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Meclianiscli-pliysiologisclie
Theorie der Abstammungslehre.
Von
C. V. Nägeli.
Mit einem Anhang :
1. Die Sclu'anken der naturwissenscliaftliclien Erkenntniss,
2, Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
München und Leipzig.
Druck u n d Verl a g v o n R. 0 1 d e n b o u r g.
1884.
j?^6
[7^^
3 333
Vorwort.
Vorliegende Schrift verdankt ihre Entstehung dem Vortrag über
die Schranken der naturwissenschafthchen Erkenntniss, den ich im
Jahre 1877 bei der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
zu halten veranlasst war. Die in demselben entwickelte Ansicht,
dass unserer Vorstellung und unserem Wissen einzig und allein die
endlichen Erscheinungen, dagegen aber auch alle endlichen Er-
scheinungen, sofern sie in den Bereich unserer sinnlichen Wahr-
nehmung fallen, zugänglich seien, verlangte in verschiedener Be-
ziehung eine weitere Ausführung und Begründung.
Es musste gezeigt werden, wie sich diese Theorie für das Gebiet
der unendlichen Theilbarkeit gestaltet, und wie mit ihr die experi-
mentellen Erfahrungen über moleculare Kraftbegabung und Form-
bildung in üebereinstimmung sich befinden. Es musste andrerseits
dargethan werden, dass jene Theorie ebenfalls in dem Gebiet der
grössten uns bekannten Zusammensetzung , in den Abstammungs-
reihen der belebten , zum Theil mit Gefühls- und. Geistesleben be-
gabten Organismen durchführbar ist. Letzteres lag auch deswegen
nahe, weil in der genannten Versammlung das Problem der Ab-
stammungslehre im Vordergrund wdssenschaftlicher Besprechung
sich befand. Da hierbei dieses Problem und gewissermaassen auch
IV Vorwort.
mein Vortrag den beiden jetzt noch so weit verbreiteten wissen-
schaftlichen Richtungen, die wir mit dem Namen der objectiven
und der subjectiven Methode summarischer Erfahrung bezeichnen
können, Gelegenheit gegeben hatten, jeder im Gegensatz zur andern,
den Ansj^ruch auf Wissenschaftlichkeit in Forschung und Lehre vor
dem gebildeten Publikum zu behaupten , so schien es angezeigt,
diesen beiden Richtungen gegenüber die logische Alleinberechtigung
der exacten Methode, wie sie sich in den mathematischen und
physicalischen Disciplinen bewährt hat, auch für die übrigen Ge-
biete der Naturwissenschaften aufrecht zu erhalten. Die Schrift
sollte daher ausser dem Vortrag über die Schranken der natur-
wissenschaftlichen Erkenntniss noch Abhandlungen über die Mole-
cularerscheinungen , über die Abstammungslehre und über die
Forschungs- und Lehrmethode enthalten.
Bei der Ausführung nahm die Abhandlung über die Abstam-
mungslehre infolge der freieren Behandlung, welche sich unwill-
kürlich aufdrängte, eine grössere Ausdehnung an, als beabsichtigt
war. Ich stellte sie, weil damit die Harmonie in Vergleich mit den
übrigen Abhandlungen gestört war, nunmehr voran und gab ihr,
schon des genetischen Zusammenhanges wegen , als Anhang den
Vortrag über die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss
und den bereits vor längerer Zeit geschriebenen Aufsatz über die
Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet bei, indem ich die
nur halbvollendete und weiter abliegende Abhandlung über die
Forschungs- und Lehrmethode wegliess. Die Beigabe der beiden
Abhandlungen des Anhanges rechtfertigt sich übrigens auch aus
inneren Gründen, da die natürliche Abstammungslehre als unzweifel-
hafte Thatsache allein auf den allgemeinen Principien des Causal-
gesetzes oder des Gesetzes von der Erlialtung der Kraft und somit
auf den Principien der naturwissenschaftlichen Erkenntniss beruht,
und da ferner die genaue Ausführung an die spontane Entstehung
Vorwort. V
der organischen Welt ans dem Unorganischen anknüpfen muss,
wofür eine Einsicht in die molecularen Kräfte und Gestaltungen als
selbstverständliche Voraussetzung erscheint.
Was die Abstammungslehre betrifft, so ist dieselbe durch eine
Reihe von Jahren, während derer längere Krankheiten wiederholte
Unterbrechungen verursachten, entstanden. Sie hat während der
Abfassung in verschiedenen Punkten eine Wandlung erfahren, indem
nur die allgemeinen mechanischen Gesichtspunkte unverrückt fest-
gehalten wurden. Sie ist daher nicht in einem Zuge geschrieben,
auch nicht nach einem festen , ins Einzelne gehenden Plane ge-
arbeitet; man sieht ihr vielmehr das mühsame Werden an. Das
anfänglich wenig umfangreiche Manuscript erhielt wiederholte Zu-
sätze, die nun mehrfach sich episodenhaft ausnehmen. Auch bleibt
schliesslich, wie es bei einem so comphcirten und schwierigen Problem
wie der mechanisch-physiologischen Betrachtung der Abstammungs-
lehre nicht anders möglich ist, mancher Punkt zweifelhaft und ge-
stattet verschiedene Erklärungen. Ich konnte es daher nicht als
meine Aufgabe erachten, eine Umarbeitung behufs einer systematisch
gegliederten Theorie zu versuchen, welche vielleicht durch ihre fertige
Bestimmtheit sich leichter die allgemeinere Zustimmung erworben,
aber wie jedes bloss durch formale Dialektik und nicht durch innere
Nothwendigkeit abgeschlossene System dem wissenschaftlichen Fort-
schritt mehr Hemmung als Förderung gewährt hätte.
Es lag nicht in meiner Absicht, alle Gebiete der Abstammungs-
lehre zu besprechen , sondern ich berührte vorzugsweise nur die-
jenigen, welche über die allgemeine Theorie Licht zu verbreiten im
Stande sind. So sind die sonst vielfach behandelten Gebiete der
geographischen Verbreitung, sowie des paläontologischen Vorkommens
von mir fast gänzhch vernachlässigt worden, weil die vorliegenden
sicheren Thatsachen vielfacher Deutung fähig sich erweisen, und
weil sie viel eher ihre Erklärung von einer richtigen Theorie
VI Vorwort.
erwarten, als dass sie zur BcgTÜnduiig derselben in erlieblicliem
Maasse beitragen könnten.
Dagegen schien es mir zweckmässig zu zeigen, wie sich die
neue Theorie der Abstammung für das Pflanzenreich gestaltet.
Bisher sind zur Begründung der Abstammungslehre fast aus-
schliesslich die Erscheinungen des Thierreiches verwerthet worden,
woraus sich die naturgemässe Folge ergab, dass die offen daliegende
Anpassung an äussere Verhältnisse in den Vordergrund trat, indem
sie die vcrl)orgene gesetzmässige Entwicklungsgeschichte durch
innere, in der kraftbegabten Substanz begründete Ursachen in den
Hintergrund drängte und ül)ersehen licss. Im Pflanzenreiche liegen
die Verhältnisse gerade umgekehrt ; das Studium derselben ist daher
besonders geeignet, die Abstannnung der Organismen bezüglich
ihrer ursächlichen Bedeutung in das richtige Licht zu stellen.
Inhalt.
Mechanisch -physiologische Theorie der
Abstammungslehre.
Seite
3
Einleitung
I. Idioplasma als Träger der erblichen Anlagen 21
Offene und verborgene Merkmale. Anlagen —
Idioplasma und Ernährungsplasma ^
Function und Structur des Idioplasmas im allgemeinen 30
Structur anderer organisirter Körper
Die specifische Natur des Idioplasmas besteht in der Contiguration des
Querschnitts von Strängen paralleler Micellreihen 37
Die Anlagen sind im Idioplasma in ihre micellaren Componenten auigeiust 43
Mechanische Vorstellung bezüghch der specifischen Wirksamkeit des
Idioplasmas
Locale Entstehung erljlicher Anlagen und Älittheilung derselben durch
T'" . 53
den ganzen Korper
Zahl und Grösse der ISIicelle im Idioplasma
Pangenesis von Darmn
Perigenesis von Häckel
. 83
II. Urzeugung
Das Organische entsteht aus dem Unorganischen —
Die spontan entstehenden Wesen sind nicht die niedersten der be-
kannten Organismen, sondern Probien ^
Beziehungen zwischen der organischen und unorganischen Natur ... 93
102
III. Ursachen der Veränderung
Die Emährungseinflüsse bewirken vorübergehende Veränderungen. . —
Verhalten der inneren Ursachen zur Ernährung
Die inneren Ursachen sind Molecularkräfte und wirken als solche . 116
Entwicklung der äusseren Gestaltung und der inneren Structur des
Idioplasmas
Vni Inhalt.
Seite
Wii'kuiig der VcräiKlcrungcn des Idioplasmas auf seine Umgebung . . 129
Das Idioplasma verändert sich stetig, die Organismen meist sprungweise 132
Wirkung der äusseren Einflüsse im Gegensatz zu den inneren Ursachen 136
Die äusseren Einflüsse, welclie erbliclie Veränderungen hervorbringen,
sind hing andauernde Reize 139
Die Reize bewirken Reiz))arkeit ... 142
Die Reize bewirken sichtbare Anpassungen : Kork, mechanische Gewelie,
Winden und Klettern 144
Blumenblätter, Honigdrüsen, klebriger Pollen .149
Farbe und Geruch der Blüthen . . ir>3
Dimorphe und trimorphe Blüthen ... .... . . 156
Das Bedürfniss wirkt als Reiz, ebenso tlie Sinnesempfindungen . 1(52
' Die Anpassungen sind die directe Folge der äusseren Einwirkungen (nicht
der Auslese) ■ 166
Wirkungen eines Reizes von unbegrenzter und von begrenzter Dauer . 168
Verschiedener Charakter der Anpassung im Pflanzen- und im Tliierreich 169
Die Veränderung tritt zuerst im Idiojjlasma und erst nachher am Orga-
nismus auf 171
Zusammenwirken der inneren und der äusseren verändernden Einflüsse 173
IV. Anlagen und sichtbare Merkmale 183
Die idioplasmatische Anlage muss einen gewissen Grad der Ausl)ildung
erreichen, um entfaltungsfähig zu werden (Vervollkommnungs- und
Anpassungsanlagen) —
Verschiedene Arten der Entfaltungsfähigkeit und Ursacben der Entfaltung 191
Der Entfaltungszustand ist die nothwendige Folge der Eigenthümlichkeit
der idioplasmatischen Anlagen 196
Nur in den idioplasmatischen Anlagen ist das vollständige Wesen der
Organismen enthalten 197
Vererbungsantheil der beiden Eltern bei der gcschleclitlichen Fortpflanzung 1 98
Verhalten des Idioplasmas bei der Kreuzung l)ezüglich Vereinigung,
Häufung und Entfaltung der Anlagen 205
Moleculare Vorgänge bei der Vereinigung des mauuiicuL'u und weiblicben
Idioplasmas 215
Materielle Befruchtungstheorie . . . . . . 220
Dynamische Befruchtungstheorie 228
V.Varietät. Rasse. Ern ährungsmodification. — Vererbung
und Veränderung 231
Die Rasse ist das Product von abnormalen Eigenschaften und gehört
der Domestication an —
Rasse und Varietät 234
Beobachtungen und Culturresultate bei Hieracium 236
Ursachen der Verschiedenheit von Rasse und Varietät ... . . 245
Entstehung der Varietät ... 248
Ernährungsmodification im Gegensatz zu Rasse und Varietät .... 259
Ernährungsmodification bei niederen Pilzen 264
Vererbung . . 272
Veränderung 277
Inhalt. IX
Seite
yi. Kritik der Dar wi n'sche n Th corie von der natürlichen
Zuchtwahl 284
Yergleichung der Selectionstheorie mit der Theorie von der tlirecten
Bewirkung —
Aufzählung der maassgehenden Gesichtspunkte ... .... 288
Allgemeine Bedeutung der Theorie 290
Sohlussfolgerung von der Rassenbildung auf die Varietätenbildung . 297
Wirkung der Verdrängung auf die Zuchtwahl 310
Wirkung der Ernährungseinflüsse 316
Morphologische Merkmale .... 326
Systematischer Aufbau der ganzen Reiche 330
Anpassung der Bewohner eines Landes 334
AT:I. Phylogenetische Entwicklungsge schichte des Pflanzen-
reiches 338
Entwicklungserscheinungen im probialen Reich 341
1. Wachsthum —
2. Zunahme der inneren Gliederung und der Function . . . . ■ —
3. Bildung der Hautschicht 342
4. Theilung 343
5. Bildung der nichtplasmatischen Zellmembran 346
6. Trennung der Zellen 347
7. Freie Zellbildung 349
Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches 351
I. Vegetativwerden der Zelltheilung ... 357
n. Vegetativwerden der Sprossung 364
III. Vegetati\-werden der freien Zellbildung . 366
TV. Gewebebildung aus der Verzweigung .... ... 369
Zusammenfassung von I — IV als Gesetz der Vereinigung . 378
V. Gesetz der Amphation 380
\T;. Gesetz der Differenzirung ; räumliche Differenzirungen . . 382
Zeitliche Difiierenzirungen 399
VII. Gesetz der Reduction 405
Zusammenfassung von V — VII als Gesetz der Compücation 410
Vin. Gesetz der Anpassung 411
Zusammenwirken der verschiedenen phylogenetischen Processe . . 420
Vlil. Der Generationswechsel in phylogenetischer Beziehung 426
Ontogenetische Periode —
Generationswechsel bei einzelligen Pflanzen 428
Generationswechsel bei \äelzelligen Pflanzen 432
Begriff des Pflanzenindi^-iduunls 437
Bedeutung dieses Begriffs für den Generationswechsel 444
Generationswechsel bei den Florideen 447
Phylogenetische Bedeutung des Generationswechsels 449
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissen-
schaften 455
Die systematischen (morphologischen) Merkmale können nur auf
phylogenetischem Wege erkannt werden —
X Inhalt.
Seite
Zwischen den jetzigen Arten besteht in WirkUchkeit kein allgemeiner
genetischer Zusammenhang. Systematische Verwandtschaft . . 462
Abstammungslinie der Gefässpflanzen von den Algen durch die Leber-
moose 472
Phylogenetische Entwicklung der systematischen Merkmale derPhanero-
gamen 479
Aufbau des Pflanzenstockes 480
Gestaltung, Stellung und Verwachsung der Phyllome 484
Aufbau der Blüthe 496
Einzelne Theile der Blüthe 509
Welches ist die vollkommenste Pflanzenfamilie? 513
X. Zusammenfassung . .• 524
Die Schranken der naturwissenschaftlichen
Erkenntniss.
Vorwort 555
Einleitung 560
BeschafEenheit und Befähigung des erkennenden Ich 565
Beschaöenheit und Zugänglichkeit der Natur . 570
Wesen des Erkennens - . . . . 578
Keine principielle Verschiedenheit zwischen unorganischer und organischer
Natur : 585
Keine principielle Verschiedenheit zwischen unbeseelter und beseelter Natur 590
Zusätze.
1. Physische und metaphysische Atomistik 603
2. Unendüche Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation des Stoffes 612
3. Naturphilosophische Weltanschauungen. Entropie 615
4. Bedingungen für empirisches Wissen und Erkennen. Morphologische
Wissenschaften 622
5. Apriorität a) des Gravitationsgesetzes 6aO
b) der Mathematik 633
c) als allgemeines Princip 635
6. Kraft. Stoff. Bewegung 657
7. Quahtät in der Natur 662
8. Zurückführung geistiger Vorgänge auf stoffhche Bewegungen .... 666
9. Vergleichung der thierischen Affecte mit analogen unorganischen Erschei-
nungen 677
Kräfte und Gestaltungen im moiecularen Gebiet.
Elementarkräfte. Theilchen der kleinsten Grössenordnung (Amere) . '\ . 683
1. Vertheilung der Elementarkräfte auf die Amere 688
2. Agglomeration und Dispersion der Amere 690
Gesammtmengen der verschiedenen Elementarkräfte ; Scheidung in wäg-
bare und unwägbare Massen 694
Gesammtmenge der Gravitationsanziehung und der Aetherabstossung
in den wägbaren Massen 698
Organisation der aus Ameren bestehenden wägbaren und Aethermassen 701
Inhalt. XI
Seite
3. Elasticität '^^
4. Schwerkraft ''l'^
Ihre Wirkung ist die Differenz zwischen der Gravitationsanziehung und
der Aetherabstossung
Ver<^leichung ihrer Intensität mit derjenigen der Elementarkräfte . . 723
5. Wärme 729
Aetherwärme, deren Fortpflanzung und Uebertragung auf die wägbaren
Stoffe • —
Bedeutung der Energie und der Masse im Gebiet der Amere .... 736
6. Elektricität ''^^
Elektrische Erregung
Elektrische Strömung ^^2
Elektrodynamik . . tii
7. Magnetismus. Diamagnetisnms .... 750
8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome 755
Bedeutungslosigkeit des Atomgewichts
Beträchthche Grösse des Atomkörpers im Verhältniss zum Atomvolumen 759
Zusammensetzung der Atome aus Particellen 761
Atomgrösse bei den verschiedenen chemischen Elementen 769
9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome 771
Vorübergehende Veränderung der Atome durch Bewegung ihrer Theile 777
Dauernde Veränderung der Atome. Positive und negative Entropie . 779
10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion 783
Unzulänghchkeit der elektrochemischen Theorie —
Zusammenwirken der verschiedenen Elementarkräfte .... . . 786
Wesen der chemischen Sättigung . • ... 793
Opponirte, collaterale und dorsale Bindung 798
Benetzung und Imbibition °00
Cohäsionserscheinungen ^^'^
11. Isagität Ö07
12. Zusammenfassung ^•'■^
ffleclaiiiscli-plpölopclie Tleoiie
der
Abstammungslehre
V. Niigeli, AVistainmungsk'hre.
E i 11 1 e i t u 11 «'.
Wohl seit anderthalb Jahrzelmten bot sich den Physiologen
ein wunderbares Schauspiel dar. Das schwierigste Prol)lem ihrer
eigenen Wissenschaft wurde mit wachsendem Eifer und Kraftaufwand
von Nichtphysiologen in einer Fluth von Schriften publicistiscli l)e-
arl^eitet. Die Entstehung der organischen Welt geliört zum innersten
Heiligthum der Physiologie. Ihre Behandlung setzt ein richtiges
Urtheil in den dunkelsten Gebieten voraus; dieselljen betreffen das
Verhältniss des Organischen zum Unorganischen, das Wesen des
Lebens selbst, die Ernährung, das Wachsthum, die Fortpflanzung,
die Vererbung, die Veränderung durch eine Reihe von Generationen,
die Beziehungen zwischen den verschiedenen Organismen, zwisclien
ihnen und der Aussenwelt, zwischen den Theilen oder Organen des
gleichen Organismus.
Wiewohl die Entstehung; der organischen Welt theils wes-en
ihrer unvergleichlichen wissenschaftlichen Bedeutung, theils wiegen
des allgemeinen Interesses in den gebildeten Kreisen die Physiologen
aufzumuntern geeignet war, so erschien ihnen dieses letzte und höcliste
Problem doch so verwickelt und schwierig, dass sie nur etwa gelegent-
lich und bloss im allgemeinen darüber sich auszusprechen wagten.
Dieses Bedenken wurde von den Nichtphysiologen weniger schwer
emjifunden.
Die Lehre von der Entstehung der organischen Welt ist zwar
rein physiologischer Natur. Sic bedarf al)er zu ihrer L()sung ver-
schiedener Hilfswissenschaften : der Zoologie mit vergleichender
Anatomie und Histologie, der morphologischen und S3'stematisfhen
Botanik, der Paläontologie und Geologie, der Antln'0}>ologie.
1*
4 Einleitung.
Daher fühlten Zoologen, Anatomen, Anthropologen, beschreibende
Botaniker, Paläontologen den Beruf, sich mit der Entstehungslehre zu
beschäftigen, und es war dies im höchsten Grade verdienstlich, soweit
die betreffende Wissenschaft ihrem Inhalte nach wirklich dabei be-
theiligt ist. Da sich diese Beschäftigung aber häufig nicht auf den
eigenen Horizont beschränkte, sondern in andere Horizonte übergriff
und zu einer Uebersicht und Beurtheilung des Ganzen sich verstieg,
so vermengte sich mit dem Brauchbaren viel Unbrauchbares und
Irrthümliches. Denn, wenn auch Schlosser, SjDängler, Schreiner,
Glaser, Maler, Dachdecker bei dem Bau eines Hauses unentl)ehrlich
sind, folgt daraus nicht für jeden derselben die Befähigung, den Plan
zu entwerfen und den Bau zu führen, oder auch nur Plan und Bau-
führung zu kritisiren.
Die Entstehungslehre der organischen Welt berührt auch die
Philosophie und die Theologie an sehr empfindlichen Stellen, und
sie interessirt das grosse gebildete Pubhcum theils aus eben diesem
Grunde, theils weil die Eitelkeit der Menschen von jeher \'iel auf
Abkunft und Verwandtschaft gehalten hat.
Daher sahen wir denn auch Philoso2:>hen, Theologen und über-
dem Literaten aller Art und aller Abstufung sich der Frage be-
mächtigen. Auch dies wäre ganz in der Ordnung, wenn jeder die
sicheren Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung für sein
Gebiet verwendet und darüber in seinem Kreise aufklärenden und
belehrenden Bericht erstattet hätte, wenn nicht so mancher das Ge-
biet schwieriger physiologischer Probleme für einen freien Tummel-
platz widersinniger Dialectik betrachtet hätte. Denn wenn schon
die Handwerker, die bei einem Bau mitlielfen, nicht im Stande sind,
selber ein Haus zu ]3auen und die Construction zu beurtheilen, so
sind gewiss diejenigen nicht eher dazu befähigt, welche dasselbe,
nachdem es fertig und verkleidet ist, bewohnen, oder welche den
Inwohnern Besuche machen, oder durch irgend welche Geschäfte
in eine Räumhchkeit desselben geführt werden.
So treten denn beim Ueberblick der ganzen literarischen Be-
wegung, welclie die Entstehung der Organismen zmn Gegenstand
hat, einige Erscheinungen hervor, welche theils für unsere Zeit, theils
auch für unsere Nation bemerkenswerth sind. Die eine derselben,
die ich bereits angedeutet habe, wiederholt sich freilich überall, wo
sich die allgemeine Tlieilnahme einei- Frage zuwendet. Die Sicherheit
Einleitung. 5
und Bcstinuiitlieit des Urtlieils niinnit zu, sowie sicli die Berechtigung
dazu vermindert.
Während die Physiologen mit der Besprechung der schwierigen
physiologischen Fragen zurückhielten und die der Physiologie näher
stehenden Naturforscher sich noch einigermaassen behutsam äusserten,
wurden die Meinungen immer entschiedener, je weiter man sich von
dem sicheren Boden entfernte, gleich als ob das Interesse für eine
Sache die realen Kenntnisse und die formale Schulung des Urtlieils
ersetzen könnte.
Dem Physiologen wird dabei zu Muthe, wie etwa dem Physiker
würde, wenn sich das grosse Publicum an der Lösung des Problems
der mechanischen Elektricitätstheorie betheiligen wollte. Bekanntlich
hat die Physik noch keine sichere Vorstellung über das Wesen der
Elektricität , und vermeidet es womöglich, darüber eine bestimmte
Ansicht auszusprechen. Die Erfahrung, die wir jetzt mit der Lehre
von der Entstehung der Organismen machen, wairde sich wieder-
holen, wenn aus irgend einem Grunde die Theilnahme an der
Elektricitätslehre ebenso lebhaft erwachte. Könnten die Fragen, ob
der elektrische Strom eine eigene Substanz (ein Fluidum) oder eine Be-
wegungsform der kleinsten Th eilchen sei, ferner in welcher Weise sich
diese Th eilchen bew^egen und in welchem Causalverhältniss die elek-
trischen Bewegungen zu andern Bewegungsformen stehen, — könnten
diese Fragen dem Pul)licum soviel Interesse gewähren wie die Ab-
stannnung des Menschen und die Herkunft des Organischen , so
dürfte ohne Zweifel auch die Physik mit Erstaunen die Erfahrung
machen, dass ihr dunkelstes Gebiet von den Verfertigern der Elektrisir-
maschinen, von den Blitzableitermachern, von den Verkäufern von
Rheumatismusketten, von den Telegra23histen, schliesslich von den
Aufgeldern und Empfängern der Telegramme und nicht am wenigsten
von den Literaten, w^elche bald bei elektrischem Licht ihr Feuilleton
schreiben werden, mit steigender Bestimmtheit discutirt und ent-
schieden würde.
Das unlogische Verfahren ging soweit, dass die Proljleme, welche
die Entstehung der Organismen betreffen, ohne die nöthigen Kennt-
nisse und die erforderliche Bildung selbst V)is ins Einzelne bes])rochen
und als wissenschaftliches System dargestellt wurden, indem man,
statt mit dem Lernen, mit dem Lehren beginnen zu diu-fen moiiito.
Man kann das Docendo discinius doch gar zu früh in Anwendung
6 Einleitung.
bringen wollen. Wenn es nicht im Charakter der Zeit im all-
gemeinen läge, schon Ernte zu verlangen, ehe nur die Saat recht
aufgegangen ist, und wenn nicht in manchen Gel)ieten des Wissens
eine wenig gründliche Speculation zur Lösung schwieriger Fragen
für ausreichend erachtet würde, so wäre schwer begreiflich, wie selbst
ernsthafte und in ihrem Fache angesehene wissenschaftliche Männer
ihre Studien im Alphabet der Abstammungslehre in grossen Zeitungen
und Zeitschriften sowie in eigenen Büchern niederlegen und dem
kundigen physiologischen Publicum zeigen mochten, welch langsame
Fortschritte ihre Erkenntniss in dem neuen Gebiete machte, und
wie sie selbst nach Jahren noch in den bedenklichsten naturwissen-
schaftlichen Irrthümern befangen blieben, die ein gründliches
Studium von einigen Monaten zu beseitigen im Stande gewesen
wäre:
Eine andere Erscheinung, welche mit der Lehre von der Ent-
stehung der organischen Welt zu Tage getreten ist, betrifft fast
ausschliesslich unsere Nation. Man hätte erwarten können, dass
nach der natm-philosophischen Periode, welche in Deutschland viele
der besten Kräfte für den Fortschritt der Wissenschaft unbrauchbar
machte, die Ernüchterung liinreichend gewesen wäre, um uns auf
dem eigentlich naturwissenschaftlichen Felde vor philosophischer
Speculation zu bewaln-en. Wir machen aber die Erfahrung, dass
im grossen und ganzen die philosophische, i^hilologische und ästhe-
tische Bildung immer noch so sehr die Oberhand hat, dass eine
gründliche und exacte Behandlung naturwissenschaftlicher Fragen
nur auf enge Kreise besclniinkt Ijleibt und dass auch ein grösseres
Publicum sich mit Vorliebe von einer sogenannten idealen, poetischen,
speculativen Darstellung angezogen fühlt.
Während nun einerseits in Deutschland der von England kom-
mende Anstoss auf dem Gebiet der Abstammungslehre die fruchtbarste
Wirkung äusserte, während eine Menge von Arbeiten in allen die
allgemeine Frage berührenden Gebieten unternommen wurde und
eine Fülle von werthvollen Erfahrungen im einzelnen für die Wissen-
schaft ergab, wurde andrerseits jene Lehre in ein dem strengen
Forscher wenig anziehendes Gewand gehüllt. Die nüchterne, von
dem praktischen gesunden A-^erstande der Engländer zeugende Dar-
stellung Darwin 's, namentlich in der ersten Veröffentlichung, wurde
in Deutschland, ohne Bereicherung des wissenschaftlichen Gehaltes,
Einleitung. 7
ins Phantastisch-philosophische übersetzt, die Lehre wurde dognia-
tisirt, systeniatisirt, schematisirt und — um aucli das philologische
Bedürfniss zu befriedigen — gräcisirt.
Die xVljstaniniungslehre, soweit sie die eigentlich physiologischen
Probleme und nicht Dinge betrifft, welche den einzelnen HilfsAvissen-
schaften .angehören, wurde bisher gewöhnlich als ganzes System
behandelt. Es ist dies aus zwei Gründen begreiflich. Einmal hatte
die Darstellung nicht bloss die Förderung der Wissenschaft, sondern
auch die Wünsche eines grösseren Publicums im Auge , und in
letzterer Beziehung war ein fertiges System Bedürfniss.
Ferner wurden, wie bereits erwähnt, die Bearbeitungen nicht
unter dem Einfluss der exacten physiologischen Methode, sondern
vom Standj)unkte der beschreibenden Naturgeschichte aus unter-
nommen. Da die letztere die Beantwortung allgemeiner Fragen
betreffend den Zusammenhang der Dinge nur durch erweiterte In-
duction und durch Analogieschlüsse zu Stande bringt und bloss zur
Wahrscheinlichkeit, nicht zur Gewissheit gelangt, so ist es begreiflich,
dass sie immer zum Ausl)au des Systems drängt, um jedes Ein-
zelne im Zusammenhange mit dem Uebrigen und als Tlieil des
Ganzen zu betrachten und zu prüfen. Daher beurtheilt auch der
beschreibende Naturkundige, der ein Abstammmigssystem aiü'gestellt
hat, eine neue Thatsache, die ihm von anderer Seite geboten wird,
nicht sowohl nach den Beobachtungen, aus denen sie erschlossen
wurde, sondern vor allem nach dem Verhältniss, in welchem sie
zu seinem System steht. Da er gewohnt ist, auf seinem Wege nur
zur anfechtbaren Hj'pothese, nicht zum sicheren Gesetz zu kommen,
so betrachtet er alles, auch das aiü" dem Wege genauer Beobachtung
und strenger Kritik gewonnene, nicht als Thatsache, sondern als
Meinungssache. Dies war beispielsweise der Fall mit der Thatsache
von der gemeinschaftlichen Entstehung der Pflanzenarten und mit
derjenigen von der Bedeutmigslosigkeit der klimatischen und Er-
nährungseinflüsse auf die Entstehung der Varietäten, die ich beide
hinlänglich begründet zu haben glaube^), und die ein unbefangener
und gewissenhafter Beobachter leicht prüfen und bestätigen kann.
1) Ueber den Einfluss der äusseren Verhältnisse auf die Varietätenl)ildung
im Pflanzenreiclie. Sitzungsber. d. niatli.-i)liys. Classe d. k. bayr. Acad. d. Wiss.
zu München, 18. Nov. ]8()5.
Das gesellschaftliche Entstehen neuer Species. EbendaseU.)st 1. Febr. 1873.
8 Einleitung.
Diese Thatsachen fügten aber dem ganzen Meinungsgebäude der
Abstammungslehre, wie es jetzt bestellt, den schwersten Schaden zu
und konnten daher von demselben auch nicht Ijerücksichtigt werden,
ohne sich selber aufzugeben. Sie wurden daher stillschweigend ad
acta gelegt, — in gleicher Weise wie die neuen mikroskopischen
und entwicklungsgeschichtlichen Thatsachen des dritten und vierten
Decenniums unsers Jahrhunderts von einem berühmten Naturphilo-
sophen, in dessen System sie nicht passten, mit den Worten
beseitigt wurden: »Das kann ich nicht l)rauchen.«
Die Physiologie, die Physik des Organisclien, geht einen anderen
Weg. Die Entstehung der Organismen ist, wie jedes naturwissen-
scliaftliche Gebiet, nach ihren Bestandtheilen und Beziehungen ein
unendliches Feld. Die exacte Forschung sucht darin einzelne That-
sachen (Gesetze) festzustellen, wobei sie sich sowohl der Beoljachtung
des Einzelnen und der Induction als der Deduction aus allgemeinen
formalen oder realen Gesetzen bedient. Jede Tliatsache muss für
sich begründet werden und durchaus unabhängig von irgend welchen
Meinungen sein ; dadurch erlangt sie eine unveränderliche Beständig-
keit, mao; die Lehre als Ganzes noch so sehr Gestalt und Aussehen
wechseln. Solche Thatsachen bilden einen Stock von sicheren Errungen-
schaften, die nicht mehr verloren gehen und die mit jeder neuen gründ-
hclien Arbeit sich vermehren. An sie mögen sich, von ihnen bestimmt
und begrenzt, die Hypothesen anlehnen, soweit es der Wissenstrieb
verlangt ; da dieselben uns bloss Wahrscheinlichkeiten und Möglich-
keiten geben, so bilden sie das vergängliche und veränderliche Gut
der Lehre.
A^orliegende Abhandlung hat nicht den Zweck, die Abstammungs-
lehre mit Rücksicht auf ihren sicheren thatsächlichen Inhalt über-
haupt zu besprechen. Sie will vorzugsweise bloss untersuchen, ob und
inwiefern in dem letzteren bereits mechanisch-physiologische Prin-
cipien zur Anwendung zu gelangen vermögen. Und da die Mechanik
des Organischen fast ausschhesslich auf moleculari)liysiologischem
Gebiete sicli bewegt, so muss sie, soweit es möglich ist, die Er-
scheinungen auf dieses Gebiet zurückführen.
Die wissenschaftliche Betrachtung eines Dinges fi'agt zuerst,
wie es ist, und nachher warum es ist. Die Erkenntniss ist be-
endigt, wenn es als die noth wendige Folge bestimmter Ursachen
Einleitung. 9
sich nachweisen lässt. Dieses ursächliche Erkennen nennen
wir im Gebiete des Stofflichen auch ein meclianistisches, weil
jede natürliche Erscheinung durch Bewegungen zu Stande kommt
und weil die Mechanik die Bewegungen bestimmt, welche unter
dem Einfluss von Kräften erfolgen. Eine Naturwissenschaft nähert
sich daher um so mehr der Vollkonnnenheit , jemehr die mecliu-
nischen Principien in ihr Anwendung finden.
Die Ijeschreibenden Naturwissenschaften können zwar, besonders
wenn sie sicli der streng genetischen oder entwicklungsgeschicht-
lichen Methode bedienen und jeden Zustand mit dem ihm un-
mittelbar vorausgehenden und mit dem unmittelbar nachfolgenden
zusammenhalten, eine grosse Vollständigkeit im beobachtenden
oder messenden Erkennen erreichen. Aljer dabei mangelt ihnen
immer noch die höhere Weihe des ursächlichen Wissens, welches
das Geschehen als ein noth wendiges erkennen soll. Wir müssen
es daher als ein besonders befriedigendes Ereigniss begrüssen, wenn
es gelingt, in eine bisher rein beschreibende Wissenschaft ein
mechanistisches Element einzuführen und sie dadurch den exacten
Wissenschaften zu nähern.
Die Abstammungslehre beruht, im Gegensatz zur Schöpfungs-
lehre, als allgemeine Wahrheit selbst aiü' dem allgemeinsten mecha-
nischen Princip, auf dem Causalgesetz oder dem Gesetz der Er-
haltung von Kraft und Stoff. Die Entstehung der organischen
Welt aus der unorganischen ist eine Gewissheit, sofern alles in der
endlichen Welt nach Ursache und Wirkung zusammenhängt, und
somit auf natürlichem Wege zu Stande kommt. Wie ferner jedes
Zusammengesetzte auf natürlichem Wege ursprünglich nur aus dem
nächst Einfacheren entstehen kann, so kann auch das zusammen-
gesetzte Organische nur aus dem einfacheren Organischen hervor-
gehen, und dies um so gewisser, als alle zusammengesetzteren oder
sogenannt höheren Organismen in ihren ersten Entwicklungsstadien
für sich allein nicht existenzfähig sind, sondern einen mütterlichen
die Ernährung besorgenden Organismus voraussetzen. Es vermögen
daher nur die allereinfachsten und niedrigsten Organismen sich
unmittelbar aus dem Unorganischen zu gestalten, und alle üljrigen
müssen in allmählicher Stufenfolge aus ilnien sich entwickeln.
Innerhalb dieser allgemeinen Thatsache der natürlichen Al)-
stammung war früher aller Inhalt der Abstanmiungslehre hypo-
10 Einleitung.
thetischer Natur, du selbstverständlich für ein längstvergangenes
Geschehen das ]x!ol:)aclitcnde genetische Verfahren unmöglich ist, und
bloss durch Analogieschlüsse grössere oder geringere Wahrscheinlich-
keit begründet werden kann. In das Feld der Hypothesen hat
Darwin ein mechanisches Princip eingeführt, indem erzeigte, dass
eine Reihe von Erscheinungen in den organischen Reichen die noth-
w^endige Folge einer bestimmten Ursache ist. Dieser That verdankt
die Abstammungslehre den ungeheuren Aufschwung, den sie auf
einmal nahm. Das Darwin 'sehe Princip aber ist folgendes:
Da bei der starken Vermehrung, welclie allen Organismen von
Natur eigenthümlich ist, fortwährend eine grosse Zahl von Individuen
als Keime oder in späteren Ent\vicklungsstadien zu Grunde gehen
muss, so bleiben nur diejenigen erhalten, welche in der Gesammt-
heit ihrer Eigenschaften sich als die lebensfähigeren erweisen. Der
jeweilige Bestand der organischen Reiche an Sippen^), der unter den
gegebenen äusseren Verhältnissen ein Gleichgewichtszustand ist,
kann nur geändert werden, wenn neue existenzfähigere Sippen in
die Gesannntheit eintreten und durch theilweise oder gänzliche
Verdrängung bisheriger Sippen sich Raum schaffen. Jede einzelne
Sippe kann nur durch eine allen Umständen angepasstere, eine in-
dividuelle Eigenschaft nur durch eine dem individuellen Träger
oder der Sipj^e nützlichere ersetzt werden.
Dieses Princip erklärte, wenn einmal die natürliche Abstannnung
der Organismen aus einander feststand , im allgemeinen das Ver-
hältniss der Sippen zu einander und die Gliederung der Reiche durch
Lückenbildung, wie sie uns in der Natur entgegentritt. Darwin
begnügte sich ahüv nicht mit dieser Errungenscliaft, die für immer
sein Verdienst l)leil)en wird ; vielmehr glaul)te er aus dem Princif) der
Verdrängung des weniger Befähigten dm'ch das Befähigtere einen
noch viel weiter gellenden Schluss ziehen zu können. Er glaubte
darin das treibende Moment zu finden, welches die Entwicklungsreihen
1) Es maivj;<'lt in der Wissenschaft ein Wort, welches kurz das, was ich
früher »systeinutisclie Einheit« genannt habe, also eine grössere oder kleinere
Zahl von verwandten Organismen, bezeichnete. Man gebraucht dafür wohl die
Ausdrücke »Form« oder »Grupite« oder selbst vArt« ; dieselben werden aber oft
zweideutig und für Zusammensetzungen unbiaucbbai'. Unter Sippe verstehe ich
also jede systematische Einheit : Kasse, Varietät, Art, Gattung, Ordiumg, Classe.
Einleitung. 1 1
der organischen Reiche von den niedrigsten und einfachsten zu den
vollkommensten und comjjlicirtesten Formen emporführte.
Die bekannte, als natürliche Zuchtwahl < l)ezeichnete Theorie,
die auf einem kleinen und Ijeschränkten Felde der Beobachtung und
Erfahrung gewachsen ist und dann durch Analogie auf grosse Ver-
hältnisse übertragen wurde, ist folgende. Die Rasse eines Haus-
thieres verändere sich nicht, wenn ungeliinderte Kreuzung der
Individuen statt habe. In einzelnen Thieren beginne zwar immer
eine geringe Veränderung, aber durch Vermischmig mit andern
Individuen werde dieselbe mehr oder weniger aufgehoben und
abgelenkt. Würden dagegen durch >; künstliche Zuchtwahl « nur
diejenigen Individuen mit einander gepaart, in denen die nämliche
Veränderung bemerkbar geworden, und würde dieses Verfahren in
den folgenden Generationen wiederholt, so gehe die Verändermig
ungehindert weiter und könne überhaupt so weit gefülirt werden,
als es die Natur der Dinge erlaube. Man erzeuge eine neue
Rasse.
Das nämliche müsse im natürlichen Zustande geschehen, wenn
die Concurrenz imd die gegenseitige Verdrängung eine »natürliche
Zuchtwahl« treife, indem alle Individuen, in denen eine für die
ISIitbewerbung nützliche Eigenschaft nicht vorhanden oder in ge-
ringerem Grade entwickelt sei, vernichtet und somit von der
Paarung und Fortpflanzung ausgeschlossen werden. — Ich werde
später einen besonderen Aljschnitt der Besprechung dieser als Dar-
winismus bekannten Theorie widmen und bemerke hier vorläufig
folgendes über das Princip derselben.
Die natürliche Zuchtwahl setzt, wie jede Theorie über die Ent-
wicklung der organischen Reiche, die individuelle Veränderung
voraus. Letztere ist Thatsache, denn die höheren Organismen
können aus den niedrigsten , spontan entstandenen nur dadmch
hervorgegangen sein, dass die Individuen in den auf einander
folgenden Generationen sich veränderten.
Die individuelle Veränderlichkeit kann nun aber in verschie-
dener Weise aiü'gefasst werden und zwar sind zwei Möglichkeiten
denkbar. Entweder hat sie eine ganz beliebige, eine richtungslose
Beschaffenheit, oder sie zeigt einen bestimmten Charakter. In dieser
Beziehung ist vor allem ein Punkt von Wichtigkeit, nämlich ob die
Veränderung rücksichtlich der einfacliercn und zusannnengcsetzteren
12 Einleitung.
Organisation sicli indifferent verhalte oder nielit. Im einen Fall
können die Generationsreilien ebenso wohl nach oben als nach unten,
im anderen Fall müssen sie ausschliesslich oder vorzugsweise nach
oben sich ansl)ilden.
Ich will die Veränderung nach olien zum Zusammengesetzteren
als positiv, diejenige nach unten zum Einfacheren als negativ be-
zeichnen. Wir können uns nun eine deutliche Vorstellung von
beiden Möglichkeiten machen, wenn wir einen phylogenetischen
Stamm durch eine unendliche Reihe von Generationen, ohne Ein-
fluss der Zuchtwahl, sich entwickeln lassen. Unter diesen Voraus-
setzungen geben in dem ersten der genannten zwei Fälle bei einer
unendlichen Menge von Veränderungen die positiven Schritte die
gleiche Summe wie die negativen ; die beiden Summen heben sich
auf und der Stamm ist nach unendlicher Zeit genau so organisirt
wie im Anfang. Im andern Falle werden bloss Schritte mit positiven
Vorzeichen gemacht, oder dieselben überwiegen nach Zahl und
Grösse, so dass am Ende einer hinreichend langen Generationen-
reihe die positive Sunune grösser ist als die negative; die End-
glieder der Reihe haben also eine complicirtere oder höhere Organi-
sation als die Anfangsglieder.
Die beliebige oder richtungslose Veränderung der Individuen
wäre denkbar, wenn sie durch äussere Einflüsse (Nahrung, Tempe-
ratur, Licht, Elektricität, Schwerkraft) bedingt würde. Denn da diese
Ursachen offenbar in keine bestimmte Beziehung zu der mehr oder
weniger zusammengesetzten Organisation sich bringen lassen, so
müssten sie bald einen positiven, bald einen negativen Schritt
bewirken. Wenn aber die Ursachen der Veränderung innere, in der
Beschaffenheit der Substanz gelegen sind, so verhält sich die Sache
anders. Dann muss die bestimmte Organisation der Substanz einen
maassgebenden Einfluss auf ihre eigene Veränderung ausüben, und
dieser Einfluss kann, da die Entwicklung zu unterst beginnt, nur
in der Richtung nach oben sich geltend machen.
Ich habe dies früher das Vervollkommnungsprincip
genannt, unter dem Vollkommneren die zusammengesetztere Organi-
sation verstehend. Minder Weitsichtige haben darin Mystik finden
wollen. Es ist aber mechanischer Natur und stellt das ßeharrungs-
p;esetz im Gebiet der oroanischen Entwicklung dar. SoM'ie die Ent-
o r^ <j
Wicklungsbewegung einmal mi Gange ist, so kann sie nicht stille stehen
Einleitunjj. 13
und sie muss in ihrer Richtung heharren. A^crvollkommnung
in meinem Sinne ist also nichts anderes als der Fortschritt zum
complicirtorcn Bau und zu grösserer Thoilung der Arheit und
würde, da man im allgemeinen geneigt ist, dem Worte mein" Px;-
deutung zu gewähren als dem ihm zu Grunde liegenden Begriff,
vielleicht besser durch das unverfängliche Wort Progression ersetzt.
Indem ich mich des Wortes Vollkonnneidicit in der angesehenen
Bedeutung bediente, folgte ich dem früher allgemeinen Sprach-
gel^rauch, nach welchem man von jeher niedere und höhere, un-
vollkommenere und vollkommenere Pflanzen und Thiere unterschied.
Zwar hat schon Seh leiden, und zwar vor Darwin, bei seinem
Versuche, die Botanik auf dem Wege der Negation neu zu gestalten,
auch diesen Begriff als nichtig erklärt, indem er ihm nur bildlichen
Werth zugestellt und behauptet, dass xdas Gleichniss umgekehrt sich
eben so gut durchführen liesse«, mit der Bemerkung, dass eine gesund
entwickelte Conferve vollkommener sei als ein verkrüppelter Eich-
baum. Nach dieser Meinung könnten also gesunde Infusorien und
Würmer sich einer grösseren Vollkommenheit rühmen als kranke
Menschenkinder.
Darwin, welcher bloss die mehr oder weniger gute Anpassung
im Auge hatte, bezeichnete als das vollkommenere lediglich das,
was im Kampfe um's Dasein sich besser bewährt. Dies ist aber
offenbar nicht das einzige Kriterium , das bei der Vergleichung der
Organismen in Anwendung kommen darf, und in der Darwin 'sehen
Einseitigkeit ist nicht das ganze Wesen der Dinge enthalten ; ^^elmehr
bleibt dabei die bessere Hälfte unberücksichtigt. Es gibt bezüglich
der Vollkommenheit zwei verschiedene Kategorien, die wir scharf
trennen müssen :
1. Die Organisationsvollkommenheit, charakterisirt durch den
zusammengesetztesten Bau und die durchgeführteste Theilung der
Verrichtungen.
2. Die Anpassungsvollkommenheit, welche auf jeder Organi-
sationsstufe sich wiederholt und welche in derjenigen, unter den
jeweiligen äusseren Verhältnissen vortheilhaftesten, Ausbildung des
Organismus besteht, die mit seiner Zusammensetzung im Bau und
mit seiner Theilung der Functionen verträglich ist.
Die erstere nannte ich schlechthin Vollkommenheit in Ermang-
lung eines anderen einfachen Ausdruckes, die letztere aber Anpassung,
24 Einleitung.
und ich glaube damit die Begriffe nicht unrichtig ausgedrückt zu
haben. Das cinzelhge Si^indelpflänzchen (Closterium) und der
Schimmelpilz sind, jedes für seine Lebensbedingungen, auf das
beste angepasste und gleichwohl viel unvollkommener gebaute
Pflanzen als ein Apfelbamn oder eine Weinrebe. Das Räderthior
und der Blutegel stehen, obgleich für ihre Verhältnisse vortrefflich
ausgerüstet, doch weit hinter den Wirbelthieren zurück. Andrerseits
gehört der Walfisch der nämlichen Organisations- oder Vollkommen-
heitsstufe an, wie die ülmgen Säugethiere, wäre aber für den Auf-
enthalt auf dem Lande das unpassendste Geschöpf der Welt. Des-
gleichen haben die schmarotzenden Orchideen (Neottia, Limodorum)
eine ebenso vollkommene Organisation (wenn die Vollkommenheit
durch das Wesentliche und qualitativ Verschiedene bestimmt wird)
wie die übrigen Orchideen, die schmarotzenden Personaten (Oro-
banche, Lathra3a) sind ebenso vollkonnnen gebaut, wie die nicht-
schmarotzenden ; o,ber auf einem Gartenbeet mit den besten Nahrungs-
und klimatischen Verhältnissen können die Schmarotzer wegen
mangelnder Anpassung an unorganische Nährstoffe nicht leben.
Berücksiclitigen wir bloss Organisation und Arbeitstheilung,
also bloss die Merkmale der Vervollkonnnnung , und lassen wir
die Anpassungen einstweilen ganz aus dem Spiele, so erhalten wir
folgendes Bild von der Entwickelung der organischen Reiche. Aus
dem Unorganischen entspringen die denkbar einfachsten, aus einem
Plasmatropfen bestehenden Wesen. Dieselben können, wenn eine
Veränderung eintritt, mu' solche von etwas complicirterem Bau
erzeugen und in derselben Weise setzt sicli die Bewegung in auf-
steigender Reihe fort. Jeder Organismus ist aus einem weniger
zusammengesetzten entstanden und erzeugt selber einen mehr
zusammengesetzten.
Ist die Bewegung in irgend einem Punkte angelangt, so kann
sie zwar, wie sie durch die ganze vorausgehende Reihe nach oben
verlief, im allgemeinen auch nur in derselben Richtung sich fort-
setzen. Al^er sie kaini, da das Zusannnengesetztere mehr Com-
binationen zulässt als das Einfachere und da somit über jeder ein-
facheren Gestaltung mehrere zusannnengesetzte stehen, an jedem
Punkte mehrere aufsteigende Richtungen einschlagen, somit auch
an jedem Punkte in mehrere divergirend aufsteigende Bewegungen
sich theilen. Die organischen Reiche bestehen daher aus vielen
Einleitung. 15
baimiartig verzweigten Reihen, die nach unten in gemeinschafthche
Ausgangspunkte zusammenlaufen.
Die Urzeugung und mit ihr der Beginn von aufsteigenden
Reihen hat wie im Anfange, so auch späterhin jederzeit stattgefunden
und findet auch jetzt noch statt. Die Reiche bestehen daher aus
Organismen von jeder Organisationsstufe, deren ausgestorbene Reihen
ihren Ausgangspunkt in den verschiedenen Erdperioden Ijis herab
zur jüngsten hatten.
Nach dem \'^ervollkonnnnungsprincip erbt das Kind (Individuum
oder Stamm) als meclianische Notliwendigkeit die Eigenschaften der
Eltern , und da unter diesen Eigenschaften auch die Veränderung
in der Richtung nach oben sich befindet, so erlangt es eine etwas
vollkommenere, d. i. zusammengesetztere Organisation und erzeugt
wieder mit mechanischer Notliwendigkeit noch vollkommenere Nach-
kommen. Der niedrigste, uns aus Erfahrung bekannte, aus einem
blossen Plasmatroj^fen bestehende Organismus ist aus einem noch
einfacheren Wesen hervorgegangen, und er bringt mit mechanischer
Notliwendigkeit einen zweiten Organismus hervor, der sich zu ihm
verhält wie er selber zu dem ihn erzeugenden Wesen.
Dass die Veränderung bei der Varietäten- und Artenbildung
ein mechanisches Princip der Beharrung sei, und dass sie im all-
gemeinen von dem Einfacheren und Unvollkommeneren zu dem
Zusammengesetzteren und Vollkommeneren fortschreite, habe ich
übrigens schon drei Jahre vor der ersten Veröffentlichung Dar win's
ausgesprochen ^). Ich führe folgende zwei Stellen an :
»Die Individuen vererben auf ihre Nachkommen die Neigung,
ihnen ähnlich zu werden; die Nachkommen sind aber den Eltern
nicht vollkommen gleich. Es muss also auch die Neigung zur ^"er-
änderung vererbt werden. Es muss, wenn alle Umstände günstig
sind, eine Anlage durch eine Reihe von Generationen hindurch sich
immer weiter ausbilden können , wie ein Capital , zu dem jährlich
die Zinsen geschlagen werden, sich vergrössert. Denn jede Gene-
ration erbt von der vorhergehenden nicht bloss die Möglichkeit,
das Capital zu realisiren , sondern auch die Möglichkeit, demsell)cn
die Zinsen zuzufügen.« Ferner:
') In oinem (iffentlichen Vortrag »Die Individualität in der Natur«, der im
Winter ISb^lbVt gehalten und in der ^Älonatssehrift des wisseu.schaftlichen Vereins
in Zürich 18r>6« abgedi-uckt wurde.
IQ Einleitnwg.
»Wie überhaupt keine natürliche Erscheinung, so kann auch
die Art nicht in vollkommener Ruhe beharren. Gleichwie die Nach-
kommen des ersten Individuums von demselben etwas verschieden
waren, so mussten auch die Keime, die sie erzeugten, in etwas von
denen abweichen, aus denen sie selber hervorgingen.' Es musste
die Veränderung perennirend werden ; und diese Veränderung kann
nicht anders als zuletzt den Untergang der Art oder den Uebergang
in eine andere herbeiführen. « Endlich :
»Wir müssen uns also die Verwandlung der Pflanzenarten
zugleich in der bestimmten Form einer Vervollkommnung, einer
höheren Organisirung derselben denken. Eine Art, die sich in eine
andere umändert, erscheint in ihr nicht l)loss mit allen ihren
Attributen, sondern fügt noch ein neues Merkmal hinzu, und erhel>t
sich zu etwas Höherem. Die frühere Art tritt also in der folgenden
als vorletztes Entwicklungsstadiüm auf, über das hinaus diese sich
zum entwickelten Zustande erhebt. Eine Bestätigung von Seite der
Erfahrung liegt in der Thatsache, dass manche vorweltliche Thiere
den Jungen jetzt lebender Thiere ähnlich, wiewohl viel grösser waren
u. s. w.« — Dal^ei wurde auf eine Analogie mit der Rassenbildung
hingewiesen, in der gleichfalls eine Steigerung in der Veränderung
statt habe.
Die Organismen unterscheiden sich nicht bloss darin von ein-
ander, dass die einen einfacher, die anderen complicirter organisirt
sind, sondern auch darin, dass die auf gleicher Organisationsstufe
stehenden in ihren Functionen und in ihrem Bau ungleich ausgebildet
sind, was vorzugsweise mit der Verschiedenheit gewisser äusserer A^er-
hältnisse zusammenhängt und daher als Anpassung bezeichnet wird.
Die Anpassung bewirkt auf jeder Organisationsstufe die für bestimmte
Umgebungen vortheilhafteste Ausprägung der durch die inneren Ur-
sachen erzeugten Haupttypen.
Für eine solche Ausbildung ist eine bewirkende Ursache er-
forderlich; ich werde später die Natur derselben besprechen. In
manchen Fällen wird diese Ursache bis zur vollendeten Anpassung
wirken müssen. In anderen Fällen wird es genügen, dass unter
ihrem Einfluss die Veränderung in einer bestimmten Richtung ent-
schieden beginnt und sich zum fortbildungsfähigen Anfange ge-
staltet. Alsdann geht die Ausbildung mit mechanischer Nothwendig-
keit in der eingesclüagenen Richtung fort. Denn wenn vermöge des
Einleitung. 17
geschaffenen Anfanges eine Generation Nachkommen erzengt, die
in einer Beziehung über sie selber hinausgehen, so müssen nach
dem Beharrungsgesetz die Naclikommen dieser Nachkommen um
einen weiteren Grad verändert sein, und die Ausl)il(huig muss so weit
gehen, als es die Natur der A^erhältnisse erlaubt.
Wir haben also als mechanische Ursachen für die Entwicklung
der organischen Reiche die Beharrung in der Vervollkommnung vom
Einfacheren zum Zusammengesetzteren und ferner (voi'l)elialtlich der
späteren Erörterung) die bestimmten Wirkungen der äusseren Ein-
flüsse auf die Anpassung. Wir können den Erfolg dieser mecha-
nischen Principien mit demjenigen der natürlichen Zuchtwahl in
Darwin's Sinne am besten vergleichen, wenn wir uns die Gon-
currenz und Verdrängung abwechselnd mangelnd und vorhanden
denken.
C'oncurrenz und \\irdrängung hätten für das Pflanzenreich ganz
gemangelt, wenn von dem Beginne desselben die Erdoberfläche stets
in dem Maasse sich vergrösserte, als die Individuen an Zahl zu-
nahmen, und wenn das Thierreich nicht vorhanden war. Denn jeder
Keim konnte nun, da er Nahrung und Raum in hinreichender
Menge vorfand, ungehindert sich entfalten. War unter dieser Vor-
aussetzung die individuelle Veränderung richtungslos, so konnte
die Entwicklungsl)ewegung, da sie in positiven und negativen Schritten
hin und her schwankte, nicht von der Stelle kommen und das Pflanzen-
reich blieb fortwährend in seiner Gesammtheit auf der Stufe der
ersten nackten oder mit Mem]:)ran umhüllten Plasmatropfen. Nur
die Concurrenz mit Verdrängung ist, bei richtungsloser individueller
Veränderung, im Stande, die Organismen auf eine höhere Stufe zu
bringen, indem diejenigen, welche einen Schritt nach oben, nach
einer complicirteren Organisation gemacht haben, vor den andern,
die still standen oder einen Schritt im negativen Sinne zurücklegten,
im Voi-theil sind und dieselben verdrängen. Die Concurrenz ist
also im Darwin'schen Sinne zugleich Sippen bildend und Sippen
scheidend.
Wurde aber unter obiger Voraussetzung einer ungeliemmten
Entwicklung aller Keime die individuelle Veränderung durch me-
chanische l*rincipien bestinnnt, so bildeten sich alle Pflanzen-
formen, die jetzt bestehen, und sie würden jetzt ebenso neben einander
leben, wie es in Wirklichkeit der Fall ist. Aber es kämen unter
V. Nägeli, Abstammungslehre. 2
\ g Einleitung.
ihnen noch andere Pflanzenfornien in unendhcher Menge vor,
nämhch alle die Ahkünnrdinge der verdrängten und ausgestorbenen
Reihen.
Tritt in dem Reiche der bestimmt gerichteten Vervollkommnungs-
und Anpassungsveränderung Concurrenz mit Verdrängung ein, so ist
sie sippenscheidend und sippenumgrenzend, aber nicht sipj^enbildend.
Kein einziger phylogenetischer Stamm verdankt ihr das Dasein, aber
die einzelnen Stämme treten durch ^Verdrängung der zwischen-
liegenden deutlicher und charakteristischer hervor. Ohne Concurrenz
wäre das Pflanzenreich wie der Nebel der Milchstrasse, durch sie
ist es zum Firmament mit hellleuchtendon Sternen geworden.
Noch besser können wir das Pflanzenreich einem grossen von
der Basis an verzweigten Baume vergleichen, an welchem die
Enden der Zweige die gleichzeitig lebenden Pflanzenformen dar-
stellen. Dieser Baum hat eine ungeheure Triebkraft, und er würde,
wenn er sich vmgehindert entwickeln könnte , ein unermessliches
Buschwerk von zahllosen verworrenen ^''erzweigLmgen sein. Die
Verdrängung schneidet als Gärtner ihn fortwährend aus, nimmt ihm
Zweige und Aeste und gibt ihm ein gegliedertes Aussehen mit
deutheh unterscheidbaren Theilen. Kinder, die den Gärtner täglich
an der Arbeit sehen, könnten wohl meinen, dass er die Ursache sei,
warum sich Aeste und Zweige bilden. Gleichwohl wäre der Baum,
ohne die ewigen Nergeleien des Gärtners, allein noch viel weiter
o-ekommen, zwar nicht an Höhe, wold aber an Umfang, an Reich-
tlnnn und Mannigfaltigkeit der Vei-zweigung.
In der Vervollkommnung (Progression) und Anpassung
liegen die mechanischen Momente für die Bildung des
Formenreichtliums, in der Concurrenz mit Verdrängung
oder in dem eigentlichen Darwinismus nur das mechanische
Moment für die Bildung der Lücken in den beiden orga-
nischen Reichen. Zur Begründung der mechanischen Principien
will ich die; wiclitigstcn darauf Ijezüglichen Punkte der Abstammungs-
leln-e besprechen, und da die Mechanik des organischen Lebens fast
ausschliesslich nicht auf Massenbewegungen, sondern auf Bewegungen
der kleinsten Theilchen beruht, so nuiss ich mich demgemäss vor-
zugsweise auf das molecularphysiologische Gebiet begeben. Die
Physiologie iial iihrigens um so eher Veranlassung, die Lösung des
Räthsels auf diesem uiisielitbaren Gebiete zu unternehmen, als schon
Einleitung. 1 9
zwei iNTal der näniliebe Weg von Nichtpliysiologen, von Darwin
1111(1 von Häckel, versucht wurde.
Wenn es sieli iiiii Dinge handelt, die sicli der uniiiittell)aren
Beobachtung entziehen, so l)e.stelit die Aiil"gal)e der Wissenscliat't
darin, Hypothesen zu finden, welche das Unbekannte erklären und
die mit keiner der bekannten Thatsachen in Widerspruch .^^iiid.
Lassen sieh mehrere solcher Hypothesen aufstellen, so krtniicn die-
sellien vorerst bloss nach ihrem Wahrscheinlichkeitsgrad mit einander
verglichen werden, bis die Forschung neue Thatsaclien aufdeckt,
welche die eine oder andere unmöglich machen. Die Hv])otliese
wird zur Gewissheit, wenn sie als die allein mrigliche und das
Gegentheil als unmöglich dargethan werden kann.
Eine molecularphysiologische Hypothese muss mit den Gesetzen
und Thatsachen der Physik, der Chemie und der Physiologie in
Uebereinstimmung sein. Glücklicherweise ist der Rahmen, in welchem
sich die m()glichen Hypothesen der Abstammungslelire bewegen,
enge begrenzt. Im allgemeinen erweist sich nur eine einzige als
möglich, nämlich die, dass das Wesen der Organismen in der Be-
schaffenheit und Anordnung der kleinsten Theilchen derjenigen
Sul »stanz bestehe, welche die Vererbung bei der Fortpflanzung und
die specifische Entwicklung des Individuums bedingt. Diese Hypo-
these oder \aelmehr, da sie die auf realem Boden einzige Möglichkeit
ist, diese allgemeine Thatsache bildet, wenn sie auch bei der Aus-
führung im besondern verschiedene Möglichkeiten erlaul)t, die sichere
Grundlage, auf der sich bestimmte mechanisclie ^'^orstellungen ge-
winnen lassen. — Ich werde daher vorzüglich folgende Punkte der
Descendenzlehre besi^rechen :
Das Wesen der in der organisirten lebenden Sul)stanz liefind-
lichen unsichtbaren Anlagen für die sichtliaren Erscheinungen des
entwickelten Zustandes.
Die Entstehung der organisirten lel)endeii Suljstaiiz aus den
unorganischen Verbindungen.
Die durch die Natur der organisirten Substanz hedingicn inneren
Ursachen der phjdogenetischen Veränderung und der iMnlhiss (U'r
äusseren Ursachen auf diese Veränderung.
Die Entstehung und Ausbildung der in der organisirten Sub-
stanz enthaltenen unsichtbaren Anlagen und deren Entfaltung zu
sichtbaren Erscheinungen.
2*
20 Einleitung.
Die Veränderung der organisirten Sul^stanz, welche zur Rassen-
bildung, und diejenige , welche zur Varietäten- und Artenbildung
führt.
Die irrthümliche Folgerung von der Rassenl)ildung auf die
Artenbildung in der Hjqwthese von der natürlichen Zuchtwahl.
Die Entmcklungsgesetze des Pflanzenreiches.
Idioplasma als Träger der erblichen Anlagen.
Die Beurtlieiliing und Vergleichung der Organismen gründet
sich auf die Merkmale, die wir an ihnen wahrnehmen. Die Beolj-
achtung in dieser Beziehung hat immer grössere Fortschritte ge-
macht; sie ist von der äusseren Gestalt zum Aufbau aus den Or-
ganen, zur Zusammensetzung aus Zellen, zu den Bestandtheilen der
Zellen, zur chemischen Zusammensetzung, — von der Formliildung
und Zusammensetzung zur physiologischen Verrichtung, — von
dem fertigen Zustand zu der Entwicklungsgeschichte desselben aus
der ersten Zelle fortgeschritten. Damit hat die Erkenntniss der
Organismen an Umfang und Sicherheit ungemein zugenommen.
Dennoch sind uns noch viele Eigenschaften verborgen , und
unter diesen befinden sich gerade die wichtigsten, vor allem die
cliemische und physikalische Beschaffenheit der kleinsten Theilchen,
ihre Zusammenordnung und die Kräfte, mit denen sie aufeinander
wirken. Trotz der grossen Fortschritte bleibt daher die Erkenntniss
der Organismen immer noch sehr unvollständig und ol)erflächlicli.
Die Vergleichung der Organismen unter einander leidet aber
nicht bloss unter der mangelhaften Kenntniss, sondern überdem
unter dem Umstände, dass in Folge der ungleichen Organisation
ein gemeinschaftliches Maass, das uns genau den Werth und damit
den richtigen Unterschied angeben würde , mangelt. Wir können
beispielsweise den Pilz, das Farrenkraut, den Tanncnl)aum und den
0])stbaum nicht anders vergleichen, als dadurcli, dass bei der einen
rtlanze ein Merkmal vorhanden ist, ho\ der andern nicht, und dass
22 I- I<lioi)lusiiia
es bei der einen diese, bei der andern jene Beschaffenheit hat.
Aber nirgends lässt sieh der Unterseliied als Quantität und damit
als deutlieh vorstellbare Grösse ausdrücken. Daher ist alle systema-
tische Unterscheidung und Schätzung mehr oder weniger willkürlich
und alle Folgerung, welche daraus für phylogenetische Theorien
gezogen wird, hypothetisch.
Es gibt indess einen Zustand, in welchem die Merkmale,
deren genaue ^^ergleichung und Werthschätzung unmöglich ist, eli-
minirt, und in welchem alle Organismen auf die gleiche Form und
Structur reducirt sind. Dies ist das erste, noch einzellige Ent-
wicklungsstadium ; im Eizustande gleichen sich alle Pflanzen und
Thiere. Die Eizellen enthalten aber alle wesentlichen Merkmale
ebenso gut wie der ausgebildete Organismus, und als Eizellen unter-
scheiden sich die Organismen nicht minder von einander als im
entwickelten Zustande. In dem Hühnerei ist die Species ebenso
vollständig enthalten als im Huhn, und das Hülmerei ist von dem
Froschei ebenso weit verschieden als das Huhn vom Frosch. Wenn
uns dies anders erscheint, so rührt es nur daher, weil im Huhn
und im Frosch viele Unterscheidungsmerkmale greifl:)ar sind, während
uns die unterscheidenden Eigenschaften in den Eiern verljorgen
bleiben. Enthielte das Hühnerei nicht das ganze Wesen der Species,
so könnte sich aus demselben nicht immer mit der gleichen Be-
stimmtheit ein Huhn entwickeln.
Die Eizustande sind die kurzen Anfangsstücke der individuellen
Entwicklungsgeschichten und als solche gewissermaassen mit kurzen
Stücken verschiedener krummer Linien zu vergleichen; die kurzen
Linienabschnitte erscheinen uns alle gleich und nicht von der
Geraden verschieden, obgleich in ihnen das Wesen und die mathe-
matische Formel der verschiedenen krummen Linien ebenso scliarf
ausgesi)rochon ist, als wenn sie sich verlängert haben und dann
auch dem l)lossen Auge ihre charakteristische Verschiedenheit
offenbaren.
Die Eizellen wären also eigentlich die richtigen Vergleichsobjecte;
sie würden uns die Unterschiede alle in der nändichcn Form, also
messbar angeben. Leider gehören ihre wesentlichen Eigenschaften
zu den verborgenen Merkmalen; sie beruhen, wie diejenigen Merk-
male des ausgebildeten Zustandes, welche verljorgen bleiben und
als latent bezeichnet werden, in der Beschaffenheit der Substanz
als Träger der erV)licheu Aulagen. 23
bezüglich ihrer Zusammensetzung aus den kleinsten Theilchen.
Aber es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Substanz
des ausgebildeten Organismus, welche nicht das Vermögen einer
weitergehenden Entwicklung besitzt, und der Substanz des Eies,
welcher dieses Vermögen zukommt. Dadurch charakterisirt sich die
letztere als Anlage, als Keim. In der Eizelle sind alle Eigen-
schaften des ausgebildeten Zustandes potentiell enthalten.
Insofern hat die Anlage eine gewisse Analogie mit der poten-
tiellen Energie oder der Spannkraft der unorganischen Materie.
Während aber die Spannkraft, sowie sie ausgelöst wird, von selbst
eine Bewegung hervorbringt, ertheilt die Anlage der Entwicklungs-
bewegung })loss ihre bestimmte Richtung, indess die Bewegung
selbst durch den Umsatz der Nahrung unterhalten wird.
Die Substanz, welche die Anlagen darstellt, ist Plasmasubstanz,
besteht also aus den verschiedenen Modificationen der Albuminate,
deren Moleküle zu krystallinischen Molekülgruppen (Micellen) ver-
einigt, in löshcher und unlöslicher Form gemengt, eine meist halb-
flüssige schleimartige Masse bilden'). Al^er nur der kleinere Theil
dieses Stereoplasmas der Organismen stellt wirkliche Anlagen dar.
Aus dem Anlageplasma geht immer eine bestimmte und eigen-
thümliche Entwicklungsbewegung hervor, die zu einem grösseren
oder kleineren Zellencomplex führt, zu einer bestinnnten Pflanze,
zum bestimmten Blatt, zur Wurzel, zmn Haar einer bestimmten
Pflanze. Insofern können wir es, um einen kurzen und bezeich-
nenden Ausdruck zu haben, als Idioplasma von dem üljrigcn
Stereoplasm a unterscheiden .
Jede wahrnehmbare Eigenschaft ist als Anlage im Idioplasma
vorhanden, es gibt daher ebenso viele Arten von Idioplasma als
es Combinationen von Eigenschaften gibt. Jedes Indi\äduum
ist aus einem etwas anders gearteten Idioj^lasma hervorgegangen
und in dem nämlichen Individuum verdankt jedes Organ und jeder
Organtheil seine Entstehung einer eigenthümlichen Modification
oder eher einem eigenthümlichen Zustand des Idioplasmas. Das
Idioplasma, welches wenigstens in einer bestimmten Entwicklungs-
») Das lösliche 5> Plasma <= der Thierphysiologen und das unlösliche »Proto-
plasiiuu< hilden l)einahe immer eine Mischung, in welcher die einzelnen Theile
nicht zu trennen sind, hli nenne sie Plasma, und unterscheide, sofern es nothig
wird, lösliches und uulOsUches Plasma oder Hygro- und t>tereoplasmu.
24 I- I'lioplasma
|)criode durch alle Theile des Organismus vertheilt ist, hat also an
jedem Punkte etwas andere Eigenschaften, indem es Ijeispielsweise
bald einen Ast, bald eine ßlüthe, eine Wurzel, ein grünes Blatt,
ein Blumenblatt, ein Staubgefäss , eine Fruchtanlage, ein Haar,
einen Stachel bildet.
Bei der Fortpflanzung vererljt der Organismus die Gesammtheit
seiner Eigenschaften als Idioplasma. In der Keimzelle sind die
Merkmale aller Vorfahren als Anlagen eingeschlossen. Aber die
verschiedenen Anlagen haben rücksichtlich der Aussicht auf Ent-
faltung eine sehr ungleiche Bedeutung. Während die einen stets
und ausnahmslos zur Entwicklung gelangen, l)leiben die andern unter
bestimmten Verhältnissen unentwickelt. Beim Generationswechsel
z. B. treten gewisse morphologische und physiologische Eigenschaften
nur in bestimmten Generationen auf, während sie durch hundert
folgende Generationen im Anlagezustand verharren. Es gibt
Merkmale, die nur unter günstigen äusseren Einflüssen sich ver-
wirklichen, und während der Zeit von Erdperioden latent bleiben,
weil diese Einflüsse mangeln'). Manche Anlagen befinden sich gegen-
seitig im Zustande der Correlation oder der Ausschliessung, so dass
die Entfaltung der einen Anlage die der andern bald veranlasst,
bald verhindert.
Es gibt nicht nur fertige Anlagen, die jederzeit fähig sind
sich zu entwickeln , sondern auch unfertige, entstehende und ver-
schwindende Anlagen. Eine Anlage kann durch eine Reihe von
Generationen an Stärke aljnehmen und zuletzt so schwach werden,
dass sie sich nicht mehr zu entfalten vermag. Umgekehrt kann sie
durch eine Reihe von Generationen an Stärke zunehmen und zuletzt
so intensiv werden, dass sie entweder von selbst oder durch einen
besonderen Anstoss von aussen in den manifesten Zustand über-
geht. Zu den Ursachen, welche Anlagen von geringerer Stärke
(noch im Entstehen oder schon im Verschwinden begxiffene) zur
Entwicklung veraidassen, gehch't namentlicli die Kreuzung. An-
lagen, die schon längere Zeit latent gebUeben sind, kommen über-
haupt leichter zur Entfaltung bei der Fortpflanzung durch Befruch-
1) Ich nenne als Beispiel einige Alponliieracien, welche V)ei der Cultur im
(larten an den zweiton (Sommer-) Trieben jedes Jahres eine merkwürdige Ab-
weielumg in der Verzweigung zeigen. In den Alpen ))ilden sieh wegen der kurzen
Vegetationszeit nur Frülijalu-striebe; die Sommertriebe kommen nie zur Enti'altung.
als Träger der erblichen Aulagen. 25
tung, Avo zwei verschiedene individuelle Idioplasmen sich ver-
mischend den Keim l:)ilden, als bei der ungeschlechtlichen Ver-
mehrung.
Ich erinnere an diese Thatsachen, um die unendliche Mainiig-
faltigkeit in der Beschaffenheit des Idioplasmas klar vor Augen zu
legen. Nicht nur gi])t es, wenn wir Ijloss das Pflanzenreich in
seinem jetzigen Bestände und hier wieder bloss die Eizellen berück-
sichtigen, also die Anlagen für die Organe vernachlässigen, weit
mehr als eine Million von verschiedenen Keimen für alle Sippen
(Species und Varietäten), sondern in jeder Sippe wieder Billionen
von verschiedenen Keimen für alle jetzt lebenden und früheren
Individuen. Diese unendliche Mannigfaltigkeit ist in winzigen Tröpf-
chen von Idioplasma verwirklicht, welche durch das Mikroskop,
durch chemische und physikalische Hilfsmittel nicht von einander
zu unterscheiden sind. An der Keimanlage seliger ist nicht die
Masse, sondern nur die Beschaffenheit einer kleinen wirksamen
•Partie von Idioplasma das Entscheidende, denn die väterliche und
mütterliche Erbschaft ist ungefähr gleich gross, obgleich der Vater
zm^ befruchteten Eizelle bloss den hundertsten oder tausendsten
Theil beigetragen hat.
Die Beschaffenheit des Idioplasmas wird durch seine moleculare
Zusammensetzung bestimmt. Besonders muss die Zusammenordnung
der kleinsten Theilchen (Micelle) mit den eigenthümlichen Be-
wegungen und Kräften, die dadurch bedingt sind, maassgebend sein.
Es ist ferner wahrscheinlich, dass einer reicheren morphologischen
Gliederung und grösseren Arbeitstheilung im entwickelten Zustande
auch eine zusammengesetztere Anordnung der kleinsten Idioplasma-
theilchen, welche zu Schaaren niederer und höherer Abtheilungen zu-
sammengestellt sind, entspricht, während die niedersten Organismen,
die zeitlebens einfache Plasmatropfen biedren, eines sehr wenig aus-
gel)ildeten, fast ungeordneten oder vielmehr ganz einfach geordneten
](li(tplasnias l)C'dürfen. Um durch ein Bild meine Meinung anschau-
licher zu machen, möchte ich das einfach geordnete Idioplasma der
niederen Organismen einer wenig disciplinirten Truppe vergleichen
mit losem Verbände, wie sie im Mittelalter unter iln-em Feldhaupt-
mann in den Kam})f zog, — das com|)licirt geordnete Idioplasma da-
gegen einer regelmässigen Armee , in der die verschiedenen 01)er-
und Unterabtheilungen einem einheitlichen Plane folgen, sodass jede
26 I- ItliopUisma
bis lieruntor auf den einzelnen Mann in bestimmter Beziehimg zu den
übrigen und zum Ganzen steht, selbstverständUch mit dem Unter-
schiede, dass das einigende Band nicht in Ober- und Unterbefehls-
habern, sondern in den (anziehenden und abstossenden) Beziehungen
der einzelnen Theilchen unter einander besteht.
Das Idioplasma des Keimes wäre somit gleichsam das mikro-
kosmische Abbild des makrokosmischen (ausgewachsenen) Indivi-
duums; es wäre nach Maassgabe, als dieses aus Organen, Gewel)s-
systemen und Zellen aufgeljaut ist, aus Schaaren von Micellen
zusaimnengesetzt , welclie zu höheren Einheiten verschiedener Ord-
nungen verbunden sind und die Anlagen für jene Zellen, Gewebs-
systeme und Organe darstellen. Damit soll aber selbstverständlich
nicht gesagt sein, dass die Micelle des Idioplasmas etwa den Zellen
des ausgebildeten Organismus entsprechen und eine analoge An-
ordnung besitzen. Diese beiden Anordnungen sind im Gegentheil
grundverschieden, wie ich später noch darthun werde.
Wenn ich die Eigenthümlichkeit des Idioplasmas vorzüglich in
die Zusammenordnung der kleinsten Theilchen verlege, so geschieht
es, weil dieser jedenfalls eine wichtige, wahrscheinlicli die Haupt-
rolle zukommt, während wir ül)er die chemisclie Verschiedenheit
bei der jetzigen mangelhaften Erkenntniss der Albuminate uns keine
deutliche Vorstellung machen können. Die ungleiche Gestalt, Grösse
und Zusannnenordnung der Idioplasmamicelle ergil)t allein schon
zahllose Combinationen der wirksamen Kräfte und somit auch zahl-
lose Verschiedenheiten in den dadurcli bedingten chemischen und
plastischen Vorgängen der lebenden Substanz, welche ebenso viele
Verschiedenheiten im Wachsthum, in der inneren Organisation, in
der äusseren Gestaltung und in den Verrichtungen verursachen.
Diese Mannigfaltigkeit in der Constitution des Idioplasmas wird
aber noch unendlich gesteigert durch den Umstand, dass jedes
Micell auch eine verscliiedene chemische Beschaffenheit hal>en kann.
Jedenfalls muss eine weitgehende chemische Verschiedenheit vor-
handen sciii, icli werde dies noch besonders besprechen.
Vor allem ist es wichtig, sich eine Vorstellung ü])er das Ver-
hällniss zu Itildcn, in welchem das Idioplasma zu den übrigen Sub-
stanzen des Orgaiiisnnis steht, und da alle Bildungen von dem
riasma (l'roloplasma) ausgehen, so ist zunächst die Frage, wie sich
als Träger der erblichen Anlagen. 27
jenes zu diesem verbalte. Ich habe beide als verschieden ange-
gcl)en, weil mir dies der einfachste mid natürlichste Weg scheint,
mn die ungleichen Beziehungen der Plasmasul)stanzen zu den erb-
lichen Anlagen zu begreifen, wie sie bei der geschlechtlichen Fort-
pflanzung deutlich werden. An die befruchtete und entwicklungs-
fähige Eizelle hat die Mutter hundert- oder tausendmal mehr Plasma-
substanzen, in denselben aber keinen grösseren Antheil an erblichen
Eigenschaften geliefert als der A'^ater. Wenn das unbefruclitete Ei
ganz aus Idioplasma bestände, so würde man nicht begreifen, warmii
es nicht entsprechend seiner Masse in dem Kinde wirksam wäre, warmn
dieses nicht immer in ganz überwiegendem Grade der Mutter ähnlich
würde. Besteht die spezifische Eigenthümlichkeit des Idioplasmas in
der Anordnung und Beschaffenheit der Micelle, so lässt sich eine
gleich grosse Erbschaftsübertragung nur denken, Avenn in den bei der
Befruchtung sich vereinigenden Substanzen gleichviel Idioplasma
enthalten ist, und der überwiegende Erbschaftsantheil, der bald von
der Mutter, bald vom Vater herstanmien soll, muss dadurch erklärt
werden, dass bald in der unbefruchteten Eizelle, l)ald in den mit
derselben sich vereinigenden Spermatozoiden eine grössere Menge von
Idioplasma sich befindet. Bestehen die Spermatozoide bloss aus Idio-
l)lasma, so enthalten die nicht befruchteten Eizellen Ijis auf *J*J9 Pro-
mille niclit idioplasmatisches Stereoplasma.
Eine andere Betrachtung führt zu dem nämlichen Schluss.
Wenn die Anordnung der Micelle die spezifischen Eigenschaften des
Idioplasmas begründet, so nuiss das letztere eine ziemlich feste Sub-
stanz darstellen, in welcher die Micelle durch die in dem lebenden
Organismus wirksamen Kräfte keine Verschiebung erfahren, und in
welcher der feste Zusammenhang bei der Vermehrung durch Ein-
lagerung neuer Micelle die bestimmte Anordnung zu sichern vermag.
Das gewöhnliche Plasma dagegen ist, so"\del wir von demselben
wissen, ein Gemenge von fiüssigem und festem Plasma (Hygro-
plasma und Stereoplasma), wobei die beiden Modificationen leicht in
einander ül)ergehen und die Micelle oder Micellverbände der unlös-
liclien Modification, wie dies für das strömende Plasma nicht anders
angenommen Averden kann, sich mit grosser Leichtigkeit gegen-
seitig verschieben.
Dass aber das Idioplasma eine Substanz von zieuüich festem
Gefüge sein muss und jedenfalls nicht gelöst sein kann, wird nicht
28 I- I<lioplasma
bloss durch die theoretische Erwägung gefordert, sondern aucli durch
die Erfahrung bestätigt; denn diese zeigt uns, dass die erbhchen
Eigenschaften nicht durcli gelöste Stoffe übertragen werden. Ich
verweise hierüber auf die späteren Erörterungen l)etrefl:end die Wir-
kungen der äusseren Einflüsse.
Was die Unterscheidung des Idioplasmas von dem übrigen Plasma
betrifft-, so kann nicht bestritten werden, dass die Thatsachen eine
doi)pelte Erklärung zulassen. Es ist nämlich auch die Annahme
denkbar, dass das gesammte mehr oder weniger feste Plasma der
Träger der erblichen Anlagen sei. Dann muss demselben die Fähig-
keit, Eigenschaften zu vererben, in ungleichem Grade zukommen.
Wenn das männliche Befruchtungsplasma (im Spermatozoid) bloss
den hundertsten Theil der Masse von dem weiljlichen Befruchtungs-
plasma (in der Eizelle oder im Keimbläschen) beträgt und trotzdem
gleich viel orbliche Anlagen enthält, so l^esitzt das erstere in der
Masseneinheit hundertmal mehr ideoplastische Kraft als das zweite.
Es kommt nun jjraktisch auf das Nämliche hinaus, ob ich
sage, es sei eine gewisse Summe von idioplastisclien Eigenschaften
oder es sei eine gewisse Menge Idioplasma durch eine gegebene
Menge von Plasma verbreitet. Die letztere Ausdrucksweise hat den
Vorzug der Anschaulichkeit, und erweist sich als viel brauchbarer
für weitere Ausfüln'ungen der Theorie.
Die Annahme eines l)estimmten Idioplasmas lüetet sich übrigens
um so ungesuchter dar, als es bereits verschiedene durch ungleiche
})hysikalische und physiologische Eigenschaften charakterisirte Modi-
ficationen von Plasma gibt. Wir unterscheiden nicht nur gelöstes
(Ilygro-) und ungelöstes (Stert^)-) Plasma, sondern in dem letzteren
wieder hyalines (Hyalo-) und trül)es, oft k()rnigcs (Polio-, Körner-)
Plasma. Ferner hat nur ein Theil des Polic^plasmas die Fähigkeit,
durch Chlorophylleinlagerung sich grün zu färben und aus Kohlen-
säure und Wasser Zucker (Kohlenhydrate) zu l)ilden. Ebenso zeichnet
sich ein Theil des Stere(»])lasnias in den Zellkernen und in kcrn-
iUmlichen Plasmakörpern dm-cli die; Fähigkeit aus, grössere Mengen
von Farbstoff aufzunehmen.
Es ist somit aus mehr als einem (.irunde wahrscheinlich, dass
von den iVlbuminaten, welche das Plasma des lolKUiden Organismus
darstellen, inu' ein sehr kleiner Theil Träger der erbliclien Anlagen
und als Idioplasma zu l)ezciclmen ist, während die ül.)rige Masse
als Träger der erhliolien Anlagen. 29
als Ernährunosplasma betrachtet werden muss. Die Wirksamkeit des
Idioplasmas macht sich überall geltend , wo ein erblicher Wachs-
thnms- oder Und)ildungsprocess vor sich geht; es darf daher seine
Anw^esenheit an diesen Stellen vorausgesetzt werden.
Wenn es im umgekehrten Falle eine Menge Stellen im Orga-
nismus gibt, wo das Plasma weder Wachsthum noch Umbildung
hervorzubringen vermag, so kann die Ursache theils im relativen
Mangel des Idioplasmas liegen, theils darin, dass dasselbe nicht die
richtige Mischung mit dem Ernährungsplasma bildet. Die Annahme
möchte auch nahe zu liegen scheinen, dass in so vielen Fällen die
zusammenhängenden Plasmamassen, welche durch andere stickstoff-
haltige oder stickstofflose Verbindungen (leimgebende und elastische
Substanzen in den thierischen, Cellulose in den jjflanzlichen Ge-
weben) von einander getrennt sind, auf allzu geringe Mengen ver-
mindert worden seien, um ein ferneres Wachsthum möglich zu
machen, dass also die erforderliche Menge von Ernährungsplasma
für die Wachsthumsprocesse entscheide.
Allein dieser Umstand darf nicht für eine allgemeine Theorie
des Gestaltungsprocesses benutzt werden. Er kann vielleicht erklären,
warum gewisse Ernährungsvorgänge, wie die Streckung und Xer-
dickimg der Zellmembran bei Pflanzen, aufhören. Aber die eigent-
lichen Wachsthmnsprocesse, welche die eigenthümliche Gestalt und
Structur der Organe bedingen und vorzugsweise auf der Zellbildung
beruhen, sind unabhängig davon. Denn es ist eine häufige, im
Pflanzenreiche leicht zu beobachtende Erscheinung, dass die Ver-
mehrung der Zellen schon zu einer Zeit aufhört, wo sie noch
ganz mit Plasma erfüllt sind, und ebenso dass von den zwei Tochter-
zellen einer Mutterzelle, obgleich beide gleiche Mengen von Plasma
enthalten, die eine Zellen bildet, die andere nicht.
Eine Theorie, welche allen thatsächlichen Beobachtungen oenüo-t
scheint nur die zu sein, dass in erster Linie die Beschaffenheit
des Idioplasmas, in zweiter auch seine Menge und die Art, wie es
mit dem Ernährungsplasma gemengt ist, für die Dauer und das
Aufhören der Wachsthumsvorgänge entscheidend seien, und dass in
dem sich entwickelnden Organismus das Idioplasma in einer steten
Wanderung nach den Bildungsstätten begriffen sei.
30 1- Idioplasma
Es bandelt sieli al)er nicht l)l()ss nni die Tliatsaclie, dass das
Wachsthmn zeitweise und stellenweise thätio; ist oder 7Aiv Ruhe
kommt, sondern um die andere noch viel rätliselhaftere Erscheinung,
dass das Wachsthumsvermögen nach Zeit und Ort der individuellen
Entwicklungsgeschichte sich verändert. Beim Aufbau des Organs
aus Zellen besitzen viele Zellen <lie Fähigkeit in einer ganz be-
stimmten Weise zu wachsen und in ganz bestimmter Weise sich in
zwei neue Zellen zu theilen, was bei den einfacher gebauten niederen
Pflanzen oft so ausserordentlich deutlich zu beol^achtcn ist. Ferner
])ildet beim Aufbau des IMlanzenstockes der Stengel zuerst schuppen-
förmige Niederblätter, dann grüne Laubblätter, dann kleinere oft
bleiche oder Inmte Hochljlätter, und zuletzt in regelmässiger Folge
die verschiedenen Blätter der Blüthe, Kelch, Krone, Staubgefässe
und Stemjiel.
Von den Billionen Zellen, welclie einer Pflanze während ihrer
ganzen Lebensdauer angehören, mangelt vielen die Fähigkeit neue
Zellen zu bilden, die andern erzeugen je nach Zeit und Ort ver-
schiedenartige Gewebezellen oder Anfangszellen für verschiedenartige
Organe. Wenn wir diese I)ildungszellen nicht l)loss nach ihrer
nächsten, sondern nach ihrer ganzen Nachkommenschaft Ijeurtheilen,
so verhält sich jede anders, und jeder kommt ein eigenthümlicher
Bildungstrieb zu. Da dieser durch den ganzen Organismus sich
verändcirnde Bildungstriel) durch das Llioplasma l)edingt wird, so
stehen uns nur zwei Annahmen offen.
Entweder verändert sich das Idioplasma, sei es in materieller,
sei es bloss in dynamischer Beziehung, wäln-end des individuellen
Wachsthumsprocesses stetig, um am Schlüsse dessel])en l)ei der
Bildung der Keime wieder zu der ursprünglichen Bescliaffenheit
zurückzukeliren, die es in der Anfangszelle hatte, aus welclier das
Individuum hervorgegangen ist.
Oder das Idioplasma l)ehält die nämhche Beschaffenheit und
es wird das verschiedene A\a*mügen des Bildungstriebes durch die
veränderten Umstände verursacht, welche mit dem Idio])lasma zu-
samnuinwirken, und welche von Zeit und Ort der individuellen Ent-
wicklungsgeschichte abhängen.
Die eine und die andere dieser beiden LTrsachen würde für sich
allein wohl nicht ausreiclien, um die normalen und al)normalen Ver-
hältnisse, welche die Geschichte des Individumns darbieten kann,
als Träger der erblichen Anlagen. 3l
ZU erklären. Da aber beide ohnehin vorhanden sein müssen, so
wird die Erklärung durch ihr Zusammenwirken wcsenthch erleichtert.
Es ist überflüssig auszAil'ühren, wie auf das Idioplasma iortwälu'end
andere umgebende (dem Individuum angehörige) Einflüsse einwirken ;
denn jede Zelle, die wächst und sich theilt, nimmt eine bestimmte
ontogenetische Stelle ein, und l)efindet sich unter einer eigenthüm-
lichen Combination von vorausgegangenen Organisationsverhältnissen.
Dass ferner das Idio[)lasma in den verscliiedenen Abschnitten
der Ontogenie thatsächlich nicht ganz gleich ist, ergiljt sicli aus
dem Umstände, dass bei Arten mit Generationswechsel die einzelligen
Samen ungleicher Generationen sich zu ungleichen Individuen ent-
wickeln, — ferner ebenso aus dem Umstände, dass bei Gefässpflanzen
und l)ei Moosen die von vegetativen Th eilen sich ablösenden Zellen
beim Keimen sicli etwas anders verhalten als die befruchteten Ei-
zellen oder die Sporen, indem jene nändich die allerersten Stadien
der Entwicklung überspringen.
Dass das Idioplasma innerhall) des Individuums auch eine phylo-
genetische Umbildung erfährt, beweist uns die Thatsache, dass
aus einem Bamne ausnahmsweise ein Zweig mit anderen Eigen-
schaften als die übrigen Zweige, mit anders gestalteten Blättern oder
Blüthen hervorwächst, wobei die äusseren Einflüsse selbstverständlich
nicht in Betracht kommen können.
Die Annahme, das Idioplasma verändere sich während des indi-
viduellen Wachsthums innerhalb bestimmter Grenzen, ist aber des-
halb leicht möglich, weil es sich immer um ein \^ielfaches vermehrt,
und weil diese Vermehrung in den verschiedenen Stadien der indi-
viduellen Entwicklungsgeschichte ohne Zweifel in ungleicher Weise
erfolgt, wie ich nachher auseinandersetzen werde.
Es ist also jedenfalls das zweckmässigste, das Idioplasma ver-
schiedener Zellen eines Individuums, wenn auch nur als S3nnljol,
als verschieden zu bezeichnen, insofern es eigenthihnliclie Productions-
fähigkeit besitzt, und darunter auch alle die Umstände im Individuum
zu l)egreifen, die auf das bezügliche Verhalten der Zellen Einfluss
halben. Die Wirksamkeit des also beeinflussten Idioplasmas ist nun
nichts anderes als der Bildungstrieb (Nisus formativus).
Nicht nur die Umstände innerhalb des Individuums halben
Einfluss auf das Idioplasma. Dasselbe kann auch durch äussere
Ursaclien umaestimmt und zu einem veränderten Bildunostrieb
32 . I- Idioiilasma
veranlasst werden. Dies wird uns durch eine Menge abnormaler Bil-
dungen aufgenöthigt, welche auf äussere Eingriffe erfolgen, — sei es,
dass Insektenstiche in einem Gewebe, das sich sonst nicht weiter
vercändern würde, Wucherungen und Gallen erzeugen, oder dass
verschiedene künstliche Maassregeln, welche eine Störung in den
normalen Lebensvorgängen bewirken, z.ur Ruhe bestimmte Zellen
veranlassen, sich zu vermehren und eine Knospe oder eine Wurzel
zu bilden. Der Einfluss der äusseren Umstände auf die Entscheidung,
welche von den im Idioplasma enthaltenen Anlagen zur Entfaltung
gelangen, zeigt sich namentlich auch in der bekannten Thatsache,
dass es von der Ernährung alihängt, ob an gewissen Bäumen sich
Laub- oder Blüthentriebe bilden, und dass manche Pflanzen in
einem ihnen wenig günstigen Klima es überhaupt nicht zur Blüthen-
bildung bringen , sondern in der vegetativen Entwicklungssphäre
gebannt bleiben.
Wenn es nun feststeht, dass die Veränderungen, welclie der
Bildungstrieb in den auf einander folgenden Stadien der individuellen
Entwicklungsgeschichte und an den verschiedenen Stellen des indi-
viduellen Organismus zeigt, durch nichts Anderes bedingt werden
kann, als durch die auf einander folgenden Modificationen im Idio-
jjlasma und durch die ebenfalls wechselnden Einflüsse, unter denen
dasselbe seine Anlagen zur Entfaltung bringt, so legen wir uns
weiter die Frage vor, in welclien Vorgängen diese Modificationen
des Idioplasmas bestehen und wie wir uns die Einwirkung der um-
gebenden Umstände zu denken haben? Dies führt uns dann auf
eine nähere Betrachtung der Constitution und der Wirksamkeit des
Idioplasmas.
Was die Vorgänge im Idioplasma betrifft, so ist zunächst die
Zunahme desselben während des Wachstimms zu berücksichtigen.
Wir beobachten, dass die Substanz, aus welcher der Organismus be-
steht, von dem Anfangsstadium aus ])is zum ausgewachsenen Zustande
fortwährend sich vermehrt, dass diese Vermehrung, abgesehen von
vielen einzelligen Wesen , sehr beträchtlich ist (oft um mehr als
das Billionenfache) und dass alle wesentliche Veränderung in der
morphologischen, inneren und äusseren Gestaltung nur durch Zu-
nahme der Substanz und niclit etwa durch Umlao-eruno- derselben
bewirkt wird. Mit d(!r Substanzzunahme muss eine entsprechende
Vermeln-ung des Idioi^lasmas in derselben verbunden sein; jede
als Trii*rei- (Ut orl)lichen Anlagen. 33
beliebige Zelle muss davon eine gewisse Menge cntlialten, weil dadurch
alle ererbte Thätigkeit bedingt wird; und jode Zelle, die aus den
Fortpflanzungsorganen und bei den Pflanzen auch aus vegetativen
Geweben frei wird, um ein neues Individuum zu erzeugen, muss
eine annähernd gleiche IVIenge von Idioplasma besitzen, wie die Zelle,
aus der das elterliche Individuum li er vorgegangen ist. Bei einzelligen
Wesen, die bloss zwei Kinder hinterlassen, vermehrt sich das Idio-
plasma während der Lebensdauer auf das Doppelte, bei allen anderen
um so mehr, je grösser und zusammengesetzter sie sind, und je mehr
Keime sie hervorljringen, bei manchen Organismen gewiss auf das
Millionenfache.
Mit dieser Zunahme des Idioplasmas während der individuellen
Entwicklungsgeschichte könnten wir seine verschiedene Wirksamkeit
während dieser Periode in Verbindung bringen. In Folge seiner zwar
höchst kunstvollen , aber ungleichmässigen Constitution wächst es
nämlich nicht ülierall und nicht immer gleichmässig fort; sondern
es finden stets Bevorzugungen statt, sei es, dass die einen Gru|)pen
oder Dimensionen in stärkerem Maasse als die übrigen, sei es, dass
dieselben in activer Weise zunehmen, indess die übrigen nur passiv,
soweit es der feste Zusammenhang verlangt, folgen^).
Wir könnten nun annehmen, dass immer die Anlagen derjenigen
Gruppen oder Dimensionen, die sich am lebhaftesten oder in activer
Weise vermehren, zur Entwicklung gelangen, während die übrigen
latent bleiben, so dass also die successive Entfaltung der Anlagen
in dem entstellenden und wachsenden Individuum durch den Wechsel
in den Wachsthumsprocossen des Idioplasmas Ijedingt würde. Dieser
Wechsel aber wird mitbedingt durch die umgebenden Umstände, indem
das in den Zellen ])estinnnter Entwicklungsstadien eingeschlossene
Idioplasma die Entfaltung der dieser Situation entsprechenden An-
lagen anregt.
Die ^'^erschiedenheit der Wachstlunnsprocesse im Idioplasma
könnte allenfalls in folgender Weise gedacht werden. Da dasselbe
eine feste Anordnung darstellt, so lassen sich seine Theilclieii (die
*) Ein artivos Wachsthum ist dann gegelton, -wenn ilnrcli ilic Mdlccularknifte
Einlagerung von kleinsten Theilchen stattfindet und damit ein entgegensteiiendi-r
Druck überwunden wird, ein i)assives Wachsthuni dann, wi'un die Snl)stanz
aus einander gezogen wird und wenn in Folge dieses Zuges neue Thrilclien sicii
einlagern.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 3
34 I- Idioplasma
Micellc) luicli mehreren sich kreuzenden Dimensionen in Reihen
zerlegen, wol)ei immer das nämhche Theilclien Reihen der verschie-
denen Dimensionen angehört. Alle Zunahme des Idioplasmas ist
ein Wachsthum seiner Reihen und geschieht dadurch, dass die Reihe
durch Zutritt neuer Micelle zu den schon vorhandenen sich ver-
längert. Diese Verlängerung kann durch gleichmässige Zwischen-
lagerung in allen Partien der Reihe oder durch ungleichmässige,
stellenweise gesteigerte Zwischenlagerung oder auch durch Auflagerung
an einem Ende erfolgen. Eine ganze zusammengehörende Gruppe
von Idio})lasma oder das gesammte Idioplasma aber kann durch
Wachsthum der Längsreihen allein oder der nach der Breite gelagerten
Querreihen oder der nach der Dicke verlaufenden Reihen oder auch
durch Wachsthum der in irgend einer schiefen Richtung geordneten
Reihen allein sich vermeln-en. Die verschiedenen Anlagen werden
durch die in verschiedenen Dimensionen verlaufenden Micellarreihen
dargestellt, und eine bestimmte Anlage entfaltet sich , wenn die be-
treffenden Reihen der bestimmten Dimension wachsen. Enthalten
beisjjielsweise die Längsreihen im allgemeinen die Anlagen für die
vegetativen, die damit sich kreuzenden Querreihen die Anlagen für
die reproductiven Bildungen, so verlängern sich durch Einlagerung
von Micellen in der ersten Richtung nur die Vegetationsreihen, indess
die in der Querrichtung verlaufenden Reproductionsreihen bei diesem
Wachsthums})rocess ihre Länge behalten , aber in entsprechendem
Maasse an Zahl zunehmen. Solange dieses Wachsthmnsstadium des
Idioplasmas andauert, werden nur Laubtriebe hervorgebracht; schlägt
später an bestinnnten Stellen das Wachsthum in die Reproductions-
reihen des Idioj^lasmas um, so dass also die Einlagerung nur in der
Querrichtung erfolgt, so bilden sich daselbst Blüth entriebe.
Die soeben entwickelte Hypothese des Wachsthums des Idio-
plasmas deutet den Weg an, auf dem ich anfänglich die Lösung des
Räthsels versuchte. Ich hal)e aber bald gefunden , dass die Aus-
führung der Theorie im einzelnen , oljgleich sie allerdings Adele
V^orzüge enthält, auf kaum übersteigbare Schwierigkeiten stösst, und
ich wurde veranlasst, sie als zweiten Versuch so weit zu ändern,
dass alle Anlagen durch die in der Längsrichtung verlaufenden
Reihen dargestellt werden. Ich erachtete jedoch für zweckmässig,
den ersten A'(>rsu(li niitzutheilen, weil er am anschaulichsten zeigt,
wie ich mir die Structur des Idioplasmas bezüglich des A'^erhaltens
als Träger der er1)liclien Anlagen. 35
der verschiedenen Dimensionen 7ai einander denke. Eine gleichzeitige
feste Anordnung in dun Querrichtungen ist für die veränderte Theorie
ebenfalls nothwendig, weil die Anlagereihen sich in vielfacher Füh-
lung mit einander l)efinden müssen, und weil dies nur (hirch den
seitlichen C'ontact der Längsreihen mciglich ist, wol)ei die Micelle
auch in Querreihen, welche nach der Breite und nacli der Dicke
verlaufen, zu liegen kommen.
Ehe ich die mögliche Structur des idioplasmatischen Systems weiter
verfolge, will ich zunächst dariiul' liinweisen, dass in einer solchen
Theorie niclit etwas Neues enthalten ist, das erst in die Physiologie
eingeführt werden soll. Sie ist im Gegentheil nur einer bereits fest-
stehenden analogen Structur anderer organisirter Körper nachgebildet.
Jeder dieser Körper bestellt aus krystallini sehen Micellen (mikro-
skoj)isch unsichtl)aren, aus einer grösseren oder kleineren Zahl von
Molekülen l)estehenden Kry ställchen, von denen jedes im imbibirten
Zustande mit einer Wasserhülle umgeben ist) ; aber jeder Körper ist
mit Rücksicht auf seine Bestimmung, oder vielmehr mit Biicksicht
auf die bei seiner Entstehung maassgebenden Ursachen eigenthümlich
gebaut.
Am regelmässigsten sind die Micelle in den Krystalloiden (krystall-
älmlichen K(')rporn) der All)Uininate angeordnet, und zwar ziendich
genau so wie die Moleküle oder Pleone (chemische Molekülverbin-
dungen) in den Krystallen, nämlich in ebenen Micellschichten, die
sich nach drei oder mehr Riclitungen kreuzen, und somit auch in
geraden Micellreihen, die nach drei oder mehr sich kreuzenden Rich-
tungen orientirt sind. — In den Amylodextriu sc li eibchen (Cylindro-
kr^'stalloiden) liegen die aus Amylodextrin bestehenden Micelle in
concentrischen Schichten von der Form von Cylindermänteln und
in dazu rechtwinkligen ebenen Schichten , also in radialen , von
der Cylinderaxe nach der Peripherie ausstrahlenden, zur Axe recht-
winkligen Reihen und in mit der Axe parallelen Reihen.
Was die Stärkekörner betrifft, so kann man in denselben im
allgemeinen nur concentrische Micellschichten, die um den centralen
oder excentrischen »Kern« verlaufen, und radiale, von dem Kern
strahlenförmig au.sgehende Micellreihen unterscheiden; die Anordnung
der Micellreihen in der Fläche der concentrischen Schichten ist un-
bekannt. — Die Membranen freier kugeliger Zellen (z. B. Chroococcus)
3*
36 I. Idioplasma
vcrluilten sicli ähnlicli wie Kngelsclialen von sphärischen Stärke-
körnern, und diejenigen, welche die Seitenfläche freier cyhndrischer
Zellen darstellen (z. B. Oscillaria, Spirogyra), ähnlich wie Cylinder-
mäntel von Cylindrokrystalloiden.
Im übrigen sind bei den Pflanzonzolhneml^ranon, wie sich ans
Schichtung und Streifung ergi])t, die Micellschichten nach drei
Dimensionen geordnet, von denen die eine, welche der Schichtung
ents])richt, mit der Membranfläche parallel läuft, während die zwei
anderen, den Streifensystemen entsprechend, sich unter beliebigen
Winkeln kreuzen, zur Schichtung aber rechtwinklig stehen. Dem
entsprechend gibt es auch drei Hauptsysteme von Micellreihen, zwei
sich recht- oder schiefwinklig kreuzend, mit den Streifen gleichgehend
und in der Fläche der Schichten verlaufend, und ein drittes, die
Ixnden ersten und somit die Schichten rechtwinklig durchsetzend.
Dieser Bau ist an grossen cylindrischen Zellen (Meerconferven,
Charen), wo die einen Streifen meist der Länge nach, die andern
der Quere nach verlaufen, ausserordentlich deutlich.
Die Anordnung der Micellschichten in den Krystalloiden und
den Cylindrokrystalloiden ist ausserordentlich regelmässig, bei den
Stärkekörnern und Zellmembranen mehr oder weniger unregelmässig,
indem die sichtbaren Schichten sich hin und wieder in zwei und
mehr Blätter spalten. Dieser Erscheinung muss eine Verzweigung
der Micellschichten und Micellreihen entsprechen. Besonders wichtig
als Vergleich mit dem Idioplasma sind die Stärkekörner.
Das Wachsthum der Stärkekörner findet genau so statt, wie es
die diu'ch die genannten Kräfte bedingten Spannungen verlangen,
(he sich (heoretisch aus den mechanischen Prämissen ableiten lassen^).
Tritt friÜier oder später eine A])weichung von der ursprünglichen
regelmässigen kugeligen Form und mathematisch concentrischen An-
ordnung auf, so wird, wenn nicht äussere störende Einflüsse sich
geltend machen, die Abweichung innner grösser, die Unregelmässig-
k(!it und damit die Complicirtheit der Configuration wächst immer
mehr. Dies steht ebenfalls in strenger Uebereinstimmung mit den
mechanischen Forderungen.
Die A])weiclumgen der Stärkek<)rner vom sphärischen Bau sind
verschiedener Art. Diese s})ecifischen A^erschiedenheiten werden
') Nägel i. Die Stiirkckörner. 1858, S. 289.
als Träger der erblichen Aulagen. 37
bedingt durcli die chemische Beschaffenheit des Zcllinhcdte,«<, wclclio
auf die Bescliaffenheit, Gestalt und Zusunnnenlagorung der Micellc
Einfluss ausüljt. Es sind gleichsam die Anpassungen der Stärke-
körner, während die Ursache, welche die Abweichung vom sphäri-
schen Bau Ijewirkt, eine allgemeine ist und allen Körnern zukommt.
Die Stärkekörner geben uns ein Vorbild für das Idioplasma.
Beides sind feste Micellsysteme , die frei im Zelleninhalte (in der
Zellflüssigkeit oder im hall^flüssigen Plasma) liegen und durch Micell-
einlagerung wachsen ; in l^eiden tritt der erste Schritt zur compli-
cirteren Anordnung mit mechanischer Nothwendigkeit ein, und
führt ebenso nothwendig zu immer w'eiter gehenden Schritten in
der steigenden Complication der Configuration des Systems. Bei
den Stärkekörnern aber halben wir es mit einer bekannten Anordnung
zu thun, bei der sich die mechanischen Bedingungen der Einlagerung-
genau angeben lassen, während bei dem idioplasmatiselien System
uns der Charakter der Configuration noch verborgen bleibt.
Wenn das Idioplasma so beschaffen ist, wie ich mit Rücksicht
auf die Eigenschaften, die es nothwendig besitzen muss, vermuthet
habe, so kennen wir seine Structur nur in der einen Dimensioi],
nändich in derjenigen, in welcher sein ontogenetisches Wachsthum
stattfindet. Wie ich bereits erwähnte, kann es im einzelnen Indi-
viduum auf das Zehntausendfache, selbst auf das Millionenfache
zunelnnen. Trotzdem behält es Ijei geschlechtsloser ^^ermehrung
der Individuen (durch Stecklinge, Knollen, Pfropfreiser u. s. w.)
während einer ganzen Reihe von Generationen so genau seine An-
ordnung bis ins Einzelne, dass selbst die allerleichtesten individuellen
Eigenthümlichkeiten, die sonst gar keinen Bestand haben, ohne die
geringste A^'eränderung sich vererben. Ferner sind viele wildwachsende
Pflanzen seit der Eiszeit auf den verschiedensten Standorten so gleicli
geblieben, dass man sie nicht von einander unterscheiden kann ;
— es ist dies eine Thatsache, auf die ich später noch wiederholt
zurückkommen w-erde. Das Idioplasma dieser Pflanzen muss während
dieses langen Zeitraums fast in unl^egrenztem Maasse zugenommen
hal)en, ohne sich merkbar zu verändern.
Diese Erscheinung scheint keine andere Erklärung zuzulassen
als die, dass das Idio|)lasma strenge in ])arallelcn Reihen von festem
Zusannnenhang geordnet ist, welche durch Einlagerung von Micellen
38
I. Idioplasina
wuchsL'u und dabei fortwährend die gleiche Zusanimenorihiung he-
ludten (Fig. 1, Längsschnitt durch eine Partie von Idioplasma). Da-
durcli Ijleibt die Configuration des Querschnittes unverändert und
in dieser Configuration ist ja die specifische ßeschatfenheit des Idio-
plasnias entlialten. Würden eine oder mehrere Längsreihen chirch
Störungen im Wachsthum bei loserem Zusammenhang sich theilen
oder sich vereinigen , würde also die Zahl der Längsreihen beim
Wachsthum zu- oder abnehmen, so wäre dadurch eine Aenderung
in der Configuration dos idioplasmatischen Systems und damit auch
eine Veränderunu' in den Merkmalen verursacht.
DüGG
nDGD
gogg
dgüo
aOüo
oOoo
OOQÜ
dOoo
DÜD
DGü
DÜDn
DGD^
DDG
DD[
Fig. 1.
Das Constantl)k'iben der Merkmale durch eine Folge von Gene-
rationen verlangt, dass die Micellreihen des Systems während des
ontogenetischen Wachsthums ihren strengen Parallelismus bewahren.
Die Veränderung der Merkmale bei der j)hylogenetischen Entwickelung
erfordert dagegen eine Vermehrung oder auch eine Uml)ildung der
Micellreihen, ohne welche eine neue Anlage nicht in das idioplas-
matische System sich einordnen kann.
Die Art und Weise, wie wir uns die Fortbildung der Querschnitts-
configuration im hlioplasma vorzustellen hal)en, hängt wesentlich
mit der Art des Längenwachsthums zusammen. Würden die Längs-
reihen an dem einen (oberen) Ende wachsen , so könnte ihre Ver-
melu'ung als Verzweigung stattfinden (Fig. 2, wo a die neue Gruppe
oder Anlage im Querschnitt gesehen darstellt). Diese Bildungsweise
als Träger der erljlicheu AnlaKeii.
39
kommt aber ohne Zweifel nicht vor, denn sie entspricht wenig der
Vorstellung, welche wir uns von dem micellaren Wachsthum über-
haupt zu machen haben, und noch weniger den Eigenschaften, die
wir im übrigen dem hlioplasma zuschreiben müssen, wie sich in
der Folge noch ergeben wird.
l
I : 1
Fig. .•!
1
Fig. 4.
Das Längenwachsthum der Micellreihen geschieht höchst wahr-
scheinlich überall in der ganzen Länge durch Zwischenlagerung
neuer Micelle, also intercalar (Fig. 5, Längsschnitt; die neuen Micelle
<i b
Cr"
D r • -^ ^'
Fig. 5.
L.J L.....,j
□ DD
CZJOQ
□ GG
GDGG
0^
□ DO 000
0 00 OGG
Fig. (i.
Fig. 7.
sind (hircli die leeren Rechtecke angedeutet). Die Zunahme und
Ax'rändcrung des Querschnittes kann durch das Wacbstbuui (hi-
zehier Alieehe, also durch Verstärkung von Längsi'cihen oder (hnch
Bildung neuer Micelle, also durcli Einschaltung von Längsreihen
40 I- I'lioplasma
erfolgen. Wenn die Längsreilien sicli verstärken, so tritt mit der
Zeit wahrscheinlich auch eine Theilung derselben ein, indem sich
heim Längenwachsthum statt eines grösseren Micells zwei kleinere
einlagern (Fig. 6a). Im Anfange besteht nini eine solche Reihe ab-
wechselnd ans ungleichen Elementen; da aber die Längenzunahme
während einer einzigen ontogenetischen Periode auf das Vieltausend-
fache steigt, so könnte unter Umständen schon das nächstfolgende
lndi\i(lmim an der Stelle der früheren verstärkten Reihe durchgehends
eine r)o|)j)elreihe besitzen (Fig. (»^ zeigt das nächste Stadium, welches
auf a folgt).
Doch wird die Verstärkung der Längsreihen und ihre Theilung
mn- selten oder selbst gar nicht stattfinden, wenn die Ansicht, die
ich bei Aidass der Betrachtung ül)er die Zahl und (Jrössc der Idio-
])lasmamicelle äussern werde, dass nänüich die letzteren nur aus
einer geringen Zahl von IMolekülen l)estehen, begründet ist. In
diesem Falle kann die Zunahme des Querschnittes des Idioplasmas
bloss durch Einschaltung neuer Reihen erfolgen, die ül)rigens unter
allen Umständen, aucli wenn eine Verstärkung der Reihen statt-
haben sollte, das Ilauptmoment des Wachsthums in der Querrichtung
ausmacht (Fig. 7, mit einer eingeschalteten Reihe). Wir können
also die Zimahme und Veränderung des Quersclmittes im allgemeinen
als eine A'^ermehrung der Längsreihen betrachten, wolxä die neu
eingelagerten Reihen allein oder mit älteren Reihen vemiischt die
neue Anlage l)ilden (Fig. 3 und 4, a die neue Anlage; die neu ein-
gelagerten Reilien sind durch pmiktirte, die alten durch ausgezogene
Linien angegel)en).
Findet eine Und>ildnng der Micellreihen zur Erzeugung von
neuen Anlagen statt, so müssen die sich einlagernden Micelle eine
etwas andere Natur besitzen. Dann wird die Reihe nach und nach
ihren ("harakter verändern. Man kann in diesem Falle von einer
Differenzirung der Substanz des Idioi^lasmas sprechen, insofern in
einem Complex ursprünglich gleichartiger Reihen die einen sich so,
die andern sich anders umbilden.
Mag die Lildung der neuen Anlagen durch Einschaltung von
Micellreihen oder durcli Umbildung der schon vorhandenen er-
folgen, so kann man dieselbe innnerhin so langsam oder so rasch,
als es erforderlich ist, sich vorstellen, so dass also auch die zeit-
liclieii Lcdingungen in jeilcr Hinsieht sicher gestellt sind. — Der
als Träger der erbliehen Anlagen. 41
einfachste, bei den niedrigsten Organismen vorkommende Bau des
Idioplasmas bat die geringste Zabl von differenten Reihen; ihre
Zald vermehrt sich mit der comphcirteren Einrichtung der höheren
Organismen immer mehr.
Das Idioplasma besteht also eigenthch aus strangförmigen
Körpern, welclie während jeder ontogenetischen Periode mit dem
Wachsthum des Individuums stetig sich verlängern. Ferner müssen
die Idioplasmastränge, da alle erblichen Vorgänge chemischer und
plastischer Natur durch sie geregelt werden, überall im Organismus,
selbst an den verschiedenen Stellen jeder Zelle gegenwärtig sein,
und ebenso muss, wie sich bei Betrachtung der phylogenetischen
Veränderung ergeben wird, eine Communication zwischen den in ver-
schiedenen Theilen eines Organisnuis befindlichen Idioplasmapar-
tien statt finden. Es ist daher eine kaum von der Hand zu weisende
Annahme, dass das Idioplasma durch den ganzen Organismus als
zusammenhängendes Netz ausgespannt sei; dasselbe wird in den
Zellen selbst je nach der Beschaffenheit derselben eine verschiedene
Gestalt annehmen, in den grösseren Pflanzenzellen aber gewöhnlich
innerhalb der Meml^ran die Oberfläche überziehen, ferner auch
häufig durch den Zellraum verlaufen und besonders auch im Kern
zusammengedrängt sein ! Der in Pflanzenzellen so häufig vorkom-
menden netzförmigen xVnordnung des Plasmas und der netzförmigen
Beschaffenheit der Kernsuljstanz liegt wahrscheinlich das Idio})lasma-
netz zu Grunde.
Dieses Netz lässt sich, wie ich vorläufig ])emerken will, in
doj)pelter Art denken, entweder als ununterbrochene, netzförmig
anastomosirende Stränge, oder als Strangstücke von begrenzter
Länge, die netzförmig zusammengeordnet sind. Im ersten Falle
muss angenommen werden, dass zwischen den durch Längenwachs-
thum sich streckenden Strängen A^erl)indungsstränge gebildet werden,
im zweiten Fall, dass die sich verlängernden Stränge fortwährend
sich theilen und neu anordnen.
Ich habe die strangförmige Natur des Idioplasmas aus dem
Grunde angenommen, weil sie allein uns alle Erscheinungen, die
wir von ihm kennen, zu erklären vermag. Eine ganz andere Ueber-
legung scheint zu dem nämlichen Ziele zu führen. Die Vermehrung
der Zellen geschieht in der Hauptsache durch Tlieilung, indem die
andern \\'rmehrungsarten, die im Lauh' der Generationen mit der
42 I- Idiopliisina
Theilung abwechseln, niimuriscli ganz zurücktreten. Jeder Zell-
tlicilong geht eine Streckung voraus, bei welcher das weichere Er-
näln'ungsj)lasma sich l)eliebig verschiebt, während die festeren
Plasmai)artien die Neigung haben, sich fadenförmig zu verlängern.
Bekanntlich beobachtet man dies besonders schön bei der Kern-
theilung, wo die beiden auseinander rückenden Kernhälften durch
eine Zahl von Fäden verbunden sind.
Bei der Entstehung der Organismen trat bald ein Stadium ein,
in welchem die als Idio})lasma sich organisirende festere Substanz
so viel Zähigkeit besass, dass sie bei der Theilung eine verlängerte
fadenförmige Gestalt annahm. Da nun diese Substanz bei den in
verschiedenen Richtungen erfolgenden successiven Theilungen auch
in den verschiedenen Richtungen fadenförmig ausgezogen wurde,
so bildete sie sich noth wendig zu einem Netz von Fäden aus. An-
fänglich war dieser Rrocess vielleicht wirklich ein Ausziehen in
Fäden, verluniden mit Verschiel)ung der Idioplasmamicelle. Später,
als das Idioplasma eine hinreichende Consistenz erlangt hatte,
bestand die in der Theilungsrichtung eintretende Verlängerung
bloss in einem normalen Wachsthum durch Einlagerung von Mi-
cellen, und es ist möglich , dass sie diesen Charakter schon von
Anfang an hatte.
Die eben angestellte Betrachtung zeigt, dass ein Idioplasmanetz
entstehen musste, wenn bloss die aus Beobachtung Ijekannten nior})ho-
logischen Erscheinungen im Zelleide])en berücksichtigt werden.
S}xiter (in dem Al)schnitte über die Ursachen der Veränderung)
werde ich zu zeigen suchen, dass auch die molecularphysiologischen
Vorgänge allein schon ausreichen , um die Bildung eines Netzes
höchst wahrscheinlich zu machen.
Die specifische Beschaffenheit des Idioplasmas wird durch die
Configuration des Querschnittes der Stränge ausgedrückt, in welcher
die ganze Ontogenie mit allen ihren Eigenthümlichkeiten als Anlage
enthalten sein muss. Wir hätten die Lösung des grössten Räthsels der
AI )staiiimungslehre gewonnen, wenn wir jene Configuration zu erkennen
vermöchten. Dies ist aber nicht möglich ; man könnte vielleicht
den einen und andern Punkt durch die Theorie befriedigend erledigen ;
man k()nnte vielleicht selbst eine Gesammtanordnung ausdenken,
die den wichtigsten Anforderungen ein Genüge leistete. Allein ich
würde dies für unnütz und unfruchtbar halten. Die Configuration
als Triiger der (.■iljlichen Anlagen. 43
des idiopksinatisclion Systems ist keine geometrische, sondern eine
]>1iylogenetisclie Aul'galje. Die richtige Anordnmig kann nur auf
dem Wege erkannt und construirt werden, auf dem der Organismus
dazu gelangt ist. Dazu müssten wir vor allem die ganze Ahnen-
reihe einer Sippe von dem primordialen Plasmatropfen aus, mit dem
die organische Entwickelung begonnen liat, kennen. Wir sind aber
noch weit entfernt von einer solchen Erkenntniss für irgend eine
Pflanze oder für irgend ein Thier.
Wir müssen daher auf den eigentlichen Kern der Sache vorerst
gänzlich verzichten, und uns mit einigen allgemeinen Beziehungen be-
gnügen, welche von einer bestimmten Anordnung in der Querrichtung
der idioplasmatischen Stränge gänzlich unabhängig sind. Einer dieser
Punkte, den ich bereits berührt habe, ist der feste Zusammenhang
ihrer Micellreihen unter einander. Diese Annahme ist einmal noth-
wendig, damit bei den ontogenetischen Wachsthumsprocesseii einer
sich nicht verändernden Abstammungsreihe keine Micelle zwischen
den Reihen sich bilden können, weil dadurch die Configuration des
Querschnittes gefährdet würde. Sie ist ferner nothwendig, damit,
wenn die einen Partien des Idioplasmas in activem Wachsthum be-
griffen sind, die übrigen Partien durch die auftretenden Si)annungen
zu einem entsjjrechenden passiven Wachsthum veranlasst werden,
was ohne festen Zusammenhang nicht möglich w^äre. Es gibt aber
noch einen dritten wichtigen Grund für die genannte Annahme :
es müssen nämlich, wie ich bereits angedeutet habe, durch die in
der Querrichtung verlaufenden Micellreihen der enge aneinander
liegenden Längsreihen Leitungen hergestellt werden, welche die ver-
schiedenen Anlagen unter einander in Verbindung setzen, wie sich
aus folgender Betrachtung ergibt.
Oljgieich wir durchaus nichts Positives über die Configuration
des idio})lasmatischen Systems wissen, nichts darüljer, welche Micell-
anordnungen den einzelnen Anlagen entsprechen , so können wir
doch sagen, wie die Anordnung in verschiedenen Beziehungen nicht
sein kann. So ist es nicht möglich , dass jede Cond)ination von
Merkmalen durch eine ])esondere Micellgrup}>e sc^lbstiindig vertreten
sei. Es gibt, um ein Beispiel anzuführen, Zellen von jeder Form
und Grösse, mit dicker und dümier, geschichteter und ungeschich-
teter, weicher und fester Mendjran, mit Spiralfasern oder poröser
44 !■ Idioplasma
Verdickung (Tü])l"olii) oder ohne das Eine und Andere, mit oder ohne
Chloropliyll, init oder oluie Fetttro})fen , Stärkekörnern, Krystallen
von oxulsaureni Kalk, die wieder in verschiedenen Formen auftreten
können n. s. w. Es gil)t, um noch ein zweites Beis|)iel anzuführen,
Blätter von sehr verschiedener Gestalt, mit ungetheiltem oder ver-
schiedenartig getheiltem Rand, mit ungetheilter oder verschiedenartig
getheilter Fläche, ohne oder mit verschiedenartigen Nebenblättern, mit
verschiedenartig gestaltetem oder fehlendem Blattstiel, mit verschieden-
artiger Verth eilung der Nerven und Adern, mit wenigen oder vielen
Zellschichten und verschiedenartiger Anordnung der Zellen, welche
wieder in all den vorhin aufgezählten Verschiedenheiten vorhanden
sein können.
Die Zellen sowohl als die Blätter gestatten eine fast unendliche
Zald von Comljinationen rücksiclitlich ihrer Zusammensetzung aus
Theilen. Diese Combinationen sind zwar in dem einzelnen Individuum
nur in begrenzter Zahl vorhanden ; allein in jeder folgenden Generation
fallen dieselben wieder etwas anders aus , und es wiederholt sich
wohl niemals ganz die nämliche Comljination der Theile in einem
Organ, auch nicht einmal in einer Zelle. Es ist also geradezu un-
möglich, dass das Idio])lasnia alle denkl)aren Combinationen gleichsam
auf Lager halte; dazu hätte der Querschnitt seiner Stränge niclit
Raum genug. Sondern es werden offenbar die Coml)inationen jeweilen
aus den Elementen zusammengesetzt.
Wir müssen uns also vorstellen, dass das Idioplasma die Anlagen
für verschiedene Organe in ähnlicher Weise zur Entfaltung bringe,
wie der Klavierspieler auf seinem Instrument die auf einander folgenden
Harmonien und Disharmonien eines Musikstückes zum Ausdruck
bringt. Derselbe schlägt für jedes a und jeden anderen Ton immer
wieder die nämlichen Saiten an. So sind die im Idioplasma neben ein-
ander liegenden Gruppen von Micellreihen gleichsam Saiten, von denen
jede eine andere elementare Erscheinung darstellt. Wird während der
ontogenetischen Entwicklung in irgend einer Zelle Chlorophyll oder
vielmehr das Chromogen desselben gebildet, aus dem bei Einwirkung
des Lichtes Cldorophyll entsteht, so setzt das dort befindliche Idio-
plasma die Chlorophyllsaite in Thätigkeit, und ebenso, wenn sich in
einer Zelle s})iralfaserige oder Tüpfelverdickungen der Meml)ran bilden,
die Spiralfaser- oder die Tüpfelsaite.
als Träger <ler erl)lic'lien Anlagen. 45
Ich (lenke mir also die Merkmale, Organe, Einrichtnnoen, Funo-
tionc-n, die alle uns nur in sehr zusammengesetzter Form wahrnelnnbar
sin<l, im Idioplasma in ihre wirklichen Elemente zerlegt. Das Idio-
})lasma hringt dann die specifische Erscheinung, wie sie jedem
Organismus eigenthümlich ist, durch die erfonkirliche Zusammen-
setzung jener Elemente zu Stande. Wenn ich aher l)eispielsweisc
die Bildung des Chlorophylls, der Spiralt'asern und Tüpfel an der
Zellwandung als Elemente anführte, so ist dies nur geschehen, um
an verständliche Erscheinungen anzuknüpfen. Ich l^in mir wohl
bewusst, dass die sinnlichen Wahrnehmungen nicht das wirkliche
Wesen der Dinge uns berichten , dass dieses , in seine letzten , uns
denkl)aren Elemente zerlegt, nur in Bewegungen und gegenseitigen
Einwirkungen materieller Theilchen Ijesteht, dass daraus materielle
Systeme mit eigenthümlichem Gleichgewicht der Theilchen hervor-
gehen, welches immer wieder gestört einem neuen Gleichgewicht in
einem System mit theilweise veränderten Theilchen und anderer
Configuration ziistrebt.
Ich könnte nun, der wahren Sachlage entsprechend, die uns
l)ekannten Erscheinungen stets in ihre muthmasslichen micellaren,
molecularen oder atomistischen Elemente zerlegt, im Idioplasma auf-
treten lassen. Die Darstellung würde dadurch ebenso schleppend als
pedantisch. Ich versetzte daher in symbolischer Weise die Erschei-
nungen, wie sie zu unserer Kenntniss gelangen, als Elemente in das
Idioplasma. Dieses Verfahren werde ich auch in der ganzen folgenden
Darstellung befolgen, worauf ich hier noch ausdrücklich aufmerksam
mache, damit nicht etwa Missverständnisse stattfinden und aus den
angewendeten Symbolen Schlüsse gezogen werden, die ausserhalb
meiner Intentionen liegen. Für die ganze Theorie hat ja dieses
abgekürzte Verfahren keinen Naclitheil; denn es ist gleichgültig,
ob ich beis^^ielsweise in dem vorliegenden Falle sage, das Idioplasma
setze die Chlorophyllsaite und die Spiralfasersaite in Thätigkeit, oder
es rege alle diejenigen Micellarreihen an, welche den einzelnen mole-
cularen Vorgängen, aus denen die Chloroi)hyllbildung und die
Spiralfaserbikknig zusammengesetzt ist, entsprechen.
Ueln'igens ist es durchaus nicht nöthig anzunehmen, dass alle
molecularen N^orgänge in dem Organisnms auch von dem Idioplasma
besonders angeregt werden. In vielen Fällen wird sich dieses darauf
4G
1. Idioplasnia
beschränken , einzelne derselben in Gang zu setzen , worauf dann
eine ganze Reihe nothwendig daraus hervorgehender Processe die
Folge sein kann. Nur wenn erl^liche Verschiedenheiten irgend
welcher Art, mögen sie auch noch so geringfügig sein, auftreten,
sind wir sicher, dass dieselben in der Configuration des Llioplasnias
vorgebildet sein müssen.
Um zu dem Thema, das uns jetzt beschäftigt, zurückzukehren,
so müssen also die Längsreihen des hlioplasmas, welche die ver-
schiedenen Anlagen des Querschnittes darstellen, unter einander in
dynamischer Verbindung stehen. Dies ist bei der dichten Zusammen-
ordnung derselben leicht begreiflich, und um so anschaulicher, je
mehr die Micelle der Längsreihen auch als deutliche Querreilien
auftreten, was wohl meistens der Fall sein wird (Fig. 8; in dieser
Figur treten die Querreihen weniger anschaulich liervor, als es in
Wirklichkeit der Fall sein wird, weil in den Micellen das Maximum
der denkbaren Ungleichheit dargestellt ist).
QS-gOoH§1-§Q
I — ^
Q
'Q
r^
8-0
6B
Fig. 8.
Li welcher Weise nun die Mittluülung unter den Micellreihen
erfolge , ist für die Molecularphysiologie noch ein Geheimniss, wie
auch die Leitung durch die Nerven ein Geheimniss ist. Es herrscht
aber olfenbar (Muigo Analogie zwischen der gegenseitigen Communi-
cation uuivr den Reihen des Idioplasmas und der Communication,
welche durch die Nervensubstanz, namentlich des sympatliischen
als Träger der erblichen Anlagen. 47
Nerven, erfolgt. Die seitliclie Leitung im Idioplasma bestellt niu-
darin, dass die Erregung, in der sich gewisse Gruppen desselben
befinden, auf bestinnnte andere Reihen sich fortpflanzt, so dass diese
im Gegensatz zu allen üla'igen ebenfalls activ werden, — ein Zustand,
von dem ich nachher sprechen werde.
Wenn ich das Idioplasma mit der Nervensubstanz vergleiche,
so soll damit keine nähere Beziehung, sondern nur eine ganz all-
gemeine Analogie angedeutet werden bezüglich der Leitungsfähigkeit
von dj'^namischen Einwirkungen. Wenn auch unter allen Pflanzen-
substanzen einzig das Idioplasma an die Nervensubstanz der Thiere
erinnert, so dürfen wir doch keineswegs die Idioplasmastränge die
Nerven der Pflanzen nennen, — und zwar schon deswegen nicht, weil
die Thiere neigen den Nerven die Lliojdasmastränge besitzen wie die
Pflanzen. Beide Erscheinungen sind überhaupt nicht coordinirte Be-
griffe; — werden ja die Nerven, wie alle anderen thierischen Organe,
bei der ontogenetischen Entwickolung erst durch die Thätigkeit des
Idioplasmas hervorgebracht.
Was nun diese Thätigkeit l)etrilTt, so wäre einmal die allgemeine
Frage von grossem Interesse, wie das Idioplasma seine Aufga])e,
bestimmte Erscheinungen in der Entwicklung des Individuiuns
hervorzubringen, erfüllen könne. Es erzeugt weicheres Ernährungs-
plasma, oft in tausendfacher Menge, und mit Hilfe desselben bewirkt
es die Bildung von nicht albmninartigem Bamnaterial , von leim-
gebenden, elastischen, hornartigen, celluloseartigen Substanzen u. s. w.,
und es gibt diesem Baumaterial die gewünschte plastische Gestalt.
Zu diesem Behuf e müssen diejenigen Micellgru^^ipen des Querschnittes
(Bündel von Längsreihen), welche activ werden , in einen Zustand
besonderer Erregung gerathen , der sie geeignet macht , eine ent-
sprechende Wirkung auf die Umgebung auszuüben. Derselbe ist
nicht vorübergehend, wie die Erregung der sensiblen und motorischen
Nerven, sondern er dauert längere Zeit an, oft Tage, Wochen und
Monate lang, und während dieser Zeit vermehrt sich das in Wirk-
samkeit befindliche Idioplasma um das A'^ielfache.
Deshalb habe ich, um diesem Erregungszustande, l)is er allenfalls
in anderer Weise sich als sell)ständige Erscheinung rechtfertigen lässt,
einen greifliaren Ausdruck zu geben, angenommen, dass die betreffenden
Bündel von Miccllreihen sich in activem Längenwachsthum Itefiuden,
während das ü])rige Idioplasma, dessen Anlagen latent bleiben, bloss
48 I- I<iioi)lusina
in passiver Weise das Wachsthiim mitmaclion. Dabei denke ich mir
nicht eigenthch , dass das Wachsthum der Micehreihen selbst die
Entfaltung der entsprechenden Anlagen bedinge, sondern ^^elmehr,
dass l)eide Erscheinungen durch die gleiche Ursaclie hervorgebracht
werden. Ausnahmsweise können die beiden Folgen der Erregung
auch einzeln sich verwirklichen. Wenn alle Reihen des Idioplasmas
sich in sehr schwacher Erregung befinden, so kann dasselbe allein
zunehmen, ohne irgend eine Wirkung auszuüljen, wie dies wohl bei
der Bildung der Keime vorkommt. Wenn dagegen nur ganz wenige
Reihen in Erregung gerathen, so vormögen dieselben nicht den ganzen
Idioplasmastrang zum Wachsthum zu bringen, wolil aber ihre spe-
cifische Wirkung zu l)ethätigon , wie z. B. beim Wachsthum der
Cellulosememl:)ran älterer Pflanzenzellen, insofern dasselbe eine erb-
liche Erscheinung ist.
Die Wirkung, welche die in activem Wachsthum (resp. in dem
besonderen Erregungszustande) befindlichen hlioplasmagruppen auf
das umgebende Idioplasma ausüben, kann auf ähnliche Weise erfolgen,
wie die Gärungsbewegung von dem Plasma der Hefenzellen auf das
Gärmaterial (Zucker etc.) übertragen wird^). Wenn die erregten
Reihen nicht unmittelbar an der Oberfläche des Querschnittes liegen,
so übernimmt die zwischenliegendo Substanz des hlioplasmas die Fort-
pflanzung. Es ist auch möglich, dass die Idioplasmastränge, um
leichter auf die Umgebung einwirken zu können, nicht einen rund-
lichen oder ovalen, sondern mit der Zunahme der Zahl der Anlagen
einen mehr und mehr gelappten Querschnitt ])esitzen, wodurch die
Oberfläche stark vergrössert und die einzelnen Anlagen der Ober-
fläche genähert werden.
Die genaue Wiederholung bei der Fortpflanzung eines mannig-
faltig organisirten Wesens, wie es die meisten Pflanzen und Thiere
sind, l)eruht auf der strengen Regelmässigkeit, mit der die zur Ent-
faltung bestimmten Anlagen während der individuellen Entwicklung
einander ablösen. Wenn die ganze ontogenetische Reihenfolge der-
selben durchlaufen ist, so gehen aus den Zellen der letzten Zellen-
generation die Keime hervor : Sporen, Eizellen, Spermatozoide. Bei
den meisten Pflanzen wiederholen sich viele Entwicklungsstadien
eine begrenzte oder unbegrenzte Zahl von Malen und ziehen dann
1) Nägeli, TlieoriL' dt-r (iilruug. 187il.
als Träger der erl)licheu Anlagen. 49
auch die Wiederholung des ganzen Restes der ontogenetischen Reihen-
folge nach sich.
Die mechanische Einrichtung, welche die ein bestimmtes Ent-
wicklungsstadium erzeugende Erregung einer Zahl von idioplas-
matisehen Micellreihen mit Noth wendigkeit in die Erregung der
dem folgenden Entwicklungsstadium entsprechenden Reihen hinüber-
leitet, ist uns nun allerdings unbekannt ^^de die Natur der Erregung
selbst. Wenn wir aber einstweilen das mit derselben gleichzeitig
auftretende und wohl auch causal verknüpfte active Wachsthum an
die Stelle der Erregung setzen, so kann uns folgende Betrachtung
wenigstens ein Bild für die regelmässige Aufeinanderfolge in dem
Anlagenchaos des Idioplasmas gewähren.
Sobald die ontogenetische Entwicklung beginnt, so werden die
das erste Ent^\^cklungsstadium bewirkenden Micellreilicn im Idio-
plasma thätig. Das active Wachsthum dieser Reihen veranlasst
zwar ein passives Wachsthum der übrigen Reihen, und eine Zu-
nahme des ganzen Idioplasmas vielleicht auf ein Mehrfaches. Aber
die beiden Wachsthumsintensitäten sind ungleich, und die Folge
davon ist eine steigende Spannung, welche nothwendig und je nach
Zahl, Anordnung und Energie der activen Reihen, früher oder
später die Fortdauer des Processes zur Unmöglichkeit macht. Actives
Wachsthum und Erregung gehen nun in Folge der Gleichgewichts-
störung in die nächste Anlagengru})})e, welche die als Reiz wirkende
Spannung am stärksten empfindet, über, und dieser Wechsel wieder-
holt sich, bis alle Anlagengruppen durchlaufen sind und die onto-
genetische Entwicklung mit dem Stadium der Fortpflanzung auch
wieder bei dem ursprünglichen Keimstadium anlangt.
Wenn das active Wachsthum oder die Erregung einer Anlagen-
gruppe ein gleiches actives Wachsthum oder eine gleiche Erregung
in der näcl istfolgenden Gruppe herbeigeführt hat, so kann die erstere
Gruppe mit diesem Uebergange zur Ruhe gelangen, oder sie kann
neben ihrem Nachfolger noch längere oder kürzere Zeit tliätig l)U'iI)('n.
Ihre Erregung kann selbst eine unbegrenzte Dauer annehmen, wie
dies bei der Laubblattsprossbildung vieler Pflanzen der Fall ist.
Um die Erklärung des in Frage stehenden Räthsels in der
Abstamnmngslehre, nämlicli der regelmässigen I^cihcnrolge, mit der
die Anlagen sich entfalten, unserer A^orstellung niUier zu bringen,
ist es auch fcirderlich, sicli an die frühere Bemerkung zu erinnern,
Y. Nagel i, Abstammungslehre. 4
50 I- Idioplasma
dass die Configuration des Idioplasmas mehr eine phylogenetische,
als eine geometrische Aufgabe sei. Die Entfaltung der Anlagen
hält sich im Grossen und Ganzen an diese jihylogenetische Ordnung.
Indem der ontogenetisch sich entwickelnde Organismus nach ein-
ander die Stadien durchläuft, welche sein phylogenetischer Stannn
durchlaufen hat, konnnen die idioplasmatischen Anlagen in der-
jenigen Folge zur A'erwirklichung, in der sie entstanden sind. Mit
diesem wichtigen Umstände steht ferner der andere, vielleicht nicht
minder bemerkenswerthe in Verbindung, dass das Idioplasma bei
der ontogenetischen Entwicklung sich successive in anderer morpho-
logischer, theilweise auch in anderer physiologischer Umgebung
l)efindet, und zwar jeweilen in derjenigen Umgebung, welche mit
jener analog ist, in der die Anlage, die sich zunächst entfalten
soll, entstanden ist. Es ist aber selbstverständlich, dass die Be-
schaffenheit der umgebenden Substanz nicht ohne Einfiuss auf die
Entfaltung der idioplasmatischen Anlagen sein kann.
Ein Beispiel wird diesen Gedanken näher darlegen. Es gibt
einfach gebaute blattartige Florideen und Fucoideen, die aus mehreren
Zellschichten bestellen. Dieselben sind phylogenetisch aus solclien
Pflanzen hervorgegangen, die bei ebenfalls blattartiger Gestalt nur
eine einzige Zellschicht hatten, und diese aus fadenförmigen Pflanzen,
welche einfache Zellreihen (gegliederte Fäden) waren. Ich will diese
drei Stufen als einreihige, einschichtige und mehrschichtige unter-
scheiden. Das Idioplasma der vorweltlichen einreihigen Stufe
bereicherte sich durch eine Micellanordnung, welche den Uebergang
aus den einreihigen Pflanzen in die einschichtigen verursachte; und
das Idioplasma der vor weltlichen einschichtigen Stufe veränderte sich
weiter in der Weise, dass der Uebergang in die mehrschichtige Stufe
erfolgte. Bei der ontogenetischen Entwicklung der jetzt lebenden
mehrschichtigen Pflanzen bildet sich zuerst eine einfache Zellroilie,
diese geht in eine einfache Zellschicht und die letztere schliesslich
in den mehrschichtigen blattartigen Körper über. Die idioplas-
matischen Anlagen entfalten sich also ontogenetisch in der nämliclien
Ordnung, in der sie phylogenetisch entstanden sind; und jede An-
lage, die sich zur Entfaltung anschickt, befindet sich in derjenigen
morphologischen Umgel)ung, in der sie ursprünglich sich gebildet
liat. In dem cini'eihigen Stadium der Ontogenie gelangt die Anlage
der einfachen Zellschidit nnd in dem einschichtigen Stadium die
als Träger der erhlichen Anlagen. 51
Anlage des niehrschichtigen Körpers zur Entfaltung. Würde, was
natiirgesetzlich ausgeschlossen ist, eine Unordnung in der onto-
genetischen Reihenfolge eintreten und die später entstandene Anlage
sich früher entfalten, so ginge die einfache Zellroihe durch Dicken-
wachsthum zuerst in einen fadenförmigen Zellkörper und dieser
durch Breitenwachsthum in die blattartige Form ül)er.
Um ein anschauliches Bild von dem Wechsel in der Wirksam-
keit des Idioplasmas bei complicirten Erscheinungen zu geben, will
ich noch einen concreten Fall herausgreifen. Die Blattbildung an
einer beliebigen Pflanze verändert sich stetig von dem ersten Nieder-
l)latt bis zum letzten Blatt der Blüthe, und zwar geschieht dies in
einer für die Sippe genau bestimmten Weise. Wir können diesen
Wechsel durch eine Curve darstellen, wobei die Abscisse den Stengel
in Zellgenerationen ausgedrückt oder die Zeit, welche er zu seiner
Entwicklung bedarf, ]:)ezcichnet, die Ordinaten aber den auf einander
folgenden Blättern entsprechen. Die Ordinate ist hier ein zusammen-
gesetzter Ausdruck, eine bestimmte Combination aller zur Blatt-
l)ildung zusammenwirkenden Elemente. Jede Sippe hat ihre speci-
fische Curve der Blattl)ildung. Jodes Individuum einer Si^^pe ver-
wirklicht Ordinaten ihrer Curve; al)er für jedes Individuum ist die
Zahl und die Lage der Ordinaten eine andere.
Die Curve der Blatt])ildung ist also kein mathematischer
Begriff, sondern ein Symljol für die Gesammtheit vieler mathe-
matischer Curven , indem jedes an der Blattbildung betheiligte
Element seine besondere Curve hat. Es sind eine Menge von Längs-
reihen des Idioplasmas in der Weise activ, dass in jeder die Er-
regung zu einer ihr eigenthümlichen Zeit beginnt, dann in eigen-
lliümlicher Weise an Intensität zu- und alniinmit und schliesslich
zu einer ihr eigenthümlichen Zeit erlischt. So ist also nach jedem
Zeitintervall die Comljination aller bei der Blattl)ildung thätigen
Micellreihen eine etwas andere, und diese Combinationcn stellen die
Ordinaten der Blattcurve dar.
Die Blattbildung erfolgt absatzweise; sie gehört zu denjenigen
Entwicklungsprocessen, welche niclit continuirlich, sondern i)eriodisch
vor sich gehen, ol)gleich die entsprechenden Veränderungen im
Idioplasma conti uuii-lich sind. Wenn in einem bestimuitcii Zeit-
moment, also aus einer bestimmten Ordinate, die Bildung eines Blattes
erfolgt, so ist die Curve erst nach einiger Zeit wieder im Stande
52 I- Idioplasma
ein neues Blatt hervorzubringen. Wir könnten uns dies einfach
in der Art vorstehen, dass das entstehende Blatt die verfügbare
N<ährsubstanz absorbirt, und dass erst nach einiger Zeit oder räum-
lich aufgefasst in einiger Entfernung am Stengel wieder eine hin-
reichende Menge Substanz zur Bildung eines Blattes verfügbar wird.
Eichtiger aber wird die Vorstellung, wenn wir die Blattljildung mit
der Zellth eilung am wachsenden Stengelscheitel in Verbindung bringen,
so dass nur aus bestimmten Zellen Blätter entstehen können, wie
])eispielsweise bei den Moosen aus jeder Segmentzelle des Stengels
die erste Zelle für ein Blatt erzeugt wird.
Die Blattbildung an einer Pflanze beginnt damit, dass eine der
unendlich \'ielen Ordinaten der Blattcurve, deren Bestimmung von
allen mitwirkenden Umständen abhängt, sich als Blatt verwirkliclit.
Von dem Einflüsse, den die Bildung des ersten Blattes weiter aus-
übt, und von den übrigen Verhältnissen der jeweiligen Entwick-
lungszustände hängt es dann ab, welche von den späteren Ordinaten
sich als zweites Blatt verwirkliche, und so geht es fort bis zur Bil-
dung des letzten Blattes. Es ist sonach begreiflich, dass in jedem
Individuum der nämlichen Sippe die Reihe der Blätter, abgesehen von
den Verschiedenheiten , die von den Ernährungseinflüssen bedingt
werden, einen etwas anderen Verlauf und ein etwas verschiedenes
Aussehen zeigt, obgleich die zu Grunde liegenden idioplasmatischen
Eigenthümlichkeiten vollkommen identisch sind.
Ich habe in der vorstehenden Auseinandersetzung zeigen wollen,
wie man sich allenfalls die ontogenetische Entwicklungsfolge und
die Folge der sie bedingenden Erregungen in den Idioplasmagruppen
schon jetzt als einen regelmässigen und nothwendig verlaufenden
Process vorstellen kann , ohne dass ich mit dieser Hypothese einer
künftigen besseren — Opposition machen möchte. Die genannten Er-
regungen, welche die Wirksamkeit des Idioplasmas in jedem Augen-
blick auf die chemischen und plastischen Vorgänge seiner nächsten
Umgebung bedingen, sind aber selbstverständlich nichts anderes als
die Spanmmgs- und Bewegungszustände seiner Micelle, — und auf
diese wirkt nothwendig die Beschaffenheit der Umgebung ein. Es
kann uns deswegen nicht überraschen, dass das Idiojjlasma in einer
Wurzel in anderer Weise beeinflusst ist als in einem Stengel oder
in (Muem Blatt, und dass dasselbe an diesen drei verschiedenen Orten,
obgleich materiell ganz dassell)e, doch ungleiche Anlagen, wiewohl
als Träger der erbliclien Anlagen. 53
in der gesetzlichen Reihenfolge, zur Entfultung bringt. Wir Ijegreifen
aucli, dass die Ernährungsursacben, ailgeincin genonnnen, ()1)glricli
sie, wie ich später zeigen werde, das Idioplasnia qualitativ nicbt
verändern, doch auf die Entfaltung der Anlagen einwirken können,
dass nach Quantität und Qualität der Nahrung einerseits Anlagen
zur Entfaltung kommen, die sonst latent bleiben, andrerseits die Ent-
wicklung von Anlagen, die normal eintreten sollte, verhindert wird.
Das Idioplasnia behält, indem es sich vermehrt, überall im
Organismus seine specifische ßeschaifenheit und wechselt innerhalb
dieses festen Rahmens bloss seine Spannungs- und Bewegungs-
zustände und durch dieselben die nach Zeit und Ort möglichen
Formen des Wachsthums und der Wirksamkeit. Daraus folgt, dass,
wenn in irgend einem ontogenetischen Entwicklungsstadium und
an irgend einer Stelle des Organismus eine Zelle sich als Keim
ablöst, dieselbe alle erblichen Anlagen des elterlichen Individuums
enthält, und dass bloss nach den verschiedenen Spannungs- und
Bewegungszuständen , in denen sich das Idioplasnia liefindet, die
ontogenetische Entwicklung aus solchen Zellen in etwas ungleicher
Weise beginnt.
Im Keimstadium kehrt das Idioplasnia nach der ganzen Reihe
von Veränderungen seiner Siiannungs- und Bewegungszustände, die
es während der individuellen Entwicklungsgeschichte durchgemacht
hat, wieder zu seiner ursprünglichen Beschaffenheit zurück. Die
Rückkehr w'äre vollkommen genau , wenn die specifischen Eigen-
schaften absolut constant blieben, wenn nicht eine langsame j)liylo-
genetische Umbildung stattfände. Befindet sich aber die Generationen-
reihe eines Organismus, wie ich eingangs erwähnte, in einem steten
Fortschritt, so hat daran jedes einzelne IndiA^duum seinen Theil,
und das Idioplasnia gelangt im Keimstadium nur nahezu, nicht
ganz genau in den früheren Zustand. Die geringe Verschiedenheit
zwischen den Keimen der Eltern und der Kinder gibt uns das
Maass für die Umwandlung, welche das Idioplasnia während der
Dauer einer Generation erfahren hat.
Würde absolut keine Umwandlung stattfinden, so behielten die
idioplasmatischen Micellreihen ihre ursprüngliclie Zahl und Anord-
nung. Ist sie aber vorhanden , so wird da und dort eine Reihe
verstärkt oder eine neue Reihe eingeschoben oder der Zusammen-
54 I- I<linplasma
hang gewisser Reihen fester gelügt, wcxhirch sich die Configuration
des Querschnittes etwas verändert. Die eingeschol)ene, die verstärkte,
die fester verbundene Reihe bedeutet die Weiterbildung einer be-
gonnenen Anlage oder den Anfang einer neuen. Diese geringen
Veränderungen im Idioplasnia können lange Zeiträmne fortdauern,
ohne dass deswegen die sichtbaren Merkmale irgend eine Modifi-
cation erfahren.
Rücksichtlich der phylogenetischen Veränderungen des Idio-
plasmas liegt nun eine wichtige Frage vor, nämlich wie wir uns
die Mittlieilung der an bestimmten Stellen im Organismus neu ge-
womienen Eigenschaften an das Idio2:)lasma der Keime zu denken
haben. Die Ursachen der Veränderung sind, wie wir später sehen
werden, doppelter Art, es sind theils innere Ursachen, theils äussere
Einflüsse. Die inneren Ursachen mögen das Idiojjlasma überall
gleiclmiässig treffen, da sie wesentlich in ihm sell)er liegen ; und
es besteht somit die Möglichkeit, dass das Idioplasma sich üljerall
im Organismus in gleicher Weise umbilde.
Die äusseren Einflüsse dagegen werden in der Regel local auf
den Organismus einwirken, und sie müssen, damit die Wirkung-
beständig und erl>lich werde, direct oder indirect eine Umljildung
des dort befindlichen Idioplasmas hervorlmngen.
Wenn ein in eine kurze Spitze oder in ein Blättchen aus-
gehendes Blatt sich in ein solches mit einer langen ästigen Wickel-
ranke, wie es bei Erl)sen, W^icken, Linsen u. s. w. vorkommt, um-
wandelt, so wird von den äusseren als Reiz wirkenden Einflüssen,
ausser der genannten localen Veränderung auch eine derselben ent-
sprechende locale Veränderung des Idioplasmas hervorgebracht. Die
nämliche Veränderung muss aber auch im Idioplasma des bei der
Fortpflanzung entstehenden Keimes stattfinden, sonst wäre die ge-
wonnene Anpassung für die folgenden CJenerationen verloren. Sie
muss also von dem Blatte aus dem unbefruchteten Keimbläs-
clien oder dem Pollenkorn oder eher beiden zugleich mitgetheilt
werden.
Findet eine Umwandlung in den Samenla])pen statt (die Cotyle-
donen der einen PHanzen l)leiben unvei'ändert unter der Erde, bei
anderen Pflanzen erhellen sich dieselben in Folge starken Wachs-
thiiiiis über die Erde, werden blattartig und grün), so nmss die
stattgefundene Umwandlung des Idioj)lasmas in den Stengel und
als Träger der erl)liclien Anlagen. 55
von du höher iiiul liöher und zuletzt in die ßlütlien überliefert
werden. An dieses Ziel gelangt sie, wenn die Pilanzen spät zur
Fruchtbildung kommen , zuweilen erst viele Jahre nachdem die
Samenlappen verschwunden sind.
Geht eine erbliche Umbildung in einem localen Theil einer
Pflanze vor sich, welche sich auf geschlechtslosem Wege fortpflanzt,
so muss die Fortleitung der idioplasmatischen Umstimmung andere
Wege einschlagen. In dem Falle, dass die Vermehrung durch unter-
irdische Knollen erfolgt, wie bei den Kartoffeln, wird eine in den
Blättern eintretende Veränderung abwärts in die Wurzelregion , im
Falle der Vermehrung durch die grünen Blätter wird eine in den
Wurzeln stattfindende Umänderung aufw'ärts in die Laubblattregion
übermittelt. Da nun die ungeschlechtliche Vermehrung in allen
Theilen der Pflanze erfolgen kann und da sie auch neben der ge-
schlechtlichen Fortpflanzung tliätig ist , so muss man wohl den
Schluss ziehen, dass, wenn äussere Einflüsse auf einen localen Theil
einwirken und denselben dauernd umw^andeln, von da die Mittheilung
an das Idioplasma im ganzen Pflanzenstock stattfinde.
Die Frage ist also : In welcher Weise vermag eine Veränderung,
die das Idioplasma an einer beliebigen Stelle des Organismus erfährt,
die nämliche Veränderung im Idioplasma des übrigen Organismus
zu verursachen ? Für das Pflanzenreich ist die Beantw^ortung dieser
Frage mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden. Sie wird aber
dadurch vereinfacht, dass die Möglichkeiten klar vorliegen. Es
sind nur zwei: Entweder geschieht die Mittheilung der idioplastischen
Eigenschaften auf materiellem oder auf dynamischem Wege.
Im ersteren Falle muss Substanz, in welcher die neuen erb-
lichen Eigenschaften enthalten sind, nach allen Theilen des Orga-
nismus wandern und durch Vermischung überall eine entsprechende
Umbildung des Idioplasmas hervorbringen. Eine solche Substanz
kann nicht gelöst sein; sie muss also selber aus Idioplasma be-
stehen. Jener Forderung widerspricht nun der als allgemein gültig
angesehene Satz der Pflanzenphysiologie, dass von den Zellen bloss
gelöste Stoffe aufgenommen und ausgeschieden werden ; und dass
unter den gelösten Stofl^en selber es nur die Molecularlösungen seien,
welche ungehindert durch die Membran gehen , während die mi-
cellaren (colloiden) Lösungen entweder gar nicht oder in sehr be-
schränktem Maasse dies zu thun vermögen.
FyQ I. Idioplasnia
Bei einer früheren Gelegenheit luihe ich gezeigt'), dass unter
bestimmton Umständen auch Micellarlösungen mit Leichtigkeit
diosmiren und dass mit Rücksicht auf diesen Umstand eine be-
stimmte Structur der Pflanzenzelhneml)ran anzunehmen ist. Ausser
den gewöhnhchen Micellarinterstitien müssen nämUch noch besondere
Canälchen von solcher Weite, dass Eiweissmicelle mit dem nöthigen
Wasser frei circuliren können, die Memln-an durchsetzen, so dass die
letztere, bei hinreichend starker Vergrösserung von der Fläche be-
trachtet, das Aussehen eines feinen Siebes gewähren würde.
Solche Canälchen , wie sie die Diosmose von Albuminaten
bedarf, würden al)er für den Transi)ort von Idioplasnia lange nicht
ausreichen; denn da die Eigenthümlichkeit des Idioplasmas in der
Configuration eines ganzen micellösen Systems besteht, so müssten
grössere Partien transportirt werden, und zwar, wenn meine Annahme
von der strangförmigen Beschaffenheit gegründet ist, Strangstücke,
die sich abgelöst haben. Für diesen Zweck müsste jede Zelle
noch einige grössere Oeffnungen in der Memljran besitzen, • — Löcher,
welche sich zwar immer noch der mikroskopischen Wahrnehmung
entzögen, die aber doch so weit wären, um die strangförmigen
Tdioplasmakörper durchtreten zu lassen. Eine solche Annahme,
wenn sie auch für die Lehre neu und ungewohnt ist, hat doch
nichts Unwahrscheinliches, da die Siebröhren nicht bloss in Folge
der siebartigen Durchbrechungen ihrer Scheidewände ununterbrochene
Canäle darstellen, welclie durch die ganzu Pflanze verlaufen, sondern
auch an ihren Seitenwänden durch feine Poren mit den angrenzenden
Zellen in VerlMndung stehen, und da solche Poren von nocli grösserer
Feinheit zuweilen auch zwischen den übrigen Parenchymzellen sich
nachweisen lassen.
Wir könnten uns also eine Mittheilung der idioplastischen
Eigenschaften auf materiellem Wege folgendermaassen denken. Alle
Zellen communiciren durch sehr feine Poren unter einander und mit
den nächsten Siebröhren, wol)ei die Poren nach den letzteren hin an
Grösse zunehmen. Die Siebröhren aber, welche durch den ganzen
Pflanzenstock ununterbrochene Canäle mit ziemlich grossen Durch-
brechungen der Scheidewände darstellen, vermitteln den Austausch
zwischen den verschiedensten und entlegensten Organen.
') Theorie der Gärung. Anmerkung l»etr. die INIolekül Vereinigungen.
als Träger der erblichen Anlagen. 57
Dmiiit wäre auch diu ])i.s jetzt räthsolhafte Finictioii der Siel)-
rr)]ireii aufgefunden. Sie sind dann die SamnieLstellen für das Idio-
plasnia au.s dem Gewebe; in ihnen mischt sich das Idioplasma der ver-
scliiedencn Regionen des rtianzenstockes, und von ihnen aus ver-
breitet sich das gemischte Ichoi^lasma wieder in (he einzehicn Ge-
webezellen. — Was aber diese Mischung von verschiedenartigem
Idioplasma betrifft, welche el^enfalls als ein matericfller Act aufzu-
fassen wäre, so verweise ich auf die Betrachtung, die ich in einem
späteren Abschnitt über die molecularen Vorgänge bei der mit der
Befruchtung verljundenen Mischung des männlichen und weiblichen
Id)(>])lasmas anstellen werde.
Es ist aber auch noch die Frage zu erörtern, ol) die ]Mittheilung
der in einem Organ entstandenen idioplastischen Eigenschaften
an die übrigen Pflanzentheile nicht auf d^aiamischem Wege, also
ohne Stoffwanderung erfolgen könne. In dieser Beziehung gil)t es
zwei mögliche Fälle, je nachdem Avir das Pflanzengewebe in der
berge] )rachten Weise aus geschlossenen Zellen zusammengesetzt an-
nehmen, oder, wie ich es soeben als denkbaren Fall hingestellt hahe,
die Zellhöhlungen in der Pflanze alle unter einander communiciren
lassen.
Wenn nach gewöhnlicher Anschauung die Zellen wenigstens
zum weitaus grössten Theil geschlossene Blasen sind, so dass ihr
Idioplasma durch Cellulosewände getrennt ist, müsste die dynamische
Einwirkung wohl in folgender Weise gedacht werden. Jede eigen-
thümliche Anordnung von INIicellen, besonders wenn eine eigenthüm-
liclie chemische Beschaffenheit hinzukommt, hat ihre eigenartigen
Bewegungszustände und ihre eigenartigen (anziehenden und ab-
stossenden) Kräfte, mit denen sie auf die nächstliegende Substanz ein-
wirkt. Wir könnten uns nun denken, dass die idio])lasti sehen Eigen-
schaften in dieser Weise von Zelle zu Zelle durch die Meml)ranen
hindurch mitgetheilt würden und uns dabei an die Fortpflanzung
Vdii molecularen und mici'llaren Schwingungszustäiiden erinnern,
welche von dem Plasma einer Hefenzelle auf das Gärmalcrial bis
auf einige Entfernung erfolgt.
Da^Ai wäre einmal erforderlich, dass die Zellmembranen kein
llinderniss für die Ueljcrtragung von Bewegungszusländen N"on
Zelle zu Zelle darböten. Ferner wäre wohl zu berücksichtigen, dass
die Uel)ertrai>un<'- von Px'weuimuszuständen nicht mmiittelbar eine
58 I- Tdioplasma
Anordnung zu verändern im Stande ist, sondern nur insofern als
die Vermehrung des Idioplasmas unter dem Einflüsse der fremden
Bewegungsznständc eine andere und denselben analoge Form an-
nimmt. Diese Theorie möchte ich für ganz unwahrscheinlich halten,
denn wenn auch die imbibirte Zellmembran gewisse Schwingungen
fortzupflanzen vermag wie bei der (nirung, so ist sie doch offenbar
nicht dazu eingerichtet, die complicirten und (pialitativ verschiedenen
idioplasmatischen ßewegungszustände zu übermitteln , so wenig als
ein Muskel oder eine Sehne als Element in die Nervenloitung einzu-
treten vermag.
Wenn dagegen nach meiner Anschauung alle Pflanzenzellen
unter einander durch feine Poren communiciren , so gestaltet sich
die dynamische Uebertragung der Idioplasmazustände viel natür-
licher und annehmbarer. Diese Poren enthalten dann ausser Er-
nährungsplasma besonders auch Idioplasma, so dass das letztere
durch den ganzen Pflanzenorganisnuis ein zusanmienhängendes
System Ijildet. Am einfachsten wird die Vorstellung von der dyna-
mischen Mittheilung, wenn die Idioplasmastränge ununterbrochen
durch den ganzen Organisnms verlaufen, in analoger Weise, wie
dies mit den Nerven der Fall ist. Al)er auch wenn das Idioplasma
aus kurzen, an einander gereihten Strangstücken besteht, stösst die
Mittheilung in die Ferne auf keine erheblichen Schwierigkeiten.
Daini sind innerhalb der Zelle die selljständigen strangförmigen
Idioplasmakörj^er netzartig zusannnengefügt , und mit dem Inhalte
der angrenzenden Zellen ist dieses Netz durch Ketten , welche die
Porencanäle durchsetzten, verlamden. Wie nun eine dynamische
Leitung zwischen den Micellreihen des nämlichen Idioplasma-
körpers besteht, welche die zur Entfaltung der Anlage nothwendige
Erregung mittheilt, so ist auch eine Fortloitung durch Körper, welche
sich l)erühren, denkbar.
Allerdings handelt es sich, behufs Uebertragung einer local
vorhandenen Anlage auf ein davon entferntes Idioplasma, nicht bloss
darum, eine einzelne Erregung, sondern vielmehr eine Summe ver-
schiedener Erregungen zu übermitteln, welche einen qualitativ be-
stimmten Vorgang zu veranlassen im Stande ist. Wir können als
Analogie an die Bewegung denken, welche die Sinneseindrücke und
die Willensäusserimgen in den Nerven f()i't])llanzt. Wenn die orga-
liisirten Albumiiiate die mannigfaltigsten Wahrnehmungen fremder
als Träger der erljliclien Anlagen. 59
Dinge in den feinsten Abstufungen zum Centralorgan des Nerven-
systems leiten, daselbst ein genau übereinstinnnendes Bild erzeugen
und in F(^lge davon entsprechende Bewegungen veranlassen, so
möchte die Annahme nicht ferne liegen, dass die zum Idioplasma
organisirten Eiweisskörper ein Bild ihrer eigenen localen Verän-
derung nach anderen Stellen im Organismus führen und dort eine
mit dem Bilde übereinstinunende Veränderung bewirken.
Diese Theorie der dynamischen Mittheilung scheint mir die
vorliegende Frage in der einfachsten Weise zu lösen. Das Idio-
})lasma aller Zellen einer Pflanze befindet sich in unmittell>)arer gegen-
seitiger Berührung. Jede Veränderung, die es an irgend einer
Stelle erfährt, wird ülK'rall wahrgenommen und in entsprechender
Weise verwerthet. Wir müssen sogar annehmen , dass schon der
Reiz, der local einwirkt, sofort überall hin telegra|)hirt werde, und
überall die gleiche Wirkung habe; denn es tiudct eine stete Aus-
gleichung der idi()}ilasmatischen Spannungs- und l)c\vegungszustände
statt. Diese fortwährende und allseitige Fühlung, welche das Idio-
plasma unterliält, erklärt den sonst auffallenden Umstand, dass das-
sel])e trotz der so ungleichartigen Ernährungs- und Reizeinflüsse,
denen es in den verschiedenen Theilen eines Organismus ausgesetzt
ist, doch sich ül)erall vollkommen gleich entwickelt und gleich
verändert, wie wir namentlich aus dem Umstände ersehen, dass die
Zellen der Wurzel , des Stanmies und des Blattes ganz dieselben
lu(li\i(hicn hervorl »ringen.
Das idioplasmatische System der Pflanzen, das auch die Thiere
in der nämlichen Weise besitzen, wäre somit in manchen Be-
ziehungen dem Nervensystem analog. Es wäre, um mich so aus-
zudrücken, ein System dynamischer Leitungen in einer einfacheren
imd mehr materiellen Sphäre, während die Nervensul)stanz ein
solches Leitungssystem in einer complicirteren und mehr geistigxMi
Sphäre darstellt. Es ist selbst nicht unwahrscheinlich, dass zwischen
beiden ein phylogenetischer Zusanmienhang besteht, dass im Thier-
reicli die eine Hälfte des idioplasmatischen Systems nach und nach
zum Nervensystem geworden ist.
Welche von den beiden Theorien, die icii betrclTcnd die idio-
l)lasmatische Leitung und Mittheilung entwickelt habe, die riclitigc,
ob der Vorgang ein mnteric^lk'r oder ein dynamischer sei, lässt sifh
bei der noch so geringen Kenntniss des hlioplasmas niclit ent-
CO !■ Idioplasma
scheiden. Insofern es sich nni das Pflanzenreich handelt, möchte
man vieUeicht elicr geneigt sein, eine materielle Commnnication an-
zunehmen. Diese aljer ])efindet sich , wenn auch der Transport
leicht verständlich ist, doch bezüglich des Hau})tpunktes, der noch
nicht besprochen wurde, nämlich bezüglich der Ausgleichung
zwischen den ungleich veränderten Partien in entschiedenem Nach-
theil. Wäre das IdiojDlasma eine halbflüssige Substanz mit beweg-
lichen Micellen, so könnte allerdings leicht eine Vermischung statt-
finden. Da dassell:)C al>er aus einer ziemlich festen Vereinigung
von INIicellen bestehen nmss, so ergeben sich für die gegenseitige
Durchdringung die grössten Schwierigkeiten.
Wir haben zwar bei der Befruchtung ebenfalls eine materielle
Vereinigung von männlichem und weil)lichem Idio})lasma , und es
lässt sich dort der materielle Vorgang zur Noth ])is zur Neben-
einanderlagerung je eines Micells von männlichem und eines solchen
von weil)lichem Ursprung durchführen, wie ich später bei der Be-
sprechung der Kreuzung und der mit ihr verbundenen molecularen
Vorgänge zeigen werde. Dort wird die Annahme der materiellen
Vermischung durch die quantitative Gleichheit der Ijeiden geschleclit-
lichen Idioplasmen erleichtert, ol)gleich wahrscheiidicher Weise auch
bei der Befruchtung der materielle Vorgang nicht mehr bedeutet,
als dass das männliche ndt dem weiblichen Idioplasma zusammen
kommt, worauf dann die gegenseitige Beeinflussung auf dynamiscbem
Wege erfolgen dürfte. Indem ich auf diese Auseinandersetzung
verweise, schliesse ich mit der Bemerkung, dass, wenn auch das
Idioplasma in den Organismen wandern und sich materiell ver-
mengen sollte, die Ausgleichung zwischen den verschiedenartig um-
gebildeten Partien doch wahrscheinlich auf dynamischem Wege ge-
scliehen wird.
h-b will schliesslich noch die Frage besprechen, wie sich die
Eigenschaften, die dem Idioplasma zugeschrieben wurden, zu der
Zahl und Grösse der Moleküle und Micelle verhalten. Es könnten
vielleicht Zweifel sich erheben, ol) die mäiuilichen Elementarorgane,
die theilweise zu den kleinsten mikroskopischen Objecten gehören, in
ihrer Su])stanz so viele Idioplasmamicelle besitzen, wie es die Theorie
voraussetzt. Denn eine grosse Menge von Anlagen verlangt eine
sehr complicirte Anordnung und diese lässt sich nur durch eine
als Träger der erblichen Anlagen. 61
grosse Menge kleinster Theilchen herstellen , — und wenn ferner
auch von sehr kleinen Spermatozoideu eine Mehrzahl zur Befruchtung
verwendet wird, so muss doch jedes derselben die Gesammtheit der
Anlagen und somit auch eine vollständige idioplasmatische Anord-
nung von Micellen enthalten.
Früher waren unsere \"orstellungen ülicr die Grösse der Moleküle
und Micelle bloss durch eine obere Grenze bestimmt; man wusste
aus verschiedenen That.sachcn, dass sie ein gewisses Maass nicht er-
reichten; unterhalb dieses Maasses aber war der Hypothese jede
Kleinheit gestattet. In neuerer Zeit wurde die aljsolute Grösse der
Moleküle in verschiedener Weise direct bestimmt. Namentlich
verdanken wir der mechanischen Gastheorie die Berechmmg, wie viel
Gasmoleküle bei bestinnnter Temperatur und unter bestimmtem Druck
in einem Gasvolumen enthalten sind.
Aus der Zahl der Moleküle, die in einem bestimmten Gas-
volumen sich befinden, und aus dem specifischen Gewicht dieses
Gases berechnet sich das absolute Gewicht eines Moleküls und daraus
das absolute Gewicht der Moleküle aller anderen bekannten Ver-
l)indungen. Aus dem absoluten Moleculargewicht und dem specifischen
Gewicht eines flüssigen oder festen Körpers berechnet sich ferner
der Raum, den ein Molekül sammt seiner Wirkungssphäre in
diesem Körper einnimmt, oder das absolute Molecularvolumen.
Da in 1 ""' unter dem Drucke einer Atmosphäre und bei 0 Grad
sich 21 Trillionen Gasmoleküle befinden, so wiegt beispielsweise ein
Wassermolekül den trillionsten Theil von U,04'"-, und es nimmt
dassell^e im tropfbar flüssigen Zustande den trillionsten Theil von
0,04™"" (den millionsten Theil von 0,00004"""') ein. Ferner gehen
auf die Länge von 1 '""' 3 Millionen und auf die dem Mikroskopiker
wohll)ekannte Länge von l""''i) 300ü Wassermoleküle.
Um nun die Zahl der Micelle zu bestimmen, die auf dem Quer-
schnitt eines Idioplasmastranges von gegebener Grösse befindHch
sind, müssten wir das A'^erhältniss von Substanz und Wasser, die
Zahl der Eiweissmoleküle, die zu einem Micell zusannnentreten, und
die Grösse der Eiweissmoleküle kennen. Was den letzteren Punkt
Ijetrifft, so ist die Chemie trotz aller Anstrengungen, die sie in dieser
Beziehung gemacht hat, noch zu keinem Resultat gelangt. Da jedoch
>) mik = Mikn.niillimeter ^ (),0()1 """.
62 I- Itlioplasma
die Lösung der chemischen Eiweissfrage für die Function des Lho-
plasmas von entscheidender Bedeutung ist, so erlaul)e ich mir be-
züglich derselben einige Bemerkungen vom molecularpliysiologischen
Standpunkt aus.
Die Albuminate konnnen, wie die Stärke und Cellulose, nur im
festen Zustande und in Micellarlösungen vor. Letztere al)er sind
nur scheinbare Lösungen, weil die in der Flüssigkeit vertheilten
Micelle krystallinische Zusammenhäufungen von Molekülen sind.
Die Micelle bestehen ferner möglicherweise nicht bloss aus den
Molekülen einer und derselben Yerl)indung ; es dürften wohl mehrere
^^er])indungen in ilnion gemengt und auch andere, namentlich
unorganische Stoffe gleichsam als Verunreinigungen mit in das
krj^stallinische Micell eingetreten sein oder sich an seiner Oberfläche
fest angelagert haben. Endlich sind die Micelle von sehr ungleicher
Grösse. Durch diese verschiedenen Umstände worden die mannig-
faltigen physikalischen und chemischen Eigenschaften, namentlich
auch die verschiedenen Zersetzungsproducte bedingt. Es ist un-
möglich eine chemisch reine Substanz herzustellen, weil die Albuminat-
micelle in keinem Medium in ihre Moleküle zerfallen.
In den genannten Beziehungen verhalten sich die Albuminate
ähnlich wie die Cellulose, die ebenfalls in einer unendlichen Zahl
von Abstufungen vorkonnnt. Das Cellulosemolekül ist zwar überall
das nämliche; aber es bildet Micelle von verschiedener Form und
Grösse und mit verschiedenen organischen und unorganischen An-
lagerungen, daher auch Substanzen mit verschiedenem Wassergehalt,
von verschiedener Härte und Elasticität, mit verschiedener Wider-
standsfähigkeit gegen chemische Mittel, welche von der Löslichkeit
in Wasser ])is zur Unlöslichkeit in Schwefelsäure variirt u. s. w.
Währenddem den verschiedenen Celluloseformen das nämliche
Cellulosemolekül zu Grunde zu liegen scheint, möchte ich es dagegen
für äusserst w-ahrscheinlich lialten , dass es verschiedene Eiweiss-
moleküle gebe, die durch den ungleichen Wasserstoff- und Sauerstoff-
gehalt und namentlich dadurch von einander abweichen, dass die
einen schwefelhaltig, die andern schwefelfrei sind. Nicht zwei Ana-
lysen von Albuminaten sind gleich : der Stickstoligehalt variirt von
IT) bis 17 %, der Schwefelgehalt von 0,1) bis 1,7 % und zwar in allen
möglichen Abstufungen ; überdem finden sich wechselnde Mengen
von Phosphor, Magnesia und Kalk.
als Träger der erblichen Anlagen. 63
Diese Ergebnisse der chemischen Anal^'se erklären sich in der
einl'aclisten nnd befriedigendsten Weise, wenn wir annehmen, dass
die Micelle der Albuminate aus einem Gemenge von zwei oder mehreren
verschiedenartigen Eiweissmolekülen, mit mehr oder weniger H und O,
mit oder ohne S, bestehen. In jedem Albuminat wären die ver-
schiedenartigen Eiweissmoleküle in eigenthümhchen Verhältnissen
gemengt; in jedem wären ferner eigentliümhchc Mengen von Phos-
phaten, von Magnesia- und Kalksalzen und vielleicht auch noch
verschiedene organische ^^erbindungen in untergeordneten Mengen
enthalten.
Unabhängig von der olien l)osprochenen Frage ist die betreffend
die Grösse der Eiweissmoleküle. Die jetzige Chemie gibt denselben,
um die verschiedenen Zersetzimgsproducte aus der chemischen Formel
herleiten zu können, vermuthungsweise eine sehr hohe Zusammen-
setzung. Die Formel soll zum mindesten C72 H 10(i N18 SO 22
enthalten; es wird selbst, behufs Polymerisation, das IVIehrfache dieses
Ausdruckes angenommen. Die Frage ist von hoher Bedeutung für
die Molecularphysiologie , welche in mehr als einer Bczielumg die
möglichste Kleinheit des Eiweissmoleküls und der Albuminatmicelle
verlangt.
Für die Ernährungsphysiologie im Anschluss an die Gärungs-
pliysiologie sind kleine Moleküle und Micelle erwünscht, weil die
katalytische Wirkung der Albuminate, auf der wesentlich die chemi-
schen Lebenserscheinungen beruhen, von den Schwingungen der
Micelle, Moleküle und ihrer Theile abhängt, und weil diese Schwin-
gungen mit zunehmender Grösse der schwingenden Systeme langsamer
und somit unwirksamer werden.
Für die Physiologie des Idioplasmas ist die Kleinheit der
Micelle und somit auch der Eiweissmoleküle eine nothwendige Be-
dingung, weil eine grosse Mannigfaltigkeit und Com})licirtheit der
Anordnung auf einem beschränkten Raum nur durch eine grosse
Zahl der Micelle erreichbar erscheint.
Diesen Anforderungen der Physiologie würde am besten durch
die Annahme ein Genüge geleistet, dass die hypothetische Formel
der Chemiker mit 72 oder mehr Atomen Kohlenstoff nicht das
Eiwcissmolekül, sondern ein aus mehreren Molekülen mit je 24 oder
12 Atomen C krj^stallinisch gebautes Micell darstelle. Es könnten
beispielsweise die verschiedenartigen Moleküle aus 12 C, 3 N mit oder
64 I- Idioplasma
ohne S und uns ungleichen Mengen H und 0 zusammengesetzt
sein. Die verschiedenen Zersetzungsproducte würden sich durch
Umlagerung der Atome bilden , wie dies auch beim Zucker und
anderen organischen Verbindungen der Fall ist. — Solche Micelle
mit 72 C wären die kleinsten in den plasmatischen Substanzen vor-
kommenden. Andere können immerhin, indem zahlreichere Atome
sich zusammenlagern, jede beträchtlichere Grösse besitzen. In dieser
Beziehung werden sich die verschiedenen Plasmasubstanzen und ihre
verschiedenen Zustände sehr ungleich verhalten.
Ebensowenig wie über die Grösse der Plasmamicelle wissen
wir irgend etwas Bestimmtes über die Menge des sie trennenden
Wassers. Wir kennen zwar annähernd den Wassergehalt verschie-
dener plasmatischer Substanzen. Aber das Wasser in denselben wird
aus verschiedenen Gründen sehr ungleichartig vertheilt sein, besonders
weil die Substanz der Micelle eine ungleiche chemische Zusammen-
setzung und deswegen auch eine ungleich grosse Anziehung zu
Wasser besitzt, und ferner weil die Micelle sehr häufig keine regel-
mässige Anordnung haben.
Das thierische Sperma enthält 20 ",o Trockensubstanz, also SO "/o
Wasser. Die Idioplasmastränge sind aber möglicher Weise ziemlich
weniger wasserhaltig. Die regelmässige Anordnung ihrer Micelle und
der feste Zusammenhang derselben spreclien für einen möglichst
hohen Substanzgehalt, den wir auch schon deswegen anzunehmen
geneigt sind, um eine grössere Zahl von Micellen für die Idioplasma-
stränge zu erhalten. Die geringste zulässige Wassermenge des imbibirten
Zustandes ist aber wohl die, dass jedes Micell mit einer einfachen
Schicht von Wassermolekülen benetzt ist, so dass also zwischen je
zwei Micellen, deren Gestalt, da sie in Reihen stehen, prismatisch*)
zu denken ist, wenigstens zwei Schichten von Wassermolekülen sich
befinden. Daneben müssen dann aber noch weitere Canälchen das
Idioplasma durchziehen , welche den Eintritt der Nährstoffe sowie
auch den Austritt von Stoffen möglicli machen.
Unter den gemachten A^oraussetzunoon können wir uns nun
eine \'orstellung von den al)S()luton Dimensionen in der Structur
des Idioplasmas machen. Ich gehe von dem materiellen System;
') Die Gründ(>, warum die Micelle polyedrisch o(li>r in-isniatisch sein müssen
und nicht rundlich oder cylindrisch sein können, lialic ich anderwärts für die
Stärke an<^egüben; sie gelten auch für das Idioplasma.
als Träger der erblichen Anlagen. (35
bestehend ans C 72 H 106 N 18 SO 22, das man gewöhnlich als das
Eiwoissniolekül l)ezeichnet, das ich nun aber vorläufig als das kleinste
Plasnianiicell ]:)otrachten will, aus. Das absolute Gewicht desselben
beträgt den trilHonsten Theil von Sjöo"'". Das si^ecifische Gewicht
des trockenen Eiweisses ist 1,344. Daraus folgt, dass 1"'" des-
selben nahezu 400 Tiillionen, l'""" nahezu 400 Milhonen Micelle
enthält.
Hieraus dürfen wir aber nicht ohne weiteres das Volumen des
Micells berechnen. In dem trockenen Ei weiss als einer organisirten
Substanz müssen sich nämlich, wenn auch noch so kleine, leere
Zwischenräume zwischen den Micellen befinden. Das krystallisirte
Eiweiss würde daher ein grösseres specifisches Gewicht als 1,344
haben. Wir dürfen dasselbe wohl auf 1,7 anschlagen. Aus diesem
amendirton specifischen Gewicht l)erechnet sich das '\''olumen des
Micells mit 72 C zu 2,1 Trilliontel von 1™"' oder zu 0,0000000021 '""^
Bezüglich der Grösse der strangförmigen Idioplasmakörper, die
uns unbekannt ist, lässt sich bloss eine obere Grenze feststellen.
Dieselben müssen jedenfalls so klein sein, dass sie mit unseren
mikroskopischen Vergrösserungen nicht gesehen werden können,
wenn nicht etwa die Fäden, die sich in Zellkernen durch Färbemittel
sichtbar machen lassen, als Idioplasmastränge in Anspruch zu nelniien
sind. Uebrigens ist zu bemerken, dass die IdioplasmakörjuT wohl
inuner von Ernährungsplasma eingehüllt und, sofern sie durch Zell-
membranen hindurchgehen, von Cellulose umgeben sind, und dass
sie sich, somit bei einer Grösse, bei der sie in Wasser schon gesehen
würden , immerhin noch der Beobachtung entziehen. Aus diesen
Gründen kann ein Querschnitt von 0,1'"'"'' (Dm= 0,32""'-) noch als
zulässig erachtet werden, stellt aber jedenfalls ein nicht überschix^it-
bares Maximum dar. Auf diesem Querschnittsareal hat die grösste
Menge von prismatischen Micellen Platz, wenn dieselben überall
bloss durch zwei Schichten von Wassermolekülen getrennt sind.
Unter den beiden genannten \'oraussetzungen ist die folgende
Tabelle berechnet. Die erste Verticalcokmme gibt die Grösse der
Micelle durch die Zahl der in ihnen enthaltenen Kohlenstoffatome
an, die zweite die Menge solcher Micelle auf einem Areal von
0,1 ''""'' in runden Zahlen, die diitte die iirocentische Wassermenge,
.welche das Idio})lasma unter der Voraussetzung enthält, dass die
Micelle nicht länger als breit sind, ebenfalls in runden Zahlen.
V. Nägel i, Abstammungslehre. 5
66
Grösse der Micelle
72 C
2-72C
3.72C
5.72C
10-72C
20-72C
50 -72 0
100 -720
Die Mengen der Micelle auf der Qiierschnittsfläche eines Idio-
plasmakörpers, welche in der zweiten Columne enthalten sind, stellen,
da in jeder Beziehung die günstigsten Bedingungen angenommen
wurden, für die angegebenen Micellgrössen Maxima dar, welche wohl
nie erreicht werden. Zur A^ergleichung will ich noch einige Zahlen
beifügen , die für den Fall , dass die prismatischen Micelle durch
die doppelte Wassermenge (durch je 4 Wassermolekülschichten) ge-
trennt sind, berechnet wairden.
Wassergehalt
I. Idioplasma
Menge der Micelle
auf 0,11"""
Wassergehalt
des Idiojilasmas
25000
74
18700
66
15200
62
12100
57
8300
49
5700
42
3400
34
2300
28
jsse der Micelle
Menge der Micelle
flpQ T/lini»l
auf (),l'i'"ik
72C
13700
89
2-72C
1 1000
85
5 -72 0
7800
78
20 -72 0
4100
64
100-72C
1800
47
Aus den beiden Tabellen ergibt sich, dass zwar nicht, wie man
häufig für moleculare Verhältnisse sich irrthümlich vorstellt, eine
unendliche Menge von materiellen Theilchen zur Verfügung stehen,
sondern dass gerade für die Substanz, in welcher alle Eigenschaften
eines Individuums auf seine Kinder vererbt werden , die Anzahl
jener Theilchen ziemlich enge Grenzen hat. Doch möchte ich
glauben, dass die Menge der Micelle, namentlich wenn dieselben
kleiner (zu 72 0 oder zu 2-72 0) angenommen werden dürfen, für
die Function, die sie zu erfüllen haben, ausreicht, auch wenn die
als Träger der crblichoii Anlagen. 67
strangförmigen Idioplasinakörper einen kleineren Quersclniitt als
0,1"""" besitzen sollten^).
Sie reicht ans unter den früher festgestellten Bedingungen,
dass nicht die zusammengesetzten Erscheinungen , wie wir sie an
den Organismen wahrnehmen, sondern die einfachen Elemente, aus
denen sie sich zusammensetzen, als Anlagen im Idioplasma ent-
halten sind. Während im ersteren Falle das Idioplasma allerdings
aus fast unendlich vielen Theilen bestehen müsste, genügt im letz-
teren Falle eine begrenzte Zahl, in gleicher Weise wie die Sprache
aus einer begrenzten Menge von Wörtern, die Musik aus einer be-
grenzten Menge von Tönen zusammengesetzt ist.
Die unendliche Mannigfaltigkeit in den Eigenschaften der Or-
ganismen kann im Anlagezustand um so leichter von einer begrenzten
Zahl von Micellen dargestellt werden, als diese Micelle, wenn sie
so gebaut sind, wie ich es angedeutet habe, auch bei geringer Grösse
einer grossen Mannigfaltigkeit in Gestalt und chemischer Beschaffen-
heit fähig sind. Da aber die Micelle oder die Micellreihen der
Idioplasmakörper für sich allein noch keine Anlagen sind, sondern
nur durch ihre Zusammenordnung zu Gruppen, die durch ihre Con-
figuration auf dem Querschnitt der Körper sich charakterisiren , zu
Anlagen werden, so ist für das Idioplasma eines reich differenzirten
Organismus immerhin eine erheljliche Anzahl von Micellen noth-
wendig ; — und damit konnne ich auf die Constitution des Eiweiss-
moleküls zurück.
Würde dasselbe entsprechend der Neigung der heutigen Chemie
in Folge von Polymerisation 3 • 72 C enthalten , so kämen auf das
grösste Querschnittsareal der Idioplasmakörper von 0,1'^'""' und mit
der kleinsten Wassermenge (2 Molekülschichten zwischen den Mi-
cellen) bloss etwa 6000 Micelle (zu 6 Molekülen) und auf den Dui'ch-
messer kaum Hö Micelle (gegen 25000 Micelle auf dem Querschnitt
und 160 auf dem Durchmesser, wenn das Eiweissmolekül bloss
12 C enthält). Unter ungünstigeren Voraussetzungen (geringere
Grösse und grösserer Wassergehalt der Idioplasmakörper) würden
diese Zahlen in entsprechenden Vorhältnissen kleiner. Die eben an-
gegebenen numerischen Werthe motiviren ausreichend das Bedürfniss
■) Bei einem Quersclinittssiireal von 0,054""'' (Dm = 0,'2o""^) würden die Zahlen
der zweiten Columne anf die Hiilfte redncirt.
5*
68 I- Mioplasma
der Physiologie, das IdioplasmamiccU und damit auch das Eiweiss-
molekül möglichst klein anzunehmen.
Ich habe es oben wahrscheinlich zu machen gesucht, dass das
Idioplasma entweder durch die ganze Pflanze wandert oder durch
die ganze Pflanze in unmittelbarer Berührung sich befindet, und
dass' zu diesem Behuf e alle Zellmembranen siebartig durchbrochen
sein müssen. Es fragt sich noch, wie sich diese Annahme zu den
eben besprochenen absoluten Maassen des Idioplasmas verhält. Wenn
die Idioplasmakörper den grössten Querschnitt von 0,1''"*'' erreichen,
so müssen die Oeffnungen in den Zellmembranen wohl 0,4™"' Weite
haben. Betr.ägt der Querschnitt jener Körper bloss 0,05''""'', so genügt
eine Weite der Oeffnungen von nahezu 0,3'""'. In dieser Grösse
bleiben sie unsichtbar, so lange sie mit Plasma erfüllt sind. Kommen,
wie ich glaube, die Siebporen wirklich allgemein im Pflanzenreiche
vor, so begreifen wir, dass dieselben in der Regel bloss in der
nächsten Umgebung der Siebröhren , wo sie etwas grösser werden,
zu sehen sind. — Was dagegen die Diosmose der Eiweissmicelle
betrifft, so müssen die für sie bestimmten Canälchen in der Zell-
membran kaum einen Durchmesser von 0,01 '""' besitzen, um Micelle,
die sell)st l)is zu 300 • 72 C enthalten, frei passiren zu lassen.
In diesem Abschnitte habe ich versucht, eine Hypothese über
die materielle Natur der erblichen Anlagen aufzustellen, welche nach
den jetzt l)ekannten molecularphysiologischen Thatsachen in jeder
Beziehung als möglich erscheint und, wie ich hoffe, als erster Schritt
zur Lösung des Räthsels führen kann. Die heutige wissenschaft-
liche Einsicht verlangt die unbedingte Annahme, dass die erblichen
Anlagen in der physikalischen und chemischen Beschaffenheit der
Albuminate begründet sein müssen , also in der Zusammensetzung
des einzelnen Micells aus den Molekülen und in der Zusammen-
ordnung der gesammten Micelle zum Idioplasma. Wenn aber auch
über die Theorie im allgemeinen kein Zweifel bestehen kann , so
ist rück sichtlich der bestimmten Anordnung und rücksichtlich der
Frage, wie das Idioplasma seine Anlagen zur Entfaltung bringe,
den Hypothesen noch ein weites Feld geöffnet. Ich lege daher auch
dem \^ ersuche, den ich gemacht habe, die unbestreitbar vorhandenen
allgemeinen Eigenschaften des Idioplasmas in eine concrete Form
zu bringen, keinen a])soluten Werth ])ei. Die Vermuthunji betreffend
als Träger der erl •liehen Anlagen. 60
seine Strangnatur, für welche bloss eine grosse Wahrselieinliclikeit
besteht, könnte ungegründet sein; deswegen ist doc-h die Existenz
des Idioplasmas mit seiner Beschaffenheit im allgemeinen durch
die Thatsachen sicher gestellt.
Ich habe die Theorie eingehender entwickelt und ihre Ausführ-
barkeit nachgewiesen, weil in neuerer Zeit zwei Versuche gemacht
wurden, sich die erblichen Anlagen materiell vorstellbar zu machen,
— Versuche, die allerdings nicht den Namen von Theorien ver-
dienen, da sie nicht von physiologischen Thatsachen, sondern von
willkürlichen und unmöglichen Meinungen ausgehen. Sie Averden
auch von ihren Urhebern selbst bloss als »provisorische Hypothesen«,
also gleichsam als hypothetisch in der zweiten Potenz bezeichnet.
Es sind die Pangenesis von Darwin und die Plastidulperigenesis
von Häckel.
Darwin nimmt an, dass alle Zellen oder auch Theile von Zellen
während des erwachsenen Zustandes und ebenso alle Zellen während
aller Entwicklungszustände des Organismus »kleine Körnchen oder
Atome abgeben, welche durch den ganzen Körper frei circuliren,
und w^elche, wenn sie mit gehöriger Nahrung versorgt werden, durch
Theilung sich vervielfältigen und später zu Zellen entwickelt werden
können, gleich denen, von welchen sie berühren«. Diese Keimchen
oder Zellenkeimchen werden von den Eltern den Nachkommen über-
liefert und entwickeln sich meist in der unmittelbar folgenden Ge-
neration, können aber auch durch viele Generationen hindurch im
schlunuiiernden Zustande verharren. Ihre Entwicklung hängt ab
von der Vereinigung mit anderen theihveise entwickelten Zellen
oder Keimchen, welche ihnen in dem regelmässigen Verlauf des
Wachstliums vorausgehen. Die Keimchen haben in ihrem schlum-
mernden Zustande eine gegenseitige Verwandtschaft zu einander
und vereinigen sich zu Knospen oder Sexualorganen.
Dass diese mit den Worten ihres Autors wiedergegebene Hypo-
these alle Erscheinungen der ^^ererbung vollständig erklärt, ist
sofort einleuchtend, auch ohne die von demselben angeführten ver-
schiedenartigen Beispiele. Da jeder auch noch so geringfügige
und winzige Theil des Organismus, der eine besondere Qualität oder
Quantität darstellt, seine Keimchen aussendet, die sieh vermehren,
überallhin verbreiten, während unbegrenzter Zeit im latenten Zu-
stande verharren und unter günstigen Umständen den Theil, von
70 I- Idioplasma
dem si(3 ursprünglich herstainnien, wieder hervorbringen, so ist der
den thatsächUchen Verhältnissen entsprechende Erfolg gesichert,
wenn die Keimchen am richtigen Ort, in der richtigen Weise und
zur richtigen Zeit sich vereinigen und entwickeln.
Die Hypothese erweist sich also, wde dies übrigens bei dem so
praktischen und gesunden Sinne ihres Urhebers nicht anders mög-
lich ist, mit Rücksicht auf ihre Leistungsfähigkeit als untadelhaft, —
und es ist bloss die Frage, ob die Eigenschaften, die den Keimchen
zugeschrieben werden, von Seite der Physiologie als möglich zuge-
standen werden. Darwin selbst geht auf diesen Punkt nicht ein,
indem er sich bloss an allgemeine Analogien hält und sogar gele-
gentlich gewisser Thatsachen die Aeusserung thut, er wisse nicht, wie
die Physiologen dieselben betrachten, nach der Pangenesis aber sei
die Erklärung einfach und glatt.
Die Beurtheilung der Hypothese kann einmal die theoretische
Zulässigkeit und dann die praktische Ausführl^arkeit derselben j)rüfen,
und in jeder Beziehung wieder verschiedene Punkte betrachten. Ich
will nur je einen Punkt besprechen und zwar zunächst die Aus-
führbarkeit in molecularj^hysiologischer Beziehung.
Was die Beschaffenheit der Pangenesiskcimchen betrifft, welche
»Körnchen oder Atome« genannt und nicht weiter charakterisirt
werden, so können dieselben weder chemische Atome noch Moleküle
sein, da Kohlenstoffatome und Eiweismoleküle selbstverständlich die
gleichen Eigenschaften haben, ob sie von dieser oder jener Zelle
herstammen. Es können auch nicht einzelne Micelle (kr3^stallinische
Molekülgruppen) sein, denn, wenn diese auch als Gemenge von
verschiedenen Albuminatmodificationen ungleiche Eigenschaften be-
sässen, so würde ihnen doch die Fähigkeit, sich zu vermehren und
neue gleiche Micelle zu bilden, mangeln. AVir finden alle Bedin-
gungen für die Beschaffenheit der Keimchen bloss in unlöslichen
und festverbundenen Gruppen von All)Uininatmicellon; nur diese
können vermöge ihrer ungleichen Anordnung alle erforderlichen
Eigenschaften annehmen und vermittelst Einlagerung von Micellen
in beliebigem Maasse wachsen und durch Zerfallen sich ver-
melnvn. Die Pangenesiskcimchen müssten also kleine Mengen von
Idioplasma sein.
Nacli der Pangenesis-Hypothese sollen von allen Zellen eines
Organismus Keimchen aljgegeben werden ; dieselben sollen sich ver-
als Träger der erblichen Anlagen. 71
vielfältigen, überall vorhanden sein und bei der Fortpflanzunii,- mit der
Keimanlage sich verbinden. Diese Annahme ist nothwendig; es
kann nicht etwa eine Gattung von Zellen durch eine einzige Art
von Keimchen, sondern jede einzelne Zelle muss durch ihre eigen-
artigen Kemichen vertreten sein, und zwar aus zwei Gründen, ein-
mal weil jede Zelle besondere Eigenschaften enthalten kann und
nach Zeit und Ort wirklich etwas Besonderes ist, ferner weil nur
auf diesem Wege die gesetzmässige Folge der Zellen gesichert ist,
denn »die Entwicklung der Keimchen hängt ab von der Vereinigung
mit anderen theilweise entwickelten Zellen oder Keimchen, welche
ihnen in dem regelmässigen Verlauf des Wachsthums vorausgehen«.
Jedes Keimchen ist also gleichsam orientirt und es vermag seine
richtige Rolle in der individuellen Entwicklungsgeschichte eben da-
durch zu spielen , dass es dann lebendig wird , wenn es nacli der
ihm innewohnenden Orientirung an die Reihe kommt.
Dieser Umstand erlaubt uns, einen Schluss auf das numerische
Minimum der Keimchen in der Keimzelle eines bestimmten Orga-
nismus zu machen. Ich habe früher einmal die Zahl der Zellen
eines grossen Lindenbaums berechnet und 2000 Billionen erhalten ').
Da im Pflanzenreiche das Wachsthum durch Zelltheilung geschieht
und mit einer Zelle beginnt, so beträgt die Zahl der verschwundenen
Zellen früherer Stadien genau die Zahl der jeweilen vorhandenen
Zellen weniger 1. Der fragliche Lindenl)aum musste also, wenn jede
Zelle nur einerlei Keimchen erzeugte, 4000 Billionen verschiedener
Keimchen enthalten und bei der Fortpflanzung mussten eben so
viele sich in dem Keim vereinigen, ausser den noch viel zahlreicheren
Keimchen, welche von früheren Individuen und von früheren Varie-
täten herstammten. Vernachlässigen wir diese letzteren und halten
wir uns an die Zahl von 4000 Billionen als ein Minimum.
Nun ist es sicher, dass in dem Befruchtungsstoff, welchen die
Linde bei der Fortpflanzung verwendet und in welchem alle Anlagen
enthalten sind, nur eine sehr beschränkte Zahl von Idioplasma-
portionen (wie sie die Physiologie als Keimchen verlangen würde)
und zwar kaum der billionste Tlieil jener Zahl Platz findet, — dass
von den unzulässigen Micellen, selbst wenn man ihnen die denkbar
kleinste Grösse gibt, kaum der hundert millionste Theil Raum hätte.
^) Die IndividualiUit in der IS'atur. 185G.
72 I- I'lioplafsma
Allgenommen nämlich, die Keimclien enthielten bloss 72 C, wären
also die Eivveismoleküle der Chemiker oder nach meiner Ansicht die
kleinsten Micelle und besässen somit die kleinste denkbare, aber für
Uebertragung von Anlagen vollständig untangliche Form, so müsste
für das Minimum von 4000 Billionen Keimchen das befruchtende
Ende des Pollenschlauches hundertmillionenmal mehr Substanz ent-
halten, als es in Wirklichkeit der Fall ist.
In diesem Beispiel habe ich eine viel zu geringe Zahl von
Keimchen in Rechnung gebracht. Wird ihre Menge so hoch ange-
nommen als es die Darwin'sche Theorie wirklich verlangt, so ergibt
sicli auch für kleinere Phanerogamen, dass ihre einzelligen Keime
milhonenmal grösser sein müssten, um alle Keimclien bloss in der
Form von Eiweissmolekülen oder kleinsten Micellen aufzunehmen.
Hierdurch ist die Unmöglichkeit der Pangenesishypothese mit Rück-
sicht auf die numerischen und (juantitativen Verhältnisse dargethan.
Sie wäre nur ausführ1»ar, wenn man den Keimchen nicht physische,
sondern metaphysische Beschaffenheit, Gewichtslosigkeit und Aus-
dehnuiigslosigkeit zuschreiben und damit die Frage auf ein für den
Naturforscher undiscutirljares Geljiet hinüljerschiel)en wollte..
Was die theoretische Zulässigkeit der Pangenesishypothese be-
trifft, so gründet sich dieselbe auf die Annahme, dass die Zellen
die Einheiten der organischen Natur seien. Diese Annahme von
Schieiden und Schwann, die noch von manchen Morphologen
festgehalten wird, ist aljer nicht nur im Princip unrichtig, sondern
auch namentlich für die Physiologie unbrauchbar. Die Zelle ist für
den morphologischen Aufl)au eine sehr wichtige Einheit, aber nicht
etwa allgemein die Einheit schlechthin.
Unter Einheit müssen wir, physikalisch aufgefasst, ein System
von materiellen Theilen verstehen. Es gibt demnach in der orga-
nischen Welt eine grosse Zahl von über- und untergeordneten
Einheiten'): die Pflanzen- und Thierindividuen, — die Organe, —
Gewebstheile, — Zellgruj^pen (im Pflanzenreiche z. B. die Gefässe
und Siebröhren), — die Zellen, — Theile von Zellen (Pflanzenzell-
meinbran, Plasmakörper, Plasmakrystalloide, Stärkekörner, Fettkügel-
') Ich ha])c diese ]jei iillseiti,u;er Wünligniifj; der Tliatsacheu fast selhst-
vcrstaiidliclie, aber immer noch niclit zu richtij!:er und allgemeinerer Anerkennung
gelangte Anschauung sclion 1853 (Systematische Uebersicht der Erscheinungen im
Pflanzenreich) und besonders 1856 (Die Individualität in der Natur) ausgesprochen.
als Träger der erblichen Anlagen. 73
clieii u. s. w.), — die Micelle, — die Moleküle, — die Atoine. ßald
tritt die eine, bald die andere Einheit in morphologischer und })hy-
siologisclier Beziehung charakteristischer und ausgeprägter hervor.
Somit ist kein Grund, warum bei einer allgemeinen Theorie eine
besondere Stufe der Gestaltung begünstigt sein sollte.
Darwin verbindet aber mit dem Begriff der Einheit offenlmr
iioeli den Nebenbegriff der inneren Gleichartigkeit, und er scheint
dafür zu halten, dass die Zellen als innerlich homogen in der Regel
durch eine einzige Art von Keimchen hervorgebracht werden können.
Denn er sagt, wenn ein Protozoon aus einer homogenen Masse ge-
l)ildet sei, so werde ein von irgend einer Partie desselben abgelöstes
Keimchen das Ganze reproduciren. Wenn aber die obere und untere
Fläche in ihrer Textur von den centralen Tlieilen abweichen, so
müssen alle drei Theile Keimchen abgeben, welche vereinigt wieder
das Ganze liervorl)ringen.
Nach der Meinung Darwin's muss also jeder materiell ver-
scliiedene Theil einer Zelle seine besondern Keimchen erzeugen,
um dereinst wieder in seiner Eigenartigkeit sich verwirklichen zu
können. Nun gil>t es nicht nur viele Pflanzenzellen, die aus einer
grossen Menge schon durch das Mikroskop nachzuweisender ver-
scliiedener Theile bestehen ; sondern es lässt sich darthun, dass nicht
zwei der kleinsten Plasmapartien, selbst nicht zwei Micelle einander
ganz gleich sein können, und dass, um eine neue gleiche Zelle zu er-
zeugen, wenigstens jedes Micell durcli seine Keimchen vertreten sein
müsste. So wird die Pangenesishypothese, welche nach allgemeinen
morphologischen Vorstellungen ausgedacht und nicht physiologisch
erwogen wurde, ad absurdum geführt, — ein Resultat, das allerdings
der Nichtphysiologe unmöglich voraussehen konnte.
Wir bedürfen, um die Erl>lichkeit zu begreifen, nicht für jede
durch Raum, Zeit und Beschaffenheit bedingte Verschiedenheit ein
selliständiges besonderes Symbol, sondern eine Sul)stanz , welche
durch die Zusannnenfügung ihrer in beschränkter Zahl vorlumdencn
Elemente jede mögliche Combination von Verschiedeidieiten dar-
stellen und durch Pernuitation in eine andere Comljination derselben
übergehen kann.
Darwin hat viel Mühe und Scharfsinn (hmiuf verwendet zu
zeigen, dass seine Hypothese die mannigfaltigen Tiuitsachen der Ver-
erl)ung zu erklären vermag, oder wenigstens nicht in Widerspruch
74 I- Idioplasma
mit denselben gerätli. Dies ist ihm nun auch vollkommen ge-
lungen^); deswegen wird aber die Hypothese um nichts sicherer.
Denn es steht zum voraus fest, dass, wenn eine Theorie das Allge-
meine erklärt, sie auch alle Einzelheiten zu erklären vermag, die
jener Allgemeinheit untergeordnet sind.
Der Pangenesis wurde von H ä c k e 1 die P 1 a s t i d u 1 p e r i -
genesis entgegengestellt. Ich kann die letztere nicht unerwähnt
lassen, da sie sich als >ein Versuch zur mechanischen Erklärung
der elementaren Entwickelungsvorgänge« eingeführt hat und somit
als in naher Beziehung zu dem Motiv dieser Abhandlung erscheint.
Der Gedankengang mit den eigenen Worten des Autors ist folgender :
»Der ganze Weltprocess ist bedingt durch Gesetze der Mechanik.
Um in die Mechanik des l)iogenetischen Processes einzudringen, muss
die l)ewirkende Ursache in der Bewegung der »Plastidule«^) (Plas-
mamoleküle) gesucht werden. Vom höchsten Gesichtspunkte aus
l)etrachtet, verläuft der Ijiogenetische Process als eine periodische
Bewegung, deren anschaulichstes Analogon das Bild einer verwickelten
Wellenl)ewegung ist. Die i)hylogenetische Ahnenreihe gleicht einer
Wellenlinie, in welclier das individuelle Leben jeder einzelnen Person
einer Welle entspricht, und der ganze Stammbaum erhält das Bild
einer verzweigten Wellenljewegung. In gleicher Weise ist die Ontogenie
eine verzweigte Wellenbewegung, in welcher die »Piastiden« (Zellen)
den einzelnen Wellen entsprechen, und da die »Plastide« das Product
aus den activen Bewegungen ihrer constituirenden »Plastidule« ist,
so nmss auch die unsichtbare Plastidull^ewegung eine verzweigte
Wellenbewegung sein. Diese wahre und letzte causa efficiens des
l)iogenetischen Processes nennen wir Perigenesis der Plastidule
oder die periodische Wellenbewegung der Lebenstheilchen.«
Diese ganze sc]ieinl)are Analyse der Lel)enserscheinungen Ijeruht
darauf, dass die verschiedenen Stufen derselben in das nämliche
Bild gebracht werden, welches in der Form einige mechanische
') AVenn Hacke 1 l)eliaui)tet, dass die Pangenesis -Hypothese mit den Er-
fahrungen über Differenzirung, Arbeitstheikmg, Generationenfolge unvereinbar sei,
so scheint dem deutschen Natnrphilosophen der rotlie Faden in den nüchternen
Auseinandersetzungen des })raktischen Engländers entgangen zu sein.
■■^) »riastidnle (riassonmoleküle) = Plasniodule (Protoplasmamoleküle) -f Cocco-
dule (Coccoplasnuunoleküle). «
als Träger der erblichen AnUtgen. 75
Anklänge hat, dessen Berechtigung aljer mehr als l'raghch ist.
Wenn die individuelle Erscheinung (Art, Individuum, Zelle, Molekül)
einer Welle verglichen ^vird, so ist dieses einigende Band die Welle
der Poeten, nicht die der Physiker. Die Individuen einer Ahnen-
reihe beisj)eilsweise sind nach Zeit und Stoff scharf von einander
geschieden; jedes besteht bis auf einen meistens minimalen Theil
aus anderer Materie. Die nach einander durch ein Medium ver-
laufenden Wellen der Physiker dagegen werden durch die nämliche
Materie Ijewirkt und ents})rechen bloss verschiedenen Schwingungs-
zuständen der gleichen und nicht von der Stelle rückenden materiellen
Theilchen. Eine Analogie zwischen den beiden Erscheinungen,
welche über den äusseren Anschein hinausginge und für mehr als
eine dichterische Vergleichung bemitzbar wäre, besteht in keiner
Weise. Wenn ferner deswegen, weil die Ahneiu'eihe sich verzweigt,
auch von einer verzweigten Wellenbewegung gesproclien wird, so
entfernt sich das Gleichniss der Perigenesis-Hypothese vollends von
dem physikalischen Boden, indem die Physik wohl von einer
Kreuzung der Wellen, aber nichts von einer Verzweigung derselben
im Sinne jener Hypothese weiss.
Die verzweigte Wellenbewegung der »Plastidule« (Moleküle) wird
bloss durch einen Schluss vom Ganzen auf den Theil vermutliet.
Weil die Entwickelung der »Plastide« (Zelle) das Product aus den
Plastidulbewegungen ist, so sollen diese nach der Meinung des Autc^rs
den nämlichen Charakter besitzen wie die Lebensbewegungen der
Piastiden, Personen, Arten u. s. w. Nun kommt es wohl ausnahms-
weise vor, dass der Theil die Bewegung des Ganzen hat. In der
Regel besteht a])cr zwischen beiden eine Verschiedenheit, indem ja
die Bewegung des Ganzen in der Summe der Bewegungen seiner
Theile besteht. So haben auch die Wassermoleküle ganz andere
Bewegungen, als sie die ganze wellenbewegte Wasserfläche zeigt,
und die Bewegung des Wassertropfens ist gänzlich verschieden von
den Bewegungen seiner Moleküle.
Der Irrthum, der in dem Schlüsse vom Ganzen auf den Theil
liegt, wird noch bedeutender, da die Perigenesis-Hypothese Bewegung
und materielle Beschaffenheit in causale Beziehung zu einander
l)ringt. Die Folge davon ist, dass das Molekid nicht bloss die Be-
wegung, sondern auch das ganze Wesen des Organismus in sich
vereinigen soll. Wenn der Autor beispielsweise sagt, dass bei den
76 I- Idioplasma
Moneren »jedes Tlieilchen alles leisten könne, was das Ganze leistet«,
und somit »jedes Molekül in physiologischer oder pliysikalisch-
chennscher Beziehung gleich dem ganzen Körper sei«, so ist dies
eine für die ganze Natm'anschauung verhängnissvolle Behauptung,
die nur einer ausschliesslich morphologischen Betrachtung als möglich
vorkommen kann, vor jeder etwas eingehenderen physiologisclien
Analyse aber sich als nichtig erweist. Plasmamolekül und Plasma-
masse können rücksichtlich der Gestaltung und der Verrichtung
gar nicht mit einander verglichen werden; sie sind noch vielmehr
von einander verschieden, als ein Eisenmolekül imd ein complicirtcr,
aus eisernen Rädern und Federn liestehender Mechanismus. Ich
werde auf diesen Punkt bei der Urzeugung näher eintreten.
Indem die Perigenesis-Hypf)these mit der Veränderung der Or-
ganismen in der phylogenetischen Reihe in entsprechendem Maasse
die Wellenbewegung und die Zusammensetzung der Plastidule sich
verändern lässt, so gewinnt sie eine von den jetzigen chemischen Vor-
stellungen wesentlich abweichende Anschauung von den Albuminaten.
Nach ihrer Annahme müssen in allen verschiedenen Pflanzen und
Thieren aueh ungleiche Albuminatm oleküle, also ungleiche Albuminat-
ver1)indungen, vorkommen, und namentlich könnte bei niederen und
höheren Pflanzen oder Thieren nicht die gleiche Verbindung die
Plastidule l)ilden. Im Gegensatze hiezu weisen alle Erfahrungen
der Chemie entschieden darauf hin, dass die grosse Mannigfaltig-
keit in den Allanninaten durch Gemenge weniger Verbindungen
bewirkt wird.
Betrachten wir mm die Rolle, welche die Moleküle nach der
Perigenesis- Hypothese übernehmen sollen, um den Lebensprocess
der Organismen hervorzubringen, so fällt uns zunächst der Mangel
an Uebereinstimmung zwischen den Prämissen und den Folgerungen
auf. Weil die Entwickelungsbewegung der Stämme, Classen, Ord-
nungen, Familien, Gattungen, Arten, Individuen und Zellen die
verzweigte Wellenbewegung sei, müsse auch dem Theilchen des
letzten Theils, dem Molekül, die gleiche Form der Bewegung zu-
kommen. Diese besteht nun, wie in Wort und Zeichnung aus-
geführt wird, darin, dass ein in Wellen! )ewegung befindliches orga-
nisches Individuum wächst und sich dann durch Verzweigung
der Wellenbewegung in zwei oder mehrere neue Individuen tlieilt.
Man erwartet also, dass die »verzweigte Wellenbewegung des Mole-
als Träger der erblichen Anlagen. 77
küls« ebenfalls durch Wcichstliuiii und Theilung sich äussere. Dies
würde die Consequenz verlangen und der Lehre einen logischen Ge-
halt geben, während eine anders geartete verzweigte Wellenbewegung
des Moleküls keinen Daseinsgrund hat.
Der Autor glaubt aber in diesem Punkte der Chemie eine Con-
cession machen zu müssen. Die Plastidule der Perigenesis sind
Einzelmoleküle, welche nicht wachsen und sich niclit vervielfältigen.
»Sie können bloss ihre individuelle Plastidulbewegung auf die be-
nachbarten Plastidule übertragen und dm'ch Assimilation in ihrer
unmittelbaren Umgebung neue Pastidule von derselben Beschaffen-
heit ])ilden, ... sie können ferner ihre atomistische Zusammensetzung
infolge äusserer Einflüsse sehr leicht ändern und damit aucli ihre
Plastidulbewegung. . . . Indem die schwingende Molecularbewegung
der Plastidule sich als ^^ererbung überträgt, gestaltet sie sich zu
einer verzweigten Wellenbewegung.« So steht also die verzweigte
Wellenbewegung der Moleküle, die aus der Bewegung der Individuen
höherer Grade abgeleitet wurde, in keinem nothwendigen Zusammen-
hang mit ihren Prämissen; sie steht vielmehr im Gegensatz zu
denselben und verdiente daher auch einen neuen griechischen
Namen.
Diese Inconsequenz, dm'cli die freilich die ganze vorausgehende
Dcduction des Autors hinfällig wird, lassen wir uns aber gerne
gefallen ; denn damit sind wir aus dem Dunkel der nicht vorstell-
baren Ideen von verwickelten und verzweigten Wellenbewegungen,
die den Zellen und Personen zukommen sollen, in das klare Licht
der thatsächlichen Begriffe getreten. Die Schwingungen der Mole-
küle, wenn anders darunter die bekannte physikalische Erscheinung
verstanden wird, bieten eine sichere Grundlage für eine naturwissen-
schaftliche Hypothese. Hier also erwarten wir, dass der »Versuch
zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwickelungsvorgänge«
beginnen werde. Aber dieser Versuch wird nicht unternonnnen ;
die angeführten Worte sind das Einzige, was zur besagten Erklärung
beigebracht wird.
Da der Urheber der Perigenesis-Hypothese nicht zu zeigen ver-
sucht, wie aus den Schwingungen der Moleküle die Erscheinungen
des organischen Lebens zu Stande konnneii, da also die Möglichkeit,
dass es geschehe, imiiun- iiocli vorausgesetzt werden könnte, will
ich kurz zeigen, dass diese M()gli(hkoit niclit besteht.
78 I. Idioplasma
Der Autor nimmt an, dass die Plastidule (Moleküle) vereinzelt
seien, nnd er meint, dass jedes wahrscheinlich von einer Wasserhülle
umgehen werde. Dadurch würde wohl Raum für seine ])iogenetischen
Schwingungen und für die Erzeugung neuer Moleküle zwischen den
schon vorhandenen geschaffen. Eine solche Annahme ist aher
unmöglich , wie ich schon vor 22 Jahren für Stärkekörner und
Pflanzenzellmembranen nachgewiesen habe, und wie sich aus analogen
Gründen auch für die übrigen micellösen Substanzen ergibt. Die
Moleküle der jetzigen Chemie, wie sie auch der Autor annimmt,
sind in den organisirten Körpern nicht vereinzelt, sondern zu kr}^-
stallinischen, das polarisirte Licht doppeltbrechenden, auch für das
Mikroskop unsiclitbar kleinen Micellen vereinigt^). In den letzteren
spielen die Moleküle die gleiche Rolle wie in den sichtbaren Kr}^-
stallen. Die Ucächsten Elemente der organisirten Substanzen sind
also nicht die Moleküle, sondern die festen aus mehreren oder
vielen Molekülen bestehenden Micelle. Diese letzteren sind von
dem Imbibitionswasser umspült; unter ihrem Einflüsse geschehen
die Lebensprocesse der organisirten Körper, namentlich auch das
Wachsthum durch Einlagerung neuer Micelle.
Wäre aber auch die Micellarconstitution nicht vorhanden und
wären wirklich, wie der Autor annimmt, die vereinzelten Moleküle
die constituirenden Elemente der organisirten Substanz, so könnten
sie docli unmr)gli('h in der von der Perigenesis-Hypothese vorge-
schlagenen Weise die Organisation erklären, wie sich aus einer Analyse
der Molecularbewcgungen ergil)t. Die Physik kennt fortschreitende,
drehende und schwingende Bewegungen des ganzen Moleküls, und
andere sind überhjuipt nicht denkl)ar. Die Perigenesis-Hypothese
nun knüpft an die Schwingungen an, und gewiss wären die fort-
schreitenden und drehenden Bewegungen noch weniger brauchbare
Elemente.
Die verschiedene Wirkung der Plastidule, welche Infusorium
oder Säugethier, Alge oder Phanerogamenpflanze hervorbringt, muss
also nach der genannten Hypothese in der Verschiedenheit ihrer
Schwingungen begründet sein; und diese besteht bekanntlich bloss
') Ich nannte die Micelli^ damals in Uebereinstimnning mit den Thier-
physiologen, welelie die kleinsten Tlieilclien als Molekeln l)ezeichneten, Moleküle,
bestehend aus einer grösseren Zahl von (zusammengesetzten) Atomen der da-
maligen oder Molekülen der jetzigen Chenüe.
als Träger der erljliclien Anlaf^en. 71)
in der ungleichen Schwingungsdauer und der ungleichen Schwingungs-
intensität (Schwingungsweite). Es unterliegt keinem Zweifel, dass
wie hei der Farben- und Tonerzeugung die Schwingungsdauer die
Qualität, die Schwingungsintensität die Stärke der Wirkung bedingen
müsste; es müssten beispielsweise die niederen Organismen eine
längere, die höheren eine kürzere Schwingungsdauer der Moleküle
besitzen, sodass sie sich wie tiefe und hohe Töne zu einander ver-
halten würden. Nun wird niemand verkennen, dass eine solche Yor-
stellung ganz unhaltbar wäre ; denn niedere und höhere Organismen
verhalten sich zu einander wie Einfaches und Zusammengesetztes,
was mit der Schwingungsdauer, mit Tönen und Farben nicht der
Fall ist; und ferner gibt es bei den Organismen stets mehrere oder
viele, die der gleichen Stufe der Zusammensetzung angehören und
also, obgleich unter einander verschieden, doch der nämlichen
Sehwingungsdauer ihrer Plastidule entsprechen würden.
Offenbar verbindet aber die Perigenesis-Hypothese , wenn sie
von »schwingenden Molecularbewegungen « als der bewirkenden Ur-
sache der Organisation spricht, damit eine ganz andere Meinung
als die Ph3'sik. Denn sie schreiltt denselben verschiedene mechanisch
unmögliche Eigenschaften zu. Die Plastidule sollen Moleküle ganz
besonderer Art sein; ihnen kommen active Bewegungen zu, die
sie übertragen können, während den üljrigen Sul)stanzmolekülen nur
passive Bewegungen zugestanden werden, welche die Schwingungen
der Plastidule nicht beeinflussen; die letzteren ändern ferner ihre
Molecularschwingungen , wenn sich die Atome in ihrem Innern
umlagern.
Nach mechanischen Principien können Verschiebungen des
Schwerpunktes eines materiellen Systems (Moleküls), somit auch
Scliwingungen oder Schwingungsänderungen des Sj^stems nur durch
äussere, nicht durch innere Kräfte, nur durch Druck oder Zug, der
von aussen wirkt, nicht durch Configurationsänderungen oder Um-
lagerungen im Innern erfolgen. Ferner werden, wenn Körper mit
ungleichen Schwingungen auf einander einwirken, nicht etwa die
Schwingungen des einen (activen) auf den andern (passiven) Körper
ül)ertragen; sondern beide sind mechanisch gleich berechtigt, beide
sind in gh^clicm Maassc activ und passiv und l)eide verändern ihre
Schwingungen. Es müssen also nach mechanischen Gesetzen nicht
nur die Schwingungsintensität, sondern auch die Sclnvingungsdauer
80 I- I'Hoplasma
eines Plastidiils verändert werden, sowie die Wassermenge, die Menge
und Natur der darin gelösten Verbindungen, die Anordnung und
Beschaffenheit der übrigen Moleküle in seiner Umgebung sich ändert,
weil, um mich bildlich auszudrücken, durch alle diese Momente die
Länge des Molekülj^endels verändert wird. Im Widerspruche mit
dieser Thatsache muss die Perigenesis-Hypothese eine specifische
Schwingungsdauer der Plastidule annehmen.
Diese Hypothese legt iilso ihren Molecularschwingungen nicht
die bekannten physischen, sondern neue unphysikalische Eigen-
schaften bei, und sie hätte dies in vermehrtem Maasse thun müssen,
wenn sie, statt auf einige allgemeine Andeutungen sich zu beschränken,
es versucht hätte, aus den Molecularschwingungen der Plastidule die
verschiedenen Eigenschaften der Organismen wirklich zu construiren.
Wird sie ja schon, um sich die ^"ererbung zurecht zu legen, ver-
anlasst, den Plastidulen ein Gedächtniss zu ertheilen ; die Moleküle
sollen ihre Erfahrungen nicht vergessen, daher es ihnen denn
auch nicht schwer fallen kann, wieder das zu thun, was sie früher
oder was ihre Vorfahren gethan haben.
Die Perigenesis-Hj'pothese macht sich in allen Stücken frei von
den engen Fesseln der exacten Wissenschaft. Sie schreibt ihren
Molekülen andere Eigenschaften zu als die Physik und Chemie.
Wenn sie verlangt, dass »jede zusunnnengesetzte und verwickelte
Erscheinung nur durch Auflösung in ihre einzelnen Bestandtheile
und genaueste analytische Untersuchung dieser letzteren zum Ver-
ständniss gebracht und erklärt werde; deswegen müssen wir noth-
wendig auch in der mechanischen Entwicklungstheorie bis in die
letzten Elementarvorgänge eindringen«; — so glaubt sie diese Auf-
gabe dadurch erfüllen zu können, dass sie mit jeder Eigenschaft
des zusammengesetzten Organismus (Gedächtniss etc.) schon die ein-
fachsten Bestandtheile desselben (die Moleküle) ausstattet. Während
die strenge Wissenschaft eine mechanische Erklärung erst dann als
gegel>en erachtet, wenn eine Erscheinung als die nothwendige Folge
bestimmter Ursachen nachgewiesen wird , versteht die Perigenesis-
Hypothese unter mechanischer Erklärung schon die blosse Hin-
deutung, dass etwas auf mechanische;n Wege geschehen könnte.
So sagt sie: »dass der biogenetische Process eine verzweigte Wellen-
bewegung darstellt, wird wohl allgemein zugegeben w^erden; da wdr
nun aber die bewirkende Ursache dieser höchst zusammengesetzten
als Träger der erblichen Anlagen. 81
Wellenbeweguii«; nur in der molecularon Plastidulbewegung finden
können , so müssen wir ancli die letztere als eine Undulation
auffassen« ; — und damit soll die mechanische Erklärung ge-
leistet sein.
Die Plastidulperigenesis ist ein Product der Naturphilosophie
und als solches so gut wie jedes andere aus der gleiclien Quelle
erflossene Product. Ihr Fehler wie bei jeder naturphilosophischen
Lehre ist der, dass sie ihre Ahnungen als Thatsachen ausgibt
und für dieselben unpassende naturwissenschaftliche Bezeichnvnigen
braucht und in unberechtigter Weise naturwissenschaftliche Bedeutung
in Anspruch nimmt.
Ich habe den Hj'pothesen der Pangenesis und der Plastidul-
perigenesis eine einlässlichere Besprechung gewidmet, weil durch
dieselbe am besten die Notli wendigkeit der Idioplasmatheorie sich
herausstellt. Wenn ein grosser, in zahlreiche Theile gegliederter und
mit zusammengesetzten Functionen begabter Organismus bei der
Fortpflanzung seine ganze Eigenthümlichkeit vermittels einer winzigen
Partie scheinbar homogener Suljstanz vererbt, so sind dafür über-
haupt nur zweierlei Erklärungen möglich.
Entweder sind die kleinsten Theilchen der Keimsubstanz in Folge
besonderer und übernatürlicher Begabung die individuellen Träger
der Eigenschaften des Ganzen und dadurch im Stande diese Eigen-
schaften wieder ins Leben zu rufen, — oder die kleinsten Theilchen
sind gewöhnliche Moleküle, die bloss mit ihren natürlichen Kräften
und Bewegungen ausgestattet sind und die einen specifischen Orga-
nismus nur dadurch hervorzubringen vermögen, dass sie der Ent-
wicklung desselben durch ihre besondere Zusammenordnung mit
Nothwendigkeit eine eigenthümliche Bahn anweisen.
Die erstere Erklärung ist die Folge morphologischer und natur-
pliilosophischer Anschauung. Sie personificirt wie die Pangenesis-
Hypothese jede einzelne Theileigenschaft in besonderen m3'stischen
Keimchen, oder wie die Perigenesis-Hypothese complicirte Functionen
in den durch besondere mystische Bewegungen (und Kräfte) ausge-
zeichneten Molekülen. Das eine und das andere führt logisch zu
metaphj'^sischen Voraussetzungen.
Y. Nägeli, Abstammungslehre. fj
g2 I- Idioplasma als Träger der erblichen Anlagen.
Die zweite Erklärung sucht auf dem Boden der natürlichen
Dinge die Entwicklung organisch zu gestalten. Die Idioplasma-Theorie
macht keinen Anspruch darauf, eine mechanische Erklärung zu geben,
denn dazu fehlen noch alle Anhaltspunkte; wohl aber gestattet sie
die einzig mögliche Vorstellung, wie die Vererbung und die phylo-
genetische Veränderung auf natürlichem, somit auf mechanischem
Wege erfolgen kann.
IL
Urzeugung.
Die Entstehung des Organischen aus dem Unorganischen ist
in erster Linie nicht eine Frage der Erfahrung und des Experiments,
sondern eine aus dem Gesetze der Erhaltung von Kraft und Stoff
folgende Thatsache. Wenn in der materiellen AVeit alles in ursäch-
lichem Zusammenhange steht, wenn alle Erscheinungen auf natür-
lichem Wege vor sich gehen, so müssen auch die Organismen, die
aus den nämlichen Stoffen sich aufl^auen und schliesslich wieder in
dieselben Stoffe zerfallen, aus denen die unorganisclie Natur besteht,
in ihren Uranfängen aus unorganischen A'^erbindungen entspringen.
Die Urzeugung leugnen heisst das AA'^under verkünden.
Sowie die Abkühlung der früher feurig-heissen Erdoberfläche
bis zu der das Leben gestattenden Temperatur fortgeschritten war,
entstanden die ersten Organismen an den die nöthigen Bedingungen
enthaltenden Stellen ; und auch später und jetzt noch muss Ur-
zeugung überall stattfinden , wo die A^erhältnisse die nämlichen
sind, wie in der L^rzeit. Die dagegen vorgebrachten Beoliachtungen
vnid A'^ersuche, welche das Nichteintreten der LTrzeugung ergal)en,
beweisen nichts, da sie nur für l)estimmte Annahmen gültig sind,
für welche die Theorie selbst schon das freiwillige Entstehen als
umnöglich behaupten muss.
Man hat die Nothwendigkeit der Annahme, dass die ersten
Organismen auf der abgekühlten Erde sich geljildi't halten, (hircli
den Einwurf zurückweisen wollen, dass diesell)en möglicherweise von
andern AVeltkörpern hergeflogen kamen. Sie konnten die Reise auf
Meteorsteinen machen, und es ist nicht undenkljar, dass in der
6*
84 II. Urzeugung.
Vertiefung eines grosseren solchen Körpers die Temperatur beim
Durcheilen der Erdatm osphcäre nicht so hoch stiege, um die darin
befindlichen Lebewesen oder deren Keime zu zerstören, da dieselben
einer trockenen Hitze von ziemlich mehr als 100 Graden wider-
stehen. Damit wurde aber, meiner Ansicht nach, nicht die Haupt-
schwierigkeit beseitigt.
Die grosse Gefahr, welche Organismen auf einer Wanderung
von einem Weltkörper auf den andern bedroht, l)esteht wohl nicht
in extremen Temperaturen, selbst nicht in der grossen Kälte des
Weltraumes , obgleich wir über die Wirkung der letzteren nichts
wissen , sondern in dem vollstcändigen Austrocknen , wovor sie im
luftleeren Räume nicht bewahrt bleiben können. Die widerstands-
fähigsten Organismen, die wir kennen, die Spaltpilze, welche die
feuchte Siedhitze ertragen, gehen durch längeres scharfes Austrocknen
zu Grunde, und ich bin überzeugt, dass selbst ihre Sporen nach
einem nicht sehr langen Aufenthalt in dem Vacuum des Weltraumes,
wo sie ihren Wassergehalt vollständig verlieren würden , leblos auf
der Erde anlangten. Es ist daher, wenn es nicht noch andere, mit
anderen Eigenschaften begabte, niedere Organismen, als die uns
bekannten, gibt, keine Hoffnung, dass ein Weltkörper den andern
mit organischem Leben besame, aber auch keine Gefahr, dass einer
den anderen mit den (in Spaltpilzen bestehenden) Keimen seiner
Lifectionskrankheiten anstecke.
Sollte aber gleichwohl die organische Welt unserer Erde aus
dem Welträume eingewandert sein, so wäre damit die Nothwendigkcit
der Annahme einer spontanen Entstehung nicht beseitigt, sondern
nur in andere Zeiten und Räume verlegt. Die Frage aber, ob das
organische Leben von Ewigkeit her von der unorganischen Natur
gesondert sein konnte, ist wie etwa diejenige über die Ewigkeit des
Kohlenstoffs transcendenter Natur und daher nicht besprechbar.
Was wir sicher wissen, — dass das Unorganische in den Organismen
zu organischer Substanz wird und dass die organische Substanz
wieder vollständig in unorganisclie ^'^erbindungen sich zurückver-
wandelt, — genügt, um vermöge des Causalgesetzes die sj^ontane
Entstehung der organisclion Natur aus der unorganischen abzuleiten.
Mit Hülfe dessen , was uns über das Leben und die Entwicke-
hmgsgesetze der Organismen l)ekannt ist, können wir die Urzeugung
auf gewisse Formen beschränken, indem wir darthun, dass sie bei
11. Urzeugung. 85
den ül)rigcn unniöglicli ist. Zu den physiologischen Bedingungen
gehört, dass der entstehende Organismus existenzfähig sei, d. h. dass
er von der ihm dargehotenen unorganischen Nahrung leben könne.
Da nur die grünen Pflanzen diese Bedingung erfüllen, da die Pilze
und die Thiere von den unveränderten oder sich zersetzenden Stoffen
leben, welche jene gebildet ha])en, so habe ich früher angenommen,
die spontan entstehenden Wesen müssten Chlorophyll oder einen
verwandten Farbstoff enthalten, mn Kohlensäure und Ammoniak
als Nahrung verwenden zu können ^). Die Erfaln-ungen , welche
seitdem über Ernährung der niederen Pilze von mir ^) und An-
deren gemacht wurden und welche zeigten, dass für dieselben
eine einfachere Stickstoffkohlenstoffverbindung oder Ammoniak mit
einer organischen Säure ausreicht, haben jene Meinung erschüttert.
Es kann also auch ein farbloser Organismus , wenn er diese Stoffe
dauernd vorfand, die organische Welt begonnen haben.
Eine andere sowohl physiologische als morphologische Bedingung
für die Urzeugung ist die, dass das entstehende Wesen sich nicht
in einem Zustande befindet, welcher die vorhergehende Thätigkeit
eines anderen lebenden Wesens voraussetzt. Es können daher keine
mehrzelligen Organismen als solche ursprünglich entstehen, denn
diese entwickeln sich naturgemäss aus einzelligen Keimen. Auch
diese einzelligen Keime mehrzelliger Wesen können sich nicht
sjjontan bilden, denn sie sind von ihren Eltern mit organischen
Nährstoffen ausgestattet, und ferner sind sie mit Rücksicht auf eine
l)ereits durchgeführte, wenn auch noch wenig weit reichende Arbeits-
theilung angelegt. Aus dem nämlichen Grunde ist auch die grosse
Mehrzahl der zeitlebens im einzelligen Zustande verharrenden Or-
ganismen von der Urzeugung auszuschliessen.
Wir können überhaupt als Bedingung aussprechen , dass das
spontan entstehende Wesen noch vollkommen einfach und ohne
Differenzirung sei, dass keinerlei Theilung der A^'errichtungen bestehe,
dass es niclit verschiedene Zustände durchlaufe, dass also in seinem
Idiojjlasma noch keine Anlagen vorhanden seien, denn diese sind
') Entstehung und Begriff der natnrliistorisehen Art. 1HG5.
2) Ernährung der niederen Pilze duicli Kohlenstoff- und Stickstoffverl)indungen
(Untersuchungen über niedere Pilze aus dem jiflaiizeniihysioldgisclien Institut in
31ünchen. 1882)
86 II- Urzeugung.
das Product physiologischer und morpliologischer Ghederung, somit
das Ergebniss vorausgehender Arbeit.
Wenn icli von diesem Gesichtspunkte aus die Frage aufwerfe,
welche Formen der organischen Reiche durch Urzeugung entstehen
können, so ergibt sich die Antwort, dass keiner der bekannten Or-
ganismen dazu fähig sein möchte. Die niedersten Pflanzen (Chroo-
coccaceen und Schizomyceten) sind schon wiegen der Zellmembran,
wclclie den Plasmainhalt undiüllt, lange nicht einfach genug. Und
was die Moneren betrifft, deren spontane Entstehung von Häckel
als gewiss angenommen wird, so sclieint mir, wie ich später zeigen
werde, deren geringe Grösse und ausgebildete Bewegung auf einen
längeren vorausgehenden pliylogenetischen Entwickehmgsj^rocess hin-
zudeuten, abgesehen davon, dass dieselben sicher nicht allein, d. h.
ohne die Zersetzungsproducte anderer Organismen, leben können.
Die Wesen, die einer spontanen Entstehung fähig sind, kennen
wir also noch nicht. Sie müssen eine noch einfachere Beschaffen-
heit hal)en, als die niedrigsten Organismen, welche uns das Mikro-
skop zeigt; darin liegt zugleich auch der Grund, dass sie noch nicht
entdeckt sind. Je einfacher die Organismen, um so kleiner sind
sie auch. Da nun die Grösse der bekannten niedrigsten Pflanzen
und Thiere schon an der Grenze der Sichtbarkeit sicli befindet und
da es so kleine Sj^altpilze gibt, dass sie kamn gesehen und bloss
durch ihre zersetzenden Wirkungen sicher erkannt werden, so können,
wenn es noch einfachere Wesen gibt, dieselben unter der mikro-
skopisch erkennbaren Grösse sich befinden.
Für derartige Wesen haben alle Versuche über Urzeugung keine
Beweiskraft. Diese Versuche bestehen innner darin, dass man eine
gärungs- und fäulnissfähige Flüssigkeit durch Erhitzen von allen
lebenden Keimen befreit, und dann zeigt, dass bei hinreichendem
Verschluss keine Zersetzung eintritt. Es ist damit nur bewiesen,
dass imlcr den angewendeten Verhältnissen keine Pilze entstehen,
während die Bildung von nicht zersetzenden organischen Wesen,
die eine geringere oder selbst ebenso beträchtliche Grösse haben
als die kleinsten Spaltpilze, sowie die Bildung von ziemlich grossen,
aber nocli mikroskopischen primordialen Plasmamassen immerhin
möglich wäre.
Da das durch Urzeugung entstehende Wesen vollkommen
einfach sein muss, so kann es nur ein Tröpfchen von homogenem
II. Urzeugung. 87
Plasma sein, das bloss aus Albumiiiaten ohne Beimengung von
anderen organischen Verbindungen als den Nährstoffen, ohne äussere
Formbildung und ohne innere Gliederung besteht und durch die
unorganischen oder einfachen organischen Verbindungen, aus denen
es selbst entstanden ist, sich vergrössert und ernährt.
Die Urzeugung setzt also die spontane Bildung von Albuminaten
voraus. Das Problem, Eiweiss auf synthetischem Wege darzustellen,
ist zwar der organischen Chemie noch nicht gelungen. Dieser Mangel
ist aber um so begreiflicher, als die künstliche Zusammensetzung
der organischen Verbindungen überhaupt noch eine so Junge
Wissenschaft ist und diejenige des so räthselhaften Eiweissmoleküls
von noch unbekannter Atomformel jedenfalls die schwierigste
sein ward.
Was aljer die Entstehung in freier Natur betrifft, so gibt es
keinen Grund, warum dieselbe als unmöglich oder auch nur als
unwahrscheinhch zu bezeichnen wäre. Der Einwurf, dass spontane
Eiweissbildung nicht beobachtet sei, hätte nur einigen Werth, wenn
zugleich wahrscheinlich gemacht wäre, dass ihr Vorhandensein nicht
verborgen bleiben könnte — was aber, da aus verschiedenen Gründen
eine Beschränkung auf mikroskopische Mengen sehr nahe liegt, nicht
zutrifft. Wahrscheinlich geschieht sie nicht in einer freien Wasser-
masse, sondern in der benetzten oberflächlichen Schicht einer fein
porösen Substanz (Lehm, Sand), wo die Molecularkräfte der festen,
flüssigen und gasförmigen Körper zusammenwirken. Wie sehr die
Fläclienkräfte eines in sehr feiner Vertheilung h)efindlichen festen
Körpers die chemische Umsetzung befördern können , ist ja durch
die Beispiele von Platinschwamm und Kohle bekannt. Wahrscheinlich
wird ferner die spontane Eiweissbildung durch einen bestimmten
Wärmegrad begünstigt, so dass sie in der Urzeit nach der Abkühlung
der Erdoberfläche auf Brutwärme an zahlreichen Stellen, in unserer
Zeit aber wohl noch da und dort in wärmeren Klimaten , sowie in
der wärmeren Jahreszeit kälterer Gebiete geschehen kann.
Für die Art und Weise, wie sich Eiweiss spontan l)ilden könnte,
gibt uns seine Entstehung in den Pflanzen aus einfachen Stickstoff-
kohlenstoffverbindungen und aus Verbindungen von Aiunioniak mit
organischen Säuren einigen Aufschluss. Der eine oder andere Weg
ist denkbar ; in jedem Fall wird kohlensaures Ammoniak der Ausgangs-
punkt der spontanen Bildung sein und einerseits durch Harnstoff
88 II. Urzeugung.
oder cyansaures Ammoniak und weiterliin durch stickstoffhaltige
Verbindungen wie Asparagin u. s. w. , anderseits durch weinsaures
Ammoniak u. s. w. zu eiweissartigen Körpern hinüberführen , wie
dies auch bei der Ernährung der Pilze der Fall ist.
Wenn nun irgendwo Albuminate spontan entstehen, so ist damit
von selbst auch Wachsthum und Fortpflanzung, also Urzeugung
iresfeben. Das Wachsthum bestellt darin, dass zwischen den vor-
handenen Eiweissmicellen neue sich bilden, und diese Bildung muss
unter dem Einfluss der bereits vorhandenen um so eher fortdauern,
als sie schon ohne diesen Einfluss begonnen hat. Die Fortpflanzung
aber geschieht dadurch, dass die Plasmamasse in Folge ihres An-
wachsens früher oder später zum Zerfallen in zwei oder mehrere
Massen veranlasst wird.
Eine solche Plasmamasse kann der Anfang einer Reihe sein,
die zu einem Organismus führt. Sie selber verdient noch kaum den
Namen eines Organismus, denn Wachsthum und Fortpflanzung sind
noch nicht innerlich geordnet. Die ursjjrünglich entstandenen Eiweiss-
micelle haben eine durchaus ungeordnete oder eine von den
äusseren Einflüssen bedingte Anlagerung, und die anfänglich zwischen
dieselben eingelagerten verhalten sich im wesentlichen el^enso. Auch
hat die Plasmamasse noch keine bestimmte Gestalt und Grösse und
ihr Zerfallen in kleinere Massen hängt von zufälligen äusseren Um-
ständen ab.
Wachsthum und Fortpflanzung gewinnen aber nach und nach
durch innere Verhältnisse mehr Bestimmtheit. Da die Zunahme
der Substanz durch Einlagerung von Micellen unter der moleculären
Einwirkung der bereits vorhandenen geschieht, so muss mit der Zeit,
wenn auch vielleicht sehr langsam, ein bezüglicher Einfluss auf ihre
gegenseitige Stellung sich geltend machen. Die ursj^rüngliche regel-
lose oder von äusseren Umständen bewirkte Anlagerung muss zuletzt
in eine geordnete und IjIoss von der Natur der Eiweissmicelle be-
dingte üljergehen. Und dieses geordnete Wachsthum muss auch
beim Zerfallen der sich vergrössernden Massen maassgebend mithelfen,
also auch eine geordnete Fortpflanzung zur Folge habeii.
Bezeichnen wir erst diesen Zustand als den eigentlichen, durch
Urzeugung entstandenen Organismus und die vorausgehenden Zu-
stände als die Einleitung dazu, so gibt es schon eine Mehrzahl von
verschiedenartigen spontan gebildeten Organismen. Denn die Bildung
n. Urzeugung. 89
der einleitenden Zustände geschieht unter sehr ungleichen physika-
lischen und cheniischen Verhältnissen. Berücksichtigen wir bloss
die letzteren, so ist schon eine fast unendliche Mannigfaltigkeit
denkbar, einerseits weil verschiedene unorganische \"erbindungen in
verschiedenen Combinationen in die Plasmamassen eintreten und auf
die sich gestaltende Anordnung ihrer Micelle Einfluss ausül^en,
anderseits weil die eiweisserzeugenden Verbindungen verschiedener
Art sein können und dieser Umstand sich ebenfalls geltend machen
wird. Wir wissen zwar, dass die Ernährungseinflüsse die höheren
Organismen während sehr langen Zeiträumen nicht bemerkbar zu
verändern vermögen, dass sie also keine Macht auf das Idioplasma
haben. Aber dieses Idioplasma ist durch erdperiodenlange Aus-
bildung festgeordnet und zwar mit Rücksicht auf diese verschiedenen
Einflüsse, während in der einleitenden Periode der Urzeugung die
bestimmte Ordnung erst gesucht und daher auch von allem mit
bestimmt wird, was die moleculären Anziehungen und Bewegungen
modificirt. Die organischen Reiche nehmen also ihren Ursprung
nicht mit einem einzigen bestimmten Organismus sondern mit vielen,
die aber noch wenig von einander abweichen.
Die Eigenschaften der organisirten Substanz werden bedingt
durch die Zusammenordnung der Micelle und durch die physikalisch-
cliemischen Vorgänge zwischen denselben. Beide Momente haben
Einfluss auf einander. Mit einer veränderten Anordnung der Micelle
werden auch die wirksamen Molecularkräfte, von denen die chemischen
und 2ili3\sikalischen Processe abhängen, andere, und durch die ver-
änderten chemischen und physikalischen Processe wird wiedermn die
fernere Einlagerung der Micelle, also das Wachsthum und die Structur
modificirt. Diese beiden Bedingungen ändern sich stetig von dem
Beginne des ersten Wesens mit noch ungeordneten Micellen an und
führen durch eine Reihe von Zuständen der einleitenden Periode zu
den niedrigsten und einfachsten der uns bekannten Organismen;
sie wirken in diesen fort und veranlassen deren Weiterbildung zu
höheren und complicirteren Organismen.
Die im vorstehenden entwickelte Ansicht von der Urzeugung
weicht von der jetzt herrschenden, namentlidi durch Häckel ver-
tretenen, wesentlich ab. Häckel betrachtet seine Moneren als die
einfachst denkl)aren Organismen, noch olnie alle Differenzirung, so
dass jedes Molekül in physiologischer Beziehung gleich dem Ganzen
90 II- Urzeugung.
sei. Ich möchte dagegen die Behauptung aufstellen, und ich glaube
bei den Physiologen wohl allgemeine Zustimnunig zu finden , dass
von der Bildung des Eiweissmoleküls (oder xPlastiduls«) bis zur
Organisation des Moners , welche beiden Vorgänge nach Häckel
zusammenfallen, der Abstand in qualitativer Beziehung nicht geringer
sondern eher grösser ist als zwischen dem Moner und dem Säuge-
thier, wenn auch die phylogenetische Entwicklung dort rascher und
in viel weniger Stufen durchlaufen wird als hier. Alle Eigenschaften
des Säugethieres sind im Moner wenigstens als Andeutungen schon
vorhanden, während die Eigenschaften des Moners aus dem Eivveiss-
molekül erst neu geschaffen werden müssen.
In der einleitenden Periode, welche zwischen der unorganischen
Natur und den uns bekannten niedrigsten Organismen sich befindet,
haben wir zwei Stufen zu unterscheiden. Die erste Stufe besteht in
der Synthese der Eiweissverbindungen und in der Organisation der-
selben zu Micellen, mit welcher die primordiale Plasmamasse gegeben
ist. Die zweite Stufe besteht in der Fortljildung der primordialen
Plasmamasse bis zu den uns bekannten einfachsten Organismen.
Die Wesen dieser zweiten Stufe will ich, um einen kurzen Ausdruck
zu halben, als Probien bezeichnen, da sie den aus Erfahrung be-
kannten Anfängen des Lebens vorausgehen. Eigentlich sind sie
selber die ersten Leljewesen, somit Protobien, ein Ausdruck, den ich
nicht geljrauchen kann, da der Name Protisten Ijereits von einer
Gruppe später auftretender und liölier organisirter Wesen in Anspruch
genommen ist.
Was die erste Stufe der einleitenden Periode betrifft, so werde
ich später von derselben sprechen und versuchen, die physiologischen
Probleme, welche sich an dieselbe knüpfen, einigermassen aufzuklären.
Vorher will ich, im Anschluss an das Vorhergehende, das Verhältniss
zwischen dem Wesen der zweiten Stufe und den eigentlichen Orga-
nismen betrachten. In dieser Beziehung mangeln die Anhaltspunkte
durchaus nicht, um wenigstens im allgemeinen die Unterschiede
zwischen der primordialen Plasmamasse und den niedrigsten be-
kannten Organismen, den Moneren, Schizomyceten und Chroococcaceen
feststellen zu können. Welche von diesen drei Gruppen als die
unterste und einfachste in Anspruch zu nehmen sei, lässt sich bei
der unvollkonnnenen Kenntniss derselben nicht entscheiden ; aber
jede derselben hat sich schon sehr weit von dem primordialen, noch
vollkommen undifferenzirten Plasma entfernt.
n. Urzeugung. 91
Ich will nicht ausführen, dass in den hekannten Organismen
die Suljstanz in Hautschicht und innere Masse geschieden, und dass
sie wenigstens aus zwei Formen von Plasma, aus Idioplasma und
Ernährungs2:)lasma bestehen muss , noch auch , dass die Cellulose-
nieudjran der niedrigsten Pflanzen schon auf eine gewisse Organisation
des Inhaltes hinweist. Dagegen will ich, indem ich mich bloss an
die als so einfach erklärten Moneren halte, auf zwei Erscheinungen
hinw^eisen, welche den grossen Abstand derselben von der primordialen
Plasmamasse jedem physiologischen ^^erständniss darthun müssen,
nämlich auf die bestimmte Grösse und Form und auf die Bewegung.
»Wenn eine einfacliste Plastide, ein homogenes Moner, bis zu
einer gewissen Grösse herangewachsen ist, so zerfällt der structurlose
Plassonkörper bei fortdauerndem Wachsthum in zwei gleiche Hälften,
weil die Cohäsion der Plastidule nicht mehr ausreicht, um die ganze
Masse zusammenzuhalten.« Ich führe diese Worte Häckel's an,
weil sie zugleich die Veranlassung des Irrthums andeuten, warum
er die Moneren trotz bestimmter und geringer Grösse als einfach
und structurlos erklärt. Derselbe ist offenbar der Ansicht, dass ein
structurloser Körper wegen der geringeren Cohäsion der kleinsten
Theilchen bei einer bestimmten Grösse zerfalle, während ein organi-
sirter Körper noch Widerstand leisten könne, womit allerdings die
Thatsache übereinstimmt, dass die meisten liöher organisirten Körper
auch eine viel beträchtlichere Grösse besitzen als die Moneren.
Indessen verhält es sich doch in der That auf den allerersten Stufen
der Organisation gerade umgekehrt.
Eine vollkonmien structurlose Masse kann , eben wegen der
mangelnden Organisation , nur durch äussere Ursachen zerfallen.
Structurlos ist Wasser oder eine Lösung; nehmen wir die Grösse
eines kleinen Moners vor der Theilung zu 20""^ Durchmesser an,
so bleibt ein Tropfen Wasser oder ein Tropfen Eiweisslösung, welcher
<S Millionen mal mehr Masse enthält als jenes Moner, selbst in der
Luft noch vollkonnnen cohärent'); und doch ist die Cohäsion des
Moners als unlöslicher Substanz gewiss iKiträchtlich grösser als die
des Wassers oder der Eiweisslösung. A^erhältnissmässig grosse Tropfen
dieser Flüssigkeiten sind vor dem Zerfallen geschützt, weil ihre
*) Die grö.ssten INIoiU'icii weiden von WassertroptVn im Volumen um das
300 fache übertroffen.
92 II- Urzeugung.
Cohäsioiiskraft grösser ist als die entgegenwirkenden änsseren Kräfte
(Luftströmungen, Schwerkraft).
Eine structurlose Plasniamasse muss aber in ruhigem Wasser
wegen des geringen Unterschiedes im specifischen Gewicht noch
weit mehr vor dem Zerfallen gesichert sein als ein Flüssigkeitstropfen
in der Luft; es ist überhaupt gar kein Grund vorhanden, warum
sie entgegen dem Beharrungsvermögen sich in Stücke theilen sollte.
So verhält es sich auch mit dem ersten Stadium der Probien; die
primordiale Plasmamasse wächst zu unbestimmter Grösse an. Da
sie aber etwas schwerer ist als Wasser, so bildet sie einen Ueberzug
auf dem Grunde. Sie befindet sich also in einem ähnlichen Zustande,
wie man ihn im Bathybius gefunden zu haben glaubte; nur w^ürde
dieser in anderen Eigenschaften über das Primordialplasma hinaus-
gehen.
Damit eine Plasmamasse zerfalle, müssen, um mich so auszu-
drücken, die centrifugalen Kräfte organisirt sein. Es ist unnöthig,
auf die Art und Weise dieser Organisation einzugehen, die man sich
übrigens, bei dem Vorhandensein von verschiedenen Möglichkeiten
der mechanischen Wirkung , auch verschieden denken kann. So
viel bleibt gewiss, dass die Organisation um so weiter fortgeschritten
und um so l)estimmter sein muss, je kleiner die individuellen Massen
werden, da zugleich mit der Grössenaljnahme die AViderstandskraft
gegen das Zerfallen zunimmt. Wir sind daher zu der Annahme
genötliigt, dass das Moner, das zu den kleinsten mikroskopischen
Objecten gehört, schon eine ziemlich ausgesprochene Structur d. h.
eine bestimmte Anordnung der Micelle wenigstens stellenweise er-
langt habe.
Aus der eben angestellten Betrachtung erhalten wir folgende
Vorstellung von der \^eränderung in den Grössenverhältnissen der
Individuen während der Entwicklungsgeschichte der ganzen Reiche.
Die primordialen Plasmamassen erlangen eine beträchtliche aber ganz
unbestimmte Grösse, weil ihr Zerfallen von zufälligen äusseren
Ursachen abhängt. Ihre Abkömmlinge werden mit der beginnenden
und zunehmenden inneren Organisation, weil dieselbe iixuner mehr
die Theilung zu beherrschen und die Cohäsion zu überwinden ver-
mag, nach und nach kleiner bis zu einem Minimum. Von hier an
ninnnt die Grösse der Individuen wieder stetig zu, weil die wach-
sende Organisation auch eine stets grössere Menge Substanz verlangt. '
II. Urzeugung. 93
Die einfachsten bekannten Pflanzen und Thiere sind anch die
kleinsten; das Minimum der individuellen Grösse dürfte aber noch
innerhalb des ihnen vorausgehenden Reiches der Probien sich be-
finden. Es versteht sich, dass die Veränderung der Grösse, wie ich
sie geschildert hal)e, nur im Grossen und Ganzen gültig ist, und
dass im Einzelnen durch besondere Ursachen viele Ausnahmen von
der Regel bedingt werden.
Eine andere ausgezeichnete Eigenschaft, durch die sich das
Moner gegenüber dem primordialen Prol)ium auszeichnet, l)eruht in
seiner Bewegung. Die structurlose Plasmamasse, deren Theilchen
ungeordnet, d. h. nach allen Seiten unterschiedslos orientirt sind,
kann nur regungslos sein. Mag die Bewegung der Moneren zu
Stande kommen, wie sie will, immerhin muss sie ihren Sitz in den
kleinsten Theilchen haben und diese können nur bei einer bestimmten
Orientirung eine bemerkbare Wirkung ausüben. Ein einzelnes
Theilchen vermag nur eine äusserst geringe Kraft zu entwickeln,
und wenn die Theilchen nach verschiedenen Seiten gerichtet sind,
so heben sich ihre Wirkungen um so sicherer auf, je grösser ihre
Zahl ist.
Um einen Begriff von der Menge der Plasmatheilchen zu geben,
die ein Moner zusammensetzt, bemerke ich, dass ein grosses Individuum
von 0,6 """ Durchmesser , wenn die Ti'ocken Substanz l)loss zu 10 %
angesetzt wird , über 5000 Billionen Eiweissmoleküle der jetzigen
Chemie (zu 720 angenommen) und also jedenfalls über 100 Billionen
Micelle enthält. Bei den allerkleinsten Moneren belauft sicli die
Zahl der Micelle in die Millionen. — Man wird daher unschwer
einsehen, dass eine Plasmamasse von gleicher Grösse und gleichem
Gewicht, wenn dieselbe structurlos ist und aus ungeordneten Theilchen
besteht, der Ortsl)ewegung und der periodischen Gestaltsänderung
(Contractilität) durchaus ermangelt. Auch das kleinste und leichteste
sich ])ewegende Moner nniss in der taktischen Anordnung seiner
Theilchen schon sehr weit fortgeschritten sein und somit eine lange
Ahnenreihe hinter sich haben.
