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ÄIAX YON PETTENKOFER
ZUM GEDÄCHTNISS.
Rede
im Auftrag der mathematisch -physikalischen Glasse
der kgl. bayer. Akademie der Wissenschaften in München
in der öffentlichen Sitzung am 16. November 1901
gehalten
von
Carl V. Voit.
Mfinchen 1902.
Verlag der k. b. Akademie
in Commission des G. Franz*8chen Verlags (J. Roth).
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In der Nacht vom 9. auf den 10. Februar dieses Jahres ist
der frühere Präsident unserer Akademie und Senior der mathe-
matisch-physikalischen Classe, Max v. Pettenkofer, reich an
Verdiensten und Ehren, im Alter von 83 Jahren plötzlich aus dem
Leben geschieden. Die sich schnell in unserer Stadt verbreitende
Kunde erregte allenthalben tiefe Trauer über den Verlust des Mit-
bürgers, den wir seit Langem mit Stolz als den unsrigen betrach-
teten; und besonders die grosse und innige Theilnahme bei dem
Begräbnisse zeigte, welche Verehrung und Liebe ihm aus allen
Schichten der Bevölkerung entgegen gebracht wurde. Die ergrei-
fende Feier Hess erkennen, dass ein Mann in das Grab gelegt wurde,
der ein Gewaltiger im Reiche der Wissenschaft war, aber auch
durch die Anwendung seiner wissenschaftlichen Arbeit auf das Leben
das Wohl seiner Mitmenschen wie selten einer gefördert hat. Wir
Alle, die das Grab umstanden, hatten das Gefühl, dass noch Un-
zählige aus unserem Vater lande, ja aus der ganzen gebildeten Welt
im Geiste bei uns waren.
Pettenkofers Lebensgang ist bei mancherlei Gelegenheiten schon
so oft beschrieben worden, dass er im Allgemeinen wohl den Meisten
in diesem Saale bekannt sein wird. Es ist mir, dem seinem um-
fangreichen Forschungsgebiete am nächsten Stehenden, daher eine
sehr schwierige, wenn auch ehrenvolle Aufgabe geworden, die Ge-
dächtnissrede auf den grossen Gelehrten in einer Festsitzung der
Akademie zu halten. Meine Aufgabe ist jedoch eine andere als die
der meisten Nekrologe, in denen seine Verdienste so wahr und
schön gefeiert worden sind; ich habe darzuthun, wie seine Arbeiten
1*
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entstanden aind und wie er es gemacht hat, um seine denkwürdigen
Ergebnisse zu erhalten; ich mum einen Einblick in seine geistige
Werkstätte und in die Art seines Schaffens geben, und nicht nur
das aufzählen, was aus ihr hervorgegangen ist. Es hat aber für
naicb einen besonderen Reiz gehabt, seine wissenschaftliche Entwick-
lung noch einmal im Einzelnen zu verfolgen und zu acliildern, der
ich schon im Jahre 1852 als Schüler mit ihm bekannt geworden
bin und später das Glück hatte, während 10 Jahren gemeinschaftlich
mit ihm zu arbeiten und ihui als Freund nahe zu stehen. Ea ist
eine wahre Erquickung und Erhebung, das Leben des edlen Mannes,
das ein ganz eigenartiges, an geistiger Thätigkeit ungemein mannig-
faltiges und reiches sowie auch ein äusserlich sehr bewegtes war,
zu betrachten. Vielfach wurde er in der ersten Zeit zu seinen Ar-
beiten nur durch zufällige äussere Veranlassungen bestimmt und es
währte ein Dezennium vom Beginn seines Eintretens in die Wissen-
schaft, bis er auf den Weg gelangte, auf dem er das grosse Ziel
erkannte, das er von da an als seine Lebensaufgabe mit aller Kraft
erstrebte. So ist es gekommen, das seine wissenschaftlichen Leistungen
sich auf den verschiedensten Gebieten: der Chemie, der Physik, der
Physiologie, der Hygiene und der Technik bewegen.
Max Pettenkofer wurde am 13. Dezember 1818 zu Lichtenheini,
einer Einöde bei Neuburg an der Donau, geboren. Das väterliche
Haus war früher eine Zollstätte zwischen dem Kurfurstenthum
Bayern und dem Herzogthum Neuburg, und der Grosavater Petten-
kofers war Mauthbeamter daselbst. Ala das Mauthamt nach der
Vereinigung von Neuburg mit Bayern aufgehoben wurde, erwarb
der Grossvater das Anwesen, um sich ala Landwirth bei der Urbar-
machung des angrenzenden Donaumooaes zu betheiligen. Drei seiner
Söhne studirten und wurden tüchtige Beamte, der Jüngste, Petten-
kofera Vater, übernahm das elterliche Anwesen. Aber die Kultur
des Donaumooses hatte nicht den erhofften Erfolg, so daaa es den
Eltern Pettenkofera, trotz allen Fleisses recht schwer fiel ihre acht
Kinder zu erziehen. Dieselben wären wohl auf dem Lande sesshaft
geblieben, wenn nicht von einem älteren Bruder des Vatere, dem
Apotheker Dr. Franz Xaver Pettenkofer , Hilfe gekommen wäre.
Derselbe hatte sich im russischen Feldzuge als Militärapo theker
durch seine Energie und Tapferkeit grosse Verdienste erworben
und wurde später (1823) zum königlichen Hof- und Leibapotheker
ernannt; da er kinderlos war, nahm er sich der Kinder seines
Bruders an , von denen er nach und nach vier in sein Haus auf-
nahm. Für den aufgeweckten und talentvollen Neffen Max hatte
er eine besondere Vorliebe gefasst; er berief den achtjährigen
Knaben im Herbste 1827 zu sich nach München, wo er die Dienst-
wohnung in der königlichen Residenz inne hatte, in welcher der
junge Pettenkofer von da an sein ganzes Leben lang verbleiben
sollte. Das Vaterhaus im Donaumoos behielt aber fortwirkende
Bedeutung für seine Sinnesart; an einfachste Verhältnisse gewöhnt,
bewahrte er sich bis zuletzt die kindliche Zufriedenheit und die
Freude auch am Kleinsten. In München wurde die Volksschule,
dann die Lateinschute und das humanistische Gymnasium — das
jetzige Wilhelms-Gymnasium — besucht und letzteres im August
1837 mit Auszeichnung absolvirt. Es fiel ihm jedoch anfangs recht
schwer, sich an das Treiben der geräuschvollen Stadt zu gewöhnen; es
erfasste ihn eine unendliche Sehnsucht nach dem ungebundenen Leben
auf dem Lande, wo er in der Haide barfuss sich getummelt hatte,
und nach den Schönheiten der freien Natur, die er in dem weiten
Moose mit seinen mannigfaltigen Beleuchtungen mit feinem Blicke
erkannte. Diese Eindrücke der frühesten Jugendzeit sind aus seinem
empfänglichen Herzen nie gewichen, das beglückende Gefühl im
Verkehr mit der Natur ist ihm zeitlebens geblieben; Haidelieder
voll Poesie geben davon Zeugniss. Gläubig erzogen in den Ge-
bräuchen der Kirche, deren tieferen Sinn er verstand — hatte er
doch in der Heimath oft den Dienst des Ministranten bei der Messe
versehen — betete er an den Altären der Frauenkirche inbrünstig,
die Mutter Gottes möchte ein Wunder thun und ihn wieder nach
dem geliebten Lande versetzen. Auch that er sich anfangs nach
dem mangelhaften Unterricht in der Dorfschule zu Lichtenau, einem
kleinen Pfarrdorfe, hart, mit den Kameraden in der Stadt Schritt
zu halten; bald aber waren diese Schwierigkeiten überwunden, und
mit dem g^össten Eifer und Erfolg suchte er sich Kenntnisse zu
erwerben, so dass er jährlich, wenn es in die Ferien nach Lichten-
heim gieng, erste Preise mitbringen konnte.
Nach Absolvirung des Gymnasiums bezog er (1837) die Uni-
versität München, ohne sich bis dahin für ein bestimmtes Fach ent-
schieden zu haben. Angeregt durch seinen Gymnasiallehrer, den
verdienten Philologen Leonhard Spengel, später sein College an der
Universität, der es wie Wenige verstand, die Jugend für die alten
Sprachen zu begeistern, hätte er sich am liebsten der Philologie
zugewandt; Spengel wies den strebsamen Schüler, der ihn auf dem
Nachhausewege häufig begleitete, auch auf die Schätze der deutschen
Literatur z. B. auf Lessings Laokoon hin. Noch in späten Jahren
las er die alten lateinischen und griechischen Klassiker und er hat
öfter erzählt, wie der geistvolle Chemiker Schönbein in Basel ihm
Abends zur geistigen Erfrischung die Oden des Horaz auf den Tisch
legte; so manche ausgezeichnete Naturforscher haben sich die Liebe
für die alten Klassiker bewahrt, einer der g^össten Chemiker, Robert
Bunsen, erfreute sich bis in sein Alter an den lateinischen Schrift-
stellern, an Ciceros Reden und Sueton. Pettenkofer hat seine An-
schauungen über die Ausbildung des Geistes durch die antiken
Sprachen in seiner vortreflFlichen Rektoratsrede: „Wodurch die hu-
manistischen Gymnasien für die Universität vorbereiten" ausge-
sprochen; dieselben sollen die Befähigung zu richtigem Denken
erziehen imd die Lust zur geistigen Arbeit erwecken, so dass der
jugendliche Geist geschickt ist sich in jedem Fache auszubilden.
In der That, es kommt nicht so sehr auf den Gegenstand, durch
welchen dies geschieht, an als auf den anregenden Lehrer; die
frühzeitige Beschäftigung mit den Naturwissenschaften ist nur von
Uebel, da die Wenigsten schon reif dafür sind und den Geist der
Sache nicht erfassen; man vergisst häufig, dass die so viel gepriesene
Entwicklung der Naturwissenschaften zum gröasten Theil von an
den humanistischen Gymnasien Vorgebildeten hervorgebracht worden
ist. Pettenkofer hätte sich daher bei dem Uebert ritte an die Uni-
versität ebensogut die Philologie wie die Naturwissenschaft als
Lebensaufgabe erwählen können und darin Hervorragendes geleistet.
Sein Wohlthäter und Erzieher wünschte jedoch, er möchte sich zu-
nächst de» Naturwissenschaften und dann der Pharmazie zuwenden,
um ihm im Aller in seinem Berufe eine Stütze zu sein. So betrieb
er während des damals für jeden Studirenden vorgeschriebenen
philosophischen Jahres und das Jahr darauf philosophische and
naturwissenschaftliche Studien, besonders Mineralogie bei Fuchs und
technische Chemie bei Kaiser, um darnach (1Ö39) als Lehrling in
die königl, Hofapotheke einzutreten; da er durch die üniversitäts-
jahre und durch den Umgang mit seinem Onkel in ungewöhnlichem
Maasse für die Chemie und Pharmazie vorbereitet war. wurden ihm
von den drei Lehrjahren zwei erlassen und er schon nach einem
Jahre zum Gehilfen in der Hofapotheke mit einem Guldeu Taggeld
befördert. In der trefflich geleiteten Hofapotheke bot sich ihm
reichlich Gelegenheit zur Uebung in chemischen Untersuchungen
sowie zur Reindarstellung vieler chemischer Präparate, von Alkaloiden
und anderen Arzneimitteln.
Aber es sollte zu diesem Zeitpunkte die wissenschaftliche Aus-
bildung Pettenkofers eine jähe Unterbrechung erleiden, die ihn fast
auf ganz andere Bahnen geworfen hätte. Sein Pflegevater, nur der
Herr Onkel genannt, war wohl ein gütiger und gerechter, aber ein
äusserst strenger Mann, welcher Ehrfurcht, peinlichste Ordnung und
pünktlichste Pflichterfüllung verlangte; er wollte seinen Neffen, den
Universitäts-Studenten, nicht anders, ja sogar noch strenger behandeln
wie jeden anderen Lehrling der Apotheke. Da geschah es eines
Tages, dass er seinen Neffen vor den viel jüngeren Genossen wegen
eines geringfügigen Versehens mit einem Backenstreich bestrafte;
■lies glaubte derselbe nicht mehr mit seiner Ehre vereinen zu können
und verliess augenblicklich des Onkels Haus. Er fand momentan
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keinen anderen Weg sich ein Auskommen zu verschaffen als Schau-
spieler zu werden; voll Begeisterung für die Werke der schönen
Literatur hatte er sich ein tiefes Verständniss für dieselben erworben,
und so nimmt es nicht Wunder, wenn der ideal angelegte 20 jährige
Jüngling in seiner Noth auf den Einfall kam, die Darstellung dieser
Werke zu versuchen. Er war eine kurze Zeit als Statist am Theater
zu Regensburg thätig und debütirte dann am Stadttheater in Augs-
burg unter dem Künstlernamen „Tenkof" als Brackenburg in Göthes
„Egmont", auch hatte er noch den Astolf in Calderons „Leben ein
Traum" und einige andere Rollen einstudirt. Aber dem ungeübten
Anfänger blieb der Erfolg aus, und die Augsburger Zeitungen sprachen
sich über seine dramatischen Leistungen sehr reservirt aus. Und
doch Hess er sich trotz des Zuredens einiger Freunde, die der Onkel
Xaver geschickt hatte, nicht von seinem Entschluss abbringen. Dies
gelang jedoch den Bitten seiner Cousine Helene Pettenkofer, deren
Vater Joseph Pettenkofer Rentamtmann in dem nahen Städtchen
Friedberg war; sie versprach ihm die Seinige werden zu wollen,
wenn er wieder ein ordentlicher Mensch würde und zu den Studien
zurückkehrte. Der Geliebten, seiner späteren Gattin, gab er nach,
und der über die Eünstlerlaufbahn des Neffen höchst ungehaltene
Onkel liess sich versöhnen und nahm den Rückkehrenden mit
offenen Armen wieder in sein Haus auf.
Nach dieser Unterbrechung im Winter 1840/41 und im Sommer
1841 wurden im Herbst 1841 die Studien an der Universität mit
eiserner Energie und Ernst wieder aufgenommen und zwar zugleich
als Mediziner und als Pharmazeut. Von seinen Lehrern, die ihm
Gelegenheit zur Ausbildung gaben, sprach er nur von dem berühmten
Mineralogen Johann Nepomuk von Fuchs, mit dem er durch seinen
Onkel näher bekannt geworden war und in dessen mineralogisch-
chemischen Laboratorium in der Akademie er arbeitete, und auch
von dem Chemiker an der polytechnischen Schule Cajetan Kaiser,
dem früheren Assistenten von Fuchs. Fuchs erkannte das unge-
wöhnliche Talent seines Schülers und war ihm Berather, Förderer
nnd väterlicher Freund, was aein Gunetling durch unbegrenzte
rührende Dankbarkeit zeitlebens vergalt. Gerne hätte sich Potten-
kofer schon damals ausschliesBlich der Chemie zugewendet, zu der
er durch seine pharmazeutischen Studien und den Einfluas von Fuchs
besondere Vorliebe gefasst hatte, jedoch drängte der Onkel darauf,
das» er das Fach der Medizin ergreife, um sich zunächst ein ge-
sichertes Auskommen zu erwerben; die pharmazeutische Laufbahn
in der Hofapotheke habe er verscherzt, denn einen Menschen, der
Komödiant geworden sei , könne man für eine Anstellung in der
königl. Leib- und Hofapotheke nicht mehr empfehlen, ein solcher
eigne sich höchstens noch zum Mediziner. Der gute Onkel ahnte
nicht, dass der ehemalige Schauspieler neun Jahre später sein Nach-
folger werden würde. Die Chemie galt damals noch nicht für ein
Fach, von dem allein man leben könnte, und an eine akademische
Laufbahn wagte der Mittellose nicht zu denken. Schweren Herzens
entschloss er sich daher zur Medizin; Fucha tröstete ihn jedoch,
dass er selbst sowie andere berühmte Chemiker wie Wöhler, Scherer etc.
vorerst Mediziner waren. Schon nach zwei Jahren wurde (im
März 1843j die Approbations-Prüfuug als Apotheker und wenige
Monate später die damalige schriftliche und mündliche medizinische
Staatsprüfung, beide mit der Note ausgezeichnet, bestanden. Letz-
terer folgte die Promotion zum Doktor der Medizin.
Zu diesem Zwecke schrieb Pettenkofer (1844) als Dissertation,
nicht wie die meisten seiner Couimilitonen eine praktisch-medizinische
Abhandlung, sondern eine benierkenswerthe Studie über Micania Guaco,
eine in Columbien und Mexiko heimische, zu den Compositen ge-
hörige, dem Eupatorium nahe stehende Pflanze, deren Saft gegen
Seh langen biss. den Biss toller Hunde, auch gegen Cholera angewendet
wurde. Die Pflanze wird in ihrem Heimathlaude Vejuco del Guaco
d. i. Kahrung des Guaco, einer vorzüglich von Schlangen sich näh-
renden Falkenart, genannt. Pettenkofer gewann aus den Blättern,
welche der Droguist Jobst in Stuttgart an Professor Buchner aen.
gesandt hatte, das zuerst von Faure in Mexiko dargestellte Guacin
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und zwar nach Entfernung des Chlorophylls durch Thierkohle als
hellbraunes in Alkohol lösliches Harz, das sehr bitter schmeckt und
mit Säuren einen eigenthümlichen durchdringenden Geruch zeigt.
Die getrocknete Pflanze liefert nach ihm nur geringe Ausbeute; es
muss die frische Pflanze ausgepresst und der Saft in Alkohol prä-
servirt werden. Ein an sich selbst damit angestellter Versuch ergab
eine starke Wirkung: es erfolgte Erbrechen, Vermehrung der Puls-
schläge und profuse Schweissbildung.
Schon als Candidat der Medizin veröfifentlichte der strebsame
Jüngling seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten, welche darthun,
dass er sich frühe eine seltene üebung in chemischen Versuchen und
eine überraschende Selbständigkeit im chemischen Denken angeeignet
hatte. Im Jahre 1842 machte er eine sichere und einfache Methode
bekannt, in forensen Fällen „den mittelst des Marsh'schen Apparates
entwickelten Arsenik von allen anderen ähnlichen Stofifen augenfällig
zu unterscheiden". Die Veranlassung dazu gaben ihm Fuchs, sein
Onkel und Kaiser, welche die Trüglichkeit des bisherigen Nachweises
erfahren hatten. Das erste Neue an seiner Methode war die Iso-
lirung des Arseniks von den den Nachweis hindernden organischen
Substanzen, zu deren Auflösung und Entfernung er Alkalilauge und
Ausfällen der Lösung mit Salzsäure und Gerbsäure anwendete. Otto
in Braunschweig, die erste Autorität in solchen Untersuchungen,
äusserte später begründete Bedenken wegen der Bildung von Schwefel-
alkali und der möglichen Ausfällung des Arsens als Schwefelarsen;
aber obwohl Pettenkofer bei erneuten Versuchen dies in Folge der
raschen Oxydation des Schwefelalkalis nicht eintreten sah und auch
empfahl den Schwefel vorher durch Bleioxyd zu entfernen, so wurde
doch sein Verfahren durch ein besseres verdrängt. — Das zweite Neue
war seine Unterscheidung des Arseniks vom Antimon; er fand, dass,
wenn man über den im Reduktionsröhrchen des Marsh'schen Appa-
rates durch Erwärmen erhaltenen Metallspiegel Schwefelwasserstofl*-
gas leitet, bei Arsenik gelbes, in Ammoniak lösliches Schwefelarsen,
bei Antimon orangefarbenes Schwefelantimon entsteht. Diese schöne
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Reaktion ißt noch immer in Gebrauch. Die neue Methode sollte
sich zu seiner grossen Freuile bald in einem Hchwierigen gerichtliehen
Falle, bei dem vorher die chemische Untersuchung ein negatives
Besiiltat ergeben hatte, bewähren.
Zum ausübenden prakti8chen Arzte beeasa Pettenkofer keine
Neigung und wohl auch nicht das Talent. Er durfte sich jetzt
seinem Lieblingsfache, der Chemie, hingeben. Fuchs glaubte, ee müsste
in Bälde an der Universität München für die sogenannte medizinische
Chemie gesorgt werden, wie sie schon in Würzburg bestand, und
rieth ihm, sich diesem Zweig der Chemie zuzuwenden. Das Studium
der Medizin war jedoch für Pettenkofer kein verlorenes, denn er
hätte ohne dasselbe kaum seine späteren hygienischen und epidemio-
logischen Arbeiten durchführen können. In München waren damals keine
Anstalten vorhanden sich in der Chemie auszubilden und ' wissen-
schaftlich zu arbeiten; auch die Physik und die Physiologie, welche
letztere der Minister Fürst Wallerstein seinem alten, von Wallerstein
mitgebrachten Leibarzte übertragen hatte, lagen an der Universität
darnieder; der frische Zug, der nach dem unheilvollen Einflüsse der
Naturphilosophie andere Universitäten Deutschlands durchwehte, war
noch nicht nach München gedrungen. Zu dieser Zeit richteten sich
die Augen aller Chemiker nach der kleinen Universität Giessen, wo-
selbst Liebig seine berühmte chemische Schule errichtet und seine
die organische Chemie begründenden Arbeiten begonnen hatte. Aber es
war bei dem Andränge der jungen Chemiker kein Platz mehr da
und so gieng Pettenkofer zunächst mit Empfehlungen \'on Fuchs, der
ihm durch seine Verwendung beim Obermedizinal-Ausschuss ein medi-
zinisches lieisestipendium, mit der Instruktion, sich vorzüglich in der
organischen Chemie umzathun, verschafft hatte, nach Würzburg, um
ein Semester (Winter 1843/44) bei dem verdienstvollen Josef Scherer,
welcher auch aus der Medizin hervorgegangen und bei Liebig in
medizinisch-chemischer Richtung thätig gewesen war, zu arbeiten.
Scherer war an die in glänzendem Aufblühen begriffene medizinische
Fakultät der Alma Julia berufen und ihm ein klimsch-cheraisches
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Laboratorium eingeräumt worden; man hatte dort rechtzeitig ein-
gesehen, welche Bedeutung die Chemie für die Untersuchung der
Vorgänge im normalen und kranken Organismus erlangen werde.
Man hoffte früher von der Chemie, namentlich durch Ermittlung
der Bestandtheile der Säfte des Körpers, nur durch chemische Ana-
lysen, ohne eigentlich physiologische Untersuchungen am Thier, über
die Ursachen der Krankheiten Näheres zu erfahren, sah sich jedoch
in dieser Hoffnung vielfach getäuscht, weil man von der Chemie
etwas verlangte, was sie nicht leisten konnte. Die Physiologie benützt
jetzt die Chemie in weitem Umfange, um über die physiologischen
Vorgänge im lebenden Organismus Aufschlüsse zu erhalten und man
kann ja diese Anwendung der Chemie „physiologische Chemie" nennen;
aber letztere lässt sich nicht von der übrigen Physiologie als be-
sondere Wissenschaft loslösen, da Methoden der Untersuchung keine
Fächer abgrenzen und man für die Erklärung fast jedes physio-
logischen Vorgangs alle möglichen Hilfsmittel: die Physik, die Chemie,
die Anatomie etc. nöthig hat. Wer die Chemie zur Ermittlung der
Lebenserscheinungen gebrauchen will, darf nicht nur Chemiker, er
muss auch Physiologe sein; der letztere hat es nur mit dem Ver-
halten der Stoffe im Körper zu thun, das Studium der Zersetzungen
dieser Stoffe im chemischen Laboratorium, ihrer "Constitution, ihrer
synthetischen Darstellung ist eine rein chemische Aufgabe und Sache
des Chemikers. Die für die Physiologie so ungemein wichtige Syn-
these der Zuckerarten durch Emil Fischer ist keine physiologische,
auch keine physiologisch-chemische, sondern eine chemische Ent-
deckung; so fallen auch die chemischen Untersuchungen der Art
über das Eiweiss dem Chemiker zu.
In Würzburg führte der junge Doktor der Medizin Pettenkofer
mehrere chemische Arbeiten aus, welche seinen chemischen und
medizinischen Kenntnissen entsprachen und alsbald die Aufmerksam-
keit auf ihn lenkten.
Er bekam aus der Klinik den Harn eines an Veitstanz leiden-
den Mädchens zur Untersuchung und erhielt in dem eingedampften
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alkoboliacheu Gxtrukt durch Zusatz von Salpetersäure ausser ealpeter-
ßaurem Harnstoff beträclitliche Mengen feiner Nadeln von Hippur-
säure, welche stickstoffhaltige Säure man bis dahin in erheblicher
Quantität nur im Harn der pflanzenfressenden Säugethiere, beim
Menschen blos in Spuren bei gemischter Kost gefunden hatte. Es
zeigte sich, dass die Hippursäure-Ausscheidung bei dem kranken
Kinde nichts mit der Erkrankung zu thun hatte, sondern mit der
rein vegetabilischen Nahrung, welche blos aus Aepfeln, Brod und
Wasser bestand, zusammenhieng. Es war dies eines der ersten Bei-
spiele des bestimmenden Einflusses der Nahrung auf die Zusammen-
setzung des Harns uud ea war damit der Nachweis der Abstammung
der Hippursäure aus einem Bestandtheil der Pflanzen erkannt. Das
Kind hatte, wie mir Pettenkofer mittheilte, eine besondere Vorliebe
für die Aepfelschalen, was mit der späteren Erkenntniss, dass die
Cutikula der Pflanzen den Stoff liefert, der sich in der Niere mit
dem im Organismus entstehenden GiykokoU zu Hippui-säure vereiniget,
in Verbindung steht.
Darauf folgte in Würzburg die Entdeckung seiner bekannten
Reaktion auf Gallensäuren, welche als wichtiges Erkennungsmiftel
für letztere und auf Galle iumier noch angewendet wird. Man
glaubt gewöhnlich, diese Reaktion wäre von ihm durch irgend einen
Zufall aufgefunden worden; dies ißt jedoch nicht so. Es war damals
von Liebig die Ansicht ausgesprochen worden, das Fett im Thier-
körper entstehe aus den Kolilehydraten der Nahrung und diesen
Vorgang wollte Pettenkofer im Laboratorium nachahmen; er nahm
zu diesem Zwecke als lösliches Kohlehydrat den wohlfeilen Rohr-
zucker, behandelte ihn mit concentrirter Schwefelsäure, um durch
Wasserentziehung aus dem Zucker einen an Kohlenstoff reichen Stoff,
ähnlich dem Fett, zu erzeugen, und fügte achliesalich Galle hinzu,
weil man meinte, die Leber oder die Galle habe mit dem Prozess
etwas zu thun. Auf solche Weise erhielt er zwar kein Fett, dessen
Entstehen aus Kohlehydrat im Thier erst viel später durch Versuche
nachgewiesen wurde, wohl aber die schöne violette Farbe seiner
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Reaktion; er bemühte sich jedoch vergebene das rothe Zersetzungs-
produkt zu isoliren. Die Erkennung der Gallensäuren war vorher
eine sehr unsichere; mit der Reaktion Pettenkofers lassen sich die
kleinsten Mengen derselben leicht darthun. Er zeigte mit ihr, dass
in den Gallen aller Thiere dieselbe organische Substanz vorkömmt;
dass im normalen Kothe des Menschen keine Gallensauren aufzu-
finden sind, wohl aber in flussigen Darmentleerungen. Auch machte
er darauf aufmerksam, dass weder die Gallensäuren für sich noch
der Zucker für sich die Reaktion geben, sondern nur beide mit-
einander; dass also eine merkwürdige Aenderung der Metamorphose
eintritt, wenn zwei organische Substanzen neben einander zersetzt
werden.
Noch wichtiger ist der Nachweis eines neuen stickstoffhaltigen
Stoffes im menschlichen Harn, der von den bedeutendsten Chemikern
übersehen worden war, geworden; er isolirte ihn als Chlorzink-Ver-
bindung und stellte seine Formel fest. Diese schwierige Untersuchung
wurde noch in Würzburg begonnen und dann im Giessener Labora-
torium, in welchem er im Sommersemester 1844 Aufnahme fand,
fortgesetzt. Liebig zeigte einige Jahre später, dass dieser merk-
würdige Stoff identisch ist mit dem aus dem Kreatin des Muskel-
fleisches durch Behandlung mit einer Säure entstehenden Kreatinin.
Man vermag sich heut zu Tage kaum mehr vorzustellen, welchen
Eindruck diese Entdeckung auf Liebig und seinen Schüler machte;
sie war einer der ersten Befunde über das Schicksal der Zersetzungs-
produkte der Organe sowie der Bedeutung der Harnbestandtheile,
und Liebig ist zum Theil durch sie zu seiner berühmten im Jahre
1847 veröffentlichten „chemischen Untersuchung über das Fleisch*
veranlasst worden. Pettenkofer erzählte öfter in launiger Weise,
wie ihm beim Trocknen ein zur Elementar- Analyse bestimmter Vor-
rath der Substanz verbrannte, zum grossen Verdruss Liebigs, der
darüber bei einer Naturforscherversammlung in England berichten
wollte, und wie dann halb Giessen zusammenhelfen musste, um recht-
zeitig das Material für eine neue Portion zu gewinnen.
1&
Der Aufenthalt in Giessen gehörte, wie für Jeden, der in diesen
Kreis der etrebaamen und durch Liebig begeiötertFon jungen Cbeiiiiker
aus allen Ländern eingetreten war, zu den anregendsten und glück-
lichsten. Mit schönen und wahren Worten schilderte der dankbare
Schüler Pettenkofer in seiner meisterhaften Gedächtuissrede auf
Liebig die emsige Thätigkeit und das Treiben in diesem Labora-
torium, dem chemischen Bienenkörbe auf dem Selterser Berge, wo
Liebig den Anseprucli des Mephisto: „Das Bewte, was du wissen
kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen" ins Gegentheil um-
drehte: Alles, was ich nmchen kann, das müssen auch die Buben
machen lernen. Durch die gemeinsamen Bestrebungen wurden manche
Freunde auf Lebenszeit gewonnen, wie Will, Bardeleben, Kopp, Fre-
senius, Hof'maun.
Durch den mächtigen Einfluss von Liebig war Pettenkofer zum
fertigen Natiu-forscher herangereift und sein Name hafte unter den
Chemikera einen guten Klang bekommen.
Genie hätte er noch längere Zeit in Giessen zugebracht; er
wollte zunächst nach Darstellung grösserer Quantitäten von Kreatinin
dessen Vorkommen und ZersetKungen etudiren; da er jedoch die
dazu nöthigeu Mittel nicht aufzutreiben vermochte, kehrte er im
Herbst 1844 nach München zurück, woselbst er ohne Stelle war
und auch keine Gelegenheit besass chemisch weiter zu arbeiten. Auf
Einladung des Klinikers Gietl machte er zwar im Krankenhaus die
chemischen Untersuchungen für die Klinik während eines halben
Jahres ohne Remuneration; aber es fehlte ihm auch hier vollständig
an Mitteln und er nmsste seine Zeit vielfach auf höchst gleichgiltige
und unwichtige Dinge verwenden, um sich den zum Leben unent-
behrlichen Bissen Brod zu erwerben. Von wirklichen Nahrungs-
sorgen gedrungen, bat er (1845) in einer Eingabe an den Ober-
medizinalausachuas um eine Stelle an medizinischen Anstalten der
Universität, in welcher er in physiologischer und pathalogischer
Chemie seine Kräfte weiter aufwenden könne. In der damaligen
trüben Zeit entstanden auch seine prächtigen chemischen Sonette,
16
voll Begeisterung für die Errungenschaften der Chemie und die
grossen Chemiker. Der Obermedizinalausschuss stellte auf Veran-
lassung seiner Mitglieder Walther und Fuchs an das königl. Staats-
ministerium den Antrag, dem Dr. Pettenkofer eine Stellung an der
Universität zu geben, wie sie Scherer in Würzburg für medizinische
Chemie inne hatte, aber das Ministerium Abel besass für solche
Dinge kein Verständniss und legte die Sache zu den Akten.
Nun trat an Pettenkofer abermals die Frage heran, welchem
Belauf er sich widmen solle, denn die chemische und akademische
Laufbahn schien ihm, wenigstens vorläufig, verschlossen; er besass
nicht die Mittel sich an der Universität zu habilitiren und längere
Zeit zuzuwarten, auch wollte er sich baldigst einen Lebensunterhalt
verschaffen, um seine Braut heimzuführen.
Da wurde glücklicher Weise die Stelle eines Assistenten bei
dem königl. Hauptmünzamte in München mit einem Tagesgehalt
von IV2 Gulden frei (1845); er bewarb sich um dieselbe in der*
Hoffnung in der grossen Gold- und Silberscheideanstalt daselbst
chemisch weiter arbeiten zu können^ was ihm mehr zusagte als die
ärztliche oder pharmazeutische Thätigkeit. Allerdings waren anfangs
die Münzbeamten über den neuen Collegen sehr erstaunt, denn sie
konnten nicht verstehen, was ein Doktor der Medizin, Chirurgie und
Geburtshilfe in der Münze zu thun habe; und als einmal der be-
rühmte Chemiker Wöhler den Assistenten in der Münze besuchte,
glaubte man, er müsse die Thüre des Direktors verfehlt haben.
Aber bald zeigte es sich, welche brauchbare Kraft man für die
Gold- und Silberscheideanstalt an dem jungen Chemiker gewonnen
hatte, der sich rasch in die neue Thätigkeit einlebte. Es gieng
damals sehr lebhaft in der Münze zu; es waren alle im Verkehr
befindlichen sogenannten Brabanter- oder Kronenthaler eingezogen
worden, um sie in den deutschen Münzfuss umzuprägen; auch das
Haus Rothschild in Frankfurt beschäftigte die Anstalt jährlich mit
einigen Millionen. Da gelang es dem Assistenten (1846 und 1847)
durch seine chemischen Kenntnisse manche Schwierigkeiten in der
17
Scheidung des aus jenen Münzen gewonnenen Goldes und Silbers
zu beseitigen und den Gebalt derselben an Platin zu entdecken.
Man hatte beim Probireu süber- und goldhaltiger Kieee mit Blei-
Ifktte schwankende Resultate erhalten , ja sogar Silber und Gold
Innden in Kiesen, welche ganz frei davon waren; die dazu ver-
wendete käufliche Bleiglätte enthält nämlich, wie Pettenkofer fand,
schon jene edlen Metalle in wechselnder Menge; durch Anwendung
von reinem Bleizucker beseitigte er die Unsicherheit der Probe und
leistete dadurch der praktischen Scheiderei einen grossen Dienst. —
Von grösserer Tragweite für die Scheidung des Golds vom Silber
war die Auftinilung der weiten Verbreitung des Platins, das er als
einen constanten Begleiter des in der Natur vorkommenden Silbers
erkannte. Die Thaler enthielten nämlich stets auch ein Paar pro
mille Gold, das bei der Scheidung abfiel, sich aber nicht zu Fein-
gold, wie ea die Goldschläger brauchen, machen Hess, weil es zu
spröde war. Früher benützte man zur Trennung des Golds vom
Silber die theure Salpetersäure, bei deren Anwendung es sich nicht
verlohnte, alles Gold vom Silber abzuscheiden, wesshalb die älteren
Silbermünzeu alle goldhaltig waren; als nun statt der Salpetersäure
die billigere Schwefelsäure gebraucht wurde, konnte man dieses Gold
noch mit Vortheil gewinnen. Als daher die süddeutschen Staaten
die Kronenthaler in Münzen feineren Gehalts umprägen mussten,
deckte das daraus ausgeschiedene Gold nahezu die Umprägungskosten,
denn es wurden aus 150 Millionen Kronenthalern für 1.8 Millionen
Gold gewonnen. Aber man vermochte merkwürdiger Weise dieses
Gold nicht auf einen höheren Feingehalt zu bringen, es blieben trotz
noch so öfter Behandlung mit der Schwefelsäure immer noch gegen
3 Prozent Silber ungelöst darin; kein praktischer Scheider konnte
die Ursache dafür angeben, die wissenschaftliche Untersuchung Petten-
kofers löste alsbald das Käthsel und die Aufgabe der völligen Rein-
darstellung des Goldes. Er zeigte, dass die Unmöglichkeit das aus
den Thalern erhaltene Gold frei von Silber herzustellen sowie die
Sprödigkeit des so gewonnenen Goldes von dem Gehalt an Platin
18
bis zu 0.2 Prozent herrührt; dieses schon im Bergsilber enthaltene
Platin wurde früher nicht beachtet, weil man keine Anwendung dafür
hatte. Durch das Platin wird ein Theil des Silbers in dem noch
silberhaltigen Gold in seinen Eigenschaften der Art verändert, dass
es der Salpetersäure und der Schwefelsäure widersteht Um die letzten
Antheile des Silbers vom Gold wegzubringen, schmolz Pettenkofer
die Masse mit saurem schwefelsauren Natron, wodurch das Silber
in schwefelsaures Salz verwandelt wird, das sich durch Kochen mit
Schwefelsäure auflöst, während das Gold mit dem Platin zurückbleibt,
die man dann durch Schmelzen mit Salpeter trennt, wodurch das
Gold nicht angegriflfen wird. Auf solche Weise gewann man in der
Münze jährlich einige Kilo des werthvoUen Platins. In den Schlacken
nach dem Schmelzen mit Salpeter fand er ausser dem Gold und
Platin noch Palladium und Osmiumsäure. — Diese Arbeiten Petten-
kofers über die Zusammensetzung und Benützung der Goldschmelz-
schlacken ist nicht nur für die Theorie und das Verständniss des
Scheideprozesses sehr wichtig und aufklärend geworden, sie haben
auch einen einfacheren und gewinnreicheren Betrieb unmittelbar
nach sich gezogen. — Liebig schrieb ihm darüber: „Die Entdeckung
des Platins in den Rückständen des Silberaffinirungsprozesses gehört
zu den interessantesten, welche die Chemie darbietet, und kam um
so unerwarteter, da so viele, namentlich französische Chemiker, denen
man Geschicklichkeit und Erfahrung nicht absprechen kann, darüber
gearbeitet, haben. Ihre einfache und elegante Methode der Auf-
schliessung, welche alle Unannehmlichkeiten der Scheidung des Silbers
und des Feinmachens des Goldes beiseitigt, ist eine wahre Bereicherung
der analytischen Chemie, ganz abgesehen von dem praktischen Nutzen,
den sie der Markscheidekunst gewährt." —
Als Assistent an der Münze führte Pettenkofer noch einige nicht
zu seiner Aufgabe daselbst gehörige Untersuchungen aus.
Die eine handelt über den Gehalt des Speichels an Schwefel-
blausäure. Einige Chemiker glaubten diesen giftigen Stoff im Speichel
gefunden zu haben, Andere meinten, es wäre Essigsäure oder
19
AmeisenBäure, welche mit Eiaenchlorid eine ähnliche rotlie Färbung
gebeu wie die Schwefelblausäure. Pettenkofer that durch schöne
Versuche mit Sicherheit dar, daas es sich wirklich um Schwefelblau-
säure oder Schwefelcyaueäure handelt; er machte auch quantitative
Bestimmungen derselben und suchte ihre Herkunft zu erklären, indem
er sie vom Harnstoff ableitete, der isomer mit dem cyanaauren Am-
moniak ist, in welchem er innerhalb der Speicheldrüsen '2 Aeq.
Sauerstoff durch 2 Aeq. aus Eiwelas entstandenem Schwefel ersetzt
werden läset; dem entsprechend erhielt er bei der Behandlung von
Harnstofi' mit Schwefelalkalimetallen eine Schwefelcyanverbindung.
In den Gelehrten Anzeigen der Akademie gab er eine Notiz
über einen neuen Körper, welcher im sogenannten Hamextraktiv-
stofF enthalten ist und durch Quecksilberchlorid gefällt wird; der-
selbe ist möglicher Weise identisch mit dem neuerdings als Oxypro-
teinsäure beschriebenen Stoff.
Eine dritte höchst bomerkenswerthe Arbeit (1847) ist die über
das Hämatinon, einen antiken rothen Glasfluss. Von dem kunst-
sinnigen König Ludwig I. war (1844) eine Commisaion von Künstlern
und Gelehrten nach Pompeji entsendet worden, um »her die künst-
lerische Technik der Alten Erfahrungen zu sammeln. Der Architekt
Gärtner brachte dabei ein Stück eines undurchsichtigen prächtig
rothen GlasHuases, unter dem Namen antikes Porporino, mit, welches
polirt einen hohen Glanz mit metallglänzenden Punkten zeigt und
offenbar das von Plinius secundus in seiner Naturgeschichte als
Hämatinon oder Blutroth beschriebene Glas ist. Der König hatte
den Wunach, die Herstell unga weise dieses Hämatinona, welche im
Laufe der Zeiten in Vergessenheit gerathen und trotz mannigfacher
Bemühungen nicht wieder gelungen war, zu erfahren, um dasselbe
bei seinen Bauten zu verwenden. Professor Schaf häutl erhielt zu
diesem Zwecke ein Stück zur chemischen Analyse, wobei sich ergab,
daaa ea ein Bleioxyd- und Kupferoxydul haltiger Glasfluss sei, aber
die Verauche zur Wiederherstellung dessell>eu lieferten immer ein
grünachwarzes Glaa, Pettenkofer fand die Analyse von Schafbäutl
20
qualitativ und quantitativ ganz richtig; als er jedoch die Bestand-
theile zusammenschmolz, erhielt auch er kein rothes, sondern ein
grünschwarzes Glas. Da fiel ihm ein, es könnte das kieselsaure
Kupferoxydul eine grünschwarze oder eine purpurrothe Farbe haben,
je nachdem es in amorphem oder krystallinischem Zustande sich
befindet. Und in der That zeigte der geschmolzene antike Glasfluss
eine leberbraune Farbe, nach dem langsamen Abkühlen aber wieder
die rothe. So war es nun auch mit dem künstlich zusammengesetzten
Glasfluss, nur bedurfte es hier noch vieler Anstrengungen Petten-
kofers bis seinem Scharfsinn die jedesmalige Herstellung der rothen
Farbe und die wissenschaftliche Erklärung der dabei stattfindenden
verwickelten Vorgänge gelang.
Die Ereignisse des Jahres 1848 und der Rücktritt Königs
Ludwig I. machten den Versuchen vorläufig ein Ende; erst im
Jahre 1853 erhielt Pettenkofer durch die bei der Akademie von
König Max IL eingesetzte technische Commission die Mittel zu Ver-
suchen in grösserem Maassstabe, wobei er schliesslich Platten von
5 — 8 Zoll Durchmesser bekam.
Der Vorgang beim Entstehen der schönen rothen Farbe ist
also der Uebergang des grünen amorphen kieselsauren Kupferoxyduls
beim langsamen Abkühlen der geschmolzenen Masse in die rothe
krystallinische Verbindung; auf die Bildung der Krystalle ist von
bestimmendem Einfluss die geeignete Temperatur und die Zusammen-
setzung des Glasflusses, denn sie entstehen nur bei langsamem Ab-
kühlen und bei Zusatz von Eisenfeile oder Kohle. Es treten zunächst
feine Punkte regulinischen Kupfers auf, welche die Ansatzpunkte
bilden für die in prächtigen Büscheln anschiessenden nadelförmigen
Krystalle des rothen kieselsauren Kupferoxyduls.
Beim Ersatz der Kieselsäure durch Borsäure glückten ihm
Krystallisationen von vorzüglicher Schönheit mit tief dunkler, bei
auffallendem Sonnenlichte rother Farbe; an gewissen Stellen zeigten
sich zahllose neben einander gereihte Krystalle, andere Stellen hatten
einen lebhaften Schimmer bläulichen Lichtes auf dem tief dunkeln
21
Grunde, ähnlich dem Schimmer der Sterne auf dem nächtlichen
Hintergrunde, wesahalb er der boraxhaltigen Masse den Namen
„Astralit" gab. Die Astralite erinnerten ihn an das in Murano
seit ältester Zeit hergestellte venetianische Avenfuringlas mit seinen
flimmernden Kupferkrystäilchen, dessen Herstellung von manchen
Fabrikanten noch als Geheiiimiss betrachtet wird; Pettenkofer ge-
wann das Aventuringlas aus Hämatinon durch Zumischung von
Eisenfeile in bestimmter Menge und langsames Abkühlen.
Bei der allgemeinen deutschen Industrie -Ausstellung im Jahre
1854 in München waren Proben der künstlichen Glasflüsse als Glas-
porphyre ausgestellt und mit einer Medaille ausgezeichnet worden;
jedoch ist der Wunsch Pettenkofers, es möchte durch industrielle
Männer die Sache weitere Ausbildung und Anwendung iu der Technik
erfahren, bis jetzt nicht erfüllt worden. —
Pettenkofer war durch die 'fbätigkeit in der Münze voll be-
friediget und er erklärte später häufig diese Zeit zusagender erspriess-
licher Arbeit für die glücklichste seines Lebens. Sein Wirken an
derselben fand allseitig Anerkennung und er hatte Aussicht bald Münz-
scheider mit einem pragmatischen Jahresgehalte von 2000 Gulden
und freier Wohnung zu werden; er wäre wohl mit der Zeit der
Vorstand der angesehenen Anstalt geworden. Da trat nach zwei-
jähriger Amtsdauer an derselben eine unerwartete Wendung seines
Geschickes ein; durch den Sturz des Ministeriums Abel im Jahre
1847 kam der frühere Antrag des Obermedizinal -Ausschusses, an
der Universität München eine ausserordentliche Professur für medi-
zinische Chemie zu errichten, wieder in Fluss; das Ministerium
forderte den Akademischen Senat auf, darüber zu berichten und so
wurde Pettenkofer gefragt, ob er eine solche Stelle noch annehmen
würde. Auf das dringende Zureden von Fuchs, der den talentvollen
jungen Gelehrten schon immer gerne der akademischen Laufbahn
zugewendet hätte, entschloss er sich zögernd zuzusagen, es fiel ihm
recht schwer, sich von der liebgewordenen Thätigkeit an der Münze
zu trennen. Der Senat schlug ihn zum ausserordentlichen Professor
22
für medizinische Chemie vor, zugleich aber auch, einem Antrage
der staatswirthschaftlichen Fakultät entsprechend, den Privatdozenten
Dr. August Vogel, dessen Vater damals Professor der Chemie war,
für Agrikulturchemie, mit dem Bemerken, dass die Mittel der Uni-
versität nur für eine Professur vorhanden wären, dem Ministerium
die Wahl überlassend, welche Professur zu besetzen sei. König
Ludwig I. entschied sich für die medizinische Chemie; die den
König höchlich erfreuende Herstellung des Porporino antico ver-
schaffte Pettenkofer die ausserordentliche Professur an der medizi-
nischen Fakultät, vorzugsweise für pathalogisch - chemische Unter-
suchungen an den Kliniken, mit einem Jahresgehalt von 700 Gulden
in Geld und einem Naturalbezuge von zwei Schäffeln Weizen und
sieben Schäffeln Korn.
