorgelagerten  Alb  mit  ihren  Felsen- 
wäldern und  dem  Schloß  auf  der  Felsenspitze,  worunter  der 
Hohen-Neuffen,  Hohen-Urach  oder  der  Lichtenstein  verstanden 
sein  mag^).  Wieder  ist  die  Situation,  trotz  der  etwas  schwülstigen 
Diktion,  wahr  empfunden  und  anschaulich  wiedergegeben.  Der 
Dichter  steht  neben  der  Geliebten  auf  dem  hohen  Bergesgipfel; 
doch  sieht  er  nur  „ihr  blaues  Auge" ;  sie  aber  lenkt  erklärend 
seinen  Blick  auf  die  weite  Landschaft,  die  nun  erst,  da  er  mit 
ihrem  Aug'  sie  sieht,  ihm  freundlich  und  belebt  erscheint.  Endlich 
muß  in  dem  Zusammenhang  dieser  Gedichte  auch  das  Gedicht 
„Abschied"  (Helwin  und  Helwine)  vom  1.  September  angeführt 
werden,  das,  zwischen  Ballade  und  lyrischem  Gedicht  in  der 
Mitte  stehend,  dem  rein  erotischen  Inhalt,  der  Situation 
und  der  dialogischen  Form  nach  eine  auffallende  Ähnlichkeit 
mit  der  Gattung  des  mittelalterlichen  Taglieds  zeigt ^). 

^)  Schon  Nägele  (a.  a.  O.  S.  39)  hat  die  Beziehungen  zur  heimatlichen 
Natur  hervorgehoben,  die  sich  innerhalb  der  Jugendlyxik  nur  in  diesem 
Gedicht  finden.  Doch  wissen  wir  von  dem  „Fragment",  daß  es  auf  dem 
Spiizberg,  von  dem  „HerbstHed",  daß  es  auf  dem  Weg  von  Stuttgart 
nach  Tübingen  konzipiert  ist. 

*)  Vgl.  Uhland,  Minnesang,  Schriften  V,  176:  „  .  .  .  es  ergeht  ein 
Abschied,  süß  und  schmerzlich  zugleich. "  Ob  Uhland  sich  so  frühe  schon 
bewußt  an  diese  Gattung  angelehnt  hat,  muß  dahingestellt  sein.  (Tiecks 
Minneliedersammlung  war  1803  erschienen.)  Sicher  ist  dies  bei  einem 
geraume  Zeit  später  (1815)  entstandenen  Gedicht:  „Fräuleins  Wache". 
In  dem  Exemplar  der  Tübinger  Universitätsbibliothek  von  K.  Goedekes 
„Deutschlands  Dichter  von  1813  bis  1843"  findet  sich  nämlich  S.  181  die 
auf  dieses  Gedicht  sich  beziehende  Notiz  von  Hollands  Hand:  „Das 
Gedicht  sei  im  Stil  der  Wächterlieder,  sagte  mir  Uhland." 


—     14     — 

Die  Anhaltspunkte,  welche  diese  Gedichte  für  die  Vermutung 
gewähren,  daß  die  Zeit  der  ersten  Herzensneigung  für  Uhland 
in  die  Sommermonate  des  Jahres  1804  gefallen  sei,  sind  nicht 
zahlreich,  aber  der  Umstand,  daß  gerade  diejenigen  Gedichte, 
denen  sie  entnommen  sind,  im  Unterschied  zu  der  Mehrzahl  der 
übrigen  Produkte  der  Frühzeit  ein  trotz  vielen  Mängeln  auf- 
fallendes, persönliches  und  natürliches  Gepräge  aufweisen,  gibt 
ihnen  Nachdruck.  Nimmt  man  dazu  die  Tatsache,  daß  Uhland 
auch  in  jungen  Jahren  gewiß  nicht  dazu  angetan  war,  von  einer 
Blüte  zur  andern  zu  flattern,  und  bedenkt  man,  wie  sein  Emp- 
finden überhaupt  weniger  reich  als  nachhaltig  und  beständig  war 
und  wie  zäh  er  Eindrücke  festhielt,  um  sie  oft  Jahre  später  in  der 
Erinnerung  oder  im  Gedicht  wieder  aufleben  zu  lassen,  so  mag 
man  sich  versucht  fühlen,  die  Worte  des  merkwürdig  in  sich  ge- 
kehrten, von  Uhland  nicht  veröffentlichten  Gedichts  „Kreis- 
lauf" vom  August  1808  auf  die  Ereignisse  des  Sommers  1804 
zu  beziehen: 

Wie  mußte  meines  Lebens  Kreis  fiich  schliessen! 
Es  kehrt  der  Tag  der  hohen  Liebesfreuden, 
Die  mir  nach  Jahren  namenloser  Leiden 
So  süsse  Spuren  noch  im  Herzen  Hessen. 

Die  Erörterung  über  eine  Jugendliebe  Uhlands,  deren  Ent- 
stehung im  Jahr  1804  nicht  sowohl  bewiesen  als  vermutet  werden 
kann,  muß  hier  unterbrochen  werden,  um  der  Entwicklung  nicht 
vorzugreifen.  Was  hervorgehoben  wurde,  genügt,  um  die  Wendung 
zum  Subjektiven  und  Erlebten,  die  sich  in  Uhlands  Lyrik  am 
Ende  der  Frühzeit  anbahnte,  und  die  Rolle,  die  erste  erotische 
Regungen  dabei  spielten,  erkennen  zu  lassen. 


2.  Das  Jahr  1805 

Das  Jahr  1805  hat  ein  besonderes  Gepräge;  es  gibt,  für  sich 
betrachtet,  ein  gutes  Bild  von  den  Bemühungen  Uhlands,  sich 
zur  Selbständigkeit  durchzuringen.  Dies  ward  ihm  nicht  leicht, 
denn  immer  mehr  drangen  jetzt  die  mannigfaltigsten  Anregungen 
auf  ihn  ein.   Neben  den  Denkmälern  des  deutschen  Altertums  in 


—     15     — 

Heldensage  und  Minnesang,  deren  Kenntnis  er  zu  erweitern 
und  vertiefen  begann,  lernte  er  nun  Herders  Volkslieder  und  in 
der  Folge  Percys  Reliques  und  Des  Knaben  Wunderhorn,  dessen 
erster  Teil  wohl  schon  Ende  1805  erschien'),  kennen*),  und  seine 
Lektüre  der  Gedichte  Bürgers  und  Goethes,  sowie  die  Hinwendung 
der  Romantik  zum  Mittelalter  mußte  die  Eindrücke,  die  ihm  von 
dieser  Seite  kamen,  unterstützen. 

Uhland  fühlte  sich  überhaupt  von  1805  an  besonders  zur 
Poesie  hingezogen'^)  und  als  Gegengewicht  gegen  die  Fülle  der 
Eindrücke,  die  er  zu  verarbeiten  hatte,  brachte  dieses  Jahr  eine 
reiche  Entfaltung  eigenen  Ijn-ischen  Dranges.  Weist  es  doch 
—  das  fruchtbarste  nächst  1811  —  42  gleichmäßig  auf  das  ganze 
Jahr  verteilte  Gedichte  auf,  gegen  17  des  Vorjahrs.  Man  sieht, 
wie  dem  jungen  Dichter  sichtlich  der  Mut  und  die  Kraft  wächst. 
Er  lernt  das  Werkzeug  seiner  Kunst  handhaben.  Es  ist  eine  Zeit 
des  Lernens,  des  Tastens  nach  neuen  Formen  und  neuem  Gehalt, 
des  Ringens  nach  Kraft  und  Eigenart.  So  oszilliert  denn  Uhlands 
Lyrik  in  diesem  Jahr  zwischen  sehr  entfernten  Polen.  Vielfältiges 
Bemühen  ist  von  wechselndem  Erfolge  gekrönt.  Bald  gelingt  ihm 
ein  glücklicher  Wurf,  bald  greift  er  wieder  völlig  fehl:  in  dem- 
selben Monat,  in  dem  er  das  Gedicht  „Die  Kapelle"  verfaßt  hat, 
das  noch  heute  in  sekier  Schlichtheit  und  Anschaulichkeit  zu 
seinen  allerpopulärsten  gehört,  verliert  er  sich  in  einem  anderen, 

^  dem  Dialog  zwischen  „Stimme"  und  „Greis"  („Die  Mahnung")  ganz 
in  sentimentale  Nebelhaf tigkeit ;  und  zwei  Monate  nach  dem  Ent- 
stehen eines  so   in   sich  vollendeten  Liedes  wie   „Des  Dichters 

-^  Abendgang",  das  seinen  Platz  am  Kopf  der  Ausgabe  mit  Ehren 
behauptet,  kommt  es  zu  Gedichten  wie   „Der  Wehmutsänger" 

-  und  „Der  Gräberschmuck",  welche  dem  reifen  Uhland  durchaus 
fremd  erscheinen  mußten,  nicht  nur  des  schwächlichen  Inhalts, 
sondern  auch  der  Form  wegen.  Uhland  hat  hier  das  erste  und 
das  letzte  Mal  zu  antiken  Strophenformen,  der  alkäischen  und 
der  sapphisohen,  gegriffen,  wahrscheinlich  in  Anlehnung  an  die 

)  Goethes  Rezension  ist  am  21.  Januar  1806  erschienen.  Vgl. 
Eiohholtz,  Quellenstudien  zu  Uhlands  Balladen,  1879,  S.  102,  An- 
merkung 1. 

^)  Leben  S.  21. 

^)  Ebenda  S.  25. 


—     16     — 

damals  vielgelesenen  ^)  Gedichte  von  Matthisson  und  Salis^), 
schwerlich  in  Nachahmung  Hölderlinscher  Gedichte^).  Dies 
zeigt,  wie  Uhland  damals  noch  mit  der  Form  experimentierte, 
die  in  diesem  Jahr  in  großer  Mannigfaltigkeit  auftritt.  Neben 
der  vierzeiligen  und  der  achtzeiligen  Reimstrophe  mit  steigendem 
und  fallendem  Rhythmus  und  mit  ein-  und  zweisilbigen  Senkungen"^) 
bietet  „Der  Sänger  an  die  Sterbende"  ein  Beispiel  für  einen  bei 
Uhland  einzig  dastehenden  Versuch  in  freien  Rhythmen,  welche, 
von  strengen  metrischen  Gebüden  unterbrochen,  an  den  Wechsel 
von  Rezitativ  und  Arie  in  gewissen  Gattungen  der  Musik  erinnern. 
Auch  hinsichtlich  des  U  m  f  a  n  g  s  der  Gedichte  zeigen  sich 
große  Kontraste.  Der  Dichter  scheint  sich  zwar  der  Gefahr  der 
Weitschweifigkeit  bewußt  zu  sein  und  strebt  im  allgemeinen 
größere  Konzentration  an;  so  erreicht  er  in  einzelnen  Gedichten 
(„Die  Kapelle",  „Schäfers  Sonntagslied",  „Der  König  auf  dem 
Turme")  jene  prägnante,  konzise,  und  eindringliche  Kürze,  die 
einen  Hauptschmuck  seiner  Lyrik  ausmacht;  die  Mehrzahl  der 
Gedichte  dieses  Jahres  aber  leiden  trotz  vereinzelter  nachträglich 
vorgenommener  Kürzungen'^)  noch  an  einer  zu  großen  Breite; 
besonders  führt  die  Notwendigkeit,  in  den  langatmigen,  acht- 
zeiligen Strophen  die  Einheit  zu  wahren,  zu  manchem  Füllsel 
und  mancher  entbehrlichen  Wiederholung. 


*)  Beider  Gedichte  erlebten  zwischen  1791  und  1811,  bezw.  zwischen 
1793  und  1812,  je  7  Auflagen. 

^)  Die  Alkäische  Strophe  zeigt  u.  a.  Matthiasens  „Wunsch"  (Ge- 
dichte, neue  Auflage,  1808,  S.  118),  Salis'  „Abendwehmut"  (Gedichte, 
neue  Auflage,  1808,  S.  7)  stimmt  mit  dem  Gedicht  „Gräberschmuck" 
auch  bezüglich  des  Wechsels  der  Stellung  des  Daktylus  in  der  Form 
überein. 

^)  Für  Uhlands  Stellung  zu  Hölderlin  vgl.  Leben  S.  216  und  den 
Aufsatz  Schwabs,  mit  dessen  Ausführungen  Uhland  sich  im  voraus  ein- 
verstandenerklärt, in  den  Blättern  für  literarische  Unterhaltung  1827, 
Nr.  27,  S,  101  ff.  (von  Uhland  noch  unter  dem  nur  bis  1826  geführten 
Titel  „Literarisches  Konversat ionsblatt"  angeführt). 

*)  Vgl.  das  onomapoctischo,  daktylonroicho  Metrum  im  „Lied  des 
Fischen". 

■'')  In:  „Harfncrlied",  „Der  König  auf  dem  Turme",  „Maiklage", 
„Lied  eines  Armen"  wurde  je  eine  Strophe  gestrichen.  Vgl.  auch  die 
kürzende  Umgestaltung  von  Vers  Iß — 43  in  „Der  Sänger  an  die  Ster- 
bende", Gedichte  II,  8.  339  f. 


—     17     — 

Wie  die  Form,  so  weist  auch  der  Inhalt  eine  beträchtliche 
Mannigfaltigkeit  auf,  weniger  in  der  Behandlung  vieler  und  gegen- 
sätzlicher, als  in  der  vielfältigen  Abstufung  einzelner  Empfin- 
dungen und  Gegenstände.  Im  allgemeinen  setzt  sich  die  Wehmut 
der  vorausgegangenen  Zeit  fort  und  durchzieht  als  Grundton  die 
überwiegende  Mehrzahl  der  Gedichte  dieses  Jahres.  Da  ihre  Zahl 
sehr  groß  ist  und  da  sie,  zuerst  bekannt  geworden,  noch  heute 
zu  denjenigen  Gedichten  Uhlands  gehören,  die  in  jedermanns 
Gedächtnis  sind,  so  hat  sich  schon  frühe  die  Ansicht  bilden  können, 
daß  eine  gewisse  naive  Sentimentalität  und  Wehmut  den  Grund- 
zug von  Uhlands  Ljn-ik  überhaupt  ausmache^).  Aber  wenn  man 
auch  zugibt,  daß  dieser  in  den  Jugendjahren  vorherrschende  Ton, 
der  sich  allerdings  nie  ganz  verloren  hat,  tief  in  Uhlands  Wesen 
seine  Wurzel  gehabt  und  nicht  bloß  in  Anregungen,  die  ihm  von 
außen  kamen,  so  darf  man  zweierlei  nicht  außer  acht  lassen: 
einmal,  daß  dieser  Ton,  dem  Umfang  und  der  BeschafEenheit 
nach,  einer  Entwicklung  unterworfen  gewesen  ist^),  und  so- 
dann: daß  Uhland  in  der  Folgezeit  doch  noch  über  ganz  andere 
Töne  verfügt.  —  Zunächst  freilich,  in  dem  Jahr,  das  hier  im 
Mittelpunkt  der  Betrachtung  steht,  befindet  sich  die  Wehmut- 
stimmung noch  in  einem  frühen  Stadium  der  Entwicklung,  und 
wenn  sie  auch  im  Vergleich  mit  den  tränenseligen  Ergüssen  der 
Frühzeit  mehr  Maß  und  Fassung  zeigt,  so  hat  Uhland  doch  die 
Friedhofszenerie  und  die  Mondschein-,  Ruinen-  und  Klosterbilder 
der  mehrfach  erwähnten  empfindsamen  Dichter,  sowie  ossianische 
Reminiszenzen  noch  keineswegs  überwunden. 

Dagegen  zeigt  sich  in  anderer  Richtung  ein  Fortschritt. 
Uhland  gibt  der  früher  sehr  schwach  motivierten  düsteren  Stim- 
mung einen  Halt,  indem  er  sie  in  einem  bestimmten  Gedanken 
konzentriert,  der,  neben  der  Liebe,  für  alle  Kunst  die  universalste 
Bedeutung  hat:  in  dem  Todesgedanken.  Der  Tod  wird 
nur  vereinzelt  mit  düsteren  Farben  geschildert,  als  Vernichter 
alles  irdischen  Glückes,  auch  des  höchsten  und  innerlichsten,  wie 
in  dem  „Harfnerlied  am  Hochzeitsmahl",  dessen  skeptische  Note 
so  befremdlich  klingt.     Meist  erscheint  er  als  Freund,  der  dem 

^)  So  u.  a.  bei  C.  C.    Hense,  Hallische  Jahrbücher  1838,  S.  893  ff. 
)  Daß  es  sich  um  eine  in  der  Hauptsache  vorübergehende  Stimmung 
gehandelt,  deutet  Uhland  selbst  im  „Vorwort",  Strophe  II  f.  an. 
Haag,  uhland  2 


—     18     — 

Greise  Erlösung  von  des  Lebens  Unrast  bringt,  dem  Jüngling 
Erfüllung  des  ungestillten  Sehnens  (An  den  Tod^),  dem  Armen 
Trost  und  Belohnung  für  erlittenes  Unrecht,  und  der  den  Zugang 
erschließt  zu  einem  unbekannten  oder  halbgeahnten  Reiche  des 
Friedens  und  ewigen  Glückes  (Der  König  auf  dem  Turme,  Der 
Sänger  an  die  Sterbende,  Gräberschmuck).  Gegen  Schluß  des 
Jahres  kKngt  der  Todesgedanke  nur  noch  abgedämpft  wie  eine 
tiefe  Note  in  dem  Akkord  der  Naturstimmung,  als  leise  Mahnung 
in  der  „Kapelle",  als  friedliche  Resignation  in  dem  Gedicht 
„Die  sanften  Tage";  und  zu  seiner  tiefsten  Bedeutung  wird  er 
erweitert  in  dem  ebenfalls  im  Herbst  entstandenen  Zwiegespräch 
zwischen  Mönch  imd  Schäfer,  wo  er  sich  mit  dem  Bild  des  Ge- 
kreuzigten verknüpft. 

Der  nicht  ganz  natürliche,  weil  nicht  in  Lebenserfahrungen 
begründete  Kult,  den  Uhland  in  diesem  Jahr  in  so  ausschließlicher 
Weise  mit  schmerzHchen  Empfindungen  und  insbesondere  mit 
dem  Todesgedanken  trieb,  breitete  über  die  Mehrzahl  der  Ge- 
dichte etwas  Düster- Weihevolles,  das  die  ganze  Skala  der  diesem 
Grundton  verwandten  Stimmungen  durchläuft,  von  der  stillen 
Ergebenheit  und  dem  sanften  Mitleid  bis  zur  heftigen  Todes- 
sehnsucht. Das  konnte  nicht  ohne  Wirkung  auf  die  dichterische 
Sprache  bleiben,  die  vielfach  noch  die  sonst  gerade  Uhland  aus- 
zeichnende schlichte  Natürlichkeit  und  Nüchternheit  (das  Wort 
im  guten  Sinne  genommen)  vermissen  läßt  —  ein  Mangel,  der  sich 
umso  fühlbarer  macht,  als  einzelne  Produkte  dieser  Zeit  schon 
ganz  von  ihm  frei  sind.  Wenn  z.  B.  das  Epitheton  heilig  in 
dem  Empfindungskreis  eines  Hölderlin  recht  eigentlich  heimisch 
ist,  so  fällt  auf,  daß  man  es  bei  Uhland  1805  so  häufig  findet'). 
Ebenso  befremdet  die  Verwendung  des  Wortes  üppig  in  den 
Ausdrücken  „üppiges  Bedeuten"  (II,  S.  283,  Vers  40),  „üppige 
Thränenkraft"  (II,  8.  289,  Vers  53),  oder  Wendungen  wie: 

Die  milde  Gegenwart  der  Süßen 
Verklärte  mir  das  Blumenjabr. 


')  Auch  die  Qentslt  des  Qreuses,  für  die  Uhland,  wie  Nägele  S.  30 
hervorhebt,  eine  Vorliebe  hat,  fügt  sich  gut  in  diesen  Rahmen. 

•)  Gedichte  II,  280,  Vers  10;  281,  Vers  20;  (282,  Vors  ö:  Heilig- 
tum der  Sterne;)  289,  Vera  60;  330,  Vera  2.  I,  3,  Vors  7;  4,  Vers  14; 
9,  Vers  22;  so  im  „Gesang  der  Jünglinge"  häufig;  II,  Vers  31  und  39. 


—     19     — 

(„Mein  Gesang"  Vers  5),  „Blumenflur  der  Sterne"  (I,  S.  4, 
Vers  29)  oder  gar  „der  Sternenbeete  Blumenscliein "  (II,  S.  290, 
Vers  90).  Es  läßt  sich,  was  die  Sprache  anbetrifft,  kaum  ein 
größerer  Gegensatz  denken  als  derjenige  zwischen  den  Gedichten 
„Die  Kapelle"  und  „Der  Sänger  an  die  Sterbende",  von  denen 
das  erste  mit  fast  dürftigen  Mitteln  gearbeitet  ist,  während  in 
dem  letzteren  der  Dichter  sich  in  Überschwenglichkeit  der  Diktion 
kaum  genugtun  kann.  Uhland  hat  später  die  verschiedenen 
Stilarten  in  den  einzelnen  Gedichten  in  der  Sprache  deutlich 
unterschieden;  hier  aber  liegt  noch  etwas  anderes  vor:  jenes 
Schwanken  und  Experimentieren,  das  sich  in  der  Wahl  der 
Formen  wahrnehmen  ließ,  und  das  eben  zeigt,  daß  der  Dichter 
noch  nicht  das  Gleichgewicht  seiner  künstlerischen  Persönlich' 
keit  erreicht  hat. 

Auch  im  Inhalt  zeigen  sich  Gegensätze :  es  finden  sich 
neben  der  Mehrzahl  jener  trübseligen  einige  Gedichte,  in  denen 
sich  lautere,  unbefangene  Heiterkeit  ausspricht.  Es  ist  wohl 
kein  Zufall,  daß  man  bei  jedem  einzelnen  derselben  Goethe  als 
Vorbild  zu  erkennen  meint.  Die  vorwiegend  lyrische  Ballade 
„Gretchens  Freude"  ist  wohl  „in  Situation  und  Empfindung 
einer  Stelle  in  Goethes  Egmont  entnommen"^);  auch  der  «Ent- 
schluß" erinnert  an  Goethesche  Art,  wenn  auch  Reminiszenzen 
an  die  Minnesänger  hier  mitgespielt  haben  mögen  ^),  und  der 
schalkhafte,  verhebte  Dialog  zwischen  Jäger  und  Mädchen  („Die 
Apfelbäume")  mit  den  schnippischen  Antworten  des  letzteren 
und  der  charakteristischen  Schlußwendung  erinnert  deutlich 
an  Goethes  Müllerin-Balladen. 

Bezeichnend  ist  die  objektive  Gestaltung,  die  das  erotische 
Element  in  den  Gedichten  des  Jahres  erfährt:  Liebeslyrik,  die 
sich  an  Selbsterlebtes  knüpfte,  wie  mehrere  Gedichte  des  Vor- 
jahres, finden  sich  mit  Ausnahme  des  über  verlorene  Liebe  klagen- 
den Liedes  „Mein  Gesang",  auf  das  unten  zurückzugreifen  ist, 
in  diesem  Jahre  nicht ^).  Auch  die  auf  eigener  Anschauung  be- 
^)  Herrn.  Fischer,  Ludwig  Uhland,  1887,  S.  50. 
)  Vgl,  die  Begegnung  Hadlaubs  mit  der  Geliebten  in  Bodmer, 
Minnesänger  II,  197  a,  35  flE.  und  ähnliche  Situationen,  die  Uhland 
Minnesang  (Schriften  V)  S.  171  zitiert. 

)  In  „Entschluß"  tritt  die  Empfindung  gegen  die  epigrammatische 
Zuspitzung  der  Situation  und  des  Gedankens  zurück.     Ob  mit  der  „Ge- 


—     20     — 


ruhende  Naturlyrik  zeigt  noch  keine  reiche  Entfaltung,  dagegen 
zählen  die  wenigen  Erzeugnisse  derselben  zu  den  wertvollsten 
Gedichten  des  Jahres.  Sie  entstehen  in  der  Weise,  daß  der  Dichter 
für  die  Grundstimmung,  die  ihn  damals  beherrschte,  ein  Echo  in 
der  Natur  sucht:  im  Frühlingsglanz  und  in  der  Sommerpracht, 
am  hellen  Sommertag  findet  er  es  nicht;  so  sucht  er  es  zur  Zeit 
der  sinkenden  Sonne,  in  den  „sanften  Tagen",  wo  die  Natur 
dämmernd  sich  regt  oder  leuchtend  schwindet^).  In  die  Stim- 
mungen der  Andacht,  stiller  Sammlung  und  friedlichen  Ent- 
sagens klingen  auch  die  Naturgedichte  dieser  frühen  Zeit  aus. 
Denen,  die  über  Uhland  handelten,  ist  von  jeher  eine  diesem 
Dichter  ganz  besonders  eigene  Gattung  von  Gedichten  aufge- 
fallen, welche  im  Jahr  1805  nicht  nur  ihren  Ursprung  hat,  sondern 
auch  ihre  häufigste  Verwendung  findet.  Es  ist  schwer,  eine  be- 
friedigende Bezeichnung  für  sie  zu  finden,  und  Namen,  wie  „Zu- 
standslieder"^)  oder  „mimische  Poesie"*),  die  man  vorgeschlagen 
hat,  haben  keinen  Anklang  gefunden.  Die  Gedichte,  die  dieser 
Gattung  angehören,  werden  dadurch  charakterisiert,  daß  hier  der 
Dichter  nicht,  wie  es  gemeinhin  die  Art  der  Lyrik  ist,  selbst  als 
Träger  der  im  Gedicht  zum  Ausdruck  kommenden  Empfindung 
oder  Stimmung  auftritt,  sondern  diese  auf  Personen  seiner  Ein- 
bildung überträgt,  die  sie  aussprechen  oder  verkörpern:  Harfner, 
Schäfer,  Fischer,  Nonnen  u.  s.  w.  Es  findet  also  eine  Art  von 
Objektivierung  der  Empfindung,  ein  Akt  der  Selbstentäußerung 
des  Dichters  statt ^).  Dieser  Akt  kann  nun  in  verschiedener  Ab- 
stufung durchgeführt  sein;  die  Verkleidung  kann  flüchtig  über- 


liebten" die  vierzehnjährige  Schwester  Alb.  Schotts  gemeint  ist,  wie 
Notter  (S.  168)  annimmt,  oder  irgend  ein  anderes  Mädchen,  ist  von 
keinerlei  Belang.  Notter  läßt  sich  übrigens  im  Nachweis  derartiger 
periiönlicher  Beziehungen  einzelner  Gedichte  schwere  Irrtümer  zu  Schulden 
kommen.     Siehe  unten  S.  38. 

')  Wie  diese  Jahreszeiten  auf  Uhlands  Produktion  überhaupt  von 
Einfluß  waren,  siehe  unten  II.  Abschnitt. 

')  DOntzer,  a.  a.  0.  S.  23. 

')  Wilh.  Waokernagel,  Poetik,  Rhetorik  und  Stilistik,  herausgegeben 
yOD  Ludw.  Sicher,  1873,  S.  127. 

*)  Vgl.  D.  P.  Strauß,  Zwei  friedliche  Blätter,  1830,  S.  32:  „Uhland's 
0*be  ist,  sksh  in  beitimmte  Zustände  hinein*,  Kerner 's  sich  über  sie 
hinauszuempfinden. " 


—     21     — 

geworfen  oder  mit  Sorgfalt  zusammengestellt,  das  Gebärdenspiel 
berechnet  oder  subjektivem  Impuls  überlassen  sein.  Danach 
bemißt  sich  dann  der  Grad  der  Objektivität  oder  Subjektivität 
des  Gedichts.  Was  anderes,  als  der  Titel,  läßt  den  Leser  ver- 
muten, daß  der  Träger  der  in  Schäfers  Sonntagslied  sich  aus- 
drückenden Andacht  nicht  der  Dichter,  sondern  ein  Schäfer  sei? 
Und  anderseits,  was  hat  der  achtzehnjährige  Dichter,  der  in  durch- 
aus glücklichen  Verhältnissen  und  ohne  Konflikte  aufgewachsen 
ist,  viel  gemeinsam  mit  dem  Armeen,  dem  er  das  bekannte  Lied 
in  den  Mund  legt:  etwa  die  Resignation,  etwa  das  Gottvertrauen, 
aber  jedenfalls  nicht  die  ganz  bestimmten  Lebenserfahrungen, 
die  das  Lied  für  den,  der  es  singt,  voraussetzt.  Zwischen  diesen 
zwei  Extremen  bewegen  sich  nicht  weniger  als  neun  bis  zehn  der 
Gedichte  dieses  Jahres').  Das  Verfahren  ist  im  einzelnen  Fall 
verschieden :  bisweilen  drücken  nicht  nur  einzelne  Personen,  son- 
dern eine  Mehrzahl  von  solchen,  ihre,  bezw.  des  Dichters  Emp- 
findungen aus,  entweder  so,  daß  zwei,  wie  Mönch  und  Schäfer, 
im  Dialog  sich  gegenüberstehen,  oder  so,  daß  eine  zusammen- 
gehörige Gruppe  von  Menschen,  welche  demselben  Stande  oder 
denselben  Lebensbedingungen  u.  s.  w.  angehören,  ihre  Gefühle 
aussprechen  (Gesang  der  Jünglinge,  Gesang  der  Nonnen  [1806]). 
Das  Wesentliche  und  Gemeinsame  aber  bei  allen  diesen  Gedichten 
ist  der  Umstand,  daß  der  Dichter  in  eine  gedachte  Situation, 
eines  einzelnen  oder  einer  Gesamtheit,  sich  versetzt.  Ursprüng- 
lich diente  zur  Veranschaulichung  wohl  auch  eine  kurze,  die 
nötigen  Angaben  über  dieselbe  enthaltende  Einleitung,  wie  sie 
die  ersten  Fassungen  des  Harfnerlieds  und  des  Königs  auf  dem 
Turme  noch  aufweisen,  meist  aber  ist  eine  solche  vom  Leser  zu 
ergänzen  oder  wird  nur  im  Titel  angedeutet. 

Es  ist  offensichtlich,  daß  bei  dieser  ganzen  Gattung,  beson- 
ders aber  bei  den  Gedichten  in  dialogischer  Form,  eine  Entschei- 

^)  Nämlich  „Harfnerlied",  „Der  König  auf  dem  Turme",  „Lied 
eines  Armen",  „Der  Sänger  an  die  Sterbende"  („Gretchens  Freude"), 
.Gesang  der  Jünglinge",  „Lied  des  Gärtners",  „Mönch  und  Schäfer", 
„Mein  Gesang",  „Schäfers  Sonntagslied".  Später  treten  solche  Gedichte 
nicht  mehr  in  so  geschlossenen  Eeihen,  sondern  mehr  vereinzelt  auf. 
Beispiele  sind:  „Gesang  der  Nonnen",  „Des  Knaben  Berglied"  (1806), 
„Lied  des  Gefangenen"  (1807),  „Der  Schmied",  „Des  Hirten  Winterlied" 
(1809). 


—     22     — 

düng  darüber,  ob  das  einzelne  Gedicht  der  Lyrik  oder  den  Balladen 
beizuzählen  sei,  oft  schwer  zu  treffen  ist,  und  Uhland  selbst  hat 
später,  als  er  seine  Dichtungen  für  die  Ausgabe  ordnete,  solche 
Erzeugnisse,  nicht  immer  mit  ersichtlichem  Grund,  bald  in 
dieser,  bald  in  jener  Abteilung  untergebracht.  Wir  befinden 
uns  hier  auf  dem  eigentlichen  Grenzrain  der  lyri- 
schen und  der  episch- lyrischen  Dichtung,  doch  so, 
daß  wir  der  ersteren  doch  noch  näher  stehen  als  der  letzteren. 
Es  handelt  sich  um  eiuen  lyrischen  Kern  mit  ideeller  epischer  Schale, 
insofern  nämlich  das  Wesentliche  der  lyrische  Gehalt  ist,  die  epi- 
schen Voraussetzungen  aber  von  dem  Dichter  (wie  die  späteren  Kür- 
zungen beweisen)  nur  nahegelegt,  von  dem  Leser  zu  ergänzen  sind. 

Die  Gattung  ist  für  Uhlands  dichterische  Wesenheit  sehr  be- 
zeichnend und  in  seiner  ganzen  Geistesart  begründet.  Es  fehlte 
seiner  Subjektivität  —  sei  es,  daß  sie  nicht  stark  genug,  sei  es, 
daß  sie  zu  scheu  war  —  an  dem  gebieterischen  Drang,  im  Gedicht 
unmittelbar  in  die  Erscheinung  zu  treten.  Sie  geht  darauf 
aus,  sich  an  greifbare  Gestalten  zu  knüpfen  oder  auf  dem  sicheren 
Fundament  bedeutender  und  ehrwürdiger  Überlieferung  weiter- 
zubauen. Uhland  kann  sich  seiner  Individuali- 
tät jederzeit  scheinbar  begeben,  ohne  sie 
dochjemals  zu  verlieren^).  Mit  merkwürdig  sicherem 
Instinkt  trifft  Uhland  schon  früh,  was  seiner  Natur  am  meisten 
gemäß  ist,  wenn  er  in  dem  Brief  an  Seckendorf  im  November 
1806  die  Dichtung  am  höchsten  stellt,  die  „das  tiefste  Leben 
der  Seele  zu  objektiver  Erscheinung  fördere"^).  Ein  scharf- 
blickender Beobachter  konnte  demnach  schon  in  dieser  frühen 
Zeit  erkennen,  nach  welcher  Seite  sein  Talent  gravitierte,  und  daß 
der  junge  Dichter,  der  sich  noch  als  empfindsamen  Lyriker  gab, 
im  Grunde  zum  Balladendichter  oder  Epiker  prädestiniert  war. 

Überblickt  man  die  stattliche  Reihe  der  Gedichte  von  1805, 
so  ist  man  leicht  geneigt,  von  dem  Wehmutskult,  dem  Uhland 
damals  ergeben  war,  den  Blick  einseitig  fesseln  zu  lassen.   Und  in 


^)  Dies  ist  auch  mit  dem  bei  Uhland  stark  entwickelten  Gofülil  der 
ZnsammengeböriKkeit  ntit  einem  Ganzen  in  Verbindung  zu  bringen, 
dM  UhlMida  Familiensinn,  seine  Heimatliobe  und  seine  Wahlverwandt- 
schaft mit  allem  VolksmäOigen  erklärt. 

')  Leben  S.  28. 


—     23     — 

der  Tat  drückt  dieser,  was  den  Gefühlsinhalt  dieses  Zeitabschnittes 
betrifft,  demselben  den  Stempel  auf.  Das  für  die  fernere  dichte- 
rische Entwicklung  wichtigste  Moment  wird  aber  nach  dem  oben 
Ausgeführten  nicht  darin,  sondern  in  der  entschiedenen  Hin- 
wendung zu  einer  Gedichtgattung  zu  erblicken  sein,  die  seinem 
innersten  Wesen  entsprach,  und  in  der  sich  lyrische  und  epische 
Elemente  durchdrangen. 


3.  1806  bis  Anfang  1810 

Es  ist,  als  ob  durch  den  starken  dichterischen  Impuls  des 
Jahres  1805  die  produktive  Kraft  bei  Uhland  zunächst  etwas 
erschöpft  worden  sei;  denn  die  vier  ersten  Monate  des  folgenden 
Jahres  weisen  nur  zwei  Gedichte  auf.  Dann  hebt  sich  die  Produktion 
wieder  und  dauert  an  bis  zum  Oktober,  um  hierauf  wieder  vier 
Monate  fast  gänzlich  zu  versiegen.  Es  ist  eine  Zeit  der  Samm- 
lung, der  Selbstprüfung  und  des  Übergangs :  Altes  klingt  aus  und 
Neues  bereitet  sich  vor.  So  hat  das  Jahr  1806  kein  besonderes 
Gepräge  und  von  eigentlich  lyrischen  Gedichten  sind  nur  drei, 
worunter  zwei  „Zustandsgedichte"  ^),  später  in  die  Sammlung  über- 
gegangen. Eines  aber  läßt  sich  mit  Bestimmtheit  feststellen :  die  ge- 
sunde Natur  des  Dichters  bewirkte  eine  seelische  Kräftigung,  die  sich 
gleich  im  Januar  in  den  Worten  der  Ballade  „Der  Pilger "  ankündigte : 

Die  Sehnsucht  und  der  Träume  Weben, 
Sie  sind  der  weichen  Seele  süß, 
Doch  edler  ist  ein  starkes  Streben 
Und  macht  den  schönen  Traum  gewiß. 

In  der  Tat  überwand  Uhland  im  Verlauf  dieses  Jahres  vollends 
endgültig  die  schwermütigen,  zum  Teil  mystisch  gefärbten*) 
Anwandlungen  und  besonders  das  sentimentale  Schwelgen  im 
Todesgedanken;  und  wenn  die  Gestalt  des  Todes  im  schwarzen 
Ritter  auch  noch  einmal  über  die  Szene  schreitet,  so  ist  diese 
letztere  von  den  Nebelgestalten  der  Könige,  Harfner,  Schäfer 
u.  s.  w.  geräumt^),  und  zwar  für  immer.    Die  „Abendphantasie" 

^)  Siehe  oben  S.  21,  Anm.  1. 

*)  Vgl.   „Das  Münster",   „Gesang  der  Nonnen"  (Frühüng  1806). 

^)  Siehe  G.  Schmidt,  a.  a.  0.  S.  7. 


—     24     — 

betitelte  Parodie  Matthissons  ist  das  Siegel  auf  jene  Wehmuts- 
periode.  Ein  eingreifender  Umschwung  vollzieht  sich  damit  in 
Uhlands  Entwicklung,  und  der  Dichter  bedarf  einiger  Zeit,  um 
mit  dem  Alten  abzuschließen  und  neue  Bahnen  zu  suchen.  Es 
ist  damit  notwendig  ein  gewisser  innerer  Kampf  verbunden'). 
Das  scheint  sich  schon  äußerlich  in  dem  zeitweiUgen  Stocken 
der  Produktion  zu  zeigen,  dann  aber  auch  in  dem  ungeduldigen,, 
unbefriedigten  Tasten  nach  einem  neuen  Anhalt  für  seinen 
SchafEensdrang,  der  sich  auf  Großes  richtet:  „Ein  Drama,  ein 
Roman,  welches  Entzücken  muß  es  sein,  so  was  vollendet  zu 
sehen,"  schreibt  er  Januar  1807  an  KöUe^).  Doch  kommen  Ent- 
würfe, die  er  anlegt,  nicht  zur  Vollendung,  weil  es  seinem 
Gemüt  an  der  Ruhe  und  Fassung  fehlt,  die  zielbewußtes  Streben 
gibt.  „Mein  poetisches  Leben,"  schreibt  er  verdrossen,  „ist  jetzt 
ein  Umherschweifen  von  einem  Entwurf  zum  anderen. "  „Werfen 
Sie  Strahlen  in  mein  düstres  Gemüth"^). 

Im  Frühjahr  1807  aber  wird  er  sich  darüber  wenigstens  klar, 
daß  er  unter  sein  bisheriges  Dichten  einen  Strich  machen  müsse, 
und  daß,  was  er  Ende  1806  in  Seckendorfs  Almanach  geliefert 
hatte,  die  letzten  Früchte  einer  Periode  seien,  die  nun  hinter  ihm 
liege.  Es  seien  —  so  charakterisiert  er  in  dem  für  die  Kenntnis 
seines  Entwicklungsganges  sehr  wichtigen  Brief  an  Seckendorf 
vom  6,  März  1807^)  jene  „erste  Periode  seiner  Poesie"  —  „größten- 
teils lyrische  Ergüsse  eines  jugendlichen  Gemüthes  .  .  .  die  ersten 
Gefühle  und  Lebensansichten  einer  erwachenden  Seele".  Was  er 
nun  überwunden  glaubt,  das  ist  einmal  die  Unreife  dieser  Ge- 
fühle und  Lebensansichten,  kurz  die  Sentimentalität,  und  sodann 
die  Form,  in  der  er  sie  geäußert  hatte:  der  l)aTsche  Erguß.  Nicht 
das  Individuelle,  Persönlich-Empfundene  überhaupt:  er  ist  über- 
zeugt, daß  das  Ich  des  Dichters  auch  in  anderen  poetischen 
Gattungen  zu  seinem  Rechte  komme.  Aber  es  liegt  ihm  daran, 
dieser  ^idealen  Individualität"  „Objektivität  für  andere"  zu 
geben.    Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  ihm  dabei,  wie  auch  der 


')  An  Leo  v.  Seckendorf,  6.  März  1807:   „Ein  gewisser  Kampf  in 
mit  ließ  keinen  [der  Entwürfe]  zur  Vollendung  kommen. "    Loben  S.  34. 
*)  Leben  H.  36  ff. 
')  EbMuU. 
*)  Leben  8.  32  ff. 


—     25     — 

oben  erwähnte  Brief  an  Kölle  und  seine  Entwürfe  aus  jener  Zeit 
zeigen,  als  Ziel  seines  Ehrgeizes  das  Epos  in  größerem  Stil  und 
besonders  das  Drama  vorschwebte.  Dieses  Ziel  hat  er  nun  aber, 
wenigstens  in  der  nächsten  Zeit,  nicht  und  auch  später  nur  unvoll- 
kommen erreicht.  Im  Gegenteil:  selbst  das  Epische  in  dem 
kleinen  Rahmen  der  Ballade  trat  zurück  und  es  begann  eine 
Periode  lyrischer  Dichtung^),  die  sich  freilich  von  der  voran- 
gegangenen wesentlich  unterschied. 

Daß  Uhlands  Dichtung  damals  eine  von  seinen  Absichten 
so  abweichende  Richtung  nahm,  erklärt  sich  aus  zwei  Gründen: 
der  erste,  ausschlaggebende  lag  in  Uhlands  Talent  selbst,  das 
für  Dichtungen  großen  Stils  wohl  schwerlich  die  genügende 
Spannkraft  besaß"");  der  zweite,  akzidentielle,  ist  in  der  Art 
und  Weise  zu  erblicken,  in  der  Uhland  in  den  Jahren  1806 
und  1807  mit  einer  gewissen  Richtung  der  Romantik  in  engere 
Berührung  trat. 

Der  Tübinger  Freundeskreis,  dem  Uhland  damals  angehörte, 
vertrat  im  allgemeinen  den  Zweig  der  Romantik,  welcher,  von  der 
Auflehnung  gegen  jeden  mehr  oder  weniger  verkleideten  oder 
modernisierten  Rationalismus  und  Klassizismus  ausgehend,  das 
Heil  der  Poesie  vor  allem  von  einer  Erneuerung  des  deutschen 
Altertums  und  der  volksmäßigen  Dichtung  erwartete,  und  für 
welchen  besonders  „Des  Knaben  Wunderhorn"  und  die  Erscheinung 
Fouques  vorbildlich  waren.  Diese  jungen  Männer,  größtenteils 
selbst  dichtend,  standen  in  regstem,  zuerst  mündlichem,  später 
schriftlichem  Verkehr,  in  dem  sie  ihre  poetischen  Ansichten 
und  Produkte,  frisch,  wie  sie  aus  der  Feder  geflossen  waren, 
gegenseitig  mitteilten  und  besprachen.  Ihr  Organ  war  das  in  den 
ersten  Monaten  des  Jahres  1807  einmal  wöchentlich  handschrift- 
lich erscheinende  Sonntagsblatt ^).  Auch  wurde,  was  die  all- 
gemeine Anerkennung  fand,  in  Almanachen  Gleichgesinnter  und 
später  in  eigenen  alsbald  veröffentlicht.  Die  Stimmung,  welche 
diesen  Kreis  beseelte,  hat  Uhland  zusammengefaßt  in  dem  Liede 


^)  Vgl.  Herrn.  Fischer,  a.  a.  O.  S.  50. 