In der bisherigen Darstellung habe icli di(> Urzeugung vorzüglich
mit Rücksicht auf die aus derselben hervorgehenden Organismen
betrachtet und gezeigt, dass diese, soweit sie uns bekannt sind, ohne
94 II- Urzeugung.
Ausnahme verhcältnissniässio; schon sehr zusammengesetzt sind und
aus viel einfacheren, uns noch unljekannten Anfängen abgeleitet
werden müssen. Eine andere Aufgabe der Physiologie ist es, diese
einfachsten Anfänge des Organischen mit der unorganischen Natur
zu vergleichen und die Beziehungen zwischen beiden festzustellen.
Aus dieser Untersuchung muss vorzüglich der Untersclned zwischen
unorganisirten und organisirten, ferner zwischen todten und lebenden
Körpern sich ergeben.
Zu diesem Ende müssen w'ir zuerst einen Blick auf die Ge-
staltung des Unorganisirten werfen. Es kann sich hier nur um
feste Gebilde handeln, da der flüssige und der gasförmige Zustand,
in welchen die Moleküle getrennt sind und sich durch einander
bewegen, keine individuelle Gestaltung der Massen erlauben. Die
Ursachen der Ortsbewegungen und gegenseitigen Verschiebungen der
Moleküle im flüssigen Zustande sind die Wärme oder ein Lösungs-
mittel. Werden diese Ursachen beseitigt, so legen sich die Moleküle
zu festen Massen an einander. Dieselben sind krystallisirt, wenn
die Molecularkräftc bei der Bildung ungestört wnrken können; amorph,
wenn dal)ei Störungen eintreten.
Die ungest()rte Wirksamkeit der Molecularkräftc Ijei der Kry-
stallisation besteht darin, dass die Moleküle, indem ihre Bewegungen
zur Ruhe gelangen, sich so neben einander anlagern, wie es die
stärksten Anziehungen verlangen. Der Krystall beginnt mit einer
Gruppe von einigen wenigen Molekülen; alle folgenden, die hinzu-
treten, Orientiren sich, indem sie die Ortsbewegung verlieren, ent-
sprechend ihren dynamischen Beziehungen zu den bereits angelagerten
Molekülen. Da nun alle Moleküle einer Verbindung einander gleich
sind, so muss auch die Orientirung, die sie annehmen, stets die
nämliche bleiben, und der Krystall muss nach verschiedenen Rich-
tungen des Raumes aus })arallelen Schichten und Reihen von
Molekülen bestehen. Es ist daher begreiflich, dass er auch äusserlich
gewöhnlich von ebenen Flächen und geraden Kanten begrenzt ist.
Die Krystallmoleküle lagern sich so nahe aneinander, als es das
Gleichgewicht zwischen den geg(niseitigen anzielienden und al)stossen-
den Kräften verlangt. Man bezeichnet dies ItildHch als unmittelbare
Berührung, da ihre Wirkungssphären aneinander stossen. Es können
daher in einen fertigen Krystall keine Moleküle eindringen ; derselbe
ist für Flüssiukeiten und Gase undurclidrinulich.
II. Urzeujrung. 95
Das Wesen des Krystalls, welches in der regelmässigen Anord-
nung seiner Moleküle besteht, wird bloss durch die diesen Molekülen
eigenthümlichen Kräfte bedingt, und ist innerhalb bestimmter Grenzen
unabhängig von den äusseren Einflüssen (Temperatur, Lösungsmittel,
Concentration der Lösung u. s. w\). Die letzteren spielen übrigens
immer auch eine Rolle bei der Krj^stallisation, indem sie derselben,
soweit es die inneren Kräfte erlauben, zu verschiedenartigem Aus-
druck verhelfen. Sie bedingen die Grösse und die Gestalt der einzelnen
Krystalle, ferner den LTmstand, ob dieselben einzeln auftreten oder
mit einander verwachsen, und ob eine festwerdende Substanz wenige
grosse oder viele kleine Krystalle bilde. Geht das Festwerden der
Substanz bei hinreichend grosser Beweglichkeit der Moleküle langsam
von Statten, so können sich dieselben alle zu einem einzigen Kry-
stalle vereinigen.
Die chemische Natur einer Su])stanz, insofern dieselbe löslich
oder schmelzbar ist, macht keinen Unterschied rücksichtlich des
Zustandekommens der Krystallisation. Die complicirten Kohlenstoff-
verbindungen (Säuren, Zucker, Fette etc.) verhalten sich wie die
unorganischen ^'^erljindungen und die Elemente. — Bisweilen legen
sich die Moleküle verschiedener Verbindungen zunächst zu Molekül-
gruppen (Pleonen^) aneinander. Besonders häufig ist dies bei den
sog. Hydraten der Fall, indem Substanzmoleküle mit Wassermolekülen
Hydropleone bilden. Die Pleone krystallisiren genau so wie die ein-
zelnen Moleküle.
Jeder krystallartige Körper muss vor seiner Bildung sich im
flüssigen (geschmolzenen oder gelösten) Zustande ])cfun(len haben.
Dies gilt auch von dem Diamant, obgleich der Kohlenstoff" gegenüber
den bis jetzt angewendeten Mitteln sich als unschmelzl)ar und un-
löslich erwiesen hat. — Es gibt einige complicirte kohlenstoffhaltige
Verbindungen, die weder molecular löslich noch schmelzl)ar sind,
und von denen man auch nicht vermuthen kann, dass man sie je in
diesen Zustand wird versetzen können, da sie durch die energischeren
Lösungs- und Schmelzungsmittel zersetzt werden. Zu denselben
gehören die Kohlenhydrate mit Ausnahme der Zuckerarten, die
Albuminate, die leimgebenden, elastischen und hornartigen, die
muskel- und nervenbildenden Sul)stanzen. Alle diese Verbindungen
*) Theorie der Gärung. Anmerkung Ijetr. die Älolekülvereiuigungen.
96 II- Urzeugung.
entstehen leicht aus einfacheren, in Wasser löshclien Vorl)indungen
und hahen selber eine sehr grosse Verwandtscliaft zu Wasser, obgleich
sie sich unter keinen Umständen in wässrigen Flüssigkeiten moleeular
vertheilen lassen.
Aus den Eigenschaften der genannten Verbindungen, dass sie
leicht in wässrigen Lösungen sich bilden und zu denselben eine
grosse Anziehung besitzen, aber darin moleeular unlöslich sind, geht
ein neuer Zustand hervor, welcher als der organisirte, imbibitions-
fähige oder mi cell ose bekannt ist. Um den Vorgang anschaulich
zu machen, will ich den ersten Anfang eines Stärkekorns schildern.
Die Stärke entsteht in einer Zellflüssigkeit, welche Zucker ent-
hält. \^on den Stärkemolekülen, die sich zuerst bilden, legen sich
immer diejenigen, die unmittelbar l)eisammen liegen, wegen ihrer
Unlöslichkeit an einander an und bilden einen winzigen Krystall-
anfang, ein kleines Micell. Da die Stärke wie der Zucker, aus dem
sie entstanden ist, das Wasser energisch anzieht, so umgibt sich jedes
Micell mit einer verdichteten Hülle von Wassermolekülen. Wenn
ein Stärkemolekül sich nicht in unmittelbarer Nälie von anderen
Molekülen bildet, an die es sich krystallinisch anlegen kann, so
stellt es, indem es von einer Wasserhülle umschlossen wird, ein
einmoleküliges Micell dar.
Ueber die Wasserhülle hinaus ist die Anziehung des Micells
zur Stärkesubstanz grösser als zu Wasser; deswegen treten immer
einige zunächst neben einander entstandene Micelle zusammen und
bilden ein festes System, den Anfang eines Stärkekorns. Die Micelle
mit ihren Wassorhüllen verhalten sicli bezüglich des Gleichgewichts
in diesem System analog wie die Moleküle mit ihren Aetliers})hären
in einem Krystall oder in einem Micell. Die Stärkekörner sind mit
Wasser durchdrungen (imbil)irt), indem die Micelle durch Wasser-
schichten von bestimmter Mächtigkeit getrennt worden.
Sowie Anfänge von Stärkekörnern vorhanden sind, geht die
Stärkeljildung in ihrem Innern leichter von Statten als l)is auf
eine gewisse Entfernung von ihrer Oberfläche in der umgebenden
Zellflüssigkeit. Die mittels des Imbibitionswassers fortwährend ein-
dringenden Zuckermoleküle werden unter dem Einfluss der Molecular-
kräfte in Stärkemoleküle übergeführt. Dal^ei kann zweierlei geschehen
entweder ley-cn sich die neuuebildeten Stärkcmoleküle an die vor-
n. Urzeugung. 97
handenen Micelle an und vergrössern dieselben, oder sie bilden An-
lange von neuen Micellen.
Ob das eine oder andere geschehe, hängt von verschiedenen
Umständen ob, ^xie z. B. von den Bewegungen im Imbibitionswasser,
vorzüglicli aber von der Stelle, wo das Stärkemolekül sich l)ildet.
Da wo zwei parallele Micellflächen mit ihren Wasserhüllen an ein-
ander stossen , ist kein Raum für eine Neubildung, die ebenfalls
ihrer Wasserhülle bedürfte. - In den Ecken dagegen, wo zwischen 3
oder 4 Micellen ein grösserer Zwischenraum sich Ijefindet, legen
sich die entstehenden Stärkemoleküle leichter zu einem neuen Micell
zusammen, als dass sie zu den entfernteren Micelloberfiächen hin-
wandern. Im allgemeinen kann man \delleicht sagen, dass die
Stärkemoloküle, die in den Wasserhüllen der Micelle selbst entstehen,
die Micelle vergrössern, dass diejenigen dagegen, die ausserhalb der
Wasserhüllen (resp. zwischen denselben) sich Ijilden, neue Micelle
erzeugen. Ferner dürfen wir annehmen, dass die grossen Micelle
ihre Wasserhüllen energischer anziehen als die kleinen, dass daher
die kleinen Micelle eine stärkere Neigung haben, durch Anlagerung
neuer Moleküle zu wachsen, als die grossen, und dass besonders
die einmolekühgen Micelle bald in mehrmolekülige übergehen. Diese
ßildungsweise macht die ungeheure Kleinheit und die ungeheure
Anzahl der Micelle erklärlich.
Aehnlich wie die Stärkekörner verhalten sich die übrigen organi-
sirten Substanzen, und yne ich besonders hervorhebe, es gilt, was
ich von der Entstehung der Stärkekörner gesagt habe, Punkt für
Punkt für die Urzeugung der Plasmamassen. Mag die wässrige
Lösung, in welcher die ursprüngliche Eiweissbildung vor sich geht,
wie immer beschaffen sein, mag die Synthese des Eiweissmoleküls
so oder anders erfolgen und das Molekül seilest eine beliebige Zu-
sammensetzung haben, — es werden die (unlöslichen) Moleküle stets
sich sofort zu Micellen vereinigen und die Micelle in Menge nel)en
einander entstehen. Jedes Micell ist mit einer Wasserhüllo uingolu'u
und vi(Ae Micelle stellen zusammen eine mit der wässrigen Lösung
imbibirte kleine Plasmamasse dar, innerhalb welcher die Eiweiss-
bildung unter dem Einfluss der daselbst wirksamen Molecularkräfte
leichter erfolgt als ausserhalb derselben. Die Plasmamasse wächst
durch Vergrösserung ihrer Micelle, vorzüglich al)er durch Einschaltung
neuer Micelle zwischen den vorhandenen.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 7
98 II- Urzeugung.
Wie das eigentliche Wesen der Kr3^stalle nur durch die Be-
schaffenheit ihrer Moleküle bestimmt wird, so hängt auch die Ent-
stehung und das Wachsthum der organisirten Substanzen im wesent-
lichen von den Molecularkräften ab, welche die Vereinigung der
Moleküle zu Micellen und die Zusaimnenlagerung dorMicelle bewirken.
Die Urzeugung der Plasmamassen und ihr weiteres Wachsthum ist
das Product der dem Eiweissmolekül anhaftenden Eigenschaften.
Die äusseren Einflüsse verhalten sich den organisirten Substanzen
gegenüber noch viel ohnmächtiger als gegenüber den Krystallen,
weil bei jenen das Wachsthum in ihrem Innern, bei diesen aber an
der Aussenfläche stattfindet. So muss die Gestalt und mehr noch
die Structur der frei im Wasser befindlichen primordialen Plasma-
massen und ihrer nächsten Abkömmlinge von den äusseren Um-
ständen ziemlich unabhängig sein, sofern dieselben nicht so grosse
Dimensionen erreichen, dass das grössere sjiecifische Gewicht (im
A'^ergleich mit Wasser) und die Strömungen im Wasser die äussere
Form der weichen Massen zu modificiren vermögen.
Unter Umständen lassen sich die organisirten Substanzen in
ihre einzelnen Micelle trennen, welche dann mit der Flüssigkeit
eine micellare Lösung darstellen und sich darin wie Lösungsmoleküle
verhalten, nur mit dem Unterschiede, dass sie wiegen ihrer l:)eträcht-
licheren Grösse mit einer entsprechend geringeren Beweglichkeit
ljegal)t sind. Diese Lösungsmicelle hängen sich leicht in Ketten und
andere Verbände zusammen, oder bilden Krystalloide, oder es geht
die ganze Lösung, wenn sie concentrirtcr ist, in einen festen Zustand
von verschiedener Structur über.
Das Zerfallen einer organisirten Substanz in eine Micellarlösung
findet dann statt, wenn die ^^erwandtschaft der Micelle zur Flüssig-
keit und die Bewegungsursachen so sehr zunehmen, dass die
Adhäsion der Micelle unter einander überwunden wird. Sind diese
Verhältnisse schon bei der Entstehung der Micelle' vorhanden, so
l)ildet sich kein fester organisirter Körper, sondern eine Micellar-
lösung, die aber nachher zu einer mehr o<ler weniger festen Sub-
stanz sich umbilden kann. Dies gilt namentlich für die plasma-
tischen Sul)stanzen, welche in allen Uebergangsstufen von der
vollkonniKinen Micellarlösung l^is zum feston Kcirper erzeugt werden.
Die Albumin atmicelle vereinigen sich unter den verschiedensten
Umständen und in der mannigfaltigsten Weise. Sie stellen bald
n. Urzeugung. 99
ein ganz flüssiges, bald ein halbflüssiges Plasma, l^ald ziemlich feste
mit Wasser durchdrmigene Substanzen dar, deren Micelle bald leicht
bald sehr schwer sich wieder lostrennen. So sind die Eiweissmicelle
einer unendlich verschiedenen Gruppirung und zudem einer grossen
Besttändigkeit rücksichtlich der einen Anordnungen und einer
grossen Veränderlichkeit bezüglich anderer Anordnungen fähig,
und sie besitzen somit, wenn wir noch die leichte und viel-
fache chemische Umsetzung der Albuminate hinzufügen , alle die
Eigenschaften, welche das Plasma für seine mannigfaltigen Auf-
gaben befähigen.
Die physiologischen Bedingungen der Urzeugung bestehen, wie
aus der ganzen bisherigen Betrachtung sich ergibt, darin, dass
Eiweiss in einer wässrigen Lösung unter Umständen sich bilde,
welche die A'ereinigung der Micelle zu einem nicht allzu weichen
Plasma gestatten, und dass in der Lösung die Möglichkeit der Ei-
weissbildung dauernd gegeben sei, um das Wachsthum des Plasmas
zu unterhalten. Treifen diese Voraussetzungen ein, so muss jedes
Mal Urzeugung stattfinden.
Wenn man die Bedingungen der Plasmabildung erwägt, so er-
klärt sich das scheinbar grösste Räthsel, warum in den unzähligen
Fällen, in denen Eiweiss unter den verschiedensten Umständen sich
in einer wässrigen Flüssigkeit befindet, doch nie Organismen zu
Stande konnuen. Die theoretische Meinung, die ich früher ebenfalls
theilte, dass bei Anwesenheit von Eiweiss oder wenigstens von le-
bendem Eiweiss unter übrigens günstigen Umständen Urzeugung mög-
lich sei, ist deshalb unrichtig, weil das Eiweiss nicht in molecularer
Lösung, sondern nur in Form von Micellen vorkommt. Die Eiweiss-
micelle aber, mit denen wir Versuche anstellen, haben sich in irgend
welchen Organen gebildet, und können sich nicht so zusammen-
ordnen, wie es nöthig wäre, um den wachsthumsfähigen Keim eines
Organismus darzustellen. Nehmen wir selbst den günstigsten Fall an,
es verwandle sich ein Keim selbst in eine Micellarlösung, so wären
zwar alle Bausteine in der nötliigen Form und Beschalfenheit ge-
geben, aber sie könnten sich nicht wieder zum Keime reconstruiren.
Die Micelle würden sich ebensowenig in die richtige Anordnung
zusammenfinden, als die pulverartigen Trümmer eines Krystalls, die
in einer Flüssigkeit von gleichem specifischem Gewicht suspendirt
wären, wieder zu einem Krystall zusammentreten könnten.
100 II. Urzeugung.
Auch Peptonlösungen sind unfähig, Urzeugung einzuleiten.
Mögen dieselben irgend eine chemische Constitution besitzen, jeden-
falls sind es nicht die Molecularlösungen der Albuminate. Man
kann die letzteren wohl in Peptone spalten; aber dieser Vorgang
bat sicher mehr Analogie mit der Spaltung der Stärke in das
micellar gelöste Dextrin, als mit der Spaltung dos Dextrins in den
molecular gelösten Zucker. Die Peptonlösungen krystallisiren eben-
sowenig als die Dextrinlösungen. Wenn auch eine Sjaithese des
Dextrins aus Zucker im Bereiche der Möglichkeit hegt, so erscheint
dagegen die Ueberführung des Dextrins in Stärke und ebenso des
Peptons in Eiweiss als unmöglich wegen der miceharen Beschaffen-
heit der Dextrin- und Peptonlösungen.
Die Urzeugung setzt also nicht das Vorhandensein einer eiweiss-
artigen Substanz, sondern die Eiweiss bildung voraus. Denn nur
wemi das Eiweiss entsteht, können die Micelle zu einer ihren Mole-
cularkräften ents])rechenden Configuration zusammentreten und nur
durch fortgesetzte Eiweissbildung können sie beim Wachsthum diesen
Charakter bewahren.
Aus dem gleichen Grunde ist es unmciglich, irgend etwas Orga-
nisirtes auf künstlichem Wege darzustellen. Denn alle Organisationen
sind unter dem Einfluss von micellaren Verhältnissen und mole-
cularen Kräften entstanden, welche bloss in dem betreffenden Orga-
nismus vorhanden sind und sich nicht nachahmen lassen.
Die nämliche Betrachtung gibt uns, wie ich glaube, auch Auf-
schluss über den sonst so räthselhaften Unterschied zwischen dem
lebenden und todten Zustand einer organisirten Sul)stanz. Man
kann diis lebende Plasma durch schädliche Einwirkungen ver-
schiedener Art und oft sehr geringer Intensität tödten, ohne dass
die mikroskopische Untoi-suchung die kleinste ^^eränderung an dem-
selben wahrnimmt. Um die merkwürdige Erscheinung des Lebens
zu erklären, ist man bis auf das Molekül zurückgegangen und hat
von lcl)cuidom und tcKltem Eiweissmolekül gesprochen. Eine solche
Aufstellung braucht kaum widerlegt zu werden; denn das Molekül
ist weder todt noch lebendig ; es wirkt immer mit den Kräften seiner
Atome und behält seine Eigenthümlichkeit, bis die gesteigerten Ein-
griffe seine Zersetzung oder Umsetzung verursachen. Auch dem
Micell köinien wir keine specifische Lebensfähigkeit zuschreiben.
Als feste Vereinigung von Molekülen bewahrt es entweder seine
II Urzeugung. 101
Beschaffenheit, oder es zerfällt unter zerstörenden Einflüssen in
Stücke, wohl auch in die einzelnen Moleküle, gerade so wie ein
Krystall.
Anders verhält es sich niit einer Zusammenordnung von Mi-
cellen; dieselbe kann durch leichte Verschiebungen ihrer Theile so
verändert werden, dass, obgleich das Aussehen das nämhche bleibt,
doch die Functionen eine Störung erfahren. Wenn auf eine lebende
Plasmamasse nachtheilige Einflüsse einwirken, so wird die Zusammen-
ordnung der Micelle entweder nur wenig, gleichsam nur innerhalb
ihrer Elasticitätsgrenzen, verschoben und kann, wenn die Einflüsse
aufhören, ^deder hergestellt werden; in diesem Falle tritt ein vorüber-
gehender krankhafter oder scheintodter Zustand ein. Oder die A^'er-
schiebung ist so bedeutend, dass sie nicht wieder rückgängig ge-
macht werden kann ; dann ist der Tod die Folge derselben. Es
versteht sich, dass, um den Tod des Organismus oder eines Organs
herbeizuführen, nicht alle Micellaranordnungen, sondern nur die-
jenigen, von denen die normalen Functionen der übrigen abhängen,
gestört werden müssen.
Das Leben einer Plasmamasse beruht also darin, dass die eigen-
thümliche Configuration ihrer Structur unangetastet bleibe, und
zwar kommt es dabei sicher nur auf die Configuration des idio-
plasmatischen Systems an. Erleidet dassellje eine dauernde Dislo-
cation seiner Theile, so kann es nicht mehr in der normalen Weise
auf das Ernährungsplasma einwirken und sich selber vermehren;
als nothwendige Folge tritt der Tod ein.
m.
Ursachen der Veränderung.
Die Ursache der Varietätenbildung wird von den Systematikern
gewöhnlich den äussern Einflüssen des Khnias und der Nahrung,
die Ursache der Rassen- und Speciesbildung von der Darwin 'sehen
Schule nach Willkür, Bedürfniss oder Wahrscheinlichkeit bald
denselben l)ald inneren Dispositionen und Anstössen zugeschrieben.
Nach meinen früheren Untersuchungen musste ich die unmittelbare
Wirkung der äusseren gegenüber den inneren Ursachen für unmerk-
lich gering halten'). Ich will hier zunächst bloss von den klima-
tisclien und Ernährungseinflüssen sprechen, die man so häuflg im
Munde führt und als die Ursachen der Veränderung bezeichnet, ohne
sich darüber Rechenschaft zu geben, ob und welche bestimmte
Wirkung einer bestimmten Ursache entsprechen könnte. Später
werde ich unter den äusseren Einflüssen eine Classe von solchen
ausscheiden, welche nach meiner Ansicht mit Nothwendigkeit An-
passungsveränderungen hervorbringen.
In erster Linie ist also hervorzuhel)cn, dass es zweierlei Arten
der ^Veränderung gil)t, deren stete Vermengung die vielfachen un-
riclitigon Urtheile veranlasst. Die eine ist vorübergehend und
wiUu't nur so lange als die Ursache anhält; die andere ist dauernd
und bleibt, nachdem die Ursaclie aufgehört zu wirken. Nur die
letztere ist der Vererbung fähig und konmit bei der Abstammung
in Betracht.
Die äusseren klimatischen und Nahrungseinflüsse bewirken als
unmittelbare Folge nur vorübergehende Veränderungen. Reichliche
') Sitzuugsbor. d. k. bayr. Alviid. d. Wiss. Ib. Nov. 18(J5.
III. Ursachen der Veränderung. lOo
Nahrung kann fett machen, Nahrungsentziehunt;' iührt die frühere
Magerkeit wieder herbei; ein warmer Sommer macht eine Pflanze
aromatischer oder ihre Früchte süsser, ein darauf folgendes kaltes
Jahr bringt Blätter mit weniger Geruch und saure Früchte hervor.
Von zwei ganz gleichen Samen erzeugt der eine auf gedüngtem
Humusboden einen grossen, stark verzweigten, vielblüthigen Stock
mit ansehnlichen Blättern, der andere auf Sandboden einen kurzen,
unverzweigten, einl^lüthigen Stengel mit kleinen Blättern ; die Samen
aber der einen oder anderen Pflanze verhalten sich ganz gleich ; sie
haben von der Ungleichheit ihrer Eltern gar nichts geerbt.
Die äusseren Ursachen vermögen die Eigenschaften, welche sie
in dieser Weise unmittelbar hervorbringen, auch nicht dauernd zu
machen, wenn sie durch noch so viele Generationen eingewirkt
haben. Alpenpflanzen, von denen man annehmen muss, dass sie von
jeher (wenigstens seit der Eiszeit) unter den nämlichen A'^erhält-
nissen gelebt und die charakteristischen Eigenschaften der Hoch-
gebirgspflanzen besessen haben, verlieren diese Eigenschaften bei
der Verpflanzung in die Ebene vollständig schon im ersten Sommer,
wobei es gleichgültig ist, ob man sie aus Samen oder ausgegrabenen
Stöcken erzieht. Statt des früheren gedrungenen unverzweigten
Wuchses und der geringen Zahl von Organen sind sie nun in die
Höhe geschossen, stark verzweigt und mit zahlreichen Blättern und
ßlüthen versehen ; und sie behalten die neu erlangten Eigenschaften,
so lange sie in der Ebene leben, ohne dass eine neue Veränderung
an ihnen bemerkbar würde ^). Auch andere Merkmale, welche die
Pflanzen durch die äusseren Einflüsse auf verschiedenen Standorten
(im feuchten Schatten, an trockenen sonnigen Hängen, auf ungleicher
geologischer Unterlage) gewinnen, gehen unter geänderten Einflüssen
sogleich verloren.
Diese vorübergehenden Eigenschaften bilden die Merkmale der
Standortsmodificationen. Dass sie keine Beständigkeit haben,
ist übrigens begreiflich, weil sie nicht in neuen besonderen Er-
') Auf die Frage Darwin's, wer könne behaupten, dass die ZwergpHan/.en
der Alpen nicht in einigen Fällen auf wenigstens einige Generationen vererbt
werden? antworte ich, dass dies niemand geringerer behauptet als der Versuch
selbst, welcher zeigt, dass nur diejenigen Alpenpflanzen in der Ebene ihre Zwerg-
haftigkeit Ixübehalten und oft noch steigern, welche daselbst nicht gedeihen und
in Folge mangelhafter Ernährung wieder aussterben. Es gibt bis jetzt aber keine
solchen, die in der Ebene anfänglich klein sind und nachher grösser werden.
104 III- Ursachen der Veränderung.
seheinuiigen, sondern nur darin bestehen, dass die nämlichen Er-
scheinungen, durch die äusseren Einflüsse in ungleichem Maasse
unterstützt, dem entsprechend auch in ungleicher Quantität auftreten,
dass die nämlichen chemischen und Gestaltungsprocesse hier nur
Avährend kurzer Zeit und wenig intensiv, dort mit grösserer Energie
und während längerer Zeit anlialten. — Die von den äusseren Ur-
sachen bewirkten Veränderungen sind den Veränderungen vergleichbar,
welche elastische Körper innerhall) der Elasticitätsgrenze erleiden;
wenn die Spannungen noch so oft sich wiederholen oder noch so
lange andauern, lassen sie den Körper schliessli(-h doch unver-
ändert.
Sehen wir aus den mitgetheilten Thatsachen, dass Erscheinungen,
welche durch äussere Ursachen unmittelbar hervorgebracht werden,
nicht l)eständig sind, so gibt es eine andere Reihe von Erfahrungen,
welche uns zeigen, dass ungleiche äussere Ernährungseinflüsse nel)en
diesen unl)eständigen auch keine beständigen und oft überhaupt
keine Veränderungen bewirken. Es gibt Pflanzen, welche seit der
Eiszeit an verschiedenen Orten der Erdoberfläche und unter sehr ver-
schiedenen Verhältnissen gelebt haben und trotzdem ganz gleich sind,
woraus wir schliessen müssen, dass dieselben durch die Ernährungs-
einflüsse nicht verändert wurden. Es könnten hierfür viele Bei-
spiele angeführt werden ; ich will die beiden Alpenrosen unserer
Gebirge erwähnen, Aveil es l^ekanntere Pflanzen sind und weil sich
eine pflanzengeographische Theorie an sie knüpft.
Von den beiden Arten kommt die eine (Rhododendron ferru-
gineum) vorzugsweise auf Urgel)irgen und überhaupt auf kalkarmer
Unterlage, die andere (Rh. hirsutum) auf kalkreichem Boden vor.
Man hat die Verschiedenheiten von diesem ungleichen Vorkommen
abgeleitet, und es wäre daher denkbar, dass ein langer Aufenthalt
unter den einen oder anderen Verhältnissen eine Veränderung be-
wirken möclite. Nun lässt sich aber von der rostigen Alpenrose
nachweisen, dass sie seit der Eiszeit einerseits auf feuchter Granit-
und Gneisunterlage in der Nähe der Gletscher, ebenso auf kalk-
armem Boden an den oberitalienischen Seen unter Kastanienbäumen
und in der Nähe der Weinreben und Feigen, dann aber andrerseits
auch auf trockenen sonnigen Kalkfelsen in den Apenninen und auf
dem Jura gelebt hat. Trotz dieser langdauernden ungleichen Er-
nährung, welche, wie man meinen sollte, die emjjfindlichste Seite
III. Ursachen der Veränderung. 105
der Pflanze berührte, ist nicht die geringste Veränderung bemerkbar
geworden ^).
Man könnte aber rücksichtlich dieser Pflanzen sowie vieler
anderer den Einwurf erheben, dass diesell)en nicht im Zustande der
Veränderhchkeit sich Ijefindcn, vielleicht ül)erhaupt veränderungs-
unfähig geworden seien. Ich will daher, ol)gleich diese Theorie
nicht ohne weiteres annehml)ar ist, noch als Beispiel diejenige
Gattung anführen, welche unter allen Pflanzen die grösste Ver-
änderlichkeit der Formen zeigt. Einzelne Varietäten der Gattung
Habichtskraut (Hieracium) haben seit der Eiszeit in der alpinen
Region der Alpen, der Karpathen, des hohen Nordens, in der Ebene,
auf verschiedener geologischer Unterlage gew^ohnt und sind ganz
gleich geblieben, obgleich die von ihnen nach verschiedenen Seiten
ausgehenden gleitenden Uebergänge zu andern Formen auf eine
geringe Beständigkeit hindeuten möchten.
Eine besondere Kategorie von Beispielen, w^elche uns das näm-
liche Ergebniss liefern, finden wdr in den Schmarotzergewächsen.
Ausser einigen Arten von Orobanche und von parasitischen Pilzen
ist besonders die Mistel (Viscum) zu nennen, welche aus Gegenden,
wo sie von jeher auf Birken, und aus solchen, wo sie auf Apfel-
bäumen geleljt hat, ganz gleich aussieht; und w^enn die auf Coni-
feren vorkommenden Mistelpflanzen in geringen IVIerkmalen ab-
weichen, so ist es noch sehr fraglich, ob diese Merkmale nicht ]3eim
Verpflanzen auf Birken und auf Obstbäume sich sofort verlieren
und somit als nicht beständig erweisen würden.
Es ist überhaupt eine ganz allgemeine Erscheinung, dass
einerseits ganz die gleichen Varietäten auf verschiedenen Standorten
und unter sehr ungleichen äusseren Einflüssen, andrerseits zw^ei oder
mehrere noch so w^enig verschiedene Varietäten beisammen auf dem
gleichen Standort, also unter gleichen äusseren Umständen getroffen
werden. Daraus liegt der Schluss nahe, dass die unmittelbar wir-
kenden äusseren Ursachen in keiner Beziehung zu den beständigen
und erblichen Varietätsmerkmalen stehen, dass die Ernährungs-
ursachen diese Merkmale weder hervorbringen noch austilgen können.
Die viel selteneren Fälle, wo auf andern Localitäten andere Varietäten
auftreten, beweisen nichts, weil dieses Vorkommen durch die Con-
currenz und die gegenseitige Verdrängung geregelt wird.
*) Sitzungsber. d. k. bayr. Akad. d. Wiss. 18. Nov. 1865.
106 III- Ursachen der Veränderung.
Wir können die Frage noch von einem andern Gesichtspunkt
aus betrachten. Wenn die Ernälirungsursaclien, wie es so häufig
dargestellt wird, in benierkenswerther Weise auf die Organismen
einwirken, so muss sich nachweisen lassen, welche Wirkung einer
bestimmten Ursache /Aikommt; es müssen bei den Gewächsen ge-
wisse Merkmale einem warmen oder kalten, einem trockenen oder
feuchten Klima, einem kalkreichen oder kalkarmen, einem viel
oder wenig Kieselerde enthaltenden Boden entsprechen. Man hat
in der That solche Wirkungen finden wollen, man hat beispiels-
weise wollige und flockige Behaarungen aus trockenen warmen
Standorten, Mangel an Haaren sowie drüsige Behaarung aus feuchten
und schattigen Wohnplätzen abgeleitet. Das mag bei gewissen
Arten zutreffen, l)ei andern aber ist gerade das Gegentheil der Fall;
selbst die gleichen Arten verhalten sich in verschiedenen Gegenden
ungleich.
Mit den Formen der so veränderlichen Gattung Hieracium
könnte man sowohl die eben angeführte als auch die gegentheilige
Regel begründen. In Süddeutschland (München), um nur ein Bei-
spiel anzuführen, macht man vielfach die Beobachtung, dass von
den mit Hieracium silvaticum (murorum) verwandten Formen die
drüsigen Varietäten im Waldschatten, die drüsenlosen mit reich-
licheren Haaren und Flocken versehenen Varietäten dagegen an
trockenen sonnigen Abhängen wachsen. Die euganeischen Hügel
in der Nähe von Padua gehören zu den trockensten und heissesten
Localitäten, wo die betreffenden Hieracien noch wachsen können ;
ich habe dort nur Varietäten mit reichlichen Drüsen, ohne Haare
und mit wenig Flocken gefunden^).
So verhält es sich mit allen Eigenschaften, welche man den
äusseren Ursachen zuschreibt. Wenn man in dieser Beziehung eine
Entdeckung gemacht zu haben glaubt, so kann man sicher sein,
in anderen Fällen das Gegentheil zu finden. Man macht mit den
') Die Sclu'iilunji der verschiedenen Varielüten nach den Standorten in Süd-
deutschland rührt von der Concurrenz her, welche die gegenseitige Verdrängung
bewirkt. Wenn auf den euganeischen Bergen drüsenlose Varietäten vorkämen,
so hätten sie die drüsigen entweder ganz verdrängt oder auf einige feuchte und
schattige Stellen einges(;hränkt. — Eine Menge anderer Fälle zeigt in ganz gleicher
Weise , dass die Ernährungsursachen keine unnnttelbare Wirkung auf die Be-
haarung ausüben, wohl aber zuweilen dnrcli Vi'rdrängung Ijestininitor Formen
den Schein einer solchen Wirkung hervor])ringen.
III. Ursachen der Veränderung. 107
Einflüssen der Aussenwelt auf die Organismen die nämliche Er-
faln'ung wie mit den Wetterregeln; sobald man die Sache kritisch
und statistisch verfolgt, so ergeben sich ebenso viele Ausnahmen
als Bestätigungsfälle für jede Hegel.
Wenn die klimatischen und Ernährungsursachen auf die Ver-
änderung der Individuen und somit auf die Varietätenbildung Ein.
fluss hätten, so müsstcn die Pflanzen von bestimmten ausgezeichneten
Standorten einen übereinstimmenden Charakter rücksichtlich ihrer
\'^arietätsmerkmale zeigen, und es müssten die Floren eines ausge-
zeichneten Klimas in ihren Arten und Gattungen etwas Gemein-
sames in sich tragen. Das Pflanzenreich widerspricht in allen Be-
ziehungen einer solchen Voraussetzung.
Die Pflanzengeographen schildern zwar die Physiognomien der
verschiedenen Vegetationsgebiete. Al)er das Auffällige und Unter-
scheidende besteht nicht etwa in übereinstimmenden Merkmalen der
Gewächse, sondern in dem zufälligen Vorhandensein von grossen
baumartigen und massenhaft vertretenen kleineren Pflanzen. Der
Charakter einer Vegetation wird nicht dadurch bedingt, dass die
äusseren Verhältnisse den Pflanzen (abgesehen von den Standorts-
modificationen) einen besondern Charakter aufprägten, sondern da-
durch, dass die Vegetation von bestimmten vorweltlichen Floren
abstanmit, und ferner dadurch, dass die Concurrenz nur bestimmten
Pflanzen und zwar solchen von sehr verschiedenem Gepräge ein
genau bemessenes Vorkommen gestattet.
Schliessen wir aus allen den angeführten Beobachtungen nicht
mehr als sie wirklich beweisen, so stellt Folgendes fest. Alle uns
aus Erfahrung l)ekannten bedeutenden Veränderungen, welche die
äusseren (klimatischen und Ernährungs-) Einflüsse auf die Organismen
ausül)en, treten sogleich in ihrer ganzen Stärke auf; sie dauern
ferner nur solange als die Einwirkung währt, und gehen schliesslich
ganz verloren, indem sie nichts Bleibendes hinterlassen; dies ist
selbst dann der Fall, wenn die äusseren Einflüsse seit der Eiszeit
ununterbrochen in gleichem Sinne thätig waren. Von irgend einer
er])liclien Eigenschaft oder von irgend einer Sippe (Rasse, Varietät,
Species), welche den Ernährungsursachen ihr Entstehen verdankten,
wissen wir nichts.
Damit möchte ich indess nur die landläufigen unmotivirten
Meinungen, betreffend die unmittelbare und ersichtliche Wirkung
108 III- Ursachen der Veränderung.
von Nahrung und Klima, zurückweisen. Die Behauptung Hegt mir
ferne, dass die äusseren Ursachen für die Veränderung gleichgültig
seien und dass sie nicht in irgend einer Weise dabei eine Rolle
übernehmen.
Zunächst ist, nachdem wir uns die Frage gestellt haben, was
die Erfahrung über die Wirkung der äusseren Ursachen ergibt, die
Gegenfrage zu prüfen: Was wissen wir aus Erfahrung über die
Veränderung durch innere Ursachen? In dieser Beziehung muss
sogleich eingeräumt werden, dass Beobachtung und Versuch ebenso
wenig die Entstehung einer Sjjecies oder auch nur einer Varietät
aus inneren Ursachen darthun. An der organischen Welt lässt sich
ja seit der Eiszeit und sogar seit noch viel längerer Zeit eine be-
merkenswerthe Veränderung nicht darthun. Selbst manche Varietäten
sind nachweisbar in dieser ganzen Periode die nämlichen geblieben;
und w^enn sich, was nicht bezweifelt werden kann, Varietäten gebildet
haben, so lassen sich die Ursachen ihrer Entstehung auf emj^irischem
Wege nicht nachweisen.
Die dauernden und erblichen Eigenschaften, von deren Bildung
wir empirisch etwas wissen, gehören alle der individuellen Ver-
änderung im Culturzustande und der Rassenbildung an und hängen
meistens mit der Kreuzung zusannnen. Dieselben rühren sämmtlich,
soweit etwas Sicheres darüber bekannt ist, von inneren und nie von
äusseren Ursachen her; sie sind immer das Product der Vererbung
und stammen von den Eltern oder früheren Vorfahren her.
Wir erkennen dies bestimmt daraus, dass unter den gleichen
äusseren Umständen die Individuen sich ungleich verhalten, dass
auf dem nämlichen Gartenbeet von den Sämlingen einer Mutter-
pflanze die einen unverändert bleiben, die andern verschiedene Ver-
änderungen zeigen. Die Erdbeere mit einzähligen (statt dreizähligen)
Blättern erschien bei einer Aussaat im vorigen Jahrhundert unter
vielen anderen Sämlingen. Aus den zehn Kernen einer Birne erhielt
van Mons ebenso viele verschiedene Birnsorten. Die zahlreichen
Rassen der Nutz- und Zierpflanzen sind fast alle durch Aussaat und
zwar unter den nämlichen äusseren Einflüssen entstanden.
Besonders deutlich aber tritt die ausschliessliche Wirkung der
inneren Ursachen dann hervor, wenn an demselben Pflanzenstock
die Aeste sich ungleich verhalten. An einem Rosskastanienbamne
in. Ursaclien der Verilndenmg. IQJ)
in Genf trug ein Zweig gefüllte Blütlieu; von diesem Zweige stammen
durch Vermehrung vermittelst Pfro2)freisern die über Europa ver-
breiteten gefüllten Kastanienbäume. Im botanischen Garten in
München steht eine Buche mit schmalen geschlitzten ßLättern; ein
Ast derselben hat die gewöhnlichen breiten ungetheilten Blätter.
Es sind viele solcher Beispiele bekannt; manche Ziergewächse wurden
auf diese Weise gewonnen. Der Vorgang lässt sich nur so erklären,
dass die Zelle oder Zellgruppe, aus welcher der anders geartete Zweig
hervorgeht, durch innere Ursachen eigenthümlich modificirt wird.
Die Eigenschaften, welche dauernd sind und sich somit ver-
erben, sind in dem Idioplasma enthalten, w^elches sie von den Eltern
auf die Kinder überträgt. Eine Ursache, welche die Organismen
l)leibend verändert, muss das Idioplasma umbilden. Wie ohnmächtig
in dieser Beziehung die Ernährung, der wirksamste unter den äusseren
Einflüssen, gegenüber den inneren Ursachen ist, ergibt sich am
überzeugendsten aus den Erscheinungen bei der Fortpflanzung. Auf
den Gegensatz zwischen Vererbung und Ernährung habe ich schon
im Jahre 185G hingewiesen (»die Individualität in der Natur«), indem
ich sagte, dass nur die erste Keimanlage durch feste (organisirte)
Substanz der Eltern erzeugt werde, und dass dieselbe fortan gemäss
ihrer Organisation selbständig und ungestört durch die von der
Mutter empfangene, gelöste (nicht organisirte) Nahrung sich entwickle.
Bei den Menschen erben die Kinder im allgemeinen gleichviel
vom A^ater wie von der Mutter. Nach den uns zugänglichen Merk-
malen zu schliessen, scheinen sie bald von der einen, bald von
der andern Seite mehr empfangen zu halben, und sie gleichen in jedem
einzelnen Merkmal bald dem Vater, bald der Mutter. Da aber viele
Eigenschaften latent bleiben und die wesentliche Erbschaft in der
Beschaffenheit des Idioplasmas beruht, so ist eine ziemlich gleiche
Betheiligung von väterlicher und mütterlicher Seite im höchsten
Grade walirscheinlich. Um jedoch jeder Meinung zu genügen, so
wählen wir für unsere Betrachtung ein Kind, welches sowohl in der
Jugend als im Alter ganz besonders dem Vater ähnlich ist, und das
von der Mutter nur wenig bekommen zu haben scheint. Jedermann
wird in diesem Falle das väterliche Erbe dem mütterlichen mindestens
gleich gross, wenn nicht überlegen erachten. An die Substanz aber,
aus welcher dieses Kind bei der Geburt oder, wenn es von der
Mutter gestillt wird, einige Zeit nach der Geburt besteht, hat der
110 in. Ursachen der Veränderung.
Vater nur etwa den hundertbillionstcn Theil, die Mutter alles Uebrige
geliefert.
Wenn irgend ein Factum Aufscbluss ül)er das Verbältniss der
inneren Ursachen zur Ernälirung zu geben vermag, so ist es dieses.
Hätte die Erncälirung einen bemerkbaren Einfluss, so müsste sie ihn
hier bethätigen; sie müsste sich am wirksamsten in den ersten
Stadien des individuellen Lebens erweisen, in welchen sich das
Idioplasma stark vermehrt und in welchen sich die in ihm ent-
haltenen Anlagen entfalten. Wenn die Mutter aus ihrer eigenen
Substanz den Keim auf das Hundertbillionenfache vermehren kann,
ohne dem Kind dadurch das geringste Plus von ihren Eigen-
schaften mitzuth eilen, wie soll dann die Ernährung späterhin, wenn
der Organismus aus dem bildsamen Jugendzustand in den gefestigten
erwachsenen Zustand übergegangen ist, noch irgend welche erheb-
liche Wirkung vollbringen können?
Wir dürfen daher mit grösster Gewissheit behaupten, dass die
Ernährung, vorausgesetzt dass sie ausreichend ist, in jedem Zustande
ziemlich indifferent sich verhält, dass der Vegetarianer bezüglich
aller dauernden Eigenschaften ebenso gesichert ist, wie derjenige,
der sich ausschliesslich von Fleisch nährt, und dass auch die
Meinung von der vererbenden Wirkung der Ammenmilch nicht
mehr ist als ein Ammenmährchen.
Die nämliche Schlussfolgerung, wie für den Menschen, gilt für
die geschlechtliche Fortpflanzung aller Organismen. Die Mutter
übernimmt die ausschliessliche Ernährung in den ersten Lebens-
stadien entweder unmittelbar, wie bei den Säugethieren und den
Embryopflanzen (Phanerogamen), oder mittelbar, indem sie den Keim
mit Reservenahrung ausstattet, wie bei den eierlegenden Thieren und
den Sporenpflanzen. Der aus dem Ei ausschlüj^f ende Vogel ist seiner
Substanz nach ebensowohl ein Erzeugniss der Mutter, wie das
lel)endig geborene Kalb. Gleichwohl zeigt sich, wenn ausgeprägte
individuolle Merkmale bei Thieren und Pflanzen vorhanden sind
(wie z. B. ungleiche Farbe oder in einzelnen Fällen auch ungleiche
Behaarung), die väterliche und mütterliche Erbschaft als Durch-
schnittsergebniss ziemlich gleichgross.
Besonders deutlich tritt die Regel der gleichen Vererlmng bei
der Kreuzung verschiedener Sippen (Rassen, Varietäten, Arten) her-
vor. Und gerade hier sollte man, wemi die Ernäbrung gegenüber
m. Ursachen der Veränderung. 1 [ 1
den inneren Ursachen etwas vermöchte, einen überwiegenden Ein-
fluss der Mutter erwarten, weil bei der Kreuzung zwei verschieden
geartete IdiojDlasmen zusammentreten, weil in Folge des daraus her-
vorgehenden Conflictes das vereinigte Idioj)lasma für anderweitige
Einflüsse empfänglicher sein muss, und w^eil es wohl begreiflich
wäre, dass die mütterliche Ernährung ihrem eigenen Idioplasma
den Vorrang sicherte. In der That beweisen ja alle Erfahrmigen,
dass durch die Kreuzung die Variabilität in den folgenden Gene-
rationen gesteigert wird; aber von einem Ueberwiegen der mütter-
lichen Erbschaft in früheren oder späteren Generationen tritt nirgends
die geringste Spur hervor.
Die Vererbung bei der geschlechtlichen Fortpflanzung lässt nur
die eine Erklärung zu, dass die Anlagen bloss durch feste (unlös-
liche), nicht durch gelöste Stoffe übertragen w^erden. Bei dem
Befruchtungsact vereinigt sich das väterliche mit dem mütterlichen
Idioplasma zur idioplasmatischen Anlage des Kindes, wobei die
beiderseitigen Antheile quantitativ wohl ziemlich gleich sein und
der Ueberschuss der mütterHcherseits gelieferten Substanz aus in-
differentem Ernährungsplasma bestehen dürfte. Alles, W'as von diesem
Augenblicke an die Mutter zur Ernährung der Keimanlage und des
Embr^'os beiträgt, tritt in gelöster Form in dieselben ein.
Dass aber die gelösten Stoffe sich indifferent verhalten und dass
sie nicht Träger von bestimmten Eigenschaften sein können, geht
nothwendig aus dem Umstände hervor, dass das Idioplasma seine
Eigenschaften der Anordnung fester Theilchen verdankt und dass
die eintretenden gelösten Substanzen sich unter dem Einfluss der
bereits vorhandenen festen Theilchen einordnen. Es ist daher für
die eigenartige Entwicklung vollkommen gleichgültig, woher das
Eiweiss, durch welches das Kind wächst, stamme, ob von der Mutter,
von der Amme, von der Kuhmilch oder vom Kindermehl, wiewohl
diese Nahrungsmittel wegen ihrer Mischung mehr oder weniger zu-
träglich sein können. Wir begreifen daher auch , warum die ver-
schiedenartige Ernährung keinen Einfluss auf die individuelle Ver-
änderung und die Sippen! )ildung ausübt, warum das Pfropfreis auf
seiner Unterlage fast immer unverändert bleibt, und warum der
Schmarotzer nichts von seinem Ernährer annimmt. Wir kömien
andrerseits den Schluss ziehen, dass l)ei der Befruchtung immer
(ungelöste) Idioplasmen sich vereinigen und dass der befruchtende
112 ITI. Ursachen der Veränderung.
Stoff niemals in der indifferenten Form der Lösung (wie so oi't für
die plianerogamisclien Pflanzen angenommen wurde) eindringen kann.
Wenn ich l)is jetzt von inneren Ursachen gesprochen hahe, so
war es in der Meiiunig , dass etwas Inneres vorlianden sei , olnie
welches eine bestimmte Veränderung nicht erfolgen würde. Auch
die Darwin'sche Schule spricht, wohl in gleichem Sinne, hin und
wieder von inneren Ursachen. Ein Gegner der Abstannnungslehre
entgegnete hierauf, die inneren Ursachen seien logisch erschlichen.
Ich will zunächst nicht im Namen der Logik, sondern mit einem
Beispiel antworten und an dasselbe die weiteren Bemerkungen über
die Wirkung der inneren Ursachen anknüpfen.
Der Inhalt des Hühnereis verwandelt sich im Brütkasten inner-
halb <lrei Wochen in ein Küchlein. Was ist die Ursache dieser
Veränderung? Gewiss nicht die Wärme, obgleich dieselbe eine
nothwendige Bedingung ist, wie jeder chemische Process nur inner-
halb gewisser Temperaturgrenzen stattfindet. Ein paar Grade mehr
oder weniger als Brütwärme würden die Entwicklung des Keims
verhindern; der Inhalt des zerschlagenen Eies aber würde bei Brüt-
wärme in Fäulniss übergehen und bei höherer Temj^eratur im besten
Fall zum Eierkuchen werden. Ob während der Brützeit von dem
Ei etwas Wärme aufgenommen oder abgegeben ward, ist für die
Beurtheilung der Ursachen gleichgültig. Das Küchlein, das bereit
ist, aus der Schale auszuschlüpfen, wird nahezu die nämliche Ver-
brennungswärme geben wie der Inhalt des unbebrüteten Eies; eine
nennenswerthe Vermehrung oder Verminderung der Kraftsumme
hat während der Entwicklung nicht stattgefunden.
Niemand wird bestreiten wollen, dass im Ei der ganze Um-
wandlungsprocess durch innere Ursachen erfolgt. Derselbe beginnt,
wenn die Brütwärme die Keimanlage erreicht, und dann folgen die
Entwicklungsstadien regelmässig auf einander, indem jedes mit
mechanischer Nothwendigkeit aus dem nächst früheren hervorgeht.
Wenn aber innerhalb der Eischale durch innere Ursachen aus einem
Plasmatröpfchcn sich ein Vogel entwickeln kann, warum sollten
nicht in ganz analogen Entwicklungsprocessen innere Ursachen
aus einem Urplasmatröpfchen durch eine Reihe von Organismen
ebenfalls ein organisirtes Wesen zu Stande bringen können?
in. Ursachen der Veränderung. 113
Allerdings besteht ein Unterschied zmschen beiden Fällen ; das
Plasmatröpfchen des Eies stammt von einem Vogel und enthält alle
dauernden Eigenschaften desselben als Anlagen; das Urplasma-
tröpfehen dagegen besitzt noch gar keine Anlagen, sondern nur die
Fähigkeit, solche zu erlangen. Dieser Unterschied macht aber für
die Logik oder vielmehr für die Mechanik, welche hier im Spiele
ist, nichts aus. Das Hauptgewicht beruht darin, dass in der Keim-
anlage eine eigenthümliche Beschaffenheit der Substanz gegeben ist,
welche durch Einlagerung neuer Substanz wächst und sich dabei
verändert, und dass eine Veränderung die andere mit Nothwendigkeit
ablöst, bis der Vogel fertig ist. In dem Urplasmatröpfchen des ersten
Wesens ist ebenfalls eine bestimmte, nur ^'iel einfachere Beschaffen-
heit der Substanz vorhanden, welche dadurch, dass sie sich verändert,
fernere Veränderungen bedingt und somit nothwendig zum Ausgangs-
punkt einer ganzen Reihe von verschiedenen Organisationen wird.
Um ein Bild zu gebrauchen, so ist die letztgenannte oder die
phylogenetische Veränderungsbewegung in einer Abstammungslinie
zu vergleichen der Fortpflanzung eines Lichtstrahles, während die
ontogenetischen Veränderungsbewegungen der Individuen den Schwin-
gungen der einzelnen Aethertheilchen entsj^rechen. Der Unterschied
ist der, dass der Lichtstrahl auf seinem Wege und ebenso seine
Elemente , die Aetherscll^\'ingungen , die nämlichen bleiben , dass
dagegen die phylogenetische Bewegung in einer steten Veränderung
nach einem bestimmten Ziele besteht, und dass in entsprechendem
Maasse auch die Träger derselben, die Individuen, sich verändern.
Wenn der Anhänger der unveränderlichen Arten die Veränderung
in jeder Organisationsstufe auf einen bestimmten Kreis beschränkt,
so ist dies eine Glaubenssache und w^enig übereinstimmend mit der
Logik. Denn wenn einmal Veränderung innerhalb der Species be-
steht (was unbestritten ist), so kann nach mechanischen Principien,
wenn der Zustand a den Zustand h hervorbrachte, der Zustand h
nicht abermals den Zustand b oder gar a hervorbringen, sondern
nur einen folgenden Zustand der Reihe, also (", und so weiter ins
Unendhche. Es muss daher von dem Idioplasma eines Organismus
zu dem seines Kindes ein gewisser Fortschritt stattfinden; es kann
die individuelle Entwicklung mit dem Keim, den sie bildet, nicht
genau auf den nämlichen Punkt zurückkehren, von dem sie selber
ausgegangen ist. Würde dies einmal geschehen, so müsste gemäss
Y. Nägeli, Abstammungslehre. 8
114 m. Ursachen der Veränderung.
dem Trägheitsgesetze die Entwicklungsbewegung immer w^ieder auf
denselben Punkt zurückgehen, und eine Veränderung wäre auch
innerhalb der Species unmöglich.
Im Ei bildet sich der Embryo aus, indem er die umgebende
Masse aufnimmt und assimilirt. Diese liefert ihm Stoff und Kraft,
aber das eigentliche Agens, welches die Bewegung veranlasst und
ihr die specifische Richtung ertheilt, ist die Keimanlage in ihren
aufeinanderfolgenden Zuständen. Ebenso verhält es sich mit dem
pflanzlichen und thierischen Embryo, der sich im Mutterleib ent-
wickelt, und mit dem einzelligen Pflanzenkeim, der auf feuchter
Erde keimt und wächst, nur dass ersterer die Lebensbedingungen
aus der Mutter, letzterer aus der unorganischen Natur bezieht.
Bei allen Organisationsveränderungen ist das Idioplasma das
Maassgebende, während ihm die äusseren Einflüsse, besonders in der
Nahrung, den Stoff und die Kraft liefern. Die Wirkung des Idio-
plasmas wird nicht verändert, mag die Nahrung sammt den übrigen
Umständen so oder anders beschaffen sein, wie eine Maschine immer
die gleiche Arbeit verrichtet, ob sie durch Wasser, Wind oder Dampf,
durch ein fallendes Gewicht, eine gespannte Feder oder durch
thierische Kraft in Bewegung gesetzt wird. Das Idioplasma lenkt
die complicirte Entwicklungsmaschine; es ist zugleich ihr kunstvoll
construirtes Räderwerk.
Das Charakteristische in der Entwicklung der Organismen tritt
uns noch deutlicher entgegen, wenn wir sie mit dem Wachsthum
des Krystalls vergleichen. Der letztere vergrössert sich in der Mutter-
lauge nach den seiner Substanz eigenthümlichen Krystalüsations-
gesetzen (vgl. S. 94); die bereits im festen Zustande angelagerten
kleinsten Theilchen ziehen die gleichartigen Moleküle der Lösung
an und veranlassen deren Anlagerung übcreinstinnnend mit der
bereits bestehenden Ordnung. In analoger Weise wird durch die
bereits voi-haiKlene Anordnung der Idioplasmamicelle die eigenartige
iMidagcrung der aus der Nährflüssigkeit sich neubildenden Micelle
bedingt. Der Unterschied ist nur der, dass beim Krystall wegen
dessen Undurchdringlichkeit die Moleküle an der Oberfläche sich
anlagern , in dem von der Nährflüssigkeit durchdrungenen Idio-
plasma aber die Moleküle theils zur Vergrösserung der schon vor-
handenen, besonders aber zur Bildung von neuen Micellen verwendet
werden, welche zwischen jene sich einordnen.
in. Ursachen der Veränderung. 115
Bei einer Anlagerung der Moleküle auf der Oberfläche des
Krystalls ist eine vollkommen gleichbleibende Stellung derselben
möglich und nothwendig ; bei einer Einlagerung von Micellen oder
krj^stallinischen Molekülgruppen aber, die ihrer Natur nach, wie die
verschiedenen Kry.stalle in der ncämlichen Mutterlauge, ungleich gross
und ungleich gestaltet und ül)ordem auch chemisch ungleich be-
schaffen sind , ist die Beibehaltung einer vollkommen gleichen An-
ordnung umnüglich, und es muss daher sowohl bei der Entwicklung
des Individuums als bei der Entwicklung der Stämme das sich ver-
mehrende Idioplasma, wenn auch noch so wenig, doch stetig seine
Beschaffenheit verändern.
Beim Wachsthmii des Krystalls besteht die Beharrung darin,
dass die neu angelagerte Substanz vollkommen die nämliche Be-
schaffenheit hat wie die schon vorhandene, indem die letzten
Schichten an der Oberfläche genau den ersten Schichten im Innern
entsprechen. Die Ursache davon ist die strenge Regelmässigkeit in
der Anordnung der kleinsten Theilchen (Moleküle), w^elche eine gleiche
strenge Regelmässigkeit in den neu sich ansetzenden Schichten be-
dingi. Beim Wachsthum des Idioplasmas besteht die Beharrung
in einer steten A'eränderung. Die Bedingung dafür, dass auch liier
die wachsende Substanz die gleichen Eigenschaften behielte, wäre
eine vollkommen regelmässige Anordnung der kleinsten Theilchen
(Micelle), in welcher die neuen Micelle mit gleicher Regelmässigkeit
sich einordnen könnten ; imd diese regelmässige Anordnung wäre
nur dadurch zu erfüllen, dass die Micelle unter sich gleiche Grösse,
Gestalt und chemische Beschaffenheit liätten, dass sie wie die Mole-
küle eines Krj^stalls nach drei Richtungen des Raumes in parallelen
Schichten gelagert w^ären und dass die Einlagerung der neuen Micelle
auf allen Punkten in gleicher Weise erfolgte. Thatsächlich ist diese
Bedingung nirgends erfüllt, mit Ausschluss der Proteinkrystiilloide,
die aber nicht zum Idioplasma gehören.
Das Plasma, aus dem sich die Zellen gestalten und die Orga-
nismen hervorgehen , besteht aus ungleichartigen und nicht geo-
metrisch zusammengeordneten Micellen. Da die Einlagerung der
neuen Micelle zwischen die schon vorhandenen durch die Natur
und Anordnung der letzteren bedingt wird, so kann aus einer nicht
geometrischen Configm^ation bloss wieder eine nicht geometrische
aber ungleiche Configuration liervorgehcn, auf welche abermal.'^ eine
WQ in. Ursachen der Veränderung.
andere Znsammenordnung folgen mnss. Während also die mecha-
nische Beharrung beim Wachsthum des Krystalls das Ausbleiben
einer Veränderung bedingt, so verursacht sie beim Wachsthum des
Idioplasmas dessen stete Veränderung.
Die Lagerung der Micelle in dem durch Urzeugung entstandenen
primordialen Plasma ist ganz ungeordnet, wie dieselben eben durch die
äusseren Umstände zufällig zusammenkamen. Mit doni Wachsthum
durch Einlagerung von Micellen beginnt die Veränderung durch
innere Ursachen. Die Micelle ordnen sich in Grui^pen, deren Con-
figuration mehr und mehr durch ihre eigene Natur bedingt ist und
die nothwendig zu immer grösseren, aus zahlreicheren und mannig-
faltiger geordneten Schaaren bestehenden Micellgruppen führen
müssen. Dies ist die Vervollkommnung oder die Steigerung der
Zusammensetzung im Idioplasma durch innere Ursachen.
Verschiedene äussere Verhältnisse haben Einfluss auf die Grösse,
Gestalt und die Verwachsungen der Kry stalle, indess das Wesent-
liche, die eigenartige Anordnung der kleinsten Theilchen, immer die-
selbe bleibt bei der nämlichen Substanz. Ebenso muss das eigen-
thümliche Verhalten des Idioj^lasmas in gewissen wesentlichen
Eigenschaften , nämlich in den Grundzügen der Organisation von
seiner eigenen Beschaffenheit vorgezeichnet sein , während sie in
andern Beziehungen durch die äusseren Ursachen modificiert wird.
Ich werde nachher von der Wirkung der letzteren sprechen.
Wie aus dem Vorstehenden sich ergibt, sind die inneren Ur-
sachen,'welche die stete Veränderung des Idioplasmas und zwar im
Sinne einer mannigfaltigeren Gliederung desselben und dem ent-
sprechend auch die stete Veränderung der Organismen im Sinne
einer zusammengesetzteren Organisation und Function l)edingen,
nichts anderes als die der Substanz anliaftenden Molecularkräfte.
Diese inneren Ursachen, die von den Anhängern der Abstammungs-
lehre im Sinne Darwin's und auch von den Gegnern derselben
als unlogisch und als mystisch missachtet und verspottet wurden,
beruhen auf jenen unscheinbaren aber unwiderstehlichen Wirkungen
der kleinsten Theilchen, welche von der morphologischen und der
naturphiloso])hischen Anschauung in Descendenzsachen zwar im All-
gemeinen als dunkles M3\sterium anerkannt, sonst al)er von ihr so
m. Ursachen der Veränderung. 1 [ 7
gilt wie für nichts gehalten werden, und die gleichwohl in so sicht-
barer und fühlbarer Weise die Welt regieren.
Wir können uns die Wirkungen der inneren Ursachen am
besten deutlich machen, wenn wir für einen Augenblick annehmen,
dass die äusseren Ursachen, welche erbliche Veränderungen be-
dingen, gar nicht existiren. Dann würde das spontan entstandene
Plasma bloss in indifferenter Weise ernährt, indem die Aussenwelt
ihm nur die chemischen Verbindungen lieferte, aus denen es die
neuen Eiweissmicelle für sein Wachsthum erzeugte.
Unter dieser Voraussetzung geht, sowie auf der unorganischen
Unterlage sich etwas primordiales Plasma gebildet hat, die Bildung
der Micelle im Innern desselben unter dem Einfluss seiner Molecular-
kräfte leichter von Statten als ausserhalb. Es hört daher die Sub-
stanzbildung in der nächsten Umgebung der bereits vorhandenen
Massen ganz auf, indem die eindringende Nährlösung schon bei
einer geringeren Concentration Eiweiss bildet, als sie es ohne den
Einfluss der Micelle ausserhalb zu thun vermag.
Ferner, da die ursprüngliche Lagerung der Micelle in der spontan
entstehenden Substanz ungeordnet ist, und da die von nun an im
Innern der Substanz sich bildenden Micelle sich so einlagern , wie
es die Molecularkräfte der vorhandenen Micelle verlangen, so ändert
sich nothwendig die Anordnung, und die veränderte Anordnung
bedingt auch wieder eine Veränderung der Molecularkräfte, welche
eine abermalige Modification in der Anlagerung verursachen u. s. f.
So erzeugt in nicht endender Folge die neue Configuration der
Theilchen neue Combinationen von Kräften, und die neuen Kräfte-
Combinationen wdeder eine neue Configuration der Theilchen. — Aber
nicht nur die Zusammenordnung der Micelle wird stetig geändert,
sondern auch ihre Beschaffenheit. Denn die unter dem Einfluss
anderer Molecularkräfte sich bildenden Micelle müssen nothwendie:
in den Mengenverhältnissen und in der Lagerung ihrer Bestandtheile
(Ei Weissmoleküle und fremdartige organische und unorganische \^er-
bindungen) und somit auch in ihrer Grösse und Gestalt etwas anders
ausfallen.
Dies Alles müsste erfolgen, auch wenn die äusseren Einwirkungen
keine dauernden und erblichen Veränderungen liervorbrächten. Die
wachsende organische Substanz, in der fortwährend die veränderte
\\'irkung zur Ursache einer neuen Wirkung wird , stellt also nicht
118 III. Ursachen der Veränderung.
bloss ein perpetiium mobile dar, insofern der Substanz ohne
Ende Kraft und Stoff von aussen geboten wird, sondern auch durch
innere Ursachen ein j^eri^etuum variabile. Durch die inneren
Ursachen verändert sich die Substanz der Abkömmlinge der Ur-
wesen beständig, auch wenn die Generationenreihe eine unendliche
Dauer erreichte.
Diese Behauptung steht nun im Widerspruch mit den herr-
schenden Ansicliten. Gewöhnlich wird gelehrt, dass ein Organismus
bloss unter dem Einfluss von äusseren Ursachen sich verändern
könne, und Avcnn innere Ursachen angenommen oder zugegeben
werden, so denkt man sich unter denselben lediglich latente Anlagen,
die zur Entfaltung gelangen, also gleichsam Spannungen, die in
Bewegung übergehen, welche aber früher durch äussere Ursachen
erzeugt wurden. Damit meint man wohl ein eminent meclianisches
Princip ausgesprochen zu haben.
Es ist aber durchaus keine Forderung der Mechanik, dass ein
System von Stoffen und Kräften niu- durch äussere Einwirkung ver-
ändert werde, ^'^ielmehr kann sich die Configuration eines materiellen
Systems im allgemeinen stets durch die Wirkung seiner Theile auf
einander umwandeln, und bloss die Lage des ganzen Systems oder
mit anderen Worten die Lage seines Massencentrums vermag nicht
durch innere Kräfte verschoben zu werden.
Unter den in der Natur stattfindenden Processen gibt es einerseits
solche, welche in irgend einer Weise kreisförmig verlaufen, so dass
das materielle System schliesslich wieder in seinen Anfangszustand
zurückkehrt, und andrerseits solche, welche die Natur mit Vorliebe
in einer bestimmten Richtung erfolgen lässt und Ijei denen ein
Körper sich nicht in den Anfangszustand zurückvervvandeln kann,
indem, wenn wir die begünstigte Richtung als positiv bezeichnen,
die positiven Schritte der Veränderung entweder grösser oder häufiger
sind, als die negativen. Im ersten Falle bleibt ein materielles S3^stem
während unbestimmter Zeit im allgemeinen gleich ; im zweiten Falle
verwandelt es sich stetig in der nämlichen Weise und sein Ver-
wandlungsinhalt nimmt immer mehr zu.
Im grossen und ganzen ist die Tendenz zu einer bestimmten
Veränderung als zweites Gesetz der mechanischen Wärmetheorie oder
als Gesetz der Entropie von Clausius begründet worden. Das
unserer Erfahrung zugängliche Weltall wandelt sich unaufhörlich
III. Ursachen der Veränderung. 119
in dorn nämlichen Sinne um und strebt, während es strenge dem
Gesetz von der Constanz der Energie unterworfen bleibt ^ einem
Maximum der Entropie zu.
Bei der Entwicklung der organischen Reiche herrschen eljenfalls
die beiden Gesetze der Energie und der Entropie. Die Constanz der
Energie regelt die Beziehungen der Organismen zur Aussenwelt, das
Gesetz der Entropie weist der phylogenetischen Entwicklung eine
bestimmte Richtung an. Die spontane Entstehung der allereinfachsten
Wesen aus den Eiweissverbindungen und ihr Fortschritt zu etwas
weniger einfachen Wesen zeigt uns, dass unter gewissen Bedingungen
die Albuminate die Neigung haben, aus dem ungeordneten Zustand in
den einfacher geordneten und aus diesem in complicirtere Zustände
überzugehen. Es vermehrt sich also in den Abstammungsreihen
der Organismen der Verwandlungsinhalt oder die Entropie. Der
Umstand, dass die Organismen von aussen Kraft und Stoff auf-
nehmen, gehört zu den Bedingungen der Erhaltung der Energie und
ändert nichts an der Bedeutung der entropisclien Bewegung. Der
andere Umstand, dass auch äussere Ursachen als ein zweites Moment
auf die Verwandlung der Organismen einwirken, beeinträchtigt eben-
sowenig jene Bedeutung, indem [es bloss den Verwandlungsinhalt
in den einzelnen Abstammungsreihen modificirt und ihm ein ge^dsses
Gepräge aufdrückt.
Das Gesetz der Entropie bewährt sich im Weltall und im orga-
nischen ^likrokosmus in der nämlichen Weise. Während die Energie
constant bleibt, verändert sich die Anordnung der materiellen Tlieil-
chen und die Form ihrer Bewegungen stetig nach einem bestimmten
Ziele hin. Es besteht zwischen den beiden mit einander verglichenen
Systemen nur der Unterschied, dass das unserer Erfahrung ])ekannte
Weltall als abgeschlossen gedacht wird, die phylogenetischen Reihen
aber in ihren Ontogenien mit der Aussenwelt in einem ununter-
brochenen Kraft- und Stoffwechsel stehen und im allgemeinen eben-
soviel von aussen aufnehmen als sie nach aussen abgeben.
Fragen mr uns nun, worin denn eigentlich die entropische
^^eränderung in den Abstammungsreihen bestehe, so können wir
uns mit Hilfe der Thatsachen, welche uns die Morphologie und
Physiologie der organisirten Substanzen darl )ictct, folgende Vorstellung
davon machen. — Das aus der unorganischen Unterlage hervor-
120 in. Ursachen der Veränderung.
gehende primordiale Plasma ist homogen und seine Micelle sind
durchaus ungeordnet, also nach allen möglichen Richtungen orientirt.
Die Einlagerung der neuen Micelle nuiss , da dieselbe durch die
Molecularkräfte bedingt wird und diese Kräfte an den verschiedenen
Punkten ungleich combinirt sind, auch an den verschiedenen Punkten
einen ungleichen Charakter annehmen.
An den einen Stellen nämlich stimmen die sich einlagernden
Micelle in ihrer Orientirung mehr oder weniger überein; an den
dazwischenliegenden Stellen dagegen behalten sie ihre ungeordnete
und widersprechende Orientirung. Jene Stellen sind nothwendig die
dichteren , diese die wasserreicheren ; denn die ül)ereinstimmende
Lagerung der Micelle gestattet eine stärkere Wirkung ihrer Molecular-
anziehungen und verursacht daher ein engeres Aneinanderschliessen.
Dieser Gegensatz von dichteren und weicheren Partien tritt um so
entschiedener auf, als die ursprünglichen Plasmamassen sicher schon,
gleich ihren späteren Nachkommen, den einzelligen Pflanzen, die
Neigung haben, Wasser aufzunehmen, welches sich in den Partien
mit den ungeordneten Micellen ansammelt.
Es ist ferner eine mechanische Noth wendigkeit , class die dich-
teren oder die wasserreicheren Stellen oder beide unter einander
zusammenhängen und eine netzartige Anordnung annehmen. Wir
sehen daher ähnliche netzartige Anordnungen immer entstehen, wenn
eine micellöse Substanz wächst. Das anfänglich liomogene Plasma
in der Zellhöhlung und in den Zellkernen wird schaumig und netz-
artig; ebenso gewähren die Schichten der Zellmembranen, von der
Fläche betrachtet, bei hinreichend starker Vergrösserung ein netz-
artiges Aussehen ; und auf eine noch feinere und daher unsichtbare
netzartige Structur müssen wir auch in den Schichten der Stärke-
körner schliessen.
Das primordiale Plasma würde schon in seinen nächsten Ab-
kömmlingen, wenn man es hinreichend vergrössert ansehen könnte,
einen netzartigen Bau zeigen, bestehend aus einem Balkenwerk von
dichterer Masse und einer dazwischen liegenden wasserreichen halb-
flüssigen Substanz. Jenes ist das Idio])lasma, diese das Ernährungs-
plasma. Das erste Auftreten des Idioplasmas zeigt also im allgemeinen
die nämliclie Anordnung, die ich aus den Eigenschaften, welclie man
demselben nach seiner Function höchst wahrscheinlich zuschreiben
iiiuss, für die Organismen überhaupt abgeleitet habe (S. 41). Aber
III. Ursachen der Veränderung. 121
wenn aucli die beiden Anordnungen sich änsserlieli gieiclien, so
können sie doch einen verschiedenen Charakter haben, und wir
dürfen die spätere nicht ohne weiteres als aus der ersteren folgend
betrachten.
Für die Beurtheilung des Vorganges, wie das primordiale hlio-
plasma des probialen Reiches sich in dasjenige der Pflanzen und
Thiere umwandelt, stehen uns keine entscheidenden Analomen zu
Gebote. Alle organisirten Substanzen, deren Entwicklungsgescliichte
wir beobachten können, gehören den Ontogenien an und gehen mit
den Individuen zu Grunde. Sie sind immer Neubildungen und von
verhältnissmässig sehr kurzer Dauer. Das Idioplasma ist der einzige
Körper, der durch alle Ontogenien sich fortsetzt und eine unbegrenzte
Dauer hat ; denn das Idioplasma des letzten und höchst entwickelten
Organismus ist das stetig fortgewachsene Idioplasma des ersten
probialen Wesens. Kein organischer Elementarkörper gibt uns also
in seinem Verhalten ein Vorbild dafür, wie die phylogenetische
Ausbildung des Idioplasmas erfolgen muss ; er kann uns aber eben-
sowenig irgend eine Annahme verbieten. Die Lösung dieser Frage
wird immer nur auf theoretischem Wege möglich sein. Bei der
noch so mangelhaften Kenntniss der Molecularkräfte lassen sich
vorerst nur einige allgemeine Gesichtspunkte feststellen.
Die übereinstimmende Orientirung der Idioplasmamicelle und
mit ihr die Dichtigkeit des Idioplasmas nimmt, wie sie begonnen
hat, nach und nach zu l)is zu einem Maximum. In gleichem Maasse
vermindert sich das Wachsthum durch Einlagerung. Es ist nämlich
eine aus der Natur der Micellarstructur nothwendig sich ergebende
Folge, dass unter übrigens gleichen Umständen neue Micelle um so
schwieriger zwischen den schon vorhandenen sich bilden, je gedrängter
diese beisammen liegen. Daher muss das Ernährungsplasma von
Anfang an stärker wachsen als das dichtere und geordnetere Idio-
plasma, und die Ungleichheit im Wachsthum muss mit der Ausbildung
des letzteren sich steigern. Durch das stärkere Wachsthum des
Ernährungsplasmas wird aber Druck und Zug auf das netzförmige
Idioplasma ausgeübt. Diese mechanische Action muss dazu bei-
tragen, dass die Balken des Netzes stärker in die Länge wachsen
als in die Dicke , und dass , wenn das Maximum der Dichtigkeit
erreicht ist, die IVIicelleinlagerung fast ausschUesslich für das Längen-
wachsthum derselben verwendet wird.
122 III- Ursachen der Veränderung.
Wir könnten also ohne Anstand annehmen, dass das ontogene-
tische Wachsthum des Idioplasmas lediglich durch die mechanische
Einwirkung der Substanzzunahme bei der individuellen Entwicklung
erfolge und daher mit der letzteren gleichen Schritt halte. Damit
wäre das erforderliche Maass des idioplasmatischen Wachsthums in
genauester Weise erfüllt. Gleichwohl ist es möglich, dass die mecha-
nische Action nur einen gewissen Anstoss gibt und in dieser indirecten
Weise das Maass bestimmt, dass es aber im wesentlichen innere
Krcäfte sind, welche das oiitogenetische Wachsthum des Idioj)lasmas
bedingen. Der Gegensatz zwischen dem fast ausschliesslichen onto-
genetischen Längenwachsthum und dem fast verscli^\dndend geringen
phylogenetischen Dickenwach sthum hängt dann ohne Zw^eifel mit
dem Umstand zusammen, dass in der Querrichtung die Micelle fest
zusammenschliessen, während sie in der Längsrichtung durch grössere
wassergefüllte Zwischenräume getrennt sind. Wir beobachten auch
bei anderen ontogenetischen Erscheinungen zuweilen ein über^^'iegendes
und bestimmt bemessenes oder selbst ein ausschliessliches Wachs-
thum in einer gewissen Richtung. So besitzen beispielsw^eise manche
Zellmembranen Ijloss plächenwachsthum durch Micelleinlagerung
(ohne Dickenwachsthum), einige selbst (z. B. Spirog}T:a) bloss Längen-
wachsthum (ohne Breiten- und Dickenwachsthum). Auch bei diesen
Zellmembranen ist mechanische Einwirkung durch den Druck der
Zellflüssigkeit mit im S2:>iele; aber sie ist nicht allein maassgebend,
wie sich aus dem Umstände ergibt, dass das Wachsthum in den
beiden Richtungen der Fläche ein ungleiches Maass einhält, und in
der einen zuweilen ganz mangelt. Das Dickenwachsthum der Zell-
mem])ranen aber ist, ähnlich wie dasjenige der Idioplasmastränge,
eine von der mechanischen Action und von dem Flächen wachsthum
unabhängige Erscheinung.
Es wäre niclit unmöglich, dass das Netz , als welches sich das
Idiojdasma ursprünglich ausscheidet, unmittelbar zu dem spätem
Netz von Idioplasmasträngen sich ausl)ildete. Wahrscheinlicher ist
es, dass die Entwicklungsgeschichte vorher durch analoge Zwischen-
l)ilduiigen hindurchgeht. Im ersten Stadium mag nämlich das Idio-
plasma noch wenig dichter als das Ernährungsplasma sein und
selbständig in allen Richtungen wachsen. Dann muss die Sul)stanz
seiner Balken selber netzartig werden , da die Einlagerung nicht
überall gleichmässig geschieht, und diesem secundären Netz folgt
III. Ursachen der Veränderung. 123
vielleicht noch ein tertiäres. Die Netzbildiing hört auf, wenn in der
Substanz der Balken die Uebereinstimmung in der Orientirung der
^licelle hinreichend gross geworden ist und das Dickenwachsthuni
fast aufgehört hat. — Ob diese wiederholte Netzl)ildung wirklich
eintrete oder nicht, macht für das schliessliche Ergebniss keinen
Unterschied. Das letzte Product derselben ist zwar anfänglich als
ein feines Netz vorhanden, w'elches seinem Ursprünge gemäss die
Maschen eines gröberen Netzes darstellt. Aber diese Anordiumg,
welche gleichsam als die Einschachtelung eines Netzes in die Elemente
eines andern bezeichnet werden könnte, verliert sich mit dem Wachs-
thum des letzten Netzes und mit der fortwährenden Theilung der
Plasmamassen bald, so dass dann in dem Plasma nur noch dieses
letzte Idioplasmanetz gegeben und wirksam ist.
Wenn das Idioplasma den geschilderten netzartigen Ursprung
hat und die Stränge desselben bloss in die Länge wachsen, so müsste,
wenn nicht ein neues Moment hinzukäme, wegen der starken onto-
genetischen Zunahme der Substanz die netzartige Anordnung in den
einzelnen Partien derselben sich bald ganz verlieren und in unver-
zweigte nicht anastomosirende Stränge übergehen, und es müssten
wegen der mit der Zunahme verbundenen fortwährenden Zelltheilung
viele Zellen selbst ausserhalb der Stränge zu liegen kommen und
daher des Idioplasmas ganz entbehren. Die vorgetragene Theorie
verlangt daher die Annalmie, dass zur beständigen Erhaltung des
feinen überall ausgebreiteten Netzes sich Verbindungsstränge bilden,
welche unter dem Einfluss der Hauptstränge eine diesen ganz gleiche
Structur und Beschaffenheit annehmen. Dass nachträgliche Ver-
bindungen entstehen, kommt auch bei andern netzförmigen Bildungen
der Ontogenien vor und hat nichts Unwahrscheinhches. Dass ferner
die neuen Verbindungsstränge den schon vorhandenen identisch
werden, ist um so eher anzunehmen, als ja die geringsten Abänderungen
des Idioplasmas in ii^gend einem Theil des Organismus an die übrigen
Theile übermittelt und eine beständige Ausgleichung in dem ganzen
idioplasmatischen Sj'stem eines Indi\äduums zu Stande gebracht wird.
Ich habe oben (S. 42) einer anderen Ursache Erwähnung gethan,
welche das Idioplasma, auch ohne die jetzt besprochene molccular-
physiologische Entstehung des Idioplasmanetzes, netzförmig zu ge-
stalten vermag. Die beiden Ursachen schliessen sich nicht aus;
sie können neljen einander bestehen und einander unterstützen,
124 III- Ursarhen der Veränderung.
Die Netzbildiiiig, die eine Folge der Zelltheiliuig sein iiiiiss, wird
die Bildung der anastoniosirenden Stränge fördern und vielleicht uls
selbständigen Process überflüssig machen.
Was das Verhalten des Idioplasmas rücksichtlich Form und
Bau des Querschnittes betriflit, so wird dasselbe wesentlich davon ab-
hängen, ol) seine Stränge unmitten)ar aus den Balken des primordialen
Idioplasmanetzes entstehen oder nicht. Die Balken des ursprünglichen
Netzwerkes müssen, da sie aus einer ziemlich weichen Sul^stanz in
einer wasserreicheren Umgebung bestehen, eine cylindrische Gestalt
und infolge der Oberflächenwirkung eine concentrische Anordnung
ihrer Micelle besitzen. Dies gilt überhaupt für nicht sehr feste
Körper, die frei in einer Flüssigkeit sich bilden und durch Ein-
lagerung wachsen. Ich erinnere beispielsweise an die Stärkekörner
und an die Cellulosestränge , welche durch die Zellhöhlung von
Caulerpa ausgespannt sind.
Wenn dagegen die einzelnen Balken des ursprünglichen Netzes
infolge ihres allseitigen Wachsthums selljst in Netze zerfallen, und
noch mehr, wenn der Process sich wiederholen sollte, hat der Quer-
schnitt der Stränge, weil dieselben schon im Augenblick ihrer Bil-
dung aus einer Substanz von geordneterer Micellarstructur und
festerer Consistenz bestehen, keinen concentrischen Bau mehr, sondern
er wird im allgemeinen dem Sector einer concentrischen Anordnung
entsprechen und somit eine grössere Uebereinstimmung in der Orien-
tirung der Micelle zeigen.
Im einen und andern Falle müssen die Idioplasmastränge nach
und nach die bei der gegebenen Configuration möglich grösste Ueber-
einstimmung in der Lagerung der Micelle auf dem Querschnitt
und die möglich grösste Dichtigkeit und Festigkeit der Substanz
erlangen; und zwar wird dieser Zustand in nicht sehr späten Ab-
kömmlingen der primordial entstandenen Plasmamassen eintreten.
Von jetzt an wachsen die Stränge fast ausschliesslich in die Länge,
soweit es nämlich die ontogenetische Zunahme verlangt.
Das äusserst langsame Dickenwachsthum der Stränge, welches
die phylogenetische Zunahme des Idioplasmas darstellt, führt mit
Nothwendigkeit eine immer complicirter werdende Configuration des
Querschnittes herbei. Die Ursachen der sich steigernden Zusammen-
setzung liegen im Idioplasma selber; es sind die ungleichmässige
Anordnung der Micelle im Querschnitt, die durch das ungleichmässige
III. Ursachen der Veränderung. 125
Längenwachsthum bedingten Spannungen und die dynamischen Ein-
wirkungen der MicellgruiDpen des Querschnitts auf einander. Wenn
Conti guration und Spannungen vollkonnnen regelmässig wären und
die Regehnässigkeit auch nicht durch das Längenwachsthmn gestört
würde, so könnte das Dickenwachsthum keine Veränderung hervor-
bringen, und die Micelle behielten fortwährend eine Anordnung,
wie sie die Moleküle in den Krystallen zeigen.
Da diese Regelmässigkeit nicht vorhanden ist, so erfolgen die
Einlagerungen ungieichmässig, indem sie an gewissen Stellen stärker
oder allein thätig sind.
Die gesteigerte Einlagerung an irgend einem Punkte in einer
Schaar von ziemlich gleichartig geordneten Micellen kann nur dazu
führen, dass innerhalb jener Sehaar eine neue Schaar etwas anders
geordneter Micelle sich ausbildet. Wir sehen dies in einem ver-
grösserten Maassstabe deutlich an der Entwicklungsgeschichte der
Stärkekörner, welche, da sie frei in einer Flüssigkeit oder weichen
Plasmamasse liegen, ebenfalls fast nur unter dem Einfluss ihrer
eigenen Molecularkräfte sich ausbilden. Tritt eine Störung in der
regelmässigen Substanzeinlagerung ein, so ist die Folge davon ein
neuer eigenthümlicher Complex von Schichten oder selbst ein neues
Theilkorn innerhalb der Substanz des ganzen Korns.
Die phylogenetische Fortbildung des Querschnittes muss daher
im allgemeinen den gleichen Charakter zeigen, ob dieser Querschnitt
anfänglich ein concentrisch geschlossenes System oder ein offenes
System von Micellen darstellt. In jedem Falle können wir seine
ursprüngliche Beschaffenheit gleichsam als eine einzige Micellschaar
betrachten, und das fortgesetzte Dickenwachsthum bringt nun stets
neue eigenartige Schaaren zu Stande. Vorerst kommt es ja nicht
darauf an , dass bestimmte Anordnungen entstehen , sondern nur
darauf, dass die Anordnungen immer complicirter werden.
Die Nothwendigkeit einer ungleichmässigen Einlagerung auf
dem Querschnitt ist am einleuchtendsten bei concentrischem Bau
der Stränge, weil hier die ü])ereinstimmende Lagerung der Micelle
nach innen hin sich vermindert und im Centrum vollständig gestört
ist. An der letzteren Stelle liegen also die Micelle lockerer beisammen
und haben mehr AVasser zwischen sich, so dass sich leichter neue
Micelle einlagern. Nach und nach kann aber, indem der ursj^rüng-
lich kreisförmige Querschnitt eine andere Gestalt annimmt und grössere
126 III- Ursachen der Veränderung.
Abweichungen von der concentrischon Anordnung erfährt, auch die
Substanz im Centrum eine ziemhch grosse Festigkeit erlangen. Inuner-
hin bleibt für alle Zeiten die Micellanordnung mehr als unregel-
mässig genug, um stets da oder dort ein gesteigertes Wachsthum zu
gestatten.
Eher möchte man, wenn der Querschnitt nicht ein concentrisch
geschlossenes, sondern ein offenes System darstellt, für denkbar
halten, dass die Regelmässigkeit der Anordnung möglicherweise hin-
reichend gross wäre, um ein ungleichmässiges Wachsthum auszu-
schliessen. Die genaue Ueberlegung zeigt aber, dass dies nie der
Fall sein kann. Denn die Micelle sind ihrer Natur nach nie unter
einander gleich an Grösse, Gestalt und chemischer Beschaffenheit
und wirken nicht überall mit gleiclien Kräften auf einander ein.
Es gibt daher immer einzelne Stellen, welche der Einlagerung den
geringsten Widerstand darbieten und wo ein die regelmässige An-
ordnung störendes Micell sich einschieben kann. Dieses erste störende
Micell ist der Anfang einer ganzen von der übrigen Anordnung
mehr oder weniger abweichenden Micellschaar, und mit der ersten
eigenartigen Micellschaar sind zahlreiche Stellen gegeben, wo wieder
die Einlagerung beginnen kann. Dieser Process wiederholt sich
unaufhörlich, und die Zahl der Micellschaaren wird immer grösser.
Zu den Störungsursachen, welche dem Querschnitt als solchem
angehören, gesellen sich noch die Spannungen, welche durch das
ungleiche Längenwaclisthum und die ungleiche Erregung der ver-
schiedenen micellaren Längsreihen hervorgebracht werden (S. 49).
Diese in der Längsrichtung thätigen Kräfte müssen mit irgend einer
Componente auch in der Querrichtung wirken, und an gewissen Stellen
die Einlagerung fördern, an andern sie verhindern.
Man könnte vielleicht den Einwurf machen, dass, da die Ver-
änderung der Querschnittsconfiguration von dem mehr oder weniger
festen Zusammenhang der Micellreihen und von dem durch deren
ungleiches Längenwaclisthum bewirkten Spannungen verursacht werde,
nicht nothwendig die Einlagerung neuer Micellreihen und die Be-
reicherung des Querschnittes erfolgen müsse, sondern dass unter
Umständen auch die Unterdrückung von Micellreihen und die Ver-
arnumg des Querschnitts eintreten könne. Diesen Einwurf halte
ich nicht für gerechtfertigt; denn es ist weniger w^ahrscheinlich, dass
eine MiccUreihe, die sich in der ganzen Länge des Idioplasma-
ni. Ursachen der Veränderung. 127
Stranges ausdehnt und mit den übrigen parallelen Micellreihen durch
Einschaltung von neuen Micellen zwischen die schon vorhandenen
sich verlängert, durch den hier möglichen Druck versclnvinden
kann, während es sehr begreiflich ist, dass an einer Stelle, wo durch
Zug Raum geschaffen wird, sich eine neue Reihe einzulagern beginnt.
Unter den Ursachen, welche auf die Veränderung der Structur
der Idioplasmastränge Einfluss haben, sind von besonderer Bedeutung
die dynamischen Einwirkungen, welche die Micellreihen oder die
Micelle des Querschnitts auf einander ausüben, und welche mit der
zunehmenden Organisation der Stränge stets stärker und mannig-
faltiger werden. Dieselben haljen noth wendig eine schärfere Son-
derung der Micellgruppen und neue Diiferenzirungen der Micellreihen
zur Folge. So bewirkt die mannigfaltigere Organisation eine mannig-
faltigere dynamische Einwirkung und diese wiederum eine Steigerung
der Organisation, besonders wenn eine A^ermehrung der Micellreihen
nebenhergeht. Ist die phylogenetische Entwicklung einmal im Gang,
so muss sie in gleicher Richtung fortschreiten. Wir haben, worauf
ich bereits hingewiesen habe (S. 118), in der Veränderung des Idio-
plasmas ein analoges Beispiel für die in der unorganischen Welt
als Entropie der mechanischen Wärmetheorie bekannte Erscheinung,
wonach ein Zustand in einen andern üljergeht, während der Ueber-
gang in umgekehrter Richtung nicht möglich ist. In beiden Fällen
bedingt die \^ertheilung von Stoff und Kraft oder Configuration des
ganzen Sj^stems mit Noth wendigkeit die Umwandlung nach einem
Ziele.
Die Hypothese, welche icli bezüglich der phylogenetischen Ent-
wicklungsgeschichte aus dem i:)rimordialen Netzwerk der sj)ontan
entstandenen Plasmamassen aufgestellt habe, hält sich lediglich an
Erscheinungen, welche in den Ontogenien der Organismen vorkommen.
Ich habe kein Moment angeführt, das nicht in einem ontogenctischen
Vorgange seine Analogie fände. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass
die Entwicklung nicht auch in anderer Weise geschehen könnte.
Diese Möglichkeiten sind aljer sehr beschränkt, und durch diese
Beschränkung erhält die Hypothese eine erhöhte Bedeutung.
Wenn ich das Idioplasma aus der netzförmigen Ungleichheit
von dichteren und weicheren Partien, welche mit absoluter Noth-
wendigkeit als erste Differenzirung im primordialen Plasma sich
einstellt, hervoroehen lasse, so steht dieser Annahme noch die andere
128 III- Ursachen der Veränderung.
Möglichkeit gegenüber, dass das Idiojjlasma als eine von dem ursprüng-
lichen Netzwerk unabhängige Bildung auftrete und ebenfalls ein von
den übrigen Wachsthumserscheinungen unabhängiges Wachsthuni
besitze. Es ist recht wohl denkbar, dass innerhalb der dichteren
Partien des primordialen Plasmas sich besondere Körper bilden,
welche durch noch grössere Dichtigkeit \ind Festigkeit ausgezeichnet
sind und eine selbständige, nur von ihrer eigenen Natur bedingte Ent-
wicklung zeigen. Diesen idioplasmatischen Körpern müssten wir
ebenfalls ein fast ausschliessliches Längenwachsthum und somit
strangförmige Beschaffenheit zuschreiben; wir müssten ferner an-
nehmen, dass sie sich netzförmig an einander legen, und dass sie
sich, mn die netzförmige Anordnung bei der ontogenetischen Ver-
mehrung zu erhalten, regelmässig theilen und neu anordnen.
Die zwei wesentlich neuen Momente dieser zweiten möglichen
Hj'pothese, das Zerfallen der Idioplasm astränge und ihre neue An-
ordnung, finden ebenfalls in vorhandenen Erscheinungen thatsächliche
Anhaltspunkte. Das Zerfallen eines micellösen Körpers in zwei tritt
bei der Vermehrung der Chlorophyllkörner und Zellkerne, sowie
meistens bei der Fortpflanzung einzelliger Organismen, das Ablösen
von Zellen bei der Fortpflanzung mehrzelliger Organismen ein. Die
Ursachen für einen solchen Process sind offenbar je nach den ob-
waltenden Verhältnissen ungleich ; bei den Idioplasmasträngen müsste,
wenn dieselben eine gewisse Länge erreiclit haben, an der Theilungs-
stelle eine vermehrte Wassereinlagerung stattfinden, wodurch die
Cohäsion vermindert und gegenüber den mechanischen Einwirkungen
unmächtig wird.
Was das Zusammentreten getrennter Idioi3lasmastränge zu einem
Netz betrifft, so kommen solche netzförmige Anordnungen bei Plasma-
körpern (z. B. Chlorojjhyllkörnern) vor. Die Ursachen der letzteren
Erscheinung sind unbekannt; die netzförmige Anlagerung der Idio-
plasmastränge könnte nur durch die gegenseitige Anziehung ihrer
Enden erfolgen, wofür die Analogie nicht mangeln würde. Ich
werde bei Anlass der Anpassung gewisser Fortj)flanzungserscheinungen
von Phanerogamen und bei der Befruchtung zeigen , dass solche
Anziehungen und ebenfalls Abstossungen zwischen Idioplasmapartien
wirklich angenommen werden müssen.
Die zweite Hypothese über die phylogenetische und ontogenetische
Entwicklung des Idioplasmas enthält somit ebenfalls nichts, was
III. Ursachen der Veränderung. ] 29
nicht anderweitig schon voi'känio. Die heiden Hypothesen , ausser
denen es wohl keine andere denkbare Annahme gibt, stimmen in
der Hauptsache unter einander überein. Sie zeigen beide in gleiclier
Weise die Möghchkeit der mechanischen Vorstelhnig, dass das Idio-
plasma, der Träger der specifischen Eigenthümhchkeiten, trotz seiner
ungeheuren ontogenetischen Zunahme , phylogenetisch seine Con-
figuration äusserst, langsam verändert, und dass diese ^'^eränderung
stetig und sicher durch die unendliclie Zahl der Generationen ver-
läuft und mit Nothwendigkeit einer zusammengesetzteren Beschaffen-
heit, also einer höheren Vollkommenheit zustrebt.
Ich habe darzulegen versucht, wie das primordiale Plasma durch
die in ihm gegebenen Molecularkräfte sich umbilden und wie das
aus diesem Process hervorgehende Idioplasma gleichfalls durch seine
eigenen Molecularkräfte sich entwickeln muss, wenn man die äusseren
auf die Organismen einwirkenden Ursachen als nicht vorhanden
betrachtet. Die nächste Frage ist nun , welche Folgen aus dieser
selbständigen Configurationsänderung des Idioplasmas für das ge-
sammte physiologische Verhalten, für die chemischen I'rocesse, die
plastischen Bildungen und die verschiedenen Bewegungen sich er-
geben.
Die aus der unorganischen Unterlage ursprünglich ge])ildeten
Eiw^eissmicelle haben wegen ihrer ungeordneten Lagerung noch
keine andere Wirkung, als dass unter dem Einfluss jedes einzelnen
oder einiger weniger die Eiweissbildung leichter vor sich geht, als
in der umgebenden unorganisirten Flüssigkeit. Massenwirkungen
sind noch nicht vorhanden, weil die Molecularkräfte der nach allen
möglichen Richtungen orientirten Micelle bloss in unmittelbarer
Nähe sich geltend machen können, darüber hinaus aber sich gegen-
seitig aufheben.
Sowie jedoch die Micelle sich zu gleich orientirten Schaaren
ordnen und somit die Anfänge des Idioplasmas darstellen, so werden
auch ihre Molecularkräfte übereinstimmend gerichtet und zu einer
gemeinsamen Wirkung summirt. Diese Wirkung steigert sich in
dem Maasse , als in dem sich weiter entwickelnden Idioplasma die
Anordnung an Bestimmtheit und Umfang zuninnnt. Es treten
ferner mehrere ungleichartige Wirkungen auf, wenn das Idio})lasma
sich in mehrere ungleichartige Micellschaaren gliedert.
Y. Nägeli, Abstammungslehre. 'J
130 ni. Ursachen der Veränderung.
Diese verstärkte Action der vereinten Molecularkräfte macht
sich namenthch nach aussen bemerkbar. Im Innern des Idioplasmas
selbst kann sie wegen der Dichtigkeit und Festigkeit seiner Structur
nur die sehr langsame phylogenetische Aenderung in der chemi-
schen Beschaffenheit, Gestalt und Anordnung der neu eingelagerten
Micelle mitbedingen. In den Zwischenräumen und in der nächsten
Umgebung der Idioplasmakörper dagegen verursacht sie neue che-
mische Processe, ferner plastische Bildungen und Ortsveränderungen
ganzer individueller Massen und ihrer Theile.
Der Einfluss auf den Chemismus ist leicht erklärlich, da durch
stärkere Kräfte oder durch Zusammenwirken von verschiedenen
Kräften Verbindungen und Zersetzungen veranlasst werden, welche
sonst nicht zu Stande kämen. Ebenso verhält es sich mit dem Ge-
staltungsprocess , welcher, wenn wir auf den Grund zurückgehen,
immer von der Anlagerung der Micelle und Moleküle abhängt. Es
ist klar, dass stärkere Kräfte und Zusammenwirken verschiedener
Kräfte das Vermögen besitzen , die entstehenden Micelle in be-
stimmte Lagen zu rücken , den sich ansetzenden Molekülen be-
stimmte Stellen anzuweisen, und somit am Organismus einen grösseren
oder kleineren Körper von besonderer Gestalt, Structur und Be-
schaffenheit zu erzeugen, der sich sonst nicht bilden würde.
Auf den untersten Ent^\dcklungsstufen wird zwischen den Idio-
plasmakörpern bloss wasserreicheres Ernährungsplasma erzeugt, und
diese Bildung erfolgt auch auf allen höheren Stufen unter dem Ein-
fluss sowohl des Ernährungsj^lasmas selber, als des angrenzenden
Idioj)lasmas in reichlichem Maasse , so dass das Ernährungsj)lasma
Stetsfort den grössten Theil der in den Organismen vorhandenen plas-
matischen Substanzen ausmacht. Dasselbe ist stets weicher als das
Idioplasma, und wenn unter der Einwirkung des letzteren auch festere
Partion von Ernährungsplasma sich bilden, so ist denselben sowohl
durch ihre kurze ontogenetische Dauer, als durch die chemische Be-
schaffenheit der All)uminate eine Schranke gesetzt, welche sie ver-
hindert, über einen bestimmten Grad der Organisation, der Dichtig-
keit und Festigkeit hinaus zu gehen.
Sind die ersten Entwicklungsstufen überschritten und die ge-
einten idioplasmatischen Kräfte theils stärker, theils verschiedenartig
geworden, so entstehen neben dem Ernährungsplasma auch andere
Verbindungen , die ihrer Natur nach eine micellöse Structur an-
III. Ursaehen der Veränderung. 131
nehmen. Es sind dies dem Eiweiss verwandte Substanzen, die
namentlich im Thierreiche, und Kohlenhydrate, die besonders im
Pflanzenreiche vorkommen. Diese nicht plasmatischen Substanzen,
obgleich nur von kurzer ontogenetischer Dauer, erlangen doch zu-
weilen in Folge ihrer chemischen Beschaffenheit mit Hilfe der idio-
plasmatischen Einwirkung eine hoch entwickelte Organisation; in
andern Fällen können sie entweder in Folge ihrer eigenen Be-
schaffenheit, oder weil andere, vorzüglich unorganische Verbindungen,
sich an die Micelle anlagern, eine ausserordentliche Dichtigkeit und
Festigkeit erreichen.
Was die Bewegungen betrifft, so ist unzweifelhaft, dass unter
übrigens gleichen Umständen um so grösseren Massen eine um so
schnellere Orts Veränderung mitgetheilt wird , je mehr die dabei
thätigen Micelle übereinstimmend geordnet sind , wie ich schon
anlässlich der vermeintlichen Urzeugung der Moneren hervorgehoben
habe (S. 9o). Da die gleichsinnigen Orientirungen zuerst im Idio-
plasma auftreten und von demsell)en dann auf die übrigen Sub-
stanzen übergehen, so haben alle Massenbewegungen im Idioplasma
ihren Ursprung. Nur in seltenen Fällen ist das letztere, durch die
Anziehung, die es ausül)t, die unmittelbare Ursache der Bewegung
oder ihrer Richtung, wie dies ohne Zweifel bei Spermatozoiden der
Fall ist, die ihren Lauf im Wasser nach der Eizelle hin nehmen.
Gewöhnlich verursacht das Idioplasma Ortsbewegungen von Massen
nur auf indirectem Wege, indem es andere Substanzen mit den
nöthigen Mitteln dazu ausstattet.
Die chemischen Processe, die plastischen Bildungen und die
Bewegungen werden, wie sich aus der vorstehenden Betrachtung
ergibt, in dem Maasse mannigfaltiger, als die verschiedenartigen
Miccllschaaren in dem Idioplasma an Zahl zunehmen. Die Menge
der eigenthümlichen Erscheinungen , die einen Organismus zu-
sammensetzen, nimmt daher zu, so lange die phylogenetische Ent-
wicklung andauert. Ort und Zeit für das Auftreten einer jeden
Ersclieinung aber hängt, wie ich früher ausgeführt hal)e (S. .'>0),
von dem wechselnden Erregungsstande, in dem sich das Idioplasma
befindet, und von der Einwirkung, die es von der ihm angewiesenen
Stelle in der Ontogenie empfängt, ab. So bewirkt das nändiche
Idioplasma die Bildung von Stärkekörnern im Innern vom l^rnäh-
rungsplasma, die Bildung von Cellulosemembranen an der Aussen-
9*
i32 III' Ursachen der Veränderung.
fiäclie desselben , die Entstehung von Wurzeln an bestimmten und
die Entstehung von Blättern an bestimmten andern Stellen des Ge-
fässstengels, die Erzeugung von Niederblättern am Anfange und die-
jenige der Fruchtl>lätter am Ende des Stengel wachsthums.
Die vorstehende Betrachtung wurde unter der Voraussetzung
angestellt , dass die äusseren Einwirkungen , welche erbliche Ver-
änderungen verursachen, ganz gemangelt und nur eine indifferente
Ernährung stattgehmden hätte. In diesem Falle musstc die orga-
nische Welt aus dem primordialen Plasma durch innere Kraft zu
immer li oberen Organisationsstufen und zu immer grösserer Voll-
konnnenheit gelangen, wenn wir unter Vollkommenheit eine reichere
Gliederung in Bau und Function verstehen. — Von der Beschaffen-
heit der auf solche Weise zu Stande gekommenen Organisationen
können wir uns aljer bloss eine ganz allgemeine und unklare Vor-
stellung machen ; die Gestaltung eines concreten Bildes ist aus zwei
Gründen unmöglich : 1 . weil wir die Beschaffenheit der Micelle nur
ganz im allgemeinen kennen , und daher nichts Specielles damit
construiren können, und 2. weil alle unsere Vorstellungen über Or-
ganisation an Organismen gel)ildet wurden, die unter dem Einfluss
der von aussen wirkenden Kräfte ein bestimmtes Gepräge ange-
nonnnen haben, und weil wir uns dieses Gepräge nicht wegzudenken
vermögen. Dies thut indessen der Gewissheit , dass die inneren
Kräfte bei der phylogenetischen Entwicklung der Reiche eine ganz
entscheidende Rolle gespielt haben, keinen Eintrag, — und ebenso
wenig kann es uns zweifelhaft sein, welches diese Rolle gewesen sei.
Die l)isherige Betrachtung hat zu dem Ergel)niss geführt, dass
die noth wendige Folge der inneren mechanisch wirkenden Ursachen
eine stetige in bestimmter Bahn fortschreitende Entwicklung der
Stamm})äume sein muss ; auch die äusseren Einflüsse wirken , wie
wir sj)äter sehen werden , wäln'cnd grösserer Zeiträume langsam
verändernd ein. — Wir möchten dalier erwarten, dass die Erfahrung
diese continuirliche Entwicklung l)estätige. Nun ist dies aber be-
kanntlicli dem Anscheine nach nicht der Fall , und nach der Dar-
stellung der Darwin 'sehen Scliule soll die Veränderung während
langer Zeiträume ruhen und dann in Folge eines inneren oder
äusseren Anstosses wieder beginnen ; so sind viele Arten und Varie-
III. Ursachen der Veränderung. 133
täten seit der Eiszeit und länger sicher so gleich gehhehcn , dass
wir keinen Unterschied an ihnen l)emerken (S. 104). Dahei blei])t
uns nur unverständlich , welcher Natur der Anstoss sein möchte,
der nach einem langen Zeitraum plötzlich von innen oder aussen
kommen soll. Besonders unl)egreiflich ist der Anstoss von aussen,
da ja die äusseren Ursachen fortwährend die nämlichen sind und
nicht in einem bestimmten Jahr etwas bewirken können, was sie in
Tausenden von Jahren vorher nicht zu bewirken vermochten.
Schon diese Betrachtung zeigt uns , dass die Organismen , o]>
gleich sie den greifbaren Merkmalen nach vollkommen gleich zu
bleiben scheinen, doch in Wirklichkeit nicht still stehen, dass eine
innere Umbildung in ihnen vorgeht, welche sie mit- der Zeit für
die Anstösse empfänglicher macht. Müssen wir aber eine solche
Umbildung annehmen, so brauchen war überhaupt die räthselhaften
besonderen Anstösse nicht mehr; sondern die äussere A'^eränderung
tritt unter gewöhnlichen Umständen von selbst ein, wenn in Folge
der inneren Umbildung eine Disposition auf eine gewisse Höhe ge-
diehen ist. Natürlich kann dieser Zeitpunkt durch die Combination
der inneren Verhältnisse und in erheblichem Maasse wohl auch
durch die äusseren Einflüsse viel früher eintreten oder lang ver-
schoben werden.
Wir sind somit auf diesem Wege genau dahin gekommen,
wohin uns auch die Theorie des Idioplasmas geführt hat. In dem-
selben sind, wie alle Erfahrungen zeigen, stets fertige, werdende
und vergehende Anlagen enthalten. Bei der langsamen Umbildung
des Idioplasmas werden alte Anlagen nach und nach geschwächt
und gehen verloren, indess neue beginnen und sich ausbilden, bis
sie nach einer Zahl von Generationen zu äusserlich bemerkbaren
physiologischen und morphologischen Merkmalen sich entfalten. Es
hat somit durchaus nichts Befremdendes, wenn uns die organischen
Reiche das Schauspiel von Sippen darbieten, welche eine Zeit lang
stille stehen und dann auf einmal sich zu verändern begiimen. Man
könnte bloss allenfalls das Bedenken hegen, ob ein so gar langes
Stillstehen denkbar sei, ob die Anlagen vieler Tausende von Jahren
bedürfen, um actionsfähig zu werden.
Wir stehen da wieder vor der Zeitfrage, die bezüglich der Ab-
stammungslehre schon viel unnöthigen Staub aufgeworfen hat. Da
wir über die ganze für den vollständigen Stammbaum zur Yvv-
134 III- Ursachen der Veränderung.
fügung stellende Zeit, über die Zeit, während welcher organisches
Leben auf der Erde möglich war, im Unklaren sind, so vermögen
wir auch kein Urtheil zu haben über die Zeit, welche durchschnitt-
lich auf jeden einzelnen Schritt im Stannnl)aum tritt't, und wir
könnten el)ensowohl durch Annahme zu grosser als zu kleiner Zeit-
abschnitte irre gehen. Uebrigens ist niclit gesagt, dass jeder Schritt
in der sichtbaren Veränderung gleich viel Zeit erfordere. Im Gegen-
theil spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass periodenweise die
äusserlich wahrnehmbaren Schritte rascher auf einander folgen und
mit längeren Stillständen abwecliseln, — wie dies auch in der Ent-
wicklungsgeschichte der Individuen, welche offenbar so viel Aehn-
lichkeit mit der Geschichte der Stamml)äume hat, der Fall ist.
Das Idioplasma verändert sich unaufhörlich ; aber wie in der
unorganischen Materie bald eine geringe, l>ald eine grosse Menge
von Spannkraft sich anhäuft, ehe sie als Bew^egung frei wird, so
mögen im Idioplasma bald die einzelnen Anlagen , sowie sie fertig
gebildet sind, die entsjjrech enden äusseren Veränderungen hervor-
rufen, bald mögen sie durch eine längere Periode in Mehrzabl sicli
anstauen und dann rasch nach einander sich in ihren morphologischen
und physiologischen Merkmalen verwirklichen.
Was aber die andere Seite der theoretischen Frage betrifft, ob
es denkbar sei, dass die Veränderung un Idioplasma so langsam vor
sich gehe und dass die jährlichen Schritte so klein seien, um erst
nach vielen tausend Jaliren eine fertige Anlage zu Stande zu bringen,
so hängt dies von der Vorstellung ab, die wir uns über diese Schritte,
somit über die micellare Beschaifenheit des Idioplasmas, namentlich
über Grösse, Zahl und Anordnung der Micelle zu machen haben.
Je zahlreicher und kleiner dieselben sind, um so geringer vermag
der einzelne Schritt in der Veränderung auszufallen, und um so
mehr solcher Schritte bedarf es, bis eine merkliche Umbildung in
der Substanz erreicht ist. Was nun diesen Punkt betrifft, so sind
in dem einzelligen Keim unter allen Umständen viele Millionen von
Idioplasmamicellen enthalten. Hat das Idioplasma überdem die
strangförmige Structur, wie ich es angenommen habe, und wird
demnach die phylogenetische Bereicherung des Querschnitts von
dem ontogenetischen Längenwachsthum l)loss durch die Verursachung
von schwaclien Spannungen berührt, so können wir uns die Ein-
schiebung eines einzigen Micells sehr langsam denken, indem zuerst
III. Urwachen der Veränderung. 135
eine locale Sj^annimg iiacli und nach zunimmt und erst, wenn sie
eine gewisse Höhe erreicht hat, die beginnende Bildung des Micells
bewirkt. Ebenso verhält es sich mit der Umbildung der Quer-
schnittsconfiguration durch die dynamische Einwirkung der Micell-
gruppen auf einander, indem die Verstärkung der Anlagen, die
schärfere Sondermig derselben und die Differenzirung in ihrem
Innern in jedem beliebig langsamen Zeitmaass gedacht werden
kann. Es ist uns also gestattet, die unaufhörlich thätige und nie
stillstehende Entwicklung des Idioplasmas anzunehmen, und wir
dürfen bezüglich der Frist, die wir für die Bildung einer fertigen
und entfaltungsfähigen Anlage zugestehen, auch vor Eiszeitweiten
nicht zurückschrecken.
Endlich lässt sich die Zeitfrage noch von einigen Erfahrungs-
thatsachen aus beleuchten. Es ist bekannt, dass bei Menschen nach
mein-eren Generationen frühere Merkmale wieder zum A^orschein
kommen. Wenn nun eine Anlage ein Jahrhmidert latent bleiben
und dann in Qualität und Quantität scheinbar unverändert w^ieder
hervorbrechen kann, so begreifen war, dass zu ihrer Bildung mög-
licherweise viele Jahrtausende erfordert werden. Und wenn gar,
nach der Annahme der Darwin'schen Schule, Merkmale von vor-
weltlichen Organismen abermals auftreten, so müsste, w^ie dem Ver-
l)orgensein und dem Verschwinden, auch dem Werden der Anlagen
eine Erdperiodenzeit zugestanden werden.
Es steht also der mechanischen Forderung, dass die begonnene
A^'eränderungsbewegung nicht zeitweise stille stehe und dann will-
kürlich wieder beginne, sondern dass sie durch alle Generationen
thätig bleibe, nichts im Wege, wenn war uns nicht bloss an die
äusserlich hervortretenden Ereignisse, sondern an die im ^^erborgenen
wirkenden Ursachen dersel])en halten. Die gewöhnliche Betrachtungs-
weise, welche die Veränderung bloss nach den wahrnehmbaren Merk-
malen abschätzt, gleicht der Geschichtschreilmng, welche nur von
Kriegen und Eroberungen, Verträgen und Friedensschlüssen, Revo-
lutionen und Parteikämpfen, Beginn und Ende der Reiche und der
Dynastien berichtet, aber sich um den im Stillen arbeitenden, die
Ereignisse vorbereitenden und, wenn zur Reife gediehen, auch un-
widerstehlich durchführenden Fortschritt in der Bildung und Sitte
der Individuen nicht kümmert.
Es ist nocli ehi Punkt zu l)esprcchcn, über den die gewöhnliche
J36 I^^I- Ursachen der Veränderung.
Betrachtungsweise, welche sich an das Aeiisserhche hält, nicht weniger
im Irrthiim sich hcfindet; dieselhc nimmt an, dass die Veränderung
mit der Fortpflanzung zusammenfalle. Dies rührt von dem schon
früher erwähnten Umstände her, dass man durch unmittelbare Be-
obachtung die Veränderungen bloss bei der Vermischung ungleicher
Individuen und l)ei der Kreuzung kennt. Hier muss man nun
begreiflicherweise die neue Combination von Eigenschaften mit
dem Moment Ijcginnen lassen, in welchem die beiden verschieden
gearteten Idioplasmen des Vaters und der Mutter zusammentreten
und den Charakter des Kindes zu Stande l)ringen. Aber diese
Veränderung bedeutet nur ein Hin- und Herschwanken zwischen
den sich vermisclienden Individuen und den sich kreuzenden Sippen;
sie erzeugt bloss die individuellen und die Rassentypen, aber nicht
die Varietäten und Species.
Die innere Veränderung, welche die neuen Anlagen hervorbringt,
erfolgt nicht mit der Zeugung, denn diese ist eigentlich nur ein
Augenblick, welcher den Beginn eines neuen Daseins bezeichnet.
Das Idioplasma bildet sich während der ganzen Lebensdauer um,
und bloss weil dasselbe in den Eltern mit der Zeit etwas anders ge-
worden ist, sind auch die Keime etwas anders angelegt als die Keime
der Eltern. Bei geschlechtlicher Zeugung ist es nicht so leicht, sich
eine klare Vorstellung von diesem Vorgang zu machen, wie bei der
ungeschlechtlichen Fortpflanzung. Indem bei der letzteren das Idio-
plasma sich stetig verändert, hat der Uebergang von einer Generation
in die folgende keine andere Bedeutung, als dass nur ein kleiner
Theil des vermehrten und veränderten Idioplasmas in dem sich
ablösenden Keim sein Wachsthum und seine Veränderung getrennt
vom elterlichen Individuum fortsetzt.
Die inneren Ursachen machen sich also dadurch geltend, dass
das Idio})lasma, indem es sich vermehrt, sich auch umbildet, wobei
jede Veränderung mit Nothwendigkeit eine neue weitergehende
Veränderung in der Richtung einer gesteigerten Zusammensetzung
veranlasst. Die Organismen sind aber nicht bloss auf sich selbst
angewiesen ; sie stehen in mannigfaltigen Beziehungen zur Aussen-
welt und es ist möglich, dass sie aus derselben nicht bloss Kraft und
Stoff für ihr Wachsthum und ihre Veränderung schöpfen, sondern
III. Ursachen der Veränderung. 137
dass ihr Entwicklungsgang selbst dadurch modificirt wird. Somit
ist die Frage zu erörtern, was die äusseren Dinge in den Organismen
bewirken. Die letzteren empfangen von aussen verschiedenartige
Nahrung und mannigfaltige immaterielle Einflüsse. Es verstellt sich,
dass jede dieser Einwirkungen eine entsprechende Folge innerhalV)
der Su])stanz hat, dass die aufgenommenen Stoff- und Kraftmengen
verarbeitet werden und dass nichts davon verloren gehen kann.
Aber die Grösse des Eindruckes, den dadurch die von inneren
Ursachen bedingte Entwicklungsbewegung erfährt, kann eine drei-
fache sein.
Eine erste Möglichkeit ist die, dass diese Bewegung gar keine
Störung erfährt. AVenn ein Stal) innerliall) der Elasticitätsgrenze
gebogen wnrd, so kehrt er in seine ursprüngliche Lage zurück, ohne
eine materielle Veränderung erlitten zu haben. Ebenso ist es denkbar,
dass ein Organismus eine Menge äusserer Einwirkungen erfährt,
ohne dass sein Entwicklungsgang im geringsten modificirt wird.
Ungleiche Nahrung, ungleiche Temperatur, ungleiche Feuchtigkeit
der Luft, ungleiche Lichteinwirkung, ungleiche sinnliche Eindrücke
aller Art verursachen dann bloss einen rascheren oder langsameren
Gang des Lebensprocesses ; aber ihre Angriffe l)leiben gleichsam
innerhalb der Elasticitätsgrenze und hinterlassen keine dauernden
und vererbbaren Eindrücke.
Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass ein äusserer Einfluss
zwar eine bleibende Einwirkung hinterlässt und die Entwicklungs-
bewegung ablenkt. Aber da diese Ablenkung äusserst gering ist
und da andere Ablenkungen in anderen und zum Theil in entgegen-
gesetzten Richtungen eintreten, so ist der Gesammterfolg ein un-
merklich geringer und kann deshalb vernachlässigt werden.
Endlich haben wir noch die dritte Möglichkeit, dass die äusseren
Einwirkungen, welche geringe bleibende Veränderungen zur Folge
haben, während langer Zeiträume beständig in dem gleichen Sinne
thätig sind, so dass die Umstimmung zu einer bemerkbaren Grösse
sich steigert, d. h. zu einer Grösse, welche in sichtl)aren äusseren
Merkmalen sich kund gibt. Zwei j)hylogenetische Stämme, die den
gleichen Ursprung haben, können, wenn sie während hinreichend
langer Zeit unter solchen ungleichen äusseren Einflüssen lebten,
auch ungleiche Merkmale erlangt haben.
138 in. Ursachen der Veränderung.
Es ist einleuchtend, dass die beiden ersten Kategorien sich l^loss
theoretisch unterscheiden lassen , und dass sie praktisch für uns
auf das Gleiche herauskommen. Nach allen Erfalnamgen müssen
wir die Ernährungseinfiüsse, zu denen auch die meisten klimatischen
Einwirkungen gehören, ihnen zuzählen (S. 102). Die genaue Aus-
scheidung der indifferenten Einflüsse von denen, welche wahrnehm-
l)are Veränderungen bewirken, ist aljer deshalb schwierig, weil beide
fast immer gemeinsam vorkommen.
Was nun diese dritte Kategorie von äusseren Einwirkungen,
nändich diejenigen, welche deutliche und bleibende Merkmale an
den Organismen hervorbringen, betrifft, so sind zwei Fragen zu be-
antworten : 1. Welche äusseren Ursachen hierher gehören und
2. welclie Merkmale durch sie hervorgebracht werden. Die letztere
Frage beantwortet sicli leichter, und hilft dann auch zur Lösung
der ersteren mit. Schon eine allgemeine Uebersicht der Merkmale
deutet uns den Weg an. Die Gesammtheit der Eigenschaften , die
wir an den Organismen beobachten, lassen sich nämlich unter zwei
Gesichtspunkte bringen: 1. die Organisation und Arbeits-
tli eilung im allgemeinen; 2. die Anpassung an die
Aussenwelt.
Der organisatorische Aufbau im allgemeinen besteht darin,
dass von den unteren zu den oberen Stufen eines Reiches immer
zahlreichere Zellgeiierationen mit einander zu einem Individuum
verljunden bleiben, dass in gleichem Maasse die Gliederung in dem-
selben und damit die Zahl der Organe und ihrer Theile zunimmt.
Die Arbeit sth eilung im allgemeinen geht mit der Organi-
sation parallel und ist eine Folge derselben ; sie bewirkt eine räum-
liche Trennung der früher vereinigten Functionen und in Folge
derselben eine Zerlegung der Functionen in Partialfunctionen. Die
Anjjassung an die Aussenwelt bestimmt die specielle Ge-
staltung der Organisation und die specielle Beschaffenheit der Arbeits-
theilimg und damit das charakteristische Gepräge und den Local-
ton des Organismus.
Die inneren Ursachen bedingen ein stetiges Fortschreiten der
micellaren Beschaffenheit des Idioplasmas vom Einfacheren zum
Zusammengesetzteren, und da die äusseren A'^eränderungen aus den
inneren micellaren Anlagen hervorgehen und denselben entsprechen,
so muss die fortschreitende Organisation und Arbeitstheiluiig im
in. Ursachen der Veränderung. 139
allgemeinen durch die inneren Ursachen bewirkt werden; aus den
äusseren Ursachen wäre uns dieselbe überdem ganz unerklärlich.
Dagegen erscheint fast als selbstverständlich, dass die Anpassung
an die Aussenwelt, die Mannigfaltigkeit und specielle Beschaffenheit
der Gestaltung, Organisation und Arbeitstlieilung nur Folge der
äusseren Einflüsse sein können; zudem liesscn sich dieselben kaum
aus inneren Ursaclien ableiten, da diese für sich allein unter allen
Umständen eine übereinstimmende Beschaffenheit bewirken würden.
In dieser Weise scheint mir sowohl vom theoretischen als vom
Erfahrungsstandpunkte aus der Antheil der inneren und äusseren
Ursachen ziemlich richtig geschieden zu sein; jenen ist die wesent-
liche Construction, der Aufbau aus dem Groben, diesen die äussere
Verzierung, jenen das Allgemeine, diesen das Besondere auf Rech-
nung zu setzen. Dieser Gegensatz wird in der Folge weiter aus-
gefüln-t und begründet werden. Ich bemerke nur im voraus , dass
ich die Wirkung der Aussenwelt nicht im Darwin 'sehen Sinne
auf dem Umwege der Concurrenz und Verdrängung, sondern als
unmittelbares Bewirken verstehe, und dass die Verdrängung und
mit iljr die Sonderung der Stämme erst nachträglich in Betracht
kommt.
Viel schwieriger und dunkler als die Frage, was die äusseren
Einflüsse zu Stande bringen, ist die Frage, Avie sie es thun, wie sie
mechanisch in den Organismus eingreifen. Diese Frage ist bekanntlich
von Darwin, der alle Organisation als Anpassung betrachtet, so
beantwortet worden , dass von den zufällig eintretenden Abände-
rungen nur die unter den bestehenden Verhältnissen existenzfähigeren
erhalten bleiben, iiidess die anderen unterdrückt werden. Die äusseren
Einflüsse hätten nach dieser Theorie bloss eine negative oder passive
Wirksamkeit, nämlich die, das Unpassende zu beseitigen. Nach
meiner Ansicht bringen sie in activer Weise direct diejenigen Er-
scheinungen zu Stande, die man als eigentliche Anpassungen be-
zeiclnien kann, indem sie mechanisch in den Organismus ein-
greifen.
Aber die Art und Weise, wie dieses Eingreifen geschieht, bleil)t
uns noch verborgen. Da nämlich alle Anpassungserscheinungen
erblich sind und aus Anlagen hervorgehen, so muss die Einwirkung
auf die miccllare Beschaffenheit des ;Idioplasmas stattfinden und
140 III. Ursachen der Veränderung.
kann um so weniger vorstellig gemacht werden , als ja alle Vor-
stellung ül^er den Mechanismus plasmatischer Suljstanzen noch
mangelt. Es lassen sich daher nur ganz allgemeine Möglichkeiten
und Wahrscheinlichkeiten darthun.
Vorerst ist denkhar und fast gewiss, dass der gleiche äussere
Einfluss , er mag seinerseits irgend eine Beschaffenheit haben , in
verschiedenen Organismen oder zu verschiedenen Zeiten in dem
nämlichen Organismus die dauernden Eigenschaften in ganz un-
gleicher Weise modificirt, weil der Weg von der Angriffsstelle bis
zur Organisation des Idioplasmas durch zahllose Verschlingungen
und Umsetzungen verläuft und daher nothwendig zu verschiedenen,
selbst scheinbar entgegengesetzten Resultaten führen muss.
Im Anschluss hieran ist festzustellen, dass, wenn alle die Orga-
nismen treffenden Einflüsse berücksichtigt werden, jedenfalls zwei
Arten der äusseren Einwirkung zu trennen sind, die unvermittelte
und die vermittelte. Bei der unvermittelten Einwirkung ist der
Process im wesentlichen mit den Folgen beendigt, welche sofort und
zwar in analoger Weise wie in der unorganischen Natur zu Stande
kommen, so dass man sie auch unschwer als die Folgen der be-
stimmten Ursache erkennt. Intensiveres Licht vermehrt in den
grünen Pflanzengeweben den Reductionsprocess und die Ausschei-
dung von Sauerstoff, Kälte verlangsamt den Chemismus der Ge-
wächse, Mangel an Wasser bringt A^erwelkung, reichliche Nahrung
lebhafteres Wachsthum hervor. Diese unmittelbare Einwirkung wird
im allgemeinen keine dauernde Veränderung im Idioplasma zurück-
lassen.
Bei der vermittelten Einwirkung, die man hn allgemeinen
als Reiz l^ezeichnen kann , tritt eine mamiigfaltige Uebersetzung
ein. Die Ursache bewirkt eine ganze Reihe aufeinander folgender
molecularer Bewegungen, die uns verborgen bleuten und die in eine
sichtbare Erscheinung auslaufen , deren ursächliche Beziehung zu
dem ursprünglichen Angriff wir uns nicht mehr vorstellen können
und die vielfach etwas ganz anderes ist, als was wir von demselben
erwartet haben.
Sehr häufig erzeugt der Reiz eine Reflexbewegung und gewöhn-
lich macht sich seine Hauptwirkung gerade an der gereizten Stelle
geltend, und zwar l)ei einem schädlichen Eingriff in der Weise,
dass der Organismus sich bereit macht, densell)en aljzuwehren. Es
III. Ursachen der Veränderung. 141
findet ein Zudrang von Säften nach der Stelle statt, welche von
dem Reiz getroffen wurde, und es treten diejenigen Neuhildungen
ein , welche geeignet sind , die Integrität des Organismus wieder
herzustellen und allenfalls verloren gegangene Theile, so weit es
möglich ist, wieder zu ersetzen.
Ausser der allgemein bekannten Reaction, welche im thierischen
Organismus auf eine Verletzung oder einen heftigen Reiz mit Blut-
andrang und Neubildung von Gewebe antwortet , erinnere ich an
die Ileaction lebender Pflanzengewebe, welche um die verletzte Stelle
Zellbildung beginnen lässt und das gesunde Gewebe mit einer viel-
schichtigen undurchdringlichen Korkhaut (Wundkork) aljschliesst
und schützt, an das Ueberwallen von Schnittfläclien , und an die
Reaction, welche um die winzige Stelle im Innern des Gewebes, in
die ein Insectenstich ein Ei mit einer ätzenden Flüssigkeit gelegt
liat, reichliche und mit dem Reiz, den die sich entwickelnde Larve
ausübt, andauernde Zelltheilung und Gallenl)ildung hervorbringt, —
dann an die bei Thieren bekannte Erscheinung, dass der vermehrte
Geljrauch eines Organs Knochen und Muskeln stärker macht,
während der Nichtgebrauch sie schw^ächt u. s. w.
Nicht immer bewirkt der Reiz das Herbeiströmen von plastischen
Stoffen und das Auftreten von Neubildungen ; ist er schwächer, so
veranlasst er bloss eine vermehrte oder auch eine abnormale mole-
culare Thätigkeit chemischer oder pll3^sikalischer Natur. So verhält
es sich mit den schwächeren Reizen, welche Licht, Wärme, Kälte,
mechanische Angriffe ausüben. Ueberhaupt haben alle äusseren
Einwirkungen, auch diejenigen, welche wir als unvermittelte unter-
scheiden können, nebenbei die Bedeutung von schwächeren Reizen.
Ein Reiz, der nur eine geringere Zahl von Malen oder nur
eine kürzere Zeit lang einwirkt, hinterlässt, wenn er auch von
heftigen Reactionen begleitet ist, keinen bemerkbaren Eindruck auf
das Idioplasma. Eine Person, die noch so oft von Wespen ge-
stochen wurde, oder eine Eiche, die auf den Stich der Gallwespen
noch so viele Galläpfel erzeugt hat, vererbt davon nichts Sichtbares
auf die Nachkommen. Eine Familie , deren Glieder in mehreren
aufeinander folgenden Generationen die Blatternkranklieit bestanden
oder mit Kuhpocken geimpft wurden, hat davon keine bemerkbaren
erblichen Folgen.
142 ni- Ursachen der Veriinderung.
Dauert der Reiz aber während sehr langer Zeiträume, also
durch eine sehr grosse Zahl von Generationen an, so kann er, auch
wenn er von geringer Stärke ist und keine wahrnehmbaren sofortigen
Reactionen hervorruft, das Idioplasma doch so weit verändern, dass
erbliche Dispositionen von bemerkbarer Stärke gebildet werden. Dies
scheint wenigstens für die Wirkung des Lichtes zu gelten, welche viele
Pflanzentheile der Sonne zu-, einige auch von derselben abwendet,
und für die Wirkung der Schwerkraft, welche die meisten Stengel
emporrichtet, die Wurzeln nach unten zu wachsen veranlasst. Man
könnte zwar meinen , dass diese Wirkungen in ihrer vollen Stärke
unmittelbare Folgren der äusseren Ursachen seien und dass es nicht
der Annahme einer erblichen Disposition bedürfe. Doch ist diese
Meinung unmöglich, weil es Pflanzentheile gibt, die sich gegenüber
von Licht und Schwerkraft gleichgültig, und auch solche, die sich
gerade umgekehrt verhalten als andere ähnliche Pflanzentheile, z. B.
Stengel, die statt nach oben nach unten wachsen (manche Rhizome
und die Stiele der kleistogamen Blüthen von Cardamine chenopodi-
folia), und solche, die statt nach dem Lichte hin, von demselben
sich abwenden. Daraus geht wohl hervor, dass das Idioplasma
unter dem Einfluss der Reize in verschiedenen Pflanzen sich
ungleich ausgebildet hat und dass es vermöge dieser ungleichen
erblichen Beschaffenheit den einen Pflanzenstengeln das Vermögen
gibt, auf den Reiz, den das Licht oder die Schwerkraft ausübt, in
einer bestimmten Weise, andern Stengeln in entgegengesetzter Weise,
und noch andern gar nicht zu reagiren.
In den eben angeführten Fällen haben die äusseren Einwir-
kungen eine bestimmte Reizbarkeit erzeugt. Dies führt uns auf
den Umstand, dass ihre erblichen Folgen in den Organismen über-
haupt doppelter Art sind. Entweder werden Organisation und Func-
tion in sichtbarer Weise verändert, oder es wird, indem der Orga-
nismus scheinbar gleich bleibt, bloss die moleculare Beschaffenheit
so weit modificirt, dass dieselbe ein anderes Vermögen erlangt, auf
Reize zu reagiren. Von den ersteren Veränderungen, zu denen alle
Anpassungen im Bau und in den Verrichtungen gehören, werde
ich nachher Si:)rechen. Was die Reizbarkeit (im weiteren Sinne) be-
triff't, so besteht dieselbe darin, dass eine Erscheinung nur dann
eintritt, wenn eine gewisse äussere Einwirkung ihr vorausgeht. Dies
ist der Fall nicht bloss bei den bekannten momentanen Reactionen,
III. Ursachen der Veränderung. 143
die im Thierreiche allgemein sind und im Pflanzenreiche mehr aus-
nahmsweise vorkommen, sondern auch bei den vorhin erwähnten,
durch das Licht mid die Schwerkraft bedingten Wachsthumsrich-
tungen. Die letzteren werden durch langsam eintretende Krüm-
mungen verursacht, indem beispielsweise an der beleuchteten Seite
gewöhnhch das Wachsthum verlangsamt ist, so dass sie concav
wird, selten gefördert, so dass sie convex wird.
Als ein anderes Beisj^iel, dass in der Pflanze bloss das Vermögen
ausgebildet wurde, auf eine äussere Einwirkung zu reagiren, will
ich die Wurzelbildung anführen, die bei bestimmten Pflanzenarten
dann eintritt, wenn gewisse Stengeltheile mit Wasser in Berührung
kommen, während anderen Stengeltheilen der gleichen Arten und
den nämlichen Stengeltheilen anderer Gattungen diese Erscheinung
mangelt. Abgeschnittene Zweige von Weiden und Paj)peln, die
man ins Wasser stellt, bewurzeln sich sehr schnell, während der
Erfolg bei Zweigen von gleicher Stärke, die auf dem Bamiie dauernd
benetzt werden, langsamer und oft nicht eintritt. Ein im Frühjahr
vor dem Austreiben der Knospen abgenommener Weidenzweig, der
sich nur in feuchter Luft befindet, verhält sich ziemlich so wie im
natürlichen Zustande auf dem Baume; er führt die in der Rinde
aufgespeiclierten plastischen Stoffe nach oben, um zunächst die
Endknospe zur Entfaltung zu bringen. Sowie aber ein solcher Zweig
mit seinem untern Ende ins Wasser gebracht wird, so bewirkt dieses
die Umkehr der strömenden Nährstoffe; dieselben bewegen sich nun
nach unten, um in der Nähe der Schnittfläche Wurzeln zu bilden,
worauf dann die Strömmig nach oben zur Knospenentwicklung
fortgesetzt wird. Der Zweig eines AjDfelbaumes verhält sich anders.
Die Wurzelbildmig unter dem Einfluss der Benetzung setzt also eine
Disposition voraus.
Die Fähigkeit der Pflanzenorgane, sich dm-ch Wachsthum zu
drehen und zu krümmen, damit sie eine günstige Lage und Rich-
tung erlangen, oder Wurzeln zu treiben, ist offenbar nicht durch
innere Ursachen erzeugt worden. Sondern es hat sich das Idioplasma
unter dem langdauernden Einflüsse des Lichtes und der Schwerkraft
sowie des Wassers (letzteres ])ei Sumpfpflanzen) allmählich so umge-
bildet, dass es nun auf den Reiz dieser Agentien zu antworten vermag.
Was Licht und Gravitation betrifft, so ist zu bemerken, dass
Kräfte, welche die Richtung beeinflussen, leicht, je nach den Um-
244 III- Ursachen der Veränderung.
ständen, den entgegengesetzten Erfolg bewirken. Grüne Scliwärm-
zellcn (Algen) bewegen sieb gewölndicb mit der bcleucbteten Seite
voran, also dem Liebte entgegen, bei sebr intensiver -Wirkung des
Licbtes aber von demselben weg. In gleicber Weise kann das Liebt
und die ebenfalls linear wirkende Scbwerkraft die entgegengesetzten
Krümnnmgen bewirken, je nacb dem Grade der Emj^findlicbkeit
des Objects und der Litensität des Angriffes. Es w1ire nun denkbar,
dass in einem noch unbestimmten Organ je nach dem Ausschlage,
welclier von der Combination der Molecularkräfte abhcängig ist, unter
den gleichen Verhältnissen die einen Individuen der nämlichen
Sippe sich positiv, die anderen negativ krümmten, und dass dann
die Concurrenz die Entscheidung gäbe, welche Individuen Bestand
haben und welche zu Grunde gehen, somit welche heliotropische
und geotropische Richtung späterliin dem Organ der l)etreffenden
Sippe zukommt.
Auch die übrigen Formen der Reizbarkeit, namentlich diejenige,
welche vorzugsweise als solche bezeichnet wird und die sich in einer
sofortigen deutlichen Reaction kund gibt, verdanken ihr Dasein sehr
wahrscheinlich den nämlichen Ursachen, welche nach Ausbildung
der Empfindlichkeit die Reaction hervorrufen. So dürfte die Fähig-
keit des Blattes von Dionaea muscipula, sich auf den Reiz eines
Insectes zu schliessen und dasselbe zu fangen, nach und nacli durch
die krabbelnden Insecten selber entwickelt worden sein.
Weniger gewiss als die Ursachen der Reizbarkeit sind im all-
gemeinen diejenigen, welche die sichtbaren Anpassungen in der
Organisation und Function liewirkt haben. Ueber einige derselben
wird zwar kaum ein Zweifel bestehen können. Den Schutz, den
die Thiere kalter Klimate in ihrer dicken Behaarung und diejenigen
weniger kalter Gegenden in ihrem Winterpelz finden, hat ihnen die
Einwirkung der Kälte auf das Hautorgan gegeben. Die verschiedenen
Waffen zur Abwehr und zum Angriff, den die Thiere in den Hörnern,
Krallen, Stosszähnen u. s. w. besitzen, sind durch den Reiz, der
beim Angriff oder bei der Vertheidigung auf bestimmte Stellen der
Köri^eroberfläclie ausgeübt wurde, nach und nach entstanden und
grösser geworden.
in. Ursathen der Veränderung. 145
Die Ursachen anderer und namentlich der bei den Pflanzen
vorkommenden Anpassungen, von denen ich einige anführen will,
liegen weniger offenkundig da. — So sind die Landpflanzen durch
eine Korkbedeckung an ihrer Oberfläche mehr oder weniger vor
^^erdunstung geschützt. Die AVirksamkeit derselben ist jedermann
dm'ch die Erfahrung bekannt, wie z. B. dass ein Apfel, der den ganzen
Winter frisch l^lciben würde, rasch eintrocknet, nachdem er geschält
wairde. Die frühesten Gewächse w^aren Wasserbewohner; sie accli-
matisirten sich nach und nach an eine feuchte, dann an eine trocknere
Luft; es gibt jetzt noch viele niedere und auch einige höhere Pflanzen,
die im Wasser und ausserhalb desselben leben können. Sowie nun
in der Urzeit die Gew^ächse aus dem Wasser kamen, wirkte die Ver-
dunstung als Reiz auf die Oberfläche. Das partielle Austrocknen
verursaclite daselbst eine negative Spannung, die man beispielsweise
auch in der Rindenschicht eines austrocknenden Tropfens von Gummi-
schleim leicht nachweisen kann. Ausser dieser veränderten Com-
bination der Molecularkräfte bestand der Reiz ferner noch in der
reichlicheren Zufuhr von Sauerstoff, wohl auch in der energischeren
Wirksamkeit des zwisclien den äussersten Membranmicellen ver-
dichteten Sauerstoffs und verursachte die chemische Umwandlung
der oberflächlichsten Celluloselage in Korksubstanz.
So haben die Landpflanzen die erbliclie Fähigkeit erlangt, die
äusserste Celluloseschicht ihrer Epidermiszellen zu verkorken . Wachsen
die Organe mit dem Aelterwerden in die Dicke, so wird das aus
Kork Ijestehende Oberhäutchen zerrissen; die Verdunstung und der
Zutritt von Sauerstoff wirken nun auf das unterliegende Zellgewebe
ein und der Reiz veranlasst die Bildung einer mehrschichtigen Kork-
zellenhaut, welcher Vorgang bei andauerndem Dickenw^achsthum sich
von Zeit zu Zeit wiederholt. Man kann die Bedingungen künstlich
herstellen. AVenn man Kartoffeln, welche, gleich den übrigen Land-
pflanzen, die Fähigkeit erlangt haben, eine solche Korkhaut (die
Kartoffelschale) zu bilden, quer durchschneidet und die Schnittfläche
der Verdunstung und der Einwirkung der Luft aussetzt, so entsteht
innerhalb derselben eine schützende Korkhaut. Bewahrt man da-
gegen die Schnittfläche vor der Verdunstung und der Lufteinwir-
kung, indem man sie auf eine Glasplatte oder einen Teller legt
oder in Wasser bringt, so l^leibt die Korkbildung aus und es tritt
Fäulniss ein.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 10
146 ni- Ursachen der Veränderung.
Der Reiz hat bei verschiedenen Pflanzen und verschiedenen
Organen einen sehr ungleichen Grad der Verkorkung verursacht.
Pflanzen, die für eine feuchte Atmosphäre bestimmt sind, Organe,
die nur eine kurze Lebensdauer erreichen, haben eine dünne Kork-
bedeckung, während Pflanzentheile von längerer Dauer und in sehr
trockener Luft auch sehr gut geschützt werden.
Die Land2:>flanzen haben ausser dem weichen Zellgewebe, welches
die Ernährung und auch die Leitung der Stoffe besorgt, dickwandige
durch ^''erholzung festgewordene Zellen, die das Holz und den Bast
zusannnensetzen. Diese verholzten Gewebe verrichten mechanische
Functionen und sind deshalb auch mechanische genannt worden*).
Sie tragen und stützen die weichen Gewebe, sie bewahren die Organe
vor dem Zerbrechen und Zerreissen. Den Wasser j)flanzen, welche
weder ihr eigenes Gewicht zu tragen, noch der Gew^alt der Winde
zu widerstehen haben, mangeln die mechanischen Zellen fast gänz-
lich. Dieselben bildeten sich erst und zwar vorzugsweise aus den
dünnwandigen, langen und engen Zellen der Gefässstränge, als die
ursj^rünglichen Wasserbewohner zu Landbewohnern wurden.
Da die mechanischen Gewebe genau so angeordnet sind, wie
es für freistehende oberirdische Organe die Druck- und Biegungs-
festigkeit, für die unterirdischen und für einige oberirdische Organe
die Zugfestigkeit verlangt, da also ihre Lage den mechanischen
Anforderungen entspricht, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie
durch die Spannungen, welche Druck und Zug bewirkten, entstanden
sind. Denn diese Spannungen waren gerade da am stärksten, wo
sich jetzt die mechanischen Zellen befinden. Ferner mussten die
Spannungen vorzugsweise in den langgestreckten Zellen der Fil)ro-
vasalmassen (Gefässstränge) sich geltend machen, weil die kurzen
und weiten Parenchymzellen mit ihren grösseren Zwischenzellräumen
leichter durch Gestaltsänderung der mechanischen Gewalt nachgeben
können. Es ist also wohl denkbar, dass die wichtige Einrichtung
der mechanischen Gewebe im Pflanzenreiche unter dem Einfluss
des von äusseren Kräften bewirkten Reizes zur Ausbildung gelangte.
Während die meisten Pflanzen durch den aufgerichteten festen
Stengel in den Genuss von Licht, Luft und Thau gelangen, klettern
andere mit schwachen Stengeln versehene an den ersteren empor,
') Seh wen d en e r, Das meclianische Princip im anatomischen Bau der
Monocotylen.
III. Ursachen der Veränderung. 147
um sich in den Genuss der nämlichen Vortheile zu setzen. Sie
bedienen sich dazu verschiedener Mittel, die aber alle phylogenetisch
den nämlichen Ursprung haben konnten. Denken wir uns, es be-
finden sich Gewächse , die eines beti'ächtlichen Längen wachsthums
fähig sind, aber aus irgend einem Grunde keinen tragfesten Stengel
gebildet haben oder bilden konnten, im Gebüsch. Der Lichtmangel
und die grössere Feuchtigkeit des Schattens macht sie einigermaassen
vergeilen; ihre Organe werden in Folge dessen länger, dünner, mit
weicherem Gewebe und schwächerem Korküberzug; zugleich wird
durch diese Eigenschaften die Empfindlichkeit für Reize gesteigert.
Der schlaffe Stengel legt sich da und dort, sowie er wieder ein
Stück in die Hcihe gewachsen ist, auf die festen Aeste des Busch-
werks. An diesen Stellen entsteht schon durch die mechanische
Wirkung eine schwache Biegung, welche durch den Reiz der Be-
rührung vermehrt wird, indem derselbe an der betreffenden Seite
eine relative Verkürzung (geringere Streckung) bewirkt. Die Reiz-
barkeit wird erblich und bildet sich von Generation zu Generation
weiter aus. Sie kommt nicht bloss dem Stengel, sondern auch den
Blättern zu, weil diese ebenso häufig mit fremden Körpern in Be-
rührung treten und zu Biegungen veranlasst werden. Die Biegungen
der Stengel und Blätter dienen den Pflanzen als Stützpunkte, ver-
mittelst welcher sie in allerdings noch einfacher und primitiver
Weise im Buschwerk emporklettern.
Dies mag der ursiDrüngliche, aber erst nach langen Zeiträumen
erreichte Zustand der Kletterpflanzen gewesen sein ; derselbe hat
sich durch noch längere Zeiträume in verschiedener Weise um- und
ausgebildet. Die Veränderungen bestanden einmal darin, dass die
Reizbarkeit, indem sie sich steigerte, nur in bestimmten Organen
oder auch nur auf einer bestimmten Seite eines Organs erhalten blieb
und sich im übrigen verlor ; — ferner darin , dass die reizfähigen
Organe ihre Gestalt veränderten und rankenförmig (dünn und lang)
wurden ; — endlich darin , dass die Biegung , die früher auf den
Reiz erfolgte, später von selbst eintrat, und dass sie, da keine Seite
des Organs einen Vorzug hatte, und da rotirende Processe in den
Pflanzen überhaupt häufig und in verschiedener Form auftreten,
naturgemäss zur Circumnutation wurde.
Bei den einen Gewächsen traten diese, bei anderen jene Aende-
rungen ein. Die Ursachen des verschiedenen Verhaltens bestanden
10*
148 ni- Ursachen der Veränderung.
jedenfalls einerseits in der verschiedenen Natur der Pflanzen, andrer-
seits in der verschiedenen Beschaffenheit des Buschwerkes, in dem
sie sich befanden , sowie in dem Wechsel dieser Umgebung , dem
sie bei Wanderungen unterworfen waren. Die urscächliche Erklärung
aber lässt sich wohl noch nicht im einzelnen ausführen ; wir haben
einstweilen nur das Resultat der Veränderungen vor uns. Die Blatt-
kletterer umschlingen mit den reizbaren Stielen oder verlängerten
Spitzen der grünen Blätter die Stütze. Bei den Rankenklettcrern
ist das ganze Organ oder der Endtheil desselben fadenförmig und
reizbar, umschlingt in Folge des Reizes und rollt sich am freien
Theil schraubenförmig ein. Die Stengelkletterer (windende oder
Schlingpflanzen) mögen anfänglich einen reizbaren Stengel gehabt
und sich mit demselben in der Art um die Stütze gewunden haben,
wie es Mohl irrthümlich für die jetzigen Schlinggewächse annahm,
nämlich so, dass das sich verlängernde Ende fortwährend durch
Berührung mit der Stütze gekrümmt und somit an dieselbe ange-
drückt wurde. Die Reizl)arkeit ging dann ganz verloren, indem an
die Stelle der Reizbiegung die autonome Circumnutation trat, welche
in Verbindung mit anderen Wachstliumsvorgängen zur Befestigung
der kletternden Pflanzen ausreichte.
Die grünen Blätter zeigen eine bemerkenswerthe Verschiedenheit
zwischen der ol3eren dem Lichte zugekehrten und der unteren im
Schatten befindlichen Fläche. Dort ist das Gewebe fester, mit
wenigen oder ohne Spaltöffnungen , somit vor der A^erdunstung ge-
schützt ; die Aushauchung von Wasserdampf geschieht fast aus-
schliesslich an der unteren, aus lockerem Gewebe bestehenden und
mit zahlreichen S2)altöffnungen versehenen Seite, wo sie nie durch
das directe Sonnenlicht zu einem verderblichen Grade gesteigert
wird. Diese ungleiche Beschaffenheit in Bau und Verrichtung kann
eine Folge der ungleichen Einwirkung von Licht und strahlender
Wärme sein, indem der stärkere Reiz an der oljeren Seite das festere
Gefüge des Zellgewebes verursachte.
Es gibt auch grüne flachgedrückte Stengel, welche die gleiche
Function l)esitzen wie die grünen Blätter, die aber an beiden Flächen
gleich gebaut sind. Man könnte nun vielleicht fragen, warum dieselben
nicht, analog den Blättern, zwei verschiedene Seiten, eine Sonnen-
und eine Schattenseite besitzen. Bei den Stengeln konnte sich aber
die Ungleichheit nicht ausbilden, weil die Orientirung derselben
III. Ursachen der Veränderung. 149
mit jeder Generation und selbst bei dem nämlichen Stengel in Folge
der Drehung um seine Achse von unten nach oben wechselt, während
bei den Blättern die Orientirung durch die Anheftung am Stengel
morphologisch bestimmt ist und daher durch alle Generationen die
nämliche bleibt.
Besondere Aufmerksamkeit haben von jeher die mit der Fort-
pflanzung verbundenen Einrichtungen erregt und sind in neuester
Zeit bestimmt als Anpassungen an die Aussenwelt in Ansprucli ge-
nommen worden. So sehen wir bei der Mehrzahl der Phanero-
gamen die Geschlechtsorgane umgeben von grossen glänzend ge-
färbten Blmnenkronen , welche keinen änderen Nutzen gewähren,
als dass sie die blüthenbesuchenden , Blumenstaub und Honig
sammelnden Insecten anlocken und dadurch die Kreuzung zwischen
den Individuen gegenüber der Selbstbefruchtung befördern. Sie
mangeln den Gefässcryptogamen und den Gymnospermen , welche
die niedrigste Abtheilung der Fhanerogamen darstellen, sowie einigen
Gruppen der Monocotylen (z. B. den grasartigen Gewächsen) und
der Dicotylen (z. B. den kätzchentragenden Bäumen).
Staubgefässe und Kronblätter sind mit einander nahe verwandt;
die ersteren verwandeln sich leicht in die letzteren, welche Um-
wandlung bei den doppelten oder gefüllten Blumen sichtl)ar wird.
Die Staubgefässe sind blattartige Organe; sie treten auch in ihrer
einfachsten und ursprünglichsten Form als kleine schuppenförmige
Blätter auf. Aus solchen schupj^enartigen Stauljgefässen, in einigen
Fällen vielleicht auch aus sterilen , dieselben umhüllenden Deck-
blättern sind durch beträchtlich gesteigertes Wachsthum die Kron-
blätter hervorgegangen. Diese Steigerung des Wachsthmns mag
wesentlich durch den Reiz veranlasst worden sein , welche die
blüthenstaub- und säfteholenden Insecten fortwährend durch Krabbeln
und kleine Stiche verursachten. Wenn ein einmal wirkender Reiz
eine Wucherung des Zellgewebes erzeugt, wie wir sie bei der Gallen-
bildung durch Gall Wespenstich, bei den haarförmigen Bildungen aus
den Epidermiszellen an verschiedenen Blättern durch eine Colonie
winziger Milben kennen , so muss auch ein durch zahllose Genera-
tionen fortdauernder schwacher Reiz die Umwandlung einer kleinen
Schuppe in ein grosses Kronblatt zu Stande bringen können.
150 ^^- Ursachen der Veränderung.
Zu den merkwürdigsten und allgemeinsten Anpassungen, die
wir an der Gestalt der Blütlien beobachten, gehören die langröhrigen
Kronen in Verbindung mit den langen Rüsseln der Insecten, welche im
Grunde der engen und langen Röhren Honig holen und dabei die
Fremdbestäubung der Pflanzen vermitteln. Beide Einrichtungen, die
vegetabilische und die animalische, erscheinen so recht wie für
einander geschaffen. Beide haben sich allmählich zu ihrer jetzigen
Höhe entwickelt, die langröhrigen Blüthen aus röhrenlosen und
kurzröhrigen , die langen aus kurzen Rüsseln. Beide haben sich
ohne Zw^eifel in gleichem Schritt ausgebildet, so dass stets die Länge
der beiden Organe ziemlich gleich war.
Wie könnte nun ein solcher Entwicklungsprocess nach der
Selectionstheorie erklärt werden, (""a in jedem Stadium desselben
vollkommene Anpassung bestand ? Die Blumenröhre und der Rüssel
hatten beispielsweise einmal die Länge von 5 oder 10"'"' erreicht.
Wurde nun die Blumenröhre bei einigen Pflanzen länger, so war
die Veränderung nachtheilig, weil die Insecten beim Besuche der-
selben nicht melir befriedigt wurden und daher Blüthen mit kürzeren
Röhren aufsuchten ; die längeren Röhren mussten nach der Selec-
tionstheorie wieder verschwinden. Wurden andrerseits die Rüssel
bei einigen Thieren länger, so erwies sich diese Veränderung als
überflüssig und musste nach der nämlichen Theorie als unnöthiger
Aufwand beseitigt werden. Die gleichzeitige Umwandlung der beiden
Organe aber wird nach der Selectionstheorie zum Münchhausen,
der sich selbst am Zopfe aus dem Sumpfe zieht.
Nach meiner Vermuthung konnten die langen Blumenröhren
aus kurzen in gleicher Weise entstehen wie die grossen Blumen-
blätter aus kleinen. Durch die beständigen Reize, welche die kurzen
Rüssel der Insecten ausübten, wurden die kurzen Röhren veranlasst
sich zu verlängern. Dieses Wachsthum erfolgte als nothwendige Wir-
kung ihrer Ursache, obgleich es zunächst für die Pflanzen sich unvor-
theilhaft erwies. Mit der wachsenden Länge der Blumenröhre, welche,
weil durch die nämliche Ursache bewirkt, eine allgemeine Erscheinung
bei den Individuen einer Sippe w^ar, verminderte sich für die In-
secten die Leichtigkeit des Nektarholens. Dieselben wurden zu
grösseren Anstrengungen gezwungen, und der damit verbundene
Reiz, sowohl der physische, den das Organ bei der Arbeit erlitt, als
der psychische, welcher in der gesteigerten Begierde nach dem Ziele
in. Ursachen der Veränderung. 151
lag, verursachte eine Verlängerung des Rüssels, so lange, als eine Ver-
längerimg der Blumenröhre ihr vorausging. Dabei ist selbstverständ-
lich, dass jede Pflanze nur zu einem begrenzten Wachsthum der
Blume mid jedes Insect nur zu einem begrenzten Wachsthum des
Rüssels sich befähigt zeigt.
Die Honigabsonderung, die im Grunde der meisten nicht stäu-
benden Blüthen stattfindet, ist offenkundig eine für die Pflanzen
nützliche Einrichtung, weil sie den Insectenbesuch ganz besonders
befördert. Honigdrüsen kommen aber nicht bloss in den Blüthen,
sondern auch an den Laubblättern einiger Pflanzen (Viburnum
Tinus, Clerodendron u. s. w.) vor und sind daher keine eigens für
die Befruchtung hergestellte Anpassung. Was die Ursache betrifft,
welche diese Organe erzeugte , so möchte ich vermuthen , dass sie
ebenfalls in dem durch die Insecten ausgeübten Reiz zu suclien ist,
welche mit Bohrwerkzeugen an ihren Mundtheilen versehen sind
(Fliegen, Bienen, Schmetterlinge) und Pflanzenzellen anbohren, um
den Saft derselben zu gewinnen.
Es erscheint mir nun sehr plausibel und ganz in Ueberein-
stimmung mit den Ijekannten ontogenetischen Reactionen auf ähn-
liche Verwundungen , wenn wir annehmen , dass der mit dem ge-
nannten Angriff verbundene und durch eine lange Generationenreihe
sich stets wiederholende Reiz schliesslich zu der phylogenetischen
Bildung eines besonderen Drüsenorgans geführt habe. Dass das-
selbe fast bloss im Grunde der Blüthen sich findet, erklärt sich
daraus , dass diese Region wie keine andere an der Oberfläche des
Pflanzenkörpers aus einem weichen saftigen Gewebe besteht.
Die Nützlichkeit der Erscheinung für die Fortpflanzung hatte
keinen Einfluss aiff die Entstehung des Organs, und wenn die Selec-
tionstheorie durch ihr Princip sich genöthigt sieht, auch in den an
grünen Blättern befindlichen Honigdrüsen eine für die betreffenden
Pflanzen besondere vortheilhafte Einrichtung zu vermuthen , so
dürfte sie sich wohl einer Täuschung hingeben. Der Organismus
liat in diesem Fall, wie in allen anderen, lediglich auf einen Reiz
geantwortet. Eine solche Reaction ist, wenn sie sich phylogenetisch
zu einer Einrichtung entwickelt, allerdings vortheilhaft , indem sie
einen ferneren Reiz unmöglich oder unwirksam macht. Durch die
Bildung eines Honig absondernden Organs hat sich die Pflanze auf
eine natürliche Art gegen die störenden ICiiigriffe der Insectenbohr-
152 III- Ursachen der Veränderung.
Werkzeuge geschützt, da an dieser Stelle eine derbe luiutartige Be-
deckung mit dem Organisationsplan unvereinbar war. Wenn ausser
diesem unmittelbaren Nutzen ein ganz anderer mittelbarer Vortheil
für das ßefruchtungsgeschäft aus der Einrichtung gezogen wird,
so ist dies weiter nichts als ein glücklicher Zufall.
Es gibt noch eine Einrichtung in den meisten Blüthen der
Phanerogamen, welche ich von der Einwirkung der Insecten ableiten
möchte. Pflanzen mit kleiner unscheinbarer oder mangelnder Blüthen-
decke und ohne Honigabsonderung, die deswegen auch von den
Insecten im ganzen wenig oder nicht l)esucht werden , verstäuben
ihren Pollen durch den Wind. In den Blüthen dagegen mit grossen
Blumenblättern mit Honigdrüsen und mit reichlichem Insecten-
besuch hängen die Pollenkörner durch eine klebrige Substanz mehr
oder weniger zusammen und werden vom Winde nicht zerstreut.
Die erste Erscheinung ist die ursprüngliche, die letztere hat sich
phylogenetisch aus jener herausgebildet.
Die Insecten , welche auf den Blüthen herumkrochen , um
Blüthenstaub und Säfte zu holen, übten bei dieser Beschäftigung
nicht bloss auf die Blätter und den Grund der Blütlie einen Reiz
aus , sondern namentlich auch auf die Staubbeutel , sowohl durch
die Tritte ihrer Füsse und die Stiche ihrer Bohrwerkzeuge, als durch
verschiedene andere mechanische Angriffe. Die Folgen solcher Reize
sind im allgemeinen Wucherung des Zellgewebes bei stärkerer Ein-
wirkung, Vermehrung verschiedener Thätigkeiten bei schwächerer
Reizwirkung. Die genannten Eindrücke, welche während langer
Zeiträume auf die Staubbeutel ausgeübt wurden, haben denn auch
eine phylogenetische Veränderung derselben hervorgebracht. Die
Staubbeutel sind grösser, die Wandungen der Zellen, in denen sich
die Pollenkörner bilden, dicker geworden, und aus der desorgani-
sirten Substanz dieser Wandungen ist die klebrige Substanz hervor-
gegangen, welche die Pollenkörner zusammenhält. — Zwar kann
man das Bedenken äussern, dass die Staubbeutel den Reiz in der
Regel erst zu der Zeit in sehr wirksamer Weise empfingen, als die
Pollenkörner schon geljildet waren. Allein in protogynischen Blüthen
erfolgte derselbe doch in verhältnissmässig früher Zeit und ferner
hatten auch die noch ungeöffneten Blüthenknospen verschiedene
Angriffe der Insecten zu bestehen. Ueberdem ist es sicher, dass
ein säcularer Reiz, welcher eine phylogenetische Wirkung hat, das
III. Ursachen der Veränderung. 153
Organ nicht bloss in dem Zustande , in dem er es trifft , sondern
auch in früheren Entwicklungsstadien zu verändern vennag.
Ausser der Grösse und Gestalt der Blumenkronen , der Honig-
absonderung und dem klebrigen Blüthenstaub gibt es bekanntlich
noch zwei Erscheinungen , welche die Anpassung der Blüthen an
den Insectenbesuch vervollständigen , nämlich die Farbe und der
Geruch dieser Organe. Aber diese beiden Erscheinungen können
am allerwenigsten als eigens für die Fortpflanzung bestimmt gelten,
da sie nur ganz allgemeine ^^orkommnisse der vegetativen Organe
in der reproductiven Sphäre wiederholen.
Was die Farbe betrifft, so ist, wie ich zuerst erwähnen will,
von Wichtigkeit, dass die Blumenblätter in Bau und Verrichtung
der Gewebe genau mit dem sterilen Theil der Staubgefässe überein-
stimmen, und dass sie von den übrigen Blättern vorzüglich durch
die nicht grüne Farbe, die zartere Structur der Zellen und den
Mangel der Spaltöffnungen sich unterscheiden. Diese Eigenthümlich-
keiten der Staubgefässe hängen ohne Zweifel mit ihrer kurzen Dauer
zusammen; und sie kommen als Erbtheil auch den aus den Staub-
gefässen hervorgegangenen Blumenblättern zu. Ein Organ, welches
kein Chlorophyll bildet und also nicht grün w4rd, muss entweder
farblos (weiss) sein oder irgend eine andere Farbe zeigen. Das sterile
Gewebe der Staubgefässe ist öfters schwach gefärbt ; die Blumenblätter
nehmen ähnliche, nur intensivere Farben an, was mit auf die viel
stärkere Einwirkung des Lichtreizes zu setzen sein dürfte. Die näm-
lichen Farbstoffe , wie sie in den Blüthen gebildet werden , sind
übrigens häufig auch in anderen Organen enthalten. Wir finden
die rotlien und blauen Farbstoffe, die im Zellsaft der meisten Blumen-
blätter gelöst sind, nicht nur in Früchten (Kirschen, Trauljen), sondern
auch in Laubblättern schon im Sommer oder erst im Herbst (Ampe-
lopsis), in Stengeln (Cornus), in Haaren und Wurzeln (rothe Rüben).
Wir finden sie seilest abwärts durch das ganze Pflanzenreich bis zu
den einfachsten Gewächsen (einige Florideen enthalten neben dem
rothen unlöslichen Farbstoff einen rothen gelösten, einige Oscillariaceen
ausser dem spangrünen unlöslichen einen violetten oder blauen gelösten
Farbstoff).
154 III- Ursachen der Veränderung.
Die Ursachen, welche die genannten Farbstoffe erzeugen, sind
also nicht auf die Blüthen beschränkt, sondern allgemein durch das
Pflanzenreich verbreitet. Sehr wahrscheinlich liegen sie nicht schon
in der Sul)stanz selber, sondern in äusseren Einflüssen. Da diese
Einflüsse sich unserer Erkenntniss entziehen, so vermögen wir auch
den unmittelbaren Vortheil, der vielleicht durch die fragliche Farb-
stoffbildung für die Pflanzen erlangt wird, nicht einzusehen. Der
weitere Nutzen al)er, den sie unzweifelhaft bei der Fortpflanzung
gewähren, kann, wie derjenige der Honigabsonderung, nur ein mittel-
barer und zufälliger sein.
Ganz ebenso wie mit den Farben verhält es sich mit den Ge-
rüchen der Blüthen. Die Gewissheit, dass ihre Ursachen keine
direkte Beziehung zu der Befruchtung und Fortpflanzung haben,
tritt hier noch überzeugender hervor, weil die Gerüche der Blmnen
an Intensität und allgemeinem Vorkommen sogar von den aroma-
tischen \^erbindungen der vegetativen Organe, namentlich der grünen
Blätter, übertroffen werden.
Wenn ich die Ursachen für die mit dem Insectenbesuch zu-
sammenhängenden Anpassungen bei der Fortpflanzung der Phane-
rogamen richtig erkannt habe, so wurden die Abänderungen der
ursprünglichen Blüthen wesentlich durch die bei diesem Besuche
stattfindenden mannigfaltigen Reize hervorgebracht. Man könnte
vielleicht entgegnen, warum die Gallwespen, die jährlich ihre Eier
in die vegetativen Organe der Eichbäume und anderer Pflanzen
legen, nicht ebenfalls Anpassungsveränderungen hervorgebracht haben.
Al)er die Verhältnisse sind in den beiden Fällen doch wesentlich
verschieden. In den Blüthen erfährt das nämliche Organ durch alle
Generationen hindurch ganz in der gleichen Weise den Insecten-
reiz. In den vegetativen Organen ist es bald diese, bald jene Stelle,
welche getroffen und welche bald in der einen, bald in der andern
Weise verletzt wird. Genau die gleiche Stelle an dem Stamm-
gerüste oder der nämliche Theil des gleichen, durch seine Stellung
am Stammgerüste bestimmten Blattes wird kaum alle zehn, vielleicht
kaum alle hundert Jahre einmal von dem nämlichen Insect ge-
stochen. Ueberdies ist der Reiz der Insecten auf die Blüthentheile
ein dauernder und schwacher , und als solcher für Erzeugung
phylogenetischer Um1)ildung viel geeigneter als ein einmaliger hef-
tiger Eingriff.
in. Ursachen der Veränderung. 155
Indem die Insecten die Veranlassung zur Vergrösserung der
Blumenkrone, zur Honigabsonderung und zum Klebrigwerden des
Pollens gaben, war ihre Wirkung für die Pflanzen nachtheilig, weil
für die ersten zwei Erscheinungen eine grössere Arbeit aufgewendet
werden musste, und weil die dritte Erscheinung die regelmässige
Befruchtung beeinträchtigte. Besonders der letztere Umstand hat
wohl unter den Myriaden ausgestorbener Pflanzensippen die Ver-
nichtung mancher derselben verursacht, und er würde noch gründ-
licher aufgeräumt haben, wenn nicht der Insectenbesuch durch Ver-
mittelung der Bestäubung die Nachtheile, die er gebracht, selber
aufgewogen hätte.
Während die meisten auffallenden Abänderungen der ursprüng-
lichen kleinen und unscheinbaren Blüthen auf Rechnung der In-
secten zu setzen sind, läs.st sich dasselbe nicht auch für Farbe und
Geruch annehmen, wie ich gezeigt habe. Wenn zwar auch diese
Erscheinungen den Insecten als Selectionsresultat zugeschrieben
werden, so ist dafür doch nicht der geringste Beweis geleistet.
Bezüglich der Farben, welche von den Pflanzen durch Auswahl
festgehalten w^orden sein sollen, um gewisse Classen von Insecten
vom Besuche auszuschliessen , sind die Beobachter selber ganz un.
gleicher Meinung. Dass bestimmte Blimienfarben deswegen Bestand
gewonnen haben, weil bestimmte Insecten eine Vorliebe für sie
besassen, ist im Grunde weiter nichts als eine willkürliche An-
nahme, und wenn H. Müller in consequenter Verfolgung dieses
Gedankens u. a. sagt, dass »Bienen mid Hummeln sich Blumen
der verschiedensten Farben gezüchtet haben« und dass beispielsweise
dieselljcn >auch in der Familie der Primulaceen sich ausser rotlien
und violetten auch gelbe Blumen gezüchtet haben«, so könnte man
wohl mit mehr Recht annehmen, dass die Aufmerksamkeit dieser
Insecten von jeder Farbe erregt wird und dass sie sich gar niclits
züchteten.
Um die Frage sicher zu entscheiden, ob gewisse Farben mehr
als andere, und gewisse Gerüche mehr als andere, bestimmte Insecten
anzulocken vermögen, niüsste der Weg des Experiments einge-
schlagen werden. Es müssten künstliche Blumen von verschiedener
Farbe, theils ohne Geruch, theils mit verschiedenen aromatischen
Verbindungen wohlriechend gemacht, an grüne Zweige befestigt und
der Insectenbesuch genau beobaclitet werden. Ich habe mit Erfolg
156 III- Ursachen der Veränderung.
eine solche experimentelle Behandlung schon in den Jahren 1863 und
1864, aber nur für einen ganz allgemeinen Zweck angewendet^) und
mich dabei überzeugt, dass die Insecten durch die Farbe und den
Geruch cler papiernen Blumen herbeigelockt wurden. Dieser Weg
hätte für specielle Zwecke weiter verfolgt werden sollen; derselbe
hätte wohl zuverlässigere Ergebnisse versprochen, als die blosse Be-
obachtung der natürlichen Blumen , in denen immer verschiedene
Momente zusammenwirken. Er würde zwar nicht gezeigt haben, welche
Farben und Gerüche den Insecten ihr Dasein verdanken, aber ganz
bestimmt, für welche Farben und Gerüche jede Art Vorliebe besitzt.
Zu den merkwürdigsten Anpassungen , die bei der Fortj^flan-
zung der Phanerogamen vorkommen , gehört die Einrichtung der
dimorphen und trimorphen Blüthen. Um diese Einrichtung dem
nicht botanischen Leser in Erinnerung zu bringen, bemerke ich, dass
bei Dimorphismus (z. B. Primula) die einen Blüthen kurze, die
anderen lange Griffel besitzen. In den kurzgriffeligen Blüthen be-
finden sich die Staubgefässe oben, in den langgriff eligen aber tiefer
in der Kronröhre, so dass also Narbe und Staubbeutel in der gleichen
Blüthe in zwei Stockw^erken befindlich und möglichst von einander
entfernt sind, in verschiedenen Blüthen aber in gleicher Höhe liegen,
indem die einen Blüthen im untern Stockwerk die Narbe, im obern
die Staubbeutel, die andern dagegen im untern Stockwerk die Staub-
beutel, im obern die Narbe enthalten. — Bei Trmiorphismus (z. B.
Lythrum Salicaria) gibt es dreierlei Blüthen, nämlich solche mit
kurzem, solche mit mittellangem und solche mit langem Griffel.
Von den meist 10 Staubgefässen hat die eine Hälfte einen höheren,
die andere einen tieferen Stand, in der Weise, dass die männlichen
und weiblichen Geschlechtsorgane in jeder Blüthe drei Stockwerke
einnehmen. Die Narbe befindet sich im unteren, mittleren oder
oberen Stockwerk und je die beiden anderen Stockwerke sind von
den Staubgefässen besetzt.
Dieser morphologischen Anordnung entspricht in physiologischer
Beziehung die Erfahrung, dass männliche und weibliclie Organe,
flio dem gleichen Stockwerk angehören, in den Blütlien also einen
gleich hohen Stand zeigen, sich am leichtesten befruchten und die
grösste Menge von Samen liefern, während Geschlechtsorgane ver-
^) Entstehung und Begriff der uaturliistorischen Art. 18G5.
III. Ursachen der Veränderung. 157
schiedeiier Stockwerke eine Abneigung gegen die Begattung kund
tliuii und eine weniger zahlreiche Nachkommenschaft geben; die
Abneigung kann so weit gehen, dass die Befruchtung ganz au.sbleibt.
Die Begattungen zwischen den Organen des gleichen Stockwerkes
sind legitime, diejenigen zwischen ungleichen Stockwerken illegitime
genannt worden. Aus der morphologischen Anordnung ergibt sich,
dass die legitimen Befruchtungen nur durch Kreuzung verschiedener
Blüthen zu Stande kommen, und dass Selbstbestäubung immer ille-
gitim ist.
In bemerkenswerther Uebereinstimmung mit der physiologischen
Erfahrung steht die Anpassung an die Insectenwelt. Die Insecten,
welche nacheinander verschiedene Stöcke einer Pflanzenart besuchen,
und, um ihr Ziel, den Honig im Grunde der Blumenröhre, zu er-
reichen, immer gleich weit in dieselbe eindringen, bedecken sich in
dimorphen Blüthen auf zwei, in trimorphen auf drei Zonen ihres
Körpers, welche den zwei oder drei Stockwerken der Blüthen ent-
sprechen, mit Blüthenstaub. Bei fortgesetztem Blütlienl.)esuche ]je-
wirken sie fast ausschliesslich legitime Kreuzungsbefruchtungen,
indem jede mit Blüthenstaub beladene Körperzone mit Narben des
nämlichen Stockwerkes in Berührung kommt.
Was nun die Ursache der sonderbaren mori^hologischen An-
ordnung betriift, die sich so nützlich für die Befruchtung erweist,
so sollte man meinen, dass man hier, ^vie bei kaum einer anderen
Einrichtung, auf zufällige A^ariation und auf die Auslese der gün-
stigen aus den ungünstigen Combinationen angewiesen sei. Doch
gibt es einen Weg, der, wie mir scheint, auf direct bewirkende
Ursachen zu führen vermag. Um dieselben klar zu legen, muss
ich zuerst einige Punkte feststellen.
Der erste Punkt, den wir ins Auge zu fassen haben, ist der,
dass die Lagerung der Geschlechtsorgane in zwei oder drei Stock-
werke eine erbliche Erscheinung ist, indem sie sich in den ver-
schiedenen Combinationen immer wiederholt; ferner, dass für jedes
Stockwerk eine besondere männliche und weibliche Anlage im Idio-
plasma vorhanden sein muss. Letzteres ist um so nothwendiger,
als die Pollenkörner und die Narbenpapillen auf den verschiedenen
Stockwerken ungleich ausgebildet sind. Es gibt also im Idioplasma
der dimorphen Pflanzen je zwei, in demjenigen der trimorphen
Pflanzen je drei Anlagen sowohl für die Staubgefässe als für die
158 III- Ursachen der Veränderung.
Griffel. Diese Anlagen oder, wenn dieselben entsprechend der früher
ausgesprochenen Vermuthuiig in ihre Componenten aufgelöst sind
(S. 44), diejenigen Componenten, welche die örtliche Lage bestimmen,
werden wie ihre Entfaltungsmerkmale räumlich getrennt sein.
Der zweite Punkt betrifft die Abneigung gegen illegitime Be-
gattung, welche sich deutlich in der verminderten Samenzahl aus-
spricht. Diese Abneigung muss in den Pollenkörnern und in den
Narbenpapillen begründet sein, indem die Substanz dieser Organe,
wenn sie von verschiedenen Stockwerken herstammt, sich gegen-
seitig weniger anzieht, als wenn sie dem gleichen Stockwerk an-
gehört. Die nämliche Eigenschaft ist aber auch den betreffenden
idioplasmatischen Anlagen zuzuschreiben. Zur Begründung dieser
Folgerung führe ich an, dass wirkliche Anziehung zwischen ver-
schiedenen Idioplasmen vorkommt, nämlich zwischen dem Sperma-
tozoid und dem Keimfleck der Eizellen, wie ich später zeigen werde.
Und wenn Anziehung erwiesen ist, so muss auch die Möglichkeit
von vorkommender Abstossung angenommen werden. Für das Vor-
handensein von dynamischen Beziehungen zwischen den Geschlechts-
organen spricht auch der Umstand, dass bei manchen Pflanzen die
Staubgefässe und die Griffel sich zur Zeit der Befruchtung gegen
einander neigen.
An diesen zweiten Punkt schliesst sich dann die Thatsache an,
dass bei manchen Pflanzen Abneigung gegen Selbstbefruchtung be-
steht, indem Fremdbestäubung mehr Samen hervorbringt als Selbst-
bestäubung. Daraus geht deutlich hervor, dass die ganze Ein-
richtung der dimorphen und trimorphen Blüthen, wie dies übrigens
bereits feststehende Annahme ist, ihre physiologische Bedeutung nur
in der verhinderten Selbstbefruchtung und in der beförderten
Kreuzung erhält.
Aus dem Zusammenhalte der eben angeführten Momente ziehe
ich nun folgenden Schluss für die phylogenetische Entstehung der
dimorphen Blüthen. Diese waren ursprünglich homomorph ; die Vor-
fahren von Primula hatten nur einerlei Blüthen, deren Staubbeutel
und Narben in gleicher Höhe lagen. Die beginnende Abneigung
gegen Selbstbefruchtung bewirkte in den Idioplasmareihen, welche
die örtliche Stellung bestimmen, eine Scheidung in zwei Anlagen
und in Folge der gegenseitigen Abstossung eine Entfernung dieser
Anlagen von einander oder wenigstens eine Entfernung der ent-
ni. Ursachen der Veränderung. 159
falteten Organe. Die beiden bloss örtlichen und die Stellung in den
zwei Stockwerken bedingenden Anlagen sind beiden Geschlechtern
gemeinsam; und die Abneigung gegen Sellistbefruchtung hat nun
die nothwendige Folge, dass, wenn in einem bestimmten Pflanzen-
individuum bei der Staubgefässbildung die eine Anlage wirksam
wird, sie für die Griffel) )ildung latent bleibt, und dass für die letztere
dann die andere Anlage in Thätigkeit versetzt wird, dass also Staub-
beutel und Narben immer zwei verschiedenen Stockwerken angehören.
Die trimorphen Blüthen von Lythrum Salicaria waren in den
Vorfahren ebenfalls homomorph. Der Scheidungsprocess gestaltete
sich aber etw'as comphcirter, indem er nicht nur zwdschen den
Staubbeuteln und Narben, sondern auch zwischen den Staubbeuteln
unter sich auftrat. Was die letztere Scheidung betrifft, so kommt
es überhaupt nicht selten vor, dass, wenn die Staubgefässe in zwei
Kreise gestellt sind, die Staubbeutel des einen Kreises höher hegen
als die des anderen. Ich nehme hier diese Thatsache als gegeben an,
ohne ihre Ursache ergründen zu wollen. In den trimorphen Blüthen
besteht, zugleich mit der Thatsache, dass die nämlichen Anlagen
im Idioplasma die Höhenlage der männlichen und weiblichen Organe
bedingen, Scheidung der beiden Staubbeutelkreise neben der Ab-
neigung zwischen den letzteren und der Narbe. So mussten sich
drei idioplasmatische Anlagen für den örtlichen Sitz der Geschlechts-
organe bilden, die sich in jeder Pflanze möglicher Weise in anderer
Combination verwirklichen. Nimmt die Narbe den unteren, den
mittleren oder den oberen Stand ein, so werden die zwei Staubbeutel-
kreise wegen ihrer Abstossung gegen die Narbe und untereinander
in die beiden übrigbleibenden Stockw^erke verwiesen.
Die Entstehung der heteromorphen aus den homomorphen
Blüthen lässt sich auf mechanischem Wege denken, w^enn die ört-
liche Stellung der männlichen und w^eiblichen Geschlechtsorgane
durch eine gemeinsame Grupj:)e im Idioplasma bestimmt wird, welche,
sobald die der Abneigung gegen Selbstbefruchtung entsprechende
innere Abstossung einen gewissen Grad erreicht hat, in zwei oder
drei Anlagen aus einander weicht. Ob dann in dem einzelnen
Individumn die eine oder andere Stellung dem weiblichen Organ
zufalle (dm^cli welche selbstverständhch auch die der männhchen
Organe bestimmt ist), hängt von unbekannten bei der Keimbildung
schon entscheidenden Ursachen ab, in ähnhcher Weise wie bei
160 III- Ursachen der Veränderung.
Arten mit getrenntem Geschlecht in jenem Zeitraum ebenfalls dm^h
unl)ekannte Ursachen entschieden wird, ob das entstehende Individuum
männlich oder weiljlich sein wird. Daraus folgt aber nicht, dass
jede Pflanzenart, die eine entschiedene Abneigung gegen Selbst-
befruchtung erlangt, nothwendig auch heteromorph in der Blüthen-
bildung werde. Die Abstossung kann sich auch einfach dadurch
])ethätigen, dass Staubbeutel und Narben aus einander weichen, wo-
durch die Selbstbefruchtung erschwert wird und die Art, sofern nicht
Fremdbestäubung auf irgend einem Wege statt findet, zu Grunde
gellt. Ob die Blüthen bei Eintritt der Al)neigung gegen Selbst-
bestäubung homomorph bleiben oder heteromorph werden, hängt von
dem Umstände ab, ob die beiden Geschlechtsorgane für ihre örtliche
Stellung gemeinsame oder getrennte Anlagen im Idioplasma besitzen.
Man kann sich die phylogenetische Entstehungsweise der ver-
schiedenen Vorkommnisse in folgender Weise denken. Auf den
niederen Stufen der Phanerogamen verhalten sich die Höhenlagen
der Staubbeutel und der Narben sowie ihre getrennten Anlagen im
Idioplasma indifferent gegen einander, wobei die beiden Organe
bald in gleicher, bald in ungleicher Höhe sich befinden. Dann
treten dynamische Beziehungen zwischen denselben auf: Abstossung
der Anlagen unter einander in Folge von Aljneigung gegen Selbst-
befruchtung bewirkt die Entfernung der Staubbeutel von den Narben ;
Anziehung dagegen bedingt die Lagerung dieser Organe in gleicher
Höhe oder eine gegenseitige Annäherung durch Krümmung der
Stauljfäden und Griffel umnittelbar vor der Befruchtung.
Die Anziehung der beiden Anlagen hat aber noch eine andere
wichtige Folge. Steigert sich dieselbe zu einem gewissen Grade, so
verursacht sie die Vereinigung derselben, so dass nunmehr für die
Höhenlage der beiden Geschlechtsorgane eine einzige Anlage besteht,
deren Erregung sowohl die Stellung der Staubbeutel als der Narbe
bedingt. Sj^äter kann dann im Verlaufe der Generationen Abneigung
gegen Selbstbefruchtung auftreten, und es ist nicht unmöglich, dass
diese Abneigung durch eine mit der Annäherung der Geschlechts-
organe verbundene, allzu ausschliessliche Bestäubung mit eigenem
Pollen hervorgerufen wdrd. Sie bewirkt, dass die gemeinschaftliche
Anlage im Idioi:)lasma sich in zwei trennt, und dass die Staub-
beutel und die Narbe sich von einander entfernen. Aber die beiden
neuen Anlagen sind nicht die nämlichen, wie diejenigen, aus denen
ni. Ursachen der Veränderung. Ißl
ursprünglich die einfache Anlage zusammengeflossen ist, sondern es
sind ihrem Ursprünge entsprechend, gemeinschaftliche Anlagen
für die Lagerung der Staubbeutel und Narben, so dass die Blüthen
bald lange Griffel und tiefliegende Staubbeutel, bald km-ze Griffel
und hochliegende Staubbeutel enthalten. — Was die trimorphen
Blüthen betrifft, so entstehen dieselben entweder aus dimorphen,
indem mit dem Auseinandergehen der beiden Staubbeutelkreise die
eine der beiden gemeinschaftlichen Anlagen im Idioplasma sich noch
einmal in zwei theilt. Oder die ursprünglich einfache Anlage theilt
sich sofort in drei gemeinschaftliche, indem gleichzeitig die Narbe
und die beiden Staub]3eutelkreise, die bis dahin das gleiche Stock-
werk einnahmen, in drei Stockwerke mit alternirender Besetzung
auseinander weichen.
Die räumliche Trennung der Geschlechtsorgane in der herma-
phroditischen Blüthe, welche durch den Widerwillen gegen Selbst-
bestäubung herbeigeführt wird, hat bei eintretendem Heteromor-
phismus noch die weitere Folge, dass a,uch Geschlechtsorgane
anderer Blüthen, welche der Stellung nach den gemiedenen Organen
der eigenen Blüthe entsprechen, zur Befruchtung weniger geeignet
sind, und dass nur Kreuzung von Staubbeuteln und Narben gleicher
Stockwerke eine vollkommene Fruchtbarkeit ergibt. Diese Er-
scheinung erklärt sich leicht aus dem Umstände, dass sow^ohl die
Pollenkörner als die Narbenpapillen der verschiedenen Stockwerke
etwas ungleich ausgebildet sind, was man aus der verschiedenen
Grösse und theilweise auch aus der verschiedenen Farbe erkennt.
Was die ungleiche Grösse betrifft, welche mit dem höheren
Stand wächst, so hat man sie als ein Ergebniss der Zuchtwahl er-
klären wollen, indem man annahm, dass Pollenkörner, die für eine
höher gelegene Narbe bestimmt sind und daher längere Schläuche
bilden müssen, dazu auch mehr Stoff verbrauchten. Diese Erklärung
ist physiologisch unhaltbar. Die Pollenschläuche empfangen die für
ihr Wachsthmn nothwendigen Stoffe im gelösten Zustande aus den
Secreten der Narbe und des Griffelcanals. Dies ergibt sicli deutlich
daraus, dass die Substanz des Pollenschlauches oft das Vielfache
des Pollenkorns beträgt, sowie ferner daraus, dass bei verschiedenen
Pflanzengattungen Grösse der Pollenkörner und Länge des Griffol-
weges in keinem von einander abhängigen Verhältniss stehen, dass
oft lange Griffel und kleine Pollenkörncr und andrerseits kurze Griffel
V. Nägeli, Abstammungslehre. 11
]ß2 ni. Ursachen der Veränderung.
und grosse Pollenkörner zusammengehören. Die ungleiche Grösse
der Pollenkörner in heteromorphen Blüthen scheint mir daher nicht
die angenommene Bedeutung und überhaupt keine grosse Wichtig-
keit zu haben. Vielleicht lässt sie sich einfach aus der bei den Vege-
tationsorganen allgemein gültigen und auch bei Fortpfianzungsorganen
zuweilen eintreffenden Erscheinung erklären, dass bei übrigens
gleicher Beschaffenheit höher gelegene Theile stets rascher sich ent-
wickeln und eine beträchtlichere Grösse erreichen als die ent-
sprechenden tiefer liegenden Theile.
Bei allen den Beispielen, die ich angeführt habe, und die sich
übrigens leicht vermehren liessen, befriedigt die Anpassung, welche
als Reaction auf einen äusseren Reiz eintritt, stets ein Bedürfniss
und erweist sich somit als nützlich. Oft ist der Mangel, welchem
abgeholfen wird , viel deutlicher zu erkennen , als die von aussen
kommende Einwirkung, und man verfällt naturgemäss auf den Ge-
danken, dass das Bedürfniss oder der Mangel selbst als Reiz wirken
können. Wenn ich von dieser Möglichkeit spreche, so denke ich
natürlich nicht an neue Bedürfnisse, die der Organismus gar nicht
kennt, sondern an solche, die bei den Vorfahren befriedigt waren
und von denen gleichsam eine Erinnerung vorhanden ist. Ein
Beispiel wird meinen Gedanken deutlich machen.
Es handle sich um den Schutz der Landpflanzen gegen das
^^erdunsten. Dieselben sind die Nachkommen von Wasserpflanzen,
die von Wassermangel nichts wussten. Ihr Idioplasma war so be-
schaffen, dass es einen Organismus erzeugte, welcher das Dm-ch-
drungensein mit Wasser und somit das Vorhandensein dieses Mediums
voraussetzte. Als die Gewächse das bisherige Medium mit feuchter
Luft vertauschten , wurde die genannte Voraussetzung nicht mehr
erfüllt. Die aus dem Idioplasma hervorgehende Pflanzensubstanz,
welche nun etwelcher Verdunstung ausgesetzt war, empfand also
den Mangel von etwas, das ihr bisher nicht mangelte, und dieser
Mangel konnte als Reiz wirken, welcher zu den von aussen wirkenden
Reizen hinzukam, — oder, um mich anders auszudrücken, dieser
Mangel konnte der Reaction des Organismus auf die äusseren Reize
die bestimmte Richtung geben, so dass die Anj^assung in einer zur Be-
friedigung des empfundenen Bedürfnisses dienenden Weise erfolgte.
in. Ursachen der Veränderung. 163
Es gibt nun aber auch Anpassungen, wo dem Anscheine nach
die äusseren Einflüsse keine Rolle spielen und wo das Bedürfniss,
welches befriedigt wird, nicht als Reiz wirken kann. Hieher ge-
hören die zahllosen Erscheinungen, die sich unter dem Namen Sorge
für die Brut zusammenfassen lassen. Um nur von dem einen und
wichtigsten Punkt zu sprechen, so werden die Keime von den Eltern
entweder eine Zeit lang ernährt, oder sie werden von denselben mit
Nährstoffen ausgestattet, von denen sie leben, bis sie sich selbst
nähren können. Man wird wohl zu der Behauptung geneigt sein,
dass die äusseren Einwirkungen hier sich nicht geltend machen,
so dass als Reiz nur das Bedürfniss übrig bliebe; aber dasselbe
müsste gleichsam eine Fernwirkung in die Zukunft zu Stande
bringen. Das Bedürfniss nach Nahrung, welches der Keim empfindet,
müsste eine derartige Umstimmung im Idioplasma hervorbringen,
dass das erwachsene Individuum die Neigung empfände, seine Keime
besser mit Nährstoffen zu versehen.
Eine so complicirte Vermittlung des durch das Bedürfniss be-
wirkten Reizes, so dass die Reaction erst viel später und zwar in
dem Zeitpunkte eintreten würde, wo sie sich als vortheilhaft erwiese
und das von neuem auftretende Bedürfniss zu befriedigen vermöchte,
ist zwar vielleicht nicht als absolut unmöglich zu verwerfen, aber
sie hat doch nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit. Es erhebt
sich daher die Frage, ob wir für die ganze Kategorie von Erschei-
nungen, welche die Sorge füi- die Brut betreffen, auf die direct be-
wirkenden Ursachen verzichten müssen? Vor dieser Misslichkeit
vermag uns, wie ich glaube, folgende Erwägung zu bewahren.
A^on jeder Anpassungserscheinung ist Zeit und Ort ihres Ent-
stehens aufzusuchen und hier ist sie nach ihren ursächlichen
Momenten zu beurtheilen; denn allen späteren Organismen wurde
sie wenigstens theilweise als Erbschaft überliefert. Um die Anfänge
der Sorge für die Brut aufzufinden, müssen wir zu dem Ursprünge
der niedrigsten bekannten Organismen und selbst noch weiter in
das Reich der Probien hinuntersteigen. Auf der ersten Stufe dieses
Reiches findet bloss Zunahme des primordialen Plasmas statt; auf
der zweiten kommt regelmässige Theilung hinzu und zwar, wie ich
später zeigen werde , vermittels des aus geordneten Micellen be-
stehenden Plasmahäutchens, welches die kleinen individuellen Plasma-
tröpfchen umschliesst; auf den folgenden Stufen schreitet die Organi-
11*
164 in. Ursachen der Veränderung.
sation des Riiidenplasmas fort bis zur Beweglichkeit des ersten
Tliieres (Moners) und zur Cellulosemenibranbildung der ersten Pflanze.
Schon auf der zweiten Stufe mochte die Ausstattung für die
Zukunft und somit die Sorge für die Brut beginnen, insofern schon
hier aus irgend einem Grunde (Eintritt kälterer Temperatur, theil-
weiser Wassermangel , Ausgehen der Nährstoffe) ein j^eriodisches
Stillstehen der Vegetation statthatte. Dabei konnte selbstverständlich
nicht einfach das Wachsthum oder die Theilung in jedem beliebigen
Stadium aufhören, um sj^äter an dem gleichen Punkte wieder fort-
zufahren. Da die ungünstige Veränderung der äusseren Umstände
allmählich eintrat, so mussten zuerst diejenigen Lebensprocesse zur
Ruhe gelangen, die am empfindlichsten davon getroffen wurden,
indessen die anderen noch einige Zeit fortdauerten. Es musste die
Theilung als das Spätere und Complicirtere schon aufhören, indess
die Substanzzunahme als das Ursprüngliche und Einfachere noch
thätig war. So finden wir auch bei den Gewächsen als allgemeine
Erscheinung, dass schädliche Einflüsse, welche die Fortpflanzung
unterdrücken, das Wachsthum noch gestatten.
Beim periodischen Uebergang in die Vegetationsruhe fand also
jedesmal eine Störung des regelmässigen Wechsels zwischen Theilung
und Wachsthum statt, wobei das letztere begünstigt war und die in
den Ruhestand sich begebenden Individuen durch Umfang und
Masse sich vor den übrigen Generationen auszeichneten. Diese
Störung musste sich in dem Idioplasma geltend machen und eine
entsprechende Veränderung desselben bewirken, also erblich werden.
Die erbliche Eigenschaft aber musste, da die bewirkenden Ursachen
stets eintraten, sich allmählich steigern; und diese Ursachen sind
wenigstens im Pflanzenreiche auf allen Stufen thätig, da jährlich
durch äussere Umstände eine Vegetationsruhe veranlasst wird. Es
musste also die Neigung, unter gewissen Verhältnissen die Zellthei-
lung aufhören und an ihrer Stelle eine A^'ermehrung des Inhaltes
eintreten zu lassen, immer grösser werden und bemerkbarere Folgen
hervorbringen.
Ueberdies ist daran zu erinnern, dass die verschiedenen An-
lagen im Idioplasma nicht unabhängig neben einander liegen, son-
dern dass sie zusammen ein einziges System bilden, in welchem
die Theile sich gegenseitig bedingen. Wenn nun aucli eine äussere
Ursache zu wirken aufhört, so kann doch die Anlage, die sie erzeugt
III. Ursachen der Veränderung. 165
hat, mit dem fortschreitenden Complicirterwerden' des Idiojjlasnias
sich weiter aus- und imibilden. Was uns daher bei den hölieren Orga-
nismen als voraussehende Sorge und, wenn hier allein l^etraclitet,
als unverständliche Einrichtung erscheint, ist nichts anderes als eine
ererbte, durch natürliche Ursachen hervorgerufene und weitergebildete
Eigenschaft.
Auf eine eigenthümliche Art der Reizwirkung, die darin besteht,
dass mangelnde Organe ersetzt werden, dass also der empfundene
Mangel dem Bildungstrieb die einzuschlagende Bahn vorzeichnet,
werde ich bei der Entfaltung latenter Anlagen zu sprechen kommen.
Im Thierreich wirkt der Reiz noch auf eine andere, dem Pflanzen-
reiche fremde Weise, nämlich durch die Sinnesorgane. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, dass sinnliche Eindrücke sammt den
dadm-ch bedingten Emj) findungen, Vorstellungen und Willensäusse-
rungen, wenn sie durch lange Zeiträmne sich stets in der nämlichen
Weise wiederholen, gleich so vielen anderen Reizen eine dauernde
Um Stimmung im Idioplasma und somit auch sichtbare Verände-
rungen in Bau und Verrichtung hervorbringen. Indem ich übrigens
dieses Feld den Thierphysiologen überlasse, wdll ich nur auf eine
Erscheinung aufmerksam machen. Bekanntlich gibt es manche Tliiere,
welche in ihrer Färbung die Farbe der Umgebung nachahmen und
sich dadurch der Aufmerksamkeit sei es ihrer Verfolger, sei es der
von ihnen verfolgten Beute entziehen. Ist es nun nicht denkbar,
dass bei dieser Anpassung der Gesichtssinn zu der Zeit, als sich
die Färbung des Thieres ohnehin durch andere Ursachen veränderte,
einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hat? und dies um so eher,
als Verfolgung und Verfolgtsein von den heftigsten Empfindungen
begleitet sind. Ueberdem ist auch denkbar, dass die durch Färbung
angepassten Thiere von Vorfahren abstammen , welche , wie die
Cephalopoden und das Chamäleon, ihre Farbe willkürlich oder in
Folge unwdllkürlicher Reflexe wechseln konnten und dass späterhin
eine Fixirung der Farbe eintrat, wobei wieder die Gesichtsempfin-
dung den Ausschlag gab. Als beachtenswerthe, für die Tlieorie der
Sinneseinwirkung günstige Thatsache darf erwähnt werden, dass dem
Pflanzenreiche eine solche Anpassung mangelt, dass es keine Pflanzen
oder Pflanzenorgane gibt, Avelche dadurch, dass sie die Farbe der Um-
gebung annehmen, vor den Blicken ihrer Feinde Sicherheit finden.
166 ni. Ursachen der Veränderung.
Nachdem ich zu zeigen versuchte, dass die von aussen auf die
Organismen wirkenden Einflüsse die verschiedenen Anpassungen
derselben verursachen, will ich noch auf einige Punkte, welche das
Zustandekommen betreffen, näher eintreten. Die genannten Ein-
wirkungen haben immer vielfach vermittelte Bewegungen in der
organisirten Substanz zur Folge, deren Endresultat als Reaction
bemerkbar wird, weshalb ich sie allgemein als Reize bezeichnete.
Die Reactionen sind in der Regel nützliche Einrichtungen, und es
wirft sich nun zunächst die Frage von principieller Wichtigkeit auf,
ob dieselben nothwendig und allein eintraten, oder ob sie die nütz-
lichste Auswahl von verschiedenen Reactionen sind. Da nämlich
der Reiz sehr compHcirte Molecularbewegungen verursacht, so kann
auch das Endresultat ein verschiedenes sein. Es wäre möglich, dass
bei den einen Sippen oder bei den einen Individuen der nämlichen
Sippe diese, bei andern aber andere Reactionen einträten, die sich
naturgemäss weiter ausbildeten, und je nach ihrer Nützlichkeit das
Bestehen oder den Untergang der Träger zur Folge hätten.
Wenn beispielsweise das Klima in einem Lande kälter wird, so
könnte die Temperaturerniedrigung bei den Säugethieren die ver-
schiedensten Reactionen bewirken, gleichwie beim Menschen eine
Erkältung sehr ungleiche Folgen hat. Nur diejenigen blieben in
dem angenommenen Falle als existenzfähig übrig, welche in der
dichter gewordenen Behaarung oder in dem erlangten Fettpolster
unter der Haut hinreichenden Scluitz gegen die Kälte gewonnen
hätten.
Als zweites Beisjjiel will ich noch die Verletzungen anführen,
welche bei Thieren und Pflanzen ein Herbeiströmen von plastischen
Stoffen und Neubildungen an der verletzten Stelle hervorrufen. Es
wäre nun denkbar, dass ursprünglich die Reactionen auf einen
mechanischen Eingriff sehr ungleich waren ; — dass, um nur von der
Bewegung der Stoffe zu sprechen , dieselbe nach dem einen oder
anderen l*unkte, auch wohl nach der dem Angriffe abgekehrten
Seite hin stattfand, da ja in dem so unendlich complicirten Räder-
werk des Organismus ein Druck auf der vorderen Seite je nach
Umständen auch in eine Summe von Bewegungen auf der hinteren
Seite, statt auf der Angriffsstelle , ausgehen könnte. Waren die
Reactionen ursprünglich verschieden, so mussten bei den so häufig
eintretenden Verletzungen immer diejenigen Individuen zu Grunde
III. Ursachen der Veränderung. IGT
gehen, welche mit einer schädhchen Gegenwirkung antworteten,
und zuletzt blieben nur diejenigen übrig, welche die nützliche Gegen-
wirkung an der angegriffenen Stelle selbst eintreten Hessen.
Man möchte vielleicht denken, dass sich diese Frage durch
Versuche entscheiden lasse, indem man künstliche Verletzungen
herbeiführt, wie sie sonst in der Natur nicht vorkommen, so dass
also die Organismen sich nicht darauf vorbereiten konnten. Wenn
man Blätter von manchen Pflanzen abschneidet und in feuchten
Sand steckt, so bildet sich am Grunde des Blattstieles unmittelbar
neben der Schnittfläche ein Wulst von Gewebe und daran eine
Knospe, welche sofort in einen sich bewurzelnden Stengel auswächst.
Der Reiz, den das Wasser und die Luft auf die Schnittfläche aus-
üben, bewirken diese Erscheinung; ein analoger Vorgang kommt in
der Natur nicht in der Art vor, dass die bestimmte Reaction als
ein Auslesefall zu erklären wäre. Aber sie ist im Princip nichts
Neues ; die Pflanzen haben im allgemeinen das Vermögen, plastische
Stoffe an die verletzte Stelle zu senden und daselbst zur Zellbildung
zu verw^enden. Schon bei den einzelligen Gewächsen finden wir
ähnliche Reactionen, indem an dem Punkte, wo eine Verletzung
stattgefunden hat, ein neues Stück Plasmaschlauch und Cellulose-
membran entsteht, so dass die Zelle gegen die zu Grunde gehende
verletzte Partie in gleicher Weise sich abschliesst, wie sie sich bei
der ersten Bildung gegen die äusseren Medien abgeschlossen hat.
Man könnte also immerhin an die Möglichkeit denken , dass
die äusseren Einwirkungen vorzugsweise bei den niedersten, aber
auch noch bei den höheren Organismen die verschiedenartigsten
Folgen hatten und dass von allen Folgen nur diejenigen übrig
blieben, welche ihren Trägern nützlich waren und sie existenzfähig
machten. Dieser Möglichkeit glaube ich aber die andere als die
viel wahrscheinhchere und wohl einzig berechtigte gegenüberstellen
zu dürfen, dass die vorth eilhaften Reactionen allein eingetreten sind
und dass es einer Auswahl und Verdrängung unter densell)en uiclii
bedurfte. Jede äussere Einwirkung, die eine dauernde Veränderung
verursacht, hat nämlich nicht etwa ül)orhaupt die Bedeutung eines
allgemeinen Reizes, der irgendwelche Reaction zur Folge hat, son-
dern sie trifft in ganz bestimmter Weise ein besonderes Organ, eine
besondere Function, eine besondere Stelle, und erweckt hier ein dein
Reiz entsprechendes bestimmtes Bedürfniss, wie ich dies bereits an
1G8 in. Ursachen der Veränderung.
einem Beispiel (Schutz der Landj)flanzen gegen A''erdunstung S. 145)
erörtert habe und wie es auch für alle anderen Fälle gilt. Es scheint
mir ganz natürlich, dass die Reaction unter dem Einflüsse dieses
Bedürfnisses sich so gestaltet, dass demselben abgeholfen wird, —
dies um so mehr, als alle diese äusseren durch lange Zeiträume
dauernden Einwirkungen so schwach sind, dass sie von den Orga-
nismen nicht als wirklicher Eingriff, sondern bloss als Bedürfniss
oder Mangel empfunden werden.
Wir können kurz sagen, dass die Wirkung eines Reizes ab-
hängen muss von der Beschaffenheit des getroffenen Organismus
und von allen übrigen Verhältnissen , unter denen sich derselbe
befindet. Da nun die Individuen einer natürlichen Sippe (die künst-
lichen oder Cultursippen , die meistens Rassenmerkmale besitzen,
verhalten sich anders) unter sich in morphologischer und physio-
logischer Beziehung bis auf verschwindend kleine individuelle Ver-
schiedenheiten gleich sind und unter den nämlichen klimatischen
Einflüssen some in der nämlichen Umgebung anderer Organismen
leben, so muss der Reiz ebenso gewiss eine ganz bestimmte Ver-
änderung hervorbringen , als gleiche Ursachen gleiche Wirkungen
bedingen. Er wird dagegen mehr oder weniger verschiedene Ver-
änderungen verursachen, wenn entweder die nämhche Sippe an
ungleichen Orten oder zwei noch so nahe verwandte Bippen bei-
sammen vorkommen. Die Theorie der directen Bewirkung, im
Gegensatz zur natürhchen Auslese, kann also rücksichtlich aller
durch Reize erfolgten Auffassungen Ansj^ruch auf Gültigkeit machen.
Eine andere Frage betrifft den Grad der Veränderung, den
eine unaufhörliche und endlose äussere Einwirkung hervorzuln-ingen
vermag, und im Gegensatz dazu die Nachwirkung eines nur eine
Zeit lang dauernden Reizes. Was den ersteren Punkt betrifft, so
könnte man leicht meinen, dass ein von aussen kommender Einfluss,
der eine Veränderung bewirkt, die Veränderung endlos, wenn auch
in sehr geringem Maasse, steigern müsste, wie eine mechanisch
T\drkende Ursache, welche einer Bewegung in der Zeiteinheit eine
gewisse Beschleunigung ertheilt, ihr die nämliche Beschleunigung in
jeder folgenden Zeiteinheit hinzufügt, so dass die Bewegung immer
schneller wird. Bei den A'^eränderungen der Organismen tritt dieser
Fall nie ein, wodurch indessen nicht etwa das Gesetz von der Er-
haltung der Kraft alterirt wird. Denn bei einem organischen Process
III. Ursachen der Veränderung. 169
ist die von aussen kommende Reizwirkung nur eine der vielen mit-
wirkenden Ursachen; sie dient nur als Veranlassung und Richt-
schnur, indess die vom Organismus anderswoher bezogenen Kräfte
und Stoffe als die eigentlichen mechanischen Ursachen arbeiten.
Wenn eine äussere Einwirkung endlos fortdauert, so hört die
A'eränderung, die sie in den Organismen hervorruft, stets nach einer
gewissen Zeit auf. Der Grund davon ist häufig der, weil in Folge
der von den Organismen getroffenen Gegenmaassregeln und der in
ihnen aufgetretenen Veränderungen der von aussen kommende An-
griff nicht mehr als Reiz zu mrken vermag und somit kein Bedürfniss
mehr erweckt. In diesem Falle ist der Reizwirkung volles Genüge
geschehen ; in anderen Fällen hört die Verändermig fi'üher auf, weil
der Organismus an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt
ist. Der von aussen kommende Angriff wird zwar noch als Reiz
empfunden, aber die Beschaffenheit der lebenden Substanz erlaubt
keine Steigerung der Abwehr.
Was den Reiz betrifft, der nur eine Zeit lang eine Generationen-
reihe trifft, so ist bezüglich seiner Wirkung zweierlei möglich. Entweder
wächst die ihm entsprechende Anlage im Idloj^lasma niu- so lange
als der Reiz vorhanden ist, oder die durch denselben hervorgerufene
Anlage entwickelt sich in Folge des erlangten Anstosses auch,
nachdem der Reiz aufgehört hat, noch weiter. Da die werdenden
Anlagen im Idioplasma meistens eine gewisse Ausbildung erlangt
haben müssen, um in sichtbare Merkmale des Baus oder der Function
überzugehen , so kann es geschehen , dass ein W'ährend einer be-
grenzten Zeit wirksamer Reiz bloss das Idioplasma, nicht aber die
sichtbaren Eigenschaften des Organismus modificirt, und es kann
ferner geschehen, dass beim Vorhandensein einer Nachwirkung die
äusseren bemerkbaren Veränderungen erst eintreten, nachdem der
Reiz bereits längere Zeit aufgehört hat.
Eine fernere Bemerkimg ist über den Charakter der Reaction
zu machen, mit welcher der Organismus auf eine äussere Einwir-
kung antwortet. Die Reize, welche man als die Veranlassung von
erblichen Veränderungen betrachten kann , sind im allgemeinen
schwach und werden von dem Organismus auch für eine längere
Dauer noch leicht ertragen. Die meisten von ihnen haben je nach
ihrer Intensität und je nach der Beschaffenheit, in der sich der
Organismus befindet, bald einen günstigen, bald einen ungünstigen
170 ni. Ursachen der Veränderung.
Einfluss auf das Leben. Es ist daher begreiflich, dass auch die
Gesammtreaction , für welche sich der Organismus entscheidet,
ungleicher Natur sein, und dass von den ursprünglich gleichen
primordialen Anfängen des organischen Reiches verschiedene An-
passungsreihen ausgehen können.
Im grossen und ganzen ist die Reaction auf die äusseren Ein-
wirkungen eine doppelte. Entweder schliesst sich der Organismus
gegen die Reize so viel als möglich ab; er schützt sich gegen die-
selben durch einen reizfesten Panzer. Oder er macht sich den Reiz,
so weit es geht, dienstbar, und wo dies nicht möglich ist, sucht er
ihm auszuweichen. Die erste Art der Reaction finden wir bei den
Pflanzen, die zweite bei den Thieren. Die Probien, die weder
Pflanzen noch Thiere waren , bestanden aus einem nackten , unbe-
weglichen, für Reize beinahe unempfindlichen Plasmatro23fen. Die
auf ihre Oberfläche einwirkenden Reize hatten bei den einen nach
und nach die Ausscheidung einer Cellulosememl)ran zur Folge:
damit war die erste Pflanzenzelle geschaffen, starr und für Reize
unempfänglich. Bei den anderen aber steigerten sich Reizbarkeit
und Beweglichkeit besonders durch entsprechende Anordnung der
die Rindenschicht bildenden Micelle, so dass die Oberfläche vor den
Reizen sich zurückziehen oder denselben entgegenkommen konnte:
damit war die erste thierische Zelle entstanden, amöbenartig, mem-
branlos, beweglich und reizbar.
Entsprechend diesen Anfängen haben sich die beiden Reiche
entwickelt. Das Pflanzenreich verdankt verhältnissmässig wenig den
Reizen, da es sich denselben gegenüber mehr passiv verhält; die
Mannigfaltigkeit der Anpassungen ist daher auch sehr gering. Die
Starrheit der Zelle bedingte die Beschränkung der Lebensprocesse
auf Ernährung und Fortpflanzung und dem entsprechend eine
ziemlich ärmliche Arljeitstheilung. Die Umhüllung jeder einzelnen
Zelle mit einer Cellulosemembran verhinderte die Vereinigung einer
Mehrzahl von Zellen zu einer energischen gemeinsamen Aeusserung.
Deswegen finden wir im Pflanzenreiche eine im Verhältniss zu den
physiologischen Verrichtungen sehr reiche morphologische Gliederung
und einen mannigfaltigen Chemismus. Auch diejenigen Gewächse,
die sich bezüglich ihrer Ernährung wie Thiere verhalten (Schmarotzer-
pflanzen, Pilze), vermögen sich doch nicht über die von der Natur
gezogenen Schranken zu erheben.
III. Ursachen der Veränderung. 171
Im Thierreich dagegen konnte wegen der Nacktheit der Zellen
die Empfänglichkeit für Reize sich weiter ausbilden, und der Mangel
einer trennenden Membran gestattete den Zellen sich zu sehr wirk-
samen Massen zu vereinigen. Die thierische Substanz hat deim auch
unter dem Einflüsse der Reizbarkeit die wichtigsten Veränderungen
erfahren. Die Reize haben manche besondere Einrichtungen, wo-
runter namentlich die Sinnesorgane zu nennen sind, veranlasst; sie
haljen überdem die rein morphologische Weiterbildung zu einem
complicirteren Bau befördert und die Theilung der Arbeit bis in die
feinsten Einzelheiten durchgeführt. Wegen des Ueberwiegens der
Reizwirkungen zeigt jedoch die morphologische Differenzirung im
Verhältniss zm' physiologischen eine verhältnissmässig geringere
Mannigfaltigkeit als im Pflanzenreiche. Und weil die Reizwirkungen
die Verrichtungen, soweit es möglich ist, beherrschen, so beschränkt
sich im Tliierreich die Assimilation organischer Substanz aus un-
organischen Verbindungen auf einige Formen der niedrigsten Stufen
(z. B. Eugiena); die Weiterbildung dieser Anlage wurde verhindert
durch Verdrängung von Seite der mit grösserer Beweglichkeit und
Reizbarkeit ausgestatteten und zur Aneignung fremden organischen
Eigenthums befähigten Formen.
Schliesslich will ich bezüglich der äusseren Einflüsse noch die
Frage erörtern, ob dieselben in erster Linie die Eigenschaften des
entwickelten Organismus oder das Idioplasma verändern. ]\Ian dürfte
vielleicht allgemein zu der Antwort geneigt sein, dass zuerst das
Merkmal im entfalteten Zustand sich ausbilde, und dass dann dem
entsprechend das Idioplasma umgestimmt werde, dass beis2:»ielsweise
zuerst die Behaarung sich ändere und dann erst sich als Anlage
vererbe, — mid man könnte zur Begründmig anführen, die äussere
Ursache wirke ja auf den entwickelten Organismus.
Diese Ansicht wäre kaum zu bestreiten, wenn die Uml)ildung
am Indi\dduum gleichen Schritt mit der äusseren Einwirkung hielte,
sei es, dass die ganze Veränderung in einem einzigen Individuum,
sei es, dass sie durch eine Reihe von Generationen stufenweise er-
folgte. Dies ist aber häufig nicht der Fall; manche Veränderung
tritt erst ein, nachdem eine ganze Reihe von Generationen die
äussere Einwirkung erfahren hat, weil gewisse Eigenschaften des
entfalteten Zustandes nielit alhuählich , sondern sprungweise in
einander übergehen, wie wir später sehen werden. Hier handelt es
172 ni. Ursachen der Veränderung.
sich nur (laniiii , wie wir uns die Wirkung der äusseren Einflüsse
in einem solchen Füll zu denken haben.
Es treffe ein dauernder Reiz irgend einen Theil des Organismus ;
die Veränderung, die er während der ganzen Lebensdauer eines In-
dividumns hervorzubringen vermag, ist im Vergleich mit der Eigen-
schaft, die er schliesslich bewirkt, äusserst gering, denn es bedarf,
wie alle Erfahrung zeigt, zur Abänderung einer Varietät im natür-
lichen Zustande langer Zeiträume und zahlreicher aufeinanderfol-
gender Individuen. Die neue Eigenschaft kann nun in dem frag-
lichen Falle am entwickelten Individuum nicht allmählich, sondern
nur auf einmal auftreten, weil sie mit der Eigenschaft, die sie er-
setzen soll, unverträglich ist. Der Reiz, der auf die bestimmte Ein-
richtung des Organismus trifft, kann also nur auf die dieser be-
stimmten Einrichtung entsprechende Idioplasmagruppe einwirken.
Er ändert dieselbe in der ersten Generation nur sehr wenig um.
Das Idioplasma wird auf die folgende Generation vererl)t und hier
geht die Veränderung stufenweise weiter.
So bildet sich unter dem Einfluss des Ijestimmten Reizes vielleicht
durch tausend und mehr Generationen eine Anlage aus, die, wenn
sie fertig ist, zur sichtbaren Eigenschaft sich entfaltet und die bis-
herige Eigenschaft, die nun latent wird, verdrängt. Für die Theorie
des Reizes ist es natürlich gleichgültig, ob derselbe das entwickelte
Organ oder das Idioj^lasma verändere, da ja das Idioplasma durch
den ganzen Körper verbreitet und in jedem Theil vorhanden ist,
also von dem Reiz unstreitig afhcirt wird.
Um den Vorgang deutlicher zu machen, wdll ich zwei Beispiele
anführen, die ich weniger deswegen, weil sie in aller Strenge hieher
gehören, als wiegen der allgemeinen Verständlichkeit auswähle. Ich
habe bereits von den Farben der Blüthen gesprochen als von einer
Erscheinung, deren Ursache noch unbekannt ist ; sehr wahrschein-
lich aber verdanken sie ihre Entstehung äusseren Einflüssen. Das
Nämliche gilt auch von der Füllung der Blüthen. Nun geschieht
es, dass in einer roth oder blau blühenden SipjDC plötzlich einzelne
Individuen mit weissen Blüthen auftreten, ebenso dass unter Pflanzen
mit normalen Blüthen plötzlich eine solche mit gefüllten Blüthen
zum Vorschein kommt. Beide Veränderungen werden nicht bloss
in der Cultur, sondern auch auf natürlichen Standorten beobachtet.
Beide sind erblich und somit auch im Idioplasma enthalten.
III. Ursachen der Veränderung. 173
Für die Bildung der idioplasmatisclien Anlage bedarf es im
einen und andern Falle zwar nicht einer grossen Zahl , aber doch
sicher wenigstens einiger Generationen. Dies ist anzunehmen wegen
der Grösse der A^eränderung, wegen ihres erblichen Charakters und
weil in Ausnahmefällen der Uebergang von der intensiven Färbung
zu weiss oder von den einfachen Blüthen zu gefüllten wirklich durch
mehrere Abstufungen , also durch mehrere Generationen verläuft.
Hat bei plötzlichem Umschlag die Bildung der Anlage vorher schon
durch mehrere Generationen gedauert, so wurde während dieser Zeit
durch die Einwirkung von aussen bloss das Idioplasma getroffen.
Aber w^enn auch die allerkürzeste Einwirkung der äusseren
P'inflüsse angenommen wird und wenn die ganze Veränderung in
einem einzigen Individuum sich vollzieht, so enthält doch der Same,
aus dem die erste weissblühende oder gefüllte Pflanze erwächst,
schon die neue Eigenschaft, welche somit jedenfalls im IdiojDlasma
vorhanden ist, ehe sie als Merkmal sichtbar wird. Die von aussen
wirkenden Ursachen führen also in längerer oder kürzerer Zeit eine
molecularphysiologische Umstimmung herbei, welche als erbliche
Eigenschaft im Idioplasma des Samens an die Nachkommen über-
liefert w^rd und wenn die Anlage hinreichend stark geworden, als
entfaltetes Merkmal zum Vorschein kommen kann.
Da nun, wie eben gezeigt wurde, für gewisse Fälle die Annahme
nothwendig ist, dass der Reiz unmittelbar nur das Idioplasma und
den entwickelten Organismus bloss durch das Idioplasma verändere,
so dürfte es sich mit Recht fragen , ob dies nicht ein allgemeiner
A'^organg sei, und ich glaube, es stehe nichts der Theorie im Wege,
dass alle von aussen angeregten erblichen Veränderungen primär
durch Umbildung des Idioplasmas geschehen. Dies ist um so wahr-
scheinlicher, als die durch innere Ursachen erfolgenden A^erände-
rungen sicher zuerst als Anlagen im Idioplasma auftreten, welche
früher oder später zur Entfaltung gelangen.
Nachdem ich die Wirkung der zwei Ursachen, welche die erb-
lichen Veränderungen der Organismen und somit die Entwicklungs-
geschichte der organischen Reiche bedingen, nämUch die Wirkung
der Beschaffenheit des Idioplasmas , welche eine fortschreitende
Complication zur Folge liat, und diejenige der äusseren Einflüsse
174 III- Ursachen der Veränderung.
einzeln besprochen habe, will ich noch zeigen, wie aus deren Zu-
sammenwirken die Eigenthümlichkeiten der Organismen hervorgehen.
In dem durch Urzeugung entstehenden primordialen Plasma
scheidet sich das Idioplasma aus, welches durch die in ihm wirkenden
Ursachen stets complicirter und reicher gegliedert wird. Bezeichnen
wir den ursprünglichen und einfachsten Zustand des Idioplasmas
mit J, so kann die stufenweise Ausbildung und Vervollkommnung
desselben durch J, Ji, J2 . . . Jn dargestellt werden. Wären die
äusseren Einwirkungen gar nicht vorhanden und würde das Idio-
plasma bloss auf eine völlig indifferente Weise ernährt, so müsste
dasselbe vermöge seines Wachsthums eben diese Stufen J ...Jn durch-
laufen. — Die Configuration des Idioplasmas ist das getreue Abbild
des zugehörigen Organismus. Es müsste also, wenn die Aussenwelt
weiter gar nichts bewirkte, als dass sie gleichgültiges Material zum
Wachsthmii lieferte, die sichtbare Organisation mit jeder höheren
Stufe zusammengesetzter werden und eine reichere Differenzirung auf-
weisen, insoweit als ohne äussere Einwirkung überhaupt eine Organi-
sation nach der Vorstellung, die wir damit verbinden, möglich ist.
Nun ist aber schon das primordial entstehende Plasma und dann
das in demselben sich ausbildende Idioplasma mannigfaltigen äusseren
Einwirkungen ausgesetzt, welche auf seine Bescliaffenheit Einfluss
haben. Machen wir zuerst die Annahme, die äusseren Verhältnisse
blieben vollkommen die nämlichen, und bezeichnen wir dieselben
mit a, so wird das durch Urzeugung entstehende Plasma in der
bestimmten Modification aJ erscheinen (worin a nicht als Factor,
sondern als Index zu betrachten ist) und sich durch die inneren
Vervollkommnungsursachen zu «Ji, aJ^ ... aJn weiterbilden. Die
Veränderung erfolgt unabhängig von äusseren Einflüssen, weil diese
sich nicht ändern. Die Anpassung kann auf jeder Stufe voll-
kommen sein; dieselbe behält auf allen Stufen ihren allgemeinen
Charakter, ist aber auf jeder derselben modificirt entsprechend der
neuen complicirteren Organisation. Das organische Reich hätte in
diesem Falle eine analoge Gliederung, wie beim gänzlichen Mangel
der äusseren bestimmenden Einwirkungen, aber es besässe einen aus-
gesprochenen Anpassungscharakter und zwar den gleichen in allen
seinen GHedern. Es ist unzweifelhaft, dass einzelne kleine Gruppen
der jetzigen Reiche sich in der eben geschilderten Weise entwickelt
haben und daher dem angegebenen Typus folgen, d. h. dass diese
in. Ursachen der Veränderung. 175
Gruppen ohne modificirenden Einfluss von aussen bloss durch den
inneren Bildungstrieb umgewandelt worden sind.
In Wirklichkeit bleiben die äusseren Verhältnisse nicht, wie
soeben angenommen wurde, die gleichen; sondern sie verändern
sich, oder die Organismen gelangen durch Wanderung unter andere
äussere Umstände, — in ein wärmeres oder kälteres Khma, mit
grösserem oder geringerem Temperaturwechsel , an hellere oder
dunklere Orte, in eine trocknere oder feuchtere Luft, auf einen Boden
mit mehr oder weniger Wasser, auf eine chemisch verschiedene Unter-
lage und damit in den Genuss einer chemisch verschiedenen Nahrung,
endlich in eine andere Umgebung von lebenden Organismen. Wirken
die veränderten Verhältnisse als hinreichend starke Reize, so bildet
sich eine neue Anpassung mit einer entsprechenden ^''eränderung
in der Anordnung der Idioplasmamicelle , wobei die frühere An-
ordnung, welche die Anpassung darstellte, je nach dem Grade ihrer
Verträglichkeit mit der neuen, mehr oder weniger ausgelöscht wird.
Sind die äusseren Einwirkungen aus a zu h geworden, so wird das
Idioplasma aJn zu hJ^-^i oder zu ahJn+i. Die Anpassung a wird
durch h vollständig vernichtet also = 0, wenn die diese Anpassungen
bewirkenden Reize a und b in der nämlichen Weise, aber der eine
positiv, der andere negativ wirken. Dagegen bleibt a neben h un-
versehrt, wenn die entsprechenden Micellaranordnungen einander
unbedingt dulden. Unter der Einwirkung neuer äusserer Einflüsse
kann das Idioplasma abJn^i zu abcJn+2, ahcdJn^a u. s. w. werden.
Aus dem Wechsel der äusseren Verhältnisse, vorausgesetzt dass
dieselben immer so lange andauern, um erbliche Eigenschaften
hervorzubringen, geht eine grosse Mannigfaltigkeit in den Anpassungs-
formen hervor. Wenn schon bei der Annahme, dass die verändernden
äusseren Einflüsse gänzlich mangeln oder dass sie fortwährend die
nämliche Beschaffenheit behalten, durch die inneren Ursachen eine
in geometrischer Progression steigende Zahl der Formen auf den
successiven Organisationsstufen bedingt wurde , so steigt nun die
Anzahl in \ael stärkeren Verhältnissen, wenn die äusseren Einflüsse,
wie es in Wirklichkeit der Fall ist, wechseln. Wir finden daher
auf der nämlichen Organisationsstufe im Pflanzenreich und im Thier-
reich oft eine fast unendliche Menge von Sippen (Gattungen, Arten,
A^arietäten) ; ich erinnere bloss an die Moose und die Compositen
im Pflanzenreich und an die Insecten im Thierreich.
176 III- Ursachen der Veränderung.
Ich glaube in dem Vorstehenden die Wirkung der dem Idio-
plasma von Natur innewohnenden und der von aussen kommenden
Ursachen hinreichend deuthch unterschieden zu haben. Um aber
nicht abermals Missverständnisse über das Vervollkommnungsprincip
aufkommen zu lassen, will ich noch ausdrücklich beifügen, dass ich
demselben keine bestimmte Einrichtung an den Organismen zu-
schreibe, weder den langen Hals der Giraffe und den Greif schwänz
der Affen, noch die Scheeren des Krebses und das Gefieder des
Paradiesvogels, weder die Gliederung des Individuums in Organe,
noch die Zusammensetzung der Organe aus Zellen. Das Alles
wurde durch das Zusammenwirken der beiden Ursachen hervorge-
bracht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die äussern Ursachen,
und ebenso wenig wie die inneren Ursachen für sich allein auf
mechanischem Wege aus der Monade ein Säugethier, aus der ein-
zelligen Alge einen Apfelbamii oder eine Palme zu erzeugen ver-
möchten, — nicht einmal wie durch die einen oder andern allein
ein einzelliger pflanzlicher oder thierischer Organismus aus dem
j)rimordialen Plasma hervorgehen könnte.
Wenn aber einmal auf irgend einer Organisationsstufe die eine
der beiden Kategorien von Ursachen ganz aufhören sollte, so würden
nach meinem Dafürhalten die äusseren Ursachen, wenn sie allein
vorhanden wären, das Lebewesen auf der erreichten Organisations-
stufe beharren lassen, aber seine Anpassung fortwährend verändern ;
das Lebermoos würde beispielsweise nicht zur Gefässcryptogame,
ein Wurm nicht zum Fisch w^erden können, sondern sie wäirden
ewig Lebermoos und Wm'm bleiben. Wären dagegen die Vervoll-
kommnungsursachen allein vorhanden, so würden sie innerhalb der
erlangten Anpassung die Organisation und Verrichtung weiter bilden,
ohne Neues zu leisten : die Zellen und Organe würden vermehrt mit
Beibehaltung ihrer Form und Anordnung ; die Functionen, die früher
vereinigt waren, würden nach Zellen und Organen getrennt, aber
es entständen keine neuen Functionen; es würde sich also ein
grösserer und differenzirterer Organismus bilden, ohne das Gepräge
zu ändern. In beiden Fällen könnte die gesammte Nachkommen-
schaft eines Wesens zwar zu einer zahlreichen Mannigfaltigkeit,
jedoch inn' innerhalb einer trostlosen Einförmigkeit gelangen.
III. Ursachen der Veränderung. 177
Die Vorstellung, die ich mir von dem Zusammenwirken der
inneren und äusseren Ursachen mache, wird noch deutlicher her-
vortreten , wenn ich dassell^e in seinen molecularphysiologischen
Beziehungen von den ersten Anfängen aus verfolge, wie ich es früher
(S. 117) hezüglich der inneren Ursachen allein gethan habe.
Unter dem Einfluss der Molecularkräfte, welche als die inneren
Ursachen wirken, bilden sich in der Substanz des primordialen
Plasmas , indem dieselbe im ül^rigen zu Ernährungsplasma wird,
Gruppen oder Körj^er von Plasmamicellen. Diese Körper, welche
in den Nachkommen stetig aber langsam complicirter werden, stellen
das Idioplasma dar. Durch die gleichzeitig als Reize wirkenden
äusseren Ursachen werden die Idioplasmakörper modificirt, indem
unter ihrem Einfluss die Micelle sich theilweise eigenthümlich
Orientiren und zusammenlagern.
Die noch ungeordneten Micelle des spontan entstandenen
Plasmas vermögen nichts Anderes als die Eiweissbildung und somit
das Wachsthum durch Micelleinlagerung zu vermitteln. Die unter
dem gleichzeitigen Einfluss der inneren und der äusseren Ur-
sachen zu Schaaren orientirten Idioj)lasmamicelle vermögen dm-ch
die geeinten Molecularkräfte neue chemische Processe, plastische
Bildungen und Bewegungen verschiedener Art zu erzeugen, die
alle entsprechend den von aussen erfolgten Reizwirkungen ange-
passt sind.
Da die äusseren Einwirkungen sehr mannigfaltig sind, so kann
das durch die inneren Ursachen zu einem ge-^issen Grad differenzirte
Idioplasma ein sehr verschiedenes Anpassmigsgej)räge annehmen und
sehr verschiedene Producte hervorbringen. Schon die niedrigsten
Organismen, die wir kennen, die einzelligen Pflanzen und Thiere,
treten uns in einer grossen Mannigfaltigkeit entgegen. Sie entsprechen
zwar in ihrer Gesammtheit mehreren Graden der inneren Vollkommen-
heit (oder mehreren Organisationsstufen), so dass also ihre Verschieden-
heiten nicht allein von den äusseren Einflüssen abzuleiten sind. Allein
es gibt immer eine Zahl von einzelligen Pflanzen und Thieren (z. B.
die Chroococcaceen, Schizomyceten und Moneren), welche unter ein-
ander in der Organisationsstufe (ihres Idioplasmas und ihrer Zellen)
übereinstimmen, so dass ihre Unterschiede bloss auf Reclnumg der
Aussenwelt kommen.
Y. Nägcli, Abstammungslehre. 12
17ft ni. Ursachen der Veränderung.
Die erste Anpassung, welche die äussere Einwirkung am prim-
ordialen Plasma vollbringt, dürfte die Bildung einer Hautschiclit
sein. Man erinnert sich hierbei unwillkürlich an die Thatsache,
dass das Plasma, welches aus zerrissenen Pflanzenzellen in das um-
gebende Wasser heraustritt, sofort ein dünnes Häutchen an seiner Ober-
fläche bildet. Die Entstellung dieses Häutchens ist eine unmittelbare
Reaction des Plasmas auf die Einwirkung des chemisch verschiedenen
Wassers, und vielleicht als eine Art Rückschlag des früheren phylo-
genetischen ^'^organges zu betrachten. An den letzteren erinnert
ferner die Thatsache, dass die Plasmakörper in den Pflanzenzellen
(Zcllkorn, Chlorophyllkörner u. s.w.) sich gleichfalls mit einem Plasma-
häutchen umgeben. Von diesen ontogenetischen Erscheinungen
unterscheidet sich die Bildung der fraglichen Hautschicht an den
Abkömmlingen des })rimordialen Plasmas dadurch, dass die letztere
durch die anlialtende Reizwirkung verursacht wurde, welche das
Wasser während langer Zeiträume ausübte, wobei auch das in dem
primordialen Plasma sich ausscheidende Idioplasma modificirt und
damit eine erbliche Anlage erzeugt wurde , welche immer zur
Entfaltung kommt, wenn bei freier Zellbildung Plasmamassen im
Innern einer Zelle sel])ständig und zu besondern Zellen werden,
und ebenfalls, wenn irgend welche Plasmakörper innerhalb der
Zellen sich ausscheiden und ein beschränktes individuelles Dasein
beginnen.
Diese Hautschicht der niedersten Thiere kann der mikroskopi-
schen Beobachtung leicht verborgen bleiben, und wenn sie nicht
gesehen wird, so ist dies noch kein Beweis dafür, dass sie nicht
vorhanden sei. Ilu'e Anwesenheit wird durch die jihysiologisclien
A^errichtungen bewiesen. Sie wird sich aber der optischen Walir-
nehmung entziehen, wenn sie die gleiche Dichtigkeit besitzt, wie
das übrige Plasma oder wenn sie allzudünn ist. Bei der unsicht-
baren Dicke von 0,3""'' und einem Wassergehalt von 80 "b besteht
sie aus 120 Schichten von Eiweissmicellen mit je 72 Atomen C oder
aus 60 Schichten von Micellen mit je 144 C u. s. w.
Die Hautschicht, die an der Oberfläche der frühesten Plasma-
massen entsteht, hat je nach der verschiedenen Wirkung der äusseren
Reize einen ungleiclien Charakter. Dieselbe bedeckt sich bei den
einzelhgen Pflanzen mit einer starren Cellulosemembran ; bei den
einzelljoen Tliit-ren bl(^i])t sie nackt und bildet sich nebst ihren
III. Ursachen der Veränderung. 179
Anliängen zu grosser Beweglichkeit aus, die auch den cihenartigcn
Anhängen der Plasinahaut von manchen Pflanzenzellen zukoniiut.
Aber die Natur der verschiedenen äusseren Reize und der verschie-
denen Umstände, welche das eine und das andere bewirken, ist uns
noch unbekannt.
Sowie das Idioplasma durch die inneren Ursachen compli-
cirter wird, so nimmt unter IMitwirkung der äusseren Reize l'ür
den Fall, dass dieselben gleichbleiben, die frühere Anjjassung des
Idioplasmas unter Beibehaltung ihres Charakters eine neue, der statt-
gehabten Weiterbildung entsprechende Form an. Und in gleicliom
Maasse, wie das Idioplasma, verändert sich der entfaltete Organisnuis,
indem er sich in zahlreichere Theile gliedert und seine Anpassung
demgemäss weiter ausbildet und verbessert. — Wenn aber während
der inneren Vervollkommnung die äusseren Reizwirkungen sich ver-
ändern und lange genug andauern, so wird natürlich sowohl die
Anpassung des Idioplasmas als die des entfalteten Organismus eine
andere.
Die anschaulichsten Belege für die Weiterbildung und die Xer-
ändorung der Anpassung finden wir im Thierreiche, weil hier die
Anpassungen viel ausgesprochener und leichter verständlich sind
als Ijei den Pflanzen. Zu den Ijemerkenswerthesten Producten, an
denen die äusseren Einwirkungen Theil haben, gehören die Sinnes-
organe. Sie behalten wälirend der ganzen Phylogenie des Thier-
reiches den nämlichen Charakter, da sie die gleichen Bedürfnisse
zu befriedigen haben; sie werden aber entsprechend der höheren
Organisation des ganzen Individuums immer complicirter. Die Aus-
bildung des so hoch entwickelten Gesichts- und Gehörorgans der
Wirbelthiere aus den einfachsten Anfängen bei den niederen Thieren
ist nicht durch den Einfluss der Licht- und Tonschwiijgungen er-
folgt; sondern, indem das Idioplasma durch die inneren Ursachen
eine reichere Gliederung gewinnt, bewirkt es die entsprechende
reicliere Gliederung auch an den genannten Organen , wobei die
fortdaiiernde Einwirkung der Licht- und Tonschwingungen bloss den
Anpassungscharakter der Organe erhält und möglicherweise nocli
steigert. — Beispiele wie auf gleicher Organisationsstufe das Idio-
plasma und die entsprechenden Organe sich ungleich an[)asscn
können, geben uns bei niederen und höheren Thieren die Anhangs-
organe, welche für die verschiedensten Bewegungen ausgebildet wurden.
12*
180 III. Ursachen der Veränderung.
Im Pflanzenreiche besteht (he Vervohkommnung (die reichere
( Jhederung der Organismen) in einer grösseren Zahl von Zehen nnd
Organen, die eine grössere Zahl von Ordnungen darstellen. Die
anschaulichsten Beispiele, wie bei gleicher äusserer Anpassung der
vegetabilische Organismus zusammengesetzter wird, finden wir nament-
lich bei den Florideen, bei den Moosen, bei den Phanerogamen.
Beispiele dagegen, wie auf der gleichen Organisationsstufe die Organe
durch ungleiche Anpassung verändert werden, ge])en uns die Gattung
Euphorbia, bei der die einen Arten einen dünnen holzigen Stengel
und ausgebildete grüne Blätter, die anderen einen dicken fleischigen
grünen, sclieinbar blattlosen Stengel besitzen, — die Gattung Acacia,
bei der die einen Arten mohrfach gefiederte Blätter tragen, die andern
den grössten Theil dieser Blätter verloren und bloss den gemeinsamen
Blattstiel behalten, diesen aber blattartig ausgebildet haben, — die
Gattung Ranunculus, bei der die landbewohnenden Arten einen ver-
mittelst verholzter Zellen für Trag- und Biegungsfestigkeit construirten
Stengel und breite Blätter haben, indess bei den im Wasser lebenden
Arten die verholzten Zellen im Stengel fehlen und die Blätter in
schmale fadenförmige Lappen vielfach zertheilt sind, u. s. w.
Wenn es auch Arten von Ranunculus und anderen Gattungen
gibt, die bald im Wasser l)ald auf dem Lande leben und mit dem
Wechsel des Mediums ihre Merkmale ändern, so ist dies nicht als
ein unmittelbares Bewirken durch die äusseren Einflüsse aufzufassen.
Sondern diese Pflanzen haben von jeher als Amphiliien gelebt und
in Folge dieses LTm Standes gleichzeitig zweierlei Anpassungsanlagen
ausgebildet, von denen nun je nach dem Medium, in dem sich die
Pflanze befindet, die entsprechenden manifest werden, indess die
anderen latent bleiben.
Ich habe bis jetzt die Anpassung so dargestellt, als ob lediglich
die entstehenden Vervollkommnungsanlagen unter dem Einfluss der
äusseren Reize ein besimmtes AnpassungsgeiDräge annehmen. Die
Anpassungsanlage wäre also niclits Selbstständiges, keine isolirte
Micellgruppe im Idioplasma, die für sich entstände. Der Orga-
nismus könnte seine Anpassung nicht ändern, wenn er unter andere
äussere Verhältnisse kommt, insofern nicht eine Weiterl)ildung des
Idioplasmas durch die inneren Ursachen erfolgt , die unter den
neuen Reizwirkungen einen denselben entsprechenden Charakter
annimmt.
in. Ursachen der Veränderung. 181
Es ist dies keine iiothwendige Forderung der Theorie; denn
diese würde es auch als jjlausibel erscheinen lassen, dass ein Orga-
nismus, während sein Idioplasma auf dem nämlichen Organisations-
grad verbleiljt, unter dem Einfluss äusserer Reize die Anpassung
seines Idioplasmas sowie seiner Organe ändere. Sondern die Er-
fahrung ist es, welche eine solche Annahme nicht zu gestatten
scheint. Dies ergibt sich aus der Thatsache, die ich früher schon
angeführt habe, dass viele Pflanzen seit der Eiszeit unter ganz ver-
schiedenen klimatischen Verhältnissen und in Gesellschaft mit einer
ganz verschiedenen Pflanzen- und Tlderwelt geleljt hal)en und doch
sich nicht im geringsten von einander unterscheiden, — ol^gleich
unter diesen Umständen auch die Reiz Wirkungen, die sonst An-
passungen bewirken, verschieden sein mussten, und der Zeitraum
hinreichend lange erscheint, um Anlagen hervorzubringen.
Wir müssen daher wohl schHessen, dass das Idioplasma nur
insoweit, als es sich durch innere Ursachen weiter bildet, gegenüber
den äusseren Reizwirkungen sich als bildsam erweise. Dabei ist zu
bemerken, dass seit der Eiszeit die Weiterljildung durch innere
Ursachen gewiss nicht unthätig gewesen ist, und dass die äusseren
Einflüsse sicher auch bei der Prägung der entstehenden Micellgruj^pen
betheiligt waren ; aber die letzteren haben bei vielen Pflanzen
noch nicht die entfaltungsfähige Höhe erreiclit. Denn die selb-
ständige Ausbildung des Idioplasmas geht, wie aus allem geschlossen
werden muss, äusserst langsam vor sich und verzögert daher auch
die Anpassungsuml)ildung desselben.
Die phylogenetische Entwicklung jjesteht also darin, dass das
Idioplasma dm-ch die inneren Ursachen stetig complicirter wird und
dal)ei unter dem Einfluss der gleichbleibenden oder sich vorändernden
äusseren Reizwirkungen seinen Anpassungscharakter l;)eibehält oder
wechselt. Sowie die Micellschaaren in dem Idioplasma an Zahl
zunehmen, wird nothwendig auch der Organismus complicirter, weil
ja seine Ontogenie darin Ijesteht, dass eine Schaar nach der andern
in Wirksamkeit tritt und sich an dem Aufl^au in der ihr eigenthüm-
lichen Weise betheiligt. Der Weg von der Keimzelle bis wieder zur
Keimzelle wird also in einer ilbstammungsreihe immer länger, die
Individuen erheben sich auf immer höhere Organisationsstufen und
bilden eine grössere Menge von Organen, wobei sich die Yvr-
richtungen scheiden und auf verschiedene Organe vertheilun. Die
132 III- Ursachen der Veränderung.
Anpassungen an die Aussenwelt al)er, welche die innere und äussere
Beschaffenheit der Organe wesentiich bedingen, werden, w^eil nach
und nach jeder einzehien Anj^assungsfunction ein eigenes Organ
zur Verfügung gestellt wird, immer mehr localisirt, und können in
Folge dessen ohne Störung der übrigen Verrichtungen sich der
Reizwirkung entsprechend ausbilden.
i
IV.
Alllagen und sichtbare Merkmale.
Die unmittelbar vorausgehende Auseinandersetzung hatte den
Zweck, das Zusammenwirken des Vervollkommnungstriel)es und der
äusseren Einflüsse , wodurch das Idioplasma in Ijestimmter Weise
verändert wird, darzulegen. Es fragt sich nun zunächst, wie die
zeitlicli aufeinanderfolgenden Zustände des Idioplasmas und die in
demselben entstehenden Anlagen sich zu den sichtbaren Merkmalen
verhalten. Zwar geben uns die letzteren allein Kunde von der Be-
schaffenheit des Idioplasmas ; aber deswegen dürfen wir dieses doch
nicht etwa als ihr Spiegelbild betrachten und uns vorstellen, dass
mit den ^Veränderungen der Organismen auch die ^"eränderungen
in der Bescliaffenheit des Idioplasmas genau übereinstimmen, ^^iele
Thatsachen bew^eisen uns, dass beide A^orgänge nur l^is auf einen
gewissen Punkt einander entsprechen und dass die Kunde , welclie
uns der entfaltete Zustand von den Anlagen gibt, unvollständig ist,
weil innner eine Anzahl von Anlagen latent bleibt.
Wir können die (phylogenetische) Ausbildung des Idioplasmas
(lureli eine ganze Generationenreihe einem Strome vergleichen, der
von kleinem Anfange aus immer mächtiger wird und dessen Ober-
fläche von mannigfaltigen Wellenzügen bewegt ist. Die fortschreitende
Strömung, welche der Steigerung in der zusammengesetzten Anord-
nung des Idioplasmas entspricht, macht sich absatzweise in einer
bestimmten Organisationsstufe geltend, welche so lange fortbesteht,
bis die um einen gewissen Grad stärker gewordene Strömung zu
einer folgenden Organisationsstufe drängt. Von (]vn WelUüizügeii,
134 ^^- Anlagen nnd 8iclit))are Merlanale.
welche die Oberfläche modeniren und den Anpassungsveränderungen
im Idioplasnici entsprechen, werden nur die kräftigsten zu sichtbaren
Merkmalen, indess die anderen latent bleiben, und jene sichtbaren
Merkmale bleiben so lange, bis neue, liinreichend kräftige Wellen-
züge, die in entgegengesetzter Richtung verlaufen, sie durch andere
Merkmale verdrängen.
Wenn eine Anlage , sei es eine Vervollkommnungs- oder eine
Anpassungsanlage, entsteht, so muss die Veränderung im Idioplasma
bis auf einen gewissen Punkt gedeihen , ehe sie sich zu entfalten
vermag. Dieser Punkt kann je nach Umständen früher oder sj)äter
eintreten. Es verhält sich damit gleichsam wie mit einer verschlossenen
Flasche, welche eine gärungsfähige Flüssigkeit enthält. Man bemerkt
äusserlich nichts von der im Innern vor sich gehenden Bewegung,
bis der Pfropf durch das gespannte Gas herausgeschleudert wird,
was nacli kürzerer oder längerer Zeit erfolgt, je nach der Intensität
der Gärung und der Festigkeit des ^^erschlusses. So vergeht auch
eine gewisse Zeit, bis die Spannung, welche eine werdende Anlage
im Idioplasma verursacht, hinreichend intensiv geworden ist, um
die Widerstände zu überwinden und manifest zu werden. Daher
geschieht die phylogenetische Veränderung der Organismen im all-
gemeinen sprungweise, indem auf eine Zeit der Ruhe eine rasche
äussere Umwandlung erfolgt.
Die Ursache, warum eine werdende Anlage im Idioplasma in so
vielen Fällen nicht sofort auch als werdendes Merkmal äusserhch sich
kund gibt, sondern eine gewisse Höhe erreichen muss, um dann
plötzlich als fertiges IMerkmal sich zu entfalten, liegt wohl immer darin,
dass dieses Merkmal ein anderes verdrängt und die Uebergangsstufen
von dem Organismus nicht oder nur schwer hervorgebracht werden.
Es giljt eine Menge von Beisj^ielen , wo man einen sprungweisen
Uebergang beobachten kann, obgleich allmähliche Uebergangsstufen
denkbar sind und auch ganz natürlich erscheinen würden. Man
könnte leicht auf die Vermuthung kommen, dass die Zwischen-
glieder sich bei der phylogenetischen Umwandlung zwar gebildet
haben, aber als nicht existenzfähig durch die Concurrenz beseitigt
worden seien. Wenn aber dem so wäre, so müssten die Zwischen-
glieder bei der Kreuzung wieder zum Vorschein kommen, was nicht
der Fall ist. Ich werde diesen Punkt in der Besprechung des Verhaltens
der Anlagen bei der geschlechtlichen Befruchtung näher erörtern.
rV. Anlagen und siflitljare INIerknialc. 185
Für jetzt will icli nur zwei Merkmale kurz erwähnen , die ich
früher sclion angeführt hahe, weil sie leicht zu beobachten sind, die
Zahl und die Farbe. INIanche Pflanzen mit fünfl^lättrigen Blumen-
kronen ändern mit vierblättrigen ab, aber es giljt keine Krone mit
vier Blättern und einem Bruchtheil des fünften. Manche Pflanzen
bringen neben rothen oder blauen Blüthen auch weisse hervoi';
bei den einen Arten mangeln die Zwischenstufen gänzlich, bei
andern kommt ein hellrothes oder helll)laues Zwischenglied vor, bei
wenigen mehrere Zwischenglieder mit abgestufter Intensität der Fär-
bung. Ich nenne die blaublüthigen Gentianen, welche selten w^eiss
oder überdem auch hellljlau auftreten, die blaue Campanula Ijarbata,
die auf gewissen Standorten auch zahlreiche weisse und sehr spär-
liche hellblaue Blüthen trägt (andere Campanula -Arten zeigen im
Gebirg ein gleiches numerisches Verhältniss von drei Blüthenfarljen),
Erica carnea und Rhododendron ferrugineum mit rothen und äusserst
selten mit weissen Blüthen, Anemone he2:>atica blau blühend, selten
auch weiss oder roth (in manchen Gegenden ohne Uebergänge),
Achillea Millefolium, die auf hohen alpinen Standorten spärlich
intensiv roth , häufig rein weiss und ebenfalls häufig hellroth in
verschiedenen Abstufungen vorkommt.
Diese und viele andere Beisj^iele beweisen uns, dass manche
Merkmale des entwickelten Organismus sich nicht allmählich in
einander umwandeln können oder wenigstens eine Abneigung gegen
die Bildung der Uebergangsglieder zeigen. Ohne Zweifel gilt dies
auch schon für die Anlagen im Idioplasma, indem nicht die alte
Anlage in die neue umgewandelt wird, sondern indem vielmehr
neben jener die neue sich allmählich heranbildet und dann, wenn
sie hinreichend stark gew'orden, an der Stelle derselben sich ent-
faltet. Dies ist als sicher zu betrachten für die vielen Fälle, wo
das neue Merkmal gelegentlich wieder in das frühere zurückschlagen
kann.
Eine Veränderung im Idioplasma oder eine werdende Anlage
muss also bis auf einen gewissen Grad anwachsen, ehe sie eine
fertige Anlage darstellt, welche sich zum sichtbaren Merkmal ent-
falten kann. Sie behauptet diese Höhe so lange, bis sie durch das
Auftreten einer anderen verwandten Anlage, die nun ihrerseits
manifest wxrden kann , oder durch anderweitige Umbildungen im
Idioplasma geschwächt wird. Sie kehrt nun in denjenigen Zustand
186 IV. Anlagen und siclitljare Merkmale.
zurück, in welchuin sie gieiclisam bloss eine Spannung darstellt, die
nicht mehr in Bewegung überzugehen vermag. Sie bleibt längere
oder kürzere Zeit in diesem Zustande, nimmt nach und nach ab
und verschwindet zuletzt ganz, oder nimmt auch wieder zu und
wird von neuem entfaltungsiahig.
Mit Rücksiclit auf dieses weitere Schicksal müssen wir übrigens
zwischen Vervollkommnungs- und An2>assungsanlagen unterscheiden.
Was die ersteren betrifft, so wird mit der Einlagerung neuer Micelle
beim Wachsthum die Structur des Idioplasmas immer zusammen-
gesetzter, und von Zeit zu Zeit wird diese iiniere Bewegung als
weitergehende Gliederung im Bau und in den Functionen des Orga-
nismus sichtbar. Man nimmt nun vielfach an, dass ein Organismus
in der phylogenetischen Entwicklungsreihe zuweilen auch wieder
auf eine niedrigere Organisationsstufe zurücksinken könne, und es
ist daher die Frage, ob es deidvbar sei, dass das Idioplasma aus-
nahmsweise eine frühere, einfachere Beschaffenheit annehme, oder
dass die späteren Veirvollkonnnimngsanlagen in demselben latent
werden.
Die erstere Annahme halte ich für unmöglich, da die Fort-
sei u'ittsljewegung in der Configuration des Idioplasmas ausscldiesslich
auf die demselben innew^ohnenden Eigenschaften beschränkt und
die Wirkung äusserer Ursachen davon ausgeschlossen wurde. Es
kann daher jene Bewegung weder stille stehen, noch eine entgegen-
gesetzte Richtung einschlagen, indem dafür die bewirkenden Ur-
sachen mangeln.
Dagegen lässt sich denken, dass ein Rückschlag des Organismus
auf die nächst einfachere Organisationsstufe durch Latentwerden
de]' letzton VervoUkomnnmngsanlagen stattfindet. Dann werden, wenn
wir die Anpassung vernachlässigen, in einem Organismus mit dem
Idioplasma Jn nm' die dem Zustande J„-i entsprochenden Merk-
male verwirklicht. Mit Berücksichtigung der An^jassung und unter
der Annahme, es verändere sich ein bestinlmtes Merkmal derselben
gleichzeitig mit der Organisation, luiben wir folgendes Beisj^iel. Das
Idioplasma aJr, sei in (aJhJi^ übergegangen, indem die Organisation
um eine Stufe gestiegen ist (von J-, auf J^■^ und die äussere An-
passung sich geändert hat (von a zu />). Die Anpassungsanlage a
ist im Idioj)lasma noch vorhanden, al»er latent, dalier in () einge-
schlossen, Ji; (üithidt '/,-, vollständig in sich , aber vermehrt durch
IV. Anlagen und sichtbare Merkmale. 187
neue Micellschaaren und damit zugleich mit einem etwas anderen
Gesammtgleichgewicht. Wenn heispielsweise «-/-, eine hestimmte ein-
zellige Pflanze mit der Anpassung a darstellt und (a)hJ^:, die erste
und niedrigste Stufe der Yielzelligkeit mit der Anpassung h, so kann
diese Form wieder einzellig werden, stellt nun aher in diesem Zu-
stande nicht die Form der Stufe J5 dar, aus der sie hervorgegangen
ist, sondern eine andere Anpassungsform derselben Stufe. Hätte
sich a Jf, in aJ^ (nicht in (a)hJti) mngewandelt, so würde beim Rück-
schlag wieder der beinahe unveränderte Vorfahr aJ^ zimi Vorschein
gekommen sein.
Die neuen Micellschaaren , welche den Fortschritt des Idio-
plasmas von J5 zu Jo l)edingten und die Vervollkomnniungsanlage
in sich fassen, müssen, um in Merkmalen manifest zu werden, zu
einer gewissen Höhe anwachsen. Der Wendepunkt wird früher oder
später eintreten können; die Ursachen, die auf das Manifestwerden
einwirken, sind uns unl)ekannt; die Ernährung und andere äussere
Einflüsse mögen dabei eine Rolle spielen. Die nänüichen Ursachen,
die das Manifestwerden der Anlage beschleunigten, versetzen die-
selbe, wenn sie in entgegengesetzter Richtung wirken, wieder in den
latenten Zustand. Die neuen Micellschaaren, welche die einzellige
Pflanze in eine mehrzellige verwandelten, lassen, wenn sie unwirksam
werden und im Spannungszustande ver])leil)en , den mehrzelligen
Organismus wieder einzellig werden. Sie verschwinden aber nicht
aus dem Idioplasma, sondern sie verstärken sich, vermöge des in-
härenten Forschrittes zur Complication , immer mehr und führen
nothwendig wieder zur mehrzelligen Pflanze, welche nun aber viel
schwieriger wieder zur Einzelligkeit zurücksinken kann.
Wenn die vorgetragene Theorie richtig ist, so tritt ein Zurück-
fallen auf frühere Organisationsstufen höchstens vorüliergehend, al)er
nie für dauernd ein. Damit stimmt die Entwicklungsgeschichte
der organischen Reiche überein, soweit sich dieselbe sicher beurtheilen
lässt, da überall ein Fortschritt zum Zusammengesetzteren, aber
nirgends mit Gewissheit ein Rückschritt zum Einfacheren dargethan
ist. — Ferner findet in der Regel nur ein Rückschlag auf die nächst
frühere Organisationsstufe statt und auch dies nur, wenn die neue
A'^ervollkommnungsanlage niclit vollständig durchgebildet und ge-
festigt ist. Wenn daher auch ein mehrzelliger Organismus der nie-
drigsten Stufe (J,,) einzellig wird, so ist die nämliche Umwandlung für
188 rV. Anlagen und siclitbare Mci'kmale.
einen solchen der Stufe J^ und noch weit mehr für höhere Stufen
(f/J; u. s. w.) als nahezu unmöglich 7a\ Ijetrachten.
Die Norm des Rückschlages wird gewöhnlich anders aufgefasst,
indem man annimmt, dass allgemein der vollkommnere Zustand
auch wieder in den unvoUkommnercn ül)ergehen könne. Daljei
handelt es sich al^er meistens nicht um Erscheinungen, die der von
mir unterschiedenen Vervollkommnungs- oder Progressionsbewegung
angehören, sondern um Anpassungen, die nach den Umständen als
mehr oder weniger vollkommen erscheinen. Rückschläge auf frühere
Organisationsstufen, die nicht als Anpassungen zu betrachten sind,
finden im Pflanzenreiche jedenfalls nur höchst selten und zwar in
der angegebenen Beschränkung, vielleicht auch gar nicht statt; so
schlägt die geschlechtliche Befruchtung nicht in die Conjugation,
die beblätterte Pflanze nicht in die Thallompflanze zurück. — Es
gil)t freilich einen scheinbaren Rückgang in der Vervollkommnungs-
bewegung, indem ein Organismus zur Vermehrung gelangt, ehe er
alle ontogcnetischen Entwicklungsstadien durchlaufen hat, so dass
also ein Abschnitt der Ontogonie constant ausljleibt. So bringen
unter ungünstigen äusseren Umständen manche Pflanzen keine
Blüthen hervor, sondern vermehren sich auf geschlechtslosem Wege.
Dies kann wahrscheinlich Jahrtausende lang fortdauern ; aber die
Pflanzen haben deshalb phylogenetisch keinen Rückschritt gemacht.