In dem Universitätsgebäude in der Ludwigstrasse erhielt er zu
ebener Erde drei Räume, von denen eines als chemisches Labora-
torium diente. Schüler zu wissenschaftlichen Arbeiten und praktischen
Uebungen meldeten sich, bei dem damaligen Zustande der Natur-
wissenschaften an der Universität, nur einzelne und auch dies waren
keine Mediziner, ja es erschien Pettenkofer bei seinen sonstigen
Bestrebungen nicht einmal angenehm ein Laboratorium zu leiten,
denn als ich mich nach dem theoretisch-medizinischen Examen (1852)
sehnte, mich in der Chemie auszubilden und ihn bat, mich als Schüler
aufzunehmen, wies er mich anfangs wegen Mangel an Zeit ab und
er wurde nur durch meine Bestürzung über seinen abschlägigen Be-
scheid bewogen, es mit mir zu versuchen. Er begann jedoch vor
wenigen Zuhörern Vorlesungen zu halten, nicht über sogenannte
medizinische Chemie, wie sie Scherer in Würzburg mit so grossem
Erfolge betrieb, sondern zunächst mehrmals über organische Chemie
in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie im Liebig'schen
Sinne, auch einmal über allgemeine und organische Chemie; im
Sommersemester 1853 taucht zuerst der absonderliche Titel »Vor-
träge über diätetisch -physikalische Chemie" auf, nachdem von ihm
im Jahre 1851 die Anfänge seiner hygienischen Untersuchungen
23
gemacht worden waren. Der Name deutete schon auf die Anwen-
dung der Lehren der Chemie für die Gesundheit des Menschen hin,
und er brachte darin die Zusammensetzung der uns umgebenden
Luft, des Wassers, auch der gebräuchlichen Nahrungsmittel wie des
Fleisches, der Milch, des Brodes etc. Wir erkannten aUbald, dasa
uns hieriuit etwas Anderes geboten wurde, als in den gewöhnlichen
Vorlesungen, etwas ganz Eigenartiges, und wir nahmen, obwohl
damals der Vortrag etwas Schleppendes und Eintöniges hatte, an
dem fesselnden Inhalt das grösste Interesse. Diese Vorlesung wieder-
holte sich jedes Jahr, aber unter beständiger Aenderung des Titels,
wie wenn sein Geist nach einer besonderen Gestaltung und nach
etwas Neuem ringen würde. Da heiast ea: über die physikalischen
und chemischen Grundsätze der Diätetik und der Öffentlichen Ge-
sundheitspflege, physikalische und chemische Grundsätze der Diätetik
als Theil der Medizinalpolizei, medizinische Polizei, Medizinalpoüzei
mit Berücksichtigung der physikalischen und chemischen Grundlagen
der Gesundheitslehre, Öffentliche Gesundheitspflege mit besonderer
Berücksichtigung der Medizinal polizei , öffentliche Gesundheitspflege
für Aerzte, Architekten und Ingenieure, dann öffentliche Gesundheits-
pflege und Medizinalpolizei, bis vom Sommersemester 1865 an end-
gültig der Name: „Vorträge über Hygiene" auftritt.
Es ist auffallend und charakteristisch für Petteiikofer, dass er
nach seiner Rückkehr von Giessen, zu einer Zeit, in der fast alle
Chemiker sicli mit der damaligen Hauptaufgabe der Chemie, der
Ermittelung der näheren Constitution der Kohlenstoff-Verbindungen
zu beschäftigen begannen, und in der in dieser Richtung die glänzend-
sten Entdeckungen gemacht wurden, sich an diesem Wettkampfe
nicht betheiligte, obwohl er doch bei Liebig das volle Verständoiss
hiefür erlangt hatte; ja es wurden nicht einmal seine physiologisch-
chemischen Untersuchungen fortgesetzt. In ähnlicher Weise kümmerte
sich auch Robert Buneen, nachdem er durch seine denkwürdige
Untersuchung über das Kakodyl die heutige Chemie der Kohlen-
stoffverbindungen mit begründet hatte, sich um die weitere Ent-
24
Wicklung derselben nicht mehr. So hat auch Pettenkofer keine
einzige Arbeit in dieser Richtung ausgeführt, zunächst fast aus-
schliesslich nur Untersuchungen, welche eine praktische Anwendung
brachten und wie die meisten früheren durch einen zufälligen An-
lass an ihn herangetreten waren.
Nur einmal befasste er sich noch mit einer Aufgabe der reinen
Chemie und auch da nur mit einer theoretischen Frage ohne einen
chemischen Versuch anzustellen. Am 12. Januar 1850 las er in einer
Sitzung der mathematisch-physikalischen Klasse der Akademie, in
welche er (1846) noch als Münzassistent auf den Vorschlag von
Fuchs, zugleich mit August Vogel und Ludwig Andreas Buchner, als
ausserordentliches Mitglied aufgenommen worden war, seine gedanken-
reiche Abhandlung „über die regelmässigen Abstände der Aequivalent-
zahlen der sogenannten einfachen Radikale". Von Döbereiner war
schon 1829 auf die sogenannten Triaden aufmerksam gemacht worden,
auf Gruppen von drei analogen Elementen, deren Atomgewichte so
beschaffen sind, dass das eine als das arithmetische Mittel aus dem
der beiden anderen betrachtet werden kann. Nach Pettenkofers
Beobachtung finden sich regelmässige Abstände der Aequivalent-
zahlen zwischen den Gliedern einzelner natürlicher Gruppen der
Elemente; seine Abhandlung hat die wichtigste Anregung zur Auf-
stellung des sogenannten periodischen Systems der Elemente gegeben
und eine dauernde Bedeutung in der Geschichte der Chemie erlangt.
Es lag ihm klar vor Augen, dass der nächste Schritt der sein müsse,
genaueste Bestimmungen der Aequivalentzahlen zu machen, und so
stellte er in der folgenden Februarsitzung das schriftliche Ansuchen
an das Präsidium der Akademie, ihm zur Bestreitung der für eine
nähere Untersuchung nöthigen Ausgaben 200 Gulden zu gewähren,
welches Gesuch von Fuchs als nützlich und zeitgemäss unterstützt wurde,
worauf die Klasse beschloss, dasselbe empfehlend dem Präsidium zu
übergeben; aber dieses vermochte der Bitte nicht zu willfahren, da
hiefür keine Mittel vorhanden waren ; Dank der hochherzigen Stiftung
von Bürgern Münchens und anderen edlen Freunden der Wissen-
25
Schaft, welche später Pettenkofer als Präsident der Akademie ver-
mittelte, wäre eine solche Absage heut zu Tage nicht mehr möglich.
Die Sache fand anfangs bei den Chemikern keine besondere Be-
achtung, zum guten Theil wohl desshalb weil sie in den wenig zu-
gänglichen „Gelehrten Anzeigen" der Akademie versteckt war; erst
viel später erkannte man ihren grundlegenden Werth. Acht Jahre
darnach veröflFentlichte nämlich der berühmte französische Chemiker
J. Dumas eine Abhandlung, in welcher er genau die gleichen Gedanken
aussprach wie Pettenkofer, der dagegen reklamirte, indem er seine
Abhandlung erneut in Liebigs Annalen der Chemie abdrucken liess.
Jetzt erst fand er die allgemeine Würdigung und wurde es allseitig
anerkannt, dass er sich damit ein unvergängliches Verdienst für alle
Zeiten um die Chemie erworben hat; sie würde allein hinreichen,
seinem Namen einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Chemie
zu sichern. Die deutsche chemische Gesellschaft liess (1899) zum
50 jährigen Gedächtniss an die einflussreichen Betrachtungen ihres
Ehrenmitgliedes über die Atomgewichte eine Medaille prägen und
durch die Herren v. Baeyer, E. Fischer, van't Hoff und Königs feier-
lich überreichen; in Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften
wurde die wunderbar schön und klar geschriebene Abhandlung aber-
mals abgedruckt. Ihre Wirkung sollte sich noch weiter erstrecken,
als sich zeigte, dass auch die Eigenschaften der Elemente peri-
odische Funktionen ihrer Atomgewichte sind, besonders als Mendelejeff
solche Betrachtungen zur Bestimmung oder Correktion der Atom-
gewichte ungenügend bekannter Elemente und sogar zur Prognose
der Eigenschaften noch unbekannter Elemente anwandte; man hat
diese Vorausbestimmung fehlender und dann wirklich aufgefundener
Elemente mit Leverriers Vorausberechnung des noch unentdeckten
Planeten Neptun verglichen. Es ist übrigens ein Glück, dass Petten-
kofer verhindert wurde sich mit den zeitraubenden Atomgewichts-
bestimmungen zu befassen, er wäre wohl dann nicht zu den Unter-
suchungen, welche nur von ihm ausgeführt werden konnten, gekommen,
während der belgische Chemiker Jean Servais Stas den grössten
4
26
Theil seines langen Lebens die Atomgewichte mit bewunderungs-
werther Ausdauer und unübertroffener Sorgfalt ermittelte.
In die erste Zeit von Pettenkofers Professur für medizinische
Chemie fielen zwei technische Untersuchungen.
Der Arcliitekt Leo von Klenze, der ihm seine Erfahrungen
über die grösseren Vorzüge der englischen hydraulischen Kalke,
besonders des Portland-Cements , vor den deutschen mitgetheilt und
ihm auch eine Probe echten Portland-Cements aus England mitgebracht
hatte, forderte ilm (1849) im Interesse seiner Bauten auf nach den
Gründen dieser Verschiedenheit zu suchen. In der That zeigten der
englische Portland-Cement und der gewöhnliche deutsche hydraulische
Kalk gewisse Unterschiede, indem der erst^re in Wasser in sehr
kurzer Zeit zu einer gleichmässig harten Masse erhärtet, letzterer
nur langsam, so dass er noch nach Monaten im Innern weich bleibt.
Pettenkofer gieng um so lieber darauf ein, da von seinem Lehrer
Fuchs schon 1830 durch eine Arbeit über Kalk und Mörtel die
ersten Aufschlüsse über die Bedingungen des Festwerdens des Cements
unter Wasser gebracht worden waren. Pettenkofer betraute zuerst
seinen Schüler, den Studirenden Anton IIo[)fgiirten aus Wien, mit der
Untersuchung, welche die erste Arbeit eines Schülei^s aus einem
naturwissenschaftlichen Laboratorium der Universität München in der
damaligen Zeit war. Dann machte er sich selbst an die Aufgabe
und löste das Problem der Darstellung guten hydraulischen Kalkes.
Es ergab sich aus den Analysen, dass nicht der sogenannte Thon-
gehalt des thonhaltigen Kalksteins oder des Mergels, aus dem man
den hydraulischen Kalk brennt, die wesentliche Bedingung guten
Cements ist, sondern vielmehr die chemische Zusammensetzung des-
selben. Durch das Brennen des Mergels geht, wie schon Fuchs
zeigte, der kohlensaure Kalk in Aetzkalk über und durch letzteren
wird der Thon aufgeschlossen, d. h. die im Thon enthaltene Kiesel-
säure verbindet sich mit den Alkalien, zu welchen sie in der höheren
Temperatur beim Brennen eine grössere Affinität als zum Kalk be-
sitzt. Die Kieselsäure darf nicht schon während des Brennens an
27
den Kalk treten, sondern erst nachher bei der Behandlung mit
Wasser theilweise oder ganz mit dem Kalk zu Kalksilikat sich ver-
binden. Die Hitze soll eben ausreichend sein, den kohlensauren
Kalk in Aetzkalk zu verwandeln und den thonigen Bestandtheil des
Mergels zu schmelzen; bei zu hoher Hitze verbindet sich der Kalk
schon während des Brennens mit der Kieselsäure und man erhält
einen schlechten Cement. Darauf hin konnte Pettenkofer genaue
Angaben über die Zeit des Brennens und den Hitzegrad bei den
verschiedenen Mergeln machen, so dass er die Theorie dieses wich-
tigen Baumaterials zum völligen Abschluss gebracht hat und man
jetzt aus den deutschen Mergeln mit grösster Sicherheit Produkte
wie der kostspielige englische Portland -Cement erhalten kann. —
Daran reihte sich eine zweite technische Untersuchung über die
wichtigsten Grundsätze der Bereitung und Benützung des Holzleucht-
gases. Es war schon früher versucht worden Leuchtgas aus Holz
herzustellen und namentlich hatte der Franzose Lebon einen kleinen
Apparat zur Bereitung von Holzgas als Hausgeräth angegeben, der
in holzreichen Gegenden, wo die Steinkohlen damals schwer zu be-
schaffen waren, die Aufmerksamkeit auf sich zog. Es vermochte
sich jedoch diese Beleuchtungsart nirgends zu behaupten, vorzüglich
desshalb, weil die Leuchtkraft des Holzgases allzugering war und
mit dem Steinkohlengas nicht entfernt in Conkurrenz treten konnte.
Der Baurath Ruland in München kam nun auf die Idee, dass harz-
reiches Holz vielleicht ein leuchtendes Gas geben könnte und ver-
anlasste Pettenkofer (im Winter 1848/49) Versuche darüber anzu-
stellen; aber auch das Holz der Zwergföhre (Pinus Pumilio) mit
25 Prozent Harz lieferte noch kein leuchtendes Gas. Da war Petten-
kofer vor die Aufgabe gestellt, die Ursache zu suchen, warum das
Holz kein gutes Leuchtgas giebt. Bald hatte er sie gefunden, was
wohl Wenigen geglückt wäre. Es zeigte sich durch die grössten-
theils von seinem talentvollen, leider zu früh verstorbenen Assistenten
Dr. August Pauli, der später Robert Bunsen bei den Absorptions-
versuchen der Gase Hilfe leistete, ausgeführten Gasanalysen, dass
28
bei der niederen Temperatur, bei welcher das Holz verkohlt und
in Dämpfe zerfallt, nur Gase sich bilden, welche beim Verbrennen
nicht leuchten, nur Kohlensäure, Kohlenoxydgas und Sumpfgas, jedoch
keine schweren Doppelkohlenwasserstoffe. Die Steinkohle dagegen
wird erst bei höherer Temperatur zersetzt und liefert dabei Gase
von hohem Kohlenstoffgehalt. Wenn man also die bei der Ver-
kohlung des Holzes entstehenden Dämpfe höher erhitzt, so erhält
man mehr Gas und es treten schwere Kohlenwasserstoffe in solcher
Menge und von so bedeutendem Kohlenstoffgehalt auf, dass das
Holzgas sogar reicher daran ist als das Steinkohlengas. Dadurch
war mit einem Schlage das Holzgas in die Reihe der leuchtfähigen
Stoffe eingetreten; man hat nur noch die die Leuchtkraft beein-
trächtigende Kohlensäure durch trockenes Kalkhydrat zu entfernen.
Es trat dabei noch eine eigenthümliche Schwierigkeit auf, welche
Pettenkofer einmal in die grösste Verlegenheit brachte. Als die
Stadt Basel die Holzgasbeleuchtung einführte, war er eingeladen
worden, der feierlichen Eröffnung der Anstalt und der Probebeleuch-
tung beizuwohnen. Aber als Alles versammelt war und das Gas
entzündet wurde, leuchtete es nur ganz schwach, so dass der Akt
unterbrochen werden musste. Pettenkofer verliess tief beschämt
und voll schwerer Sorgen thränenden Auges die Fabrik und die
Stadt. In München angekommen, eilte er vom Bahnhof ins Labora-
torium, wo er noch vor 48 Stunden die Holzgasflamme zum Leuchten
brachte. In Folge des höheren spezifischen Gewichtes des Holzgases
ist nämlich bei ihm das Aufsteigen und Ausströmen im Brenner
träger als beim Steinkohlengas , wesshalb man bei ersterem nicht
einen gewöhnlichen Steinkohlen gasbrenner, sondern einen Brenner
mit breiterer Ausströmungsöffnung nehmen muss. Das Holzgas kam
nach den lokalen Verhältnissen billiger als das Steinkohlengas und
ist frei von Schwefel und Ammoniak, so dass beim Verbrennen keine
schweflige Säure und keine Salpetersäure entsteht und es für zarte
Farben, z. B. auf Seide, sowie für Metalle unschädlich ist. Nachdem
die Sache nach den ersten Versuchen mit einem kleinen Laboratoriums-
29
Apparat, in dem höchstens 100 Gramm Holz auf ein Mal destillirt
werden konnten, prinzipiell geordnet war, sollten die für die Aus-
führung im Grossen nöthigen Erfahrungen gewonnen werden; der
Baurath Ruland und der Baudirektor v. Pauli bewarben sich mit
Pettenkofer darum, in dem neuen Bahnhof in München auf ihre
Kosten die Beleuchtung mit Holzgas einrichten zu dürfen, mit der
Verpflichtung, das Gas bei gleicher Leuchtkraft noch billiger zu
liefern, als man es aus der grossen für die Stadt München be-
stehenden Steinkohlengasfabrik bezogen hätte; von 1851 an wurde
der Bahnhof mit Holzgas beleuchtet. Als die Durchführung im
Grossen noch mehr Kapitalien erheischte, schlössen sich die Fabrik-
besitzer Anton Riemerschmid in München und L. A. Riedinger in
Augsburg an, und so wurde das Holzgas gegenüber dem Vorurtheile
der gesammten wissenschaftlichen und industriellen Welt ins Leben
eingeführt und ist seine Bereitung ein bedeutender brauchbarer
Industriezweig geworden. Besonders durch die Mithilfe und Thätig-
keit des technisch und industriell ungewöhnlich begabten Riedinger
kam das Holzgas in vielen Anstalten, Fabriken und Städten zur An-
wendung. Vor 40 Jahren war eine grosse Anzahl von Städten in
Süddeutschland und Oesterreich-Ungarn noch mit diesem Holzgas
beleuchtet. Wenn die meisten dieser Orte wieder mit Steinkohlen-
gas beleuchtet werden, so war zu diesem Wechsel nicht etwa eine
Mangelhaftigkeit des Holzgases oder ein sachlicher Vorzug des Stein-
kohlengases Veranlassung, sondern lediglich der im Laufe der Zeit
eingetretene Wechsel im Preise des Rohmaterials. Erst als das Holz
theurer und die HerbeischafiFung der Steinkohlen nach Süddeutsch-
durch die Entwicklung der Eisenbahnen leichter wurde, musste das
Holzgas weichen. Wo die Steinkohlen mehr kosten als das gleiche Ge-
wicht Holz, ist es immer noch lohnender mit Holzgas zu beleuchten. —
Zu dieser Zeit stand der nun 33 Jahre alte Forscher schon in
hohem Ansehen da, er hatte sich in der Chemie, der physiologischen
Chemie sowie durch seine technischen Untersuchungen über das
Platin, das Hämatinon, den Cement und das Holzgas einen überall
30
geachteten Namen in der Wissenschaft und Technik erworben und
doch war er noch nicht zu seiner eigentlichen Lebensaufgabe ge-
kommen; er hatte in einer Anzahl von Gebieten durch glückliche
Lösung von zufällig an ihn herangetretenen Fragen Hervorragendes
geleistet, aber er war noch nicht zu consequent^r , sich weiter ent-
wickelnder Forschung in einer bestimmten Richtung gelangt. Da
kam 1851 eine merkwürdige Untersuchung, welche Pettenkofers
Bestrebungen eine neue, bleibende Richtung geben sollte und welche
der Ausgangspunkt für seine hygienischen Arbeiten geworden ist,
das ist die über den Unterschied zwischen Luftheizung und Ofen-
heizung in ihrer Einwirkung auf die Zusammensetzung der Luft der
geheizten Räume. Sie entstand durch eine Anfrage von König
Max IL an den Obermedizinalausschuss ; der König fühlte sich in
den durch Luftheizung erwärmten Räumen der Residenz unbehaglich
und er wollte erfahren, ob die Heizung mit heisser Luft ein andere
Einwirkung auf die Luft der beheizten Räume äussere als die ge-
wöhnliche Ofenheizung. Man konnte dies nicht ohne Weiteres ent-
scheiden, man musste vorerst eingehende Erfahrungen darüber machen;
der wissenschaftlich und technisch so bewanderte Pettenkofer, welcher
im Jahre 1849 als chemisches Mitglied in den Ausschuss an die
Stelle von Fuchs berufen worden war, war der richtige Mann dazu;
ein Anderer hätte wahrscheinlich in Bälde ein gewöhnliches Gut-
achten darüber geschrieben, aber für ihn gab es den Anlass zu ge-
nauester experimenteller Prüfung und zu den interessantesten, all-
gemein wichtigen Resultaten. Er sagte sich alsbald, dass es an und
für sich doch unmöglich einen Unterschied in der Zusammensetzung
der Luft eines Zimmers machen könne, ob die Wärmequelle im
Zimmer sich befindet oder die Wärme von ausserhalb zugeleitet
wird: das erhitzte Eisen des Calorifers kann aus der Luft keinen
Sauerstoff wegnehmen, auch nicht den Wasserdampf derselben zer-
legen und dadurch den Wohnräumen zu trockene Luft zuführen,
worüber man in den mit heisser Luft erwärmten Räumen gewöhnlich
klagt. Er untersuchte zunächst den Gehalt der Luft der durch
31
Luftheizung erwärmten Räume an Kohlensäure und Wasser; dabei
stellte sich im Gegentheil heraus, dass die aus den gemauerten
Hauptkanälen in das Zimmer eintretende heisse Luft sogar wasser-
reicher ist wie die damit erwärmte Zimmerluft und letztere wasser-
reicher wie die in den Heizkanal aus dem Freien eintretende Luft.
Wenn nämlich die heisse Luft die gemauerten Kanäle durchzieht,
nimmt sie von den Ziegelsteinen und dem Mörtel derselben Wasser
weg und so wird auch die Zimmerluft durch die Luftheizung reicher
an Wasser, was man schon an dem Schwitzen der kalten Fenster-
scheiben wahrnimmt. Auch von den Wänden des Zimmers verdunstet
durch die Erwärmung der Luft Wasser; dieses von den hygro-
scopischen Wandungen abgedunstete Wasser wird vneder aus der
äusseren Luft ersetzt und die Gebäude führen dieses condensirte
Wasser wie die Gebirge nach abwärts, wesshalb die Mauer oberhalb
einer Asphaltschicht feucht wird. Darum nimmt man zur Verkleidung
der Wohnungen hygroscopische Substanzen, z. B. Mörtel; das in den
Wänden aufgespeicherte Wasser ist nothwendig, es muss beim Ein-
heizen an die wasserarme kalte Winterluft abgegeben werden, sonst
kommt der Organismus in eine unnatürliche zu trockene Atmosphäre.
Die Luftheizung macht jedoch die Zimmerluft in anderer Weise
trockener, sie bedingt nämlich einen fast fünfmal grösseren Luft-
wechsel in den Räumen als die Ofenheizung, wenn der Ofen ausser-
halb des Zimmers gefeuert wird; sie trocknet daher in der That
mehr aus, so dass die Klage über grössere Trockenheit der Luft-
heizung eine begründete ist, wogegen man sich durch Verdampfung
von Wasser aus einer grossen Oberfläche schützen kann. — Dabei
wurde Pettenkofer auf eine andere wichtige Eigenschaft der Wände
unserer Wohnungen zum ersten Male aufmerksam, nämlich auf ihre
Durchlässigkeit für Luft; bis dahin beschränkte man, wenn keine
künstliche Ventilation stattfand, den Ort des Austausches der Luft
in einem Wohnraum nur auf die Oeffnungen an den Fenstern und
Thüren; nun erkannte er, dass auch durch die Wände ein Luft-
wechsel vor sich geht wie nach den schönen Versuchen von Graham
32
bei der Diffusion der Gase durch eine trockene Gypsplatte, die
durch Befeuchten mit Wasser luftdicht wird. Desshalb hat der Mensch,
durch sein Gefühl geleitet, zur Erbauung der Wohnungen für Luft
durchdringlichen Mörtel und poröse Ziegelsteine gewählt, eiserne
Wandungen wären ihm unbehaglich wie Kleidungsstücke aus Gummi ;
darum sind auch die Neubauten mit ihren nassen, luftdicht schliessen-
den Wandungen ungesund, nicht allein wegen des W^assers und der
Feuchtigkeit, sondern auch wegen des luftdichten Verschlusses; auch
das Kalkhydrat des Mörtels der neuen Wohnungen ist eine Quelle
von Wasser, bis es soviel Kohlensäure aus der Luft der Räume auf-
genommen hat, dass es zu Kalkcarbonat geworden ist. Die Poren
der Wände werden von ihm mit denen unserer Oberhaut oder mit
denen der Kalkschalen des Vogeleies, in dem durch Firnissen oder
Oelen der junge Vogel erstickt, verglichen. Wie die Wände unserer
Wohnungen müssen auch unsere Kleider für Luft durchgängig sein.
Das wichtige Ergebniss dieser ersten Erkenntnisse ist für ihn die
Hoffnung durch mehrere ähnliche Arbeiten den unbestimmten Aus-
druck: „Salubrität der Wohnungen" in bestimmte wissenschaftliche
Vorstellungen aufzulösen.
Es war durch diese zufällig angeregton Untersuchungen eine
grosse Anzahl von weiteren Fragen in ihm erweckt worden, welche
die Umstände, unter denen der Mensch lebt und sich gesund erhält,
betreffen: zunächst über das hygroscopische Verhalten der Stoffe,
welche zur Erbauung und Verkleidung der Wohnungen angewendet
werden und über die Durchlässigkeit dieser Stoffe für Luft. Die
Beantwortung dieser Fragen, welche zu immer neuen Fragen führten,
nahmen ihn von da an ganz in Anspruch, so dass sich daraus all-
mählich ein neues Wissensgebiet, das der experimentellen Hygiene,
entwickelte.
Aus der Zeit seines Aufenthaltes im Laboratorium an der Uni-
versität stammen noch einige kleinere, aber bemerkenswerthe Arbeiten,
welche seine Meisterschaft in der chemischen Analyse sowie im
chemischen Denken erneut darthun.
33
Von theoretischer Bedeutung ist eine Untersuchung über den
amorphen und krystallinischen Zustand eines Kupferainalgams. An
einem von den Pariser Zahnärzten zur Ausfüllung cariöser Zähne
gebrauchten Kupferamalgam fand er, doss dasselbe beim Erkalten
nach dem Erhitzen in der ersten Zeit noch weich, plastisch und
amorph ist, nach 8 — 10 Stunden aber hart und spröde wird und
dann kryetallinisch ist. Die Ämalgamo sind nach ihm keine chemi-
schen Verbindungen, sondern nur Metalllegirungen, da kein stöchio-
metrisches Verhältniss zwischen dem Quecksilber und dem Metall
besteht. Das Kupferamalgam ist ein merkwürdiges Beispiel der
Uebertragung des Aggregatzustandes von einem Körper auf einen
anderen, denn das flüssige Quecksilber wird dabei mit dem Kupfer
fest und kryatalHnisch. Er weist auch auf die Wichtigkeit dieses
Vorgangs für die allgemeine Chemie hin als erstes und bis dahin
einziges Beispiel von Amorphismus und Krystallismus schwerer Me-
talle bei ein und derselben Temperatur.
Pettenkofer hatte ferner (1851) eine genaue Analyse der jod-
und bromhaltigen Adelheidsquelle zu Heilbronn in Oberbayern aus-
geführt, lu den benachbarten Heilquellen zu Krankenheil bei Tölz
waren von den verschiedenen Forschern über den Jodgehalt sehr
widersprechende Angaben gemacht worden; Pettenkofer wurde dess-
halb (1857) als Mitglied des Obermedizinal- Ausschusses vom Ministerium
beauftragt die Sache zu untersuchen. Er löste das Räthsel, indem
er zeigte, dass die Differenzen nicht von einem wechselnden Gehalt
des Wassers an Jod herrühren, sondern von der als Keagens ange-
wendeten Salpetersäure, welche schon Jod als Jodsäure enthalten
kann, wenn sie aus Chilisalpeter dargestellt wird. In der Quelle ist
nämlich auch Schwefel wasserstofTgas vorhanden; dasselbe reduzirt
aus der jodsäurehaltigen Salpetersäure Jod, das dann die Stärke
bläut. Nach längerem Lagern des Wassers verschwindet das Schwefel-
wasserstoffgas und man erhält keine Jodreaktion mehr.
Im rohen Holzessig, der bei der Holzgasbereitung anfällt, ist in
nicht unbeträchtlicher Menge ein mit Eisensalzen sich blau färbender
34
Stoff vorhanden, den er anfangs für Pyrogallussaure hielt, der sich
aber dann als Brenzkatechusäure erwies (1854). Diese Substanz bildet
sich beim Verkohlen des Holzes aus der Gerbsaure und findet sich
im Destillationsrückstande des Holzessigs neben harzartigen Stoffen;
man trennt sie von den letzteren durch Kochsalzlösung, welche die
Säure löst; durch Schütteln der Salzlösung mit Aether löst sich die
Säure auf, die man nach dem Verdampfen des Aethers durch Subli-
mation ganz rein in schönen Erystallen bekömmt. Nun ist es von
physiologischem Interesse, dass man die Brenzkatechusäure durch
trockene Destillation der Rinde und des Holzes aus der Gerbsäure
gewinnen kann, aber auch nach dem Ausziehen des zerkleinerten
Holzes mit Wasser, Alkohol und Alkalien aus einem Stoff, der zu
der Gerbsäure in Beziehung steht. Aus dem trockenen Destillat von
Stroh oder Papier erhält man keine Spur der Substanz, es ist also
der die Säure liefernde Bestandtheil des Holzes in den inkrustirenden
Holzsubstanzen zu suchen und steht in enger Beziehung zur Holz-
bildung. —
Mittlerweile war eine wichtige Aenderung in der äusseren
Stellung Pettenkofers eingetreten. Nach dem im Jahre 1850 erfolgten
Tode seines verehrten Onkels und Erziehers berief ihn König Max II.
auf den Wunsch der Leibärzte v. Breslau und v. Gietl zum Nach-
folger als Vorstand der Hofapotheke, wobei er die Dienstwohnung
erhielt, in der er seine Jugendjahre zugebracht. In der Pharmazie
durchgebildet, hoffte er, dass die neue Stelle ihn in seiner Thätigkeit
als Lehrer und Forscher nicht hindern werde; es gelang ihm auch,
die Hofapotheke zu einer Musteranstalt zu erheben und ihren Um-
satz auf eine beträchtliche Höhe zu bringen.
König Max IL, der die Wissenschaft liebte und ihre Bedeutung
für sein Volk klar erkannte, suchte gleich nach Antritt seiner Re-
gierung (1848) durch die Berufung hervorragender Gelehrter seine
Hauptstadt München zu einer Stätte für die wissenschaftliche Forschung^
zu machen; er hatte auch die chemischen Briefe von Liebig gelesen
und wünschte sehr diesen berühmtesten und geistreichsten Chemiker
35
Beiner Zeit zu gewinnen. Es schien jedoch keine Aussicht dazu zu
bestehen, da Liebig an dem Orte seiner grossen Wirksamkeit in
Gieasen bleiben wollte und wiederholt Berufungen abgelehnt hatte.
Pettenkofer war mit Liebig in brieflichem Verkehr geblieben und
glaubt© Ursache zu haben, dass jetzt vielleicht die Gewinnung Liebigs
gelingen könnte. Der König sandte (1852) Pettenkofer sofort nach
GiesBen, um mit Liebig zu verhandeln; er verstand die Aussichten
in München und die Persönlichkeit seines Herrn so zu schildern, dass
er wenigstens die Zusage Liebigs erhielt nach München zu kommen,
um dem Könige persönlich zu danken; Liebig vermochte bei einer
Audienz in Berg am Starnbergersee dem Zureden des Königs und
der anmuthigen Königin nicht zu widerstehen und entschloss sich
die Professur der Cheuiie in München anzunehmen. Pettenkofer
schilderte später in anziehender Weise den Hergang: „wie Justus
V. Liebig nach München kam". Dem damaligen Cultusminister war
es unbegreiflich, warum der ausserordentliche Professor Pettenkofer
das Ordinariat für Chemie nicht für sich nahm und frug ihn, was er
denn nun thun wolle. Pettenkofer hat dem nach seiner Üefaerzeugung
für die Stelle Beseeren in seltener üneigennützigkeit Platz gemacht und
antwortete dem Minister auf seine Frage, er werde sich schon ein
Fach zu schaffen wissen; durch die Gewinnung Liebigs erwarb er
sich ein grosses Verdienst um unsere Universität und um das wissen-
schaftliche Leben in unserer Stadt.
Ein Jahr darnach (1853) wurde Pettenkofer ordentlicher Pro-
fessor für medizinische Chemie in der medizinischen Fakultät, und
als das neue physiologische Institut im Jahre 1855 fertig gestellt
war, bot ihm der damalige Vorstand, Professor v. Siebold, vier Käume
in demselben als Laboratorium an, wo er mit Siebold, Bischoff,
Harleas und mir wirkte, bis er eine eigene würdige Arbeitsstätte
erhielt. Aber wie oft hat man schon die Erfahrung gemacht, daas
gerade aus den kümmerlichst eingerichteten Laboratorien unsterbliche
Arbeiten hervorgegangen sind.
In die erste Zeit seines Aufenthaltes im physiologischen Institut
36
(1857) fallt noch eine durch Baudirektor Pauli angeregte feine Unter-
suchung über das Verhalten des Zinks an der Luft and über die
Frage, bis zu welcher Stärke eine Zinkdecke dem Eisenblech aufzu-
legen ist, am letzteres nachhaltig gegen Oxydation zu schützen, undj
eine zweite über ein einfaches höchst sinnreiches Verfahren, dioj
Dicke einer Verzinkung an eisernen Telegrapliendrähten zu schMzen. '
Unterdess war er damit beschäftigt, sich sein eigenes Fach
zu schaäen.
Die Physiologen hatten wohl die physiologischen Vorgänge im
Organismus, z. B. die Bedingungen der Säuerst oö'aufn ah nie und der
Kohlensäureabgabe in der Lunge und ihre Grösse untersucht, auch. '
den Wasserverlust durch Haut und Lunge, sowie die Verhältnis»!
der Wärmeabgabe vom Körper; aber auf die auf ihn wirkendes |
Dinge ausserhalb des Organisnms, auf die äusseren Umstände, onter
denen die Menschen leben, achtete man so gut wie nicht: alao aaf ■
die gehörige Zufahr frischer Luft im Hause, den Einfluaa der Woh- J
Dung, der Kleidung, des Bodens; es erschienen diese Dinge als all-
täglich, bedeutungslos und selbstverständlich.
Nachdem Pettenkofer durch seine frühere UntersHcliung (1851)1
auf die grosse Bedeutung des Luftwechsels in den WohnräutneaJ
aufmerksam geworden war, gieng er (1857) daran, denselben einem!
eingehenderen Studium zu unterwerfen. Als ein Maass für denBelben'a
erschien ihm die Zeit, in welcher der Kohlensäuregehalt in Zimmern]
zu- und abnimmt. Zu diesem Zwecke musst« er in kurzen Zeit>* 1
räumen, alle 15 Minuten, den Kohlensäuregehalt der Zimnierluftl
bestimmen; dies war aber mit den bisherigen Methoden, die wohl'J
genau genug waren, jedoch viel Zeit in Anspruch nahmen, nicht!
möglich. Er musste daher vorerst ein Verfahren ersinnen, welcheaj
rasch und ohne grosse Hilfsmittel auszuführen ist und doch genau
Resultate giebt. So entstand seine bekannte Methode der Kohlen-^
Bäurebestimmung in der Luft, welche allgemeinen Eingang fandüfl
und zu unzähligen Versuchen verwendet wurde, und später aucbJ
zur Ermittlung der von Menschen und Thieren bei den ItespirationB-'l
37
versuchen ausgebauchten Kohlensäure diente. Die Luft wird dabei
in geaichten Flaschen von etwa 5 Liter Rauminhalt gesainnielt. die
Kohlensäure durch Barytwasspr absorbirt und durch Neutralisation
desselben mit einer Oxalsäurelöaung von bekanntem Gehalt vor und
nach der Einwirkung der Kohlensäure der Gehalt der Luft an
letzterer erhalten.
Mit diesem neuen Hilfsmittel ausgerüßtet, zu welchem später
noch ein zur Messung der Intensität der Luftströme dienendes vom
Mechanikus Neuniann in Paris erhaltenes Combes'scbes Anemometer,
das aus höchst empfindlichen WindÜügeln besteht, deren Umdrehungen
durch ein Uhrwerk gezählt werden, hinzukam, schritt er nun (1857)
zu der Prüfung der Ventilation der Wohnungen; auch diese Unter-
suchung ist noch durch einen besonderen äusseren Anlass hervor-
gerufen worden. In dem alten im Jahre 1813 erbauten allgemeinen
Krankenhause war durch den verdienten Erbauer und früheren
Direktor Häberl eine von den Praktikern als ungemein wirksam
gepriesene Ventilationseinrichtung eingeführt worden, welche auch
in der neuen Gebäranstalt Verwendung fand. Eine CommisBion. aus
den Herren Jolly, Alexander, Kaiser und Pettenkofer l)e8tehend,
erhielt die Aufgabe, dieselbe einer Prüfung zu unterziehen, welche
ausschliesslich Pettenkofer zufiel. Die Ventilation sollte dabei durch
die Tempera turdifferenz der Luft im Freien und im Inneren des
Hauses bewirkt werden; die verdorbene Luft soll aus den Säälen
durch AbzugsöEFnungen in die Oefen und Kamine gehen und dafür
frische Luft aus dem Freien durch sogenannte Luftarterien zugeführt
werden. Bei der Untersuchung dieser Einrichtung mittelst Kerzen-
flanmien zeigte sich die Luftbewegung äusserst unregelmässig, hie
und da im gewünschten Sinne, aber auch Null und nicht selten
sogar in verkehrter Richtung, so dass die ganze kostspielige B^inrichtung
als eine gänzlich unbrauchbare bezeichnet werden musst« und ab-
gesperrt wurde. Ganz köstlich wird daa Verhalten des dirigirenden
Arztes der Anstalt geschildert, der von seiner Ventilation die besten
Erfolge gesellen haben wollte und sie im Prinzip für vortrefflich
hielt; mit allerlei verworrenen Vorstellangen eich tragend, wollte
er die Oefen im ganzen Hause abändern, indem er dieses technische
Objekt wie einen Patienten behandelte, dem man jedenfalls etwas
verschreiben müsse, und so verordnete er die Abänderung der Oefea
als kostbare Arznei; Peftenkofer sagte nach seinen Beobachtungan,
voraus, dass dieses theure Rezept nicht den mindesten Nutzen habea
werde und die Connnission überzeugte sich auch von der Erfolg-
losigkeit der Kur. Nicht leicht zeigt sich der Unterschied zwischen '
dem früher in solchen Dingen zumeist geübten Handeln nach prak-J
tischen! Gutdünken und dem nach der wissenschaftlichen Erkenntnisa.'!
Bei diesen ersten genaueren wissenschaftlichen UntersuchungeaJ
einer Ventilationseinrichtutig wurde die Ueberzeugung gewonneiiy]
dass die Bewegung der Luft in einem Hause ein höchst complizirteoif <^
erst durch fortgesetzte Studien zugängliches Phänomen seL Pettan-
kofer wurde daher auf Veranlassung des Klinikers Pfeufer nadl ,
Paris zum Studium der dortigen Veutilationseinrichtungen gesandtj
(1856). Im Anfang der vierziger Jahre war in Kngland und-J
Frankreich der Anfang gemacht worden, an Stelle der KensteivJ
lüftung für gesclilossene Räume die künstliche Luftzufuhr zu setzen,!
Bei dem Bau des Zellengefängnisaes von Mazas (1843) machten dial
Naturforscher Andral, Bousaingault, Duaiaa und Peclet den Versudl'«
durch einen Ventil ationskanal reine Luft zuzuführen, namentliclifl
war in dem 1848 erbauten grossen Spitale La Riboisiere zu Pai
zum ersten Male eine durch mechanische Kraft erzeugte känatlicfa<
Ventilation mit grossem Aufwand von Mitteln durchgeführt worden,
auch im Spital Beaujon. und Dr. Grassi hatte daselbst als Era
die für die Hygiene so wichtige Aufgabe der Ventilation im Sir
der objektiven Naturforschung in Angriö" genommen. Pettenkof^
nahm die Gelegenheit in Paris wahr, die Wirkung einer Anzt
solcher Einrichtungen ebenfalls zu prüfen.
Die Beobachtungen in München und Paris führten Pettenkofei
zu einer wichtigen grundlegenden Besprechung (1858) der allgemeir
Fragen über den natürlichen Luftwechsel in den Gebäuden und dal
39
Grundsätze der künstlichen Ventilation; es ist eine ganz gewaltige
Darlegung, voll von neuen Gedanken, in der die quantitative Be-
stimmung der Grösse der Ventilation eingeführt und die Prinzipien
derselben für alle Zeiten festgestellt wurden.
Man versteht bekanntlich unter natürlicher oder unter künst-
licher Ventilation den nötbigen Luftwechsel in einem geschlossenen
Raum, wobei wir Windstille über unseren ganzen Körper haben
d. i. bei einer Geschwindigkeit der Luft nicht über '/a Meter in der
Sekunde. Ventilation ist nicht Zug; Zug ist eine einseitige ver-
mehrte Abkühlung des Körpers durch einseitiges Anblasen der Luft.
Ueber und um uns eilt im Freien ununterbrochen ein Luftstroiii
dahin, dessen Geschwindigkeit den reissendsten Gebirgabach weit
überholt; für gewöhnlieh sehen wir ihn nicht, kaum dass wir ihn
fühlen. Wir leben in diesem Strom Luft wie die Fische im Wasser;
mit nichts auf der Erde steht unser Organismus in so beständigem
Verkehr. Bei völliger Windstille beträgt seine Geschwindigkeit immer
noch 0.7 Meter in der Sekunde, erst bei L3 Meter empfinden es die
Nerven, die mittlere Geschwindigkeit in München ist 3 Meter; die
Luftmenge, welche an einem aufrecht stehenden Manne im Freien
heranströmt, ist 36000 mal grösser als die von ihm ausgeathmete Luft,
Unsere Wohnung darf uns von diesem Strom der äusseren Luft
nicht abschliessen, die Wände sollen die Strömung nur verlangsamen
und die Wirkung der äusseren Luft massigen und zwar um das
3000 fache. Ks darf durch die Mauern kein Zug fühlbar sein, was
eintritt, wenn die Bewegung der Luft einen halben Meter in der
Sekunde übersteigt.
Das nächste Bedürfnisa war, einen Maassstab für die Verun-
reinigung der Luft in bewohnten Räumen zu gewinnen.
Pettenkofer fragt zuerst, wann wii- die Luft eines Wohnzimmers
gut und rein heissen und antwortet darauf, wir heissen sie dann
gut, wenn bei Handhabung der grössten Reinlichkeit die durch das
Athmen von Menschen erzeugte Kohlensäure nicht mehr als 1 pro
mille, d. h. auf 1000 Volum Luft 1 Volum Kohlensäure, beträgt. Die
40
Kohlensäure ist für iba nicht das Schädliche, sie ist ihm nur ein
MaaBsstab für die übrigen durch die Bewohner abgegebenen liüchtigea
organischen Stoffe, die uns die Luft nicht mehr behaglich machen,
für die man aber kein einfaches Mittel der Beetiraiimng besitzt. Dia .
Ventilation soll also nur gegen die Folgen der von dem Menschen |
durch Lunge und Haut gelieferten Produkte gerichtet sein und nicht
gegen andere Unreinlich keiten. Das einfache und genaue VerfahreQ
Pettenkofers ist fast ausschliesslich in Gebrauch geblieben trotz mancher
Versuche in anderer Weise den Grad der Verunreinigung der Luft
in Wohnräumen zu bestimmen.
In den bewohnten Räumen findet sich in Folge der von ihm
erkannten Porosität der Wände und anderer Spalten eine natürliche
Ventilation oder ein freiwilliger Luftwechsel. Indem er zusieht, wie
in einer Zimmerluft bei geschlossenen Thüren und Fenstern und j
Verschluss der zufälligen Oeffnungen mit geleimtem Papier und '
Kleister, die durch Verbrennung von Holzkohle oder besser aus doppel-
kohlensaurem Natron mittelst Schwefelsäure entwickelte Kohlensäure
allmählich abnimmt, erhielt er die Elemente der Rechnung für die
GröBBe des in dem Zimmer stattgefundeoen Luftwechsels, nach derl
von seinem Freunde, dem Mathematiker Ludwig Seidel angegebenen J
Formel, zu 22 — 95 Cubikmeter = GO Cubikmeter im Mittel in 1 Stunde,-J
Wenn aber die Luft in einem Raum beim Athmen von Menschen I
gut bleiben soll, muss man das 200 fache Volum der von einem
Menschen in jedem Zeitmomente ausgeathmeten Luft an frischer
Luft zuführen; da nun ein Mensch in 1 Stunde etwa 300 Litep
Luft mit 12 Liter Kohlensäure ausatbmet, so bedarf man zu obigemfl
Zweck in 1 Stunde 60 Cubikmeter (= 60000 Liter) frische Lafti"*
in Frankreich ist man auf anderem Wege zu der gleich hohen Zahl
gelangt. Die freiwillige Ventilation deckt demnach einen betrachte
liehen Theil, ja unter Umständen den ganzen Bedarf an Luft in einem
bewohnten Raum; sie geschieht nicht durch einen Austausch der GasaJ
Innen und Aussen, nicht durch sogenannte Diffusion, sondern stets durcbj
eine Ortsveränderung der Luftmassen durch einen einseitigen Druclc
41
Efi ißt wichtig alle Umstünde kennen zu lernen, welche auf den
natürlichen Luftwechsel in den Wohnräumen durch die Mauern ver-
mehrend oder vermindernd einwirken.