*)  Die  Mängel  seiner  beiden,  in  manchem  Betracht  so  wertvollen 
Dramen  bestätigen  dies,  noch  mehr  aber  die  Zahl  der  dramatischen 
Fragmente  und  der  Torso  des  Fortunat. 

')  Näheres  und  Mitteilungen  daraus  siehe  Mayer  I,  S.  16  ff. 


—     26     — 

JFreie  Kunst",  mit  dem  er  den  „Deutschen  Dichterwald"  er- 
öffnete (1813);  und  wenn  auch  die  Aufforderung: 

Kann  man's  nicht  in  Bücher  binden, 
Was  die  Stunden  dir  verleihen: 
Gieb  ein  fliegend  Blatt  den  Winden, 
Muntre  Jugend  hascht  es  ein. 

für  Uhland  selbst  keine  Gefahr  bedeutete,  so  ist  doch  verständ- 
lich, daß  ein  so  lebhafter  Austausch  unter  jenen  leicht  entzünd- 
lichen Gemütern  von  vornherein  die  für  ein  Kunstwerk  größeren 
Stils  nötige  Ruhe  und  Konzentration  nicht  aufkommen  ließ. 
Dagegen  verdanken  wir  der  Anregung,  die  Uhland  aus  diesem 
Kreis  schöpfte,  außer  vielen  Ijn-ischen  Gedichten  insbesondere 
ein  für  die  Kenntnis  seines  dichterischen  Entwicklungsganges 
wichtiges  Dokument,  den  Aufsatz  „Über  das  Romantische", 
der  ein  Hauptstück  des  Sonntagsblattes  bildete.  Da  er  erkennen 
läßt,  welche  Fäden  Uhland  damals  mit  der  Romantik  verknüpften, 
oder  besser,  welche  Vorstellung  Uhland  sich  von  dem  Roman- 
tischen —  und  das  bedeutete  für  ihn  das  Poetische  —  machte, 
so  muß  der  Inhalt  dieses  Aufsatzes,  der  weniger  eine  ästhetische 
Abhandlung  ist  als  ein  poetisches  Glaubensbekenntnis,  hier 
kurz  wiedergegeben  werden. 

Was  den  romantischen  Menschen  nach  Uhland  charakteri- 
siert, ist  seine  Beziehung  zum  Unendlichen,  das  Bewußtsein  des 
Eingeschlossen-  oder  Eingewobenseins  in  das  Unendliche,  so 
zwar,  daß  dieser  Zusammenhang  nicht  begrifflich  erkannt,  son- 
dern empfunden  und  geahnt  wird,  oder  daß  —  um  ein  von  Uhland 
nicht  gebrauchtes  Bild  einzuführen  —  das  Gemüt  des  roman- 
tischen Menschen  wie  eine  zitternde  Magnetnadel  jenem  magischen 
Punkt  der  Berührung  der  irdischen  Erscheinung  mit  der  Unend- 
lichkeit zustrebt^).  Dem  so  Empfindenden  ist  ungläubige  Skepsis 
ebenso  fremd,  wie  eine  derb  zugreifende,  rein  verstandesmäßige 
Auffassung  der  Welt.  Fremd  ist  ihm  auch  die  heiter-plastische, 
an  der  Formenwelt  haftende  Geistesrichtung  des  griechischen 
Altertums*).    Im  Gegensatz  zu  diesem  erscheint   „Der  Sohn  des 

^)  ,^estgegründei  und  ins  Unendliche  deutend"  mußte  die  Dichtung 
Min,  die  zu  sobafiFen  ihn  verlangt.   (An  KöUe,  26.  Jan.  1807,  Leben  S.  30.) 

*)  An  Seckendorf,  0.  März  1807:  „Verschiedene  Ursachen,  besonders 
aber  meto«  Vorliebe  für  das  Romantische,  dem  der  griechische  Boden 


—     27     — 

Nordens",  der  Germane,  mit  seiner  tiefsinnigen  Naturreligion 
als  der  Hauptträger  der  romantischen  Anschauung. 

In  zwei  Erscheinungen  offenbart  sich  ferner  das  Romantische : 
in  dem  Christentum  mit  seinen  „erhabenen  Lehrworten  aus  dem 
Reiche  der  Unendlichkeit",  und  in  der  Liebe,  sofern  sie  rein, 
d.  h.  als  das  höchste  gemeinmenschliche  Mysterium  gefaßt  wird. 

Es  leuchtet  ein,  daß  ein  so  verstandenes  Romantische  nicht 
in  Begriffe  gebannt,  sondern  nur  in  Bildern  und  Symbolen  aus- 
gedrückt werden  kann:  so  ist  dem  Christen  Kreuz,  Abendmahl 
und  Grab  des  Herrn,  so  ist  dem  Mann  das  reine,  kindlich  ein- 
fältige Weib  als  Sinnbild  des  verschleierten  Unendlichen  heilig. 
Beide,  romantisches  Christentum  und  romantische  Liebe,  haben 
ihre  reinste  Ausprägung,  wie  Uhland  meint,  im  Mittelalter  er- 
fahren. 

Romantisch  ist  —  so  läßt  sich  Uhlands  Erörterung  zusammen- 
fassen —  zunächst  allgemein  das  ahnende  Beziehen  des  Endlichen 
auf  das  Unendliche,  und  romantisch  sind  dann  ferner  im  be- 
sonderen solche  Erscheinungen,  welche  ihrer  Natur  nach  ein 
solches  Beziehen  möglich  machen  und  nahelegen:  Charaktere, 
wie  die  des  Mönchs  oder  des  Kreuzritters  so  gut  wie  gewisse 
Wolkenbilder  oder  wie  das  Auge  der  Geliebten. 

Man  sieht:  die  Essenz  von  Uhlands  Wesensbestimmung  des 
Romantischen  ist  so  allgemein,  daß  sie  schließlich  auf  den  noch 
heute  verbreiteten  landläufigen  Begriff  herauskommt,  wonach 
man  etwa  eine  zerklüftete,  wilde  Felsenlandschaft  oder  ein  spuk- 
haftes Theaterstück  romantisch  nennt.  Was  aber  diesen  Aufsatz 
wertvoll  macht,  ist  nicht  die  Definition  des  Romantischen,  die 
sich  daraus  deduzieren  läßt,  sondern  die  subjektiven  Einzel- 
anwendungen derselben,  welche  Uhland  in  seinen  Ausführungen 
gibt  und  welche  ein  helles  Licht  werfen  auf  die  Grundzüge  seines 
dichterischen  Wesens:  einen  tiefgründigen  Natursinn,  der  durch 
das  Äußere  der  Erscheinungen  zu  ihrer  höheren  Bedeutung  vor- 
dringt; die  Vorliebe  für  germanische  Kultur,  Religion  und 
Kunst,  die  Wertschätzung  des  Mittelalters  mit  seinen  Idealen, 
Lebensformen  und  Sitten,  und  unter  diesen  besonders  die  mittel- 

nicht  angemessen  war,  hielten  mich  von  der  Ausführung  [der  Tragödie 
Achilles  Tod]  ab."  (Leben  S.  34.)  Es  ist  bemerkenswert,  daß  Uhland 
noch  bis  in  diese  Zeit  sich  mit  antiken  Stoffen  trug. 


—     28     _ 

alterliche  Liebe  in  der  geläuterten  Form,  in  der  er  sie  sich  vor- 
stellte. 

Das  ist  es,  was  Uhland  damals  mit  der  literarisclien  Richtung, 
die  er  für  die  Romantik  hielt,  gemeinsam  hatte  und  was  be- 
wirkte, daß  er  sich  ihr  anschloß.  Inwieweit  sie  früher  ihrerseits 
für  Uhlands  Hang  zum  Altertümlichen  bestimmend  gewesen 
sei,  läßt  sich  schwer  feststellen.  Aber  wenn  man  bedenkt, 
wie  schon  in  der  ganz  frühen  Zeit  der  Vorbereitung  zur  Universität 
die  Quellen  des  deutschen  Altertums  selbst  gleich  einer  beseligen- 
den Offenbarung  auf  Uhland  gewirkt  haben,  so  gewinnt  man  den 
Eindruck,  daß  Neigung  und  Studien  allein  schon  genügt  hätten, 
auch  sein  Dichten  in  den  Kreis  altertümlicher  und  volkstümlicher 
Stoffe  und  Formen  zu  ziehen,  und  daß  jene  Romantik  nur  ein 
akzidentielles  Moment  in  seiner  Entwicklung  gewesen  ist.  Sie 
hat  bei  Uhland  die  empfindsamen  Dichter  abgelöst,  und  zwar 
so,  daß  der  Übergang  sich  unmerklich  vollzog.  Romantisch  in 
dem  allgemeinen  Sinn,  in  welchem  Uhland  das  Wort  nahm, 
waren  auch  Gedichte  eines  Ossian,  Hölty,  Matthisson  u.  a.  Der 
Friedhof  z.  B.  wäre  eine  echt  romantische  örtlichkeit  nach  dem 
Sinn  des  Sonntagsblattes.  „Ossianische  Nebelgebilde"  nennt 
Uhland  die  Götter  des  Nordländers  in  dem  Aufsatz,  und  von  den 
Helden  des  Nibelungenliedes,  aus  dem  Uhland  mit  begeisterten 
Worten  den  Freunden  Bruchstücke  vorlegte,  sagt  er :  „Sie  schweben 
auf  in  die  Höhen  der  Poesie  und  thronen  wie  ein  ossianisches 
Geisterreich  riesenhaft  in  den  Wolken"  ^);  und  wenn  er  noch  im 
Jahr  1812  einen  seiner  Lieblingsorte  in  der  Umgebung  Tübingens 
das  „Ossianstal "'')  nennt,  so  meint  er  damit  gewiß  nichts  anderes, 
als  was  er  sonst  mit  „romantisch"  bezeichnet.  Und  Hölty  führt 
er  im  Vorwort  zum  zweiten  Sonntagsblatt"),  wo  er  von  „unseren 
Dichtergenies "  redet,  in  einem  Atem  mit  Wackenroder,  Novalis 
u.  a.  auf.   Romantisch  kann  man  also  auch  die  Gedichte  Uhlands 


>)  Mayer  I,  S.  22. 

•)  UhlancU  Tagbuch  1810—1820,  herausgegeben  von  J.  Hart- 
manD  1808,  10.  Mai  1812.  Gemeint  ist  das  Tal,  das  sonst  im  Tag- 
buch und  auf  den  Karten  als  „Käsebachtal"  verzeichnet,  in  seinem 
oberen«  engeren  Teil  aber  heute  unter  dem  minder  prosaischen  Namen 
fElysium"  bekannt  ist. 
»)  Mayer  I,  8.  17. 


—     29     - 

vom  Jahr  1805  nennen.  Und  die  Wandlung,  die  in  und  nach, 
diesem  Jahr  in  Uhland  vorging:  seine  Befreiung  von  der  Senti- 
mentalität und  von  der  Welt  verschwommener  „romantischer 
Charaktere",  ist  nicht  sowohl  seiner  näheren  Berührung  mit  der 
Romantik  zu  verdanken  als  einer  natürlichen,  seelischen  Grund- 
stimmung und  seiner,  allerdings  mit  Bestrebungen  der  Roman- 
tiker Hand  in  Hand  gehenden  gründlichen  Beschäftigung  mit 
einer  historisch  greifbaren  „romantischen"  Vorwelt  und  mit  be- 
stimmt umrissenen  „romantischen  Charakteren".  So  hatte  denn 
das  unklare,  schon  deutlich  romantisch  gefärbte  Sehnen  des 
Jahres  1805  seine  Heimat  gefunden:  die  Dichtung  des  deutschen 
Mittelalters  erschien  ihm  geradezu  als  Altromantik,  die  von  der 
zeitgenössischen  durch  die  Kluft  des  unpoetischen  Aufklärungs- 
zeitalters getrennt  sei:  „0  daß  erschiene  die  Zeit",  ruft  er  aus^), 
„da  zwischen  den  zwei  sonnigen  Bergen  der  alten  und  neuen 
deutschen  Poesie,  zwischen  denen  das  Alter  der  Unpoesie  als 
eine  tiefe  Kluft  hinabdämmert,  eine  befreundende  Brücke  ge- 
schlagen und  darauf  ein  frohes  Hin-  und  Herwandeln  lebendig 
würde ! " 

Als  Mitstreiter  im  Kampf  um  dieses  Ideal  hat  Uhland  die- 
jenigen Romantiker  freudig  begrüßt,  die  es  mit  ihm  teilten  oder 
zu  teilen  schienen.  Im  übrigen  hat  die  Romantik  schon  deshalb, 
weil  Uhland  sich  Elementen,  die  ihm  fremd  waren  —  und  es  gab 
deren  viele  unter  den  Romantikern  —  instinktiv  fernhielt,  damals 
nicht  tiefer  in  seine  Entwicklung  eingegriffen;  nur  daß  sie  ihm 
die  Formen  der  Oktave  und  des  Sonettes  nahebrachte,  in  denen 
er  sich  zunächst  noch  nicht  sehr  häufig,  doch  mit  Glück  versuchte. 

Doch  darf  man  ein  Verdienst,  das  sich  die  Romantik  um 
Uhlands  Dichten  erworben  hat,  nicht  unterschätzen.  Es  ist 
ganz  allgemeiner  Natur  und  betrifft  die  hohe  Wertschätzung  des 
Poetischen  überhaupt. 

Dies  bedarf  einer  ausführlicheren  Erklärung. 

In  Uhlands  Natur  bestand  von  frühe  an  eine  Rivalität  zwischen 
dem  Drang  zu  dichterischer  Produktion  und  dem  Bedürfnis  zu 
wissenschaftlicher  Erfassung  der  Gegenstände,  die  ihm  am 
Herzen  lagen.    Und  gerade  der  Umstand,  daß  beide  Tendenzen 

^)  Mayer  I,  S.  22. 


—     30     — 

sich  auf  dieselben  Gegenstände  ricliteten,  daß  also  das  Gebiet 
des  einen  vom  anderen  nicht  geschieden  war,  ermöglichte  und 
begünstigte  jene  Kivalität,  die  übrigens  durchaus  nicht  immer 
offen  als  solche  zu  Tage  trat :  im  Gegenteil,  die  Forschung  schien 
oft  der  Dichtimg  vorzuarbeiten  und  die  Dichtung  ihrerseits  die 
Forschung  durch  intuitives  Nachempfinden  zu  unterstützen. 
Trotzdem  ist  die  Gefahr,  die  aus  einer  solchen  Teilung  der  Kräfte 
für  die  künstlerische  Betätigung  erwuchs,  nicht  zu  verkennen, 
besonders,  wenn  man  dazu  nimmt,  daß  diese  letztere  aus  dem 
Leben  wenig  Zufluß  erhielt;  lag  Uhland  doch  von  jeher  nichts 
femer  als  der  Drang,  in  kräftigem  Sichausleben  das  vielgestaltige 
Leben  nach  seinen  Höhen  und  Tiefen  zu  durchmessen^).  Nach- 
dem sich  nun  im  Jahre  1805  die  jugendHche  Sentimentalität, 
wie  wir  oben  sahen,  in  lyrischen  Ergüssen  Luft  gemacht  hatte, 
hatte  sich  in  dem  folgenden  Jahr  in  dem  Dichter  eine  Wandlung 
vollzogen,  die  ihn  dazu  bestimmte,  sich  offen  und  bewußt  von  dieser 
Art  von  Dichten  loszusagen  und  eine  objektive  Gestaltung  der 
Poesie  anzustreben.  Mit  dieser  Wendung  war  eine  Reaktion  ver- 
bunden, die  sich  vor  allem  in  einem  sehr  eifrigen  Studium  der 
Quellen  des  deutschen  Altertums  zeigte.  Der  erste  Brief  an 
Seckendorf  vom  Ende  des  Jahres  1806^)  ist  besonders  bezeichnend 
dafür:  er  enthält  nichts  von  eigenen  poetischen  Plänen;  da- 
gegen ist  er  angefüllt  von  Fragen,  die  das  ernsteste  wissenschaft- 
liche Interesse  verraten;  der  Mangel  an  einer  ansehnlichen  Biblio- 
thek wird  beklagt;  es  ist  die  Rede  von  Ausgaben,  Bearbeitungen, 
neuentdeckten  und  neuzuentdeckenden  Quellen,  nach  Sprache, 
Versart  und  Alter  der  Texte  fragt  der  Wissensdurstige  —  kurz, 
alles  scheint  auf  den  angehenden  Gelehrten,  nichts  auf  den  Dichter 
zu  deuten. 

Jene  Reaktion  zeigt  sich  aber  auch  noch  in  einer  anderen 
Weise,  nämlich  in  dem  Hervorkehren  einer  Seite  der  geistigen 
Veranlagung  Uhlands,  die  sich  vor  1806  nicht  geltend  macht 
und  vielleicht  noch  zu  wenig  Beachtung  gefunden  hat:  in  der 
Vorliebe  Uhlands  für  die  antithetische  Zuspitzung  des  Gedankens 


^)  Daß  0ohon  der  junge  Student  sich  mit  Vorliebe  in  die  Einsamkeit 
und  die  Bücher  vergrub,  weiß  auch  Frau  Uhland  zu  berichten  (Loben 
S.  21). 

')  Leben  S.  26  ff. 


—     31     — 

(bezw.  der  Situation)  und  der  Form.  Ein  Gedicht  des  Jahres 
1806,  „Des  Mädchens  Trauer"  betitelt,  stellt  sich  in  scharfen 
Gegensatz  zu  der  Behandlungsweise  ähnlicher  Gegenstände  im 
Vorjahr.  Ein  Mädchen,  das  den  Tod  des  Geliebten  betrauert, 
beschließt  seine  Klage  mit  den  Worten: 

Wie  könnt'  ich  sterben,  da  er  lebte! 
Wie  könnt'  ich  leben,  da  er  starb! 

Dieses  erkältende  Spiel  mit  dem  Gedanken  und  Ausdruck  lassen 
auch  nicht  wenige  Gedichte  des  Jahres  1807  wahrnehmen.  So 
werden  in  dem  „Lied  im  Frühling "  zwei  Strophen  einander  gegen- 
übergestellt, welche  bis  auf  ein  einziges  Wort,  den  Träger  der 
Antithese,  wörtlich  identisch  sind.  In  ähnlicher  Weise  kon- 
trastieren in  den  zwei  Strophen  „Die  Schlummernde"  die  Vor- 
stellungen: „im  Sarge  schlafen"  und  „in  Blumen  schlafen".  Auf 
einer  Antithese  der  Situation  beruht  das  Gedicht  „Das  Mädchen 
am  Bache",  wo  das  eine  Mädchen  den  Bach  hinauf-,  das  andere 
den  Bach  hinabwandelt,  beide  aber  von  derselben  Empfindung 
beseelt  sind.  Das  Gedicht  „Mutter  und  Kind"  von  1805,  in  dem 
sich  die  Empfindung  frei  entfaltet  und  den  epigrammatischen 
Kern  verhüllt  hatte,  wird  nun  hervorgeholt  und  zum  herben, 
knappen  Epigramm  zugespitzt.  Dabei  läuft  auch  dann  und 
wann  eine  Spitzfindigkeit  mitunter,  wie  z.  B.  im  zweiten  Teil 
der  Greisenworte,  von  denen  sich  schwer  begreifen  läßt,  daß  sie 
ursprünglich  einem  dramatischen  Entwurf  angehörten: 

Komm  her,  mein  Kind!  o  du  mein  süßes  Leben! 
Nein,  komm,  mein  Kind!  o  du  mein  süßer  Tod! 
Denn  alles,  was  mir  bitter,  nenn'  ich  Leben, 
Und  was  mir  süß  ist,  nenn'  ich  alles  Tod. 

Auch  wenn  man  Fälle,  in  denen  das  antithetische  Spiel  sich 
minder  deutlich  nachweisen  läßt*),  nicht  in  Betracht  zieht, 
so  genügen  die  angeführten  Beispiele,  die  sich  vermehren  ließen^), 
um  zu  zeigen,  daß  auf  die  sentimentale  Breite  in  der  Behand- 
lung des  Gedichts  als  Reaktion  eine  bisweilen  zu  weit  gehende 
verstandesmäßige  Kürze  folgte,  welche  in  Uhlands  geistiger 
Veranlagung  begründet  war. 

^)  Vgl.  das  Gedicht  „Seliger  Tod". 

*)  Vgl.   „Das  Bild  des  Gestorbenen",  „An  Sie", 


—     82     — 

Diese  Reaktion  und  die  oben  betonte  starke  Hinneigung  zur 
wissenschaftlichen  Betätigung  fand  nun  aber  ein  glückliches  und 
wirksames  Gegengewicht  in  der  näheren  Berührung  Uhlands 
mit  den  Romantikern,  die  überall  das  Poetische  aufsuchten  und 
der  Phantasie  und  dem  Gemüt  zu  ihrem  Recht  verhalfen  dem 
Verstände  gegenüber.  Besonders  eine  so  durchaus  poetisch  ge- 
stimmte Natur  wie  Kerner  konnte  nur  einen  glücklichen  Einfluß 
auf  ihn  üben.  Denn  eines  hatte  dieser  vor  Uhland  voraus :  die 
stärkere  Initiative  der  dichterischen  Phantasie.  Mit  welchem 
Feinsinn  Uhland  dies  zu  erfassen  vermochte,  geht  aus  der  Stelle 
eines  Briefes  an  Karl  Mayer  hervor,  wo  er  von  Kerners  Reise- 
schatten rühmt,  daß  darin  „das  meiste  im  Äther  der  Poesie 
flattere  und  nur  auf  einen  geringen  Boden  der  Wirklichkeit  ge- 
gründet" sei').  Was  er  hier  an  dem  Freunde  bewunderte,  davon 
hätte  man  seinem  Dichten,  das  leicht  zu  eng  an  den  Boden  der 
Wirklichkeit  gefesselt  war,  einen  stärkeren  Zusatz  wünschen 
mögen;  und  er  selbst  fühlte  diesen  Mangel,  wenn  er  gelegentlich 
Kemers  dichterisches  Talent  höher  stellte  als  das  seinige  ^). 
Kerner  scheint  ihm  überhaupt  das  Romantisch-Poetische  am 
besten  verkörpert  zu  haben.  So  dankt  er  ihm  am  4.  Oktober  1807 
für  eine  Gedichtsendung  mit  den  Worten:  „Deine  Lieder  haben 
mich  sehr  gefreut,  besonders  das  Nächtliche^).  Es  hüllte  mich 
in  einen  romantischen  Duft  wie  ein  glänzender  Staubregen." 
In  ähnlicher  Weise  sagte  er  später  (1811)  von  Kerners  Märchen 
„Goldener",  es  sei  „ganz  Goldglanz"*).  —  Kein  Zweifel,  daß  der 
intime  Umgang  mit  Kerner  und  die  poetische  Regsamkeit  des 
Tübinger  Freundeskreises  überhaupt  dazu  beigetragen  haben, 
den  dichterischen  Funken  in  Uhland  glühend  zu  erhalten.  Uhland 
war  damals  von  einem  Mitteilungsbedürfnis  und  einer  Hin- 
gebung den  Freunden  gegenüber,  die  sich  vor  1807  und  nach  1812 
nicht  mehr  finden. 


*)  An  K.  Mayer,  18.  April  1809,  I,  S.  125 

•)  An  K.  Mayer,  12.  August  1809  (I,  S.  129):  „So  viel  aber  mein 
ich  doch,  daß  Kemer  ungleich  mehr  Dichter  ist,  als  ich."  Vgl.  auch 
ebenda  8.  134. 

')  Wahrscheinlich  das  Uüdicht  „Abschied",  Zeitung  für  Einsiedler, 
U.  Juni  180S. 

*)  Ju«t.  Kcmcrs  Briefwechsel  mit  seinen  Freunden,  herausgegeben  von 
'Ibeob.  Kemer,  erläutert  von  Ernst  Müller,  1897  (Briefwechsel),  I,  S.  236. 


—     33     — 

Diese  sechs  Jahre  ^)  begrenzen  eine  Periode  in  Ühlands  Ent- 
wicklung, die  sich  dadurch  kennzeichnet,  daß,  mit  der  einzigen 
Ausnahme  des  Pariser  Aufenthalts,  die  Poesie  und  besonders  die 
Lyrik  bei  Uhland  im  Vordergrund  des  Interesses  steht,  und  die 
eröffnet  wird  mit  den  Worten,  die  Uhland  am  26.  Januar  1807 
an  KöUe  richtete:  „Ich  kann  mir  kein  größeres  Glück  denken, 
als  .  .  .  aus  dem  unendlichen  Gebiete  des  Schönen  und  Großen, 
der  inneren  und  der  äußeren  Welt,  Gestalten  aller  Art  wie  in 
einem  Zauberkreis  hervorzurufen"^).  Auch  als  die  Freunde,  die 
sich  um  das  Sonntagsblatt  zusammengeschlossen  hatten,  im 
Herbst  1807  auseinander  gegangen  waren,  dauerten  die  innigen 
Beziehungen,  wenn  auch  „die  schöne  unmittelbare  Ergießung" 
fehlte,  wenigstens  zwischen  einzelnen  fort,  und  in  dem  regen 
Briefwechsel,  der  sich  entspann  und  in  dem  die  ungebundene 
Rede  oft  ganz  ungezwungen  in  die  gebundene  überging'),  nahm 
das  Poetische  weitaus  den  breitesten  Raum  ein. 

Man  teilte  den  Freunden  die  neuentstandenen  Gedichte  mit, 
drang  auf  eine  offene,  freundschaftliche  Kritik,  klagte,  wenn  der 
Schaffensdrang  stockte,  freute  sich,  wenn  er  sich  wieder  einstellte, 
und  munterte  sich  gegenseitig  zum  Dichten  auf.  Von  der  Wärme 
der  Freundschaftsgefühle,  die  Uhland  damals  beseelten,  zeugen 
die  von  dem  Treniiungsschmerz  eingegebenen  Gedichte  vom  An- 
fang 1808  „Zum  Abschied"  und  „Dem  Sänger",  die  in  über- 
schwenglichen Worten  das  Glück  der  Freundschaft  preisen: 

O!  wie  wir  uns  zuerst  umwunden! 
Wie  Seel'  in  Seele  sich  verlor! 
Steigt  nicht  in  solchen  Bundesstunden 
Ein  Ew'ges  von  der  Erd'  empor? 

(„Zum  Abschied",  Vers  13fif.) 

Freundschaft,  Poesie  und  Natur  hießen  ihm  damals  die  höchsten 
Güter.    „Wie  sehne  ich  mich,"  schreibt  er  mitten  unter  leidigen 


^)  Wenn  man  den  Entwicklungseinschnitt  des  Jahres  1806  über- 
springt, so  kann  man  als  Anfangstermin  schon  das  Jahr  1805  ansetzen. 

^)  Leben  S.  38  f. 

')  Vgl.  an  Kerner,  4.  Oktober  1807,  I,  S.  13;  8.  Dezember  1809,  I, 
S.  86;  an  Mayer,  Dezember  1807,  I,  S,  29,  Anm.   Vgl.  auch  die  poetische 
Epistel  an  Mayer  vom  21.  Oktober  1807,  I,  S.  7  ff.  und  den  pathetischen 
Schluß  des  Briefs  an  Kerner  vom  4.  Oktober  1807,  I,  S.  15. 
Haag,  Uhland  3 


—     34     — 

Examensvorbereitungen,  „nach  der  Zeit,  wo  ich  .  .  .  für  Freund- 
schaft, Poesie,  Natur  einmal  wieder  frei  erwarmen  kann.  Die 
letzte  werd'  ich  freilich  nur  gerade  noch  wie  sie  hinstirbt,  umarmen 
und  ihrem  bleichen  Mund  ein  glühendes  Lebewohl  aufdrücken 
können"  ^).  Für  das  innige  Verhältnis  zur  Natur,  das  sich  in  diesen 
letzten  Worten  ausspricht  und  sich  in  der  Zeit  der  Vereinsamung, 
nach  dem  Weggang  der  Freunde,  vertiefte,  sind  besonders  zwei 
Gedichte  des  Jahres  1808,  „Naturfreiheit"  und  „Dem  Künstler", 
bemerkenswert.  Während  nämlich  Uhland  sich  sonst  damit 
begnügt,  ein  Naturbild  zu  entwerfen,  und  dieses  in  Beziehung  zu 
setzen  zu  dem  Zustand  des  dichterischen  Subjekts,  wird  in  dem 
ersten  Gedicht  die  Naturempfindung  erweitert  zum  Gefühl  der 
Zusammengehörigkeit  alles  NaturgeschafEenen :  wie  „Sonnenstrahl 
und  Quell  und  Blüte"  ist  der  Mensch  ein  Kind  der  Natur  und 
mit  seinen  Leiden  und  Freuden  in  sie  verwoben: 

Alle  Wesen  sollen  Brüder, 
Du,  Natur,  uns  Mutter  seyn! 

Es  ist  zu  bedauern,  daß  das  zweite  der  erwähnten  Gedichte, 
„Dem  Künstler"  betitelt,  von  Uhland  nicht  in  die  Ausgabe  auf- 
genonmien  worden  ist.  Denn  es  enthält  eine  so  tiefgehende 
Reflexion  über  Natur  und  Kunst,  wie  sie  sonst  kein  anderes 
Gedicht  bietet,  und  es  ist  für  die  Art,  wie  Uhland  zur  Zeit  seiner 
Reife  die  Poesie  geübt  hat,  umso  bezeichnender,  als  es  anzu- 
deuten scheint,  daß  sich  Uhland  zur  Erkenntnis  der  seinem  Talent 
gesteckten  Grenzen  durchgerungen  hat,  wie  auch  der  Inhalt  des 
Gedichts  scheinbar  auf  Allgemeingültigkeit  Anspruch  macht. 

Die  Natur,  so  führt  das  Gedicht  aus,  ist  des  Künstlers  große 
Lehrmeisterin.  Sie  bewahrt  ihn  vor  Selbstüberhebung,  indem  sie 
ihm  zeigt,  daß  auch  sie  schöne  Formen  schaffe,  allerdings  in  so 
ungeheurem  Maßstab,  daß  der  Künstler  sie  nur  stückweise  zu  fassen 
vermag,  so  sehr  sein  Auge  „nach  dem  Ganzen  trachtet".  So  muß 
er  darauf  verzichten,  mit  seiner  Kunst  das  All  zu  umspannen,  und 
muß  sich  damit  bescheiden,  sie  in  ehrlicher,  mühsamer  Arbeit 
am  Kleinen  zu  zeigen  und  durch  dieses  auf  das  große  Ganze  zu 
deuten : 


*)  An  K.  Mftyor,  14.  September  1808  (I,  S.  93  f.). 


—     35     — 

Will  deine  Dichtung  auch  das  All  umfassen, 
Da  schwindet  oft  die  Form  den  schwachen  Blicken; 
Am  Kleinen  wird  sie  leicht  sich  merken  lassen. 
Da  müssen  Bild  und  Klang  zusammenrücken. 
Du  siehst  die  Ordnung  nicht  der  Blumenmassen, 
Die  weit  zerstreut  sind  auf  der  Erde  Rücken; 
Doch  ordnest  wen'ge  du  zum  schönen  Kranze, 
Du  triffst  im  Kleinen  wohl  das  große  Ganze. 

Nicht  nur  die  innige  Naturgemeinscliaft,  die  sich  in  dem  ersten, 
sondern  auch  der  künstlerische  Ernst  und  die  Besonnenheit,  die 
sich  in  dem  letzten  Gedicht  aussprechen,  lassen  Uhland  hier  Goethe 
fast  näher  als  der  Romantik  stehend  erscheinen.  Und  in  der  Tat: 
so  bewunderungswürdig,  ja  so  beneidenswert  vielleicht  das  freie 
Walten  der  Phantasie  ihm  bei  seinen  romantischen  Freunden  er- 
scheinen mochte,  so  mußte  er  sich  seinem  innersten  Wesen  nach 
doch  mehr  Goethes  ausgeglichener  und  abgeklärter  Dichternatur 
verwandt  fühlen;  hatte  er  doch  ohnedies  mit  Goethe  den  Trieb 
zur  volksmäßigen  Dichtung  gemein  und  konnte  auf  diesem  Gebiet, 
das  sich  ihm  ebenfalls  erst  jetzt,  in  den  Jahren  1808  und  1809, 
recht  erschloßt),  mit  ihm  wohl  in  die  Schranken  treten*). 

Auf  einem  Hauptgebiet  der  Lyrik  konnte  sich  freiUch  Uhland 
nicht  entfernt  mit  Goethe  vergleichen :  auf  dem  der  Liebeslyrik. 
Das  Element,  ohne  welches  eine  solche  sich  nicht  denken  läßt: 
die  sinnliche  Erregung,  war  bei  Uhland  nur  in  ganz  geringem 
Maße  vorhanden ;  das  Sonett  „Liebesfeuer"  vom  Jahr  1808  ist  wohl 
das  einzige  Gedicht,  in  dem  dieses  Element  rückhaltlos  und  mit 
dem  Anschein  des  subjektiv  Empfundenen  zum  Ausdruck  kommt. 
Doch  ist  dieses  Gedicht  nicht  in  die  Sammlung  aufgenommen 
worden,  dafür  aber  ein  anderes,  ganz  kurz  darauf  entstandenes, 
„Die  Zufriedenen",  in  welchem  sich  eine  so  matte  und  schwäch- 
liche Liebesempfindung  ausspricht,  daß  man  sich  vorstellen  kann, 
es  sei  unter  den  Gedichten  gewesen,  die  Goethe  bewogen  haben, 


^)  1809  kam  „Des  Knaben  Wunderhorn"  zum  Abschluß. 

^)  Greifbares  läßt  sich  über  das  Kapitel  „Uhland  und  Goethe", 
wie  überall,  wo  es  sich  mehr  um  Wahlverwandtschaft  als  um  Einfluß 
handelt,  wenig  mehr  sagen  als  das  von  F.  Sintenis  in  der  Abhandlung 
„Goethe's  Einfluß  auf  Uhland"  (Dorpat  1871  und:  Neue  Jahrb.  für 
Philologie  u.  Pädagogik  Bd.  106,  S.  369  fT.)  Hervorgehobene  verglichen 
mit  Herrn.  Fischers  (a.  a.  O.  S.  43  f.)  Einschränkungen  und  Zusätzen. 


—     36     — 

den  Band  mißmutig  aus  der  Hand  zu  legen ^).  Wenn  aber  auch  in 
Ulilands  Liebeslyrik  das  sinnliche  Element  schwach  vertreten  ist, 
und  wenn  vollends  eine  lüsterne  Behandlung  des  Erotischen  ihn 
ungehalten  machte  —  wie  er  denn  z.B.  das  schlüpfrige  „Wunder- 
blümchen" sofort  aus  seinem  Exemplar  der  Gedichte  J.  L.  StoUs') 
entfernte — ,  so  lag  ihm,  wie  er  im  „Graf  Eberstein"  bewies,  doch 
jede  Prüderie  fem.  Dünkte  ihm  ein  Gedicht  in  das  Element  des 
Poetischen  getaucht,  so  konnte  er  auch  solchen,  die  seiner  eigenen 
Axt  fernlagen,  wie  Assurs  (Assings)  „Der  Rücken"^)  oder  Thor- 
beckes  „Der  hohe  Apfelbaum"  das  wärmste  Lob  spenden. 

Auch  wäre  die  Annahme  irrig,  daß  ühlands  Liebesgedichte 
der  Grundlage  der  Erfahrung  ganz  entbehrt  haben.  Es  wurden 
schon  oben*)  die  Anzeichen  hervorgehoben,  welche  für  das  Jahr 
1804  auf  ein  frühes  Liebeserlebnis  schließen  lassen.  Obgleich  nun 
sowohl  die  biographischen  Hilfsmittel  als  Uhlands  eigene  Be- 
kenntnisse nicht  zureichen,  um  bestimmte  Behauptungen  zu  be- 
gründen, so  erwächst  uns  hier  doch  die  Notwendigkeit,  wenigstens 
die  möglichen  Kombinationen  zu  erschöpfen,  etwa  schon  ange- 
stellte zu  vergleichen  und  zu  berichtigen. 

Läßt  man  Gedichte,  in  denen  sich  die  Liebesempfindung  ent- 
weder in  oberflächlicher  oder  in  sehr  unbestimmter  Weise  kund- 
gibt (wie  in  „Entschluß",  „Schlimme  Nachbarschaft",  „Nachts" 
und  ähnliche),  außer  Betracht,  und  zieht  nur  solche  zum 
Vergleich  heran,  die  einem  tieferen  Gefühl  ihren  Ursprung  zu 
verdanken  scheinen,  so  ergibt  sich  folgende  Reihe:  „Mai- 
klage", Strophe  1  (Mai  1805),  „Mein  Gesang"  (November  1805), 
«Letztes  Lied"  (Januar  1806),  „An  die  Ferne"  (Juli  1807), 
„Das  Bild  der  Gestorbenen"  (November  1807),  „Hohe  Liebe" 
(Februar  1808),  „Ein  Abend"  (7.  März  1808),  „Kreislauf" 
(August  1808),  .Rückleben"  (September  1808,  Juli  1809),  „Er- 
träumter (ursprünglich:  „Alter)  Schmerz"  (Januar  1810).  Diesen 


*)  Siehe  Goethes  Gespräche  mit  Eckermann,  herausgegeben  von 
Dfinizer,  I,  S.  4ßf. 

*)  Vgl.  Briefwechsel  I,  S.  226.  —  Joseph  Ludwig  Stoll,  Poetische 
Schriften  (1811)  I,  S.  106  f. 

')  Aal  Uhl&nds  ausdrückliche  Empfehlung  in  den  ..  Deutschen 
Diobterwald"  (S.  14)  aufgenommen.     Vgl.  Briefwechsel  I,  S.  206. 

*)  S,  12«. 


—     37     — 

Gedichten  ist  gemeinsam  die  Klage  um  die  verlorene  Geliebte, 
so  zwar,  daß  diese  letztere  bis  zu  dem  im  Mai  1806  entstandenen 
Gedicht  „Im  Frühling"  als  noch  unter  den  Lebenden  befindlich^), 
dann  aber,  und  besonders  bestimmt  in  den  vier  letzten  Gedichten, 
als  gestorben  erscheint.  Wollte  man  annehmen,  dieser  letztere 
Zug  beruhe  rein  auf  dichterischer  Erfindung,  so  würde  dies  bei 
dem  Dichter  eine  Sentimentalität  voraussetzen,  die  er  ja  gerade 
in  den  Jahren  nach  1805  bezw.  1806  überwunden  hatte  und  die 
er  tatsächlich  in  dieser  Zeit  nicht  mehr  an  den  Tag  legte.  Außer- 
dem sind  diese  Gedichte  so  schlicht  vorgetragen  und  machen 
so  sehr  den  Eindruck  des  Tiefempfundenen,  daß  man  die  An- 
nahme, Uhland  habe  an  ein  wirkliches  Erlebnis  angeknüpft, 
nicht  wohl  abweisen  kann.  Da  nun  zwei  dieser  Gedichte 
(„Ein  Abend"  Vers  11;  „Rückleben"  Vers  15  f.)  noch  den 
Hinweis  darauf  enthalten,  daß  es  sich  um  eine  der  Ge- 
spielinnen Uhlands  aus  der  Kinderzeit  handelt,  unter  diesen 
aber  die  einzige  Wilhelmine  Gmelin  früh  verstorben 
ist,  so  kann  nur  an  diese  gedacht  werden.  Frau  Uhland  selbst 
tritt  dieser  Vermutung  nicht  entgegen,  sondern  unterstützt 
sie  eher,  wenn  sie  sagt:  „Frau  Schwab  war  ihm  [Uhland]  als 
Landsmännin  und  als  Freundin  seiner  Schwester  schon  lange 
werth,  und  wenn  die  Annahme  Grund  hat,  daß  ihre  frühe  schon 
als  Braut  verstorbene  Schwester  in  des  Dichters  erster 
Jugend  Eindruck  auf  sein  Herz  gemacht  (die  zwei  Lieder : 
„Ein  Abend"  und  „Rückleben"  sollen  sich  auf  sie  beziehen), 
80  wäre  .  .  .  noch  ein  weiterer  Grund  vorhanden  gewesen,  eine 
Anziehungskraft  auf  ihn  auszuüben"^).  Es  liegt  nahe,  zu  ver- 
muten, daß  Frau  Uhland  hier  mit  den  Worten :  „wenn  die  Annahme 
Grund  hat"  mit  feinem  Takt  ein  sichereres  Wissen  verschleiert^). 
Wäre  dem  nicht  so,  hätte  Uhland  ihr  gegenüber  nie  von  seiner 
Jugendliebe  gesprochen,  so  hätte  Frau  Uhland  daraus  entweder 


^)  Daß  die  Worte  „Du  schiedest  hin"  in  „Mein  Gesang",  Vers  26 
nicht  buchstäblich  zu  nehmen  sind,  siehe  unten  S.  40. 

*)  Leben  S.  141. 

^)  Vgl.  Notter  S.  152:  „.  .  .  wie  denn  auch  Uhland  . .  .  ganz  der 
Mann  war,  eine  solche  Neigung,  falls  sie  wirklich  stattgefunden,  als 
ewiges,  vielleicht  nur  gegen  die  spätere  Gefährtin  seines  Lebens  enthüllte 
Geheimnis  in  der  Brust  zu  tragen." 


—     38     - 

mit  Recht  ein  Argument  gegen  jene  Vermutung  machen  können, 
oder,  was  wahrscheinlicher  ist,  sie  hätte  sie  ganz  übergangen. 
So  viel  also  steht  mindestens  fest,  daß  Frau  Uhland  sich  zu  der 
Annahme  hinneigte.  —  Bei  der  Beurteilung  der  Angaben  und  Ver- 
mutungen, die  Notter  bietet^),  ist  zu  berücksichtigen,  daß  er  nur 
eine  unvollkommene  Kenntnis  der  Chronologie  der  Gedichte 
hatte;  bezieht  er  doch  das  1811  entstandene  Sonett  auf  die  1806 
verstorbene  Wühelmine  Gmelin.  Gegen  die  Annahme,  daß 
Uhland  zu  dieser  früh  eine  tiefere  Neigung  gefaßt  habe,  macht 
Notter  zwei  Gründe  geltend:  einmal,  daß  die  Freundinnen  der 
Verstorbenen  ihm  zugemutet  haben,  ein  Trauergedicht  für  sie 
zu  verfassen,  und  sodann,  daß  er  vermögend  gewesen  sei,  dieser 
Bitte  zu  entsprechen^).  Beide  Gründe  sind  hinfällig.  Wenn,  wie 
Notter  selbst  sagt,  auch  Personen,  die  „mit  Uhlands  Jugend- 
geschichte zum  Teil  sehr  genau  bekannt"  waren,  keine  bestimmte 
Aussage  sich  zu  machen  getrauten,  so  war  es  auch  nicht  ver- 
wunderlich, wenn  die  Freundinnen,  die  ihm  ja  gar  nicht  be- 
sonders nahe  zu  stehen  brauchten,  sich  mit  der  Bitte  um  ein  Trauer- 
gedicht an  ihn  wandten.  Den  zweiten  Einwand  Notters  entkräftet 
die  Tatsache,  daß  Wilhelmine  Gmelin  wenige  Wochen  vor  ihrem 
Tode  Braut  geworden.  Daraus  folgt,  daß,  wenn  je  nähere 
Beziehungen  zwischen  Uhland  und  ihr  stattgefunden  hatten, 
schon  seit  einiger  Zeit  eine  Entfremdung  zwischen  ihnen  ein- 
getreten sein  mußte.  Uhland  hatte  sie  also  schon  verloren,  ehe 
sie  gestorben  war,  so  daß  ihr  Tod  wohl  noch  erschütternd  auf  ihn 
wirken  mußte,  der  peinigendere  Schmerz  aber  schon  überstanden 
war.  Jetzt  mußte  ihm  das  Bild  der  Geliebten  in  verklärtem 
Lichte  erscheinen,  und  die  poetische  Behandlung  an  sich  schon 
brachte  es  mit  sich,  daß  in  den  Gedichten,  die  ihrem  Andenken 
geweiht  waren,  die  Zeit  der  Entfremdung,  die  dem  Tod  voran- 
gegangen, keine  Erwähnung  mehr  fand.  Wenn  aber  Notter 
meint,  „eine  um  die  Verstorbene  schwebende  Zuneigung"  habe 
sich  erst  durch  „die  Fertigung  des  Gedichtes  und  Vertiefung  in  die 
vorliegende  Situation  zur  wirklichen  Liebe  entzündet",  so  ist  dies 
psychologisch  kaum  verständlich,  am  wenigsten,  daß  eine  also 
künstlich  genährte  Neigung  noch  nach  Jahren  ein  so  tief  emp- 

^)  Notter,  S.  161  ff. 

*)  Siehe  Gedichte  I,  8.  377  f. 


—     39     — 

fundenes  Gedicht  wie  „Ein  Abend"  habe  ins  Leben  rufen  können. 
So  nachhaltig  eine  starke  Empfindung,  die  einmal  auf  Uhland 
eingedrungen,  in  ihm  fortwirkte,  so  fern  lag  es  ihm,  eine  solche 
künstlich  zu  züchten. 

Läßt  man  also  die  Beziehung  jener  nach  1806  entstandenen 
Gedichte  auf  Wilhelmine  Gmelin  gelten,  so  muß  man  annehmen, 
daß  Uhland  schon  vor  ihrem  Tod,  und  ehe  sie  sich  einem  andern 
zuwandte,  eine  Neigung  zu  ihr  gefaßt  hatte,  die  in  seinem  Dichten 
so  lange  noch  tiefe  Spuren  hinterlassen  sollte.  Bedenkt  man  ferner, 
daß  Wilhelmine  Gmelin,  die  als  „ungemein  reizend  und  seelen- 
haft"  geschildert  wird^),  fast  gleichen  Alters  mit  Uhland  war 
und  mit  ihm  in  Tübingen  aufgewachsen  ist,  so  liegt  die  Vermutung 
nahe,  sie  sei  dieselbe,  deren  Spuren  wir  in  einigen  Gedichten  des 
Jahres  1804  wahrnahmen.  Das  Gedicht  „Kreislauf",  auf  das  hier 
erst  näher  einzugehen  ist,  schlägt  die  Brücke.  Der  Dichter  feiert 
hier  —  das  Gedicht  ist  im  August  1808  verfaßt  —  ein  doppeltes 
Gedenken : 

Es  kehrt  der  Tag  der  hohen  Liebesfreuden, 

Die  mir  nach  Jahren  namenloser  Leiden 

So  süsse  Spuren  noch  im  Herzen  liessen. 

Es  kehrt  der  Tag,  wo  sich  zu  meinen  Füssen 

Die  Gruft  erschließt,  in  die  mein  Licht  sich  neiget .  .  . 

Die  Geliebte,  von  der  ihm  solche  Freuden  gekommen,  ist  also 
dieselbe  wie  die,  welche  er  als  tot  betrauert.  Die  Zeit,  in  der 
beides,  Freud  und  Leid,  sich  jährt,  ist  der  Sommer.  Die  Frage  ist 
nun  nur  noch,  welches  Jahr  dem  Dichter  die  Freuden,  von  denen 
er  spricht,  gebracht  habe.  Nur  1804  und  1805  können  in  Betracht 
kommen.  Von  diesen  aber  ist  wahrscheinlicher  das  Jahr  1804, 
da  im  Jahr  1805  gerade  solche  Gedichte,  in  denen  sich  persönliche 
Empfindung  ausspricht,  Klagen  über  den  Verlust  der  Geliebten 
enthalten: 

Achl  die  Gute,  die  ich  meine, 
Schenkt  mir  keinen  Maienstrahl. 

(„Maiklage",  Vers  5f.) 

und  besonders  in  dem  für  diese  Entwicklungsstufe  eminent  p«- 
sönlichen  Gedicht  „Mein  Gesang"  die  Worte,  mit  denen  er  die 

*)  Vgl.  Netter,  S.  152  f. 


—     40     — 

Geliebte  auffordert,    des  entschwundenen  Liebesglückes  zu  ge- 
denken: 

Du  aber  zeuge,  meine  Traute, 

DuFernemir,duNahedooh! 

Du  denkst  der  kindlich  frohen  Laute, 

Du  denkst  der  sel'gen  Blicke  noch. 

An  eine  Tote  kann  der  Dichter  eich  mit  dieser  Aufforderung 
nicht  gewandt  haben;  die  Worte  „Du  schiedest  hin"  sind  darum 
nicht  im  Sinne  des  Hinscheidens  aus  dem  Leben,  sondern  im 
Sinne  einer  räumlichen  oder  innerlichen  Trennung  aufzufassen. 
Das  letztere  liegt  insofern  näher,  als  nur  mit  dieser  Annahme  der 
Schluß  des  Gedichts  sich  rechtfertigt,  der  sonst  frivol  klingen  würde: 

Was  bleibt  mir  ,  .  . 

Als  mich  schmerzlich  hinzueehnen 

In  neue  goldne  Liebeszeit? 

Am  einleuchtendsten  aber  rekonstruiert  sich  der  wahre 
Sachverhalt  aus  dem  Gedicht  „Im  Frühling"  (Anfang  1806). 
Nachdem  der  Dichter  wehmütig  der  Gunst  gedacht,  die  ihm  die 
GeUebte  früher  im  Lenz  erzeigt  hatte,  berichtet  er,  wie  sie  sich 
jetzt  zu  ihm  verhalte: 

Wenn  Sie  jetzt,  durch  Blüthen  eilend. 
In  den  goldnen  Locken  fleugt. 
Dann,  im  raschen  Laufe  weilend, 
Sich  zur  dunkeln  Blume  beugt: 
Solche  Blum'  ist  mein  Geschick  , 
Weh!  in  eines  Kindes  Hand. 
Aber  Sie,  mit  treuem  Blicke, 
Steckt  sie  fest  ans  Busenband. 

Wenn  diesem  Gedicht  irgend  persönliche  Bedeutung  beizu- 
messen, und  wenn  es  mit  der  ausführlich  hier  erörterten  Jugendliebe 
Uhlands  in  Zusammenhang  zu  bringen  ist,  so  geht  daraus  hervor, 
daß  das  noch  sehr  jugendliche  Mädchen  des  Dichters  viel  tiefere 
Neigung  wohl  anfangs  vorübergehend  erwidert  hat,  dann  aber, 
aus  Laune  oder  weil  ihr  Herz  sie  nach  einer  anderen  Seite  zog, 
die  ohnedies  gewiß  zurückhaltende  Huldigung  des  schüchternen 
Liebhabers  sich  eben  gefallen  ließ,  ohne  sie  zu  belohnen.  — 

Wenn  Uhland  die  verstorbene  Jugendgelicbte  noch  so  viele 
Jahre  lang  —  erst  1810  erlischt  ihre  Spur  —  in  treuem  Gedächtnis 


—     41     — 

behielt  und  von  der  Erinnerung  an  sie  zehrte,  so  beweist  schon 
dies,  wie  wenig  er  von  erotischen  Anwandlungen  heimgesucht 
wurde.  So  war  denn  sein  Leben,  da  auch  seine  Freunde  ferne 
waren  in  der  Zeit,  da  er  seine  Studien  abschloß,  in  den  Jahren 

1808  und  1809,  sehr  einsam,  und  Freud  und  Leid  kam  ihm  einzig 
von  der  Poesie.  Während  er  in  späteren  Jahren  die  starken 
Schwankungen,  denen  seine  dichterische  Produktion  unterworfen 
war,  mit  gelassener  Resignation  hinnimmt,  so  wartet  er  jetzt 
mit  Ungeduld  auf  die  poetische  Stimmung  und  läßt  sich  von 
ihrem  Ausbleiben  tief  entmutigen.  „Was  die  Stimmungen  betrifft," 
schreibt  er  am  22.  April  1808  an  Mayer,  „so  bin  ich  jetzt  eigent- 
lich in  gar  keiner,  klanglos,  wie  ein  Stein,  oder  nicht  wie  ein  Stein, 
denn  dieser  hat  doch  Widerhall"');  und  am  28.  Juli,  „.  .  .  ob  ich 
gleich  seit  meinem  Facultäts-Examen  nicht  viel  gearbeitet  habe 
und  gewünscht  hätte,  daß  einmal  wieder  eine  poetische  Stimmung 
in  mir  wach  würde,  so  brachte  ich  doch  indeß  nichts  zu  Stande, 
als  ein  Hundert  Verse  zu  einem  Trauerspiele.  .  .  .  Aber  gleich  war 
der  Anflug  wieder  verschwunden  und  jetzt  kommen  wieder  die 
schweren  Zeiten"').  Diese  Klage  war  berechtigt,  denn  von  Ende 
April  bis  zum  Schluß  des  Jahres  entstanden  nur  drei  Gedichte. 
Dann  aber  setzte  die  Produktion  wieder  ein  und  hielt  ziemlich 
gleichmäßig  an  bis  gegen  den  Zeitpunkt  der  Abreise  nach  Paris 
im  Frühjahr  1810.    Trotzdem  finden  sich  gegen  Ende  des  Jahres 

1809  erneute  und  wiederholte  Klagen  ernster  Art:  Uhland  be- 
ginnt an  seinem  Dichten  zu  zweifeln:  „Meine  Gedichte  hab'  ich 
in  neuerer  Zeit . . .  mit  ziemlich  mißtrauischen  Augen  betrachtet. 
Es  ist  mir  überhaupt  oft,  als  wäre  Manches  nicht  Poesie,  was  ich 
sonst  dafür  hielt  "^).  In  ähnlicher  Weise  wie  nach  der  Krisis 
vom  Jahr  1806  wendet  er  sich  gegen  die  Poesie  des  lyrischen  Er- 
gusses, denn  er  fährt  fort:  „Das  bloße  Reflectieren  oder  das  Aus- 
sprechen von  Gefühlen  .  .  .  scheint  mir  nemlich  nicht  die  eigent- 
liche Poesie  auszumachen.  Schaffen  soll  der  Dichter,  Neues 
hervorbringen,  nicht  bloß  leiden  und  das  Gegebene  beleuchten." 
Aber  die  frohe,  unternehmungslustige  Zuversicht,  die  sich  trotz 
der  Abwendung  von  seinem  seitherigen  Dichten  in  dem  Brief 

^)  Mayer  I,  S.  78. 

*)  Ebenda  I,  S.  89. 

^)  An  K.  Mayer,  12,  August  1809,  I,  S.  129. 


—     42     — 

an  Seckendorf  vom  6.  März  1807  ausgesprochen  hatte,  fehlt 
jetzt,  und  Uhland  geht  bis  zu  Zweifehl  an  seinem  dichterischen 
Beruf:  „Wie  weit  in  dieser  Rücksicht  meine  Gedichte  so  zu 
heißen  verdienen,  kann  ich  nicht  entscheiden.  So  viel  aber  mein 
ich  doch,  daß  Kerner  ungleich  mehr  Dichter  ist,  als  ich. "  Er  ver- 
mißt den  rechten  schöpferischen  Funken:  „Ich  wende  mich," 
heißt  es  wenig  später  in  einem  anderen  Brief  ^),  „oft  weniger  aus 
Lust  und  Drang,  als  um  mich  aus  den  Bedrängnissen  zu  flüchten, 
zur  Poesie.  Die  Resultate  mögen  aber  auch  darnach  sein."  In 
der  Tat  ist,  wenn  man  ganz  vereinzelte  geglückte  Balladen  aus- 
nimmt, das  Vorwiegen  des  Verstandesmäßigen  in  den  Ende  1809 
und  Anfang  1810  entstandenen  Gedichten  unverkennbar.  Bald 
hierhin,  bald  dorthin  lenkt  der  Dichter  die  Wünschelrute  des 
Sinngedichts:  Liebe,  Natur,  Kunst,  ja  antike  Mythologie  und 
Sage*)  wird  in  seinen  Bereich  gezogen;  aber  obgleich  es  in  der 
Form  große  Mannigfaltigkeit  aufweist,  vom  Distichon  sich  bis 
zum  Sonett  bewegte,  so  konnte  es  doch  den  wahren  Zustand  des 
Dichters,  den  Mangel  an  innerster  Nötigung  zum  Schaffen,  nicht 
verdecken.  Uhland  selbst  meinte,  es  fehle  ihm  Muße,  innere 
Ruhe  und  Lebensanregung,  besonders  die  letztere:  „Dem  Dichter 
mag  freiUch  das  Umtreiben  in  der  Fremde  unter  den  Menschen 
das  Vortheilhaf teste  sein.  Was  mein  Treiben  in  der  Poeterei  be- 
trifft, so  fehlte  mir  bisher,  besonders  in  der  letzten  Zeit,  jenes 
Leben"').  Man  sieht,  Uhland,  der  seine  ganze  Jugendzeit  in  dem 
engen  Kreis  der  Verwandten  und  Bekannten  der  kleinen  Stadt 
und  des  kleinen  Heimatlands  zugebracht  hatte,  versprach  sich 
viel  von  einem  gründlichen  Wechsel  der  Lebensverhältnisse. 


4.  Mitte  1810  bis  Ende  1812 

Anfangs  Mai  trat  Uhland  endlich  die  lang  geplante  und  immer 
wieder  verschobene  Reise  nach  Paris  an.  Wenn  man  aber  erwartet, 

*)  An  K.  Mayer,  9.  September  1800,  I,  S.  134. 

')  Die  Sage  von  Narziß  und  Echo  wurde  in  einem  Nachmittag 
in  einem  vierzehn  Glieder  zahlenden  Üiatichenzyklus  behandoll.  Siehe 
Gedichte  II,  40  f. 

•)  An  K.  Mayer,  6,  Februar  1810,  I,  8.  145. 


—     43     — 

er  habe  sich  der  Lebensanregung,  die  sich  ihm  in  dieser  glänzenden 
Stadt  in  Fülle  bot,  begierig  bemächtigt  und  sie  für  sein  Dichten 
nutzbar  gemacht,  so  ist  das  ein  Irrtum.  Das  im  Januar  1810  be- 
gonnene Tagbuch  zeigt,  wie  Uhland,  nur  mit  einigen  Lands- 
leuten Umgang  pflegend,  sich  mit  vollem  Eifer  auf  das  Studium 
der  romanischen  Sprachen  und  Literaturen  warf  —  kaum  daß 
er  ab  und  zu  dem  Theater  oder  den  Kunstsammlungen  Besuche 
abstattete.  Kein  Wunder,  daß  die  Lyrik  den  gelehrten  Interessen 
gegenüber  ganz  in  den  Hintergrund  trat:  von  ganz  wenigen 
epigrammatischen  Kleinigkeiten  abgesehen,  ist  ein  einziges 
subjektiv  empfundenes  Gedicht,  „Todesgefühl",  in  Paris  ent- 
standen und  selbst  dieses  wurde  „veranlaßt  durch  die  Gefühle 
der  Nacht "^).  Dieser  verschwindenden  lyrischen  Produktion 
stehen  nicht  weniger  als  sechzehn,  zum  Teil  umfängliche  und  be- 
deutende erzählende  Gedichte,  worunter  freilich  einige  Über- 
setzungen, gegenüber  —  ein  Beweis,  wie  die  Balladendichtung 
bei  Uhland  anderen  Bedingungen  unterworfen  war  als  die 
lyrische  Dichtung.  Wenn  auch  das  Gelehrtenleben,  das  er  in 
Paris  führte,  ihn  unmittelbar  zu  befriedigen  schien  und  er  nur 
wünschte,  es  noch  länger  ausdehnen  zu  können,  so  verhehlte  er 
sich,  als  er  unmittelbar  nach  seiner  Heimkehr  das  Fazit  aus  seiner 
Reise  zog,  doch  nicht,  was  ihm  in  dieser  Zeit  gefehlt  hatte:  Ein- 
drücke und  Erlebnisse  des  Gemütes,  die  der  Nährboden  der  Lyrik 
sind;  denn  noch  war  der  dichterische  Drang  stark  genug,  um 
sich  den  wissenschaftlichen  Neigungen  gegenüber  zu  behaupten: 
„Wenn  ich  den  Werth  einer  Reise,"  schreibt  er  an  Mayer,  „nach 
ihrem  Werthe  für  das  Gemüth  schätze,  worin  ich  immer  mehr 
das  höchste  Interesse  des  Lebens  anerkenne,  so  war  wahrschein- 
lich die  Deinige  um  Vieles  bedeutender  als  die  meinige "^).  Doch 
scheint  der  Einzug  in  Tübingen  für  Uhland,  trotz  seiner  An- 
hängUchkeit  an  die  Heimat,  kein  fröhlicher  gewesen  zu  sein. 
„Seit  acht  Tagen  bin  ich  wieder  hier  und  fühle  mich  entsetzlich  ein- 
sam"^). Es  bangt  ihm  vor  der  Enge  der  heimischen  Verhält- 
nisse, und  die  Aussicht,  sein  Leben  als  Beamter  beschließen  zu 
müssen,  hat  ihm  durchaus  nichts  Verlockendes.     „.  .  .  es  scheint 

^)  Tagbuch,  23.  November  1810. 

*)  An  K.  Mayer,  23.  Februar  1811,  I,  S.  170. 

*)  Ebenda  S.  172. 


—     44     — 

mir,  daß  ich  hier  bleiben  und  seiner  Zeit  Prokurator  werden 
werde;  es  ist  mir,  wie  wenn  ich  in  die  Eiswüsten  von  Sibirien 
hineinliefe"^).  So  bedarf  er  einiger  Zeit  mid  Anstrengung,  um 
sich  der  alten  Lebensweise  und  besonders  der  leidigen  juristischen 
Tätigkeit,  die  er  in  Paris  ganz  beiseite  gelassen  hatte,  wieder 
anzupassen  und  das  Gleichgewicht  der  Seele  wiederherzustellen. 
„Ich  bin  jetzt,"  schreibt  er,  nachdem  er  das  „Pantheon"  erhalten, 
in  dem  unter  anderem  Gedichte  von  ihm  und  Fouque  veröffent- 
licht waren,  „für  solche  Leetüre  .  .  .  ziemhch  verstimmt,  und  fühle 
mich  so  recht  wieder  in  die  alte  Bangigkeit  verstrickt,  besonder» 
durch  meine  erste  juridische  Arbeit"^).  Noch  kn  September  gibt 
er  der  Hoffnung  Raum,  von  Tübingen  wegzukommen,  und  klagt : 
J)er  hiesige  Aufenthalt  ist  mir  entleidet  "^).  Einmal  erwähnt  er 
auch  die  verstimmenden  Zeitereignisse*),  doch  ist  von  deren  Ein- 
fluß in  Tagbuch,  Briefwechsel  und  Gedichten  sonst  nichts  zu 
merken.  Einsamkeit  und  widrige  Geschäfte  allein  sind  es,  die  ihm,, 
auch  als  er  sein  altes  Leben  in  der  Heimat  wieder  aufgenommen^ 
noch  trübe  Stimmungen  bereiten  und  noch  manche  Klagen  ent- 
locken. Allein  für  die  Trennung  von  den  Freunden  entschädigt 
er  sich  durch  einen  sehr  regen  brieflichen  Verkehr,  besonders 
mit  Kemer  und  K.  Mayer,  mit  denen  er  literarische  und  poetische 
(Gegenstände  ausgiebig  bespricht.  Man  würde  sich  ein  falsches 
Bild  von  seinem  inneren  Zustand  machen,  wollte  man  jenen 
pessimistischen  Äußerungen  zu  viel  Gewicht  beilegen.  Schon 
ein  Blick  auf  die  ungemein  reiche  dichterische  Ernte  des  Jahres 
1811  belehrt  uns  eines  Besseren:  es  ist  das  erträgnisreichste 
seines  ganzen  Lebens.  Nach  der  Rückkehr  von  Paris  bis  Schluß 
des  Jahres  sind  (einschließlich  der  wenigen  Übersetzungen  bezw. 
Bearbeitungen)  48''),  im  ganzen  Jahr  51  Gedichte  entstanden. 
Häufiger,  anhaltender  und  intensiver  als  je  suchen  ihn  produktive 

*)  An  K.  Mayer,  12.  August  1800,  I,  S.  129. 

»)  An  denuelben,  6.  April  1811,  I,  S.  174. 

')  An  denHelben,  21.  September  1811,  I,  S.  180  f. 

*)  Ebenda  I.  S.  186. 

')  In  dem  chronologischen  Verzeichnis  der  Gedichte  am  Schluß 
▼on  E.  Sohmidts  Ausgabe  (II,  362  IT.)  ist  irrtümlich  das  Gedicht  „Tausch" 
Tom  10.  Dezember  1809  auch  im  Jahr  1811  angeführt.  JJie  beigefügten 
Daten  (3.  Februar,  1.  März)  sind  auf  „Vorschlag"  (lag buch  „Die  Loose") 
zu  beziehen. 


—     45     — 

Stimmungen  heim:    viermal  entstanden  in  diesem  Jahre  zwei, 
zweimal  drei  Gedichte  an  einem  Vormittag,  auf  den  28.  August 
1811   entfallen   vier,   auf   den    21.  März   des  folgenden  Jahres 
gar   sieben   Gedichte.      Im    ganzen    ist    der    größere   Teil    des 
Jahres   1811   und  der  Anfang  von  1812    für  Uhland  eine  Zeit 
glücklichen     Schaffens     und     ein     Höhepunkt      künstlerischen 
Könnens.      Technische   Hindernisse    scheint    er    gar    nicht   zu 
kennen.    Meistert  er  doch  die  Sonettform,  auf  deren  technische 
Schwierigkeiten  er  selbst  hinwies^),  derart,   daß  ihm  einmal  in 
einem  Zeitraum  von  zwanzig  Tagen  (18.  August  bis  7.  September) 
nicht  weniger  als  neun  Sonette   gelingen,  worunter  zweimal  je 
zwei,   einmal  gar  drei  an   einem  Vormittag  entstanden  sind'). 
Allein  auch  andere  Gedichte,  wie   „Das  Thal",  „Scheiden",  die 
Ballade   „Märchen",    „Winterreise",    „Einkehr"    u.  s.   w.   tragen 
den    Stempel     einer     formellen    Vollkommenheit,     einer     Un- 
gezwungenheit des  Ausdrucks  und   Satzbaus,   einer  fein  abge- 
stuften Anpassung  der  Form  und  des  Umfangs  an  den  Inhalt, 
daß  man  sich  bei  aller  Eigenart,  die  dem  Lyriker  Uhland  gerade 
1811  auf  1812  eigen  ist,  noch  häufiger  als  in  der  vorangegangenen 
Zeit  an  Goethe  erinnert  fühlt.     Zu  der  angeregten  produktiven 
Stimmung  dieser  zwei  Jahre  trug  nicht  wenig  der  Umstand  bei, 
daß  die  Freunde  die  ihnen  mit  der  glücklichen  Zeit  des  Sonntags- 
blattes   liebgewordene   Gewohnheit,    sich    ihre   Gedichte    gleich 
nach  dem  Entstehen  zur  Kritik  vorzulegen,  mit  erneutem  Eifer 
aufnahmen  und  sich  gegenseitig  zu  fleißigem  Dichten  anspornten. 
Außerdem  galt  es,  Kerners  „Poetischen  Almanach  für  das  Jahr 
1812"  und  den  „Deutschen  Dichterwald"  gemeinsam  zuzurüsten, 
die  Beiträge  der  Mitarbeiter  kritisch  zu  sichten  und  mit  eigenen 
Produkten  möglichst  vorteilhaft  hervorzutreten,  wie  denn  die  Be- 
ratungen über  diesen   Gegenstand  einen  breiten  Raum  in  der 
Korrespondenz  Uhlands  von  1811  und  1812  einnehmen.    Nimmt 
man  dazu  noch  die  Tatsache,  daß  Uhland  sich,  wie  fast  jede  Seite 


^)  An  Graf  von  Loben,  18.  März  1812,  Leben  S.  81  f. 

^)  Auch  bei  anderen  Dichtern,  wie  Bürger,  A.  W.  Schlegel,  Tieok  u.  a. 
trat  damals,  teilweise  im  Zusammenhang  mit  dem  „Sonettenkrieg" 
(ca.  1803  bis  1813)  die  Sonettenproduktion  periodisch,  um  nicht  zu  sagen 
epidemisch,  auf.  Vgl.  Welti,  Die  Geschichte  des  Sonetts  (1884) 
S.  151  f.,  180. 


—     46     — 

des  Briefwechsels  und  des  Tagbuchs  beweist,  zu  dieser  Zeit  einer 
ausgedehnten  poetischen  Lektüre  hingab,  so  begreift  man,  daß 
das  Schmerzliche,  welches  dem  so  in  eine  ganz  poetische  Atmo- 
sphäre Gehüllten  aus  dem  Zusammenstoß  der  Welt  der  Dichtung 
mit  der  nüchternen  Wirklichkeit  erwuchs,  ihm  das  Schaffens- 
glück doppelt  zum  Bewußtsein  kommen  ließ. 

In  dieser  Zeit  war  Uhland  ganz  Dichter.  Die  wissenschaftliche 
Betätigung  trat  zurück.  Den  Zeitereignissen  hielt  er  sich  noch 
fem.  Nur  im  dichterischen  Schaffen  suchte  und  fand  er  volle 
Befriedigung,  Die  Poesie  ist  ihm  das  einzige  Heilmittel  gegen 
das  schale,  alltägliche  Leben.  Nur  dadurch,  daß  die  Poesie 
dieses  vernichtet  oder  läutert,  wird  das  Leben  lebenswert.  In 
diesem  Sinne  sucht  er  den  schon  damals  von  düsteren  Stim- 
mungen schwer  heimgesuchten  Kerner  zu  trösten:  „Glaube  ja 
nicht,  daß  Du  allein  der  Traurige  bist  und  daß  jene  Schmerzen 
Dir  allein  zugehören.  Welches  edlere  Gemüt  kennt  sie  nicht? 
Es  ist  die  himmliche  Flamme,  die  ihr  irdisches  Leben  zu  Asche 
gebrannt  hat  und  ängstlich  nach  Brennstoff  umherflackert  und 
ihn  aus  den  Höhen  saugen  wül.  .  .  .  Warum  sind  die  beschränk- 
testen Menschen  die  zufriedensten  und  lächeln  die  Simpel  immer  ? 
Weil  die  Erkenntnis  des  höheren  Lebens,  die  Poesie,  fehlt,  die 
das  schale,  niedere  Leben  vernichtet;  nein!  nicht  vernichten  soll 
sie  es,  läutern,  erheben;  und  kann  sie  es  nicht  immer,  so  läßt  sie 
es  fallen,  wie  der  Adler  die  Schildkröte,  und  fliegt  allein  der 
Sonne  zu  .  .  .  laß  uns  nicht  sterben !  wenn  uns  kein  Handeln  ver- 
gönnt ist,  so  laß  uns  leiden  und  dichten!"^). 

Und  doch,  trotz  dieses  Hochgefühls  poetischer  Betätigung, 
kommen  ihm  auch  jetzt  wieder,  wenigstens  vorübergehend, 
jene  Zweifel  über  sein  Dichten,  die  ihn  schon  1809  heimgesucht 
hatten:  »Verschiedene  kleine  Lieder  habe  ich  gedichtet,  schreibt 
er  an  K.  Mayer ^),  doch  fehlt  meinem  Dichten  jetzt  der  Zusammen- 
hang, die  bestimmte  Richtung,  ein  herrschendes  Princip.  Ich 
bemerke  dies  besonders  im  Gegensatze  von  Kerners  neueren 
Dichtungen,  in  denen  Wald  und  Waldleben  die  Einheit  bildet." 
Und  in  ähnlicher  Weise  äußert  er  sich  Kemer  gegenüber^),  daß 

^)  An  Kemer,  8.  Februar  1812,  I,  S.  277. 

*)  An  K.  Mayer,  am  30.  Novombor  1811,  I,  8.  212. 

*)  Am  7.  Dezember  1811,  I,  8.  256  f. 


—     47     — 

er  sich  beim  Dichten  zu  sehr  zersplittere,  „vom  Hundertsten  ins 
Tausendste  komme,"  daß  es  ihm  „an  einer  Richtung  fehle". 

Das  Auftauchen  solcher  Bedenken,  zumal  in  diesem  Zeitpunkt, 
ist  höchst  bemerkenswert.  Uhland  befindet  sich  damals  in  einer 
Periode  lyrischer  Dichtung.  (Die  erzählenden  Gedichte,  be- 
sonders diejenigen  des  Jahres  1811,  stehen  an  Zahl  und  Bedeutung 
hinter  den  lyrischen  zurück.)  Alles  begünstigt  die  Entfaltung 
seiner  lyrischen  Fähigkeiten:  die  verhältnismäßig  reichliche 
Muße,  die  der  freilich  ihm  widerstrebende  Beruf  ihm  läßt;  die 
Stille  und  Zurückgezogenheit  seines  Aufenthalts;  der  rege  Aus- 
tausch mit  teilnehmenden  Freunden;  eine  eminente  Leichtigkeit 
in  der  Handhabung  der  Form  und  in  der  Produktion  überhaupt; 
und  endlich  die  Möglichkeit,  sich  in  eigenen  Almanachen  in  der 
literarischen  Welt  alsbald  geltend  zu  machen  —  nichts  oder 
wenig  scheint  zu  mangeln;  und  doch  fehlt  Uhland  die  volle  Be- 
friedigung: es  ist  ihm,  als  sei  in  seiner  Dichterpersönlichkeit 
eine  Lücke ;  schmerzlich  scheint  er  etwas  zu  vermissen.  Er  nennt 
es  Richtung,  Zusammenhang,  Prinzip,  näher  aber  war  er  der  Wahr- 
heit schon  im  Jahr  1809  gekommen,  als  er  in  einem  Brief  an 
K.  Mayer  ^)  meinte,  es  sei  vielleicht  nicht  so  übel,  wenn  der  Dichter 
in  seinem  Inneren  etwas  zerfalle  und  ihm  das  jugendliche  Schwel- 
gen in  Gefühlen  und  Reflexionen  vergehe,  damit  er  mehr  das 
Äußere,  das  Leben,  ergreife. 

Der  ferne  gerückte  Beobachter,  der  das  ganze  Leben  und 
Schaffen  des  Dichters  überblickt,  vermag  heute,  was  Uhland 
in  seinem  lyrischen  Dichten  ahnend  vermißte,  deutlicher  zu 
erkennen:  es  ist  der  Ballast  des  Lebens;  es  ist  das  die 
Grundfesten  der  Persönlichkeit  erschütternde  Erlebnis;  eines 
jener  Ereignisse,  die  plötzlich  in  dem  eigenen  Wesen,  dessen 
man  so  sicher  zu  sein  glaubte,  eine  unergründhche  Kluft 
aufreißen,  und  in  deren  Sturm  auch  der  stärkste  Arm  die  Macht 
über  das  Steuer  zu  verlieren  droht.  Derartiges  hat  Uhland  nicht 
bloß  nie  erlebt,  sondern  —  was  wichtiger  ist  —  es  fehlten  in 
seiner  Natur  die  Grundbedingungen  für  die  Möglichkeit  eines 
solchen  Erlebnisses.  Man  hat  darauf  hingewiesen,  wie  ruhig  und 
ereignislos  im  Grunde  Uhlands  Leben  dahingeflossen  sei.  Allein, 
wenn  es  überhaupt  gilt,  daß  der  Mensch  selbst  sich  das  Leben 

1)  Vom  9.  September  1809,  I,  S.  134. 


—     48     — 

gestaltet,  so  hätte,  abgesehen  davon,  Uhlands  Leben  genug  An- 
laß zu  Konflikten  gegeben:  es  sei  nur  erinnert  an  den  ihm  tief 
widerstrebenden  Beruf  eines  Juristen;  ferner  an  die  Liebe  zu 
seiner  späteren  Gattin,  die  Uhland  lange  Zeit  in  sich  verschloß, 
weil  die  Verhältnisse  eine  Vereinigung  nicht  zuließen^);  oder 
endlich  an  den  Konflikt  zwischen  dem  geliebten  akademischen 
Lehrberuf  und  der  ihm  überlästigen,  nur  pflichtmäßig  übernom- 
menen politischen  Tätigkeit.  Uhlands  Persönlichkeit  war  aber 
von  vornherein  zu  fest  gefügt,  als  daß  ein  solcher  Konflikt  hätte 
reifen  und  ihn  auch  nur  vorübergehend  wankend  machen  können. 
Den  Mann,  der  einen  großen  Teil  seines  Hochzeitstages  in  der 
Kammersitzung  verbrachte,  beherrschten  unverrückbare  sittliche 
Normen.  Uhland  besaß  Elastizität  des  Geistes  und  des  Gemütes 
—  davon  legen  seine  Gedichte  sattsam  Zeugnis  ab  — ,  allein  er 
besaß  nicht  die  geringste  Elastizität  der  moralischen  Haltung. 
Gibt  man  dies  zu  und  nimmt  man  diese  letztere  Eigenschaft 
in  dem  Sinne,  in  dem  man  sie  dem  Goethe,  der  das  Idyll  von 
Sesenheim  erleben  und  in  der  Liebe  zu  Frau  von  Stein  vielleicht 
seines  großen  Lebens  höchstes  Glück  und  größten  Reichtum 
finden  durfte,  zuschreiben  muß,  so  versteht  man  ohne  weitere 
Erörterung,  warum  Uhland  Erfahrungen,  wie  die  oben  angedeute- 
ten, erspart  oder  —  versagt  blieben.  Nie  hat  sich  Uhland  an  das 
Leben  verloren  oder  hingegeben;  als  Jüngling  stand  er  ihm  so 
sicher  gegenüber  wie  in  höherem  Alter.  Man  hat  bei  der  hohen 
Bewunderung,  die  man  Uhlands  Charakter  jederzeit  gezollt  hat, 
wenig  beachtet,  wie  viel  ererbter,  wie  viel  im  Leben  errungener 
Besitz  war.  Vielleicht  ist  gerade  in  dem  geringen  Maß  solchen 
erworbenen  Gutes  jener  schwer  definierbare  Mangel  der  Uhland- 
schen  Ljmk  zu  finden,  den  jeder  fühlen  muß,  der,  abgesehen  von 
den  heiteren  Tönen,  nicht  nur  sanfte  Rührung,  weihevollen  Ernst 
oder  gefaßte  Kraft  in  der  Lyrik  sucht,  sondern  auch  die  Spuren 
von  einem  Erlebnis  irgendwelcher  Art,  das  die  Persönlichkeit 
des  Dichters  in  ihren  Wurzeln  erzittern  machte. 

Der  Umstand,  daß  Uhland  gerade  in  dieser  Zeit,  und  nach- 
mals (d.  h.  nach  1812)  nie  mehr,  solche  Bedenken  und  Klagen 
über  sein  Dichten  äußerte,  ist  aus  der  damals  in  ihm  vorhandenen 

»)  Vgl.  Üben  8.  167. 


—    49    — 

Intensität  des  lyrischen  Dranges  zu  erklären,  der  in  dem  Leben 
nicht  genügende  Nahrung  fand.  Sich  aber  eigene  Lagen  und 
Schicksale  vorzuspiegeln,  denen  in  der  Wirklichkeit  nichts  ent- 
sprach, war  Uhland  nicht  willens^).  Wohl  aber  verstand  er  es, 
einen  scheinbar  noch  so  geringfügigen  Eindruck,  den  ihm  das 
Leben  bot,  für  die  Poesie  nutzbar  zu  machen,  indem  er  ihn  derart 
steigerte,  ergänzte  und  umgestaltete,  daß  etwas  ganz  Neues 
daraus  entstand").  In  diesem  Sinn  ist  auch  das  Geständnis  zu 
verstehen,  das  Uhland  selbst  1811  in  dem  Sonett  „Entschuldigung" 
machte : 

Was  ich  in  Liedern  manchesmal  berichte 

Von  Küssen  in  vertrauter  Abends  bunde, 

Von  der  Umarmung  wonnevollem  Bunde, 

Ach!  Traum  ist,  leider,  Alles  und  Gedichte. 

Es  ist  hier  der  Ort,  den  Dichter  gegen  sich  selbst  und  gegen 
diejenigen  in  Schutz  zu  nehmen,  welche  sich  durch  diese  Worte 
zu  der  Annahme  berechtigt  glauben,  Uhlands  Liebeslyrik  beruhe 
größtenteils  auf  reiner  Erfindung  und  habe  der  Anregung  durch 
das  Leben  fast  ganz  ermangelt.  Daß  diese  Ansicht  nicht  nur  im 
allgemeinen,  sondern  insbesondere  auch  für  den  engeren  hier  in 
Frage  stehenden  Zeitraum  irrig  ist,  mögen  einige  aus  dem 
Tagbuch  ausgehobene  Notizen  erweisen.  Diese  sind  freilich 
äußerst  lakonisch  und  durch  Abkürzung  der  Namen  wohl  ge- 
flissentlich verschleiert.  Doch  verdienen  gerade,  weil  Uhland 
mit  seinen  Aufzeichnungen  so  sehr  geizte,  auch  geringfügige 
Bemerkungen  Beachtung,  wie  die  dreimalige  ausdrückliche  Er- 
wähnung der  Anwesenheit  von  Sophie  Schott  bei  Tanzgesell- 
schaften: 29.  April  1812:  „Erstes  Kasino;  S.  Seh,  grün  und  rotes 
Band";  15.  Juh  1812:  „Kasino,  S.  S."  und  28,  November  1812: 
„Tanz  mit  S,  Schott".  Diese  und  ähnliche  Notizen  zeigen  auch, 
daß  sich  Uhland,  trotz  seines  ungelenken  Wesens,  nicht  ungern 
auch  in  einem  größeren  geselligen  Kreis  bewegte.  Freilich  mag 
ihn  dabei  seine  Schüchternheit,  die  er  in  dem  Gedicht  „Entschluß" 


^)  Daher  bezeichnete  er  es  später  im  Stilistikum  gelegentlich  als 
Unnatur,  wenn  in  der  Dichtung  Schmerz  zum  Ausdruck  komme,  der 
nicht  ein  unfreiwillig  quälender,  sondern  ein  selbstgefällig  gepflegter  sei. 
(W.  L.  Holland,  Zu  L.  Uhlands  Gedächtnis,  1886,  S.  54  f.) 

")  Das  Nähere  über  dieses  Verfahren  siehe  im  2,  Abschnitt. 
Haag,  Uhland  4 


—     50     — 

ironisch  beleuchtet  hat,  im  Verkehr  mit  dem  weiblichen  Ge- 
schlecht oft  unliebsam  gehemmt  haben.  Ärgerlich  vermerkt  er 
einmal  anläßlich  eines  Herbstkranzes :  „H  —  verwünschte  Blödig- 
keit, die  mich  nicht  mit  ihr  sprechen  ließ"').  Beachtung  verdient 
auch  die  Aufzeichnung  vom  7.  April  1811:  „Spaziergang  in  das 
Käsebachtal  .  .  .  [folgen  Naturbilder].  Gesellschaft  bei  Klotz; 
die  Minnigliche,  der  Spitzberg,  die  Wurmlinger  Kapelle".  Die 
Bedeutung  dieser  Notiz  wird  dadurch  gehoben,  daß  Uhland  Tags 
darauf  schrieb:  „Idee  zu  einem  Gedicht  von  einer  Liebe,  welche 
hätte  werden  können " ;  und  am  nächstfolgenden  Tag :  „Beruhigung 
und  Sicherheit  des  Liebenden  in  Ungunst  und  Öde  der  Zeit, 
durch  den  Gedanken,  daß  ein  Herz  ihrer  [seiner?]  gedenkt." 
Nimmt  man  dazu  den  Umstand,  daß  Uhland  genau  ein  Jahr 
später  „zum  Andenken  an  das  vorige  Jahr"  dieselben  Wege  ging"), 
80  liegen  in  diesen  Notizen  vielleicht  die  Elemente  vor  zu  dem 
„nach  einer  früheren  Idee"  —  es  kann  dem  Inhalt  nach  wohl  kaum 
eine  andere  sein,  als  die  vom  8.  und  9.  Aprü  —  am  3.  September 
1811  gedichteten  Sonette  „Trost".  Der  Dichter  beklagt  hier  die 
Trennung  von  der  Geliebten,  die  nun  schon  seit  dem  Frühjahr 
währen  soll,  und  über  die  er  sich  nur  in  dem  Gedanken  tröstet, 
die  Feme  werde  ihm  bekennen,  daß  sie  mit  Sehnsucht  seiner  ge- 
dacht. Liest  man  dieses  Gedicht  ohne  Kenntnis  des  hier  ange- 
deuteten Zusammenhangs,  so  mag  man,  da  Uhland  damals  doch 
wohl  von  einer  tieferen  Neigung  frei  war,  annehmen,  die  aus- 
gesprochene Empfindung  sei  rein  aus  der  Luft  gegrifEen.  So  aber 
können  wir  wahrnehmen,  wie  der  Dichter  doch  an  das  Leben  an- 
knüpfte, indem  er  auch  eine  schwächere  Anregung,  die  ihm  das- 
selbe bot,  festzuhalten  und  seinen  poetischen  Faden  daraus  zu 
spinnen  wußte.  Und  bei  wievielen  anderen  Gedichten,  über  deren 
Entstehung  wir  zufällig  nicht  unterrichtet  sind,  mag  das  Ver- 
fahren ein  ähnliches  gewesen  sein!  Endlich  sei  in  diesem  Zu- 
sammenhang noch  eine  Tagbuchnotiz  von  1813  vorgreifend 
erwähnt,  die  sich  zwar  jeder  Deutung  entzieht,  aber  schon  an 
sich  für  die  Kenntnis  von  Uhlands  Innenleben  merkwürdig  genug 
ist.  Sie  lautet:  „Fahrt  nach  Stuttgart  mit  Professor  Schott, 
Professor  Baur  und  Wilmelo  Schott.    Gang  den  Lustnauer  Berg 

*)  Tagbuoh,  19.  Oktober  1811. 
*)  Ebenda,  7.  AprU  1812. 


—     51     — 

hinauf,  Erbleichen  [?]  auf  der  Echterdinger  Höhe.  ...  Zu  Hause 
süße  Thränen "  ^ ).  Und  drei  Tage  darauf :  „Licht  meiner  Phantasie, 
Gluth  meines  Herzens". 

Die  letzteren  Aufzeichnungen  zeigen,  daß  hinter  den  herben, 
vielen  starr  und  unbeweglich  erscheinenden  Zügen  Uhlands^) 
sich  ein  weiches,  der  Rührung  wohl  zugängliches  Gemüt  ver- 
steckte. Wir  wissen,  daß  der  Mann,  der  sich  in  allen  Lebenslagen 
so  hart  war,  im  geheimen,  wenigstens  in  der  Jugend-  und  Dichter- 
periode, nicht  selten  von  Tränen  überwältigt  wurde.  So  knüpfte 
er  an  die  Lektüre  von  Kerners  „Goldener"  die  Betrachtung  im 
Tagbuch ^):  „Wenn  mich  etwas  recht  entzückt,  ob  es  gleich  an 
sich  nicht  von  der  rührenden  Art  ist,  so  pflegt  es  mich  Thränen  zu 
kosten."  Aber  selbst  etwas  Geringfügiges,  Äußerliches  konnte 
diese  Wirkung  hervorbringen.  Auf  der  Reise  nach  Paris  schrieb  er 
in  Koblenz  nach  allerhand  Reiseverdrießlichkeiten  ins  Tagbuch: 
„Abends  Erinnerung  mit  Thränen  an  Carlsruhe"*). 

Am  Tag,  an  dem  er  die  ungern  übernommene  Stelle  im  Mini- 
sterium antrat,  heißt  es:  „Gang  nach  Feuerbach  mit  Thränen  in 
den  Augen.  Wie  das  gequälte  Herz  sich  nur  vor  Gott  auf- 
schließt"''). So  verbindet  sich  mit  der  Rührung  religiöse  Er- 
griffenheit —  wie  Uhland  denn  überhaupt  in  bedrängten  Zeiten 
Zuflucht  zum  Gebet  genommen  hat:  als  er  seinen  Austritt  aus 
dem  Ministerium  durchzufechten  hatte  (am  9.  Mai  1814)  ver- 
zeichnete er  früh  das  Wort  „Gebet",  und  Abends,  nach  erledigter 
Angelegenheit  das  Wort  „Dankgebet".  Das  Gefühl  inniger  Zu- 
sammengehörigkeit mit  einem  höheren  Wesen,  das  sich  in  diesen 
Worten  kundgibt,  und  ein  rein  auf  Gefühlsgründe  gestützter 
unerschütterlicher  Unsterblichkeitsglaube  bezeichnen  Uhlands 
Stellung  zur  Religion,  die  deshalb  auch  keiner  Veränderung  unter- 
worfen war'^').  In  der  Lyrik  erscheint  die  religiöse  Vorstellungs- 
und Gefühlswelt  nur  selten  im  Vordergrund,  wie  in  dem  1812  ver- 

^)  Tagbuch,  18.  AprU  1813. 

^)  Vgl.  Kreutzers  Begegnung  mit  Uhland,  Notier  S.  266. 

^)  Tagbuch,  5.  September  1811. 

*)  Wo  er  kurz  vorher  einen  angenehmen  Aufenthalt  gehabt.  Tag- 
buch S.  12. 

^)  19.  Dezember  1812. 

'')  Vgl.  auch  die  Briefe  an  die  Mutter  vom  22.  Juni  1816  und  vom 
9.  August  1816.     Leben  S.  103  f.,  120  f. 


—     52     — 

faßten  Sonett  „An  den  Unsiclitbaren"^);  meist  klingt  sie  nur  an, 
sei  es  in  der  Hoffnung  auf  ein  künftiges  Leben,  sei  es  in  dem 
Gefühl  der  Andacht,  das  sich  bei  Uhland  schon  früh  an  die  durch 
Natureindrücke  hervorgerufene  Ergriffenheit  anschloß.  Es  gibt 
für  das  Wesen  der  Uhlandschen  Lyrik  wohl  nichts,  was  bezeich- 
nender wäre,  als  die  Art  und  Weise,  wie  Naturbild,  Rührung  und 
Ewigkeitsgedanken  in  den  wenigen  „Ruhethal"  betitelten  Zeilen 
zum  Gedicht  verschmolzen  sind: 

Wann  im  letzten  Abendstrahl 
Goldne  Wolkenberge  steigen 
Und  wie  Alpen  sich  erzeigen. 
Frag'  ich  oft  mit  Thränen: 
Liegt  wohl  zwischen  jenen 
Mein  ersehntes  Ruhethal? 

Die  Verse  sind  im  Februar  1812  bei  „einem  Spaziergang  auf  das 
Schloß"  entstanden,  und  wie  dieses,  so  verdankte  gar  manches 
Lied^)  aus  jener  Zeit  seine  Entstehung  den  einsamen  Gängen,  die 
Uhland  damals  in  der  anmutigen  Umgebung  Tübingens  zu  machen 
liebte.  Gern  ging  er  immer  wieder  dieselben  ihm  liebge- 
wordenen Wege;  besonders  bevorzugte  er  das  Käsebachtal ^) 
nördlich  der  Stadt,  den  Schloßberg,  den  Spitzberg,  die  schon 
1805  besungene  Wurmlinger  Kapelle  und  den   österberg*),  der 

^)  Das  Gedicht  hat  inhaltlich  mit  Fr.  Schlegels  Aufsatz  über  die 
Philosophie  im  Athenäum  (II,  1 — 39),  durch  den  es  laut  Tagbuch 
(13.  März  1812)  veranlaßt  sein  soll,  nichts  gemein. 

*)  Z.  B.  „Die  theure  Stelle";  die  meisten  Gedichte  aus  dem  Zyklus 
der  Frühlingulieder;  das  „Thal",  „Verborgenes  Leid";  „Winterreise"; 
„An  Kerner";    „Sonett"   (an  K.  Mayer);    „An  einem  heitern  Morgen". 

^)  Man  hört  vielfach  als  das  Lieblingstal  des  Dichters  das  Wank- 
heimer  Tal  nennen,  wo  Uhland  viele  seiner  Lieder  gedichtet  haben  soll. 
Diese  irrtümliche  Tradition  erklärt  sich  vielleicht  daraus,  daß  Uhland 
später,  nachdem  er  für  immer  nach  Tübingen  zurückgekehrt,  diesen 
Spaziergang  bevorzugte.  Damals  aber  war  seine  Lyrik  schon  fast  ganz 
versiegt.  Im  l'agbuch  wird  das  Wankheimer  l'al  nie,  das  Käsebachtal 
aber  unzäbligemal  genannt.  Nottors  (S.  169  f.)  und  Sintenis*  (a.  a.  0. 
8.  20  =  Neue  Jahrbücher  für  Phil.  u.  Päd.  106,  1872,  S.  384)  Irrtum, 
die  das  Gedicht  „Das  Thal"  auf  das  Wankheimer  Tal  beziehen,  wird  durch 
da*  Tagbuch  (19.  Juni  1811)  korrigiert. 

*)  Mit  dieser  örtliohkeit  verknüpften  sich  ihm  alte  poetische  Er- 
innerangen.  Schon  1803  hatte  er  dort  den  Plan  zu  einem  Gesang  „Alboin 
und  Kunimund"  entworfen  und  teilweise  ausgeführt.  S.  Nägele,  a.  a.  0.  S.  9. 


—     53     — 

damals  noch  von  Heideland  bedeckt  war.  Mit  dem  im  Tagbuch 
vielgenannten  „Tannenwald"  ist  der  vom  Schloßberg  zur  Wurm- 
linger  Kapelle  sich  hinziehende  bewaldete  Bergrücken  gemeint 
und  insbesondere  der  Teil,  von  dem  man  gegen  Nordwesten 
einen  Ausblick  gegen  den  Schwarzwald  hat.  Uhland  liebte  es, 
diese  Gänge  zu  jeder  Tages-  und  Jahreszeit  zu  machen,  und  die 
zahlreichen,  meist  in  knappster  Form  gehaltenen  Naturskizzen, 
die  er  im  Tagbuch  festhielt  und  die  oft  die  Vorstufe  zu  einem  Ge- 
dicht darstellen,  beweisen,  wie  er  in  die  individuelle  Stimmung 
der  geliebten  Gegend  eindrang  und  sie  zu  der  seinen  machte'). 
Diese  intime  Fühlung  mit  einer  ihm  befreundeten  Natur  trug 
nicht  wenig  dazu  bei,  daß  sich  in  jener  Zeit  der  lyrische  Drang  in 
einer  Weise  betätigte  wie  kaum  zu  einer  anderen  Zeit.  Und 
diesen  Umgang  mehr  als  den  mit  befreundeten  Menschen  mußte 
Uhland  nach  seiner  Übersiedlung  nach  Stuttgart  aufs  schmerz- 
lichste vermissen.  Er  versäumte  daher  später  nie,  bei  gelegent- 
lichen Besuchen,  auch  wenn  sie  noch  so  kurz  waren,  die  alten  Wege 
aufzusuchen,  und  auch  seiner  Braut  wies  er,  als  er  sie  in  Tübingen 
einführte,  die  altvertrauten  Plätze.  „Wehmüthiges  Heimathsgefühl 
beim  Überblick  der  Stadt  und  der  Thäler"  schrieb  er  einmal,  als 
er  Tübingen  wieder  den  Rücken  kehren  mußte,  ins  Tagbuch  ^). 
Grenzt  aber  diese  Anhänglichkeit  an  die  Scholle  auch  bisweilen 
nah  ans  Kleinliche,  wenn  er  z.  B.  bei  einer  Wanderung  in  das 
benachbarte  Baden  von  Wehmut  ergriffen  wurde,  als  er  den 
württembergischen  Schwarzwald  im  Rücken  hatte"),  oder  wenn 
er  in  späteren  Jahren  auf  einer  größeren  Reise,  am  Tag  nachdem 
er  an  seinem  Ziel,  in  Wien,  angekommen,  sich  schon  wieder  nach 
der  Heimat  sehnte''),  so  ist  doch  dieser  Zug  auch  mit  den  starken 
Seiten  seiner  dichterischen  PersönUchkeit  so  eng  verbunden,  daß 
man  sich  das  Bild  derselben  ohne  ihn  nicht  denken  kann.  Uhlands 
Naturgefühl  war  innig  verwachsen  mit  der  heimatlichen  Land- 
schaft, an  der  sein  Herz  hing.  Ihre  sanften  Linien  zeichnete 
seine  Naturlyrik  nach  und  ihre  stillen  Reize  zu  ergründen  ward 

^)  Vgl.  u.  a.  Tagbuch,  8.Aprül811;  14  f.  Mai  1811;  2.  Oktober  1811; 
4.  August  1812. 

^)  Am  17.  Juli  1818. 

^)  Tagbuch,  9.  Dezember  1818. 

^)  Leben  S,  260.     Brief  an  seine  Frau  vom  10.  Juli  1838. 


—     54     — 

er  nicht  müde.  Die  unruhige  Wanderlust  der  norddeutschen 
Romantiker  war  ihm  fern^).  Zwar  reiste  er  nicht  ungern;  doch 
waren  die  Eindrücke,  die  ihm  die  Reisen  brachten,  fast  ohne 
Bedeutung  für  ssine  Kunst  ^).  Diese  nahm  sie  nicht  an.  Nur  die 
heimatliche  Gegend  weckte  seinen  lyrischen  Drang,  weil  nur  sie 
seinem  Wesen  verwandt  war.  Was  sie  kennzeichnet,  ist  das  Maß 
und  die  Begrenzung  der  Formen;  hier  sind  keine  gigantischen 
Dimensionen,  die  den  Sinn  ängstigen  oder  verwirren,  und  keine 
imermeßlichen  Weiten,  die  ihn  in  die  Ferne  locken.  Diese  traulich 
umfriedete  Enge  empfand  Uhland,  wie  die  meisten  seiner  Lands- 
leute, nicht  als  drückend,  sondern  fühlte  sich  im  Gegenteil  nur 
in  ihr  ganz  geborgen.  So  sind  auch  die  in  seiner  Naturlyrik  ent- 
worfenen Bilder  knapp  gezeichnet  und  fest  umrissen,  während 
doch  dabei  das  Gefühl  inniger  Zusammengehörigkeit  und  Wesens- 
verwandtschaft von  Dichterseele  und  Landschaft  sie  warm  durch- 
strömt imd  den  Leser  keinen  Augenblick  irre  werden  läßt  an 
der  Aufrichtigkeit  der  Empfindung  und  der  Klarheit  der  An- 
schauung. 

Nicht  ohne  inneren  Kampf  mag  Uhland  sich  im  Lauf  des 
Jahres  1812  allmählich  mit  dem  Gedanken  vertraut  gemacht 
haben,  sich  von  der  Heimatstadt  loszureißen  und  die  Erwägung 
der  schwerwiegenden  praktischen  Gründe,  die  ihn  dazu  be- 
stimmten, trübte  die  letzte  Zeit  seines  Tübinger  Aufenthalts. 
Im  Tagbuch  mehren  sich  die  Notizen  „Juridisches",  und  im  Brief- 
wechsel die  Klagen  über  die  „widerlichen  Geschäfte"^)  und  über 
sein  „einsames  lebloses  Leben"');  es  wolle  ihm,  schreibt  er  an 
Kemer^),  dieses  Jahr  wenig  Freude  blühen.  Meist  sei  es  nur  ein 
bitterer  Schmerz,  was  ihn  zur  Poesie  erwecke'').  Die  allgemeine 
gemütliche  Depression,  die  sich  in  diesen  und  ähnlichen  Klagen 
kundgibt,  ward  seinem  Dichten  verhängnisvoll.    Gedichtet  habe 


^)  Vgl.  Siegmar  Schultze,  Die  Entwicklung  des  Naturgefühls  in  der 
deutflohen  Litteratur  des   10.  Jahrhunderts,  1007,  I,  S.  113. 

'')  £ino  vereinzelte  Ausnahme  bilden  „Die  Phantasien  aus  der 
Sohweitz"  (1806).     Gedichte  II,  S.  50  f.;  I,  S.  90. 

")  An  Kerncr,  8.  Juli  1812,  I,  S.  312. 

*)  An  K.  Mayer,  12,  Juli  1812,  I,  S.  244. 

^)  22.  September  1812,  I,  S.  322. 

*)  An  Kerner,  11.  Oktober  1812,  I,  S.  328. 


—     55     — 

er  schon  lange  nichts  mehr,  heißt  es  schon  im  September^);  und 
in  der  Tat  sind  von  Ende  Mai  bis  zum  Schluß  des  Jahres  nur 
fünf  Gedichte  entstanden,  worunter  kein  einziges  lyrisches. 


5.  1813  bis  1817 

Im  Oktober  1812  bot  sich  Uhland  die  Aussicht  auf  die  Stelle 
eines  zweiten  Sekretärs  beim  Justizministerium.  Er  bewarb  sich 
mit  Erfolg  und  siedelte  noch  im  Dezember  nach  Stuttgart  über. 
Wie  wenig  die  Beschäftigung  im  neuen  Amt  nach  seinem  Sinn 
war,  und  wie  schwer  es  ihm  wurde,  in  Stuttgart  Fuß  zu  fassen, 
ist  bekannt'^).  Die  Geistes-  und  Gemütsverfassung,  die  dieser 
Wechsel  des  Wohnorts  und  der  Berufstätigkeit  bedingte,  war 
nicht  dazu  angetan,  den  dichterischen  Drang  von  neuem  in  ihm 
zu  beleben.  Darüber  gab  er  sich  von  vornherein  so  wenig  einer 
Täuschung  hin  wie  seine  Freunde.  Unmittelbar  nach  seiner  An- 
kunft in  der  Stadt,  die  ihm  schon  nach  einem  kurzen  Besuch 
Anfangs  August  „völlig  entleidet"  gewesen  war,  berichtete  er 
Kerner  bitter:  „0  Poesie!  Professor  Gaab  sagte  beim  Abschied, 
jetzt  heiße  es  bei  mir:  Musa,  vale"^)!  Zwar  meint  er  anfangs 
noch,  die  Poesie  werde  ihm  „in  dieser  äußern  Abgeschiedenheit 
von  ihr  gewissermaßen  innerlich  klarer  und  lebendiger"*),  allein 
der  Nachsatz:  „wie  es  oft  bei  entfernten  Freunden  der  Fall  ist", 
zeigt  doch,  daß  sie  ihm  tatsächlich  ferne  gerückt  war,  und  die 
zerstreuten,  spärlichen  poetischen  Entwürfe  und  Ideen,  von  denen 
das  Tagbuch  Kunde  gibt"),  bestätigen  dies.  Auch  ist  die  frohe 
Mitteilsamkeit  im  freundschaftlichen  Briefwechsel  vorüber. 
Uhlands  Briefe  wurden,  was  Kerner  bald  auffier*),  von  1813  an 


^)  An  K.  Mayer,  10.  September  1812,  I,  S.  256. 

^)  Vgl.  Leben  S.  86  f. 

^)  Briefwechsel  I,  S.  347. 

*)  An  K.  Mayer,  20.  Januar  1813,  I,  S.  274. 

*)  14.  März,  21.  Juli,  18.  und  21.  August,  15.  September,  6.  Oktober. 

**)  Kerner  an  Uhland,  11.  Juli  1812  (sichtlich  falsch  datiert,  wahr- 
scheinlich Juli  statt  Juni),  I,  S.  364.  „Seit  Du  Justizminister  bist,  geht 
unsere  Korrespondenz  gar  elend,  woran  Du  die  Schuld  hast,  auch  erhalte 
ich  kein  Gedicht  mehr  von  Dir." 


—     56     — 

weit  seltener  und  wirken  in  ihrer  Kürze  späterhin  fast  frostig. 
Das  Erscheinen  des  Deutschen  Dichterwalds  nahm  er  viel  gleich- 
gültiger hin  als  dasjenige  des  Almanachs  des  Vorjahres,  versäumte 
er  es  doch  mehrere  Wochen  lang,  dem  ungeduldigen  Kerner  ein 
Exemplar  zukommen  zu  lassen. 

Deutet  dies  alles  auf  ein  Nachlassen  des  Anteils  am  Poetischen, 
so  ist  es  nicht  verwunderlich,  wenn  die  Stimmung  für  die  lyrische 
Produktion  ihm  1813  fast  ganz  versagt  blieb.  Zwar  weist  der 
Januar  ein  Sonett  auf,  in  dem  sich  Sehnsucht  nach  der  Geliebten 
ausspricht,  allein  es  verdankt  wie  jenes  vereinzelte  Sonett  des 
Pariser  Aufenthalts  nicht  dem  Leben,  sondern  einem  Traum  die 
Entstehung.  Auch  an  der  erweckenden  Kraft  des  Frühlings  ver- 
zweifelt jetzt  der  Dichter,  wie  das  Gedicht  „Im  Frühling"  andeutet. 
Und  je  mehr  das  Jahr  vorschreitet,  umso  schlechter  gestalten  sich 
die  Aussichten  auf  dichterische  Stimmung  und  Produktion. 
„Nun  lebe  wohl, "  schließt  er  einen  Brief  an  Kerner,  «...  und 
dichte  für  mich,  da  ich  selbst  nicht  mehr  dazu  komme "^)!  Die 
Verse  auf  den  Tod  eines  Landgeistlichen  vom  Mai,  die  nun  aller- 
dings ein  Schmuckstück  seiner  Lyrik  sind,  bilden  das  letzte  der 
fünf  Gedichte,  welche  das  Jahr  1813  hervorgebracht  hat. 

Mit  den  persönlichen  Verhältnissen,  die  in  diesem  Jahr  hem- 
mend auf  sein  Schaffen  wirkten,  trat  fast  zu  gleicher  Zeit  ein 
Element  in  sein  Leben  ein,  das  alsbald  einen  entscheidenden 
Einfluß  auf  seine  Dichtung  gewinnen  sollte:  die  politischen  Er- 
eignisse, zuerst  die  äußeren  und  dann  die  inneren.  Es  ist  dies, 
nächst  der  Wandlung,  die  sich  um  1806  in  seinem  Dichten  vollzog, 
der  wichtigste  Punkt  in  der  Entwicklung  des  Lyrikers.  Zwar 
sind  auch  in  der  Folgezeit  noch  lyrische  Gedichte  von  höchster 
Vollendung  entstanden,  aber  spezifisch  lyrische  Stimmungen 
füllten  ihn  nie  mehr  so  ganz  aus,  wie  es  periodenweise  vor  1813, 
namentlich  1811  auf  1812,  der  Fall  gewesen  war'').  Das  politische 
Gedicht  und  die  Ballade  drängte,  solange  die  dichterische  Pro- 
duktion überhaupt  anhielt,  die  subjektive  Gefühlslyrik  mehr  in 
den  Hintergrund. 

Vor  1813  hatten  die  Zeitereignisse  nie  nachhaltig  Uhlands 

')  An  Korner,  15.  August  1813,  Briofweohsel  I,  S.  869. 
')  Auch  S.  Hchultze,  a.  a.  0.  8.  116,  läßt  die  ^eint  Gefühlalyrik" 
bi«  1812  Torhc-rrKohcn. 


—     57     — 

innerlichen  Anteil  erweckt'),  im  Briefwechsel  hatten  sie  nur  ganz 
vereinzelt  Erwähnung  gefunden^)  und  in  den  Gedichten  vollends 
keine  Spur  hinterlassen.  In  Stuttgart  konnte  sich  Uhland  nicht 
länger  ihrer  Einwirkung  entziehen;  er  mußte  sich,  auch  als  Dichter, 
mit  ihnen  auseinandersetzen^).  Die  Stellung,  die  er  als  solcher  zu 
ihnen  nahm,  stand  nun  nicht  von  Anfang  an  fest,  sondern  war 
einer  Entwicklung  unterworfen,  die  sich  in  den  je  im  Beginn 
der  Jahre  1813  und  1814  entstandenen  zwei  Teilen  von  „Gesang 
und  Krieg"  beobachten  läßt.  Der  Ton  des  ersteren  ist  von  der 
Klage  beherrscht,  daß  die  Dichtung  als  Trägerin  der  Humanität 
und  höchster  Gesittung  von  dem  rohen  Krieg  verdrängt  zu  werden 
drohe.  „Gesang  und  Krieg"  stehen  sich  fremd  und  unvereinbar 
gegenüber : 

Nein!  über  ew'gen  Kämpfen  schwebt  im  Liede, 
Gleichwie  in  Goldgewölk,  der  ew'ge  Friede. 

Allein  schon  am  24.  April  1813  schränkt  er  den  Sinn  dieses 
Gedichts  mit  den  Worten  ein :  „Diese  Verse  passen  aber  nicht  mehr 
für  den  jetzigen  Krieg "^).  Und  mit  dem  Eintritt  des  Jahres  1814 
vollzieht  sich  ein  völliger  Umschwung.  Wo  die  Wogen  der  Be- 
geisterung rings  um  ihn  so  hoch  gingen  und  die  dichtenden 
Freunde  sich  von  der  Bewegung  der  Freiheitskriege  ergriffen 
zeigten"^),  konnte  ein  so  national  empfindender  Mann  wie  Uhland 
nicht  zurückbleiben.  Immerhin  ist  es  auffallend,  daß  er  so  spät 
erst  Feuer  fing,  und  man  fragt  sich,  was  ihn  so  lange  zögern  ließ? 
So  schwer  wie  die  politische  Situation  bis  zum  Übertritt  Württem- 
bergs zu  den  Allüerten  wird  wohl  ein  anderer  Grund  wiegen, 
nämlich  das  starke  Beharrungsvermögen  seines  Geistes,  das  jede 
innere  Bewegung,  also  auch  die  ausschließlich  lyrisch-literarische 

^)  Notter  S.  118  ff.  hat  daran  geradezu  Anstoß  genommen. 

*)  Vgl.  oben  S.  44,  Anm.  4. 

•')  Im  Tagbuch  werden  die  Zeitereignisse  erwähnt:  im  Jahr  1813 
am  8  f.  April,  7.  Juni,  23.  August,  1.  September  und  vom  Dezember 
an  häufig. 

^)  Mayer  II,  S.  2. 

^)  Vgl.  Hitzig  an  Kerner,  15.  Dezember  1813,  Briefwechsel  I, 
S.  372  f.,  und  Kerner  an  Uhland,  7.  Februar  1814;  ebenda  S.  377:  „Ich 
gestehe  Dir,  daß  mich  Poesieen,  die  ihren  Stoff  aus  der  jetzt  so  poetischen 
Zeit  hernehmen,  über  alles  interessieren,  indem  ich  ganz  in  diesen 
Kämpfen  lebe." 


—     58     — 

Betätigung  von  1811  auf  1812,  erst  auslaufen  lassen  mußte,  ehe 
eine  neue  angenommen  werden  konnte.  So  wurde  es  Ende 
Januar  1814,  bis  das  erste  Freiheitslied  entstand.  Dann  aber 
warf  er  sich  mit  Heftigkeit  in  die  Bewegung,  und,  wie  bei  Uhland 
die  Produktion  überhaupt  gerne  stoßweise  erfolgte,  so  entstanden 
dann  gleich  kurz  nacheinander  fünf  Lieder,  welche  die  Zeitereignisse 
zum  Gegenstand  haben  ^).  Kerner  gegenüber  glaubt  er  sich  über 
seine  seitherige,  scheinbare  Gleichgültigkeit  entschuldigen  zu 
müssen:  „Wenn  ich  Dir  in  Deinem  [?]  letzten  Briefe^)  nichts 
Vaterländisches  geschrieben  habe  und  bloß  ein  unbedeutendes, 
zeitloses  Lied'^)  beigelegt  habe,  so  mußt  Du  darum  nicht  glauben, 
daß  die  große  Zeitgeschichte  nicht  auch  mir  eine  stolze  Freude 
sei  und  in  anderer  Hinsicht  mein  Schmerz"^).  Und  diesem  Brief 
legte  er  die  erwähnten  Lieder  bei,  in  welchen  von  dem  klagenden 
Ton  des  ersten  Teils  von  Gesang  und  Krieg  nichts  mehr  zu  merken 
ist.  Ja,  er  stellte  diesen  vier  Stanzen  vier  andere  ursprünglich 
„Widerruf"  überschriebene  gegenüber,  die  in  der  Tat  dem  Inhalt 
der  früheren  in  allen  Punkten  widersprechen  und  in  denen  sich 
der  Sänger  freudig  in  die  Reihen  der  Kämpfer  stellt.  Jetzt  er- 
schien ihm  der  Frieden  als  Geschenk  des  Krieges  und  dieser  selbst 
als  etwas  Notwendiges  und  HeiUges,  in  dessen  Dienst  zu  wirken 
des  Dichters  höchster  Stolz  und  Ehrgeiz  sein  müsse.  Ja  er  geht 
so  weit,  im  „Lied  eines  deutschen  Sängers"  seinen  früheren  Sang 
von  „Minne,  Wein  und  Mai"  geringzuschätzen  und  in  dem  Recht, 
des  deutschen  Volkes  Sieg  singen  zu  dürfen,  sein  höchstes  Ziel 
zu  sehen  ^). 

Die  Stilgattung,  welcher  diese  fünf  Lieder,  und  weiterhin  die  auf 
die  württerabergischen  Verfassungskämpfe  bezüghchen  Gedichte, 
angehören,  ist  in  Uhlands  Entwicklung  neu.  Höchstens  das  Ge- 
dicht „Freie  Kunst"  von  1812  konnte,  bei  aller  Verschiedenheit 
des  Inhalts,  stilistisch  als  Vorbote  dieses  neuen  Tones  angesehen 


*)  „An  da«  Vaterland";  „Lied  eines  deutschen  Sängers";  „Gesang 
und  Krieg";  „Vorwärts";  „Die  Siegesbotschaft"  (29.  Januar  bis  3.  März). 

')  Vom  23.  Januar. 

')  Vermutlich  die  Ballade  „Graf  Eberstein"  vom  8.  Januar. 

*)  An  Körner,  10.  Februar  1804,  I.  S.  370. 

^)  Ungefähr  dieser  Zeit  mag  auch  das  Gedicht  beginnend:  „Den 
Jugendangedenken  ..."  (Gedichte  I,  S.  476),  anjjohören. 


—     59     — 

werden.  Wollte  man  diese  Gattung  mit  der  Bezeichnung  Rhetorik 
charakterisieren,  so  wäre  das  irreführend.  Wie  in  seinem  übrigen 
Dichten  Uhland  die  Poesie  „des  höchsten,  trunkenen  Schwunges" 
fremd  war^),  so  auch  auf  diesem  Gebiete.  Was  ihm  bei  seinem 
rednerischen  Auftreten  in  der  Kammer  und  im  Frankfurter  Parla- 
ment fehlte,  der  bestechende,  als  unter  dem  unmittelbaren  Zwang 
der  Inspiration  hinreißend  entfaltete  Prunk  der  Rede,  das  findet 
sich  auch  in  diesen  Liedern  nicht.  Aber  was  jenem  Auftreten  doch 
eine  tiefe  und  nachhaltige  Wirkung  verschaffte,  die  kompakte, 
gleichsam  schwerbeladene  Kürze  des  Ausdrucks,  die  jeden  Umweg 
und  jede  Fechterparade  verschmäht,  um  unmittelbar  in  den 
Mittelpunkt  der  Sache  vorzudringen,  das  macht  auch  seine 
politische  und  vaterländische  Lyrik  so  eindrucksvoll.  Dabei 
ist  diesen  Gedichten  auch  das  Element  der  subjektiven  Erregung 
in  hohem  Grade  eigen,  und  mit  der  oben  angedeuteten  Beschrän- 
kung kann  man  den  besten  derselben  mit  Vischer  wohl  „höchstes 
Pathos"  zuschreiben.  Und  eben  dieses  war  das  neue  Element, 
das  nun  in  Uhlands  Dichten  eintrat.  Es  ward  geweckt  durch  die 
Gefährdung  der  höchsten  Werte,  die  Uhland  kannte:  Vaterland 
und  Recht.  Die  ganze  Wärme,  mit  der  Uhland  in  seiner  bisherigen 
Entwicklung  nationale  Sitten,  nationale  Vergangenheit  und  ur- 
sprüngliche nationale  Kunst  zu  ergreifen  und  in  seinem  eigenen 
Schaffen  wiederzugeben  bestrebt  gewesen  war^),  ergießt  sich  jetzt 
in  diese  neue  Bahn.  Unwillkürlich  verbinden  sich  ihm  religiöse 
Vorstellungen  und  Empfindungen  mit  jenen  hohen  Gütern.  Sie 
sind  ihm  etwas  Geheiligtes,  unter  der  Gottheit  besonderem  Schutze 
stehend.    Die  Siegesbotschaft  schließt  mit  der  Strophe: 

Es  rauscht  und  singt  im  goldnen  Licht: 
Der  Herr  verläßt  die  Seinen  nicht, 
Er  macht  so  Heil'ges  nicht  zum  Spott. 
Viktoria!  mit  uns  ist  Gott! 


^)  Fr.  Th.  Vischer,  Kritische  Gänge,  Neue  Folge,  1873,  4.  H.,  S.  154. 
Vgl.  auch  Leben  S.  20,  wo  Uhland  sich  gegen  den  rhetorischen  Schmuck 
der  neuen  Poesie  wendet. 

*)  Vgl.  Leben  S.  45  ff. :  „Diesem  [dem  deutschen  Volke]  galt  mein 
Studium  von  meiner  frühen  Jugend  an.  Meine  eigenen  Gedichte  sind 
in  der  Liebe  zu  ihm  gewurzelt  und  nur  als  einen  Teil  der  deutschen 
Literatur  möchte  ich  sie  angesehen  wissen." 


—     60     — 

Im  „Gebet  eines  Würtembergers "  wird  auch  im  Kampf  um  die 
rechtmäßige  Verfassung  das  Eingreifen  der  Gottheit  erfleht,  und 
selbst  die  deutsche  Sprache  gilt  Uhland  als  etwas,  in  dem  sich 
Göttliches  offenbare.  Das  Gedicht  „Die  Deutsche  Sprachgesell- 
schaft" gipfelt  in  dem  Wunsche,  es  möge  so  weit  kommen,  „daß, 
wo  sich  Deutsche  grüßen,  der  Athem  Gottes  weht".  —  Erinnert 
diese  Zuversicht  des  Dichters,  daß  Gott  mit  seiner  Sache  und 
seinem  Volke  sei,  nicht  an  die  hingebende  Gläubigkeit  jener 
mittelalterhchen  Menschen,  die  für  Gott  im  Namen  Gottes 
stritten?  Denn  bei  Uhland  waren  solche  Worte  nicht  bloß  Schmuck 
der  Rede,  sondern  heilige  Überzeugung. 

Obgleich  zwischen  dem  letzten  politischen  und  dem  ersten 
vaterländischen')  Liede  ein  Zeitraum  von  mehr  als  anderthalb 
Jahren  lag,  so  zeigt  doch  die  in  demselben  entstandene  übrige 
Lyrik  ein  so  wenig  ausgesprochenes  eigenes  Gepräge^),  daß  die 
Auffassung  der  politischen  und  vaterländischen  Lyrik  als  einer 
eng  zusammengehörigen,  einheitUchen  Dichtungsperiode  nicht 
gezwungen  erscheinen  dürfte.  Zu  der  nahen  Verwandtschaft 
des  Inhalts,  die  Uhland  die  beiden  Gruppen  in  der  Ausgabe  der 
Gedichte  zusammenstellen  ließ,  kommt  die  aus  Tagbuch  und  Brief- 
wechsel sich  ergebende  Tatsache,  daß  die  Teilnahme  Uhlands 
an  den  Zeitereignissen  und  den  öffentlichen  Dingen  keine  Unter- 
brechung erfahren  hat,  und  endlich  der  Umstand,  daß  auch  in 
der  Zeit,  wo  Uhlands  Lyrik  sich  weitaus  vorwiegend  mit  den 
politischen  Ereignissen  der  engeren  Heimat  befaßte,  sich  Hin- 
weise finden  auf  den  Zusammenhang  derselben  mit  dem  großen 
Ganzen  und  auf  dessen  Schicksale. 

Nachdem  schon  die  im  Sommer  1815  entstandenen  Eberhards- 
balladen die  Hinwendung  zu  den  württembergischen  Verhält- 
nissen, die  sich  nun  vollziehen  sollte,  angekündigt  hatten,  ent- 

^)  So  müssen  hier  mit  Uhland  die  Gedichte  bezeichnet  werden,  die 
sich  auf  die  innerpolitischen  Kämpfe  Württembergs  beziehen,  obgleich 
der  Ausdruck  „vaterländisch"  in  dieser  Beschränkung  heute  an  sich 
mifi verständlich  ist. 

')  Die  Stelle  eines  in  der  Mitte  dieser  Zwischenzeit  geschriebenen 
Briefes  an  K.  Mayer  vom  18.  Januar  181ß  erklärt  dies:  „Es  schwindet  mir 
in  meinen  gegenwärtigen  Verhältnissen  die  Zeit  wahrhaft  wie  ein  'J  räum, 
grdßtentheils  wie  ein  banger,  Sammlung  zu  heiterem  Leben,  zu  ruhiger 
Poeeie  scheint  mir  nicht  beschieden  zu  sein"  (Mayer  II,  S.  29). 


I 


—     61     — 

stand  Mitte  Oktober  das  Gedicht  „Am  18.  Oktober  1815".  Dieses 
schlägt  mit  seiner  Eingangsstrophe  die  Brücke  zwischen  politischer 
und  vaterländischer  Lyrik,     Der  Schluß  derselben: 

So  ist  manch  heilig  Recht  zu  retten, 
Das  unter  wüsten  Trümmern  lebt. 

deutet  das  Thema  an,  das  in  der  Folgezeit  Uhlands  Lyrik  be- 
herrschen sollte  und  das  gleich  in  dem  nächsten  Gedicht  dieser 
Gruppe  „Das  alte,  gute  Recht"  (vom  24.  Februar)  mit  aller 
Deutlichkeit  angeschlagen  wird:  nachdem  für  das  große  Vater- 
land die  Freiheit  nach  außen  errungen  ist,  handelt  es  sich  für  das 
engere  um  die  Erkämpfung  der  inneren  Freiheit,  die  Uhland 
geknüpft  glaubt  an  die  von  König  Friedrich  1806  aufgehobene 
Verfassung.  Die  Frage,  welche  Stellung  Uhland  in  diesem  Kampf 
einnahm,  fällt  nicht  in  den  Rahmen  dieser  Untersuchung^).  Hier 
kommt  es  darauf  an,  darzutun,  wie  sich  diese  Hinwendung  zu 
den  Zeitgegenständen  in  Uhlands  Innerem  vollzogen,  und  welchen 
Einfluß  sie  auf  sein  ganzes  lyrisches  Dichten  gehabt  hat. 

Nicht  ohne  schmerzlich  rückblickendes  Bedauern  verließ 
Uhland  den  Boden  des  subjektiv  individuellen  Empfindens,  der 
ihm  in  den  letzten  Tübinger  Jahren  so  lieb  geworden,  und  reichte 
der  derberen  Muse  der  politischen  Lyrik  die  Hand.  Bisweilen 
wandelt  ihn  die  Sehnsucht  an  nach  der  alten  Poesie,  mit  der  sich 
ihm  die  Erinnerung  an  die  glückliche,  warm  empfindende  Jugend 
und  die  teure  Heimatstadt  verknüpft  haben  mag  —  beides 
Dinge,  die  ihm  jetzt  ferne  standen.  In  dem  Gedicht  „Aussicht* 
(Mai  1816)  heißt  es: 

Wird  das  Lied  nun  immer  tönen 
Mit  dem  ernsten,  scharfen  Laut? 
Und  das  Feld  des  heitern  Schönen, 
Bleibt  es  forthin  ungebaut? 

Die  Ritter  und  Feen  des  „Neuen  Märchens":  Freiheit  und 
Recht,  sind  doch  allzu  abstrakt  allegorisch,  als  daß  sie  ihm  die 
alten  zu  ersetzen  vermöchten: 

Einmal  athmen  möcht'  ich  wieder 
In  dem  goldnen  Märchenreioh, 
Doch  ein  strenger  Geist  der  Lieder 
Fällt  mir  in  die  Saiten  gleich. 


^)  Sie  wird  ausführlich  erörtert  von  Vischer,  a.  a.  0.  S.  116. 


—     62     — 

Feme  gerückt  scheinen  ihm  die  Tage  frohen  jugendlichen 
Lebensgenusses  und  spielender  Lust,  und  der  „Ernst  der  Zeit" 
legt  sich  oft  schwer  auf  den  Dichter. 

Allein  solche  schmerzliche  RückbHcke  finden  sich  doch  nur 
episodisch,  und  im  allgemeinen  füllten  nun  die  politischen  Dinge 
vorwiegend  Uhlands  Denken  und  Dichten  aus.  Schon  Frau 
Uhland  hat  dies,  wenigstens  für  das  Jahr  1816,  ausgesprochen: 
„Die  meisten  Lieder  dieses  Jahres,  auch  außer  den  vaterländischen, 
haben  ein  politisches  Gepräge,  so  sehr  war  seine  Seele  von  den 
Kämpfen  der  Zeit  hingenommen  ..."  und  sie  fügt  hinzu :  „Auch 
in  die  Correspondenz  mit  Freunden,  wo  sonst  von  Kunst  und  Lite- 
ratur gehandelt  wurde,  tritt  nun  die  Politik  ein"^).  Und  Uhland 
selbst  nennt,  was  allein  in  dieser  Zeit  ihn  zur  Dichtung  erwecken 
kann,  und  legt  den  Finger  auf  den  scharfen  Einschnitt,  den  die 
politische  Ära  in  seinem  Dichten  bezeichnet,  wenn  er  ausruft: 

Andre  Zeiten,  andre  Musen! 

Und  in  dieser  ernsten  Zeit 

Schlittert   nichts   m  i  r  s  o    den   Busen, 

Weckt   mich   so   zum    L  i  e  d  e  r  s  t  r  e  i  t: 

Als  wenn  du,  mit  Schwert  und  Wage, 

Themis,  thronst  in  deiner  Kraft, 

Und  die  Völker  rufst  zur  Klage, 

Könige  zur  Rechenschaft! 

(Die  neue  Muse,  Vers  9  ff.) 

Daß  Uhland  hier  mit  „der  neuen  Muse"  sowohl  die  vater- 
ländischen als  die  poUtischen  Gedichte  meint,  also  die  ganze 
Periode  von  1814  bis  1817  trifft,  scheinen  die  letzten  Zeilen| 
anzudeuten,  wo  doch  wohl  kaum  auf  Napoleon  angespielt  ist, 
sondern  imter  den  Königen,  die  zur  Rechenschaft  gezogen 
werden,  vor  allem  der  Herrscher  seines  eigenen,  engeren  Vater- 
lands gemeint  ist.  Dies  bestätigt  der  Umstand,  daß  das  Doppel- 
motiv des  äußeren  und  inneren  Kampfes  auch  an  anderem  Orte 
berührt  wird*). 

Was  Frau  Uhland  an  der  eben  erwähnten  Stelle  hervorhob, 
daß  sich  auch  in  den  „nicht  vaterländischen"  Gedichten  die  Zeit- 
umstände  erkennen   lassen,   unter   denen   Bie  entstanden  sind. 


^)  Leben  8.   122  f. 

■)  Vgl.  Ernit  der  Zeit,  Vers  7  f. 


—     63     — 

trifft  in  der  Tat  im  allgemeinen  für  den  ganzen  in  Frage  stehenden 
Zeitraum  zu,  besonders  für  die  Gedichte  der  Jahre  1816  und  1817, 
in  geringerem  Maße  für  diejenigen  von  1814  und  1815.  Aus 
diesen  letzteren  Jahren  gehören  hierher:  „Auf  K.  Gangloffs  Tod"; 
„Schattenlied"  (Vers  29);  „Vorwort"  (Vers  41  ff.),  „Des  Sängers 
Fluch" ^)  und  etwa  noch  die  Eberhardballaden  wegen  ihrer 
Lokalfarbe.  Aus  dem  Jahr  1816,  in  dem,  wie  vollends  1817,  die 
Zeitgedichte  über  die  anderen  auch  ein  numerisches  Übergewicht 
haben,  ist  besonders  auf  die  ganz  deutlich  aus  den  Zeitereignissen 
hervorgegangenen  und  daher  von  Uhland  nach  den  politischen 
von  Anfang  1814  auf  S.  61 — 64  der  „Lieder"  vereinigten  Gedichte 
hinzuweisen.  Bezeichnend  ist,  daß  auch  der  in  den  Jugendjahren 
der  nächsten  Familie  gewidmete  „Neujahrswunsch"  jetzt  ein 
politischer  ist  und  seiner  weiteren  Familie,  dem  württembergischen 
Volke,  gilt.  Ja  selbst  in  ein  rein  persönliches  Gelegenheitsgedicht 
im  engsten  Sinne  des  Worts,  in  das  auf  A.  F.  Weißer  und  Wil- 
helmine Uhland  gedichtete  „Verspätete  Hochzeitlied"  sucht  sich, 
wenigstens  in  der  ersten  Fassung^)  eine  Anspielung  auf  die  Zeit- 
ereignisse einzuschleichen,  die  aber  dann  in  der  definitiven  Fas- 
sung wieder  ausgemerzt  wird.  Die  Zahl  der  Gedichte,  die  von 
zeitlichen  Elementen  ganz  frei  sind,  ist  gering.  Selbst  die  Gattung 
der  Balladen,  die  sich  in  der  Zeit  des  für  die  eigentliche  Lyrik 
völlig  unfruchtbaren  Pariser  Aufenthalts  als  lebenskräftig  er- 
wiesen hatte,  ist  nicht  sehr  zahlreich  vertreten;  sie  weist  in  fünf 
Jahren  unter  85  Gedichten  insgesamt  21  Vertreter  auf^),  wor- 
unter lokalgeschichtlichen  Inhalts  die  Eberhardsballaden  mit 
der  politischen  Anspielung: 

Drum  soll  man  nie  zertreten  sein  altes,  gutes  Recht. 

(Das  Jahr  1816  hat  noch  zwei,  das  Jahr  1817  keine  Balladen  mehr.) 

Besonders  bemerkbar   macht   sich   das   völlige  Zurücktreten 

der  subjektiven  Lyrik  und  ihrer  Inhalte :  Natur  und  Liebe.  Neben 

dem    nach    einer   früheren    Idee    zugerüsteten   kleinen    Gedicht 

^)  Wenn  Notters  Angabe,  S.  162  f.,  daß  dieses  Gedicht  auf  Napoleon 
zu  deuten  sei,  richtig  sein  sollte,  was  allerdings  stark  anzuzweifeln  ist. 
Vgl.  auch  Scholl  an  Holland,  Gedichte  II,  S.  123  f. 

2)  Siehe  Gedichte  II,  S.  38. 

^)  Die  zwei  Umarbeitungen  „Der  blinde  König"  und  „Die  sterben- 
den Helden"  miteingerechnet. 


—     64     — 

„Frühliiigsfeier"  und  den  zwei  aus  dem  Nachlaß  überkommenen 
„Ach!  daß  die  Liebe  Herzen  bricht"  und  „Wie  kann  aus  diesem 
Röselein  ..."  stehen  vier  sämtlich  am  4.  Mai  1816  verfaßte  Ge- 
dichte: „Mailied",  „Bild",  „Klage"  und  „Rechtfertigung"^)  ver- 
einzelt da  und  lassen  sich,  wenn  auch  eines  davon  („Mailied") 
in  einem  zwei  Tage  zuvor  gemachten  eindrucksreichen  Ausflug 
in  der  Frühlingslandschaft  seine  Wurzel  hat,  auf  ein  tiefer  gehendes 
Erlebnis  oder  auf  eine  dauernde  Stimmung  nicht  zurückführen. 
Wiewohl  sie  auffallend  subjektiv-pessimistisch  gehalten  sind, 
so  mißt  ihnen  Frau  Uhland  doch  zu  viel  Bedeutung  bei,  wenn  sie 
bemerkt:  „Bei  aller  ruhigen  Festigkeit,  die  Uhlands  Briefe  aus- 
sprechen, zeigten  aber  doch  die  wehmüthigen  Lieder:  ,Maüied', 
,Klage'  und  ,Rechtfertigung',  wie  sehr  sein  Gemüth  unter  seinen 
inneren  Kämpfen  litt"^).  Man  darf  es  mit  solchen  düster  und 
schwermütig  gehaltenen  Liedern,  die  sich  bei  Uhland,  wenn  auch 
in  der  Jugend  ungleich  häufiger,  so  doch  auch  auf  allen  anderen 
Altersstufen  finden,  nicht  allzu  ernst  nehmen:  Uhland  hatte 
immer  einen  gewissen  kleinen  Vorrat  von  Schwermut,  dessen 
er  sich  gelegentlich  entäußern  mußte.  So  ist  es  auch  mit  diesen 
vier  Gedichten,  in  denen  die  erwähnte  Stimmung,  als  ob  sie  sich  an- 
gesammelt hätte,  an  eingm  Tag  ausbricht.  Und  wenn  der  Hinweis 
auf  die  kurz  vorher  entstandenen,  ausgelasssnen  Lieder :  „Trink- 
lied" („Was  ist  das  für  ein  durstig  Jahr")  und  „Du  jagtest, 
Freund  ..."  (An  G.  Schwab),  noch  nicht  genügen  sollte,  so  ist 
noch  die  Bemerkung  da,  die  Uhland  selbst  der  Mitteilung  jener 
Gredichte  an  Kerner,  diesem  zur  Beruhigung,  beizufügen  nötig 
findet:  „Doch  es  ist  dieses  nur  Scherz"'),  Und  zur  Bekräftigung 
dieser  Versicherung  führt  er  selbst  das  eben  erwähnte  „Trink- 
Hed"  an*). 

Solcher  Lieder,  die  sich  vom  Heiteren  bis  zum  Ausgelassenen 
bewegen  imd  sich  als  „Gesellige  Lieder"  zusammenfassen  lassen, 
hat  Uhland  in  den  Jahren  1814  bis  1816  fünf  verfaßt"^).    Sie  sind 

^)  Am  4.  Mai  angefangen,  am  7.  September  vollendet. 

•)  Leben  H.  122, 

')  Briefwechsel  I,  S.  425, 

*)  Die  nähere  Begründung  der  Jm  Durchschnitt .  .  .  heiteren"  Stim- 
mung in  dietten  Jahren  siehe  bei  Notter  S.  147. 

^)  Nämlich:  „Metzelsuppenlied",  „Der  Sohattenwirt",  „Schatten- 
lied",  „Von  den  sieben  Zechbrüdern"  (ebenfalls  für  die  Sohattengesell- 


—     65     — 

sämtlich  veranlaßt  durch  die  im  Gasthaus  zum  Schatten  sich  ver- 
sammelnde heitere  und  anregende  Gesellschaft,  die  Uhland  damals 
sehr  gern  und  häufig  besuchte.  Indem  diese  Gattung  des  sub- 
jektiv-individuellen Empfindungselements  fast  ganz  entbehrt 
und  auf  lyrische  Stimmungswirkung  keinen  Anspruch  macht, 
vielmehr  den  Zwecken  einer  wenn  auch  kleinen  Gesellschaft 
diente,  fügt  sie  sich  dieser  Periode,  in  der  ja  der  Dichter  als  Einzel- 
wesen überhaupt  zurücktrat,  natürlich  ein,  und  es  ist  wohl  kein 
Zufall,  daß  sie  gerade  in  ihr  zur  Ausbildung  gelangt  ist^). 

Wie  diese  Lieder  einem  bestimmten  geselUgen  Kreis,  so  gelten 
eine  Reihe  von  anderen  Gedichten  dieses  Zeitraums  einzelnen 
Personen;  und  ihre  Anzahl  ist  nicht  gering*).  Wenn  auch  fast 
alle  diese  Gedichte  sich  über  die  gewöhnlichen  Gelegenheits- 
gedichte weit  erheben,  zum  Teil  des  Persönlichen  entkleidet  und 
in  die  Sphäre  des  Allgemeingültigen  versetzt  wurden,  so  kenn- 
zeichnet sie  doch,  wie  diese  ganze  Periode,  das  Fehlen  der  spon- 
tanen, spezifisch  lyrischen  Erregung  des  dichterischen  Sub- 
jekts. 

Man  könnte  erwarten,  daß  dieses  Zurücktreten  des  subjek- 
tiven Elements,  eine  solche  Anteilnahme  an  den  äußeren  Ereig- 
nissen der  Zeit,  eine  so  angelegentliche  Beschäftigung  mit  politi- 
schen Dingen  in  den  Jahren  nach  1812  eine  beträchtliche  Modi- 
fikation der  Stellung  Uhlands  zu  den  Romantikern  hervorgebracht 
hätte.  Denn  die  Mehrzahl  der  Romantiker')  „interessierte  die 
äußere  Gestaltung  des  Lebens,  sei  es  in  der  Familie,  in  der  Gre- 
sellschaft  oder  im  Staat,  wenig . . .  Sie  waren  keine  handelnden 

Schaft  verfaßt,  vgl.  Notter,  S.  151.  Schwäbischer  Merkur,  Sonntags- 
beilage 10.  April  1887)  und  „Trinklied"  (Was  ist  .  .  .). 

)  Vor  1814  ist  das  Gesellige  Lied  nur  mit  zwei  Gedichten,  dem 
„Theelied"  von  1811  und  dem  „Trinklied"  (Wir  sind  nicht  mehr  .  .  .) 
von  1812,  nach  1816  gar  nicht  mehr  vertreten. 

)  Abgesehen  von  polemischen  und  politischen  Gedichten,  wie  „Die 
Bekehrung  zum  Sonett"  (gegen  Weißer),  „Hausrecht",  „Der  Wunder- 
mann" (gegen  Wangenheim)  sind  hierher  zu  zählen:  „Auf  den  Tod 
eines  Landgeistlichen",  „Auf  das  Kind  eines  Dichters",  „Auf  den  Tod 
eines  schlechten  Malers",  „Auf  ein  Kind",  „Ein  Haus,  darin  .  .  .",  „Du 
jagtest,  Freund",  „Auf  einen  verhungerten  Dichter",  „Verspätetes  Hoch- 
zeitslied". 

^)  Auszunehmen  sind  mit  Vischer  (a.  a.  0.  S.  139):  Schenkendorf 
und  Müller;  auch  Fouqu6. 

Haag,  ühland  5 


—     66     — 

Menschen"^);  wozu  noch  kommt,  daß  Uhland,  wie  sich  jetzt  in 
der  politischen  Ära  seines  Dichtens  und  Lebens  erst  recht  zeigen 
konnte,  weit  entfernt  war,  sich  durch  seine  Vorliebe  für  das  Mittel- 
alter zu  Verherrhchung  reaktionärer  Tendenzen  verführen  zu  lassen. 
Trotzdem  blieb  er  der  Sache,  zu  der  er  sich  schon  im  Sonntags- 
blatt bekannt  hatte,  treu;  durch  die  Wendung,  die  seine  Über- 
siedlung nach  Stuttgart  für  sein  Dichten  brachte,  wurden  seine 
Beziehungen  zur  Romantik  nicht  wesentlich  verändert.  Diese 
waren  ja  etwa  seit  1809  klarer  und  greifbarer  geworden,  indem 
sie  mehr  an  die  von  Tieck  und  Brentano  vertretene  Rich- 
tung anknüpften"),  was  sich  besonders  an  den  epischen  Dichtungen 
—  der  Fortunat  bedeutet  wohl  die  stärkste  Annäherung  Uhlands 
an  das  Empfinden  der  Romantik  —  und  an  den  dramatischen 
Versuchen  nachweisen  läßt.  Was  speziell  die  Lyrik  betrifft,  so 
ist  sie  von  der  Romantik  weniger  infiziert  worden.  Die  Annäherung 
zeigt  sich  hier  besonders  in  zwei  Punkten:  in  der  seit  der  Zeit 
des  Sonntagsblatts  fortgesetzten  Polemik  gegen  die  Antiroman- 
tiker,  die  sich  teils  gegen  einzelne  literarische  Gegner  (Voß,  Weißer) 
richtete,  wie  in  den  Glossen  „Der  Recensent"  (1813)  und  „Der 
Romantiker  und  der  Recensent",  „Die  Bekehrung  zum  Sonett" 
(1814),  teils  allgemein  gegen  die  ganze  gegnerische  Richtung 
der  „Stubenpoesie",  wie  im  „Märchen"  (1811)  und  im  „Frühlings- 
lied des  Recensenten"  (1812');  und  weiterhin  zeigte  sich  jene 
Annäherung  in  der  Verwendung  der  bei  den  Romantikern  be- 
liebten metrischen  Formen:  des  Sonetts  und  der  Oktave  hat 
sich  Uhland  schon  in  seiner  ersten  romantischen  Periode  von 
1807  an  bedient,  doch  findet  sich  insbesondere  das  erstere  mit 
Vorliebe  und  mit  Meisterschaft  behandelt  erst  nach  1809,  am 
häufigsten,  wie  wir  sahen,  im  Jahr  1811,  nach  1816  nie  mehr. 
Dazu  kommen  dann  noch  vom  Jahr  1813  an  die  kunstvollen 
Formen  der  Glosse  und  des  Tenzons;  zu  letzterem  ward  Uhland 
von  dem  von  Ende  1816  an   in  Stuttgart   weilenden  Rücker t 


^)  Rio.  Hnob,  Ausbreitung  und  Verfall  der  Romantik  (1902),  8.  306. 

')  Eine  umfassende  Darstellung  dieser  zweiten  romantischen  Periode 
■lebe  bei  Herrn.  Fiscber,  a.  a.  0.  S.  62  fif. 

^)  Von  episcb-Iyrisohen  Gedichten  sind  noch  hierher  zu  zählen 
„Die  Romanze  vom  Recensenten"  sowie  die  Einleitung  zu  den  Eberhards- 
balladen. 


-     67     - 

angeregt,  mit  dem  er  zeitweise  „fast  täglich" i)  zusammen  war. 
Allein  weiter  ging  der  Einfluß  der  Romantik  auf  seine  Lyrik 
nicht,  dem  Inhalt  und  der  Stimmung  nach  blieb  sie  unverändert, 
und  von  der  „mondbeglänzten  Zaubernacht"  und  „der  wunder- 
vollen Märchenwelt"  Tiecks,  die  Uhland,  wie  so  viele  andere, 
glossierte,  ist  auch  in  den  Gedichten  dieser  Zeit  nichts  zu 
merken.  Nach  dem  Jahr  1816  hörte  die  Berührung  Uhlands 
mit  der  Romantik  auf. 

Überblicken  wir  die  Gesamtheit  der  zwischen  1813  und  1817 
entstandenen  lyrischen  Gedichte,  verweilen  wir  insbesondere  bei 
denjenigen,  die  der  ganzen  Periode  das  besondere  Gepräge  geben, 
den  Zeitgedichten  und  den  inhaltlich  mit  diesen  verwandten 
Liedern,  und  wägen  wir  diese  Lyrik  nach  ihrem  rein  dichterischen 
Gehalt,  so  wird  sich  ergeben,  daß  bei  aller  Kunst  in  der  Hand- 
habung der  metrischen  Form  und  in  der  Gestaltung  des  sprach- 
lichen Materials,  das  sich  dem  oft  spröden  Inhalt  nicht  immer 
leicht  anschmiegte,  der  poetische  Feingehalt,  das  Quantum  edler 
lyrischer  Substanz  geringer  ist  als  in  den  Gedichten  der  ver- 
gangenen Jahre.  Besonders  in  gewissen  politischen  Gedichten 
wie  „Gespräch"  oder  „Das  alte,  gute  Recht"  und  „Würtemberg" 
mit  ihren  rhetorisch  gedachten,  aber  nicht  ebenso  wirken- 
den Aufzählungen ,  überwiegt  das  Räsonnement  bedenklich 
die  Empfindung^).  Im  allgemeinen  muß  man,  um  solche  Gedichte 
zu  würdigen,  ihren  Zweck  und  ihre  Berechtigung  außerhalb  des 
Poetischen  suchen.  Aber  auch  in  den  nicht  politischen  Gedichten 
herrscht  Reflexion,  Witz  (im  weitesten  Sinn)  und  Polemik  vor, 
und  gesellige  und  Gelegenheitsgedichte  nehmen  einen  breiteren 
Raum  ein  als  früher.  Selten  dagegen  sind  spontane  Äußerungen 
einer  in  den  Tiefen  des  Gemütes  schlummernden  lyrischen  Stim- 
mung. 

Kein  Zweifel,  daß  die  Periode  von  1813—1817  für  Uhland 
ein  Nachlassen  der  Initiative  der  lyrischen  Kraft^)  bedeutete, 
das  in  Zusammenhang  zu  bringen  ist  mit  dem  Wechsel  des  Wohn- 


^)  Siehe  Tagbuch,  5  ff.  März  1816. 

")  Einen  beträchtlichen  Mangel  an  poetischem  Gehalt  zeigen  auch  7 
die  Eberhardsballaden. 

^)  Nicht  der  dichterischen  Potenz  überhaupt:   Ist  doch   1816  der 
Herzog  Ernst,  zwei  Jahre  darauf  Ludwig  der  Baier  geschaffen  worden. 


—     68     — 

Sitzes  und  mit  der  Hinwendung  zu  den  politischen  Ereignissen. 
Die  Frage  ist  nun,  ob  der  Rückgang  ein  definitiver  sein  sollte, 
oder  ob  jene  Kraft  latent  vorhanden  blieb,  um  sich  unter  gün- 
stigeren Bedingungen  aufs  neue  zu  entfalten. 


6.  Nach  1817 

Den  Übergang  von  der  im  Zeichen  der  politischen  Lyrik  stehen- 
den Periode  zu  der  Zeit,  die  hier  als  letzte  von  Uhlands  Dichten 
ausgeschieden  ist,  bildet  ein  Erlebnis,  dessen  Wirkung  sich  über 
Jahre  erstreckte,  und  das  auf  Uhlands  inneres  wie  späterhin  auf 
sein  äußeres  Leben  von  tief  einschneidender  Bedeutung  war. 

Am  15.  Dezember  1814  wird  Emilie  Vischer,  Uhlands  spätere 
Frau,  zum  erstenmal  im  Tagbuch  genannt,  und  ihr  Name  kehrt 
fortan  auf  den  Seiten  desselben  immer  häufiger  wieder.  Diese 
inhaltlich  äußerst  kargen  Tagbuchnotizen,  die  aber  für  die  Kennt- 
nis von  Uhlands  Innenleben  höchst  merkwürdig  sind,  sowie 
einige  wenig  bestimmt  gehaltene  Seiten  in  Frau  Uhlands  Bio- 
graphie^) bilden  das  ganze  Material,  das  uns  zu  Gebote  steht 
bei  dem  Versuch,  das  Werden  und  Wachsen  dieser  tiefgreifenden 
Herzensneigung  —  denn  von  einer  Leidenschaft  kann  auch  in 
diesem  Fall  bei  Uhland  nicht  die  Rede  sein  —  zu  rekonstruieren. 
Ende  des  Jahres  1814  lernte  Uhland  EmiUe  Vischer  bei  ihrem 
Schwager,  seinem  Freimde  Roser,  kennen.  Außer  der  häufigen 
Nennung  ihres  Namens,  in  der  von  Uhland  gebrauchten  Form 
.Emma",  findet  sich  1815  bis  1817  im  Tagbuch  kein  Hinweis  auf 
die  Entstehung  einer  ernsten  Neigung')  und  inwieweit  Kerners 
Vermutung"),  Uhland  habe  sich  mit  ihr  verlobt,  auf  Tatsachen 
gegründet  war,  muß  dahingestellt  bleiben. 

Erst  im  Jahr  1818  tritt  das  Tagbuch  um  ein  weniges  aus 
seiner  Zurückhaltung  heraus.  Es  sind  nur  Kleinigkeiten,  die 
wir  erfahren,  die  aber  eben  dadurch,  daß  sie  verzeichnet  wurden, 
Bedeutung  gewinnen:  ein  Veilchenstrauß,  ein  festliches  Kleid, 


*)  8.  166«. 

')  Wenn  nicht  die  Worte  vom  4.  Oktober  1817:   „die   ich  meine", 
einen  lolohen  enthalten. 

*)  Briefwechsel  I,  S.  409. 


_     69    — 

ja  ein  Hut  von  der  Geliebten  getragen,  ist  vermerkt;  ein  anderes 
Mal  wird  nach  gemeinsamem  Spaziergang  ein  bedeutsamer 
Händedruck  gewechselt;  bei  der  Nachricht  von  einer  nur  acht 
Tage  währenden  Reise  der  Geliebten  gibt  es  „schwere  Herzen", 
und  die  Heimkehrende  wird  schon  vor  dem  Tore  begrüßt.  Die 
Freude  über  die  Wiedervereinigung  nach  der  schwer  empfundenen 
Trennung,  der  Anblick  des  in  voller  Pracht  prangenden  Frühlings, 
sowie  die  ermutigende  Fest-  und  Sonntagsstimmung  —  es  war 
der  26.  April,  Uhlands  Geburtstag  —  vermögen  nun  Uhland 
endlich  dazu,  nach  mehrjährigem  „Schweigen  und  Zuwarten"^) 
seine  Neigung  zu  erklären.  Der  ungewöhnlich  lange  Tagbuch- 
eintrag über  dieses  Ereignis,  der  wohl  in  den  Memoiren  lyrischer 
Dichter  einzig  dasteht,  verdient,  als  lyrische  Äußerung  primi- 
tivster Art  hier  angeführt  zu  werden;  er  lautet,  nur  wenig  ver- 
kürzt, in  dem  diesen  Berichten  eigenen  stammelnden  Stil:  „Sonn- 
tag. Geburtstag.  Warm.  Volle  Blüthe Mittagessen  bei  Rosers, 

Emma,  Abends  Spaziergang  ...  es  ist  doch  schön  auf  der  Welt ; 
Erklärung,  die  Weinende  .  .  .  Abendessen  bei  Rosers  mit  Emma, 
der  schöne  Himmel  ...  die  schönen  Bäume.  Nachhausbegleitung, 
wie  es  geh',   Ihre  Achtung  bleibt  mir." 

Die  letzten  Worte  scheinen  darauf  hinzudeuten,  daß  Emma 
Vischer  zwar  keine  abweisende  oder  ausweichende,  aber  doch 
auch  keine  bindende  Antwort  erteilt  hat.  Das  bestätigen  auch 
die  Aufzeichnungen  vom  30.  Juni^)  und  vom  7.  bis  12.  Oktober: 
Von  Schwabs  kommt  ihm  das  Gerücht  einer  gefährlichen  Mit- 
bewerbung zu  Ohren,  das  ihm  Tag  und  Nacht  bange  Sorgen 
macht  und  erst  durch  den  gemeinsamen  Freund  Roser  endlich 
zerstreut  wird.  Es  heißt  im  Auszug  am  7.:  „Besuch  von 
Schwab,  .  .  .  Eröffnung  von  E  .  .  .  Unterhaltung  mit  seiner  Frau. 
Beunruhigung  .  .  .  Schlaflose  Nacht. "  —  8. :  „Nachdenken  über 
das  Gestrige.  Abholen  Rosers.  E  .  .  .  Besuch  bei  Schwabs,  Be- 
ruhigung. "  —  9. :  „Heitere  Stimmung . . .  Abends  Besuch  von 
Schwab,  erschütternde  [!]  Nachrichten."  —  11.:  „Rosern  den 
ganzen  Hergang  der  Sache  erzählt .  .  .  Spaziergang  mit  Roser  .  . . 

^)  Leben  S.  166.  Nicht  umsonst  legt  Frau  Uhland  das  Geständ- 
nis ab,  es  sei  „an  dem  ernsten,  stillen  Herrn  Uhland  doch  auch  gar  nichts 
von  einem  Liebhaber   zu  entdecken"  gewesen. 

''')   „Sage,  daß  E,  den  —  ausgeschlagen." 


—     70     — 

Furcht  und  Hoffnung  .  .  .,  Störung  durch  andere.  Abends  zu 
Hause,  ohne  Nachricht."  Mittlerweile  ging  wohl  Roser  auf 
Kundschaft  aus,  denn  am  12.  lesen  wir:  „Ebenso.  Angst.  Be- 
ruhigung durch  Roser,  daß  die  Mitbewerbung  beseitigt."  Die 
weitere  Ausdeutung  und  Ergänzung  der  Tagbuchnotizen,  ihre 
fernere  Verfolgung  bis  zu  Verlobung  und  Hochzeit,  ist  Sache  des 
Biographen.  Uns  kam  es  bei  der  Mitteilung  dieser  Einzelheiten 
und  der  Herstellung  ihres  Zusammenhangs  darauf  an,  soweit 
möglich  mit  Uhlands  eigenen  Worten  nachzuweisen,  daß  der 
Dichter  in  jener  Zeit  von  einer  tiefen  Herzensneigung  erfaßt  war, 
die  schon  1818  so  stark  in  ihm  Wurzel  gefaßt  hatte,  daß  sein  ganzes 
Sinnen  darauf  ging,  sich  mit  der  Geliebten  fürs  Leben  zu  vereinigen. 
Es  ist  kein  Zweifel,  daß  die  Beantwortung  der  Frage :  W  i  e 
hat  ein  so  tiefgehendes,  inneres  Erlebnis  auf 
Uhlands  lyrische  Produktion  gewirkt?  für  unsere 
Untersuchung  von  großer  Bedeutung  ist.  Die  Vermutung  liegt 
nahe,  daß  es  nicht  vorübergegangen  sei,  ohne  nachhaltige  Spuren 
in  derselben  zu  hinterlassen.  Überblickt  man  nun  aber  die  Reihe 
lyrischer  Gedichte,  die  auf  die  Jahre  1815  bis  1820  entfallen,  so 
bieten  sich  nur  vier,  welche  mit  jenem  Erlebnis  in  Zusammen- 
hang gebracht  werden  können,  nämlich:  „Ach!  daß  die  Liebe 
Herzen  bricht",  „Bild",  „Emma"  und  „Der  Ungenannten".  Von 
diesen  entstand  das  erstere  schon  am  16.  Januar  1815,  also  höch- 
stens zwei  Monate,  nachdem  Uhland  E.  Vischer  kennen  gelernt 
hatte.  Da  liegt  die  Frage  nahe,  ob  die  wirkliche  Empfindung 
schon  den  Grad  der  Intensität  gehabt  habe,  der  in  diesem  Gedicht 
V^rs  11  ff.  zum  Ausdruck  kommt? 

Dann  kam  der  heisse,  primme  Schmerz, 
Da  schlug  wie  Sturm  das  arme  Herz. 

Nun  welkt  es  hin  und  bricht  es  schon, 
Die  Liebe  lacht  und  fliegt  davon. 

Diese  Worte  scheinen  Kerners  oben  erwähnte  Vermutung  zu  be- 
stätigen, Frau  Uhlands  Äußerung  aber,  nach  der  „aus  dem  an- 
fänglichen Wohlgefallen  mit  der  Zeit  eine  tiefere  Neigung" 
erwachsen  sei,  zu  widersprechen.  Was  aber  wichtiger  ist:  sie 
widersprechen  der  ganzen  Empfindungsweise  Uhlands,  dessen 
Herz  sich  auch  in  der  Zeit,  da  seine  Neigung  in  Jahren  der  Prüfung 
erstarkt  war,  wohl  nie  in  Gefahr  befand,  vor  Liebesschmerz  zu 


—     71     — 

brechen^).  Das  Gedicht  trägt,  mit  Uhlands  übriger  Liebeslyrik 
verglichen,  den  Stempel  des  Gezwungenen.  —  Die  „Bild"  be- 
titelte Strophe  vom  Mai  1816,  deren  Bedeutung  durch  ihre  Um- 
gebung etwas  entkräftet  wird^),  mag  sich  eher  auf  Erlebtes  be- 
ziehen, und  die  genau  ein  Jahr  später  entstandenen,  Emma  gelten- 
den, anspruchslosen  Zeilen:  „Wie  kann  aus  diesem  Röselein", 
weisen  ganz  den  sanften,  doch  warmen  Ton  auf,  der  Uhlands 
wahrer  Empfindungsart  entsprach.  Das  1819  wiederum  im  Mai, 
auf  Emmas  Geburtstag,  verfaßte  Gedicht  „Der  Ungenannten" 
spricht  nach  Frau  Uhlands  eigenen  Worten'')  „das  lebendige 
Gefühl  des  Zusammengehörens  in  beiden  Herzen"  aus,  das  in- 
zwischen erstarkt  war.  Innigeres  vermochte  Uhland  einer  Frau 
wohl  überhaupt  nicht  zu  sagen.  Neben  diesem  durch  und  durch 
wahr  empfundenen  verliert  jenes  erste  Gedicht  von  1815  vollends 
ganz  seine  Bedeutung.  Doch  zählt  man  immerhin  auch  dieses 
hierher,  so  bleibt  doch  die  Tatsache  bestehen,  daß  eine  tiefe, 
entscheidende  Neigung,  die  erst  nach  fünf  Jahren 
ihre  Erfüllung  fand ,  nicht  mehr  als  vier  Liebes- 
gedichte weckt  e"*),  und  daß  nur  eines  davon  in  die  Zeit 
der  Reife  jener  Neigung,  kein  einziges  aber  in  das  Jahr  fiel, 
das  derselben,  wie  wir  oben  sahen,  die  größten  Leiden  und 
Freuden  brachte.  Dazu  kommt,  daß  von  da  an  bis  zum  Ende 
seines  Lebens,  mit  Ausnahme  der  einzigen  Strophe  „Sommer- 
faden", kein  einziges  Liebesgedicht  mehr  entstand. 

Ehe  jedoch  aus  dem  frühen  Verstummen  der  Liebeslyrik 
Schlüsse  gezogen  werden,  muß  untersucht  werden,  wie  es  sich 
mit  der  übrigen  lyrischen  Produktion  hinsichtlich  des  Inhalts 
und  des  Umfangs  verhält. 

Es  ist  bezeichnend,  daß  gleich  im  Anfang  der  hier  als  letzte 
Periode  ausgeschiedenen  Zeit,  vom  Juni  1817  bis  Mai  1818,  eine 
völlige  Unterbrechung  in  der  Produktion  eintritt.  Und  auch  die 
drei  Gedichte,  die  das  Jahr  1819  dann  noch  bringt,  sind  unbe- 
deutende, an  Verwandte  gerichtete  und  auf  bestimmte  Anlässe 


)  Bezeichnend  sind  auch  die  vielen  eingreifenden  Korrekturen  im 
Konzept. 

ä)  Siehe  oben  S.  64. 

^)  Leben  S.  167. 

^)  Worunter  drei  von  ühland  nicht  verpflentlichte. 


—     72     — 

abgefaßte  Gedichte.  In  älmliclier  Weise  verläuft  die  lyrische 
Produktion  bis  1834,  einem  Jahr,  das  einen  Einschnitt  inner- 
halb der  Gedichte  der  Spätzeit  bedeutet.  In  sechzehn  Jahren, 
von  1818  bis  1833,  entstehen  im  Durchschnitt  jährlich  zwei  lyrische 
Gedichte.  Wohl  treten  nach  Pausen  von  einem  Jahr,  ja  von  zwei 
Jahren,  die  Gedichte  bisweilen  in  gedrängterer  Eeihe  auf,  doch 
läßt  sich  eine  so  eigentümliche  Konzentration,  wie  sie  die  acht 
einzigen,  sämtlich  1829  entstandenen  Balladen  dieses  Zeit- 
raums aufweisen,  bei  den  lyrischen  Gedichten  nicht  wahr- 
nehmen. Im  Gegenteil,  die  Mehrzahl  von  ihnen  ist  nicht  aus 
innerer  Notwendigkeit,  aus  einer  zur  Produktion  drängenden 
Grundstimmung  des  dichterischen  Subjekts  hervorgegangen, 
sondern  entstanden,  wie  sie  gerade  der  Zufall  bestimmter  per- 
sönlicher, zeitlicher  und  örtlicher  Bedingungen  im  einzelnen 
hervorrief.  Daher  ihre  weder  regelmäßige,  noch  in  Perioden 
sich  gruppierende  Verteilung  über  den  ganzen  Zeitraum.  Die 
Zahl  der  diesen  Jahren  angehörenden  Gelegenheitsge- 
dichte, die  im  Vergleich  mit  der  Gesamtproduktion  sehr  groß 
ist,  genau  zu  bestimmen,  ist  sehr  schwer.  Hat  doch  Uhland 
selbst  im  Stilistikum^)  an  der  Möglichkeit  einer  strengen  Um- 
grenzung dieser  Gattung  verzweifelt,  wenn  er  sagt :  „In  gewissem 
Betracht  sind  die  meisten  lyrischen  Gedichte  Gelegenheitsgedichte. 
Sie  nehmen  ihren  Anlaß  von  bestimmten  Erscheinungen  und 
Ereignissen,  welche  die  poetische  Stimmung  anregen."  Uhland 
mag  dabei  an  die  unter  dem  Titel  „Nachruf "  vereinigten  Gedichte 
gedacht  haben,  die  er  im  Vorjahr  unter  dem  unmittelbaren  Ein- 
druck des  Todes  seiner  Eltern  verfaßt  hatte,  und  die  sich,  obwohl 
sie  an  eine  bestimmte  Begebenheit  anknüpfen,  allerdings  weit 
über  die  Bedeutung  von  Gelegenheitsgedichten  im  gewöhnlichen 
Sinne  des  Wortes  erheben.  Auf  diese  letzteren  kommt  Uhland 
zu  sprechen,  wenn  er  fortfährt:  „nur  daß  im  eigentlichen  Ge- 
legenheitsgedichte der  besondere  Gegenstand  nicht  immer  mächtig 
genug  ist,  eine  solche  Stimmung  wirklich  zu  wecken,  und  daher 
die  gewandte  Behandlung  eines  an  sich  auch  weniger  dichterischen 
Stoffes  das  Beste  thun  muß."  Dafür  sind  aus  den  Jahren  1818  bis 
1833   Beispiele    Gedichte   wie    »Katharina",    ein    Gelegcnheits- 


*)  Holknd,  a.  ».  0.  B.  86. 


—     73     — 

gedieht  größten  Stils,  „An  Albertine  Schott",  „Auf  W.  Hauffs 
frühes  Hinscheiden"  und  andere.  Wenn  man  auf  der  Stufen- 
leiter der  Gelegenheitsdichtung  noch  tiefer  hinabsteigt,  so  stößt 
man  auf  Gedichte,  die  auf  allgemeineres  Interesse  keinen  An- 
spruch mehr  machen  können.  Denn  erhebt  ein  Gelegenheits- 
gedicht diesen  Anspruch,  „so  kann,"  meint  Uhland,  „billig  ver- 
langt werden,  daß  es  in  sich  vollständig,  d.  h.  ohne  vorausgängige 
Erläuterung  durch  sich  selbst  verständlich  sei.  Bedenklich  ist 
daher  immer,  wenn  wir  erst  durch  die  längere  Überschrift  eines 
kurzen  Gedichts  auf  den  Inhalt  desselben  vorbereitet  werden." 
Dieser  letzteren  Art  gehören  ziemlich  viele  Gedichte  dieses  Zeit- 
raums an.  Freilich  muß  gleich  hinzugefügt  werden,  daß  Uhland 
sie  mit  Bedacht  der  Öffentlichkeit  vorenthalten  hat,  da  sie, 
meistens  nur  für  den  engsten  Freundes-  und  Familienkreis  be- 
stimmt, auch  nur  für  diesen  ganz  verständlich  waren. 

Wenn  sich  auch  die  Zahl  solcher  Gedichte  bei  der  Unmöglich- 
keit einer  bestimmten  Umgrenzung  dieser  Gattung  nicht  an- 
geben läßt,  so  genügt  doch  der  Hinweis  darauf,  daß  die  Ge- 
legenheitsdichtung auffallend  vorherrscht,  und  daß  sie  in  mannig- 
fachen Abstufungen  vorhanden  ist :  von  dem  Geburtstagsgedicht 
oder  einer  Becherinschrift  über  gedankentiefe  Freundesworte 
bis  zum  Ausdruck  ergreifendsten  Schmerzes  über  den  Verlust  des 
Teuersten,  was  der  Mensch  besitzt.  Schon  für  den  ersten  Teil 
der  letzten  Periode,  1818  bis  1833,  ist  die  Tatsache  bezeichnend, 
daß  Uhland  zu  seiner  lyrischen  Produktion,  in  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle,  bestimmter,  realer  „Erscheinungen  und 
Ereignisse",  an  die  er  anknüpfte,  notwendig  bedurfte.  Je  mehr 
jetzt,  und  wiederum  nach  1834,  Lyrik  und  Leben  in  oberflächlich- 
äußerem Zusammenhang  standen,  umsomehr  macht  sich  das 
Fehlen  eines  tieferen,  inneren  Zusammenhangs  fühlbar. 

In  der  Tat  wird  man  nicht  mehr  als  etwa  sechs  Gedichte  finden, 
die  ohne  eine  solche  Anknüpfung  an  äußere  Anlässe  entstanden 
sind^).    Nimmt  man  dazu  die  Geringfügigkeit  der  Produktion  im 


^)  Auch  „Künftiger  Frühling"  und  „Frühlingstrost"  sind  Stamm- 
buchblätter. „Der  Mohn"  ist  aus  Kerners  Garten  gebrochen  (vgl.  Brief- 
wechsel II,  5  und  Netter  S.  75).  In  dem  Gedicht  „Auf  der  Überfahrt" 
verschwindet  die  Andeutung  der  Landschaft  neben  der  persönlichen 
Anspielung  auf  seinen  Oheim  Hoser  und  seinen  Freund  Harpprecht. 


—     74     — 

allgemeinen  und  vieler  Gedichte  im  besonderen,  so  wird  man 
ein  entschiedenes  Nachlassen  der  lyrischen  Potenz  feststellen 
müssen  und  die  oben  offengelassene  Möglichkeit  eines  latenten 
Fortbestehens  der  nur  durch  äußere  Verhältnisse  gebundenen 
Ijrischen  Kraft  verliert,  vollends  in  Erwägung  der  Unwirksamkeit 
tiefer  Liebeserlebnisse,  immer  mehr  an  Wahrscheinlichkeit.  An 
Zeugnissen,  daß  Uhland  selbst  sich  über  den  wahren  Sachverhalt 
keinen  Illusionen  hingab,  fehlt  es  nicht :  Im  Oktober  1824  schreibt 
er  an  Wyß^):  „Gern  hätt'  ich  in  die  »Alpenrosen'  ein  kleines 
Denkmal  meiner  Schweizerreise  gestiftet.  Aber  meine  Leier,  die 
seit  mehreren  Jahren  gänzlich  verstummt  ist,  hat  auch  an  den 
Alpen  nicht  geklungen"^).  Bezeichnend  ist,  daß  Uhland  keine 
Anstrengungen  machte,  der  verstummten  Leier  neue  Lieder 
abzuzwingen.  Er  scheint  sich  mit  Resignation  in  das  Schicksal 
zu  fügen.  Daß  diese  Resignation  aber  doch  nicht  ganz  ohne 
Kampf  gewonnen  war,  läßt  sich  aus  den  bitter-schmerzlichen 
Worten  des  Gedichts  „Späte  Kritik"  von  1827  erraten: 

Als  mich  hätt'  ein  Lob  beglückt, 
Selbst  ein  Tadel  mich  begeistert, 
Ward  mir  nie  ein  Kranz  gepflückt, 
Noch  ein  Irrthum  mir  gemeistert. 

Lob  und  Tadel  wird  mir  jetzt, 

Doch  mich  labt,  mich  schmerzet  keines; 

Meine  Harf'  ist  hingesetzt, 

Was  ich  sang*),  ist  nicht  mehr  meines. 

Und  doch  hatte  er  1825,  mitten  in  der  verdrußreichen  Zeit 
seiner  Tätigkeit  als  Landtagsabgeordneter,  „In  ein  Stammbuch" 
(Vers  12  ff.)  die  Worte  geschrieben : 

Las  Achte  doch  ist  eben  diese  Glut, 
Das  Bild  ist  höher,  als  sein  Gegenstand, 
Der  Schein  mehr  Wesen,  als  die  Wirklichkeit, 

Und  als  ihm  im  Jahr  1829  ein  wenn  auch  rasch  vorübergehender 
neuer  Liedersegen  geschenkt  wird,  da  kehrt  derselbe  Gedanke  in 
auffallend  ähnlicher  Form  wieder: 


M  Mitgeteilt  in  Gedichte  II,  S.  101. 

')  Dm  Wort  „gänzlich  "  zeigt,  wie  gering  er  selbst  seine  lyrische  Dich- 
tnng  ancohlug. 

*)  Es  kann  kaum  zweifelhaft  sein,  daß  in  diesem  Präteritum  die 
Zeit  vom  Jahr  1817  ab  gemeint  ist. 


—     75     — 

Seitdem  ist  mir  beständig 
Als  war'  es  so  nur  recht, 
Mein  Bild  der  Welt  lebendig, 
Mein  Traum  nur  wahr  und  acht. 

(„Der  Mohn",  Vers  25  ff.) 

Und  das  Glück  dichterischen  Schaffens,  das  ihm  lange  Jahre 
fremd  gewesen,  kommt  ihm  wieder  voll  zum  Bewußtsein  und 
gipfelt  in  dem  Wunsche: 

0  Mohn  der  Dichtung!  wehe 
Um's  Haupt  mir  immerdar! 

Noch  einmal  sollte  ihm  dieser  Wunsch,  freilich  wiederum  nur 
für  kurze  Zeit,  erfüllt  werden.  Im  Frühjahr  1834,  nachdem  er  noch 
kurz  vorher  in  einem  Brief  geäußert  hatte  ^),  „er  finde  sich 
jetzt  nicht  (mehr)  in  der  gehörigen  Stimmung,"  über  Poesie  zu 
sprechen,  fühlt  er  plötzlich  den  dichterischen  Trieb  aufs  neue 
in  sich  erwachen,  der  sich  ihm  gleich  in  einem  der  ersten  Lieder 
in  das  Symbol  der  Lerche  kleidet: 

Eine,  voll  von  Liedeslust, 
Flattert  hier,  in  meiner  Brust. 

(Die  Lerchen,  Vers  7  f.) 

Und  wie  1829  in  dem  Gedicht  „Der  Mohn"  klingt  es  jetzt  im 
„Maientliau"  wie  ein  Aufatmen  von  dem  Druck,  der  seither  auf 
seinem  Dichten  gelegen,  wenn  er  ausruft  (Vers  29  f.) : 

Gieb  mir  Jugend,  Sangeswonne, 
Himmlischer  Gebilde  Schau  .  .  . ! 

Nur  etwa  fünf  Monate  währte  dieser  Nachsommer  der 
Uhlandschen  Lyrik:  er  zeitigte  in  den  Monaten  März  bis  Juli 
achtzehn  Gedichte,  zehn  lyrische  und  acht  Balladen.  In  der 
zweiten  Hälfte  des  Jahres  folgen  nur  noch  einige  Nachzügler: 
im  August  ein  paar  Zeilen  auf  einen  Verwandten,  im  Oktober 
das  satirische,  ganz  aus  Zeitanspielungen  zusammengesetzte  Ge- 
dicht „Wanderung",  das  Uhland  wenig  passend  an  den  Schluß 
seiner  „Vaterländischen  Gedichte"  stellte,  und  endlich  im 
Dezember  noch  ein  Stimmungsgedicht  „Wintermorgen".  Damit 
hat  ühlands  lyrische  Dichtung  ihr  Ende  erreicht;  denn  was  noch 
folgt,  sind  —  die  einzigen  der  Tochter  von  Freund  Mayer  „Auf 

^)  An  Professor  Welcker,  23.  November  1833;  Gedichte  II,  S.  193  f. 


—     76     — 

die  Reise"  mitgegebenen,  tiefempfundenen  Zeilen  ausgenommen 
—  Gelegenheitsgedichte  im  engsten  Sinne  des  Wortes,  deren 
Umfang  kaum  über  vier  Zeilen  binausgebt,  und  von  denen 
übland  aucb  kein  einziges  der  VeröfEentlicbung  für  wert  ge- 
balten bat'). 

Bei  aller  Bewunderung  für  die  reicbe  Produktion  des  Jahres 
1834  und  bei  aller  Anerkennung  des  boben  poetischen  Wertes, 
der  diese  Gedicbte  auszeicbnet,  wird  man  sieb  docb  der  Ansiebt 
Notters  nicbt  anscbließen  können,  der  in  ibnen  eine  neue  und 
böbere  Entwicklungsstufe  erblickt^)  und  meint,  es  beginne  mit 
ibnen  „eine  geistige  Wiedergeburt .  . .,  wie  mansie  wobl  selten  bei 
einem  Scbriftsteller  finden  wird,  welcher  bereits  eine  so  sicbere 
und,  könnte  man  beifügen,  eine  ibn  zum  Sicbgebenlassen  oft  so 
verlockende  Grundlage  der  allgemeinen  Anerkennung  erlangt 
hatte".  Und  wenn  er  gar  behauptet,  „ein  Fortschritt  von  dem 
während  der  beiden  früheren  Drittel  seiner  Wirkungszeit  noch 
hie  und  da  bemerkten  Dilettantismus  zum  vollendeten  Künstler- 
thum"gebe  sich  „auf  triumphierende  Art  kund",  sothuter  durch 
übermäßige  Erhöhung  der  Produkte  „dieses  letzten  Drittels  von 
Uhlands  kurzer  Dichterperiode"  den  in  ganz  anders  geschlossenen 
Reihen  auftretenden  Gedichten  der  Jugendzeit  entschieden  un- 
recht. Hat  docb  Uhland  selbst  auf  die  Superiorität  dieser  letzteren 
im  allgemeinen  hingewiesen,  wenn  er  im  Hinblick  auf  sein  eigenes 
SchaSen  in  späteren  Jahren  äußerte,  die  Lyrik  sei  „vorwaltend 
Sache  des  jugendlich  erregten  Gefühls"^).  Man  wird  sich  viel- 
mehr der  Ansicht  Hermann  Fischers  anscbließen  müssen,  der 
meint:  »Ohne  die  spätem  [nach  den  Vaterländischen  ent- 
standenen Gedichte]  würden  zwar  nicbt  ganz  wenige  Proben 
Uhland'scber  Poesie  fehlen,  aber  das  Gesammtbild  des  Dichters 


^)  Das  erwähnte  Gedicht  „Auf  die  Reise"  und  die  zwei  aus  der 
Lektüre  hervorgegangenen  Balladen  „Lorchenkrieg"  und  „Der  letzte 
Pfalzgraf"  (vgl.  Leben  S.  336)  sind  das  einzige,  was  Uhland  nach  1834 
noch  den  Gedichten  einverleibte. 

')  Notter  8.  383  f.  Aus  dem  Uhland  gewidmeten  Aufsatz  in  „Schwa- 
ben, wie  eB  war  und  ist",  1842,  S.  63,  geht  hervor,  daß  Notter  als  Anfang 
der  Periode  etwa  das  Jahr  1830  (Erscheinungsjahr  der  1820  entstandenen 
BaUaden)  betrachtet.  Offenbar  hat  er  in  der  Biographie  vorzugsweise 
die  Gedichte  des  Jahres  1834  im  Auge. 

')  Üben  8.  328. 


—     77     — 

wäre  dasselbe  .  .  .  *  ^)  und :  „Neue  Formen  und  Gattungen  der 
lyrischen  und  epischen  Poesie  sind  nach  jener  Zeit  nicht  mehr 
in  Uhlands  Dichtung  eingedrungen"").  Dabei  soll  nicht  übersehen 
werden,  daß  das  fortschreitende  Alter  manches  in  eine  tiefere, 
wärmere  Beleuchtung  rückt ■^),  gewisse  Schattierungen  aber 
mildert.  So  begegnen  wir  auch  in  dieser  Spätzeit  wieder  häufiger 
dem  Todesgedanken,  dessen  Bevorzugung  eine  Zeitlang  seiner 
Jugendljnrik  eine  düstere  Färbung  gegeben  hatte.  Allein  er  ist 
jetzt  von  allen  sentimentalen  Elementen  geläutert  und  es  zeigt 
sich  die  tiefwurzelnde  transzendentale  Tendenz  der  durch  und 
durch  ernsten  Natur  des  Dichters.  Mit  gefaßter  Ruhe,  ohne  jede 
Anwandlung  von  Schwermut  lenkt  er  jetzt  öfters  den  Blick  auf  das 
Jenseits,  nach  dem  er  sich  nicht  sehnt*)  —  denn  er  steht  fest  und 
rüstig  in  einem  tätigen  Leben  — ,  das  aber  seinem  gläubigen  Gemüt 
als  willkommene  Heimat  winkt.  Wenige  Gedichte  dieses  Zeit- 
raums zeigen  sogar  eine  glühende,  fast  mystisch-symbolische  Er- 
fassung des  Unsterblichkeitsgedankens,  die  jenen  Zug  tapferer 
Lebensbejahung  in  bedeutsamer  Weise  ergänzt.  Neben  der 
Ballade  „Der  Waller"  und  dem  Gedicht  „Gruß  der  Seelen"  ist 
in  dieser  Beziehung  besonders  das  vierte  Gedicht  des  „Nachruf" 
betitelten  Zyklus  mit  seiner  eigenartigen  Symbolik  hervorzuheben : 

Du  warst  mit  Erde  kaum  bedeckt, 

Da  kam  ein  Freund  heraus, 

Mit  Rosen  hat  er  ausgesteckt 

Dein  stilles  Schlummerhaus. 

Zu  Haupt  zwei  sanfterglühende, 

Zwei  dunkle  niederwärts; 

Die  weiße,  ewig  blühende 

Die  pflanzt'  er  auf  dein  Herz*). 

Überhaupt  greift  Uhland  in  den  späteren  Jahren  gern  zum 
Symbol.    Der  Mohn  ist  ihm  Sinnbild  der  Dichtung,  der  Maientau 

^)  Allgemeine  deutsche  Biographie  XXXIX,  S.  150. 

')  Ludwig  Uhland,  1887,  S.  69. 
)  Ebenda  S.  52  f.  macht  Hermann  Fischer  auf  die  stärkere  Durch- 
setzung der  Ballade  der   Spätzeit  mit  lyrischen  Elementen,   besonders 
auf  das  Vorwiegen  der  Naturempfindung,  aufmerksam. 

■*)  Vgl.  das  Gedicht  „Der  Kirchhof  im  Frühling". 

*)  Die  zwei  sanft  erglühenden  sind  wohl  Symbol  für  die  Liebe  der 
Gattin  und  Mutter,  die  dunkeln  für  das  überwundene  Erdenleid,  und 
die  weiße  für  die  Unsterblichkeit. 


—     78    — 

der  verjüngenden  Kraft,  die  Malve  des  schwindenden  Lebens,  und 
der  Docht,  der  auf  weitem  Meer  dem  Schiffer  die  Nadel  erhellt, 
ist  das  Symbol  des  gottvertrauenden  Glaubens. 

Solche  Züge,  wie  die  eben  angeführten,  berechtigen  uns  je- 
doch nicht,  von  einer  merklich  höheren  Stufe  zu  sprechen,  die 
ühlands  Lyrik  in  dieser  Spätzeit  noch  erklommen  habe.  Die 
auffallendste  Wahrnehmung,  welche  sich  einer  unbefangenen 
Betrachtung  der  lyrischen  Produktion  der  letzten  Periode  auf- 
drängt, wird  immer  die  eines  allmählichenVersiegens 
derdichterischenKraft  bei  ühland  sein  —  eine  Wahr- 
nehmung, welche  durch  den  hohen  Wert  einzelner  Gedichte  und 
durch  gelegentliches  Wiedererwachen  des  poetischen  Triebes 
modifiziert,  doch  nicht  erschüttert  wird. 

Daß  Uhland  in  gewissen  AugenbHcken  die  Abnahme  seiner 
dichterischen  Kraft  beklagt  und  das  Wiedererwachen  derselben 
mit  doppelter  Freude  begrüßt  hat,  ist  für  die  Zeit  bis  1834  nach- 
gewiesen worden.  Nach  dieser  Zeit  scheint  er  mit  gleichmäßiger 
Fassung  die  Tatsache  als  solche  hinzunehmen.  Wenigstens 
findet  man  in  den  Gedichten  kein  Wort  der  Klage  mehr  und 
gelegentliche  briefliche  Äußerungen  aus  späteren  Jahren  zeigen, 
daß  er  auf  seine  dichterische  Tätigkeit  als  etwas  Abgeschlossenes, 
Dahintenüegendes  zurückblickt,  dessen  Wiederkehr  er  nicht 
für  wahrscheinlich  hält.  An  Frau  Welcker  in  Freiburg  schreibt 
er  184()  (?):  —  „Seit  langer  Zeit  habe  ich  mich  mit  der  Poesie 
nicht  in  eigener  Übung,  sondern  nur  in  geschichtlichen  For- 
schungen beschäftigt,  und  wenn  ich  überhaupt  zu  dichterischen 
Arbeiten  zurückkehren  soll,  so  wird  mir  das  kaum  bei  einzelnen 
Anlässen,  sondern  nur  durch  eine  veränderte  Grund- 
stimmung möglich  sein,  zu  der  mir  die  gegenwärtig  walten- 
den Gestirne  wenig  Hoffnung  machen"^).  Und  von  dem  „Still- 
stand, der  überhaupt  in  seinen  lyrischen  Stimmungen  eingetreten" 
Bei,  spricht  er  1844  in  einem  Brief  an  Dr.  Wolf  in  Gent').  Und 
1859  in  einem  Brief  an  Teichmann  nennt  er,  was  die  Poesie  bei 
ihm  ersetzt  hat:  »Die  literarische  Arbeit  meiner  vorgerückten 
Jahre  bewegt  sich  seit  geraumer  Zeit  nicht  mehr  in  selbstgeübter 
Poesie,  sondern  in  der  Erforschung  des  germanischen  Altcrthums 

*)  Leben  8.  289. 
')  Ebenda  8.  323. 


—     79     — 

aus  den  Gebieten  der  Mythologie,  Sage  und  Volksdichtung"'). 
Auch  seinen  Bekannten  fiel  die  geringere  Teilnahme  auf,  die 
Ühland  für  lyrische  Dichtung  an  den  Tag  legte  ^). 

Fragt  man  nach  den  Gründen  für  die  Abwendung  Uhlanda 
von  der  lyrischen  Produktion,  so  ist  jedenfalls  von  vornherein 
die  Vermutung  abzulehnen,  seine  äußeren  Lebensverhältnisse 
hätten  in  entscheidender  Weise  hemmend  oder  fördernd  auf 
dieselbe  eingewirkt.  Auch  Frau  Uhland,  die  doch  besser  als 
irgend  jemand  über  die  Einwirkung  solcher  Verhältnisse  auf 
Uhlands  Dichten  hätte  urteilen  können,  greift  fehl,  wenn  sie  zur 
Erklärung  der  1829  und  1834  hervorbrechenden  Produktionslust 
als  vermutliche  Gründe  „die  Befreiung  von  ständischen  Arbeiten 
oder  sein  Schaffen  in  dem  Felde  seiner  Neigung",  oder  „die  Stille 
des  Hauses"  angibt*'*);  denn  dieselben  günstigen  Bedingungen 
erwiesen  sich  ja  in  dieser  Periode  zu  anderer  Zeit  als  unwirksam. 
Deshalb  konnten  auch  die  äußeren  Lebensverhältnisse  der  Jahre 
1818  bis  1863  hier  fast  ganz  außer  Betracht  gelassen  werden.  Gewiß 
ist  für  Uhland  mit  den  Jahren,  die  er  pflichtmäßig  den  lang- 
wierigen Ständeversammlungen  gewidmet  hat,  „ein  gutes  Stück 
Lebenszeit  verrauscht"^),  allein  es  ist  sehr  zweifelhaft,  ob  dieses 
Stück  Lebenszeit  der  Dichtung  zu  gute  gekommen  wäre. 
Die  gelehrte  Forschung  für  das  Verstummen  seiner  Lieder  ver- 
antwortlich zu  machen,  scheint  mehr  Berechtigung  zu  haben. 
Ein  Brief,  den  Uhland  1844  an  Kerner  richtete,  ist  geeignet, 
diese  Vermutung  zu  begründen.  Nachdem  Uhland  daran  er- 
innert hat,  wie  die  beiden  Freunde  in  jungen  Jahren  einmal  bei 
der  Wurmlinger  Kapelle  Hirtenknaben  nach  Volksliedern,  die 
diese  gesungen,  vergeblich  ausgeforscht  hatten,  fährt  er  fort: 
„Noch  in  späterem  Alter  bin  ich  diesen  Liedern  emsig  nach- 
gegangen und  habe  deren  viele  eingehascht,  aber  der  romantische 
Duft,  in  dem  sie  uns  damals  erglänzten,  ist  ihnen  hier  und  dort 


1)  Holtey,  300  Briefe,  Bd.  IV,  S.  100. 

*)  Vgl.  Briefwechsel  II,  36  f.,  406. 

')  Leben  S.  230,  251.  Irrig  ist  auch  die  Vermutung  von  Frau 
ühland,  das  Stilistikum  habe  die  Lust,  zu  dichten,  in  Uhland  erregt 
(Leben  S.  449).  In  der  Zeit  des  Stilistikums  (6.  Mai  1830  bis  20.  August 
1832)  fallen  nur  die  durch  den  Tod  der  Eltern  veranlaßten  Gedichte. 

^)  An  Professor  Welcker,  28.  Dezember   1840;  Leben  S.  288. 


—    80     — 

von  den  Flügeln  gestreift,  sie  sind  leibhafter,  geschichtlicher, 
selbst  gelehrter  anzusehen.  Doch  sind  sie  eben  damit  wahrer 
und  echter  geworden,  wie  sie  aus  dem  Leben  ihrer  Zeit  hervor- 
sprangen"^). Was  Uhland  hier  von  dem  Volkslied  sagt,  gilt  in 
derselben  Weise  von  der  altdeutschen  Sage,  dem  Heldenepos 
und  dem  Minnesang,  welche  auf  seine  Dichtung,  und  namentlich 
auf  seine  Balladendichtung,  frühe  schon  einen  bedeutenderen 
Einfluß  gewonnen  hatten  als  irgend  ein  einzelner  Dichter.  Jetzt, 
nach  der  Erklärung,  die  ühland  über  seine  Stellung  zum  Volks- 
lied und,  implicite,  zu  vaterländischer  Sage  und  Dichtung  über- 
haupt, hier  gegeben  hat,  wird  es  klar,  in  welchem  Sinne  es  allerdings 
seine  Richtigkeit  hat,  daß  die  gelehrte  Forschung  bei  ühland  die 
Dichtung  verdrängt  habe:  Nicht  als  ob  Uhland  sich  mit  der 
ersteren  so  angelegentlich  beschäftigt  hätte,  daß  es  ihm  für  die 
letztere  an  Zeit  und  Interesse  gefehlt  hätte!  Der  Grund  lag 
tiefer :  Es  hat  eine  Verrückung  der  Gesichts- 
punkte bei  Uhland  stattgefunden;  was  früher,  in 
der  Jugend,  mehr  unmittelbar  und  naiv  durch  das  Gemüt  von 
ihm  ergriffen  und  subjektiv  dichterisch  verarbeitet  worden  war, 
ward  in  der  späteren  Zeit  Gegenstand  objektiver  wissenschaft- 
licher Forschung.  Den  Forscher  aber  fesselt  nicht  so  sehr  die 
Erscheinung  an  sich  als  der  Zusammenhang  der  Erscheinungen 
und  die  Begründung  dieses  Zusammenhangs;  höchste  Norm  ist 
ihm  die  Freihaltung  seines  Gegenstandes  von  jeder  subjektiven 
Zutat. 

Uhlands  zähe  Natur  nun,  die  nicht  leicht  abließ  von  dem,  was 
sie  einmal  erfaßt  hatte,  war  wenigstens  in  späteren  Jahren  nicht 
geschmeidig  genug,  den  völligen  Wechsel  der  Position,  welcher 
bei  dem  Übergang  von  der  wissenschaftlichen  Produktion  zur 
poetischen  und  umgekehrt  nötig  ist,  jederzeit  mit  Leichtigkeit 
zu  vollziehen  —  was  für  ihn  noch  die  besondere  Schwierigkeit 
hatte,  daß  der  Gegenstand  beider  großenteils  für  ihn  zusammen- 
fiel. Waren  auch  in  früherer  Zeit  die  Dichtung  und  die  Beschäf- 
tigung mit  der  Wissenschaft,  die  sich  beide  frühe  regten,  lange 
Zeit,  ohne  sich  wesentlich  zu  beeinträchtigen,  nebeneinander 
hergegangen,  ja  hatten  sie  teilweise  sich  gegenseitig  durchdrungen, 


0  BrMweohMl  II,  S.  249. 


—  BI- 
SO konnte  doch  für  den  aufmerksamen  Beobachter  schon  damals 
kein  Zweifel  vorhanden  sein,  welche  von  beiden  Mächten  im  Fall 
des  Ausbruchs  eines  ernsten  Konflikts  auf  die  Dauer  die  Ober- 
hand gewinnen  würde.  Gewisse  Tatsachen,  wie  jener  Brief  an 
Seckendorf,  in  dem  der  Zwanzigjährige  „die  lyrischen  Ergüsse 
eines  jugendlichen  Gemütes"  so  verächtlich  abtut  und  so  ent- 
schlossen auf  „vollkommene  Objektivität"  dringt,  oder  wie  die 
Einseitigkeit,  mit  welcher  der  endlich  flügge  Gewordene  seinen 
Aufenthalt  in  dem  an  Anregungen  jeder  Art  so  reichen  Paris 
anwandte,  wo  das  vielgestaltige  Leben  dem  Dichter  Bilder  in 
EüUe  bietet,  wiegen  so  schwer,  daß  sie  schon  früh  Zweifel  erregen 
mußten,  ob  die  dichterische  Produktion  für  Uhland  immer  in 
demselben  Maße  sich  als  eine  innere  Notwendigkeit  erweisen 
würde,  wie  die  wissenschaftliche.  Zeigte  die  Flamme  der  für  die 
lyrische  Produktion  so  unentbehrlichen  Subjektivität  bei  Uhland 
schon  in  jungen  Jahren  zuweilen  ein  bedenkliches  Flackern,  so 
mußte,  als  die  natürliche  Erregung  des  jugendlichen  Blutes  sich 
legte  und  außerdem  sein  Leben  in  geordnete  Bahnen  einlenkte, 
alles  die  Oberhand  gewinnen,  was  den  Forscher  begünstigte, 
und  alles,  was  dem  Dichter  Lebenselement  ist,  im  selben  Grade 
abnehmen.  Daher  auch  keine  Klage  mehr  über  dichterische 
Unproduktivität  in  der  Zeit,  wo  die  Wissenschaft  ihm  volle 
Genüge  gab :  die  wissenschaftliche  Betätigung 
ersetzte  ihm  die  dichterische  Produktion. 
Die  festgefügte,  unerschütterlich  stehende  Mauer  von  Uhlands 
Charakter  umschloß  eine  Natur,  die  von  Haus  aus  nicht  so  wider- 
spruchslos und  einheitlich  war  als  es  den  Anschein  haben  mochte. 
Zweierlei  hatte  das  Schicksal  in  ihn  gelegt:  den  Keim  zum  be- 
deutenden Dichter  und  den  zum  großen  Forscher.  Die  nähere 
Betrachtung  der  Entwicklung  seines  inneren  Lebens  hat  gezeigt, 
wie  im  Beginn  der  erstere  sich  in  ganz  erstaunlicher  Frühreife 
entfaltete,  wie  dann  aber  zeitig  auch  der  andere  sich  regte  und 
wie  weiterhin  beide  Triebe  Seite  an  Seite  emporstrebten:  zwei 
Bäumen  vergleichbar,  die,  nebeneinander  wurzelnd,  ihre  Äste 
kreuzen.  Allein  auf  die  Dauer  erwies  sich  das  gemeinsame  Erdreich, 
in  dem  sie  beide  standen,  dem  einen  ergiebiger  als  dem  anderen, 
er  entzog  diesem  die  Kraft  und  breitete  schattend  seine  Zweige 
über  ihn  aus. 


Haag,  Uhland  6 


n 
Die  Genesis  des  Gedichtes 


In  jungen  Jakren,  mitten  in  der  Periode  anhaltender  lyrischer 
Produktion,  ermahnt  IJhland  seinen  Freund  K.  Mayer  einmal, 
bei  seinem  Dichten  hauptsächlich  darauf  zu  sehen,  ob  das  Gedicht 
^  einem  glühenden  Augenblick  entstanden "  sei,  „ob  es  gedichtet 
wurde  oder  sich  selbst  dichtete,  von  selbst  hervorsprang"^). 
Und  wenn  er  das  auch  in  späterer  Zeit  dadurch  einschränkte^ 
daß  er  darauf  hinwies,  es  genüge  nicht  „am  Drang,  an  der  an 
geregten  Stimmung",  der  Gedanke  müsse  klar  vor  dem  Geiste 
stehen,  der  Gegenstand  innerlich  gestaltet  sein,  ehe  zum  Verse 
gegriffen  werde'*),  so  bleibt  doch  bestehen,  daß  von  jener  ange- 
regten Stinunung  der  erste  Antrieb  zu  dem  Gedichte  ausgehen 
müsse.  Von  welchen  Umständen  bei  Uhland  das 
Zustandekommen  dieser  Stimmung  abhängig 
war,  soll  im  folgenden  zunächst  untersucht 
werden.  Verschiedenes  begünstigt  diese  Untersuchung  gerade 
bei  Uhland :  einmal  seine  unfehlbare  Aufrichtigkeit  und  Nüchtern' 
heit,  die  ihn  von  subjektiven  Reflexionen  über  sein  Dichten  oder 
gar  von  schillernder  Selbstbespieglung  zurückhielt  und  uns  er- 
möglicht, eine  reine  Scheidung  von  Wahrheit  und  Dichtung 
zu  vollziehen;  sodann  das  reiche  Tatsachenmaterial,  welches  das 
völlig  sachlich  abgefaßte  Tagbuch  wenigstens  für  die  Jahre  1810 
bis  1820  bietet;  femer  die  Uhlands  peinlicher  Gewissenhaftigkeit 
verdankte  genaue  Datienmg  sämtlicher  Gedichte ;  und  endlich  die 
Kenntnis  der  Lesarten  für  einen  sehr  großen  Teil  der  Gedichte. 

Überblickt    man    die    chronologisch    geordnete    Reihe    der 
Uhlandschen  Gedichte,  so  erscheint  am  auffallendsten  die  un- 

>)  An  K.  Mayer,  22.  April  1808,  I,  S.  81. 
*)  Leben  S.  420. 


e 


—     83     — 

regelmäßige,  stoßweise  Art,  in  der  sich  die  Produktion  vollzog.  Es 
ist  wiederholt  darauf  hingewiesen  worden^),  daß  schon  in  früheren 
Jahren  auf  Zeiten  intensiven  Schaffens  und  erstaunlicher  Frucht- 
barkeit bei  Uhland  plötzlich  große  Pausen  folgten,  scheinbar 
ohne  daß  sich  in  dem  äußeren  Lebensgange  Gründe  für  das  Ver- 
stummen oder  für  die  Wiederaufnahme  der  Produktion  finden 
ließen,  und  ohne  daß  einschneidende  Ereignisse,  wie  z.  B.  die 
Verheiratung  oder  die  so  erwünschte  Erlangung  der  Professur, 
eine  sichtlich  günstige  Wirkung  ausgeübt  hätten.  Dasselbe  gilt, 
wie  wir  oben  sahen,  für  tiefgreifende,  innere  Erlebnisse;  die  an 
inneren  Anfechtungen  und  Freuden  so  reichen  Jahre  1817  bis 
1820  haben  nur  eine  verschwindende  Anzahl  von  Liedern  ge- 
zeitigt, und  auch  unter  den  wenigen  fanden  sich  kaum  solche, 
die  dem  Lebensinhalt  dieser  Jahre  angemessen  waren. 

Man  kann  durch  diese  Wahrnehmung  zu  der  Vermutung 
geführt  werden,  daß  die  starken,  äußeren  und  inneren  Erleb- 
nisse, freudiger  oder  schmerzlicher  Art,  dem  dichterischen  Schaffen 
bei  Uhland  ungünstig  waren  und  geradezu  hemmend  auf 
dasselbe  wirkten.  Dies  ist  schon  der  Fall  bei  der  ersten  größeren 
Unterbrechung  der  Produktion  1810  bis  1811,  die  genau  mit  der 
Reise  nach  Paris  zusammenfällt;  erst  als  Uhland  sich  doch  etwas 
an  die  Verhältnisse  gewöhnt  und  sein  Leben  einen  regelmäßigen 
Lauf  angenommen  hat,  beginnt  das  Schaffen  langsam  wieder 
sich  zu  regen,  und  es  entstehen  im  Juli  zwei,  erst  im  September 
wieder  mehr  Gedichte,  und  zwar  bezeichnenderweise  fast  lauter 
Balladen.  Nach  der  Rückkehr  in  die  Heimat  wird  dann,  trotzdem 
sich  Klagen  über  diese  finden,  die  Produktion,  auch  die  subjek- 
tiv-lyrische, wieder  aufgenommen  und  erreicht  während  des 
ruhigen,  zurückgezogenen  Lebens,  das  er  in  dieser  Zeit  führte, 
ihre  höchste  Blüte  ^),  um  dann,  mit  der  völligen  Änderung  seiner 
Lebensverhältnisse,  dem  Wechsel  des  Wohnsitzes,  der,  wie  wir 
sahen,  viel  für  ihn  bedeutete,  und  der  Tätigkeit,  Ende  des  Jahres 
1812  plötzlich  wieder  bedeutend  zu  sinken.  Es  folgt  dann  die 
Reihe  der  vaterländischen  und  poUtischen  Gedichte,  deren  Ab- 

^)  Leben  S.  251  f.     Herrn.  Fischer,  a.  a.  O.  S.  38  f. 
)  Es  ist  wohl  kein  Zufall,  daß  mitten  in  die  zwei  einzigen  Pausen 
des  sich  durch  fortlaufende  Produktion  kennzeichnenden  Jahres   1811 
zwei  längere  Wanderreisen  fallen  (5.  bis  22.  Mai;  4.  bis  21.  Oktober). 


—     84     — 

fassung  auf  bestimmte  konkrete  Veranlassungen  zurückgeht  und 
die  deshalb  hier  nicht  in  Betracht  gezogen  werden  können.  In 
den  Jahren,  da  sich  sein  Verhältnis  zu  EmiHe  Vischer  tiefer  ge- 
staltete, beobachten  wir  ein  neues  Versiegen  der  Produktion,  und 
ebenso  nach  dem  erträgnisreichen  Jahr  1829,  in  dessen  Ende 
die  Ernennung  zum  Professor  fällt. 

Man  wird  sich  also  wohl  mit  dem  Paradoxon  abfinden  müssen, 
daß  eingreifende  Erlebnisse  für  Uhlands  Schaffen  eher  hemmende 
als  fördernde  Faktoren  waren;  so  daß  gerade  die  Abwesenheit 
dieser  letzteren,  wenigstens  in  den  Jahren,  wo  Uhland  überhaupt 
produktiv  war,  günstig  gewirkt  zu  haben  scheint.  „Muße  und  Ein- 
samkeit" habe  ihm,  schreibt  er  1805  an  Kerner,  „ungewöhnlich 
Vieles  eingegeben"^).  Er  bedurfte  weniger  starker  Anregung, 
als  der  Ruhe  und  Sammlung,  ja  einer  gewissen  Gemächlichkeit 
zum  Dichten.  Fühlte  er  sich  doch  nicht  im  stände,  auf  ihn  ein- 
dringende Reiseeindrücke,  auch  nur  brieflich,  unmittelbar  wieder- 
zugeben: „Mein  Reisebericht",  schreibt  er  1838  aus  Wien  an  seine 
Frau,  „ist  freilich  ein  sehr  trockener,  aber  ich  habe  nicht  die 
Gabe,  solche  Anschauungen  sogleich  wiederzugeben;  sie  sollen 
darum  nicht  verloren  sein"^).  Uhland  ist  nicht  der  Dichter, 
dem,  wie  Goethe,  auf  einer  Wanderung  durch  Regen  und  Sturm, 
die  mächtigen  Natureindrücke  unmittelbar  in  kühne,  fessellose 
Rhythmen  sich  ergießen.  Man  sieht  es  schon  seinen  Liedern,  die 
in  Stimmung  und  Inhalt  etwas  Abgedämpftes,  in  der  Form  etwas 
Abgerundetes  und  Gesetztes  haben,  an,  daß  sie  nicht  unmittelbarer 
Ausdruck  des  aufregenden  Erlebnisses  sind,  sondern  Produkt  eines 
,jruhigen  Anwachsens  imdNachlassens"  künstlerischer  Stimmung^). 

Bei  der  Frage,  welche  Faktoren  Uhlands  Dichten  beein- 
flußten, wird  daher  nicht  sowohl  auf  die  in  sein  persönliches 
Leben  tiefer  eingreifenden  Erlebnisse  Nachdruck  zu  legen  sein, 
als  auf  stimmungsfördernde  Faktoren  allge- 
meinerArt.  Es  liegt  nahe,  das  Schaffen  des  Lyrikers  in  engen 
Zusammenhang  mit  den  Naturvorgängen,  insbesondere  mit  den 
Jahreszeiten  zu  bringen.  Bei  der  fast  lückenlos  genauen  Kenntnis 
der  Entstehungsdaten  der  Uhlandschen  Gedichte  mag  man  sich 

^)  Briefweohiel  I,  S.  6. 

')  Leben  S.  268. 

*)  Herrn.  Fischer,  AUgomeine  deuttohe  Biographie  S.  151. 


—     85     — 


versucht  fühlen,  einmal  zahlenmäßig  festzustellen,  in  welcher 
Weise  sich  die  dichterische  Produktion  quantitativ  über  das  ganze 
Jahr  verteilt.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  zu  einem  solchen  Versuch 
nicht  das  ganze  Material  an  Gedichten  verwendet  werden  darf, 
sondern  diejenigen  einer  möglichst  großen  Zahl  von  Jahren,  in 
denen  der  dichterische  Drang  sich  möglichst  fortlaufend  und  von 
zufälligen  äußeren  Bedingungen  unbeeinflußt  betätigt  hat.  Dar- 
aus ergeben  sich  von  selbst  die  Grenzen  der  Statistik :  nämlich 
das  Jahr  1804,  in  welchem  die  genaue  Datierung  der  Gedichte 
beginnt,  als  erstes,  das  Jahr  1812  als  letztes  Jahr  der  Reihe, 
da  teils  das  Eingreifen  von  Zeitereignissen,  teils  chronische  ün- 
produktivität  die  nach  1812  entstandenen  Gedichte  als  unge- 
eignet für  den  vorliegenden  Zweck  erscheinen  lassen.  Die  nach- 
stehende chronologische  Tabelle  der  dichterischen  Produkte 
der  neun  Jahre  von  1804  bis  1812  geht  weniger  darauf  aus,  in 
Bezug  auf  die  Frage  nach  dem  Zusammenhang  von  Dichten  und 
Jahreszeit  zwingende  Resultate  zu  liefern,  als  auf  engstem 
Raum  einen  Überblick  zu  gewähren  über  das  auffallende  Auf  und 
Nieder  der  dichterischen  Produktion  bei  Uhland.  Sie  schließt  sich 
im  allgemeinen  eng  dem  von  E .  Schmidt  im  II .  Bande  seiner  Ausgabe 
der  Gedichte  S.  362  ff.  gegebenen  „Chronologischen  Verzeichnis  "an. 
Nur  ganz  vereinzelte  Übersetzungen  sind  ausgeschieden.  Ist  ein 
Gedicht  an  einem  Tag  konzipiert,  an  einem  anderen  ausgeführt, 
so  ist  der  Tag  der  Konzeption  als  der  entscheidende  betrachtet. 


Jahr 

3 

a 

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S 

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3 
3 

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Q 

Gesamt- 
zahl 

1804 

1 





1 

1 

3 

2 

1 

8 

2 

2 

1 

17 

1805 

7 

3 

1 

4 

2 

3 

— 

1 

7 

2 

9 

3 

42 

1806 

2 

— 

— 

— 

4 

4 

2 

4 

2 

1 

— 

— 

19 

1807 

3 

— 

1 

6 

3 

— 

4 

1 

8 

2 

11 

4 

38 

1808 

3 

3 

9 

3 

1 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

1 

21 

1809 

4 

1 

— 

3 

2 

5 

4 

— 

5 

7 

31 

1810 

7 

5 

3 

1 

— 

3 

6 

6 

4 

— 

85 

1811 

2 

3 

7 

2 

1 

2 

5 

7 

9 

1 

9 

3 

51 

1812 

7 

2 

10 

3 

3 

1 

1 

— 

— 

— 

2 

2 

31 

Summe : 

36 

17 

31 

20 

15 

16 

19 

20 

34 

14 

42 

21 

285 

—  so- 
was die  Tageszeit  betrifft,  so  sind  von  129  Gedichten,  für  die  eine 
Angabe  derselben  überliefert  ist,  etwa  72  früh  (Vormittags),  etwa 
17  Nachmittags  und  40  „Nachts"  (d.  h.  nach  dem  Abendessen)  verfaßt. 
Man  mag  der  Anwendung  der  Statistik  mit  ihrem  doch  immer 
rohen  und  summarischen  Verfahren,  gerade  auf  ein  Gebiet,  wo 
es  sich  um  so  wenig  meßbare  Größen,  wie  dichterische  Erzeugnisse, 
handelt,  großes  und  berechtigtes  Mißtrauen  entgegenbringen: 
des  einen  Eindrucks  wird  man  sich  nicht  erwehren  können,  daß 
die  Monate  November  bis  März,  also  gerade  die  Zeit,  wo  die 
Natur  tot  liegt,  in  der  sie  hinstirbt  oder  erwachend  kaum  sich 
regt*),  sich  für  Uhland  weit  produktiver  erwiesen  als  die  Monate, 
in  denen  sie  sich  entfaltet  oder  in  üppigster  Pracht  steht.  Um- 
fassen doch  die  erwähnten  fünf  Wintermonate  allein  147  Ge- 
dichte, wogegen  die  fünf  nächsten  nur  90,  die  sieben  nächsten  nur 
138  bieten.  Auch  wenn  man  andere  Gruppen  bildet,  gelangt 
man  zu  demselben  Resultat ;  man  erhält  durch  Zusammenfassung 
nach  Jahreszeiten  folgende  gleichmäßig  abnehmende  Proportion: 
Herbst  (September  bis  November)  90;  Winter  (Dezember  bis 
Februar)  74;  Frühling  (März  bis  Mai)  66,  Sommer  (Juni  bis 
August)  55  Gedichte.  Diese  Verteilung  auf  die  Jahreszeiten  ist 
wohl  nicht  ganz  zufällig.  Die  Eindrücke,  die  Uhlands  tiefgründige 
Natur  erhielt,  wurden  nicht  gleich  verarbeitet,  sondern  wirkten 
nachhaltig  fort,  um  in  Zeiten  in  sich  gekehrter  Ruhe  und  Samm- 
lung, wie  sie  hauptsächlich  die  Wintermonate")  bieten,  zu  poeti- 
schen Gebilden  verdichtet  ans  Licht  zu  treten.  So  konnte  es 
geschehen,  daß  der  Dichter  des  Frühlings  verhältnismäßig  wenige 
83iner  Gedichte  im  Frühling  gedichtet  hat^). 

Ein  Irrtum  wäre  es,  wenn  man  nun  daraus  den  Schluß  ziehen 
wollte,  Uhland  sei  ein  Stubendichtir  gewesen.  Nichts  weniger 
als  das.  Gerade  in  den  Zeiten,  wo  der  Drang  zur  lyrischen  Pro- 
duktion in  ihm  am  stärksten  war,  lebte  er  in  inniger  Berührung 
mit  der  Natur.    In  Wochen  vergeht,   z.  B.  ums  Jahr  1811/12, 


*)  Vgl.  den  Anfang  des  Gedichts  „Die  sanften  Tage". 

')  Auf  die  Bevorzugung  der  „Herbst-  und  Wintermonate"  weist 
auch  Uhland  selbst  hin,  wenn  er  im  Stilistikum  (S.  35)  bemerkt,  die 
Poesie  fiihlo  den  Frühling  oft  am  innigsten  mitten  im  Winter,  sie  schaffe 
im  Dezember  den  Mai. 

*)  Herrn.  Fischer  S.  38. 


—     87     — 

wie  aus  dem  Tagbuch  zu  ersehen  ist,  oft  kein  Tag,  an  dem  er  nicht 
auf  einsamen  Gängen  in  der  Umgebung  der  Heimat  Sammlung 
und  poetische  Anregung  gefunden^),  und  manches  Gredicht  ist 
dabei,  im  Keim  oder  auch  in  ganzer  Ausführung,  unterwegs  ent- 
standen^). Gerade  der  Umstand,  daß  er  bei  seinen  Spaziergängen 
immer  dieselben  Wege  aufsuchte,  scheint  günstig  auf  seine  Pro- 
duktion gewirkt  zu  haben:  Nach  Wetter,  Jahres-  und  Tageszeit 
verschieden,  reproduzieren  ihm  die  altbekannten  Landschafts- 
bilder, durch  Ideen-  oder  vielmehr  Stimmungsassoziation,  die  auf 
Ähnlichkeit  oder  Kontrast  beruhen  kann,  die  frühere,  angeregte 
Seelenverfassung'')  und  geben  so  einen  fruchtbaren  Boden  für 
die  Entwicklung  neuer  Keime  ab.  Bald  erweckt  der  Natureindruck 
nur  im  allgemeinen  den  dichterischen  Drangt);  meist  aber  gibt 
er  die  Grundstimmung,  das  Kolorit  ab  zum  Gedicht.  Interessant 
ist  in  dieser  Beziehung  die  Entstehimg  der  Gedichte  „Frühlings- 
ruhe ",  „Frühüngstrost  und  Bitte ",  welche  in  der  Idee  ( „in  diesem 
Jahr")  schon  früher  vorhanden  waren,  dann  aber  erst  durch  einen 
bestimmten  Natureindruck  zum  Leben  erweckt  werden^). 

Zu  dem  visuellen  Eindruck  gesellt  sich  zuweilen  außerdem 
noch  ein  akustischer,  welcher  die  von  der  Landschaft 
hervorgerufene  Stimmung  erhöht  oder  sich  mit  ihr  in  eigenartiger 
Weise  verbindet.  An  einem  „herrlichen  Maiabend",  während  die 
untergehende  Sonne  einen  Kegenbogen  bildet  und  die  Nach- 
tigallen in  den  Zweigen  schlagen,  entsteht  ihm  die  Idee  zu  einem 
Gedicht  *").  Ein  anderes  Mal  hört  er  auf  einem  späten  Spazier- 
gang auf  dem  Schloßberg  bei  trübem  Mondlicht  ein  pochendes 
Hammerwerk  aus  dem  nächtlichen  Tale,  welches  die  Landschaft 
belebt,  wie  der  Schlag  des  Herzens  die  Brust ^).  Auch  sonst 
verzeichnet  er  charakteristische  Geräusche  oder  Klänge*).    Ganz 

1)  Vgl.  oben  S.  52  f. 

^)  Z.  B.  die  Gedichte  „Begräbnis",  „Das  Thal",  „Winterreise",  „An 
Kerner",  „Ruhethal "  u.  a.,  siehe  auch  oben  S.  13,  Anm.  1. 

^)  Vgl.  das  Gedicht  „Das  Thal",  „Reisen",  Str.  II. 

*)  Siehe  Tagbuch,  9.  Mai  1818:  „Auf  dem  Schloßberg,  Abendroth, 
Anregung  dadurch.     Verse  zu  Ludwig  d.  B." 

^)  Tagbuch,  20.  März  1812:   „Regen,  laue  Luft,  Frühlingsahnungen." 

^)  Ebenda,  2.  Mai  1811. 

')  Ebenda,  8.  April  1811. 

*)  Vgl.  ebenda,  17.  Juni  1811. 


—     88     — 

besonders  empfänglich  war  er  für  den  Glockenklang  und  dessen 
Stimmimgsreiz.  „Wie  die  Feuerbacher  Glocke  [bei  trübem, 
regnerischem  Wetter]  aus  der  Dämmerung  acht  schlug,"  wird 
im  Tagbuch  vermerkt^),  und  in  den  sehr  kurzen  Notizen  über 
Straßburg,  das  er  auf  der  Rückreise  von  Paris  sah,  fehlt  auch 
die  Erwähnung  des  Klanges  der  Münsterglocken  nicht  ^).  Noch 
in  späteren  Jahren,  beim  Schillerfest  1859,  vermochte  ihn,  ob- 
gleich er  nicht  leicht  unvorbereitet  öffentUch  sprach,  der  Klang 
der  großen  Glocke  von  Stuttgart  dazu,  auf  eine  Rede,  die  er 
entworfen,  zu  verzichten  und  eine  andere,  vielleicht  ergreifen- 
dere, anknüpfend  an  Schillers  Lied  von  der  Glocke,  zu  im- 
provisieren. 

Bei  dieser  Empfänglichkeit  für  stimmungserregende  akustische 
Eindrücke  konnte  es  ihm  an  Sinn  und  Gefühl  für  die  Musik 
nicht  fehlen'').  Zwar  scheint  diese  keine  große  Rolle  in  seinem 
Leben  gespielt  zu  haben,  doch  versäumte  er  nicht  gern  eine 
Gelegenheit,  gute  Musik  zu  hören.  Er  wurde  durch  sie  vermut- 
lich in  ähnlicher  Weise  ganz  allgemein  angeregt  wie  Goethe, 
der  sich  wohl  gelegentUch  Musiker  kommen  ließ,  um  seine  trübe 
Stimmung  zu  lösen^).  Jos,  Rank  gegenüber  hat  Uhland  einmal 
geäußert,  daß  ihn  „Musik  in  seinen  Arbeiten  eher  fördere  als 
störe "^).  Und  am  17.  Juni  1811  heißt  es  im  Tagbuch:  „Musik 
und  dadurch  angeregtes  Gefühl."  Bekannt  sind  Balladen  wie 
„Des  Sängers  Fluch",  „Bertrand  de  Born ",  „Singenthai"  u.a.,  in 
denen  er  die  verführerische  Macht  des  Gesanges  verherrlicht  hat. 
Ein  Traum,  der  ihm  dieses  Dämonische  der  Musik  in  aufgeregten 
Bildern  verkörperte,  erschien  ihm  merkwürdig  genug,  um  ihn 
ausführlich  im  Tagbuch  aufzuzeichnen"). 


^)  Ebenda,  15.  Mai  1811. 

*'')  Ebenda,  30.  Januar  1811,  vgl.  wegen  des  Glockenklangs  auch 
da«  Gedicht  „Dante",  Vers  35  und  39 f.;  ferner  „Die  Glockenhöhle", 
„Die  verlorene  Kirche".  (Zu  letzterem  Gedicht  vgl.  die  Anm.  Gedichte  II, 
8.  124  f.) 

')  Vgl,  Leben  S.  22. 

*)  Goethef  Briefe  an  Frau  von  Stein,  herausgegeben  von  Ad.  Scholl, 
3.  Aufl.  1899,  I,  S.  60,  Nr.  9«. 

^)  Jos.  Rank,  Erinnerungen  aus  meinem  Leben  (=  Bibliothek  deut- 
scher Schriftsteller  aus  Böhmen.  V),  1896,  S.  406. 

• )  Tagbuch  S.  108  f. 


—     89     — 

Auf  diese  Weise  hat  Uhland  überhaupt  manchen  Traum 
festgehalten^),  und  in  vielen  seiner  Gedichte  verrät  sich  die 
Nachwirkung  von  Träumen^),  so  daß  man  annehmen  kann,  das 
Traumleben  sei  nicht  ohne  Einfluß  auf  seine  Produktion  ge- 
blieben; wie  man  denn  ähnliches  auch  von  Gottfried  Keller  weiß. 
Das  Tagbuch  bestätigt  dies,  indem  es  ausdrücklich  den  Zusammen- 
hang einiger  Gedichte  mit  Träumen  verrät.  Die  beiden  Sonette 
„Todesgefühl"  und  „Geisterleben"  sind  „veranlaßt  durch  Gefühle 
der  Nacht",  bezw.  durch  Träume,  und  unter  deren  unmittelbarem 
Eindruck,  letzteres  sogar  gleich  früh  im  Bett,  niedergeschrieben"). 
Auch  die  Stimmung  des  Gedichts  „Klage"  ist  nicht  diejenige 
des  Lebens,  sondern  die  des  Traums^).  Eine  eigenartige  Ver-- 
Wendung  fand  ein  Traum  vom  Jahr  1807 :  er  ward  gewissenhaft, 
mit  Beifügung  des  Datums,  sofort  aufgezeichnet  und  erst  drei 
Jahre  später  zu  dem  Gedicht  „Die  Harfe"  verarbeitet'^).  — 

Eine  reiche  Quelle  von  Anregungen  bot  Uhland  die  Lektüre. 
Aus  ihr  schöpfte  er  besonders  ein^  bedeutenden  Teil  der  Stoffe 
für  seine  Balladen,  und  eine  Darstellung  der  Entwicklung  der 
episch-lyrischen  Gedichte  wird  sich  eingehend  mit  der  Frage  zu 
beschäftigen  haben,  welche  Behandlung  die  so  aufgenommenen 
Stoffe  durch  den  Dichter  erfuhren.  In  diesem  Zusammenhang 
aber  sei  nur  darauf  hingewiesen,  daß  Uhland  auch  in  ganz  all- 
gemeiner Weise  durch  Lektüre  zu  dichterischer  Stimmung  an- 
geregt wurde.  Nachdem  er  das  ihm  besonders  zusagende  Buch 
Karl  Thorbeckes,  „Beatus  und  dreizehn  Gedichte  "gelesen,  begleitet 
er  die  Erwähnung  dieser  Lektüre  im  Tagbuch  mit  dem  Vermerk: 
„Anregung  durch  die  Gedichte"'').  Ein  anderes  Mal  gebraucht 
er  geradezu  den  Ausdruck  „Erweckung":  „Abends  die  Fabliaux 
et  Contes  par  Meon  von  Schubart  erhalten;  dadurch  Erweckung 
zur   Poesie   aus   der   bisherigen   Niedergeschlagenheit"').      Der 

^)  Ebenda,  28.  April  1810;  14.  Dezember  1810  j  26.  Februar  1811; 
15.  Juni  1811. 

^)  Z.  B.  in  „Letztes  Lied",  „Untreue",  „Zweifel",  „Der  Wald", 
„Erträumter  Schmerz",   „Der  Liebesbrief",   „Schwere  Träume". 

^)  Tagbuch,  23.  November  1810  und  30.  Januar  1813. 

'^)  Ebenda,  4.  März  1812. 

^)  Siehe  Gedichte  II,   S.  141  f.  und  Tagbuch,  28.  April  1810. 

*^)  Tagbuch,  13.  November  1811. 

')  Ebenda,  1.  Juni  1811. 


—     90     — 

leider  unausgeführte  Plan  zu  dem  groß  angelegten  Gedicht 
«Heimkehr  zur  Quelle"  ist  durch  ein  Lied  der  Rosa  Maria  von 
Vamhagen  ein  erstes  Mal,  seine  Wiederaufnahme  veranlaßt  durch 
Lektüre  von  Schillers  Gedichten^).  Aber  nicht  nur  fremde 
Dichtimgen,  auch  eigene  konnten  die  produktive  Stimmung 
in  ihm  erregen;  am  3.  Januar  1811  bemerkt  er  im  Tagbuch: 
„Nachts  Besuch  von  Schickardt;  Vorlesung  mehrerer  meiner 
Gedichte,  Erweckung  dadurch  und  Entwurf  der  Romanze  vom 
Ringe  "^).  Aus  dieser  Notiz  ist  auch  zu  ersehen,  daß  ihm  die 
Anregung  und  Billigung  eines  Freundes  bei  seinem  dichterischen 
Schaffen  wertvoll  war^).  Besonders  Karl  Mayer  und  Kerner  ließ 
er  an  denselben  innigen  Anteil  nehmen.  Auch  als  der  mündliche 
Austausch  nach  der  Auflösung  des  Kreises,  der  sich  um  das 
Sonntagsblatt  ^^geschlossen  hatte,  durch  den  schriftlichen  ersetzt 
werden  mußte,  gingen,  wie  wir  sahen,  die  neu  entstandenen  Ge- 
dichte alsbald  den  Freunden  zu,  und  Uhland  ermahnt  diese 
wiederholt')  zu  offener  Kritik,  die  ja  nur  fördern  könne.  Ja,  es 
kommt  vor,  daß  er  den  Freund  zwischen  zwei  Fassungen  eines 
Gedichts  zu  wählen  auffordert,  wie  bei  Übersendung  der  Ballade 
„Goldschmieds  Töchterlein"  an  Karl  Mayer ^). 

Allein  wenn  sich  die  Freunde  in  ihren  Briefen  auch  gegen- 
seitig aufmunterten  zu  fleißigem  Dichten,  so  hat  doch  eine 
direkte  Aufforderung  im  einzelnen  Fall  Uhland  die 
dichterische  Stimmung  nie  oder  doch  nur  ganz  selten  abzwingen 
können''),  trotzdem  er  aus  eigener  Initiative  gern  Gelegenheits- 
gedichte verfaßte,  und  muntere  Geselligkeit  ihn  auch  zu  Pro- 
duktionen leichterer  Art  oder  gar  gelegentlich  zu  Impro- 
visationen   anregen    konnte').     Die    Poesie    zu    kommandieren 


^)  Tagbuch,  8.  Februar  1810;  5.  Juli  1816. 

')  Ein  ähnlicher  Fall  betrifft  die  Entstehung  des  Gedichts  „Das  Thal", 
siehe  unten  S.  Ol  f. 

^)  Vgl.  Leben  S.  141, 

*)  Mayer  I,  81,  129,  147. 

^)  Ebenda  I,  8.  109. 

**)  Nor  die  Gedichte  „DerKöpfer"  (siehe  unten),  „Ein  Haus  darin  ..." 
(1816  für  den  Fürsten  von  Hohenlohe)  und  das  mit  Rückcrt  zusammoo 
▼erfaßte  „Tenzon"  verdanken  einer  Aufforderung  bezw.  oinom  Vor- 
schlag ihre  Entstehung. 

^)  Vgl.  das  „Theeliod",  die  für  die  Schattetigeseilschaft   verfaßten 


-     91     — 

oder  sie  sich  von  anderen  kommandieren  zu  lassen,  lag  ihm 
fern^). 

Die  hier  genannten  Faktoren,  die  auf  Uhlands  Schaffen  einen 
fördernden  und  bestimmenden  Einfluß  hatten,  traten  nicht  nur 
in  jedem  Falle  einzeln  auf,  sondern  bildeten  auch  mehr  oder 
minder  zahlreich  zusammengesetzte  Gruppen,  deren  verschiedene 
Glieder  entweder  in  ihrer  Gesamtheit  die  Intensität  des  dichte- 
rischen Dranges  verstärkten,  oder,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  auf 
die  verschiedenen  Phasen  des  keimenden  Gedichts  nacheinander 
vpirksam  waren.    Einige  Beispiele  mögen  das  deutlich  machen. 

Am  12.  Oktober  1811  machte  Uhland  bei  einem  Aufenthalt 
in  Heilbronn  „einen  Spaziergang  mit  Karl  Mayer  in  das  dunkle 
Waldthal  Köpf  er  auf  Veranlassung  Fabers",  eines  Verwandten 
Uhlands,  der  von  ihm  ein  Gedicht  darüber  verlangt  hatte.  Diese 
Aufforderung  bildete  also  den  ersten  Antrieb.  Doch  war  dieser 
an  sich  noch  nicht  stark  genug,  das  Gedicht  hervorzurufen.  Erst 
die  am  folgenden  Tag  dazu  tretende,  mit  der  Szenerie  jenes 
Waldtals  übereinstimmende  Witterung,  Regen  und  Wind,  führt, 
wie  im  Tagbuch  ausdrücklich  hervorgehoben  wird,  zur  Abfassung 
des  Gedichts. 

Interessanter,  und  doch  immerhin  noch  einfach,  gestaltet  sich 
die  Vorgeschichte  des  Gedichts  „Das  Thal".  Am  18.  Juni  1811 
hatte  Uhland  einmal  wieder  eins  seiner  früheren  Produkte,  das 
lange  von  ihm  unbeachtete  Gedicht  „Des  Dichters  Abendgang" 
gelesen  und  war  dadurch  „angeregt "  worden.  Als  er  am  folgenden 
Tag  bei  einem  Abendspaziergang  auf  den  österberg  durch  das 
Lustnauer  Wäldchen  sich  in  einer  ähnlichen  Situation  und  unter 
dem  Einfluß  verwandter  Natureindrücke  befand,  wie  diejenigen, 
welche  dieses  Gedicht  voraussetzt,  ergreift  ihn  „eine  erregte 
Stimmung"^),  und  es  entsteht,  größtenteils  noch  auf  dem  Spazier- 
gang, das  in  Empfindung,  Diktion  und  besonders  auch  in  der 


Lieder,  die  in  heiterem  Freundeskreise  nach  einer  Anekdote  improvi- 
sierte Ballade  „Die  fromme  Jägerin"  (siehe  Notter  S.  224  f.  und  Ge- 
dichte II,  196),  sowie  einige  Stamm-  und  Fremdenbuchimprovisationen. 

1)  Herrn.  Fischer  S.  40. 

")  Man  beachte  die  Steigerung,  die  sich  in  den  zwei  am  18.  und 
19.  im  Tagbuch  gebrauchten  Ausdrücken  „angeregt"  und  „erregt" 
kundgibt. 


-     92    — 

Form  so  nahe  verwandte  Gedicht  „Das  Thal".  Die  Genesis  dieses 
Gedichts  wird  noch  besonders  merkwürdig  durch  einen  Neben- 
umstand: jene  Anregung  nämlich,  die  Uhland  durch  das  eigene 
Gedicht  erfuhr,  vollzog  sich  in  der  Weise,  daß  nicht  nur  die  Stim- 
mung jenes  einzelnen  Gedichts,  sondern  die  ganze  Stimmungs- 
welt jener  Frühzeit,  in  der  „Des  Dichters  Abendgang",  „An  den 
Tod",  „Harfnerlied"  verfaßt  worden  waren,  wieder  in  ihm  wach- 
gerufen wurde.  Nur  durch  diese  Stimmungsassoziation  läßt  sich 
der  weiche,  sentimentale  Ton,  die  Klage  über  das  arme,  welkende 
Herz  des  „kranken  Sängers",  und  die  Sterbensseligkeit,  in  der  sie 
verklingt,  mitten  unter  ganz  anders  getönten  Gedichten  ver- 
stehen. Man  könnte  deshalb  den  Charakter  dieses  Liedes  einen 
unbewußt  individuell-archaisierenden  nennen. 

Eine  andere  Zusammensetzung  liegt  vor  bei  der  Entstehung 
des  Sonetts  „An  Kemer",  deren  Geschichte  in  folgenden  Worten 
Uhlands  vorliegt:  „Mein  gewöhnlicher  Spaziergang",  schreibt  er 
an  Kemer  ^),  „ist  in  dem  Tannenwald  hinter  dem  Schlosse.  Hier 
gehe  ich  so  weit,  bis  sich  mitten  im  Walde  eine  Aussicht  nach  dem 
Schwarzwald  öffnet,  im  Vordergrimd  den  klösterlichen  Ammer* 
hof.  An  dieser  Stelle  las  ich  auch  Deine  Gedichte"  [am  27.  No- 
vember], „wobei",  fährt  das  Tagbuch  fort,  „wie  durch  ein  Wunder 
plötzlich  die  Vögel  frühlingsmäßig  in  den  Wipfeln  sangen. "  Man 
sieht,  es  wirken  bei  der  Entstehung  dieses  Gedichts  eine  ganze 
Reihe  der  oben  einzeln  betrachteten  Faktoren  gemeinsam  mit  und 
hinterlassen  ihre  Spur  in  ihm :  Jahreszeit,  visuelle  und  akustische 
Natureindrücke,  verbunden  mit  Erinnerung  an  frühere  produk- 
tive Stimmung,  Lektüre  und  freundschaftUche  Mitteilung.  Im 
Unterschied  zu  den  oben  angeführten  Beispielen  der  Gedichte  „Der 
Köpfer"  und  „Das Thal",  wirken  hier  die  verschiedenen  Faktoren 
fast  gleichzeitig.  Sie  müssen  daher  erst  in  der  Seele  des  Dichters 
sich  durchdringen  und  verarbeitet  werden,  ehe  sie,  am  Abend 
des  folgenden  Tages,  zu  einem  einheitlichen  dichterischen  Ganzen 
gestaltet  werden. 

Genau  unterrichtet  sind  wir  weiter  über  die  Entstehungs- 
geschichte des  Gedichts,  das  Uhland  auf  den  Tod  der  Königin 
Katharina  verfaßte.    Man  weiß,  wie  wenig  Uhland  geneigt  war, 


')  Am  7.  Dezember  1811.     Briefwechsel  I,  S.  206, 


—    93     — 

als  Festdichter  aufzutreten;  es  ist  daher  begreiflich,  daß  er  das 
Ansinnen,  ein  Gedicht  zu  der  Trauerfeierlichkeit  im  Museum  zu 
verfassen  (18.  Januar  1819),  ablehnte.  Umsomehr  ist  man  über- 
rascht, am  folgenden  Tag  zu  erfahren,  daß  er  sich  mit  einem 
solchen  trägt.  Es  muß  angenommen  werden,  daß  die  Aufforderung 
dabei  nicht  bestimmend  wirkte,  sondern  ihn  nur  ganz  allgemein 
auf  die  Möglichkeit  einer  poetischen  Behandlung  des  Ereignisses 
hinwies  und  daß  ihn  bei  näherer  Überlegung  der  Gegenstand  an 
sich  fesselte,  was  ja  auch  die  später  dem  König  gegenüber  ge- 
äußerten Worte  ^),  das  Gedicht  habe  seine  tiefste  Empfindung  aus- 
gesprochen, bestätigten.  Doch  muß,  um  die  Ausführung  zu  ver- 
anlassen, erst  die  impressionierende  Wirkung  der  Trauerfeierlich- 
keit selbst  mit  Ansprachen  und  Musik '^)  hinzukommen,  wozu 
sich  die  Erinnerung  an  die  feierliche  Aufbahrung  gesellt,  die  er 
schon  am  18.  gesehen^).  Erst,  wie  der  Dichter  diesen  stimmungs- 
erregenden Anhalt  hat,  wird  dann,  am  27.,  als  die  Trauerfeierlich- 
keit längst  vorüber  war,  zur  Ausführung  geschritten  und  das 
Gedicht  noch  am  selben  Tage,  wiederum  teilweise  auf  dem  Spazier- 
gang, zu  Ende  geführt. 

Die  Artund  Weise,  in  der  Uhland  die  Anregungen  und 
Eindrücke,  die  ihm  von  außen  kamen,  gestaltete  und  der 
Poesie  im  einzelnen  Fall  nutzbar  machte,  ist  in  den  angeführten 
Beispielen,  die  nur  die  Wirksamkeit  solcher  Faktoren  im  allge- 
meinen erweisen  sollten,  notwendig  bisweilen  gestreift  worden. 
Es  erübrigt  nun  noch,  dies  im  einzelnen  Fall  näher  zu  verfolgen. 
Uhland  bemerkte  einmal,  zu  einer  Zeit,  wo  er  sich  feste  BegriJBEe 
über  die  Poesie  schon  gebildet  hatte  und  auf  sein  eigenes  Dichten 
als  auf  etwas  im  allgemeinen  Abgeschlossenes  schon  zurückblicken 
konnte:  die  meisten  Gedichte  nehmen  „ihren  Anlaß  von  beson- 
deren Erscheinungen  und  Ereignissen,  welche  die  poetische  Stim- 
mung anregen"^).  Will  man  sich  eine  Vorstellung  von  Ühlands 
dichterischem  Verfahren  machen,  so  wird  ein  wichtiger  Punkt  der 
Untersuchung  in  der  Aufgabe  bestehen,  jenen  Erscheinungen  und 


^)  Tagbuch,  24.  Juli  1819. 

^)  Die  Aufführung  von  Mozarts  Requiem  wird  im  Tagbuch  erwähnt. 
^)  Im  Gedicht  hinterläßt  dieser  Anblick  von  der  Aufbahrung  seine 
Spuren  Vers  17  ff. 

*)  Siehe  oben  S.  72. 


—     94     — 

Ereignissen,  soweit  wir  über  sie  Kenntnis  besitzen,  in  der  Seele 
des  Dichters  bis  zu  dem  Augenblick  nachzugehen,  wo  sie  in 
dem  Gedicht  in  die  Erscheinung  treten;  d.  h.  zu  beobachten,  in 
welcher  Gestalt  sie  in  das  Gedicht  übergehen,  ob  und  inwieweit 
sie  Wandlungen  unterworfen  sind  oder  bewußt  unterzogen  werden. 
Die  denkbar  primitivste  Weise,  wie  das  geschehen  kann, 
liegt  vor  in  dem  an  K.  Mayers  lyrische  Miniaturstückchen 
gemahnenden  Gedicht  „Lob  des  Frühlings".  Uhland  hatte  am 
Vorabend  des  Tags  der  Abfassung  (9.  April  1811)  einen  Spazier- 
gang gemacht,  über  den  wir  im  Tagbuch  folgendes  erfahren: 
„Spaziergang  in  das  Käsebachthal;  Sonnenregen,  sommerliches 
Wetter  .  .  .  Saatengrün,  Stück  eines  Regenbogens  über  dem  Berg 
nach  Waldhausen. "  Das  Gedicht  entsteht  nun,  indem  diese  Ein- 
drücke ,  teils  wörtlich ,  teils  leicht  verändert  herübergenommen 
und  durch  andere  naheliegende,  oder  im  Tagbuch  nur  zufällig 
nicht  aufgezeichnete,  ergänzt  werden.    Man  vergleiche; 

Saatengrün,  Veilchenduft, 
Lerchenwirbel,  Amselschlag, 
Sonnenregen,  linde  Luft! 

Die  anderen,  nur  abrundenden  Zeilen  bringen  nichts  Neues  hinzu. 
In  einem  anderen  Fall  ward  das  in  der  Wirklichkeit  geschaute 
Bild  kunstvoller,  in  der  Form  des  Sonettes  nachgezeichnet: 
„Die  zwo  Jungfrauen",  die  Uhland,  am  31.  März  1811,  auf  dem 
Spitzberg  und  kurz  nachher  noch  einmal  gesehen,  sind  ihm  genau 
in  der  im  Gedicht  geschilderten  malerischen  Stellung  buchstäblich 
Modell  gesessen.  Das  Gedicht  ist  ganz  malerisch  konzipiert  und 
bestätigt  den  Eindruck,  den  man  namentlich  durch  die  plastische 
Gegenständlichkeit  vieler  seiner  Balladen  gewinnt:  daß  Uhland 
die  Anschauung  des  bildenden  Künstlers  besaß.  Bekanntlich 
hat  er  sich  in  seiner  frühen  Jugend  auch  mit  Talent  im  Zeichnen 
und  Malen  betätigt^).  Überall,  auch  auf  dem  Gebiete  der  Sage'') 
suchte  seine  Vorstellungstätigkeit  Stützpunkte  in  der  realen  An- 
schauung, so  daß  sich  die  Gedichte  seiner  reifen  Zeit  nie  ins 
Nebelhafte  verlieren,  sondern  sich  schlicht  vortragen,  „als  habe 


')  Ebenda.  8.  22. 

')  Loben  S.  222  und   Gedichte  II,    124  f.      (Anmerkung  zu  dem 
Gedieht  „Die  Glookenhöhlo**.) 


—    95     — 

das  Ereignis  selber  sein  eigenes  Gewand  um  sie  gewoben"^). 
Die  Gedichte,  in  denen  die  heimatliche  Natur  sich  spiegelt,  sind 
so  zahlreich,  daß  ein  Nachweis  der  Grundlagen  jedes  einzelnen 
zu  weit  führen  würde.  Doch  verdient  der  Umstand  Erwähnung, 
daß  Uhland  manchmal  Gedichte  sozusagen  nacherlebte  —  eine 
eigenartige  Umkehrung  des  dichterischen  Prozesses.  Die  Re- 
produktion der  Szene,  die  das  Gedicht  „Das  SchifQein"  voraus- 
setzt, auf  der  Reise  nach  Paris  ist  aus  dem  Tagbuch  bekannt^). 
Wichtiger  als  dieser  Zufall  ist  für  diesen  Zusammenhang,  daß 
Uhland  gewisse  Gedichte  in  Situationen,  in  die  ihn  das  Leben 
versetzte,  wieder  aufleben  ließ,  um  sie  gewissermaßen  von  neuem 
von  der  Wirklichkeit  durchleuchten  zu  lassen.  Im  Jahr  1822  be- 
richtete er  seiner  Frau  von  einer  herrlichen  Aussicht,  die  er  von 
hohem  Berge  auf  weite  Wälder  und  Täler  gehabt  habe,  und 
schließt:  „Dort,  Liebe,  hättest  Du  bei  mir  stehen  sollen"^)  mit 
deutlichem  Anklang  an  den  einst  an  sie  gerichteten  Wunsch: 

Auf  eines  Berges  Gipfel, 
Da  möcht'  ich  mit  dir  stehn. 
Auf  Thäler,  Waldeswipfel, 
Mit  dir  herniedersehn  .  .  . 

Und  mit  offenem  Hinweis  auf  ein  1812  entstandenes  Gedicht 
erzählt  er  1829  seiner  Frau  von  einer  Wanderung  durch  .Tannen- 
wälder, in  denen  noch  lange  das  harmonische  Glockengeläute 
von  Weingarten  (es  war  der  Tag,  wo  Maria  über  das  Gebirge 
ging)^)  wie  aus  der  verlorenen  Kirche  wiederhallte"''). 
Häufig  beschränkt  sich  der  Dichter  nicht  auf  mehr  oder  minder 
künstlerisch  gestaltende,  einfache  Wiedergabe  des  Ein- 
drucks, sondern  ändert  den  Umriß  der  Erscheinung  oder  den 
Verlauf  des  Erlebnisses  in  einer  seinen  Zwecken  entsprechenden 
Weise  ab.  In  den  eigentlich  lyrischen  Gedichten,  die  er  aus 
eigenen,  inneren  Zuständen  schöpft,  wird  oft  die  zu  Grunde 
liegende  Gemütsverfassung,  um  dem  Gedicht  mehr  Bedeutung 


^)  Herrn.  Grimm,  a.  a.  0.  S.  65,  wo  Uhlands  Manier  mit  derjenigen 
Dürers  verglichen  \yird. 
^)  Tagbuch  S.  11. 
^)  Leben  S.  185. 
)  Zu  beachten  ist  auch  diese  Beimischung  religiöser  Stimmung. 
^)  Leben  S.  226. 


—     96     — 

zu  geben,  gesteigert.  Entmutigung  z.  B.  wird  so  zur  Ver- 
zweiflung. Zur  Zeit  der  Abfassung  des  Gedichts  „Auf  ein  Kind" 
(1814:)  hatte  Uhland,  wenn  er  auch  eine  Zeit  großer  Niederge- 
schlagenheit und  herber  Enttäuschungen  durchgemacht,  keinen 
Grund,  sich  darzustellen  als  „von  des  Lebens  Angst  umkettet ", 
wie  es  in  der  ersten  Fassung  heißt,  oder,  wie  es  in  der  zweiten 
noch  schärfer  lautet,  von  sich  zu  sagen: 

Aus  der  Bedrängnis,  die  mich  wild  umkettet, 
Hab'  ich  zu  dir  mich,  süßes  Kind,  gerettet. 

Oder  wie  soll  man  in  dem  Gedicht  „Das  Thal"  die  Verse  verstehen: 

Ja,  selbst  die  alten  Liedertriebs 
Beleben  diese  kalte  Brust. 

Sind  sie  doch  mitten  in  einer  Zeit  geschrieben,  die  im  allgemeinen 
so  produktiv  für  den  Dichter  war,  wie  kaum  eine  andere  in  seinem 
Leben.  Auch  die  oben^)  auseinandergesetzten  näheren  Um- 
stände der  Entstehung  erklären  gerade  diese  Klage  nicht. 
Sieht  man  aber  näher  zu,  so  zeigt  sich  in  der  Tat  vor  dem  Tag, 
an  dem  dieses  Gedicht  entstand,  eine  Lücke  in  der  Produktion 
von  mehr  als  zwei  Monaten^),  welche  von  dem  Dichter  in  einer 
Zeit,  wo  sonst  ein  Gedicht  das  andere  drängte,  allerdings  schmerz- 
lich empfunden  werden  konnte. 

Dieses  Übertreiben  geringfügiger  Tatsachen  zu  bedeutenden 
Proportionen,  das  etwas  Verwandtes  hat  mit  gewissen  Vorgängen 
des  Traumlebens,  findet  aber  nicht  nur  auf  die  Gefühle  des  Dich- 
ters selbst,  sondern  auch  auf  Vorgänge  in  der  Natur  Anwendung, 
wenn  z.  B.  der  erste,  den  Frühling  ankündigende  warme  Hauch 
sich  in  der  Phantasie  des  Dichters  zu  der  Vision  des  voll  ent- 
falteten Lenzes  steigert:  Von  den  am  21.  März  1812  unter  anderem 
entstandenen  Liedern  „Frühlingsahnung"  und  „Frühlingsglaube" 
entspricht  nur  das  erste  der  wirklichen  Jahreszeit  und  der  Auf- 
zeichnung vom  Vorabend:  „Laue  Luft,  Frühlingsahnungen". 
Der  Dichter  aber  jubelt  im  zweiten  schon: 

Es  blüht  das  fernste,  tiefste  Thal  . . . 


»)  8.  91  f.  ^  ^ 

^)  Die  unbedeutende  Übersetzung  „Königs  Franz  I.  Liebesseufzer' 
zählt  wohl  kaum  mit. 


—    97    — 

Ein  der  Steigerung  verwandtes  Verfahren  bei  der  dichterischen 
Gestaltung  der  aus  der  Wirklichkeit  genommenen  Erscheinungen 
und  Erlebnisse  ist  das  der  Umdeutung.  Es  handelt  sich  dabei 
um  solche  Gedichte,  denen  wohl  eine  bestimmte,  wirkliche  Situa- 
tion zu  Grunde  liegt,  in  denen  aber  wesentliche  Bestandteile 
dieser  Situation  verändert  sind.  Man  kann  den  Prozeß  genau 
verfolgen  bei  dem  Gedicht  „Nähe ".  Uhland  wollte  seinen  Freund 
Conz  in  dessen  Garten  besuchen,  konnte  aber  nicht  zu  ihm  ge- 
langen, da  er  die  Tür  verschlossen  fand.  Die  Stimmung,  die  über 
dem  einsamen  Garten  schwebt,  seine  Ungeduld,  sein  Unver- 
mögen, einzutreten,  regen  ihn  an:  „Ich  sah  nun  so  in  den  stillen 
Garten  mit  den  Schmetterlingen  hinein,  diese  Einsamkeit  und 
Nichteinsamkeit"^).  Diese  Situation  geht  teilweise,  bis  in  Einzel- 
heiten hinein,  in  das  Gedicht,  das  aus  dem  Erlebnis  erwächst, 
Über.  Doch  wird  eine  wichtige  Änderung  vorgenommen:  nicht 
den  Freund  sucht  er,  sondern  eine  (nur  in  der  Illusion  vorhan- 
dene) GeUebte.  Erst  diese  Umdeutung  gibt  dem  kleinen  Stim- 
mungsgedicht eine  bedeutendere  Folie.  Die  Brücke,  die  von  der 
wirkHchen  Situation  zu  der  des  Gedichts  führt,  ist  die  gemein- 
same Grundstimmung  (der  Garten  und  das  ungeduldige  Ver- 
langen). 

Eine  eigenartige  Umdeutung  der  Landschaft  voll- 
zog sich  bei  der  Entstehung  des  Gedichts  „Traum"  (G«d.  1, 183). 
Die  Idee  kam  Uhland  „auf  dem  Schloßberg"),  im  Tannenwald  bei 
der  Aussicht  gegen  den  Schwarzwald  "^).  Man  hat  von  dem 
Punkt,  den  Uhland  hier  im  Auge  hat,  in  der  Tat  einen  sehr  weiten 
Blick  über  ziemlich  flaches,  wenig  hügeUges  Land,  als  dessen  Be- 
grenzung die  feine  Linie  des  Schwarzwaldes  nur  bei  günstigem 
Wetter  sichtbar  ist.  Unwillkürlich  scheint  nun  in  Uhland  beim 
Anblick  dieser  Weite  die  Vorstellung  des  Meeres,  das  er  noch  nie 
gesehen  hatte,  und  aus  dieser  Szenerie  das  erwähnte  Gedicht  ent- 
standen zu  sein.  Eine  andere  Ballade,  „Die  drei  Lieder ",  geht  nicht 
sowohl  auf  ein  Naturbüd  als  auf  eine  Naturstimmung  zurück, 
was  sich  freüich  ohne  Uhlands  ausdrückUchen  Hinweis  kaum 


^)  Mayer  I,  S.  129. 

')  So  nennt  Uhland  den  ganzen  Höhenzug  vom  Tübinger  Schloß 
bis  zur  Wurmlinger  Kapelle. 

^)  Tagbuch,  27.  November  1811. 
Haag,  Uhland  7 


—    98    — 

vermuten  ließe.  Wir  lesen  nämlich  in  einem  Brief  an  Mayer  ^): 
„Die  Ballade  entstand  auf  einem  Abendspaziergang,  als  der 
Mond,  von  Zeit  zu  Zeit  in  dunkle  Wolken  gehüllt,  über  unsrem 
Schlosse  stand."  In  dem  Gedicht  selbst  finden  wir  von  diesem 
Bild  keine  weitere  Spur,  als  etwa  in  den  Versen  9 — 10,  wo  es 
heißt: 

Das  andre  Lied,  das  hab'  ich  erdacht 

In  einer  finstem,  stürmischen  Nacht. 

Im  übrigen  ist  die  Ballade  rein  epischen  Inhalts.  Der  schöpferische 
Prozeß  muß  sich  also  so  vollzogen  haben :  Das  Naturbild  erweckte 
in  dem  Dichter  eine  düstere  Seelenstimmung,  und  diese  ließ  ihn 
dann  Vorgänge  erfinden,  welche  mit  dem  Eindruck,  unter  dem 
er  stand,  gar  nichts  weiter  gemeinsam  haben  als  das  düstere  Ge- 
präge —  eine  äußerst  merkwürdige,  gerade  für  Uhlands  dich- 
terische Art  sehr  bezeichnende  Verpflanzung  des  subjektiven 
Elements  der  Stimmung  in  das  Gebiet  des  Objektiven,  Epischen. 

Da  sich  ein  Eindruck  natürlich  in  verschiedener  Weise  ab- 
wandeln läßt,  so  eröffnet  sich  dem  Dichter  die  Möglichkeit,  mittels 
dieses  Verfahrens  aus  demselben  Erlebnis  mehrere 
Gedichte  abzuleiten.  Es  ist  dies  bei  Uhland  nicht  häufig, 
doch  finden  sich  auch  hierfür  Beispiele.  Die  drei  am  21,  März  1812 
entstandenen  verschieden  gefärbten  FrühlingsHeder  gehen  nach 
Uhlands  eigener  Erklänmg^)  auf  ein  und  dasselbe  Erlebnis  des 
Vorabends  zurück.  Die  Gedichte  „Hohe  Liebe"  und  „Klage"  (Ge- 
dichte II,  313)  sind  beide  aus  dem  Gefühl  der  Vereinsamung  er- 
wachsen, das  ihn  im  Jahr  1808  nach  Weggang  der  Freunde  ergriff. 
Aber  während  er  sich  in  dem  ersteren  als  einen  Märtjrrer  dar- 
stellt, der  im  Hinblick  auf  die  Freuden  des  ewigen  Lebens  auf  die 
irdischen  verzichtet,  gibt  er  hier  seiner  „Klage"  unumwunden 
Ausdruck. 

Ein  ganz  ähnlicher  Prozeß  liegt  vor  bei  den  am  8.  Sep- 
tember 1816  entstandenen  Gedichten'),  wo  das  erste  Gedicht 
eine  Reihe  von  inhaltlich  verwandten  unmittelbar  nach  sich  zieht. 
Endlich  wird  auch  ein  der  Lektüre  entnommener  Stoff,  der- 

*)  Vom  Iß.  November  1807.    Mayer  I,  S.  14  f. 
')  EUehe  TaKbaob. 

')  „EriMt  der  Zeit",  „Dm  neue  Märchen",  „AusBicht",  „An  die 
Mütter",  „An  die  Mädchen". 


—     99     — 

jenige  des  Kastellans  von  Coucy,  den  er  sicli  aus  Bouterweks 
Geschichte  abgeschrieben,  in  verschiedener  Weise  behandelt, 
erstmals  kurz  in  dem  Sonett  „Vermächtnis"  (1811)  und  1812 
in  der  bekannten  Ballade, 

Nur  selten  ist  eine  Anregung,  die  Uhland  von  außen  zukam, 
mangelhaft  poetisiert  worden.  Bei  dem  Gedicht 
„Nächtliche  Stimme"  scheint  dies  der  Fall  gewesen  zu  sein.  Von 
dem  unbefangenen  Leser  muß  die  antwortende  Stimme  als 
Geisterstimme  aufgefaßt  werden,  und  der  unbestimmte  Inhalt 
der  pathetischen  Frage  und  Antwort:  „Wer  ist  trauriger  als  ich?" 
—  „Ich  bin  trauriger  als  du!"  kann  dann  nur  trivial  wirken. 
Das  Gedicht  bekommt  aber  auf  einmal  einen  anderen,  schlichteren 
Sinn,  wenn  man  erfährt^),  daß  es  nach  einer  Anekdote  gemacht 
ist,  also  einen  wirklichen  Vorfall  wiedergibt.  Es  ist  eben  bei 
Uhland  auch  einmal  ein  poetischer  Mißgriff  mituntergelaufen. 

Die  Zahl  der  Gedichte,  bei  denen  sich  die  Umstände  nach- 
weisen lassen,  welche  einzeln  oder  in  Gruppen  zu  ihrer  Entstehung 
mitgewirkt  haben,  ist  groß.  Bei  anderen  läßt  sich  nach  Analogie 
dieser  Fälle  das  Vorhandensein  ähnlicher  Bedingungen  annehmen. 
Doch  auch  ohne  solche  kann  in  einzelnen  Fällen  der  zur  Produk- 
tion drängende  Gesamtzustand  eintreten,  etwa  auf  Grund  der 
Wirkung  des  Kontrastes;  und  so  kommt  es  vor,  daß  in  einer  dem 
Dichter  selbst  unerklärlichen  Weise  mitten  unter  ganz  fremd- 
artigen Beschäftigungen  sich  ein  „gewaltsames  und  instinkt- 
artiges Vordringen  der  Poesie"  einstellt''').  Ohne  einen  solchen 
zwingenden  Trieb  pflegte  Uhland  im  allgemeinen  nicht  zu  dichten; 
nur  für  epigrammatische  und  gewisse  Gelegenheitsgedichte  gilt 
wohl,  was  Uhland  an  Mayer  einmal  schrieb:  daß  oft  auch  „ein 
guter  Gedanke  in  einem  kalten  Momente  ausgeführt"  wird, 
„was  dann  dem  Leser  nicht  so  auffällt,  weil  doch  die  Kraft  des 
Gedankens  auch  durch  die  kalte  Hülle  durchschlägt"^). 

Ist  ein  Gedicht  einmal  empfangen  und  der  dichterische  Pro- 
zeß eingeleitet,  d.  h.  haben  jene  inneren  Zustände,  die  Uhland 
mit  „Anregung",  „Erregung",  „Erweckung"  bezeichnet,  die  erste 

^)  Siehe  Tagbuch,  25.  Dezember  1811. 

-)  Bei  der  Abfassung  des  Gedichts  „Das  Märchen".  Tagbuch, 
12.  Juli  1811. 

^)  Mayer,  I,  S.  81  (22.  April  1808). 


—     100     — 

Idee  und  den  allgemeinen  Plan  zum  Gedicht  aufkeimen  lassen, 
90  wird  das  Gedicht  noch  unter  der  Wirkung  derselben  sofort 
vollendet^),  oder  es  wird  in  unmittelbarem  Anschluß  an  die 
Konzeption  ausgeführt,  so  daß  Konzeption  und  Ausführung 
immerhin  noch  als  ein  Akt  zu  betrachten  sind:  wie  z.  B.  das 
Gedicht  „Auf  den  Tod  eines  Landgeistlichen"  während  der  dem 
Begräbnis  vorangehenden  gottesdienstlichen  Handlung  konzipiert, 
auf  dem  Nachhauseweg  sodann  gleich  ausgeführt  wurde.  Wird 
aber  die  Ausführung  aus  irgend  einem  Grunde  verzögert,  so  daß 
sie  sich  von  der  Konzeption  zeitlich  getrennt  vollzieht,  so  treten 
für  den  Fortgang  des  dichterischen  Prozesses  andere  Bedingungen 
ein:  auch  Gedichte,  welche  nicht  zu  der  letzterwähnten  Gattung 
gehören,  sondern  bei  welchen  des  Dichters  innerste  Empfindung 
beteiligt  ist,  bedürfen  zu  ihrer  Ausführung  nicht  mehr  notwendig 
der  Einwirkung  produktionsfördernder  Faktoren,  wenn  auch 
solche  häufig  vorhanden  sind.  Der  Hauptreiz  des  Schaffens,  der 
für  Uhland  im  Erfinden  und  Anlegen  bestand^),  ist  mit  der 
Konzeption  vorüber,  und  es  beginnt  die  Arbeit  der  Gestaltung 
des  Bildes  oder  Gedankens  und  der  Formgebung.  Uhland  bedurfte 
zu  derselben  nicht  einmal  immer  der  Ruhe  und  Sammlung.  Die 
fünfte  Strophe  zu  der  Ballade  „Der  Rosenkranz"  z,  B.  ist  im 
Palais  Royal  „unter  der  Menschenmenge "  gemacht,  und  das  für 
die  Hochzeit  seiner  Schwester  verfaßte  Gedicht  wurde,  nachdem 
der  Plan  schon  einige  Tage  zuvor  in  allgemeinen  Umrissen  aus- 
gedacht war,  „mitten  unter  den  Zubereitungen  zum  Hochzeits- 
mahl" eilig  ausgeführt^).  Ja  von  der  Ballade  „Der  Schenk  von 
Limburg"  wissen  wir  sogar,  daß  sie,  Vormittags  begonnen,  Abends 
nur  ausgeführt  wurde,  weil  der  Dichter  „wegen  Geldnot  zu  Hause " 
bleiben  mußte ^). 

Selten  blieb  ein  Gedicht  unvollendet,  weil  Uhland  die  Lust  zur 
Ausarbeitung  verlor,  und  mochten  Tage,  Monate  und  Jahre  sich 


^)  60  ist  Nummer  1  des  Nsohrufs  „wenige  Minuten  nach  dem  Ver- 
■obeideQ,  am  Bette  der  Matter"  entstanden.    Siehe  Leben  S.  234. 

')  Ebenda  S.  456.  Vgl.  femer  ebenda  S.  34:  „Ich  komme  schwer 
dazu,  Gestalten,  die  ich  in  begeisterten  Momenten  gesehen  und  ent- 
worfen, in  ruhigen  auszumalen." 

*)  Ebenda  S.  141. 

*)  Vgl  Tagbuoh,  28.  September  1816. 


—     101     — 

zwischen  Konzeption  und  Ausführung  legen,  so  ließ  er  doch  eine 
Idee,  die  er  einmal  aufgegriffen  hatte,  nur  selten  los,  oder  wenn  es 
doch  geschah,  so  müssen  wir  annehmen,  daß  im  Stoffe  selbst 
unüberwindliche  Hindernisse  lagen.  Es  kam  ihm  dabei  seine 
auch  sonst  bewährte^)  peinliche  Ordnungsliebe  und  die  Gewissen- 
haftigkeit des  Gelehrten  zu  statten,  mit  der  er  auch  seinen 
poetischen  Haushalt  führte.  Diesen  Eigenschaften  verdanken 
wir  manches  Gedicht,  das  bei  einem  weniger  sorgfältigen  Dichter 
verloren  gegangen  wäre.  Uhland  pflegte  sich  Ideen  und  Vorfälle, 
die  sich  ihm  für  die  poetische  Behandlung  zu  eignen  schienen, 
soweit  er  sie  nicht,  wie  so  oft,  gleich  tags  darauf  ausführte,  oft 
unter  Hinzufügung  des  genauen  Datums,  aufzuschreiben,  indem 
er  ihre  Gestaltung  einer  günstigen  Stunde  überließ.  Ein  Beispiel 
für  die  Ökonomie,  mit  welcher  Uhland  gelegentliche  Einfälle 
verwendete,  bilden  die  vier  Zeilen,  die  Uhland  Kemers  „Goldener" 
widmete.  Zunächst  schreibt  er  nach  der  Lektüre  dieses  Märchens, 
am  5.  September  1811,  impulsiv  ein  begeistertes  Lob  im  Tagbuch 
nieder.  Zwei  Tage  später  verwendet  er  die  Stelle  fast  wörtlich  in 
einem  Brief  an  Kerner.  Dann  bleibt  die  Notiz  mehrere  Monate 
liegen  und  wird  erst  am  22.  Dezember  1811  offenbar  unter  der 
kontrastierenden  Wirkung  des  trüben  regnerischen  Wetters*) 
wieder  erinnert  imd  „in  Verse  gebracht",  d.  h.  der  poetische  Ge- 
danke wird  zu  gedrängter  Kürze  verdichtet.  —  Ein  ähnlich 
geringfügiger  Einfall,  der  schon  1805  skizziert  wurde,  blieb 
sieben  Jahre  liegen,  bis  er  in  den  „Bitte"  überschriebenen  Zeilen"'') 
seine  endgültige  Form  erhielt.  Und  bei  den  für  Alb.  Schotts 
Stammbuch  bestimmten  Versen  datiert  die  Idee  vom  April  1817, 
die  Ausführung  vom  Jahr  1819,  und  überreicht  wurden  sie  erst 
dreißig  Jahre  später  —  gewiß  überzeugende  Belege  dafür,  daß  bei 
Uhland  nicht  leicht  etwas  verloren  ging^). 

Bei  lange  verzögerter  Ausführung  konnte  es  geschehen,  daß 


0  Vgl.  Leben  S.  204,  306. 

*)  Siehe  Tagbuch. 

')  Gedichte  I,  S.  431. 

*)  Siehe  auch  oben  S.  89,  das  Gedicht  „Die  Harfe"  betreffend. 
Eine  längere  Zeit  lag  femer  zwischen  Konzeption  und  Ausführung  bei 
den  Gedichten  „Unstern",  „Auf  das  Kind  eines  Dichters",  „Die  Be- 
kehrung zum  Sonett",   „Von  den  sieben  Zechbrüdern"  u.  a. 


—     102     — 

einer  Idee  oder  einem  Entwurf  das  Gesicht  nach  einer  anderen 
Richtung  gewendet,  oder  daß  zu  einer  anderen  Form  gegriffen 
wurde,  als  ursprünglich  beabsichtigt  war.  Die  Distichen  „Teils 
Platte"  von  1810  sind  ursprünglich  1807  in  rhythmischer  Prosa 
abgefaßt  worden;  Die  „Greisenworte"  gehören  eigentlich  in  ein 
erst  flüchtig  entworfenes  Drama,  und  der  Stoff  zu  der  Ballade 
„Des  Sängers  Fluch"  sollte  nach  dem  Jahre  zurückliegenden 
anfänglichen  Entwurf  dramatische  Form  erhalten. 

So  lange  aber  auch  ein  Gedicht  in  unvollendeter  Gestalt  liegen 
bleiben  konnte,  um  seiner  Wiederaufnahme  zu  harren,  so  kam  es 
doch  meist  rasch  zu  Papier^),  und  an  Schöpfungen,  die  er  als 
seinen  Anforderungen  entsprechend  erkannt  hatte,  pflegte  Uhland, 
wenn  sie  einmal  seine  Werkstatt  verlassen  hatten,  wenig  zu 
ändern  und  zu  bessern^).  — 

Große  Sorgfalt  und  Gewissenhaftigkeit  zeigte  Uhland  auch 
bei  der  Werkstattarbeit  im  engsten  Sinne  des 
Wortes^),  d.  h.  in  jenem  letzten  Stadium  der  Gestaltung 
des  Gedichts,  in  dem  es  gut,  mit  der  Materie  der  Sprache  zu 
ringen,  um  ohne  Überschreitung  ihrer  Gesetze  alle  ihre  Mittel 
in  den  Dienst  des  poetischen  Inhalts  zu  stellen  und  bei  höchster 
Prägnanz  des  Ausdrucks  die  Forderungen  des  Wohllauts  und 
der  Metrik  zu  erfüllen.  Von  dieser  Arbeit  kann  man  natür- 
lich nur  einen  unvollständigen  Eindruck  gewinnen,  da  sie 
sich  nur  insoweit  verfolgen  läßt,  als  sie  in  den  uns  überkom- 
menen Korrekturen  der  Gedichte  in  die  Erscheinung  getreten 
ist.  Immerhin  mögen  die  Beispiele,  die  im  folgenden  aus  einer 
großen  Zahl  ähnlicher  herausgegriffen  sind,  zeigen,  nach  welchen 
Gesichtspunkten  Uhland  verfahren  ist,  um  seinen  Gedichten  die 
äußere  Form  zu  geben,  die  ihn  befriedigt  hat.  Von  dem  Zeitpunkt 
an,  wo  das  Gedicht  vollends  in  Reinschrift  oder  gar  im  Druck 
vorlag,  hat  Uhland  nur  noch  Änderungen  ganz  untergeordneter 
Art  vorgenommen,  die  sich  fast  ausschließlich  auf  die  Ortho- 


^)  Ad.  ßchSIl,  Erinnerungen  an  L.  Uhland,  Orion  I  (1863),  S.  128. 

*)  Vgl.  Holland,  Über  Uhland«  Ballade  „Moriin  der  Wilde".  1876, 
S.  15. 

')  Vgl.  zu  diesem  Absohnitt:  Erich  Schmidt,  I^er  Text  dorUhland- 
sohen  Gedichte  nach  Hollands  Revision.  Anz.  f.  deutsches  Altertum  IV 
(1878),  S.  224  ff. 


—     103     — 

graphie  erstreckten  oder  auch  auf  gewisse  Doppelformen,  wie 
„kömmt"  und  „kommt",  von  denen  die  zeitgemäßere  vor  der 
älteren  Form  bevorzugt  wird.  Solche  Änderungen,  die  nur 
für  eine  eingehende  Untersuchung  der  Sprache  Uhlands  Bedeutung 
haben,  sind  daher  hier  auch  füglich  übergangen. 

Die  Gesichtspunkte,  nach  denen  Uhland  das  Gedicht  in  dem 
Stadium  zwischen  erster  Niederschrift  bezw.  Skizzierung  und 
Reinschrift  behandelte,  waren  teils  inhaltliche,  teils  formelle. 
Was  zunächst  die  ersteren  betrifft ,  so  ist  auf  das  Streben 
nach  Natürlichkeit  und  SchUchtheit  im  Ausdruck  ein 
großer  Bruchteil  der  Verbesserungen  zurückzuführen.  Wieviel 
einfacher  z.  B.  als  „Blumenauen"  wirkt  „Wiesengründe* 
(200  a,  11)^)  oder  die  Verse: 

(Wie  reich  dein  Freund  nun  weiter  reiset.) 
Dem  deiner  Liebe  Kleinod  ward  ... 
statt : 

Mit  deiner  Liebe  Demantring.  (II,  312  b,  8.) 

Selbst  das  das  Relativpronomen  ersetzende,  etwas  gewählte 
„so"  verbessert  Uhland: 

Das  Röschen,  das  (statt:  so)  du  mir  geschickt.  (92c,   L) 

Daher  wird  auch  eine  allzu  drastische  Ausdrucksweise  ge- 
mildert : 

König  Sivrid  wälzt  sich  in  seinem  Blute 

hieß  es  zuerst,  dann  gemäßigter: 

König  Sifrid  liegt  in  seim  rothen  Blute.  (166  a,  19.) 

Selbst  in  der  Wahl  der  Überschrift  läßt  sich  dieser  Zug  er- 
kennen: „Die  Rache"  wird  eine  Ballade  überschrieben,  statt 
„Der  Mordknecht"  (256). 

Namentlich  in  den  Gedichten  der  Frühzeit  muß  oft  die  Über- 
schwänglichkeit  in  der  ersten  Wahl  des  Ausdrucks  abgedämpft 
werden,  wie  die  folgenden  Beispiele  zeigen: 

O  selige  [statt  wonnige]  Rast.     (7  a,  17.) 
Voll  zarten  Sehnens  nach  der  Heimath 

^)  In  den  zahlreichen  nun  folgenden  Zitaten  einzelner  Verse  bedeutet 
die  erste  Zahl  die  Seite,  die  zweite  den  Vers.  Der  Seitenzahl  ist  a,  b,  c  . . . 
beigefügt,  wenn  sich  mehrere  Gedichte  auf  einer  Seite  befinden.  Die 
Bandzahl  ist  nur  bei  Band  II  beigesetzt. 


—     104     — 
statt: 

Mit  heissem,  thränenvollen  Sehnen.  (II,  2S0  b,  3.) 

Dein  leises,  liebevolles  Kosen 
statt: 

Dein  wonnereiches  (minnigliches)  Kosen.        (22  a,  11.) 
Besonders  hütet  sich  Uhland  jederzeit  vor  dem  unmäßigen 
Gebrauch  des  gerne  sich  einschleichenden  Epithetons  „süß",  das 
oft  durch  „frisch"  ersetzt  wird: 

O  frischer  [statt:  süsser]  Duft  ...  (29  b,  4.) 

...  im  frischen  [statt :  blüh'nden,  süssen]  Liederkranze.   (115  c,  2.) 

Das  einfache  Wort  „die  Schönste"  wird  den  anfänglich  ge- 
setzten Ausdrücken  „die  Süße",  „dieHolde"  vorgezogen  (HO a,  13). 

Dem  Streben  nach  Mäßigung  im  Ausdruck  der  Gefühle  ist 
auch  die  Umwandlung  des  Bildes  in  „Verborgenes  Leid"  (425  b,  9  ff.) 
zuzuschreiben.     Die  anfängliche  Fassung: 

Sieht  er  in  Dunkelheit 
an  kühler  Waldesstelle 
Entspringen  eine   Quelle, 
Das  ist  mein  Thränenleid, 

konnte  den  Eindruck  des  Tränenseligen  erwecken,  einer  Gemüts- 
stimmung, die  Uhland  damals  (1811)  längst  überwunden;  er  ver- 
besserte deshalb: 

Sieht  er  im  Walde  weit 

Recht  einsam  und  verschwiegen, 

Die  tiefsten  Schatten  liegen, 

Das  ist  mein  finstres  Leid. 

Und  wie  das  Unnatürliche  und  Geschraubte  von  Uhland 
vermieden  wird,  so  nicht  minder  das  Nichtssagende,  Ab- 
gebrauchte. Aus:  „deine  kühlen  Schatten"  wird  das  bestimm- 
tere: „deine  duft'gen  Schatten"  (52,  14).  „Ihre  Laute"  wird 
zuerst  angeredet: 

Da  liegst  im  Arm  der  Trauten 

In  sanfter,  süsser  Ruh, 
dann: 

Dich  hält  im  Arm  die  Traute 

Wie  neidenswcrt  bist  du!  (II,  300  b,  3  f.) 

Umgekehrt  macht  sich  aber  auch  das  Streben  nach  weniger 
gewöhnlichem,  gewählterem  Ausdruck  oft  bemerkbar.  Der 
Unterschied  ist  bald  geringer,  wie  in  diesem  Fall: 


statt : 

bald  fühlbarer: 

statt : 


—     105     — 

Wandelt  sich  sein  Lied  in  Gift 

Wird  ihm  der  Gesang  zu  Gift;  (-107,  13. ) 

(Kann  man's  nicht  in  Bücher  binden,) 
Was  die  Stunden  dir  verleihn, 


Taugt  es  wenig  zum  Verkauf.  (32  b,  17  f.) 

Aus  demselben  Grunde  wird  ein  Bild,  das  einer  für  den  Zu- 
sammenhang des  Gedichts  zu  niederen  Sphäre  angehört,  durch 
ein  anderes  ersetzt,  das  einer  höheren  entnommen  ist: 

Wie  den  Gesang,  den  zu  des  Liebchens  Preise 
Der  Schäfer  angestimmt  aus  voller  Seele, 
Gedankenlose  Halle  weiter  treiben, 
statt : 

Wie  wer  vom  Schiffe  kommt,  noch  meint  zu  schwanken; 
Und  wie  das  Schäferhündchen  läuft  im  Kreise, 
Auch  wenn  es  nicht  mehr  Schaafe  hat  zu  treiben^). 

(112  b,  9—11.) 

Ganz  vereinzelt  stehen  die  Fälle,  wo  eine  an  sich  angemessene 
und  natürliche  Ausdrucksweise  durch  eine  seltenere  ersetzt  wird. 
Ein  Beispiel  hierfür  ist  die  transitive  Verwendung  eines  sonst 
intransitiv  gebrauchten  Verbums.  Statt:  „Du  glänzest  Ahnung 
mir  zum  Herzen, "  hieß  es  früher  einfach :  „Du  weckest  Ahnung 
mir  im  Herzen"  (38  b,  7). 

Oft  dringt  der  Dichter  sichtlich  mit  Mühe  zum  angemessen- 
sten Ausdruck  vor  und  wählt  und  verwirft  immer  aufs  neue,  bis 
er  findet,  was  ihn  befriedigt.  Besonders  das  Epitheton  mit 
seinen  mannigfaltigen  Schattierungen  wird  mit  großer  Sorgfalt 
gewählt.     In  den  Versen: 

Uns  floß  der  rasche  Strom  der  Stunden 

In  freien  Melodien  fort,  (14  b,  23  f.) 

haben  sich  vier  Epitheta  zu  Strom  abgelöst:  kl[are],  helle,  volle, 
rasche.    Noch  mehr  Mühe  aber  verursachte  der  Vers: 

Der  ernsten  Sprache  Klang  (62  a,  27.) 


^)  Hier  hat  Uhland  wohl  außerdem  an  der  Zweizahl  der  Bilder 
Anstoß  genommen. 


—     106     — 

in  welchem  folgende  Lesarten  auftreten:  Der  heim'schen,  deut- 
schen, Mu[tter-],  Heimat-,  biedern,  ernsten  Sprache  Klang. 

Aber  auch  das  Prädikat  erweist  sich  manchmal  wider- 
spenstig. Niemand  wird  es  z.  B,  der  Zeile  in  „Schäfers  Sonntags- 
lied" (16,  10):  „Er  ist  so  klar  und  feierlich,"  ansehen,  daß  der 
Dichter  sechs  Wendungen  verworfen  hat,  bis  er  endlich  —  und 
zwar  nicht  bei  der  ersten  Veröffentlichung,  sondern  erst  in  der 
Ausgabe  der  Gedichte  von  1815  —  die  endgültige  siebente  fand. 
Es  finden  sich  nacheinander  die  Lesarten:  „Der  Himmel  blau 
und  feierlich;  Er  schweigt  so  klar  und  feierlich;  Umfängt  mich 
klar  und  feierlich;  Um  wölbt  mich  .  . .;  Er  ruft  so  .  .  .;  Umgibt 
mich  .  .  . " ;  schließlich  wird  die  denkbar  schlichteste  Möglichkeit 
gewählt:  „Er  ist  so  klar  und  feierlich." 

Seltener  läßt  sich  ein  derartig  mühsames  Gestalten  bei  ganzen 
Versen  oder  Verspaaren  beobachten,  besonders,  wenn  der  Reim- 
zwang die  Aufgabe  erschwert.  So  kann  man  eine  Läuterung 
des  Ausdrucks  unter  Beibehaltung  der  Reimsilbe  von  Stufe  zu 
Stufe  verfolgen  in  nachstehendem  Beispiel: 

(Wann  der  große  Tag  erglommen,) 

1.  Wo  das  Volk  im  Leichentuch 
Aufersteht  zu  Heil  und  Fluch. 

2.  Wo  der  Mensch  vom  Richterspruch 
Heil  erwartet  oder  Fluch. 

3.  Wo  des  ew'gen  Richters  Spruch 
Heil  verkündet  oder  Fluch. 

4.  Wo  von  Gottes  Richterspruch 

Heil  ergeht  und  ew'ger  Fluch.  (408,  26  f.) 

Mit  einem  Fortschreiten  vom  unbildlichen  zum  bildlichen 
Ausdruck  und  mit  einer  Umwandlung  des  Bildes  ist  dieser  Läute- 
rungsprozeß verbunden  in  einem  Verse  des  „Ritter  Paris  "(199,  48): 

(Dort  in  Stücken  liegt  die  Hülle, 
Die  ein  atarrer  Ritter  war, 
Hier,  in  Paris'  Arm,  die  Fülle,) 

1.  Hold  als  [aus:  Holde]  Jungfrau,  wunderbar. 

2.  Weich  und  [jeden]  allos  Trotzes  baar, 

3.  Schmetterling,  der  Hülse  baar, 

4.  Sttßer  Kern,  der  Schale  bar^). 

*)  Au«  BeiBpielen,  wie  den  zuletzt  gegebenen,  ist  zu  ersehen,  wie 
die  Reimwörter  bei  dem  UmformungsprozeO  meist  intakt  bleiben  und 
die  festen  Punkte  abgeben,  um  die  sich  derselbe  bewegt. 


—     107    — 

Eine  direkte  Inkongruenz  zwischen  dem  sprachlichen  Aus- 
druck und  dem  Sinn,  den  der  Dichter  anstrebte,  fand  ich  nur  in 
den  folgenden  zwei  Fällen: 

Verwobst  du  sie  [die  Locken]  zu  ordnendem  [!]  Gewinde. 

Verbessert : 

Begannest  du  sie  ordnend  aufzuwinden  (422  a,  6) 

und: 

Muthig,  Ritter,  daß  vergehe 
Deiner  [?]  Drachen  wild  Geschlecht. 


Verbessert : 


Auf  denn,  Ritter,  und  bestehe 

Kühn  der  Drachen  wild  Geschlecht.  (63a,  7  f.) 


War  für  die  bisher  angeführten  Änderungen  die  Rücksicht 
auf  Sinn  und  Inhalt  maßgebend  gewesen,  so  läßt  ein  anderer 
Variantenkomplex  erkennen,  in  welcher  Weise  Uhland  bei  der 
Ausfeilung  seiner  Gedichte  in  sprachlicher,  stilisti- 
scher und  metrischer  Hinsicht  der  Form  Rechnung 
trug. 

Altertümliche,  volkstümliche  oder  dialektische  Wörter  und 
Formen  hat  Uhland  bekanntlich  bevorzugt,  wo  es  der  Stil  des 
Gedichtes  zu  erlauben  oder  zu  fordern  schien.  Doch  hat  er  in 
einzelnen  Fällen  geschwankt.  In  dem  Sonett  „Vermächtnis" 
erklärt  sich  die  Form  „du  sollt"  (101,  8),  statt,  wie  Uhland  ur- 
sprünglich geschrieben,  „sollst",  in  der  Rede  eines  „Sängers  in  den 
frommen  Rittertagen".  Dagegen  ist  es  offenbar  reine  Vorliebe 
für  die  altertümliche  Form,  wenn  Uhland  auch  in  der  Überschrift 
des  Gedichts  „Die  zwo  Jungfrauen"  —  der  Text  (109,  1)  hatte 
immer  „zwo"  —  die  alte  Form  aus  der  neuen  herstellte^). 

Dem  allgemeinen  Sprachgebrauch  widersprechende  dialek- 
tische Formen,  die  mitunterliefen,  werden  getilgt:  „die  Töchter" 
(acc)  aus:  „die  Töchtern"  (II,  287,  14);  „trockne  Luft"  (nom.) 
aus  „trockner  Luft"  (54  b,  7).  Das  schwäbische  „nimmer"  wird, 
wo  es  sich  auf  die  Vergangenheit  bezieht,  oft  durch  das  korrekte 
„nicht  mehr"  ersetzt  (13  c,  2;  93  b,  1;  232  a,  8). 

Überhaupt  sucht  Uhland,  wo  es  geht,  mit  den  regelmäßigen 
neuhochdeutschen  Formen  auszukommen: 


1)  Vgl.  auch  Zween  (masc.)  aus  Zwei  (322,  169) 


—     108     — 

Dem  Lichter  ist  der  Femen  Bild  geblieben, 
statt: 

Eem  Dichter  ist  ein  Büd  der  Fernen  blieben.     (111  b,  1.) 

Ein  empfindliches  Ohr  hatte  Uhland  für  die  kleinen,  mate- 
riellen Reibungen,  die  sich  aus  der  Wiederholung  von  Worten  und 
dem  Zusammenstoß  gewisser  Laute  ergeben.  Die 
Korrekturen  dringen,  wo  nicht  Gründe  der  Rhetorik  Wieder- 
holung verlangten  1),  auf  Abwechslung  und  Wohllaut: 

Einsamer  Amselschlag  im  toden  Haine, 

Ein  armes  [urspr. :  einsam]  Veilchen,  noch  so  süß  von  Düften. 

(108  a,  13  f.) 

Auch  wenn  mehrere  Verse  dazwischen  lagen,  nahm  Uhland 
an  der  Wiederholung  des  Epithetons  Anstoß :  in  dem  Vers  „Selbst 
bei  des  Fingers  leisem  Drübergleiten "  (102b,  7)  wird  „leisem" 
durch  „leichtem"  ersetzt,  weil  es  drei  Verse  zuvor  geheißen: 
„mit  leisem  Schüttem".  Und  über  drei  Verse  hinweg  verbietet 
(419,  2)  das  Wort  „Erdenblüte"  die  Verwendung  von  „Erden- 
glanz", wofür  „Frühlingsglanz "  eintritt. 

In  dem  Sonett  „Die  Locken"  (422)  wird  das  Wort  „Locken" 
an  zwei  Stellen  (Vers  10  und  14)  getilgt  und  ersetzt,  weil  es  in  der 
Überschrift  und  zweimal  im  Text  vorkommt  und  weil  außerdem 
vier  Verse  auf  — ocken  reimen. 

Aber  nicht  nur  die  Wiederholung  einzelner  Worte  wird  ver- 
mieden, sondern  auch  diejenige  derselben  syntaktischen  Ordnung, 
wenn  sie  monoton  wirken  würde.  So  zieht  die  Änderung  des 
Verses: 

Man  läßt  mich  nicht  zu  Hause  weilen 
in: 

Ich  soll  nicht  mehr  zu  Hause  weilen    (447,  1) 

auch  die  Änderung  des  zweitnächsten  Verses  mit  sich: 

Ich  wandre  jetzt  schon  volle  sieben  Meilen 
in: 

Schon  wandr'  ich  volle  sieben  Meilen. 

Bedeutend  verbessert  hat  Uhland  das  Gedicht  „SeligerTod"  (21) 
durch  die  Tilgung  der  normalen  Wortstellung  des  Aussagesatzes 

*)  Vgl.  die  verstÄrkcndo  R«tnschierung  des  Refrains  in  .Früh- 
linf^Rglaube":  .Nun  muß  sich  alles,  alles  wenden,"  aus:  ,£s  wird  sich  alles 
wenden.'     (29  b,  12.) 


—     109     — 

und  Vorausstellung  des  Partizips,   woraus  sich  Inversion  und 
Abwechslung  ergab.     Man  vergleiche  die  zwei  Fassungen: 

1.     Ich  war  gestorben  2.     Gestorben  war  ich 

Vor  Liebeswonne:  Vor  Liebeswonne: 

Ich  lag  begraben  Begraben  lag  ich 

In  ihren  Armen;  In  ihren  Armen; 

Ich  ward  erwecket  Erwecket  ward  ich 

Von  ihren  Küssen;  Von  ihren  Küssen; 

Ich  sah  den  Himmel  Den  Himmel  sah  ich 

In  ihren  Augen.  In  ihren  Augen. 

Wo  die  Wiederholung  gegen  die  einfachsten  Gesetze  des 
Wohllauts  verstieß,  wurde  der  Schaden  natürlich  sofort  repariert, 
so  in  dem  Vers: 

Wann(urspr.:  Als)  wir  als  Kinder  sprangen  um  die  Linden.    (422a,  2.) 
Die  übelklingende  Wiederholung  desselben  anlautenden  Dentals 
in  einem  Vers  wird  verbessert: 

Doch  dacht'  ich  dein,  o  [statt  du]  Treuer.  (II,  314  c.  13.) 

Bisweilen  kann  durch  eine  nur  an  einem  Buchstaben  vor- 
genommene Änderung  der  Wohllaut  gefördert  werden: 

Von  einer  aber  thuts  mir  weh 
in: 

Von  Einer  aber  thut  mir's  weh.  (49  b,  12.) 

Solche  kleine  Glättungen  holte  Uhland  gelegentlich  auch  erst 
in  den  Drucken  nach.  So  änderte  er  in  der  siebenten  Auflage 
der  Gedichte  „nirgends  still"  in  „nirgend  still"  (291,  48).  Dieses 
Zusammenstoßen  nah  verwandter  oder  identischer  Konsonan- 
ten in  zwei  aufeinander  folgenden  Wörtern  erschwerte  die  Aus- 
sprache. Daher  änderte  Uhland  auch  die  Worte  „zur  reinen 
Sonne"  in:  „zu  reiner  Sonne"  (63  b,  7).  Aber,  wenn  sich  auch 
nicht  immer  in  ähnlicher  Weise  abhelfen  ließ,  so  wurde  doch  die 
Anhäufung  vieler  Konsonanten  als  dem  Wohllaut  schädlich 
erkannt.  „So  wächst  du  auf  am  Heimathstrande "  hieß  es  zuerst 
im  „Theelied"  (52,  17).  Uhland  suchte  zunächst  abzuhelfen  durch 
ein  anderes  Verbum:  „lebst  du",  das  ihn  aber  nicht  befriedigte; 
worauf  er  ein  Mittel  fand,  „wachsen"  doch  beizubehalten,  durch 
die  Änderung:  „So  wächsest  du  am  Heimathstrande." 

Uhlands  intime  Kenntnis  der  romanischen  Sprachen  hatte 
vielleicht  dazu  beigetragen,  sein  Ohr  für  den  Kampf  mit  dem  Kon- 


—     110     — 

sonantismus  zu  schärfen,  der  ja  dem  deutschen  Dichter  viel  mehr 
Mühe  bereitet  als  dem  romanischen.  Daher  stellt  er  besonders 
der  Häufung  des  geräuschvollen  ch  nach  und  ändert  z.  B.  „nicht 
erdacht"  in:  „nie  erdacht"  (62b,  6)  oder  „Stille  streif  [aus: 
streich']  ich  durch  die  Gassen"  (123).  Auch  wird  der  Wohlklang 
verbessert  durch  das  Wörtchen  „nun"  in  dem  Vers;  „Freiheit 
heißt  nun  [aus:  jetzt]  meine  Feee"  (63  a,  5). 

Wie  sicher Uhland  die  Metrik  und  die  Eeimtechnik 
beherrscht  hat,  sieht  man  aus  der  geringen  Anzahl  von  Korrek- 
turen, welche  die  Konzepte  der  Gedichte  in  dieser  Hinsicht  auf- 
weisen. Kaum  daß  hie  und  da  die  schwebende  Betonung  dem 
strengeren  Rhythmus  wich. 

Solang  auf  ihr  der  Kindheit  Unschuld  blühet 

statt: 

Solang  auf  ihr  unschuldge  Kindheit  blühet.      (420  a,  13.) 

„Verhaltne  Männerstimmen"  statt  „halblaute  Männerstimmen" 
(283,  19).  Einmal,  in  dem  Gedicht  „Vorabend"  (24,  1.  3.  5.  7), 
wurden  Reime  eingesetzt,  wo  ursprünglich  keine  vorhanden 
waren.  Ein  anderes  Mal,  in  „Frühlingsfeier"  (30, 1.  3.  5.  7),  wurden 
Reime,  welche  auf  den  Sinn  einen  Zwang  ausgeübt  hatten,  ent- 
fernt. Beide  Gedichte  gewannen  dabei  nach  Inhalt  und  Form. 
Ganz  vereinzelt  steht  femer  ein  Fall,  in  dem  höchst  wahrschein- 
lich des  Reimes  wegen  mehrere  Verse  umgestaltet  wurden. 
In  der  ersten  Fassung  des  Sonettes  „Geisterleben"  (107)  nämlich 
lauteten  die  zwei  ersten  Reime  „ — aben"  und  „ — ecken",  so 
daß  sich  achtmal  das  tonlose  „ — en"  am  Versende  wiederholte. 
Deshalb  wurden  die  Verse  2.  3.  6.  7  mit  einem  anderen  Reim 
versehen  und  demgemäß  verändert. 

Häufiger  als  solche  gründliche  EingrifEe  läßt  sich  das  Be- 
streben erkennen,  durch  Herstellung  oder  Versetzung  der  Cäsur 
die  rhythmische  Gliederung  des  Verses  zu  ver- 
vollkommnen, wie  folgende  Beispiele  zeigen: 

In  serger  Kindheit  Duft  und  Morgensoheine 


statt: 

and: 

•tatt: 


In  serger  Kindheit  Morgenduft  und  Sohoine,  (115  b,  16) 
Nun,  armes  Herz,  vorgiß  der  Qual! 


—   111    — 

Getrost  du  armes  Herz  voll   Qual!     (29  b,  11) 
ferner : 

An  jenen  dich  zu  haschen,  dich  zu  binden 
statt : 

Daß  ich  an  ihnen  dich  erhasch'  und  binde.         (422  a,  3.) 

Umgekehrt  wird  ein  breiterer  rhythmischer  Fluß  erzielt,  wenn 
z.  B.  in  der  langen  Oktave  zwei  Verse  enger  zusammengeschlossen 
werden : 

(An  Ihrem  Grabe  kniet'  ich,  festgebunden,) 

Und  senkte  tief  den  Geist  ins  Todtenreich 
statt : 

Versunken  war  mein  Geist  ins  Todtenreich,         (115  b,  2.) 

Von  der  Rücksicht  auf  das  Strophenganze  eingegeben  ist 
auch  die  Korrektur  in  Vers  3  in  „Lob  des  Frühlings"  (30).  An- 
fänglich bestand  die  Strophe  aus  sechs  drei-  bis  viersilbigen  zu- 
sammengesetzten Hauptwörtern,  nach  denen  jedesmal  der  Cäsur- 
einschnitt  oder  das  Versende  eintrat,  was  nicht  nur  hart  und 
monoton  wirkte,  sondern  das  kleine  Ganze  in  sechs  Teile  zer- 
splitterte. Durch  Teilung  des  letzten  Gliedes  in  Substantiv  und 
Adjektiv:  „linde  Luft"  statt  „Märzenluft",  wird  ein  gewisser 
Abschluß  markiert,  zumal  da  der  Hauptton  dieser  Dipodie  auf 
die  zweite  und  nicht,  wie  bei  den  fünf  vorangehenden,  auf  die 
erste  Hebung  fällt.    So  ist  durch  diesen  Kunstgriff  viel  gewonnen. 

Im  übrigen  zeichnet  sich  die  Strophe  bei  Uhland  durch  eine 
solche  Geschlossenheit  aus,  daß  in  einzelnen  Gedichten  S  t  r  o« 
phen  umgestellt,  eingefügt  oder  gestrichen 
werden  konnten,  ohne  daß  ihre  Umgebung  wesentlich  verändert 
wurde.  So  stand  im  „Lied  eines  Armen"  ursprünglich  Strophe  4 
vor  Strophe  3;  in  dem  Gedicht  „An  die  Volksvertreter" 
bildete  die  Schlußstrophe  5  ursprünglich  die  zweite  Strophe, 
in  der  „Jagd  von  Winchester"  wurde  Strophe  5  nachträglich 
hinzugefügt;  und  in  „St.  Georgs  Ritter"  Nr.  1  vollends  wurde 
nicht  nur  eine  Strophe  (jetzt  Vers  21  bis  24,  früher  vor  Vers  37) 
umgestellt,  sondern  auch  eine  Eingangsstrophe,  sowie  zwei  ähn- 
lich lautende  Strophen  in  dem  Inneren  des  Gedichtes  gestrichen 
(nach  Vers  36  und  Vers  48). 

Der  letztere  Fall,  die  Tilgung  einer  Strophe  im  Inneren  eines 
Gedichts,  findet  sich  noch  mehrmals,  doch  fast  ausschließlich 


-.     112     — 

in  den  Gedichten  der  Frühzeit,  denen  noch  der  Fehler  zu  großer 
Breite  anhaftete:  in  „Die  Erinnerung"  (nach  Vers  6),  „Mai- 
klage" (nach  Vers  33),  „Lied  eines  Armen"  (nach  Vers  4),  „Der 
Schmied"  (nach  Vers  6).  Im  Anfang  des  Gedichts  hat  Uhland 
auch  in  späterer  Zeit^)  gelegentlich  eine  Strophe  entfernt,  so  in 
dem  Gedicht  „Auf  ein  Kind"  (1814)  und  „Der  Ungenannten" 
(1819).  Das  letztere  hat  Uhland  seiner  Braut,  für  deren  Geburts- 
tag es  gedichtet  war,  in  der  längeren  Form  überreicht,  für  die 
Aufnahme  in  die  Gedichte  aber,  um  ihm  den  Charakter  des  Ge- 
legenheitsgedichts zu  nehmen^),  der  Einleitungsstrophe  ent- 
kleidet. Im  selben  Sinne  hat  Uhland  im  „Verspäteten  Hochzeit- 
lied" zwei  halbe  Strophen  getilgt. 

Daß  die  Sinngedichte  sich  manche  Kürzung  gefallen  lassen 
mußten,  ist  begreiflich.  So  bestanden  „Achill"  und  „Helena" 
ursprünglich  aus  zwei  Distichen,  Der  Zyklus  „Narziß  und 
Echo"  wurde  von  dreizehn  auf  vier  Distichen  reduziert.  Die 
zwei  „Greisen Worte"  betitelten  Strophen  kennzeichnet  ein  nach- 
träglich hinzugefügter  Trennungsstrich  als  zwei  kleinere,  selb- 
ständige Sinngedichte. 

Oft  geht  Kürzung  mit  Umarbeitung  Hand  in  Hand.  So  ist 
der  bekannte  Sinnspruch: 

Was  zagst  du,  Herz,  in  solchen  Tagen, 

Wo  selbst  die  Dorne  Rosen  tragen?  (30  o.) 

nicht  auf  den  ersten  Wurf  in  seiner  prägnanten,  schlichten  Kürze 
geglückt,  sondern  aus  drei  Zeilen  zusammengeschmolzen  worden. 
Die  erste  Fassung  lautete: 

Soll  ich  trostlos  noch  verzagen, 
Seit  in  diesen  Blüthen  tagen 
Selbst  die  Dome  Rosen  tragen? 

Auch  „Des  Knaben  Tod"  (155)  ist  „umgearbeitet  oder  vielmehr 
abgekürzt  worden**).  An  der  Stelle  von  Vers  9  bis  14  standen 
ursprünglich  vierzehn  Verse.     Von  je  vier  Zeilen  Wechselrede 

*)  Für  die  Kürzungen  des  Jahres  1806,  denen  noch  die  der  „Mäd- 
oben  am  Rache"  von  1807  anzureihen  ist,  vgl.  oben  S.  16. 

•)  Vgl,  die  Verwischung  des  Lokals,  das  dem  Dichter  vorschwebt, 
in  dem  „SchifTloin":  „Ein  SchifHoin  ziehet  leise  Den  Strom  hin  (aus:  Im 
Neckar)  sein  GeleiBe"  (181), 

')  An  K.  Mayer,  26.  Dezember  1807.     I,  S.  32, 


—     113     — 

zwischen  dem  Knaben  und  der  Jungfrau  blieben  deren  zwei, 
welche  Worte  der  letzteren  enthielten.  Das  übrige  wurde,  als 
aus  der  Situation  hervorgehend,  von  Uhland  getilgt. 

Eine  völlige  Umgestaltung  eines  ganzen  Gedichts 
nahm  Uhland  selten  vor.  Bei  größeren  Gedichten  geschah  dies 
nur,  wenn  eine  längere  Zeit  dazwischen  lag;  kleinere  aber  er- 
hielten, auch  wenn  sie  gründlich  verändert  wurden,  bald  ihre 
definitive  Form.  Zwei  Beispiele  der  letzteren  Art  sind  ,J'rühling8- 
ahnung"  (29)  und  „Bild"  (451).  Die  zwei  Fassungen  des  ersteren 
lauten : 

1.  0  süsses,  lindes  Wehn! 

Kein  Veilchen  ist  noch  zu  sehn, 
Mir  blühen  schon  wieder 
Die  Frühlingslieder. 

2.  0  sanfter,  süßer  Hauch 
Schon  weckest  du  wieder 
Mir  FrühlingsUeder, 

Bald  blühen  die  Veilchen  auch. 

Die  erste  Fassung  ließ  die  gerade  für  ein  so  kleines  Ganze  be- 
sonders wichtige  Einheitlichkeit  und  Abrundung  vermissen.  Die 
Umarbeitung  stellte  diese  Mängel  nach  Form  und  Inhalt  ab, 
indem  der  jetzt  klangvoller  gewählte  männliche  Reim  die  zwei 
weiblichen,  und  indem  die  zwei  Glieder  des  Naturbildes  den  Vor- 
gang in  des  Dichters  Brust  umschließen. 

Vergleicht  man  die  zwei  Fassungen  des  Gedichtes   .Bild": 

1.  Seht  ihr  wo  ein  schönes  Kind, 
Das  in  Sturm  und  Regen  geht, 
Dem  der  wilde  Wirbelwind 
Locken  imd  Gewand  zerweht: 
Wie  kein  Wort  sie  schüdern  kann 
Seht  ihr  meine  Liebe  dann. 

2.  Seht  ihr  wo  ein  schönes  Kind, 
Das  in  Sturm  und  Regen  geht. 
Dem  Gewand  und  Locke  weht. 
Das  vom  wilden  Wirbelwind 
Kaum  sich  noch  erwehren  kann: 
Denket  dann, 

Daß  ihr  meine  Liebe  seht! 

SO  macht  sich  hier  ein  ähnliches  Streben  nach  Gliederung  unter 
Wahrung  der  Geschlossenheit  des  Ganzen  geltend:  die  epigram- 

Haag,  Uhland  8 


—     114     — 

matische  Schlußwendung  wird  durch  die  einzelne  Dipodie  in 
Vers  6,  die  wie  eine  Fermate  wirkt,  von  dem  Rumpf  des  Gedichts 
gesondert  und  bleibt  durch  die  veränderte  Reimstellung  (a  b  b 
a  c  c  b  statt  der  weniger  verknoteten  a  b  a  b  c  c)  doch  zugleich 
mit  ihm  im  Zusammenhang. 

Im  Jahr  1816,  elf  Jahre  nach  der  ersten  Abfassung,  nahm 
Uhland  das  „Der  Wehmuthsänger "  betitelte  Jugendgedicht  wieder 
auf,  um  es  aus  der  ihm  sonst  fremden  alkäischen  Strophe  in  eine 
Reimstrophe  umzusetzen.  Es  läge  nahe,  zu  vermuten,  Uhland 
hab3  an  diesem  Produkt  einer  Periode,  der  er  seit  lange  innerlich 
fremd  geworden,  wenn  er  es  nun  schon  der  Wiederaufnahme 
für  wert  hielt ,  zugleich  auch  inhaltliche  Veränderungen 
vorgenommen.  Allein  Uhland  verfuhr  bei  der  Umarbeitung  mit 
einer  Objektivität  und  pietätvollen  Schonung,  als  ob  es  sich  um 
die  Übersetzung  eines  fremden  Originales  gehandelt  hätte;  Um- 
fang, Inhalt  und  Sinn  wurden  getreu  bewahrt  —  ein  neues  Zeichen 
für  die  Ökonomie,  mit  der  Uhland  sein  dichterisches  Gut  ver- 
waltete ;  trotzdem  ihm  das  Gedicht  fremd  geworden,  wollte  er  es 
doch  nicht  kurzweg  verwerfen  oder  in  Vergessenheit  geraten 
lassen,  sondern  es  wenigstens  in  einer  angemessenen  Form  hinter- 
lassen. 

Ähnlich  verfuhr  Uhland  mit  dem  Gedicht  „Teils  Platte", 
das  er  nach  einem  drei  bis  vier  Jahre  zurückliegenden  in  rhyth- 
mischer Prosa  abgefaßten  Entwurf  umarbeitete.  Auch  hier  wurde 
das  Original  in  seiner  Grundform  beibehalten;  nur  daß  eine  kleine, 
ossianische  Kraftstelle  ^)  weislich  getilgt  ward. 

Eine  eingreifendere  Umgestaltung  erfuhren  die  ersten  Fas- 
sungen zweier  erzählenden  Gedichte  größeren  Stils:  des  „Blinden 
Königs"  und  des  Zyklus  „Der  Königssohn",  die  beide  erst  in  der 
umgearbeiteten  Fassung  von  Uhland  veröffentlicht  wurden.  Bei 
dem  Balladenzyklus  „Der  Königssohn",  der  an  poetischem  Wert 
hinter  dem  „Blinden  König"  doch  wohl  zurücksteht,  ist  be- 
sonders zweierlei  hervorzuheben :  einmal,  daß  er  teilweise  doppelt 
umgearbeitet  wurde.  Von  der  ersten  Nummer  liegen  Fassungen 
vor  vom  19.  August  1806,  23.  Juli  1811  und  30  f.  Januar  1812. 
Die  erste  zeigt  noch  zweiundsiebzig  sehr  weitschweifige  Verse, 

')  „Sein  Gewand,   soino  Uaaro  flattern.      Himmelan  wirft  er  den 
groeeen  Blick  der  Freiheit." 


—     115     — 

die  zum  großen  Teil  allgemeine  Betrachtungen  und  rülirsame 
Reden  enthielten ;  diese  wurden  in  der  zweiten  Fassung  bedeutend 
eingeschränkt,  so  daß  nur  noch  neunundzwanzig  Verse  blieben, 
und  auch  diese  rückten  1812  in  drei  kurze,  vierzeilige  Strophen 
zusammen,  die,  ganz  Uhlands  reifer  Balladentechnik  entsprechend, 
vieles  der  Ergänzung  durch  den  Leser  überließen.  Sodann  ist 
bemerkenswert,  daß  nach  Nr.  7  fünf  Stücke  ausfielen,  weil  die 
Motive,  die  sie  enthielten,  schon  1807  in  eine  andere  Ballade, 
„Der  junge  König  und  die  Schäferin",  verwoben  worden  waren. 
—  Was  die  zweite  dieser  Bearbeitungen  in  großem  Maßstab  be- 
trifft, so  ist  der  Umstand  auffallend,  daß  Uhland  die  Ballade, 
welche  allerdings  seiner  frühesten  Jugendzeit  angehörte,  aber 
doch  im  Unterschied  zu  dem  oben  erwähnten  Gedicht  „Der 
Wehmuthsänger "  schon  ganz  seiner  späteren  Art  gemäß  war,  erst 
so  spät  wieder  aufgegriffen  hat.  Man  muß  annehmen,  daß  sie  in 
dem  Jahrzehnt  (1804  bis  1814)  während  dessen  sie  ruhte,  ganz  in 
Vergessenheit  geraten  war,  und  der  Dichter  erst,  als  er  seine  alten 
Entwürfe  im  Hinblick  auf  die  beabsichtigte  Ausgabe  der  Gedichte 
musterte^),  wieder  auf  sie  aufmerksam  wurde.  Die  Umarbeitung 
gedieh  dann  sehr  rasch,  in  einem  Tag.  Dies  beweist,  wie  schnell 
Uhland  mit  dem  doch  ziemlich  umfangreichen  Gedicht  wieder 
vertraut  war;  auch  erstreckte  sich  die  Bearbeitung  hauptsächlich 
auf  den  Ausdruck  und  die  Form  ^) ;  das  Verhältnis  des  Inhalts 
zur  Quelle  ^)  wurde  im  ganzen  nicht  geändert,  wenn  auch  einzelne 
Motive  edler  oder  wirksamer  gestaltet  wurden,  wie  ein  Vergleich 
folgender  Stellen  zeigt: 

1.  Ha,  Schande  dir!  aus  stillem  Bade 
Hast  du  sie  mir  geraubt. 

2.  Vom  Tanz  auf  grünem  Strande 

Hast  du  sie  weggeraubt.  (Vers  13  f.) 


)  Daß  dies  geschah,  scheinen  die  kurz  aufeinander  folgenden 
Tagbuchnotizen  anzudeuten.  3.  Dezember  1814:  „Angefangene  Aus- 
arbeitung der  schon  früher  entworfenen  Ballade  ,Des  Sängers  Fluch*." 
5.  Dezember:  „Die  Ballade  ,Der  blinde  König'  umgearbeitet. "  6.  Dezem- 
ber: „Früh  die  »Schwäbische  Kunde'  wieder  aufgefaßt  und  .  .  .  ausge- 
arbeitet." 7.  Dezember:  „Das  Gedicht  ,Frühlmgsfeier'  wieder  vorge- 
funden und  zugerüstet." 

^)  Vgl.  Eichholtz  a.  a.  O.  S.  20. 

^)  Das  Nähere  über  dieses  Verhältnis  siehe  ebenda  S.  12  ff. 


—     116     — 

oder  die  Verschärfung  des  Holmes  in  der  Herausforderung  des 
Räubers : 

1.  Zwar  bin  ich  nicht  von  Königsblut, 
Doch  hab'  ich  Kraft  und  hohen  Muth. 
Wohlauf,  ihr  Wächter  an  dem  Throne! 
Die  holde  Braut  dem  Sieger  lohne! 

2.  Du  hast  ja  viele  Wächter, 
Warum  denn  litten's  die? 

Dir  dient  so  mancher  Fechter, 

Und  keiner  kämpft  um  Sie?  (Vers  21  ff.) 

Dieser  Änderung  entsprechend  wirkt  nun  weniger  der  Trotz 
des  Räubers  auf  den  König,  als  der  feinere  Stachel  des  Holmes, 
den  er  begründet  finden  muß: 

1.  Und  den  blinden  König  fasset  Graun 
Ob  solcher  stolzen  Rede. 

2.  Der  blinde  König  kehrt  sich  um: 

.Bin  ich  denn  ganz  allein?"     (Vers  27  f.) 

Was  die  Metrik  anbetrifft,  so  wurde  zwar  die  Strophenform 
beibehalten:  Strophe  2  der  ersten  Fassung  gibt  die  Norm  ab  für 
die  definitive  Fassung;  aber  im  einzelnen  wurde  sehr  viel  ver- 
bessert. Zahl  und  Stellung  der  männlich  und  weiblich  auslauten- 
den Reime  wurde  normiert,  die  zweisilbigen  Senkungen  entfernt, 
und  überhaupt  der  Fluß  und  die  Gliederung  des  Rhythmus 
sowie  die  musikalische  Wirkung  der  Verse  befördert;  man  ver- 
gleiche folgende  Stellen: 

1.  Er  jammert  von  der  Klippenhöh', 
Auf  seinen  Stab  gelehnt. 

2.  Er  ruft,  in  bitt'rem  Harme, 

Auf  seinen  Stab  gelehnt.    (Vers  5  f.) 

1.  Und  seine  edlen  Fechter  sohaun 
Hinüber  still  und  blöde. 

2.  Noch  stchn  die  Fechter  alle  stumm 
Tritt  keiner  aus  den  Reihn.    (Vers  25  f.) 

1.     Doch  bald  ertönt  vom  FeUenhanfl; 

Der  Schilde  Stoß,  der  Schwerter  Klan?, 
Der  Feohter  Dräun  hernieder, 
Und  die  Buchten  hallen  wieder. 


—     117     — 

2.     Bis  drüben  sich  erhoben 

Der  Schild'  und  Schwerter  Schall, 
Und  Kampfgeschrei  und  Toben, 
Und  dumpfer  Widerhall.     (Vers  45  ff.) 

In  der  letzten  Variante  ist  auch  die  Verwendung  der  Allite- 
ration und  des  Polysyndetons  bemerkenswert.  Der  Reim  wurde 
nur  teilweise  gereinigt.  Zwar  verschwanden:  Rede — blöde, 
Ungestüm — ihm,  aber  Höh  —  See,  Verließ — süß,  bHeben  be- 
stehen. Dagegen  ist  die  Einführung  des  Namens  „Gunild[e] ", 
da  er  der  einzige  ist,  wohl  durch  den  Reim  veranlaßt  worden: 
sein  Wohllaut  ersetzte  am  Versende  vorteilhaft  die  abgeblaßten 
Epitheta  zart  und  mild;  außerdem  trug  er  auch,  im  Vers- 
anfang, zum  volleren  Ausklingen  des  Gedichtes  bei: 

1.  Du,  Holde,  singst  im  Sterneschein 
Die  Klage  sanft  und  hehr! 

2.  Gunilde,  du  Befreite, 
Singst  mir  den  Grabgesang, 


Die  Aufgabe,  die  sich  diese  Untersuchung  gestellt  hatte, 
war  nicht  ohne  Entsagung  zu  lösen:  ungern  geht  man  an  dem 
Eigenartigsten  und  W^ertvoUsten,  was  Uhland  in  der  Poesie  ge- 
schaffen hat,  an  den  episch-lyrischen  Gedichten,  vorüber ;  während 
doch  die  reine  Lyrik  zweifellos  dasjenige  Gebiet  ist,  das  die  seiner 
Natur  gesteckten  Grenzen  am  bestimmtesten  erkennen  läßt. 
Aber  gerade  indem  man  den  Wurzeln  von  Uhlands  Lyrik  in  seinem 
Leben  nachgeht  und  dabei  jener  Grenzen  deutlich  gewahr  wird, 
sieht  man  sich  zu  der  größten  Bewunderung  gezwungen  für  die 
künstlerische  Einsicht  und  Besonnenheit,  mit  der  Uhland  das 
ihm  verliehene  Vermögen  nützte,  ohne  es  je  zu  mißbrauchen. 
Es  hat  sich  gezeigt,  wie  Uhland  einerseits  die  starken  Schwan- 
kungen der  Schaffensdisposition,  denen  er  unterworfen  war,  und 
deren  Bedingungen  wir,  freilich  in  unvollkommener  Weise,  auf 
die  Spur  zu  kommen  suchten,  mit  Fassung  ertrug,  und  wie  er 


—     118    — 

selbst  das  endgültige  Versiegen  der  poetischen  Kraft  mit  ruhiger 
Resignation  hinnahm;  wie  er  aber  anderseits  auch  geringfügige 
Anregungen,  die  ihm  das  Leben  bot,  wahrzunehmen  und  seinem 
Dichten  dienstbar  zu  machen  wußte.  Nur  diese  strenge  künst- 
lerische Selbstzucht  und  der  stete  innige  Zusammenhang  mit 
dem  Leben,  im  Verein  mit  einer  seltenen  Beherrschung  der  Form 
und  der  Sprache,  konnte,  bei  dem  doch  nicht  sehr  beträchtlichen 
Grad  der  Spontaneität  des  lyrischen  Dranges  und  der  Selbst- 
tätigkeit der  Phantasie,  Uhland  den  hohen  Platz  sichern,  den 
man  ihm  in  der  deutschen  Lyrik  nach  Goethe  einräumt. 


Kw-  11  •   II 


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