Sie besitzen alle idioplasmatischen Anlagen, die ihrer Organisations-
stufe zukommen, und es bedarf bloss der günstigen äusseren Ein-
flüsse, um sie wieder zur Blüthenbildung zu veranlassen. In ähn-
licher Weise kann bei niederen, mit Generationswechsel begabten
Pflanzen, z. B. bei Pilzen, ausnahmsweise die eine Generation
während langer Zeiträume ausfallen.
Während uns die Erfahrung über das Schicksal der Vervoll-
kommnungsanlagen ])loss die Aussicht eröffnet, dass die Merkmale,
die der Anlage einer niederen Stufe entsprechen, durch solche ver-
drängt werden, die der Ausdruck der nächsthöheren Anlage sind,
so ist das Verhalten der Anpassungsanlagen und ihrer mani-
festen Merkmale ein höchst mannigfaltiges, — und was ül)er Yqv-
änderung der Merkmale und über Rückschlag in frühere Formen
wirklich beobachtet wurde, gehört alles dieser Kategorie an. Dies
ist begreiflich ; die Anpassungsanlagen werden durch äussere Ein-
wirkungen erzeugt und gestärkt, sie werden durch dieselben auch
IV. Anlagen und siclitl)are ^Morkniale. 18'J
wieder geschwächt und vernichtet. El)en.so hal)en die äusseren Um-
stände auf das ISlanifest- und Latentwerden dieser Anlagen einen
entschiedenen Einfluss.
Wenn das Idioplasnia sich gewissen äusseren Einwirkungen an-
gepasst hat, so besitzt es eine denselben entsprechende partielle
Anordnung, welche die Anpassungsanlage darstellt und unter gün-
stigen Umständen als iSIerkmal manifest wird. Kommen nachher
andere äussere Einflüsse zur Geltung, so tritt eine neue partielle
Anordnung im Idioj)lasma auf, welche je nach Umständen jene
frühere unverändert lässt oder schwächt oder vernichtet; im ersten
Fall bleibt das Merkmal der früheren Anpassungsanlage neben dem
neuen jSIerkmal fortbestehen ; in den andern Fällen verschwindet es
und das neue Merkmal tritt an seine Stolle. Die geschwächte An-
lage beharrt noch längere oder kürzere Zeit als partielle Anordnung
im hlioj^lasma; sie kann später wieder gestärkt werden und als
Rückschlag ein sichtbares Merkmal hervorbringen, das dem ursprüng-
hchen Merkmal mehr oder weniger gleicht.
Um dies in einem schematischen Beispiel auszuführen , so
komme ein Organismus mit dem Idioplasnia aJn unter neue äussere
Verhältnisse h und die neue Anj)assungsanlage lasse die frühere
unversehrt. aJn geht also über in ahJ„^i und die Entfaltung zeigt
die beiden Merkmale [a und h) neben einander. Darauf entstehen
durch abermahge Anpassungen an veränderte äussere Verhältnisse
die partiellen idioplasmatischen Anordnungen c und d ; dabei werde
a durch das verwandte c, und h durch das verwandte d geschwächt.
Es verwandelt sich somit alul^j^-i in (a)c(h)dJn^2, wozu ich be-
merke, dass die geschwächten, nicht mehr entfaltungsfähigen Anlagen
wieder in () eingeschlossen sind, indess die nicht eingeschlossenen
offenbar werden. Der Organismus hat somit die Merkmale a und h
mit c und d vertauscht. — Noch später wird dmxh die neue An-
passungsanlage e die frühere c und durch die neue Anlage / die
frühere d geschwächt, so dass das Idioplasnia sich von (a) c (b) d Jn -^- 2
in (a,c)c(b,d)fJn-\-2, umwandelt, und am Organismus die Merkmale
c und d durch e und f ersetzt werden. — Im Idioplasnia befinden
sich nun die latenten Anlagen a, c, h, d, von denen die eine oder
die andere unter günstigen Umständen wieder zur Entfaltung ge-
langen kann, wobei dann das entsprechende unverträgliche Merkmal
verdrängt wird. Beispielsweise geht das Idioplasnia in den Zustand
190 rV. Anlagen und sichtl)are Merkmale.
(c,c)a(h,f)dJ,,^i über, indem an dem Organismus die Rückschläge
a und cl auftreten, zwei Merkmale, die früher nicht gleichzeitig be-
standen.
Während das Idioj)lasma durch die äusseren Einflüsse in der
angegebenen Weise verändert wurde und einen mehrmaligen Wechsel
der Anpassungsmerkmale am Organismus bewirkte, bildete sich
dasselbe durch den Vervollkommnungstrieb stetig weiter aus und
erreichte möglicherweise eine neue entfaltungsreife Stufe. Es trat
also in dem vorletzten der angeführten StsidiGii uls (a,c)e(h,d)fJn-^-6
auf und der Organismus zeigte ausser den neuen Anpassungsmerk-
malen e und f auch eine der Stufe Jn^r'-i entsprechende vermehrte
Gliederung seiner Organisation.
Ich wiederhole hier, dass, wie ich früher schon ausfüln^te, die Orga-
nisationsanlagen und die Anpassungsanlagen zu einem combinirten
System vereinigt zu denken sind, in welchem dieselben nicht neben
einander liegen, sondern in welchem die Organisationsanlagen, welche
die Grundlage des Idioplasmas bilden, von den Anpassungsanlagen
gleichsam durchdrungen und bestimmt gemodelt werden. Gleich-
wohl erscheinen die Merkmale, welche den beiderartigen Anlagen
entsprechen, in gewissem Sinne selbständig, so dass die einen oluie
die andern sich umwandeln können. Wenn auch, wie ich anzu-
nehmen genöthigt bin (S. 181), die Anpassung des Idioplasmas sich
nur ändert nach Maassgabe als dasselbe in innerer Umwandlung
begriffen ist, so dauert docli dieser innere Umwandlungsprocess, bis
er eine neue Organisation am entwickelten Organismus bewirkt, so
lange Zeiträume an , dass das Idioplusma indessen mehrmals neue
Anpassungsanlagen l)il(len kann. Daher vermag auch der Orga-
nismus, indem er in seinen allgemeinen Merkmalen auf der näm-
lichen Organisationsstufe verbleibt, seine Anpassungsmorkmale zu
wechseln. Dass aber auch die Anpassung sicli nur sehr langsam
umwandelt, beweist der wiederholt angeführte Umstand, dass viele
Pflanzen seit der Eiszeit dieselbe nicht zu ändern vermochten.
Wie der auf der gleiclicn Organisationsstufe beharrende Orga-
nismus seine Anpassungen ändert, kann umgekehrt ein Wechsel der
(.)rganisationsstufe bei gleichbleibender Anpassung stattfinden. Ich
crwillme als verständlichstes Beisj)iel einzelhge Pflanzen, die ohne
irgend eine weitere Modification melu'zellig werden. In diosemVer-
hältniss stellen zu einander die ((mizclligon) (-hroocuccaceen und die
rV. Anlagen und sichtbare IMerkmale. 10 1
übrigen (mehrzelligen) Gruj^pen der Nostocliinen (Nostochaceen, Oscil-
lariaceen, Scytonemaceen, Ri^allariaceen), — gewisse (einzellige) Pal-
mellinen und verwandte Gattungen der (mehrzelligen) Confervoi'den, —
die (einzelhgen) Desmidiaceen und die (mehrzelligen) Zygnemaceen.
Es gibt also, wenn wir von den beiden der Organisation und
der Anpassung entspreclienden Kategorien absehen, zweierlei An-
lagen im Idioplasma, entfaltungsfällige und entfaltungsunfähige,
solche, die am Organismus sichtbare Merkmale veranlassen können
und solche, die im geschwächtem oder unfertigem Zustande sich
befinden und nothw^endig latent lileiben. Unter den entfaltungs-
fähigen Anlagen gibt es wieder zwei Gruppen, solche mit unaus-
ljleil)licher oder nothwendiger und solche mit zufälliger Entfaltung;
man kann sie, in Analogie mit der Bezeichnung der auf bestimmten
Bodenarten vorkommenden Gewächse, entfaltungsstet und entfaltungs-
vag nennen. Die entfaltungssteten Anlagen kommen in jedem
Individuum zur Entwicklung, während die entfaltungsvagen bald
latent bleiben, bald manifest werden. Unter den letzteren gibt es
übrigens alle Abstufungen zwischen der Entfaltungsstetigkeit und
der Entfaltungsunfähigkeit, indem die einen nur selten verborgen
bleiben und die anderen nur selten sichtbar werden, und man könnte
daher unter ihnen wieder entfaltungsliolde und entfaltungsscheue
unterscheiden. Fast jede Pflanzenart hat entfaltungsvage Anlagen ;
sie betreffen vorzüglich die Grösse des Individuums und der Organe,
die Zahl der Organe und Zellen, die Verzweigung, Bewurzelung,
Behaarung, Färbung, die A'ermelu'ung im Verhältniss zur Fort-
pflanzung, die Füllung der ßlüthen, endlich verschiedene krank-
hafte und abnormale Erscheinungen, — und sind sehr geeignet den
Systematiker irre zu führen.
Ob die entfaltungsvagen Anlagen zu manifesten Merkmalen
werden oder nicht, hängt, wenn eine Pflanze normal und unverletzt
ist, von den äusseren Einwirkungen, namentlich von der riclitigen
Ernährung ab. Die nämliche Pflanze, die auf magerem sandigem
Boden kaum handgross wird mit unverzweigtem einblüthigen
Stengel, erlangt auf fruchtbarem Boden die Höhe von einem Meter
und reiche Verzweigung mit hunderten von Blüthen; sie bringt hier
alle entfaltungsfähigen Anlagen zur Ausbildung. — Die äusseren
Einflüsse führen dem Organismus vorzüolich Stoß: und Kraft zu.
192 • IV. Anlagen und .si("lit.l)are Merkmale.
Sie haben die Bedeutung, welche das Brennmaterial für die Dampf-
maschine hat. Wie die Vermehrung des Brennmaterials die Kraft der
Maschine und die Geschwindigkeit der dadurch in Bewegung ge-
setzten Locomotive vermehrt, so steigert eine reichlichere Nahrung
in Verbindung mit einer grösseren Menge von Wärme und Licht
die Leistungen der lebenden Pflanze so sehr, dass dieselbe nun alle
entfaltungsfähigen Spannungen in Bewegung üljcrgehen lässt.
Wir begreifen diese Thatsache auch von der mechanischen
Seite, wenn die Vermuthung, die ich früher über die Beziehung
zwischen den Vorgängen im Idioplasma und am entfalteten Organismus
äusserte (S. 47) richtig ist. Eine entfaltungsfähige Anlage wird dann
zum sichtbaren Merkmal, wenn die ihr entsprechende Gruppe von
Längsreihen im Idioplasma in activer Weise wächst, während die
andern Gruppen nur so weit passiv folgen, als es die eintretende
Spannung erfordert. Es ist in diesem Falle selbstverständlich, dass
bei mangelhafter Ernährung nur diejenigen Gruppen des Idioplasmas
zum activen Wachthum und somit zur Entfaltung ihrer Merkmale
gelangen, welche dazu die grösste Neigung besitzen, und dass bei
reichlichster Ernährung auch die andern, die überhaupt jene Fähig-
keit besitzen, dazu angeregt werden.
Es gibt unter abnormalen Verhältnissen noch eine andere Art
von Entfaltung sonst latent bleibender Anlagen. Zellen von Stengeln,
Blättern, Wurzeln, die im normalen Zustande in Ruhe verharren,
gelangen nach Verletzungen und Verstümmelungen des Individuums
zur Entwicklung. Aus gekappten Stämmen, Aesten und Wurzeln, aus
Stücken von solchen, an abgeschnittenen Blättern bilden sich Adventiv-
knospen. Das Idioplasma bestimmter Zellen, das sonst ruhend
bleibt, beginnt in diesem Falle sich sammt dem Ernährungsplasma
zu vermehren und dadurch Zellenbildung einzuleiten. Die Er-
scheinung hat nichts Auffallendes und erklärt sich zum Theil in
gleicher Weise, wie die Entwicklung der einzelnen entfaltungsvagen
Anlagen. Durch die Verstümmelung häufen sich nämlich die Nähr-
stoffe an, die unter normalen Verhältnissen nach denjenigen Or-
ganen, wo Neubildungen stattfinden, abfliessen, und veranlassen
das Idioplasma, zu dem die stärkste Zufuhr stattfindet, zum Wachs-
thum. Uebcrdem wird aber auch bei der Verstünnnelung der Orga-
nismus durch verschiedene Einwirkungen getroffen, welche er im
unversehrten Zustande nicht s^DÜrt.
TV. Anlagen und siclitbare Merkmale. 1*),']
Dagegen ist die Eigenartigkeit, in der diese adventiven JJildnngen
erfolgen, benierkenswertli ; aus dem nämlichen Gewebe können unter
verschiedenen Umständen verschiedene Bildungen hervorgehen. Wird
ein Stengel oben abgeschnitten, so dass ihm Zweige und Blätter
mangeln, aber die Wurzeln bleiben, so bildet er Adventivknosj^en
und aus denselben bel^lätterte Zweige ; wird er unten abgeschnitten,
so dass er die Zweige und Blätter behält aber die Wurzeln verliert,
so erzeugt er aus densell3en Zellen Adventivwiu-zeln. Aehnlich ver-
hält es sich mit abgeschnittenen Wurzeln. Es ist als ob das
Idioplasma genau wüsste, was in den übrigen Theilen der Pflanze
vorgeht, und was es thun muss, um die Integrität und die Lebens-
fähigkeit des Individuums wieder herzustellen.
Diese merkwürdige Erscheinung erklärt sicli mit Hilfe zweier
Hypothesen, die ich oben aufgestellt habe und dient denselben zu-
gleich als Stütze. Sie beweist einerseits wohl unz weif eil laft, dass
das Idioplasma in einem beliebigen Theil des Organismus Kunde
erhält von dem, was in den übrigen Theilen vorgeht. Dies ist dann
möglich, wenn seine Veränderungen und Stimmungen auf materiellem
oder dynamischem Wege überall hin mitgetheilt werden (S. 55).
In diesem Falle muss es das locale Idioplasma sofort fühlen, wenn
ein wesentlicher Theil des Individumns mangelt, weil von dorther
keine Mittheilungen mehr anlangen. Sollte in dem pflanzhchen
Organismus die Communication auf materiellem Wege erfolgen, was
ich indess für wenig wahrscheinlich halte, so würde in dem angeführten
Beispiel das Idioplasma des Stengels entweder keine Theilchen von den
Wurzeln oder keine solchen von den Blättern und Zweigen erhalten.
Andrerseits beweist jene Erscheinung, dass das Bedürfniss als
Reiz wirken kann (S. 1G2), und dass das bestimmte Bedürfniss auch
eine bestimmte Reaction veranlasst. Während aber sonst ein solcher
Reiz nach sehr langer Dauer Anlagen im Idioplasma erzeugt, dient
er hier nach kurzer Einwirkung dazu, bereits vorhandene Anlagen
zur Entfaltung zu bringen. Das Idioplasma des 'Stengels, welches
keine Mittheilung von Wurzeln oder von beblätterten Zweigen er-
hält, empfindet diesen Mangel und reagirt darauf, wie es immer auf
ein Bedürfniss reagirt; es hilft dem Mangel al) und wählt dazu die
nach den Umständen geeigneten und ilim zu (iebot stellenden
Mittel, in diesem Falle die Anregung zur Entwicklung von l)e-
stimmten Anlagen. Die Thatsache, dass aus dem nänüichen Ge-
V. Nägel i, Abstammungslehre. 13
194 IV. Aulagen und siclitbare INIerkmale.
webe von den verschiedenen Organen, die liier gebildet werden
können, gerade dasjenige entsteht, welches dem Individuum ge-
nommen wurde, scheint mir auf keine andere Art sich deuten zu
lassen, als dass der Mangel als Reiz zu wirken vermag, welcher der
durch Anhäufung von Nährstoffen erfolgenden Neubildung die be-
stimmte Richtung anweist.
Eine eigenthümliche Kategorie von Anlagen , die gleichsam
zwischen den entfaltungssteten und den entfaltungsvagen die Mitte
halten, bilden je zwei oder mehrere zusammen gehörende Anlagen,
von denen Eine mit Ausschluss der übrigen sich entfalten muss. Welche
zur Entfaltung gelangen und welche latent bleiben, hängt bald von
inneren bald von äusseren Ursachen ab. So sind es ohne Zweifel
innere, aber noch unbekannte Ursachen, welche bei getrennt geschlech-
tigen Organismen bestimmen, ob in einem entstehenden Keim die
männlichen oder die weiblichen Geschlechtsorgane zur Entwicklung
gelangen werden. Dagegen tritt der Einfluss der äusseren Ursachen
bei der ßlattl)ildung einiger Wasserj^flanzen ganz auffallend hervor.
Bei Ranunculus fluitans, der im Wasser wächst und nur seine
Blüthen über die Oberfläche erhebt, sind alle Blätter untergetaucht
und borstenförmig-vielspaltig. Bei R. hederaceus, der in fast aus-
getrockneten Wassertümpeln auf Schlamm und Sand als kriechende
Landpflanze lebt, befinden sich die Blätter in der Luft und haben
eine nierenförmige, gelappte Spreite. Ein Mittelglied zwischen den
beiden genannten Arten stellt R. aqnatilis dar, welcher im Wasser,
aber mehr an der Oberfläche desselben wächst. Hier sind die einen
(unteren) Blätter untergetaucht und borstenförmig - vielspaltig wie
l}ei R. fluitans, die anderen (oberen) Blätter sind auf dem Wasser
schwinmiend und haben eine nierenförmige gelappte Spreite wie
bei R. hederaceus.
Die genannten drei Ranunculusarten stehen in sehr naher Ver-
wandtschaft zu einander; sie zeigen im Vereine deutlich den Ein-
fluss der beiden Elemente, des Wassers und der Luft, auf die Form-
bildung der Blätter. Aber nur l)ei R. aquatilis macht sich dieser
Einfluss bei der Entwicklung der Blattanlageii jetzt noch in jeder
Generation geltend. Das Idioplasma dieser Art enthält zwei ent-
wickkmgsfähige Anlagen, von denen sich bei jeder einzelnen Blatt-
bildung die eine oder andere entfalten muss. Solange der Stengel
tiefer im Wasser sich befindet, bringt er die Anlagen der borsten-
IV. Alllagen luid sichtljare jMerkmiile. 195
löniiig-sclimalen Blätter, kommt er über an die Oljerfiüclie, (liejcnigen
der breiten Blätter zur Entfaltung.
In den zwei anderen Arten sind die Anlagen für die beiden
ßlattformen gewiss el^enfalls im Idioplasma vorhanden ; aber in jeder
vermag sich nur noch die eine Anlage zu entfalten. Während R. aqua-
tilis jetzt noch für ein amphibisches ^'^erhalten, mn mich so auszu-
drücken, befähigt ist, hat sich R. hederaceus ganz als Landpflanze,
R. fluitans ganz als Wasserpflanze angepasst: in R. hederaceus sind
die Anlagen für die borstenf örmig - vieltheiligen , in R. fluitans die-
jenigen für die nierenförmig-gelaj^pten Blätter geschwächt und ent-
faltungsunfähig geworden.
Gleich wie der Einfluss des Wassers jetzt noch bei der onto-
genetischen Entfaltung der Blattanlagen bemerkbar wird, hat er
einst die phylogenetische Entstehung dieser Anlagen vollbracht. Es
ist nicht unwahrscheinlich, dass hierbei die lichtmässigende Wirkung
des Wassers die Hauptrolle spielte. Bekanntlich hat Lichtmangel
eine starke Streckung des Stengels bei den höheren Pflanzen und
ebenso der Blätter bei den Monocotyledonen zur Folge (\"ergeilung).
Allerdings bleiben in der Dunkelheit die Blätter der Dicotyledonen
klein und unentwickelt; allein die Ursache hiervon besteht darin,
dass bloss schuppenförmige Niederljlätter sich bilden. Dass aber
die Blattstiele von Dicotyledonen unter dem Einfluss der Dunkelheit
sich ebenso sehr strecken können wie die Stengel, sehen wir an
den im tiefen Wasser wachsenden Seerosen, welche ihre schwün-
menden Blattspreiten auf den langen Blattstielen, wie ihre Blüthen
auf den langen Blüthenstielen, an die Oberfläche des Wassers bringen.
Es ist daher möglich, dass unter noch nicht näher bekannten Um-
ständen die Blätter der Dicotyledonen bei Lichtmangel sich strecken
und schmal bleiben, und dass bei ihrer ursjDrünglichen phylogene-
tischen Ausbildung die Blätter der Wasserpflanzen von unten nach
oben am Stengel allmählich breiter wurden, worauf dann bei einer
späteren j)hylogenetischen Umbildung der gewöhnliche Process ein-
trat, welcher mit Unterdrückung der ZwischengUeder nur einige
extreme Typen beibehielt, nämlich bei den genannten Ranunculus-
arten die borstenf örmig- vielspalti gen und die nierenförmig-gelappten
Blätter, von denen Ijei einigen Arten zuletzt auch noch der eine
dieser beiden Typen verloren ging.
13*
1 i •( ■) IV. Anlagen und sichtbiire Älerkmale.
Ehe ich das Verhältniss von Anlagen und sichtl:)aron Merk-
malen weiter verfolge und dasselbe bei der geschlechtlichen Fort-
pflanzung betrachte, will ich hier noch zwei Bemerkungen ein-
schieben, eine theoretische und eine praktische. Die theoretische
betrifft das Verhältniss der Anlagen zum ontogeneti sehen Entfaltungs-
zustand, welches uns, wenn wir nur die nächst liegenden Beispiele
ins Auge fassen, leicht als etwas Mysteriöses erscheint. Wir können
es nur richtig beurtheilen, wenn wir mis das Wesen der Anlagen
auf den niedrigsten Stufen deutlich machen. Man möchte geneigt
sein, den einzelligen Organismus als der Anlagen ermangelnd anzu-
sehen ; aber dies wäre nur im Vergleich mit den vielzelligen und höher
ausgebildeten Wesen richtig. Selbst die erste Stufe des Probienreiches,
das primordiale Plasma besitzt im Grunde schon eine Anlage, die-
jenige, nämlich neue gleichartige Micelle einzulagern, also zu wachsen.
Auf der nächsten Stufe, wo das primordiale Plasma sich zu Tropfen
von bestimmter Grösse, die sich theilen, individualisirt hat, sind
dem jugendlichen Zustande (nach der Theilung) zwei Anlagen eigen,
nämlich auf die volle Grösse anzuwachsen und dann sich zu theilen.
In diesen einfachen Fällen liegt der mechanische Zusammenhang
zwischen dem jugendlichen oder Anlagezustand und dem bestimmten
entwickelten Zustande klar vor. Sowie nun die Wesen complicirter
werden, mehren sich allmählich die Anlagen ; das entwickelte Stadium
lässt sich aber immer noch mehr oder weniger deutlich als die noth-
wendige Folge des jugendlichen Stadiums einsehen, wie dies bei
allen einzelligen und den einfachsten mehrzelligen Organismen der
Fall ist. Gehen wir stufenweise zu den complicirteren und dann
zu den complicirtesten mehrzelligen Pflanzen weiter, so ändert sich
im Princip nichts; es stellt sich stets die ganze Entwicklung aus
dem Keime bis zum erwachsenen Zustande und die Absonderung-
neuer Keime in diesem Zustande wenigstens der Analogie nach
als eine ebenso nothwendige Consequenz dar, wie das Wesen und
die Theilung des primordialen Plasmatropfens.
Dies gilt für die Totalanlage, für den ganzen einzelligen Keim
der Organismen. Was die Partialanlageii betrifft, so lässt sich die
Nothwendigkeit der Entfaltung zu bestimmten Merkmalen für jede
einzelne auf den untersten Stufen noch deutlich wahrnehmen. Sowie
die Partialanlagen aber zahlreicher werden, geht der Faden für die
einzelnen verloren, da wir die Beschaffenheit des Idioplasmas nicht
rV. Anlagen und sichtbare INIerkmale. 197
kennen ; und wir vermögen die Nothwendigkeit der bestimmten Ent-
faltmig nur dadurch zu erweisen, dass das causale Gesetz, wo es die
ganze Entwicklung beherrscht, auch für die Theile gelten muss.
Die andere Bemerkung, die ich als praktische bezeichnete, be-
trifft den Werth, den die Beobachtung des Entfaltungszustandes, im
Vergleich zu den Anlagen, für die Beurtheilung des Wesens und
der Verwandtschaft der Organismen hat. In dem einzelligen Keim,
der nur die Anlagen in sich birgt, ist das ganze Wesen eines Orga-
nismus enthalten. Dieser Keim besitzt nicht nur das Geheimniss
aller der Eigenschaften, die wirklich zur Entfaltung gelangen, sondern
auch das Geheimniss aller derjenigen, die verlwrgen l)leiben und
vielleicht erst nach vielen Generationen zum Vorschein kommen.
Von dem wirklichen und vollständigen Wesen, das durch den
Keim dargestellt wird, gibt uns die Beobachtung der uns zugäng-
hchen morphologischen und physiologischen Merkmale nur eine
dürftige Vorstellung. Selbst wenn wir die Entwicklungsgeschichte
eines Organismus vom ersten Entstehen bis zum Tode lückenlos
und in den feinsten Einzelheiten ergründen könnten, so hätten wir,
da viele Anlagen latent bleiben, doch nur ein mangelhaftes Bild
gewonnen. Von der ganzen Entwicklungsgeschichte sind uns aber
nur die groben Merkmale zugänglich; alle feineren Merkmale, die
sich aus dem Idioplasma entfaltet haben und welche die moleculare
Physiologie und Morphologie der nicht idioplasmatischen Substanzen
betreffen, bleiben uns verborgen. Es ergibt sich hieraus deutlich,
wde vorsichtig die Systematik mit ihren Schlüssen ül)er Verwandt-
schaft und Abstammung sein sollte.
Wo es sich um tiefgreifende Verschiedenheiten handelt, be-
sonders wenn dieselben mit Hilfe allgemeiner Entwicklungsgesetze,
von denen ich im letzten Abschnitt sprechen werde, sich feststellen
lassen, mag die vergleichende Morphologie allerdings kaum irre
gehen. Es kann, um nur vom Pflanzenreiche zu sprechen, beispiels-
weise kein Zweifel über das A^erhältniss von einzelligen und mehr-
zelhgen Gewächsen, wenn dieselben in der Beschaffenheit der Zellen
ül^ereinstimmen, ebenso über das Verhältniss von Algen, Moosen,
Gefässkryptogamen, gymnospermen und angiospermen Phanerogamen
bestehen. Wenn man aber von den grossen und allgemeinen Gruppen
der Reiche zu den Classen und Ordnungen oder gar zu den Gattungen
und Arten heruntersteigt, so ist in der Regel keine sichere Beur-
198 I^'^- Anlagen nnd sichtliare Merlanale.
tlieilung mehr möglich und alle pliylogenetisclien Hypothesen werden
werthlos. In diesen Regionen des Pflanzenreiches werden die Unter-
schiede nach der äusseren Form, selten auch nach der anatomischen
Structur, die wenig mehr Aufschluss gil)t, hestimmt. Dies mag
nothdürftig zur blossen Unterscheidung der Sippen ausreichen, aber
für die Erfassung des Wesens haben die Merkmale der beschreibenden
Botanik oft nicht mehr Werth, als wenn man das Wesen von
Wohnhäusern, Scheunen, Kirchen, Fal)rikgcbäuden aus ihrer äusseren
Form erkennen wollte.
Wie wenig die äusseren Unterscheidungsmerkmale dem inneren
Werth entsprechen, sehen wir deutlich daraus, dass in gewissen
Pflanzenordnungen (z. B. den Ranunculaceen) nahe verw^andte Arten
durch viel auffallendere Merkmale geschieden sind, als in anderen
Ordnungen (z. B. den Cruciferen) die Gattungen. Es kommt selbst vor,
dass die sichtbaren und definirbaren Unterschiede ganz mangeln,
obgleich die innere ^^erschiedenheit unzweifelhaft ist. Apfelbaum
und Birnbaum sind, wiewohl der gleichen Gattung angehörend,
doch als Arten so weit von einander entfernt, dass es bis jetzt nicht
gelungen ist, sie gegenseitig zu befruchten und einen Bastard zu
erhalten, während Mandelbaum und Pfirsichbamn, die man in zwei
Gattungen trennt, sich bastardiren lassen. Mit Ausnahme eines
geringfügigen Unterschiedes in der Blüthe, wonach die Griffel beim
Apfelbaum an der Basis zusammengewachsen, beim Birnbaum frei
sind, weiss der Botaniker für diese beiden Bäume keine durch-
greifenden, für alle Sorten geltenden Untersclieidungscharaktere, ob-
gleich das Gefühl einem immer sagt, welche Art man vor sich habe,
und kein Bauer sich täuscht, w^enn man ihm die Bäume oder auch
nur die beblätterten Zweige derselben zeigt.
Das Verhalten und die Bedeutung der latent bleibenden und
manifest werdenden Anlagen wird in vorzügiiclier Weise durch die
Erscheinungen bei der digenen Fortpflanzung klar gelegt. Bei der-
selben sind es zwei elterliche Individuen, aus deren Zusammenwirken
der einzellige Keim gebildet wird. Selten spielen die beiden Eltern
bei diesem Process die gleiche Rolle (was bei der Conjugation
niederer Algen und Pilze vorkommt); gewöhnlich ist ein Individuum
das befruclitende, das andere das l)cfruchtete, jenes bei der Keim-
l)ildung (quantitativ scliwach, dieses sehr stark botheiligt.
TV. Anlapon und sichtbare Merkmale. 199
Wir haben hier zwei Fragen zu beantworten, die sich gegen-
seitig bedingen mid auch vielfacli verschhngen: Wie gross ist der
Betrag an Anlagen, welche der Keim vom Vater und von der Mutter
erbt? Wie verhalten sich die sichtbaren Merkmale des Kindes zu
den ererbten Anlagen? Sehr häufig beurtheilt man das Maass der
Erbschaft nach den sichtbaren Eigenschaften, und sagt, das Kind
habe dies vom Vater, jenes von der Mutter, und überhaupt von
dem einen oder anderen »Elter« ^) mehr geerbt. Dies ist ja ganz
richtig, w^enn es sich nur um das Verständniss handelt, welches der
alltägliche Verkehr verlangt. Aber es wäre ganz irrthümlich, wenn
man damit eine wissenschaftliche Bedeutung verbinden und den
väterlichen oder mütterlichen Einfluss bei der Zeugung ausdrücken
wollte. Man würde dadurch zu falschen Schlüssen über die A"er-
erbung und ül:)er das Verhältniss zwischen latenten und manifesten
Eigenschaften gelangen.
Erfahrung und Theorie beweisen uns übereinstimmend, dass
der Erbschaftsantheil nicht nach den sichtbaren Merkmalen bemessen
werden darf. Was die Erfahrung betrifft, so mag nur an die zahl-
reichen bekannten Beispiele von Rückschlägen erinnert werden. Ich
will, um die Art und Weise des Beweises darzuthun, einen die Ver-
erbungsfrage in sehr wirksamer Weise erläuternden Fall anführen.
Eine Angorakatze und ein gewöhnlicher Kater (erste Generation)
erhielten in einem Wurf bloss gewöhnliche Katzen (zw^eite Generation) ;
die alltägliche xVnschauung würde in diesem Falle dem Vater ein
^) Sit venia verbo ! Es mangelt der deutschen Sprache ein Wort , das
synou\Tii mit »erzeugendem oder elterlichem Indi\äduum« und zugleich handlich für
den Gebrauch ist. Bei der geschlechtslosen Fortpflanzung l)ezeichnet man den
Erzeuger als Mutterindividuum , Mutterpflanze , Mutterzelle u. s. w. ; man ge-
In-aucht cUese Ausdrücke aber auch für weibliche mid für hermaphroditische
Indi^^duen und Mird dadurch oft zweideutig, denn bei Arten mit geschlechtslosen
und geschlechtlichen Generationen bedeutet Mutterpflanze sowohl die mütterliche
weibliche als die erzeugende geschlechtslose Pflanze und bei Arten, die ein-
geschlechtig und zweigeschlechtig vorkommen, bedeutet Mutterijflanze sowohl die
mütterliche weibliche als die elterliche hermaphroditische Pflanze. Ueberdem
klingen einige Zusammensetzungen wie Grossmutterzelle, Urgrossmutterpflanze
sonderl)ar. Diese Unzukönunlichkeiten vermeidet man, wenn das Wort »der Elter«
in die Sprache aufgenommen wird. Man hat dann Eiterpflanze, Elterthier, Elter-
zelle, Grosselterzelle u. s. w. — Es versteht sich, dass dem entsprechend das Er-
zeugte, wenn es geschlechtslos ist, nicht als »Tochter«, sondern als »Kinc^ zu
l)ezeichnen ist.
200 rV- Anlagen inid sichtbare Merkmale.
starkes Uebergewicht zuerkennen. Die jungen Katzen enthielten
aber trotz ihres gewöhnhchen Aussehens viel Angorablut; denn aus
der Begattung zweier derselben entsprang in der dritten Generation
neben gewöhnlichen eine unveränderte weibliche Angorakatze. Viel-
leicht wäre in der vierten Generation das Verhältniss für das An-
gorablut noch günstiger geworden. Halten wir uns aber bloss an
die berichtete Thatsache, so beweist sie uns, dass auf die äusseren
Merkmale gar kein Verlass ist; denn wde sollten zwei gew^öhnliche
Katzen dazu kommen, eine Angorakatze zu erzeugen?
Was die Theorie betrifft, so sagt uns dieselbe, dass bei der ge-
schlechtlichen Befruchtung das Idioplasma zweier Individuen sich
vereinigt, um einen Keim zu bilden, und dass die Menge der idio-
plastischen Eigenschaften, die von dem Vater und der Mutter zum
Keim abgegeben werden, den genauen Betrag der beiderseitigen
Erbschaft darstellen. Es können daher dem Kinde keine Anlagen
gänzlich mangeln, welche die Eltern besitzen, und es selber kann
keine Anlagen besitzen, die den Eltern fehlen. Es ist nur ein schein-
barer Widerspruch gegen diese Forderungen der Mechanik, wenn
das Kind sichtbare Merkmale zeigt, welche weder A^ater noch Mutter
haben, oder solche, die nur dem einen Elter zukommen, und wenn
es Merkmale entbehrt, welche beiden Eltern gemeinsam sind. Zur
richtigen Beurtheilung des väterlichen und mütterlichen Erbschafts-
antheils kommt es bloss auf die Anlagen an. Für dieselbe ist es
ganz gleichgültig, welche von diesen Anlagen zur Entfaltung ge-
langen; dieser Punkt betrifft, eine andere, nachher zu besprechende
Frage.
Da wir kein Mittel besitzen, um die Menge und die Stärke der
Anlagen in einem Keim oder in dem daraus sich entwickelnden
Individuum direct zu bestimmen, so sind wir bezüglich der Schätzung
der vom Vater und der Mutter überkommenen Erbschaft auf die Wahr-
scheinlichkeitsrechnung angewiesen. Wenn auch im einzelnen Fall
die sichtbaren Merkmale und die Anlagen keine Ueberein Stimmung
zeigen, so ist doch anzunehmen, dass die Uebereinstimmung um so
mehr erreicht werde, je grösser die Zahl der l)eobachteten Fälle ist.
Diese Vielzahl ist auf doppelte Art erhältlich.
Ich will an das vorhin angeführte ßeis^^iel von gewöhnlicher
und Angorakatze anknüpfen und die Annahme machen, dass wie
in den ersten Generationen so auch in den folo^enden eine Zwischen-
TV. Anlagen und sichtbare Merkmale. 201
bildung in den äusseren Merkmalen nicht eintrete, sondern nur die
reinen Rassenmerkmale sichtbar werden. Vermehrt sich die Nach-
kommenschaft bei strenger Inzucht, so muss das den Anlagen ent-
sprecliende Verhältniss sich um so sicherer einstellen, je grösser
die Zahl und je später die Generation. Wäre unter den lOOi) In-
dividuen der 10. Generation die Hälfte Angorakatzen, so dürfte
man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass Männchen und
Weibchen des ursprüngliclien Paares gleich viel vererbt haben, ob-
gleich die zweite Generation bloss aus gewöhnhchen Katzen bestand.
Würde aber unter jenen 1000 Individuen die eine oder andere Rasse
ein numerisches Uebergewicht zeigen, so wäre mit einiger Wahr-
scheinlichkeit auf ungleiche Erbschaftsantheile für die bestimmte
Paarung des betreffenden Stammpaares zu schlies'sen. Es ist mir
nicht bekannt, dass eine in dieser Weise durchgeführte Züchtung
sicheren Aufschluss gäbe.
Eine andere Grundlage für die Wahrscheinlichkeitsrechnung
geben mis zahlreiche Zeugungsfälle, wo die Kinder mit den Eltern
verglichen werden ohne Rücksichtnahme auf die Herkunft der letzteren.
Dies ist selbstverständlich nur beim Menschen, aber hier in ausgie-
bigster Weise möglich. Wenn man hier die Fälle, in denen die Kinder
mein- sichtbare Eigenschaften vom Vater, und diejenigen, wo sie
mehr von der Mutter besitzen, zälilt, so nähern sich die beiden
Summen sicher einander um so mehr, je grösser sie sind. Daraus
dürfen wir wohl mit ziemlicher Gewdssheit schliessen, dass die Kinder
auch an Anlagen im Durchschnitt gleich viel von jedem der beiden
Eltern erben, wobei es jedoch zweifelhaft bleibt, oIj dies auch für
jeden einzelnen Fall gelte.
Man sollte denken, dass das väterliche und mütterliche Erbtheil
sich deutlich bei der Bastardzeugung erkennen lasse, wenn man die
beiden elterlichen Sippen bei der Befruchtung vertauscht, wenn
nämlich von den beiden Sippen Ä und B, das eine Mal Ä das
andere Mal B die männliche Rolle übernimmt, so dass man die
beiden Bastarde AB und BÄ erhält. Einen solchen Fall haben wir
beim Maulthier und Maulesel ; ersteres ist, wenn man den Bastard
nach den Eltern benennt und den Vater voranstellt, ein Eselpferd,
letzterer ein Pferdeesel. Gerade dieses Beispiel zeigt deutlich, dass
die Bastarde AB und BA in den sichtbaren Merkmalen verschieden
sein können. Aber über die vorliegende Frage der Anlagenver-
202 IV. Anlagen und sichtbare Merkmale.
erbung gibt es keinen Aufscbluss. Der Umstand, dass Manltbicr
und Maulesel in gleicbem Grade unfrucbtl)ar zu sein scbeinen,
macht es niclit unwalirscheinlicb, dass beide den Anlagen nacb
mittlere Bildungen sind. A^on Bastarden zwischen Pflanzenarten
gibt Gärtner an, dass die Combinationen AB und BA einander
so ähnlich sehen, wie ein Ei dem anderen.
Es gibt eine andere Betrachtung, die mir noch von grösserer
Bedeutung zu sein scheint. Wenn wir die Vererbung der sicht-
baren Merkmale bei den verschiedenen Pflanzenbastarden verfolgen,
so zeigt dieselbe mit der abnehmenden A'^erwandtschaft der Eltern
eine bemerkenswerthe Reihenfolge. Bei der grössten ^Verwandtschaft
(wenn bloss ein Rassenunterschied zwischen den Eltern besteht) ist
die Vererbung am unregelmässigsten, indem der Bastard bald dem
Vater, bald der Mutter sehr ähnlich, selbst scheinbar gleich ist oder
auch über beide Eiterrassen hinausgeht. Bei der Kreuzung von
natürlichen Varietäten ist die Unregelmässigkeit geringer und bei
derjenigen von Species, namentlich von verwandtschaftlich ent-
fernter stehenden Species, wird die Vererbung der sichtbaren Eigen-
schaften ganz regelmässig, indem alle BastardindiAdduen AB unter
einander gleich sind, ebenso alle Bastarde BA, und gleichfalls wird,
wie schon bemerkt, der Unterschied von AB und BA sehr klein
oder verschwindet ganz. Diese Thatsache, die übrigens nur für die
Merkmale der zweiten Generation (d. h. der ersten Generation der
hybriden Nachkommenschaft) gilt, spricht entschieden dafür, dass
die väterlichen und mütterlichen Erl)theile an Anlagen einander
gleich sind.
Aus den vorstehenden Betrachtungen ergibt sich, wie ich
glaube, ül)ereinstinmiend die sehr grosse Wahrscheinlichkeit, dass
Vater und Mutter in allen Fällen gleichviel oder nahezu gleichviel
an Anlagen oder idioplastischen Eigenschaften auf das Kind über-
tragen. Dieses Ergebniss ist für die Lehre von der Vererbung imd
weiterbin auch für die Abstammungslehre von grosser Wichtigkeit.
Die sichtbaren Merkmale des Kindes geben also im einzelnen Falle
kein Zeugniss dafür, wie viel und welche Anlagen von einem Elter
geerbt wurden ; denn die von jenen sichtbaren Merkmale abweichen-
den Merkmale des andern Elters wurden gleichfalls vererbt, sind
aber latent geblieben. Wenn beispielsweise das Kind eines Vaters
mit rotlien und einer Mutter mit scliwarzen Haaren rothhaarig wird,
IV. Anla<ren und siclitliare Merkmale. 203
SO sagt man mit Unrecht, die Haare seien vom A^'ater allein vererl)t
worden. Auch die schwarzen Haare der Mutter wurden vererbt;
sie befinden sich als Anlage in dem Kinde und konnnen oft in den
Enkeln wieder zum "\^orschein.
Wenn daher Darwin neben dem gewöhnlich bestehenden
Gleichgewicht auch ein »Gesetz des Uebergewichts« anninnnt, wel-
ches darin besteht, dass gewisse Individuen, Rassen oder Species
beiderlei Geschlechts oder auch nur diejenigen des einen Geschlechts
Ijei der Kreuzung mehr als die Hälfte vererben, so gilt dies nicht
für die Totalität der Eigenschaften, sondern nur für die sichtbaren
Merkmale und für die erste Generation der Nachkommenschaft.
Und w^enn Häckel eine Mehrzahl von Yererbungsgesetzen unter-
scheidet, zunächst Gesetze der erhaltenden (conservativen) und fort-
sclireitenden ^progressiven) A^'ererbung, und innerhalb der conser-
vativen Vererbung eine continuirliche, eine unterbrochene, eine ge-
schlechtliche, eine gemischte (oder amphigone) und eine abgekürzte,
ferner innerhalb der progTessiven Vererbung eine angepasste, eine
befestigte, eine gleichzeitliche und eine gleichörtliche, so sind diese
Kategorien durch verschiedene Nebenumstände bedingt und dürfen
logischervveise nicht als ungleiche Vererbungen in Anspruch ge-
nommen werden.
Was wir gewöhnlich bei AY^rgleichung der Kinder mit ihren
Eltern als Vererbung und Nichtvererljung bezeichnen, verdient eigent-
lich diesen Namen gar nicht. Es ist ein unriclitiger Ausdruck für
die Entfaltung und Nichtentf altung der vererbten Anlagen.
Merkwürdigerweise wird aber gerade diejenige Eigenthümlichkeit,
worin die Kinder ganz vorzugsweise dem Vater oder der Mutter
gleichen, nämlicli das Geschlecht, nie als Verer])ung bezeichnet.
Man sagt wohl von zwei Geschwistern, der Knabe habe die braunen
Augen und die krausen Haare von der Mutter, das Mädchen die
blauen Augen und die schlichten Haare vom Vater geerbt, nicht
aber, jener habe die männlichen Greschlechtsorgane vom Vater, dieses
die weiblichen Organe von der Mutter erhalten. Schätzt man die
Erbschaft nach den entfalteten Merkmalen ab, so sollte man eigent-
lich immer den Söhnen eine überwiegende väterliclie Erbschaft, den
Töchtern eine überwiegende mütterliche Erbschaft zuschreil)en. Das
(reschlecht bleibt aus Inconsequenz unberücksichtigt; und doch ver-
liiilt es sich mit demselT)en genau wie mit allen ülmgen Eigen-
204 IV. Anlagen und sichtbare Merkmale.
Schäften. Sowohl in dem Knaben als in dem Mädchen sind die
Anlagen für braune und blonde Augen, für krause und schlichte
Haare , für männliche und weibliche Geschlechtsorgane enthalten ;
von jedem Anlagenpaar entfaltet sich al)er nur das eine Glied, indem
das andere latent bleibt.
Der Zusammenhalt der Nachkommenschaft mit den Stammeltern
zeigt uns, welche Eigenschaften unter bestimmten Umständen im
latenten Zustande verbleiben und welche sich entwickeln, welche
sichtbaren Merkmale mit einander verträglich sind und welche sich
ausschliessen. Von diesem Gesichtspunkte aus verdiente die soge-
nannte Vererbungslehre aufgenommen und neu bearbeitet zu werden ;
sie würde bei kritischer Sichtung der in grosser Fülle bekannten
Thatsachen und mit Hülfe neuer, mit richtiger Fragestellung ange-
ordneter Versuche schöne und fruchtbringende Resultate versprechen.
Ich will das allgemeine Problem bei Seite lassend, nur einige Punkte,
die auf das Verhalten des Idioplasmas bei der Vererbung und Ent-
faltung der Anlagen bei der digenen Fortpflanzung Bezug haben,
erörtern.
Zunächst möge im Vorbeigehen die nach dem Gesagten eigent-
lich überflüssige Bemerkung eine Stelle finden, dass die nicht wenig-
zahlreichen Fälle, wo das Kind in seinen sichtbaren erblichen Eigen-
schaften qualitativ und quantitativ über die beiden Eltern hinaus-
geht, nichts beweist gegen den in aller Strenge gültigen Satz, das
Kind sei nichts Anderes als die Resultirende aus Stoff und Kraft
der beiden Eltern. Denn es können sich in ihm Anlagen ent-
wickeln, die bei diesen latent waren. Solche Anlagen sind sehr
häufig in früheren Generationen entfaltet gewesen und nachher
latent geworden, so dass also bei der abermaligen Entfaltung ein
Rückschlag eintritt. In andern Fällen sind es Anlagen, die noch
im Wachsthum begriffen waren und nun bei dem Anlass einer
ihre Entfaltung begünstigenden Befruchtung zu sichtbaren Merk-
malen werden.
Als Grundlage aller Betrachtungen über die Vererbung bei der
geschlechtlichen Fortpflanzung muss ganz ausnahmslos der Satz
festgehalten werden, dass das Wesen des Kindes das vereinigte
Wesen der beiden Eltern ist , dass in ilnn nichts enthalten sein
kann, was den Eltern mangelt, und nichts verloren gegangen, was
den Eltern zukommt.
r\". AnlagL'ii und sichtbaiv ^Sferkiiiale. 205
Bei der digenen Fortpflanzung treten die Idioplasmen der Ijeiden
Eltern zusammen; es findet also \^ereinigung von zwei Systemen
geordneter Micelle statt. Die Erfahrung zeigt, dass eine entwicklungs-
fähige Vereinigung nur möglich ist, wenn die Eltern ziemlich nahe
verwandt sind. Die Ursache mag eine doppelte sein. Es erscheint
einmal sehr plausibel, dass idioplasmatische Systeme bloss wenn
sie in allen Hauptzügen identisch sind und nur in ganz unterge-
ordneten Gru^^pen von einander abweichen, sich mischen und durch-
dringen können. Ferner kommt noch folgendes in Betracht: von
den beiden Eltern liefert der A^ater bei dem Befruchtungsact bloss
Idioplasma, die Mutter dagegen Idioj^lasma sammt den Nährsub-
stanzen, welche dem sich entwickelnden Keim eine Zeit lang Kraft
und Stoff liefern. Es ist nun begreiflich, dass das vereinigte Idio-
plasma eine Naln^mig verlangt, welche nur wenig von derjenigen
abweicht, die genau den Bedürfnissen des väterlichen Idioplasmas
entspricht.
Aus den beiden eben angeführten Gründen folgt, dass die ge-
schlechtHche Befruchtung mn so mehr Aussicht auf Gelingen und
auf das Zustandekommen eines entwicklungsfähigen Keimes hat, je
näher Männchen und Weibchen einander verw^andt sind, — und
dies mag für die ersten Zustände der Keimentwicklung auch ohne
Ausnahme gültig sein. Dass bei allernächster ^Verwandtschaft die
Nachkommenschaft weniger lebensfähig ist, dafür scheint mir der
Grund, den ich schon vor langer Zeit angeführt habe ^), ausreichend,
und ich wüsste mir überhauj^t keinen anderen zu denken. Unter
allen äusseren Einflüssen, welche das Idioplasma verändern, be-
finden sich auch solche, welche eine krankhafte und die normalen
A^orgänge störende Beschaffenheit bedingen. Ferner mag durch die
in früheren Generationen erfolgte Kreuzung ungleich constituirter
Individuen oft eine solche abnormale Beschaffenheit des Idioplasmas
veranlasst worden sein. Aber auch bei ungestörter Umbildung im
Idioplasma, die lediglich eine Folge der einmal bestehenden micel-
laren Anordnung ist, können partielle Anfänge einer Configuration
entstehen, die sich für das Leben als nicht befähigt erweisen. In
ganz nahe verwandten Individuen nun werden diese durch äussere
und innere Ursachen bewirkten Störungen am ehesten gleichsinnig
') Die Tlieorie der Bastardbilduug. Sitzuiigsber. d. math.-pliys. Classe d.
k. b. .Vkad. d. W. 13. Januar 18G6.
200 IV. Anlügen und sichtbare Merkmale.
sein und daher in deren Nachkommenscliaft leicht eine Steigerung-
erfahren, während in den Indi^'iduen mit geringerer Verwandtschaft
die Störungen in ungleichem Sinne begonnen haben und somit bei
der Vereinigung ihrer Idioplasmen sich mehr oder weniger aufheben.
Es ist theoretisch begreiflich, dass solche Störungen um so eher
eintreten, je mehr das Idioplasnia zusammengesetzt und von je zahl-
reicheren Momenten sein Gleichgewicht bedingt ist. Die Erfahrung
bestätigt dies , indem die niedersten Pflanzen (Schizophyten) und
ohne Zweifel das ganze Reich der ihnen vorausgehenden Probien
der Conjugation und der geschlechtliclien Befruchtung ermangeln.
Es hat also auf den untersten Stufen der Organisation die phylo-
genetische Entwicklungsgeschichte bei monogener Fortpflanzung zahl-
lose Generationen ohne Nachtheil durchlaufen, und wir können
daraus schliessen , dass für einfache Organismen die zeitweilige
Vermischung durch Kreuzung überflüssig ist. Erst bei den höheren
Pflanzen und Thieren bringt eine hin und wieder eintretende
Kreuzung Nutzen. Doch dürften die schädlichen Folgen der Selbst-
befruchtung und einer sehr engen Inzucht im allgemeinen allzu-
hocli angeschlagen worden sein, indem bei den wenigen thatsäch-
lichen Erfahrungen auch noch andere nachtheilige Ursachen wirksam
gewesen sein mögen.
Da bei der digenen Fort})lianzung alle Anlagen der Eltern auf
das Kind übergehen, so müssen in diesem immer einige Anlagen
latent bleiben, wenn die Eltern verschiedenartig sind, und die un-
gleichen Merkmale sich nicht zu Mittelljildungen zu verschmelzen
vermögen. Wiederholte Kreuzung kann daher die Ansammlung
einer grösseren AnzaJil verborgen bleibender Eigenschaften verur-
sachen, und sie ist auch der Grund, warum im Menschen, in den
Hausthieren und Kulturpflanzen so viele latente Anlagen angehäuft
sind. Man könnte zwaf den logisch unanfechtbaren Satz aufstellen,
dass in einem Organismus alle Eigenschaften seiner ganzen Ahnen-
reilie latent sein müssen. Allein es wäre dies eine rein ideale und
unfruchtbare Theorie ; denn es kann uns nicht interessiren, was der
Idee nach, sondern nur was real vorhanden ist und was somit auch
in der Nachkommenscliaft irgendwie wirksam zu werden vermag.
Je älter nun die latenten Anlagen werden, um so mehr werden sie
geschwächt und ausgelöscht. Wenn auch das Pferd, vorzüglich in
seiner Jugend, als seltene Ausnahme noch zebraartige Streifen zeigt.
rV. Anlagen und sichtbare ^Merkmale. 207
SO stamnieu dieselben doch mir von seinen nächsten phylogenetischen
Vorfahren her. Die ganze Reihe der noch früheren Ahnen hat im
Idioplasma des Pferdes wohl keine "wirklichen Zeugen, die gelegent-
lich als Rückschläge hervorbrechen könnten, hinterlassen, insofern
nämlich die der Gel)urt vorausgehenden Entwicklungsstadien aus-
geschlossen und nur die Merkmale des entwickelten Zustandes be-
rücksichtigt werden.
Der Rückschlag oder die Entfaltung der durch Kreuzung oder
wiederholte ungleiche Anj^assung der Vorfahren angehäuften An-
lagen tritt am leichtesten in Folge von neuer Kreuzung ein , sei es
in den Kindern selbst, die von ungleichen Eltern erzeugt werden,
sei es erst in deren Nachkommen, während sie in den Indi"väduen,
die auf geschlechtslosem Wege entstehen oder von gleichartigen
Eltern abstammen, ausblei])t. Der ungleiche Einfluss der verschie-
denen Fortpflanzungsarten auf die Entfaltung der latenten Anlagen
ist besonders auffallend bei den phanerogamischen Gewächsen, wo
sehr variable Rassen (Sorten von Culturpflanzen) bei geschlechtsloser
A'ermohrung fast unbegrenzt erhalten bleiben, während sie, aus
Samen erzogen, wobei eine Kreuzung mit andern Sorten unvermeid-
lich ist, durch Entfaltung anderer Merkmale sofort ausarten.
Dass die Kreuzung die Entwicklung von verborgenen Eigen-
schaften befördert, ist begreiflich. Bei der Vereinigung zweier Sy-
steme von verschiedener idioplasmatischer Anordnung müssen noth-
wendig A^erschiebungen zwischen den Micellgruj^pen vorkommen,
wodurch die Erregungsfähigkeit und in Folge davon die Entfaltungs-
fähigkeit derselben bald vermehrt, bald vermindert wird, so dass
einzelne entfaltungsstete oder entfaltungsholde Anlagen zu entfaltungs-
unfähigen und anderseits entfaltungsunfähige oder entfaltungsscheue
zu entfaltungssteten werden. So kann, statt dass ein Merkmal des
A^aters oder der Mutter sich entwickelt, das entsprechende eines
Grosselters oder eines noch früheren Ahnen zum Vorschein kommen.
Die Mischung des väterlichen und mütterlichen Idioplasmas
und die Fertigstellung des kindhchen Idioplasmas vollzieht sich
schon unmittelbar nach der Befruchtung. Schon bei diesem Acte
entscheidet es sich, welche Anlagen des Vaters, der Mutter oder
früherer Vorfahren zur Entfaltung kommen und welche latent bleiben
werden. Dies geht daraus hervor, dass die verschiedenen der näm-
lichen Ontogenie angehörenden Abkömndinge des Keimes sich in
208 rV- Anlagen und 8ichtl)are INIeikmale.
ihren Merkmalen ganz gleich verhalten, — eine Tliatsaclie, die sich
natürlich nur an Organismen beobachten lässt, welche wie die
meisten Pflanzen aus dem durch Befruchtung entstandenen Keim-
ling eine Reihenfolge von individuellen Sprossen entwickeln. Dauert
aber diese geschlechtslose Vermehrung der Sprosse längere Zeit fort,
so können geringe Configurationsänderungen im Idioplasma bemerk-
bar werden, indem die väterlichen und mütterlichen Merkmale an
der entfalteten Pflanze ein etwas anderes Verhältniss annehmen.
Sind es aucli nur untergeordnete Eigenschaften, welche in den
spätem Sprossen dem Vater oder der Mutter ähnlicher werden, so
beweisen sie doch unzweifelhaft, dass das Idioplasma während der
ontogenetischen Entwicklung sich verändert.
Das Idioplasma der natürlichen Sippen ist ein materielles
System mit sehr stabilem Gleichgewicht, wie sich aus der Unveränder-
lichkeit der entfalteten Organismen während vieler Jahrtausende
(S. 104) ergibt. Dieses Gleichgewicht mrd bei der Kreuzung ver-
schiedener Sippen um so mehr gestört, je ungleicher dieselben
sind. Es kann auch in der Regel nicht schon in der ersten
Generation wieder hergestellt werden; sondern es finden in den
folgenden Generationen verschiedene Configurationsänderungen statt,
bis endlich ein Gleichgewicht von einiger Beständigkeit gefunden
wird. Die Configurationsänderungen treten gewöhnlich beim Be-
fruchtungsacte ein, wie dies aus folgender Erwägung leicht be-
greiflich ist.
Das Idioplasma verändert sich während der Ontogenie, wie vorhin
gezeigt wurde, und diese Veränderung ist natürlich um so bedeu-
tender, je mehr das Gleichgewicht zwischen den idioplasmatischen
Anlagen gestört worden ist. Ausnahmsweise kann sie bei ge-
schlechtsloser Vermehrung des Bastardes so gross werden, dass
das neue Gleichgewicht sich plötzlich in einer Umwandlung der
entfalteten Merkmale Luft macht und Sprosse mit anderen Eigen-
schaften hervorbringt. Viel leichter geschieht aber die Umstimmung
des Idioplasmas und die Herstellung eines neuen Gleichgewichts
bei geschlechtlicher Fortpflanzung, strenge Inzucht vorausgesetzt.
Die Bastardgeschwister der ersten Generation waren schon in ihren
Keimen nicht ganz gleich ; ihr Idioplasma ist dann durch ^^eränderung
während der Ontogenie noch ungleicher geworden. Bei der Befruch-
tung findet nun eine Vermischung von zwei etwas ungleich con-
IV. Anlagen und sichtljare jMeikniiilc. 2ü',>
«stituirteii Idioplasmun mit theilwcise labilem Gleichgewichte statt,
und bei der Reconstruirung des Systems tritt ein neues , vielleiclit
wieder bloss labiles Gleichgew^icht ein, wobei bisher entfaltungs-
unfähige Anlagen entfaltungsfällig werden und umgekehrt.
Demgemäss bringen Bastarde von Pfianzenarten , die in ihrer
ersten Generation eine mittlere Bildung zwischen A^ater und Mutter
zeigen, nach dem Zeugniss von Gärtner, wenn sie sich selbst
zu befruchten vermögen, nicht selten in einer folgenden Generation
andere und später wieder andere Merkmale zum Vorschein. Diese
Merkmale sind selbstverständlich solche, die von den Stammeltern
der hybriden Reihe herkommen, weshalb die Bastarde im Laufe der
Zeiten bald dem einen, bald dem andern Stammeiter ähnlich sehen.
Der aus der Kreuzung von A und B entsprungene Bastard , der
die sichtbaren Merkmale u und h besitzt, kann also in seinen Nach-
kommen den Sprung von u -\- h zu 2 a -{- b und in noch spätem
Nachkommen den Sprung von 2a-\-h zu a -{- 2 h machen.
Was die miifangreiche und verwickelte Frage betrifft, welche
Anlagen und in welcher Weise dieselben bei der Kreuzung zur
Entfaltung gelangen, so will ich zuerst an einem schematischen
Beispiel zeigen, wie das Idioplasma dabei betheiligt sein muss. Die
zwei sich kreuzenden Individuen seien in dem Merkmal , um das
es sich handelt (Behaarung, Gestalt, Farbe etc.) , verschieden ; und
die betreffenden Anlagen seien durch Ji und m bezeichnet; andere
Moditicationen des nämlichen Merkmals seien als latente Anlagen
[W , m , ,") von früheren Generationen her in jenen beiden Indi-
viduen vorhanden. So sind in dem Idioplasma der aus der
Kreuzung entstandenen Keimzelle 5 verschiedene Anlagen von Ab-
änderungen des einen Merkmals enthalten [31, m, Wc, m, //), von
denen, da sie ün entwickelten Zustande sich gegenseitig ausschliessen,
nur die eine oder andere sich entfalten kann.
Im allgemeinen haben M und m die grösste Neigung zur
Entfaltung; die Micellanordnungen sammt dem chemischen Charakter
im Idioplasma der Eltern sind ja so beschaffen , dass sie ihre Ent-
wicklung begünstigen, indess die übrigen Anlagen unter dem l^^infiuss
dieser Umstände latent geblieben sind. Im Kreuzungsproduct wird
also am ehesten Ji oder m zum sichtbaren Merkmal. Indessen ist
auch die Möglichkeit vorhanden, dass die beiden sich vereinigenden
Llioplasmen eine derartige neue Zusammenordnung bedingen, dass
V. Xägeli, Abstammungslehre. 14
210 IV. Alllugen und siclitbare JMerkiuale.
mit dcrsclljen eine der von früher her hitenten Anlagen (9!}J, in, //)
besser harmonirt und daher zur Entfaltung gebracht wird, während
nun 31 und m als latent bleibende Gruppen im Idioplasma ver-
harren.
Wenn aber die Abänderungen des Merkmals sich nie h t gegen-
seitig ausschliessen, so können in dem Kreuzungsproduct zwei oder
drei derselben neben einander auftreten. Es entfalten sich dann
in der Regel M und m ; seltener kommt neben 31 oder neben m
oder auch neben beiden eine der älteren Anlagen (SO?, m, ,«) zur
Entfaltung.
Das Manifestwerden und Latentbleiben der bei der Befruchtung
zusammenkommenden Anlagen ist eine der merkwürdigsten Er-
scheinungen im Leben des Idioplasmas. Es kann bloss von zw^ei
Ursachen abhängen: 1) von der Beschaffenheit der einzelnen An-
lagen rüeksichtlich ihrer Entfaltungsfähigkeit und 2) von dem Zu-
sammenstimmen der einzelnen Anlagen mit der Beschaffenheit des
ganzen bei der Befruchtung hergestellten Idioplasmas , besonders
aber mit der Beschaffenheit desjenigen Theiles, dessen Entfaltung-
unmittelbar vorausgeht oder gleichzeitig stattfindet und zugleich
auch örtlich nahe gerückt ist.
Was den ersten Punkt, die Beschaffenheit der einzelnen Anlagen
selbst betrifft, so können dieselben einen verschiedenen Grad der
Stärke besitzen, und wir können uns denselben, um eine concrete
Vorstellung zu haben , von der Zahl der Micellreihen (der Micelle
auf dem Querschnitt) abhängig denken. So wird eine Anlage , die
unter übrigens gleichen Umstände*! aus 12 Micellreihen besteht,
sich eher entfalten als eine solche aus 9 Reihen. Da nun jede
Anlage während ihrer phylogenetischen Existenz von geringstem
Anfange aus allmählich an Stärke zunimmt und dann wieder bis
zu völligem Verschwinden allmählich abninnnt, so werden die väter-
hchen und die mütterlichen Anlagen für die ungleichen Modifi-
cationen des nämlichen Merkmals im allgemeinen eine verschiedene
Stärke besitzen und daher auch im Kinde eine verschiedene Neigung
sich zu entfalten äussern.
Bezüglich des zweiten Punktes oder des Zusammenstimmens
der einzelnen Anlagen mit der Beschaffen] leit des übrigen Idio-
plasmas mangelt uns eine bestimmte Vorstellung. Ohne Zweifel
sind aber theils chemische, theils Configurationseigenschaften die
IV. Anlagen uml sichtlnire Merkmale. 211
Ursache davon, das.s die einen Anlagen leichter in den Erregungs-
zustand versetzt und dadurcli zur Entfaltung veranlasst werden als
andere. Ich will dies den Grad der Stimmung nennen, indem ich
mir vorstelle, dass, je besser die Substanz des ganzen Idioplasmas
mit derjenigen einer einzelnen Anlage in der chemischen Zu-
sammensetzung und in der Morphologie der Micelle übereinstimmt,
um so eher die Entfaltungserregung auf diese Anlage übertragen
werde.
Der Antheil, den im einzelnen Fall die Stärke der Anlage und
ihre Stinmiung an der Entfaltung haben, lässt sich fast niemals
auseinander halten. Es gibt vielleicht nur einen einzigen Fall, wo
der Einfluss der beiden Momente sicher ist, nämlich der Grenzfall,
wo die beiden Anlagen, die sich um die Entfaltung streiten, gleiche
Stärke und gleiche Stimmung besitzen. Dies gilt für das Geschlecht
der getrennt geschlechtigen Organismen, wenn die männlichen
und die weil^lichen Geburten gleich zahlreich sind , wie dies beim
Menschen der Fall ist. In diesem Falle kann es keinem Zweifel
unterliegen, dass die Anlagen der männlichen und weibliclien
Geschlechtsorgane in dem Idioplasma ihre volle Stärke besitzen
und auch gleich gut zu der Gesammtstimmung passen. Wenn aber
bei einer Art die männlichen oder die weiblichen Geburten der
Zahl nach überwiegen würden, so müssten ihre Anlagen entweder
stärker sein oder mit dem üljrigen IdiojDlasma besser harmoniren.
Das Idioplasma des Keims und des aus ihm hervorgehenden
männlichen oder weiblichen Individuums enthält die beiden
Gesclüechtsanlagen in unveränderter Stärke und Vollkommenheit,
wenn auch die eine derselben sich in Ruhe befindet. Dies geht
deutlich aus dem bekannten Umstände hervor, dass alle geschlecht-
lichen Eigenthümlichkeiten der Mutter ebensogut durch den Sohn
als durch die Tochter, alle geschlechtlichen Eigenthümlichkeiten
des A^aters ebensogut durch die Tochter als durch den Sohn auf
die Enkel übergehen. Obgleich beide Sexualanlagen gleich stark
sind und an und für sich gleich sehr mit dem Gesammtidio^^lasma
stimmen, so geht doch diese Uebereinstimmung im Moment des
Zusammenkommens bei der Zeugung für die eine derseh^en ver-
loren. Diese wird gleichsam in den Hintergrund gedrängt, wo sie
sich ausserhalb der Verkettumr botindet, welche die Entfaltuiiusfolcre
der Anlagen bedingt.
14*
212 1^^ Anlagen und sichtbare jMerkmale.
AVciiii also zwei Anlagen gleiche Stärke und gleiche Stimmnng
besitzen, sich aber nicht gleichzeitig und mit einander entfalten
können, so hängt es lediglich vom Zufall ab, welche von ihnen,
um mich eines Bildes aus der Elektricitätslehre zu bedienen, in die
Leitung aufgenommen wird und welche ausserhalb derselben bleibt.
Zufall aber nenne ich es, weil die entscheidenden individuellen Ur-
sachen unbekannt sind und nur soviel ersichtlich ist, dass beim
Menschen die Wahrscheinlichkeit für männliche oder weibliche
Zeugung sich die Wage hält, gerade so wie beim Würfeln die
Wahrscheinlichkeit für einen geraden oder ungeraden Wurf. —
Können die beiden gleichstarken und gleichgestimmten Anlagen
sich mit einander entfalten, so erzeugen sie ein Merkmal von genau
mittlerer Beschaffenheit.
Haben aber die vom Vater und der Mutter geerbten Anlagen
ungleiche Stärke bei gleicher Stimmung oder ungleiche Stimmung
bei gleicher Stärke, so wird sich dieser Umstand bei der Entfaltung
darin geltend machen, dass, wenn sich die Merkmale ausschliessen,
das eine häufiger erscheint als das andere, und dass, wenn sie mit
einander sich verwirklichen, eine Zwischenbildung entsteht, die dem
einen Merkmal sich mehr nähert. Da sich Stärke und Stimmung
der Anlagen nicht unterscheiden lassen und wir bloss das Ergebniss
der beiden zusammenwirkenden Momente kennen , so lässt sich in
jedem einzelnen Fall bloss sagen, ob das bei der Befruchtung zu
Stande gekommene Idioplasma des Kindes eine grössere Vorliebe für
die bestimmte Eigenschaft des A^aters oder der Mutter zeige.
Die merkwürdige Thatsache, dass von zwei (oder mehreren)
zusammengehörenden Anlagen, welche verschiedenen Modificationen
des nämlichen Merkmals entsj^rechen und durch geschlechthche
Befruchtung oder auf andere Weise im Idioplasma vereinigt sind,
bald eine einzige bald alle zwei sich entfalten, muss schon in der
Constitution des Idioplasmas liegen. Sie kann nur davon abhängen,
ob eine allein oder beide in die Kette der Entfaltungsfolge einge-
schaltet und demgemäss in den Zustand der Erregung, Avelcher die
Entfaltung bedingt, versetzt werden. Dass nicht etwa die Verträg-
lichkeit oder Unverträglichkeit der Merkmale im entfalteten Zustande
daran schuld ist, ersehen wir deutlich aus denjenigen Beispielen,
wo die verschiedenen Modificationen eines Merkmals bald in den
Individuen vereinigt, bald auf verschiedene Individuen vertheilt
TV. Anlagen und sichtbare ^Merkmale. 213
auftreten. Ueberhaupt lässt sieh die Unverträglichkeit zweier
Merkmale kaum denken ; denn selbst die Vereinigung der beiden
Geschlechtsorgane wird in ausnahmsweisen Zwitterbildungen voll-
zogen und kann nur dadurch erklärt werden , dass die männliche
und die weibliche Anlage sich gleichzeitig entfaltet haben.
Wenn von zwei Anlagen nur je die eine oder andere in einem
Individuum zur Entfaltung gelangi, so müssen wir daraus schliessen,
dass in dem Idioplasma eine irgendwie beschaffene Abneigung vor
der gleichzeitigen Erregung derselben bestehe. Das Vorhandensein
einer solchen Abneigung setzt eine vollständige Selbständigkeit und
Trennung der Anlagen voraus. Erreicht die Abneigung nicht den
erforderlichen Grad und gelangen demgemäss beide Anlagen mit-
einander in einem Individuum zur Entwicklung, so können je nach
dem Grade der Zu- oder Abneigung ihre Merkmale auf verschiedene
Weise vereinigt sein und somit ein verschiedenartiges Gesammt-
merkmal darstellen. Die Verschiedenheiten bewegen sich in allen
möglichen Abstufungen zwischen zwei extremen Fällen, von denen
der eine die beiden Merkmale in unveränderter Beschaffenheit neben
einander hegend, der andere sie ^^ollständig zu einer mittleren Be-
schaffenheit dm'clidrungen zeigt. ISIan kann sich das Zustande-
kommen dieser verschiedenen Bildungen in einfachster Weise wohl
so vorstellen, dass dieselben ein Bild der Anlagen selbst geben, dass
entweder die ganzen Anlagen neben einander sich befinden, oder
dass sie in grössere oder kleinere, selbst bis in die kleinsten Partien
getrennt und durcheinander gemengt sind.
Um das Gesagte anschaulicher zu machen, wdll ich es an einem
Beispiel erläutern und dazu wieder die Farbe wählen. Es giebt
Pflanzen, deren Blüthen zwischen blau, roth, weiss und gelb ab-
ändern, und ich will annehmen, dass für diese Farben eben so
viele verschiedene Anlagen im Idioplasma vorhanden seien. Obwohl
diese Annahme ohne Zweifel nicht ganz den richtigen Ausdruck
besitzt, mache ich sie dennoch, da es sich bloss um ein erläuterndes
Beispiel handelt, und die Voraussetzung jedenfalls für verschiedene
andere Merkmale gelten würde, die aber dem ^''erständniss schwerer
zugänglich sind. Gewöhnlich ist eine der Blüthen farl)en die domi-
nirende und kommt, wenn jene einander ausschhessen, den meisten
Individuen zu. So blüht das Leberblümchen (Anemone Ilepatica)
in der Regel blau, ausnahmsweise auch roth oder weiss. In den
214 IV. Anlagen und sic'litl)ar(> Merkmale.
rotlieii und weissen ist sicher die ])laue Anlage latent. Würden roth-
und weissblübende gekreuzt, so hätten die Kinder rothe oder weisse
oder hellrothe Blüthen ; es kämen aber entweder schon in der
ersten Bastardgeneration, oder bei strenger Inzucht gewiss in einer
folgenden wieder blaublühende zum Vorschein, weil die Natur des
Idioplasmas am meisten die Anlage dieser Farbe begünstigt. Die
Kreuzung von blauen mit rotlien oder mit weissen ergäbe aber eine
ganz überwiegend blaublühende Nachkommenscliaft. Dies gilt für
den Fall, dass in einem Pflanzenindividuum nur eine einzige Far-
benanlage sicli entfaltet.
Können in der nämlichen Pflanze die Anlagen von zwei oder
mehreren Blüthenfarben sich verwirklichen, so zeigen dieselben eine
grössere oder geringere A'erwandtscliaft zu einander und treten ein-
ander mehr oder weniger nahe. Die Befruchtung einer roth- und
einer gelbblühenden Pflanze kann })ei ausgesprochener Abneigung
der beiden Anlagen , welche dann ungetheilt oder in grösseren
Partien neben einander liegen, Kinder erzeugen, welche zugleich
rothe Blüthen und gelbe Blüthen tragen, oder Blüthen, an denen
die einen Blumenblätter roth, die andern gelb, oder Blüthen, an
denen die Blumenl^lätter zur Hälfte roth und zur Hälfte gelb sind
(Cytisus Adami). Bei etwas geringerer gegenseitiger Abneigung
der Anlagen liegen dieselben in grösseren oder kleineren Partien
neben und durch einander. Die Kinder einer roth- und einer
weissblühenden Pflanze haben dann bunt gestreifte oder gefleckte
Blüthen, indem die rothen und weissen Stellen in verschiedener
Gestalt mit einander wechseln. Bei grösster Verwandtschaft der
Anlagen findet eine vollständige gegenseitige Durclidringung der-
selben statt, und die Blüthen haben eine hellrothe Farbe, weil
jeder kleinste Theil Roth und Weiss gibt. Die Nebeneinander-
lagerung von grösseren oder kleineren Partien der Merkmale, wie
sie in den gestreiften und getupften Blumenblättern oder gar in den
Blüthen, deren ganze Blumenblätter ungleich gefärbt sind, vorkommt,
stellt eine eigenthümliche und ungewöhnliche Bildung dar, wie sie
in den meisten Fällen bloss durch Kreuzung, nicht aber auf dem
gemeinen phylogenetischen Wege entstehen kann.
Hat das Idioplasma eine grössere Vorliebe für die eine Farben-
anlage, so ninnnt, wenn die Far])en getrennt sind, die einc^ derselben
einen grösseren Flächenraum ein ; die Blütlien sind beispielsweise
IV. Anlagen nnd sichtbare INIorknialo. 215
weiss mit schmäleren rothen Streifen oder mit kleineren rotlicn
Tupfen. Wenn aber die Farben sich durchdringen, so nähert sich
die Mischfarbe mehr demjenigen Ton, welcher der begünstigten
Anlage entspricht.
Wenn sich die von Eltern mit verschiedener Blüthenfarbe er-
zeugten Bastarde durch Inzucht fortiDflanzen, so kann die Gunst
des Idioj^lasmas für die Entfaltung der einen und anderen Farl^e
in dem Laufe der Generationen die nämliche bleiben oder sich ver-
ändern. Im letzteren Falle drängt die eine Farbe die andere mehr
oder weniger zurück, sei es dass sie einen grösseren Flächenraum
in Anspruch nimmt als früher, sei es dass sie einen grösseren An-
theil an der Mischfarbe erlangt. Sind die Blumenblätter gescheckt
und bleibt die Entfaltungsfähigkeit der beiden Farbenanlagen, somit
auch das Areal der beiden Farben unverändert, so behält zuweilen
die Zeichnung der Blumenblätter mehr oder weniger genau ihren
Charakter bei. Häufiger wohl nimmt dieselbe in den auf einander
folgenden Generationen einen anderen Charakter an ; die Vertheilung
der Farljon hat dann (he Neigung, die Streifen und Flecken zahl-
reicher und feiner zu machen und sich somit der Durchdringung
(einem homogen erscheinenden Mittelton) zu nähern. Der letztere
A'^organg kann als die natürliche Folge der Vermischung zweier
Idioplasmen bei der Fortpflanzung erscheinen, so dass gleichsam
bei jeder folgenden Inzuchtbefruchtung eines Bastards mit weiss-
und rothgefleckten Blüthen ein ähnlicher Process stattfindet, wie
bei der ursprünglichen Kreuzung einer weissen und einer rothen
Blüthe, wobei die Farbenanlagen getheilt und partienweise neben
einander gelagert wurden.
Bei der digenen Fortpflanzung (durch Conjugation oder ge-
schlechtliche Befruchtung) vereinigen sich die beiden elterlichen
Idioplasmen, um das Idioplasma des Kindes zu bilden. Es ist noch
die schwierige Frage zu erörtern, wie diese Vereinigung geschehen
könne. Man möchte wohl geneigt sein, den Vorgang allgemein als
eine gegenseitige Durclidringung zu bezeichnen. Aber damit wäre
bloss das Resultat richtig angegeben; die Schwierigkeiten beginnen,
wenn man sich eine ^'^orstellung bilden will, wie das Resultat zu
Stande komme. Wie ist eine gegenseitige Durchdringung möglich,
21 G I^^' Anlagon und sichtbare Merkmale.
da das Idioplasma ein complicirtes System mit festem Zusammenhang
der Micelle sein muss?
Die Schwierigkeiten wären beseitigt, wenn die Meinung vieler
Forscher, es könne die Befruchtung durch eindringende gelöste
Stoffe erfolgen, gegründet wäre. Diese Meinung wurde nicht nur
für die phanerogamischen Gewächse, sondern auch für einzelne
Kryptogamen (so für Peronospora) wurde die aus<lrückliche Be-
hauptung ausgesprochen, dass der Befruchtungsstoff diosmotisch
durch die Zellmembranen hindurchgehe, während bei der Mehrzahl
der Kry2:)togamen sich bekanntlich das männliche Stereoplasma mit
dem weiblichen vermischt.
Ich habe zwar bereits in einem früheren Absclmitt kurz bemerkt,
dass die Befruchtung nur durch eine organisirte ungelöste Substanz
erfolgen könne, will aber hier die Gründe für diese Behauptung
noch ausführlicher darlegen wegen der entscheidenden Bedeutung,
welche diese Frage in mehr als einer Beziehung hat. Denn so lange
man die Befruchtung durch Diffusion annehmbar findet, kann man
unmöglich einen richtigen Begriff von der Beschaffenheit der An-
lagen, von der ^'^ererbung und den damit verbundenen Vorgängen
haben.
Um durcli Membranen diosmiren zu können, muss eine Sub-
stanz vorher sich in die Moleküle auflösen. Da das Eiweiss molecular
unlöslich ist, so zerfallen die Albuminate, die trans23ortirt werden
sollen, in Asparagin, vielleicht auch in Peptone. Ein solcher Trans-
j)ort ist für Ernährungszwecke sehr brauchbar, weil die gewanderten
Stoffe am Ort ihrer Bestimmung sich wieder zu Eiweiss zusammen-
setzen. Aber für die Uebertragung von specifischen Eigenschaften
ist er durchaus ungeeignet. Das Asparagin- oder Peptonmolekül,
selbst das Eiweissmolekül des männlichen Befruchtungsstoffes hat
nichts voraus vor jedem andern Asparagin-, Pepton- oder Eiweiss-
molekül, so wenig als das Thonmolekül von einer zerbrochenen
griechischen A^ase irgend etwas mehr wäre als das Thonmolekül
von einem ganz gewöhnlichen Backstein.
Man könnte aber annehmen wollen, dass der männliche Stoff
bloss in die Micelle zerfalle und ausnahmsweise in dieser Form l)ei
der Befruchtung diosmire, da es sich neuerdings gezeigt hat, dass
unter besonderen Umständen auch das Eiweiss als solches durch
Membranen hindurchgeht (so bei der Gärung). Docli würde auch
rV. Anlagon und sichtbare Merkmale. 217
diese Annahme ihren Zweck nicht erfüllen. Die Micelle haben
zwar das vor den Molekülen voraus , dass sie eine grosse \^er-
schiedenheit in Grösse, Gestalt, Structur und chemischer Zusammen-
setzung gestatten, während die jNIoleküle der nämlichen Verl)indung
unter sich identisch sind. Würden aher die einzelnen Micelle des
männhchen Zeugungsstoffes in die weibliche Zelle eintreten, so
könnte nur eine geringe allgemeine Umstimmung in dem Inhalte
derselben eintreten.
Damit wäre für die Zwecke der Befruclitung nichts erreicht;
denn diese besteht ja darin, dass in dem weiblichen Idioplasma
die einen Anlagen ungeändert bleiben, andere sich mehr oder weniger
verändern und dass neben die vorhandenen weiblichen auch neue
männliclie Anlagen eingeordnet werden. Das einzelne Albuminat-
micell, wenn es auch durch die ungleiche Zusammensetzung ver-
schiedene Eigenschaften annehmen kann, vermag doch ebensowenig
als das einzelne Molekül der Träger von besondern Anlagen zu
sein. Das vermag bloss eine eigenthümliche Zusammenordnung
oder Grupj^e von solchen Micellen. Nur bliese kann durch Ein-
lagerung neuer Micelle, die unter dem Einfluss ihrer Molecularkräfte
vor sich geht, in beliebigem Maasse sich vermehren und dabei ihre
Eigenthümlichkeit bewahren oder in selbständiger Weise uml)ilden.
Nur eigenthümhche Gruppen von Micellen können sich als Anlagen
bewähren und die plastischen Bildungen hervorbringen, in welclie
sich die Anlagen entfalten.
Diese theoretische Betrachtung wird in ausreichendem Maasse
durch die Erfahrung bestätigt, welche uns zeigt, dass die Diosmose
von All)uminaten bloss als Ernährung wirkt und nicht den geringsten
Einfluss auf die erblichen Anlagen hat. Ich verweise auf die frühere
hierauf bezügliche Erörterung (S. 109 — 111). — Die »Befruchtung
durch Diffusion« beweist, wie wenig in diesen Gebieten der Phy-
siologie noch die Meinungen geklärt sind.
Zum Ueberfluss gibt es noch eine Erwägung ganz anderer
Natur, welche zu dem gleichen Ergebniss führt, die jihylogenetische.
Die geschlechtliche Befruchtung ist aus der Conjugation hervorge-
gangen. Auf den untersten Stufen des Pflanzenreiches sind es zwei
gleiche sich conjugirende Zellen, deren ganzer Inhalt sich zur
Bildung einer Spore vereinigt. Auf den nächstfolgenden Stufen wird
die eine dieser beiden Zellen grösser und zur Eizelle, die andere
218 rV- Anlagen und sichtbare Merkmale.
wird kleiner und zum Spermatozoid, das sich bei der Befrnclitimg
mit dem Inhalt der Eizelle vereinigt. Das letztere aber kann nicht
mehr als alles Ernährungsplasma verlieren, so dass es fast bloss
aus Idioplasina besteht ; ein weiterer Uebergang vom Spermatozoid
zum gelösten Befruchtungsstoff ist eine j^liysiologische und somit
auch eine phylogenetische Unmöglichkeit.
Man wird mir vielleicht entgegenhalten, dass in einzelnen Fällen
der Uebergang des Befruchtungsstoffes auf dem Wege der Diosmose
als Erfahrung zu betrachten sei, indem man in den Membranen
nicht die kleinsten Oeffnungen zu entdecken vermöge. Damit wären
wir denn auf dem Gebiete der »negativen Beweise« angelangt, mittels
deren die neueren Forschungen der Morj^hologen im Widerspruche
mit der klaren Forderung einer logischen und exacten Methode so
manche unhaltbare Meinung in die Wissenschaft einführen wollen.
Der negative Beweis kann nichts Positives darthun; er sagt uns
weiter nichts, als dass auf diesem Wege der Forschung die Grenze
des Könnens erreicht sei. Für den vorliegenden Fall bleiben immer
noch verschiedene Möglichkeiten offen, entweder dass der Beobachter
den rechten Moment versäumt hat, oder dass das Oeffnen der Mem-
bran und das Uebertreten der festen Substanz in einer noch nicht
erkannten Weise erfolgt, oder dass die Oeffnungen in der Membran
zu klein sind, um direct gesehen zu werden u. s. w.
Wir sind also zu der Annahme genöthigt, dass bei der ge-
schlechtlichen Befruchtung in jedem Falle das männliche Idioplasma
in die weibhche Zelle eindringe, und wir können die Schwierig-
keiten der Frage, wie sich zwei idioplasmatische Systeme von ziem-
lich fester Consistenz in ein einziges vereinigen, nicht umgehen.
Denn die allfällige ^^ermuthung, dass im Inneren der w^eiblichen
Zelle das männliche Idioplasma sich auflöse und in das w^eibliche
hineindiffundire, wäre nicht besser als die bereits widerlegte Ver-
muthung, dass die Diffusion von Zelle zu Zelle geschehen könne.
Auch dürfen wir nicht etwa auf die abenteuerliche Idee ver-
fallen, dass die beiden Systeme in die einzelnen Micelle zerfallen,
welche nach gegenseitiger ^^ermengung sich wieder zu einem ge-
meinsamen System zusammenfügen. Die Zahl der Micelle der beiden
Idioplasmen kann hundert Millionen weit übersteigen. Aber wenn
es auch viel weniger wären, so mangeln docli die organisirenden
Kräfte, die sie in der richtigen Weise vereinigen würden, — und
W. Anlagon und sichtliare Merkmale. 219
wir dürfen den Organismen nicht ansinnen, dass sie sieh auf ein
solches Zusammensetzspiel einlassen. Es sind zwar, wenn nach
der früher entwickelten Hypothese das idioplasmatische System
strangförmig ist und die Configm'ation des Querschnittes seine eigen-
thümliche Begabung ausmacht, möglicher Weise nicht zwei Micelle
des Querschnittes einander ganz gleich und mit den nämlichen
Kräften ausgestattet. Diese Ungleichheit der genau zusammen-
passenden Micelle erlaubt den Systemen eine grosse Festigkeit und
zugleich eine grosse Mannigfaltigkeit zu erlangen. Aber die specifische
Micellanordnung wurde durch phylogenetisches Wachsthum ge-
wonnen und könnte nach einer Auflösung in die einzelnen Bau-
steine schon wegen der geringen Verschiedenheit ihrer Molecular-
kräfte nicht wieder hergestellt werden. Damit aus zwei verschiedenen
idioplasmatischen Systemen sich ein solches von mittlerer Beschaffen-
heit bilde, muss wenigstens das eine seine Configuration ziemlich
intact bewahren, um als Norm für die eintretenden Veränderungen
zu dienen.
Wiewohl wir noch weit davon entfernt sind, uns eine befriedigende
Vorstellung über die l)ei der Befruchtung stattfindenden molecularen
Processe zu bilden, so lassen sich doch die ISIöglichkeiten, welche
dafür in beschränkter Zahl vorliegen, erwägen. Dies erscheint um
so eher thunlich, als die ^Vermischung von erblichen Eigenschaften
bei der Keimbildung mit einem verwandten A'organg in der indivi-
duellen Entwicklungsgeschichte, nämlich mit der Mittheilung von
erblichen \'^eränderungen, die in den einen Theilen des Organismus
erfolgen, an die anderen Theile desselben (S. 54 bis 60) verglichen
werden kann, und die ^''orstellungen über die beiden Erscheinungen
einander zu ergänzen und zu berichtigen im Stande sind.
Beide ^"orgänge müssen entweder auf materiellem oder auf
dynamischem Wege geschehen ; entweder findet eine Vermischung
des Stoffes oder nur eine gegenseitige Einwirkung der Kräfte statt.
Was den materiellen Weg betrifft, so habe ich bei Anlass der Mit-
theilung von erblichen Abänderungen innerhalb desselben Individuums
bloss den Transport durch den Organismus berücksichtigt und die
Mischung des verschiedenartigen Idioplasmas dort nicht besprochen,
sondern auf den analogen Vorgang bei der Befruchtung verwiesen,
weil liier die Umstände und Bedingungen viel klarer vorliegen. Ich
will nun auf den Vorgang, wie man sich die materielle ^^ermischung
220 IV. Anlagen und sichtbare Merkmale.
vorstellen kann, etwas weitläufiger eintreten, da der allgemeinen
Meinung dieser Weg der Befruchtung wohl näher liegt.
Wenn das männliche und das weibliche idioplasmatische System
sich matei'ioll mit einander vermischen, so muss eine Wanderung
ihrer Micelle und eine gegenseitige Durchdringung ihrer Substanz
stattfinden. Fragen wir zunächst nach den Kräften, die eine solche
Bewegung der Idioplasmen gegen einander bewirken könnten, so ist
uns aus Erfahrung nur eine Kraft bekannt, welche beim Befruchtungs-
act sich offenbart. Zwischen den sich conjugirenden Zellen, ebenso
zwischen den männlichen und weiblichen Zellen , besteht eine
materielle Anziehung (nicht etwa Anzieliung im figürlichen Sinne
einer biologischen Schwärmerei). Dieselbe äussert sich in der
Orientirung und Ortsveränderung der räumlich getrennten beweg-
lichen Elemente, bei der Conjugation auch in einem dadurch ver-
anlassten Zellwachsthum. Die sich conjugirenden Zellen wachsen
gegen einander und nach stattgefundener Vereinigung der Zell-
h öl düngen fliesst der Inhalt der beiden Zellen zusammen und ver-
mischt sich zu einer Masse. Bei der eigentlichen geschlechtlichen
Befruchtung richtet sich das Spermatozoid so , dass sein vor-
deres Ende nach der Eizelle gekehrt ist; es bewegt sich in dieser
Richtung vorwärts, legt sich an das vordere etwas vorsjjringende
hellere Ende der Eizelle (»Keimfleck«) an und dringt in dasselbe ein.
Diese geschlechtliche Anziehung lässt sich auf mikroskopische
Entfernungen nachweisen, wobei zu berücksichtigen ist, dass auch
die anziehenden Massen von mikroskopischer Kleinheit sind. Bei
einigen niedern Algen (z. B. einzelnen Arten von Oedogonium) finden
die in sehr geringer Zahl gebildeten selbstljeAveglichen schwärm-
zellenartigen Spermatozoide sicher ihren Weg zu der kleinen Oeff-
nung des Oogoniums, obgleich unter Berücksichtigung der Ent-
fernung und des Umstandes , dass sie im Wasser nach allen
Richtungen Ihn fortschwimmen können, die Wahrscheinlichkeit,
am Ziele anzulangen, sich für sie nicht auf Vioo berechnet. Wenn
also nicht eine bestimmte Anziehung mitwirken würde, so könnte
unter 100 Fällen kaum ein Mal Befruchtung eintreten, während sie
im allgemeinen nie ausbleil)t. — Auch von den unbeweglichen
Sj^ermatozoiden der Florideen, von denen man annimmt, dass sie
IV. Anlagen und sirlitlnuv Mi-rkiiiale. 221
durch die Bewegung des Meerwassers zu den wei])lic]ien Organea
hingeführt werden, würde man nicht begreifen, wie sie stets die
Befruchtung verursachen könnten, wenn nicht eine besondere An-
ziehung mit im Spiele wäre.
Da eine Anziehung zwischen anderen Zellen als den Geschlechts-
zellen, soviel uns bekannt ist, nicht statthat, und da diese von den
übrigen Zellen nur durch das männliche und weibliche Idioplasma
sich unterscheiden, so müssen wir schliessen, dass es dieses Idio-
plasma sei, an welchem die anziehenden Kräfte haften. Welcher
Natur diese Kräfte seien, ist zwar durch irgend welche Erscheinungen
nicht bekannt; da aber eine andere bekannte Kraft, die man in
Anspruch nehmen könnte, mangelt, so dürfte man vielleicht elek-
trische Anziehung vernnithen. Dieselbe würde von geringen Mengen
freier (positiver und negativer) Elektricität herrühren, die aber, bei
der Annäherung bis zur Berührung, die Substanz doch nicht gänzlich
verlassen und sich nicht vollständig neutralisiren können. Wie dem
nun sei, die beiden Geschlechtszellen legen sich an einander an und
dringen in einander ein, weshalb wir annehmen müssen, dass in
Folge der gleichen Anziehung die männlichen und die weiblichen
Idioplasmakörper ebenfalls sich dicht an einander anlegen.
Wenn zwei materielle Systeme sich anziehen, so besteht die
Anziehung selbstverständlich zwischen den einzelnen Theilchen der-
selben, also in dem vorliegenden Falle zwischen den Idioplasma-
mieellen. Wenn ferner die ganzen Systeme durch ihre Structur
verhindert werden, in einander einzudringen, so haben die Micelle
die Neigung, sich von ihren Complexen loszulösen und einzeln dem
Zuge zu folgen. Nun besitzen die Idioplasmakörper allerdings einen
ziemlich festen Zusammenhang, aber derselbe muss in beiden Systemen
durch die zwischen denselben herrschende Anziehung gelockert
werden, — und das mn so eher, wenn, wie soeben als möglich be-
zeichnet wurde, die Anziehung durch ungleichnamige Elektricitäten
bewirkt wird und diese Elektricitäten bei der Annäherung der beiden
Systeme noch eine Vertheilung von neutralen Elektricitätsraengen in
denselben verursachen. Es besteht ferner die Wahrscheinlichkeit, dass
das männliche System als das Ijeweglichere zu betrachten und dass
in demselben schon an imd für sich der Zusammenhang etwas
lockerer und der Widerstand gegen die Trennung etwas geringer
sei. Daher wäre es vielleicht möglich, dass von dem männlichen
222 IV. Anlagen und siclitl)iire Merlanale.
Idioplasma nach und nach sich Micelle ablösten, in das weibhche
System hinüber wanderten und sich in die entsprechenden Miceh-
gruppen einlagerten.
Wollen wir uns eine bestimmtere ^'^orstellung von diesem Vor-
gange machen, so müssen wir an eine bestimmte Vorstellung von
der Structur des Idioplasmas anknüpfen. Ich habe die Hypothese
entwickelt, dass dasselbe aus strangförmigen Körpern, die aus
parallelen Längsreihen von Micellen zusammengesetzt seien, be-
stehen könne. Die Längsreilien stehen seitlich in inniger Berührung,
so dass durch diesen Contact gleichsam Leitungen zwischen ihnen
hergestellt werden, welche ähnlich wie Nervenleitungen functioniren.
Sowie nun das männliche System sich an das weibliche angelegt hat,
so geht die Leitung aus einem System in das andere hinüber, und
indem jede bestimmte Micellgruppe oder Anlage des weiblichen
Systems mit der gleichnamigen des männlichen Systems gleichsam
in Nervenverbindung sich befindet, so ist den sich ablösenden und
hinüber wandernden Micellen des männlichen S3^stems der Weg,
sowie der Ort der Bestimmung genau vorgezeichnet.
Einer solchen Einwanderung von Micellen in das weibliche
Idioplasma scheint aber seine Structur hinderlich zu sein. Die Micell-
reihen sind nach der Darstellung, die ich früher zu geben versuchte,
einander so sehr genähert, dass unmöglich Micelle zwischen ihnen
sich hindurch bewegen könnten. Wenn auch der Idioplasmastrang
keinen geschlossenen Querschnitt hat, wenn wir uns vielmehr vor-
stellen müssen, dass mit Ernährungsplasma ausgefüllte Längsspalten
vielleicht tief in denselben hinein reichen, so ist damit die Wanderung
der männlichen Idioplasmamicelle bis zur Einlagerungsstelle doch
nicht ermöglicht. Es bleibt daher wohl nur die allerdings nicht
ganz unwahrscheinliche Annahme übrig, dass zur Zeit der Be-
fruchtung das weibliche System ol)cnfalls gelockert sei und dass es
sich bald da bald dort öffne, um die männlichen Micelle eintreten
zu lassen.
Hat das Idioplasma eine strangförmige Beschaffenheit, so sind,
wie ich früher ausfüln'te, zwei Annahmen möglich: entweder sind,
die Stränge getrennt, von bestimmter und gleicher Länge und zu
einem Netz zusannnengeordnot , oder sie sind von unbestimmter
Länge , verzweigt und netzfönmg - verwachsen. Bei der ersteren
Annahme müssten wir uns vorstellen , dass je ein männlicher
IV. Anlagen und siclitl)ai-L' ^Merkmale. 223
und ein weiblicher Strang zusammentreten, dass also gleiche Mengen
von männlichem und weiblichem Idioplasma sich mit einander
vermischen. Da nun ohne Zweifel die weiblichen Zellen und die sie
Ijefruchtenden Spermatozoide ungleich viel Idioplasma enthalten,
so würde aus dieser Vorstellung weiter zu folgern sein, dass ein
allfälliger Ueberschuss von männhchem oder weiljliehem Idioplasma
beim Befruchtungsact aus dem idioplasmatischen System ausge-
schlossen, als unwirksam beseitigt und zu Ernährungsplasma mnge-
wandelt werde. Nach dieser H}'|3othese wäre also die väterliche
und die mütterliche Erbschaft im Kinde ohne Ausnahme gleich
gross, was mit der früher erwähnten Erfahrung übereinstimmte,
dass die Kinder dem ^'^ater und der Mutter ziemlich gleiche Antheile
von beständigen Eigenschaften verdanken (vgl. S. 191) — 202), und
dass unter zahlreichen Bastarden zweier Arten die Individuen oft
l^is auf die geringsten Kleinigkeiten einander ähnlich sehen.
Die zweite Annahme, dass nämlich die Idioplasmastränge eine
unbestimmte Länge besitzen, würde dagegen die Folgerung ergeben,
dass, da bei der Befruchtung gewöhnlich ungleiche Mengen von
Idioplasma zusammenkommen, auch männliche und weibliche Stränge
von ungleicher Länge sich mit einander vereinigen. Die väterliche
und mütterhche Erbschaft wäre somit im Princip ungleich, und es
könnte die eine oder andere in einzelnen Fällen merklich überwiegen,
ol)gleicli dieser Ueberschuss gemss nie einen sehr hohen Betrag
erreichen wird.
Ein Umstand, der bei der Vereinigung der von den Eltern
stammenden idioplasmatischen Systeme noch zu berücksichtigen
ist, betrifft das ^"olumen des Productes. Das Idioplasma des ent-
stehenden Keimes hat in Folge dieses A-^organges ungefähr das
doppelte A'olumen von dem Idioplasma jedes der Eltern. Das würde
nun weiter nichts ausmachen ; es konnte in der neuen vergrösserten
Auflage ebensogut sich vermehren und die Entfaltung der Anlagen
besorgen. Wenn aber bei jeder Fortpflanzung durch Befruchtung das
Volumen des irgendwie beschaffenen Idioplasmas sich verdoppelte,
wenn speciell die Idioplasmastränge durch Vereinigung einen dopj^elt
so grossen Querschnitt erlangten, so würden nach nicht sehr zahl-
reichen Generationen die Idioplasmakörper so sehr anwachsen, dass
sie selbst einzeln nicht mehr in einem Spermatozoid Platz fänden.
Es ist also durchaus nothwendig, dass bei der digenen Fortpflanzung
224 IV- Anlagen und »iclitbare Merkmale.
die A'ereinigung der elterlichen Idioplusmakörper erfolge, ohne eine
den vereinigten Massen entsprechende dauernde Vergrösserung dieser
materiellen Systeme zu verursachen.
Dieser Forderung kann wohl nur durch die Annahme der strang-
förmigen Natur des Idioplasmas Genüge gethan werden, weil nach
derselben die phylogenetische Zunahme des Querschnitts und die
ontogenetische Zunahme in der Längsrichtung strenge geschieden
sind, und Aveil somit die A^ereinigung bei der Befruchtung sich in
der Weise denken lässt, dass sie zum grössten Theil als der
Ontogenie angehörig und als der erste Schritt des individuellen
Wachsthums erscheint.
Damit der Querschnitt im allgemeinen unverändert bleibe,
müssen die von den Eltern stammenden strangförmigen Idioplasma-
körper sich zu Strängen vereinigen, deren Länge der Summe jener
gleichkommt. In diesem Falle wird je aus einer väterlichen und
einer mütterlichen Anlage eine kindliche Anlage von gleicher Stärke,
d. h. eine Gruppe von gleich viel Micellreihen (von gleich viel
Micellen auf dem Querschnitt). Nur wenn einzelne väterliche und
mütterliche Anlagen wesentlich verschieden sind, wie dies bei der
Kreuzung von Rassen, Varietäten und Arten vorkommt, legen sich
dieselben in voller Stärke neben einander und dadurch erfährt der
Querschnitt eine Vergrösserung. Da aber selbst bei der Kreuzung
von möglichst ungleichen Lidividuen stets die grosse Mehrzahl der
Anlagen sannnt der ganzen Configuration des Idioplasmas in den
beiden Eltern gleich beschaffen ist und nur wenige Anlagen un-
gleicher Natur sind, so ist die Vergrösserung des idioplasmatischen
Querschnittes in dem Kinde immerhin eine sehr geringe, und sie
beträgt nicht mein-, als wenn die neu hinzugekommenen Anlagen
durch den gewöhnliclien phylogenetischen Bildungsprocess entstanden
wären. Diese dem Zuwachs an Anlagen entsprechende Querschnitts-
zunahme stellt gleichsam die phylogenetische Componente des Be-
fruchtungsactes bei der Kreuzung dar. Die Zunahme in der Längs-
richtung dagegen ist nichts anderes als der erste Wachsthumsschritt
der neuen Ontogenie. Haben die Idioplasmastränge, gemäss der
einen Hypothese, eine bestimmte und gleiche Länge, so würden
zunächst Stränge von genau der dop23elten Länge entstehen und
diese dann sogleich in je zwei zerfallen, wie dies für die onto-
genetische Vermehrung überhaupt anzunehmen wäre.
rV^. Anlaufen und siclitbaiv Mi-rkniaU'
22b
Die Vereinigung der strangiorniigen Idioplusiiiakörper in dem
eben angegebenen Sinne, nämlich zu verlängerten Strängen mit
nahezu gleichem Querschnitt, kann nach zweierlei T}^pen vor sich
gehen. Der eine Typus besteht darin, dass sich gemischte Micell-
reilien bilden, indem die mäinilichen Idioplasmamicelle alternirend
zwischen die Micelle der weibhchen Reihen sich einlagern. Fig. 9
a und b stellen eine männliche und eine weibliche Anlage in der
Längsansicht dar; c zeigt dieselben nach ihrer Vereinigung. Der
Don
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W«J W/,^J W.^jg \llL^ ^/Ui..^
Fig. 9.
SSG
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Vorgang kann regelmässig erfolgen, wenn, wie in den gezeichneten
Stücken, die männlichen und die weiblichen Idioplasmastränge gleiclie
Länge besitzen. Sind sie aber ungleich lang, so müssen, statt des
regelmässigen Alternirens von einzelnen Micellen, stellenweise Paare
des längeren Stranges mit einzelnen Micellen des kürzeren Stranges
wechseln; oder, was wohl wahrscheinlicher ist, der überschüssige
Theil des längeren Stranges wird ausgeschieden und in Erniünanigs-
plasma umgewandelt.
V. Nägeli, Abstammungslchru. • 15
226
IV. Anlatreii und sichtbare ]\k'rkniale.
liuloni die gemischten Längsreihen beim ontogenetischen Wachs-
tlium durch Micelleinlagermig sich verlängern, nehmen die sich neu
bildenden Micelle, wenn Ungleichheit zwischen der männlichen und
weiblichen Anlage besteht, eine mittlere Beschaffenheit an. Da die
ontogenetische Zunahme des Idioplasmas ins Tausend- und Millionen-
fache geht, so besteht die gemischte Anlage im entwickelten Indi-
viduum fast ausschhesslich aus solchen Micellen von mittlerer Be-
schaffenheit. Dieser erste Typus der Vereinigung bringt also mittlere
Anlagen und dem entsprechend auch mittlere entfaltete Merkmale
hervor ; er entspricht dem Vorgange , den ich als Durchdringung
der Eigenschaften bezeichnet habe (S. 214); ein Rückschlag zu dem
unveränderten väterlichen oder mütterlichen Merkmal ist für alle
Zukunft unmöglich. Man könnte vermuthen, dass eine solche Durch-
dringung für den Fall, dass die Vereinigung auf materiellem Wege
geschieht, immer dann eintrete, wenn die Anlagen des männlichen
und weiblichen Idioplasmas vollkonmien oder naliezu gleich be-
schaffen sind, dass sie aber bei grösserer Ungleichheit der Anlagen
nur ausnahmsweise erfolge.
Der zweite Typus der A'^ereinigung besteht darin, dass die männ-
lichen Micellreihen sich neben die unveränderten weiblichen Micell-
reihen einordnen, so dass die entstehende Anlage beispielsweise eine
der in Fig. 10 c und d dargestellten Längsansichten zeigt, wenn
DOOOOO
OOOODO
000 000
000000
OiOaO OÜQÜOG
OIOSO OGQOOO
OtOlO OOOODO
Fig. 10.
a und b die männliche und weibliche Anlage bedeuten. Er muss
als der uewöhnliclie Voruanu' für die Vcreiniuunir von merklich
TV. Anla^^i-ii nml sicIitlmi-L' .Mcikiuulc. 227
uiigkdfhen Anlagen Ijetruclitet werden, wie sie vorzüglieli lici der
Kreuzung von verschiedenen Rassen , Varietäten oder Arten vor-
kommt. Da aucli bei der Kreuzung die grosse Mehrzahl der elter-
lichen Anlagen sich nicht oder niu" wenig von einander unterscheidet
daher dem ersten A^ereinigungstypus folgt und eine allgemeine Zu-
nahme der Idioplasmastränge auf ungefähr die doppelte Länge be-
dingt, so müssen die wenigen dem zweiten Typus folgenden Anlagen
in ihrer Länge sich nach der allgemeinen Zunahme richten. Dies
kann einmal dadurch geschehen, dass je zwei weibliche Micellreihen
durch Wanderung ihrer Micelle zu einer einzigen Reihe von dopjjelter
Länge werden, und dass ebenso je zwei männliche Micellreihen sich
als eine einzige dopj^elt längere Reihe einordnen, w'obei die Reihen
des kürzeren Idioplasmastranges durch Micellbildung zur Länge der
Reihen des längeren Stranges anwachsen müssen. Ein solcher V^or-
gang reducirt die Reihen der männlichen und diejenigen der weib-
lichen Anlage auf die Hälfte ihrer Zahl, und die vereinigten Anlagen
haben keinen grösseren Querschnitt als jede der elterlichen Anlagen
(Fig. 10). Jede Anlage hat dann also im Kinde bloss die Hälfte
der Stärke, die sie in den Eltern besass.
Wenn dies auch in manchen Fällen mit den entfalteten Merk-
malen übereinstinmit, so entspricht es doch offenbar nicht der Sach-
lage, wie wir sie in so vielen Kreuzungsproducten voraussetzen
müssen, wo einzelne Anlagen im Kinde sich eben so stark erw^eisen
wie im Vater oder in der Mutter. Um diese Bedingung zu erfüllen,
muss dann angenommen werden, dass die eine elterliche Anlage
ihre Reihenzahl behalte und durch Einlagerung von Micellen auf
die erforderliche (im allgemeinen doppelte) Länge sich ausdehne,
indess die andere elterliche Anlage entw^eder ebenfalls in ihrer un-
veränderten Reihenzahl sich einordnet, indem sie durch Micellbildung
sich zu gleicher Länge streckt, oder durch Micell Wanderung auf eine
verminderte Zahl von Micellreihen reducirt wird.
Die eben erwähnten beiden Arten der A'ereinigung, in denen
sich der zweite Typus verwirklichen kann, — wobei die väterliche und
die mütterliche Anlage das eine Mal auf die halbe Stärke beschränkt,
das andere Mal in voller Stärke neben einander gelagert werden, —
stellen zwei Extreme dar, zwischen denen alle Zwischenstufen möglich
sind. Es können nämlich beide Anlagen mehr oder weniger ge-
schwächt werden, oder die eine kann ihre volle Stärke behalten,
15*
228 IV. Anlagen und sichtljare IMerknuile.
wälirend die andere geschwächt wird. — Bei dieser dem zweiten
Typus eigenthünihchen Nebeneinanderordnung der väterHchen und
mütterHchen Micelheihen bewahrt jede derselben ihr besonderes
Wachsthum und bleibt bei der ontogenetischen Vermehrung unver-
ändert, indem sie Micelle von ihrer eigenen Beschaffenheit einlagert.
Es ist noch zu bemerken, dass die männlichen und die weib-
lichen Micellreihen sich in verschiedener AVeise zu einer vereinigten
Anlage zusammen ordnen können. Die zwei denkbaren Extreme
sind in Fig. 10, c und d, in der Längsansicht dargestellt; in d
liegen die beiden Anlagen getrennt neben einander, in c sind ihre
Reihen alternirend mit einander gemengt. Was den Querschnitt
betrifft, so lassen sich für die beiden Anlagen alle mögliche Arten
der Configuration denken. Sind dieselben ungetheilt, so können
sie mit gleichem Umriss aneinander stossen, oder die eine kann
die andere mehr oder weniger umfassen. Sind sie in grössere oder
kleinere Partien aufgelöst, so können diese Partien in der ver-
schiedensten Weise neben einander liegen. — Aus der ungleichen
Anordnung, sowie aus dem Umstände, dass die beiden Anlagen mit
dem umgebenden Idioplasma molecular-physiologisch ungleich zu-
sammenstimmen, erklärt sich zur Genüge das mannigfaltige Ver-
halten , das wir an den Merkmalen der Kreuzungsproducte beob-
achten (vgl. S. 200 — 215).
Nachdem ich gezeigt habe, wie man sich die materielle Ver-
mischung der beiden geschlechtlichen ldio])lasmen allenfalls zu
denken liat, wall ich im Gegensatze hierzu untersuchen , wie das
Idioplasma des Kindes durch dynamische Einwirkung entstehen
kann. Soll die letztere eintreten, so legen sich e])enfalls in Folge
der gegenseitigen Anziehung, die als Thatsache zu betrachten ist,
die männlichen und weiblichen Idioplasmakörper an einander an.
Aber, statt zu zerfallen und sich materiell zu durchdringen, l^leiben
sie intact und wirken bloss gegenseitig auf das Wachsthum der
einen und anderen so ein, dass dasselbe zu einer mittleren Bildung
hinstrebt. Die Berührung und die wechselseitige Beeinflussung dauert
so lange, bis in Folge des Wachsthums durch Micelleinlagerung die
ursprünglich ungleichen, männlichen und weiblichen Idioplasmakörper
einander ganz gleich geworden sind , was im allergünstigsten Falle
schon ])ei einer Zunahme auf die doppelte Länge erreichbar ist.
IV. Anlagen und sichtliare Merlanale. 229
Die Unibildiiiig der Idioplasniakörper erfolgt entweder dadurch,
dass die einzelnen Reihen , in denen eine Ungleichheit besteht,
nach und nach durch Einlagerung andersartiger Micelle sicli um-
formen, oder dadurch, dass neue Micellreihen neben die vorhandenen
Reihen, welche qualitativ unverändert bleiben und welche durch
Micellwanderung in ihrer Zahl mehr oder weniger reducirt werden
können, sich einordnen. Im ersteren Fall gehen aus dem Um-
bildungsprocess Micellreihen und Anlagen hervor, welche die Mitte
halten zwischen den männlichen und weiblichen Reihen und An-
lagen. Im letzten Falle enthält das Idioplasma des Kindes die
väterlichen und mütterlichen Micellreihen und Anlagen in unver-
änderter Beschaffenheit neben einander. Das Resultat ist ganz das
nämliche wie dasjenige, weichesauf dem Wege materieller Vermischung
erzielt wan^de, so dass es überflüssig ist, darauf noch weiter einzutreten.
Noch ist zu bemerken, dass wdr uns die Berührung der männ-
lichen und weiblichen Idioplasmastränge auf zweierlei Art denken
können. Die eine Art ist die, dass sie sich der Länge nach an ein-
ander legen, und dass die dynamische Einwirkung in der Quer-
richtung statt hat. Hiebei verändern sich entweder der weibliche
und der männliche Strang gleichzeitig und werden zuletzt einander
gleich, so dass das Idioj)lasma des befi'uchteten Keimes die doppelte
Strangzahl besitzt. Oder es verändert sich bloss der eine Strang
z. ß. der weibliche, indem der männliche lediglich die Umbildung
desselben bis zum Schlüsse beeinflusst und dann in Ernährungs-
plasma sich auflöst. Die andere denkbare Art der Vereinigung ist
die, dass die männlichen und die weiblichen Stränge sich mit den
Enden an einander legen, und dass eine gegenseitige dynamische
Einwirkung in der Längsrichtung erfolgt. Da die beiden Stränge
eine beinahe gleiche Querschnittsconfiguration besitzen, so können
sie sich so gegeneinander stellen, dass die homologen Anlagen auf
einander treffen und demnach unmittelbar auf einander wirken. Auch
in diesem Falle lässt sich denken, dass der männliche Strang sich in
gleicher Weise umbilde wie der weibliche, oder aber dass er bloss
die Umwandlung des letzteren veranlasse und dann seine eigene
Idioj)lasmanatur verhere.
Die beiden Theorien des materiellen oder dynamischen Vor-
ganges bei der digenen Bildung des kindlichen Idioplasmas umfassen
alle Möglichkeiten; eine von ihnen muss die richtige sein. Welche
230 IV. Aiila<i:en un<l sichtbare Merkmale.
aber von beiden den Vorzug a^ erdiene, bleibt vorerst nocb eine
offene Frage. Ich habe bereits bei einem nahe verwandten Vor-
gange, bei der Ausgleichung des während der Ontogenie verschieden-
artig umgewandelten Idioplasmas mich für den dynamischen Weg
als den wahrscheinlicheren ausgvesprochen (S. 59). Auch bei der
Befruchtung erscheint mir diese Theorie als die einfachere und an-
nehmbarere, und zwar namentlich auch desswegen, weil die Theorie
der materiellen Vermischung fast eben so viel dynamische Einwir-
kung verlangt als der rein dynamische Weg selber, und ausserdem
genöthigt ist, noch ein neues hypothetisches Moment, die Wanderung
der gesammten männlichen Idioplasmamicelle, anzunehmen.
Ein Argument für die Befi'uchtung auf dynamischem Wege
finden wir auch in dem eigenthümlichen Vorgange bei der geschlecht-
lichen Fortpflanzung der Florideen, wo die Zelle, in welcher die
durch die Befruchtung angeregte Zellbildung beginnt, um einige
Zellen von der das Spermatozoid aufnehmenden Trichogyne entfernt
ist. Hier muss entweder das Idioplasma des Spermatozoids durch
die Zellen des Trichophors hindurch wandern, um an den Ort seiner
Bestimmung zu gelangen. Oder es müssen die Eigenschaften des
männlichen Idioplasmas durch die Idio})lasmastränge der zwischen-
liegenden Zellen auf dynamischem Wege dem Idioplasma der weib-
lichen Zelle mitgetheilt werden, in gleicher Weise wie wir uns vor-
zustellen haben, dass die erl)lichen Eigenschaften, die eine Wurzel
gewinnt, auf das Idioplasma der Fortpflanzungsorgane vermittelst
Erregung übertragen werden. Der Vorgang bei den Florideen deutet
auch darauf hin, dass, wenn die Befruchtung bei den Organismen
überhaujit auf dynamischem Wege geschieht, die Leitung eher in der
Längsrichtung als in der Querrichtung zu denken ist, und dass daher
die männlichen und weiblichen Idioplasmastränge eher sich mit ihren
Enden als mit den Seiten an einander legen werden.
Zu den gleichen Erwägungen füVirt auch die Befruchtung von
Flechten und Pilzen, und möglicher W^eise selbst die Befruchtung
der Phanerogamen, insofern die Zellen im Embryosack, welche von
Strassburger als Gehülfinnen bezeichnet wurden, das Geschäft
von A^ermittlerinnen zwischen dem Ende des Pollenschlauches und
der Eizelle übernehmen.
V.
Varietät, Easse, Ernährmigsmodification.
Die erblichen Eigenschaften der Organismen wurden von mir
direct (ohne die Mithilfe der Zuchtwahl) aus zwei Ursachen abge-
leitet: aus dem .Vervollkommnungstrieb, welcher die Configuration
des idioplasmatischen Systems beim Wachsthum durch Einlagerung
von Micellen und Umlagerung der Micelle stetig aber langsam com-
plicirter macht, und den äusseren Einflüssen, welche dieser Con-
figuration ein bestimmtes Ge23räge aufdrücken und ihrer Umbildung-
besondere Richtungen anweisen. Die erste Ursache bedingt die
Organisationsstufe , die zw^eite die Anpassungen ; damit sind im
grossen und ganzen die Organismen mit ihren Eigenschaften ge-
geben.
Innerhall) dieses Rahmens bewirkt die Kreuzung nichts weiter
als veränderte Combinationen untergeordneter Anpassungsmerkmale,
denn sie findet nur zwischen nächst verw^andten Sippen statt. Da
die Kreuzung vorzugsweise der Domestication angehört und im wdlden
Zustande nur ausnahmsweise vorkommt, so können die durch sie
hervorgebrachten Merkmale, die von eigenthümlicher Beschaffenheit
sind und im allgemeinen dem wilden Zustande fehlen, als »abnor-
male« bezeichnet werden.
Ausser diesen Kreuzungsmerkmalen gibt es noch eine Gruppe
Ijesonderer Merkmale , die ich bis jetzt nicht berücksichtigt habe
und die sich ebenfalls als »abnormale« darstellen. Sie verdienen
eine eigene Besprechung, nicht w^eil sie bezüglich der Ursachen eine
Ausnahme machten, sondern weil sie im allgemeinen niu- imt<M' den
232 ^^- Varietät, Rasse, Ernälirnngsmodifieation.
Verhältnissen der Doniestication vorkommen und weil sie zu der
bisherigen Abstammungslehre in inniger und verhängnissvoller Be-
ziehung stehen.
Bei den Culturj)flanzen und Hausthieren bilden sich erbliche
Abänderungen aus, die den Pflanzen und Thieren im wilden Zu-
stande fast gänzlich mangeln. Dieselben bestehen in Schwächungen
gewisser physiologischer Processe, in krankhaften Umbildungen und
Monstrositäten, überhaupt in mehr oder weniger abnormalen Er-
scheinungen. Bei den Pflanzen sind es beispielsweise gefüllte Blüthen,
anders gebaute (metamorphosirte) Blüthen, panaschirte oder krause
oder zerschlitzte Laubblätter, hängende Zweige (Trauerbäume), auf-
rechte Aeste (Pyramidenbäume), übermässig verdickte Stengel, Wurzeln
und Früchte.
Auch diese Merkmale treten zuerst als werdende Anlagen auf,
die, wenn sie fertig gebildet sind, sich entfalten und nachher wieder
für längere oder kürzere Zeit latent werden. Der erste Entfaltungs-
zustand zeigt uns entweder das vollendete Merkmal oder nur einen
Anfang, der sich durch eine Zahl von Generationen bis zur voll-
kommenen Höhe steigert.
Was die Ursachen dieser Anlagen betrifft, so sind sie theils
innere theils äussere und gehören nach meiner Ansicht zu jener
grossen Kategorie von Ursachen, von denen ich bereits früher ge-
sprochen habe , welche , überall vorhanden , stets kleine Störungen
veranlassen, aber meistens durch die geschlechtliche Kreuzung un-
schädlich gemacht werden (S. 205). In einzelnen Fällen aber gehen
die Störungen weiter, indem sie entfaltungsfähige Anlagen in merk-
barer Weise modificiren oder Anlagen, die sonst latent geblieben
wären, zur Entwicklung bringen. Dies geschieht dadurch, dass sich
eine Micellgruppe im Idioplasma in abnormaler Weise umbildet, sei
es, dass die einmal bestehende micellare Anordnung dazu disponirt
war, sei es, dass bei einer vorgängigen Kreuzung ungleiche Systeme
sich unnatürlich gemischt haben, oder endlich in Folge tief ein-
greifender äusserer Einflüsse. Meistens werden mehrere dieser Um-
stände zusammentreffen, und sehr oft dürften die Kreuzungen, die
bei den Hausthieren und Culturpflanzen fast nie mangeln, den Anfang
der Störung und der abnormalen Anlage gebildet haben.
Der Grund, warum die al^normalen Merkmale fast nur im
domcsticirton Zustande auftreten, mag einmal i]i der ol)cn angc-
V. Varietät, Rasse, Ernährnngsmodification. 233
führten Thatsache der viel häufigeren und viel wirksameren Kreuzung-
Hegen. Denn bei den Pflanzen und Thieren des natürlichen Zu-
standes bleibt die Kreuzung im allgemeinen auf die Individuen der-
selben engen Varietät beschränkt; selten findet geschlechtliche Be-
fruchtung zwischen verschiedenen A^arietäten oder Arten statt, indem
dieselbe im ganzen gewiss nicht den mihionsten Theil aller Befruch-
tungen ausmacht.
Ueberdem ist aber ein anderer maassgebender Umstand vor-
handen, der, wenn auch die Kreuzung nicht in Betracht gezogen
wird, für sich allein die Beschränkung der al)normalen Merkmale auf
die domesticirten Organismen erklären würde. Der Mangel der Con-
currenz im C^ulturzustande gestattet, dass auch Träger unvortheil-
hafter und nicht existenzfähiger Eigenschaften Bestand haben und
sich vermehren, während dieselben im wilden Zustande sofort be-
seitigt werden und daher keine Nachkommen hinterlassen.
Ueber die Ursachen der in der Cultur entstandenen abnormalen
Eigenschaften hegt Darw^in eine andere Meinung. Dieselben werden
als die Wirkung minder einförmiger Lebensbedingungen betrachtet.
In der Natur seien die Individuen einer und derselben Species nahezu
gleichförmigen Umständen ausgesetzt; die domesticirten Producte
dao-eo-en seien aus ihren natürlichen Verhältnissen und oft aus ihrem
Heimathlande entfernt worden, werden auch häufig von District zu
District geführt, wo sie eine verschiedene Behandlung erfahren. In
Uebereinstimmung hiermit stehe die grössere A'ariation der <lomosti-
cirten Producte.
Es scheint mir dies ein Kreisschluss zu sein. Die grössere
Variabilität der Pflanzen und Thiere im Culturzustande wird aus
der Mannigfaltigkeit ihrer Lebensbedingungen erklärt; aber eigentlich
wird diese Manni^- faltigkeit, die an und für sich sehr fraglich ist,
nur wegen der grösseren Variabilität angenommen. AVenn wir die
Verhältnisse der Cultur nicht bloss in Bausch und Bogen nach der
Veränderlichkeit der Producte beurtheilen, sondern eine genauere
Analyse und Vergleichung mit dem wilden Zustande vornehmen, so
kommen wir sicher auf ein ganz anderes Resultat.
Für die Pflanzen, und ich glaube kaum, dass es bezüglich der
Thiere viel anders sein sollte, gilt Folgendes. Ein Gewächs in C'ultur
nehmen heisst, im Gegensatz zu der Annahme Darwin's und seiner
Öcliule, AHchnehr, dasselbe aus ^^elförnligen unter sehr einförmige
234 V. Varietät, Rasse, Ernäbrnngsmodification.
Umstände versetzen. Auf den verschiedenen natürlichen Standorten
zeigt die Nahrung nach Mischung und Menge alle möglichen Ab-
stufungen von derjenigen Gunst, welclie die Individuen selbst grösser
und üj^piger werden lässt als die Cultur, bis zu jener Ungunst, wo
sie zwerghaft sich gerade noch kümmerlich zu erhalten vermögen.
Auf den verschiedenen natürlichen Standorten herrschen ferner be-
züglich der Feuchtigkeitsmenge, der Temperatur, der Beleuclitung,
der Luftströmungen viel grössere Ungleichheiten als in Garten und
Feld. Endlich sind im natürlichen Zustande die Vergesellschaftung
und Concurrenz, welche auf die Abänderungen so energisch ein-
wirken sollen, äusserst mannigfaltig, während sie in der Cultur
wirkungslos gemacht wurden.
Dem entsprechend variirt eine Pflanzenvarietät auf den verschie-
denen natürlichen Standorten wold hundert Mal mehr als in der
Cultur, soweit es sich um die nicht erblichen, unmittelbar durch
die äusseren Einflüsse verursachten Merkmale (Standorts- oder Er-
nährungsmerkmale) handelt. Wenn nun trotzdem in der Cultur die
erblichen Eigenschaften mannigfaltiger und reichlicher vorhanden
sind, so müssen wir geradezu schliessen, dass diese Variationen nicht
als der reine Ausdruck der äusseren A'erhältnisse , sondern aus be-
sonderen Umständen, welche die C^ultur vor dem natürlichen Zustande
voraus hat, zu erklären sind, und zwar, wie ich bereits ausgeführt habe,
aus der Kreuzung verschiedener Varietäten und Arten und aus dem
Mangel an Concurrenz. Ich werde den Unterschied zwischen natür-
lichem und domesticirtem Zustande in der Folge noch weiter erläutern.
Die Ergebnisse, zu denen die Betrachtung der aus der Kreuzung
und den übrigen Einflüssen der Domestication hervorgehenden
»abnormalen« Merkmale geführt liat, veranlassen mich zu einer
Vergleichung zweier Kategorien von Sippen, die oft mit einander
zusammengeworfen, oft auch ziendich richtig auseinander gehalten,
aber nocli nie ihrem inneren Wesen nach richtig erkannt wurden.
Es sind die Begrifle Rasse und Varietät, deren Wesen bestimmt
wird durch die Natur ihrer Merkmale und somit eigentlich durch
die Natur ihres Idioplasmas.
Die Rassen gehören der Cultur, die Varietäten dem wilden
Zustande an, wie dies ebenfalls von Darwin festgehalten wird,
welclier, um den Unterschied nocli besonders hervorzuheben, die
V. Varietät, Rasse, Ernälinintjsmodifif'atinii. 235
ersteren auch als >^ domesticirte Rassen« den letzteren als »natür-
lichen Varietäten« gegenüberstellt.
Die Rassen bilden sich rasch und verlieren sich ebenso ge-
schwind; sie dauern nur bei Ausschluss der C^oncurrenz und oft
auch nur bei gehöriger Pflege durch eine Reihe von Generationen.
Sie sind in ihren erblichen Merkmalen wenig beständig, werden
durch äussere Einflüsse leicht verändert, durch Kreuzung mit anderen
Rassen vernichtet, arten selbst bei geschlechtliclier Befruchtung mit
ihres Gleichen leicht aus. So erzeugten l^eispiels weise nach der
Mittheilung von Darwin in 216 Fällen, wo gleichfarbige Pferde
gepaart wurden, 1 1 Paare (also 5 Proc.) Junge mit anderer Färbung.
Die Varietäten dagegen entstehen äusserst langsam und haben
eine seculare Dauer ; sehr viele Arten sind nachweisbar unter den
verschiedensten äusseren Umständen und in ganz ungleicher ge-
sellschaftlicher Umgebung seit der Eiszeit un^'erändert geblieben
oder nur so äusserst wenig modificirt worden, dass man kaum von
der leichtesten Varietätenbildung sprechen kann. Die Varietäten,
so weit sie durch äussere Merkmale erkennbar sind, beginnen und
bilden sich weiter aus trotz der Concurrenz nächst verwandter
Formen, mit denen sie gemeinsam vorkommen. Sie sind in ihren
erblichen Eigenschaften ausserordentlich Ijeständig und werden durch
die wirksamsten äusseren Einflüsse selbst während der längsten Zeit-
räume nicht verändert, eljenso nicht durch Kreuzung mit verwandten
Varietäten oder Arten, wie dieselbe in der freien Natur hin und
wieder eintritt. Die \' arietäten lassen sich erfahrungsgemäss nicht
von den wirklichen Arten unterscheiden, und wenn wir ihnen eine
geringere Constanz zuschreiben als diesen, so geschieht dies, weil
die Consequenz der Theorie es unabweislich verlangt, nicht weil es
durch bestimmte Thatsachen sich beweisen lässt.
Diese Darstellung der unterscheidenden Merkmale von Rasse
und A^arietät bedarf einer näheren Begründung, da sie von den
herrschenden Ansichten wesentlicli al)weicht. Was die Eigenthüm-
lichkeiten der Rasse betrifft, so bestellt darüber zwar keine Meinungs-
verschiedenheit, da die vielen \'ersuche, die wir den praktischen
Thierzüchtern verdanken, und die Erfahrungen der Pflanzencultur
darüber hinreichend Aufschluss geben. Anders verhält es sich mit
den Varietäten, weil man dieselben thatsächlich gar nicht oder
höchstens aus dürftigen und ungenügenden Versuchen kennt und
236 ^^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification.
sie daher meistens bloss nach oberfläehhchen Beobachtungen nnd
vorgefassten Meinungen beurtheilt.
Ziemhch übereinstimmend wird die A^arietät als wenig constant
betrachtet, aber aus ganz verschiedenen Motiven. Die Darwinisten,
welche von der Beweglichkeit und A'^eränderlichkeit der Rasse aus-
gehen, sehen in der Varietät die der Rasse analoge Erscheinung
des wilden Zustandes und schreiben ihr daher eine grosse Ver-
änderlichkeit zu. Gründe für dieses auf blosser Vernmthung be-
ruhende Verfahren vermögen sie nicht anzugeben. Die Art ist
ihnen dann begreiflicher Weise, als fortgeschrittene und gefestigtere
Varietät, ebenfalls noch ziemlich veränderlich.
Die Systematiker der alten Schule dagegen, welche die Arten
für absolut beständig halten, betrachten die Varietäten innerhalb
der Art als das einzig A'^eränderliche in der organischen Welt. Da
aber thatsächliche Anhaltspunkte für dieses A^erfahren eljenfalls
mangeln, so werden die Grenzen zwischen dem vermeintlich Be-
harrenden und dem vermeintlich allein A^ergänglichen nach sub-
jectivem Gutfinden oder auch ganz willkürlich gezogen.
Die Ursachen der unrichtigen Ansichten bezüghch der A^ arietäten
beruhen vorzüglich in der A^erwechslung von Rasse und A^arietät,
ferner in der A^erwechslung von Standortsmodification und A'^arietät
und endlich in der A'^erwechslung von zeitlicher und räumlicher
Constanz, resp. A^eränderlichkeit ; sie entspringen aus dem Mangel
an gründlichen Beobachtungen und aus dem Alangel an genauen
Culturversuchen. Icli werde dies im folgenden nacli weisen und dabei
an die Ergebnisse anknüpfen, zu denen vorzüglich langjähriges
Beol)achten und Züchten der \delförmigsten aller Pflanzengattungen
geführt hat. Bei dem fast gänzlichen Alangel an sicheren Thatsachen,
betreffend die wildwachsenden Formen, halte ich es für zweckmässig,
etwas einlässlicher darüber zu berichten.
Ich hatte mich schon in den Jahren 1840 — 1846 mit der
Abtheilung Pilosclloiden der Gattung Hieracium beschäftigt und
den A^ersuch gemacht, die Formen dersell)en als Stammarten und
Bastarde zu unterscheiden, in ähnlicher Weise, wie es für die Gattung
Cirsium geschehen war. Nachher verlor ich zwar diese Pflanzen
nicht aus den Augen, ohne mich jedoch einlässlicher damit zu
V. Varietät, Rasse, Ernährungsinodilicatioii. 237
beschäftigen. Mit dem Jahr 1<S64, als die Speciesfrage durch die
Schriften Darwin's eine brennende wurde, nahm ich das Studium
der Gattung Hieracium wieder auf, mit besonderer Rücksicht auf
die Erscheinungen, welche über die Entstehmig der Varietäten und
Arten Aufschluss geben könnten. Von 1864 — 187G brachte ich jeden
Sommer meistens in Begleitung meines Sohnes einige Monate im
Gebirge zu, ausschhesslich mit Beobachten und Sammeln von
Hiaracien beschäftigt. Zu gleichem Zweck machte seit 1876 Dr.
A. Peter jährlich einen längeren Gebirgsaufenthalt. Unsere Stationen
befanden sich in der Alpenkette vom Wallis bis zum Karst, in den
Apenninen, den Seeal^ien und den Gebirgen von Mähren, Schlesien
und Galizien. Ausserdem wm^de die bayerische Hochebene bis zum
Frankenjura und bayerischen Walde durchforscht.
Von diesen Reisen wurden eine grosse Menge von Formen
tlieils in lebenden Stöcken, tlieils durch Samen in den botanischen
Garten von München gebracht. Gegenwärtig befinden sich ca. 2500
Nmnmern der Gattung Hieracium in Cultur. Im ganzen wmxlen
ungefähr 4450 Nummern ausgepflanzt und während kürzerer oder
längerer Zeit, manche während 5 bis 17 Jahren, beobachtet, theils
am gleichen Stock, theils in mehreren durch Aussaat erhaltenen
Generationen. Von den kultivirten Pflanzen wurden womöglich
jedes Jahr ExennDlare eingelegt und getrocknet, um dieselben mit
der ursprünglichen Pflanze und untereinander zu vergleichen. Da
dieser A^ergleich von besonderer Wichtigkeit war, so wurden die
wilden Pflanzen im Herbarium, von denen Samen ausgesäet wurden,
bezeichnet, und es wurden von den aus dem Gebirg gebrachten
Stöcken die blühenden Stengel eingelegt und ebenfalls bezeichnet.
Die meisten Arten gedeihen gut im Garten. Davon machen
eine Ausnahme einige Arten der höheren Alpen, wie namentlich
H. glanduliferum, H. piliferum, H. albidum und H. alpicola, ferner
auch H. alpinum und IL glaciale, dann einige südliche und östliche
Arten, wie H. echioides, H. stuppeum, H. barbatum, indem dieselben
kümmerlich wachsen und nach einigen Jahren ausgehen '). Mit dem
kränklichen Befinden können auch andere Abweichungen von dem
') Von H. alljidum gibt es eine in den botanischen Gärten befindliche Form,
die sich gut hält, während die aus den iUpen iniiwrtirten Stöcke und Samen stets
ein wenig halt1>ares Product liefern.
238 ^^- Varietät, Rasse, Eriiälirungsinixlification.
Verluilten der übrigen kräftig vegetirendeii Arten zusammentreten.
Die letzteren stimmen alle in den Ergebnissen der Cnltur überein,
welche sich unter folgende Gesichtspunkte zusammenfassen lassen:
I. Die möglichen Veränderungen, soweit dieselben unserer Wahr-
nelnnung zugänglich sind, treten schon im ersten Cultm-jahr ein
und sind ganz gleich, ob ein ausgegral)ener Stock in den Garten
verpflanzt oder Samen ausgesäet werden^). Sie sind um so grösser,
je mehr die Ernährungsfähigkeit des natürlichen Standortes und des
Gartens verschieden ist. Die kleinen Alpenhieracien werden gross,
stark verzweigt und reichblütig, so dass man sie oft kaum wieder
erkennt. Versetzt man die in dieser Weise auf dem Gartenbeet ver-
änderten Pflanzen auf einen mageren Kiesboden, so erhält man
wieder die urs})rüngiichen alpinen Exemplare. Diese Veränderungen
sind also nicht er1)lich, und bestehen bloss in einem kümmerlichen
oder üppigen AVachsthum. Sie bewegen sich innerhalb der onto-
genetischen Elasticitätsgrenze und bedingen die Standorts- oder
Ernährungsmerkmale .
II. Die Merkmale, wodurch sich zwei auf dem nämlichen Stand-
orte wachsende Arten oder Varietäten unterscheiden, bleiben im
Culturzustande durchaus constant, so dass also die üppig und gross
gewordenen Alpenpflanzen die nämlichen charakteristischen Unter-
scheidungsmerkmale zeigen, wde die kleinen Pflanzen, von denen
sie herstammen. Man könnte erwarten und es würde den herr-
schenden Ansichten entsprechen, dass bei einem so eingreifenden
Wechsel der Ernährungs- und der klimatischen Einflüsse, wie er
beim Verpflanzen aus den Alpen oder dem Norden, aus Italien oder
Ungarn in den Münchner Garten eintreten muss, kleine Verschieden-
heiten verschwinden oder entstehen möchten. Dies ist nicht der
Fall; auch die geringsten erbliclien Merkmale erweisen sich als
beständig.
Für diese Beständigkeit innerhalb einer fast unendlichen Viel-
förmigkeit finden wir die besten ßew^eise in den Ergebnissen einer
systematischen Bearbeitung, welche ich begonnen hatte und die
von Dr. Peter seit 7 Jahren fortgesetzt und in der einen Gattungs-
1) Um vollständige (fciwissheit zu erhalten, habe ich mehrmals eine i'llanze
aus dem Gebirg lebend in den Garten versetzt und zugleich Samen, die von der
nämlichen T'Hanze abgenommen worden, ausgesäet.
V. Viirit'tat, Russe, EnialinuigsniDdilication. 2oV*
al)tlieiliing beendigt wurde. Von der Section der Piloselloideu allein,
Avelche Grisebticli in 25 Arten und 12 Varietäten, Fries in 42 Arten
getlieilt hatte, sind jetzt 2800 untersclieidbare ^^Q'ietäten bekannt,
-welche alle nach den Culturresultaten, die ein Theil derselben ergel>en
hat, als durchaus constant betrachtet werden müssen.
Aus den beiden unter I und II angeführten Thatsachen geht
einmal klar hervor, dass man die Verschiedenheiten zweier Arten oder
Varietäten nur dann richtig berurtheilen kann, wenn sie entweder
unter ganz gleichen Ernährungs- und klimatischen Einflüssen, also
auf dem gleichen Standorte vorkommen, oder wenn man sie auf
den gleichen Standort verpflanzt liat. Als passendster gemeinsamer
Standort ist aber der Garten zu betrachten, weil er einen mittleren,
gleichsam neutralen Charakter hat und die Pflanzen vor der Con-
currenz schützt. — Wenn zwei Pflanzen neben einander wachsen,
so sind die durcli verschiedene Ernährung und verschiedenes Klima
bedingten, veränderlichen Merkmale gleichgemacht und die übrig-
bleibenden Verschiedenheiten müssen erbliche sein. Vergleicht man
aber Pflanzen von verschiedenen Standorten und aus verschiedenen
Gegenden mit einander, so läuft man Gefahr, Ernährungsverschie-
denheiten als erbliche zu betrachten, und man kann dieser Gefahr ,
wenn die Cultur nicht ausführbar ist, nur dann entgehen, wenn
man sich durch die Cultur verwandter Pflanzen ein Urtheil bilden
konnte, was hier erblich und was veränderlich ist. Ich finde mich
zu dieser Bemerkung besonders deswegen veranlasst, weil bei der
herrschenden und gewiss gerechtfertigten Neigung der Systematik,
immer mehr Formen zu unterscheiden, es auch immer häufiger vor-
kommt, dass man nicht constante Standorts - oder Ernährungsmerk-
male irrthümhcher Weise in die Diagnosen aufnimmt und zur Unter-
scheidung benützt.
Aus den Beobachtungen an der Gattung Hieracium ergibt sich
ferner auf das deutlichste, dass man strenge zwischen Einförmigkeit
und Constanz unterscheiden muss, und eljenso zwischen Vielförmig-
keit und Veränderlichkeit. Es sind dies Begriffe, die stets von den
Systematikern verwechselt werden. Eine Sippe mit zahlreichen
Formen, besonders wenn diese in einander übergehen, heisst variabel,
und ein Merkmal, das sich allmählich abstuft, wird ebenfalls als
ein veränderliches bezeichnet ; man sollte aber in diesen Fällen bloss
von Vielförmigkeit sprechen. Die Beobachtung und Vergleichung
240 ^^- Varietät, Rasse, Ernahruugsmodificatioii.
vieler gleichzeitiger Individuen gibt ja nur über die räumliche
Beständigkeit, um mich dieses Ausdrucks zu bedienen, nicht über
die eigenthche oder zeitliche Constanz Aufschluss.
Man kann zwischen manchen Hieracienarten aus Exemplaren
verschiedener Standorte eine ununterbrochene Reihe herstellen, so
dass man von einem gleitenden Uebergang von der einen zur andern
Art sprechen darf. Man hat aber Unrecht, dies als ^'eränderhcllkeit
zu bezeichnen, denn Jedes einzelne Glied der Reihe bringt eine ganz
o-leiche Nachkommenschaft hervor und verhält sich bei der Fort-
Pflanzung durch eine Reihe von Generationen ebenso constant als
eine Pflanzenart, die durch keine Uebergangsglieder mit anderen
Arten zusammenhängt. Die Gattung Hieracium ist offenbar die
vielförmigste aller Pflanzengattungen; aber wir haben keinen Grund,
ihr eine grössere (zeitliche) Veränderlichkeit zuzuschreiben als anderen
Pflanzen. Desgleichen scheinen die Gattungen Rubus und Rosa
wohl vielförmig, aber nicht variabel zu sein.
Was von der ganzen Pflanze, gilt auch von jeder einzelnen
Eigenschaft. Ein Merkmal, das in allen Individuen einer Varietät
oder einer Art sich ganz gleich verhält, darf deswegen noch nicht
auch als wirklich constant betrachtet werden. Die Uebereinstimmung
kann ja daher rühren, dass die Ernährungseinflüsse die nämlichen
sind; das angebhch constante Merkmal würde sich dann unter
anderen Einflüssen verändern. Es wäre zweckmässig, der räumhchen
Constanz eine besondere Bezeichnung zu geben und sie etwa »Per-
manenz« zu nennen. Der Systematiker, der nicht im Falle war,
seine Pflanzen hinreichend durch die Cultur zu prüfen, weiss in
der Regel nur, ob die Merkmale mehr oder weniger permanent sind.
Manchmal zwar wird die Permanenz auch der Constanz entsprechen ;
sehr häufig aber wird dies nicht der Fall sein. Immerhin wäre die
Unterscheidung schon im Interesse des besseren Verständnisses
wünschbar, indem man beim jetzigen Sprachgebrauch nicht weiss, ob
ein constant genanntes Merkmal sich bei der Fortpflanzung unter ver-
schiedenen Umständen als erblich erweist, oder ob es nur bei allen
beobachteten Individuen unverändert, also permanent gefunden wurde.
Die Cultur der Hieracien hat, wie ich zeigte, das Ergebniss
geliefert, dass die Ernährungs- oder Standortsmodificationen nicht
die geringste Constanz erlangen, auch wenn dieselben durch noch
V. Varietät, Rasse, Ernälirungsmodification. 241
SO lange Zeiträume gleich geblieben sind. Kleine einköpfige Alpen-
pflanzen nehmen im Garten schon während des ersten Sonnners
den Habitus der Ebenenpflanzen an und werden gross, verzweigt
und vielköpfig, während ihre erblichen Merkmale sich ganz unver-
ändert erhalten. Dies gilt niclit bloss für morphologische Charaktere,
deren man sich gewöhnlich bei der Vergleichung bedient, sondern
auch für physiologische und biologische Eigenschaften. Ich will
noch die Ergebnisse bezüglich einer der letzteren mittheilen, weil
hier eine viel grössere Genauigkeit möglich ist als bei Merkmalen
der Gestaltung.
Die Blüthezeit ist ein leicht zu beobachtendes Merkmal, das
auch als sehr constant zur Charakteristik einzelner Pflanzenarten
benutzt wird. Es war von Interesse zu erfahren, wie sich die zahl-
reichen, neben einander cultivirten Hieracienformen in dieser Be-
ziehung verhalten, ob und welche constante A'^erschiedenheiten sie
zeigen, und ob ein langer Aufenthalt auf Standorten, die eine frühe
oder eine sj^äte Blüthezeit bedingen, irgend eine dauernde Veränderung
zurückgelassen habe. Es wurde daher seit dem Frühjahr 1869
jährlich an allen Sätzen des Gartens das Aufblühen notirt.
Bezüglich der letzten Frage war die einstimmige Antwort aller
Varietäten und Arten, dass die äusseren Einflüsse, die während
einer säcularen Dauer auf die Pflanzen einwirken, und eine eben
so lange Gewohnheit, frühe oder spät zu blühen, bedingen, keine
erbliche Veränderung hervorbringen. Die gleichen Varietäten, die
im Hochgebirg einen Monat später, im Süden fast einen Monat
früher blühen als in der bayerischen Ebene, gelangen, nachdem sie
von diesen drei verschiedenen Standorten in den Garten gebracht
wurden, am nämlichen Tage zur Blütlie. Dies gilt für alle kleineren
liieracien. - — Von den hoch" 'üchsigsten, als Accipitrinen bezeichneten
Sij^pen blühen die an der mittelländischen Küste auf trockenen und
heissen Standorten lebenden in ihrer Heimath erst im Herbst, etwa
4 Wochen später auf als die ihnen verwandten Formen in unserer
Gegend ; in den Garten verpflanzt entwickeln sie ihre Blüthen zu
gleicher Zeit mit unseren Accipitrinen^). Ebenso blüht das aus
Dalmatien in mehreren Stöcken in den Münchener Garten gebrachte
H. stuppeum, das auf dem heissen felsigen Boden seiner Heimath
^) Hiervon inaclien unter vielen Sätzen nur zwei eine Ausnahme.
V. Nägeli, Abstammungslehre. IQ
242 ^- Varietät, Rasse, Ernähningsmocliflcation.
erst Ende Septem lier zur Blüthe gelangt, bei uns schon 6 Wochen
früher und stellt sich damit seinen Verwandten ziemlich gleich.
Versuche, die einen gleichen Zweck verfolgten, hat A. de Can-
d olle im Jahre 1872 veröffentlicht^). Derselbe säete Samen der näm-
lichen Arten aus verschiedenen Gegenden Europas aus und beob-
achtete die Zeit des Keimens und Blühens. Er glaubte daraus auf
Verschiedenheiten, die oft erblich seien, schliessen zu dürfen, welche
die Pflanzen an ihren verschiedenen Wohnorten erlangt hätten.
Seitdem sind auch andere ähnliche Versuche bekannt gemacht worden.
Der Grund, warum die Experimente de C and olle 's Ver-
schiedenheiten zwischen den Samen aus verschiedenen Gegenden
und somit einen Einfluss des Wohnortes, also ein abweichendes
Resultat von den Beobachtungen an den Hieracien, ergeben haben,
ist nicht etwa darin zu suchen, class verschiedene Pflanzen sich
ungleich verhalten, sondern eher in der Mangelhaftigkeit der Frage-
stellung und Ausführung bei jenen Versuchen. Wenn Samen der
nämlichen Pflanzenart, beispielsweise, wie es geschehen ist, solche,
die in Moskau, Edinburg, Montpellier und Palermo von wild-
wachsenden Pflanzen gesammelt worden, mit einander ausgesäet
werden, so wird die Zeit des Keimens und Blühens nicht von einer,
sondern von mehreren Ursachen bedingt. Das Ergebniss ist daher
vieldeutig, und wenn jene Ursachen nicht durch Elimination auf
eine einzige reducirt werden, so müssen die ^^ersuche stets ungleich
und zweifelhaft ausfallen.
Die Ursachen, welche auf das Resultat Einfluss haben, sind
vorzüglich dreierlei. 1. Die Pflanzen einer Art, die in einer Gegend
oder in verschiedenen Gegenden wachsen, können verschiedenen,
mor23hologisch vielleicht nur schwer erkennl)aren, Varietäten ange-
hören. Man muss sich daher vor allem und durch die geeigneten
Mittel davon überzeugen, wie es sich in dieser Beziehung verhält.
Es ist möglich, dass in einer Gegend zwei Varietäten vorkommen
und in einer anderen Gegend nur eine derselben, und dass man,
wenn einem der Zufall die ungleichen Varietäten in die Hand spielt,
die Verschiedenheit mit Unrecht auf Rechnung der Gegend setzt ^).
') Arch. des sc. de la bil)l. nniv. Juin 1872.
2) Bezüslieli der Tlicracien fällt dieser Einwurf schon deswegen hinw^eg, w^eil
die Blütliezeit von Formen verschiedener Herkunft, wenn sie sicli unter gleichen
V. Varietät, Rasse, Emährungsmodification. 243
2. Die Samen, die in dem nämlichen Jahre in verschiedenen Gegenden
Europas gesammelt werden, haben sich unter Witterungseinflüssen
von ungleicher Gunst gebildet. Es ist möglich, dass in dem einen
Jahr die Moskauer, in einem anderen Jahr die Palermitaner Samen
im Vortheil sind. Man muss also die Versuche durch eine Reihe
von Jahren wiederholen. 3. Die Auspflanzungen, die neben einander
auf einem Pflanzenbeet oder in Töpfen bewerkstelligt werden, sind
häufig nicht strenge vergleichbar, weil die chemische und phj'sika-
lische Beschaffenheit des Bodens oder die Befeuchtung desselben
etwas ungleich ausfallen. Säet man Samen vom gleichen Stock,
selbst aus der gleichen Blüthe, anscheinend unter ganz gleichen
Verhältnissen aus, so erhält man bezüglich der Zeit des Keimens
und Blühens oft Abweichungen von einigen Tagen. Vergleichende
Versuche haben daher nur dann Werth, wenn jede Samenart nicht
ein Mal, sondern ein Dutzend Mal ausgesäet wird, um ein Durch-
schnittsverhalten zu bekommen.
Aus diesen kritischen Bemerkungen geht deutlich hervor, dass
die Aussaaten, die bis jezt gemacht wurden, resultatlos bleiben
mussten. Um zu sicheren Ergebnissen zu gelangen, sind die Ver-
suche mit anderen Methoden und in einem viel umfassenderen
IMaassstabe auszuführen. Da es sich dabei besonders auch um die
Frage handelt, ob allfällige Verschiedenheiten erblich sind, so müssen
endlich die Aussaaten durch eine Reihe von Generationen an dem
nämlichen Orte fortgesetzt werden.
Ich bin auf diese Versuche von A. de Candolle näher ein-
getreten, weil durch dieselben die so häufig ohne Begründung be-
haujjtete Einwirkung der Ernährung und des Klimas auf die Varietäten-
bildung in anscheinend exacter Weise ermittelt werden soll, und
weil es für die Theorie der Abstammung von so grosser Wichtigkeit
ist, diejenigen äusseren Einflüsse, welche den Organismen bloss
Kraft und Stoff für die phj'^siologische Arbeit zuführen, und welche
die Standortsmodi ficationen verursachen, von denjenigen, welche als
Reize wirken und dauernde Veränderungen hervorzubringen im
Stande sind, zu scheiden.
klimatischen Einflü8seu befinden, übereinstimmt und es sich also nicht um die
ErkläruniT von Abweichungen handelt. TJebrigens ist tlie kritische Prüfung der
Formen nach allen Eichtungen hin ausgeführt worden.
16*
244 V- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification.
Die Gültigkeit der an den Hieracien gewonnenen Resultate wird
durch die übergrosse Zahl von übereinstimmenden Beobachtungen
über jeden Zweifel erhoben. Wäln^end 13 Jahren wurden mehr als
16000 Aufzeichnungen gemacht. Es ist besonders auffallend, wie
die meisten Piloselloiden (eine Ausnahme machen namentlich die
grösseren Formen mit beblättertem Stengel, die entschieden später
blühen) ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, nordische, südliche,
alpine und campestre, gleichzeitig ihre Blüthen öffnen. Die Alpen-
bewohner, die in ihrer Heimath gleichzeitig, aber je nach der Meeres-
höhe 3 bis 5 Wochen später aufblühen als ihre A^er wandten der
Ebene, verhalten sich in der Ebene genau wie diese letzteren. Dies
ist um so bemerkenswerther, als einige von den Alj)enbewohnern (wie
H. Hoppeanum) nicht nur seit der Eiszeit sondern viel länger unter
einem Alpenklima gelebt, und ebenso einige von den Bewohnern
der Ebene (wie H. collinum) die Einwirkung des Ebenenklimas
schon seit einer voreiszeitlichen Ej)oche erfahren haben. Es sind
das nämlich einerseits diejenigen Arten, die ausschliesslich den
Alpen angehören und während der Eiszeit in der Ebene lebten,
andererseits diejenigen, die nur in der Ebene fortkommen und nach
der Eiszeit aus dem Osten eingewandert sind.
Bei diesen Beobachtungen an den Hieracien zeigte sich auf
das deutlichste, wie wichtig es ist, dieselben an einer grösseren
Zahl von Sätzen anzustellen und durch eine Reihe von Jahren fort-
zusetzen. Einige wenige Beobachtungen geben immer ein unsicheres
Resultat, indem nicht mir die äusseren Umstände, sondern auch
das von unbekannten Ursachen abhängige Wohlbefinden der Pflanzen
einen merkbaren Einfluss ausübt. Man versteht leicht, dass ein
etwas schattigerer Standort, das spätere Wegschmelzen der Schneedecke,
ein etwas feuchterer Boden die Blüthezeit um Tage, selbst um eine
Woche verzögert. Aber es kommt stets vor, dass, obgleich ein
Unterschied in den äusseren Umständen nicht wahrnehmbar ist,
die unmittelbar nebeneinander befindlichen Pflanzen sich doch etwas
ungleich verhalten. Man theilt beispielsweise einen Satz von Hieracien
in zwei Sätze, die bloss einen Meter von einander entfernt sind, und
dennoch blüht zuweilen der eine etwas früher als der andere. Dass
diese Verschiedenheit nicht constant ist, sondern nur von unbe-
kanntem Wohlbefinden abhängt, geht daraus hervor, dass in einem
andern Jahr das Verhältniss sich umkehrt und dass der Satz, der
V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. 245
in einem vorhergehenden Juln* um einige Tage früher blühte, jetzt
um einige Tage später blülit. Ein ähnhches wechselndes Verhalten
zeigen nun auch die Scätze von verschiedenem Ursprung ; bald ist der
eine, bald der andere der geförderte, bei einem Durchschnitt von 8
und mehr Jahren aber verschwinden die Verschiedenheiten gänzlich.
Eine solche Uebereinstimmung besteht aber nur zwischen den
Pflanzen, die sich in voller '\^egetationskraft befinden. Man muss
sich wohl hüten, nicht solche von ungleicher Vegetation mit einander
zu vergleichen. Es gibt immer einzelne Stöcke, oft auch ganze Sätze,
die mehr oder weniger leidend sind, nicht kräftig sich entwickeln
und die auch zu anderer Zeit blühen. Man unterscheidet solche
Stöcke und Sätze leicht an der Farbe, Grösse und Zahl der Laub-
blätter, sowie an dem schwächlichen Wuchs. Hieracien, die sich in
diesem abnormalen Zustande befinden, blühen später, wenn es
kleinere Arten mit Blattrosette und schaftartigem Stengel sind,
früher, wenn es grössere Arten mit beblättertem Stengel sind, wobei
dann der Stengel kürzer oder spärlicher beblättert wird.
Die Beobachtung an den Hieracien ergibt unzweifelhaft, dass
erbliche, sowohl morphologische als physiologische Eigenschaften
durch ein noch so langes Verweilen unter besondern klimatischen
und Ernährungseinflüssen nicht geändert werden. Die Accommodation
an die äusseren Umstände dauert nur so lange, als diese vor-
handen sind. Werden die äusseren Umstände andere, so verändert
sich auch die Accommodation, und von einer Gewohnheit, welche die
Dauer einer Erdperiode hatte, bleibt nichts zurück. Die Hieracien,
die in Cultur genommen werden, besitzen noch die Natur der wilden
Pflanzen und offenbaren uns das Verhalten der natürlichen Varie-
täten. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass, wenn ihre Cultur
ein praktisches Interesse gewähren und durch lange Zeiträume fort-
gesetzt würde, sie in den nämlichen Zustand gelangen müssten, wie
die übrigen domesticirten Pflanzenarten. Durch reichliche Kreuzung
und durch das Aufhören der Concurrenz würden variable Rassen-
merkmale entstehen, und auch die Blüthezeit, die jetzt in den natür-
lichen Varietäten eine so zähe Constanz zeigt, könnte dann zu einer
leicht veränderlichen Grösse werden. Dies beweist uns, dass bei
Beobachtungen über die Beständigkeit der Eigcnscliaften eines Orga-
246 ^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification.
iiismus vor allem festzustellen ist, ob er sich noch in dem natür-
lichen Zustand befinde, oder ob er eine mehr oder weniger lange
Culturperiode durchgemacht habe.
Der Unterschied zwischen Varietät und Rasse, die Einförmigkeit
und Beständigkeit der ersteren, die Vielförmigkeit und Unbeständig-
keit der letzteren, kann nur begriffen werden, wenn man auf die
Ursachen dieser Erscheinungen eingeht. Die Meinungen, die man
darüber ausgesprochen hat, betreffen entweder Nebenumstände oder
sind auch ganz ungegründet, wie ich dies bezüglich der vermeint-
lichen Einförmigkeit der LelDcnsbedingungen im Naturzustande und
ihrer vermeintlichen Vielförmigkeit in der Domestication ausgeführt
habe (S. 233). Der Schlüssel zu dem Räthsel findet sich lediglich in
dem Umstände, dass die Rassen, im Gegensatze zu den Varietäten,
entweder das Product vielfacher vorausgehender Kreuzung oder un-
gehemmter und geschützter Entwicklung von Störungen im normalen
Lebensprocess sind.
Es gibt wohl keine Culturpflanze und kein Hausthier mit vielen
Rassen, welches nicht von zwei oder mehreren wilden Arten ab-
stammte und bei welchem nicht die Kreuzung so erfolgreich gewesen
wäre, dass die Grenze zwischen jenen Arten vollkommen verwischt
wurde. So kommen unsere fast zahllosen ßirnsorten wahrscheinlich
von zwei wilden Pyrus- Arten, die Apfelsorten ebenfalls von zwei
wilden Arten, die Sorten der Weinrebe von zwei oder drei Arten von
Vitis her. — Durch die wiederholte Kreuzung der Nachkommenschaft
zweier oder mehrerer Arten werden nicht nur die sichtbaren Merkmale
der letzteren in der mannigfaltigsten Weise cüml)inirt und al:)gestuft,
sondern es werden auch latente Anlagen derselben zur Entfaltung
gebracht oder unter Betheiligung der latenten Anlagen und unter
dem Einfluss der durch die hybride Mischung abgeänderten Con-
stitution des Idioplasmas die Merkmale der Stannneltern in viel-
facher Weise umgebildet.
Durch die Beseitigung aller Concurrenz und die Pflege der
Cultur vermögen ferner Metamorphosen und Monstrositäten sich aus-
zubilden. Dieselben haben wolil immer in latenten, nun zu abnor-
maler Entwicklung gelangenden Anlagen ihren Ursprung, weshalb
sie auch sich stets gewissermassen als Rückschläge kund geben.
Dieselben bieten, namentlich wenn Kreuzung hinzukommt, die
A^eranlassung zu vielfach vermehrter Abänderung.
V. Varietät, Kasse, Ernälu'ungsuKHlification. 247
Bei der E-assenbildung in Folge von li}'bridcr Kreuzung mid
von Metamorphosirung werden also nicht wirklich neue Anlagen
erzeugt, sondern bereits vorhandene in anderer Weise combinirt inid
bisher latent gebhebene ^^^eder lebendig gemacht. Deswegen geht
die Veränderung der Rassen so ausserordentlich rasch vor sich.
Bei der Varietätenbildung dagegen entstehen neue Anlagen,
indem das Idioplasma clm-ch den innewohnenden Vervollkommnungs-
trieb und durch che als Reize wirkenden äusseren Einflüsse stetig
sich verändert. Diese Veränderung geschieht in allen Individuen,
weil die Ursachen die nämlichen sind, gleichsinnig ; daher zeigen die
A^irietäten eine so auffallende Einförmigkeit. — Ferner haben die
äusseren Einflüsse häufig, da die Organismen denselben bereits an-
gepasst sind, keine Gelegenheit, ihre Wirksamkeit zu äussern, und
wenn sie auch eine andere Anpassung verlangen, so scheinen sie
die Veränderung doch nm' nach Maassgabe, als das Idiojilasma durch
innere Ursachen sich umbildet, bewirken zu können (vgl. S. 181).
Diese durch den Vervollkommnungstrieb erfolgende Complication
in der Configuration des Idioplasmas steigert sich aber äusserst lang-
sam, bis die fertig gewordenen Anlagen sich als sichtbare Merkmale
zu entfalten vermögen; daher bleiben die Varietäten durch lange
Zeiträume äusserlich unverändert. Kreuzungen und Rückschläge
durch Störungen finden in den Varietäten wohl statt, — aber, da ihre
Träger durch die Concurrenz sofort beseitigt werden, nur vereinzelt
und ohne Wirkung auf die ganze Sippe ; sie vermögen also die Ein-
förmigkeit und Stetigkeit der Varietäten nicht zu trüben.
Kurz ausgedrückt können wir sagen : Bei der (künstlichen oder
domesticirten) Rassenbildung wird nicht die Summe der idioj^las-
matischen Anlagen, sondern nur das Gleichgewicht zwischen den-
selben oder das Verhältniss von manifest werdenden und latent
bleibenden Anlagen geändert ; bei der (natürlichen) ^^arietätenbildung
dagegen vermehrt sich die Summe der Anlagen. Bei der ersteren
wird die Configuration des idioplasmatischen Systems durch Yer-
schiebung von Micellgrui^pen bloss modificirt, bei der letzteren aber
durch Einschiebung neuer Gruppen, durch scliärfere Scheidung der
vorhandenen Grupj^en und durch Ditfercnzirung in ihrem Innern
erweitert und bereichert.
248 V. Varietät, Rasse, Ernähruiigsniodiflcation.
Die A'^arietäten unterscheiden sich von den Rassen im allge-
meinen durch ihre Einförmigkeit und Beständigkeit. Die Ein-
förmigkeit rührt daher, dass die nämlichen abändernden Ursachen
auf die Individuen einer Sippe einwirken, die Beständigkeit daher,
dass Kreuzung zwischen Varietäten nicht häufig stattfindet und dass
die Bastarde in der Concurrenz bald unterliegen und verdrängt
werden. Als Beispiel und Beweis hiefür kann die grosse Mehr-
zahl der Pflanzensippen angeführt werden. Gleichwohl gibt es
Fälle, welche bezüglich der Einförmigkeit der Varietäten scheinbar
eine Ausnahme machen; es gibt in wenigen Gattungen auch viel-
förmige Varietäten.
Um diese Ausnahme zu verstehen und in das richtige Verhältniss
zur Regel zu bringen, müssen vnr die Entstehung der Varietäten etwas
genauer betrachten. Es wird sich dann zeigen, dass die Einförmigkeit
und Vielförmigkeit derselben auf den nämlichen Ursachen beruhen
und eigentlich die nämliche Erscheinung nur in verschiedener Ab-
stufung sind. Wir müssen aber zum voraus festhalten, dass die
Eigenschaften der Varietäten nur erbliche sein können, und dass
also die mannigfaltigen , unendlich abgestuften , nicht erblichen
Merkmale, welche die äusseren Einflüsse unmittelbar hervorl)ringen,
nicht die Vielförmigkeit der Varietät, sondern die Vielförmigkeit der
Modification bestimmen, von der ich nachher sprechen werde. Eine
andere, durch die Kreuzung hervorgebrachte Vielförmigkeit ist, da
dieselbe der Rassenbildung angehört, ebenfalls auszuschliessen ; ich
werde aber, weil es sich hier um erbliche Eigenschaften handelt,
die Grenze zu bestimmen suchen, wo die Varietätenbildung aufhört
und die Rassenbildung beginnt.
Die Vielförmigkeit der Varietäten gibt sich in den Anpassungs-
merkmalen kund und beruht auf der Mannigfaltigkeit der äusseren
Einwirkungen und auf den verschiedenartigen Reactionen, welche
in den nämlichen Organismen eintreten können. Wir haben zwei
allgemeine Fälle zu unterscheiden, je nachdem nächst verwandte
Varietäten räumlich getrennt und somit isolirt, oder aber in der
nämlichen Gegend gesellschaftlich entstehen.
Eine einförmige Sippe begebe sich auf die Wanderung und
verbreite sich so ühev ein grosses Gebiet, dass ihre einzelnen Stationen
zerstreut sind und nicht unter einander zusammenhängen. Da die
äusseren Ursachen sich mannigfaltig combiniren und abstufen , so
V. Varietät, Rasse, Ernährangsinodification. 249
empfängt möglicher Weise die Anpassung der Sippe in jeder Station
einen etwas anderen Impuls und geht in eine etwas andere erbliche
Form über. Anfänglich sind die neuen erblichen Merkmale gering
und verschwinden unter den unbeständigen Modificationsmerkmalen.
Sie werden nach und nach deutlicher ; die eingewanderte einförmige
Sippe ist vielförmig geworden.
Aber die Vielförmigkeit besteht, wenn wir sie als Vielförmigkeit
der Varietät auffassen, nur darin, dass die Formen der verschiedenen
Stationen noch zu wenig von einander abweichen, um sie als eben
so viele besondere A^arietäten zu betrachten. In Wirkliclikeit sind es
beginnende Varietäten, die sich wie ächte Varietäten verhalten;
denn jede ist selbst einförmig und zeigt sich unter verschiedenen
Ernährungseinflüssen constant, wie uns das Beispiel der Gattung
Hieracium aufs deutlichste zeigt. Bestehen die angegebenen Ver-
hältnisse während hinreichend langer Zeiträume unverändert fort, so
erlangen die Anpassungsmerkmale nach und nach ihre grösstmög-
liche Ausbildung, und die beginnenden Varietäten können schhesslich
zu entschiedenen Varietäten und Arten werden.
In dem vorstehenden Falle wurde angenommen, dass die auf
jede Station gekommene einförmige Sippe in allen ihren Individuen
durch die daselbst herrschenden einförmigen Einflüsse die näm-
lichen Eindrücke empfangen und sich demgemäss gleichförmig um-
gebildet habe. Diesses Ergebniss wird aber nur ziemlich selten
eintreffen, da aus verschiedenen Gründen eine ungleichartige Ab-
änderung der Individuen, welche auf derselben Station leben, wahr-
scheinlich ist. Die nächstliegende Möglichkeit besteht darin , dass
die äusseren Einflüsse, welche erbliche Abänderungen bedingen, nicht
gleichartig sind und daher auch ungleiche Anpassungen be"w^rken.
Eine andere Möglichkeit ist aber auch die, dass gleichartige äussere
Einflüsse bei verschiedenen Individuen verschiedene Reactionen
hervorrufen. Sind die Einflüsse schädlicher Natur, so stehen dem Orga-
nismus oft verschiedene Mittel zu Gebote, um sich dagegen zu schützen ;
sind sie günstig, so vermag er sich dieselben durch verschiedene
neue Einrichtungen nutzbar zu machen. Es können also bei scheinbar
gleichartigen Organismen auf scheinbar gleicliartige äussere Einwir-
kungen hin ungleichartige Anpassungsmerkmale entstehen.
Dieser Ausspruch darf nicht missverstanden werden. Es ist
selbstverständlich , dass identische Organismen unter identischen
250 ^- Varietät, Rasse, Ernähruugsmodification.
äusseren Verhältnissen auch nm* in ganz gleicher Weise sich ver-
ändern. Aljer es sind, wenn auch die als Reiz wirkende abändernde
Ursache die nämliche ist, theils die Dispositionen in den Individuen,
theils die äusseren Umstände, welche das Wachsthum der Individuen
bedingen, ungleich. Bei den Pflanzen ist die Nahrung, die Feuch-
tigkeit, der Lichteinfluss, die Einwirkung der organischen Umgebung
oft auf die kürzesten Entfernungen ungleich, und wenn dadurch
auch bloss die Ernährung modificirt wird, so hat die Ernährung,
wiewohl sie nicht in directer Weise erbliche Veränderungen bewirkt,
doch ebenso wie auf die Entfaltung der idioplasmatischen Anlagen,
auch auf die Bildung derselben einen fördernden oder hemmenden
Einfluss. Machen wir beispielsweise die Annahme, eine Pflanze sei ihrer
Natur nach befähigt, auf den Reiz , den der Angriff eines Thieres auf
die Frucht ausül^t, drei verschiedene Reactionen zum Schutze der
Samen eintreten zu lassen : entweder bilden sich bittere und giftige Stoffe
in derFruchtwandung, oder die Fruchtwandung wird hart und fest, oder
sie bewehrt sich mit stachlichon Auswüchsen. Hat die Pflanze eine
gleiche Neigung zu diesen Reactionen, so kann die Wahl der einen
oder andern durch die ungleiche Ernährung bestimmt werden.
Es kann also in den gesellschaftlich lebenden Individuen
einer Sippe die Anpassung aus verschiedenen Gründen in ungleicher
Weise beginnen. Wie ich früher wahrscheinlich gemacht habe,
trifft die von äusseren Reizen bewirkte erbliche Veränderung zuerst
das Idioplasma. Würde sie aber auch in j)rimärer Weise den ent-
falteten Organismus treffen, so müsste doch gleichzeitig das Idio-
plasma mit verändert werden, weil sonst eine Vererbung unmöglich
wäre. Ich kann also für alle Fälle die Veränderung des Idioj)lasmas
der Betrachtung zu Grunde legen.
Sind nach Lage der Umstände mehrere Anpassungen möglich,
so kann die begonnene Veränderung denkbarer Weise durch zwei
Ursachen gestört werden, 1) dadurch, dass die Abstammungslinien,
deren Anpassung unter bestimmten Einflüssen angefangen hat,
durch die Verbreitung der Keime unter andere, eine verschieden-
artige Anpassung bedingende, Einflüsse kommen , 2) dadurch, dass
die Individuen jener verschiedenen Abstammungslinien sich mit
einander kreuzen.
Um die erste Frage zu erörtern, nehmen wir am zw^eckmässigsten
an, dass die Organismen sich auf ungeschlechtlichem Wege fort-
Y. Varietät, Rasse, Ernährungsmodiflcation. 251
pfiaiizeii, um dadurch die Complication der Kreuzung zu climiniren.
Wechselt nun eine AbstammungsHnie ein- oder mehrmals ihren
Aufenthalt, so dass bald die einen bald die anderen Einflüsse auf
sie einwirken, so kann das Ergebniss sehr ungleich ausfallen , je
nach dem gegenseitigen Verhalten der verschiedenen Anlagen, die
den einen und den anderen Einflüssen entsprechen. Wir können
in dieser Beziehung folgende vier Fälle unterscheiden. *
1. Der einfachste Fall ist, dass die verschiedenartigen Einflüsse
Anpassungsanlagen (P, Q, R . . .) hervorbringen, welche unabhängig
von einander sind, sich neben einander bilden und deren Entfaltungs-
merkmale ebenfalls neben einander bestehen können. Der Erfolg
wird nun von der Länge der Zeit abhängen, während welcher jede
Abstammungslinie die einen und die anderen Einflüsse erfahren hat.
Es grenzen beis2)ielsweise zwei Standorte an einander, von denen
der eine die Anpassungsanlage P, der andere die Anlage Q bewirkt ;
die Uebersiedelung von einem Standort auf den andern findet häufig
statt. Auf den beiden Standorten kommen somit dm^ch einander
Individuen vor, in denen die beiden Anlagen P und Q ungleich
weit entwickelt sind, deren Stärke selbstverständlich im umgekehrten
Verhältniss zu einander steht. Geht die Entfaltung der Merkmale
Hand in Hand mit der Entstehung der Anlagen, so finden sich auf
jedem Standort alle möglichen Abstufungen der Ijeiden ISIerkmale.
Müssen aber die Anlagen eine gewisse Stärke erlangen, ehe sie ent-
raltungsfähig werden, so wird es ein Stadium geben, in welchem die
einen Individuen bloss die Anlage P, die anderen bloss che Anlage
Q zur Entfaltung bringen , indess in einer dritten Partie von In-
dividuen sowohl P als Q noch nicht entfaltungsfähig sind. Dem
entsjDrechend beherbergt jeder Standort drei dem äusseren Ansehen
nach verschiedene Formen, von denen die eine die ursi^rüngliche,
unveränderte Form darstellt, die beiden andern je ein neues Merk-
mal aufweisen. Hören die abändernden Einflüsse in diesem Stadium
auf, indem z. B. eine neue Wanderung eintritt, so können die drei
Formen für alle Zeiten verschieden bleiben.
2. Die äusseren Ursachen, welche auf zwei neben einander be-
findlichen Standorten thätig sind, bemrken zwei vicarirende Anlagen
P und Fl , die sich zu einander verhalten wie die nämlichen Grössen
mit positivem und negativem Vorzeichen. Dies ist beispielsweise dann
der Fall, wenn die eine Ursache auf die Vergrösserung, die andere
252 ^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification.
auf die Verkleinerung eines Organs hin arbeitet, wenn die eine Ur-
sache die Zahl der Zellen und der Organe vermehrt, die andere sie
beschränkt, wenn die eine Ursache eine Eigenschaft hervorruft, die
andere sie austilgt. Ist dies der Fall, so wird bei der Uebersiedelung
von dem einen Standort auf den andern die bisherige Anpassungs-
veränderung wieder rückgängig gemacht, und die beide Standorte
bewohnende Sippe bleibt um so gleichförmiger. Je öfter ein solcher
Wechsel eintritt,
3. Die zwei vicarirenden Anlagen P und Q, welche durch die
äusseren Ursachen bedingt werden, sind zwei divergirende Be-
wegungen, die aber nicht diametral auseinandergehen und sich nicht
gegenseitig aufheben, sondern nach einer Seite gewendet sind und
daher eine Vereinigung in eine resultirende FQ zulassen. Es ver-
einigen sich also die beiden Anlagen zu einer gemeinschaftlichen
Anlage, welche, wenn die Ursachen wieder auf zwei benachbarten
Standorten getrennt sind, um so mehr von P oder um so mehr von
Q enthält, je nach der Länge der Zeit, während welcher eine Ab-
stammungslinie auf jedem der beiden Standorte gelebt hat. Viele
Bastarde geben uns ein Bild von der Vereinigung der Merkmale,
wie sie in der freien Natur ohne Kreuzung durch den Einfluss ver-
schiedenartiger Ursachen zu Stande kommen kann. So gibt es auch
Pflanzenbastarde zwischen Varietäten und Arten, die den natürhch
und selbständig entstandenen Zwischenformen sehr ähnlich sind.
Wenn in den unter 2. und 3. aufgeführten Fällen die Ent-
faltung der Anlagen gleichen Schritt hält mit der Entstehung der-
selben, so finden sich einige Zeit, nachdem die einförmige Sippe
auf die beiden Standorte gekommen ist, auf jedem derselben eine
Reihe von Formen beisammen, die sich zwischen zwei Extremen
abstufen. Muss aber die Anlage, um entfaltungsfähig zu werden,
eine gewisse Stärke der Ausbildung erlangt haben, so stellt sich
einige Zeit nach der Einwanderung neben der ursprünglichen un-
veränderten Form eine zweite abgeänderte ein.
4. Von den vicarirenden Merkmalen kann nur eines sich ent-
falten, während ihre Anlagen P, Q, li im Idioplasma entweder un-
gehemmt neben einander sich entwickeln oder aber sich gegenseitig
mehr oder weniger beschränken, so dass, wenn die eine vorhanden
ist, sie die Bildung der anderen verzögert oder verhindert. Der un-
günstige Einfluss einer vorhandenen Anlage auf die entstehenden
V. Varietät, Rasse, Ernähriingsmodification. 253
vicarirenden Anlagen tritt leicht in den so häufigen Fällen ein, in
denen diese Anlagen die verschiedenen Reactionen auf den näm-
lichen äusseren Reiz darstellen. Hat nun eine Ahstamnuniüslinie
unter hestimniten Umständen die Anpassungsänderung P hegonnen
und gelangt sie unter A^erhältnisse, welche der Anpassung Q gün-
stiger sind, so fährt möglicher Weise die Anlage P dennoch fort zu
wachsen, statt durch Q verdrängt zu werden. Das Nämhche kann
mit der Anlage Q geschehen, deren Träger unter Verhältnisse
kommen, welche die Anj^assung P veranlassen. So bilden sich da
und dort neben einander zwei Formen aus, von denen die eine die
Anlage P, die andere die Anlage Q zur Entfaltung bringt.
Um den Vorgang dem Verständnisse noch näher zu bringen,
will ich ein specielles Beispiel wählen. Es komme eine einförmige
Pflanzensippe durch Wanderung in ein wärmeres oder kälteres Klima.
Die ungewöhnliche Temperatur wirkt als Reiz und bringt je nach
den begünstigenden Factoren (Feuchtigkeit oder Trockenheit des
Bodens und der Luft, Beleuchtung oder Beschattung, ungleiche Nah-
rung, ungleiche vegetabilische Umgebung) verschiedene AnjDassungen
P, Q, II hervor. Hat die Anlage P auf einem trockenen, sonnigen,
mageren, kalkreichen, mit kurzem Rasen bedeckten Standort be-
gonnen, so setzt sie auf anderen Standorten, welche feuchter oder
schattiger oder reicher an Nährstoffen oder kalkarm oder mit grossen
Stauden besetzt sind, ihre Ausbildung gleichwohl ungestört fort. Die
anderen Anpassungsanlagen Q und R verhalten sich ihrerseits ebenso ;
sie fangen auf bestimmten Standorten an und entwickeln sich nach-
her auf anderen Standorten weiter, da der Reiz, den die Temperatur
ausübt, überall der nämliche ist. Es können also die verschiedenen,
diesem Reiz entsprechenden Anpassungsformen in Gesellschaft neben-
einander auf verschiedenen Standorten sich ausbilden.
Dass der "^^organg in der geschilderten Art eintrete, müssen
drei Bedingungen erfüllt sein: es müssen die vicarirenden Anlagen
einander in ihrer Ausbildung in hinreichendem Maasse beschränken ;
es muss ferner die eine Anlage in hinreichend bestimmtem Grade
angefangen haben; es müssen endlich, gegenüber der als Reiz vnr-
kenden allgemeinen Ursache, die übrigen äusseren Einflüsse nicht
so stark auf das Idioplasma einwirken, dass sie die Verdrängung
der bereits vorhandenen Anlage und Entstehung einer neuen ver-
ursachen. Was das Verhalten der idioplasmatischen Anlagen \aca-
254 V. Varietät, Rasse, Ernäliningsmodificatlon.
rirender Merkmale zu einander betrifft, so kommt es in manchen
Fällen möglicher Weise bloss auf den ersten Anstoss an; derselbe
entscheidet dann, indem er bestimmte Spannungen im Idioplasma
auslöst, ob die Reaction auf den Reiz fortan in der einen oder
anderen Weise erfolge. Die Anpassung kann in diesem extremen
Fall auch unter veränderten äusseren Umständen, vorausgesetzt dass
der massgebende Reiz in der nämlichen Weise fortwirkt, nicht mehr
umgewandelt w^erden.
Es ist kaum nöthig die Erscheinungen zu besj)rechen, welche
in dem entgegengesetzten Extrem eintreten, wenn nämlich die vica-
rirenden Anlagen ungehindert neben einander im Idioplasma ent-
stehen und bestehen können. Wechseln in diesem Falle die Ab-
stammungslinien die Standorte, so steht die AVeiterbildung der übrigen
Anpassungsanlagen still, und es bildet sich nur die dem jeweiligen
Standort entsprechende Anlage aus. Es kann also eine Anlage bloss
auf ihrem Standorte entfaltungsfähig werden. Ist sie einmal in
diesen Zustand gelangt, so entfaltet sie sich fortan ebenfalls, w^enn
die Abstammungslinie auf andere Standorte übersiedelt. Es kommen
daher auch in diesem Falle auf den verschiedenen Standorten die
verschiedenen Anpassungsformen (P, Q, li) und vielleicht die ur-
sprüngliche noch unveränderte Form gesellschaftlich vor, obgleich
man hier nicht von einem gesellschaftlichen Entstehen sprechen kann.
Ich habe bis jetzt die Ergebnisse betrachtet, w^elche eintreten
müssen, wenn verschiedene äussere Einflüsse auf die Anpassung
von gesellschaftlich beisammen lebenden Individuen einer Sippe
einwirken, insofern dieselben auf ungeschlechtlichem Wege sich fort-
pflanzen. Der Mangel einer geschlechtlichen Fortpflanzung kommt
aber normal nur den niedrigsten Pflanzen zu ; die höheren Gewächse
entbehren derselben höchstens ausnahmsweise und als abnormale
Erscheinung. Die gesellschaftlich lebenden Pflanzen können sich,
da sie Geschlechtsorgane besitzen, gegenseitig befruchten ; es sind
daher die gewonnenen Ergebnisse nicht ohne weiteres als die in
Wirklichkeit vorhandenen in Anspruch zu nehmen, sondern es muss
erst noch untersucht werden, ob und wiefern dieselben durch die
Krcuzvmg modificirt werden.
Wir können uns die Wirkung der Kreuzung auf die Varietäten-
bildung am besten klar machen, wenn wir die möglichen Fälle, die
ich unter Nr. 1 — 4 unterschieden habe, der Reihe nach getrennt
V. Varietät, Rasse, Ernährnngsmodification. 255
betrachten. Sind die entstehenden Anlagen unabhängig von einander
und können ihre Entfaltungsmerkmale neben einander bestehen, wie
es unter Nr. 1 (S. 251) angenommen wurde, so hat die Kreuzung der
Abstammungslinien, in denen eine ungleiche Anpassung begonnen
hat, im allgemeinen keinen anderen Erfolg, als ein Wechsel der
Standorte. Sie vereinigt die verschiedenen Anlagen und Merkmale,
wobei als Grundsatz festzuhalten ist, dass der Erbtheil der beiden
Eltern sich ziemlich die Wage hält und dass Vater und Mutter ihrem
Wesen nach, d. h. mit ihren idioplasmatischen Anlagen je zur
Hälfte in dem Kinde enthalten sind. Wir können uns von dem
einzelnen Kreuzungsfall eine bestimmte Vorstellung machen, wenn
wir die begonnenen Anlagen je nach der Stärke, die sie erlangt
haben, durch numerische Werthe bezeichnen, und durch 1 diejenige
Stärke ausdrücken, w^odurch die Anlage eben entfaltungsfähig ge-
worden ist. Folgendes BeisiDiel mag das Verhalten von 4 jungen
Anlagen P, Q, li, S bei der Kreuzung deutlich machen.
P
Q
B
S
Vater . .
, . 0,5
2,0
1,2
0,3
Mutter . .
, 1,8
0,4
0,6
1,2
Kind . . . 1,15 1,2 0,9 0,75
Im Vater waren che Anlagen Q und -R, in der Mutter die An-
lagen P und S in den ersten Entfaltungszuständen sichtbar geworden ;
P und S waren im Vater, Q und P in der Mutter noch latent. Die
A^ermischung des väterlichen und mütterlichen Idioplasmas hat zur
Folge, dass in dem Kinde ein Merkmal des Vaters (P) und eines der
Mutter [S] wieder latent geworden sind. Solche Schwankungen werden
durch die Kreuzung nothwendig im Entwicklungsgang der einzelnen
Abstammungshnien hervorgebracht; dadurch wird aber die Bildung
der Varietäten im grossen und ganzen nicht erheblich beeinträchtigt.
Wenn zwei vicarirende Anlagen eine Vereinigung gestatten, wie
dies unter Nr. 2 und 3 (S. 251, 252) der Fall ist, so hat die Kreuzung
zweier ungleich abgeänderter Abstammungshnien genau das gleiche
Ergebniss, wie wenn die beiden Abstammungslinien während einer
hinreichenden Zeitdauer auf den vertauschten Standorten lebten.
Der wichtigste und wohl auch am häufigsten vorkommende
Fall ist der, dass die vicarirenden Merkmale sich gegenseitig aus-
schhessen, da eine Vereinigung derselben unzulässig ist, wobei ihre
Anlagen meistens in ihrer Bildung sich gegenseitig mehr oder weniger
256 . ^^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodiflcation.
beeinträchtigen (Nr. 4 , S. 252). Tritt geschlechtliche Vermischung
zwischen Abstammungslinien ein, welche ungleiche Anpassungs-
anlagen zu bilden angefangen haben, so wird je nach dem Grade
der Unduldsamkeit entweder der schwächere Anfang aus dem Idio-
plasma des Keimes ganz ausgeschlossen , oder er wird zwar darin
aufgenommen, aber in eine untergeordnete Stellung verwiesen, während
der stärkere Anfang begünstigt ist und sich in der Folge unter der
fortdauernden Einwirkung der allgemeinen Anpassungsursache auch
unter verschiedenen anderweitigen Einflüssen allein oder vorzugs-
weise entwickelt. Sind aber die ungleichartigen Anpassungsanfänge
in den beiden Eltern von gleicher Stärke, dann muss sich bei der
Keimbildung entscheiden, welcher von den beiden Anfängen die
bevorzugte Stellung im Idioplasma einzunehmen hat, gerade so wie
in jenem Zeitpunkt auch die Entscheidung getroffen wird, ob das
männliche oder das weibliche Geschlecht der Eltern in dem Keime
Platz greifen soll. In dem extremen Fall, welcher darin besteht,
dass die beiden verschiedenartigen Anpassungsanfänge der Eltern
als gleichwerthige Bestandtheile in das Idioj)lasma des Kreuzungs-
productes aufgenommen werden, entwickelt sich der eine oder andere
je nach den anderweitigen äusseren Einflüssen weiter.
Von diesen verschiedenen Vorgängen können wir uns eine Vor-
stellung machen, wenn wir in zahlreichen Bastarden von natürlichen
Varietäten und von Arten die einzelnen Merkmale genau mit denen
der Eltern vergleiclien. In diesem Falle liegt zwar die Sache etwas
anders als bei entstehenden Varietäten, da das elterliche Idioplasma
fertige Anlagen enthält, die mit grösserer Zähigkeit ihr Recht, in
das kindliche Idioplasma aufgenommen zu werden, behaupten. Gleich-
wohl sehen wir oft das eine oder andere schwächere Merkmal, das
nur dem einen von den Eltern zukommt, ganz versch^^^nden, während
die stärkeren Merkmale zu unnatürlichen und für die Dauer unhalt-
baren Vereinigungen zusammentreten.
Es unterliegt also keinem Zweifel, dass zwei oder mehrere Varie-
täten, deren unterscheidende Merkmale nicht nebeneinander sich zu
entfalten vermögen, gesellschaftlich entstehen können, und dass die
allfällige Kreuzung der verschiedenartigen Abstammungslinien keines-
wegs ein Hinderniss ihrer strengen Scheidung abgibt. Im un-
günstigsten Falle enthalten die Individuen der einen Varietät die
Anlagen der anderen Varietät im nicht entfaltungsfähigen Zustande.
V. Varietät, Rasse, Ernahrungsinoditic'ation. 25'7
In vielen Fällen aber sind diese Anlagen verkümmert oder mangeln
auch gänzlich.
Dieses Resultat, das schon aus dem gegenseitigen Verhalten der
Anlagen allein sich ergibt, wird durch zwei Umstände sehr merklich
gefördert. Einmal treten wegen der räumlichen Vertheilung der
Individuen die Kreuzungen zwischen den in ungleicher Weise ab-
ändernden Abstammungslinien besonders im Anfange seltener ein.
Die ungleichen Anpassungen werden ja im allgemeinen stets unter
verschiedenartigen äusseren Einflüssen beginnen, also wenigstens
ursprünglich räumlich getrennt sein; diese räumliche Trennung
wird jedoch durch die Verbreitung der Samen und durch die Ver-
breitung des die Kreuzung bewirkenden Blüthenstaubes bald gestört
und dann immer mehr verwischt. Die in gleicher Weise abändernden
Individuen sind also ursprünglich beisammen, und die Inzucht
zwischen ihnen ist gegenüber der Kreuzung mit einer unter anderen
Verhältnissen beginnenden Varietät ausserordentlich begünstigt. Es
ist somit wenigstens ein bestimmter Anfang der Anpassungsverän-
derung gesichert.
Sowie nun die Veränderung des Idioplasmas in eine bestimmte
Bahn eingelenkt hat, so tritt ein neues wichtiges Moment hiezu,
welches das Verlassen dieser Bahn verhindern hilft. Die Individuen
sind nunmehr ihrer Natur nach zur Begattung mit solchen Individuen,
in denen eine andersartige Veränderung des Idioplasmas begonnen
hat, weniger geneigt, und es erfolgt, auch wenn durch die Ver-
breitung der Samen eine räumliche Vereinigung der verschieden-
artig abändernden Abstammungslinien eingetreten ist, die Kreuzung
zwischen denselben viel spärlicher als die Befruchtung durch Inzucht.
Wir dürfen dies mit Sicherheit aus der so vielfach bestätigten That-
sache schliessen, dass nächst verwandte Varietäten, deren verschiedene
Merkmale eine Vereinigung in einem Bastard wohl zulassen würden,
in der Natur gesellschaftlich auf den nämlichen Standorten ohne
alle Kreuzungsproducte oder nur mit spärlichen Zwischenformen vor-
kommen. Diese Thatsache Ijeweist, dass den (natürlichen) V'arietäten
schon in Folge geringster ^^erschiedenheit in der Constitution des
Idioplasmas eine Abneigung vor geschlechtlicher Vereinigung ein-
wohnen kann. Ich werde dies in dem folgenden Abschnitt bei der
Beurtheilung der von Darwin gezogenen Schlussfolgerung von der
Rassenbildung auf die Varietätenbildung weiter ausführen.
V, Nägeli, Abstammungslehre. 17
258 V. Varietät, Rasse, Ernäkrungsmodification.
Ich habe in den vorstehenden Betrachtungen bezüglich der
Varietätenbildung bloss die Entstehung der hervorragenden An-
passungsmerkmale berücksichtigt, weil darin jedenfalls der ent-
scheidende Anstoss enthalten ist. Die Veränderung beschränkt sich
freilich nicht hierauf, sondern gibt sich noch in einer Zahl A^on
Erscheinungen kund, die aber als die Folgen jener Anj^assung zu
betrachten sind. Die Einfügung einer neuen idioplasmatischen
Anlage , welche dem Anpassungsmerkmale entsj^richt , veranlasst
selbstverständlich verschiedene grössere und geringere Umbildungen
in der Configuration des Idioplasmas, führt Modificationen anderer
Merkmale herbei und kann schliesslich den ganzen Habitus umge-
stalten. Es sind dies nach meiner Ansicht secundäre Erscheinungen,
und dieVarietätenbildung wird ursächlich nur durch die eigentlichen
Anpassungsmerkmale bestimmt.
Ziehen wir die Summe, so ergibt sich, dass in vielen Fällen,
wenn nämlich die Anpassungsmerkmale sich ausschliessen , die
Entstehung mehrerer Varietäten und die divergirende Ausbildung
derselben unter den gesellschaftlich beisammen lebenden Individuen
einer Sij^pe durch die Kreuzung weder verhindert noch überhaupt
gestört und auch durch hybride Zwischenformen nicht maskirt
wird. Die beginnenden und sich entwickelnden Varietäten machen
die Sippe zwar mehrförmig, sie selber aber sind einförmig. Mit
diesem theoretischen Ergebniss stimmen die Erfahrungsthatsachen
über das gemeinsame Vorkonnnen nächst verwandter Varietäten
vollkommen überein.
In andern Fällen, wenn nämlich die Anpassungsmerkmale sich
nicht beeinträchtigen, ist zwar das gesellschaftliche Entstehen zweier
oder mehrerer Varietäten aus einer einförmigen Sipj)e keine Unmög-
lichkeit; sie wird aber meistens durch die Kreuzung verhindert.
Solche Varietäten haben gewöhnlich einen räumlich getrennten
Ursprung; wobei sie vor der Kreuzung gesichert sind. Kommen
sie nachträglich durch Verbreitung der Samen zusammen, so ent-
stehen durch Kreuzung Bastardformen, welche je nach Umständen
eine vollständige Uebergangsreihe oder nur vereinzelte Zwischen-
glieder darstellen, aber, weil sie in viel zu geringer Zahl vorhanden
sind, das gesellschaftliche Fortbestehen der Varietäten und ihre
weitere Ausbildung nicht mehr zu verhindern vermögen. — Die
genannten Kreuzungsproducte geben den Varietäten den Anschein
V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. 259
der erblichen Yielf örmigkeit , denn die einzelnen Formen bleiben
bei Reinzucht erhalten. Es ist aber eigentlich nur die Rassen-
vielf örmigkeit , welche sich zwischen die einförmigen Varietäten
hineinlagert.
Die durch Kreuzung von Varietäten (oder Arten) entstehenden
Bastarde sind für die Varietäten- und Artbildung beinahe ohne
Bedeutung, indem sie nichts Neues und Selbständiges hervorbringen
und auch die fernere Entwicklung der SipjDcn kaum modificiren.
Dagegen ist ihr Vorhandensein für die Beurtheilung der Sijjpen von
grossem Werth, indem es einen nahen Verwandtschaftsgrad und
somit einen nicht allzufernen gemeinsamen Ursprung derselben
anzeigt.
Die Varietät wird nur durch die erblichen Eigenschaften be-
stimmt; dies gilt auch von der Rasse, und wenn ich bis jetzt von
Rasse gesprochen habe, so setzte ich bloss erbliche Merkmale als
zum Begriff derselben gehörig voraus; nur in dieser Beschränkung
hat der Begriff eine wissenschafthche Bedeutung. Dies bleibt oft
unbeachtet, und besonders die Praktiker nehmen als Rassenmerk-
male auch Ernährungsmodificationen in Anspruch. Deswegen konnte
mir auch, als ich vor Jahren die Behauj^tung ausgesprochen, die
Ernährung verändere weder A^arietäten noch Rassen, erwiedert
werden, dass dies der Erfahrung widerspreche, nach welcher viele
Rassen bloss bei einer bestimmten Ernährung constant bleiben.
Der Einwurf war ja vollkommen richtig, wenn man dem Begriff
eine unwissenschaftliche Ausdehnung gab. Artet die Rasse einer
Pflanze, welcher bestimmte Düngung und Cultur, die Rasse eines
Thieres, welchem Ijestimmtes Futter und Pflege entzogen werden,
aus, indem sie gewisse Ernährungsmerkmale verhert, so liegt darin
gerade der Beweis, dass man es nicht mit einer Rasse im strengen
Sinne zu thun hat, dass ihre Eigenschaften, soweit dieselben aus-
arten, nicht erblicli sind. Es mag nun für den Praktiker bequem
und nützlich sein, mit dem Ausdruck Rasse auch die veränderlichen
Ernährungsmodificationen zu bezeichnen, und dies um so mehr, als
den letzteren, wenn sie in der Cultur entstehen, häufig etwas Be-
ständiges und Erbliches beigemengt ist. Aber auf wissenschaftliche
Erörterungen darf dieser Missbrauch keinen Einfluss gewinnen. Unter
Rassenmerkmalen dürfen nur solche verstanden werden, welche unter
17*
260 ^^- Varietät, Rasse, Ernührungsmodification.
yerschiedenen äusseren Verhältnissen sich eine Zeit lang vererben;
von ihnen muss man sorgfältig alle nicht vererblichen Eigenschaften
ausscheiden.
Die Individuen , die einer Rasse angehören , haben selbst-
verständlich immer auch Modificationsmerkmale an sich, da sie sich
in einem bestimmten Ernährungszustand befinden müssen, — und
die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die letzteren von den erblichen
Eigenschaften zu unterscheiden. Im allgemeinen lassen sich die
Merkmale zum voraus ziemlich scharf trennen. In den Formen,
die durch Bastardirung entstanden sind, gehören die von den Eltern
überkommenen hybriden Merkmale, in den Formen, die aus krank-
haften Veränderungen hervorgegangen, diese krankhaften Merkmale
der Rasse an. Was dagegen die sog. Pfropfbastarde betrifft, so
lässt sich nach den meist wenig kritischen und wenig zuverlässigen
Angaben nichts allgemein Gültiges aussagen. Es ist sicher, dass
in der Mehrzahl der Fälle die Unterlage des Pfropfreises demselben
nur Nahrung zuführt, und dass somit, wenn eine geringe Ver-
änderung der Sorte eintritt, diese als vorübergehende Ernährungs-
modification und nicht als erbliche Rasseneigenschaft zu betrachten
ist; denn das Pfropfen dient ja gerade zur Conservirung der Rasse.
In gewissen Fällen jedoch (Cytisus Adami, Pfropf hybriden von Kar-
toffeln) scheint das Pfropfreis und zwar unmittelbar durch das
Pfropfen eine erbliche Veränderung zu erfahren, während es später-
hin, für den Fall, dass die ^'^ereinigung j^erennirend ist, nur indiffe-
rente Nahrung aus der Unterlage bezieht.
Im concreten Fall ist es oft nicht leicht, die Ernährungsmerk-
male und die eigentlichen Rassenmerkmale genau von einander zu
unterscheiden, weil die letzteren zwar erbhch, aber doch, ihrem
Ursprung entsprechend, von geringer Constanz sind. Man muss
sich daher wohl hüten, aus unvollständigen Beobachtungen voreilige
Schlüsse zu ziehen. Wenn man eine sog. Rasse von ihrem Ursprünge
aus verfolgen, wenn man sie längere Zeit beobachten und mit ihr
experimentiren kann, so mag es gelingen, die einzelnen Erscheinungen,
welche an ihr bemerklDar sind, auf die ursächlichen Momente zurück-
zuführen. Ist aber das Erfahrungsmaterial für einen Schluss unzu-
reichend, so läuft man immer Gefahr, Irrthümer zu begehen.
Um den Einfluss des Klimas auf die Pflanzen darzuthun, führt
Darwin Beobachtungen von Metzger (Getreidearten S, 206) an einer
Y. Varietät, Rasse, Ernährungsmodiflcation. 201
amerikanischen Maissorte an, welche in Heidelberg im ersten Jahr
eine Höhe von 12 Fuss erreichte, in den folgenden Jahren kleiner
wurde und zugleich Gestalt und Farbe der Samen veränderte, und
in der sechsten Generation vollständig einer europäischen Varietät
glich. An zwei anderen ^Nlaissorten wurden geringere Umwandlungen
beobachtet. »Diese Thatsachen,« lautet die Folgerung Darwin's,
»bieten das merkwürdigste mir bekannte Beisj)iel der directen und
sofortigen Einwirkung des Klimas auf eine Pflanze dar.«
Nach meiner Ansicht sind die in diesem Falle überlieferten
Thatsachen viel zu unvollständig, um überhaupt zu einem Schluss
auf die Ursachen zu berechtigen. Unbekannt ist der Ursprung
und die Vorgeschichte der betreffenden amerikanischen Maissorten, —
unbekannt die Verschiedenheit der klimatischen Einflüsse ihres
Vaterlandes und deren Heidelbergs, — unbekannt, ob an der in
Heidelberg erfolgenden Umwandlung Kreuzung mitgewirkt habe oder
nicht. Es liegt also der Antheil der Ernährungs- und klimatischen
Einflüsse gegenüber den Ursachen, welche erbliche oder eigentliche
Rassenmerkmale erzeugen, umändern und vernichten, gänzlich im
Dunkeln. Es wäre ja möglich, dass die fraglichen Sorten in Amerika
unter Umständen eine gleiche Umwandlung erfahren. Damit soll
natürlich nicht ausgesprochen werden, dass die Folgerung Darwin's
an und für sich unmöglich sei ; aber sie ist nur eine der verschiedenen
Möglichkeiten, und somit keineswegs bewiesen.
Dass der Nichtbotaniker oder auch der Botaniker, der bis dahin
die Wirkung der Ernährungs- und klimatischen Einflüsse nicht
studirt hat, gerade auf diejenige Möglichkeit verfällt, die der her-
kömmlichen Meinung entspricht, ist ja sehr begreiflich. Nimmt
man aber bei der Beurtheilung der Metzger'schen Beobachtungen
auch die kritisch gesichtete Erfahrung über die genannten Einflüsse
zu Hilfe, so wird jene Folgerung im höchsten Grade unwahrscheinlich.
Dieses Beispiel gibt zu zwei allgemeinen Bemerkungen Veran-
lassung, von denen die eine das Ergebniss, und die andere die Methode,
mittels der es gewonnen wurde, betrifft. Bezüglich des Ergebnisses
verdient die Aeusserung Darwin's, dass die Umwandlung der Mais-
sorten das merkwürdigste ihm bekannte Beispiel von der directen
und sofortigen Einwirkung des Klimas auf eine Pflanze darbiete,
eine besondere Beachtung. Wenn ein Mann von der reichen Er-
fahrung, von der ausserordentlichen Findigkeit und dem grossen
262 V. Varietät, Rasse, Ernährungsraodification.
Scharfsinn im Combiniren der Thatsachen, wie Darwin sie besitzt,
zugesteht, dass er mit der Beobachtung Metzger's den besten Beweis
für die Ursächhchkeit des Khmas bei den Umwandhnigen der
Pflanzensippen beigebracht habe, so muss es gewiss sehr sclihmm
stehen vmi die inductiven Beweise für diese Ursächhchkeit. Aller-
dings spricht Darwin nur von einer »directen und sofortigen Ein-
wirkung« ; wenn aber diese sich nicht darthun lässt, wie lassen sich
indirecte und langwierige Einwirkungen nachweisen?
Rücksichtlich der Methode ist zu beachten, dass der Bericht
Metzger's, wie ich bereits bemerkte, ein mageres Bruchstück aus
der Geschichte der betreffenden Maissorten ist, aus welchem sich
mit Sicherheit bloss schliessen lässt, dass die Maissorten leicht aus-
arten, aber nichts über die Ursachen dieses Vorganges. In der
Leichtigkeit des Ausartens kommen aber Adele Sorten von Cultur-
pflanzen dem Mais gleich. Warum wird nun nicht, zur Ermittelung
der Ursachen, das Ausarten einer Sorte benützt, die der eigenen
Beobachtung zugänglich ist, über deren Geschichte sich mancherlei
ermitteln lässt, die stetsfort unter verschiedenen Ernährungs- und
klimatischen Einflüssen cultivirt wird, und die der allgemeinen
Controlle unterstellt werden kann? Ich glaube, es geschieht des-
wegen, weil gerade solche Beispiele immer die vorgefasste Meinung
täuschen, und weil dieselben in der Fülle der Thatsachen zeigen,
dass man mit einer einfachen Formel nicht auskommt, sondern dass
bei den beobachteten Umwandlungen mehrere und verschiedenartige
Ursachen zusammenwirken, die sich nur auf dem mühsamen Wege
exacter Forschung trennen und erkennen lassen.
Damit bin ich auf einen der wunden Punkte gekommen, an
denen die Methode der heutigen Abstammungslehre überhaupt leidet.
Man geht nicht immer auf streng inductivem Wege von den einzelnen
sicher gestellten Thatsachen aus, sondern man baut sich mehr nach
einem allgemeinen und oberflächlichen Ucberblick Theorien auf, für
welche man dann die bestätigenden Thatsachen zusammensucht.
Und da man — es gilt dies besonders von den natürlichen Varietäten
und Arten — die gewünschte Bestätigung nicht in den zahllosen
unzweifelhaften, jeder Beobachtung zugänglichen Vorkommnissen
unserer nächsten Umgebung findet, so sucht man sie in den mangel-
haften und fragmentarischen Berichten, die von früheren Beobachtern
oder von Reisenden in fremden Ländern herstammen, und mit
V. Vatietät, Rasse, Ernährungsmodification. 263
Vorliebe auch in den mangelhaften und fragmentarischen paläonto-
logischen Funden, mit einem Wort in Ueberlieferungen oder That-
sachen, die verschiedene Deutungen und darunter auch die ge-
wünschte zulassen.
Wie der Rassenbegriff nur dann deutlich und rein hervortritt,
wenn man von ihm die vorübergehenden Merkmale ausscheidet,
welche durch Ernährung und Klima unmittelbar hervorgebracht
werden, so verhält es sich auch mit dem Begriff der Varietät; von
demselben muss alles Nichtvererbbare ausgeschlossen werden. Die
wirklichen Varietätsmerkmale lassen sich nur dann sicher erkennen,
wenn eine natürhche Form unter die verschiedensten äusseren Ver-
hältnisse gebracht wird. Nur die bei einer solchen Behandlung
constant bleibenden Eigenschaften gehören der Varietät an ; alle
sich verändernden Eigenschaften sind als Ernährungs- und Standorts-
Modificationen zu eliminiren.
^' Neben Rassen und Varietäten muss also noch eine Kategorie
von Formen unterschieden werden, die durch nicht erbliche Merk-
male charakterisirt ist, und die ich einstweilen in Ermangelung
eines anderen Wortes mit der bisher bereits gebrauchten Benennung
Modification bezeichnen will. Die Modificationen werden durch
verschiedene äussere Einflüsse, durch Nahrung, Klima, Reize hervor-
gebracht und sind vorzüglich Standorts-, Ernährungs- und krankhafte
Modificationen. Sie bestehen in Erscheinungen, die am Individuum
entstehen und wieder vergehen, oder, wenn sie ihm bis zu seinem
Ende anhaften, doch nicht auf die Kinder übertragen werden.
Kommen sie auch den Kindern zu, so ist dies nicht Folge der
Vererbung, sondern weil sie in ihnen durch die nämlichen Ursachen
wie in den Eltern erzeugt werden.
Ich habe von den Alpen-Hieracien angegeben, dass dieselben
in den Garten der Ebene verpflanzt, die Ebenenmodification an-
nehmen, und wenn man sie von da auf einen mageren Sandboden
bringt, wieder in die zwerghafte Alpenmodification zurückkehren.
Die Hieracien sind krautartige Gewächse, welche aus dem aus-
dauernden kriechenden Wurzelstock jährlich einen im Herbste
absterbenden oberirdischen Trieb bilden. Ein solcher Wurzelstock
stellt ein langlebiges Individuum dar, mit* demselben Rechte wie
jeder Baum, besonders aber vde ein tropischer Feigenbaum mit
seinen Luftwurzeln. Dieses Indi^äduum geht nun beim Verpflanzen
264 V- Varietät, Rasse, Ernährungsinodification.
in eine andere Modification über. IManche Systematiker führen die
zwerghaften einbUithigen oder einküpfigen Alpenformen als besondere
Varietäten auf, wenn sie sich auch von den grösseren verzweigten
mehrblüthigen Formen durch kein weiteres Merkmal unterscheiden.
Bei einer solchen systematischen Behandlung wird der »Varietät« die
allergeringste Constanz zugeschrieben ; denn man kann das nämliche
Individuum, das man jährlich in andere Ernährungsverhältnisse
bringt, Jahr um Jahr in die alpine und wieder in die campestre
»A^'arietät« überführen. Dieses Beispiel zeigt uns, wie wichtig es
ist, die Begriffe Varietät und Modification auseinander zu halten;
denn die auf erbliche Merkmale beschränkte, wirkliche Varietät hat
eine Constanz, deren Dauer nahezu einer Erdperiode gleichkommt.
Die Modification unterscheidet sich also dadurch von der Varietät
und der Rasse, dass sie nicht erblich ist. Sie hat Bestand, so lange
sie sich unter den nämlichen äusseren Einflüssen befindet, weil diese
Einflüsse in jeder Ontogenie wieder die nämlichen Merkmale hervor-
bringen. Es ist dies aber keine Constanz im naturwissenschaftlichen
Sinne; in das Idioplasma wird nichts Erbliches aufgenommen, und
wenn die Sippe unter andere Einflüsse kommt, ist ihr daher von
den Wirkungen der früheren Einflüsse nichts zurückgeblieben. —
Der Ausspruch, dass die Modification nicht erblich, die Rasse dagegen
erblich sei, darf aber nicht so verstanden werden, dass alle Merk-
male, welche bei der Fortpflanzung verloren gehen können, der
Modification angehören. Es kommt ja bei der Fortpflanzung der
Rassen, sei es durch Inzucht, sei es durch Selbstl:)efruchtung, nicht
selten vor, dass Eigenschaften latent und dafür andere Eigenschaften
manifest werden. Der Unterschied besteht darin, dass die Rasse das
verschwindende Merkmal bloss äusserlich verliert, aber als idio-
plasmatische Anlage bewahrt, und dass das Verschwinden und Wieder-
erscheinen ihrer Merkmale nicht mit den äusseren Einflüssen parallel
geht, während die Modificationen die bisherigen Merkmale bloss
dann verlieren, wenn sie unter andere äussere Verhältnisse kommen,
und stets wieder erwerben, sowie sie unter die früheren Verhältnisse
zurückversetzt werden.
Ich will nun auf die merkwürdigen Erscheinungen eintreten,
welche die Ernährungscinflüsse an den niederen Pilzen hervorbringen.
Y. Yarietät, Rasse, Eniährungsmodification. 205
Diese Frage liätte eigentlich schon in dem Al)schnitt über die Ur-
sachen der A^eränderung erörtert werden sohen ; ich habe dies dort
unterlassen, weil die Deutung der Ergebnisse nicht so sehr auf der
flachen Hand liegt wie bei den übrigen Ernährungsresultaten, und
nur nach einer kritischen Yergleichung der Begriffe Varietät, Rasse
und Modification in befriedigender AVeise festgestellt werden kann.
Jene merkwürdigen Erscheinungen, von denen ich nun hier sprechen
will, beruhen darin, dass die Wirkungsweise der niederen Pilze auf
ihre Umgebung — eine Kraftäusserung, die bei anderen Organismen
unbekannt ist — durch Ernährungs- und klimatische Einflüsse ge-
ändert werden kann.
Schon bei anderen Gelegenheiten wm'de von mir darauf auf-
merksam gemacht, dass die Spaltj^ilze, welche die Milch sauer
machen, das Vermögen der Säuerung verlieren, wenn man sie ver-
schiedenen schädlichen Einwirkungen aussetzt, namentlich wenn man
sie mit der IVIilch auf 100 " C. und darülier erhitzt, oder wenn man
sie austrocknet. So wird beispielsweise ]\Iilch, die während einiger
Zeit gekocht wurde, durch die SjDaltpilze, die sie vor dem Kochen
enthielt, nicht mehr sauer, sondern bitter. Das verlorene Vermögen,
Zucker in Milchsäure überzuführen, kann aber den geschwächten
Pilzen nach und nach wieder angezüchtet werden. Je nach dem
Grad der Schwächung und je nach den mehr oder weniger günstigen
Culturverhältnissen bedarf es einer geringeren oder grösseren Zahl
von Generationen, bis die frühere Wirksamkeit einigermaassen her-
gestellt ist.
Aehnlich verhält es sich mit der Wirksamkeit anderer gärungs-
erregender Spaltpilze und auch mit dem den Zucker in Alkohol und
Kohlensäure spaltenden Sprosspilz. Dabei ist zu bemerken, dass die
Verminderung und der Verlust der Gärtüchtigkeit als eine selbst-
ständige und specifische Erscheinung auftritt und nicht etwa mit
einer allgemeinen Schwächung zusammenhängt ; denn die Pilze,
denen das Vermögen, Gärung zu erregen, genommen wurde, haben
oftmals von ihrem Wachsthums- und Fortpflanzungsvermögen nichts
eingebüsst, wiewohl in anderen Fällen durch die nämlichen nach-
theiligen Ursachen die Schwächung gleichzeitig in der einen und
anderen Beziehung erfolgt.
Wie die Gärtüchtigkeit wird auch das Vermögen, als Contagien
und Miasmen Krankheiten zu erzeugen, durch Ernährung und andere
266 V- Varietät, Easse, Ernährungsmodiflcation.
äussere Einflüsse von den Pilzen gewonnen und verloren. Gewöhn-
liche und unschädliche Fäulnissjiilze w^erden in einer Wunde nach
und nach zu äusserst gefährlichen septischen Contagien. — Der so
häufige Fadenpilz Penicillium glaucuni, der besonders auf schimmeln-
dem Brod und auf schimmelnden Käsearten in grosser Menge ohne
den geringsten Nachtheil verzehrt wird, lässt sich, wie Grawitz
gezeigt hat, zu einem tödtlichen Contagium heranzüchten.
Besonders aber sind die Veränderungen an den Heubakterien
von H. B u c h n e r in exactester Weise erforscht. Diese Pilze, die in
unendlicher Menge auf Gras und Heu vorkommen , von dem Vieh
ohne die geringste üble Wirkung mit dem Futter gefressen werden
und auch bei Einimpfungen keine Krankheit hervorbringen, werden
durch 24 stündige Züchtung in frischem Blut bei Brutwärme soweit
umgebildet, dass sie nun, in grösserer Menge einem gesunden Thiere
eingeimpft, Milzbrand erzeugen. Die Heubakterien verwandeln sich
also in dem von dem Thierkörper getrennten Blut in Milzbrand-
bakterien von geringerer Wirksamkeit und gehen nachher in dem
im lebendigen Körper circulirenden Blut in solche von vollkommener
Infectionstüchtigkeit über; denn aus dem kranken Thier vermögen
sie in geringster Menge Milzbrand zu verursachen. Zu bemerken
ist, dass zwischen Stäbchen der einen und anderen Modification
keine wesentlichen Verschiedenheiten wahrgenommen werden, weder
in der Gestalt, noch im Inhalt, noch in der Theilung.
Wie die Heupilze in giftige Milzbrandpilze umgezüchtet werden
können, so lassen sich durch den umgekehrten Process die letzteren
in harmlose Heupilze überführen, wenn sie in Fleischextractlösung
mit reichlichem Luftzutritt und zuletzt in FTouaufguss cultivirt werden.
Die allmähliche Umwandlung gibt sich nicht nur in einigen Er-
scheinungen desWachsthums, sondern namentlich auch in der stetig
abnehmenden Infectionstüchtigkeit kund; denn während anfänglich
die geringsten Mengen von Pilzen zur Ansteckung ausreichen, be-
darf es dazu mit der fortschreitenden Umänderung steigender Mengen
und späterhin vermag auch die grösste Anzahl von Pilzen nicht
mehr Milzbrandkrankheit zu erzeugen.
Bei der Umwandlung auf dem angegebenen Wege hatten die
Milzbrandpilze ungefähr mit der 360. Generation das specifische
Vermögen, ein Thier milzbrandkrank zu machen, verloren und mit
der 1500. Generation nach Verfluss eines halben Jahres waren sie
Y. Varietät, Rasse, Ernährungsmoclification. 267
ZU vollkommenen Heuj^ilzen geworden. Es kann aber den Milz-
brandbakterien die Infectionstüchtigkeit, ohne sie zu tödten, in der
nämlichen Generation genommen, und die vollständige Uebcrführung
in Heubakterien in einer viel geringeren Generationenzahl zu »Stande
gebracht werden, wie auch der umgekehrte Process, die Umbildung
der Heupilze in vollendete Milzbrandpilze jedenfalls nicht mehr als
20 Generationen erfordert.
Beim Uebergang der gewöhnlichen Pilze in Krankheitspilze und
der letzteren in die ersteren, sowie bei allen Veränderungen in
der Wirksamkeit der Pilze sind Ernährungs- und klimatische Ein-
flüsse allein maassgebend, nämlich die verschiedene Mischung der
Nährlösung, der Temperaturgrad und die zutretende Sauer stoffim enge,
— also gerade diejenigen Ursachen, welche bei andern Organismen
die vorübergehenden, nicht erblichen Eigenschaften, die Merkmale
der Modificationen bedingen. Nun haben aber die Eigenschaften,
welche die Heuljakterien und die Milzbrandbakterien unterscheiden,
und ebenso die Eigenthümlichkeiten der Pilze, welche das Sauer-
werden der Milch und das Bitterwerden derselben bewirken, einige
Constanz und sind erblich. Darin beruht scheinbar eine Ver-
schiedenheit dieser Pilzformen gegenüber den anderen Ernährungs-
modificationen. Constanz und Erblichkeit kommt aber den ge-
nannten Pilzformen sicher zu, denn nur mit ihrer Hilfe ist eine
Umwandlung durch eine Reihe von Generationen möglich , indem
in jeder Generation die ererbte Eigenthümlichkeit wieder um einen
kleinen Schritt gesteigert wird. Wären diejenigen Eigenschaften,
welche die specifische Wirksamkeit der Pilze bedingen, nicht erblich,
so müssten sie in einer einzigen Generation erlangt werden. Nun
kann zwar das specifische Vermögen, sei es Gärtüchtigkeit, sei es
Infectionstüchtigkeit, bei Anwendung von energischen Mitteln in
einer einzigen Generation verloren gehen; aber zur Wiederher-
stellung bedarf es immer einer nicht geringen Anzahl von Gene-
rationen.
Während die durch ungleiche Wirksamkeit ausgezeichneten
Pilzformen bezüglich der A'ererbung von den Ernälirungsmodi-
ficationen der übrigen Organismen abzuweichen scheinen, stimmen
sie in einem anderen, ebenfalls die Vererbung betreffenden Punkte
mit denselben überein. Ich habe angegeben, dass die Alpenmodi-
fication einer Pflanze in ihre Ebenenmodification , diese wieder in
268 V. Varietät, Rasse, Ernähningsmodification.
jene übergeführt werden kann und so weiter, ohne dass etwas
Bemerkbares zurückbleibt. Ganz ebenso können die Heubakterien
in ]\Iilzbrandbakterien oder die säurebildenden Spaltj)ilze in nicht
säurebildende, diese wieder in Jene übergeführt werden und so weiter,
ohne dass diese Metamorphosen etwas AVahrnehmbares hinterlassen.
Es unterscheiden sich also die genannten Pilzformen in gleicher
Weise wie die Standortsmodificationen der höheren Pflanzen von
den ^^arietäten und Arten, weil diese sich nicht zurückverwandeln
können. Der Grund dieses verschiedenen "N^erhaltens liegt darin,
dass dem Idioplasma bei der A^arietätenbildung immer etwas Bleibendes,
bei der Erzeugung von Modificationen dagegen nichts Bleibendes
mitgetheilt wird.
Somit erscheint uns die Vererbung bei den Wirkungsmetamor-
j)hosen der Pilze in einem doppelten Lichte, je nachdem wir kürzere
oder längere Abschnitte einer Generationenreihe ins Auge fassen.
Während der Metamorphose vererben sich die Eigenschaften von
Generation zu Generation. Der Pilz hat aber, wenn die Metamor-
phose wieder rückwärts gegangen ist, von der ganzen Umwandlungs-
periode nichts Bleibendes behalten. Die ganze specifische Wirk-
samkeit der Pilze ist ein vorübergehender Zustand, gerade so wie
die Standortsmodificationen der höheren Pflanzen. Die betreffenden
Pilzformen sind daher ebenfalls als Modificationen zu bezeichnen,
allgemein als Wirkungsmodificationen, specieller als Gärungs- und
Ansteckungsmodificationen und ganz sj^eciell als Säuremodification,
Alkoholmodi fication , Milzbrandmodification u. s. w. Sie dürfen
weder als Rassen noch als Varietäten oder gar als Species betrachtet
werden, wie dies ziemlich allgemein von Morj)hologen und Aerzten
geschehen ist.
Die scheinbare Verschiedenheit bezüglich der Vererbung von
Generation zu Generation zwischen den Wirkungsmodificationen der
Pilze und den Ernährungsmodificationen der höheren Pflanzen
erklärt sich bei näherer Betrachtung in vollständig befriedigender
AVeise. Indem wir nämlich die Generationen der niederen Pilze
und der Phanerogamen zusammenhalten, vergleichen vnr ganz ver-
schiedene Dinge und erhalten daher ein widersprechendes Resultat.
Das Ergebniss ist sofort ein anderes, wenn wdr nicht die Genera-
tionen der Pflanzenindividuen, sondern die Zellgenerationen mit
einander vergleichen. Die unschädlichen Heubakterien verwandeln
V. Varietät, Rasse, Ernähruiigsmodification. 269
sich durch wenig mehr als 20 Zellgenerationen ^) in Milzhrand-
bakterien mit höchster Infectionstüchtigkeit. Der Stock der Alj^en-
pfianzen, den wir aus dem Gebirge in die Ebene versetzen, hat in
allen seinen Zellen die Natur der Alpenmodification. Diese Natur
verliert sich zwar schon mit dem ersten Trieb, aber nicht etwa mit
der ersten Zellgeneration, die in der Ebene gebildet wird ; sondern
die Veränderung erfolgt unter dem Einfiuss der neuen klimatischen
und Ernährungseinflüsse durch eine Reihe von Zellgenerationen,
und es ist recht gut möglich, dass dazu eine eben so grosse oder
selbst eine grössere Zahl von Zellgenerationen erforderhch ist als
für die Umwandlung der Heu- in Milzbrandpilze. Wir können
aber dort die Veränderung nicht Schritt für Schritt verfolgen wie
bei den letzteren, sondern wir erkennen bloss das schliessliche
Resultat.
Wir haben also genügenden Grund zu der Annahme, dass die
Bildung der Pilzmodificationen keinem andern Princij:» folgt als
diejenige der übrigeii Ernährungsmodificationen. Die Veränderung
vollzieht sich durch eine Anzahl von Zellgenerationen, indem jede
Generation die mehr und mehr veränderte Substanz auf die folgende
Generation vererbt. Die Verschiedenheit besteht nur darin, dass
bei den Spaltpilzen die einzelnen Zellen oder kleine Zellgruppen
getrennt sind und ein individuelles Dasein führen, indess dieselben
bei den höheren Pflanzen zu einem Gewebe vereinigt bleiben und
Theile eines grossen und langlebigen Individuums darstellen, sodass
an demselben sich nicht nur eine vollständige Metamorphose voll-
ziehen kann, sondern dass selbst, wenn die äusseren Einflüsse
wechselten, mehrere solcher Metamorphosen auf einander folgen
könnten.
Die Vererbung der durch ^^eränderung gewonnenen Eigen-
schaften mangelt, wie aus dem Vorstehenden sich ergibt, den
Modificationen durchaus nicht. Aber sie hat, da der Bestand
') Die Heu- und Milzbrandbakterien sind Stäbchen aus mehreren hinter-
einander hegenden Zellen bestehend. Die Stäbchen vergrössern .sich durch Wachs-
thum und Theilung der Zellen auf ungefähr die doppelte Länge und die doppelte
Zellenzahl, um dann in zwei Stäbchen zu zerfallen. Daraus folgt, dass die Genera-
tionenzahl der Stäl)chen mit der Generationenzahl der Zellen identisch ist, —
was nicht der Fall wäre , wenn die mehrzelligen Stäbchen sich durch einzelne
Zellen fortpflanzten.
270 ^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification.
ihrer Eigenschaften nur unter der Bedingung gesichert ist, dass
die bewirkenden Ursachen fortdauern , eine andere Bedeutung
als die Vererbung bei den Varietäten und den Rassen.
Diese Verschiedenheit in der Beständigkeit der ererbten Merkmale
beruht darin, dass bei der Varietäten- und Rassenbildung das
veränderte Idioplasma vererbt wird, bei der Bildung der Modi-
ficationen dagegen neben dem unveränderten Idioplasma nur ver-
ändertes Ernährungsplasma und andere nichtplasmatische
Substanzen, welche bei der Zellth eilung selbstverständlich von einer
Zellgeneration auf die andere übergehen.
Die Modificationen sind alle so beschaffen, dass für ihre
Entstehung die Annahme einer Veränderung des Idioplasmas weder
erforderlich noch auch nur wahrscheinlich ist. Das letztere regelt
vorzugsweise den Gestaltungsprocess (nisus formativus) in den mi-
cellaren Gebieten des Ernährungsplasmas und der übrigen Sub-
stanzen und damit auch den Gestaltungsprocess in den gröberen,
unseren Sinnen zugänglichen Gebieten. Mit der Veränderung in
der micellaren Beschaffenheit ist natürlich in der Regel auch eine
Veränderung im Chemismus verbunden. Aus der constanten und
erblichen Veränderung im Gestaltungsprocess und im Chemismus
schliessen wir auf die Umbildung des Idioplasmas. — Eine solche
Veränderung findet nun bei der Umwandlung der Alpenmodification
in die Ebenenmodification und umgekehrt nicht statt, sondern nur
eine quantitative Zu- und Abnahme der Zelltheilung und des Zell-
wachsthums, der Organbildung und des Organwachsthums. Dabei
wird ohne Zweifel auch der Zellinhalt verändert, aber, soviel wir
wissen, mn- in den Mengenverhältnissen der vorhandenen plastischen
Stoffe und chemischen Verbindungen, indem die Bildungsprocesse
zu- oder abnehmen, und indem die Zu- und Abnahme in ungleichem
Verhältniss erfolgt. Das Idioj^lasma ist also bei der Umwandlung
der Standortsmodificationen in keiner anderen Weise betheiligt, als
dass in Folge der veränderten äusseren Einflüsse gewisse Anlagen
in demselben häufiger oder energischer erregt werden und daher
auch zahlreicher oder üppiger sich entfalten.
Was die Wirkungsmodificationen der niederen Pilze betrifft, so
können dieselben, da der Gestaltungsprocess unverändert bleibt , aus
einer blossen Veränderung in der Mischung des Ernährungsplasmas
erklärt werden. Die verschiedene Wirksamkeit erscheint uns nur
V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. 271
als etwas Ausserordentliches und Specifisches, so lange ■v\dr sie aus
der Ferne als etwas ^fysteriöses anstaunen. Ziehen w^r den Schleier
von dem Mysterium weg und zergliedern wir die demselben zu
Grunde liegende Erscheinung, so haben wir es mit gewöhnlichen
Ernährungsvorgängen zu thun, wie sie thatsächlich immer von
Individuum zu Individuum wechseln können. Die Gärthätigkeit
der Pilze beruht auf gewissen Bewegungszuständen des Ernährungs-
plasmas, welche auf das Gärmaterial übertragen werden. Die In-
fectionsthätigkeit der Krankheitspilze beruht entweder ebenfalls auf
solchen specifischen Bewegungszuständen, welche die normalen
Bewegungszustände der lebenden Substanz des inficirten Organismus
stören, gleichwie von verschiedenen Gärpilzen der stärkere die
übrigen stört und verdrängt. Oder die Krankheitspilze erweisen
sich in der A^erwandtschaft zu gewissen Nährstoffen als die stärkeren
und entziehen dem Blut und den Gewebezellen Sauerstoff oder
andere unentl)ehrliche Verbindungen. Wahrscheinlich treffen diese
beiden Momente stets zusammen, da sie die Folge der specifischen
physikalisch-chemischen Beschaffenheit des Ernährungsplasmas sind.
Damit wäre nicht ausgeschlossen, dass die Infectionspilze auch
sehr giftige Verbindungen in geringen Mengen erzeugten, welche
ihre nachtheiligen Wirkungen auf den inficirten Organismus unter-
stützten.
Mag nun in Wirklichkeit das eine oder andere Moment allein
vorhanden sein oder mögen sie vereint, auftreten, so lassen sie sich
durch geringe und vorübergehende Veränderungen in der Lebens-
weise der Pilzzellen erklären. Die veränderten Einflüsse in Nahrung:,
Temperatur und Sauerstoffzufuhr bewirken nicht eine Umbildung
des Idioplasmas, sondern nur eine vermehrte Erregung der einen
und eine verminderte Erregung der anderen idioplasmatischen An-
lagen und in Folge dessen eine Zunahme der einen, eine Abnahme
der anderen plastischen und chemischen Processe im Ernährungs-
plasma, also eine andere Mischung des Zelleninhaltes, eine Steigermig
der einen Bewegungszustände und eine stärkere Anziehung auf gewisse
Verbindungen in der Umgebung. Findet Bildung von giftigen Sub-
stanzen in den Krankheitspilzen statt, so mangelt dieselbe ihren
gewöhnlichen und unschädlichen Modificationen nicht gänzlich,
sondern ist in denselben nur auf ein Minimum, vielleicht auch auf
eine latent bleibende Anlage beschränkt, wie die Bildung von
272 ^- Varietät, Rasse, Ernährnngsinodification.
Amygdalin in den bitteren Mandeln nur viel stärker auftritt, als
in den süssen Mandeln.
Die veränderte Wirksamkeit der niederen Pilze entspringt also
aus einer anderen Mischung des Zelleninhaltes , wie dieselbe bei
allen Ernährungsmodificationen auftritt. Wenn diese Mischungs-
änderung bei den höheren Pflanzen sich nicht in einer veränderten
Wirkung kund gibt, wie bei den niederen Pilzen, so rührt dies
einerseits daher, weil die letzteren durch einen besonders lebhaften
Vegetationsprocess sich auszeichnen, indem unter günstigen Um-
ständen ihre Substanz schon in 20 IMinuten sich verdoppeln, in
einer Stunde sich auf das Achtfache vermehren kann. Andererseits
wird die Wirkung der niederen Pilze auf die Umgebung dadurch
gefördert, dass sie in die Zellen oder in die einzelnen Zellreihen
aufgelöst sind und somit mit einer sehr grossen Berührungsfläche
an die umgel:)enden Substanzen angrenzen, während bei den höheren
Organismen die zu einem Gewebe vereinigten Zellen nur einander
selbst berühren und die Oberhautzellen wegen der geringen Thätig-
keit ihres Ernährungsplasmas und wegen ihrer schwer durchdring-
baren Bedeckung (Cuticula) für eine Wirkung nach aussen nicht
befähigt sind.
Die Erörterung des Wesens der Varietäten, Rassen und Modi-
ficationen fülirt uns naturgßmäss auf die Erörterung der Begriffe
Vererbung und Veränderung, welche die Grundlage der Ab-
stammungslehre bilden. Indem ich die Erwägung dieser allgemeinen
Begriffe an den Schluss meiner gesammten Betrachtungen verweise,
weil jene erst das Resultat der letzteren sind, so gehe ich den um-
gekehrten Weg gegenüber dem gewöhnlichen Verfahren. Gewöhnlich
stehen in der Abstammungslehre die Vererbung und die Veränderung
voran, nicht aber als Objecto der Untersuchung, sondern als allge-
meine Gesetze, welche man als gegeben aus den allgemeinen Er-
fahrungen annimmt. Die Gesetze werden weder kritisch gej^rüft
noch in ihrer Gültigkeit fest bestimmt; sondern sie dienen bloss
als Ausgangspunkt für die weitere Behandlung.
So kommt es, dass in den Abstammungslehren der Darwin'schen
Schule Vererbung und Veränderung als gleichwerthig einander
gegenüber gestellt und als conservatives und progressives Princip
V. Varietät, Rasse, ErnährUngsmodificatioü. 273
unterschieden werden. Obgleich dies dem äusserhchen Anscheine
entspricht und sich für die Darstellung einem Laienpublikum gegen-
über als effectvoU erweist, so trifft es doch nicht den Kern der Sache.
Die Vererbung und Veränderung, von denen der Darwinismus aus-
geht, sind Erscheinungen, die bloss den Rassen angehören und bei
der Kreuzung mehr oder weniger ungleicher Individuen bemerkbar
werden. Sie beruhen hier, wie ich bereits gezeigt habe (S. 203), auf
einer irrthümlichen Berurtheilung der thatsächlichen Erscheinungen,
indem ^"ererbung und Veränderung nach den sichtbaren (entfalteten)
Merkmalen geschätzt werden, während in Wirklichkeit bei der digenen
Fortpflanzung alle idioplasmatischen Eigenschaften ohne Ausnahme
und somit auch ohne A^eränderung vererbt werden und alle mög-
licher Weise eintretenden Verschiedenheiten auf der Entfaltungs-
fähigkeit der vererbten Anlagen in der neuen idiojDlasmatischen
Constitution des Keims beruhen.
Das Gesetz der Vererbung ist das Analogon des physikahschen
Gesetzes der Trägheit oder der Beharrung. Wie eine fortschreitende
Bewegung in ihrer Richtung und ihrer Geschwindigkeit beharrt,
so behält auch die durch eine Abstammungslinie verlaufende, ins-
besondere die von den Eltern auf die Kinder übergehende Bewegung
ihre Beschaffenheit bei. Da aber in dieser Beschaffenheit auch eine
nothwendige Umbildung und Weiterbildung aus inneren Ursachen
enthalten ist, so hat die Beharrung in der Abstammung oder die
Vererbung nicht bloss emen erhaltenden sondern zugleich auch einen
fortschrittlichen Charakter.
Was andrerseits die Veränderung betrifft, so ist dieselbe, wie
ich eben sagte, zu einem grossen Theil von der Vererbung untrennbar
und bildet mit derselben einen einheithchen Begriff; die Vererbung
würde revolutionär gegen die Gesetze der Natur, wenn man ihr die
Veränderung nehmen wollte. Ausser dieser mit der Beharrung
identischen Veränderung gibt es in den Organismen noch andere
durch die äusseren Einflüsse bewirkte Veränderungen, von denen
die eine vergängliche, nicht vererbbare Merkmale, die andere dagegen
bleibende Eigenschaften, die als Erbtheil auf die Nachkommen über-
gehen, hervorbringt.
Vererbung als allgemeiner Begriff gefasst ist eigentlich nichts
Anderes als die mit dem Uebergang eines Zustandes in den nächst-
folgenden nothwcndig verljundenen Erscheinungen, und die ganze
V. Xägeli, Abslammungslehre. lg
274 V. Varietät, Rasse, Emälirungsmodification.
ontogenetische und phylogenetische Bewegung besteht aus einer
continuirHchen Reihe solcher Uebergänge. Gewöhnlich bezeichnet
man aber als Vererbung bloss bestimmte Schritte der ganzen Reihe,
nämhch bloss die Uebergänge zwischen getrennten Individuen,
indem man die viel zahlreicheren Uebergänge innerhalb der Ent-
wicklungsgeschichte des nämlichen Individuums vernachlässigt oder
wenigstens nicht als Vererbung ansieht. Es ist aber ebensogut
Vererbung, wenn im Individuimi eine Zelle, die sich theilt, ihre
ganze Eigenthümlichkeit in die beiden neuen Zellen niederlegt, oder
wenn der Pfianzenstock jährlich neue Zweige, Blätter und Blüthen
treibt, oder wenn aus dem Kinde ein Mann und ein Greis wird.
Bei den folgenden Erörterungen will ich indessen, dem allge-
meinen Sprachgebrauche folgend, mich an den engern Begriff der
Vererbung als einer Uebertragung der Eigenschaften zwischen ge-
trennten Individuen halten. In dieser Beziehung fragen wir uns
zuerst: Was wird vererbt? Die Beantwortung dieser Frage fällt
bei den verschiedenen Organismen nicht ganz übereinstimmend aus.
Berücksichtigen wir zuerst die grosse Mehrzahl der Organismen,
die sich auf geschlechtlichem Wege fortpflanzen, die also aus der
Substanz der Eizellen und der Spermatozoide den Anfang der neuen
Generation bilden, so wdrd eigentlich bloss Idioplasma vererbt und
es gehen von den Eltern auf die Kinder nur Eigenschaften über,
welche in dem Idioplasma enthalten sind. Alles, wodurch sich die
Individuen auszeichnen, Gestalt, Bau, Grösse, Farbe, Krankheiten,
Fertigkeiten, überhaupt alle Errungenschaften, welche durch die
innere Begabung mit Hilfe der äusseren Gunst oder Ungunst erlangt
wurden, gehen mit dem Individuum zu Grunde, wenn sie nicht
einen entsj)rechenden Ausdruck in der Beschaffenheit des idioplasma-
tischen Systems gefunden haben.
Für die geschlechtlichen Organismen besteht also die Continuität
von den Eltern auf die Kinder bloss durch das Idioplasma in den
Spermatozoiden und Eizellen, und das neue Individuum bringt nur
hervor, wozu es die vererbten idioplasmatischen Anlagen und die
äusseren Einflüsse, die es selber aufnimmt, befähigen. Die Geschichte
eines Stammbaumes von der einfachsten bis zur comphcirtesten
Pflanze, von dem niedersten bis zmn höchsten Thier ist eigenthch
nichts w^eiter als die Geschichte des idioplasmatischen Systems,
welches in dem Laufe der Zeiten immer reicher gegliedert wird und
V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodificatioü. 275
daher mit der Generationenfolge immer reicher geghederte Individuen
erzeugt. Der ganze Stammbamn ist im Grunde ein einziges aus
Idioplasma Vjestehendes, continuirhches Indi\'iduum, welches wächst,
sich vermehrt und dabei verändert, und welches mit jeder Generation
ein neues Kleid anzieht, d. h. einen neuen individuellen Leib bildet.
Es gestaltet dieses Kleid, entsprechend seiner eigenen Veränderung,
periodisch etwas anders und stets mannigfaltiger, mid gibt jedes
Mal mit dem Wechsel desselben auch den grössten Theil seiner
eigenen Substanz Preis.
Diese Betrachtung des Stammbaumes als eines einzigen Indi-
viduums ist vollkonunen correct, weil das bei der Urzeugung ent-
stehende primordiale Plasma ebensogut als Idioplasma betrachtet
wird, aus dem sich dann zunächst das Ernährungsplasma ausscheidet,
weil ferner in den darauffolgenden Stadien das Idioplasma das fast allein
Wesentliche der vererbten Substanz ausmacht und weil noch später
bei den geschlechtlichen Organismen das Idioj^lasma allein die durch
alle Generationen ununterbrochen fortdauernde Substanz darstellt.
Betrachtet man eine Reihe von Generationen in diesem Lichte, so
hat die Vererbung nur noch eine figürliche Bedeutung. Die wissen-
schaftliche Darstellung kann zwar des Bildes nicht wohl entbehren,
ohne die bisherige Anschauung wesentlich zu ändern; aber gleich-
wohl stellt das Bild im Grunde die Wirklichkeit auf den Kopf. Denn
statt dass die Eltern einen Theil ihrer Eigenschaften auf die Kinder
vererben, ist es vielmehr das nämliche Idioplasma, welches zuerst
den seinem Wesen entsprechenden elterlichen Leib und eine Ge-
neration nachher den seinem Wesen entsprechenden und daher ganz
ähnlichen kindlichen Leib bildet.
Während bei den Organismen mit geschlechtlicher Fortpflanzung
nur Idioplasma vererbt wird und alle Errungenschaften von bloss
individueller Bedeutung mit jeder Generation wieder verloren gehen,
verhält sich die ^^ererljung bei den niederen Organismen, die sich
durch Theilung vererben, einigermaassen anders. Denn hier whd
nicht bloss Idioj^lasma, sondern auch Ernährungsplasma und andere
Substanzen auf die folgende Generation übertragen ; die zwei Kinder
theilen sich in die ganze Masse des Elters und empfangen somit
auch alle individuellen Eigenschaften desselben. Die ^^ererbung ist
also eine viel vollständigere als bei den grösseren und geschlecht-
hchen Organismen. Käme die nämliche Einrichtung auch bei den
18*
276 V- Varietät, Rasse, Ernähruiigsinodifioation.
letzteren vor, würde beispielsweise der Mensch sich durch Theilung
in zwei gleiche Hälften, die sich bloss zu vervollständigen brauchten,
vermehren, so ist kein Zweifel, dass er viel vollständiger in den
Kindern fortlebte als es jetzt der Fall ist, dass er auch das individuell
Gewonnene, seine Erfahrungen und Gewohnheiten, sein Wissen
und Können, seine Tugenden und Leidenschaften auf die Kinder
vererbte.
Es gibt also zweierlei Arten der Vererbung, ein Umstand, der
bei vergleichenden Betrachtungen wohl zu berücksichtigen ist und
bei dessen Vernachlässigung man leicht in Irrthümer verfallen kann.
Der Gegensatz der beiden Vererbungen tritt am schärfsten
hervor, wenn wir, wie es eben geschehen ist, die Zweitheilung der
niedersten und die geschlechtliche Fortj)flanzung der höchsten Orga-
nismen gegen einander halten. Die Vererbung durch Idioplasma
kommt den A^arietäten und Arten sowie den Rassen zu; es ist die
phylogenetische. Die Vererbung durch Ernährungsplasma und nicht-
plasmatische Substanzen findet bei den Modificationen statt, und ist
bloss bei einzelligen und wenigzelligen Organismen, die sich durch
Theilung vermehren, bemerkbar, worüber ich auf das bezüglich der
Spaltpilze Mitgetheilte verweise (S. 205) ; sie beschränkt sich bei den
höheren Organismen auf eine Reihe von Zellgenerationen innerhalb der
Ontogenien und ist somit nicht Vererbung im engeren Sinne (S. 2(38).
Die zweite Art der A^ererbung ist für die Abstammungslehre
gleichgültig. Sie kann immer Platz greifen, wenn die Fortpflanzungs-
zellen neben dem Idioplasma noch andere Substanzen enthalten.
Letzteres ist nun zwar auch bei aller geschlechtlichen Fortpflanzung
der Fall ; die Spermatozoide bestehen zwar fast bloss aus Idioplasma,
aber die Eizellen besitzen ausser demselben noch eine viel grössere
Menge von Substanzen, die als Nährstoffe verwendet werden. Daher
wäre es möglich, dass von der Mutter etwas auf die Kinder über-
ginge, was von dem Vater niemals vererbt wird. In der That sollen
gewisse Krankheiten von mütterlicher, aber nicht von väterlicher
Seite auf die Kinder übertragen werden. Aber dieses Erbe, das in
dem Ernälirungsplasma enthalten ist, stellt sich bei der geschlecht-
lichen Fortpflanzung im Allgemeinen gegenüber dem phylogenetischen
Erbtheil durch das Idioplasma als so winzig heraus, dass es meistens
gänzlich verschwindet und dass Vater und Mutter als gieichbetheiligt
in dem Kinde erscheinen. Immerhin smd die beiden Arten der
V. Varietät, Kasse, Ernährungsmodification. 277
Vererbung, wenn sie auch stets mit einander vereinigt auftreten, als
verschieden in ihrer Bedeutung zu unterscheiden.
Die Veränderung, die gewöhnlich der Vererbung gegenüber
gestellt wird, steht nicht im Gegensatz zu dieser, sondern zur
Constanz. — Sie ist auch nicht gleichbedeutend mit Anpassung,
wie es von der Dar w i n 'sehen Schule gelehrt wird ; denn die An-
passungsveränderung ist nur ein Theil der Veränderungen, welche
die Organismen erfahren.
Mit dem Ausdruck »Veränderung« bezeichnet man nicht nur
den Vorgang, welcher von dem früheren zu dem späteren Zustand
hinüberführt, sondern auch das Resultat dieses Vorganges, aus-
gedrückt durch den Unterschied zwischen den beiden Zuständen.
In diesem Sinne heisst eine Veränderung constant, wenn das Ge-
wonnene dauernd behalten, und vergänglich, wenn es bald wieder
preisgegeben wird. Die constante oder die phylogenetische Ver-
änderung, wiewohl sie nach den sich vererbenden Eigenschaften
des entfalteten Organismus beurtheilt wird, ist eigentlich nichts
anderes als die Constitutionsänderung des Idioplasmas, mit welcher
diejenige der sichtbaren Merkmale gleichen Schritt hält. Die ver-
gängliche oder transitorische Veränderung erfolgt durch die von
aussen in ungleicher Weise angeregte Thätigkeit des Idioplasmas
bei gleichbleibender Constitution desselben. — Die transitorischen
Veränderungen bedingen die Modificationen, welche für die Bildung
der Stammbäume ohne Bedeutung sind. Die constanten A-'^erände-
rungen erzeugen die Rassen und Varietäten, von denen die ersteren
ebenfalls keinen Werth für die Abstammung haben, indem der
Aufbau der Reiche nur durch die Veränderung, die zur A'arietäten-
bildmig führt, erfolgt.
Die individuelle Veränderung bedeutet den Schritt, den die
Veränderung von einer Generation zur nächstfolgenden zurücklegt.
Die genaue Würdigung dieses Werthes ist für die Abstammungs-
lehre von grösstem Interesse, weil aus demselben die Art und
Weise sowie das Zeitmaass des phylogenetischen Fortschrittes sich
ergibt. Zu diesem Zweck muss die individuelle Veränderung bei der
Varietätenbildung von derjenigen bei der Rassen- und bei der Modi-
ficationenbildung strenge unterschieden werden. Die Vervs^echslung
278 ^'- Varietät, Rasse, Ernährungsmodificatinn.
dieser verschiedenen Begriffe hat zu ganz irrigen Vorstehungen über
die Abstammungsbewegung geführt. Ich will daher diesen Punkt
etwas eingehender betrachten.
Der Fortschritt von einer Generation zur andern, der als indi-
viduelle Veränderung bezeichnet wird, ist gewöhnlich das Resultat
eines stetigen Umbildungsj^rocesses während der ontogenetischen
Entwicklung. Dies lässt sich für die Varietätenbildung nicht be-
zweifeln, mag die langsame Umbildung des Idioplasmas in autonomer
Weise vermöge seiner eigenen Constitution oder in Folge der
äusseren Einwirkungen geschehen; denn die al^ändernde Ursache
mangelt gänzlich beim Fortpflanzungsacte. Für die Bildung der
Modificationen aber ist es selbstverständlich, weil hier ja die Ver-
änderung mit den Wachsthumsprocessen selbst verbmiden ist.
Anders verhält es sich mit der Rassenbildung, w^o die indivi-
duelle Veränderung wenigstens dem Anschein nach vorzugsweise
mit der Befruchtung eintritt, weil bei der Kreuzung ungleiche Idio-
plasmen zusammenkommen, wodurch theils neue Combinationen
der Anlagen entstehen, theils früher latente Anlagen manifest werden.
Man kann aber hier nur insofern von individueller Veränderung
sprechen, als die Resultirende (das Kind) von jeder der beiden
elterlichen Componenten verschieden ist, nicht insofern, als dass
durch sie etwas principiell Neues entstände. Diese Neues schaffende
Veränderung, die während der Dauer der Ontogenien thätig ist,
mangelt auch den Rassen nicht; aber nur soweit sie der Modi-
ficationenbildung angehört, macht sie sich deutlich bemerkbar,
während die der Varietätenbildung angehörende idioplasmatische
Veränderung wegen ihrer Geringfügigkeit vollständig gegenüber den
Sprüngen der Kreuzung verschwindet.
Die individuelle Veränderung bei stattfindender Kreuzung darf
nicht einfach durch die Verschiedenheit zwischen der Mutter und
den Kindern oder durch die Verschiedenheit unter den Kindern als
gegeben betrachtet werden, eine Bemerkung, welche für die Ge-
schlechtspflanzen nicht ganz überflüssig ist. Ein solches Verfahren
hätte nur Berechtigung, wenn man sicher wüsste, dass die Samen
aus SelbstbefiTTchtung entsprungen sind. Hat aber, was immer
möglich ist, wenn man nicht besondere Vorsiclitsmaassregeln an-
wendet, Befruchtung durch andere Individuen statt gefunden und
haben die Kinder somit zwei Eltern, so darf die individuelle Ver-
V. Varietät, Rasse, Eniälxrungsmodification. 279
änderlichkeit nur mit Berücksichtigung dieses Umstandes heurtheilt
werden. Wenn das Individuum A durch das Individuum B be-
fruchtet wurde, so sind die Kinder BA, und die individuelle Ver-
änderung ist nicht etwa gleich der Differenz von A und BA, und
wenn von den Kindern des Individuums A, was häufig vorkommt,
die einen aus Selbstbefruchtung, die andern aus der Befruchtung
durch B hervorgegangen sind, so kann selbstverständlich die indivi-
duelle Veränderlichkeit abermals nicht aus dem Unterschiede der Halb-
geschwister A A und B A ermessen werden. — Sind die Kinder durch
das Zusammenwirken zweier Individuen entstanden , so darf die
individuelle ^"eränderung nicht durch Vergleichung des Kindes
(BA) mit dem Vater (B) oder mit der Mutter (A), sondern nur mit
der Summe des elterlichen Paares (B -|- A) oder auch durch Ver-
gleichung der legitimen Geschwister unter einander heurtheilt werden.
Wenn die individuelle Veränderung nicht durch Kreuzung erfolgt,
sondern in Folge des Wachsthumsprocesses während der ontogenetischen
Entwicklungen tliätig ist, so muss bei vergleichenden Untersuchmigen
der ungleiche Werth der Generationen bei den verschiedenen Orga-
nismen in Rechnung gebracht werden. Die Veränderung erlangt,
da sie ununterbrochen arbeitet, einen grösseren oder geringeren
Betrag je nach der Dauer der Ontogenien und je nach dem Bau
und der Grösse der Individuen. Bei einzelligen Organismen, die
sich durch Theilung vermehren, wirkt die individuelle Verändermig
nur während der Dauer einer Zelle und w^ährend der Verdoppelung
des Idioplasmas und der übrigen Substanz. Bei den höheren
Organismen kann die Veränderung vom einzelligen Keimstadium
bis zmn Eintritt der Fortpflanzung während der Dauer von Hundert-
tausenden und Millionen von Zellgenerationen und, während sich
das Idioplasma und die übrige Substanz auf das Millionenfache ver-
mehrt, thätig sein.
Es ist klar, dass im letzteren Falle eine viel beträchthchere
Umwandlung in jeder Beziehung möglich ist als im ersteren, und
dass wir beispielsweise eine Million von Generationen einzelliger
Organismen nicht als gleichwerthig neben eine Million von Genera-
tionen höherer Organismen stellen dürfen, sondern dass wir im
Gegentheil eine Million Generationen der ersteren mit einer einzigen
Generation der letzteren vergleichen müssen. Schon aus diesem
Grunde konnte man rücksichtlich der oben besprochenen Umwand-
29iO V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification.
hing der Wirkungsmodificationen niederer Pilze (S. 265) auf die
Verniuthung kommen, dass dieser Vorgang keine Varietätenbildung
sein könne, weil bei demselben die ^^eränderung während hundert
Zellgenerationen grösser ist als die phylogenetische Veränderung
während hundert Generationen höherer Pflanzen, von denen jede
hunderttausend oder eine Million Zellgenerationen durchläuft.
Vergleichen wir noch die individuelle A^eränderung bei der
Bildung der Modificationen, der Rassen und der Varietäten mit ein-
ander, so bedarf diejenige, welche zur Entstehung der Modificationen
führt, keiner weiteren Erörterung. Je nach den äusseren Einwirkungen
mangelt sie bald vollständig, wenigstens dem Anscheine nach, bald
verursacht sie eine bis zur Unkenntlichkeit gehende ^Verschiedenheit.
Ich habe bereits ausgeführt, wie sehr sie die Rassen- und die Va-
rietätenbildung verdecken kann, und wie wichtig es ist, diese trans-
itorische Veränderung von den dauernden Veränderungen strenge
zu scheiden.
Was die individuelle Veränderung bei der Rassenbildung
betrifft, so ist diesell)e meistens von deutlich wahrnehmbarer Grösse.
Bald besteht sie in kleinen Schritten, die sich nach wenigen Gene-
rationen zu einem in die Augen fallenden Schritte summiren, bald
in einem Sprunge, wodurch die Rasse auf einmal zu Stande kommt.
Der Sprung kann so gross sein, dass die Merkmale der neuen Rasse
bei verwandten natürlichen Sippen eine Art oder eine Gattung, sogar
eine Ordnung oder eine Classe charakterisiren würden.
Als Beispiel für einen sehr grossen Sprung nenne ich die
Metamorphose, welche bei der gewöhnlichen Unkrautpflanze Capsella
bursa pastoris und bei einigen anderen Cruciferen (Iberis semper-
florens, Matthiola annua, Cardamine jiratensis) beobachtet worden
ist. Die normale Blüthe mit 6 tetradynamischen Staubgefässen und
4 Blumenblättern verwandelt sich dabei in eine apetale Blüthe mit
10 Staubgefässen; es werden also die 4 Blumenblätter unterdrückt
und dafür 4 Staul^gefässe gebildet. Dies ist ein Sprung, der zu
vollkommener Constanz gelangt, den Uebergang in eine andere
Classe bedeuten könnte. — Unter den Sprüngen , welche zu den
Merkmalen einer anderen natürlichen Ordnung führen, ist die Ver-
wandlung unregelmässiger Blüthen in regelmässige zu nennen, oder
die Pelorienbildung, wie sie beispielsweise bei Linaria und An-
tirrhinum vorkommt. — Oft treten diese Sprünge an einzelnen
Y. Varietät, Rasse, Ernährungsmodüication. 281
Aesten oder Zweigen auf, sodass letztere in eine andere Varietät,
Art oder Gattung umgewandelt scheinen; so trägt ein einzelner
Zweig geschlitzte oder krause oder panaschirte Blätter oder gefüllte
Blüthen u. dgl.
Wenn ich sage, dass die individuelle Veränderung bei der
Rasse Eigenschaften hervorbringe, welche sonst Arten , Gattungen,
Ordnungen und Classen unterscheiden, so meine ich natürlich nicht,
dass diese Sippen wirklich gebildet werden. Denn das Wesen einer
systematischen Einheit besteht nicht in den Merkmalen, sondern in
dem Grade der Constanz. Die erwähnten, durch grosse Sprünge der
individuellen Veränderung hervorgebrachten Merkmale haben aber
nur eine sehr geringe Constanz und können daher auch nur die
Bedeutung von Rassenmerkmalen in Anspruch nehmen.
Wie ich bereits oben ausgeführt habe (S. 246), bestehen die
Sprünge der individuellen ^Veränderung bei den Rassen nicht darin,
dass wirklich neue Merkmale entstehen, sondern darin, dass latente
Anlagen zur Entfaltung gelangen. Wenn eine rothblühende Pflanze
bei Selbstbefruchtung unter ihren Kindern auch weissblühende hat,
so ist dies nicht ein Beweis dafür, dass durch einen individuellen
Schritt rothe Blüthen weiss werden können, sondern dafür, dass die
Anlage zu rothen Blüthen latent und dafür die früher latente
Anlage zu weissen Blüthen manifest werden kann. — Was das
vorhin erwähnte Beispiel von Capsella bursa pastoris und anderer
Cruciferen betrifft, so erlaubt das Verschwinden von 4 Blumen-
blättern und das Auftreten von 4 neuen Staubgefässen eine doppelte
Deutung. Man kann eine directe Umwandlung der Blumenblätter
in Staubgefässe annehmen, und sich dabei auf den Umstand berufen,
dass die Blumenblätter aus Staubgefässen entstanden sind, sodass
also die Anlagen auf einen früheren Zustand zurückgehen , oder
vielmehr, dass die noch im latenten Zustande vorhandenen Anlagen
von Staubgefässen sich, anstatt der Anlagen von Blumenblättern,
entfalten würden. Man kann sich aber auch denken, dass für die
4 Blumenblätter der Cruciferen keine besonderen latenten Anlagen
von Staubgefässen mehr im Idioplasma enthalten sind , und dass
beim Latentwerden der Blumenblätter die Anlage der Staubgefässe
sich lediglich in vermehrter Zahl entfaltet, wobei die Architektur
der Blüthe unverändert bleibt. Die Zahl, in der ein Organ auftritt,
ist nämlich bei den Pflanzen sehr häufig Variationen unterworfen,
282 V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification,
und wir müssen wohl annehmen, dass für ein und dasselbe Organ
nur ein Complex von Anlagen vorhanden sei und dass es von der
Configuration und Beschaffenheit des Idioplasmas abhänge, ob dieser
AnlagencomiDlex sich einmal oder vielmal, ob er in bestimmter oder
in unbestimmter Zahl sich verwirkliche. Da nun die Natur des
Idioplasmas für die Cruciferenblüthe 4 Blumenblätter und 6 Staub-
gefässe verlangt, so ist es begreiflich, dass die Anlage der Staub-
gefässe beim Verschwinden der Blumenblätter die entstehende Lücke
auszufüllen bestrebt ist. *'
Während die individuelle Veränderung bei der (künstlichen)
Rassenbildung in ganz gewaltigen Sprüngen bestehen kann , sind
die individuellen Schritte bei der (natürlichen) Varietätenbildung
unendlich klein, sodass man sie gar nicht wahrnimmt. Man weist
zwar darauf hin, dass nicht zwei Bäume eines Waldes oder zwei
Stöcke einer anderen wildwachsenden Pflanze gleich seien. Allein
die Verschiedenheiten, die wir hier beobachten, gehören ausschliesslich
den Standorts- oder Ernährungsmodificationen an und liegen inner-
halb der ontogenetischen Elasticitätsgrenze. Eine wildwachsende
Pflanze ist von ihren Eltern in wahrnehmbarer Weise bloss durch
nichterbliche Eigenschaften imterschieden. Ich habe in früheren
Zeiten die individuelle Verschiedenheit bei den natürlichen Sippen
für ebenso sicher gehalten, wie dies jetzt noch allgemein der Fall
ist. Aber die zahlreichen Erfahrungen, die ich bei der Cultur wild-
wachsender Pflanzen gemacht habe, waren so übereinstimmend und
so schlagend, dass ich mich nunmehr zu der Behauptung gezwungen
sehe: Die individuelle Verschiedenheit sei zwar theoretisch unan-
fechtbar und es können zwei Individuen, seien es Geschwister, seien
es Elter und Kind, auch in ihren erblichen Eigenschaften nicht
vollkommen identisch sein; allein die erblichen Verschiedenheiten
beschränken sich auf nicht bemerkbare physikalische und chemische
Molecularverhältnisse.
Da die Beobachtung am Individuum kein sichtbares Resultat
gibt, so lässt sich das Maass der individuellen Veränderung bei den
Varietäten nur in der Weise feststellen, dass man untersucht, wie
weit dieselbe durch eine Reihe von Generationen sich häufen kann.
Die Vergleichung der letzten vorweltlichen (nämlich der tertiären)
Sippen mit den jetzt lebenden zeigt uns in vielen Fällen bloss einen
Fortschritt zu nahe verwandten Species; die Vergleichung der seit
Y. Varietät, Rasse, Ernähriingsniodification. 283
der Eiszeit getrennten Pflanzen zeigt uns , dass unter den ' ver-
schiedensten äusseren Verhältnissen die Varietäten gleich geblieben
sind oder nur wenig sich verändert haben. Darnach wäre der Fort-
schritt, der auf die einzelne Generation trifft, wirklich unendlich
klein. Hiebei ist aber zu berücksichtigen, dass die Beobachtung
bloss beweist, die Veränderung sei in vielen Fällen sehr gering
gewesen, während sie in andern Fällen grösser sein konnte; und
ferner , dass , wenn meine Ansicht von der Ausbildung des Idio-
plasmas richtig ist, die innere und die äussere Veränderung nicht
gleichen Schritt halten und dass in manchen scheinbar gleich ge-
bliebenen Organismen möglicher Weise Anlagen erzeugt wurden, die
zu einer grösseren äusseren Veränderung führen werden. Immerhin
ist der individuelle Fortschritt bei der Varietätenbildung so gering,
dass alle während einer Erdperiode auf einander folgenden Genera-
tionen zusammen bloss eine Strecke zurücklegen , die von der
einzelnen individuellen Veränderung bei der Rassenbildung weit
überholt wird.
VI.
Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen
Zuchtwahl.
Ich habe die Berechtigung der Tlieorie darzuthun gesucht, dass
einerseits die Configuration des idioplasmatischen Systems mit innerer
Nothwendigkeit stetig comphcirter und periodisch neue Organisations-
anlagen fertig (entfaltungsfähig) werden, dass andrerseits die äussern
Einflüsse, welche als directe Reize und indirect als Bedürfnissreize
wirken, Anpassungsanlagen im Idioplasma erzeugen, — dass somit
die Eigenschaften der Organismen die nothwendigen Folgen von
bestimmten Ursachen seien.
Es ist nun auch die Berechtigung der gegentheiligen Theorie
Darwin's zu prüfen, welche die Abstammungsveränderungen durch
natürliche Zuchtwahl aus unbestimmten Wirkungen äusserer Ur-
sachen entstehen lässt. Diese Frage wurde schon eingangs im all-
gemeinen besprochen ; nun handelt es sich darum, sie im einzelnen
rücksichtlich der Grundlagen und der Folgerungen mit meiner Theorie
der bestimmten und directen Bewirkung zu vergleichen. Obgleich
die entscheidenden Thatsachen in den vorstehenden Auseinander-
setzungen bereits enthalten sind und den Leser in den Stand setzen,
die Vergleichung vorzunehmen, so halte ich es, angesichts der so
allgemeinen und begeisterten Zustimmung, welche das Darwin'sche
Princip gefunden hat, doch für zweckmässig, die Unannehmbarkeit
desselben noch in besonderen Ausführungen darzuthun.
Die Erfahrungen über die Rassenbildung werden von Darwin
folgendermaassen zusammengefasst. Wenn die Individuen einer Rasse
VI. Kritik der Darmu' sehen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. 285
variiren und zwischen denselben ungehemmte Vermischung statt-
findet, so bleibt die Rasse im wesentlichen dieselbe, weil beginnende
neue Merkmale durch die Kreuzung wieder verloren gehen. Werden
aber nur diejenigen Individuen, welche die neue Eigenschaft voll-
ständig oder in einem Anfange besitzen, durch eine Reihe von
Generationen zur Fortpflanzung ausgewählt, so wird die Eigenschaft
nach und nach beständig, indem häufig zugleich eine Steigerung
derselben eintritt. Dieser Vorgang wird nun weiter von Darwin
zu der Theorie verwendet, dass im natürlichen Zustande ein ana-
loger Process stattfinde; nur werde die Zuchtwahl hier durch die
Concurrenz getroffen. Die Individuen der natürlichen Sippen sollen
variiren; und indem die Träger der nützlichen Eigenschaften die
übrigen verdrängen, sollen sie allein zur A^ermehrung gelangen und
vor der geschlechtlichen Vermischung mit den anderen weniger gut
angepassten Individuen bewahrt bleiben. Wenn der Kampf ums
Dasein nicht eine Auswahl träfe, so würden durch die Kreuzung
die beginnenden Veränderungen immer wieder abgelenkt und ver-
nichtet.
Zwischen dieser Selectionstheorie und derjenigen der directen
Bewirkung ist scheinbar nur ein kleiner Unterschied, indem nach
meiner Ansicht der jetzige Zustand der organischen Reiche eben-
falls durch die Veränderung der Individuen und durch die Ver-
drängung herbeigeführt wurde. Aber die cansalo Bedeutung dieser
beiden Processe ist eine andere : nach Darwin ist die Veränderuns:
das treibende Moment, die Selection das richtende und ordnende;
nach meiner Ansicht ist die A'^eränderung zugleich das treil^ende
und das richtende Moment. Nach Darwin ist die Selection noth-
wendig; ohne sie könnte eine Vervollkommnung nicht stattfinden
und würden die Sippen in dem nämlichen Zustande beharren , in
welchem sie sich einmal befinden. Nach meiner Ansicht beseitigt
die Concurrenz bloss das weniger Existenzfähige ; aber sie ist gänzlich
ohne Einfluss auf das Zustandekommen alles A'ollkomnmoren und
besser Angepassten^).
•) Dabei ühersehe ich keineswegs, dass Darwin die natürliche Zuchtwahl
nur als das hauptsächlic'hste und nii'lit geradezu als das einzige Mittel zur Ab-
änderung der LeT)ensformen bezeichnet; aber nach meiner Ansicht ist sie in
keinem Falle ein Mittel dazu,
286 VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl.
Der Unterschied z\\ischen den beiden Theorien offenbart sich
am deuthchsten, wenn wir uns fragen, wie die Reiche wohl be-
schaffen wären, wenn die Concurrenz ganz mangelte. Ich habe
diese Voraussetzmig schon in der Einleitung (S. 17) gemacht. Nach
der Selectionstheorie müsste mit dem Auftreten der Geschlechts-
differenz die Entwicklung der Reiche bei mangelnder Concurrenz
aufgehört haben, weil nun eine ungehemmte Kreuzung die organische
Welt in einem Chaos festgebannt hätte. Nach meiner Ansicht da-
gegen würden sich auch bei fehlender Concurrenz alle Organismen,
die wir jetzt kennen, gebildet haben ; es wäre in der nämlichen Zeit
aus der einzelligen Alge ein Eichbaum und aus dem Infusorium ein
Säugethier geworden; aber es wären neben den jetzt lebenden Wesen
auch noch die Abkömmlinge aller derjenigen vorhanden, welche
der Kampf ums Dasein verdrängt und vernichtet hat.
Auf den untersten Stufen der lebenden Wesen, im Reiche der
Probien und bei den niedrigsten Pflanzen und Thieren, geschieht
die Vermehrung auf ungeschlechtlichem Wege. Hier hat die Selection
noch keine Bedeutung, ein Umstand, der besondere Beachtung ver-
dient. Hat nämlich eine Veränderung in einem Individuum be-
gonnen, so kann sie sich stets in den Nachkommen desselben ver-
erben und weiterbilden, weil keine Kreuzung sie stört. Der Kampf
mns Dasein entfernt das weniger Existenzfähige und in zu grosser
Zahl A^orhandene, aber er befördert nicht die Veränderung. Nach
meiner Ansicht nun verhalten sich die geschlechtlichen Organismen
ganz wie die ungeschlechtlichen , so dass der Fortschritt in der
Organisation seinem Wesen nach überall der nämliche ist.
Der Grund der verschiedenen Ansichten liegt in der Vorstellung
über die Natur der Veränderung, und hierin besteht der Kern-
punkt der Differenz zwischen den beiden Theorien. Nach der
Meinung Darwin 's ist die Veränderung beliebig, richtungslos,
daher in verschiedenen Individuen ungleich; nach meiner Ansicht
hat sie einen bestimmten Charakter und daher in den verschiedenen
Individuen eine gewisse Uebereinstimmung.
Der Erfolg der einen und der anderen Annahme lässt sich
leicht einsehen. Eine Sippe variire in ihren Individuen und die
Veränderungen seien, wie Darwin es voraussetzt, ganz ungleich
geartet, so werden die extremen Formen in der Regel nicht erreicht.
Die Möglichkeit hiezu ist zwar nicht ausgeschlossen, aber die Wahr-
VI. Kritik der Darmn'schen Theorie von der natürlit-lien Zuchtwahl. 287
scheinlichkeit ist ausserordentlich gering. Es müssten nämlich gerade
zwei Individuen, die nach der nämlichen Richtung hin zu variiren
angefangen hahen, sich begatten, und es müssten ihre Nachkommen
durch eine Reihe von Generationen immer nur unter einander sich
kreuzen^). Da aber eine allgemeine Kreuzung zwischen den Indivi-
duen einer Sippe statthat, so erfolgt eine stete Ausgleichung zw^ischen
den begonnenen Veränderungen rmd die Sippe bleibt in der Mitte
ihres ganzen möglichen Formenkreises, wenn nicht die künstliche
oder natürliche Zuchtwahl wirksam, eingreift und einer bestimmten
Veränderung durch Entfernung der übrigen das Feld einräumt.
Wenn aber dem entgegengesetzt in der fraglichen Sippe die
Umbildung in allen Individuen nach der nämlichen Richtung statt-
findet, so kann sie durch die Kreuzung nicht gestört werden. Ver-
ändern sich in einem bestimmten Falle die übrigen Eigenschaften
in den verschiedenen Individuen allseitig, eine Eigenschaft dagegen
einseitig, so macht die Kreuzung alle anderen Variationen unmöglich,
lässt aber die eine sich migehemmt ausbilden. Zeigt beisj)ielsweise
die Behaarmig diese gleichmässige Abänderung, so wandelt sie sich
in der ganzen Sippe so um, wie etwa in der Nachkommenschaft
eines übereinstimmenden Paares, das sich nach der IMigrationstheorie
in die Einsamkeit begeben hätte, um da einen neuen Stamm zu
gründen, oder dem es nach der Selectionstheorie gelungen wäre, im
Kampfe ums Dasein alle übrigen Individuen zu vernichten.
Ein ähnliches Verhalten, wie eben für eine Sippe angenommen
wurde, zeigen nun nach meiner Ansicht allgemein die natürlichen
Sippen. Es gibt bei allen ein gewisses Gebiet von Eigenschaften,
in welchem die Variationen allseitig, und andere Gebiete, in denen
sie einseitig erfolgen. Die Variationen des ersten Gebietes unter-
liegen im grossen und ganzen den Gesetzen, die nach Darwin für
alle Variationen maassgebend sein sollten. Sie sind die unmittel-
baren Folgen von klhuatischen und Ernährungseinflüssen, bestehen
in mannigfaltigen Störungen der normalen Vorgänge und werden
durch die Ki-euzung zum Theil unschädlich gemacht (S. 205), ent-
wickeln sich zuweilen aber zu abnormalen Merkmalen, die in der
^) Deshalb ist die Hypothese der Absonderung oder Migration ersonnen
worden, wie denn immer eine unnatürhche und deshalb ungenügende Hypothese,
um sich zu stützen, eine andere noch unhaltbarere Hypothese aufsucht.
288 VI. Kritik der iDarwin'sclien Theorie von der natürlichen Zuchtwahh
Cultur erhalten bleiben und Rassen bilden (S. 232), im natürlichen
Zustande jedoch von den normalen und lebenskrältigen Individuen
durch die Concurrenz beseitigt werden. Kreuzung und Concurrenz
haben in diesem Falle eine conservative , die Sippe in dem einmal
bestehenden Zustande erhaltende Wirkung.
Die anderen Gebiete von Eigenschaften, diejenigen nämlich, in
denen die Variationen gleichsinnig eintreten , werden dadurch be-
dingt, dass alle Individuen von den nämlichen Ursachen in der-
selben Weise getroffen werden. Diese Ursachen sind, wie ich früher
ausgeführt habe, einerseits die Molecularkräfte , welche die in den
Individuen einer Sippe übereinstimmende Configuration des Idio-
plasmas bei der fortwährenden , mit dem Wachsthum verbundenen
Micell-Einlagerung und -Umlagerung zu einer complicirteren Organi-
sation führen, und andrerseits die äusseren Einflüsse, die als Reize
wirken und die Anpassungen zu Stande bringen. Bezüglich dieser
beiden Gebiete können Kreuzung und Verdrängung die Veränderung
weder beschleunigen noch verlangsamen.
Nachdem ich den Gegensatz der zwei Descendenztheorien dar-
gelegt habe, will ich sie von den verschiedenen maassgebenden Ge-
sichtspunkten aus vergleichend prüfen. Von zwei Theorien, die, wie
es hier der Fall ist, einander ausschliessen , muss die eine falsch
sein; die richtige aber muss sich als wahr erweisen, man mag sie
von irgend einer Seite betrachten, und ihr darf keine Thatsache
und kein Gesetz widersprechen, — während kein logischer Weg von
einer Thatsache oder einem Gesetze aus zu der falschen Theorie
führen kann. Ich glaube, dass die Selectionstheorie in jedem Falle,
wo ein tliatsächlicher Anhalt gegeben und ein logisches Verfahren
möglich ist, sich entweder als unhaltbar oder als weniger wahr-
scheinlich erweist.
Es wurden früher schon von mir und Andern verschiedene
Einwürfe gegen die Selectionstheorie gemacht, und Darwin selbst
hat sich alle Mühe gegeben, dieselben zu entkräften, während die
Darwinisten sie nicht beachteten oder flüchtig darüber hinweg-
gingen. Dies ist nicht überraschend ; der Meister kennt die Schwächen
seiner Theorie, die er mühsam aufgerichtet hat, während die Jünger,
auf die Worte des Meisters schwörend, Thatsachen und Gründe leicht
VI. Kritik der Darwin' sehen Theorie von der natürhchen Zuchtwahl. 289
der Autorität der Lehre unterordnen. Ich werde übrigens jetzt,
nachdem ich meinen früheren vermittelnden Standpunkt verlassen
und auch die Ani^assmigen von der Zuchtwahl befreit habe, die
Einwände in vermehrter Zahl und in schärferer Form begründen
können.
Ich hebe folgende sieben Gesichtspunkte hervor, welche uns
die Abstammung durch Zuchtwahl unannehmbar machen:
1. Bezüglich der allgemeinen Bedeutung der Selectionstheorie
ist die unbestimmte Wirkmig unbestimmter Ursachen und die dem
Zufall allzusehr überlassene Entscheidung durch die natürliche Zucht-
wahl unserem natm^wissenschaftlichen Bewusstsein weniger zusagend.
Ferner setzt sich die Selectionstheorie, welche ihrem Princip gemäss
nur nach dem erreichten Nutzen einer Erscheinung fi'ägt, um die-
selbe zu rechtfertigen, in Widerspruch mit der wahren und exacten
Naturforschung, welche vor allem die bewirkenden Ursachen der
Dinge zu erkennen sucht.
2. Die Folgerung von der (künstlichen) Rassenbildung auf die
(natürliche) Yarietätenbildung, welche die Grundlage der Selections-
theorie ausmacht, ist unzulässig, da beide wesentlich verschieden
sind und namentlich sich rücksichtlich der Kreuzung ungleich ver-
halten. Die Varietäten nämlich vermischen sich sehr schwer mit
einander und nehmen kein fremdes Blut in irgend wirksamer Menge
auf, werden somit auch durch die ihnen gebotene Gelegenheit zur
Kreuzung nicht verändert; mit diesen Eigenschaften stimmen ihre
Vorkommensverhältnisse genau überein.
3. Nützliche A^eränderungen können erst, wenn sie eine bemerk-
bare Höhe erreicht haben und in zahheichen Individuen vorhanden
sind, eine ausgiebige Verdrängung der Mitbewerber bewirken. Da
sie aber im Anfange durch eine lange Reihe von Generationen jeden-
falls noch sehr unbedeutend und nach der Selectionstheorie auch nur
in einer kleinen Zahl von Individuen vertreten sind, so bleibt die
Verdrängung aus und eine natürliche Zuchtwahl kommt, da ihr der
wirksame Hebel mangelt, überhaupt nicht zu Stande.
4. Die Ernährungseinflüsse, welche die Selectionstheorie voraus-
setzt, bewirken thatsächlich keine erblichen Veränderungen, und wenn
sie es thäten, so könnte eine Steigerung der begonnenen Abänderung
nicht eintreten, weil die unvermeidhche Kreuzung eine natürliche
Zuchtwahl unmöglich machen würde. Ferner lässt sich aus den unbe-
Y. Nägeli, Abstammungslehre. 19
290 ^'^I- Kritik der Darwdn'schen Theorie von der natüi-lichen /Zuchtwahl.
stimmten, in allen denkbaren Richtungen wirkenden Ernährungs-
einflüssen der so stetige phylogenetische Fortschritt zu einer com-
plicirteren Organisation nicht erklären . Ebenso wenig werden
durch dieselben die Erscheinungen der Anpassung verursacht;
dies ergibt sich einerseits aus dem Umstände, dass Gebrauch und
Nichtgebrauch die Zu- und Abnahme der Organe bedingen, da diese
Ursache für sich vollkommen ausreicht und daher die Mitwirkung
einer zweiten andersartigen Ursache ausschliesst, — und andrerseits
durch den ferneren Umstand, dass Anfänge von Organen bis zu
der Grösse, wo sie in Gebrauch kommen mid ihre Nützlichkeit zu
erproben vermögen, mangeln, obgleich sie durch die Ernährungs-
einflüsse in Menge hervorgebracht werden müssten.
5. Die Eigenschaften der Organismen müssten in Folge der
natürlichen Zuchtwahl um so constanter sein, je nützlicher sie sind,
und Einrichtungen , die keinen Vortheil gewähren, könnten keine
Beständigkeit erlangen. Im Widerspruche hiemit gehören gewisse,
rein morphologische, mit Rücksicht auf den Nutzen indifferente
Merkmale zu den allerbeständigsten.
6. Aus der Selectionstheorie , nach welcher von den ein-
tretenden richtungslosen Veränderungen bloss die nützHchen fest-
gehalten würden, lassen sich weder die Divergenz der Reihen in
den organischen Reichen, noch die bestehenden Lücken in und
zwischen den Reihen erklären, indem vielmehr eine netzförmige
Anordnung der Sippen zu Stande kommen müsste.
7. Ebenso widersprechen jener Theorie das Nichtvorhandensein
der von ihr behaupteten gegenseitigen Anpassung der Bewohner
eines Landes und die bestehenden Naturalisationen fremder Er-
zeugnisse.
Diese Einwürfe gegen die Selectionstheorie, die ich hier bloss
ganz allgemein formulirt habe, sollen im folgenden des Näheren
begründet werden.
I. Allgemeine Bedeutung der Theorie.
Ich stelle diesen Punkt wegen seiner Allgemeinheit voran,
obgleich ich ilnn keine entscheidende Wichtigkeit zugestehe. Es ist
aber immerhin interessant zu untersuchen, in welchem Verhältniss
VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. 291
die beiden Theorien zu unserer ganzen übrigen naturwissenschaft-
lichen Anschauung stehen und welche allgemeine Bedeutung sie haben.
Zunächst ist es zweckmässig, sich darüber klar zu sein, was die
Theorien für die Abstammungslehre selbst zu leisten vermögen.
Eine Richtigsteüung dieses Punktes wird deshalb nothwendig, weil
bezüglich der Selectionstheorie in Deutschland fortwährend viel
gesündigt wird. Ich will nicht von den Ueberschwenglichen sprechen,
welche die Selection als ein Evangelium preisen und als Dogma
verkünden. Aber selbst besonnenere Beurtheiler behaupten, dass
die Abstammungslehre durch die Selectionstheorie wissenschaftlich
begründet und bewiesen werde, wiewohl sie doch durch nichts
anderes begründet und bewiesen werden kann als durch die Allge-
meingültigkeit des Causalitätsgesetzes. Wie die Undulationstheorie
nicht die Fortpflanzung des Lichtes beweist, sondern bloss zeigt, wie
man sich dieselbe vorstellen könne, so vermag auch die Selections-
theorie für die Abstammungslehre nicht mehr zu thun. Uebrigens
wird dieser Lehre dm'ch solche Behauptungen ein schlechter Dienst
geleistet ; denn würde die natürliche Abstammung wirklich begründet
und l)ewäesen durch die Selectionstheorie, so müsste sie als falsch
aufgegeben werden, sobald sich die Selection als Irrthum heraus-
stellte. Die natürliche Abstammung steht aber als allgemeine That-
sache so fest, dass sie alle unhaltbaren Theorien überdauern wird,
die man an sie anknüpft.
Der Unterschied der beiden Theorien lässt sich in seiner allge-
meinsten Form folgendermaassen aussprechen. Nach der Selections-
theorie bringen unbestimmte und nicht zu analysirende Ursachen
(die äusseren Einflüsse) in den verschiedenen Individuen unbestimmte
und nicht zu analysirende Wirkungen (die individuellen Verän-
derungen) hervor, von denen eine, die nützlichste, durch Verdrängung
der mit den übrigen Wirkungen behafteten Individuen allein Bestand
gewannt. Die Theorie der directen Be Wirkung dagegen setzt be-
stimmte, theils bekannte, theils zu erkennende Ursachen voraus,
welche bestimmte Wirkungen, die morphologischen und phj^sio-
logischen Eigenschaften der Organismen unmittelbar zur Folge haben.
Die bestimmte Eigenschaft kommt nach der Selectionstheorie
nur durch Elimination einer Menge von unbestimmten Eigenschaften
zu Stande. Diese Elimination ist die Hauptsache; was Alles vor
derselben entstehe, erscheint als gleichgültig, vorausgesetzt, dass
19*
292 ^^- Kritik der Darwin' sehen Theorie von der natürlichen Zuclitwahl.
darunter auch das Nützliche sich befindet. Deswegen begnügt sich
die Theorie damit, bloss ganz im allgemeinen auszusprechen, dass
in den klimatischen und Ernährungseinflüssen die Ursachen zu
mannigfaltiger Veränderlichkeit gegeben seien. Sie beschäftigt sich
eingehend mit der A^erdrängung und Anpassung, erweist sich aber
als unfruchtbar für die Erforschung der Ursachen und ihrer Wirkungs-
weise, also gerade für das, was sonst als die Hauptaufgabe der exacten
Naturwissenschaft angesehen werden muss.
Nach der Selectionstheorie, welche die Veränderungen in unbe-
stimmter Weise, also in jedem Theil des Organismus, selbst in jeder
Zelle und nach allen Richtungen hin eintreten lässt, ist die bestehende
organische Welt nichts anderes als ein Einzelfall von einer unend-
lichen Zahl von Fällen, von denen viele, vielleicht alle durchprobirt
und bis auf den einen unbrauchbar befunden wurden. Dies hat
als ein blindes Walten von Natm^kräften Anstoss erregt. Allein von
Seite der Naturforschung würde in dieser Beziehung allerdings kein
Bedenken bestehen, da, wenn auch die Ursachen erforscht sind,
doch ihr erster Grund, uns unbekannt bleibt, und daher überall in
der Natur schliesslich von einem blinden, d. h. uns unverständlichen
Geschehen gesprochen w^erden kann.
Dagegen wird das naturwissenschaftliche Bewusstsein weniger
befriedigt durch den Umstand, dass von der Selectionstheorie in den
höchsten Regionen und in den kunstA^oUsten Einrichtungen der
Natur dem Zufall em so grosser Einfluss eingeräumt mrd. Die
phylogenetische Entwicklungsgeschichte eines Stammes besteht in
einer grossen Zahl von Schritten. Die Eigenartigkeit jedes einzelnen
Schrittes lässt jene Theorie bedingt werden durch die Beschaffenheit
des Organismus, also durch die Eigenartigkeit der vorausgehenden
Schritte, ferner durch die unbestimmte Beschaffenheit der äusseren
Einflüsse, welche alle möglichen Veränderungen bewirken, und
endlich durch diejenigen äusseren Verhältnisse, von denen es ab-
hängt, welche der Veränderungen die anderen verdränge.
Bau und Function, die ein Organismus animmt, hängen also
nach der Selectionstheorie bei jedem Schritt von verschiedenen
zufälligen Umständen ab, und dem entsprechend hat sich die Monade
in dem einen Stamm zum Räderthier, in einem andern zur Qualle,
in noch anderen zum Insect, zum Fisch, zmn Vogel, zum Säuge-
thier und Menschen entwickelt. Hätten sich die Umstände anders
■\T;. Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürlifhen Zuchtwahl. 293
combinirt, hätten die klimatischen Veränderungen einen anderen
Verlauf genommen, wäre die Wanderung der Organismen in anderer
Weise eingetreten, so wäre nach dieser Theorie auch die Veränderung
in den Individuen mid besonders die Verdrängung und die Zucht-
wahl eine andere geworden; es hätten sich andersartige Stämme
gebildet, und, was beispielsweise den Stamm der Säugethiere und
des Menschen betrifft, so würde derselbe entweder ganz mangeln
oder er hätte zu mehr oder weniger von der jetzigen Beschaffenheit
abweichenden Organisationen sich entwickelt.
Wenn ich sage, dass die Selectionstheorie dem Zufall einen wich-
tigen Theil an der Abstammung überlasse, so meine ich nicht etwa,
dass dieselbe nicht für jedes Geschehen die bestimmte Ursache voraus-
setze. Aber wenn auch von einem absoluten Standpunkte aus Alles
Nothwendigkeit und ebensogut Alles Zufall ist, so gibt es doch in
relativem Sinne neben der Nothwendigkeit einen Zufall von objectiver
(nicht bloss subjectiver) Bedeutung, indem jedes Ereigniss nur zu
gewissen anderen in causalem Verhältniss steht und in Bezug auf alle
übrigen Ereignisse den Charakter der Zufälligkeit besitzt. Es ist dies
die Zufälligkeit, welche von der Wahrscheinlichkeitsrechnung zum
Object ihrer Untersuchungen gemacht wird, — und dieser Zufälligkeit
gestattet die Selectionstheorie einen allzu grossen Spielraum.
Ich kann meinen Gedanken vielleicht am besten dm-ch ein Bild
anschaiüich machen, das ich an ein Klndermärchen anknüpfen will.
In demselben werden Zwerge in den Besitz der ersten Zeile eines
Reimspruches gesetzt, zugleich mit der Bestimmung, dass sie so lange
einem bestimmten Banne unterworfen sein sollen, bis sie eine dazu
passende zweite Zeile gefunden. Sie singen nun beständig die
erste Zeile, und keinem fällt etwas Gescheites ein, das sich dazu
reimt. Endlich werden sie von einem Sonntagskind erlöst, welches
in einfachster Weise den Spruch ergänzt. Die Zwerge hätten ihre
Aufgabe auf dem Wege der Selection zu Stande bringen können,
nämlich durch Probiren aller möghchen kleinen Zusätze zu der
empfangenen Reimzeile, bis sich zuletzt eine zweite angepasst hätte.
Sie konnten, um mit den allergeringsten, gleichsam molecularen
Abänderungen vorzugehen, aus einem Alphabet durchs Loos einen
Buchstaben ziehen, dann aus dem wieder ergänzten Alphabet einen
zweiten Buchstaben und so weiter. Durch Verwerfen aller unbrauch-
baren Buchstaben wären sie zum ersten Wort, dann zum. zweiten
294 ^"I- Kritik der Darwin'sclien Tlieorie von der natürlichen Zuchtwahl.
und den folgenden Wörtern gekommen. Es hätte also jeder Buch-
stabe und dann auch jedes Wort die Probe der Nützlichkeit
bestanden, und alles wäre beseitigt worden, was mit Bezug auf den
Sinn, die Construction, den Rhythmus und schliesslich den Reim
sich als nicht existenzfähig erwiesen. In dieser Weise konnten die
Zwerge sicher, wenn auch durch mühsame und langwierige Arbeit,
sich von dem Banne befreien ; aber es hing vom Zufall ab, welchen
Vers sie auf das ihnen Gegebene machten und welche von den
Dutzenden möglicher Reimzeilen sie fanden. — Dies ist das Bild
des indirecten Weges, auf dem die Selectionstheorie durch Probiren
von allen möglichen Veränderungen die kleinen brauchbaren Fort-
schritte gewinnt, welche sich zur Entwicklung der Reiche summiren.
Nach der Theorie der directen Bewirkung dagegen ist Bau und
Function der Organismen in den Hauptzügen eine nothwendige Folge
von den der Substanz innewohnenden Kräften und somit unabhängig
von äusseren Zufälligkeiten. Auch wenn die klimatischen Verände-
rungen und die Wanderungen der Organismen in früheren Perioden
sich wesentlich anders gestaltet hätten, so mussten die Organisations-
stufen gerade so, und die Anpassungen konnten nicht viel anders
werden, als sie jetzt sind. Damit treten die Organismen in Ueberein-
stimmung mit den anderen individuellen Gestaltungen der Materie,
namentlich mit den Krystallen, deren Bau ebenfalls im Wesentlichen
von den der krystallisirenden Substanz innewohnenden Kräften und
nur in unwesentlichen Dingen von den äusseren Umständen abhängt.
Die Theorie der directen Bewirkung, welche alles Wesentliche
an den Organismen aus bestimmten Ursachen hervorgehen lässt,
setzt der Forschung ein klares und auf exacte Weise zu erreichendes
Ziel, nämlich für die bekannten bestimmten Ergebnisse die noch
unbekannten bestimmten Ursachen zu erforschen. Die Selections-
theorie hat sich, indem sie von unbestimmten kleinen Ursachen und
unbestimmten kleinen Wirkungen ausgeht, ihre Aufgabe schwieriger
gemacht als jene Theorie oder auch leichter, je nach der Art, wie
sie dieselbe erfüllen will. Die Aufgabe wäre offenbar schwieriger,
wenn sie in exacter Weise gelöst werden sollte. Eine solche Lösung
müsste nämlich möglich sein, — denn auch die Herleitung von
bestimmten Ergebnissen aus unbestimmten Anfängen gestattet eine
präcise Formulirung und eine genaue Behandlung, — wenn über-
haupt die Ergebnisse auf diesem Wege zu Stande gekommen wären.
\T;. Kritik der Darwn'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. 295
Aber ein solches streng logisches Verfahren hätte zu unannehmbaren
Folgerungen geführt und dadurch die Unhaltbarkeit der Prämissen
dargethan.
Die Anhänger der Selectionstheorie haben sich denn auch ihre
Aufgabe im allgemeinen wesentlich erleichtert, indem sie der Theorie
selbst einen allzu wenig bestimmten Ausdruck gaben und bei der
Ausführung häufig auf noch weniger bestimmten Bahnen wandelten,
mitunter wohl auch auf exacte Forschung überhaupt schlecht zu
sprechen waren. In dieser Weise wurde es möglich, trotzdem dass
im einzelnen viel Treffliches geleistet wurde, den jedesmaligen
thatsächlichen Bestand aus der Theorie plausibel zu machen und
als Bestätigung derselben hinzustellen, wenn im einzelnen Fall die
Thatsachen auch noch so sehr mit den streng logischen Consequenzen
im Widerspruche waren. Ich werde dies bei der Besprechung der
übrigen Punkte darthun.
Das Princip der Selectionstheorie, dass aus zufälligen und un-
bestimmten Abänderungen nur das Beste behalten werde, erzeugt
naturgemäss die Meinung, dass jede Bestand gewinnende Er-
scheinung etwas Auserlesenes, etwas durch seine Nützlichkeit Er-
j)robtes sein müsse. Deswegen geht die Forschung der Darwin-
schen Schule vor allem aus nach dem Nutzen einer jeden orga-
nischen Einrichtung. Ein solches Verfahren hat innerhalb rationeller
Grenzen gewiss seine Berechtigung; denn zur vollständigen Er-
kenntniss eines Dinges gehört ja auch die Kenntniss seiner Wir-
kungen, insofern wir aus denselben eine bessere Einsicht in seine
Natur erlangen.
Hier ist aber nun zuvörderst eine Einschränkung zu machen.
Die Wirkungen eines Ereignisses sind mehr oder weniger unmittelbar
und sie sind der Zahl nach unbestimmt, da von demselben eine
Menge von nachfolgenden Ereignissen in grösserem oder geringerem
Maasse beinflusst wird. Was uns wissenschaftlich interessirt, sind
die unmittelbaren Folgen, die in der Kette von Ursachen und
Wirkungen zunächst aus jenem Ereigniss hervorgehen und als deren
bewirkende Ursache es erscheint. Einzig in dieser Beschränkimg lege
ich Werth auf die nützliche Function der AnjDassungserscheinungcn,
weil aus ihr zuweilen ein Pückschluss auf die Ursachen möglich
296 ^"I- Kritik der Darwin'sehen Tlieorie von drr natürliclien Zuclitwahl.
ist. Der Nutzen einer organischen Einrichtung ist aber manchmal
nicht eine solche unmittelbare, sondern eine mehr oder weniger
vermittelte, zuweilen selbst ziemlich weit abliegende Wirkung. Er
bietet dann auch, indem er wenig zur Erkenntniss des Wesens jener
Einrichtung beiträgt, nicht ein unmittelbar wissenschaftliches, sondern
mehr ein praktisches Interesse mit Rücksicht auf das ontogenetische
und phylogenetische Bestehen des bestimmten Organismus dar.
Der wissenschaftliche Werth, den das Forschen nach dem Nutzen
der organischen Erscheinungen haben kann, wird oft noch ver-
kümmert durch ein Verfahren, das man nicht immer als ein genaues
und kritisches anzuerkennen vermag. Indem manche Anhänger der
Selectionstheorie nicht unbefangen die Wirkungen prüfen, sondern
um allen Preis in jedem Vorkommniss einen Nutzen auffinden
wollen, welcher den Daseinsgrund und die phylogenetische Erklärung
seiner Entstehung abgeben soll, verfallen sie in einen ähnlichen
Fehler wie die auf einem ganz entgegengesetzten Standpunkte be-
findlichen Teleologen. So wird das Verfahren, statt wissenschaftlich
zu bleiben, zur Manier. Es braucht ja nicht gar sehr viel Scharf-
sinn, um aus irgend einer organischen Erscheinung einen wirklichen
oder eingel^ildeten Nutzen für ihren Träger herauszuklügeln. Aber
welche Berechtigung liegt in einem solchen Erfolge, w^enn man sich
gestehen muss, dass, wenn die Erscheinung anders wäre, der Nutzen
ebenso deutlich oder noch deutlicher hervorträte.
Man muss s-ich überhaupt damit bescheiden, dass die Dinge in
der organischen Welt, gerade so wie in der unorganischen Natur,
da sind, weil sie eben da sind, weil nämlich die sie bewirkenden
Ursachen ihnen vorausgingen, und dass ihr Bestehen weiter nichts
als ihre Existenzfähigkeit und den Mangel anderer verwandter Dinge
mit grösserer Existenzfähigkeit beweist. Wenn man das Verfahren
der Selectionstheorie auf die unorganische Natur anwenden wollte,
was liesse sich nicht Alles über nützliche Anpassungen der Er-
scheinungen sowohl an andere unorganische als an organische
Erscheinungen sagen? Welche Betrachtungen könnten nicht allein
über die theilweise exceptionellen Eigenschaften des Wassers an-
gestellt werden. Glücklicher Weise begnügen sich Physik und Chemie
damit, die Ursachen zu erforschen, und niemand stellt Speculationen
darü])er an, welche Vortheile oder Nachtheile die sechseckige Form
der Schneeflocken und die kugelige Gestalt der Regentropfen gewähren.
VT. Kritik (k'i- Darwiii'schfu Thcork' von ilcr natiu-lichcii Zuchtwahl. 297
Die unorganische Natur im ganzen und im einzelnen wird
von der exacten Wissenschaft jeweilen als ein System von Krcäften
und Bewegungen angesehen, die sich gegen einander ins Gleich-
gewicht gesetzt haben und, wo dasselbe gestört wird, einem neuen
Gleichge\Wcht zustreben. Die organische Natur ist ebenfalls sowohl
als Ganzes wie in jedem einzelnen Theil ein solches, nur ^^el com-
plicirteres, System von Kräften und Bewegungen, und die Aufgabe
der phylogenetischen Wissenschaft ist es vor allem, die Ursachen
der Gleichgewichtsstörungen und damit der stetsfort eintretenden
Veränderungen, nicht irgendwelcher anderer daraus sich ergebender
Beziehungen, aufzusuchen.
Die Generationenreihen, die von den einfachsten organischen
Formen und ihren Entstehungszeiten zu den jetzt bestehenden Orga-
nismen hinül)er führen, sind, wie ich zu zeigen gesucht habe, nichts
anderes als materielle Systeme aus Idioplasma bestehend, welche die
ganze Zeit über andauern, ihren Gleichgewichtszustand unter dem
Einfluss von inneren und äusseren Ursachen stetig ändern, durch
Vermehrung sich vervielfältigen und in Folge der gegenseitigen
Verdrängung jeweilen in den existenzfähigsten Gleichgewichtszu-
ständen fortbestehen. Die Erkenntniss jedes spätem Gleichgewichts-
zustandes beruht auf der Erkenntniss des früheren Zustandes und der
d^enselben abändernden Ursachen. Die Werthschätzung aber der
Existenzfähigkeit und Verdrängungstüchtigkeit des Ueberlebenden
ist im allgemeinen unmöglich, weil der Werth der unterlegenen
und verdrängten Gleichgewichtszustände unl)ekannt ist; sie lässt
sich möglicher Weise nur für den bestimmten Fall beurtheilen,
wenn die ^'^erdrängung noch nicht perfect geworden ist und somit
die concurrirenden Zustände der Beobachtung zugänglich sind.
2. Schlussfolgerung von der Rassenbildung auf die Varietätenbildung.
Nachdem ich die allgemeine wissenschaftliclie Bedeutung der
Selectionstheorie betrachtet habe, scheint es passend, zuerst den-
jenigen Punkt ins Auge zu fassen, welcher zu der Theorie Veran-
lassung gegeben hat. Indem Darwin die Entstehung der (natür-
lichen) Varietäten aus der natürlichen Zuchtwahl erklärt, leitet er
diese Annahme nicht etwa aus der Beobachtung thatsächlicher A^er-
298 ^^I- Kritik der Darmn'sclien Theorie von der natttrliehen Zuchtwalil.
hältnisse ab, er stützt sie auch keineswegs durch thatsächhche Anhalts-
punkte; sondern er beruft sich dafür ledigUch auf die Analogie der
(künstlichen) Rassenbildung. Wie eine neue Rasse nur dann entstehe,
wenn die Kreuzung mit abweichenden Individuen verhindert werde,
so soll eine neue Varietät nur dann Bestand gewinnen können, wenn
die abweichenden Individuen durch die Concurrenz beseitigt und
somit die Reinzucht durch natürliche Zuchtwahl ermöglicht werde.
Nun besteht aber zwischen Rasse und Varietät in den wesent-
lichen Eigenschaften ein scharfer Gegensatz, indem die erstere
innerhalb weiter Grenzen äusserst variabel, die letztere in den engsten
Grenzen sehr constant ist (S. 235). Es ist also bei Anwendung der
Analogie die grösste Vorsicht geboten und vorher zu untersuchen,
ob bezüglich der Kreuzung und deren Wirksamkeit die vorausgesetzte
Uebereinstimmung bestehe. In der That waltet nun aber auch in
dieser Beziehung, nach den zahlreichen Beobachtungen, die ich
darüber angestellt habe, eine wesentliche Verschiedenheit ob.
Während die Rassen von gleicher Abstammung, auch wenn
ihre sichtbaren Merkmale noch so weit von einander abweichen,
sich äusserst leicht kreuzen, so haben Pflanzenvarietäten, die einander
sehr nahe stehen, eine grosse Abneigung gegen geschlechtliche Ver-
mischung. Es geht dies aus ihrem Verhalten in der Natur und im
Garten deutlich hervor. Verfolgt man nahe und nächst verwandte
Varietäten auf ihren Standorten, so findet man sie oft ohne alle
Zwischenformen beisammen. Man darf freilich, besonders wenn sie
bloss in einem einzigen Merkmal von einander abweichen, nicht ohne
weiteres auf fehlende Kreuzung schliessen, weil möglicherweise das
Unterscheidungsmerkmal sprungweise abändern könnte (S. 185, 199).
In den meisten Fällen jedoch zeigt der Mangel von Mittelformen
sicher an, dass keine Kreuzung stattgefunden hat. Andere Varietäten
dagegen findet man, wenn sie in Gesellschaft leben, mit Uebergangs-
stufen, die offenbar hybriden Ursprungs sind. Aber diese Uebergänge
kommen immer verhältnissmässig spärlich vor, oft nur in wenigen
Exemplaren. Aus ihrer Zahl ergibt sich das Verhältniss der Kreuzungen
zur Inzucht.
Setzen wir zuerst den hypothetischen Fall, dass zwei Sippen in
gleicher Indi\dduenzahl beisammen seien und die Kreuzung zwischen
ihnen ebenso leicht erfolge , wie die Selbstbefruchtung und die
Inzucht. Dann ist gemäss der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der
VI. Kritik th-v Dai-\vin'schcii Theorie von der natürliehen Zuchtwahl. 299
ersten Generation die Individuenzahl der Bastarde doppelt so gross
als die Individuenzahl jeder Sippe; in der zweiten Generation beträgt
die Zahl der hybriden Individuen 14 mal so ^del als die Individuen-
zahl jeder der beiden reinen Sippen, in der dritten Generation 254mal
so viel, und so steigt das numerische Uebergewicht der hybriden
Produete dermaassen rasch, dass nach wenigen Generationen die
reinen Sippen verschwinden^).
Sind die beiden Sippen ursprünglich in ungleicher Individuen-
zahl vorhanden, so zeigen unter der nämlichen A^oraussetzung die
Bastarde natürlich andere Verhältnisszahlen. Immer aber steigt ihre
Menge sehr rasch und die numerisch schwächere der reinen Sippen
wird bald ganz verdrängt. Ist von diesen die eine anfänglich 10 mal
zahlreicher als die andere, so macht die letztere schon nach der
ersten Generation bloss den 121., nach der zweiten den 14641., nach
der dritten Generation den 2 14 millionsten Theil aller Individuen
aus, indess die zahlreichere Sippe schon nach der dritten Generation
von den hybriden Producten numerisch übertroffen wird^).
1) Die beiden Sippen seien mit A und B, die ursprüngliche Individuenzahl
einer Jeden mit n bezeichnet, so zeigen die aufeinander folgenden Generationen
nachstehende Verhältnisszahlen :
O.Gen, n Ä-\- n B. — Summe der Individuen 2n.
I.Gen, n A-\~n B-\-2n {Ä~{-B). — Summe 4n.
2. Gen. n A-i^ n B -^ 6n (A-\- B) + An (SA-{-B)-\- 4n (^ + 3J5). — Summe 16«
S.Gen, n A-\-n B + 10n (A-\-B)-\-2Sn (ßA~{-B)-\-28n(A-^3B)-\-Sn(l A-\-B.
-)- 8« (^ + 75) -f- 56 /i (5^ + BB) + 56w (3^ + 5B). — Summe 256«.
Die in () eingeschlossenen Formeln zeigen die Mischung des Blutes in den
Bastarden an; (5A-{'3B) bedeutet also, dass in dem Bastard ^/s Blut von A und
^/s Blut von B enthalten ist.
Wemi che beiden Sippen und ihre Abkömmlinge zusammen in 1000 Indi-
viduen auf einem Standorte vertreten sein kömien, so kommen anfänglich (in der
0. Generation, d. h. ehe die hybride Begattung beginnt) 500 J und 500 B vor, in
der 1. Generation 250 4, 250B und 500 Bastarde, in der 2. 62V2^, ^2'liB und
875 Bastarde und in der 3. Generation 4:A, AB und 992 Bastarde.
^) Man hat in den aufeinander folgenden Generationen :
O.Gen, n A-\~10n B. — Summe der Indiwluen 11«.
I.Gen, n .1 + 100« B + 20n(A + B). — Summe 121«.
2. Gen. n A -\- 10000« B + 600« (A -j- B) -\- 40« (34 + JB) -f 4000« (A -}- SB). —
Summe 146417*.
3. Gen. « A + 100000000« B -f- 700000« (A + B) -f 2800« (3.4 + B)
4-28000000« (A + 35) + 80« {1 A + J5) + 80000000« (A -j- 1 B)
+ 56000« (54 + 3ii) 4- 5600000« (34 + 5B). — Summe 214358881 «.
Wenn die beiden Sippen mit ihren Abköimnlingen in der constanten Zahl
von 1100 auf einer Locahtät leiten können, so treffen auf tlie 0. Generation (vor
300 VI. Kritik der Darwin' scheu Tlieorie von der natürlichen Zuclitwahl.
Aus dem Zusammenhalt dieser Berechnungen mit dem natür-
lichen Vorkommen geht deutlich die geringe Neigung der Varietäten,
sich mit einander zu kreuzen, hervor. Wenn bei gleicher Individuen-
zahl der beiden Sippen auf je 1000 Individuen einer jeden derselben
in einer bestimmten Gegend je 1 Bastard trifft und die Bastarde
keine Nachkommen haben, so ist hier die Neigung zur Kreuzung
2000 mal geringer als diejenige zur Inzucht. Würden die Bastarde
sich fortpflanzen, so würde sich aus dem Vorkommens verhältniss
1 : 1000 eine noch geringere Neigung zur Kreuzung berechnen.
Ich bemerke noch, dass die Varietäten aus den verschiedensten
Gruppen des Pflanzenreiches sich in dieser Beziehung gleich verhalten
und dass auch die vielförmigsten Gattungen, bei denen man eine
grössere Neigung zu geschlechtlicher Vermischung erwarten möchte,
keine Ausnahme machen. Bei der Gattung ■ Hieracium mit ihren
zahllosen Varietäten sind die hybriden Formen, wie sich aus einem
genaueren Studium ergibt, viel seltener als man beim ersten Anlaufe
vermuthet.
Die Erfahrungen der Cultur stimmen mit dem Ergebniss der Beob-
achtungen im Freien überein. Es ist bekannt, dass, wenn mehrere
verwandte Rassen neben einander cultivirt werden, aus den Samen
derselben immer eine grössere Anzahl von Kreuzungsproducten auf-
geht. Befinden sich aber aus dem Freien eingeführte Varietäten neben
einander im Garten, so sind unter den Samen nur sehr selten solche
hybriden Ursprungs. Wie ich angegeben habe, werden im Münchner
Garten ca. 2500 Nummern von Hieracien gezogen. Aus den geern-
teten Samen wurden bis auf einige wenige Ausnahmen, die Bastarde er-
gaben, genau die Mutterpflanzen erhalten, und unter den vielen spontan
aufgegangenen Samen befanden sich nur ganz vereinzelte Bastarde.
Der Grund, warum Rassen gemeinschafthchen Ursprungs selbst
bei grosser Verschiedenheit der Merkmale sich leicht, dagegen
Varietäten gemeinsamen Ursprungs bei germger Verschiedenheit der
Merkmale sich schwer unter einander kreuzen, dürfte, insofern beide
durch die nämlichen Merkmale unterschieden sind, in ihrem un-
gleichen Alter zu suchen sein. Die ersteren bestehen immer nur
seit verhältnissmässig kurzer Zeit, die Blutsverwandtschaft zwischen
Beginn der hybriden Befruchtung) 100 A und 1000 B , auf die erste 9 A, 909 B
und 182 Bastarde, auf die zweite ^lisA, 7ol B und 349 Bastarde und auf die
chitte Generation Vi94s7w4., 513 B und 577 Bastarde.
VI. Kritik der Dar^Ain'sclie'u Theorie von der natürliclien Zuchtwahl. 301
ihnen ist sehr nahe, die Constanz, die sie erlangt haben, sehr gering.
Die Varietäten aber haben ein ganz ungleich höheres Alter, dem-
entsprechend eine geringe Blutsverwandtschaft und eine grosse Be-
ständigkeit. Die Wirkung dieser Momente geschieht durch das
Idioplasma, welches bei der geschlechtlichen Befruchtung eine grössere
oder geringere Neigung zur Vereinigung besitzt. Das Idioplasma
der Rassen von gemeinsamem Ursprung hat die Configuration, die
es in den Stammeltern besass, noch nicht wesentlich verändern und
eigenthümlich gestalten können. Das Idioplasma der Varietäten
dagegen hatte Zeit, sich specifisch auszubilden, und in Folge dessen
ist die Uebereinstimmung in seiner Configuration geringer. — Es
gibt übrigens auch Varietäten, die sich schon deswegen nicht
kreuzen, weil ihre idioplasmatischen Anlagen an und für sich eine
Vereinigung nur schwer oder gar nicht gestatten. Diese Varietäten
haben, schon ehe sie fertig gebildet sind, eine Abneigung vor gegen-
seitiger Befruchtung (vgl. S. 255 — 257).
Es ist nun die Frage, welchen Einfluss werden zwei Sippen,
die in dem beschränkten Connubimn leben, wie es mit den natür-
lichen Varietäten thatsächlich der Fall ist, aufeinander ausüben?
Wir können diese Frage sowohl theoretisch als durch Erfahrung
beantworten. Was die Theorie betrifft, so lässt sich nach Wahr-
scheinlichkeitsrechnung bestimmen, wie viel Blut bei bestimmter
Anzahl der hybriden Producte eine Varietät aus der andern auf-
nimmt. Sind keine hybriden Zwischenformen vorhanden, so geht
natürlich kein Blut von einer Sippe in die andere über. Ebenso
verhält es sich, w^enn nur die Mittelform [Ä-]-B) besteht, weil in
diesem Fall eine weitere Bastardirung nicht statt hat.
Kommen aber ausser der Mittelform auch andere hybride Glieder
zwischen dieser und den Stammsippen vor, so hängt der Erfolg von
der Häufigkeit dieser weiteren Bastardirungen ab. Dieselbe lässt
sich in der Praxis jedoch nicht ziffermässig angeben, weil die ein-
zelnen Glieder nicht sicher erkannt werden. Wenn der j^i'i'^^^ii'e
Bastard {Ä-\-B) der beiden Sippen Ä und B sich weiter mit der
Sippe Ä kreuzt, so hat die zweite hybride Generation die Formel
(3^4-5), die dritte {lÄ-\-B), die vierte (15.4+1>'), die fünfte
[iMÄ-{-B) u. s. w. Schon die zweite Generation (o^l-j-J5) lässt sich
in der Regel nur schwer, die andern aber meist gar nicht nacli
ihrem Bastardirungsgrade erkennen.
B02 ^""T- Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürlichen 5iuchtwahl.
Eine sichere Berechnung lässt sich daher nur in der Art aus-
führen, dass man für einen bestimmten Fall das Maximum des
Blutes, das aus einer Varietät in die andere übergeht, feststellt.
Dieses Maximum erhält man, indem man eine grössere Neigung zur
Bastardirung zwischen der Mittelform und einer Stammsippe voraus-
setzt, als sie wirklich vorkommen kann. Zu diesem Behuf nehme
ich a]i, dass die Neigung des primären Bastardes (^l-j-l)'), sich mit ^
zu kreuzen, 100 mal so gross sei als die Neigung zur Bastardirung
zwischen Ä und JB, was, nach der Seltenheit der Form {3Ä~\-B)
bei allen natürlichen Pflanzenbastardon entschieden zu viel ist, und
dass die Neigung der zweiten hybriden Generation (3 A -4- B) sowie
der folgenden zur geschlechtlichen Vermischung mit der Varietät A
genau ebenso gross sei als die Neigung der letzteren zur Inzucht,
was ganz sicher weit übertrieben ist. Wenn nun auf je 1000 Indi-
viduen von A und von B 1 Individuum der Mittelform [A-}-B)
trifft, so ist die Neigung dieser beiden Formen, sich mit einander
zu bastardiren, 2000 mal geringer als die Neigung zur Inzucht, und
die Neigung der Sippe A, sich mit dem primären Bastard zu kreuzen,
20 mal geringer als die Neigung zur Inzucht. Solange imn dieses
Verhalten andauert, geht mit jeder Generation V^oooo Blut von der
Varietät B in A über, oder mit andern Worten, 40000 Individuen von A
nehmen das Blut von einem Individuum B auf. Ist die Individuum-
zahl von A nicht sehr gross, so wird die Form {oA-{-B), weil ihre
Ziffer unter V2 sinkt, leicht ausbleiben, und dann auch der Ueber-
gang von Blut gar nicht zu Stande kommen^).
Diese Berechnung gilt bloss für den Fall, dass die gemachten
Annahmen wirklich erfüllt sind, dass nämlich in einer Gegend der
primäre Bastard [A-\-B) den tausendsten Theil der Individuenzahl
') Unter den obigen Voraussetzungen berechnen sich für die aufeinander
folgenden Generationen folgende Verhältnisszahlen, wenn die beiden Stammsippen
in gleicher Zahl vorhanden sind und die Gesammtindividuenzahl ungefähr 20000
beträgt :
0. Gen. 10000 A + 10000 B.
1. Gen. 10000 A + 10000 J3 + 10 (^ + B).
2. Gen. 10000 A + 10000 £ + 10 (^ -|- 5) 4- 1 (3^ -f 5).
3. Gen. 10000 A + 10000 B -\-10(A -\- B)-\-l (ßA ]- B)'^2 (7 A-\- B).
4. Gen. 10000 A -f 10000 B -\-\0{A^B)-\-l(ßA -|- J5) + 2(7 ^+iJ)+4(15^ + £).
1(^1 habe die kleinsten Glieder weggelassen, da sie gar keine Wirkung haben
können ; in der 3. Generation wäi-e nämlich noch Vioo(5.4 -|-37?), in der 4. Genera-
VI. Kritik der Danvin'sc-hen Theorie von der natürliehen Zuclitwahl. 308
von Ä ausmacht, dass auf je 10 Individuen desselben 1 Individuum
des secundären Bastards {3Ä-\-B) kommt, und dass die übrigen
Glieder der hybriden Uebergangsreihe in der angegebenen Zahl
vorhanden sind. Diese Bedingungen treffen aber fast nie ein, weil die
Bastarde nicht das angegebene numerische Verhältniss erreichen, und
es kann daher als ein höchst seltener Fall bezeichnet werden, wenn
einmal eine Sippe wirklich V40000 fremdes Blut in sich aufnimmt.
Man möchte vielleicht einwenden, dass die primären Bastarde
in einzelnen Gattungen mehr als Vi 000 der Individuenzahl einer
Stammsippe betragen. Dies ist gewiss richtig für einzelne Standorte,
Aber es gibt andere Standorte, wo die beiden Stammsippen ohne
Bastarde vorkommen, und viele Standorte, wo nur eine derselben
(ebenfalls ohne Bastarde) wächst, so dass das Verhältniss von f looo
selten erreickt wird. — Sollte dieses Verhältniss aber auch da oder
dort überschritten werden, so wächst wohl der Bruchtheil des auf-
genommenen fremden Blutes in entsprechendem Maasse, ohne dass
deswegen das allgemeine Resultat sich ändert.
Das wichtigste und das ausschlaggebende Moment besteht nämhch
nicht in der Zahl der Bastarde überhaupt, sondern in der Thatsache,
dass fast nie die ganze hybride Uebergangsreihe von dem primären
Bastard [Ä-^B) bis zu einer der beiden StammsijDpen vorkommt.
Häufig findet man bloss den primären Bastard [Ä-\-B); seltener beob-
achtet man neben demselben noch den secundären Bastard [3ä-\-B)
oder einen anderen, der sich noch mehr der Sippe J. nähert. Ein
solches Verhalten lässt aber die Reinheit der Sippe ganz unberührt;
nur wenn sich die ganze Uebergangsreihe bildete, könnte fremdes
Blut in die Stammsippe übergeführt werden. Gewöhnlich sterben
die Bastarde oder ihre Nachkommen, ohne dieses Ziel zu erreichen.
tion wären V500 (5 J. + SB) -f 2/500 (U ^ -f- 5B) + Vsooo (134 + SB) iind drei andere
noch viel kleinere Ausdrücke beizufügen.
Die Bedeutung dieser Eeihe ist klar. Die Bastarde, die der Stammsippe Ä
am nächsten kommen , haben in der 2. Generation die Formel Qi A-{~ B), somit
*/4 Blut von A und V* Blut von B, in der 3. Generation die Formel (7Ä-\-B),
also Vs Blut von B, in der 4. Generation Vie Blut von B und die Formel
(15 J.-I--B) u. s. w. ; in gleichem Maasse, wie das Blut von B in den im Ueber-
gange zu A am meisten fortgeschrittenen Bastarde sich verdünnt, ninnnt die Zahl
dieser Bastarde zu. Die 2. Generation hat 1 Individuum mit V4B, die 3. 2 Indiv.
mit VsJB, die 4. 4 Indiv. mit VisJB, die 5. Generation hat 8 Indiv. mit Vsa^ u. s. w.,
so dass also mit jeder Generation das Blut von V4JB in die 10000.1 übergeht.
304 VI. Kritik der Darwin'selien Tlieorie von der natürlichen Zuchtwahl.
Tritt nun aber einmal unter ganz besonders günstigen Um-
ständen der Ausnahmefall ein, dass ^/loooo oder auch etwas mehr
fremdes Blut in eine Sijjpe übergeht, so erhebt sich erst die Frage,
was denn ein solches Ereigniss eigentlich zu bedeuten habe. Darüber
gibt uns folgende Er\vägung hinreichenden Aufschluss.
Der primäre Bastard [A -\- B) enthält V2 , der secundäre (3 ^ -]- B)
enthält '/-i, der tertiäre [lA^B] Vs, die folgenden Glieder der hybriden
Uebergangsreihe Viü, ^32, V«*, V128, \256, V512, '/102.1 u. s. w. Blut
der andern Sippe [B). Je mehr das fremde Blut sich in einer Sippe
ausl:)reitet, um so geringer wird sein Bruchtheil. Die Micellgruppen
des Idioplasmas, welche die Anlagen darstellen, bestehen aus einer
begrenzten Zahl von Micellen. Wenn das fremde Blut in dem
Maasse, wie es die vorhin angeführte Reihe zeigt, abnimmt, so werden
die demselben entsj^rechenden Micellgruppen bald so klein, dass sie
nicht mehr die Bedeutung von Anlagen haben. Denn ein einzelnes
Micell oder auch ein Paar, vielleicht noch 3 und 4 Micelle wirken
nicht als fremdes Blut, sondern bloss als ernährende Substanz.
Man kann also nicht sagen, dass die Sippe J., wenn sie */4oooo
Blut von B aufnimmt, sich um V40000 ihrer Eigenschaften der Sippe B
nähere ; sie bleibt in Wirklichkeit ganz unverändert, weil das fi"emde
Blut bei einer gewissen Verdünnung seine specifische Wirksamkeit
ganz verliert. Auch die öfters wiederholte Aufnahme von so geringen
Mengen fremden Blutes hätte keine Wirkung, weil dabei nicht etwa
kleine Werthe, sondern Nullen summirt würden. Dies gilt für alle
Anlagen des fremden Blutes, die in bemerkbarer Weise von denen
des eigenen Blutes abweichen, denn dieselben werden unvermischt
in das Idioplasma eingelagert, wie es auf Seite 226 der »zweite Typus
der Vereinigung« angibt.
Anders als die (natürlichen) Varietäten und Arten verhalten
sich die (künstlichen) Rassen, und man spricht mit vollem Rechte
davon, dass eine Rasse fremdes Blut aufgenommen habe und dadurch
verändert worden sei. Die Verschiedenlieit rührt aber nur daher,
weil die Mengenverhältnisse ganz andere sind. Wird eine Rasse
durch fremdes Blut verbessert, so macht das letztere bei diesem
künstlich eingeleiteten und überwachten Vorgang einen Bruchtheil
von merklicher Grösse aus. Man begreift, dass Vi bis Vie oder selbst
V32 Blut einen Organisnms in einer bestimmten Weise zu verändern
vermag.
VI. Kritik der Darwin'schcu TliCMjrie von der natürlielien Zuclitwald. IJOo
Uebrigens koniint bei diesem Vorgang noch ein anderer Umstand
zur Geltung. Wenn beispielsweise eine Rasse A durch Einführung
von bloss V32 Blut von B merklich verändert wird, so besteht diese
Veränderung nicht etwa nur in einem in der Grösse von V32
nach B hin gemachten Schritt, sondern die Veränderung besteht
namentlich auch darin, dass durch die Kreuzung Eigenschaften, die
bisher in Ä latent waren, manifest werden. Würde aber, was aller-
dings keinem Thierzüchter einfällt, in eine Rasse IdIoss Vi 000 bis
V40000 fremdes Blut eingeführt, so verschwände dasselbe darin wohl
ebenso spurlos wie in einer natürlichen Varietät oder Art. Und
wenn es eine geringe Wirkung haben sollte, so geschähe es gewiss
bloss durch manifest werdende eigene Eigenschaften, nicht durch
Uebertragung fremder IMerkmale.
Die theoretische Betrachtung drängt uns also die Schlussfolge-
rung auf, dass natürliche Varietäten und Arten, die in dem be-
schränkten Connubium leiten, wie es in der freien Natur der Fall
ist, gar keine verändernde Wirkung auf einander auszuüben ver-
mögen. Es ist dies ein sehr merkwürdiges Resultat, welches man
bei einem allgemeinen Ueberschlag kaum erwarten würde, und das
man erst begreift, wenn man den Verlauf der Kreuzungen in exacter
Weise analysirt.
Dieses aus dem Vorkommen der Kreuzungsproducte abgeleitete
Resultat ist übrigens in genauer Uebereinstimmung mit einer Reihe
von Erfahrungsthatsachen. Wenn in einer Gegend eine Sippe Ä
mit einer andern B im Connubium lebt und Blut aus ihr aufnimmt,
so möchte man erwarten, dass sie in ihren Merkmalen etwas ver-
schieden sei von ihren Sipj)enangehörigen, die in einer andern Gegend
leben und daselbst Reinzucht halten. Dies ist nicht der Fall, und
dadurch wird l:)ewiesen , dass in der That entweder kein Blut auf-
genommen wird, oder dass das aufgenommene Blut keine A^erände-
rung der Merkmale verursacht.
Ich habe Hieracien -Varietäten von Standorten, wo sie durch
gleitende Uebergänge verbunden zu sein scheinen und wo somit die
Mögliclikeit besteht, dass sie Blut von einander empfangen hal)en,
mit solchen aus anderen Gegenden, wo keine Uebergänge vor-
konnnen, genau verglichen und nicht den geringsten Unterschied
auründen können. Das gleiche Ergebniss erhielt ich bei Cirsien-
Arten. Einige derselben l)ilden in gewissen Gegenden ziemlich
V. Nägel i, Abstammungslehre. 20
^306 VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl.
zahlreiche Bastarde, so z. B. C. palustre und C. oleraceum, C. rivii-
lare und C. oleraceum. Es gibt auch Individuen von C. oleraceum
sowie von C. rivulare und C. 2:)alustre, welche unzweifelhaft den
Einfluss wiederholter Bastardirung zeigen, so dass sie vielleicht der
Formel [31 A-\-1j) oder (G3^-|--^) entsprechen. Aber alle übrigen
Individuen unterscheiden sich nicht von C. oleraceum, C. rivulare
oder C. palustre aus Gegenden, wo diese Arten allein vorkommen
und wo man eine von jeher bestehende Reinzucht sicher annehmen
kann.
.Aus den angeführten Thatsachen und Erwägungen geht un-
bestreitbar hervor, dass man aus den Erfahrungen an den (künst-
lichen) Rassen nicht auf das Verhalten der (natürlichen) Varietäten
bei der Kreuzung schliessen darf. Die Rasse kann nur zu Stande
kommen , wenn die schädliche Kreuzung vermieden ist. Die Aus-
bildung und Divergenz der Varietäten dagegen ward durch die Kreu-
zung nicht gestört. Diese Folgerung habe ich vor längerer Zeit
schon aus der Thatsache gezogen, dass alle, auch die geringsten
Grade der Variation von Pflanzenarten beisammen auf den näm-
lichen Standorten getroffen werden, und ich habe daraus weiter das
mit der Selectionstheorie im Widerspruche stehende gesellige Ent-
stehen der Varietäten gefolgert^). Dabei beurtheilte ich die Verän-
derung noch ausschliesslich nach den sichtbaren Merkmalen.
Ich habe nun die Entstehung der Varietäten auch von der einzig-
vorwurfsfreien und zulässigen Seite, nämlich mit Rücksicht auf das
Verhalten des Idioplasmas, geprüft (S. 248 — 258) und gefunden, dass
es Varietäten geben muss, die schon während der früheren Perioden
ihres Entstehens ein gesellschaftliches Vorkommen und die beständige
Möglichkeit gegenseitiger Begattung ohne Gefahr ertragen, weil die
beiderseitigen idioplasmatischen Anlagen eine Vereinigung nicht oder
nur schwer gestatten und daher die Begattung ohne Erfolg ist, —
dass es dagegen andere A'' arietäten gibt, welche in den früheren
Perioden durch Kreuzung vernichtet werden, und welche die Kreu-
zung erst dann ohne Gefahr bestehen, wenn ihre Anlagen bis zu
einer gewissen Festigkeit gediehen sind.
*) Das gesellschaftliche Entstehen neuer Species. Sitzungsher. d. math.-
phys. Classi" <1. k. h. Akad. d. W. 1. lu-l.r. 187;}.
VI. Kritik der Darwin'sclien Tlieorie von der natürlichen Zuchtwahl. ;-)07
Im letzteren Fall kann man bezüglich der Frage des gesell-
schaftlichen oder getrennten Entstehens leicht in Irrthum gerathen,
wenn man dasselbe nach den sichtbaren Merkmalen beurtheilt. Der
Irrthum ist zwar unmöglich, w^enn die sichtbaren Merkmale mit den
sich bildenden Anlagen gleichen Schritt halten, aber nicht zu ver-
meiden, wenn die Anlagen bis zu einer gewissen Stärke sich ent-
wickeln müssen, ehe sie entfaltungsfähig werden (S. 184). Sieht
man also eine oder mehrere neue Varietäten gesellschaftlich unter
andern sich nicht abändernden Individuen zum Vorschein kommen,
so muss die Möglichkeit ins Auge gefasst werden, dass vor dem
Erscheinen der neuen Merkmale die Anlagen derselben vielleicht
schon durch lange Zeiträume anderwärts sich herangebildet haben,
und dass somit die Varietäten vor ihrem wahrnehmbaren Auftreten
eine verborgene A^'orgeschichte hatten, während der sie eine be-
trächtliche Constanz erlangen konnten.
Die Entstehung der Varietäten stellt sich in diesem Falle ganz
verschieden dar, je nachdem wir sie von dem ersten sichtbaren
Auftreten ihrer Merkmale oder von dem Beginne der Bildung ihrer
Anlagen her datiren. Nehmen wir den letzteren Standpunkt ein,
so entstehen die Varietäten, d. h. ihre Anlagen, bei getrenntem Yov-
kommen. Da alle mit einander vorkommenden Indi-\dduen einer
Sippe die gleichen inneren Ursachen und die gleichen äusseren Ein-
wirkungen erfahren, so bildet sich auch ihr Idioplasma in gleicher
Weise um und wird durch die gleiche Anlage bereichert. Bleibt
die Sippe während sehr langer Zeiträume unter den nämlichen
äusseren Einflüssen, so entfaltet sich die Anlage da, w^o sie sich
gebildet hat, und die neue sichtbare Varietät tritt isolirt auf. Werden
aber die Individuen jener Sipj)e vor dem Entfalten der Anlage durch
Wanderung zerstreut und kommen sie mit Individuen der nämlichen
Sippe, die unter anderen Verhältnissen eine andere entfaltungsfähige
Anlage gebildet haben, zusammen, so werden sich die verschiedenen
Anlagen auf dem nämlichen Platze entfalten, und es treten dann
zwei verschiedene sichtbare Varietäten der nämlichen Sippe ge-
meinsam auf, so dass man nach der blossen Bemtheilung der ent-
falteten Merkmale auch hier ein gesellschaftliches Entstehen der
Varietäten, w'iewohl mit Unrecht, vermuthen könnte.
Wir müssen also sichtbare Varietäten mit entfalteten Merk-
malen und unsichtbare Varietäten mit noch unentfalteten An-
20*
30B ^^I- Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl.
lagen unterscheiden. Die letzteren entstehen in dem angenommenen
Falle isolirt, die ersteren können isolirt oder gesellschajftlich zum
Vorschein kommen ; es hängt dies von der vorausgegangenen Wan-
derung ab. Der Zustand und die geographische Verbreitung der
Varietäten kann daher nur dann richtig beurtheilt werden, wenn wir
dabei von der letzten grossen Wanderung der Organismen ausgehen.
Das gegenwärtige Vorkommen der Pflanzen und Thiere besteht
seit dem Aufhören der Eiszeit. Während derselben lebten die alpinen
Pflanzen in der mitteleuropäischen Ebene und wanderten nachher
theils auf die verschiedenen Gebirge, theils nach dem Norden,
während aus dem Osten her Ebenenpflanzen einwanderten und sich
mit den wenigen in der Ebene zurückgebliebenen alpinen mischten.
Es gibt nun zwei Reilien von Thatsachen, welche uns über die Ver-
änderung der Gewächse seit jener Wanderung einigen Aufschluss
gewähren.
Die eine Reihe von Thatsachen , die schon wiederholt erwähnt
wurde, zeigt uns die nämlichen sichtbaren Varietäten auf verschie-
denen Gebirgen, in der Ebene und im Norden ent'weder genau gleich
oder nur sehr wenig ungleich. Sie belehrt uns über die Zeiträume,
welche für die Varietätenbildung erforderlich sind. Entweder ist
die sichtbare Varietät seit der Eiszeit unverändert geblieben, oder
sie war zur Eiszeit eine andere und ist mit den nämlichen Anlagen
auf ihre jetzigen verschiedenen Wohnsitze gekommen, wo sich die-
selben überall zu den nämliclien äusseren Merkmalen entfaltet haben.
Zeigt die ^^arietät, die in der Ebene lebt, eine geringe Verschieden-
heit von der in den Alpen wohnenden Varietät, so hat sich entweder
seit der Eiszeit eine neue Anlage gebildet und auch bereits entfaltet,
oder, was vielleicht wahrscheinlicher ist, die Pflanzen sind mit nicht
ganz fertigen Anlagen in iln-e neuen Wohnorte gekommen und haben
dieselben unter den veränderten äusseren Umständen in etwas un-
gleicher Weise fertig gebildet und dann entfaltet.
Die zweite Reihe von Thatsachen beruht in dem voi'hin er-
wälinton gesellschaftlichen Vorkommen naher und nächster sicht-
])aror \'arietäten. Es ist durchaus unwahrscheinlich, dass sie alle
durch W'^anderung sich zusammengefunden haben ; sie müssen sich
zum Theil da, wo sie sich jetzt befinden, gebildet haben. Dies geht
aus einer einfachen Erwägung hervor. Wären die siclit])aren Varie-
täten alle zusammengekommen, so müssten sie schon vor der Wan-
VI. Kritik der Darwin'sclK'ii Tlu'orie von der natiirlirlieii Zuehtwuhl. )]()[)
derung existirt haben. Bei jeder grossen Wanderung gehen aher
viele Arten und Varietäten verloren, weil ja das Weiterwandern von
mannigfaltigen Zufälligkeiten abhängt. Es niüsste also unter jener
^^oraussetzung zur Eiszeit beträchtlicli mehr Varietäten gegeben
haben als jetzt. Dies ist durchaus unannehmbar. Die Zahl der
Varietäten nimmt im Laufe der Zeiten eher zu als ab; und wenn
sie auch nur gleich bleibt, so muss doch der Verlust, der bei einer
grossen Wanderung eintritt, ersetzt werden. Es mussten also seit
der Eiszeit ziemlich viele neue sichtbare Varietäten zum Vorschein
kommen und zwar gesellschaftlich, da auch das jetzige Vorkommen
ein gesellschaftliches ist.
Entweder haben sich nun die Anlagen dieser in Gesellschaft
lebenden nächstverwandten sichtbaren Varietäten gesellschaftlich ge-
bildet und entfaltet, oder die Anlagen haben sich bis zu einem
gewissen Grad, der sie vor Vernichtung durch Kreuzung schützte,
local getrennt gebildet. Die nämliche Sippe leljte beispielsweise
während der Eiszeit unter verschiedenen Verhältnissen und an ver-
schiedenen Orten der europäischen Ebene , auf der Nordseite und
der Südseite der Alpen, und bildete daselbst verschiedene Anlagen.
A'^on den verschiedenen Orten kamen beim Verschwinden der Eiszeit
einzelne Individuen in die gleichen alpinen Wohnorte, und aus ihren
Nachkommen gingen, indem sich die geerbten Anlagen entfalteten,
verschiedene sichtbare Varietäten hervor.
Der gleiche Vorgang konnte in der El:)ene mit den aus dem
Osten eingewanderten Pflanzen stattfinden. Die nämliche sichtbare
A^arietät {A) konnte nach der Eiszeit aus drei verschiedenen östlichen
Gegenden in drei noch unsichtbaren und bloss mit ungleichen An-
lagen begabten Varietäten [Ä^ , Ä, , Ä:^) westwärts wandern : diesell)en
konnten auf der Wanderung sich vermengen und dann gemeinsam
sich festsetzen. Die drei unsichtl)aren A^arietäten entfalteten ihre
Anlagen nach kürzerer oder längerer Zeit und stellten drei in Gesell-
schaft lebende sichtbare A^arietäten dar.
Das Nämliche wird einst mit den jetzigen A'^arietäten geschehen.
Es gibt solche, die eine weite Verbreitung ]uil)en; die Anlagen, die
in ihnen entstehen, müssen je nach den wirksamen Einflüssen ver-
schieden sein. Bleibt die jetzige A^erbreitung der Gewächse während
hinreichend langer Zeit die nämliche, so werden früher oder später
an den bezüglich der Einflüsse ungleichen Orten , also in localcr
310 ^"i- Ki'itik (k'i- Darwin'sdiun Theorie von der natürliclicn Zuclitwahl.
Trennung, ebenso viele neue Varietäten auftreten ; findet aber vorher
eine grössere Wanderung und eine veränderte Vertheilung statt, so
werden zwei oder mehrere der neuen Varietäten auf dem gleichen
Standort sich entfalten können.
Das gesellschaftliche Entstehen der Varietäten erklärt uns auch
die nicht zu verkennende Erscheiimng, dass zuweilen die Varietäten
oder Arten einer Gegend in gewissen Merkmalen oder im Habitus
mit einander verwandt sind, dass sie gleichsam einen Gesellschafts-
typus zeigen. Wir begreifen dies vollkommen für den Fall , dass
sowohl die Bildung als die Entfaltung der verschiedenen Anlagen
gesellschaftlich erfolgt. Es ist aber aucli nicht unwahrscheinlich
für den zuletzt besj)rochenen Fall, dass die Anlagen bis zu einem
bestimmten Grade getrennt entstehen müssen. Ihre Ti'äger bilden
sie dann auf dem Wohnsitze, wo sie zusammenkommen, unter den
nämlichen äusseren Einflüssen, vielleicht aucli unter Mithülfe der
Kreuzung, in übereinstimmender Weise vollständig aus, und dadurch
erlangen die sich entfaltenden Varietäten einen gemeinsamen Typus.
Die Annahme Darwin's, dass die Varietätenbildung in ana-
loger Weise erfolge wie die Rassenbildung, gibt keine Erklärung für
die zahlreichen und mannigfaltigen in der Natur bestehenden That-
sachen, und die Theorie von der natürlichen Zuchtwahl lässt sich mit
den Vorkommensverhältnissen nicht in Uebereinstimmung bringen.
Man kann dieser Theorie gewiss nicht den Vorwurf machen, dass
sie in der Studirstube entstanden sei, — wohl aber, dass sie Stall
und Taubenschlag zwar gründlich untersucht , die freie Natur da-
gegen, namentlich das Pflanzenreich, aus der Vogelperspective an-
gesehen habe.
3. Wirkung der Verdrängung auf die Zuchtwahl.
Nach der Selectionstheorie müssen die Einrichtungen, welche
Bestand gewinnen sollen, bei der Concurrenz die anderen w^eniger
günstigen verdrängen, um die schädliche Kreuzung unmöglich zu
machen. Nun liegt es auf der Hand, dass eine Einrichtung erst
dann die Zuchtwahl herbeiführen kann, wenn sie sich so weit ent-
wickelt hat, um sich als nützlich zu bewähren und eine ausgiebige
Verdrängung zu verursachen.
VI. Kritik der Darwiii'sclu'ii Theorie von der uatürlielu'ii Zucht\\;dil. '] 1 1
Aus diesem Grunde ist die Selectionstlieorie im Widers])riich
mit der Lehre vom Idioplasma, namentlich mit der Annahme, dass
die Eigenschaften zuerst als idioj)lasmatische Anlagen entstehen und
nachher erst sich entfalten , denn bei einem verborgenen '\''organge
kann selbstverständlich eine Zuchtwahl nicht eintreten. Die phylo-
genetische Entwicklungsgeschichte vermag jedoch dieser den sicht-
baren Merkmalen vorausgehenden Anlagen, wenigstens für viele Fälle,
nicht zu entbehren.
Aber auch wenn wir, der bisher allgemeinen Anschauungsweise
folgend, die phylogenetische Entwicklung bloss nach Maassgabe der
sichtbaren Veränderungen sich vollziehen lassen, stellt sich die
Selectionstlieorie bei genauerer Analyse der eintretenden Erschei-
nungen als unhaltbar heraus. Diese Theorie beruhigt sich allzu-
sehr mit der allgemeinen Ueberzeugung , dass das Nützliche das
weniger Nützliche verdrängen und dadurch zur Zuchtwahl führen
müsse, ohne sich den Process in seinen Einzelheiten klar zu machen.
Die angenommene Verdrängung tritt ja jedenfalls ein, aber
immer erst in einem Stadium, in welchem sie nicht mehr durch
Zuchtwahl wirkt. Sie würde die verlangte Aufgabe erfüllen können
wenn die neuen Merkmale so zu sagen über Nacht, wenigstens in
einer oder ein Paar Generationen und in einer überwiegenden Zahl
von Individuen entständen. Aber, mögen die Veränderungen wie
immer zu Stande kommen, so viel ist unbestreitbar, dass sie äusserst
langsam sich vollziehen. Wird ja das scheinbare Stillstehen der
Sij)pen in den beiden Reichen als ein Hauptgrund gegen die Ab-
stammungslehre geltend gemacht. Erfolgt ausnahmsweise einmal,
wenn der allmähliche Uebergang der Merkmale unmöglich ist, eine
Veränderung rasch (sprungweise), so muss eine lange innere Vor-
bereitung (Bildung von Anlagen) vorausgehen, und dann haben
wir den bereits besprochenen, die Zuchtwahl ausschliessenden Fall. —
Was aber die andere Bedingung betrifft, dass die neue Eigenschaft
in einer überlegenden Anzahl von Individuen auftrete, so wider-
spricht sie der Annahme Darwin's, und sie würde auch die Selec-
tionstlieorie überhaupt überflüssig machen, weil sie die Anwesenheit
einer bestimmten und allgemein wirkenden Ursache voraussetzte und
somit das Gelingen an und für sich verbürgte.
In der Regel geschieht also die ganze Veränderung durch eine
Menge sehr kleiner Schritte, die sich auf einen langen Zeitraum
312 VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürliehen Zuchtwahl.
verth eilen. Der einzelne kleine Schritt kann über auch nur einen
entsj)rech enden winzigen Vortheü gewähren, der neben allen anderen
die Existenzfähigkeit bedingenden Momenten gänzlich verschwindet
und somit auch keinen Einfluss auf die Verdrängung hat. Dabei
macht es keinen Unterschied, ob ein bereits vorliandenes Merkmal
sich verändere oder ein neues sich bilde.
Als Beispiel einer ganz einfachen Veränderung will ich den
Hals der Giraffe oder den Rüssel des Elej^hanten wählen, wo es
sich bloss um eine Verlängerung handelt. In der vorweltlichen
Sippe, von der die Giraffe abstammt, begann die Variation und
einige Tliiere erhielten dadurch einen unmerklich längeren Hals ;
bei einer Zunahme von 1™™ im Individuum, die wohl zu gross an-
genommen ist, würden etwa 1000 Generationen für die ganze Um-
wandlung in Anspruch genommen. Das konnte aber selbstver-
ständlich auf die Zuchtwahl gar keinen Einfluss haben. Selbst
eine ziemlich merkbare Verlängerung gab den Individuen kein so
grosses Uebergewicht bei der Concurrenz, um eine Kreuzung mit
anderen Individuen und den Rückfall in die frühere Form zu ver-
hindern.
Nach der Theorie der directen Bewirkung war die Verlängerung
Folge des Bedürfnisses, das auf verschiedene Weise einen mecha-
nischen Reiz ausüben konnte, und das wir uns nur dann in einiger-
maassen sicherer Weise vorzustellen vermöchten, wenn wir die Be-
schaffenheit der Ahnensippe und die damals herrschenden Verhält-
nisse kannten. Gingen auch vielleicht zuerst zahlreiche Generationen
vorbei, in denen bloss das Idioplasma sich veränderte, und dann
wieder zahlreiche Generationen, in denen die Verlängerung jedesmal
bloss 1°^™ oder weniger betrug, so war der Erfolg doch gesichert,
da die Ursache in allen oder doch weitaus in den meisten Individuen
und durch alle Generationen thätig war.
Als Beisj)iel für ein neu auftretendes Merkmal will ich
die Hörner der Wiederkäuer anführen. Ich möchte bezweifeln, dass
1000 Generationen hinreichten, um dieselben zu ihrer jetzigen Grösse
auszubilden. Erfolgte deren Bildung nach der Selectionstheorie, so
traten die ersten Abänderungen bei wenigen der ungehörnten Vor-
fahren auf; da sie aber von mikroskopischer Kleinheit waren, so
konnten sie während der ersten fünfzig Generationen nur eine so
unbedeutende Ausdehnung erreichen, dass sie keinen nennenswerthen
VI. Kritik diT Darwiu'sdu'ii Tlicoric von der natürlichen Znclitwalil. 313
Vortheil gowälirtuii. Was half os also den wenigen Tiiflividuon in einer
Heerde, in denen diese, bei den Nachkommen erst als günstig sich
erweisende Einrichtung anfing? Von einer Selection konnte keine
Rede sein; die Kreuzung musste die begonnene Variation immer
wieder stören.
Die Theorie der directen Bewirkung lässt die Hörner durch
mechanischen Reiz entstehen. Die Thiere, denen kein anderes
Mittel der Vertheidigung oder des Angriffes zu Gebote stand, stiessen
mit dem Kopf. Wenn die dadurch bewirkte Veränderung auch
zunächst sich auf das Idioplasma beschränkte , wenn sie dann
äusserlich auch noch so klein war und noch so langsam fortschritt, so
konnte sie, da sie bei allen Individuen gleichmässig stattfand und
durch alle Generationen fortdauerte, nicht wieder verloren gehen
und musste sich so lange mid so weit ausbilden, als es alle in Be-
tracht kommenden Umstände erlaubten.
Die natürliche Zuchtwahl kann also aus dem Grunde nicht zu
Stande kommen , weil die Veränderungen im Anfange gering und
ohne Nutzen sind. Aber wenn dieselben auch, was nie möglich
ist, sofort l^eträchtlich genug wären, um einen erheljlichen Vortheil
zu gewähren, so könnten sie, weil nur in wenigen Individuen eintretend
und noch ohne Constanz, keine ausgiebige Verdrängung und Rein-
zucht bewirken. Es zeigen beispielsweise 4 auf 1000 Individuen die
allernützlichste Variation , so geht sie durch Kreuzung wieder ver-
loren. Denn eine Reinzucht wäre ja nur möglich, wenn die vier
Individuen und ihre Nachkommen so lange bloss unter einander sich
paarten, bis sie die übrigen verdrängt hätten, was eine ziendiehe
Zahl von Generationen in Anspruch nehmen würde. Für eine
solche Reinzucht ist aber kein Grund vorhanden.
Darwin hat den vorhin angeführten Fall der Giraffe gleichfalls
erörtert, um an demselben die Möglichkeit der Zuchtwahl dazuthun.
Er wiederholt aber nur die bekannten allgemeinen Sätze, welche
nach meiner Ansicht, sowie man ihnen eine concrete und bestimmte
Form geben will, zu Unmöglichkeiten führen. Unter den Vorfahren
des genannten Thieres, sagt er, hätten sich wie gewöhnlich individuelle
Verschiedenheiten in der Grösse gefunden; diejenigen Individuen,
welche nur 1 bis 2 Zoll höher hinaufreichten, wären in Zeiten der
Hungersnöthe allgemein am Leben geblieben und hätten sich ge-
kreuzt, während die kleineren dem Aussterljen allein ausgesetzt waren.
314 y^- Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürlielieii Zuchtwahl.
Hierauf könnte man erwidern, dass in der jährlich eintretenden
Zeit der knappen Nahrung nicht ein ahgemeines Sterben eintritt,
sondern die Thiere magern al), um sich in der günstigeren Jahres-
zeit wieder zu erholen. Sterben mehrere, so sind es nicht die um
1 bis 2 Zoll w^eniger hohen, sondern die ältesten und überhaupt
die schwächsten.
Mit diesen 1 bis 2 Zoll Grössendifferenz Darwin 's scheint
übrigens der geringe Zuwachs von 1 "™, den ich in Anschlag gebracht
habe, in sonderbarem Widerspruch zu stehen. Aber es ist zu be-
merken, dass die genannten 1 bis 2 Zoll die individuelle Verschie-
denheit innerhalb der Sippe, nicht die eintretende phylogenetische
Variation bedeuten, und dass in der Vermengung dieser beiden Be-
griffe der Ti'ugschluss Darwin 's liegt. Nehmen wir einmal mit
demselben an, dass die unbekannte Sippe, aus der die Giraffe her-
vorging, in ihrer Höhe um 1 bis 2 Zoll variirte, dass also beispiels-
weise die kleineren Individuen 12', die grösseren 12' 2" hoch waren.
Diese Verschiedenheit ist wohl mit Rücksicht auf die so auffallende
Einförmigkeit der natürlichen Sippen gross genug angeschlagen;
wäre sie aber auch viel grösser, so würde dies auf den Erfolg keinen
Einfluss haben. Denn die nämliche Verschiedenheit war von jeher
vorhanden und hatte keine andere Bedeutung, als wie sie die Grenz-
werthe des Formenkreises in jeder Sippe haben. Es sind die Maasse,
zwischen denen die Individuen hin und her schwanken und über
die sie nicht hinaus können. Die Nachkommen der kleinsten In-
dividuen werden wieder grösser, die Nachkommen der grössten
wieder kleiner.
Wenn nun auch der unwahrscheinliche Fall eintrat, dass in
einer Zeit der Hungersnoth alle kleineren Individuen zu Grunde
gingen und nur die 12' 2" hohen übrig blieben, was war die Folge?
Keine andere als die, dass, entsprechend der Befähigung der Sij^pe,
sich imierhalb eines bestimmten Formenkreises zu bewegen, unter
den Nachkommen der 12' 2" hohen Individuen sich auch wieder
kleinere befanden, und dass in besseren Zeiten bei stärkerer Ver-
mehrung der alte Formenkreis von 12' bis 12' 2" Höhe wieder
herrschend wurde. Dies ist ja der Wechsel, der an allen Varietäten
und Arten beobachtet wird; geht bei natürlichen Sij^pen in Folge
von ungünstigen Verhältnissen ein Theil des Formenkreises verloren,
so wird er unter besseren Verhältnissen wieder hergestellt. Eine
VI. Kritik der DurwiiiHclK'ii Tlicoric von der natürliehen Zuclitwalil. ol5
gieiclie Rediiction auf die gröbsten üborlel)cndcii Thieru imis.ste ja
während der langen Dauer der Almensq^ipe der Giraffe wiederholt
bei Hungersnoth eingetreten sein, und ungeachtet dieses wiederholten
Ereignisses hat sich die angenommene Höhendifferenz in dem Formen-
kreis erhalten. Und sie musste sich so lange erhalten, als die erb-
lichen, d. h. idioplasmatischen Eigenschaften unverändert blieben.
Diese indi\dduelle Verschiedenheit, die uns der Formenkreis
angibt, ist ohne Bedeutung für die j^hylogenetische Fortbildung zu
einer neuen Sippe; sie bleibt ja, wde ich mich schon früher
ausgedrückt habe, innerhalb der ontogenetischen Elastizitätsgrenze.
Gingen auch einmal alle Individuen der Ahnensippe bis auf die
grössten (von 12' 2" Höhe) zu Grunde, so musste nun zur Um-
änderung in eine neue Sijipe noch die phylogenetische Variation
hinzukommen, die ich zu 1'"'" taxirte. Und wir stehen wieder vor
der gewiss nicht zu bestreitenden Thatsache, dass 1'""' Höhenunter-
schied bei einem 12 Fuss hohen Thier ohne alle Wirkung bezüglich
der Verdrängung ist.
Ich sehe recht wohl ein, dass, wenn in einer Gesellschaft von
10000 Individuen stetsfort auch nur ein einziges Individuum in
nützlicher Weise sich dauernd (erl)lich) verändert, dann die ganze
Gesellschaft wenigstens theoretisch mit mechanischer Nothwendigkeit
in der gleichen Richtung nachfolgen wird. Denn die entstehenden
Eigenschaften breiten sich durch Kreuzung in der Gesellschaft aus,
und wenn sie sich soweit ausgebildet haben, um ihre Nützlichkeit
zu 1)e währen, so müssen sie sich auch an der ohnehin stets thätigen
Verdrängung mitbetheiligen. Ob jedoch und wie diese theoretische
Nothwendigkeit in die Praxis übergehe, das w'ürde von verschiedenen,
hier nicht weiter zu erörternden Bedingungen, welche die Ver-
änderung erblich machen, abhängen.
Sollte aber auch dieser Vorgang wirklich statthaben, — (ich
bezweifle, dass dies je der Fall ist, weil die Ursachen, welche erb-
liche A'^eränderungen hervorbringen, gleichartiger Natur sind und
wenigstens auf die grosse Mehrzahl der Individuen, wenn nicht auf
alle, einw'irken) — so dürfte er doch offenbar nicht als natürliche
Zuchtwahl der künstlichen an die Seite gestellt werden, da die
Kreuzung mit allen anderen Individuen der Gesellschaft nie gehemmt
ist. Die Selectionstheorie, welche hier natürliche Zuchtwahl annimmt,
verwechselt, wie mir scheint, Ursache und Wirkung. Die A'^erän-
3 IG VI. Kritik der Darwin' sdien Theorie von der natürlichen Zuchtwahl.
derung findet nicht statt, weil die Verdrängung als Ursache mithilft;
sondern, wenn die Veränderung durch ihre specifischen Ursachen
hinreichend gross geworden, so führt sie als nothwendige Folge die
Verdrängung herbei.
Dass eine phylogenetische Veränderung in der langen Periode
ihres Beginnes nicht durch Verdrängung eine natürliche Zuchtwahl
verursachen und dadurch sich die Existenz sichern kann, ist unbe-
streitbar, und daher ist es auch sehr begreiflich, dass ein begeisterter
Anhänger der Selectionstheorie diese durch eine Hilfstheorie, die
Separation oder Migration, retten wollte. Ich halte es für eine
logische Nothwendigkeit, dass, wenn man an der Selection festhält,
man die Migration mit in den Kauf nehmen muss.
Die Migrationstheorie habe ich für unmöglich erklärt, weil sie
im Widerspruche steht mit den thatsächlichen Vorkommensverhält-
nissen der Pflanzen und noch mehr mit den klaren Forderungen
natürlicher Gesetze. Diese Theorie ist auch der Darwin 'sehen
Schule offenbar sehr ungelegen gekommen. Der schwache Punkt
in der Selectionstheorie, den sie beseitigen will, lässt sich ja mit
gutem Gewissen nicht wegleugnen; aber das Heilmittel ist doch für
schlimmer angesehen worden als das Uebel. Denn die Unmöglichkeit
der Migration ist viel leichter einzusehen als die Unmöglichkeit der
natürlichen Selection. Jener schwache Punkt dieser letzteren, dass
werdende Vortheile noch keine Verdrängung zu bewirken vermögen,
lässt sich durch allgemeine Phrasen umgehen und verdecken. Aber
die Vorstellung, dass die abändernden Individuen sich zur Reinzucht
isoliren, ist so bestimmt und zugleich so unnatürlich, dass kein
Zoolog oder Botaniker sie seinem Publikum ohne ganz entscheidende
Belege und neue theoretische Erklärungen bieten dürfte. Immerhin
gehört die Migrationstheorie, weil sie eine logische Folge der Selec-
tionstheorie ist, zu den stärksten Widerlegungen der letzteren.
4. Wirkung der Ernährungseinflüsse.
Nach der Selectionstheorie ist die ganze Organisation eine Folge
der Ernährungsursachen im weitesten Sinne oder überhaupt der
äusseren Einflüsse. Dieselben wirken auf alle einzelnen Theile des
Organismus und veranlassen vielerlei A^ariationen, aus denen dann
die Zuchtwahl die nützliclien festhalte und fortpflanze.
VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürliehcn Zuchtwahl. ,->l7
Hierauf ist zunächst zu erwidern, dass man, was bisher nicht
berücksichtigt wurde, zweierlei Ursachen trennen muss, diejenigen,
welche Kraft und Stoff liefern, und diejenigen, welche der organi-
sirenden Thätigkeit die Richtung geben und erbliche Veränderungen
verursachen. Dass Kraft und Stoff aus der Ernährung geschöpft
werden, ist längst unzweifelhaft, denn es gibt keine andere Mög-
lichkeit. Was aber die organisirende und vererbende Thätigkeit
bestimme, musste erst noch bewiesen werden.
Es ist eine beliebte Redensart, dass die den äusseren Verhält-
nissen angepassten Organismen unverändert bleiben, so lange sie
in diesen A'erhältnissen leben, dass sie aber, wenn sie wandern und
unter andere äussere Einflüsse kommen, zu variiren anfangen, womit
dann die Wirkung dieser Einflüsse dargethan wäre. Allein bezüglich
des Pflanzenreiches ist dieser Satz in dem Sinne, wie er ausge-
sprochen wird, durch keine einzige Thatsache bewiesen, wohl aber
durch viele widerlegt. Ich erinnere daran, dass manche Pflanzen-
arten am Ende der Eiszeit theils auf die Alj^en, theils in den hohen
Norden gew^andert und jetzt noch an beiden Orten ganz gleich sind,
dass andere zur nämlichen Zeit aus dem Osten nach Deutschland
gekommen und jetzt noch unverändert sind, dass sehr nahe ver-
wandte Varietäten seit der Eiszeit unter den verschiedensten äusseren
Verhältnissen gleich geblieben sind (S. 104). Auch die Wanderungen
aus einem Welttheil in den anderen in historischer Zeit sind zu
erwähnen, obgleich die Dauer des neuen Aufenthaltes viel kürzer
ist. Wenn die Ernährungsursachen im weitesten Sinne eine erbliche
Veränderung bewirken würden, warum haben sie es in diesen Fällen
niclit gethan?
Uebrigens könnten wir uns nur schwer vorstellen, wie die so
unbestimmten Ursachen all die verschiedenen und charakteristischen
Eigenschaften der Thiere und Pflanzen hervorgebracht hal)en sollten.
Dies wäre jedenfalls imr in der Art möglich, dass sie entsj^rechend
ihrer Natur mannigfaltige Veränderungen bewirkten, und dass dann
in irgend einer Weise die passenden ausgewählt würden, wie dies
auch die Selectionstheorie anninnnt. In einer variirenden Sippe —
und es ist kein Grund vorhanden, warum sie nicht alle und immer
variirten — müssten in den verschiedenen Individuen Anfänge von
allen möglichen Merkmalen entstehen, denn nur so ist Sicherheit
geboten, dass auch das Richtige dariuiter sei. Sonst könnte es, da
318 Vi. Kritik der Darwin'schen Theorie von der nattirliehen Zuelitwahl.
die Ernähruiigseinflüsse keine Beziehung zu bestimmten Eigenschaften
haben, leicht geschehen, dass gerade diejenige, die in dem betreffenden
Falle Bedürfniss ist, mangelte. Unter den Veränderungen in der
Ahnensippe der Giraffe wären vielleicht stärkere Hörner, ein längerer
Schwanz, dickerer Pelz, eine andere Farbe, verbesserte Sinnesorgane,
eine kleinere Statur u. s. w., aber nicht der längere Hals und die
höheren Beine, welche Nutzen gewährten, vertreten gewesen.
Um also den Erfolg zu sichern, müsste die Theorie annehmen,
dass alle Veränderungen, die nach der vorhandenen Organisation
denkbar und möglich sind, zu jeder Zeit auch wirklich eintreten,
soweit es nämlich die Individuenzahl gestattet. Die Menge dieser
Veränderungen geht aber nicht nur in die Tausende, sondern selbst
in die Milhonen, weil jede einzelne Zelle in verschiedener Weise
sich mnbilden kann. Man macht sich vielleicht diese Forderung
nicht ganz klar ; sie ist aber logisch und nothwendig, wenn sie auch
wenig natürlich und vernünftig erscheinen mag. Die Theorie müsste
nämlich ferner annehmen, dass die allseitig eintretenden Verände-
rungen erblich seien, was sie offenbar unbewusst thut, ohne sich
Rechenschaft zu geben, dass die zahllosen kleinen Abweichungen, die
wirklich in den Zellen vorkommen, innerhalb der Elastizitätsgrenze
liegen und dem Gebiete der nicht erblichen Modificationen angehören,
also auch für den phylogenetischen Fortschritt ohne Bedeutung sind.
Wie wird nun unter den vielen Variationen die richtige aus-
gewählt? Da, wie wir gesehen haben, eine Zuchtwahl durch Ver-
drängung unmöglich ist (S. 310 ff.), so müsste sie auf eine andere
Art, z. B. durch Absonderung der wenigen in gleicher Weise und
zugleich nützlich abgeänderten Individuen zu Stande kommen. Ich
mll die höchste Unwahrscheinlichkeit dieses oder jedes andern die
Reinzucht bewirkenden Vorganges an dieser Stelle nicht darthun;
es genügt zunächst auszusprechen, dass in keinem Falle eine Zucht-
wahl zu Stande kommen kann.
Um den Erfolg der Zuchtwahl anschaulicher zu machen, setzt
man gewöhnlich voraus, dass, wenn die Variation begonnen habe,
sie leicht in den folgenden Generationen fortdauere und sich steigere.
Es ist dies wieder eine Vorstelhmg, welche die Selectionstheorie
mit Unrecht von der künstlichen Rassenbildung auf die natürliclie
Varietätenbildung übertragen hat. Die A^ergleichung wäre nur ge-
rechtfertigt l)ei Identität der ursächlichen Momente. Nun hat aber
VI. Kritik der Darwin'schen Thoorio von der natürlichen Znolitwalil. 319
das leichte Variiren und das Fortdauern oder Steigern der begonnenen
Variation bei der Rasse bestimmte physische Ursachen, während
das plötzhche Auftreten der Veränderung und mehr noch die er-
folgende Steigerung in den nächsten Generationen bei den natür-
lichen Sij)pen, wo es die Selectionstheorie ebenfalls annimmt, ein
wahrer deus ex machina ist.
In der Rasse tritt, vornehmlich in Folge von Kreuzung, A'ariation
ein, weil latente Anlagen, die von vorgängigen Kreuzungen her in
Menge vorhanden smd, manifest w^erden, — und es ist sehr be-
greiflich, dass dieser Umbildungsprocess des gemischten Idioplasmas
manchmal nicht mit einem Schlage beendigt wird, sondern durch
einige Generationen fortdauert. Diese Ursachen sind bei den natür-
hchen Sippen nicht vorhanden. Für den Fall, dass Kreuzung mit
anderen Sippen eintritt, so kann dieselbe im allgemeinen keine
latenten Anlagen zur Entfaltung bringen, w^eil fast keine vorhanden
sind, und wenn es etwa der Fall wäre, so bewirkt dieser Vorgang
ja nur einen Rückschritt, nicht aber den Fortschritt, der zu erklären
ist. — Es können daher für den Standj3unkt der Selectionstheorie
bloss äussere Einflüsse sein, welche die Variation einleiten. Warmn
sie es durch lange Zeiträume nicht thaten und nun auf einmal
die Kraft dazu erlangen, bleibt ein Räthsel, dessen Auflösung uns
die bereits erwähnte Hinweisung auf die geänderten Einflüsse nicht
zu geben vermag. Denn wenn eine Sippe unter andere äussere
Verliältnisse kommt, so könnten, wenn hierin die Ursache der Ver-
änderung liegt, nicht nur einzelne Individuen, vde es die Selections-
theorie annimmt, sondern es müssten alle oder doch die grosse
Mehrzahl sich verändern.
Setzen wir uns über dieses Räthsel hinw^eg, so stehen wir vor
dem noch grösseren Räthsel, warum die begonnene ^^ariation in
den folgenden Generationen andauern soll. Da die Selectionstheorie
von einer ganzen Gesellschaft, die sich unter den nämlichen äusseren
Verhältnissen befindet, nur einzelne wenige variiren lässt, so muss
angenommen w^erden, dass von allen auf die Individuen hier ein-
wirkenden Combinationen der Ernährungseinflüsse nur eine ganz
bestimmte und selten verwirklichte Combination die Veränderung
hervorbringe. Die Individuen, die diese erste Stufe der Veränderung-
erfahren, übertragen die beginnende Eigenschaft dm'ch Vererbung
auf ihre Kinder. Ob aber in diesen abermals die gleiche Variation
320 VI. Kritik der Darwin'öchen Theorie von der natürlichen Znclitwahl.
eintrete, ist ein Zufall ; es geschieht nur, wenn die nämliche specifische
Combination der Ernährungseinflüsse, die sich als günstig erwiesen
hat, abermals eintritt. Die Aussicht, dass dies geschehe, lässt sich
unter bestimmten Annahmen durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung
ermitteln. Der nämliche Wechselfall wiederholt sich dann bei jeder
folgenden Generation.
Angenommen, es zeige durchschnittlich unter je 100 Individuen
eines die günstige Variation, die Wahrscheinlichkeit, dass sie über-
haupt eintrete, betrage also Vioo, — und die Grösse der Veränderung
in diesem Individuum, gleichsam die Menge neuen Blutes, die dem-
selben durch die äusseren Einflüsse zugeführt wird, w^erde durch
h bezeichnet. Ferner bestehe die Gesellschaft durch die auf ein-
ander folgenden Generationen constant aus 2000 Individuen, wovon
die Hälfte Männchen, die Hälfte Weibchen, und jedes Paar habe
gleich viele Kinder, ebenfalls zur Hälfte männlichen und zur Hälfte
weiblichen Geschlechts. In der Generation, in welcher die Variation
beginnt, befinden sich also unter den 2000 Individuen 20 abgeän-
derte [b) und zwar 10 männliche [mb) und 10 weibliche [wb). Zu-
nächst ist zu bestimmen, in w^elchen Verhältnissen die Paarungen
wahrscheinlich eintreten; dieselben sind Einblut2Jaarungen(/>) zwischen
mh und u'b, Halbblutpaarungen 1 t« ), indem nur das eine Glied b
enthält, also ml) oder wb ist, und Ohnblutpaarungen (o). Die denkbar
möglichen Paarungen sind lOOOOOO, darunter 100 (/>), 19800 (--j
und 980 100 (o). Die Zahl der wirklichen Paarungen beträgt 1000,
darunter wahrscheinlich 0,1 (/>), 19,8 ( ,, | und 98(),1 (o); d. h. wenn
das Ereigniss, nämlich die \"ariation unter den angenommenen Um-
ständen zehn Mal einträte, so würde wahrscheinlicher Weise ein
einziges Mal eine Einblutpaarung statthaben.
Die Nachkommenschaft der stattgefundenen Paarungen wird
durch die Concurrenz auf die frühere Zald (2000) vermindert, und
da die abgeänderten Individuen nocli keinen bemerkbaren Vortheil
im Kampfe ums Dasein gewähren (S. 310 ff.), so ist das Zahlen-
verhältniss der Individuen in der zweiten Generation gleich dem
der Paarungen. Nehmen wir, um die weiteren Ereignisse anschau-
Vi. Kritik der Darwiu'sclien Tlieorio von der natiirliclKMi Zuchtwalil. 321
lieber zu machen, die Zahlen lOOOmal grösser, so haben wir für
jedes Geschlecht
100 {h) + 10800 (y) + ^^80100 (o) = 1000000. (I
Dies ist die Erbschaft aus der ersten Generation. Nun tritt
die Variation hinzu, welche je einem unter 100 Individuen wieder
h verleiht. Nachdem dies geschehen, besteht die zweite Generation
auf 1000000 Individuen von jedem Geschlecht aus
1 (2/>) + 198 (^/2Z>) + 9900 (^>)+ 19G02 {^) + 97 0299 (o)= 1000000. (II
Wenn sich diese Individuen jiaaren, so entstehen neben den
nicht abgeänderten Paaren 8 Stufen der Abänderung, von denen die
geringste 'k b, die höchste 2b hat. Die Zahl aller denkbaren Paarungen
beträgt 1000000000000. Die Individuen der 3. Generation bestehen
als Erbschaft der 2. Generation (vor eintretender neuer Variation)
aus 9 Kategorien, deren Zahlenverhältniss genau dem der Paarungen
entspricht. Ich theile das Resultat der Rechnung mit, weil es ein
helles Licht verbreitet über die Vertheilung des Blutes durch die
Kreuzung und über die Aussichtslosigkeit einer einigermaassen reinen
Zucht der abgeänderten Individuen. Da es sich nur um die Ver-
hältnisse handelt, so gebe ich dieselben als ganze Zahlen für eine
Gesammtmenge von 1 Bilhon. Durch Theilung mit 1000000000 erhält
man die Zahl, in der jede Kategorie durchschnitthch in einer Ge-
sellschaft von 1000 Individuen vertreten ist, oder, insofern es ein
Bruch ist, die Wahrscheinlichkeitsziffer für ihre Verwirkhchung.
Es besteht nun also eine Gesellschaft von 1 Billion Individuen,
die eine Veränderung während 2 Generationen erfahren hat, in der
3. Generation, bevor die Variation dieser Generation eingetreten ist,
aus folgenden Individuen:
1 (2/>) (III
396 {'Üb)
59004 (%?>)
3 959604 {'"kb)
107 712 990 (/>)
772 358004 (^/.t/;)
19596 158 604 (^2//)
38039 601996 {'kh)
941480 149 401 (0)
TÖÖÖÖÖÖ 000000
V. Nägeli, Abstammungslehre. 21
322 ^'I- Kritik dor Panvin'sclK'n Theorie von der natürliclieu ZuclitA\alil.
Aus dieser Berechnung geht hervor, dass nach zweimahger
Variation und Kreuzung unter den angenommenen Umständen etwas
üher G% aher Individuen mehr oder weniger abgeändert sind;
darunter befinden sich 4% mit der geringsten Veränderung (V4&).
Die grosste Veränderung {'2h), welche die Reinzucht aller abge-
änderten Individuen darstellt, ist unter 1 Billion nur mit 1 Indi-
viduum, die Abänderungen, die mehr als h betragen, also die Hälfte
der grössten Veränderung überschreiten, nur mit 4 011)005 Individuen
oder mit 4 Millionstel der Gesammtheit vertreten. Die Wahrschein-
lichkeit einer Reinzucht aller al:»geänd ertön Individuen innerhalb
der Gesellschaft von 2000 Individuen beträgt für die erste Paarung
1 Zehntausendstel, für die zweite Paarung 1 Billionstel ; für die dritte
Paarung würde sie 1 Zehntausendquadrillionstel betragen^).
In Folge der Kreuzung verbreitet sich die Veränderung nach
und nach über die ganze indifferente Gesellscliaft und macht, je
grösser diese ist, bezüglich der Steigerung um so langsamere Fort-
schritte. In dem vorhin angenommenen Beispiel, wo unter 100 Indi-
viduen sich je eines um einen Schritt verändert, würde, wenn der
einzelne Schritt den 200. Theil der ganzen Umwandlung oder Varie-
tätenbildung ausmacht, die Gesellschaft im günstigsten Falle nach
20000 Generationen umgewandelt sein. Aber dies wäre nicht eine
Varietätenbildung durch Zuchtwahl, welche ohne Trennung der ab-
geänderten von den nicht abgeänderten Individuen sich als undenkbar
erweist.
Doch auch die bloss einmalige Sej^aration oder Migration, wie
sie zur Bettung der Selectionstheorie erfunden wurde, hat keinen
Erfolg. Angenommen, die abgeänderten Individuen der 1. Generation
(mit der Veränderung h) emigriren in einem oder in mehreren Paaren
und pflanzen sich in der Einsamkeit fort, so besteht allerdings die
2. Generation aus lauter gleichen Individuen auf der ersten Varia-
tionsstufe. Sowie jedoch die abermalige Veränderung, welche, um
bei den Annahmen des ersten Beispiels zu bleil)en , auf 100 Indi-
viduen bloss je eines trifft, stattgefunden hat, so ist auch die Un-
*) Wenn die Menge der abgeänderten Individuen in der ]. Generation —
ist und in den folgenden Generationen keine Variation nulir stattfindet, so be-
trägt die Wahrsclieinlichkeit der Eeinzncht ffir die 2. Generation ., , für die
3. G. , , für die 4. Generation — r- u. s. vv.
VI. Kritik der Darwinschen Tlieorie von der natürlichen Zuelüwahl. 323
gleichheit gegeben. Wenn die 2. Generation vor der Abänderung
aus 2000 Individuen [b] be.stelit, so enthält sie nach derselben 20 {2h)
und 1980 [b], und nun erfolgt die weitere Entwicklung genau so,
wie ich sie für das erste Beispiel dargelegt habe. Der Unterschied
ist bloss der, dass diesmal die Haui^traasse der Gesellschaft nicht
aus Individuen ohne Abänderung, sondern aus solchen der ersten
Variationsstufe, d. h. mit einer unmerklich geringen Veränderung
besteht. Man hat dann in der 3. Generation vor der Veränderung,
auf 1 Million Individuen, analog wie I auf S. 321
100 {2h) + 19800 {'^l-2h) + 980100 {h),
und nach der dieser Generation zukommenden Veränderung über-
einstimmend mit II auf S. 321
1 {3b) + 198 (•^/2&) + 9900 {2h) -f 19602 {^kh) -f 970299 (&).
Die 4. Generation besteht dann ferner vor ihrer Veränderung
aus den unter III auf S. 321 aufgeführten 9 Kategorien von In-
di^dduen, nur dass die Bezeichnung einer jeden um h zu vermehren
ist. Die Gesellschaft, die von einer emigrirten und mit Reinzucht
beginnenden kleinen Schaar auserwählter Individuen abstammt, wäre
von derjenigen, welche ohne Emigration und mit Kreuzung begonnen
hat, gar nicht zu unterscheiden.
Damit die Migrationstheorie den von ihr gewünschten Erfolg
habe, müsste von zwei Bedingungen eine erfüllt sein. Entweder
müssten die von den Emigrirten abstammenden Indi\iduen theils
selbständig durch innere Ursachen, theils durch äussere auf alle
gleichmässig einwirkende Ursachen weiter variiren, was im Wider-
spruche mit der Selectionstheorie steht, welche die Veränderung als
zufällige von äusseren Einflüssen ableitet. Oder es müsste die Mi-
gration mit jeder Generation sich wiederholen und die Auserwählten
isoliren, bis die neue Sipj)e fertig wäre. Es müssten also nach ein-
ander vielleicht 100 bis 1000 Migrationen eintreten, was natürlicli
nur dann möglich wäre, wenn Separation Ijei der Tuarung und Mi-
gration in einem nothwendigen phj^siologi sehen Zusammenhang mit
der Variation stände, wofür auch nicht die allergering.ste Wahr-
scheinlichkeit besteht.
Wir mögen uns die Dinge noch so günstig zurechtlegen : wenn
die erblichen Abänderungen in der von der Selectionstheorie ge-
forderten Art und Weise stattfinden und nui- in einzelnen Individuen
21*
324 ^^^- Kritik der Darwin'selien Theorie von der natürlichen Znchtwalil.
auftreten, so kann eine natürliche Zuchtwahl und eine Steigerung
der Abänderungen gar nicht zu Stande kommen.
Lässt man dagegen an die Stelle der Ernährungsursachen und
der Zuchtwahl die Abänderung durch directe ßewirkung treten, so
sind alle Schwierigkeiten beseitigt. Was die Vervollkommnung der
Organisation durch Uebergang in eine höhere Organisationsstufe
betrifft, so haben die einfacheren Organismen ein einfacheres, die
complicirteren ein complicirteres Idioplasma. Am entwickelten Or-
ganismus vollzieht sich der Fortschritt entweder dadurch, dass die
reproductive Zellbildung vegetativ wird, wodurch die individuelle
Entwicklungsgeschichte um ein Stück sich verlängert und die Fort-
pflanzungszellen erst von einer sjoäteren Generation erzeugt werden,
oder dadurch, dass mitten in der individuellen Entwicklungsgeschichte
Complexe von Zellen oder Organen eingeschoben und Differenzi-
rungen herbeigeführt werden ^). In beiden Fällen ist das idioplasma-
tische System um eine oder mehrere Micellgruppen reicher geworden.
Es ist nun einleuchtend, dass, wenn die Fortbildung des Idio-
plasmas das Ursprüngliche ist und seine Configuration durch den
Zuwachs einer Micellgruppe complicirter wird, auch der entwickelte
Organismus veranlasst wird, seiner Organisation ein neues Glied
hinzuzufügen. Dieser Fortschritt tritt in allen Individuen einer
A'^arietät ein, da sie das nämliche Idioplasma besitzen, und wenn
auch einzelne Individuen den andern vorausgeeilt oder hinter den
andern zurückgeblieben wären, so würde die Kreuzung nichts anderes
als eine Ausgleichung unter den in der nämlichen Richtung sich
verändernden Individuen zu Stande bringen.
Rücksichtlich der Anpassung ist das Verhalten noch klarer
und einfacher. Die ^Veränderung einer Varietät kann nur durch
einen allgemein wirkenden Reiz erfolgt sein, weil sie in diesem
Falle ein allgemeines Bedürfniss befriedigt. Wenn aber alle Indi-
viduen und alle auf einander folgenden Generationen von dem näm-
lichen Reiz getroffen werden, so muss auch das Idioplasma, das ja
ebenfalls das nämliche ist, in übereinstimmender Weise sich um-
bilden, so dass die Umbildung durch die Kreuzung nicht gestört
wird und die Zuchtwahl keinen Boden für ihre Thätigkeit findet.
') Ich verweise auf den folgenden Abs('hnitt Phylogenetische Entwicklungs-
ge.setze«.
VI. Kritik lU-r Diirwinsclieu Theorie von der natürlichen Znchtwnhl. 325
Auf die Fnige, wodurch die Anpassungserscheinungen erzeugt
werden, wirft die Wirkung des Gebrauches und Nichtgebrauches
der Organe ein helles Licht. Man ist bei Besprechung der bezüg-
lichen Erfahrungen nicht immer sehr kritisch verfahren, man hat
ferner mit den erblichen auch nichterbliche Wirkungen, mit der
Uebung oder NichtÜbung auch die reichlichere oder spärlichere Er-
nährung zusammengeworfen. Wenn die Thatsachen kritisch gesichtet
und die nicht erblichen Wirkungen, wohin auch diejenigen der Er-
nährung gehören, ganz aus dem Spiele gelassen werden, so bleiben
die erblichen Folgen des Gebrauches und Nichtgebrauches zwar
ganz dieselben, wie sie schon Darwin angegeben hat, sie zeigen
nun aber deutlich die Ursachen der Anpassungen.
Durch den Gebrauch bildet sich ein Organ oder eine Einrichtung
mehr aus und nimmt an Grösse, Stärke, Schärfe, Feinheit zu, was
eine bestimmtere Configuration der betreffenden Idioplasmagruppe
anzeigt, — während durch den Nichtgebrauch die umgekehrte A'^er-
änderung des Organs stattfindet und zuletzt sein vollständiges Ver-
schwinden eintritt. Es ist einleuchtend, dass der Gebrauch nur als
Reiz wirken kann. Hat dieser andauernd einen bestimmten Stärke-
grad, so steigt die Veränderung im Idioplasma bis auf eine demsell)en
entsi^rechende Höhe. Nimmt der Gebrauch und mit ihm der Reiz
zu, so wird auch die Wirkung grösser. Vermindert er sich stetig
bis zum Aufhören, so wird die Anordnung der Micelle in der Idio-
plasmagruj)pe weniger bestimmt und die Gruj^pe wird durch andere
Gruppen mehr zurückgedrängt, bis sie zuletzt ganz in den latenten
Zustand übergeht.
Wie man die Folgen des Gebrauches und Nichtgebrauches aus
Ernährungseinflüssen, Verdrängung und Zuchtwahl erklären kann,
ist mir logisch unbegreiflich. Gebrauch und Nichtgebrauch haben
nur die Zu- und Al)nahme des betreffenden Organs im Verhältniss
zu den übrigen zur Folge. Wäre neben dem gesteigerten oder ver-
minderten Reiz noch eine andere Ursache für diese erbliche Wirkung
vorhanden, so müsste ausser der Zu- und Abnahme auch irgend eine
andere Veränderung an dem Organ stattfinden. Da dieselbe mangelt,
so ist schon durch den Gebrauch und Nichtgebrauch die Wirkung
vollständig erklärt. Uebrigens veranlassen die klimatischen und
Ernährungseinflüsse, wenn sie qualitativ und quantitativ verschieden
sind, wie ich gezeigt habe, selbst während der Zeit von Erdperioden
326 ^^I- Kritik der Duiwiusrlieii Theorie vnn der luitiirliclii'u Zuclilwalil.
keine erblichen Veränderungen. — Ferner, wenn die An})assungen
durch die Ernährungseinfiüsse verursacht würden, wie kommt es
denn, dass sie, obwohl diese Einflüsse andauern , durch Nicht-
gebrauch geschwächt werden, und verschwinden? Und wie kommt
es, dass sie bis zu der Grösse heran zu wachsen vermochten, welche
sie befähigt, in Gebrauch zu kommen, und dass sie nicht schon,
ehe diese Grösse erreicht war, in ihrem Anfangszustande durch
Nichtgebrauch wieder ausgelöscht wurden?
Es gibt noch eine andere Erwägung, welche gegen die Be-
wirkung der Anpassungen durch die Ernährungsursachen spricht.
Diese müssten die Anfänge eines Organs l)is zu der Grösse, wo der
Gebrauch über die Nützlichkeit entscheidet, überall da hervorl)ringen,
wo die Möglichkeit dazu gegeben ist. Um nur ein Beispiel zu er-
wähnen, so hätten Anfänge von Hörnern nicht bloss überall auf
dem Kojife der Wiederkäuer, sondern auch über den ganzen Rücken
bis zur Schwanzspitze und ebenso auf andern Thieren entstehen
müssen, und es müssten fortwährend Anfänge von allen möglichen
Organen, wo sie die vorhandenen nicht beeinträchtigen, sich bilden.
Thatsächlich sind solche Anfänge nicht vorhanden, und die Theorie
der directen Bewirkung erklärt diesen Mangel vollständig: Auch die
ersten Anfänge können nur da zum Vorschein kommen, wo ein
Reiz dauernd wirkt, und wo dies der Fall ist, da gewinnt das Organ
Bestand ; sein Fortbestehen aber ist die Folge einer, fortwährenden
Reaction auf den bestimmten Reiz, welche durch den Gebrauch be-
dingt wird, ein Bedürfniss befriedigt und somit nützlich ist.
5. Morphologische Merkmale.
Nach der Selectionstheorie verdrängt ein Merkmal um so voll-
ständiger die andern und die Inzucht tritt durch die Verdrängung
um so früher und um so reiner ein, je nützlicher dasselbe ist. Die
Constanz hängt nach dieser Theorie davon ab, dass ein Merkmal,
bei Ausschluss der Kreuzung mit andersgearteten Individuen, sich
längere Zeit vererbt hat. Dasselbe sollte daher unter übrigens
gleichen Umständen um so constanter sein, je nützlicher es ist;
eine Eigenschaft dagegen, die keinen Nutzen gewährt, sollte, indem
VI. Kritik der Darwin'sclu'n Theorie von der natiü-lielieu Zuehtwalil. ;J27
sie keine Verdrängung bewirken und daher die Kreuzung nicht aus-
schhessen kann, auch zu keiner Constanz geUingen. Nun sind aljer
im Pflanzenreiche die allerbeständigsten Merkmale gewisse morpho-
logische Eigenthümlichkeiten, wiewohl dieselben bei der Concurrenz
gar keinen Nutzen gewähren.
"Was die ßestinnninig der Beständigkeit betrifft, so erinnere ich
an die früher hervorgehobene Thatsache, dass alle, selbst die leich-
testen Varietäten constant sind, indem ihre erblichen Merkmale,
wenn die äusseren Verhältnisse auch noch so sehr sich ändern, in
den auf einander folgenden Generationen nicht die geringsten Modi-
ficationen zeigen. Es lässt sich daher der Grad der Constanz auf
directem Wege nicht erproben, sondern er muss aus der Permanenz
erschlossen werden (S. 239, 240), indem ein Merkmal um so be-
ständiger sein muss , je grösser seine Verbreitung in einem der
beiden Reiche ist. Wir werden ihm nur geringe Beständigkeit zu-
schreiben, wenn es unter mehreren Gattungen einer Ordnung oder
unter mehreren Arten einer Gattung nur je bei einer derselben vor-
kommt, dagegen eine sehr grosse, wenn es bei mehreren Classen
oder gar bei mehreren Abtheilungen des Reiches permanent ist.
Nun zeigen ganz allgemein im Pflanzenreiche die Anpassungs-
merkmale, welche durch die äusseren Reizeinflüsse hervorgerufen
werden und mit Rücksicht darauf ihre Nützlichkeit erproben , eine
geringere Pennanenz als die Organisationsmerkmale, welche
durch die selbständige Umbildung des Idioplasmas bedingt werden,
und welche in Uebereinstimmung mit ihrem Urs^irung sich den
äusseren Verhältnissen gegenüber gleichgültig verhalten. Die letzteren
habe ich früher gegenüber den x durch eine bestimmte Verrichtung
bedingten« Erscheinungen als »rein morphologische« bezeichnet
und gesagt, dass dieselben, obwohl indifferent, doch constanter seien
als die ersteren, die sich als nützlich erweisen*).
Als solche rein morphologische Merkmale nannte ich die
Stellungsverhältnisse und Zusammenordnung von Zellen und Or-
ganen. Als allgemein verständliches Beispiel führte ich die gegen-
überstehenden Blätter im Vergleich mit den spiralständigen an;
jene kommen beispielsweise bei den Labiaten , diese bei den Bor-
ragineen vor. Ich hatte aber besonders gewisse Anordnungen der
^) Entstehung und Begrift" der naturliistorischen Art. 18ti.'i.
328 VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Znehtwahl.
Zellen im Auge, deren ich, vor einem niclit eigentlich naturwissen-
schaftlichen Puhlicum, keine Erwähnung that. Ich will jetzt, statt
zahlreicher Beispiele, bloss an die Theilung der Scheitelzellen durch
horizontale und an diejenige durch schiefe Scheidewände erinnern,
wodurch auch die Stellung der Hauptcomplexe des Zellgewebes be-
Fig. n.
dingt wird. Die erstere kommt bei den meisten Algen, die letztere bei
den Moosen mit cylindrischen Stämmchen und bei den Gefässcryp-
togamen vor (Fig. 11, a und b; die auf einander folgenden Scheide-
wände sind mit 1, 2, 3, 4, 5 bezeichnet, die nächstfolgende Scheide-
wand in der Scheitelzelle durch eine punktirte Linie angedeutet)').
Darwin geht ziemlich weitläufig auf diesen meinen gegen die
Zuchtwahl gemachten Einwand ein, aber statt die von mir aller-
dings nur allgemein bezeichneten Fälle zu besprechen, führt er
eine Menge morphologischer Erscheinungen an , die ich nicht ge-
wagt haben würde, als Beweise für meine Ansicht anzuführen, da
sie für mich zweifelhaft und wohl meistens als Anpassungen zu
betrachten sind. Eine Erscheinung kann erst dann Gegenstand
erfolgreicher Betrachtungen werden, wenn man sie bis auf den
Ursprung zurückverfolgen kann. Dies ist aber der Fall mit der
opponirten und sjjiraligen Stellung, indem beide Stellungen schon
bei verzweigten einzelligen Pflanzen und bei solchen , die aus
verzweigten Zellreihen bestehen (beides bei niederen Algen), vor-
handen sind, — und mit der vorhin angeführten Stellung der Seg-
') Für alle diese Stellungsverhältnisse ist es natürlich gleichgültig, durch
welche mechanischen Mittel sie zunächst zu Stande kommen. Das für die vor-
liegende Frage Entscheidende l)esteht darin, dass sie in strenger Weise vererbt
werden und also als Anlagen im Idioplasma enthalten sind. Das Idioplasma wirkt
seinerseits auf das Ernährungsplasma derartig ein, dass in Folge einer längeren
oder kürzeren Reihe von molecularen Processen schliesslich stets die nämlichen
Stellungsverhältnisse resultiren.
VI. Kritik (k-r Durwiii'sclu'u Tlieorie von der iiatüiiifiu'u Zuchtwahl. 329
mente in Folge der Tlieiluiig der Scheitelzclle. Bei beiderlei Stell-
nngsverliältnissen ist weder eine Ueberlieferung von Vorfahren, für
welche die Eigenschaft von Bedeutung war, noch eine unter dem
Einfluss anderer Anpassungen zu Stande gekommene correlative
Anpassung möglich.
Wie sehr übrigens D a r w i n selbst sich der Ueljerzeugung hin-
neigt, dass es morphologische Erscheinungen gebe, die stets, auch
bei ihrer Entstehung, ohne jeden Nutzen waren , geht daraus her-
vor, dass er für dieselben eine Erklärung erfindet : Er sei zu glauben
geneigt, dass morphologische Differenzen zuerst in vielen Fällen als
fluctuirende Abänderungen erschienen seien , welche früher oder
später durch die Natur des Organismus und der umgebenden Be-
dingungen, ebenso wie durch die Kreuzung verschiedener Indivi-
duen, aber nicht durch die natürliche Zuchtwahl constant geworden ;
denn da diese morphologischen Charaktere die Wohlfaln't der Art
nicht berührten , so könnten auch unbedeutende Abänderungen an
ihnen nicht von natürlicher Zuchtwahl beeinfiusst oder gehäuft
worden sein.
Sollte diese Erklärung wirklich Grund haben , so würde sie
die Selectionstheorie geradezu über den Haufen werfen. Wenn
fluctuirende Aljänderungen in vielen Fällen durch die Kreuzimg
und nicht durch die Zuchtwahl constant werden konnten , warum
konnten sie es nicht in allen ? Wenn die Kreuzung die Aus-
bildung und das Constantwerden eines indifferenten Merkmals nicht
verhindert, so sollte ein nützliches Merkmal um so eher trotz der
Kreuzung ohne weitere Beihilfe sich ausbilden und constant werden.
Während von Darwin mein Einwurf ernstlich behandelt wurde,
haben ihn deutsche Darwinisten entweder einfach ignorh't oder in
vollständiger Verkennung seiner Bedeutung meine rein morpholo-
gischen Eigenschaften mit den sogenannten »morphologischen Arten«
zusanmiengestellt. Die letzteren unterscheiden sich durch ganz unbe-
deutende Merkmale, welche unbekannten Ursprungs und daher auch
von zweifelhafter Bedeutung sind , indess meine morphologischen
Merkmale die Hauptzüge an dem Gebäude ausmachen, welches die
Entwicklungsgeschichte des Pflanzenreiches darstellt und an dem
die nützlichen Anpassungen die Ausführung im einzelnen und die
Verzierung bilden.
330 Vi- Kiitik der Darwin'schen Theorie vdu der natürlielu'ii Zuehtwalil.
6. Systematischer Aufbau der ganzen Reiche.
Es ist eine allgemein anerkannte Tliatsache , dass die Reiche
aus aufsteigenden Reihen zusammengesetzt sind , welche divergiren
und sich baumartig verzweigen, und dass in dem gegenwärtigen
Bestand grosse Lücken , sowohl in den einzelnen Reihen als durch
das Fehlen ganzer Verzweigungssysteme, bestehen; unter dem Auf-
steigen der Reihen wird das Fortschreiten von einfacheren zu com-
plicirteren Organisationsstufen verstanden. Ferner nimmt auch
Darwin an, dass es keine absteigenden Reihen gebe und dass eine
Art nicht in diejenige, von der sie entsprungen ist, noch in eine
andere verwandte ül)ergelien könne, was ich ebenfalls als sichere
Thatsachen betrachte. Aljer für alle diese Thatsachen hat die Se-
lectionstheorie nicht nur keine Gründe anzugeben vermocht, sondern
sie befindet sich sel])st in scharfem Widerspruche mit denselben.
Ich habe bereits früher ') auf den Kardinalpunkt hingewiesen, was
aber von den Anhängern jener Lehre bei der w^enig sorgfältigen
Behandlung, die sie der mechanischen Seite der Abstannnungslehre
zuwenden, unbeachtet geblieben ist.
Wenn nach der Annahme der Darwinisten durch die unbe-
stimmten Ernährungseinflüsse die molecularen Verhältnisse geändert
werden und aus diesen die grossen und sichtbaren Abänderungen
liervorgehen, so müssten die Uml>ilduiigeii in jedem einzelnen Falle
nach allen möglichen Seiten und in allen Theilen eines Organismus
geschehen können, denn die molecularen Verschielxmgen und Neu-
bildungen können ja in jeder Zelle erfolgen, und thatsächlich wären
ja alle die so verschiedenen Eigenschaften aus ihnen hervorgegangen.
Wenn ferner die Häufung der Abänderungen bloss durch die Nütz-
lichkeit geregelt wird , so müsste ein Organismus unter allen Um-
ständen nach derjenigen Form und Function streben, bei der er
unter den bestehenden Umständen am besten seine Rechnung findet.
Es ist eine mechanische Noth wendigkeit, dass eine bestimmte
Kraft eine bestimmte Bewegung verursacht, dass auf eine in ent-
gegengesetzter Richtung wirkende Kraft die entgegengesetzte Be-
wegung erfolgt, und dass eine Kraft, die in irgend einer anderen
Richtung wirkt, auch die Bew'egung nach dieser Richtung ablenkt.
*) Entstellung und Begriff der naturlnsturist'lien Art. 18ü5.
VI. Kritik der Darwiiisclieu Theorie von der natürlielieu Ziiclitwald. 331
Für die Selectionstlieorie sind die Ernährungseinflüsse, welche die
chemische und physikalisclie Beschaffenheit umbilden, und die Nütz-
lichkeit, welche alle unvortheilhaften Umbildungen bis auf eine
eliminirt, die einem Stosse zu vergleichenden treibenden Kräfte,
und die durch kleine Schritte nach der nützlichen Seite erfolgende
Abänderung entspricht der mechanischen Bewegungsrichtung.
Deswegen müsste eine Sippe je nach den wirkenden Ursachen
in ihre Eitersippe, ebenso in eine andere verwandte Sippe über-
gehen können. Sie müsste ferner die ganze aufsteigende Entwick-
lungsreihe wieder zurückgehen , wenn die äusseren Umstände sich
jeweilen so gestalteten , dass ein weiterer Schritt abwärts vor-
theilhaft wäre. Endlich müssten neben den aufsteigenden diver-
girenden auch alle möglichen seitlichen theils convergirenden theils
anastomosirenden Reihen sich bilden; es hätten also keine Lücken
entstehen dürfen, indem jeder sich bildende grössere Abstand früher
oder später wieder ausgefüllt worden wäre. Statt der l_)aum förmigen
Anordnung müsste also eine vollständige netzartige Vertheilung der
Sijjpen die Reiche darstellen. — Es ist auch sicher, dass, wenn
Uebergänge einer Art in eine andere bestehende oder untergegan-
gene Art, wenn ferner Convergenz und Anastomose der Reihen und
lückenlose netzförmige Anordnung derselben vorhanden wären , die
Selectionstlieorie auf solche Vorkommnisse mit dem grössten Triumjdi
als auf die schönsten Beweise ihrer theoretischen Voraussetzungen
hinweisen würde.
Ganz anders als die Selectionstlieorie steht die Theorie der
directen Bewirkung den Thatsachen gegenüber, indem die strenge
Consequenz ihrer Anwendung genau zu dem bestehenden Sachver-
halte führt. Da das Idioplasma mit innerer Nothwendigkeit stetig
complicirter wird , so kann die Veränderung nur zu einer höheren
Organisationsstufe fortschreiten; daher gilit es nur aufsteigende
Reihen. Da aber in Folge ungleicher- Com plication oder ungleicher
Anpassungen auf jeder Stufe eine Reihe in mehrere Sippen aus-
einander gehen kann und jede dieser Sippen unter günstigen Um-
ständen den Anfang einer neuen Reihe bildet, welche dem Be-
harrungsgesetze gemäss immer mehr von den Schwesterreihen sich
entfernt, so verzweigen sich die Reihen mit divergirenden Aesten.
Convergenz der Reihen sowie der Uebergang einer Sippe in eine
andere Sippe ist principiell unmöglich.
332 VI. Kritik der Darwin'sfheii Theorie von der natürlichen Zuclitwalil.
Auch kann sich eine bloss durch Anpassung entstandene Sippe
nicht in ihre Eitersippe zurückverwandeln , selbst wenn ihre An-
passungsinerkmale in die elterlichen Anpassungsmerkmale zurück-
gehen, weil mittlerweile die allgemeine Configuration des Idioplasmas
in Folge der stetig fortschreitenden Vervollkommnungsbewegung
eine etwas andere geworden ist und daher die darin entstehenden
Anpassungsanlagen ebenfalls eine etwas veränderte Beschaffen-
heit annehmen müssen. Aus dem gleichen Grunde können die
Sippen zweier Reihen um so weniger durch gleiche Anpassung
sich nähern, je grösser die Divergenz und je grösser somit die
Verschiedenheit in der allgemeinen Configuration des Idioplasmas
geworden ist. Aber zwei Klassen oder Ordnungen können, je mehr
ihre Ungleichheit auf Anpassungsmerkmalen beruht, in einzelnen
Gattungen einander um so näher treten.
Die eben erörterte Frage ist schon von Darwin berührt worden,
allerdings nur kurz und lediglich vom Standpunkte des praktischen
Empirikers. Auf den Einwurf von Watson, dass auch Convergenz
der Charaktere in Betracht gezogen werden müsse , sagt er bloss
»es sei unglaublich , dass die Nachkommen zweier auffallend ver-
schiedener Organismen später je so nahe convergiren sollten, dass
sie sich einer Identität durch ihre gesammte Organisation näherten.
Wäre dies eingetreten, so würden wir, unabhängig von einem
genetischen Zusammenhang, derselben Form wiederholt in weit von
einander entfernt liegenden geologischen Formationen l^egegnen,
und hier widerspreche der Ausschlag des thatsächlichen Beweis-
materials jeder derartigen Annahme. '^
Mit dieser Antwort, die von Anhängern der Selectionstheorie
als theoretische Widerlegung l>egrüsst worden ist, sagte Darwin
Aveiter gar nichts und wollte auch nichts sagen, als dass die Er-
fahrung keine Bestätigung gebe. Aber die Berufung auf die Palae-
ontologie ist werthlos, da in dieser Wissenschaft bei der notorischen
und von Darwin selbst zu anderem Zwecke hervorgehobenen
Mangelhaftigkeit des Materials negative Resultate nichts beweisen.
Bei einer verwandten Gelegenheit sagt ferner Darwin: xMan
begreife leicht , dass eine einmal zu Grunde gegangene Art nicht
wieder zum Vorschein kommen könne , selbst wenn die nämlichen
unorganischen und organischen Lebensbedingungen nochmals ein-
treten. Denn obwohl die neue Art die alte vollkommen ersetze, so
VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen y^uchtwahl. 333
können doch beide nicht identisch sein , weil sie gewiss von ihren
Stammvätern auch verschiedene Charaktere mitgeerbt haben.« Da-
gegen möchte ich erwiedern, man begreife leicht, dass, wenn die
Merkmale nm' durch die Ernährungsursachen und die Zuchtwahl
bewirkt werden , zwei Arten mit verschiedenen Merkmalen , nach-
dem sie lange genug unter ursächlichen Verhältnissen, die ihre
Verschiedenheiten austilgen , gelebt haben , identisch werden. Es
ist dies eine mechanische Nothwendigkeit , die gar nicht zurück-
gewiesen werden kann.
Ich habe eine das nämliche darlegende Antwort bereits in der
»Entstehung der Art'< gegeben. Dass Darwin darauf kein Ge-
wicht legte, ist mir begreiflich, da er als reiner Emj^iriker nur That-
sachen anführt und dieselben seiner aus der Thierzüchtung abge-
leiteten allgemeinen Theorie anzupassen sucht, ohne sie mit den
strengen theoretischen Folgerungen aus derselben zu vergleichen.
Weniger begreiflich ist es mir von deutschen Darwinisten, welche
sich gerne auf mechanische Nothwendigkeit berufen und diese
namentlich auch für die molecularen Veränderungen in Anspruch
nehmen, die in Folge der Ernährungsursachen im Organismus ein-
treten und die ihrerseits die Entstehung und somit auch die Yer-
nichtung der Merkmale bewirken sollen.
Eine hieher gehörende Tliatsache ist das Aussterben ganzer
Stämme wie der Lepidodendreen, der Calamiteen, der Asterophylliten,
der Sigillarien. Nach der Theorie der directen Bewirkung ist die
Möglichkeit leicht einzusehen. Die Vervollkoimnungsveränderung
eines Stammes geschieht nur in einer Richtung und tann leicht
einmal früher oder später ein nothwendiges Ende durch innere Ur-
sachen finden. Es ist auch denkbar, dass sie, bevor dieses Ende
erreicht ist, zu einer Organisationsstufe führt, welche ihrer Natur
nach nicht oder wenig existenzfähig ist. In beiden Fällen nmss
der Stamm aussterben. Die Selectionstheorie aber hat dafür keine
genügende Erklärung. Die nach allen Seiten hin stattfindende
Veränderung hätte ja leicht den Ausweg zu einer nützlichen An-
jDassung finden sollen, und zwar um so melir als keine Concurreiiz
mit nahen Verwandten zu bestehen war.
o;')4 ^*I- Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürliclien Ziirhtwahl.
7. Anpassung der Bewohner eines Landes.
Ich will nicht weitläufig auf diese ziemlich dunkle Frage ein-
treten , sondern nur einige Gesichtspunkte hervorheben. Nach
Darwin besteht unter den Bewohnern eines Landes eine bedeutende,
wenn auch keineswegs vollkommene gegenseitige Anpassung. Die-
selbe folgt auch logisch aus der Selectionstheorie , in der Weise,
dass sie stetig zunehmen und nach hinreichend langer Zeit voll-
konnnen werden soll. Nach Darwin sind ferner die Bewohner in
grösseren und zusammenhängenden Gebieten vollkommner angepasst
als in kleineren und isolirten ; daher komme es , dass die Erzeug-
nisse des kleinen australischen Continents jetzt vor denen des
grösseren europäisch-asiatischen Bezirkes im Weichen begriffen sind,
und dass festländische Erzeugnisse allenthalben so reichlich auf
Inseln naturalisirt werden. Darnach müsste die Anpassung der
Bewohner von Europa-Asien und von Amerika als grosser Continente
sehr beträchtlich sein. Es ist nun die Frage, ob die Thatsachen
diesen Behauptungen entsprechen.
Bei der Anpassung spielen für die Selectionstheorie natürlich
die klimatischen und Ernährungsverhältnisse eine wichtige Rolle;
denn mit Rücksicht auf sie soll sich jede Art unter den übrigen
Bewohnern so modificirt haben, dass sie die Concurrenz mit ihren
'Mitbewerbern erfolgreich bestehe und den Platz unter ihnen behaupte.
— Lassen wir nun, immer im Sinne der Selectionstheorie, eine
arenide Art aus einem fernen Lande einw^andern ; dieselbe hat sich
auf ganz andere Verhältnisse, auf andere Pflanzen und Thiere,
anderes Klima und anderen Boden seit vielen Jahrtausenden an-
gepasst. Ihre ganze bisherige Anpassung nützt ihr in dem neuen
Wohnsitze nichts; sie ist ihr vielmehr, je vollkommner sie war,
um so hinderlicher; sie muss hier ausgetilgt und dafür eine neue
Anpassung erworben werden. Was wäre daher natürlicher, als dass
die fremde Art unter so ungünstigen Umständen keinen festen Fuss
zu fassen vermöchte? Und köinite, wenn es keine Naturalisation
gäbe, die Anpassungstheorie dann nicht diese Thatsache als eine
nothwendige Folgerung und somit als einen vorzüglichen Beweis
in Anspruch nehmen?
Nun bestehen aber die Naturalisationen in grosser Zahl und
in umfassendstem Maasse. Europäische Pflanzen, die von jeher der
alten Welt angehört hatten und hier geformt worden waren, sind
VI. Kritik iler Darwin'schen Tlieorie von (U-r iiatürlichoii Zuchtwahl. 33;*)
nach der Entdeckung von Amerika dorthin verschleppt worden
und haben sich unter einem fremden Khma und unter einer fremden
vegetabihschen und animalischen Bevölkerung eingebürgert. Amerika-
nische Pflanzen, die seit der Lostrennung Amerikas von Europa
Zeit hatten, sich amerikanisch anzupassen, sind zufällig nach Europa
gebracht worden, und haben hier unter einer em'opäisch angepassten
Einwohnerschaft sich einen Platz erobert und rasch eine weite Ver-
breitung gewonnen. Am merkwürdigsten ist dies von Erigeron
canadense, weil die natürliche Pflanzenfamilie, der diese Pflanze
angehört, auch in Europa unter allen Familien weitaus die grösste
Menge von Arten enthält. Und was besondere Beachtung verdient,
diese Pflanze hat sich in ihrem neuen Wohnsitze - angepasst ;, ohne
ihre Merkmale im geringsten zu ändern.
Wir k()nnten durch die letztere Beobachtung dazu veranlasst
werden, an der gegenseitigen Anpassung überhaupt zu zweifeln. In
der That hat eine solche, was ich schon wiederholt erwähnt habe,
während des ungeheuer langen Zeitraumes, der seit der Eiszeit ver-
flossen ist, nicht stattgefunden, insofern dieselbe in Eigenschaften
besteht, welche unserer Wahrnehmung zugänglich sind. Während
der Eiszeit lebten die alpinen und nordischen Pflanzen, mit Aus-
nahme der hochalpinen und hochnordischen, in der mitteleuropäischen
Ebene. Als sie nach der Eiszeit in ihre früheren Wohnsitze zurück-
kehrten, wanderten manche nach beiden Gebieten, so dass die Alj^en
und der Norden eine Anzahl von Arten gemein haben. Trotzdem
dass sie seitdem in ungleichen Klimaten und in ungleicher pflanz-
licher und thierischer Gesellschaft gelebt haben, sind sie einander
doch so gleich, dass man sie nicht einmal als die allerleichtesten
Varietäten zu unterscheiden vermag. Das Nämliche gilt für einige
östliche Pflanzen, die während des gleichen Zeitraumes in Mittel-
europa und im Osten, und für einige Alpenpflanzen, die seit der Eis-
zeit zugleich auch in der Ebene gelebt haben. Aus diesen und anderen
ähnlichen Thatsachen ziehe ich den Schluss, dass eine gegenseitige
Anjiassung der Bewohner eines Landes nicht stattfindet, womit
natürlich solche Anpassungen im einzelnen, namentlich zwischen
einzelnen Thieren und Pflanzen, oder der Schmarotzer an den Wirth
nicht beanstandet werden sollen.
Indem Darwin, um die reichlichere Naturalisation fremder
Erzeugnisse auf Neuholland und auf andern Inseln zu erklären, die
3ii(j VI- Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürlichen Zuchtwahl.
Bewohner grösserer, mit mannigfaltigerer Pflanzen- und Thierwelt
besetzter Länder als vollkommener angepasst, und demnach als
concurrenzfähiger und stärker bezeichnet, legt er in nicht zu billigender
Weise einem speciellen Begriff allgemeine Gültigkeit bei. Es gibt ja
bestimmte Gebiete, in denen ein solches Verfahren nicht zu bean- .
standen ist. Wenn z. B. ein Handeltreibender sich irgendwo ver-
wickelten Verhältnissen angepasst und zum geriebenen Geschäftsmann
ausgebildet hat, so wird er, unter ganz andere und ihm neue Ver-
hältnisse versetzt, auch hier seine Concurrenztüchtigkeit und seine
Ueberlegenheit gegenüber einem Neuling im Geschäft beweisen.
Die Anpassung war ihm eine Schule und hat ihm Anj)assungs-
fähigkeit verschafft ; die specielle Anpassung an bestimmte Geschäfts-
verhältnisse ist ihm zugleich eine allgemeine Anj^assung an das
Geschäftsleben überhaupt.
Dieses Beispiel gilt für viele andere Arten der Concurrenz,
denen der Mensch, und auch noch für solche, denen die höheren
Thiere ausgesetzt sind, aber nur soweit geistige Fähigkeiten, die
durch Uebung und Erfahrung gefördert werden, mit im Spiele sind.
Dagegen findet es keine Anwendung für alle bloss stofflichen oder
körperlichen Anpassungen ; diese gewähren keinen allgemeinen Vor-
theil für den Kampf mns Dasein überhaupt, sondern bloss für die
bestimmten Verhältnisse, denen sie ihre Existenz verdanken. Unter
anderen Verhältnissen sind sie dem Träger entweder eine überflüssige
Last oder selbst geradezu ein Hemmniss. Eine Pflanze habe in
einem trockenen Lande mit reichlicher Insolation, mit heissen Som-
mern und kalten Wintern unter ihren Mitbewerberinnen sich als
concurrenzfähig erwiesen. Gesetzt, dass diese Tüchtigkeit eine Folge
der Anpassung sei, was kann ihr denn diese Anpassung in einem
fernen Lande mit feuchtem nebligem Klima und gleichmässiger
mittlerer Temperatur gegenüber von Mitbewerberinnen nützen, die
gerade diesen Verhältnissen angepasst sind und die überdem theil-
weise andern Gattungen, Ordnungen und Klassen angehören und
daher auch eine andere Organisation und andere Verrichtungen haben?
Wir können uns die Frage am deutlichsten machen, wenn wir,
was ja bei exacten Untersuchungen immer der sicherste Weg 'zur
richtigen Beurtheilung ist, durch Elimination alles andere bis auf
dasjenige Moment, worauf es ankommt, gleich machen. Die näm-
liche Pflanzenart sei vor Urzeiten theils nach Asien theils nach
VI. Kritik der Darwin'srlion Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. ;-j37
Neuholland gekoiiinieii und habe .sieh an beiden Orten vollkonnnen
angepasst. Sie ist also nun in zwei Anpassungsl'ornien, die dm'eli
irgend welche materielle Eigenschaften sich von einander unter-
scheiden, vorhanden. Die asiatische Anpassungsforni ist aber nach
der Theorie Darwin 's überhaupt die stärkere und vollkonmniere,
weil unter einer reichen Vegetation gemodelt. Wenn dieselbe dnrch
Wanderung nach Neuholland kommt, so nmss sie nach der näm-
lichen Theorie die unter einer ärmlichen ^^egetation angepasste neu-
holländische Form verdrängen, während doch naturgesetzlicli die
letztere, weil ihren ^^erhältnissen vollkommen angepasst, ganz sicher
die Oberhand behalten wird.
Diese Betrachtungen haben Gültigkeit für den Fall, dass es
wirklich eme gegenseitige Anpassung im Sinne Darwin 's gäbe.
Wie schon gesagt, mangelt nach meiner Ansicht einer solchen An-
nahme sowohl die theoretische als die erfahrungsmässige Begründung
und die vorhandenen Naturalisationen sind gleichfalls in anderer
Weise zu erklären. Wie aus der Theorie der directen Bewirkung
hervorgeht, gibt es in der Flora und Fauna eines jeden Landes,
wie zahlreich auch ihre Sippen sein mögen, bezüglich der Ansj^rüche
an die Aussenwelt immer zahlreiche Lücken, die von der Concurrenz
nicht beherrscht werden. Tritt ein Fremdling in eine dieser Lücken
ein, so naturalisirt er sich ohne Mühe. Daher finden in alle Länder
Einwanderungen statt. Die Thatsache aber, dass auf Inseln diese
Einwanderungen viel häufiger sind und leichter von statten gehen
als auf Continenten, ist die nothwendige Folge des Umstandes, dass
jene Lücken im allgemeinen um so zahlreicher und grösser sind,
aus je weniger Sippen die Einwohnerschaft eines Landes besteht.
V. Niigeli, Abstammungslehre. 22
VII.
Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
Die Abstammungslehre darf sich niclit darauf beschränken, im
allgemeinen das Princip festzustellen, nach dem sich die Organismen
aus einander entwickelten. Sie muss auch im einzelnen darlegen,
wie dies geschehe. Ihr letztes, wohl immer unerreichbares Ziel wäre
die Feststellung der Stammbäume für die bekannten Organismen.
Es sind zwar bereits solche Versuche gemacht worden. Allein, soweit
sie das Pflanzenreich in seiner Gesammtheit betreffen, müssen sie
als reine Illusion bezeichnet werden, da sie nichts anderes vermögen,
als von dem ersten besten sog. natürlichen Pflanzensystem die Haupt-
abtheilungen als Hauptäste eines Stammes, die Unterabtheilungen
als deren erste Verzweigungen aufzutragen, und so weiter bis zu den
Gattimgen.
Wenn die Darwinisten den Satz aufstellen, dass ein wahrhaft
natürliches System nur ein genetisches sein könne, so sind unsere
»natürlichen Pflanzensysteme« durchaus künstliche, indem sie, und
das ist ja das einzig Mögliche, die Pflanzen nach den sichtbaren
morphologischen und physiologischen Merkmalen zusammenstellen
und von den viel wichtigeren unsichtbaren Verhältnissen ganz ab-
sehen. Es gibt wohl nur wenige der jetzigen natürlichen Famihen,
die einen einheitlichen, von den übrigen gesonderten Ursprung be-
sitzen, und sicher keine einzige höhere GrupjDe, die nicht einen mehr-
fachen Ursprung hätte. Der Stammbamn des Gewächsreiches leistet
also nicht mehr, als dass er, im Widerspruche mit sich selbst, die
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 339
systematische Aehnliclikeit in eine genetische Form bringt. Uebrigens
ist, wenn wir von den uns Ijekannten Organismen ausgehen und
nicht in das Reich der Probien hinuntersteigen wollen, die mono-
phyletische Abstammung der Pflanzen eine Unmöglichkeit, indem
allein die Süsswasser-Algen mehrere Anfänge haben.
In ebenso unfruchtbarer Weise ist es in neuerer Zeit Sitte ge-
worden, einer systematischen botanischen Monographie einen Stamm-
baum beizufügen, wobei gleichfalls bloss die gewonnene systematische
Einsicht ins Stammbaumliche, das Räumliche ins Zeitliche, also ein
Begriff in einen andern, mit dem er nichts zu thun hat, über-
setzt wird. Wenn zwei jetzt lebende Pflanzen [A und B) mit ein-
ander verwandt sind, so lässt sich mit Ausnahme w^eniger Fälle, die
den einfachsten Algen und Pilzen angehören , nichts Genaues über
ihre genetischen Beziehungen aussagen, und es bleibt rein willkür-
lich , ob wdr A von B , oder B von A , oder ferner A und B von
einem dritten jetzt lebenden C oder von einem vierten unter-
gegangenen D ableiten. Mit der Zunahme der SipjDenzahl steigt
die Zahl der Möglichkeiten in geometrischer Progression, indem sie
für eine Gruj)pe von 3 Sippen schon mehr als GO beträgt.
Dabei ist zu bemerken, dass auch alle Bearbeitungen von Gat-
tungen und Gattungsgruppen nothwendig mehr oder weniger künst-
lich sind und schon aus diesem Grunde nicht das Material für einen
Stammbaum liefern können, sowie, dass bei solchen Abstammungs-
schematen offenbar ein Irrthum über die ^löglichkeit der Ueber-
gänge besteht, indem nicht jede Pflanze in eine verwandte andere
Pflanze durch die anscheinend geringe Aenderung der Merkmale,
der es zu bedürfen scheint, sich umwandeln kann. Jedes noch so
geringe Merkmal entsj)richt einer oder mehreren Micellgruppen im
Idioplasma , die nur in bestimmter gesetzmässiger , von der Con-
figuration des ganzen Systems abhängiger Art mngeändert werden
können.
Die Wissenschaft verlangt nicht das Unmögliche , und mit
Phantasiegebilden ward ihr mehr Schaden als Nutzen gebracht; da-
gegen ist es für sie ein entschiedener Gewinn, wenn einzelne sichere
Stücke der phylogenetischen Entwicklungsgeschichte festgestellt wer-
den, mögen dieselben den genetischen Zusammenhang von grossen
Gruppen oder von Arten und Gattungen oder von einzelnen Merkmalen,
also von Theilerscheinungen der Ontogenien betreffen. Eine solche
22*
340 VII. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches.
Behandlung vermag uns eine begründete Vorstellung zu geben, wie
auf einzelnen Stufen des Reiches oder in einzelnen Abstammungs-
reihen die Organismen aus einander hervorgegangen sind, und sie
wird mit der Zeit zu einer allgemeinen Entwicklungsgeschichte des
Pflanzenreiches, wenigstens in ihren Hauptzügen, führen.
Sind die genannten Stücke des phylogenetischen Weges ganz
kurz (bis zur nächsten Varietät oder Species), so müssen sie ent-
weder in einem allmählichen Uebergang oder in einem Sprung,
dessen Nothwendigkeit dann nachzuweisen ist, bestehen. Was
längere Stücke betrifft, so muss die Möglichkeit gegeben sein, dass
sie in eine ununterbrochene Kette solcher kleinen Schritte zerlegt
werden. Die Abstammung aber muss entweder so sicher gestellt
sein, dass eine andere Möglichkeit gar nicht vorliegt, oder es muss
für sie eine der Gewissheit nahekommende Wahrscheinlicheit vor-
handen sein. Solche Beispiele dürfen als Thatsachen betrachtet
werden, aus denen allgemeine Entwicklungsgesetze abzuleiten sind,
die um so grössere Gewissheit erlangen , je mehr Thatsachen über-
einstimmen, und die ihrerseits wieder dazu benutzt werden können,
um weniger deutliche Fälle aufzuklären.
Ich beschränke mich im folgenden um so eher auf einige
wenige Beispiele, als es sich ja nur darum handelt, zu zeigen, wie
die Thatsachen in Uebereinstimmung mit meiner Theorie zu bringen
sind, und wie die beiden grossen Principien derselben, die Vervoll-
kommnung durch innere Bewegung und die Anpassung durch directe
Einwirkung von aussen, im einzelnen sich ausscheiden. Die Bei-
spiele entnehme ich vorzüglich den untersten Stufen des Pflanzen-
reiches, weil hier die Thatsachen so überaus einfach vorliegen und
der Deutung keine weiteren Möglichkeiten offen lassen.
Bei der Vervollkommnungsbewegung wird das idioplas-
matische System stetig complicirter, indem es neue Micellgruppen
an- oder einlagert. Jede derselben bedingt eine etwas höhere Orga-
nisationsstufe ; die Entwicklungsgeschichte wird um einen Schritt
länger und der Organismus um ein Organ reicher. Es sind mehrere
Arten solcher VervoUkommnungsprocesse bekannt, die nachher als
Entwicklungsgesetze I^ — VII aufgeführt werden.
VII. riiylogenetische Entwicklungsgesetze <les Pflanzenreiches. 341
Bei der A n pass im gs Veränderung dagegen werden Micell-
gruppen des idioplasniatischen Systems eigenthümlicli ausgeprägt.
Gehört die Anpassung einer neuen Kategorie an, so bereichert sich
auch der Organismus um eine neue Einrichtung. Gehört sie aber
einer schon vertretenen Kategorie an , so gehen die Micellgruppen
der früheren Anpassung in den latenten Zustand über und die
neue Einrichtung tritt an die Stelle der früheren.
Die Entwicklungsgeschichte der Reiche sollte eigentlich mit
dem aus der Urzeugung hervorgehenden primordialen Plasma be-
ginnen. Sie müsste aber für das probiale Reich rein theoretiscli
construirt w^erden. Ich will daher aus diesem Reich nur einige all-
gemeine Momente herausheben, die um so sicherer sind, da sie auch
den bekannten Organismen angehören, und ich werde die Entwick-
lungsgesetze dann erst mit denjenigen Erscheinungen beginnen, die
im Pflanzenreiche neu auftreten.
1. Das Primordialplasma nimmt gelöste Nährstoffe
auf und lagert sie als Plasmamicelle zwischen die
schon vorhandenen ein; darauf beruht ein stetiges
Wachsthum durch Substanzzunahme.
Dieser Vorgang der Micelleinlagerung aus der aufgenommenen
Nahrun o- bleibt auf allen Stufen der Reiche die erste Ursache des
Wachsthums. Er geht aus der Natur des Plasmas ebenso noth-
wendig hervor, wie der krystallinische Niederschlag und die Schichten-
auflagerung der Krystalle in der unorganisirten Natur aus den Ge-
setzen des Chemismus (S. 88).
2. Durch den Wachsthumsprocess erlangen die Mi-
celle in dem Primordialplasma stellenweise bestimmte
Anordnungen, und unter dem Einfluss der dadurch
organisirten Molecularkräf te werden neue Functionen
und damit neue Verbindungen erzeugt. In der Folge
gestalten sich die Micellanordnungen immer ungleicher
und die Functionen werden stets zahlreicher und man-
nigfaltiger.
Das primordiale Plasma hat anfänglich bloss die Function, aus
den unorganischen Stoffen, aus denen es selber entstanden ist, neue
gleiche Eiweissmicelle einzulagern und dadm'ch zu wachsen (§ 1).
Durch diese Einlagerungen werden im phylogenetischen Verlaufe
die Plasmamassen in ihrem Innern ungleich , stellenweise dichter
342 ^Ti- Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
oder weicher, stellenweise so oder anders geordnet. Unter dem Ein-
flüsse der verschiedenartig geeinten Molecularkräfte entstehen andere
Modificationen von Albuminaten und denselben verwandte Stoffe
(unorganisirte Fermente), sowie fernerhin verschiedene stickstoffhaltige
und stickstofffreie A^erbindungen. Da der Bau der Plasmasubstanzen
durch ihre autonome Umbildung immer complicirter und durch die
äusseren Anj^assungseinflüsse mannigfaltiger wird, und da gleichen
Schrittes auch die nicht plasmatischen Stoffe sich vermehren, so
zeigt nothwendig als Folge dieser zusammenwirkenden Ursachen die
Zahl der verschiedenen Functionen (chemische Processe, plastische
Bildungen, Bewegungen) eine stete Zunahme. Dieser Entwicklungs-
process erreicht schon in dem probialen Reiche eine ziemliche Höhe,
wie wir aus den Eigenschaften der einfachsten Pflanzen (Schizo-
phyten) und der einfachsten Thiere (Moneren) erkennen. Er dauert
aber weiter durch die phylogenetischen Reihen des Pflanzen- und
Thierreiches fort, so dass die Gesammtheit der Functionen einen
immer grösseren Umfang gewinnt (S. 129).
3. Das Primordialplasma erzeugt an der Oberfläch e
eine Hautschicht, deren Micelle übereinstimmend
geordnet und nach der Oberfläche orientirt sind, und
die im allgemeinen gleichen Schrittes mit dem um-
schlossenen Plasma durch Einlagerung wächst.
Diese Bildung erfolgt durch die Einwirkung des angrenzenden
Wassers und ist somit eine Anpassungserscheinung. Das Häutchen
war anfänglich unbestimmt, äusserst dünn und von gleicher Weich-
heit wie das Plasma; es wurde nach und nach bestimmter, dicker
und von eigenthümlicher Consistenz. — Alle Plasmakörper der Or-
ganismen (Zellen, Kerne, Körner) besitzen diese Umhüllung.
Was die Bildungsursache betrifft, so wirkt das Wasser, in
welchem das primordiale Plasma liegt, wie dies bei allen erblichen
Reizwirkungen der Fall ist, nicht unmittelbar verändernd, sondern
als dauernder, das Wachsthum modificirender Reiz. Die oberfläch-
lichen Micelle zeigen zuerst , als Folge der zwischen Plasma
und Wasser bestehenden Molecularbeziehungen , nur eine schwache
Andeutung von Orientirung. Da aber die beim Wachsthum sich
einlagernden Micelle stets die gleiche Einwirkung erfahren , so
gewinnt die Anordnung immer mehr an Bestimmtheit und Mäch-
tigkeit.
VII. Pliylogeneti^clie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 343
So lange die primordialen Plasmaniassen sich ausschliesslich
durch Theilung vermehren (§ 4) , was in manchen Fällen bis zur
Entstehung von einzelligen Pflanzen und Thieren fortdauern kann,
lindot ein Wechsel der Hautschicht nicht statt, so dass diejenige
eines Moners in ununterbrochener Folge von dem Ijeginnenden
Häutchen des ersten Plasmatropfens abstammen kann. Tritt aber
freie Zellbildung ein (§ 7), so muss auch eine Neubildung der Haut-
schicht stattfinden. In diesem Falle entsteht sie aber sogleich mit
all den Eigenschaften, die ihre Vorgängerin hatte und die ihr erb-
schaftlich zukommen, weil das Idioplasma sich bei dem ßildungs-
process betheiligt. Da nämlich alle Theile eines Plasmatropfens
unter einander in materieller und dynamischer Verbindung stehen,
so hat auch die ursprünglich entstehende Hautschicht auf das ein-
geschlossene Primordialj)lasma , besonders auf die festeren Theile
desselben, die sich als Idioplasma auszuscheiden anfangen, gewirkt.
Wenn sich nun eine neue Hautschicht um die in dem Plasma sich
besondernden Partien bilden muss, so übt seinerseits das Idioplasma
seinen Einfluss auf diesen Process aus, so dass also die Neubildung
der Hautschicht als die Entfaltung einer ererbten Anlage erscheint.
4. Periodisch tritt in der Hautschicht ein stärkeres
Flächenwach st hum ein, das sich hauptsächlich auf
eine ringförmige mittlere Zone concentrirt. Dadurch
wird eine ringförmige, nach innen fortschreitende
Einfaltung erzeugt, welche die Plasmamasse in zwei
Hälften scheidet (Theilung).
Diesen Process der Einfaltung und Theilung finden wir im
wesentlichen durch die ganzen Reiche als Theilung von Zellen,
Kernen und Plasmakörnern. Ich habe als die mechanische Ursache
desselben allgemein das vermehrte Wachsthum der Hautschicht be-
zeichnet, weil dies für die der sicheren Beobachtung zugänglichen
Fälle thatsächlich richtig, und weil auch für alle übrigen Fälle eine
andere Ursache in micellarphy siologischer Beziehung kaum denkl^ar ist.
Der geschilderte Vorgang ist aber jedenfalls nicht das Ursprüng-
Hclie und Ursächliche; dieses liegt vielmehr in der inneren Con-
figuration der Plasmamassen. Das Primordialplasma ist anfänglich
in seinen Micellen ganz ungeordnet und das Zerfallen seiner Massen
noch zufällig: dieselben wachsen jeweilen an, bis sie durch äussere
Ursachen getheilt werden. Gleichzeitig mit der Entstehung der
344 ^'11- Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches.
Hautschiclit an der Oberfläche werden die Micelle im Innern, in
Folge des Wachsthunis durch Einlagerung, nach und nach geordnet
(S. 116 ff.). Je bestimmter die Anordnung wird, um so entscheidender
wirkt sie auf das Zerfallen der Plasmamassen ein ; denn diese bilden
sich zu mehr und mehr ausgesprochenen materiellen Systemen aus,
deren Kräfte ein geschlossenes Ganze darstellen und somit um einen
Mittelpunkt orientirt sind. Solche Systeme müssen ihrer Natur nach
bezüglich der Grösse innerhalb einer untern und obern Grenze
bleiben und zerfallen, wenn sie über ein bestimmtes Maass an-
W'achsen, nothwendig in kleinere Systeme (vgl. auch S. 92). Es ist
begreiflich, dass unter Mitwirkung der durch andere Ursachen ge-
bildeten Hautschicht eine freiliegende Plasmamasse gewöhnlich in
zwei Hälften sich theilt.
Die Richtung, in der die Theilung erfolgt, ist anfänglich unbe-
stimmt. Denn die Plasmamasse hat eine kugelige Gestalt und be-
züglich ihrer inneren Configuration verhalten sich alle Richtungen
identisch. Es wird daher von irgend einem äusseren Anstoss ab-
hängen, nach welcher Richtung sie sich verlängere und in zw^ei
zerfalle ; die Theilung der successiven Generationen hat noch keine
Beziehung zu einander. Sowie aber mit der weiteren phylogene-
tischen Ausbildung der Configuration des Systems die Richtungen
in der Plasmakugel ungleich werden, so wird dadurch ein Einfluss
auf die Theilung ausgeübt. Diese ist keine Anpassung mehr, sondern
in den wichtigsten Beziehungen eine Folge innerer Ursachen geworden.
Die Theilungsrichtung , resp. die Stelle, wo die Einfaltung der
Hautschicht erfolgt, stellt sich jetzt als eine erbliche Eigenschaft
dar; sie wird einzig durch das Idioplasma bestimmt, da für eine
andere mechanische Ursache in den Verhältnissen der Zelle keine
Möglichkeit geboten ist. So gibt es auf der tiefsten Stufe des
Pflanzenreiches einzellige kugelige Organismen, die sich nach der
Theilung von einander trennen und die durch nichts anderes von
einander verschieden sind, als dass bei der einen Gattung (Gloeothece,
Synechococcus) die Teilung immer in der nämlichen Richtung, bei
einer anderen (Merismopedia) abwechselnd in den zwei Richtungen
einer Ebene und bei der dritten (Chroococcus , Gloeocapsa) abwech-
selnd in den drei Richtungen des Raumes erfolgt, so dass, wenn
die Zellen sich nicht von einander trennen oder durch Gallerte lose
verbunden bleiben, im ersten Fall eine Reihe, im zweiten eine ein-
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
545
faclie Scliiclit iiiul im drittcu t'inc kör[)erliclic Ziisaininenordiiung
von Zellen entsteht. Fig. 12a und b zeigen den ersten, e, d, e, f, g
successive Zustände des zweiten Falles.
a
(DO
booo
i_v ^-J L3
OOO!
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Fig. la.
f_
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i©€)0
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lOOO
Dieser Cliarakter der Theilung, welcher sie als von äusseren
Ursachen vollkommen unabhängig erscheinen lässt, erhält sich auf
allen Stufen des Pflanzenreiches. Man hat die Theilungsrichtung
von dem vorausgehenden Wachsthum ableiten wollen. Es ist un-
zw^eifelhaft, dass Wachsthum und Theilung in einer gewissen ursäch-
lichen Beziehung zu einander stehen, da beide durch das Idioplasma
zu Stande kommen. Das hindert aber nicht , dass das Verhältniss
der Theilungsrichtung zu dem Wachsthum und den Dimensionen
der Elterzelle thatsächlich ein ungleiches ist. Indess würde, wenn
auch die Theilungsrichtung eine Function der Wachsthumsrichtung
wäre, durch diesen Umstand nichts geändert in Bezug auf die vor-
liegende Frage; denn auch die Wachsthumsrichtung wird in den
fraglichen Fällen von äusseren Ursachen nicht beeinflusst.
Wenn in dem vorhin angeführten Beisjjiel, wo die kugeligen
Zellen einzeln im Wasser liegen, das Wachsthum das eine Mal
parallel zu der vorausgehenden Wand, das andere Mal parallel dieser
Wand, aber rechtwinklig zur vorvorigen Wand, das dritte Mal recht-
winklig zur vorigen und zur vorvorigen Wand erfolgt, so sind es
nothwendig jedes Mi\\ im Idioplasma liegende und mit demselben
vererbte Anlagen, welche diese Wachsthumsrichtungen und somit
auch die Theilungsrichtungen beherrschen. Audi ihr Ursprung
lässt sich nicht von äusseren Einflüssen ableiten, sondern bloss von
346 VII. Pliylogenetisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
eigenthünilich verschiedenen Anordnungen der Micelle, welche ))ald
ein Beharren der Wachsthumsrichtung, bald einen ein- oder zwei-
maligen Wechsel dersell)en ])ewirkten. Dadurch wird nicht aus-
geschlossen, dass die Theilungsrichtung in gewissen Fällen auf allen
Stufen des Reiches durch äussere Einflüsse mitbestimmt worden
sei. — Auch die Grösse der ursprünglichen Plasmamassen, bei der
die Theilung durch Einfaltung der Hautschicht eintrat, war wenigstens
theilweise eine Folge innerer Ursachen, wobei die äusseren Verhältnisse
allerdings ihre Mitwirkung geltend machten, so dass beispielsweise
die Ungleichheit im Volumen der einzelligen Pflanzen, welche, selbst
bei Ausschluss der durch Scheitelwachsthum sich verlängernden Algen
(Siphoneen) und Pilze, bis auf das Millionenfache steigt, vielleicht
eben so sehr als eine Anpassungsersclieinung zu betrachten ist.
Der geschilderte Vorgang der Theilung reicht, wie ich schon
angedeutet habe, zur Erklärung der betreffenden Erscheinungen für
das ganze Pflanzenreich und wohl auch für das Thierreich aus.
Es gibt Fälle, wo man die Einfaltung deutlich verfolgen kann,
besonders wenn die entstehende Scheidewand mit hineinwächst;
andere Fälle dagegen, wo sie sich vollzieht, ohne dass man wegen
der ausserordentlichen Dünnheit der Hautschicht und wegen ihrer
geringen optischen Verschiedenheit vom angrenzenden Plasma etwas
zu sehen vermag. Auch mit den durch die neueren Beobachtungen
Strasburger 's und Flemming's festgestellten Thatsachen ist
der Process nicht im Widerspruch, wohl aber mit den Deutungen,
welche dieselben erfahren haben und die keineswegs nothwendig
sind, sowde sie auch einer Analyse der micellarphysiologischen und
mechanischen Möglichkeiten schwerlich Stand halten.
5. Die Hautschicht erzeugt, wo sie an äussere Me-
dien oder an andere Hautschichten anstösst, einen aus
nicht plasmatischen Substanzen bestehenden Ueber-
zug (Zellmembran), welcher die Zellen von einander
trennt, und der bei der Theilung gleichzeitig mit der
Einfaltung der Hautschicht sich zu bilden anfängt.
Die nicht plasmatische Membran war jedenfalls schon im pro-
bialen Reich vorhanden und ging dann auf Pflanzen und Thiere
über. Wir müssen annehmen, dass sie, allerdings äusserst dünn
und weich, auch bei der Entstehung der sogenannten nackten Zellen
und stets bei der Einfaltung der Hautschicht vorkomme. Denn bei
VII. Pliylogenetische Eiitwicklung.sgesetze des Pflanzeru'eiches. 347
der bekannten halbflüssigen Beschaffenheit des Plasmas, die Haut-
schicht nicht ausgenommen, müssten nackte Zellen, die in einer
Elterzelle gedrängt beisammen liegen, ebenso die beiden Blätter der
eingefalteten Hautschicht zusammenfliessen , wenn nicht eine noch
so dünne nichtplasmatische Substanz sie trennte. Das Vorhanden-
sein einer solchen Substanz ergibt sich auch deutlich aus dem
Umstände, dass man meistens eine trennende Linie wahrnimmt, die
nichts anderes sein kann, als eine dünne Lage von optisch ver-
schiedener Masse.
Die Membranbildung ist eine Anpassungserscheinung, die ur-
sprünglich durch den Reiz der äusseren Medien auf die Hautschicht
des Plasmas hervorgerufen wurde, dann aber durch die entsprechende
Ausprägung des Idioplasmas erblich geworden ist.
6. Nach der Theilung sind die beiden Hälften
(Zellen) zunächst mit einander verbunden. Im pro-
bialen Reich und bei den einzelligen Organismen
trennen sie sich meistens von einander, bevor aber-
malige Theilung eintritt. Bei den mehrzelligen Orga-
nismen bleiben sie innig zu einem Gewebe vereinigt;
Trennung oder Ablösung findet erst bei den Zellen
der letzten Ordnung statt.
Diese Erscheinungen gehören nicht zu den Anpassungen, indem
sie unabhängig von äusseren Einflüssen entstanden und zu erblicher
Beständigkeit gelangt sind. — Was das mechanische Zustandekommen
betrifft, so hängt dasselbe wesentlich von der Beschaffenheit der
zwischen den Zellen befindlichen Membran ab. Hat dieselbe eine
weiche schleimige Consistenz, so dass die Adhäsion sehr gering ist,
so erfolgt die Trennung lediglich durch das physikalische Bestreben
der Plasmamassen (Zellen) sich abzurunden und durch die mecha-
nische Einwirkung des umgebenden Medimiis (Strömungen, Stösse
u. s. w.). Ist die Membran aber von festerer Beschaffenheit, so sind
zur Trennung noch besondere Veränderungen in derselben, welche
durch das Ernährungsplasma unter dem Einfluss des Idioplasmas
bedingt werden , nothwendig. Entweder wird die Mittellamelle der
Scheidewand so weich, dass dann das Abrundungsbestreben und
die mechanische Aktion des Mediums zum Losreissen genügen.
Oder dieselbe erlangt nicht die hierzu erforderliche Weichheit ; dann
muss noch eine selbständige Wölbung der Seitenlamellen zu Hülfe
348 ^'II' Pliylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
kommen. Die letzteren wölben sich gegen einander, wenn ihr Flächen-
wachsthuni vom Cinitrum nach der Peripherie liin zunimmt, wobei eine
hinreichend feste Bescliaffenheit ihrer Sul)stanz und eine regelmässige
Anordnung der Membranmicelle vorausgesetzt wird. — In besonderen
Fällen kommt die Trennung auch dadurch zu Stande, dass der ganze
Inhalt aus der ^lembran ausschlüi)lt und als nackte Zelle frei wird.
Die eben gegebene Darstellung der mechanischen Vorgänge bei
der Ti-ennung der Zellen entspricht den jetzigen Vorstellungen über
die Vereinigung derselben. Ich glaube jedoch, dass damit nicht der
ganze Process erschöpft ist. Wie ich bereits bei Anlass der Ueber-
tragung idioplastischer Anlagen an die verschiedenen Theile des
Organismus ausgeführt habe, liegen die Zellen eines Gewebes wahr-
scheinlich nicht bloss unmittelbar neben einander, so dass zwischen
ihnen ein diosmotischer Austausch von gelösten Stoffen möglich
ist. Sondern die Zelleninhalte selbst sind in Communication, indem
die Wand siebartig von kleinen Löchern durchljohrt ist, durch welche
das Plasma entweder übertreten kann oder doch in direkter Berührung
sich befindet. Der ganze Organismus würde also aus kleinen mit
Inhalt gefüllten Höhlungen bestehen, welche unter einander com-
municiren, und das Zerfallen in Zellen oder die Ablösung von Zellen
müsste damit beginnen, dass diese Communicationen unterbrochen
werden, worauf dann die geschilderten Vorgänge in der Membran
eintreten.
Die Art und Weise, wie die Zellen vereinigt sind, ist auch
von besonderer Wichtigkeit für die Unterscheidung von ein- und
vielzelligen Organismen. Die einzelligen Pflanzen kommen häufig
zu Colonien vereinigt vor, wobei sie zuweilen gerade so wie in
einem Zellgew^ebe neben einander liegen. Wenn meine Vermuthung
über die Gewebebildung richtig ist, so würde sich die Zellreihe, zu
welcher sich einzellige Pflanzen an einander legen (Desmidium,
manche Diatomeen u. s. w.), dadurch von der einreihigen mehr-
zelligen Pflanze (Zygnemaceen u. s. w.) unterscheiden, dass bei jener
die siebartigen Durchbrechungen der Scheidewände mangelten, bei
diesen aber vorhanden wären. Nach dieser Anschauung wäre die
vielzellige Pflanze ein zusammenhängendes System von Plasma, aus
ebenso vielen Theilsystemen bestehend, als Zellen vorhanden sind, —
und die Fortpflanzung bestände darin, dass je einTheilsystem vonPlasma
als Fortpflanzungszelle seine vollständige Selbständigkeit erlangte.
VII. Phyloffenetische Kiitwicklungsgesetzo des Pliaiizonreiches. 349
7. In dem (formlosen) Plasma gewisser Individuen
des probialen Reiches ])esondern sieh im Innern ein-
zelne Plasmatropi'en. Sie bilden sich auf Kosten des
u m g e b e n d e n absterbenden Fla s m a aus, erzeugen eine
umhüllende Hautschicht und werden, sowie das Eiter-
individuum zu Grunde geht, zu selbständigen Indi-
viduen. Diese Erscheinung vererbt sich auf Pflanzen
und Thiere als freie Zellbildung.
In dem probialen Reich entstanden nach und nach verschiedene
Sippen theils durch die selbständige divergirende Umbildung in
der Configuration des primordialen Plasmas theils durch ungleiche
Anpassungen. Unter diesen Sippen gab es einerseits solche von
geringerer Grösse und festerer Consistenz mit derberer Hautschicht,
andrerseits grössere aus weicherem Plasma mit zarterer Haut. Beim
Eintritt einer relativen Vegetationsruhe, die von Temperaturerniedri-
gung , von theilweisem Austrocknen , von Nahrungsentziehung und
dergleichen bedingt war, litten die letzteren Sippen mehr als die
ersteren. Die Individuen der am wenigsten widerstandsfähigen gaben
ab und zu kleine Partien, deren Vegetation am meisten gestört wairde,
preis, ergänzten an der Grenze derselben ihre Hautschicht und ver-
wendeten die aus der preisgegebenen Partie aufgenommene Nahrung
zur Verdichtung ihrer Substanz.
Die Zeit der Vegetationsruhe war anfänglich von der Vegetations-
periode wenig verschieden ; ihre Ungunst steigerte sich mit der
langsamen Ausprägung der Jahreszeiten. Zugleich wurden einzelne
Sippen durch zunehmende feinere Organisation ihrer Substanz und
ilirer Hautschicht noch weniger widerstandsfähig und verloren beim
Aufhören der Vegetationszeit immer grössere Partien, bis zuletzt
nur eine oder einige innere Partien lebensfähig blieben , die dann
aus der absterbenden Masse sich ausreichend verdichteten, mn die
A^egetationsruhe ohne Nachtheil zu überdauern. Dieser Vorgang,
durch einen äusseren Reiz veranlasst, wurde erblich, — und damit
war die freie Zellbildung, w^enn wir hier schon von Zellen sprechen
dürfen, gegeben und zugleich auch ein Generationswechsel für die
betreffenden Sippen, indem beim Beginn der nächsten A^egetationszeit
die Theilung wieder begann.
Die freie Zellbildung und der erste Generationswechsel waren
also ursprünglich Anpassungserscheinungen, und zwar an die jähr-
350 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
liehe Periodicität der äusseren Einflüsse. Die erste Veränderung
dazu erscheint ledighch als eine unmittelbare Folge der letzteren,
indem unter den ungünstigeren Ernährungsverhältnissen nur mehr
ein Theil des Plasmatropfens sich der Nahrung bemächtigte, mid
die übrige Masse zu Grunde ging. Der zurückbleibende lebenskräftige
Theil verhielt sich aber etwas anders als das Plasma der früheren
Generationen, da er nicht bloss unorganische Nahrung von aussen
aufnahm und assimilirte, wie es bisher geschah, sondern auch
gewisse Verbindungen aus dem absterbenden Plasma bezog und,
was früher ebenfalls nicht vorgekommen war, eine neue Hautschicht
bildete. Diese neuen Functionen, die sich jährlich wiederholten,
mussten auch das Idioplasma etwas umbilden und eine erbliche
Disposition erzeugen, vermöge welcher das Plasma zur freien Zell-
bildung immer geschickter wurde und zuletzt dieselbe, auf eine
schwache Anregung von aussen, selbständig durchführte.
Durch lange Zeiträume trat die freie Zellbildung stets beim
Einti'itt der ungünstigen Jahreszeit, welche die Vegetationsruhe
bedingte, ein, und dies mag jetzt noch bei gewissen sehr einfachen
Pflanzen der Fall sein. Bei etwas complicirteren Organismen mit
einjähriger Ontogenie traf mit der Vegetationsruhe der Schluss der
ontogenetischen Entwicklungsgeschichte zusammen, so dass die Zeit
der freien Zellbildung nicht bloss durch die äusseren Umstände,
sondern auch durch die ererbten Anlagen, also durch zwei Ursachen
bestimmt wurde. Bald erwies sich die letztere Ursache als die
stärkere, und als die ontogenetische Entwicklungsgeschichte im
weiteren Verlauf der jDhylogenetischen Stämme nicht mehr mit der
jährlichen Periodicität übereinstimmte, so trat auch die freie Zell-
bildung, der Ontogenie entsprechend, zu jeder Jahreszeit ein.
Wir haben hier ein Beispiel, — das sich übrigens, namentlich
bei Fortpflanzungserscheinungen, mehrfach wiederholt, — wde ein
Vorgang, der ursprünglich durch äussere Ursachen herbeigeführt
wurde und durchaus sich als Anpassung an dieselben kundgab, nach
und nach in dem sich umbildenden Idioplasma so befestigt wird,
dass er nun unabhängig von der Ursache, die ihn erzeugt hat, und
im Widerspruch mit derselben sich verwirklichen kann.
VII. Phylogenetische Eiit ^\^f•kh^ngsgesetze des Pflanzenreiches. 351
Die in dem Vorhergehenden geschilderten 7 Erscheinungen
(§ 1 — 7) fanden schon im probialen Reiche statt und wurden auf
die ersten Pflanzen und Thiere vererbt. Sie dauern während der
ganzen Entwicklungsgescliichte der Reiche an und vemiittehi alle
ontogenetischen und phylogenetischen Vorgänge derselben. Ein-
lagerung von Micellen in die organisirte Substanz (§ 1) unterVermehrung
der Functionen (§ 2), ferner Theilung der Zellen (§ 4) mit der durch
die Hautschichtbildung (§ 3) und die Membranl)ildung (§ 5) ermög-
lichten relativen Selbstäijdigkeit derselben stellen das Wachsthum
der Organismen dar, während die Lostrennung früher verbundener
Zellen (§ 6) und die freie Zellbildung (§ 7), welche beide Vorgänge
der Fortj)flanzung angehören, der individuellen Wachsthumsgeschichte
eine frühere oder spätere Grenze setzen. Eben so wie die genannten Er-
scheinungen die Ontogenien mit ihrer nothwendigen Begrenzung zu
Stande bringen, so bilden sie auch die Elemente für den phjdo-
genetischen Fortschritt.
Ich \xi\\ nun versuchen, die Gesetze zu entwickeln, welche den
genannten Fortschritt im Pflanzenreiche beherrschen. In diesen
Entwicklungsgesetzen soll der geregelte Verlauf der Abstammungs-
geschichte ausgesprochen sein ; sie sollen die Nomien angeben, nach
denen aus kugeligen mikroskopisch kleinen einzelligen Pflänzchen
die aus vielen Millionen von Zellen bestehenden und reich geglie-
derten höchsten Gewächse entstehen. Diese Gesetze gehören zwei
verschiedenen Gebieten an.
1. Die einen betreffen diejenigen Veränderungen der Pflanzen
im entfalteten Zustande, welche dem selbständigen Fortschritt desidio-
plasmatischen Systems zu einer immer complicirteren Configuration
entsprechen (Ges. I — VII).
2. Die anderen umfassen die durch äussere Einflüsse hervor-
gebrachten Anpassungen (Ges. VIII).
Unter den Gesetzen der ersten Kategorie befinden sich einige,
die uns zeigen, auf welche Weise die individuelle Entwicklungs-
geschichte von Stufe zu Stufe um einen Schritt länger wird. Diese
Schritte werden entweder am Ende angefügt, so dass das letzte
Stück der Ontogenie auch der letzte und jüngste Schritt der Phylo-
genie ist (Ges. I — III). Oder sie werden irgendwo früher in die
Ontogenie eingeschoben, so dass der letzte Zuwachs der Phylogenie
irgend einem Stücke zwischen Anfang und Schluss der Ontogenie
352 ^'11- Pliylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreichee.
entspricht (Ges. V). Um ein Bild hierfür zu haben, kann die erstere
Art des Fortschrittes dem Scheitelwach sthuni, die letztere dem inter-
calaren Längenwachsthum der Organe durch Zellenbildung verglichen
werden. Ixili will die beiden Vorgänge auch als terminale und inter-
calare Zunahme unterscheiden. Die Gesetze des terminalen Zuwachses
geben uns Aufschluss über die Entstehung der wichtigsten Organi-
sationsverhältnisse. Sie lassen sich als folgendes allgemeines Gesetz
zusammenfassen :
Die reproductive Erscheinung einer Stufe wird auf
der höheren Stufe vegetativ. Die Zellen, die bei der
e i n f a c h e r e n P f 1 a n z e sich a 1 s K e i m e lostrennen und die
Anfänge neuer Individuen darstellen, werden bei der
nächst höheren Pflanze Theil des individuellen Orga-
nismus, und verlängern die Ontogenie um einen ent-
s p r e c h e n d e n S c h r i 1 1.
Dies ist das fundamentale Gesetz der organischen Entwick-
lung, ohne welches die Organismen nicht aus dem einzelligen Zu-
stande herausgekommen wären. Es verwirklicht sich auf dreierlei
Weise :
I. Die durch Theilung entstehenden Fortpflanzungszellen werden
zu Gewebezellen.
II. Die durch Sprossung (Abschnürung) entstehenden Fort-
pflanzungszellen werden zu Zellästen oder gegliederten Zellfäden.
III. Die durch freie Zellbildung entstehenden Fortpflanzungs-
zellen werden zu Inhaltskörjjern der Zelle.
Ich bemerke zum Voraus, dass diese Gesetze nicht etwa als
naturphilosophische Analogien zu betrachten sind, sondern als reale
Vorgänge, deren Zutreffen ich bis auf das letzte Molekül in Anspruch
nehme. Das allgemeine Gesetz wurde von mir schon im Jahre 1853
ausgesprochen '), und zwar in folgender Weise :
»Ein erstes Gesetz . . . lautet, dass eine höhere Art oder Gruppe
die Erscheinungen der tiefern wiederholt, aber darüber hinaus zu
einer neuen Erscheinung fortschreitet.«
»Dieses erste Gesetz findet seine Erklärung und seinen Ursprung
aus einem zweiten, welches mir überhaupt für die Aufeinanderfolge
*) Systematische Uebersicht der. Erscheinungen im Pflanzenreich. Frei-
burg i. B. 1853.
VII. Pliylogenetische EnUvicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 35o
der Gruppen im Pflanzenreiche von der höchsten Bedeutung zu sein
scheint. Es heisst: Die reproductive Erscheinung einer Stufe wird
auf einer liöhern Stufe vegetativ. Dasselbe bewährt sich mit Rück-
sicht auf die Bildung der Zelle, des Organs und den Aufbau des
Pflanzenstockes. Der nämliche Vorgang, Avelcher bei der niedern
Gruppe die Fortpflanzung vermitteln hilft, stellt bei einer höhern
Gruppe bloss eine Seite der vegetativen Entwicklung dar, indess
hier ein neues, der tieferen Gruppe mangelndes Moment auftritt,
um die neuen Individuen zu erzeugen.«
Unter den zahlreichen zur Erläuterung dienenden Thatsachen
habe ich damals schon fast alle, die ich jetzt als Belege benützen
werde, aufgeführt. Das Gesetz ist von den Botanikern, die in jenen
Zeiten für solche Fragen noch kein Interesse hatten, und später
von den Darwinisten unberücksichtigt geblieben. Diese hätten es
auch nicht berücksichtigen können, da die Thatsachen nicht zu
widerlegen waren, und da ja der gesetzmässige Fortschritt in meinem
Sinne mit der Theorie der natürlichen Zuchtwahl aus unbestimmten
Veränderungen im Widerspruche steht.
Was die Beweise für die Entwicklungsgesetze betrifft, so ist vor
allem daran zu erinnern, dass jedenfalls nur sehr wenige, vielleicht
keine einzige jetzt lebende Art von einer andern jetzt lebenden a1)-
stammt. Das Studium der jetzigen Verwandten einer Art gibt uns
aber die einzige Möglichkeit, um bestimmt zu wissen, wie ihre Vor-
fahren ausgesehen haben müssen. Leider sind aber in dem jetzigen
i*flanzenreiche auch die natürlichen Familien, denen die Vorfahren
angehören mussten, nur spärlicli vertreten. Wir können wohl sagen,
dass kaum der hundertste Theil aller Familien gegenwärtig existirt,
welche nothwendig wären , um die Abstammungslinien zu vervoll-
ständigen. Weini man die Lücken überhaupt durcli IJebergangs-
stufen ausfüllen will, so kann das nur durch Interpolation geschehen,
was übrigens mit einiger Aussicht auf Erfolg erst dann versucht
werden kann, wenn alle Entwicklungsgesetze und iln^e Anwendung
sehr genau erkannt sind.
Die zwei grössten und für die Abstammungslehre des Pflanzen-
reiches empfindlichsten Lücken befinden sich zwischen den faden-
förmigen Algen (Confervoiden) und den IMoosen einerseits, zwischen
den letzteren und den Phanerogamen sanmit Gefässkryptogamen
andrerseits. Die Abstammungsreihe oder vielmehr der Büschel von
V. Xägeli, Abstammungslehre 23
S54
VII. Phylogenetische Entwickkingsgesetze des Pflanzenreiches.
Cl:)
parallelen Abstammungsreihen, welche von den Confervoiden durch
die Moose zu den Gefässpflanzen aufsteigen, verschweigen in den
beiden Lücken viel mehr als sie in dem Anfangs-, dem kurzen
Mittel- und dem Endstück offenbaren. Unter den Süsswasseralgen
gibt es eine einzige Gattung (Schizomeris) , welche einen aus wirk-
lichem Zellgewebe bestehenden Körper besitzt; alle übrigen, selbst
Batrachospermum und Ohara bestehen nur aus eng an einander
gelegten Fäden, und das Gewebe von Lemanea ist wenigstens auf
eine solche Entstehung zurückzuführen. Unter der ganzen Gruppe
der Moose gibt es nur einige Lebermoose, welche Aehnlichkeit mit
den ausgestorbenen Gliedern der zu den höhern Pflanzen führenden
Abstammungsreihen in An-
V^ Spruch nehmen können.
Was die Lücke über
den Confervoiden betrifft, so
steigen zwar die Fucoiden
und Florideen von denselben
aus ziemlich hoch auf ; aber
es sind dies Weiterbildungen
in besonderen Richtungen,
welche nicht zu den Leber-
moosen hinüberführen. Das-
selbe gilt von der Klasse
der Moose, welche zwar von
den niedrigsten Lebermoosen
zu höheren Entwicklungs-
formen sich erhebt, aber
durchaus nicht in der Rich-
tung zu den Gefässkrypto-
gamen hin verläuft. Wären
die Lücken zwischen den
Confervoiden und den Leber-
moosen und zwischen diesen
und den Gefässkryptogamen
mit jetzt noch lebendenPflan-
zen ausgefüllt, so ständen die
Beispiele für die ausgesprochenen Gesetze I— III viel reichlicher zu
Gebot, als es. jetzt der Fall ist.
Fig. 13.
Vn. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 355
Die eben angeführten phylogenetischen Reihen sind in Fig. 13
graphisch dargestellt. C bedeutet die Sippe der Confervoiden. Von
derselben gehen in drei Richtungen Al^stammungslinien aus; die
einen führen zu den Fucoiden (F), die andern zu den Florideen (Fl),
die dritte zu den niedrigsten Lebermoosen (H). Die Reihen der zwei
ersten Richtungen sind zum Theil erhalten und daher durch aus
gezogene Linien wiedergegeben; die Reihe der dritten Richtung ist
als ausgestorbene durch eine punktirte Linie angedeutet. Von den
niedrigsten Lebermoosen (H) steigen nach zwei Richtungen Ab-
stammungslinien auf; die einen Reihen, die theilweise noch leben,
gehen zu den höheren Moosen (M); die anderen, von denen nichts
mehr erhalten ist, führen zu den niedrigsten Gefässpflanzen (V).
Ich habe das allgemeine Entwicklungsgesetz der organischen
Reiche mit Rücksicht auf den Fortschritt, welchen die entfalteten
Organismen zeigen, ausgesprochen: Die reproductive Erscheinung
(der sich ablösende Keim) einer Stufe mrd auf der nächst höheren
Stufe vegetativ (zu einem integrirenden Theil des individuellen Orga-
nismus). Das Gesetz lässt sich auch als idioplasmatischer Vorgang
ausdrücken. Der entfaltete Zustand ist die Folge der Bewegungen
im Idioplasma; wenn ein Rej)roductionsprocess sich verwirklicht,
so gelangen nach einander verschiedene Anlagen zur Entfaltung,
und zuletzt diejenige Anlage, welche die Lostrennung oder wenig-
stens die morphologische Selbständigkeit der Keimzellen bedingt.
Wenn nun das Gesetz auf das Verhalten des Idioplasmas gegründet
wird, so heisst es:
Die idio plasmatischen Anlagen, welche die Bildung
der Keime bewirken und somit der allerletzten, die
Ablösung der Keime bedingenden Anlage vorausgehen,
entfalten sich auf der niederen Stufe nur einmal und
bedingen mit der letzten Anlage zusammen die Fort-
pflanzung. Auf der höheren Stufe w^erden sie, mit Aus-
schluss der allerletzten Anlage, wiederholt erregt und
zur Entfaltung gebracht, wodurch die Ontogenie einen
entsprechenden Fortschritt erfährt.
Oder noch allgemeiner gefasst:
Die allerletzte Anlage der Ontogenie, welche die Ab-
lösung der Keime bedingt, tritt auf der höheren Stufe
um eine oder mehrere Zellengenerationon später ein.
23*
^56 Vli. Phylogenetische Entwicldungsgesetze des Pflanzenreiches.
Die phylogenetische Veränderung ist also möglichst gering, indem
die Beschall'enheit des Idioplasmas sich nur so weit umbildet, dass
ein Complex von Anlagen statt einmal sich mehrmals entfaltet, und
dass die Entfaltungsproducte desswegen, Aveil die den Schluss dieses
Complexes bildende Anlage latent bleibt, selbstverständlich einen
etwas anderen, nämlich vegetativen Charakter annehmen. Die« Ver-
längerung, welche dadurch der Ontogenie zugefügt wird, ist ur-
sprünglicli rein quantitativer Natur; sie wird aber in jedem Falle
sehr bald etwas Besonderes, indem der neue Zuwachs der Ontogenie
einerseits sich mit den übrigen Elementen der Ontogenie ins Gleich-
gewicht setzt und andrerseits durch die äusseren Anpassungseinflüsse
eigenthümlich ausgeprägt wird.
Dass eine Anlage oder ein Anlagencomplex wiederholt oder an-
dauernd zur Entfaltung kommt und dass die Zahl der Entfaltungen
oder die Dauer des Entfaltungsprocesses in den auf einander fol-
genden Ontogenien sich ungleich verhält, ist eine im Pflanzenreiche
ganz gewöhnliche Erscheinung. Gestattet die Beschafl^enheit des
Idioplasmas einen Wechsel innerhalb bestimmter Grenzen, so hängt
es von äusseren Einwirkungen ab, ob die Entfaltung innerhalb dieser
Grenzen sich mehr oder weniger oft wiederhole; und es ist begreif-
lich, dass, wenn schon die Einwirkung der nicht idioplasmatischen
Substanzen einen solchen Erfolg hat, eine sehr geringe Aenderung
im Idioplasma selbst genügt, um das zulässige Maass in der Dauer
oder Zahl der Erregungen erblich, also phylogenetisch zu verändern.
Das allgemeine Gesetz, wie es S. 352 ausgesprochen wurde, gilt
für den Fall, dass an die Ontogenie ein neues Stück gleichsam ter-
minal angefügt wird , und ist dem andern Fall entgegengesetzt , in
welchem die neuen Stücke vor dem Ende intercalar in die Onto-
genie eingeschaltet werden (S. 351). Diese Form des Ausdruckes
ist zutreffend, wenn die entfalteten Zustände mit einander verglichen
werden, indem die sich ablösenden Keimzellen der niederen Stufe zur
Vergrösserung des der höheren Stufe angehörenden Individuums
dienen. Sprechen wir dagegen das Gesetz mit Rücksiclit auf die
idioplasmatischen Vorgänge aus, so köünen wir nicht sagen, dass
ein Stück auf das Ende der Ontogenie aufgesetzt werde ; denn die
allerletzte Anlage, welche die Ablösung der Keime bedingt, bleibt
die nämliche, und es wird nur unmittelbar vor derselben die Reihe
der JOntfaltungen verlängert. Das scheinbar terminale Wachsthum
VII. Phylogenetische Entwioklitngsgesetze des Pflanzenreiches. 357
der Ontogenien ist also in aller Strenge ein intercalares , welches
vor der Entfaltung der allerletzten Anlage eintritt.
I. phylogenetisches Gesetz.
Die durch Th eilung entstehenden geschlechtslosen
Fortpflanzungszellen hleihen verbunden und werden
zu G e webe Zellen.
In diesem Gesetze gelangt das eigentlich gewebebildende Princip
zum Ausdruck. Zellen, die auf der niederen Stufe sich von einander
trennen und zu eben so vielen Pfianzenindividuen oder Anfängen
neuer Individuen werden, bleiben auf der höheren Stufe mit einander
verbunden und sind bloss Theile eines und desselben Individuums.
Auf diesem Wege gehen die einzelligen in mehrzellige Individuen,
ferner Organe, die aus einer einzigen Zelle, einer einfachen Zellreihe
oder einer einfachen Zellschicht bestehen, in körperliche Gebilde über.
Den Uebergang von einzelligen Pflanzen in mehrzellige können
wir deutlicli wahrnehmen bei der Vergleichung der Chroococcaceen
mit den Nostochaceen , Oscillariaceen , Rivulariaceen und Scytone-
maceen, welche alle zusammen die Klasse der Nostochinae aus-
machen, bei der Vergleichung der Palmelhnen (Protococcoiden) mit
den Confervoiden und bei der A^'ergleichung der Desinidiaceen mit
den Zygnemaceen. Die Klasse der Nostochinae ist deshalb bemerkens-
werth, weil die einzelligen und die mehrzelligen einander so ähnlich
J LI IE N
^O oo oooo oooooooo
f> o CO axo (xnnxD
c O CD OID CllJ NID
Fig. U.
sind, dass man die ersteren als die noch Jetzt lebenden Erzeuger der
letzteren in Anspruch zu nehmen geneigt sein kann. Als Beispiel
füge ich in Fig. 14 die bildliche Darstellung a) einer Chroococcacee
358 VU. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches.
(Synechococcus oder Gloeothece), b) einer Nostochacee und c) einer
Oscillariacee bei, je in 4 auf einander folgenden Generationen
I, II, III, IV dargestellt.
Bei den Chroococcaceen (a) können die Zellen, nachdem sie sich
von einander losgelöst haben, sich im Wasser zerstreuen oder durch
Gallerte in geringer Entfernung von einander festgehalten werden.
Bei den Nostochaceen (b) sind die mehr oder weniger kugeligen
Zellen nur mit einer kleineren Stelle der Ol^erfläche, bei den Oscil-
lariaceen (c) sind die cylindrischen Zellen mit den ganzen End-
flächen verbunden.
Vergleicht man alle einzelligen Pflanzen mit den nächst ver-
wandten mehrzelligen, so findet man alle möglichen Zwischenstufen
in den Merkmalen, so dass es eigentlich unmöglich wird, einen
strengen Unterschied zwischen Einzelligkeit und Mehrzelligkeit fest-
zustellen. Die Zellen sind mehr oder weniger fest mit einander
verbunden, wohl auch ziemlich weit von einander entfernt und
durch Plasmastränge zusammenhängend, — und man ist oft im
Zweifel, ob man ein mehrzelliges Gebilde als eine Colonie einzelliger
Individuen oder als ein mehrzelliges Individuum ansprechen soll,
da schon bei unzweifelhaft einzelligen Pflanzen (in den Coenobien
von Hydrodictyon und Pediastrum) sehr innige Verwachsung vor-
kommen kann. Ich habe daher als unterscheidendes Merkmal
zwischen beiden die (noch mangelnde oder bereits eingetretene)
Differenzirung benutzt und die Einzelligkeit soweit ausgedehnt, als
die Zellen in einer Gruppe physiologisch gleich sind^). Doch ist
dies nur ein Nothbehelf. Wo die bei der phylogenetischen Um-
wandlung sich bildenden Formen noch reichlich vorhanden sind,
ist eine Sonderung innerhalb der Abstammungsreihen immer mehr
oder weniger willkürlich.
Die merkwürdige, in neuerer Zeit beobachtete Erscheinung, dass
röhrenförmige und mehrzellige Algen zeitweise in einzellige, soge-
nannte Palmella- und Protococcus-Zustände übergehen können, beweist
nichts dagegen, dass jene Pflanzen, wie es nach dem I. und IL phylo-
genetischen Gesetz geschehen soll , aus einzelligen entstanden sind.
Denn wenn auch einzelne einzellige Formen durch jene Beobach-
tungen aus der Zahl der selbständigen Sippen gestrichen wurden, so
') Einzellige Algen. 1849.
Vn. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches
350
bleibt doch die Mehrzahl der einzelligen Organismen unangefochten ;
— und die genannte Erscheinung wird ^^elmehr zur Stütze der
phylogenetischen Gesetze, da sie als ein ontogenetischer Rückschlag
auf die frühere phylogenetische Stufe zu betrachten ist.
Als Beispiel dafür, wie in vielzelligen Pflanzen durch Xgv-
einigung der Fortpflanzungszellen der früheren Stufe eine compli-
cirtere Gewebestufe erreicht wird , will ich die Verwandlung einer
Zellreihe in einen cylindrischen Zellkörper anführen. Die Confer-
voiden sind gegliederte Fäden und pflanzen sich durch Keimzellen
fort, die zu mehreren innerhalb der Gliederzellen entstehen. Die
Bildung der Keimzellen erfolgt in verschiedener Weise, manchmal
bloss aus dem in kleinere Portionen zerfallenden Wandbeleg, bei den
niedrigsten Sippen aber sicher durch normale Theilung des ganzen
Zelleninhalts. Die Zellen trennen sich dann von einander und
treten aus der Elterzelle heraus, oder werden in irgend einer anderen
Art fi'ei; aus ihnen erwachsen neue gleiche Pflanzen von faden-
förmiger Beschaffenheit. Wird diese Zellbildung vegetativ, so ent-
steht ein cylindrischer Zellkörj^er, wie wir ihn unter den Süss-
Fig. 15.
wasseralgen Ijei Schizomeris finden, die im Jugendzustande von einer
Confervoide nicht zu unterscheiden ist. In dieser Weise ist auch
die Meeralgengattung Enteromorpha entstanden. Dieselbe tritt im
360 ^'^II- Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches.
jugendlichen Zustande ebenfalls als Zellreihe auf, die sich durch
Theilung in den Gliederzellen in einen Zellkörper von einfachstem
Bau und weiter durch Ausscheidung von Wasser zwischen den Zellen
in einen einschichtigen Schlauch verwandelt.
In Fig. 15 stellt a eine ConfervoTde dar; die unteren Zellen
noch unverändert, die oberen keimzellenbildend ; b den Endtheil einer
Schizomeris, die oberen Glieder noch ungetheilt, die unteren in ver-
schiedenen Theilungszuständen ; c den Querschnitt durch die unterste
Partie von b ; d den Längsschnitt durch den Endtheil einer Entero-
morpha, die oberen Glieder noch ungetheilt, die untern in Theilung
begriffen und schlauchbildend; e, f, g, h Querschnitte durch d in
zunehmender Entfernung vom Scheitel. Die Theilung erfolgt, wie
aus d bis h ersichtlich, ausschliesslich durch Wände, welche die
Oberfläche rechtwinklig berühren.
An Enteromorpha schliesst sich die so nahe verwandte Gattung
Ulva an. Wie die niederen Confervo'iden zu Schizomeris und den
Ulveen, verhält sich Bangia zu Porphj^ra, welche offenbar von einer
vorweltlichen Gruppe als einziges Glied übrig geblieben und dadurch
ausgezeichnet ist, dass die vegetativen Theilungen ausschliesslich in
einer Ebene vor sich gehen. Den gleichen Fortschritt finden wir
auch in der Klasse der Fucoiden von Ectocarpus und andern
Gattungen zu den mit körperlichem Thallom begabten, zunächst
Sphacelaria u. s. w. , während die phylogenetische Umwandlung in
der Klasse der Florideen einen anderen Charakter zeigt.
Wie jeder phjdogenetische Fortschritt, erfolgt auch die Umwand-
lung der Fortpflanzungszellen in Gewebezellen, die im Idioplasma
ganz allmählich sich vollzieht, im entfalteten Zustande so successive,
als es die Umstände erlauben. Die ungeschlechtlichen Fortpflanzungs-
zellen der Algen sind auf der unteren Stufe lebhaft bewegte Schwärm-
sporen. Dann nimmt ihre Bewegungsfähigkeit stufenweise ab und
erlischt schliesslich. Sie verlassen die Höhlung ihrer Elterzelle nicht
mehr, sondern keimen in derselben ; es trennen sich erst die Keim-
pflänzchen los (was bei Ulothrix beispielsweise vorkommt). Auf der
höhern. Stufe dient die Zelltheilung , welche die Keimpflänzchen
erzeugte, zur Gewebebildung.
Den ersten Schritt eines solchen phylogenetischen Vorganges
finden wir an dem Product der Oosporen von Coleochaete. Bei den
Pflanzen der vorausuelienden Stufen (Sphaeroplea , Ulothrix, Oedo-
\T!I. PhyloGrenetisclie Entwifklmigsgesetze des Pflanzenreiches.
361
o-oniimi) theilt sich der Tiilialt in den riilienden, diiivli geschleelit-
liclie Befruchtung entstandenen Sporen (ZygosiJorcn und Oosporen)
in mehrere Schwärnisporen. In den Oosporen von Coleochaete
dagegen bleiben die durch Theilung entstandenen Zellen zu einem
Gewebekörper vereinigt; aus ihnen tritt später je eine Schwärmspore
aus. Wären die höheren Stufen dieser Algen unter den jetzt lebenden
Pflanzen vertreten, so würden wir ohiu! Zweifel bei denselben sehen,
wie der aus der Oospore hervorgehende ^ellkörper seine vegetative
Natur behält und durch Zelltheilung weiter wächst.
]\lanche Fucoiden und die meisten Florideen waclison mit einer
Scheitelzelle in die Länge, welche sich durch horizontale, unter
einander parallele Wände theilt (wie Fig. IGa), die diöheren Flori-
Fig. Ki.
deen, die Moose und Gefässkryptogamen dagegen mit einer Scheitel-
zelle, welche sich durch schiefe, alternirend nach verschiedenen Seiten
geneigte Sclieidewände theilt (wie Fig. 1(5 1)). Bemerkenswerth ist
lum , dass bei Plocamium , welches in dieser Beziehung zwischen
den niederen und höheren Florideen in der Mitte steht, die vege-
tativen Theile des Thalloms das erste, die Fruchtäste aber das zweite
Scheitelwachsthum besitzen. Fig. IGa zeigt den Scheitel eines vege-
tativen, 1) den Scheitel eines sporenbildenden Zweiges von Plocamium,
und c den Anfang eines sporenbildenden Zweiges, an welchem die
Scheitelzelle sich zuerst 3 mal horizontal, dann schief getheilt hat.
In den 3 Figuren sind die nach einander entstandenen AVände mit
Zahlen bezeichnet.
Die schiefe Theilung der Scheitelzelle tritt also zuerst bloss in
den reproductiven und erst auf der höheren phylogenetischen Stufe
362 ^'^II- Pbylogenetische EiitAvicklimgsgesetze des Pflanzenreiches.
auch in den vegetativen Organen auf ^). Sehr wahrscheinlich jedoch
ist dieses schiefwandige Scheitelwachsthum in den Fruchtästen von
Plocamium seiher ein phylogenetischer Fortschritt von solchen Flori-
deen aus, hei denen die Elterzellen der Tetrasporen durch schief-
wandige Theilungen sich Ijildeten. Wenn dies richtig ist, so hätte
die eigenthümliche Zellenbildung zuerst die Fortpflanzungszellen
erzeugt, dann durch Vereinigung dieser Zellen zu einem Gewebe
das Organ hervorgebracht, in welchem die Fortpflanzungszellen
gebildet wurden, und schliesslich wäre aus diesem Organ der ganze
vegetative Pflanzenkörper hervorgegangen.
Die Gefässkryptogamen stammen von lebermoosartigen Pflanzen
ab; namentlich ist dies für die Farne sehr augenscheinlich, deren
Prothallimii, welches aus der keimenden Spore hervorgeht, die grösste
Aehnhchkeit mit einem kleinen Lebermoos hat. Die grosse blätter-
tragende Pflanze der Gefässkryptogamen ist der j^hylogenetische Ab-
kömmling der Moosfrucht, welche vegetativ wird. Ich will auf die suc-
cessiven Bildungen, die den weitläufigen Uebergang vermitteln mussten,
liier nicht eintreten, sondern nur einen Punkt hervorheben. Das Moos-
sporogonium ist entweder so gebaut, dass eine das Centrum ein-
nehmende oder durchsetzende Zellgruppe die Sporen bildet, indess
das äussere Gewebe zur Wandung der Sporenkapsel ward, — oder
so, dass ein das Mittelsäulchen umgebender Cylindermantel, der von
der Kapselwandung umschlossen ist, die Sporen erzeugt. Wenn die
Moosfrucht bei der phylogenetischen Weiterbildung vegetativ und zu
einem Stengel wird, so müssen die Zellen, die in jener die Sporen
bildeten, vegetativen Charakter annehmen. Es ist mir nun sehr
wahrscheinlich, dass sie zum Cambium und weiter zu Gefässmassen
werden, welche im Stengel der Gefässkryptogamen bezüglich ihrer
Lage ebenfalls einem doppelten Bauplan folgen. Bei den Lycopodien
stellen sie einen marklosen Cylinder, bei andern einen das Mark
umschliessenden Hohlcylinder resji. einen Kreis von Strängen dar.
Das I. Gesetz , und dies gilt auch für das II. , beschränkt den
phylogenetischen Fortschritt auf die LTmbildung der geschlechts-
losen Fortpflanzungszellen. Die geschlechtlichen Elemente sind
nicht fähig, durch Vegetativwerden die gemeinsame Ontogenie
^) Der Umstand, dass viele vegetativ Ijleibende Sprossenden schon bei Tlo-
camium ihr Scheitel wachstlunn ebenfalls mit schiefen Wänden abschliessen, ist
ohne Zweifi'l so /u (U'uten, dass dieselljen als abortive Fruchtäste zu beti-achten sind.
yjl. Phylogenetische Entwickhmgsgesetze des Pflanzenreiches. 363
ZU bereichern, weil sie unter einander verschieden sind. Aus der.
Umbildung der geschlechtlich differenzirten Zellen kann bloss eine
höhere Entwicklung der bezüglichen Geschlechtsorgane erfolgen.
Auf der untersten Stufe jeder phylogenetischen Reihe sind
die Geschlechtsorgane einander ganz gleich und unterscheiden sich
nin* durch die geschlechtlich differenzirten Fortpflanzungszellen von
einander; häufig bestehen sie selbst bloss aus diesen Zellen. Sie
können anfänglich noch keine anderen Verschiedenheiten zeigen,
da sie aus dem nämlichen ungeschlechtlichen Organ hervorgingen.
So sind bei Ulothrix die Zellen, welche die männlichen und die
weiblichen Schwärmsporen erzeugen, so wie diese selbst, einander
ganz gleich; ebenso bei Equisetum die Sporen, aus welchen männ-
liche und weibliche Vorkeime (Prothallien) entstehen. Wenn man
in einer Abstammungsreihe die Geschlechtsorgane nicht bis dahin
zurückverfolgen kann, wo sie sich nicht mehr von einander unter-
scheiden, so ist dies stets ein Beweis, dass ein Stück der Reihe
mangelt. So fehlen in der Reihe der Florideen die den Gallitham-
nieen vorausgehenden Glieder, weil bei ihr die Antheridien und die
Kapselfrüchte eine beträchtlich verschiedene Entwicklungsgeschichte
darbieten ^). Noch auffallender tritt dieser Umstand bei den Geschlechts-
organen der Moose hervor, während dagegen die männlichen und
weiblichen Sporangien der höheren Gefässkryptogamen bis auf ihren
Ursprung zurück verfolgt werden können.
Die Geschlechtsorgane lassen in den verschiedenen phylogene-
tischen Reihen eine Weiterbildung zu einem complicirteren Bau
wahrnehmen. Neben anderen Ursachen spielt dabei ohne Zweifel
auch das Vegetativwerden der männlichen und weiblichen Zellen,
die sich auf den unteren Stufen ablösen, eine wichtige Rolle. Doch
lässt sich dies noch nicht überzeugend darthun, weil die Entwicklungs-
geschichten der Geschlechtsorgane für diesen Zweck nicht hinreichend
genau erforscht sind. Aus einzelnen Beispielen erkennen wk aber
deuthch die Neigung der Pflanzen, die in diesen Organen frei und
1) Von Bangia (ebenso von Porphyra), die jetzt zu den Florideen gestellt
wird, bezweifle ich sehr, dass hier ihre richtige Stelle im System sich befinde.
Aber ganz sicher ist es, dass sie mit den Callithamnieen nicht zur gleichen phylo-
genetischen Reihe gehören kann, da die erstere ein ganz übenviegendes inter-
calares Längenwachsthum , die letzteren ein ausschliessliches Scheitelwachsthum
besitzen, und da die Bildung der Fortpflanzungsorgane nach ganz verschiedenen
Typen erfolgt.
364 ^'11- l'hylngenetischc Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
selbständig werdenden Zellen auf höheren Stufen in dem erzeugenden
Organe festzuhalten und schliesslich als einen Gewebetheil demsel])en
anzufügen.
Die weiblichen Fortpflanzungszellen trennen sich anfänglich
als Schwärmsporen von der Eiterpflanze los (Ulothrix). Auf einer
höheren Stufe l)leibt die Eizelle innerhalb ihrer Elterzellc und erst
die aus ihr entstehende Oospore wird später selbständig (Oedogoniuni).
Auf einer noch höheren Stufe steigert sich die Innigkeit der Ver-
bindung, indem auch das ganze aus der befruchteten Eizelle hervor-
gehende Organ mit der erzeugenden Pflanze verwächst (Moose). —
Die Gynospore der höchsten Gefässkrj^ptogamen löst sich los ; bei
den Plianerogamen stellt sie als Eml)ryosack eine Gewebezelle des
elterlichen Organs dar. — Die Pollenkörner der meisten Plianero-
gamen, gleich den ihnen entsprechenden Androsporen der Gefäss-
kryptogamen, trennen sich von einander; bei wenigen, wie bei den
Orchideen und Asclepiadeen bleiben sie zu einem Gewebekörper
(Pollenmasse) vereinigt.
II. phylogenetisches Gesetz.
Die durch Sprossung entstehenden gesclilecii ts-
losen Fortpflanzungszellen werden, statt sich abzu-
lösen, zu Zell ästen oder gegliederten Zellfäden.
Dieses Gesetz drückt das eigentliche Princij) der Verzweigung
aus, indem seitenständige Keime der niederen Stufe auf der höhern
Stufe sich nicht ablösen, sondern zum seitlichen Organ der Pflanze
werden. Doch hat es theilweise auch noch einen gewebebildenden
Charakter wie das I. Gesetz.
Die Sj^rossung besteht darin, dass eine Zelle an einer Stelle ihrer
01)erfläche in einen kurzen Fortsatz ausw^ächst, welcher durch Ent-
stehung einer Scheidewand zur besonderen Zelle wird. Die Sprossung
ist durch Differenzirung aus der normalen Zweitheilung hervor-
gegangen, indem die eine der beiden Zellen an Grösse zunahm, die
andere an Grösse abnahm, so dass die letztere schliesslich als der
von der grösseren Zelle abgesonderte Keim erscheint (Gesetz ^^I).
Einige wenige einzellige Algen und Pilze (Sprosspilze) vermehren
sich durch Spros.sung, wobei die auswachsende Stelle breiter oder
Vil. Phylogenetische KntAvickhm.fjsoesetze des Pflaiizenreiehes. ^iOo
schmäler und die erzeugte Zelle grösser oder kleiner ist; diese Zelle
löst sich hald ab und wird zur selbständigen l*flanze (Fig 17 a, b, c,
d, e mit schmaler, 1', g') mit breiter Sprossung). Wenn die durch
[•ig. n.
Sprossung entstandenen Zellen noch eine Zeit lang mit einander
verbunden bleiben, so bilden sie baumförmige Colonien einzelliger
Pflanzen, wie man sie oft in der Weinhefe findet (Fig. 17d).
Dieser Fortpflanzungsvorgang wird vegetativ, indem der auswach-
sende Theil der Zelle, statt eine Wand zu bilden und sich aljzu-
lösen, in seinem Wachsthum fortfährt und zum r()hrenförmigen
Zellschlauch sich verlängert, welcher durch Wiedeiboluiig dos näm-
hclien Processes sich verzweigt (Fig. 17 h, i). Auf diesem Wege
sind die Sijjhoneen unter den Algen und die scldauchförmigen
Fadeupilze entstanden.
1) a, h, c, d sind Saccharomyees ; e, f, g sind einzellige Algen, die ich früher
unter dem Namen Exococcus zusamniengefasst habe, die ahei- wahr.scheinlich als
Sprossfornien zu anderen Gattungen einzelliger Algen gehören. Diese systema-
tische Frage ist bezüglich der phylogenetisclien Bedeutung der Erscheinung ohne
Belang.
366 ^^I- Phylogenetische Entwicklvingsgesetze des Pflanzenreiches.
Bei der Sprossung findet an der sich erhebenden Stelle der
Oberfläche ein starkes Wachsthum der Membran durch Einlagerung
statt, welches man im Gegensatze zu der übrigen nicht wachsenden
Membran bildlich als Neubildung bezeichnen kann, und unter der
entstehenden Membranausbuchtung eine Anhäufung und wohl auch
Neubildung von Plasma. Durch diese Vorgänge wird die Sprossung,
wenn sie in den vegetativen und dauernden Zustand übergeht, noth-
wendig zum Scheitel wach stimm der sicli röhrenförmig verlängernden
Zolle und ihrer Verzweigungen, indem nach dem Scheitel hin Wan-
derung von Plasma und am Scheitel Neubildung von Plasma und
Membran stattfindet, indess rückwärts vom Scheitel Inhalt und
Membran mit zunehmender Entfernung zunehmende Alterszustände
zeigen.
Der Sprossungsvorgang kann auch erst in einem späteren Zu-
stande, wenn nämlich die Scheidewand schon gebildet ist, vegetativ
werden, indem die Kindzelle, statt sich abzulösen, mit der Elterzelle
verbunden bleibt. Wiederholt sich die Sprossung an der neugebildeten
Zelle und findet das Auswachsen mit der ganzen Breite der Zelle an
ihrem Scheitel statt, so entsteht ein ausschliesslich durch Theilung
der Scheitelzelle in die Länge wachsender Zellfaden (Fig. 1 7 k, 1, m). Da
die durch Sprossung sich vermehrende einzellige Pflanze das Vermögen
besitzt, wiederholt zu sprossen (Fig. 17 c, e), so kann auch, wenn der Vor-
gang vegetativ geworden ist, jede Gliederzelle des Zellfadens in einen
oder mehrere Aeste auswachsen (Fig. 1 7 m). Es gibt verzweigte con-
fervenartige Pflanzen, welche den Sprosscolonien der einzelligen
Pilze (Fig. 17d) ganz ähnlich sehen. — Viele Algen und Schimmel-
pilze verdanken ihren phylogenetischen Urs2)rung der geschilderten
Umwandlung. Es sind röhrenzellige Algen und Pilze, denen in der
Septirung auch das zweite Element der Sprossung geblieben ist.
ill. phylogenetisches Gesetz.
Die durch freie Zellbildung entstehenden Fort-
pflanzungszellen werden zu Inhaltskörpern der Zelle.
Es gibt bezüglich des Zelleninhaltes in den untersten Regionen
des Pflanzenreiches drei ziemlich scharf geschiedene Stufen, 1. form-
loses Plasma, 2. Plasma mit einfachen Plasmakörpern, 3. Plasma
VII. Phylogenetische Entwickhmgsgesetze des Pflanzenreiches. 36?
mit zusammengesetzten Plasmakörpern. Bei den niedersten Pflanzen
sowie wahrscheinlich in dem ganzen Reiche der Prohien kommt
nur formloses Plasma vor, noch ohne bestimmte Plasmakörper wie
Zellkerne u. s. w. Die Fortpflanzung dieser ersten Stufe geschieht
bald durch Theilung bald durch freie Zellbildung (S. .'349). Wenn
nun in dem letztern Falle die sich besondernde Plasmapartie, statt
sich von dem Eiterindividuum los zu machen und vollkommen
selbständig zu werden , vegetativ wird und als integrirender Theil
des Eiterindividuums in dessen Inhalt verbleibt, so haben wir eine
Zelle der zweiten Stufe mit einfachen Plasmakörpern in dem form-
losen Plasma.
Zu den Zellen der ersten Stufe mit durchaus formlosem Plasma
gehören alle Nostochinen (Chroococcaceen, Nostochaceen , üscillaria-
ceen, Rivulariaceen, Scytonemaceen), ferner ohne Zweifel die Spalt-
pilze und vielleicht die Sprosspilze (Saccharomyces). Zu den Zellen
der zweiten Stufe mit einfachen Plasmakörpern im formlosen Plasma
gehören viele Algen und Pilze , unter den letzteren vielleicht auch
die Sprosspilze. Die Plasmakörper sind entweder farblos oder gefärbt
und dann vorzugsweise Chlorophyllkörner oder andere Farbkörner
darstellend. Die Kerne haben noch keine Kernchen (Kernkörper-
chen) oder andere geformte Plasmaeinschlüsse. Die niedrigsten Zellen
dieser Stufe haben nur einen einzigen Kern oder nur ein einziges
Chloroph^'llkorn , welches dann gleichsam als der Kern der Zelle
erscheint (Palmellinen). In höher entwickelten Zellen dieser Stufe
finden sich mehrere Chlorophyllkörner, in noch höher entwickelten
Kerne und Chlorophyllkörner zugleich, beide in grösserer oder
geringerer Zahl. In den Chloroj)hyllkörnern bilden sich meistens
Stärkekörner.
Die Plasmakörper, welche die zweite Stufe gegenüber der ersten
Stufe unterscheiden, sind dadurch charakterisirt , dass sie sich im
Innern des formlosen Plasmas ausscheiden. Auf der ersten Stufe
kommt es auch wohl vor, dass, wenn das Plasma im Verhaltniss
zur Zellflüssigkeit in geringer Menge vorhanden ist, einzelne Partieen
desselben mechanisch losgetrennt werden und scheinbare Plasma-
körper darstellen ; dieser Vorgang kommt häufig auch in den Zellen
der zweiten und der dritten Stufe vor. Die eigentlichen Plasma-
körper aber , welche diese zwei Stufen auszeichnen , sind im Ent-
stehen von formlosem Plasma umschlossen ; ihre Bildung setzt daher
308 VII. Phj'logene tische Entwicklungsgeeotze des rflanzenreiches.
eine besondere organisirende Tliätigkeit voraus, welche den Plasma-
körper mittels eines hyalinen Häutchens isolirt.
Wenn die Zellen der zweiten Stute durch freie Zellbildung sich
vermehren, so enthalten die in ihrem Inhalte auftretenden neuen
Zellen schon PlasmakörjDer wie die Elterzelle, oder sie besitzen
A\euigstens das Vermügen, später solche zu bilden. Werden aber
diese neuen Zellen vegetativ, und bleiben sie, ohne eine Cellulose-
membran zu bilden, als Zelleninhalt in der Elterzelle, so stellen sie
Kerne dar, in denen sich Kernchen und auch andere einfache Plasma-
körper befinden. Ausser diesen Kernen kommen dann noch die
verschiedenen andern einfachen Plasmakörper der zweiten Stufe in
den Zellen der dritten Stufe vor. Diese Zellen der dritten Stufe
enthalten meistens nur einen einzigen Kern, der in jugendlichen
Zuständen einen sehr ansehnlichen Theil des gesammten Zellen-
inhaltes ausmachen kann. Sie kommen schon bei einzelligen Pflanzen
(Desmidiaceen) vor.
Die Phylogenie gibt uns Aufschluss über die ursprüngliche
Bedeutung der organischen Erscheinungen, welche späterhin dann
verschiedene Modificationen eingehen kann. Dieselbe ■ vermag uns
auch einige Aufklärung über die noch räthselhafte Bedeutung der
Plasmakörper, namentlich des Zellkerns, zu verschaffen. Der Plas-
makörper ist ursprünglich aus einem durch freie Zehbildung ent-
stehenden Keim hervorgegangen ; er enthielt somit Idioplasma mit
Ernährungsplasma in concentrirterer Beschaffenheit. Diese iS'atur
dürfte ihm überall geblieben sein, wo er in der ursprünglichen
Einzahl verliarrte. Wir werden daher den Kern gleichsam als ein
Magazin von Idioplasma und Ernährungsplasma ansehen; die An-
ordnung der Plasmaströmchen , die von dein Kerne ausgehen und
zu denisell)en zurückkehren, deutet ohnehin darauf, dass sich hier
ein Centrum von Stoff und Kraft befindet, wenn auch noch jede
Vorstellung mangelt, in welcher Weise dasselbe auf das Zellenleben
einwirkt. Ilat der Kern diese Bedeutung, so ist begreiflich, dass
seine Theihnig der Zelltheilung normal vorausgehen muss. Der auf
den tieferen Stufen in der Einzahl vorhandene Kern oder Plasma-
körper kann aber auch auf einer höheren Stufe sich theilen, ohne
dass Theilung der ganzen Zelle nachfolgt. Je höher die Zahl der
in einer Zelle vorhandenen Kerne oder Plasmakörper ansteigt, um
so gerin^^ur wird selbstverständlich ihre Bedeutuny,' für die Lebens-
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 369
Vorgänge, und die Theilung der Zelle tritt ein, ohne dass vorher
die Kerne oder Plasmakörper sich theilen müssen.
IV. phylogenetisches Gesetz.
Die durch Verzweigung entstehenden Theile eines
Pflanzenstockes legen sich zusammen und hilden einen
geflecht- oder gewebeartigen Körper.
Die phylogenetischen Vorgänge, welche den drei ersten Gesetzen
sich unterordnen und die bis jetzt besprochen wairden, bestehen
darin, dass einzellige Keime, die sich auf der unteren Stufe lostrennen,
um sich zu selbständigen Individuen zu entwickeln, auf der höheren
Stufe vereinigt bleiben und ein mehrzelliges Gebilde darstellen.
Eine andere Wirkung, welche das organisatorische Bestreben der
Phylogenie nach A'^ereinigung hervorbringt, besteht darin, dass durch
Verzweigung entstandene Theile, die auf der unteren Stufe, mit Aus-
nahme der angewachsenen Basis, getrennt sind und den Pflanzen-
stock zusammensetzen, auf der höheren Stufe sich zu Einem Körper
mehr oder weniger innig vereinigen.
Diese Vereinigung kommt schon bei den allerniedrigsten Pflanzen
vor und ist hier auch am häufigsten. Die aus einer einzigen schlauch-
förixdgen Zelle bestehenden Röhrenalgen (Siphoneen) breiten ihre
Verzweigungen bei Vaucheria, Bryopsis, Caulerpa frei aus; bei den
Codieen legen sie dieselben zu einem dichten Geflecht zusammen.
In gleicher Weise bilden die einreihigen Fäden, deren Aeste bei den
confervenartigen Algen und bei den Schimmelpilzen frei bleiben,
auf einer höheren Stufe durch Verflechtung und Verwachsung körper-
liche Gebilde, welche bei den Schwämmen und Flechten alle Ueber-
gänge von der lockeren, bloss durch Gallerte zusammengehaltenen
bis zur innigsten gewebeartigen Vereinigung zeigen. Beispiele für
das erstere Extrem der Vereinigung finden wir überdem in den
Wurzelhaaren mancher Algen, welche sich als Berindungsfäden an
die Stämmchen anlegen, Beispiele für das letztere Extrem in den
Wurzelhaaren anderer Algen, die zu Haftscheiben verwachsen, und
dann namentlich in dem Gewebe der Corallineen \uu\ überhaupt
der Florideen.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 24
370 VII. Pliylogcnetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiclies.
Zugleich mit der Vereinigung tritt sowolil bei den rölirenförmigen
(monosiphonen) als bei den einreihigen (gegliederten) Fäden meistens
eine sehr reichliche Verzweigung ein, welche wohl theilweise die
^Veranlassung zu dem phylogenetischen Fortschritt ist. Im allge-
meinen lassen sich drei Typen der Vereinigung unterscheiden. Der
erste besteht darin, dass die Spitzen der Aeste an andere Aeste
anwachsen, wo sie dieselben berühren; er tritt besonders ausgezeichnet
bei der Algengattung Microdictyon auf, wo die verwachsenen Ver-
zweigungen ein Netz bilden , ebenso bei I)ict3'urus , ferner bei Ana-
dyomene, bei welcher auch die in einer El)ene liegenden Seiten der
einzelligen Aeste sich vollständig berühren.
Der zweite Typus zeichnet sich dadurch aus, dass sich viele
unter einander gieichwerthige Fäden zusammenlegen ; der daraus ent-
stehende Körper ist aus Fasern zusammengesetzt, die, mit der Achse
im allgemeinen parallel laufend, nach oben bogenförmig auseinander
gehen, und von denen jede gewissermaassen selbständig an der Spitze
in die Länge wächst. Dabei ist der Körper entweder verkürzt und
nimmt die mannigfaltigsten Gestalten an (mehrere Codieen, die
Fruchtkörper der Pilze, viele Flechten, die aus Rhizoiden verwach-
senen Haftscheiben mancher Algen), oder er streckt sich in die
Länge und verzweigt sich (Codiimi tomentosum, Usnea).
Der dritte Tj^pus für die Vereinigung von Fäden Ijesteht darin,
dass die Grundlage des ganzen Systems durch eine einzige axile
Zellenreihe gebildet wird, mit der sich ihre seitlichen Auszweigungen
vereinigen. Der daraus hervorgehende Körper ist immer verlängert
und gewöhnlich verzweigt; er wächst mit einer Scheitelzelle in die
Länge (Batrachospermum, Chara, Ceramium u. s. w.). Dieser Typus
verwirklicht sich bloss unvollständig, wenn die seitlichen Ver-
zweigungen nur unter sich, nicht mit dem Hauptstrahl verwachsen,
so bei Acetabularia.
Das merkwürdigste Beispiel für den phylogenetischen Ver-
einigungsprocess gegliederter und verzweigter Fäden bieten uns die
Florideen dar. Ich will die bezüglichen Erscheiimngen nur für die-
jenige Abtheilung betrachten , deren vegetative Organe mit einer
sich horizontal theilenden Scheitelzelle in die Länge wachsen (Calli-
thamnion, Ceramium, Polysiphonia, Laurencia, Nitoj^hyllum , Deles-
seria). Wenn wir diese Reihe der Florideen mit derjenigen Reihe
der Fucoiden vergleichen, bei denen die Scheitelzelle ebenfalls durch
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 371
horizontale Wände sich theilt (Ectocarpus^), Sphacelaria, Cladostephus,
Dictyota, Halyseris, Fucus), so bemerken wir in der Gewebebildung
einige auffallende und tiefgreifende Unterschiede.
Der eine Unterschied zwischen Fucoiden und Florideen zeigt
sich in der Theilung der Gliederzelle. Bei jenen würd dieselV)e durch
eine mit der Achse zusammenfallende Längs wand halbirt (Fig. 18 a),
worauf jede Hähte in gleicher Weise sich noch einmal halbirt (b),
sodass zunächst 4 cylinderquadrantische Zellen von der Länge des
Gliedes entstehen. Bei den Florideen dagegen theilt sich die Glieder-
zelle zuerst durch eine extraaxile, mit der Achse parallel laufende
Wand (Fig. 18c), worauf noch mehrere solcher Wände folgen (d, e),
sodass sich eine Achsenzelle und ein Kranz von gleichlangen Aussen-
zellen, meistens in der Zahl von 4 oder 5, bilden. Dem entsprechend
finden wir auch, wenn die Zelltheilung des Dickenwachsthums weiter-
geht, im Centrum des Querschnittes bei den Fucoiden ein Kreuz
von Scheidewänden, bei den Florideen eine axile Zelle.
Fig. 18.
Der andere Unterschied zwischen Fucoiden und Florideen besteht
darin , dass bei den ersteren neben der peripherischen auch inter-
calare Zelltheilung thätig ist, während die intercalare Zelltheilung
bei den Florideen ganz mangelt. Bei den Ectocarpeen (Fucoiden)
theilt sich die Scheitelzelle nur kurze Zeit; dann sind bloss noch
die Gliederzellen theilungsfähig ; es folgt also auf das Scheitelwachs-
thum intercalares Längenwachsthum. Bei den im Bau auf gleicher
Stufe stehenden Callithamnieen (Florideen) wird das Längenwachs-
thum ausschliesslich durch die Theilung der Scheitelzelle bewerk-
stelligt. ■ — Beim Breitenwachsthum von Dictyota (Fucoiden) th eilen
sich alle Flächenzellen, bei dem Breitenwachsthum von Nitophyllum
und Delesseria (Florideen) th eilen sich bloss die Randzellen. — Bei
*) Bei dieser Gattung hört die Theilung der Scheitelzelle schon frühzeitig auf.
24*
372 ^'^11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
den aus Zellköri^ern bestehenden Fucoidcn findet neben der Theilung
der Aussenzellen auch Theilung der Innenzellen statt, wodurch mter-
calares Längen-, Breiten- und Dickenwachsthum erfolgen kann. Bei
den körperlichen Florideen sind bloss die Aussenzellen theilungstahig.
Die beiden erwähnten Unterschiede in der Gewebebildung der
Fucoiden und Florideen erklärt sich daraus, dass die Phylogenie bei
den beiden Gruppen gänzlich verschieden ist. Bei den Fucoiden
kommt nämlich die Gewebebildung der Zellflächen und Zellkörper
phylogenetisch durch Vegetativwerden von Keimzellen (nach Gesetz I),
bei den Florideen dagegen durch Vereinigung von Verzweigungen
zu Stande. Da wir von beiden Gruppen den genaueren Anschluss
nach unten nicht kennen, so müssen wir den phylogenetischen Fort-
schritt mit den Ectocarpeen und Callithamnieen beginnen. Diese
beiden Anfänge der Fucoiden und Florideen sind schon wesentlich
verschieden. Bei den Ectocarpeen theilen sich, wie schon erwähnt,
vorzugsweise die Gliederzellen ; die Fortpflanzungszellen (geschlechts-
lose Schwärmsporen) entstehen durch wiederholte Zweitheilung des
Inhaltes von Gliederzellen (Sporangien). Indem dieser Process der
Fortpflanzung vegetativ wird, verwandelt sich der einreihige Faden
von Ectocarpus in das anfänglich einschichtige Thallom von Dictyota
und in das körperliche Thallom von Sphacelaria mid Dasycladus.
Von einer ganz anderen Grundlage aus verläuft der phylogene-
tische Process in der Gruppe der Florideen. Bei den Callithamnieen
theilen sich zum Behufe des Längenwachsthums bloss die Scheitel-
zellen. Die Gliederzellen können nur seitlich auswachsen und durch
Abschnürung eine seitlich angeheftete Astzelle bilden, welche als
erste Scheitelzelle den Anfang eines Astes darstellt. Dieses aus-
schliesslich peripherische Wachsthum (Theilung der Scheitelzelle und
Bildung von Astzellen) ist auch bei der Erzeugung der Fortpflanzungs-
zellen, resp. deren Elterzellen, ausschliesslich thätig. Da nun die
geschlechtlichen Fortpflanzungszellen nicht zur Bereicherung der
gemeinsamen Ontogenie beitragen können (S. 362 — 363), da ferner die
Tetrasporen nicht endogen im Thallom entstehen, da endlich der
Mangel eines intercalaren Wachsthums eine intercalare Fortbildung
der Ontogenie ebenfalls nicht gestattet (vgl. Gesetz V und VI), so
können die Callithamnieen nur dadurch sich phylogenetisch weiter-
bilden und namentlich nur dadurch zu einem flächenartigen und
körperlichen Bau gelangen, dass die Verzweigung durch Vereinigung
YIl. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. 373
zur Gewebebildiuig wird. Dieser Vorgang tritt uns denn auch aufs
deutlichste entgegen.
Den ersten Schritt der Vereinigung zeigen , wenn wir von den
nur sehr locker sich anlegenden Wurzelhaaren (Berindungsfäden)
einiger Callithamnieen absehen, die Ceramieen. Hier legen sich die
unmittelbaren Auszweigimgen der Gliederzellen , so^\de die weiteren
(secundären, tertiären etc.) Auszweigungen alle an die Hauptstrahlen
an und bilden die Rinde derselben. Das Thallom verzweigt sich
bloss durch Dichotomie in den Scheitelzellen. Aber das Gewebe des
Thalloms hat noch nicht den vollständigen Charakter eines wahren
Zellgewebes, indem seine Zellen in ungleich innigem Grade unter
einander zusammenhängen. Der Ursprung desselben aus einem
System von Verzweigungen gibt sich deutlich dadurch kund, dass
sich bloss zwischen denjenigen Zellen je ein Porus (Tüpfel) befindet,
welche , wenn die Verzweigungsstrahlen frei wären , an einander
grenzen würden.
Bei den Ceramieen trägt jede Gliederzelle einen Qmrl von 4 bis
14, meistens 5 bis 8 primären Rindenzellen (Astzellen). Diesell^en
haben anfänglich die ganze Länge der Gliederzelle, berühren also
auch die primären Rindenzellen des nächst unteren und nächst
oberen Gliedes. Nachher bleibt ihr Wachsthum in der Richtung
der Längsachse des Thalloms zm^ück; sie trennen sich von den
primären Rindenzellen der angrenzenden Glieder, bilden somit einen
Gürtel an den Gelenken, und sind durch Poren nur mit der Glieder-
zelle, nicht unter einander verbunden. Die Ceramieen sind jedenfalls
aus einer Urform hervorgegangen, welche bloss den Gürtel von pri-
mären Rindenzellen an jedem Gelenke und weiter keine Berindung
besass. Aus einer solchen Urform ist durch einen anderen phylo-
genetischen Fortschritt die Gattung Polysiphonia entstanden.
Das Thallom von Polysiphonia ist ein gegliederter Faden ; jedes
Glied besteht aus einer Achsenzelle und einem Kranz von gleich-
langen Rindenzellen, welche nicht nur mit der axilen Zelle, sondern
auch unter einander und namenthch auch mit den angrenzenden
Rindenzellen des oberen und unteren Gliedes durch Poren verbunden
sind. Die Bildungsweise der (primären) Rindenzellen erfolgt bei
Ceramium und bei Polysiphonia ganz in der nämlichen Weise (vgl.
Fig. 18 c, d, e, auf S. 371), und die Jugendzustände der Glieder
sind- bei beiden identisch. Bei der weiteren Entwicklung erweist
374 ^ il- Pliylogeaetisclie Entwicklungsgesetze des Pfianzenreiclies.
sich aber die Vereinigung der Zellen bei Polysiplionia viel inniger
als bei den Ceramieen.
Bei Laurencia, Rliodomela u. a. theilen sich die primären Rinden-
zellen, sodass die axile Zellreihe von mehreren Zellschichten um-
schlossen ist, die von innen nach aussen kleinzelliger werden. Rings
um jede Achsenzelle befindet sich ein Kreis von gleichlangen pri-
mären Rindenzellen; auf jeder von diesen liegen ])ei Laurencia
4 secmidäre Rindenzellen, auf jeder secundären Rindenzelle 4 tertiäre;
dann können wieder je 4 oder auch weniger quartäre Rindenzellen
folgen. Bei andern Gattungen ist die Zunahme der Zeilenzahl von
innen nach aussen eine geringere. Die Zelltheilung erfolgt wie bei
der Berindung der Ceramieen dadurch , dass von den Ausseiizellen
Ecken oder Kanten abgeschnitten werden, und entspricht somit
im allgemeinen einer doldenförmigen Verzweigung; aber die Zellen
nehmen vollständig die Eigenschaften von Gewebezellen an.
Auch bei den flächenförmigen Florideen hat die Gewebebildung
in morphologischer Rücksicht den Charakter einer wiederholten Ver-
zweigung. Bei Nitophyllum bilden sich an den Gliederzellen bloss
2 opponirte Astzellen; aus diesen setzen sich die weiteren Zell-
bildungen in einer Ebene fort und erzeugen eine einfache Zellschicht.
Bei den Delesserieen entstehen zwar an jeder Gliederzelle 4 Astzellen
(primäre Rindenzellen) ; aber von denselben sind 2 gegenständige
gefördert und aus ihnen erfolgt die weitere Bildung von Zellreihen
und deren Verzweigungen wie bei Nitophyllum in einer Ebene. In
der auf diese Weise entstandenen Zellschicht kann stellenweise Dicken-
wachsthum beginnen und mehrschichtige Nervationen bilden. Die
Nitophyllen und Delesserien sind phylogenetisch aus den Ptiloteen
und weiterhin aus den in einer Ebene verzweigten Callithamnieen
hervorgegangen. Die Zellbildung wiederholt sich auf diesen ver-
schiedenen Stufen oft bis in die Einzelheiten genau.
Ich muss mich bezüglich der Phylogenie der Florideen auf die
gegebene allgemeine Schilderung beschränken, da der Nachweis im
einzelnen hier zu weit führen würde. Die Zusammenlegung ganzer
Verzweigungssysteme zu einer ununterbrochenen Masse lässt sich
Schritt für Schritt verfolgen, wobei namentlich zwei Stufen der Ver-
einigung hervortreten. Die ursprünglich freien Verzweigungsstrahlen
legen sich zuerst locker aneinander und bilden ein Geflecht von
Berindungsfäden, indem zwischen den Zellen verschiedener Strahlen
YII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 375
eine innigere Verbindung durch Poren noch unterbleibt. Dann wird
diese Verbindung, wie die auftretenden Poren anzeigen, eine physio-
logisch festere und das Geflecht geht in ein wahres Zellgewebe über.
Mit der fortschreitenden Vereinigung kann auch die Lage der
Scheidewände, die sich bei der Zelltheilmig bilden, nach und nach
eine andere werden , sodass man in dem Endglied einer phylogene-
tischen Reihe kaum mehr den Anfang derselben erkennen würde,
wenn nicht die verknüpfenden Zwischenstufen den Weg anzeigten.
Der Charakter dieser Verändermig gibt sich in einzelnen Fällen
bestimmt darin zu erkennen, dass die anfänglich zur Achse der
Zellreihe rechtwinkligen Scheidewände mehr und mehr eine schiefe
Lage annehmen, was durch die zunehmende Differenzirung zwischen
den verschiedenen Zellendurchmesscrn zu erklären ist (vgl. Gesetz ^"I).
Da bei den Callithamnieen, die den Ausgang für die phylogene-
tischen Reihen der Florideen bilden, die Zellreihen bloss durch
Theilung der Scheitelzelle wachsen, so mangelt auch bei den höheren
Grup23en dieser Pflanzenklasse die intercalare Zelltheilung gänzlich.
Damit soll aber nicht gesagt sein , dass bloss die am Rande oder
an der Oberfläche befindlichen Zellen sich theilen. Denn bei der
Zusammenlegung eines complicirten Verzweigungssystems kommen
auch manche Strahlen desselben ins Innere zu liegen. Daher gibt
es auch viele innere Zellen, die sich theilen; aber es ist dies nie-
mals eine wirkliche intercalare Theilung , sondern , soweit man die
Zellbildung im Räume genau verfolgen kann, nachweisbar stets
entweder Theilung der Scheitelzelle eines oft sehr kurzen Fadens
(Verzweigungsstrahles) oder Bildung von Astzellen an einem solchen
Zellfaden 1).
Es kommen nicht nur Vereinigungen von Zellfäden bei niederen
Pflanzen (Algen, Pilzen, Flechten), sondern auch Verwachsungen
von grösseren, aus Zellgewebe gebildeten Organen bei den Gefäss-
pflanzen vor. Seltener sind dieselben an den Laubblättern und
*) Das geschilderte Wachsthum gilt für die genannten und die ihnen ver-
wandten Florideen. Für andere Gruppen dieser Klasse mangeln mir him-eichende
entwicklungsgeschiclitliche Thatsachen, um zu entscheiden, ob sie dem nämlichen
phylogenetischen Gesetze folgen. Wenn die Bangiaceen wirklich zu den Florideen
gehörten, zu denen man sie jetzt stellt, so würden sie der Ausgangspunkt sein
für eine zweite ganz verschiedene phylogenetische Reilie, welche Analogie mit
der Reihe der Fucoiden haben könnte; denn die Bangiaceen unterscheiden sich
von den Calüthamnieen in ähnlicher Weise wie die Ectocarpeen.
376 Yll. Phylogenetische EntwicWungsgesetze des Pflanzenreiches.
treten hier vorzugsweise in der Art auf, dass qnirlständige und oj^po-
nirte Blätter röhrig verwachsen (Equisetum, Casuarina, Blattbasen bei
Dipsacus, Chlora, Lonicera etc.). Bloss ausnahmsweise wird normale
Verwachsung zwischen den auf einander folgenden spiralständigen
Blättern beobachtet (Pycnophyllum molle), während dieselbe als ab-
normale Erscheinung etwas häufiger auftritt.
Es ist mir ferner nur eine Pflanze bekannt (Struthiopteris ger-
manica), bei welcher die dicht über einander liegenden spiralständigen
Laubblätter auf eine kurze Strecke nahe über ihrer Basis zu einem
ununterbrochenen Gewebe verwachsen sind. Dieses Gewebe bildet
einen Mantel, der den ganzen Stamm umschliesst, mit demselben
verwachsen, aber von ihm durch zahlreiche kleine Lücken (je eine
innerhalb einer Blattbasis) getrennt ist und das ganze Netz der Ge-
fässstränge enthält, sodass der Stamm selbst bloss aus Parenchym
besteht.
Bei den Phanerogamen treten Verwachsungen normal in der
Blüthenregion häufig auf. Dieselben sind bei den Kelchblättern,
Kronblättern, Staubgefässen und Fruchtblättern so l^ekannt, dass ich
nur daran zu erinnern brauche. Ich beschränke mich auf eine Be-
merkung über die Berechtigung der Bezeichnung. Mit Rücksicht
auf die Entwicklungsgeschichte ist gegen die »Verwachsungen« Ein-
sprache erhoben worden, weil die genannten Blüthentheile vom ersten
Anfange an vereinigt sind und nicht erst aus einem freien Zustande
unter einander verwachsen. Dagegen könnte erwiedert werden, dass
die Ausdrücke »verwachsen« und »angewachsen« nicht noth wendig
ein ursprüngliches Getrenntsein voraussetzen, sondern dass sie auch
bloss eine innige Verbindung bedeuten. Aber die Ausstellung hat
nur dann einen Schein von Begründung, wenn man sich auf die Be-
trachtung der einzelnen Ontogenie beschränkt. Erhebt man sich
auf den Standpunkt der vergleichenden Morphologie und namentlich
zu einem Urtheil über das phylogenetische Werden, so kann kein
Zweifel über den Verwachsungs Vorgang bestehen. Es waren die
verwachsenen Organe bei den Vorfahren wirklich getrennt und führen
also ihren Namen auch der subtilsten Kritik gegenüber mit vollem
Rechte.
Was den unterständigen Fruchtknoten betrifft, so ist darüber
noch folgendes zu bemerken. Derselbe soll nach der jetzt vorherr-
schenden Lehre lediglich der vertiefte becherförmige Blüthenboden
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 377
sein, welcher auf dem Rande die beinahe auf die Griffel reduch'ten
Carpelle, sowie die übrigen Blüthenblätter trage. Nach dieser Hypo-
these, welche sich einzig auf die mikroskopische Beobachtung der
jungen Zustände stützt und die Vergleichung verwandter Bildungen
vernachlässigt, wäre das Gynäceum bei Pflanzen mit oberständigem
und unterständigem Fruchtknoten, die einander oft sehr nahe ver-
wandt sind , nach einem wesentlich verschiedenen Plane gebaut.
Die Carpelle wären von der Mitte des Blüthenbodens , wo sie sich
bei Oberständigkeit befinden, ziemlich weit weg auf den vorstehenden
Rand gewandert und hätten auf dieser Wanderung ihren wesent-
lichsten Theil, den Fruchtknoten eingebüsst; es wären dabei auch
alle inneren Erscheinungen (Septirung u. s. w.) , die sonst dem aus
Carpellen gebildeten Fruchtknoten zukommen, auf den vertieften
Blüthenboden übergegangen. Es scheint mir nun nicht, dass der
Uebergang von so wesentlich verschiedenen Bildungen in nahe ver-
wandten Familien phylogenetisch denkbar wäre.
Die gegen theilige Ansicht dagegen , nach welcher im unter-
ständigen Fruchtknoten die Carpelle enthalten sind, stösst auf gar
keine Schwierigkeiten. Wir sehen in der Familie der Rosaceen, dass
die verschiedenen Formen des Blüthenbodens leicht in einander
übergehen ; denn es gibt hier Gattungen mit gewölbtem, flachem und
becherförmig vertieftem Blüthenboden. Tritt Vertiefung ein, so
rücken aber die Carpelle nicht etwa allmählich nach aussen, son-
dern sie behalten ihre Anheftung im Grunde des Bechers (Rosa)
und verwachsen in dieser Stellung mehr oder weniger mit der
Wandung des Bechers (Pomeen). Wird die Verwachsung noch
inniger und reicht sie vollständig bis oben, so ist der wirklich unter-
ständige Fruchtknoten fertig.
Die Ansicht von der theilweisen Carpellnatur des unterständigen
Ovariimis wird also durch Uebergangsbildungen begründet. Ueber-
dem gewinnt dieselbe eine ausserordentliche Wahrscheinlichkeit dm'cli
den Umstand, dass die Fächerung dieses Ovariums mit der Stelkmg
und Zahl der Griffel übereinstimmt, und dass auch die Anheftung
der Ovula ganz die gleiche ist wie im oberständigen Ovarium.
Ist einmal die A'^erwachsung phylogenetisch vollzogen, so ist es
sehr begreiflich , dass die individuelle Entwicklungsgeschichte von
dem Zustandekommen nichts mehr sehen lässt. Denn die Ontogenie
ist zwar die Wiederholung der Phylogenie , aber nur in ganz sum-
378 ^11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
marisclier Weise. Sie würde, ihrem Ursprünge gemäss, das Werden
der Abstammmigslinie bis ins Einzelne wiederholen, wenn nicht die
phylogenetische Reduction (Gesetz VII) eine Menge von Uebergängen in
den Ontogenien unterdrückt und nur die Hauptstadien übrig gelassen
hätte. Die Wirkungen dieser Reduction liegen im Pflanzenreiche
und namentlich in der individuellen Entwicklungsgeschichte der
höheren Thiere in anschaulicher Weise und reichlicher Menge vor.
Dem entsprechend sehen wir auch von den phylogenetisch erfolgten
Verwachsungsprocessen im Individuum gewöhnlich nur noch das
Resultat.
Die ontogenetische Entwicklungsgeschichte ist zwar für die Deu-
tung der Erscheinungen ein absolutes Erforderniss, ohne welches ein
Schluss nicht zulässig ist; aber sie ist dazu nicht ausreichend. Sie
lässt, eljen weil sie fragmentarisch ist, verschiedene Deutungen zu,
und sie kann erst mit Hülfe der systematischen Verwandtschaft und
vergleichenden Beobachtung zu der richtigen phylogenetischen Er-
klärung gelangen.
Wenn es sicher ist, dass in dem unterständigen Fruchtknoten
Carpelle enthalten sind, so folgt daraus nicht nothwendig, dass immer
auch der l^echerförmige Blüthenljoden daran theilnehme. Es wäre
möglich , dass , wie die Staubgefässe an die Blumenkrone oder an
den Griffel anwachsen können, in manchen Fällen auch Kelch,
Krone und Stau])fäden mit dem Fruchtknoten, ohne Beihülfe des
Blüthenbodens, verwachsen und denselben unterständig machen.
Die phylogenetischen Gesetze I — IV stinnnen darin überein, dass
Zellen, Zelläste oder vielzellige Organe, welche auf der früheren Stufe
sich ganz von einander lostrennen oder nur stellenweise verbunden
sind , auf der späteren Stufe sich zusammenlegen und mit einander
verschmelzen. Wir können daher die 4 Gesetze als ein einziges
allgemeines phylogenetisches Gesetz, nämlich das der Vereini-
gung, aussprechen.
Tb eile, die ganz oder t heil weise getrennt sind,
haben die Neigung, sicli immer vollständiger und
inniger in ein c o n t i n u i r 1 i c h e s Gewebe zu vereinigen.
Diese phylogenetische Vereinigung geschieht auf zweierlei
Arten. Die eine Art besteht darin, dass Theile (Zellen), welche auf
VII Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. 379
der früheren Stufe bei der Entstehung einander berühren und sich
nachher trennen , um selbständig zu leben , auf der späteren Stufe
zeitlebens vereinigt bleiben und einen zusammenhängenden Körper
bilden (Ges. I — III). Mehrere individuelle Existenzen werden also
zu einer einzigen. Die »Vereinigung«, wenn auf das Wort Gewicht
gelegt wird, besteht nicht darin, dass getrennte Theile während der
ontogenetischen Entwicklung in Berührung mit einander gelangen,
sondern darin, dass die Trennung, die auf der unteren phylogeneti-
schen Stufe eintritt, auf der höheren ausbleiljt.
Die andere Art der Vereinigung besteht darin, dass Theile, die
auf der unteren Stufe nicht in Berührung sind, aiü" der höheren
Stufe sich an einander legen und mit einander verwachsen. Diese
Theile hängen auf der unteren Stufe meistens durch Verzweigung
zusanmien, sodass der eine mit seinem Grunde an dem andern
befestigt ist oder dass mehrere gleichwerthige auf einem gemeinsamen
Träger stehen und mittelbar durch diesen zusammenhängen ; auf der
höheren Stufe berühren sie sich der Länge nach, entweder theilweise
oder vollständig (Ges. IV). Auch dieser Process wird in der onto-
genetischen Entwicklung der höheren Stufe gewöhnlich nicht mehr
als Vereinigungs - oder A^erwachsungsvorgang sichtbar, indem die
Theile, die auf der früheren Stufe getrennt waren, auf der höheren
schon bei ihrem Entstehen sich berühren (congenitale Verwachsung).
- — Hiervon gibt es jedoch Ausnahmen, indem es auch vorkommt,
dass Theile während der nämlichen Ontogenie zuerst getrennt auf-
treten und nachher mit einander verwachsen. Ein Beispiel, wo dies
mit selbständigen Zellen der Fall ist, finden wir bei den (einzelligen)
Hydrodictyeen, deren Zellen bei der Entstehung sich berühren, dann
sich loslösend einzeln' schwärmen und nachher sich fest an einander
anlegen.
Die phylogenetische Vereinigung spielt im Pflanzenreiche zwar
eine ül^eraus wichtige Rolle, da ohne sie die Pflanzen nicht aus der
Einzelligkeit herausgekommen wären ; aber sie ist hier doch in viel
geringerem Umfange thätig als im Thierreich. In dem letzteren
sind die Organe meistens zu einem Leib vereinigt, und es sind vor-
zugsweise nur die Bewegungsorgane, die sich in ihrer Freiheit er-
halten haben. Im Pflanzenreiche verlangen die Assimilation, wegen
ihres Lichtbedürfnisses, und die Aufnahme der Nahrung eine grosse
Oberfläche, daher Verzweigung und Ausbreitung der Substanz. Diese
380 ^'11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze Jes Pflanzenreiches.
Existenzbedingungen verhindern die unbeschränkte Verwirkhchung
des Vereinigungsbestrebens. Die Vereinigung beschränkt sich, nach-
dem die Organe zu einer bestimmten Stärke gelangt sind, vorzügUch
auf die Sphäre der Fortpflanzung.
Die Verlängerung der Ontogenie ist in den bis jetzt betrachteten
Fällen (Ges. I — III) dadurch geschehen, dass am Ende derselben ein
neues Stück angefügt wurde , was durch Vegetativwerden der ge-
schlechtslosen Keime erfolgte. Ein solcher Vorgang erscheint uns
aber , wie schon früher bemerkt wurde , als unmöglich , sobald die
Fortpflanzung durch geschlechtlich differenzirte Elemente erfolgt,
aus dem einfachen Grunde, weil eine gleichartige Weiterbildung
durch Anfügung ungleichartiger Theile nicht denkbar ist. Erfolgt
er gleichwohl, so hat er nicht mehr die Bedeutung einer Verlänge-
rung der gemeinsamen Ontogenie , sondern nur die ungleichartige
Verlängerung derselben in der Geschlechtssphäre, indem aus ein-
fachen männlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen nach den
erörterten drei verschiedenen Normen (I, II, IV) vielzellige, eigen-
thümlich gebaute Geschlechtsorgane werden.
Die Verlängerung der gemeinsamen Ontogenie bei den Geschlechts-
pflanzen geschieht also durch Einschiebung neuer Theile an irgend
einer Stelle zwischen dem Anfang und dem Ende der vegetativen
Entwicklung vom Keimstadium bis zur Geschlechtssphäre und lässt
sich allgemein ausdrücken als
V. phylogenetisches Gesetz.
Ein bestimmtes früher beschränktes Wachsthum
dauert an, oder eine bestimmte früher nur einmal vor-
handene Bildung von Theilen einer Ontogenie wieder-
holt sich (Ampliation).
Beispiele für dieses Gesetz der bloss quantitativen Zunahme
sind überall vorhanden bei den Geschlechtspflanzen, indem jede
einzelne mit der nämlichen Fortpflanzung begabte Reihe mit klei-
neren, aus einer geringeren Zahl von Zellen und Organen be-
stehenden Pflanzen beginnt und zu grösseren, mehr zusammen-
gesetzten Pflanzen ansteigt, so bei den Phanerogamen, den Moosen,
VII. Phylogenetische EntwickUingsgesetze des Ptlaiizonreiches. 381
den Florideen und den anderen Algengruppen. Aber der reine
gesetzmässige Vorgang der Ampliation tritt kaum je klar hervor,
weil er immer mit anderen phylogenetischen Entwicklungsprocessen
vergesellschaftet ist und durch sie verdeckt wird. Während nämlich
die Weiterbildung der Configuration des Idioplasmas ein verlängertes
ontogenetisches Wachsthum und eine vermehrte Bildung von Theilen
des Individuums bewirkt , verursacht sie zugleich verschiedene Ver-
änderungen in Bau und ^^errichtung , die als Differenzirmig und
Arbeitstheilung , sowie als Bereicherung durch neue chemische und
plastische Vorgänge uns entgegentreten mid unsere Aufmerksamkeit
fesseln, und die ich als VI. j^hylogenetisches Gesetz zusammenfassen
werde. Ich habe die rein quantitative Zunahme einzelner Partien
der Ontogenie als besonderes Gesetz ausgesprochen, weil dieselbe
nicht notlnvendig mit der qualitativen Veränderung des VI. Gesetzes
verbunden, sondern bis zu einem gewissen Grad selbständig erscheint.
Denn es kann einerseits eine starke Zunahme bei sehr geringer Ver-
änderung, und andrerseits eine beträchtliche Veränderung bei geringer
oder mangelnder Zunahme erfolgen. Desshalb sind diese beiden
Componenten der phylogenetischen Entwicklmig in der wissenschaft-
lichen Betrachtung auseinander zu halten.
Die quantitative Zunahme der Ontogenie ist überall als möghch
zu denken, wo bereits ein Wachsthumsprocess thätig ist; denn sie
setzt bloss voraus, dass dieses Wachsthum andauere, d. h. dass die
Erregung der bezüglichen Anlage im Idioplasma sich öfter als bisher
wiederhole. Desshalb kann jeder Organismus bloss in bestimmten
Richtungen seine Ontogenie verlängern. Nur wenn beispielsweise
eine bestimmte intercalare Zelltheilung schon vorhanden ist, kann
sie im Verlaufe der Phylogenie häufiger eintreten; aber es kann
keine andersartige intercalare Zelltheilung neben ihr erfolgen. Die
Florideen, die der früher besprochenen Reihe angehören (S. 372 — 374),
vermögen nicht auf dem Wege der intercalaren Zelltheilung sich
weiter zu bilden, weil ihnen diese Zelltheilung ganz mangelt; ihre
phylogenetische Entwicklung geschieht bloss durch Zunahme des
Scheitelwaclisthums und der Zweigbildung. Die Nostochaceen und
Oscillariaceen, bei denen das intercalare Wachsthum bloss in Einer
Richtung thätig ist, können auch nur in dieser Richtung sich weiter
entwickehi, wie wir dies bei den Scytonemaceen und Rivulariaceen
sehen ; und wenn in einer Familie der Nostochinen (bei den Stigone-
382 ^'^11- Pliy^ogf'^ctische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
maceen) aucli Zelltheilung in anderer Richtung auftritt, so kommt
dabei noch eine andere pliylogenetisclie Ursaclie zur Geltung.
Jeder Organismus und jede individuelle Partie desselben besteht,
wenn wir die pliy logen etischen Reihen weit genug rückwärts ver-
folgen, ursprünglich aus gleichen Theilen. Die Regionen einer
Zelle, ebenso die Richtungen in derselben, unterscheiden sich nicht
von einander, dessgleichen die Zellen eines vielzelligen Gebildes und
die Organe eines Organcomplexes, indem jeder Tlieil die näudichen
Functionen ausübt wie die andern. Dann werden die Theile un-
gleich, indem die Functionen, die früher unterschiedslos allen zu-
kamen, sich so scheiden, dass jeder einzelne bloss eine Partie der-
selben übernimmt, was gewöhnlich als Differenzirung bezeichnet
w^rd. Die Ungleichheit der differenzirten Theile ist anfänglich
gering ; sie wird im phylogenetischen Verlaufe beträchtlicher, indem
die Differenzirung in verstärktem Grade durchgeführt wird , indem
ferner die geschiedenen Functionen eine Steigerung erfahren , und
indem endlich als nothwendige Folge der stattgefundenen Um-
lagerung neue Functionen in den ungleich gewordenen Theilen
auftreten (S. 341 § 2).
Jede Differenzirung kann eine räumliche oder eine zeitliche sein.
Bei der räumlichen Differenzirung werden die neben einander vor-
kommenden Theile einer Ontogenie, mögen dieselben gleichzeitig
oder ungleichzeitig entstanden sein, ungleich. Bei der zeitlichen
Differenzirung werden die von einander abstammenden und einander
ersetzenden Theile, mögen dieselben Generationen von selbständigen
Individuen oder Entwicklungsstadien eines Individuums darstellen,
ungleich. Gewöhnlich bezeichnet man nur die erstere Veränderung
als Differenzirung ; die letztere zeigt aber die gleichen Erscheinungen
und folgt den nändichen Gesetzen. Wir können somit die allge-
meine Norm folgendermaassen aussprechen:
VI. phylogenetisches Gesetz.
Die Theile einer Ontogenie werden ungleich, indem
die früher vereinigten Functionen auseinander gelegt,
und indem in den verschiedenen Theilen neue ungleich-
VII. Phj'loEconetisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 383
artige Functionen erzeugt werden. Diese Differenzirung
ist entweder eine räumliche zwischen den nehen ein-
ander vorkommenden, oder eine zeitliche zwischen den
von einander abstammenden Th eilen der Ontogenie.
Von den im Pflanzenreiche äusserst zahlreich vertretenen räum-
lichen Differenzirungen will ich einige herausheben, bei denen der
Vorgang klar hervortritt. Unter den Lycopodiaceen gibt es Arten
(L. Selago), bei denen die Laubblätter nicht bloss die Assimilation
vollbringen, sondern auch die Sporangien erzeugen. Bei anderen Arten
(L. clavatum) hat sich die Scheidung der vegetativen und reproduc-
tiven Processe in der Weise vollzogen, dass die unteren Blätter grün
und ohne Sporangien, die obersten, zu Fruchtähren oder vielmehr
Blüthen zusammengestellten Blätter blassgrün und sporangi entragend
sind. — Eine analoge Differenzirung findet bei den Farnen statt.
Die Mehrzahl derselben trägt die Fruchthäufchen auf den unver-
änderten grünen Blättern. Bei einigen (Osmunda, Schizaea, Lygo-
dium, Aneimia) ist der untere Theil der Blätter ausgebreitet und
grün, der oberste zusammengezogen und fruchttragend. Einige andere
(Struthiopteris , Allosoms, Blechnum) haben, neben den breiteren,
bloss assimilirenden Blättern schmälere, ganz mit Sporangienhäufchen
bedeckte Blätter. — Weitergehende Differenzirungen, sowohl zwischen
den Theilen eines Blattes als zwischen den ganzen Blättern , voll-
ziehen namentlich sich bei den Phanerogamen, bieten aber in ihrer
Mehrzahl einer genauen Analyse des Vorganges grössere Schwierig-
keiten dar.
Die Verzweigungen einer Pflanze sind auf den untersten Stufen
einer jeden phylogenetischen Reihe qualitativ einander gleich, indem
sie gleichen Bau und gleiche Verrichtungen besitzen ; auf den fol-
genden Stufen treten zwei, dann mehrere Ungleichheiten auf. Die
erste Differenzirung besteht gewöhnlich darin, dass die einen Ver-
zweigungen ausschliesslich vegetativ, die andern reproductiv werden,
womit meistens der andere Unterschied verbunden ist, dass die
vegetativen Strahlen (Achsen) ein stärkeres, häufig ein unbegrenztes
Längen wachsthum zeigen, während die reproductiven Strahlen kürzer
und immer begrenzt bleiben. — Als Beispiel will ich den Blüthen-
stand der Phanerogamen anführen. Bei manchen derselben geht der
Laubblattspross in einen terminalen Blüthenstand aus , an welchem
jeder Strahl mit einer Blüthe abschliesst (Fig. 19 a); die Blüthen
384 ^'11- Pliylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflan/.enreiches.
sind durch die kleinen Kreise angedeutet. Andere haben sich in
der Weise weitergebildet, dass der mittlere Strahl des Blüthenstandes,
indem seine Blüthe verkümmert, zum Träger für die blüthengekrönten
Seitenstrahlen wird, wobei er sich gewöhnlich durch stärkeres Längen-
wachsthum auszeichnet (Fig. 11) b). Die gleichzeitige A^eränderung,
die darin besteht , dass die Seitenstrahlen , von denen die unteren
ursprünglich grösser und stärker verzweigt sind, einander gleich und
unverzweigt werden (Fig. 19 c), ist mittels vollständig durchgeführter
Differenzirung unter Mitwirkung einer anderen Ursache (der Reduc-
tion), die in dem VII. phylogenetischen Gesetz dargelegt wird, zu
erklären. Die gleiche Umbildung eines geschlossenen Systems (Fig. 19a)
in ein ungeschlossenes (b, c) kommt bei lateralen Inflorescenzen vor. —
Durch Rückschlag kann der ungeschlossene Blüthenstand abnormal
zu einem geschlossenen werden , indem die phylogenetisch verküm-
i''ig. li».
merte aber noch als latente Anlage im Idioplasma vorhandene
Mittelblütlie wieder zur Entfaltung gelangt (Scrophulariaceen , Um-
belliferen).
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 385
In dem angeführten Beispiel findet eine möglichst geringe
DifEerenzirung statt, indem der mittlere Strahl des ßlüthenstandes,
der auf den unteren Stufen einer phylogenetischen Reihe selber
blüthenbildend ist und die blüthenbild enden Seitenstrahlen erzeugt,
auf den höheren Stufen die erste Function vollständig den Seiten-
strahlen überlässt und dafür die zweite um so ausgiebiger vollzieht.
Eine bedeutendere Differenzirung besteht darin, dass auf den unteren
Stufen die Laubblattsprosse in Blüthen oder Blüthen stände ausgehen,
also zugleich vegetativ und reproductiv sind (Ranunculaceen, Cruci-
feren), indess auf den höheren Stufen ein ausschliesslich vegetatives
Verzweigungssystem seitliche reproductive Verzweigungssysteme (Inflo-
rescenzen) trägt (Papilionaceen). Auf den unteren Stufen endigt der
Laubblattspross in eine Blüthe oder in eine Blüthenspindel mit seit-
lichen Blüthen , auf den höheren Stufen sind die Laubblattsprosse
bis zur S|)itze , die meistens unbegrenzt in die Länge wächst , mit
Laubblättern besetzt. Die Differenzirung von den unteren zu den
höheren Stufen hat sich ohne Zweifel allmählich vollzogen , in der
Weise, dass die Hauptsprosse sich immer mehr verlängerten und zuletzt
ausschliesslich vegetativ wurden , indess die seitlichen Sprosse sich
verkürzten und am Ende unter ^^erlust der Laubblätter nur noch
die Function der Blüthenbildung behielten. Hiebei hat ebenfalls die
Reductionsursache des VII. Gesetzes mitgewirkt.
Eine Differenzirung der jährlich aus dem Wurzelstock auf-
schiessenden Triebe in vegetative und reproductive findet in der
Gattung Equisetum statt. Die einen Arten (E. palustre) besitzen einen
Laubstengel, der in eine Fruchtähre (Blüthe) ausgeht, während bei
E. arvense u. s. w. die einen Tiiebe nicht fructifizirend und grün,
die anderen nichtgrün, schaftartig und fructifizirend sind.
Wenden wir unsern Blick nach dem Aufbau der Organe aus
den Zellen, so lässt die grosse Mannigfaltigkeit in der Gewebebildung
der Gefässpflanzen auch auf eine vorausgegangene reichliche Diffe-
renzirung schliessen. Allein die Deutung ist meistens nicht so ein-
fach, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Die wichtigsten
Differenzirungen treten uns nämlich schon fertig entgegen und lassen
sich nicht in ihrem Entstehen verfolgen, da ja die ganze ph3'logene-
tisclie Entwicklungsreihe vom Moossporogonium bis zur Gefässpflanze
ausgestorben ist. Man spricht zwar bezüglich der Gewebebildung
der Gefässpflanzen viel von Differenzirung, indem man den ursprüng-
V. Nägeli, Abstammungslelire. 25
38ß ^"11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
liehen gleichförmigen merismatischen Zustand als einen undifferen-
zirten bezeichnet, der sich dann zu der mannigfaltigen Beschaffenheit
des fertigen Zustandes differenzire. Doch hat das Wort bei dieser
Anwendung im Grunde bloss einen wissenschaftlichen Klang. Wenn
wir mit demselben einen wissenschaftlichen Begriff verbinden wollen,
so kann es wohl nur so geschehen, wie ich es im VI. phylogene-
tischen Gesetz ausgesprochen habe, dass nämlich gleichartige Theile
durch Scheidung ihrer Functionen, also durch Arbeitstheilung, un-
gleich werden. Die Differenzirung ist ein j^hylogenetischer Vorgang;
sie kommt nicht während der ontogenetischen Entwicklung zu Stande.
Was man hier mit Unrecht als Differenzirung bezeichnet, ist nm^
die Entfaltung der ungleichen Anlagen. Die Zellen in den jüngsten
Geweben sind bloss scheinbar gleich; in Wirklichkeit sind sie eben
so sehr verschieden wie im entfalteten Zustande ; aber die Verschieden-
heiten entziehen sich unserer Wahrnehmung, weil sie sich noch im
Zustande der Anlage befinden. — In manchen Fällen gibt uns zwar
die ontogenetische Entwicklung Aufschluss über das ^phylogenetische
Werden. Aber gerade rücksichtlich der Gewebebildung trifft diese
Uebereinstimmung gewiss am seltensten und auch am wenigsten auf-
fällig zu.
Wir müssen daher sichere Beispiele für Differenzirungen zwischen
Zellen bei den sog. Zellenpflanzen aufsuchen , und wir finden sie
da um so leichter, je einfacher und näher verwandt die phylogene-
tischen Stadien sind, die durch die jetzt lebenden Pflanzen angedeutet
werden. Die augenfälligsten Thatsachen bietet uns auch hier die
Scheidung der vegetativen und reproductiven Vorgänge, indem im
allgemeinen auf den untersten Stufen jede Zelle zuerst vegetativ ist
und nachher Keime bildet, indess auf den folgenden Stufen die
einen Zellen ihre vegetative Natur zeitlebens behalten, andere Zellen
aber die Assimilationsthätigkeit mehr oder weniger beschränken und
dafür die Fortpflanzung übernehmen.
Eben so offen liegt die Arbeitstheilung zwischen den Fort-
pflanzungszellen selber. Auf der untersten Stufe sind die Schwärm-
sporen der Algen einander in jeder Beziehung vollkommen gleich;
aus jeder entsteht eine neue Pflanze. Der erste Differenzirungsprocess
gibt sich darin kund , dass die Schwärmsporen einander anziehen,
in Folge dessen in Berührung kommen und vermöge ihrer weichen
plasmatischen Beschaffenheit mit einander zu Einer Zelle verschmelzen.
VlI. Pliylogenetipche "Rntwicklunpsjiesetze des Pflanzenreiches. 387
Diese Anziehung kann nach unserer jetzigen Kenntniss der Natur-
kräfte bloss elektrischer Natur sein (S. 220). Jedenfalls muss, wie
klar aus den beobachteten Thatsachen hervorgeht, die Anziehung
durch Kräfte bewirkt werden, welche sich insofern wie die Elektri-
citäten verhalten, als die ungleichnamigen sich anziehen. Denn es
gibt Algen, bei denen die Schwärmzellen des nämlichen Sporangiums
(Ulothrix, Acetabularia) oder der nämlichen Pflanze (Dasj^cladus)
unfähig smd, sich mit einander zu copuliren, die sich also nicht
anziehen sondern abstossen. Die A'^ereinigung findet in diesen Fällen
nur dann statt, wenn die Schwärmsporen mit solchen aus bestimmten
anderen Sporangien oder von bestimmten anderen Pflanzenindividuen
zusanunenkommen .
Diese Erscheinung kann auf keine andere Weise erklärt werden
als durch die Annahme, dass die Schwärmsporen von doppelter
Beschaffenheit sind , a und b , dass nur a mit b sich zu coj)uliren
vermag, und dass die einen Zellen oder die einen Pflanzenstöcke
bloss a, die andern bloss b erzeugen. Wenn es im Gegensatze hiezu
auch solche Algen gibt, bei denen Copulation zwischen den Schwärm-
zellen des nämlichen Sporangiums stattfindet (Hydrodictj^on, Botry-
dium, Endosphaera, Chlorochytrium), so zeigt dieser Umstand bloss,
dass schon Geschwisterzellen die ungleiche Natur a mid b annehmen
können.
Die einfachste und natürlichste Deutung des phylogenetischen
Vorganges ist nun die, dass in den Schwärmsporen der ersten Stufe
die beiden (a und b) Kräfte vereinigt sind und sich neutralisü"en,
dass dieselben auf der zweiten Stufe sich getrennt haben, so dass
die einen Schwärmsporen negativ, die andern positiv, die einen
männlich also Spermatozoide, die andern weiblich also Eizellen sind.
Diese Deutung erleidet keinen Eintrag durch die Thatsache, dass
zuweilen mehr als zwei Schwärmzellen sich mit einander vereinigen
(Botrydimn, Hydrodictyon). Es ist leicht denkbar, dass die positiven
und negativen Kräfte der Geschlechtszellen quantitativ ungleich sind,
und dass beispielsweise eine b-Zelle dm'ch 2 bis 5 a-Zellen oder
2 b-Zellen durch 3 a-Zellen neutralisirt werden.
Die vorgetragene Theorie erklärt auch den sonst räthselhaften
Umstand, dass die differenzirten und zur Copulation bestimmten
Schwärmsporen für sich allein nicht keimfähig sind. Als Bedingung
der Entwicklungsfähigkeit ist ein gewisses Gleichgewicht der elek-
25*
,'j88 VII. PhyU>f;e netische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
trischen Kräfte nothwondig und dieses ist in den Gesclilechtszellen
gestört. Die Erscheinung, dass ausnahmsweise die Sehwärmsporen
der zweiten Stufe, ohne sich zu copuhren, zur Keimung gelangen,
ist als Rückschlag auf die erste Stufe zu betrachten, indem die
Scheidung der sexuellen Kräfte unterbleibt und die Geschlechtszellen
parthenogenetisch oder, wenn es männliche Zellen sind, eitheogenetisch
sich entwickeln. Möglicher Weise ist ferner der allererste Schritt
der Differenzirung nicht vollständig und der sexuelle Charakter der
untersten Geschlechtspflanzen noch wenig ausges})rochen, indem die
Fortpflanzungszellen neben neutralisirter Geschlechtselektricität geringe
Mengen von positiven oder negativen Kräften enthalten und in Folge
dessen eben so wohl zum Einzelleben als zur Copulation befäliigt sind.
Die sich copulirenden Scliwärms|)oren der zweiten Stufe haben
sich bloss rücksichtlich der Geschlechtselektricitäten differenzirt.
Männliclie und weibliche Elemente sind einander in Grösse, Gestalt
und Beschaffenheit der Substanz vollkommen gleich. Desswegen
wurde auch iln-e Vereinigung als Copulation gleicher Zellen be-
trachtet. Insbesondere konnnt ihnen die nämliche Beweglichkeit
und der nämliche Gehalt an Ernährungsjilasma und an nicht plas-
matischen Substanzen zu. Diese Eigenschaften sind es nun, welche
zu weiterer Differenzirung die Veranlassung geben. Den männlichen
Elementen bleibt die Beweglichkeit, indess sie die nicht idioplas-
]natischen Substanzen verlieren und zuletzt bloss noch aus Idioplasma
bestellen. Die weiblichen Elemente hingegen verlieren die Beweg-
lichkeit und werden dafür mit Ernährungsplasma und mit nicht-
plasmatischen Stoffen ausgestattet. Die Verschiedenheit zwischen
den männlichen und weiblichen Zellen wird übrigens noch sehr
gesteigert durch die hinzutretenden Anpassungsveränderungen. — Die
genannten Differenzirungen haben sich ganz allmäldich vollzogen,
Avas auch von Seite der Erfahrung durch die nocli vorhandenen
Uebergangsglieder bestätigt wird. Uebrigens ist noch zu bemerken,
dass die angefüln'te Differenzirung einer bestimmten phylogenetischen
Reihe angehört, und dass es überdem Andeutungen für andere mehr
oder weniger abweichende Reihen bei den Algen gibt.
]''.iue gleiche Differenzirung wie an den Schwärmsporen vollzieht
sich an d(!n (ruhenden) Tetrasporen der Gefässkryptogamen. Die-
jenigen der Filices sind noch uiidifferenzirt ; aus jeder Spore ent-
wickelt sich ein gleicher Vorkeim (Prothallium). Bei den Equisetaceen
VII. Phylogenetische EutwickUuigsgesetze des Pfiaiizenreiehes. 380
haben sich die geschlechthchen Kräfte geschieden; bei gleicher
Grösse und Gestah erzeugen die einen Sporen männhche, die anderen
weibHche Vorkeime. Die höchsten Gefässkryptogamen haben männ-
hche und weibhche Sporen, die ausserdem noch in Grösse und Zahl
sich von einander unterscheiden, indem Anpassung (Gesetz Ylll)
und Reduction (Gesetz VII) zu der Geschlechtsdifferenz hinzuge-
kommen sind.
Als Beispiel, wie die DifEerenzirung zwischen den Zellen erfolgt,
will ich noch die Theilung derselben betrachten und zwar die Zwei-
theihmg der gewöhnlichen, mit einer Cellulosemembran umkleideten
Pflanzenzellen, so dass der Process charakterisirt wird durch die
Gestalt und Beschaffenheit der Zellen und die Lage der Scheide-
wand. Die Art und Weise, ^\ie eine Zelle sich theilt, hängt über-
hauj^t von der Anordnung der scheidewandbildenden Stoffe und
Kräfte ab, in diesem Falle, da es sich um die phylogenetischen
Veränderungen der erblichen Eigenschaften handelt, von der Be-
schaffenheit und Anordnung des Idioplasmas und der durch die
Torausgehende Thätigkeit des Idioplasmas erzeugten nicht iclioplas-
matischen Substanzen.
Auf den untersten Stufen der phylogenetischen Entwicklungs-
reihen sind die Stoffe und Kräfte in den einzelligen Pflanzen ganz
gleichmässig um den Mittelpunkt vertheilt, wodurch die Kugelgestalt
der Zelle und die Theilung derselben in zwei gleiche Hälften bedingt
wird (manche Chroococcaceen und Palmellinen). Weiterhin findet
eine Reihe von Differenzirungen zwischen den verschiedenen Rich-
tungen innerhalb der Zelle statt, indem sich eine Achsenrichtung
mit gleichen Achsenenden ausscheidet und die Dimensionen in den
zur Zellenachse senkrechten Ebenen verschiedene Abstufungen der
Symmetrie annehmen. Der Charakter der Theilung bleibt aber noch
derselbe, indem die entstehende Scheidewand, welche die Achse stets
rechtwinklig schneidet, die Zelle in zwei gleiche Hälften zerlegt.
Beispiele hiefür finden wir bei einzelligen Pflanzen: Chroococcaceen,
Palmellinen, Desmidiaceen, Diatomeen und Schizomyceten, und bei
vielzelligen Familien : Nostochaceen ') Oscillariaceen, Zj^gnemaceen
und anderen Algen.
') Die Angabe, dass in den Hormogonien (Fadenstücken) von Nostoc die
Zelltheihtngen, statt in der Richtung der Achse des Fadens, auch senkrecht zu
derselben geschehen, kann ich nach vieljährigen Beobachtungen nicht bestätigen,
390 ^^I- Phylogenetische Eiitwieklungsgesetze des nianzenreiehes.
Eine neue und wichtige Differenzirung tritt nun in der Achsen-
richtung selber ein, so dass die Zelle zwei ungleiche Enden (Pole)
hat und durch die zur Achse senkrechte Theilungswand in zwei
ungleiche Hälften zerfällt. Die beiden Kindzellen können hei gleicher
Grösse und Gestalt ungleichen Inhalt, d. h. ungleiche Mengen von
Idioplasma und anderen Substanzen, enthalten, oder es können auch
ihre Grösse und Gestalt verschieden sein. Diese Ungleichheit ist
auf den tieferen Stufen einer bestimmten phylogenetischen Reihe
gering; sie wird auf den folgenden Stufen beträchtlicher, bis sie
zuletzt den ausgesprochensten Charakter der eigentlichen Sj^rossung
angenommen hat (S. 3G5, Fig. 17 1, k, g, f, a).
Eine andere phylogenetische Reihe führt zum Scheitelwachs-
thum des einreihigen Zellfadens. Die Ungleichheit in der Vertheilung
des Idioplasmas und Ernährmigsplasmas auf die beiden Achsenseiten
wird schliesslich so gross, dass von den beiden Kindzellen die eine
vollkommen die Natur der Elterzelle hat und wieder eine Scheitel-
zelle ist, während die andere als Gliederzelle wesentlich andere Eigen-
schaften besitzt. Der Zelleninhalt der Scheitelzelle ist wie auf den
vorausgehenden phylogenetischen Stufen in den die Achse recht-
winklig schneidenden Ebenen gieichmässig über die verschiedenen
Radien vertheilt, und in Folge dessen schneidet die entstehende
Theilungswand die Achse immer noch unter einem rechten Winkel
(manche Confervoiden, Fucoiden, viele Florideen, die Characeen etc. ;
Fig. 20 a).
Die einzig noch mögliche Differenzirung in der Anordnung des
Inhaltes der Scheitelzelle bezüglich der Richtung besteht darin, dass
die zur Achse rechtwinkligen Ebenen ungleichhälftig werden, indem
auf der einen, mit der Achse parallel laufenden Seite Idioplasma
und Ernährungsplasma sich anders verhalten als auf der gegenüber
liegenden Seite. Damit verträgt sich eine zur Achse senkrechte
Theilungswand nicht mehr. Aus der ungleichen Anordnung des
Inhaltes in der Längsrichtung und in der Querrichtung der Scheitel-
zelle ergibt sich mit mechanischer Nothwendigkeit eine schiefe Lage
der Theilungsebene. Diese Differenzirung in der Querrichtung ging
und ich glaube, dass jener Angabe ein Irrthuiu, veranlayst durcli die 1)ei den
Schizophyten nicht seltene Verschiebung der Zellen, zu Grunde liegt. Diese Ver-
schiebungen sind oft so gross, dass man nur bei genauer Verfolgung der Ent-
wicklungsgeschichte sich zurecht zu finden vermag.
YII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
391
ohne Zweifel phylogenetisch ganz allmählich vor sich (Fig. 20 h stellt
eine Uebergangsstufe dar; Andeutungen hiezu finden sich bei
Florideen), und führte zu dem Scheitelwachsthum durch schiefe
Wände, welche auf der einen Seite die Aussenwand der Schoitelzelle,
auf der andern Seite die frühere Theilungswand berühren (Fig. 20 c),
wie es bei den höheren Florideen, den Moosen, Gefässkryptogamen
und einigen Phanerogamen bekannt ist.
Fig. 20.
Eine analoge Differenzirung wie beim Scheitelwachsthum, welches
als peripherisches Längenwachsthum gegenüber dem intercalaren zu
bezeichnen ist, vollzieht sich ebenfalls bei dem übrigen peripherischen
^^^achsthum. Auch hier ist in den Zellen eine Achsenrichtung mit
ungleichen Enden bereits ausgebildet ; auf den tieferen Stufen besteht
in den zur Achse rechtwinkligen Ebenen allseitiges Gleichgewicht
der auf die Theilung einwirkenden Stoffe und Kräfte, indess auf den
höheren Stufen dieses Gleichgewicht gestört ist.
Beim peripherischen Breitenw^achsthum sind es die Rand-
zellen eines einschichtigen oder eines flachen mehrschichtigen Organs,
welche sich theilen. Wenn der bei der Theilung der Randzelle
maassgebende Inhalt rings um ihre auf die Mitte des Randes treffende
Medianlinie gleichmässig angeordnet ist, so zerfällt die Randzelle
entweder durch eine mit der Randfläche parallele Wand in eine
Flächenzelle und eine neue Randzelle (Fig. 21 a) oder durch eine
mit der Medianlinie zusammenfallende halbirende AVand in zwei
neue Randzellen (Fig. 21 b). — Ist der Inhalt in Folge eingetretener
Differenzirung rings um die Medianline ungleichmässig vertheilt, so
erfolgt schiefe Theilung und zwar gewöhnlich in der Weise, dass
eine Kante (meist die akroskope) durch eine Wand abgeschnitten
392
\n. Phylogenetische Entwickhiiigporesetze des Pflanzenreiches.
wird (Fig. 21 c), worauf dann die andere Kante ebenfalls durch eine
schiefe Wand abgetrennt wird (Fig. 21 d). Das Resultat der zwei
auf einander folgenden Theilungen ist eine von zwei Randzellen
bedeckte Flächenzelle. In den Figuren ist der Rand niitxx, die
zuletzt gebildete Wand durch eine punktirte Linie angegeben. —
Das äussere Ende der schiefen Wand berührt nicht immer den Rand
wie in Fig. 20 c , sondern in selteneren Fällen auch die andere
Seitenwand. In Fig. 20 e sind die schiefen Wände nach einander
von links nach rechts entstanden; nur die letzte trifft auf den Rand.
Dies kommt bei Gelidium und einigen anderen Florideen vor.
Fig. 21.
Das peripherische Dickenwachsthum geschieht durch Thei-
lung der Aussenzellen. Wenn die scheidewandbildenden Elemente
derselben in den zur Oberfläche parallelen Ebenen gleichmässig ver-
theilt sind, so erfolgt entweder Theilung vermittelst einer mit der
Aussenfläche parallelen Wand in eine Innenzelle und eine neue
Aussenzelle, oder Halbirung vermittelst einer auf der Aussenfläche
rechtwinklig aufsitzenden Wand in zwei neue Aussenzellen; die
Durchschnittsansichten sind die nämlichen wie in Fig. 20 a und b. —
Ist aber Differenzirung in den mit der Oberfläche parallelen Ebenen
eingetreten, so bilden sich schiefe Theilungswände, welche meistens
entweder äussere Kanten oder äussere Ecken abschneiden ; die
Durchschnittsansichten gleichen den in Fig. 20 c und d gezeichneten.
Aus einer Aussenzelle geht durch eine Folge von 2 bis 4 solchen
schiefen Theilungen eine von 2 bis 4 Aussenzellen bedeckte Innen-
zelle hervor.
Die geschilderten Differenzirungen in den Rand- und in den
Aussenzellen treten vorzüglich bei Algen auf, und vielleicht zuerst
VIT. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des rflanzemviches. 393
hei der Bildung von Anfangszellen seitlicher Organe. Bei einer
grossen Gruppe der Florideen erfolgt die Gewehehildung fast aus-
schliesslich durch solche schiefe Zelltheilungen , welche hier be-
stimmt von der Verzweigung einfacherer Formen vererbt worden
sind (S. 372—735).
Ich habe bis jetzt die Differenzirung der Zellen mit Rücksicht
auf die Lage der bei der Theilung entstehenden Scheidewand be-
trachtet, wodurch die Gestalt und die Stellung der Geschwisterzellen
bedingt wird. Die aus der Theilung herA^orgegangenen Zellen werden
auch in verschiedenen anderen Beziehungen mehr oder weniger un-
gleich. Die näclist liegende Eigenschaft, welche der Differenzirung
unterliegt, ist die Dauer und Theilungsfähigkeit der Zellen. Der
Vorgang lässt sich am einfachsten bei der Klasse der Nostochinen
verfolgen.
Gewisse einzellige Chroococcaceen werden, indem die Zellen nach
der Theilung vegetativ in Vereinigung bleiben, phylogenetisch zu
einem einreihigen Faden (vgl. Ges. I S. 357), dessen Glieder auf der
ersten Stufe vollkommen ihre frühere Theilungsfähigkeit bewahrt
haben; alle Zellen eines Fadens wachsen und theilen sich in der
nämlichen Weise; der Faden verlängert sich unbegrenzt (Nostocha-
ceen). Die erste Differenzirung besteht darin, dass die beiden End-
zellen eines Fadens etwas lebhafter wachsen und sich theilen als
die übrigen Zellen, also gleichsam Scheitelzellen darstellen; die
übrigen Zellen sind in dem unbegrenzt sich verlängernden Faden
vollkommen gleich ; bricht derselbe entzwei , so nehmen die End-
zellen die angegebene Natur von Scheitelzellen an (Oscillariaceen) ^).
Eine fernere Differenzirung trifft die zwischen den Enden be-
findlichen Fadenstücke. Die beiden Scheitelzellen zeichnen sich
') Man möchte vielleicht geneigt sein, das etwas stärkere Wachsthnm der
Endzellen bei Oscillaria als eine Folge der Wassereinwirkung, somit als Anpassung
zu betrachten. Allein die Thatsachen, dass bei den Nostochaceen die Enden sich
nicht von den übrigen Theilen des Fadens unterscheiden, dass bei den Scyto-
nemaceen das Wachsthnm der Enden ganz ausserordentlich gefördert ist, und
dass bei den Rivnlariaceen die Enden ein vermindertes und bald ersterbendes
Wachsthnm zeigen, — dass also bei so nahe verwandten Familien der Wachs-
thumsüberschuss der Enden bald in ungleichem Grade positiv, bald negativ und
bald null ist, — beweisen wohl deutlich, dass hier innere Ursachen maassgebend
sein müssen.
3D4 VII. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Manzenreiches.
dann noch deutlicher durch stärkeres Wuchsthum und häufigere
Theihmg aus ; nach rückwärts von densell )en vermindert sich Wachs-
thum und Theihingsfähigkeit alhnähhch und liört in einer gcAvisson
Entfernung ganz auf. Hat der Faden eine grössere Länge erreicht,
so hesitzt er innerhalb der beiden vegetirenden Enden, die aus der
Scheitelzelle, einer durch intercalare Theilung wachsenden und einer
ausgewachsenen Partie bestehen, ein abgestorbenes Mittelstück. Da
späterhhi der Faden in zwei Fäden zerfällt, so gewinnt es den An-
schein, als ob jeder derselben ein unteres und ein oberes Ende be-
sitze (Scytonemaceen).
In der Klasse der Nostochinen erfährt diese Differenzirung keine
weitergehende Steigerung. Dagegen tritt sie noch bestimmter bei
manchen Confervoiden auf, bei denen ausser der unbegrenzt wach-
senden und sich vermehrenden Scheitelzelle je die obersten Glieder-
zellen sich bloss noch einige Male theilen. Bei den Characeen ist
das intercalare Längenwachsthum durch Zellenbildung auf ein Mi-
nimum beschränkt, indem die durch Theilung der Scheitelzelle ab-
geschnittene primäre Gliederzelle sich bloss einmal durch eine hori-
zontale Wand in zwei secundäre Gliederzellen theilt. Hört auch
diese Theilung auf, so hat die Differenzirung ihr Maximum erreicht
und das Scheitelwachsthum bleibt ausschliesslich auf die Theilung
der Scheitelzelle beschränkt, wie dies bei den Florideen so charak-
teristisch der Fall ist. — Dieses Ziel wird auch auf einem anderen
phylogenetischen Wege, nämlich durch Vegetativwerden der durch
Sprossung entstehenden Keimzellen erreicht (Ges. H S. 336).
Eine andere, gewissermaassen gegentheilige Differenzirung tritt
in dem ursprünglichen aus ganz gleichen Zellen bestehenden Faden
dadurch auf, dass Wachsthum und Zelltheilung in dem oberen Faden-
ende träger werden und dann ganz aufhören ; dieses Ende wird zu-
gleich dünner und seine Zellen, die sich nicht mehr theilen, strecken
sich in die Länge, so dass der Faden in eine haarförmige Sj)itze
ausgeht. Das Aufhören der Zelltheilung, die Streckung der Zellen
und das Absterben dersell)en schreitet in basipetaler Richtung fort
(Rivulariaceen, verschiedene Confervoiden).
Diese Differenzirung geht noch einen Schritt weiter, indem der
Uebergang der Zellen in den Dauerzustand nicht bloss von der
Spitze abwärts, sondern auch von der Basis aufwärts fortschreitet,
so dass nur die Partie des Fadens , welche unterhalb der haar-
VII. rhylogenetisclii' Entwicklungsgesetze des rflanzenreiches. o\)b
förmigen Spitze sich befindet, in fortdauernder Zelltlieilung verharrt
(Ectoear]3us).
Die erörterten phylogenetischen Erscheinungen , die mit dem
Wachsthum dm'ch Zelltheihmg verbunden sind, gehören einem ganz
allgemeinen Differenzirungsvorgang an. Bei den niedrigsten Pflanzen
sind alle Lebensfunctionen in Einer Zelle vereinigt. Die zuerst be-
ginnende Differenzirung scheidet die vegetativen und die reproduc-
tiven Processe, welche in den Abstammungslinien immer strenger
auf verschiedene Zellen vertheilt werden. Eine andere etwas später
auftretende Differenzirung, die ebenfalls nach und nach schärfer
ausgeprägt wird, scheidet die gesammte Vegetation in zwei Sphären,
die wir als Assimilation und Wachsthum bezeichnen können. Die
"N^egetation hat nämlich im grossen und ganzen zwei Aufgaben zu
erfüllen :
1. Die von aussen aufgenommenen Nahrungsstoffe in eine für
den pflanzlichen Organismus verwendbare Form überzuführen: hie-
her gehört Aufnahme, Umsetzung, Transj)ort, Ausscheidung.
2. Die assimilirten Verbindungen für den Aufbau zu verwenden,
indem aus den molecular gelösten Stoffen molecular unlösliche Yqy-
bindungen gebildet und als Micelle eingeordnet werden: hieher ge-
hört das Wachsthum des Idioplasmas, des Ernährungsplasmas und
der nicht plasmatischen Substanzen.
Die Scheidung in Assimilation und Wachsthum beginnt schon
bei einzelligen Pflanzen; sie bewirkt hier die Sprossung, indem,
während die ganze übrige Zelle assimilirt, das Wachsthum auf einen
peripherischen Punkt concentrirt wird. Das Andauern dieser Schei-
dung verursacht die Bildung der röhrenförmigen, mit Scheit elwachs-
thum begabten Zellen (Siphoneen) und die Bildung der durch aus-
schliessliche Theilung der Scheitelzelle ausgezeichneten niederen
Florideen (Callithamnieen). Diese Scheidung geht als Erbtheil auf
die höheren Pflanzen über, wo sie zunächst den Gegensatz des mit
Wachsthum begabten Scheitels und der assimilirenden , unter der
Scheitelregion befindlichen Partien bedingt. Daraus erklärt sich die
Erscheinung, dass die normale Bildung der seitlichen Organe des
Stengels auf die Scheitelregion desselben beschränkt ist , und dass
die stärksten mid wichtigsten seitlichen Organe (die Blätter sammt
den Axillarknosi^en) ausschliesslich in akropetaler Folge entstehen.
Dies betrifft das Wachsthum im allgemeinen; die verschiedenen
390 VII. Phylogenetische Eiitwickkuigsgesetze des Pflanzenreiches.
Modificatioiien desselben gehen aus weiteren untergeordneten Diffe-
renzirungen hervor.
Bis jetzt suchte ich die Art und Weise klar zu legen, wie die
räumliche Differenzirung erfolgt: An die Stelle der neben einander
befindlichen gleichartigen Theile treten ungleichartige, welche zu-
sammen die Eigenschaften jener besitzen. Das Zustandekommen
dieses Processes setzt voraus , dass die sich differenzirenden Theile
auf einander eimdrken, dass sie somit unter einander in Verbindung
stehen. Meistens liegen diesell:>en unmittelbar neigen einander, und
dann ist kaum ein Zweifel über die Bedeutung des Vorganges möglich.
Man darf aber wohl annehmen , dass die Differenzirung auch ehi-
treten kann, wenn die Theile an dem Ucämlichen Individuum weiter
von einander entfernt sind, w^eil ja die Differenzirung im Idioj^lasma
geschieht und dieses durch den ganzen Organismus in dynamischer
Verbindung steht. In diesem Falle wird die Bedeutung des phylo-
genetischen A^organges sich leicht der Erkenntniss entziehen.
Bezüglich des W'Citeren Schicksals der differenzirten Theile können
wir uns einmal die Frage stellen, ob dieselben, wie sie unter gegen-
seitiger dynamischer Einwirkung zn Stande gekommen sind, auch
nur unter gegenseitiger Einwirkung, also nur gemeinsam, oder ob
sie auch getrennt sich weiter zu entwickeln und zu entfalten ver-
mögen. Dies hängt offenbar von der Beschaffenheit ihrer Eigen-
schaften ab. Können diese unabhängig von einander bestehen , so
entfalten sich die idioplasmatischen Anlagen , nachdem sie sich
geschieden liaben, selbständig, und setzen auch ihre weitere Ent-
wicklung in selbständiger A¥eise fort. Es kann somit von zwei ur-
sprünglich zusammengehörigen und durch Differenzirung geschiedenen
Eigenschaften jede sich eigenartig weiter ausbilden und ebenso für
sich zur Entfaltung gelangen, indess die andere latent bleibt. Dadurch
geht der Anschein der Zusammengehörigkeit und des gemeinsamen
Ursprungs verloren, und es ist nur dann möglich, diesen Ursprung
nachzuweisen , wenn alle phylogenetischen Uebergangsstufen der
Beobachtung zugänglich sind.
Es gibt andere Eigenschaften, welche, gleich wie sie gemeinsam
entstanden sind, auch stetsfort nur gemeinsam sich weiter entwickeln
und auch nur gemeinsam zur Entfaltung gelangen können. Dies
VII. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pfliuizenreielies. 397
ist dann der Fall, wenn sie nicht über eine ontogenetische Periode
liinans unabhängig von einander zu bestehen vermögen , sondern
jieriodisch wieder in Beziehung zu einander, gewissermaassen zu
einer Vereinigung kommen müssen, um sich von neuem zu scheiden.
Die Trennung der Geschlechter gibt uns ein Beispiel hiefür und
wir finden dies nicht unbegreiflich, wenn gemäss der von mir ausge-
sprochenen Vermuthung die Trennung in einer Scheidung der beiden
Elektricitäten besteht. Geschlechtliche Trennung und A^ereinimmo-
findet naturgemäss in jeder Ontogenie einmal statt.
Die Vereinigung der Geschlechter tritt je im Momente des Ueber-
ganges von einer Ontogenie in die folgende ein. Die Scheidung
derselben aber ist nicht an einen Ijestimmten Zeitpunkt gebunden;
sie kann in einem frühern oder späteren Stadium erfolgen. Ur-
sprünglich, d. h. auf der untersten phylogenetischen Stufe einer
Reihe, findet die Ditferenzirung zwischen eben den Zellen statt, die
sich dann als Geschlechtszellen mit einander vereinigen. Die Elter-
zelle ist geschlechtslos; von den in derselben entstehenden Zellen
sind die einen männlich, die anderen weiblich (Hydrodictyon, Botry-
dium, Endosphaera, Chlorochytrium). Auf der nächst hölieren Stufe
geschieht die geschlechtliche Scheidung zwischen den Elterzellen
der Geschlechtszellen und gibt sich dadurcli kund, dass die einen
Zellen nur männliche, die anderen inn* weibliche Fortpflanzungs-
zellen erzeugen (Ulotlmx, Acetabularia, Oedogoniumpart., Volvoxu. A.).
Auf einer noch höheren Stufe sind schon vielzellige Organe des
nämlichen Pflanzenstockes geschlechtlich getrennt, wie die Sporangien
der höchsten Gefässcryptogamen, von denen die einen Androsporen,
die andern Gynosporen enthalten, ferner die Staubgefässe und Car-
pelle der Phanerogamen.
Der letzte Schritt in dieser pliylogenetischen Stufenleiter vollzieht
sich dadurch , dass die Individuen selbst geschlechtlich gescliieden
werden. Ein solches geschlechtliches Individuum kann sich auf
geschlechtslosem Wege vermehren und in dieser Weise eine ganze
Reihe von Generationen innerhalb derselben Ontogenie durchlaufen.
Ich führe als Beispiel die aus abgeschnittenen Zweigen erwachsenen
Weiden und Pappeln an ; eine grosse Zahl von Trauerweiden, ebenso
von italienischen Pappeln , die in Europa fast ausschliesslich in
männlichen Exemplaren vorkommen, gehört der nämlichen Onto-
genie an. Zur Erzeugung ehies Embryos aber ist die geschlechtliche
398 ^TfT- Phylogenetische Entwickhmosgesetze des Pflanzenreiches.
Neutrali sirung vermittelst der Vereinigung von männlichen und weib-
lichen Fortpflanzungszellen erforderlich. Unmittelbar nach der Be-
fruchtung besitzt auch das Product derselben schon wieder einen
bestimmten, männlichen oder weil)lichen, Charakter').
Diese i^liylogenetische Stufenfolge zeigt uns jedenfalls, dass die
Organismen das Bestreben haben, auch die geschlechtlichen Eigen-
schaften selbständiger zu machen. Denn die ungeschlechtliche, der
Geschlechtsdifferenzirung vorausgehende Partie der ontogeneti sehen
Periode wird immer kürzer. Zuletzt dauert sie nur noch einen Augen-
blick, indem mit der Vereinigung der von Vater und Mutter kom-
menden männlichen und weiblichen Zellen auch das Geschlecht
des Kindes entschieden ist. Als ein weiterer Schritt in dieser Rich-
tung ist die Parthenogenesis anzusehen, bei welcher die weiblichen
Fortpflanzungszellen das Vermögen erlangt haben, ohne Ausgleichung
mit einer männlichen Zelle eine neue Ontogenie einzuleiten und die
Generationenreihe fortzusetzen. Auch die Ajjogamie^) der höheren
^) Die Beobachtungen, welche dafür angeführt werden, dass das Geschlecht
nicht schon Ijei der Bildung des Keims, sondern erst späterhin durch äussere
Einflüsse bestimmt werde, lassen allzusehr eine exacte experimentelle Behand-
lung vermissen, um gegenüber den andern Gründen und Erfahrungsthatsachen
Berücksichtigung zu verdienen. Die Scheidung des Geschlechts besteht im Idio-
plasma, in welchem sich die männliche und weiljliche Anlage befindet. Bei den
hermaphroditischen und einhäusigen Pflanzen sind beide Anlagen entfaltungsstet;
nur stehen sie bei den ersteren und letzteren mit ungleichen anderen Anlagen
in Verbindung. Bei den zweihäusigen (eingeschlechtigen) Pflanzen ist nur die
eine geschlechtliche Anlage entfaltungsfähig, die andere bleibt latent. Beim
phylogenetischen Uebergang von der Einhäusigkeit zur Zweihäusigkeit befindet
sich die eine Geschlechtsanlage, vor dem völligen Latentwerden, zuerst in einem
geschwächten Zustande und vermag bloss unter günstigen Innern und äussern
Umständen sich zu entfalten, so dass die männUche Pflanze auch einzelne weib-
liche Blüthen hervorbringen kann und umgekehrt.
^) Unter dem neuen Namen Apogamie (Geschlechtsverlust) werden zwei Er-
scheinungen vereinigt, die in physiologischer und phylogenetischer Beziehung
sich verschieden verhalten:
1. die Parthenogenesis, bei welcher tlie weibliche Zelle, ohne befruchtet zu
werden, entwicklungsfähig ist;
2. die vegetative Wucherung mit geschlechtsloser Vermehrung, wobei die
Geschlechtszellen entweder gar nicht gebildet oder, wenn vorhanden, functionslos
werden. Diese Erscheinung tritt infolge des den Pflanzenzüchtern längst be-
kannten Wechselverhältnisses zwischen geschlechtlicher und ungeschlechtlicher
Fortpflanzung ein und gehört sehr wahrscheinlich bloss der Cultur an. Die merk-
würdigsten Fälle sind diejenigen, wo die vegetative Wucherung in unmittelbarer
Nähe neben den steril bleibenden oder ganz geschwundenen Geschlechtszellen
M:I. Phj'logenotisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 399
Pilze (de Bary), bei denen sicli Organe bilden, die den Geschlechts-
organen analog sind, aber keinen Befruchtungsact vollziehen, ist
vielleicht als eine ähnliche weitere Stufe zu betrachten , aber phy-
siologisch noch nicht sicher zu deuten.
Eine andere Erscheinung , die das weitere phylogenetische
Schicksal der differenzirten Theile betrifft, ist die, dass zu den Eigen-
schaften, die ursprünglich sich geschieden haben, sf)äter noch andere
ungleiche Eigenschaften sich gesellen und dass diese ungleiche Aus-
1 jildung nicht bloss die Theile selbst trifft , um die es sich bei
der Differenzirung eigentlich handelt , sondern gleichsam mit rück-
wirkender Kraft auch diejenigen Theile, von denen sie erzeugt werden.
Am besten lässt sich diese Erscheinung bei der geschlechtlichen
Differenzirung nachweisen , weil die geschlechtlichen Eigenschaften
so charakteristisch sich von den andern Merkmalen unterscheiden.
Nicht nur die männlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen werden
in der phylogenetischen Reihenfolge immer ungleicher, sondern es
tritt dies auch bei den Elterzellen derselben ein (Oedogonium etc.),
bei den ganzen erzeugenden Organen (Phanerogamen) und bei den
geschlechtlich geschiedenen Individuen (einige Pflanzen, fast alle
Thiere). Wenn ich von Rückwirkung gesprochen habe, so besteht
dieselbe nur scheinbar. Die geschlechtliche Differenzirung ist ja
als Anlage im Idioplasma enthalten und somit in allen Theilen
und allen Entwicklungsstadien vorhanden. Aber ihre Entfaltungs-
fähigkeit ist ursprünglich beschränkt , ihr Gebiet wird dann nach
und nach grösser , und an die geschlechtlichen Eigenschaften
schliessen sich theils infolge anderweitiger Differenzirungen, theils
infolge anderweitiger phylogenetischer Vorgänge fernere Verschieden-
heiten an.
Durch die zeitliche Differenzirung werden die von einander
abstammenden Theile in ihren auf einander folgenden Generationen
ungleich. Die geringste Veränderung besteht darin, dass eine Function,
die auf früheren phylogenetischen Stufen in ihrer Richtung un-
bestimmt war, auf einer späteren Stufe in den successiven Genera-
erfolgt, vne im Embryo^ack der Phanerogamen (StrasLurger) oder auf dem Pro-
thallium der Farne (de Bary).
Ob die Apogamie der Pilze zur ersten oder zweiten Kategorie zu zählen sei,
lässt sich noch nicht entscheiden.
400 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
tionen bestimmt ist, was sich sehr deiithch tui der Zelltheilung
nachweisen lässt. Es gab jedenfalls in jeder der verschiedenen
phylogeneti seilen Reihen, die mit der Urzeugnng begannen, eine Stufe,
auf welcher die Riclitung der Scheidewand bei der Zweitheilung
bloss durch äussere Kräfte beeinflusst wurde. Die Bedingungen für
eine solche noch ganz undifferenzirte Zelle sind offenbar eine kugelige
Gestalt und eine auf den verschiedenen Radien gleiche Vertheilung
von Kräften und Stoffen. Wenn eine solche Zelle sich theilt, so kann
die Theilungsrichtung nicht durch innere Ursaclien bestimmt sein.
Die erste Differenzirung erfolgt nun in der Weise, dass die auf
die Bildung der Scheidewand einwirkenden Verhältnisse in der Zelle
eine zur vorausgehenden Theilungsrichtung ])estimmte Lage an-
nehmen. Während auf der früheren Stufe alle durch den Mittel-
punkt gelegten Ebenen für die VVandbildung gleich günstig gestimmt
waren, besitzt jetzt bloss noch eine Ebene diese günstige Stimmung;
alle anderen sind dazu nicht befähigt. Es ist selbstverständlich, dass
diese Differenzirung nur mit Rücksiclit auf die vorausgehende Theilung
erfolgen kann, weil durch diese selbst die Stoffe und Kräfte in einer
bestimmten Weise gerichtet werden. Hat dieser Vorgang eine Nach-
wirkung, so ist die nothwendig sich ergebende Theilungsrichtung
entweder senkrecht auf die vorausgehende oder parallel zu derselben.
Der geringste Grad der Differenzirung, der am wenigsten von
der vollständigen Unbestimmtheit der früheren Stufe abweicht, besteht
darin, dass die Theilungsebenen der auf einander folgenden Genera-
tionen sich rechtwinklig schneiden und in den drei Richtungen des
Raumes wechseln, so dass die vierte mit der ersten jiarallel läuft.
Die Differenzirung wird bestimmter, indem die sich reclitwinklig
schneidenden Wände in zwei Richtungen mit einander wechseln,
so dass einerseits die Generationen mit geraden Ziffern, andrerseits
diejenigen mit ungeraden Ziffern in der Theilungsrichtung über-
einstimmen. Noch bestimmter scheidet sich die scheidewandbildende
Richtung in der Zelle aus, wenn sie in allen Generationen die näm-
liche bleibt. Diese Verhältnisse lassen sich bei einzelligen Pflanzen
bloss dann sicher entscheiden, wenn die Zellen nach stattgefundener
Theilung sich nicht von einander trennen , sondern zu Colonien
verbunden bleiben. Sie liegen dann entweder würfelförmig beisammen
wie bei Chroococcus, Gloeocapsa, Sarcine u. a., oder in einschichtigen
Täfelchen wie bei Merismopedia, Gonium u. a., oder in einreihigen
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
401
Fäden wie bei Gloeothece, Bacterium, bei einigen Diatomeen, Desmi-
diaceen und Palmellinen. Fig. 22 a u. 1) zeigen einreihige Colonien
mit gleichbleibender Theilungsrichtung, Fig. 22 c — g eine einscliich-
tige Colonie mit zwei alternirenden Theilungsrichtungen. — Ein-
0QOO; ioooo
o"öo"m\
OQOO
oooo
zellige Pflanzen, bei denen die Theilungsrichtung noch nicht idio-
plasmatisch bestimmt wäre, sondern von äusseren Einflüssen bedingt
würde, sind nicht bekannt; denn die scheinbar unregelmässigen
Zusammenlagerungen der Zellen kommen durch Verschiebmig zu
Stande.
Die besprochene Differenzirung zwischen den Theilungsrichtungen
der auf einander folgenden Generationen geschieht übrigens, wie alle
Difiierenzirung , möglichst allmählich. Damit ist nicht gesagt, dass
die Theilungsebenen durch Mittelstellungen in einander übergehen,
sondern dass der Wechsel zwischen den verschiedenen Stellungs-
tj'^pen zuerst un regelmässig auftritt und erst nach und nach zu einer
Constanten Regelmässigkeit gelangt. Der Uebergang durch mittlere
schiefgestellte Theilungswände erscheint als eine mechanische Un-
möglichkeit, da die Veränderung des Idioplasmas bei schiefwinkligem
Wechsel offenbar grösser sein müsste als bei rechtwinkligem Wechsel.
Die Erfahrung bestätigt die hier ausgesprochene theoretische Behaup-
tung, indem die Zusammenordnung in den Colonien einzelliger
Pflanzen in gewissen Fällen wohl (he un regelmässige Folge der
rechtwinkligen Kreuzung, aber niclit eine schiefe Stellung der Scheide-
wände darthut.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 26
402 VIT. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
Der Fortschritt von solchen einzelligen Pflanzen, bei denen die
Zelltheilung in allen drei Richtungen des Raumes regelmässig ab-
wechselt , zu solchen , wo der Wechsel bloss in zwei Richtungen
statthat, muss also in der Weise gedacht werden, dass die Theilungen
in der dritten Richtung nach und nach seltener werden und zuletzt
ganz unterbleiben. Auf einem analogen Wege kann aus einer Pflanze
der ersten Art sich eine solche herausbilden , bei welcher die Zell-
theilung nur in einer Richtung erfolgt, indem die Theilungen in den
zwei andern Richtungen allmählich spärlicher eintreten und endlich
ganz aufhören. Es wird nämlich in Folge der sich langsam voll-
ziehenden Differenzirung im Idioplasma die Zelltheilung in den einen
Richtungen immer mehr begünstigt und diejenige in den übrigen
Richtungen in den latenten Zustand verwiesen.
Man könnte vielleicht zu der Ansicht geneigt sein, dass die
Theilung mit gleichbleibender Richtung die einfachere und ursprüng-
lichere sei und dass die Theilung mit wechselnder Richtung (in 2
oder 3 Dimensionen des Raumes) die complicirtere und abgeleitete
sein müsse. Eine solche Meinung könnte man aber nur dann fest-
halten wollen, wenn man die genannten Theilungen bloss für sich
betrachtet und dieselben gleichsam auf einer tabula rasa beginnen
lässt. Wir dürfen eine j^hylogenetische Erscheinung jedoch nur
mit Rücksicht auf die ihr vorausgehenden Zustände, aus denen
sie entsjDrungen ist, beurtheilen. Diese Zustände bestanden nun
ihrem Wesen nach darin, dass die Zellen sich üi ganz gleiche
Hälften theilten; dabei war die Theilung srichtung unbestimmt, was
mit der noch sehr einfachen und wenig bestimmten Anordnung
der Kräfte zusammenhing. Als diese Anordnung complicirter und
bestimmter wurde, stellte sich auch allmählich ein Unterschied
zwischen den beiden Hälften einer Zelle, der alten, von der Elter-
zelle geerbten , und der neuen , nach der Theilung zugewachsenen,
heraus. Wäre nun die Theilung zwischen der alten und neuen
Hälfte, also parallel der früheren Theilung erfolgt, so wären die zwei
sich bildenden Geschwisterzellen unter einander ungleich gewesen. Die
Theilung in zwei gleiche Hälften war nur möglich, wenn die Scheide-
wand die alte und die neue Hälfte halbirte, also senkrecht zu der
nächst vorausgehenden gerichtet war. Aus dem gleichen Grunde
musste die folgende Theilung rechtwinklig auf ihren beiden ^'^or-
gängerinnen stehen. — Erst von diesen Zuständen aus konnte dann
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
403
durch noch weiter gehende Differenzirung die Theilungsrichtung in
einer und nachher in zwei Richtungen verloren gehen und der
scheinbar einfachste Fah, die Theihmg mit gleichbleibender Richtung
eintreten.
Eine andere Art der zeitlichen Differenzirung betrifft die Dauer
der auf einander folgenden Generationen. Am einfachsten stellt sich
dieselbe bei einzelligen Pflanzen dar. Auf der unteren Stufe ist die
Dauer der Generationen gleich gross; geschieht die Fortpflanzung
durch Theilung, so wachsen die Kindzellen stets zum Volumen und
zur Form der Elterzellen heran, ehe sie sich von neuem theilen
(Chroococcaceen, viele Palmellinen). Dann tritt Ungleichheit ein, indem
die einen Generationen ihre Lebensdauer verkürzen, die andern sie
verlängern; diejenigen mit kürzerer Dauer erlangen auch eine ge-
ringere Grösse. Die Differenzirung erreicht den höchsten Grad,
indem, im Gegensatz zu einer einzigen, langlebigen und wachsthums-
fähigen Generation, eine ganze Reihe von Generationen eine sehr
kurze Dauer und kein Wachsthum besitzt.
Es theilt sich beispielsweise bei Cystococcus eine kugelige Zelle
in zwei halbkugelige, diese sogleich wieder in zwei, und die Theilung
wiederholt sich sofort noch mehrmals, ohne dass die Zellen der auf
einander folgenden Generationen eine Veränderung in der Grösse,
Gestalt und im Inhalt erfahren. Die Theilung hört auf, wenn inner-
g
V
Fig. 23.
halb der Membran der ursprüngHclien kugeligen Zelle eine grosse
Menge von kleinen Zellen eingesclüossen ist. Diese Individuen der
letzten Generation haben sich also in den Raum und die Substanz
26*
404 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
des Ahnenindividuums getheilt. Dieselben werden dann frei und
trennen sich von einander, worauf jede allmählich zu der ursprüng-
lichen Form und Grösse heranwächst; und nach längerer Dauer
beginnt in ihr, als Ausgang einer neuen Reihe, wieder der Theilungs-
process. Die beistehende Figur (23 a — f) zeigt den geschilderten
Vorgang ; a, b, c, d sind successive Theilungszustände ; in e ist die
Theilung beendigt und die Zellen der letzten Generation haben sich
bereits von einander losgelöst und abgerundet; f successive Wachs-
thumszustände einer Zelle der Uebergangsgeneration. Zur Verglei-
chung sind in g, h, i drei Generationen einer einzelligen Alge, bei der
die Differenzirung noch nicht eingetreten ist, dargestellt. Bei der
letzteren sind die Individuen durch weiche Gallertmembranen mit
einander verbunden; mit der Zunahme der Zellen wird die Gallert-
kugel in entsprechendem Maasse grösser.
Bei dieser Dil3:erenzirung tritt die Individualität der Reihen-
generationen mehr und mehr zurück; zuletzt erscheint die ganze
Reihe der Wiederholungsgenerationen bloss als der Fortpflanzungsakt
der langlebigen Uebergangsgeneration. Die zeitliche Differenzirung
hat in diesem, wie in andern Fällen, den nämlichen Erfolg, der
dem phylogenetischen Organisationsprocess überhaupt zukommt, dass
nämlich die individuellen und selbständigen Erscheinungen der
untern Stufe Tlieile des Individuums der höheren Stufe werden.
Die Beispiele für die zeitlichen Differenzirungen , die ich
angeführt habe, sind alle den einzelligen Pflanzen entnommen, weil
der A^organg hier nicht durch andere Erscheinungen verdunkelt wird.
Auch bei den mehrzelligen Pflanzen kommen ohne Zweifel Differen-
zirungen zwischen den auf einander folgenden Generationen der
Zellen und der Organe, also zwischen verschiedenen Entwicklungs-
stadien vor. Allein die Processe sind auf diesem Gebiete nicht
leicht klar zu legen, weil die bestehenden Ungleichheiten meistens
schon geerbt sind und weil Ort und Zeit, sowie die Art und Weise
ihres Entstehens wegen der Lücken in den Abstammungsreihen
und wegen Mangels an sicherem Beobachtungsmaterial verborgen
bleiben.
Die Differenzirungen erfolgen , soweit es die Organisations-
verhältnisse erlauben, ganz allmählich, so dass von dem undifferen-
YII. riiylogenetiselie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 405
zirten Zustande bis zu einem hohen Grade der Differenzirung alle
Uebergangsstufen durchlaufen werden. Die Mittel hierzu werden, wenn
sie nicht ohnehin vorhanden sind, durch die Vermehrung der Theile
geliefert, welche vorgängig oder gleichzeitig eintritt (Gesetz V, S. 380).
Es befinden sich daher bei der räumlichen Differenzirung zwischen
den beiden Extremen zahlreiche Uebergangsbildungen ; und bei der
zeitlichen Differenzirung folgen diese Uebergangsbildungen durch
Abstammung auf einander. Dieser Umstand gibt nun zu einem
neuen phylogenetischen Process Veranlassung, zu der Reduction der
differenzirten Theile.
VII. phylogenetisches Gesetz.
Die durch Differenzirung ungleich gewordenen
Theile erfahren eine Reduction, indem die Zwischen-
bildungen unterdrückt werden, und zuletzt bloss die
qualitativ ungleichen Gestaltungen mit qualitativ un-
gleichen Functionen erhalten bleiben.
Die Reduction der differenzirten Theile erscheint auch, weil sie
die Uebergänge unterdrückt und die stärksten Gegensätze räumlich
oder zeitlich unmittelbar neben einander bringt, als eine bestimmtere
Differenzirung, lässt sich al)er aus dem Gesetz der Differenzirung
allein nicht erklären.
Die drei phylogenetischen Processe: die intercalare Ampliation
der Ontogenie (Y), die Differenzirung (^^) und die Reduction (VII)
wirken in der Art, dass der erste die Theile quantitativ vermehrt,
der zweite sie qualitativ verändert und der dritte sie quantitativ
vermindert, so dass statt der ursprünglich beschränkten Zahl von
gleichen Theilen zuletzt eine ebenfalls beschränkte Zahl von ungleichen
Theilen vorhanden ist. Der höchste und letzte Organisationszustand,
der durch Wiederholung der drei phylogenetischen Processe erlangt
wird, ist eine möglichst grosse Zahl von qualitativen Ungleichheiten
in einer möglichst geringen Zahl von Theilen.
Wenn ein Organ bei einer Pflanze in geringer, bei einer anderen
in grösserer Zahl vorhanden ist, so kann die Deutung dieses Ver-
hältnisses zweifelhaft sein. Die grössere Zahl zeigt möglicher Weise
einen phylogenetischen Fortschritt an, wenn sie als Ampliation
eine neue Differenzirung einleitet. Es stellt aber möglicher AVcise
auch die geringere Zahl die höhere Stufe dar, wenn sie die Folge
406 ^^n. Phylogeuetipche Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
des Reductionsprocesses ist. Es sind also in jedem Falle die beiden
Möglichkeiten zu erwägen. Wenn die grössere Zahl keine beginnenden
neuen Verschiedenheiten wahrnehmen lässt, so wird sie in der Regel
als die tiefer stehende Stufe zu bem^theilen sein. Die kleinere Zahl
ihrerseits kann um so eher als die höhere Entwicklung gelten, wenn
mit ihr auch eine bessere morphologische Ausbildung und eine voll-
kommenere Function bemerkbar ist. Die Bedeutung der durch Re-
duction erlangten geringeren Zahl offenbart sich in sehr überzeugender
Weise im Thierreiche, wo die Organe nach oben hin an Zahl ab-
nehmen und auf der höchsten Stufe meistens bloss noch in der
Einzahl oder Zweizahl vorhanden sind.
Die Endresultate der Reductionsprocesse treten uns überall im
Pflanzenreiche entgegen, während die verschiedenen Stadien derselben
nur selten bei verschiedenen Pflanzen noch erhalten sind. Doch
gibt es einzelne Fälle, wo der Vorgang der Reduction sehr deutlich
sich kundgibt.
Die verschiedenen Blattformen der Phanerogamen waren ur-
sprünglich durch allmähliche Uebergänge verbunden. Es gibt jetzt
noch Pflanzen, bei denen diese Uebergänge die Lücken zwischen
einzelnen Blattformen überbrücken : zwischen Niederblättern und
Laubblättern, zwischen Laubblättern und Hochblättern (Deckblättern),
zwischen diesen und den Kelchblättern, zwischen Kelch- und Kron-
blättern, zwischen den letzteren und den Staubgefässen. So gehen
bei den Cacteen die Hochblätter allmählich in die Kelch- und
Blumenblätter, bei Nymphaea die Kelchblätter allmählich in die
Blmnenblätter und Staubgefässe über.
Der phylogenetisch höchste Organisationszustand ist erreicht,
wenn die für den Lebensprozess nothw^endigen Blattformen einerseits
in geringster Stückzahl, andrerseits in grösster Ungleichheit und Voll-
kommenheit ohne Zwischenstufen neben einander liegen. So ist beispiels-
weise das Vorhandensein eines Blattkreises zwischen Blumenkrone und
Staubgefässen oder eines Blattkreises zwischen Staubgefässen und
Stemj^el nicht etwa als ein höher stehender Bereicherungszustand,
sondern als die tiefer stehende, einer noch nicht vollständig gewor-
denen Reduction entsprechende Bildung zu betrachten.
Wenn der geschlossene rispige Blüthenstand durch Differenzirung
in den ungeschlossenen traubigen Blüthenstand übergeht (S. 384),
so findet eine Reduction der seitlichen Verzweigungen zu einfachen
YII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 407
Blüthenstielen statt. Die seitlichen Inflorescenzen (z. B. der Papi-
lionaceen) waren ursprünglich die Enden von Laubsprossen; durch
Reduction gfng die Assimilation derselben verloren (S. 385).
Manche aus einreihigen Fäden bestehende Algen endigen in mehr-
zellige haarförmige Spitzen. Bei Bulbochaete sind dieselben auf
eine einzige borstenförmige , am Grunde zwiebeiförmig erweiterte
Zelle reduzirt ; die phylogenetischen Vorfahren von Bulbochaete hatten
ohne Zweifel mehrzellige, allmählich in den Körper des Fadens
übergehende Borsten.
Sehr deutlich zeigt sich der Reductionsprocess in der Zahl der
weiblichen Sporen (Gynosporen, Makrosporen) der höchsten Gefäss-
kryptogamen. Bei den Vorfahren waren anfänglich die Sporen ge-
schlechtslos und gleichförmig, wie sie es jetzt noch l^ei der Mehrzahl
der Gefässkryptogamen sind. Dann trat Differenzirung in männliche
und weibliche SjDoren ein, wobei dieselben in Grösse, Bau und Be-
schaffenheit einander noch gleich waren, wie dies jetzt noch mit
den geschlechtlich differenzirten Sporen von Equisetum der Fall
ist. Der weitere phylogenetische Entwicklungsgang bewirkte mit
zunehmender Grösse der Gynosporen eine stetige Abnahme ihrer
Zahl ; die Art und Weise, wie dieser Reductionsprocess erfolgte, lässt
sich noch aus den ontogenetischen Entwicklungsstadien der wenigen
überlebenden Glieder der Abstammungsreihen erkennen.
Bei Isoetes, wo die Reduction am weitesten fortgeschritten ist,
bildet sich in jedem Fach der Androsporangien (Mikrosporangien)
aus zahlreichen Elterzellen (Sporenmutterzellen) durch Viertheilung
eine grosse Menge von Androsporen. In den Gynosporangien
dagegen ist in jedem Fach die Zahl der Elterzellen auf eine
einzige beschränkt , welche 4 Gynosporen erzeugt. — Das Andro-
sporangium von Selaginella enthält im jugendlichen Zustande zahl-
reiche Elterzellen, von denen jede 4 Androsporen bildet. Das Gyno-
sporangium verhält sich im Jugendzustande ebenso; aber nur eine
einzige der Elternzellen theilt sich und bringt 4 Gynosporen hervor,
sodass also das Gynosporangium bloss viersporig ist. — Bei den Mar-
siliaceen sind die beiderlei Sporangien in einem früheren Entwdcklungs-
stadium ebenfalls gleich; in jedem treten 16 Sporenelterzellen auf, die
sich je in 4 Zellen theilen. In den Androsporangien werden alle diese
Zellen zu Androsporen, deren Zahl somit 64 beträgt. In den jmigen
Gynosporangien w^ächst anfänglich an jeder der 16 Tetraden eine
408 ^"^11- Phylogenetische Entwckhingsgesetze des Pflanzenreiches.
Zelle stärker als die 3 übrigen; nachher hören 15 Tetraden auf zu
wachsen und gehen zu Grunde, und nur an einer Tetrade ver-
grössert sich die bevorzugte Zelle und wird mit Unterdrückung der
drei Geschwisterzellen zur Gynospore, sodass das Gynosporangium
1 sporig ist. Eine frühere phylogenetische Stufe hatte IGsporige, eine
noch frühere 64sporige Gynosporangien.
Die wenigen bis jetzt angeführten Beispiele von Reductionen,
die aus der Masse von Thatsachen aufs Gerathewohl herausgegriffen
wurden, zeigen die numerische Abnahme der aus der räumlichen
Differenzirung hervorgegangenen, neben einander liegenden Theile
einer Ontogenie. Die durch Abstammung auf einander folgenden
Theile werden in gleicher Weise reducirt. Die niedrigsten einzelligen
Pflanzen theilen sich in den successiven Generationen durch Scheide-
wände, die in den 3 Richtungen des Raumes alterniren (S. 400).
Der phylogenetische Fortschritt, der durch Differenzirung und
Reduction zugleich bewirkt wird, besteht darin, dass zuerst eine,
dann auch die andere Theilungsrichtung unterdrückt wird. Es
fallen also von 3 Generationen gleichsam 2 aus; dadurch wird der
Gegensatz zwischen der gleichbleibenden scheidewandbildenden
Richtung und den übrigen Richtungen, in denen andere Functionen
vor sich gehen, auf ein Maximum gesteigert.
Bei den niedrigsten einzelligen Pflanzen sind die auf einander
folgenden Generationen an Dauer, Wachsthum und Grösse einander
gleich. Durch Differenzirung und Reduction vermindert sich die
Lebensdauer und das Wachsthumsvermögen aller Wiederholungs-
generationen (S. 403). Durch noch weitere Reduction geht, indem
gleichsam die ganze Reihe der genannten Generationen verschwindet,
die successive Theilung in Simultanth eilung über, wie sie z. B. bei
Hydrodictyon und Sciadium vorkommt.
Die Gefässpflanzen haben Generationswechsel; ihre Ontogenie
besteht aus zwei Generationen, einer geschlechtslosen, Sporen er-
zeugenden und einer geschlechtlichen, männliche und weibliche
Elementarorgane hervorbringenden Generation. Auf der untersten
Stufe der Gefässpflanzen ist die Geschlechtsgeneration ein kleines
assimilirendes Pflänzchen (Filices). Auf den folgenden Stufen mrd
die Grösse der Gcschlechtspflänzchen mehr und mehr reducirt und
die Assimilationsfähigkeit geht nach und nach verloren , bis auf
der höchsten Stufe die männliche und weibliche Generation bloss
VII. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. 409
noch aus einer oder einigen wenigen Zellen besteht. Noch viel
deutlicher zeigt sich diese Reduction, wenn wir die phylogenetische
Reilie von den lebermoosartigen Pflanzen beginnen lassen , aus
denen die Gefässpflanzen hervorgegangen sind.
Neben der genannten Reduction der einen Generation verläuft
ein Vergrösserungs- und Bereicherungsprocess der andern mit ihr
alternirenden Generation. Dieses Wechselverhältniss zwischen den
zwei Generationen, aus denen die Ontogenien der Hauptreihen des
Pflanzenreiches bestehen, gehört zu den merkwürdigsten Erscheinungen
der phylogenetischen Entwicklung. Diejenige Generation, welche
aus der Vereinigung der Geschlechtszellen hervorgeht und auf ge-
schlechtslosem Wege Sporen erzeugt, ist auf den untersten Stufen
höchst einfach in Bau und Function, indem sie bei confervenartigen
Algen bloss von einer einzigen Zelle dargestellt wird. Sie nimmt
dann zu, ist aber bei den Moosen erst ein kugeliges bis längliches,
äusserlich fast ungegliedertes Sporogonium mit sehr einfachem inneren
Bau. Bis zu den Gefässpflanzen dagegen hat sie so sehr zugenommen,
dass sie als der ganze, äusserlich und innerlich reich gegliederte
Pflanzenstock auftritt.
Die andere Generation, welche aus einer geschlechtslos erzeugten
Spore entspringt und selber die Geschlechtszellen hervorbringt, zeigt
den umgekehrten Entwicklungsgang. Auf der untersten Stufe ist sie
die ganze Pflanze (Confervoiden). Sie nimmt zwar auf den folgenden
Stufen absolut etwas zu, aber relativ (im Verhältniss zur geschlechts-
erzeugten Generation) sehr deutlich ab. Bei den Moosen ist sie noch
ein ziemlich hoch organisirter, antheridien- und archegonientragender
Pflanzenstock. Bei den Gefässpflanzen aber hat sie, wie schon er-
wähnt, auch nach absolutem Maass abgenommen, und verhältniss-
mässig (im Vergleich mit der andern Generation) zeigt sie sich hier
zuletzt auf das äusserste beschränkt.
Zur ursächlichen Erklärung dieses Wechselverhältnisses weiss
ich nichts anderes als das Streben nach Diiferenzirung anzuführen.
Es scheint, dass die Pflanze die Neigung hat, die Erzeugung der
Geschlechtszellen von den übrigen Functionen zu trennen, um den
Sexualact desto vollkommner ausführen zu können. Die Erzeugung
der Geschlechtszellen ist anfänglich mit allen andern Functionen
auf dem nämlichen Individuum vereinigt, während das mit dem-
selben alternirende aus der Verschmelzung der Geschlechtszellen
410 ^'^11. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches,
hervorgehende Individuum bloss einen einzelligen Uebergang dar-
stellt. Dadurch nun, dass die geschlechtserzeugende Generation durch
Reduction kleiner, die geschlechtserzeugte Generation aber durch
Amjjliation und Differenzirung grösser wird, gehen die vegetativen
Functionen nach und nach auf die letztere über, und der ersteren
bleibt auf der höchsten Stufe keine andere Function , als die Ge-
schlechtszellen hervorzubringen.
Die Vorgänge, die in den drei vorhergehenden Gesetzen dargelegt
^nu'den, die Ampliation (A^), Differenzirung (VI) und Reduction (VII),
stehen in inniger Beziehung zu einander und haben das gemeinsame
Resultat, dass sie einen Organismus mit einfachem Bau und be-
schränkten Functionen in einen solchen mit zusammengesetzterem
Bau und zahlreicheren Functionen umwandeln. In der Vorstellung
lassen sich die Vorgänge stets aus einander halten; in der Wirk-
lichkeit sind sie sehr häufig mit einander zu einem Gesammtprocess
verbunden. Wir können daher die genannten drei Gesetze in ein
einziges phylogenetisches Gesetz, nämlich das der Complication
zusammenfassen ,
Das gleichartige Stück einer Ontogenie wird,
indem es sich vergrössert, innerlich ungleich, und
die Ungleichheit steigert sich, indem die Uebergangs-
glieder der ungleich gewordenen Tlieile verschwinden
und nur die extremen Bildungen übrig bleiben.
Der Gesammtprocess der Complication durchläuft also zwei Peri-
oden, die meistens auch zeitlich auf einander folgen. In der ersten
Periode findet Ampliation mit Differenzirung, in der zweiten Reduction
mit zunehmender Differenz statt. Die beginnende Differenzirung,
welche die Functionen auseinander legt, bedarf naturgemäss eines
vergrösserten Feldes ihrer Thätigkeit, weil die räumlich neben ein-
ander befindlichen oder zeitlich auf einander folgenden Theile, die von
dem gleichartigen in den ungleichartigen Zustand übergehen, zuerst
eine Menge von Uebergängen zeigen. Die fortgesetzte Differen-
zirung, welche die Ungleichheiten erhöht, wird naturgemäss dadurch
unterstützt, dass der Organismus die Uebergangsstufen j^reisgibt und
bloss die extremen Bildungen beibehält, denen er nun mehr Kraft
und Stoff zuführen kann.
YII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 411
Ist in diesen zwei Perioden aiicli, \vie die Erfahrung zeigt, der
gewöhnliche Verlauf ausgedrückt , so kann doch , wie es scheint,
auch jedes einzelne Moment derselhen, die Ampliation, die Reduction,
die Differenzirung allein thätig sein , indem dasselbe in geA\isscii
Fällen unzweifelhaft vorhanden ist, während die übrigen sich der
Wahrnehmung: entziehen.
Die phylogenetischen Processe, die gemäss den vorausgehenden
Gesetzen (I — VII) erfolgen, haben das Bestreben, die Organisation-
der Pflanzen mannigfaltiger und den Zusammenhang ihrer Theile
inniger zu machen. Diese Ver\"ollkommnungsbewegung geht ohne
Rücksicht auf die von aussen auf die Organismen einwirkenden
Einflüsse vor sich. Sie erhält aber durch die letzteren ein bestimmtes
Gepräge, sodass die concreteli Pflanzenformen, wie sie in die Er-
scheinung treten, als die Resultirende der zusammentreffenden inneren
und äusseren Kräfte zu betrachten sind. Die Wirkung der äusseren
Ursachen gibt uns das letzte Gesetz der Altstammungsgeschichte.
VIII. phylogenetisches Gesetz.
Die äusseren Verhältnisse, unter denen die Pflanzen
leben, wirken direkt als Reiz oder indirekt als em-
pfundenes Bedürfniss verändernd ein, verleihen da-
durch der Gestaltung und den Verrichtungen einen
bestimmten zeitlichen und örtlichen Ausdruck und
bringen somit verschiedene Anpassungen zu Stande.
Die Anpassungen sind durch Vererbung beständig,
gehen aber, wenn neue andere Anpassungen sie ausser
Wirksamkeit setzen, wieder allmählich verloren.
Ich habe die sämmtlichen Anpassungen in Ein allgemeines
Gesetz zusammengefasst , weil ich dasselbe nicht in die besonderen
Gesetze zu zerlegen vermag. Es gibt offenbar verschiedene Arten, wie
die Anpassungen zu Stande kommen, gleichwie es verschiedene Arten
für den Fortschritt der Vervollkommnungsbewegung gibt. Man kann
auch nach verschiedenen Gesichtspunkten Ijcstinmite Kategorien der
Anpassung unterscheiden ; allein diese Gesichtspunkte beziehen sich
weder auf die mechanischen Vorgänge noch auf die Ursachen der
Veränderung, und haben daher für die vorliegende Betrachtungsweise
der Abstammungslehre keinen Werth.
412 ^T^I- Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches.
Die Erkenntniss der Anpassungsvorgänge wird dadurch erschwert,
class sie, weil auf dem langsamen phylogenetischen Wege erfolgend,
dem Experiment nicht zugänglich sind, — ferner dadurch, dass die
neuen Anpassungen oft gleichsam auf die von früher her vererbten
Anpassungen gepfi'opft werden und eine Verbindung mit denselben
Inlden, — endlich dadurch, dass die Anpassungen mit den Errungen-
schaften des Vervollkommnungsprocesses ein einheitliches und un-
theill^ares Ganze darstellen. Die Anpassungsursachen sind überdem
so verschiedenartig und wirken in so mannigfaltigen Combinationen
ein, dass es nur selten gelingt, eine Ursache in ihren Wirkungen
zu erfassen.
Es wurden bereits oben (S. 142 — 165) mehrere Anpassungen,
die auf directem Wege durch Reize oder auf indirectem Wege durch
das Bedürfniss verursacht werden, besprochen. Um eine Anpassungs-
veränderung vollständig zu begreifen , muss man wissen , woraus
sie geworden , welche Ursachen sie hervorgebracht haben , und wie
diese mechanisch eingewirkt haben. Nur in wenigen Fällen sind
uns alle drei Momente hinreichend bekannt. Wir wissen beisj)iels-
weise, woher die Wurzelhaare (Rhizoide) der niedrigsten Algen her-
kommen. Es werden nämlich die Auswüchse der einzelligen Pflanze
auf der untersten Stufe zur Fortpflanzungszelle (durch Sprossung);
indem letztere vegetativ wird , wächst sie zum Thallom oder zum
Trichom aus. Die Trichome sind zuerst reproductiv; auf einer
höheren Stufe werden sie steril, in welchem Zustande sie verschiedene
Anpassungsumbildungen erfahren , von denen eine das Wurzelhaar
ist. Die Ursachen dieser Anpassung, unter denen sich jedenfalls die
Schwerkraft befindet, entziehen sich noch unserer Einsicht.
Etwas deutlicher gibt sich die Wurzelbildung der Gefässpflanzen
zu erkennen. Es ist unzweifelhaft, dass die eigentlichen Wurzeln
aus unterirdischen Caulomen (Ausläufern) hervorgegangen sind. Die
Veränderung in der Lage der mechanischen Gewebe, und die Umkehr
des anfänglichen Wachsthums der Gefässstränge, welche dabei einge-
treten sind, lassen sich aus den veränderten mechanischen Angriffen
erklären (S. 146). Die wichtigste Anpassung aber besteht in der
Unterdrückung der Blattbildung und in der Bildung einer Wiu'zel-
liaube; sie ist durch den Druck zu erklären, den die Spitze des sich
verlängernden Organs in der Erde erfährt. Die Caulome der Gefäss-
kryi^togamen haben an der Spitze eine Scheitelzelle, die sich durch
VII. Phylogenetische Entwdcklungsgesetze des Pflanzenreiches. 413
alternirend schiefe Wände theilt (v in Fig. 24 a). Wird während einer
langen Reihe von Generationen fortwährend durch den Druck ein
Reiz auf die Scheitelzelle ausgeübt, so reagirt dieselbe in der Art,
dass das ihr specifisch zukonniiende Scheitelzellenplasma durch das
Ernährungsplasma von dem Scheitelpunkt zurückgedrängt wird. Das
letztere verdickt dann zunächst die Aussenwand, und in Folge stärkerer,
d. h. noch länger andauernder Reizeinwirkung wird die äussere, das
Ernährungsplasma enthaltende Partie durch eine Scheidewand als
Zelle abgeschnitten, aus welcher die zum Schutz des Scheitels dienende
Wurzelliaube sich bildet. (Fig. 24 b zeigt zwei mit r bezeichnete Initial-
zellen der Wurzelhaube). Dies stünmt mit der allgemeinen Thatsache
überein, dass ein Reiz vermehrtes Wachsthum und vermehrte Zell-
theilmig bewirkt.
Durch den von aussen ausgeübten Druck wird ferner und zAvar
schon vor der Wurzelhaubenbildung das Wachsthum der Blätter unter-
drückt. Die unterirdischen als Wurzeln functionirenden Caulome von
Psilotum zeigen mis eine erste Stufe dieses Vorganges ; dieselben halben
bloss wenigzellige nicht über die Oberfläche vorspringende Blatt-
Pig. 24.
anfange, die sich nicht weiter entwickeln (f in Fig. 24 c). Diese Caulome
besitzen aber noch keine Wurzelhaube ; der Druck, den ihre Scheitel-
zelle (v) erfährt, ist durch die beträchtliche Dicke des Caulomkörpers
und die flache Gestalt der Scheitelregion bedeutend vermindert;
414 ^"11- Phylogenetische Entwickhmgsgesetze des Pflanzenreiches.
wenn aber Psilotum eine künftige Erdperiode erlebt, so wird es bis
dahin wohl auch zur Bildung einer Wurzelhaube gelangen.
Ist die Wurzelhaubenbildung eingetreten, so sind die Segmente,
aus denen die BLätter entstehen sollten (s in Fig. 24 b) , mit einer
Zelle bedeckt. Die Bildung der Blattanfänge unterblei])t nun in Folge
der veränderten Umgebung gänzlich. Es ist aber noch unklar, auf
welche mechanische Weise die Initialzelle der Wurzelhaube auf die
unterliegende Segmentzelle einwirkt. Wir wissen nur, dass die
Bildung der Blattanfänge immer in einer Aussenzelle erfolgt, mid
dass durch die Wurzelhaubenbildung die sonst blatterzeugende Zelle
(s in Fig. 24 a) zur Innenzelle geworden ist.
Ein anderes Beispiel, wo wir den Ursprung einer Anpassungs-
veränderung kennen und auch ihre Ursache mit grösster Wahrschein-
lichkeit vermuthen können , aber den mechanischen Vorgang nicht
begreifen, geben uns die flächenförmigen Organe. Auf den tiefsten
Stufen waren die in die Länge wachsenden Organe sämmtlicli cylin-
drisch mit allseitiger Verzweigung. Es ist dies die ursprüngliche
Form, die sowohl durch den Mangel einer Differenzirung in den zur
Achse rechtwinkligen Ebenen als durch bekannte allgemeine mecha-
nische Ursachen bedingt wm'de. Auf den folgenden Stufen findet
einerseits Verzweigung der noch cylindrischen Fäden in einer Ebene
statt (Bryojisis, Ptilota etc.), andrerseits nehmen die Thallome in ihrer
Totalität oder in einzelnen Theilen eine flächenförmige Gestalt an
(Caulerpa, Udotea, Porph}Ta, Nitophyllmn etc.). Der Erfolg dieser
Veränderung ist eine ausgiebigere Einwirkung des Lichtes auf die
Zellen.
Den Anstoss zu der Veränderung mag die durch innere Ursachen
erfolgende Differenzirung geben ; die Einwirkung des Lichtes bestimmt
dann jedenfalls die Richtung, welche die flächenförmige Ausbildung
annimmt. Vielleicht aber verursacht die letztere allein den ganzen
pliylogenetischen Umbildungsprocess. — Was nun das Vermögen
des Lichtes in Bezug auf Veränderungen an den Pflanzen bedingt,
so wissen wir, dass dasselbe ungleiche Wachsthumsprocesse an der
beleuchteten und an der beschatteten Seite von verschiedenen assi-
milirenden Organen hervorbringt. Die nothwendige Consequenz hier-
von ist, dass die beiden Seiten, welche in der zu den einfallenden
Lichtstrahlen rechtwinkligen Ebene liegen , sich anders verhalten
müssen als die beleuchtete und die beschattete Seite, und es ist nicht
\^I. Phylogonetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 415
uiimöglicli , dass in dieser Ebene durch den Einfluss des Lichtes
Wachsthum und Verzweigung begünstigt werden.
Von den verschiedenen Beziehungen, unter denen wir (he
Anpassungen betrachten können , ist der Nutzen , den sie ge-
währen, in der Regel die am besten bekannte. Aus demselben lässt
sich in einzelnen Fällen auf die Ursachen schliessen, während in
anderen Fällen die Wirkung keine Andeutung über die Ursache und
deren mechanische Thätigkeit gibt. Als Beispiel für letzteres können
manche Schutzeinrichtungen angeführt werden. Besonders sind es
die Fortpflanzungsorgane , dann auch die jungen noch im Stadimn
der Zelltheilung befindhchen Partien, welche vor mechanischen Ein-
wirkungen und vor den Angriffen von Thieren geschützt w^erden.
Eine Art des Schutzes besteht darin , dass die solche Theile
tragende Oberfläche sich vertieft. Ist die Anpassung vollständig, so
hat sich die Vertiefung zu einer mit engem Ausführungsgang ver-
sehenen Grube ausgebildet. Wir finden diese Einrichtung schon bei
Algen, nämlich als Sorusgrübchen und Fasergrübchen bei den Fuca-
ceen, als Antheridiengrübchen bei wenigen Florideen (Corallina, Graci-
laria), als vertiefter Scheitel (Laurencia, Fucaceen). Der Nutzen der
Einrichtung ist unverkennbar; die Ursache derselben dürften wohl
Reize sein, denen die im Wachsthum begriffenen Theile ausgesetzt
waren. Aber wir haben keine A'^orstellung davon, wie durch einen
solchen Reiz das Flächenwachsthum der Aussenzellen local gesteigert
und das durch die Innenzellen bewirkte Dickenwachsthimi an der-
selben Stelle vermindert wird.
Eine andere ähnliche Schutzvorrichtung besteht darin, dass ein
Organ durch Einrollung der Spitze seinen zellenbildenden Scheitel
umhüllt (unter den Algen Padina, Ceramium, Rhodomela). Sie
schliesst sich an die vorhergehende Einrichtung in der Beziehung
an, dass die Fortpflanzungsorgane sich auf der concaven , also ge-
schützten Seite befinden. Der Grund aber, warum die (concave)
Bauchseite anfänglich weniger stark in die Länge wächst als die
(convexe) Rückenseite, bleibt zur Zeit noch ebenso unbekannt. —
Viel häufiger wird der Schutz junger Theile dadurch zu Stande
gebracht, dass ältere Organe dieselben miigeben und bedecken, was
ebenfalls schon bei Algen vorkommt. Auch diese Einrichtung wird
aus noch verborgenen Ursachen durch stärkeres Längenwachsthum
auf der (convexen) Rückenseite der Schutzorgane bewirkt.
41 G ^^11- PliJ'logenetischc Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
Wie bereits Eingangs dieses Abschnittes bemerkt wurde und wie
sich auch aus den angeführten Beispielen ergibt, trifft die Anpassungs-
veränderung mit dem durch innere Ursachen bewirkten VervoU-
kommnungsfortschritt zusammen und verleiht dem letzteren den
concreten specifischen Charakter. Es sind daher für eine Erscheinung
sehr häufig zweierlei Ursachen aufzusuchen und man würde leicht
in Irrthum gerathen, wenn man beispielsweise eine bestimmte Ver-
änderung bloss als die Folge der Differenzirung oder bloss als die
Folge der Anpassung betrachten wollte, während in Wirklichkeit die
vollständige Erklärung nur durch die beiden zusammenwirkenden
Momente gegeben wird.
Dies zeigt sich unter anderem deutlich bei den Anpassungen,
welche durch den Wechsel der Jahreszeiten bedingt, durch die Diffe-
renzirung aber unterstützt oder eingeleitet werden. Dieselben treten
uns bei allen Pflanzen in grösserem oder geringerem Umfange ent-
gegen, am augenfälligsten bei den höheren Gewächsen, die im Winter
wie unsere Bäume und Sträucher nach Verlust der Blätter, oder wie
unsere ausdauernden Kräuter nach Verlust der sämmtlichen über
der Erde befindlichen Theile einen Ruhezustand durchmachen. Die
einfachsten Verhältnisse und das sicherste Urtheil gewähren aber die
niederen, aus einer einzigen Zelle oder aus einer geringen Zahl von
Zellen bestehenden Pflanzen.
Die niedrigsten Pflanzen in jeder Beziehung sind die Schizo-
phyten, zu denen die Nostochinen (im weitesten Sinne) und die
Spaltpilze gehören. Bei manchen derselben beschränken sich die
Lebensvorgänge darauf, dass die Zellen, zwischen denen noch gar
keine Verschiedenheit besteht, auf die doppelte Grösse anwachsen
und dann sich theilen. Werden die äusseren Verhältnisse für diese
Lebensvorgänge ungünstig, so stehen dieselben still, um jeder Zeit,
wenn die äusseren Umstände sich wieder günstiger gestalten, von
neuem zu beginnen. Bei den einen dieser Scliizoph}i.eii ist gar kein
Unterschied zwischen dem Vegetationszustand und dem Ruhezustand
zu bemerken ; bei den anderen wird mit der Abnahme der A-^egetation
der Zellen Inhalt wenig dichter und die Membran etwas derber. In
diesem Zustande verharren die Zellen während der Ruhezeit, woljei
eine grössere oder kleinere Zahl derselben, je nach der Ungunst der
äusseren Einflüsse, zu Grunde geht. Es ist hier noch ganz unbe-
stimmt, welche Zellen ausdauern und die Sippe erhalten.
Vn. rhylogonetisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzoiireirhos. 417
Auf der näclist höheren Stufe gehen die Zellen vor der Ruhe-
zeit, theils durch die weiter gehende Anpassung, welche in Folge
der fortgesetzten Einwirkung der äusseren Agentien statthat, theils
durch zeitliche und räumliche Differenzirung in den Sporenzustand
über, indem die Membran dick und fest, der aus Fett und Eiweiss
bestehende Inhalt dicht (wasserarm) wird. In diesem Zustande sind
die Zellen gegen die Unbilden, welchen sie während der Vegetations-
ruhe ausgesetzt sind, viel 'waderstandsfähiger. In der phylogenetischen
Reihenfolge sind es zuerst alle Zellen, welche ohne eine Gestalts-
veränderung zu Sjjoren sich uml:)ilden, wie dies noch bei Nodularia
der Fall ist. Dann tritt Scheidung zwischen den Zellen ein, indem
in den einen die vegetative Zelltheilung fortdauert, während die
andern, statt sich weiter zu theilen, beträchtlich an Grösse zunehmen
und zu Sporen werden. Erst sind es unl^estmimt viele Zellen, die
in den Sporenzustand übergehen ; dann ist es nur noch eine einzige
in einem Faden oder Fadenstück (Rivularia).
Diese Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten hat einen
Generationswechsel zur Folge. Sind die Pflanzen einzellig, so wird
die Reihe der gewöhnlichen Generationen durch eine Generation ab-
geschlossen, welche als Ruhespore während des Vegetatiousunter-
bruches ausdauert und beim Beginn der nächsten Vegetationszeit die
Theilung in unveränderter Weise fortsetzt. Sind die Pflanzen mehr-
zellig, so vermehrt sich eine Reihe von Generationen durch Zerfallen
der Fäden in Stücke, und die Uebergangsgeneration bildet Ruhe-
sporen.
Auf der höheren Stufe tritt zu der Differenzirung und An]3assung,
welche auf der untersten Stufe die Ruhesporen erzeugen, noch die
weitere Differenzirung in Geschlechtszellen ein. Durch Copulation
zweier äusserlicli gleicher Zellen oder einer Eizelle mit Spermatozoiden
entsteht eine Zelle, die zur Ruhespore (Zygospore oder Oospore) wird.
Ist die Pflanze einzellig, so besteht der Generationswechsel darin,
dass eine Reihe von Generationen sich auf ungeschlechtlichem Wege
fortpflanzt, während die Uebergangsgeneration geschlechtlich dif-
ferenzirt ist und sich zu einem den Vegetationsunterbruch über-
dauernden Product vereinigt (Volvox, Pandorina, Hydrodictyon).
Ist die Pflanze mehrzellig, so bildet eine Reihe von Generationen
Schwärmsporen ; die letzte Generation der Vegetationszeit aber erzeugt
V. Nägeli, Abstammungslehre. 27
418 VII. Phj^ogenetisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
Geschlechtszellen, aus deren A^ereinigung die Ruhesporen hervor-
gehen (Ulothrix).
Auf dieser Stufe trifft also Geschlechtsdifferenz und Bildung von
Ruhesporen mit dem Wechsel der Jahreszeiten zusammen und zeigt
demnach den Charakter der Anpassung. Die ganze Einrichtung
verliert aber bald ihre Bedeutung als Anpassung, und beweist auch
durch diesen Umstand, dass sie nicht bloss durch die von aussen wir-
kenden Einflüsse hervorgebracht wurde. Auf der nächst höheren
Stufe nämlich findet Befruchtung und Bildung von Ruhesporen nicht
nur am Ende der Vegetationszeit, sondern auch wiederholt während
derselben statt (Vaucheria, Oedogonimn).
Werden auf den folgenden Stufen die Pflanzen mehrjährig, so
treten andere Anpassungserscheinungen in der vegetativen Sphäre
und in der geschlechtslosen Fortpflanzung auf, welche die Ueber-
dauerung des Vegetationsunterbruches ermöglichen oder erleichtern.
Die geschlechtliche Befruchtung aber hat den Charakter der An-
passung an den Wechsel der Jahreszeiten gänzlich eingebüsst; sie
erfolgt während der Vegetationszeit und leitet sofort Wachsthum mit
Zelltheilung ein (Moose, Gefässpflanzen).
Die Trennung der Geschlechter ist m-sprünglich ein reiner
Differenzirungsact, indem die männlichen und weiblichen Zellen mit
Ausnahme der getrennten Geschlechtselektricität einander noch ganz
gleich sind (S. 387). Die Differenzirung schreitet dann weiter fort;
zugleich aber kommen Anpassungsveränderungen hinzu. Die Pflanzen,
in denen die Geschlechtsdifferenzirung beginnt, haben schon von
ihren Vorfahren das durch Anpassung erlangte Bestreben geerbt,
ihre Keime mit Nährstoffen zu versehen (S. 163). Die ersten ge-
schlechtlichen Schwärmzellen sind damit noch sehr sj^ärlich ausge-
stattet. Indem Anpassung und Differenzirung sich steigern, werden
die einen (die weiblichen) mit reichlicher Nahrung ausgerüstet und
verlieren dadurch ihre Beweglichkeit ; sie werden entweder bloss von
der Mutterpflanze ausgestossen oder bleiben in derselben liegen, indem
dm'ch eine Oeffnung der Zugang für die SjDermatozoide frei gemacht
wird. Die andern geschlechtlichen Schwärmzellen (die männlichen)
werden , gleichsam durch Compensation , von Nährstoffen ganz ent-
blösst und gewinnen dafür an Beweglichkeit. Durch weitere An-
passung gehen sie in die längliche (Eudorina) und dann in die
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 419
fadenförmige Gestalt (Ohara) über, und werden mehr und mehr
schraul)enförmig, wie aucli die lebhaft vorwärts gehenden und sich
drehenden Pflänzchen von fadenförmiger Gestalt (Spirillum , S])iru-
lina) zu Schrauben geworden sind.
Ein anderes Beispiel, wo mit der Anpassung auch Differeuzirung
durch innere Ursachen mitgewirkt liat, finden wir in der Veränderung
der Gewebe durch mechanische Einwirkung. Ich habe aus der letz-
teren die Entstehung der sog. mechanischen Zellen abgeleitet (S. 14G).
Das Resultat hätte aber nicht so bestimmt und charakteristisch aus-
fallen können, die mechanischen Zellen wären von dem angrenzenden
Gewebe nicht so scharf geschieden, wie es gewöhnlich der Fall ist,
wenn nicht noch eine andere Ursache dabei thätig gewesen w^äre.
Es ist dies die Neigung des Idioplasmas zur Dilferenzirung ; dieselbe
übergab die einen Zellen gänzhch oder grösstentheils ihrem mecha-
nischen Berufe, stattete sie mit dicken festen Membranen aus und
entblösste sie an Inhalt, w^ährend die angrenzenden Zellen dünn-
wandig blieben und andere Verrichtungen übernahmen.
Ein solches Zusammenwirken der äusseren mechanischen Ur-
sachen und der inneren Neigung zur Differenzirung glaube ich
schon auf der untersten Stufe des Pflanzenreiches bei der Entstehung
der Grenzzellen in den Familien der Nostochaceen, Scytonemaceen
und Rivulariaceen annehmen zu dürfen. Werden einreihige Zellfäden
durch allseitiges Wachsthum (Th eilung aller Zellen) sehr lang, so
brechen sie leicht entzwei , wenn irgend eine mechanische Ursache
auf sie einwirkt (Oscillariaceen , Zygnemaceen). Dabei trennen sich
entweder die Endzellen der beiden Hälften einfacli von einander,
oder es wird eine Zelle zwischen den l>eiden Hälften zerdrückt und
stirbt ab.
Bei den genannten Familien der Nostochinen wird an der Stelle,
wo die Trennung der Fadenstücke stattfinden soll, eine Zelle zur
sog. Grenzzelle, indem sie ihre Membran verdickt, ihren Inhalt ver-
liert und abstirbt. Von dieser Zelle lösen sich die Fadenstücke ab,
und aus dem Umstände, dass dieselbe gewöhnlich noch an dem einen
Faden haften bleibt, hat sie den Namen Grenzzelle erhalten. Dass
bei deren Bildung die Differenzirung wesentlich betheiligt ist, ersieht
man daraus, dass die der Grenzzelle anliegenden Zellen oft zu
Sporen werden (Cylindrospermum , Rivularia), oder in Fäden aus-
wachsen (Rivulariaceen , Scytonemaceen). Aber es liesse sich das
27*
420 "^"TI. Phylogenetische Eiitwiekhingsgesetzc des Pflanzenreiches.
Entstehen der Grenzzellen aus der DifEerenzirung^ allein kaum be-
greifen.
Dass eine mechanische Ursache dabei mitgeholfen habe, ist mir
desswegen wahrscheinlich, weil die Grenzzelle in der Regel sich in
der Mitte des Fadens bildet, also da, wo Druck und Zug bei der
Biegung des Fadens am stärksten empfunden werden, und weil die
Grenzzelle die nämlichen Veränderungen erfährt wie die mechani-
schen Zellen. Die mechanische Wirkung ist jedoch nicht etwa als
eine unmittelbare und ontogenetische aufzufassen. Sondern es hat
die fortwährend wiederholte mechanische Einwirkung während einer
langen Generationenreihe eine erbliche Anlage im Idioplasma ge-
schaffen, die nun allen Zellen zukommt, und die sich in derjenigen
Zelle eines Fadens entfaltet, auf welche die maassgebenden Einflüsse,,
wozu auch die durch mechanische Einwirkung hervorgerufene Span-
nung gehört, sich concentriren.
Das Vorhandensein der phylogenetischen Vorgänge, welche sich
den 8 aufgestellten Gesetzen oder den 3 allgemeinen Gesetzen der
Vereinigung, Complication und Anpassung unterordnen,
ist deutlich zu erkennen, und es kann darüber kein Zweifel be-
stehen. Dagegen erhebt sich nun die wichtige Frage, ob damit der
ganze Organisationsprocess erschöpft sei, oder ob es Erscheinungen
gebe, welche sich daraus nicht erklären lassen und welche auf noch
anderweitige Vorgänge hinweisen. Letzteres scheint mir nicht der
Fall zu sein. Es gibt zwar eine Menge von Organisationsverhält-
nissen , über deren Zustandekommen wir uns vollkommen im Un-
gewissen befinden; aber nicht desswegen, weil sie uns etwas neues
darbieten, sondern einmal weil sie noch zu wenig erforscht und
erkannt sind, ferner weil wegen ihrer Complicirtheit und wegen
der vorausgehenden Lücken in der phylogenetischen Reihenfolge
keine bestimmte Andeutung gegeben ist, durch welche Combination
und Stufenreihe der bekannten Vorgänge sie entstanden sein könnten.
Damit ein Organisationsverhältniss mit anderen in genauer Weise
verglichen und daraufhin pliylogenetisch richtig gedeutet werden
kann, muss seine Entwicklungsgeschichte bis in alle Einzelheiten
klar gelegt sein.
VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des I'flanzenreiohes. 421
Wenn icli sage, dtiss nach meiner Ansicht die 8 Gesetze aus-
reichen, um alle Erscheinungen im Pflanzenreiche zu erklären, so
setze icli voraus, dass die niedrigsten Pflanzen, mit denen die phylo-
genetischen Reihen beginnen, bereits diejenigen Eigenschaften be-
sitzen, welche sie aus dem Probienreich geerbt haben, und welche
die allgemeinsten Erscheinungen des Wachstliums und der Fort-
pflanzimg der Organismen umfassen (vgl. § 1 — 7 S. 341 — 350). Da die
genannten 7 Erscheinungen als Anlagen im Idioplasma aller Pflanzen
enthalten sind, so können sie unter günstigen Umständen auch stets
zur Entfaltung gelangen, und ebenso werden sie je nach Umständen
einen grösseren oder geringeren Antheil an der weiteren phylogene-
tischen Entwicklung des Idioplasmas geltend machen.
Diese phylogenetische Entwicklung des Idioplasmas besteht, wie
sich aus der ganzen vorliegenden Untersuchung ergibt, darin, dass
die Configuration desselben zusammengesetzter wird, dass die Zahl
und die Verschiedenheit der idioplasmatischen Anlagen zunimmt,
und dass zugleich die Anlagen in innigere Beziehung zu einander
treten , indem die Idioplasmamicelle in bestinmiten Richtungen des
Querschnitts der Stränge fester zusammenschliessen und somit dy-
namisch besser auf einander einwkken können. Dabei erhält die
ganze Zusammenordnung der Anlagen natm'gemäss ein ihrer suc-
cessiven Entstehung entsprechendes Gefüge; ihre ontogenetische
Entfaltung wiederholt daher in gewissem Maasse die vorausgehende
phylogenetische Reihe und ihre weitere Entwicklung bedingt einen
entsprechenden Fortschritt in der Ontogenie, .
Aus dieser phylogenetischen Entwicklungsgeschichte des Idio-
plasmas und aus ihrer Beziehung zur jeweiligen ontogenetischen
Entfaltung ergeben sich die verschiedenen phylogenetischen Ent-
wicklungsgesetze, wie sie mittels einer Vergieichung der entfalteten
Organismen beurtheilt und abgeleitet wurden. Dieselben bestehen im
allgemeinen darin , dass die den Ontogenien angehörenden Tlieile,
welche auf den früheren Stufen zeitlich und räumlich sich ganz
oder theil weise trennten, auf den sj^äteren Stufen sich vereinigen
und in dauernde Beziehung zu einander treten (Ges. I — IV), während
zugleich Lebens Vorgänge, die früher in jedem der getrennten Theile
beisammen waren, nun in den zu einem Ganzen vereinigten Theilen
aus einander gelegt werden (Differenzirung VI). Ferner erfolgen
unter der Einwirkung des umgeänderten und complicirter gewor-
422 ^'11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
denen Idioplasmas andere chemische und plastische Processe (VI).
Das Auftreten dieser neuen Processe und des eigentlichen Differen-
zirungsactes selber verursachen eine Verlängerung des betreffenden
ontogenetischen Abschnittes (Ampliation V), während andere Ab-
schnitte der Ontogenie, in denen die Differenzirung vollendet ist,
durch Unterdrückung von Zwischenbildungen auf das qualitativ
Verschiedene reducirt werden , so dass die Gegensätze schärfer her-
vor und einander näher treten (VII).
Ob nun der phylogenetische Fortschritt auf jeder Stufe in der
einen oder anderen Weise erfolge, muss einmal von der ganzen
vorausgehenden phylogenetischen Bewegung und somit von der Be-
schaffenheit der Ontogenie abhängen. Er kann aber auch von den
äusseren Einflüssen bedingt werden, welche nicht nur bestimmte
Anpassungen verursachen, sondern ohne Zweifel auch in vielen
Fällen bestimmen, w^elche von den inneren Ursachen des phylo-
genetischen Fortschritts die Oberhand gewinnen. In dieser Be-
ziehung dürften sich die Phylogenien gerade so verhalten, wie die
Ontogenien. Die letzteren entfalten mit unbedingter Noth wendigkeit
eine gewisse Summe von Anlagen, während es von den äusseren
Ursachen (Nahrung, Feuchtigkeit, Licht, Wärme, Schwerkraft) ab-
hängt, ob und welche von gewissen anderen Anlagen zur Entfaltung
gelangen. So muss es in der Phylogenie bestimmte Entwicklungen
des Idioplasmas geben, welche unbedingt durch die bisherige phylo-
genetische Bewegung bewirkt werden, während in Fällen, wo die
inneren Ursachen fast mit gleicher Energie zw^ei verschiedene Ent-
wickhmgsvorgänge anstreben, die von aussen kommenden Reize
den Ausschlag geben. Man muss also annehmen, dass, während
in den einen Fällen die äusseren Einflüsse sich indifferent verhalten
und eine Pflanzensippe sich überall in der nämlichen Weise fortbildet,
in anderen Fällen die Abkömmlinge der nämlichen Sippe in einem
warmen und einem kalten Klima, im Wasser und auf dem Lande,
abgesehen von der ungleichen Anpassung, auch eine verschiedene
phylogenetische Entwicklung durch innere Kräfte erfahren können.
Aus dem Zusammenwirken der verschiedenen phylogenetischen
Processe erklären sich nicht nur alle einzelnen Erscheinungen, aus
denen die Ontogenien zusammengesetzt sind, sondern es stellen sich
auch die Ontogenien als Totalerscheinungen und ihr Wechsel in
der Generationenfolge als eine nothwendige Folge jener Processe dar.
VII. Phylogenetisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 423
Um hier einen Hauptpunkt hervorzuheben, so möchte es uns, wenn
wir die Individuen für sich Ijetrachten, als ein fast unlösbares Räthsel
vorkommen, warum dieselben bis zu einer bestimmten Grösse heran-
wachsen und nach einer bestimmten Dauer mit Ausnahme der win-
zigen Keime, die sie abgesondert haben, zu Grunde gehen.
Dies kann uns um so räthselhafter erscheinen, da die einfachsten
Organismen in der genannten Beziehung sich anders verhalten.
Wcährend fast die ganze Substanz der höheren Pflanzen und Thiere
nothwendig abstirbt, muss von der Substanz der niedrigsten Lebe-
wesen mit Nothwendigkeit gar nichts absterben. Dies ist der Fall
l)ui den meisten einzelligen und bei einigen mehrzelligen Pflanzen.
Eine Chroococcus- oder Micrococcuszelle , die für sich ein selbstän-
diges Individuum bildet, theilt sich in 2 Zellen, die sich wieder in
gleicher Weise theilen. Von Substanz geht bei dieser Fortpflanzung
nichts verloren, da die beiden Kinder sich stets in die ganze Sub-
stanz und Leljensfähigkeit ihres Elters theilen. Alles Absterben ist
hier ein zufälliges, durch die Ungunst der äusseren Verhältnisse
bedingtes , wobei nicht Theile der Individuen , sondern die ganzen
Individuen zu Grunde gehen. — Mit den genannten Gattungen der
Schizophyten stimmen die meisten einzelligen Gewächse überein,
indem die bei ihnen mögliche zeitliche Diff erenzhung , welche die
successiven Generationen ungleich macht und den Generations-
wechsel bedingt, die volle Existenzfähigkeit und Fortpflanzungs-
fähigkeit jeder einzelnen Generation nicht beeinträchtigt. Die räum-
liche Differenzirung al^er, welche die Zellen der nämlichen Generation
ungleich macht , bringt bei den einzelligen Organismen bloss ge-
schlechtlich geschiedene Individuen hervor, welche an dem Be-
fruchtungsprocess mit ihrer ganzen Plasmasubstanz sich betheiligen,
so dass also auch bei der geschlechtlichen Fortpflanzung ausser den
mnhüUenden nichtplasmatischen Substanzen nichts zu Verlust geht.
Ein anderes Ergebniss hat die räumliche Differenzirung, nachdem
durch andere phylogenetische Vorgänge aus den einzelligen mehr-
zellige Organismen geworden sind, indem nun die verschiedenen
Functionen auf die verschiedenen Zellen sich vertheilt haben. Für
die vorliegende Frage kommt nur Eine Scheidmig in Betracht, die-
jenige nämlich in Zollen, welche die Fortpflanzung übernehmen,
und in solche, welche die mannigfaltigen anderen Verrichtungen
zur Erhaltung des Individuums besorgen. Schon bei den einzelligen
424 VII. Phylogeuetisclie Eutwk'klinigsgL'setze des niaiizenrt'iches.
Pflanzen kommt eine analoge zeitliche Differenzirung vor, nämlich
zwischen den übrigen Generationen und der Sporengeneration; alier
hier haben alle Individuen (Zellen) zur Ix'stimmten Zeit das Ver-
mögen, in den Sporenzustand überzugehen. Bei den mehrzelligen
Pflanzen wird die Differenzirung eine räumliche , und von vielen
Zellen werden nur einzelne Zellen zu Sporen.
Auf der untersten Stufe der mehrzelligen Pflanzen unterscheiden
sich die zu Ruhesporen werdenden Zellen bloss durch die Fälligkeit,
während der Vegetationsruhe (resp. während des Winters) auszu-
dauern, indess die übrigen Zellen zu Grunde gehen. Die Dilferen-
zirung hat hier durch die Anpassung ihren bestimmten Charakter
erhalten; das Individuum stirl:)t mit Noth wendigkeit in seiner grösseren
Partie ab. Bei der weiteren j)hylogenetischen Entwicklung wird,
wie dies stets eintritt, die Anpassungsanlage selbständig und von
der Anpassungsursache unabhängig. Sie kann sich nun zu jeder
Zeit entfalten und ist in dieser Beziehung nicht mehr an das Ende
der Vegetationszeit gebunden. Zunächst findet Ruhesporenbildung
mehrmals während einer Vegetationsperiode statt, so dass mehrere
Ontogenien während eines Jahres auf einander folgen und die
Sporen der letzten Ontogenie überwintern. Auf höheren phylo-
genetischen Stufen dagegen gelangt häufig das Individuum erst nach
mehreren Jahren zur Sporenbildung, so dass die Ontogenie einen
grösseren Zeitraum in Anspruch nimmt.
Obgleich aber die Differenzirung in absterbende Zellen und in
solche, welche w^ährend der Vegetationsruhe lebensfähig bleiben,
ursprünglich eine Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten war,
so behält sie, nachdem sie von den äusseren Einflüssen unabhängig
geworden, doch mit Nothwendiglceit durch Beharrung (Vererbung)
ihren vollständigen Charakter, w^elcher im Gegensatze der beiden
Zellenarten besteht, bei. Mit der Sporenbildung oder allgemein mit
der Fortpflanzung geht naturgemäss der übrige Theil des Indi-
viduums zu Grunde. Vermöge weiterer phylogenetischer Fortschritte
geschieht es dann, dass die Individuen nicht mehr in Folge der
Fortpflanzung sofort absterben, sondern dass sie wiederholt sich
fortpflanzen können; aber die beschränkte Dauer ihrer Existenz ist
ihnen nothwendig als Erbtheil geblieben.
Die genaue Erörterung der phylogenetischen Ursachen zeigt
uns also, dass von allen Zeilgenerationenreihen, in die ein Orga-
VII. Ph}-li;)gfnetische Entwifklungsgesetze des rHaiizenreiches. 425
nisnius sich gliedert, die meisten mit Notliwendigkeit einem dm"ch
die Differenzirung gesetzten Ende verfallen siiid , während einige
wenige das Vermögen hesitzen, sieh unbegrenzt zu verlängern, indem
sie periodisch sich durch den Zustand von Fortpflanzungszellen er-
neuern. Mit anderen Worten, die Organismen sterben nach einer
bestimmten Lebensdauer und bleiben nur in den von ihnen er-
zeugten Keimen lebensfähig.
VIII.
Der Generationswechsel in ontogenetischer nnd phylo-
genetischer Beziehung.
Das Pflaiizenruich beginnt mit Zellen ; es niiiss daher für die
Betraclitiing der phylogenetischen Entwicklung, insofern dieselbe als
Generationenfolge anfgefasst wird, die Zelle als die einfachste uns
bekannte selbständige Einheit zu Grunde gelegt werden. Die nie-
dersten Pflanzen sind Zellen , die wdeder ganz gleiche Zellen er-
zeugen; alle Generationen sind einander gleich, und die Kenntniss
einer Generation genügt zur vollständigen Erkenntniss der Pflanze.
Sowie die Zellgenerationen ungleich werden und somit ein Zell-
generationswechsel eintritt, bedarf es zu dieser Erkenntniss nunmehr
der Kenntniss eines ganzen Cyclus von Generationen, nämlich der
Reihenfolge von einer Zelle bis zur Wiederkehr einer ganz gleichen
Zelle. Dieser Cyclus von Zellgenerationen ist das Element für die
Vergieichung der Organismen und als ontogenetisc he Periode^)
zu bezeichnen.
Die ontogenetische Periode umfasst also den Abschnitt der
phylogenetischen Entwicklungsl^ewegung zwischen je zwei gleichen
^) Ich habe diesen Begriff früher (Systeinat. Uel)ersicht der Erscheinungen
im Pflanzenreich. 1853) , um einen neuen Namen zu vermeiden , in weniger
passender Weise als »Artperiode« bezeichnet. Die von Häckel eingeführten
Worte »Ontogenie« und »Phylogenie« drücken die für die Abstammungslehre
allgemeinsten Begriffe sehr gut aus, wenn unter Ontogenie nicht die Geschichte
des Inchviduunis, sondern der sich wiederholende Cyclus, mag er aus einem oder
aus vielen Individuen bestehen, verstanden Avird.
^TH. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. 427
Punkten. Sie nimmt in den Abstammungsreihen an Lcänge, d. h.
an Zahl der Zellgenerationen, im allgemeinen immer mehr zu. Die
letzteren können entweder, iiachdem sie sich gebildet haben, sich
von einander trennen und einzellige Individuen darstellen, — oder
sie können partienweise vereinigt bleiben, sodass die Ontogenie aus
einer Anzahl mehrzelliger Individuen, häufig auch aus mehrzelligen
und einzelligen Individuen besteht, — oder endlich sie können alle
zu einem einzigen, die ganze Ontogenie ausfüllenden Individuum
verbunden sein. Im letzteren Falle sind die auf einander folgenden
Individuen einander gleich; in den beiden ersten Fällen sind sie
noth wendig ungleich und es besteht Generationswechsel im
gewöhnlichen Sinne.
Für die Darstellung und Beurtheilung des Generationswechsels
kommt es darauf an, welchen Umfang man dem Pflanzenindividuum
gibt. Wird beispielsweise, entsprechend der ^^orstellung mancher
Morphologen, der einzelne Spross als das Individuum der höheren
Pflanzen angesehen, so folgt an einem Baum eine ganze Menge
Generationen auf einander, während derselbe nach der gewöhnlichen
Ansicht ein einziges Individuum und somit eine Generation darstellt.
Doch ist diese Verschiedenheit der Anschauung von geringerem
Belang; es hat mehr eine formelle Bedeutung, ob wir eine Folge
von individuellen Bildungen als ebenso viele Pflanzenindividuen
oder als Theile eines einzigen Individuums, dem dann der Name
Pflanzenstock beigelegt wdrd, ansehen. Dagegen ist es von Wichtig-
keit, dass dem Begriff des Individuums und somit auch dem Gene-
rationswechsel , so weit es möglich ist, eine gleiche Ausdehnung
gegeben werde, — und von noch grösserer Wichtigkeit, dass für
den Generationswechsel und somit für die ontogenetische Periode
der nämliche Ausgangspunkt gewählt werde, weil nur dadurch die
verschiedenen Stufen der phylogenetischen Reihen sich richtig mit
einander vergleichen lassen.
Da die grosse Mehrzahl der Pflanzen geschlechtlich differenzirt
ist und auf eine ontogenetische Periode bloss einmal geschlecht-
liche Befruchtung trifft, so wechselt eine Geschlechtsgeiieration mit
einer oder mit vielen geschlechtslosen Generationen. Da ferner der
geschlechtliche Befruchtungsact die Grenze zwischen zwei auf einander
folgenden Individuen oder Generationen l)ildet, so ist es naturgemäss,
denselben als Grenzstein zwischen den Cyclen des Generationswechsels
428 VUI. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung.
ZU setzen. Da endlich die Geschlechtszellen phylogenetisch auf die
geschlechtslosen Zellen folgen und aus densell^en durch Differen-
zirung entstehen, so muss die Ihldung der Geschlechtszellen an das
Ende des Generation encyclus oder der ontogenetischen Periode ge-
setzt werden.
Die ungleichen Generationen, welche den Generationswechsel
verursachen, sind entweder in Einzahl vorhanden, sodass 2 oder
3 ungleichartige Individuen regelmässig mit einander abwechseln,
oder eine der Generationen wiederholt sich eine unhestimmte Zahl
von Malen in der nämlichen Weise ; der Generationencyclus besteht
dann aus einer Reihe von Wiederholungs gener ationen und
einer Einzelgeneration, von denen die letztere l)ei Vorhandensein von
Geschlechtsdifferenz entweder durch die männlichen und weiblichen
Zellen allein dargestellt wird oder mit denselben beginnt. Meistens
sind auch die der Geschlechtsgeneration oder der androgynen
Generation, wie ich sie zur Vermeidung von Missverständnissen
nennen wdll, vorausgehenden und nachfolgenden Einzelgenerationcn
von den Wiederholungsgenerationen verschieden.
Ehe ich auf die phylogenetische Bedeutung des Generations-
wechsels eintrete, will ich einige Beispiele betrachten, an denen die
Folge der Generationen sicher und deutlich ist. Ich wähle sie vor-
zugsweise aus den niederen Stufen des Pflanzenreiches, weil hier ein
Irrthum in der Beurtheilung am ehesten ausgeschlossen ist.
Die einfachsten uns bekannten Pflanzen sind die Schizophyten,
denen die geschlechtliche Diiferenzirung noch mangelt. Unter den
einzelligen Schizophyten gibt es solche ohne Generationswechsel;
die auf einander folgenden Generationen sind einander ganz gleich,
nicht bloss in der Beschaffenheit der Zellen, sondern auch darin,
dass die Zelltheilung , wodurch je zwei neue Individuen erzeugt
werden, in der nämlichen Richtung stattfindet; beim Aufhören der
Vegetation dauern die Individuen unverändert bis zum Beginn der
nächsten Vegetationsperiode aus (Gloeothece, Synechococcus, Micro-
coccus; Fig. 22 a, b auf S. 401). — Andere haben einen einmaligen
oder zweimaligen Generationswechsel, je nachdem die Theilungs-
richtung regelmässig in 2 oder in 3 Richtungen des Raumes wechselt.
Bei einmaligem Wechsel sind je die geraden und je die ungeraden
VIII. Der Generationswcclisel in ontogenet. und ])liylogenot. Beziehung. 429
Generationen (also n — 2, n und n -\- 2) einander gleich (Mcrismo-
pedia, Fig. 22 c — g auf S. 401); bei zweimaligem Wechsel stimmt
je die w*® Generation mit der n — o^'^" und mit der n -j- 3*^° überein
(Chroococcus , Gloeocaj)sa). Auch bei diesen tritt eine Veränderung
der Individuen beim Uebergang in die Vegetationsruhe meist nicht ein.
Nehmen aber am Ende einer A-'egetationsperiode die Zellen der
letzten Generation den Charakter von Sporen an, indem sie den
Inhalt verdichten und die Zellmembran stärker und fester machen,
wie dies bei Gloeocapsa und Bacterium vorkommt, so folgt auf eine
Reihe von Wiederholungsgenerationen die einzelne geschlechtslose
Sporengeneration, mit welcher der ontogenetische Cyclus abschliesst.
Die Reihe der Wiederholungsgenerationen gliedert sich, wenn die
Theilungsrichtung in 2 oder in 3 Richtungen des Raumes abwechselt,
in 2 oder 3 zählige Perioden.
Die mehrzelligen Schizophyten sind fast ausschliesslich ein-
reihige Fäden. Diese Individuen vermehren sich durch Theilung,
indem die Theilungsstellen durch Grenzzellen (S. 419) bestimmt
werden , oder indem der Faden auch ohne Grenzzellenbildung in
kurze Stücke (Hormogonien) zerfällt. Bei den einen tritt keine
weitere Erscheinung auf, indem sie unverändert die Zeit des Vege-
tationsunterbruches überdauern ; hier mangelt ein Generationswechsel
(Oscillaria). Bei den andern bildet die letzte Generation einer Vege-
tationsjDeriode Ruhesporen, indem eine grössere oder kleinere Zahl
von Zellen sich vergrössert, die Wandung verdickt und sich mit
dichtem Inhalte anfüllt ; hier folgt auf eine Reihe von Wiederholungs-
generationen eine einzelne sporenbildende Generation (Cylindro-
spermum, Rivularia).
Während bei den geschlechtslosen Pflanzen die einzelne Sporen-
generation einer Reihe von ganz gleichen Wiederholungsgenerationen
gegenübersteht, weichen bei den geschlechtlichen Pflanzen, welche
einen Generationswechsel mit Wiederholungsgenerationen haben, die
erste und letzte der ungeschlechtlichen Generationen mehr oder
weniger von den übrigen ab. Bei diesen Pflanzen gilt folgendes
Schema für die Folge der Generationen eines ontogcnetischen Cyclus :
Ä B,...B„ G D,
wenn mit Bi . . . B„ die Wiederholungsgenerationen , mit C die
geschlechtserzeugende (gamotoke), mit D die androgyne und mit Ä
die geschlechtserzeugte (gamogene) Generation bezeichnet wird.
430 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Bezieliung.
Bezüglich des Umfanges der androgynen Generation könnte
man verschiedener Meinung sein. Am deutUchsten stellen sich die
zwei möglichen Ansichten bei den einzelligen Pflanzen heraus. Ent-
weder betrachtet man die männliche und weibliche Zelle und ihr
Vereinigungsproduct, die befruchtete Eizelle (Zygote), als eine einzige
oder als zwei Generationen. Das erstere erscheint mir als das natur-
gemässe; denn der Befruchtungsact ist doch eigentlich keine Fort-
j)flanzung. Es widerstrebt dem natürlichen Gefühl, die weibliclie
Zelle vor und nach der Befruchtung als zwei verschiedene Gene-
rationen zu bezeichnen und somit auch anzunehmen, dass bei der
Parthenogenesis eine Generation ausfalle. Lässt man die Geschlechts-
zellen und ihre Zygoten als Eine Generation gelten, so muss man
doch zwei Stadien derselben unterscheiden : die androgyne Generation
als getrennte männliche und weibliche Zellen (D') und dieselbe nach
der Verschmelzung dieser Zellen (D"). Damit ist jedem Bedürfniss
Genüge geleistet und zugleich die Analogie mit den anderen Gene-
rationen gewahrt.
Als Beispiel der niedrigsten Geschlechtspflanzen mag zunächst
Chlamydomonas pulvisculus dienen. Die Wiederholungsgenerationen
(jBi . . . B„) sind einzellige Pflänzchen , welche zeitlebens als zwei-
wimprige, mit einer Membran umhüllte Schwärmzellen herum-
schwimmen, und durch wiederholte Zweitheilung mehrere Kinder
erzeugen. Darauf folgt eine Generation, die letzte der ungeschlecht-
lichen (C), deren Individuen sich ungleich verhalten. Die einen
erzeugen nämlich 2 bis 4 grössere weibliche, die andern erzeugen
8 kleinere männliche Schwärmzellen. Von der Geschlechtsgeneration
(D') legen sich je eine männliche und eine weibliche Pflanze mit
ihren Wimperenden an einander an, verwachsen daselbst, indem sie
ihre Wimpern verlieren, und nach Resorption der Zellmembran an
der Verwachsungsstelle wandert der Inhalt der männlichen Zelle in
die Höhlung der weiblichen Zelle über, worauf aus den vereinigten
beiden Zellinhalten die Zygospore entsteht {!)"). Aus der letzteren
werden nach der Ruhezeit mehrere Schwärmzellen gebildet; es ist
dies die geschlechtserzeugte Generation {Ä). — Die beiden Genera-
tionen C und A unterscheiden sich bei Chlamydomonas äusserlich noch
nicht wesentlich von den Wiederholungsgenerationen Bi . . . B„; man
erkennt die erstere daran, dass sie ein andersartiges Zeugungsvermögen,
die letztere daran, dass sie einen andersartigen Ursprung besitzt.
VIII. Der Genorationswechsel in ontogenet. und jjhylogenet. Beziehung. 43l
Bei der verwandten einzelligen Alge Pandorina morum sind die
zweiw^mprigen Individuen der Wiederholungsgenerationen zu IG bis
04 in schwärmende kugelige Colonien vereinigt. Bei der Fortpflanzung
entstehen durch wiederholte Theilung des Inhaltes aus den einzelnen
Zellen eben so viele kugelige Colonien, die sich von einander trennen
(jB, . . . B„). Die letzte ungeschlechtliche Generation (C) unterscheidet
sich auch hier von den vorausgehenden Wiederholungsgenerationen
nur durch das Product ; ihre Individuen erzeugen nämlich geschlecht-
lich differenzirte, bloss 8 zellige Colonien. Von diesen Colonien der
androgynen Generation (D) sind die einen männlich , die andern
weiblich, ohne übrigens sich äusserlich sonst von einander zu unter-
scheiden. Sie zerfallen schon im jugendlichen Zustande in die ein-
zelnen Zellen , welche schwärmen und sich, je eine männliche und
eine weibliche, vereinigen um eine kugelige Zygospore zu bilden. Nach
der Ruhezeit erzeugt die Zygospore 1 — 3 grössere Schwärmzellen,
welche die erste ungeschlechtliche Generation darstellen {Ä) und
durch wiederholte Theilung in 16 Zellen die erste Wiederholungs-
generation (jBi) hervorbringen.
Die androgyne Generation von Pandorina durchläuft 3 Zustände :
im ersten sind die Geschlechtszellen zu männlichen und weiblichen
Colonien verbunden, im zweiten schw^ärmen sie einzeln, im dritten
sind sie zu Zygosporen verschmolzen. Die zwei ersten Stadien werden
auch als zwei Generationen betrachtet, indem man sagt, dass die
Zellen der Colonie je ein geschlechtliches Individuum erzeugen, —
eine Vorstellung, die mir bei Vergleichung mit andern verwandten
Pflanzen nicht gerechtfertigt erscheint.
Das Wassernetz (Hj'drodictyon) verhält sich bezüglich der Gene-
rationenfolge im Wesentlichen ebenso wie Pandorina. Die cylin-
drischen Zellen der Wiederholungsgenerationen sind in grosser Zahl
zu weitmaschigen geschlossenen Netzen verwachsen. Die Fortpflanzung
geschieht dadurch , dass in jeder Zelle des Netzes durch simultane
Theilung des Inhaltes bis zu 20 000 Zellen entstehen, w'elche inner-
halb der Membran ihrer Elterzelle schwärmen und sich dann zu
einem Netz vereinigen , das , nachdem es frei geworden , sich stark
vergrössert. Die geschlechtserzeugende Generation (C) bildet viel
zahlreichere männliche und weibliche Zellen (bis zu 100 000), welche
sich nicht zu einem Netz zusammenordnen, sondern einzeln schwär-
men, dann zu 2 oder auch zu mehreren mit einander verschmelzen
432 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung.
lind ruhende kugelige Zygosi3oren darstellen. Beim Wiederbeginn
der Vegetation erzeugt jede Spore einige wenige grosse Schwärmzellen,
welche nach kurzer Zeit zur Ruhe gelangen und eine polyedrische
Gestalt annehmen [Ä); aus ihnen entstehen die noch rudimentären
Netze der ersten Wiederholungsgeneration (Ui).
Bei den der Gattung Pandorina nahe stehenden Gattungen Eu-
dorina und Volvox zeigt der Generationswechsel eine bemerkens-
werthe Verschiedenheit zwischen der männlichen und der weiblichen
GeschlechtssiDhäre. In der letzteren wird nämlich eine Generation
unterdrückt, indem die Zellen, welche sonst die geschlechtserzeugende
Generation (C) darstellen, ungetheilt bleiben und zu weiblichen
Geschlechtszellen (Eizellen) werden. In der männlichen Geschlechts-
s})häre dagegen erzeugt jede Zelle der Generation C durch wieder-
holte Theilung eine Mehrzahl von männlichen einzelligen Individuen
(Spermatozoiden). Diese Verschiedenheit stimmt mit der bekannten
Erscheinung der mehrzelligen Pflanzen überein, dass in der männ-
lichen Geschlechtssphäre eine grössere Zahl von Zellgenerationen
durchlaufen wird als in der weiblichen; nur gibt sie sich hier bei
den einzelligen Pflanzen als eine Verschiedenheit in dem Wechsel
der Individuen kund. — Aus dem Verhalten von Eudorina und
Volvox ergibt sich übrigens aucli für den Generationswechsel der
einzelligen Pflanzen die Nothwendigkeit , die geschlechtserzeugende
Generation C von den Wiederholungsgenerationen (B^ . . . B„) zu
trennen.
Gehen wir von den einzelligen zu den vielzelligen Geschlechts-
j^flanzen über, so finden wir in der Algengattung Ulothrix ein höchst
einfaches Vergieichsobject. Die Wiederholungsgenerationen, die im
Herbst und Winter leben, sind un verzweigte einfache Zellreihen
(gegliederte Wasserfäden). Dieselben pflanzen sich durch 4wimprige,
nackte Schwärmsporen , welche meistens zu 4 in den Gliedern des
Fadens entstehen, fort. Die geschlechtserzeugende Generation (C)
gleicht vollkommen den Wiederholungsgenerationen, aber sie bildet
in ihren Zellen zahlreichere kleine Schwärmzellen, welche geschlecht-
lich differenzirt sind und sich je 2 oder auch je 3 zu einer ZygosjDore
vereinigen (D). Letztere dauert den Sommer über aus und erzeugt
im Herbst mehrere Schwärmsporen, welche den Anfang der geschlechts-
VIII. Der GciiorationswerliRol in ontoo;enct. nml iiliylogenot. Boziclmnir. 4;>3
erzeugten Generation (^) darstellen und wahrscheinlich in ilu*er weiteren
Entwicklung sich analog den Wiederholungsgenerationen verhalten. —
Bei Ulothrix unterscheidet sich also die androgyne Generation von
allen andern Generationen dadurch, dass sie einzellig ist. Das Schema
der Generationen, die zu einer Ontogenie gehören, ist das nämliche
wie das oben (S. 429) für eine Gruppe von einzelligen Pflanzen
aufgestellte
Ä B,...B„ C D.
Bei Oedogonium, für welche Gattung das nämliche Schema gilt,
sind die Wiederholungsgenerationen {B^ . . . B,) ebenfalls unverzw^eigte
Zellreihen. Aus den Gliedern dieser Wasserfäden tritt je der ganze
Zelleninhalt als nackte, mit einem Kranz von Wimpern versehene
Schwärmspore heraus, welche sich sofort zu einem Wasserfaden ent-
wickelt. Die letzte oder die geschlechtserzeugende Generation (C)
besitzt zwei neue Organe, die durch Diiferenzirung aus den Schwärm-
sporen-bildenden Gliedern hervorgegangen sind. Einzelne bestimmte
Gliederzellen sind angeschwollen (üogonien) ; ihr Inhalt zieht sich
etwas zusammen und stellt die Eizelle dar ; seine der sich bildenden
Oeffnung zugekehrte Seite ist der farblose Keimfleck. Einzelne höher
gelegene, ebenfalls bestimmte Glieder des Fadens (wenn die Pflanzen
monöcisch sind) theilen sich in w^enige kürzere Zellen , welche je
ihren ganzen Inhalt als kleines bewegliches, ebenfalls einen Wimper-
kranz tragendes Zellchen heraustreten lassen. Dies sind die Sperma-
tozoide, welche durch die Oeffnung der Oogonien zu der Eizelle
hineinschwimmen und mit dem Keimfleck verschmelzen. Die be-
fruchtete Eizelle (D") wird durch Bildung einer Membran zur Oospore,
welche nach einer Ruheperiode 4 Schwärmsporen erzeugt, aus denen
wieder gegliederte Wasserfäden {A) sich entwickeln.
Oedogonium stimmt mit Ulothrix in der Einzelligkeit der andro.
gynen Generation und im ganzen Verhalten des Generationsweclisels
überein, unterscheidet sich aber von der letzteren Gattung durch
die weitgediehene Ungleichheit der geschlechtlich differenzirten Zellen
und darin, dass die geschlechtserzeugende Generation auch äusser-
lich von den Wiederholungsgenerationen abweicht, nämlich durch
die angesch-woUenen Oogonienglieder und die kurzen Antheridien-
glieder. Die androgyne Generation tritt weniger deutlich als beson-
dere Generation hervor, weil die weil)lich('n Zollen (Eizellen) sicli
nicht von der Elterptianze lostrennen.
V. Nägeli, Abstammungslehre, 28
434 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung.
Man nennt die gesehlechtserzeiigende Generation von Oedogonium
die Geschleclitsgeneration, und dies ist insofern ganz richtig, als sie
die Geschlechtsorgane trägt. Damit begeht man aber unwillkürlich
eine Inconsequenz gegenüber dem Verfahren bei den einzelligen
Pflanzen, wo die männlichen und weiblichen einzelhgen Individuen
unbestritten die Geschlechtsgeneration darstellen. Die allgemein als
Geschlechtspflanzen bezeichneten Fäden von Oedogonium und an-
deren Algen sind eigentlich nur die geschlechtserzeugenden Individuen,
und erst die einzellige androgyne Generation ist in Wirklichkeit die
Geschleclitsgeneration. Um aber Missverständnisse zu verhüten, habe
ich sie die androgjaie Generation genannt, und diesen Ausdruck
gewählt, um zugleich den Unterschied von dem Begriffe gynandrisch
anzudeuten. Was ich soeben bezüglich einiger fadenförmiger Algen
gesagt habe , gilt auch für alle übrigen vielzelligen Pflanzen mit
Geschlechtsdifferenz ; bei denselben sind die sogenannten geschlecht-
lichen Individuen stets die geschlechtserzeugenden und erst ihre
Kindindividuen stellen die androgyne Generation dar.
Eine Grujij^e von Oedogonium zeichnet sich dadurch aus, dass
in der männlichen Geschlechtssphäre eine Generation eingeschaltet
wird. Die geschlechtserzeugende Generation bildet ihre Oogonien und
Eizellen ganz Inder vorhin angegebenen Weise; aber statt derSperma-
tozoide bringt sie männliche Schwärmsporen (Androsporen) hervor,
welche in der Grösse die Mitte halten zwischen den ungeschlecht-
lichen Schwärmsporen und den Spermatozoiden. Aus denselben ent-
stehen Zwergmännchen, die meistens aus zwei Zellen bestehen, von
denen die obere zum mehrgliedrigen Antheridium wird und Sper-
matozoide erzeugt. Diese eingeschaltete Generation gehört nicht dem
gemeinsamen Generationswechsel an, sondern ist als eine phylo-
genetische Bereicherung der männlichen Geschlechtssphäre zu be-
trachten. Sie kann auf einer folgenden phylogenetischen Stufe
dadurch, dass die Androsporen sich nicht lostrennen, sondern als
Gewebezellen mit dem elterlichen Individuum verbunden bleiben, zum
zusammengesetzten männlichen Geschlechtsorgan werden.
Das Thallom von Vaucheria ist in allen Generationen eine
röhrenförmige (nicht septirte) verzweigte Zelle. Die Wiederholungs-
generationen {Bi . . . B„) lassen aus den keulenförmig angeschwollenen
Enden der Schläuche je eine grosse, an der ganzen Oberfläche kurz-
bewimperte Schwärmspore heraustreten, die nach kurzer Zeit keimt.
Vin. Der Generationswechsel in ontogenct. und phylogenet. Bezielmng. 435
Die gesclileclitserzeugende Generation (C) bildet in kleinen Seiten-
zweigen die Geschlechtszellen, und zwar in dünnern gebogenen
Antheridienzweigen mehrere sehr kleine zweiwiniprige Spermatozoide,
in den bauchigen Oogonienzweigen je eine nicht heraustretende Ei-
zelle, welche nach der Befruchtung zur Oospore (D") wird. Die nach
einer Ruhezeit keimende Oospore wächst zu einer verzweigten
Schlauch zelle aus.
Vaucheria unterscheidet sich in ihrem Generationswechsel da-
durch von den bis jetzt angeführten Wasserfäden, dass sie nur 3 ver-
schiedenartige Generationen besitzt: 1) die Wiederholungsgenerationen
{Bi . . . B,^, 2) die gesclileclitserzeugende Generation (C), w^elche sich
von jenen auch morphologisch durch den Geschlechtsapparat unter-
scheidet, und 3) eine Generation, welche in drei verschiedenen Stadien
auftritt, nämlich zuerst als Eizelle und als Sj)erniatozoid (D'), dann
als Ooospore {D") und zuletzt als röhrenförmiges Tliallom. Es sind
also hier die androgyne Generation (D) und die geschlechtserzeugte
Generation {Ä) in eine einzige vereinigt ; der ontogenetische Cyclus
zeigt folgendes Schema
B,... B„ C (D + A).
Man kann die letzte Generation {D -f- -4) bei A'^aucheria nicht in
zwei trennen ; denn es würde zu ganz unannehmbaren Consequenzen
führen, wenn man die Spore und ihr Keimproduct als zwei Indi-
viduen betrachten wollte. Andrerseits ist es ebenso unmöglich, die
Ruliespore von Oedogonium und von Ulothrix sammt ihren Keim-
producten als eine einzige Generation anzusehen, da aus einer Spore
mehrere Individuen hervorgehen.
Als Beispiel einer Alge, bei welcher der Generationswechsel noch
mehr reducirt ist, führe ich Acetabularia an. Diese Pflanze hat ein
röhriges Thallom mit einem Quirl von Aesteii, die zu einer schirm-
förmigen Scheibe verwachsen sind. In den Strahlen des Schirms
bilden sich zahlreiche Ruhesporen auf ungeschlechtlichem Wege.
Dieselben lassen nach einigen Monaten zahlreiche zweiMdmprige
Schwärmsporen heraustreten, welche geschlechtlich differenzirt und
je nach den Pflanzen, von denen die Ruhesjioren herstammen, männ-
lich oder weiblich sind. Aus der Verschmelzung je zweier oder auch
mehrerer dieser Geschlechtszellen entstehen Zygosporen, welche nach
mehrmonatlicher Ruhe keimen und kleine Pflänzchen bilden. Von
2ö*
436 VIII. Der Gencrationsweclisel in ontogenet. und phylogenet. Bezieluing.
denselben überwintert der basale Theil, der, in den folgenden Jahren
stärker werdend, auch an Stärke zunehmende Triebe hervorbringt,
bis dieselben zur fortpflanzungsfähigen Schirmpflanze geworden sind.
Acetabularia hat also nur zweierlei Generationen, die beide sich
nicht wiederholen. Die ungeschlechtlich entstandenen Ruhesporen
stellen die kurzlebige geschlechtserzeugende Generation (C) dar. Die
langlebige Generation durchläuft eine Reihe von Stadien, deren erstes
die männlichen und weiblichen Schwärmsporen, das zweite die Zygo-
sporen , die übrigen aber die auf einander . folgenden Jahrestriebe
sind. Vergleichen wir Acetabularia mit dem Schema des Generationen-
cyclus, wie es für Chlamydomonas, Pandorina, Ulothrix, Oedogonium
gilt, so entsj)richt die langlebige Generation in ihren Stadien zugleich
der androgynen (D), der geschlechtserzeugten (Ä) und der ganzen
Reihe von Wiederholungsgenerationen {Bi . . . B„) , so dass also das
Schema der ontogenetischen Periode von Acetabularia sich also
darstellt
C (D + A + ^i • . • ^»)-
Bei vielen höheren Algen mangelt der Generationswechsel ganz,
lieh, so dass hier die getrennten Generationen der niederen Algen
bloss noch mehr oder weniger deutlich als Entwicklungsstadien des
nämlichen Individuums zu erkennen sind. Als Beispiele sind zu
nennen Ectocarpus, Fucus, Ohara.
Auch die Zygnemaceen haben keinen Generationswechsel. Aus
der Zygospore entsteht eine unverzweigte Zellreihe (gegliederter
Wasserfaden), welche zufällig in mehrere Fäden zerfallen kann und
deren Zellen durch Conjugation Zygosporen bilden. — Die nahe
verwandte Ordnung der Desmidiaceen dagegen, welche einzellig ist,
besitzt Generationswechsel. Die Wiederholungsgenerationen ver-
mehren sich durch Zelltheilung. Die letzten durch Theilmig ent-
standenen Individuen bilden Zygosporen, in welchen nach der
Ruhezeit wieder Zelltheilung beginnt. Das erste Product derselben
ist die geschlechtserzeugte Generation, die sich durch einfacher ge-
baute Zellen von den darauffolgenden Wiederholungsgenerationen
unterscheiden. Der Generationswechsel der Desmidiaceen stimmt also
mit demjenigen anderer geschlechtlich differenzirter einzelliger Algen
überein , nur mit dem Unterschiede , dass hier die androgyne Gene-
ration vor dem Conjugations- und Befruchtungsprocess vollkommen
den Wiederholungsgenerationen gleicht, und dass somit auch die
^TII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phj'logenet. Beziehung. 4o7
vorausgehende geschlechtserzeugende Generation nicht unterscliieden
werden kann.
Bei den Moosen nimmt man jetzt gewöhnhch zwei Generationen
an. Die grüne , oft mit Blättern begabte , den Assimilationsprocess
besorgende MoosjDflanze , welche die männlichen und weiblichen
Organe (Antheridien und Archegonien) trägt, wird als die Geschlechts-
generation bezeichnet. Die Moosfrucht, welche aus der befruchteten
Eizelle entsteht und Tetrasporen erzeugt, ist die ungeschlechtliche
Generation. Vergleichen wir die Moose bezüglich des Generations-
wechsels mit den Algen, so entspricht die Generation, welche mit
den Spermatozoiden und der Eizelle beginnt und durch die befruchtete
Eizelle zum Sporogonium fortschreitet, der vereinigten androgynen
und geschlechtserzeugten Generation {D-\-Ä). Die andere Generation,
welche mit einer Spore beginnt und mit Bildung von Antheridien
und Archegonien abschliesst, stellt die vereinigten Wiederholungs-
generationen sammt der geschlechtserzeugenden Generation dar
(B. . . . B,, + C).
Bei den Gefässcrj^ptogamen wechseln, genau wie bei den jNIoosen,
regelmässig zwei Generationen mit einander ab. Das aus der Spore
hervorgehende die Geschlechtsorgane tragende Prothallium wird als
die geschlechtliche, der blättertragende aus der befruchteten Eizelle
am Prothallium entspringende Stengel, welcher die Sporangien bildet,
als die ungeschlechtliche Generation in Anspruch genommen.
Die angeführten Beispiele genügen, um einen deutlichen Begriff
von dem Generationswechsel im Pflanzenreiche zu geben. Demselben
kann, wie ich schon eingangs bemerkte, bei manchen Pflanzen eine
verscliiedene Form gegeben werden, je nach der Grundlage, von der
man ausgeht. Es ist daher diese Grundlage, das Individuum, näher
zu prüfen und festzustellen.
Die Auffassung der ontogenetischen Generationenfolge oder des
Generationswechsels hängt davon ab, was wir unter Individuum
verstehen. Beide Begriffe stehen in innigster Beziehung zu demVef-
laufe des phylogenetischen Entwicklungsvorganges ; die Betrachtung
des letzteren führt naturgemäss auch zu der Beurth ei hing ;deri Frage,
was als Pflanzenindividuum in Anspruch zu nehmen gei.' "■^'" ■^"'•'*''
438 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. nnd pliylogenet. Beziehung.
Diese Frage ist in der verschiedenartigsten Weise beantwortet
worden. Scheinbar hat sie für das Pflanzenreich eine andere Be-
deutung und bietet viel grössere Schwierigkeiten dar als für das
Thierreich. In Wirklichkeit aber sind die Schwierigkeiten nicht
grösser, sondern liegen nur viel offenkundiger da und bieten daher
auch Gelegenheit, leichter überwunden zu werden.
Als Pflanzenindividuum ist von Galle sio die ganze aus dem
Samen hervorgehende Entwicklung betrachtet worden, sodass die
ungeschlechtliche Vermehrung nicht im Stande wäre, neue Indi-
viduen hervorzubringen ; nach dieser Theorie ist Individuum identisch
mit Ontogenie. Manche Morphologen dagegen nehmen nach dem
Vorgange E. Darwin 's die Knospe und den daraus erwachsenden
Spross als das Individuum in Anspruch , sodass der Baum eine
zusammenhängende Colonie oder Familie von Individuen wäre.
Endlich verkündete Schieiden, dem Anstoss von T u r p i n fol-
gend, die Zelle als das eigentliche Pflanzenindividuum. Jede dieser
Annahmen hat in ihrer Einseitigkeit eine gewisse Berechtigung;
aber keine gibt die Lösung der allgemeinen Frage. Dies habe ich
schon im Jahre 1853 ausgesprochen mit den Worten ^) :
»Jede individuelle Erscheinung im Pflanzenreich : Zelle, Organ,
Pflanze oder Pflanzenstock, um die dazwischen liegenden Erschei-
nungen zu übergehen , hat ihre Berechtigung ; keine aber darf als
das Individuum schlechthin betrachtet werden. Bald ist die Selb-
ständigkeit der Zelle , bald die des Organs , bald die der ganzen
Pflanze überwiegend ; und es ist gerade die Aufgabe der Wissen-
schaft, zu zeigen, wie nach und nach die Zelle und das Organ an
Selbständigkeit verlieren und die Individualität des ganzen Pflanzen-
stockes erstarkt.«
Diese Theorie habe ich im Jahre 1856 allgemein begründet und
weiter ausgeführt, dabei namentlich auch hervorgehoben, dass man
im Pflanzenreiche verschiedene Begriffe der Individualität aus ein-
ander halten müsse. Ich unterschied morphologische und phy-
siologische Individuen, indem ich unter morj^hologischem Indi-
viduum jede' Erscheinung mit »einheitlichem Ursprung, eigenthüm-
licher Entwicklung und innerlich bestimmtem Abschluss«, unter
0 In einer Anmerkung zu »Systematische TJebersicht der Erscheinungen im
Pflanzenreich« S. 33.
Vin. Der GeuerationsweH'lisel in uiitDjAeiu't. uml ])liyl(),<it'iH't. Rrziclmiii;-. 430
j^liysiologischem Individuum jode Ersclioinuiig, die »selbständig für
sieh leben kann«, verstand^).
Individuum ist seinem Wortlaute naeli ein Ding, das nicht gc-
thcilt werden kann, ohne sein Wesen einzubüssen, Avomit nichts
anderes gesagt wird, als dass es kein Conglomerat von gleichartigen
Dingen sein kann. Meelianisch aufgefasst ist das Individumu ein
materielles System, welches aus Theilsystemen besteht, die von dem
Ganzen wesentlich verschieden sind. Ein Sandhaufen, eine Wasser-
masse, ein Gasvolumen können nicht als Individuen betrachtet
werden. Desswegen habe ich auch die aus gleichen Zellen be-
stehenden Aggregate der niederen Algen nicht als mehrzellige
Pflanzen, sondern als Golonien von einzelligen Pflanzen erklären
zu müssen geglaubt, sell)st in den Fällen, wo die Zellen, wie bei
Pediastrum, Hydrodictyon u. A. fest mit einander verwachsen sind^).
Nun kann aber das einheitliche Wesen bei den Organismen,
je nach dem Standpunkt, auf den man sich stellt, in verschiedener
Weise aufgefasst werden. Die morphologische Einheit oder
Individualität wird nach dem Bau und der Zusammensetzung aus
Theilcn beurtheilt ; sie kann ein Ganzes oder irgend ein Theil eines
Ganzen sein, muss aber stets von einem einheitlichen Ursprung
ausgegangen sein. Insofern gibt es Individuen verschiedener Grade,
wie ich schon oben erwähnt habe (S. 72), indem je das Ganze einem
höheren Individualitätsgrad angehört als die dasselbe zusammen-
setzenden Theile. Man vnrd dies leicht zugestehen, soweit das indi-
viduelle Ganze aus zusammenhängenden Theilen besteht, vde bei-
spielsweise der Pflanzenstock.
Aber nicht nur zusammenhängende Körper sind als Individuen
zu betrachten, sondern auch getrennte Körper, die aus einander ent-
stehen und in der Zeit regelmässig und mit innerer Nothwendigkeit
auf einander folgen. Eine individuelle Erscheinung ist also jedes
organische Individuum sammt einer grösseren oder kleineren Reihe
von Vorfahren und von Nachkommen, somit eine Abstamraungs-
linie oder ein Stammbaum, insofern nicht dm'ch Befruchtung andere
Abstammungslinien sich eingemischt haben. Solche Einheiten
köinien, gegenüber den zusammenhängenden Individuen, als Ketten-
^) »Die Individualität in der Natur« in der INIonatschrift des wissenschaftl.
Vereins in Zürich.
*) Gattungen einzelliger Algen. 1849.
440 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und pliylogenet. Bezieliung,
individuen unterschieden werden. Die Kettenindividuen sind ent-
weder ontogenetische , insofern Generationswechsel besteht und die
Generationen bis zur Wiederkehr der nämUchen Generation zu-
sammengefasst werden (bei mangelndem Generationswechsel ist das
ontogenetische Individuum em zusammenhängendes), oder phylo-
genetische, insofern sie aus einer Reihe von Ontogenien bestehen.
Für die Ansicht, dass eine Folge von getrennten Organismen
als ein Individuum betrachtet werden kann, spricht der Umstand,
dass die Naclikommen aus einer Partie von Substanz der ^^orfahren
entstehen, und namontlich die Thatsache, dass durcli die ganze Ab-
stammungsreihe hindurch materiell das nämliche Idioj)lasma besteht
und sich weiterbildet. Wenn aber auch ein ganzer Stammbaum als
eine Einheit angesehen werden muss, so gilt dies nicht mehr für
die frühere oder spätere Nachkommenschaft eines Individuums ;
dieselbe stellt, für sich betrachtet, ein Conglomerat dar und wird
bloss in Verbindung mit allen Vorfahren bis zurück zum einheit-
lichen Ausgangspunkt zur wirklich individuellen Erscheinung. So
können also die jetzt lebenden Arten einer natürlichen Familie,
auch wenn sie alle von der nämlichen Urart abstannnen , für sich
allein betrachtet bloss als eine Zusammenhäufung von verwandten
Dingen gelten, wie etwa die abgeschnittenen Zweigspitzen eines
Baumes; erst in Verbindung mit ihren Abstammungslinien werden
sie zmn baumartigen Individuum, dessen Enden sie sind.
Die physiologische Einheit oder Individualität wird nach
der Verrichtung beurtheilt, ohne Rücksicht auf Bau und Ursprung.
Sie setzt immer den materiellen oder wenigstens den dynamischen
Zusammenhang ihrer Tlieile voraus, stimmt sehr häufig mit dem
morphologischen Individuum überein, kann aber auch von dem-
selben abweichen. — Eine besondere Art des physiologischen Indi-
viduums wird durch die Berücksichtigung der Selbständigkeit
gegeben. Organische Körper, die aus anderweitigen physiologischen
oder aus morphologischen Gründen als individuell bezeichnet werden
müssen , können selbständig oder unselbständig sein und somit als
Individuen gelten oder nicht, je nachdem ihre Lebensvorgänge bloss
mit den äusseren Medien oder mit anderen gleichen Individuen in
Beziehung stehen. So ist die einzeln lebende Zelle selbständig, die
im Gewebe befindliche unselbständig ^). Ich habe früher den selb-
'■) Vgl. über den Unterschied von ein- und mehrzelligen rtiauzeu S. 348.
Vni. Der Generationswechsel in ontogenet. und })hylogenet. Beziehunjj;. 441
ständigen Organismus als das physiologische Individuum schlechthin
angenommen, indem ich nur die eine physiologische Beziehung be-
rücksichtigte. Es ist aber jedenfalls bezeichnender und dient zur
Vernieidung von Miss Verständnissen, wenn der Ausdruck selb-
ständiges Individuum gewählt wird.
Das unselbständige Individuum kann ebenso gut ein physio-
logisches oder ein morphologisches Individuum sein wie das selb-
ständige. Die Zelle in einem Gewebe ist, wiewohl unselbständig,
in morphologischer und physiologischer Hinsicht ebenso individuell
als die selbständig im Wasser lebende einzellige Pflanze ; die erstere
ist ein materielles System , dessen Bewegungen und Veränderungen
durch andere ähnliche materielle Systeme beeinflusst werden; die
letztere ist ein materielles System, auf welches nur äussere Bewe-
gungen und Kräfte einwirken. Das aus der befruchteten Eizelle
der Moose hervorgehende Sporogonium und der aus der l;)efruchteten
Eizelle der Farne sich entwickelnde Ijeblätterte Stengel sind zwar
unselbständige Wesen, aber doch sonst in allen Beziehungen sehr
ausgesprochene individuelle Einheiten.
Der Unterschied zwischen selbständigen und unselbständigen
Individuen ist ein gradweiser, indem alle Uebergänge von der voll-
kommenen Selbständigkeit bis zur vollkommenen Unselbständigkeit
vorkommen. Es gibt Zellen, die bloss von äusseren Medien um-
geben und durch dieselben bedingt werden, — ferner solche, die
ausserdem mehr oder weniger von anderen Zellen abhängen, —
endlich solche, die ringsum in innigster Berührung mit Zellen stehen
und bloss durch dieselben beeinflusst sind. Die gleiche Abstufung
beobachtet man an vielzelligen Wesen.
Der Grad der Selbständigkeit des Individuums erweist sich für
die Phylogenie der Pflanzen von grosser Wichtigkeit, indem das
nämliche Gebilde auf der früheren phylogenetischen Stufe selb-
ständig ist und auf der späteren Stufe unselbständig wird. Dabei
lässt sich zuweilen eine schrittweise Verminderung der Selbständig-
keit nachweisen. Auf diesen ^'^orgängen beruhen die oben aufge-
stellten phylogenetischen Gesetze I, II, III und IV (S. 357 — 380).
Für die Generationenfolge und den Generationswechsel ist die
Selbständigkeit und Unselbständigkeit der morphologischen Indivi-
duen von wesentlicher Bedeutung; doch ist sie nicht allein ent-
scheidend. Oefter muss ein unselbständiges morphologisches Indi-
442 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylngenet. Beziehung.
viduimi als besondere Generation betrachtet werden , weil es die
Analogie, die aus der Vergleichung mit andern Pflanzen sich ergibt,
fordert. Wir erhalten dadurch eine neue Kategorie von Individuen ;
ich will sie das s 5^ stemati sehe Individuum nennen, weil es durch
das systematische Bedürfniss bestimmt wird.
Das systematische Individuum ist das Ergebniss eines Compro-
misses zwischen den widerstrebenden Forderungen der verschiedenen
Standj^unkte l)ezüglich der Individualität zu Gunsten einer con-
sequenten Behandlung. Es hat desshalb nur Gültigkeit für eine
zusammengehörende Gruppe von Pflanzen und kann in anderen
Gruppen anders bestimmt werden. Als eine für das ganze Pflanzen-
reich gültige Regel muss festgehalten werden, dass jeder selbständig
auftretende Theil ein Pflanzenindividuum darstellt, also jeder abge-
löste ein- oder mehrzellige Keim und joder auf natürlichem oder
künstlichem Wege losgetrennte, entwicklungsfähige Spross.
Aber diese Regel lässt sich nicht umkehren ; war können nicht
sagen, dass ein unselbständiger Theil kein Pflanzenindividuum sein
könne. Die Erscheinungen, welche uns die Geschlechtspflanzen
darbieten, zwingen uns unbedingt dazu, in manchen Fällen einen
Theil, der mit der Eiterpflanze verbunden bleibt, als besonderes
Individuum anzusehen. Bei den niederen Algen lösen sich die
männlichen und weil )li eben Fortpflanzungszellen ab und stellen be-
sondere Individuen dar. Bei etwas hölier stehenden Algen und bei
anderen Cryptogamen trennen sich nur die männlichen Zellen los,
nicht aber die Eizellen. Gleichwohl müssen die letzteren ebenfalls als
individuell gelten, selbst wenn sie auch nach der Befruchtung nicht
selbständig werden. Denn der weiblichen Zelle kommt der gleiche
Rang zu v.äe der männlichen , und nach der Befruchtung kann sie
schon desswegen nicht als Theil des mütterlichen Individuums be-
trachtet werden, weil sie durch Aufnahme der Spermatozoide ziu
Hälfte die Fortsetzung des väterlichen Individuums geworden ist.
Die nämliche Rücksicht macht sich beim Uebergang von den
Gefässcryptogamen zu den Phanerogamen geltend. Bei den ersteren
beginnen mit den Sporen neue Individuen; und nachdem bei den
höchsten Gruppen der Gefässcryptogamen die geschlechtliche Dif-
ferenzirung der Sporen in Androsporen und Gynosporen eingetreten
ist, stellen dieselben die Anfänge von männlichen imd weiblichen
Individuen dar. Bei den Phanerogamen trennen sich bloss noch
^^II. Der Geiieratioiiswcflisel in outogoiiet. und i>liyl(i.<:oiK't. rV'zichung. 443
die Androsporen (Pollenkörner) los, während die Gynosporen (Em-
bryosäcke) zeitlebens mit dem Gewebe der Elterpflanze verwachsen
bleiben. Gleichwohl müssen die Embryosäckc wegen der Analogie
mit den Gynosporen der Gefässcryptogamen und mehr noch wegen
der Analogie mit den den nämlichen Rang behauptenden Pollen-
körnern als Pflanzenindividuen und als besondere Generation be-
trachtet werden.
Aus dem Umstände, dass jeder selbständige und lebensfähige
Theil als Pflanzenindividuum anzusehen ist, folgt noch nichts für
die Berücksichtigung, welche derselbe bei der Generationenfolge
und dem Generationswechsel zu beanspruchen hat. Unter den In-
dividuen und Generationen gibt es solche, die nothwendig zur Onto-
genie gehören und ohne welche die phylogenetische Entwicklung
undenkbar ist, und andere, welche diese Bedeutung niclit haben,
wiewohl sie ebenfalls zur Erhaltung der Abstamnmngslinien dienen.
Individuen der letzteren Art sind beim Generationswechsel nicht
zu berücksichtigen. Um ein Beispiel anzuführen , so haben die
Moose einen ganz bestimmten Generationswechsel , indem das ge-
schlechtserzeugende und das sporenbildende Individuum mit ein-
ander alterniren. Es ist eine accessorische, nicht nothwendig in den
ontogenetischen Cyclus gehörende Erscheinung, wenn das erstere
der beiden Individuen, ehe es zur Bildung der Geschlechtsorgane
gelangt, sich dm-ch Brutkeime vermehrt. — Dessgleichen mangelt
der Generationswechsel den Characeen, obgleich diese Pflanzen auch
auf geschlechtslosem Wege sich vermehren können.
Will man aber, was sich j^rincipiell nicht beanstanden Hesse,
die eben erwähnten Erscheinungen als Generationswechsel bezeichnen,
so muss man zwischen noth wendigem und zufälligem Gene-
rationswechsel unterscheiden. Dann kommt beispielsweise den
Characeen und verschiedenen anderen Algen bloss ein zufälliger
Generationswechsel zu. Ferner besteht dann bei den Moosen der
nothwendige Wechsel darin , dass eine sjiorenerzeugte , geschlechts-
erzeugende Generation mit einer geschlechtserzeugten, sporenbilden-
den Generation alternirt, und der zufällige Wechsel darin, dass statt
der erstgenannten Einzelgeneration eine Reihe von Generationen
auftritt, von denen die erste aus Sporen, die folgenden aus Brut-
keimen hervorgehen. Für den systematischen (rebrauch dürfte sich
das Verfahren, welches den Generationswechsel einzig nach den
4-4:4 VIII. Der Generationsweclisel in ontogenet. und phylogenot. Beziehung.
nothwendig der Ontogenie angehörenden Generationen bestimmt, als
das einfachere emj^fehlen.
Es scheint zweckmässig, die Anwendung des Begriffes vom syste-
matischen Individuum und seine Bedeutung für den Generations-
wechsel bei einigen Pflanzengruppen näher zu betrachten. — Auf
den untersten Stufen des Pflanzenreiches muss im allgemeinen das
morphologische Individuum, nämlich die Zelle, als das Pflanzen-
individuum gelten , weil Selbständigkeit und Unselbständigkeit der
Zellen in allen Abstufungen vorkommen und somit keine durch-
greifende Unterscheidung zulassen. Eine einzellige Pflanze in syste-
matischer Beziehung ist daher eine solche, bei welcher alle Zellen
einander gleich sind , mögen sie vereinzelt leben oder mehr und
weniger innig mit einander zusammenhängen. Wollte man die
Sell)ständigkeit der Zellen als Criterium berücksichtigen , so wären
von nächst verwandten Sippen die einen einzellig, die andern melir-
zellig; von anderen wäre es zweifelhaft, ob man sie als ein- oder
mehrzellig erklären sollte ; und bei noch anderen würden die Pflanzen
in einem Stadium einzellige Individuen und in einem spätem Stadium
nur noch Theile eines mehrzelligen Individuums sein (Hydrodictyon).
Man hat Volvox als mehrzellige Pflanze erklärt, weil von den
zalflreichen, zu einer kugeligen Colonie zusammengeordneten Zellen
regelmässig nur wenige der Fortpflanzung dienen. Wäre in diesem
Verhalten wirklich eine bestimmte Differenzirung zwischen den Zellen
in vegetative und reproductive ausges23roehen , so liesse sich aller-
dings erwägen , ob diese Gattung als Typus einer besonderen
Familie aufzustellen sei. Bei der nahen Verwandtschaft zwischen
Volvox einerseits und Eudorina, Pandorina etc. andrerseits ist aber,
wie mir scheint, der genannten Verschiedenheit keine so grosse
Bedeutung beizulegen. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass bei
den einzelligen Organismen die Zellen qualitativ zwar einander gleich
sind, und dass auch jede das ^''ermögen besitzt, unter günstigen
Umständen sich fortzupflanzen. Aber dieses Vermögen kann sich
nur sehr unvollständig verwirklichen, und zwar schon desswegen,
weil behufs ErhaHung des numerischen Gleichgewichts stets die
grösste Zahl zu Grunde gehen muss. Bilden die einzelligen Pflanzen
Colonicn, so werden häufig ganze Colonien aussterben; aber es kann
VIII. Der Genorationswechsel in ontogenet. und ])hylogeiiet. Bezi(>hung. 445
auch der Fall sein, dass von einer Colonie die einen Zellen sieh
fortpflanzen, die anderen zu Grunde gehen, je nachdem sie in quan-
titativer Hinsicht besser oder weniger gut ausgerüstet sind. Mög-
licher Weise ist nun die beschränkte Zahl der fruchtbaren Zellen in
der Volvoxkugel bloss quantitativ besser ausgestattet und deutet erst
den Anfang einer Differenzirung an, wie ja der erste Schritt einer
qualitativen Verschiedenheit stets in (quantitativen Unterschieden
besteht.
Dagegen ist in der Klasse der Conjugaten der Gegensatz zwischen
einzelligen und mehrzelligen Pflanzen in bestimmter Weise durch-
geführt. Die Desmidiaceen sind einzellig, da bei der grossen Mehrzahl
die Zellen einzeln leben und nur bei wenigen in einreihige Colonien
vereinigt sind (Desmidium). Die Zygnemaceen sind stets einreihige
Fäden und können nicht als einzellig aufgefasst werden, weil jedes
aus einer Z^^gospore hervorgehende Individuum einen andersartigen
einzelligen Fusstheil besitzt. Die Spore theilt sich nämlich in zwei
ungleiche Zellen , von denen die eine theilungsunfähig ist und zur
Fusszelle wird, indess bei den Desmidiaceeen die Zygospore zwei
gleiche, theilungsfähige Zellen erzeugt.
Wesentlich anders und eigenthünilich stellt sich das Bedürfniss
für das systematische Individuum in der Klasse der Schizophyten
heraus. Es kann hier kein Zweifel darüber bestehen, dass die Chroo-
coccaceen, deren Zellen einzeln leben oder nur lose zusammenhängen,
einzellig sind, eben so wenig, dass bei den Scytonemaceen mid Kivu-
lariaceen der ganze gegliederte (vielzellige) Faden das Individuum
vorstellt, weil hier die Differenzirung zwischen den Zellen des Fadens
so ausgesprochen ist (S. 393 — 394). Dagegen kann man bezüglich der
Nostochaeeen und Oscillariaceen mi Zweifel sein, ob sie als einzellig
oder mehrzellig zu erklären seien, weil manche Formen derselben
kaum eine A^erschiedenheit zwischen den Zellen eines Fadens erkennen
lassen. Da jedoch andere Formen in den Grenzzellen, welche das
Zerfallen der Fäden in Stücke einleiten, und ferner in den zu Sporen
werdenden Zellen bestimmte Ungleichheiten gegenüber den übrigen
Zellen zeigen, da endlich in den Oscillariaceen die Zellen eines
Fadens sehr innig verbunden sind, da zudem die beiden Ordnungen
unverkennbar sich viel näher an die Rivulariaceen und Scytonema-
ceen anschliessen als an die Chroococcaceen , so sind sie als mehr-
zelliti' zu betrachten.
44G VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung.
Bezüglich der ebenfalls zu den Schizopliyten gehörenden Schizo-
myceten stellt sich ein gegentheiliges Verfahren als notli wendig heraus.
Fadenförmige und stäbchenförmige Zustände derselben haben zwar
die grösste Aehnlichkeit mit den Nostochaceen und Oscillariacecn
und empfehlen sich als vielzellige Pflanzen besonders dann, wenn
einzelne und bestimmte Zellen, z. B. die Endzellen eines Stäbchens,
zu Sporen werden oder wenn die Endzellen eine Wimper tragen.
Da aber bei Culturen in geeigneten Nährflüssigkeiten die Stäbchen
(Bacterien) kürzer und wenigzelliger werden und in den einzelligen
Zustand übergehen, da ferner in manchen Fällen die Entscheidung,
ob einzellige oder mehrzellige Zustände vorliegen, ganz willkürlich
ist, sei es weil die Zellen der Fäden und Stäbchen sehr lose zusammen-
hängen, sei es weil einzellige und wenigzellige Zustände mit einander
gemengt sind und in der Generationenfolge beliebig mit einander
wechseln, so liegt unzweifelhaft das systematische Bedürfniss vor,
allen Schizomyceten den nämlichen Character zuzuschreiben und
zwar sie als einzellige Pflanzen zu betrachten, da ja für die ein-
zelligen Zustände die Annahme der Mehrzelligkeit unmögHch ist.
Für die geschlechtlich differenzirten Pflanzen gilt, wie ich schon
angedeutet habe, die Regel, dass mit den männlichen und weiblichen
Zellen, die sich vermischen, ein neues Individuum beginnt ; denn es
kann ja immer der Fall eintreten, dass jene Zellen von verschiedenen
Individuen herstammen, und dass das Befruchtungsproduct desshalb
nicht als Theil der Pflanze, mit der es verl)unden bleibt, angesehen
werden darf. So muss also die Moosfrucht unbedingt ein Pflanzen-
individuum darstellen und den Moosen Generationswechsel zukommen.
Der Vorkeim aber stellt bei diesen Pflanzen keine besondere Generation
dar, selbst wenn er wie bei den Laubmoosen einen ganz abweichenden
Bau zeigt. Denn es kommt vor, dass ein Spross des confervenartigen
Protonema nach oben sich unmittelbar in das beblätterte Moosstämm-
chen fortsetzt, und ebenso, dass das letztere -selbst unmittelbar aus
derjenigen Zelle des Vorkeims, welche der Spore entspricht, entsteht,
so dass also in diesem Falle das Vorkeimstadium bei der ontogene-
tischen Entwicklung morphologisch übersprungen wird.
Die Gefässcryptogamen verhalten sich wie die Moose bezüglich
des Generationswechsels ; es sprechen die nämlichen Gründe für die
Nothwendigkeit der Annahme, dass auch bei ihnen die Ontogenie
zwei Individuen durchlaufe. — Rücksichtlich der Phanerogamen habe
VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. 447
ich bereits dargethan, dass eine Generation mit den Pollenkörnern
und den Embryosäcken beginnt. Eine zweite Generation muss mit
der Befruchtung der Eizelle anheben. Dies wird, ausser dem früher
angegebenen Grund, auch dadurch bewiesen, dass es einige wenige
Phanerogamen gibt, welche im Embryosack 2 Eizellen bilden (San-
talum). Die eine Generation, diejenige nämlich, die der geschleehts-
erzeugenden bei den niedern Cryptogamen entspricht, ist aber so
sehr reducirt, dass sie nur einen kleinen Theil des Fortpflanzungs-
apparates ausmacht.
Ich will noch die Verhältnisse einer Pflanzengruppe besprechen,
bei denen die Beschaffenheit des Generationswechsels zweifelhaft ist.
Die Florideen haben 3 Fortpflanzungsorgane, die fast ausschliesslich
auf verschiedene Pflanzen vertheilt sind. Es gibt männliche oder
Antheridien-, weibliche oder Cystocarpien-, und ungeschlechtliche oder
Tetraspofen-Pflanzen. Da die Tetrasporen bei den Moosen und bei
den Gefässpflanzen den Anfang derjenigen Generation darstellen,
welche die Geschlechtsorgane oder wenigstens die männhchen und
weiblichen Zellen erzeugt, so scheint die Vermuthung sehr nahe zu
liegen , dass auch bei den Florideen eine Tetrasporen- und eine
Antheridien-Cystocarp-Generation mit einander alterniren. Es gibt
aber wichtige Gründe gegen diese Auffassung.
Schon der Umstand erregt Bedenken, dass bei allen Florideen
die geschlechtlichen und die ungeschlechtlichen Pflanzen einander
ganz gleich sind. Hätte die Tetrasporenforti:>flanzung die gleiche Be-
deutung wie bei den Moosen und den Gefässcryptogamen, so m'öchte
man erwarten, dass, wie es bei diesen der Fall ist (S. 408—409), auch
bei den Florideen, sofern Abstammungsreihen sich unterscheiden
lassen, das Verhältniss der Tetrasporengeneration zu der Geschlechts-
generation sich stetig ändere.
Eine andere Thatsache, warum den Florideen ein regelmässiges
Alterniren einer Tetrasporengeneration mit einer Antheridien-Cysto-
carp-Generation nicht zugeschrieben werden darf, besteht darin, dass,
wenn auch die triöcische Vertheilung der drei Fortpflanzungsorganc
die Regel ausmacht, doch in verschiedenen Ausnahmsfällen geschlecht-
liche und ungeschlechtliche Fortpflanzungsorgane auf der nämlichen
Pflanze gefunden wurden. Das Verhältniss dieser Organe zu einander
muss also ein anderes sein als l)ei den Moosen und Gefässcryptogamen ;
448 VIII. Der Gonorationswcdiscl in onioi;enet. und ])liyloocnot. Beziehung.
denn es wäre unmöglich, dass auf dem Vorkeim (Protliallium) eines
Farnkrautes Tetrasporen oder auf dem Farnblatt Antheridien und
Archegonien enständen.
Der wichtigste Grund aber gegen die Gleichstellung der Tetra-
sporengeneration der Florideen mit der Tetrasporengeneration der
Moose und Gefässcryptogamen beruht darin, dass die Florideen bereits
eine der letzteren entsprechende Generation haben. Dieselbe beginnt
mit der Befruchtung und endigt mit der Bildung der Cystocarp-
sporen. Das Sporogon der Florideen ist vollkommen demjenigen
der Moose analog.
Es gibt nun zwei Möglichkeiten , zwischen denen noch keine
bestimmte Entscheidung getroffen werden kann. Nach der einen
stimmen die Florideen im Generationswechsel genau mit den Moosen
überein, so dass die Ontogenie ihrem wesentlichen und nothwendigen
Begriffe nach durch die Antheridien- und Cystocarp-tragenden Pflanzen
erschöpft ist. Die Tetrasporenbildung erfolgt dann mehr zufällig auf
derjenigen Generation, die eigentlich die Geschlechtsorgane erzeugen
sollte, und ist analog der Bildung von Brutkeimen auf den Spitzen
von Blättern und Stengeln von Jungermannien. Dabei ist anzu-
nehmen, dass die Tetrasporenbildung regelmässig die geschlechtliche
Sterilität des Individuums zur Folge habe, wie dies häufig auch bei
den Jungermannien der Fall ist.- Aus den Sporen der Kapselfrüchte
müssten also sowohl männliche und weibliche als auch geschlechts-
lose Pflanzen erwachsen, und das Gleiche wäre auch mit den Tetra-
sporen der Fall. Es wäre ferner ganz begreiflich, dass es auch Flori-
deen gibt, denen die Tetrasporen ganz mangeln (Lemaneaceen und
Nemalieen).
Die andere Möglichkeit besteht darin, dass der Generationswechsel
der Florideen so beschaffen sei, wie bei vielen anderen Algen (Ulo-
thrix, Oedogonium etc.) , dass nämlich auf mehrere Wiederholungs-
generationen eine einzelne geschlechtserzeugende und eine androgyne
Generation folge. Die Tetrasporenpflanzen stellen dann die Wieder-
holungsgen erationen, und die Pflanzen, w^elche Antheridien und Cysto-
carpien tragen, die geschlechtserzeugende Generation dar; aus den
Cystocarpsporen können bloss Tetrasporenpflanzen, aus den Tetra-
sporen aber entweder Tetrasporen- oder Antheridien-Cystocarppflanzen
hervorgehen. Der Umstand, dass im allgemeinen die Tetrasporen-
tragenden Pflanzen bei den Florideen viel häufiger sind als die mit
\T^II. Der Generationswechsel in ontogenet. und i)hylogenet. Beziehung. 441'
Geschlechtsorganen ausgerüsteten hätte, in dem Generationswechsel
ihre natürliche Ursache. Dass die Wiederholungsgenerationen und
die geschlechtserzeugende Generation vegetativ gleich entwickelt sind,
erregt kein Bedenken, da dies auch bei den andern Algen eintrifft.
Dass es Beispiele gibt, wo Tetrasporen mit Geschlechtsorganen auf
dem nämlichen Individuum vorkommen , ist ebenfalls kein Grund
mehr gegen die Annahme eines Generationswechsels, da auch bei
Oedogonium die geschlechtserzeugenden Pflanzen noch Schwärm-
sporen (das Fortpflanzungsproduct der Wiederholungsgenerationen)
hervorbringen können. Die Vereinigung der geschlechthchen und
ungeschlechtlichen Fortpflanzungsorgane auf dem nämlichen Indi-
viduum würde also bei den Florideen ebenfalls nur bei der geschlechts-
erzeugenden Generation möglich sein und den Wiederholungsgene-
rationen maneeln.
Der Generationswechsel wurde bis jetzt nach seinem ontogene-
tischen Verhalten beprochen. Wir fragen uns nun, welche j^hy lö-
ge netische Bedeutung ihm zukomme. Auf der alleruntersten
Stufe des Pflanzenreiches sind die Generationen der einzelligen In-
dividuen einander gleich. Eine Art der pliylogenetischen Entwick-
lung besteht darin, dass durch innere Differenzirung und durch
Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten beim Beginn der Ruhe-
zeit eine andersartige Generation auftritt, die bis zum Beginn der
folgenden Vegetationsperiode im ruhenden Zustande verharrt. Damit
ist der Gegensatz zwischen der Reihe von Wiederholungsgenerationen,
welche ein Stück der ursprünglichen endlosen Reihe darstellt, und
der Uebergangsgeneration gegeben. Die letztere tritt gemäss ihrer
Entstehung als Einzelgeneration und in der Form der Ruhe-
spore auf.
Der Unterschied zwischen den Wiederholungsgenerationen und
der Uebergangsgeneration wird nach und nach grösser, — am
grössten, wenn diese sich in männliche und weibliche Zellen diffe-
renzirt und somit androgyn wird. Weicht die Uebergangsgeneration
in bedeutendem Maasse ab, so wirkt sie auch auf die ihr zunächst
vorausgehende und auf die ihr zunächst folgende Generation ein,
die ebenfalls mehr oder weniger andersartig werden. Jene ist aus
V. Xägeli, Abstammuiig.slelire. 29
450 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und }>liylogenet. Beziehung.
der letzten, diese aus der ersten der Wiederholungsgenerationen her-
vorgegangen. Es wird nun also der Uebergang zwischen je zwei
Reihen von Wiederholungsgenerationen durch 3 Einzelgenerationen
gebildet, und die ontogenetische Periode hat die allgemeine Form
A B,...B„ C D
wenn D die androgyne Generation bedeutet.
Ausser der soeben angeführten Differenzirung , welche mit der
Anpassung an die Jahreszeiten zusammentrifft, spielt eine andere
Differenzirung im Generationswechsel eine Rolle. Es tritt eine
j)eriodische Ungleichheit zwischen den durch Zweitheilung sich ver-
mehrenden Zellen einer Generationenreihe auf, meist in der Weise,
dass eine Generation in dem Maasse an Dauer und Wachsthum
zuninnnt, als die Periode der darauf folgenden Generationen darin
beschränkt wird. Die Generationenreihe besteht nun also aus einer
Reihe von (kürzeren oder längeren) Perioden; dies gilt auch für
das obige Schema, in welchem für diesen Fall jedes Zeiclien nicht
eine einzelne Generation, sondern eine Periode von Generationen
bedeutet. Mit der zunehmenden Differenzirung geht die Periode
von Zellen, die sich durch Zweitheilung vermehren, in eine einzige,
viele Fortpflanzungszellen erzeugende Generation über (S. 403).
Das Zustandekommen des Generationswechsels der einzelligen
Pflanzen, wie er in dem obigen Schema ausgesprochen ist, wird
durch die vorhandenen Beispiele, welche verschiedenen Stufen der
Differenzirung angehören, klar begründet. Der nämliche Generations-
wechsel findet sich auch bei den einfacheren Formen der mehr-
zelligen Pflanzen. Für die Art und Weise, wie er liier zu Stande
gekonniien ist, wird einer der möglichen Wege durch die Thatsachen
ebenfalls unzweifelhaft angezeigt. Derselbe nimmt seinen Ausgang
von den vorhin erwähnten Perioden, welche durch Differenzirung
in der Generationenreihe einer Ontogenie von einzelligen Pflanzen
entstehen.
Denken wir uns eine einzellige Pflanze, welche wie Chlamj'do-
monas zeitlebens schwärmt und Generationswechsel besitzt. Die Reihe
der ursprünglich gleichen Wiederholungsgenerationen wird dann
durch eintretende Ampliation und Differenzirung in Perioden geglie-
dert, in der Art, dass einzelne Generationen ihre Schwärmbewegung
Vin. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. 451
liehalten, während die zwischen ihnen hegenden Perioden von Gene-
rationen die Beweghchkeit verheren, mit einander erst lose, nachher
fester verl)iinden l)leiben und schhesshch zu niehrzelhgen Individuen
werden. Ist die phylogenetische Umwandlung fertig, so besteht die
Ontogenie, statt aus einer Reihe von Perioden einzelliger Generationen,
aus einer Reihe von eben so vielen mehrzelligen Individuen, die sich
durch Schwärmzellen fortpflanzen. In der veränderten Ontogenie
sind die der androgynen Generation vorausgehende und die ihr nach-
folgende Generation (die geschlechtserzeugende und die geschlechts-
erzeugte) ebenfalls mehrzellig, wie dies von ihrer nahen Verwandt-
schaft mit den Wiederholungsgenerationen erwartet werden konnte.
Dagegen ist die androgyne Generation noth wendig einzellig, da sie
einer Einzelgeneration, nicht einer Periode von Generationen im onto-
genetischen Cyclus der einzelligen Pflanze entspricht.
Auf dem eben angegebenen Wege ist der Generationswechsel
einiger mehrzelliger Algen entstanden; ich habe von denselben
Ulothrix und Oedogonium als Beispiele angeführt (S. 432 — 433). An
diese beiden Gattungen schliesst sich Volvox (S. 432, 444) unter den
einzelligen Algen so nahe an , dass man letztere Gattung fast als
mehrzellig betrachten könnte. — Die androgyne Generation, die bei
Ulothrix und Oedogonium einzellig ist, kann durch weitere phylo-
genetische Entwicklung mehrzellig werden, so dass dann der ganze
Generationswechsel aus mehrzelligen Individuen besteht.
Es gibt noch einen andern Weg, wie aus einzelligen Pflanzen
ein Generationswechsel von mehrzelligen Individuen entstehen kann.
Für diesen Weg liegen bei dem dürftigen Beobachtungsmaterial, das
zur Zeit vorhanden ist, noch keine Stationen vor, die wirklich durch-
laufen werden. Aber er lässt sich von seinem AusgangsjDunkte bis
zu seinem Ziele verfolgen, indem man dazu keine anderen Vorgänge
in Anspruch nimmt als solche, die erwiesenermaassen in der Natur
vorkommen.
Zuerst geht die ganze ontogenetische Reihenfolge einzelliger
Generationen in ein einziges mehrzelliges Individuum über, wie dies
in den Klassen der Schizophyten (S. 357, 393, 445) und Conjugaten
(S. 445) so augenscheinlich vorkommt. Hatte die Ontogenie der ein-
zelligen Pflanzen die durch Differenzirung erlangte Form
A B,...B^ G D,
29*
452 Vin. Dei' Generationswechsel in ontogenet. und ])hylogenet. Beziehung.
SO zeigt das daraus hervorgegangene Individuum in seiner vege-
tativen Entwicklung die nämliche Form, indem aus der Spore zuerst
eine eigenartige Zellgeneration (= A) hervorgeht, worauf eine Reihe
von unbestimmt vielen gleichartigen Zellgenerationen {^^Bi . . . B„)
und dann wieder eine andersartige Zellgeneration (= C) folgt,
welche die Sporen (= D) erzeugt. Nahm bei der einzelligen Plianze
der ontogenetische Cyclus von Generationen eine Vegetationszeit
in Anspruch und ging die androgyne Generation als Dauerzelle
in den Ruhezustand über, so füllt auch das Individuum der mehr-
zelligen nianze eine Vegetationsperiode aus und bildet mit dem
Ende derselben die Sporen zu Ruhesporen aus.
Die durch Differenzirung und Anpassung entstandene Ruhe-
sporenbildung ist als erbliche Erscheinung in der Folge nicht mehr
nothwendig an den Wechsel der Jahreszeiten gebunden und kann
zu beliebiger Zeit eintreten. Wenn nun durch Ampliation die ganze
Entwicklung beschleunigt wird, so folgen während einer Vegetations-
periode mehrere vielzellige Individuen mit Sporenbildung auf ein-
ander, wie auch die Ontogenien von Vaucheria, Oedogonium u. A.
sich während einer Vegetationszeit öfter wiederholen können. Die
vielzelligen Individuen, die während eines Jahres auf einander folgen,
sind ursprünglich gleich; es bildet sich dann durch neue Differen-
zirung nach und nach ein Generationswechsel aus, worin die letzte
Jahresgeneration sich andersartig verhält. Die Sporen der übrigen
Generationen verlieren den Charakter von Ruhesporen gänzlich,
ebenso ihre androgyne Beschaffenheit, indem sie nach Unterdrückung
des männlichen Geschlechtes parthenogenetisch erzeugt werden. Ist
die phylogenetische Umänderung vollendet, so folgt auf eine Reihe
scheinbar geschlechtsloser Pflanzen eine Geschlechtsgeneration, welche
Ruhesporen hervorbringt und die in ihren Merkmalen ebenfalls weiter
fortgeschritten ist. Dieser Generationswechsel hat niemals eine ein-
zellige Generation, kann übrigens in seiner allgemeinen Form ganz
mit demjenigen übereinstimmen , dessen Entstehungsweise zuerst
besprochen wurde.
Das weitere Schicksal des also beschaffenen Generationswechsels
mehrzelliger Pflanzen, er mag auf die eine oder andere Weise ent-
standen sein , lässt sich nicht mehr Schritt für Schritt verfolgen.
Die Beobachtung zeigt uns nur, dass derselbe auf den folgenden
Stufen des Pflanzenreiches einfacher wird, dass zwei oder mehr Gene-
Vni. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet Beziehung. 453
rationell der tieferen Stufe auf der liölieren Stufe in eine einzige
Generation vereinigt zu sein scheinen , und dass zuletzt bloss noch
zwei Generationen mit einander alterniren oder dass der Generations-
wechsel ganz unterdrückt ist. Dabei sind augenscheinlich zwei phy-
logenetische Processe thätig, nämlich 1. die Vereinigung früher ge-
trennter Zellen zu einem Gewebe, wodurch die androgjme Generation
mit der geschlechtserzeugten verschmilzt und die Wiederholungs-
generationen zu einem Individuum mit Sprossgenerationen verwachsen,
und 2. in andern Fällen die Reduction der (einander gleichen) Wieder-
holungsgenerationen auf eine einzige. — Um das Einfacherwerden
des Generationswechsels anschauHch zu machen, will ich die sicher
bekannten Fälle schematisch zusammenstellen, indem die zu einem
Individuum vereinigten Generationen in ( ) eingeschlossen, und indem
wie früher die androg^^ne Generation mit D, die geschlechtserzeugte
mit A , die Wiederholungsgenerationen mit Bi . . . B„ und die ge-
schlechtserzeugende Generation mit C bezeichnet sind.
1. i> A B, . . . Bn C
2. {D -\-Ä) Bi . .. B„ C
3. {D-{-A-\-Bi . . .Bn) C
4. (Z» + .1 4- 5i . . . B„ + C)
5. (D-iA) {B,...Bn+C)
1. Ulothrix, Oedogonium.
2. Vaucheria.
3. Acetabularia,
4. Ohara, Fucus, Ectocarpus.
5. Moose, Gefässpflanzen.
Aus dem, was man bis jetzt sicher über den Generationswechsel
im Pflanzenreiche weiss, geht dessen phylogenetische Bedeutung
deutlich hervor. Er ist der Uebergangszustand von einzelligen zu
vielzelligen und von einfacheren vielzelhgen zu complicirteren viel-
zelligen Pflanzen. Der Vorgang besteht immer darin, dass die
Generationen, die auf der unteren Stufe gleich sind, auf der höheren
Stufe durch Differenzirung und Anpassung ungleich werden und
einen Generationswechsel darstellen, und dass auf noch höheren
Stufen diese ungleichen Generationen des' ontogenetischen Cyclus
sich zu einem innerlich gegliederten Individuum vereinigen, indem
also der Generationswechsel zu einem Wechsel in der' vegetativen
Entwicklung wird.
454 VIII. Der Generationswfchsel in outogenet. und phylogenet. Beziehung.
Als Folge des phylogenetischen Umwandlungsprocesses ergibt
sich, dass die morphologische und physiologische Bedeutung des
Pflanzenindividuums auf den successiven Stufen einer Abstammungs-
linie sich stetig ändert, und dass die Theile, die anfänglich ihre volle
Selbständigkeit besitzen, später immer weniger selbständig werden,
indem sie auf der ersten Stufe ihrer Existenz vollständige Pflanzen
sind und dann von Stufe zu Stufe einen kleineren Theil des Pflanzen-
individuums ausmachen. Dies lässt sich am anschauliclisten für die
Zelle nachweisen; es gilt aber ebensowohl für vielzellige Theile.
IX.
Morphologie und Systematik als phylogenetische
Wissenschaften.
Die naturgeschichtlicheii Disciplinen sind in der Neuzeit zu der
Einsicht gelangt, dass irgend eine Erscheinung nur dann sicher
erkannt werden kann, wenn man ihre Entstehungsweise erforscht.
Es ist dies eigenthch nichts anderes als eine Anwendung des viel
allgemeineren Axioms, dass die erste und unerlässliche Bedingung
zur Erkenntniss eines Dinges in der Erforschung seiner Ursachen
besteht. Die Entwicklungsgeschichte jedoch bildet nur den ersten
Schritt und die unumgängliche ^Voraussetzung, um zu einer causalen
Einsicht zu gelangen. Sie ist, wie man \ielfach übersehen hat, nicht
etwa schon die Erfüllung jener allgemeinsten Forderung. Denn
wenn ich auch schon genau weiss, wie etwas geworden ist, so weiss
ich desswegen noch nicht, warum und w^odurch es geworden ist.
Aljer auch die rationelle Forderung nach Entwicklungsgeschichte
ist, wenigstens bezüglich des Pflanzenreiches, fast allgemein unrichtig
aufgefasst worden, indem man darunter allein das Werden des Indi-
viduums verstanden hat. Es unterliegt nun keinem Zweifel, dass, wenn
man eine Erscheinmig, l)eispielsweise ein einzelnes Organ oder eine
Zusammenordnung von Organen, von den kleinsten Anfängen, im
günstigsten Falle von der ersten Zelle aus, Schritt für Schritt ver-
folgen kann , man über vieles aufgeklärt wird , was bei ausschliess-
licher Beobachtung des entwickelten Zustandes verborgen bleibt.
Allein man sollte nicht übersehen , dass damit das eigentliche Ent-
456 I^X. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften
stehen und die wirkliche genetische Bedeutung nicht erforscht sind.
Im Individuum kommen grossentheils bloss Anlagen zur Entfaltung,
die durch Erbschaft von den Vorfahren erhalten wurden. Dies gilt
von allen individuellen Erscheinungen, die eine Entwicklungsgeschichte
haben. Zwar ist ja jedes Individuum am phylogenetischen Fort-
schritt betheiligt ; allein sein Antheil ist so winzig klein , dass er
bei solchen Untersuchungen vollständig vernachlässigt werden kann.
Um die genetische Bedeutung irgend einer Erscheinung zu er-
fassen, muss man sie also in den Abstannnungsreihen zurück-
verfolgen bis da, wo sie begonnen hat. Kann dies mit Hülfe der
Beobachtung und der Combination geschehen, so ist auch die Mög-
lichkeit gegeben, die Ursachen der Erscheinung zu erkennen, ob es
innere (Vereinigung getrennter Theile, Complication) oder äussere
(Anpassung an irgendwelche äussere Einflüsse) sind. Zur Zeit als
man die Entwicklungsgeschichte noch nicht als Disciplin kannte,
suchte man durch vergleichende morphologische Betrachtung der
fertigen Zustände die systematische Bedeutung einer Erscheinung
zu bestimmen, und es haben in dieser Beziehung besonders C. Schim-
per, A. Braun und Wydler sehr werth volle Ergebnisse erlangt.
Als dann die Entwicklungsgeschichte nicht nur in bewusster Weise
als wissenschaftliche Forderung, sondern eben so sehr in unbewusster
Weise als Modesache betrieben wurde, kam sie oft in Conflict mit
der früheren vergleichenden Morphologie. Statt beide Methoden in
rationeller Weise zu vereinigen, glaubten die Neuerer, dass die Ent-
wicklungsgeschichte allein ausreichend sei , und dass sie sich über
die vergleichende Behandlung, die ja auch mehr Kenntnisse, mehr
Arbeit und Nachdenken erforderte, hinwegsetzen könnten.
Der Gegensatz trat nur im Gebiete der Phanerogamen recht
auffallend zu Tage, da eigentlich bloss hier sich eine vergleichende
Morphologie ausgebildet hatte, und war besonders für die Auffassung
des Baues der Blüthe und des Blüthenstandes von Wichtigkeit. Mit
Hülfe der ontogenetischen Entwicklungsgeschichte Hessen sich die
Phyllome (Blätter) und ebenso die Caulome (Sprosse) bis auf kleine
ZcUhöcker zurück verfolgen. Damit konnte man nun allerdings Blüthe
nnd Blüthenstand einer Pflanze für sich und unabhängig von anderen
Pflanzen besser als bisher construiren. Man konnte auch die unter-
scheidenden Merkmale zwischen dieser Pflanze und jeder andern in
gleicher Weise untersuchten vollständiger als bisher angeben. Aber
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 457
höher hinaus reichte die neue Methode nicht, und es war eine ge-
dankenlose Ueberhebung, wenn man weiter gelien und vei'\van<lt-
schaftHche systematische Beziehungen, die nur durch die phylogene-
tische Bedeutung der Baupläne gegeben sind, im Widerspruche mit
der vergleichenden Morj)hologie, feststellen wollte.
Die Beobachtung eines primordialen Zellgewebshöckers gestattet
uns ja nicht einmal eine vollständige ontogenetische Entwicklungs-
gescliiclite, indem derselbe in verschiedener Weise aus den Initial-
zellen entstehen und somit eine verschiedene ontogenetische Bedeutung
haben kann, ^^ollends aber können wir aus einer Anordnung von
primordialen Höckern nichts über deren phylogenetischen Zusammen-
liang mit andersartigen Anordnungen ersehen. Der einzelne Höcker
stellt beispielsweise nicht immer eine Blatteinheit dar. Es ist mög-
lich, dass er phylogenetisch aus 2 oder 3 getrennten Blatteinheiten
hervorgegangen ist und somit ein Paar oder eine Dreiheit von Blatt-
einheiten, die im jüngsten Zustande mit einander verschmolzen sind,
bedeutet. Es ist ferner möglich , dass zwei oder mehrere Höcker
phylogenetisch aus einer einzigen Blatteinheit entstanden sind, und
durch das mit dem Caulom verschmolzene Basalgew^ebe ^) zusammen-
hängend , die Theile eines zusammengesetzten Blattes repräsentiren.
Es ist endlich möglich, dass zwischen den vorhandenen primordialen
Höckern andere durch phylogenetische Reduction abortiv geworden
sind, sodass die mikroskopische Beobachtung nichts mehr von ihnen
wahrnimmt.
Es sind dies alles nicht wegzuläugnende Möglichkeiten, und es
ist gar keinem Zweifel unterworfen, dass bald die eine, l)ald die
andere der Wirklichkeit entspricht. Ob mid inwiefern sie in Betracht
zu ziehen sind , muss durch ein vergleichendes Verfahren , das im
wesentlichen nur ein jjhylogenetisches sein karm, festgestellt werden,
und zwar, wie sich von selbst versteht, unter Berücksichtigung aller
einschlägigen Thatsachen, mit grösster Umsicht und Vermeidung
willkürlicher Hypothesen.
Wir kommen, mögen wir von allgemeinen Gesichtspunkten aus-
gehen oder eine bestimmte einzelne Erscheinung zu erklären ver-
suchen, immer zu dem Satze, dass nur die phylogenetische Einsicht
*) Der unterste Theil eines Blattes ist in dmi Gewebe des Stengels ein-
gesenkt, wie sich sehr deutlich an den verkümmerten Blättern von PsUotum zeigt
(f in Fig. 24 c auf S. 413).
458 IX- Morphologie und SysteinatUc als phylogenetisclie Wissenschaften.
uns über die Bedeutung der organischen Einrichtungen und ihre
Stellung im ganzen Bauplan der organischen Natur Auskunft zu
geben vermag. Dabei dürfen wir aber natürlich nie aus dem Auge
verlieren, dass dies nur für die erblichen Eigenschaften der Organismen
gilt. — Ich habe in dieser ganzen Schrift stets darauf hingewiesen,
dass es im Organismus zwei scharf zu trennende Ge])iete gibt,
welche aus ungleichen Ursachen hervorgehen und daher auch eine
ungleiche wissenschaftliche Behandlung verlangen. Es sind 1. das
Gebiet der ererbten Eigenschaften, welche die solide und unveränder-
liche Grundlage der ontogenetischen Entwicklung bilden, und 2. das
Gebiet derjenigen Erscheinungen, welche an jedem Individuum durch
die äusseren Ursachen ontogenetisch bewirkt werden und nicht im Idio-
plasma des Keimes als vererbbare Anlagen auf die Kinder übergehen.
Die scharfe Unterscheidung dieser zwei Gebiete ist die noth-
wendige Bedingung für eine richtige Orientirung in den physio-
logischen und morphologischen Wissenschaften. Man möchte w^ohl
glauben, dass für das Geliiet der von äusseren Ursachen unmittelbar
bewirkten Erscheinungen fast kein Raum übrig bleibe, da dem An-
scheine nach alle sichtbaren Eigenschaften innerhalb der Art und
selbst innerhalb der geringsten Varietäten constant sind , oft selbst
die kleinsten Verschiedenheiten in Form, Grösse, Färbung. Aber
es ist zu berücksichtigen, dass die vollständige Ueberein Stimmung
zwischen Eltern und Kindern zum Tlieil darauf beruht, dass sie
die gleiche äussere Einwirkung namentlich des Lichtes und der
Schwerkraft erfahren. Wenn wir von zwei Samen der nämlichen
Pflanze den einen im Sonnenlichte, den andern in einem finstern
Raiune heranwachsen lassen, so werden die zwei Geschwister sehr
ungleich, und fast noch grösser wäre die Verschiedenheit, wenn
man die eine Pflanze wie gewöhnlich unter dem Einfluss der Schwer-
kraft und die andere olnie diesen Einfluss sich entwickeln lassen
könnte.
Die erblichen Eigenschaften sind eben im Keime nur als An-
lagen vorhanden, deren Entfaltung durch die äusseren Verhältnisse
mehr oder weniger modificirt wird. Die experimentelle Physiologie
zeigt uns, inwieweit die Erscheinungen im Individuum die unmittel-
baren Folgen der äusseren Ursachen sind. Wenn die experimentelle
Behandlung auf alle Ersclieinungen in der Pflanze und zwar in allen
Beziehungen ausgedelujt wird, und wenn es ihr gelingt, alles Ver-
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 459
änderliche und die Normen desselben festzustellen, so entspricht ihr
Inhalt genau dem Gebiet, das ich, als durch äussere Ursachen onto-
genetisch bewirkt, dem Gebiet der erblichen Erscheinungen entgegen-
gesetzt habe. Aber sie muss sich vor der Klippe bewahren , auch
erbliche Dinge in ihren Bereich ziehen zu wollen.
So gehören beispielsweise fast alle Erscheinungen, welche das
Licht an lichtempfindlichen Pflanzen und deren Theilen hervorln'ingt
(aucli die grüne Färbung der Lauborgane, zum Theil die Farben der
ßlüthen etc.), zu dem experimentellen Gebiet. Dagegen ist die
Fähigkeit, in einer gewissen Weise auf den Lichtreiz zu reagiren,
eine geerbte Eigenscliaft ; sie besteht in einer bestimmten cliemisclien
und physikalischen Beschaffenheit der Substanz, welche durch die
Anlagen im Idiojjlasma hervorgebracht wird und welche allen experi-
mentellen Eingriffen unerreichbar ist. Nur wenn ein Versuch mit
einer bestimmten Lichtwirkung durch Jahrtausende fortgesetzt werden
könnte, möchte es vielleicht gelingen, eine bezügliche neue Anlage
zu schaffen oder eine schon vorhandene abzuändern. Das experi-
mentelle Verfahren kann also zugleich dazu dienen, um die Grenze
der beiden Gebiete festzustellen. Da wo die Macht des experimen-
tellen Eingriffes aufhört, beginnt die Herrschaft der erblichen Anlagen.
Dabei darf man sich natürlich nicht durch den Umstand täuschen
lassen, dass es eine Kategorie von Anlagen gibt (die entfaltungs-
vagen), deren Entfaltung dm-ch äussere Ursachen verhindert oder
befördert werden kann. Wenn aber auch das Ergebniss eines Ver-
suches bezüglich der Deutung zweifelhaft w^äre, so kann durcli ein
fortgesetztes experimentelles A^erfahren immer ermittelt werden , ob
die beobachtete Veränderung von einer geerbten entfaltungsvagen
Anlage oder von einer Neuwirkung der äusseren Einflüsse herrühre. —
Die Versuche geben uns also nicht bloss Aufschluss über die Wir-
kungen der äusseren Agentien, sondern aucli über die innere ererbte
Natur der Organismen. Die letztere Bedeutung kommt auch allen
Experimenten zu, die über Kreuzung und Bastardirmig angestellt
werden; dieselben zeigen, welche Anlagen bei der Vermischung
ungleichen Blutes in den latenten oder manifesten Zustand über-
gehen und in welcher Weise die Entfaltung erfolgt.
Ich habe das Gebiet der experimentellen Wissenschaft nur dess-
wegen erwähnt, um das Gebiet der Wissenschaft von den erblichen
Eigenschaften, das hauptsächhch in der äusseren und inneren Mor-
460 I^- Morphologie und Systematik als "pliylogenetisclie Wissenschaften.
phologie besteht, genau zu umgrenzen. Von den rein morphologi-
schen Erscheinungen gehören nur wenige zu den nicht erbHchen
Dingen. Wenn wir die Nalntuig und das Khma, ferner das Licht
und die Schwerki'aft ausnehmen, welclie auf Grösse, Gestalt und
Richtung, überhaupt auf die Quantitäten unmittelbaren Einfluss aus-
üben, so gibt es wohl nur noch den Druck der Theile gegen ein-
ander, wodurch Verschiebungen, und den Druck äusserer Gegenstände,
wodurch vollständige Gestaltsentstellungen entstehen können. Solche
Verschiedenheiten werden immer beobachtet, wenn zwei Individuen
der gleichen A^arietät, am besten zwei Geschwister, unter verschiedenen
Umständen sich befinden; sie lassen den Betrag der von den äusseren
Ursachen hervorgebrachten Modificationen erkemien.
Wachsen aber zwei Individuen verscliiedener Varietäten, Arten,
Gattungen u. s. w. ungehindert unter den nämlichen äusseren Ein-
flüssen, so sind die Verschiedenheiten als Ausdruck der geerbten
Anlagen anzusehen. Handelt es sich nun bloss um die Feststellung
der erblichen (constanten) Unterschiede, so genügt eine genaue Ver-
gleichung, wobei aber wo möglich nicht bloss die entfalteten Indi-
viduen, sondern die ganzen Ontogenien zu vergleichen sind. Handelt
es sich aber um die Bedeutung der Unterschiede im ganzen Aufbau
des Organismus, also um die phylogenetische Bedeutung der betref-
fenden morphologischen Erscheinungen , so gibt es , wie ich bereits
wiederholt betonte, nur einen einzigen wissenschaftlichen Weg.
Die genannten erblichen Erscheiimngen sind da aufzusuchen
und zu betrachten, wo sie in ihren Abstammungslinien entstanden
sind. Denn von jenem Zeitpunkt an sind sie durch Vererbung über-
liefert, dabei aber möglicher Weise mehr oder weniger verändert
worden. Da wo sie entstanden sind, müssen die Ursachen ihres
Entstehens , und wo sie sich abgeändert haben , die Ursachen der
Veränderung studirt w^erden. Es gibt nun manche Fälle, wo die
Bedingungen für eine phylogenetisch-wissenschaftliche Untersuchung
vorhanden sind, und wo sich mit ziemlicher Sicherheit oder doch
mit grosser Wahrscheinlichkeit bestimmen lässt, in welchem Stadium
der Al)stammungslinien und auch durch welche Ursachen eine be-
stimmte Erscheinung hervorgebracht wurde. Ich unterlasse es, hier
wieder einzelne Beispiele aufzuführen, da ich in früheren Abschnitten
(III. Ursachen der A'eränderung S. 102 und VII. Phylogenetische
Entwicklmigsgesetzc S. 'M^'■J) gezeigt ha])e, wie nach meiner Ansicht
IX. Morphologie und S5'stematik als phylogenetische Wissenschaften. 461
die verschiedenen Kategorien der organischen Bildungen aufzu-
fassen sind.
Es ist früher und auch in neuerer Zeit versucht worden, orga-
nische Bildungen nach irgend welchem Axiom zu construiren. Das
Axiom wurde ohne Begründung hingestellt, auf die Ursachen nicht
eingetreten, die Hypothese auch den widerstrebenden Thatsachen
aufgezwungen oder letztere ignorirt. Ein solches Verfahren ist ein
Nachklang aus der naturphilosophischen Epoche , wenn auch der
Flug minder kühn geworden ist. Wir verlangen aber jetzt einer-
seits ein streng objectives Verfahren mit genauer Beobachtung des
Thatsächlichen und andrerseits streng logische Folgerungen aus
sicheren Thatsachen oder Gesetzen. Soweit die sinnliche Wahr-
nehmung reicht, darf kein beobachtetes Factum der aufgestellten
Theorie widersprechen, oder es müssen für die Ausnahmen [die Ur-
sachen nachgewiesen werden. Verhältnisse, welche jenseits der sinn-
lichen Wahrnehmung liegen, dürfen nur auf Grund ganz sicherer
physikalischer und chemischer Thatsachen mit Hülfe eines exacten
mechanischen Verfahrens beurtheilt und entschieden werden.
Dies sind ja die Grundsätze, die allgemein gültig für die mo-
derne Wissenschaft sind, wodurch sie sich als exacte Methode von
dem früheren Meinungsverfahren unterscheidet. Ist aber die zu
beurtheilende Bildung organischer Natur, so muss nach den vor-
ausgehenden Erörterungen zuerst entschieden werden, ob sie dem
erblichen Gebiet angehöre oder nicht, und ob sie demnach nach
der phylogenetischen oder nach der experimentellen Methode zu
entscheiden sei.
Ich hebe noch einmal ausdrücklich hervor, dass nach meiner
Ansicht die Bedeutung einer jeden vererbten, physiologischen oder
morphologischen Erscheinung im Bauplane des ganzen Pflanzen- .
reiches nur auf dem phylogenetischen Wege erforscht werden kann,
und ich wiederhole dies, um bei der Besprechung der andern Auf-
gabe, nämlich der systematischen Bedeutung der einzelnen Pflanzen-
sipjDcn, nicht missverstanden zu werden. So leicht verhältinssmässig
der phylogenetische Nachweis bezüglich der einzelnen Theilerschei-
nungen einer Ontogenie gelingt, so schwer oder unausführbar ist
meistens der phylogenetische Nachweis für die ganze Ontogenie, mid
also auch für die Sippe. Man schlägt gewöhnlich das umgekehrte
Verfahren von demjenigen ein, das man nach meiner Ansicht anwenden
4C)2 I^- ^lorphologie und Systematik als i)hylogeuetische Wissenschaften.
sollte. Man beschäftigt sich nämlich viel mit der Abstammung der
Pflanzensi^^pen, aber nicht mit der Herleitmig der einzelnen Organe
und Tlieile der Pflanzen , und doch muss diese vorausgehen und
den Boden iür jene bereiten. Um die phylogenetische Bedeutung
jeder einzelnen Theilerscheinung der Ontogenie zu bestimmen, kann
man dieselbe überall, wo sie vorkommt, benutzen. Um die phylo-
genetische Bedeutung der ganzen Ontogenie, also der Sippe, fest-
zustellen, muss eine Reihe von Sippen gefunden werden, in der
alle Einzelerscheinungen von einander abstammen , was sehr selten
möglich ist.
Wenden wir uns nun zu der Frage, inwiefern die sj'^stematische
Bedeutung der Pflanzensippen phylogenetisch erkannt werden könne,
und was aus den bisherigen Ergebnissen bezüglicli des Stammbaums
oder besser der Stammbäume des Pflanzenreiches für die Construction
des Pflanzensj'stems folge. Nach der bisherigen Abstammungslehre
ist diese Frage, wenigstens theoretisch, entschieden; phylogenetische
und System atisclie Verwandtschaft sollen identische Begriffe sein.
Sagt doch Darwin, »die Gemeinsamkeit der Abstammung (die
einzige l)ekannte Ursache der Aehnlichkeit organischer Wesen) sei,
wie er glaube, das durch mancherlei Modificationsstufen verborgene
Band, welches durch unsere natürliche Classification theilweise ent-
hüllt werden könne«, und Häckel geradezu: »Das natürliche System
ist der Stannnbaum der Organismen«.
Dies wäre nun auch als theoretischer Satz unbedingt zuzugeben,
wenn die Reiche einen einheitlichen (monophyletischen) Ursprung
hätten, wie man sich das wohl ursprünglich vorstellte. Eine solche
Vorstellung ist aber unnatürlich und darf l)ei wissenschaftlichen
Erörterungen nicht in Betracht gezogen werden. Als die Verhältnisse
auf der Erde sich so gestaltet hatten, dass Eiweiss spontan entstehen
und sich organisiren konnte, musste Urzeugung überall auf der Erd-
oberfläche, wo die günstigen Umstände zusammentraten, stattfinden, und
sie musste späterhin immer eintreten, wo die nämlichen Bedingungen
gegeben waren. Wenn nun aber im Anfange einerseits am Nordpol,
andrerseits am Südpol, wo die für organisches Leben nothwendige
Temperaturerniedrigung zuerst eintrat, sich Organismen aus unorgani-
schen Verbindungen bildeten, ferner wenn in der Urzeit, dann zur
IX. ^lorphologie und S\stematik als phylogenetische Wissenschaften. 463
Kohlenzeit und in allen andern Perioden unserer Erde Organismen
entstanden sind, so kann man doch für die von diesen verschiedenen
Anfängen ausgehenden phylogenetischen Linien keine Gemeinsamkeit
der Abstammung und keine Blutsverwandtschaft in Anspruch nehmen,
wenn sie einander auch noch so ähnlich ausfallen möchten.
Um diese unbequeme Consequenz abzuschwächen, sieht sich
Häckel denn auch zu dem Ausspruche genöthig-t, dass »der scheinbar
sehr bedeutende Gegensatz zwischen der monophyletischen und der
polyphyletischen Hypothese im Grmide von sehr geringer Wichtigkeit
sei«, da ja beide auf Moneren zurückgehen m.üssten. Er nimmt
übrigens den monophyletischen Ursprung der Organismen als den
wahrscheinlicheren an, indem er behauptet, dass die Stammform
einer jeden grösseren oder kleineren Gruppe nur einmal im Laufe
der Zeit und nur an einem Orte der Erde entstehen konnte. —
Mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Lehre ist es ja ganz klar,
dass die monophyletische Hypothese für eine übersichtliche Dar-
stellung sich als sehr bequem erweist, aber es ist zugleich wahr,
dass eine solche Darstellung , indem sie die systematische Ver-
wandtschaft in dem Prokrustesbett zustutzt, nur eine oberflächliche
werden kann.
Gegen den monophjdetischen Ursprung der Organismen sprechen
eben so sehr die Gründe einer richtigen Theorie als die Thatsachen
der Erfahrung. Was die Theorie betrifft, so ist der merkwürdige
Ausspruch Häckel's, die Verschiedenheit zwischen dem einfachen
und dem vieKachen Ursprung sei ohne Belang, offenbar eine Folge
seiner Hypothese, dass die einfachsten Organismen mit den Eiweiss-
molekülen identisch seien. Die Unhaltbarkeit dieser Hypothese ist
bereits in dem Abschnitt über die Urzeugung nachgewiesen worden.
Wenn auch das allererste Product der Urzeugung als Eiweissmolekül
überall das nämliche ist, so gestatten doch die vielen Millionen von
Eiweissmolekülen , die ein ursprünglicher Plasmatropfen enthält,
in der Micellbildung und in der Zusammenordnung der Micelle
eine fast unendliche Zahl von Combinationen , welche durch die
äusseren Einflüsse bestimmt werden. Wir können mit vollster
Sicherheit annehmen, dass nicht zweiUrzeugungen identisch sind. Es
werden somit den autonomen Entwicklungsbewegungen schon von
Anfang an verschiedene Richtungen angewiesen, die, wenn auch
zuerst und vielleicht durch lange Zeiträume unmerkHch klein, doch
4G4 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.
sich stetig steigern und endlich deutlich hervortreten müssen. Ferner
bedingen, sobald einmal einfachste Organismen gebildet sind, die
äusseren Einflüsse Anpassungsänderungen, welche zu verschiedenen
Zeiten und auf verschiedenen Punkten der Erdoberfläche ungleich
ausfallen müssen, und die bei der weiteren phylogenetischen Aus-
bildung ebenfalls, wenn auch in geringerem Maasse, mitwirken.
Die polyphyletische Abstammung der Reiche hat also jedenfalls
eine andere Bedeutung als die monophyletische , selbst dann, wenn
nur in der Urzeit spontane Bildung von Organismen statt gefunden
hätte. Von besonderer Wichtigkeit aber ist der Gegensatz zwischen
einmaliger und fortdauernder Urzeugung; denn die Beschaffenheit
der organischen Reiche in der Gegenwart muss offenbar wesentlich
verschieden ausfallen, wenn alle Organismen ohne Ausnahme von Wesen
der Urzeit abstammen, oder wenn je die Stammbäume der einfacheren
Organismen in immer späteren Perioden ihren Ursprung hatten.
Die entscheidende Frage ist also : Hat die spontane Entstehung
nur einmal, nämlich beim Beginn des organischen Lebens, oder hat
sie zu allen Zeiten stattgefunden? Nach meiner Ansicht, — die icli
stets gehegt und namentlich auch in der Schrift »Entstehung und
Begriff der naturhistorischen Art« 1865 Anmerkung: »Gibt es eine
Urzeugung?« verfochten habe, — lässt sich bloss die letztere
der zwei Annahmen wissenschaftlich begründen. Die theoretischen
Gründe dafür ergeben sich aus den Bedingungen der Urzeugung, die
ich oben (S. 83 ff.) erörtert habe. Wenn einmal aus unorganischen
Stoffen organische Verbindungen und Organismen entstehen konnten,
so musste dies stets eintreten, wo und wann jene Bedingungen vor-
handen waren.
Was die Erfahrung betrifft, so spricht die gegenwärtige Be-
schaffenheit der organischen Reiche entschieden zu Gunsten der
Annahme, dass zu allen Zeiten Urzeugung stattgefunden habe. Im
Pflanzen- und Thierreich sind alle Stufen der Organisation, auch die
allereinfachsten , als Spaltpflanzen (Schizophyten) und Moneren ver-
treten, und wenn die noch einfacheren Wesen, die nach meiner
Theorie den letztgenannten vorausgehen müssen und die ich Probien
genannt habe, zu mangeln scheinen, so erklärt sich dies zur Genüge
aus dem Umstand, dass sich dieselben wegen ihrer Kleinheit und
wegen ihrer übrigen noch so wenig ausgesprochenen Eigenschaften
der Beobachtung entziehen.
IX. ^Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 4G5
Das jetzige Vorhandensein einfachster Pflanzen und Thiere ist
nach der gewöhnHchen Annahme dadurch zu erklären, dass sie seit
der Urzeit auf der nämhchen Organisationsstufe stehen gebhehen sind,
nach meiner Theorie dagegen, dass sie erst in einer der letzten geologi-
schen Perioden sich gebildet haben. Um die Wahrscheinlichkeit der
einen und andern dieser beiden Annahmen zu prüfen, haben wir
uns die zwei Fragen vorzulegen : Ist es denkbar, dass ein Organismus
während der Dauer der organischen Reiche, also sozusagen während
unbegrenzter Zeit, beinahe unverändert fortlebe? Wie muss eine
sehr alte Sippe beschaffen sein?
Die erste Frage muss icli nacli der Theorie, die ich in dieser
ganzen Schrift ausgeführt habe, verneinen. Wenn wir die Conse-
quenzen, die sich aus den inneren Ursachen der Veränderung ergeben,
berücksichtigen, und damit dasjenige, was wir aus Erfahrung über
die Entwicklungsgeschichte der organischen Reiche wissen, ver-
gleichen, so müssen wir zu dem Schlüsse gelangen, dass das Idio-
plasma sich sehr langsam aber stetig fortbildet und dass die Orga-
nismen dem entsprechend in Bau und Verrichtungen immer complicirter
werden, — ferner dass, wenn in manchen Abstammungslinien das
Idioplasma und mit ihm die Gesammtheit der Entfaltungsmerkmale
auf einen Punkt kommen, wo ein weiterer Fortschritt nicht möglich
ist, dann die Sippe längere Zeit, als es sonst der Fall wäre, unver-
ändert fortbesteht, aber nach einer begrenzten Zeit nothwendig zu
Grunde geht.
Diese Ansicht stimmt offenbar auch besser mit der Thatsache
überein, dass zwischen Phylogenie und Ontogenie eine gewisse Ueber-
einstimmung herrscht und dass die Ontogenie die Entwicklungsstufen,
welche die Phylogenie durchlaufen hat, in morphologischer Beziehung-
wiederholt. Die Ontogenie macht dabei keine langen Pausen und
bringt ein Entwicklungsstadium nicht eine unbestimmte Zahl von
Malen hervor, sondern geht stetig von einem Stadium zum folgenden.
Man darf nun wohl erwarten, dass es sich mit ihrem Urbild ebenso
verhalte und dass die Phylogenie ebenfalls nicht auf irgend einer
Stufe unbegrenzt stehen bleibe, sondern nothwendig zu einem w^jtern
Schritt oder zum Untergang gedrängt werde. Dabei kann aller-
dings die phylogenetische Fortschrittsbewegung in den verschie-
denen Abstammungslinien eine ziemlich ungleiche Geschwindigkeit
besitzen.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 30
4G6 IX- Moriiliologio und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.
Prüfen wir nun die andere Frage, wie nämlich eine Sippe be-
schaffen sein müsse , die während nngewöhnhch langer Zeit miver-
ändert blieb, somit als alt bezeichnet werden muss. Hiezu ist folgendes
über die Sippenbildung zu bemerken. Die autonome Veränderung,
welche , wenn sie weit genug gediehen ist , eine höhere Stufe der
Organisation herbeiführt, findet gleichmässig in allen Individuen
der einförmigen Sippe statt, weil ja alle das nämliche Idioplasma
besitzen. Die A^eränderung durch äussere Reizeinflüsse, welche die
Anpassungen verursachen, erfolgt ungleichmässig und macht die
Sippe vielförmig. Die entstehenden Formen bilden sich mit der
Zeit weiter aus und werden zu Varietäten , Arten , Gattungen ;
zugleich variiren sie von neuem, sowie die äusseren Einflüsse sich
dauernd verändern. Die Variation hält aber nur so lange an, als
das Idioplasma in autonomer phylogenetischer Fortbildung begriffen
ist und somit auch gegenüber den äussern Reizeinwirkungen sich
als bildungsfähig erweist.
Es kann also zweierlei geschehen. Entweder dauert die auto-
nome Entwicklung des Idioplasmas fort: dann gelangen die aus der
ursprünglichen Sippe durch ungleiche Anpassung hervorgegangenen
Sippen, die einen früher, die andern später, auf eine höhere Stufe
des Baues und der Verrichtungen, wo die Variation durch äussere Ein-
flüsse ein neues Feld der Thätigkeit findet. Oder die autonome Fort-
bildung des Idioplasmas wird aus irgendwelchen Ursachen unmöglich
und hört auf: dann steht auch die Variation still, und da die von
der ursprünglichen Sij)pe abstammenden Sippen sich nicht mehr
vermehren, so nehmen sie an Zald ab und verschwinden zuletzt ganz,
weil bald die eine bald die andere verdrängt wird oder vor Alters-
schwäche zu Grunde geht.
Demnach wird es auf allen Organisationsstufen Sippen in jedem
Entwicklungsstadium, also auch altersschwache und aussterbende
geben, und viele Organisationsstufen sind in dem jetzigen Reiche
gar nicht vertreten , weil ihre Repräsentanten entweder auf eine
höhere Stufe vorgerückt oder ausgestorben sind. Als eine alters-
schwache und aussterbende Gruppe gibt sich im Pflanzenreiche die
Familie der Cycadeen zu erkennen. Aber auch andere Familien
stehen, wenn auch nicht in so offenkundiger Weise, auf dem Aussterbe-
etat, ebenso viele einzelne Gattungen und Arten.
Wenn entsprechend der gewöhnlichen Annahme die spontane
IX. Morphologie uml Systciinitik als i)]iyloä:enotisclie Wissenschaften. 467
Entstehung der Pflanzen nur im Anfange stattgefunden hätte, so
wären unter den jetzt lebenden Sippen die niedrigsten (einzelhgen)
als die ältesten, die liöchsten dagegen (angiosperme Phanerogamen)
als die jüngsten zu betrachten. Nun scheinen mir aber gerade die
allerniedrigsten Pflanzen, die ganze Gruppe der Schizophyten, ganz
entschieden den Charakter einer noch sehr jungen und nicht einer
sehr alten Gruppe an sich zu tragen. Denn die Vielförmigkeit in
den Sippen ist so gross, die Formen sind einander so nahe stehend
und in einander übergehend, dass Varietäten, Arten, Gattungen sich
nicht sicher trennen lassen. Die Chroococcaceen, die Nostochaceen,
die Oscillariaceen , die Scytonemaceen , die Rivulariaceen , die Spalt-
pilze sind in dem Zustande, wie man es von noch ganz jungen
Familien erwarten möchte. Wie die unterste Gruppe der Pflanzen,
die Schizophyten, verhält sich im wesentlichen auch die nächst
folgende, die der (einzelligen) Palmellinen (Protococcoiden), nur dass
sieh hier die einzelnen Sippen schon schärfer herausheben.
Meiner Ansicht nach haben die Abstammungslinien der jetzt
lebenden Pflanzen zu den verschiedensten Zeiten der Erdgeschichte
begonnen. Diejenigen der Schizophyten sind die jüngsten, die der
Palmellinen sind im Durchschnitt etwas älter, die der Conjugaten
und Diatomeen noch älter, u. s. f.; die ältesten Abstammungslinien
sind die der Phanerogamen. Wenn von den in der Urzeit entstandenen
Wesen noch Abkömmlinge vorhanden sind, so müssen wir sie jedenfalls
unter den höchsten Phanerogamen suchen. Es ist aber auch mög-
lich , dass alle Abstammungslinien der ersten Zeit schon in den
Lepidodendreen , Calamiteen , Asterophylliten , Sigillarien oder noch
früher in uns unbekannten Gruppen ausgestorben sind.
Die Abstammungsreihen der Pflanzen sind aber verschiedener
Art. Es gibt solche Anfänge, die sich stets und überall bilden ; ihre
Abkömmlinge stellen scheinbar eine zusammenhängende Entwicklungs-
reihe dar. Hieher sind zu rechnen die Palmellinen', Confervoiden,
Moose, Gefässkryptogamen, Phanerogamen. Andere Abstammungs-
reihen bilden sich seltener und haben auch eine beschränkte Fort-
bildungsfähigkeit. Hieher gehören nach meiner Vermuthung die
Schizoph}i;en ; es gibt keine höhere Pflanzengruppe, die man mit
einiger Wahrscheinhchkeit von einer schizophytenähnlichen Pflanze
herleiten könnte. Ob und wie weit die Schizophyten sich phylo-
genetisch noch entwickeln werden, lässt sich nicht bemessen.
30*
468 IX. ^Morphologie und S\'steinatik als phylogenetische Wissenschaften.
Die Diatomeen haben eine noch viel ausgesprochenere Eigen-
artigkeit; es gibt keine niedere Pflanze, von der man vermuthen
dürfte, dass ihre Abkömmlinge diatomeenähnlich werden könnten,
und keine höhere Pflanze, die von einer diatomeenähnlichen Pflanze
abzuleiten wäre. Ich möchte glauben, dass die Diatomeen sich phylo-
genetisch überhaupt nicht weiter bilden können.
Je isolirter und eigenartiger eine Pflanzensippe ist, um so eher
können wir annehmen, dass die ihr entsprechenden Anfänge sich
selten bilden und dass die Abstammungslinien derselben eine be-
schränkte Entwicklungsfähigkeit besitzen. An die Diatomeen und
Schizophyten schliessen sich in dieser Beziehung die Florideen und
vor allem aus die Myxomyceten an, deren Zugehörigkeit zum Pflanzen-
reiche mir übrigens sehr zweifelhaft ist.
Es können aber auch von den gewöhnlichen und häufig sich
bildenden Anfängen aus früher oder später sich eigenartige Abstam-
mungslinien von beschränkter Entwicklungsfähigkeit abzweigen. Die
Siphoneen, C'onjugaten, Characeen geben uns Beisj^iele hievon.
Das Pflanzenreich in seiner historischen Totalität ist sonach
nicht ein einziger, sehr stark verzweigter phylogenetischer Stamm,
noch auch mehrere Stämme, die gleichzeitig von identischen Anfängen
ausgegangen wären und somit gleichsam als Aeste desselben Stammes
angesehen werden könnten. Sondern das Pflanzenreich, — und
ebenso verhält es sich mit dem Thierreiche — als der Inbegriff aller
der vegetabilischen Formen, die je gelebt haben, besteht aus einer
Unzahl von phylogenetischen Stämmen, welche zu allen Zeiten und
an den verschiedensten Stellen der Erdoberfläche ihren Ursprung
genommen haben, eine ungleiche Dauer, Entwicklungshöhe und Ver-
zweigung erreicht haben und zum grössten Theil ausgestorben sind.
Die jetzt lebenden Pflanzen sind Enden von zahlreichen Abstammungs-
linien , welche verschiedene Geburtsstätten und ein verschiedenes
Alter besitzen und somit in keiner genetischen Verwandtschaft zu
einander stehen.
Wie viele verwandte Arten und Gattungen demselben Stamme
angehören, lässt sich nie mit Sicherheit bestimmen. Wir sind geneigt,
einförmige Familien, wie die Cruciferen, die Gramineen etc. als Ab-
kömmlinge eines einzigen Stammanfanges zu betrachten; und wir
können dafür wohl eine grosse Wahrscheinlichkeit, aber keine absolute
Gewissheit in Ans])rucli nehmen. Es ist ferner ganz gut möglich,
IX. Morphologie und .Sj'stt'iiuitik als phylogenetische Wissenschaften. 460
dass mehrere oder viele Pflanzenfamilien von einem Punkte aus-
gegangen und somit phylogenetisch verwandt sind ; aher es ist ebenso
gut denkbar, dass jede derselben einen besonderen Ursprung hat,
dass die Gräser und Halbgräser, der Apfelbaum und der Kirsch-
baum, der Haselnussstrauch und der Eichbaum, ebenso im Thierreiche
der Fisch und das Amj^liibium, der Affe und der Mensch in keinem
genetischen Zusammenhange stehen und ihre besonderen Abstam-
mungslinien besitzen. Das schliesst nicht aus, dass ihre Ahnen
einander no(ih ähnlicher waren, als sie selbst es sind; es ist dies
sogar gewiss, da die Abstammungslinien nicht anders als diver-
girend gedacht werden können. Wir dürfen auch immerhin sagen,
die Phanerogamen stammen von Gefässkryptogamen, diese von Leber-
moosen, der Mensch vom Affen u. s. w. ab ; aber diese Redensart ist
nur bildlich zu verstehen, insoferne die Ahnen der jetzigen Organismen,
wenn vdr sie etw^a aus palaeontologischen Ueberresten kennten, aller-
dings in die Gruppe der Gefässkryptogamen, Lebermoose, Affen zu
stellen wären; denn die systematische Verwandtschaft setzt keines-
wegs die genetische voraus.
Wenn Darwin sagt, die Gemeinsamkeit der Abstammung sei
die einzige bekannte Ursache der Aehnlichkeit organischer Wesen,
und wenn Häckel behauptet, dass die Stammform einer jeden
grösseren oder kleineren Gruppe nur einmal und nur an einem
Orte entstehen konnte, so ist solchen Aussprüchen gegenüber doch
daran zu erinnern, dass die Erfahrung von keiner einzigen Art die
Abstammung kennt, und dass die Theorie zur Sache nichts anderes
beizubringen vermag als das unzweifelhafte Axiom, dass gleiche
Ursachen gleiche Wirkungen und ähnliche Ursachen ähnliche Wir-
kungen haben. Es ist unbestreitbar, dass mehrere oder viele Urzellen,
die unter den nämlichen Verhältnissen, aljer unabhängig von ein-
ander, spontan entstanden sind, w^enn ihre Abstammungshnien während
gleichlanger Zeit unter gleichen Verhältnissen sich entwickeln, auch
zu ganz ähnlichen Organismen führen müssen.
Ueber die Möglichkeit, dass zwei einander mehr oder weniger
nahe stehende Organismen der gegenseitigen Blutsverwandtschaft ent-
behren, kann also kein Zweifel obwalten. Eme ganz andere Be-"
wandtniss hat es mit dem Grade der Wahrscheinlichkeit, ob
Blutsverwandtschaft bestehe oder nicht. AVenn wir alle Umstände
in Betracht ziehen, die seit dem Ursprung einer Abstammungslinie
470 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische "Wissenschaften.
bis auf den heutigen Tag mit deren Entwicklung verknüpft waren und
auf die ich hier nicht näher eintreten will, so kommen wir nothwendig
7A\ folgendem Schlüsse. Für einen bestimmten Grad der systemati-
schen Verwandtschaft nimmt wegen der Divergenz der Abstammungs-
linien die Wahrscheinlichkeit der gemeinsamen Abstammung zu, je
höher entwickelt der Organismus ist, d. h. je länger die phylogene-
tische Entwicklung gedauert hat. Bei den allerniedrigstcn Organismen
können wir für zwei nahe verwandte Arten keine Blutsverwandt-
schaft behaupten, während wir sie für die Gattungen einer ganzen
Familie in den höheren Regionen der Reiclie für äusserst wahr-
scheinlich erachten. — Von grosser Wichtigkeit ist auch das Ver-
halten der Sippen zu einander. Zwei extremen Gattungen oder Arten,
die nicht den niedrigsten Classen angehören, werden wir die Bluts-
verwandtschaft kaum absjo rechen können, wenn sie durch eine Reihe
von Zwischengattungen oder Zwischenarten innig verbunden sind.
Die allseitige Blutsverwandtschaft der jetzt lebenden Organismen
und ebenso das phylogenetische System sind also in Wirklichkeit
nichts weiter als ein schöner Traum; sie können aber wegen der
Einheit der gesetzmässigen Entwicklung, welche durch die ganzen
organischen Reiche besteht, in symbolischer Weise als allge-
meine Norm gelten , da die Organismen , wenn sie auch genetisch
nicht verwandt sind, sich doch im grossen und ganzen so zu ein-
ander verhalten, als ob diese Verwandtschaft bestände.
Im einzelnen jedoch findet das Symbol der genetischen Ver-
wandtschaft im Pflanzenreiche nur sehr beschränkte Anwendung.
Soweit es aber zulässig erscheint, lässt sich der Werth der systema-
tischen Verwandtschaft in einigermaassen theoretisch genauer Weise
bestimmen , wenn wir von dem Anpassungsgepräge absehen und
uns nur an die durch die autonome Entwicklung erzeugten Organi-
sationsmerkmale halten. Die Verwandtschaft ist eine zweifache, je
nachdem die zu vergleichenden Sippen der gleichen oder verschie-
denen phylogenetischen Linien angehören. Im ersten Falle ist es
Verwandtschaft in auf- oder absteigender, im zweiten Verwandt-
schaft in Collaterallinien, analog A\ie im Erbrecht.
Der Grad der erstgenannten Verwandtschaft wird bestimmt
durch die Entfernung der zwei Sippen in ihrer Abstammungslinie,
d. h. von der Zahl und Grösse der phylogenetischen Stufen, welche
durchlaufen wurden, um die eine Sippe in die andere überzuführen, —
IX. Morphologie und Systriuatik als i)liylogeiieti.sdie Wissenschaften 471
der Grad der collateralen Verwandtschaft dagegen durch die Ent-
fernung von dem Punkte, von welchem die beiden Abstanimnngs-
hnien ausgegangen sind, d. h. durch die Zahl der phylogenetischen
Stufen, welche durchlaufen wurden, um die gemeinsame Ahnensij^pe
in die beiden fraglichen Sippen umzuwandeln.
In beiden Verwandtschaf tsf allen handelt es sich darum, ob die
zu vergleichenden Sippen, sei es mrklich oder bildlich, von einander
abstammend gedacht werden können. Ihre Beziehungen sind nach
den oben festgestellten phylogenetischen Gesetzen (S. 336) zu be-
urtheilen, wobei als allgemeine Regel festzuhalten ist, dass die Orga-
nismen in ihrer ontogenetischen Entmcklungsgeschichte die voraus-
gehende phylogenetische Reihe in abgekürzter Form durchlaufen.
Letzteres gilt schon längst als Erfahrungssatz ; die ursächliche
Erklärung gibt uns die Theorie des Idioplasmas. Die Anlagen ent-
stehen im Idioplasma nach Maassgabe, als sich die Abstammungs-
linie entwickelt, und gelangen in jeder Ontogenie, da die Art mid
Weise ihrer Einordnung eine phylogenetische ist, auch in gleicher
Reihenfolge zur Entfaltung (S. 49 f.). Die Ontogenie ist deshalb die
Wiederholung der Phylogenie ; aber die früheren Stadien werden im
allgemeinen wegen der Reduction, die fortwährend im Lauf der Ab-
stammungslinie thätig war, rasch zurückgelegt. — Unter Umständen
können ausnahmsweise aber auch einzelne frühere Stadien der Onto-
genie auf höheren Stufen der phylogenetischen Reihe von längerer
Dauer sein, eine Amphation erfahren und neue Differenzirungen
oder andere phylogenetische Fortbildungen eingehen, während diese
Veränderungen gewöhnlich nur in den späteren Stadien der Onto-
genie auftreten.
Die phylogenetische Erkenntniss einer Sippe setzt voraus, dass
wir wissen, woraus sie entstanden ist, somit welcher Abstammungs-
linie sie angehört. Damit zwei Sippen als Stufen der gleichen i:)hylo-
genetischen Reihe angesehen werden können, muss sich nachweisen
lassen, dass die Ontogenie der tieferstehenden mit der entsprechenden
Partie in der Ontogenie der höherstehenden übereinstimme und dass
somit die letztere sich als phylogenetische Fortbildung aus der ersteren
betrachten lasse. Dabei darf der Aehnlichkeit im äusseren Ansehen
und im mneren Bau wenig Bedeutung beigemessen werden, da die
eine und die andere auf verschiedenem Wege zu Stande kommen
kann.
472 I^- ^lorpliologie und Systematik als jjliylcjgenctisclie Wisscnsoliaftcn.
Um die Methode der Behandlung bezüghch der Abstammung
deuthcher zu machen, will ich als Beispiel die phylogenetische
Hauptreihe der Pflanzen betrachten, welche von den Confervoiden
durch die Lebermoose zu den Gefässkryptogamen und Phanerogamen
aufsteigt und deshalb Schwierigkeiten darbietet, weil sie nur sehr
lückenhaft unter den lebenden Pflanzen vertreten ist.
Wenn wir von einer solchen phylogenetischen Reihe sprechen
und als Durchgangspunkte derselben jetzt lebende Pflanzen be-
zeichnen , so hat das nach dem früher Gesagten nur bildliche Be-
deutung, insofern als die jetzigen Phanerogamen von vorweltlichen
Gefässkryptogamen, diese von lebermoosartigen Pflanzen einer früheren
Periode und diese von Confervoiden einer noch früheren Zeit ab-
stammten. Von den zwei grossen Lücken in dieser Reihe befindet
sich die eine zwischen Lebermoosen und Algen. Wir fragen uns
nun, w^elcher bekannten Alge die Ahnensippe, von der die Leber-
moose herstammen, wohl ähnlich gewesen sein mag. Die äusseren
Merkmale scheinen deutlich auf Coleochaete hinzuweisen. Diese
Pflanze hat einige Merkmale, wodurch sie gleichzeitig von den
übrigen Süsswasseralgen abweicht und den Lebermoosen ähnlich
ist. Ihre gegliederten Fäden legen sich zusammen und bilden ein
flächenförmiges Thallom , w^elches einige äussere Aehnlichkeit mit
den einfachsten Lebermoosen hat; das Oogonimn verlängert sich in
einen Hals, so dass man es als die Urform der Archegonien in An-
spruch nehmen möchte; nachträglich mrd das Oogonium berindet,
so dass die Oospore eingeschlossen ist, ähnlich wie die Eizelle im
Archegonium.
Doch sind diese Analogien zwischen Coleochaete und den Leber-
moosen nur scheinbar und dürfen uns nicht irreleiten. Vergleichen
wir die Ontogenie der ersteren mit derjenigen der letzteren, so finden
wir einen wesentlichen Unterschied im Generationswechsel. Die Onto-
genie der Coleochaete besteht, in analoger Weise wie bei Oedo-
gonium, in den Generationen (vgl S. 433, 453)
B,...B„ CDA,
diejenige eines Lebermooses in den zwei Generationen
(i>\...£,. + (7) [I)-\-Ä).
Die Frage ist nun, ob die Generationenreihe von Coleochaete
B^ . . . B„ -\- C phylogenetisch in eine einzige Generation, mit anderen
IX. Morphologie und Systematik als jihylogeiietisehe Wis^seuschaften. 473
Worten in das Thallom der Lebermoose übergehen könne. Dies
stellt sich uns nach dem , was wir aus anderen Fällen wissen, als
ganz unwahrscheinlich dar. Es konnnt zwar häufig vor, dass auf
der niederen Stufe die Ontogenie aus einer grösseren, auf der höheren
Stufe aus einer geringeren Zahl von Generationen besteht. Der
Uebergang geschieht aber dadurch, dass die Generationen vereinigt
bleiben und ein vergrössertes Individuum darstellen. So wird aus
einer Generationenreihe einzelliger Pflanzen eine einzige ^äelzellige
Pflanze. Es ist mir nun kein sicheres Beispiel dafür bekannt, wie
eine Generationenreihe vielzelliger Individuen zu Einem Indi-
viduum sich umbildet. Sehr j^lausibel wäre der Uebergang in eine
Pflanze mit einer Mehrzahl von Sprossgenerationen, indem jede
Generation der niederen Stufe zum Spross der höheren Stufe würde.
In dem vorliegenden Falle aber müsste eine ganze Reihe von Coleo-
chaetethallomen zu einem einzigen denselben ähnlichen Lebermoos-
thallom werden, was nur durch Reduction geschehen könnte. Ob
nun die Verminderung einer Generationenreihe auf eine einzige Ge-
neration wirklich durch Reduction erfolgen kann , lässt sich wohl
noch nicht sicher entscheiden, ist aber nicht gerade wahrscheinlich.
M^'enn dies aber bei Coleochaete geschehen sollte, so müsste ihr
Thallom zugleich in dasjenige eines Lebermooses sich umbilden, ein
phylogenetischer Process , dessen Möglichkeit sich wohl ebenfalls-
noch nicht beurtheilen lässt. Ohne hierüber in eine Besprechung
einzutreten, will ich bloss bemerken, dass mir, wenn ich alle L'^m-
stände berücksichtige , die Entstehung des Lebermoosthalloms aus
einer Ulothrix-ähnlichen Pflanze viel wahrscheinlicher vorkommt.
Was die Abstammung des Moosarchegoniums aus dem Oogonium
von Coleochaete betrifft , so ist die Berindung des letzteren , da sie
erst nach der Befruchtung entsteht und eine andere morphologische
Bedeutung besitzt, eher ein Grund gegen jene Abstammung; denn
die fragliche Berindung hätte bei der j^hylogenetischen Umwandlung
wieder verschw^nden müssen. Aber auch die Umwandlung des
Oogoniums in das Archegonium muss ich nach phylogenetischen
Gesetzen für unmöglich halten, wenn es mir auch wahrscheinlich
ist, dass die halsartige Verlängerung bei beiden durch analoge Ur-
sachen herbeigeführt AMirde.
Für die Abstammung der Lebermoose möchte ich im Anschluss
an sichere bekannte Vorgänge folgende A^erniuthung aufstellen. Die
474 I^- Mori>hologie und Systeiiuitik als pliylogenetisclie Wissensfliaftfii.
ZU den Algen gehörende Ahnensippe hatte aussenständige einzeUige
Sporangien, von denen die einen männüche, die anderen weiljhche
Schwärmsporen in grösserer Zahl erzeugten. Durch das Zusammen-
wirken zweier phylogenetischer Processe, nämlich durch das Streben
nach Differenzirung und nach Vereinigung, wurden die männlichen
Sporangien zu Antheridien, die weiblichen zu Archegonien. Bei beiden
ging die Schwärmsporenbildung, indem die Zelltheilung durch Amplia-
tion zunahm, zum Theil in den vegetativen Zustand über, wobei
die unteren und äusseren Zellen zu Stiel und Wandung wurden und
nur die inneren, einer späteren Zellgeneration angehörenden Zellen
ihren reproductiven Charakter beibehielten. Damit hatten die An-
theridien im Avesentlichen den Bau erreicht, den sie bei den Moosen
besitzen. Die weiblichen Organe aber mussten überdem , um zu
Moosarchegonien zu werden, die Zahl der Schwärmsporen auf Eine
reduciren und diese zur grossen und unbeweglichen Eizelle machen,
abgesehen von der Bildung des Halses, welche durch andere Vorgänge
zu Stande kam.
Die Ahnensipj)e musste ferner einen Generationswechsel ohne
Wiederholungsgenerationen besitzen: die geschlechtliche Pflanze er-
zeugte männliche und weil »liehe Schwärmsporen ; die befruchtete
Eizelle theilte sich in mehrere Ruhesj)oren. Der Generationswechsel
war also übereinstimmend mit dem der Moose, mit dem Unterschiede,
dass aus der befruchteten weiblichen Zelle nicht ein Sporogonimn,
sondern unmittelbar die Sporen entstanden. Dass dies so sein
musste, dafür gibt es zwei Gründe, die aus der Entstehung und
aus der Weiterbildung der Ahnensippe entnommen sind.
Wenn wir von unten zu der Ahnensippe zu gelangen suchen,
so musste sie wohl aus einer Confervoide entstehen, die einen Gene-
rationswechsel wie Ulothrix hatte und deren Zygosporen mehrere
Schwärmzellen erzeugten. Alle Generationen mit Ausnahme der
androgynen vereinigten sich dann zu einem Individuum ; damit
gingen nothwendig die von dieser androgynen Generation erzeugten
Schwärmsporen in RuhesjDoren über.
Suchen wir von oben zu der Ahnensippe zu gelangen, so ist der
Umstand enscheidend, dass, sowie wir in der Abstamnmngslinie
rückwärts gehen , von den Phanerogamen und Gefässkr3^ptogamen
zu den Moosen die sporenerzeugende Generation an Grösse und
Dauer abnimmt, indem sie dort ein sporangientragender Pflanzenstock,
IX. Morpholo.uie imd 8ysU'iiiatik als phylogfiictisclic Wissenschaften. 475
hier nur noch ein Sj)orangium ist. Auf früheren Stufen niusste die
sporenbildende Generation noch kleiner, auf den frühesten eine
einfache sporenbildende Zelle sein.
Der Fortschritt vom einzelligen Sporangium der Ahnensippe zum
Sporogonium der jNIoose vollzieht sich in ähnlicher Weise, wie ich
sie für die Bildung der Antheridien und Archegonien in Anspruch
genommen ha]:»e. Die in der befruchteten Eizelle beginnende Zell-
theilung nimmt durch Ampliation zu ; durch das Bestreben zur
Differenzirung und zur Vereinigung der früher getrennten Zellen
werden die unteren und äusseren Zellen vegetativ, indem nur einer
Gruppe von iimeren Zellen die Sporenbildung bleibt.
Beträchtlich länger und auch schwieriger zu construiren ist der
Weg von den Leijermoosen zu den Gefässkryptogamen. Während
die geschlechtliche Generation auf diesem Wege mehr oder weniger
reducirt wird, erfährt die sporenbildende Generation eine ganz ge-
waltige Bereicherung, die sich indess durch die phylogenetischen
Vorgänge der Ampliation, Differenzirung und des Vegetativwerdens
der reproductiven Erscheinungen erklären lässt.
Am meisten Schwierigkeiten machen, wenn wir die Umbildung
des Moossporogons in den Stengel der Gefässpflanzen nicht l)loss
oberflächlich in Bausch und Bogen sich vollziehen lassen, sondern
Schritt für Schritt genau verfolgen , die allerersten Schritte. Das
Sporogon ist seiner morphologischen Bedeutung nach jedenfalls noch
kein Caulom (Stengel), denn dieses setzt Phyllome (Blätter) voraus,
welche es seitlich an seiner Spitze erzeugt. Richtiger vergleichen
wir es mit dem Thallom vieler Lebermoose selber und der Algen.
Es ist sonach schon von vornherein aus phylogenetischen Gründen
gar nicht unwahrscheinlich , dass auch die Gefässpflanzen in ihrer
Abslammungslinie zuerst ein Thallomstadium durchmachten und
dasselbe auch jetzt noch in ihrer Ontogenie durchlaufen. Ich komme
hier auf die nämliche Vermuthung, die ich schon früher aus rein
ontogenetischen Gründen ausgesprochen habe, dass das erste Stadium
einer phanerogamen Pflanze, nämlich das Stengelchen des Embrj^os
sammt den Samenlappen, ein Thallom sei. Es gibt Lebermoos-
sporogonien, welche genau die gleiche Zelltheilung besitzen, wie
die Embryokugel von Capsella.
470 IX. I\Iori)hologie und Systematik als pliylogeuetische Wissenscliaften.
Schon innerhalb der Gruppe der Lebermoose vollzieht sich
eine Fortbildung des Sporogons, welche für unsere Betrachtung von
Wichtigkeit ist. Dasselbe bildet nämlich auf der untersten Stufe in
seinem ganzen Innern Sporen; auf der höheren Stufe verlängert es
sich und verwendet bloss eine kleine obere Partie des Gewebes für
die Fortpflanzung. Es ist nun denkbar, dass später auch dieser
Rest vegetativ wird und dass das Sporogon als eine Sprossbildung
seitlich an der Spitze sich bildet ; ferner dass dieses Sporogon durch
weitere Umbildung in der sogleich zu erörternden Weise zum blätter-
tragenden Stengel wird. In diesem Falle hätten wir als erstes Product
aus der befruchteten Eizelle der Gefässpflanzen einen thallomartigen
Embryo, aus dem ein beblätterter Stengel als zweite Sprossgeneration
entspringt.
Es ist wahrscheinlich, dass es Abstammungslinien des Moos-
sporogoniums gab, welche bloss ein durch Sprossung sich ver-
mehrendes Thallom besassen, und dass die Lemnaceen noch Ueber-
bleibsel solcher Bildungen sind.
Es ist aber andrerseits auch denkbar, dass das thallomartige
Sporogon, indem es vegetativ wird, unmittelbar (nicht erst durch
seitliche Sprossung) zum blättertragenden Stengel sich verlängert,
so dass der daraus hervorgehende Spross am Grunde Thallomnatur
besitzt und weiter oben zum Caulom wird. Das ist ja nichts uner-
hörtes; denn an dem Protonema der Moose gibt es einzelne Aeste,
welche, nachdem sie einen aus mehreren Gliedern bestehenden proto-
nematischen, also thallomartigen Fuss gebildet haben, eine anders-
artige Zellbildung in der Scheitelzelle beginnen und als directe
Fortsetzung das blättertragende Moosstämmchen erzeugen.
Hiezu können wir uns daran erinnern, dass in der Gruj^pe der
Laubmoose das Sporogonium sich noch weiter bildet als es bei den
jetzt bekannten Lebermoosen der Fall ist, indem das Längenwachs-
thum wenigstens in einem späteren Stadium durch alternirend-schiefe
Theilung der Scheitelzelle erfolgt und auch Verzweigung als Aus-
nahmsfall schon vorkommt. Diese Thatsachen zeigen uns, dass die
Moose ihre idioplasmatischen Anlagen, nämlich Längenwachstlmm
durch schiefe Theilung der Scheitelzellen und Verzweigung, auch
auf das Sporogon ül)ertragen können. Tritt die Verzweigung ver-
einzelt auf, so erscheint dieselbe als Sprossung und kann, wie vorhin
angenommen wurde, seitlich unter dem Scheitel ein Sporogon bilden.
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 477
Tritt sie aber in Folge von Ampliation regelmässig und in Gemein-
scliaft mit fortgesetztem Scheitelwachstlimn auf, so ist es begreiflich,
dass sie in den der Scheitelzelle jeweilen zunächstliegenden Zellen,
nämlich in den Segmentzellen, mit schiefen Theilungen l)eginnt, in
analoger Weise, wie die erste schiefe Theilung im Moossporogonium
in der Zelle statthat, welche den Scheitel einnimmt.
Mit dem fortgesetzten Längenwachsthmn des Sporogons rückt
der sporenbildende Theil desselben hinter dem Scheitel in die Höhe,
so dass daraus ein gestieltes Sporogon wird. Die seitlichen Zweige
werden ebenfalls fruchtbar und bilden sicli zu sitzenden Sporogonien
aus. Es entsteht also ein ährenförmiger Sporogonienstand, der die
directe Fortsetzung, oder wenn, wie zuerst angenommen wurde,
durch Sprossung ein laterales Sporogonium sich bildete, die seitliche
Fortsetzung des ursprünglichen thallom artigen Körpers ist. Ob das
eine oder andere erfolgt, dürfte davon abliängen, ob dieser Körper,
nämlich das ursprüngliche Sporogon, eine einzige Scheitelzelle oder
eine Mehrzahl gleichwerthiger Zellen am Scheitel besass.
Beim weiteren phylogenetischen Fortschritt wird durch Amplia-
tion, Diiferenzirung und Reduction der ährenförmige Sporogonien-
stand, welcher als das erste phylogenetische Stadium gelten mag,
länger, die seitlichen Sporogonien nehmen an Zahl zu, das terminale
Sporogon schwindet, so dass die sterile Spindel nun ein fortgesetztes
Längenwachsthum erlangt. Ferner vergrössern sich die Sporogonien,
indem sie theilweise in den vegetativen Zustand übergehen. Diese
seitlichen Sporogonien zeigen nun einen ähnlichen phylogenetischen
Entwicklungsgang, wie das ursprüngliche Sporogon; ihr Haupt-
körper, der nur noch an einzelnen Stellen Sporogonien erzeugt, wird
überdem durch Anpassung blattartig. Die zweite Stufe ist also ein
unverzweigter belilätterter Stengel ; die noch höchst einfach gestalteten
Blätter sind alle gleich und sporogonientragend ; die Sporogonien be-
finden sich an verschiedenen Stellen des Blattes, auf der Rückseite,
am Rande, auf der Bauchseite, auch einzeln am Grunde der Bauch-
seite. In der Abstammungslinie der Lycopodiaceen mag diese Stufe
grosse Aehnlichkeit mit einem unverzweigten Lycopodium Selago
gehabt haben.
Wenn auch die Sporogonien bei den meisten Selaginellen nicht
wie bei Lycopodium aus der Blattbasis, sondern dicht über den
Blättern aus dem Stengel zu entspringen scheinen, so muss ich sie
47<^ I^- ^lorphologie und Rysteniatik als plnioo-enetische Wissenschaften.
doch für blattständig halten , denn ein Theil des morphologischen
Blattes (im Gegensatz zum äusserlich erkemibaren) ist jedenfalls in
das Gewebe des Stengels eingesetzt, wie ich schon früher bemerkt
habe und wie sich aus den verkümmerten Blättern von Psilotum
ergibt (f in Fig. 24 c auf S. 413). Das die sichtbare Blattbasis zunächst
umgebende Gewebe der Stengeloberfläche gehört also höchst wahr-
scheinlich dem Blatte an und trägt bei Selaginella die Sporogonien.
Für diese Deutung spricht auch ganz entschieden die nahe phylo-
genetische Verwandtschaft zwischen Lycopodium und Selaginella.
Eine der möglichen phylogenetischen Weiterbildungen, die von
der zweiten Stufe aus erfolgen , besteht darin , dass der Stengel,
nachdem er eine grössere oder kleinere Zahl von Blättern gebildet
hat, seitlich am Scheitel über dem obersten Blattanfang einen Ast
bildet oder sich dichotomisch theilt, worauf er weiter wächst, um
später die acrogene Verzweigung zu wiederholen. Diese dritte Stufe
hat, wenn sie sich auf der Abstammungslinie der Lycopodiaceen
befindet, schon grosse Aehnlichkeit mit dieser Familie.
Eine andere Fortbildung der zweiten Stufe geschieht dadurch,
dass das Sporogon vegetativ wird und dass sich — was auf dieser
Stufe die naturgemässe Art des Vegetativwerdens erscheint — ; an
seiner Stelle eine Knospe bildet, die in einen beblätterten Stengel
auswächst. Vorzüglich waren es die Blätter mit axillaren Sporo-
gonien (wie bei Lycopodium und Selaginella), welche die Fähigkeit
zur Reproduction gegen diejenige, axillare Knospen zu bilden, ver-
tauschten. Damit ist die axillare oder phyllogene Verzweigung ge-
geben, welche principiell von der acrogenen verschieden ist. Ob
die letztere den dichotomischen oder monopodialen Charakter an-
nehme, ist von untergeordneter Bedeutung und vielleicht bloss eine
nachträgliche ungleiche Fortbildung ursprünglich übereinstimmender
Anfänge.
Die acrogene Verzweigung kommt bei den meisten Gefässkrypto-
gamen , die j)liyllogene bei den Phanerogamen vor. Die letztere
wurde zuerst wohl so geregelt, dass die oberen Blätter am Stengel
reproductiv blieben, die unteren aber Aeste (resp. Knospen) erzeugten,
so dass Stengel und Aeste in endständige sog. Fruchtähren aus-
gingen (wie dies unter den acrogen verzweigten Pflanzen bei Lyco-
podium vorkommt), aus welchen dann später durch mehrfache Diffe-
renzirungen in den l^lättern die terminalen Blüthen sich ausbildeten.
IX. Morphologie und Sj'steiiiatik als phylogenetischo Wissenscliaften. 470
Das Schwinden eines Si)orogons hatte nicht noth wendig (he
Folge, dass an seiner Stelle die Fähigkeit, eine Knospe zu hilden,
sich einstellte. A^ielmehr seheint die phyllogene Verzweigung zu
der acrogenen imVerhältniss der Ausschliessung zu stehen. Pflanzen,
denen die letztere zukommt, entbehren gewöhnhch der ersteren und
umgekehrt. Am ausgesprochensten findet sich die acrogene A^er-
zweigung bei Lycopodiuni und Selaginella vor, wo die Axillaräste
fehlen. In der Gruppe der Farne kommt acrogene und phyllogene
Verzweigung vor, letztere aus allen Theilen des Blattes, wie auch
die Sporogonien überall am Blatte stehen können. Die Equisetaceen
und die Phanerogamen besitzen allgemein die blattbürtige Verzwei-
gung, während ihnen die acrogene mangelt.
Bei der Abstammung der Gefässpflanzen von den Moosen und
Algen kommen bloss ganz allgemeine Sippen in Betracht. Wir
können weder l)estimmte Confervoiden, noch bestimmte Lebermoose,
noch bestimmte Gefässpflanzen in die Abstammungshnie einsetzen;
denn dies würde das Vorhandensein einer Unzahl von vermittelnden
Formen in der jetzigen Pflanzenwelt, die als TyjDcn dienen konnten,
voraussetzen. Selbst in Gebieten, wo dem Anschein nach eine Menge
aller möglichen Formen uns zugänglich ist, wie z. B. in der Gruppe
der Phanerogamen, lassen sich keine phylogenetischen Reihen fest-
stellen , weil dieselben einen genau bestimmten Charakter haben
müssten und weil dafür die uns bekannten Beispiele lange nicht
ausreichen.
Dagegen bieten die Phanerogamen einen Ueberfluss von That-
sachen, um die phylogenetische Entwicklungsgeschichte der einzelnen
Merkmale zu studiren. Das Princip ist natürlich das nämliche wie
für den stufenweisen Fortschritt eines phylogenetischen Stammes,
nur mit dem Unterschiede, dass beim letzteren immer alle seine
Merkmale bezüglich ihres stillstehenden oder fortschrittlichen Ver-
haltens zu berücksichtigen sind. — Ich will die wichtigsten Merkmale
der Phanerogamen der Reihe nach mit Rücksicht auf ihre phylo-
genetische Ausbildung betrachten. Es sind ausschliesslich Eigen-
thümlichkeiten des äusseren Baues, wie sie bisher stets von den
Systematikern für die Beschreibung benutzt wurden. Der innere
480 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.
Bau gibt bis jetzt nur wenige systematisch l^raiichbare Merkmale,
und diese eignen sich noch keineswegs für eine phylogenetische
Betrachtung.
A, B, C. Aufbau des Pflanzenstockes.
Auf der untersten Stufe sind die ^''erzweigungen uu regelmässig
und unlx'stimmt; jeder Caulomspross ist mit Laubblättern besetzt
und endigt normal in eine Blüthe. Im weiteren phylogenetischen
Verlaufe scheiden sieh zwei gleich werthige Typen Ai und Bi aus.
Ai. Die Verzweigung ist untergipflig und geschieht in der Art,
dass je die Hauptstralden länger werden und sich stärker verzweigen
als ihre Seitenstrahlen. Das Entwicklungsvermögen nimmt also in
den successiven Strahlonordnungen stetig alx Dies ist der racemöse
oder botrytisclie Typus in seinen ersten noch durchaus belaubten
Anfängen.
Ji,. Die Verzweigung ist übergipflig, indem die Seitenstrahlen
je über die Hauptstrahlen hinauswachsen , so dass also das Ent-
wicklungsvermögen von einer Strahlenordnung auf die folgende un-
geschwächt übertragen wird und in dieser somit länger andauert.
Dies ist der cymöse Typus in seinen ersten noch l^elaubten Anfängen.
Es sind stets die obersten Zweige einer Ordnung, welche das stärkste
Entwicklungsvermögen besitzen.
Ich will zuerst die iDhylogenetische Fortbildung von .4, ver-
folgen. Aus dieser ersten Stufe gehen nach einander die folgenden
Stufen A-,, A., A,, A;, hervor.
A.. Dm'ch Differcnzirung werden die obersten Theile der Ver-
zweigung von Ai zur Hochblattregion. Diese Veränderung erstreckt
sich mehr oder weniger weit nach unten ; der Uebergang von den
Hochblättern in die Laubblätter der unteren Partien erfolgt zuerst
allmählich, in den späteren phylogenetischen Stadien plötzlich. Die
Laubblattcaulome endigen auf dieser Stufe in einen geschlossenen,
rispigen Blüthenstand. ■ — Ranunculus , Rosaceen , Alisma Plan-
tago etc.
A-^. Durch Reduction werden die j^rimären Seitenstrahlen der
terminalen Inflorenscenz von A-. einblüthig, so dass nun also die
Laubblattcaulome in einfach traubige oder ährige Blüthenstände aus-
gehen. Durch weitere Differcnzirung werden dieselben doldig oder
kopfförmig. Durcli Verkümmerung der Eiidblüthe wird früher oder
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 481
später die Inflorescenz ungeschlossen. — Cruciferen, Scrophularia-
ceen part., Compositen part. etc.
Der Uebergang kann in doppelter Art stattfinden. Entweder
verkümmert die Endblüthe, ehe die Reduction der Seitensprosse auf
einfache Blüthen vollendet ist, so dass der Blüthenstand den Bau
von Fig. 19 b auf S. 384 hat (Labiaten, Scrophulariaceen part., Aco-
nitum, Delphinium). Oder der Blüthenstand behält seine Endblüthe,
bis die genannte Reduction vollendet ist (Campanulaceen).
Ä^. Die allgemeine, unter den Inflorescenzen befindliche Ver-
zweigung in der Stufe A3 geschah durchaus in der Laubblattregion.
Durch Differenzirung werden die obersten Aeste zu Hochblattcaulomen ;
es vollzieht sich die nämliche Umwandlung wde in A., so dass nun
die Laubblattsprosse in einen zusammengesetzten Blüthenstand
ausgehen. Die Hauptverzweigung desselben ist ursprünglich, ihrer
Entstehung aus Ä^ gemäss, eine untergipflige Rispe ; im phylogene-
tischen Verlaufe kann sie sich in eine gleich- oder in eine über-
gipflige Rispe umbilden. — Compositae part. , rispige Gramineen,
Cyperus.
J-5. Die seitlichen Hochblattäste von Äi werden, abgesehen von
ihrer terminalen Inflorescenz, durch Reduction unverzweigt, so dass
der allgemeine Blüthenstand aus dem rispigen in den traubigen
und ährigen Bau übergeht, also eine gleiche Fortbildung zeigt wie
von Äi zu Äi, wobei der Hauptstrahl ursprünglich in einen ein-
fachen Blüthenstand endigt, im phylogenetischen Verlaufe aber durcli
Verkümmerung desselben blind aufliören kann. — Aehrige Grami-
neen wie Triticum, Lolium.
Sind die besonderen Blüthenstände von J.^ doldig oder kopf-
förmig, hat also die Pflanze, wie sich aus diesem Umstände ergibt,
dieNeigung, ihre obersten Internodien zu verkürzen, so tritt leicht eine
Häufung der oberen Aeste des allgemeinen Blüthenstandes ein.
Werden dieselben durch Reduction un verzweigt, so entstehen die
der zusammengesetzten Aehre gleichw^erthigen Inflorescenzen: die
zusammengesetzte Dolde (Umbelliferen) und der zusammengesetzte
Kopf (Echinops, Vernoniaceen).
Bei allen diesen Umbildungen endigt der Hauptstrahl ursprünglich
in einen besonderen Blüthenstand und kann im phylogenetisclien
Verlaufe durch Verkümmerung desselben blind ausgehen. Durch
Rückschlag kommt die verloren gegangene terminale Blüthe sowolil
V. Nägeli, Abstammungslehre 31
482 I^- Morphologie und Sj'steniatik als pliylogenetisdie Wissenschaften.
in den besonderen Blüthenständen als im allgemeinen Blüthenstand
wieder zmn Vorschein (Umbelliferen).
Die phylogenetischen Entwicklungen von Bi erfolgen in analoger
Weise, wie die eben betrachteten von Ä^ , so dass ich mich hier
kürzer fassen kann.
Bi. Die laubige übergipflige Rispe von Bi erfährt die nämliche
Fortbildung, wie sie beim Uebergang von Ai zu Ä., stattfindet, indem
der oberste Theil der Verzweigung durch Differenzirung zum hoch-
blatttragenden Blüthenstand wird, wobei wie in i», je die obersten
Strahlen einer Ordnung am längsten werden und sich am stärksten
verzweigen.
B3. Durch Reduction schwinden in B2 die unteren Strahlen einer
Ordnung und es bleiben bloss die obersten und entwicklungsfähigsten
in der Zahl von 1, 2 oder mehreren, ziemlich gleich hoch inseriiten
übrig. Die übergipflige Rispe verwandelt sich in das Pleiochasium,
Dichasium, Monochasium.
Die heutige Morphologie geht bei der Darlegung der Blüthenstände
von den sogenannten einfachen Inflorescenzen wie z. B. Traube und
Dichasimn aus und leitet daraus die zusammengesetzten ab, zu denen
auch die Rispe gehören soll. Dies ist jedenfalls nicht der phylo-
genetische Entwicklungsgang; denn aus dem in eine Blüthe endi-
genden Blüthenstiel kann gewiss nie ein Blüthenstand sich entwickeln.
Wenn wir einfache und zusammengesetzte Inflorescenzen unterscheiden
wollen, müssten wir einfach diejenige nennen, die aus gleichen
Strahlen besteht , zusammengesetzt diej enige , die aus verschie-
denen Strahlen zusammengesetzt ist; dann wäre die Rispe ein ein-
facher, die Traube ein zusammengesetzter Blüthenstand. In diese
Lehre kann überhaupt erst dann volle Klarheit kommen, wenn sie
nach phylogenetischer Methode bearbeitet wird. Alle phylogenetische
Entwicklung geht aber von dem undifferenzirten, unbestimmten und
der Zahl nach mehrfachen aus; und dieses ist bezüghch der Ver-
zweigung die Rispe.
C. Die beiden phylogenetischen Reihen, die in A und B be-
trachtet wurden , haben das gemeinsam , dass das laubblatttragende
Caulom in eine Blüthe oder einen Blüthenstand endigt. Zu ihnen
gehört die grosse Mehrzahl der Phanerogamen. Indessen gibt es
eine Minderzahl, bei welchen die Laubblattsprosse unbegrenzt fort-
wachsen oder auch jedes Jahr durch einen mit Niederblättern begin-
IX. Morphologie und Systematik als i>hylogenetische Wissenschaften. 483
nenden Trieb sich verlängern und die Blüthen oder Blüthenstände
seitlich tragen. Man könnte meinen, dass diese unbegrenzten Laub-
blattcaulome eine ursprüngliche Bildung seien, und vom phylogene-
tischen Gesichtspunkte aus wäre dies ganz gut denkbar. Indessen
erweist sich die Annahme für die meisten Fälle als unmöglich, weil
bei nächst verwandten Pflanzen, die höchst wahrscheinlich von
gleicher Abstammung sind, die Laubblattsprosse durch Blüthen oder
Blüthenstände begrenzt werden.
Wir können uns nun recht gut vorstellen, dass jede Stufe der
Reihe A sich phylogenetisch zu unbegrenzten Laubblattsprossen um-
wandelt. Am leichtesten freilich geschieht es bei der Stufe A^ und
überhaupt bei denjenigen Formen, wo die Laubblätter am höchsten
hinaufreichen. Der Vorgang ist folgender: Der Hauptspross, der
ohnehin eine grössere Entwicklungsfähigkeit besitzt als die von ihm
seitlich erzeugten Strahlen, steigert sein Wachsthum vermöge der
nun platzgreifenden Ampliation immer mehr und wird, indem durcli
einen andern phylogenetischen Process die Hochblätter und Blüthen-
blätter, die er trägt, vegetativ und zu Laubblättern werden, zuletzt
unbegrenzt, wobei er selbstverständlich auch die Fähigkeit erlangt,
seitliche unbegrenzte Laubblattcaulome zu erzeugen. Die übrigen
Seitenstrahlen gehen, je nach der Stufe, von welcher die phylogene-
tische Abzweigung erfolgt ist, durch Reduction entweder in achsel-
ständige Blüthen (Viola, Tropaeolum) oder in axillare Blüthenstände
(Papilionaceen, Plantago) aus.
Der hauptsächlichste phylogenetische Fortschritt, den die ganze
vorstehende Auseinandersetzung darzulegen sucht, besteht darin, dass
das Gerüste der Gefässpflanzen anfänglich aus gleich werthigen Strahlen
1)esteht, indem jedes Caulom unten Laubblätter und am Ende Blüthen-
blätter trägt, also in eine Blüthe ausgeht, und dass das Caulom-
gerüste auf den folgenden Stufen aus 2, 3 und 4 Strahlen von ver-
schiedener Werthigkeit zusammengesetzt ist. Diese Werthigkeiten
\\airden im »Mikroskop« (IL Auflage S. 594 und 620) als Rangstufen
und die verschiedenen Pflanzen als 1-, 2-, 3- und 4 stufige (statt der
unpassenden Benennung 1 — 4 axige) bezeichnet. Ich habe diese Aus-
drücke jetzt vermieden, um keine Verwechslung mit den phylo-
genetischen Stufen zu veranlassen, und will sie in der Folge haplo-
caulisch, diplo-, triplo-, tetrapocaulisch nennen. Es haben also von
den angeführten Stufen Ai, J.,, Bi, B^, B3 einen haplocaulischeu,
31*
484 IX. Morphologie und Systematik als iihylogenetische Wissenschaften.
A3, A,, Ä:, part. und C part. einen diplocaulischen , Ä,, part. und
C part. einen triplocaulischen Aufbau.
D, E, F. Gestaltung, Anordnung und Verwachsung der Blätter.
D. Die Gestaltung der Phyllome durchläuft 3 Stufen.
Dl. Ursprünglich stellt das Blatt ein Organ dar, das äusserlich
noch keine Differenzirung wahrnelnnen lässt (Lycoi3odiaceen).
B,. Durch Differenzirung tritt Scheidung in Blattspreite, Blatt-
stiel und Blattscheide ein. Die Blattspreite wird mehr oder weniger
zertheilt und geht durch weitere Differenzirung in die folgende
Stufe über.
Dj. Das zusammengesetzte Blatt besitzt auf dem verzw^eigten
Blattstiel mehrere oder viele Spreiten.
Durch Anpassungsmetamorphosen und durch Reductionen werden
die Stufen D, und D^ in vielfacher Weise verändert. Unter den
Reductionen gibt es solche, die als ein Uebergang auf eine höhere
Stufe zu betrachten sind ; dies ist dann der Fall , wenn bei gleich-
bleibender oder selbst sich vervollkommnender Qualität das quanti-
tative oder numerische Verhältniss sich vermindert, wenn z. B. ein
zusammengesetztes Blatt mit zahlreichen Blättchen ohne Veränderung
des Verzweigungscharakters in ein solches mit wenigen grösseren
Blättchen übergeht. — Die meisten Reductionen aber sind mit
Anpassungsänderungen verbunden oder selbst eine Folge der An-
passung. Letzteres müssen wir annehmen, wenn ein Blatt Spreite
und Stiel verliert und zur Schuppe wird, oder wenn ein zusammen-
gesetztes Blatt, wie bei Acacia- und Oxalisarten, sich in ein Phyl-
lodium umwandelt. Als Anpassungsreduction muss es wohl ebenfalls
betrachtet werden, wenn ein Phyllom scheinbar ganz verschwindet,
wie dies zuw^eilen mit den Tragblättern der Blüthenstiele der Fall
ist. Man kann nicht sagen, dass das Blatt hier ganz fehle; denn
ohne Zweifel ist es nur auf den im Stengelgewebe eingesenkten
Theil beschränkt, und somit von ähnlicher Beschaffenheit wie die
verkümmerten Phyllome an den wurzelartigen Caulomen von Psilotum
(f in Fig. 24 c auf S. 413).
E. Gesammtbeblätterung des Pflanzenstockes.
El. Auf der untersten Stufe besteht die Beblätterung aus ganz
gleichen Phyllomcn , wie dies bei Lycopodium Selago vorkommt.
IX. IMorphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 485
E>. Durcli Differeiiziriiiig in der Gestalt und in den Functionen
gehen die gleieliförmig-en Blätter von £', in Niederblätter, Laubljlätter,
Hochblätter und Blüthenblätter über. Diese verschiedenen Formen,
von denen jede in grosser Zahl vertreten ist, sind noch durch all-
mähliche Uebergangsformen verbunden.
Ei. Durch Reduction der Zwischenglieder stellt sich ein sprung-
weiser Uebergang von einer Blattform zur andern ein. Im weitern
phylogenetischen Verlauf vermindert sich die Zahl der einer Blatt-
form angehörenden Phyllome immer mehr, bis auf der höchsten Stufe
die einzelne Form nur noch durch ein einziges oder einige wenige
Blätter vertreten ist. — Diese Reduction geschieht nicht, wie es bei
dem vorhin (unter D) besprochenen Schwinden der Fall ist , dm'ch
Beschränkung auf das im Stengel verborgene Basalgew^ebe, sondern
durch Verminderung der Caulomglieder (Internodien). Wir haben
also, worauf ich hier Gewicht legen möchte, zw^eierlei Arten des
Schwindens der Phyllome zu unterscheiden. Die eine erfolgt durch
Reduction des Cauloms auf eine geringere Zahl von Gliedern,
womit, da jedes Glied ein Phyllom oder einen Phyllomquirl trägt,
indirect auch eine Beschränkung der Blätterzahl verbunden ist. Die
andere Art des Schwindens ist eine Reduction der Phyllome
selber, erst auf einen noch sichtbaren, dann auf einen unsichtbaren
verkümmerten Rest. — Eine Reduction, wie die letztgenannte, auf
eine im Caulom verborgene Partie ist auch dann anzunehmen, wenn,
was in Blüthen nicht selten vorkommt, aus einem Quirl einzelne
Phyllome oder zwischen zwei opponirten Quirlen der intermediäre
mit ihnen alternirende Quirl so vollständig verkümmert, dass keine
Spur davon sichtbar bleibt.
F. Stellung und Verwachsung der Phyllome. Diese
])eiden scheinbar so verschiedenen Erscheinungen stehen doch in sehr
inniger Beziehung zu einander, indem die Verwachsung wohl nur
eine Folge der bei der Entstehung sehr gedrängten Stellung ist.
Fy. Die unterste Stufe besitzt einzelnstehende Blätter (spiralige
oder alternirende Stellung). Anfänglich sind dieselben durch ungefähr
gleiche verticale Abstände (Internodien) getrennt ; bei der phylogene-
tischen Weiterbildung zeigen sie regionenwei.se ungleiche Abstände,
indem im allgemeinen die ersten und letzten Internodien eines
Jahrestriebes verkürzt sind.
486 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.
F,. Durch Differenzirung werden altemirend die einen Internodien
sehr stark verkürzt, und zwar zuletzt so sehr, dass sie ganz zu mangehi
scheinen, indess die mit ihnen in verschiedener Weise abwechselnden
Internodien sich verlängern. Dadurch entsteht die Quirlstellung der
Phyllome.
F-i. Die Blätter eines Quirls verwachsen mit ihren Rändern unter
einander und bilden dadurch ein zusammengesetztes röhriges Organ.
F,. Die Blätter der aufeinander folgenden Quirle verwachsen
mit ihren Flächen, sodass aus mehreren Quirlen eine einzige Röhre
entsteht.
Ich betrachte also die alternirende Stellung der Blätter bei den
Gefässpflanzen als die ursprüngliche und die quirlständige als die
phylogenetisch daraus hervorgegangene. Dies bedarf eines erläuternden
Zusatzes. Wenn ich den Quirl als aus einer Spirale entstanden erkläre,
so ist dies nicht etwa eine Wiederholung der Lehre von C. Schimper
und A. Braun, dass jeder Quirl aus einer den Abständen seiner
Blätter entsprechenden Spirale sich gebildet habe, beispielsweise der
2-, 3- und 5 zählige Quirl je aus dem Umlauf (resp. aus zwei Um-
läufen) einer Spirale mit der Divergenz V2 , Va , ^ s oder Vs , und
dass der Schritt vom letzten Blatt eines Quirls (Cyclur) zum ersten
des folgenden (Cyclarch) durch einen positiven oder negativen Zuschlag
(Prosenthese genannt) verändert (vergrössert oder verkleinert) worden
sei. Solche Betrachtungen haben bloss gepmetrische Bedeutung und
stehen in keiner Beziehung weder zur ontogenetischen noch zur
phylogenetischen Entwicklungsgeschichte.
Nach meiner Ansicht sind alle Quirle aus einer ununter-
brochenen gleichförmigen Spirale entstanden, deren Blätter
gruppenweise zu Quirlen vereinigt blieben, wobei das regelmässige
Alterniren der Quirle als mechanische Folge klar vorliegender Ur-
sachen zu deuten ist. Durch diesen Process hat die ursprünglich
gleiche Divergenz sowohl innerhalb der Quirle als in dem Uebergang
vom Cyclur zum Cyclarch eine noth wendige Veränderung erfahren.
Die Divergenzen der ursprünglichen Spiralen waren verschieden;
sie lassen sich unschwer aus den von ihnen herstammenden Quirl-
stellungen berechnen. Für die 2 zähl igen Quirle oder die opponirte
Blattstellung beträgt der Abstand der erzeugenden Spirale
I. Divergenz = (^_ _}_ _ j __ ,t = -g- ^r = 135«.
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 43 7
Alle mehrzäliligen Quirle können verschiedenartig aiifgefasst und
aus Spiralen mit ungleichen Divergenzen abgeleitet werden. Es hängt
dies davon ab, ob man von dem letzten Blatt eines Quirls zu dem
einen oder andern Blatt des folgenden Quirls übergehe, ob man also
die » Prosenthese X grösser oder kleiner, positiv oder negativ annehme.
Die o zähligen Quirle lassen drei Annahmen (II, III und IV) zu.
IL Divergenz =. (2 • ^ +^2)^'' = Js'' = ^"^^"•
III. Divergenz = (2 ■ ~ -^ ^)^7v = ^7t = 100".
IV.Divergenz=. (2.1 + 1 + 24 + 1)1. = |.=. 120".
Zur Berechnung bemerke ich, dass die Divergenz gleich ist der
Summe aller Schritte vom Cyclarch eines Quirls bis zum Cyclarch des
folgenden Quirls , getheilt durch die Zahl dieser Schritte , also für
die 3 zähligen Quirle II und III : 2 mal -^ jt + der Abstand vom
Cyclur zum Cyclarch, die ganze Summe getheilt durch 3. Bei II beträgt
der Schritt vom Cyclur zmn Cyclarch — (also die »Prosenthese« 4" 7^))
bei III beträgt er -^ /r (also die Prosenthese ^|. Bei IV wechseln
diese Werthe von Quirl zu Quirl, sodass zur Berechnung der mittleren
Divergenz die Summirung von 2 Quirlen erforderlich ist.
Die Berechnung, sowie auch die Vorstellung der Entstehung
von Quirlen aus ununterbrochenen Spiralen wird durch folgende
Diagramme deutlicher werden , in welchen auf der flachgelegten
Stengeloberfläche die Lage der Quirle angegeben ist. Der Stengel
ist in horizontaler Lage dargestellt und die Oberfläche in 6 gleiche
Längsstreifen getheilt. Auf den Grenzlinien dieser Streifen sind die
Blätter inserirt und nach der Reihenfolge, die sie in der ursprüng-
lichen Spirale hatten, numerirt. Die Quirle erscheinen, wegen der
horizontalen Richtung des Stengels, als verticale Reihen.
IV
. 6 ... 12
II
III
0 .
. . 3 .
. 8 .
. 0 .
. 4 .
. 7 .
. 0
1
. . 4 .
. 6 .
1
. f)
. 8 .
. 1
2 .
f) .
. 7 .
. 2 .
3
6 .
. 2
(0) .
• (8) •
. (0) .
• (7) .
• (o:
(0) . . (6)
. . 13
10 . .
. . 14
11 . .
. . (12)
488 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.
Nimmt die Blätterzahl der Quirle zu, so vermehren sich die
Möglichkeiten der Ableitung aus Spiralen. Zunächst ist die Frage,
aus wie viel Umläufen der ursprünglichen Spirale ein Quirl gebildet
sei; davon hängt am wesentlichsten die Grösse der Divergenz ab.
Nach meiner Ansicht sind die 4- und 5 zähligen Quirle stets 2 umläufig.
Wollte man sie 1 umläufig nehmen , so betrüge die Divergenz der
erzeugenden Spirale höchstenfalls 101,25" für die Vierzahl und
93,6" für die Fünfzahl. So kleine Divergenzen kommen, wie ich
glaube, bei alternirenden Phanerogamenblättern wohl nicht vor ; die
unzweifelhaft sicheren befinden sich in den Grenzen von 120" und
180", Div. = ^fr- und -TT- Die kleinen Abstände der auf einander
o z
folgenden Blätter bei einigen Phanerogamen und Gefässkryptogamen
(Lycopodiaceen undEquisetum mit zu einer Spirale aufgelösten Quirlen)
sind wohl aus Spaltung (Verzweigung) der Blatteinheiten hervor-
gegangen und somit auch die Quirle von Equisetum gleich denen
von Galium zu deuten.
Unter der eben erörterten Voraussetzung lassen die 5 zähligen
Quirle folgende fünf Möglichkeiten zu:
V. Divergenz = (4 . 1 + -1) | ,. = ^^ ,. = 122,4«.
VI. Divergenz = (4 ■ l + A) _L,, = ^^ ,, = 136.8".
VII. Divergenz = (4 ■ |- + 1) l.r = ^J ,r = 151,2».
VIII. Divergenz = (4 ■ | f f^ + 4 ■ | + -1) !„ -_= ii. = 120,6».
IX. Divergenz = (4 . ^ + i;, + 4 4 + i- ) j;. --= I-. = 144".
1 3
Der Abstand vom Cyclur zum Cyclarch ist bei V j-, bei VI -—
1 3 1
und bei VII — - tt ; bei VIII alternirend — und -^, bei IX alternirend
' > i
jT- und -^ 7r. In dem folgenden Diagramm sind die Stellungen V,
VI, VII und IX zur Anschauung gebracht.
IX. INIorjihologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften 489
V
VI
1
VII
1
IX
0
14 .
. 0
13 .
. 0
12 .
. 0
. 10
. G
8
5
8 . .
18
3
. 9
\2 .
. 3
6
11
. 3
8
• 10
. 3
. 13
1(3
1
7
10 .
. 1
9
14
. 1
6
13
. 1
. 11
9 . .
19
4
. .0
13 .
. 4
7
12
. 4
9
11
1
. 4
. 14
7 . .
17
2
. 8
11 .
. 2
5
10
i
. 2
7
14
!
. 2
. 12
5 . .
. 15
(0)
T7M
(14) .
• (0)
T • I
(13)
1
1
• (0)
(12)
1
■ (0)
1 ■
. (10)
/-\ VI
Etwas complicirter wird die Sache bei 4 zähl igen Quirlen,
weil die Abstände in dem 2 nniläufig angenommenen Quirl ungleich
ausfallen. Die Ableitung aus einer ununterbrochenen Spirale erlaubt
hier drei Annahmen.
X. Divergenz = (-^ + X "^ Y ^" t) T '" ^ 32 "^ "^ 123,75".
XL Divergenz = (y + ^ "f y + |) "i" ^ = o^ ^^ = 146,25 ".
XII.Divergenz = (^+^444 8-f^ + l+; + ^)^^^ = |-=1350.
Der Abstand vom Cyclur zum Cyclarch beträgt bei X -^
3 . 13
bei XI , bei XII abwechselnd -^ und -—
o o o
X
XI
xn
0 .
. 11 .
0
10 .
. 0 .
8
. . li
6
5
. i)
14 .
3 .
4
9
3
6
8
3 .
. 4
11
. . 19
12 .
1
7
. 10 .
1
4
11
1 .
. 7
9
. . 17
15 .
2 .
5
. 8 .
2
7
9
2 .
. 5
10
. . 18
13 .
(0) .
• (11) •
(ö)
(10)
(0) .
(8)
• • (lö)
Von 6 zähl igen Quirlen, die stets 2 umläufig zu nehmen sind
und die schon eine grössere Zahl von Ableitungen aus den erzeugenden
Spiralen offen lassen, will ich nur diejenigen drei Fälle anführen,
die wohl am ehesten vorkommen.
490 I^- Morphologie und Systematik als phylogenetische AVissenschaften.
XIII. Divergenz = (2. ^ + A-[-2. ^ -f A^-1^ = |-.r = 185«.
XIV. Divergenz ^ (- " i + 2 +^-T + T)i^^ == S^' = ^^^"•
XV.Divergenz^ (24 + ^ + 2-^+^ + 2.^4 + 24+^)^
52
l44
12
7r = 130°.
Bei XIII beträgt der Scliritt vom Cycliir zum Cyclarch ~^, bei
3 5 3
XIV -^, bei XV abwechsehid — ^ und -„ ^.
XIII
3
1
4
2
5
(0)
11
10
8
1(3
14
17
12
If)
13
(16)
XIV
2
5
(0)
10
8
11
17
12
15
13
IG
14
(17)
XV
0 . . 14 . . 25
11 . . 22 .
(0)
17
. 28
G . . 20 .
. 12 . . 26
9 . . 23 .
. 15 . . 29
7 . . 18 .
. 13 . . 24
10 . . 21 .
. 16 . . 27
8 . . 19 .
. (14) . . (25)
Es können also Quirle mit der nämlichen Zahl von Blättern
aus Spiralen mit verschiedener Divergenz entstehen, ebenso wie um-
gekehrt Quirle mit verschiedener Blätterzahl aus Spiralen mit der
gleichen Divergenz sich bilden. Die Reihenfolge der Blätter in den
successiven Quirlen und somit der Charakter der erzeugenden Spirale
lassen sich zuweilen aus der Deckung der Blattränder und aus andern
Erscheinungen direct bestimmen. — Wenn, was nicht selten vor-
kommt, an den Individuen der nämlichen Pflanze Quirle mit ver-
schiedener Blätterzahl wechseln (die einen Stengel haben beispiels-
weise 2 zählige, die andern 3 zählige Blattquirle, die einen Blüthen
sind 4-, die andern 5 zählig, oder die einen 5-, die andern 6 zählig),
so müssen diese verschiedenen Zahlen aus der nämlichen Spirale
IX. Morpliologie und Systematik als phylogeueti-sclic Wissenschaften. 41) 1
entstanden sein, und daraus lässt sich oft ein Scliluss von einem
Quirl auf einen anderszähligen machen. Es sei beispielsweise durch
irgendwelche Gründe festgestellt, dass ö zählige Quirle dem Schema VI
folgen (Divergenz der erzeugenden Spirale 106,8"), so können 4 zählige
Quirle, die bei den nämlichen Pflanzen stellvertretend vorkommen,
nur nach dem Schema XII (Div. = 135*^) und stellvertretende
6 zählige Quirle nur nach dem Schema XIII (Div. = 135") gebaut
sein. Wir dürfen überhaupt folgende Schemate als vicarirend ansehen:
I und II, dann II und VI oder auch II und IX, ferner VI, XII
und XIII, endlich IV, X und V u. s. w.
Die soeben als stellvertretend genannten Schemata stimmen in
den Divergenz-Werthen der erzeugenden Spirale nicht ganz überein.
Aber es machen diese Werthe überhaupt keinen Anspruch auf absolute
Geltung. Wenn sich beispielsweise für das so häufig bei den Dico-
tylen verwirklichte Schema \1 die Divergenz 13G,8° berechnet, so
heisst das nichts anderes als dass Spiralen mit nahe kommenden, ^
etwa zwischen 135 — 139" oder zwischen noch weiteren Grenzen be-
findlichen Divergenzen die jenem Schema folgende Anordnung er-
zeugen. Es ist sehr leicht möglich, dass die relative Häufigkeit der
stellvertretenden Quirle theilweise von der Divergenz der erzeugenden
Spirale bedingt wird, wofür ich folgendes Beispiel anführen will.
Die 5 zähligen Quirle nach Schema VI entsprechen der Divergenz
136,8", die 4 zähligen nach Schema XII der Divergenz 135". A'on
zwei verschiedenen Arten, deren idioplasmatische Anlagen ebenso
leicht die Fünfzahl als die Vierzahl sich entfalten lassen, und von
denen die eine ursprünglich eine Blattspirale mit der Divergenz
137", die andere eine solche mit der Divergenz 135" hatte, wird
diejenige mit der ursprünglichen Divergenz 137" eine Menge 5 zählige
und wenige 4 zählige, diejenige mit der ursprünglichen Divergenz 135"
eine Menge 4 zählige und wenige 5 zählige Quirle in den Ontogenien
verwirklichen. Das ist natürlich so zu verstehen, dass aus der einen
ursprünglichen Divergenz sich normal die Fünfzahl, aus der andern
die Vierzahl ergäbe , dass aber die inneren und äusseren Ursachen,
welche noch auf Blattstellung Einfluss haben, die angeführten Vari-
ationen hervorbringen.
Von 4- und 6 zähligen Quirlen wird meistens angenommen, dass
sie aus zwei je 2- oder 3 zähligen Quirlen zusammengesetzt seien, und
selbst 5 zählige Quirle sollen in ge^^^ssen Fällen aus einem 2- und
492 I^- Moqihologie und Systeiuatik als phylogenetische Wissenschaften.
einem 3 zähligen Quirl gebildet sein. Wenn solche Vorstellungen
bloss arithmetische und geometrische Bedeutung beanspruchen , so
ist Ja nichts dagegen einzuwenden. Al)er ich glaube nicht, dass
man sie als den Ausdruck des phylogenetisclien Geschehens nehmen
darf, zweifle auch, dass die Hypothese, es seien irgend einmal
den 5 zähligen Quirlen alternirende, 2- und '6 zählige vorausgegangen,
im Ernste behauptet werden könnte. Ebenso wenig ist anzunehmen,
dass die 4- und 6 zähligen Quirle aus 2- oder 3 zähligen Quirlen
entstanden seien , denn diese würden alterniren und bei ihrem
Zusammenrücken oj^ponirte (nicht alternirende) 4- und 6 zählige Quirle
erzeugen.
Die einfachste und natürlichste Annahme ist doch die, dass von
der ursprünglichen Spirale in einem Fall je 4, im anderen je 5,
im dritten je 6 Blätter zum Quirl vereinigt bleiben; und eljenso
können noch grössere Zahlen von Phyllomen (10, 12 etc.) sich in
alternirende Kreise ordnen. Der ursächliche Vorgang ist folgender-
maassen zu erklären. Im Idioplasma bildet sich eine neue Anlage,
vermöge welcher statt der ununterbrochenen Spirale nun die l^etref-
fende Quirlstellung sich entfaltet. Ist die Blätterzahl der Quirle
nicht constant, variiren beispielsweise bei der nämlichen Pflanze
4-, 5- und () zählige Quirle, so werden vermöge der idioplasmatischen
Anlage unbestimmt grosse Abschnitte der ursprünglichen Spirale
(nämlich je 4 bis 6 Blätter) zu Quirlen, und es hängt dann von
verschiedenen inneren und äusseren Ursachen ab, ob die eine oder
andere Zahl sich verwirkliche. So sehen wir nicht selten, dass mit
dem Stärkerwerden des Cauloms die Blätterzahl der Quirle sich
erhöht. Bei der phylogenetischen Fortbildung des Idioplasmas können
die Anlagen sich dann so verändern, dass die quirlbildenden Ab-
schnitte der ursprünglichen Spirale grösser oder kleiner, und dass
sie numerisch mehr und mehr l;)estimmt werden.
Die Quirlbildung, die wir an den Pflanzen beobachten, ist rück-
sichtlich der Stellung der Phyllome zu mehr oder weniger genauer
Vollendung gelangt. Manchmal erkennt man noch aus verschiedenen
Merkmalen die Folge der ursprünglichen Spiralstellung ; in anderen
Fällen sind alle Spuren davon verwischt. Nur selten ist die Quirl-
l)ildung in ihren Anfangszuständen zu beobachten , wie z. B. bei
Lycopodium-Artcn. Die Aiü'lösung der Quirle zu einer ununter-
brochenen Spirale, welche als abnormale Erscheinung vorkommt,
IX. Morphologie und Systematik als i)liyl(»gcnc>tische Wisst'iischaften. 493
ist ein phylogenetischer Rückschlag und zeigt dann den ursprüng-
lichen Zustand an.
Es ist nicht nothwendig, dass die Umbildung der Spiral- in die
Quirlstellung sich bei der ontogenetischen Entwicklung wiederhole,
da ja von allen andern, in einer Abstammungslinie vorausgegangenen
phylogenetischen Stadien eine Menge vollständig unterdrückt wird.
Möglich wäre aber auch , dass die ursprüngliche Spiralstellung in
der ontogenetischen Entwicklungsgeschichte gesehen würde , wenn
diese bis auf die ersten Zellen zurückverfolgt werden könnte.
Wenn eine continuirliche Spirale in Stücke zerfällt, welche zu
alternirenden Quirlen sich gestalten , so finden Verschiebungen der
Blätter in horizontaler Richtung statt, um die gleichmässigen Abstände
zu gewmnen. Es sind dies aber, ebenso wie die relativen Lage-
änderungen in verticaler Richtung, nicht etwa durch eigentlichen
Druck bewirkte Verrückungen, sondern die Folgen ungleichen Wachs-
thums. Die Blattanfänge haben auf dem engen Umfang der Caulom-
spitze ungleiche horizontale Abstände; mit dem Dickerwerden des
Cauloms wachsen die Zwischenräume in ungleichem Maasse und
dadurch gelangen die Blätter in gleiche Entfernungen von einander.
Dies war wenigstens der phylogenetische A^organg, als die Quirle
sich aus der Spirale bildeten und blieb gewiss lange der ontogene-
tische Entwicklungsvorgang. Es ist aber möglich , dass , wenn die
Quirle phylogenetisch so gefestigt sind, dass die Fähigkeit der Um-
bildung in anderszählige Quirle oder des Rückschlages in die Spiral-
stellung verloren gegangen ist, dann schon die allerersten Blatt-
anfänge eines Quirles in der späteren regelmässigen A^ertheilung
auftreten.
Die Annahme von phylogenetisch ursprünglicher (nicht aus der
Spiralstellung hervorgegangener) Quirlbildung ist in keiner Beziehung
berechtigt. Die ontogenetische Entwicklungsgeschichte gibt uns, wie
schon gesagt , in vielen Fällen keinen Aufschluss über das phylo-
genetische Werden. Die Berufung auf die unzweifelhaft originäre
Quirlbildung bei Characeen und Florideen ist müssig, da ja die
Organisationsverhältnisse ganz andere sind, und unstatthaft, weil
keine genetischen Beziehungen zwischen den Gefässpflanzen und
jenen Algen bestehen. — An und für sich würde ja Quirlstellung
für die aus dem Moossporogonium liervorgehenden Organcomplexe
ebenso möglich erscheinen als Spiralstellung. Aber darum handelt
494 IX- Morjihologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.
es sich nicht , sondern nm das , was aus einer Vergleichung und
sorgfältigen Erwägung sich als wirklich ergibt. Nun haben wir
vier Thatsachen, welche das Nämliche darthun und nach meiner
Ansicht für die vorgetragene Theorie bezüglich der Phanerogamen
entscheidend sind :
1. der ganz allmähliche Uebergang von einem oder zwei Um-
läufen einer Spirale bis zu dem ausgesprochensten Quirl, wenn man
viele Pflanzen mit einander vergleicht ;
2. das Vorkommen der Spiralstellung und der Quirlstellung bei
dem nämlichen Organ ganz nahe verwandter Pflanzen;
3. die Unmöglichkeit, eine phylogenetisch zusammengehörige
Gruppe von Pflanzenfamilien auszuscheiden, bei welcher in einer
bestimmten Region des ontogenetischen Aufbaues ausschliessliche
Quirlstellung vorhanden wäre;
4. der zuweilen als Abnormität auftretende Rückschlag einer
Quirlstellung in die Spiralstellung.
Die Umänderung der Spiralstellung in die Quirlstellung ist,
wie schon gesagt, ein phylogenetischer und nicht etwa ein onto-
genetischer Process. Sie kommt nach und nach durch lange Zeit-
räume zu Stande , indem zuerst unbestimmte und unregelmässige
Quirle , dann solche , denen man noch deutlich ihre Herkunft aus
einer Spirale ansieht, endhch Quirle, in denen die Phyllome voll-
kommen gleich werthig erscheinen, auftreten. Jede dieser Entwick-
lungsstufen vererbt sich durch zahllose Generationen. Ueber die
Ursache der Veränderung wissen wir nichts anderes, als dass eben
ein im Idioplasma beruhender Antrieb die Differenzirung bewirkt.
Wenn etwa von Morphologen das Schwenden er 'sehe Gesetz der
mechanischen Veränderung der Blattstellung angezogen wird , um
zu erklären, dass in einer Familie bei den einen Pflanzen spiralige,
bei den anderen cyklische Stellung der Phyllome vorkommt, so liegt
darin eine Verkennung der Tragweite jenes Gesetzes. Nach dem-
selben können nur die Stellungen gedrängt stehender Blätter in be-
stimmte andere Stellungen, auch spiralige in quirlständige übergehen,
also die ursprünglichen morphologisch gegebenen Stellungen der
Ontogenien verändert werden ; aber die beim ontogenetischen Wachs-
thum an den Caulomspitzen primär auftretenden Stellungen sind
beständig und durch Vererbung bestimmt, was sich namentlich bei
der vergleichenden Morphologie der Blüthen klar herausstellt. Somit
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 495
sind auch die in den jüngsten Zuständen schon vorhandenen spira-
Hgen und cycHschen Stelhingen verwandter Pflanzen als erbliche
und demnach als phylogenetische zu betrachten.
Da die Ursachen der Quirlbildung innere sind, so entzieht sich
auch unserer Beurtheilung der Grund, warum oft an der nämlichen
Pflanze die einen Caulome oder Caulomregionen sj^iralige, die anderen
C3i'clische Blätter tragen, warum der nämliche Unterschied zuw^eilen
zwischen Arten der gleichen Gattung beobachtet wird und ebenso
wie die zwischen so weiten Grenzen variirende Zahl der Pliyllome
eines Quirls zu erklären ist. In letzterer Hinsicht möchte ich jedoch
auf eine Beziehung zu einer anderen , ebenfalls durch innere Ur-
sachen bedingten Erscheinung, nämlich zu der verhältnissmässigen
Breite der Blattbasis aufmerksam machen. Ich habe bereits bemerkt,
dass mit dem ontogenetischen Stärkerwerden des Cauloms zuweilen
eine Erhöhung der Blätterzahl in den Quirlen eintritt. Es scheint
mir nun , dass die Zunahme des Caulomumfanges , wenn dieselbe
eine individuell veränderliche Erscheinung ist, stets grösser ausfällt,
als die Zunahme, welche die Breite der Blattanheftung zeigt, und
hieraus leitet sich unschwer folgende Theorie ab.
1^ If^Es gibt bezüglich der Con stanz zwei Arten der Quirlbildmig ;
bei der einen ist die Zahl der Phyllome in einem Quirl idioplas-
matisch besthnmt und unabhängig von der individuellen Veränder-
lichkeit. Bei der anderen Quirlbildung treten stets soviel Blätter
zu einem Quirl zusammen, als es das Verhältniss zwischen der Breite
der Blattbasis und dem Caulomumfang erlaubt. Daraus erklärt sich,
dass beim Stärkerwerden des Cauloms auch die Phyllomzahl in den
(Quirlen wächst , ferner dass im allgemeinen die Laubblattquirle
M'enigzähliger sind, als die Quirle in der Blüthe (die Laubblätter
haben breitere Anheftungsstellen) und dass in Blüthen mit dicken
Caulomen die Phyllomzahl in den Quirlen hoch ansteigen kann
(Sempervivum und andere Crassulaceen), endlich dass die Laubblatt-
quirle bei den Monocotylen verhältnissmässig viel seltener sind als
bei den Dicotylen (jene haben breitere Blattbasen als diese; und
Blätter, die mehr als den halben Stengelumfang einnehmen, scheinen
zur Quirlbildung unfähig zu sein). Es liegt nun die Annahme nahe,
dass die zweite Art der Quirlbildung — d. h. diejenige, bei welcher
die Pflanze idioplasmatisch erst überhaupt Neigung zu cychscher
Anordnung der Phyllome erlangt hat und jeweilen die nach den
49G IX. Morphologie und Systematik als i)liylogenetische Wissenschaften.
Umständen gestattete Maximalzahl verwirklicht — phylogenetisch
zuerst auftrete , und dass aus ihr dann im weiteren phylogene-
tischen Verlauf die erstgenannte Quirlbildung — d. h. diejenige, bei
welcher das Idioplasma eine Beziehung zu der Zahl der Quirlphyl-
lome gewonnen hat — sich entwickle. Die numerische Beziehung
im Idioplasma besteht zuerst darin, dass der Zahl gewisse nicht
übersteigbare Grenzen gesetzt werden, und schreitet dann durch
Beschränkung dieser Grenzen zu bestimmten Zahlen fort. Durch
Rückschlag kann abnormal die bestimmte Zahl zur früheren un-
bestimmten oder die Quirlstellung zur früheren Spiralstellung zurück-
kehren.
Es wurden im vorstehenden die phylogenetischen Stufen, welche
die Entwicklung der Caulome und "Phyllome im allgemeinen wahr-
nehmen lässt, dargelegt. Die Beschaffenheit der Blüthe und ihrer
Theile verlangt noch eine besondere Besprechung.
G. Aufbau der Biüthe.
Der Blüthenbau zeigt die nämlichen Verhältnisse, die ich schon
bezüglich der Beblätterung des Pflanzenstockes (S. 484) und bezüglich
der Stellung der Phyllome (S. 485 ff.) erörtert habe. Es lassen sich
zunächst folgende Stufen in der Stellung der Blüthenblätter unter-
scheiden.
Gl. Alle Blüthenphyllome spiralständig: acyclische oder spiroi-
dische Blüthen.
6r... Die einen Phyllome spiral-, die andern quirlständig: spiro-
cyclische Blüthen^).
Gi. Alle Phyllome in alternirenden Quirlen : holocyclische oder
schlechthin cyclische Blüthen.
Jede dieser drei Stellungen kann durch Reduction mehr oder
weniger verändert werden. Die spiralständigen Blüthenphyllome
treten zuerst in grosser und unbestimmter Zahl auf und werden
') Die spiroidischen Blüthen werden auch weniger passend »aphanocyclischec
genannt. Da dieses Wort »mit undeutlichen, unscheiuharen oder unsichtbaren
Quirlen« bedeutet, so liesse es .sich eher da anwenden, wo die Quirle durch Ver-
schiebung undeutlich geworden sind. — Ebenso ist die Bezeichnung »hemicyclisch«
statt spirocyclisch zu beanstanden, da Hemicyclus ein Halbkreis ist.
IX. Möipliolofrie und Rj^stenialik als jibylogenetische Wissenscliafteii. 497
zuletzt auf wenige beschränkt ; es lässt sieli bei ihnen eine Anfangs-
und eine Endstufe unterscheiden:
1. polymer, 2. ohgonier.
Die cychschen Blütlienphyllome erscheinen zuerst in grr)ssorer
und unbestimmter Quirlzahl un«l worden dann auf eine bestinunte
oder gesetzmässige Zahl von Quirlen reducirt, die regelmässig alter-
niren. Eine weitere Reduction führt eine Verminderung ohne Stel-
lungsänderung herbei, so dass, wenn nur ein Quirl oder wenn drei
Quirle ausfallen , Opposition der Cj'^clen eintritt. Daraus ergeben
sich drei phylogenetische Stufen:
1. polycyclisch, 2. nomocyclisch, 3. oligocyclisch.
In dem einzelnen Quirl können durch Reduction einzelne oder
mehrere Phyllome schwinden , so dass aus diesem Umstände zwei
Stufen unterscheidbar werden :
1. mit vollständigen, 2. mit unvollständigen Quirlen.
Die angedeuteten phylogenetischen Stufen des Blüthenbaues ver-
langen eine weitere Auseinandersetzung. Der Beginn der Blüthen-
l^ildung ist gegenwärtig noch in der Gattung Lycoj^odium erhalten.
Während bei Lycopodium Selago die Laubblätter Sporangien tragen,
sind bei den anderen Arten die fruchttragenden Phyllome auf das
Ende der Gaulome beschränkt, und damit ist die Blüthe in ihrer
einfachsten Gonstitution und zugieicli der allgemeine Begriff der
Blüthe gegeben als ein Gaulomende oder kurzes laterales Gaulom,
das mit fruchttragenden Phyllomen besetzt ist.
Von diesem einfachsten Stadium ])is zu den phylogenetisch am
weitest fortgeschrittenen Bildungen gibt es \äele Entwicklungsreihen.
Da die Ausbildung in verschiedenen Beziehungen geschehen kann,
welche sich vielfach verschlingen, so lässt sich wohl in jeder einzelnen
Beziehung eine stufenweise Gliederung feststellen , aber für die Ge-
sammtheit des Aufbaues lassen sich keine gemeinsamen Stufen unter-
scheiden, sondern nur eine Anfangsstufe und eine Menge von Endstufen.
Die Anfangsstufe ist die vorhin genannte, nämlich ein Gaulom-
ende mit gleichartigen Sporenblättm'n und einigen, denselben voraus-
gehenden unfruclitbaren Hochblättern, alle in ununterbrochener
Spirale. Berücksichtigen wir zuerst diejenigen Entwicklungsreihen,
in denen die ununterljrochene Spirale erhalten bleibt und fassen
V. Nägeli, Abstammungsichre. 32
498 IX- Morphologie und Systematik als ])liylogenetisclH' Wissenschaften.
wir sie als eine Gruppe zusammen, so finden sich in dieser Gruppe
schon ziemhch hoch entwickehe Blüthen.
Ein erster Schritt besteht darin, dass die Sporenblätter sich in
männliche und weibliche scheiden, welche später in die Staubgefässe
und Carpelle übergehen. Bemerkenswerth ist, dass die unteren Stufen
bei den lebenden Geiasspflanzen (Gefässkryptogamen, gymnosperme
Phanerogamen) bloss eingeschlechtige Blüthen besitzen, so dass also
die einen Blüthen (Fruchtähren) der untersten Stufen männlich, die
anderen weiblich wurden.
Es musste aber auch von den ursprünglichen ungeschlechtlichen
Blüthen der Gefässkryptogamen aus Entwicklungsreihen geben, in
welchen die Sporogonien der oberen Blätter weiblich, die der unteren
Blätter männlich wurden , und welche weiterhin in die hermaphro-
ditischen Plianerogamenblüthen übergingen. Wahrscheinlich befand
sich zwischen den beiden Geschlechtsblättern ursprünglich eine An-
zahl durch Geschlechtsvermischung steril gewordener Blätter. Diese
sterilen Blätter haben sich in einigen Fällen noch sehr lange er-
halten , insoferne die zwischen Androeceum und Gynaeceum vor-
handenen sterilen Blätter niclit etwa als umgewandelte Staubgefässe
oder Fruchtblätter zu deuten sind. Meistens aber sind sie ver-
schwunden, indem die Caulomglieder (Internodien) sich verminderten
und somit die Stellen der geschwundenen IMiyllome von den einander
sich nähernden Staubgefässen und Carpellen eingenommen wurden.
In manchen, möglicherweise in allen Sippen der Anfangsstufe
gingen die unfruchtbaren Hochblätter zuerst allmählich in die frucht-
baren über: ein Zustand, der in den meisten der von hier auf-
steigenden Reihen l)ald ein Ende nahm, indem die unteren Blätter
dieser Uebergangszone ganz unfruchtbar, die oberen ganz fi-uchtbar
wurden. In einigen Reihen blieb er erhalten, so dass noch zwischen
den unfruchtbaren Hochblättern oder den Kelchblättern und den
Staub] )lättern und noch später, als die Blumenkronen sich gebildet,
zwischen den Kelch l)lättern und den Kronl)lättern abgestufte Ueber-
gangsglieder vorhanden waren.
Die jetzt besprochene Gruppe zeichnet sich, wie gesagt, dadurch
aus, dass die Phyllome der Blüthe in einer ununterl)rochenen Spirale
stellen. Diese Gruppe enthält viele divergircnd ^mf steigenden Reihen.
Von jedem Punkte einer jeden Reihe kann nun der phylogenetische
Fortschritt in anderen I^ahiicn lui^imien , indem (^uirll)ildung und
IX. Moi'itholoüie und Systematik als pliylogenetische WissenHcluiftcii. 4i)l)
darauf Schwinden von ganzen Quirlen oder von Theilen derselben
erfolgt.
Bezüglich der Beschaffen! leit der Quirle zeigt die Blüthenbildung
die merkwürdige Thatsache, dass jeder derselben schon bei der Ent-
stehung aus ganz gleichen Elementen zusammengesetzt ist. Man
möchte vielleicht ein ganz anderes Verhalten erwarten. Eine spiroi-
dische Blüthe bestehe aus m Kelchblättern, n Kronblättern, ^> Sta-
minodien , q Staubgefässen und r Carpellen , wenn m, n, p, <j, r
Zahlen bedeuten. Es wäre nun gewiss nicht aul'f'allend, wenn daraus
gleichzählige Quirle hervorgingen, unter denen sich auch einzelne
gemischte l^efänden , z. B. einer aus Kelch und Kronblättern , ein
anderer aus Kronblättern und Staminodien, einer aus Staminodien
und Staubgefässen und einer aus Staubgefässen und Carpellen ge-
mischt. Dies würde wohl auch eingetreten sein , wenn die Zahlen
der verschiedenen Phyllome [m, n, i), q, r) bestimmt wären. Sie
sind aber bei Spiralstellung immer unbestimmt.
Es variire nun beispielsweise die Zahl der Staubgefässe ((/) in
einer gewissen Sippe zwischen 26 und 42 und es trete bei deren
Nachkonmien Quirlbildung ein , so muss die Zahl der Quirle eben-
falls unbestimmt sein. Die Pflanze hat aber zugleich das Bestreben,
jeden Quirl gleichartig zu gestalten. Daher ist in dem angegebenen
Falle die Zahl der sich bildenden ögliedrigen Staubgefäss(-[uirle gleich
-p- oder ^ , mit der Beschränkung, dass mit Vernachlässigung
der Brüche nur die ganzen Zahlen Geltung haben ; es kommen also
den Abkömmlingen der Sippe unmittelbar nach der phylogenetischen
Umbildung 5 — 8 fünfzählige Staubgefässquirle zu. Und so verhält
es sich mit den übrigen Organen der Blüthe. Wenn Ungleichartig-
keit der Quirle vorkommt, indem z. B. die einen Elemente eines
Quirls Staubgefässe, die anderen Staminodien sind, so ist dies keine
ursprüngliche Bildung, sondern erst nachträglich durch Differenzirmig
oder Reduction entstanden.
Die Quirlbildung in der Blüthe kann entweder nach und nach
(succedan) eintreten, so dass zuerst bloss einzelne Organe, z. B. Kelch
und Krone quirlständig werden, indess die nachfolgenden Blätter (Ge-
schlechtsphyllome) noch spiralständig sind. Oder sie kann auf
einmal (sinmltan) perfect werden. Letzteres beobachtet man schon
auf der niedrigsten Stufe, noch bevor die Differenzirung der Ge-
32*
500 TX. i\rorphologie und fiystematik als ])1i)'logenetischc Wissenschaften.
schlechter eintritt, nämlich hei Equisetmii, wo allerdings auch schon
die Laubhlätter Quirlstellung zeigen. In den anderen Fällen, wo
alle Blüthenphyllome in Quirlen stehen, ist es oft zweifelhaft, oh
nicht phylogenetische Zustände mit partieller Quirlstellung voraus-
gegangen sind.
Das vorhin angeführte Beispiel von Equisetum gibt die Veran-
lassung zu einer Bemerkung über das Verhältniss der Blattstellung
in den Blüthen zu der in den übrigen Theilen der Pflanze. Eine
volle Ueberein Stimmung zwischen beiden kommt im allgemeinen nur
bei durchgehender Spiralstellung vor. Ist dagegen Quirlstellung ein-
getreten , so mangelt diese Uebereinstimmung , sei es dass in den
einen Partien die Phyllome noch schraubenständig, in den anderen
quirlständig sind, sei es dass die Quirlstelhnig in den verschiedenen
Partien ungleich ausgefallen ist. Häufig ist Quirlstellung in den
Blüthen allein vorhanden ; es können aber auch die Laubblätter
quirlständig sein, während die Hochblätter oder Theile der Blüthen
alternirend stehen.
Equisetum bietet ein seltenes Beispiel für übereinstimmende
Quirlstelluug an der ganzen Pflanze. Es ist mir unwahrscheinlich,
dass dieselbe erst eingetreten sei, nachdem die Differenzirung zwischen
vegetativen und reproductiven Blättern schon stattgefunden hatte,
denn in einem solchen Falle sehen wir sonst immer, dass Laub-
blätter und Fortpflanzungsblätter in ungleicher Weise Quirle bilden.
Ich vermuthe daher, dass in der Abstammungslinie von Equisetum
sich eine Ahnensippe befand, in welcher alle Blätter einander gleich
(also sporogonienbildend) und überdem spiralständig waren, dass
diese Spiralstellung bei einer folgenden Sippe zur Quirlstellung
wurde , und dass erst in einer noch späteren Sippe Differenzirung
in sterile und fertile Blätter statt hatte, wobei dann natürlich beide
die nämliche Quirlstellung zeigen mussten.
Ebenso sehr als durch die Quirlbildung wird der Aufbau der
Blüthe verändert durch die Reduction der Phyllome oder der Phyl-
lomquh'le. Diesel])e kann auf die früher erörterte doppelte Art ge-
schehen, entweder durcli ^'^erminderung der phyllomtragendenCaulom-
glieder oder durcli Verkümmerung der l'hyllome; im ersteren Falle
gehen die entsprechenden Stellen am Caulom verloren, im letzteren
bleiben sie erhalten (S. 485). In den spiraligen sowie in den cyclischen
Blüthen können ganze Abtheilungen der Blüthenblätter schwinden,
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 501
wodurch die Blütheii beispielsweise apetal oder eingeschlechtig
werden. In den spiroidischen Bhithen können die Phyllonie der
einzehien Abtheikmgen , die ursprünghch vielzählig sind , bis auf
eine Minimalzahl verloren gehen.
Die quirligen Blüthen sind ursprünglich polycyclisch mit un-
bestimmter Quirlzahl besonders im Androeceum und Gynaeceum.
Die Reduction der Quirle zeigt, wie ich glaube, zwei scharf zu
trennende Vorgänge, zuerst Verminderung auf eine Ijestimmte be-
schränkte Zahl von Cyclen, welche durch Reduction der Caulom-
glieder erfolgt und die polycyclischen Blüthen in nomocyclische
umwandelt. Es bleibt dabei die ursprüngliche Alternanz der Quirle,
insofern sie gleichzählig waren, oder ein anderw^eitiges ursprüngliches
Stellungsverhältniss der successiven Quirle, insofern die Zahl ihrer
Elemente wechselte, erhalten. Der zweite Reductionsprocess nimmt
aus den nomocyclischen Blüthen einzelne Quirle hinweg, deren Stelle
frei bleil)t (oligocyclische Blüthen). Dabei wird das Stellungsverhältniss
der auf einander folgenden Quirle möglicherweise verändert; aus
drei alternirenden Quirlen werden beisjjielsweise durch Schwinden
des mittleren Quirls zwei opponirte.
Endlich besteht eine Art des Schwindens darin , dass aus den
vollständigen Quirlen ein oder mehrere Elemente verloren gehen,
was gewöhnlich mit einer starken Ausbildung der Dorsiventralität
der Blüthe zusammenhängt.
Die höchsten Stufen der Entwicklungsreihen sind erreicht, wenn
in der Blüthe die Qiiirlbildung vollständig und die Reduction am
weitesten durchgeführt ist. Wir müssten es als das nicht zu überschrei-
tende Ende anselien, wenn jedes qualitativ verschiedene und als noth-
wendig erscheinende Organ, nämlich Kelch (als Schutz der Blüthen-
knospe), Krone (zur Anziehung der Insekten), Staubgefässe und
Stempel 1)1 oss je in einem einzigen Quirl vertreten, und wenn dieser
Quirl bis auf ein einziges Phyllom geschwunden wäre, was beim
Androeceum und Gynaeceum zuweilen der Fall ist.
Der pliylogenetische Aufbau der Blüthe, wie ich ihn dargelegt
habe , weiclit von den bisherigen Vorstellungen über die Blüthen-
bildung wesentlich alj. Die vergleichende Morphologie geht jetzt
502 I^- Morpliolngie und i^ysteiuatik als phylogenetische Wisseiischatten.
von verschiedenen »Typen« aus und erklärt daraus namentlicli mit
Zuliülfcnahnie von Abort, Vervielfachung (Verdoi^pelung, Spaltung)
und Verschiebung das abweichende Verhalten verwandter Pflanzen.
Damit ist gegenüber dem rein beschreibenden Verfahren sehr viel
gewonnen, indem der Blüthenbau ganzer Familien oder ganzer
Gruppen von Familien auf einen einheitlichen Plan zurückgeführt
wurde. Aber es wird durch dieses Verfahren nur das gegenseitige
Verhältniss derjenigen Bildungen erklärt, die von einem Typus ab-
geleitet werden können. Für die Beziehung der verschiedenen Typen
unter einander ist damit noch nichts geschehen, el)enso wenig für
die überall so zahlreich auftretenden Ausnahmen und Variationen.
Unter »Typus« versteht man ferner nicht bloss ein Vorbild, dem
andere nachgebildet sind, sondern sehr häufig auch überhaupt die-
jenige Form, die am häufigsten vorkommt oder die den Vorstellungen
der Schule am congruentesten ist. Man sagt beispielsweise: »In dieser
Familie sind 5 Carpelle typisch; aber es kommen auch bloss 4, o
und 2 und andrerseits 10 und mehr Carpelle vor; ferner können
die 2 Carpelle auf verschiedene Arten orientirt sein u. s. w.« Bei
solchen Vorkommensverhältnissen hätte das Wort typisch nur dann
einen rationellen Sinn, wenn aus der einen Bildung die anderen er-
klärt werden könnten. Dies wird aber nicht versucht und könnte
auch nicht durchgeführt werden.
Es muss also , abgesehen von allen anderen Abweichungen in
der Blüthe, schon wegen des Gynaeceums für eine solche Familie
ein (3bertypus aufgesucht werden, aus dem sich alle Vorkommnisse
begreifen lassen ; — denn dass man nicht einfach neben den
als typisch erklärten Bildungen von Ausnahmen und Variationen
gleichsam als von einem Naturspiel sprechen darf, liegt doch auf
der Hand. Jede Bildung hat ihre reale Existenz , ihre bestimmten
Ursachen und muss erklärt werden. Erst wenn für alle Variationen
in einer Familie die phylogenetischen Ursachen nachgewiesen sind,
kann von systematischer Erkenntniss die Rede sein.
Ich will bloss im allgemeinen zeigen, wie nach meiner Ansicht
die phylogenetische Methode sich gestalten dürfte. Die Haupt-
schwierigkeiten beginnen erst mit der Quirlbildung; diese konnnt,
wie ich ])ereits erwähnt hal)e, jedenfalls auf zweierlei Art zu Stande,
entweder simuUau oder succedan. Den einfacheren Fall stellt die
simultane Bildung dar, wenn nämlich alle Blätter der Blüthen gleich-
IX. Morphologie und Systematik al.s 2>liylogeiietische Wissenschaften. 503
zeitig oder in rascher Folge (etwa von unten iiacli (jl>en) zu Quirlen
sich ordnen. Dann werden alle Quirle gleichzählig sein und regel-
mässig alterniren. Ferner werden die Quirle ziendich zahlreich sein.
Bloss allenfalls von Kelch und Krone ist anzunehmen, dass sie ur-
sprünglich schon einquirlig sein konnten , denn sie sind schon hei
spiraliger Stellung meistens wenigzählig. Die Staubgefässe und die
Carpelle dagegen sind bei Spiralstellung gewöhnlich vielzählig und
daher ist für dieselben auch eine Mehrzahl von ursprünglichen
Quirlen sehr waln-scheinlich.
Die Quirlzahl war ferner ursprünglich eine unbestimmte. Erst
im phylogenetischen Verlaufe wurde sie, indem sie sich verminderte,
constant und zwar zuerst für die Staubgefässe ; denn es wurde zu-
gleich die fi-üher unbestimmte Orientirung des ersten Carpells (und
somit des ersten Carpellquirls) eine mit Rücksicht auf Kelch und
Krone bestimmte. Damit war die constante Zahl der Staubgefäss-
(juirle von selbst gegeben. Für die Limitirung der Carpellzahl war
keine solche Ursache vorhanden ; daher sehen wir denn , dass die-
selbe in so vielen Fällen noch variirt, in denen das Androeceum
ganz beständig ist. Da die Carpelle aber, wenn sie verwachsen,
nur in w^enigen Fällen eine Sonderung in hinter einander stehende
Quirle gestatten , so beobachten wir, statt der Unbeständigkeit der
Quirle, eine Unbeständigkeit in der Zahl der Ovariumfächer oder
der wandständigen Placenten sowie der Narben.
Simultane Quirlbildung fand wohl bei den Ahnen der meisten
ISlonocotylen statt, da bei denselben gleichzähhge Quirle durch die
eanze Blüthe so häufi«- sind, ferner wahrscheinlicli auch bei manchen
Dicotylen. — Nehmen wir beispielsweise an, eine bestinnnte Blüthe
habe, nachdem die Quirlzahl des Androeceums fixirt war, folgendes
Schema gehabt:
sep (y), pet (v), stam {v -|- v -f- '')' "^"^^T (unbestimmt).
Bedeutet /.' einen ^undäuiigcn Quirl, so können bei Vierzahl
oder Sechszahl auch 2 zweizälilige oder 2 dreizählige Quirle dafür
eintreten. Werden die Carpelle auf v reducirt, so stehen sie über
den Blumenblättern. Schwindet der untere Staubgeiassquirl, so hat
man bei Fünfzahl der Quirle eine typische obdiplostemonische,
schwinden die 2 oberen Staubgefässquirle , eine typische haplostc-
monische Blüthe : ersteres bei den Ericaceen, Geraniaceen, Zygophyh
504 1^- Morphologie uml (Systematik als phylogenetische Wissenschaften.
laceeii, Crassiüaceen etc. , letzteres bei den Convolvulaceen , Solana-
ceen, Campaniüaceeii etc. ; von diesen beiden Typen ist weder der eine
noch der andere als noniocyclische Bildung einer quirligen Blüthe
zu betrachten.
Von der vorhin scliematisirten Blüthe kann auch der diplo-
stemonische Typus herstammen. Die in unljestimmter Zahl vor-
handenen Carpelle schwanden anfänglich auf die nomocyclische Zahl
von zwei Quirlen (r -j- c); ging nun der untere Carpellquirl und der
oberste Staubgefässquirl verloren, so ist die tj^pische diplostemonische
Blüthe gegeben : Primulaceen, Plumbaginaceen, Sapotaceen.
Um die Herleitung der 3 genainiten Typen von dem iiomo-
cyclischen Bau anschaulicher zu machen, will ich den letzten noch
einmal und zwar mit Andeutung der Alternanz schematisiren :
12 3 4 5 6 7
sep .... staui . . . stam . . . carj)
. . . pet . . . stam .... carp . .
Die Zahlen 1 — 7 bezeichnen die auf einander folgenden Quirle.
Die in der oberen Horizontalreihe ]:»ctindlichen Quirle sind einander
superponirt, ebenso diejenigen der unteren Reihe; 3, 5, 7 stehen
also über den Kelchblättern, 4 und 6 über den Kronblättern. Das
Schwinden von Quirl 4, 5 und 7 gibt die haplostemonischen (I),
das Schwinden von 3 und 7 den obdijjlostemonischen (II) und das
Schwinden von 5 und 0 den diplostemonischen Typus (III):
1 2 3 4 5 G 7
^sep . . . stam
l . . . pet carp .
(sep stam
\ . . . pet . . . stam . . . carp . . .
TTT \^^'V ■ ■ ■ stam carp
) . . . pet . . . stam
Man wird mir wohl von mor|)liologisclier Seite antworten, dies
sei eine blosse Hyj^othese; die Annahme, dass bei dem haplostemo-
nischen und diplostemonischen Typus (I und III) je zwei Quirle ge-
schwunden seien, erscheine überflüssig; wenn auch beim letzteren die
Carpelle ursprünglich zahlreicher waren , so sei es doch unwahr-
scheiidich, dass der unterste Quirl derselben schwinde und der zweite
übrig bleibe. Ich verkenne keineswegs, dass, wenn man sich auf
die Betrachtung der einem Typus angehörenden Blüthen und deren
ontogenetischer Entwicklungsgeschichte beschränkt, diese Einwürfe
IX. Morphologie und Systeuuitik als jüiylogenetische Wissenscliat'ten. 505
als gegründet gelten können. Aber sie verlieren ihren Halt, sowie
man alle verwandten Bildungen mitberücksiclitigt. Ich betrachte
meine Annahme aus folgenden Gründen als die wahrscheinlichere.
Erstens gibt es viele Fälle, wo einer der drei genannten Typen bei
verwandten Gattungen oder verwandten Familien mit polymeren oder
polycyclischen Staubgefässen wechselt. Dies ist ein deutlicher Finger-
zeig, dass jene Typen sich durch Reduction des Androeceums gebildet
haben, mid es steht der Annahme, dass bei ihnen freie Stellen von
geschwundenen Staubgefäss(|uirlen vorhanden seien, nichts im Wege.
Zweitens ist zu bemerken, dass, wie sich aus zahlreichen Bei-
spielen ergibt, die Stellung der unter die nomocyclische Zahl (auf
einen Quirl oder weniger) reducirten Carpelle, nicht von der Stellung
der vorausgehenden Staubgefässe. sondern von derjenigen des Kelches
und der Orientirung der ganzen Blüthe bedingt wird. Daraus ergibt
sich, dass für diese Fälle zwischen Androeceum und Gynaecemn Ele-
mente durch Schwinden verloren gegangen sind. Es gibt nun nicht
wenige Familien unter den Choripetalen (Polypetalen) , in denen in
Blüthen mit gleichzähligen Quirlen bald epipetale, bald episepale
Carpelle vorkommen. Dies beweist uns, dass hier das Gynaeceum
ursprünglich dicyclisch war und dass l)ald der äussere, bald der
innere Carpellkreis geschwunden ist.
Drittens ist hervorzuheben, dass, wenn in Blüthen mit 5 zähligen
Quirlen das Gynaeceum noch mehr reducirt wird, dann die in der
Zahl von 4, 3 und 2 vorhandenen Carjjelle verschiedene Stellungen
zeigen können, die aber für die Gattungen constant sind; es haben
z. B. 3 Carpelle die Stellung "^ oder .^ , indem 2 hinten , 1 vorne
sich befindet und umgekehrt. Diese verschiedenen Stellungen lassen
sich nicht als Ueberbleibsel eines einzigen Quirls, wohl aber die einen
als Ucberreste des episepalen, die anderen als Ueberreste des epipe-
talen Quirls von Carj^ellen erklären. Würden die einen Stellungen
bloss mit episepalem, die anderen ])loss mit epipetalem Gynaeceum
in der nämlichen Familie vorkonnnen, so bestände mit Rücksicht
auf diese oligomeren Carpelle kein Grund zur Annahme zweier
ursprünglicher Carpellkreise. Da aber die verschiedenen reducirten
Stellungen mit einander einerseits in der nämlichen Familie mit
episepalem Gynaeceum und andrerseits ebenso in einer und derselben
Familie mit epipetalem Gynaeceum sich finden , so muss man an-
506 I^- Morphologie und Systematik als pliylü;^enetisc-lie Wisseiiscliaften
nehmen, dass sowohl die erstere als die letztere Familie ursprünglich
ein 2 quirliges CJyiiaeceuui hatte. Es gibt selbst reducirte Gynaeceen,
nämlich die 2- und die 4 zähligen (bei sonstiger 5 Zähligkeit der
Quirle), von denen man annehmen möchte, dass die eine Hälfte ihrer
Carpelle von dem episopalen und die andere Hälfte von dem epipe-
talen Quirl des Gynaeceums üljrig geblieben sei.
Viertens ist noch daran zu erinnern, dass in vielen Familien
mit typischem episepalem oder epipetalem Carpellquirl einzelne
Gattungen mit doppeltzähligem oder mehrzähligem Gynaeceum vor-
kommen. Da nun die zwei- und mehrquirligen Bildungen nicht aus
dem einfachen Quirl, wohl aber der letztere aus den ersteren auf
naturgemässem phylogenetischem Wege entstehen kann, so sind die
genannten typischen Bildungen nicht als ursprüngliche, sondern als
secundäre, aus einem dicyclischen Gynaeceum hervorgegangene zu
betrachten.
Die eben angestellten Betrachtungen betreffen vorzugsweise Blüthen
mit ursprünglich gleichzähligen Quirlen und von denen allenfalls an-
genommen werden kann , dass die cyclische Anordnung simultan
stattgefunden habe. Wenn die Quirll)ildung in der Blüthe succedan
eintritt, so begiinit sie gewöhnlich unten mit den Kreisen des Peri-
gons, während die Staubgefässe und Carpelle noch in grosser Zahl
und in schrauljcnförmiger Stellung vorhanden sein können. Tritt
Verwachsung im Gynaeceum ein, so ordnen sich die Carpelle in einen
Kreis, und lassen bloss aus den unbestimmten Zahlenverhältnissen
wahrnehmen, dass der nomocyclische Typus noch nicht eingetreten
sei. Dies ist unverkennl)ar , wenn Ijeisj^ielsweise die Zahl der im
Kreise stehenden Carpelle bei Nymphaea alba zwischen 12 und 20,
bei Papaver somniferum zwischen 7 und 15 wechselt. Ich möchte
also ein solches Gynaeceum noch für polycyclisch halten inid dasselbe
erst dann als in das nomocyclische Stadium eingetreten ansehen,
wenn die Zahl der Carpelle eine absolut oder relativ (nämlich im
Verhältniss zu anderen Quirlen der Blütlie) bestimmte geworden ist.
Wie das Gynaeceum vermindert auch das Androeceum mit dem phylo-
genetischen Fortschreiten die Zahl der Phyllome und ordnet sie dann
cyclisch an. Die Zahl der Quirle ist wahrscheinlich zuerst unbestimmt
und wird dann ])estiiiimt.
Kmc Blüthe, in der die Quirll)il(hnig succedan stattgefunden hat,
wird also nach der ersten Fixining der Quirlzahl jedes Organs in
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 507
das gleiche Stadimii eingetreten sein, in welches die Blüthen mit
simultaner Qnirll^ildung auf kürzerem Wege gelangen ; und möglicher
Weise sind in diesem Zustande beide nicht von einander zu imter-
scheiden. Oft aber wird darin ein Unterschied bestehen, dass, während
die letzteren gleichzählige, die ersteren ungleichzählige Quirle besitzen.
You dem nomocyclischen Stadium aus verläuft die phylogenetische
Weiterbildung in allen Blüthen, sie mögen durch simultane oder
succedane Quirlbildung sich entwickelt haben, in gleicher Weise durch
Schwinden ganzer oder auch partieller Quirle, und ferner, wenn ein
Gegensatz zwischen Rücken- und Bauchseite sich geltend macht,
durch Schwinden einzelner Quirltheile und Diiferenzirung sowohl
der vollständigen als der defecten Quirle in Gestaltung und Function.
Ich kann den Process nicht weiter ins Einzelne verfolgen. Das
Bisherige wird genügen , um die ph^dogenetische Methode für den
Aufbau der Blüthe verständlich zu machen. Die Aufgabe besteht
also darin, Reihen zu begründen, in denen die Anordnung von der
ursprünglich spiraligen und vielzähligen zu der cyclischen und reducirt
wenigzähligen Blüthe , Stufe für Stufe , fortschreitet , und weiterhin
festzustellen, welcher Reihe jeder einzelne, genetisch zusammengehörige
Complex von Phanerogamen angehöre. Man möchte vielleicht meinen,
dass diese Aufgabe zu unbestimmt gefasst sei und der Willkür grossen
Spielraum gestatte. Bei näherer Ueberlegung wird man aber finden,
dass dies durchaus nicht der Fall ist. Die phylogenetische Methode,
wie ich sie entwickelt habe, hilft zwar leicht über einige Schwierig-
keiten der bisherigen Betrachtungsweise hinweg, indem sie die betref-
fenden Vorkommnisse (z. B. Wechsel verschiedenzähliger Quirle bei
verschiedenen Individuen) in einfachster Weise erklärt, aber im all-
gemeinen bleiben die Rücksichten des Ijish erigen vergleichenden Ver-
fahrens in unveränderter Kraft. Es kommen ausserdem noch viele
neue Rücksichten hinzu, indem alles, was l)isher als Ausnahmen und
als Variationen unerklärt Ijlieb, durch die phylogenetische Methode
erklärt und dafür die Norm festgestellt werden muss. Diese Methode
erfordert also viel mehr Umsicht in der Bcurtheihmg der thatsäch-
liclien Vorkommnisse im Blüthenbau als das bisherige vergleicbende
Verfahren, verspricht dafür aber auch um so sicherere Resultate.
Das bisherige vergleichende Verfahren beschäftigte sich vorzüglich
damit, die Zahl der Quirle nach dem Gesetz der Alternanz festzu-
stellen, nöthigenfalls zu emendiren, und die Art und Weise der Auf-
508 IX. Morphologie und Systematik als . phylogenetische Wissenschaften.
einanderfolge zu bestimmen, ferner namentlich mit Rücksicht auf
das häufigste A^ürkonmien den sogenannten Typus zu fixiren. Das
phylogenetische Verfahren benutzt dazu ausserdem alle Variationen
und sucht namentlich aus den polymeren Variationen die innerhalb
einer Gruppe von verwandten Pflanzen vorkommen, und aus der
Stellung der nach der Reduction ül)rig bleibenden Organe den ganzen
Entwicklungsgang und besonders den nomocyclischen Aufbau als
Grundplan, aus dem die verschiedenen sogenannten typischen Bildungen
durch Reduction hervorgehen, festzustellen.
So ergibt sich beispielsweise mit Rücksicht auf den vielbespro-
chenen Blüthenbau der Cruciferen aus dem polymeren Androeceum,
das bei einigen Cruciferen selber, dann bei anderen Familien der
Rhoeadeen (Papaveraceen, Capjiarideen, Resedaceen) vorkommt, die
wahrscheinliche Folgerung, dass in der Abstammungslinie dieser
Klasse die Quirlbildung succedan (zuletzt im Androeceum) eingetreten
ist, dass die Quirle ursprünglich 4 zälilig und in grösserer Zahl vor-
handen waren , dass sie sich dann im Androeceum auf die Zahl
von 2 limitirten, und dass schliesslich das Androeceum durch
Schwinden zweier Phyllomc des unteren Quirls in den für die Cruci-
feren »typischen« Zustand üljcrging, — wobei ich die Vervielfachung
(»Verdoppelung«) der Staubgefässe in einzelnen Fällen durchaus
nicht leugnen will , wenn sie nicht eher als Rückschlag zu er-
klären ist.
Das Gynaeceum der Cruciferen bestand ursprünglich ebenfalls
aus zahlreichen Phyllomen (Papaveraceen, Capparideen, Resedaceen)
und wurde wohl zuerst auf zwei, daini auf einen einzigen 4 zähligen
Quirl reducirt, der bei den (yruciferen durch Schwinden der zwei
medianen (bei den Resedaceen auch durch Schwinden der zwei trans-
versalen) Carpelle 2 zählig geworden. DieVariationen indeiiBlüthen der
Rhoeadeen mit .'5-, 5- und Ozähhgen Quirlen würden eine besondere
Betrachtung mit genauer Berücksichtigung der Stellungsverhältnisse
verlangen, sind aber wahrsclieinlich so zu deuten, dass, während in
dem einen Zweig der Abstammungslinie, der zu den Cruciferen führt,
strenge Vierzahl herrscht, in einem anderen die Zahl der Quirl-
elemente zwischen 4, 5 und 6 wechselt, und dass die 6- und 3 zähligen
Gj'naeaceen der Resedaceen, wie ihre Orientirungen beweisen, die
Reste eines gesetzmässig doppelt 6 zähligen Carpellkreises sind.
IX. M(>r])li()looi(^ und Sj'steinatik als phylogenetisolie Wisscnscliat'tcn. 500
H, I, K. Einzelne Theile der Blüthe.
Nachdem dei' Aiilhau der Blüilic im allgemeinen betraclitet
worden ist, verliing(!n die Besonderlicilcn iin'ci' Tlieile iioeli eine
eigene kurze Besprechung.
11. Perigon. Die Phyllome des Perigons durehlauren die be-
reits besprochenen Stufen der SteUung:
1. spirahg, 2. cychsch,
die Stul'en der Verwaclisung:
1. alle Pliyllome getrennt, 2. die einen Cj^chis bildenden
rölu^ig verwachsen, 3. die successiven Quirle mit einander ver-
wachsen
und endhch die Stufen der Reduction. Im übrigen ist das Perigon
wesenthch durch Anpassung entstanden ; deshalb möchte ich nament-
hch darauf aufmerksam machen, dass man nicht etwa
1 . Perigonmangel , 2. gleichartiges Perigon , 3. in Kelch
und Krone geschiedenes Perigon
als drei phylogenetische Stufen ansehe. Diese drei Bildungen stehen
nach meiner Ansicht in keiner genetischen Beziehung zu einander,
da ursjirünglich auf die Hochblätter (Bracteen) die Staubblätter
folgten, dann Kelch oder kelchartiges Perigon aus den obersten
Hochl;>lätiei'n, Krone oder kronartiges Perigon aus den untersten
Staubblättern und Zwischenbildungen zwischen Kelch- und Kron-
blättern aus Uebergängen zwischen Hochblättern und Staubblättern
hervorgingen .
/. Androeceum. Rücksichtlich der Gestaltung der Staub-
blätter, welclie mehr Schwierigkeiten darbietet als diejenige der
übrigen Phyllome, liegen zwei Stufen klar vor:
ii. Staubblätter schuppenförmig mit mehreren Staubsäcken (C3-
cadeen und einige Coniferen);
L. Staubblätter diiTereiizirt in einen Staubkolbcn (Anthere) mit
zwei Staubsäcken und einen Staubfaden, zuweilen mit nebelblatt-
artigen Gel)ilden am Grunde.
Diese beiden Stufen scheinen mir Anfang und Ende der phylo-
genetischen Umbildung zu bezeichnen. Auf die erste Stufe folgt
die Verzweigung oder Theilung des Staubblattes, auch wohl Verviel-
fachung (»Verdoppelung«, basale Verzweigung), aber, wie ich glaube,
zuletzt immer Rückkehr durch Reduction zum unverzweigten, in
Stiel und Anthere differenzirten Staubgefäss. Es gibt noch, abge-
i=>
510 IX. Morpholoj^ie und %stt'iuatik als pliylogenctische Wissenschaften.
sehen vom inneren Bau, verschiedene Modificationen in der Ge-
staUiing der Staubblätter, deren phylogenetische Bedeutung zweifelhaft
ist, und die vielleicht als Anpassungen zu betrachten sind.
Im übrigen finden wir beim Androeceum die früher besprochenen
Stufen der Stellung und \^ erwachsung
1. spiralig, 2. cyclisch,
1 . frei, 2. mit den Staubfäden oder mit den Staubbeuteln
verwachsen,
1. bodenständig, 2. kelchständig oder kronständig oder
pistillständig, d. h. mit Kelch, Krone oder Pistill verwachsen,
letzteres in den gynandrischen Blüthen,
und die verschiedenen Stufen der Reduction
1. polymer, 2. oligomer (bei spiraliger Stellung),
1. polycyclisch, 2. nomocyclisch, 3. oligocyclisch (bei Quirl-
stellung),
1. mit vollständigen, 2. mit unvollständigen Quirlen.
Die Pollenkörner sind 1. frei oder 2. in Gruppen oder 3. in
ganze Pollenmassen verwachsen.
K. Gynaeceum. Gestaltung und Verwachsung der Carpelle
zeigen vier Stufen:
Kl. Carpelle schuppenförmig, flach (Gymnospermen).
lu. Carpelle in Sclieide, Stiel und Spreite differenzirt, die Scheide
mit den Rändern zum Fruchtknoten verwachsen (Ranunculaceen,
Papilionaceen etc.).
K:i. Wie 2, aber die quirlständigen Carpelle mehr oder weniger
hoch mit einander verwachsen ; Fruchtknoten mehrcarpellig, mehr-
fächerig (Liliaceen, Solanaceen, Geraniaceen etc.).
Ä",. Durch Reduction oder Zurückziehen der Scheidewände auf
den Rand verwandelt sich der mehrfächerige Fruchtknoten von K3
in einen typisch einfächerigen mehrcarpelligen, indem nun die Frucht-
blätter in gleicher Weise wie die Kelchblätter in dem röhrigen Kelch
klappig verwachsen sind (Papaveraceen, Violarieen, Cruciferen; —
Uebergang von K, in K, bei den Caryophyllaceen).
Bezüglich der Stellung der Carpelle haben wir den gewöhn-
lichen Fortschritt von der Spiral- zur Quirlstellung ; aber die letztere
unterscheidet sich von der der übrigen Phyllome dadurch, dass nur
in Ausnahmefällen über einander stehende Quirle auftreten, und
dass gewöhnlich alle Carpelle sich in einen einzigen Kreis ordnen
IX. Moii)li<tlogie und Systoiuatik als pliylogenetische Wissenschaften. 511
(S. ;')()(■)). Daher lässl «leim auch die Reduction bloss eine Vermin-
derung der Elemente dieses Kreises wahrnehmen und das nomo-
cychsche Gynaeceum besteht bloss in einem bestimmten \'^ielt"achen
der in der Blüthe herrschenden Gliederzahl der Quirle (z. B. 2 X ^)-
Wir haben somit rücksichtlich der Stellung und Ileduction die
Stufen :
1. spiralig a) poljmier, b) oligomer,
2. cyclisch a) polycycliscli oder polymer, b) nomocyclisch
oder nomomer, c) oligomer.
Mit Rücksicht auf die Lage zu den ül)rigen Phyllomen der
Blüthe sind zwei Stufen zu unterscheiden
1. Fruchtknoten ol)erständig, 2. Fruchtknoten unterständig.
Das unterständige Ovarium ist jedenfalls die höhere Entwick-
lungsstufe, mag dasselbe durch Verwachsung mit dem Kelch und
den ül^rigen Blüthenphyllomen oder mit dem vertieften Blüthen-
boden zu Stande kommen (vgl. S. 376 — 377).
Das Ovulum (Samenknospe) scheint bezüglich seiner Umhüllung
drei Stufen zu durchlaufen
1. mit nacktem Kern, 2. mit 1 Eihülle, 3. mit 2 EihüUen.
Rücksichtlich der Gestaltung schreitet das gerade (orthotrope)
Ovulum einerseits zum umgebogenen (anatropen), andrerseits zum
zusammengebogenen (camp^dotropen) Ovulum fort.
L. Samen. Ein phylogenetischer Fortschritt gibt sich in der
zunehmenden Grösse der Samen kund , indem darin die vermehrte
Sorge für die Brut ausgesprochen ist. Von gleich grossen Samen
sind unter übrigens gleichen Umständen diejenigen , welche einen
grossen Embryo enthalten, phjdogenetiscli weiter fortgeschritten als
diejenigen, welche mit dem kleineren Keimling nocli einen Eiweiss-
körper besitzen. — Vorstehendes ist in Uebereinstinnuung mit der
Thatsache, dass die höheren Thiere (Vögel) grössere Eier haben als
die niederen, und dass die höchsten Thiere (Säuge thiere) einen Embryo
im Mutterleib bilden.
Was die Samenlapi)en betrifft, so scheinen mir die bekannten
Verhältnisse drei Stufen anzudeuten.
Xj. Mehrere quirlständige Samenlappen (Coniferen).
L,. Zwei opponirte Samenlappen mit schmaler Basis (Dicotylen).
L,. Ein einziger Samenlappen mit scheidenförmiger Basis (Mono-
cotylen).
512 I^- ^lor})liol<)gio uiul Sj'steniatik als pliylogenetis(!he Wissenschaften.
Dies ist keineswegs im Widerspruch mit der früheren Annahme,
dass quirlständige Blätter phylogenetisch höher stehen als schraul)en-
ständige. Fünf einzelstehende Blätter erfahren einen Fortschritt,
wenn sie zum Quirl sich vereinigen, und ahermals einen Fortschritt,
wenn sie durch Reduction auf zwei und auf eines sich vermindern.
Ueberdem ist eine breite Anheftung seitlicher Organe als die voll-
kommenere zu betrachten , weil sie eine innigere Vereinigung an-
zeigt. Die mannigfaltigen Umhüllungen der Samen mit den Samen-
häuten und weiterliin mit den verschiedenartigen Fruchtgehäusen
werden wesentlich durch Anpassungserscheinungen verursacht und
erlauben keine Gliederung in phjdogenetische Stufen.
Die vorstehende Aufzählung macht keineswegs Anspruch auf
Vollständigkeit. So fehlt Lage und Gestalt der Placenta mit der
Anheftung der Ovula. Ich habe dieselbe übergangen, weil ich darüber
in phylogenetischer Beziehung nichts Treffendes zu sagen w-eiss. Man
darf jedoch die Bedeutung der hierher zählenden Merkmale nicht
überschätzen. Denn es ist wohl keinem Zw^eifel unterworfen, dass
der morphologische Werth der Placenten und der Eichen überall
der nämliche ist. Die Placenta ist nichts anderes als eine verdickte
Stelle des Fruchtblattgewebes und das Oviüum ist ein auf dem
Carpell entstehendes Ti"ichom oder Emergenzgebilde.
Die Ovula sind phylogenetisch die Fortsetzung der weiblichen
Sjjorogonien der heterosporen Gefässkryptogamen , wie die Staub-
säcke die Abkömnüinge der männlichen Sporogonien sind. Die
Sporogonien der Gefässkryptogamen aber gehen aus einer oder
mehreren oberflächlichen Zellen verschiedener Regionen des Sporen-
blattes hervor (S. 477) und haben somit trichomatische oder Emer-
genz- Natur. Iln*e Naclikommen, die Ovula, müssen die nämliche
Natur besitzen und Theile der Fruchtblätter sein^). Eine andere
*) Gegen diese Deutung der Natur der Ovula wird wohl der Einwurf er-
hoben werden, dass sie einen Gefässstrang besitzen und daher keine Trichome
sein können. Es ist ja ein nicht mein- seltenes Verfahren, dass man Anwesenheit
und Verlauf der Gefässstränge als Mi'rknial für die Natur, den Ursprung und
die Stellung eines Organs verwendet. Ein solches Verfahren kann aljer nur als
ein iiTthüniliches hezeichnet werden, welches seinen Grund in der Begriffsver-
wirrung findet, die noch so vielfach bezÄiglich der Erscheinungen im Pflanzen-
rei(!he berrscht. Was die uiori)hologische Bedeutung eines Organs (als Caulom,
Phyllom, Wurzel, Trichom) betriift, um die es sich hier handelt, so wird dieselbe
durch die Bolle Ijestimnit, die es beim Aufbau des Pflanzenstockes einnimmt.
IX. Morpliologie und Systoniatik als pliylogenetische WissenscliafttMi. 513
Bedeutung könnten sie auf phylogenetischem Wege bloss etwa sclieinl)ar
durch lieduction erlangen, indem das Carpell l)is auf ein Minimum
schwände und somit fast nur das Ovulum übrig bliebe, in ähnlicher
Weise wie das männliche Prothallium bei den höchsten Gefässkrypto-
gamen fast bis auf das Antheridium schwindet. Das Ovulum er-
schiene uns dann fälschlich in der Würde eines Phylloms. Bei den
Primulaceen wären, wenn die centrale Placenta als Caulomspitze sich
erweisen sollte, die daran befestigten Ovula solche reducirte Carpelle.
Doch halte ich für wahrscheinlicher, dass die Placenten in allen
Fällen Blatttheile sind und im angeführten Falle durch die Basis
der Carpelle gebildet werden.
Das Ovulum aber für ein Caulom resp. für eine Knospe (Samen-
knospe) zu erklären, scheint mir phylogenetisch ganz unhaltbar, wie
auch keine einzige der verschiedenen ontogeuetischen Beziehungen
nur einigermaassen dafür spricht.
Wenn man zwei Pflanzenfamilien der Phanerogamen nach den
phylogenetischen Stufen ihrer Merkmale vergleicht, so findet man
fast ausnahmslos, dass die eine in den einen, die andere in den
anderen Merkmalen eine höhere Stufe erreicht hat. Dies beweist,
dass sie verschiedenen Abstammungslinien angehören; denn wären
sie auch nur bildlich Stufen der nämlichen Linie, und würde somit
die eine von der anderen abstammen, so könnte selbstverständlich
die erzeugende Familie in keinem Merkmale höher entwickelt sein
als die erzeugte, sondern ihr höchstens gleichkommen. Daraus geht
hervor, dass die Phanerogamen einer grösseren Menge von Abstam-
mungslinien angehören und dass fast jede der jetzigen natürlichen
Familien das Ende einer solchen Linie bildet.
Die zwei Fragen, welche uns nun am meisten interessiren
würden, — 1. wie die Familien genetisch mit einander verwandt
nämlicli durch den Ort, wo es entsteht, und (hircli die Art und Weise, wie es
seHjer Organe hervorhringt. Die Bildung der Get'ässstränge dagegen ist eine
nachträgliche, durch physiologische Functionen hervorgel)rachte Erscheinung, die
mit jener Rolle in keiner Beziehung steht. Daher gibt es ausnahmsweise Fhyl-
lome, Caulome (S. •ilij), Wurzeln ohne Gefässstriinge , — und es ist kein Grund
vorhanden, warum Trichome, die zu grösserer und ungewöhnliclier Entwicklung
gelangen, nicht solche bekommen könnten.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 33
514 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.
sind und wie der ganze Stammbaum sich aufl)aut, und 2. wie sich
die Famihen , welche ungleichen Abstammungslinien angehören,
bezüglich ihrer Vollkommenheit zu einander verhalten und welche
als die höchst entwickelte zu erklären ist, — lassen sich noch gar
nicht beantworten. Was die erstere Frage l^etrifft, so haben wir als
Grundlage der genetischen Verwandtschaft bloss die systematische
Affinität und als Grundlage für den Stammbaum einzig das System,
welches wohl in einigen Ilauptzügen feststeht und dem Stammbaum
entsprechen dürfte, in allen anderen Beziehungen aber willkürlich
gestaltet wird.
Was aber die Schätzung der grösseren oder geringeren Vollkommen-
heit der Familien betrifft, so hängt dieselbe von der Beurtheilung der
Merkmale ab, und man kann daher, da die Familien l)ald in den
einen, bald in den anderen Merkmalen eine höhere phjdogenetische
Stufe erreicht haben, ganz ungleiche Familien als die vollkommensten
erklären, je nachdem man dem einen oder anderen Merkmale den
Vorrätig einräumt. In dieser Beziehung liegt das Pflanzenreich der
Erkenntniss ungleich ferner als das Thierreich, w^eil bei diesem eine
bestimmte Gruppe (die Wirbelthiere) so deutlich sich als die voll-
kommenste darstellt, und in dieser Gruppe sicli der vollkommenste
Organismus so deutlicli lieraushel)t.
Wenn wir wüssten, welches die vollkommensten Pflanzen sind,
so wären wir um einen grossen Sehritt dem Ziele näher gerückt,
und wir könnten wenigstens in allgemeinen Zügen das phylogene-
tische S3^stem der Phanerogamen zu entwerfen versuchen. Man hat
aber über jene Frage die verschiedenartigsten Ansichten. A^erdienen die
Papilionaceen , die Pomaceen , die Ranunculaceen , die Umbelliferen
oder irgend eine andere Familie den Rang der höchsten Pflanzen? —
Wir können zwar mit Sicherheit sagen, dass diejenige als die höchste
Pflanze erkannt wird, in welcher Differenzirung, Reduction und Ver-
einigung am weitesten fortgeschritten sind ; aber wenn wir nach
diesen Merkmalen zu vergleichen suchen , so gibt es keine Gruppe,
welche in allen Beziehungen ülier die anderen hinausragt. Es stellt
denn auch fast jeder Systematiker eine andere Familie an die Spitze
seines Systems. Allerdings mag dies zuweilen nur eine unabsicht-
liche Folge der systematischen Anordnung sein; von anderen Autoren
aber wird ausdrücklich eine bestimmte Familie als die höchste in
Anspruch genommen.
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften f)!;")
Da die einen Pflanzenfamilien in den einen, andere in anderen
Merkmalen als die höherstehenden sich erweisen, so erhebt sich die
für alle systematische Vergleichung so bedeutungsvolle Frage, welche
von den verschiedenen Eigenschaften als die wichtigeren zu betracliten
seien. Die Praxis hat darauf die Antwort gegeben, dass die Merk-
male der Blüthe und der Frucht einen viel grösseren Werth besitzen
als die der vegetativen Organe. Es ist selb.st fast allgemein als Axiom
festgehalten worden, dass nur die ersteren zu Gattungsunterschieden
benutzt werden dürfen , indess die Speciesunterschiede überall ge-
nommen werden, wo man sie findet.
Versuchen wir die Lösung der eben gestellten Frage auf den
zwei Wegen, deren Uebereinstimmung allein die Wahrheit verbürgt,
nämlich mit Hilfe der Erfahrung und der Theorie. Von Seite der
Erfahrung ist von zwei Merkmalen stets demjenigen die grössere
Wichtigkeit zuzuerkennen , welches die grössere Constanz , oder, da
wir die letztere eigentlich nicht zu beurtheilen vermögen, die grössere
Permanenz (vergl. S. 2;J9 — 240) besitzt. Von diesem Standpunkte
aus rechtfertigt sich nun das Verfahren der Systematiker, der Blüthe
und Frucht eine grössere -Bedeutung beizulegen, als den vegetativen
Organen, wenn auch niclit in der Ausschliesslichkeit, mit der es
durchgeführt wird. Manche Blüthen- und Samenmerkmale zeichnen
sich durch eine sehr grosse Permanenz aus, indem sie in ganzen
Familien oder in grösseren Abtheilungen des Pflanzenreiches unver-
änderlich jedem Individuum zukonnnen. Dagegen gibt es allerdings
auch Merkmale der Blüthe und namentlich der Frucht, welche
selbst in den Arten einer Gattung variiren ; und andrerseits Eigen-
thümlichkeiten in der vegetativen Sphäre, welche sich als sehr per-
manent erweisen.
Von Seite der Theorie ist, wenn wir von den früheren miss-
lungenen Versuchen der Naturphilosophie absehen, eine Lösung der
vorliegenden Frage nicht unternommen worden. Dieselbe kann nur
auf phylogenetischem Wege gelingen, und vielleicht ist folgende Er-
Avägung geeignet, die maassgebenden Gesichtspunkte anzudeuten.
Eine Abstammungslinie — der Einfachheit halber will ich ge-
schlechtslose Forti)flanzung voraussetzen — ist eine Kette von auf-
einander folgenden Tndi\nduen, von denen jedes an dem endliclion
Resultat, nämlich an der Beschaffenheit der Lidividuon der letzten
Generation, die ich als A bezeichnen will, Ijetheiligt ist. Alle anderen
33*
510' IX. Morpliologie und S_vsteiii;itik als phylogenetische Wissenschaften.
Abstanimungsliiiieii, die von früheren Punkten der genannten Linie
abgegangen sind, mögen sie ausgestorben sein oder zu anderen
Resultaten (i>, C, I) . . . .) geführt haben, fallen ausser Betracht, wenn
es sich bloss um A und die Ursachen von A liandelt. — Es gibt
selbst Individuen, die an keiner Abstammungslinie überhaupt Theil
nehmen; es sind dies die von Natur zur Unfruchtbarkeit bestimmten,
wie die Arbeiterinnen der Ameisen und Bienen. Irgendwelche Ver-
änderungen in diesen Individuen würden für das Resultat der Ab-
stamnumgslinien indifferent bleiben.
Wir können eine Abstammungslinie statt als eine Kette von
Pflanzen- oder Thierindividuen, auch als eine Kette von Organen
oder von Zellen ansehen. Dann ist es von allen Organen oder
Zellen der auf einander folgenden Ontogenien verhältnissmässig nur
eine geringe Zahl, welche dieser Kette angehört; alle anderen stellen
appendiculäre Theile derselben dar. — Nehmen wir die Zelle als das
Element der Abstannnungslinie und lösen wir also das Individuum
in die einzelnen Zellen auf, so beginnt mit der befruchteten Eizelle
eine wiederholte Zweitheilung ; es geht von ihr ein fast ins Unendliche
verzweigter Stammbaum von Zellen aus. Aber nur wenige der so
zahlreichen Abstammungszellreihen führen zu den befruchteten Ei-
zellen, mit denen die Individuen der folgenden Generation beginnen;
alle übrigen Abstammungszellreihen sind accessorische und haben
keine Nachkommen. Jene wenigen Reihen bezeichnen den uiunittel-
baren Weg der durch das Individuum verlaufenden phylogenetischen
Entwicklung. Insoferne können wir die ihr angehörigen Zellen als
phylodische bezeichnen, während alle übrigen Zellen des Indi-
vidumns, als ausserhalb des phylogenetischen Weges liegend, paro-
dis(;h genannt werden können. Eine verwandte Betrachtung diente
mir oben (8. 423) dazu, um die Noth wendigkeit des Absterbens der
Individuen darzuthun.
Wie mit den Zellen verliält es sich mit den Organen. Nur
wenige derselben befinden sich bei den höheren Pflanzen auf dem
directen phylogenetischen Wege, sind also 2>hylodiscli, nämlich der aus
dem Samen erwachsende Stengel sammt den zu den Blüthen fülirenden
Verzweigungen und die Eortpflanzungsphyllome (Staubgefässe und
Carpelle). Alle übrigen Organe liegen abwegs und sind parodisch,
nämlich alle 'frichome, alle Wurzeln, alle Phyllome mit Ausnahme
der die Siaubsäcke und Ovula tragenden und manchmal auch gewisse
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 517
Caulome; nur ausnahmsweise wird etwa das eine oder das andere
der parodischen Organe in den phylodischen Weg aufgenommen
(Sprossung aus Wurzeln, aus Laubblättern).
Man wird es nun an und für sich nicht unwahrscheinlich finden,
dass die phylodischen und die parodischen Organe oder Zellen nicht
die nämliche phylogenetische Bedeutung besitzen, womit dann zugleich
ausgesprochen ist, dass die Bedeutung der phylodischen Theile grösser
sein muss. Dies stimmt vollkommen mit der Theorie des Idioplasmas,
wde ich sie in dieser Schrift entwickelt habe, überein.- Den phylo-
dischen Theilen einer Pflanze müssen die Hauptzüge der idioplas-
matischenConfiguration, den appendiculären oder parodischen Theilen
müssen mehr untergeordnete idioplasmatische Gruppen entsprechen.
Daraus folgt, dass die ersteren beständiger, also auch permanenter
sind als die letzteren.
Die einen und die anderen Organe besitzen zweierlei erbliche
Merkmale, solche, welche durch innere, und solche, welche durch
äussere Ursachen hervorgebracht wurden. Die letzteren oder die
Anpassungsmerkmale haben eine viel geringere Permanenz (Constanz)
und somit auch eine geringere Wichtigkeit; aber es macht keinen
Unterschied, ob sie den phylodischen oder den parodischen Organen
zukommen. Wohl aber sind sie an den parodischen Theilen ungleich
häufiger, was sich leicht daraus erklärt, dass diese im allgemeinen
gleichsam als seitliche Anhängsel die phylodischen Theile umgeben
und dieselben wenigstens in den jüngeren Stadien vollständig ein-
hüllen und somit vor äusseren Angriffen schützen, indem sie selber
diese Angriffe aushalten. Man denke an die zahllosen Modificationen
der Phyllome und der Trichome, zum Theil auch der Wurzeln. Den
phylodischen Organen kommt ebenfalls die Fähigkeit der Anpassung
zu, da .sie in den älteren Stadien frei und den äusseren Einflüssen
ausgesetzt sind ; sicher aber erfahren in ihnen nur die aus parodischen
Zellen gebildeten Gewebe eine Anpassung.
Es entspricht also vollkommen der Theorie, wenn den IJhithen
und Samen sammt Blüthenstand die höchste Bedeutung in der Syste-
matik eingerämnt wird; denn in ihnen sind die meisten phvlodisclien
Theile der Pflanze enthalten. Es fehlt sogar gar nichts von den
phylodischen Theilen, wenn das Wesentliche des Blüthenstandes im
Verhältniss des Blüthencauloms zu den übrigen Caulomen der Pflanze,
also im Aufbau des ganzen Pflanzenstockes gefunden wird (S. 48U— 483).
518. IX. Morphologie luid Systematik als pliylogenctisclie Wisseiiscliaften.
In der o1)igeii Betrachtung ül)er die phylogenetischen Entwick-
lungen in der Grui)pe der Phanerogamen (S. 47'J — 513) sind die
wichtigsten phylo(hschen Merkmale, welche sich auf die äussere Ge-
staltung heziehen, aufgezählt. Dieselhen können im allgemeinen
als sehr permanent und wichtig gelten. Dahei ist aher nicht aus-
geschlossen, dass jedes Merkmal in denjenigen Familien variireh
kann, in welchen der Fortschritt von der niederen zu der höheren
Stufe noch im Werden begriffen oder noch jung und nicht hin-
reichend befestigt ist.
Man darf ferner nicht etwa den Einwand machen, dass die
Stellung und Verwachsung der Phyllome (F S. -185), soweit dieselben
nicht Staubblättei- oder Carpelle sind, die Zahl der Samenlappen
{L S. 511), die Belilätterung der Pflanze {E S. 484) nach meiner eben
gemachten Auseinandersetzung keine wichtigen Merkmale wären?
da sie von parodischen Theilen entnommen seien. Allerdings sind
die Phyllome im allgemeinen jjarodische Organe; aber ihre Stellung
und ihre Zahl gehören, weil diesel]>en unmittelbar von dem erzeu-
genden Caulom abhängen, eigentlich zu den Merkmalen des Cauloms,
somit zu den phylodischen Merkmalen. Die A^erwachsung der
Blätter unter einander, besonders der Perigonljlätter , ist eine Folge
der Quirlstellung und tritt wohl immer, wenn nicht etw^a die schmalen
Blattstiele ein Ilinderiiiss bilden, im phylogenetischen Verlaufe ein;
sie wird also ebenfalls durch das Verhalten des Cauloms , eines
phylodischen Organs, bestimmt. Dagegen ist die Gestaltung der
Phyllome sowie der ül)rigen parodischen Organe (Trichome, Wurzeln)
von geringer phylogenetischer Bedeutung.
Schliesslich will ich noch bezüglich einiger Pflanzen , denen
man den höchsten Rang im Reiche einräumen wollte, und bezüglich
einiger anderer, die wohl ebenso sehr diesen Rang hätten ])ean-
spruchen können, untersuchen, inwiefern ihre Merkmale überhaupt
zu einem Schlüsse auf grössere Vollkommenheit berechtigen. Ich
wiederhole hier, dass wir als die vollkonnnensten diejenigen Pflanzen
zu betrachten haben, in welchen in den wichtigsten Organen die
Differenzirung und zugleich die Reduction sowie ferner die Ver-
einigung am weitesten fortgeschritten sind. Die grössere Zahl der
IX. Morphologie und Systeiuatik als [)hylogenetische Wissenschaften. 51JJ
Organe ist also nicht das Merkmal einer höheren Stufe, sondern im
allgemeinen das Gegeiitheil davon, und die quantitative Verschieden-
heit, welche in einer Menge von Ahstufungen besteht, ist unvoll-
kommener als der Zustand, in welchem nach Unterdrückung aller
Uel)ergänge Ijloss die wenigen ausgeprägten Bildungen ül)rig Ijleiben
und unvermittelt neben einander liegen.
Die R a n u n c u 1 a c e e n , die als die vollkommensten Pflanzen
an der Spitze des Systems von A. P. de Ca nd olle stehen, erreichen
in keinem einzigen Merkmale einen hohen phylogenetischen Rang.
Der Aufbau des Pflanzenstockes bleibt auf der untersten Stufe, indem
die ßlüthen an den Laubblattsprossen terminal sind. Ebenso stellen
das Androeceum und Gynaeceum bezüglich Stellung und ^''crwachsung
niedrige Bildungen dar, da die Staubgefässe und Carpelle ge-
wöhnlich zahlreich, schraubenständig und nicht mit einander ver-
wachsen sind.
Die Pomaceen, von Oken für die höchsten Pflanzen ge-
halten , 1)efinden sich bezüglich des Aufbaues des Pflanzenstockes
auf der nämlichen niedrigen Stufe wie die eben genannte Familie.
Androecemn und Gynaeceum jedoch stehen etwas höher, indem die
Staubblätter kelchständig und in Quirle geordnet sind , deren Zahl
aber noch nicht normirt ist, und indem die (zwar unter sich freien)
Carj)elle mit dem vertieften Blüthenboden zu einem unterständigen
Fruchtknoten verwachsen sind.
Bei den Papilionaceen, die von Endlicher an die Spitze
des Systemes gestellt wurden , erreicht der Aufbau des Pflanzen-
stockes die höchsten Stufen (er ist diplo-triplo- und tetraplocaulisch),
ebenfalls die Gestaltung der Laubblätter. Dagegen bleiben die Blüthen
rücksichtlich der Verwachsung ihrer Theile auf niederen Stufen
stehen, und das Gynaeceum, wenn es auch die liöchste Reduction
(auf 1 Carpell) erlangt hat, ist, wie sich aus seinem Bau und aus
der ganzen Verwandtschaft schliessen lässt, als der Rest einer Mehr-
zahl von getrennten Carpellen, also einer niederen Bildung zu be-
trachten.
Die Um bellif ereil, gleichfalls schon für die vollkonuncnsten
Pflanzen gehalten, stehen zwar bezüglich des Aufbaues des Pflanzen-
stockes etwas hinter der vorhergehenden Familie zurück, indem sie
zwar diplo- und triplocaulisch sind , aber leicht durch Rückschlag
auf die haplocaulische Stufe zurücksinken, wie auch die .Dorsi-
520 IX- Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.
ventralität der Blüthe noch wenig ausgebildet ist. Dagegen befindet
sich im übrigen die Blüthe entschieden auf einer höheren Stufe.
Was den Bauplan betrifft, so ist das Androeceum und Gj^naeceum
wahrscheinlich durch Reduction aus der nomocyclischen Zahl 3 mal 5
Staubblätter und 2 mal 5 Carpelle entstanden , wie es durch Mon-
strositäten und durch das Verhalten der verwandten Araliaceen nahe
gelegt wird. Besonders aber ist es der streng unterständige Frucht-
knoten mit ursprünglich 2, durch Verkümmerung auf 1 beschränkten
Eichen in jedem der beiden Fächer, welcher die Uml^elliferen über
alle vorhergenannten Familien erhebt.
Die bisherigen Familien , deren ich deswegen erwähnt habe,
weil sie schon an die Spitze von Pflanzensystemen gestellt wurden,
gehören den Choripetalen an , welche die Systematiker gewöhnlich
für die höchste Pflanzengruppe halten. Ich will damit noch
eine Familie der Gamopetalen vergleichen. Die Compositen,
bereits von E. Fries für die vornehmste Familie erklärt, können
in mehreren Beziehungen mit den Umbelliferen zusammengestellt
werden. Der Aufbau des ganzen Pflanzenstockes ist etwas weiter
fortgeschritten, nämlich diplocaulisch oder triplocaulisch ohne Rück-
schlag zu einer terminalen Blüthe. Der Bauplan der Blüthe scheint
mir durchaus identisch mit dem der Umbelliferen und die typische
Zahl (5 Sep. 5 Pet. 5 Stam. 2 Carp.) aus der nämliclien nomo-
cyclischen Zahl durch Reduction entstanden. Die C'om})Ositen stehen
aljer höher als die Umbelliferen , indem die Staubfäden mit den
Blumenblättern röhrig verwachsen und ebenso die Antheren unter
sich in eine Röhre verschmolzen sind, und indem ferner das unter-
ständige aus 2 Carpellen verwachsene Ovarium 1 fächerig und leiig ist.
Obgleich die Monocotylen ausnahmslos als den Dicotylen unter-
geordnet behandelt werden , will ich doch zur Vergleichung zwei
Familien derselben heranziehen. Die Orchideen stehen bezüglich
ihres ganzen Aufbaues ziemlich auf derselben Stufe mit den Papi-
lionaceen und Compositen, indem sie diplo- und triplocaulisch sind.
Viele zeichnen sich durch eine starke Reduction ihrer Phyllome aus,
indem die Zahl der Laubblätter nicht selten auf 2 oder ein einziges
sich beschränkt. Der cyclische Aufbau der Blüthen zeigt im Androe-
ceum die grösstmögliche Reduction auf ein Staubblatt, im Gynaeceum
die Reduction auf 8 (fruclitbare) Carpelle. Einen sehr hohen Ent-
wicklungsgrad zeigen auch die Unterständigkeit des Ovariums, dessen
IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 521
klappige Verwachsung und die Gynandrie an. Dagegen bieten die
Samen wegen ihrer grossen Zahl und wegen der geringen Ausbildung
des Embryos ein bei Phanerogamen seltenes Beispiel der Unvoll-
kommenheit ; denn es ist ja ein Merkmal der niederen Organismen,
zalilreiche, schleclit ausgestattete Keime hervorzubringen, während
die höheren Organismen ihre wenigen Keime viel besser versorgen.
Die Gramineen, meistens an eine der untersten Stellen im
System der angiospermen Phanerogamen verwiesen, sind im ganzen
Aufbau diplocauhsch , und zeigen eine selten in solchem Maasse
erreichte Scheidung zwischen Laub- und verkümmerten Hochblättern.
Die cyclisch gebauten Blüthen sind im Perigon aufs äusserste, im
Androeceum meist auf 3 , im G3'naeceum auf 1 (vielleicht auf 2)
Carpelle reducirt. Jedenfalls ist das Ovarium, auch wenn es 1 carpellig
ist, phylogenetisch aus mehreren klappig verwachsenen Carpellen
entstanden, wde aus den verwandten Cyperaceen zu erselien ist, und
entspricht somit bezüglich seines Baues und ebenso, weil es ein ein-
ziges Ovulum einschliesst, der höchsten Entwicklungsstufe, während
es in der Oberständigkeit hinter den Orchideen zurückbleibt.
Der Grund , warum den Gramineen gewöhnlich eine so tiefe
Stelle im System angewiesen wird , liegt in der rudimentären Be-
schaffenheit des Perigons und wohl aucli in der Spelzennatur der
Hochl)lätter , sowie in der Gestalt und Consistenz der Laul)ljlätter.
Doch sind dies alles Anpassungseigenschaften und von geringerer
systematischer Bedeutung; und ebenso wenig darf den Orchideen
wegen ihres grossen, bunten und mannigfaltig gestalteten Perigons
ein höherer Platz im System eingeräumt werden. Welche von den
beiden Familien die andere überrage, wüsste ich nicht zu entsclieiden;
und wie sich dieselben zu den höher stehenden Familien unter den
Dicotyleii verhalten, hängt vorzüglich von dem gegenseitigen Wertlie
der Dicotyleii und Monocotylen ab.
Was nun die Stellung dieser beiden grossen Pflanzengruppen
betrifft, so datirt sich die tiefere Stellung der Monocotylen von Jus-
s i e u , dem Begi'ünder des natürlichen Pflanzeiisystcmes her, dessen
dreiHauptabtheilungen Acotyledonen, Monocotyledonen, Dicotyledonen
in dieser Anordnung die natürliche Reihenfolge gefunden zu haben
schienen. Als man dann zu der Einsicht kam , dass in den Dico-
tyleii von Jussieu eine Pflanzengruppe, die Gymnospermen, ent-
halten sei, welche zwischen den übrigen Phanerogamen und den
522 I^- Morphologie und Systematik ul« phylogenetische Wissenschaften.
Kryptogameii stehe, so räumte man ilmen diesen Platz ohne weitere
Aenderung- im System ein, so dass nun auf die Geliisskr^^ptogamen
nach einander Gymnospermen , Monocotylen , Dicotylen folgten ;
während doch die richtigere Reihenf(jlge unter den Phanerogamen
gewesen wäre:
1. Gymnospermen oder Polycotylen. Mit 2 bis vielen
am Grunde schmalen Samenlappen, Gefässstränge des CVmloms zu
fortgesetztem Dickenwachsthum und zur Verschmelzung in einen
Ring befähigt.
2. Dicotylen. Mit 2 (selten mehreren) am Grunde schmalen
Samenlappen, Gefässstränge des Cauluins zu fortgesetztem Dicken-
w^achsthum und zur Verschmelzung in einen Ring befähigt.
3. Monocotylen. Mit 1 am Grunde scheidenförmig ver-
breiterten Samenlappen, Gefässstränge des Cauloms zerstreut, weder
zu fortgesetztem Dickenwachsthum noch zur Verschmelzung in einen
Ring fähig.
Dass der monocotyle Embryo als das höhere j)hylogenetische
Merkmal zu betrachten sei, habe icli oben gesagt (S. 511). Doch
würde aus diesem einen Merkmal noch nichts für die ganzen Pflanzen
und die ganzen Gruppen folgen. — Man kann die Vergleichung der
Monocotylen und Dicotylen nacli drei Gesichtspunkten vornehmen:
1. nach dem Ursprung derselljen , 2. nach dem durchschnittlichen
Bau der zu ihnen gehörenden Pflanzen, 3. nach dem Bau der höchst
entwickelten Pflanzen.
Was zuerst den Ursprung betrifft, so wäre der genetische Werth
entschieden, wenn wahrsclieinlich gemacht werden könnte, dass die
Dicotylen aus den Monocotylen oder diese aus jenen entstanden
seien. Aber es ist weder das eine noch das andere möglich, soweit
es sich um den jetzigen Umfang der Gruppe handelt. Man muss
jedenfalls die Abstamnmngslinien der Gymnospermen , der Mono-
cotylen und der Dicotylen sehr weit zurückverfolgen, ehe man zu
dem gemeinsamen Ausgangspunkte kommt. Möglicher Weise ist jede
dieser Gruppen mit mehreren oder vielen getrennten Stämmen von
den niedersten ausgestorl)enen Gefässkryptogamen ausgegangen, oder
alle ihre Abstammungslinien waren auf der Stufe der niedersten
Gefässkryptogamen in einen einzigen oder in einige wenige Stämme
vereinigt. Ob das eine oder das andere der Wirklichkeit entspricht,
macht aber keinen Unterschied für den phylogenetischen Werth.
IX. MorpLologie und Systematik als phylogenetische Wissenscliafteu. 523
Bezüglich des durchschnittlichen Baues kann ^vu]d kein Zwcii'el
bestehen, dass die Monocotylen den höheren Rang einnehmen, da
bei übrigens gleichen Verhältnissen die Blüthen in der grossen Mehr-
zahl c}-cliscli , und zwar meist nomucyclisch oder oligocyclisch (die
Quirle und Quirlelemente durch Reduction auf eine geringe Zahl
vermindert) sind. Die durchschnittliche hohe Ausbildung der Mono-
cotylen deutet aber vielleicht bloss darauf hin , dass sie die ältere
Gruijpe sind und ihre niederen Familien meistens durch Aussterben
verloren haben.
Fragen wir uns endlich, ob die höchst organisirte Pflanze bei
den Monocotylen oder Dicotylen sich finde , so ist dies jetzt wohl
noch nicht mit Sicherheit zu Ijeantworten. Nach meiner Ansicht
muss als der höchste Organisnms derjenige betrachtet werden, der
den zusammengesetztesten Bau und die grösste Theilung der Functionen
besitzt, oder mit anderen Worten derjenige, dessen Organisation die
grösste Zahl von vorausgegangenen Entwicklungsstufen voraussetzt.
Nun sind aber bei den phanerogamischen Gewächsen mehrere Organe
an dem phylodischen Theil der Ontogenie betheiligt und jedes der-
selben kann eine grössere oder geringere Zahl von Entwicklungsstufen
zurückgelegt haben. Es handelt sich also bei jeder Pflanze um eine
Summirung, für deren exacte Ausführung es noch an einer wissen-
schafthchen Methode fehlt. Die Werthschätzung hängt somit zum
guten Theil von subjectiver Meinung ab. Nacli meinem Gefühle
würde ich den Conipositen einen, wenn auch nur geringen, Vorrang
vor allen anderen Dicotylen und Monocotylen einzuräumen geneigt
sein. Man könnte auch daran sich erinnern, dass diesell)en jedenfalls
diejenige Pflanzenfamilie darstellen, welche in der jüngsten Zeit die
stärkste phylogenetische Vermehrung erfahren hat, in der jetzigen
Pflanzenwelt alle anderen an Zahl der Sippen übertrifft und wahr-
scheinlich zu dem Maximum ihrer numerischen Vertretung gelangt
ist, so dass in Zukunft wohl wieder Verminderung der Sippenzahl
eintreten wird. Al)er aus dieser Thatsache , durch welche sich die
Conipositen so charakteristisch im Pflanzenreiche hcraushel)en, lässt
sich kaum etwas auf ihren Rang in demselljen entnehmen.
X.
Zusammenfassung.
In dieser Zusammenfassung verfolge ich im allgemeinen den
umgekehrten Weg von dem, welchen die Al)handlung eingeschlagen
hat. Ich gehe nämlich von dem unorganischen Urzustände aus
und suche zu zeigen, wie in demselben die micellös-organisirte Sub-
stanz und aus dieser die Organismen mit ihren mannigfaltigen Eigen-
schaften entstanden sind. Da eine solche Synthese noch weit von
einer streng naturgesetzlichen Folgerung aus den gegebenen Stoffen
und Kräften entfernt ist, so wird sie auch nur durch die genaue
Kenntniss der vorausgegangenen Erörterungen verständlich und ein-
leuchtend. Obgleich das synthetische Verfahren die Mängel der
Theorie offener darlegt als die analytischen Untersuchungen, so
hielt ich es doch für nützlich, diese Darstellung zu versuchen, um
ein anschaulicheres Bild der ganzen mechanisch - physiologischen
Lehre zu geben und zugleich ihre Leistungsfähigkeit zu prüfen.
I. Aufbau der unorganisirten Körper (Krystailbildung).
Wenn die getrennten und sich durch einander bewegenden
Moleküle des gelösten oder geschmolzenen Zustandes irgend einer
Substanz nach Verminderung der Treiniungs- und Bewegungsursachen
(der Wärme oder des Lösungsmittels) in den ruhenden Zustand über-
gehen, so legen sie sich zu festen, für Flüssigkeiten undurchdring-
lichen Massen an einander, -welche durch Auflagerung an der Ober-
X. Zusammenfassung. 525
fläche wachsen und, wenn die Molecnhirkridte ungestört wirken
können, den regehuässigen inneren Bau und die regehnässige äussere
Gestalt der Krystalle annehmen. Xon den äusseren Umständen hängen
Zahl und Grösse, die Modifi('ation der äusseren Gestalt und die
^Verwachsungen der Krystalle ah.
S. 93 — 95.
2. Aufbau der lebenden organisirten (micellösen) Körper.
Einige organische A^erbindungen , darunter das Eiweiss, sind
weder molecularlöslich, trotz ilu-er grossen Verwandtschaft zu Wasser,
noch auch schmelzbar und werden deshalb im micellösen Zustande
erzeugt. Dieselben bilden sich in Wasser, wobei sich die unmittelbar
neben einander entstehenden Moleküle zu Krystallanfängen oder
Micellen an einander legen. Von den in der Folge sich bildenden
Molekülen können nur solche, die ein Micell berühren, zur Ver-
grösserung desselben beitragen , während die übrigen wegen ihrer
Unlöslichkeit neue Micelle erzeugen. Daher bewahren die Micelle
eine auch für das bewaffnete Auge unsichtbare Kleinheit.
Die Micelle umgeben sicli, wegen der Verwandtschaft ihrer Sub-
stanz zu Wasser, mit einer verdichteten Wasserhülle. Ueber die-
selbe hinaus überwiegt die Anziehung zu gleicher Substanz. Daher
vereinigen sich die mit Wasser umhüllten Micelle zu festen (von
Wasser durchdrungenen) Massen, wenn nicht die bewegenden Kräfte
die Anziehung überwinden und eine micellare Lösung herstellen
(Eiweiss, Leim, Gummi) , wobei die wenig beweglichen Micelle die
Neigung zeigen, in kettenartigen und anderen Verbänden zusammen
zu hängen. Sehr häufig kommen, namentlich beim Eiweiss, halb-
flüssige, zwischen dem ersteren und dem letzteren Zustand befind-
liche Modificationen vor.
Die innere und äussere Beschaffenheit der micellösen Körper
hängt wesentlich von der Grösse, Gestalt und dynamischen Natur
ihrer Micelle ab, indem diese Momente die Anordnung der ur-
sprünglich sich vereinigenden und die Einordnung der später sich
Itildeiiden Micelle bedingen. Die äusseren Umstände hal)en auf die
Structur geringen und auf die äussere Gestalt vorzüglich nin- insofern
maassgebenden Einfluss, als sie die freie Ausbildung mechanisch
hemmen können.
526 ^- Zusammenfassung.
Die Eiweiss- oder Plasmaniicelle sind der grössteii Mannigfaltig-
keit t'ähio;, sowohl rücksichtlicli der Gestalt und Grösse als rück-
sichtlich der chemischen Zusammensetzung, da sie aus ungleich-
artigen Gemengen von verschiedenen Ei weiss Verbindungen bestehen
und überdem mit verschiedenen organischen und unorganischen
Stoffen als Auf- oder Zwischenlagcrungen vermengt sind. Deswegen
verlialten sich auch die chemischen und phj^sikalischen Eigenschaften
des Plasmas so sehr verschieden; dasselbe zeigt in Folge der un-
gleichen Verwandtscliaft der Micelle zu Wasser alle Abstufungen von
der Micellarlösung bis zu ziemlich festen Massen.
S. 35 — 37, 6Q— 68, 95 — 99.
3. Urzeugung. Leben. Wachsthum.
Wenn in einer unorganisclien Unterlage die Molecularkräfte so
combinirt sind , dass spontane Eiweissbildung stattfindet, so sind
mit der Vereinigung der Micelle die primordialen Plasmamassen
der Urzeugung gegeben. Im Inneren der letzteren geht fortan unter
dem Einfluss ihrer Molecularkräfte die Erzeugung von Albumin noch
leichter von Statten als ausserhalb in der Flüssigkeit. Es treten
daher die in der unorganischen Unterlage vorhandenen, der Eiweiss-
bildung fähigen A^erbindungen vorzugsweise in die Plasmamassen
ein und bewirken durch Einlagerung von Eiweissmicellen das Wachs-
thum derselben. Hierin besteht das organische Leben in seiner ein-
fachsten Form.
Die Urzeugung setzt die Entstelumg von Plasmamicellen aus
den Molekülen voraus und kann daher nicht durch Eiweiss- oder
Peptonlösungen, da dies micellare Lösungen sind, eingeleitet werden.
Das Leben setzt die Einlagerung von Plasmamicellen voraus; es
hört daher auf, sobald durch schädliche Einflüsse die Micellar-
anordnung so w^eit gestört ist, dass jener Wachsthumsprocess un-
möglich wird.
Das durch Urzeugung entstehende Wesen muss vollkommen
einfach, eine Plasmamasse mit noch ungeordneten Micellen sein,
weil jede Organisation ohne eine vorausgehende organisirende Thätig-
keit undcidvbar ist. Desw^egen können die bekannten Organismen
nicht spontan entstanden sein ; es muss ihnen ein Reich von ein-
facheren Wesen (Probien) vorangegangen sein.
X. Zusammenfassung. 527
Das Wacli.stliuni der Plasmainassen dauert an, so lange die
Ernährungsverhältnisse günstig sind. Werden diese ungünstig, so
tritt je nach Umständen (Nährstoffmangel, Temperaturerniedrigung,
relatives Austrocknen) Vegetationsruhe (latent(!S Lel)en) oder par-
tieller oder vollständiger Tod ein. Das Wachsthnm der Pflanzen
und Thicrc i.st nichts anderes als die Fortsetzung des im })rim<)rdialen
Plasma Ix^gonncnen Wcichsthuiiis, welches jcwcilcii in den lehens-
fähigen Resten weiter geht.
8. S3 — 101.
4. Partielles Absterben der Individuen. Fortpflanzung.
Da die primordialen Plasmamassen in unheg'renzter Weise die
Nährstoffe anziehen und zum Wachsthum verwenden, so gehen bald
da haM dort die Nährstoffe aus und die Substanz, die nicht mehr
ernährt wird, geht grösstentheils zu Grunde. Es stellt sich nun ein
allgemeiner Gleichgewichtszustand ein , indem die lebenskräftigen
Plasmamassen stets ungefähr so viel durch Wachsthum zunehmen,
als abgestorbenes Plasma zersetzt und in die ursprünglichen Nährstoffe
zurückverwandelt wird.
Dieses Bilanzveri'aliren ist im primordialen Zustande und auch
noch später bei manchen der niedrigsten Organismen ungeregelt und
zufällig. Es wird ^phylogenetisch nach und nach regelmässiger, in
der Weise, dass die Individuen nur mehr ein bestimmtes Maass der
Grösse und der Dauer erreichen und dann zu Grunde gehen, indem
bloss die von ihnen abgesonderten Keime lebensfähig bleiben. Diese
als Fortpflanzung bekannte Erscheinung hat einen dopj^elten Ursprung.
A. Das zu beträchtlicher Grösse anwachsende primordiale Plasma,
als eine weiche fast lialljflüssige Masse, zerfällt durch die mechanische
Wirkung der äusseren Umstände in kleinere Partien von unbe-
stiinrjiter Zahl und Grösse. Damit ist die unregelmässige und zufällige
Fortpflanzung der untersten Stufe gegeben.
In den A])könmdingen des primordialen Plasmas wird in Folge
dt;r ( )rganisirung der Sul>stanz, besonders in Folge der Plautbildnng
an derselben, die Theilung nach und nach regelmässiger, bis endlich
in mikroskopisch kleinen Massen, die nunmehr Zellen heissen, die
Zweitheilung stets eintritt, nachdem dieselben etwa auf das Doppelte der
ursprünglichen Grösse angewachsen sind. Nach der Theilung trennen
528 ^' Zusammenfassung.
sich die beiden Hälften von einander und stellen selbständige Indi-
viduen dar.
Im weiteren phylogenetischen Verlaufe tritt die Zweitheilung
der Zellen zwar in der nändichen regelmässigen Weise ein. Aber
die Zellen blei])en mit einander verbunden und bilden mehrzellige,
durch Zelltheilung sich vergrössernde Indi\dduen, welche auf den
untersten Stufen zuweilen in regelmässigen Intervallen in kleinere
Individuen, wold auch zuletzt in die einzelnen Zellen zerfallen, aus
denen aber sonst sich periodisch Zellen ablösen, die sich als Keime
zu neuen mehrzelligen Individuen entwickeln.
B. Eine andere Erscheinung, welche am primordialen Plasma
oder dessen nächsten Abkömmlingen eintritt, ist die, dass unter
gewissen ungünstigen Ernährungsum ständen der grössere Theil des
Plasmas zu Grunde geht, indess ein kleinerer Theil auf dessen Un-
kosten noch ernährt wird und dann während der Vegetationsruhe
lebenskräftig bleibt.
Diese Erscheinung wird in den Nachkommen nach und nach
zur freien Zellbildung, welche vor der Vegetationsruhe oder vor dem
Absterben vieler ein- und mehrzelliger Organismen stattfindet und
aus einem Theil des Inhaltes der betreffenden Elterzellen Keime
bildet.
Die Keiml)ildung diu'ch Zelltheilung (A) oder durch freie Zell-
bildung {B) ist die Fortpflanzung der Organismen. Die Keime sind
die Elemente, in denen sich das Leben und das Wachsthum des
elterlichen Individuums fortsetzt.
S. 342 ff. §3u. 4; 349.
5. Morphologie des Idioplasmas im allgemeinen.
Von dem ungeordneten, weichen und gleichartigen primordialen
Plasma, das durch Micelleinlagerung wächst, wird der grössere Theil
zu wasserreichem Ernährungsplasma mit ungeordneten und leicht
beweglichen Micellen. Der kleinere Theil verwandelt sich ph3do-
genetisch in Idioplasma, indem an einzelnen günstigen Punkten die
unter dem Einfluss der Molecularkräfte sich einlagernden Micelle zu
Schaaren mit gleicher Orientirung sich anordnen und daher Körper
von geringerem Wassergehalt und grösserer Festigkeit bilden. Jeder
Idioplasmakörper besteht anfänglich nur aus einer Micellschaar, die
X. Zusammenfassung. 529
aber mit der zunehmenden Einlagerung nothwendig in mehrere
Schaaren zerfällt. Die Micellschaaren des Idioplasmas werden ver-
möge ihrer dynamischen Einwirkung auf ihr eigenes Wachsthum
Iheils schärfer ausgeprägt und bestimmter geschieden, theils dvTrch
neue al) weich ende Einlagerungen in ihrem Innern al)ermals diffe-
renzirt. Dieser phylogenetische Process, bei welchem die neue Kräfte-
combination eine neue Configuration erzeugt und umgekehrt, setzt
sich ohne Ende fort, so dass der Idioplasmakörper lediglich durch
innere Ursachen, d. h. dm'ch die jMolecularkräfte der Eiweissmicelle,
unter deren Einfluss das Wachsthmn vor sich geht, eine stets zu-
nehmende Complication der Configuration annimmt: autonome Ver-
vollkommnung oder Progression des Idioplasmas, Entropie der orga-
nisirten Substanz (vgl. § 8).
B. Die eben charakterisirte phylogenetische Vervollkommnung
des Idioplasmas durch innere Ursachen wird kamn beeinträchtigt
durch die verschiedene Ernährung und durch die klimatischen Ein-
flüsse, welche die Ernährung modificiren. Dagegen sind alle die-
jenigen äusseren Kräfte , welche während langer Zeiträume in
gleicher Weise als Reize einwirken, bei der Einlagerung der Micelle
in das Idioplasma und bei den molecularen Vorgängen zwischen
den Micellen in sehr bemerkbarer Weise betheiligt (§11). Die Reiz-
wärkungen veranlassen die eigenartige Ausbildung der unter dem
Einfluss des Vervollkommnungstriebes sich neu einordnenden Micell-
schaaren. So ninnnt die stetig complicirter werdende Configuration
des Idiojjlasmas auch stetig einen den äusseren Verhältnissen ent-
sprechenden Localton an: Anjjassung des Idioplasmas.
S. 22—29, 115—119, 173—182.
6. Function des Idioplasmas im allgemeinen.
Die ungeordneten Eiweissmicelle des spontan entstandenen
Plasmas haben vor dem unorganisirten Zustande, aus dem sie her-
vorgegangen, noch keinen anderen Vorzug, als den, dass unter dem
Einfluss ihrer Molecularkräfte die Bildung neuer gleicher Eiweiss-
micelle leichter erfolgt. So wie sich aber durch die fernere Wirkung
der Molecularkräfte Idioplasmakörjicr mit Schaaren gleich orientirter
Micelle bilden , so werden die Molecularkräfte dieser letzteren zu
Massenwirkungen smnmirl und dadurch neue chemische Processe
V. Nägeli, Abstammungslehre. 34
530 ^- Zusammenfassung.
eingeleitet, jilastische Bildungen aus plasmatischen und nicht plas-
matischen Substanzen erzeugt und Massenbewegungen hervorge-
bracht; — und da die Idioplasmakörper unter dem Einfluss der
äusseren Reizwirkungen sich ausbilden, so treten auch ihre eben
genannten Producte stets mit einem bestimmten Charakter der An-
passung an die Aussenwelt auf.
Sowie dann im weiteren phylogenetischen Verlauf die Idioplasma-
körper immer complicirter werden und aus einer grösseren Zahl
unter sich verschiedener Micellschaaren bestehen, so müssen auch
die Organismen zusammengesetzter werden und sich in eine grössere
Zahl von Theilen gliedern, weil jede Micellschaar des Idioplasmas
ihre specifische Wirkung rücksichtlich des inneren Baus, der äusseren
Gestaltung und der Verrichtungen ausübt.
S. 30—35, 43—53, 129—132, 173—182.
7. Anlagen; Entstehen und Verschwinden derselben.
Da eine eigenartige Gruppe oder Schaar von Micellen des Idio-
plasmas eine eigenartige Erscheinung am Organismus hervorbringt,
so wird die erstere als die Anlage der letzteren bezeichnet. Der
Organismus muss also mindestens so viele Anlagen in seinem Idio-
plasma enthalten, als seine erbliche Ontogenie aus verschiedenen Er-
scheinungen zusammengesetzt ist, und wenn in derselben neue Er-
scheinungen auftreten, so müssen vorher neue Micellgruppen in das
Idioplasma eingelagert oder schon vorhandene bezüglich der Orien-
tirung und Anordnung der Micelle umgewandelt werden. Die Bil-
dung einer solchen Anlage , sie mag die Vervollkommnung der
Organisation oder die Anpassung an die Aussenwelt betreffen, geht
immer sehr langsam vor sich ; und in der Regel wird sie erst, wenn
sie fertig ist, auch entfaltungsfähig. Neben den fertigen Anlagen
befinden sich daher immer werdende oder unfertige im Idio-
plasma.
Wenn eine Abstammungslinie unter andere äussere Verhältnisse
kommt und andere äussere Reize auf sie einwirken als bisher, so tritt
phylogenetisch eine denselben entsprechende neue eigenartige Micell-
anordnung im Idioplasma auf. Dabei bleiben die anderen Anpassungs-
anlagen entweder ungestört, oder die neue Anlage bildet sich auf
Unkosten bereits vorhandener verwandter Anlagen aus, welche zuletzt
X. Zusammenfassung. 531
ganz verschwinden können. Nebenden werdenden und fertigen
Anlagen enthält daher das Idioplasma ünmer auch geschwächte
und verschwindende Anlagen. Dadurch dass ein phylogene-
tischer Stamm mehrmals unter andere äussere Verhältnisse geräth,
kann er zuletzt in seinem Idiojjlasma eine grosse Zahl von werdenden,
fertigen und vergehenden Anpassungsanlagen vereinigen. Diese Zahl
vermehrt sich beträchtlich, wenn infolge von Kreuzung eine Ver-
schmelzung der Idioplasmen verschiedener Sippen stattfindet.
8. Bestimmte Vorstellung über die Morphologie des Idioplasmas.
Indem bei der phylogenetischen Entwicklung des Plasmas sich
in dem weicheren Ernährungsplasma das dichtere Idioplasma aus-
scheidet (§ 5), hat das letztere von Natur die Neigung, eine netz-
förmige Anordnung anzunehmen. Die Balken dieses Netzes bestehen
ihrem Ursprünge gemäss aus parallelen, der Länge nach verlaufenden
Micellreihen , welche zu Schaaren niederer und höherer Ordnungen
vereinigt sind, so dass der Querschnitt der Balken die Configuration
des Idioplasmas darstellt.
Jede Ontogenie (Individuum) beginnt mit einem winzigen Keim,
in welchem eine kleine Menge von Idioplasma enthalten ist. Dieses
Idioplasma zerfällt, indem es sich fortwährend in entsi^rechendem
Maasse vermehrt , bei den Zelltheilungen , durch welche der Orga-
nismus wächst, in eben so viele Partien, die den einzelnen Zellen
zukommen. Die ontogenetische Vermehrung des Idioplasmas ge-
schieht durch das Längenwachsthum der Balken, nämlich durch
intercalare Einlagerurig von Micellen in jede Micellreihe der Balken,
welche sich dadurch verlängern, ohne ihre Querschnittsconfiguration
zu ändern. Demzufolge enthält jeder Idioplasmabalken alle An-
lagen, die das betreffende Individuum mi Keime geerbt hat, und
jede Zelle des Organismus ist idioplasmatisch befähigt, zum Keim
für ein neues Individuum zu werden. Ob diese Befähigung sich
verwirklichen könne, hängt von der Beschaffenheit des Ernährungs-
plasmas ab. Das Vermögen hierzu kommt bei niederen Pflanzen
jeder einzelnen Zelle zu; bei den höheren Pflanzen haben es manche
Zellen verloren; im Thierreiche besitzen es im allgemeinen nur die
zu ungeschlechthchen oder geschlechtlichen Keimen normal be-
stimmten Zellen.
34*
532 X- Zusammenfassung.
Die phylogenetische Fortbildung der Idioplasmastränge geschieht
durch das Wachstlium in der Querrichtung. Ihre Querschnittscon-
figuration, welche die Summe aller Anlagen enth<ält, ändert sich im
allgemeinen nur dann, wenn neue Micellreihen eingelagert werden. Die
Micellreihen des Idioplasmas schliessen aber, entsprechend der Dichtig-
keit desselben , enge an einander, so dass nur selten neue Reihen
eintreten können, und zwar nur an den bestimmten Stellen, wo der
Zusammenhang weniger fest ist und daher von den Spannungen
überwunden wird. Der Zusammenhang ist in unregelmässiger Weise
ungleich, weil die Configuration des Querschnittes gemäss dem Ur-
sprünge nie regelmässig ist; die Si:)annungen werden durch das un-
gleiche Längenwachsthum der einzelnen Micellreihen verursacht. Auf
den Zusammenhang und die Spannungen haben einen entscheidenden
Einfluss die dynamischen Einwirkungen, welche die Micellschaaren
der bereits erlangten Configuration auf einander ausüben und welche
durch die von aussen kommenden Reize modificirt werden können.
Das Idiojilasma verändert mit der Zunahme in den auf einander
folgenden Ontogenien seine Configuration stetig, aber verhältniss-
mässig äusserst langsam , so dass dieselbe von dem Keim einer
Generation bis ziun Keim der näclisten Generation einen winzigen
Fortschritt macht. Die Summirung dieser Fortschrittsdifferentiale
durch eine ganze Abstammungslinie stellt die Stammesgeschichte
eines Organismus dar, indem derselbe allein durch sein Idioj^lasma
in ununterbrochener Continuität mit dem einzelligen Anfang seines
Stammes zusammenhängt.
S. 37—43, GO— 08, 116 — 12U, 177—182.
9. Bestimmte Vorstellung über die Function des Idioplasmas.
Eine plasmatischc Sul>stanz verursacht nur dann bestimmte
chemische und physikalische Veränderungen, wenn sie sich in einem
gewissen Bewegungszustande befindet. Die eigenartige Wirksamkeit,
w^elche das Idioplasma in jedem ontogenetischen Entwicklungsstadium
und in jedem Theil des Organismus vollbringt, hängt davon ab,
dass jeweilen eine bestimmte Micellgruppe des Strangquerschnittes
oder ein Complex von solchen Gruppen thätig wird, indem diese
locale Erregung durch dynamische Einwirkung und durch Ueber-
tragung eigenthüinl icher Schwingungszustände bis auf eine mikro-
X. Zusammenfassung. 533
skopisch sehr geringe Entfernung die chemischen uiul plastischen
Processe beherrscht.
Der wirksame Erregungszustand einer plasmatischen Substanz wird
von ihrer eigenen Beschaffenheit und von der Einwirkung, die sie
von aussen empfängt, bedingt. Welche Micellgruppe des Idioplasmas
in Erregung gerathe, hängt von der Configuration desselben, von
den vorausgegangenen Erregungen und von der Stelle im indivi-
duellen Organismus ab , an welcher sich das Idioplasma befindet.
Die Anlagen sind während der ganzen Abstammungszeit von der
Primordialzelle aus nach einander entstanden ; die Configuration des
Idioplasmas ist daher eine j)hylogenetische und die Anlagen in dem-
selben haben von Natur die Neigung , in der Reihenfolge sich zu
entfalten, in der sie sich gebildet haben. Indem ferner bei der
Keimbildung die neue Ontogenie als einzelliges Individuum beginnt,
so kommt diejenige Anlage des IdiojDlasmas zur Entfaltung, die in
dem einzelligen Vorfahr entstanden war,' und ebenso unterstützen
die weiterhin folgenden Entwicklungsstadien die jeweilige Entfaltung
der Anlagen, die in den ihnen analogen Vorfahren ihren Ursi>rung
hatten. Die beiden zusammenwirkenden Ursachen, die phylogene-
tische Configuration des Idioi:)lasmas und die durch dieselbe bedingten
auf einander folgenden morphologischen Entwicklungsstadien des
Individuums halben zur nothwendigen Folge, dass die Ontogenie die
Wiederholung der Phylogenie ist.
Wenn in einer Ontogenie die ganze übrige Reihe der idioplas-
matischen Anlagen zur Entfaltung gelangt ist, so folgt schliesslich
sowohl nach der Configuration des Idioplasmas als nach der Be-
schaffenheit des Organismus die Erregung der keimbildenden An-
lagen; das Individuum ist fortpflanzungsfähig und in den Keimen
beginnen die neuen Ontogenien.
S. 30—35, 43—53, 129—132, 177 — 182.
10. Uebertragung der idioplasmatischen Anlagen bei localer Veränderung
und bei der Befruchtung.
Die autonome, progressive (oder VervollkoinuHiungs-) Umwand-
lung des Idioplasmas ist wahrscheinlich in allen Eiitwicklungsstadien
thätig und erfolgt in allen Theilen des Organismus gleichmässig,
weil das Idioplasma seine Configuration während der Ontogenie stets
534 X. Zusammenfassung.
und überall bewahrt. Die von aussen kommenden Reize treffen
den Organismus gewöhnlich an einer bestimmten Stelle; sie be-
wirken aber nicht bloss eine locale Umänderung des Idioplasmas,
sondern pflanzen sich auf dynamischem Wege auf das gesammte
Idioplasma, welches durch das ganze Individuum in ununterbrochener
Verbindung sich befindet, fort und verändern es überall in der näm-
lichen Weise, so dass die irgendwo sich ablösenden Keime jene
localen Reizwirkungen empfunden haben und vererben.
Bei der Keimbildung der geschlechtlichen Fortpflanzung müssen
die beiden elterlichen Idioplasmen in Berührung mit einander
kommen, worauf entweder eine materielle Vereinigung und Bildung
eines gemischten Idioplasmas oder eher eine dynamische Einwirkung
und dadurch eine Umbildung, welche aber jenem gemischten Idio-
plasma vollkommen gleichwerthig ist, erfolgt. Befi'uchtung durch
Diosmose des männlichen Zeugmigsstoffes ist unmöglich.
In dem Idioplasma des bei Kj-euzung ungleicher Individuen
entstandenen Keimes haben die Micellreihen der einzelnen Anlagen
bald eine mittlere Beschaffenheit und bringen Eigenschaften an dem
Organismus hervor, welche zwischen den elterlichen Eigenschaften
die Mitte halten. Bald liegen die väterlichen und die mütterlichen
Micellreihen in dem Idioplasma des Kindes unverändert und in ver-
schiedener Gruppirung neben einander und bringen am Organismus
die beiderseitigen Merkmale entweder ebenfalls unvermittelt neben
einander oder nur das eine der elterlichen Merkmale hervor, indem
das andere latent bleibt.
Wegen der bei der Befruchtung erfolgenden Vereinigung der
beiden Idioplasmen vermögen zwei zeugungsfähige Organismen um
so eher mit einander einen entwicklungsfähigen Keim zu bilden, je
näher sie genetisch mit einander verwandt sind , je mehr also das
männliche und das weibliche Idioplasma in ihrer Configuration und
chemischen Beschaffenheit übereinstimmen, weil in diesem Falle die
Mcellanordnungen am besten in einander j^assen und das Idioplasma
des beginnenden Keims in der mütterlichen Ernährung den ge-
eignetsten Unterhalt findet. Wenn trotzdem Selbstbefruchtung oder
die engste Inzucht oft Producte von geringerer Existenzfälligkeit
liefert und von der Natur vermieden wird, so ist dies die Folge von
späterhin sich geltend machenden Nachtheilen, indem in allzu nahe
verwandten Idioplasmen gleichsinnige Störungen vorhanden sein
X. Zusammenfassung. 535
können, die bei ungehemmter Ausbildung gefährlich werden; dies
trifft um so mehr zu, je complicirter das Idioplasma gebaut ist,
während den einfachsten (ungeschlechtlichen) Organismen der abso-
lute Mangel der Kreuzung keinen Schaden bringt.
S. 53—60, 205—206, 215—230.
II. Wirkung der äusseren Einflüsse.
Die Einflüsse der Aussenwelt liefern dem Organismus vor allem
Kraft und Stoff für die Lebensvorgänge ; sie verursachen, wenn bei
den bezüglichen Eingriffen die idioplasmatischen Elasticitätsgrenzen
nicht überschritten werden, keine bleibenden Veränderungen und
halben nur ontogenetische Bedeutung; sie unterhalten das Wachs-
thum und den Stoffwechsel der Individuen und bedingen indivi-
duelle (nicht erbliche) Verschiedenheiten, welche die Ernährungs-
modificationen ausmachen; die von ihnen hervorgebrachten Lei-
stungen erscheinen als die unmittelbaren Folgen der wirkenden
Ursachen.
Die Einflüsse der Aussenwelt bewirken ferner, indem ihre An-
griffe die idioplasmatischen Elasticitätsgrenzen überschreiten, dauernde
Veränderungen, welche in dem einzelnen Individuum zwar unmerklich
gering, aber wenn sie durch lange Zeiträume in gleichem Sinne
thätig sind, sich zu bemerkbarer Grösse steigern. Diese Verände-
rungen sind als erbliche von phylogenetischer Bedeutung und führen
zur Varietäten- und Speciesbildung ; sie erscheinen wohl
immer als die Folgen von mehr oder weniger vermittelten Reactionen,
welche auf die von den äusseren Ursachen ausgeübten Reize eintreten.
Die von der Aussenwelt auf den Organismus ausgeübten Reize
werden auf das Idioplasma fortgepflanzt. Da der erstere bei jedem
Wechsel der Ontogenien zu Grunde geht und nur das letztere aus-
dauert, so bewirken die äusseren Einflüsse einzig in dem Idioplasma
bleibende Veränderungen, welche erst, nachdem sie zu fertigen und
entfaltungsfähigen Anlagen sich entwickelt haben, an dem Orga-
nismus sichtbare Umbildungen hervorbringen.
Die phylogenetischen Wirkungen der äusseren Reize geben der
durch innere Ursachen complicirter werdenden Configuration des
Idioplasmas das bestimmte Anpassungsgepräge und vermögen dieses
Ge|)räge wahrscheinlich nur nach Maassgabe der autonomen Aus-
bildung des Idioplasmas umzugestalten.
536 X- Zusammenfassung.
Wenn eine äussere Ursache endlos auf eine Abstammungslinie
einwirkt, so erreicht die ihr entsprechende Veränderung des Idio-
plasmas nach einer gewissen Zeit ihr Maximum und damit ihr
Ende, entweder weil in Folge der Umprägung, die den Charakter
der Abwehr zeigt, die Ursache nicht mehr als Reiz empfunden wird,
oder weil die Beschaffenheit der Substanz keine Steigerung der
Umprägung erlaubt. Dauert die Reizeinwirkung nur kurze Zeit, so
steht die begonnene Umbildung des Idioplasmas nachher entweder
still, oder sie geht infolge des erlangten Anstosses selbständig fort
und die Anlage wird entfaltungsfähig, nachdem ihre Ursache längst
schon zu wirken aufgehört hat.
Da auf einen Reiz eine vielfach vermittelte Umsetzung im Or-
ganismus folgt, so kann das Endresultat, das als Reaction zum Vor-
schein kommt , sehr verschiedenartig ausfallen , und die nämliche
äussere Ursache kann je nach der Beschaffenheit des Organismus
und der übrigen Verhältnisse sehr ungleiche Veränderungen zur
Folge haben. Sie bewirkt aber im bestimmten Falle inmier auch
ganz bestimmte Veränderungen.
Wegen der mannigfaltigen Vermittlung ist es oft schwer, die
äussere Ursache einer bestimmten phylogenetischen Anpassungs-
veränderung aufzufinden; in manchen Fällen erkennen wir siezwar
unschwer in einer bestimmten mechanischen Action, oder in der
Wärme, im Licht, in der Verdunstung. Meistens erweckt der Reiz in
dem Organismus bloss ein ßedürfniss, dem letzterer durch Reaction
abzuhelfen bestrebt ist, und es scheint, dass auch das Bedürfniss
oder der Mangel allein schon eine solche Reaction hervorzurufen
vermag. In der Geschlechtssphäre wirken ferner (elektrische?) An-
ziehungen und Abstossungen zwischen den idioplasmatischen An-
lagen zu phylogenetischen Veränderungen mit.
Die Anpassungen des entfalteten Organismus, welche Folgen
der äussern Einflüsse sind, bestehen entw'eder bloss in einer eigen-
thümlichen molecularen Beschaffenheit (Reizbarkeit), vermöge welcher
das Individuum auf jene Einflüsse mit vorübergehenden oder
dauernden Erscheinungen zu antworten befähigt ist, — oder in
fertigen Einrichtungen. Die letzteren haben im allgemeinen eine
doppelte Function: entweder schützen sie den Organismus vor den
äusseren Einflüssen , deren Folgen sie sind , oder sie setzen ihn in
den Stand, dieselben zu seinem Vortheil zu verwenden. Das Vor-
X. Zusammenfassung. 537
wiegen der einen oder anderen licaction führte zu der Entwicklung
des Pflanzen- un<l dus Thierreiches. Im einen Falle bildete das
primordiale Plasma in der Celluloseliaut eine roizfeste Bedeckung;
wegen dieser für Reize unemi:)findliclien Zellmembran beschränkten
sich die Anpassungen im Pflanzenreiche wesentlich auf die Ernäh-
rungs- und Fortpflanzungssphäre. Im anderen Falle steigerte sich
die Reizbarkeit und Beweglichkeit des primordialen Plasmas in der
Weise, dass es in den Stand gesetzt wurde, vor dem Reize zurück-
zuweichen oder denselben durch Entgegenkommen dienstbar zu
machen ; die reizempfängliche Zelle führte im Thierreich zur Bil-
dung der Sinnesorgane und des Nervensystems.
S. 102—116, 132—182, 316—326.
12. Phylogenetische Entfaltungsfähigkeit der Anlagen. Rückschläge.
Im primordialen Zustande fällt Bildung und Entfaltung der
Anlagen zusammen, indem das den Organismus constituirende Plasma
die Fähigkeit besitzt, durch Einlagerung neuer Micelle zu w^achsen
und das Wachsthum durch innere und äussere Ursachen zu ver-
ändern. Sowie al)er das j^rimordiale Plasma sich in Idioplasma und
Ernährungsplasma scheidet, so besteht die Anlagenbildung in der
Veränderung des Idioplasmas und die Anlagenentfaltung in der Er-
zeugung von Ernährungsplasma und von nicht ^^Is^smatischen Sub-
stanzen unter dem Einfluss des Idioplasmas.
Nur die fertige Anlage vermag sich zu entfalten, zumal
wenn zugleich eine verwandte, bisher wirksame Anlage in den ent-
faltungsunfähigen Zustand zurückgedrängt werden muss. Aber auch
weini es sich um eine ganz neue Anpassungserscheinung handelt,
die nicht an die Stelle einer anderen tritt, muss ihre Anlage, che
sie manifest werden kann, so weit heranwachsen, dass die Molecular-
kräfte eine hinreichend grosse Summe darstellen. Desswegen ändern
sich die Merkmale des entfalteten Organismus meistens sprungweise,
indcss die Umbildung seines Idioplasmas ganz allmählic;h vor sich
gegangen ist.
Da die Configuration des Idioplasmas durch die autonome Ver-
vollkommnungsbewegung complicirter wird, wodurch der Organismus
auf immer höhere Organisationsstufen sich erhebt, so müssen die
entfaltungsfähigen Organisation s- oder Vervollkommnungsanlagen
538 X. Zusammenfassung.
durch jene Bewegung stets nach einer gewissen Zeit überholt und
in den latenten Zustand versetzt, dann immer mehr geschwächt und
zuletzt ganz vernichtet werden. Nur in der ersten Zeit nach ihrem
Latentwerden vermögen solche Anlagen wieder in den entfaltungs-
fähigen Zustand überzugehen und somit den Organismus auf die
nächst frühere Organisationsstufe zurückschlagen zu lassen.
Da die durch innere Ursachen complicirter werdende Configura-
tion des Idioplasmas durch die äusseren Ursachen stets ein bestimmtes
Anpassungsgepräge annimmt, so können die entfaltungsfähigen An-
passungsanlagen, wenn andere äussere Ursachen andere Anpassungs-
anlagen bewirken, stets geschwächt und latent gemacht werden ; sie
können aber auch jeder Zeit durch die früheren Ursachen wieder
gestärkt und zur Entfaltung befähigt werden, und der Organismus
kann daher bezüghch seiner Anj)assung die verschiedenartigsten
Rückschläge zeigen. Bei solchen Rückschlägen kommen aber nie
wieder genau die früheren Formen zu Stande, weil mittlerweile das
Idioplasma durch die autonome Fortliildung sich etwas verändert hat
und desshalb auch den Anpassungen, die den früheren Charakter
annehmen, einen etwas andern Ausdruck verleiht.
S. 132—136, 183—191, 330—333.
13. Ontogenetische Entfaltung der Anlagen.
Da die ursprünglich allein vorhandene Anlage die Fähigkeit
des primordialen Plasmas zu wachsen ist, so besteht die ganze Onto-
genie auf dieser ersten Stufe in der Zunahme der abgelösten Partie
zu der früheren Grösse. In gleicher Weise ist auch auf allen fol-
genden Stufen die Entfaltung der Anlagen nichts anderes als das
Wachsthum der als Keim abgelösten Substanz nach Maassgabe der
im phylogenetischen Verlaufe veränderten Beschaffenheit ihres Idio-
plasmas, wobei auf den untersten Stufen alle Anlagen zur Entfal-
tung gelangen können, auf den höheren aber eine zunehmende Zahl
von Anlagen latent bleiben muss.
Unter den entfaltungsfähigen Anlagen gibt es solche, die un-
bedingt während jeder ontogenetischen Periode, ferner stellvertretende,
von denen unbedingt die eine oder andere, und endlich solche, die
imr unter günstigen Umständen zur Entfaltung gelangen. Welche
von zwei stellvertretenden Anlagen sich entfalte, hängt bald von
X. Zusammenfassung. 539
inneren, bald von äusseren Ursachen ab, je nachdem die betreffende
Anlage phylogenetisch durch innere oder äussere Ursachen ent-
standen ist. Auf das Manifestwerden von entfaltungsvagen Anlagen
wirken vorzüglich die khniatischen und Ernährungs-Einflüsse ein.
Ebenso kommt es, wenn eine Anlage, wie so häufig im Pflanzen-
reiche, sich wiederholt entfalten kann, vorzüglich auf die Ernährung
an, ob die entsprechende Erscheinung sich sj)ärlich oder häufig
wiederhole. Eine geschwächte Anlage wird zuweilen durch eine
bestmimte Reizwirkung zu vorübergehender Entfaltung gebracht.
Leidet die Integrität des Organismus durch abnormale Eingriffe
Schaden, so entfalten sich ausnahmsweise Anlagen an solchen
Stellen, wo dies im normalen Zustande nicht der Fall ist; der Vor-
gang wird angeregt durch Anhäufung von Nährstoffen und durch
äussere Reize unter der maassgebenden Leitung des Bedürfnisses,
welches der verstümmelte Organismus empfindet.
S. 191—196.
14. Wesen eines Organismus.
Das Wesen eines Dinges beruht in seinen Ursachen und in
seinen Wirkungen. Die Organismen entstehen aus einem Keim,
der aus Idioplasma besteht, und erzeugen wieder gleiche Keime.
Ihr Wesen beruht also in ihrem Idioplasma, d. h. in der ganzen
Summe ihrer idioplasmatischen Anlagen. Die Beobachtung der Or-
ganismen, selbst in der vollständigsten Entwicklungsgeschichte, gibt
uns einen unvollkommenen und überdem einen ungetreuen Begriff
von ihrem wahren Sein, da sie nur die äusseren groben Merkmale
und diese in einer von zufälligen Ernährungseinflüssen abhängigen
Modification, nicht aber die in der molecularen Physiologie und
Morphologie begründeten feineren Eigenschaften und namentlich
nicht die im Idioplasma latenten Anlagen zeigt.
Für die Beurtheilung der idioplasmatischen Eigenschaften sind
wir aber auf die wahrnehmbaren Merkmale angewiesen. Die Erkenntniss
des wahren Wesens setzt daher allerdings die vollständige Erforschung
der Merkmale in ihrer Aufeinanderfolge während der ganzen Ontogenie
voraus; die Ergebnisse müssen jedoch durch Vergleichung mit andern
Organismen und durch ein möglichst umfassendes experimentelles
Verfahren (Kultur unter verschiedenen Verhältnissen und Kreuzung
540 X Zusammenfassung.
mit näheren und entfernteren Verwandten) geprüft und ergänzt werden.
Durch das experimentelle Verfahren sollen namentlich die Modifications-
uiid allfällige Kreuzungsmerkmale von den specifischen Merkmalen
geschieden und latente Anlagen zur Erscheinung gebracht werden.
S. 197—198.
15. Fortpflanzung und Verhältniss zwischen Eltern und Kindern.
Die Fortj^flanzung ist nichts anderes als der Uebergang von
einer Generation zur nächstfolgenden, vermittelt durch das Idioplasma
des Keims. Bei der ungeschlechtlichen (monogenen) Fortpflanzmig
besteht Continuität des nämlichen Idioj^lasmas ; das elterliche Indi-
viduum setzt im Kinde sein specifisches Leben fort, wie der Stamm
in seinem Aste, und es bleiben alle durch das Idioplasma bedingten
Eigenthümlichkeiten im Kinde unverändert. Das letztere, als die
unmittelbare Fortsetzung der vorhergehenden Ontogenie, knüpft an
der Stelle an, wo der Keim dieselbe verlassen hat, sodass, je nachdem
der Keim am Schlüsse der Ontogenie oder fi'üher sich ablöst, das
Kind bald die ganze Ontogenie bald nur den Rest oder einen Theil
derselben durchläuft (letzteres beim Generationswechsel und bei der
geschlechtslosen Vermehrung der Geschlechtspflanzen).
Bei der geschlechtlichen (digenen) Fortpflanzung besteht die
Keimbildung in der Vereinigung der beiden elterlichen Idioj)lasmen,
und zwar zu gleichen Theilen; das Kind ist die Resultirende aus
Kraft und Stoff der Eltern und stellt seinem Wesen nach die geeinte
Fortsetzung ihrer Ontogenien dar. Die Entfaltungsmerkmale des
Kindes aber hängen ab von der Entfaltungsfähigkoit der Anlagen
in dem gemischten Idioplasma, in welchem sich ein neues Gleich-
gewicht gebildet hat. Wenn daher das Kind dem Vater oder der
Mutter ähnlicher ist, so kommt dies daher, dass von den geerbten
Anlagen die einen sich entfalten, die andern latent bleiben; und
wenn das Kind in den wahrnehmbaren Merkmalen über beide Eltern
hinausgeht, so wird dies nur dadurch möglich, dass in ihm Anlagen,
die in diesen latent blieben, zur Entfaltung gelangen. Durch den
Umstand, dass die Mutter den Keim mit Ernährungsplasma versieht
oder selbst eine Zeit lang ernährt, wird weder der mütterliche Erb-
schaftsanthcil an Anlagen, noch die Entfaltungsfähigkeit der von
der Mutter herstammenden Anlagen erhöht.
X. Zusammenfassung. 541
Gerathen bei der gesclilechtliclicn Fort|jflan/Aiiig zwei stellver-
tretende Merkmale, von denen das eine dem Vater, das andere der
Mutter zukommt, mit einander in Conflict, so kann in dem Kind
das eine oder das andere oder selbst ein drittes stellvertretendes
Merkmal, das bisher in latenter Anlage vorhanden war, sich ent-
falten ; es können aber auch die beiden elterlichen Merkmale zugleich
und zwar in verschiedenartigen Vereinigungen auftreten. Ob die
Entfaltung in der einen oder andern Weise erfolge, hängt ab von
der Stärke der einzelnen Anlagen, von der Art ihrer idioplasmatischen
Zusammenordnung und von ihrem Zusammenstimmen mit der Be-
schaffenheit des neu constituirten Idioplasmas.
S. 198—215.
16. Vererbung und Veränderung.
Vererbung und ^Veränderung sind, wenn sie nach dem wahren
Wesen der Organismen (§ 14) bestimmt werden, nur scheinbare
Gegensätze. Da von einer Ontogenie auf die nächstfolgende bloss
Idioplasma übertragen wird, so besteht die phylogenetische Ent-
wicklung lediglich in der continuirlichen Fortbildung des Idioj)lasmas,
und der ganze Stammbaum von dem primordialen Plasmatropfen
bis zu dem jetzt lebenden Organismus (Pflanze oder Thier) ist eigent-
lich nichts anderes als ein aus Idioplasma bestehendes Individuimi,
welches in jeder Ontogenie einen neuen, seinem Fortschritt ent-
sprechenden indi\äduellen Leib bildet.
In diesem idioplasmatischen Individuum ist die autonome oder
VervoUkommnungs Veränderung immer thätig, sodass das
Idioi^lasma einer Abstammungslinie durch Vermehrung der darin ent-
haltenen Anlagen stets wächst, wie ein Baum während seiner ganzen
Lebensdauer durch Verzweigung grösser wird. Die durch äussere
Reize verursachte An j)assungs Veränderung dagegen ist nur in
denjenigen Perioden der Abstan^mungslinie wirksam, in welchen das
Idioplasma und mit ihm die Individuen nicht das errcichl>are Maximum
der Anpassung an die jeweilige Umgebung besitzen. Diese beiden
idioplasmatischen Veränderungen geschehen so langsam, dasserst nach
langen lieihcn von Generationen die neuen Anlagen entfaltungsfähig
und dm-ch Umwaiidkmg der sichtbaren Merkmale manifest werden.
Ausser den genannten phylogenetischen ^''eränderungen , die
nach Massgabe des ontogenetischen Wachsthums stattfinden, erleidet
542 X- Zusammenfassung.
das Idioplasma in Folge der Kreuzung, somit beim Wechsel der
Ontogenien, Kreuzungs Veränderungen, die man als still-
stehende bezeichnen kann, da durch die Vermischung der geschlecht-
hch verschiedenen Idioplasmen nur neue Zusammenordnungen der
vorhandenen Anlagen (nicht Neubildungen von Anlagen) und damit
auch neue Combinationen der Entfaltungsmerkmale entstehen (§ 15).
In Folge schädlicher äusserer Einwirkungen treten in dem Idio-
plasma abnormale oder Krankheits-Veränderungen auf,
bestehend in Verschiebungen seines Gleichgewichts, ebenfalls ohne
Neubildung von Anlagen ; dadurch werden die vorhandenen Anlagen
veranlasst, in abnormalen Verhältnissen und meistens in Rückschlägen
sich zu entfalten.
Abgesehen von den aufgezählten erblichen Veränderungen des
Idioplasmas und den damit zusammenhängenden Umwandlungen der
sichtbaren Merkmale, erfahren das Ernährungsplasma und die nicht-
plasmatischen Substanzen durch die Einflüsse der Ernährung und
des Klimas grössere oder geringere Veränderungen, welche die
Ernährungsmodificationen darstellen und im grossen und
ganzen, da das Idioplasma unberührt bleibt, nur so lange andauern
als die Ursachen, die sie hervorgerufen haben.
Von Vererbung als einer specifischen Erscheinung kann, wenn
wir das innere Wesen der Organismen im Auge haben, eigentlich
keine Rede sein, da die Abstammungslinie ein continuirliches Indi-
viduum von Idioplasma ist. In diesem Sinne ist sie nichts anderes
als die Beharrung der organisirten Substanz in einer sich verändernden
Bewegung oder der nothwendige Uebergang einer idioplasmatischen
Configuration in die nächstfolgende ; und sie ist nicht bloss zwischen
den ontogenetisch geschiedenen Pflanzen- und Thierindividuen, sondern
auch innerhalb dieser Individuen überall da vorhanden, wo indivi-
duelle Theile (Zellen, Organe) der Zeit nach auf einander folgen.
Erbliche Erscheinungen sind solche, die mit Nothwendigkeit auf die
folgenden Generationen übergehen, und im allgemeinen solche, die
im Idioplasma ihren Sitz haben, da die nichtidioplasmatische Substanz
sich nur durch eine begrenzte Zahl von Zellgenerationen zu ver-
erben vermag.
Gewöhnlich beurtheilt man Veränderung und Vererbung nicht
nach dem innern Wesen, sondern nach dem Verhalten der ent-
falteten Individuen in den successiven Generationen, indem man
X. Zusammenfassung. 543
Vererbung annimmt, wenn die Entfaltungsmerkmale die nämlichen
bleiben, Veränderung, wenn bisher latente Merkmale manifest werden.
Diese Erscheinungen gehören aber einem andern Gebiete an; sie
betreffen die Entfaltungsfähigkeit und Entfaltung der idioplasmatischen
Anlagen.
S. 272—283.
17. Varietät, Rasse, Modification.
Aus den verschiedenartigen Veränderungen der Organismen gehen
verschiedene Kategorien von Sippen hervor. Die A^arie täten ent-
stehen durch die äusserst langsamen Vervollkommnungs- und An-
passungsänderungen des Idioplasmas, welche, da sie von den nämlichen
Ursachen bedingt werden, auch in allen Individuen der gleichen
Varietät in gleichmässiger Weise erfolgen. Die Varietäten sind ein-
förmig, unter den verschiedensten äusseren Verhältnissen durchaus
constant, kreuzen sich im allgemeinen nur schwer mit verwandten
Varietäten, werden durch allfällige solche Kreuzungen nicht ver-
ändert und haben eine Dauer von Erdperioden. Die Varietäten
gehören, im Gegensatz zur Cultur, der freien Natur an ; sie können,
unbeschadet ihrer specifischen Merkmale, alle möghchen Modificationen
annehmen, aber keine Rassenunterschiede zeigen, indem Anfänge zur
Rassenbildung durch die Concurrenz stets vernichtet werden ; ihr Yer-
hältniss zu den Species beruht nur darin, dass sie als näher verwandte
Species oder die Species als entfernter stehende Varietäten zu bezeichnen
sind, während jeder andere unterscheidende Charakter mangelt.
Die Rassen entstehen durch die Kreuzungs- und Krankheits-
ändermigen des Idioplasmas; im ersten Fall setzen sie Kreuzung
zwischen verw^andten Varietäten oder Species, im zweiten Fall eine
gesteigerte Empfindlichkeit und Schwächung des Idioplasmas voraus ;
sehr häufig unterstützen sich die beiden Momente, indem die Kreuzung
leichter erfolgt, wenn das Idioplasma durch schädliche Einflüsse ge-
schwächt wird , und indem die Reizbarkeit und Schwächimg des
Idioplasmas sich vermehrt, wenn Kreuzung vorausgegangen ist. Die
Rassenbildung beginnt in einzelnen Individuen, und weil die Ursachen
verschieden sind, bei mehreren Individuen in verschiedener Richtung,
und kann daher eine grosse Vielförmigkeit zeigen. Die Rassen zeichnen
sich durch mehr oder weniger abnormale Merkmale aus, sie entstehen
rasch, oft in einer einzigen Generation, und besitzen eine sehr ungleiche
544 ^- Zusammenfassung.
Constanz, die nur bei strengster Inzucht einigermaassen gesichert
ist ; durch Kreuzung gehen alle Rassen , manche aus Krankheits-
änderungen entstandene Rassen gehen auch schon durch geschlecht-
liche Fortpflanzung (bei Selbstbefruchtung) zu Grunde. Die Rassen
gehören ausschliesslich dem Culturzustande an, wo sie vor der Con-
currenz geschützt sich entwickeln und bestehen können.
Während Varietäten und Rassen durch fortschrittliche oder still-
stehende Veränderungen des Idioplasmas entstehen , werden die
Modificationen durch solche Einflüsse der Ernährung und des
Klimas erzeugt, welche bloss auf das Ernährungsplasma und die
nicht plasmatischen Substanzen einwirken und daher nicht erbliche
Eigenschaften an den Organismen hervorbringen. Die Modificationen
haben nur so lange Bestand, als ihre Ursachen andauern, und gehen
unter anderen Verhältnissen alsbald in die denselben entsprechenden
Modificationen über ; der Uebergang vollzieht sich bei den niedersten
Pflanzen durch eine Ijeschränkte Zahl von Zellengenerationen , bei
den höheren Pflanzen am nämlichen Stock während der Bildung
eines Jahrestriebes. Jede Varietät und jede Rasse tritt stets in
einem bestimmten Modificationskleide auf und kann dasselbe in
einem ihr eigenthümhchen Umfange wechseln.
S. 229 — 272, 297—310.
18. Gesellschaftliche und gesonderte Entstehung der Arten.
Die Art gelit Aveder aus der Ernährungsmodi fieation noch aus
der Rasse hervor; sie ist stets eine weiter gediehene Varietät, und
Artbildung daher mit Varietätenbildung identisch. Grund zur Ver-
änderung und somit zur Varietätenbildung ist immer gegeben, wenn
entweder, auch bei gleichbleibenden äusseren Verhältnissen, die auto-
nome Veränderung des Idioplasmas soweit gediehen ist, dass die
Ontogenie sich auf eine höhere Stufe der Organisation und Arbeits-
theilung erhebt, oder wenn die von aussen kommenden Reizeinflüsse
in einer mit der bisherigen Anpassung nicht übereinstimmenden
Weise während hinreichend langer Zeit einwirken. Es entstehen
daher leicht verschiedene Varietäten aus einer einförmigen Sippe,
wenn diese diu'ch locale Ti'ennung unter ungleiche äussere Einflüsse
geräth, weil an den gesonderten Orten einerseits die autonome Weiter-
bildung ungleich rasch vor sich gelit und andrerseits die Anpassung
ungleich ausfällt.
X. Zusammenfassung. 545
Im allgemeinen aber müssen die verschiedenen Varietäten aus
einer einförmigen Sippe gesellschaftlich entstehen, weil die beisammen
lebenden Individuen der letzteren wegen der grossen Ungleichheit
der äusseren Einflüsse auf die kleinsten Entfernungen ungleich
angeregt werden, und weil ferner auch bei geringer individueller
Verschiedenheit auf die nämlichen äusseren Einwirkungen oft un-
gleiche Reactionen erfolgen. Wenn identische Individuen gleich
sehr 7A1 verschiedenen Reactionen auf den nämlichen Reiz geneigt
sind, so entscheidet manchmal die Richtung der ersten Veränderung
über den Charakter der Anpassung und somit über die Beschaffen-
heit der Varietät, weil die einmal begonnene Veränderung auch unter
etwas verschiedenen Einflüssen unbeirrt weiter fortschreitet, — so
dass also die auf benachbarten ungleichen Standorten durch Um-
bildung des Idioplasmas begonnenen verschiedenen Varietäten, welche
wegen der leichten Verbreitung durch Samen räumlich bald ver-
mengt werden, auf allen Standorten in Gesellschaft mit einander
sich divergirend ausbilden.
Die gesellschaftliche Varietätenbildung wird durch die Kreuzung,
welche allein die Rassenbildung beherrscht, im Allgemeinen nicht
gestört. — Sie wird erfahrungsgemäss bestätigt durch die überall sich
wiederholende Thatsache, dass mehrere Anfänge von allernächsten
Varietäten nicht nur in der nämlichen Gegend, sondern selbst auf
den nämlichen Standorten zusammen vorkommen, während die
geographische Verbreitung der besseren A^arietäten und der ver-
wandten Arten keinen Aufschluss über deren Entstehen, sondern
bloss ül jer die letzten grossen Wanderungen der Pflanzenwelt bietet,
weil sie, wie schon aus ihrer Verbreitung selbst sich ergibt, vor
dieser Periode entstanden sind.
Ebenso wie verschiedene Varietäten gleichzeitig an dem näm-
lichen Orte aus einer Sippe sich bilden, so kann die nämliche Varietät
an weit von einander entfernten Orten entstehen, wenn die analogen
äusseren Reizeinflüsse im Idioplasma eine identische Umbildung
verursachen. Die erfahrungsgemässe Bestätigung findet sicli in der
Tliatsache, dass die gleichen Varietätsanfänge oft in weiten Entfer-
nungen von einander auftreten.
Eine scheinbare gesellschaftliche Entstehung der Varietäten
ist dann gegeben, wenn dieselben die ungleichen Anlagen, die sie
an verschiedenen Orten gewonnen haben, erst, nachdem sie durch
V. Nägeli, Abstammungslehre. 35
546 X. Zusammenfassung.
Wanderung zusammen gekommen sind, entfalten, — eine schein-
bare gesonderte Entstehung der nämlichen oder auch verschiedener
Varietäten dann, wenn die Bildung der Anlagen an einem und dem-
selben Ort stattfindet, die Entfaltung der Anlagen aber erst, nachdem
die Sippe durch Wanderung sich zerstreut hat, eintritt.
S. 248—259, 21)7—310.
19. Allgemeines Verhalten der phylogenetischen Stämme in den orga-
nischen Reichen.
Da das Wesen eines Organismus allein auf der Summe seiner
idioplasmatischen Anlagen beruht (§14), so besteht die Entwicklung
eines phylogenetischen Stammes in der Entwicklung des Idioplasmas,
welche aus der mit ihr im allgemeinen parallel gehenden Umände-
rung der sichtbaren ontogenetischen Merkmale erkannt wird. Das
Idioplasma verändert sich auf zweierlei Weise: 1. durch autonome
Vervollkommnung, 2. durch die Anpassung an die äusseren Ver-
hältnisse.
Vermöge der autonomen ^'^eränderung des Idioplasmas erlangen
die Ontogenien einer Abstammungslinie eine stets complicirtere Or-
ganisation und grössere Theilung der Functionen , wobei aber nur
die qualitative Verschiedenheit, nicht die quantitative und numerische
Vertretung maassgebend ist. Da das Zusammengesetztere mehr Com-
binationen zulässt als das Einfachere, so kann sich ein phylogene-
tischer Stamm, wenn er durch die autonome Entwicklung eine
höhere Stufe erreicht, in mehrere Stämme sj)alten, von denen jeder
als seine Fortsetzung erscheint.
Da die Anpassungsänderung nur von dem Wechsel der äusseren
Verhältnisse abhängt, so kann ein Organismus auf eine höhere Stufe
der Organisation und Arbeitstheilung sich erheben, indem er seine
Anpassung behält und dieselbe bloss entsprechend seiner reicheren
Gliederung weiterbildet. Er kann aber auch, indem er auf der
nämhehen Organisationsstufe verharrt, seine Anpassung verändern;
und da die Anpassungsänderung, ol)wohl im Verhältniss ziu* Dauer
der Ontogenien äusserst langsam, doch im A'^ergleich mit der auto-
nomen Entwicklung rasch sich vollzieht, so kann ein Organismus,
so lange er auf der nämlichen Stufe der Organisation und Arbeits-
theilung verharrt, mehrmals seine Anpassung wechseln. Da es
X. Zusammenfassung. 547
ferner zahlreiche verschiedenartige Anpassimgen gibt, so kann ein
Stamm sich aiü' jeder Stufe in mehrere Anpassungsformen und selbst
in ganze Verzweigungssysteme von Anpassmigsformen spalten , die
im System als Arien, Gattungen, oft selbst als ganze Familien er-
scheinen, wiewohl in andern Fällen innerhalb einer Familie auch
verschiedene Organisationsstufen vertreten sind.
S. 129—132, 177—182, 197—198.
20. Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.
In dem i>robialen Reich, das dem Pflanzen- und Thierreiche
vorausgeht, bildet sich aus dem spontan entstandenen Plasma all-
mählich die selbständige Zelle mit ihren charakteristischen Eigen-
schaften : Wachsthum durch Micelleinlagerung, Bildung einer plas-
matischen Hautschicht und einer nichtplasmatischen Membran um
dieselbe, Theilung der Zelle, Trennung der so entstandenen Zellen,
Zellbildung frei im Inhalte. Diese Eigenschaften vererben sich von
den Probien auf die phylogenetisch ihnen folgenden Pflanzen und
Thiere. Die Entwicklung des Pflanzenreiches geschieht durch fol-
gende gosetzmässige I^rocesse, die ihre Wirksamkeit durch die ganzen
phylogenetischen Reihen bewahren.
Gesetz der phylogenetischen Vereinigung. Die aller-
einfachsten Pflanzen sind Zellen von rundlicher Gestalt, welche
wachsen und sich durch Theilung, Sprossung oder freie Zellbildung
fortpflanzen. Dadm'ch, dass die Kindzellen, statt sich von einander
zu trennen und zu selbständigen Pflanzenindividuen zu werden, mit
einander vereinigt bleiben, entstehen aus den einzelligen Pflanzen
vielzellige. Der nämliche Uebergang der Fortpflanzungszellen in
(sich nicht ablösende) Gewebezellen wiederholt sich noch mehrmals
bei vielzelligen Pflanzen und dient dazu, das Individuum zu ver-
grössern. In diesem phylogenetischen Process gibt sich das Be-
streben der Pflanze kmid, Tlieile, die auf den tieferen Stufen sich
loslösen mid selbständig werden, auf den höheren Stufen zu einem
zusammengesetzten Körper zu verbinden. Ein gleiches Vereinigungs-
bestreljen zeigt sich aucli bei solchen Pflanzentheilen, die durch Ver-
zweigung entstanden sind und nur stellenweise zusammenhängend
ein ästiges System darstellen ; dieselben legen sich auf den höheren
35*
548 X. Zusammenfassung.
Stufen zusammen und verwaclisen unter einander zu einem con-
tinuirliclien Gewebe.
Gesetz der phylogenetischen Complication oder
der Ampliation, Differenzirung und Reduction. Die
Zellen und überhaupt die Theile der Pflanzen, die räumlich neben
einander liegen, oder zeitlich auf einander folgen, sind auf den
tieferen Stufen stets einander gleich. Durch Differenzirung
werden sie ungleich, so dass die Summe der Functionen, die unter-
schiedslos allen Theilen zukam , nun auf die einzelnen Theile ge-
schieden ist, wobei jeder Theil die ihm zukommende Function um
so besser auszuführen vermag. Die Differenzirung wiederholt sich
im phylogenetischen Verlaufe, indem zuerst alle Theile einer Onto-
genie sich in zwei oder mehr Partien, dann die Theile dieser Partien
sich abermals scheiden u. s. f. — Neben diesem Scheidungsprocess
ist stets ein anderer Vorgang thätig, der jenem gleichsam den Boden
bereitet, nämlich die Ampliation, vermöge welcher das Wachs-
thum der ganzen Ontogenie oder einzelner Abschnitte derselben eine
quantitative Steigerung erfährt, so dass ein Organ eine grössere Zahl
von Zellen, ein Verzweigungssystem eine grössere Zahl von Organen
gewinnt. Nach dieser numerischen Zunahme der Theile eines Onto-
genieabschnittes erfolgt die Differenzirung, soweit es die Natur der
Functionen zulässt, in der Weise, dass die am meisten geschiedenen
Theile durch Zwischenbildungen in einander übergehen. Durch den
weiteren phylogenetischen Process der Reduction werden dann
die Zwischenbildungen unterdrückt, so dass zuletzt nur die extremen
Producte der Differenzirung, und auch diese quantitativ und numerisch
so viel als möglich beschränkt, räumlich neben einander liegen oder
zeitlich auf einander folgen.
Neben den genannten phylogenetischen Processen, welche durch
die autonome Fortbildung des Idioplasmas geschehen, ist eine stete
Einwirkung der äusseren Einflüsse thätig, die dem Organismus
jeweilen ein seiner Umgebung entsprechendes locales Gepräge ver-
leihen und den Gesetzen der Anpassung folgen (§0, 11).
S. 338—425.
21. Der Generationswechsel in phylogenetischer Beziehung.
Da die einfachsten Pflanzen Zollen sind und die zusammen-
gesetzteren aus Zellen sich aufbauen, so kann eine ganze Abstam-
X. Zusammenfassung. 549
mungsliiiie als eine Reihe auf einunder folgender Zellgenerationen
betrachtet werden. Auf der untersten Stufe sind alle Zellgenerationen
einander gleich; auf allen übrigen zeigen sie stets grösser und
zahlreicher werdende Verschiedenheiten. Es besteht also Generations-
wechsel der Zellen, indem ihre Generationenreihe in immer mannig-
faltigerer Weise sich in Perioden gliedert. Unter diesen Perioden
umfasst die ontogenetische Periode oder Ontogenie alle Ge-
nerationen von einer Zelle bis zur Wiederkehr der ganz gleichen
Zellenart. Auf den untersten Stufen der Zellenungieichheit sind
die Zellen der successiven Generationen alle selbständig; die onto-
genetische Periode besteht aus einem Cyclus von Generationen ein-
zelliger Pflanzen. Später sind die Zellgenerationen einer Ontogenie
partienweise zu Pflanzenindividuen verbunden; die ontogenetische
Periode besteht aus einem Cyclus von vielzelligen und einzelligen
oder bloss von vielzelligen Pflanzengenerationen. Wenn alle Zell-
generationen einer ontogenetischen Periode zu einem einzigen Indi-
viduum sich vereinigt haben, so sind die auf einander folgenden
Pflanzengenerationen gleich und der Generationswechsel hat auf-
gehört.
Die Ungleichheit der Generationen entsteht entweder durch
die inneren Ursachen der zeitlichen Differenzirung allein, oder diurch
zeitliche Difi:erenzirung , welche ein bestimmtes Gepräge durch den
Wechsel der Jahreszeiten erhält. Im letzteren Falle geht aber das
Merkmal der Anpassung im phylogenetischen Verlaufe wieder ver-
loren und der Generationswechsel erfolgt dann ohne Rücksicht auf
die Jahreszeit. Ist bei den niederen Pflanzen mit dem Generations-
wechsel die angegebene Anpassung verljunden, so wiederholt sicli
während der ontogenetischen Periode die eine der ungleichen Pflanzen-
generationen eine unbestimmte Zahl von IVIalen (Wiederholungs-
generationen), während die andere nur einmal und zwar bei Beginn
der Ruhezeit eintritt und in Form einer Dauerspore bis zum Anfang
der nächsten Vegetationszeit latent bleibt. An diese eigentliche
Uebergangsgeneration, welche auf den tieferen Stufen geschlechtslos,
auf den folgenden durch Zusammentreten einer männliclien und
einer weiblichen Zelle entstanden, also androgyn ist, reihen sich
gewöhnlich später noch zwei Einzelgenerationen an, nämlich eine
vor und eine nach der androgynen Generation, jene als geschlcchts-
erzeugende, diese als geschlechtserzeugte Generation.
550 X. Zusammenfassung.
Die phylogenetische Bedeutung des Generationswechsels besteht
darin, dass er eine Uebergangsstufe von den einzelligen zu den ein-
facheren vielzelligen und von diesen zu den zusammengesetzteren
vielzelligen Pflanzen darstellt. Die Pflanzengenerationen auf irgend
einer phylogenetischen Stufe vermehren sich durch Ampliation,
werden durch zeithche Differenzirung ungleich (Generationswechsel)
und vereinigen sich zu einem gegliederten Pflanzenindividuum,
dessen ungleiche Abschnitte den ungleichen Pflanzengenerationen der
fi'üheren Generationenreihe entsprechen.
S. 426—454.
22. Morphologie als phylogenetische Wissenschaft.
Alle Erscheinungen, welche die Organismen darbieten, gehören
ihren Ursachen nach zwei verschiedenen Gebieten an. 1 . Die einen
sind in jeder Ontogenie die Folgen der äussern Einflüsse und ver-
erben sich nicht ; sie stellen die Ernährungsmodificationen dar,
werden durch Versuche geprüft und machen den Inhalt der experi-
mentellen Physiologie aus, 2. Die andern sind geerbt und vererben
sich wieder; sie gehören der Physiologie des Idioplasmas an. Das
Hauptgebiet der letzteren beschäftigt sich mit der Entstehung der
Anlagen, sohin mit der Varietäten- und Artbildung; es ist allen
Versuchen unzugänglich und macht die Phylogenie oder die Phy-
siologie der Anlagenbildung aus. Ein kleineres Nebengebiet be-
schäftigt sich mit der Entfaltung der vorhandenen Anlagen, sohin
mit der Rassenbildung ; es wird vorzüglich durch Kreuzungsversuche
gefördert und kann als Physiologie der Anlagenentfaltung bezeichnet
werden.
Die morphologischen Erscheinungen, welche in der Systematik
ihre Verwendung finden , gehören ausschliesslich dem phylogene-
tischen Gebiet an. Die ontogenetische Entwicklungsgeschichte gibt
uns keinen Aufschluss über ihre wahre Bedeutung; diese kann bloss
auf phylogenetischem Wege durch Vergleichung einer Erscheinung
mit denjenigen, aus denen sie im Verlaufe der Abstammungslinie
hervorgegangen ist, erkannt werden.
S. 455— 4G2, 472—479.
X. Zusammenfassung. 551
23. Das Pfianzensystem vom phylogenetischen Standpunkt.
Die spontane Entstehung der Organismen hat zu allen Zeiten
und an allen Orten stattgefunden, insofern die dazu nothwendigen
Bedingungen vereinigt waren. Nach der Entstehung beginnt die
autonome phylogenetische Entwicklung und schreitet beständig fort ;
in Folge dessen erhebt sich die Abstammungslinie von Zeit zu Zeit
auf höhere Stufen der Organisation und Functionstheilung , stirbt
aber, wenn die autonome Fortbildung aufhört, als altersschwach aus.
Die Abstammungslinien der jetzt lebenden Organismen haben daher
ein ungleiches Alter; diejenigen der höchst entwickelten Pflanzen
und Thiere nahmen ihren Ursprung in den frühesten Perioden des
organischen Lebens, diejenigen der niedrigsten Organismen in den
letzten Perioden. Es besteht also keine allgemeine genetische Ver-
wandtschaft zwischen den jetzt lebenden Sippen; bloss die nahe
verwandten und ziemlich auf gleicher Orgauisationsstufe stehenden
können als Zweige des nämlichen phylogenetischen Stammes be-
trachtet werden. Ein phylogenetisches Pflanzensystem besteht nicht
wirklich, sondern bloss bildlich.
Wenn zwischen zwei Sippen genetische Verwandtschaft, in Wirk-
hchkeit oder als Symbol, angenommen werden kann, so lässt sich
ihr Verwandtschaftsgrad in theoretisch genauer Weise durch die
Zahl und Grösse der phylogenetischen Schritte bestimmen, welche,
je nachdem die Sippen der nämlichen oder collateralen Linien an-
gehören, entweder zwischen ihnen beiden oder zwischen ihnen und
dem gemeinsamen Ausgangspunkt sich befinden. — Die Zugehörig-
keit zweier Organismen zur nämlichen Abstammungslinie ist daran
zu erkennen, dass die Ontogenie des höher stehenden diejenige des
tiefer stehenden umfasst und als deren naturgemässe Weiterljildung
sich kund gibt.
Da wegen der grossen Lückenhaftigkeit der jetzigen Pflanzen-
welt nur eine verhältnissmässig geringe Zahl von bekannten Formen
als Symbole für die ausgestorbenen Entwicklungsstufen eintreten
kann, so lassen sich nur wenige und ganz allgemein gelialteiie Ab-
stammungslinien feststellen ; eine solche geht von den grünen Faden-
algen durch die Lebermoose zu den Gefässpflanzen. In dem Gebiete
der scheinbar so reich vertretenen Phanorogamen können bloss
phylogenetische Entwicklungsreihen der einzelnen Organe, aber keine
552 X. Zusammenfassung.
Abstanimiingslinien der Familien ermittelt werden. Ein phylogene-
tisches System der Phanerogamen ist nicht einmal in den rohesten
Anfängen zn wagen ; selbst das Rangverhältniss zwischen den beiden
Hauptabtheilungen der angiokarj^ischen Phanerogamen, zwischen
Monocotylen und Dicotylen, bleibt fraglich, und ebenso fraglich,
welche Familie in jeder dieser beiden Abtheilungen als die voll-
kommenste zu betrachten sei.
S. 462—523.
Die Sclraiilßii
der
naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
Die nachfolgende Abhandlung ist eine Gelegenheitsschrift, welche
in dem Tageblatt der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und
Aerzte in München 1877 veröffentlicht und in verschiedenen Zeitungen
und Zeitschriften abgedruckt wurde. Sie kam aber nicht bloss ge-
legentlich, sondern auch eilfertig zu Stande, wie ich schon bei der
Veröffentlichung zur Erklärung der wenig sorgfältigen Ausarbeitung
eines öffentlichen Vortrages in einer Anmerkung^) darzuthun ver-
anlasst war. Ich lasse dem Vortrage seine ursprüngliche Form und
schalte nur eine kurze Ausführung über die Grenze zwischen der
unorganischen und organischen Natur ein, wie dieselbe schon in
dem ersten Entwurf enthalten war.
Wenn aber auch die Abhandlung in ihrer Form das gelegent-
liche und flüchtige Machen verräth, so gilt dies nicht von ihrem
Inhalte. Derselbe war nicht bloss Jahre lang erwogen worden, son-
dern er stellte selbst das Ergebniss der Gedankenarbeit eines ganzen
Lebens dar, und auch seit der Aljfassung haben weder fremde Ein-
würfe, noch eigene Ueberlegung mich zu irgend einer Aendermig
zu veranlassen vermocht.
Es sei mir gestattet, den Entwicklungsgang meiner Erkenntniss
m seinen allgemeinen Zügen darzulegen. Schon in meinen Lehr-
') »Dieser Vortrag musste einen der Vorträge des Progra,mms, für welche
auswärtige Mitglieder aufgefordert worden, ersetzen. Am Sclilusse des Sommer-
semesters machte Herr Prof. Tschermak die Anzeige, dass er verhindert sei,
nach München zu kommen. In Folge dessen erhielt der Verfasser von den Ge-
schäftsführern die Auff ox'derung , in die Lücke einzutreten. Derselbe war im
P>egrifEe dringende Geschäfte zu erlechgen und nachher eine Reise in die Ali)en
anzutreten. Der Vortrag trägt die Spuren seines Ursprungs, indem auf einer
Gebirgsreise weder Gelegenheit, noch die nöthige Sammlung zu einer sorgfältigeren
Ausarbeitung gegeben sind.«
556 Die Schranken der naturwissenschaftliclien Erkenntniss.
Jahren , als ich auf der Universität mich mit NaturAvdssenschaften
zu beschäftigen begann , hatte ich den Drang, das Aufgenommene
unter sich in Verbindung zu bringen und unter allgemeinen Gesichts-
punkten zusammen zu fassen. Diese angeborene Neigung wurde
durch das Colleg Oken's über Naturgeschichte gefördert und auf
das Allerallgemeinste hingeleitet. Glücklicherweise fand sie eine
Correctur in einer anderen angeborenen und ebenso starken Neigung
zur Kritik, welche mir verbot, irgend eine Theorie als richtig an-
zuerkennen, wenn dieselbe nicht durch sichere Thatsachen begründet
M'ar oder wenigstens nicht in Widerspruch mit solchen sich befand.
Deswegen war ich zwar von dem idealen Streben Oken's begeistert,
konnte mich aber mit seiner willkürlich schematischen Ausführung
nicht befreunden , ebenso wenig als ich es vermochte seine Natur-
philosophie zu hören.
Ueberhaupt versagte mir ein strenger Realismus, welcher eine
Verallgemeinerung nur dann begriff, wenn sie an concreten Beispielen
klar gemacht werden konnte, jedes Verständniss für metaphysische
Dinge. Am Schlüsse meiner Studienjahre versuchte ich es zwar
noch in Berlin, einem Colleg über Hegel 'sehe Philosophie zu
folgen und aus den Schriften Hegel 's mir eine Vorstellung über
seinen Gedankenfiug zu bilden. Es war dies aber ein ganz frucht-
loses Bemühen ; ich konnte in den vorgetragenen Abstractionen mit
dem besten Willen nichts Verständliches und Vernünftiges finden.
Ich erwähne dieses Umstandes namentlich auch deswegen, weil
wenige Jahre nachher Schleidien mich als Hegelianer denunzirte.
Bei Anlass einer Polemik über den Unterschied zwischen Flechten
und Pilzen, in welcher ich zeigte, dass die thatsächlichen Verhält-
nisse im Widerspruche mit den Behauptungen Schieiden 's seien,
lenkte derselbe mit der ihm eigenen kecken Dialektik die Aufmerk-
samkeit des Lesers auf ein ganz fremdes Gebiet mit dem Ausspruch :
»Mein Freund Nägeli ist Hegelianer«, womit wohl nahegelegt
werden sollte, dass zwischen einem Kant - Friesianer und einem
Hegelianer eine Verschiedenheit der Auffassung nicht überraschen
könne. — Ich hatte seit jener Zeit keine Gelegenheit, über das Ver-
hältniss der Naturforschung zur Philosophie zu sprechen und war
darum auch nie im Falle, mich gegen den Ausspruch Schieiden 's
verwahren zu können. Da er in den »Grundzügen der wissenschaft-
lichen Botanik« enthalten war und daher auch allgemein bekannt
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 557
geworden ist, so sj^reche ich jetzt noch davon ; denn es möchte sonst
wohl räthselhaft erscheinen, wie die einstige Heeresfolgc Hegel 's
sich zu dem strengen Realismus und der nüchternen Kritik, wie sie
in dieser Abhandlung vertreten sind, entwickeln konnte.
Was die Veranlassung zu der sonderbaren Aeusserung Schleiden's
gegeben hat, weiss ich zwar nicht sicher, vermuthe aber, dass es
der Ausdruck »absolute Begriffe« war, den ich gebraucht hatte, und
mit dem ich — weit entfernt von einer Hegel 'sehen Abstraction —
bloss den Charakter der absolut verschiedenen, specifischen Erschei-
nungen im Pflanzenreiche bezeichnen wollte. Ich befand mich
nämlich damals noch auf dem bei den Botanikern und Zoologen
allgemein herrschenden Standj)unkt von absoluten, nicht durch Ueber-
gänge verbundenen specifischen Unterschieden, ohne deswegen die
schon von Lamarck gelehrte Abstammung der Arten von einander
zu verwerfen. Damit komme ich nun auf die selbständigen Be-
strebungen der Wanderjahre. Die genannten absoluten Begriffe
gingen aus folgendem Gedankengang hervor, der mir in jenem
Stadium der geistigen Entwicklung zu der riclitigen Erkenntniss der
natürlichen Dinge zu führen schien.
Die göttliche, alle Materie durchdringende Vernunft hat die realen
Erscheinungen geschaffen; ihr Abbild, die menschliche Vernunft,
vermag bloss die formalen Begriffe der Mathematik hervorzubringen.
In beiden Gebieten des Schattens müssen analoge Gesetze walten ;
das Verhältniss , in dem die Begriffe der natürlichen Dinge zu
einander stehen, muss dem Verhältniss zwischen den formalen Be-
griffen entsprechen. Gleichwie die letzteren von der Matliematik
aus einander abgeleitet werden, so müssen die Begriffe der materiellen
Existenzen von den Naturwissenschaften aus einander sich ent-
wickeln lassen. Da al^er die mathematischen Begriffe zum Theil
a])solut von einander verschieden sind (z. B. die Linien oder Flächen
verschiedener Ordnungen), so folgt eine gleiche absolute A'^erschieden-
heit auch für viele natürlichen Erscheinungen, und für die Orga-
nismen eine sprungweise Aufeinanderfolge.
Dieser Standpunkt der Wanderjahre, in welchem ein Körnchen
Wahrheit von einem grossen Irrthum umhüllt ist, wurde durch das
genaue und gründliche Studium der concreten Dinge bald über-
wunden. Schon im Jahre 1853 war icli der Ueberzeugung , dass
von al)soluten Unterschieden in der Naturgeschichte füglich niclit
558 Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
die Rede sein könne, und im Jahre 185G habe ich es bestimmt aus-
gesprochen, dass die Arten durch alhnähhche Uebergänge sich in
einander verwandeln müssten. Für das Absolute fand ich in dem
wissenschaftlich zu erkennenden Gebiete keinen Platz mehr und
setzte die Grenze für das Wissen überall da, wo die Unendlichkeit
in Zeit, Raum und Theilbarkeit beginnt; »was ausserhalb der end-
lichen materiellen Erscheinung liege, liege auch ausserhalb der Macht
der Naturwissenschaften«. Für das geistige Gebiet glaubte ich noch
eine andere Behandlung als die der exacten naturwissenschaftlichen
Methode fordern zu sollen^).
Seitdem gelangte ich immer mehr zu der klaren Ueberzeugung,
dass es in der Natur keine Kluft gibt, welche verschiedene Gebiete
trennte, dass in allen ihren Erscheinungen die nämlichen Gesetze
herrschen, dass das geistige Leben nicht im Menschen oder im
Thier als etwas principiell Neues beginnt, sondern dass die Elemente,
aus denen es besteht, schon in der Pflanze und im Unorganischen
vorhanden, aber nur viel einfacher combinirt sind. Daraus ergab
sich als logische Folgerung, dass für die Erkenntniss in allen Er-
scheinungen ohne Ausnahme die gleichen Bedingungen und somit
die gleichen Grenzen bestehen, dass mit dem Complicirterwerden
der Erscheinungen die Schwierigkeiten des Erkennens zwar grösser
aber nicht qualitativ andere werden, dass das Gebiet des Vorstell-
baren und Wissbaren alles Endliche und Relative an den Dingen,
das Gebiet des Mystischen und Unbegreiflichen aber das Absolute,
Unendliche, Ewige, Göttliclie ist. Dieser Gedanke nun wird in der
vorliegenden Abhandlung ausgeführt und begründet.
Da ein exactes Urtheil nur so weit möglich ist, als der eigene
Horizont reicht und als ein Jeder die Dinge wirklich zu überschauen
vermag, so sind auch die Urtheile über das Gebiet, welches unserer
Vorstellung und Erkenntniss zugänglich ist, verschieden. Ich unter-
lasse es, auf polemische Beurtheilungen , .welche mein Vortrag er-
fahren hat, einzugehen. Bedingung für die Verständigung wäre ja
stets ein gleicher geistiger Horizont, und es würde mir ohne Zweifel
von einer der gegnerischen Seiten vorgehalten werden, dass der
meinige nach der Seite des metaphysischen Gebietes hin beschränkt
sei, was ich unbedingt zugebe, ohne deswegen einzuräumen, dass
*) In der Einleitung zu »Die Individualität in der Natur«. 18.50.
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 559
der gegnerische um etwas anderes als um eine duftige _^und gestalt-
lose Ferne erweitert ist.
Die Bestimmung der Grenze, bei welcher grundsätzlich die Er-
keinitniss aufhören und der Glaube beginnen muss, hat als Lösung eines
theoretischen Problems bloss wissenschaftliche Bedeutung. Sie
gibt nur die unübersch reitbare Linie für das Wissbare überhaupt, nicht
aber ein Maass des Gewussten und ebenso wenig eine Norm für das
Glaubensgebiet des Einzelnen, welches stets durch den Umfang des
verstandesmässigen Begreifens bestimmt wird. Das praktisch Ver-
werthbare findet sich höchstens in dem gewonnenen Bewusstsein,
dass die Schranke, wo dem menschlichen Wissen für immer Halt
geboten ist, uns so nahe liegt, und dass, weini wir einige der diesseits
gelegenen kleinen Räthsel wirklich zu lösen vermögen, die jenseitigen
grossen Räthsel an und für sich unlösbar sind. Dieses Ergebniss
zeigt nur im allgemeinen, dass die exacte wissenschaftliche Erkenntniss
mit der im Menschen lebenden Ahnung nicJit im Widerspruche steht.
Dasselbe tritt in scharfe Opposition gegen die Ueberhebung, deren
sich sowohl die Philosophie als der philosopliische Materialismus
schuldig machen, wenn sie den menschlichen Geist ganz oder zum
Theil an die Stelle des Ewigen setzen und Fragen, die jenseits der
Endlichkeit liegen, beantworten wollen; aber es lässt die den je-
weiligen Bedürfnissen entsprechenden Glaul^enssymbole unberührt.
Es zeugte daher von keinem besonderen Verständniss, wenn meinem
Vortrage materialistische, von der orthodox - protestantischen Kreuz-
zeitung sogar nihilistische Tendenzen vorgeworfen wurden, — wenn-
gleich anderseits die gute Note, welche die ultramontan-katholische
Germania dem Vortrag durch vollständigen Wiederabdruck ertheilt
hat, nicht weniger überraschend war.
Hochgeehrte A'' e r s a m ni 1 u n g !
Mein heutiges Thema wurde vor einigen Jahren hei der Zu-
sammenkunft in Lei^izig 1872 von Herrn Prof. Du Bois Reymond
in ausgezeichneter Weise hesprochen. Wenn ich den nämhchen
Gegenstand wieder aufnehme, so geschieht es, weil icli denselhen
von einem etwas verschiedenen und umfassenderen Gesichtspunkte
aus betrachten möchte.
Auch in Form und Sprache will ich mir eine Abweichung von
den mannigfaltigen bisherigen Behandlungen erlauben. Der Gegen-
stand in seiner Allgemeinheit verleitet leicht zu Streifzügen auf das
philosopliische Gebiet und zu der entsprechenden Ausdrucksweise.
Ich werde mich einer möglichst einfachen und nüchternen Sprache
bedienen und nichts anderes voraussetzen , als die Kenntniss der
elementarsten Erscheinungen in den verschiedenen Gebieten der
Natur. In allgemeinen Dingen wird ja der Ausdruck stets um so
einfacher und verständlicher, je mehr man sich der Klarheit und
damit auch der Wahrheit nähert.
Ehe ich den Gegenstand selbst in i.ngriff nehme, scheint es
zweckmässig , kurz der verschiedenen Arten zu gedenken , wie die
Frage über die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss
von den Naturforschern meistens aufgefasst und beantwortet wird.
Es ist eiiiu unter den sogenannten Praktikern weit verbreitete
Ansicht, dass eine sichere und bleibende Erkenntniss natürlicher
Erscheinungen überhauj^t unmöglich sei. Dieselben wissen, dass
ihre Systeme und Meinungen bisher keinen Bestand hatten, und sie
denken sich, dass die wissenschaftlichen Theorien überhaupt nm'
Versuche seien, sich der unerreichbaren Wirklichkeit zu nähern,
Versuche, welche mit den Anschauunaen der Zeit Inhalt und Ausdruck
Die Schranken der naturvvissenschaftlichen Erkenntniss. oßl
verändern. Dies ist augenscheinlich keine grundsätzliche Ansicht,
sondern die durch den Misserfolg hervorgerufene Verzweiflung, die
nothwendige Folge der falschen Methode und der naturwissenschaft-
lichen Unfähigkeit.
Der Praktiker verlässt sich angeblich auf seine Erfahrung. Diese
aber kommt auf folgende Weise zu Stande. Bei jeder Naturerschei-
nung sind verschiedene, oft zahlreiche Ursachen und begleitende Um-
stände betheiligt. Die Aufgabe des Naturforschers ist es, zu ermitteln,
was von den einzelnen Ursachen und Umständen bewirkt wird; sie
kann in den meisten Fällen durch Beobachtung allein nicht gelöst
werden. Der Praktiker greift nun irgend eine Ursache oder einen Um-
stand heraus, der ihm gerade in die Augen springt und findet darin
den Grund der Erscheinung ; dies nennt er seine Erfahrung. Es ist
daher begreiflich, dass die Praktiker miter einander verschiedener
Ansicht über die nämliche Erscheinung sind, dass ihre Meinungen
das Gepräge der wissenschaftlichen Epoche tragen und mit der Zeit
wechseln. Es ist ebenfalls begreiflich, dass die auf sogenannte Er-
fahrung sich berufenden Theorien in denjenigen Gebieten noch ihre
üppigsten Blüthen treiben, wo die Erscheinungen am verwickeltsten
sind , in der organischen Morphologie , in der Physiologie und
Pathologie.
Das Problem einer Naturerscheinung ist eine algebraische Glei-
chung mit vielen unbekannten Grössen. Der Praktiker sieht sich
die Gleichung an und versucht die Lösung derselben, indem er für
die eine oder andere Unbekannte einen meist grossen imd ent-
scheidenden Werth einsetzt; die Probe der Richtigkeit macht er
nicht. — Es erfordert nicht viel zur Einsicht, dass auf diesem Wege
allerdings die Lösung und damit die Erkenntniss in Ewigkeit nicht
erreicht wird.
Die Lösung einer Gleichung mit vielen Unbekannten ist nur
möglich, wenn man dazu ebenso viele Gleichungen zu gewinnen
weiss, in denei. die nämlichen Unbekannten enthalten sind. Da
dies bei Naturerscheinungen gewöhnlich nicht möglich ist, so sucht
man sich Gleichungen zu verschaffen, in denen nur eine unbekannte
Grösse vorkommt. Dies geschieht durch den wissenschaftlichen
Versuch, der mit dem sogenannten Versuch der Praktiker nichts gemein
hat, da alle unbekannten Grössen bis auf eine einzige entfernt und
dadurch der Werth und die Wirkung dieser einen sicher ermittelt werden.
V. Nägeli, Abstammungslehre 30
562 r^it^ Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis«.
Schon längst hat die Physik den Weg des mssenschafthchen
Experimentes eingeschlagen. Die Physiologie hat denselben erst in
neuerer Zeit allgemeiner als den richtigen erkannt. Auf diesem
zwar mühsamen und zeitraubenden, aber einzig sicheren und för-
dernden Wege werden allerdings nicht grosse Gebäude von Systemen
aufgeführt, die nur das Schicksal haben könnten, bald wieder zu-
sammenzustürzen ; - — sondern es werden bloss einzelne, an und für
sich vielleicht unscheinbare Thatsachen gewonnen, die aber für
immer ihren Werth bewahren und zur Auffindung neuer Thatsachen
befähioen. So vermehrt sich der Stock der erkannten Thatsachen
zwar langsam aber stetig. Eine Schnecke, die den geraden Weg
nach ihrem Ziele einschlägt, kommt vorwärts, indess die Heuschrecke
mit ihren Kreuz- und Quersprüngen auf der Stelle bleibt. So be-
weist die wissenschaftliche Empirie den praktischen Empirikern
durch die That, dass vermittelst der exacten Methode sichere und
bleibende Erkenntnisse der Naturerscheinungen gewonnen werden
können.
Viele methodische Naturforscher, welche auf exactem Wege den
Stock der feststehenden Thatsachen vermehren, geben auf die Frage
nach den Grenzen der Naturerkenntniss, indem sie eine grundsätz-
liche Lösung für unzulässig halten, bloss die thatsächliche Antwort:
»Der Glaube beginnt immer da, wo das Wissen aufhört.« Dabei
verfolgen sie diesen Gedankengang. Die Menschheit tritt an die
Gesammtheit der Natur heran. Ihre Einsicht bewältigt durch For-
schung und Nachdenken stets neue Gel)iete. So ist beispielsweise
die Jetztzeit in der Erkenntniss der Natur viel weiter vorgedrungen
als Mittelalter und Alterthum , und die europäische Cultur ist der
übrigen Menschheit weit voran. Mit der fortschreitenden geistigen
Arbeit wird also das Reich des Wissens immer umfangreicher, und
das Reich, wo wir uns mit dem Glauben begnügen müssen, immer
mehr beschränkt.
Diese Auffassung hat eineii unverkennl)aren Werth in gewisser
Beziehung. Sie gibt uns den Maassstab für die Stufe, welche die
naturwissenschaftliche Bildung im allgemeinen in jedem Jahrhundert
erreicht hat, und ebenso den Maassstab im einzelnen für die ver-
schiedenen Menschenrassen und Völker , für verschiedene Classen
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 503
eines Volkes und endlich für jedes einzelne Individuum. Es ge-
währen solche Erhebungen ebenso grosses wissenschaftliches Interesse
für den Geschichtsforscher und Anthroj^ologen , als praktisches In-
teresse für den Theologen, den Politiker und selbst für eine Menge
von Beruf sarten.
Der Satz, dass unser Glaube da beginne, wo das Wissen auf-
höre, ist eine thatsächliche Lösung für bestimmte Zwecke. Damit
ist unser Interesse nicht befriedigt. Mit besonderer Theilnahme
wenden wir uns der theoretischen Seite des Problems zu. Wir
wünschen zu wissen, ob die Grenze, wo das menschliche Wissen
Halt machen muss, überhaupt bestimmbar sei oder nicht, — wenn
ja, wie weit die Erkenntniss überhaupt in die Natur einzudringen
vermöge, wie viel die Menschheit von der Natur wissenschaftlich zu
begreifen vermöchte, wenn sie eine ungemessene Zeit, sagen wir
geradezu eine Ewigkeit, sich mit Naturwissenschaften beschäftigte
und wenn ihr dazu alle denkl^aren Hilfsmittel zu Gebote ständen, —
welches also die Schranken seien, welche die wissenschaftliche Er-
kenntniss der Natur niemals und unter keinen Bedingungen zu
überschreiten vermag, — welches die grundsätzliche Grenze zwischen
dem Gebiete des Wissens und dem Gebiete des Glaubens sei.
Die strenge Untersuchung dieser Frage verdient um so mehr
wiederholt in Angriff genommen zu werden, als bekanntlich von
zwei entgegengesetzten Seiten mit vollkommener Bestimmtheit die
absolute Herrschaft des menschlichen Geistes über die Natur in An-
spruch genommen wird, — mit abnehmender Energie von der natur-
philosophischen, mit zunehmender Energie von der materialistischen
Geistesrichtung. Jene wähnt, die formale Natur aus sich con-
struiren zu können, und das Natin'erkennen besteht für sie in nichts
anderem als darin, für die construirten abstracten Begriffe die con-
creten Naturerscheinungen aufzusuchen , — wobei ihr freilich in
keinem Punkte die Selbsttäuschung erspart bleibt, die Begriffe nach
Maassgabe der sinnlichen Wahrnehmungen, statt aus sich zu con-
struiren. Diese lässt nichts anderes als Kraft und Stoff in Zeit
und Raum gelten und es erscheint ihr daher eine vernunftgemässe
Annahme, dass der aus Kraft und Stoff aufgebaute Mensch die aus
den gleichen Factoren zusammengesetzte Natur bewältigt. Beide,
die naturphilosophische und die materialistische Richtung stellen
den Menschen auf eine für sein Selbstbewusstsein sehr schmcicliel-
36*
5G4 I^ie Rchrankoi der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
hafte Höhe; — sie erklären ihn zum Herrn der Welt, zwar nicht
zum wirklichen Herrn, der die Welt macht, aher doch zum einge-
bildeten Herrn , der das Werk des wirklichen Herrn begreift. —
Können wir diese Herrscherrolle mit Grund beanspruchen?
Diese Frage ist öfter und von verschiedenen Standpunkten aus
zu beantworten versucht worden, wohl am besten von meinem Vor-
gänger in diesem Kreise, von Du Bois Reymond in der viel-
besprochenen und vielfach missverstandenen Rede »Ueber die Grenzen
des Naturerkennens«. Ich werde nur diese letztere Antwort berück-
sichtigen, welche in geistreicher Weise und in bilderreicher poetischer
Sprache die Edelsteine der Gedanken mit den schönsten Redeblumen
verziert und umhüllt. Es wäre nützlich gewesen und hätte manchen,
der nicht so leicht den Kern aus der Schale löst, auf den richtigen
Weg gewiesen, wenn Ergebniss und Begründung in einigen kurzen
Sätzen zusammengefasst worden wären.
Der Redner will, gleich einem Welteroberer der alten Zeit an
einem Rasttage, die wahren Grenzen des unermesslichen Reiches,
welches die weltbesiegende Naturwissenschaft ihrer Erkenntniss unter-
worfen liat, klar vorzeichnen und kommt zu diesen drei Schlüssen :
1. Naturerkennen ist Zurückführen eines Naturvorganges auf die
Mechanik der einfachen oder untheilbaren Atome. 2. Atome in
diesem Sinne gibt es nicht und daher auch überhaupt kein wirk-
liches Erkennen. 3. Wenn aber auch die Welt aus der Mechanik
der Atome erkannt werden könnte, so vermöchten wir doch Empfin-
dung und Bewusstsein nicht aus derselben zu begreifen.
Es dürfte wohl das allgemeine Verständniss wesentlich erleichtert
haben, wenn diese Ergebnisse sich nicht als Grenzen des Natur-
erkennens , sondern als Nichtigkeit oder Unmöglichkeit des Natur-
erkennens eingeführt hätten. Denn, da der Redner nicht über die
Negation hinausgeht, so kann die erkennende Naturwissenschaft,
wenn ihr das Reich, über das sie gebietet, mangelt, auch die Grenzen
desselben nicht abstecken, — und wenn ihr sogar die Einsicht in die
materiellen Vorgänge für immer abgeht, so verschlägt es ihr, als
einer depossedirten Herrscherin, wenig, ob sie bei vorausgesetzter
Herrschaft auch Ansprüche auf das geistige Gebiet erliebcn könnte.
Man kann mit den einzelnen Gedanken von Du Bois Rey-
mond vollkommen einverstanden sein und doch die Ueberzeugung
haben, dass sie nicht vollständig und umfassend genug sind, um
Die Schrauken der iiatunvisseuscluiftlichen Ei'kenntuiss. 505
die naturwissenschaftliche Erkenntniss nach allen Seiten hin abzu-
grenzen, dass sie in ihrer Unvollständigkeit zu falschen und mit
dem naturwissenschaftlichen Bewusstsein im Widerspruche stehenden
Folgerungen führen , und dass es wünschbar ist , die Frage nicht
bloss nach der negativen Seite zu behandeln , sondern zu unter-
suchen, ob nicht der menschliche Geist zu naturwissenschaftlicher
Erkenntniss befähigt sei, von welcher Beschaffenheit und in welchem
Umfange ?
Die Lösung der Frage: In w^e fern und wie weit vermag ich
die Natur zu erkennen ? wird offenbar durch Dreierlei bedingt, durch
die Beantwortung von drei Theilfragen: 1. die Beschaffenheit und
Befähigung des Ich, 2. die Beschaffenheit und Zugänglich-
keit der Natur und 3. die Forderung, welche wir an das Er-
kennen stellen. Es sind also Subject, Object und Copula bei der
Lösung betheiligt.
Man möchte vielleicht eine solche Trennung für überflüssig,
selbst für unstatthaft halten, weil ja das Erkennen des Objects durch
das Subject ein untheilbarer Process sei. Indessen ist sie doch
richtig, weil die Beurtheilung bald den einen, bald den andern
Factor mehr in den Vordergrund rückt, und nützlich, weil sie eine
erschöpfendere Behandlung fordert. Die Schwierigkeiten, die sich für
das Erkennen mit Rücksicht auf das Subject oder das Object er-
geben, treten selbst am deutlichsten hervor, wenn wir den andern
Factor durch die Annahme, dass er keine Schwierigkeit darbiete,
ganz bei Seite schaffen.
Was die Befähigung des Ich betrifft, die natürlichen Dinge
zu erkennen, so ist dafür die unzweifelhafte Thatsache entscheidend,
dass, mag unser Denkvermögen wie immer beschaffen sein, uns nur
die sinnliche Wahrnehmung Kunde von der Natm* gibt. Wenn wir
nichts sehen und hören , nichts riechen , schmecken und betasten
könnten, so wüssten wir überhaupt nicht, dass etwas ausser uns ist,
noch auch dass wir selber körperlich sind.
Es besteht also für die Richtigkeit unserer Vorstellungen immer
die Bedingung, dass unsere äusseren und inneren Sinne richtig be-
richten. Unsere Erkenntniss ist nur wahr, soferne die sinnliche
Wahrnehmung und die innere Vermittelung wahr sind. Dass aber
566 ^ic Sclu'ankeii der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
beide zuletzt auch zur objectiven, im Object begründeten Wahr-
heit führen, dafür besteht eine unendHch grosse Wahrscheinhchkeit
deswegen, weil die Irrthümer, die der Einzelne, oder die Gesammt-
heit begeht, schliesslich stets als solche erkannt und nachgewiesen
werden, und weil die Naturwissenschaften, je weiter sie fortschreiten,
immer mehr die scheinbaren Widersprüche zu beseitigen und alles
unter einander in Uebereinstimmung zu bringen wissen.
Halten wir uns in dieser Beziehung für beruhigt, so erhebt sich
die Frage, in welcher Ausdehnung und in welcher Vollständig-
keit die Sinne uns Kunde von den Naturerscheinungen geben.
Rücksichtlich der Ausdehnung darf bloss an die Schranken er-
innert werden, um sie jedermann klar vor die Seele treten zu lassen.
In der Zeit ist uns nur die Gegenwart und im Räume nur dasjenige
zugänglich, was unseren eigenen räumlichen Verhältnissen entspricht.
Wir köimen unmittelbar nichts von dem bemerken, was in der Ver-
gangenheit war und in der Zukunft sein wird, nichts von dem, was
im Räume zu entfernt ist und was eine zu grosse oder zu kleine
Ausdehnung hat.
Rücksichtlich der Vollständigkeit der sinnlichen Wahr-
nehmungen besteht eine andere Schranke , an die man gewöhnlich
nicht denkt und auf die ich etwas näher eintreten muss. Die wissen-
schaftliche Zergliederung ergibt uns Folgendes : In der Gesammtheit
von kraftbegabten Stoffen, welche wir die Welt nennen, steht jedes
Stofftheilchen durch alle ihm eigenthümlichen Kräfte mit allen an-
deren in Beziehmig ; es wird von allen beeinflusst und wirkt seiner-
seits auf alle ein, natürlich nach Maassgabe der Entfernungen. Und
wie das einzelne Stoiltheilchen verhält sich selbstverständlich eine
Vereinigung von solchen; die Wirkung, die sie empfängt und aus-
übt, ist die Summe der Wirkungen aller einzelnen Theilchen. Der
Krystall, die Pflanze, das Thier, der Mensch empfindet die Anwesen-
heit aller Stofftheilchen, jedes einzelnen für sich und jeder Vereinigung
von solchen, und zwar mit Rücksicht auf alle Kräfte, die denselben
innewohnen, und in Folge dessen mit Rücksicht auf alle Bewegungen,
welche dieselben ausführen. Aber diese Empfindungen sind in ihrer
unendlichen Mehrzahl so schwach, dass sie als unmerklich vernach-
lässigt werden können.
Dem menschlichen Organismus steht also theoretisch die
Möglichkeit offen, von allen Erscheinungen in der Natur körperliche
Die Schranken der uatui-wissenschaftlichen Erkenntniss. 567
Wahrnehmungen zu empfangen. Wie gestaltet sich al)er die Sache
in AVirklichkeit? welche Eindrücke sind so mächtig, dass sie
für uns bemerkbar werden , und welche gehen als zu geringfügig
für uns verloren?
Unter den uns bekannten Wesen hat der Mensch mit den
höheren Thieren das voraus, dass einzelne Theile sich zu Sinnes-
werkzeugen ausgebildet haben, welche für bestimmte Naturerschei-
nungen sehr empfindlich sind. Diese Sinnesorgane haben sich im
Laufe zahlreicher auf einander folgender Arten und zahlloser Genera-
tionen innerhalb jeder einzelnen Art von unscheinbaren Anfängen
aus auf hohe Stufen vervollkommnet.
Der geniale Gedanke Dar win's, dass in der organischen Natur nur
solche Einrichtungen zur Ausbildung gekommen sind, w^elche dem in-
dividuellen Träger Nutzen gewähren, ist so einfach, so vernunftgemäss
und so sehr in Uebereinstimmung mit aller Erfahrung, dass die
hier allem competente Physiologie unbedingt zustünmt und sich
höchstens verwimdert, dass nicht schon längst ein Columbus dieses
physiologische Ei festgesteUt hat.
Demgemäss entspricht der Grad der Vollkommenheit, zu dem
sich jedes Sinnes Werkzeug ausgebildet hat, genau dem Bedürfnisse,
und es gibt keines, in welchem der menschliche Organismus nicht
von irgend einer Thierspecies sich w^eit übertroffen sähe, wenn der-
selben die ausserordenthche Feinheit einer besonderen Sinneswahr-
nehmung zur Bedingung des Daseins wurde. — Demgemäss hat
aber auch der menschliche und der thierische Organismus nur für
diejenigen äusseren Einwirkungen Sinnesorgane ausgebildet, welche
seine Existenz ün günstigen oder ungünstigen Sinn erfolgreich
treffen.
Wir haben beispielsweise ein feines Gefühl für die Temj^eratur;
es ist für unser Bestehen nothw^endig, wir könnten sonst, ohne es
zu ahnen , durch Kälte oder Hitze zu Grunde gehen. Wir haben
ein feines Gefühl für das Licht ; es gibt uns die beste und schnellste
Kunde von allen Gegenständen, die uns mugeben, und die uns
Schaden oder Nutzen bringen können. Dagegen haben wir kein
Gefühl für die uns umgebende Elektricität. Während wir die Zu-
und Abnahme der Wärme und des Lichtes w^ahrnehmen, wissen wir
nicht, ob die Luft, in w'elcher wir atlmien, freie Elektricität enthält
oder nicht, ob diese Elektricität positiv oder negativ ist. Wenn wir
568 Diö Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
den Telegraphendraht berühren, spüren wir nicht, ob die Theilchen
desselben elektrisch in Ruhe oder in Bewegung sich befinden.
Es hatte keinen Nutzen, dass der Sinn für Elektricität in den
höheren Thieren und im Menschen besonders ausgebildet wurde,
weil es für die Species gleichgiltig ist, ob jährlich einige Individuen
vom Blitze erschlagen werden oder nicht. Würde diese Gefahr alle
Individuen täglich bedrohen, so hcätte die Empfindung für Elek-
tricität, welche die niedersten Thiere, geradeso wie die Empfindung
für das Licht und die Wärme, in den ersten Anfängen besitzen,
sich nothwendig weiter ausgebildet. Wir w^ürden dann durch ein
besonderes Sinnesorgan die Nähe einer in elektrischer Spannung
befindHchen Substanz bemerken und dem Blitzschlage entfliehen
können. Wir würden geringe Veränderungen des elektrischen Zu-
standes, schwache elektrische Ströme in unserer Nähe wahrnehmen
und auch die Geheimnisse des Telegraphendrahtes abzufangen ver-
mögen.
Der Mangel eines solchen Organs hätte leicht die Ursache sein
können, dass wir von der Elektricität nichts wüssten. Wir können
uns die Atmosphäre der Erdkugel ganz gut ohne Blitz und Donner
denken. Diese grossen elektrischen Entladungen haben uns zur
Elektricitätslehre verholfen. Wenn sie zufälhg mangelten, wenn
überdem einige ganz zufällige Erfahrungen, welche eine durch Rei-
bung erzeugte anziehende oder abstossende Kraft offenbarten, nicht
gemacht worden wären, so hätten wir vielleicht keine Ahnung von
der Elektricität, keine Ahnung von derjenigen Kraft, welche in der
unorganischen und organischen Natur wohl die grösste Rolle spielt,
welche die chemische Verwandtschaft wesentlich bedingt, welche bei
allen moleculären Bewegungen in den organisirten Wesen wohl ent-
scheidender eingreift als irgend eine andere Kraft, und von welcher
wir die wichtigsten Aufklärungen über physiologisch und chemisch
noch räthselhafte Vorgänge erwarten.
Unsere Sinne sind eben nur für die Bedürfnisse der körperlichen
Existenz, nicht aber dafür organisirt, dass sie unser geistiges Be-
dürfniss befriedigen, dass sie uns Kenntniss von allen Erscheinungen
der Natur verschaffen und uns darüber belehren sollen. Wenn sie
zugleich diese Function übernehmen, so geschieht es nur neben])ei.
Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass die sinnlichen
Wahrnehmungen uns über a 1 1 e Erscheinungen in der Natur Kunde
Die Sclirankun der naturwissenscliaftlichen Erkemitiiiss. 509
geben. Wie wir auf die elektrischen Vorgänge, die in jedem Sfcoff-
theilchen ihren Sitz haben, gleichsam nur durch Zufall etwas er-
fahren halben, so ist es leicht möglich, selbst sehr walirscheinlich,
dass es auch noch andere Naturkräfte, noch andere moleculäre Be-
wegmigsformen gibt, von denen wir keine sinnlichen Eindrücke be-
kommen, weil sie sich nie zu einer für unsere unvollkommenen und
unvollständigen Sinnesorgane bemerkbaren Summe vereinigen, und
die uns deshalb verborgen bleiben. — Wenn uns einer der Sinne,
wenn uns besonders der Gesichtssinn fehlte, so wären wir über die
Naturerscheinungen viel mangelhafter unterrichtet, als wir es wirklich
sind. Hätten sich aber ausser den fünf Sinnen noch einige andere
an unserem Organismus ausgebildet, so würden wir wohl von den
natürlichen Dingen Manches erfahren, was uns jetzt verborgen bleibt.
Unser Vermögen , die Natur unmittelbar durch unsere Sinne
wahrzunehmen , ist somit in zwei Beziehungen sehr beschränkt.
Es mangelt uns wahrscheinlich die Empfindung für ganze Gebiete
des Naturlebens , und so weit wir sie wirklich haben , trifft sie in
Zeit und Raum nur einen verschwindend kleinen Theil des Ganzen.
Freilich beschränkt sich unsere NaturerkenntnisS nicht auf das
sinnlich Wahrnehmbare. Wir können durch Schlüsse auch Kenntniss
von dem bekommen, was die Sinne nicht erreichen. Der fernste
Planet unseres Sonnensystems , der Neptun , war seiner Stellung,
seiner Grösse und seinem Gewichte nach durch Rechnung bekannt,
ehe die Astronomen ihn mit dem Fernrohr entdeckt hatten. Wir
wissen , obgleich w^r es auch mit den besten Mikroskopen nicht
sehen, dass das Wasser aus kleinsten in Bewegung befindlichen
Th eilchen oder Molekülen besteht, und wenn es Zuckerwasser oder
Salzwasser ist, so kennen wir auch genau das verhältnissmässige
Gewicht und die verhältnissmässige Zahl der Wasser-, Zucker- und
Salztheilchen, welche es zusammensetzen.
Durch Schlüsse aus Thatsachen, die mit Hilfe der Sinne er-
kannt werden , gelangen w ir zu ebenso sicheren Thatsachen , die
sinnlich nicht mehr wahrnehmbar sind. Man könnte deshalb allen-
falls die sanguinische Hoffnung hegen, dass von dem kleinen Ge-
biete aus, w^elches uns die Sinne aufschliessen, nach und nach das
Gesammtgebiet der Natur durch den Verstand erobert werde. Aber
diese Hoffnung kami niemals in Erfüllung gehen. Wie die Wirkmig
einer Naturkraft mit der Entfernung a])nimmt, so vermindert sich
570 I^ic Schranken der naturwissenHcliaftliehen Erkeuntniss.
auch die Möglichkeit der Erkenntniss, nach Maassgabe, als die zeit-
liche und räumliche Entfernung wächst. Ueber die Beschaffenheit,
die Zusammensetzung, die Geschichte eines Fixsterns letzter Grösse,
über das organische Leben auf seinen dunklen Trabanten, über die
stofflichen und geistigen Bewegungen in diesen Organismen werden
wir nie etwas wissen. In gleicher Weise vermindert sich die Mög-
lichkeit, eine noch unbekannte Naturkraft, eine noch unbekannte
Bewegungsform der kleinsten Stofftheilchen zu erkennen, je weniger
dieselbe ilirer Eigenthümlichkeit nach befähigt ist, zu einer grösseren
Gesammtwirkung zusanmien zu treten. Wir werden uns glücklich
schätzen dürfen, weim wdr nur eine Ahnung davon erlangen.
Die beschränkte Befähigung des Ich gestattet uns somit
nur eine äusserst fraomentarische Kenntnissnahme des Weltalls.
Gehen wir nun von der Betrachtung des Subjectes zu der des
Objectes, der Beschaffenheit und Zugängliclikeit der Natur über.
Die Schranken, welche die Natur selbst unserer Erkenntniss ent-
gegensetzt, springen am deutlichsten in die Augen, wenn wir die
hypothetische Annahme machen , der Mensch hätte seinerseits die
vollkommenste Befähigung für die Naturerkenntniss. Dies wäre
dann der Fall, wenn das Hemmniss von Zeit und Raum für ihn
nicht bestände, wenn er jede Vergangenheit so gut beurtheilen
könnte wie die Gegenwart, wenn der fernste Gegenstand ihm nicht
mehr Schwierigkeit machte, als derjenige in seiner unmittelbaren Nähe,
wenn er die grössten Fixsternsysteme und die kleinsten Atome ebenso
leicht üljersehen würde als einen Körper seiner eigenen Grösse,
wenn er endlich mit so vollständigen Sinnen ausgerüstet wäre, dass
alle Erscheinmigen der Natur, alle Kräfte und alle Bewegungsformen
von ihm unmittelbar emj^fundeh würden.
Eine in dieser Weise ausgestattete Menschheit könnte allenfalls
sich vermessen, an die Lösung des berühmten Problems von La-
place zu gehen. Derselbe sagt: »Ein Geist, der für einen gegebenen
Augenblick alle Kräfte, welche in der Natur wirksam sind, und die
gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, kennte, wenn
sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analysis zu
unterwerfen — würde in derselben Formel die Bewegungen der
grössten Weltköri^er und des leichtesten Atoms vereinigen. Nichts
Die Sehranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 571
wäre ungewiss für ihn, und Zukunft wie Vergangenlieit wäre seinem
Blicke gegenwärtig. Der menschliche A'^erstand bietet in der Voll-
endung, die er der Astronomie zu geben vermochte, ein schwaches
Abbild solchen Geistes dar.«
Aber auch ein so universeller Geist, wie Lai:>lace ihn voraus-
setzt, würde die ihm gestellte Aufgabe nicht lösen können. Denn
die andere Voraussetzung, von der Laj^lace nicht spricht, von der
er aber stillschweigend ausgeht, ist die Endlichkeit der Welt nach
allen Beziehungen, und diese ist nicht gegeben. Die Schwierigkeit,
welche die Natur der menschlichen Erkenntniss entgegensetzt, ist
ihre Endlosigkeit, Endlosigkeit des Raumes und der Zeit, und
von allem, was als noth wendige Folge dadurch bedingt wird.
Die Natur ist räumlich nicht bloss unendlich gross ; sie ist endlos.
Das Licht legt in 1 Secunde eine Strecke von 42000 geographischen
Meilen zurück; um die ganze uns jetzt bekannte Fixsternwelt zu
durcheilen, bedürfte es nach wahrscheinlicher Schätzung 20 Millionen
Jahre. Versetzen wir uns in Gedanken an das Ende dieses uner-
messlichen Raumes, auf den fernsten uns bekannten Fixstern, so
würden wir nicht ins Leere hinausblicken, sondern es thäte sich
ein neuer gestirnter Himmel vor uns auf. Wir würden glauben,
wieder in der Mitte der Welt zu sein, wie jetzt die Erde uns als
deren Centrmn erscheint. Und so können vnr in Gedanken den
Flug vom fernsten Fixstern zum fernsten Fixstern endlos fortsetzen,
und unser jetziger Sternenhimmel ist schliesslich gegenüber dem
Weltall noch unendlich viel kleiner als das kleinste Molekül im
Vergleich zum Sternenhimmel.
Wie mit dem Raum verhält es sich mit der Gruppirung im
Raum, mit der Zusammensetzung, Organisirung und Individualisirung
des Stoffes, welche das Object der beschreibenden oder morphologi-
schen Naturwissenschaften ist. Jedes der uns bekannten Dinge be-
steht aus Theilen und ist selbst Theil eines grösseren Ganzen. Der
Organismus ist zusammengesetzt aus Organen, diese aus Zellen, die
Zellen aus kleineren Elementartheilen. Indem wir weiter zerlegen,
kommen wir bald zu den chemischen Molekülen und den Atomen
der chemischen Elemente. Die letzteren widerstehen zwar zur Zeit
noch der Scheidekunst, aber schon ihrer Eigenschaften wegen müssen
sie als zusammengesetzte Körper angesehen werden. So können wir
in Gedanken die Theilung weiter und endlos fortsetzen. In der That
572 I^ic Schranken der naturwisseuschaftlicben Erkenntniss.
kann es keine pliysisclien Atome im strengen Sinne des Wortes
geben, keine Körperclien, die wirklich untheilbar wären, keine Ur-
oder Punktatome ^). Alle Grösse ist ja nur relativ; der kleinste Kör^^er,
von dessen Dasein wir Kunde haben, das Theilchen des Licht- und
Wänneäthers wird beliebig gross für unsere Vorstellung, selbst un-
endlich gross, wenn wir uns danel^en hinreichend klein denken. Wie
die Theilbarkeit nicht aufhört, so müssen wir nach Analogie
dessen, was wir im ganzen Bereiche unserer Erfahrung bestätigt
finden, annehmen, dass auch die Zusammensetzung aus indi-
\dduellen, von einander gesonderten Theilen nach unten sich endlos
fortsetze. Ebenso sind wdr genöthigt, eine endlose Zusammensetzung
nach oben zu immer grösseren individuellen Gruppen vorauszusetzen.
Die Weltkörper sind die Moleküle, welche sich zu Gruppen niederer
und höherer Ordnungen vereinigen, und unser ganzes Fixsternsystem
ist nur eine Molekülgruj^pe in einem unendlich viel grösseren Ganzen,
das wir uns als einheitlichen Organismus und wieder nur als Theilchen
eines noch grösseren Ganzen vorzustellen halben ^).
Wie der Raum nach allen Richtungen endlos ist, ist es die Zeit
nach zwei Seiten ; sie hat nicht begonnen und sie wird nicht aufhören.
Die Bibel sagt: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die
Geologie sagt: Im Anfang war die Welt eine gasförmige Masse, aus
welcher sich die Weltkör j)er verdichteten. Aber dieser Anfang ist
nur ein relativer, der Anfang einer Endlichkeit, und die Zeit, die
seit diesem Anfang verfloss, ist nur ein Augenblick im Vergleich
zur Ewigkeit vor demselben.
Aus der Vereinigung von Zeit und Raum geht ein Reich von
Erscheinungen hervor, welches neben den beschreibenden Natur-
wissenschaften den Inhalt der andern Hälfte der Natm-betrachtung,
der physikalischen und physiologischen Wissenschaften ausmacht.
Der den Raum erfüllende Stoff ist nicht in Ruhe, sondern in Be-
wegung befindlich, und da die Stofftheilchen mit verschiedenen
(anziehenden und abstossenden) Kräften auf einander einwirken, so
setzt jeder sich bewegende Körper auch die anderen in Bewegung,
vielmehr er verändert deren Bewegungen. Er gibt von seiner Be-
wegung und potentiellen Energie an andere ab, diese wieder an
*) S. Zusatz 1 : Physische und metaphysische Atomistik.
^) S. Zusatz 2 : Unendhche Abstufung in der Zusammensetzunj^ und Orga-
nisation des Stolfes.
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 573
andere und so fort. Dies ist die Kette von Ursache und Wirkung,
gleichfalls endlos , da sie für unsere Vorstellung weder mit einer
ersten Ursache ihren Anfang nehmen, noch mit einer letzten Wirkung
abschliessen kann.
Die Natur ist überall unerforschlich , wo sie endlos oder ewig
wird. Sie kann daher als Ganzes nicht erfasst werden, denn ein
Process des Erkennens, welcher weder Anfang noch Ende hat, führt
nicht zur Erkenntniss. — Deswegen erscheint auch das Problem von
Laplace von vornherein als nichtig. Es ist zwar erlaubt, jede
Voraussetzung zu machen, die aus irgend einem Grunde unm()glicli,
aber keine, die undenkbar ist. Undenkbar aber ist eine Formel,
für welche selbst die einzuführenden Grössen mangeln, und welche,
wären dieselben gegeben, nie zu Ende käme. Die Kenntniss aller
Kräfte, welche für die Formel von Laplace gefordert wird, setzt
voraus, dass die Körper bis in ihre letzten kraftbegabten StofE-
theilchen zerlegt werden, was wegen der endlosen Theill )arkeit un-
möglich ist. Es fehlen also die Elemente, aus denen die Formel
sich zusammensetzen soll , die einfachen Naturkräfte ; man kann
mit dem Ansetzen der Formel nicht einmal beginnen, — und wenn
man es könnte, so vermöchte man, wegen der räumlichen Endlosig-
keit des Weltalls, dieselbe niemals fertig zu bringen. Du Bois
Reymond hat bereits die erste Endlosigkeit als eine unübenvind-
liche Grenze bezeichnet; die andere wäre, könnte auch die erste über-
wunden werden, immer noch eine ebenso unübersteigbare Schranke.
Wenn die Formel von Laplace nur etwa das uns sinnlich
bekannte Weltall oder auch ein unendlich viel grösseres (aber kern
wirklich endloses) umfasste , und wenn in dieselbe etwa die Kräfte
der uns bekannten chemischen Elemente imd der supponirten Aether-
theilchen oder auch noch viel kleinerer Stofflheilchen eingesetzt
werden könnten, so vermöchte sie besonders für die Mitte des
Systems und für die grösseren Erscheinungen vielleicht für sehr
lange Zeiträume von der Gegenwart aus vor- und rückwärts aus-
zureichen. Es müssten aber sofort einerseits von dem Umfange
aus Störungen eintreten , welche zuletzt die Formel auch für die
Mitte unbrauchbar machten ; anderseits müssten die Störungen auch
auf jedem einzelnen Punkte beginnen und, da sie sich fortwährend
steigerten, schliesslich zu merklichen Ungenauigkeiten führen, weil
ja die angenommenen »Atome« keine wirklichen Einheiten sind und
574 Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
weil die Resultirende , mit der jedes einzelne »Atom« als ein aus
gesonderten Theilen zAisammengesetzter Körper in die Gesammtheit
eingreift, nicht constant l)leibt, sondern mit der wechselnden Um-
gebung einen ebenfalls stetig wechselnden Werth annimmt. Immerhin
brächte uns eine solche Formel, wie es die astronomische Berech-
nung wirklich thut, eine innerhalb gewisser Grenzen richtige, —
eine praktische, aber keine grunds<ätzliche Lösung.
Der Naturforscher muss sich wohl bewusst werden, dass seine
Forschung nach allen Beziehungen innerhalb endlicher Grenzen ge-
bannt ist, dass von allen Seiten das unerkennbare Ewige ihm ein
kategorisches Halt gebietet. Dass dies nicht immer klar eingesehen,
dass namentlich das unendlich Grosse und unendlich Kleine mit
dem Endlosen und dem Nichts verwechselt werden , hat zu mehr-
fachen irrigen Vorstellungen geführt. Zu denselben gehören die
Theorien über die j)hysischen Atome im kleinen, über Anfang und
Ende der Welt im grossen. Ich will nur von den letzteren sprechen.
Man nimmt an, dass die Masse der Weltkörper im Anfang gas-
artig vertheilt gewesen sei; und Du Bois Reymond findet daran
nur die eine Schwierigkeit: Wäre diese Materie, wie es theoretisch
gefordert wird, ruhend und gieichmässig vertheilt gewesen, so wüsste
er nicht, woher Bewegung und ungleiche Vertheilung gekommen.
Seit unendlicher Zeit nun, d. h. seit jenem vorausgesetzten
Anfange, geht Verdichtung der Materie vor sich, erst zu Nebeln,
dann zu feurig - flüssigen Tropfen, welche zu dunkeln Körpern er-
kalten. Wir befinden uns in der Gegenw^art auf einem solchen er-
starrten , nicht mehr leuchtenden Welttropfen. Nach den uns
bekannten Naturgesetzen müssen die noch feurigen und die schon
verdunkelten Weltkörper ihren Wärmevorrath mehr und mehr an
den Weltraum abgeben. Sie müssen später auf einander stürzen,
und wenn auch dabei local wieder Erwärmung stattfindet, so dient
dieselbe nur dazu, um den Erkaltungsprocess im grossen und ganzen
zu beschleunigen. Am Ende aller Dinge aber werden die Welt-
körper zu einer dunklen, starren, eiskalten Masse vereinigt sein, auf
der CS keine Bewegung und kein Leben mehr gibt.
Dieses ist das Ergebniss einer nach unseren jetzigen Kennt-
nissen correcten physikalischen Betrachtung. Sie zeigt uns das
trostlose Ende der bewegungsreichen und wechselvollen, der farben-
glühonden und lebenswarmen Gegenwart. — In der That aber ist
Die Scliranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 575
dieses Ergebniss nur die Folge unserer menschlich beschränkten
Einsicht; es wäre nur dann eine logische Noth wendigkeit , wenn
wir alles wüssten und daher unser Wissen zu einem Schluss auf
den Anfang und das Ende benutzen dürften. Da wir aber nur
einen winzigen Theil des Weltalls übersehen und auch nur eine
mangelhafte Kenntniss der Kräfte und Bcwegungsformen in diesem
winzigen Theil besitzen, so können zwar die Schlüsse rückwärts und
vorwärts für gewisse allgemeine Verhältnisse vielleiclit auf Billionen
Jahre ohne merkljaren Fehler sein. Sie müssen aber mit der grösseren
Zeitferne unsicherer und zuletzt ganz fehlerhaft werden. Es lässt
sich dies besonders für die Vergangenheit sehr anscliaulich machen.
Das Sicherste, was wir von der Vergangenheit wissen, ist der
feurig-flüssige Zustand, in dem sich einst unser Erdball befand, mid
wir ziehen daraus den nahe liegenden Analogieschluss , dass auch
die übrigen Planeten unseres Systems leuchtende Körper waren, wie
es die Sonne zur Zeit noch ist. Von diesen Sonnen rückwärts ge-
langen wir durch weitere Schlüsse zu zusammengeballten Wolken,
den Embryonen der späteren Sonnen, zu Wolkenringen und weiterhin
zu der ziemlich gleichmässig vertheilten gasförmigen Masse, dem
Anfangszustande , über den mit unserer jetzigen Einsicht nicht
hinauszukommen ist.
Dies alles zeigt uns deutlich, dass, wie auf der Erde ein steter
Wechsel herrscht, auch der Himmel sich verändert. Jede ^^erände-
rung besteht in einer Summe von Bewegungen, und setzt voraus
eine frühere Veränderung oder Summe von Bewegungen, aus der
sie mit mechanischer Nothwendigkeit hervorging, und weiterhin eine
von Ewigkeit her dauernde Kette von Veränderungen. So muss
auch dem gasförmigen Zustande unsers Sonnensystems eine conti-
nuirliche und endlose Reihe von Veränderungen vorausgegangen
sein, und wenn unsere wissenschaftliche Einsicht uns nicht dazu
führt, uns nicht einmal dazu berechtigt, so beweist sie damit nur
ihre Mangelhaftigkeit.
Aus der Ewigkeit der Veränderungen im Wellall müssen wir
vielmehr schliessen, dass der ganze Entwicklungsprocess unseres
Sonnensystems oder des ganzen Sternenhimmels von der ursprüng-
lichen Gasmasse durch die kugeligen Nebelmassen , feurigen und
dunkeln Bälle zm' kalten, dichten und starren Masse nur eine der
zahllosen auf einander folgenden Perioden ist, und dass analoge
576 I^ie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
Vorgänge ohne Ende vorausgegangen sind und nachfolgen werden.
Nun ist uns zwar nach den jetzigen physikah sehen Kenntnissen
ganz begreiflich, dass eine sich verdichtende Gasmasse Wärme er-
zeugt und dass die heisse verdichtete Masse diese Wärme abgibt,
bis sich ihre Temj^eratur mit der Umgebung, in unserem Falle mit
dem kalten Weltenraumc ausgeglichen hat. Aber es ist uns unbe-
greiflich, wie die feste Masse wieder gasförmig werden, wie sich die
dazu nöthige, im Weltenraume vertheilte Wärme wieder sammeln soll.
Es besteht hier offenbar eine Lücke in unseren Kenntnissen,
die vielleicht, trotz der fast vollständigen Unwissenheit der Physik
und Chemie über die Eigenschaften der chemischen Elemente und
der Aethertheilchen, in folgender Weise auszufüllen ist. Den chemi-
schen Atomen muss, wie aus ihren mannigfaltigen, unter einander
abweichenden Eigenschaften hervorgeht, eine complicirte Zusammen-
setzung aus zahlreichen, mit verschiedenen Kräften begabten Theilchen
zukommen. Sie müssen ferner, wie alles Endliche und Zusammen-
gesetzte, sich verändern, indem ihre Theilchen in andere Zusammen-
ordnungen übergehen. Dadurch wird die Verwandtscliaft der Atom-
oberfläche für den Wärmeäther grösser oder kleiner und die physikalisch
umgestimmte Substanz bindet neue Wärme oder lässt Wärme aus-
treten, so dass auch der Aggregatzustand bei gleicher Temperatur
ein anderer werden kann. Die jetzt festen oder geschmolzenen Ele-
mente und Verbindungen, welche die Planeten zusammensetzen,
w^aren in der nebularen Urzeit gasförmig trotz der grossen Kälte
des Weltenraumes. Wie sie nun ihre damalige Natur aus uns unbe-
kannten Gründen geändert haben und unter Wärmeabgabe flüssig
und fest geworden sind, so können sie auch durch die entgegen-
gesetzte Veränderung wieder Wärme binden und gasförmig werden^).
Dieses Beispiel zeigt uns, dass wir unsere Erfahrungen über
das Endliche auch nur zu Schlüssen innerhalb des Endlichen be-
nutzen dürfen. Sowie der Mensch dieses Gebiet, das ihm seine
Sinne eröffnen und das seinem Erkennen zugänglich ist, überschreiten
und sich eine Vorstellung vom Ganzen machen ^\äll, so verfällt er
dem Aberwitz. Entweder er lässt das durch Anschauung und Nach-
denken Gewonnene unberücksichtigt, dann geräth er in willkürliche
und haltlose Phantasien ; oder er geht consequent von den Gesetzen
*) S. Znsatz 3; Naturphilosophische Weltanschauungen. Entropie.
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 577
des Endlichen ans, dann langt er schliesslich bei ganz absurden
Folgerungen an.
Um letzteres anschaulich zu machen, mag mir wieder das vorhin
angeführte Beispiel dienen. Die uns bekannte Welt verändert sich.
Verfolgen wir diese Veränderung nach dem Gesetze der Causalität
rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft, so
ergeben sich, wenn wir uns auf den früher besprochenen physi-
kalischen Standpunkt der Nebulartheorie stellen und das uns Be-
kannte als maassgebend betrachten, nach beiden Zeitrichtungen
Zustände, welche sich der vollkommenen Ruhe immer mehr nähern,
ohne dieselbe je vollständig zu erreichen. Wenn wir uns aber auf
einen weiteren Standpunkt stellen und annehmen, dass Weltkörper
und Weltkörpersysteme ohne Ende im Weltenraume entstehen und
vergehen, so stehen uns wieder zwei Wege offen : entweder haben die
auf einander folgenden Zustände, nach materialistisch-philosophischer
Auffassung, den gleichen Werth ; oder sie verändern , nach idea-
listisch-philosophischer Auffassung, ihren relativen Werth continuirlich,
indem sie vollkommener werden, wobei das Weltall in der ewigen
Vergangenheit der absoluten Unvollkommenheit (somit der Ruhe)
und in der ewigen Zukunft der absoluten Vollkommenheit (somit
wieder der Ruhe) immer näher kommen würde. — Alle drei An-
nahmen sind in gleichem Grade widersinnig. Die erste (physikalisch-
philosophische) und dritte (idealistisch-philosophische) lassen die Welt
von todter Ruhe erwachen und wieder zu solcher einschlafen. Die
zweite (materialistisch-philosophische) verurtheilt sie zu ewiger Ruhe,
denn eine gleichbleibende Veränderung bedeutet für die Ewigkeit
nichts anderes als Ruhe^).
Nicht besser als mit der Zeit geht es uns mit dem Raum. Es
ist ein naheliegender Wunsch, sich das Weltganze als von endlicher
räumlicher Ausdehnung zu denken und damit unserer Vorstellung
zugänglich zu machen. Da aber der stofferfüllte Raum überall wieder
an stofferfüllten Raum angrenzen muss, so kommen wir auf die
absurde Folgerung, die endliche Welt grenze an ilirem Umfange
überall an sich selber an. — Lassen wir aber dem Weltenraum die
Endlosigkeit, die er nach räumlichen Begriffen haben muss, so folgen
') S. Zusatz 3: Naturphilosophische Weltanschauungen.
Nägeli, Abstammungslehre. 37
578 I^ie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
ohne Ende Weltkörper auf Weltkörper in verschiedener Grösse,
verschiedener Zusammensetzung, verschiedenem Entwicklungszu -
stände. Da nun Grösse, Zusammensetzung und Entwicklungszu-
stände innerhalb endlicher Grenzen sich bewegen, so machen auch
die möglichen Combinationen zwar eine nach sprachgebräuchlichem
Ausdruck unendlich grosse, aber doch nicht endlose Zahl aus. Wenn
diese Zahl erscböj^ft ist, müssen sich die gleichen Combinationen
wiederholen. Wir können dagegen nicht aufkommen mit der Ueber-
legung, dass Centillionen von Weltkörpern oder Weltkörpersystemen
nicht genügen, um die Zahl der möglichen Combinationen voll zu
machen. Denn Centillionen sind ja in der Endlosigkeit weniger
als ein Tropfen Wasser im Ocean. — Wir langen somit bei der
mathematisch richtigen, aber für unsere Vernunft abgeschmackten
Folgerung an, dass unsere Erde, gerade so wie sie jetzt ist, im end-
losen Weltall mehrfach, ja zahllos vorkomme und dass auch das
Jubiläum, das wir feiern, auf vielen andern Erden jetzt gerade eben-
so begangen werde.
Die logischen Folgerungen dieser Art lassen sich vervielfältigen.
Die Beispiele genügen, um zu zeigen, dass unser endlicher Verstand
nur endlichen Vorstellungen zugänglich ist und dass, wenn er noch
so folgerichtig sich zu Vorstellungen über das Ewige erheben will,
ihm die Schwingen versagen, und dass er, ein zweiter Ikarus, ehe
die sonnige Höhe erreicht ist, in die endliche und begriffsclunkle
Tiefe zurückstürzt.
Nachdem ich die Befähigung des Subjects und die Zugänglich-
keit des Objects erörtert habe, handelt es sich noch um die For-
derungen, welche an das Bindeglied, an das Erkennen zu stellen
sind.
Da alle Vorstellungen, welche wir von der Natur haben, uns
durch die sinnliche Wahrnehmmig vermittelt werden, so kann auch
unser Erkennen nicht weiter gehen, als dass wir die wahrgenommenen
Erscheinungen mit einander vergleichen und sie mit Rücksicht auf
einander beurtheilen. Wenn eine besonders geartete Erscheinung
nur einmal vorkäme, wemi wir beispielsweise die einzigen Organismen
wären, so würde unsere Einsicht äusserst beschränkt sein ; denn
wir schöpfen ja die Kenntniss des menschlichen Organismus wesent-
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 570
licli aus dem Zusammenhalte mit allen andern organischen Wesen.
— Die Vergleichung vieler Erscheinungen lässt uns eine Einheit
oder einen Maassstab gewinnen, mit dem wir jede einzelne messen
und bestimmen. Wir erhalten also eben so viele Maasse, als es sinnlich
wahrnehmbare oder durch das Urtheil aus den sinnhchen Wahr-
nehmungen abziehbare Eigenschaften in der Natur gibt. Da diese
Maasse endlichen Thatsachen entnommen sind, so haben sie auch
nur einen relativen Werth, und unsere Erkenntniss bleibt auch aus
diesem Grunde in der Endlichkeit befangen.
Wir erkennen also eine Erscheinung, vdr begreifen ihren Werth
in Beziehung zu den übrigen Erscheinungen, wenn wir sie messen,
zählen, wägen können. Wir haben eine klare Vorstellung von
der Grösse des niedersten Pilzes, von welchem wir 2 bis 3 Millionen
Individuen hinter einander legen müssen, um die Länge eines Meters
voll zu machen, — von der Grösse des Elephanten, — der Erde,
— unseres Sonnensystems, dessen Halbmesser etwa 622 Mllionen
geographische Meilen beträgt. Wir haben eine klare Vorstellung
von der Zeit, in welcher der Lichtstrahl die Schrift eines Buches,
das wir lesen, in unser Auge führt, und die etwa den 800 millionsten
Theil einer Secunde beträgt, — von der Lebensdauer des niedersten
Pilzes, welcher im Brütkasten und im menschlichen Körper schon
nach 20 Minuten von einer neuen Generation abgelöst wird, — von
der Lebensdauer eines mehrtausendjährigen Eichbaums, — von den
500 Milhonen Jahren, welche nach einer Hypothese seit Entstehung
der Organismen auf unserer Erde verflossen sein sollen.
Die Katurkörper sind aus Theilen zusammengesetzt ; der Werth
ihrer Innern Beschaffenheit, ilirer Organisation wird genau bestimmt
durch die Menge, Natur und Zusammenordnung der Theile. Diese
geben uns also das Maass, nach dem wir das zusammengesetzte Ganze
beurtheilen, mit dem wir gleichsam seine Organisation messen. Die
morphologischen oder beschreibenden Naturwissenschaften haben
durch dieses Messen ihren wissenschaftlichen Inhalt. Die Chemie,
die zur Zeit noch eine vorzugsweise morphologische Wissenschaft
ist und die Zusammenordnung der Elementatome zu ^'Verbindungen
erforscht, und die Mineralogie, welche die gleichartige Lagerung der
Moleküle zm' ^^oraussetzung hat, stehen auf einer hohen Stufe der
Ausbildung. Das allgemeine Maass für die Organismen finden wir
in der Zelle, und weiterhin im Organ, das allgemeine Maass für
37*
580 I^'f" Schninken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
die systematisclien Einheiten der organischen Natur (für A^arietäten,
Arten, Gattungen) in den Individuen und den Generationen^).
Wir können aber niclit nur die verschiedenen Dinge mit ein-
ander vergleichen und durch einander messen, sondern wir können
auch ein System, eine einheitliche Gruppe von zusammengehörigen
Dingen, insofern sie sicli verändert, in verschiedenen auf einander
folgenden Zeiten mit sich selbst vergleichen und durch sich selbst
messen. Die Erkenntniss der Veränderung ist vollendet, wenn der
spätere Zustand als die nothwendige Folge des frülieren, oder dieser
als der nothwendige Vorgänger des späteren nachgewiesen, wenn
einer aus dem andern construirt, wenn also die beiden Zustände
in das ^^erhältniss von Ursache und Wirkung gebracht werden
können.
In den elementaren Gebieten des Stofflichen ist dieses ur-
sächliche Verhältniss die mechanische Noth wendigkeit , welche
für zwei auf einander folgende Zustände die gleiche Summe von
Bewegung mit bestimmter Richtung (von lebendiger Kraft) und von
potentieller Energie fordert. Die Astronomie nimmt unter den hieher
gehörenden Wissenschaften den ersten Rang ein; an sie schliessen
sich mehrere Disciplinen der Physik w'ürdig an, besonders die
mechanische Wärmelehre und die Optik. Die Physiologie oder die
Physik des Organischen sucht in den Fusstapfen ihrer älteren
Schwester auf einem viel verwickeiteren und schwierigeren Gebiete
vorzudringen.
In den höheren Gebieten des Stofflichen lässt sich für das ur-
sächliche Erkennen nicht mehr die Forderung dieser mechanischen
Nothwendigkeit festhalten. Vielleicht gilt dies selbst für alle Ge-
staltung. Sogar die Entstehung der chemischen Verbindung und
des Krystalls wird wohl nie mit aller Strenge sich als das noth-
wendige Ergebniss von bekannten Kräften und Bewegungen der
Elementatome und der Moleküle darthun lassen. Noch viel weniger
wird dies mit der Bildung der Zellen, mit dem Wachsthum der
Organismen, mit der Fortpflanzung, mit der Vererbung der Merk-
male der Fall sein. Dennoch lässt sich auch in diesen Gebieten
mit einigem Rechte von ursächlichem Erkennen sprechen ; nur sind
die Elemente, von denen dasselbe ausgeht, nicht einf9,che Kräfte
*) S. Zusatz 4: Berlinguncon für empirisches Wissen und Erkennen. Morpho-
logische Wissen schaften.
Die Schranken der naturwisseiiscliat'tlidK'ii Kikenntiiiss. 581
und Bewegungen, sondern deren sein- verwickelte Combinationen,
die nicht weiter analysirt werden. Das ursächliche Erkennen wird
seine Probe bestehen, wenn es ihm gehngt, mit derselben Sicherheit
und Bestimmtheit künftige Ereignisse vorherzusagen, wie es die
Astronomie thut. Andeutungen hiezu finden wir Jetzt schon in
der Chemie der ^"erbindungen und in der organischen Morphologie,
indem es möglich ist, aus gewissen Entwicklungszuständen eines
Organismus auf frühere oder spätere Zustände desselben zu schliessen .
Und wir werden einmal, wenn die organischen Gesetze der noch
so jungen Entwicklungsgeschichte des Individuums und der noch
viel jüngeren Entwicklungsgeschichte der Species besser erforscht
sind, nicht bloss von ontogenetischer und phylogenetischer Notli-
wendigkeit als von einer selbstverständlichen Voraussetzung sprechen,
sondern dieselbe auch erkennen können.
Man wird mir wohl einwenden, dass das ursächliche Erkennen
in der Einsicht der Nothwendigkeit bestehe, wie dies in der Me-
chanik der Fall sei, aber nicht in Gebieten, wo man von unerforschten
zusammengesetzten Dingen ausgehen müsse. Die Mechanik des
Himmels ist gegründet auf die allgemeine Gravitation und die Centri-
fugalkraft, beides einfache, gradlinig wirkende Kräfte. Aber beides
sind Annahmen, die bloss auf unserer Erfahrung beruhen und für
die wir den Grund nicht kennen. Die Astronomie lässt uns nicht die
Nothwendigkeit an und für sich, sondern nur unter der Voraussetzung
von Erfahrungsthatsachen einsehen. Wenn wir für unser Begreifen
die Forderung erheben wollten, dass uns das Warum klar sei, so gäbe
es auch kein astronomisches und kein physikalisches Erkennen.^)
Die nämliche Berechtigung wie in der Physik und Astronomie
hat das ursächliche Erkennen in den organischen Gebieten. Aus
Erfahrung ist uns ein System von Kräften und Bewegungen
bekannt, beispielsweise die Zelle. Wir setzen für dieses System
gewisse allgemeine Thatsachen fest (wie es die Gravitation und
die Centrifugalkraft für den Himmelsraum sind), und w'ir be-
nutzen dieselbe für unsere weiteren Schlüsse. Die Einsicht in die
Nothwendigkeit eines Wachsthumsprocesses besteht darin, dass der-
selbe als eine nothwendige Folge jener Thatsachen erkannt wird.
Die Erkenntniss der natürlichen Dinge beruht also darauf, dass
wir sie messen entweder durch einander oder durch sich selber. Ein
*) S. Zusatz 5 : Apriorität des Gravitationsgesetzes.
582 Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
anderer Weg der Betrachtung führt uns zu dem gleichen Ergebniss.
Wir begreifen und beherrschen etwas vollständig, wenn wir es selbst
schaffen, denn in diesem Falle sehen wir seinen Grund ein. Das
einzige im Gebiete des Wissens, was wir, gestützt auf unsere sinn-
lichen Wahrnehmungen, vollbringen, ist die Mathematik. Der Inhalt
dieser formellen Wissenschaft ist uns vollkommen klar, denn er ist
ja mit Hilfe der allgemeinsten Erfahrung das Product unseres Geistes.
Wir können daher auch die realen Dinge sicher erkennen, so weit
wir an ihnen mathematische Begriffe, Zahl und Grösse mit allem,
was die Mathematik daraus ableitet, verwirklicht finden. Das Natur-
erkennen beruht also in der Anwendung des mathematischen Ver-
fahrens auf die natürlichen Erscheinungen; einen Naturvorgang
begreifen heisst gleichsam nichts anderes , als ihn denkend wieder-
holen, ihn in Gedanken hervorbringen^).
Indem ich die naturwissenschaftliche Erkenntniss als eine
mathematische und zugleich als eine relative bezeichne,
welche die Dinge je weilen nach einem aus ihnen selbst abgeleiteten
Maass beurtheilt, weiche ich wesentlich von meinem Vorgänger,
DuBoisReymond, ab. Derselbe stellt als Bedingung für das
Naturerkennen auf, dass es gelinge, die Veränderungen der Körper-
welt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit
unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, zurückzuführen, oder
mit andern Worten die Naturvorgänge in Mechanik der Atome auf-
zulösen. Indem Du ßois Reymond hiebei von der unbestreit-
baren Forderung ausgeht, dass etwas Zusammengesetztes nur aus
seinen Theilen zu erkennen ist, bleibt er jedoch nicht bei den end-
lichen und wirklichen Theilen stehen, sondern verfolgt die Theilung
bis zu den für uns undenkbaren absoluten Einheiten und stellt
damit die Bedingungen für das unmögliche absolute Erkennen
auf. Da es sich aber für uns nicht um göttliche, sondern um mensch-
liche Erkenntniss handelt, so dürfen wir von dieser auch nicht mehr
verlangen, als dass sie in jeder endlichen Sjihäre bis zum mathe-
matischen Begreifen vordringe, — und der Ausspruch von Kant,
dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissen-
schaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen
sei, muss immer noch als richtig gelten.
*) S. Zusatz 5 b : Apriorität der Mathematik.
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 583
Wenn Du Bois Reymond die Analyse des Stoffes bis auf
Atome mit einfachen Centralkräften fortsetzen will, so treibt er ein
l^eliebtes Verfahren der neueren Physik und Physiologie zur äussersten
Consequenz, und wenn er zeigt, dass dieses Verfahren nicht zur Er-
kenntniss führt, so bricht er den Ansprüchen auf ausschliessliche
Wissenschaftlichkeit, welche dasselbe zuweilen erhebt, die grundsätz-
liche Spitze ab. Wenn Physik und physikalische Physiologie auf
supponirte Atome, materielle Punkte, Volumelemente, die man sich
unendlich klein denkt, zurückgehen, so ist dieser Versuch berechtigt,
insoferne die wirklichen chemischen Moleküle so klein sind, dass
man ohne Rechnungsfehler sich den Raum als continuirlich mit
Materie erfüllt denken kann. Man kann beispielsweise an die Stelle
eines aus zahlreichen Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff- und Sauer-
stoffatomen bestehenden Eiweissmoleküles ein Massendifferential dieser
Verbindung einsetzen. Jedenfalls ist der Versuch nützlich, indem
erprobt w^erden muss, wde weit eine solche Vorstellung für die
mathematische Behandlung sich als brauchbar erweist, und indem
aus dem Erfolg wieder rückwärts Schlüsse auf die Zusammensetzung
des Stoffes gezogen werden können.
Aber wir müssen uns vor der Meinung hüten, die nicht selten
mit diesem Verfahren verbunden wdrd, als ob dasselbe allein Natur-
wissenschaft wäre und allein ziu? Erkenntniss führte. Wir würden
sonst unsere Ansprüche, die Natur zu erfassen, für immer auf ein
einziges Gebiet beschränken müssen und andere Gebiete, die einer
sicheren Begründung fähig sind, verlieren. Die naturwissenschaft-
liche Erkenntniss muss nicht nothwendig mit hypothetischen und
unbekannten kleinsten Dingen beginnen. Sie finden ihren Anfang
überall, w^o der Stoff sich zu Einheiten gleicher Ordnung gestaltet
hat, die unter einander verglichen und durch einander gemessen
werden können, und überall, wo solche Einheiten zu zusammen-
gesetzten Einheiten höherer Ordnung zusammentreten und das
Maass für deren Vergleichung unter einander und mit sich selbst
abgeben. Die naturwissenschaftliche Erkenntniss kann auf jeder
Stufe der Organisation oder Zusammensetzung des Stoffes beginnen ;
beim Atom der chemischen Elemente, welches die chemischen Ver-
bindungen bildet , beim Molekül der Verbindungen , welches den
Krystall zusammensetzt, beim krystalhnischen Micell, welches die
Zelle und deren Theile, bei der Zelle, welche den Organismus auf-
584 Die Sfliranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
baut, beim Organismus oder Iiidividuum, welches das Element der
Species])ildung wird. Jede naturwissenschaftliche Disciplin findet
ihre Berechtigung wesenthch in sich selber.
Unser Naturerkennen ist also immer ein mathematisches und
beruht entweder auf einfachem Messen, wie in den morphologischen
und beschreibenden Naturwissenschaften , oder auf ursächlichem
Messen , wie in den physikalischen und ph5^siologi sehen Wissen-
schaften. Mit Hilfe der Mathematik , mit Maass, Gewicht, Zahl
können aber nur relative oder quantitative Unterschiede begriffen
werden. Eigentliche Qualitäten, absolut verschiedene Eigenschaften
entziehen sich unserer Erkenntniss, da wir keinen Maassstab dafür
haben. Eigentlich qualitative Unterschiede vermögen wir nicht zu
erfassen , weil die Qualitäten nicht verglichen werden können. Es
ist dies eine wichtige Thatsache für die Erkenntniss der Natur. Es
folgt daraus , dass, wenn es innerhalb der Natur qualitativ oder
absolut verschiedene Gebiete gibt, ein wissenschaftliches Erkennen
nur gesondert innerhalb jedes einzelnen möglich ist, und dass keine
vermittelnde Brücke von einem Gebiet in das andere hinüber führt.
Es folgt daraus aber auch ferner, dass, so weit wir die Natur zu-
sammenhängend erforschen können, so weit unser messendes Er-
kennen lückenlos fortschreitet, so weit wir namentlich eine Erschei-
nung aus einer anderen begreifen oder als aus derselben entstanden
nachzuweisen vermögen, absolute Unterschiede, unausfüUbare Klüfte
in der Natur überhaupt nicht bestehen.
Ich habe versucht, die Fähigkeit des Ich, die Zugängiichkeit
der Natur und das Wesen des menschlichen Begreifens festzustellen.
Es ist nun leicht, die Schranken der naturwissenschaftlichen Er-
kenntniss abzustecken.
Wir können nur das erkennen, wovon uns die Sinne Kenntniss
geben, und dies beschränkt sich nach Raum und Zeit auf ein winziges
Gebiet und wegen mangelnder Ausbildung von Sinnesorganen wahr-
scheinlich nur auf einen Theil der in diesem Gebiete befindlichen
Naturerscheinungen. An dem, wovon wir ül^erhaupt Kenntniss er-
halten, können wir ferner nur das Endliche, Wechselnde, Vergäng-
liche, nur das gradweise Verschiedene und Relative erkennen, weil
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 585
Avir nur mathematische Begriffe aiif die natürhclien Dinge üljer-
tragen und die letzteren nur nach den an ilmen selber gewonnenen
Maassen })eurtlieilen können. Für alles Endlose oder Ewige, für
alles Beständige, für alle absoluten A'erscbiedenheiten haben Avir
keine Vorstellungen. Wir wissen genau, was eine Stunde, ein Meter,
ein Kilogi-amm bedeutet, aber wir Anssen nicht, Avas Zeit, Raum,
Kraft und Stoff ,• Bewegung und Ruhe, Ursache und Wirkung ist^).
Umfang und Grenze unserer möglichen Naturerkenntniss lässt
sich kurz und genau so angeben: Wir können nur das End-
liche, aber AA'ir können auch alles Endliche erkennen,
das in den Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung
fällt.
Sobald AA'ir uns dieser Einsicht klar bcAvusst sind, so befreien
wir die Naturbetrachtung von manchen ScliAAderigkeiten und In-
thümern, die darin bestehen, dass man einerseits nicht bloss das
wirklich Endliche erforschen will , sondern demselben Ewiges bei-
mischt und es dadurch unergründlich macht, — dass man ander-
seits das Endliche nicht strenge und unauflialtsam verfolgt, sondern
mitten in demselben, da oder dort anhält, indem man dasselbe mit
EAvigem A'erAA'echselt.
Es würde mich weit führen, wenn ich die Folgen im einzelnen
betrachten wollte, welche aus dem Mangel eines richtigen grund-
sätzlichen Verfahrens entsprungen sind. Die bemerkenswerthesten,
die gleichzeitig ein ganz allgemeines Interesse in Anspruch nehmen,
sind die Meinungen, dass die endhche Natur in grundsätzlich ge-
schiedene Gebiete getrennt sei, dass namentUch zwischen der un-
organischen und organischen Natur oder zA\1schen der materiellen
und geistigen Natur eine unüberschreitbare Grenze l^estehe.
Die Frage, ob zAvischen den natürlichen Dingen der endlichen
Welt absolute oder bloss relative Verschiedenheiten bestehen, kann
nur dadurch entschieden werden, dass entweder von der einen Seite
gezeigt wird, wie unsere Erkenntniss irgendwo auf eine nicht zu
überspringende Grenze trifft, und wie von dieser Grenze an eine
neue Kraft in die Combinationen eintritt, — oder dass von der
anderen Seite dargethan wird, Avie das Erkennen ungehindert durch
das ganze Gebiet fortschreitet, immer das eine aus dem anderen
begreifend, und Avie die nämlichen Naturkräfte überall thätig sind.
1) S. Zusatz 6: Kraft. Stoff. Bewegung.
586 I^ie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
Die Antwort hierauf ist bestimmt und sicher: Wenn wir die
ganze Natur von den einfachen unorganischen bis zu den comph-
cirtesten organischen Wesen durchlaufen, so finden wir überall die
gleichen Stoffe und Kräfte, indem das Zusammengesetzte aus dem
Einfachen sich aufbaut; die neuen Qualitäten, die auf jeder höheren
Stufe auftreten, erscheinen uns zwar nicht als noth wendige, aber
doch auch nicht als unmögliche Ergebnisse der integrirenden Be-
standtheile ; sie bekunden ihren bloss relativen Werth dadurch, dass
sie sichtlich aus blossen quantitativen Verhältnissen hervorgehen ^).
Die Behauptung, dass in der materiellen Welt eine unausfüll-
bare Kluft z\\ischen Unorganischem und Organischem bestehe und
dass das letztere nicht aus dem ersteren begriffen werden könne,
stützt sich im wesentlichen auf drei Gründe, 1. dass zwischen den
niedrigsten Organismen und den unorganischen Körpern die ver-
bindenden Mittelglieder mangeln, 2. dass in den Organismen andere
Qualitäten oder Principien zur Geltung kommen als in der un-
organischen Natur, 3. dass organisirte Körper nicht auf künstHchem
Wege aus unorganischen Stoffen hervorgebracht werden können.
Der erste Einwurf ist unbedingt zuzugeben; wir kennen kein
selbständiges Gebilde, welches zwischen dem einfachsten Organismus
und dem Eiweismolekül stände. Es besteht hier für unsere objective
Wahrnehmung eine ungeheuere Lücke, denn die Theorie, dass die
einfachsten einzelligen Wesen aus Eiweiss hervorgegangen, verlangt
die Annahine einer ganzen Reihe von vermittelnden Gliedern ^).
Aber dieser Mangel in unserer Erfahrung beweist nichts, weil er
nur zu wohl motivirt ist.
Bekanntlich werden die Organismen im allgemeinen um so
kleiner, je einfacher sie sind. Unter den einzelligen Pflanzen be-
steht eine sehr grosse Verschiedenheit bezüglich der Organisation
und der Grösse. Die einfachsten sind so klein, dass sie für die
besten MikroskojDe an der Grenze der Wahrnehmbarkeit liegen, dass
sie unter den stärksten Vergrösserungen nur als Punkte erscheinen,
und dass sie zuweilen selbst, ihren Wirkungen nach, vorhanden sein
müssen, obgleich man sie nicht sicher erkennen kann (Formen von
Micrococcus). Diese unsichtbar kleinen Pflanzen haben einen Inhalt
von Eiweiss und eine Membran von Cellulose. Wir können aus
^) 8. Zusatz 7 : QnaUtät in der Natur.
^) Mechaniscli-physiülogische Theorie der Abstammungslehre, Urzeugung S. 83.
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 587
diesem Umstände ganz sicher schliessen, dass es unter den einzelligen
Organismen ohne Zellhaut solche geben muss, die für das bewaffnete
Auge immer unsichtbar bleiben. Um so mehr aber müssen alle
Gebilde von noch einfacherem Bau, welche den Uebergang zu den
Eiweissmolekülen bilden, auch wenn sie vorhanden sind, ihrer Klein-
heit wegen sich jeder mikroskopischen Beobachtung entziehen. Diese
Lücke in unserer Erfahrung hat also keine grössere Beweiskraft für
den ^langel an Uebergangsgiiedern, als der Umstand, dass das Tele-
skop uns keine Bewohner auf den Planeten zeigt, für deren Un-
bewohntsein.
Der zweite Einwurf, dass in der organischen Natur neue Quali-
täten oder Principien auftreten, findet im Unorganischen strenge
mathematische Gesetzmässigkeit und todte starre, ausgefüllte, regel-
mässige Formen, während in der organischen Gestaltung mehr Frei-
heit herrsche mid die hohlen (zellenartigen) organischen Formen zu
stetiger Veränderung in ihrem Innern , zum Wachsthum und zur
Fortpflanzung befähigt seien. Die Richtigkeit dieses thatsächlichen
Gegensatzes kann nicht bestritten werden, wohl aber die Folgerung,
dass er einen grundsätzlichen und absoluten Gegensatz beweise.
Denn einmal stellt sich selbstverständlich die Ungleichheit zwischen
Organischem und Unorganischem viel greller dar, weil das verbin-
dende Uebergangsgebiet uns noch unbekannt ist, — wie etwa das
Thierreich, wenn bloss die Wirbelthiere und die Infusorien für unsere
naturhistorische Beobachtung vorhanden wäre, aus zwei kaum mit
einander zu verbindenden Gebieten zu bestehen schiene.
Ferner sind die angegebenen Unterschiede zwischen den un-
organischen und den organischen Wesen doch in der That keine
andern, als wir sie zwischen dem Einfachen mid dem Zusammen-
gesetzten für w^ahrscheinlich anzunehmen berechtigt sind. Die starre
Form des Kr^^stalls ist an der Zelle in den zahllosen unsichtbar
kleinen krystallinischen Körperchen (Micellen) vertreten, aus denen
alle organisirteu Substanzen bestehen und deren regelmässiger kiy-
stallartiger Bau durch das polarisirte Licht dargethan wird, — und
die ganze Zelle verhält sich so, wie wir es von einer Zusammen-
häufung solcher von Wasser umgebener Körperchen erw'arten können,
die wegen der leichten Beweglichkeit ihrer Theilchen eine weiche,
zu runden hohlen Formen und zu Gestaltsveränderungen geneigte
Substanz darstellt, und wegen der leichten chemischen Umsetzbar-
588 I^i*^ Schranken der nuturwissenschat'tliehen Erkenntuiss.
keit ihrer Verbindungen auch stetig in ihrem Innern sich verändert
und dadurch Wachsthum und Fortpflanzung bedingt.
Damit ist auch der Unterschied, wonach das Unorganische in
der regehnässigen Form und Bewegung der strengen mathematischen
Gesetzmässigkeit gehorchen, das Organische aber auch in der Ge-
staltung l)is zu einem gewissen Grade der Naturnothwendigkeit sich
entziehen und unregelmässige Bewegungen annehmen soll, auf sein
relatives Maass zurückgeführt. Dies ist um so mehr der Fall, als
in der unorganischen Natur selber nirgends strenge Regelmässigkeit
offenbar wdrd. Zwar wirkt jede Naturkraft für sich mit mathemati-
scher Genauigkeit ; aber da immer noch andere Kräfte in ungleicher,
theil weise fast verschwindender Stärke mitwirken und nicht sämmt-
lieh in die Rechnung aufgenommen werden können, so vermag uns
auch die exacteste Forschung nur Näherungswerthe zu geben, —
und da für jeden einzelnen Fall wegen der steten Bewegung und
Veränderung in allen Gebieten der Natur die bedingenden Ursachen
mit jedem Zeitdifferential etwas andere werden , so gibt es keine
Form und keine Bewegung, welche nicht innerhalb gewisser Grenzen
variirte. Es ist nun begreiflich, dass eine Erscheinung sich scheinbar
um so' mehr von der mathematischen Regelmässigkeit entfernt, je
zusammengesetzter sie ist und je mannigfaltiger und veränderlicher
die maassgebenden Kräfte zusammenwirken, und dass die Einsicht
in die Ordnung uns bei der Zelle um so sicherer abgehen muss, als
sie schon beim struktur- und formlosen Mineral mangelt.
Der dritte Einwurf, dass man keinen Organismus, keine Zelle,
keine Muskelfaser aus den Bestandtheilen zusammensetzen, die ab-
gestorbenen nicht l)eleben, durch das Experiment nicht umgestalten
könne, ist an und für sich riclitig, aber unrichtig, wenn er von den
unorganischen Körpern das Gegentheil annimmt. Wir vermögen
keinen natürlichen CJogenstand, mag er dem Unorganischen oder
dem Organischen angehören, künstlich zu machen; wir vermögen
ihn bloss entstehen zu lassen, und dies in keiner anderen Weise,
als dass wir die Umstände gerade so herstellen, wie er in der Natur
von selbst (ohne unser Zuthun) entsteht. Wir lassen den Krystall
in der Mu.tterlauge anschiessen ; wir ziehen aus dem Samen eine
Pflanze, indem wir ihn in die feuchte Erde legen und ihm weitere
Pflege angedeihen lassen ; wir verwandeln das Eiweiss des Hühnereis
in Muskeln, Nerven und andere Organe dadurch, dass wir das Ei in den
Die Sclminkcn der naturwisscnscliaftliclicn Krkenntniss. 589
Brütkasten bringen. Und wenn die Chemie einmal die Constitution
des Eiweissmoleküls erforscht hat, wird sie auch das Ei weiss zu
machen wissen, wie ihr die Synthese so vieler organischer Verbin-
dungen bereits gelungen ist; — und wenn einmal die Physiologie
tiefer in die Elemente des organischen Lebens eindringt , ward
sie auch die Bedingungen erkennen, unter denen die Uranlange des-
sellten entstehen, und sie w^ird im Stande sein, dieselben beliebig ent-
stehen zu lassen. Bleibt es denn so verwunderlich, dass die Kunst
die unendlich complicirten organischen Gebilde nicht hervorbringen
kann, während iln' die Erzeugung so vieler einfacher Krystalle noch
nicht gelungen ist. Ich erinnere nur an einen der einfachsten, an
den Kohlenstoffkrystall oder Diamant, dessen Herstellung so viel-
fach, aber noch immer vergeblich versucht wurde. Es ist gar
nicht unmöglich, dass die Chemiker das Eiw^eiss, die Grundlage der
Organismen, und dass die Physiologen die Uranfänge des organischen
Lebens entstehen lassen werden, ehe man in den glücklichen Fall
kommt, selbstgefertigte Brillanten zu tragen.
Es ist w'ahr, dass kein todtes organisches Gebilde wieder zum
Leben zurückgerufen werden kann; aber es kann auch kein durch
mechanische Gewalt oder durch Hitze zerstörter Krystall wieder
hergestellt werden, er kann nur aus dem flüssigen Zustande , auf
natürlichem Wege neu entstehen. — Es ist ferner richtig, dass der
entstehende oder w^achsende Organismus durch kein Experiment,
durch keine äussere Einwirkung sich wesentlich umgestalten lässt.
Ebenso wenig lässt sich aber die Krystallform einer Substanz dm^ch
irgendwelche Mittel abändern. Man kann in beiden Reichen durch
künstliche Einwirkung die Bildung ganz verliindern, man kann sie
verkrüj)peln oder sonstwie krankhaft und abnormal werden lassen ;
dabei bleibt aber die innere Natur des Krystalls wie die des Orga-
nismus im wesentlichen unverändert.
Erweisen sich somit die Einwürfe, welche gegen die Annahme
einer bloss relativen Verschiedenheit zwischen dem Unorganischen
und dem Organischen gemacht wurden, als unstichhaltig, so haben
wir anderseits für diese Annahme einen unwiderleglichen PJeweis
in der Thatsache, dass das Organische aus dem Unorganischen auf-
gebaut wird. Wir sehen täglich, wie in den Pflanzen organische
Substanz aus unorganischen Verbindungen entsteht, und ebenso
mussten beim Ursprünge des Pflanzen- und Thierreiches die Bil-
590 I^ie Sclirankou der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
dungsstoffe für die ersten Organismen ausschliesslich der unorgani-
schen Natur entnommen werden. Da nun alle Kraft untrennbar
mit der Materie verbunden ist, da es keine Kraft gibt, die sich von
der Materie loslösen, für sich bestehen und Avieder mit derselben
sich vereinigen könnte, so folgt, dass die unorganischen Stoffe in
der organischen Substanz nur in neuer complicirterer Combination
auftreten und dass Bewegung und Gestaltung in den Organismen
nichts grundsätzlich und al)solut Verschiedenes zeigen kann.
Die andere Behauptung, welche den innigen Zusammenhang
zwischen materieller und immaterieller Natur leugnet, zieht die
trennende Kluft an verschiedenen Stellen. Einmal soll die belebte
Natur überhaupt (oder die »beseelte« Natur, insofern man auch den
Pflanzen eine Seele zuschreibt), dann die mit Empfindung begabte
Thierwelt, endlich das geistig bewusste Menschengeschlecht etwas
absolut Besonderes darstellen, indem auf der höheren Stufe neue
immaterielle oder ewige Princij)ien zur Geltung kommen. Du Bois
RejT^mond huldigt der mittleren Ansicht. Mit der ersten Regung
von Behagen, sagt er, die im Beginn des thierischen Lebens auf
Erden ein einfachstes Wesen empfand, ist eine unübersteigbare Kluft
gesetzt, — während er von hier bis zur erhabensten Seelenthätigkeit
aufwärts, anderseits von der Lebenskraft des Organischen bis zur
einfachen physikalischen Kraft abwärts nirgends eine Kluft mehr
entdeckt.
Gegen die Behauptung von immateriellen Principien, die da
oder dort plötzlich in der Natur auftauchen sollen, ist für den Natur-
forscher schwer aufzukommen, da sich dieselbe von vornherein auf
einen Standpunkt stellt, der ausserhalb der Naturwissenschaft in
der Luft schwebt und von ihr nicht direct angegriffen und widerlegt
werden kann. Die Naturwissenschaft vermag nur zu zeigen, dass
die Behauptung überflüssig ist, weil alles sich auf natürlichem Wege
erklären lässt, und wahrscheinlich, weil sonst in die endliche Natur
ein Widerspruch eingeführt wird, der unserer ganzen Erfahrung
widerspricht und unser geistiges Bedürfniss, überall causale Ver-
hältnisse aufzufinden, verletzt.
Die Erfahrung zeigt uns, dass von dem klarsten Bewusstsein
des Denkers durch das dunklere Bewusstsein des Kindes zur Be-
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 591
wusstlosigkeit des Embryos und zur Gefühlslosigkeit des menschlichen
Eis, — durch das dunklere Bewusstsein unentwickelter Menschen-
rassen und höherer Thiere zur Bewusstlosigkeit der niederen Thiere
und Sinnpfianzen und zur Gefühlslosigkeit der übrigen Pflanzen
eine allmähliche Abstufung ohne vollziehbare Grenze statt hat, und
dass die nämliche Abstufung von dem Leben des tliierischen Eis
und der Pflanzenzelle durch mehr oder weniger leblose organisirte
Elementargebilde (Theile der Zelle) zu den Kry stallen und chemischen
Molekülen sich fortsetzt.
Der Analogieschluss aber sagt uns Folgendes. Wie alle Orga-
nismen nur aus Stoffen bestehen und gebildet worden sind, die in
der unorganischen Natur vorkommen, so sind selbstverständlich
auch die den Stoffen anhaftenden Kräfte mit in die Bildung ein-
gegangen. Wenn Stoffe zusammentreten, so vereinigen sich ihre
Kräfte zu einer Besultirenden, welche die neue, allerdings nur relative
Eigenschaft des entstandenen Körpers darstellt. So ist Zinnober Queck-
silber -j- Schwefel — Wärme ; Schwefelkohlenstoff' ist Kohle -j- Schwefel
-)- Wärme ; Zucker ist Kohle -j- Wasserstoff + Sauerstoff — Wärme.
So sind auch Leben und Gefühl neue relative Eigenschaften, die
den Eiweissmolekülen unter besonderen Lmständen zukommen. Dem
entsprechend zeigt uns die Erfahrung, dass das Geistesleben überall
aufs innigste mit dem Naturleben zusammenhängt, dass das eine
das andere beeinflusst und ohne dasselbe nicht bestehen kann. Es
ist daher nothwendig, dass, wie überall in der Natur Kräfte und
Bewegungen nur an die Stofftheilchen gebunden sind, auch die
geistigen Kräfte und Bewegungen dem Stoffe anhaften, mit anderen
Worten, dass sie aus den allgemeinen Kräften und Bewegungen
der Natur zusammengesetzt sind und nach Ursache und Wirkung
mit denselben zusammenhängen^).
Dieser Forderung eines causalen Zusammenhanges kann sich
kein Naturforscher, welcher nicht bewusst oder unbewusst seinem
obersten Princip untreu wird, entziehen. Die Aufgabe wäre also
die, zu erkennen, wie die Kräfte des unorganischen Stoffes in dem
zu Organismen gestalteten Stoffe sich combiniren, dass ihre Resul-
th'enden Leben, Gefühl, Bewusstsein darstellen. Die Erfüllung dieser
1) S. Zusatz 8 : Zurückführung geistiger Bewegungen auf stoffliche Be-
wecrungen.
592 I^JG Schranlven der natnrwisseiischaftlicheii Erkenntuiss.
Aufgabe liegt in weiter Ferne; aber sie ist möglich. Es lassen sich
für jeden einzelnen Punkt genügende Andeutungen geben.
Es sei mir gestattet, einen dieser Punkte näher zu besprechen,
denjenigen nämlich, in welchem mein Vorgänger eine Grenze des
Naturerkennens erblickt. Dies ist um so einladender, als D u ß o i s
Reymond sich im übrigen, wenn auch nicht mit so nackten
Worten, doch ebenso bestimmt und unbedingt auf den Boden des
Causalprincips stellt, und dass daher, wenn diese eine Lücke aus-
gefüllt wäre, eine andere für seinen Standpunkt nicht mehr bestände.
Die ganze Weltgeschichte, selbst die Weltordnung ist ihm eine Folge
der Mechanik der Atome. Es gebe keine Geistesthat, welche nicht
aus den Kräften und Bewegungen des Stoffes sich berechnen Hesse,
wenn es möglich wäre, diese zu kennen. Die materiellen Vorgänge,
die mit der Lösung eines Rechenexempels, mit der Seligkeit des
musikalischen Empfindens, mit dem geistigen Vergnügen über eine
wissenschaftliche Entdeckung verbunden sind, seien Produkte der
Hirnmechanik. Der Geist könne sogar, wie Karl Vogt und vor
ihm Cabanis ausgesprochen haben, als die Absonderung der Ge-
hirnsubstanz betrachtet werden, ebenso wie die Galle das Secret der
Leiter ist.
Alles dieses erklärt Du Bois Reymond als im Princip be-
greiflich ; allein, sagt er, wir lernen nur die Bedingungen des Geistes-
lebens kennen, nicht aber wie aus diesen Bedingungen das Geistes-
leben selbst zu Stande kommt. Die Empfindung und das Bewusst-
sein begleiten wohl nothwendig die materiellen ^^orgänge im Gehirn,
a])er sie stehen ausserlialb des Causalgesetzes und bleiben uns ewige
Räthsel.
Es ist nicht ohne Interesse, die eben dargelegte Ansicht von
Du Bois Reymond, die er des weiteren in Bildern und Beispielen
ausführt, in ihre Consequenzen zu verfolgen und uns das allgemeine
Ergebniss klar vorzulegen. Wir kommen dann auf dieses: Der end-
liche Geist, wie er dm'ch das Thierreich bis zum Menschen sich
entwickelt hat, ist ein doppelter — einmal der handelnde, erfindende,
die Muskeln in Bewegung setzende, in die Weltgeschichte eingreifende,
bewusstlose, materielle Geist; derselbe ist nichts anderes als die
Mechanik der Stoff theilchen und unterliegt dem Causalgesetz, —
dann der unthätige, beschauliche, Lust und Schmerz, Liebe und
Ilass empfindende, sich erinnernde, phantasirende, bewusste, im-
Die Schranken <lor natnrwi.ssenschaftlichen Erkenntniss. 593
materielle Geist; derselbe liegt ausserhalb der Mechanik des Stoffes
und kehrt sich nicht an Ursache und Wirkung.
Gewöhnlich fasst man beide Seiten des Geisteslebens als Geist
zusammen. Du Bois Reymond bezeichnet den letzteren aus-
schliesslich als Geist, und derselbe wäre, wenn die Trennung in der
angegebenen Art bestände, wirklich die allerdings unbegreifliche
Absonderung des materiellen Geistes oder der Gehirnatome ; er wäre
nichts als seine nutzlose Verzierung, der ihm unfehlbar folgende,
wesenlose Schatten. Denn er steht ausserhalb der Verkettung von
Ursache und Wirkung; er ist ohnmächtig und ohne Einfluss auf
die Handlungen; ohne ihn hätte sich die Weltgeschichte genau so
abgesponnen, wie sie es gethan. Auch ohne Bewusstsein wären die
mathematischen Formeln erfunden, aufgeschrieben, gelehrt und an-
gewendet, Telegraphen und Dampfmaschinen gebaut worden, —
auch ohne Bewusstsein wären theologische und philosophische Dis-
putationen gehalten, gedruckt, gelesen und ihre Verfasser unter Um-
ständen verbrannt worden, — auch ohne bewusstes Gedächtniss
wäre in den Schulen auswendig gelernt und überhört worden, —
auch ohne musikalische Empfindung wäre Musik componirt, in den
Proben wiederholt, aufgeführt und mit allen äusseren Zeichen des
Entzückens oder Unbehagens angehört worden, — auch ohne poetische
und künstlerische Empfindung wäre gedichtet, gemalt und geformt,
wären die Werke der Künstler bewundert und kritisirt worden. Man
hätte also ohne empfundenes und bewusstes Geistesleben alles ge-
dacht, gethan und gesprochen, aber bloss mechanisch und nicht
anders, als ein sehr künstlich erfundener todter Automat denken,
handeln und sprechen würde.
Die Grossartigkeit dieser Weltanschauung lässt sich nicht leug-
nen ; sie kann auf den Naturforscher um so grösseren Eindruck
machen, als sie überall folgerichtig verfährt und gegen kein natur-
wissenschaftliches Princip verstösst, da ja das Immaterielle und Un-
begreifliche in ein Gebiet verlegt wird, welches ausserhalb des Zu-
sammenhanges der natürlichen und wirklichen Dinge liegt. Aus
diesem Grunde ist auch die Anschauung naturwissenschaftlich nicht
discutirbar. Doch drängen sich gerade dem Naturforscher verschie-
dene Einwürfe auf.
Ist es wohl denkbar, dass so viele Vorgänge, die ganz augen-
scheinlich aus Empfindung und Bewusstsein entsprungen sind, einen
V. Nägel i, Abstammungslehre. ?,S
594 Die Schranken der naturwissenscliaftlicben Ei'kenntniss.
anderweitigen, einen empfindungs- und bewusstlosen Ursprung haben ?
Ist es wohl denkbar, dass Empfindung und Bewusstsein so ganz
umsonst da seien, dass, während überall die Zweckmässigkeit in
der organischen Natur so deutlich hervortritt, eine so zwecklose
und überflüssige Erscheinung gerade da eintrete, wo wir die höchste
Zweckmässigkeit erwarten? Ist es wohl denkbar, dass das Causal-
princip, das die ganze Natur regiert, gerade an der wichtigsten
Stelle seinen Dienst versage? Ist es w^ohl denkbar, dass der organi-
sirte Stoff beliebig und ohne Ursache eine Eigenschaft (Empfindung
und Bewusstsein) erlange, und dass er sie beliebig und ohne Wir-
kung wieder verliere; denn im Ei und im Embryo wäre das em-
pfundene und bewusste Geistesleben nicht vorhanden, es würde nach
und nach auftreten, im Schlafe jede Nacht verloren gehen, im
wachenden Zustande mehr oder weniger vollständig wieder gewonnen
und beim Tode für immer vernichtet werden?
Das njiturwissenschaftliche Bewusstsein wird durch diesen neuen
Dualismus, wenn es ihn auch nicht direct widerlegen kann, doch
wenig befriedigt. Derselbe ist zwar himmelweit verschieden von
dem gewöhnlichen Dualismus, indem er den Naturkräften die Allein-
herrschaft, dem Geiste eine thatenlose nichtige Würde zutheilt, und
somit in keiner Weise die streng causalistische oder materialistische
Betrachtung aller stofflichen Vorgänge, auch derjenigen, die das
Geistesleben zu Stande l^ringen, behindert. Gleichwohl wünschen
wir eine Lösung, die mehr mit unseren Erfahrungen und unseren
theoretischen Vorstellungen übereinstimmt. Und diese Lösung liegt,
wie ich glaube, ziemlich nahe, wenn Wir das Urtheil über die Er-
scheinungen in der organischen Natur auch auf diejenigen in der
unorganischen Natur ausdehnen.
Es ist ganz richtig, wenn Du Bois Reymond sagt, dass wdr
nur die materiellen Bedingungen des Geisteslebens erkennen können,
dass uns aber das Zustandekommen desselben aus den Bedingungen
für immer verborgen bleibt. Aber es wäre ein Irrthum, anzunehmen,
dass wir das Zustandekommen des Naturlebens überhaupt aus seinen
Ursachen begreifen. Die gleiche Schranke, wie in den geistigen,
finden ,wir in allen rein materiellen Vorgängen. Wir wissen aus
Erfahrung, dass in der unorganischen Welt die Ursache in der Wir-
kung aufgeht, aber es ist uns unf assbar, wie die Uebertragung ge-
schieht. Wir wissen aus Erfahrung, dass ein in die Luft geworfener
Die Schranken der naturwissensehaftlichen Erkenntniss. 596
Stein auf die Erde fällt, und wir sagen, es geschehe dcshalh, weil
die Erde ihn anziehe; allein diese Anziehung ist für uns unbe-
greiflich.
Was wir wissen, ist, dass zwei von einander entfernte Körper
so auf einander wirken, dass sie, wenn kein Hinderniss entgegen-
steht, sich bis zur Berührung nähern. Worin aber diese Einwirkung
besteht, wie diesel])e die gegenseitige Bewegung zu Stande l^ringt,
ist uns gerade so unbegreiflich und wird uns gerade so ein ewiges
Räthsel bleiben, wie das Zustandekommen der Empfindung und des
Bewusstseins aus den materiellen Ursachen.
Das nämliche finden wir bei allen materiellen, physikalischen
und chemischen Vorgängen. Ein positiv und ein negativ elektrischer
Körper bew'egen sich gegen einander, zw^ei Körper mit gleichnamiger
Elektricität l^ewegen sich von einander weg. Wenn wir sagen, dass
im ersten Falle Anziehung, im zweiten Abstossung stattfinde, so
sind dies nur kurze Ausdrücke, welche Reihen von gleichartigen
A'^orgängen zusammenfassen, aber keine Erklärungen. Wir gewöhnen
uns aber an solche Ausdrücke; sie werden uns nach und nach so
geläufig, dass wir glaul^en, wir begriffen wirklich die durch sie be-
zeichneten Vorgänge. Deswegen ist denn auch die Ansicht ganz
allgemein verbreitet, die Natur in ihren einfacheren unorganischen
Erscheinungen biete unserer Erkenntniss keine Schwderigkeiten dar,
während die Schwierigkeiten grundsätzlich überall die nämlichen sind.
Man wird mir hier vielleicht einwenden, die Sache liege doch
nicht ganz gleich. Bei den rein materiellen Vorgängen sei uns
allerdings die Beziehung zweier Stofftheilchen, welche deren Bewegung
veranlasst, unbegreiflich. Bei den geistigen Vorgängen sei diese un-
begreifliche Beziehung der Stofftheilchen ebenfalls gegeben ; es komme
aber noch etwas anderes, etwas neues hinzu, die geistige Regung,
welche den materiellen Vorgang begleitet. Dieser Einwurf, w^enn
er wirklich sich erhöbe, wäre aber ungegründet; man w^ürde dabei
übersehen, dass die zwei Seiten, in welche man den geistigen Vorgang
zerlegt, bei dem rein materiellen Vorgang ebenfalls vorhanden sind,
hier aber nicht getrennt, sondern als eins aufgefasst werden, nämlich
die Empfindung und die Reaction, welche durch die Empfindung
h ervorgebra cht wird .
Diese Thatsache, dass die einfachsten unorganischen Vorgänge
in ihrem Zustandekommen el^cnso unzugänglich sind , wie die
38*
59() Die Sehranken der naturwisRenschaftliolien Krkenntniss.
zusammengesetztesten Vorgänge im menschlichen Gehirn, haut uns
die Brücke , die zu einer einheithchen Auffassung der Natur zu
führen vermag. Gehen wir von dem Bekannten aus — in diesem
Falle ist es die complicirte geistige Erscheinung — , um daraus eine
Vorstellung über das uns noch Unhekannte zu gewinnen.
Wir kennen das Geisteslehen nur aus unseren suhjectiven Er-
fahrungen; wir wissen, dass wir Schlüsse machen, dass wir uns
erinnern, dass vnr Lust und Schmerz empfinden. Dass verwandte,
aber unentwickelte Vorgänge bei Kindern und höheren Thieren vor-
kommen , schliessen wir aus ihren Handlungen und aus ihren
körperlichen Aeusserungen , die wir als Ausdruck von Gemüths-
bewegung und Empfindung deuten. Dafür, dass auch die niederen
Thiere noch Empfindung besitzen , die nur gradweise von der be-
wussten Empfindung des Menschen verschieden ist, haben wir that-
sächliche Beweise bloss in ihren auf einen Reiz erfolgenden Bewe-
gungen und in dem wichtigen Umstände, dass diese Reizbewegungen
mit den aufsteigenden Thierclassen durch alle Abstufungen in die
complicirtesten Vorgänge des menschlichen Gehirns ül)ergehen. Von
den Reizbewegungen der niedersten Thiere kommen wir unvermerkt
zu denen der einzelligen Pflanzen und der Sinnjiflanzen , und von
da zu den A^orgängen der scheinbar reizlosen Gewächse, welche von
den Vorgängen in der unorganischen Natur nicht zu trennen sind.
Zwischen den Reizbewegungen der Pflanzen und Tliiere und den
scheinbar reizlosen unorganischen Bewegungen ist aber kein anderer
Unterschied als der, dass beim Reiz eine mächtige Ursache auf
zahllose gleichartig geordnete Stofftheilchen einwirkt und dadurch
eine unseren Sinnen bemerkbare Orts- oder Empfindungsbewegung
hervorbringt, während beim Mangel dieser bemerkbaren Bewegung
die Ursache der molecularen , nach verschiedenen Richtungen er-
folgenden Bewegungen nicht als Reiz bezeiclinet wird.
Mit den Reizbewegungen ist in der höheren Thierwelt deutlich
Empfindung verbunden. Wir müssen dieselbe auch den niederen
Tliieren zugestehen, und wir haben keinen Grund, sie den Pflanzen
und den unorganischen Körpern abzusj^rechen. Die Empfindung
versetzt uns in Zustände des Wohlbehagens oder Missl)ehagens. Im
allgemeinen entsteht das Gefühl der Lust, wenn den natürlichen
Trieben Befriedigung gewährt, das Gefühl des Schmerzes, wenn
diese Befriedigung versagt wird. Da alle materiellen Vorgänge aus
Die Schranken der naturwissenschaftlielien Krkenntniss. 5U7
Bewegungen der Moleküle und Elementatome zusammengesetzt sind,
so müssen Lust und Schmerz in diesen kleinsten Theilchen ihren
Sitz haben, sie müssen durch die Art und Weise bedingt werden,
wie die kleinsten Theilchen den auf sie einwirkenden Zug- und
Druckkräften folgen können. Die Empfindung ist also eine Eigen-
schaft der Eiweissmoleküle ; und wenn sie den Eiweissmolekülen
zukommt, müssen wir sie auch denen der übrigen Stoffe zugestehen.
Betrachten wir nun die Beziehung zweier Moleküle ungleicher
chemischer Elemente (z. B. eines Sauerstoff- und eines Wasserstoff-
moleküls), die in geringer Entfernung von einander sich befinden.
Jedes besteht nach der Annahme der jetzigen Chemie aus zwei
nicht weiter zerlegbaren, aber doch sicher zusammengesetzten Atomen.
Vermöge seiner Zusammensetzung besitzt das Atom verschiedene
Eigenschaften und Kräfte, es übt somit auch verscliiedene Reize
(Anziehungen und Abstossungen) auf die anderen Atome aus. Die
fraglichen zwei Moleküle spüren oder empfinden in verschiedener
Weise ihre gegenseitige Anwesenheit, sie wirken in verschiedener
Weise anziehend und abstossend auf einander ein.
Untersuchen wir, was bei einer bestimmten Anziehung (z. B.
der chemischen) geschieht. Es ist dreierlei möglich, entweder folgen
die Moleküle ihrer Neigung und nähern sich einander, oder sie sind
durch andere, der Anziehung das Gleichgewicht haltende Kräfte zur
Ruhe verurtheilt, oder sie entfernen sich von einander, indem die
ihrer Neigung feindlichen Kräfte das Uebergewicht erlangen. Die
nämlichen drei IMöglichkeiten sind für eine bestimmte Abstossung
(z. B. durch Wärme) gegeben: die beiden Moleküle folgen ihrem
natürlichen Triebe und entfernen sich von einander, oder sie be-
harren in der gleichen Entfernung, oder sie werden mit Ueberwin-
dung ihres Triebes durch andere Ursachen gegen einander gestossen.
Wenn nun die Moleküle irgend etwas besitzen, was der Empfin-
dung wenn auch noch so ferne verwandt ist, — und wir können
nicht daran zweifeln, da jedes die Gegenwart, die bestimmte Be-
schaffenheit, die besonderen Kräfte des anderen empfindet und ent-
sprechend dieser Empfindung den Trieb zur Bewegung hat und
unter Umständen auch wirklich sich zu bewegen anfängt, gleichsam
lebendig wird, da ferner solche Moleküle die Elemente sind, welche
Lust und Schmerz im Thier und im Menschen bedingen, — wenn
also die Moleküle etwas der Empfindung Verwandtes spüren , so
598 I^i<^ Öchrauken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.
miiss es Wohlbehagen sein, wenn sie der Anziehung oder der Ab-
stossung, ihrer Zuneigung oder Abneigung folgen können, Missbe-
hagen, wenn sie zu einer gegentheiligen Bewegung gezwungen sind,
weder Wohlbehagen noch Missbehagen, wenn sie in Ruhe bleiben.
Da nun die Moleküle mit mehreren ungleichen Zug- und Druck-
kräften auf einander einwirken, so werden, wenn sie in Bewegung
gerathen , von ihren Neigungen immer die einen befriedigt, die
andern beleidigt. Diese verschiedenen Empfindungen sind aber
notli wendig nach Beschaffenheit und Stärke ungleich , je nachdem
sie durch die allgemeine Gravitations- und Elasticitätsanziehung,
durch die allgemeine Abstossung der Elasticität und der Wärme,
durch elektrische und magnetische Anziehung und Abstossung, durch
chemische Verwandtschaft verursacht werden. Die einfachsten Organis-
men, wenn ich diesen Ausdruck brauchen darf, die wir kennen, die
Moleküle der chemischen Elemente und Verbindungen, werden also
gleichzeitig von mehreren qualitativ und quantitativ verschiedenen
Empfindungen bewegt, die sich zu einer Gesammtempfindung der
Lust oder des Schmerzes zusammensetzen.
Wir finden somit auf der niedersten und einfachsten Stufe der
Stofforganisation, die wir kennen, wesentlich die nämliche Erschei-
nung wie auf der höchsten Stufe, wo sie uns als bewusste Empfin-
dung entgegentritt. Die Verschiedenheit ist nur eine gradweise;
auf der höchsten Stufe sind die Affecte infolge der reichen Gliede-
rung nur viel zusammengesetzter und feiner und infolge massen-
hafter Zusammenordnung der Stoff theilchen viel lebhafter geworden.
Fassen wir das Geistesleben in seiner allgemeinsten Bedeutung
als den immateriellen Ausdruck der materiellen Erscheinung, als
die Vermittlung von Ursache und Wirkung, so finden wir es überall
in der Natur. Geistige Kraft ist das Vermögen der Stoff theilchen,
auf einander einzuwirken. Der geistige Vorgang ist die Vollziehung
dieser Einwirkung, welche in Bewegung, somit in Lageveränderung
der Stofftheilchen und der ihnen anhaftenden Kräfte besteht, und
dadurch unmittelbar zu einem neuen geistigen Vorgang führt. So
schlingt sich das nämliche geistige Band durch alle materiellen
Erscheinungen.
Der menschliche Geist ist inchts anderes als die höchste Ent-
wicklung der geistigen Vorgänge, welche die Natur überall beleben
und bewegen, auf unserer Erde. Er ist aber nicht das Absonderungs-
Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 599
product der Geliirnsubstanz ; als solches wäre er ohne weiteren Ein-
fluss auf das Gehirn, wie die abgesonderte Galle ohne weitere Be-
deutung für die Leber ist. Em])findung und Bewusstsein haben
vielmehr ihren festen Sitz im Gehirn, mit dem sie unauflöslich ver-
bunden sind, und in welchem durch ihre Vermittlung neue Vor-
stellungen gebildet und in Thaten umgesetzt werden. Wie der Stein
nicht zur Erde flöge, wenn er die Anwesenheit der Erde nicht em-
pfände, so würde auch der getretene Wurm sich nicht krümmen,
wenn ihm die Empfindung mangelte, und das Gehirn würde nicht
vernünftig handeln, wenn es ohne Bewusstsein wäre.
Diese Anschauung befriedigt auch vollständig unser causales
Bedürfniss. Es ist für den Naturforscher eine logische Noth wendig-
keit, in der endlichen Natur nur gradeweise Unterschiede gelten zu
lassen. Wie es für alles Räumliche, ebenso für alles Zeitliche ein
Maass gibt, so muss es auch ein gemeinsames Maass für die geistigen
Vorgänge geben. Wie die materielle Natur sich vom Einfachsten
zum Zusammengesetztesten allmählich abstuft, so muss auch in der
ihr parallel gehenden geistigen Natur eine ähnliche Abstufung be-
stehen. Wir finden in den Atomen und Molekülen zwar noch nicht
Lust und Schmerz, noch nicht Liebe und Hass ausgesprochen, aber
doch die ersten Keime, gleichsam die Uranfänge zu diesen Affecten,
und es wäre die Aufgabe einer vergleichenden Psychologie, das Be-
wusstsein durch die unbewusste Empfindung bis zum empfindungs-
losen Reiz der Stoff theilchen zu verfolgen ^).
Das geistige Gebiet bietet aber der Erkenntniss viel grössere
Schwierigkeiten dar als das materielle, weil wir als unmittelbare
Erfahrung l:)loss unsere subjectiven Wahrnehmungen benutzen können,
und weil uns ein besonderes Sinnesorgan mangelt, um an anderen
Körpern objective Wahrnehmungen zu machen. Die Beobachtung
mit unsern für andere Zwecke eingerichteten Sinnen gibt uns nur
auf Umwegen und in sehr mangelhafter Weise Kunde von den
geistigen ^'^orgängen in anderen Wesen, und unser Urtheil über die-
selben wird um so unsicherer, je weiter wir uns abwärts in der
Natm- von uns selber entfernen. Es wird daher vielleicht nie möglich,
*) S. Zusatz 9 : Vergleichung der thierischen Affecte mit analogen unorga-
nischen Erscheinungen.
ßQO I^J6 Schranken der naturwissenseliaftlichen Erkenutniss.
das Miiass für die geistigen Vorgänge wirklich tiiil'zii finden und
zu begründen, und die vergleichende Psychologie zu einer Natur-
wissenschaft zu erheben.
Die naturwissenschaftliche Erkenntniss bleibt in der Endlichkeit
befangen, der Naturforscher muss sich daher strenge auf das End-
liche beschränken. Die Forderung, die man wohl an ihn stellt,
dass er mehr philosophische Bildung haben, dass er philosophische
Kritik üben müsse, weil die meta|jhysische Speculation doch nicht
ganz zu umgehen sei, zeigt nur, wie schwer es ist, zwei absolut
verschiedene Gebiete, die einmal zur allgemeinen Verwirrung mit
einander vermengt waren, von einander loszulösen. Die Macht der
Erziehung und Gewohnheit war auch bis in die neueste Zeit ein
Hinderniss, dass diese Scheidung sich vollständig und grundsätzlich
vollziehe, und doch ist ja von vornherein und aus Erfahrung sicher,
dass jeder metaphysische Zusatz die Naturforschung nur zu einer
trüben und unklaren Legirung macht.
Die Naturforschung muss exact sein ; sie muss sich durchaus
von allem, was die Grenze des Endlichen und Erkennbaren über-
schreitet, von allem Transscendenten fern halten ; sie muss, da ihr
Object nur der endliche kraftbegabte Stoff ,ist, streng materialistisch
verfahren, ohne zu vergessen, dass dieser richtige Materialismus ein
empirischer und kein philosophischer ist, und dass ihm die gleichen
Grenzen gesteckt sind, wie dem Gebiete, auf dem er sich bewegt.
Damit soll nicht gesagt werden, dass der Naturforscher nicht
j)hilosophiren, dass er sich nicht auch auf idealen und transscendenten
Gebieten bewegen dürfe. Aber er hört auf Naturforscher zu sein,
und was ihm dabei etwa aus seinem Berufe zu Gute kommt, ist nur
das, dass er die beiden Gebiete streng auseinander hält, dass er das
Eine als das reine Gebiet des Forschens und Erkennens, das Andere
aber, indem er es von allem Endlichen befreit, als das verborgene
Gebiet der Ahnung zu behandeln weiss. — Während für ihn die
Endlichkeit nur monistisch sein kann, so steht ihm für die Ahnung
des Ewigen der Monismus wie der Dualismus offen. Der letztere
mag ihm vielleicht selbst besser behagen, und es mag ihm vielleicht
annehmbarer erscheinen, dass in der ihm sinnlich bekannten Welt
Die Schraiikuu der iiaturwisseiiscluii'tlichen Erkenntniss. 601
nicht das ganze grosse Geheimniss eingeschlossen sei, dass dieselbe
vielmehr nur eine der vielen Gedankenreihen des höchsten Wesens
darstelle.
Dem menschlichen Geiste, seinem Forschungstriehe und seiner
Erkenntniss steht die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt offen. Er
dringt vermittelst Teleskop und Kechnung in die grössten Ent-
fernungen, vermittelst Mikroskop und Combination in die kleinsten
Räume. Er erforscht den zusammengesetztesten und verwickeltsten
Organismus, der ihm selber angehört, nach den mannigfaltigsten
Richtungen. Er erkennt die in der Natur herrschenden Kräfte und
Gesetze, und macht sich dadurch die unorganische und organische
Welt, so weit er sie erreichen kann, dienstbar. Wenn er die bis-
herigen Errungenschaften in den Gebieten des Wissens und der
Macht überblickt und an die künftigen noch grösseren Eroberungen
denkt, so kann er mit Stolz sich als den Herrscher der Welt fühlen.
Aber was ist diese Welt, die der menschliche Geist beherrscht ?
Nicht einmal ein Sandkörnchen in der Raumewigkeit, nicht eine
Secunde in der Zeitewigkeit und nur ein Aussenwerk an dem wahren
Wesen des Alls. Denn auch an der winzigen Welt, die ihm zu-
gänglich ist, erkennt er nur das Veränderliche und Vergängliche.
Das Ewige und Beständige, das Wie und das Warum des Alls
bleibt dem menschlichen Geiste für immer mifassbar, und wenn er
es versucht, die Grenze der Endlichkeit zu überschreiten, so vermag
er nur sich selbst zum lächerlich ausgestatteten Götzen aufzublähen
oder das Ewige und Göttliche durch menschliche Verunstaltungen
zu entwürdigen. Selbst der zu vollkommener naturwissenschaftlicher
Einsicht gereifte Geist vermöchte in seiner Beschränktheit aus der
Gottheit, die er von allem Endlichen und Vergänglichen frei machen
will, nur einen constitutionellen Scheinkönig zu bilden, welcher
nach dem bekannten Ausspruche eines jüngst dahingegangenen
Staatsmannes »herrscht, aber nicht regiert«.
In der endlichen Welt walten unabänderlich die ewigen Natur-
kräfte, deren Wirkungen wir als Gesetze der Bewegung und A^er-
änderung erkennen. Ob und wie sie Inhalt und Ausfluss eines in
Ewigkeit beharrenden , bewussten Zweckes sind , übersteigt unser
Fassungsvermögen .
Wenn mein Vorgänger Du Bois Reymond seinen Vortrag
mit den niederschmetternden Worten: Ignoramus und Ignora-
602 I^i«-' Sehraiikeu der naturwissenseliuftlichen Erkeiintiiiös.
bim US geschlossen, so möchte ich den meinigen mit dem bedingten
aber trösthcheren Ausspruche schhessen, dass die Früchte unseres
Forschens nicht l)loss Kenntnisse, sondern wirkhche Erkenntnisse
sind, welche den Keim eines fast unendlichen Wachsthmiies in sich
tragen, ohne deshalb der Allwissenheit um den kleinsten Schritt
sich zu nähern. Wenn wir eine vernüni'tige Entsagung üben, wenn
wir als endliche und vergängliche Menschen, die wir sind, uns mit
menschlicher Einsicht bescheiden, statt göttliches Erkennen in An-
spruch zu nehmen, so dürfen wir mit voller Zuversicht sagen:
Wir wissen und wir werden wissen.
Zusätze.
I. Physische und metaphysische Atomistii( (S. 572).
Die physikalischen Erörterungen über Atome und Atomistik
werden häufig von den philosophisch Gebildeten aljer chemisch
nicht Unterrichteten inissverstanden. Dies war auch mit meinem
Vortrage der Fall, indem man das, was ich über die chemischen
Atome sagte, als für die von Alters her bekannten metaphysischen
Atome gültig ansah. Ich bemerke deshalb zui^Ächst zur Auf-
klärung, dass das Wort Atom in doppeltem Sinne gebraucht wird
und dass die beiden Bedeutungen gar keine Beziehung zu einander
haben, wiewohl selbst Physiker und Physiologen der Neuzeit von
einer Vermengung der Begriffe nicht frei zu sprechen sind.
Das absolut einfache, imaginäre oder metaphysische Atom der
alten und neuen philosophischen Materialisten ist ein untheilbares
Kraftcentrum. Das reale oder physische Atom der neueren Chemie
ist ein kleines ausgedehntes individuelles Körperchen, ohne allen
Zweifel aus Theilen bestehend, aber mit den jetzigen Hülfsmitteln
noch nicht zerlegbar. Den Materialisten des Alterthums waren die
Atome zwar unendlich ungleich nach Grösse und Gestalt, aber
doch nicht qualitativ-verschieden, — ferner ohne innere Zustände und
wirklich untheilbar. Die mathematische Physik der neuern Zeit
hat sie als ausdehnungslose Kraftpunkte gedacht. — Im Gegensatze
hiezu sind die Atome der neueren Chemie Körper wie alle andern;
nur sind es die kleinsten bis jetzt sicher bekannten. Es sind die
für unsere Hülfsmittel nicht weiter theilbaren Partikeln der chemischen
(304 Zusätze.
Elementars tolle, mit den Kräften und Eigenschaften dieser letzteren
begabt, — Individuen, welche, sobald es gelingen wird, sie zu zer-
legen, in Theile zerfallen, die von dem Individuum (dem ganzen
Atome) verschieden sind. Zwei oder mehrere solcher Atome (die
Zahl ist genau bekannt, wenn die chemische Constitution ermittelt
ist) verbinden sich zu einem Molekül. Die reale Existenz der
chemischen Atome und Moleküle kann als Gewissheit betrachtet
werden (vgl. Zusatz 3).
Es ist allerdings sehr unthunlich, dass zwei so ganz verschiedene
Begriffe, nämlich das, was man wegen Unzulänglichkeit der Hülfs-
mittel zur Zeit nicht mehr theilen kann, und das, was man zum
Voraus als untheilbar erklärt, den gleichen Namen tragen. Ich
habe daher, um sie zu unterscheiden, die einen Atome als metaphy-
sische, philosophische oder imaginäre (Punkt- oder Ur-)Atome und
die andern als chemische, physische oder reale (Element-)Atome
bezeichnet.
Es gehört zum Merkmal des metaphysischen Begriffes überhaupt,
dass er nur so lange etwas zu erklären scheint, als man sich an
die oberflächliche Allgemeinheit hält, dass er sich aber nirgends
greifen lässt, sowie man ihm näher tritt und etwas Reales daraus
gestalten oder begreifen will. So verhält es sich auch mit der philo-
sophischen Atomistik, einer mehr als 2000 Jahre alten Lehre, die
in der neueren Zeit wieder aufgenommen wurde. Sie hat von dem
mystischen Dunkel, das sie von Natur umhüllt, auch in der den
Anschauungen der fortgeschrittensten Naturwissenschaft entsprechen-
den Umbildung nichts verlieren können, da jenes Dunkel in der
Nichtvorstellbarkeit des Begriffes besteht. Wir können uns weder
etwas Untheilbares noch etwas Raumloses als wirkliches Ding denken.
Wenn die Materialisten des Alterthums ihren einfachen Atomen
Ausdehnung gaben, so liegt darin eine logische Unmöglichkeit, weil
der Begriff der Grösse ein relativer ist und weil etwas Ausgedehntes
nicht untheilbar gedacht werden kann. Mit den neueren Materia-
listen die Atome als ausdehnungslose Kraftpunkte anzunehmen, er-
scheint ebenso unmöglich, da wir nicht begreifen, wie ausdehnungs-
lose Dinge sich zu etwas Ausgedehntem an einander legen können,
denn dazu ist Anziehung erforderlich und zwei oder viele sich
anziehende Punkte müssten sich zu einem ausdehnungslosen Punkt
vereinigen.
1. Physisclic und metaphysische Atomistik. 605
Von dem philosophisclien Atom /Air realen Welt gähnt eine
Kluft, deren TJeberschreitung um so mehr als eine Unmöglichkeit
eingesehen wird, je schärfer wir einerseits das Atom zu fassen suchen
und je tiefer wir andrerseits in die Erkenntniss der realen Welt
eindringen. Es nützt der philosophischen Atomistik auch nichts,
wenn man sie mit dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft in
Beziehung bringt; denn dieses Gesetz muss für jede andere An-
schauung ebenfalls als Bedingung vorausgesetzt werden.
Wäre das einfache und untheilbare Atom etwas Wirkliches und
Denkbares, so würde der IVaum der Naturphilosophen, die Natur
philosophisch zu construiren, in Erfüllung gehen können. Man hätte
ja das einheitliche Element, aus dem die Dinge mit ihren Eigen-
schaften eben so exact sich aufbauen liessen, als irgend eine -mathe-
matische Operation vollzogen wird. Der Umstand, dass der Natur-
philosophie auch nicht die ersten Schritte gelungen sind, rührt nicht
etwa daher, weil die Aufgabe für jetzt noch zu schwer wäre und
erst in der Zukunft ihre Lösung erhoffen dürfte, sondern daher,
weil sie überhaupt nicht zu lösen ist. Der Beweis dafür fällt nicht
sehr schwer.
DieUratome als Kraftpunkte müssen eine absolut ein fache Wirkung
ausüben. Kämen ihnen verschiedene Eigenschaften und mehrfache
Wirkung zu, so müssten sie innerlich zusammengesetzt sein. Sie
können also bloss entweder anziehen oder abstossen, wie schon De-
mokrit angenommen. Wenn wir uns nun die Aufgabe stellen, die
einfachen Atome als brauchbare Bausteine zurecht zu legen, so er-
innern w^r uns zunächst eines Versuches der neuern Physik. Die-
selbe hat wohl, um überhaupt eine Vorstellung zu gewinnen, die
Annahme gemacht, dass es zweierlei kleinste Theilchen gebe, solche,
die die wägbaren Stoffe, und solche, die den Licht- und Wärme-
äther zusammensetzen. Die ersten sollten sich gegenseitig anziehen,
die zweiten sich gegenseitig abstossen, zwischen den ersten und
zweiten aber sollte Anziehung bestehen. Mit dieser Annahme liess
sich die Elasticität, die Gravitation der Massen und die Beschaffen-
heit des Weltäthers anschaulich machen, aber nur unter der un-
physikalischen Voraussetzung, dass Anziehung und Abstossung bei
wachsender Entfernung in ungleichem Grade abnehmen ; ferner
blieb auch die Elektricität unerklärt. Endlich war damit eine philo-
sophische Lösung der Frage weder beabsiclitigt noch erreichbar;
606 Zusätze
denn abgesehen davon, dass den wägbaren Atomen der verschiedenen
chemischen Elemente ungleiche Eigenschaften zugeschrieben werden
müssen, sind die Beziehungen zwischen den Theilchen nicht sym-
metrisch und daher unbefriedigend. Wenn a und a (die wägbaren
Atome) sich anziehen, h und h (die Aethertheilchen) sich abstossen,
so fragen wir uns, warum a und h sich gegenseitig anziehen und
nicht ebenso gut sich abstossen.
Unser Bedürfniss nach einer vernünftigen Weltordnung verlangt
entweder Identität aller Uratome oder eine Ungleichheit mit sym-
metrischer Vertheilung der Functionen. Identität wäre gegeben,
wenn alle Atome mit gegenseitiger Attraction oder Repulsion begabt
wären; im ersten Falle wäre die scheinbare Abstossung der Körper
ein Minus von Anziehung, im zweiten Falle die scheinbare An-
ziehung ein Minus von Abstossung. — Beide Annahmen sind un-
möglich. Bei gegenseitiger Anziehung aller Kraftpunkte müsste
mit der Störung der gleichmässigen Vertheilung und mit dem Be-
ginn der Bewegung eine successive Vereinigung der Kraftpunkte
eintreten, bis zuletzt alle in einen einzigen Punkt zusammengeflossen
wären. Bei gegenseitiger Abstossung könnte die anfängliche gleich-
massige Vertheilung nicht gestört, und wäre sie einmal gestört, so
müsste sie nach und nach wieder hergestellt werden.
Wir werden daher, wenn überhaupt ein Versuch zu natur-
philosophischer Lösung gemacht werden soll, sogleich mit Noth-
wendigkeit auf die Forderung ungleicher Uratome geführt, zwischen
denen theils Attraction, theils Repulsion wirksam ist. Dieselbe
setzt zwar schon einen philosophisch schwerlich nachzuweisenden
Dualismus voraus und ist jedenfalls nur zulässig, wenn die Atome
jeder Gruppe unter sich identisch und wenn die Beziehungen der
beiden Gruppen gleichmässig vertheilt sind. Diese Bedingungen
sind denkbar auf drei verschiedene Arten zu erfüllen.
I. Von den beiden Gruppen [a und h) stossen die gleichnamigen
Atome {a und a, ebenso h und V) sich ab, während die ungleich-
namigen [n und h) sich anziehen (Fig. 25, I).
II. Von den Atomen der beiden Gruppen [a und ß) ziehen die
gleichnamigen sich an (« und a, ebenso ß und /?), indess die un-
gleichnamigen [a und ß) sich gegenseitig abstossen (Fig. 25, II).
III. Die Atome der einen Gruppe [Ä) ziehen sich an, die der
andern [B) stossen sich ab, während die ungleichnamigen {A und 7))
1. Physisclu' nml mctaphysisolip Atomistik.
007
sich indifferent verlialton, also einander weder anziehen noch ah-
stossen (Fig. 25, III).
n
-a
A-
E
Fie. 25.
In den vorstehenden Figuren I, II, III sind die Anzieliungen
zwischen je zwei Uratomen durch , die Ahstossungen durch
angegeben.
Jedes der drei symmetrischen Verhältnisse ist logisch unan-
fechtbar; und wenn es möglich wäre, auf einer der drei Grundlagen
etwas zu construiren und von den dynamisch einfachen Uratomen
aus, nach kürzerer oder längerer Operation, zu den uns physisch
bekannten kleinsten Theilchen, nämlich den Aethertheilchen und
den wägbaren Atomen der chemischen Elementarstoffe mit ihren
Eigenschaften zu gelangen, so müsste diese Errungenschaft als der
grösste Triumph des menschlichen Geistes gefeiert werden. Allein
die Construction ist unmöglich ; sie kann nicht über den allerersten
Schritt hinauskommen. Keines der drei symmetrischen Verhältnisse
vermag uns den Schlüssel zu den wirklichen Dingen zu geben.
Was das erste derselben betrifft, so käme es uns um so an-
nehmbarer vor, als wir es schon in der Elektricität verwirklicht
finden. Aber wenn die metaphysischen oder Uratome, welche aus-
dehnungslose Punkte sein müssten, seinem Schema folgten, so würde
zunächst immer ein a- und ein ft-Punkt sich zu einem neutralen
Punkt vereinigen, und es ergäbe sich, bei gleicher Anzahl von
a- und ?v-Punkten, als erstes und letztes Product der Veränderung
eine el:)enso grosse Zahl von neutralen ö?>Punkten, die sich weder
anziehen noch abstossen, also nicht mehr auf einander einwirken
würden.
Wollte man aber die Uratome als ausgedehnte kleine Massen
mit einfachen (anziehenden und abstossonden) Centralkräften auf-
fassen, so würden sich dieselben zunächst ebenfalls zu Paaren und
weiterhin zu Ketten mit alternirenden a- und /^-Gliedern vereinigen,
r,08 Zusätze.
— fliese Ketten würden, je nach der gegenseitigen Lage ihrer Gheder,
das Bestreben haben, sich bis zur Berührung zu nähern oder immer
weiter von einander zu entfernen, und da mit der Bewegung selbst
die gegenseitige Lage wechselte, so könnte dieses Spiel des Sich-
suchens und Fliehens nie zur Ruhe kommen. Aber eine weitere
Organisation und Dil^erenzirung der Materie wäre auch in diesem
Falle nicht möglich.
Ueberhaupt lässt sich, selbst wenn man von den angeführten
principiellen Folgerungen absehen wollte, gar keine Anordnung
der nach dem ersten Schema wirkenden a- und />-Atome denken, w^oraus
die meisten allgemeinen physikalischen Thatsachen, wie namentlich
die Gravitationsanziehung, die Elasticität, die Wärme, die verschie-
denen Aggregatzustände, erklärt werden kömiten.
Was das zweite der drei symmetrischen Verhältnisse betrifft, so
müssten, wenn die ganze materielle Welt aus a- und /:?-Uratomen zu-
sammengesetzt wäre, nach und nach einerseits Gruppen von «-Atomen,
andrerseits solche von /^Atomen zu Sammelpunkten, oder bei An-
nahme von ausgedehnten Atomen zu Massen sich vereinigen. Diese
Massen könnten Weltensj'steme l)ilden, welche durch Bewegung,
durch Anziehung und Abstossung im Gleichgewichte erhalten würden.
Aber abgesehen hievon besteht keine Möglichkeit, die nach
dorn zweiten Schema wirkenden a- und /^Atome so anzuordnen,
dass dadurch die Elektricität, das Verlialten des Licht- und Wärme-
äthers, die Elasticität, die flüssigen und gasförmigen Aggregatzustände
erklärt würden.
Würde endlich die Welt nach dem dritten der symmetrischen ^'^er-
hältnisse gebaut sein und aus Uratomen, die wie A und B sich
verhalten, bestehen, so ist einleuchtend, dass ganze Gruppen von
yl-Atomen (wie es mit den a- und /':/-Atomen des zweiten Schemas der
Fall war) sich zu Sammelpunkten oder, wenn den Atomen Ausdehnung
gegeben wird, zu Massen zusammenballen müssten, während die
sich abstossenden 2?-Atome in dem üljrigen Raum gleichmässig ver-
breitet wären.
Man erhielte somit gravitirende Weltkörper in einem äther-
erfüllten Raum, wie sie wirklich bestehen. Aber es mangelten der
Materie nicht nur die Elektricität, sondern auch, da zwischen A-
und 5-Atomen keine Beziehung besteht, die Elasticität und die
nicht starren Aggregatzustände.
1. Physische und metaphysische Atomistik. 609
Somit lässt sich aus den einfachen metaphysischen Atomen,
man mag sich die Sache zurecht legen, wie man will, nichts der
Wirklichkeit Entsprechendes construiren ; und wenn man sie ohne
weitere Ueberlegung und ohne Bezugnahme auf die reale Welt
hypothetisch als die letzten Elemente gelten lässt, so stellt man
einen unbrauchbaren und werthlosen Begriff auf.
Verlassen wir die luftigen Regionen der metaphysischen Atome
und begeben wir uns auf den Boden der wirklichen Welt. In der-
selben kennen wir bloss Materie, die mit verschiedenen Kräften
begabt ist, und darüber kommen wir weder mit unserer Theorie
noch mit unserer Erfahrung hinaus. Man mag die Bausteine der
Materie so klein annehmen als man will, so dürfen sie, wenn man
etwas in der Natur Vorhandenes damit herstellen will, nie einfach,
sondern immer nur schon zusammengesetzt und mit verschiedenen
Kräften ausgestattet sein. Diese Einsicht wird mis sowohl durch
die Deduction aus den Principien als durch die Induction aus den
Thatsachen aufgenöthigt.
In ersterer Beziehung müssen wir jede Deduction dem Werthe
nach einer unbestreitbaren Thatsache gleich achten, wenn sie aus
einem vernünftigen Axiom ^) in logisch richtiger Weise die Folge-
rungen entwickelt. Ein glänzendes Beispiel liegt uns in der Ma-
thematik und Mechanik vor. Aus den drei Ausdehnungen des
Raumes ist die ganze Geometrie abgeleitet. Wird in vollkommen
strenger Weise verfahren, so muss alles, was als vernünftig, und
dessen Gegentheil als unvernünftig dargethan werden kann, sammt
den Folgerungen daraus auch wirklich sein.
Wenden wir nun die Deduction auf die in der Natur waltenden
elementaren Kräfte an. Das Axiom, von dem dieselbe ausgehen
muss, sagt uns, dass die Kräfte zwischen zwei materiellen Theilchen
nur als Anziehung oder Abstossung wirken können, und dass die
beiden zusammengehörigen und sich widersprechenden d. h. ein-
ander aufhebenden Kräfte ein symmetrisches Verhältniss darstellen
*) Ich gehrauche diesen allgemein verständlichen Ausdruck und beziehe
mich auf den Zusatz 5. Apriorität, wo ich zu zeigen suche, dass die Axiome
nichts anderes sind, als ganz allgemeine und unbestreitbare Erfahrungsthatsachen.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 39
610 Zusätze.
müssen, wie wir dies z. B. in der Elektricität finden. Wir erhalten
auf diesem Wege drei Paare von Elementarkräften ; es sind die
nämlichen drei symmetrischen Verhältnisse, die ich oben schon
in hypothetischer Weise für die Uratome unterschieden habe. Ich
wiederhole sie hier, indem ich ausdrücklich bemerke, dass jetzt
nicht mehr von Atomen, sondern von wirkhchen Kräften, die in
der Natur überall vorhanden sein müssen, die Rede ist. Die Buch-
staben a und h, a und ß, A und B, welche oben Uratome bezeich-
neten, bedeuten jetzt Kräfte und zwar je die entsprechenden und
in symmetrischem Verhältniss zu einander stehenden. Während
oben die zwei Uratomarten des einen oder andern Verhältnisses
(a und h oder a und ß oder A und B) für sich die materielle Welt
aufbauen sollten, wirken hier die 6 Elementarkräfte (a, &, a, /?, A^ B)
zusammen, um die dynamischen Erscheinungen im Weltall zu
begründen.
I. Die gleichnamigen Kräfte stossen sich ab, die ungleichnamigen
ziehen sich an. (Fig. 26, I.)
IL Die gleichnamigen K^räfte ziehen sich an, die ungleich-
namigen stossen sich ab. (Fig. 26, II.)
III. Die einen gleichnamigen Kräfte {A und A) ziehen sich
an, die andern gleichnamigen {B und B) stossen sich ab; die un-
gleichnamigen [A und B) verhalten sich indifferent, indem sie sich
weder anziehen, noch abstossen. (Fig. 26, III.)
n , 111
a a A
Fig. 26.
Ein viertes symmetrisches Verhältniss von Kräften ist über-
haupt undenkbar; es gibt nur diese drei. Die Deduction verlangt
also, dass in der Natur diese drei Kategorien oder Paare von Ele-
mentarkräften und überdem keine anderen wirksam seien.
Die Deduction verlangt ferner, dass in jedem materiellen Theil-
chen Kräfte der drei Kategorien vereinigt vorkonnnen. Eine Trennung
derselben auf verschiedene Theilchen lässt sich nicht annehmen,
1. Pliysische und metaphysische Atomistik. (JH
weil sonst die dynamischen Beziehungen zwischen diesen mangehi
würden. Wäre in dem einen materiellen Theilchen a oder }>, in
einem zweiten a oder ß und in einem dritten A oder B allein
vorhanden, so könnten die drei Theilchen gar nicht auf einander
einwirken, und aus solchem Material könnte auch nichts construirt
werden. Wir müssen also schon a priori annehmen, dass in einer
Masse von beliebiger Grösse a und &, a und ß, A und B vereinigt
seien, und dass, wenn wir dieselbe auch in noch so kleine Splitter
theilen, in jedem derselben alle Kräfte als der Substanz inhärente
Eigenschaften sich vorfinden.
Ich will die Deduction hier nicht weiter fortzuführen suchen.
Vergleichen wir mit den eben dargelegten Ergebnissen derselben
die auf i n d u c t i v e m Wege gewonnenen wissenschaftlichen Thatsachen
und Gesetze, so sehen \rä alsbald ein, dass die Physik von den
drei Kategorien von Elementarkräften bis jetzt nur zwei kennt,
nämlich die erste als Elektricität (mit Magnetismus) und die dritte
als Gravitationsanziehung der wägbaren Stoffe und als Abstossung
des Aethers. Die zweite Kategorie von Kräften, die sich dadurch
auszeichnet, dass die gleichnamigen sich anziehen, die ungleich-
namigen sich abstossen, und die ich deshalb Isagität^) nennen
will, ist als solche durch directe Beobachtung noch nicht erkannt.
Die Ursache dieses Mangels besteht darin, dass die isagische An-
ziehung und Abstossung sich nirgends in der Natur zu merkbaren
Grössen summiren. Dass dieselben aber vorhanden sein müssen,
ergibt sich aus dem Umstände, weil ohne sie die molecularen Er-
scheinungen nicht erklärt werden könnten.
Die Wissenschaft kennt nämlich Eigenschaften der kleinsten
Theilchen, die Elasticität und die chemische Affinität, welche nicht
aus den bisherigen Elementarkräften zu begreifen sind. Beide, be-
sonders aber die chemische Verwandtschaft, sind Anziehungen, die sich
w*eder auf die Gravitation und Elektricität allein zurückführen, noch
als besondere einfache Elementarkräfte definiren lassen. Melmehr
müssen wir sie als zusammengesetzte Erscheinungen betrachten,
die aus dem Zusammenwirken aller Elementarkräfte hervorgehen,
was auch keinen Anstand findet, sobald noch die bis jetzt im bekannte
Kategorie von Elementarkräften, die Isagität, zu Hülfe genommen
') Von i'aos, gleich und äytiv, anziehen.
39^
612 Zusätze.
wird. Ich verweise hierüber auf die am Schlüsse folgende Ab-
liaiidhing: Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
2. Unendliche Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation des
Stoffes (S. 072).
Während es mit Rücksicht auf Raum und Zeit verhältniss-
mässig leicht ist, sich der Endlichkeit im Gegensatz zur Ewigkeit
l)ewusst zu werden, scheint es dagegen nicht leicht, darüber volle
Klarheit zu erlangen, dass die uns bekannte Welt auch rücksichtlich
der Zusammensetzung oder der Organisation des Stoffes sich in
einer gleichen Endlichkeit befindet. Denn während man von un-
endlicher Theilbarkeit spricht, spricht man oft gleichzeitig von
untheill:)aren Atomen; das Eine schliesst aber das Andere selbst-
verständlich aus. Sogar die Annahme von ausdehnungslosen Kraft-
punkten (vgl. Zusatz 1) setzt einen Anfang Inder Zusammensetzung,
somit ein Ende in der Theilbarkeit voraus. Die unendliche Theil-
barkeit besteht ja darin, dass man mit dem Th eilen nicht fertig
ward und somit niemals bei dem absolut Einfachen anlangt.
Mit der nicht endenden Theilbarkeit ist auch eine unendliche
Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation verbunden.
Die unaufhörliche Theilbarkeit hat nur dann wirkliche Bedeutung,
wenn die Theile früher oder später dem Ganzen ungleich w^erden.
Ein Liter Wasser kann zw^ar lange getheilt werden und man
hat immer wieder Wasser. Würde dies ohne Ende so fortgehen,
so wäre das Wasser ein homogener, den Raum continuirlich erfüllen-
der Körper. Ist man aber etw^a beim 25-quadrillionsten Theil des
Liters angekommen, so kann derselbe nicht mehr in Wassertheilchen
zerlegt werden. Man hat jetzt das Wassermolekül vor sich, welches
in 1 Sauerstoff- und 2 Wasserstoffatome zerfällt.
In welcher Art die Atome der chemischen Grundstoffe zu-
sammengesetzt seien, ob sie nach Analogie der chemischen Mo-
leküle aus einer beschränkten Zahl von Theilen, die dem Ganzen
unähnlich sind, oder nach Analogie des Wassertropfens, des Krystalls,
des Weltkörpers zunächst aus zahlreichen, dem Ganzen ähnlichen,
Theilen bestehen, bleibt vor der Hand ein Räthsel. Bei der durch-
aus relativen Bedeutung aller Grössen Verhältnisse ist es immerhin
'2. Unendliche Al)stufinig in d. Zusammensetzung u. Orgiiuisation des Stoffes. G13
nicht unmöglich und sogar nicht unwahrschcinhch, duss man bei
der wiederholten Theilung der chemischen Atome früher oder später
l)ei individuellen Körperchen anlangte, welche einen den Weltkörpern
ähnlichen Bau besitzen, an ihrer Oberfläche mit kleinen Wesen
bevölkert sind und ia ihrer Vereinigung den gestirnten Himmel
nachahmen.
Wie die endlose Theilbarkeit des Raumes auf stets neue und
kleinere individuelle Theile führt, so ist mit der endlosen Ausdehnung
des Raumes auch eine nicht endende Zusammensetzung zu immer
grösseren Ganzen mit individueller Besonderheit, also eine nicht
endende Organisation gegeben. Die Gesammtheit des gestirnten
Himmels, die aus immer grösseren Systemen sich aufbaut, kann
ein solches individuelles Ganzes sein, welches als Theil eines grösseren
Ganzen sich entweder wie ein Atom in einer chemischen Verbindung
oder wie ein Molekül in einem Krystall oder wie ein Molekül in
einer Gasmasse oder wie ein Weltkörper selbst oder in irgend einer
andern Weise verhält. Möglich, dass die Weltensysteme zu kunst-
vollen Organismen zusammengefügt sind, die unseren eigenen Or-
ganismus an Intelligenz weit übertreffen.
Man möchte vielleicht die Vorstellung von einer endlosen Zu-
sammensetzmig und Organisation sowohl nach dem Kleinen als
nach dem Grossen hin für die Ausgeburt einer ungezügelten Phan-
tasie halten. Gleichwohl ist sie nichts anderes als die von der
nüchternsten Ueberlegung gewonnene Consequenz, deren man sich
vorzüglich deswegen nicht so leicht bewusst wird, weil die natür-
liche Neigung besteht, sich auf die unseren Sinnen und unserem
Erkenntnissvermögen erfahrungsgemäss zugängliche Welt zu be-
schränken. Dadurch wird man zu dem falschen Schluss verleitet,
das Kleinste, von dem man durch Wahrnehmung und Ueberlegung
Kunde erlangt, als einfaches und untheilbares Element — und andrer-
seits den gestirnten Hinimel, so ^\•ie wir ihn kennen, wenn auch
in noch viel grösserer Ausdehnung, als das Universum zu betrachten.
Und dieser doppelte falsche Schluss liegt um so näher, als die neuen
Kraftcombinationen und Bewegungsformen, welche ohne Zweifel
sowohl im Kleinsten als im Grössten wirksam sind und die neuen
Organisationsformen erklären helfen, uns verborgen bleiben.
Dafür, dass wirklich eine endlose Zusammensetzung mit ent-
sprechender Organisation anzunehmen ist, sijricht einmal die Analogie.
ß 1 4 Zusätze.
Wir sind, je allgemeinerer Natur ein Gesetz ist, um so mehr zu
der Annahme gezwungen, dass es auch in den uns noch unbekannten
Gebieten Gültigkeit habe. So besteht für uns die Nothwendigkeit,
dass jenseits des durch sinnliche Wahrnehmung bekannten Raumes
wieder Raum, dass vor und nach der bekannten Zeit wieder Zeit zu
setzen ist, und es wird uns die Endlosigkeit von Raum und Zeit
zum Axiom.
Bezüglich der Organisation wissen wir, dass alles, was uns
hinreichend bekannt ist, einerseits aus Theilen zusammengesetzt
(organisirt), andrerseits Tlieil einer grösseren Organisation ist. Wir
können diese Zusammensetzung durch eine grosse Zahl von Stufen
verfolgen und wir müssen logischer Weise annehmen, dass diese
Stufenreihe sich nach unten und nach oben endlos fortsetze. Das
Aufhören nach der einen oder anderen Seite wäre etwas Neues,
für das wir keine Analogie haben, sowenig als für das Aufhören
von Raum und Zeit.
Für die Annahme einer endlosen Zusammensetzung und Organi-
sation spricht ferner der Umstand, dass uns das Aufhören derselben
als Unmöglichkeit erscheint. Alles Endliche und Reale bew^egt und
verändert sich. Nehmen wir einem Ding für immer Bewegung und
Veränderung, so befindet es sich in absoluter Ruhe; es hört auf,
wirklich zu sein und für unser Begriffsvermögen zu existiren. Diese
absolute Ruhe müsste aber da beginnen, wo die Organisation zu
Ende ginge. Würde beispielsweise das Aethertheilchen oder das
chemische Atom oder ein Theilungsstück dieser kleinsten Körperchen
bei der Theilung endlos in gleiche Stücke zerfallen, so wäre es in
seinem Iimern homogen, ohne Bewegung und ohne Veränderung.
Es wäre in todter Ruhe und wir würden nicht begreifen, dass es
sich in lel)endiger Wechselbeziehung zu andern Körpern befindet.
Jedenfalls könnte es nach aussen nur eine einfache Wirkung aus-
üben, also l)loss anziehen oder abstossen, und mit so einfach ge-
dachten Elementen lässt sich nichts Reales construiren (vgl. Zusatz 1).
Bezüglich der endlosen Zusammensetzung im Grossen besteht
eine umgekehrte Schlussfolgerung. Würden sich die Weltkörper-
systemc bloss jedes für sich in seinem Innern verändern und im
Uebrigen in endloser Folge sich gleichartig an einander reihen,
so wäre dies allerdings wieder die todte Ruhe. Aber dies ist un-
möglich, weil die einzelnen Weltkör^^er und daher auch die ganzen
3. Nuturpliilosopliisflie Weltunsc-hiuiungen. 615
Systeme auf einaiuler einwirken und somit eine gegenseitige Ver-
cänderung Ijedingen. Mit einer unendlichen Zahl von Weltkörpern,
die durch den endlosen Raum vertheilt sind, muss es sich ähnlich
verhalten wie mit der ursprünglichen Gasmasse, mit der unser Sonnen-
system begonnen hat. Wie die letztere durch die in ihr wirksamen
Kräfte nothwendig sich verdichtete und organisirte, so müssen auch
die Weltkörper sich zu niederen und höheren Gruppen vereinigen;
es muss, wenn auch einmal kaum eine Andeutung einer Gru^ipirung
bestand, dieselbe immer deutlicher hervortreten und zu einer immer
mehr ausgesprochenen Organisation führen.
Es versteht sich, dass mit der Abstufung in der Zusammen-
setzung und Oi'ganisation auch eine Abstufung in der Zeitdauer
parallel geht, und dass unser Zeitmaass in dem unendlich Kleinen,
sowie in dem unendlich Grossen nicht mehr anwendbar ist. Für
die Veränderungen in dem organisirten Aethertheilchen oder chemi-
schen Atom mag eine Secunde fast eine Ewigkeit, für die Ver-
änderungen in dem Organismus dagegen, in welchem der gestirnte
Himmel einen Theil ausmacht, mag eine Million von Jahren gleich
einem Augenblicke sein. Zeit- und Raumgrössen sind ja nm- relative
Begriffe. Die Grösse eines Raumabschnittes wird nach der Menge
von Dingen, die Grösse eines Zeitabschnittes nach der Menge von
Ereignissen, die wir darin unterscheiden, beurtheilt und nach den
gegebenen Wahrnehmungen das Maass von Raum und Zeit bestimmt.
3. Naturphilosophische Weltanschauungen. Entropie. (S. 577).
Unter den Weltanschauungen hat für uns die pliysicahsche einen
besondern Werth, weil sie die Consequenz exacter Forschung ist.
Aus dem allgemeinen Princijj, dass AVärme nicht von selbst d. h.
nicht ohne Compensation aus einem kälteren in einen wärmeren
Körper übergehen kann, und dem andern allgemeinen Princip, dass
bei den unaufhörlich in der Natur stattfindenden Verwandhmgen
die in Wärme verwandelte mechanische Energie nie vollständig
wieder in diese ül^erzugehen vermag, ward geschlossen, dass alle
in der Natur vorkommenden Veränderungen in einer gewissen (»posi-
tiven«) Richtung von selbst (oluie Compensation) eintreten können,
und dass sie in der entgegengesetzlen (>iiegativen<) Richtung nur
616 Zusätze.
dann möglich sind, wenn sie durch gleichzeitige positive Verän-
derungen compensirt werden. Die Grösse dieser Neigung, welche
die Natur hat, einen Process in einer gewissen (positiven) Richtung
auszuführen und einen Körper in einem gewissen (positiven) Sinne
umzubilden, wurde von Clausius »Entropie« genannt.
Diese Schlussfolgerung ist auf das Universum angewendet und
behauptet worden (zuerst von W. Thomson), dass die Verwand-
lungen in j^ositivem Sinne hniner die negativen an Grösse über-
treffen, und dass das Weltall sich stetig einem Grenzzustande nähere,
in welchem alle Energie die Form von Wärme angenommen und
alle Temperaturdifferenzen sich ausgeglichen hätten.
Diese Behauptung wäre richtig, wenn das Gesetz der Entropie
ganz allgemein d. h. für alle Kräfte und Bewegungen in allen
möglichen Zuständen als gültig nachgewiesen wäre. Hiezu niuss
bemerkt werden, dass das Gesetz physicalischer Natur ist, dass es
allein durch die Erfahrung gewonnen wurde und dass es nur irr-
thümlich etwa als mathematisch bewiesen aufgefasst mrd, woran
die Urheber wohl kaum gedacht haben. Ein Princip d. h. eine
allgemeine Thatsache von wirklicher, nicht bloss formaler Bedeutung
kann in Differentialgleichungen nie seine Begründung, sondern nur
seinen genauen Ausdruck finden. Die mathematische Behandlung
dient immer bloss dazu, für bestimmte Voraussetzungen die Fol-
gerungen in quantitativ normirten A'^erhältnissen darzulegen, und
wenn es wohl den Anschein gewinnt, als ob die Thatsache selbst
dadurch bewiesen werde, so geschieht es nur deshalb, weil dieselbe
schon in die ersten Ansätze hineingelegt wurde.
Um das Gesetz der Entropie in ganz allgemeiner und absoluter
Gültigkeit physicalisch zu begründen, reichen unsere Kenntnisse
sicherlich nicht aus. Selbst Elektricität und Magnetismus bleiben
vorerst ausgeschlossen, so lange die entsprechenden molecularen
Kräfte und Bewegungen durch Erfahrung so wenig bekannt sind,
als es gegenwärtig der Fall ist. Viel mehr aber gilt dies von den
unzweifelhaft vorhandenen, aber noch ganz unbekannten Kraftcom-
binationen und Bewegungsformen, welche die Verschiedenheit der
chemischen Elementarstoffe mit Rücksicht auf ihre Affinität, Werthig-
keit und die übrigen physicalischen Eigenschaften, und welche
ferner das Verhältniss zwischen den wägbaren (chemischen) und
unwägbaren (Aether-) Theilchen bedingen. So lange diese Lücke
3. Natiirphilosophische Weltanschauungen. 617
in unserer Erkenntniss bestellt, kann auch kein allgemeines Gesetz
für den Verwandlungsinhalt des Universums aulgestellt werden.
Dass aber dem Gesetz der Entropie eine absolute Gültigkeit
in der That nicht zukommen kann, geht aus den Conseciuenzen
desselben hervor. Wenn das Universum sicli in einer bestimmten
Richtung verwandelt, wenn seine Entropie einem Maximum zustrebt
und somit von einem Minimum ausgegangen ist, so haben wir
einen endlichen Process vor uns mit einem Anfang und einem
Ende. Das Ende ist der allgemeine Tod ; was kommt nachher?
Was ist ferner der Anfang und was ist denisellien vorausgegangen?
Offenbar köiniten wir zu dem Anfang nur durch die Hypothese ge-
langen, dass in einem bis dahin unveränderlichen und ebenfalls
todten Zustande Bewegung begonnen habe, also nur durch die
Annahme eines Wunders und Preisgebung des Causalgesetzes. Dies
beweist uns, dass die (positive) Entropie keine ganz allgemeine Er-
scheinung sein kann und dass sie ihre Gompensation in uns noch
unbekannten Gebieten finden muss.
Es wäre möglich, dass, sobald dereinst die in der uns umgebenden
Natur jetzt thätige entropische Umwandlung eine gewisse Höhe
erreicht hat, Kräfte, die uns wegen ihrer gegenwärtig geringen
Wirkimg verborgen bleiben, intensiver wirken und eine neue Zer-
streuung des Stoffes verursachen werden, wobei Wärme wieder in
mechanische Energie übergeht. Es wäre möglich, dass diese letztere
Umwandlung einst dadurch befördert wird, dass unser Sonnensystem
mit der Zeit in Regionen des Universums gelangt, in denen andere
Intensitäten jener noch unbekannten Kräfte und Bewegungen herrschen;
dass also, mit andern Worten, auf die Periode der positiven En-
tropie eine wahrscheinlich rascher verlaufende Periode negativer
Entropie folgen wird, und dass dann andere Intelligenzen jener
künftigen Periode die negative Entropie als ein der Erlaln'ung ent-
sprechendes allgemeines Gesetz des Universums aufstellen werden.
Um diese Möglichkeit anschaulich zu machen, muss ich noch
etw^as näher auf die molecularen A^erhältnisse eintreten. Die Atome
der chemischen Verbindungen sind nothwendig als sehr zusammen-
gesetzte Körper zu betrachten ; dafür sprechen ihre verschiedenen
Eigenschaften (ungleiches Gewicht, ungleiche chemische Affinität,
ungleiche Werthigkeit, ungleiche Aggregat zustände, ungleiches Lei-
tungsvermögen für Licht, Wärme, Elektricität und noch manche
61^ Zusätze.
andere Verhältnisse), ferner auch der Umstand, dass sie die Aether-
theilchen an Grösse und Masse last unendlich übertreffen. Wir
können uns die innere Bescliaffenheit der Atome nur so denken,
wie wir alle zusammengesetzten Körper kennen, nämlich als begabt
mit einer gewissen Beweglichkeit der Theilchcn und soliin mit einer
gewissen Veränderlichkeit.
Alles in der endlichen Welt ist veränderlich und wenn auch
die Sonne und die Planeten seit Jahrtausenden gleiche Gestalt und
gleiches Gewicht besitzen und noch viele Jahrtausende l^esitzen
werden, so hindert das die Physik nicht, anzunehmen, dass dieselben
in der Urzeit eine ganz andere, und zwar gasförmige, Beschaffenheit
hatten und dass zu jener Zeit auch die astronomische Weltordnung
eine ganz andere war ; — und die Physik beweist ferner, dass auch
in ferner Zukunft wichtige Veränderungen eintreten müssen und
dass die Weltordnung aljermals eine andere sein wird. Die Welt
im Grossen ist also in einer Umwandlung begriffen, die aber so
langsam vor sich geht, dass wir einen stationären und unveränder-
lichen Zustand vor uns zu haben glauben.
Da alle Systeme von materiellen Theilen, die wir hinreichend
kennen, vom grössten bis zum kleinsten, sich verändern, so sind
wir genöthigt, dies auch von den chemischen Atomen anzunehmen.
Ihre Veränderungen können in verschiedener Weise erfolgen, ver-
schiedene ihrer Eigenschaften betreffen und somit auch eine ver-
schiedene Bedeutung haben. Für die vorliegende Frage ist das
^'^erhalten in einer Beziehung, nämlich rücksichtlich des Vermögens
Wärme zu binden, wichtig. Vergleichen wir z. B. Kohlenstoff und
Wasserstoff; ersterer behält bei den höchsten Temperaturgraden,
letzterer bei den niedrigsten seinen Aggregatzustand; ersterer ist
ein permanent fester, letzterer ein permanent gasförmiger Körper.
Unter den chemischen Elementen besitzen die Kohlenstoff atome
die geringste, die Wasserstoffatome die grösste Menge von gebundener
Wärme, und dies in Folge ihrer ungleichen Beschaffenheit. Wenn
der Kohlenstoff seine Natur in dieser Beziehung änderte und die-
jenige des Wasserstoffes annähme, so würde er eine entsprechende
Menge freier Wärme binden, d. h. in Bewegung verwandeln, und
er wäre bei gewöhnlicher Temperatur gasförmig.
Bestehen die chemischen Atome aus zahlreichen Theilchcn, denen
verschiedene anziehende und abstossende Elementarkräfte eigen-
3. Natur2>hilosophische Weltanschauungen. 619
thümlich sind, was als die einzig mögliche, natiirgesetzliche An-
nahme erscheint'), so hängt es von der Anordnung dieser kraft-
begabten Theilchen ab, ob die Atomoberfläche eine grössere oder
geringere Zahl von andern, beweglicheren Theilchen, eine Aether-
hülle von grösserer oder geringerer Mächtigkeit anzuziehen mid
festzuhalten vermag. Hiedurch aber wird der festere oder lockerere
Zusammenhang mit den andern Atomen und die Fähigkeit, mehr
oder weniger Wärme aufzmiehmen, somit auch der Umstand bedingt,
ob die Substanz bei gewöhnlicher Temperatur im gasförmigen, flüssi-
gen oder festen Zustande auftritt. Und wenn die Anordnung der
Theilchen, wozu die Möglichkeit durch ihre Beweglichkeit und A^er-
schiebbarkeit gegel^en ist, in einem Atom sich verändert, so wird
auch die Mächtigkeit der Aetherhülle sammt der Adhäsion an
andere Atome und damit die Schmelz- und Verdampfungstemperatur
und schliesslich der Aggregatzustand bei gewöhnlicher Temperatur
ein anderer.
Diese Umlagerung der Theilchen in den Atomen erfolgt möglicher
Weise ohne äussere Einwirkung , sodass bei der Configurations-
änderung die Gesammtenergie sich weder vermehrt noch vermindert;
sie befähigt aber das Atom, äussere Arbeit in positivem oder nega-
tivem Sinne zu leisten, d. h. mehr oder weniger Anziehung auf
andere Atome auszuüben. Möglicher Weise wird jene Umlagerung
durch Einwirkung von aussen angeregt, indem das Atom Substanz
aufnimmt oder abgibt. Dadurch ward natürlich die Anziehung
auf andere Atome viel sicherer und energischer geändert als im
ersten Falle. Geht die Veränderung in allen oder in den meisten
chemischen Elementen im gleichen Sinne vor sich, nämlich so,
dass die Aetherhüllen der Atome mächtiger und der Zusammenhang
unter den Atomen geringer wird, so kann ein Zustand herbeigeführt
werden, welcher im Grossen und Ganzen eine Umwandlung von
Wärme in mechanische Energie, somit die negative Entropie bedingt^).
Die Configurationsänderung in den iVtomen und damit die Ver-
änderung ihrer physicalischen Natur ist nicht bloss aus allgemeinen
Analogiegründen möglich und wahrscheinlich ; sie wird auch durch
') Vgl. die folgende Abliandlung: Kräfte und Gestaltungen im molecularen
Gebiet.
■'') Vgl. Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. 9. Entstehung,
Beschaffenheit und \'eiänderung der Atome.
620 Zusätze.
bestimmte Erwägungen geradezu gefordert. Wenn die Materie der
Körper unsers Sonnensystems in der Urzeit sich in einem gasförmigen
Zustande befunden hat, so fragen wir uns, wodurch dies möghch
war. Die Hauptmasse dieser Materie ist ja bei gewöhnUcher Tempe-
ratur fest und geht erst Ijei den höchsten uns ])ekannten Hitzegraden
(GKihhitze) in den flüssigen Zustand über. Es ist ganz undenkbar,
dass jemals eine Temperatur geherrscht habe, welche das Gestein
zu Gas verflüchtigte. Wo wäre diese Wärme hingekommen, wenn
der ganze Himmelsraum damit erfüllt war? Und wie hätte sie sich
zusammenhäufen können, wenn es nur eine locale, den Raum unsers
Sonnensystems erfüllende Hitze war. Ueberdem hat ja die Wärme-
bildung, die uns bekannt ist, erst mit der Zusammenballung der
ursprünglich gasähnlich zerstreuten Materie begonnen.
Die Annahme eines ursprünglichen gasförmigen Zustandes
verlangt, wenn wir nicht viel weiter gehende und kühnere Hypo-
thesen aufstellen wollen, iiothwendig die weitere Annahme, dass
die chemischen Elemente der die Sonne und die Planeten zusammen-
setzenden Materie damals eine andere Beschaffenheit hatten und
in Folge derselben bei einer Temperatur des Himmelsraumes, die
weit unter der jetzigen stand, in luftförmiger Zerstreuung auftraten.
Indem diese Natur sich änderte, ballten sich die Gase zusammen
zu flüssigen und festen Körpern und gaben ihre gebundene Wärme
als freie Wärme ab. Dieser Process dauert noch immer fort und
wird so lange dauern, bis überall gleichmässige Temperatur herrscht
und die Erstarrung der AVeit eingetreten ist, oder bis durch neue
Aenderung der Natur der chemischen Stoffe in entgegengesetztem
Sinne wieder freie Wärme gebunden wird und unser Planetensystem
durch die rückläufige negative Entropie zmn gasförmigen Zustande
zurückkehrt.
Es wäre denkbar, dass die Umlagerung der Theilchen in den
Atomen ein langsam vor sich gehender, wesentlich durch innere
Entwicklung geregelter und von äusseren Umständen wenig ab-
hängiger Process ist. Dann würde sie in den verschiedenen chemi-
schen Elementen zu ungleicher Zeit beginnen und somit zu der
nämlichen Zeit in ungleichem Sinne verlaufen, z. B. im Kohlenstoff
in positiver, im Wasserstoff in negativer Richtung. Es ist aber
auch denkbar, dass eine neue Umlagerung erst beginnt, wenn die
äusseren Umstände in gewissem Sinne andere geworden sind; —
3. Naturphilosophische Weltanschauungen. 621
wenn z. B. durch die fortschreitende Abkühlung die Annäherung der
Moleküle und Atome und die Verlangsamung der molecularen Be-
wegungen einen bestimmten Grad erreicht halben und damit gewisse
Kräfte, die bis jetzt weniger wirksam waren, eine entscheidende Be-
deutung gewinnen ; — oder wenn unser Sonnensystem mit der Zeit in
andere Regionen des Universums gelangt, in denen der Aether eine
etwas andere Beschaffenheit besitzt, welche die Umstimmung in den
Atomen anregt.
Clausius hat sich ein grosses Verdienst erworben durch die
Begründung, die mathematische Formulirung und die Anwendung
des Gesetzes der Entropie. Aber es darf nicht vergessen werden,
dass seine Gültigkeit im Sinne des Autors nur für die uns bekannten
Verhältnisse nachgewiesen ist und daher wegen der Lückenhaftigkeit
unserer Kenntnisse auch nicht einmal für die Endlichkeit als all-
gemein betrachtet werden darf.
Im entschiedenen Irrthum aber befinden sich diejenigen, welche
die Entropie für die Ewigkeit in Anspruch nehmen. Würde sie
selbst alle Naturprocesse in unserer Zeit und in unserem Raum be-
herrschen, so dürfte sie doch nicht als Grundlage einer absoluten
oder philosophischen Weltanschauung benutzt werden. Diese Hesse
sich, wie ich bereits angedeutet habe, noch anschaulicher in ihrer
Absurdität nachweisen als die übrigen naturphilosophischen Welt-
anschauungen. Der Grund dieses Vorzuges ist einleuchtend. Da
aus dem Endlichen nicht auf das Ewige geschlossen werden kann,
so lässt sich der Trugschluss um so leichter als solcher durch-
schauen, je klarer und exacter das Endliche gedacht wird.
AVir können, um uns die philosophischen Weltanschauungen
vorstellbarer zu machen, dieselben als Curven verzeichnen. Für die
physicalisch-philosophische, welche die Welt aus einer ursprünglichen
Gasmasse sich verdichten und zuletzt erstarren lässt,. geben die
Ordinaten den Grad der Verdichtung an, während die Zeiten auf
der Abscissenaxe aufgetragen werden (Fig. 27). Die Curve nähert
sich von dem Nullpunkt der Gegenwart aus rückwärts nach der
unendlichen Vergangenheit immer mehr der Abscissenaxe, vorwärts
nach der unendlichen Zukunft immer mehr einer Abscisse, deren
Ordinaten dem grössten Grad der Verdichtung entsprechen. — Die
idealistisch -philosophische Weltanschauung gibt uns die gleiche
622
Zusätze.
Curve, wenn wir den zu jeder Zeit erreichten Grad der Vervoll-
kommnung als Ordinate auftragen.
T'ig. 27.
Wir können aber auch die Grcisse (Intensität) der Veränderung
während der Zeiteinheit als Maass für die Ordinaten benutzen, indess
die Zeiten paeder als negative oder positive Entfernungen auf der
Abscissenaxe erscheinen (Fig. 28). Die Curve der beiden vorgenannten
Weltanschauungen nähert sich dann sowohl in der unendlichen
Vergangenheit als in der unendlichen Zukunft immer mehr der
Abscissenaxe, während ihr Höhepunkt in einer endlichen Entfernung
vor oder nach dem zeitlichen Nullpunkt der Gegenwart sich be-
findet ; die aufsteigende und die absteigende Hälfte der Curve können
einander mehr oder weniger ungleich sein.
Fig. 28.
Für die materialistisch-philosophische Weltanschauung wird die
Curve, wir mögen die Vollkommenheit oder einen anderen Zustand
der Welt oder die Intensität der Veränderung während der Zeit-
einheit durch die Länge der Ordinaten ausdrücken, eine mit der
Abscissenaxe im allgemeinen parallel laufende Linie, die je nach
der A^orstellung gerade oder wellenförmig sein kann, aber sich der
Abscissenaxe auf die Dauer weder nähert, noch sich von derselben
entfernt.
4. Bedingungen für empirisches Wissen und Erkennen. Morphologische
Wissenschaften (S. 580).
Es herrschen bezüglich des Wissens und Erkennens innerhalb
des Gebietes der Erfahrung verschiedene Ansichten, die denn auch
4. Bedin<rungcn für empirisches Wissen und Erkennen. 623
für die Feststellung der Schranken maassgebend sind. Ich bin von
folgenden Gesichtspunkten ausgegangen, wobei ich alle Vorstellungen
als ursprünglich aus der Erfahrung herstammend betrachtete; ich
verweise hierüber auf den folgenden Zusatz: »Ueber die Apriorität
der Erkenntnisse«.
Dem Erkennen muss das Wissen vorausgehen, dem Wissen die
Wahrnehmung. Das Nervensj'stem empfängt sinnliche Eindrücke
und macht Wahrnehmungen, indem es durch die Schwingungen des
Aethers und der Luftmoleküle, durch Berührung von gasförmigen,
flüssigen und festen Körpern eigenartig afficirt wird. In Folge einer
langen Erfahrung und einer langen Arbeit von geistiger Vermittlung
gelangt das Kind zu der Vorstellung äusserer Gegenstände von ver-
schiedener Gestalt, verschiedener Beschaffenheit und verschiedener
räumlicher Lage. Damit sind die ersten Beobachtungsthatsachen ge-
wonnen, welche in der Folge mannigfaltiger, complicirter und genauer
werden.
Die Beobachtungsthatsachen oder Thatsachen schlechthin, wie
sie häufig genannt werden, sind durchaus concreter Natur. Sie sind
aller nicht unmittelbar gegeben und nicht als solche auch unbedingt
richtig ; vielmehr werden sie erst durch die allerdings unbewusst er-
folgenden Schlüsse eines geschulten Verstandes erlangt. Ein Blind-
geborener, der plötzlich die Sehkraft gewinnt, muss, obgleich er bereits
eine Menge richtiger Vorstellungen über die Aussenwelt besitzt, doch
ziemlich lange Erfahrungen erwerben, bis er richtig sieht. — Auch
der Geübte macht unrichtige Beobachtungen, wenn Sinnesstörungen
vorkommen oder wenn sein Verstand unrichtig urtheilt. Eine Be-
obachtung kann aber dann als ganz sicher und als Thatsache gelten,
wenn der Beobachter bei normaler Beschaffenheit seiner sinnlichen
und geistigen Anlagen sie immer wieder in der gleichen Weise macht,
und wenn auch Andere dasselbe Resultat erhalten.
Aus den concreten oder Beobachtungsthatsachen werden durch
weitere Schlussfolgerungen allgemeine (abgeleitete) Thatsachen , ge-
wöhnlicli Gesetze oder Regeln, auch Principien genannt, gewonnen.
Sie sind gewiss, wenn die zu Grunde gelegten Beobachtungsthatsachen
gewiss, und wenn das logische Verfahren richtig ist. Letzteres kann
inductiv sein, indem aus einer Vielheit von Einzelfällen, oder de-
ductiv, indem aus einem durch Erfahrung gewonnenen Princip ein
Gesetz abgeleitet wird. Die Mathematik hat bloss ihre allerersten
624 Zusätze.
Sätze inductiv erlangt; von da aus verfährt sie rein deductiv. Die
Physik bedient sich abwechsehid der Induction und der Deduction.
Die beschreibenden Naturwissenschaften kennen nur das inductive
Verfahren ; sie vermögen wegen der Comphcirtheit der Erscheinungen
die Al)leitung aus allgemeinen Principien noch nicht anzuwenden.
Unsere Vorstellungen über allgemeine (abgeleitete) Thatsachen
sind um so sicherer, je mehr sie auf Deduction fussen, weil wir den
deductiven Schluss als einen Vorgang, der unserem Verstände allein
angehört, vollständiger überwachen können. Dabei wird natürlich
vorausgesetzt, dass die Principien, aus denen geschlossen wird, richtig
seien. Daher ist die Mathematik die festbegründetste Wissenschaft.
Ihr folgt im Pange die Physik, deren Inhalt eben dadurch einen
so hohen Grad der Gewissheit erlangt, weil sie zugleich auf induc-
tivem und deductivem Wege zu ihren Resultaten gelangt (experimen-
telle und mathematische Physik). Die Naturphilosophie hat das
deductive Verfahren, statt wie die Physik auf einzelne Naturprocesse,
auf die Totalität der Natur anwenden wollen und ist mit allen ihren
Versuchen gescheitert, weil sie nicht von sicheren Principien aus-
zugehen vermochte. So musste sie denn auch, um die Theorie einiger-
maassen mit der Wirklichkeit in Ueberein Stimmung zu bringen, die
willkürlich gesetzten Principien durch willkürliche und unlogische
Deductionen corrigiren.
Die Deduction gibt nur auf dem formalen (mathematischen) Gebiet
und auf den einfachsten realen Gebieten, die Induction überhaupt
nur in wenigen Fällen vollkommene Gewissheit. Die nicht voll-
kommene Gewissheit wird als Wahrscheinlichkeit bezeichnet. Wo
auch Wahrscheinlichkeit nicht gewonnen werden kann, lässt sich
meistens ermitteln, ob eine bestimmte Vorstellung möglich oder un-
möglich ist. Man kann die Vorstellungen von den natürlichen Dingen
somit in drei Gruppen bringen, in gewisse, wahrscheinliche
und mögliche.
In manchen Beziehungen ist es von Nutzen, die Vorstellungen
in zwei Kategorien zu scheiden. Dann sind die einen die That-
sachen, die andern die Meinungssachen. Wir betrachten die
ersteren als sicher, weil sie direct bewiesen sind oder weil das Gegen-
theil als unmöglich erscheint. Zu ihnen gehören im strengen Sinne
nur die concreten oder Beobachtungsthatsachen und die allgemeinen
oder abgeleiteten Thatsachen (Gesetze). Gewöhnlich rechnen wir
4. Bedingungen für oin]jiri.schc.s Wissen und Erkennen. (325
aber zu den Tluitsachen auch diejenigen Vorstellungen, für welche
bloss eine sehr grosse Wahrscheinlichkeit besteht. — Jeder menschliche
Körper besitzt, soweit wir darüber Erfahrung haben, Herz, Lunge,
Magen. Es muss im strengeren Sinne als Thatsache angesehen
werden, dass auch alle anderen Menschen, von denen wir aus directer
Erfalirung nichts wissen, mit diesen Organen begabt sind , weil sie
ohne dieselben nicht leljen könnten. Alle menschlichen Körjjer,
welche zergliedert wurden, enthielten auch eine Milz, und die Ana-
tomen betrachten es ebenfalls als gewiss, dass es keinen milzlosen
Menschen gebe, obgleich in dieser Beziehung zur Zeit nur eine sehr
grosse Wahrscheinlichkeit besteht , da man nicht weiss , wozu die
Milz dient, daher die Nothwendigkeit ihres Daseins nicht darthun
und ihren Mangel nicht als unmöglich erweisen kann.
Diejenigen Vorstellungen, deneivnurein geringerer oder grösserer
(aber nicht überwältigender) Grad von W^ahrscheinlichkeit zukommt,
oder die bloss als möglich erscheinen, werden als Meinungs-
sachen bezeichnet. Sie schliessen das Gegentheil nicht aus, und
es sind daher über das nämliche Ding verschiedene Meinungen ge-
stattet, indem weder die eine noch die andere einen logischen Fehler
begeht. So ist es beispielsweise möglich, dass die Planeten bewohnt
sind, und wahrscheinlich , dass Thiere und Pflanzen von den näm-
lichen oder wenigstens einander sehr ähnlichen Urwesen abstammen.
Die Thatsachen und die Meinungssachen umfassen zusammen
das Gebiet des Wissens, d. h. alles dessen, was als dem Wissen niclit
unzugänglich erachtet werden muss. Daneben gibt es ein ganzes
Gebiet von Vorstellungen, die entweder als mit den Natur- und
Denkgesetzen unverträglich, demnach als physisch unmöglich er-
scheinen, oder die nach den Natur- und Denkgesetzen gar nicht
l)eurtheilt werden können, somit ausser oder über denselben stehen.
Alle diese Vorstellungen werden als Glaubenssachen bezeichnet
und stellen in ihrer Gesammtheit das Gebiet des Glaubens, im Gegen-
satze zu dem des Wissens dar.
Offenbar sind die in dem Glaubensgebiete vereinigten Vor-
stellungen ganz ungleicher Art und scheiden sich in zwei scharf
geschiedene Gebiete. Das eine umfasst alle Vorstellungen von den
übernatürlichen Dingen und ist trän scend on ter Glaube. Das
andere enthält die unnatürlichen und ^\^dernatürlichen Vorstellungen
von den wirklichen endlichen Dingen und ist Aberglaube.
V. Nägel i, AUstaiuiiiungslehre. 40
626 Zusätze
Richtiger als die Dreitheiluiig in Thatsachen, Meinungssachen
und Glaubenssachen wäre daher die Unterscheidung der Gesammtheit
unserer Vorstellungen in solche über die Dinge der endlichen
physischen Welt und solche über die ewige metaphysische
Welt. Die ersteren gehören dem Gebiete des Wissens an, wenn
sie Vernunft- und naturgemäss sind (Thatsachen und Meinungssachen)
oder dem Gebiete des Aberglaubens, wenn sie Vernunft- und
naturwidrig sind. Die letzteren sind transcendenter Glaube,
wenn sie das Ewige und Göttliche anerkennen, und Unglaube,
wenn sie es leugnen.
Nicht Alles, was wir wissen, ist auch Erkenntniss. Gerade die
concreten oder Beobachtungsthatsachen, die der o])jective Natur-
forscher oft als das Sicherste oder selbst als das einzig Sichere in
unserem Wissen betrachtet, sind -am weitesten davon entfernt, erkannt
zu sein. Um von dem blossen Wissen zum Erkennen fortzuschreiten,
muss eine Vorstellung mit anderem Wissen zusammengelialten werden
und eine Reihe von Denkprocessen durchlaufen. Sehr häufig knüpft
man an die Erkenntniss eines Dinges die Bedingung, dass seine
Noth wendigkeit begriffen , dass also dargethan werde , wie es die
logische Folge von etwas Anderem sei. Dies ist das begreifende
oder u r s ä c h 1 i c h e Erkennen. Diesem Erkenntnissgebiete gehört
der Inhalt der Mathematik vollständig an und aus den realen Wissen-
schaften alle Gesetze , insofern die Thatsachen , aus denen sie als
noth wendig gefolgert werden , Gewissheit oder wenigstens eine der
Gewissheit nahe kommende Wahrscheinlichkeit gewähren. Die Astro-
nomie und die übrigen Theile der Phj^sik bieten uns viele Beispiele
des ursächlichen Erkennen s dar.
Die ursächliche Erkenntniss ist mehr oder weniger vollständig
bezüglich aller der Momente, die bei complicirten Erscheinungen in
Betracht kommen , und mehr oder weniger vollkommen bezüglich
der einzelnen Vorstellungen, aus denen sie sich zusammensetzt. Daher
ist Umfang und Grenze des Erkenntnissgebietes verschieden je nach
den mehr oder weniger strengen Anforderungen, die man stellt. Es
lassen sich selbst diese Anforderungen so hoch schrauben, dass das
Erkennen zur Unmöglichkeit wird. Dies ist dann der Fall, wenn
man verlangt, dass die Ursachen einer Erscheinung nicht nur als
gewiss nachgewiesen, sondern auch selber ursächlich erkannt seien. —
Die astronomische Erkenntniss beruht auf der Kombination der Kräfte,
4. Bedingungen für empirisches Wissen und Erkennen. 627
mit denen sich die Weltkörper nach Masse und Entfernung anziehen,
und derjenigen Kräfte, die aus Masse und Bewegung sich ergeben.
Hieraus lässt sich , was am Himmel vorgeht , begreifen und auch
voraussagen, was in der Folge dort geschehen wird. Die Astronomie
wäre aber nicht mehr Erkenntniss, sondern bloss Wissen und Kunst,
wenn zur Erkenntniss auch das Begreifen der Gravitation und der
Bewegung gefordert würde.
Die Berechtigung so weit gehender Forderungen kann an und
für sich nicht bestritten werden, wohl aber die Berechtigung, sie als
die Bedingung der Erkenntniss zu erklären. Denn unter Erkenntniss
versteht der Spracligebrauch etwas anderes, nämlich menschliches
und nicht unmögliches Begreifen. Das mögliche ursächliche Erkennen
begnügt sich damit, je auf die nächsten Ursachen zurückzugehen.
Das göttliche oder transcendente Erkennen, welches \ns auf die erste
Ursache sich versteigen will, gehört nicht mehr der menschlichen
Erkenntnisslehre an.
Nur wenige Gesetze der Physik gewähren eine so vollkommene
ursächliche Erkenntniss wie die astronomischen. Von manchem der
physicalischen Gesetze wird für unsere Einsicht nicht viel mehr
geleistet, als dass die Erfahrungsthatsachen einen mathematischen
Ausdruck erhalten , welcher es möglich macht , das Resultat eines
natürlichen Vorganges im Voraus arithmetisch genau festzustellen.
Man kann aber auch im letztern Falle mit einem gewissen Recht
von Erkenntniss sprechen, weil das Erfassen eines Dinges nach seinen
genauen Maassen über das gewölmliche Wissen hinausgeht.
So verhält es sich auch, wenn zwei verschiedene Dinge nach
einem bestimmten Maass verglichen und ihre ^'erschiedenheit, somit
der relative Werth jedes einzelnen, in exacter Weise ausgedrückt
werden können, mag nun das Maass in der Längen- und Gewichts-
einheit oder in der Zahl und Anordnung gleichartiger Theile oder
in irgend etwas Anderem bestehen. Desswegen habe ich von mes-
sendem Erkennen gesprochen und dasselbe als eine dem Wissen
nach (mit Rücksicht auf Gewissheit) gleichwerthige, aber für die Be-
dürfnisse des Verstandes tiefere Stufe dem begreifenden oder causalen
Erkennen vorausgehen lassen.
Ich glaube damit um so eher das Richtige getroffen zu haben,
als wir sonst den morphologischen Wissenschaften, trotz ihrer hohen
Ausbildung, den Erkenntnissgehalt ganz absprechen müssten. An-
40*
628 Zusätze.
erkanntermaassen ist ein blosses Aggregat von Thatsachen, also von
Gewusstem, noch keine Wissenschaft; wenigstens müssen die That-
sachen vergHclien und geordnet werden, damit man von wissen-
schafthcher Behandlung sprechen darf. Stellt man nun an diese
Behandlung die strengen Forderungen der exacten Methode und
gesteht man dann dersell)en die Berechtigung des (messenden) Er-
kennens zu, so können wir den eigentlich wissenschaftlichen Gehalt
einer Disciplin ihrem Erkenntnissgehalte gleichsetzen.
Unter den morphologischen Wissenschaften nimmt die Chemie
den ersten Rang ein. Von ihr sagt Du Bois Reymond, dass
sie in unserer Zeit von dem Ziele, eine Wissenschaft in seinem
Sinne zu werden, scheinbar weiter entfernt sei als zu Kant 's Zeiten.
Die Chemie hat sich seit 30 und mehr Jahren fast ausschliesslich
mit der Constitution der Verbindungen beschäftigt. Sie ist nicht, wie
]nan früher wohl erwarten mochte, zunächst eine physicalische (vor-
zugsweise thermische und elektrische), sondern eine beschreibende
oder besser morphologische Wissenschaft geworden. Den Namen
einer Wissenschaft aber verdient sie gewiss in hervorragender Weise,
wenn wir unter wissenschaftlicher Methode das Verbinden von sicheren
Beobachtungsthatsachen durch logisch richtige Schlüsse und das
nach Maass und Zahl exacte Erkennen verstehen. Dies müsste selbst
als unanfechtbar gelten, wenn die chemischen Moleküle und Atome
eine Hypothese wären, wofür sie noch von manchen, besonders von
beschreibenden Naturkundigen gehalten werden! Da dieselben aber
nicht mehr zu den Meinungssachen, sondern zu den wirklichen
Thatsachen gehören^), so hat die Chemie eine höhere Stufe wissen-
*) Ich will nicht die verschiedenen Gründe wiedei-holen , die uns zu der
Annahme nöthigen, dass die Materie nicht homogen ist, sondern aus discreten
Theilchen besteht. Dagegen weise ich darauf hin, dass die neuere mathematische
Physik von diesen Theilchen, soferne sie gasförmig sind, die in einem gegeljenen
Räume enthaltene Anzahl , das Gewicht Jedes einzelnen und die mittlere Ge-
schwindigkeit seiner fortschreitenden Bewegung ermittelt hat, dass aus dem Ge-
wicht der Theilchen unmittelbar auch das Volumen, welches ein jedes im flüssigen
und festen Zustande einnimmt, hervorgeht, dass dieses Volumen mit dem nach
anderer Methode für den flüssigen und festen Zustand berechneten Volumen der
kleinsten Theilchen übereinstimmt, — dass ferner Physik und Chemie die kleinsten
Theilchen der gasförmigen Elemente oder die Moleküle als aus zwei gleichen
Hälften (Atomen) bestehend nachgewiesen haben, dass also die kleinsten Theilchen
der chemischen Elemente im flüssigen und festen Zustande die gleiche Beschaö'en-
heit besitzen, und dass von dieser Gmndlage aus ih'r morphologische Aufbau der
4. Bedingungen für empirisches Wissen und Erkennen. 020
schaftlicher Ausbildung erlangt als irgend eine andere niorpliologische
Disciplin, und zwar desswegen, weil ihr niori)hologischer Inhalt
durch ein viel grösseres Maass causalistischen (physicalischen) Gehaltes
gestützt wird.
Als Wissenschaft erweist sich die Clieniie namentlich auch durch
den Umsümd, dass sie vermöge ihrer Einsicht in das Wesen der
Verbindungen den sicheren Weg, auf dem noch unbekannte und
bisher nicht existirende Verljindungen dargestellt werden, sowie deren
Eigenschaften nebst der genauen Zusammensetzung zum Voraus
angeben kann.
Die Chemie baut ihre Verbindungen (Moleküle) aus den Element-
atomen auf. Dass diese Atome rücksichtlich ihrer Eigenschaften
noch wosontlich unbekannte Körperchen sind, thut der messenden
Erkenntniss der chemischen Verbindungen keinen Eintrag. Es genügt,
dass die Existenz der Elementatome gewiss ist, dass ihr relatives Ge-
wicht genau und ihre gegenseitige Verwandtschaft genügend bekannt
sind. Dadurch werden dieselben befähigt, als exactes Maass zu dienen,
so gut als Meter, Gramm, Secunde vollkommene Maasse sind, ohne
dass wir w^eiter etwas von ihrem Wesen wissen.
Einer hohen morphologischen Ausbildung ist auch die Botanik
fähig. Ihre Bausteine, nämlich die Zellen, sind zw^ar sehr complicirte
und in Folge dessen auch in ihrem ursächHchen Wesen ganz un-
bekannte Körper. Für die messende Erkenntniss der pflanzlichen
Bildungen, besonders auf den einfacheren Stufen des Reiches, eignen
sie sich aber in vorzüglicher Weise. Da hier die ganze Pflanze und
meistens auch ihre einzelnen Organe mit einer einzigen Zelle beginnen
und durch Zelltheilung (Scheidewandl)ildung in den Zellen), die in
ganz bestimmten und constanten Richtungen erfolgt , wachsen , so
lässt sich der morphologische Aufbau wenigstens auf die allernächste
Ursache zurückführen und daher die Bedeutung der verschiedenen
oft sehr complicirten Bildungen aus der Entwicklungsgeschichte er-
kennen. Dabei bleibt die ursprüngliche Regelmässigkeit in der An-
ordnung der Zellen oft zeitlebens erhalten und weist deutlich auf
eine regelmässige Entwicklung hin. Oft al)er wird die ursprüngliche
chemischen Verl)indungen, nicht IjIoss der einfachen, sondern selbst ziemlich zu-
sammengesetzter, ausgeführt wird, was in vielen Fällen mit vollkommener Ge-
wissheit geschehen kann, weil die Miiglichkeit einrr amlercn Annahme ausge-
sclilossen ist.
630 Zusätze.
regelmässige Anordnung späterhin gestört, und man kann in der
scheinbar chaotischen Zusammenlagerung der Zellen bloss mit Hilfe
des erkannten gesetzmässigen Wachsthums sich zurechtfinden. —
Auf den höheren Stufen des Pflanzenreiches, wo der innere Bau
wegen der grossen Complicirtheit scheinbar ganz unregelmässig ge-
worden ist, lässt sich auf seine Gesetzmässigkeit aus der vollkommen
regelmässigen Anordnung der seitlichen Organe schliessen.
Noch deutlicher tritt uns das gesetzmässige Werden entgegen,
wenn wir die morphologischen Erscheinungen in der Pflanzenwelt
nicht bloss nach ihrer ontogenetischen , sondern auch nach ihrer
phylogenetischen Entwicklungsgeschichte betrachten. Ich habe in der
Abhandlung: Mechanisch-j^hysiologische Theorie der Abstammungs-
lehre (VII. Phylogenetische Entwicklungsgescliichte des Pflanzen-
reiches und IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische
Wissenschaften) die Entwicklungsgesetze und ihre Anwendung dar-
zulegen versucht. Obgleich diese Wissenschaft noch im ersten
Kindlieitsstadimn und wegen Mangels an hinreichendem brauch-
baren Beobachtungsmaterial noch sehr unvollkommen ist, so lässt
sich doch jetzt schon von vielen Pflanzenformen mit Sicherheit an-
geben, wie die Formen, aus denen sie phylogenetisch hervorgegangen
sind, gebaut w^aren, und wie die Formen, in welche sie sich phylo-
genetisch mnwandeln werden, beschaffen sein müssen.
Schon die Einsicht in bestimmte ontogenetische und jjhylo-
genetische Gtesetze ist ein Beweis von Wissen und Erkennen; als
ein noch besseres Zeugniss davon muss es angesehen werden, w^enn
wir die phylogenetische Entwicklungsbahn eines Organismus —
analog wie die Bahn eines Kometen — sei es auch vorerst nur auf
eine kurze Strecke zu bestimmen und in der künftigen Gestaltung
eines Organismus ein kommendes Ereigniss — analog wie eine
Sonnenfinsterniss — vorauszusagen vermögen.
5. Apriorität.
a) Des Gravitationsgesetzes (S. 581).
Man hat das Gravitationsgesetz als unabhängig von unserer
Erfahrung und schon in unserer Vernunft begründet darstellen wollen.
Allein es ist klar, dass die Anzielmng im Verhältniss des umgekehrten
5. Apriorität. 631
Quadrats der Entfernung nichts anders ist als das Gesetz der Er-
haltung der Kraft mit Beziehung auf den Raum*). Wie die Summe
der lebendigen und Spannkräfte in einem bestimmten System durch
alle Zeiten die nämliche bleibt und sich somit als unabhängig von
der Zeit darstellt, so sagt uns das Gravitationsgesetz bloss, dass
die Gesammtanziehung, die von einer bestimmten Masse aus-
geübt ward, auf jede Entfernung die nämliche bleibt, also unabhängig
vom Räume ist.
Von den Versuchen, das Gravitationsgesetz a priori zu erklären,
führe ich den von Kant an. Derselbe sagt: dieses Gesetz scheine
als nothwendig in der Natur der Dinge selbst zu liegen und pflege
daher auch als a j^riori erkennbar vorgetragen zu werden, und fährt
fort: xSo einfach nun auch die Quellen dieses Gesetzes sind, indem
sie bloss auf Verhältnisse der Kugelfläche von verschiedenen Halb-
messern beruhen, so ist doch die Folge davon so vortrefflich in An-
sehung der Mannigfaltigkeit ihrer Zusammenstimmung, dass kein
anderes Gesetz der Attraction, als das des umgekehrten Quadrat-
verhältnisses der Entfernungen zu einem Weltsystem als schicklich
erdacht werden kann. Hier ist also Natur, die auf Gesetzen beruht,
welche der Verstand a priori erkennt, und zwar vornehmlich aus
allgemeinen Principien der Bestimmung des Raumes. — So ist
der Verstand der Ursprung der allgemeinen Ordnung
der Natur, indem er alle Erscheinungen unter seine
eigenen Gesetze fasst.«
Man vermisst in diesem Beweise, da er etwas Unmögliches
leisten soll, die gewohnte Klarheit und Schärfe des Philosophen.
Was sagt uns das Gravitationsgesetz ? Dass die Anziehung zwischen
einem Gravitationseentrum und verschiedenen Kugelschalen von
gleicher Dicke und Dichtigkeit aber ungleichen Radien gleich gross
ist, und dass somit die Anziehung zur Masseneinheit in den ver-
schiedenen Kugelschalen sich umgekehrt wie das Quadrat der Radien
verhält. Die Gravitation wirkt nach allen Richtungen und die Summe
aller Anziehungen, die ein Gravitatioiiscentrum auszuüben vermag,
ist auf alle Entfernungen dieselbe. Eben so verhält es sich mit allen
andern Kräften. Bei allen bewährt sich der Satz der Identität. Gäbe
*) Ueber die Apriorität der Mathematik s. den zweiten, über die Ai)riorität
des Causalgesetzes (und des GesetJüps der jMliultung dvr Kraft) s. den dritten
Theil dieses Zusatzes.
632 Zusätze.
es eine Kraft, die nur nach Einer (linearen) Richtung wirkte, so
wäre die Anziehung oder Abstossung auf die Masseneinlieit unzweifel-
haft in allen Entfernungen die gleiche.
Das Gravitationsgesetz ist ein Erfahrungssatz. Um seine Apri-
orität nachzuweisen, um es unmittelbar aus unserer Vernunft ab-
zuleiten, müsste gezeigt werden, dass in den Begriff der Anziehung
auch schon die besondere Art ihrer Wirkung eingeschlossen und
dass eine andere Art unlogisch und unmöglich sei. Nun wäre es
aber nichts Absurdes für unsern Verstand , wenn die Gesammt-
anziehung mit der Entfernung zu oder abnehmen, wenn also die
Anziehung zur Masseneinheit sich in grösserem oder geringerem
Verhältniss als nach dem umgekehrten Quadrat der Entfernung
verhalten würde. Dies möchte wohl eben so »schicklich« für die
Erhaltung des Gleichgewichtes im Weltensystem sein ; nur würde
das Gleichgewicht eine etwas andere Gestalt annehmen.
Im Gegensatz zu der eben besprochenen Annahme, wonach
das Gravitationsgesetz nicht bloss durch die Erfahrung, sondern
auch durch die Logik l)ewiesen wäre, steht die Behauptung Anderer,
dass dieses Gesetz eine untere Grenze wirklich besitze und möglicher
Weise auch eine obere Grenze haben könne, d. h. dass es für un-
messbar kleine Entfernungen nicht mehr gelte und vielleicht auch
nicht für die allergrössten Entfernungen. Diese Behauptung ist
rationell unwahrscheinlich und w^ird auch durch die Erfahrung nicht
wahrscheinlich gemacht. Allerdings wird die Anziehung in unmess-
bar kleinen Abständen anders, aber nicht weil das Gravitations-
gesetz sich ändert, sondern weil jetzt überdem Molecularkräfte wirk-
sam werden.
Dass aber Molecularkräfte in geringster Entferimng gegenüber
der Gravitation eine gesteigerte Wirksamkeit erlangen, rührt nicht
etwa davon her, dass dieselben bezüglich des Raumes ein anderes
Verhalten zeigen, und dass sie, wie man etwa sich ausdrückte, im
umgekehrten Verhältniss einer höheren Potenz der Entfernung wirken.
Die moleculare Anziehung und Abstossung hat gleichfalls den Coeffi-
cienten -^. wenn d iVm Abstand zweier Kraftcentren bedeutet. Da
d
aber die verschiedenen molecularen Kraftcentren sehr nahe bei-
sammen liegen, so ändert sich ihr Effect auf einen fernen Körper,
sobald dif^ser sich so sehr nähert, dass d der gleichen Grössenordnung
5. Apriorität. ß33
angehört wie die moleculai'en Entfernungen. Die Differenz zwischen
Anzielunig und Abstossung, welche 2 moleculare Kraftcentren auf
enien andern Körper ausüben, sei ^^, — ^j^^y, worin e die geringe
Grösse ausdrückt, um welche das eine von dem betreffenden Körper
weiter a])st€ht. Solange nun e im Verhältniss zu d verschwindend
klein ist, wird dieGesammtwirkung bloss durch d beeinflusst. Erreicht
aber in Folge der Annäherung e gegenüber von d einen bemerk-
l)aren Werth, so übt es auch auf die Gesammtwirkung einen ent-
scheidenden Einfluss aus und kann dieselbe selbst bis zum entgegen-
gesetzten Vorzeichen verändern').
Es liegt also in dem scheinbar abweichenden A'erhalten der
Molecularkräfte kein Grund vor zu der Beljauptung, dass die
Wirkung der Kräfte zu sehr kleinen Entfernungen eine andere Be-
ziehung zeige als zu grösseren.
b) Apriorität der Mathematik (S. 582).
Die Philosophen streiten sich ül)er die Apriorität der Mathe-
matik. Die Naturforscher werden wohl unljedingt die Neigung haben,
die mathematischen Vorstellungen in gleicher Weise zuStande kommen
zu lassen, wie alle übrigen. Ein Mensch, der ohne Sinnesorgane
aufwüchse und keine Eindrücke von aussen empfinge, also auch
nichts von seinem körperhchen Ich erführe, w^äre wde eine Pflanze
beschaffen; er hätte auch keine Vorstellung von Zahl und Grösse.
Er könnte weder die Zahl 5 seiner Finger, noch ein Dreieck und
einen Kreis construiren. Solche Vorstellungen erlangt er bloss durch
die sinnhche Wahrnehmung. Ohne letztere wüsste er nicht, dass es
Dinge ausser ihm gibt; ohne sie wüsste er nicht einmal von seiner
eigenen Existenz, denn dieses Bewusstsein entspringt aus dem
Gegensatze des Ich mit der Aussenwelt.
Die Mathematik wie alles andere Wissen kann also nur aus
der Erfahrung hervorgehen ; ihre Grundlagen sind die allgemeinsten
Begriffe derselben, und in dieser weitest gehenden Verallgemeinerung
beruht ein wesentliches Moment ihrer Stärke. Die allgemeinste
») Ich verweise übrigens auf die folgende AMiandlung: Kräfte und Ge-
staltungen im muleculareu Gebiet.
634 Zusätze.
Abstraction der sinnlichen Wahrnehmung ist die, dass es überhaupt
Dinge gibt und dass dieselben mehr oder weniger verschieden von
einander sein können.
Ein anderes Moment der Stcärke der Mathematik beruht darin,
dass sie innerhalb der eben angeführten Abstraction die einfache
Identität zur Basis ihrer Operationen macht mid daraus ihre Sätze
logisch ableitet. In der That kann nichts Unzweifelhafteres voraus-
gesetzt werden, als dass etwas sich selbst (oder einem Andern, das
es selbst ist) gleich sei, a = a.
Eine solche Identität gilt auch für den Satz, mit dem die Mathe-
matik des Raumes beginnt, dass zwei parallele Linien sich nicht
schneiden und keinen Raum einschliessen. Es ist zwar die Behauptung
aufgestellt worden, dass in diesem Satze ein unbewiesenes, von unserem
Verstände hineingelegtes Axiom enthalten sei und dass aus dem
Parallelismus das Sichnichtschneiden noch nicht nothwendig folge.
Das Irrthümliche einer solchen Behauptung rührt augenscheinlich
daher, dass der Begriff der Linie in doppelter Weise gefasst werden
kann, und dass beim Ueberspringen von dem einen auf den andern
leicht der Eindruck einer Lücke erhalten wird.
Die Linie ist einmal die Begrenzung einer Fläche ; ferner ist sie
die Bewegung eines Punktes (z. B. des Schwerpunktes eines Körpers).
Halten wir uns ausschliesslich an den einen oder an den andern
dieser beiden Begriffe, so tritt die Identität als einzige Voraussetzung
in dem Satze des Parallelismus klar zu Tage. Sind die zwei paral-
lelen Linien die Seiten eines Rechteckes, wodurch ja eben der überall
gleiche Abstand postulirt ist, so bleiben sie parallel, behalten den
gleichen Abstand, schneiden sich nicht, wenn wir uns das Rechteck
länger und länger, zuletzt unendlich lang denken. Sind die zwei
parallelen Linien dagegen zwei sich bewegende Punkte, was nichts
anderes heisst, als dass die Bewegungen eine Strecke weit den gleichen
Abstand einhalten , so müssen sie parallel bleiben , auch wenn die
Bewegung ins Unendliche sich fortsetzt; denn mit der Abweichung
vom Parallelismus würden sie den vorausgesetzten Charakter verlieren.
Der Parallelisnuis und das Nichtschneiden sind also identische
Begriffe, was nur dann nicht sofort ersichtlich wird, wenn man die
linienförmige Begrenzung in die linienförmige Bewegung (die beiden
einzigen Begriffe, unter denen uns die Linie anschaulich ist) über-
gehen lässt. Zeichnen wir zwei parallele Striche auf das Papier, so
5. Apriorität 635
dürfen wir uns nicht einfach die Frage vorlegen, wie sich dieselben
verhalten werden, wemi wir sie ins Unendliche verlängern ; sondern
wir müssen uns zuerst darüber klar sein, wie sie zu Stande gekommen
sind und w'as sie bedeuten , und ferner müssen wir uns ebenfalls
klar machen, was ihre Verlängerung bedeuten soll.
Auf den Einwurf, dass die Identität selber ein aprioristisches,
vor aller Erfahrung unserem Verstände an gehöriges Gesetz sei, wäre
zu erwidern, dass der Vorstellung von der Gleichheit zweier Dinge
doch unbedingt diejenige von dem Dasein von Dingen vorausgehen
muss. Nun erfahren wir erst durch die sinnliche Wahrnehmung,
dass es überhaupt Dinge gibt, und gleichzeitig erfahren wir durch
die nämliche sinnliche Wahrnehmung, dass diese Dinge einander
sehr unähnlich, aber auch w'ieder so ähnlich sein können, dass wir
sie nicht von einander zu unterscheiden vermögen. Es ist somit
der Grundsatz aller mathematischen Betraclitung auf empirischem
Wege gewonnen worden.
c) Apriorität als allgemeines Princip.
Die allgemeine philosophische Streitfrage, ob alles Wissen durch
A^ermittlung sinnlicher Wahrnehmung gewonnen werde, oder ob es
auch Erkenntnisse a j^riori gebe, würde hier keine Erwähnung finden,
da sie durch die Beschränkung des Wissens auf das Endliche und
durch die fernere Erwägung, dass das Endliche nur monistisch auf-
gefasst werden kann, erledigt scheint, — wenn nicht neuere deutsche
Physiologen sich für die Apriorität und somit indirect , vielleicht
ohne volles Bewusstsein, in dualistischem Sinne ausgesjjrochen hätten.
Die Frage ist also, ob es Denkgesetze gebe, die aller Erfahrung
vorausgehen, ob unserem Verstände Ideen angeboren seien , ob das
Gesetz der Causalität schon ursprünglich in uns liege, ob das Gesetz
von der Erhaltung der Kraft uns von der Natur geschenkt mid nicht
durch die mühsame Arbeit von Jahrtausenden errungen worden sei,
ob die Idee des Raumes und der Zeit unserem A'^erstande von der
Natur vorgeschrieben und nicht erst aus der Natur geschöpft wurden.
Es ist zweckmässig , sich vollständig der Folgen bewusst zu
w^erden, zu denen diese Annahmen nothwendig führen. Wenn unser
Verstand von sich aus den Begrifl: des Allgemeinen hat, so müssen
636 Zusätze
ihm aiicli sclion die Theilbegriffe eigen sein, die dem Allgemeinen
untergeordnet «ind, oder er muss sie wenigstens ohne äussere Hilfe
entwickeln können. Wenn die Idee des Raumes schon ursprünglich
in ihm ist, so besitzt er auch die Vorstellung der 3 räundichen
Dimensionen und die Vorstellung ihrer partiellen und gänzliclien
Negation, also den Begriff des Körpers, der Fläche, der Linie, des
Punktes, und ebenso die Vorstellung der durch diese Begriffe be-
stimmten besonderen Raumgrössen, der verschiedenen Linien, Flächen
und Körper.
Mit der Vorstellung bestinunter Raumgrössen ist zugleich die
Idee der Vielheit und Einheit, der Verschiedenheit und Gleichheit
gegeben. — Aus dem allgemeinen Begriffe des Raumes und der Zeit
entspringt ferner nothwendig der Begriff der Bewegung und zwar
nicht bloss der Bewegung im Allgemeinen , sondern abermals die
Begriffe aller besonderen, von Raumgrössen möglicher Weise aus-
zuführenden Bewegungen. — Nach dem Gesetz der Gausalität, das
schon ursprünglich in unserem Verstände wach werden soll, hat jede
Ursache eine ihr entsprechende Wirkung und jede Wirkung setzt eine
entsprechende Ursache voraus. Also muss auch die Bewegung im
allgemeinen durch eine Ursache, die man hier Kraft nennt, und jede
besondere Bewegung durch eine Kraft von bestinunter Grösse und
Richtung bewirkt werden — und unser Verstand vermag dies alles
aus sich, ohne Zuthun von aussen, zu construiren.
Somit nmss, wenn es angeborene Ideen gibt, der menschliche
Geist die gesannnten mathematischen und mechanischen Wissen-
schaften ohne vorausgehende sinnliche Anschauung entwickeln können,
— und soweit möchte wohl Mancher ])eistimmen , indem er die
Apriorität derErkenntniss auf die formalen Wissenschaften beschränken
zu können meint.
Indessen sind hiemit die Consequenzen in der That nicht vollendet;
sie umfassen vielmehr auch das Gebiet der realen Wissenschaften.
Wenn das Causalgesetz oder das Gesetz von der Erhaltung der Kraft
Kräfte voraussetzt, die eine Wirkung ausüben und Bewegungen ver-
anlassen, so müssen diese Kräfte auch mit den besonderen Raum-
und Zeitbegriffen in Beziehung gesetzt werden ; sie müssen irgendwo
und irgendwann wdrksam werden; sie müssen von bestimmten Raum-
elementen (Punkten, Linien, Flächen, Körpern) ausgehen und andere
Raumelemente in Bewegung setzen.
5. Apriorität. 637
Nun ist die Physik immer mehr zu der Gewissheit gelangt, dass
alle Erscheinungen , wenn sie hinreichend analysirt und erkannt
werden, nur aus wirksamen (positiven oder negativen) Zugkräften und
aus Bewegungen hestehen. Der Unterschied zwischen den formalen
und den realen Wissenschaften besteht eigentlich nur darin, dass
die ersteren einzelne Begriffe (Zahl, Gestalt, Kraft, Bewegung) von
den wirklichen Dingen ablösen und für sich betrachten, während
die letzteren die Vereinigungen der einzelnen Begriffe, wie sie uns
als natürliche Dinge entgegentreten, zum Object haben. Die formalen
Wissenschaften verhalten sich daher zu den realen Wissenschaften
wie das Abstracte zum Concreten, wie das Allgemeine zum Beson-
deren , und wie das Einfache zum Zusammengesetzten. Wenn der
menschliche Geist die ersteren aus sich entwickeln kann , so muss
er aus den aprioristisch gegebenen Ideen auch die letzteren sammt
ihrem Inhalte darstellen können, denn in der Natur ist nichts Denk-
bares vorhanden, welches nicht formell aus den ihm eigenthümlichen
Begriffen construirbar wäre.
Mit dieser unabweisbaren Consequenz ist die Naturwissenschaft
theoretisch auf den Kopf gestellt und gewissermaassen in die Natur-
philosophie zurückgeworfen, w'elche in aprioristischer Ueberhebung
vermeinte , die Natur in Gedanken erschaffen zu können , und der
Erfahrung keine andere Aufgabe überliess als diejenige, ^ür ihre
Phantasiegebilde die entsprechenden Realitäten aufzusuchen.
Die Wissenschaft von den realen und endlichen Dingen verträgt
einmal keine dualistische Auffassung. Alles steht in so nothwendigem
und innigem Zusammenhang , dass , wenn ein einziger Begriff oder
ein einziges Gesetz ohne Erfahrung gewonnen wird, auch alle andern
derselben nicht bedürfen.
Die Frage , ob es angeborene Ideen gebe , ist ferner im Lichte
der Entwicklungsphysiologie zu betrachten. Dieselben müssten irgend-
wie an der Substanz des Organismus haften ; sie müssten als Kräfte
oder Bewegungen materieller Theilchen, resp. als Combinationen von
solchen vorhanden sein. Sie müssten entweder seit aller Zeit in
der organisirten Substanz enthalten sein, oder sie müssten in jedem
Individuum neu entstehen, und in diesem Falle, nach dem durch
sie selbst gegebenen Causalgesetz , durch bestimmte Ursachen noth-
wendig hervorgebracht werden. Weder das Eine noch das Andere
638 Zusätze.
scheint mir mit einer monistischen Auffassung der endhchen und
messbaren Natur verträghch zu sein.
Eigenthcli ist das Neuentstehen der angeborenen Ideen in
jedem Individuum schon durch den auch im Namen ausgedrückten
Begriff ausgeschlossen. Doch will ich weniger Gewicht auf das
Wort »angeboren« legen, als auf den Umstand, dass schon vom
ersten Beginne des Individuums an die aus Eiweiss bestehenden
Substanzen, die späterhin als die Träger der Ideen angesehen werden
müssen , vorhanden sind , und dass in der Entwicklungsgeschichte
des menscldichen Individuums sich kein so wichtiger Organisationsact
vollzieht, mit dem das Auftreten einer absolut neuen, in der übrigen
Natur mangelnden Q,ualität vereinbar wäre. Die angeborenen Ideen
müssten also nicht nur dem Fötus, sondern auch dem unbefruchteten
Keimbläschen und den befruchtenden Samenkörperchen zukommen.
Sie müssten ferner auch den dem Menschen vorausgehenden Thier-
klassen und ihren Entwicklungsstadien angehören; und es wäre die
Frage , ob man die Pflanzen , ob man überhaupt ein Gebilde mit
lebendigen Eiweissmolekülen davon freisprechen könnte.
Diese Consequenz lässt sich nicht bestreiten ; es würde als ein
Wunder ersclieinen, w^enn an irgend einer Stelle einer continuirlichen
phylogenetischen oder ontogenetischen Entwicklungsgeschichte etwas
principiell Neues auftreten sollte, und mit diesem Wunder wäre das
neuangeborene Causalprincip selbst im Widerspruch. Kämen aber die
aprioristischen Ideen jedem eiweisshaltigen Organismus zu, so würden
sie sich selbst verneinen. Sie wären wohl ajirioristisch, aber sicher nicht
Ideen, wie man sie für das geistige Bewusstsein zu bedürfen meint.
Wir könnten uns noch die Frage vorlegen, was wohl geschehen
möchte, wenn einem Menschen alle sinnlichen Eindrücke mangelten.
Ein solcher Mensch müsste blind und taub geboren, des Geschmackes,
Geruchs und des Tastsinns beraubt, von Lust und Schmerz frei sein.
Er würde vegetiren wie eine Pflanze. Wäre aber sein Gehirn gehörig
ausgebildet, so müsste er vermöge der angeborenen Ideen nicht nur
die formalen Wissenschaften, sondern aucli die Begriffe der realen
Wissenschaften construiren können und es würde ihm nur das Organ
abgehen, für seine Begriffe die entsprechenden realen Dinge auf-
zusuchen. Er könnte aber ein vollkommener Mathematiker, theo-
retischer Mechaniker, mathematischer Physiker werden. Glaubt
wohl Jemand an eine solclie Möirliclikeit?
f). A Priorität. 639
Die Begriffe, welche eine pliilosopliische Anschauung als schon
ursprünglich in uns liegend voraussetzt, sind die allerallgemeinsten,
die wir besitzen. Die entgegengesetzte Anschauung, die ich als die
naturwissenschaftliche bezeichnen will, betrachtet sie als die letzten
Producte einer langen geistigen Arbeit. Sie lässt sie entstellen wie
Alles, was in der Natur entstellt, durch allmähliche Veränderung,
durch stetige Entwicklung und Vervollkoinmnung.
Die Idee des Raumes z. ß. beginnt im Thier und Kinde mit
sinnlichen Eindrücken, welche dadurch, dass sie sich wiederholen,
verändern und combiniren, allmählich zu bestimmteren Vorstellungen
führen. Das Thier empfängt nach und nach eine Menge verschiedener
sinnlicher Wahrnehmungen von einem Gegenstand. Es sieht ihn
anders, wenn es sich ihm nähert oder von ihm entfernt; es sieht
ihn von verscliiedenen Seiten und mit verschiedenen optischen Ein-
drücken combinirt. Es nimmt wechselnde Geruchsempfindungen
von ihm auf. Derselbe hemmt, wenn es sich allzusehr nähert, sein
Fortschreiten ; er verursacht ihm Schmerz, wenn es mit einiger Ge-
schwindigkeit anstösst. Das Thier lernt allmählich den Gegenstand
umgehen und den Anstoss vermeiden. Dient er ihm als Nahrung,
so lernt es ihn aufsuchen und erfassen, indem die sich steigernden
Gesichts-, Geruchs- und Gehörsempfindungen ihm von der Annäherung
Kunde geben. Solche sich täglich wiederholende Vorgänge bewirken
nach und nach selbst bei den niedersten Thieren einzelne, wenn auch
noch so unklare räumliche Vorstellungen. Diese Vorstellungen werden
mit der höheren Entwicklung des Thierreiches intensiver, deutlicher
und mannigfaltiger, bis sie sich im Menschen und selbst schon in
den höchsten Thieren zum räumlichen Bewusstsein steigern. Das
Bewusstsein des Begriffes Raum als reiner Abstraction ist aber die
letzte Stufe, die von der grossen Mehrzahl der Menschen gar nicht
erreicht wird , und es scheint mir des Umgekehrte des wirklichen
und naturgemässen Vorganges zu sein , wenn man diesen Begriff
schon als vor aller Erfahrung vorhanden annimmt.
Was man als Beweise für die Apriorität der Idee des Raumes
ausgibt, sind doch eigentlich nichts als Behauptungen, die erst be-
wiesen werden müssten, und die man jedenfalls mit ebenso viel
Recht beanstanden kann. Es sind vorzüglich drei Beweisgründe,
welche seit Kant von den Philosophen geltend gemacht werden.
(^4(_) Zusätze.
Der eine Beweisgrund beruft sich auf die Aprioritcät des Causal-
gesetzes, in welchem schon die Idee des Raumes enthalten sei. Ich
werde nachher auf die Ursprünglichkeit dieses Gesetzes zurück-
kommen.
Der andere Beweisgrund sagt, dass wir die Eigenschaften
des Raumes erkennen, ohne dazu der Erfahrung zu bedürfen, und
dies wäre ja unmöglich, wenn der Raum ein Attribut der Dinge
wäre und nicht bloss unserem Vorstellungsvermögen angehörte. Man
stellt, wie es bei den allgemeinsten Streitfragen nicht selten geschieht,
um eine Behauptung glaubhaft zu machen, eine andere tautologische
Behauptung auf. Denn den Begriff des Raumes erkennen und seine
Eigenschaften erkennen ist doch das Nämliche, da der Begriff eben
yuf den Eigenschaften beruht. Man nimmt hiebei die Mathematik
in Anspruch, wo räumliche Begriffe a priori entwickelt werden sollen.
Dass aber die Mathematik nichts Ursprüngliches voraussetzt, sondern
mit den allerallgemeinsten Abstractionen der Erfahrung beginnt,
habe ich bereits in dem ersten Theil dieses Zusatzes zu zeigen
gesucht.
Ein dritter Beweisgrund soll endlich der sein, dass man alle Dinge
wegdenken könne, nur nicht Raum und Zeit; also könnten diese Be-
griffe nicht dem Ob] ect, sondern nur dem denkenden Subject angehören.
Ich meine gerade, dass, wenn ich alle einzelnen Dinge der Welt weg-
denke und mir vorstelle, dass nichts existire, dann auch Raum und
Zeit al)handen gekommen sind. Mit diesen Begriffen verhält es sich ja
wie mit jeder Abstraction. Wir haben das Vermögen, einzelne Eigen-
schaften, die für sich keinen realen Bestand haben, von den Dingen
in Gedanken zu trennen, ohne dass wohl jemand behaupten möchte,
alle diese Abstractionen liegen schon ursprünglich und unabhängig
von den Objecten in unserem Geiste. Wir denken alle einzelnen
Farben, alle Töne der Tonleiter hinweg und es bleiben uns doch
die allgemeinen Begriffe der Farbe und des Tons; wir abstrahiren
von allen besonderen Thier- und Pflanzenarten und halten bloss die
allgemeinen Begriffe Thier, Pflanze, Organismus fest. Ganz das
Nämliche findet statt, wenn wir die Begriffe Raum und Zeit ge-
winnen. Alle Abstractionen gehören nicht den Dingen als solchen,
aber auch nicht dem denkenden Sul)ject an, sondern bestehen bloss
als Beziehungen zwischen Object und Subject. Zeit und Raum unter-
scheiden sich nicht prineipiell, sondern nur gradweise von den übrigen
5. Apriorität. 641
abstracten ^"orstellungen ; es sind die allerallgemeinsten Abstractionen
und daher lässt man sich leichter über ihre wahre Natur täusclien,
als es bei den andern allgemeinen Begriffen möglich wäre.
Wie mit der Ursprünglichkeit des Raumbegriffes verhält es sich
mit der Apriorität der übrigen allgemeinsten Vorstellungen, nament-
lich auch mit derjenigen des Causalgesetzes , welche ich noch ein-
gehender besprechen will. Auch hier ist es zweckmässig, zuerst
einen entwicklungsgeschichtlichen Ueberblick zu gewinnen. Jedes
Ding in der Natur, von den Aethertheilchen und den Atomen der wäg-
baren Stoffe an, wird durch Ursachen, die ihm äusserlich sind, afficirt.
Die Pflanze wendet sich dem Lichte zu und richtet sich in einer
der Gravitation entgegengesetzten Richtung auf. Das Thier, von dem
niedrigsten an, wird in seinen Handlungen durch äussere Einwirkungen
bestimmt; aber das Gefühl des ursächlichen Zusammenhanges ist
im Thierreich noch sehr unbestimmt. Es steigert sich im Menschen
und gelangt nach langer Erfahrung und Uebung allmählich zum
Bewusstsein. Das volle und klare Bewusstsein des allgemeinen Cau-
salitätsgesetzes aber kommt nur in sehr wenigen Menschen zum
Durchbruch, so dass selbst die Mehrzahl der Naturforscher es da
oder dort verläugnen, und dass mehrere Physiker erst in neuerer
Zeit es in der Form des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft ent-
deckt zu haben glauben.
Diese Thatsachen müssten mehr als befremden , wenn die Idee
des Causalitätsj)rincips angeboren wäre. Ebensowenig würden wir
begreifen, warum gerade Ursache und Wirkung so häufig verwechselt
werden , sodass mit Ausnahme derjenigen Gebiete , in denen man
recht eigentlich eingeschult ist, es in allen übrigen Gebieten für die
Mehrzald der Sterblichen geradezu als Lotterie bezeichnet werden
muss, ob sie bei der Bezeichnung dessen, was Ursache und was
Wirkung ist, das Rechte treffen oder nicht.
Mit Rücksicht auf die entwicklungsgeschichtlichen Thatsjichen
sowohl der ganzen organischen Welt als des Individuums wäre es
für die Klärung der Streitfrage ungemein förderlich, wenn die Ver-
fechter der Apriorität angeben wollten, welchen Geschöpfen der in-
härente Causalitätsbegriff zukomme, welchen nicht. Diese Unter-
V. Nägeli, Abstammungslehre. 41
642 Zusätze.
suchung müsste ihnen selber die Ucberzeugung aufdrängen, dass sein
Auftreten auf keiner Stufe der Entwickkingsgeschichte möghch ist,
sondern dass er ganz alhnähhch mit den vollkommener werdenden
Vorstellungen von den objectiven Dingen aus einem unbestimmten
Gefühl zum klaren Begriff herauswächst.
Bis die Anhänger des angeborenen Causalprincips sich auf die
naturwissenschaftliche Erörterung einlassen, wo dasselbe im natür-
lichen Entwicklungsgange zuerst auftrete und woraus es werde, da
doch alles wirklich Bestehende seine natürliche Ursache haben muss, —
l)leiben wir auf die Versuche einer philosophischen Begründung an-
gewiesen. Ich halte mich hiebei an die Ausführungen von Helm-
h o 1 1 z , der wohl in der treffendsten und dem naturwissenschaftlichen
Bewusstsein am meisten zusagenden Weise die Apriorität verfochten
hat. Wenn derselbe sagt: »Es ist klar, dass wir aus der Welt unserer
Empfindungen zu der Vorstellung von einer Aussenwelt niemals
kommen können , als durch einen Schluss von der wechselnden
Empfindung auf äussere Objecte als die Ursachen dieses Wechsels ....
Demgemäss müssen wir das Gesetz der Causalität, vermöge dessen
wir von der Wirkung auf die Ursache schliessen, auch als ein aller
Erfahrung vorausgehendes Gesetz unseres Denkens anerkennen«, —
so ist der Nachsatz nicht eine nothwendige Consequenz des Vorder-
satzes, wohl aber eine durch denselben eingeräumte Möglichkeit, eine
erlaubte Hypothese. Er könnte ebenso gut lauten : Demgemäss müssen
wir das Vermögen, von der Wirkung auf die Ursache zu schliessen,
durch Erfahrung erlangen können. Ob die eine oder die andere
Hypothese in der Wirklichkeit begründet sei, ist durch anderweitige
Betrachtungen zu entscheiden.
Es springt in die Augen, dass in den beiden eben angeführten
möglichen Schlusssätzen dem Worte »Erfahrung« eine ungleiche Be-
deutung beigelegt wird. Wenn Helmholtz das Denkgesetz der
Causalität vor alle Erfahrung setzt, versteht er unter Erfahrung
eben die Vorstellung der äusseren Objecte oder den Schluss von der
Empfindung auf das Ding, welches die Empfindung verursachte.
Wenn ich dagegen das Denkgesetz aus der Erfahrung entstanden
ansehe, so verstehe ich unter Erfahrung jede Empfindung, die eine
Erinnerung zurücklässt und somit bei neuen Empfindungen und
Willensäusserungen, ebenso bei der erwachenden Verstandesthätigkeit
als Erfahrung benutzt werden kann.
f). Apriorität. 643
Es würde sehr lohrroieh sein , die beiden entgegengesetzten
Schlussfolgerungen mit den geistigen Erscheinungen auf den ver-
schiedenen Stufen des Thicrreiches und in den verschiedenen Ent-
wicklungsstadien des menschhchen Individuums zu vergleichen. Ich
will dies nicht versuchen und bloss bezüglich meiner Ansicht Fol-
gendes beifügen. Schon das Infusorium macht Erfahrungen, indem
die äusseren Einflüsse, die auf dasselbe einwirken, mehr oder weniger
bemerkbare Erinnerungsspuren hinterlassen. Insofern verhält es sich
der Aussenwelt gegenüber etwas anders als die Pflanze, welche zwar
ebenfalls durch jeden äusseren Anstoss einen für ihr ferneres Leben
wirksamen Eindruck erhält; aber dieser Eindruck ist nicht mit Er-
innerung verbunden und kann sich nicht zu geistigem Leben steigern.
Das dunkle Gefühl einer Aussenwelt, das in dem Infusorimn beginnt,
wird bei den höheren Thierklassen lebhafter, klarer, bewusster und
ffelangt beim Menschen zum vollen Bewaisstsein. Indem niederen Thier
steckt ein Minimum, gleichsam ein Difierenzial von geistigem Leben,
M-elches durch die Thierklassen hindm^ch bis zu den fortgeschrittensten
Menschen zur klaren Verstandesthätigkeit integrirt wird. Diese ist
wie jede Qualität in der Natur nicht auf einmal gegeben, sondern
durch quantitative Steigerung allmählich geworden; ich verweise
hierüber auf den Zusatz 7 über Qualität in der Natur.
Ich möchte somit entgegen der Theorie, dass der Causalitäts-
begriff selbst schon in der menschlich organisirten Substanz ent-
halten sei, derselben nur die Fähigkeit zugestehen, durch eine
Reihe allmählicher Stufen von der ersten Empfindung an bis zu
demselben zu gelangen, und diese Fähigkeit naturgemäss in dem
Umstände begründet finden, dass wir selber ein Stück Natur sind,
und dass die Eindrücke, die wir von aussen aufnehmen und ver-
arbeiten, in unserem Nervensystem räumlich, zeitlich und causal-
gesetzlich verlaufen, weshalb auch das Denken, wenn es richtig von
statten geht, zu der Erkenntniss von dem causalen Zusammenhang,
sowie von Raum und Zeit führen muss.
Diese Erkenntniss ist nun, wie unbedingt zugestanden werden
muss, nicht eine Frucht wissenschaftlicher inductiver Forschung,
wde denn auch Helmholtz mit Recht betont, »dass es mit dem
empirischen Beweise des Gesetzes vom zureichenden Grunde äusserst
misslich aussehe; denn die Zahl der Fälle, wo wir den causalen
Zusammenhang von Naturprocessen vollständig glauben nachweisen
41*
(344 Zusätze.
zu können, sei verhältiiissmässig gering gegen die Zahl derjenigen,
wo wir dazu durchaus noch nicht im Stande sind.« Daraus folgt
aber keineswegs die Nothwendigkeit , einen inneren Ursprung des
Gesetzes anzunehmen. Die Ueberzeugung von der Richtigkeit all-
gemeiner Wahrheiten kommt uns wohl nie durch strenge wissen-
schaftliche Induction , sondern durch die populäre Erfahrung von
Jahrhunderten und Jahrtausenden. Je allgemeiner und einfacjher
die Wahrheit ist, um so weniger bedarf sie des exacten empirischen
Beweises, um die Zustimmung Aller zu gewinnen. Die Annahme,
dass jedes Ding in dem Zustande, in dem es sich befindet, beharre,
wenn es nicht durch eine Ursache verändert wird , und dass der
Grad der A'eränderung dem Maass der Ursache entspreche, wird als
allgemein gültiges Gesetz betrachtet, nicht weil dasselbe durch Ver-
suche und Rechnung sich bewährt hat, sondern weil unsere ganze
Erfahrung von jeher damit übereinstimmte, — weil wir von jeher
wissen , dass alles unverändert und unverrückt auf seinem Platze
bleibt, es werde denn durch eine bemerkbare Ursache innerlich oder
äusserlich in Bewegung gesetzt, w^eil war wissen, dass wdr, um einen
Gegenstand zu verschieben, um so mehr Kraft aufwenden müssen,
je grösser und schwerer er ist, dass seine Zertrümmerung um so
mehr Gewalt erfordert, je fester sein Zusammenhang.
Gerade deswegen, weil wir uns seit dem ersten Erwachen des
Denkens in das ursächliche Geschehen aller Dinge, die auf uns
einwirken, eingelebt haben, beachten wir gar nicht, wie wir zu der
Vorstellung vom Beharrungsvermögen und vom zureichenden Grund
der Veränderung gelangt sind, und wir werden leicht veranlasst,
als ein in unserem Geiste liegendes Gesetz vorauszusetzen, was uns
unbewusst von aussen aufgedrängt wurde.
Uebrigens ist die Erkenntniss von dem ursächlichen Geschehen
zuerst nicht als solche, sondern gemeinsam mit der Erkenntniss der
Analogie oder vielmehr nach derselben erlangt worden. Wir ge-
wöhnten uns , ein Ereigniss mit um so grösserer Sicherheit wieder
zu erwarten, je öfter es sich bereits wiederholt hatte, wie den Auf-
gang der Sonne, den Wechsel der Jahreszeiten, das Sprossen im
Frühjahr und das Welken im Her])st, das Reifen der Frucht aus
der Blüthe. Von einem Bestimmtwerden unseres Verstandes durch
das angeborene Causalgesetz konnte in den meisten Fällen nicht
die Rede sein . f1a der ursächlicho Zusammenhang unbekannt und
5. Apriorität. 645
fraglich war. Ist doch che Analogie die maassgebende Grundlage
der besclireibenden Naturwissenschaften geworden, indem man sich
lediglich an die Erfahrung hielt und nach der ursächlichen Be-
gründung nicht einmal fragte. — Die Regelmässigkeit der Erfahrungen
bewirkte also zunächst nur eine Gewöhnung, und erst als es sich
durch neue Erfahrungen ergab, dass diese Regelmässigkeit in manchen
Fällen nur beim Zusammentreffen mit anderen Ereignissen sich be-
währt, dass sie in anderen Fällen modificirt wird, und dass dabei
die Grösse und Beschaffenheit der Veränderung von bestimmten
Umständen bedingt wird, entwickelte sich aus der Erkenntniss der
Analogie diejenige der Causalität.
Die Af)riorität wird von Helmholtz noch durch folgenden
bemerkenswerthen Ausspruch verfochten: »Endlich trägt das Causal-
gesetz den Charakter eines rein logischen Gesetzes auch w^esentlich
darin an sich, dass die aus ihm gezogenen Folgerungen nicht die
Avirkliche Erfahrung betreffen, sondern deren Verständniss, und dass
es deshalb durch keine mögliche Erfahrung je widerlegt werden kann.
Denn wenn wir irgendwo in der Anwendung des Causalgesetzes
scheitern, so schliessen wir daraus nicht, dass es falsch sei, sondern
nur, dass wir den Complex der bei der betreffenden Erscheinung
mitwirkenden Ursachen noch nicht vollständig kennen.«
Es ist klar, dass die gemachten Beobachtungen in unserem
Geiste nur eine dem Verständnisse entsprechende Gestalt annehmen.
Deswegen kann die nämliche Beobachtung bei verschiedenen Indi-
viduen und in verschiedenen Perioden sehr ungleiche A^'orstellungen
hervorbringen. Wenn aber auch Alle übereinstimmen, so ist des-
wegen ein Widerspruch zwischen dem wirklichen Geschehen und
unserer Deutung, also ein Irrthum, nicht ausgeschlossen. Es hängt
nun alles davon ab, ob die Frage : Unter welchen Bedingungen muss
die objective Wirklichkeit und die subjective Auffassung derselben
sich decken? einer Lösung fähig ist oder nicht. Die Wissenschaft
nimmt im allgemeinen an, dass dies möglich sei, und sie spricht von
Thatsache und Naturgesetz, wo sie voraussetzt, dass unser Verständ-
niss der w^irklichen Erfahrung entspreche, von Hypothese, wo dies
zweifelhaft ist.
Wir müssen Identität zwischen der Wirklichkeit und unserer
Vorstellung immer dann in Anspruch nehmen, wenn überhaupt nur
eine einzige Vorstellung möglich ist, oder wenn alle anderen Vor-
646 Zusätze.
Stellungen als unmöglich dargethan werden. So ist beispielsweise
für die Bewegungen der Himmelskörper nur die Vorstellung möglich,
welche die Astronomie davon erlangt hat, und die Behauptung wäre
ganz unmöglich, dass die Bewegungen gar nicht oder dass sie in
anderer Weise vor sich gingen. Die Prüfung, ob unser Verständniss
mit der wirklichen Erfahrung harmonire, gelingt um so sicherer, je
allgemeiner und einfacher die Vorstellung ist, wie gerade diejenige
über den causalen Zusammenhang. Dass in der Natur Gesetz-
mässigkeit und nicht etwa das Gegentheil, Willkür und Regellosig-
keit, herrsche, darüber kann doch wohl kaum ein Zweifel bestehen,
und jedenfalls Hesse es sich gegenüber einem Widerspruche in der
strengsten Art beweisen. Der Ausdruck für diese Gesetzmässigkeit
lautet in naturwissenschaftlicher Form, dass in einem System materi-
eller Theilchen die Summe der Energien nicht behellig wechselt. Es
wäre nun noch möglich , entweder , dass dieselbe gleich bleibt, was
man als Causalgesetz bezeichnet, oder dass sie sich stetig, sei es in
zunehmendem sei es in abnehmendem Sinne, ändert. Die letztere
Annahme könnte man um so eher als logisches Gesetz in Anspruch
nehmen, da sie bestimmten philosophischen Theorien entgegenkäme.
Sie ist aber gegenüber der Erfahrung nicht haltbar; es bleibt uns
somit nur eine einzige Deutung , und wir dürfen behaupten , dass
bezüglich des Causalgesetzes Verständniss oder Vorstellung und wirk-
liches Geschehen identisch sind.
Ich habe in den bisherigen Auseinandersetzungen als selbst-
verständlich angenommen, dass die äussere Welt, die uns umgibt,
wirklich besteht, dass wir selber ihr als Theile nach Raum und
Zeit angehören, dass wir von ihr durch unsere Sinne subjectiv modi-
ficirte Eindrücke erhalten und mit der fortschreitenden Erkenntniss
das Subjective an diesen Eindrücken immer mehr abzustreifen und
das wahre Wesen der Dinge zu erfassen vermögen. Es wird nun
aber mit der Frage über die Apriorität der Erkenntnisse wohl auch
die Streitfrage über die Wirklichkeit der objectiven Natur, wie sie
unserer Vorstellung zugänglich ist, verbunden und die eine als durch
die andere bedingt dargestellt, wie dies gewissermaassen schon in der
zuletzt erwähnten Aeusserung von Helm holt z der Fall war.
5. Apriorität. 647
Der Physiologe wird unbedingt zugeben, dass unsere sinnlichen
Wahrnehmungen, Farben, Töne, Geruchs-, Geschmacks- und Tast-
empfindungen ebensowolil deniSuljject als dem Object angehören, dass
die Dinge an sich nicht warm und nicht kalt, nicht süss oder sauer,
nicht fest oder weich , nicht schwer oder leicht sind. Wenn aber
Helmholtz sagt: »Jede Wirkung hängt ihrer Natur nach ganz
noth wendig ab sowohl von der Natur des Wirkenden als von der
desjenigen, auf welches gewirkt wird. Eine Vorstellung verlangen,
welche unverändert die Natur des Vorgestellten wiedergäbe, also in
absolutem Sinne wahr wäre, würde heissen eine Wirkung verlangen,
welche vollkommen unabhängig wäre von der Natur desjenigen
0]:)jects, auf welclies eingewirkt wird, was ein handgreiflicher Wider-
spruch wäre«, — so ist dieser Schluss richtig für den Fall, dass
dem Subject, welches die Wirkung empfängt, eine andere Natur
zukommt als dem Object, von dem die Wirkung ausgeht. Er hat aber
keine Gültigkeit, wenn beide die gleiche Natur besitzen, wenn das
Subject ein Theil des Ganzen ist, das ihm als Object bloss scheinbar
gegenüber steht. Der Schluss ist richtig für eine dualistische, nicht
aber für die monistische Naturbetrachtung, welche nach meiner
Meinung im Gebiete des Endlichen allein logisch zulässig ist.
Wenn Helmholtz aus der eben erwähnten Betrachtung weiter
folgert, »dass es gar keinen möglichen Sinn haben könne, von einer
andern Wahrheit unserer Vorstellungen zu sprechen, als von einer
praktischen; dass unsere Vorstellungen von den Dingen gar
nichts anderes sein könnten als Symbole, welche wir zur Regelung
unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen«, — so scheint
mir dies doch ein allzuhoher Grad von Skepsis, ich möchte fast
sagen von wissenschaftlichem Pessimismus. Ursprünglich sind ja
alle Vorstellungen symbolisch und sie können selbst in der weitest
gehenden wissenschafthchen Verarbeitung eine durchaus symbolische
Form behalten, wie dies beispielsweise mit manchen Gebieten der
mathematischen Physik (einige Partien der mechanischen AVärme-
lehre und der Optik, sowie die Astronomie machen eine vortheil-
hafte Ausnahme) der Fall ist. Aber die wissenschaftliche Betrachtung
emancipirt sich von der Symbolik und dringt von der subjectiven
Annahme zur objectiven Gewissheit vor, wenn die letztere entweder
direct bewiesen oder als die einzige Möglichkeit dargethan werden
kann.
648 Zusätze.
Die Chemie in Verbindung mit der mechanischen Wärmetheorie
beweist die objective Existenz von Molekülen der wägbaren Sub-
stanzen, die aus Atomen der chemischen Elemente zusammengesetzt
sind. In Verbindung damit beweisen die Wärmelehre und die Optik
die objective Existenz der einer andern Grössenordnung angehörenden
Aethertheilchen, aus denen die den Weltenraum erfüllende und die
wägbaren Körper durchdringende Substanz besteht. Wir befinden
uns nun auf dem sicheren Wege zur objectiven Erkenntniss, wenn
es gelingt, unsere anfänglichen Symbole auf einfache Beziehungen der
kleinsten Theilchen zurückzuführen, und wir müssen sie als erreicht
ansehen, wenn diese Beziehungen in die einzig mögliche Form ge-
bracht sind. Allerdings dürfen diesen Betrachtungen nicht will-
kürhch gedachte kleinste Theilchen oder Massendifferenziale zu Grunde
gelegt werden, sondern nur die wirklich existirenden Theilchen, die
chemischen Atome mit den ihnen zukommenden verschiedenen Eigen-
schaften und die Aethertheilchen. So wird die Wissenschaft dereinst
als moleculare Physik des Organischen und Unorganischen zu objec-
tiver Wahrheit werden.
Die blaue Farbe, mit der die Kornblume geschmückt ist, wird
durch Schwingungen der Aethertheilchen hervorgebracht, welche sich
in der Secunde 700 Billionen mal wiederholen , während das Roth
des Ackermohns durch 500 Billionen Schwingungen zu Stande kommt.
Sind die Aetherschwingungen langsamer, so bewirken sie das Gefühl
von Wärme. Unser Ohr hat die Tonempfindung des eingestrichenen
c, wenn die Moleküle der Luft 264 Schwingungen in der Secunde
machen, während die anderthalbfache Schwingungszahl den har-
monischen Ton der Quinte und die doppelte Schwingungszahl die
Octave bewirkt. Die verschiedenen Zustände, in denen wir das Wasser
kennen, als festes Eis, als Flüssigkeit und als gasförmigen Wasser-
dampf, und die man früher als ebensoviele Elemente unterschied,
sind nichts anderes als verschiedene Bewegungszustände der nämlichen
Wassermoleküle.
So gelingt es, die mannigfaltigen Symbole, als welche sich
zunächst die Dinge und ihre Eigenschaften uns darstellen, auf ein
einheitliches Maass zurückzuführen ; und die praktische oder sub-
jective Wahrheit, die den anfänglichen rohen Vorstellungen allein
zukommt, muss um so mehr eine theoretische und objective werden,
je mehr dieselben die scheinbaren Qualitäten der sinnlichen Wahr-
5. Ai^riorität. 649
nehmung abgestreift mul die Form der einfachsten quantitativen
Unterschiede, die unmöglich eine ^vcitere Zerlegung in Componenten
zulassen, angenommen haben.
Wir können geradezu sagen, dass unsere Vorstellungen von den
Dingen so lange s3Tnbolisch bleiben , als sie für uns in der Form
von Qualitäten erscheinen, und dass sie der Wirklichkeit entsprechen,
sobald die Qualitäten in Quantitäten aufgelöst sind^). Alle endlichen
Erscheinungen bestehen aus Bewegungen grösserer und kleinerer
Massen ; jede Bewegung aljer, — mag es die Drehung der Erde um
ihre Achse, oder die Bahn derselben um die Sonne und die Bahn
der Gasmoleküle , oder die Schwingung des Pendels , der Atome in
den Molekülen und die Schwingung der Aethertheilchen sein, —
hat für uns nicht bloss praktische oder symbolische, sondern reale
und objective Wahrheit.
Es gibt, wie ich bereits angedeutet habe, ein Moment, welches
der philosophischen Theorie, dass die allgemeinsten A^orstellungen
und Gesetze schon ursprünglich unserem Geiste angehören , einiger-
maassen entgegenkommt. Die Uebereinstimmung der sinnlichen Wahr-
nehmung und der inneren geistigen Vermittlung mit den bewirkenden
Objecten beruht für den Monismus der endlichen Welt darin, dass
in uns die nämlichen Kräfte thätig sind und die nämlichen Gesetze
herrschen, wie in den Dingen ausser uns. Es kann daher das Bild,
das unsere Sinne uns geben, dem Object nicht widersprechen, und
die weiteren Umbildungen, die dasselbe beim ürtheilen erfährt,
müssen dem wahren Wesen des Objects immer näher kommen.
Dies ist die naturwissenschaftliche Erklärung des Factors, welcher
nach Kant in aller Erkenntniss sich findet und welcher nicht von
der äusseren Einwirkung, sondern von dem Subject abzuleiten sei,
weswegen er als nothwendig und beständig erscheine. — Die Be-
wegungen der materiellen Theilchen, wodurch unsere Vorstellungen
und unsere Urtheile zu Stande kommen, verlaufen in Zeit und Raum
und erfolgen nach mechanischen Gesetzen, also in streng causaler
Weise. Die sinnlichen AVahrnehmungen , die wir von aussen auf-
nehmen und in uns verarbeiten, finden also einen ihrer Natur
durchaus gleichartigen Boden, auf welchem die Vorstellungen ihrer
wirklichen Eigenschaften, ihrer Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Cau-
salität mit Nothwendigkeit sich ergeben.
1) Vgl. Zusatz 7. Qualität in der Natur.
650 Zusätze. '
Die scheinbare Apriorität allgemeiner Vorstellungen beruht also
darauf, dass in dem Subject als Theil des Ganzen die nämliche
Gesetzmässigkeit, die nämliche Logik gebietet wie in dem Universum.
Aus dieser Uebereinstimmung folgt aber. nicht, dass die Ideen an-
geboren sind, sondern nur, dass die geistige Thätigkeit bloss zu ihnen
und zu keinen anderen führen kann; gäbe es angeborene Ideen, so
müssten sie eben so wohl dem Stein und der Pflanze als dem Thier
und dem Menschen zukommen.
Vorstehende Erörterungen richten sich gegen diejenigen Ver-
fechter der Apriorität, welche am wissenscliaftlichsten und exactesten
urtheilen. Es gibt indess viele Naturforscher, welche, nachdem sie
zu einer consequenten Betrachtung der Natur zu gelangen suchten,
sich als Anhänger der aprioristischen Erkenntnisse bekennen und
sich dabei einer Schlussfolgerung bedienen , wie sie in der jetzigen
Abstammungslehre öfter angewendet wird. Sie lautet ungefähr
folgendermaassen.
Erkenntniss sei das Bestimmtwerden durch äussere Einwirkung.
Dieselbe komme also auch dem Thier und der Pflanze, selbst dem
Mineral und dem einzelnen Molekül zu; denn das Eisentheilchen
erkenne den Magnet, der sich in seiner Nähe befindet. Die Erkenntniss
werde gefördert und complicirt durch das Gedächtniss, sei aber durch
dasselbe nicht noth wendig bedingt, wiewohl auch den Molekülgruppen
von jeder Einwirkung eine gewisse Veränderung, die als Erinnerung in
Anspruch zu nehmen sei, zurückbleiben müsse. Auch das Bewusstsein
sei nicht erforderlich für den Erkenntnissprocess ; denn dasselbe ver-
arbeite bloss die zurückgebliebenen Erinnerungen.
Zum Zustandekommen einer Erkenntniss seien zwei Dinge er-
forderlich, die Einwirkung des Objects auf die erkennende Substanz
und die Fähigkeit der letzteren, zu erkennen. Das Object bilde die
materielle unveränderliche Unterlage jeder Erkenntniss; die specifisch-
individuelle Beschaffenheit des erkennenden Subjects sei das Ver-
änderliche oder Formelle der Erkenntniss. So werde beispielsweise
Essigsäure von Kali, von Lackmuspapier (welchem sie als rothe Sub-
stanz erscheint), von dem Geschmacks- und dem Geruchsorgan in
ganz ungleicher Weise erkannt; die rothe Farbe werde von dem
f). Aj)riontät. 651
normalen Menschen als solche, von dem rothbhnden als grün und von
dem Verstände als Aetherschwingungen erkannt. Die Form der
Erkenntniss sei daher der erkennenden Substanz angeboren, sie
sei a priori, vor aller Erfahrung vorhanden und ermögliche erst die
Erfahrung. Zu den angeborenen Erkenntnissen oder Ideen gehören
also die Fähigkeit der wägbaren Substanzen, einander als schwer zu
erkennen, — der elektrischen Substanz, eine andere Substanz als
feindlich oder freundlich zu erkennen, — des Lackmuspapiers, die Welt
als blau oder roth zu erkennen, — der Geschmackspapillen , die
Speisen als süss, sauer, bitter, fade zu erkennen, — der Tastwärzchen,
die Dinge als hart und weich , glatt und rauh , warm und kalt zu
erkennen, — der sensiblen Nerven, Schmerz und Lust, der moto-
rischen Nerven, die Willensregung der centralen Nervenorgane zu
erkennen, — endlich die Fähigkeit der Gehirnzellen, welche den
Denkprocess vollziehen, die Existenz der Dinge, ihre Zahl und An-
ordnung im Räume, ihre Folge in der Zeit, ihre Bewegungen und
dynamischen Beziehungen, somit Raum, Zeit und ursächlichen
Zusammenhang zu erkennen.
Diese Auseinandersetzung entbehrt augenscheinlich nicht einer
gewissen äusseren Logik. Wir haben, seitdem durch die Abstammungs-
lehre Darwin 's die Einheit der Natur mehr zum allgemeinen Be-
wusstsein gelangt ist, von den Anhängern derselben, namentlich
von Häckel mehrfach verwandte Schlussfolgerungen gehört. Die
ununterbrochene Reihe, in welche wir die natürlichen Dinge von
dem Atom und Molekül an bis zu den comphcirtesten Organismen
neben einander stellen können, ist sehr verführerisch, um die Eigen-
schaften der einen auf die andern zu übertragen, und da keine feste
Grenze sichtbar ist, allen Dingen die gleichen Eigenschaften zuzu-
schreiben. Man muss sich daher wohl hüten, über einer scheinbaren
Identität nicht die natürlichen Verschiedenheiten zu übersehen ; denn
jene ununterbrochene Reihe wird für das Urtheil leicht zur schiefen
Ebene, auf der es unaufhaltsam ins Bodenlose hinuntergleitet. Ob-
gleich ich hievon schon in der »Abstammungslehre« gelegentlich
gesprochen habe, und obgleich die wesentlichen Elemente, welche
die eben angeführte Auseinandersetzung widerlegen, eigentlich schon
in diesem Zusatz üljer die aprioristische Erkenntniss enthalten sind,
scheint es doch nothwendig, sie noch zu einer besonderen Beleuchtung
zusammenzustellen.
652 Zusätze.
Das Fehlerhafte an der Ausemandersetzung besteht darin, dass
die Eigenschaft des Ganzen dem Theil, die Eigenschaft des Zusammen-
gesetzten dem Einfachen zugeschrieben wird. Nun fällt es niemandem
ein, diesen Fehler in morphologischer Beziehung zu begehen ; niemand
sagt, dass das Molekül oder das Mineral gebaut sei, wie das Thier
oder der Mensch, wie die Zelle, wie der Muskel oder Nerv, wie
das Sinnesorgan, wie das Gehirn. Man darf aber eben so wenig
sagen, dass das Molekül oder Mineral die Functionen der Zelle,
des Muskels, des Nerven, des Sinnesorgans und des Gehirns besitze,
dass es wahrnehme, empfinde, höre, sehe, denke, erkenne; — und
wenn man einen dieser Ausdrücke gebraucht, so ist es nur in bild-
licher Weise zulässig. Da die Beziehungen zwischen den Molekülen,
so viel wir wissen, nur darin bestehen, dass sie sich anziehen und
abstossen, so muss man, wenn diese Beziehungen Wahrnehmung
oder Empfindung genannt werden, sich ihrer Verschiedenheit gegen-
über der wirklichen Wahrnehmung und lilmpfindung, wie sie dem
thierischen Organismus zukommt, bewusst bleiben.
Das Zusammengesetzte oder das Ganze besteht nur in der Summe
seiner Theile. Es ist dies eine Wahrheit, welche, soweit es sich
um den morphologischen Aufbau handelt, als Trivialität bezeichnet
werden kann, welche aber mit Rücksicht auf die Function leicht
übersehen wird. Sie entzieht sich dem Blick, weil die Elemente der
zusammengesetzten Function, die nichts anderes als die Kräfte und
Bewegungen der morphologischen Theile sind, uns nicht so deutlich
in ihrer Sonderung entgegentreten, weil die Functionen der zusammen-
gesetzten Dinge uns bezüglich ihres Zustandekommens nicht so be-
kannt sind, und weil die Wissenschaft die Functionen noch nicht so
systematisch gegliedert darzustellen vermag, wie den morphologischen
Aufbau. Man darf also die Function des Ganzen eben so wenig
auf die Theile übertragen als seine Organisation. So wie man nicht
sagt, dass das Eiweissmolekül ein Gehirn sei, so wenig darf man
ihm die Function des Gehirns, Denken und Erkennen, zuschreiben.
Vergleicht man Einfaches und Zusammengesetztes, so kommt
dem Ganzen, weil der Theil in ihm enthalten ist, immer auch die
Eigenschaft des Theils zu; aber der Theil hat nie die Eigenschaft
des Ganzen. Da die Functionen der Moleküle in Anziehungen,
Abstossungen und Bewegungen bestehen, so können wir mit Sicher-
heit behaupten, dass die Functionen des Gehirns, somit das Er-
f). Apriorität. (353
kennen, auf jenen Elementarfunctionen begründet seien ; aljer es
mangelt uns jede Berechtigung für die Annahme, dass den Molekülen
auch das Erkennen zukomme. Das Gemeinsame in den Functionen
aller Dinge darf also nicht in dem Erkennen, sondern nur in
dynamischen Beziehungen und Bewegungen gefunden
werden. Man kann ja wohl, wenn man sich eines kühnen Bildes
bedienen will, von dem Sauerstoffatom sagen, es erkenne das Wasser-
stoffatom, von dem Eisentheilchen, es erkenne den Magneten, von
dem Ohr, es erkenne den bestimmten Ton. Aber, wie ich bereits
sagte, auf eine bildliche Sprache darf kein wissenschaftlicher Schluss
errichtet werden.
Man wird nun zwar einwenden, dass die Erkenntniss, die allen
natürlichen Dingen zugeschrieben werde, nicht identisch sei, sondern
nur etwas Gemeinsames habe ; sie unterscheide sich nämlich in der
Form, sei aber dem Inhalte oder dem Wesen nach dieselbe. Hierin
liegt jedoch eine Verkennung der wirklichen Beziehungen. Das
Wesen eines mateiiellen Systems besteht, sowohl rücksichtlich des
Baues als der Function, in der Beschaffenheit, Zahl und Anordnung
seiner Theile. — Schon die ungleiche Anordnung allein, bei gleicher
Zahl und Beschaffenheit der Theile, genügt in vielen Fällen, um
eine wesentliche, nicht bloss formelle A^erschiedenheit zu begründen.
So sind ein Gemenge von Wasserstoff und Sauerstoff und eine ent-
sprechende Portion Wasser oder Wasserdampf, ebenso Zucker und
Milchsäure, endlich, um alles Uebrige zu überspringen, der lebende
Organismus und derselbe im todten Zustande gewiss wesentlich ver-
schiedene Dinge. Um so grösser muss die Verschiedenheit werden,
wenn, wie dies gewöhnlich der Fall ist, zu der ungleichen Anordnung
auch ungleiche Zahl und Beschaffenheit der Theile sich gesellen.
Wir begehen daher einen Fehler, wenn wir allen natürlichen
Dingen Erkenntniss zuschreiben und dieselbe bloss in formeller Be-
ziehung als verschieden gelten lassen. Ein exactes Verfahren gesteht
als das Gemeinsame in den Functionen der Dinge nur die dynamischen
Beziehungen sammt den daraus hervorgehenden Bewegungen zu,
und wenn wir dies allgemein als »Erkennen« bezeichnen wollten,
so würden wir uns in Widerspruch mit dem Sprachgebrauche setzen,
und weiter nichts gewinnen, als dass für diejenige Function, die bisher
Erkennen genannt wurde, eine neue Benennung gefunden werden
müsste. Denn die Verstandesoperation, welche das eigentliclie Wesen
654 Zusätze.
der Dinge ergründet, bedarf sicher gegenüber allen andern Functionen
einer besonderen Bezeichnung. Unter diesen Umständen scheint
es aber gerathener, den Begriffen, die man nicht ändern kann, ihre
altbewährte und allbekannte Firma zu lassen.
Die Erkenntniss ist die Frucht des Denkens und das Denken
setzt Erinnerung voraus; denn es besteht aus dem Zusammenwirken
von geistigen Eindrücken, die zu verschiedenen Zeiten aufgenommen
wurden. Das Erkennen mangelt also sicher allen denjenigen natür-
lichen Dingen, welche keine Erinnerungen haben. Nun nimmt zwar
Häckel an, dass auch das Molekül Gedächtniss besitze, und diese
Vorstellung liegt auch durchaus in dem Sinne der angeführten Aus-
einandersetzung, welche allen Dingen Erkenntniss zuschreibt. Denn
mit gleich berechtigter Folgerichtigkeit, wie die Reaction des Moleküls
auf eine Ursache ein Erkennen dieser Ursache genannt wird, kann
auch jede dauernde Veränderung, die einem Molekül oder einer
Molekülgruppe von einer Einwirkung zurückbleibt, als eine Erinnerung
an jenen Vorgang betrachtet werden. Nach dieser Auffassung wären
alle Veränderungen an den Dingen Erinnerungen, und diese neue
Definition würde uns nichts anderes eintragen, als dass wir, ebenfalls
wie für das Erkennen, nunmehr für den unentbehrlichen Begriff,
den man bis jetzt Erinnerung genannt hat, ein neues Wort er-
finden müssten.
Dass aber nicht jede Veränderung eine Erinnerung sein kann,
wird uns besonders klar, wenn wir die für eine wirkliche Erinnerung
nothwendige materielle Unterlage uns vergegenwärtigen. Dieselbe
muss jedenfalls in einer solchen materiellen Veränderung bestehen,
dass sie den geistigen Eindruck gelegentlich wieder aufleben lässt,
ohne Mithülfe der ursprünglichen Ursache, welche den ersten Ein-
druck und mit ihm jene materielle Veränderung hervorgerufen hat.
Dies ist nur denkbar, wenn die m'sprüngiiche Vorstellung in einer
bestimmten Erregung (durch dynamische Einwirkung hervorgebrachten
Bewegung) einer Partie von Theilchen besteht, verbunden mit einer
bestimmten dauernden Orientirung derselben, welche es ermöglicht,
dass die nämliche Erregung durch irgend welche verwandte Ursachen
wieder zu Stande kommt*).
') Ich verweise hierüber auf den 8. Zusatz: Zuniokfühning geistiger Vor-
gänge auf stolTliche Bewegungen.
f). A Priorität. G55
Hieraus ergibt sich unwiderleglich, dass die Erinnerung nicht
dem einzelnen Molekül zukonnnt, und dass sich unter den zusammen-
gesetzten materiellen Systemen nur solche dazu befähigt erweisen,
welche eine hinreichend grosse Zahl verschiedenartiger Theilchen
besitzen, um materielle Erinnerungsspuren zu bilden, dass also beispiels-
weise die krystallinischen Körper wiegen ihrer regelmässigen und
gleichartigen Structur jedenfalls ausgeschlossen sind. Wir sehen aber
ferner ein, dass, wenn auch in manchen unorganisirten Körpern
die erforderHche Anordnung verschiedenartiger Moleküle eine analoge
Erscheinung gestatten sollte, was mis unbekannt ist, dieselbe jedenfalls
von ganz anderer Beschaffenheit sein muss, als die Erinnerung,
welche in den organisirten (micellösen) Körpern zu Stande kommt.
Die Verschiedenheit zwischen den beiden Vorgängen muss eben so
gross sein, als die Verschiedenheit zwischen unorganisirtem (nicht
micellösem) mid organisirtem (micellösem) Bau. Wir begreifen übrigens
leicht, dass bei dem letzteren die unendliche Mannigfaltigkeit in
der chemischen Zusammensetzung und in der Gestalt der Micelle
und die ungleiche Verwandtschaft der verschiedenen Micellseiten
zu Wasser und zu Substanz wohl im Stande sind, Spuren von so
leichter Beweglichkeit bei hinreichender Festigkeit und von so grosser
Mannigfaltigkeit darzustellen, wde wir sie für die Erinnerungen vor-
aussetzen müssen.
Durch die Ueberlegung, wie die Erinnerung zu Stande kommt,
wird sie auf die organisirten Wesen beschränkt. Ob sie aber allen
Organismen und somit in ihren Uranfängen auch den Pflanzen
zukomme, — ob sie bloss den aus Albuminaten und deren Abkömmlingen
bestehenden Theilen oder in einfacheren Modificationen auch anderen
Theilen angehöre, — ob nur eine bestimmte Organisation zur Erinnerung
befähige, — wie sich die Erinnerung und die Gewohnheit zu einander
verhalten, — sind weitere Fragen, in deren Erörterung ich nicht ein-
treten will.
Die Ausdehnung der Erkenntniss und der Erinnerung auf alle
Körper ist die Folge einer unrichtig angewendeten Analogie. Man
meint, es könne in der Reihe der natürlichen Dinge, da ja alle
aus derselben Substanz bestehen, nicht irgendwo etwas gänzlich
Neues auftreten, und es müssen daher die Eigenschaften der zu-
sammengesetzten Körper auch schon den emfachen zukommen. Aber
die Identität in allem Seienden beschränkt sich auf die e lernen-
656 Zusätze.
taren Kräfte und Bewegungen. Von solchen kann allerdings
in dem Zusammengesetzten nichts Neues beginnen. Das Neue liegt
in der Zusammensetzung selbst. Auf jeder höheren Stufe der Zu-
sammensetzung sind die elementaren Kräfte und Bewegungen auf
eine vorher nicht da gewesene Art combinirt, und in dieser Combi-
nation ist das gänzlich Neue in der Function mit logischer Noth-
wendigkeit gegeben. Es ist eine unabweisliche Forderung, dass in
dem Kry stall andere Eigenschaften zu Stande kommen als in dem
einzelnen Molekül oder Pleon (IMolekülgruppe), und dass in den
micellösen Körj^ern der organisirten Welt neue, der unorganischen
Natur vollständig fremde Functionen (d. h. Combinationen von elemen-
taren Kräften und Bewegungen) auftreten. Zu diesen Functionen
gehören das Wahrnehmen, Empfinden, Erinnern, Denken, Er-
kennen.
Die Eingangs dieses letzten Abschnittes angeführte Auseinander-
setzung (S. 65* J) stellte das Erkennen als etwas Aprioristisches,
den Dingen schon ihrer Natur nach Anhaftendes dar, weil es allen
ohne Ausnahme zukomme und in den einfachsten Körpern offenbar
nicht durch Erfahrung gewonnen werde, sondern unmittelbar gegeben
sei. Diese Schlussfolgerung hat nach dem Gesagten keine Berech-
tigung. In dem Unorganischen sind nicht einmal die Anlagen,
sondern bloss die Materialien enthalten, aus denen auf den höheren
Stufen die Anlagen für die Werkzeuge des Erkennens zusammen-
gesetzt werden. Erst mit dem Auftreten des Organischen erscheinen
diese Anlagen, welche anfänglich bloss ein Minimum der einfachsten
Functionen (der Wahrnehmung und Angewöhnung) vollbringen,
aber die Fähigkeit besitzen, immer weiter und zuletzt zu Organen
sich auszubilden , in denen die Möglichkeit des Erkennens be-
gründet ist.
Der micellöse Bau der Organismen gestattet eine den unorganisirten
Körpern unbekannte Isolirung der auf eine äussere Einwirkung
erfolgenden inneren Bewegungen und dadurch eine vielfache Um-
setzung derselben. Er gestattet ferner eine diesen Bewegungen ent-
sprechende eigene Orientirung besonderer Reihen und Gruppen von
Micellen, welche bei wiederholter Erregung zu Gewohnheiten und
Erinnerungen werden. Mit der bei den höheren Organismen immer
weiter gehenden Complication in der Configuration eines Systems
werden auch die besonderen Orientirungen in demselben mannig-
6 Kraft. Stoff. Bewegung. 657
faltiger, treten unter einander in zahlreichere Verbindungen und
führen zu Erfahrungen von steigender Sicherheit und Benutzbarkeit,
aus denen als höchstes Product die Erkenntnisse hervorgehen.
6. Kraft. Stoff. Bewegung. (S. 585.)
Nach einem von Aristoteles her sich datirenden Vorurtheil,
das aber später sich noch erheblich steigerte, betrachten Viele heute
noch die Materie als eine träge , todte , absolut passive Substanz,
welche erst durch die Kraft zu Bewegung und Leben gelange. Diese
dualistische Auffassung des Endlichen erhielt bei Nichtphysikern
eine scheinbare Bestätigung durch das allzuwörtlich verstandene
physicalische Gesetz der Trägheit, welches richtiger als Beharrungs-
vermögen bezeichnet wird und eigentlich nur sagt, dass eine bewegte
Masse ohne fremde Kräfte ebensowenig in Ruhe, als eine ruhende
in Bewegung kommen kann, oder genauer ausgedrückt, dass die
Bewegung, in der ein Körper sich befindet, in Richtung und Ge-
schwindigkeit nur durch eine äussere Kraft geändert werden kann.
In dem endlosen Streit über Kraft und Stoff hat man fast immer
Physisches und Metaphysisches vermengt; und so lange die beiden
Standpunkte nicht streng geschieden werden, dürfte auch der Streit
nicht zu Ende kommen. Halten wir uns streng an die physische
oder endliche Natur, so ist die Sache klar und anschaulich. Unter
Kraft verstehen wir die Eigenschaft eines Körpers, eine bestimmte
Wirkung auf andere Körper auszuüben. Materie oder Stoff dagegen
ist uns die Substanz des Körpers abgesehen von einer bestimmten
Wirkung. Materie im naturwissenschaftlichen Sinne ist also nichts
Einfaches, Unterschiedsloses, sondern immer etwas Zusammengesetztes,
in welchem zahlreiche Kräfte ihren Sitz haben, die wir aber vorläufig
nicht berücksichtigen. So unterscheiden wir am magnetischen Eisen
die magnetische Kraft und das materielle Substrat derselben , das
Eisen, in welchem zwar verschiedene Kräfte die physicalischen und
chemdschen Eigenschaften bedingen, bei der vorgenommenen Abstrac-
tion aber nicht in Betracht kommen.
Wenn wir einen Körper in seine Theile zerlegen, so wird ent-
weder Kraft frei oder gebunden, so dass die Theile zusannnen mehr
V. Nägeli, Abstammungslehre. 42
658 Zusätze.
oder weniger Kraft enthalten als das Ganze. Dies wiederholt sich
bei jeder Zerlegung l)is zur Zerstreuung in die einzelnen Moleküle
und chemischen Atome. Dabei wechselt der Stoff seine Eigenschaften
je nach der Summe, der Beschaffenheit und Anordnung der in dem-
selben befindlichen Kräfte. Wir beobachten also an einem Körper
nichts anderes als seine Kräfte. Nehmen wir in der Abstraction
diejenigen weg, deren Wirkung wir erkennen, so bleibt uns als Rest
die Materie, nämlich eine Summe von gebundenen, sich das Gleich-
gewicht haltenden und nach aussen keine merkbare Wirkung aus-
übenden Kräften.
Wir können an einem Gegenstand jede einzelne Kraft in Ge-
danken isoliren, aber wir können nie etw^as von demselben trennen,
was wir als Stoff ohne Kraft bezeichnen dürften. Der Begriff der
Kraft reicht aus, um einen Gegenstand zu begreifen. Deshalb
konnten die mathematischen Physiker den Begriff des Stoffes an sich
ganz aufgeben und von ausdehnungslosen Kraftpunkten ausgehen.
Auf diesem Wege erhalten wir die Ausfüllung des Raumes durch
anziehende und abstossende Punkte, wodurch die Körper dargestellt
und in allen ihren Eigenschaften erklärt werden könnten, w^enn wir
uns nicht zugleich auf ein Gebiet begeben hätten, wo alle Erkenntniss
aufhört. Die letzte Consequenz der mathematischen Physik, welche
auf die einfachen Elemente zurückgehen will, ist nicht mehr eine
physische, sondern eine metaphysische Theorie, wie jede andere
Theorie von Kraft und Stoff, die nicht in der vorstellbaren End-
lichkeit bleibt, metaphysischer Natur ist.
Ich habe Kraft im allgemeinen als dasjenige angenommen, was
eine Wirkung auszuüben im Stande ist. Noch anschaulicher wird
die Vorstellung von dem realen Stoff im Sinne des Naturforschers,
wenn wir den allgemeinen Begriff der Kraft in seine besonderen
Begriffe zerlegen. Wir unterscheiden dann an einem Körper die
Bewegung des Ganzen, womit seine lebendige Energie (lebendige
Kraft) gegeben ist, ferner die Bewegung der materiellen Theilchen,
wodurch theilweise die potentiellen Energien (Spannkräfte)
hervorgebracht werden, und endlich die anziehenden und ab-
stos senden Elementarkräfte, die in den materiellen Theilchen
ihren Sitz haben, unabhängig von der Bewegung derselben sind,
und theils auf die materiellen Theilchen des Körpers selbst, theils
auf andere entfernte Körper wirken, und welche einen anderen Theil
6. Kraft. Stoff. Bewegung. 659
der potentiellen Energien darstellen. Die (lebendigen und poten-
tiellen) Energien wechseln in ihrer Intensität mit der Bewegung
ihrer Träger und können auch Null werden, während Anziehung
und Abstossung in den materiellen Theilchen unveränderliche Grössen
sind. — Stoff oder Materie ist also eine Summe von potentiellen
Energien (Bewegungen der Theilchen sammt den anziehenden und
abstossenden Elementarkräften, insofern die bemerkbare Gesammt-
wnrkung auf die Substanz des Gegenstandes beschränkt bleibt).
Die sinnliche Wahrnehmung zeigt uns unmittelbar nur die
Existenz von Körpern, die sich bewegen ; ihre Substanz nennen wir
Stoff oder Materie. Die Bewegung führt uns auf das Vorhandensein
von Bewegungsursachen oder Kräften. Jeder Körper besteht also
aus Stoff, er bewegt sich und steht durch Kräfte mit anderen Körpern
in Wechselwirkung. Der Stoff des Körpers selbst erscheint uns
dabei als indifferente Masse ohne Kraftäusserung, oder wir betrachten
ihn wenigstens als solche. Analysiren wir ihn aber , so besteht er
aus Theilen, die ihre gegenseitige Lage verändern, also Bewegung
besitzen , und die durch Kräfte auf einander einwirken. Den Stoff"
dieser Theile können wir oft wieder in der nämlichen Weise in
kleinere mit Bewegung und Kräften begabte Theile zerlegen, und die
Zerlegung noch weiter fortsetzen.
In Wirklichkeit hört die Analyse bald auf, nicht deswegen, weil
sie beim Einfachen, sondern weil sie bei Grössen anlangt, welche
für unsere Sinne und für unsere übrigen Hilfsmittel nicht weiter
zerlegbar sind. In der Vorstellung aber kann die Zerlegung fort-
gesetzt werden, ohne jedoch ein Ende zu erreichen. Während vA-ir
daher auf den einzelnen Stufen der Analyse Bewegung und Kraft
deutlich erkennen, ist uns der Stoff immer nur der nicht weiter zer-
legte oder auch der für uns nicht weiter zerlegbare Rest, der aber
immer wieder aus Bewegung, Kraft und Stoff zusammengesetzt ist.
Innerhalb dieser Realität muss auch das Gesetz von der Er-
haltung der Kraft bleiben. Dasselbe darf nicht an raumlose Kraft-
punkte oder metaphysische Atome anknüpfen ; auch bedarf es dieser
Voraussetzung keineswegs , wie man wohl irrthümlich vermuthete.
Jede grössere oder kleinere Stoffeinheit, der Weltkörper sowohl als
des Molekül, wirkt durch Kräfte und Bewegungen auf andere Stoff-
einheiten, und jede Wirkung erfolgt so, als ob sie von einem Punkte
ausginge, weil sie die lineare Componente aller wirksamen Theile ist.
42*
660 Zusätze.
Die Elemente, über die unsere Analyse nicht hinauskommt und
die auch zur Erklärung unserer Vorstellungen in jeder Beziehung
vollauf genügen, sind also Stoff in irgendwelcher (fort-
schreitender, schwingender, drehender) Bewegung und an dem-
selben haftende (positive und negative) Zugkräfte, deren
Differenz als Anziehung oder Abstossung zur Geltung kommt. Jede
Stoffeinheit (sowohl die Sonne, als das Eisenatom und das Aether-
theilchen) hat die Fähigkeit, auf jede andere Stoffeinheit mit be-
stimmten Zugkräften einzuwirken. Diese anziehenden und abstossenden
Elementarkräfte sind unveränderlich , solange nicht etwa die Stoff-
einheit selber durch Hinzufügung oder Hinwegnahme anderer Stoff-
einheiten zu- oder abnimmt, und sie sind unabhängig von dem
Umstände, ob und in welcher Weise die Fähigkeit, anzuziehen und
abzustossen, durch die Anwesenheit anderer Stoffeinheiten sich ver-
wirklichen kann oder nicht. Hierin beruht das Gesetz von der
Erhaltung des Stoffes, das wdr auch das Gesetz von der Er-
haltung der Elementarkräfte nennen könnten.
Eine Folge dieses Gesetzes ist das andere, das man gewöhnlich
als das Gesetz von der Erhaltung der Kraft oder Energie bezeichnet,
und welches darin besteht, dass die Summe der lebendigen und
potentiellen Kräfte in einem beliebigen , durch äussere Kräfte nicht
beinflussten und keine äussere Wirkung ausübenden System die
nämliche bleibt. Während die lebendige Kraft immer die durch
ihre Geschwindigkeit wirkende Gesammtmasse eines Körpers darstellt
1-2- )• *
SO besteht die potentielle Energie aus drei verschiedenen
Factoren : 1 ) der Wirkung, welche die Zugkräfte eines Körpers mit
Bezug auf alle fremden Körper zu vollbringen vermögen, und welche
eine Function der Entfernung ist ; 2) der Wirkung, welche die Zug-
kräfte der Theilchen eines Systems auf einander ausüben, insofern sie
sich nicht im Gleichgewichte befinden, oder insofern sie aus einem
Gleichgewichtszustande in einen neuen Gleichgewichtszustand über-
gehen können ; 3) der Wirkung , welche die in Bewegung befind-
lichen Theilchen eines Systems als eben so viele lebendige Kräfte
vollbringen.
Ein Körper, der um eine gewisse Strecke von der Erde entfernt
wird, vermehrt seine potentielle Energie um einen dieser Weglänge
entsprechenden Betrag. Indem er fallend den nämlichen Weg zurück-
6. Kraft. Stoff. Bewegung. G(31
legt, erlangt er eine lebendige Kraft, die genau das Aequivalent jener
potentiellen Energie ist.
Die Gase üben durch ihre sich bewegenden Moleküle, von denen
jedes mit einer seinem Gewicht und seiner Geschwindigkeit ent-
sprechenden lebendigen Kraft dahinfliegt, einen Druck auf die an-
grenzenden Körper. Die Summe aller in der Zeiteinheit auf die
Flächeneinheit treffenden Stösse stellt die Spannkraft des Gases dar.
Wird das Gas zusammengedrückt, so werden die Molecularstösse in
entsprechendem Maasse zahlreicher und erhöhen die Spannkraft,
welche gemäss der Zunahme wieder äussere Arbeit leisten kann.
Die potentielle Energie besteht also in diesem Falle aus einer Summe
von lebendigen Kräften , die in den verschiedensten Richtungen
wirken. Sie darf nicht als lebendige Kraft des Gases bezeichnet
werden ; diese wäre nur dann gegeben, wenn die Gasmoleküle ausser-
dem noch in einer gemeinsamen Richtung sich bewegten und wenn
somit die Gasmasse als Wind dahinführe.
In einem geraden Stahlband herrscht Gleichgewicht zwischen
den anziehenden und abstossenden Kräften seiner Moleküle. Krümmt
man dasselbe, so werden die Theilchen auf der concaven Seite ein-
ander genähert, auf der convexen Seite von einander entfernt. Dort
sind jetzt die abstossenden, hier die anziehenden Molecularkräfte im
Uebergewicht und stellen zusammen eine Summe von Spannkräften
dar, welche durch die Verschiebung jedes Theilchens aus der Gleich-
gewichtslage genau bestimmt sind. Die Summe dieser Spannkräfte
ist gleich der lebendigen Kraft, welche zur Krümmung des Stahl-
bandes erforderlich war und welche dieses bei der Rückkehr in den
ungespannten Zustand meder zu leisten vermag.
Die (grüne) Pflanze verwandelt Kohlensäure und Wasser, indem
Licht und Wärme aufgewendet wird, in Holz (Cellulose) und in frei
werdenden Sauerstoff. Beim Verbrennen des Holzes wird die gleiche
Menge Sauerstoff aufgenommen ; es wird wieder die nämliche Menge
von Kohlensäure und Wasser gebildet und eine Summe von Licht
und W^ärme entbunden, welche der bei der Holzbildung verschwun-
denen Menge von Licht und Wärme äquivalent ist. Letzteres ist
wenigstens nach dem Gesetze von der Erhaltung der Kraft anzunehmen.
Die Verbrennungswärme stellt eine Summe von frei werdender Energie
dar ; sie kann mechanische Arbeit leisten. Holz und Sauerstoff ent-
halten eine gewisse Menge von potentieller Energie, welche beim
ß(32 Zusätze.
Uebergang in Kohlensäure und Wasser frei wird, und welche aus
einem Ueberschuss von chemischer Anziehung und gebundener Wärme
besteht. Wenn man aber gewöhnlich sagt, in dem Holze sei von
der Pflanze Kraft aufgespeichert worden, so ist dies nur in figür-
lichem Sinne richtig ; denn die aufgespeicherte Spannkraft ist nicht
in dem Holze, sondern in dem gasförmigen Sauerstoff enthalten.
7. Qualität in der Natur (S. 586).
Die Qualitäten , wodurch die natürlichen Dinge sich von ein-
ander unterscheiden, sind nicht absolut, sondern nur relativ, da sie
sämmtlich aus quantitativen Verhältnissen hervorgegangen sind.
Dieser Satz ist so wichtig für die Naturbetrachtung, dass es
wünschbar erscheint, durch eine nähere Beleuchtung sich vollständige
Klarheit zu verschaffen. Betrachten wir zuerst die Begriffe der
Mathematik, da uns diese Wissenschaft bei aller ßeurtheilung der
natürlichen Dinge den Weg erhellen soll.
Die Mathematik, die Wissenschaft von Zahl und Grösse, hat
es vorzugsweise mit quantitativen Verhältnissen zu thun. Doch
mangeln ihr die eigentlichen, absoluten Qualitäten nicht. Diese
können, soweit es sich um reelle (nicht imaginäre) Grössen handelt,
dadurch entstehen, dass ein Werth in einer Gleichung Null (nicht
etwa bloss unendlich klein) wird. — Es seien a und h die Axen
einer Ellipse. Setzen wir b =^ a — m und lassen wir m zu Null
werden, also h ^^ a — 0 oder b = a, so verwandelt sich die Ellipse
in einen Kreis. Ist dagegen m nicht 0, sondern — , also b = a ,
SO haben wir eine kreisähnliche Ellipse. Wird anderseits a auf Null
reducirt, so geht die Ellipse in die gerade Linie b über, und wenn
& = 0 , in die Linie a. Schwindet dagegen a oder b nicht zu 0,
sondern zu — , so erhalten wir nicht gerade Linien , sondern un-
GO
endlich schmale Ellipsen. Es macht also begrifflich einen Unter-
schied, ob ein Werth zu Nichts oder ob er nur unendlich klein wird.
Ein Viereck, dessen eine Seite sich auf — verkürzt hat, ist dem Be-
7. Qualität in der Natur. 663
griffe nach immer noch ein Mereck ; zum wirklichen Dreieck wird
es erst, wenn die Seite 0 und damit zur Spitze des Winkels ge-
worden ist. Ein Körper, dessen eine Dimension unendlich klein
ist, hleibt immer noch ein Körper; er schlägt erst in Fläche um,
wenn jene Dimension Null ^\'ird.
Aber diese begrifflichen oder absoluten Unterschiede haben keine
reale Bedeutung; sie sind für die Rechnung werthlos. Deswegen
werden sie von der Mathematik nicht weiter beachtet, welche,
obgleich rein formal, dennoch in hohem Grade praktisch verfährt.
Sie fragt sich bloss, ob etwas für die weitere Rechnung vernach-
lässigt werden kann, und während sie zwischen unendlich Kleinem
der ersten, zweiten, dritten Ordnung unterscheidet, macht sie keinen
Unterschied zwischen unendlich Kleinem und Nichts. Das mathe-
matische Verfahren kann also, indem es gleichsam transcendent ward,
einen Begriff in einen absolut verschiedenen überführen, aber es
vermeidet diese Consequenzen zu ziehen. — Uebrigens setzt das
Nullwerden eines Werthes nicht immer das Entstehen einer neuen
Qualität voraus; man bleibt innerhalb der quantitativen Verhält-
nisse, wenn man durch Addition oder Subtraction zur Null kommt.
In der Zahlenreihe von — (x bis -|- oo hat die Null keine andere
Bedeutung, als die einer jeden positiven oder negativen Zahl, und
0 ist von -f- 1 oder von — 1 nicht anders verschieden , als 2 von
3 oder 3 von 2.
Gehen wir von den formalen zu den realen Dingen der Natur
über, so können die letzteren schon deswegen nur durch relative
Qualitäten sich von einander unterscheiden, weil sie durch Addition
und Subtraction aus einander entstehen. Es sind die nämlichen
chemischen Elemente , welche in wechselnden Mengen zusammen-
treten , um die natürlichen Körper zu bilden , deren Bewegungen
und Wirkungen dem entsprechend auch nur gradweise, nm* durch
ein Mehr oder Weniger von einander abweichen. Wenn uns gleich-
wohl Erscheinungen, die durch quantitative Ursachen bedingt werden,
als verschiedene Qualitäten entgegentreten, so hegt der Grund davon
theils in der eigenthümlichen Organisation unserer Sinnesorgane,
theils in dem Umstände, dass die Objecte nicht immer allmählich,
sondern mitunter sprungweise in einander übergehen. Der sprung-
weise \\'cchsel aber rührt entweder davon her, dass die Uebergangs-
664 Zusätze.
glieder, weil die Combination nach Zahl und nicht nach Grösse
erfolgt, unmöglich sind, oder davon, dass die möglichen Uebergangs-
glieder aus irgend einem Grunde mangeln.
Die schönsten Beispiele, wie rein quantitative Verhältnisse unseren
Sinnesorganen bald als Quantitäten, bald als Qualitäten erscheinen,
geben uns die Farben und Töne. Schwingungen von gleicher Dauer,
aber mit ungleicher Schwingungsweite (also mit ungleicher Geschwin-
digkeit der schwingenden Theilchen), lassen uns den gleichen
Ton oder die gleiche Farbe, nur schwächer und stärker, empfinden.
Wir sind uns vollkommen bewusst, dass wir die gleiche Qualität
in ungleicher Intensität wahrnehmen. Dagegen fassen unsere Sinne
die Schwingungen mit ungleicher Dauer als verschiedene Töne
und Farben auf. Obgleich durch allmähliche Zunahme der in der
Zeiteinheit erfolgenden Schwingungen der Ton c gleitend in den
Ton g, die gelbe Farbe gleitend in die blaue übergeht, so ist für
unser Gefühl das g niemals ein bloss vermehrtes c, das Blau nie-
mals ein bloss gesteigertes Gelb, sondern ein (qualitativ) anderer
Ton und eine andere Farbe.
Die verschiedenen Aggregatzustände der gleichen chemischen
Substanz erscheinen uns als qualitativ verschieden, so das Eis, —
das Wasser in zusammenhängender Masse oder in Nebelbläschen
vertheilt, — der unsichtbare gasförmige Wasserdampf. Diese
ungleichen Eigenschaften werden bloss durch die ungleichen Mengen
von gebundener Wärme bewirkt, welche die Bewegungszustände der
Moleküle verändern. 1 Kilogramm Eis (von 0") -f- 79 Wärmeeinheiten
■^= Wasser. 1 Kilogramm Wasser (bei der Siedhitze) -j- 536 Wärme-
einheiten = Wassergas.
Die Eigenschaften der chemischen Elemente sind zwar nur dem
Grade nach, aber doch sprungweise verschieden. Gold, Silber, Eisen,
Quecksilber , Chlor , Sauerstoff , Kohlenstoff werden durch keine
Zwischenglieder verbunden. Der Nachweis, dass sie nur quantita-
tiven Ursachen ihr Dasein verdanken, lässt sich nicht ausführen,
da die Elemente jetzt noch der Scheidekunst widerstehen. Aber
nach den Thatsachen, welche uns die chemischen Verbindungen in
so reicher Menge darbieten , ist es gar nicht unmöglich , dass die
verschiedenen Elemente aus den nämlichen Stoft"theilchen mit un-
gleichen Mengen gebundener Kräfte bestehen.
7. Qualität in der Natur. 665
Alle chemischen Verbindungen geben uns Beispiele dafür, dass
aus zwei oder mehreren chemischen Elementen unter Abgabe oder
Aufnahme von Wärme Körper entstehen, die unsere Sinne als neue
Qualitäten empfinden. Metallisches Eisen verbindet sich mit dem
gasförmigen Sauerstoff der Luft unter Abgabe von Wärme zu Eisen-
rost. Kohle und Schwefel verbinden sich unter Aufnahme von Wärme
zu Schwefelkohlenstoff. Besonders aber finden wir in der organischen
C'hemie eine Menge von Fällen, wo bestimmte Mengen verschiedener
Elemente uns als etwas ganz anderes sich darstellen je nach der
Wärmetönung (nach der Menge von Wärme, die gebunden oder frei
wird). So sind beispielsweise 12 At. Kohlenstoff -)- 24 At. Wasserstoff -\-
12 At. Sauerstoff" = Kohle -j- Wasser = Traubenzucker = Essigsäure =^
Milchsäure = Rohrzucker -|- Wasser = Stärkemehl (Gummi, Cellulose)
-|- Wasser = Glycerin -f Kohlenoxyd =^ Ölbildendes Gas -|- Sauerstoff
= Weingeist -f- Kohlensäure = Fett -[- Wasser -\- Sauerstoff , wenn
je weilen die bestimmte Wärmedifferenz beigefügt wird. Dass dabei
die räumliche Anordnung der Elementatome jedesmal eine andere
ist, erscheint als selbstverständlich und ändert an der bloss quanti-
tativen Verschiedenheit der Ursachen nichts ; denn die verschiedenen
Lagerungen sind, wie die Permutationen gegebener Grössen jedenfalls
nicht qualitativer Natur.
Die Eigenschaften der chemischen Verbindungen wechseln, wie
diejenigen der chemischen Elemente, sj^rungweise , da sie nach der
Zahl der Atome (Aequivalente) erfolgen und somit sich numerisch
abstufen. Kupfer und Sauerstoff geben zu 1 Cu und 1 0 verbunden
das schwarze Kupferprotoxyd, zu 2 Cu und 1 0 verbunden das rothe
Kupfersuboxyd (Rothkupfererz). Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauer-
stoff stellen in der Verbindung 1 C -(- 2 i/-f 3 0 Kohlensäure, Inder
Verbindung 1 C -{- 2 H -\- 2 0 Ameisensäure dar. Es ist begreiflich,
dass die qualitativen Verschiedenheiten um so undeutlicher werden,
je höher bei gleichen Differenzen und unter übrigens gleichen Um-
ständen die Zahl der Atome in den Verbindungen steigt. So weichen
in den Reihen der Fette und Fettsäuren die niedern Glieder viel
weiter von einander ab, obgleich der Unterschied zweier auf einander
folgender Glieder der nämliche ist (z. B. 1 C 2 B). Dieser Unterschied
muss eben bei kleinen Zahlen [2 C 4 H) fühll)arer hervortreten als
bei grossen (18 C 36//).
Sind die chemischen Verbindungen noch alle sprungweise ver-
G66 Zusätze.
schieden, was in der Zusammensetzung und gewöhnlich auch in
den physicahschen Eigenschaften leicht wahrnehmbar ist, so können
dagegen überall gleitende Uebergaiige auftreten, wo die Stoffe (Elemente
oder Verbindungen) nach wechselnden Gewichtsmengen sich ver-
mischen, wie dies bei vielen Mineralien, besonders aber bei den
Organismen der Fall ist. Bei den letzteren wird die ungeheuere
Mannigfaltigkeit der Eigenschaften durch die quantitative Mischung der
wenigen maassgebenden Eiweissverbindungen des Plasmas bedingt,
wodurch uns die allmähliche ^Veränderung der Organismen in ein-
ander begreiflich wird. Die bestehenden Lücken in den organischen
Reichen können einen dreifachen Ursprung haben : 1 . Sie sind durch
Aussterben der Zwischenglieder entstanden, was der gewöhnlichste
Fall ist; '2. die Zwischenglieder am ausgebildeten Organismus sind
nicht möglich, weil die Sprünge durch die verschiedene Zahl der
Organe oder Theile erfolgen (z. B. 4 und 5 blättrige Blumenkronen);
3. die Zwischenglieder am ausgebildeten Organismus erscheinen zwtir
nicht als unmöglich, aber sie sind nicht vorhanden, weil die (un-
merklichen und gleitenden) Veränderungen im Plasma der Keime
bei der Entwicklung des Individuums zu bemerkbaren Sprüngen
ausw^achsen.
8. Zurückführung geistiger Vorgänge auf stoffliche Bewegungen (S. 591).
Bei der Behandlung des Problems betreffend die Zurückführung
des Geisteslebens auf das körperliche Leben nmssen wir zwei Fragen
streng unterscheiden 1) ob das Zustandekommen geistiger Bewegungen
aus stofflichen Bewegungen als Thatsache angenommen werden müsse,
2) wie wir uns dasselbe vorzustellen haben. Die erste Frage ist
ganz unabhängig von der zweiten ; sie kann längst entschieden sein,
ehe man über die zweite eine nur einigermaassen annehmbare Hypo-
these aufzustellen vermag. Der Einwurf, das ist unmöglich, weil
ich mir es nicht erklären kann, hat gar keine Bedeutung, da wir
ja gewöhnlich von dem Vorhandensein einer Erscheinung überzeugt
sind, ehe wir eine Vorstellung über das Geschehen besitzen.
Bezüglich der ersten Frage wissen wir bestimmt, dass materielle
Bewegungen durch Vermittelung der Sinnesorgane auf den Geist
wirken und Bewegungen in demselben veranlassen, und dass diese
8. Zurückführuiig geistiger Vorgänge auf stoffliche Bewegungen. ß67
letzteren hinwieder materielle Bewegungen in Nerven und Muskeln
erzeugen. Der endliche Geist und die kraftbegabte Materie stehen
also in Wechselwirkung mit einander, wie die Materie unter sich
in Wechselwirkung steht. Wollten wir den Geist als etwas für sich
bestehendes Immaterielles betrachten, so müsste er als ausdehnungs-
lose Kraftpunkte zwischen den Molekülen der Nervensubstanz vertheilt
sein, und diese geistigen Kraftpunkte müssten von den materiellen
Theilchen durch Druck und Zug beeinflusst werden, und sie müssten
selber auf dieselben durch Druck und Zug einwirken. Die geistigen
Elemente müssten also gerade so sich verhalten, als ob es kraft-
begabte Stofftheilchen wären. Da nun an den letzteren der Stoff
uns eigentlich werthlos und ohne Bedeutung ist, da es nur auf die
Kräfte ankommt, welche darin ihren Sitz haben, so ändern wir an
der ganzen Causalreihe (von der Materie durch den Geist zur Materie)
nichts, wenn wir auch den geistigen Kraftpunkten eine materielle
Unterlage geben und wenn wir sie in die Moleküle der Nervensub-
stanz selbst verlegen.
Der Naturforscher wird die letztere Annahme vorziehen, da sie
Uebereinstimmung in das ganze endliche Sein bringt. W^ollte man
aber sich das intellectuelle Opfer auflegen und mj'^stische geistige
Punkte zwischen die Stoffmoleküle einschieben, so würde dadurch
an der materialistischen Auffassung der endlichen Welt nichts Wesent-
liches geändert; denn diese besteht bloss in der strengen Durch-
führung des Causalgesetzes, nicht in irgend einer Theorie über Kraft
und Stoff. Die Mechanik der Gehirntheilchen zur Hervorbringung
geistiger Processe bleibt mit oder ohne geistige Punkte dieselbe.
Die andere Frage, in welcher Weise das Geistesleben aus den
materiellen Bewegungen hervorgehe, gehört vorderhand noch dem
Gebiet der Hypothesen an und kann wohl nur bezüglich der elemen-
tarsten Erscheinungen einigermaassen befriedigend gelöst werden.
Das Gefühl (angenehme und unangenehme Empfindung) lässt sich
aus den Erregungen, welche die materiellen Theilchen bei ihrer
Bewegung spüren müssen, ableiten, wie dies im Text (S. 597) aus-
geführt wurde.
Die Empfindung, welche die Peripherie des Nervensystems durch
einen Reiz erhält, pflanzt sich durch die Nervenstränge auf das Central-
organ fort, durchsetzt dassellje, und geht als motorischer Strom durch
die Nerven wieder nach der Peripherie, wo derselbe bei hinreichender
6G8 Zusätze.
Stärke als Bewegung sichtbar wird. Im Gehirn erscheint aber die
Empfindung nicht unverändert als solche, sondern als deren Bild,
als Vorstellung. Die meisten Vorstellungen bleiben scheinbar inner-
halb des Gehirns; nur wenige, welche qualitativ und quantitativ
dazu befähigt sind, bringen bemerkbare Muskelbewegungen hervor. —
Das nächst Höhere, das auf die blosse Empfindung und deren Vor-
stellung folgt, ist dann die Erinnerung, aus welcher unmittelbar das
Bewusstsein hervorgeht; denn dieses ist nichts anderes als das Zu-
sammenwirken vieler Erinnerungen.
Die Erinnerung kommt dadurch zu Stande, dass die frühere
Vorstellung einer Empfindung sich wiederholt. Wir können uns
diesen Vorgang etwa in folgender Weise denken. Die wirksame, die
Empfindung wahrnehmende Nervensubstanz des Gehirns (Sensorium)
besteht, wie alle organisirten Substanzen, aus Micellen (krystallinischen
Molekülvereinigungen), die von Wasser umgeben sind. Die Micelle kön-
nen sich etwas verschieben und ziemlich nach allen Richtungen um
ihren Mittelpunkt drehen, da sie nach allen Richtungen orientirt und
durchaus ungeordnet sind. Eine Empfindung, die zum Sensorium ge-
leitet wird, durchsetzt dieses auf irgend einem Weg, der durch eine
oder eher durch einige benachbarte Micellreihen gebildet wird. Dabei
Orientiren sich die Micelle dieser leitenden Reihen mit ihren Axen
in bestimmter Weise zur Leitungsrichtung, indem sie kurze Zeit
um ihre Gleichgewichtslage schwingen. Es bildet sich also eine
Vorstellungsbahn, deren Micelle bestimmt geordnet sind und in Folge
von Wasseraustritt, welcher mit der Orientirung verbunden ist, fester
zusam m enhängen .
Diese richtende und festigende Veränderung in der Stellung der
Micelle kann alle möglichen Abstufungen von einem kaum sicht-
baren Anfang bis zur vollendeten Uebereinstimmung in der Richtung
und zum festesten Zusammenhalt betragen. Ist der Eindruck, den
die Empfindung gemacht hat, schwach, so erfolgt durch den schwachen
Vorstellungsstrom nur eine sehr unvollständige Orientirung, die bald
wieder verloren geht. Ist der Eindruck stärker, so wird die Orien-
tirung der Micelle bestimmter und dauernder. Aeusserst lebhafte
Vorstellungen können in dieser Weise eine Spur hinterlassen, die
zeitlebens bleibt. Jede neue Empfindung macht sich im Sensorium
eine neue Vorstellungsbahn ; wiederholt sich aber die ganz gleiche
Empfindung, so schlägt sie den Weg ihrer Vorgängerin ein- und
8. Zurückführung geistiger Vorgänge auf stoffliche Bewegungen. 669
macht die Orientirung der Micelle bestimmter uii<l haltbarer (Aus-
wendiglernen).
Die Vorstellung selbst ist ein momentaner Nervenstrom, und
besteht in bestimmten (schwingenden) Bewegungen der Micelle, ihrer
Moleküle und Elementatome sammt den zugehörigen Aethertheilchen.
Die Erinnerung besteht darin, dass die Elemente einer Spur auf
äussere oder innere Veranlassung wieder erregt werden und zu
schwingen beginnen, wodurch sich die frühere Vorstellung erneuert.
Finden zwei Vorstellungen (.4 und B) gleichzeitig statt, d. h.
mit einem Zeitunterschied, der geringer ist als die Dauer ihrer Er-
regung, und sind sie lebhaft genug, so wirken die zwei schwingenden
Spuren auf einander ein und werden auf dem kürzesten Weg durch
eine Querspur verbunden. Wiederholt sich später die Vorstellung A
allein, so geschieht es leicht, dass vermittelst der Verbindungsspur
auch die Spur von B in Schwingung versetzt und damit die Vor-
stellung B wieder lebendig wird.
Schliesslich sind in dem Sensorium unzählige Vorstellungsspuren
vorhanden, jede durch ungeordnete Substanz isolirt und somit im
Stande allein schwingen zu können, aber auch jede durch eine Menge-
von A^erbindungsspuren mit andern Vorstellungsspuren zusammen-
hängend und fähig, dieselben zu beleben oder von denselben belebt
zu werden. Es können daher bei jeder Vorstellung durch directe
Vermittelung viele andere und durch weitere Vermittelung nach und
nach alle Vorstellungen, die im Sensorium als Spuren vorhanden
sind, erwachen. Ich sehe beispielsweise ein Feuer, dadurch bekomme
ich möglicher Weise die Vorstellung von Wärme, von Thermometer-
graden und Wärmeeinheiten ; von Kälte und Einheizen ; von Brennen,
Feuersbrunst, Löschen und Löschanstalten ; von Sieden, Braten und
Dörren; von der rothen Farbe des Feuers und von andern Farben,
von verschiedenen rothgefärbten Gegenständen, von rother Repubhk
und rothen Kardinälen ; von Rauch, von rauchgeschwärzten Gegen-
ständen und Personen ; ferner die Vorstellung des Wortes Feuer und
seiner Buchstaben, der von Feuer abgeleiteten Wörter, der Wörter,
die den gleichen Reim geben oder die gleiche Alliteration haben,
der Wörter in anderen Sprachen, welche Feuer bedeuten, u. s. w.
Die im Sensorium enthaltenen Vorstellungsspuren geben uns
Aufschluss darüber, ob eine Empfindung, die wir erhalten, neu ist
oder ob wir sie schon empfunden haben, und zu welcher Zeit. Trifft
670 Zusätze.
uns eine Empfindung zum ersten Mal, so muss ihre Vorstellung sich
eine besondere Spur bahnen und damit ist für unser Bewusstsein
ihre Neuheit gegeben. Sie erscheint uns auch neu, wenn sie zwar
früher schon da war, wenn aber ihre Spur mit der Zeit gänzlich
verschwunden ist. Findet eine Empfindung eine ihr entsprechende
Spur bereits vor, so wissen wir, dass wir die nämliche Empfindung
früher schon hatten, und je nachdem die Spur noch frisch ist oder
mehr oder weniger gelitten hat, wissen wir auch, ob die Empfindung
erst kürzlich oder schon vor längerer Zeit statt fand. Vorzüglich
aber werden wir über die Zeit derselben belehrt durch die mit ihrer
Spur unmittelbar verbundenen Spuren, also durch die Vorstellungen,
die wir gleichzeitig mit jener Empfindung hatten. Und den ganz
genauen Zeitpunkt erfahren wir, wenn die Vorstellungsspur der
Empfindung entweder selbst oder wenn eine mit ihr verbundene
gleichzeitige Spur in Zusammenhang steht mit Zeitspuren d. h. mit
solchen, welche uns das Jahr, den Monat, den Tag, die Stunde an-
geben. — Eine Empfindung kann sich mehrere Male wiederholen,
und möglicher Weise erinnern wir uns an jedes einzelne Mal. Dies
ist dann der Fall, wenn ihre Spur sich jedesmal mit Zeitspuren
oder überhaupt mit andern Spuren, die über die Zeit Auskunft geben,
in Verbindung gesetzt hat.
Die Vorstellungen hängen im Sensorium zuweilen in der Art
zusammen, dass die eine unwillkührlich die andere hervorruft. Dieser
Vorgang stellt sich am reinsten dar, wenn ein Kind das Abc, oder
die Zahlenreihe oder einen Spruch auswendig lernt, von dem es
gar nichts versteht, der ihm also nichts anderes als eine Reihe von
Wörtern ist. Jeder Laut macht sich beim Memoriren eine Spur
und wird mit dem nächstfolgenden oder mit den zwei und drei
nächstfolgenden, sofern ihre Vorstellungen zeitlich noch zusammen-
treffen, durch Querspuren verbunden. Da die Laute nicht gleich-
zeitig gesprochen oder gehört werden, so wird immer die ausschwingende
Spur mit einer solchen, die zu schwingen beginnt, verbunden. Die
Verbindungen zwischen den Gliedern einer Reihe sind also nach
vorn und nach hinten ungleichartig, Wenn nun ein Laut mitten
aus der Reihe angegeben wird, so leitet seine Spur beim Ausschwingen
naturgemäss nach dem folgenden und nicht etwa nach dem vorher-
gehenden Glied der Reihe. Sind alle Verbindungen in Ordnung,
so würd die Reihe ohne Fehler und ohne L^nterbruch hergesagt.
8. Zurückführung geistiger Vorgänge auf stoffliche Bewegungen. 67 1
Ich habe bis jetzt nur von den Vorstellungen gesprochen, in-
sofern dieselben durch äussere Eindrücke veranlasst werden und
Spuren im Sensorium zurücklassen, welche in Folge späterer Ein-
drücke wieder in Schwingung gerathen und Erinnerungen wach
rufen. Es werden aber auch durch innere Anregung die vorhandenen
Vorstellungsspuren in Bewegung gesetzt und neue Vorstellungen
gebildet, die bei hinreichender Lebhaftigkeit ihre Spuren hinterlassen.
Es wäre nun weiter zu untersuchen, wie es geschieht, dass man fast
beliebige Spuren schwingen lässt und Erinnerungen erweckt, — dass
man von den zahlreichen, nach Association schwingenden Spuren'
die einen festhält, die andern unbemerkt vorübergehen lässt, — dass
man ohne äussere Einwirkung die vorhandenen Vorstellungen zur
Bildung neuer Vorstellungen benutzt, die demnach rein innerliche
sind, da ihnen keine von aussen kommende Empfindung entspricht, —
dass man also sinnlich gegebene Vorstellungen zu Abstractionen
und Schlüssen benutzt, die eben so viele neue Spuren im Sensorium
erzeugen können, — dass man von den Vorstellungen und Schluss-
folgerungen zu Entschlüssen gelangt und dieselben durch den Willen
zu Thaten werden lässt. Alles dies sind Aufgaben der physiologischen
Psychologie, welche, wie ich glaube, auf dem angegebenen Weg (ver-
mittelst der Vorstellungsspuren) gelöst w^erden können. Dabei ist
für den Naturforscher selbstverständlich, dass das Princip der Freiheit
nicht als etwas dem Causalgesetz Widersprechendes und Transcen-
dentes eingreifen darf, sondern dass die Freiheit etwas Reales und
Vorstellbares ist, in der Weise, dass immer materiell gegebene Dispo-
sitionen vorhanden sind und dass der Ueberlegung die Auswahl
zwischen verschiedenen Entschlüssen offen steht. Die Ueberlegung
ist aber nichts anderes als die gleichzeitige Thätigkeit verschiedener
Vorstellungsspuren, namentlich auch derjenigen, welche die voraus-
sichtlichen Folgen und die Gründe für und gegen zum Bewusstsein
bringen, und welche dann den Entschluss zur Ausführung gelangen
lassen. — Der Versuch zur Beantwortung der genannten Probleme
auf molecular-physiologischem Weg würde hier viel zu weit führen.
Dagegen will ich noch einige Einwürfe beantworten, welche vielleicht
gegen die Elemente der allgemeinen Theorie erhoben w^erden.
Man wird vielleicht die Frage auf werfen, wodurch sich denn
die unzähligen Spuren im Sensorium materiell unterscheiden, da
jede eine andere Vorstellung gibt, und man wird vielleicht die
672 Zusätze.
Möglichkeit bestreiten, die Aufgabe durch Combinationen der mole-
cularen Verhältnisse zu lösen. Allerdings ist die Molecularphysiologie
noch lange nicht im Stande, die erste Frage in irgend einer plausibeln
Weise zu beantworten. Dagegen lässt sich die Möglichkeit einer
solchen Lösung unbestreitbar darthun, weil in den Nerven wirklich
stattfindet, was für das Sensorium vorausgesetzt wird. Da die Nerven
die verschiedensten Empfindungen leiten, so muss jede qualitativ
und quantitativ verschiedene Empfindung in anderer Art geleitet
werden. Bedenken wir, wie die von dem Gesichtsorgan aufgenommenen
zahllosen Formen und die mannigfaltigsten Zeichnungen, Schattirungen
und Färbungen auf denselben durch den Sehnerven, wie von dem
Gehörorgan die verschiedenen Töne und Geräusche und die Tausende
von Wörtern durch den Hörnerven, wie ferner die Gerüche, die
Geschmacksempfindungen und die Wahrnehmungen des Tastorganes
von den andern Nerven zum Sensorium geleitet und demselben in
unterscheidbarer Weise übergeben werden, so müssen wir auch dem
Sensorium selbst die Fähigkeit zugestehen, die Vorstellungen aller
dieser Empfindungen in unterscheidbarer Weise zu reproduciren.
Ein anderes Bedenken könnte darin bestehen, ob das Sensorium
wohl Raum für die Unzahl von räumlich geschiedenen Vorstellungs-
bahnen besitze. Nehmen vdr an, für jede Bahn sammt der um-
gebenden passiven (ungeordneten) Substanz sei ein prismatischer
oder cylindrischer Strang erforderhch, dessen Querschnitt J 00 Micelle
(Molekülgruppen) enthält (was wohl eher zu viel ist), nehmen wir
ferner an, auf die Eiweissmicelle treffen durchsc*hnittlich 360 Kohlen-
stoffatome (womit ihre Grösse bestimmt ist) und die Stränge ent-
halten 78 bis 57 Procent Wasser, so liegen auf dem Raum von
jedem Quadratmillimeter 78000 bis 121000 Millionen von Micellen
neben einander, und es finden somit auf diesem Raum 780 bis
1210 Milhonen von Vorstellungsbalinen Platz ^). Bei grösserer Aus-
dehnung des Sensoriums wächst diese Zahl zu einer so überwäl-
tigenden Menge an, dass sie allen Anforderungen genügen muss.
Ueberdem ist zu bemerken, dass nicht jede einzelne, von den
übrigen etwas verschiedene, concrete Wahrnehmung auch ihre be-
sondere Spur im Sensorium hervorbringen wird ; dafür wäre allerdings
') Vgl. übeY diese Berechnung die Abhandlung ü1)er die Abstammungs-
lehre S. G6.
8. Zurückführunfr geistiger Vorgänge auf stoffliche Bewegungen. G73
kein Raum hinreichend gross. Sondern es muss jedenfalls angenommen
werden, dass die sinnliche Gesammtwahrnehmung, die stets eine zu-
sammengesetzte ist, sich in ihre Elemente zerlege. Dies ist schon
behufs der Leitung zum Centralorgan erforderlich und hier bildet
sich dann jedes Element seine eigene Vorstellungsbahn. Die zum
Bewusstsein gelangende Gesammt -Vorstellung wird aus den gleich-
zeitig erregten Bahnen dieser Elemente zusammengesetzt. — In dieser
Weise bedarf es allerdings für die Vorstellung der einzelnen con-
creten Wahrnehmung einer Mehrzahl von Spuren im Sensorium;
dafür aber kann aus 50 Elementen eine Unzahl von verschiedenen
concreten Wahrnehmungen und Vorstellungen durch ungleiche Com-
bination zusammengesetzt werden ').
Diese Theorie erklärt uns manclie Erscheinungen im Geistesleben,
die unserem Verständniss sonst Schwierigkeiten bereiten würden.
Ich erwähne beispielsweise der mehr oder weniger unklaren Er-
innerung. Dieselbe begreift sich leicht durch den Umstand, dass
nur ein Theil der sie zusammensetzenden Elementarbahnen erregt
wird. Ist uns ein Name entfallen und wir erinnern uns nur, dass
derselbe mit S anfängt oder dass in demselben ein U vorkommt, so
rührt dies daher, dass die andern, auf den Namen hinweisenden
Vorstellungen im Augenblick bloss die Bahnen dieser zwei Buch-
staben, die seiner Zeit unsere Aufmerksamkeit besonders erregt haben,
in Schwingung zu setzen vennögen. — Die Theorie, dass die Vor-
stellungen im Sensorium in ihre Elemente zerlegt sind, gewährt uns
auch sofort eine Einsicht in das Zustandekommen der Abstractionen.
Der allgemeine Begriff wird dann lebendig, wenn die ihm angehörigen
speciellen Begriffe in gleichem Maasse zur Vorstellung gelangen.
Wenn die Bahnen, welche die Vorstellungen der besonderen Zahlen
darstellen, gleichzeitig und gleich stark erregt sind, so haben wir die
Vorstellung der Abstraction Zahl, wenn die Bahnen der Farben gleich-
massig erregt sind, die Abstraction Farbe.
*) In analoger Weise niuss die Theorie über das Zustandekommen der
Krljlichkeit in der Abstamn^ungslehre, mit der die Theorie über das Zustande-
kommen der Vorstellungen und Erinnerungen in allen Beziehungen grosse Ana-
logie zeigt (mit der Ausnahme jedocth, dass jenes ein phylogenetischer, dieses ein
ontogenetischer Vorgang ist), ebenfalls eine solche Zerlegung der Erscheinungen
in ihre Elemente zur Erzeugung der idioplasmatischen Anlagen annehmen
(S. 43—45).
V. Nägeli, Abstammungslehre 43
(j74 Zusätze.
Endlich muss ich noch von einem Einwurf sprechen, der wirk-
Hch gemacht wurde und auf den ich schon Eingangs hingewiesen
habe. Derselbe bestreitet die Berechtigung der materialistischen Be-
trachtung an und für sich , weil es undenkbar sei , dass sich die
Empfindungen getrennter kleinster Theilchen zur Einheit unserer
Empfindung und unseres Bewusstseins summiren ; weil also der
atomistischen Theorie das Zusammenfassende mangle, welches aus
der quantitativen Vielheit ein qualitatives Ganzes mache. Können
die Motive dieses Einwurfs nicht bestritten werden, so ist damit nur
die Unzulänglichkeit unseres Erkennens, nicht die Unmöglichkeit
des Geschehens bewiesen. Es wäre sehr kurzsichtig zu sagen: Das
begreife ich nicht, darum leugne ich seine Existenz. Wir begreifen
weder die Gravitationsanziehung, noch die elektrische Anziehung und
Abstossung, noch die chemische Verwandtschaft, und doch machen
die zugehörigen Vorgänge den Inhalt von wissenschaftlichen Dis-
ciplinen aus. Wir begreifen nicht, wie aus den Schwingungen der
Lichtäthertheilchen für unser Auge Farben, aus den Schwingungen
der Luftmoleküle für unser Ohr Töne entstehen, aber es fällt nie-
manden ein, deshalb das Vorhandensein von Schwingungen zu be-
streiten.
Geradeso verhält es sich auch mit dem Zustandekommen der
Qualität eines Ganzen aus den Eigenschaften seiner Theile. Wir
vermögen nicht einzusehen, wie aus Kohlenstoff, Wasserstoff und
Sauerstoff die Säure des Essigs, die Süsse des Zuckers, das Aroma
des Kamphers, das Belebende und Berauschende des Weingeistes zu-
sammengesetzt wird, und doch wird niemand so unwissenschaftlich
sein und deswegen die Zusammensetzung dieser Substanzen aus
Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff bestreiten wollen. Gleichwohl
sind diese Zusammensetzungen um nichts weniger unbegreiflich, als
die Zusammensetzung unserer einheitlichen Empfindungen und Vor-
stellungen aus den Empfindungen zahlreicher Moleküle und die
Zusammensetzung unseres einheitlichen Bewusstseins aus zahlreichen
Vorstellungen.
Was den Träger und die Verbreitung des Geisteslebens in der
Natm' betrifft, so wissen wir, dass dasselbe an die Nervensubstanz
gebunden ist. In den meisten Thieren ist diese Substanz in leitende
Stränge und in ein Centralorgan geschieden, in welchem sich die Vor-
stellungen bilden. Im Menschen hat sie ihre höchste Differenzirung
8. Zurückführnnir ffoistiger Vorgänge auf stoffliche Bewegungen. 675
erreicht, wiewohl wir nur die Functionen der Nervenstränge bestimmt
kennen, welche die Leitung zum und vom Centralorgan übernehmen,
und wiewohl ül)er die Vertheilung der Functionen im Centralorgan nur
wenig bekannt ist. — Es versteht sich, dass jeder Theil des Nerven-
systems entsprechend seiner Verrichtung molecular organisirt ist. Die
feinste Organisation verlangt das Sensorium. Besonders muss die Be-
weglichkeit der Micelle ein sehr bestimmtes Maass einhalten, damit
in der ungeordneten Substanz die Vorstellungsbahnen entstehen, als
Spuren dauernd werden, und auf Anstösse wieder in Schwingung
gerathen. Die Bew'egiichkeit darf weder zu gross sein, weil in einer
allzu weichen Substanz die Orientirung der Micelle zwar leicht erfolgt,
aber nicht haltbar ist und die Erinnerung verloren geht ; noch darf
die Beweglichkeit zu gering sein, weil in einer allzufesten Substanz
die Micelle nur schwer ihre Gleichgewichtslage verlassen, die Vor-
stellungen nur unvollkommen und die Erinnerung gar nicht zu
Stande kommt.
Vom Menschen im Thierreiche abwärts werden die Functionen
des Geisteslebens einfacher und die Nervensubstanz in sich gleich-
artiger. Auf der niedrigsten Stufe muss auch die elementarste Dif-
ferenzirung in leitende und vorstellungbildende Masse verschwinden;
die nämliche Substanz übernimmt beide Verrichtungen, und die
Vorstellungen, die bloss durch äussere Reize veranlasst werden, sind
von der allereinfachsten Art. Hier sind wir bei der Grenze an-
gekommen, wo das eigentliche Geistesleben im engeren Sinne beginnt:
Ein äusserer lebhafter Eindruck bleibt in der Substanz als Spur
zurück, und kann bei entsprechenden späteren Eindrücken als
Erinnerungsvorstellung einer angenehmen oder unangenehmen Em-
pfindung wach werden, so dass die erfolgende Bewegung nicht bloss
durch den gegenwärtigen äusseren Reiz, sondern auch dm'ch Erin-
nerungsvorstellungen beeinflusst wird. Dies ist das geringste Maass
von geistigem Leben, das wir von einem Thier verlangen müssen
Die Pflanze besitzt keine Erinnerungsvorstellungen; ihre Bewegungen
werden durch äussere und innere Ursachen bestimmt, an denen aber
die Vorstellung von einer früheren Erfahrung keinen Theil hat. Wir
können der Pflanze die Empfindung nicht absprechen; aber wir
dürfen ihr keine Seele zuschreiben, insofern als Seele ohne Vor-
stellungen und Erinnerung nicht denkbar ist.
Von den beiden Unterscheidungsmerkmalen Empfindung und
43*
()7G - Zusätze.
willkürliche Bewegung, durch welche man früher das Thier gegen-
über der Pflanze charakterisirte, ist nur das letztere stichhaltig. Die
Bewegung erscheint uns dann willkürlich, wenn sie nicht durch die
uns sichtbaren Ursachen allein erklärt werden kann, und dies ist
beim Thier der Fall, wo nicht bloss die äusseren Eindrücke, sondern
auch die inneren Vorstellungen dabei maassgebend mitwirken. Bei
der Pflanze dagegen lassen sich die Reizbewegungen vollständig auf
den von aussen kommenden Reiz und auf die Organisationsverhält-
nisse zurückführen. Die Schwärmbewegungen der einzelligen Pflanzen
und der einzelligen Thiere sind, so ähnlich sie bei oberflächlicher
Beti'achtung erscheinen, doch darin verschieden, dass die vegetabili-
schen Schwärmzellen sich viel regelmässiger bewegen und dass die
Abweichungen von der Regelmässigkeit sich aus dem ungleichen
Bau und den ungleichen äusseren Widerständen erklären lassen,
während die viel grössere Unregelmässigkeit der thierischen Schwärm
Zellen offenbar noch durch andere Ursachen bedingt wird. Im Thier
tritt also eine neue allgemeine, dem Pflanzenreiche mangelnde Qualität
auf, die aber, wie alle Qualitäten in der Natur, aus quantitativen Ver-
hältnissen entsteht und die auch keinen absoluten Unterschied be-
gründet , da von dem mit einfachster Vorstellung begabten Thier
zur vorstellungslosen Pflanze ein allmählicher Uebergang denkbar und
auch wohl vorhanden ist.
Dagegen besteht z\^'ischen Thier und Pflanze rücksichtlich der
Empfindung nur ein Unterschied im Grade. Wir haben keinen
Grund, den Sinnpflanzen dieselbe abzusprechen, wenn wir sie man-
chem noch empfindungsloseren niederen Thier zuschreiben, welches
in dieser Beziehung vom Menschen und den höchsten Thieren so
ungeheuer weit absteht. — Ob zwischen der Empfindung der Thiere
und Pflanzen und der Empfindung der Moleküle und Elementatome
ebenfalls nur ein gradweiser Unterschied anzunehmen sei, oder ob
die erstere eine neue Qualität darstelle, die aus der letzteren durch
Zusammensetzung hervorgeht (wobei das Zusammengesetzte nicht
als blosse Summirung erscheint, vgl. Zusatz 7 S. 662), lässt sich wohl
noch nicht übersehen, doch ist das Vorhandensein eines qualitativen
Unterschiedes wahrscheinlich .
Wie die Empfindung in dem gesammten organischen Reich
nur eine gradweise Abstufung zeigt und wie in den scheinbar ganz
empfindungslosen Pflanzen schon die Anfänge der Eigenschaft, die
9. Vergleichung d. thierischen Affccte m. analog, unorgan. Erscheinungen. ß77
uns im Menschen so sehr gesteigert nnd differenzirt entgegentritt,
vorhanden sind, so verhält es sich mit dem Bewusstsein für das
ganze Thierreicli. Die Anfänge desselben, welche dm-ch die wenigen
und einförmigen Erinnerungs Vorstellungen der niedersten, uns ganz
bewusstlos erscheinenden Thiere dargestellt werden, führen durch
eine continuirliche Reihe zu dem so hoch entwickelten Bewusstsein
des INIenschen.
9. Vergleichung der thierischen Affecte mit analogen unorganischen
Erscheinungen (S. 599).
Die Vorstellung, ^ie das Geistes- und Gefühlsleben des Menschen
mit analogen Aifecten in der unorganischen Natur in Beziehung zu
bringen sei, hat seit Empedocles keinen wesentlichen Fortschritt
gemacht. Derselbe nahm zwei Grundkräfte an, Liebe und Hass,
von denen die eine Vereinigung und Aufbau, die andere Trennung
und Zerstörung bewirkt, denen also im allgemeinen die gleiche Auf-
gabe zukommt wie den zwei Kraftkategorien der jetzigen Physik,
Anziehung und Abstossung. Wenn im Anschluss an den griechischen
Philosophen von heutigen Naturphilosophen Anziehung und Ab-
stossung der kleinsten Theilchen geradezu als Liebe und Hass be-
zeichnet oder damit vergüchen werden, so geschieht das w^ohl ohne
nähere Ueberlegung. Eine solche Idee mag als poetisches Gleichniss
mitgehen, aber wissenschaftliche Bedeutung kommt ihr nicht zu.
Weder lässt sie sich für die Molecularerscheinungen durchführen,
noch lassen sich Liebe und Hass als die zwei Grundkräfte eines
psychologischen Systems verwerthen.
Wenn Anziehung und Abstossung Liebe und Hass wären , so
kämen diese Empfindungen den Elementatomen und Molekülen im
nämlichen Moment in gleicher Stärke zu; denn die Theilchen der
festen Körper werden ja durch das Gleichgewicht der anziehenden
und abstossenden Kräfte in ihrer Lage erhalten. Man sollte nun
meinen, dass die Annäherung der Moleküle ein Zeichen der Liebe
sei ; dann wäre die Liebe bei grösster Kälte, bei welcher die Moleküle
in den kleinsten Abständen sich befinden , am wärmsten und bei
grösster Hitze, bei welcher die Moleküle sich am weitesten von
einander entfernen, am kältesten. Dasselbe würde aber auch für den
678 Zusätze.
Hass gelten; er müsste in gleichem Maasse wie die Liebe zu- und
abnehmen, denn bei jeder Temperatur ist ja Anziehung und Ab-
stossung einander wieder gleich. — Um diesen wenig plausiblen
Consequenzen zu entgehen, hätte man noch den Ausweg, Liebe und
Hass als die quantitative Differenz von Anziehung und Abstossung,
also nur dann als wirklich vorhanden anzunehmen, wenn die eine
oder andere dieser Kräfte überwiegt. Dann würde in einem elastischen
Körper, den man zusammendrückt, mit der Annäherung der Moleküle
ihr Hass erwachen, und beim Auseinanderziehen würde die Liebe
der Moleküle im Verhältniss der Entfernung sich steigern, was gleich-
falls nicht als sehr natürlich erscheint.
Anziehung und Abstossung sind Eigenschaften der Stofftheilchen,
welche ihnen beständig und in unveränderlicher Stärke zukommen, sie
mögen sich in Ruhe oder in Bewegung befinden. Liebe und Hass aber
sind offenbar nicht unveränderliche und bleibende Eigenschaften des
Stoffes, sondern nur mit besonderen Bewegungszuständen derselben
verbunden; diese Gefühle treten nur bgi bestimmten Vorstellungen
aui ; sie mangeln im Schlafe oder wenn der Geist anderswie beschäftigt
ist. Liebe und Hass, sowie überhaupt die Erscheinungen des Gefühls-
und Geisteslebens können also nicht aus den Kräften (als con-
stanten Eigenschaften) der materiellen Theilchen, sondern aus Re-
gungen, welche den letzteren in der Bewegung zukommen, also aus
vorübergehenden und wechselnden Eigenschaften der Theilchen ab-
geleitet werden , — in analoger Weise , wie das materielle Leben
des menschlichen Körpers aus den Bewegungen der Moleküle und
Elementatome hervorgeht.
Liebe und Hass können nicht als die elementarsten und ein-
fachsten, sie müssen vielmehr schon als sehr zusammengesetzte und
\delfach vermittelte Erscheinungen des Seelenlebens betrachtet werden.
Mit vollem Recht lässt Du Bois Reymond dasselbe mit dem Be-
hagen beginnen. Wohlbehagen und IVIissbehagen , angenehme und
unangenehme Empfindung sind die einfachsten psychischen Affecte,
die wir uns zu denken vermögen. Wir können daher auch den
kleinsten Theilchen nichts anderes als Wohl- oder Missbehagen oder
vielmehr Regungen zuschreiben, die das Behagen in seiner elemen-
tarsten Form darstellen; wir können es nur mit den moleculären
Bewegungen auftreten lassen, und wir müssen es selbstverständlich,
■s\de dies im Texte geschehen ist, dadurch bedingt sein lassen.
9. Vergleichung d. thierischen AfEecte m. analog, unorgan. Erscheinuugen. 079
dass den verschiedenen motorischen Trieben (Anziehung und Ab-
stossung) durch die Bewegung in positivem oder negativem Sinne
entsprochen wird.
Ein solches elementares Wohlbehagen ^\^rd also von zwei gleich-
namig-elektrischen Theilchen empfunden, die ihrer Neigung folgend
sich von einander entfernen, Missbehagen dagegen, wenn sie im
Widerspruch mit ihrer Neigung einander genähert werden. Zwei
ungleichnamig-elektrische Theilchen verhalten sich, wegen ihrer gegen-
seitigen Anziehung, umgekehrt ; das Näherrücken befriedigt sie, das
Auseinanderrücken aber, um wieder bildlich zu sprechen, verdriesst
sie. Dies hätte unbeschränkte Giltigkeit, wenn es schlechthin elek-
trische Theilchen gäbe. Da jedoch die Elektricität nur mit andern
Kräften zugleich an den Stofftheilchen haftet^), so kann man für
den angegebenen Fall nicht einfach von Behagen, sondern bloss
von elektrischem Wohl- und Missbehagen sprechen. Zwei Atome
mit gleichnamiger Elektricität stossen sich in Folge der Elektricität
ab , sie ziehen sich aber vermöge ihrer Gravitation an , und sie
müssen daher, so oft sie ein elektrisches Wohlbehagen empfinden,
ein Gravitationsmissbehagen fühlen, und umgekehrt. Die Bewegung,
welche zwei Atome einander näher oder ferner rückt, verursacht, vde
viele anziehende und abstossende Kräfte in denselben ihren Sitz
haben, eben so viele Arten des Behagens, welche als Theilempfindungen
zusammenwirken und deren Summirung die Gesammtempfindung
darstellt.
Wenn meine Theorie richtig ist, so gibt es für unser Nerven-
system weder eine reine Lust noch einen reinen Schmerz, sondern
jede Empfindung ist aus angenehmen und unangenehmen Gefühlen
gemischt, und zwar, wenn wir sie merklich spüren, fast immer so,
dass die einen oder andern , weil sie überwiegen , allein vorhanden
zu sein scheinen. — Ueber das Zustandekommen der Empfindungen
in der Nervensubstanz lässt sich bloss sagen, dass die kleinsten
Theilchen — nämlich die Eiweissmicelle, deren Bausteine die Eiweiss-
moleküle und die Theile der letzteren die Elementatome — als die
Träger der Empfindung angesehen werden müssen ; aber wegen der
unendlichen Complication der Erscheinungen ist nicht einmal die
allgemeinste und oberfiächlichste Analyse ausführbar. Schon die
1) Vgl. Zusatz 1. Physische und metaphysische Atomistik S. 609.
680 Zusätze.
Empfindung eines einzelnen Eiweissmicells gegenüber einem andern
Eiweissmicell gestaltet sich sehr verwickelt. Bezeichnen wir das
Behagen, das ein Atom in Beziehung zu einem andern Atom empfindet,
als Atomempfindung, und nehmen wir an, jedes Eiweissmicell ent-
halte 360 Kohlenstoffatome, somit im Ganzen ungefähr 1125 Atome
[C, H, N, S, 0): so hat jedes Atom des einen Micells mit Rück-
sicht auf das ganze andere Micell 1125 Atomempfindungen, und die
Gesammtempfindung des einen Eiweissmicells , das einem andern
Eiweissmicell sich nähert oder von demselben sich entfernt, besteht
schon aus der Smnme von mehr als einer Million Atomempfindungen.
Die Zahl der Atomempfindungen , welche einem Eiweissmicell in
einem Plasmatropfen oder einzelligen Organismus kleinster Grösse
zukommen, erreicht eine nicht mehr zu übersehende Grösse.
Die Gesammtempfindung des einzelnen Micells ist quantitativ
unendhch gering. Die Empfindung in einer einzelnen Zelle oder
in einem Complex von Zellen kann dadurch zu merklicher Inten-
sität anwachsen , dass zahlreiche Micelle zu Schaaren niederer und
höherer Ordnungen zusammentreten und eine übereinstimmende
Wirkung ausüben. Die mannigfaltige und feine Abstufung in den
Empfindungen aber rührt von den unendlichen Modificationen in
der Zusammensetzung her, verbunden mit dem Umstände, dass jede
Empfindung die Differenz von zwei (positiven und negativen) Summen
zahlloser Theilaffecte ist.
Kräfte ml rTestalliiien
molecularen Gebiet.
Ein theoretischer Versuch.
In dem 1. Zusatz zu der Abhandlung »Die Schranken der natur-
wissenschafÜichen Erkenntniss«, welcher die »Physische und meta-
physische Atomistik« bespricht (S. 603), habe ich es versucht, den
Grund für eine neue Theorie der Lehre von den Kräften mid Ge-
staltungen im molecularen Gebiet zu legen. Da die Theorie dort
nur in ganz allgemeinen Umrissen entworfen werden konnte, so scheint
es mir zweckmässig, in einer weiteren Ausführung zu zeigen, dass
sie einer Anwendung bis in alle Einzelheiten fähig ist, und den
Beweis zu unternehmen, dass die neue Anschaumig einerseits in theo-
retischer Beziehung unserem naturwissenschaftlichen Bewusstsein
vollkommen entspricht, was nach meiner Ansicht mit keiner der
bisherigen atomistischen Hypothesen der Fall ist, und dass sie andrer-
seits die erfahrungsmässige Wirklichkeit ausreichend zu erklären
vermag. Namentlich halte ich es für nothwendig darzuthun, dass
die Annahme einer noch unbekannten Kategorie von Kräften, welche
ich aus Vernunftgründen gefordert habe, eine Lücke in unserem
Wissen ausfüllt und dieses in den Stand setzt, die allgemeinsten
physicalischen Thatsachen wie Elasticität und chemische Verwandt-
schaft zu begreifen. Selbstverständlich soll an den empirisch ge-
wonnenen Gesetzen und Thatsachen der Physik, Chemie und Physio-
logie nichts geändert, sondern bloss der Versuch gemacht werden,
dieselben auf ein einheitliches und rationelles Princip zurückzuführen^).
') Bei der Abfassung dieser Abhandlung hatte ich, wie bei den beiden
vorhergehenden (»Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre« und
»Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss«), ein allgemein natur-
wissenschaftlich gebildetes Publikum im Auge, das sich auch um die allgemeinsten
Fragen, die als principielle oder naturphilosophische zu bezeichnen sind, interessirt.
Es ist daher manches ausgeführt und wiederholt worden, was gegenüber dem
speciell physicalisch Gebildeten übei-flüssig und unstatthaft wäre.
G84 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Wenn man bis jetzt die Deduction auf die molecularen Ver-
hältnisse anwenden wollte, so meinte man von absolut einfachen
Individuen (Atomen) ausgehen zu müssen und gerieth dabei immer
auf unbegreifliche und für den Aufbau der concreten Dinge unbrauch-
bare metaphysische Existenzen, wie ich in dem genannten Zusatz
nachgewiesen habe. Es lässt sich weder aus Kraftpunkten noch
aus kleinsten Massen mit Centralkräften, die beide als metaphysische
oder Uratome zu bezeichnen wären, etwas Reales construiren.
Das aus Kraft und Stoff bestehende Individuum kann auf jeder
Stufe der Organisation und in jeder Grössenordnung nur ein zusammen-
gesetztes und ein in der Endlichkeit befangenes Ding sein ; es muss,
man mag es sich noch so klein denken, immer theilbar bleiben,
ferner muss auch das winzigste Theilchen alle in der Natur wirk-
samen Elementarkräfte in sich vereinigen ; denn sonst gäbe es Theil-
chen, die nicht auf einander wirken würden und, weil ohne dynamische
Beziehung unter einander, nicht zu einem zusammengesetzten Ding
zusammentreten könnten. Endlich können die Elementarkräfte nicht
gleichmässig durch die Materie verbreitet sein; denn sonst wären
kugelige Theilchen derselben mit Centralkräften begabt, und Theil-
chen von nicht kugeliger Gestalt würden nach allen Richtungen und
auf alle Entfernungen dynamisch so wirken, als ob sie nur eine
einzige Kraft enthielten. Um etwas wirkliches zu construiren, muss
man annehmen, dass in einer Masse von beliebiger Grösse die
Elementarkräfte ungleichmässig und unregelmässig verbreitet seien,
so dass auch jedes Theilstück ebenfalls eine ungleichmässige An-
ordnung derselben enthalte. Denn nur in dieser Weise wird es
möglich, dass, wie es in der That der Fall ist, die dynamische Wir-
kung auf gleiche Entfernung nach den verschiedenen Richtungen
ungleich ausfällt, und dass sie nach der nämlichen Richtung auf
ungleiche Entfernungen einen anderen Werth annimmt, als es das
Verhältniss des umgekehrten Quadrats der Entfernung verlangen
würde.
Aus diesen Gründen ist es unmöglich, dass eine deductive Theorie
gleichartige individuelle Dinge als kleinste Theilchen oder Atome
zur Grundlage ihrer Betrachtungen mache und daraus etwas ableite.
Ich habe daher einen andern Weg versucht und die Deduction mit
den abstracten Eigenschaften der Dinge, nämlich mit den Kräften
begonnen. Ich wiederhole kurz die Herleitung der elementaren
Kräfte und Ges,taltiingen im molccularen Gelnet G85
Kräfte. Dieselben können nur in gradliniger Richtung als Anziehung
und Abstossung wirken, und ihre Wirkung muss entsprechend dem
umgekehrten Quadrat der Entfernung abnehmen. Die beiden zusammen-
gehörigen und sich widersprechenden (einander neutralisirenden) Kräfte
müssen ferner ein symmetrisches Verhältniss darstellen, in analoger
Weise, wie es mit den beiden elektrischen Kräften der Fall ist. Es
muss endlich so viele Kategorien von Kräften geben, als symmetrische
^''erhältnisse zwischen zusammengehörigen Kraftpaaren denkbar sind.
Es gibt nur drei solcher Verhältnisse.
1. Elektrische Anziehung und Abstossung. Die gleich-
namigen Kräfte [a und a, ebenso h und h) stossen sich ab, die un-
gleichnamigen [a und h) ziehen sich an (Fig. 29, I).
2. Isagische Anziehung und Abstossung. Die gleich-
namigen Kräfte [a und a, ebenso ß und ß) ziehen sich an, die
ungleichnamigen (« und ß) stossen sich ab (Fig. 29, II).
3. Gravitationsanziehung und Aetherabstossung
(Dominantenkräfte). Die einen gleichnamigen Kräfte {A und A)
ziehen sich an, die andern gleichnamigen {B und B) stossen sich
ab ; die ungleichnamigen [A und B) verhalten sich indifferent, indem
sie sich weder anziehen noch abstossen (Fig. 29, III). Ich habe, um
eine Gleichförmigkeit in der Benennung zu erhalten, die beiden
Kräfte der dritten Kategorie Dominantenkräfte genannt, weil sie ihrer
Natur nach die Anziehung und Abstossung in der Natur beherrschen.
///
-a
ß-
Fig. 29.
In den Figuren I, II und III sind die Anziehungen zwischen
je zwei Kräften (d. h. die Anziehungen zwischen zwei beliebigen,
mit den fi-aglichen Kräften begabten Massen durch , die
Abstossungen durch angezeigt.
Es gibt also theoretisch 3 Kategorien oder 3 Paare einfacher,
gradlinig wirkender Naturkräfte , die elektrischen , die isagischen
686 Kräfte und Gt'Staltungen im molecularen Gebiet.
und die Dominanten-Kräfte, wobei die Kräfte eines Paares nicht auf
die der andern Paare ■^drken. Diese G Elementarkräfte sind die noth-
wendigen und die einzigen Eigenschaften der Materie; kein materi-
elles Theilchen, es mag noch so klein angenommen werden, lässt
sich ohne dieselben denken, und zwar müssen in jedem alle 6 Kräfte,
aber in ungleichen Mengen, vereinigt sein. Aus dieser Annahme
sollen alle uns bekannten Erscheinungen ohne weitere Hypothesen
sich ableiten lassen.
Ueber die quantitative Vertheilung der Kräfte gibt uns die
Erfahrung einigen Aufschluss. Sie zeigt, dass die beiden gegen-
sätzlichen Kräfte eines Paares bald in ziemlich gleicher Menge in
einem kleinsten Theilchen vereinigt sein können, wie dies häufig
mit der Elektricität der Fall ist, bald fast vollständig getrennt
zu sein scheinen , wie dies an der Gravitationsanziehung und der
Aetherabstossung beobachtet wird, von denen jene den wägbaren
Stoffen, diese dem Aether zukommt. Die Erfahrung zeigt uns ferner,
dass das Nämliche auch bezüglich der Kräfte verschiedener Paare
gilt, indem dieselben in ungefähr gleicher Menge vorhanden sein
oder auch die einen mehr oder weniger vorherrschen können.
Die kleinsten uns aus Erfahrung bekannten Theilchen der
Materie sind die Aethertheilchen und die Atome der chemischen
Elemente. Beide gehören zwei verschiedenen Grössenordnungen an.
Dieser Ausspruch wird durch folgende Betrachtung gerechtfertigt.
Der Weltäther verursacht keine bemerkbare Verzögerung in der Be-
wegung der Himmelskörper, er muss also eine äusserst dünne Sub-
stanz sein. Er leitet aber mit der grössten Regelmässigkeit Licht
und Wärme, also müssen seine Theilchen so dicht beisammen liegen,
dass sie mit Leichtigkeit auf einander einwirken können. Beides
zusammen ist nur durch die Annahme erreichbar, dass die Aether-
theilchen äusserst klein seien. Damit steht in Verbindung, dass die
Fortpflanzung von Bewegungen durch die Aethertheilchen (Licht,
Wärme, Elektricität) ungefähr eine Million mal schneller erfolgt als
die Fortpflanzung von Bewegungen durch die wägbaren Moleküle
(Schall). Die Aethertheilchen werden also in entsprechendem Maasse
kleiner sein als die Moleküle und Atome.
Es pflanzen sich nämlich die Schwingungen, welche den Schall
erzeugen, in der Luft mit einer Geschwindigkeit von 332"^ in der
Secunde fort, während die Luftmoleküle nach Clausius bei 0^ mit
Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet. 687
einer mittleren Geschwindigkeit von 485 '" dahinfliegen. Die Schall-
geschwindigkeit in Gasen beträgt ungefähr ^k der fortschreitenden
Moleculargeschwdndigkeit, und die letztere ist von dem Gewichte der
Gasmoleküle abhängig. Die Fortpflanzung des Lichtes hat eine
Geschwindigkeit von 311540000"^ in der Secunde. Wenn auch das
Verhältniss zwischen diesem Werthe, der mittleren fortschreitenden
Bewegung der Aethertheilchen (diese fliegen ohne Zweifel in gleicher
Weise wie die Gasmoleküle durcheinander) und der mittleren Grösse
der Aethertheilchen unbekannt ist, so müssen diese drei Werthe
doch von einander abhängig sein . und es müssen , vde die Ge-
schwindigkeiten des Schalles und des Lichtes, auch die Grössen
ihrer Träger, der Moleküle und der Aethertheilchen, verschiedenen
Grössenordnungen angehören. Diese Schlussfolgerung wird noch
dadurch unterstützt, dass die Fortpflanzung des elektrischen Stromes
fast die gleiche Geschwindigkeit hat wie das Licht, nämlich 463000000™
in einem Kupferdraht von 1,5°^"^ Dicke. Wenn der elektrische Sti'om,
wie ich es später darzuthun suchen werde, auf einer fortschreitenden
Bewegung von Theilchen beruht, welche den Aethertheilchen an
Grösse gleichkommen, so wäre eine directe Vergleichung ihrer Ge-
schwindigkeit mit der Geschwindigkeit der Luftmoleküle möglich.
Da es für die fernere Auseinandersetzung vortheilhaft ist, für
diese kleinste bekannte Grössenordnung einen besonderen Namen
zu haben, so will ich die indi^dduellen oder untheilbaren Theilchen
derselben Amere ^) nennen, wobei es vorerst unentschieden bleibt, ob
die Theilchen des Wärme- und Lichtäthers einzelne Amere oder
Gruppen von solchen seien. — Was die wägbaren bekannten Stoff-
theilchen oder die Atome der chemischen Elemente betrifft, so sind
dieselben jedenfalls sehr zusammengesetzt, wie aus ihrer ungleichen
Werthigkeit und namentlich aus der Abstufung ihrer chemischen
Anziehung, ihres Gewichtes und aller übrigen physischen Eigen-
schaften sich ergibt. Lieber die Art und Weise der Zusammensetzung
wissen wir nichts. Um die Vertheilung der Elementarkräfte anschau-
licher zu machen, nehme ich an, dass die Atome aus Theilchen von
der Grössenordnung der Aethertheilchen, also aus Ameren, zusammen-
gesetzt seien.
Diese Annahme präjudicirt nichts; sie lässt die reale Sachlage
*) Amer von « privathoim und jue'oos Theil.
688 Ki'äfte und Gestaltungen im molecnlaren Gebiet.
unberührt und bietet zunächst bloss einen formalen Vortheil. Hätten
die chemischen Atome irgend eine andere Zusammensetzung , so
könnten wir gleichwohl in Gedanken ihre Substanz in Theilchen von
der Grösse der Amere zerlegen und mit Rücksicht hierauf die Ver-
theilung der Elementarkräfte vornehmen. — Es möchte "säelleicht
Manchem voraussetzungsloser erscheinen, die Substanz in materielle
Punkte von unbestimmter oder unendlicher Kleinheit zu zerlegen.
Diese Operation bleibt immer noch vorbehalten, sofern sie für irgend
einen Zweck wünschbar erscheint. Ehe sie aber in Anwendung
kommen kann, müssen vorerst die Eigenschaften der Theilchen,
welche der kleinsten bekannten Grössenordnung angehören, also der
Amere, bestimmt werden, und wenn dies geschieht, so scheint es
nicht, dass irgend eine physicalische Frage eine weitere Zerlegung
verlangen würde. — Uebrigens ist es aus Gründen der Analogie
wahrscheinlich , dass die Atome der chemischen Elemente wirklich
aus Theilchen von der Grössenordnung der Amere zusammengesetzt
seien, gerade so wie auf einer höheren Stufe alle wägbaren Stoffe
aus Atomen und IMolekülen, und auf einer noch höheren Stufe alle
organisirten Substanzen aus Micellen zusammengesetzt sind.
Die Aufgabe ist nun, aus den gegebenen Prämissen ohne andere
theoretische Voraussetzungen oder Hypothesen , als solche , die aus
den durch die Erfahrung festgestellten Thatsachen nahe gelegt werden,
die Folgerungen abzuleiten. Die Prämissen sind aber keine anderen,
als die, dass jedem Theilchen der kleinsten Grössenordnung die
G Elementarkräfte anhaften.
I. Vertheilung der Elementarkräfte') auf die Amere.
Um diese Vertlieilung vornehmen zu können, müssen wir uns
zunächst eine Vorstellung bilden, wie sich die in der Natur vorhan-
denen Gesammtmengen der beiden Elementarkräfte eines zusammen-
gehörenden Paares verhalten. — Es ist an und für sich wahrscheinlich,
*) Ich werrle die 6 Elementarkriifte der Kürze hallier wie in dem früheren
Schema (S. 685) häufig durch Buchstaben bezeichnen, und zwar die positive und
negative Elektricität durch a und b, die positive und negative Isagität durch
« und ß, und von den Dominantenkräften die Gravitationsanziehung durch A,
die Aetherabstossung durch B.
1. Vertheilung der Elementarkräfte auf die Amere. G89
dass die jDOsitive Hälfte der negativen Hälfte quantitativ gleich-
komme; diese Annahme hegt eigentlich schon in dem Satze der
Symmetrie. Auch die Erfahrung spricht entschieden dafür. Die
freien positiven und negativen Elektricitäten machen nur einen sehr
kleinen Tlieil der positiven und negativen Elektricitätsmengen aus,
die in den Körpern sich das Gleichgewicht halten und zu neutraler
Elektricität verbunden sind, und die durch Vertheilung frei zu werden
vermögen. Könnte man die in einem bestimmten Moment freien
Elektricitäten zusammenlegen, so würde man sicher um so eher auf
Null kommen , je weitere Gebiete man umfasste. Wir müssen also
annehmen , dass die in der Welt vorhandene Summe der positiven
Elektricität gleich sei der negativen, also Sa=Sb, — ferner, dass
gleichfalls die Menge der positiven Isagität gleich sei der negativen,
also Sa=^ Sß , — und endlich , dass die gesammten Gravitations-
kräfte den gesammten Aetherabstossungskräften gleichkommen, also
SÄ = SB 1).
Die in der Welt vorhandene Menge einer jeden Elementarki"aft
ist auf alle Amere und zwar in verschiedenen Mengen vertheilt, so
dass jedes Amer davon eine beliebige Quantität von einem Minimum
bis zu einem Maximum enthält. In jedem einzelnen Amer sind
also die Kräfte a, b, a, ß, A, B vertreten, und da die Quantitäten
beliebig wechseln, so überwiegt in einem Amer im allgemeinen
stets die eine Hälfte eines Kräftepaars, a oder h, a oder ß, A
oder B. Der Fall, dass a und &, oder a und ß, oder A imd B in
einem Amer sich das Gleichgewicht halten, ist der Grenzfall einer
') Wenn die wirksamen Kraftmengen einander gleich sind, so sind auch die
Summen der dadurch hewrkten Anziehungen und Abstossungen einander um so
eher gleich, je grösser die Zahl der wirksamen Theilkiitfte ist. Wirken n positive
(a) und n negative (b) elektrische Elemente, jedes von gleichem Betrag, auf ein-
ander, so ist der Coefficient für tue Sunmie der Anziehungen (ah) gleich w^, derjenige
für die Summe der Abstossungen zwischen den elektrisch-positiven Elementen («)
«* — n
gleich — - — (nämlich the Anzahl der Gomlnnationen ohne Wiederholungen für
«Elemente und für die zweite Klasse), der Coefficient für die Summe der Ab-
stossungen zwischen den elektrisch-negativen Elementen (6) ebenfalls — - — , also
die Gesammtsumme der elektrischen Abstossungen n^ — n, welcher Ausdruck dem
Ausdruck für die Anziehungen n^ um so näher kommt, je grösser n wird. Im
Universum, wo n unendlich gross ist, verschwindet die Differenz zwischen den
beiden Ausdrücken.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 44
ß90 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
unendlichen Menge von möglichen Fällen und kann somit nach
der Wahrscheinlichkeitsrechnung vernachlässigt werden.
Jedes Amer erhält also seinen dynamischen Charakter durch die
überwiegende Menge der einen Hälfte eines jeden der drei Kräfte-
paare. Mit andern Worten, Jedes Amer ist 1. elektrisch positiv [a]
oder negativ (&), 2. mit überwiegender a- oder /Msagität, 3. mit vor-
herrschender Gravitationsanziehung {Ä) oder Aetherabstossung [B)
ausgerüstet. Daraus folgt, dass es 8 verschiedene Arten von Ameren
gibt; dieselben sind, wenn bloss die ausschlaggebende Hälfte eines
jeden Kräftepaars notirt wird, folgende :
aaÄ, aaB, aßÄ, aßB, haÄ, haB, hßA, hßB.
Der Ausdruck aaÄ heisst nichts anderes, als dass in dem betref-
fenden Amer mehr a als &, mehr a als ß und mehr A als B vor-
handen sei, und so verhält es sich mit den übrigen Ausdrücken.
Da die Zahl aller Amere unendlich ist, so hat mit grösster
Wahrscheinlichkeit ziemlich genau die eine Hähte a, die andere b
in ihrem Ausdruck. Ebenso lassen sich alle Amere in zwei (andere)
Hälften zerlegen , von denen die eine mit a , die andere mit ß be-
zeichnet ist. Endlich besitzen von zwei (abermals anderen) Hälften
die eine Ä , die andere B. ■ — Ferner wird wegen der unendlichen
Anzahl der Combinationen ziemlich genau die eine Hälfte aller
a- Amere mit a, die andere mit ß behaftet sein, und desgleichen
ziemlich genau die eine Hälfte aller aa- Amere mit Ä, die andere mit B.
Das Nämliche gilt für die übrigen Combinationen, so dass also im
allgemeinen gesagt werden kann, jeder der obigen 8 Ausdrücke um-
fasse den 8. Theil aller in der Welt vorhandenen Amere.
Die Vertheilung der 6 Elementarkräfte auf alle Amere kann,
wie es eben geschehen ist, deswegen strenge nach den Principien
der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgenommen werden, weil die drei
Kräftepaare keine dynamischen Beziehungen zu einander haben und
also kein mit ihrer Natur in Beziehung stehendes causales Ver-
hältniss bei der Gruppirung wirksam sein konnte.
2. Agglomeration und Dispersion der Amere.
Wir haben aus der Vertheilung der Elementarkräfte 8 Gruppen
von Ameren erhalten, jede mit einer anderen Combination von
Kräften. Die Amere wirken auf einander durch Anziehung und
2. Agglomeration und Dispersion der Amere. 691
Abstossung; sie machen gleichsam ihre Wahlverwandtschaften geltend.
Uni dieses Spiel von Kräften zu überblicken, müssen wir annehmen,
dass die Amere irgend einmal getrennt von einander waren, gleichsam
im gasförmigen Zustande sich befanden. Die Beschaffenheit der
chemischen Atome spricht auch von Seite der Erfahrung aus ent-
schieden für diese Annahme , wie ich später zeigen werde ; — und
die Kant-Laplace'sche Theorie von der Entstehung der Himmels-
körper durch Verdichtung dürfte auf keine andere Weise zu denken
sein, als durch allmähliche Zusammenballung von früher getrennten
Ameren. Damit meine ich jedoch nicht etwa, dass das ganze un-
endliche Weltall einmal gleichzeitig in die Amere aufgelöst gewesen
sei ; es ist im Gegentheil viel wahrscheinlicher, dass die Zerstreuung
und der darauf folgende VerdichtungS2:)rocess immer nur local, d. h.
in Räumen, die zmn mindesten ganzen Sonnensystemen entsprechen,
stattgefunden haben.
Ob die Amere in der ursprünglichen Zerstreuung bleiben, oder
ob sie sich zusammenballen, hängt davon ab, ob die anziehenden
oder abstossenden Kräfte überwiegen. Betrachten wir zuerst die
Wirkungen der einzelnen Elementarkräfte , wie sie sich geltend
machen würden, wenn in jedem Amer nur eine der 6 Kräfte ent-
halten wäre, und wie sie annähernd auch eintreten, wenn jedem
Amer zwar alle 6 Kräfte zukommen, aber eine davon die übrigen
an Stärke beträchtlich übertrifft. Die Amere sind in diesem Fall
durch die vorherrschende Kraft charakterisirt und tragen die Signatur
a, h, a, ß, Ä, B.
Von diesen 6 Kategorien wirken nur a und h, ferner « und ß
auf einander ein; im übrigen verhalten sie sich indifferent. Was
zuerst die elektrischen Kräfte a und h betrifft, so bemerken wir
sogleich, dass dieselben weder im Sinne der Zusammenballung, noch
im Sinne der Zerstreuung thätig sind. Zwei Amere a und h (von
denen also das eine positiv, das andere negativ-elektrisch ist) ziehen
sich zwar an und haften fest an einander. Aber, sofern a und h
gleich stark sind, kann das Doppelamer al) kein anderes Amer fesseln,
weil es dasselbe in gleichem Maasse anzieht und abstösst. Nur wenn
a oder h in dem gepaarten ah viel stärker und somit die eine
oder andere Elektricität im Ueberschuss vorhanden wäre, könnte
ein drittes Amer hinzutreten. Es bilden sich also im allgemeinen
44*
(592 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
durch die elektrischen Kr.äfte l>loss neutrale Doppelamere, zwischen
denen weder anziehende noch abstossende Beziehungen bestehen^).
Ganz anders verhalten sich die isagischen Kräfte a und ß. Wenn
zwei a sich mit einander vereinigt haben, so kann sich noch ein
drittes, viertes und eine beliebige Monge von a-Ameren anlegen.
Dasselbe ist andrerseits .mit den /i-Ameren der Fall. Es haben also
alle durch die Kraft « ausgezeichneten Amere die Neigung, sich in
eine einzige Masse zu vereinigen, ebenso alle durch ß ausgezeichneten
Amere, und die beiden a- und /:?-Massen entfernen sich von ein-
an(ler. — Von den Dominantenkräften gleicht A den beiden Isagi-
täten; alle Gravitations- oder .i-Amere haben die Neigung, sich zu
einer einzigen Masse an einander zu legen. Dagegen kommt den
Aetherabstossungs- oder B-KmQVQn das Bestreben zu, sich von ein-
ander zu entfernen und somit möglichst gleichmässig im Räume zu
vertheilen.
Unter den Elementarkräften ist die Gravitationsanziehung [Ä]
die eigentliche Agglomerationskraft, die unter allen Umständen in
dem gleichen Sinne wirkt. Die Aetherabstossung [B] ist die eigent-
liche Dispersionskraft, die ebenfalls ihren Charakter nie verleugnet.
Dagegen haben die isagischen und die elektrischen Kräfte einen
doppelseitigen Charakter. Sind nur a- oder nur &-Amere irgendwo
vorhanden, so wirken sie zerstreuend, während a und h einander an-
ziehen. Sind nur a- oder nur /i- Amere in einem Raum, so wirken
sie zusammenballend, während a und ß sich von einander entfernen.
Nun trifft aber die gemachte Annahme, dass eine einzelne
Elementarkraft in einem Amer so sehr überwiege, dass die anderen
neben ihr fast verschwinden, jedenfalls nur selten ein. In der Regel
wird die combinirte Wirkung der drei vorherrschenden Kräfte ent-
scheiden. Es ist also die Frage, wie sich die Amere, die den
*) Wenn zwei Körper, von denen der eine positive, der andere negative freie
Elektricität enthält, einander bis zur Berührung genähert werden, so findet Aus-
gleichung der Elektricitäten statt und die beiden Körper werden mehr oder weniger
neutral. Dies ist sell)stverständlich bei der Vereinigung der Amere nicht der
Fall, weil sonst die elektrische Kraft die Materie verlassen müsste. Wenn bei
grösseren Körpern Elektricität aus- oder eintritt, so ist es nicht die Kraft allein,
sondern die mit Kraft begabte Materie;, welche diese Bewegung ausführt ; es sind
elektrische Amere, welche dem Körper gegeben oder entzogen werden.
2. Aggloinonition und Disiiersion der Anicrc. (JOo
8 Kräftecoinljiiiationcn (S. GUO) entsprechen, zu einander verhalten.
Schreiben wir die 8 Ausdrücke folgendermaassen an
Aaa, Aal), Aßa, Aßb
Bau, Bßa, Bob, Bßb,
so ist sogleich ersichtlich, dass alle Amere, welche durch die beiden
ersten Ausdrücke der obern Reihe bezeichnet werden, sich unbedingt
vereinigen, da sie die Attractionselemente A und A, ferner a und a
enthalten, während a und h sich einzeln zwar anziehen, in Mehrzahl
aber neutral verhalten. Es wäre also begreiflich, wenn alle Aaa
und Aah sich zu einer einzigen Masse zusammenballten. Das Nämliche
gilt von den zwei letzten Ausdrücken der oberen Reihe. — Ferner
müssen alle Amere mit den beiden ersten Ausdrücken der unteren Reihe
sich unbedingt zerstreuen, weil sie die Repulsionselemente B und B,
dann a und a führen, während a und ß einzeln zwar sich abstossen,
in Mehrzahl aber sich das Gleichgewicht halten. Ganz ebenso ver-
halten sich die zwei letzten Ausdrücke der unteren Reihe.
Für die Combinationen der verschiedenen Amere, wie ich sie
eben vorgenommen habe, ist der Effect unzweifelhaft, und wir ver-
mögen jedenfalls zu erkennen , dass einerseits Agglomeration , wde
wir sie in den wägbaren Stoffen finden, andrerseits Zerstreuung, wie
wir sie in dem den Weltenraum erfüllenden Aether kennen, statt-
finden muss, und dass jene im allgemeinen auf den (^-haltigen)
Ausdrücken der oberen Reihe, diese auf den (l?-haltigen) Ausdrücken
der unteren Reihe beruht. Für alle anderen Combinationen ist
der Erfolg zweifelhaft , weil es dabei auf die Grösse der einzelnen
Kräfte ankommt, die uns unbekannt ist. So ziehen sich z. B. der
erste und dritte Ausdruck der oberen Reihe {Aaa und Aßa) an,
wenn die Anziehung ÄA gTösser ist als die beiden Abstossungen aß
und aa, und im umgekehrten Falle findet Abstossung statt ; ist eine
Mehrzahl von so beschaffenen Ameren (Aaa und Aßa) vorhanden,
so kommen für die Gesammtheit die isagischen Kräfte (« und ß)
nicht mehr in Betracht, weil sie sich gegenseitig aufheben , und es
tritt Agglomeration oder Dispersion ein, je nachdem die Anziehung
zwischen den .i-Kräften grösser oder kleiner ist als die Al)Stossung
zwischen den «-Kräften. Es ist überflüssig, von andern Combinationen
zu sprechen, da die Bedingungen des Erfolges leicht ersichtlich sind.
G94 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Wenn auch die Wirkung der meisten Combinationen , sei es,
dass sie in Mehrzahl beisammen oder dass sie vereinzelt vorkommen,
wegen der ungleichen Grösse der den Ameren anhaftenden Elementar-
kräfte zweifelhaft ist, so würden wir doch die Wirkung im Grossen und
Ganzen einigermaassen beurtheilen können, wenn wir die Gesammt-
menge jeder einzelnen in der Welt vorhandenen Kraft kennten.
Ich habe bereits davon gesprochen, dass ohne Zweifel die beiden
(positiven und negativen) Glieder einer Kategorie gleiche Summen
geben, also Sa = Sb, Sa = Sß und SÄ = SS (S. 689). Dies sagt
uns aber nur, dass gleich viel jiositive und negative Elektricität,
ferner gleich viel a- und /?-Isagität, endlich gleich viel Gravitations-
anziehung und Aetherabstossung im Universum wirksam sei und
sich das Gleichgewicht halte. Die Frage wäre aber nun, wie sich
Sa, Sa und SA zu einander verhalten.
Man wird wohl a priori zu der Annahme geneigt sein, dass
das Gesetz der Symmetrie auch auf die verschiedenen Kategorien
von Elementarkräften Anwendung finde, und dass gleiche Mengen
von elektrischen, von isagischen und von Dominantenkräften existiren.
Dann ist aber die Frage, wie die Symmetrie zu deuten sei, ob
Gleichheit zwischen den wirksamen Kräftemengen oder Gleichheit
zwischen den Mengen der hervorgebrachten Anziehungen und Ab-
stossungen bestehen soll. Denn in dem vorliegenden Fall sind dies
zwei verschiedene Begriffe , da die beiden Kräfte des Dominanten-
paares sich zu einander neutral verhalten, während die Kräfte der
übrigen Paare auf einander wirken. Wir können uns dies, da das
Zurückgehen auf einfache Kraftpunkte auf das metaphysische Gebiet
führen würde, am besten deutlich machen, wenn wir die Amere
der Betrachtung zu Grunde legen.
Um diese Betrachtung möglichst einfach und verständlich zu
gestalten, will ich als Beispiel eine Anzahl von Ameren voraussetzen,
von denen jedes eine der 6 Elementarkräfte in gleicher Menge als
Ueberschuss enthalte. Es seien also n Amere mit a, eben so viele
mit 1) , und eben so viele mit a , mit ß , mit A und mit B im
Ueberschuss ausgerüstet; dann sind die Summen der wirksamen
Kräfte a, h, a, ß, A und B gleich gross. Die Summen der An-
ziehungen und Abstossungen aber werden durch folgende Coeffici-
enten ausgedrückt: die Summe der elektrischen Anziehungen ah
durch n'\ die Summe der elektrischen Abstossungen aa und hh durch
2. Agglomeration und Dispersion der Amere. ()<)5
ti' — n ^), diu Summe der isagisclien Anzieliuiigen aa und ßß durch n' — n,
die Summe der isagisclien Abstossungcn aß durch n\ die Summe der
Gravitationsanziehungen ÄÄ durch — ^ — und die Summe der Aether-
abstossungcn BB durch — ^ — . Die Summen der Dominanten-
Anziehungen und Abstossungen sind also nur halb so gross als
die Summen der Anziehungen und Abstossungen jeder der übrigen
Kräfte, wenn alle Kräfte in gleicher Menge wirksam sind, und wir
haben für das Universum
Summen der wirksamen Kräfte SÄ = Sa=z Sa :=,SB — Sß = Sb,
Summen der Anziehungen und Abstossungen
^^ . . __ S(aa -\- ßß) Sab qt^tj ^'^ß S{aa-\-bb)
^AA- -— = bBB = ^- =
Dieses Resultat, welches uns unerwartet und vielleicht unwahr-
scheinlich ist, rührt daher, weil den Dominantenkräften Ä und B
nur eine einfache Wirkung (auf sich selber), den übrigen Kräften
dagegen eine doj)pe]te Wirkung (auf sich selber und auf die Schwester-
kraft) zukommt. Es würde daher die Forderung der Gleichheit und
Symmetrie ebensowohl befriedigen, wenn den mit einfacher Wirkung
begabten Elementen Ä und B die dopjDelte Kraftmenge zukäme.
Sowie ein Element a die übrigen a-Elemente abstösst und zugleich
die ^-Elemente anzieht, so würde dann ein Element Ä, welches
bloss auf die Ä-, nicht auf die i?-Elemente ein-svirkt, jene mit
doppelter Kraft anziehen und B würde die ^-Elemente mit doppelter
Kraft abstossen, so dass also jedes A- und i?-Element gegenüber den
Krafteinheiten die nämliche Arbeit zu leisten vermöchte wie jedes der
Elemente a, b, a und ß. Bei dieser Annahme wächst die Summe der
Gravitationsanziehungen für die vorhin vorausgesetzten n Amere auf
2(*2" — n), und den gleichen Betrag hat auch die Summe der Aether-
abstossungen , sodass also die Summen der Dominanten-Anziehungen
und Abstossungen jetzt doppelt so gross sind als die Summen
der Anziehungen und Abstossungen jeder der übrigen Kräfte. Wir
haben daher für das Universum
*) Vgl. die Anmerkung auf S. 689.
696 Kräfte and Gestaltungen auf molecularem Gebiet.
Summen der wirksamen Kräfte -- = /Sa = Sa = =^ Sß =z Sb.
Smiimen der Anziehungen und Abstossungen
^±f±- = S{aa + ßß) = Sah = ^^ = Saß = S{aa + hh).
Die beiden soeben besprochenen Annahmen ül)er das quantitative
Verhältniss der Summen der 6 Elementarkräfte sind wohl die einzigen,
die unsere theoretische Naturanschauung zu befriedigen vermögen.
Es ist nun leicht zu bestimmen, welches Resultat die eine und andere
Annahme bezüglich der Vertheilung der Amere im grossen und
ganzen gibt. Setzen wir wieder die 8 Kategorien der letzteren wie
oben in zwei Reihen an
Aaa^ Aah, Äßa, Äßh
Baa, Bßa, Bah, B ßo
und halten wir uns zunächst an die erste Annahme, nämlich dass
SÄ = Sa ==1 Sa =^ SB = Sß = Sh. Dabei ist im Auge zu halten,
dass, wie früher angegeben, die 3 in jedem Amer im Ueberschuss
vorhandenen und demselben die Signatur gebenden Kräfte jedes
behebige Verhältniss ihrer Grösse zu einander zeigen können , so
dass also beispielsweise in Äaa jede Kraft bald grösser bald kleiner
als die beiden andern ist. Denken wir uns, um einen leichteren
Ueberblick zu gewinnen, es seien in einem Raum nur solche Amere,
die zwei Ausdrücken der oberen Reihe entsprechen, befindlich, so
müssen, wie schon für den allgemeinsten Fall erörtert wurde, ohne
Ausnahme alle Amere sich vereinigen, wenn sie den zwei ersten
Ausdrücken {Aaa und Aah) angehören, — ebenso, wenn sie den
zwei letzten Kategorien [Aßa und Aßh) angehören , — ferner die
grosse Mehrzahl der Amere, wenn sie der 1. und 4. Kategorie [Aaa
und Aßh) und desgleichen, wenn sie der 2. und 3. Kategorie {Aah
und Aßa) entsprechen. Sind Amere des 1. und 3. Ausdruckes [Aaa
und Aßa) beisammen, so hängt es von der Grösse der (anziehenden)
^-Kräfte und der Grösse der (abstossenden) a-Kräfte ab, ob Zusammen-
ballung oder Zerstreuung eintritt.
Sind aber sehr zahlreiche Amere aller Kategorien der obern
Reihe in einem Ramn beisammen, so gravitiren sie unbedingt alle
gegen einander. Denn je grösser ihre Zahl ist, um so vollständiger
heben sich die anziehenden und abstossenden Kräfte « und ß,
2. Agglomeration und Dispersion der Aniere. 007
a und h aui', und kommen bloss die anziehenden J.-Kräfte zur
Geltung.
Analog wie die Amere der oberen Reihe bezüglich der An-
näherung an einander, verhalten sich diejenigen der unteren Reihe
bezüglich des Auseinanderweichens. Wenn nur je zwei Kategorien
in einem Räume vertreten sind, so zerstreuen sich die Amere der
beiden ersten Ausdrücke [Baa und Bßa) unbedingt, ebenso die der
beiden letzten [Bob und Bßh); — ferner die grosse Mehrzahl des
1. und 4. Ausdrucks (Baa und Bßb) und des 2. und 3. (Bßa und Bah).
Sind Amere der 1. und 3. Kategorie (Baa und Bah) oder der 2. und
4. Kategorie (Bßa und Bßh) in einem Raum vereinigt, so entfernen
sich dieselben von einander oder nähern sich einander, je nachdem
die (abstossenden) B-Kräite oder die (anziehenden) a-, resp. /?-Kräfte
die Oberhand haben. Ist aber eine grosse Anzahl von Ameren der
4 Ausdrücke der unteren Reihe l^eisammen, so tritt im allgemeinen
Zerstreuung ein, weil die a- und ß-, die a- und Z>-Kräfte sich gegen-
seitig neutralisiren.
Folgen wir der anderen Annahme bezüglich der quantitativen Ver-
hältnisse der 6 Elementarkraftsummen, wonacli -^ SÄ = Sa = Sa =
— SB = Sß =-- Sh, so ist der Erfolg bezüglich der Zusammenballung
und Zerstreuung ein ganz ähnlicher, nur viel entschiedener, indem
jetzt einerseits die Gravitationsanziehung, andrerseits die Aether-
abstossung in vielen Fällen überwiegend wird, in denen sie bei der
ersten Annahme durch andere Kräfte überwunden wurde.
Es führen also beide Annahmen auf dem Wege der Deduction
zu der Vertheilung der Substanz, die wir aus Erfahrung kennen,
und die uns einerseits die zusammengeballten wägbaren Stoffe, andrer-
seits den alles erfüllenden Weltäther zeigt. Nach der letzten Annahme
ist es nahezu die Hälfte der Amere, welche der Gravitation folgend,
sich einander nähert, während nahezu die andere Hälfte in Folge der
Aetherabstossung sich zerstreut, und ein kleinerer Theil von weniger
ausgesprochenem Charakter je nach Umständen an der Zusammen-
ballung oder Zerstreuung Theil nimmt. Nach der ersten Annahme
ist die Zahl der Amere von unentschiedenem ^^erhalten viel beträcht-
licher. — Diese Resultate treten um so deutlicher hervor, je mehr
698 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet.
Amere uuf einander einwirken , indess bei einer geringeren Menge
derselben bestimmte Kategorien vorherrschen und den Erfolg modi-
ficiren können.
Wir können uns ferner die Frage stellen, wie hoch verhältniss-
mässig die Summen der Gravitationskräfte und der Aetherabstossungs-
kräfte einerseits in den Agglomerationsmassen und andrerseits in dem
Weltäther sich belaufen mögen. Die Prämissen, welche uns die
Amertheorie für einen solchen Schluss darbietet, sind folgende : Jedes
der unendlich zahlreichen Amere enthält eine gewisse Menge von
Gravitationsanziehung und von Aetherabstossung ; diese Mengen
schwanken zwischen einem Maximum und einem Minimum, sind in
jedem Amer mit einander combinirt und in der Gesammtzahl aller
Amere symmetrisch vertheilt; nahezu die eine Hälfte der Amere
bildet, da in ihnen die Gravitation überwiegt, die Agglomeratious-
massen, nahezu die andere Hälfte mit überwiegender Aetherabstossung
setzt den Weltäther zusammen. Wäre Maximum und Minimum be-
kannt, so liesse sich das Verhältniss der beiden Kräfte nach der
Wahrscheinlichkeitsrechnung ziemlich genau angeben. Da wir das
Maximum und Minimum nicht kennen, so lässt sich nur ein extremes
Verhältniss feststellen, das jedenfalls nicht überschritten sein kann.
Dieses extreme Verhältniss stellt sich am grössten heraus, wenn
wir die freilich als unmöglich erscheinende Annahme machen, es
enthalten alle Amere der wägbaren Massen mehr als die halbe, durch-
schnittlich einem Amer zukommende Gravitationsanziehung und
weniger als die halbe durchschnittliche Aetherabstossung, und wenn
wir ferner, was nicht undenkbar ist, voraussetzen, dass das Minimum
einer Elementarkraft in den Ameren sehr klein und das Maximmn
im Vergleich damit sehr gross, dass also in dem vorliegenden Fall
die kleinste Aetherabstossung äusserst gering und die grösste Gravi-
tationsanziehung vielmal beträchtlicher sei. In diesem Falle betrüge,
wegen der unendlichen und ohne Zweifel gleichmässig vertheilten
Abstufung der Amerkräfte, in den wägbaren Massen die Summe der
3
Gravitationsanziehungen -— aller Gravitationsanziehungen überhaupt
■i
und die Smnme der Aetherabstossungen -r- aller im Universum ent-
haltenen Aetherabstossungen. Die Berechnung ist die nämliche, wie
2. Agglomeration und Dispersion der Amere. 699
beispielsweise die Summirung der Zahlciireilie 1 bis 50 die Zald 1275
und diejenige der Zahlenreihe 51 bis 100 die Zahl 3775, also fast
3 mal so viel ergibt.
Indessen ist die zu Grunde gelegte Voraussetzung, wie bereits
gesagt, kaum denkbar. Wir müssen vielmehr annehmen, dass die
G Elementarkräfte in der unendlichen Menge von Ameren nicht nur
in allen möglichen Verhältnissen comljinirt, sondern dass auch die
einzelnen Verhältnisse in gleicher Zahl verwirklicht seien. Dann
ergibt sich folgende Grundlage für die Berechnung. In der Hälfte
aller Amere ist die Gravitationsanziehung [Ä] grösser als die Aetlier-
abstossung [B); in der andern Hälfte verhält es sich umgekehrt.
Die Amere der ersten Hälfte mit der Signatur Ä^ B setzen die
ponderabeln Massen zusammen ; die der zw^eiten Hälfte mit der
Signatur Ä <i B gehören dem Weltäther an. — Ferner lassen sich
alle Amere in 4 gleichgrosse Gruppen scheiden, je nachdem einer-
seits die Gravitationsanziehung und andrerseits die Aetherabstossung
grösser oder kleiner ist als die einem Amer im Mittel zukommende
Kraftmenge (m). Diese 4 Gruppen sind also
1 Gr. Ä< m ; B < m.
2 Gr. ^ < in ; B > m.
3 Gr. J. > w; J5 < tu.
4 Gr. A> tu; I> > m.
In den Ameren der 1. und 4. Gruppe überwiegt bald die Gravi-
tationsanziehung, bald die Aetherabstossung. Es haben daher alle
Amere der 3. Gruppe und je die Hälfte der 1. und 4. Gruppe die
Signatur J. >» J5 und bilden die Agglomerationsmassen, während der
Weltäther aus allen Ameren der 2. Gruppe sammt der Hälfte je der
1. und 4. Gruppe, welche alle die Signatur A<^B haben, besteht.
Unter der Voraussetzung, dass die in den Ameren vorkommenden
Minima der beiden Dominantenkräfte einander gleich seien, ebenso
die Maxima, und dass das IVIininmm sehr klein und das Maximum
vielmal grösser sei, ergibt die Summirung, dass von der Gesammt-
masse der im Universum enthaltenen Gravitationsanziehungskräfte
2 1
-^ den ponderabeln Massen, -^ dem Weltäther, und von der Gesannnt-
masse der Aetherabstossungskräfte -^ den ponderabeln Massen und
2
-7j- dem Weltäther zukommen.
o
700 Kräfte und Gestaltungen im luolecularen Gebiet.
Um das Resultat dem Verständuiss näher zu legen , führe ich
noch eine andere Art der Berechnung mit bestimmten numerischen
Werthen an. Die Kraftintensitäten von Ä und von B variiren z. B.
zwischen 1 und 20 und zwar in Abstufungen, die den ganzen Zahlen
1 .... 20 entsprechen. In einer Anzahl von 400 Ameren können
alle möglichen Combinationen der Ä- und I?-Kräfte vertreten sein,
indem immer je 20 Amere die Gravitationsanziehung in der Inten-
sität 1 , resp. 2 .... 20 enthalten , und indem die 20 Amere jeder
dieser Gruppen der Reihe nach die Aetherabstossung in der Intensität
1 .... 20 besitzen. Die so beschaffenen 40ü Amere geben uns ein
Bild aller im Universum vorkommenden Amere und stellen einen
Bruchtheil der letzteren dar. Die Summirung ihrer Kräfte gibt daher
ein Verhältniss, das auch dem Ganzen für die angenommenen
numerischen Werthe entsprechen muss.
Die weitere Rechnung ist einfach. Die 400 Amere enthalten eine
Gesammtintensität der Gravitationskräfte und der Aetherabstossungs-
kräfte von je 4200. Von den 400 Ameren haben 20 gleich intensive
A- und 7?-Kräfte (nämlich 1 und 1 , 2 und 2 etc.) , sind also rück-
sichtlich der Dominantenkräfte isodynamisch und indifferent; die-
selben besitzen eine Gesammtintensität der Ä- und I?-Kräfte von je
210. Die ü])rigen 380 Amere sind heterodynamisch; 190 Amere
mit überwiegender yl-Kraft ballen sich zu ponderabeln Massen zu-
sammen, 190 mit überwiegender i?-Kraft zerstreuen sich als Aetlier.
Die Summirung ergibt für die 190 ponderabeln Amere eine Gesammt-
intensität der Gravitationskräfte von 2660, der Aetherabstossungskräfte
von lo3(), — für die 190 Aetheramere eine Gesammtintensität der
Gravitationskräfte von 1330 und der Aetherabstossungskräfte von
2 1
2660: also die vorhin angegebenen Verhältnisse von -^ und -, .
^ ^ 3 3
Diese Verhältnisse werden durch die 20 isodynamischen Amere, die
sich neutral verhalten , und je nach Umständen den ponderabeln
Massen oder dem Weltäther angehören können, nicht geändert.
Geben wir al^er die Bedingung preis, dass das Minimum der
Amerkräfte sehr klein und das Maximum vielmal grösser sei, so
wird das Verhältniss zwischen den A- und i>-Kräften in den pon-
2 1
derabeln und in den imponderabcln Massen kleiner als -^ : -^ .
Es wechsle beispielsweise in den 400 Ameren die Intensität jeder
2. Agglomeration und Dispersion der Amere. "Ol
der beiden Dominaiitenkräfte von 1 1 bis 30 (statt von 1 bis 20),
so dass also jedes Amer 10 Einheiten von Ä- und jB-Kräften mehr
hat als in dem vorhin betrachteten Fall. Die Gesammtintensität
der A- und B-Kräite in den 400 Ameren beträgt je 8200; die Ge-
sammtintensität in den 20 isodynamischen Ameren (Intensität in
jedem Amer 11 + 11, 12 + 12 etc.) beträgt 410. Die VM hetero-
dynamischen Amere, welclie sich zu ponderabeln Massen vereinigen,
enthalten eine Gesammtintensität der yl-Kräfte von 45G0 und der
-B-Kräfte von 3230, während in den 190 heterodynamischen Aineren,
welclie sich als Aether zerstreuen, eine Gesammtintensität der J. -Kräfte
von 3230 und der i?-Kräfte von 4500 vorhanden ist. Das Verhältniss
der Gesammtmengen der beiden Kräfte in den ponderabeln, sowie
in den imponderabeln Massen, das in dem 1. Beispiel 1 : 2 war, wird
hier 1 : 1,41.
Das Verhältniss 1 : 2 stellt einen Grenzfall der denkbaren Mög-
lichkeiten dar. Wenn wir uns daher auf die Deduction aus ver-
nunftmässigen Principieu verlassen dürfen, so lässt sich mit Gewissheit
2
annehmen, dass von allen Gravitationskräften höchstens -^ den wäg-
baren Massen und mindestens -5- dem Weltäther, und von allen
o
Aetherabstossungskräften mindestens -„ den wägbaren Massen und
ö
2
höchstens -^ dem Aether zukommen. In den ponderabeln Substanzen
ist also wenigstens halb so \'iel Aetherabstossung als Gravitations-
anziehung enthalten; möghcher Weise ist der quantitative Unter-
schied zwischen beiden sogar viel geringer. Diese grosse Menge von
Aetherabstossungskräften iimerlialb der Agglomerationskörper ist von
grosser Bedeutung für die Theorie von dem Zustandekommen der
Elasticität (§ 3) und für die Beurtheilung des Wesens der Schwer-
kraft (§ 4).
Die bisherige Betrachtung ergibt uns nm^ ganz im allgemeinen
das Resultat bezüglich Zusammenballung und Zerstreuung der Amere.
Um eine Vorstellung über das Verlialtcn der Amere im besondern,
namentlich über ihre grössere oder geringere Annälierung, ihr Zu-
sammentreten zu individuellen Gruppen und die Beständigkeit ihrer
702 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Anordnung zu gewinnen, müssen wir die maassgebenden Umstände,
die dynamische Beschaffenheit der Amere und ihre Bewegungen
etwas näher berücksichtigen.
Was die dynamische Bechaffenheit betrifft, so ist zu beachten,
dass ausser den die Signatur bestimmenden Kräften (S. 691), aucli
andere in geringerer Menge vorhanden sind, dass also in jedem mit
A bezeichneten und den Gravitationsmassen angehörenden Amer
auch die Aetherabstossung B in geringerem Betrage enthalten ist,
dass die Aetheramere auch etwas Gravitationsanziehung besitzen, dass
mit positiver immer auch negative Elektricität und mit a-Isagität immer
auch /:?-Isagität combinirt ist. In einem Amer z. B. , welchem der
leichteren Uebersiclit wegen die Bezeichnung Aßa gegeben wurde,
zeigen die Werthe A, ß und a nur die überwiegenden Glieder in
den drei Kräftepaaren an. Eigentlich lautet seine vollständige Charak-
teristik AB aß ah, wobei aber A ^ B, et <i ß und a^h ist.
Die vollständige dynamische Wirkung zweier Amere auf ein-
ander, diiQ vcni AB aß ah wwdi \\\\i A^B^a^ß^a^hi bezeichnet sind, ergibt
folgendes Resultat:
Anziehungen AA^-\-aay -f ß ßi + ^^i + ha^
Abstossungen B Bi-\- aß^ -j- ßai -f «a, -|- hb^.
Die Summe der Anziehungen weniger die Summe der Ab-
stossungen ist
AA, — BBi-{-aai — aßi-\- ßßi — /? «i -f a h, — « «i -f- 6 «i — W>i
oder nach leicht zu übersehender Umbildung
AA, — BB,^{a—ß) {a, — ß,)-^{a-b) (h-a,).
Von den beiden isagischen (a und ß) und den beiden elektrischen
{a und b) Kräften kommen also, wie dies übrigens selbstverständlich
ist, nur die betreffenden Ueberschüsse in einem Amer in Betracht.
Jeder der beiden Ausdrücke (a—ß) («i — ßi) und (a — b) [b^ — «i) kann
ferner positiv oder negativ ausfallen und somit entweder die Gravi-
tationsanziehung {AAi) oder die Aetherabstossung [BB^ verstärken.
Aus diesem Umstände ergibt sich bezüglich der Aether-
zerstreuung, dass dieselbe nicht bloss aus einzelnen Ameren,
sondern auch aus 2- und mehrzähligen Gruppen bestehen muss.
An der Zerstreuung nehmen, wie wir bereits gesehen haben, im all-
gemeinen alle Amere Theil, in denen B grösser ist als A. Es müssen
aber im Weltäther stets zwei Amere sich mit einander vereinigen,
2. Agglomeration und Dispersion der Amere. 703
wenn die Aetherabstossung BB^ von der Summe der Anziehungen
aller Kräfte übertroffen wird, wenn also zwar AAi<iBBi aber
AÄ, 4- {a-ß){a—ß,)^{a — h){h, — a,) > BB,,
oder mit andern Worten, wenn die Gesammtwirkung zwischen
2 Aetherameren
AA,-BB,-^{a-ß){a, — ß,)-^{a — h){h-a,)
einen positiven Werth darstellt. Dies ist dann leicht der Fall, wenn
JiBi nur wenig grösser als AAi ist, wenn ferner in den beiden
Ameren die gleichnamigen Isagitäten (entweder a und a, oder ß und ßi)
und die ungleichnamigen Elektricitäten (entweder a und &i oder
h und rfi) überwiegen.
Wie zwei, können natürlich auch drei oder mehrere Aether-
amere eine zusammenhängende Gruppe bilden, wenn die Anziehung
innerhalb derselben die Abstossung überwiegt. Doch wird die Ver-
einigung um so schwieriger, je grösser die Zahl der Amere ist. Die
ganze Gruppe aber, welche vorzüglich durch die isagischen und die
elektrischen Kräfte zusammengehalten wird, nimmt an der Aether-
zerstreuung gerade so Theil, wie ein einzelnes Aetheramer, weil gegen-
über den Agglomerationsmassen die isagischen und die elektrischen
Kräfte sich ziemlich indifferent verhalten und daher nur der Ueber-
schuss der Aetherabstossung über die Gravitationsanziehung den
Ausschlag gibt.
Die zusammengesetzten Aethertheilchen müssen aber nicht noth-
wendig bloss aus Aetherameren bestehen; es können auch einzelne
ponderable Amere d.h. solche, in denen J. > J5 ist, in die Gruppen
eintreten und zwar um so eher, je mehr die Gravitationsanziehung
quantitativ hinter der isagischen und elektrischen Anziehung zurück-
bleibt.
Wenden wir uns zu den ponderabeln Massen, so reicht
die Kenntniss der dynamischen Beziehungen der Amere, wie sie aus
den Beträgen aller ihrer Kräfte berechnet w'urden, zu einer genauen
Vorstellung über die Zusammenballung nicht aus. In dieser Be-
ziehung ist die Entscheidung der Frage von grösster Wichtigkeit,
ob die Amere sich bis zur Berührung nähern oder ob grössere und
kleinere Zwischenräume zwischen ihnen bleiben. Dies hängt einmal
von der Vertheilung der verschiedenen Elementarkräfte in der Sub-
stanz der einzelnen Amere ab; die Vertheilung aber lässt sich all-
704 Kräfte und Gestaltungen im molccularen Gebiet.
gemein in doppelter Art denken. Entweder sind die verschiedenen
anziehenden und abstossenden Kräfte in dem Amer gleichartig
oder aber ungleichartig angeordnet.
Die gleichartige Anordnung der Kräfte, — mögen dieselben
gleichmässsig durch die Substanz des Amers vertheilt , mögen sie
in dessen Centrum vereinigt oder über seine Oberfläche ausgebreitet
sein, — ■ hat zur Folge, dass die Differenz der anziehenden und ab-
stossenden Kräfte nach allen Seiten hin gleich wirkt, und dass die
Anziehung oder Abstossung zweier bestimmter Amere lediglich eine
Function der Entfernung ist. Denn wir müssen jedenfalls annehmen,
dass Attraction und Repulsion aller Elementarkräfte sich in derselben
Weise, nämlich nach dem reciproken Verhältniss des Quadrats der
Entfernung bemisst. Bei gleichartiger Anordnung wird die dyna-
mische Beziehung zweier Amere, die sich in irgend einer Ent-
fernung (d) von einander befinden, einfach durch den Ausdruck
[ÄÄ, — BB, + (« - ß) («. - /i.) -f [a ^ h) {h, - «0] ^
dargestellt (vgl. S. 703).
Die ungleichartige Anordnung dagegen, bei welcher die Kräfte
eine verschiedene Stellung im Amer haben, die einen auf dieser, die
andern auf jener Seite, die einen im Innern, die andern an der
Oberfläche vorherrschend sind, bedingt nothwendig eine wechselnde
Gesammtwirkung nach verschiedenen Seiten und bei verschiedenen
Entfernungen. Diese Gesammtwirkung wird um so ungleicher, je
geringer die Entfernung zwischen den Ameren ist; erst bei einem
Abstände, gegen welchen der Durchmesser des Amers verschwindet,
wird die Gesammtwirkung constant. Bei ungleichartiger Anordnung
der Kräfte lässt sich die dynamische Beziehung zweier Amere, die
sich in einem bestimmten Abstände von einander befinden, nicht
durch einen einfachen arithmetischen Ausdruck, wie dies bei der
gleichartigen Anordnung der Fall ist, wiedergeben, da jedem einzelnen
Kräfteproduct wahrscheinlicher Weise ein anderer durch die Ent-
fernung bedingter Coefficient zukommt: ÄA^ -ß, BBi y^, ora, ^^, u. s.w.
d' rti (*u
Von den beiden eben erwähnten Möglichkeiten ist bloss die
letztere annehmbar. Die ungleichartige Anordnung der Elementar-
kräfte im Amer ist einerseits schon im Voraus theoretisch notli-
wendig, und andrerseits entspricht sie allein der Erfahrung. Was
2. Agglomeration und Dispersion der Amere. 705
zuerst die Theorie betrifft, so ist folgendes zu bemerken. Die Amere
sind, wie alle endlichen Dinge, selbst wieder aus Partikeln zusammen-
gesetzt, an denen die Kräfte haften. Sind diese Partikeln beweglich,
so müssen die einzelnen Kräfte eine ihrer Wirksamkeit entsprechende
Lage annehmen, die Gravitationsanziehung muss vorzugsweise im
Innern des Amers concentrirt, die Aetherabstossung vorzugsweise in
den oberflächlichen Partien ausgebreitet, die a-Isagität mehr auf der
einen, die /':?-Isagität mehr auf der andern Seite des Amers angehäuft,
und ausserdem müssen diese Kräfte nebst der Elektricität unregelmässig
vertheilt sein. Sind aber die Partikeln unbeweglich, so muss eine
solche ungleiche Anordnung der Kräfte zu Stande gekommen sein,
als die Amere sich aus ihren Theilen aufbauten.
Was dagegen die Erfahrung betrifft, so wissen wir, dass die
ponderabeln Massen aus Atomen und Molekülen bestehen, die durch
Zwischenräume getrennt und gegen einander beweglich sind. Ein
solcher Zustand ist wohl nur erklärlich, wenn die Elementarkräfte
in den Ameren ungleichartig angeordnet sind. Denn bei gleich-
artiger Anordnung würden sie als Centralkräfte wirken und in diesem
Falle könnte den ponderabeln Körpern keine Elasticität zukommen.
Die Anziehung ihrer Amere wäre unter allen Umständen bloss eine
Function der Entfernung zwischen den djmamischen Mittelpunkten
derselben, und die Annäherung zweier Amere müsste stets bis zur
Berührung fortschreiten, wo die Anziehung dann ilir Maximum er-
reichte. Es müssten aber nicht bloss je zwei, sondern überhaupt alle
Amere, in denen die anziehenden Kräfte überwiegen, das Bestreben
besitzen, sich bis zur Berülirung zusammenzuballen und agglomerirte
Massen zu bilden, die continuirlich, ohne Zwischenrämne, ohne Glie-
derung in Theile, absolut starr, ohne Dehnbarkeit und Elasticität,
ohne die Möglichkeit, in einen flüssigen und gasförmigen Zustand
überzugehen, wären.
Erfahrung und Theorie sprechen also übereinstimmend gegen
die Annahme einer gleichartigen Anordnung der Elementarkräfte im
Amer. Bei der ungleicliartigen Anordnung, mit der auch ein un-
regelmässiger innerer Bau und eine unregelmässige äussere Gestalt
des Amers Hand m Hand gehen muss , ist besonders die überwiegend
oberflächliche Lage der Aetherabstossung wichtig in ^''erbindung mit
dem Umstände, dass dieselbe entsprechend der unregelmässigen Form
des Amers an einzelnen Seiten und Stellen in grösserer Menge
V. Nägel i, Abstammtingslelire. 4d
706 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
angeliäiü't ist (ähnlich wie freie Elektricität an der Oberfläche eines
Körpers). Es wird daher, auch wenn die Amere sich in Ruhe be-
finden sollten , immer einzelne Stellen geben , wo ihre vollständige
Annäherung an einander unmöglich ist, und dies um so mehr, wenn
zufällig die isagischen und vielleicht auch die elektrischen Kräfte an
den nämlichen Stellen abstossend wirken.
Die Summe der abstossenden Kräfte innerhalb der Agglomerations-
körper, die ich oben im allgemeinen zu bestimmen gesucht habe
(S. 698 — 701), wird noch dadurch erhöht, dass in ähnlicher Weise,
wie ponderable Amere in die Amergruppen der Aetherzerstreuung
aufgenommen werden, auch Aetheramere (d. h. solche, in denen
die Aetherabstossung grösser ist als die Gravitationsanziehung) in die
Agglomerationen eintreten müssen; denn es wird dies nur davon
abhängen , dass in einer bestimmten Gruppirung von ponderabeln
Ameren durch die überwiegende isagische und elektrische Anziehung
die Einfügung von Aetheratomen ermöglicht werde.
Die Agglomerationsmassen könnten also schon dann, w^enn ihre
innere Beschaffenheit bloss von den daselbst befindlichen anziehenden
und abstossenden Kräften abhängen würde, nicht durchaus solid
sein; sondern sie müssten zahlreiche Lücken zwischen den Ameren
enthalten und dadurch einige Dehnbarkeit und Elasticität besitzen.
Dies ist aber um so mehr der Fall, als neben den wirksamen Ele-
mentarkräften noch ein anderer ebenso wichtiger Factor maassgebend
ist, nämlich die Bewegung. Die Amere sind an und für sich
nicht in Ruhe, sondern in lebhaftester Bewegung (S. 687). Im Zu-
stand der vollständigen Zerstreuung besitzen sie fortschreitende und
rotirende Bewegungen. Vereinigen sie sich aber in zusammenhängende
Gruppen, so bleiben die fortschreitenden und rotirenden Bewegungen
imr den Gruppen, gestalten sich aber für das einzelne Amer unter
dem hemmenden Einfluss der benachbarten Amere zu schwingenden
Bewegungen.
Die Amere verhalten sich demnach bezügfich ihrer Bewegung
gerade so wie die Atome und Moleküle, mit dem Unterschiede jedoch,
dass ihre Geschwindigkeiten im allgemeinen die Moleculargeschwin-
digkeiten in dem Maasse übertreffen, als ihre Grösse hinter der Grösse
der Atome und Moleküle zurückssteht. Die Bewegung wird daher
der Vereinigung der Amere in noch höherem Grade entgegenwirken
als es bei den unendlich viel grösseren Molekülen der Fall ist, und
2. Agglomeration und Disi:)ersion der Amere. 707
auch in den festesten Agglomerationen mögen die dm*chschnittliclien
Entfernungen der hin und her schwingenden Amere ziemhch be-
trächthch sein, und nirgends dauernde Berührungen bestehen.
Die A^ereinigungen der ponderabehi Amere müssen überhaupt
einerseits von der Grösse der anziehenden und abstossenden Kräfte und
andrerseits von der Geschwindigkeit ihrer Bewegungen gerade so
bestimmt werden, wie dies auf einer höheren Stufe bei den Atomen
und Molekülen der Fall ist. Die Agglomerationen der Amere müssen,
um die eben genannte Grössenordnung zur Vergleichung zu wählen,
von der Härte des Diamants bis zur Flüchtigkeit des Wasserstoffs sich
abstufen, also Zustände darstellen, welche dem festen, flüssigen
und gasförmigen Aggregatzustande entsprechen. Wenn wir auch
bloss scheinbar feste Agglomerationskörper, nämlich die chemischen
Atome kennen, so lassen sich doch die andern Zustände nicht von
der Hand weisen , und was die flüssigen Agglomerationen betrifft,
so wäre es nicht unmöglich, dass dieselben sowohl im Innern als
namentlich an der Oberfläche der Atome vorkämen.
Der gasförmige Zustand der Ameragglomerationen ist zwar wesent-
lich verschieden von der Aetherzerstreuung, da in dem ersteren die
Anziehung, in der letzteren die Abstossung zwischen den Ameren
und Amergruppen überwiegt, da somit der erstere sich wolkenartig
zusammenballt oder AtmosjDhären um die festen Agglomerationen
bildet, während die letztere stets soweit auseinander weicht als es
der Raum gestattet.
Im Uebrigen hat das ponderable Amergas, wenn dieser Ausdruck
gestattet ist, die grösste Aehnlichkeit mit dem imponderabeln Welt-
äther ; es ist auch mit demselben an den Uebergangsstellen gemengt
und lässt sich meistens nicht scharf von demselben trennen. Ich
werde es daher als ponderabeln Aether, oder, um einen be-
quemeren Ausdruck zu haben, als Schweräther (Baryaether) im
Gegensatze zum gewöhnlichen oder Leichtäther (Weltäther)
bezeichnen. Beide bestehen aus freien Theilchen, welche ziemlich
entfernt von einander sind und nach allen Richtungen durch ein-
ander fliegen, und welche theils einfache Amere theils Amergruppen
sind. Von diesen haben weder die einen noch die anderen Bestän-
digkeit, indem jedes einfache Amer die Fähigkeit besitzt, sich unter
günstigen Umständen mit einem oder mit mehreren anderen Ameren
zu vereinigen, und jede Gruppe dem Zerfall ausgesetzt ist, wenn sie
45*
708 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet.
in die Nähe von Ameren mit hinreichend starker dynamischer Wirkung
kommt, oder wenn sie einen hinreichend starken mechanischen Stoss
erfährt, oder wenn beide Ursachen zusammentreffen.
Die Aggiomerationskörper erster Ordnung, die sich zunächst
aus den Ameren aufbauen, sind, so viel wir wissen, die Atome der
chemischen Elemente. Dieselben verhalten sich zu den Ameren,
ihrer Ausdehnung und ihrem Gewichte nach , wie eine endliche zu
einer verschwindend kleinen Grösse; ein Atoin besteht aus einer
ungeheuren Zahl von Ameren, die sich wohl auf Billionen belaufen
dürfte. Ist dasselbe vereinzelt, wie im Quecksilberdamj^f bei gewöhn-
licher und in anderen Gasen bei sehr hoher Temperatur, so muss
es mit einer Atmosphäre von ponderabelm Aether mngeben sein.
Denn es zieht selbstverständlich von den flüchtigen Ameren diejenigen
am stärksten an, bei denen die Gravitationsanziehung die Aether-
al)stossung am meisten überwiegt.
Diese Atmosphäre muss unmittelbar an der Oberfläche des Atoms
die grösste Dichtigkeit besitzen, und hier müssen ihre Theilchen,
indem sie von den anziehenden Kräften des Atomkörpers fester ge-
halten werden, auch die geringste Beweglichkeit zeigen. Es ist selbst
nicht unmöglich, dass der Atomkörper allmählich in den Schweräther
übergehe, und dass der Uebergang durch die flüssige Beschaffenheit
seiner oberflächlichen Schicht vermittelt werde. Wahrscheinlich ver-
halten sich die verschiedenen chemischen Elemente rücksichtlich
der mehr oder minder scharfen Sonderung dieser Partien ungleich.
Für alle chemischen Elemente aber muss die Regel gelten, dass die
Dichtigkeit des Schweräthers mit der Entfernung von der Oberfläche
des Atomkörpers stetig abnimmt, und dass in der nämlichen Richtung
die Beweglichkeit und Flüchtigkeit seiner Theilchen zunimmt. Die
innere dichtere und weniger beweglictie Schale dieser nach aussen
allmählich in den Leichtäther sich verlierenden Atmosphäre will ich
als die eigentliche Schweräther hülle bezeichnen^).
Vereinigen sich die Atome zu Molekülen und die Moleküle zu
festen und flüssigen Massen, so sind alle Zwischenräume zwischen
') Die Atinosplulro un<l die Hülle von Schweräther, von der ich hier spreche,
dürfen nicht mit der jetzt häufig angenommenen Aethersi^häre der Atome und
Moleküle verwechselt werden. Die letztere werde ich in dem folgernden Abschnitt
besin-echen.
3. Elasticität. 709
den Atomen und zwischen den Molekülen mit ihren Sehweräther-
atmosphären erfüllt. Zunächst ist jedes Atom mit seiner Scliw er-
at her hülle umgeben; und was noch an Raum zwischen diesen
Hüllen übrig bleibt, wird von der verdünnteren und beweglicheren
äusseren Partie der Atmosphären eingenommen. Diese Partie zwischen
den Schwerätherhüllen will ich den Z wisch enhülläther nennen.
— Die Stärke der l^eiden Partien des ponderabeln Aethers in den
festen und flüssigen Körpern, nämlich der Schweräthcrhüllen und des
Zwischenhülläthers, wird je nach der Beschaffenheit und Anordnung
der in den Atomkörpern befindlichen Kräfte , also nach der Natur
der chemischen Elemente und Verbindungen, sehr ungleich sein und
manchmal in einem gewissen Gegensatz zu einander stehen, sodass
bei beträchtlicher Mächtigkeit der Hüllen wenig Raum für den
ZwischenhüUäther bleibt und umgekehrt. Das Grössenverhältniss
l)eider ist namentlich für die Forti^flanzung des Lichtes und der
Wärme (§ 5), sowie der Elektricität (§ 6) von Wichtigkeit.
3. Elasticität.
Die Elasticität besteht darin, dass die kleinsten Theilchen eines
Körpers, wenn sie eine Dislocation durch Druck oder Zug erfahren
haben, nach dem Aufhören des Druckes oder Zuges wieder in ihre
frühere Gleichgewichtslage zurückkehren. Worin besteht die Ursache
dieser Erscheinung ? Man hat sie in der Aethersphäre finden wollen,
welche jedes wägbare Theilchen umgebe, durch Abstossung die voll-
ständige Annäherung der wägbaren Theilchen verhindere und in
Verbindung mit den anziehenden Kräften derselben einen Gleich-
gewichtszustand bei einer bestimmten Entfernung bedinge, in der
Art, dass bei geringerem Abstand die Repulsion, bei grösserem Abstand
dagegen die Anziehung grösser werde.
Diese Theorie ist hervorgegangen aus der Annahme einfacher
und starrer, mit Centralkräften ausgerüsteter kleinster Theilchen, und
sie war für diese Annahme der einzig mögliche Ausweg. Sie theilt
das Schicksal aller metaphysischen Vorstellungen über die kleinsten
Theilchen, dass sie nämhcli nur durch unnatürliche Vorstellungen
haltbar wird. Ich war selber früher ein Anhänger dieser Theorie,
und ich habe auch, nachdem ich mir schon die Amertheorie angeeignet
710 Ki'äfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
hatte , mir iiocli alle Mühe gegeben , emen Weg zu finden, \\ie die
Elasticität auf das Vorhandensein einer Hülle von Aetherameren um
die Atome zurückgeführt werden könnte. Allein es hat sich dies
als ganz unmöglich ermesen.
Bezüglich der gewöhnlichen Aethersphärentheorie ist Folgendes
zu bemerken. Nimmt man die ponderabeln Theilchen als kugelig
und ihre Aethersphären als Kugelschalen an, und lässt man somit
Anziehung und Abstossung vom Centrum aus wirken, so kann der
Gleichgewichtszustand zweier Theilchen nicht anders als, wie dies
auch versucht wm'de, durch die Gleichung
Ä B , ,, . A R
-TT = -^j-7, oder allgemein -7- = ,„ .
(V d-+" ^ dF d^+^
ausgedrückt werden, wenn Ä die Anziehung der beiden wägbaren
Theilchen, E die Abstossung ihrer Aethersphären und d den Abstand
ihrer Mittelpunkte bezeichnet. Es ist einleuchtend, dass, wenn man,
vom Gleichgewichte ausgehend, d wachsen lässt, der erste Ausdruck
oder die Anziehungsgrösse , wenn man dagegen d kleiner werden
lässt, der zweite Ausdruck oder die Abstossungsgrösse das Ueber-
gewicht erlangt.
Man kann dieser Lösung das Prädicat der einfachen Eleganz
gewiss nicht versagen. Allein man muss dabei die unj)hysikalische
Vorstellung in den Kauf nehmen, dass moleculare Anziehungen und
Abstossungen oder wenigstens die letzteren nicht nach dem um-
gekehrten Verhältniss des Quadrats der Entfernung, sondern nach
dem einer höhern Potenz wirksam seien. Dieser Umstand allein
zeigt uns , dass der Gleichung nur eine empirische und bildliche,
keine rationelle Bedeutung zukommt, mid dass die Vorstellung, die
sich in ihr ausspricht, eine real unmögliche ist.
Ein anderer bedenklicher Umstand besteht darin, dass für die
Constituirung einer solchen Aethersphäre die Annahme einer neuen
Kraft nothwendig wird, welche theoretisch sich nicht rechtfertigen
lässt. Die ponderabeln Atome müssten nämlich die Aethertheilchen
anziehen. Da zu einer solchen Anziehung die entsprechende Ab-
stossung mangelt, so wäre dies ein Verstoss gegen das Gesetz der
Symmetrie der Kräfte, welches doch als eine vernunftgemässe For-
derung so lange festgehalten werden muss, als es zm' Erklärung des
Bestehenden ausreicht. AVir dürften daher zu dieser Vorstellung einer
3. Elasticität. 711
Aethersphäre erst dann Zuflucht nehmen, wenn keine andere Vor-
stcüung möglich wäre. — Ich will niu- noch beiläufig Ijemerken,
dass die fragliche Anziehung zwischen ponderabeln und Aetlier-
theilchen grösser sein müsste als die andern bekannten Kräfte, da
sie die Attraction, die z^^'ischen den ponderabeln Theilchen besteht,
überwinden und die Aethertheilchen trotz ihrer gegenseitigen Re-
pulsion zusammenhäufen würde.
Verlässt man den metaphysischen Boden von kleinsten, durch
Centralkräfte wirksamen Theilchen und betrachtet man die chemi-
schen Atome oder die kleinsten uns bekannten Körperchen der
wägbaren Materie als "^delfach zusammengesetzt, so kann man zwar
auch auf natürlichem Wege unter der Voraussetzung, dass kein pon-
derabler Aether vorhanden sei, eine Hülle von Ameren des eigent-
lichen oder Leichtäthers um dieselben construiren ; allein diese Hülle
vermag in keiner "Weise das zu leisten , was zur Erklärung der
Elasticität als Gleichgewichtszustand zwischen Anziehung und Ab-
stossung nothwendig wäre. — Sind die Amere mit den 6 Elementar-
kräften ausgestattet, wie ich es angenommen habe, so werden sich
Amere des Leichtäthers an die Oberfläche von AggiomerationskörjDern
anlegen, wenn der Ueberschuss der Aetherabstossung über die Gravi-
ttitionsanziehung durch die Attraction der elektrischen mid isagischen
Kräfte mehr als aufgewogen wird. Es werden also solche Aether.
amere an der Oberfläche eines Atoms festhaften, welche im Vergleich
mit diesem die ungleichnamige Elektricität und die gleichnamige
Isagität im Ueberschuss enthalten. Ist beispielsweise das Atom
positiv elektrisch und vorwiegend a-isagisch , so legen sich Aether-
amere an dasselbe an, die negativ elektrisch und ebenfalls vorwiegend
a-isagisch sind. Aber in allen Fällen können diese Aetheramere
niK eine sehr spärliche und wirkungslose Hülle bilden, da ihre
natürliche gegenseitige Aetherabstossung, die hier noch durch ihre
gleichnamigen Elektricitäten verstärkt wü'd, eine grössere Anhäufung-
verhindert.
Würde aber auch , im Widerspruch mit den gegebenen Ver-
hältnissen, eine beliebige Zahl von Leichtätherameren jedes Atom
zu umhüllen vermögen, so wäre damit für die Elasticität nichts ge-
wonnen, wenn man nicht wieder die Abstossung nach einer höhern
Potenz der Entfernung wirken lassen wollte als die Anziehung. Bloss
wenn bei unregelmässiger Gestalt der Atome die Aethersphäre an
712 Kräfte und Gestaltungen im molccularen Gebiet.
besonderen Stellen eine grössere Mächtigkeit besässe, so könnte an
diesen Seiten ein Gleichgewichtszustand für einen bestimmten Abstand
Ä li
[d) eintreten, nach der Gleichung 772 = ttzt ^^ y- ' i^^^m hierin mit der
Zunahme von d die Anziehung, mit der Abnahme von d die Ab-
stossung grösser ^Adrd. An den übrigen Seiten dagegen , wo die
Aethersphäre weniger mächtig wäre, würden sich die Atome bis zur
Berührung nähern; denn, wollte man die Aetheramere auf allen
Seiten in hinreichender Menge anhäufen, so müsste die Gesammt-
abstossung je zweier Atome grösser werden als ihre Gesammtanziehung
und damit wäre ein Gleichgewichtszustand wieder unmöglich gemacht.
Es ist nach dem Gesagten sicher, dass die Elasticität der wäg-
baren Körper sich nicht durch die Leichtäthersphären ihrer Atome
und Moleküle erklären lassen. Wir müssen jedenfalls das Geheimniss
der Elasticität viel weiter rückwärts verlegen. Wir müssen nicht
imr den Atomen und Molekülen, sondern auch den Ameren eine
ähnliche Elasticität, wie wir sie an zusammengesetzten Körpern
kennen, zuschreiben, und die Ursachen davon in inneren, mit dem
zusammengesetzten Bau gegebenen Kräften suchen. Zwei Elfenbein-
kugeln stossen sich beim Zusammenprall ab, ohne dass besondere
Repulsion skräfte an ihrer Oberfläche wirksam wären. Es ist kein
Grund vorhanden, warum die Moleküle und Atome der Gase, der
Flüssigkeiten und festen Körper nicht ebenso sich verhalten sollten.
Wenn man eine Gasmasse zusammendrückt, so vermehrt sich
ihre Spannung, sie übt ihrerseits einen entsprechend grösseren Druck
aus , weil ihre Moleküle um so häufiger an einander und an die
Wandungen anstossen, und sie nimmt nach dem Aufhören des
Druckes wieder ihr früheres Volumen ein. Drückt man einen festen
oder flüssigen Körper zusammen, so tritt die nämliche Erscheinung
ein, weil die kleinsten Theilchen mit ihren schwingenden, zum Theil
auch fortschreitenden Bewegungen häufiger an einander und an den
Körper, der den Druck ausübt, anstossen. Wird der Körper, mag
er gasförmig, flüssig oder fest sein, auseinander gezogen, so findet
das Gegcntheil statt , indem sich die Spannung vermindert und der
Körper kehrt beim Aufhören des Zuges ebenfalls in seine früheren
Dimensionen zurück.
Die Elasticität gestaltet sich aber für die verscliiedenen Aggregat-
zustände etwas ungleich nach den besonderen Molecularbewegungenj
3. Elasticität. 713
durcli welche dieselben bedingt werden. Einmal sind die Gase, ent-
sprechend ihren ungleich grösseren durchschnittlichen Molecular-
abständen , viel dehnbarer , ändern somit bei Druck oder Zug ihre
Dimensionen in viel stärkerem Grade als die flüssigen und i'esten
Körper. In den Gasen und Flüssigkeiten ist ferner die Aenderung
in der Spannung und damit die Ausdehnung oder Zusammenziehung
in allen Eichtungen gleich gross, weil ihre Th eilchen nach allen
Richtungen verschiebbar sind. In den festen Körpern, deren Theil-
chen bloss um eine Gleichgewichtslage schwingen und nicht ver-
schiebbar sind, ändern sich die Spannungen und die Dimensionen
in verschiedenen Richtungen in ungleichem Maasse.
Der kleinste zusammengesetzte feste Körper, den wir aus Er-
fahrung sicher kennen, ist das Molekül einfacher Gase, bestehend
aus zwei Atomen. Diese Atome schwingen gegen einander in gleicher
M^eise, wie eine vollkommen elastische Kugel, die man auf einen
vollkommen elastischen Boden fallen liesse, immer wieder auf die
gleiche Höhe springen würde, wenn die Luft keinen Reibungs-
widerstand darböte. Die beiden Atome, welche gegen einander prallen,
werden durch ihre Elasticität zurück und durch die gegenseitige
Anziehung wieder gegen einander geworfen.
Wie die Atome verhalten sich die Amere. Dass der Weltäther
elastisch ist, steht schon lange fest. Doch liesse sich die Elasticität
seiner Theilchen auch bloss aus der Abstossung derselben erklären.
Sind sie aber selber elastisch und fliegen sie wde die Moleküle eines
Gases durcheinander, so verleiht ihnen die überwiegende Abstossung
keine neue und besondere Eigenschaft ; sie verhindert bloss bei hin-
reichender Stärke ihre Annäherung bis zur vollständigen Berührung.
Die mit geringerer Repulsionskraft begabten Aethertheilchen al^er
und alle ponderabeln Amere können bloss durch ihren zusammen-
gesetzten Bau elastisch sein.
Wenn die Amere selber elastisch sind , so erklärt sich die
Elasticität der Atome in gleicher Weise wie die Elasticität einer
Elfenbeinkugcl. Die Amere , die ein Atom zusammensetzen , sind
fortwährend in schwingender, vielleicht theilweise auch in fort-
schreitender Bewegung begriffen, und der Effect eines Stosses auf
ein Atom ist kein anderer als der, dass seine Amere häufiger gegen
einander und gegen den anstossenden Körper anprallen. — Mit
Rücksicht auf andere Erscheinungen ist es wahrscheinlich, dass
714 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
hierbei nicht die Atomkörper unmittelbar und allein wirksam sind.
Vielmehr sind es ihre j)onderabeln Aetherhüllen , welche den Stoss
zunächst emj)fangen, durch denselben am stärksten zusammengedrückt
werden, somit auch den meisten Widerstand leisten und erst mittelbar
den elastischen Atomkörper in Mitleidenschaft versetzen.
Worauf die Elasticität der Amere beruhe, lässt sich nicht
weiter verfolgen. Wir dürfen aber die sichere Ueberzeugung hegen,
dass die Amere nichts starres und einfaches sein können und dass
sie selber wieder aus Theilchen zusammengesetzt sein müssen. Aber
da die Analyse des kraftbegabten Stoffes endlos ist und nicht bis
zu den metaphysischen Einheiten vorzudringen vermag, so langt sie
früher oder sj^äter bei der Grenze an, jenseits welcher das Unbekannte
beginnt. Hinter dieser Grenze liegt in dem vorliegenden Fall die
Elasticität der Amere.
In allen Gebieten der Zusammensetzung kann die Elasticität
eines Körpers nur durch Anziehung und Abstossung in Verbindung
mit Bewegung seiner Theilchen zu Stande kommen, und zwar muss
es als mn so günstiger erachtet werden, je mehr die abstossenden Kräfte
quantitativ den anziehenden Kräften sich nähern. Nun enthalten die
wägbaren Körper, wie aus der rein theoretischen Erwägung hervorgeht,
von den beiden Elementarkräften, auf die es hier vorzugsweise ankommt,
wenigstens halb so viel Aetherabstossung als Gravitationsanziehung
(S. 698 — 701), und wie aus anderen Betrachtungen, die der Theorie
durch Erfahrungsthatsachen zu Hülfe kommen, sich ergibt, kann in
den genannten Körpern die Gesammtmenge der Aetherabstossungs-
kräfte nur sehr w-enig hinter der Gesammtmenge der Gravitations-
kräfte zurückbleiben (vgl. § 4 Schwerkraft).
Die anziehenden mid die abstossenden Kräfte sind ungleich durch
die Materie vertheilt; die abstossenden Kräfte haben, soweit sie be-
weglich, die Neigung, sich an der Oberfläche der Stoff theilchen und,
da diese eine unregelmässige Gestalt besitzen, an den vorspringenden
Ecken derselben, in gleicher Weise wie die freie Elektricität in einem
Körper, anzuhäufen. An solchen Stellen müssen, auch wenn die
Theilchen in Ruhe gedacht werden, Lücken zwischen ihnen bestehen,
und diese müssen um so grösser und um so häufiger vorhanden
sein, je beträchtlicher die Summe der abstossenden Kräfte im Ver-
hältniss zu den anziehenden ausfällt. Auch die elektrischen und
isagischen Kräfte müssen wegen ihrer ungleichen Vertheilung, wenn
3. Elasticität. 715
auch in geringerem Maasse, Veranlassung zu solchen Lücken geben.
Die Substanz hat daher von Natur eine mehr oder weniger aus-
gesprochene, schwammige Beschaffenheit und ein grösseres oder
geringeres Maass von Dehnbarkeit, in Folge dessen auch eine mehr
oder weniger beträchtliche Elasticität.
Dies muss für alle Stufen der Zusammensetzung gelten und
somit den Körpern höherer und niederer Grössenordnungen Elasticität
zukommen, so auch den chemischen Atomen wegen der lückenhaften
Zusammenordnung ihrer Amere und den Ameren selber wegen ähn-
licher Zusammenordnung ihrer Theilchen.
Denken wir uns nun vorerst die Theilchen eines festen Körpers,
beispielsweise die chemischen Atome, in Ruhe. Ihre Zusammen-
ordnung muss den vorhin erörterten Charakter zeigen. Die beweg-
lichen Kräfte, von denen in dem vereinzelten Atom die anziehenden
sich im Innern, die abstossenden in den oberflächlichen Partien an-
häufen würden , ordnen sich unter dem Einfluss der beweglichen
Kräfte in den benachbarten Atomen dergestalt an, dass der grössten
Anziehung eine Genüge geleistet und der festeste Zusammenhang
hervorgebracht wird. Es berühren sich die Atome an einzelnen
Stellen, während sich an anderen Stellen Lücken zwischen 3, 4 und
mehr Atomen l^efinden, die mit Z wisch enhülläther (S. 708) erfüllt sind.
An den letzteren Stellen sind die beweglichen Repulsionskräfte an-
gesammelt. An den Berührungsstellen liegen die Schwerätherhüllen
(S. 709) dicht aneinander, sind auch nach Umständen theilweise
verdrängt.
Durch mechanische Angriffe von aussen, welche das bestehende
Gleichgewicht der Kräfte zu überwinden vermögen, nämlich durch
Druck oder Zug, wird die Anordnung der Atome etwas verschoben.
Dm-cli Druck werden die hohlen Räume, und damit die Dimension
des ganzen Körpers in der Druckrichtung verkleinert, dagegen in
den zur Druckrichtung rechtwinkligen Ebenen, w^eil die beweglichen
Abstossungskräfte an der Oberfläche der Hohlräume seitlich aus-
weichen, vergrössert. Zug bewirkt die entgegengesetzte Veränderung :
Vergrösserung der Hohlräume und der Dimension des Körpers in
der Richtung des Zuges und, weil in Folge dessen die beweglichen
Repulsionskräfte nach den beiden Seiten der verlängerten Hohlräume
hinströmen, Verkleinerung der letzteren und mit ihnen der Körper-
dimensionen in den zmn Zug senkrechten Ebenen. Nach dem
716 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Aufhören des Druckes oder Zuges keliren die Atome in die frühere
Gleichgewichtslage zurück. Der Körper ist, wiewohl seine Theilchcn
sich in Ruhe befinden, elastisch.
Nun sind aber die Theile der Körper höherer und niederer
Grössenordnungen nicht in Ruhe; die chemischen Atome befinden
sich stets in lebhafter und die Amere in noch viel lebhafterer Be-
wegung. Dadurch wird die Elasticität der Körper gesteigert und in
bestimmter AVeise geregelt. In Folge der Bewegung sind die Atome
nirgends in dauernder, sondern nur periodisch in momentaner Be-
rührung, so oft sie gegen einander prallen, um durch ihre Elasticität
wieder zurückgeworfen zu werden; sie schweben isolirt im Räume,
wenn auch bestimmte Stellen stets nur durch sehr kleine Zwischen-
räume getrennt sind, und die Zahl der Stösse, die sie auf einander
ausüben, bedingt das Maass der Expansion. Wird das Gleichgewicht,
das zwischen den Wirkungen der Atomstösse, den abstossenden und
anziehenden Kräften besteht, durch äusseren Eingriff (Stoss oder
Zug) gestört, so tritt die Elasticität des Körpers in Wirksamkeit,
indem dieselbe seine früheren Dimensionen und damit das Gleich-
gewicht herzustellen sucht. — So beruht also die Elasticität eines
Körpers von fester oder flüssiger Beschaffenheit auf der ungleichen
Vertheilung der in seinem Innern befindlichen, anziehenden und
abstossenden Kräfte, sowie weiterhin auf der Bewegung und Elasti-
cität seiner Theilchen.
4. Schwerkraft.
Das Gesetz der Schwere oder das Gravitationsgesetz wird so
ausgedrückt, dass ein jeder Körper auf einen andern Kör^Der nach
dem Verhält niss seiner Masse einwirke, und dass die Anziehung
zwischen zwei Körpern gleich sei dem Product aus den beiden
Massen , getheilt durch das Quadrat der Entfernung , also — 'jr~^-
Masse aber wird als Quantität von Stoff oder ]\Iaterie erklärt und
die Gleichheit zweier Massen an die Bedingung geknüpft, dass sie
durch die nändiche Kraft in der Zeiteinheit gleiche Beschleunigung
erfahren. Diese Begriffe wurden durch Pendelversuche und durch
die Bewegungen der Himmelskörper festgestellt.
4. Schwerkraft. 717
Nach der in den beiden ersten Abschnitten dieser Abhandlung
entwickelten dynamischen Amertheorie ist die Anziehung zweier
ponderabeln Körper gleich der Summe der Anzieliungcn zwischen
allen Ameren des einen und allen Ameren des andern Körpers
weniger der Summe aller Abstossungen zwischen den Ameren der
beiden Körper. Nehmen wir die Bezeichnungen, die früher für die
Kräfte des einzelnen Amers gebraucht wurden, jetzt für die in einem
Körper vorhandenen Summen dieser Kräfte, bezeichnen wir also die
Summe der Gravitationskräfte in dem einen Körper mit A, in dem
andern mit J.i, die Summen der Aetherabstossungskräfte mit B unrl
Bi, ferner die Mengen der positiven Isagität mit a und «i, die der
negativen mit ß und ßi, endlich die Mengen der positiven Elektricität
mit a und a,, die der negativen mit h und &i, so sind in dem einen
Körper die Kräftesummen Ä, B, «, ß, a und h , in dem andern die
Kräftesummen Äi, B^, a^, ßi, a^ und &i wirksam und die gesammten
dynamischen Einwirkungen der beiden Körper auf einander bestehen
in den zwei Summen (wie S. 702)
Gesammtanziehung AA^ -\- ciay-\- ßß^ -\- alj^ -{-ha^, I
Gesammtabstossung BB^-\- aß^-\- ßa^ -\~ a cti -j-hbi II
und die Gesammtanziehung weniger die Gesammtabstossung ist
AA, — BB,-{-{a^ ß) («1 — ß,) + {a — V) (b, — a,) III
Diese Formel enthält also den wirksamen Ueberschuss der An-
ziehung zwischen den beiden Körpern, welcher, wenn dieselben frei
beweglich sind, ihre bestimmte Beschleunigung gegen einander be-
dingt. Wenn es sich um grössere Körper handelt, die aus ver-
schiedenen chemischen Verbindungen bestehen, so können die zwei
letzten Ausdrücke in der Formel III vernachlässigt werden, weil
dann die beiden Isagitäten und ebenso die beiden Elektricitäten
nahezu in gleichen Mengen vorhanden sind. Die Ausdrücke [a — ß)
(«1 — /?,) und (« — &) (&i — «,) müssen nämlich jeder für sich um so
eher Null werden, je umfangreicher die Körper und je zahlreicher
ihre chemischen Elemente sind. Dies wird vor allem eintreffen bei
der Einwirkung der Himmelskörper auf einander. Wäre es nicht
der Fall, hätten z. B. die Planeten und die Sonne bedeutende Mengen
freier Elektricität und wäre die Elektricität bei den einen positiv, bei
den anderen negativ, so würde die Massenanziehung in den einen
Combinationen durch die elektrische Anziehung vermehrt, in den
anderen durch die elektrische Abstossung vermindert, und es müssten
718 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Störungen in dem Gravitationsgesetz, welches nur die Massen berück-
sichtigt, bemerkbar werden.
Die von der Isagität und Elektricität bedingten dynamischen
Einwirkungen dürfen aber, auch wenn grössere Körper (d. li. solche
von nicht molecularer Kleinheit) in Frage kommen, nicht mehr ver-
nachlässigt werden , wenn dieselben aus einem einzigen chemischen
Element bestehen, weil dann sehr wahrscheinlich die eine der beiden
Isagitäten und ebenso die eine der beiden Elektricitäten im Ueber-
schuss vorhanden ist. So verhalten sich beispielsweise 1^ Schwefel,
Is Blei und 1^ Magnesium gegenüber der elektiisch und isagisch
neutralen Erde vollkommen gleich und sie würden, als Pendel be-
nutzt, die nämliche Schwingungsdauer ergeben. Wären aber die
Untersuchungsmethoden von hinreichender Genauigkeit, so würde
sich ohne Zweifel nachweisen lassen, dass, wie es die Amertheorie
verlangt, gleiche Gewichte der genannten Stoffe nicht die gleiche
dynamische Bedeutung besitzen , dass 1 ^ Schwefel auf 1 s Schwefel,
auf 1 s Blei und auf 1 s Magnesium eine ungleiche Einwirkung
ausübt.
Bei der Anziehung grosser, aus vielen Elementen bestehender
Körper, namentlich der Himmelskörper, kommen also bloss die
Gravitationskräfte und die Aetheral^stossungskräfte in Betracht und
es reducirt sich die gegenseitige dynamische Einwirkung zweier
Körper auf die Formel
AÄ, — BB, IV
Dürfte hierin der die Aetherabstossung enthaltende Ausdruck
BBi, wie es mit den Ausdrücken der Isagität und der Elektricität
der Fall ist, ebenfalls als sehr klein vernachlässigt werden und wäre
somit die bemerkbare dynamische Einwirkung bloss ÄÄ^ , so hätte
man unmittelbar das , was das Gravitationsgesetz verlangt , indem
dann Ä und Ä^ die Massen der beiden Körper ausdrückten. Die
Vernachlässigung von BBi ist aber nicht statthaft; die Aether-
abstossung innerhalb der ponderabeln Körper muss einen im Ver-
hältniss zur Gravitationsanziehung nicht unbeträchtlichen Betrag
ausmachen, wie uns die Elasticitätserscheinungen zeigen, welche
ohne sehr beträchtliche Repulsionskräfte im Innern der Atome und
ihrer Bausteine der Amere gar nicht denkbar wären. Sind die
Gravitations- und die Aetherabstossungskräfte nach der Amertheorie
4. Schwerkraft. 719
in abgestuften Mengen und nach allen möglichen Verh<ältnissen auf
die unendliche Menge der Amere vcrtheilt, so kann schon aus rein
theoretischen Gründen die gesammte Aetherabstossung in den pon-
derabeln Körpern nicht weniger als — der gesammten Gravitations-
anzielmng ausmachen (S. 698 — 701).
Dem Gravitationsgesetz wäre auch in unmittelbarer Weise Genüge
geleistet, wenn man annehmen dürfte, dass in einem Körper nur
die Differenz der anziehenden und abstossenden Kräfte thätig sei.
Diese Differenzen, in dem vorliegenden Fall Ä — B und Äi — B^^ würden
dann die ^Massen der Körper m und 9)h angeben und die Anziehung der
beiden Körper wäre (Ä — B){Ai — Bi)=^mnh. Ein solches Verfahren,
das für die beiden Elektricitäten sowie für die beiden Isagitäten
angewendet werden könnte, ist für die Gravitation und die Aether-
abstossung nicht gestattet, da diese Kräfte nicht auf einander wirken.
Wir können uns also der Folgerung nicht entziehen, dass das Product
der beiden Massen mnh, wie es die Mechanik annimmt, eigentlich
die Differenz zweier Producte ist, nämlich
mm^ =^ ÄÄi — BB,
Somit ist die Masse, wie sie in Gewichtseinheiten ausgedrückt
wird, nicht unmittelbar gegeben, sondern eine Grösse, die sich diu-ch
Rechnung bestimmen lässt; sie ist kein realer, sondern ein sym-
bolischer, für die Rechnung der Mechanik brauchbarer Werth. Nun
sind aber wenigstens für die HimmelsköriDer unseres Sonnensystems
die Massen constante Grössen. Die Erde beispielsweise tritt der Sonne,
dem Mond und den Planeten stets mit der gleichen Masse entgegen,
so dass die Gravitationswirkungen zwischen 4 Körpern, denen die
Massen m, m^, m.. und nh zukommen, gleich sind den Producten
mwi, rnnii, mnis, niim., m^nii, m.nh. Berücksichtigen wir die ge-
sammten anziehenden und die abstossenden Kräfte, so erhalten wir
für die dynamischen Beziehungen zwischen den 4 Körpern folgende
6 Gleichungen
I. miih = AAi— BBi und hieraus mm, = ^^i (1 — nn,)
n. m nio =^ ÄÄo — BB. , , , , m nu = A A. (1 — n w.)
III. m m^ ^ AAi — BB^ „ ,, mm3=^ AA^ {\ — n ih)
IV. nhm.^ AiA.— BiB. ,, ,, ^1^0 = ^1^2 (1 — w,w.)
V. mim3=^i^3 — BiB, „ „ m,ms^=AiA3 {i—niH,)
yi. mim3= A^A^—BiBi „ ,, m2m3 = A.,A3 {l—nM,)
720 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
In diesen Gleichungen ist mit Ä, Äi, A., A. die Summe der
Gravitationskräfte in jedem der 4 Körper, mit B, I?,, B., B^ die
Summe der Aetlierabstossungskräfte bezeichnet. Die Ausdrücke der
letzten Verticalcolumne wurden dadurch erhalten , dass B ^=nÄ,
Bi=^fiiÄi, Bi^tiiA. und jBs = Wj J.3 gesetzt wurden.
Die mchtigste Frage ist nun, wie sich die Summen der Attractions-
kräfte und ebenso diejenigen der Repulsionskräfte, im Vergleiche mit
den berechneten Massen, zu einander verhalten, welches Verhältniss
in dem vorliegenden Fall zwischen Ä, A^, A.^ und A3, ebenso zwischen
B , Bi , B2 und B3 im Vergleich mit m, m^ , m-i und m^ bestehe.
Schon der blosse Anblick der 6 Gleichungen gibt die Ueberzeugung,
dass in den eben genannten drei Reihen von Ausdrücken die näm-
liche geometrische Proportionalität herrschen müsse. Es lässt sich
dies übrigens leicht durch Bestimmung der Werthe von w, Wi, n.
und n-i beweisen. Ich will die Rechnung nicht ausführlich darlegen,
sondern bloss andeuten, dass, wenn man die Gleichung II (S. 719),
nämlich m'nu^=^AA.{\ — nn^\ durch die Gleichung IV, nämlich
m^m.=^AxA. (1 — n^n^, ferner die Gleichung III durcli die Gleichung V
dividirt, die zwei Gleichungen erhalten werden
mA^ 1 — nn. , m A^ 1 — nn^
und
m^A 1 — n^n. m ^A 1 — n^ns
1 ^ ^? 1 ■ 9Z 02
dass also , — - = v -, woraus durch Umfornmng die Gleichung
1 WiWo 1- — «iWj
n — - Ui sich ergibt.
Ebenso lässt sich mit Hilfe der Gleichungen I und IV, III und
VI zeigen, dass w = W2, ferner mit Hilfe der Gleichungen. I, V, II,
VI, dass n = % u. s. w. Es ist also
W =r. |^^ = W^ = W3.
Dadurcli erhalten die obigen 6 Gleichungen folgende Form
I. mmi=: AAi (1 — ir)
II. mm-i^AAz (1 — w")
III. m tu,, -=AA3 (1 — n')
IV. mim,^=AiAo (1 — w")
V. m,m,, = AiA3 (1 — w^)
VI. m,m3=^AoA3 (1 — w")
4. Schwerkraft. 721
Hieraus ergibt sich sofort -= — = ^ ■ — = — = — ■
^ W: A, B,' m, A, B/
^_^_^. 'nh _ A _ B,_ 7fh _ A, _B, m, _A^ _ B,
m, ~ A,~ Bs' m. ~' A,~ IT.' n^ ~ Äs~ Bl' m3~A,~W^
Mit Worten: Die von der Mechanik des Himmels in Rechnung ge-
brachten Massen (m und w,) zweier behebiger Körper verhalten sich
zu einander wie die Summen ihrer Gravitationsanziehung (A und ^i)
und ebenso wie die Summen ihrer Aetherabstossung (B und 5,).
Ferner berechnet sich aus obigen Gleichungen, dass
m ^ AVl — n- ; m, = A^ Kl — n" ; m, = A., V\ — ^w" etc.
Mit Worten: die Masse, welche die Mechanik in Rechnung bringt,
ist ein constanter Bruchtheil der Gesammtsumme der in einem Körper
befindlichen Gravitationsanziehung.
Das Gravitationsgesetz beweist uns also die wichtige Thatsache,
dass in den einzelnen Himmelskörpern unseres Sonnensystems die
Mengen der Gravitationskräfte und der Aetherabstossungskräfte in
dem gleichen Verhältniss enthalten sind. Dies konnte allerdings von
vornherein für wahrscheinlich gelten, da die Himmelskörper, die
zusanunen in dem nämlichen Weltenraum entstanden und aus einer
Menge von verschiedenen chemischen Elementen zusammengesetzt
sind, im grossen und ganzen den nämlichen dynamischen Charakter
besitzen müssen. Dagegen ist es durchaus unwahrscheinlich, dass
auch in den einzelnen chemischen Elementen die Dominantenkräfte
das gleiche Verhältniss zeigen. Es wird sich damit wohl verhalten
wie mit den Elektricitäten und Isagitäten, so dass jedem besonderen
Element ein eigenthümliches Verhältniss zwischen den Gravitations-
kräften und den Aetherabstossungskräften zukommt. Dafür sprechen
auch die so sehr ungleichen Atomgewichte bei nicht sehr ungleicher
Grösse der Atome ^).
Ich habe die Vermuthung ausgesprochen, dass gleiche Gewichte
der verschiedenen chemischen Elemente auf grössere d. h. nicht mole-
culare Entfermmgen sich ungleich stark anziehen, weil die isagischen
und elektrischen Kräfte in ungleichen Mengen in ihnen enthalten sind
(S. 718). Das verschiedene Verhältniss der Dominantenkräfte ergibt
eine neue Ursache dafür, dass gleiche Gewichte der Elemente ungleich
*) Ich verweise auf den Aljsclinitt 8 »Grösse, Gestalt und Znsammensetzung
der Atome«.
V. Nägel i, Abstammungslehre. 46
722 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
auf einander einwirken ; diese Ursache kann in dem nämlichen oder
in entgegengesetztem Sinne wirken wie jede der beiden ersteren.
Es seien Ä, A^ und A.. die Summen der Gravitationskräfte der
Erde und zweier Atome verschiedener Elemente, ferner J5, J5, und
Bi die Aetherabstossungskräfte der nämlichen drei Körper, endlich
1 und g. die Atomgewichte der beiden fraglichen Elemente, so be-
stehen die beiden Gleichungen
g, = AA,—BB,
g, = AA,—BB,
Wären die beiden Dominantenkräfte in den verschiedenen Ele-
menten im gleichen Verhältniss vorhanden , so würden sie in den
Gewichtseinheiten der letzteren auch in gleicher Menge enthalten sein.
Es wäre somit
A, A. B, B. , , A, — B, A, — B,
— =^ — -\ — = ~- und ebenso =
gi 92 gi g, g, gi
Dies ist nun aber nicht der Fall, und deswegen muss auch die von
den Dominantenkräften ausgeübte Anziehung zwischen den Gewichts-
einheiten verschiedener Elemente ungleich ausfallen. Im vorliegenden
Fall beträgt die Gesammtanziehung
zwischen den Gewichtseinheiten des ersten Elements
„ zweiten
„ ersten u. zweiten El
9^9^ 9^9i
A,A, B,B,
9^2 g,g2
A,A,_B,B,
9i92 g^gi
Diese 3 Gesammtanziehungen , beispielsweise die Anziehungen
zwischen 1^ Eisen und !§ Eisen, zwischen 1^ Schwefel und 1^ Schwefel
und zwischen 1 s Eisen und 1 ^ Schwefel , stellen drei verschiedene
Werthe dar, wenn bloss ihre Dominantenkräfte in Anschlag kommen,
und Elektricität sammt Isagität unberücksichtigt bleiben.
4. Schwerkraft. 723
Gewöhnlich werden der Gravitation die »Molecularkräfte« ent-
gegengesetzt und den letzteren eine unvergleichlich grössere Stärke
zugeschrieben. Dies trifft zu für den Fall, dass man, wie es in der
Mechanik üblich ist, die Gravitationskraft als identisch mit der
Schwere betrachtet. Nimmt man aber die Schwere, wie ich es als
Consequenz der dynamischen Amertheorie versucht habe, bloss als
einen Bruchtheil der wirklichen Gravitationsanziehung, so erlangt
diese ganz die gleiche Bedeutung wie die übrigen elementaren Molecular-
kräfte. Wenn man irgendwo genau das Verhältniss zwischen einer
dieser Kräfte und der Schwere für die Masseneinheit feststellen
könnte, so ergäbe sich daraus, immer unter den Voraussetzungen der
sj'mmetrischen Kraftvertheilung, welchen Bruchtheil der gesammten
Gravitationsanziehung die Anziehung durch die Schwere ausmacht.
Man kann jedenfalls schon aus einer allgemeinen und oberflächlichen
Vergleichung der Wirkungen der Schwerkraft mit den Wirkungen
der Molecularkräfte schliessen, dass jener Bruchtheil fast verschwin-
dend klein ist. In wenigen Fällen lässt sich derselbe entfernter-
maassen in Ziffern angeben, so beim Zusammenhalt der Schwere
mit der Elektricität , was um so überzeugender ist, als die letztere
ebenfalls auf grössere (nicht moleculare) Entfernungen wirkt. Aus
dem Verhältniss der Schwere zur Gravitationsanziehung kann dann
auch das Verhältniss der letzteren zu der zugleich mit ihr in den
Körpern enthaltenen Aetherabstossung berechnet werden.
Reibt man ein kleines Stück Harz (Siegellack), so wird dasselbe
elektrisch und zieht kleine Papierstückchen an, indem es dieselben
in die Höhe hebt. Die Elektricität ül)erwindet also die Anziehung,
welche die Erde auf das nämliche Object ausübt. Für die Rechnung
will ich die Wirkung der Elektricität auf ein Minimum herabsetzen,
welches von der Wirklichkeit bei weitem übertroffen wird.
Ein rundliches , 4 ^ schweres Stück Siegellack , das auf einem
gläsernen Halter sich befindet, zieht, nachdem es an einem wollenen
Lappen schwach gerieben wurde, Papierstückchen von 0,3™'" Durch-
messer, welche auf einer trockenen Glasplatte liegen, auf eine Ent-
fernung von 3™" in die Höhe. Die Erde, deren Gewicht zu
5 Quadrillionen Kilogramm und deren Halbmesser zu 6 Millionen
Meter angenommen werde , übt auf ein solches Stückchen Papier,
dessen Gewicht in Kilogrammen ich durch P ausdrücken will, eine
46*
724 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Anziehung aus, die '"^ ^.g^g-'j}!' "^ ^ oder 140000000000 P beträgt.
Die Anziehung, welche das Stück Siegellack auf das nämliche Object
0 004 X P
vermöge der Schwere ausübt, beträgt ^tv /^iin^^ -= ^3 P, da das
Gewicht des Siegellacks 0,004 ^ und der Abstand der beiden Centren
0,011™ ausmacht.
Die Anziehung, die zwischen der Erde und dem Papierstückchen
besteht, ist also ^r^ oder 4000 000 000 mal grösser als
die Anziehung, welche vermöge der nämlichen Schwere zwischen
dem Stück Siegellack und dem Papierstückchen herrscht. Da die
erstere von der infolge des Reibens wirksam werdenden Elektricität
überwunden wird, so ist die Macht der im Siegellack und im Papier-
stückchen fi"ei gewordenen Elektricitäten auch mehr wie 4000 000 000
mal grösser als die Macht der Schwere in den beiden Körpern.
Vorausgesetzt nun, dass das Verhältniss zwischen der Elektricitäts-
menge und dem Gewicht, im Siegellack und im Papier, das nämliche
ist, so kann doch die eben berechnete Proportion von 1:4000000000
nur für die resultirenden Gesammtwirkungen, nicht für die einfachen
Anziehungen der zwei Kräfte, der Schwere und der Elektricität,
gelten. Denn die Wirkung der Schwere ist ein einfaches Product,
die Wirkung der elektrischen Anziehung dagegen die Differenz von
zwei Producten. Die am Harz erregte negative Elektricität ( — E)
zieht von den beiden im Papier durch Vertheilung frei gewordenen
Elektricitäten die an der zugekehrten Seite befindliche positive (-j-e)
an und stösst die an der abgekehrten Seite befindliche negative ( — e)
ab. Die Wirkung der Elektricität ist also für den vorliegenden Fall
£e Ee
rtTYiflW- ~~ /77nrm^ ' ^^ ^^^ Abstand vom Siegellack zum Papier
0,003 "^ und der Durchmesser des Papierstück cheus 0,0003 ™ beträgt.
Fe Ee
TTTTTn^^ — TÄT^öov- = HOOOO Ee — 90000 Ee oder 20000 Ee; mit
(UjUUoj' (U,OUoo)"
Worten : die beobachtete Wirkung der am Siegellack frei gewordenen
Elektricität ist 5 mal kleiner als die einfache Wirkung derselben
auf eine der zwei am Papier frei gewordenen Elektricitäten. —
Ferner ist zu berücksichtigen, dass die mit einander verglichenen
Wirkungen der Schwere und der Elektricität für ungleiche Ent-
4. Schwerkraft. 725
fernungen, die der ersteren für einen Abstand von 0,0 11°^ und die
der letzteren für einen Abstand von 0,003°^ berechnet wurden. Zur
richtigen A^ergleichung muss eine Reduction auf gleiche Entfernung
vorgenommen werden ; dadurch erfährt die Wirkung der Schwere
eine Steigerung um ^ ' ^3, d. h. um 13,4 mal.
Die Anziehung zwischen der frei geworden enr Elektricität des
Siegellacks und der ungleichnamigen des Papiers ist also in Wirk-
lichkeit nicht um 4000 Millionen, sondern in Folge der beiden
5
Correcturen um -77— mal diesen Werth, also um 1500 Millionen mal
lo,4
grösser als die AVirkung der Schwere. Ich habe aber in allen Be-
ziehungen die ungünstigsten Ansätze für die Elektricität gemacht,
namentlich auch darin, dass die gesammte freie Elektricität des
Harzes an das dem Papier zugekehrte Ende, somit in die geringste
Entfernung verlegt wurde. In der That ist die frei gewordene
Elektricitätsmenge im Siegellack und im Papier weit beträchtlicher,
als es für die berechnete Wirkung erforderlich erscheint. Gleich-
wohl macht dieselbe sicher nur einen kleinen Bruchtheil der in den
beiden Körpern enthaltenen neutralen Elektricitätsmengen aus.
Aus dem Verhältniss der Elektricitätsmenge zum Gewicht lässt
sich ein Schluss auf das Verhältniss der beiden Dominantenkräfte
Ä und B zu einander machen, unter der oben (S. 694 — 696) als
wahrscheinlich erklärten Voraussetzung, dass die Summe jeder der
beiden Elektricitäten so gross oder halb so gross ist als die Summe
jeder der beiden Dominantenkräfte. Nehmen wir die gewonnene
Proportion 1 : 1500000000 einstweilen als das Verhältniss der An-
ziehung zweier Körper durch die Schwere zur elektrischen Anziehung
an, so erhalten wir die Gleichung mnii = i-etaa ATkrTnTv^' wenn m und nii
1 OUU uuu uuo
die Massen im Sinne der Mechanik als Gewicht ausgedrückt, a und b
die ungleichnamigen Elektricitäten des einen und andern Körpers
bedeuten. Ferner haben wir die früher (S. 720) abgeleitete Gleichung
mm,=ÄÄ, (1— »r)- Also ist J^qqqqqqöq = -'^ -^^^ (1—^0 und
wenn, gemäss der vorhin erwähnten Voraussetzung, Ä =a und ^, = 6
gesetzt wird , so ergibt sich die Gleicliung ^ ^ 0(10 000 ^^ ^ — ^* "
726 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Daraus folgt »* = ]/ ^ ~ TöOOOOO 000' ^^"^^^ **^' ^1—0.0000000007
^
oder w = K0,999 999 9993. Da w=-^, so ist in dem vorliegenden
Fall Ä weniger als um den tausendmillionsten Theil grösser als B,
und der Unterschied zwischen der Gravitationsanziehung (Ä) und
der Aetherabstossung {B) wäre noch viel geringer, wenn die Wirkung
der ganzen gleichnamigen Elektricität (d. h. der frei gewordenen und
der in der neutralen Elektricität gebundenen) der Rechnung hätte
zu Grunde gelegt werden können.
Ein anderes Beispiel, in welchem wir die Wirkungen der Schwer-
kraft mit den Wirkungen der »Molecularkräfte« entferntermaassen in
Ziffern vergleichen können, bietet uns die Cohaesion. Ein Eisendraht
von Iqmm Querschnitt wird durch ein Gewicht von 64^ zerrissen. Die
Kraft, mit der seine Theilchen zusammenhängen, ist also der Kraft
gleich zu setzen, mit der 64 '^ von der Erde angezogen werden.
Durch Rechnung lässt sich zeigen, wie viel mal grösser diese Co-
haesion im Eisen ist, als sie es wäre, wenn sie bloss durch die
Schwerkraft zu Stande käme.
Die Anziehung zwischen der Erde (Gewicht 5 Quadrillionen
Kilo, Halbmesser 6 Millionen Meter) und einem Gewicht von 64 "^
beträgt , lyr-ii \^ oder 9 Billionen Einheiten. Berechnet man
die Summe der Anziehungen, welche alle Eisenatome der abgerissenen
Drahthälfte auf alle Atome der andern Drahthälfte vermöge ihres
Gewichtes ausüben, so erreicht dieselbe nicht einmal den hundert-
tausendbillionsten Theil jenes Betrages. Im Eisen ist also die Co-
haesion durch die »Molecularkräfte« 100000 Billionen mal grösser
als der Zusammenhang, w^elcher durch die Schwerkraft allein ver-
ursacht würde.
Dieses Ergebniss gewährt uns aber bloss im allgemeinen eine
Vorstellung, wie sehr die Schw^erkraf t an Wirksamkeit den » Molecular-
kräften« nachsteht. Um etwas Bestimmteres darüber zu erfahren,
müssten wir wissen, wie die Cohaesion zu Stande kommt. Wenn
die dynamische Amertheorie richtig ist, so folgt aus derselben, dass
die Cohaesion fast ausschliesslich durch die unmittelbar neben
einander liegenden Atome bewirkt wird, und dass die Anziehung
4. Schwerkraft. 727
auf weiter entfernte Atome vorzugsweise nur als Wirkung der Schwer-
kraft in Betracht kommt ^). Beim Zerreissen eines Dralits wird somit
ledighch die Adhäsion der an den beiden Bruchflächen befindhchen
Atome überwunden, und es lässt sich berechnen, wie gross die An-
ziehung je zweier einander gegenüber hegender, beim Zerreissen von
einander getrennter Atome ist.
Da aus der mechanischen Gastheorie die absoluten Gewichte
der verschiedenen Gasmoleküle bekannt sind , so kennt man auch
die absoluten Gewichte der Atome aller übrigen Elemente. Das
Eisenatom wiegt 130 Quadrillion tel s. Aus dem Atomgewicht und
dem specifischen Gewicht berechnet sich das Volumen des Eisen-
atoms im Draht zu 17 Quadrilliontel ^^m und der mittlere Quer-
schnitt des Atomvolumens zu 650 Trilliontel 'i^'"\ Es befinden sich
demnach auf der Fläche von 1 1^'°^ 1500 Billionen Atome und auf
dem Querschnitt des fraglichen Eisendrahts 15 Billionen, welche
unmittelbar vor dem Zerreissen durch ihre Adhäsion an die an-
grenzenden 15 Billionen Atome dem vorhin berechneten Zug von
9 Billionen Einheiten das Gleichgewicht halten. Die Adhäsions-
anziehung, welche das einzelne Atom auf das ihm gegenüberstehende
ausübt, beträgt ^. ^.,,-. oder 0,6 Einheiten.
^^ 15 Billionen
Der mittlere Abstand zwischen den Centren zweier benach-
barter Atome im Eisendraht ist 0,000000 026 ^^ oder 260 Billiontel >^,
und da das Gewicht eines Eisenatoms 0,13 Quadrilliontel ^ beträgt,
so ist die Gewichtsanziehung zweier benachbarter Atome im Eisendraht
(0,000000000000000000000000 13f , r.o^ r^ • .•,!• XI •
(Ö;ÖÖ0000ÖÖ0W ' Qumtilhonstel einer
Einheit. Dieselbe verhält sich zu der Adhäsionsanziehung wie
0,25 Quintillionstel : 0,6 oder rund wie 1 : 2 Quintillionen.
Ich habe angenommen , dass die Cohäsion der Substanz bloss
durch die Anziehung der unmittelbar neben einander liegenden Atome
hervorgebracht werde. Jedenfalls ist die letztere in ganz vorherr-
schendem Maasse dabei betheiligt, und wenn auch entferntere Atome
1) Ich verweise auf die Abschnitte : 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung
der Atome ; 0. Entstehung und Beschaffenheit der Atome ; 10. Chemische Be-
schaffenheit.
728 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
bei der Wirkung nicht ganz ausgeschlossen sind, so bleibt es doch
unbestreitbar, dass zwei Eisenatome in der Lage, wie sie im Draht
sich nebeneinander befinden, sich um das Quintillionfache stärker an-
ziehen, als es der Fall wäre, wenn sie sich wie die Himmelskörper
bloss vermöge ihrer Schwere anziehen würden. Dieses Verhältniss gilt
aber nur für die Gesammtwirkung der Molecularkräfte gegenüber
der Wirkung der Schwerkraft, nicht aber für die einzelnen Kräfte
selbst. Denn die Gesammtwirkung, die uns in dem vorliegenden
Fall als Cohäsion bemerkbar wird, ist nur der Ueberschuss der ver-
schiedenen Anziehungen über die verschiedenen Abstossungen, welche
zwei benachbarte Atolne auf einander ausüben. Könnten wir die
Attraction zwischen zwei Atomen ohne die zwischen ihnen bestehende
Repulsion berechnen, so würde sie gegenüber der Attraction durch
die Schwerkraft noch ungleich viel grösser ausfallen. — Was die
beiden Dominantenkräfte betrifft, so lässt sich ihr gegenseitiges quan-
titatives Verhältniss in gleicher Weise berechnen, wie es bereits für
einen andern Fall geschehen ist (S. 725). Wenn die Gravitations-
anziehung, ebenso die Aetherabstossung im Universum eine eben
so grosse Kraftsumme darstellt wie die positive oder negative Elek-
tricität, wie die positive oder negative Isagität, so ergibt sich aus
dem Verhältniss zwischen der Cohäsionsanziehung und der Schwere-
anziehung, dass die Summe der Gravitationsanziehungskräfte im Eisen
bloss um ein Quintillionstel grösser sein kann, als die Summe der
Aetherabstossungskräfte, wobei immer noch nicht berücksichtigt ist,
dass die Oohäsion nur im Ueberschuss der Anziehung über die Ab-
stossung besteht.
Aus den vorstehenden Betrachtungen geht eine allgemeine Schluss-
folgerung hervor, die übrigens auch von vornherein als ziemlich
sicher hätte angenommen werden können. In der Natur sind die
6 Elementarkräfte in unendlich grosser Menge an den Stoff gebunden,
wiewohl sie unserer Wahrnehmung nur in verschwindend geringer
Menge bemerkbar werden. Jeder grössere oder kleinere Körper bis
herab auf die chemischen Atome und Aethertheilchen , diese mit
inbegriffen, ist ein System von kraftbegabten Theilen, in welchen
die verschiedenen Attractions- und Repulsionskräfte sich das Gleich-
gewicht halten, in der Art, dass stetsfort oder bei Störung des Gleich-
gewichts bloss ein winzig kleiner, nach aussen wirksamer Ueberschuss
sich ergibt. Die Schwerkraft, die am allgemeinsten und am wuch-
5. Wärme. 729
tigsten sich kundgibt, entspricht kaum dem quintiUionsten Theil
aller in den wägbaren Massen befindlichen Gravitationskräfte, der
von der Aetherabstossung nicht compensirt und somit für äussere
Action disponibel ist.
5. Wärme.
Es gilt als ein allgemein angenommener und unbestreitbarer
Satz der neueren Physik , dass die Wärme nichts anderes als eine
Bewegung der kleinsten Theilchen ist. Jede Bewegung kann in
Wärme verwandelt und durch Wärme gemessen werden, und im
gasförmigen Zustande nimmt die lebendige Kraft der Molecular-
bewegung oder das Quadrat der molecularen Geschwindigkeit pro-
portional der Temperatur zu. Indem man aber Wärme als Bewegung
der kleinsten Theilchen bezeichnet, versteht man darunter doch
zweierlei wesentlich verschiedene Dinge.
Einmal ist Wärme Bewegung des Aethers, sowohl des Welt-
äthers als auch des leichter bewegliehen Schweräthers, wie er in den
Körpern als Zwischenhülläther vorhanden ist: so die Wärme, die
der Erde von der Sonne mitgetheilt wird, und ebenso die strahlende
Wärme , die durch gasförmige , flüssige und feste Körper sich aus-
breitet. Wenn man von Brechung, Interferenz und Beugung der
Wärmestrahlen, von Polarisation und Doppelbrechung der Wärme,
von Wärmespectrum spricht, so ist immer Bewegung der Aether-
theilchen gemeint. — Ferner ist Wärme aber auch Bewegung der
Moleküle und Atome, und zwar dies immer, wenn es sich um
die Wärme oder Temperatur der Gase, der Flüssigkeiten und der
festen Körper handelt.
Es können allerdings in vielen Fällen die beiden Wärmen ein-
ander gleich gesetzt werden , wenn nämlich die Bewegungen des
Aethers und der wägbaren Theilchen sich ausgeglichen haben und
sich somit im Gleichgewichte befinden. Dies ist aber nicht immer
der Fall ; in einem durchstrahlten Körper kann die Wärmebewegung
der wägbaren Theilchen (der Luft, des Glases etc.) weit hinter der
Wärmebewegung des Aethers zurückbleiben. Wird in diesem Falle
die freie Wärme durch das Thermometer gemessen, so zeigt dieses
vorzugsweise den Bewegungszustand der Atome und Moleküle des
730 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
durchstrahlten Körpers an. Uebrigens werden nicht alle, sondern
nur bestimmte Bewegungen der wägbaren Theilchen als freie Wärme
bezeichnet, wie dies deutlich aus dem Umstände sich ergibt, dass
Eis und Wasser von 0", obgleich in ungleicher Molecularbewegvmg
befindlich, doch die gleiche Temperatur besitzen, ebenso Wasser und
Wasserdampi" von 100".
Ich werde im folgenden unter Wärme nm* Bewegung der (eigent-
lichen und der ponderabeln) Aethertheilchen, also Aetherwärme ver-
stehen, welche, indem sie den Atomen und Molekülen der wägbaren
Stoffe schwingende, drehende und fortschreitende Geschwindigkeit
ertheilt, in eine andere Form der Bewegung übergeht. Damit soll
nicht gesagt werden, dass alle Bewegung des Aethers als Wärme
zu betrachten sei; vielmehr scheint diese Function nur einer be-
stimmten Bewegung zuzukommen. Um dies deutlich zu machen,
muss ich auf die Beschaffenheit des Aethers, wie sie die Amertheorie
voraussetzen muss, etwas näher eingehen.
Nach Allem, was wir von dem eigentlichen Aether als Raum
erfüllende, die Bewegungen der Gasmoleküle wie der Weltkörper
nicht hemmende, Wärme und Licht in die grössten Entfernungen
tragende Substanz wissen, muss derselbe vollkommen elastisch, voll-
kommen beweglich und ohne eine Spur von Cohäsion sein. Er
muss die flüchtigen Eigenschaften eines Gases, nur in ungleich
höherem Maasse, besitzen ; den grösseren Grad der Flüchtigkeit ver-
dankt er der grösseren Kleinheit seiner Theilchen und dem Umstände,
dass er von abstossenden Kräften beherrscht* wird, während in den
Gasen die Schwere eine wichtige Rolle sj)ielt. Ganz gleich wie der
eigentliche Aether verhält sich die beweglichere Hälfte des pon-
derabeln Aethers rücksichtlich ihrer Bewegungen, da diese durch
die nämliche Kleinheit und vollkommene Elasticität der Theilchen
bestimmt werden. — Die übereinstimmenden wie die abweichenden
Eigenschaften , welche uns die Vergleichung des Aethers und der
Gase aufweist, sprechen also dafür, dass den Aethertheilchen die
gleichen Bewegungen wie den Gasmolekülen, aber in erhöhtem Maasse,
zukommen.
In den luf tförmigen Körpern können wir 3 wesentlich verschiedene
Bewegungen unterscheiden, 1. die selbständigen Molecularbewegungen
oder Einzelbewegungen, 2. die schwingenden Massenbewe-
gungen und 3. die fortschreitenden Massenbewegungen. Was
5. Wärme. 731
die erstereil betrifft, so ist bekanntlich in neuerer Zeit von Krönig
und namentlicli von Clausius dargethan worden, dass eine Gas-
masse aus einer Anzahl vereinzelter Moleküle besteht, welche nach
allen Richtungen durcheinander fliegen und von denen jedes seine
gradlinige Bahn verfolgt, bis es an ein anderes Gasmolekül oder
an einen festen Körper anstösst und vermöge seiner Elasticität
abgelenkt oder zurückgeworfen wird. Ausserdem drehen sich die
Moleküle mn ihre Axe , und die sie zusammensetzenden Atome
schwingen hin und her, drehen sich wohl auch unter Umständen
(intramoleculare Bewegungen). — Die Massenschwingungen
der Luft sind uns durch die Fortpflanzung des Schalles, die fort-
schreitenden Massenbewegungen als Gasströmung, Wirbel-
ströme und Winde bekannt.
Die Aethertheilchen müssen die nämlichen Erscheinungen zeigen.
Sie führen einmal Einzelbewegungen aus, indem jedes nach einer
andern Richtung dahin fährt, dabei sich um seine Achse dreht und,
insofern es aus mehreren Ameren zusammengesetzt ist, auch innere
Bewegungen, bestehend in Schwingungen und Drehungen seiner
Amere, besitzt. Dass uns von diesen Einzelbewegungen aus Erfah-
rung noch nichts bekannt ist, begreift sich leicht aus dem Umstände,
dass selbst die Einzelbewegungen der einer höheren Grössenordnung
angehörenden Gasmoleküle erst seit kurzer Zeit als Ursache der Ex-
pansivkraft der Gase erkannt sind. — Die Massenschwingungen
und die fortschreitenden Massenbewegungen, welche, gleich-
wie in den Gasen, unabhängig von den Einzelbewegungen sind,
bedingen abwechselnde und räumlich verschiedene Verdichtungen
und Verdünnungen des Aethers.
Von diesen verschiedenen Bewegungen der (eigentlichen sowie der
ponderabeln) Aethertheilchen sind es die Massen Schwingungen,
welche die Erscheinungen der Wärme (und des Lichtes) hervorbringen.
Sie erth eilen den Atomen und Molekülen die verschiedenen Bewegungen,
die wir an ihnen kennen. Dabei geht die kinetische Energie der Aether-
wellen auf die wägbaren Theilchen über, und es verschwindet so viel
Wärme als das Quadrat der molecularen und atomalen Geschwindig-
keit der letzteren zunimmt. Umgekehrt theilen die ponderabeln Parti-
keln, wenn der umgebende Aether Wärme verloren hat, demselben von
ihrer Bewegung mit und stellen das gestörte Gleichgewicht wieder
her. Wenn daher die schwingende Bewegung des Aethers als freie
732 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Wärme betrachtet wird, so können wir die Bewegungen der Moleküle
und Atome als gebundene Aetherwärme bezeichnen.
Dagegen vermögen die Einzelbewegungen der Aethertheilchen
nicht die Atome und Moleküle, die ja einer anderen Grössenordnung
angehören, in Bewegung zu setzen. Ihre Stösse sind gegenüber dem
Koloss eines wägbaren Theilchens von verschwindend geringer Wirk-
samkeit, und überdem kommen sie von allen Seiten in so grosser
Menge, dass sie sich gegenseitig aufheben ^). Ganz anders wirken
die Massenschwingungen, da bei ihnen eine sehr grosse Menge von
Aethertheilchen, unbeschadet ihrer individuellen Bewegungen, in
jedem Zeitmoment nach der gleichen Seite hin drückt.
Die Schwdngungen des Aethers sind ungleich nach ihrer Dauer
und nach ihrer Intensität. Ihr Effect wird bedingt durch die Summe
der lebendigen Kräfte, mit denen sie auf ein wägbares Theilchen
treffen. Von dieser Summe hängt die Bewegung der Moleküle und
Atome, und wenn eine Ausgleichung eingetreten ist, auch die Höhe
der Temperatur ab ; denn die kinetische Energie der Aetherschwing-
ungen verursacht in der Thermometerfiüssigkeit die ihnen ent-
sprechenden Bewegungen der Moleküle und Atome und damit eine
bestimmte Raumerfüllung durch jene Flüssigkeit.
Es ist leicht, sich von den verschiedenen Erscheinungen, welche
die Wärme verursacht, Rechenschaft zu geben, wenn wir im Auge
behalten , dass die Schwingungen des Aethers einen ihnen ent-
sprechenden Bewegungszustand der Moleküle und Atome bewirken,
— dass umgekehrt die Moleküle und Atome, wenn dieselben sich
schneller bewegen als es dem Bewegungszustand des umgebenden
Aethers entspricht, von ihrer lebendigen Kraft an den letzteren
abgeben und in freie Wärme umwandeln , — endlich , dass der
zwischen den Molekülen und Atomen befindliche Zwischenhülläther
durch den äussern Aether, mit dem er in Verbindung steht, in
analoge Schwingungen versetzt wird , und dass er, wenn er in Folge
irgend einer Ursache sich in lebhafteren Schwingungszuständen be-
findet, den Ueberschuss seiner Bewegungsintensität dem äusseren
Aether mittheilt, dass also der intermoleculare und interatomale
*) Es verhält sicli damit wie mit den Stössen der Gasmoleküle auf die in
der Luft schwebenden Sonnenstäubchen, vgl. Sitzungsberichte der kgl. b. Akad.
d. W. 7. Juni 1879 oder Untersuch, über niedere Pilze S. 78.
5. Wärme. 733
Schweräther th eilweise das verbindende Mittelghed bildet zwischen
den Atomen und den äusseren Aetherschwingungen.
In einer Gasmasse befindet sich der Wärnieäther in einem ähn-
lichen Zustande wie der Lichtäther bei diffusem Tageslicht. Es
gehen die Wärmestrahlen nach allen Richtungen durcheinander.
Licht und Wärme werden von dem nämlichen Aether getragen,
indem sich ihre Wellen wie die Wellen auf einer Wasseroberfläche
durchkreuzen. Mit den Aetherschwingungen befinden sich die fort-
schreitenden und drehenden Bewegungen der Gasmoleküle und die
schwingenden Bewegungen ihrer Atome im Gleichgewicht. Dieser
Zustand bleibt constant, bis sich die umgebende Temperatur ändert.
Steigt dieselbe, so wird eine gewisse Menge der Energie der Aether-
schwingungen zur Beschleunigung der Molecularbewegungen ver-
wendet (specifische Wärme), und zwar bei Gasen von einfacherer
Zusammensetzmig etwa 63 % für die fortschreitenden Bewegungen
der Moleküle und 37 "o für die intramolecularen Bewegungen.
Sinkt die Temperatur, so findet die umgekehrte Umwandlung statt.
Nimmt die Energie der Aetherschwingungen so sehr ab, dass
sie den Molekülen nicht mehr die Bewegungen des Gaszustandes
zu ertheilen vermögen, so verdichtet sich das Gas zur Flüssigkeit,
indem der Ueberschuss der fortschreitenden, drehenden und intra-
molekularen Bewegungen in Aetherschwingungen übergeht, welche
sich in den allgemeinen Aether verlieren. Beim Verdampfen setzt
sich die nämliche Menge von Aetherbewegung wieder in moleculare
Bewegung um. — Werden die Aetherschwingungen so schwach, dass
sie nicht im Stande sind den Zusammenhang der Moleküle zu über-
winden, so tritt der feste AggTegatzustand ein, wobei die Gesammt-
menge der fortschreitenden und drehenden und ein grosser Theil
der schwingenden Molecularbewegungen, die dem flüssigen Zustande
eigenthümlich sind, zur Vermehrung der äusseren Aetherbewegung
verwendet werden ; beim Schmelzen wandelt sich diese Menge von
Aetherwärme wieder in Molecularbewegung um.
Würde die Temperatur so sehr sinken, dass die Aetherschwing-
ungen ganz aufhörten , so wäre der absolute Nullpunkt erreicht.
Bei demselben kämen die Bewegungen der Moleküle und der Atome
zur Ruhe; es wäre aber nicht alle Bewegung erloschen. Die Einzel-
bewegungen der Aethertheilchen würden fortdauern und ebenso die
Bewegungen der Amere, aus denen die Atome bestehen.
734 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Die Bedingungen für die drei Aggregatzustände sind, sofern es
sich um das nämliche chemische Individuum handelt, bloss von
der Energie der äussern Aetherschwingungen abhängig, indem diese
Energie bis zu einem bestimmten Grad den festen, von da bis zu
einem bestimmten höheren Grad den flüssigen und über einen be-
stimmten dritten Grad den gasförmigen Zustand bedingt. Bei
verschiedenen chemischen Stoffen ist aber der Widerstand, den die
wägbaren Theilchen den bewegenden Kräften entgegensetzen, sehr
ungleich. Dieser Widerstand beruht in der Adhäsion, welche durch
die Grösse und Vertheilung der anziehenden und abstossenden Mole-
cularkräfte, durch die Gestalt und Zusammenordnung der Atome
und Moleküle und das Verhalten des zwischen ihnen befindlichen
Schweräthers bestimmt wird. So ist beispielsweise beim Wasser-
stoff, Sauerstoff und Stickstoff die gegenseitige Adhäsion der Moleküle
so gering, dass schon die schwächste uns bekannte Energie der
Aetherschwingungen hinreicht, um dieselben in der Bewegung des
Gaszustandes zu erhalten. Beim Kohlenstoff dagegen erlangt die
Adhäsion der Moleküle eine so beträchtliche Höhe , dass auch die
grösste bis jetzt erreichbare Energie der Aetherschwingungen nicht
im Stande ist, dieselben zu trennen und ihnen die Bewegungen des
flüssigen oder gar des gasförmigen Zustandes zu ertheilen.
Aus der Anordnung und der Adhäsion der Moleküle in Ver-
bindung mit der Beschaffenheit des zwischen ihnen befindlichen
Aethers erklärt sich die verschiedene Ausbreitung der Wärme durch
Strahlung und Leitung. Die Licht- und Wärmestrahlen , die von
der Sonne kommen, gehen durch den mit Aether gefüllten Welten-
raum; sie werden in der Atmosphäre durch den Aether zwischen
den Gasmolekülen ungehindert weiter geführt, und ebenso durch
den Zwischenhülläther vieler flüssiger und fester Körper, die man
deswegen als durchsichtige und als diathermane bezeichnet.
Die Beschaffenheit des Aethers zwischen den Atomen und Mole-
külen ist aber in den verschiedenen festen und flüssigen Körpern,
wie ich dies schon früher angedeutet habe, sehr ungleich, sowohl
bezüglich der Lagerung der Theilchen als bezüglich ihrer Bewe-
gungen, weil beides von der Natur und Stellung der Atome und
der Stärke und Vertheilung der Atomkräfte abhängt. Im allge-
meinen stellt der zwischen den Aetherhüllen der Atome befindliche
und beweglichere Zwischenhülläther dm'ch den ganzen flüssigen
5. Wärme. 735
oder festen Körper ein ununterbrochenes Netz dar. Dieses Netz hat
nun eine sehr mannigfaltige Gestalt und sein Schweräther steht mit
den Atomen durch die Aetherhüllen in sehr ungleichen dynamischen
Beziehungen; daher rührt das verschiedene Verhalten der Körper
gegenüber den Licht- und Wärmestrahlen.
Der zwischen den Aetherhüllen befindliche Schweräther ist, wie
schon gesagt, mit dem äusseren Aether in unmittelbarer Verbindung
und befindet sich, wenn ein Beharrungszustand eingetreten, in gleichen
Schwingungszuständen mit demselben. Findet nvni in dem äusseren
Aether eine besondere Erregung statt, kommen Licht und Wärme-
strahlen heran, so gehen ihre Schwingungen, wenn die Anordnung
und die Beschaffenheit des genannten Aethers günstig ist, fast un-
geschwächt durch die Körper hindurch, d. h. ohne etwas Nennens-
werthes von ihrer Energie abzugeben ; die vollkommene Durchsichtig-
keit und Diathermanität, wie sie den meisten Gasen und manchen
festen und flüssigen Körpern zukommt, verhindert bei der Durch-
strahlung eine bemerkenswerthe Erhöhung ihrer Temperatur. In
den undurchsichtigen und adiathermanen Körpern dagegen können
sich die Schwingungen der Licht- und Wärmestrahlen wegen der
Spärlichkeit, der mangelhaften Continuität und überhaupt wegen des
ungünstigen Verhaltens des Zwischenhülläthers nicht ungehindert
fortpflanzen; ihre Energie geht auf die Moleküle und Atome über
und dient dazu, die Temperatur des Körpers zu erhöhen. Günstig
für die Durchstrahlung ist es , wenn hinreichend breite und zu-
sammenhängende Bahnen eines sehr beweglichen Zwischenhülläthers
vorhanden sind; ungünstig, wenn wegen der Stellung der Atome,
wegen ihrer grossen Annäherung oder wegen der beträchtlichen
Mächtigkeit ihrer Aetherhüllen nur enge mid unvollständig zusam-
menhängende Bahnen für den Zwischenhülläther frei bleiben und
wenn dieser eine geringere Beweglichkeit besitzt.
Während die strahlende Wärme ihre Schwingungen durch den
Zwschenhülläther ausbreitet, werden bei der Leitungswärme die der
Wärmequelle zunächst liegenden Atome in einen der einwirkenden
Temperatur entsprechenden Bewegungszustand versetzt, welcher sich
dann von Atom zu Atom weiter fortpflanzt. Von der Anordnung,
dem Zusammenhang und der Bewegung der Atome hängt es ab,
ob die Fortpflanzung rascher oder langsamer erfolge, ob der Körper
ein guter oder ein schlechter Wärmeleiter sei.
736 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
In der vorstehenden Auseinandersetzung handelte es sich vorzüg-
hch um die Uebertragung von Energie zwischen den Aethertheilchen
und den Molekülen (Atomen) und zwischen den letzteren unter sich.
Es ist also von Wichtigkeit, eine richtige Vorstellung über die Be-
dingungen der Energie bei diesen Theilchen zu haben. Wenn wir
sagen , die Summe der lebendigen Aetherschwingungskräfte in der
Raumeinheit, gegeben durch die Zahl und Beschaffenheit der schwang-
enden Theilchen, durch die Zahl der Schwingungen jedes einzelnen
in der Zeiteinheit und durch die Schwingungsintensität bedinge die
Höhe der Temperatur und verursache in den w'ägbaren Körpern die
ihnen entsprechenden Bewegungen der Moleküle und Atome, so
müssen wir uns darüber klar sein, wodurch die kinetische Energie
eines Aethertheilchens und diejenige eines Moleküls (Atoms) in den
verschiedenen Aggregatzuständen bestimmt werde. Denn es ist ein-
leuchtend, dass bei den hier in Frage kommenden Umsetzungen
der lebendigen Kraft nicht die Begriffe der gew^öhnlichen Mechanik
Gültigkeit haben. Namentlich lässt uns der Begriff der Masse, wie
er allgemein angewendet wird, gänzlich im Stich.
Die Definition der Masse, dass zwei Körper gleiche Massen
besitzen, wenn ihnen durch die nämliche Kraft in der Zeiteinheit
gleiche Beschleunigungen ertheilt werden, ist zwar umfassend genug,
um für alle Fälle auszureichen. Allein in der gewöhnlichen Mecha-
nik hat man damit nur einen Fall im Auge ; hier ist für den Betrag
der lebendigen Kraft -^mxr stets die Schwere d. h. der Ueberschuss
der Gravitationsanziehung über die Aetherabstossung massgebend
(S. 718); dieser Ueberschuss wird als Masse [m) bezeichnet. Eine
solche Behandlung ist für alle Erscheinungen gestattet, wo die Schwere
durch die übrigen Kräfte keine bemerkbare Aenderung erleidet. Sie
hat also in den Gebieten der kleinsten Theilchen bloss noch für die
fortschreitenden Bewegungen der Gasmoleküle Gültigkeit, weil diese
Moleküle nur unter dem Einfluss der Erdanziehung stehen, gegenüber
welcher die übrigen Kräfte verschwinden. In der Bestimmung ihrer
kinetischen Energie , ^ m v' , wird daher m durch das Molecular-
gewicht bemessen.
Diese Bestimmung der Masse ist aber nicht mehr entscheidend
für alle übrigen Bewegungen der Moleküle und Atome, weil bei
5. Wärme. 737
ihnen neben der Schwere auch andere Kräfte maassgebend werden,
und zwar oft in dem Grade, dass gegenüber den anderen Kräften
die Schwere selbst unmerkbar wird. So tritt das Wasserstoffatom
bei vielen Vorgängen mit viel grösserer Wucht in die Bewegung
ein als das Quecksilberatom, welches in gewöhnhchem Sinne 200 mal
mehr Masse enthält ^). Die gewöhnliche Bestimmung der Masse
ist ferner ganz ohne Bedeutung für die Mechanik des eigentlichen
Aethers, weil hier in überwiegendem Maasse abstossende Kräfte zur
Wirksamkeit gelangen.
Für die meisten Molecularbewegmigen und für die Aether-
bewegungen muss statt der Masse im gewöhnlichen Sinne die
Potenz in Anschlag kommen, welche überhauj^t in den nach Ort
und Zeit wirksamen Kräften besteht und welche wegen der Klein-
heit der sich verändernden Abstände nach Ort und Zeit stets in
bemerkbarer Weise wechselt. Die Masse der gewöhnlichen Mechanik
ist ein besonderer Fall der Potenz, welcher den Vorzug grosser Ein-
fachheit besitzt, weil wegen der grossen Entfernungen die Schwere
die Alleinherrschaft behält und daher die Masse als unveränderlich
betrachtet werden kann.
Unter Masse versteht man häufig nicht bloss die dynamische
Wirkung eines Körpers, sondern gewissermaassen auch seinen mate-
riellen Inhalt. Doch liegt es auf der Hand, dass', wenn das Gold
in der Volumeneinheit 21 mal mehr Masse enthält als das Eis, es
deswegen nicht nothwendig reicher an Stoff sein muss. Wir haben
also neben Potenz und Masse, welche durch die Wirkungsfälligkeiten
bestimmt werden, noch den Gehalt zu unterscheiden, welcher ein
Product von Zahl und Grösse der in der Volumeneinheit befindlichen
Amere ist. Möglicherweise hat das Wasserstoffatom einen gleichen
,,Gelialt" wie das Jodatom, welches ihm an Masse imi das 127fache
überlegen ist; und möglicherweise steht selbst das zusammengesetzte
Theilchen des Weltäthers an ,, Gehalt" einem gleichgrossen Volumen
des massigsten Körpers nahe, obgleich jenem nicht nur kein posi-
tiver, sondern sogar ein negativer Besitz an „Masse" zukommt.
*) Vgl. bezüglich der Atomgewirlite Abschnitt?: Grösse und Zusannnen-
setzung der Atome.
V. Nägcli, Abstammungslehre. 47
7B8 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gel)iot.
6. Elektricität.
Dieser schwierigste Theil der Molecularphysik wird durch den
Umstand, dass unter Elektricität zweierlei verstanden wird, ver-
wickelter als die Lehre von der Wärme, vom Licht, von der Gravi-
tation. Sie ist einmal elementare Kraft, wie die Gravitations-
anziehung und die Aetherabstossung, und ferner ist sie Bewegung,
wie die Wärme, das Licht, der Schall, und soll selbst nach Maassgabe
der Bewegung die Intensität ihrer elementaren Kraft verändern.
Was die Elektricität als Attractions- und Repulsionskraft betrifft,
so hat sie ihren Sitz in den Ameren, von denen jedes die beiden
Elektricitäten , im Allgemeinen aber die eine im Ueberschuss ent-
hält. Die elektrischen Kräfte sind mit den Ameren untrennbar ver-
bunden ; sie können denselben nicht entzogen und nicht mitgetheilt
werden. Jedes Amer ist daher, je nachdem die eine oder andere
Elektricität überwiegt, vorherrschend positiv oder negativ elektrisch,
und in gleicher Weise hat jede Vereinigung von Ameren, je nach
dem Resultat der Summirung, positiven oder negativen Charakter.
Die Elektricität hat, wie ich früher anführte, keinen bemerkbaren
Einfluss auf die Zusammenballung der wägbaren Massen und auf
die Zerstreuung des Aethers. Denn es besitzen je zwei oder mehrere
Amere mit vorherrschend positiver und negativer Elektricität das
Bestreben sich zu vereinigen und somit elektrisch-neutrale Gruppen
zu bilden, in welchen die Electricität sich gegenüber dem Agglo-
merations- und Dispersionsprocess indifferent verhält. Solche neutrale
Gruppen müssen besonders im Aether, auch in dem ponderabeln
Aether, der zwischen den Molekülen und Atomen sich befindet,
vorkommen, weil seine Theilchen beweglich sind und sich somit
stets entsprechend ihren Anziehungen und Abstossungen zusammen-
gruppiren können.
Es bilden sich aber auch Vereinigungen mit ausgesprochener
2:)0sitiver oder negativer Elektricität; dieselben treten vorzugsweise
in den wägbaren Massen auf, weil hier die Abstossung der gleich-
namigen Elektricitäten leicht durch die Anziehung der Gravitations- und
der isagischen Kräfte übertroffen wird. Dem entsprechend überwiegt
auch in den Atomen der verschiedenen Elemente die eine oder andere
Elektricität mehr oder weniger, aber immer nur in einem zur Ge-
sammtmenge verhältnissmässig sehr geringen Betrage. Je nach dem
(5. Elektricität. 739
grösseren oder kleineren Betrage nimmt das Element seine Stellung
in der elektrochemischen Spannungsreihe ein. Diese überschüssige
positive oder negative Electricität in den Atomen ist nicht frei, da
sie die Atome nicht verlassen kann, worüber ich auf die späteren
Abschnitte (9. Entstehung und Beschaffenheit der Atome und 10.
Chemische Verwandtschaft) verweise. Sie ist aber auch nicht gebun-
den im gewöhnlichen Sinne, da ,, gebundene Elektricität" die von
der ungleichnamigen festgehaltene Elektricität bedeutet.
Da die Amere mit positiver und negativer Elektricität in der
Regel zu mehr oder weniger neutralen Gruppen vereinigt sind, so
muss die elektrische Erregung darauf beruhen, dass diese neutralen
Gruppen gespalten werden und dass ihre Componenten einerseits
zu positiven, andrerseits zu negativen elektrischen Massen sich an-
sammeln. Der einfachste Fall der elektrischen Erregung ist derjenige
durch Influenz, wobei durch die Fernwirkung eines elektrischen
Kör2:)ers die neutrale Elektricität eines andern (influirten) Körpers
in 230sitive und negative zerlegt, und die ungleichnamige an der
dem influirenden Körper zugekehi'ten, die gleichnamige an der ab-
kehrten Seite angehäuft wird.
An der eben genannten elektrischen Vertheilung können nur
Amere theilnehmen, die nicht unlösbar mit den Atomen verbunden
sind, nämlich die Amere des zwischen den Atomen und Molekülen
befindlichen Schweräthers, während diejenigen der Atomkör^jer aus-
geschlossen sind. Eine elektrisch-neutrale Amergruppe dieses Aethers
wird nun zerlegt, wenn die Anziehung, welche die positiven und
negativen Amere dieser Gruppe auf einander ausüben, kleiner ist
als die Anziehung einer in der Nähe befindlichen elektrischen Masse
auf die ungleichnamig elektrischen Amere jener Gruppe sammt ihrer
Abstossung auf die gleichnamig elektrischen Amere derselben. Indem
diese gleichnamigen elektrischen Amere infolge der Abstossung durcli
den influirenden Körper nach der von demselben abgewendeten Seite
des influirten Körpers sich entfernen, kommen von da neue elektrisch
neutrale Amergruppen herbei und werden gleichfalls durch den
influirenden Körper zerlegt. Dieser Process dauert so lange, bis
allseitiges Gleichgewicht eingetreten ist. Wird der influirende Kör-
per entfernt, so strömen die getrennten Massen positiver und nega-
tiver Amere gegen einander und vereinigen sich wieder zu neutralen
Gruppen.
tJ^Ö^
740 Kräfte und Gestaltungen Im molecularen Gebiet.
Wie ein elektrischer Körper im Grossen, so kann auch jedes
Atom im Kleinen vertheilend wirken. Da dasselbe die eine oder
andere Elektricität im Ueberschuss enthält, so muss es einen Theil der
zunächst liegenden elektrisch neutralen Amergruppen seiner Aether-
hülle zerlegen, sofern es die zusammenhaltenden Kräfte (elektrische,
isagische und Gravitationsanziehung) zu überwinden vermag. Liegt
das Atom frei, so befindet sich von den durch Zerlegung frei ge-
wordenen Elektricitäten die ungleichnamige unmittelbar am Atom-
körper, die gleichnamige an der Aussenseite der Aetheratmosphäre. Sind
viele Atome von gleicher elektrischer Beschaffenheit zu einem Körper
vereinigt, so befindet sich die in den Aetherhüllen freigewordene
ungleichnamige Elektricität im Innern des Körpers (zwischen den
Atomen), die gleichnamige an der Oberfläche desselben, so weit sie
nicht etwa den Körper ganz verlässt. Dass eine solche Vertheilung
wirklich erfolge, wird nicht nur durch die gegebenen Bedingungen
angezeigt, sondern auch durch einen andern, ganz allgemein vor-
kommenden Fall elektrischer Erregung bestätigt.
Dieser andere Fall der elektrischen Erregung ist dann gegeben,
wenn zwei elektrisch neutrale Körper von verschiedener Beschaffenheit
in Berührung mit einander kommen. Bekanntlich wirkt jede Berüh-
rung mehr oder weniger elektromotorisch, indem sich die positive
Elektricität über den einen, die negative über den andern Körper
ausbreitet. Nach der Amertheorie erklärt sich diese Erscheinung
folgendermaassen. Die Atomkörper der chemischen Elemente haben,
wie schon gesagt, einen bestimmten elektrischen Charakter, den sie
niclit verlieren können, und nehmen daher einen bestimmten Platz
in der elektrischen Spannungsreihe ein. Ich will nun zuerst anneh-
men, der eine der beiden sich berührenden Körper besitze positive,
der andere negative elektrische Atomkörper. Die Theilchen des
zwischen den Atomen befindlichen Schweräthers haben in jedem
der beiden Körper bereits eine durch die Elektricität der Atomkörper
bewirkte theilweise Zerlegung erfahren, so dass elektrisches Gleich-
gewicht besteht, und die übrigen Aethertheilchen unzerlegt bleiben.
Sowie nun aber Berührung der beiden Körper eintritt, so ist das
Gleichgewicht an der Berührungsstelle gestört. Auf die elektrisch
neutralen Amergruppen der beiderseitigen Grenzschichten wirken
jetzt nicht mehr bloss je die Elektricität des eigenen Körpers, son-
dern zugleich die entgegengesetzten Elektricitäten der beiden Körper
6. Elektricität. 741
ein, indem der Körper mit positivem Charakter der Atome die nega-
tiven, derjenige mit negativem Charakter die positiven Amere anzieht
mid die gleichnamig elektrischen Amere abstösst. So wird durch die
vereinte Action eine gewisse Menge neutraler Elektricität zerlegt. Es
versteht sich, dass sich um so mehr freie Elektricität bildet, je aus-
gesprochener der positive und negative Charakter der beiden Körper
ist, und dass, indem sich die beiden Elektricitäten über die Körper
ausbreiten, der elektromotorische Process so lange fortgeht, l)is all-
seitiges Gleichge-^ncht besteht.
In dem eben angeführten Beisj^iel waren die Atome des einen
Körpers positiv, die des anderen negativ elektrisch. Haben beide
Körper den gleichen (positiven oder negativen) Charakter, nur in
ungleichem Grade, so erfolgt mit der Berührung ebenfalls Störung
des elektrischen Gleichgewichts. Die an der Berührungsstelle be-
findlichen neutralen Amergruppen des Schweräthers erfahren von
beiden Seiten her ungleiche Einwirkung; die gleichnamig elektrischen
Amere werden von der einen Seite her stärker abgestossen, die
ungleichnamigen stärker angezogen als von der andern, und so
findet der nämliche Zerlegungsprocess statt, wie wenn die beiden
Körper ungleichnamige wirksame Elektricitäten besitzen. Die Menge
der zerlegten neutralen Elektricität hängt bloss von der Differenz
der wirksamen Elektricitäten ab. Es habe in einem neutralen Amer-
paar der Berührungsstelle das eine Amer 0,1 positive, das. andere
0,1 negative elektrische Einheiten, und es ^\drken auf gleiche Ent-
fernung von der einen Seite 2000, von der andern 1000 positive
elektrische Einheiten ein, so ist die elektromotorisch wirkende Diffe-
renz der beiden Anziehungen 100 (nämhch 0,1 X 2000 — 0,1 X 1000),
die elektromotorische Differenz der beiden Abstossungen gleichfalls
100, ganz ebenso wie wenn auf der einen Seite 500 positive, auf
der andern Seite 500 negative elektrische Einheiten wirksam wären
(nämhch 0,1 X ÖOO + 0,1 X ÖOO).
Nachdem ich einige Fälle der elektrischen Erregung näher
erörtert habe, ist es überflüssig, auf die übrigen einzutreten, bei
welchen durch Reibung, mechanische Trennung, Druck und Zug,
Erwärmung und Abkühlung, Capillarität u. s. w. die Elektricitäten
frei werden und sich auf zwei Körper oder auf entgegengesetzte
Seiten des nämlichen Körpers vertheilen. Jede äussere Einwirkung
stört das bisherige Gleichgewicht der Molecularkräfte und damit
742 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
uucli clasjciiigo der Elektricitäteii , dabei werden tlieils elektrische
A liier e der Aetlierhüllen , die von den Atoiiikörjiern festgehalten
Avurdeii, disponibel, tlieils elektrisch neutrale Amergruppen zerlegt.
Wenn in einem Körper freie bewegliche Elektricität auftritt, so
haben die Amere , an w^elche sie gebunden ist, infolge der gegen-
seitigen elektrischen Abstossung das Bestreben sich von einander
zu entfernen. Sie l)reiten sich deshalb erfahrungsgeniäss ül)cr die
Oberfläche aus und häufen sich an den vorragenden Stellen der-
selben um so mehr an, je kleiner der Krümmungshalbmesser ist.
Bei übermässiger Anhäufung kann die Spannung sich so sehr stei-
gern, dass ein Theil der elektrischen Amere fortgeschleudert wird.
Im allgemeinen verlassen aber dieselben einen Körper nur dann,
wenn mit ihm ein leitender Körper in Berührung gebracht wird.
Die Vorstellung , wie die Verbreitung der Elektricität in einem
Körper und insonderheit die Leitung derselben erfolgt, beruht nach
der Amertheorie auf der richtigen Würdigung des Gleichgewichts,
in dem sich die Theilchen des interatomalen ponderabeln Aethers
befinden. Dasselbe besteht in Verbindung mit den allseitigen dyna-
mischen Beziehungen, gleichwie in einer eingeschlossenen Gasmasse,
durch die Stösse, mit denen die Theilchen auf einander treffen. Es
sind somit die Räume zwischen den Atomkörpern vollständig mit
bewegten Aethertheilchen erfüllt; es kann kein Theilchen eintreten,
ohne die Spannung zu vermehren, keines hinausgehen, ohne dieselbe
zu vermindern, und eine Dislocation im Innern findet im allgemeinen
nur statt, insofern als ein Theilchen an die Stelle des andern tritt.
Bewegen sich in einem elektrisch neutralen Körper elektrische Aether-
theilchen in einer bestimmten Richtung, so muss in entgegengesetzter
Richtung eine Strömung von neutralen Theilchen eintreten. Die Lei-
tung der Elektricität von einem Herde aus, wo dieselbe durch Ver
theilung entsteht, ist also ein Platzwechsel von Aethertheilchen, die
wie eine Kette durch den ganzen Körper verläuft.
Am anschaulichsten tritt uns das Wesen der elektrischen Leitung
jn der Thatsache entgegen, dass aus einem elektrischen Körper keine
Elektricität an den leeren Raum abgegeben wird, dass dieser ein »Nicht,
leiter« ist. Man möchte erwarten, dass das bloss mit Aether erfüllte
6. Elektricität. 743
Vacuuin einer in Spannung bclindliclien Masse von elektrischen Theil-
chen den geringsten Widerstand darböte. Nun drückt aber der äussere
Aetlier mit der nämlichen Kraft auf den zwischen den Atomen und
Molekülen befindlichen Aether wie dieser nach aussen. Es können
also Theilchen von dem letzteren nur dann austreten, wenn dafür
Aethertheilchen von aussen eintreten. Der Umstand, dass das Gleich-
gewicht zwischen dem inneren und dem äusseren Aether sich auch
auf die Elektricität erstreckt und dass diese nicht einen Körper
verlassen und in den äussern Aether entweichen kann, beweist uns
die Richtigkeit der theoretischen Annahme, dass die Elektricität an
Körperchen von der Grössenordnuug der Aethertheilchen , also an
Amere gebunden sein muss.
Wäre aber der interatomale Aether und der Aether des Va-
cuums von gleicher Beschaffenheit und somit die elektrische Span-
nung allein maassgebend, so müssten die elektrischen Theilchen
des ersteren infolge ihrer gegenseitigen Abstossung den Körper ver-
lassen und es würden an ihre Stelle neutrale Theilchen des äusseren
Aethers eintreten. Allein die Theilchen des interatomalen Aethers
sind ponderabel, und werden also durch Gravitationsanziehung und
wohl auch durch die Isagität mit einer ge"s^dssen Kraft festgehalten.
Nur dmx'h die Annahme, dass diese anziehenden Kräfte mächtiger
sind als die elektrische Abstossung sammt der Aetherabstossung,
wird die Thatsache erklärlich, dass der leere Raum ein Nichtleiter
für die Elektricität ist. Die Theorie von dem ponderabeln Aether,
der die Atome umgibt, hat damit eine Bekräftigung in der Erfah-
rung gewonnen.
Wenn die elektrischen Theilchen des ponderabeln Aethers in
einem neutralen Körper ihren Platz verlassen, so müssen andere
ebenfalls ponderable aber neutrale Aethertheilchen an ihre Stelle
treten. Der Austausch findet stets zwischen den zunächst liegenden
Theilchen statt; die dynamische Ursache desselben besteht darin,
dass die aus einem bestimmten Raum austretenden elektrischen
Theilchen abgestossen werden, während die eintretenden neutralen
Theilchen eine Abstossung nicht erfahren. Diese dynamische Wir-
kung muss um so energischer stattfinden, je geringer die Entfernung
zwischen den platzwechselnden Theilchen ist. — Nur wenig anders
gestaltet sich die Leitung, wenn die Elektricität nicht in dem neu-
tralen Körper selbst durch Vertheilung frei gemacht, sondern dem-
744 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
selben von aussen zugeführt wird. In diesem Falle breitet sie
sich möglicherweise in dem Körper aus, ohne dass neutrale Aetlier-
theilchen sich in entgegengesetzter Richtung bewegen.
In beiden Fällen hat die grössere oder geringere Entfernung
der Aethertheilchen noch eine andere Bedeutung als die vorhin an-
gegebene. Je näher ein neutrales, aus zwei (oder auch mehreren)
Ameren zusammengesetztes Theilchen sich bei einem oder mehreren
elektrischen Theilchen befindet, um so eher wird es in der Weise
orientirt, dass sein ungleichnamig elektrisches Amer diesen zuge-
kehrt, das gleichnamige aber abgekehrt ist. Damit wird das neutrale
Tlieilchen von den elektrischen Theilchen angezogen , weil die
Attraction der letzteren zu dem näher liegenden ungleichnamigen
Amer selbstverständlich grösser ist als die Repulsion auf das ent-
ferntere gleichnamige. Die Differenz dieser Attraction und Repulsion
fällt aber um so beträchtlicher aus, je kleiner der Abstand ist.
Bei wachsendem Abstand zwischen den elektrischen und neutralen
Theilchen wird der Ueberschuss der Anziehung bald unmerklich
gering.
Die Wanderung eines elektrischen Amers bei gedrängter Stellung
der neutralen Theilchen lässt sich nun am natürlichsten so denken,
dass dasselbe sich an das zugekehrte ungleichnamige Amer des
nächsten (neutralen) Paars anlegt, wodurch das abgekehrte gleich-
namige Amer dieses Paars frei wird und seinerseits in derselben
Weise zu dem nächsten Paar, dasselbe zerlegend, übertritt. So
findet eine Wanderung durch eine ganze Reihe von neutralen Paaren
oder Gruppen statt, und am Ende derselben tritt aus dem letzten
Paar ein freies elektrisches Amer aus. Im Moment der Zerlegung
und Wiedergestaltung haben die neutralen Gruppen die umgekehrte
Orientirung, nehmen aber durch Drehung sofort wieder die frühere
Lage an.
Die Leitung der Elektricität muss also um so leichter erfolgen,
je näher die Theilchen des ponderabeln Aethers beisammen liegen.
Wir dürfen wohl mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass in den
Körpern die Leitung durch die (dichteren) Aetherhüllen der Atome
viel leichter als durch die zwischen denselben befindliche (lockere)
Mittelsubstanz des Schweräthers erfolge. Wahrscheinlich hat die
letztere gar keinen Theil daran. Am günstigsten wäre es aber für
die elektrische Leitung, wenn die Aetherhüllen ganz oder doch in
6. Elektricität. 745
ilirer inneren Partie aus flüssigem (nicht aus gasförmigem) Schwer-
ätlier beständen, weil in diesem Zustande die Aetliertheilclien die
grösste gegenseitige Annäherung mit vollkommener Beweglichkeit
verbinden. Dagegen ist eine Leitung der Elektricität durch die
Atomkörper hindurch überall nicht denkbar, soweit die Amere fest
mit einander verbunden sind, weil dieselben weder durch Drehung
sich in der erforderlichen Weise orientiren, noch ihren Platz wech-
seln können.
Wenn dies richtig ist, so lässt sich die Verschiedenheit der
molecularen Beschaffenheit zwischen guten und schlechten Leitern
leicht denken. Ein Körper leitet um so besser, in je unmittelbarer
Verbindung sich die Aetherhüllen seiner Atome befinden, um so
schlechter, je zahlreicher und grösser die Lücken zwischen diesen
Hüllen sind. In Nichtleitern mangelt die unmittelbare Verbindung
z^^'ischen den Aetherhüllen gänzlich. Dies hängt theils von der
Anordnung der Atome, vorzüglich aber von der sehr ungleichen
Stärke ihrer Schwerätherhüllen ab (vgl. S. 734).
Die Bedingungen für die Leitung der Elektricität sind demnach
ganz anderer Art als diejenigen für die Leitung des Lichtes und
der Wärme, da die Schwingungen der letzteren vorzüglich durch
die zwischen den Aetherhüllen befindliche iMittelsubstanz sich fort-
pflanzen. Die ununterbrochene Verbindung der Hüllen und diejenige
der Mittelsubstanz befinden sich in einem gewissen Gegensatz zu
einander, indem im allgemeinen die eine um so vollkommener vor-
handen ist, je mehr die andere mangelt. Daraus erklärt sich der
Umstand, dass durchsichtige und diathermane Körper (wie beispiels-
weise das Glas) gewöhnlich die Elektricität nicht oder schlecht leiten,
und dass die guten elektrischen Leiter (wie die Metalle) undurch-
sichtig und adiatherman sind. Es ist aber nicht ausgeschlossen,
dass Elektricität, Licht und Wärme von manchen Körpern gleich
gut geleitet werden.
Ich habe bis jetzt den Fall betrachtet, in welchem freie Elektricität
durch einen neutralen Körper fortgeleitet wird. Werden zwei Körper
mit entgegengesetzter Elektricität in Berührung gebracht, so entsteht
ein doppelter Strom, indem positive Elektricität nach der einen,
negative nach der andern Richtung durch die leitende Substanz
hindurchgeht, wobei die Intensität jedes der beiden Ströme von der
Dichtigkeit der betreffenden Elektricität abhängt.. Ein dauernder
746 Kräfte und Gestaltungen im niolccularen Gebiet.
gegenseitiger Strom , bei welchem gleiche Mengen positiver und
negativer Electricität in entgegengesetzter Riclitung sich bewegen,
bildet sich dann, wenn die durch Vertheilung entstehenden Elektri-
citäten in leitender Verbindung sich befinden, wie dies beim galva-
nischen Strom der Fall ist.
Nach der Amertheorie können wir uns von der galvanischen
Leitung eine ähnliche Vorstellung machen, wie sie für Wanderung
der Ionen bei der Elektrolyse besteht, und wie ich sie schon für
die einseitige elektrische Leitung in Anspruch genommen habe. Die
neutralen Amergruppen, die in dem Leiter ununterbrochene Reihen
bilden und die wir uns der Einfachheit halber als Doppelamere
vorstellen können, richten sich so, dass das positive Amer der
negativen, das negative der positiven Elektricitätsquelle zugekehrt
ist. Am einen Ende einer Reihe wird das der negativen Elektricitäts-
quelle zugekehrte positive Amer angezogen und weggerissen; infolge
dessen rücken alle positiven Amere der Reihe um einen Schritt in
gleicher Richtung vorwärts. Ebenso tritt am andern Ende der Reihe
das letzte negative Amer zu der positiven Elektricitätsquelle über,
und es folgen ihm alle negativen Amere der Reihe um einen Schritt
nach. Die Amerpaare der Reihe sind im ersten Moment verkehrt
gerichtet; sie gelangen sofort durch Drehung wieder in die richtige
Orientirung. Durch den eben geschilderten Vorgang hat sich die
Zahl der Glieder in der Reihe um eines vermindert; die Lücke
muss durch ein neues neutrales Doj^pelamer ausgefüllt werden, was
auf zweierlei Art geschehen kann. Entweder wandert aus dem niclit-
gereihten intermolecularen Schweräther eine Amergruppe ein, oder
es treten aus den beiden Elektricitätsquellen je ein positives und
ein negatives Amer in die Enden der Reihe über und veranlassen
in derselben eine AVanderung der ungleichnamigen Amere in ent-
gegengesetzter Richtung, bis dieselben zusammentreffend sich zu
einem Doppelamer vereinigen.
Die eben entwickelte Hypothese macht die Voraussetzung, dass
die beiden Elektricitäten durch die nämlichen Reihen von neutralen
AmergrujDpen in entgegengesetzter Richtung wandern. Es ist aber
eben so gut möglich und vielleicht noch wahrscheinHcher, dass von
jeder Reihe nur eine Elektricität geleitet wird, dass also in gewissen
Reihen neutraler Aethertheilchen die positive Elektricität in der
einen Richtung, in andern Reihen dagegen die negative Elektricität
6. Elektricität. 747
in entgegengesetzter Richtung strömt. In diesem Fall gestaltet sich
die Leitmig genau so, wie es bereits für die einseitige Strömung
angedeutet wurde (S. 744).
Die Erregung der Elektricität, die Verbreitung und Leitung
derselben bietet, wie sich aus den vorstehenden Betrachtungen
ergibt, für die Amertheorie keinerlei Schwierigkeiten dar. Dagegen
vermag sie einige besondere Erscheinungen der Elektrodynamik,
nämlich die Wirkung zweier elektrischer Ströme auf einander und
die (Inductions-) Wirkung eines Stromes, dessen Moment sich ver-
ändert, auf einen geschlossenen ruhenden Leiter noch nicht zu
erklären.
Es ist nun bekanntlich W. Weber gelungen, ein für alle elek-
trischen Erscheinungen gültiges Grundgesetz aufzustellen, unter der
Annahme, dass die Wirkung nicht bloss von der Intensität, Ent-
fernung und Richtung, sondern auch von der Geschwindigkeit und
Beschleunigung der bewegten elektrischen Massen gegen einander
abhänge. Das elektrostatische Grundgesetz, nach welchem die V\u'-
kung (Anziehung oder Abstossung) zweier elektrischer Massen (eund e,)
gleich dem Product derselben , getheilt durch das Quadrat der Ent-
ß ■ 6
fernung (r), also gleich — ^ ist, erhält daher von W. Weber den
Coefficienten 1 — a ■ v- -\- h ■ //, in welchem das zweite Glied die Wir-
kung der relativen Geschwindigkeit {v) der beiden Elektricitäten und
das dritte Glied die Wirkung ihrer relativen Beschleunigung ((j)
angibt, während a und h Constanten sind.
Gegen das Weber' sehe Gesetz ist namentlich von Helmholtz
Einspruch erhoben worden, welcher zeigte, dass es zu Consequenzen
führt, die dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft widersprechen.
In der Erwiderung legt W. Weber namentlich auch darauf Gewicht,
dass von Molecularbewe gungen , die sich in unendlich kleinen Ent-
fernungen vollziehen , kein Schluss auf Bewegungen in endlichen
Abständen gemacht werden dürfe.
Von Seite der Amertheorie ist zunächst gegen die letztere Auf-
stellung einzuwenden, dass es gerade als die Aufgabe einer rationellen
Natm-w^ssenschaft erscheint, für die Moleculari)hysik die nämlichen
Gesetze zu begründen wie für die Makrophysik, indem für die kleinsten
748 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
in die Action tretenden Th eilchen die ihnen zukommende endhche
Grösse in Anspruch genommen wird. Der Raum, den das kleinste
chemische Atom nebst seiner Wirkungssphcäre einnimmt, hat, wie
sich aus der mechanischen Gastheorie und aus andern Bestimmungen
ergibt, etwa einen Durclmiesser von 1 Zehnmilliontel Millimeter,
und das Amer nebst seiner Wirkungssphäre ist in linearer Aus-
dehnung vielleicht 10000 oder 100 000 mal kleiner. Die molecu-
laren Dimensionen, an welche die Theorie anknüpfen muss, haben
.also eine angebbare Grösse und dürfen nicht in unendlich kleine
Werthe verflüchtigt werden.
Was ferner das Weber' sehe Gesetz als solches betrifft, so
spricht es, wenn es mehr als eine empirische Formel sein soll, einen
Grundsatz aus, der nicht nur über die bisherigen Grundsätze der
Mechanik hinausgeht, sondern überhaupt auch schwer mit unseren
vernunftgemässen Forderungen in Einklang zu bringen ist. Die
elementaren Kräfte der Anziehung und Abstossung bewirken, was
von Niemandem bestritten werden kann, Bewegung der mit diesen
Kräften begabten Körper. Nach dem Web er 'sehen Gesetz soll aber
auch das Umgekehrte stattfinden und Anziehung oder Abstossung
durch Bewegung hervorgebracht werden, denn dies ist der eigent-
liche Sinn der durch Bewegung verminderten Anziehung oder
Abstossung. Die Bewegung soll, wenn sie eine Folge der Anziehung
ist, Abstossung, und wenn sie eine Folge der Abstossung ist, An-
ziehung bewirken. Lässt man in der Formel, welche die Wirkung
zweier elektrischer Massen in Bewegung darstellt,
die Geschwindigkeit wachsen, so wird bei einer bestimmten Grösse
derselben der ganze Ausdruck Null, sodass weder Anziehung noch
Abstossung besteht, und l^ei noch grösserer Geschwindigkeit wird
er negativ, sodass die zwei Elektricitätsmassen , wenn sie in Ruhe
sich anzogen, jetzt Abstossung, und wenn sie in Ruhe sich abstiessen,
jetzt Anziehung auf einander ausüben. Schon diese allgemeine Vor-
stellung über die Wirkung der Bewegung schliesst eigentlich eine
Negation des Princips von der Erhaltung der Kraft in sich.
Sollten demnach, wofür eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht,
die bis jetzt gültigen Principien der Mechanik auch für die Elektricität
6. Elektricität. 749
Gültigkeit haben, und die Wirksamkeit der letzteren bloss auf den
Lagerungsverhältnissen der positiven und negativen Amere in jedem
Zeitmoment abhängen, somit von ihrer Bewegung unabhängig sein,
so wäre es die Aufgabe der Amertheorie, die Configurationen des
Elektricitätsäthers , welche die verschiedenen Wirkungen bedingen,
festzustellen, — eine Aufgabe, die zwar nicht als absolut unmöglich,
aber zur Zeit wenigstens noch als unausführbar erscheint. Es müsste
ferner gezeigt werden, wie die Verschiedenheiten dieser Configurationen
Functionen der Bewegung und Beschleunigung sind, mid wie somit
auf natürlichem Wege Wirkungen erreicht w'erden , welche mit
den in der W^eber'schen Formel ausgedrückten Wirkungen iden-
tisch sind.
Hierzu ist einmal zu bemerken, dass nach der Amertheorie die
elektrischen Th eilchen Amere und als solche nichts einfaches und
beständiges, sondern zusammengesetzte und bis auf einen gewissen
Grad unbeständige Körper sind, die alle 6 Elementarkräfte (Gravi-
tation, Aetherabstossung , positive und negative Isagität, positive
und negative Elektricität) enthalten , und in w^elchen ohne Zweifel
ein Tlieil der Kräfte fortschrittsbeweghch ist und seine Stellung im
Amer in mannigfaltiger W^eise verändern kann. Deshalb muss
angenommen werden, dass die elektrische Wirkung, die ein elektri-
sches Amer nach einer bestimmten Seite hin ausübt, je nach seiner
Orientirung und je nach Beeinflussung seiner fortschrittsbeweglichen
Kräfte durch die Umgebung, sehr ungleich ausfalle; dasselbe gilt
auch für die elektrisch neutralen Paare oder Gruppen von Ameren.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass die beiden gegenläufigen elektri-
schen Ströme je nach Umständen entweder gemeinschaftlich durch
die gleichen, oder getrennt durch ungleiche Reihen des ponderabeln
Aethers verlaufen können und dass die strömende Elektricität im
allgemeinen imr einen kleinen Theil der in der Strombahn befind-
lichen neutralen Elektricität ausmacht. Diese beiden Umstände ge-
statten sehr ungleiche Wirkungen zweier elektrischer Elementar-
strömchen und wohl auch zweier Ströme auf einander, von denen
aber namentlich die letztere sich noch nicht üljcrsehen und beur-
theilen lässt.
750 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
7. Magnetismus.
Nach dem Vorgange Ampere 's nimmt die Physik an, dass die
»Moleküle« eines Magneten widerstandslos und daher endlos von
elektrischen Molecularströmen umkreist werden, deren Ebenen zu
der Magnetachse rechtwinklig stehen, sodass der Magnet eigentlich
nichts anders ist als ein System von gleichgerichteten Molecular-
solenoiden. In dem unmagnetischen Eisen sowie in den übrigen
magnetisirbaren Substanzen sind die Molecularsolenoide nach ver-
schiedenen Seiten gekehrt und geben daher keine Gesammtwirkung.
Die Magnetisirung besteht darin, dass eine grössere oder geringere
Zahl derselben gerichtet wird ; ein elektrischer Strom, der eine Stahl-
nadel umkreist, orientirt, entsprechend der Wirkung, welche Ströme
aufeinander ausüben, die magnetischen Moleküle (Molecularsolenoide)
in der Weise, dass ihre Molecularströme ihm gleichlaufend werden.
In den des Diamagnetismus fähigen Substanzen ist nach der
durch W. Weber herrschend gewordenen Annahme die neutrale
Elektricität um die Moleküle in Ruhe; sie kann aber durch indu-
cirende Ursachen in Rotation versetzt werden. Da jedoch die
Bahnen dieser Ströme nicht drehbar sind, so bleibt ihre Richtung
dem inducirenden Strom entgegengesetzt. Die diamagnetischen Mole-
cularströme verlaufen ebenfalls widerstandslos und dauern daher so
lange, bis sie durch eine entgegengesetzt inducirende Bewegung,
wohin die Entfernung der inducirenden Ursache gehört, wieder auf-
gehoben werden.
Nachdem ich die Theorie des Magnetismus und Diamagnetismus
kurz formulirt habe, will ich nun versuchen, dieselbe mit den im
Vorstehenden entwickelten Vorstellungen in Verbindung zu bringen.
Wenn man bis jetzt von »magnetischen Molekülen« und von die-
selben umkreisenden Molecularströmen gesprochen hat, so hatte man
nicht gerade die aus Atomen zusammengesetzten Moleküle der Chemie,
sondern überhaupt kleinste, weiter nicht bestimmte Theilchen im Auge.
Die Amertheorie zwingt uns zu bestimmten Annahmen, und sie ver-
mag auch die Erscheinungen in genügender Weise zu erklären, wenn
wir als die »magnetischen Moleküle« die Atomkörper in Anspruch
nehmen.
Die Atomkörper sind, wie ich früher zeigte, von einer Hülle
von ponderabelm Aether umgeben, deren Dichtigkeit von innen nach
aussen abnimmt, während die Beweglichkeit ihrer Theilchen in
7. Magnetismus. 751
gleicher Richtung zunimmt. Die Aethertheilchen der Hülle liegen
also in concentrischen Schichten und haben in jeder Schicht miter
sich gleiche Abstände und gleiche Bewegungszustände. Ihre Bewe-
gungen werden durch die Stösse der umgebenden Aethertheilchen
und durch die wirksamen Anziehungs- und Abstossungskräfte ge-
regelt, und sind theils schwingende theils fortschreitende Bewegungen.
Unter den letztern muss es sowohl solche geben, bei denen die Theil-
chen grössere Strecken durchlaufen, als solche, bei denen ein Theilchen
an das nächstliegende anstösst und dasselbe aus seiner Stellung ver-
drängt, worauf dieses das folgende verdrängt u. s. w. Findet die
fortschreitende Bewegung der einen oder andern Art in einer zm'
Oberfläche des Atomkörpers tangentialen Richtung statt, so lässt sich
leicht denken, dass sie unter günstigen Umständen in der nämlichen
concentrischen Schicht von Aethertheilchen rings um das Atom sich
fortsetze.
Solche günstige Umstände sind nun allerdings vorhanden. Wie
ich schon früher angedeutet habe (S. 740), müssen die Atomkörper
der verschiedenen chemischen Elemente, da dieselben einen bestimm-
ten elektrischen Charakter besitzen, einigermaassen vertheilend auf
die neutralen Amergruppen ihrer Aetherhüllen einwirken. Von den
aus der Zerlegung hervorgehenden Ameren werden die mit dem
Atomkörper ungleichnamigen festgehalten, die gleichnamigen ent-
fernt. Es befinden sich also namentlich in den innern Schichten
der AetherhüUe neben den neutralen Amergruppen auch elektrische
Amere. Die fortschreitende Bewegung der Aethertheilchen muss
hier leicht den Charakter von elektrischen Strömchen annehmen,
indem die (unter sich gleichnamigen) elektrischen Amere, wegen der
gegenseitigen Abstossung, sich in der gleichen Richtung bewegen;
und diese Strömchen behalten, da die elektrischen Amere von dem
Atomkörper angezogen werden, ihre tangentiale Richtung und kehren
kreisförmig in sich zurück. Ein elektrisches Amer bewegt sich dem-
nach in analoger Weise mn den Atomkörper wie ein Planet um die
Sonne. Kreisen mehrere oder viele solcher Elementarströmchen
in der nämlichen Richtung um einen Atomkörper, so bilden sie
zusammen einen von der physikahschen Theorie vorausgesetzten
»Molecularstrom« oder richtiger einen Atomalstrom.
In dem magnetisch werdenden Eisen richten sich die »Molecular-
magnete« in übereinstimmender Weise. Dies kann entweder dadurch
752 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
geschehen, dass die »Moleküle« sammt den sie unikreisenden Strömen
ihre Richtung verändern, oder dadurch, dass bei gleichbleibender
Stellung der »Moleküle« die Ströme allein anders orientirt werden.
Wenn nach der entwickelten Ansicht die chemischen Atome selber
die dem Magnetismus zu Grunde liegenden magnetischen »Moleküle«
darstellen, so kann man nicht wohl annehmen, dass dieselben in
einem festen Körper, wie es das Eisen ist, ihre Richtungen soweit
verändern, als es beim Magnetisch werden geschehen müsste. Man
wird eher geneigt sein zu vermuthen, dass
die Stromebene allein sich drehe. Dies könnte
einmal in der Weise erfolgen , dass die
ganze Schale, die aus den in Strömung be-
griffenen concentrischen Schichten der Hülle
besteht , eine Drehung ausführt. Wahr-
scheinlicher aber geschieht es so, dass die
einzelnen Aethertheilchen ihre Bewegungs-
Fig. 30. richtung ändern und dass somit die Elementar-
strömchen nachher durch andere Reihen von
Theilchen verlaufen als vorher, wie in Fig. 30, wo eine Anord-
nung von Aethertheilchen dargestellt und die Strömungsrichtung
g — g in diejenige h — h übergegangen ist.
Im gewöhnlichen Zustande kreisen vielleicht keine eigentlichen
»Molecularströme« um die Atome, sondern nur Elementarströmchen
in geringerer oder grösserer Zahl je nach der chemischen und physi-
kalischen Beschaffenheit der Substanz. Und diese Elementarström-
chen haben dann einen sehr ungleichen Charakter, ungleiche
Geschwindigkeit, ungleiche Richtung und ungleiche Dauer. Gleich-
gerichtete Elementarströmchen in grösserer Zahl, sodass sie zusanmien
einen eigentlichen »Molecularstrom« bilden, entstehen in diesem
Fall erst unter dem Einfluss einer magnetisirenden Ursache durch
Induction. Dieselben haben im jMoment ihres Entstehens eine dem
indueirenden Strom entgegengesetzte Richtung, werden aber, inso-
fern sie beweglich sind, durch denselben alsbald homodrom gerichtet.
Die Wirkung, die eine magnetisirende Ursache auszuüben ver-
mag, hängt ab von der Fähigkeit der Aetherhüllen , »Molecular-
ströme« entstehen, und von der Fähigkeit, dieselben orientiren zu
lassen. Beide Fähigkeiten sind sehr ungleich je nach den ver-
schiedenen Atomen und je nach den verschiedenen Regionen in
7. Magnetismus. 753
der Aetherhülle des nämlichen Atoms. Eine stärkere Ursache ver-
mag »MoleeiilarströmeK zu induciren oder solche durch Drehung
zu Orientiren, wo die schwächere Ursache noch nichts ausrichtet.
Für jedes Atom gibt es eine bestimmte Stellung zu dem Inductions-
strom, in welcher am leichtesten sich ein »Molecularstrom« bildet,
und bestimmte Zonen , innerhalb welcher am leichtesten eine Ver-
schiebung der Stromebene erfolgt. Es wird daher wegen der ver-
schiedenartigen Orientirung der Atome eines Körpers häufig vor-
konunen, dass die einen »Molecularströme« ihre ursprüngliche, dem
inducirenden Strom antidrome Richtung behalten, andere sich ihm
vollständig homodrom stellen, und noch andere in mittleren Stellungen
verharren.
Der magnetische oder diamagnetische Charakter einer Substanz
hängt ab von der Differenz zwischen der Zahl und der Stärke der
homodromen und antidromen /Molecularströme« und von der Resul-
tirenden, die sich aus allen andern »Molecularströmen« ergibt. Das
Eisen zeichnet sich dadurch aus, dass sich in demselben eine grosse
Zahl von »Molecularströmen« bildet, und dass dieselben leicht ge-
richtet werden. Im Wismuth entstehen weniger »Molecularströme«,
und unter ihnen behaupten diejenigen, die ihre antidrome Richtung
behalten , ein grösseres Uebergewicht als in irgend einer andern
Substanz. — Es gibt gewisse Körper, die bei schwacher Induction
magnetisch, bei stärkerer aber diamagnetisch sind; so stellt sich ein
schwach eisenhaltiges Kohlenstäbchen zwischen schwachen Magnet-
polen axial, zwischen starken dagegen äquatorial. Bei schwächerer
Einwirkung entscheiden diejenigen Partien der Aetherhüllen, welche
von den Atomkräften weniger festgehalten werden und somit sich
leichter induciren und orientiren lassen; bei starker Einwirkung
erlangen die festeren Partien des Aethers das Uebergewicht, in
denen unter den obwaltenden Umständen wohl noch »Molecular-
ströme« erzeugt, aber nicht gerichtet werden können. Aus dem
gleichen Grunde nehmen Körper in derjenigen Richtung, in der sie
zusammengepresst werden, in der sie somit dichter sind und wenigen
bewegliche Aetherhüllen haben, stärkere diamagnetische Eigenschaf-
ten an. — Dass an den Aetherhüllen der Atome bestimmte Zonen
bevorzugt sind und sich anders verhalten als die übrigen, zeigt
sich deutlich aus dem Verhalten der Krystalle, indem in einachsigen
Krystallen die Magnetkrystallachse mit der krystallographisclier
V. Nägeli, Abstammungslehre. 48
754 Kräfte und Gestaltungen im molecnlaren Gebiet.
Hauptachse zusammenfällt und sich zwischen den Magnetpolen ent-
weder axial oder äquatorial stellt, und indem ferner in Krystallen
mit zwei optischen Achsen auch zwei feststehende magnetische
Achsen vorhanden sind, die eine bestimmte Lage zu den ersteren
haben.
Die Moleküle der Flüssigkeiten und Gase sind drehbar; man
könnte daher erw-arten, dass sie, wenn auch ihre Molecularströme
nicht drehbar sind, doch durch das Bestreben der letzteren, sich mit
dem inducirenden Strome homodrom zu stellen, gedreht würden und
sich demnach sämmtlich als magnetisch erweisen sollten. Was die
Gase betrifft, so tritt fast constant das Gegentheil ein, indem sich alle
mit Ausnahme des Sauerstoffs, in der Luft diamagnetisch verhalten.
Der Diamagnetismus erklärt sich wohl daraus, dass die Gase wäh-
rend der Beobachtung in doppelter Bewegung begriffen sind. Einmal
strömt die Gasmasse zwischen den Magnetpolen durch, und ferner
hat jedes Gasmolekül die ihm bei der bestimmten Temperatur zu-
kommende fortschreitende und drehende Bewegung. Die Orientirung
des einzelnen Gasmoleküls zu den Magnetpolen ändert sich daher
fortwährend. Die kurze Zeit, während der diese Pole auf eine be-
stimmte Orientirung einwirken, reicht wohl aus, um einen Molecular-
strom ^) zu induciren , welcher sofort abstossend und diamagnetisch
wirkt. Aber ehe dieser Molecularstrom homodrom gerichtet werden
kann, ist das Molekül durch seine drehende Bewegung in eine andere
Orientirung gegenüber den Magnetpolen gekommen und es erfolgt
eine neue Induction und damit wieder Abstossung. Dies gilt für
den Fall, dass die Molecularströme in den Aetherhüllen verschiebbar
sind. Sind sie nicht selber drehbar, so würden sie wohl das Molekül
in die homodrome (magnetische) Stellung bringen , wenn dessen
eigenes Drehungsmoment Null wäre und wenn sie lange genug ein-
wirken könnten. Aber ihre Kraft ist viel zu gering, um während
der kurzen Zeit etwas gegen die vorhandene Drehung des Moleküls
ausrichten zu können.
Die Moleküle der Flüssigkeiten besitzen ebenfalls fortschreitende
und drehende Bewegungen. Da aber diese Bewegungen viel lang-
samer sind als bei den Gasen , so wird auch iln* Einfluss auf das
•) Unter Molecularstrom des Moleküls ist hier die Summe der Ströme seiner
Atome zu verstehen.
8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 755
magnetische Verhalten der Substanzen ein weniger entscheidendes
sein. Das Wasser und viele andere Flüssigkeiten sind diamagnetisch,
ein Beweis, dass ihre Meleküle nicht lange genug in der nämlichen
Orientirung verharren, um zu gestatten, dass die durch Induction
hervorgebrachten antidromen (diamagnetischen) Molecularströme auch
noch in die homodrome (magnetische) Lage gedreht werden, oder
dass sie eine solche Drehung des ganzen Moleküls verursachen
können. Dagegen zeigen sich die Lösungen von Substanzen, die
des Magnetismus fähig sind, namentlich von Eisensalzen, magnetisch,
wenn sie eine bestimmte Concentration überschritten haben. Be-
züglich dieser löslichen Substanzen ist anzunehmen, dass in kurzer
Zeit Molecularströme inducirt und orientirt w^erden, wozu besonders
die Eisenatome geeignet sind.
In den eben gemachten Erörterungen bin ich der Annahme
gefolgt, dass im gewöhnlichen Zustande keine eigentlichen /Molecular-
ströme« um die Atome kreisen, sondern dass dieselben erst dann
in einem Körper entstehen, wenn strömende Elektricität, die sich in
der Nähe befindet, auf ihn einwirkt. Indessen ist es ebensowohl
möglich , dass die genannten Atomalströme in allen Körpern vor-
handen , aber im gewöhnlichen Zustande nach verschiedenen Rich-
tungen orientirt sind, so dass sie keine gemeinsame Wirkung ergeben.
In diesem Falle hat die äussere Ursache bloss die Atomalströme zu
richten, und da die Richtungsfähigkeit in sehr ungleichem Maasse
bei den verschiedenen Atomen vorhanden ist, so tritt bald nur die
erste Wirkung ein, indem sie in die dem inducirenden Strom gegen-
läufige Richtung gedreht werden (Diamagnetismus), bald auch noch
die zweite Wirkung, indem sie nachträglich sich umkehren und
jenem Strom gleichläufig werden (Magnetismus).
8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome.
Da die chemischen Atome keine ausdehnungslosen Kraftpunkte
sondern vielfach zusammengesetzte Körperchen sind, so ergibt sich
die Frage, welche Vorstellung wir uns bezüglich ihrer Grösse und
Zusammensetzung zu machen haben. Die Grösse kann in zweifacher
Hinsicht Gegenstand der Untersuchung sein ; es fragt sich nämlich,
welches Verhältniss zwischen dem Volumen des Atomkörpers und
48*
7o6 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
dem mit Aether gefüllten Raum , der einem Atom in den festen
Körpern zukommt, und ferner, welches Grössenverhältniss zwischen
den Atomkörpern der verschiedenen chemischen Elemente bestehe.
Ich will zuerst auf die letztere Frage eintreten. Man wird von
vornherein geneigt sein, den Atomen der verschiedenen Elemente,
da sie die kleinsten empirisch untheilbaren und mit einander sich
verbindenden Theilchen des ponderabeln Stoffes sind, da sie uns somit
als Dinge von gleicher Bedeutung entgegentreten, auch eine un-
gefähr gleiche Grösse zuzuschreiben. Dem scheint zwar ihr un-
gleiches Gewicht entgegenzustehen, welches bis auf den 2 10 fachen
Betrag des -Gewichtes vom Wasserstoff sich abstuft und wohl als
eine ihrer auffallendsten Eigenthümlichkeiten bezeichnet werden kann.
Dieses ungleiche Atomgewicht veranlasste auch die Vermuthung,
dass der Wasserstoff das Urelement und dass die übrigen Elemente
aus demselben zusammengesetzt seien. Wäre dies richtig und würde
überhaupt das Volumen der Atomkörper vom Gewichte abhängen,
so müsste freilich ihre Grösse sehr verschieden sein. Wir dürfen
aber das Atomgewicht, wenn es sich um moleculare Dinge handelt,
in keiner Weise als maassgebend betrachten ; dasselbe geht mit keiner
physicali sehen oder chemischen Eigenschaft parallel und kann auch
für die Vorstellung von der Grösse der Atome von keiner oder nur
von ganz untergeordneter Bedeutung sein.
Im Sinne der gewöhnlichen Mechanik, welche die Masse nach
dem Gewicht bestimmt, hat allerdings das Quecksilberatom 200 mal
mehr Masse als das Wasserstoffatom. Ich habe aber bereits darauf
hingewiesen, dass in den molecularen Gebieten es nicht auf diese
Masse, sondern auf die Zahl und Grösse der Amere ankommt, was
ich zum Unterschied von der gewöhnlichen Masse als Gehalt be-
zeichnete (S. 737). Es wäre leicht möglich, dass das Wasserstoff-
atom aus einer grössern Zahl von Ameren zusammengesetzt wäre
als das Quecksilberatom, wenn gleiche Grösse der Amere voraus-
gesetzt wird, und dass es demnach ein grösseres Volumen besässe
als letzteres.
Das Atomgewicht gibt uns nur Auskunft über die Differenz
der Anziehung und Abstossung, welche zwischen der Erde und den
Atomen der chemischen Elemente wirksam sind. Das Quecksilber-
atom wird von der Erde mit 200 mal so grosser Kraft angezogen
als das Wasserstoff atom. Hiebei kommt die in beiden Atomen ent-
8. Grösse, Gestalt uml Zusammensetzung der Atome. 757
haltene Elektricität gar nicht in Betracht, da die Erde elektrisch
neutral ist. Ebenso hat der Ueberschuss der einen Isagität über
die andere, wie er in den Atomen des einen und andern Elements
vorhanden ist, keine Bedeutung, da die Erde beide Isagitäten in
ziemlich gleicher Menge enthalten muss. Als wirksam bleiben somit
nur die Gravitationsanziehung und die Aetherabstossung übrig, von
denen sowohl jedes der beiden Atome als die Erde bestimmte Mengen
enthält, wie ich dies in dem Abschnitt über Agglomeration und
Dispersion auseinandergesetzt habe.
Es darf aber nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Schwere
uns stets bloss die Differenz zwischen Anziehung und Abstossung
anzeigt und gar keinen Aufschluss über die Mengen der einzelnen
Kräfte gibt (S. 71 7 ff.). Das Quecksilberatom enthält nicht etwa 200 mal
mehr Gravitationsanziehungseinheiten als das Wasserstoffatom. In
dem letzteren können verhältnissmässig mehr oder weniger davon
vorhanden sein. Wenn Ä die Summe aller Gravitationskräfte der
Erde, JB die Summe ihrer Aetherabstossungskräfte, Ä^ die Summe
der Gravitationskräfte eines bestimmten chemischen Atoms und i'i
die Summe seiner Aetherabstossungskräfte, m die Masse oder das
Gewicht der Erde, m^ die Masse oder das Gewicht eines Atoms be-
deutet, so haben wir die Gleichungen:
AAi — BBi = mnii ,
und wenn wir B = uÄ und B^ = tiiÄ^ setzen,
Ä {Ä^ — nBi) = 7)1 Ml oder ÄÄi{i — ww,) = mtrh.
Diese Gleichungen zeigen uns, wie das verschiedene Atomgewicht
zu Stande kommt. Ä, B und n sind für alle Elemente constante
Gtrössen, dagegen wechseln, wie man nach den fi'üher angegebenen
Gründen annehmen muss, Ä^ und B^ oder, was dasselbe ist, Ai und n^.
Ist Wi (das Verhältniss zwischen Ai und 5,) constant, so steigt das
Atomgewicht mit der Zunahme von A^. Ist Ai constant, so steigt
das Atomgewicht mit der Abnahme von n^, d. h. mit der Abnahme
von Bi.
Das grössere Atomgewicht zeigt also nicht noth wendig einen
grösseren Betrag der Gravitationskräfte an; es kann eben so gut
die Folge einer kleineren Summe von Aetherabstossungskräften sein.
Man kann sich dies leicht durch Beispiele klar machen. Drei
758 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
verschiedene Atome I, II, III haben die Kraftsiimmen Ä^ und B^, A.
und Bi, A-i und B^ und die Atomgewichte nu-, nu und nh. Es sei
nun für die Erde A = 1000000000001 Q, B = 1000000000000 Q,
ferner :
I. A, = 1,001 r/, 5, = 1,000 g, so ist mm, = 1000000001 Qq
IL A = 0,1001 g, B, = 0,1000g, mm, = 1000000001 ^g
III. A, = 1,001 g, B, = 0,991g, mm, = 10000000001 Qq
Es ist also das Atomgewicht von II 10 mal kleiner als dasjenige
Ai A.
von I, weil A, bei gleichem Verhältniss von ~ und ~ 10 mal
-Dl B2
grösser ist als /I2, und das Atomgewicht von A,^ ist 10 mal grösser
als dasjenige von Ai weil bei gleichem Betrag von A, und A,,
Bi kleiner ist als B^,^).
Wenn man auch die Meinung hegen sollte, dass eine grössere
Kraftsumme auf ein grösseres Volumen des Atoms hinweise, so
kann jedenfalls das Atomgewicht keinen Aufschluss darüber geben.
Denn die Schwerkraft, welche das Atomgewicht bedingt, ist ja gegen-
über den Elementarkräften, die an dem Atom haften, winzig klein,
wie uns die Elasticität, die chemische Anziehung und alle molecularen
Erscheinungen beweisen, und wie ich dies in dem Abschnitt über
die Schwerkraft für die elektrische Anziehung (S. 723) und für die
Cohäsion (S. 726) ziifermässig darzuthun suchte. Das Wasserstoff-
atom übt demnach auch bei manchen Vorgängen eine viel grössere
Wirkung aus als das 200 mal schwerere Quecksilberatom.
Sollte eine Beziehung zwischen der Intensität der wirksamen
Kräfte und der Atomgrösse bestehen, so müsste viel eher aus der
Adhäsion und der chemischen Anziehung etwas zu folgern sein,
als aus der Schwere. Aber die Wirkung sagt überhaupt nichts
bestimmtes aus über die Menge der Amere in den Atomen und
somit über das Volumen der letzteren, da ja in einer kleineren Zahl
von Araeren eben so grosse Ueberschüsse der drei Kraftpaare ent-
halten sein können als in einer viel beträchtlicheren Zahl und da
die Kraftwirkung nicht bloss von diesen Ueberschüssen, sondern
^) Diese Beispiele sollen bloss in rechnerisclier Beziehung zeigen, wie sich
die Dominantenkräfte und die Atomgewichte zu einander verhalten können. Der
Einfachheit wegen wurden nicht die Verhältnisse, wie sie in Wirklichkeit be-
stehen müssen, sondern willkürliche und unnatürliche Verhältnisse gewählt.
8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 759
SO weit es sich iiin kleinste Entfernungen liandelt, eben so sehr
von der Vertheihmg der Elementarkräfte im Atom aljhängt. — Für
die Beurtheilung der Grösse der Atome bei den verschiedenen che-
mischen Elementen müssen also andere Gesichtspunkte massgebend
sein und zwar kommt es dabei, wie ich in der Folge zeigen werde,
vorzugsweise auf die ^^orstellung an, welche wir über Gestalt und
Zusammensetzung der Atome gewinnen.
Was ferner die Frage betrifft, wie sich das Volumen des Atom-
körpers zu dem Raum verhalte, den ein Atom mit dem zugehörigen
Aether in einem festen oder flüssigen Körper einnimmt, so ist wohl
schon die Meinung ausgesprochen worden, dass die Atome winzig
klein seien und sich in einem Körper gleichsam wie die Himmels-
körper im Weltenraum befänden. Es gibt verschiedene Gründe,
welche uns die Unhaltbarkeit einer solchen Annahme darthun, und
uns zeigen, dass die Atomkörper einen ganz beträchtlichen Theil
des Raumes einnehmen. Ehe ich auf diese Gründe eintrete, ist es
zweckmässig, zuerst das Grössenverhältniss zwischen Atom und
Molekül festzustellen.
Man könnte, da das Molekül in den flüssigen, besonders aber
in den gasförmigen Substanzen so deutlich in seiner Einheit hervor-
tritt, vielleicht sich vorzustellen geneigt sein, dass die Atome in
seiner Mitte zusammengedrängt seien, sodass in festen Körpern die
Zwischenräume zwischen den Atomen eines Moleküls viel kleiner
wären, als der Abstand zwischen den einander zugekehrten Atomen
zweier benachbarter Moleküle. Dass aber diese beiden Abstände
nicht sehr ungleich sein können, geht mit vollkommener Sicherheit
aus den Thatsachen hervor, dass die Moleküle vieler chemischer
Substanzen sich schwerer trennen lassen als die Atome anderer
Moleküle, und dass selbst in dem nämlichen chemischen Element
die Trennung der Moleküle zuweilen eine fast eben so grosse Kraft
erfordert als die Trennung der Atome. Diese Thatsachen sind ent-
scheidend , weil in dem Zustande der A^ereinigung Gleichgewicht
zwischen den anziehenden und den durch Elasticität abstossenden
Kräften besteht und es daher zur Störung des Gleichgewichtes einer
um so grösseren Kraft bedarf, je kleiner der Abstand ist und weil
760 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
offenbar die Kräfte, welche die Atome eines chemischen Elementes
zu Molekülen verbinden, analoger Natur sind, wie diejenigen, welche
diese Moleküle gegenseitig zusammenhalten. In manchen festen
Körpern sind die Moleküle selbst so wenig hervortretende Gruppen,
dass deren Existenz durch keine Erscheinung sich kund gibt, sondern
bloss aus der Analogie vermuthet und nach verschiedenen Voraus-
setzungen auch verschieden angenommen wird. Man kann daher
ohne merklichen Fehler in der vorliegenden Frage die festen Körper
als unmittelbar aus den Atomen zusammengesetzt ansehen.
Nach Feststellung dieses Umstandes will ich als ersten Grund
für die relativ beträchtliche Grösse der Atomkörper die Festigkeit
anführen. In den festen Körpern sind die Atome nicht gegen
einander verschiebbar, weil sie an bestimmten Stellen durch stärkere
Attraction verbunden sind. Wir müssen uns in dieser Beziehung
das Atom als dynamisch-eckig vorstellen, wenn es auch seinen Dimen-
sionen nach kugelig sein sollte, denn jene stärkeren Attractions-
stellen würden gleichsam dynamische Vorsprünge bilden. Es ist
aber kein Grund vorhanden, warum wir die Gestalt nicht, den wirk-
samen Kräften entsprechend , wirklich als polyedrisch und eckig
betrachten sollten; dadurch werden die Erscheinungen, welche uns
die Festigkeit darbietet, viel verständlicher. — Nun wird noth wendig
die Festigkeit um so geringer, je grösser die Abstände der Atome
sind, da die Anziehung im umgekehrten Verhältniss des Quadrats
der Entfernung wirkt. Wäre der Abstand der Atome sehr beträchtlich,
so müssten die festen Körper sich wie Gase oder Flüssigkeiten ver-
halten; denn die Ungleichheit der Anziehung ihrer verschiedenen
Seiten und Ecken würde selbst bei günstigster Gestalt verschwinden.
Im Stickstoffgas ist nach der mechanischen Gastheorie der durch-
schnittliche Abstand der Moleküle nur etwas mehr wie 14 mal so
gross als der Moleküldurchmesser und nur etwas mehr wie 7 mal
so gross als der Durchmesser der Cl au sius'schen Wirkungssphäre,
welche als eine Hülle betrachtet wird, in welche ein anderes Molekül
nicht einzudringen vermag. Ferner wird eine Gasmasse, die sich
unter dem Druck einer Atmosphäre befindet, durch den Druck einer
zweiten Atmosphäre auf die Hälfte des Volmiiens zusammengepresst,
während eine Wassermasse durch den nämlichen Druck ihr Volumen
bloss um 48 Millionstel vermindert, und feste Körper im allgemeinen
noch weniger zusammendrückbar sind. Daraus ergibt sich un-
8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 761
zweifelhaft, dass in festen und flüssigen Substanzen der Durch-
messer der Atomkörper jedenfalls einen sehr beträchtlichen Theil
des Durchmessers der Atomvolumen ausmacht.
Ein zweiter Grund für die Annahme einer relativ beträchtlichen
Grösse der Atomkörper in festen und flüssigen Substanzen ergibt
sich aus der Fortpflanzung der Wärme und des Lichtes. Wären
die Atome weit von einander entfernt, so müssten alle Substanzen
diatherman und durchsichtig sein, weil sie dann die Aetherwellen
ungehindert durchgehen liessen. Das Vorhandensein von dunkeln
und adiathermanen Substanzen beweist uns, dass die Atomkörper
mit ihren Aetherhüllen einen sehr grossen Theil des Raumes erfüllen
und somit den Licht- und Wärmestrahlen leicht den AVeg versperren.
Einen dritten Grund finden wir in der Leitung der Elektricität.
Wenn die Theorie, die ich in dieser Beziehung ausgesprochen habe,
richtig ist, so müssen in den guten Leitern die Aetherhüllen der
Atome in unmittelbarer Verbindung sein, also sich stellenweise be-
rühren. Dies ist nur bei einer relativ beträchtlichen Grösse der
Atomkörper möglich.
Der vierte und nicht geringste Grund besteht endlich in den
besonderen Erscheinungen der chemischen Anziehung, worüber ich
auf den folgenden Abschnitt verweise.
Wenn mr alle Umstände berücksichtigen, so dürfte für den
Standpunkt der Amertheorie folgen, dass die Atomkörper in festen
und flüssigen Substanzen bei der Mehrzahl der Elemente -^ bis :j-^
o Ib
des Raumes einnehmen und dass ihre Durchmesser sich zum Ab-
stände ihrer Mittelpunkte im Mittel wie 1 : 2 bis 1 : 2,5 verhalten,
dass also die durchschnittlichen Entfernungen der Oberflächen der
Atomkörper (oder die Zwischenräume zwischen denselben) eben so
gross bis 1 V2 mal so gross sind als ihre Durchmesser. Bei einzelnen
Elementen bleibt die Grösse des Atomkörpers offenbar hinter diesen
Verhältnissen zurück, so bei Kalium und Rubidium, oder geht über
dieselben hinaus, so besonders bei Kohlenstoff, Bor, Aluminium.
Bezüglich der Zusammensetzung der Atome geht die
Amertheorie von der Annahme aus, dass die Atomkörper aus einer
762 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
ungeheuren Anzahl , vielleicht aus Billionen von Ameren bestehen.
Ueber die Art und Weise des Aufbaues aus diesen Bausteinen gibt
uns weder Theorie noch Erfahrung Aufschluss. Bloss bezüglich der
nächsten Bestandtheile , also bezüglich des allerletzten Zusammen-
setzungsactes finden wir in der verschiedenen Werthigkeit der Elemente
einigen Anhalt. Wir können mit Gewissheit annehmen, dass die
chemischen Kräfte, durch die sich die Affinitäten oder Verwandtschafts-
einheiten äussern, an bestimmte gesonderte Partien der Atomsubstanz
gebunden sind; und da ein mehrwerthiges Atom oft vollkommen
die Bedeutung von mehreren einwerthigen Atomen hat, so ist es
im höchsten Grade wahrscheinlich, dass die melirwerthigen Atome
zunächst aus eben so viel Theilen bestehen, als sie Affinitäten be-
sitzen , und dass sie gleichsam Verwachsungen von einwerthigen
Atomen sind.
Diese Annahme wird von der Wirkungsweise der mehrwerthigen
Atome mit gebieterischer Nothwendigkeit gefordert. Denn andern
Falles müsste jedes mehrwerthige Atom auch als einwerthiges auf-
treten können und als solches eine um so grössere chemische Ver-
wandtschaft besitzen. Würde beispielsweise das öwerthige Stickstoff-
atom nicht aus 5 Partien, jede mit der Kraft eines einwerthigen
Atoms , bestehen , wäre es ein ungegliedertes Ganzes mit einer be-
stimmten Menge chemischer Kraft, so müsste dasselbe, wie es 5 fremde
Verwandtschaftseinheiten aber jede nur schwach anzieht, ein ein-
werthiges Atom mit der 5 fachen Kraft festhalten. Dies ergibt sich
aus dem Sättigungsvermögen der chemischen Affinitäten, dessen Er-
klärung ich im nächsten Abschnitt versuchen werde.
Nun wird zwar behauptet, dass es sich beispielsweise mit einem
4 werthigen Atom verhalten könnte wie mit einem Magneten , der
4 Pfund zu tragen vermag , und dem wir ebenfalls nicht 4 Einzel-
kräfte zuschreiben dürfen. Doch ist dieser Vergleich nicht zutreffend.
Wenn man einen solchen Magneten mit dem Gewicht von 1 Pfund
belastet, so hält er es mit 4 mal so grosser Kraft fest als ein Magnet,
der nur 1 Pfund zu tragen vermag. Dies lässt sich für das mehr-
werthige Atom entschieden nicht behaupten, wie alle chemischen
Erscheinungen und auch die Bildungswärmen zeigen. Das 4werthige
Kohlen Stoff atom zieht das Sauerstoff atom im Kohlenoxyd nicht mit
der nämlichen Kraft, sondern nur mit etwas mehr als der Hälfte
der Kraft an, mit welcher es die zwei Sauerstoffatome in der Kohlen-
8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 763
säure anzieht. Für ein 4 werthiges Atom trifft somit nur der andere
Vergleich zu, dass es sich nämhch wie eine Combination von zwei
gekreuzten Magneten verhalte , deren 4 Pole je 1 Pfund und nicht
mehr tragen. Die Affinitäten wirken nicht summirt als Einheit,
sondern bloss in ihrer Getrenntheit, und deswegen müssen auch
ihre Kräfte räumlich geschieden , also auf besondere Partien des
Atoms vertheilt sein. Wir können uns daher die Frage stellen,
welche Lagerung diese Theile, die ich, um eine Bezeichnung zu
haben, Part icelle nennen will, zeigen, ein Umstand, der in engster
Beziehung zur Gestalt der Atomkörper steht.
Halten wir uns zunächst an die geometrischen Möglichkeiten,
so gibt es für die mehrwerthigen Atome drei Arten, wie die Particelle
angeordnet sein können. Die letzteren liegen nämlich entweder in
einer Linie hinter einander, oder in einer Ebene neben einander, oder
körperlich neben und hinter einander. Im ersten Fall sind die mehr-
werthigen Atome gegliederte Stäbchen, jedes Glied einer Affinität ent-
sprechend. Im zweiten Fall sind sie Täfelchen, an denen die Ecken
die Affinitäten darstellen. Im dritten Fall sind die Atome polyedrisch
und den Affinitäten entsprechen ebenfalls die Ecken der Polyeder.
Lieber die Lagerungs Verhältnisse der Particelle vermögen uns
einige Erwägungen, die sich an die Constitution der A^erbindungen
knüpfen, Fingerzeige zu geben. Die Particelle der Atome, als Träger
der chemischen Anziehung, wirken im umgekehrten Verhältniss des
Quadrats der Entfernung auf einander. Um sich mit einander zu
verbinden und sich vollkommen zu sättigen , müssen sie sich un-
gehindert nähern können. Ist die ausreichende Annäherung in Folge
der besonderen Anordnung der Particelle nicht ausführbar, so mangelt
auch die Möglichkeit der Sättigung. Dieser Umstand macht sich
um so fühlbarer, da die Affinitäten nicht etwa als Centralkräfte der
Particelle wirken, sondern vielmehr in der Nähe der Oberfläche
ihren Sitz haben ^).
Denken wir uns beispielsweise, dass an einem 4 werthigen Atom
3 Particelle der ausgesprochenen Forderung genügen und dass sie
von den Particellen derjenigen Atome, mit denen sie sich verbinden,
um den Abstand d getrennt seien, dass aber das 4. Particell, in Folge
des supponirten Baues des Atoms, sich seinem Gegenüber in dem
') Vgl. den folgenden Abschnitt über die chemische Verwandtschaft.
764 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet.
Molekül bloss bis aiif den Abstand 2d nähern könnte, so wäre der
Coefficient für die Anziehung der drei ersten Particelle -^, für das
vierte -r^, . Während also iene ihre volle chemische Verwandtschaft
geltend machen könnten, so vermöchte dieses nur den 4. Theil der
vollen Verwandtschaft zu erfüllen. Geht nun aus den verschiedenen
Erscheinungen, aus der Festigkeit der Verbindungen und aus den
Bildungswärmen hervor, dass an dem genannten Atom alle 4 Werthig-
keiten gleich gesättigt sind, so ist dies ein Beweis, dass der supponirte
Bau desselben unmöglich der richtige sein kann, und dass ein solcher
aufgesucht werden muss, der die Annäherung aller Particelle gestattet.
Die Anwendung dieser Regel setzt eine genaue Kenntniss von
der Constitution der chemischen Verbindungen, d. h. des Baues der
Moleküle , und von den Kräften , welche je zwei Particelle mit ein-
ander verbinden, voraus. Schreiben wir den Atomen eine stäbchen-
förmige Gestalt mit linearer Anordnung der Particelle zu, so lassen
sich aus denselben leicht die Moleküle aller Verbindungen herstellen.
Dies ist auch noch möglich, wenn die Particelle in einer Ebene
liegen und tafelförmige Atome bilden. Dagegen bietet eine poly-
edrische Gestalt der Atome mit körperlicher Anordnung der Particelle
bezüglich der Constitution der Moleküle manche Schwierigkeiten dar.
Wäre beispielsweise ein 4werthiges Metallatom (J/) tetraedrisch ge-
baut, so würden die Sauerstoffverbindungen M.Oj, M^^Ot, 31,0, zwar
Moleküle von nicht unmöglicher, aber doch von wenig natürlicher
Construction geben. — Um mich aber nur an das Einfachste, an
die Moleküle der chemischen Elemente im gasförmigen Zustand zu
halten, so bestehen dieselben mit w'enigen Ausnahmen aus je 2 Atomen.
Sind ihre Werthigkeiten gesättigt, so können ihre Atome nur stäb-
chenförmig oder tafelförmig gebaut sein. Hätte beispielsweise ein
4werthiges Atom eine tetraedrische Gestalt, so müsste bei der Ver-
einigung von 2 Atomen zu einem Molekül an jedem Atom wenigstens
eine Werthigkeit frei bleiben. Betrachtet man aber solche Moleküle
als ungesättigte Verbindungen oder zählt man sie zu den Beispielen
der wechselnden Valenz, so gehören sie zu den Kategorien, die ich
sofort besprechen will.
Eine zweite Erwägung betrifft die ungesättigten Verbindungen,
bezüglich derer man annimmt, dass ein Theil der Werthigkeiten
8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 765
unter gewissen Umständen frei bleibe, indess dieselben unter andern
Bedingungen sich sättigen. Diese Annahme, wenn sie buchstäblich
genommen wird, ist aber in \4elen Fällen nicht statthaft, da kein
Grund das Freibleiben erklären könnte. Viel wahrscheinlicher ist
es mir, dass in den nicht gesättigten Verbindungen stets alle Particelle
in Anspruch genommen sind, dass aber 2 oder mehrere gemein-
schaftlich die Bindung einer gegenüberstehenden Valenz übernehmen.
Dies entspricht auch den Forderungen der Mechanik, nach welchen
die Kräfte eines Particells in ihrer Wirkung sich nicht auf ein
einziges ihnen opponirtes Particell beschränken können, sondern
auch auf die benachbarten Particelle nach Maassgabe der Entfer-
nung sich erstrecken müssen.
Es gibt unter den Metalloiden und Metallen manche 4werthige
Elemente, welche durch ein Atom Sauerstoff halb und durch 2 Atome
ganz gesättigt werden. Wären diese Elemente, wie auch wohl an-
genommen wurde, tetraedrisch gebaut, so müssten bei der Verbindung
mit einem einzigen 2werthigen Atom zwei oder wenigstens eine
Werthigkeit in Wirklichkeit frei bleiben, und es wäre nicht ein-
zusehen, warum diese freien Particelle sich nicht ebenfalls verbinden
sollten. Sind aber die 4 Particelle der 4 werthigen Elemente wie die
Ecken eines Quadrats zusammengeordnet (Fig. 31b), so können alle
vier sich mit einem aus zwei Particellen bestehenden Atom ver-
binden (Fig. 31 c, d). Die Verbindung MO ist aber eine unvollständige,
d. h. mit unvollkommen gesättigten Werthigkeiten und sie wird unter
günstigen Umständen durch die vollkommen gesättigte iüOo ver-
drängt. Es sind daher die »freien Werthigkeiten ,< nicht im wirk-
lichen, sondern nur in bildlichem Sinne zu verstehen.
Eine dritte Erwägung betrifft die wechselnden Valenzen. Es
kommt nämlich, wie bekannt, sehr häufig vor, dass das Atom eines
chemischen Elements in verschiedenen Verbindungen eine ungleiche
Zahl von Werthigkeiten anderer Atome sättigt. Ich erinnere nur
daran, dass Chlor, Brom und Jod in den meisten Verbindungen
1 werthig, mit Sauerstoff aber 3, 5 und 7 werthig sind, dass Schwefel
meist 2 werthig, gegenüber Sauerstoff 6 werthig, dass Stickstoff gegen
Wasserstoff 3- und gegen Sauerstoff 5 werthig ist. Man kann in
diesen Fällen nicht von ungesättigten Verbindungen und freien
Werthigkeiten sprechen, weil Chlor niemals mehr als 1 (einwerthiges)
766 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Atom Kalium, Schwefel nicht mehr als 2 und Stickstoff nicht mehr
als 3 (einwerthige) Wasserstoi^atome zu binden vermögen.
Trotz dieser Verschiedenheit zwischen dem Begriff der wech-
selnden Valenz und dem der ungesättigten Verbindung ist die erstere
doch in gleicherweise zu erklären wie die letztere, nämlich dadurch,
dass 2 oder mehrere Werthigkeiten eines Atoms sich mit 1 Werthigkeit
eines andern Atoms verbinden, und dadurch unfähig werden, andere
Werthigkeiten anzuziehen. Wären die mehreren Werthigkeiten nicht
in solcher Weise in Anspruch genommen , wären sie wirklich frei,
so bliebe es ja ganz unbegreiflich, warum sie nicht anderweitige Ver-
bindungen eingehen könnten. Dieser Gesichtspunkt muss, wie ich
es schon bezüglich der ungesättigten Verbindungen angedeutet habe,
auf die Vorstellung von der Lagerung der Particelle einen ent-
scheidenden Einfluss ausüben.
Wir dürfen beispielsweise dem Chlor-, Brom- und Jodatom
weder eine linienförmige noch eine körperliche Zusammenordnung
der Particelle zuschreiben. Wäre das Chloratom stäbchenförmig mit
7 in einer geraden Reihe liegenden Particellen, so könnte ein Wasser-
stoffatom, das sich mit dem mittelsten Particell verbände, unmöglich
die an den Enden des Stäbchens befindlichen Particelle auch nur
einigermaassen sättigen, und man würde nicht einsehen, warum nicht
auch Wasserstoffatome sich wenigstens mit diesen Endparticellen
verbinden könnten, so dass sich statt des Moleküls CIH, ein Molekül
CIH3 bildete. Lägen aber die 7 Particelle körperlich beisammen,
so dass sie etwa die Stellung von 7 einigermaassen gleichmässig
über die Oberfläche einer Kugel vertheilten Punkten hätten, so könnte
ein Wasserstoffatom bloss die auf der einen Seite des polyedrischen
Chloratoms liegenden Particelle bis auf einen gewissen Punkt sättigen,
und es müsste wenigstens noch ein zweites Wasserstoffatom auf der
entgegengesetzten Seite des Polyeders eine Verbindung eingehen
können, so dass das Molekül CIH2 entstände. Sind dagegen die
7 Particelle in einen einfachen Kreis uni den Mittelpunkt des tafel-
förmigen Atoms gelagert (Fig. 31jj), so kann ein zutretendes Wasser-
stoffatom sich allen gleichmässig annähern und sich mit allen ver-
binden (Fig. 31 7), so dass das Chloratom keinem zweiten Wasserstoff-
atom zugänglich ist.
Für den 2- und 6 werthigen Schwefel gilt eine ganz analoge
Schlussfolgerung. Die 6 Particelle können weder linienförmig zu
8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 767
einem Stäbchen, noch körperhch zu einem Octaeder zusammengestellt
sein; in dem einen und andern Falle Hessen sie sich nicht durch
ein 2werthiges Atom (wie z. ß. im Baryumsulfid) sättigen. Die
Wahrscheinlichkeit spricht auch hier dafür, dass die 6 Particelle in
einer Ebene und zwar in 2 Gruppen von je 3 einander gegenüber
liegen (Fig. 3 1 e). Jede dieser Gruppen kann durch ein 1 werthiges
Atom (Fig. 31//) und beide zusammen durch die 2 Particelle eines
2werthigen Atoms [Fig. 31 f\g) so weit gesättigt werden, um eine
weitere Verbindung unmöglich zu machen.
Ist nun , wie ich gezeigt habe , die flächenförmige Anordnung
der Particelle in manchen Fällen eine nothwendige Hj-pothese,
so dürfte sie wohl für alle mehrwerthigen Atome anzunehmen sein,
da wahrscheinhcherweise die chemischen Elemente alle nach der
gleichen Regel gebildet sind. Dann ordnen sich die mehrwerthigen
Atome bezüglich ihres Baues in zwei Reihen, von denen die eine
eine gerade Zahl von Particellen und einen Wechsel zwischen ge-
raden Valenzen, die andere eine ungerade Zahl von Particellen und
vorzugsweise einen Wechsel zwischen ungeraden Valenzen aufweist.
Die Particelle eines Atoms sind übrigens sehr häufig ungleich aus-
gebildet (wenn die äussere Form den wirksamen Kräften entsprechend
angenommen wird). Dadurch erklärt sich, dass das nämliche Atom
3-, 5- und 7 werthig auftritt und dass die Werthigkeiten, auch wenn
sie sich alle verbinden , eine ungleiche Bedeutung haben , indem
beispielsweise die Schwefelsäure 2 basisch, die Salpetersäure 1 basisch,
die Phosphorsäure 3 basisch ist.
In Fig. 31 sind die wichtigsten Beispiele für den Bau der Atome,
wie er nach der entwickelten Hj'pothese wahrscheinlich ist, dargestellt.
a ein 2 werthiges (aus 2 Particellen bestehendes) Atom , beispiels-
weise ein Sauerstoffatom ; die Werthigkeiten sind mit 0,0 bezeichnet,
und diese Bezeichnung tragen auch die Sauerstoffatome in allen
übrigen Figuren , welche Sauerstoffverbindungen darstellen, b ein
4 werthiges Atom, c ein Molekül von der Zusammensetzung MO,
wenn M 4 werthig ist, von vorn gesehen (das Sauerstoffatom ist dem
Beobachter zugekehrt), d das nämliche Molekül, von der Seite ge-
sehen; die pmiktirten Linien zeigen hier, wie in allen folgenden
Figuren, die Bindungen an. e ein 6 werthiges Atom (z. B. ein Scliwefel-
atom) mit 2 ausgezeichneten Particellen, welche durch -|- -\- bezeichnet
sind, f ein Molekül Baryumsulfid (BaS), von vorn gesehen (das
768
Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Baryumatom, mit AA bezeichnet, ist dem Beobachter zugekehrt).
g das nämhche Molekül, von der Seite gesehen, h ein Molekül
Schwefelwasserstoff (H,S). i ein Molekül Schwefelsäure (SOiH.), die
Hydroxyl- tragenden Particelle sind mit -\--\- bezeichnet, k ein
öwerthiges Atom mit einer ausgezeichneten Werthigkeit (-]-), bei-
spielsweise ein Stickstoff atom. l ein öwerthiges Atom mit 3 ausgezeich-
neten Werthigkeiten (-|- + +)) beispielsweise ein Phosphoratom, m ein
Molekül Ammoniak (NH^). n ein Molekül Salpetersäure ; das Hydroxyl-
tragende Particell ist mit -(- bezeichnet, o ein Molekül Phosphor-
säure, + ++ die Hydroxyl-tragenden Particelle. p ein Twerthiges
8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 769
Atom mit ziemlich gleichen Particellen, welches meistens als ein-
werthig functionirt, beispielsweise ein Chloratom, q ein Molekül
Chlorkalimn (CIK); das Kaliumatom ist dem Beobachter zugekehrt.
r ein Twerthiges Atom mit einer ausgezeichneten Werthigkeit (-|-);
es ist dies eine andere Vorstellung, die man sich von dem Chloratom
machen kann, und wobei sich das Kaliumatom in gleicher Weise
auf die 7 Particelle legen würde wie in q. s ein Twerthiges Atom
mit 3 ausgezeichneten Werthigkeiten (-(- -f- -\-). t ein Molekül Chlor-
säure , wenn das Chloratom nach dem Typus r gebaut ist ; -\- das
Hydroxyl-tragende Particell. — Zu diesen bildlichen Darstellungen
ist zu bemerken, dass sie, schematisch gehalten, nur den Bau des
Atoms und die Verbindungen zwischen den Werthigkeiten andeuten,
aber weder über die relativen Entfernungen der Atome noch über
die relative Lage derselben Aufschluss geben sollen.
Die vorstehenden Ausführungen werden genügen , um deutlich
zu machen, wde ich mir den Bau der Atome denke, und zugleich
den Beweis liefern, dass dieser Bau den Anfordermigen der Con-
stitutionschemie vollkommen entspricht. Sie waren aber nothwendig,
um für die Hypothese der chemischen Wirkung, wie sie sich nach
der Amertheorie gestaltet, eine feste Unterlage zu gewinnen.
Die gewonnenen Vorstellungen über Bau und Gestalt der Atom-
körper geben mü* Veranlassung, auf die Frage zurückzukommen,
wie sich die Grösse derselben bei verschiedenen Elementen zu ein-
ander verhalte. Man kennt zwar das Atomvolumen der meisten
Elemente, d. h. den Raum, welchen der Atomkörper sammt dem um-
gebenden ponderabeln Aether in festen und flüssigen Körpern ein-
nimmt. Aus diesem Atomvolumen lässt sich aber kein sicherer
Schluss auf den Atomkörper machen. