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Full text of "Max Müller und die Sprach-Philosophie"

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und die 


DPhilofophte. 


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Cudwig Uoire. 


Keine Sprache ohne Dernunft, 
feine Dernunft ohne Sprache. 
Yiar Niller. 


Mit dem Bilde Mar Miillers. 


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Derlag von Dictor v. Sabern. 
1879. 


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Library Presented 
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Yiar Whiller und die Sprachphilofophic. 


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War Whiller : 


und die 


Sprad-Philofophie. 


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Cudwig Moire. 


Keine Sprache ohne Dernunft, 
feine Dernunft ohne Sprache. 


Mar Miiller, 


Mit dem VBilde War Millers. 


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Derlag von Victor v. Sabern., 


1879. 


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Yorwort. 


Jn meinem Buche: ,,Der Urfprung der Sprache’ 
(2tain3 1877) habe ic) eine menue, nad) meiner 
Ueberzeugung endgiiltige Ldfung des gropen Problems, 
weldhes jugleid) die einzig mdglidye Form der Frage 
nad) dent Urfprunge des Wenfchen ijt, gegeben. 

Ich that dies, indem ich, wie es der Gegen- 
ftand erforderte, von der Uufjsahlung und hiftorifchen 
Entwidelung fowohl der friiheren Ldfungs - Derfuche 
als auch der neueren wiffenfhaftliden Leiftungen aus: 
ging, auf welche meine Cheorie fid) griindet, durd 
weldhe diefelbe erjt mdglid) geworden iff. 

jh habe dabei, wie id) nadmals gewahr 
wurde, den grofen Derdienften und bahnbrechenden 
Joeen War Willers in Feiner Weife Gerechtigfeit 
angedecihen laffen. 

Sobald id) meinen Jrrthum erfannte, beetlte ih 
mid), mein Derfdhulden wieder gut 3u madden durd 


Derdffentlidhung eines Uufjabes in einer deutfchen Revue 
(ord und Siid), in weldyem id) das suum cuique 
nad) beftent Wiffen und Ermeffen durdysuflihren mich 
redlich beniibhte. 

Die hohe Bedeutung und unermeflice Crag: 
weite der hier behandelten Fragen rechtfertigen es wohl, 
das id) diefen UWuffab in erweiterter Geftalt auch einem 


groferen Leferfreife sugdnglich 3u machen fudhte. 


Wainy, Witte War; 1879. 


Der Derfaffer. 


. Mar Willer und die Entwicelungslehre 


Snubalt, 


. Darwin und War Willer 


. Sprache und Vermurft 
. Mar Willer und das Problem des Urjprungs der 


Sprache 


. Weine eigene Cheorie vom Urjprunge der Sprache . 


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Darwin und Whar Willer. 


Der Gedanfe der Weltentwicelung, der grégte Gedantke, 
den nach meiner Weberzengung der Wenfchengeijt jemals qe- 
dacht hat, bewegt und erregt heute alle Geijter. WU den 
Namen Darwin fiiipfen fich machtiqe Gegenfage, die in 
leidenfchaftlichem Streite die Gemiither erhigen und nicht nur 
in wiffenfchaftlichen Spharen, fondern bis herab jum Cages- 
gefprach und in einer riefiq anmwachjenden Cagesliteratur aus- 
gefochten werden. Wie es frither fein wiffen{chaftliches Gebiet 
gab, das nicht in irgend einer Weife mit der religidjen Cra: 
dition und dem Firchlichen WUitoritdtsglauben in Conflict fam, 
fo Saf eine WAtseinanderfefung nit, eine Emancipation von 
diefen Wheaichten erfte Cebensbedinguig und Lebensthatigfeit 
der erwachenden und erjtarfenden Wiffenfchaften wurde, fo 
gibt es auch jegt Feine Domane des menfchlichen Wiffens, welche 
nicht thre hdchjten und leften Fragen mit dem Entwicelungs- 

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gedanfen in Derbindung ju fefen hatte, ja fich felbjt nur als 
einen Hweig oes grofen Baumes betrachten miifte, deffen 
Wurzeln im eine wunermefliche Vergangenheit fich hinabfenfen, 
wdhrend feine Krone it den weiten, Lichter Himmelsraum 
emporjtrebt und nit Bliithen fich fehnuict, deren SFriichte der- 
maleinft fpdtgeborenen Gefchlechtern reifen werden. Diefer 
machtige Baum ijt die Wijfen{chaft vom Wenjchen. 

Yur das Studimm feiner Dergangenheit vermag das grofe 
Rathfel ju [dfer, vermag dent Weijchengeifte AWuftldrung tiber 
fich felbjt und femme Stelling im Weltall 3u gewahren, damit 
zugleichh ihm einen Seitftern, einen Compa in das dunfle 
Reich der Sufunft anjueignen, der ihn vor den vielen vergeb- 
lichen Jrrfahrten und nublofen Kraftverjchwendungen der 
Vergangenheit bewahren wird. Seiner Siele bewufter, feiner 
Mittel gewiffer wird der Wenjch in feiner fiinftigen Entwicke- 
lung alles bis je&t Erreichte weit hinter fich Lafjen. Ja es ift 
wohl nicht 3u viel gejagt, daf nach AUblauf eciniger Jahrhun- 
derte die Wenfchheit auf unjer hoch aufgeflartes, verfeinertes 
und gebildetes Settalter als auf eine Periode der Barbarei 
wd Unuwifjenheit herabblicen diirfte. 

Der Gedanfe der Entwidelung ijt, wie fchon sfters be- 
merft wurde, Fein neuer. Seine Keime laffen fich juriicver- 
folgen bis 3u jenem anuserwahlten Dolfe, deffen Lichtgedanfen 
zuerft das Walten der Dernunft in Ser Schdpfung ju erFemten 
fih bemithten, bis ju den alteften griechijchen Philofophen, 
pon denen nantentlich der tieffinnige Rerafleitos, ,,der Duntle”, 
die Welt als cin ewiges Werden im Aufwartsitreben und 
Wiedergange (emt fo verftehe ich 7 o00¢ Gyvw xstw) anffafte 
wid die Schopenhauer-Darwirjche Lehre bereits vor 2400 


Jahren mit ihren eigenften Worten ausjprach: “Hpdxdercoc wey 


"ap avtxpne médewov Ovowaler matépm nat Baorhéa nat xbptov 
raytmy. Hak und Streit treibt j3ur Geburt, aus der Ent- 
zweinng entitehen alle Wefen, der Kampf um’s Dajein be- 


herrfcht die Welt, ift ihr Kebensprincip; nur in der exmbpwste, 


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der SFuriifverwandlung in die Urelemente des Feners (alf 
der Buddhijten und Schopenhauers WWirmina, Wegation des 
Willens) ift Uebereinftinmumg und Friede (Guoroyia xat eto7jyy). 
Aljo auch er verfante, wie Schopenhauer und Darwin, daf 
neben und liber dent Haffe, welcher Alles entzweit und fondert, 
das grofe Weltprincip, ans welchem jede nene Vervollfonmt- 
mug hervorgeht, die allmdchtige Liebe fteht, die Alles 
vereinigt und bindet, AUlles duldet und ertrdgt, Alles verjzetht 
und ausaleicht, Wes hingibt und opfert, auch das Leben — 
ja auch das Leben. 

Jn den Schriften der grofen Heroen unferer flaffifchen 
Citeratur tritt der Gedanfe der Entwicdelung mit bald mehr 
bald weniger beftimmter Scharfe oder bewufter Klarheit hervor. 
Sn feinen Vorlefungen iiber pragmatifche Unthropologie nahm 
Kant feinen AUnftand, die Abjtammumg des WMenfchen aus 
iiederen Stufen, alfo von thierifchen Wefen, als felbftverftandlich 
vorausjufefen. Der von den Joeen Spinozas erfiillte Geift 
Ceffings fonnte wimdglich andere Bahnen wandeln, als die 
ihm eine Erziehung des Wenjchengefchlechts mit natiirlichen 
Witte und Krafter zu ftets hdoherer Klarheit und Selbftan- 
digfeit offen liefen. Herders deen zur Philofophie der 
Gefchichte find eigentlich eine Sk3zze der Entwidelung der 
Menfhheit in allmahlicher, ftufemveife voranfchreitender Ver- 
vollfommniig; auch er widmet der FSrperlichen GegenfaglichFeit 
des Weenfehen su den TChieren eingehende und, foweit es das 
dSamalige Erfahrungswiffen erlaubte, veragleichende Vetrachtinntg ; 

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viel grdferes Gewicht aber legt er — und darin Fonte die 
heutigen Darwinifter gar Wanches von ihm L[ernen — auf 


das imntere Princip, die geiftige Entwiceluig, welche doch 
wohl auch die Rauptiache ijt, objchon fie — jeltfam gemig! — 
von der modsernen Defcendenzlehre faft ganz unbeachtet bleibt 
oder nur nebenher erwahnt wird. 

Befanntlich ift eine lebhafte Controverje iiber die Frage 
gefiihrt worden, ob die Dejcendenztheorie das Recht habe, 
Goethe ju den thriger ju z3ahlen und ob man ihn, wie 
Hace! thut, als einen der Begriinder der AWhftammungslehre 
anfithren diirfte, oder ob er vielmehr ett Anhanger der Cypen- 
theorie gewejen fet. ch mug geftehen, tch halte dies fiir einen 
miigfigen Streit. Die jugendliche Begeijterung, welche den 
8ijidhrigen Goethe ergriff, als er die Kunde vernahm, dag die 
Parijer Wademie den Cuvier- Geoffroyfchen Streit unter leb- 
hafter Betheiligung in derjelben Sett mit angehdrt hatte, da 
draugen die politifchen Kampfe der JuliRevolution tobter, 
xeigt, daf es fich fir thn nicht um wiffenjchaftliche Cheorten, 
jondern um den Sieg einer Weltanfchauimng handelte und zwar 
einer folchen, welche dem Geijte wieder Recdhnung trug und 
nicht nur der Waterie. Das Flingt allerdings, wo von Dar: 
winisnuts die Rede ift, hdchjt parador, aber mur fiir die Wehr- 
heit der Gedanfenlofen, welche jzwifchen WMaterialismus und 
dem um eine ganze Hinmmelsare verjchiedenen Wonisnms Femen 
Unterfehied ju machen wijjen. Ach fithre deshalb die tiefbe- 
deutfamen Aeugermngen Goethes felber an und zwar mit den 
Bemerfungen, welche Cazar Geiger*) an diefelben Fuiipfte: 
yrs die Tuli-Revolution ausbrach, und der trene Ecermann 


*) Sur Entwicelunagsgefchichte der Wenfebheit, Seite 114. 


jeinen Goethe in [ebhafter Erreaqung iiber die arofe Beaeben- 
heit fand, die ju Paris jftattagefiunden, und er von den Fehlern 
der geftiirzten Winifter ju reden beginnen wollte, da ermiderte 
Goethe: Cir fcheinen uns nicht ju verftehen; ich rede gar 
nicht von jenen Lenten, es handelt fich bet mir wm ganz andere 
Dinge. Ach rede von dem in der AWfadentie zum Sffentlichen 
Ausbrnch gefommenen, fiir die Wiffen{chaft fo hochft bederu- 
tenden Streit jwifchen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire. 
Yon mut an wird auch in Sranfreich bei der MWaturforfchung 
der Geiftherr{fhenund Herr feiniber die Materie. 
Wan wird VBlice in grofe Schdpfungsmarimen thun, in die 
geheinnifvolle Werfkftatt Gottes. Diejes Ereignif ijt fiir mich 
von unglanblichent Werthe und ich juble mit Recht liber den 
endlich erlebten Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet 
habe, und die ganz vorzliglich auch die meinige ijt.» Der 
Gedanfe, deffen Sieg Goethe damals im Geijte vor Unger 
jah, 3u dem Geoffroy de Saint-Hilaire fich befannte, der Ge- 
danfe der Weltentwidelung, er wird, ich jweifle nicht, 
weltbefreiend jeit, wie es jemals irgend einer der grogten 
weltgefchichtlichen Gedanfen gewefen ijt. Diefer Gedanke wird 
uns Sereinft Lehren, was der Menfch vor fich, von der Wenjch- 
heit, von der Matur ju ermarten und jn fordern hat.” 

Wer wie Schiller den Gattungscharafter des Menjchen 
in der §Freiheit findet, wer, wie er, Freiheit und Herr{chaft 
als die grofen Gegenftande der Wenfchheit bezeichnet, der Fann 
unmdglich die Ceitung und VBeeinfluffung des menjchlichen 
Willens durch einen wenn auch noch fo hoch, edel und rein 
gedachten angermen{chlichen Willer anerfennen. Daf der 
Wenjch fein cigener Schdpfer ift, das allein verleiht ihm Werth, 
Wiirde und Hoheit; jene Wadhtfiille, die ihm die Herrichaft 


liber unjeren Planeten erworben hat, fie Fann uns mu inter 
effiren, wenn fie das Ergebnig femmes etgenen Ringens ijt, 
nicht aber wenn fie ihm vom Glide, und muir als folches 
fonnte uns ja ein den Wenfchen vorjugsweife begiin{tigendes 
hdheres Wefen erfcheinen, in den Schof geworfen wurde. Das 
war fiir Schiller der wahre Kern und Anhalt der Univerjal- 
gefchichte, fie war ihm das Bild der ju ftets hoherer Sreiheit, 
Macht und SittlichFeit emporringenden Wenjchheit. 3n diefem 
Sime entwarf er eine geniale Sfizze derfelben m feiner Jenaer 
Antrittsrede, von welcher Carlyle fagte: ,, There perhaps has 
never been in Europe another course of history sketched 
out on principles so magnificent and philosophical.“* YWach- 
dem er das Bild der tiefiten Stufe urfpriinglicher Wildheit 
entrollt und diefent das glanjende Gemalde der gegenwartigen 
Cultur entgegengehalten, jagt er refumirend: 

/Welche entgegengefebte Gemadlde! Wer wird in dem 
verfeinerten Europder des achtjehnten Jahrhunderts nur einen 
fortgefchrittenen Bruder des nenern Kanadiers, des alten Celten 
vermuthenP Alle dieje Fertigfeiten, Hunfttriebe, Erfahriungen, 
alle diefe Schdpfungen der Vernunft jind im Rawme von 
wenigen Jahrtaufenden in dem Wenjchen angepflanzt und ent: 
wicelt worden; alle dicje Wunder der Kunft, diefe Riefenwerke 
des Fleifes find aus thm herausgerufen worden. Was weete 
jene 3unt Leben, was locte dieje heraus?P Welche Suftande 
Surchmanderte Ser Wenfch, bis er von jenem Aeuferften ju 
diejent Ueuferften, vom ungefelligen Héhlenbewohner jum geift- 
reichen Denfer, 3um gebildeten Weltmann emporjticq?P Die 
allgemeine Weltgefchichte gibt Antwort auf diefe Frage.” 

Die wenigen Jahrtaufende, von denen hier Schiller redet, 


geniigen heute auch dem Hiftorifer Ser Wenjchheit nicht mehr. 


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Die prahijtorifche Wiffenfchaft hat uns einen Blik in den 
Abgrund einer ungeheneren Vergangenheit hinabjenfen Lajjen, 
fiir welchen die Wagfitabe der jeitherigen Chronologie fo wenig 
ausreichen, als unjere irdijchen Wage fiir die Siriusmweiten. 
Se dunfler die Serne, defto Llanafamer war naturgemag der 
Sort{hritt. €s gab eine Seit, in welcher der Menjch ohne 
den Befi§f des Feuers war, ja es gab eine Seit, wo er noch 
nicht einmal die ecinfachften Werkseuge, die uns doch von feinem 
Beagriffe fo unjertrennlich fcheinen, bejaf, und dennoc) war 
er damals fchon Wenfch, denn er befagf — die Sprache. 

Da uns Semnach das Gebiet der eigentlichen Wenjch- 
heitsae(chichte, bis anf eine furze hellbeleuchtete Stree, noch 
in fo tiefes Dunfel gehillt ijt; da hier noch eine unermefliche 
Dorvergangenheit mit Rathfeln und tiefen Geheimnifjfen ange- 
fiillt, zu deren Ldjung nur wenige ftummte Seugen aus dem 
Scho§ der Erde hervortreten, dem Forfchergeijte als eine fchwer 
und muir allmdhlich 3 bewdltigende Aufgabe fich darbietet : 
was migt es, welchen Sinn hat es, die Frage fcheint wohl 
erlaubt, in fithnem Wagnifje jest fchon fogar iiber jene Grenjzen 
hinauszujchweifen und nach den Gliedern ju fragen, welche 
den Wenfchen als Gattung mit anderen Wefen, denen das 
charafteriftijch Wenfchliche, die Dernunft, fehlt, im einen gene- 
tifhen Sujammenhang ju bringen vermdgen. Und dennoch 
wird unjere Wigbegierde gerade durch diefe Frage auf’s mach- 
tigfte gereizt, dennoch ijt die Stellung diefer Frage, der hdchften, 
die es fiir uns gibt, denn fie betrifft die Wenfhwerdung, 
wiabweisbar; fie wird, wenn fie anch taujendmal als vor- 
wigfig und nicht 3u beantiworten abgemiefen wiirde, inumer 
wiederfehren und nicht eher j3ur Ruhe gelangen, bis fie thre 


Erldsjung in ihrer Beantwortung gefunden haben wird. 


Camards und Darwins Adee griindet fich auf die Ver- 
aleichung der unendlich jzahlretchen organijchen Sormen, von 
denen die Oberfldche unjeres Planeten erfillt ijt und welche 
alle tro& ungeheurer Derjchiedenheiten einen inneren Sujanm- 
menhang, eine Urt von Wefensaleichheit nicht verlengnen 
Founen. Schiller fagt von den wilden DYdlferftammen, deren 
Sitten und Lebensiveife durch die Entdeungsreijen der neueren 
Heit zur Kunde er europdifchen Wenfchheit gelangt find: ,,Es 
find Ddlferfchaften, die auf den mannichfaltigiten Stufen der 
Bildung um uns herumagelagert find, wie Hinder verfchicdenen 
Alters wm einen Erwachfenen herumjtehen, und durch ihr BVei- 
jpiel thn in Erinnerung bringen, was er felbft vormals ge- 
wefen und wovon er ausgegangen ift. Eine weife Hand fcheint 
uns diefe rohen YVdlferjtdmme bis auf den Seitpunft aufgefpart 
ju haben, wo wir in miferer cigenen Cultur weit genug wiirden 
vorangefchritten fei, um von diefer Entdedung eine niibliche 
aiwendung auf uns felbft 3 machen und den verlorenen Un: 
fang unferes Gefchlechts aus diefem Spiegel wiederherzuftellen.” . 
Was Schiller hier von der Wenfchheit innerhalb der Grenzen 
ihres Gattungsbegriffs fiir mdglich und wiin{chenswerth erflart, 
das Heute durch cine ungeheure Entwicelung der Vergangen 
heit ju begreifen und verftandlich ju machen, das dSehnt der 
Darwinismus auf den Wenjchen als legtes Gliecd ciner weit, 
weit grogeren und faft unabjehbaren Entwicelungsreihe aus, 
deren erftes Glicd in der rudimentariten Form des thierijchen 
Cebens, der fcheinbar ganz form: und ftructurlofen 2mdbe ju 
finden ware. Was Schiller von den culturlofen, primitiven 
Naturvilfern fagt, das wendet die Defcendenztheorie auf die 
vielfaltigen Geftalten des Chicrreichs an; es find die wahren 


Kindheitsformen unferes Gejchlechts, Puppenzujtdnde, Etappen, 


welche dasfelbe durchlanfen nnigte, ehe es jur menfechlichen 
Bildung und durch diefe zu fener heutigen Dollfommenheit ge: 


fangen fomnte. Ein geijtreicher Ffranjzofe redete von einer posterité 


contemporaine er bezeichnete damit das Urtheil des Ans: 


fandes itber die einheimifchen Literaturerzeuqnifje — man Fonte 
die ungeheure Wlannichfaltigfeit der thierifchen Lebewefen eine 
antiquité contemporaine nennen, idem hier die Matur felbft 
unjere embryonalen Urzujtande feftgehalten und in jahllofen 
Eremplaren ju nachdenfendem Veragleichen und ju ernjter Be- 
fimuimg auf unferen Urjprung um uns ausgebreitet hat. 

Bei aller UnerFemung es hohen wijjenfchaftlichen Werthes 
des Darwinismus — welchen ich hiermit ausdriiclich und 
nachdriidlich von der moniftifhen Entwidelungslehre 
gejondert und unterfchieden wiffen will — darf der philofophifche 
Denfer doch Feineswegs iiber defjen Schwachen, CLiicden und 
Einjeitigfeiten die Wugen verfchliefen. 

Wan hat oft mit Recht das ruhige und befonnene Vor: 
gehen Darwins, der als echter Maturforjcher jeine Conclufionen 
nicht eher 30g, als bis er ein gewaltiges, foragfaltig gefichtetes 
und gepriiftes Beobachtungsmaterial 3ur Hand hatte, rithmend 
hervorgehoben. Und es fcheint mir allerdings ein fehr gerecht- 
fertigtes Wnjinnen an die tapfere Schaar der unter feinen 
Sahnen fampfenden Waturforjcher, dag fie den Sak, der bei 
all ihren empirijchen Studien und theoretifchen Folgerungen 
ihnen als Upha und Omega, d. bh. als ftillichweigende Vor- 
ausfegung und Sielpuntt aller ihrer Anjtrengungen gilt: Natura 
non facit saltus, auch in ihrer Wethodif ftrenge einhalten und 
nicht eta durch leichtfertige Spriinge Dinge in Verbindung 
feBen oder aus einander herleiten, welche ecinjtweilen durch 


unermefliche WUbgriinde und Hliifte vow eintander getrennt find. 


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Die grdgfte Einfeitigfeit des heutigen Darwinismus [tegt 
darin, Saf er Ales aus Guferen Urjachen herzuleiten 
bemuiht ift und auf die inneren Eigenfchaften, wie es fcheint, 
wenig oder gar nicht achtet. Ach will dies durch ein Beifpiel 
erldutern. 

Wenn der Machweis geliefert werden fann, dag in den 
Polargegenden hauptfachlich weife Fiichfe vorfonmien, fo lieat 
eine Erfldrung diefer Erfcheinung aus Darwinjchen Principien 
jehr nahe. Die weige Sarbe ijt eine fchiigende mimicry in 
Schneeregionen, das Chier entgeht viel leichter den Wachftel- 
Iungen feiner natiirlichen Seinde, und ninmmt man an, dag 
diefelben Derhaltnijfe eine geniigende Seit fortdauern, fo lapt 
jich recht wohl beareifen, dag alle itbrigen farben ausfterben 
und nur noch weife Fitchfe brig bleiben. Jn diefem Falle ift 
nur von dugeren Urjachen die Rede; denn die Vervollfonnn- 
nung, die jchiigende AUnpafjung an die gegebenen Verhaltniffe 
ift Lediglich das Refultat einer YAuslefe, dic unr durch den 
Swang eben diefer VDerhaltnijfe vollzogen wird. Der Wille, 
die imere Eigenjchaft des Chieres, Fommt dabei gar nicht in 
BVetracht. Hier behalt aljo der Darwinisnms Recht, wenn er 
{chon, um gan3 ehrlich 3u verfahren, eingejtehen miifte, dap 
das Wort, womit er auch diefe Chatjache erfldrt, das Wort 
Yererbung namlich, felber noch ein ungeldjtes Rathfel oder 
eben nur — cin Wort ift. 

Wie ganz anders aber verhadlt es jichh, wo das Chier 
den ihm von allen Seiten drohenden Gefahren dadurch entgeht, 
daz feine imere Eigenjchaft, fet es mm, nach menjchlichen 
Beariffen, Lift, Schlauheit, Vorficht, oder eine Verfeinerung 
jeiner Wahrnehnumagsorgane oder was immer, eben durch die 
fortaefebte Uebung im Begegnen und Vermeiden jener Gefahren 


\ 


fich beftandig erhdhen, wo demmnach eine jualeich piychifche und 
phyjijche — beides ift ja untrennbar — Dervollfomnuuuig 
durch den Willen, die ecigene AUnftrengung, den energifchen 
Crich der Selbjthehauptung und Selbjterhaltung in allmablichem, 
durch die Generationsfolge augerordentlich gefteigertem Wachs- 
thum erreicht wird! 

Dit von diefen beiden Fallen nicht der erftere einem 
Gefchenfe des Hufalls, alfo etwa dem Gewinnfte bet emem 
Cotteriefpiele, der leBtere aber dem in faurer Urbeit errungenen 
Dermdgen aleichzuftellen? Wer in dem lebteren Falle nur 
von dugeren, rein mechanifchen Urjachen redet, der hat das 
grofe Problem der Entwicelungslehre Faum geahnt , gefchweige 
denn ecingefehen; er hat aber ficherlich in philojophijchen Dingen 
fein Recht mitzureden. 

Die Verwechfelung der adugeren und inmmeren Eigenfchaft 
der Dinge, der Arralaube, dafG aus fdrperlichen Sormen 
Geiftiges, Bewuftes hergeleitet werden forne, hat den Dar- 
winismus verhindert, eine ernfte philojophijche Priifung feimer 
wahren Grundlagen, jfeiner metaphyfifchen Dorausfefungen 
anzuftellen; diefe mangelnde Kritif ijt aber fiir ihn verhang- 
nifvoll geworden, indent er dadurch ju den gewaagteften Folge- 
rungen, dem leichtferfiaften Ueberjpringen ungeheuerer Ubgriinde, 
der Deraleihung und canfalen Sujammenjtellung durchaus 
heterogener, fich jeder Deraleichung entzichender Verhaltniffe 
gelanat ijt. 

Wenn das Reich Ser Cebewejen von der organifirten 
Selle hergeleitet, diefe Chatjache aber in héchjt cavalierer Weife 
etwa folgendermafen eingefchmwar3t wird: Accordez - nous 
seulement ce petit bout, nous en déduirons le reste, fo 


verrdth ein folches Dorgehen cine ebenfo volljtandige naive 


{2 


Unfenntnif der Groge und Schwierigfeit, wie anch des wahren 
Kernpunttes des Problems, als wenn Sir W. Chomfon und 
fein Schitler Helmholg die Keime des organifchen Lebens durch 
Weteoriten aus fernen Weltfrpern anf unfere Erde gelangen 
laffen, oder Hacel in dem Kohlenjftoff den eigentlichen Crager 
des Lebens vermuthet. Jn lefterem haben wir wieder ein 
recht [chrreiches Beijpiel moderner Wythologie, nomina werden 
numina. 

Sit es denn wirklich fo fchwer einzufehen, daf die Waterie 
als folche unmdglichh Ausgangspunft der theoretifchen Anjf- 
faffung der Welt fein Fann, dag% ihr Begriff mw das Secunddre 
in unjerer Erfenntnif bildet, daf das unmittelbar Gewilfe 
mehr das Bewnftfein, die Empfindung, der Wille iftP 

Wann wird endlich einmal die Wahrheit fich Bahn 
brechen, dag der Chemifer, wen er uns jeigt, wie Saner- 


ftoff und Wafferitoff, Sdure und Bafis aufeinander Losftiirzen 


viel- 


und fic) verbinden, mit diefem Dorgange etwas uns durchaus 
Unbegreifliches vorgefihrt hat, fofern wir ihn als einen 
rei mechanijchen Procegf betrachten wollten, daf wir dagegen, 
jobald wir ihn mit analogen Dorgdngen in uns, 3. B. dem 
Voodiirfniffe des AUthmens, der Wahrungsaufnahme 2c. Wentt- 
ficiren, alsbald ein unmittelbares Derftandnif dafiir gemnmen, 
da eben die Empfindung, der Crieb, der Wille, diefe jeelijchen 
Eigenfchaften, fiir uns das Befanntefte anf der Welt find? 
Nock gewaltiger ijt der Arrthum, die Selbfttaujchung 
der Darwinifter, wenn fie den Wenjchen, das ewige Rathfel 
der Sphinx, das grdépte Geheimnif des Weltalls, theils aus 
duperen 0. h. negativen Urjachen, theils aus fomatijchen 
Sactoren erfldren ju wollen fich vermeffen. Love’s labour 


lost und Much ado about nothing! fanm man den Wnthro- 


Jo 


pologen jurufen, welche eben je&t wieder nit Ameijenthatigfeit 
und Lautem Cdrnt die Welt erfillen und aus Schadelmeffiuigen, 
Gehirmnmindungen, blanen oder braunen AWngen, jfchwarzen 
oder blonden pasatih tiefe Weisheit und hdchjt werthvolle 
Wufflarungen ju Cage ju fordern wahnen. Das ganze Creiben 
wird endlich an jemem eigenen Ercef ju Grunde gehen und 
bei den Machgeborenen hdchftens ein Cacheln itber das jchretende 
WMigverhaltnigz der anfgebotenen Wittel ju den erzielten Reful- 
tater ermecen. 

Noch weniger aber ijt die Kluft, welche den WMenfchen 
vom Chiere trennt, mit folchen phyfiologijchen Hiinften, wie 
etwa Brachycephalie und Wafrocephalie oder mit willFiir- 
lichen Claffificationen wie homo alalus — eine Begriffsver- 
bindung, die lebhaft an das Xylofideron oder Hdlzerne Eijen 
ertitert — oder auc) durch den UMachweis, dafR der ganze 
Korperbau des Wleenjchen durchaus Fein fpecififches anatomijch- 
unterfcheidendes Kenrgeichen von dem Kdrperbau des CThieres 
anfweift, auszufiillen. Das legtere Argument namentlich [apt 
jich direct gegen die Cheorie des Darwinismus verwerthen. 
Die Conclujion liegt wenigftens nahe, daf, wenn denn gar 
Fein Forperlicher Unterfchied jwijchen Wenfch und Chier vor- 
handen ijt, bei der notorijchen uigehenren Ueberlegenheit des 
erfteren iiber das legtere, doch nothwendig eine andere Ur: 
jache Ddiejer Ueberlegenheit vorhanden fein miiiffe, und dies 
wilrde uns direct wieder ju der Wmahme einer felbjtandigen, 


vom Kédrper unabhdngigen Subjtanz, der menfehlichen Seele, 


Hier habe ich mim der Stellung, welche Profeffor War 
Willer dent Darwinisnms gegenitber eingenonmen und bis 


heute ettgebalten hat, 3u gedenfen. Befanntlich haben alle 
‘ \ \ / d ‘ / 


\4 


welche mit mehr oder weniger Gefchit und groferer oder 
geringerer Unfrichtigfeit gegen dic Darwin jche Theorie qe: 
{chrieben und geredet haben, den Mlamen War Willer in erfter 
Cinie als ein gewaltiges Bollwerf, als ein fhlagendes Argument 
vorgejchoben und fich hinter demfjelben verfchanzend ihre eigenen 
jhwachen Gefchoffe gegen den grogen Unrubhftifter abgejanodt. 
Daran thaten jie in gewijfem Sinne wohl, dem es ijt anch 
ineine fefte Ueberzengung, dag von allen, die bis jebt in die 2rena 
getreten find, War Willer der einzige gewadhjene, 
ja tiberlegene Gegner Darwins if. 

yu dem Wenjchen liegt ei Etwas, eine qualitas occulta, 
wemt man jo will, das ihn von allen Chieren ansnahmslos 
jondert. Diefes Etwas nennen wir Vernunft, wenn wir es 
als innere Wirffamfeit denfen, wir nemnen es Sprache, 
jobald wir es als engeres, als Erjcheimmg gewahren und 
auffajjen. Keine Dernunft ohne Sprache, feine Sprache ohne 
Deriminft. Die Sprache ijt der Rubicon, welcher das Thier 
voi Wenjchen fcheidet, welchen fein Chier jemals iiberjchreiten 
wird. ch bin itberzeugt, dag die Sprachwiffenfchaft uns allein 
nod) in den Stand fegen wird, dem Vordringen der Darwi 
nijten ett Halt juzurufen und die Greingze feftzuftellen, welche 
Chier und Wenjch umwiderruflic) trenmen. Wan verjuche es 
und bringe den intelligenteften UWfen im menfchliche Pflege und 
Cehre, er wird nicht fprechen, er wird Chier bleiben, wahrend 
das rohefte Wenjchenfind aus dem wildejten Stamme in menjch- 
lichent Umagange frithzeitig dtejes Charafterifticum der Wenfeh- 
heit fich ancignen wird.” 

Wit diefen gewichtigen WArgumenten und Ausifpriichen 
tellte fic) der unerjfchrocene Wlamt vor de verlaffene und 


; 
jchettbar durd) die von allen Seiten andringenden wiithenden 


5 


Anariffe der Darwinijter bis im die Ciefen erfchiitterte Grenj- 
mauer wid jaate entifchloffer: 

/hier ijt Dermmft, hier Sprache, hier der WMenfeh. 
Keiner von Euch joll mir hier heriiberfommen, Keiner in das 
Heiligthum cindringen, went er mir nicht juwor erfldren Fann, 
wie Vermuift, wie Sprache entftandern ijt.” 

Yud die mit lantem Hurrah vorandringenden Aagreifer 


verftunmmten, det fie hatten Feine Antwort. 


I. 


Mar Willer und die Entwicelungslehre. 


Wenn ich gejagt habe, War Willer fei der einjzige tiber- 
legene Gegner Darwins, jo wollte th damit Feineswegs jagen, 
dagZ er cin Gegner der Entwicelungslehre fei. Bch fheide 
vielmehr, wie ich fchon angedentet habe, ansdritdltch jwijchen 
Darwinismus und monijtijcher Entwicelungstheorie. 

4n feinen, fonft vortrefflichen und durch ftrahlende Klar: 
heit wie durd) Ciefe der Gedanfen gleich ausgejetchneten Dor- 
lefungen iiber Darwin fteht allerdings cin von ihm i’s Treffen 
gefiihrtes Argument, die Alternative namlich: ,,Entweder hat 
Kant Recht oder Darwin; einer fchlieft den andern aus” nicht 
auf feften Sigen. Dem Kant feste wohl die Vermmft als 
das wunmittelbar Gegebene, als die nothwendige munanzwertfel- 
bare Bajis aller Erfenntnif voraus, der Schlu§ lag alfo nahe, 
daf er fie als cine nicht weiter herzuleitende, dem Wenjchen 
durch gdttliche Snfluenz als befondere Gabe jugefallene Eigen 
fchaft anerfemme. Uber an vielen Stellen fener Schriften lagt 
Kant deutlich durchblicken, daf die menfchliche Dermunft richt 
von Ewigfeit vorhanden fei, das fie demnach wohl auch aus 


nativlichen Urfachen, durch das Sujammenwirfen natiivlicher 


\? 


Krafte entftanden gedacht werden Foime. Wenn er den Unter- 
fchicd 3wifchen ,,receptiver Sinnlichfeit” und ,,Spontaneitat des 
Denfens” anfftellt, wonach Thierleben und menjchliche Dermunft 
it zwei Surchaus gefonderte Lager gefchieden erfchemen, fo 
nahmt er einestheils, wie Schopenhauer nachgewiejen hat, dte 
Sache viel ju leicht, anderentheils geftand er ausdriiclich ju, 
dag wohl beide, Sinmlichfeit und Denfen, durch deren Sufjam- 
menmirfen alle Erfenntnif fich vollzieht, aus einer gemeinjamen 
Wurzel hervorgewachfen fein diirften. 

Dennod war der Hinweis anf Kant fehr berechtiat, 
namentlich in einem Lande wie England, fiir welches die grof- 
artigen Entdefungen des Derfaffers der ,,Kritif der reinen Ver- 
nunft” faft vollftandig terra incognita find. Dasjelbe gilt freilich 

Nanch fiir viele, ja die meiften Dertreter des Darwinismms in 
Deutfchland, denen von Kant nur das befannt ju fein fcheint, 
was in ihren Kram pagt, alfo 3. B. die Cheorie von der 
Entftehuig oes Weltgebdudes, die unter dem Mamen Kant: 
Caplacefche Kosmogonie fchon in den WMittelfchulen gelehrt wird. 
Die wichtige Chatfache, dagf bei Cebzeiten Hants und fo lange 
die Spuren feines Geiftes noch bet den Lehrern der Philofophie 
wirffam waren, der Waterialismus nicht wagte, den Whmd 
aufzuthun, wird meift iiberfehen oder ignorirt. 

Die Dermunft, jene nur dem Wenfchen ecigene, ihn von 
allen iibrigen Wefen unterfcheidende und ausjzeichnende Gabe, 
iit Quell und Aisgangspunft aller Erfenntnigf, fagt Kant, und 
ihm fchlieft fich Mar Willer an, indem er hinjufiigt: fie it 
dem Wenfchen verliehen jugleic) mit der Gabe der Sprache. 
Ratio et oratio, beide find Eins, fie verhalten fich wie KSrper 
und Geift, wie Aeugeres und Anneres; fie find wohl wunter- 


{heidbar, aber nicht fcheidbar. Ohne Sprache fein Denfen; 


° 
~ 


18 


as fiiblten die Griechen, da fie fiir beides das ndmliche Wort 
6 =a anwandten. Die Sprache ijt darum der getrenefte 
Spiegel des Menfchengeiftes ; in thr [teat eine Fille von Weis- 
heit, von héchft wichtigen Auffladrungen fowohl itber die geiftigen 
Huftande der Vorwelt als iiber dugere Culturverhaltnifje der 
Menfhheit nt cinent grauen Altertham, vow welchem font 
jede Spur erlojfchen iff, verborgen; es gilt nur den Schag& aus 
der Cruhe su heben, der Schliiffel Oajzu ijt die vergleichende 
Sprachwiffenjchaft. Kein Preis, fein Rihmen fann fich ju der 
Hdhe der Wichtigfeit der leBteren anfichwingen. ,,WMit gerech- 
tem Stolze diirfen wir es fagen, dag wdadhrend oer lebten 
hundert und noch mehr wahrend der leften fitnfzig Jahre die 
orientalijchen Studien mehr als irgend cin Sweig wiffenfchaft- 
licher Sorfchung dazu beigetragen haben, die geiftige Utmofphare 
Europas ju verandern, 3u reinigen und ju durchleuchten, und 
unferen Horizont ju ermeitern in Bejug auf Ales, mwas jur 
Wiffenfchaft des WMenfchen gehdsrt, in Bezug anf Gejchichte, 
Philologie, KTheologie und Philofophic. WWicht nur haben wir 
nene Welten erobert und dent alten Gebicte der Wiffenfchaft 
hinzugefiigt, jondern wir haben die alte Welt durchjduert mit 
deen, die fchon in dem taglichen Brod der Sdyulen und Unt 
verjitaten gdhren.” *) 

,itan fehe mir ju, was die Meifter der Sprachvergleich- 
ung geleiftet haben! Der Orient, das alte Cand der Craume, 
Sabelu und Seen, ift cin Land von ungweifelbarer Wirflichfeit 
geworden; der Vorhang jzwifchen Oft und Weft ijt geliiftet 
und unjere alte vergefjene RHeimath fteht wieder vor uns in 


hellen Sarben und fcharfen Umvifjen. Swei Welten, Bahr: 


*) M. Miller, Chips of a german workshop. Vol. IV, p, 822, 


\9 


taujende getrennt, find wie durch cin Sauberwort wieder ver: 
einigt und wir fiihlen uns reich in einer Dergangenheit, welche 
wohl der Stolz der edlen Arijchen Familie fein mag. AWicht 
flanger fagen wir nur unbeftinmt und dichterifch: Ex Oriente 
Lux, fondern wir wiffer, dag alle Lebenselemente unferes 
Wijfens und unjerer Civilifation — unfere Sprachen, Alpha- 
bete, Siffern, unjere Wage und Gewichte, unfere Kuintft, 
Religion, unfere Craditionen bis auf unjere 2Wnmenmarchen 
aus dem Often ftanmmen; ja wir niiffen befernnen, daz ohne 
die Strahlen des Sftlichen Cichts, welche die verborgenen Keime 
des Sunfelt und sden Weftens zum Leben hervorlodten, Europa, 
jebt die wahre Leuchte der pie wohl fir immer ein unfricht- 
bares, vergefjenecs Doraebirge des urweltlichen afiatijchen Con- 
tinents geblieben ware. Wir [eben in der Chat im einer neuen 
Welt; dic Schranfe jwifchen Oft und Weft, die uniiberfteiglich 
{chien, itt gefchwiunden. Der Orient gehdrt uns, wir find feine 
Erben und beanjpruchen mit vollem Rechte unferen Untheil an 
jeiner Derlafjen{chaft.” 

/Wie einft durch die geiftige Berithrung der barbarijchen 
nordifchen Wationen mit der reichen, fonnigen Culturwelt Griechen- 
lands und Roms deuticher und Flafjifcher Geijt fich vereinigten 
und jenen Strom des modernen Gedanfens bildeten, an dejfen 
Ufern wir felber [eben und weben, fo walzt fich mum ein nener 
madchtiger Strom orientalijher Denfweife it das namliche Bett 
und fhhon zeigen die Farben des alten Stroms deutlich die 
Eimwirfungen des nenen Sufluffes. Wer int irgend eins der 
bedentenderen Werfe, die in den LeBten Zwarzig Jahren 
verdffentlicht worden find, hineinblidt, ob fie mm Sprache 
oder Literatur, Wythologie, Presi Religion oder Philofophie 


betreffen, der wird auf jeder Seite das Walten eines newen 
* 


Geiftes erfeunen. Bch will nicht fagen, Saf der Orient uns 
Neues [ehrt, aber er entfaltet vor uns alte Dinge, 
auswelchen wir Lehren und Erfenntnifje fhdpfen, 
die wiunderbarerunderftaunlicher find, alsirgend 
etwas, das wir je inunferer Philofophic gedsaht 


4 


und getrdumt haben. 

, dor Ulent hat das Studuun des Ojtens wns gelehrt, was 
auch die nordifchen Wationen einft mm Rom und Athen lernten, 
dag es noch aivdere Welten gibt auger der unjrigen, dap es 
noch andere Reltgionen, Wythologien, Gejege gibt, und daf 
dic Gejchichte der Philofophie vou Chales bis Hegel nicht die 
gaye Gelchichte des menfehlichen Denes ijt. Jn all diefen 
Gegenftaiden hat der Orient wis Parallelen geltefert mit allem, 
was it Parallelen gegeben it, ndmlich der Wo0salichfeit des 
Dergleichens, Weffens wid Verjtehens. Der Geift der Ver: 
aleichung ijt der wahre wijjenfchafiliche Geift unferes Jahr: 
hiuderts, vielmehr aller Seitalter. Eine empirijfche Heuntnig 
der Chatjachen ift Feine Wijfenfchaft in dem wahren Sime 
des Wortes. Alles menfchliche Wijfen beginnt mit der Fwei, 
der Dyade, dem VBegreifen zrocier Ennyzelwejen als Eines. Ein 
engelnes Ereignif mag rein jufdllig fein, es Fommt und geht, 
es it unerfldrlich,; jobald fich aber das Ereignif wiederholt, 
beguint das Werk der Vergleichung und der erjte Schritt wird 
gethan in jenem wiunderbaren Procefje, welchen wir Genera: 
lijiren nemmen wid welcher die Wurzel aller intellectuellen Er- 
Femitiig und aller intellectuellen Sprache ift. Der urjpriingliche 
Proce§ der Vergleichung wird wieder und wieder erneut, und 
weit wir mut Ser hochften Art der Erfenntnif in allen Spharen 
der Wiffenfchaft den Wamen vergletchend geben, fo haben wir 


nur das alte Wort intelligent (inter-legens, inter-ligans), 


aI 


zufanmienbindend, durch cin nenes, ansdrucsvolleres Wort 
erfebt. Dor Ulent aber hat das Studium oer Sprachen 
durch die comparative Wethode eine vollftandige Unalgung 
erfahren.” 

Wie das Griechifche die Sprache der WMenjchheit des 
fiinfzehnten Jahrhunderts und fener Machfolger bis zum acht- 
xehuten, bis Leffing, Goethe und Schiller, gewejen ift, fo ift 
das Sanffrit die Weltiprache des neunjehnten Jahrhunderts 
und feiner Fiinftigen Machfolger. 

»chatiache ift, daf die Seit noch nicht gefonmmen ijt, in 
welcher die ungeheure Wichtigfeit der Sanjfritphilologie allge- 
meine Wiirdigunig firdet. Es war einft mit der griechijchen 
Philologie nicht anders. Us im fiinfzehntert Jahrhundert das 
Griechifche von hervorragenden Geiftern ftudirt wurde, hielt 
man die Sache fitr eine literarifche Curiofitat; weitere Un- 
fpriiche begegneten [ebhafter Opypofition, ja felbjt dem Hohne, 
am fauteften fchricen dic, welche am weniagiten davon verftan- 
den. Selbjt als dies Studinm fich verallgemeinerte, an Schulen 
und Univerfitdten eingefiithrt wurde, hatte es in den WUigen 
der Webrz3ahf nur ein gelehrtes Antereffe. Deht wijffen wir, 
dag das Wiederaufleben griechifcher Gelchrjamfeit die ttefjten 
Cebenswurzeln der Wenfchheit beriithrte; daf es in der Chat 
das Wiederanfleben jenes Bewuftfeins war, das grofe Cherle 
der Weenfchheit mit einander verbindet, dic LKebenden in HSu- 
jammenhang bringt mit den Todten wid jo den Folaegefchlechtern 
die ganze intellectuelle Erbjchaft unfjeres Gejchlechts fichert. 
Ohne diejes hiftorifche Bewnptfein ware das Ceben des Wenjchen 
ephemer und richtig. Je weiter wir rittwdrts fehen, uns 
felbjt in wahre Sympathie mit der Vergangenheit verjegfen, 


um fo mehr machen wir das Leben fritherer Generationen ju 


unjerent eigenen, wim fo fahiger werden wir, an unjerem Theile 
das Werk fortzufejen, das vor vielen Jahrhunderten in Athen 
und Rom begomnen wurde. Einen weit, weit grdéferen Ein- 
flug, als die Entdeung der Flaffifchen Welt wird die des 
Sanffrit ausiiben. Sie wird die jerriffenen FSafern wiederbe- 
leben, die einft die fddftlichen Sweige der AUrifchen familie 
nut den nordweftlichen verfniipften, und wird fo die geijtige Ge- 
fchwifterfchaft nicht mur der germanifchhen, griechifchen und 
romifchen, fondern jugleich der flavifchen, celtijchen, indifchen 
und perfifchen Sweige wiederher{tellen. Sie wird den Geift 
des Wenjchen reicher, fein Herz weiter, feine Sympathien welt: 
wunfafjender machen; fie wird uns in Wahrheit humaniores 
machen, da wir immer tiefer und vollftandiger begreifen werden, 
was die Wenjchheit gewejen ijt und was fie fein wird. Dies 
ift Ser wahre Sinn der umfaffenden Studien des nemyehnten 
Sahrhunderts, und obgleich die volle Wiirdigung ibrer Be: 
deutung erft der Sufunft vorbehalten bleibt, fo fann es doch 
Keinem, der anfmerfjam den intellectuellen Fortfchritt der 
WMenfchheit verfolgt, verborgen bleiben, wie ungemein fchon 
jeBt das veragleichende Studinm der Sprachen, Wythologien 
und Religionen unferen Horizont erweitert hat, daf unendlich 
VDieles, das verloren war, wiedergewornen ift und dag eine 
nene Welt wenn noch nicht erobert, doc) in Sicht ijt. *) 

Und was ift es denn, was dem ernjten Forfcher, dem 
ausdanernden WUrbeiter mt den mithfeliq erbohrten Schachten 
der Sprachiwiffenfchaft auf cimmal fo das Herz bewegt, daf 
er in dichterijcher Begeifternng, gleich Wofen von den Hdhen 


hinausfhauend in das Cand der Verheifung, HKindern und 


*) M, Miller, Chips IV, p. 361. 


235 


Kindesfindern das Herannahen ciner neuen, herrlichen, unge- 
ahnten Geiftesflarheit FiindetP Was macht thn fo jum new 
inspired prophet? Dies, daf er bewng§t ijt, dag mit diefen 
nen erfchlojjenen Schagen, von denen er felbjt einen grofen, 
wenn nicht den arégeren Cheil in lanajahrigem, redlichem Ringen 
aus der aed ae es der Wenfichheit vergsimmt fem wird, 
,den verlorenen Unfang unjeres Gefdhlechtes wiederherzuftellen,” 
die Kette, welche Glicd um Glied, Jahrhundert um Jahrhun- 
dert unjer heutiges Dafein mit langft erlofchenen Generationen 
verbindet, auf eine gewaltige Streke aus dem Dujt und Ge- 
rofl, das Jahrtaufende itber fie gelagert, an’s Cageslicht ju 
heben, und nene iiberrafchende Wuffladrung ju erlangen uber 
das grépte Rathjel der Welt, den Menjchengeijt, das Wenjden- 
gefchlecht und fein in jeiner Urt einzig wunderbar verfchhiuigenes 
Schickjal auf unjerem Planeten. 

Die gewaltigen VDerdienjte War Willers um die Heraus- 
gabe der Vedas find 3u befannt, als dag ich fie hier ju er- 
[dutern hatte. 2m 14. Septentber [874 legte er dem in London 
tagenden Congrefje der Orientalijten den lester Bogen des 
,/2ig-Deda mit dem Commentar des Sayanafarya” vor, nur 
fur3 andeutend, welch miihevoller Arbeit Frucht dies riefige 
Werf gewejen. Er jelber fagte iiber diefes altefte Buch der 
arifhen Welt: ,Die Rerausgabe diefes Werfes ware ohne 
die erleuchtete Liberalitat der Jndijchen Regierung unmdalich 
gewejen. Wenn ich die grofen und Fleineren Auisgaben des 
Rig-Veda zufammen rechne, fo fide ich, dag ich in den LeGten 
fiinfundjwanzig Jahren fo viel gedrudt habe, dag auf jedes 
Jahr ein Octav- Band von etwa jechshundert Seiten fommt. 
Solch eine Publication hatte jeden Buchhandler ruinirt, um fo 


mehr, da in dem Veda wenig Unjiehendes, wenig allgemeineres 


Suterefje Erwedendes ijt. Vom Aafthetifchen Gefichtspunfte 
wilirde fich Wiemand an die DedJa-Hynmen machen und nichts 
beweijt mehr den gewaltigen Umjchwung der leften fiinfund-- 
xwanzig Jahre, als daff feit diefer Seit die Arbeit faft aller 
Sanjfrit - Gelehrten fich anf die Deden concentrirt hat; das 
afthetifche Jntereffe ijt dem wiffenfchaftlichen gewichen .. . 
2lls ich vor einigen Jahren den erjten Bayd meiner Ueber- 
fefung verdffentlichte, wahlte ich abfichtlich jolche Hymmnen, die 
hochft charafteriftifch fiir den primitiven, rohen Urjzuftand der 
arifchen Welt find; es war intereffant, dabei die allgemeine 
Enttaujchung ju beobachten. Was, fagte man, find diefe felt- 
famen, wilden, grotesfen Unrufungen der Sturmagdstter die be- 
geifterten Kladnge der alten Weifen JndiensP Aft dies die 
Weisheit des OrientsP Ait dies die Offenbarnng der Urwelt? 
Selbjt hochangefehene Gelehrten ftimmten in diefen Ruf, und 
meine Sreunde gaben mir ju verftehen, dag fie thr Leben nicht 
an ein folches Buch verjchwendet haben wiirden.” 

,youm, gefebt, ein Geologe brdachte die HKnochen eines 
foffilen Chiers aus ciner Periode, in der noch nie Spuren ani- 
malijchen Lebens vorher entdect worden waren, an’s Cages: 
liht, wiirde wohl cine junge Dame es wagen 3u Fritifiren: 
«Ja, diejfe Knochen find fehr merfwiirdig, aber gar nicht hiibjch.» 
Oder gefebt, eine nene dgyptifche Statue ware entdedt wor- 
den, die einer bis dahin noch nicht durch Statuen vertretenen 
Dynaftie angehdrte, witrde wohl em Schuljunge fich einfallen 
laffen 3u bemerfen: «Ja, fie ift recht nett, aber die Denus 
von Wilo iff netter.» Wenn ein Chemifer ein nenes Element 
entdect, wird er bemitleidet, dag es Fein Gold iftP Wenn ein 
VBotanifer itber Keime fchreibt, hat er fich ju vertheidigen, 


dagf er nicht ither Bhimen fchreibtP Gerade weil der Veda 


to 
ol 


fo verfchicden iff von dem, mas man davon erwartete, weil 
er von den Pjalmen, von Pindar, von Bhagavadgita fo fehr 
unterfchieden ift; gerade weil er fir fich allein fteht und nur 
die alteften Ketme des religidjen Gedanfens enthiillt, fo wie fie 
wirflich waren; gerade weil er uns eine Sprache vorfihrt, 
die alter und urfpriinglicher ijt, als irgend eine, die wir friiher 
Fannten; weil feine Poefie das tft, was man wild, roh, unge- 
bildet, formlos nennen mag, gerade darum verlohnte es der 
Wiihe, tiefer und tiefer 53u graben, bis die alte verfchiittete 
Stadt wieder an’s Cageslicht fam und uns 3eigte, was der 
Wenfh war, was wir waren, bevor wir anf die Hohe 
Davids, Homers, Soroafters ie tes uns jzeigte eben die 
Wiege unferes Denfens, unferer Worte, unferes 
Chins.” 

Jch branche wohl diefen Worten nichts hinzuzufiigen, um 
darjuthun, Saf die Entwicelungsgefchichte der MWenfchheit von 
ihren erjten, fchwanfenden Schritten bis 3u ihrer felbjtgewijfen 
Wannlichfeit das hohe vies die Zu raftlofer, unermidlicher 

Chatigfeit anfpornende Unfgabe fiir einen von der Matur und 
dem Glide fo reich ausgeftatteten Geift, wie War Willer, 


gewefen ijt. Tur fchante fein grofes, weitblidendes Ange in 
den Ticfe unermegflicher Vergangenheit noch die Spuren des 
Menjchlichen, wo fir fchwdchere Angen Ales in unterfchied- 

fofen Webel j3ufammenrann und eben darum die Grenslinie 
xwifchen Chier und Wenfch gar nicht mehr vorhanden fchien. 


Die Wichtigfeit des Gegenftandes erlaubt es wohl, das 


J 


ih hier noch einige Stellen anfithre, in denen cin Geiftesver- 
wandter Willers, welcher anf grofentheils unabhdngigen 
Wegen ju denfelben Refultaten und Anjchauungen gelanate, 


mit faft gleichlautenden Worten feiner Bewwndernng iiber 


26 


das nen aufgehende Licht Ausdruc verlich. Ach meine Lazar 
Geiger. 

ydas Studium dser Sprachen,“ jaagt diefer bedeutende 
Denfer*), ijt in unferer Seit ju einer unveraleichlichen philo- 
fophifchen Bedentung gelangt, indem es fiir eine Seite der 
Welt und des Dafeins einen Schliiffel bietet, ju welcher die 
Naturwiffenfchaft nicht ju dringen vermocht hatte, und uns 
aluff(chiug gibt ber das, was wir find und was wir ge 
wefen find, iiber unfere Dermimft und unfere Gebhichte Zee 
Der Blick fchweift ahnend in ungemeffene Schdpfungsfernen, 
und es begtint jenes grogfe Geheimnif dunfel fich unjerer 
Brujt ju verfiinden, das Geheinmif unjerer Entwicelhing.“ 

,Die §Srage, wie die Phantafie der Vdlfer befchaffen, 
von welchen Wotiven fie beherrfcht gewefen fein mug, als die 
Perjer dice Hunde mit jo dnaftlichher Soragfalt pflegten, die 
alegypter den heiligen ecinbaljamirten Ceichen des Apis ju 
Memphis Griifte bauten, die 64 Generationen derfelben bergen, 
ijt uns fo wichtig, dag wir weife Lehren, an denen es uns ja 
jonft Faunt fehit, wenn wir fie mr hdren wollen, aus jenen 
Cagen gern entbehren. Es erinmert dies an eine von Mayr 
Willer mitgetheilte MWotiz, den fiir uns wichtigften Theil der 
Sanfjfritliteratur, die Dedajchriften, betreffend. Als ein talent: 
voller junger Deutfcher, der in jugendlichem Alter verftorbene 
Rofen, im der reichen VBibliothef der oftindifchen Gefellfchaft 
in London befhaftigt war, die vedijchen Lieder zu copiren, mit 
deren Herausgabe er im Jahre [838 began, fo formnte der 
damals it London anwefende Brahmane Ranmakhan Rai fich 
iiber diejes Unternehmen nicht genug verwiundern; die Upanijchad, 


*) Geiger, Hur Entwickclunasgefdichte der Menfdheit, S. 2, 12, 14. 


meinte er, feien das Wichtige, welches die VDerdffentlichung 
viel eher verdiene. Diefe jiinaften Stiike der Veden enthalten 
ndamlich eine myftifche Philofophie, worn fich cine Art von 
Wonotheismus oder Pantheismms finden [aBt, welche dem ine 
difchen WUnffladrer, wie fo manchen anderen, das Won plhis 
ultra der religidfen Weisheit 3u fein fchien. Uber die uralten 
Dedahymnen, ganz heidnifch, natv und oft barocd, deren fich 
der moderne gebildete Inder wohl heintlich fchamen mochte, in 
denen aber die Jugend der AWlenjchheit mit entziickender Frifche 
weht, fie find filr uns das wahre Hleinod der indifchen Lite- 
ratur; fie enthalten fein fiir uns noch brauchbares religidfes 
Syjtem, aber fie find gleichjam ein Lehrbuch der menjchlichen 
Religionsge|chichte felbjt.” 

,Lor Ullem beachtenswerth find die Keime der Specu- 
lation in jener merfrwiirdigen, unter dem MWamen der Rigveda: 
janhita befamnten uralten Samnithiuig heiliger Lieder, deren 
Erhaltunig bis anf unjere Seit fiir das menjchliche Gefchlecht 
ein hohes Glitch 3u nemnen ijt, wenn es anders mit Recht das 
Bewugftfein iber feinen cigenen Urfprung und de 
Erfenntnif der Gefjeke feines Werdens als einen 
Gegenftand des Wrinijches und der Sehnjucht achtet. Ganj 
anders als in allen uns befamnten Literaturen, welche itberall 
auf Criimmern einer verfchollenen VDorzeit auffteigende oder 
durch Derfehrsberithrung und Wijchung der Erzeugnijje verfchie- 
dener Dolfsacifter begriindete nene Formen zeigen, liegt in diefen 
Ciedern vielmehr cin urfprimaliches, von fremden Ennvirfunger 
allem WUnfcheine nach freies, nicht aus der Serftsrung des 
Sritheren in zweiter Bildung hergejtelltes, fondern unmittelbar 
aus dem Schofe der Matur nen und jung erbliihendes Ceben 


der Wenfchheit, ja cine gleichfam noch wiwerhartete Seelen: 


28 


geftalt in Wort und That und da 


vollendet und fertig 3u Beobachtende im Entjtehen uns offen. 


hr 


iiberall fonjt nur als 


Darum ift auc) m diefen Hynmen nicht allein fiir die ihnen 
folgende Entwielung der Inder, noch auch fiir die jum Cheil 
auf gleicher Wurzel ruhende der fammitlichen vermandten Vslfer 
der Schliiffel des Derftandniffes ju finden, foudern bet der 
Natureinheit, die wir m dem = gefammten Entfaltungsgange 
unferer Gattung erfernmen, jugleich fitr die Schdpfungen aller 
fpeculativen Kraft auf Erden oder fiir den ganjzen nhalt 
der Derminft 0. i. fiir ihre danernden Ermwerbungen feit der 
Epoche, da fich iiberhaupt unter den WMenfchen juerft Ueber- 
xeuguigen aus feftgchaltenen Wahrnehmiungen formten und ein 
vielfdltiges Weinen, Glauben oder Wiffen mglich ward.’’*) 
,bdas AUuftreten der Sprachforjchung, als einer felbjtan- 
digen, von allen praftijhen und dugerlichen Sweden Llosae- 
[dften Wiffenfchaft, am WAnfange diejes Jahrhunderts, einer 
Wiffenfchaft von den vorhiftorifchen Huftanden der Vdslfer, ijt 
ein grofes fiir die Gefchichte der Wenjchheit unglaublich 
wichtiges Ereignif. Die Sprachvergleichung jtiirzte die bis- 
herigen, fehr dunfeln VDorftellungen von den alteften Ddlfer- 
bildungen und Wanderungen vdllig um. Wan lernte jwijchen 
verwandten und nicht vermwandten Ddlfern unterfcheiden und 
erlangte ein weit fichereres und feineres Wittel fiir die Ein 
theilung der Wenjchheit in Stamme, als naturhijtorijche Kem 
xeichen bis dahin an die Hand aegeben hatten. Wan fah in 
weiter, fchwindelnder Serne der Urjeit die Hoffnung auf eine 


beftimmte Kenntnif von Sujtanden eines AUlterthums winfen, 


*) Geiger, Urjprung und Entwidelung der menfehlichen Sprache 
und Dernunft I, Seite 119. 


liber deffen blofes Dajfein bisher alle Gefchichte gefchwiegen 
hatte.“ *) 

Eine fo vollfommene Uechereinftimmurg jzweier der fel- 
tenjten Geifter unjeres JAahrhiunderts, ein folcher fajt gleich: 
lautender begeijterter Hinweis anf den neuen machtigen Quell 
der Erfenntnif, welcher, von den Weiften iberfehen, ans unge- 
abnter Ciefe im unjer Settalter hervorbrach, lagt deutlich er- 
fenmen, um weldhhen hodpwichtigen Gegenjtand es fic) handelt, 
un nichts Geringeres ndmlich, als um die Entwidelunas- 
gejchichhte der Wenjhheit, um die CLdjung des uralten, 
grogten, heiligen Rathjels, cine CSfung, die 3um erjten Wale 
als mdglich fich darjtellte durch die Ergebnifje der vergleichen: 
den Sprachwiffenjchaft, durch die in den Wort: und Begriffs- 
genealogien aufbewahrte winderbare Kunde von einer uralten 
Dorzeit des menjchlichen Gedanfens, von dem Werden, Wachjen 
und Reifen der hohen, einzigen Auszeichming des Wenjechen, 
die alles Uebrige mdaglich machte und erflart, jeiner Dermuft 
und Sprache (Adyoc). 

Wer den Wenjchen erfldren will, der mug vor Alllem 
das Wenjchliche ver|tehen: er mug den Punft Femten, auf den 


es anfommt und von dem alles Mebrige herjuleiten ijt. Jn der 


yh 


Sprache liegt das Rathje! geborgen; wer es anderswo juchen 
wollte, der wdre betrogen. 

Alfo Entwielungslehre der Wenjchheit ift Mar Willers 
Stel und Lebensaufgabe; er fuchte fie aber da, wo fie allem 
zu finden und herzuleiten ijt, in dem Geijtigen, dem Denfen, 


d. bh. Ser Sprache. Die Frage nad)» dem Urfprunge, dem 


*) Geiger, lUrfprung der Sprache, Seite 1o, 


30 


Ketme, der erjten Entftehung defer wunderbaren Gabe lief 
er cinjtweilen noch offen oder unbeantwortet; ihm galt es, als 
Sprachforfcher, mit dem Waterial, das die Sprachftudien dar- 
botent, fich Wege ju bahnen in cine Vorzeit, die bisher von 
dichtefter Macht eingehiillt war, und erjt wenn de alteften 
Wenjchenzuftdnde, wie fie m dem Licht der Sprachforfchung 
jich darftellten, unjerem Auge in fchdrferen Contonren erfchienen, 
dam, Sachte er, Founte auch das Aenjfeits der Berge, wo der 
Saden der Sprache abreift, rechtmdgig und mit grdperer nts- 
fiht auf Erfolg, von anderer Seite erplorirt Werden. 

Das Problem des Geiftes in femer ganzen Ciefe ver- 
jtehen, dasfelbe init dem wahriten Erzeugniife, dem Hdrper des 
Geijtes priifen und bis im die leften Wurzeln verfolgen: man 
jollte meinen, fo befomene und flare Dorfchlage mniiiften fich 
der VBilligung wid des Dantes aller Einfichtsvollen erfreuen. 
Aber un Getdje des Hampfes, it der Hike der Ceidenjchaften 
verhallen verniinftige Reden und fo wurde denn von heftigen 
Darwinijten, dic, wie dies bei Fiingern ftets der Fall, weit 
liber das vom Weijter geftecte Ziel hinausfchoffen, ein SFeldz;ug 
gegen War Willer organifirt, bei welchem diefer und jener 
Sprachforfdher auf den Schild erhoben, aber durd) die ver- 
nichtende Entgegiing des Angegriffenen alsbald jum Flaglichften 
Riic3uge gezwungen wurden. 

Wie edel und grog§ gegeniiber diefen leidenfchaftlichen 
Shigriffen Lauten nicht die Worte, mit welchen Mar Willer 
jeine Derwahring gegen die voreiligen Schliiffe und Ueber- 
jtiirzigen der A a ne einleitete, und im denen er 
nur das ene Jnterefjfe, das alle wiffenjchaftlichen Hampfer 
bejeclen follte, als mafgebend und entfcheidend voranftellte : 


Die Frage ijt nicht, ob die Wnficht, daf fo weit ansein: 


anderftehende Wefen, wie ein Wenfch, cin Affe, ein Elephant, 
ein fummmender Dogel, cine Schlange, ein Srofceh und ein Sifch 
von denjelben Eltern abftammten founten, monftrés ijt, foudern 
einstg und allein: ob fie wahr ijt. Wenn fie wabr ift, fo 
werden wir wuts bald daran gewShnen. Berufungen auf den 


WMenfhen, auf wiffenfchaftlichen 


yh 


Stolz oder die Denmth de 
Wuth oder religidfe Frsmmiafeit find dabei von gar Feinem 
Belang.” (Dorlefungen iiber Darwin). 

3h glaube in dem Vorausgehenden die Stellung, welche 
War Willer ju der Eniwicelungstheorie und fpeciell jn dem 
Darwiutisnuts etutinmit, wenn auch mm febr allgemeinen Unvifjen, 
dod) flar genug bezeichnet gu haben. Er trennt fich von den 
Unhdngern Darwins, er tritt ihnen Fritijch entgegen, wo diefe, 
das wabhre Charafterijticum des Wenfchen, feine Derminft und 
Sprache itberfehend oder leichthin abthuend, dugere Urjachen 
und Sormiibergduge fitr ausreichend halten, um als wijfen- 
{chaftliche €Erfldrung des grdften Wunders und Rathfels der 
Schspfung ju gelten. Wie einfeitiq eine folche Anficht ijt, hat 
aih Lazar Geiger mit Entichiedenheit betont: ,, Wir Founen 
vom dem Knochengeriifte und vielleicht der gangen dugeren 
Erfcheining einer untergegangenen Chierfpecies durch geoloagifche 
Sunde eine AUnfhhauung gewimen; wir Formen aus Schadel- 
reften auf cin unvollfonmmener entwicdeltes Wenfchengefchlecht 
der Urjeit allgemeine Schliifje ziehen; doch tiber die Art, 
wie der Kopf gedacht haben mag, deffen Criimmer fitch 
it dem Weanderthale als Problem fiir die Gegenwart anfbe- 
wahrten, mdchte es jfchwer fein, fich ans feinem nblicke irgend 


eine Dorftellung ju bilden.” *) 


*) Sur Entwicelunasagefchichte der Mlenfchheit, Seite 45. 


OI 
tv 


,Olidlicherweife ,” fahrt der geniale Denfer fort, ,hat 
aud) die Gefchhichhte des Geijtes ihre urweltlichen Refte, 
ihre Ablagerungen und Verjteinermigen anderer Art; fie bieten 
lehrreichere WUufichliffe, als man ju glauben-geneigt fem follte ; 
fie fiihren, forgfaltig verfolgt, 3u vielleicht unerwarteten, allein, 
wie ic) glaube, darum nicht weniger ficheren Ergebnijfen.” 

Die Erleuchtung des wungeheuren Hintergrundes unjerer 
Vergangenheit, der Dergangenheit des menfchlichen Geiftes, 
wie er in der Sprache gebundei ijt und durch die Wiffenjchaft 
entfiegelt werden Fann, das ijt die Lebensanfgabe, das hohe 
diel aller BVBeftrebungen War Willers. Er felber fpricht fich 
deutlich genug dariiber aus*): 

7 reder Wendy macht fich jeinen Cebensplan, jeder Ge- 
lehrte mug ju einer Armee gehdren und einen Schlachtplan 
im Kopfe fithren, der ihn bei der Wahl feines cigenen 
Warjches beftimmt und leitet. Wh gehdre zu denen, die mit 
Pope fagen: ,,The proper study of mankind is man‘, und 
al 


Yn 


ich mir die Frage ftellte, was die richtige oder wenialftens 
die fruchtbarjte Wethode des WMenfchenjtudims fei, fo bildete 
fith bald bet mir die Ueberzengung aus, dJaf, wm jn wifjen 
was der Wenfch ijt, wir vor allen Dingen beobachten und 
feftftellen miiffen, was der Wenfch gewefen und wie er 
das geworden, was er tft.“ 


*) Ueber alte Seiten und Wlenfchen, Dortrag. Seite 190. 


Ul. 


Spraeae wm. Deraunet. 


Origin of species! war das Sauberwort, mit welchem 
Darwin die Gentiither bewegte, die fo lange fchhinmmernde oder 
vielmehr unter der Afche glithende Frage, ob denn die Dinge 
und insbefondere die organifchen Wefen von jeher fo gewefen, 
oder ob fie einmal entftanden, natiirlichen Urfachen und welchen 
ihr Dajein, ihren Urfprung verdanften, ju hellen Slammen 
anfachte. 


Diefe Frage, anf den naturwiffenfchaftlichen Boden ver: 


yh 


pflangt wid mit dem Wifgebot des bis dahin angefammelten, 
ungeheuren Beobachtungsmaterials 3u [djen verjucht, brachte 
den nicht hoch genug anznjichlagenden Vortheil, dag das philo- 
jophijche Denfen, die Seductive Wethode wieder an die Stelle 
des reinen Empirismus trat, welcher ja, namentlich als Reac- 
tion gegen die Orgien der Maturphilofophie, gleichfalls feine 
hohe Berechtigung hatte, wie er denn als eracte WMethode der 
Sinneswahrnehnumng ftets den unentbehrlichen, fejten Boden 
aller UWaturwiffen{chaft bildet. 


Was das Wejen der Species ausmacht, das ijt, wie 
{hon der Mame bejagt, das Specielle 0. h. das Vefondere. 
Das Befondere fondert fichh aus von dem AUlgemeinen, 
wird felbjtandiger, eigenartiger, gewinnt mit anderen Worten 
an Charafter, an Jndividualitdt. Uufgabe der Entwicelungs- 
Iehre ift demmach, an der Hand der hiftorifchen Sorfchung 
alles Befondere, bet den organifchen Lebewefen alfo die WUrten, 
suriiczufiihren auf immer allgemeinere “ Dajfeinsformen, den 
Strom der Entwidelung von der heutigen unendlichen Wannich- 
faltigfcit des Gegebenen und Vefaunten aufwdrts ju verfolgen 
bis ju feinen erften Unfdngen, foweit diefe der ftets befchranften 
menfchlichen Dernunft iiberhaupt erreichbar find, als Iebtes 
Siel jenen im Granen unermeflicher Vergangenheit fich ber- 
genden Seitpunft 3 erftreben, da juerft unjer Weltfyftent, eine 
ricfige Dunjttugel, hervorbrach aus dem Codesfchhummer des 
Allgemeinen und Einen und die erfte Veranftaltung fich voll- 
30g, aus der nachmals der Wille junt Leben fich im den un- 
zahligen individuellen Wefen zu Oen Freunden und Ceiden des 
vergdnalichen Dafeins emporraig. 


Munitten diefes ungeheuren Werdegang der unfere 


yh 


Dhantajie mit bangem Stannen erfillt, wahrend doch wieder 
Alles fo ftill und gerdufchlos fich vollzicht, daf unjere Dernunft 
des fefter, canfalen Sujammenhangs bewuft, der jeden Heit: 
moment des Gefchehens und Werdens mit dem wnmnittelbar 
vorhergehenden und nachfolgenden verbindet, 3u der Anficht 
fich gedranagt fithIt, es gefchehe Ues nach ftrengen, unentrimmt 
baren Gefegen der Wothwendigfeit, jehen wir eine Stelle anf- 
leuchten, die das heilige Wyfterium emer neuen Gattung biragt, 
welche 3u hdherer Freiheit, Bewuptheit und Vollfommenheit 


berufen, etme WAusnahmsjtelling imittet der gangen iibrigen 


OY 
(5) 


Natur evminmt, da mit ihr das Reich des bewngten Geiftes 
und des nach cigener Wahl und Vorausficht qgeordneten Cebens 
geariindet wird. 

Diefe Gattung ijt die Wenjehheit, das aufddmmernde 
Licht, das ihren Eimtritt im die Welt bezeichnet, die Vermunft. 
Der Gegenfak zwifchen diefer und dem, was uns etwa bei 
den iibrigen Wejen Unaloges begegnet, ijt fo ftarf, daf wir 
jtets bereit find, Weugerungen der [eGteren Art mit dem Wamen 
Naturtrieh oder Bnftinct Purzerhand abjuthun. Damit iff 
freilich nicht viel mehr gegeben, als cin Wort, bet welchem 
mat fich alles Wogliche denfern und nicht denfen Farr. 

Die Vermimft, das Geijtesleben des Wenjchen ift mithin 
eine mene Species, die thres Gleichen nicht hat unter allen 
Naturwefen, eine Vefonderung, deren Herleitung aus natiir- 
lichen, allgemeineren Urfachen von jeher als das grdfte, 
{chwierigfte, aber auch wiffenswiirdiafte Problem galt, mit 
welchem mir die Frage nach dem Urfprung der organifchen 
oder Cebewefen fich mejfen Fant. 

Auch dent Vermunjft-Ceben und -Werden beese das grofe 
Gefeh der fortichreitenden Jndividualifirung und VBejfonderung, 
welches allein im Stande iff, den maufhaltfamen Sortgang der 
Weltentwicelung ju erleuchten und verftdndlich ju machen, ju 
Grunde liegen. 

Das, wodurch die Surctionen der Derimuift fich vollzichen, 
ihr meres organifches Gewebe, das WMittel, wodurch die ganze 
dufere und geiftige Welt befagt, geformt und ausgedriicdt 
wird, find jene geheimnifvollen Wefen, die bisher der Gegen- 
ftand des Studiums aller gefunden Philofophie gemwefen find, 
welche bald mit dem platonijchen Worte Jdeen, bald Motionen, 


meift aber conceptus oder Begriffe genannt werden. Sie 


3% 


i 


find ausfchliepliches Eigenthuin des Menjchen, fein Chier ver- 
mag jemals derjelben theilhaftig ju werden. Es ift daher Ffrajje 
Derfenmung des Wefens der Sache oder jchndder Wifbranch 
der Sprache, wenn die modernen Watertaliften von dem ,, Dent: 
vermodgen der Chiere” reden. 

Beariffe werden nur moglich durch Worte. Der Laut, 
das Wort ijt ser Horper des Begriffs; die Sprache aljo die 
dugere Seite, der Horper des Gedanfens, der Verimunft. Unge- 
{chicden war demnach noch das wefentlich gine, welches aber 
von 3jwei Seiten, der dugeren und der inneren, betrachtet 
werden fann, in der Auffaffung der Griechen, welche Denfen 
und Sprechen mit Einem Worte, Adyoc, bezeichneten. 

Es gibt gewiffe Wahrheiten, die anf frithen Stufen der 
Entwicelung dem naivet Denfen ummittelbar gewif und be- 
wugt find, die aber nachmals in dem Seitalter der Reflexion 
vermdge eines eigenthiimlich ecinfeitigen Entwicelungsgangs, 
dent das Denfen genonunen hat, verloren gehen und ju deren 
Wiederentdetung Sann gewdshnlich grofe Geiftesanftrengung 
ndthig ijt. Fu diefen Wahrheiten gehdrt anch die grofe, wichtige, 
bedeutungsvolle, daf das Denfen fich nur durch Worte voll- 
zicht, “Saf ohne Sprache ebenjowenig cin Denfen, als ohne 
Denfen cine Sprache mdalich ijt. 

Jh jagte, dafR dieje Wahrheit der Findlichen Denkweife 
der Maturvdlfer unmittelbar bewuft ijt. Ach filhre als Beleg 
den pittoresfen WAnsdrucd der Polynefier an, fiir welche nach 
Sarrar Denfen foviel ift als ,Reden im Bauch” (d. h. im 
Jnnern), Aber auch der gdttliche Platon wugte feinen Sofrates 
feine andere Definition geben ju lajjfen. ,Was verjtehjt Du 


unter Denfen?” fragt TChedtetus.*) Sofr.: ,€in Gefprach, 


*) Platon, Theaitetos, cap, 32. 


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N 


das die Seele tiber die ODbjecte ihrer Betrachtung mit fich 
felber fiihrt. Sreilichh theile ih Dir das mit, ohne 
es ju wiffen, Denn wenn fie denft, thut fie, wie mir fcheint, 
nichts Wheres, als fie unterredet fich, fragt fich felbft und 
antwortet, bejaht und verneint.” 

Und wodurch ijt denn dieje injftinctive Gewifheit der 
Menjfehheit verloren worden? Dadurch, dak in dem Seitalfer 
der Reflerion und des Schematismus man fich daran gewdhnte, 
dem BVBegriffe oder Gedanfen als Fimerem oder Geiftigem 
das Wort als Lautgebilde entgegen ju jtellen. Wim gewann 
der Jrrthum immer mehr Boden, dap die VBegriffe das prius 
feien, Saf fie unabhangig vom Worte fchon ein Dajein im dem 
Wenfchengetjte hatter und dag die Worte mr das Seichen, 
der WAnsdrucd jener felbjtandig vorhandenen Wefen feien. ,,Die 
Dhilofophen haben von jeher der Wahrheit dadurchh einen 
Scheidebrief geaeben, dag fie dasjenige gefchieden, was die 
Natur jufammengefiigt und wumaefehrt,” fagt Hamann. 

ybder Urfachenbegriff,” fagt Goethe, ,,ift dte Quelle un- 
endlichen Jrrthums.” Sieht man genaner 3u, fo findet man, 
dag diefer Saf auf alle Sundamentalirrthiimer pagt, in welche 
der Wenfchengeift fich feit Jahrtaufenden verftridt fieht und 
aus welchen er vergeblich Erldfung fucht, fo lange er nicht 
die tiefe, metaphyfifhe Wurzel derfelben erfannt hat. ,,Der 
Korper ijt die Urfache des Geiftes,” wiederholen jeit Demofrit 
und Epifur glaubig alle Waterialiften; fie Formen eben nicht 
verftehen, dag mur jzwifchen gleichen qualia cin Urfachenver- 
haltnig obwalten faim, dag dasfelbe aber auf das Untrennbar- 
Eine niemals angewandt werden dsarf. ,Der Geift ijt Urfache 
der Kdrper,” fagen feit Platon alle Jdealiften, und es bleibt 
ihnen Feine andere Wahl, als die Welt entweder als ein 


58 


Phantasma, ein Gefchdpf ihrer eigenen Eimbildung aufzufajfen 
oder die Kiuft 3wijchen Geift und Kdrper durch allerlei Kunft- 
ftiide, wie concursus divinus, prdftabilirte Rarmonie in fiihnem 
Wagniffe 3u iberbritten. Dagegen tragen Spinozas Wonismus, 
Kants Kritif der Derminft und Schopenhaners Willenstheorie 
das erldfende Wort in ihrem Schofe, weil diejfe machtigen 
Denker die Welt und die Erfenntnif derfelben in ihren meta- 
phyjijhen Dorausfebungen jum Gegenftand ihrer Vetrachtungen 
machter. 

Sobald man von Einer Seite der Yinge ausgeht und 
die andere nach dem Urfachenverhaltnif dJaraus herleiten will, 
gerath man in unldsbare Widerfpriiche; der circulus vitiosus 
ift unvpermeidlich. Derfelbe hat fich denn auch bei der Erflarung 
der wichtiaften, Ser wahrhaft menfchlichen €Eigenfchaft des 
Wenfchen alsbald cingeftellt. Jn unanfhdrlichem Wirbel dreht 
fih das Rad des Arion, indem es bald heift: ,,Dermuift, 
Sarum Sprache,“ bald , Sprache, darum Vernunft.” Daf beidve, 
ratio et oratio, cins und dasfelbe Wefen find, dafG fie nur 
nach den Gefichtspunften, der Anffaffung verfchieden, bald die 
mere geiftige, bald die dufere Férperliche Seite eines Wonon 
darftellen, diefe Wahrheit, fo beftinnnt und iiberzeugend fie 
auch von den bedentendfter Denkern der l[esften fiinfzig Jahre 
ausgefprochen worden ijt, hat nod) Fawm Wurjel gejchlagen 
in den Geiftern, die fic) die Entrathfelung des grofen Problems 

des Wenfchengeiftes zunt fpeciellen Studi erwahlt, gefchweige 
dem im dent Denfen der allgemein Gebildeten. 

Der madchtigfte DorFampfer diefer dee ift War Willer. 
Wie einft der grofe Schiiler Spinozas, Goethe, das moniftifche 
Grunddogma aus{prach mit den einfachen, jeden Sweifel, jedes 


Mifverftandnif ausfchliefenden Worten: ,,Kein Geift ohne 


OF ST 


59 


Stoff, fein Stoff ohne Geift,” fo fagt Willer ebenfo bejftinmt 
und unjweidentig*): ,,Without speech no reason, without 
reason no speech. €s ift feltjam 3u beobachten, mit welchem 
Widerftreben viele Philofophen diefen Sak ecinrdumen, und 
wie fie diefer Folgerung auszuweichen bemiiht find, Alles jelbjt 
wieder eine Folge des Einfluffes der Sprache, dte im den 
meiften neueren Dialecten zwei Weérter, eins fiir Sprache und 
ein 3weites fiir Dernunft hervorgebracht hat und die auf diefe 
Weijfe den, der fie fpricht, ju der Annahme verleitet, daf 
xwifchen den beiden cin wefentlicher Unterfchied und nicht blos 
eine formtale Differenz vorhanden fei.“ 

Weiter fagt er, an jcharffinnige Bemerfungen Lodes 
anfniipfend, der, wie es fcheint, als der erfte vor Herder auf 
den unldslichen Sufaminenhang von Sprechen und Denfen auf: 
merffam gemacht und darum als Reilmittel der Dernunft eine 
ernjthafte Kritif der Worte verlangt hatte, Sanit nicht immer 
nit unverftandenen Redensarten die Hédrer und der Redende 
felbft irre geleitet wiirden: ,, $n allen diefen Bemerfungen 
liegt unzweifelhaft viel Wahres, dennoch ift es, ftreng ge- 
nommen, ebenjo unmiglich, Worte ohne Gedanfen ju gebrauchen, 
als ohne Worte 3u denfen. Selbjt diejenigen, welche in’s Blane 
hinein iitber Religion, Gewiffen 2. fchwagen, haben doch 
weniaftens einen vagen Begriff von der Bedeutung der Worte, 
die fie gebrauchen, und wenn fie anfhdren wollte, mit den 
von ihnen gedugerten Worten irgendwelche Adee, fo unvoll- 
fommen und faljch fie auch fein mdge, 3u verbinden, fo Forte 
man von ihnen nicht [anger jagen, daf fie fprdachen, fondern 
nur, dag fie cin Gerdujch machten. Dafjelbe findet ftatt, wenn 


*) Lectures on the Science of Language II, p. 73, 


40 


wir unfern Sag umfehren. Es ijt mdglich, ohne Sprache ju 
fehen, wahr3zunehmen, die Dinge anzujtarren, aber ohne Sprache 
fonnen felbft fo einfache Dorftellungen, wie weif oder fcdwar;, 
auch nicht einen WUungenblick realijirt werden.” 

We Unflarhett und VYerwirrung, alle in’s Unendliche 
fich fort{pinnenden Streitigfeiten, ob man nicht auch den Chieren, 
den nod) fprachlofen Kindern, den ungebildeten Caubjtunmmen 
Yermunft und Denkvermdgen jufchretben miifje, find blofe 
Wortftreitigfeiten und rithren daher, daR man mit diejen Worten 
nicht den bejftinunten, Flaren, nur ihnen jufopimenden Begriffs- 
inhalt verbindet, fondern fie in einer allgemeinen, nebelhaft 
verfchminmmenden Weije gebraucht. ,,Ein Hind weif ebejo gewif, 
ehe es noch fprechen fann, einen Unterfchied zwifchen fig und 
bitter 31 machen, als es {pater (wenn es 3 fprechen anfanat) 
weif, dag Wernmth und Sucer nicht diefelbe Sache find. Das 
Kind empfanagt oie finnliche Empfirdunig der Siigigfeit; es erfreut 
fich derjelben, es erinnert fich an diefelbe, es witn{cht fie 
wieder herbei; aber es weif nicht, was fiip ijt; es ijt in feine 
Empfindungen, in feine Freunden und Ernmerungen verjunfen, 
es Fann nicht von oben herab anf diefelben blicdten*), es Fann 
nicht iiber diefelben urtheilen, es Fam nicht von ihnen fprechen.” **) 

Aehnlich fagt Lazar Geiger: ,Wodurch entfteht 3. B. ein 
Begriff, wie roth? Su fehen, dag Blut roth ift und Wilh 
weif, mag leicht fein. Wber die Rothe des VBlutes von dem 


Gejammteindruce ju abjtrahiren, an einer rothen Beere wieder 


*) Diefen Gedanfen habe ich ausgefprochen mit den Worten: ,, Die 
Sprache gibt dem Menfchen einen Standpunkt auferhalb und iiber den 
Dingen,” und habe ihn ausfiihrlich) beariindet in meiner Schrift: cine 
leitung und Begriindung einer monijtifehen ErFernntniftheorie,“ S. 95 Ff. 

**) War Waller fli c., Seite 27 


denfelben Begriff aufzufinden, die rothe Beere bet ihrer fonftigen 
Yerfchiedenheit mit dem rothen Blute, die weife Wilh mit 
dent weifen Schnee in diefer einen Beziehung jujammenju 
faffen — das iff etwas ganz Anderes, das thut fein Cher; 
denn dies eben ift Denfen.” *) 

Wir gelangen alfo 3u dem fcheinbar paradoren Sage 
Die fogenannten allgemeinen Begriffe find etwas Befonderes ; 
etwas der menfechlichen Dernunft ausfchlieglich Eigenthiimliches; 
fie umfaffen und beagreifen die ganze Welt, fowie Xiefelbe mm 
das Erfenntuifvermdagen des Wenjchen ecingicht; fie vermdgen 
aber nur durd) ihre Férperlichen Uequivalente, die finnvollen 
Caute oder Worte, realifirt ju werden. Die Sprache ift nicht 
das Kleid, fie ift der KSrper der Vermmmft. Without speech 
no reason, without reason no speech. 

Es diirfte dJemmnach nicht fchwer fallen, eingufehen, warunt 
bis jest alle Derjuche, die menfchliche Dernunft ju erfldaren, 
ein befriedigendes pfychologijches und. erfenntniftheoretijches 
Syjtem anfsuftellen, aefcheitert find. €s Ffommt dies daher, 
weil man eben die menfchliche Derminft als das Abfolute, nicht 
wetter ju Erfldrende anffafte; weil man es vernticd, in threr 
Gefchichte, ihrer Dergangenheit die gewiinfchte WAnfflarung ju 
fuchen, wahrend man doch in der vergleichenden Sprachforfchung, 
als welche nichts anderes ift als das Studium der Gefchichte 
eben diefer Dermunft, ein Ppa ae Werkjeug zur Erreichung 
des heif erfehnten Gieles befagf. Reift man ein beliebiges 
Thier aus der Kette des Sujammenhangs der lebenden Wefen, 
betrachtet es fiir fih — es bleibt ewiq ein unanfldsliches 


Rathfel. Als Glicd einer voranjchreitenden Entwicehmngsfette 


*) £§. Geiaer, Urfprung der Sprache, Seite 110. 


42 


dagegen findet es fee Erfldrung in Alem, was ihm voran 
gegangen, im einer unermeflichen Vergangenheit. 

Es gilt aljo, dasfelbe, was Darwin fiir te Organismen 
gethan hat, auch auf jene organifchen Gebilde zu iibertragen, 
welche wir menfchliche Beariffe, Dermunftconceptionen oder Worte 
nenmen, €s handelt fich Semmach um eine nene Origin of 
species. eder Begriff, jedes Wort, das im CLaufe der Ent: 
wicelung fich einftellt, ift cin Wenes, Befonderes, ein mehr 
Specialifirtes und Andividualifirtes, welches niemals durch fich 
begriffen, nicht als durch generatio aequivoca aus dem Michts 
hervorgebrochen gedacht werden darf, fondern welches, als 
ei neues Dermunftelement, aus fritheren Elementen in \einer 
ununterbrochenen Siliation entftanden, jene innere GeiftesFraft, 
die wir Vernunft nennen, erhdht, ftetgert, bereichert und ju- 
gleich als €Erfldrungsprincip, als Wahrzcichen und Denfftein 
des Wachsthums diefer Vernunft, den dichten Schleter. des 
Geheimnifjes, in welchen diefe cingehiillt ijt, um ein wenig 
lichtet. Unf diefem Wege und in diefer Weife riikjchreitend in 
die Dergangenheit, gelangen wir 3u einfacheren und ftets etn 
facheren Elementen, welche dem Elementarzuftande der Derimmft 
entfprechen, bis wir endlich durch das Licht der Sprachforfchuing 
im Dereint mit deductivem, philofophifchem Denfen in fiihnem 
Wagniffe jenem engen Kreife juftreben, wo es Fein Denfen 
und Fein Sprechen mehr gibt, wo demnach Wiege md Urjprun,g 
der Dernunft zu fuchen iff. 

Die Etymologie oder Wurzelforfchung, cine Wifjenfchaft, 
welche durch deutichen Seif geariimdet und herrlich ausgebant, 
Stolz und Freude unferes, dealen Veftrebungen fonjt fcheinbar 
ganz entfremdeten, Jahrhunderts ausmacht, darf daher den 


AUnjpruch erheben, mit den in ihr geborgenen Schagen uns die 


43 


wichtigften, tiberrafchendjten WAnffchliiffe itber unfer eigentliches 
Wefen, unfere Voragefchichte und den Weg, anf welchem der 
Menfchengeift 3u feiner heutigen Kraft, Klarheit und Doll- 
fommenheit gelanat ijt, an die Hand ju geben. 

Jnr der Sprache ijt uns ein wunderbarer Spiegel der 
Dergangenheit unjeres Gefchlechts, feiner dugeren Suftdande und 
Erlebnijje erhalten; in uralte Macht, anus welcher fonft Fein 
Seugnif ju uns herabdringt, wirft die Sprachforjchung thre 
Lichtitrahlen. Jn diefer Hinjicht ift ihre wiirdige Schwefter de 
Paldanthropologie, dice Wifjenfchaft vom prahiftorifchen Menjchen; 
dent auch an Wohmiugen, Werkseugen, Waffen und Gerdthen 
haftet der menfchlichhe Gedanfe, tritt er in die Erfcheinung, 
fpricht er anch heute noch ju dem verftandnifvollen, empfang- 
lichen: Sinne des Forfchers. Deutlichere, viel werthvollere 
Kunde aber iff wis in den Worten, den vestiges of language 
erhalten, denn dieje reichen in eine Seit, wo felbft der Faden 
der prahiftorijhen Sorfchung abreift, wo der Wenfch ohne 
Werkeug, ohne Seuer, ohne alle jene Einrichtungen war, die 
wir als nothwendige AUlttribute der Wenfchheit ju betrachten 
gewohnt find. 

7&5 liegt cin hoher Sauber darin,” fagt Mar Willer *), 
,ote verfchiedenen Wandlhingen der Form und Bedeutung an 
den Wortern ju beobachten, inden diefe den Ganges oder die 
Ciber hinab fich in den grogen Ocean menjchlichher Sprachen 
ergofjen. $m achten Jahrhundert vor Chr. war die Llateinijche 
Whindart noch auf cin Fleines Gebiet befchranft. Sie war 
nur eine einjelne Whuidart aus der Wenge derer, die m den 


verfchiedenen Theilen Ftaliens gefprochen wurden. Aber fie 


*) Lectures II, p. 274. 


RA 


wuchs Ffraftiq empor, fie wurde zur Sprache Roms und der 
Ronter. . . . Sie wurde jur Sprache oes Gefeges und der 
Regierung im den civilifirter Cheilen Wordafrifas und Afiens 
und wurde durch die Verfiinder des Chriftenthums nach den 
fernften TCheilen des Erdballs getragen. Sie verdrangte in 
ihrem fiegreichen Dorritden die alten cinheimifchen Whudarten 
Galliens, Spaniens und Portugals; fie verfuchte j3war ver- 
gebens die [ebensvollen Ydiome der germanij{chen Stdnune ju 
vernichten, aber fie lief doch auf threr Oberfldche cine dichte 
Ablagerung fremder Worter juriic® und lieferte fo die grdéfere 
Halfte im Wortfchagke faft aller civilifirten Ddlfer der Welt. 
Werter, welche juerft im Whmnde italifcher Schafer erflangen, 
werden jefht von den Staatsmdnnern Englands, den Dichtern 
Sranfreichs, den Philofophen Dentfchlands gebraucht und 
das ferne Echo ihrer Schdfergefprache Fann im Senate ju 
Wajhington, in der HKathedrale von Calcutta und in den Ane 
fiedelingen auf Veufeeland gehdrt werden.” 

Wir erfennen fo, wie die Sprachen die Gefchichte der 
Mationen abfpiegeln und wie faft jedes Wort, gehdrig jerglicdert, 
wis von vielen wechfelvollen Schickfalen erzahlen Fann, welche 
es anf feinem Wege von WMittelafien nach Bndien oder nach 
Derfien, nach Kleinafien, Griechenland und Btalien, nach 
Rugland, Deutfchfand und Gallien, den britifchen Anjeln, 
Amerifa wnd Weujecland odurchzumachen hatte; im der Chat 
merfiwiirdige Schicfale, welche es vielleicht auf femen weltum- 
fafjenden Wanderungen fogar nach Jndien und den Chalern 
des Himalaya, von denen es vor Jahrtanfenden ausaing, 
zuriicfiihren. Wanches Wort hat fo die Reije um die Welt 
gemacht und wird fie vielleicht immer wieder und wieder 


machen, Denn obaleich fich die Worte in Klang und VBedeu- 


ting in folcher Wusdehming verdndern, dag nicht ein einziger 
Buchftabe derjelbe bleibt und thre Bedeutung geradezu in das 
Gegentheil der urfpriinglichen umjchlagt, fo ijt es doch wichtig 
3 beobachten, dag feit dem AUnfange der Welt ju den weferit- 
lichen Beftandtheilen der Sprache ebenjfo wenig irgend etwas 
Neues hingugefiigt worden ijt, wie zu den wefentlichen Elementen 
der Natur. Es findet cin bejtandiger Wechfel in der Sprache 
jtatt, cit HKommen und Gehen dser Worter, aber Wiemand 
fain je ein gdanzlich nenes Wort erfinden. Wir fprechen in 
jeder Hinficht ihrent Wefen nach diefelbe Sprache wie Xe 
Urvdter unferes Gejchlechts; von der wiffenjchaftlichen €tymo- 
fogie geleitet, Foren wir von Jahrhundert ju Jahrhundert 
durd) die dunfelften Perioden der Weltgefchichte hindurchgehen, 
bis uns der Sprachenftrom, auf dem wir felbjt dahintreiber, 
zu jenen fernen Regionen juriidtragt, wo wir die Gegenwart 
unjerer fritheften Dorvdter ju fiihlen und die Stimme der 
erdgeborenen Sdhne Wanus ju hdren meinen.” *) 

Aber nicht nur die Gefchichte der adugeren Welt, der, 
wenn ich fo fagen darf, materiellen Sujftande der Vorjeit des 
Menfchengefchlechts fpiegelt fic) in der Sprache und ihren 
vor der Wiffenfchaft forgfaltiqg unterfchiedenen und durch 
forfhten Schichten; viel bedentungsvoller ijt fie uns als Spiegel, 
als Document des Fiihlens, Denfens und Empfindens emer 
ldngft 3u Staub jerfallenen VDorwelt; und in diefer Hinficht 
fteht die Sprachforfchung ciijzig da und bedarf weder der Hiilfe 
einer anderen Wijfenfchaft, nocd) darf fie einer anderen die 
Berechtiquig ju diejem ihr allein vorbehaltenen Werke ju 


gefteher. 


*) Lectures I, p, 286. 


SE 


Die Sprachgefchichte ift, wie ich bereits jagte, die Ent: 
widehinasgefchichte der menjchlichen’ Dernunft felbft. In diefer 
Hinficht haben wir von der Sprachforfdng unfchagbare Unf- 
{chliifje itber dite Dergangenheit der Vernunjt, aber auch ju- 
gleich cine erldjende, befreiende Wirkung durch Befeitigung 
unjdglichen Jrrthums und Ceidens, die durch Wortverwirrung 
und Unklarheit des Denfens beim Gebrauche der Worte tiber 
die Wlenfehheit gebracht worden, ju erwarten. Bch lajje wieder 
War Willer reden: 

7/Wer den Einflug, welchen Worter, bloge Worter auf 
den menjchlichen Geift ausgeitbt haben, genan verfolgen wollte, 
wilirde 3zugleich cine Weltgefchichte fchreiben, welche uns wohl 
mehr [ehren wiirde, als irgend eine, welche wir befigen.” *) 

, ch fpreche hier nicht von jenem fehr handgreiflichen 
Wifbrauch der Sprache, wenn Schriftiteller, anjtatt ihre Gedanfen 
reif werden ju Lajfen und fie dann gehdrig ju ordnen, wuts 
mit einem Schwulfte harter, fchiefer und rathfelhafter Uusodriice 
und Phrajen itberfchtitter, welche von ihnen felbjt, wenn nicht 
von WUnderen, fiir tiefe Gelehrjamfeit und hochite Ceiftung der 
Speculation gehalten werden. Diefes Ullerheiligite der Un 
wiffenheit und Anmafung hat feinen Wimbus fo ztemlich 
ecingebiigt und Gelehrte und Denker, welche das, was fie jagen 
wollen, nicht im quter logijcher form und verftdandlich fagen 
Founen, haben in diefer unferer Seit wenig AUnsficht, fiir die 
Derwahrer geheimnifvoller Weisheits[hage achalten 3 werden. 
Si non vis intelligi, debes negligi. ch denfe vielmehr an 
Weorter, welche Jedermann gebraucht und welche fo Flar und 


— 


verftdandlich 3u fein fcheinen, dag es faft wie eine Kectheit aus: 


*) Lectures II, p. 573. 


Basar es nt 


fieht, fie vorjufordern und zur Rechenjchaft ju ziehen. Dennoch 
ift es merfwiirdig 3u beobachten, wie verdnderlich die Bedeutung 
der Worter ijt, wie fie von Jahrhundert ju Jahrhundert 
wechfelt, ja wie fie felbjt im Wunde fajt jedes Sprechenden 
fich leife abjchattirt. Wusdriide wie Matur, Gefeg, Freiheit, 
Nothwendigfeit, Ksrper, Subftanz, Waterie, Kirche, Staat, 
Ojfenbarung, Eingebung, Erfenntnif, Glaube, werden im dem 
Wortfriege hit und hergeworfen, wie went Feder fie Fennte 
und in demfelber Sime gebrauchte, wahrend doch die meijften 
Menjchen diefe Uusdriife in ihrer Hindheit auflefen, imdent fie 
anfangs die unbeftinnnteften Begriffe damit verbinden, dann von 
Heit 3u Seit etwas mehr hineinlegen, vielleicht auch ebenfalls auf’s 
Gerathewohl manche Jrrthiimer verbefjern, aber niemtals, fo 
zu fagen, fich ein ficher angelegtes Wortcapital bilden, niemals 
gejhichtlichhe Sorjfehungen itber die Ausdriie anjftellen, mit 
denen fte fo fret umjpringen, fich niemals ihrer Bedeutungen 
nahh Fnhalt und Unfang im Sinne einer Logijfchen Definition 
verfichern. Es ijt hanujig gejagt worden, daf die meiften Strett- 
fragen fic) um Worte drehten. Das ijt gewif wahr, aber 
es fchlieft noch weit mehr ein, als es fcheint. Wortftreitigfeiten 
find nicht, wofiir man es bisweilen halt, blos gerinafiigige 
formelle, Guferliche oder zufdallige Streitigfeiten, die man durch 
eine Erlduterung oder einen Hinweis auf Johnjons Worterbuch 
{chlichten founte. €Es find Streitigfeiten, welche aus der mehr 
oder weniger vollfommenen, volljtandigen und richtigen WUuf- 
faffung der dem Worten beigelegten VBegriffe entitehen: der 
Geift ijt es, der anf immer neue Schwierigfeiten ftsgt, nicht 
etiwa die Sunge allein.” 

»Aier erdffnet fich,” fabrt UW. @Wihiller fort*), nachdem — 


*) Lectures II, p, 621. 


48 


er an jahlreichen, wohlgewahlten Beifpiclen gezeiat, wie felt: 
jamen Selbjttaufchungen die VYerminft durch ihre eigenen 
Schopfungen, die Worte, ausgefeht gewefen, ,dem Sprach- 
forfcher cin weites Feld. Sein Gefchaft und Amt ijt es, die 
Urbedeutiung jedes Wortes anfzufpiiren, fee Gefchichte, feine 
Form: und VBedeutiungswechjel in den philofophifchen Schulen 
oder auf dem Warfte und im Gerichtshofe zu verfolgen. Er 
hat 3u 3cigen, anf welche Weife haufig verfchicdene Beariffe 
wuiter dSemfelben Worte zujammengefagt oder derjelbe Begriff 
mit verfchiedenen Ausdriiken bezeichnet wird... Eine Gejchichte 
folcher WAnsodriike, wie wiffen und glauben, endlich und unendlich, 
wirklich und nothwendig, wiirde mehr als irgend etwas fonjt 
sur Klarung der philofophijchen AUtmofphdre beitragen.” 

Eine hiftorifche Hritif der Worte ijt alleta im Stande, 
unis eine empirifche Kritif der menfchlichen Derimmyt ju geben. 
Diefe von WE Willer Flar erfannte und geftellte 2ufgabe be- 
rechtigte ihn 3u dem tiefen, bis jest jo wentg verjtandenen 
Ausjpruche: ,,2Ulle fiinftige Philojfophie wird ausjchlieglich 
Sprachphilojophie fein.” 

Sede grofe, im Seithewuftfein gereifte Wahrheit, wenn 
fie fchou in Einem genialen Raupte 31m erjten Wale im voller 
Klarheit auflenchtet, von Eimem beredten, wahrheitgliihenden 
Herzen jum erjten Wale mit der vollen Kraft der Ueberjeuguing 
ausgefprochen wird, tritt democh niemals urpldglich wie eine 
Schdpfung aus dem AWichts in die Welt hervor. Wicht felten 
gefchicht es, dah j3wei Geijtesverwandte, ohne von eimander 
su wiffen, den ndmlichen Gedanten gleichzeitig ausfprechen. 
Die Gefchichte der Wiffenjchaften weift mehr als cin Veijpiel 
diefer Art auf, von dem Wewton- Ceibnizjchen Priovitatsftreit 


bis anf dic Entziffernung der Hieroglyphen, von der Entdecung 


———— 


49 


des Sanuerjtoffs bis anf die Formulirung des Princips der 
Erhaltung der Kraft, welches in nenefter Feit fo viel Staub 
aufgewirbelt hat, nun aber mit Recht den Wamen des befchei- 
denen, grofen Denfers Robert Wayer tragt. So hat denn 
auch unabhangig von Mar Willer der mehrgenannte Lazar 
Geiger das erldjende Wort aller Fiinftigen Philofophie cine 
empirifche Hritif der menjchlichen Dernunft durch Kritif der 
Sprache” ebenjo beftimmt ausgefprochen und fefte, fcharf ge- 
jogene Grundlinien des Finftigen Banes in feinen gedanfen- 


tiefen Werfen niedergeleat. 


Aber auch Vorlaufer hat cin jolcher Gedanfe, bald mehr, 
bald weniger deutlich wetterleuchtet er bereits in den Schriften 
der nach dent gleichen Siecle Suftrebenden, bis er endlich ge: 
witterartiq losbricht und die Atmofphdre von Schwaden und 
Diinften Jahrtaujfende alter JIrrthiimer und Vorurtheile reiniat. 
Unter den Vorlaufern der Willer-Geiger{chen Theorie modchte ich 
vor Allen den trefflichen, leider auch bei feinen Lebzeiten — da 
das Schelling -Hegelfhe Phrajenthun alle Geifter beherr{chte 
und alles gefunde Denfen erjftidte — Ffaum beachteten und 
noch viel weniger anerfannten Cheodor Waik nemen. Es 
wird geniigen, einige Sage von ihm anjufiithren, um den Erweis 
ju liefern, dag der Gedanfe der Entwicelungsgejchichte des 
Denfens und der Vernunft im ihm jum Durchbruch gefom- 


nite war: 


yuut Kant,“ fagt er*) ,fann ich die Aufgabe der Philo- 
fophie mur darin finden, eine Wifjenfchaft anfzujftellen, welche 
den Grund aller Erfahrung und diefe aus jener begreiflich 


*) Grundlegung der Pfychologie, Dorwort. 


macht. Ue andere Speculation mug ich von vornhercin als 
eine [eere Speculation erfldren.” 

,uidht Kritif und noch weniger Conftruction, anc Feine 
combinirte Wmvendung beier Fann jum gewiinfchten SGiele 
fiihren, fondern einjig die Entwidelungsgefchichte des 
geiftigen Lebens ift im Stande dtes ju leiften.” 

,Jh habe verjucht, die Pfychologie auf unjzweifelhafte 
phyfiologijche TKhatjachen ju grimden, damit fie und mit ihr die 
Dhilofophie iiberhaupt m Gufunft unabhangig werde von den 
Streitigfeiten philojophijcher Schulen, dte fich nur im vagen 
Ullgemeinbeagriffen herumtreiben, itber welche fich leicht ftreiten 
lagt, weil fich Jeder etwas Underes bei ihnen denfen darf, fo 
lange durch feine vorausgegangene Entwidelungs 
gefchichte der Unterfchied fehlerfreier und verfehlter Begriffs- 
bildiungen feftgeftellt ijt. Die Speculation, welche fich nicht mr 
mittelbar auf die Erfahrung einlaft, wird ewtg ein Gegenjtand 
des Streites fein und bleiben miiffen.” 

Yioch deutlicher fprac) Waik fich in feinen DVorlefungen 
liber Pfychologie aus, indem er erfldrte: ,Den anderen philo- 
jophifchen Disciplinen gegenitber hat die Pfychologie das 
Gefchaft der Begriindung, denn unfere BVegriffe haben 
fammtlich eine Bildungsgefhichte, von welcher thr 
Jnhalt ganz und gar abhdngt. Wijjenfchaftlih brauchbar 
werden fie erft durch dic Nachweifung, dah fie Feine blos 
individuellen und in fofern zufdlligen Gebilde eines unbewuften 
Proceffes find, fondern nothwendige Erfolge einer 
Entwidelung, welche nach allgemein giiltigen, o. h. nach 
folchen Gejefen ju Stande gefommen ijt, denen die 2Ausbildung 
des inmeren Cebens immer und durdhaus unterworfen fem nung.” 


Uljo, was ju leiften fet, das war Wai vollfommen 


flar; mur liber das Wie, itber die Wittel, Ourch welche das 
Siel zu erreichen fei, war er im Ungewiffen. Er wandte fich 
mit wunermidetent reqem Eifer jnerft jur Phyfiologie, dann 
zur veragleichenden Pjychologie, endlich zur Anthropologie, fiir 
welche er fein epochemachendes Sammelwerf: ,,Die AUnthro- 
pologie der Yaturvdlfer” fchuf. 

An der reichfter, Lauterjten, untriiglichften Quelle aber, 
aus welcher die Entwicelungsaefchichte der menfchlichen Der- 
munft 3u fchdpfen hat, ging er ahnungslos voriiber. Diefe ju 
entdecen blieh War Willer und Lazar Geiger vorbehalten. 


qr 


IV. 


Mar Willer und das Problem des Urjprungs 
Ser Sprache. 


,demnt fo parador es auch fcheinen mag, th behaupte, 
dag es uns ganz unmdglich iff, die Jndividuen ju fennen, 
und eit Wittel ausfindig ju machen, die Jndividualitat irgend 
eines Dinges genan 3u beftinimen.” 

,Die allgemeinen Wérter haben nicht nur auf te Ver: 
vollfommung der Sprachen bedeutenden Einflug; fie jmd fiir 
diefelben geradezjn unentbehrlich. Wan wiirde jchlechterdings 
gar nicht rede Fone, wenn es blos Eigenmamen (nomina 
propria) der individuellen Dinge und feine allgemeine Namen 
(nomina appellativa) gabe.” 

Mit diejen wichtigen Wabhrheiten warf der grofe Leibniz 
in feinen ,,Nouveaux essais sur l’entendement humain“ nenes 
Cicht anf das Wefen von Sprache und Denfen. Sein Vor- 
gduger war Lode. Auch er hatte gefagt: ,das, was die 
Worte bezcichnen, find allgemeine Begrijfe (general ideas).” 

/ruuf dieje Art,” fahrt Leibniz fort, imdem er von Ser 
Bildung und Entitehuig der allgemeinen Jdeen redet, _,,liepe 


fich die ganze Lehre von den Gattingen und Arten, die m 


den Schulen fo viel Auffehen macht, aber augerhalb derfelben 


von fo geringem Einfluffe tft, einzig und allein anf die Bildung 
abjtracter Jeen grégerer oder geringerer Uusdehming bringen, 
denen man gewifje MWanten gibt.” 

Sind das nicht auch heute noch fehr beherzigenswerthe 
Worte?P Liegt in ihnen nicht die grofe Lehre, ehe man fich 
ftreitet, mie drangen in der Welt die Arten und Gattungen 
befchaffen fein mdgen, fich erft dariiber zu verftandigen, was 
denn mit diefen Worten gemeint jet, und wie denn folche Beariffe 
in unferem Denfen, unjerem Geijfte entftehen. Dies nebenbet. 

Wenn wir das grofe Rathfel der menjfchlichen Sprache 
is Auge faffen, fo werden wir durch das ndmliche Wunder 
iiberrafcht und geblendet, das die Matur in allenihren Schopfungen 
darbietet, ndmlich die ungehenere, verf[chwenderifche Fille der 
mannichfaltigften formen neben der unglanblich{ten Einfachheit 
und Sparjamfeit der Wittel. Wer follte es, wenn er nicht 
darauf aufmerffam gemacht wiirde, glauben, dag alle menfch- 
liche Sprache fich durch verfchiedenartige Combinationen einer 
ganz geringen Sahl von Lauten realifirt, und dagG alles menfch- 
liche Denfen an diejes unfcheinbare Wittel unaufldslich gebunden, 
fich nur durch diefen héchft einfachen, mechanifchen Wpparat 
der articulirten Cauterzeugung vollzicht P 

Was iff es min aber, das diefem Wechanismus, dem 
Worte, infofern es mr Laut it, Geiftiges entfprichht P Was ift 
der Begriff, die Bedeutung der WorteP Und wie fommen die 
befonderen Beagriffe dazu, gerade durch die befonderen Canute 
ausgedritdt und. dadurch verftandlich 31 werden P Sind es die 
Dinge der Anfenwelt, welche einfach durch phonetijche Seichen 
geitgehalten und in unferem Geijte mit Hilfe derfelben repro- 


ducirt werden, etwa nach dent Ausfpruche Ciceros: ,,Vocabula 


o4 


sunt notae rerum,“ ein Wusfpruch, der in der ganzen Ver- 
gangenheit bis auf Leibniz und Locke das Wefen der Sprache 
3u erfchdpfen fchien? 

Solche Fragen muften einer erneuten, ernfthaften Kritif 
unterzogen werden, wenn auf das ungemein wichtige und 
duntle Problem des Urfprungs der Sprache nenes Licht fallen 
follte. Und der Seitpunft jchien gefommen, jenen Fragen 
energt{cher und erfolgreicher ju Leibe 3u gehen, wenn anders 
die grofartigen Refultate der veraleichenden Sprachforjchung 
nicht blos ein aufgeftapeltes Wifjensmaterial, fondern ein werth- 
volles Befigthum der Wenjchheit fiir die Entfcheidung der 
legten und hochiten philofophifchen und anthropologijchen fragen 
fein follten. 

Hier bewahrte fich denn der Cieffinn und philofophifche 
Geift Mar Willers, welcher juerft von allen Sprachforjchern 
mit der Sacel des empirifchen Wiffens, das er jugleich unter 
den Erjften gefsrdert hatte, in jene odunflen Ciefen hinabju- 
feuchten wagte, aus denen allein eine befricdigende WUntwort 
liber die grdéfte Rathfelfrage, Urjprung des AWenjchengeiftes , 
3u erbringen tft. 

Seinen Uusgangspunft nahm Willer von den oben an- 
gefithrten Unfichten Lockes iiber das Wejen und die Eigenart 
der menfchlichen Sprache. €r citirt die Worte des trefflichen 
englifchen Denfers, der, nachdem er gezeigt, in welcher Weife 
univerfelle deen entftehen, wie der Geift, nachdem er diefelbe 
Sarbe am Kalf, am Schnee und an der Uilch beobachtet hat, 
diefe einjelnen Wahrnehmungen unter dem allgemeinen Veariff 
der Weife jzufammenfaft, — dann fortfdhrt: , Wenn es 
3weifelhaft erfcheinen mag, ob nicht die Chiere ihre Fodeen 
auf jenem Wege bis ju einent gewiffen Grade verbinden oder 


ermeitern Fonnen, fo glaube ic) doch foviel beftimmt behaupten 
3u fomnen, dag das Vermdaen der AUbjtraction ihnen durchaus 
nicht innewohnt, vielmehr das Fafjen allgemeiner Jdeen einen 
wefentlichen Unterfchicd jwifchen Wenfch und Chier begriindet 
und eit Dorjug ijt, den die Thiere Feineswegs erreichen Fornnen.” *) 

Diefes YDermdgen aber der Abjtraction oder der allge- 
meinen “Ydeen, fahrt Mar Willer fort, wird einzig und allein 
realifirt durch die Sprache, welche dem Wenjchen ausfchlieflich 
und infofern jufommt, als er Wenfch iff, Das, was auferlich 
Sprache ift, tft innerlichh Dernunft. Sie ift das handgreifliche 
Unterjcheidungszeichen jwifchen Wenfch und Chier. Das Ge- 
heimnig der Wenjchwerdung Fann Saher nur dsurd) die Ent: 
Seung des Urfprungs der Sprache arufgehellt werden. Was 
hat min die Sprachvergleichung aus dent bisher erforfchten 
Waterial fiir neue AUuffchliffe ju Cage gefdrdert, mit deren 
Hilfe diefe Frage mit mehr Hoffming auf Erfolg angeariffen 
werden Fonnte P 

ydas Refultat meiner Vorlefungen,” fagt unfer Autor, 
nit das folgende: WMachdem wir alles nur irgend Erflarbare 
im Wachsthum der Sprache erfldrt hatten, blieb fchlieflich 
als das allein unerflarliche Refiduum die fogenannte Wurjel 
iibrig. Diefe Wurzeln Hilden die eigentlichen VBeftandtheile aller 
Sprachen. Diefe Entdedung hat das Problem des Sprach- 
urjfprungs ungemein vereinfacht. Sie hat jenen fchwarmerijfchen 
Schilderungen der Sprache, welche dem Beweife fiir den gétt- 
lichen Urjprung der Sprachen beftandig voranjugehen pflegten, 
jede Entfchuldigung entzjogen. Wir werden mut nicht langer 


*) Mar Miller, Dorlefungen iiber die Wiffenfchaft der Sprache I, 
Seite 305. 


von jenent wunderbaren Werkeng ju horen befommen, 
welches Ulles, was wir fehen, héren, fchmecen, berithren und 
riechen, auszudriien vermag, welches das athmende Ubbild 
des Weltalls ift, welches den erhabenen Gefithlen unferer 
Secle form und den Fiihnften Craumen unjerer Phantafie 
Korper verleiht, welches in genauer Gedanfenperfpective Ver- 
gangenheit, Gegenwart und Sufunft jujammen ju gruppiren 
und iiber alle Dinge die wechfelide Farbe der Gewifheit, des 
Sweifels, der Sufalligfeit auszugiefen vermag. Alles diefes 
ift vollfommen wahr, aber es ift nicht [danger wunderbar, 
wenigftens nicht im Sinn eimes Warchens ans Canfend und 
eine Macht. Der fpeculative Geift fihlt, wie Dr. Sergufon fagt, 
bei der Dergleichung der erjten und legten Stufen des Sprachen- 
fortichritts diefelbe Urt von Erftaunen, wie ein Reifender, der 
allmahlich cinen Bergabhang erftiegen hat und nun, indem er 
ploglich in einen Ahgrund von unermeflicher Ciefe hinabfchaut, 
nur durch itbernatiirliche Hilfe zu diefer fchwindelnden Hohe 
emporgeftiegen 3u fein glaubt. Gewiljen Geijtern erfcheint es 
wie eine Cdufchung und Demiithigung, fich an der Hand der 
Gefchichte von jenem hohen Gipfelpunkt wieder hinabfiihren 
xu Laffen. Sie ziehen das Unwer{tandliche, das fie bewundern, 
dem DVerjtdndlichen, das fie nur verftehen Fonnen, vor; aber 
dem gereiften Geifte ijt die WirflichFeit anzichender als die 
Fiction und die Einfachheit winderbarer als die Jdeenverwicke- 
luig. Die Wurzeln mdgen trocen erfcheinen, wenn man fie mit den 
Dichtungen Goethes veraleicht, und dennoch liegt etwas viel Wun- 
derbareres in einer Wurzel als in der ganjen FKyrif der Welt.” 

/Oas find Senn mun diefe Wurzeln P Ant unferen moder: 
nen Sprachen laffen fie fic) mw durch wiffenfchaftliches Analy- 


firen auffinden und felbft bis in die Seiten des Sanferit juviice 


irr 


ol 
“I 


fornnen wir behaupten, daf eine Wurzel eigentlich niemals als 
Women oder Verbum im Gebrauch war, aber urfpriinglich 
wurden fie doch fo gebraucht mid im Chinefifchen ift uns 
gliiclicherweije ein Reprajentant jener urf[priinglichen radicalen 
Sprachftufe erhalten, welche wie Granit unter allen anderen 
Schichten der menfchlichen Rede fich hinjicht. Diefe Wurjeln 
find alfo nicht, wie gewShnlich behauptet wird, blogfe wiffen{chaft- 
liche Ubftractionen, fondern fie wurden urfpriinglich wie wirf- 
liche Wérter gebrancht. Was wir mum gern enthiillen mdchten, 
ift dies: Welchhe innere geiftige Phafe entfpridht 
diefen Wurzeln als den Keimen der menfhlichen 
Weoe Pe" 

Wie viel nene Wahrheit in einfacher, {chlichter form! 
Wie viel Belehrung und Anrequng fiir das _ philofophifche 
Denfen — leider fiir die grofe Sahl oder heutigen Philofophen 
die Stimme des Rufenden in der Wiifte! Das Problem des 
Sprachurfprungs auf eine fo einfache, concrete form gebraet, 
ein fchmaler Pfad, anfagezeigt, der, wenn auch durch dunfeles 
Dicdicht und Geftriipp, doch ficher zum SGiele fithren mufte. 
Sorfht nach dem Urfprunge diefer Wurzeln, diefer Refidua, 
die in dem Tiegel des fprachforfchenden Scheidefiinftlers ge- 
blieben find; die Sprachwiffenfchaft breitet den Sellenjzujtand 
des Sprachlebens vor euch aus. Omne vivum ex ovo, die 
ova, welche die Sprachphyfiologie in ihren empirijchen Sor. 
fchungen entdect hat, find die Wurzeln. Durch deren Ent: 
widelung und unausgefestes Wachsthum find alle befannten 
Sprachen der Erde ju den windervollen Gebilden, dem Korper 
der Vernunft und dem Werkseug des Geiftes, emporgeftiegen. 
Mit diefon Wurzeln und ihrent geiftigen Inhalt hat der Wenfch 
die ganze Schdpfung zu feinem geiftigen CEigenthum gemacht, 


58 


indem er fie gleichfam in diefe Formen gofk oder mit deren 
Hilfe umprdaate. 

Woher nun diefe WurzelnP Wie entftanden fieP Wie 
wurden fie daucrnder Beli des Menfchen?P Wie gelangten 
fie 3u ihren Bedeutungen? Als War Miller feine Vorlefungen 
hielt, waren vor3iiglich zwei Unfichten bet den Sprachgelehrten 
im Schwange, welche energifch beFampft und aus dem Cempel 
der Sprachforfhung hinausgejagt 3u haben, fein ausfchlief- 
liches und dauerndes Verdienft tt: 

Diefe beiden Cheorien beruhten aber auf emem einjigen, 
allgemein verbreiteten, fehr natitrlichen und darunmt auch wohl 
verzeihlichen Jrrthum. Wamlich, da die Sprache Alles durch 
Caute ausdriift, fo lag es wohl fehr nahe, jum mindeften fiir 
thre Elemente, im unferemt Falle aljfo die Wurjeln, nach dem 
caufalen Sujammenhang 3n forfchen, der jwifchen dem Lante 
und fener Bedentung vorhanden gedacht wurde. 

Ant beliebteften bet den Sprachforjchern alter und nener 
Seit war die Theorie der Schallnachahnuing, die onomato: 
poetifche oder, wie War Willer fie bezcichnete, die Bauwanu- 
Theorie. ,Da ein Vorgang in der Augenwelt,“ fagt Geiger, 
_teinen anderen Dergleichungspunft mit einem Worte bietet, 
als fofern er etwa hérbar und zwar mit einem dem Worte 
irgendwie ahnlichen Klange hérbar ijt, fo ijt es begreiflich, 
wie gerade diefe Hypotheje etwas bejonders Eimleuchtendes und 
Gewinnendes haben mochte.” 

Schon der gdttlihhe Platon hatte in feinem nie genng 
3 bemmndernden Dialog ,Kratylos” anf die WosglichFeit eines 
folchen Urfprungs der Worte hingewiefen, obfchon er fogleich 
tief einfichtsvoll hinjufegte: ,,Die Stimmen der TChiere nachahmen 


heigt durchaus nicht fie benennen.” 


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: 
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a 


ae. 


Anch Cetbniz*) wollte die Schallnachahmung als eine 
ergiebige Quelle jzahlreicher Wurzelwdrter anerfannt wiffen, 
namentlich mit Bez3ug anf die Stimmen der Chiere. ,,Dahin 
aehort 3. B. das lateini{che Wort coaxare,“ fagt er, ,,welches 
von den Frdfchen gebraucht wird und mit dem deutichen quafen 
iibereinfommt. Das Gefchret und Carmen diefer Chiere fcheint 
iiberhaupt vielen anderen deutfchen Weortern ihren Urfprung 
gegeben 3u haben. So wie die Frdjche einen gewaltigen Carm 
perurjachen, fo mwendet man hentiges Cags dies Wort anf 
die Ieeren Schwager und Planderer an, welche man im Demi 
nutiv « Quaceler» nennt. Da aber der Ton oder das Gefchrei 
der TChiere cin Seichen des LCebens ijt, und man dsaraus, ehe 
man es ficht, das Lebendige erfennt, fo ijt davon das alte 
dentiche Wort «que» (engl. quick) hergeleitet. Davon find 
noch deutliche Spuren in der heutigen Sprache: Quecilber = 
vif-argent, erquicen heigt ftarfen, und das unausrottbare, 
iberall anf den Aecern umberlaufende Unfraut wird mit Quece 
bezetchnet.” Es bedarf fam der Bemerfung, dak das Sachliche 
diefer Dergleiche unhaltbar ift. 

Herder huldigte gleichfalls diejfer Cheorie; er lief die 
Stimmen der Chiere fiir den beobachtenden Menjchengerft zum 
Werfworte werden. ,,Du bift das BlSfende,” fagt der Wenfch ju 
dem Schafe und bald ver{chwiftert fic) der Laut des Chieres mit 
deffen Dorftellung. Ebenfo nahn auch W.v. Humboldt in feinem 
genialen Werke: ,,Ueber die Verfchiedenheit des menjchlichen 
Sprachbaus und ihren Einfluf auf die geiftige Entwicdehing des 
Menfchengefhlechts” die Machahmung der MWaturlaute weniajtens 


als einen wichtigen factor bei der Sprachentftehung an, obfchon 


*) Nouveaux essais, livre III, chap. 2. 


60 


auch ihm die Schwdche und das WMWifliche diefer Hypothefe, 
die aus der Wenfchen{prache in einer gewifjen Seit ein Concert 
von Chierftimmen machte, nicht verborgen blich: ,,Diefe Be- 
zeichnung ,” fjagt er, ,,ift gleichfam eine malende; fomtie das 
Bild die Art darftellt, wie der Gegenftand dem Auge erfcheint, 
zeichnet die Sprache dic, wie er vom Ohre vernommen wird. 
Da die Nachahmung hier immer unarticulirte Tone trifft, fo 
ift die Articulation mit diefer Be3zeichnung gleichfam im Wider: 
ftreite, und je nachdent fie ihre Watur 3u wenig oder ju heftig 
in diefem Swiefpalte geltend macht, bleibt entweder ju viel 
des Unarticulirten brig oder es vermifcht fich bis zur Unfennt- 
lichfeit. Uus dicfem Grunde ijt diefe Bezeichnung, wo fie irgend 
ftaré hervortritt, nicht von einer gewiffen Rohheit freizufprechen, 
fonmmt bei einem reinen und Frdftigen Sprachfinn wenig hervor 
und verliert fic) nach und nad) in der fortjchreitenden Uns- 
bildung der Sprache.” 

Diefe Theorie, fo einleuchtend und verlodend fie auf den 
erften Blick fcheinen mag, fteht im Widerfpruch mit allen Chat: 
fachen der bis jest erforfchten Sprachen. Diefe Wahrheit 
jprah War Willer mit der grdften VBeftimmtheit und Ent: 
{fchiedenheit aus und befeitigte damit endgiiltig dice immer wieder 
fehrenden Derfuche, den Sprachurjprung aus etiem Quell 
herzuleiten, der ftets lode und immer wieder im Sande ver: 
rinnen nuifte. Dir entgeanen hierauf”*), fagte er, ,,daf 
allerdings in jeder Sprache durch blofe Ton und Schallnach- 
ahnuing gebildete Wérter ju finden find, daf diefe aber einen 
duperft Fleinen Bruchtheil des Wortjchagfes bilden. Sie find 
Spielzeuge, nicht We rfzenge der Sprache und jeder Verfuch, 


*) Dorlefungen iiber die LVijjenfchaft der Sprache I, Seite 309. 


VS 


6| 


die gewdhnlichften und nothwendigften Worter auf imitative 
Wurzeln juriicksufiihren, wird fchlieplich ganglich fehlichlagen .. 
Wir fren die WoSglichfeit nicht leugnen, das eine Sprache 
nach dem Princip der Nachahmung hatte gebildet werden 
founen; wir behaupten aber, dag bis jeft noch Feine gefunden 
worden, welche wirflich nach diefem Princip gebildet tft... 
Es gibt allerdings einige Namen, welche offenbar aus Tonnach- 
ahmung gebildet find, 3.3. Kufuf. Uber Worter defer Art gleichen 
fiinftlichen Blumen, denen die Wurzel fehlt. Sie find unfruchtbar 
und uifahig, auger dem einen Gegenjtand, defjen Con fie nach- 
abmen, noch irgend etwas ju bezeichnen . . . Da das Wort 
Kufuf nichts ausjagt, als das Gefchrei eines individuellen 
Yogels, fo fonnte es anch nie jum Ausdruce irgend einer all- 
gemeinen Eigenfchaft, an der andere TChiere Theil haben 
fonnten, gebraucht werden... Kufuf fornte nie efwas anderes 
bedeuten als Kufuf, und wahrend ein Wort wie Rabe (welches 
vow der bedeutungsvollen Wurzel ru — ranfchen, larmen, 
{chreien abgeleitet ijt) fo viele vermandte Worter anfweijen 
fain, von rumor bis rufen, von raunen bis jum engl. to rouw, 
fteht Kufuk ganz ecinfam und vereingelt da, wie ein Hageftol;, 
ein ditrrer Pfahl in einer lebendigen, frijch belaubten ede.” 
,20 febr wir fortwahrend in Verjuchung find, einen 
inneren Sujammenhang jwifchen dem Ton und den Bedentungen 
der Weérter in unferen heutigen Sprachen anjunehmen, mdem 
wir 3. B. in squirrel das Rajcheln des Eicdhhdrnchens, in Krahe, 
Kage u. jf. w. die eigenthiimlichen Laute diefer Chiere ju ver- 
nehmen glauben, fo [fen fich doch alle diefe Onomatopsien 
in Wichts anf, fobald wir an der Hand der Sprachwijfenjchaft 
die Wortftdmme, aus welchen die Worter gebildet find, suri: 


verfolgen bis auf ihren Urfprung aus den Wurjeln. Nit 


einem Worte: Es ift eine unumftsgpliche Wahrheit, dag die 
uns befannten Sprachen nicht aus den branfenden, 3ijchenden, 
raffelnden, Fnifternden, ranjfchenden, frachenden Tonen der Watur 
aebildet find, fondern auf anderen Urfprung hinveijen.” 
Die z3weite Cheorie, die gleichfalls bedeutende Vertreter 
utter den Sprachphilofophen 3zahlte, Icitete nach dem Vorgange 
Epifurs und unter den Meneren namentlih De Broffes’ 
(Traité de la formation mécanique des langues {756*) und 
Condillacs die Sprache von den Empfindungslauten des 
Wenjchen her. Diefe Unficht, welche Gefchrei, Freunden und 
Schmerzrufe als die erften Unjakpunfte menjfchlicher Rede 
betrachtete, ward von War Willer mit furzer, treffender Be- 
xcichnig die Duh-Puh- oder interjectionelle Cheorie genannt. 
2tuch iiber diejfe Cheorie fprachen die Ergebnijje der 
Sprachforfchung das VDernichtungsurtheil. ,, Es gibt ohne Sweifel,“ 
fagte War Willer**), ,in jeder Sprache Jnterjectionen und 
einige dSerjelbem modgen fich weiter tiberliefert und in Wortzu- 
jammenfebungen verirrt haben. Uber Sprache ijt das nicht. 
Die Sprache fangt eben da an, wo die Anterjectionen auf- 


héren. Es befteht ein ebenfo grofer Unterfchied zwifchen einem 


*) Da diefe Cheorie tro oer fonnenflaren Widerlequng War Miillers 
auch heute noch unter den Uaturforfchern jzahlreiche Unhdanger findet, fo 
diene diefen zur Uachricht, da fie ihre Phantafie nicht anjzuftrengen nodthia 
haben, fondern daf fie in diefem aeiftvollen Suche Ulles finden werden, 
was etwa Derniinftiges auf einem widerfinnigen Grund anfacbant werden 
Fann; aljo daf das r, die litera canina, das Unangenehme bezeichnet, daf 
die Stimme des Schmerzes tief oh, heu, hélas, die des Erjtaunens hdher 
oh, ah, die der Freunde Furz und wiederholt Ha ha ha, he he he, die des 
Miffallens und Verabfeheuens labial fi, vae, puh, pfut, die des Fweifels 
und der Derneinung nafal hum hom, non ift u. f. w. und da davon die 
nothwendiajten Worter abjtammen |! 


*) Dorlejungen iiber die Wiffenfchaft der Sprache I, Seite 315, 


wirklichen Wort, wie 3. B. «lachen» und der Jnterjection ha, 
ha!, 3wifchen «leiden» und o weh!, als jwifehen dem unvill- 
Fiirlichent 2Uct und Gerdufch des Wiefjens und dem Verb «niefen.» 
Dortrefflih hat fchon Rorne Cooke die ungeheure Khift 
zwifchen Empfindungslauten und Sprache aufgededt. « Das 
Reich der Sprache» fagt er, «ift auf den Sturz und Untergang 
der Interjectionen begriindet. Ohne die funjtreichen Erfindungen 
der Sprache wiirde das Wenfchengefchlecht nichts als Jnter- 
jectionen befeffen haben, um durd) diefelben alle jeine Gefiihle 
fih einander miindlich mitjutheilen. Das Wiehern des Pferdes, 
das Briillen der Huh, das Bellen des Hundes, das AWiejen 


Hujten, Stdhnen, Kreijchen und jedes wnwillfitrliche Auffchreten 


/ 


wiirde dann faft ebenfo guten Anfpruch auf den WMamen 
Sprache haben, wie die Jnterjectionen. Freiwillige Jnterjec- 
tionen werden nur da angewandt, wo das plobliche Eintreten 
oder die Heftiafcit einer Gemiithsaffection oder Leidenfchaft 
den Wenjchen in feinen Maturzujtand juriicverfegt und ibn 
fiir einen WUngenblit den Gebrauch feiner Sprache vergefjen 
[aft oder wenn irgend eines Umjtands wegen die Hiirze der 
Sett ihm den Gebrauch der Sprache nicht geftattet.» 

,e£s iff wahr, dag eine Furze Jnterjection wirffamer, 
pajjender, beredter fein Fann, als eine lange Rede: es ijt wahr, 
dag, mit [ebhaften Bewegunigen, dem Ausdrucd des AMuges 
verbunden, eit Schret den Inhalt einer Empfindung weit vor- 
zliglicher ausdriien fann, als alle Worte — aber Sprache 
ift das nicht, weniagftens nicht die Sprache, die uns als 
Menjchenfprache iiberall entgegentritt, wo wir Wenjfchen an 
treffen .. . Was die DVerfuche betrifft, einige unferer Wort- 
formen etymologijch von blogen Jnterjectionen herjzuleiten, fo 


werden fie immerdar mifggliiden und zwar wegen des nam: 


04 


lichen Jrrthums, der uns ju der AUnnahme verleitet, af m 
dent Klange der Worte ein ansdrudsvolles Element liege.” 
Beide Cheorien, fowohl die Bau-Waw wie die Puh-puh- 
Theorie, werden fchlieflich durch diefelbe philofophijche Be- 
trachtung, deren Kernpunft die Eingangs diefes Wbfchnitts 
erwdhnten Worte LCeibnizens enthalten, 3u Salle gebracht: 

Wenn die BVBeftandtheile der menfechlichen Rede entweder 
ein bloges Auffchreien oder Machahnmungen der von der Matur 
hervorgebrachten Canute waren, fo wiirde es fchwer einzujehen 
fein, warum die Chiere der Sprache ermangeln follten. cht 
blos der Papagei, fondern auch der Spottvogel und andere 
fFonnen ja articulirte und nicht articulirte Canute fehr gliicklich 
nachhahmen, und es gibt faft fein Chier, das nicht Jnterjec- 
tionen wie bd, ya, hif u. f. w. hervorbringen fdnnte. €s tit 
auch flar, dag, wenn das Saffen allgemeiner Jdeen einen 
vollfomimenen Unterfchicd zwifchen Wenfch und Chier begriinden 
joll, eine Sprache, welche nur aus Jnterjectionen und Mach 
ahimungen thiertfcher Canute hervorgeht, nicht beanfpruchen 
fonnte, das Gugere Seichen jener unterjcheidenden Fahigfeit 
des Weenfchen zu fein. We Weorter wiirden, wenigftens ju 
Anfang (und dies ijt Ser einzige Punft, welcher uns hier 
interejfirt), die Seichen individueller Eindriice und Percep- 
tioien gemwejen und erft ganz allmahlich dem Ausdrude allge- 
meiner Been angepaft worden fein.” *) 

, Die durch eine nach den Grundfagen der vergleichenden 
Sprachforjhung durchgefithrte Wnalyje der Sprache uns dar- 
gebotene Cheorie fteht jenen Unjichten fchroff entgegen. Wir 
gelangen {chlieplich 3 Wurzeln, und jede driidt eine generelle, 


*) Dorlefungen iiber die Wiffenfchaft der Sprache I, Sette 518. 


nicht eine individnuelle Jee aus. Fedes Wort enthalt, 
wenn wir es jergliedern, cine prddicative Wurzel in fich, nach 
welcher der Gegenftand, anf welchen es bezogen wurde, wis 
ferntlich wird.” 

Mit anderen Worten, nicht dag durch einen beftimmten 
Gegenftand der Aupgenwelt ein bejftimmter Cant oder Schrei 
aus dent Jimeren eines empfindenden und wahrnehmenden 
Wefens hervorgelodt wird — Steinthals Reflerlaut-Cheorie 
entfpricht etwa diefem Standpunfte —, macht das Wefen der 
Sprache aus, fondern, daf mit dem Laute etwas gefagt, daf 
dabei etwas gedacht und von dem Gegenftande etwas pra- 
dicirt wird. 

Und mit Ricficht hieranf fprach War Willer eine grofe, 
ganz wunberechenbar wichtige Wahrheit aus, die ihm bei den 


“i 


Einfichtigen den Wamen ,,dcr Darwin des Geiftes” eimtragen 
wird, indem er die ununterbrochene, in fortgefebter Entwicelung 
befindliche Siliation der Begriffe flar und beftimmt als 
eine unbezweifelbare Wahrheit, als ein wichtiges Ergebuif der 
Sprachforfchhung hervorhob. 

,ptuemals ,“ fagte er, ,fommt es in der Gefchichte der 
Sprachentwicelung, foweit wir diefelbe itberfehen Fonnen, vor, 
daf ein Object oder ein Begriff fich urploglich, wie aus dem 
Wichts, alfo durch cine Urt von generatio aequivoca mit einem 
Caute verbunden hatte. Das Object eviftirt nur durch den 
Begriff, den wir von demfelben haben, fiir unjer Bewugftfem, 
der Begriff felbjt aber eriftirtt nur dOurch den Laut, d. h. 
jeinen Korper, fein Seichen, wenn wir fo wollen.” 

Genau ju demfelben Refultate gelangte auch Lazar Geiger 
und ich will auc hier, wie es der auferordentlichen Wichtigfeit 


der Sache entfpricht, die bedentjamften Stellen aus deffen 


i) 


66 


,lriprung der Sprache” (Seite [27 und 64) anfithren, wodurd 
der War Wiillerfche Gedanfe eine weitere Beftatigung und 
hellere Beleuchtuig erhalten wird. 

du der geiftigen Matur gibt es fo wenig wie in der 
forperlichen einen Sprung, de geijtige Entwicelung fest fich 
aus eben fo Fleinen Elementen wie die Forperliche 3nfammen.” 

,Langjame Entwicelung, Rervortritt des Gegenfakes 
aus unmerflichen UWbhweichungen ijt hiftorijch tiberall die Urjache 
der Bedeutungs - Vertheilung einer- und des DVerftandnifjes 
andererfeits . . . Sch habe feinen Punft anfzufinden vermocht, 
wo irgend ein Begriff auftanchte, der nicht von einem 
anderen fchhoon vorhandenen abftammte, wo alfo der 
Geift gezwungen ware, fich fiir irgend eine Vorjftellung ein 
Seichhen von anfen, etwwa an einem Schalle, 3u juchen, oder 
auch in Solge eines nenen Eindruces ju einer nenen Cautbe- 
wegung Veranlaffung ju bieten.“ 

Geiger ftiiRt feine Unficht, wie ans diejen Worten erjichtlich, 
auf den Licblingsgedanfen des grogfen Leibniz, dag nirgends 
in der Matur ein Sprung vorhanden, daf vielmehr alle Der: 
dnderungen fich nur als Uebergdnge an dem unermeflich Kleinen 
vollzichen, cin Gedanfe, der auch fchon, wie Leibniz ausdritcdlich 
hervorhebt, die Frage nach den Swijchenjtufen jzwifchen Chier 
und Wenjch involvirt, die, obwohl unter den Criimmern emer 
ungeheuren Vergangenheit begraben, dennoch als eimmal vor- 
handen, als wirflich durchlebt gedacht werden miifjen, und an 
deren Wiederbelebung oder Reconjtruction eben Sprachwifjen- 
fchaft und Philofophie mit vereinten Kraften arbeitet, mdem 
fie den verfchiitteten Quell des Urjprungs der Sprache wieder 
aufzudecen bemiiht find. 


Aber auch der Hauptgedanfe der Filiation oder des gene: 


67 


tifchen Sujammenhangs aller menjchlichen Begriffe war wohl 
jchon in dem Geijte des gewaltigen Leibniz gedacht, wenn auch 
nicht in der Klarheit, wie thn War Willer und £. Geiger, 
von den Hdhen oder Wiffenfchaft auf das vor ihren Blicen 
weit ausgebreitete Waterial herabjchauend, auszufprechen ver- 
mochten. Denn es gibt faum einen Gedanfen, der heute machtig 
die Geifter bewegt, der nicht fchon im Keime in CLeibnizens 
Schriften zu finden ware. Sum Veweis fithre ich mur folgende 
Stelle aus jeinen ,,Nouveaux essais“ (IV chap. 4) an: 

nQaben Sie es fchon vergeffen, lieber Philaleth, das 
unfere Jdeen urfpringlich im unferer Seele liegen und dag 
alle Gedanfen aus ihrem eigenen Grunde fommen, 
ohne dag andere Creaturen einen unntittelbaren Einflug auf 
die Seele haben?” fagt er als Widerlegung dser Lodejchen 
Anficht, dag alle Jdeen ihren Grund in der Sinnlichfeit hatten 
und aus diefer herftammten. 

Sit nun diefer Gedanfe wahr, und alle Sprachbetrachtung 
und Sprachfor{chung beftdtigt ihn, predigt ihn laut, wie diefe 
ja wohl auch erft durch Dorausfegung feiner Wahrheit als 
Wifjen{fchaften méalich geworden find, dann ift ein unfchab- 
barer ficherer Boden fiir alle weitere forjchung gewonnen 
und das bisher in weiter, nebelnder FSerne fchwanfende Problem 
des Urfprungs der Sprache ijt uns auf cinmal in erreichbare, 
deutlich umarenzte Mahe des Gefichtsfreijes geriict. 

Die Folgerungen, welche War Willer felbjt ans diefer 
wichtigen Grundwahrheit jog, find in grogen Siigen etwa folgende: 

|) Die Lante find in der Sprache iiberall und ju allen 
Seiten bedeutungsvoll. Durch legtere Eigenjchaft allein 
find fie Sprachlante. Jnterjectional- und mimetifche Theorie 
find fomit hinfallig. 


68 


2) Nichts ift in der Sprache todt, was nicht einft [ebendig 
war. Wit diefem Sage wird die fcheinbare Ausnahmsftellung, 
welche Slerionsendungen, Bildungsjilben und der ganze formale 
Apparat der Sprache einnehmen, erflart und befeitigt. Ein 
frucht-bar fonnte nicht entftehen, menn nicht die 3weite Silbe 
bedentungsvoll war; wenn anch dem heutigen Sprachgefiihl 
die Bedentung entfchwunden ift, fo Flart uns die Wiffenfchaft 
dariiber auf, daf das Wort fo viel als frucht- bringend 


bedeutete. 
3) Don einfachen Anfdngen — einfilbigen, primdren 
Wurzeln — ging die Sprache juerft durch die fecunddren und 


tertidren Wurjzeln, dann Ourch die ibermuchernde Bildungs- 
und SFormenfiille der polyfynthetifchen oder agglutinirenden 
Stufe 3u der Klarheit und Vejtimmtheit und dem wunderbaren 


Gedanfen- und AWusdrucs-Reichthum der inflerionalen und 


modernen Sprachen voran. Der Weg der Wijfenfchaft ift. 


natiirlich der entgegengejebte. Das Siel der Sprachwijjenjchaft 
fteht da, wo die Wiege aller Sprache ftand. 

4) Das Geijtige, was den Wurjeln entfpricht, find fefte, 
beftimmte Dernunft-Elemente, faft alle praddicativer WMatur, 
nur wenige, ndnilich die Pronominalftanune, find demonftrativ., 
Wie alfo die Wurzeln als Laute phonetifche Cypen find, fo 
entiprechen thnen im Geijte Dermunft- oder Gedanfen- Cypen, 
jene find phonetical types, dieje conceptual types oder rational 
concepts. Diefe find alfo, um es nochmals ju fagen, fejte 
Formen und Wormen mit welchen die Sprache, d. h. das Ver: 
nunft-Denfen, die ganze Schdpfung geprdgt und fic ju eigen 
gemacht hat. 

5) Der urfpriimgliche geijtige Jnhalt, die altejten Be- 


deutungen der Wurzelu, foweit die analyfirende Sprachver- 


eS a ee 


=) Foe 


gleichung diefjelben erreichen Fann, waren nichts AUnderes, 
als finnlichhe Wahrnehnunaen, Sinneseindriife, sensuous 
impressions. | 

Bei diefem legteren Sage, als der Grenjze, bis 3u welcher 
unter War Willers Heeresleitung die Cruppen vorgefchoben 
waren, welche die bisher fiir uneinnehmbar gehaltene Sejtung 
ftiirmen follten, mug ich etwas anusfithrlicher verweilen. Denn 
von thm aus wagte Mar Willer felber fchon einen Sturm, 
welcher aber nicht erfolgreich fein fonnte, weil jener Sag 
zwar eine Wahrheit enthalt, aber nicht die ganze Wahrheit, 
vielmehr nur die Halfte, die eine Seite des wahren Sachver- 
halts ausfpricht. 

Bh fithre, der Wichtigkeit des Gegenftandes halber, 
feine eigenen Worte an: ,,All roots i. e. all the material 
elements of language, are expressive of sensuous impres- 
sions, and of sensuous impressions only.‘* (Lectures on 
tie Science of Language. 9 edit. II, p. 372). ,,The only 
definition we can give of language during that early state 
is, that it is the conscious expression in sound, of impres- 
sions received by all the senses.“ (Chips from a 
German Workshop vol. II, p. 54). 

Sch fagte: von diefer Pofition aus wagte Mar Miller 
einen Sturm auf die geheinnifvolle Sejte, die den Urjprung 
der Sprache und Vernunft bis hente den Blicken der Sterb- 
lichen verfchlof. Die in Gemdgheit ju diefem Grundgedanten 
von ihm aufgeftellte Cheorie ijt folgende : *) 


*) Dorlefungen iiber die Wiffenfchaft der Sprache. Deutjd) von 
Bottger 1, Seite 531. — Jc mu§ hier ausdriiclich hervorheben, das} Prof. 
War Miller von diefer an Heyfe anlehnenden Cheorie felber ntemals 


rao) 


,es gibt cin Gefeg, welches fich faft durch die gejammte 
Natur hindurchzieht, daf jedes Ding, das ift, einen Klang von 
fi) gibt. ede Subjtan3 hat ihren eigenthiimlichen Klang. 
Wir Fanen auf die mehr oder weniger vollfommene Structur 
der Wetalle aus ihren Vibrationen fchlieBen, aus der Antwort, 
die fie ertheilen, wenn man fie nach ihrem Maturflange fraat. 
Gold erflingt anders als Sinn, Holz anders als Stein, und 
verfchicdene Kldnge entftehen, je nachdem die Erjchiitterung 
der Kbrper verfchicden ift. Ebenjo war es mit dem Wenfchen, 
dent vollfommenften Organismus unter den Werfen der Matur. 
Der Menfch war in feinent vollfommenen Urzuftande nicht, wie 
die Thiere, allein mit dem Vermdgen begabt, feine Empfind- 
wuigen durch Bnterjectionen und feine Wahrnehmungen durch 
Onomatopste ausjndriiden, er befag auch das VDermgen, den 
Dernunftconceptionen feines Geiftes einen befjer, fener articu- 
lirten WUnsdrudk ju geben. Diefes Vermdgen hatte er nicht 
felbft herausgebildct. Es war ein Jnftinct, cin Fnftinct des 
Geiftes, ebenfo unwider{tehlich, wie jeder andére Jnflinct. Der 
Menfch verliert feine Anjtincte, indem er aufhdrt derfelben ju 
bediirfen. Seine Sime werden fchwacher, wenn fie — wie 
der Gernchfinn — unniig werden. So erlofch jenes fchdpferifche 
Dermdgen, welches jeder Dorftellung, mdem fie das erfte 
Wal durch das Gehirn drang, einen lautlichen Ansdruc verlich, 
fobald als es feinen Swe erfillt hatte. Die Sahl diefer 
phonetifchen Cypen mug ju Anfang fajt unendlich gewefen 
fein und mur durch den Procef der natiirlichen AUnslefe, den 


wir noch in der alteften Gejchichte der Weéorter heobachten 


befriediat war, da} er diefelbe ftets nur als WWothbehelf anfah, wie er 
dent auch in feinen ,,Dorlejungen tiber Darwins Sprachphilofophie” nach 
einem anderen Wnsweg fuchte. 


c| 


fonnen, ward es mdalich, daf ganze Crauben von mehr oder 
weniger fynonymen Wurjzeln allmahlich von ihren dichtge- 
drdngten und unentwicelten Beeren eine nad der anderen 
verloren, dag alle diefe Wurjzeln endlich auf bejtimmte Cypen 
befchranft wurden, Anjtatt die Sprachen von neun Wur3eln, 
wie Dr. Wurray verfucht hat, oder gar von ciner Wurjzel 
abjuleiten, miifjen wir annehmen, daf der erften Feftftellung 
der radicalen Sprachelemente cine Periode unbefchranften Wachs- 
thums — eit Sprachenfrihling — voranging, dem mancher 
Herbft nachfolgen follte.” 

Jh glaube dem Swede defer Schrift entiprechend ju 
handeln, wenn ich hier gleich die Punfte anfiihre, in welchen 
Cazar Geiger von War Willer, mit welchem er fonjt faft in 
allen Dingen ‘ay a fich trennt und einen nach meiner 
Neberjengung richtigeren und naher jum Siele fihrenden Weg 
einfchlagt. Dieje beiden Pinte find 

I) cin confequenteres Derharren in dem wichtigften Princip, 
daf die Sprache ftets nur Begriff aus Vegriff entwicelt, her- 
leitet. Speciell von der War WMillerfchen Hypothefe fagt Geiger: 
»dDie AUnnahme eines jeft erlofchenen Dermdgens der Sprach- 
fhdopfung und die damit 3nfammenhdngende von einem voll- 
fontmenen Urzuftande des Wenfchen ift eine Suflucht jum Un- 
begreiflichen nnd nicht weit von dem Eingeftdndniffe entfernt, 
dag es uns der Matur der Dinge nach fiir immer unmdglich 
fet, den wahren Sim der Urwurjeln ju erfennen und den 
Dorgang odes Sprachurfprungs ju erfldren.” Geiger felbjt 
bleibt dem Grundfagke treu, dag es bei Entitehung der Sprache 
nicht anders Forme jugegangen fein, als es heute in der Ent- 
widelung aller Sprachen gefchicht, mur unendlich viel lang: 


jamer; er feft darum auch nicht jahllofe Sprachlaute und mit 


N) 
ine) 


diefen correfpondirende Dorftellungen an den Anfang, fondern 
einen etnzigen Laut, der durch eine beftimmte Vorftellung 
ermedt wurde. , Der Schliiffel zu der Bedeutung eines Wortes 
liegt nur im einer vergangenen. . . Die Wajfe der in fanmt- 
lichent Wortern wirklich enthaltenen Bedeutungen fanft aller- 
dings ZuleBt tt einen einzigen Wittelpunft 3ufammen, aber er 
liegt nirgends, als in dem erften Urfprunge der Sprache 
felbjt . . . Weshalb bejzetchnen mum aber die Worte anfangs 
fo wentg, und iiberhaupt rii&wdrts gefehen, immer weniger P 
Sch weigf hierauf feine Antwort 3u geben als: weil anfangs 
nur fo wenig bemerft worden ift.” (Qrfprung der 
Sprache, Seite 130). 

2) Befchrankt Geiger die finnliche Wahrnehnumg, welche 
Mar Willer durch Eindriike fdmmtlicher Sinne (mpressions 
received by all the senses) als Quell des erften Sprachwerdens 
wirfen lagt, auf den einzigen Gefidhtsfjinn. ,, Eine Ueber: 
jeugung, die aus der BVetrachtung alles fprachlichen Stoffs, 
welchen ju iiberfehen mir bis jegt gelungen ijt, fic) mir un- 
widerfprechlich ergeben hat, ijt folgende: Die Wahrnehmung, 
von deren allmadblichent Wachsthum in der Wenfchheit die 
Sprache Seugnif ableat, ijt die durch Gefichtsempfindungen . . 
Die Unterfheidung durch Gefichtswahrnehnung, namentlich aber 
das Jnterefje fiir diefelbe ift die wefentliche CigenthiimlichFeit 
des Wenfchen.” (Urjprung der Sprache, Seite 142.) 

alber tro diefer neuen und unverfennbar fruchtbaren 
ufflarungen war es auch Geiger nicht befchieden, das legte 
Hiel ju erreichen, obfchon er dies hoffte und wie aus einigen 
2Indentungen hervorgeht, es fchon erreicht 31 haben glaubte. 
Die Sprachwiffenjchaft fonte itberhanpt auf ihren eigenen 


Wegen nicht dazu gelangen, es mufte von einer anderen Seite, 


“ee Ee 


und zwar von der Philofophie, der Wiffenfchaft des Geiftes, 
ein gleichzeitiger Anagriff gefchehen und dann mit den von der 
vergleichenden Sprachforfchung in’s Feld geftellten Truppen 
und aus den von ihr eroberten Pofitionen unter der Ober- 
leitung des philofophifchen Gedanfens der [efte, enticheidende 
Sturmlauf ausgefithrt werden 

Uach der Lectiire meines eigenen Buchs: Ueber den 
Urfprung der Sprache” fchrieb mir War Willer, nachdem er 
den Fortfchritt, der in diefer Schrift enthalten, anerfannt, u. I. 
Solgendes: Yam fomme ich 3u meinen Schwierigfeiten. Wir 
{cheint das wahre Problem im Urfprung des Denfens 31 Liegen, 
oder fur3 gefagt, im Uebergang von Perception ju Con 
ception. Wer mir erfldrt, wie der WMenfch dazu Fommt, 
die “ZwWet» Zu faffen, der hat mir den Urjprung der Sprache 
erflart.” 

Das ift ein fehr wahres und fehr tiefes Wort. Es ift 
durchaus unmdglich, von der Perception, d. h. der rein finn 
rade f 


lichen Wahrnehmung, jum Gedanfen ju gelangen, ger 
unmdglichh als es iff, aus der bewegten Waterie den Gei 


— Oo 


ab3uleiten. Mur unter Vorausfefung des Empfindens Fann die 
Weltentwicelung beagriffen, nur unter Dorausfefung der Con- 
ceptionen Fénnen wir jum Urjprunge der Vernunft gelangen. 

Wabhrend alfo alle vorausgehenden Sprachphilofophen, 
Mar Willer und Geiger mit ecinbegriffen, die Sprache und 
das Denfen, der allgemein herfSmmlichen Betrachtung (auch 
aller Philofophic) gemag,- aus der Wahrnehmung d. h. 
dem Erleiden hergeleitet haben, habe ich juerft den entgegen 
gefegten Weg eingefchlagen und gefagt: ,,Die Sprache ift ein 
Kind des Willens, nicht des Erleidens; die Spradywurjzeln 


enthalten dic eigene Chatiqfeit des Menjchen und gelangen 


4 


3u ihrer Charafteriftif erft durch die Wirfung diefer Chatia- 
Feit, infofern diefe phanomenal 9. h. fichtbar ijt. Der menfchliche 
Gedante entfpringt ftets aus einer Doppelwurzel, der fubjectiven 
Chatigfeit, dem Willen und dem objectiven Phanomen, das 
der Wahrnehmung jugdanalich tft.” MW. Willer hat feitdem feine 
volle Suftimmumng ju diefer meiner Anficht ausgefprochen. 

Es ift cine ungemein grofe und wichtiqge Wifaabe, an 
deren Erfiillung gegemvdrtig — wenn auch mtr von Wenigen, 
aber den Einfichtsvolljten beachtet und verftainden — Philo- 
fophie und Sprachforfding arbeiten. Es handelt fic) wm nichts 
Geringeres als das Riefewwerf oes gewaltigen Hant anf 
empirifher Bafis ju ernenen, 3u reconftruiren, ju vollenden; 
das Entftehen, Werden, das Wachsthum und die Vervollfomn- 
mung des hdchften Wunders der Schdpfung, der menjfchlichen 
Yernunft, 3u ergriinden und begreifen zu lernen. Whit folcher 
Aufgabe verimag fich felbjt die Lehre von entitehenden und 
zerfallenden Dlanetenfyftemen auch nicht entfernt an WichtigFeit 
zu mefjen.*) 


° 


*) Wem diefe Behauptung zu Fiihn erfcheint, dem will ich einen 
unverdadcdhtigen Feugen vorfithren. Bucle, nacy meinem Dafiirhalten der 
entfchiedenfte und confequentefte unter den modernen Determiniften, od. b. 
jener Richtung der Philofophie, welche iiberall nur das eherne Vaturgefet 
anerFeint, hat fic doc) zn folgendem, anf feinem Standpunfte gewth hochyt 
merfiviirdigen, Sugeftdnodniffe gendthiat gefehen: The highest of our so- 
called laws of nature are as yet purely empirical. You are startled at 
that assertion; but it is literally true. Not one single physical discovery 
that has ever been made has been connected with the laws of the mind 
that made it; and until that connexion is ascertained, our knowledge 
has no sure basis. On the one side we have mind; on the other side we 
have matter, These two principles are so interwoven, they so act upon 
and perturb each other that we shall never really know the laws of the 
one, unless we also know the laws of both. Every thing is essential; 
everything hangs together and forms part of one single scheme, one grand 


ba | 
or 


Denn wenn das erldfende Wort gefunden ift, dam wird, 
wie War Willer mit voller Ueberzeugung, welche auch ich 
theile, ausgefprochen hat, alle Fiinftige Philofophie 
nur Spradhphilofophie fein. 


and complex plan, of which the universe is the theatre, — They who 
discourse to you of the laws of nature, as if those laws were binding on 
nature, or as if they formed part of nature, deceive both you and them- 
selves, ‘lhe laws of nature have their sole seat, origin and function in 
the human mind.* (A, Buckle: The influence of women on the progress 
of knowledge. Lecture delivered 1858). 

Und die Gefete diefes Geiftes in feiner wahren, wejenhaften Function, 
dem DenFfen, ju erforfchen und ju erariinden, ijt die Wufaabe, das herr: 
liche Siel der Sprachwiffenfchaft. Uebrigens denten die Worte Buckles un- 
zweidentig auf eine hocherfreuliche Chatjache, die fich in unferem Feitbe- 
wuftfein in der Stille vollzieht: nadmlich, daf die Herrfchaft des Niaterta- 
lismus ihrem Ende naht, daf eine hohere, edlere, des Menfchen wiirdige 
Weltanfchauung an feine Stelle treten wird, Ue Unjeichen fprechen dafiir , 
daf die arofe Synthefe, welche von jeher das lejte Fiel aller Philofophie 
gewefen ijt, eintreten wird, noch ehe das Jahrhundert zur Weige acht. 
Bch fibre nur noch eine Stelle aus einem jiingft in der ,Revue des deux 
mondes* verdffentlichten Wufjate iiber die Lehre Epifurs an, welche mit 
dem Unsjpruche Bucles vollfommen harmonirt: 

,Hpicure est le premier dans l’antiquité qui ait nié résoliment ce 
qui était hors des prises directes et de la portée des sens. A ce titre, il 
peut étre considéré comme l’expression confuse et inconsciente du posi- 
tivisme qui déclare qu'il n’y a pas Wobjet pour l'esprit humain en 
dehors des lois de la nature, I] a le premier creusé le fossé qui s’élargit 
tous les jours et qui sépare la métaphysique de la science de la nature. 
Pour les esprits spéculatifs les questions d'origine et de fin sont les plus 
importantes de toutes, celles auxquelles tout le reste se rapporte; pour 
les autres il n’y a qu'une seule étude, celle des phénoménes et de leur 
dépendance réciproque ....., demandant seulement a la nature morte 
les secrets qu’elle lui révele pour éclairer le jeu et les ressorts de l’or- 
ganisme vivant. Cette séparation date d’Epicure: si une telle gloire a 
été réservée a celui qui a divisé esprit humain en deux parties presque 
irréconciliables, quelle gloire n’attend pas celui qui fera cesser ce divorce 
et qui, par la métaphysique et la physique réconciliées dans 
une juste mesure d’indépendance et de services réciproqnes, reconstruira 
Vunité scientifique de l’esprit? (E. Caro, Rey, d. d. m. Noy, 
1878, p. 112). 


Ve 


Weine eigene Cheorie vom Urfprung der Sprache. 


Objchon diefe Blatter einen anderen Swe haben, fo 
halte ich es doch fiir angemeffen, jene Ldfung des Problems, 
die ich in meiner Schrift: ,, Der Urfprung der Sprache” gegeben 
habe, weniaftens in allgemeinen Umriffen hier Fur3 anjudenten. 
3h glaube diefes am zwedmagfigiten fo zu thun, daf ich dem 
Cefer Sen Stand der Frage, wie ihn War Willer in den 
Schlugworten der erften Serie feiner ,,Lectures on the Science 
of Language’ als das lefte Refultat feiner vielfeitigen und 
tiefen Sorfchungen iiber die Sprache, welche er mit treffendem 
Ausdrude ,den Hédrper des menfchlichen Denfens” genannt 
hat, darlegte und als Ausgangspunft 31 weiteren Schliiffen 
der Philofophie anempfahl, mit feinen eigenen Worten hier 
nochhmals vorfiihre. 

Der Lefer wird daraus erfehen, wie nahe Mar Willer 
der LCdfung fich befand; ja er wird fich vielleicht wundern, 
dag diefer nicht die lebte Chir einfties, welche ihn noch von 
der geheimnifvollen Geburtsftatte des menfchlichen Gedanfens 
trennte und ihn jur Cageshelle ciner vollfonmmen befriediaenden 


und im fich felbft rnhenden Erflarung gefiihrt hatte, 


EE a en 


Wie wir bereits fahen, ift eins der Hauptverdienjte War 
Willers die nachdriikliche und confequente Befdmpfung und 
fiegreiche Widerlegung des uralten, tief eingemurjelten Srv 
thums, daf die Dinge als folche in dem menjchlichen Geifte 
fick) mit Cauten verbanden, welche dann auf irgend eine 
unerfldarliche Weife ju Wamen oder lantlichen Bezeichnungen 
jener Dinge wiirden.*) Diefer Jrrthum ijt unt fo jchwieriger 
auszurotten **), als er anf einer unerjchiitterlichen Ueberzeugung 
ruht, der Gewifheit ndmlich, daf die objective Welt, dte Welt 


der Dinge, welche wir mit unferen Sinnen wahrnehmen, den 


*) Vocabula sunt notae rerum* fagte {chon Cicero, und diefert 
So wahlte Herder als Motto ju feiner epochemachenden Prets{dprift: 
pueber den Urfprung der Sprache.” 

**) Wie eingefleijcht jener Jrethum ijt, beweift der Umftand, daf 
ein fonft verdienter Sprachforfeher, WI. Bréal, auch nach der jonnentflaren 
Wrrerlequng WM. Niiillers tmmer wieder darauf juriickfommt und 3, B. 
bet der Wurzel bhar die Frage anfwirft: ,,Bezeichnete fie den Crager 
einer Saft oder die Laft felbft.... oder das Hind, welches ote 
Mutter in ihrem Schofe tragt?” Ferner: ,,Es ift nicht wahrfchetulich, dafj 
in der einfilbigen Periode es noch Feine Unsdriice jur Vejeicpnung oder 
Sonne, des Donners, der FLamme aegeben haben follte, Uber, jobald 
diefe Worte mit den pronominalen Elementen in Veriihrung Famen und 
Derba bildeten, wurde thre BVedentung fliifftaer und fie Ldoften fich tu 
Wurjzeln anf, welche glanzen, ténen, brennen bedenteten.” (M. 
Bréal: Les Racines des langues Indo-Européennes, p. 3 et 4.) Das heift 
doch die Ordining der Dinge umFehren und das Vaumehen mit cer Krone 
in die Erde ftecken, daf die Wurzel nach oben wachjt! Die Behaupturng 
Seite 6, da} die Wurzel sarp auf den Wamen eines Reptils juriicweije, 
fowie daf die YWamen der Horpertheile pad Fuff, nas WWaje, dant Sahn, 
card Herz, als einfachften Bdeen entfprechend, vor den Derbalwurjeln 
fchon vorhanden gewefen fein miiften, erinnerte mic) [ebhaft an einen 
Scherz Potts und die daran gefniipfte Bemerfung Curtins’ (Griech. 
Etymol, S. 108): ,,Pott ftellt als fcherzhaftes Getfpiel fiir joldjes Derfahrem 
die Wurzel gen «Backe fein» fiir gena auf und in der Chat bliebe fiir 
die Wurzel as, die Leo Weyer aus asinus auszieht, wollte man fie tiber- 
fegen, Feine andere Wahl als die Bedeutung: «Efel fein.” 


dlteften und nothwendigften, weil natiirlichjten Grundftok der 
menfchlichen Erfenntnif, aljo anch der menfchlichen Sprache 
bildet; dag man alfo den heiteren Rimmel frither als das 
heitere Gemiith, den AUthem frither als das Leben, den Schlag 
friher als die Strafe, das Bild frither als die Einbildung 
mug erfannt und benannt haben. Das ijt eine jweifellofe 
Wahrheit, in welcher Philologie und Philofophie vollfommen 
iibereinjtimmen, da die geijtigen Eigenfchaften viel, viel {pater 
von der Sprache erreicht worden find, als die finnlichen Objecte.*) 
Ein ander Ding aber ijt es, dagR diefe Objecte der altefte 
Gegenftand, das frithefte Waterial des menjchlichen Denfens 
und Redens gewejen find, und cin ganz ander Ding, wie 


fie dent juerft find erfannt und benannt worden. 
3Jch laffe nun Mar Willer reden: 


yes gibt cine Art von verfteinerter Philofophie in der 
Sprache und wenn wir das altefte Wort fiir Wamen auf 
fuchen, fo finden wir naman im Sanffrit, nomen im Lateinifchen, 
namo im Gothifchen. WDiefes naman jfteht fiir gnaman und 
ift abgeleitet von der Wurzel onda, Fennen, bedeutete aljo 
urjpriinglich das, wodurch wir ein Ding Fennen oder Fenntlich 
machen. 


*) Die Thatjackhe, daf alle Worte, welche immaterielle VBeariffe 
ausoriicen, von Worten abjtaminen, welche finnliche Veariffe ausdviicfen, 
wurde jum erften Male Flar und bejtimmt ansaefproden von Locke; fie 
wird uum vollfommen beftdtigt durch die Unterjuchungen und Ergebnijje 
der Sprachvergleidhung, UWle Wurzeln, d. h. alle materiellen Elemente 
der Sprache, bejzeichnen finnliche Eindriice, und da alle Worte, auch die 
abftracteften und erhabenften, von MWurjeln abgeleitet find, fo miijjen dte 
von dem Philojophen Loe gezogenen Schluffolgerungen, als durch die 
Thatjachen der Sprachwiffenf{chaft vollFommen beFraftigt, anerFannt werden.” 
Max Miller: Lectures on the Science of Language. 9 edit. Il, p. 372. 


79 


Und wie Fennen wir denn die Dinge? 

,der erjte Schritt 3ur wahren Erfenntnif, ein Schritt, 
der, fo Flemm er auch erfcheinen mag, dennoch fiir alle Seiten 
den Wenjchen von den iibrigen Cebewefen unterfcheidet, ift das 
Benennen eines Dings. Alles Benennen ijt Claffificiren, 
das Jndividuelle unter das Generelle einrethen; und was 
immer wir Fennen, fei es empirifc) oder wiffenfchaftlich, wir 
fennen es mur vermdge und vermittelft unferer allge meinen 
Begriffe. 

,Oerade an der Stelle mm, wo der Wenjch fickh von 
der librigen Chierwelt trennt, an dem Punfte, wo wir das 
erjte Wufleuchten der Dernunft als die Offenbarung 
eines inneren Lichtes bemerfen, fehen wir auch die wahre 
Geburtsftdtte der Sprache. Aan analyfire welches 
Wort man immer will, und man wird finden, dag es etnen 
allgemeinen Begriff aus{pricht, welcher den Jndividuen jZu- 
fommt, die der Wame bezeichnet. 

Was bedeutet WondP Der Meffer. Was Sonne? Der 
Erzeuger. Was bedentet ErdeP Die Gepfliigte. Wenn die 
Schlange im Sanjfrit sarpa genannt wird, fo gefchieht dies 
weil man fie uniter dem allgemeinen Begriff des Kriechens 
auffagte, der durch die Wurzel srip ansgedriict wird. Ein 
jehr altes Wort fiir Wenjch war das Sanjfrit marta, das 
griechijche brotos, das Lateinifche mortalis. Marta bedentet 
«der Sterbliche » und es ift bemerfenswerth, dag in eimer Welt 
wo Alles fic) verdndert, welft und ftirbt, diejes gerade als 
charafteriftifche Bezeichming fitr den Wenjchen gewahlt wurde. 

n€s gab noch manche andere MWamen fiir WMenfch, wie 
es itberhaupt vielfdltige Mamen fiir alle Dinge in der alten 


Sprache gab. Jrgend ein Sug, der dem Beobachter als befon- 


80 


ders charafteriftijch anffiel, wurde Deranlaffer eines nenen 
Nanens. Jn gewdhnlichen Sanjfrit-2Vsrterbiichern finden wir 
5 Wérter fiir Hand, 11 fiir Licht, [5 fiir Wolfe, 20 fiir 
Niond, 26 fiir Schlange, 33 fiir Todtichlag, 35 fiir fener, 
3 fiir Sonne. Die Sonne fonnte die glanzende, Leuchtende, 
wdrmende, der Erhalter, der Serftsrer, der Wolf, der Lowe, 
das Himmelsange, der Vater des Lichts und des Lebens ge- 
nannt werden. Daher jene Ueberfille an Synonymen in den 
alten Dialecten, daher jener Kampf ums Dafein jwijchen 
den Weortern, der zur Vernichtung der weniger ftarfen, weniger 
gliiklichen und fruchtbaren Wortformen fithrte und mit dem 
Criumph eines einjigen, als des anerfannten und cigentlichen 
Mamens fiir jedes Ding in jeder Sprache endete. Wenn auch 
in geringerem Wage, apt fich diefer Procef der natirlichen 
Auswahl! (natural selection) oder wie er richtiger genannt 
wiirde, verninftiger Elimination (rational elimination) 
d. h. der Ubftogung verdorrender Friichte vom Lebensbaum 
der Sprache, noch in neneren Sprachen beobachten 9. h. felbjt 
in Sprachen, die fchon fo alt und hochbejahrt find wie die 
franzdjifche und englifche. Wie es ftand, als die Dialefte 
zuerft ihre iippige Knospenfille anjegten, Foren wir noc 
an einjelnen Sallen nachweifen, mie 3. B. an den 5744 Wertern, 
welche von Hammer alle als anf das Kamel bezitglich anfzahlt. 

,Die Thatjache, das jedes Wort urfpriinglich em Pra- 
dicat ijt, dagB die Worte, obgleich Seichen fiir individuelle 
Conceptionen, ohne Ansnahme von allgemeinen 
Begriffen herzuleiten find, ijt eine der wichtigften Ent 
dectungen in der Wiffenfchaft der Sprache. Wan hatte wohl 
{chon friither cingefehen, dap die Sprache das unterjcheidende 
WMerkmal des Wenfchen ijt, man hatte auch eingefehen, dah 


—oe 


BI 


das Fajjen allgemeiner Begriffe, das Abjtractionsvermdgen , 
3wifchen Wenjch und Chier eine uniiberjtetaliche Schranfe fest, 
aber daf diefe beiden nur verfchiedene Ansdriice fiir eine und 
diefelbe Chatjache find, wurde erjt da eingejehen, als man der 
Wurzel-Cheorie den Vorjug vor den Cheorieen der Onona- 
topdie und der Jnterjectionen eingerdumt hatte. Uber objchon 
unjere moderne Philojophie nichts davon wufte, fo miifjen es 
doch fchon die alten Dichter und Bildner der Sprache recht 
wohl erfaunt haben.*) Denn im Griechijchen heigt die Sprache 
logos, aber logos ijt auch die dem Sprechen ju Grunde liegende 
Kraft der Seele, dic Dernunft, und alogon wurde jur 
Bezeichmmng und jwar jur recht eigentlichen Bejeichnung des 
Thieres gewahlt. Kein Chier denft, Feines fpricht, den 
Wenfchen ausgenonmen. Sprache und Gedanfe find untrennbar. 
Wérter ohne Gedanfen find todte Schalle, Gedanfen ohne 
Worte find ein Wichts. Denker it Lautloje 
ijt lautes Denfen. 


yh 


Sprechen, Sprechen 


Luin ift die allerlebte Frage in unferer Wijffenfchaft folgende: 
Wie Fann der Caut jum Ausdruce des Gedanfens werden P 
Wie wurden Wurzeln 3u Seichen allgemeiner VegriffeP Wie 
wurde der abjtracte Begriff des Mefjens durch) ma, der Begriff 
des Denfens durch man ansgedriidt P Wie Fam ga dazu gehen, 
stha ftehen, sad figen, da geben, mar jterben, char wandeln, 
kar thun 3u bejeicynen ?” 

, Die vier- bis fiinfhundert Wurjeln, welche als die leften 
Beftandtheile in den verfchiedenen Sprachfamilien juriickbleiben, 
find weder Jnterjectionen, nocd, Schallnachahmungen. Man 

*) Unch die alte Philofophie fand Feinen hoheren Wusdruc fiir das 


weltordnende, allbeherrichende Princip, als die betder gleichmafig verwanoten 
Werter yode und Advyac. 


mag fie Stammlaute, Lauttypen, phonetic types, nennen; 
wie immer fie aber auch von dem Pfychologen oder Weta- 
phyfifer mégen erfldrt werden, fiir den Sprachforjcher find dtefe 
Wurzeln einfach lefjte Thatfachen, ultimate facts.” 

Mun folgt der im vorigen Abjchnitt angefithrte Verfuch, 
die Entftehung der Wirzeln nach dent Vorgange Heyfe’s ju 
erfladren. Uber der Derfaffer figt alsbald in weifer Sonderung 
des wiffenfchaftlich feft Begrimdeten von der blogen Hypo- 
theje hinju: 

,£s mag wohl Speculationen diefer Art einiger Werth 
beigeleat werden; doch médchte ich fie nicht unterfchreiben, denn 
wit haben fein Recht 3u fagen, daf eine vage Analogie fiir 
eine wirfliche Erfldrung des Problems des Urjprungs 
der Wurzeln gelten famn. Wenn aber Wahrheit m den 
Refultaten ijt, ju denen wir nach einer forgfadltigen und vor- 
urtheilslofen Unalyje der uns vorliegenden Chatjachen gelangt 
find, fo haben wir das Recht ju behaupten, dag alle Sprache 
mit Wurzeln anfdangt, und Saf diefe Wurjzeln nicht mehr und 
nicht weniger als Lautliche Cypen oder typifhe Laute 
find. Was jenfeits derjelben liegt, ijt wicht mehr, oder, hijtorijch 
gejprochen, ift noc) nicht Sprache, jo interefjant es anch fiir 
piychologifche forjchungen ijt. Wher was immer it wirflicher 
Sprache vorfommt, ift alles ans diejen Wurjzeln hervorgewachfen. 
Worte find nur verjchiedene WAbdriicke aus diefen phonetijchen 
Watrizen oder wenn man Lieber will, Darietaten oder Wlodi- 
ficationen (und zwar im ihrer Bildung ourchaus verjtdndliche) 
jener typifchen Laute, welche auf Grund inwerbriichlicher Seug: 
nije als Refiduunm aller menjfehlichen Rede erfannt worden 
find.*).” - 


*) Max Miiller: Lectures on the Science of Language, p. 482 sq. 


83 


So jprach und fchrieb War Willer im Jahre [860 wid 
achtjehn Jahre jpdter durfte er mit vollem Rechte fagen: 

, Die Lefer meiner «Worlefuigen iiber die Wiffenfchaft der 
Sprache» werden fich erinnern, wie eneragifd) ich jeden Derjuch 
von Seiten der Sprachforjcher, itber diefe Wurzeln hinaus3u- 
gehen, wie fich diejelben als das lebte Refultat forafaltigiter 
Caut-AUnalyfe herausftellten, juriicwies. Wan glaubte damals 
wohl, dag meine Protejtationen gegen allen und jeden Verjuch, 
diefe Wurjzelt Zu ignoriren oder an ihnen vorbetzufchliipfen, 
und irgend ett Wort oder irgend eine grammatijche form 
direft von blogen Schreien oder von Machahnumgen natiir- 
licher Laute herzuleiten, viel ju heftig feien. Wher ich glanbe, 
es wird je&t allgemein, felbjt von manchen meiner fritheren 
Gegner, jugegeben, da die geringjte Conceffion an das, was 
ich Damals, nicht ironijfch, fondern nur bezeichnend die Bauravau- 
und Puh-Puh-Cheorie nannte, 3u dem vollfommenen Ruin der 
Sprachwifjenjchaft gefithrt hatte.*) “ 

Weiter fagt er: 

,elber wenn gezeigt wird, dag ein gewifjer Weg, und 
zwar der cinjztg richtige Weg uns 3u einer Gebirgsmaner fithrt, 
die von unjerer Seite niemals iiberjtiegen werden Fann, fo ijt 
damit Feineswegs gefagt, dag hinter jener Gebirgsmauer  fich 
nichts befindet oder befinden Fann. Went man nach der Art 
und Weije, wie gewilfe Sprachforfcher vow den Wurzeln reden, 
{chliefen wollte, fo miigte man denfen, die legteren waren iicht 
mw indiscernibilia, fondern geradeswegs vom Himmel ae- 


fallene Palladia, deren Wejen und Urfprung uns vollfonmen 


*) Contemporary Review, February 1878: ,On the Origin of Reason,“ 
pag. 466, 
6* 


84 


unbegreiflic) maren.*) Um mich gegen eine folche Anficht ju 
perwahren, fithlte ich mich veranlagt am Schluffe meiner Vor- 
[efungen cinige Worte beijufiigen, gerade wie em Waler, wenn 
er cine Candjchaft beendet hat, durch einige Striche im Hinter- 
grunde andeutet, dag jenfeits auch noch cine Welt ijt. Die 
Sprachwiffenfchaft, das fithlte th, hatte ihre Arbeit gethan, 
als fie das vage Problem des Urfprungs der Sprache in die 
viel beftimmtere form: Das ift der Urfprung der Wurzeln P» 
gebracht hatte. Wie viel durch diefe Frontverdnderung ge- 
wonnen worden ijt, werden die am bejten beurtheilen fonnen, 
welche die 3ahflofen Derjuche des vorigen Jahrhunderts, den 
Urfpring der Sprache ju ergriinden, ftudirt haben. 

Ueber den Punft aber, wo der Sprachforfcher im Stande 
ift, dte primitiven Elemente der Sprache dem Philofophen 
aleichfam vor die Fiige zu legen, vermag dte Sprachwifjen{chaft 
alivin — getremnt von der Wiffenfchaft des Denfens — ums 
nicht hinaus 3u bringen. Wir miifjen einen neuen AMnlanf 
nehmen, und 3rar in entgegengejebter Richtung. Um nun ju 
zeigen, nad) welchem Lager ich ausblicte, von dem ich eine 
CFsfung des legten Problems: Urjprung der Wurjeln erwartete, 
machte ich auf die Chatjache aufmerfjam, daf jedes Ding in 


der WMatur, wenn es erfchitttert wird, vibrirt und VYibrationen 


*) Diefelbe Einjeitiafett und Derranntheit herrfcht auf oder entaegen- 
aejeften Seite bei den Philofophen, welche fich nicht dazu entjchliefen 
Fornen, die WhhanaigFeit des DenFens von der Sprache anjuerFermen und 
fein Haarbreit von der herfdmmilichen Cheorie abachen, mach welcher ju 
irgend einer Seit im oder Gejchichte der Welt die Ulenfchen einen Schas 
von namenlojen allgemeinen Begriffen fic) angeecignet haben miiften, 
denen fie dann, fobald die Feit aefelliqen Verfehrs und getjtigen Wus- 
tanjehes cintrat, jene phonetijchen Etifetten, welche wir Worte nemnen, 
angeflebt hatter.” Max Miiller: Lectures on the Science of Language, 
ID Joh, afl 


verurfacht. Dies fchien nur die hdchfte Derallgemeinerung und 
zugleich Ser tiefite Wifang defjen, was ich unter Sprache ver: 
ftand. Die beiden Probleme, wie blofe Schreie, ob mun inter: 
jectioneller oder nachahmender Natur, fih nm Lautliche 
Cypen und wie blofe Empfindungen fid) in Vernunft- 
Conceptionen verwandeln fonnten, lief ich ganz unberithrt, 
it Ser Erwartung, dag eigentliche Philofophen fehr bald ein: 
fehen wiirden, wie hier einige der dunfeljten Punfte der Pfy- 
chologie durch das eleftrijche Licht der Sprachwijfenfchaft erhellt 
werden Fornten, und von der Ueberzeugung durdhdrungen, dag 
fie mit dem ILebhafteften €Eifer fic) der ihnen iibergebenen 
Waterialien bemachtigen wiirden, die vollitandiq jubereitet 
waren, um Oaraus ein gejundes und feftgegritn- 
detes philofophijfdhes Syjtem ju erbanen.” 

Diejer Appell an die , Philofophen von Sach” hatte doch, 
fo wird der geneigte Lefer denfen, eimen unmittelbaren, Leben: 
digen Widerhall finden follen. Welch eine hohe, herrliche, 
ihrer jelbjt ecbenfo witrdige, als ihrer ganjen €Entwicelung 
niigliche und nothwendige Anfgabe war da nicht der Philo- 
fophie geftellt! Und wie begierig mufte fie nicht die Gelegenheit 
wahrnehmen, fich in den Angen der Welt ju rehabilitiren, 
jener Welt, in welcher feit mummehr faft fiinfjig Jahren das 
bedenfliche Gerede geht, alle Philofophie fei nichts weiter als 
Schwindel, unverdaulicher Wortfram, mit welchem man Feine 
Kage hinter dem Ofen hervorloden fre, gut genug, um die 
hohlen Kdpfe der Docenten mit Diinfel und Arroganj, die 
der Studenten mit Unfinn und l[eerer Einbildung volljupfropfen ! 
Hic Rhodus, hic salta! Yum jeigt, was ihr Fount! Eime 
Philofophie, die eine folche Frage anfldft, gibt dadurch eine 
fichere VGiirgfchaft ihres wmeren Werthes und erlangt einen 


vollen Anfpruchh auf allgemeine Beachtung. 


86 


Was aber gefchah?P War Willer wird es uns fagen: 

I geftehe, ich habe mich oft gewundert iiber die Gleich- 
giltigteit, befonders der Pfychologen gegen die vollftandige 
Revolution, die fich vor ihren AUngen auf dem Gebiete der 
Sprachwiffenfhaft vollzjogen hat. Sie blicten darauf, als ginge 
fie die ganze Sache gar nichts an. WieP wenn die Sprache 
auch mur die dufere Form des Gedanfens wdre, ift es nicht 
lar, dag Ffeine Philofophie, die Einficht im das Wefen des 
Denfens und nameitlich feme Entitehung gewinnen will, eines 
forajamen Studiums der Sprache entrathen Fann? Was hatte 
nicht Hobbes, was Lode gegeben fiir Bopp’s Veragleichende 
Grammatif! Was witrden wir dazu jagent, wenn Biologen 
die MWatur und die Gefjegke des organifchen Cebens ju ergriinden 
verfuchten, ohne jemals einen [ebenden Horper ju betrachten P 
Wnd wo haben wir den lebenden Horper des Gedanfens ju 
juchen und ju finden, wenn nicht in der SpracheP Was find 
die beiden von der Sprachwiffenfchaft unbeantwortet juriicdge- 


lafjenen Probleme: 


Wie fonnen blofe Schreie zu lanutlichen 


Cypen werden? 
wd 


Wie Fonnen fih Empfindungen in Dernunft- 


Conceptionen verwandelnP 


was find diefe beiden, Zufammrengenonmnen, anders, als das 


hochjte Problem aller Philofophie: 


Was ijt der Urfprung der Werniunft 7“ 


Die Pofitionen, von welhen aus ich an die Cdfung 
diefes Problems herangetreten bin, laffen fich nad) oberften 
Gefichtspuntten etwa in folgendse Sage jufammenfaffen: 

1) Die Sprache ijt ein ee der Gemeinfamfecit 
und des Gemeingefiihls, welches fic) in dem Gemeinleben 
entwicelte, fteigerte, ju hachfter. Yollfommenheit ausbildete. 

2) Die Sprache ijt ein Hind des Willens und nicht des 
Erletdens. Un die Stelle der blogen Sinnes- Empfindungen 
(sensations), aus welchen min und ninmmermehr etwas derartiges 
wie Dermunft-Conceptionen (rational concepts), fefte, typifche, 
jederzeit durd) das Wort ernenerbare VDernunft- Orduuigen 
hergeleitet werden Fonnen, miiffen wir den activen Willen, die 
fpontane Chatigfeit fejen, die ja nach der allgemeinen AUnficht 
auch fchon im Chierleben vorhanden find, nach der monijtijchen 
Philojophie aber allem Maturwerden, allen Erfcheinungen aus: ° 
nahnislos 3 Grunde liegen. 

5) Aus diefen beiden Punften ergiebt fich folgender Sag: 
Es gibt wicht nur cine Sympathie des Ceidens, eine Sympathie 
des Frohgefithls — beide dugern fich fpecififhh menfchlich in 
dem Weinen und Lachen, fowie in der erregten Gemeinbe- 
wegung, aus der fickh nachmals Canz, Gefang und WhufiF 
entwielten —, es gibt auch eine Sympathie des Willens, der 
nach augen gerichteten und in ihrer Wirfung phanomenal 
werdenden Chatiafeit. 

4) Diefe gemeinfame, fympathijche Chatigfeit war uran 
fanglihh von Lauten begleitet, welche, gerade wie beim Canj 
und Spiel, aus dem heftigen Drange, aus der Begeijterung 
des Sufammenwirfens hervorbrachen, und indem fie jedesmal 
bei der beftinnnten Chatigkeit fich cinftellten, fich fchlieflich fo 
mit Ddiejer verfchwifterten, dah fie die Sahigkeit gewannen, an 


88 


diefe Chatigfcit ju crinnern. Dies iff der Urfprung des 
menfchlichen Gedanfens ; denn es iff der Urfprung der Wurzeln. 

5) Aus diefen Sagken ergieht fich von felbft, daf der menjfch- 
liche Gedanfe eine Doppelwurjzel hat, ndmlich die eigene 
Chatigfeit, die mit dem AWenjchen verwachfen, jederzeit 3u 
feiner Derfiigung fteht, um, foweit jie ausgebildet ift, die ge- 
wollte Wirfung hervorzubringen, und jweitens diefe Wirfung 
felbft, welche anfchaulich wird, von dem Gefichtsfinne gemeinjant 
aufgefaft, Derftandnifg und Derjtandigung mdglic) machte. *) 
Yur durch diefe Wirkung erlangten die Caute ihre Bedeutung, 
und je mehr fic) die Wirfungen d. h. die Chatigketten der 
fprachbildenden Gefchlechter fpecialifirten, wm fo bedeutungs- 
voller wurden auch die Sprachmurzeln. 

6) Darum fteht das Sprachleben in einer unldslichen Ver: 
‘bindung nit der Entwicelung der menfchlichen Chatiafeit jelbft. 


Und es ift Fein zufdlliges Sufammentreffen, daz in dserjelben 


*) Diefes Derhaltnif, welches bis anf den heutiqgen Cag von aller 
Philofophie itberfehen worden ift, tft gleichwohl von eminenter, ja id) dart 
wohl fagen, fundamentaler Wichtiafeit fiir alle Philofophie. Denn 
hier ftellt fic) zum erftenmale jwijcden das ewig Getrennte — Subject 
und Object — ein terminus medius, die Thatiafeit und Wirfung vereiniat 
als Action. Obfchon diefes mun in der menfchlichen Geiftesfchdpfuna, der 
Sprache, am flarften und angenfcheinlichften tft und jem muff, fo Foftete 
es mich doch nicht geringe Nitihe, es hier zu entdecken. Dies Fommt daker, 
daf die Eine Wurzel, ote jubjective, durch das Nebergewicht und die 
ftrahlende Klarheit oer zweiten Wurzel, der objectiven, fo verdunfelt worden 
ift, Oa fte ganz iiberfehen oder fiir nebenfachlicy gehalten wurde. Was 
uns tibrigens in dem Geiftesleben munmehr mit hochfter Klarheit entaegen- 
tritt, das liegt allem Dajfein ju Grunde, und mu§ uns als Fackel 
dienen, um das tieffte und lefte Geheimnif der Welt, das individuelle 
eben, aufzuhellen und ju verftehen. Scho ddmmert die Whnung diefer 
Wahrheit and) bei den hervorragernidjten UWaturforfchern. So faagt der treff- 
liche Claude Bernard: ,Matiere vivante et conditions extérieures: la vie 
résulte constamment du rapport réciproque de ces deux facteurs, “ 


~ 


89 


Heit, m welcher die herrliche Wiffenfchaft der Sprachvergleiching 
die menfchlichen Begriffe bis auf ihre tiefften, unter vieltanfend- 
jahrigen Schichten vergrabenen Wurjeln verfolgt, auch die 
Anthropologie, von aleichem Eifer erfiillt, die Gefchichte der 
menfchlichen Arbeit juritcleitet bis anf ihre dunfeljten Anfange, 
wie fie aus den roheften Steimwerfseugen, den alteften Feugen 
des tool-making animal wie §ranflin fagte, wie wir aber 
fagen, not only gregarious, but cooperative animal fic) 
erjchliefen Lafjen. Und es tft ein ebenjo bedentfamer als Licht: 
bringender Parallelismus, dag gerade wie diefe Werfsenge 
gegen die Urzett 3 immer unvollfonmener, unentwicelter 
werden, fo daf man in dem roh behanenen Steine gleichjam 


den Kein des nachmaligen Beils, HKeils, Weffers, Hammers, 


der Sdge u. f. w. in Ser Hand hat, ebenfo die Worte, je 
weiter wir juriidgehen, immer weniger bedenten, immer mol- 
lusfenhafter werden und ftatt fich an einer beftinimten Bedeutung 
fefthalten 3u Lajfen, dem Sprachforfcher gleichfam breiartig in 
den Handen jerriuien. 

7) Daritber tt fein Sweifel: Die alteften Bedeutungen 
der Wurzelwdrter waren menfahlihe Chatiakeiten. Die 


laa 


Dhilofophie hatte auf ihren eigenen Wegen ju diefem Schluffe 


“ 


Fommen Ffounen; dem das Vertrautejte, Befanntefte, Derftand 
lichfte mug doch die felbfteigene Thatigfeit gewejen fem. Ein 
unbefangener Bid in jedes WurjzelwSrterbuch beftatigt diefe 
Wahrheit. Wht Sonne und Wiond, nicht Wafe und Whud, 
nicht ich oder Ou find da anzutreffen, aber auch Fein Lenchten, 
bligen oder brennen — fein denfender Etymolog wiirde auch, 
jelbft wenn er fie fande, folche Grundsanjhaunigen gelten 
faffen, fo grog ift die Wacht der Wahrheit! — fondern graben, 


jhlagen, fcharren, Fragen, reifen, jahlreiche Wurjeln, welche 


90 


{chmieren, falben und 


Ur 


retben und von diefemn Beagrijfe au 
farben, andere welche flechten und binden, noch andere 
welche theilen, 3ertheilen bedeuten. 

Nan erwdge es einmal ernithaft bei fich, wie das Denfen 
d. h. die Sprache zu cinent Begriffe, wie bligen oder leuchten 
gelangen fonnte. U2tan follte meinen, etme folche Anfchaunng 
fet doch cine der einfachften und natiirlichften. Wher nein! Der 
Urmenfch ftand ftumm vor dem Lichte, und fonnte es nicht 
benennen, denn benennen heift cine befFannte Eigenjchaft 
auf etwas iibertragen, feinesmegs aber in emen finnlojen Laut 
ausbrechen. €s fehlte hier eben die eine der beden Wurjzeln 
des Gedanfens, die eigene Chatigfeit und erjt von diejer aus 


vermochte er jene Begriffe ju erreichen.*) So ift dem auch 


*) Jacob Grimm fagt in feiner deutfchen Grammatif (Il, 85) bei 
Befprechung der VBeariffs-Ueberadnge aus dem Bereich einer Sinnesmahr- 
nehmung in die andere, alfo von Con und Farbe 3. B. héllan (sonare), 
héll (sonorus fpdter lucidus), ahd. braht (strepitus), nho. Pracht (splendor): 
,lnffallend, daf in den meiften dtefer BVeifpiele der Schall die frithere, odie 
Farbe die fpatere Bedeutung hergibt!” Mach unferer Cheorte nicht im 
mindeften auffallend. Was in diefen Wortern jum Dorfchein Fommt, tft 
das Widchtige, Energifche. Das Fann aber nur von der fubjectiven 
Wrurzel, der Willensthatigfeit aus erretcht werden. Jn diejes Gebiet 
fallt aber nur die Welt der Tone, nicht die Welt des Lichtes, Ad) Fann 
einen lauten Schall, Hall (skal) ausfprechen durch einen heftigen Schlaa, 
der ihn hervorbringt (val. Donnerfclag), ic) Fann aber nicht das helle 
Sicht anus meiner Chatigfeit hervorgehen laffen. So reden wir denn von 
einer fcbreienden Sarbe, von ciner lauten Farbe, ja anc) von einem 
lauten Gefdmack. So fagt der Rig Deda: Das Feuer fcdyreit mit 
Sicht” (Rv. 6, 3,5) und: ,, Die Sonne fchreit wie ein neugeborenes Hind.” 
(Rv. 9, 73, 1). Darum fagt auch der neuere Dichter: 

La dove ‘1 sol tace. (Dante Inf. 1, 68). 
und 

Io venni in loco @ogni luce muto. (Ibid. 5, 28). 

Dies gibt einen ficheren Fingerzeig, auf welche Wurzel und Grund- 
anfcdauung das lateinifche clarus juriichgeht; nicht wie in den Worterbiichern 
fteht clara luce, fondern clara voce ijt das Urjpriingliche, 


— 


9| 


das Licht wie die Dunkelheit, der Tag wie die Wacht, das 
Feuer und die Sonne fiir die Sprache cine Farbe oder viel- 
mehr etwas Gefarbtes und jwar war dsiefes ver{tandlich, weil 
der Wenjch fich felber farbte. Farben geht aber wieder jzuriice 
auf jchntteren und diefes naturgemdg auf reiben, jerreiben. 
Wie jfehr wir anc) hente noch unter dem Banne diefes Ge- 
danfenurjprings jtehen, mag der Lefer daraus entnehmen, dag 
wir auc) hente nod am Himmel nichts anderes fehen als 
Sfarben 
8) Aber durchaus nicht alles, was wir als menfchliche 
CThatiafeit anzufehen gewohnt find, findet in jenen unterjten 
Ciefen Ser Sprachwurzeln einen AWisdruc. Eine Findliche, aber 
hochft wnwiffenfchaftliche Sprachphilofophie, die direfte Ab- 
Foimmilingin des alles mit cavalicrer Ceichtiafeit erflarenden 
achtzebuten Jahrhunderts, die auch heute noch viele Dertreter 
hat, ftellte an den Anfang des Sprachwerdens folche Begriffe 
wie Papa und Wama, fowie ejfen und trinfer u. f. w., wo- 
raus denn alles Uebrige fich entwidelt haben follte. Wnch diefe 
Hypothefe wird durch) die Wurjelforfchung vollftandigq Liigen 
geftraft. Wunf weiteften Umwmegen gelangen erft folche Beagriffe 
wie 3. B. Hunger und Durjt in die Sprache d. h. das Denfen, 
YWnd wie wird das Effen aufgefagftP Als eine Cheiluna. 
Das dentiche Mesger und Wejjer gehen anf dic Wurzel mat 
jertheilen jurii; mats ijt im Gothijchen Speife (meat), matjan 
ift effenw. Der deutfche Sleifcher ift der Lateinifche carni-fex, 
der ariechifche Cartode, d. h. der Serftiideler, Vertheiler; ju 
diejem Worte gehdsren aber catvows effen und daic die Wahljeit. 
Jntereffant ijt cin Vers mie der Homerifche (Od. 7, 66): 
Moipag dascduevor Oatvove eprandéa Catra. 


als Beijpiel der Specialijirung der Worte von urfpriinglich 


ganz gleichen Grundanfchauungen (rational concepts). Denft 
man fic) im diefem Sage etwa noch cartoudvec als Subject, 
fo wiirde er im feinen alteften Gedanfenformen lauten:  ,,Die 
Cheiler theilten die Cheile und theilten die herrliche 
Cheilung”, d. h. die Gajte vertheilten die Portionen und 
jhmanften die herrliche Wahljcit. Ebenfo jtehen das hebraijche 
akal effen und maakelet Schlachtmeffer neben cinander , 
lefteres Feineswegs als ,Efwerkjeug” anfgefagt, fondern beide 
Wérter weijen auf eine altere Bedeutung von akal, das Ser- 
theilen, Serjtiiteln der Speife zuritc. 

Wie erflart fic) mun dies? Wach wunferer Cheorie, welche 
eben dadurch eine bedeutende Befraftigung erhalt, auf die 
einfachfte Weife von der Welt. Wicht das individuelle Effen 
und TCrinfen war anfanglich Gegenftand der Benemnumg, das 
find thierijche Sunctionen, welche anch ohne Sprache ausgefiihrt 
werden Fonnen und zur Erhaltung des Lebens ausgefihrt 
werden mniiffer, fondern erjt da wo diefe Chatigfetten mm den 
Breimpunft der gemeinfamen Beachtung tretenr, eben weil fte 
gemeinjchaftlich werden, wo alfo die Wahbeit eine Dertheilung 
an fammtliche Glieder der Gemeinjchaft wird, erft da wird 
fie von der Gefammtheit beachtet, aufaefaft und — benannt, 
o. h. wird Dernunft-Object. 

So erfldrt es fich denn auch wohl jehr leicht, dag dte 
Beariffe weiden und jzutheilen jujammenfliefen 3. B. in 
dem agriechifchen vénw, woz Jacob Grinmm noch jahlreiche 
Beifpiele des Sujammenhangs der Vegriffe nehmen und 
Weide gibt*); dagR der Bauer die Aecer jfeiner Gemeinde 


die Gemarfung nennt, was denn auch einen Anffchlug tiber 


*) Gefchichte der deutfchen Sprache, p. 29, 


93 


das alfdentiche Warf — Wald gibt, was feineswegs mit 
J. Grimm und Weigand ,der dDunfle” erflart werden darf, 
fondern mit Warfe, merfen u. fj. w. auf ein Wort der (Grenj-) 
BVejzseihnung juriicweift; dag as DVieh gothijd) faihu, 
janjfr. pacu, latein. pecu urjpriinglih das Angebundene 
(Sanjfrit pac, paca Sefjel), oder auch, wie Geiger aus pecunia, 
dent englifchen fee und der gleichen BVegriffsverbindung in dem 
hebrdijchen migneh (Eigenthum und Vieh), dem goth. skatts, 
Shak, das im AUltfriefifchen sket, im Slavifchen skot die Be- 
deutinig Vieh hat, jchlog, Eigenthum bedeutet, ein BVegriffs- 
libergang, der fic) im modernen Englijch wiederholt, wo eben 
falls cattle aus capitale entftanden ift. Ulles dies beweift auf’s 
neue, wie verfebrt die Theorie der Schallnachahnuuig ijt, da 
wir jelbjt in den alteften Erzeugnifjfen der Sprache, weit ent: 
fernt briillendem Dieh oder ranfchenden Waldern ju begegnen, 
viel cher das antreffen, was wir Ubftraction 3u nennen gewohnt 
find, was aber nichts anderes iff als das Geprdge des 
menfhlichhen Gedanfens. 

9) Der menfchliche Gedanfe, das menjchliche Denfen ijt 
Chatigkeit, felbjthewugte, felbjtgewiffe Thatigfeit, nicht etiwa, 
wie der einfaltige Waterialismms fich cinbildet, cin jufdalliges 
Spiel bewnétlofer Atome. Ans der gemeinjamen Thatigfeit 
haben wir ihn hergeleitet, auf diefer feften Bafis ruht er 
gegriindet, feit dem erften Eintritt der Wenfchheit in das Reich 
der Dernunft. Wit diefer Chatigfeit ijt er aufs innigite ver- 
{chwiftert geblicben die vielen hunderttanfende von Jahren, 
welche die Wenichheit durchleben mugfte, wm anf ihre heutige 
Ashe ju gelangen. Die Sprache ift die Stimme der Gemein 
fhaft. Unch heute ift nod) immer ihre héchjte Ceijtung die 
Ordming, Richtung und Verwendung der pie. auf 


‘94 


gemeinjame Stele, gemeinfame, organijirte Chatigkeit, d. bh. 
Arbeit — denn Arbeit ijt nichts anders als organifirte ChatiaFeit, 
weshalb auch den Wiigiagdnaer die Derachtung der Gemein- 
jchaft trifft —, wodurch denn eben die jzahflofen Wunder der 
Jndujirie, die Derdndernngen der Erdoberflache zum Rerrenfig§ 
des WMenfchen mdglich geworden find. Ohne Ende miifjen 
wir ftaunen, weit wir bedenfen, dag alles diefes, auferlich 
betrachtet, die Wirfungen eines fchwachen Hauches des Wundes, 
eines ténenden Lantes, 0. bh. einer Flemen Erjchiitterung der 
Cuft find 
Habe ich nun im Vorausgehenden die von War Miller 

geftellte Unfaabe geldft (meine Darftellung ijt freilich in dem 
mir fo fnapp 3ugemeffenen Rahmen diefer Schrift hochjt [figzen- 
haft und diirftig), habe ich gezeigt: 

wie die Derminft- Conceptionen anf eine natiirliche 

Weife entitehen fonnten und entitehen mugten; 

wie fie fic) mit Lauten gatteter, welche eben dadurd) 

bedeutungsvoll wurden, wdahrend fie urfpriimalich nur 

Aecugernngen cines inftinctiven Dranges waren, und 

welche fomit 3u Lantlichen Cypen, d. bh. ju Wurjein 

wurden 5 
fo Ddarf tcdy zum Schluffe der Frage nicht aus dem Wege 
gehen, wie dent die Welt der Dinge, von der wir doch ge: 
wohnt find anzunehmen, dag die Sprache fie nach) den thnen 
zufommenden Eigenf{chaften bezcichnet und chavatfterijirt, 
hat fdonnen im den hell beleuchteten Raum des Vernunift: 
Denfens oder, was dasfelbe ijt, in die Dorrathsfanmmern des 
jprachlichen Ansdrucds einziehen. Wit der Beantworting diejer 
Srage muf meine Theorie ftehen und fallen; wem hier die 


~ 


TChatjachen nicht sufammenjftimmen, fo ijt fie ummiderruflich 


95 


veruriheilt, harmoniren fie dagegen, fo erlanat fie eine glanjzende 
VBeftatiqung, eine Unterjtiifung, welche fie dem hdchiten Grade 
menjchlicher Gewigfheit nahe brinat. 

Um diefe Frage aber recht 3u beantworten, mitfte eigentlich 
juvor eine andere aus dem Gebicte der Wetaphyfif erledigt 
jein, die Frage nanlich: mas denn eigentlih ein Ding ift. 
Vh will aber den Lefer mit folchen Unterjuchungen verfchonen 
und mich lieber mit der Erflarung begniigen, welche Albert 
Cange in fener verdienjtvollen , Gefchichte des Materialismus” 
gibt: * ) 

, Ding nennen wir eine Gruppe von Erjcheintigen, die 
wir unter Ubjtraction von weiteren Sufammenhdngen und 
immeren Derdnderungen einheitlich anffaffen.” 

Schon aus diefer Definition folgt z3weifellos, dag es fiir 
die Chiere feine Dinge gibt. Denn dag fie etwas derartiges 
letjten follten, wird doch auch wohl der ertremite Darwinift 
nicht behaupten. 

Sir den Wenfchen ijt der Baum ein ans dser Wuryzel 
empormachfendes, mit Stamm und Sweigen verfehenes einheit- 
liches Wefen oder Ding. Das ift er aber fitr den hdchftbe- 
gabten 2Uffer, der an feinem Stamme hinanfflettert und in 
feinem wohlbefannten Blatterdache femen gewohnten Sufluchts- 
und Aufenthaltsort hat, eben nicht. Und nie und nimmer wird 
es gefchehen, dag etwa eine Affenhorde einen Baum aus dem 
Boden ju reifen und an einen anderen Ort ju verpflanjen 
verfuchte. Wenn dsaher int modernfter Maturgefchichten die 
Rede ijt von Aerban treibenden ee ee: ibre Saaten 


bejtellen und geduldig abwarten bis fie reif jf fo ijt die 


*) Sange, ,Gefchichte des Materialtsmus.” 3, Uufl. I, p. 217, 


96 


gelindelte Bezeichnung fiir folche Phantajtereien: wifjenfchaftliche 
Collheit ! 

Wiejo Fommt es nun, dagR es fiir den Wenjchen Dinge 
gibt P 

Einfach dadurch, dag er Sprache hat, dag er ihnen 
einen MWamen gibt. Und ich will hinzufiigen, dap oiefe feine 
héchjte Kraft jugletch die Quelle unjaglichen Arrthums ift, 
indem er wahnt, dag itberall, wo cin Wort gegeben ift, ju 
gleich auch ein dquivalentes Wefen oder Ding vorhanden fein 
niuiffe. Wit Recht fagt Lazar Geiger: ,, $n der Chat fehen 
wir das Denfen mit den Worten ringen und nur fchwer thren 
Seffel entfontmen, oft auch die ganze uns befaunte Seit bis 
auf dicfer Cag die MWatur von Wefen fuchen, die Feine 
andere Wirflihfeit haben, als in den Anfhauungen 
einer fernen Dergangenheit, wie fie in jenen wunder- 


baren Lanten Leben.*) “ 


Die Benennung oer Dinge ift wohl ju unterfcheiden 
von der BVezeichunung derjelben. Ach Fann ein mir ganj 
unbefanntes Ding (einen Ort 3. B.) bezcichnen, daf ich es 
wiederfirde. Benennung ijt aber immer etwas finwolles, cin 
Uebertragen einer bereits befannten Eigenjchaft, em Genera: 
lifiren, cin Claffificiren. 

Aber dte Venemmimng ift jugleich fitr das Denfvermdgen 
des Wlenjchen eine Bezeichnung der Vinge. Wur miiffen die 
Dinge felbft durch thre Unterfchiede objectiv fchon gefem- 


zeichnet fein, damit die VBenemuing auf fie angewandt, damit 


*) Geiger, Urjprung und Entwickelung der menfeblichen Sprache 
und Dernunft I, p, 100. 


jie mit Hilfe derjelben claffificirt, oder mie Kant fagt, im 
Beariffe (d. h. dem Worte) recognojcirt werden FSimen.*) 

Mun dirfen wir durchaus nicht annehmen, dag jene 
winderbare Kraft der Jntelligen3, des Dermunftdenfens, das 
uns heute allmadchtiq beherrfcht und unfer wahres Wejen aus: 
macht, vermdge dejjen wir alle uns umgebenden Dinge nach 
ihren Unterjchieden auffajjen, erforfchen, fie fogleich bezeichnen 
und benennen, dem Wenfchen in femen Urjujftanden fchon eigen 
gewejen wdre. Das hiege die Sache fich fehr leicht machen, 
es ware eine richtige petitio principil, eine €Erfldrung durch 
das, was am meijten erflarungsbediirftig it. 

Nein, Ser Wernjch benannte nicht, um ju benennen; er 
bezeichnete nicht, um 3u_ bezeichnen. 

Aber er bezeicynete und gelangte dadurch ju der FahiaFeit, 
aud) 3u benennen, d. h. die Bezeihnung wieder durdh 
den Caut zu bezeichnen. Wie das lebtere gefchah, das 
habe ich oben fchon gejagt, und ijt wohl der wichtigfte Theil 
meiner Theorie. 

Und wie und warum bejzeichnete er denn se Dinge P 
Einfach dadurch, dafR er fie durch feine ThatigFeit, jeme gemein: 
jhaftlihhe Chatigfeit ju feinen Cebenszweden modificirte, daf 
er eine Hdhle grub, Baunyweige flocht, einem Chier die Haut, 
einem Baume die Ride abjtreifte. So entwicelte jich jene 
wunderbare, bisher ganz unerfldrliche Gabe der Ubjtraction — 
auf die natiirlichjte Weije. Der Menjch lernte Dinge begretfen, 
indem er Dinge fchuf. Seine eigenen Schdpfungen waren fiir 
ihn die erften Dinge. Diefe Dinge erlangten fiir ihn durch 


*) Kant unterjcheidet die Perception im der SinnlichFeit, die Repro: 
duction in der Phantafie und die Recognition im VBeoriffe. 


98 


das Wort eime felbftandige Eriftens in feinem Jnmeren; es 
begann die Periode der Geiftesfchdpfung ; fchwach und unjcheinbar 
erglomm das Licht, das mit jeinen Strahlen heute weithin 
iiber die Erde und tief im die Himmelsraume lenchtet, das 
Cicht der gdttlichen Dernunft. 

3h erldutere das Gefagte durch folgende Stelle aus 
meinent Buche itber den Urjprung der Sprache: *) 

ydas Object der Chatigkeit ijt es, was die 
Sprache in das jichere Slugbett der Entwidelung ecindammt 
wid eine Welt von AUbjtractionen erjchafft, deren erfter Keim 
eben die anf Derdnderung, Wodification der umagebenden Watur 
gerichtete gemeinjame Arbeit gewefen fein mug. Denn eine 
Hohle, cine Grube ijt fchon eine AUbftraction, fie Fann grof 
oder flein, Stein oder Sand, fie Fann hier, fie fann dort, fie 
fann 3wei- dreimal aeaekink oa und doch dasjelbe Wefen, dem 
das gleiche Wort entipricht, fem. Eine folche Derdnderung 
der Welt, im das menjfchliche BewnFtfein einziehend, darin 


niedergelegt, um nicht mehr ju verfdhwinden**), ift die erjte 


*) §. Wotré: Der Urjprung der Sprache, p. 346. 

**) Denn fie diente der Erhaltung des Lebenswerfes, war fpontan 
und darum immer wiederFehrend. ,Not every random perception is raised 
to the dignity of a general notion, but only the constantly recurring, 
the strongest, the most useful; and out of the endless number of general 
notions that suggest themselves to the observing mind, those only survive 
and receive definite phonetic expression which are absolutely requisite 
for carrying on the work of life.“ Max Miller: Lectures on the 
Science of Language II, p. 540. 

Wichts ift der Chat natiirlicher und einleuchtender, als daf die Be- 
fchaftiqungen des tagliden Lebens zur Fixirung von VBeariffen, jur Ent 
jtehuna von feften, typifchen Dernunftformen oder Unjchaunngen gefiihrt 
haben. Don der Wurjzel vabh, weben Fommt nicht nur jf. trnavabhi 
die Spinne, fondern anc Duos das vou dem Dichter gewobene oder ae- 
fponnene Lied, Miv fagen heut Dervath fpinnen und aralijtige Plane 


- 99 


Stufe, welche die menfchliche Dernunft mit Hiilfe der erften 
Sprachlaute in das harte Felsgejtein miithfam einhant, um von 
da aus jur jweiten und damm immer hdher hinaufzugelangen, 
bis fie endlich nach langen Jahrhunderttaufenden 3zu jener 
Hdhe fickh empor{chwinat, auf der fie ihren Chron errichtet und, 
die Erde als Schauplag ihrer Wacht und Herrlichfeit tief unter 
fich erblidend, den Aufflug waat in die unergriindlichen Himmels- 
rdume, auch dort fic) jurechtfindend, wie bei ihrer erften 
Entjtehung, durch thre eigenen freilih ganz Wealen 
Conftructionen.” 

Und nun dsarf ich fagen: Es fitgt fich im der Chat 
wunderbar, und ift eine wnmiderlegliche Beftdtigung meimer 
Theorie, dag alle Dinge in den Gefichtsfreis der menjchlichen 
Yernunft treten, d. h. alfo erft ju Dingen werden, im dem 
Wage als fie menjchliche Chatigfeit erleiden und dag fie 
darnackh ihre Bejzeichmungen, thre Wamen erhalten. Dies ijt 
ein ausnahmslofes Gefesh fiir die Entitehung der altejten Sub- 


jtantive, welche, wie wir bereits fahen, alle nothwendig der 


{dhmicden, der Grieche fagte Bronce nat wijtty Doaivery, der Lateiner 
consuere dolos, texere fraudes. Homer faat fehr malerifd) und fchon: 
AONE pest Pocsodou.edmy, in der Ciefe d. h. im Derftect, Hinterhalt banen. 

Wan fehe nur ju, wie heute noch felbjt die abjtractejten Wijjen- 
fchaften — Mathematif und Aftronomie — denen doch ganz die frifche 
Farbe der WirklichFeit abhanden acfommen fein follte, unter diefem BVanne 
ftehen! Was ift ein Bogen, eine Sehne, was ein Radius, ein CirFel? 
Man nehme den erjten beften Sas, 3. B. den Unfang des erften Keplerjcen 
Gefetes: The areas swept out by the vector drawn from the sun &e, 
Was ift area? = ein trocen gelegter, eingeftampfter PlaG jum Hausban, 
eine Cenne; was ijt swept? geFehrt, gefegt; was ijt vector? einer der eit 
Subrwerk fabrt, bewegt; was ift to draw? angelf. dragan, 3iehen und 
tragen, ahd. tracan. Warum find dieje Veariffe fo unerfchiitterlic) aefejttat 
in unjerer Erinnerung? Es ift nicht fchwer einjujehen, man mup mur 
einfehen — wollen, 


q* 


enn: SA 


objectiven Welt angehdsren. Die ntenjchliche Thatigfeit ctifettirte 
die Dinge, indem fie allmahlich gegen diefelben vordrang, 
eine immer grdfere Ujahl in ihren Bereich 30g, und fie nach 
menfchlichen Bediirfniffen modificirte. Die fo gezeicdhneten Dinge 
erhalten von der an ihnen ausgeiitbten Chatigfeit zugleich ihre 
amen. 

So tritt der Baum in die Sprachbezcichming als bear- 
beitetes Holz, als Gefchundenes oder Entrindetes oder auch 
als Brand. Das Getreide (granum) ift das Serriebene, das 
Sermahlene; der Grund (to grind), die Erde (terra) haben 
ihren Wamen vom Serreiben, Serbrdceln; auch das Weer 
(mare, mor) Fann feine Derwandtichaft mit Woor, Moraft, brei- 
artige {chlammige Waffe nicht verleugnen. Das Thier ijt Fleifch, 
es iff Jagdbente, es ijt das Gefchundene. Die Wurzel fiir 
fchinden oder abzichen bezeichnet jugleich die Haut oder das 
Sell und auch das Fleifch; denn beides entiteht erft gleichfam 
durch die Thatigteit , es ift aljo cine genetijche oder anch 
phanomenale Bezeichuing. So entfteht fiir den Wenfchen die 
Schuppe des Fifches durch das Schaben, die Schale der Frucht 
durch das Serjchlagen (skar, skal), dann erreichte dies Wort 
durch) die Crinkfchale auch den menjchlichen Schadel, der als 
Hirn{chale gleichen Swecen diente. €. Geiger, der diefes Gejes 
der BVBedeutungs- Entwikelung wohl erfamnte, ohne “doch die 
nothwendigen SFolgerungen darans 3zichen ju fonnen, hat das: 
felbe in einem ecinzigen Sake jufanmmengefapt, welchen ich, mit 
den aus meiner Theorie herageleiteten Derdnderungen, folgen- 
dermafen wiedergebe : *) 


*) Geiger: Urfpruna und Entwicelung der menfehlichen Sprache 
und Dernunft I, p. 42. £. Woiré: Urfprung der Sprache, p. 511. 


Fan 


Von den das erjte jprachbildende Gefchlecht arsfchlieglich 
infereffirenden Handlungen des @Wenfchen, diefer einen Haupt: 
wurzel des Gedantens, rii&t die Benenming unmittelbar ju 
fie mit menjchlicher Thatigfeit in Veriihrung treten, aus ihr 
hervorgehen und entftehen oder cine Unuvandhing ihrer Geftalt 


erlerden; fie ftellt eime Unjahl von Gerdthen aqenetifch dar, 


den Dingen, diefer zweiten Hauptwurzel des Gedanfens, wo 


verfolgt den Baum, von dem Augenbli€e an, wo er als Hols 
in menjchlichhe Behandhing gerath, anfangend, durch alle Stadien 
fener Derwandiung ju Balfen, Brett und Tijfch und fchreitet 
auf folche — in ftetigent Gange iiber alles Geftaltete , 
feines frither, Feines fpdter erreichend, als da wo es juerft 
leidend unmittelbar mit dem das fprachliche Dermdgen wefentlich 
und ewig reizenden VDorgange der gemeinjchaftlichen menfch- 


lichen Handlung in Beriihrung tritt.” 


Daf Geiger die wichtigften und leBten Conclufionen nicht 
30g, das veranlagt thn denn anch haufig feine Dermiunderung 
auszufprechen, wenn er recht anffallende Salle aufdect, welche 
mit obigem Gejefe in vollem Einflange find, aber mr durch 


meine Theorie ihre vollgiiltige und zweifellofe Erflarung finden. 
So jaat er: 


,Das Holz defjen Wame in dAq und materia jur Unter- 
lage alles Beariffs vom Stoffe itberhaupt geworden ijt, bildet 
das herrfchende Waterial der Urzeit und ift vom Schaben 
3. B. in Eddov und Schaft genannt; ddpv bezeichnet angerdent 
das Holz als Stoff, und wird fchon von den Alten aus der 
Grundbedeutung entrinden (deipw) abgeleitet; es ijt bejonders 


wichtig wegen feiner Derbreitung im ganzen indogermanifchen 


102 


Sprachjtamme*). Dag gerade das Entfernen der Rinde zu dem 
Beagriffe Hols fithrt, und nicht etwa das Fallen des Baums, 
lagt fic) aus zwei verfchicdenen Griinden erfldren, die wabr- 
fchemlich beide in Anjchlag ju bringen find. Erftens ift der 
Begriff Hol3 ohne Sweifel alter als der Befig von Werkseugen, 
die Zum Fallen desfelben geniigend find; 3weitens aber gilt 
hier wieder das phdnomenale Princip der Benenmimg, indem 
das Holz, cigentlichh das Fleifchh des Baumes unter der Rinde 
sum Dorfchein Fommt, fobald diefe fich abldjt**). Ascdhft 


merfwirdig aber iff es, dag auch der Baum erjt vom 


mh 


Holge benannt iff und alfo feinen Wamen als lebendiges Hols 
pon einer menfhlidhen Chatigfeit entlehnt***).” 

Der Lefer, welchem meine Cheorie cinleuchtet, wird darin 
nichts Merkwiirdiges finden, noch auch fich itber die analogen 
Beariffsiibergdnge in wood und tree verwundern. 

Serner fagt er: ,,%Uan fann bei der Betrachtung der 
Wédrter fir Leib faft iiberall die eigenthiimliche Bemerfung 
machen, dag die Benennung vom todten Leibe, vom Leichname 
auf den Iebenden iiberaegangen iff. Lovo wird, wie fchon 
2lriftarch bemerft, bet Homer nur vom todten Korper gebraucht. 
Woher diefe Seltjamfeit der Sprache, von dem 
Begriff des todten Kdrpers erft zu der Benennung es eigenen 
menfchlichen Leibes tiberzugehen P” 7) 


*) SE. drus, Hol; und Baum, daru, Holz, 2p9¢, Baum, cop», 
Hol3, Speer; goth. triu, engl. tree, rife) daur, AUltjlov. drevo. Uuch in 
Hollun-der, Wachhol-der erhalten. 

**) Ofpw, SF. dar, goth. gataira, to tear, fcpinden. 

er) §) Geiger: Urjprung und Entwicelung der menfebhlichen 
Sprache und Dernunft IT, p. 27, 
+) Ibid. p. 136. 


103 


Th mug aeftehen, ich finde dies fo wenig feltjam, dag 
es mich hdchlichjt verwundern wiirde, wenn es anders ware. 
Die menfchliche Dermuinft-Erfenntnig geht eben von der objec: 
tiven Welt aus und aus den jerleaten Hdrpertheilen der Chiere 
oder auch der Menfchen iibertrug der Wenjch erft die Benen: 
mig auf feinen eigenen Korper. Wir reden freilich heute 
von unferem eigenen Sleifch, unferer Haut, unferen Knochen, 
ohne des Urfprungs diefer Vegriffe ju gedenfen. Und doch 
ergibt fchon ein magiges Machdenfen, dag fie Feinen anderen 
Urfprung haben fonnten. Daher auch die Thatiache, dag 
meiften Gliedmagen des Wenfchen von der Sprache als Gelenfe 
aufgefaft werden, weshalb denn auch Etymologieen wie die 


von Gopp, welcher kara die Rand von kar machen ableitet 


ih 


und die Anffaffing des ,,vorzugsweife thatigen Organs” darin 
findet, unmdglich find. 

Es mug mir geniigen, ant diefen wenigen Veifpiclen ge- 
zeigt 3u. haben, daf die etymologijchen Thatjfachen vollftandig 
mit meiner Theorie iibereinftimmen, daf die Sprache die Dinge 
auffagt nicht etwa — wie man nach der interjectionalen 
Theorie hatte fchliefen miiffen — infofern fie luft oder abjcheu- 
erregend find; noch weniger, wie die mimetifche Theorie wahnte, 
injofern fie heulen und briillen, fanfen und jifchen; aber auch 
nicht, wenigftens in ihren lteften Erzeugniffen nicht, infofern 
fie activ find, fondern [ediglic) injofern fie von menjchlicher 
Chatigfeit beriihrt, modificirt, umgeftaltet werden, fagen wir 
alfo fur3, infofern fie geftaltet find. 

Das ift cines der wichtigaften und folgenreichften Refultate 
der vergleichenden Sprachforjchung, und damit fteht denn auch 
ferner in Einflang, dap felbjt die Dinge, welche fich ibrer 


Natur nach der menfchlichen Eimwirfung entjiehen, genau in 


(04 


derfelben Weife zu Objecten des menfchlichen Denkens werden, 
wie die itbrigen, 0. h. dag fie gerade fo benannt werden, als 
ob fie von Wenfchenhand geftaltet waren. 

So reiht fich der Teich (to dig), lacus, Cache und Coch, 
wie das celtijche loch unter die Grundanfchauung des Sufanr 
mengefneteten und Gegrabenen; fo ftanmt von der Wurzel 
ku oder sku fowohl das deutiche hohl wie auch die Hable, 
ebenfowohl das griechifche xoiho¢ wie das Lateinifche coelum 
d. h. das HimmelsgewSlbe; fo reden wir nod) jeBt von der 
Spige des Berges, obfchon Spife mur das Gejpigte, Spitge- 
machte ijt; fo fiilhrt die Grindanjchamuunig des Webens, Slechtens 
und Biegens nicht mir ju den Kunfterzeugniffen des Menjchen, 
jondern auch zur Vezeichnung alles deffen was eine gleichartige 
oder dhnliche 2lnfchauung darbietet, aljfo die Ranke, die Winde, 
das Schilf. So fommt face von facies, urfpriinglich die 
Wache oder Geftalt eines Dings, cin Uusdrud, oder fich in 
neueren Sprachen wiederholt, da feature offenbar mur eine 
Corruption von factura, die Wache ijt; fo iff das bedentjame 
Wort Figur mit fingo und figulus direft verwandt und dentet 
auf einen Urjprung aus der Copferfunft; ebenjo wohl auch 
forma, wenn wir es mit Sanff. gharma, Topf, und formaceus, 
thénern vergleichen. Ufo felbjt jeine ecigene Gejtalt, ja 
jelbjt das ihm Vertrantejte und Cheuerjte, das menfchliche 2hr 
gejicht vermochte der Wenjch nur fo ju bejeichnen, dag er jie 
an feine eigene Chatigfeit anfchlo§, fie fo anffafte, als jeien 
fie ein Produkt diefer Thatigfeit. 

Diefe Sahigkeit der Aurffaffumig Ser Welt der Dinge nach 
ihren Geftalten, diefe Sonderung der ineinanderfliefenden Er- 
fchemmnigen der WAngemwelt Ourch immer beftinuntere, fchdrfere 


Umvrijje, — eine Fahigfeit, welche jo weit ausgebildet ijt, dag 


das wiljenfchaftliche Wuge jeht Dinge geftaltet fieht, wo das 
wirtliche 2hige, felbjt mit den fcharfiten Anjtrumenten bewaffnet, 
gar nichts ju erfennen vermag — ijt die den Wenichen ans: 
jeidynende Gabe der Anjchauung. Sie ijt dem Chiere, bis 
auf geringe Anfdnge, verjagt und ijt bet dem WMenjchen eine 
Srucht der Sprache und der mit diejer eng verbundenen fchaf- 

enden und geftaltenden pies Ceicht mag der Lefer fich 


fe 
dies veran{chaulichen, wenn er an die Unterfchiede denft, welche 


in 


ehen vorhanden find und 


‘ 


auch 3wifchen dem see ee 
bedenft, wie doc) ganz anders das Auge des WMeijters, der 
die Dinge zu fchaffen gewohnt ift, fet es mm ein Schloffer, 
ein Wechanifer oder ein Baumeifter, cin VBildhauer die Erzeng- 
niffe feiner Hunjt anfchaut, als das Ange des Ungeiibten, des 
€Caien. 

Die Geftalt ift ein Generalfactor aller Dinge; jede Ver- 
vollfommmunig, jeder Sortfchritt menfchlicher Chatigfeiten und 
Deranftaltungen erweijt fic) an ihr. Sie fteht dJer Dernunft 
am ndchften, weil fie die Urt der Raumerfillung ijt, und 
weil jie mit dem geiftigfter unferer Sinne, dem Auge, wahr- 
genommen wird. Dent das Denfen ift ett mmeres Sehen und 
dte Sprache ijt, wie ich an einer anderen Stelle gefagt habe, 
aus Sicht und Conen gewoben. Es ift darwum in dem Geftalten 
der Dinge ein unaufhaltiamer, liicenlofer fort{chritt, der Grund- 
charafter der Entwidelung. Und unaufhaltjamer, liicdentlofer, 
mmmerflicher, aber darunmt nicht minder ficherer Fortfchritt ift 
aud) das Wefen der Sprache. 

th habe in allgemeinften Sitgen die dltefte Periode der 
Sprach-Entftehung und -Entwidelung gejeichnet. Es war eine 
Seit auf unferer Erde, da gab es beg den Wenfchen, wenigftens 


fiir fein Denfen, noch Feinen Wann und Feine Frau oder Hind, 


106 


Feine Sonne und feinen Wond, fein Chier und feinen Barun, 
Fein ic) und fein du, Fein hier und fein dort, fondern einen 
geringen Dorrath von Lauten, welche fein Chun bealeiteten 
und fich an den Objecten anhefteten, die von diefer Chatiafeit 
gefchaffen oder von ibr modificirt wurden. 

Es ijt die Periode der objectiven Sprach{chdpfung. 

Eine ganz ungehencre Revolution im dem Geijtesleben 
mugte nachmals eintreten, als die Wenfchen anfingen, ihre Blicke 
von dem Boden, an den fie gefeffelt waren, emporzurichten ju 
den ewigen Geftirnen, 31 dem Himmel, der dauernd und feft 
blieb, wahrend fie felbft aufbliihten, welften und vergingen, 
zu der Worgenréthe, die ihnen den neuen Cag brachte und 
das Grauen der Macht verfcheuchte, 3u den Wolfen, die von 
den Stiirmen gejagt wurden und die nach Langer fchmachten- 
der Diirre 

gnddig ernft den langerflehten Regen 
mit Donnerftimme und mit Windesbraujen 
it wilden Strémen anf die Erde fchiitten. 

Dag eine folche Revolution — nicht etwa pldglich und 
unvorbereitet, fondern fangfam und ganz allmahlich, wie alle 
Entwicelung rat emmal eingetreten fein mug, in welcher die 
activen Yaturfrafte ahnungsvoll empfunden und durch die 
entziindete Phantafie als Iebende thatige Wefen aufgefaft 
wurden, wo die Objecte unmerflich fich in Subjecte verwan- 
delten und die Sprache, das Denfen jenen Charafter annahm, 
den wir heute Fennen und der uns fo natiirlich erjfcheint, 
daf wir wahnen, es miiffe immer fo gewefen fein, ijt gan3 
zweifellos. 

Diefe Periode fallt zufammen mit dem Urfprung der 
Religion, welche, wie Geiger fagt, auf die Bildung des menjch- 


lichen Empfindens eine ganz unglaubliche, faft wiumichrantte 
Herrjchaft ausgeiibt hat. Die Entitehung der AWythologie ift 
ee nothwendige, hochwichtige Entwicelunagsftufe m dem 
Spracd- und Geiftesleben der Wenjchheit. Cinquijtijch Fann fie 
bezeichnet werden als die Periode, da juerjt Subjecte aus der 
Unbeftimmtheit des Denfproceffes fich auszujonderm und ju 
felbjtandigem Dafein fich zu geftalten anfingen. 

Schon Otfricd Willer ahnte dieje Wahrheit. ,,Die mytho- 
logifche Unsdrucdsmeife”, jagte er, ,welche alle Wefen in Per- 
jonen, alle Relationen in Handlungen verwandelt, ijt etwas 
jo Eigenthiimliches, dag wir fiir ihr Wachsthum eme befondere 
Periode in der Civilifation der Dslfer annehmen miiffen.” *) 

Hier aber halte ich inne. Denn hier hat der Wann ju 
reden begonnen ,**) von welchem wir ju lernen und einftweilen 


nur 3u L[ernen haben. 


*) Otfried Willer: Prolegomena ju einer wiffenfchaftlichen 
Mythologie p. 73. 

**) Max Miller: Lectures on the origin and growth of religion 
as illustrated by the religions of India. London 1878. 


rye 4 B : [Sy 


Druck von Victor v. Sabern in Maing. 


WANA ANIL 


CO4?b79894 


UNIVERSITY OF CALIFORNIA LIBRARY pea Wares 


eee 


of a fs S ; Ss oe 
i tat at Se get Te 5 it a a 
~ = Ma 3 : ea x boat: (3 ae 
‘ 7 # Io wee 


Ym gleiden Verlage sft erjdienen: 


Der Arfprung der Sprade 


pon 


DMrof. Dr. Sudwig BWoiré. 
qr. 8°. geh. MH 8. 


Prof. Mar Miller (Orford) bejprit das Werk im Februarbeft 
der contemporary Review in ausfiihrlichfter Weije und faft der beriihmte 
Sprachforjdher fein. Urtheil im folgenden Worten gujammen: -,, Was 
iinmer Undere vor ihm geleiftet baben, Noiré gehort 
pas BVerdienft, die jzerjtreuten KRrafte geyammelt und 
zum Siege gefiibrt gu HFaben”, und an anderer Stelle: Cr hat 
das Midtige gefunden.” 


Vie Rivista Europea (Floren3 1877, 16. September) fehreibt: ,, heb. 


geftebe, da ich. nod miemals ein Buch philojophijen Snbalts mit 
joldent Genus amd jo viel Mugen und Belehrung gelelen Habe, vie 
Das vorliegende, Offenbar iit der Berjafjer ein “Dichter und. zugleiey 
ein tiefer Denfer. Gr entfaltet das jehwierigite Problem des Uriprungs 
der Sprade mit-ciner- unvergleiehlidhen Ciderbeit und ‘Meijterfajt ind 
iiberzengt immer. Dies Buch ift eimes von jenen, welche man (ejen wd, 
immer avieder -fejen muy vow Anfang bis gu Ende, amd welche man- 
ein jdjweres Unrecht anthiun aiirde,, wollte man davoir caren furgen 
Mrusgug geben. 


Wolefhott, Sac. 
Ocr lireislanuy ore Hebens. 


Finite nmagearbeitete und bedentend vermehrte Muflage. 
Grjcheint m 16 Lieferungen a M1, — 


CrjHienen find Lieferumg 1 — 12.