Von dem grösaten Einfluss darauf ist die TemperaturdifFerenz
im Zimmer und im Freien. Durch einen im Winter von Innen
geheizten Ofen wird der natürliche Luftwechsel grösser; dieser Zug
iflt zwar für einen einzelnen Menschen noch von wesentlicher Be-
deutung, 80 dasa für gewöhnlich dabei eine künstliche Kraft zur
Bewegung der Luft so gut wie entbehrlich ist; für eine grössere
Anzahl von Menschen sinkt jedoch sein Werth zur Bedeutungs-
losigkeit herab. Der Arme, der an den kalten Wintertagen kein
Holz zum Einheizen besitzt, friert daher nicht nur, sondern lebt auch
wegen des Mangels der Temperaturdifferenz in einem schlecht ventilirten
Wohnraum mit verderbter Luft. Im Sonnner können wir leicht
durch OefFnen eines Fensters helfen, aber es ist zu dieser Jahreszeit
das Oeffnen während eines halben Tages wegen der geringen Tempe-
raturdifferenz Innen und Aussen erst so wirksam wie im Winter
während einer halben Stunde.
Ferner ist die Geschwindigkeit der Luft im Freien von Einfluss
auf die natürliche Ventilation; es ist bekannt, daas wir bei kaltem
und windigem Wetter mehr einheizen müssen.
Dann ist der Grad der Porosität des Baumateriales von Einfluss,
worauf er schon früher (1851) aufuierksam geworden war und worüber
er nun die sinnreichsten Versuche anstellte. Er zeigte die Durch-
lässigkeit von Mörtel, Ziegelsteinen und Holz für Luft auf das
Augenfälligste; wenn er dieselben an vier Seiten mit Wachs über-
zog und an den zwei freigebliebenen Flächen Metall platten, die in
der Mitte ein Rohrstück tragen, luftdicht ansetzte, so war es ihm
zur üeberraschung Aller leicht, Luft mittelst des einen Rohrs durch
den Ziegelstein, ja durch die ganze Mauer zu blasen, ein Kerzenlicht
auszulöschen oder die Luftblasen durch das zweite in Wasser ge-
steckte llohr austreten zu sehen. Diese Porosität, welche den natür-
lichen Luftwechsel in unseren Wohnräumen bedingt, ist so bedeutend,
42
dass jeder leichte Windstoss durch die Mauer hindurch nachweisbar
ist und dass bei grösserer Intensit&t empfindliche Leute den Zug
durch die Wand spüren. Jede Benetzung mit Wasser hemmt durch
die Verschliessung der Poren den Durchtritt der Luft, wodurch sich
zum Theil, wie vorher schon erwähnt wurde, die schlimme Wirkung
nasser Wände erklärt; aber auch bei sorgfaltigem Bestreichen der
Mauer mit Wachs gehen immer noch 40 Prozent der eingeblasenen
Luft durch das Wachs hindurch, was darthut, dass auch ein Oel-
anstrich keinen Verschluss der Wand hervorbringt
In welchen Fällen wird nun eine kunstliche Ventilation neben
der natürlichen nothwendig? Dann, sagt Pettenkofer, wenn trotz
der natürlichen Ventilation, also im Winter in geheizten Zimmern
bei geschlossenen Fenstern und Thüren und im Sommer bei nach
Bedürfniss geöffneten Fenstern, der Kohlensäuregehalt durch das
Athmen von Menschen auf 1 pro mille steigt Er hat zu diesem
Zwecke eine Unzahl von Bestimmungen des Kohlensäuregehalts be-
wohnter Räume gemacht: in Räumen, wo mehrere Personen athmeten,
ohne dass die Luft beengend gefühlt wurde, in der übelriechenden
Luft eines Saales des Gebärhauses, in dem gefüllten Hörsaale Liebigs^
in Bierkneipen mit Tabacksqualm etc. In Wohnräumen mit starker
Bevölkerung wird die Grenze öfters erreicht und überschritten, so
dass die natürliche Ventilation nicht ausreicht. Es kommt also
wesentlich darauf an, ob die Räume nur kürzere oder längere Zeit
bewohnt werden; für kürzere Zeit wird ja wohl der schädliche
Einfluss einer Luft selbst mit 2 bis 5 pro mille nicht gross sein,
aber ein längerer Aufenthalt in schlechter Zimmerluft — in Wohn-
und Schlafsäälen , Krankensäälen , Kasernen, Gefangnissen — wird
ebenso nachtheilig sein, wie ein Aufenthalt in guter reiner Luft
zuträglich ist Besonders der Luft in den Schulen schenkte er seine
Aufmerksamkeit: es zeigte sich z. B., dass in den nicht ventilirten
Zimmern des neuen Schulhauses am Glockenbach bis zu 4 pro mille
Kohlensäure waren, in den ventilirten Zimmern nur 1.5 pro mille.
In eindringlichen, beredten Worten wird der Werth einer guten
Luft in den Wohnräumen geschildert; eine Luft, in der sich grössere
Mengen von Ausdünstungsst offen durch den Geruch verrathen, und
die uns anwidert., könne nicht gesund sein ; die Erziehung und Aus-
bildung des leiblichen Gemeingefühls der Völker wäre für das
körperliche Wohl ebenfalls von Wichtigkeit, Er ist auf das Leben-
digste überzeugt, dass die Gesundheit der Jugend wesentlich gestärkt
würde, wenn die Luft in den Schulen, in lienen die Kinder fast den
fünften Theil des Tages verbringen , nicht mehr als 1 pro mille
Kohlensäure enthielte. Dienen die Räume zu längerem Aufenthalt
und werden sie von vielen Menschen bewohnt, dann tritt der Nach-
theil hervor; die Verminderung der Anzahl der Bewohner eines
Hauses ist ihm äquivalent einer Raum Vermehrung oder Lüftung;
daraus ergiebt sich auch der hygienische Werth einer geräumigen
Wohnung. Er ist nicht der Meinung, dasa die schlechte Luft direkt
krank macht wie Gift, sondern die Widerstandsfähigkeit des Körpers
gegen jede Art von krankmachenden Agentien herabßtimmt und
schwächt, und so zur Quelle vieler chronischer Leiden wird. In
solchen Fällen also, wo die natürliche Ventilation nicht ausreicht,
muss die künstliche eintreten; noch immer wird gegen diese klaren
Grundsätze gefehlt, die künstliche Ventilation unterlassen, wo sie
nöthig ist, und eingeführt, wo sie entbehrt werden kann.
Es mag hier noch bemerkt werden, dass Pettenkofer sich viel-
fach mit der Luftverderbniss durch Heizungs- und Beleuchtungs-
anlagen beschäftigte, sowie mehrere setner Schüler zu Arbeiten in
dieser Richtung bestimmte; auch wurde von einer Anzahl seiner
Schüler die Wirkung von hygieniscli und technisch wichtigen Gasen,
z. B. der schwefligen Säure, des Schwefelwasserstoffgases etc. untersucht.
Nun werden noch eingehend die bisherigen Methoden der künst-
lichen Ventilation besprochen und auf die vielen irrigen Vorst^el-
lungen hingewiesen, denen die Praktiker ohne die theoretischen
Kenntnisse sich häufig über den Luftwechsel bei Anlagen von Venti-
lationsapparaten, Luftzügen und Feuerungen hingaben und dadurch
Fehler verursachten, so dass sich die meisten dieser Anlagen bei
44
näberer Prüfung als ungenügend und onwirksam erwiesen. Petten-
kofer war es, der zuerst durch sorgfaltige Versuche die Bedingungen
erforschte, welche mit dem Luftwechsel und der Ventilation ziisammen-
h&ngen, und die Grundlage für das VerstÄndnisB dieser Vorg&nge legte.
Man gieng früher von der irrigen Meinung au», die Wohnungen
schlössen uns bei geschlossenen Thüren und Fenstern von der At-
mosphäre ab, da man die freiwillige Ventilation nicht kannte. Die
eingehende Untersuchung künstlicher Ventilationeeinrichtungen zeigte,
wie häu6g auf den zufälligen Wegen sich viel mehr Luft bewegt^
al» auf den durch die künstliche Ventilation vorgeschriebenen; nicbt
selten kömmt die Luft durch die zur Wegföhrung bestimmten Kanäle
herein, ohne dass ein anderer Abtluss vorhanden ist, als durch die
Poren der Wand und durch die Fensterspalten; er konnte in Paris
dem Dr. Grassi zu dessen Erstaunen darthun, daes manchmal anf
den bestimmten Zuström ungswegen viel weniger Luft hereintritt,
als durch die Abzugsöifnungen austritt. Wegen der Porosität der
Wandungen braucht nicht ein bestimmtes Verhältniss in den OefFnungen
für die Zuströmung und Abströnmng der Luft zu sein; man kann
durch mechanische Kraft die nothwendige Menge frischer Luft ein-
treiben, ohne dass für die Wegführung der verbrauchten Luft be-
sondere Kanäle da sind, es genügt für letztere jede ins Freie mün-
dende Oeffnung. — Um zu entscheiden, wo man am besten die Luft
aus einem Raum wegnimmt, wird von ihm geprüft, ob die schlechte
Luft sich an bestimmten Stellen eines Zimmers befindet und ent-
gegen der gewöhnlichen Vorstellung, nach der die schwerere Kohlen-
säure am Boden sich ansammeln soll, erfahren, dass die Luft in dea
Zimmern durch die Wärme rasch gleichmässig gemischt wird. In
einer besonderen Untersuchung (1873) wird dies bestätiget an der
Marienquelle in Marienbad. wo trotz der reichlichsten Entwicklung
von Kohlensüuregas schon 145 Centimeter über dem Wasserspiegel
in Folge der enormen Geschwindigkeit der Diffusion eich nicht -
'/3 Prozent Kohlensäure in der Luft findet. Die Respirationsgaee ,
des Menschen vermischen sich also alsbald mit der Luft des Zimraors
45
und würden in Verdünnung wieder eingeatlimet, wenn dem Zimmer
nicht beetändig auf irgend welche Weise frische Luft zugeführt wurde;
im Freien wird die ausgeathmete Luft durch die Luftbewegung rasch
fortgeführt. — üeber die Ursache des Zugs in den Essen und Ka-
minen haben die Praktiker ebenfalls ganz falsche Vorstellungen
gehabt: Die Kamine saugen die Luft nicht, wie man gewöhnlich
meint, wie ein Vakuum an und die warme Luft steigt in ihnen
nicht als leichtere auf, es wird vielmehr umgekehrt eine Säule
leichterer warmer Luft von der auf ihr lastenden schweren kälteren
Luft im Freien in die Höhe getrieben wie Oel durch Wasser. Ge-
wisse Kamine ziehen nicht mehr, wenn von oben die Sonne hinein-
scheint, weil über der warmen Rauchsäule im Kamin eine noch
wärmere Luftschicht liegt.
Als Motor für die künstliche Ventilation ist demnach die
TemperaturdifFerenz der äusseren Luft und der Luft der Wohnräume,
wie beim Häberlsjstem, wegen seiner un regelmässigen Leistung völlig
überflüssig; derselbe besitzt keinen höheren Werth wie die freiwillige
Ventilation. Zugkamine von gehöriger Höhe und Weite mit Feuerung
wirken auch nicht regelmässig, denn sie wechseln mit jeder Schwankung
der inneren und äusseren Temperatur und man hat es bei ihnen
uicht in der Gewalt, auf welchen Wegen man die frische Luft zu-
führen will; sie eignen sich daher für Räume bei fortgesetztem
Aufenthalt wie Krankenhäusern, Geföngnissen, Kasernen etc. nur
wenig und sie sind wegen der beständigen Feuerung theuer. Die
Feuerung und die Ventilation müssen von einander getrennt werden,
sie haben nichts mit einander zu thun. Pettenkofer hielt daher
schon damals die mechanische Kraft einer Maschine zum Eintreiben
oder Ansaugen eines Luftstronis für das vollkommenste und auch
billigste Mittel der künstlichen Ventilation, namentlich bei weiterer Aus-
bildung der Technik; er gab dem Eintreiben der Luft den Vorzug vor
dem Ansaugen, wobei keine eigenen Kanäle für den Abzug der Luft
nötbig sind; jetzt gebraucht man neben dem Drücken ein schwächeres
Saugen, um der Luftbewegung eine bestimmte Richtung zu geben. —
Die Untersuchungen über den Luftwechsel in den Wohnungen
führten ihn zu weiteren Beobachtungen und Befrachtungen über die
hygienischen Funktionen des Hauses, mit dem wir uns umgeben, daa
er wie eine Glocke über ein Stück Erde gestürzt ansieht
In hohem Grade wichtig dafür ist daa eigenthümliche Verhalten
der Mauer zum Wasser und dessen Einflusa auf die Gesundheit.
Die nassen Wände beeinträchtigen nicht nur die Ventilation, sondern
sie bedingen auch Störungen in der Wärmeöbonomie unserea Körpers
und veranlassen Erkältungokrankfaeiten, indem sie einseitig abkühlend
wirken durch grössere Wärnieleitung und durch VerdunstungskaltÄ.
Das in beträchtlicher Menge in einem Neubau vorhandene Wasser
muss verdunsten; beim Bau eines gewöhnlichen Hauses kommen
allein zum Benetzen der Steine und zum Anmachen des Mörtels
83500 Liter Wasser zur Verwendung, zu deren Verdunstung ini
Mittel 34 Millionen Cubikmet«r Luft nöthig sind. — Scheinbar trockene
Keubauten werden beim Beziehen wieder feucht, es entstehen an den-
Wänden feuchte dunkle Flecken. Man meinte fälschlich, dieses sieht- |
bare Wasser werde aus den Wänden durch das Bewohnen erst frei |
gemacht und zwar durch die Wirkung der Kohlensäure deä Athetns i
auf das in dem Mörtel der Wand vorhandene Kalkhjdrat, dessen j
Hydratwasser bei der Verbindung zu kohlensaurem Kalk frei werde;.!
aber Kalkhydrat wird durch Liegen in koLlensaurehaltiger Zimmer- 1
luft und Uebergang in kohlensauren Kalk niemals sichtbar feucht,.!
denn das Freiwerden des Hydratwassers ändert das Volum nicht und!
füllt also auch nicht die mit Luft erfüllten Poren der Waud i
Die nassen Flecken entstehen vielmehr durch Niederschlagen von.l
Wasser aus der mit Wasserdampf gesättigten Luft des Zimmers anj
der kalten Wand, namentlich beim Einheizen, so dasa die vorhetj
mit Luft gefüllten Poren der trockenen Wandfläche sich wieder mi(^
Wasser füllen, wodurch die Stellen in Folge der Aenderuug dft
Lichtbrechung dunkel erecheinen. Darum sind nach Norden gelegeno^J
nicht von der Sonne beschienene kältere Lokalitäten feuchter, besonderftfl
wenn sie nicht geheizt werden. Nur poröses Bauuiaterial kaai|,l
47
trockene Wohnungen geben, da nur eine poröse Wand Wasser auch
nach Aoeaen ins Freie verdunstet.
Um den Grad der Feuchtigkeit einer Wohnung zu ermitteln,
d. h. ob sie ohne Schädigung der Gesundheit zu beziehen Bei, reicht
man mit dem sogenannten praktischen Blick und mit subjektivem
Ermessen nicht aus; das Fehlen von nassen Flecken entscheidet auch
nicht, denn die Inneren Wände können an der Oberfläche trocken
erscheinen und die Mauer doch noch viel Wasser enthalten; auch
das Befühlen der Wände, ob sie unserer Hand kälter oder wärmer
erscheinen, ist nur eine ungewisse Schätzung; selbst die Ermittlung
des Wassergehaltes eines Mörtelstückchens ist nicht sicher, weil dieser
an verschiedenen Stellen verschieden ist, Das Sicherste schien ihm
zu sein, zu sehen, wieviel Wasser in einer bestimmten Zeit an eine
noch nicht mit Waeserdauipf gesättigte Luft abgegeben wird, durch
Untersuchung mit dem Hygrometer vor und nach dem Einheizen.
Das Aastrocknen einer Wohnung kann nur durch Heizen und
Lüften geschehen; Entwicklung von Kohlensäure durch Verbrennen
von Kohle nützt nach dem Gesagten nur wenig. Schüler Petten-
kofers haben seine Untersuch ungen über die sanitäre Bedeutung der
Baumaterialien fortgesetzt und erweitert.
So hat die n^üss und liebenswerthe" Wand ihr eigenes Leben,
eine besondere complizirte Physiologie wie unsere Haat. —
Von der uns umgebenden Wohnung kam Pettenkofer zu der
genaueren Prüfung der Bedeutung der uns näher umschliessenden
Kleidung, von der er schon in seiner ersten Abhandlung über Luft-
und Ofenheizung (1851) die Durchlässigkeit für Luft ebenso wie für
die Mauern der Wohnung verlangt hatte. In zwei weiteren gedanken-
reichen Abhandlungen vom Jahre 1857 und 1865 sind seine Experi-
mente und Anschauungen hierüber niedergelegt.
Die Kleidung ist wohl bis dahin vielfach Gegenstand sittlicher,
kulturhistorischer, nationalökouomischer, industrieller und merkantiler
Betrachtungen gewesen, aber mit ihrem Hauptzweck, iUrer natur-
wissenschaftlichen Funktion, hat man sich fast gar nicht beschäftiget,
48
obwohl wir uns Alle derselben bedienen. Zwar sind am Ende des
18. Jahrhundert von unserem früheren Mitgliede, Benjamin ThomBon
Grafen von Rumford, dem man viele grundlegende phytiikalische
Arbeiten und Anregungen verdankt, auch einzelne Versuche über die
Wärmeleituugsfähigkeit der Kleider mit eeiuem Thermoacüii augestellt
worden, aber Pettenkofer hat doch zuerst consequente Versuche
über das i)hy8ikalische Verhalten der Kleider überhaupt vorgenommen.
Wie die Wohnung mässiget die Kleidung den EiiiHuss der At-
mosphäre und macht es dem Menschen möglich in den verschiedensten
Breitegraden der Erde, in kalten und heissen Zonen, zu leben. Die
Kleider haben, wie man längst weiss, die physiologische Funktion,
den Abfluss der Wärme von unserem Körper xa regeln, aber man
wusste so gut wie nichts über die Wärmeleitungsfahigkeit, das
Wärmeatrahlungsvermögen, über die Luftdurchlässigkeit, die hygro-
Bcopische Beschaffenheit und die Wasserabgabe der verschiedenen
' KietdungästofFe: der Schafwolle, der Seide, der Leinwand, der Baum-
wolle, des Leders. Durch die Bedeckung der nerven- und gef^ss-
reichen Haut mit Kleidern hindern wir die direkte Abgabe der
Wärme und verringern den Luftwechsel über die ganze Körper-
oberfläche; es wird also durch sie ein geringerer Wärnieverlust
durch Leitung, Strahlung und Wasserverdunstung hervorgerufen.
Die Wärme, welche von der nackten Körperobertlacho nicht
weiter benutzt abgegeben wird, wird von den meist aus schlechten
Wärmeleitern bestehenden Kleid ungsatoffen aufgenoinuieu, und geht
dann erst von diesen nach Aussen weg. Je nach der Beschaffenheit
der Zeuge, je nach ihrer Wärmeleitungsfähigkeit und Masse, wandert
die Wärme scheller oder langsamer durch und verweilt also kürzere
oder längere Zeit in der Luftschicht an unserer Haut; schon der
dünnste Schleier hält wärmer, ähnlich wie ein Wolkenschleier durch
Verminderung der Ausstrahlung die Keifbildung hindert. Auch die
Form und das Volum eines Stoffes bestimmt den Wärmeverlust vom
Körper: platt gedrückte Watte steigert die Abgabe der Wärme durch
die Verkleinerung des Volums; die gleichen Mengen der Stoffe kleiden
49
uns sehr verschieden warm, je imchdem sie gespannter oder lockerer
sind; wir frieren im Winter in engen Schuhen und Handechuhen.
Mit der von den Kleidern aufgenomoienen und zurückgehaltenen
Wärme heizen wir die durch die Zeuge hindurch wechselnde, unsere
Haut unmittelbar umgebende Luft auf 24 — 30". Wollen wir die
Wärme recht langsam aus der Nähe unserer Körpertheile entlassen,
dann decken wir nocli weitere Kleiderschichten, Mäntel etc. auf.
Das mittlere Gewicht der Kleidung eines Mannes beträgt im Winter
6 — 7 Kilo, im Sommer nur 2.5 — 3 Kilo.
Die Kleider sind also wie ein Ofen, der durch die Abhitze
unseres Körpers geheizt wird , damit er die über unsere Körper-
oberfläche sich bewegende Luft bmzt. Wir haben von dieser Wärnie-
entziehung auch in der Winterkälte keine Empfindung von Frost,
weil sich die Nerven unserer Haut nicht in die Kleider fortsetzen;
wir verlegen durch die Bekleidung den Ort der Ausgleichung von
Wärme und Kälte von unserer empfindsamen Haut weg in ein föhl-
loses Stück Zeug; die Kleider werden kalt, sie frieren für uns.
Wie die Kleider wirken die Haare und Federn der Tbiere. Dar
Pelz des Thieres nimmt die Wärme ebenfalls von der ilaut auf und
giebt sie an die zwischen den feinen Härchen strömende Luft ab;
eine stärkere äussere Kälte dringt bei Windstille niclit weit in den
Pelz ein, nur bei Wind wird die Kälte .empfindlich. Die Haare
strahlen keine Wärme aus, sobald ihre Spitzen die gleiche Temperatur
wie die äussere Umgebung haben; auch die Verdunstung sinkt auf
ein Miniraum herab, da bei — 20*' die Bildung von Wasserdampf
aufhört. Die äussere wechselnde Temperatur ändert daher bei einem
Thier mit dichtem Pelz nur die Breite der warmen und kalten
Zonen der Luft im Pelz, es wird nur der Ort des Ausgleiches ver-
rückt zwischen den Wurzeln und den Spitzen der Haare, und das
Thier wird im Sommer trotz des Pelzes nicht wärmer wie im Winter.
Pettenkofer erörtert auch die Frage, wie weit wir die Heguli-
rung des Wärmeabflusses durch die Kleidung vornehmen lassen
sollen und wie weit wir sie den Einrichtungen unseres Körpers
50
überlassen, uns also gegen die Kälte abhärten sollen; er überlässt
die Beantwortung dieser verwickelten Frage der Zukunft und meint
nur, man solle die Körpereinrichtungen nicht zu stark in Anspruch
nehmen.
Die Wärmeabgabe von den Kleidern wird complizirt durch die
eigenthümlichen hygroscopischen Eigenschaften der Kleidungsstofie,
wodurch sie Wasser aus der Luft condensiren und bald mehr bald
weniger Wasser enthalten, womit sich dann die Wärmeleitung und
die Wärmecapazität ändert. Jedermann weiss, dass die Kleider bei
kalter und feuchter Luft die Wärme besser leiten und uns kälter
erscheinen, wie bei bei kalter und trockener Luft und dass wir in
nassen Kleidern frieren und uns leicht erkälten. Die Zeuge verhalten
sich in dieser Beziehung sehr verschieden. Pettenkofer brachte zwei
gleich grosse Stücke getrockneter Leinwand und Flanell in verschieden
temperirte Luft und entnahm aus der Aenderung des Gewichts das
von ihnen hygroscopisch aufgenommene Wasser; es zeigte sich, dass
die Schafwolle dabei nochmal so viel Wasser aufnimmt als die Lein-
wand; die letztere nimmt das hygroscopische Wasser aber rascher
auf imd verliert es schneller wieder; auch nach dem Benetzen der
Zeuge mit Wasser trocknet die Leinwand schneller als die Wolle,
wesshalb man sich in nasser Leinwand leichter erkältet als in nasser
Wolle; Leinwand und Seide erhalten den Körper kühl und trocken
und nehmen Wärme und Wasser besser von der Haut weg als Wolle.
Er konnte durch ein einfaches Experiment nachweisen, dass die
Leinwand dabei nicht nur wegen der besseren Wärmeleitung kälter
erscheint, sondern wirklich kälter ist; wenn man ein horizontales
Glasrohr, von welchem vertikal eine enge, in eine geförbte Flüssig-
keit eintauchende Röhre abgeht, mit nasser Leinwand oder Flanell
umhüllt, so steigt die Flüssigkeit in der Röhre bei ersterer schneller
und höher als bei letzterem.
Die Zeuge müssen wie die Mauern Luft durchlassen; sie ver-
halten sich jedoch in dieser Beziehung sehr verschieden. Luftdichte
Zeuge sind, namentlich bei körperlicher Bewegung, auf die Dauer
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unerträglich. Unser Leib muss von einer beständig wechselnden
Luftschicht umgeben sein, es könnte sonst kein Wasser von der
Haut verdunsten. Schon die Abgabe der Wärme von dem Körper
veranlasst einen aussen an ihm aufsteigenden Luftstroni wie an einem
geheizten Ofen: dieser Luftstrom läast sich leicht durch ein zwischen
Oberrock und Weste gehaltenes Anemometer erkennen. Die in den
Kleidern und auf der Oberfläche unseres Körpers befindliche Luft
nimmt aber auch an der äusseren Luftbewegung Antheil. Die ge-
wöhnliche Vorstellung von ruhenden warm haltenden Luftschichten
in den Maschen der Kleider ist ein Irrthum. Die Kleider sollen
wie die Wohnung den über uns hinziehenden Luftstrom nur so weit
verlangsamen und massigen , dass unsere Nerven die Luftbewegung
nicht mehr empfinden. Wir befinden uns in unseren Kleidern, wie
wenn wir nackt in windstiller freier Atmosphäre von einer Temperatur
von 24 — 30" wären.
Bezüglich des Wannhaltens kommt es durchaus nicht auf das
Abhalten der Luft, wie man gewöhnlich meint, sondern auf andere
Eigenschaften der Zeuge, ihre Wärmeleitungsfähigkeit etc. an. Um
dies darzuthun, ermittelte Pettenkofer die Durchlässigkeit verfichiedener
Zeuge für Luft, indem er über (»lasröhrchen von gleichem Quer-
schnitt die Zeuge zog und zusah, wieviel Luft, durch eine Gasuhr
gemessen, in gleichen Zeiten und bei dem gleichen Druck eines
(lasonieterB durch dieselben entweicht; da zeigte sich die höchst
überraschende Thatsache, dass gerade jene Stoffe, in die wir uns am
wärmsten kleiden, der Luft am leichtesten den Durchgang gestatten;
■i. B. lässt der so warmhaltende Flanell fast nochmal so viel Luft
durch als die kühlere mittelfeine Leinwand. Ein Kleid kann also
luftig und doch warm sein; nasse Leinwand schlieest fast luftdicht
ab und ist kalt.
Das Bett ist ihiu nicht nur ein Lager, sondern ein Kleidungsstück,
unser Schlafkleid; es muss also auch luftig und warm sein; wir
wärmen mit unserem Körper zunächst das Bett und dieses wärmt
die in ihm von unten nach oben strömende Luft. Die Schichten des
52
Bettes müssen mächtiger sein als die der Kleider, weil im Schlaf
weniger Wärme erzeugt wird und beim horizontalen Liegen mehr
Wärme durch den aufsteigenden Luftstrom verloren geht.
Die Schüler Pettenkofers haben in mancher Beziehung seine
Arbeiten über die Eigenschaften der Kleider fortgesetzt, insbesondere
ist es dem talentvollen Rubner gelungen durch ausgezeichnete Ver-
suche die Lehren Pettenkofers zu ergänzen und zu erweitem.
Die Kleider haben nach Allem dem im Wesentlichen eine
physiologische Bedeutung: sie sind wie die Wohnung die Waffen, mit
denen der Mensch gegen die Atmosphäre ankämpft; die Form der
Kleidung oder die Mode darf nie die Herrschaft über den Zweck
derselben erringen. Es steht zu hoffen, dass bei noch besserer Ein-
sicht in die physiologische Funktion sich allmählich auch die rich-
tigen äusseren Formen entwickeln werden. —
Bei der Betrachtung der Funktion der Wohnung und der Kleidung
kam Pettenkofer vielfach auch auf den für unser Wohlergehen so
ungemein wichtigen Prozess der Entwärmung des Körpers zu sprechen.
Während in der Physiologie im Allgemeinen die Wärmeabgabe durch
Leitung, Strahlung und Wasserverdunstung nach den bekannten physi-
kalischen Gesetzen erörtert wird, bringt der Hygieniker Pettenkofer
den Einfluss von allerlei äusseren Bedingungen auf diesen Vorgang,
wobei Dinge, welche Jeder tausend Mal erlebt, aber nur wenig be-
achtet hat, in ihrer Bedeutung zur Sprache kommen und erklärt
werden. Nicht nur der gebildete Laie, sondern auch der mit der
Physiologie Vertraute wird diesen Darlegungen mit dem grössten
Interesse folgen und zu neuen Gedanken über die Modalitäten des
Abflusses der Körperwärme angeregt werden. Wir erfahren, dass
es uns in einem noch nicht ausgeheizten Zimmer trotz richtiger
Temperatur der Zimmerluft fröstelt, und zwar wegen der beträcht-
lichen Wärmeabgabe von unserem Körper an die noch nicht er-
wärmten kalten Mauern; dass es uns in einem gedrängt vollen Saal
bei normaler Temperatur der Luft doch heiss wird in Folge der
Beschränkung der Wärmeabgabe von unserem Körper durch die
53
wariiiün Naclibarn. Wir hören ferner von der Wirkung iler Be-
wegung der Luft; im Freien wird mehr Wärme als im Zimmer von
uns weggenommen, namentlich durch Leitung, weil im Freien die
Luft im Mittel sich mit einer Geschwindigkeit von 3 Metern in der
Sekunde über una hinbewegt; das Fächeln mit einem Fächer wirkt
bei ruhiger und warmer Luft durch die Bewegung der Luft and
den dadurch hervorgerufenen grösseren Wärmeverlust durch Leitung
und Wasserverdunstung; vor einem Gewitter erscheint uns die warme
ruhige Luft schwül, beim ersten Wjndatoss wird es uns trotz un-
veränderter Temperatur erträglicher, Der Schatten ist kühl, nicht
nur dadurch, dass die durch ihn bedeckte Fläche nicht so hoch
erwärmt wird, sondern auch weil die Luft durch die Temperatur-
differenz gegenüber den von der Sonne beschienenen Stellen in Be-
wegung sich befindet. Im heissen Klima verliert man zur heissen
und feuchten Jahreszeit nur wenig Wärme und es bleibt ausser den
Bädern, welche bei gleicher Temperatur wie in der Luft wegen der
besseren Wärmeleitungsfähigkeit des Wassers, trotz der dabei herabge-
setzten Strahlmig und Verdunstung, den Körper abkühlen, nur die Wir-
kung des Schattens und der Luftbewegung durch den Fächer übrig, —
Die Beobachtungen über die Bedeutung des Bodens bei der
Choleraepidemie des Jahres 1804 veranlassten Pettenkofer auch die
Verhältnisse des Bodens, namentlich in seinen Beziehungen zur Luft
näher zu untersuchen. Man stellt sich für gewöhnlich vor, die Luft
höre an dem festen Erdboden, auf dem wir stehen, auf. Wie in die
Wohnung und in die Kleider dringt jedoch auch in den Boden die
Luft ein durch die Porosität der Erdoberfläche; der Boden ist eine
Mischung von Erde, Luft und Wasser, Um den Luftgehalt des
Bodens zu demonatriren, machte er die sinnreichsten Versuche: er
füllte in ein ein Liter hakiges Gefäss Kies ein und verdrängte dann
durch Eingiesaen von Wasser aus einem Litergofäss die Luft bis die
Kiesschicht mit Wasser gefüllt war; der Kies enthält mehr als ein
Drittel seines Voluma Luft; in gleicher Weise wurden zusammen-
hängende Steine, die wir Felsen nennen, geprüft: der Sandstein des
54
Felsens von Malta, den man aucli als Filter zum Filtriren von
Waeeer f^^ebraucht. besteht ilarnaeb zur Hftlfte aus Luft Auch
feuchter Boden ist für Luft iinnier noch durchgängig, erat an der
Grenzlinie des Grundwassers hört der Luftgebalt auf; selbst gefrorener
Boden ist nicht undurchdringlich för Luft, da durch das Eis die
Poren nicht enger werden als durch das flüssige Wasser.
Die Luft im Boden läast ebenfalls einen Wechsel zu: in einem
unten und oben durch eine Kiesschicbt abgeschlosseoen einen Liter
Luft enthaltenden Glaacylinder lebt ein kleiner Vogel fort.. Die
Luft im Boden nimmt auch an der Bewegung der äusseren Luft
Theil; füllt man einen hohen Glaacylinder mit Kies, senkt bis an
den Boden desselben eine Glasrölire, an welcher oben ein mit einag
gefärbten Flüssigkeit beschicktes Manometer angebracht ist, so sieht
man bei jedem Blasen auf die Kiesoberfläche eine Bewegung der
Fltissigkeitssäule des Manometers. Es wird also die Luft im Boden
durch Windetösse, durch Temperatunlifferenzen und durch Diffusia
in Bewegung versetzt.
Diese Luftdurchlässigkeit des Bodens bedingt die Verweeunj
organischer Substanzen in demselben, was sich besonders bei de
Begräbnissplätzen deutlich zeigt. Ueber dieselben hat Petteakofea
(1865) höchst interessante und wichtige Beobachtungen gemaohtj
er unterschied scliärfer, als dies früher geschehen war, die Vet
weaungö- und die Faul niss Vorgänge. Die Verwesung ist ein lai^
sanier oder schneller Uebergang der Organismen in unorgsotM
Stoffe durch den Sauerstoff der Bodenluft; die Fäulniss ist ein don
niedere Organismen veranlasster Zersetzungsprozess organischer Sut>
stanzen auch bei Abachluss der Luft oder des Sauerstoffs. All
schnellsten werden die Leichen verzehrt bei Zutritt von Luft
Wasser; in einem porösen Geröllboden geht daher die Verwesuq
schnell vor sich, in compaktem Lehmboden nur langHam. E^ gidb
Begräbnissplätze, in denen die Leichen in 6 — 7 Jahren verwest na
in anderen währt es 25 — 30 Jahre; darnach richtet sich der I
gräbnifisturnus. Pettenkofer suchte die Ansicht zu begrQnden,
95
ein richtig angelegter Friedhof, bei ausreichender Drainage und
Ventilation des Bodens und bei entsprechendem Botrieb, keine Ge-
fahren für die Gesundheit der Anwohner hervorruft, was allerdings
mit Beinen sonstigen Anschauungen von der möglichsten Reinhaltung
des Bodens in Widerspruch zu stehen scheint. Er hat aber berech-
net, dass die Menge der Leichensubstanz, auf ein bestimnitea Areal
und bei einer gewissen Zeit des Betriebs sowie bei einer ange-
nommenen Quantität des Grundwassers, ao gering ist. dass dadurch
weder der Boden noch das Grundwasser oder die Bodenluft ver-
unreiniget wird.
Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass der wechselnde
Luft- und Wassergehalt der verschiedenen Bodenarten auf das Leben
der niederen Organismen in ihm, auch auf die krank machenden,
von Eintluss ist.
Die Permeabilität des Bodens und der Grundmauern der Häuser
wird durch die merkwürdigen von Pettenkofer genau untersuchten
Bewegungen des ausgeströmten Leuchtgases im Boden illustrirt.
Wenn auch in den Häusern keine Gasleitungen sich befinden, kann
doch das aus einem Rohrriss ausströmende Gas durch den Strassen-
körper, die Grundmauern, die Kellergewölbe und die Zimmerböden
hindurchdringen und Leuchtgas Vergiftungen hervorbringen. Solche
Unglückslalle ereignen sich fast nur im Winter und es geht das
Gas vorzuglich in die geheizten warmen Wohnzimmer, die wie gut
ziehende Schornsteine wirken; es ist nicht der gefrorene Boden,
welcher das Gas nicht aus dem Strassenboden, sondern in den nicht
gefrorenen Grund der Hiiuser entweichen lässt, da der gefrorene
Boden,. wie schon bemerkt, nicht luftdicht abschliesat.
Pettenkofer entnahm aus seinen Beobachtungen über die Cholera,
dass im Boden eine der Bedingungen dieser Krankheit steckt. Um
über solche Prozesse etwas zu erfahren, untersuchte er seit 1871
die Grundluft in München auf ihren Gehalt an Kohlensäure, indem
er aus verschiedenen Tiefen über dem Grundwasser (^a bis 4 Meter)
durch in den Boden versenkte Bleiröhren mittelst eines Aspirators
56
die Luft aufsaugte und durch Barytwasser die Kohlensäure derselben
wegnahm. Dabei ergaben sich ganz merkwürdige Resultate. Zu-
nächst ersah man, dass das Aufsaugen der Luft aus dem Boden
keinen grösseren Widerstand setzt wie aus freier Luft, die Luft im
Boden ist also äusserst beweglich. In einem vegetationslosen Geröll-
boden wächst mit der Entfernung von der Oberfläche die Menge
der Kohlensäure und es findet sich darin mehr wie in den schlechtest
ventilirten Wohnräumen; in der Tiefe von l^/i Meter ist fast das
ganze Jahr hindurch weniger Kohlensäure wie in der Tiefe von
4 Metern, und nur im Juni und Juli kehrt sich das Verhältniss für
kurze Zeit um, indem hier in den oberen Schichten mehr Kohlen-
säure wie in den unteren enthalten ist; vom Juli an beginnt in den
unteren Schichten, offenbar unter dem Einfluss der Wärme, ein
bedeutendes Steigen der Kohlensäure, im September und Oktober
nimmt sie in beiden Schichten beträchtlich ab. Bei der Erörterung*
der Ursachen dieser auffallenden Erscheinungen, welche auf lebhafte
organische Prozesse im Boden hinweisen, wird gezeigt, dass die
Kohlensäure nicht von der Humusschicht an der Oberfläche herrähren
kann, weil oben dieses Gas gewöhnlich in geringster Menge ange-
troffen wird; die Kohlensäure nimmt mit dem Annähern an das
Grundwasser zu und könnte also von letzterem abgedunstet sein,
was aber nicht möglich ist, da an zwei Monaten die oberen, vom
Grundwasser entfernteren Schichten mehr Kohlensäure enthalten und
der Kohlensäuregehalt der Grundluft viel höher ist als der des
Grundwassers; es blieb daher nichts anderes übrig, als anzunehmen,
dass die Kohlensäure aus Zersetzungs- oder Lebensprozessen orga-
nischer Substanzen im Boden abstammt, die dann der Grundluft
und in geringer Menge dem Grundwasser mitgetheilt wird. Das
Verhalten des Bodens zu Luft und Wasser wurde von einigen
Schülern Pettenkofers noch weiter verfolgt.
Wenn die Kohlensäure der Grundluft wirklich von verwesenden
organischen Stoffen herrührt, dann darf die Luft eines vegetations-
losen Bodens nicht mehr Kohlensäure als die atmosphärische Luft
57
an; Pettenkofer ergriff daher gerne die Gelegenheit, Herrn
V. Zittel, der (1874) die Rohlfe'sche Expedition in die Libysche
WüBte niitinachte, zu bitten, ihm Proben der Luft ober und unter
der Bodenoberfläche m itzu bringe» ; Herr v. Zittel entsprach der
Bitte und da stellte sich bei der Analyse der Luftproben heraus,
das3 es wirklich so war wie vorausgesetzt wurde.
Leider läast sich der Kohlenaäuregehalt der Grundhlft nicht
ais ein ztiverliissiger MaaHSstab ffir die Bodenverunreinigung ansehen;
derselbe wird nämlich noch von anderen Umstfinden beeinflusst.
Das dem Boden entstammende Trinkwasser erregte selbstver-
ständlich die Aufmerksamkeit Pettenkofors. Kr lieas von seinen
Scbfilern A. Wagner und L. Aubry fortlaufende Analysen des früheren
Münchener Trinkwassers auf seinen Gehalt an festen Theilen, an
organischen Stoffen und an Stickstoff ausführen, um seine Ver-
unreinigung zu verfolgen, wovon nachher noch die Rede sein wird,
liier soll nur erwähnt werden, dass Pettenkofer (1860) eine Methode
der Bestimmung der Kohlensäure im Trinkwasser mittelst Kalkwasüer
ersann, und auch nachwies, dass in dein aus der Katkformation
stammenden Münchener Trinkwasser trotz seines Wohlgeschmacks
gar keine freie Kohlensäure, sondern nur doppelkohlensaurer Kalk
vorkömmt. Er gab ferner (1875) ein einfaches Reagens zur Unter-
scheidung der freien Kohlensäure im Trinkwasser von der an Basen
gebundenen an; die durch Einwirkung von Schwefelsäure auf Oarbol-
siiure und Oxalsäure entstehende Rosolsäure wird durch kohlensaure
und doppelkohlensaure Alkalien und alkaliwche Erden intensiv roth
geßlrbt, die durch Aetzbaryt bis zur eben beginnenden Röthung
gefärbte Säure aber durch freie Kohlensäure entfärbt. —
Jetzt habe ich über zwei höchst bedeutsame, nicht dmn hygie-
nischen Gebiet zugehörige Untersuchungen Pettenkofers zu berichten.
Die erste ist die über den Gaswechsel an Hunden und Menschen
mit seinem Reepirationsap parate. Durch die Erfindung dieses Appa-
rates hat er der Physiologie ein ganz besonders werthvolles Geschenk
gemacht. Nachdem ich nachgewiesen hatte, dass der Stickstoff der
58
im Tbierkörper zersetzten stickstoffhaltigen Stoffe aasscbliesslich im
Harn und Koth ausgeschieden wird, war es durch Bestimmung
dieses Stickstoffs möglich den Umsatz des stickstoffhaltigen Eiweisses
festzustellen, und ich habe dies unter den verschiedensten Umständen
gethan. Da erschien es von höchstem Werthe auch den Umsatz
der stickstofffreien Stoffe, des Fettes und der Kohlehydrate, zu er-
fahren, wozu die durch die Lunge und die Haut entfernten gas-
förmigen Stoffe, die Kohlensäure und das Wasser, gewogen werden
mussten. Die zur damaligen Zeit vorliegenden Respirationsversuche
an Thieren giengen ausschliesslich darauf hinaus, die Gesetze des
Gaswechsels kennen zu lernen, speciell die Aufnahme des Sauer-
stoffs und die Abgabe der Kohlensäure; diese Bestimmungen haben
ja für den angegebenen Zweck die wichtigsten Resultate ergeben,
besonders die berühmten Untersuchungen der französischen Forscher
Kegnault und Reiset, aber Niemand wusste, aus welchen Stoffen
des Organismus die Kohlensäure stammte und welche Stoffe durch
den Sauerstoff oxydirt wurden. Ich sprach häufig mit meinem
Freunde Pettenkofer, dessen Laboratorium damals im physiologischen
Institut sich befand, darüber, und seinem technischen Talent gelang
es, einen dazu geeigneten Apparat zu ersinnen und herzustellen.
Es können nur Thiere dazu dienen, an welchen auch der Eiweiss-
umsatz zu ermitteln ist; ich glaubte nach meinen damaligen Erfah-
rungen, es seien nur grössere Thiere, namentlich Hunde von
25 — 30 Kilo Gewicht, dazu tauglich; Pettenkofer wünschte seiner
hygienischen Bestrebungen halber, den Apparat auch für den
Menschen eingerichtet zu sehen. So entstand der grosse Apparat,
für dessen Herstellung Seine Majestät der König Max IL, auf ein
Gutachten Liebigs hin, 7000 Gulden aus eigenen Mitteln gross-
müthigst anwies.
Anscheinend unüberwindliche Schwierigkeiten mussten besiegt
die sinnreichsten Vorrichtungen erfunden werden, um schliesslich
allen Anforderungen zu genügen. Der Versuch soll 24 Stunden und
länger vor sich gehen können; die Thiere und Menschen sollten
59
unter den gewohnten natürlichen Verhältnissen athmen, in einem
gut ventilirten grösseren Räume, aus welchem die durch das Athmen
verdorbene Luft entfernt und dem frische Luft zugeführt wird.
Dazu war für grössere Thiere und den Menschen eine Ventilation
von 200 000 bis 500 000 Liter Luft im Tag nothwendig. Es erwies
sich bald als unmöglich, solche Luftmengen auf ihre Bestandtheile
genau zu untersuchen und so kam Pettenkofer darauf, nur einen
allzeit gleich bleibenden kleinen Bruchtheil zu prüfen und aus diesem
auf die ganze Menge zu rechnen, so wie er es in der Münzanstalt
gelernt hatte, in welcher von den jährlich vielen Zehntausenden
von Kilogrammen legierten Silbers und Goldes kaum ein Hundert-
tausendstel untersucht oder probirt wird und trotzdem im Ganzen
nicht um ^/\o Prozent fehlen. Eine Dampfmaschine besorgt die
Ventilation, kleine in Quecksilber gehende Saugpumpen mit selbst-
thätigen Quecksilberventilen nehmen den aliquoten Theil zur Unter-
suchung heraus; eine grosse Gasuhr misst den Hauptluftstrom,
kleine Gasuhren die Luftmenge der Proben. In der in den Athem-
raum eintretenden und in der aus ihm austretenden Luft werden
Kohlensäure und Wasser bestimmt; es sind also Differenzbestimmungen,
durch welche die constanten Fehler sich ausgleichen; der Sauerstoff-
verbrauch wird wie bei der Elementaranalyse gerechnet. Zum
ersten Male bei solchen Versuchen wurden Controlbestimmungen
über den Grad der Genauigkeit der Angaben gemacht und zwar
mit brennenden Kerzen von bekannter Zusammensetzung, welche so
viel Kohlensäure und Wasser liefern wie ein Thier oder ein Mensch
beim Athmen; daraus ergab sich die Genauigkeit der Angaben des
complicirten Apparates für Kohlensäure und Wasser, die auf weniger
als 1 Prozent wieder erhalten wurden. Von besonderer Tragweite
war die Einführung der nassen Gasuhr des genialen Engländers
Samuel Clegg zu genauen Messungen grosser Gasvolumina für wissen-
schaftliche Zwecke; auch klärte er die vorher wenig verstandene
Ursache der Bewegung der Messtrommel auf und gab eine genaue
Aichung des Instruments an. Ich habe später als es gelang auch
8*
60
an kleineren Thieren (kleinen Hunden, Katzen und Kaninchen) den
Harn zur Ermittelung des Eiweissumsatzes vollständig zu sammeln,
einen Apparat der Art in kleinerem Maassstabe gebaut. Zur Be-
stimmung der Gesammtzersetzung während längerer Zeit ist der
Pettenkofer'sche Apparat von keinem anderen erreicht; die meisten
nach anderem Prinzip eingerichteten, so brauchbar für gewisse Zwecke
sie auch sind, lassen nur während kurzer Zeit den Gaswechsel
untersuchen und erlauben also keine kontinuirliche Bestimmung
während 24 Stunden, auch athmen dabei die Thiere zumeist in
störenden Kautschukmasken mit Ventilen. Wir bewundern bei jedem
Versuche erneut die üebereinstimmung der mit dem Apparat unter
gleichen Bedingungen erhaltenen Resultate.
Pettenkofer und ich haben uns zu den Untersuchungen mit dem
Apparate verbunden und zehn Jahre intensiver freudiger Arbeit mit
einander verlebt. Unsere Versuche an Hunden und an Menschen
waren die ersten, bei welchen der Gesammtumsatz im thierischen
Organisnms ermittelt wurde. Es ist unmöglich auf die erhaltenen Re-
sultate näher einzugehen; es sollen nur die hauptsächlichsten erwähnt
werden. Man kann sich aber wohl denken, welche Empfindungen
wir hatten, als sich nach und nach vor unserem Auge ein Bild der
merkwürdigen Stoffwechsel Vorgänge im Körper enthüllte und eine
Fülle von neuen Thatsachen uns bekannt wurden. Wir fanden, dass
beim Hunger im Wesentlichen nur Eiweiss und Fett zerstört wird,
denn es wird dabei ebensoviel Sauerstoff in den Körper aufgenommen
als zur Verbrennung des aus der Stickstoff- und Kohlenstoff-Aus-
scheidung berechneten Eiweiss- und Fett-Umsatzes nöthig ist. Der
fleischfressende Hund vermag sich ausschliesslich mit Eiweiss auf
seinem stofflichen Bestände an Eiweiss und Fett zu erhalten, indem
bei diesem Bilanz- Versuch sich alle Elemente der Einnahmen genau
in den Ausgaben wieder vorfinden. Ueber die Bedeutung der stick-
stofffreien Stoffe der Nahrung, nämlich des Fettes und der Kohlehydrate,
erhielten wir mannigfache Aufschlüsse: mit Fett und Kohlehydraten
allein wird der Verlust von Fett vom Körper aufgehoben, jedoch
61
braucht man zu diesem Zweck von den Kohleliydrateu wesentlich
mehr wie von dem Fett; wenn der Körper bei mittleren Mengen
von Eiweiss allein noch Eiweiss und Fett abgiebt, so erhält sich das
Thier bei Zusatz von Fett oder Kohlehydraten auf seiner Zusammen-
setzung, während es ohne die stickstofffreien Stoffe zu dem gleichen
Erfolg sehr beträchtliche Mengen von Eiweiss braucht. Giebt man
zu der grossen Quantität von PMweiss, welche den Körper auf seinem
stofflichen Bestand völlig erhält, noch Fett dazu, dann wird dieses
Fett nicht zersetzt, sondern alles am Körper abgelagert. Die Muskel-
arbeit des Menschen bedingt, wenn die Nahrung eine ausreichende
ist, keinen grösseren Verbrauch au Eiweiss, wohl aber an stickstoff-
freien Stoffen; bei der Ruhe, besondei^s im tiefen Schlafe nach einem
Tage anstrengender Tbätigkeit. wird weniger Fett zerstört. Bei sehr
grossen Gaben von Eiweiss haben wir in zwei Versuchen an den
beiden ersten Tagen zwar allen Stickstoff des Eiweiaees in den Aus-
Bclieidungen wieder aufgefunden, aber nicht allen Kohlenstoff, es
fehlten täglich 42 Gramm, die im Körper zurückgeblieben sind; wir
deuteten diesen Befund so, dass dieser Kohlenstoff in aus dem Eiweiss
entstandenen Fett aufgespeichert worden ist; aucti bei Berücksich-
tigung des Fettgehaltes des verfütterten Fleisches bleibt unsere Deu-
tung bestehen. Die für die Sauer stoffauf nähme erhaltenen Zahlen
führten uns zu der Vorstellung, dass der Sauerstoff nicht die nächste
Ursache für die Zersetzungen im Körper ist, wie man bis dahin seit
Luvoieier und Liebig altgemein angenonnnen hatte; wäre dies so
gewesen, dann hätten die Stoffe im Organismus wie ausserhalb des-
selben nach ihrer Verwandtschaft zum Sauerstoff verbrennen müssen
d. h. am leichtesten das Fett, dann die Kohlehydrate und am schwie-
rigsten das Eiweiss, während im Organismus am leichtesten und in
grösster Menge das Eiweiss in seine nächsten Componenten gespalten
wird, dann die Kohlehydrate und am schwierigsten das Fett. Unter
sonst gleichen äusseren Verhältnissen ist der Sauerstuffverbrauch in
den weitesten Grenzen schwankend, nur durch die verschiedene
Qualität und Quantität der zugeführten Nahrungsstoffe bedingt: reich-
62
liehe Eiweisszufuhr bewirkt eine grössere Sauerstoffaufnahme ohne
dass dabei mehr Fett im Körper angegriffen wird, die Zufuhr des
ausserhalb so leicht verbrennlichen Fettes ändert jedoch an der
Sauerstoffaufnahme nichts. Der Kiweissumsatz ist nicht direkt vom
Sauerstoff abhängig, da dieser Umsatz durch die Muskelarbeit nicht
beeinflusst wird, obwohl dabei die doppelte Menge Sauerstoff zur
Verbrennung von Fett aufgenommen wird. Die Fette und Kohle-
hydrate ersetzen sich nicht in den Mengen, in denen sie gleiche
Mengen von Sauerstoff zur Verbrennung brauchen, sondern, wie später
durch die Versuche Rubners bewiesen wurde, in bestimmten Fällen
in den Mengen, in welchen sie gleiche Mengen von Wärme liefern.
Auch an kranken Menschen, bei welchen wir Aenderungen der
Zeraetzungen voraussetzen durften, haben wir die ersten Versuche
über den Gesammtstoffwechsel* angestellt. Aus den bei einem an
hochgradiger Zuckerharnruhr Leidenden erhaltenen Zahlen habe ich
später geschlossen, dass alle Veränderungen der Stoffzersetzung bei
dieser Krankheit erklärt werden können aus der Ausscheidung der
grossen Zuckermenge im Harn; in Folge derselben wird mehr Eiweiss
zerstört und auch mehr Fett, da dieses für den durch die Zucker-
ausscheidung erlittenen Ausfall eintreten muss; die Sauerstoffaufnahme
und die Kohlensäure-Ausscheidung des Diabetikers ist desshalb die
gleiche wie die eines Gesunden von dem nämlichen Körpergewicht —
Bei einem an Leukämie Erkrankten, bei welchem die Zahl der weissen
Blutkörperchen enorm vermehrt und die der rothen, den Sauerstoff
aufnehmenden Blutkörperchen in gleichem Grade vermindert war,
zeigte sich keine geringere Aufnahme von Sauerstoff und keine g^
ringere Zersetzung wie bei einem normalen Menschen bei der näm«
liehen Nahrung, woraus wir entnahmen, dass auch eine abnorm
kleine Zahl der rothen Blutkörperchen durch compensirende Ein-
richtungen ebensoviel Sauerstoff in den Körper zu befördern vermag
als eine normale Menge derselben.
Mit dem grossen Pettenkofer'schen Respirations-Apparate und
dem nach dessen Muster von mir hergestellten kleineren wurden
63
später noch viele Versuche gemacht; sie gaben di» Grundlage, auf
welcher der Ausbau der Lehre von der Ernährung weiter geführt
werden konnte. —
Ein erhebliclies Verdienst hat sich Pettenkofer erworben durch
seine Betheiügung bei der Herstellung des Fleischextraktes im Grossen.
DuB Fleiachextrakt ist schon längst bekannt und in Anwendung, wie
namentlich Dr. II. Bremer in einer Studie nachgewiesen hat, besonders
aber durch die Eni])feblung von Proust und Pannentier (1821) für
Kranke und Verwundete. Liebig war es dann, der in seiner be-
rühmten Abhandlung über die Bestandtheile des Fleisches (1847) auf
die Rinderheerden von Südamerika zur wohlfeilen Gewinnung des
Extraktes aufmerksam inachte. Pettenkofer rioth damals seinem Onkel
an, das Extrakt in der Hofapotheke zu bereiten und »eine Aufnahme
in die bayerische Pharmakopoe zu bewirken. Daraufhin wurde in
der Hofaputheke jahrelang da» Extrakt für den pharmazeutischen
Kleinbetrieb hergestellt und mannigfache Erfahrungen dabei ge-
sammelt. Nach der Uebersiedlung Liebigs nach München machte ihn
Pettenkofer mit der Sache bekannt und bat ilm in Dankbarkeit ihm
zu erlauben das Produkt (ler llofapotheke „Liehigs Fleischextrakt"
nennen zu dürfen. Im Jahre 1862 kam der thatkraftige Ingenieur
Giebert aus Brasilien, der Liebigs chemische Briefe gelesen hatte,
nach München zu Liebig, um mit ihm über seinen Plan, in Fray
BentOB in Südamerika eine FI eiechextrakt- Fabrik zu errichten, zu
sprechen. Liebig verwies ihn an Pettenkofer, welcher Giebert mit der
Herstellung in der Hofapotheke bekannt machte, woraufhin Giebert
das Unternehmen wagte. Liebig und Pettenkofer besprachen bis ins
Einzelnste die zweck massigste Darstellungs weise im Grossen und Hessen
der Sache jede Förderung angedeihen; so hat sich die Liebigs Fleiech-
extrakt-Compagnie (1864) entwickelt, die zuerst das Extrakt in
grösstem Maassstabe, nach den von Liebig und Pettenkofer gi^gebenen
Vorschriften, darstellte und jetzt täglich 1500 Kinder durchschnitt-
lich schlachtet. Liebig lieh der Fabrik, wie früher der Hofapotheke,
seinen Namen unter der Bedingung, dass das Extrakt unter seiner
64
und Pettenkofers fortwährender Controle stehe, wozu er eine Methode
zur Prüfung der richtigen Zusammensetzung und Bereitung angab.
Das Fleischextrakt ist nichts Anderes als zur Syrupsconsistenz ein-
gedickte reinste Fleischbrühe; diese ist ein uraltes, längst und viel
gebrauchtes Mittel und ihre guten Wirkungen bei der Ernährung
des Menschen aus tausendjähriger Erfahrung bekannt und erprobt,
so dass man nicht versteht, wie irgend Jemand an seinem hohen
Werthe zu zweifeln vermag. In einer schön geschriebenen Abhand-
lung „über Nahrung und Fleischextrakt" sprach sich Pettenkofer
über die Bedeutung des Fleischextrakts aus. —
Während der intensiven Beschäftigung mit den Stoffwechsel-
arbeiten im Anfang der sechziger Jahre fiel Pettenkofer eine davon
völlig verschiedene Aufgabe zu, nämlich die der Auffindung der
Ursachen des Verderbens der Oelbilder und der Mittel zu ihrer
Wiederherstellung; er löste sie, wie Alles was er in seine Hand nahm,
in kurzer Zeit mit unübertroffenem Geschick und grösstem Scharf-
sinn. Diese Leistung der Regeneration der Oelgemälde ist wohl eine
seiner glänzendsten und folgenreichsten Thaten.
Bekanntlich hatte der Kunst^chriftsteller Friedrich Pecht (1863)
in Zeitungen ein ebenso strenges als gerechtes Strafgericht gegen
die Conservirung und die Conservatoren unserer Gemäldesammlungen
gehalten. Diese Anklagen konnten nicht unbeachtet hingenommen
werden; das Kultusministerium setzte daher eine Kommission aus
Künstlern und den Naturforschern Pettenkofer und Kadlkofer zur
Prüfung der Angelegenheit ein: dieselbe sollte untersuchen, woher
der sogenannte Schimmel auf den Oelgemälden in den Galerien
komme und wie ihm abzuhelfen sei. Pettenkofer war anfangs gar
nicht geneigt in die Kommission einzutreten, denn er hielt sich für
ein ganz überflüssiges Mitglied, da er vom Schimmel und ähnlichen
Dingen gar nichts verstehe; er meinte die Jahrhunderte alte Praxis
müsste längst festgestellt haben, was in einer so einfachen Sache
überhaupt festzustellen sei. Aber man Hess ihn nicht los und zwar
mit Recht, hatte man ja doch schon zu oft erfahren, wie findig er
sei. Und als der Botaniker Radlkofer erklärte, es wären an dem
weissen Ueberzug der Gemälde keine Schimmelpflanzen zu entdecken,
da fieng Pettenkofer an eich dafür zu interessiren, wobei er alsbald
erkannte, dass die gesainmte hier in Betracht kommende Technik
auf roher Einpirio und vielfach auf falschen Voraussetzungen beruht.
Die Bilderärzte hatten eich nämlich nach dem äusseren Anschein
allerlei Vorstellungen gemacht ohne die Sache näher zu untersuchen;
sie waren in der naturwissenschaftlichen Lösung von Fragen der Art
völlig unbewandert, trauten sich aber nichtsdestoweniger ein cotn-
petentes Urtheil zu; sie meinten, es läge auf den Bildern eine ab-
gestorbene, ganz veränderte Masse, und es gäbe verschiedene Bilder-
krankheiten , eine Ultramarinkrankheit und andere Fälle von Er-
krankungen, die man kuriren müsse. Pettenkofer glaubte anfangs,
die Substanz der Farbstoffe habe durch ungünstige Einflüsse der
Witterung und der Lokale Veränderungen erlitten. Er untersuchte
daher die „abgestorbene Masse" an trüb gewordenen werthlosen
Bildern; er kratzte den trüben Firniss ab und da zeigte sich die
darunter liegende Substanz in den meisten Fällen nicht abgestorben,
ja eie enthielt, ebenso wie der Firniss, noch die nämlichen Stoflfe wie
die frischen Farben und Firnisse. Es waren nur physikalische Ver-
änderungen, zumeist nur in dem Firnissüberzug über den Farben der
Gemälde vor sich gegangen, wodurch die Lichtstrahlen nicht mehr
durchgelassen wurden.
Er studirte nun genau die Oelfarben und ihre Veränderungen.
Man nimmt als Bindemittel für die Farbstoffe trocknende Oele, welche
unter Aufnahme von Sauerstoff aus der Luft trocknen ohne ihr
Volumen zu ändern; die so getrocknete Oelfarbe geht nun mit der
Zeit weitere Veränderungen ein, weniger am Farbstoff als am Oel.
Die Farben, welche zum Anmachen wenig Oel bedürfen, halten sich
länger. Die Veränderung besteht in einer Verminderung des Volums
unter fortwährender Sauerstoffaufnahme aus der Luft, wodurch die
Farbmasse hart und spröde wird; die Theile verlieren ihren physika-
lischen Zusammenhang, sie bekommen Risse und werden dunkel.
Um nach Auftragung- der Oelfarbe die Zwischenräume zwischen
den Farbstofftheilchen auszufüllen, trägt man einen Fimi» auf, ge-
wöhnlich einen Harzfirniss. Derselbe verändert pich auch mit der
Zeit, er wird undurchsichtig oder blind; anfang» kann man durch
erneutes Firnissen die Trübung wieder beheben, zuletzt aber aicht
mehr und die Restauratoren waren genöthiget den trüben Firniss
abzunehmen.
Es fr> sich, was ist die Ursache dieser Veränderung? Die
Beobachtung, dass die Gemälde in der alten Pinakothek besser con-
servirt waren wie die in der Schleisslieimer Galerie, lieas ihn bald
die wesentlichste Ursache der Trübung erkennen, namüch in der
Einwirkung des Wa^ergehalts der atmosphärischen Luft auf die
Oberfläche der Bilder. Sind die Bilder kälter als die Luft, dann
achlägt sich auf ihnen Wasser aus der Luft in Tröpfchen nieder, so
dasB das Wasser herunterläuft und sogar Eiskrusten bildet. Ver-
dunstet dieses Wasser wieder, so tritt eine Molekular Veränderung in
den FirnisRen ein und sie verlieren aUuiählich ihren physikalischen
Zusammenhang; die dadurch entstehenden feinen Risse füllen sich
mit Luft, wodurch die Theile undurchsichtig werden wie bei fein
gepulvertem Glas. Da wo kein Wasser sich ansetzt z. B. unter dem
Rahmen sind die Bilder noch wie neu, ebenso an Stellen, wo auf der
Rückseite Papier aufgeklebt ist. Durch öfteres Bescblagtmlassen mit
Wasser vermochte er dein entsprechend ganz neue Bilder in kurzer
Zeit so trübe zu machen wie alte; es ist dieselbe Veränderung, die
man an gefirnissten Tischplatten wahrnimmt, wenn Wasser auf
ihnen verdunstet, wo auch weisse undurchsichtige Flecken entstehen.
Pettenkofer glaubte jetzt seine Aufgabe als naturwissenschaft-
liebes Mitglied der Commission durch das Auffmden der Ursache
der Veränderung der Bilder erfüllt zu haben; aber als er in freu-
digster Stimmung der Commission seinen Erfolg zeigte, machte dien
auf sie gar keinen Eindruck: sie wollte, dass er die trüben Geiuftlde
wieder klar mache, so wie einen Patienten, der geheilt sein will,
die beste Diagnose nicht befriediget.
67
Um dem Schaden abzuhelfen, mussten die Continuitätsstörungen
des Firnisaes wieder ausgeglichen und der unterbrochene Zusammen-
hang wieder hergestellt werden. Er fand, dasa dies möglich ist
und der undurchsichtig gewordene Fimissüberzug wieder klar wird
durch Anwendung von Alkoholdämpfe haltiger Luft: die trüben
Harzfirnisse über den Bildern nehmen aus dieser Luft Weingeist auf,
werden weich und die zuvor getrennten Theilchen verbinden sich
wieder, der Firniss wird klar. Damit war sein Itegenerationaver-
fahren im Gegensatz zur Restauration gefunden. Die trübsten Bilder
wurden wieder so leuchtend als ob sie eben aus dem Pinsel des
Malers hervorgegangen wären.
Es muss noch bemerkt werden, dass das Verfahren nur bei
trüben Harzfimiesen Erfolg hat, nicht bei Oelfirniasen, bei welchen
er als Heilmittel die Ammoniakseife des Copaivabalsams fand, welche
an der Luft unter Verflüchtigung des Ammoniaks zu klarem Copaiva-
balsam wird. Diesen langsam trocknenden Balsam wendete er dann
auch zur Conservirung der Oelgemälde an, da er die molekulare
Trennung sehr verzögert.
Durch seine Beobachtungen war auch zugleich das Mittel
gefunden, die Krankheit möglichst zu verhüten: man muss das
Niederschlagen von Wasser auf den Bildern unmöglich machen, was
am besten durch riclitiges Heizen der Galerien geschieht.
Manchmal ist allerdings am Bild durch die Zeit so viel ver-'
dorben, dass die Veränderungen auch den Farbkörper in den tieferen
Scliichten ergriffen haben und nicht nur das Medium, durch welches
wir die Farben sehen; dann hilft das Regenerationsverfahren nicht.
Aber es werden dabei durch die völlig gefahrlose Regeneration
häufig die unglaublichen unreparirbaren Schäden und Urkunden-
fälschungen aufgedeckt, welche die Bilderärzte angerichtet haben,
sowie die vielfachen, oft sinnlosen Uebermalungen, so dass wir nicht
mehr die Bildwerke der grossen Meister, sondern die Einbildungen
und Willkürcopien der pfuschenden Restauratoren vor uns haben,
die schon die werth vollsten Schätze der Kunat verdorben haben.
68
Nach dem Ausspruche von Pecht haben die Restauratoren mehr
alte Meisterwerke zu Grunde gerichtet als die Zeit
Das Regenerationsverfahren ist die Wiederherstellung des mole-
kularen Zusammenhangs ohne Firnissabnahme, ohne Putzen, bei
prinzipiellem Ausschluss aller fetten Oele zum Nähren, ja ohne Be-
rührung des Gemäldes. Die Trennung der Begriffe: Regeneration
und Restauration ist zu einem Markstein geworden, von dem an
die Originalität der Kunstwerke nicht weiter alterirt zu werden
braucht. Die Regeneration ist mehr eine hygienische Maassregel als
eine klinische, sie ist die Grundlage jeder Restauration und hat bei
richtiger Anwendung der Kunst unendlich genützt und schon viele
werth volle Bilder vor dem völligen Verderben gerettet.
Trotz der so klar liegenden Bedeutung der Regeneration erfuhr
Pettenkofer doch viele Anfeindungen von solchen, welche sein Ver-
fahren nicht genau kannten, hauptsächlich von Restauratoren, aber auch
von Künstlern und Kunstschriftstellem ; die Einwände waren leicht
zu widerlegen und als Pecht, der anfangs auf Seite der Opposition
war, sich von der guten Sache überzeugt hatte und energisch dafür
eintrat, war der Widerstand besiegt. Die bayerische Staatsregierung,
welche früher für jedes in den Staatssammlungen regenerirte Bild
20 Mark entrichtete, erwarb mit Zustimmung der Landesvertretong
das Recht der Anwendung für ihre Galerien um 40 000 Gulden, in
16 Jahresraten zahlbar. —
Wir kommen nun zu einem letzten gewaltigen Abschnitt der
wissenschaftlichen Thätigkeit Pettenkofers, zu seinen epidemiologischen
Forschungen, welchen er einen grossen Theil seines Lebens und den
grössten Theil seiner Arbeitskraft gewidmet hat. Er musste die
neuen Vorstellungen, zu denen er durch die Beobachtung der Ver-
breitung der epidemischen Krankheiten über deren Ursachen ge-
kommen war, in den heftigsten Kämpfen vertheidigen und wir
bewundern gerade hierin seine unermüdliche Ausdauer in dem Ein-
treten für seine üeberzeugung und seinen Scharfsinn, durch den er
immer neue Argumente für seine Anschauung beizubringen wosste.
«9
Die Veranlassung dazu gab die heftige Cholera- Epidemie vom
Jahre 1854 in München; es war die zweite Heimsuchung Münchens
seit 1836 durch die bekanntlich in einigen Bezirken Ostindiens ent-
stehende und von dort über den Erdball sich verbreitende Seuche;
dieselbe ist in Niederbengalen sicher seit dem Jahre 1817 bekannt,
in Europa war sie vor dem Jahre 1830 unbekannt.
Als der Schrecken und das Unglück der Seuche so plötzlich
und mit solcher Macht die Bevölkerung unserer Stadt überfiel, da
vereinigten sich Alle, welche irgendwie zur Linderung der Noth
beizutragen vermochten, um zu helfen, wo es möglich war. Die
Staatsregierung, die Polizei und die Stadtvertretung trafen nach den
Erfahrungen von 1836 alsbald alle als nützlich erscheinenden
Maasaregeln zur Bekämpfung des Uebels und zur Hilfe für die
Nothleidenden; die vermögenden Bürger der Stadt thaten in ge-
wohnter GroBsmuth Alles um das Elend zu lindern; die alterprobten
und die jungen eben geprüften Aerzte wetteiferten in Aufopferung
und Muth, sie versammelten sich zwei Mal wöchentlich zu gemein-
samen Besprechungen über ihre Erfahrungen und Beobachtungen
und holten eich neue Kraft zur Ausdauer in ihrem schweren Berufe.
So war es trotz allen Jammers eine erhebende Zeit, in welcher der
hilfreiche und gute Mensch dem Mitmenschen näher trat.
Man muss Pettenkofera so mitfühlendes Gemüth gekannt haben,
um zu verstehen, dass er mit Feuereifer in den Kampf gegen den
Würgengel eintrat.
Als im Jahre 1849 die Cholera unsere Grenzen bedrohte, wurde
vom Ministerium auf den Vorschlag des berühmten Arztes und
Gelehrten Philipp v. Walther eine Commission niedergesetzt für wissen-
schaftliche Untersuchungen über die indische Cholera, zu der auch der
Chemiker Professor Pettenkofer gehörte; bei dem Auftreten der
Krankheit im Jahre 1854 trat die Commission in erneute Thätig-
keit: Pettenkofer übernahm die Untei-suchungen über die Ver-
breitungsart der Epidemie in Bayern, Buhl sollte über die pathologisch-
anatomischen Befunde an der Leiche berichten; ich begann als des
70
Letzteren Äseistent meioe ErBtlingsarbeiten Über die chemischen
Veränderungen im Organismus bei der Cholera. Man suchte da-
durch einen Einblick in das Wesen und die Ursachen der Krank-
heit zu bekommen, um für spätere Zeiten zu nützen. E^ wurde
beschlossen, die in Bayern gemachten Beobachtungen in einem Haapt-
berichte herauszugeben, der auch 1857 mit Hilfe der von dem
Könige Max 11. aus seiner Cabinetskasse der uaturwissenschaftlich-
techDischen Commission an unserer Akademie hochherzig gewährten
Mittel zur Veröffentlichung kam.
Es war ein günstiger Umstand, dass Pettenkofer nicht als Arzt
der Sache gegenüber trat, sondern als Naturforscher; sein durch-
dringender Verstand machte sich gleich darüber klar, dass die ge-
wöhnlichen Maassregeln keine Mittel speciell gegen die Cholera sind,
sondern nur Mittel wie bei jeder anderen Krankheit auch; ihm war
es nicht um das Heilen der Krankheit, sondern um ihr Wesen und
ihre Ursachen zu thun. Er wusete von Anfang an, was er wollte
und an welcher Stelle er anzugreifen habe. Er muaate vor Allem
den Verlauf der Epidemie in Bayern und in München übersehen;
zu diesem Zwecke bezeichnete er in der grossen Generalstabskarte
des Landes alle Orte mit Choleraerkrankungen und zwar mit rother
Farbe die epidemisch ergriffenen, mit grüner die mit sporadischen
Fällen und mit blauer die, wo sich nur in einem oder zwei Häusern
Fälle zeigten; für München legte er sich ein Grundbuch an, in
welchem alle in den amtlichen Todesscheinen verzeichneten Cholera-
todesfälle (fast 2000), geordnet nach Strassen, Häusern und Stock-
werken, eingetragen waren. Damit war von ihm ein neuer erfolg-
reicher Weg betreten worden und für alle Zeiten die Epidemie
fixirt, so dass sie auch zu späteren, von anderen Gesichtspunkten
ausgehenden Forschungen dienen kann. Diese Karte und das Grund-
buch waren nun das Objekt seines Nachdenkens; er suchte, ob sich
daraus mit irgend etwas ein Zusammenhang herausbringen liees.
Die Karte ergab auf den ersten Blick, dass die Krankheit eine
örtliche, oft ganz auffallend scharfe Begrenzung zeigt und ihre
Verbreitung sich durchaus nicht mit Vorliebe an die Hauptverkehrs-
wege, an die Eisenbahnen nnd die Landstrassen hält; sie verläuft
vielmehr längs den Flüssen und Bächen, denn nur die Thäler und
Ebenen der Flüsse und Bäche lassen bestimmte Gruppen von epi-
demisch ergriffenen Ortschaften erkennen; hat ein Thal vom Ursprung
seines Flusses bis zu dessen Mündung eine ziemlich gleiche Be-
schaffenheit des Untergrundes wie der Oberfläche, so sind die Ort-
schaften am oberen Theil des Flusses zumeist frei, erst in einer
grösseren Entfernung vom Ursprung zeigen sich die Epidemien; die
Orte um und an den Wasserscheiden sind in der Regel verschont,
die Epidemien begrenzen sich mit dem die Flussebene einschltessen-
den Hügellande und erscheinen erst jenseits der Hügel wieder in
den nächsten Flussthälern. Die epidemische Ausbreitung der Cholera
steht also offenbar mit den Wasserverhältnissen einer Gegend in
Zusammenhang; dadurch wurde er auf die mächtigen unterirdischen
Wassermassen aufmerksam, die in einer Tiefe von 5 — 6 Metern
unter unseren Füssen dahin ziehen, von denen wir oberflächlich
betrachtet keine Ahnung haben ; dies war der Ausgangspunkt für
die Grundwassertheorie, welche epäter eine so grosse Rolle spielte.
Diese auffallenden, vorher nicht beachteten Thatsachen der
Choleraverbreitung in einem Lande lassen sich nicht blos durch den
Verkehr erklären; es müssen noch andere Hilfsursaclien mitwirken
und da weisen die Beobachtungen auf örtliche Bedingungen, auf
eine gewisse Bodenbeschaffenheit mid Terrainformation hin; tiefe
und feuchte in Mulden gelegene Ortschaften und Häuser werden im
Allgemeinen intensiver ergriffen als trockene und hochsituirte.
Dem entsprechend nahm er an, daes der Kranke nicht ohne
Weiteres direkt auf den Gesunden die Krankheit überträgt; selbst
ilie frischen Entleerungen des Kranken schienen ihm nicht gefährlich,
sie sollen es erat ausserlialb des menschlichen Organismus und zwar
im Boden werden. Indem er sich nun Vorstellungen über die Wirkung
des Bodens machte, schwankte er längere Zeit, ob dieser Einfluss
den Menschen nur individuell dieponirt die Cholera zu bekommen.
72
oder ob er mit der wirklichen Entstehung des Giftee in Zusaiiimen-
bang steht Er entschied sich nach seinen Beobachtungen fQr die
letztere Anschauung und dachte sich damals alü beste Hypothese,
dass der an Cholera erkrankte Mensch einen in seinen Ausleerungen
enthaltenen Keim, unter dem er sich von Anfang an einen Mikro-
organismus oder ein Ferment vorstellte, durch den persönlichen
Verkehr auf Gesunde und an gesunde Orte verschleppt und vor-
breitet, in deren Erdreich dann erst das schädliche Choleramiasma
entsteht, das er ursprünglich für ein Gas hielt Endlich gehört
noch eine individuelle Empfänglichkeit oder Disposition der Menschen
für die Erkrankung dazu, da ja nicht alle unter sonst gleichen
Bedingungen Lebenden befallen werden.
Nicht die geologische Formation des Bodens soll dabei aus-
schlaggebend sein, sondern eine bestimmte physikalische Boden^ ]
beschaffenheit, gewisse Zustände des Bodens, bei denen Zersetzungen
leicht vor sich gehen, also ein lockeres, von Wasser und Luft durcb-
dringbares, stark verunreinigtes Erdreich, in dem man in einer
nicht zu grossen Tiefe auf Wasser gelangt. Wo sich demnach im
Boden keine Zersetz ungaprozesse finden, das ist auf felsigem und
compaktem, für Waeaer nicht durchdringbarem Gestein, kann dar-
nach keine Ortsepidemie entstehen; Pettenkofer sprach es daher
alsbald mit aller Bestimmtheit aus. man werde in der ganzen Welt
keinen Ort auffinden, dessen Häuser auf Felsen gebaut sind,
in welchem die Cholera als Epidemie aufgetreten wäre; ala '
schlagendes Beispiel liiefür bezeichnete er die Stadt Nürnberg, wo
trotz allen Verkehre auf der auf einem Sandlager liegenden Lorenzer-
Seite fünfmal mehr Menschen an der Cholera gestorben sind als auf
der auf Fels ruhenden Sebalder-Seite.
Da nach ihm kein direkt ansteckendes Gift vom Kranken auf den
Gesunden übertragen wii-d, so hielt er von Anfang an die Quarant&nen
für nutzlos; allerdings glaubte er damals noch an den Nutzen der Deain-4
fektion durch Zerstörung der in den Exkrementen enthaltenen Keima,.]
Noch ein weiteres wichtiges Moment tritt schon im Haupt- J
73
berichte hervor, nämlich der Einfluss i3er Schwankungen des Wasser-
standes im Boden, des sogenannten Grundwassers. Man hat wohl
schon vorher auf diesen unterirdischen "Wasserspiegel geachtet und
auch sogar Messungen der Schwankungen desselben angestellt; unsere
Akademie gab im Jahre 1762 eine Preisaufgabe Über diese Zu-
und Abnahme im Interesse der Land wir thschaft, wobei der Bergrath
Scheidt in Salzungen den Preis erhielt; leider sind seine Beobach-
tungen verloren gegangen. Ea war zu der Erklärung der Thatsache,
daas die Cholera trotz Einschleppuiig des Keims nur zu gewiesen
Zeiten einen Ort befällt, ein bewegliches, wechselndes oder zeitliches
Moment nöthig und dies konnte Pettenkofer nur im Wechsel des
Standes des Grundwassers finden. Er begann daher die Bewegungen
dieses Grund wassera an verschiedenen Brunnen Münchens syste-
matisch zu messen und es zeigte sich sowohl im Cholerajahr 1836
als auch in dem von 1854 ein Absinken von einem auffallend hohen
Stand desselben, so dasa er den Satz aussprach: Da wo diese Schwan-
kungen auftreten, ist vorwaltend der Schauplatz der Cholera. Die
Schwankungen betragen zu verschiedenen Jahrgängen und Jahres-
zeiten mehr als 20 Fuss; im Allgemeinen findet sich zwischen dem
Stand der Isar oder der Menge der atmosphärischen Niederschläge
und dem der Brunnen kein direkter näherer Zusammenhang; die
Isar wirkt nur durch Stauung des Abflusses auf das Grundwasser ein.
Diese ersten Anschauungen Pettenkofers vom Jahre 1S54 haben
durch Vermehrung der Thatsachen und genauere Würdigung der-
selben im Laufe der Zeit manche Veränderung, Berichtigung und
Erweiterung erfahren, aber der Grundgedanke, dasa das Wasser im
Boden ein zeitliches Moment der lokalen Disposition sei, ist von
Anfang an unverändert geblieben.
Bei der Frage, wie der Infektionsstotf in den Menschen gelangt
und sich verbreitet, lag es am nächsten das Trinkwasser damit in
Beziehung zu bringen, besonders da die Wasserverhältnisse einer
Gegend so auffallend mit der Verbreitung der Epidemie in Zu-
sammenhang stehen. Auch Pettenkofer war anfangs ein Anhänger
74
dieser Lehre, aber er wurde durch seine Untersuchungen immer
mehr davon abgebracht. Die Verhältnisse lagen zur Entscheidung
des Einflusses des Trinkwassers in München damals besonders günstig
und wie für ein Experiment im Grossen geschaflfen, da mehrere
verschiedene Wasserversorgungsanstalten gleichzeitig neben einander
funktionirten ; aber es liess sich, obwohl er die Bezugsquellen von
Haus zu Haus auf das Sorgfältigste verfolgte, kein Unterschied
in dem Verlauf der Erkrankungen im Bereich der einzelnen
Leitungen erkennen; er schloss daher, dass im Trinkwasser kein
ursächliches Moment für die Cholera gesucht werden könne. Dieses
Ergebniss war von grosser Bedeutung für seine weiteren Forschungen,
indem es ihn auf eine bestimmte Bahn drängte. Er glaubte da-
durch die Angelegenheit mit dem Trinkwasser ein für alle Mal ab-
gethan zu haben und doch sollte er gerade hierüber noch die
heftigsten Widersprüche erfahren.
Durch diese denkwürdigen ersten Untersuchungen waren an die
Stelle der früheren vagen Meinungen bestimmte greifbare, der
Forschung zugängliche Vorstellungen und Thatsachen, die auf keinem
anderen Wege hätten gewonnen werden können, getreten. Es hat
vordem nichts gegeben, was nicht schon als Ursache der Cholera
angesehen worden wäre, die verschiedenartigsten Dinge ohne irgend
einen Beweis: Wind und Wetter, Armuth, schlechte Ernährung,
schlechtes Trinkwasser, unreine Abtritte etc. etc. ; Jeder hatte seine
eigenen und besonderen Einfälle, deren es gar viele giebt. Alles ist
vor Pettenkofer schon einmal gesagt worden, er aber hat zuerst
die wissenschaftliche Forschung in diese verwickelten Vorgänge ge-
tragen und sie auf Punkte geführt, welche einer genauen natur-
wissenschaftlichen Beobachtung und Messung zugänglich waren. Am
Schlüsse seiner ersten Auseinandersetzungen sagt er in aller Be-
scheidenheit und strengen Wissenschaftlichkeit, er verzichte sehr gerne
auf alle Ansprüche alltäglicher Priorität und begnüge sich voll-
kommen damit, wenn seine Arbeit dazu beitrage, dass aus den vielen
ausgesprochenen und sich widersprechenden Ansichten weniger, viel-
75
leicht nur eine einzige Ansicht wird, und wenn zuletzt an die Stelle
von taueend geistreichen Vermuthungen die anapruchslose Erkennt-
nisB einer einfachen und alltäglichen Thatsache gelangt, welche
praktische Folgen nach sich zieht. Er wünscht zugleich, sein Buch
möge viel Kampf erregen, dem er sein Tagewerk nicht entziehen
werde, denn es sei ein Kampf für unser aller Wohl; er werde eich
beugen vor gründlich und ehrlich untersuchten Thatsachen.
Pettenkofer war wie ersichtlich weit entfernt davon seine
ersten Vorstellungen schon als bewiesen oder abschliessend zu be-
trachten, aber er war fest überzeugt sich mit seinen Untersuchungen
und Gedanken auf dem rechten Wege zu befinden. Er drang, und
darauf kam es ihm zunächst vor Allem an, auf genaue, systematisch
angestellte Untersuchungen über alle diese Verhältnisse im Sinne der
exakten Naturforschung. Er verlangt in einem 1859 aufgestellten
Programm ein getreues Bild der örtlichen Verbreitung der Cholera
und des Typhus zu verschiedenen Zeiten in den einzelnen
Ländern, Orten und Wohnhäusern durch Eintragen der Todesfälle
nach den amtlichen Todesscheinen in ein einfaches Schema als un-
erlässliche Grundlage für alle vergleichend ätiologischen Studien;
dann die Festatellung der Beschaffenheit des Untergrundes der epi-
demisch ergriffenen Orte bis zu einer Tiefe, wo sich Grundwasser
findet; ferner die regelmässige Messung des Standes des Grund-
wassers in gegrabenen Brunnen; weiterhin die Prüfung der Beschaffen-
heit des Untergrundes und des Standes des Grundwassers in von
der Cholera verschonten Ortschaften und Ortstheilen; und endlich die
Analyse des Trinkwassers der sowohl von der Cholera ergriffenen
als auch der davon verschonten Orte. Er erhoffte von solchen
Untersuchungen die Gewinnung vieler und zur Beurtheilung der
Aetiologie der Seuchen w^erthvoUster Thatsachen.
Pettenkofer hat in der Folge Alles gethan, um zu diesem Ziel
zu gelangen; er hat Thatsachen auf Thatsachen gesammelt und
untersucht, und dabei alle Fälle berücksichtiget, nicht nur solche,
in welchen die Cholera sich verbreitete, sondern auch solche, in
76
welchen sie sich nicht verbreitete; er glaubt, stets die Erscheinung
als Ganzes aufgefasst zu haben unter Beachtung aller Thatsachen.
Das bedeutsamste Resultat seiner ersten Untersuchung war ihm
die Thatsache von dem nachweisbaren Einfluss der Bodenbeschaffen-
heit auf die epidemische Ausbreitung der Cholera; es blieb daher
von da an sein Augenmerk vor Allem auf das Verhalten des Bodens
und auf die in ihm stattfindenden Vorgänge gerichtet: es wurden die
früher erwähnten Untersuchungen über den Gehalt des Bodens an
Luft und Wasser angestellt, die Zersetzungsprozesse in demselben
durch die Bestimmung der Kohlensäure ermittelt und die seit März
1856 an verschiedenen Brunnen Münchens begonnenen Messungen
der Grundwasserschwankungen fortgesetzt. Dadurch befestigte sich
in ihm immer mehr die Ueberzeugung, dass zwar eine specifische,
durch den Verkehr verbreitbare Ursache der Krankheit existire,
dass aber örtliche und zeitliche Hilfsursachen im Boden wesentlich
dazu gehören.
Eine wichtige seit dem Erscheinen der Cholera und des Typhus
viel umstrittene Frage ist die, ob diese Krankheiten ansteckend
d. h. contagiös wären oder nicht. Die meisten Aerzte hielten die
Cholera für ansteckend, wenn auch die bayerische Staatsregierung
im Jahre 1836 auf den Rath des Klinikers Philipp v. Walther er-
klärt hatte, dass „Ansteckung von Cholerakranken, auch wenn man
sich mitten unter ihnen befindet, sie anfasst und pflegt, nicht zu
fürchten sei".
Man dachte sich, bei einer ansteckenden Krankheit werde die
Ursache, der InfektionsstofiF oder das Contagium i m Kranken erzeugt
und vermehrt und werde von ihm direkt auf Gesunde durch Be-
rührung übertragen wie z. B. bei den Blattern; miasmatische Er-
krankungen nannte man, wenn die Ursache ausserhalb des Kranken
in seiner Umgebung, in einer dazu geeigneten Lokalität entsteht
und vom Kranken nicht auf einen Gesunden übergeht wie man es
für das Wechselfieber annahm. In diesem Sinne hielten die Einen
Cholera und Typhus für contagiös, indem sie voraussetzten, die
77
Ursache dafür bilde sich im kranken Organismus und werde ohne
Weiteres infektionstüchtig mit den Darmentleerungen ausgeschieden;
die Anderen, welche die Uebertragung von Mensch zu Mensch leug-
neten, hielten sie für miasmatisch und suchten das specifische Gift
ausserhalb des Kranken. Jede der Parteien stützte sich auf ge-
wichtige und zahlreiche Thatsachen und sie ergiengen sich Jahre
lang in fruchtlosen Streitereien. Die Contagionisten konnten für
ihre Anschauung angeben, dass der Verkehr einen unleugbaren
Einfluss auf die Verbreitung der Krankheit erkennen lasse; die
Miasmatiker führten dagegen an, dass es Umstände gäbe, wo trotz
lebhaftesten Verkehrs und trotz aller Einschleppung einzelne Orte
und Länder frei bleiben oder nur zu gewissen Zeiten ergriflfen
werden. Manche kamen desshalb schliesslich zu dem unglücklichen
Ausweg, die Epidemien könnten auf beide Weisen innerhalb und
ausserhalb des Organismus entstehen, d. h. contagiös und miasmatisch
sein; diese Verschwommenheit der Begriffe war die Quelle einer
heillosen Verwirrung.
Hierin scharf geschieden zu haben, ist ein Verdienst Petten-
kofers. Er hielt die Cholera und den Typhus anfangs auch für
anstekend durch den Kranken, also für contagiös, denn diese Theorie
ist die einfachste und scheint bei oberflächlicher Betrachtung die
Thatsachen leicht zu erklären; aber er musste im Laufe seiner Er-
fahrungen seine Ansicht ändern und erkennen, dass dieselben weder
contagiös noch miasmatisch nach den angegebenen Definitionen sind.
Der Fehler war nach ihm der, dass man contagiös, d. i. von Mensch
zu Mensch ansteckend, und verschleppbar für identisch hielt, und
das transportfähige ausserhalb des Menschen in einer bestimmten
Lokalität entstandene Miasma mit dem im Kranken erzeugten Con-
tagium verwechselte. Der Cholera- und Typhuskeim ist nach ihm
wohl durch den Verkehr von einer Lokalität aus verschleppbar,
aber nicht im Kranken entstanden und nicht von ihm auf den Ge-
sunden übertragbar. Er drang daher darauf, die abgenützten Worte
Contagium und Miasma, mit denen man nicht mehr die alten Be-
78
griffe verbindet, zu streichen und neue Bezeichnungen zu wählen;
er schlug vor, entogene Krankheiten, bei denen der Infektionsstoff
innerhalb des Kranken entsteht, und ektogene Krankheiten, bei
denen er ausserhalb des Körpers entsteht, zu unterscheiden; die
ektogenen theilte er in durch den menschlichen Verkehr nicht ver-
breitbare wie die Malaria und in örtlich entstehende, aber ver-
schleppbare wie die Cholera. Jede Choleratheorie musste darnach
nach seiner Ansicht der Yerschleppbarkeit des Infektionsstoffs durch
den Verkehr sowie der Abhängigkeit von gewissen örtlichen und
zeitlichen Vorgängen im Boden Rechnung tragen, und dies thut die
von Pettenkofer aufgestellte sogenannte lokalistische Theorie. In
der Cholera-Conferenz zu Weimar (1867), die er mit Griesinger und
Wunderlich einberufen hatte, fand die Lehre vom begünstigenden
Einfluss örtlicher und zeitlicher Momente zuerst öffentliche Aner-
kennung und Zustimmung; die Mitwirkung des Bodens war ihm
seitdem in keinem einzigen Falle etwas Gleichgiltiges, auch war er
schon damals überzeugt, dass die Cholera nur ektogen aufzufassen
sei und gab die entogene Uebertragung nicht mehr zu.
Die alte contagiöse Anschauung, welche einfach eine Infektion
Gesunder durch Cholera- oder Typhuskranke annimmt, lässt sich
nach ihm nicht mehr halten; denn sie steht mit sicher festgestellten
epidemiologischen Thatsachen in Widerspruch. Pettenkofer brachte
viele Beweise dafür bei, dass Cholera und Typhus nicht contagiös
nach der alten Definition sein können, denn dann wären zu ihrer
Verbreitung ausser dem Keim nur disponirte Menschen nöthig und
die Erkrankungen dürften nicht von etwas Anderem, z. B. von ge-
wissen Lokalitäten oder Zeiten abhängig sein. Cholerakranke stecken
andere Kranke in einem Spitale nicht an, nur dann wenn das
Spital wie die umliegenden Häuser zu einem Cboleraherd geworden
ist, kommen Hausepidemien vor, die auch gekommen wären, wenn
kein Cholerakranker eingebracht worden wäre; das grosse allgemeine
Krankenhaus in Calkutta ist trotz der Aufnahme vieler Cholera-
kranker noch nie ein Infektionsherd für Cholera geworden. — Bei
79
•
den entogenen Infektionskrankheiten wie den Blattern werden be-
kanntlich nichtgeimpfte Aerzte, Kranken- und Leichenwärter häu-
figer ergriffen; bei der Cholera und dem Typhus haben aber die-
selben nach unzähligen Erfahrungen in Europa und in Indien nicht
mehr zu leiden als andere Personen, die mit Cholerakranken gar
nicht in Berührung gekommen sind; der Verkehr mit Cholera-
kranken und Choleraleichen bringt an und für sich keine Gefahr.
Bei der mörderischen Epidemie in der Gefangenanstalt Laufen (1873)
wurde trotz sonst vollkommen gleichen Bedingungen und ununter-
brochenen Verkehrs nur die eine Seite der Anstalt befallen, auch
die Aerzte, das Wartepersonal und die 67 bewachenden Soldaten
blieben verschont; solche Fälle sind noch viele beobachtet worden
und es sollen später noch einige derselben angegeben werden. —
Nach der contagionistischen Ansicht ist der Darmkanal des Kranken
der Hauptschauplatz des Krankheitsprozesses und also auch der Sitz
des Infektionsstoffes, wesshalb auch nach ihr die Choleradiarrhöen
den giftigen Keim enthalten, reproduziren und verbreiten sollen.
Auch Pettenkofer war, wie gesagt, 1856 noch ein wenn auch nicht
unbedingter Contagionist und hielt die Darmentleerungen ebenfalls
für die Träger des Cholerakeims und er glaubte desshalb noch im
Jahre 1865, die Desinfektion der Entleerungen wäre eine souveräne
prophylaktische Maassregel und erst durch die Choleraepidemie von
1867 gewann er die üeberzeugung, dass die frischen Entleerungen
an und für sich nicht giftig sind, denn es werden nicht selten
Wärter mit den Dejektionen förmlich übergössen, die dann an ihnen
eintrocknen ohne dass sie die Cholera bekommen; ja es sind Fälle
bekannt, wo die Reiswasserdiarrhöen in den Magen von Menschen
gelangt sind ohne Schaden anzurichten. — Cholerakranke verbreiten
auf der Reise vielfach ihre Ausleerungen ohne Choleraepidemien an
einem immunen Orte zu veranlassen; ein ganz eklatanter Fall der
Art ist der aus dem Gefängniss zu Laufen entlassene Sträfling, der
viele Ortschaften berührte und dennoch in denselben keinen einzigen
Fall von Cholera erzeugte. Wenn der Kranke und seine Aus-
80
leerungen das Gift nicht enthalten, dann dient auch seine beschmutzte
Wäsche, die nach der Meinung vieler Contagionisten der Hauptträger
des Infektionsstoflfes sein soll, nicht ohne Weiteres als Infektions-
quelle; es wird nachher hiervon noch die Rede sein. — Vor Allem
müsste bei einer contagiösen Verbreitung der Krankheit, bei der
Aussaat des Keims durch Cholerakranke, die Ausbreitung eine ganz
andere sein als sie in Wirklichkeit ist, sie müsste sich von einem
Mittelpunkte aus allmählich ausdehnen und den Hauptverkehrswegen,
den Eisenbahnen, den Land- und Wasserstrassen gleichmässig folgen
und mit der Entwicklung derselben z. B. des Eisenbahnnetzes rascher
vorschreiten. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn sie wird, wie
gemeldet, durch gewisse Wasserverhältnisse der Gegenden bestimmt
und in auffallender Weise örtlich begrenzt, so dass sie wesentlich
immer nur gewisse Bezirke und Orte belallt und andere stets ver-
schont; es dürfte also keine für Cholera immune Orte geben, wohin
trotz aller Einschleppung des Infektionsstoflfs noch nie die Cholera
gekommen ist, und auch keine immunen Zeiten an den sonst für
Cholera empfänglichen Orten. Der Gang der Cholera zeigt dem-
nach auf das Deutlichste, dass noch etwas Besonderes dafür be-
stimmend ist. Die Erfahrungen in Indien, welche von dem kenntniss-
reichen Cuningham berichtet werden, lehren, dass daselbst grosse
Bezirke trotz der beständigen Einschleppung verschont bleiben und
dass die Krankheit seit Bestehen des Eisenbahnnetzes nicht rascher
sich verbreitet; Truppenzüge mit Cholerakranken inficiren auf ihren
weiten Märschen nur gewisse disponirte Orte, die anderen nicht;
die grossen Pilgerzüge in Indien üben, ebenso wie die Kriegszüge
bei uns, keinen Einfluss auf die Ausbreitung der Cholera aus, nur
treten in den vorher schon inficirten Orten in Folge der grösseren
Menschenansammlung mehr Krankheitsfälle auf; in der heiligen Stadt
Hardwar kommen im April Millionen Pilger aus allen Theilen
Indiens zusammen und doch kommt es daselbst nur selten zum
Ausbruch einer Epidemie. Die 94 aus der so stark inficirten Ge-
fangenanstalt zu Laufen entlassenen Sträflinge haben keine Cholerafälle
81
an den von ihnen berührten Orten veranlasst. Nach den sorg-
fältigen Erhebungen von Port giengen von den Tausenden im Jahre
1870/71 nach ganz Deutschland evakuirten typhus- und ruhr-
kranken Soldaten nirgends Epidemien aus.
Dafür dass der Cholerakeim für sich allein nicht genügt und
noch etwas vom Boden dazu kommen muss, hat Pettenkofer un-
zählige Beispiele beigebracht; es war ihm immer unbegreiflich, dass
die hierüber ermittelten Thatsachen nicht überall alsbald Anklang
fanden. Man müsste förmlich blind sein, so rief er aus, wenn man
leugnen wollte, dass es nicht viel mehr darauf ankommt, wohin
und wann aus einem Typhus- oder Choleraorte Typhus- und
Cholerakeime gelangen als dass sie überhaupt dahin gelangen.
Der Einfluss des Grundes und Bodens macht sich nach seinen
Beobachtungen überall in erster Reihe bemerkbar. Nur auf einem
porösen, für Luft und Wasser durchdringbarem, mit faulenden
organischen Substanzen verunreinigtem Boden gedeiht die Cholera,
nicht auf compaktem Felsen oder auf einer für Luft und Wasser
undurchdringbaren Lehmschwarte. Gegen diesen Theil seiner Lehre
erhoben sich zuerst sachliche Einwände, nachdem die Gegner vor-
her mehr gegen seine theoretischen Anschauungen und Hypothesen,
auf die er vor der Hand keinen grossen Werth legte, sich gerichtet
hatten. Sie gaben nämlich Orte an, welche auf Fels gegründet sein
sollen und doch von der Cholera stark heimgesucht wurden. So
hatte Professor Dr. Anton Dräsche in Wien (1860) auf solche Orte
in Krain und dem Karstgebirge hingewiesen, Andere auf den. Felsen
von Gibraltar und auf die Insel Malta. Da zeigte es sich, wie
ernst es Pettenkofer mit der Sache nahm und wie es ihm nur um
die Aufdeckung der Wahrheit zu thun war; er antwortete nicht
mit theoretischen Darlegungen, sondern wie es der Naturforscher
auch bei solchen verwickelten Prozessen allein thun muss, er begab
sich an die bezeichneten Orte, um sich die Felsen näher zu be-
trachten, und siehe da, jeder Einwurf iiat sich bei näherer Prüfung
als ein Irrthum erwiesen. Die Einwände waren ohne irgend eine
11
82
Untersuchung, nur auf oberflächliche Berichte und Eindrücke hin,
ohne Anwendung der Methoden der Naturforschung, nur vom Stand-
punkte des Literaten, dem die Wege der Forschung unbekannt sind,
gemacht worden. Das Ministerium des Innern sandte ihn auf An-
trag des Obermedizinalraths v. Pfeufer, der anfangs den Unter-
suchungen über die Aetiologie der Cholera die lebhafteste Theilnahme
und Ermunterung sowie jede ihm mögliche Hilfe zuwendete, (1861)
nach Krain, wo er besonders drei Bezirke (Neustadl, Laibach und
Adelsberg) mit Ortschaften auf angeblich compaktem Felsen ein-
gehend besah. Aber überall, wo die Seuche gehaust hatte, fand
sich eine hochgradige Zerklüftung und Porosität des Untergrundes,
so dass die Spalten mit verwesenden organischen Stoffen erfüllt
waren und Unrathsflüssigkeiten hindurchdringen Hessen; so ist ins-
besondere das Karstgebirge geradezu eine Stütze für den Einfluss
der BodenbeschaflFenheit geworden.
Ebenso ergieng es mit Gibraltar und Malta, welche er 1868
mit eigenen Mitteln aufsuchte. In Gibraltar war die poröse Be-
schaffenheit des Alluvialbodens zu sehen; das Terrain oberhalb der
Stadt wies wie das Karstgebirge sehr zerklüftete und zerbrochene Felsen
auf; da in der Stadt sich mehr als 200 gegrabene Brunnen befinden,
so ist Grundwasser vorhanden und es müssen auch zeitweise Schwan-
kungen desselben vorkommen, denn der heftigen Choleraepidemie
von 1865 gieng eine abnorme Steigerung der Durchfeuchtung des
Bodens voraus, wie sie in dem Jahrhundert noch nicht dagewesen
war. — Man glaubte besonders in Malta könnte poröser Boden
und Grundwasser keine Rolle spielen, weil die ganze Insel aus com-
paktem Gestein bestehe. Aber was ergab sich? Ueber dem unteren
Felsen aus hartem krystallinischen Sandstein liegt ein weicher poröser
Sandstein mit 28 Prozent Poren, der leicht zu bearbeiten, ja mit
dem Messer zu schneiden ist und viel Wasser schluckt, so dass
man in ihm die Kanäle aushaut und, wie schon berichtet, Wasser-
filtersteine aus ihm herstellt. Pettenkofer zeigte in der Vorlesung
einen solchen Filterstein, der in kürzester Zeit Wasser durchlaufen
lässt. Auf seine bestiinmteu und wiederholten Fragen versicherte
ihn der CoinptroMer of Charities Inglott, der Boden von Malta wäre
kein Fels, sondern ein Schwamm, getränkt und gesättiget mit jeder
Art von Jauche. Noch im Jahre 1885 sind bei der zweiten Cholera-
conferenz in Berlin von Robert Koch die Felsen von Genua und
von Bombay genannt worden; aber auch er brachte, als ob die vor-
bildlichen Untersuchungen Pettenkofers nie gemacht worden wären,
nur papierene Karten vor und keine genauen, an Ort und Stelle
gemachten Beobachtungen; dagegen berichtete der Ingenieur Settiraio
Monti auf Befragen Pettenkofers, der Untergrund des alten Genua
wäre im höchsten Grade verunreiniget.
Auf wirklichem coinpakteni, von Wasser nicht durchdrungenem
Fels oder auf einer undurchlässigen Thonschichte liegende Orte sind
frei von der Cholera; viele Fälle lassen sich dafür anführen z, B. in
Bayern gewisse Theile von Nürnberg oder Traunstein.
Die eingehenden geologischen Darlegungen Pettenkofers sind
Muster eines wissenschaftlichen Studiums und sie erscheinen uns als
etwas ganz eigenartiges und als der Anfang einer neuen Richtung
in der medizinischen Literatur. —
Eine ganz besonders feste Stütze erhielten die Lehren Petten-
kofers von dem Einfluss des Bodens und des Grundwassers auf die
Entstehung epidemischer Krankheiten durch die merkwürdigen Beob-
achtungen von Ludwig Buhl im Jahre 1865 über den Zusammen-
bang der Todesfälle an Typhus im Münchener Krankenhause 1. L
und den Schwankungen des Grundwassers. Es war schon längst
aufgefallen, daas in München die Typhusepidemien in den verschie-
denen Jahren einen höchst verschiedenen Grad der Intensität zeigen,
ee wechselten Jahre mit grösster Sterblichkeit mit solchen von
wesentlich geringerer Sterblichkeit ab; es musste die specifische
Ursache analoge Fluktuationen machen, bald gehindert werden wie
zumeist im Frühling und Sommer, und bald gefördert werden wie
im Herbat und Winter. Da lag es nahe, nachdem Pettenkofer schon
im Cholerajahre 1854 auf die Beziehung der Schwankungen des
84
Grundwassers zum Auftreten der Cholera aufmerksam geworden war,
die von ihm seitdem an den Brunnen gemachten Beobachtungen des
Grundwasserstandes mit dem wechselnden Stande dos Typhus im
genannten Krankenhause zu vergleichen. Buhl verfügte dabei in der
Zeit vom 1. Januar 1855 bis Ende Juli 1865 über 900 von ihm
secirter Typhusleichen. Da ergab sich beim üeberblicken der Curven
mit überraschender Regelmässigkeit, dass die Zahl der Typhustodten
abnimmt, so lange das Grundwasser steigt, dass sie dagegen zunimmt,
so lange das Grundwasser fällt. Es war also die gleiche Erscheinung
bei dem in München damals ständig herrschenden Typhus erkannt
worden, wie sie von Pettenkofer bei den zwei Choleraepidemien
vermuthet worden war. Das war allerdings ein Triumph für Petten-
kofer und eine Leuchte in der Dunkelheit der epidemischen Vorgänge.
Er fand zwar damit anfangs keinen besonderen Anklang bei Aerzten
und Naturforschern, weil man sich gar nicht vorzustellen vermochte,
wie das Grundwasser die Cholera und den Typhus machen könnte
und worin dieser Zusammenhang bestehen sollte; man verstand ihn
sowie die neue Lehre nicht und hielt es für etwas Unmögliches und
Mystisches, ja man ergieng sich sogar in gewissen exakten natur-
wissenschaftlichen Kreisen in schlechten Witzen und suchte die Sache
lächerlich zu machen. Als jedoch das Resultat in den folgenden
Jahren das gleiche blieb, und sein Freund, der scharfsinnige Mathe-
matiker Ludwig Seidel, in zwei Abhandlungen : „numerischer Zusammen-
hang zwischen der Häufigkeit der Typhuserkrankungen und dem
Stande des Grundwassers in München " und „ Vergleichung der Schwan-
kungen der Regenmengen mit den Schwankungen in der Häufigkeit
des Typhus in München" mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung
darthat, dass dieser gesetzmässige Zusammenhang mit einer Wahr-
scheinlichkeit von 36000 zu 1 sich berechnet, da konnte auch für
den Kurzsichtigsten kein Zweifel mehr an der Thatsache sein. Die
im Besitze des hygienischen Instituts befindliche grosse Curventafel,
welche der treffliche Polizei-Ingenieur Wagus nach den amtlichen
Aufzeichnungen über die Typhusmortalität der ganzen Stadt, die
85
Regenmengen und die Grund wassersch wankungen von 1850 bis 1867
hergestellt hat, ist ein unschätzbares Dokument für alle Zeiten in
der vorliegenden Frage. Auch noch später bis zu Beginn der achziger
Jahre, also während mehr als 30 Jahre währte dieses Verhältniss an;
erst mit der Abnahme und dem Verschwinden des Typhus in München
hörte die Coincidenz auf, da ein dazu nöthiger Faktor nicht mehr
existirte, nämlich die Verunreinigung des Bodens, in Folge der Durch-
führung sanitärer Maassregeln. An die durch diese Karte erwiesenen
Thatsachen belieben die jetzigen Gegner von dem Einflüsse des Bodens
nicht mehr zu denken.
lieber die Deutung der festgestellten Erscheinung musste sich
Pettenkofer in vielen Abhandlungen und in Vorträgen, namentlich
im ärztlichen Verein „über die Aetiologie des Typhus" aussprechen
und vertheidigen. Man meinte, es müsste nach Pettenkofers Lehre
überall, wo es Grundwasser gäbe, auch Typhus da sein; man begriff
nicht, warum in München der Typhus verschwinden konnte trotz
fortdauernder Schwankungen des Grundwassers, und man bildete sich
ein, es wäre jetzt mit der ganzen Sache nichts mehr.
Pettenkofer dachte sich zuerst, dass durch den hohen Stand des
Grundwassers zeitweise Bodenschichten unter Wasser gesetzt und für
die Entwicklung des Keims günstige Fäulnissprozesse unterbrochen
werden, während das Sinken umgekehrt sie fördere. Bald fasste er
jedoch die Sache anders auf. Unablässig setzte er den fortwährenden
Miss Verständnissen gegenüber auseinander, was ihm das Grundwasser
ist, dass dasselbe an und für sich das unschädlichste Ding von der
Welt ist, dass auch seine Schwankungen für sich allein, so wenig
wie der Schmutz für sich, nicht die Ursache von Erkrankungen sein
können. Der wechselnde Stand des Grundwassers ist für ihn unter
gewissen Umständen nur ein Zeiger, ein Index für den wechselnden
Wassergehalt der darüber befindlichen porösen Bodenschichten, für
den Grad ihrer Durchfeuchtung; und er stellt sich vor, dass die
Erfüllung der Poren des Bodens mit wechselnden Mengen von Luft
und Wasser begünstigend oder erschwerend auf die Zersetzungs-
86
prozesse organischer StofiFe im Boden einwirkt, welche mit der
Bildung der specifischen Typhusursache in noch unbekannter Weise
zusammenhängen; es ist nach ihm ein bestimmter Wassergehalt des
Bodens eine nothwendige Bedingung der Erzeugung des giftigen
Infektionsstoffes. Er glaubt also nicht, dass das Grundwasser der
Träger des Giftes sei, auch nicht, dass das letztere nahe der Ober-
fläche des Bodens hafte, was kaum möglich ist, da selbst im Winter
bei gefrorenem Boden Epidemien vorkommen; er weiss überhaupt
nicht anzugeben, in welchen Schichten die fraglichen Vorgänge sich
abspielen; er war nicht im Stande bestimmte und untrügliche Kenn-
zeichen für einen Choleraboden aufzustellen und genauer jenen Grund-
wasserstand anzugeben, wann ein bestimmter Boden die für Epidemien
gerade nöthige Wassermenge besitzt, wann er zu trocken und wann
er zu feucht ist und wann nicht. Einige z. B. Buchanan suchten den
Zusammenhang darin, dass beim Sinken des Brunnenspiegels in
trockenen Zeiten die Unreinheit des Grund- und Trinkwassers
zunehme und dass es reiner werde beim Steigen des Wasserspiegels ;
aber die Untersuchungen von Aug. Wagner und L. Aubry, der Assi-
stenten Pettenkofers, ergaben das Gegentheil, das Grundwasser war
am reinsten mit wenig Rückstand bei tiefstem Stande und am
unreinsten beim höchsten Stande.
Pettenkofer warnte davor, die Verhältnisse in München als
Schablone für andere Boden- und Grundwasser Verhältnisse anzusehen,
die gefundenen Thatsachen gälten vorläufig nur für das Münchener
Terrain; auch wären die Beobachtungen des Wasserstandes in ge-
grabenen Brunnen nur dann verwerthbar, wenn derselbe einen rich-
tigen Index für den Wechsel der Feuchtigkeit der über dem Grund-
wasser liegenden Bodenschichten ist, was z. B. nicht der Fall ist,
wenn der Brunnen innerhalb der Stauhöhe des Flusses liegt. Man
müsse den Geist der Aufgabe erfassen und nicht gleich bei einem
Falle Widerspruch sehen, wenn es beim ersten oberflächlichen Anblick
nicht genau so ist, wie im Musterfalle. Stets erneut hob er hervor,
wie er das grösste Gewicht auf die Thatsachen des Grundwassers
lege und zunächst nichts auf die Vorstellung, wie es bei seiner
Wirkung des Näheren zugehe.
Bei den unbefangen Denkenden schlugen die ßeobachtungea
Pettenkofers schlieeslich Wurzel; sie sahen ein, dass die Verfolgung
der GrundwasserbewBgung von hoher Bedeutung ist für die Aetiologie
gewisser Epidemien, und man begann auch an anderen Orten mit
den Messungen desselben. So hat die wissenschaftliche Deputation
für das Medizinal wesen im Ministerium in Berlin auf den Antrag
Virchows (1873) den Wunsch ausgesprochen, es möchten recht bald
auch in Berlin vergleichende Beobachtungen über die Höhe des
Grundwassers und über den Gang der Morbilität und Mortalität der
Bevölkerung angestellt werden; es müsse durch diis grosse Projekt
der Kanalisation der ganzen Stadt Berlin nicht nur eine Abfuhr des
Haus- und Regenwassers, sondern zugleich auch eine llegulirung des
Grundwassers angestrebt und erzielt werden, weil man schon längst
zur Ansicht gelangt sei, dass nicht nur W^echselfieber, Typhus und
Cholera, sondern auch Ruhr durch gewisse Grundwasserverhältnisse
begünstiget werden. Die Messungen in Berlin ergaben das nämliche
Resultat wie die in München; ebenso die Bestimmungen von Soyka
in Frankfurt a. M. und Bremen und von Anderen in anderen Städten.
Die dadurch erlangten Kenntnisse haben noch einen weiteren Werth,
indem man aus dem Stande des Grundwassers zu erschliessen vermag,
ob beim Herannahen der Cholera und bei Kinschleppung des Keims
für einen Ort die Gefahr einer Epidemie besteht. Der einsichtige
Chef des Medizinalwesens in England John Simon erklärte, dass kein
Medizinalbeamter mehr auf der Höhe seiner wissenschaftlichen Pflichten
stehen werde, ohne die Schichtungen des Bodens und die Grund-
wasser Verhältnisse in seinem Distrikte aufs Genaueste zu ermitteln
und zu verfolgen.
Immer mehr wurden durch weitere Beobachtungen von Cholera-
Epidemien von Pettenkofer und auch von Anderen Thatsachen dafür
beigebracht, dass ein poröser, für Luft und Wasser durchgängiger,
mit faulenden Stoffen verunreinigter Boden von einem gewissen
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Feuchtigkeitsgehalte unumgänglich nöthig ist zum Entstehen und
zur Ausbreitung einer Epidemie und zwar in Ländern, Ortschaften
und Häusern. So war es bei der von Pettenkofer untersuchten eigen-
thümlichen Epidemie des Jahres 1865 in Sachsen (in Altenburg und
Werdau), die an einem schmalen und kurzen Streifen am Abhang
des Erzgebirges verlief; ebenso in Lübeck (1868 Cordes), in Halle
(1868 Delbrück), in Mannheim (Zeroni), in Thüringen (1867 Pfeiffer),
in Königslutter (1867Griepenkerl), in Sachsen (Reinhard und Günther),
in Hildesheim (Wilbrand), in Kiel (Jessen und Jürgensen), in Leipzig
(Thomas).
Von den Verschiedenheiten der Bodenbeschaffenheit rührt es also
her, dass die Cholera trotz Einschleppung des Keims nicht an allen
Orten und nicht zu allen Zeiten entsteht, d. h. das sich zeigt, was
der Lokalist örtliche und zeitliche Disposition nennt.
Die Nothwendigkeit einer örtlichen Bedingung oder Disposition,
d. i. einer bestimmten Bodenbeschaffenheit zum Auftreten einer Cholera-
epidemie wird, wie schon erwähnt, dadurch erwiesen, dass die Epi-
demien trotz lebhaften Verkehrs auffallend örtlich begrenzt sind.
Namentlich die Beobachtungen der Epidemien in Indien, denen Petten-
kofer von Anfang an die grösste Bedeutung beimass, haben ihn in
seiner Auffassung wesentlich bestärkt; durch die jungen Doktoren
Douglas Cuningham und Thimoty Lewis, welche von ihrer Regierung
nach Indien zum Studium der Cholera gesandt wurden und ihn in
München besuchten, war er auf die werthvoUen Jahresberichte von
James Cuningham und auf die Schriften des von Bryden geleiteten
statistischen Bureaus von Indien aufmerksam gemacht worden.
Darnach verläuft die Seuche in Indien wie bei uns, sie gedeiht in
verschiedenen Gegenden äusserst ungleich ; sie entsteht nur in gewissen
Bezirken, wo sie endemisch und verheerend ist, in anderen tritt sie
trotz regsten Verkehrs niemals auf. Auch in Europa, wohin der Keim
durch den Verkehr verschleppt wird, ist sie von gewissen örtlichen
Bedingungen abhängig: in Preussen wurden während der Epidemien
von 1848 bis 1859 in Posen 26 mal mehr Personen ergriffen als in
Westphalen; Aehnliches war in Sacbseii und iu Bayern zu beobachten.
Die Epidemien sind ferner, wie schon erwähnt, in höchst auffallender
Weise nach FIusb- und Drainage-Gebieten begrenzt. In grossen Mooren
z. B. denen südlich der Donau in Bayern werden die Dörfer nicht
oder nur wenig heimgesucht. — Es finden sich die grössten Unter-
schiede in der Zahl der Erkrankungen in benachbarten Ortschaften;
in Mulden gelegene Orte werden häufiger und stärker ergriffen als
die auf der Höhe Hegenden, wie schon aus den ersten Beobachtungen
Pettenkofers hervorgieng; die nahe an einem Steilrand in einer Mulde
befindlichen Orte sind schlimmer daran als die davon entfernteren;
die Mulde an und für sich ist nicht das Schädliche, sondern die
zumeist schlechte Entwässerung in ihr. Die sogenannte Grube in der
Vorstadt Haidhausen in München war 1836 und 1854 einer der
schlimmsten Choleraherde, sie blieb aber 1873/74 nahezu verschont,
nachdem vorher die Versitz- und Schüttgruben entfernt und wasser-
dichte Gruben sowie Drainagen und Kanäle nach der Isar eingerichtet
worden waren. Auch nicht die hohe und tiefe Lage an und für sich
bedingt die Unterschiede; höher gelegene Orte haben allerdings im
Allgemeinen weniger zu leiden und wir sehen, dass die Krankheit
gegen das Gebirge zu gewöhnlich weniger auftritt, so daas der eng-
lische Statistiker Farr sogar eine Formel für die Cholerasterblichkeit
von 1848/49 in London aufstellte, in welcher Weise die Krankheit
mit der höheren Lage der Stadttheile sich ändert; aber die Formel
stimmte für die späteren Epidemien Londons immer weniger. Denn
nicht die Elevation eines Ortes über dem Meeres- oder Flussspiegel
ist maassgebend, sondern die Aenderung der Bodenbeschaffenheit, der
Regenmenge etc. etc. mit der Erhebung. In der Civilstadt Gibraltar
waren wegen der ungesunden Bodenverhältniaae die höchst gelegenen
Theile am heftigsten ergriflfen; umgekehrt lassen sich Beispiele bei-
bringen für die Immunität in relativ tiefen Lagen wie das des tiefst
gelegenen, schmutzigen und feuchten Manderaggio in Malta, der ganz
frei von Cholera blieb.
Man kann ferner beobachten, dass verschiedene Theile ein und
90
desselben Ortes bei ungleicher Bodenbeschaflfenheit eine ungleiche
Empfänglichkeit darbieten. Gewisse Theile der Stadt Traunstein,
welche auf Felsen erbaut sind, waren frei von Cholera; in Nürnberg
beschränkte sich, wie schon angegeben, die Seuche auf die Lorenzer-
Seite, während die davon nur durch die Pegnitz getrennte, auf Fels
gegründete Sebalder-Seite nur wenig ergriffen war. Ein wichtiges
Beispiel für den Einfluss des Bodens sind die merkwürdigen Erfah-
rungen, welche von den Engländern bei der Belagerung von Seba-
stopol gemacht worden sind; in gewissen tief gelegenen Baracken
bekamen die Regimenter stets die Cholera, sie hörte aber auf,
als die Baracken in höherer Lage auf anderem Erdreich auf-
geschlagen wurden.
Noch auffallender ist die lokale Verbreitung und Begrenzung
der Krankheit sogar in einzelnen Theilen eines Gebäudes bei Haus-
epidemien. Ein schlagendes Beispiel dafür ist die schon citirte, von
Pettenkofer genau studirte Epidemie in der Gefangenanstalt Laufen ;
diese in die Berichte der Cholera-Commission für das deutsche Reich
aufgenommene grosse Arbeit (1873) ist ein unerreichtes Muster für
Untersuchungen der Art; bei dem schrecklichen Ausbruche starben
von 500 Gefangenen mehr als 80 und doch trat die Krankheit nicht
gleichmässig in der Anstalt auf, sondern an der östlichen Seite viel
heftiger als an der westlichen. Aehnliches berichtete Delbrück von
der Irrenanstalt in Halle, woselbst trotz gleich leichter Einschleppung
nur die Männerabtheilung befallen ward und die Weiber ab theilung
frei blieb. Nach den Beobachtungen von Buxbaum war von den zwei
Abtheilungen einer Kaserne in Freising die eine vom Typhus ver-
schont, während die andere heftig ergriffen wurde ; bei einer folgen-
den Epidemie trat umgekehrt die Krankheit in der ersteren auf und
war die zweite frei. Man könnte daran denken, ob hier nicht die
Abtritte die lokalen Infektionsherde bilden; aber man war nicht im
Stande etwas der Art darzuthun z. B. Port in den sieben Münchener
Kasernen. Es müssen auch in den Häusern bestimmte Stellen vor-
handen sein, an denen der giftige Keim sich findet.
91
Ein Hauptbeweis für den EinSuss einer bestim raten Beschaffeti-
heit dea Bodens und für die lokalietiBche Anschauung sind die
choleraimtniinen Orte, in welchen trotz des lebhaftesten Verkehrs
Cholera und Typhus nie epidemisch werden; diese Orte sind mit der
contagionistischen Ansicht durchaus nicht in Einklang zu bringen.
Mau kennt solche von der Cholera noch nicht oder nur wenig und
selten heimgesuchte Orte seit dem Auftreten der Seuche in grosser
Zahl; in Indien weiss man es z. B. von der Stadt Multan im Peud-
schab und bei uns nennt man Stuttgart, Würzburg, Frankfurt a. M.,
Salzburg, Innsbruck, Freiberg in Sachsen, Theile von Nürnberg und
Traunstein. Das auffallendste Beispiel ist aber Lyon, Diese volkreiche,
zwischen den zwei grossen Infektionsherden Marseille und Paris
gelegene Handelsstadt blieb fast bei allen Choleraepidemien ver-
schont; dies war der Fall bei der ersten Epidemie der Jahre 1831
bis 1836, auch bei der zweiten im Jahre 1849, wo in Paris und
Marseille die Krankheit wüthete, das aufständische Lyon von cholera-
inficirten Regimentern belagert, erobert und besetzt worden war,
ebenso bei den Epidemien von 1865 bis 1866 und von 1834; nur
im Jahre 1854 hatte Lyon nicht nur eingeschleppte oder sporadische
Cholorafälle, sondern in drei Theilen der Stadt eine wirkliche massige
Epidemie. Man hatte alle möglichen Hypothesen bereit, nm diese
absonderliche Widerstandsfähigkeit Lyons zu erklären. Der Cholera-
keim war sicherlich in Lyon ebenso vorhanden wie in Marseille und
Paris, auch die Fähigkeit der Menschen zu erkranken, die indivi-
duelle Disposition; das Trinkwasser ist daselbst nicht reiner wie in
anderen Städten, der Boden nicht weniger beschmutzt, es besitzt
ebenfalls Abtrittgrubeu und unterirdische, den flüssigen Inhalt auf-
nehmende Kanäle; auch die Reinigung der Wäsche in Kähnen am
Ufer der Rhone und Saone und das rasche Fortschwemmen des Keims
kann nicht wohl, wie Robert Koch bei der zweiten Cholera-Conferenz
in Berlin meinte, die Ursache sein so wenig wie die rasche Luft-
bewegung zwischen den zwei grossen Strömen. Nur die Bodenver-
hältnisse sind in einigen Stadttheilen der Art, dass die Unempfäng-
92
lichkeit für die Cholera davon abzuleiten ist, nicht so dass alle
Häuser hoch oder auf compaktem Gestein oder auf Lehnischichten
stehen, denn diese Momente fehlen für die tiefliegenden, im Inun-
dationsgebiet auf Alluvium stehenden Theile von Lyon ; es sind viel-
mehr die besonderen hydrologischen Zustände des Ortes. Der Stand
des Grundwassers und der Feuchtigkeitsgrad des Bodens wird nämlich
hier wesentlich von dem Stand der Rhone bestimmt und von letz-
terem genährt, so dass der Boden für gewöhnlich nicht den für die
Entwicklung des Cholerakeims nöthigen Grad der Trockenheit erhält.
Nur im Jahre 1854 war der Wasserstand der Rhone abnorm niedrig
sowie die Regenmenge gering, wesshalb der Boden den für die Cholera
nöthigen Grad der Trockenheit erreichen konnte. Die Immunität für
Cholera und Typhus lässt sich nur lokalistisch erklären; für wirklich
ansteckende, ektogene Krankheiten wie Blattern oder Masern giebt
es keine immunen Orte. Ebenso wie für Lyon suchte Pettenkofer
die Immunität anderer Städte ebenfalls in besonderen Grund wasser-
verhältnissen derselben, z. B. für Würzburg, während Virchow meinte,
sie rühre davon her, dass in Folge der Trinkwasserleitung die Be-
ziehungen zu dem durchseuchten Boden aufgehoben worden wären. —
Beispiele für die Immunität auf einer Thonschicht liegender Orte
sind die auf dem Lehmboden befindlichen Häuser der Vorstadt Haid-
hausen, während die auf Kies gebauten heftig ergriffen waren ; ebenso
war es in Berg am Laim und in Aubing; ähnliche Beobachtungen
hat Günther in Sachsen gemacht.
Von hohem Interesse ist noch das Verhalten der Schiffe gegen
die Cholera, welches Pettenkofer eingehend verfolgte und als einen
wesentlichen Beweis für seine lokalistische Anschauung und als
Widerlegung der Lehre von der Ansteckung von Person zu Person
betrachtete. Man hatte ihn gefragt, wo denn in den Schiffen, auf
denen doch auch Choleraerkrankungen vorkommen, der Grund und
Boden sei? Die Schiffe verhalten sich nach ihm wie immune Orte
auf dem Lande, denen die Bedingung des Bodens fehlt, denn nie
bricht auf Schiffen, welche Choleraorten fern bleiben, spontan die
93
Seuche aus und wenn Choleraerkrankungen auf Schiffen auftreten,
sind sie von dem inficirten Lande geholt worden; auch verbreitet
sich trotz der Einschleppung vom Lande die Krankheit auf den
Schiffen für gewöhnlich nicht weiter auf Gesunde, sondern sie bleibt
auf die auf dem Lande inficirten Personen beschränkt und sie er-
lischt in 12 — 16 Tagen, sobald die Schiffe auf die hohe See gehen.
Man kann gegen diese Grundthatsachen nicht blind bleiben, wenn
man bedenkt, dass von den 400 Schiffen, welche im Jahre 1873
mit über 152 000 Auswanderern von inficirten Häfen Europas nach
New- York kamen, nur vier einzelne Cholerafälle an Bord hatten, da-
runter zwei nur einen Fall, eines nur drei und eines vier Fälle. Das ge-
schilderte Verhalten ist die Regel; nur in seltenen Fällen als Aus-
nahme kömmt es vor, dass die Krankheit von den am Lande
Inficirten sich auf Gesunde des Schiffes überträgt und eine Schiffs-
epidemie entsteht. Diese Ausnahmen von der Regel haben nun die
Contagionisten als Beweis der Ansteckungsfäkigkeit der Cholera vom
Kranken auf Gesunde ausgegeben; Pettenkofer hat jedoch alle ge-
nauer bekannt gewordenen Fälle der Art sorgfältig untersucht und
anders gedeutet. Er erklärt sich dieselben so, dass hier der am
Lande Inficirte so viel von dem unter dem Einflüsse des Bodens
entstandenen giftigen Infektionsstoff mitbringt, dass es nicht nur zu
seiner Krankmachung, sondern auch noch zu der einer kleinen An-
zahl von Gesunden auf dem Schiffe hinreicht, oder auch so, dass auf
dem schmutzigen Schiffe sich manchmal der fruchtbare Boden für
die Vermehrung oder Virulenz des Keims findet und daraus dann
eine Epidemie entsteht. —
An den Orten mit örtlicher Disposition für die Cholera tritt
die Krankheit nicht immer und nicht gleich heftig auf, sondern sie
ist an gewisse Zeiten gebunden; es giebt auch eine zeitliche Dis-
position, welche von dem wechselnden Stande des Grundwassers ab-
hängig ist.
Die wichtigsten Beweise für die zeitliche Disposition bot ihm
das Studium der Cholera in Indien. Es zeigen sich daselbst ge-
94
waltige zeitliche Unterschiede in der Intensität der Krankheit, welche
offenbar mit den nach der Jahreszeit verschiedenen Regenmengen
und dem Feuchtigkeitsgrade des Bodens zusammenhängen. Die
Regenmengen wirken an den einzelnen Orten ungleich je nach
ihrer Intensität und der dadurch bedingten Befeuchtung des Bodens.
Im endemischen Gebiete, wo die Cholera nie erlischt, in Calkutta
und in Bombay, ist bei gleich bleibenden örtlichen Verhältnissen
die Zahl der Choleratodesfalle in den trockenen Monaten drei Mal
grösser als in den nassen Monaten; es findet sich darnach ein
merkwürdiger Parallelismus zwischen der Regenmenge und der
Cholerafrequenz, indem die höchste Regenmenge im August stets mit
der geringsten Cholerafrequenz zusammenfällt und mit dem Auf-
hören der Regen die Zahl der Erkrankungen zunimmt; die massen-
haften Niederschläge machen den Boden zu feucht für die Entwick-
lung der Cholera und erst bei allmählicher Austrocknung in der
trockenen und heissen Jahreszeit wird er dazu geeignet. Ganz
anders ist es im nicht endemischen Gebiet, wo die Krankheit nur
zeitweise auftritt, in Labore im Pendschab; da bringt in der Regel
der Regen die Cholera und sie verschwindet nach dem Aufhören
der Regenzeit, so dass in den August zugleich das Regen- und das
Choleramaximum fällt. Aber in Labore ist die Regenmenge über
drei Mal geringer wie in Calkutta, so dass der Boden in der
trockenen Jahreszeit für eine Epidemie zu trocken wird und der
nöthige Feuchtigkeitsgrad vorübergehend erst während der Regen-
zeit, in Calkutta umgekehrt erst nach derselben, erreicht wird. In
Madras findet sich jährlich ein doppelter Rhythmus, eine Frühlings-
und eine Sommercholera in Folge einer eigenthümlichen Vertheilung
und Menge des Regens.
Auch in Europa zeigt sich wie in Indien die Cholra von einem
an gewisse Zeiten gebundenen Moment abhängig. In Preussen hat
im Mittel von 12 Jahren (1848 — 1859) der April die wenigsten
Todesfälle an Cholera, die Zahl derselben steigt um das 620 fache
bis zur ersten Hälfte des September und nimmt von da an wieder
95
allmählich ab bis zur zweiten Hälfte des März. Daa Gleiche wie
in ganz Preussen findet sich im Regierungsbezirk Oppeln sowie in
Sachsen und in Bayern.
Nicht nur in ganzen Ländern tritt eine solche zeitliche Be-
grenzung hervor, sondern auch in einzelnen Städten. In Genua zum
Beispiel beschränken sich alle Epidemien auf fünf Monate (Juli bis
September) trotz fortwährender Einschleppung des Keims, ebenfalls
veranlasst durch die besonderen Regenverhältnisse. In München
fÄUt in den September, wo der Boden am trockensten ist, das
Choleramaximum; die Cholerajahre 1836, 1854 und 1873 waren
besonders trockene Jahre mit geringen Regenmengen. Ganz merk-
würdig und lehrreich verhielt sich die Epidemie von 1878 — 1874,
da sie in zwei zeitlich getrennte Epidemien zerföllt; die Sommer-
epidemie von 1873 nahm in der Mitte August schon ab, ward im
September klein und im Oktober und Anfang November ereigneten
sich nur mehr vereinzelte Fälle, so dasa die Seuche offiziell für
erloschen erklärt wurde; aber in der Mitte November begann sie
von Neuem und die Winterepidemie von 1874 wurde grösser
als die vorausgehende Sommerepidemie. Hier tbat Pettenkofer in
überraschender Weise dar, dass das zeitliche Moment dafür, wie in
Indien und anderweit, die Regenmenge in ihrer Wirkung auf die
Durchfeuchtung des Bodeus ist; im Jahre 1873 zeigte nämlich das
Grundwasser einen ganz abnormen Gang; während für gewöhnlich
dsis Grundwasser in München den höchsten Stand im Juni erreicht,
von wo an es bis zum Januar oder Februar auf seinen tiefsten
Punkt herabsinkt, trat 1873, nachdem es wie gewöhnlich bis Ende
Juni gestiegen und bis Ende Juli abgesunken war, in Folge von
abnorm grossen Niederschlägen bis Mitte August ein ganz unge-
wöhnliches Ansteigen ein, wodurch die Cholera fast ganz ausgelöscht
wurde, um dann durch die nachfolgende andauernde Trockenheit
zum zweiten Male erweckt zu werden. Es sind dies ganz ähnliche
"Wirkungen, wie man sie bei der Entwicklung der Pilze im Walde
beobachtet, die auch nur bei einem ganz bestimmten Feuchtigkeits-
96
grad des Bodens hervorspriessen ; oder wie das Faulen von Holz-
pfählen zunächst nur an der Grenze der Luft und des Wassers
stattfindet.
Aus den Thatsachen der örtlichen und zeitlichen Disposition
gieng für Pettenkofer hervor, dass nicht der Kranke uns die Krank-
heit bringt, sondern die Choleralokalität unter bestimmten zeitlichen
Bedingungen ; die Contagionisten haben umsonst versucht, die örtliche
und zeitliche Disposition zu erklären. —
Nach allen diesen Erfahrungen, die er in einem aus Abhand-
lungen des Archivs für Hygiene aus den Jahren 1885 — 1887
zusammengestellten Buche „zum gegenwärtigen Stande der Cholera-
frage" zusammenfasste, konnte sich Pettenkofer bestimmtere Vor-
stellungen darüber machen, wie denn die Cholera entsteht, d. h. sich
eine Choleratheorie bilden.
Wie die Contagionisten nimmt er von Anfang an einen Mikro-
organismus, einen specifischen Keim an, der unter den besonderen
Verhältnissen in dem endemischen Gebiete Indiens, der Heimath
der asiatischen Cholera, beständig entsteht und von diesen Orten
durch den Verkehr über die ganze Erde weiter verbreitet wird.
Schon in dem Jahre 1869 hat er in seiner Arbeit „über Boden
und Grundwasser" sich dahin geäussert, dass die Erreger für Cholera
und Typhus specifische Organismen sein müssen, zu einer Zeit wo die
Arbeiten von Pasteur, Nägeli und Koch über pathogene Spaltpilze
noch nicht erschienen waren und die meisten Aerzte anderer Ansicht
waren, so dass er sogar desshalb von mancher Seite verspottet
wurde. Allerdings giebt es eine Theorie, nach welcher die Cholera
nicht nur in dem endemischen Gebiet in Indien entstehen soll,
sondern zeitweise überall, wo sie vorkommt, also auch bei uns, und
zwar durch imbekannte atmosphärische Ursachen; es ist dies die
autochtonistische Theorie, welche namentlich von dem erfahrenen
James Cuningham in Calkutta ausgedacht worden ist und viel Be-
achtung gefunden hat, aber seit dem Nachweis von dem Einfluss
des Verkehrs und der Entdeckung der Mikroorganismen als Träger
und Erreger der Infektion nicht mehr haltbar ist. Der über die
Länder ausgesäete Keim stirbt nach einiger Zeit ab und wird dann
von Neuem wieder aus Indien eingeschleppt. Die ContagioniBten
lassen diesen Keim ausschliesslich im Darmkanal des Cholerakranken
erzeugt werden und glauben, wie gesagt, der kranke Mensch über-
nehme ausserhalb des endemischen Gebietes von Niederbengalen
die Verbreitung, er stecke den Gesunden an, indem der vorzüg-
lich durch das Trinkwasser in ihn gelangte Keim sich im Darm-
kanal ins Ungemesaene vermehrt und in den Diarrhöen wieder aus-
geachieden wird. In solcher Weise wäre der ganze Vorgang ja
ausserordentlich einfach, aber ea stehen dieser contagionistischen
Auffassung alle die achon früher iiufgeführten Thatsachen entgegen.
Der Keim, welchen Pettenkofer das damals noch unbekannte x
nennt, ist nach ihm als solcher gar nicht ansteckend, wesshalb für
gewöhnlich der Kranke oder seine Entleerungen und was von ihm
kommt, die Gesunden nicht krank zu machen vermögen. Dieser
Keim wird zwar durch den Verkehr verbreitet, aber nicht nur durch
den Kranken, sondern auch durch von Choleraorten kommende
Gesunde und andere Gegenstände, an denen er haftet. Pettenkofer
giebt nach seinen Erfahrungen in keinem Falle, wie schon erwähnt,
die direkte entogene üebertragung dieses Keims vom Kranken auf
Gesunde zu. Der specifische Keim x ist der jetzt durch Robert
Kochs glänzende Entdeckung bekannte Kommabazillus, der also nach
Pettenkofora Vorstellung als solcher nicht der wirkliche Erreger
der Cholera ist, weil er noch nicht infektionstüchtig oder virulent
ist und es erst durch gewisse weitere Einwirkungen wird. Der un-
schuldige Keim x kann in einem unreifen, nicht giftigen Zustand
längere Zeit vorher z, B. von Gesunden an einem Orte eingeschleppt
sein, ohne dass er eine schädliche Wirkung entfaltet, denn die Zeit
des Ausbruchs einer Epidemie ist nicht die Zeit der Einschleppung
des Keims; deashalb ist es so fehlerhaft und giebt ea zu so grossen
irrthümem Veranlassung, den ersten vor Ausbruch einer Epidemie
in einen Ort gekommenen Cholerakranketi als den Giftbringer an-
98
zusehen. Man ist dadurch zu der irrigen Vorstellung verleitet
worden, dass ein von einem Kranken mitgebrachter Keim sich in
wenigen Tagen an einem Orte gewaltig vermehren und eine Epi-
demie hervorbringen könne. Es wird sich wohl kaum je feststellen
lassen, wann und wodurch die erste Einschleppung des Keims statt-
gefunden hat.
Ausser dem Keim x gehört aber nach der lokalistischen An-
schauung zum Entstehen einer Choleraepidemie noch etwas Weiteres,
ein y, was nach den von Pettenkofer beigebrachten Thatsachen vom
Boden abstammt, mit dem der Keim x in Beziehung gelangen muss;
es sind dies die schon betrachteten örtlichen und zeitlichen Hilfs-
ursachen, welche gleich wesentlich wie der Keim x sind und durch
einen bestimmten Grad der Durchfeuchtung eines porösen, mit
faulenden Stoffen durchsetzten Bodens gegeben ist; das y ist also
nicht überall und nicht immer zugegen. Wie will man sich nun
die Wirkung eines solchen Bodens, des y, denken? Pettenkofer
stellte sich zuletzt vor, dass durch die genannten Bodenverhältnisse
stellen- und zeitenweise ein chemisch und physikalisch geeigneter
Nährboden für den durch den Verkehr verbreiteten unschädlichen
Keim x geschaffen wird oder vielleicht ein organisirter Wirth ent-
steht, auf oder in welchem sich die inficirende Form des Keims
entwickelt, welche dann erst den Menschen krank macht, y hat
demnach Pettenkofer die Summe örtlicher und zeitlicher theils be-
kannter theils unbekannter Bedingungen im Boden genannt, welche
dazu noth wendig sind, den durch den Verkehr verbreiteten Keim x
ausserhalb des Organismus im Boden so zu vermehren oder ihm
auch die Giftigkeit zu ertheilen, um infectionsfähig zu werden; es
wäre also eine Art Reifungsvorgang im Boden oder wie man jetzt
sagen würde, eine Erzeugung von Dauerformen des Keims oder die
Erweckung und Steigerung von toxischen Eigenschaften. Durch
diese Einwirkung von y auf x ents^teht nach der monoblastischen
Theorie Pettenkofers erst der giftige Keim z. Man könnte sich die
Sache allerdings noch anders vorstellen; das verstorbene Mitglied
99
unserer Akademie, der geistreiche Botaniker Nägeli, denkt sich
nämlich, daas zur Erzeugung des giftigen Infektionsstoffes zwei
organisirte Keime oder Pilze nöthig sind: der eine transportable
kommt vom Kranken auf den Gesunden (Contagium); er wirkt aber
eret, wenn der Mensch durch einen andern nicht transportabeln
Pilz, der aus einem siechbaren Boden herrührt, individuell disponirt
worden ist (Miasma); diese diblastische Theorie Nägelis ist Petten-
kofer ganz sympathisch, weil auch bei ihr, wie bei seiner mono-
blastischen, etwas von der Lokalität Ausgehendes als nothwendig
angenommen wird; aber es ist ihm seine Theorie für gewisse Fälle
wahrscheinlicher z. B. für die Cholera auf Schiffen.
Diese Wirkung des y des Bodens auf das x ist zum Zustande-
kommen einer Epidemie unerlässlicb. Es kommen zwar seltene Fälle
vor, wo ohne vorherige Einwirkung des Bodens direkte Ansteckungen
von einem Cholerakranken oder von seinen Entleerungen oder seiner
verunreinigten Wäsche durch den Keim j; stattzufinden scheinen.
Diese seltenen Fälle, für welche Pettenkofer selbst Beispiele bei-
gebracht hat und bei denen es zumeist bei einzelnen Erkrankungen
bleibt und bei Fehlen der lokalen Disposition keine Epidemien sich
entwickeln, hält er für nicht gehörig analysirt und ebenfalls für
ektogen entstanden. Nach seiner Meinung steckt auch hier nicht der
Keim x an, sondern das giftige im Boden entstandene z, welches für
gewöhnlich in so geringer Menge aufgenommen wird, dass ea eben
zur Ansteckung einer einzigen Person zureicht, jedoch in gewissen
Fällen in grösserer Quantität in irgend einer Verpackung verschleppt
wird, so dass mehrere Personen davon erkranken können; oder es
hat das X etwas gefunden, was ausnahmsweise die Rolle des Bodens
übernimmt, in was es sich zu einer für einige Infektionen genügen-
den Menge von giftigem 3 entwickelt z. B. in unreiner Wäsche oder
Lumpen, Papier und Packeten oder weiteren dazu geeigneten Orten
auf Schiöen, Zwischendecken sowie anderen Stellen der Wohnungen.
Alle diese Raritäten hat Pettenkofer verfolgt und soweit es möglich
war, in seinem Sinne zu erklären gesucht. Es ist ja richtig, die
100
lokalistische Theorie ist nicht so einfach wie die contagionistische und
muss mit mehreren theilweise noch unbekannten Grössen rechnen,
wesshalb für den nicht tiefer in die Sache Eindringenden die letztere
Lehre st^ts plausibler erscheinen wird. —
Endlich bedarf es noch einer Disposition der Individuen zu
erkranken, einer Bedingung, deren Ursachen noch recht dunkel sind.
Man kann nur sagen, dass die verschiedenen Personen der krank
machenden Ursache einen grösseren oder geringeren Widerstand ent-
gegensetzen, und Alles was die normalen physiologischen Zustände
stört oder die Gesundheit schwächt, zur Cholera disponirt Petten-
kofer hat sich bemuht, auch hierüber Klarheit zu bringen, aber es
nicht viel weiter gebracht als zur Aufzählung einiger möglichen Ein-
flüsse: höheres Lebensalter, Armuth, Schwächlichkeit, abnormer Wasser-
gehalt des Körpers, dann schlechte Luft, unreines Wasser, mangel-
hafte Ernährung, Diätfehler, schlechte Nahrung, unzweckmässige
Bekleidung, Unreinlichkeit, körperliche und geistige Ueberanstrengung,
Ausschweifungen und Exzesse jeder Art, psychische Affekte, depri-
mirende Gemüthsstimmung, Furcht, alles was Diarrhöen hervorruft
etc. etc. Es wird noch recht vieler Arbeit bedürfen, um dieses Gebiet
aufzuhellen. Nach Hueppe und Flügge soll die Krankheitsanlage, die
Disposition, durch die örtlichen Verhältnisse so beeinflusst werden,
dass der Krankheitserreger wirksam werden kann; sie nehmen also
nicht einen Reifungsvorgang des letzteren an, aber ebenfalls einen
Einfluss der Oertlichkeit. —
Bei der Untersuchung der Verbreitungsart der Cholera und des
Typhus tritt noch die wichtige, viel besprochene Frage auf, wie der
giftige Infektionsstoff, der Bazillus der Contagionisten oder das z der
Lokalisten in den Körper des Menschen gelangt; es könnte dies
durch die Nahrung geschehen oder durch das Trinkwasser oder
durch die Luft. Durch die Nahrung wird die Aufnahme in der Regel
nicht stattfinden, die gewöhnlichen Erfahrungen lassen sich damit
nicht in Einklang bringen. Aber der Weg durch das Trinkwasser,
welches Alle geniessen, schien das plötzliche Aufflammen und die
102
sehr heftig. Als aber die Lambeth-Gesellschaft im Jahre 1853 — 1854
weiter aufwärts der Themse, wo noch keine Siele einmündeten, ihr
Wasser entnahm, trat in ihrem Bezirke die Cholera in viel geringerem
Grade auf, so dass in ihm über dreimal weniger Todes&Ue vorkamen
als im Yauxhall-Bezirk. Die Thatsache ist ja gewiss vollkommen
richtig, aber Pettenkofer machte später gegen die Erklärung, nach
der das getrunkene Wasser der Uebelthäter sein soll, geltend, dass
das unreine Yauxhall -Wasser ja auch als Nutzwasser den Untergrund
der Häuser verunreinigt haben könne, woraus sich dann das ört-
liche Moment entwickelte, während der Boden des Lambeth-Bezirkes
sich reinigte.
Pettenkofer wurde durch den Verlauf der Cholera in München
im Jahre 1854, wo, wie schon angegeben, die Verhältnisse zur Ent-
scheidung der Frage besonders günstig lagen, dazu geführt, bestimmtest
auszusprechen, dass dabei das Trinkwasser auch nicht einmal eine
untergeordnete Rolle gespielt haben könne und in ihm kein ursäch-
liches Moment für die epidemische Cholera zu suchen sei; auch später
gelang es ihm nicht trotz eifrigen und vorurtheilsfreien Suchens für
München und andere Orte einen Einfluss des Trinkwassers auf die
Cholera oder den Typhus zu entdecken, obwohl gerade in München
für den Typhus Alles eine solche Wirkung annahm und namentlich
die Fremden vor dem Genuss des Wassers gewarnt wurden.
Es erhob sich darüber ein langwieriger, hartnäckig geführter
Streit, bei dem Pettenkofer wohl die meisten Gegner gefunden hat.
Aber er vertheidigte seine Ansichten bis zuletzt, indem er immer
wieder treffende Thatsachen dafür beizubringen und die Gegenreden
zu widerlegen suchte, gewiss nicht aus Rechthaberei, sondern aus
innerster Ueberzeugung und in dem Drang die Wahrheit heraus-
zubringen.
Solche Fälle, wo trotz heftiger Choleraausbrüche das Trinkwasser
nicht betheiliget sein konnte, mehrten sich, und viele Fälle, welche
einen solchen Einfluss beweisen sollten, wurden von ihm als falsche
Beobachtungen und Behauptungen oder als unrichtige Deutungen
103
erkannt. So oft er ein angebliches Beweisstück näher untersuchte,
zerfiel es für ihn in unbrauchbare Stücke.
In dem vorher angegebenen von Buxbaum beschriebenen Falle
in der Kaserne zu Freising tranken die Soldaten der beiden Abthei-
lungen das nämliche Wasser und doch wurde bei zwei Epidemien
nur die eine Abtheilung vom Typhus ergriffen. Der fürchterliche
Cboleraausbruch in der Gefangenanstalt zu Laufen hat nicht« mit
dem Essen oder dem Trinkwasser zu thun, denn bei dem gleichen
Essen und Trinkwasser vertheilte sich die Krankheit unter den Ge-
fangenen äusserst ungleich und die Wachmannschaft blieb ganz frei.
Ebenso wurde in dem Strafarbeitshaus zu Rebdorf sowie in den
Kasernen zu München die Annahme einer ßetlieiligung des Trink-
wassers durch die sorgfältigsten Erhebungen als unmöglich erwiesen.
Auch aus anderen Orten kamen die gleichen Meldungen: nach den
Berichten des Ingenieurs Settimio Monti kann man Genua, das nach
dem Verlauf der Cholera vom Jahr 1884 als ein Bollwerk für die
Trink Wasser theo rie galt, nicht mehr als Beweis dafür angeben, ebenso
nicht Neapel nach Spatuzzis Beobachtungen; auch auf Malta ist die
Trink Wasserhypothese keiner Anwendung fähig. Und von Indien sagt
James Cuniaghani in seinem Berichte von 1Ö72, dass von da kein
Fall je beigebracht worden sei, in welchem guter Grund liegt zu
glauben, dass mit Choleraausleerungen verunreinigtes Wasser wirklich
Cholera hervorgerufen habe; die Trinkwassertheorie werde durch die
ganze Geschichte der Cholera in Indien verneint.
Es ist von grossem Interesse für die zukünftige Forschung einige
Beispiele kennen zu lernen, welche die Gegner als Beweise für ihre
Annahme vom Einfluss des Trinkwassers vorgebracht haben.
In der Stadt Roveredo sollte nach Einführung einer neuen Trink-
wasserleitung (1845) aus der Spino-Quelle der Typhus verschwunden
sein; aber Dr. Ruggero Cobelli, an welchen Pettenkofer sich wendete,
schrieb, dass nach der Einführung noch der Typhus epidemisch vorkam
und überhaupt durch das neue Trinkwasser keine wahrnehmbare
Aenderung in der Sterblichkeit an Typhus eingetreten sei.
104
In der sächsischen Stadt Elsterberg wurden Cholera- und Typhus-
erkrankungen nur an einem kleinen Theile, an einer bestimmten Ecke
beobachtet, wo ein gegrabener Brunnen mit unreinem Wasser sich
befand, während die übrige Stadt mit zugeleitetem gutem Wasser
versorgt wurde. Da musste nun das Wasser dieses Brunnens den Schaden
angerichtet haben, obwohl, wie Günther darthat. Niemand Wasser aus
demselben trank, weil es ungeniessbar war.
Als in München (1865) der Typhus abnahm, da hiess es alsbald,
dies günstige Resultat käme von der Einführung der neuen Petten-
kofer- Wasserleitung aus Thalkirchen her, und doch versorgte die-
selbe nur einen kleinen Theil der Stadt und bestanden die übrigen
Leitungen noch fort, ja es fiel unmittelbar nach Einführung der
neuen Leitung die grösste Typhus -Epidemie im Zeitraum von
30 Jahren.
Das Fort William bei Calkutta war sehr ungesund und erlebte
heftige Gholeraepidemien ; da entschloss man sich (1885) zu den in
England gebräuchlichen sanitären Maassregeln: es wurde die Drainage
der Festung eingeführt, die Abtritteinrichtungen verbessert, reines
Trinkwasser zugeleitet etc. etc., und siehe da, die Cholera trat nicht
mehr auf. Die Anhänger der Trinkwassertheorie versäumten nicht,
den Erfolg einseitig vom Trinkwasser abzuleiten, ohne zu bedenken,
dass ja noch andere Verbesserungen getroffen wurden und die Cholera
schon abzunehmen begann vor der Aenderung des etwas später ein-
geführten Trinkwassers.
Der berühmteste Fall ist wohl der in Golden-Square, einem
Stadttheil in London, mit dem Brunnen in Broad-Street, der die Wiege
der bekannten Trinkwasserhypothese von Snow ward. Während der
heftigen Choleraepidemie in Golden-Square (1854) starben zu Hamp-
stead im Westende von London zwei Damen, welche von der Broad-
Street-Purape getrunken hatten, deren beliebtes Wasser der Sohn der
einen Dame gebracht hatte, an der Cholera; also musste das Wasser
den Tod herbeigeführt haben. Man erfuhr jedoch, dass der bei seiner
Mutter wohnende Sohn den Tag über in seiner Fabrik zubrachte.
105
die heftig von der Cholera heimgesucht war, und daher doch viel
leichter von daher die Krankheit verschleppt haben konnte.
Endlich wäre noch die von Netten Radcliff beschriebene Cholera-
epidemie vom Jahre 1866 in Ostlondon zu erwähnen, wo man eben-
falls das Trinkwasser beschuldigte. Pettenkofer hat in einer Kritik
dargelegt, dass diese Annahme nicht gerechtfertiget ist und der Fall
ebenfalls aus örtlichen Ursachen erklärt werden müsse; namentlich
that dann der Medical Officer der City Dr. Letheby (1868) auf das
Klarste dar, dass die Angaben von Radcliff vollständig unbe-
rechtigt waren.
Es ist richtig, dass in England in den letzten Jahrzehnten der
Typhus ganz erheblich abgenommen hat; aber dies braucht nicht
ausschliesslich durch die Einführung eines reinen Trinkwassers erfolgt
zu sein, wie man in England ohne Weiteres annimmt, denn neben
der reichlichen Versorgung mit reinem Wasser wurden, wie im Fort
William, noch andere grossartige Sanitätswerke durchgeführt, wodurch
nicht nur das Wasser, sondern auch der Boden und die Luft rein
gemacht wurden. Niemand vermag anzugeben, wieviel von dem Erfolg
auf die grössere Reinheit des Trinkwassers zu setzen ist.
Alle seine Beobachtungen führten Pettenkofer dazu, sich an
andere Abkömmlinge des Bodens zu wenden als an das Trinkwasser.
Er sagte sich: ist in einem einzigen Falle das Trinkwasser ohne Ein-
fluss, dann wird sein Einfluss auch in den übrigen Fällen zweifelhaft;
er hielt daher die vereinzelten Epidemien, welche auf den ersten
Blick für die Trinkwassertheorie sprechen, für zufällige Coinci-
denzen, bei denen man bei sorgfältigerer Prüfung einen anderen
Grund gefunden hätte.
Wenn sich für gewöhnlich bei genauer Beobachtung kein Ein-
fluss des Trinkwassers nachweisen lässt und es Fälle giebt, wo trotz
des besten Trinkwassers die heftigsten Cholera- und Typhus-Aus-
brüche stattgefunden haben wie z. B. in Basel, so erkennen die Gegner
nach Pettenkofer die Regel nicht, sie bringen die seltenen schein-
baren Ausnahmen als positive Fälle, welche allein beweisen sollen,
14
106
und nennen negativ die gewöhnlichen Fälle, wo man keinen Einfluss
wahrnimmt, welche aber nichts beweisen sollen.
Pettenkofer hält schlechtes Trinkwasser auch für schädlich und
er nennt sich sogar einen Trinkwasserfanatiker, der die Versorgung
mit reinem Wasser noch in viel höherem Grade verlangt als die
Trinkwassertheoretiker; nur konnte er sich nicht entschliessen zuzu-
geben, dass nach Einführung reinsten Trinkwassers die Cholera und
der Typhus aufhören werden, da er fürchtete alsbald durch die That-
sachen widerlegt zu werden. Er erklärte sich die Wirkung unreinen
Wassers in anderer Weise; das unreine Wasser wird ja nicht blos
getrunken, sondern es dient auch zu vielen Verrichtungen im Hause,
zum Kochen, zum Waschen, zum Reinigen der Fussböden etc. etc.;
das Trinken unreinen Wassers ist nicht nachweislich schädlich, wie
das Trinken des Cysternenwassers, des Schwarzwassers in der Umgegend
von Eichstätt, beweist. Das unreine Wasser kann gesundheitsschäd-
liche Wirkungen haben dadurch, dass es als Nutzwasser Nährstoffe
für pathogene Mikroorganismen führt, welche Nährstoffe sich durch
Verdunsten des Wassers im Haus und auf dem Erdboden allmählich
concentriren und so Brutstätten für die schon im Boden vorhandenen
pathogenen Keime bilden, oder auch dadurch, dass das Wasser die
Rolle des menschlichen Verkehrs übernimmt und pathogene Keime
mit sich führt, die sich auf einem günstigen Nährboden in oder am
Hause vermehren und dann aus dem Boden auf den Menschen über-
gehen und ihn inficiren.
Die reichliche Versorgung der Strassen sowie die Häuser in allen
Stockwerken mit reinem Wasser besorgt die Fortschaffung alles
schwemmbaren Unrathes und stört die Fäulnissprozesse. Die Trink-
wassertheorie ist grösseren Sanitätswerken wenig günstig, man braucht
für nichts weiter zu sorgen als für dieses unfehlbare Universalmittel,
während die lokalistische Theorie die Versorgung mit grossen Mengen
reinsten Wassers zur allgemeinen Reinlichkeit verlangt.
Pettenkofer betrachtete die Trinkwasserfrage, namentlich für
den Typhus, durchaus nicht für erlediget, nur befürchtete er, dass.
107
wenn man sie schon für abgemacht hält, wie es vielfach geschieht,
jede weitere Forschung aufhört; er wünschte, dass bei der Beweis-
führung mehr Strenge und Genauigkeit angewendet werde, und er
wollte durch seine Darlegungen eine Anleitung geben, wie man da-
bei verfahren müsse, sowie auf die Fehler aufmerksam machen, die
begangen worden sind.
Bricht irgendwo eine Epidemie aus, so ist häufig gleich, ohne
eine genauere Prüfung und epidemiologische Kritik nach dem Vor-
bilde Pettenkofers und ohne den Zusammenhang mit anderen
gleichwerthigen lokalen Einflüssen zu beachten, das unreine Trink-
wasser die Ursache. Der Trinkwasserglauben ist so bequem und
man hat nicht nöthig, umständliche Untersuchungen zu machen, da
man Unreinlichkeit überall finden wird. Man braucht nur anzu-
nehmen, dass etwas von einer Choleradiarrhöe in einem Fluss und
von da in die Wasserleitung gelangt ist, von der aus durch den
Genuss des Wassers Tausende von Menschen inficirt worden sind;
aber man bedenkt gewöhnlich nicht, um welch' geringe Spuren von
Substanz es sich bei der enormen Verdünnung handelt, sowie dass
es noch nicht mit Sicherheit gelungen ist, in solchen Trinkwassern
den schädlichen Bazillus nachzuweisen, ja dass in demselben die
pathogenen Mikroorganismen in kurzer Zeit zu Grunde gehen. Mir
will scheinen, als ob man z. B. bei der Choleraepidemie in Hamburg
1892, die man als sicheren Beweis für die Trinkwassertheorie an-
gesehen hat, doch nicht genügend die durch den für Fäulnissprozesse
günstigen Stand des Grundwassers gesetzten Bodenverhältnisse be-
achtet habe.
Es handelt sich hier um äusserst verwickelte Vorgänge, deren
Aufhellung schwierig ist und eine besondere Beobachtungsgabe und
Uebung voraussetzt, um das Wesentliche von dem Unwesentlichen
zu trennen oder aus dem Zufälligen das Gesetzmässige auszulesen.
Nicht Jeder ist von vorn herein dafür befähiget, Pettenkofer war
es in seltenem Maasse; es ist nur zu befürchten, dass in Zukunft
sein Scharfblick vielfach fehlen wird und ungenügende Beobachtungen
14*
108
als die Wahrheit ausgegeben werden. Sehr beherzigenswerthe Worte
spricht James Cuningham aus, wenn er sagt : „ es ist fast unglaublich,
dass in einer wissenschaftlichen Frage von so grosser Bedeutung
blosse Behauptungen ohne alle thatsächliche Unterlage, blosse Be-
hauptungen — so wie sie von keinem Gerichtshofe, selbst in der
unbedeutendsten Sache, die vor ihn käme, hingenommen würden —
nicht allein vorgebracht, sondern als entscheidend angesehen worden
sind". Trotz alledem ist Pettenkofer mit seiner Auffassung über
das Trinkwasser nicht durchgedrungen und er hatte hierin zuletzt
nur mehr wenige Anhänger; er wäre jedoch, dies weiss ich gewiss,
der Erste gewesen, einen Einfluss der Art zuzugeben, wenn be-
stimmte Fälle, in seiner Weise untersucht, sicher gegen ihn ent-
schieden hätten: so blieb er dabei, man könnte die Thatsachen der
örtlichen und zeitlichen Disposition nicht mit dem Trinkwasser ver-
binden. Darum nahm er an, dass der pathogene Keim z sich vom
Boden aus im Wesentlichen durch die Luft verbreitet; auch diese
üebertragung wird jetzt von Vielen für unmöglich gehalten. —
Schliesslich ist noch der von Pettenkofer empfohlenen Maass-
regeln zur Verhütung und Bekämpfung der Epidemien zu gedenken.
Dieselben entwickelten sich folgerichtig aus seinen jeweiligen An-
schauungen über die Ursachen und die Verbreitung der Seuchen
und änderten sich demgemäss.
Gewöhnlich meint man, das Handeln in der praktischen Medizin
wäre der Erfahrung entsprungen; dieses Thun gründet sich jedoch
zu einem grossen Theil auf theoretische Anschauungen, die sich im
Laufe der Zeit als unrichtig erweisen können, womit dann auch
die darauf aufgebaute Praxis fallen muss; wie oft hat die Medizin
solche Wandlungen erlebt und das vorher als das Beste gepriesene
verdammt. So ruht auch die Praxis zur Verhütung der Epidemien
auf den herrschenden Theorien. Noch zuletzt vermochte Pettenkofer
nichts Besseres hierüber zu sagen, als das, was er schon im Jahre
1873 in seiner ausgezeichneten Schrift: „was man gegen die
Cholera thun kann" zusammengefasst hat; dieselbe war im Auftrage
109
und Einverständniss des Gesundheitsrathes der Stadt München als
populäre Ansprache zur Belehrung und Beruhigung des Publikums
verfasst worden.
Die ersten Maassnahmen gegen die Seuchen waren unter dem
Eindrucke der contagionistischen Theorie getroffen worden; was
hätte man da Besseres thun können, als die von Osten her kommende
Krankheit abzusperren und in ihrem Vordringen aufzuhalten durch
Cordone und Quarantänen? Schon im Jahre 1854 hielt jedoch
Pettenkofer die Cordone und Quarantänen, die 40 Tage der Con-
tumaz in Hafenplätzen, für nutzlos, obwohl die Krankheit durch den
menschlichen Verkehr verbreitet wird, entsprechend seiner An-
sicht, dass der Kranke nicht direkt ansteckt. Die Maassregeln zur
Verhinderung der Einschleppung in Länder und Orte können keinen
Erfolg haben, denn sie kommen gewöhnlich zu spät, weil der Keim
nicht nur von Kranken, sondern auch von Gesunden aus der Lo-
kalität verschleppt wird und Monate und Jahre latent bleiben kann.
Auch durch die penibelste Absperrung ist man nicht im Stande,
das Eindringen der Keime zu verhindern oder eine Sperre pilzdicht
zu machen, die Absperrenden können die Uebertragung ja ebenso
gut bewirken. Ohne jede Isolirung und bei völlig ungehindertem
Verkehr ist die Cholera an gewissen Orten nie aufgetreten; der
persische Meerbusen z. B. erwies sich ohne Quarantäne stets immun
trotz des unaufhörlichen Seeverkehrs mit grossen Choleraherden.
Andererseits war die so leicht zu überwachende Insel Malta auch
durch die sorgfältigste Quarantäne nicht zu schützen. Die Quaran-
tänen haben niemals die Cholera in ihrem Vordringen aufgehalten
oder beschränkt; wo man genauer prüfte, hat sich die gleiche Nutz-
losigkeit derselben herausgestellt; sie schützen nur scheinbar da, wo
keine örtliche und zeitliche Disposition besteht. Pettenkofer hat
sich nicht leichtsinnig zu seiner Verdammung der Quarantänen ent-
schlossen, nicht nur wegen ihrer Erfolglosigkeit, sondern auch weil
sie den Verkehr und Handel nutzlos schädigen und enorme Summen
verschlingen. Man würde heut zu Tage lieber das Unglück einer
110
Seuche ertragen als eine grössere und längere Hemmung des Ver-
kehrs. Es wäre besser gewesen, das viele Geld, welches die Quaran-
tänen schon gekostet haben, für andere heilsame sanitäre Zwecke
zu verwenden. Die Engländer waren darum nie zu bewegen, bei
sich die Quarantänen einzuführen, nicht aus Habsucht, sondern weil
dieselben vollständig zwecklos sind und mehr schaden als nützen.
Douglas Cuningham sagt nach seinen Erfahrungen in Indien: bei
jeder Gelegenheit, wo Quarantänen oder ähnliche Maassregeln er-
zwungen werden, müssen die eifrigsten Verfechter solcher Maass-
regeln zugeben, dass eine läppische Verschwendung an Geld und
Mühe stattgefunden hat. Trotzdem vermochte sich die internationale
sanitäre Conferenz zu Rom (1885) noch nicht ganz von der con-
tagionistischen Theorie loszumachen, indem die Majorität sich noch
für die Quarantänen aussprach. In unbegreiflicher Weise hat bei
uns die rein contagionistische Lehre neuerdings unter dem Einfluss
der Bakteriologie wieder ihr Haupt erhoben und wird abermals die
Absperrung als Mittel im Kampf um die Cholera und den Typhus
empfohlen. Ist kein Pettenkofer da?
Auch weitere Beschränkungen zu Lande hindern nicht die
Verbreitung des Cholerakeims; an einem einmal ergriffenen Orte ist
mit Verkehrsbeschränkungen wenig mehr zu machen wie z. B. mit
der Ueberwachung des Eisenbahnverkehrs an der Grenze, die nur
eine Plackerei des Publikums ist. Man hat die grossen Pilgerzüge
in Indien als Träger der Cholera beschuldiget und verbieten
wollen; dies hat sich jedoch, wie vorher schon angegeben
worden ist, durch die Beobachtungen der indischen Choleraforscher
Bryden, James Cuningham und Bellew als irrthümlich erwiesen:
die Verbreitung der Seuche wäre ohne die Pilger die gleiche ge-
wesen. Ebenso ist es mit der Kriegscholera in Europa; die Kriegs-
züge ändern nichts an der geographischen Verbreitung der Cholera,
sie wird stets an die örtlich und zeitlich disponirten Orte gelangen
auch ohne Soldaten; allerdings sterben in Folge der ungünstigen
Bedingungen im Felde von den ergriffenen Soldaten mehr als im
111
Frieden, aber man darf nach der lokal istischen Theorie ungescheut
die erkrankten Soldaten von einem inficirten Kriegsschauplatz in
ein cholerafreies, nicht disponirtes Hinterland evakuiren. Nach diesen
Prinzipien bringt auch die Choleraflucht aus einem von der Krank-
heit ergriffenen Ort nach einem nicht disponirten Orte keine be-
sondere Gefahr; es können vielleicht einzelne Ansteckungen, aber
keine Epidemien erfolgen; man wird dabei nach als immun be-
kannten Orten ziehen, sowie man in Indien bei Hausepidemien die
inficirten Kasernen oder Gefängnisse oder Spitäler verlässt und einen
siechfreien Platz aufsucht, oder auch für Lagerplätze einen un-
empfänglichen Boden wählt.
Jahrmärkte und andere Volksversammlungen in einem von
Cholera ergriffenen Orte könnte man, besonders im Interesse der
Ankömmlinge untersagen, wenn nicht grosse Interessen davon ab-
hängen; aus diesem Grunde duldete man (1866) die Abhaltung der
besuchten Messe in dem heftig ergriffenen Leipzig und doch fiel
gerade in die Zeit derselben der rapide Abfall der Krankheit
Nach dem früher Gesagten ist auch die Isolirung der Cholera-
kranken in besonderen Choleraspitälern nutzlos und die zwangs-
weise Entfernung der Kranken aus der Familie und dem Haus eine
geradezu barbarische Maassnahme.
Ausser durch solche Absperrungsm aassregeln suchte man die
Verbreitung der Cholera und des Typhus zu verhindern durch
Tödtung des Keims mit Hilfe der Desinfektion, namentlich in den
Exkrementen, und man erblickte darin ein souveränes Mittel.
Pettenkofer war in der ersten Zeit (1854), wie schon berichtet wurde,
auch noch der Meinung, es wäre der Infektionsstoff in den frischen
Entleerungen der Kranken enthalten, und er sprach sich daher für
die Desinfektion derselben sowie der Abtritte aus, um den Keim
durch Hinderung der Fäulniss und Gährung wirkungslos zu machen.
Noch im Jahre 1865 äusserte er sich dahin, man habe noch kein Recht,
die Desinfektion für bedeutungslos zu halten, und es schien ihm
eine möglichst sorgfältige allgemeine und fortgesetzte Desinfektion
112
der Exkremente mit schwefliger Säure und Eisenvitriol, die jedoch
nach den neueren bakteriologischen Untersuchungen den Komma-
bazillus nicht tödten, den meisten Erfolg zu versprechen. In dem
Cholera-Regulativ von Griesinger, Wunderlich und Pettenkofer vom
Jahre 1866 stand die Desinfektion noch an der Spitze der Maass-
regeln gegen die Cholera; als er 1873 im Auftrage des Gesundheits-
raths seine Ansprache an das Publikum schrieb, gab er schon nichts
mehr auf die Desinfektion, aber die Majorität des Gesund heitsraths
war noch dafür und empfahl sie, so dass bei der Epidemie von
1873/74, besonders in der zweiten Winterepidemie, noch fleissig
desinficirt wurde, sicherlich ohne jeden Erfolg. Die Cholera von
1866 hatte seinen Desinfektionsglauben erschüttert und er kam in
der Folge immer mehr davon ab, nachdem er erkannte, dass die
frischen und alten Exkremente den giftigen Keim gar nicht ent-
halten und also unschädlich sind; selbst wenn man den in den Aus-
leerungen befindlichen Keim x vollständig zerstören könnte, würde
dies doch einen zeitlich disponirten Ort nicht schützen, weil man
den sonstigen Verkehr nicht verhindern hann und der Keim ander-
weit wohl schon längst eingeschleppt ist. Die Desinfektion beruht
nach ihm auf unerwiesenen theoretischen Vorstellungen und kein
Mensch weiss vorläufig etwas darüber anzugeben, ob die Heftigkeit
einer Epidemie durch die bisherigen Bestrebungen in dieser Richtung
auch nur im Geringsten beeinflusst worden ist. Die von den Bak-
teriologen angegebene Desinfektion der Gegenstände mit strömendem
Wasserdampf und öprozentiger Karbolsäure, der Stubenböden und
Fehlböden mit 1 pro mille Sublimatlösung ist wohl auf den Bacillus
wirksam, aber man wird damit bei Epidemien wahrscheinlich zumeist
zu spät kommen. Man giebt sich gerne der Meinung hin, man
habe durch energische Desinfektion die Cholera lokalisirt und zum
Erlöschen gebracht, z. B. bei der letzten Epidemie in Hamburg; man
kann dies nicht nachweisen, wenigstens ist die Epidemie von 1854
in München ohne eine solche Maassregel ebenso verlaufen wie
die in Hamburg; wahrscheinlich hat Hamburg der theoretischen
113
Ansicht über die Verbreitungsart der Cholera viele Millionen
geopfert.
Jede contagionistische Maassregel belästiget und beunruhiget das
Publikum und bewirkt nur, dass Jeder den Anderen flieht, statt ihm
zu helfen; die Erklärung der bayerischen Regierung im Jahre 1836,
dass die Cholera keine ansteckende Krankheit sei und dass man den
Verkehr ganz ungehindert lassen dürfe, hat das Publikum ungemein
beruhiget.
Die Hauptaufgabe ist jedoch nach der lokalistischen Anschauung,
schon in der epidemiefreien Zeit, bevor die Seuche erscheint, ihre
Entstehung zu verhüten durch die geeigneten Maassregeln gegen die
unentbehrlichen Bedingungen für dieselbe, gegen die örtliche und
zeitliche Disposition, und zwar durch möglichste Reinhaltung des
Bodens und Verminderung der Fäulnissprozesse in demselben. Da
sind es vor Allem die Exkremente des Menschen und der Thiere,
welche den Boden einer Stadt verunreinigen können. Man hat
früher vielfach gar nicht darauf geachtet, sondern alle diese Abfalle
ohne jede Vorsicht in Versitz- oder Schwindgruben gesammelt, aus
denen sie in den Erdboden sickerten und den Boden sowie die Luft
im Hause verunreinigten; man kann sich vorstellen, in welch' er-
schrecklichem Grade der Grund einer Stadt durch das fortwährende
Eindringen von Jauche beschmutzt wird, besonders an Orten, wo
der Untergrund leicht Flüssigkeit aufnimmt wie z. B. der poröse
Kies in München.
Pettenkofer dachte anfangs, man könnte dem Uebelstand ab-
helfen, wenn man die Gruben durch Cementirung wasserdicht anlegt,
so dass aus ihnen nichts mehr in das Erdreich einzudringen vermag.
Es ist dies gewiss eine wesentliche Besserung des früheren ganz
entsetzlichen Zustandes gewesen, aber es ist schwierig, die Gruben
wirklich wasserdicht herzustellen, und man ist genöthigt, dieselben
häufig zu entleeren, da der flüssige Inhalt nicht mehr versickert.
Auch musste man daneben zur Fortschaffung des Regenwassers und
Schmutzwassers besondere Kanäle anlegen, und ausserdem war die
15
114
Spülung der Abtritte nicht einzuführen wegen der grossen Wasser-
menge, welche die Gruben zu bald gefüllt hätte. Den Uebertritt
der übelriechenden Gase aus den Gruben in das Haus, deren Menge
einer seiner Schüler, Erismann (1873), bestimmte, suchte er in Er-
mangelung des so wirksamen Wasserklosets zu verhüten durch
weite oberhalb des Dachs mündende Rohre, in welchen er durch
eine Gasflamme einen Zug herstellte.
Die Aufsammlung der Exkremente in Tonnen hat sich nicht
besonders bewährt. Vor Allem weiss man dabei nicht, wohin man
den Inhalt der häufig zu entleerenden Fässer bringen sollte; die
Landwirthschaft kann denselben nur während eines kleinen Theils
des Jahres verwerthen und man entleerte daher häufig in der
übrigen Zeit widerrechtlich Nachts die Fässer in einen Fluss, wie
es z. B. in Graz geschah, oder man suchte die Masse zu verarbeiten
und aufzuspeichern, was theuer zu stehen kommt.
In einem Gutachten über die Kanalisirung der Stadt Basel
(1867) vermochte Pettenkofer sich daher noch nicht für die Be-
seitigung der Fäkalmassen durch Fortschwemmung derselben in
Kanälen zu entscheiden. Er befürchtete durch die Undichtigkeit
der weit verzweigten Kanäle eine Verunreinigung des Bodens durch
die ganze Stadt; auch glaubte er den Bedürfnissen der Landwirth-
schaft im Sinne der Liebig'schen Lehren noch Rechenschaft tragen
zu müssen. Ebensowenig war er noch mit sich im Reinen, was
man mit dem Inhalt der Kanäle, die auch die grossen Massen des
Regen- und Schmutzwassers aufzunehmen haben, anfangen solle.
Er wollte desshalb anfangs die Abzugskanäle nur für das Regen-
wasser und die Abwasser der Brunnen benützt wissen, nicht einmal für die
unreinen Abwässer aus Waschküchen, die Spülwasser der Küche und
das zur Reinigung der Zimmerböden dienende Wasser; die flüssigen
Abfalle der Gewerbe nur dann, wenn sie die Abzugswässer nicht zu
sehr verunreinigen und genügend Wasser zur Spülung vorhanden ist.
Die Einleitung in die Flüsse schien ihm noch gefährlich zu sein
wegen der Verunreinigung des Wassers derselben durch die Jauche.
115
London hatte ja hierin ein warnendes Beispiel gegeben, als die Siele
der Riesenstadt ihren schmutzigen Inhalt noch in die Themse er-
gossen und das Wasser derselben so sehr verpesteten, dass im
Sommer wegen des unerträglichen Gestanks sogar einmal die
Parlamentsaitzungen vertagt werden mussten; damals constatirte
der grosse Naturforscher Faraday auf einer Themsefahrt an sieben
Stationen, dass ganz weisse Körper, die er in den Fluss warf, schon
einen Zoll unter der Oberüäche nicht mehr sichtbar waren; er hielt
diese Entdeckung für wichtig genug, um sie dem Herausgeber der
Times zur Veröffentlichung mitzutheilen. Dies machte solches Auf-
sehen, dass eine weitere Einleitung der Cloaken in den Fluss un-
möglich wurde, und die Ableitung in das Meer erfolgte. Ausserdem
ist durch die Kanalisierung wegen der grossen Wassermengen jede
Art der Düngung der Felder, bis auf das Berieseln derselben, aus-
geschlossen.
Nach und nach befreundete er sich jedoch für bestimmte Fälle
mit der Abfuhr des Unraths durch Kanäle. Nicht in allen Fällen,
so sagte er sich, darf man die Flüsse als Abzugswege für die Ab-
fälle benützen, wohl aber dann, wenn dieselben so viel Wasser
führen, dass stets die Exkrete und der andere Schmutz dadurch so
verdünnt werden, dass daraus der Gesundheit kein Schaden mehr
erwächst. Man muss also von Fall zu Fall entscheiden; das Aus-
schlaggebende ist die Menge und die Geschwindigkeit des Wassers
und die Menge des dem Flusa bei niederstem Wasserstand zur Fort-
führung übergebenen Schwemmbaren. Das Schwemmsystem hat eine
ganz bestimmte Grenze, wie früher London gelehrt hat, als die
Themse nicht mehr für die Fortachaffung des Unraths von mehreren
Millionen Menschen ausreichte.
Bestärkt durch das Beispiel der englischen Städte and durch
die Besichtigung der Kanalanlagen in London sowie durch die
Untersuchungen seiner Schüler Feichtinger und Wolffhügel über den
geringen Grad der Verunreinigung des Bodens unter den Kanälen
kam er schliesslich zu der Ueberzeugung, dass von gut angelegten,
15*
116
genägend gespülten Kanälen bei richtigem Gefäll eine Verunreinigung
des Untergrundes nicht zu befürchten ist In einem für die Stadt
Frankfurt a. M. (1870) verfassten Gutachten beantwortete Pettenkofer
die an ihn gestellte Frage: ,ob nach Maassgabe der Frankfurter
Lokalverhältnisse der Einführung der Abtrittstoffe in die neu ge-
bauten Kanäle vom sanitären Standpunkte aus Bedenken entgegen-
stehen?'' dahin, dass bei richtig angelegten und gespülten Wasser-
kloseten keine Bedenken entgegen stehen, und im Jahre 1875/76
trat er in seinen allgemeines Aufsehen erregenden, im Münchener
ärztlichen Verein gehaltenen 16 Vorträgen „über Kanalisation und
Abfuhr'' für München entschieden für die Abschwemmung alles
Schwemmbaren durch die Kanäle ein, während der Kehricht und
die Küchenabfölle in besonderen dichten Behältern gesammelt werden
sollen.
Nun drängte er auf die energischsten Maassregeln, um in den
Boden und das Haus nichts Schmutziges mehr gelangen zu lassen
und auf die rascheste Fortschaffung aller Abfälle des menschlichen
Haushalts von der Wohnung und ihrer unmittelbaren Umgebung;
ferner auf reichliche Zufuhr reinen Wassers, nicht nur um gutes
Trinkwasser zu schaffen, sondern auch um die grösste Reinlichkeit
im Hause zu erhalten.
Durch alle diese Maassregeln gelingt es den mit Unrath im-
prägnirten Boden einer Stadt allmählich nach Jahren von faulenden
Stoffen zu säubern. Alles wirkt nach Pettenkofer mit einander;
nicht durch unreines Trinkwasser für sich allein, oder durch Un-
reinlichkeit für sich, z. B. in Folge mangelhaften Zustands der
Aborte oder der Kanalisation entstehen die Erkrankungen, sondern
nur im Zusammenhang mit der Bodenbeschaffenheit und den Schwan-
kungen des Grundwassers, welche die lokale und zeitliche Disposition
liefern. Eine von dem Staatssekretär Indiens (1885) zu einer Gbolera-
Conferenz in London einberufene Gommission aus 14 Mitgliedern
äusserte sich nach den Erfahrungen in Indien einstimmig dahin,
dass sanitäre Maassregeln das einzig sichere Mittel sind, um Aus-
brüchen der Cholera vorzubeugen und Uira Verbreitung einzu-
Bchränken und ihre Strenge zu mildern; Cordone, Quarantänen seien
nicht bloB unnütz, sondern positiv schädlich durch unvermeidlicho
Härten, Beunruhigung des Publikums und Ablenkung von der Er-
greifung sanitärer Maasaregeln, welche das Auftreten jeder Art von
Krankheit mildern.
Allein durch solche Assanirungswerke ist es in England ge-
lungen, die Gesundheitsverhältnisse der Städte zu bessern; es ist
dadurch gelungen, das vorher so ungesunde Fort William bei Cal-
kutta gesund zu machen; und auch in Deutschland sind die früheren
schlimmen Gesundheitsverhältniase ganzer Städte wie München, Danzig,
Prankfurt a. M., Berlin etc. sowie mancher Stadttheile wie der erwähn-
ten Grube in Haidhausen bei München wesentlich gebessert worden.
Diese grossen Erfolge sind nur möglich gewesen und erreicht
worden durch die auf den lokalistischen Lehren aufgebauten Maass-
regeln, und sie sind desshalb auch als Beweise für die Richtigkeit
dieser Lehren zu betrachten. Pettenkofer glaubte aus der Geschichte
und dem thatsächlichen Verhalten der Choleraepidemien unwider-
leglich nachweisen zu können, dass die auf contagionistischen Grund-
lagen ruhenden, oft sehr kostspieligen und doch nie vollständig
durchführbaren Maassregeln bisher nichts gefruchtet haben und
auch in Zukunft nichts fruchten werden, dass es aber Orte und
Gegenden und Zeiten giebt, welche für eine epidemische Entwicklung
des durch den menschlichen Verkehr unvermeidlich verbreiteten
Cholerakeims unempföngHch oder immun sind, und dass es möglich
ist, auch Orte, welche nicht schon von Natur aus immun sind,
durch verhältnissmässig einfache und überall durchführbare Mittel
der hygienischen Kunst immun zu machen. Der Verkehr mit Gholera-
orten und Cholerakranken trägt nach ihm höchstens die Gefahr
eines Zünders oder einer Lunte, aber die Gewalt der Epidemie
hängt vom lokal angehäuften Zündstoff ab, von dem Pulver, womit
die Mine zuvor geladen sein muss, Man thut klüger, den Minen
und dem örtlichen Pulver in denselben nachzuspüren, als allen von
118
den durcheinander wirbelnden Winden des Verkehrs getragenen
einzelnen Funken nachzujagen und diese alle einzeln zu löschen zu
versuchen; die brennende Lunte auf einem Geschütz ohne Pulver
ist ein ganz harmloses Ding. —
So war am Ende der siebenziger Jahre eine auf neuen Ideen
beruhende und auf neue Thatsachen consequent aufgebaute Lehre,
die Epidemiologie, herangewachsen, welche schon herrliche Früchte
für die Erhaltung der Gesundheit gezeitiget hatte; man kann auch
sagen, dass es zu dieser Zeit Pettenkofer gelungen war, allerdings
nach hartem Ringen, seinen Anschauungen weithin Anerkennung
und Geltung zu verschaffen. Man hätte bei dem damaligen Stande
der Sache glauben können, dass nach und nach seine Schüler und
Anhänger die ihm wohl bewussten Lücken seiner Lehre mit den
von ihm angegebenen Methoden in seinem Sinne ausfüllen würden.
Und doch trat eine Wendung ein, welche ihm noch die schwersten
Kämpfe bereitete. Die Lehre von den niedersten Organismen, den
Bakterien, als Krankheitserreger, die bei ihrem ersten Auftreten von
dem Chemiker Liebig dem Anatomen Henle gegenüber so sehr ver-
spottet worden war, wurde durch die Auffindung bestimmter Lebewesen
bei bestimmten Erkrankungen immer mehr befestiget. Da kam die für
die Medizin so ausserordentlich bedeutsame Entdeckung eines solchen
niederen Organismus, des Kommabazillus, in den Darmentleerungen
Cholerakranker durch Robert Koch (1883). Nach der Lehre von
Pettenkofer war damit der Cholerakeim, das Xy den er sich von
jeher als belebtes Wesen vorgestellt hatte, wirklich gefunden. Aber
so manche der Bakteriologen glaubten, geblendet durch den Glanz
der Entdeckung, es wäre jetzt mit dem Auffinden des Keims die
ganze Cholerafrage gelöst; sie sahen nichts Anderes mehr als den
Keim und stellten sich wieder auf den alten längst als überwunden
angesehenen rein contagionistischen Standpunkt, dem doch so viele
Beobachtungen entgegenstehen, wie wenn es gar keine durch Petten-
kofer gefundenen Thatsachen der Epidemiologie gäbe. Jetzt sollte
auf einmal die Krankheit wieder durch den Kranken und seine
11»
Entleerungen ohne Weiteres ansteckend sein und der Keim im
Menschen sich vermehren; es sollte vorzüglich das Trinkwasser, in
welches Choleraentleerungen gerathen sind, der Verbreiter des Krank-
heitskeimes sein, und es wurde dagegen der ganze schon verlassene
contagionistische Apparat, Cordone, Quarantänen, Isolirung der Kranken^
Verbot von Massenversammlungen, Desinfektion der Entleerungen so-
wie der Wäsche und der Krankenzimmer, Abkochen des Trinkwassers etc.
wieder hervorgeholt. Die lokalistische Ansicht galt diesen Con-
tagionisten einfach als widerlegt; man brauchte keine Rücksicht
mehr darauf zu nehmen.
Aber es war durch die Bekanntschaft mit dem Kommabazillus
doch nichts Anderes geschehen als in ihm der Keim x erkannt,
welchen auch Pettenkofer zwar nicht als den eigentlichen giftigen
Erreger der Cholera, aber als nöthige Bedingung dafür von Anfang
an angenommen hatte; die Entdeckung des Kommabazillus kann
doch an den epidemiologischen Thatsachen nicht das Geringste
ändern; es war auch dadurch kein Widerspruch mit den letzteren
vorhanden und diese gar nicht berührt. Längst vor Auffindung des
Bazillus äusserte sich Pettenkofer dahin: „gesetzt, der Pathologe
fände in einem Typhus- oder in einem Cholerakranken wirklich den
sogenannten Typhus- oder Cholerakeim, so wäre dies wohl eine
wichtige und schätzenswerthe Entdeckung, aber es wäre dadurch
die für die Menschheit wichtigste Frage noch lange nicht erledigt,
nämlich was einen Ort zu gewissen Zeiten zu einem Typhus- oder
Choleraorte macht und was geschehen muss, um einem solchen Ort
diese Eigenschaft zu benehmen".
Durch die völlige Ignorirung der epidemiologischen Thatsachen
und die Wiederaufnahme des rein contagionistischen Standpunkts
entstand der Widerspruch und die unausfüUbare Kluft zwischen
Pettenkofer und der Koch'schen Schule, soweit sie den rein con-
tagionistischen Standpunkt einnahm.
Es war für Pettenkofer unmöglich, zu diesen Anschauungen,
die den grössten Theil seiner wissenschaftlichen Arbeit ignorirten
120
und bekämpften, still zu schweigen und dadurch sich scheinbar für
besiegt zu erklären. Man hatte ihm in der Siegeszuversicht sogar
nachgesagt, er habe bei der zweiten Berliner Cholera-Conferenz seinen
lokalistischen Standpunkt aufgegeben; er ist aber den Behauptungen
der contagionistischen Bakteriologen bis an sein Lebensende ent-
schieden entgegengetreten, namentlich noch in seinem schon er-
wähnten Werke: „zum gegenwärtigen Stande der Cholerafrage"
(1885 — 1887), worin er seine Lehren ein letztes Mal zusammen-
fasste; es ist sein wissenschaftliches Vermächtniss, in dem er Alles
nochmals auf das Gewissenhafteste prüfte; öfters hat er sich ge-
äussert, er wäre nach wie vor durch die Thatsachen der Epidemiologie
überzeugt, dass sein Standpunkt der richtige und der der Gegner
der unrichtige sei.
Seine Ueberzeugung war so stark und tief, dass er beschloss,
«in Experimentum crucis an seiner eigenen Person zu machen,
nämlich den Cholerabazillus zu verschlucken. Wenn der Komma-
bazillus wirklich für sich allein durch reine Contagion die Cholera
zu erzeugen vermag und zur Giftwirkung nicht noch besondere im
Boden sich abspielende Einflüsse nöthig sind, dann muss er nach
der contagionistischen Lehre bei Aufnahme in den Verdauungskanal
die Cholera hervorbringen. Hätte man damals vorher die einseitigen
Bakteriologen gefragt, sie hätten gewiss gesagt, es werde eine tödt-
lich verlaufende Erkrankung darnach eintreten. Pettenkofer machte
den Versuch am 7. Oktober 1892 im Alter von 74 Jahren; durch
die Güte von Professor Gaflfky hatte er aus Hamburg, wo zu dieser
Zeit die Cholera herrschte, eine frische Agar-Reinkultur des Komma-
bazillus erhalten, von der er eine Bouillonkultur herstellte; von
derselben, die sich noch nicht ganz 24 Stunden im Brutschrank
befand, nahm er einen Cubikcentimeter mit wohl einer Milliarde
der gefürchteten Pilze in den leeren Magen, dessen Säure zuvor
durch kohlensaures Natron abgestumpft worden war. Die Zahl der
verzehrten Bakterien war weit grösser als jemals bei einer Infektion
auf gewöhnlichem Wege in den Körper gelangen. Man kann sich
122
Uebrigens war damals bei den Bakteriologen noch nicht die Rede
davon, dass die Kommabazillen nicht immer die gleiche Giftigkeit
besitzen und andere Formen annehmen könnten, ja man widerstritt
es; jetzt ist es, namentlich durch die Beobachtungen von Hans
Buchner, dem Schüler Pettenkofers, festgestellt und allgemein an-
erkannt, dass die pathogenen Bakterien verschiedene Wuchsformen
annehmen und wechselnde Verschiedenheit der Virulenz haben; nun
soll aber gerade der Versuch Pettenkofers darthun, dass die Komma-
bazillen an und für sich die Cholera nicht hervorrufen, d. h. nicht
virulent sind, sondern noch einer besonderen Einwirkung bedürfen,
um virulent zu werden.
Man stellte Pettenkofer als einen Feind der Bakteriologie hin
und erweiterte dadurch die scheinbare Kluft zwischen den beiden
Lehren noch mehr. Pettenkofer hat niemals die Bakteriologie be-
kämpft oder gering geachtet. Er schrieb vielmehr der bakterio-
logischen Forschung die wichtigste Rolle zu, indem er sie für die
weitere Erkennung des Wesens der Cholera und des Typhus für
nothwendig hielt. Denn er sah sehr wohl ein, dass er mit seiner
Methode der epidemiologischen Beobachtung nicht mehr weiter
kommen könne und dass die Bakteriologie es ist, welche jetzt zur
Aufhellung der örtlichen und zeitlichen Disposition die Methode des
Experiments zu bringen habe durch die Untersuchung der Ueberführung
des unschuldigen Kommabazillus x in den giftigen Keim z im Boden.
Zu dem Zweck müsse sich jedoch die Bakteriologie, so meinte er,
zuerst auf den lokalistischen Standpunkt stellen, denn mit Bakterien
allein wären die epidemiologischen Thatsachen nicht zu erklären.
Man hat über die Verbreitungsart und das Wesen der Cholera durch
die epidemiologischen Erfahrungen schon sehr bestimmte Anhalts-
punkte gewonnen und grosse praktische Erfolge erzielt, ohne den
specifischen Cholerapilz zu kennen; der weitere Fortschritt wird
durch die Bakteriologie geschehen, die aber noch unendlich viel zu
thun haben wird, um alle diese verwickelten Verhältnisse zu ent-
wirren. So wird schliesslich die Bakteriologie wieder zu der loka-
124
Gebiete anregend und befruchtend gewirkt wie Niemand vor ihm.
Für Typhus und Cholera ist die „unglückselige Grundwassertheorie*
noch lange nicht beseitiget. —
Durch die im Vorstehenden geschilderte im Jahre 1851 be-
gonnene wissenschaftliche Thätigkeit Pettenkofers, durch die con-
sequente Untersuchung der vielen die Gesundheit schädigenden, sie
erhaltenden und stärkenden Einflüsse der Umgebung hat sich all-
mählich ein ganz neuer Zweig der Medizin, ein grosses und frucht-
bares Gebiet des Wissens und Könnens, herausgebildet, die auf die
exakten Methoden der Naturforschung gegründete experimentelle
Hygiene. Es ist selten vorgekommen, dass ein Mann eine ganze
Wissenschaft fast ohne Vorläufer geschaffen hat.
Es hat zwar schon immer eine Hygiene gegeben, denn schon
in frühester Zeit hat der Mensch werthvoUe Erfahrungen über das,
was ihm wohl thut und ihm schlecht bekommt, gemacht und daraus
allgemeine Gesundheitsregeln und gewisse Vorschriften abgeleitet.
Aus den Papyrus-Inschriften kennt man zahlreiche Regeln der öffent-
lichen Gesundheitspflege im alten Aegypten; in den mosaischen Ge-
setzen sind weise hygienische Vorschriften enthalten; auch im alten
Rom musste man viele Erfahrungen hierin gesammelt haben, bis es
zu den grossartigen Aquädukten ans den Albaner Bergen und zu
der Erbauung der Cloaca maxima kam, welche den Unrath der
grossen Stadt in die Tiber führte; erst nach einem langen Zeitraum
ist England das Geburtsland der praktischen Hygiene geworden.
Nicht minder sind die späteren Bestrebungen von Johann Peter Frank,
die er in seinem grossen Werke: „System einer vollständigen medi-
zinischen Polizei" (1779 — 1789) niedergelegt hat oder die von
Hufeland in seiner Makrobio tik enthaltenen Lehren Anläufe, die Ur-
sachen der Erhaltung der Gesundheit zu erfahren. Auch sind vor
1851 schon allerlei Abhandlungen über Armenernährung, über
Nahrungsmittel und ihre Verfälschung, über Verbesserungen in
Krankenhäusern und Gefängnissen, über Heizung, Beleuchtung und
Ventilation, über den gesundheitlichen Einfluss gewisser Gewerbe etc.
125
erschienen, aber dies waren nur Bruchstücke und keine einheitliche
Lehre. Es war Pettenkofer, der die Hygiene aus dem Stadium der
Empirie und blosser Vermuthungen in den Bereich der experimen-
tellen Forschung gehoben hat.
Er nannte die von ihm geschaffene Hygiene gerne eine Phy-
siologie der Umgebung. Die Physiologie verfolgt gewöhnlich, wie
erwähnt, nur die im Organismus sich abspielenden Vorgänge, aber
Pettenkofer sah ein, dass unser Befinden von so Vielem abhängt,
was ausserhalb des Organismus liegt und was wir noch nicht näher
kennen. Es handelt sich dabei zumeist um Dinge, deren sich Jeder
im täglichen Leben bedient, an denen aber die Meisten achtlos
vorüber gehen, da man glaubt, es wäre nichts mehr darüber zu
sagen und man verstehe sie vollständig.
Diese äusseren Einflüsse hat Pettenkofer mit dem grössten
Scharfblick beobachtet und durch mit ungewöhnlichem Geschick
angestellte Versuche gedeutet: seine Untersuchungen über die Ein-
wirkung der uns umgebenden Luft, des Wassers, welches wir trinken
und im Haushalt benützen, der Kleidung, die man bis dahin nur
als Schutz gegen die Unbilden der Witterung und allenfalls als
Schmuck des Leibe» ansah, dann der unseres weiteren Kleides, der
Wohnung mit allen ihren Besonderheiten, der Heizung, der Beleuch-
tung und der Ventilation, des Bodens, auf dem wir wohnen etc.
brachten zum ersten Male ein richtiges Verständniss der Bedeutung
dieser Faktoren für das Leben des Menschen.
Obwohl man vielfach schon Gebrauch von Dingen machen
kann, die man in ihrem Wesen noch nicht versteht, so war es doch
für Pettenkofer klar, dass man in solcher Praxis nicht aus wirk-
licher Einsicht, sondern nur nach einem gewissen Instinkt und nach
Traditionen handelt und dass wir erst dann, wenn wir durch die
Wissenschaft das Verständniss davon gewonnen haben, die richtige
Anwendung von ihnen machen, wir uns besser kleiden und besser
wohnen werden.
Es findet jedoch nur derjenige die Ursachen der Dinge, der
126
die richtigen Methoden gelernt hat und übt und naturwissenschaft-
lich denkt. Ein solcher Forscher war Pettenkofer: seine Ausbildung
in der Chemie, welche er in vollendeter Weise beherrschte und die
er als seine Mutter liebte, gab ihm die Schulung für die natur-
wissenschaftliche Forschung; öfter hob er hervor, er habe frühzeitig
chemisch denken gelernt, und in der Chemie denke man nicht blos
qualitativ, sondern auch quantitativ und zwar ziemlich gleichmässig
nach beiden Richtungen; dabei kam ihm zu Statten, dass er auch
in der Physik, der Medizin und namentlich auch in der Technik in
hohem Grade bewandert war. Nur so vielseitig ausgerüstet war es
ihm möglich, die Forschungsmethoden der Naturwissenschaft auf
jene alltäglichen Vorgänge anzuwenden und die Hygiene als experi-
mentelle Naturwissenschaft zu begründen.
Als echter Naturforscher hatte er stets das Bestreben, von den Vor-
gängen quantitative Vorstellungen zu bekommen und sie messend zu
verfolgen. Er war ein Pionier, der ein nur wenig bekanntes Gebiet
betreten und den Nachfolgern gangbar gemacht hat; er hat da-
durch eine Bewegung eingeleitet, deren Verlauf unübersehbar ist. Er
wollte möglichst allgemein und weit verbreitet der Ueberzeugung
Bahn brechen, dass wir noch so unendlich wenig von vielen Theilen
der Hygiene wissen und dass diese für das Wohlergehen der Menschen
80 ungemein wichtige Wissenschaft bisher wissenschaftlich und praktisch
allzusehr vernachlässiget worden ist.
Aus den Lehren der wissenschaftlichen Hygiene ergiebt sich
die Kenntniss von der Verhütung der Krankheiten. Von England
aus kam zuerst der Gedanke, dass das Verhüten der Krankheiten
ein höheres Ziel sei als das Heilen derselben; aber niemals vorher
ist es so bestimmt und so nachdrücklich, auf wissenschaftliche Er-
fahrungen gestützt, ausgesprochen worden wie von Pettenkofer, dass
die Verhütung der Krankheiten die grosse Aufgabe Aller und jedes
Einzelnen sei.
Die Hygiene ist ihm nicht nur die Lehre von den Bedingungen
der Erhaltung der normalen Lebensvorgänge oder der Gesundheit,
197
d. h. nicht nur ilie Lehre von der Aetiologie und Prophyllaxe der
Krankheiten, wobei er anheimgiebt, ob die erstere nicht zum
Theil durch andere Kräfte erforscht werden könnte, sondern auch
die Wissenschaft von der Stärkung und Vermehrung der Gesundheit.
In letzterer Beziehung bezeichnete er mit Vorliebe die Hygiene als
die Wirthschaftslehre der Gesundheit, welche die Werthigbeit
aller Einflüsse der natürlichen und künstlichen Umgebung des
Organismus zu untersuchen und festzustellen hat zur Förderung des
Wohlbefindens des letzteren.
Wie er diese Gesundheitslehre verstanden wissen wollte, das
hat er in zwei im Verein für Volksbildung in München 1873 ge-
haltenen populären Vorträgen: „über den Werth der Gesundheit für
eine Stadt" in charakteristischer und beredter Weise geschildert.
„Wer da lebt auf Erden," so beginnt er, „will gesund sein, denn
ein Leben ohne Gesundheit ist eine Qual, eine Marter, von der
Jeder Erlösung wünscht und wenns nicht mehr anders sein kann
— selbst mit Verzichtung auf dieses Leben, durch den Tod." Er
thut nun dar, wie der Einzelne Vortheil nicht nur von der eigenen
Gesundheit zieht, sondern fast noch mehr von der Gesundheit seiner
Mitmenschen. Eine Stadt schafft durch die Sorge für die Gesund-
heit ein Kapital, welches hohe Zinsen trägt; darum haben alle
Kulturnationen auf die Gesundheit geachtet und Einrichtungen da-
für getroffen: er stellt als immer noch leuchtendes Beispiel für uns
die grossartigen Sanitätawerke der alten Römer hin, welche für
Reinhaltung ihrer Wohnplätze, für Aquädukte, für Bäder, für Ab-
Bchwemmung des Unraths in die Tiber durch die Cloaca maxima
sorgten; auch die Engländer, die hierin den Römern folgten, sind
uns in sanitären Einrichtungen noch voran und schätzen den Werth
der Gesundheit höher wie wir. Er berechnet darnach den realen
Werth der Gesundheit für eine grössere Gemeinde, indem er als
Maassstab dafür die Zeit nimmt, welche das Kranksein den Geschäften
entzieht und welchen pekuniären Nachtheil wir dadurch erleiden;
er erhält dabei für München bei 170000 Einwohnern 3.4 Millionen
128
Gulden jährlich; wenn die Stadt München durch Verbesserung ihrer
sanitären Einrichtungen einmal so gesund wie London würde, das
von 42 Todesfällen auf 1000 Einwohner seit 1681 auf nur 22 im
Jahre 1856 gesunken ist, so würde sich ein Kapital von 25 Millionen
Gulden noch gut verzinsen. Es ist Mode geworden, den Gesundheits-
zustand einer Stadt sich wesentlich nur von einer guten Kanalisation,
von richtiger Wasserversorgung und guten Abtrittanlagen mit Wasser-
klosets abhängig zu denken; Pettenkofer schätzt zwar diese Dinge
sehr hoch, aber er verlangt noch mehr, denn die öffentliche Ge-
sundheitspflege im weitesten Sinne hängt nach ihm mit Allem zu-
sammen, was auf das Wohlbefinden der Menschen nur irgendwie
von Einfluss ist. Es ist ein reichlicher Zusammenfluss von mannig-
fachen Ursachen und Wirkungen. In dieser Hinsicht kommt in
Betracht : gute Nahrung, für Luftgenuss und Wärmeökonomie günstige
Wohnungsverhältnisse, ausreichende Ventilation der Wohnungen wie
in England, wo man sich vor Zug weniger fürchtet als bei uns,
Vermeidung der UeberfüUung der Wohnräume, äusserste Reinlichkeit
in Allem, besonders auch in Kleidung, Bett und Wäsche sowie in
der Hautpflege. Nirgends darf Schmutz geduldet werden; es ist
zwar nicht so einfach zu sagen, was Schmutz ist; vielleicht ist die
Definition, welche Lord Palmerston gegeben haben soll, die richtige:
Schmutz ist Alles, was nicht am richtigen Orte sich befindet
Auch die Gebräuche und Sitten der Völker greifen nach ihm
in die Gesundheit ein : er will festgestellt haben, wieviel von einem
bestimmten Einkommen durchschnittlich auf Nahrung, Getränke,
Wohnung, Kleidung und andere Zwecke und Genüsse des Lebens
verwendet werden dürfen. Die schlechten Kneiplokale und die Sitte
des freiwilligen Wirthshauszwanges schaden der Gesundheit; nicht
minder der bei den Deutschen leider noch immer unmässige Genuss
alkoholischer Getränke; Pettenkofer sah bekümmerten Herzens den
unseligen Einfluss des Alkohols auf unser ganzes Volksleben und
schloss sich daher aus Ueberzeugung der guten Sache der Mässig-
keitsbewegung und dem Verein gegen den Missbrauch alkoholischer
130
vor Allem keinen wesentlichen Einfluss auf die Zusammensetzung
der atmosphärischen Luft in einer Stadt oder in einem Zimmer
aus; der Kohlensäuregehalt im Freien ist nicht anders als in guter
Zimmerluft, in volkreichen Städten, wie z. B. in Manchester, trotz
der Tausende von Kaminen nicht grösser wie auf dem Lande, in
einer vegetationslosen Fläche oder in der Wüste nicht anders wie
im grünen Wald; denn die Kohlensäure wird in der Luft alsbald
enorm verdünnt und durch ihre Strömung fortgeführt. — Auch der
Sauerstoffgehalt der Luft wird durch die Athmung der Pflanzen
nicht grösser, in der gepriesenen Waldluft oder in der Luft eines
Zimmers, in dem wir Blumen ziehen, befindet sich nicht mehr
Sauerstoff wie in einem bewohnten Zimmer ohne Pflanzen. Selbst
wenn etwas mehr Sauerstoff durch die Pflanzen in die Zimmer-
oder Waldluft käme, so würde dies für das Athmen des Menschen
keine Bedeutung haben, da wir die gleiche Menge von Sauerstoff
in unser Blut aufnehmen, ob die Luft den gewöhnlichen Sauerstoff-
gehalt besitzt oder einen viel grösseren. Noch weniger hat das
Ozon, von dem so viel gefabelt wird, einen sanitären Werth; in der
guten Luft, welche wir in unseren gelüfteten Wohnräumen athmen,
ist gar keines enthalten. Und doch haben die Pflanzungen einen
hygienischen Werth für uns und soll man nicht unterlassen, eine
Stadt oder ein Zimmer damit zu versehen. Abgesehen davon, dass
der Wald einen Einfluss auf den Boden ausübt, indem er durch
langsameren Abfluss des Wassers das Versiegen der Quellen und
Brunnen hintanhält, dass die Vegetation den Boden reiniget, dass
die Anlagen von Pflanzungen in einer Stadt Schatten machen, der
uns vor den Sonnenstrahlen schützt und wie ein Fächer einen küh-
lenden Luftstrom hervorbringt, dass durch die Pflanzungen weniger
Staub aufgewirbelt wird etc., üben die Pflanzen noch einen anderen
wichtigen und wohlthätigen Einfluss aus: wir erfreuen uns an ihrer
Schönheit, sie geben uns Empfindungen der Lust und Aufheiterung;
sie sind uns Genussmittel, die wir in dem hastenden Treiben des
Lebens der Stadt so sehr bedürfen.
131
Pettenkofer wünscht endlich durch die Hygiene nicht nur die
Gesundheit des Leibes, sondern auch die der Seele zu stärken; er
preist den Werth eines geordneten und soliden Familienlebens, die
sittliche Reinheit und Moral, die ihm reale Güter für diese Welt
sind; der puritanische Zug, der durch die englische Nation geht,
trägt nach ihm auch zur Stärkung der Volksgesundheit bei.
Durch alle diese hygienischen Bestrebungen wirken wir zur
Kräftigung unserer Generation mit und schaffen unseren Nach-
kommen eine fruchtbare Quelle nicht nur des physischen, sondern
auch des moralischen und geistigen Wohles. Wir Alle sind ver-
pflichtet, an der Lösung dieser grossen Kulturaufgaben mitzuwirken.
Er hat uns dieses ideale Ziel gesteckt durch die richtige und weite
Auffassung der Hygiene. —
Wenn diese hohe Bedeutung der Hygiene in weiten Schichten
der Bevölkerung eindringen und durch ihre Anwendung der Menschheit
Nutzen schaffen soll, so muss sie vor Allem den Aerzten gelehrt
werden. Pettenkofer sprach sich daher schon frühe, namentlich in
einem Vortrag bei der Frankfurter Naturforscherversammlung (1867)
und in einer Abhandlung über die Mittel zur Förderung der Theorie
und Praxis der öffentlichen Gesundheitspflege (1871) dringend und
überzeugend für einen geordneten Unterricht der Mediziner, auch
der Arcliitekten, Ingenieure und Verwaltungsbeamten, in der Hygiene
sowie für Errichtung von Laboratorien, in welchen wissenschaftliche
Arbeiten zu ihrer Förderung angestellt werden können, aus; es
wäre die Aufgabe der Hygiene als untersuchende, forschende und
experimentirende Wissenschaft an diesen Grundlagen zu arbeiten
und sie immer mehr und mehr auszubilden, womit noch Viele
lange Zeit zu thun haben würden.
Pettenkofers Vorträge über öffentliche Gesundheitspflege waren
nach dem Umzug in das physiologische Institut (1855) anfangs nur
von wenigen Medizinern besucht, aber sie fanden immer mehr An-
klang, so dass der grosse Hörsaal des Instituts gefüllt war, obwohl
die Vorlesung nicht obligat war. Das Studium der Medizin war
17»
132
damals noch nicht so mit Wissen und Können überladen wie jetzt
und die Studirenden fühlten heraus, dass ihnen hier etwas darge-
bracht wurde, was sie in ihrer ärztlichen Laufbahn gut verwerthen
konnten.
Durch diesen Erfolg ermuthiget und von der guten Sache
überzeugt, beantragte Pettenkofer in der Fakultät, die Hygiene zu
einem obligatorischen Fach zu machen und in die Prüfung aufzu-
nehmen. Der Vorschlag blieb jedoch in der Minorität, was nicht
verwunderlich ist, da die Fakultäten ein neues Fach nur nach ganz
sicherer Erprobung aufnehmen dürfen, auch ein einseitiges Vorgehen
in München gefahrlich erschien. Im Jahre 1862, wo über die Be-
deutung des Fachs kein Zweifel mehr bestehen konnte, erlangte ein
erneuter Antrag die Majorität in der Fakultät, welche denselben
dringend dem akademischen Senat und dem Ministerium zur Ge-
nehmigung empfahl; letzteres gab aber einen abschlägigen Bescheid.
Als Pettenkofer im Jahre 1864/65 zum ersten Male Rektor der
Universität war, fragte ihn der jugendliche König Ludwig IL bei
einer Audienz in liebenswürdiger Weise, ob er nicht für sich per-
sönlich einen Wunsch hätte; da brachte Pettenkofer seinen hygie-
nischen Wunsch vor, worauf der König ihn ermächtigte, mit dem
Kultusminister darüber zu sprechen. Dieser theilte ihm mit, dass
sein Gesuch an dem Widerstand des Ministerialreferenten im Mini-
sterium des Innern gescheitert sei, nun aber kein Hinderniss mehr
entgegenstehe. Das Resultat war die Verordnung von 1865, dass
an den drei bayerischen Universitäten die Hygiene einzuführen sei
und ein Fach für die ärztliche Prüfung werden solle. Pettenkofer
wurde zugleich zum ersten ordentlichen Professor für Hygiene er-
nannt, welche er vom Sommersemester 1865 an regelmässig las; mit
ihm wurde an der Universität Würzburg der Chemiker Jos. Scherer
und an der Universität Erlangen der Chemiker Gorup-Besanez als
ordentliche Professoren der Hygiene eingesetzt.
Als Pettenkofer sich bestrebte, die Hygiene als ordentliches
Fach in die medizinische Fakultät einzuführen, standen noch manche
133
weitere Hindemisse entgegen; man meinte, das Gebiet der Hygiene
wäre doch zu klein, so dass es keine besondere Vorlesung ausfülle
und leicht neben einem anderen Fache gelehrt werden könne. Die
Hygiene, wie sie Pettenkofer verstand, war noch zu neu und nur
Wenige hatten ihre Entwicklung verfolgt; man vermochte sich gar
nicht zu denken, was da alles getrieben werden sollte. Das, was
man früher als Hygiene vortrug, war im Wesentlichen nichts weiter
als eine Zusammentragung von Vorschriften und Meinungen über
allerlei auf den Menschen einwirkende Schädlichkeiten, und sie war
an der Universität auch kein eigenes Fach, sondern gewöhnlich ein
Appendix der gerichtlichen Medizin oder der sogenannten Staats-
arzneikunde, mit denen die neuere Hygiene gar keinen Zusammen-
hang hat. Von dem, was man vor Pettenkofer darunter verstand,
ist fast nichts übrig geblieben; die frühere Hygiene war keine
Naturwissenschaft, sie hatte kein Laboratorium nöthig und besass
keine Forschung.
Hätte Pettenkofer sich rechtzeitig bestimmen lassen, wie es
seine Freunde riethen, seine Vorlesungen zu veröffentlichen, so hätte
man die Bedeutung der Sache wohl früher allgemein anerkannt
und er wäre bälder mit seinen Wünschen durchgedrungen; er
machte aber nur gelegentlich das Programm seiner Vorlesungen
bekannt, um zu zeigen, was Alles der Mediziner und Arzt aus den-
selben lernen könne. Es ist von allgemeinerem Interesse, dieses erste
Programm kennen zu lernen; es möge daher hier seinen Platz finden:
1) die Atmosphäre, ihre Zusammensetzung;
2) physikalische und chemische Veränderungen der Atmosphäre;
atmosphärisches Klima;
3) Bekleidung und Hautpflege; Leibesübungen, Turnen;
4) Verhalten der Baumaterialien gegen Luft, Wasser und Wärme;
5) Ventilation;
6) Beheizung;
7) Beleuchtung;
134
8) Bauplätze und Baugrund;
9) Grundluft und Grundwasser;
10) Einfluss der Bodenverhältnisse auf das Vorkommen und die
Verbreitung gewisser Krankheiten sowie Schutzmittel da-
gegen; Lokalklima;
11) Trinkwasser und Versorgung menschlicher Wohnorte damit;
12) Nahrung und ihre wesentlichen Bestandtheile ;
13) Milch; Fleisch; Brod;
Gemüse, Obst und andere vegetabilische Nahrungsmittel;
weingeistige Getränke und Essig;
Genussmittel (Salz, Zucker, Gewürze, Thee, Kaffee, Tabak etc.)
(Alles mit Rücksicht auf die Viktualienpolizei) ;
14) Ernährung und Verpflegung verschiedener Menschenklassen
unter verschiedenen Umständen, Verpflegungsregulative;
15) Sammlung und Fortschaffung der Exkremente und sonstiger
Abfälle des Haushalts und der Gewerbe; Kanalisation;
16) Desinfektion;
17) Leichenschau und Beerdigungswesen;
18) der Gesundheit schädliche Gewerbe und Fabriken;
19) Schulen, Kasernen, Pflegeanstalten, Krankenhäuser, Kranken-
pflege, Gefängnisse;
20) Gifte und Vorsichtsmaassregeln beim Verkehr und Handel
mit denselben;
21) medizinische Statistik, Biostatik.
Wie ersichtlich, handelt es sich dabei im Wesentlichen um das,
was Pettenkofer geschaffen hat; nach ihm ist ja noch Manches hin-
zugekommen, namentlich in Beziehung der jetzt so wichtig ge-
wordenen Bakterien und anderer Organismen als Krankheitserreger.
In der ersten Zeit waren die Lehren des jungen Faches noch
nicht in einem Lehrbuch zusammengefasst, auch besass dasselbe
keine Zeitschrift für die wissenschaftlichen Arbeiten, so dass Petten-
kofer seine hygienischen Abhandlungen in schwer zugänglichen Zeit-
*j.
135
Schriften wie in Dinglers polytechnischem Journal, in den Abhand-
lungen der naturwissenBchaftlich-techniHchen Kommisson, im Kunst*
und Gewerbeblatt, in den Sitzungsberichten oder den Gelehrten
Anzeigen der Akademie, im ärztlichen Intelligenzblatt etc. unterbringen
musste; die grossen rein phygikalischen oder chemischen oder phy-
siologischen Journale hätten wohl kaum Beiträge von so besonderer
Natur aufgenommen. Darum sind auch seine ersten hygienischen
Arbeiten nur Wenigen bekaunt geworden; erst im Jahre 1865
gründete er mit mir, als wir für unsere Arbeiten nach einer Unterkunft
suchten, die Zeitschrift für Biologie, in der seine Arbeiten der
nächsten 18 Jahre gesammelt sind; mit der Entwicklung der Hygiene
und der Gründung besonderer Lehrstühle und Laboratorien für die-
selbe an den deutschen Universitäten erschien es nötbig, für die
neue Wissenschaft auch eine eigene Zeitschrift zu besitzen und so
vereinigte er sich mit mehreren seiner Schüler zur Herausgabe des
ersten und angesehenen Journals für Hygiene, des Archivs der
Hygiene.
Die experimentelle Hygiene ist in ihren Haupttheilen eine an-
gewandte Physiologie und ein Vertreter des Fachs niuss auch in
der Physiologie, der Physik und Chemie theoretisch und praktisch
geschult sein. Es waren daher, da es noch keine eigentlichen Hy-
gieniker gab, Chemiker und Physiologen, welche nach Pettenkofer
anfiengen, Interesse an der Sache zu nehmen und in Pettenkofers
Sinn Vorlesungen über Hygiene zu halten: die physiologischen
Chemiker Scherer in Würzburg und Gorup-Besanez in Erlangen,
dann die Physiologen Meissner in Göttingen und Rosenthal in
Erlangen. Es wird stets ein Ruhmestitel der bayerischen Staats-
regierung bleiben, dass Bayern der erste und längere Zeit der
einzige Staat war, in welchem diese für die Ausbildung der Aerzte
30 wichtigen Einrichtungen geti-offen wurden. Nach und nach folgte
man anderwärts dem guten Beispiele, und so entstanden an fast
allen deutschen und österreichischen und auch an vielen ausser-
deutschen Universitäten ordentliche Professuren für Hygiene; 1883
136
wurde die Hygiene als Prüfungsgegenstand in die ärztliche Appro-
bations-Prüfung für das deutsche Reich eingesetzt
Aber noch mangelte es, auch in München, an den zu einer
ausgiebigen wissenschaftlichen Thätigkeit in der Hygiene eingerich-
teten Arbeitsräumen, denn das kümmerUche Laboratorium im physiolo-
gischen Institut bot nur wenigen Schülern Raum. Im Jahre 1872
erhielt Pettenkofer einen höchst ehrenvollen Ruf an die Universität
Wien, wo man richtig eingesehen hatte, was eine solche Kraft für
die dortige Hochschule werth gewesen wäre und wo man ihm, auch
in Würdigung des Bedürfnisses, die Erbauung eines hygienischen
Instituts nach seinen Wünschen versprach. Er hätte sich ja nur
recht schwer von München getrennt, mit welchem er durch ein langes
Leben aufs Engste verwachsen war, aber die Aussicht, ein Labo-
ratorium zu erhalten, in dem er mit seinen Schülern arbeiten und
seine Wissenschaft fördern konnte, war für ihn ausschliesslich maass-
gebend. Als einzige Bedingung seines Bleibens in München stellte
er daher die Erbauung eines eigenen hygienischen Instituts, welche
auch in dankenswerther Weise von der bayerischen Staatsregierung
erfüllt wurde. Er hätte sich auch kaum in andere ungewohnte
Verhältnisse eingelebt; unsere Universität durfte sich glücklich
schätzen, dass diese erste Grösse ihr erhalten blieb und nicht
weniger die Stadt, die ihm noch die wichtigsten Dienste ver-
danken sollte.
Das neue, mit allen Hilfsmitteln versehene Institut wurde im
Jahre 1878 eröffnet; es war das erste hygienische Laboratorium in
seiner Art und diente als Musterbild für die späteren Institute. Es
muss zwar bemerkt werden, dass in England die Aerzte schon seit
längerer Zeit einen Unterricht in der Hygiene erhalten haben und
dass für die Ausbildung der Militärärzte auch ein Laboratorium
bestand, welches namentlich unter der Leitung des vortreflFlichen,
auf dem experimentirenden Standpunkt stehenden Parkes gutes
leistete; aber die Auffassung der Hygiene von Seiten Pettenkofers
war doch eine viel weitere und tiefere.
137
Nun fanden sich in dem Hause viele Schüler aus allen Ländern
ein und es begann eine emsige Thätigkeit; so wie die jungen
Chemiker zu Liebig nach Giessen wanderten, so suchte lange Zeit
fast Jeder, der sich in der Hygiene ausbilden wollte, das Institut
in der Findlingstrasse auf; seine Jünger finden sich jetzt auf den
Lehrstühlen für Hygiene an vielen Universitäten oder in angesehenen
staatlichen Stellungen.
Von den Schülern wurde in der Richtung des Lehrers fort-
gearbeitet und sein Werk ausgebaut; zahlreiche weitere Unter-
suchungen sind von ihnen über die uns umgebende Luft, über das
Wasser, den Boden, die Kleidung, die Wände der Wohnungen, über
Ventilation, Kanalisation, Desinfektion, giftige Gase etc. auf seine
Anregung gemacht worden.
Die weitere Entwicklung der Hygiene war zum Theil nicht so,
wie er sie sich gedacht hatte; die Bakteriologie, von welcher wichtige
Aufschlüsse zu erwarten waren, nahm die Geister und Kräfte so
sehr in Anspruch, dass die experimentelle Hygiene etwas in den
Hintergrund trat. Es wird diese zeitweise Verschiebung der Arbeit
sicherlich schliesslich der gesammten Hygiene zu Gute kommen und
auch der experimentellen Hygiene neue Aufgaben zu gemeinsamem
Wirken zuführen.
Im Jahre 1876 bekam Pettenkofer abermals eine Berufung
nach auswärts; er sollte an die Spitze des neu errichteten deutschen
Reichsgesundheitsamtes treten; es war ein Zeichen, dass man ihn
als den ersten Vertreter der öffentlichen Gesundheitspflege in
Deutschland ansah. Er lehnte auch diesen Ruf ab, obwohl er in
der Errichtung des Gesundheitsamtes einen grossen Fortschritt für
die praktische Hygiene erblickte. Sein Entschluss war auch hier
wohl der richtige, denn er wäre dadurch aus einer ihm völlig zu-
sagenden erspriesslichen Lehr- und Forscher -Thätigkeit gerissen
worden, und er hätte sich längere Zeit überwiegend mit administra-
tiven Angelegenheiten zu befassen gehabt. Er nahm aber als wissen-
schaftliches Mitglied des Amts an den Berathungen lebhaften Antheil.
18
138
Zu diesem Zeitpunkte war Pettenkofer zum gröasten Ansehen
in der Wissenschaft gelangt: er galt als der Vater der Hygiene und
als der erste in seinem Fache. Wenn ich mir ein Urtheil erlauben
darf, 80 stelle ich am höchsten seine Leistungen in der experimen-
tellen Hygiene, die an Feinheit der Beobachtung der Erscheinungen
und an Gewandtheit in der Auffindung der Ursachen durch das
Experiment geradezu unübertroffen dastehen. Aber sein Name
wurde doch erst allgemein auch ausserhalb der Kreise der Wissen-
schaft bekannt durch die Anwendung, welche er von seinen Lehren
für das Leben zu machen wuaste. Von Anfang an hat Pettenkofer
in fast allen seinen Arbeiten einen praktischen Zweck im Auge
gehabt oder wenigstens schliesslich einen solchen erkannt; ea war
dies ein charakteristischer Zug seines Geistes. In einer höchst
beachtenswerthen akademischen Festrede: „Die Chemie in ihrem
VerhältnisB zur Physiologie und Pathologie", welche er im Jahre
1848 im Alter von 29 Jahren hielt und in der er eingehende!
Kenntnisse in der Geschichte der Chemie zeigte, sagt er wörtlicha
„ein Mann der ächten Wissenschaft kümmert sich jederzeit zuerst '
um Wahrheiten; aber wer ist so durch und durch Philosoph, daw
er nicht als Bürger eines Staates, als Haupt oder Glied einer
Familie zu dem Gedanken gezwungen werden könnte: Was lässCJ
sich aus dem Schatze meiner Erfahrungen und von den ilesultatenV
meines angestrengten Nachdenkens dazu verwenden , denen ,
welchen wir so kurz auf Erden zusammen sind, das Herz zu er-<-|
freuen, ihre Leiden zu stillen, oder ihnen dankbar zu sein für aoti
Vieles, was wir von ihnen empfangen? Als Mensch ist der Gelehrl
sogar hiezu verpflichtet, und er ist entweder ein Schwächling oder.]
ein herzloser Unmensch, wenn er anders denkt oder handelt." lal
den meisten seiner Arbeiten ist dieser praktische Zug des Nutzens!
und ein ungewöhnliches technisches Geschick hervorgetreten:
seinen metallurgisclien Untersuchungen in der Münze, der Nach-
bildung des Hämatinon, der Prüfung des Verhaltens der Zinkdecke
auf einem Eisenblechdach und der Schätzung der Dicke einer Ver-,_
139
zinkung an Drähten, der Auffindung der Ursachen des Festwerdens
des Cements, der Herstellung des Holzgases, der Regeneration der
Gemälde und vor Allem bei seinen experimentell hygienischen
Untersuchungen und zuletzt bei den epidemiologischen Fragen für
die Gesundheit. Es war ein Lieblingsthema von ihm, über die Be-
ziehungen der Theorie zur Praxis nachzudenken, und er huldigte
hierin dem Spruche seines Lehrers Fuchs: „die Wissenschaft ist der
Leitstern der Praktik, und diese verirrt sich ohne jene leicht im
düstern und unbegrenzten Reiche der Möglichkeiten." Man hört
so oft, die reine Wissenschaft habe ausschliesslich nach der Wahr-
heit zu suchen und nicht nach dem Nutzen, nach der Verwerthung
für praktische Zwecke zu fragen ; gewiss muss dies so sein während
der Forschung, aber warum sollte man nicht darauf aufmerksam
machen, wenn sich aus den gefundenen Wahrheiten etwas Nützliches
für die Menschheit ergiebt. Die grössten Naturforscher und Denker
haben sich nicht gescheut Nutzen zu stiften; ich will nur zwei
nennen, welche aus ihren wissenschaftlichen Thaten Folgerungen
gezogen haben zum Wohle ihrer Mitmenschen und zwar auf dem
gleichen Gebiete wie Pettenkofer. Der eine ist der unsterbliche
Lavoisier, das Opfer der französischen Revolution, der nach seinen
Entdeckungen über die Rolle des Sauerstoffs bei dem Verbrennungs-
prozess und der Athnmng sich um die Wohlfahrtseinrichtungen in
den Spitälern und Gefängnissen kümmerte, besonders darum, wie
man in ihnen eine frische Luft erhalten könne; der Andere ist der
schon erwähnte Benjamin Thomson Graf von Rumford, der geist-
volle Physiker, welcher hier in München sich um die Heizung, Be-
leuchtung und Ventilation von Gebäuden, um Verbesserungen in
Spitälern und Arbeitshäusern sowie insbesondere um die Ernährung
der Armen durch seine Suppe angenommen und hierin wahrhaft
Grosses geleistet hat.
In solcher Gesinnung stellte Pettenkofer seine ganze Kraft zur
Förderung der Gesundheit der Menschen zur Verfügung; er glaubte
fest an den praktischen Nutzen der Hygiene, wenn man sie nur
18*
140
recht wissenschaftlich bearbeite. Darum schuf er zuerst eine
sichere theoretische Grundlage und suchte dann auf diesem festen
Grund die Maassregeln für die öflFentliche Gesundheitspflege, für die
Verhütung der Krankheiten und die Verbesserung der Gesundheit.
Er machte öfter darauf aufmerksam, dass eine grosse Gefahr darin
bestehe, auf unsichere Meinungen und Einbildungen hin im Interesse
der Gesundheit Anordnungen zu empfehlen, bei denen man sich
auf angebliche Anforderungen der Hygiene stützt, welche jedoch in
der Wissenschaft noch nicht genügend bereift sind; solche Maass-
nahmen schneiden zumeist sehr tief in das Leben und in den
Säckel der Gemeinde und des Staates ein.
Er war sich von vorn herein klar, welche weittragende Be-
deutung seine hygienischen Bestrebungen haben; schon im Jahre
1854 sagte er in der Vorrede zu seinem Cholerabericht: „Wenn es
die Regierungen für ihre vornehmste Aufgabe halten, über Besitz
und Eigenthum der Angehörigen mit aller Strenge zu wachen, so
können sie nicht gleichgiltig bleiben für das theuerste Gut, für die
Gesundheit ihrer Völker! Jede Einrichtung, welche Kranheiten ver-
hindert, hebt den nationalen Wohlstand ebenso als sie die Streitkraft
eines Heeres vermehrt, und nicht minder häufig, als Kriegsheere
durch Krankheit Verluste und Niederlagen erleiden, untergräbt und
vernichtet Krankheit den Wohlstand von ganzen Familien. Alle
Anstrengungen, den Nationalwohlstand zu heben, werden theilweise
wieder vergeblich gemacht werden, wenn die Gesundheitspflege mit
den übrigen Fortschritten nicht gleichen Schritt hält."
Man hat ihn vielfach, seiner Erfahrung und seiner Weisheit
vertrauend, zu Hilfe gezogen und stets den den Verhältnissen ent-
sprechenden richtigen Rath erhalten. Die Stadt Basel frug bei ihm
(1867) an, als es sich um die Fortschwemmung der Fäkalien han-
delte; ebenso (1870) die Stadt Frankfurt a. M. in der gleichen
Frage. Vor Allem war er der Stadt München ein immer bereiter
Helfer in der Noth. Mehrere Choleraepidemien hatten die Stadt
schwer heimgesucht, und der Typhus war endemisch geworden, so
141
dass man wohl mit Recht München ein Typhusnest nennen konnte
und sich scheute es zu besuchen; viele Studirende aus Franken
und der Rheinpfalz, viele Fremde, welche die schöne Stadt mit
ihren Sehenswürdigkeiten aufsuchten, viele Einheimische sind der
schlimmen Seuche zum Opfer gefallen. Es war eine Lebensfrage für
die Stadt geworden, diese bösen Zustände zu bessern oder zu beseitigen.
Aus seinen Untersuchungen hatte er entnommen, worin die
Hauptursache des Uebels liegt, an der Verunreinigung des Bodens.
Als erstes Erforderniss sanitärer Reformen stellte sich also die
äusserste Reinhaltung und Reinigung des Bodens mit zwingender
Nothwendigkeit heraus, und damit war der Weg der Assanirung
von München gegeben. Und wie sah es in dieser Beziehung in dem
alten München aus: in jedem Hause bestanden seit vielen Jahren
die undichten Versitzgruben, die zum Theil zwanzig Jahre lang
nicht geräumt wurden und von denen aus der flüssige Theil der
Exkrete und die Abwässer des Haushalts in den porösen Kiesboden
versickerten, ihn in hohem Grade verunreinigten und zu einer
Brutstätte für Erkrankungen machten. In den Höfen befanden sich
ausserdem noch undichte stinkende Gruben für den Hausunrath; in
einer beträchtlichen Anzahl von Häusern der Stadt waren Räume
zum Schlachten von Thieren, wodurch eine weitere ergiebige Quelle
für die Beschmutzung des Bodens gegeben war; besondere, richtig
eingerichtete Kanäle waren nicht vorhanden, aus einem Theile der
Häuser der Altstadt gelangte der Inhalt der Abtritte direkt in die
theilweise offenen Stadtbäche. Das aus mehreren Leitungen stam-
mende Trinkwasser war zwar im Allgemeinen nicht schlecht zu
nennen, es war aber in viel zu geringer Menge vorhanden und
musste zumeist aus dem Grundwasser gepumpt und mit Mühe in
die einzelnen Stockwerke getragen werden, wodurch die Reinhaltung
der Wohnungen sehr erschwert wurde. In den Häusern war durch-
gängig ein übler Geruch nach den Abtritten wahrzunehmen, zum
Entsetzen der an andere Verhältnisse gewohnten Fremden, nament-
lich der Engländer.
142
Hier griflf nun Pettenkofer durch seine überzeugenden Dar-
stellungen des Uebels und mit der Siegesgewissheit , dass seine
Theorie sich in der Praxis bewähren werde, ein. Es mussten jedoch
auch die Männer vorhanden sein, welche ihm unerschütterlich ver-
trauten und sich durch ihn überzeugen Hessen, dass durch die von
ihm empfohlenen Maassregeln geholfen werden könne; die Verant-
wortung, die sie übernahmen, war eine sehr grosse, denn es handelte
sich um eine Ausgabe von vielen Millionen. Er hatte das Glück
solche Männer zu finden, besonders in dem weisen Bürgermeister
Alois V. Erhardt und dem energischen städtischen Baurath Arnold
V. Zenetti. Er hob es stets dankend hervor, dass ohne diese
Männer das grosse Werk nicht geglückt wäre. Als er dem Bürger-
meister die Typhuskarte von Wagus und die beiden Abhandlungen
von Seidel vorlegen konnte, da war derselbe bereit, alle Opfer zu
bringen für das, was er jetzt als richtig erkannt hatte.
Das erste grosse Unternehmen, welches in Angriff genommen
wurde, war die Beschaffung laufenden reinsten Quellwassers in aus-
reichendem Maasse und in allen Stockwerken der Häuser; unter
der Beihilfe unseres verstorbenen Mitgliedes, des Geologen Wilhelm
V. Gümbel, gelang die Auffindung für alle Zeiten genügender reiner
Quellen aus dem Gebirge, so dass München in dieser Beziehung von
keiner Stadt übertroffen wird. Im Jahre 1883 war die segensreiche
Einrichtung vollendet.
Daran schloss sich (1878) die Errichtung des grossartigen
Centralschlachthauses, wodurch die vielen unkontrollirbaren Schlacht-
stätten aus den Häusern an einem Ort vereiniget wurden.
Die grössten Schwierigkeiten und Widerstände waren jedoch
zu überwinden bei den Maassregeln zur Unschädlichmachung der
Exkrete und des übrigen Unrathes. Die interessante Geschichte
dieser Bestrebungen findet sich in der Darstellung, welche Professor
Hans Buchner über die Assanirung Münchens in der von der
Stadt München gewidmeten Festschrift für die Naturforscherver-
sammlung in München (1899) gegeben hat. Schon im Jahre 1856
I
, auf den Antrag des GeBundlieitsratbea unter dem Bürger-
meister V. Steinsdorff die ersten Anläufe, durch Kanalisation allen
Unrath aus der Stadt fortzuschaffen, um dadurch die so schädlichen
Versitzgniben zu beseitigen ; es wurden zu diesem Zweck in ein-
zelnen Strassen schon Kanäle gebaut; aber als man 1862 auf Ver-
anlassung des Polizeidirektors v. Pfeutfer den Inhalt der Versitz-
gruben und die Abwässer in diese Kanäle einleiten wollte, da siegte
die Opposition, so dass eine schon erlassene, mühsam erkämpfte
ortspolizeiliche Vorschrift wieder aufgehoben werden musste. Petten-
kofer, der die Saclie wissenschaftlich noch nicht für reif hielt,
wagte damals vorsichtiger Weise noch nicht die Verantwortung für
allenfallsige Gefahren durch das Einleiten der Exkrete in die Kanäle
zu übernehmen ; in einem von der Stadt hierüber erbetenen Gut-
achten sprach er sich daher noch dagegen aus, insbesondere wegen
des mangelhaften Zustandes eines grossen Theils der Kanäle; aber
er empfahl das strenge Verbot der Versitzgruben und die wasser-
dichte Herstellung der Gruben durch Auskleidung mit Cenient sowie
das Fortführen weiter Abtrittrohre über das Dach des Hausee;
diese vorläufigen Maaesnahmen, deren Durchführung anfangs heftigen
Widerstand von Seiten der Hausbesitzer fand, haben gewiss schon
zur Besserung der Gesund heits Verhältnisse der Stadt beigetragen.
Im Jahre I8G9 erfolgte jedoch die prinzipielle Aenderung
seiner theoretischen Anschauungen hierüber, als die Analysen
zeigten, dass der Boden unter den Kanälen nur in geringem Grade
verunreiniget war, die Kanäle also genügend dicht schlössen. Da
veranlasste er eine genaue chemische Untersuchung des Isarwassers
auf seinem Laufe durch die Stadt durch seine Schüler Brunner und
Emmerich (1878), aus der hervorgieng, dass das Isarwasser nach
seinem Austritt aus München rein geblieben war, obwohl eine
Anzahl von Anwesen die Fäkalien in die Stadtbäche entleerten. Die
rasch fliessende Isar führt nach seiner Berechnung auch beim
niedersten Wasserstand genügend Wasser, dass auch bei völliger
Einleitung der Fäkalien die zulässige Grenze der Verunreinigung
144
nicht überschritten wird; als er Harn und Koth im Verhältniss ihrer
Erzeugung mit der entsprechenden minimalsten Wassermenge
mischte, war keine Veränderung des Wassers und kein übler Geruch
desselben wahrzunehmen.
Diese Resultate der wissenschaftlichen Untersuchung gaben ihm
endlich die volle Sicherheit von der Unschädlichkeit der Einleitung
der Exkrete in die Kanäle und in die Isar, die er dann auch mit
unermüdlicher Ausdauer verfocht. Nach heissen Kämpfen wurde
1890 die Abschwemmung in die seit 1881 erbauten Kanäle für
den grösseren links der Isar liegenden Stadttheil gestattet und 1892
auf ein einstimmig abgegebenes Gutachten des Obermedizinal-Aus-
schusses die Erlaubniss zur provisorischen Einleitung aller Ab-
wässer in die Isar erwirkt, womit es endlich möglich war, auch
die Wasserklosets in München einzuführen, ohne welche die Eng-
länder schon längst glauben nicht mehr leben zu können. Die
unterhalb München liegenden Städte, Freising und Landshut, setzten
zwar noch den grössten Widerstand entgegen; aber trotz aller
schlimmen Voraussagungen und Befürchtungen und aller genauen
Prüfungen hat sich bis jetzt nicht der mindeste Nachtheil gezeigt;
das Isarwasser ist in Freising ganz rein von den zahlreichen Ab-
fällen der volkreichen Stadt München geblieben; auch ist bei der
grossen Geschwindigkeit des Flusses keine Sedimentirung einge-
treten. Die starke Verdünnung bewirkt, dass eine Verunreinigung
nicht sichtbar ist; dazu kommt noch der eigenthümliche, schon
längst bekannte Vorgang der Selbstreinigung der Flüsse, der theil-
weise auf der Sedimentirung der festen Theile, aber auch auf der
Oxydation der organischen Stoffe durch den Sauerstoff des Wassers
und auf der Wirkung niederer Pflanzen beruht. Nach den chemi-
schen und bakteriologischen Untersuchungen von Wilhelm Prausnitz
geht im Isarwasser dieser Prozess schon in kurzer Zeit vor sich,
80 dass 30 Kilometer unterhalb der Einleitestelle der Siele das
Wasser wieder so rein ist wie oberhalb der Stadt.
Damit begann die allmähliche Reinigung des Bodens und die
145
Assanirung Münchens, deren Folge war, dass die Sterblichkeit von
40 pro mille im Jahre 1870 auf 30 pro mille im Jahre 1890 sank
und die Zahl der Typhustodesfälle auf 100000 Einwohner von 72
im Jahre 1880 auf 14 im Jahre 1898 herabgieng. Manchen ist
jetzt eine der tjphusfreiesten Städte des Erdballs geworden, wie
kürzlich in einer medizinischen Zeitschrift Englands stand, und sie
hat ein unschätzbares Kleinod, den Ruf als eine gesunde Stadt erhalten.
Was diese Thatsachen zu bedeuten haben, kann Jeder ermessen;
die Stadt hat seitdem nicht nur in der Reinigung des Bodens Fort-
schritte gemacht, sie hat sich auch in den übrigen sanitären Ein-
richtungen der Wohnhäuser, der Schulen, der Bureaus, der Ver-
pflegungsanstalten etc., wo alles früher auf das Kümmerlichste
bestellt war, zu ihrem Vortheil geändert; die Bürger haben dadurch
Freude an ihrer Stadt bekommen und Alles aufgewendet, sie auch
zu einer schönen Stadt zu machen, indem gemeinnützige Schöpfungen
entstanden sind, an die man früher nicht hat denken können. Jetzt erst
nach der Gesundung der Stadt konnte der Ausspruch des kunstsinnigen
Königs Ludwig I. wahr werden: er wolle seine Hauptstadt so gestalten,
dass Niemand Deutschland kennt, der München nicht gesehen habe.
Die Stadtgemeinde zeigte sich auch ihrem Mitbürger dankbar,
wie es nicht übertroffen werden kann; man war sich bewusst, dass
er, der seine ganze Kraft für die Wohlfahrt und das Gedeihen der
Stadt einsetzte, einer ihrer edelsten und hilfreichsten Freunde und
Wohlthäter war, die sie je besessen. Pettenkofer war der populärste
Mann der Stadt, geehrt und geliebt von Allen. Er liebte sie aber
auch die Stadt, in der er seinen Geist hat entfalten können; er
wünschte, dass es ihr nie an weisen Männern fehlen möge, die sie
immer mehr entwickeln helfen, damit sie wie in ihren ersten Anfängen
eine Salzstätte bleibe in fruchtbarem Wissen sowie in jedem Schönen
und Guten und ihre Bürger gesund und glücklich leben. Im Jahre
1872 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt ernannt und (1893) bei
seinem 50jährigen Doktorjubiläum erhielt er die goldene Bürger-
medaille, das höchste Ehrenzeichen, welches der Stadt zu Gebote
19
146
steht: „als Beweis der unendlichen Liebe und Verehrung der
Münchener Bürgerschaft für ihren Führer auf dem Wege des ge-
sundheitlichen Fortschritts.** Eine Vereinigung Münchener Bürger
überreichte ihm an seinem 81. Geburtstag eine goldene Denkmünze
mit seinem Bildnisse und der Inschrift: „dem Hohenpriester der
Hygiene, dem Verscheucher Verderben bringender Krankheiten vom
heimathlichen Boden, dem um das Wohl der Vaterstadt höchst ver-
dienten Max V. Pettenkofer widmen diese goldene Denkmünze als
Zeichen unbegrenzter Verehrung, Dankbarkeit und Liebe Münchener
Bürger.'' Und nun nach seinem Heimgange soll die Findlingstrasse,
in welcher er seine grossen Arbeiten ausführte und das hygienische
Institut steht, seinen Namen erhalten, und ein grösseres Denkmal
auf einem der schönsten Plätze der Stadt sein Andenken auf ferne
Geschlechter übertragen.
Der Einfluss Pettenkofers beschränkte sich jedoch nicht auf
München, seine Leistungen über die Städtereinigung kommen auch
anderen Städten und Gemeinwesen ebenso zu Gute; er ist auch
ihnen ein sicherer Wegweiser geworden für alle Bestrebungen auf
dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege; namentlich in
Deutschland ist durch ihn seit den sechziger Jahren in sanitärer
Hinsicht sehr viel geschehen. Der I. Bürgermeister der Stadt München,
Herr v. Borscht, äusserte bei der Feier des 50jährigen Doktor-
jubiläums Pettenkofers: „der Quell, der vor fünf Dezennien voll
Lebendigkeit aus der Tiefe wissenschaftlicher Gründlichkeit ent-
sprungen, hat seine befruchtende Kraft nicht ausschliesslich seiner
nächsten Umgebung mitgetheilt, er ist zum mächtigen Strom angewachsen,
dessen Segnungen sich weit über das engere und weitere Vaterland
hinaus über die ganze civilisirte Welt verbreiteten; es giebt heute
keine aufstrebende Stadt, welche nicht die Pettenkofer'schen Gesund-
heitslehren in die praktische Wirklichkeit zu übersetzen bemüht
wäre, es giebt keinen Kulturstaat, der nicht die öffentliche Gesund-
heitspflege im Sinne Pettenkofers als eine seiner wichtigsten Auf-
gaben betrachtete." Es wäre ein grosser Irrthum, wollte man bei
147
solchen Erfolgen die Bestrebungen für Verbesserung der Gesundheit
der Städte als abgeschlossen betrachten; die Wissenschaft und die
Praxis dürfen nicht erlahmen und sie müssen sich bewusst sein, daea
hierin noch unendlich viel zu thun ist, worauf gerade Pettenkofer
häuSg hinwies.
In mehreren amtlichen Kreisen wirkte Pettenkofer für die
Verbreitung und Anwendung seiner Lehren und bekämpfte uner-
müdlich die ihm falsch erscheinenden Anschauungen. — Als das
deutsche Reich (1873) die erste Aktion in Gesundheitsfragen von
Reichswegen machte und die Ueicha-Cholera-Commission einsetzte,
war er Vorsitzender und geschickter Leiter der Verhandlungen; im
späteren Reichsgesundheitsamt trat er, wie schon erwähnt, als
ausserordentliches Mitglied ein. — In den bayerischen Obermedizinal-
Ausschusa war er als junger Mann von 30 Jahren berufen worden
und darin von 1849 bis 1901, also über 50 Jahre, längere Zeit
als Vorstand, thätig. Er benützte dieaea Organ, welches zwischen
der wisaensehaftliclien Medizin und der praktischen Medizin alpolizei
zu vermitteln hat, um die Ergebnisse seiner Forschungen durch
Verordnungen, Vorschriften und Institutionen in der Praxis lebendig
zu machen; seine Gutachten waren von nahezu unfehlbarer Bedeu-
tung. — Auch im Gesundheitarathe der Stadt München war er seit
seinem Bestehen ein äusserst wirksames Mitglied.
Ganz besonders innig und fruchtbai- gestaltete sich sein Ver-
hältniss zu den Aerzten und zu dem Münchener ärztUchen Verein,
in den er schon im Jahre 1850 eingetreten war. Die Aerzte
konnten in ihrer praktischen Thätigkeit den Nutzen seiner Lehren
vielfach erproben und sie fühlten, dass ihnen durch dieselben eine
neue wirksame Waffe im Kampfe gegen die Krankheit durch Ver-
hütung derselben geworden und daaa dadurch die Bedeutung des
ärztlichen Standes ganz ungemein gehoben wurde. Auaaerdem hat
Niemand ao vielfältige Gelegenheit als der gute Arzt io seinem
dornenvollen und doch so segensreichen Berufe, die Lehren der
Hygiene als befruchtenden Samen unter das Volk »UHZuatreuen.
148
Pettenkofer trennte jedoch hierin scharf die Aufgabe des Arztes
und der wissenschaftlichen Hygiene; der Arzt soll die Lehren
der letzteren kennen und im Leben anwenden, jedoch als solcher
über hygienische Fragen nicht entscheiden, wozu er nicht befähiget
ist; dies ist ausschliesslich Aufgabe der hygienischen Forschung.
Der Arzt, so sagt er, wäre gewohnt, in der Praxis seinen Kranken
zu befehlen und bindende Verordnungen zu erlassen; in der öffent-
lichen Gesundheitspflege wäre jedoch der autokratische Standpunkt
der ärztlichen Praxis unhaltbar; dem Staat und der Stadtgemeinde
könne der Arzt keine Verordnungen schreiben, nur die Hygiene habe
als untersuchende, forschende, experimentelle Wissenschaft die sicheren
Grundlagen für die Anwendung zu schaffen und auszubilden, die
dann der Arzt unter Hinweis auf dieselben benützt. Pettenkofer
brachte daher dem ärztlichen Verein gerne und mit Vorliebe die
Resultate seiner Forschungen in Vorträgen entgegen, die ihm warme
Anhänger, eifrige Verbreiter und Anwender seiner Ideen warben.
Er war den Aerzten für ihre Unterstützung stets herzlich zugethan
und sie brachten ihm auch ihre besondere Dankbarkeit entgegen.
Der ärztliche Verein wollte ihm einen sichtbaren Beweis dafür geben,
indem er ihm an seinem 81. Geburtstage eine von Künstlerhand
geformte werthvolle silberne Tafel überreichte, wobei Pettenkofer
in rührender Weise dankte und vom Verein für immer Abschied nahm.
Am Gipfel seines Ruhmes angelangt, erhielt Pettenkofer von
überall her Zeichen der höchsten Anerkennung von Seiten des
Staates und gelehrter Gesellschaften. Vier bayerische Herrscher
erwiesen dem grossen Gelehrten ihre Gunst und Gnade; es wurde
ihm der persönliche Adel und dann der erbliche Adel und zuletzt
(1896) der Titel „Excellenz« verliehen.
Im Jahre 1897 bekam er die goldene Harben-Medaille des
British Institute of public health; es war eine besondere Ehrung,
dass das Wirken und die Bedeutung Pettenkofers gerade in England
gewürdiget wurde, von dem Lande aus, in welchem die öffentliche
Gesundheitspflege ihren Ursprung nahm und auf dessen Einrichtungen
149
und Erfolge er vielfach sein Urtheil in den Fragen der Städte-
reinigung gegründet hatte. Das Journal of State Medicine bezeich-
nete es bei dieser Gelegenheit als seinen grössten Ruhmestitel, dass
es ihm gelang, die Welt von der Noth wendigkeit und dem
Werth exakter, systematischer und beständiger Beobachtungen und
Messungen auf dem Gebiete der Hygiene und von der Verpflichtung
zu deren Förderung zu überzeugen.
Der Medaille der deutschen chemischen Gesellschaft zum Ge-
dächtniss seiner Abhandlung über die Atomgewichte (1899) wurde
vorher schon gedacht.
Von der allgemeinen Theilnahme getragen waren die Kund-
gebungen bei seinem 70. Geburtstag und seinem 50 jährigen Doktor-
jubiläum. An seinem 70. Geburtstag (1888) versammelten sich seine
Schüler von Nah und Fem, um ihm seine aus der Meisterhand
W. V. Rümanns hervorgegangene Marmorbüste, welche nach seinem
Tode im Hörsaal des hygienischen Instituts Aufstellung finden sollte,
zu überreichen; die Stadt München trug 10000 Mark zu einer
Pettenkofer-Stiftung bei, aus welcher hygienische Untersuchungen
unterstützt oder für die öffentliche Gesundheitspflege bedeutsame
Arbeiten belohnt werden; die Stadt Leipzig betheiligte sich mit
5000 Mark an derselben. — Bei dem 50jährigen Doktorjubiläum
(1893) fand Vormittags im ehrwürdigen alten Rathhaussaale eine
grossartige Feier statt, bei welcher zur Beglückwünschung zahlreiche
Deputationen erschienen: von dem Reichsgesundheitsamt, der Uni-
versität und medizinischen Fakultät, dem Obermedizinal-Ausschuss,
dem Gesundheitsrath, der Stadtgemeinde, der Akademie, dem von
ihm besuchten Gymnasium, dem ärztlichen Verein und den Schülern,
die ihm einen Jubelband des Archivs für Hygiene mit vielen werth-
voUen Abhandlungen widmeten; auch waren zahllose Adressen von
Universitäten und wissenschaftlichen Gesellschaften sowie andere
Gratulationsschreiben eingetroffen. Ein Festmahl im alten Rathhaus-
saale vereinigte Abends Alle, welche dem noch in voller Rüstigkeit
befindlichen Jubilar ihre Verehrung und Liebe bezeigen wollten.
150
Bei Gelegenheit einer Conferenz des Kartells der deutschen
Akademien in München (1899) wurde dem greisen Gelehrten, der
als damaliger Präsident unserer Akademie die Theilnehmer zu einer
zwanglosen abendlichen Zusammenkunft eingeladen hatte, eine über-
aus herzliche spontane Huldigung der Vertreter der auswärtigen
Akademien durch den beredten Mund des Chemikers Joh. Wislicenus in
Leipzig zu Theil, die allen beiwohnenden unvergesslich bleiben wird. —
Es ist vorher schon erwähnt worden, wie die Vorlesung
Pettenkofers über Hygiene allmählich sich entwickelte. In der
Vorlesung für die Mediziner war sein Vortrag durchaus kein
rhetorisch glänzender, er war einfach wie eine persönliche Be-
sprechung, hie und da aussetzend, jedoch ausserordentlich ver-
ständlich und seines bedeutsamen Inhaltes wegen in hohem Grade
fesselnd; hatte er ja doch fast nur von dem zu berichten, wozu er
sich durch eigene Kraft durchgerungen hatte; er brachte dem
Hörer neue ungewohnte Vorstellungen bei, die ihn zum Denken
zwangen und nachhaltig auf ihn einwirkten, indem sie ihn zur
wissenschaftlichen Beobachtung aneiferten. — Wenn er in anderen
Vorträgen vor einem sachkundigen Publikum z. B. im ärztlichen
Verein die Resultate seiner jeweiligen Untersuchungen sowie seine
von den bisherigen Ansichten abweichenden Lehren darlegte und
sie gegen die vielen Angriffe vertheidigte, da konnte er stets seines
Erfolges sicher sein; der Eindruck seiner schön gefügten, mit
äusserst wohlklingender Stimme gesprochenen Worte war, besonders
wenn er in Eifer gerieth, ein so hinreissender, dass Niemand sich
demselben zu entziehen vermochte. Und doch war er kein eigent-
licher Redner, denn er schrieb seine grösseren Vorträge und Reden,
weil es ihm auf eine ganz bestimmte Fassung ankam, stets auf und
las sie ab; jedoch hatte der Hörer auch da den Eindruck, als ob
er vor ihm erst seine Gedanken concipire und frei vortrüge. Sollte
er unvorbereitet sprechen, dann stockte er öfters in der Rede und
räusperte sich und man sah es ihm an, wie schwer es ihm manch-
mal wurde, für das, was er sagen wollte, das richtige Wort zu
161
fiDden; jedoch waren auch diese seine frei gesprochenen Reden
Btets von Bedeutung, voll von Ideen und oft von köstlichem Humor.
Ganz anders war es beim Schreiben. Er schrieb seine Ab-
handlungen in unglaublich kurzer Zeit nahezu druckfertig nieder;
hatte er einmal Aeusserungen von seiner Seite für nöthig gehalten,
dann konnte er Tage und halbe Nächte lang in einem Zuge
schreiben; noch Anfangs der neunziger Jahre kam es vor, dass er
Nacht um Nacht bis Morgens gegen 3 Uhr bei der Lampe sasa. In
solchen Lagen zeigte sich seine ganze Energie und Arbeitskraft:
die grosse Untersachimg über die Verbreitungsart der Cholera von
1854, in der seine neue Lehre schon im Wesentlichen enthalten
war, lag drei Monate nach Ablauf der Seuche vollendet vor; sein
letztes 50 Bogen starkes Werk über den jetzigen Stand der Cholera-
frage schrieb er in seinem 70. Lebensjahre (1885 — 1887) in nicht
ganz einem Jahre; die wunderbare akademische Gedächtnissrede auf
Liebig war in wenigen Wochen fertig.
Er war ein Meister einer schönen und klaren Darstellung,
belebt durch eine Fülle glänzender Gedanken und gewürzt durch
einen feinen Humor; seine Schreibweise, von einem ganz eigenen
Reiz, kann geradezu klassisch genannt werden; er hatte sie als Ge-
winn des Studiums der alten und neuen Klassiker erworben. Durch
zahlreiche Gleichnisse und Bilder kam er dem Verständniss bei
schwierigen Auseinandersetzungen zu Hilfe und treffende Beispiele
aus dem Leben und aus der täglichen Erfahrung machten die Vor-
gänge anschaulich. Ich habe seine Abhandlungen erneut mit dem
grössten Vergnügen und dem reinsten Genüsse gelesen; während
sonst wissenschaftlichen Darstellungen oft und mit Recht der Vor-
wurf gemacht wird, dass sie für das gebildete Publikum ungeniess-
bsr und nur für die Sachverständigen lesbar und verständlich seien,
lesen sich die Schriften Pettenkofers trotz strengster Wissenschaft-
Hchkeit flüssig und leicht, theilweise, besonders seine populären
Vorträge, wie ein Roman. Er war gezwungen, gemeinverständlich
zu schreiben, um seine Lehren und Anschauungen allgemein bekannt
152
zu machen und für ihre Einführung zu wirken. Liebig, ebenfalls
ein Meister populärer Darstellung, hat kurz vor seinem Tode der
(1873) zur Belehrung und Beruhigung des . Publikums geschriebenen
Abhandlung Pettenkof ers : „was man gegen die Cholera thun kann^
den höchsten Preis ertheilt, den er für populäre Schriften zu ver-
geben hatte; er drückte seinen Beifall in folgenden Worten aus:
»Ihre Schrift ist im Styl ganz vortrefflich gehalten und in Be-
ziehung auf Einfachheit und Klarheit der Sprache ein wahres
Meisterstück; sie mag den meisten Lesern vorkommen wie aus dem
Aermel geschüttelt, was man auch von mehreren meiner chemischen
Briefe gesagt hat; aber ich bin gewiss, dass Sie sehr viel Aufmerk-
samkeit und Sorgfalt auf die Abfassung derselben verwendet haben,
wie dies bei den chemischen Briefen von mir geschah; das Einfache
und Frische in der Diktion ist Sache der Kunst, die man aber
dabei nicht merken muss.^
Pettenkofer hat, wie wir erfahren haben, harte Kämpfe für
seine epidemiologischen Lehren durchgeführt und das, was er für
unrichtig hielt, scharf angegriffen, er war kampfesmuthig und
kampfeslustig bis ans Ende; immer und immer wieder brachte er
die Gründe, die ihn bestimmten anderer Ansicht zu sein, vor, weil
er durch die von ihm gefundenen Thatsachen zu einer unumstöss-
lichen üeberzeugung gelangt war und hoffte, die Anderen endlich
auch zu überzeugen und zu Untersuchungen in seiner Art anzu-
spornen. Dabei war er jedoch sachlich und maassvoll, allerdings
ab und zu witzig und ironisch, aber niemals hat er, wie es heut
zu Tage leider nicht selten geschieht, eine persönliche Polemik
geführt oder ein unedles und unwahres Treiben in Bekämpfung
der Gegner angewendet; nur dann konnte er gewaltig aufbäumen
und geradezu furchtbar werden, wenn er sah, dass die ihm heilige
Wissenschaft zu unredlichem Thun missbraucht wurde, wie z. B. als
Jemand eine von ihm aufgefundene Thatsache ins Lächerliche zog
und meinte, man könnte beim Vergleich der Frankfurter Kurse
ebenfalls einen Zusammenhang mit den Typhustodesfallen heraus-
153
finden wie mit den Schwankungen des Grundwassers; da brach er
in die Worte aus: „wer die Rolle des Clowns mit Erfolg spielen
will, der darf von den Spässen und Sprüngen, die er etwa machen
zu können meint, nicht blos reden, sondern er muss sie mit über-
raschender Schnelligkeit und Leichtigkeit sofort exekutiren, und
erst wenn er dabei keinen Aufsatz prästirt, wird das lachlustige
Publikum ihm Beifall klatschen.**
Am glücklichsten war Pettenkofer im Laboratorium unter
seinen, wissenschaftliche Aufgaben bearbeitenden Schülern, die er
zur Arbeit anregte und denen er den richtigen Weg des Findens
der Wahrheit beizubringen und seinen Geist einzuhauchen suchte.
Das Verhältniss eines bedeutenden Lehrers zu seinen für die Wissen-
schaft begeisterten Schülern wird ja immer als eines der schönsten
und edelsten auf dieser Erde angesehen ; Pettenkofers Verhältniss zu
seinen Schülern war ein besonders herzliches. Er trat ihnen nicht
als der überlegene Gelehrte gegenüber, sondern wie der Strebende
den Mitstrebenden. Was aber den Schülern noch mehr werth war
als der eifrige Lehrer, zu dem sie in Ehrfurcht emporsahen, das
war, dass er ihnen ein väterlicher Freund war, der mit warmem
Interesse ihre Entwicklui^g und ihren ferneren Lebensgang verfolgte.
Darum waren und blieben sie ihm auch Alle in nie erlöschender
Liebe und Dankbarkeit zugethan. Dies zeigte sich in besonders
rührender Weise bei der Feier des 50jährigen Doktorjubiläums, wo
die von allen Seiten gekommenen Schüler nach den rauschenden
offiziellen Festlichkeiten sich in dem lieblichen Feldafing am Starn-
berger See mit dem geliebten Lehrer zusammenfanden, um noch
einige Stunden in traulichem Kreise zu verbringen. Alles war
erfreut, den Meister trotz seiner 75 Jahre noch so rüstig zu treffen;
man erinnerte sich der einstigen frohen Stunden der Arbeit im
Laboratorium und Dank kam ihm von allen Seiten entgegen. Und
doch konnte man eine wehmüthige Stimmung nicht unterdrücken,
denn es war voraussichtlich das letzte Mal, dass man sich im Leben
um den theuren Mann versammelte. Als nun Pettenkofer sich
20
154
erhob, um einen Rückblick über sein Streben und Wirken zu geben,
betonend, dass er viel Glück auf Erden gehabt habe, und als er
schliesslich in den herzlichsten Worten seinen Schülern für ihre
Liebe und für die Unterstützung seiner Bestrebungen dankte und
für das Leben von ihnen Abschied nahm und ihnen Lebewohl
sagte, da vermochte er vor Rührung kaum mehr zu sprechen und
es blieb in diesem feierlichen Augenblick kein Auge trocken. —
Werfen wir noch einen Blick auf die Eigenschaften des
Forschers Pettenkofer, dessen Werke wir kennen gelernt haben, so
tritt hervor, dass er ein äusserst feiner Beobachter der Natur-
erscheinungen war; er beachtete dabei Dinge, an denen, wie schon
erwähnt, die Anderen bis dahin achtlos vorüber gegangen waren.
Bei den verwickeltsten Vorgängen erkannte er alsbald mit seltenem
Scharfblick, auf was es dabei ankam; indem seine Aufmerksamkeit
stets auf das Grosse und Ganze sowie auf die quantitativen Ver-
hältnisse gerichtet war, wurde er davor behütet, Nebendinge als
Hauptsache und als wirksame Ursache anzusehen. Mit einem
Geschick ohne Gleichen fand er die Ursachen der Dinge und vorher
dunkele Prozesse erschlossen sich durch ihn so vollständig, dass sie
uns als höchst einfache, fast selbstverständliche erscheinen; nament-
lich war es die chemische Kunst, die er wie nicht leicht ein Anderer
meisterte. Es sind wahrlich Forschungen ganz besonderer Art, zu
denen grössere Gaben gehören als für die gewöhnlichen chemischen,
physikalischen und physiologischen Untersuchungen.
Mit einer seltenen Virtuosität bediente er sich des Experiments
und mit erstaunlicher Gewandtheit wusste er die dazu nöthigen
Apparate zu erfinden. Oft habe ich ihn hierin bewundern können,
wie er mit den einfachsten Mitteln den Zweck zu erreichen wusste,
namentlich bei dem Bau des grossen Respirations-Apparates, den
Manche für seine grösste That halten. Wie rasch überwand er da
die Schwierigkeiten, als Alles zu stocken drohte und bange Augen-
blicke eintraten, als z. B. bei der Untersuchung eines Bruchtheiles
der Luft die gewöhnlichen Aspiratoren versagten und die Gontrol-
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versuche die grössten Fehler in der Bestimmung der Kohlensäure
und des Wassers ergaben, die er dann durch einen, stets gleich-
bleibende Bruchtheile der Luft entnehmenden Mechanismus besei-
tigte, oder als er statt der gewöhnlichen Quecksilberventile, die ihren
Dienst nicht thaten, die schief gestellten Kugelröhren erfand oder als er
zum ersten Male die unerlässlichen Control-Bestimmungen versuchte. —
So wie sein Talent und sein Geist als Gelehrter, waren auch in
seltener Harmonie seine Charaktereigenschaften entwickelt; man
wusste nicht, wen man höher stellen sollte, den grossen Gelehrten
oder den edlen Menschen. Für alles Schöne und Gute zeigte er
sich in hohem Maasse empfönglich; er war ein feiner Kenner der
Schönheiten der Natur sowie der Werke der bildenden Kunst, der
Musik und der schönen Literatur; er ist es auch gewesen, der den
Anfangs nur wenig beachteten Dichter Lingg durch seelenvolles
Vorlesen seiner Werke in gebildeten Kreisen bekannt machte; hat er
ja doch selbst seinen Stimmungen poetischen Ausdruck zu geben gewusst
in den schon erwähnten chemischen Sonetten sowie in den ergreifen-
den Haideliedern in Erinnerung an seine Heimath im Donaumoos.
Pettenkofer war eine ideal angelegte Natur, der Alles Gemeine
fern stand, ein reiner makelloser Charakter und von tiefem, wahr-
haft kindlichem Gemüthe. Ich habe Niemand gekannt, bei dem
die Schwächen, welche jeder Mensch besitzt, so zurückgetreten
wären wie bei ihm.
Man hätte denken sollen, ein Mann, der so gewaltige Thaten
vollbrachte, müsste auch in seinem Wesen etwas Imponirendes und
Selbstbewusstes angenommen haben. Aber trotz der höchsten Ehren
und Auszeichnungen blieb er natürlich und schlicht; alles gespreizte
und dünkelhafte Wesen war ihm fremd; auch in seinen Bedürf-
nissen war er von der grössten Einfachheit und Genügsamkeit.
Sein ganzes Dasein war dem Dienste der Wissenschaft geweiht.
Man würde darum in seiner Erscheinung nicht gleich den berühmten
Gelehrten, noch weniger einen Geheimrath oder eine Excellenz ver-
muthet haben. Von einer unendlichen, im tiefsten Inneren begrün-
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deten Bescheidenheit lehnte er sein Verdienst ab; er sagte gewöhn-
lich, er habe viel Glück gehabt und es habe viel mitgewirkt, was
man nicht auf seine Rechnung schieben dürfe, aber die Selbstkritik
habe ihn gesund erhalten.
Allerdings kannte er seine wahre Bedeutung und fehlte es
ihm zu rechter Zeit nicht an Selbstbewusstsein; auch war er nicht
gleichgiltig gegen äussere Ehren und Anerkennung, denn er freute
sich derselben, jedoch nicht für seine Person, sondern der Sache
halber, die er vertrat Er vermochte sehr wohl seine Würde
geltend zu machen und das Gewicht seiner Persönlichkeit für gute
Zwecke einzusetzen; ja er konnte gewaltsam sein, wenn er einmal
etwas als richtig ansah. Muthig pflegte er Schäden und Gebrechen
im Staate und in der Gesellschaft zu kennzeichnen, um zu ihrer
Beiseitigung beizutragen. In selbstloser Liebe zur Wahrheit erfreute
er sich neidlos an den Fortschritten und Errungenschaften der
Wissenschaft und immer war er voll gerechter Anerkennung der
Verdienste Anderer.
Wenn man über irgend welche Dinge in ein Gespräch mit ihm
kam, dann merkte man an der bedeutenden Rede bald, dass man
einen aussergewöhnlichen Menschen vor sich habe. In dem auf
einem kräftigen, wohlgebildeten Körper ruhenden prächtigen Haupt,
im Alter wie das eines altgriechischen Weisen anzusehen, war der
Ernst der geistigen Arbeit, aber auch das Wohlwollen des Menschen-
freundes ausgeprägt; von besonderer Schönheit war das unter
buschigen Brauen hervorleuchtende feurige Auge, das, wenn er
seine Gedanken lebhaft aussprach oder seine Freude und Theilnahme
äusserte, in wunderbarem Glänze strahlte; diesen Blick vermochte
kein Bild wiederzugeben, wesshalb man bei allen sich sagte, der
ganze Pettenkofer, wie wir ihn kannten, ist es doch nicht.
Ein hervorstechender Zug seines Wesens war seine ausserordent-
liche Herzensgüte und gewinnende Liebenswürdigkeit. Seine Güte
gegen Alle, auch den Geringsten war unerschöpflich; Jeder konnte
an ihn kommen mit irgend einem Anliegen, stets war er bereit, zu
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rathen und durch persönliches Eingreifen zu helfen, wo es möglich
war. Er nahm den herzlichsten Antheil an den Freuden und Leiden
der Mitmenschen und besonders den ihm näher Stehenden war er
ein allzeit treuer mitfühlender Freund; jedes Mal hatte man das
Gefühl, von ihm wieder etwas Gutes und Schönes empfangen zu
haben. Von mildem, versöhnlichem Sinn suchte er Differenzen und
Meinungsverschiedenheiten möglichst auszugleichen. Durch diese
seine Güte, die Niemand etwas zu Leid thun konnte, und seinen
empfänglichen Sinn Hess er sich allerdings manchmal zu Ent-
schlüssen bestimmen, welche Andere nicht gut hiessen. —
Nach dem Tode von Ignaz DöUinger wurde Pettenkofer (1890)
zum Präsidenten unserer Akademie und zum Generalconservator der
wissenschaftlichen Sammlungen des Staates ernannt; er hat dieses
Amt 9 Jahre lang in würdiger Weise zum Nutzen und Ansehen
unserer Gesellschaft bekleidet. Die Akademien wurden längere Zeit
als Vereinigungen angesehen, deren Bedeutung für die Wissenschaft
zum grossen Theil abgelaufen und an die Arbeitsstätten der Uni-
versitäten übergegangen sei. Aber es kamen doch wieder neue für
die Wissenschaft höchst fruchtbare Aufgaben hinzu. Es erwies sich
nämlich für die Entwicklung der Wissenschaft als nothwendig, ein-
zelne Arbeiten, welche sonst nicht möglich wären, zu unterstützen
und weiter gewisse grosse wissenschaftliche Unternehmungen ins
Leben zu rufen, welche nur durch die Vereinigung der Akademien
durchzuführen sind. Zu einer solchen Wirksamkeit gehören jedoch
ausreichende Mittel, welche die meisten Akademien, wie auch die
unsrige, nicht besitzen. Um diese Aufgaben erfüllen zu können,
wandte sich Pettenkofer, den Zeitpunkt richtig erkennend, an die
private Grossmuth, und es gelang seinem hohen Ansehen, der Aka-
demie Mittel zu den genannten Zwecken zu verschaffen. Edle
Münchener Bürger von echtem Gemeinsinn, wie sie unserer Stadt
nie fehlten, haben in Dankbarkeit für die Verdienste Pettenkofers
um die Stadt und in Erkennung des Nutzens der Wissenschaft eine
Bürgerstiftung bei der Akademie gegründet ; der Reichsrath v. Gramer-
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Clett und andere Wohlthäter steuerten beträchtliche Summen bei,
80 dass unsere Akademie jetzt in der Lage ist, in den angegebenen.
Richtungen die Wissenschaft zu fördern. . Pettenkofer erwarb sich
dadurch ein unvergängliches Verdienst um unsere Akademie; möchte
es der, Akademie und unseren Sammlungen, im Andenken an Petten-
kofers Wirksamkeit, auch weiterhin an Gönnern der Wissenschaft
nicht fehlen.
Im Jahre 1894 trat Pettenkofer von seinem Lehramte an der
Universität zurück und gab allmählich alle seine Stellen und Aemter
auf: 1896 die Vorstandschaft der Hofapotheke, 1899 das Präsidium
der Akademie und im vorigen Jahre kurz vor seinem Tode die
Stelle im Obermedizinal-Ausschuss. Bei den grossen Ansprüchen, die
er an sich und seine Pflichten zu machen pflegte, ertrug er es nicht,
sich sagen zu müssen, dass er nicht mehr ganz und voll wie einst
seine Stellen ausfülle. Er zog sich nun ganz zurück und lebte still,
im Winter in München, den Verkehr mit seinen Freunden unter-
haltend, im Sommer auf seinem geliebten Landsitz in Seeshaupt am
Starnberger See, wo er vom frühen Morgen an im Garten oder am
Seestrande thätig war, ohne jede Hilfe die Bäume und Sträucher
beschnitt, die Wege säuberte und das angefallene Holz spaltete.
Sein einziger Genuss in diesen letzten Jahren war die Freude an
dem Gedeihen seiner Anpflanzungen und der innige Verkehr mit der
Natur. An der weiteren Ausbildung der Hygiene, welche er ge-
schaffen, nahm er von da an nur mehr geringen Antheil und er
war nicht zu bewegen, der liebenswürdigen Bitte seines Schülers
und Nachfolgers entsprechend, an der Stätte seiner grossen Wirk-
samkeit einen Raum anzunehmen und an den Arbeiten des Instituts
noch mitzuwirken; nur in erquickenden Briefen an seine früheren
Schüler zeigte er noch das Interesse und die Freude an ihren Arbeiten.
Er war müde geworden, obwohl man ihm keine Spur des
Greisenalters anmerkte und er sich noch einer ganz ungewöhnlichen
körperlichen und geistigen Rüstigkeit erfreute; erhebliche Krank-
heiten, die ihn an Ausübung seiner enormen Arbeitskraft gehindert
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hätten, kannte er nicht und würde sie wohl auch nicht ruhig er-
tragen haben. Man hätte ihm daher noch eine längere Lebenszeit
zugetraut. Als 8 2 jähriger Greis gieng er ungebeugt einher, stieg
öfters des Tags die 122 Stufen zu seiner Wohnung in der könig-
lichen Residenz empor oder ruderte mit kräftigem Arm sein oft schwer
beladenes Boot durch den See oder schwamm in demselben umher.
Obwohl er sonst zumeist heiteren Sinnes war, fieng er schon
seit bald 30 Jahren an zu klagen, dass sein Gedächtniss abnehme
und dass er nicht mehr so leicht wie früher arbeite, was aber bei
seinem Alter ganz natürlich schien. Diese Klagen nahmen immer
mehr zu und fast jedes Mal als er mich aufsuchte, hörte ich ihn
sagen, dass ihm nichts mehr einfalle und er zu nichts mehr nütze
wäre, dass er des Lebens müde sei und gerne sterben würde. Wäh-
rend seines langen Lebens kannte er keinen anderen Zweck und
Genuss als den, rastlos zu arbeiten und da erschien ihm das Dasein
ohne die Arbeit schaal und nutzlos, wenn er hie und da auch im
Scherze meinte, er habe im Alter doch noch etwas gelernt, nämlich
faul zu sein. Dazu kam noch, dass er in seiner Familie schwere
Schicksalsschläge erlitten hatte; seine Gattin war im Jahre 1890
gestorben, sowie zwei Söhne und eine Tochter ihm in der Blüthe
der Jahre entrissen worden; den Verlust des älteren hoffnungsvollen
Sohnes, der als junger Mediziner starb, hat er nie überwunden; so
fühlte er sich trotz der Liebe der Ueberlebenden doch vereinsamt.
Es war ihm unmöglich, den Vorstellungen seiner Freunde nachzu-
kommen und auszuruhen von seinem reichen Lebenswerke und sich
an der Verehrung der Mitwelt zu erfreuen. Die düsteren Stimmungen
wechselten aber wieder mit solchen, wo er heiterer sein konnte
und sich auf den herannahenden Frühling am Starnberger See freute.
Da befiel ihn Ende Januar eine ernste infectiöse Halsentzündung,
die ihm viel Schmerzen bereitete und den gewohnten Schlaf und
Appetit nahm. In der dadurch gesteigerten Schwermuth legte er
Hand an sich. Bei der Sektion fand sich hochgradige chronische
Entzündung der harten Hirnhaut mit bedeutender Verdickung und
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Verwachsung derselben; starke Verkalkung der mittleren und
grösseren Schlagadern des Gehirns, wodurch Ernährungsstörungen
des Organs bedingt waren.
Im Jahre 1889 äusserte sich Pettenkofer, als sein früherer
Schüler und Assistent, Professor Isidor Soyka in Prag, in tiefer
Melancholie um den im Irrenhause gestorbenen Bruder, seinem
Leben ein Ende machte, in einem Nachrufe auf denselben: „Selbst-
mord ist kein Heldentod, und nur zu entschuldigen, wenn er ein Opfer
für geliebte Wesen oder eine ideale Sache ist, oder wenn er einen Unzu-
rechnungsfähigen trifft: in diesem Falle ist er ein tragisches Geschick.*
Es ist das Loos des Menschen, dass er den Gesetzen der
Materie wie alle Dinge auf der Erde unterworfen ist. Das Instru-
ment, das verwickeltste und feinste, was es giebt, durch das so
Herrliches vollbracht wird, kann durch geringfügige Einflüsse ge-
ändert werden, so dass fremdartige Vorgänge in ihm stattfinden
und Gedanken ausgelöst werden, unter deren Gewalt vorher für
Unrecht Gehaltenes gethan wird. Wir beklagen, dass ihm und uns
dieses Geschick nicht erspart wurde.
Wenn uns auch jetzt noch das Ende des sonst so wunderbar
schönen, harmonischen Lebens als eine Dissonanz erscheint, so wird
doch sein Bild in verklärtem Lichte rein dastehen in Anschauung
des Unvergänglichen, was er erstrebt und errungen. Sein Andenken
wird ein gesegnetes bleiben als das eines der hervorragendsten und
eigenartigsten Naturforscher, der die Gesetze gefunden hat, wie man
das hohe Gut der Gesundheit erhält und stärkt, und dadurch die
Wohlfahrt des Volkes gefördert hat wie nur Wenige.
So wie Pettenkofer es so schön von Liebig gesagt hat, liegt
auch er jetzt vor uns, geläutert von den Schlacken auf dem heissen
Treibbeerde eines rastlos thätigen, glorreichen Lebens, als ein mäch-
tiger Silberblick von ungewohnter Grösse, den kommende Geschlechter
noch bewundernd schauen werden. —
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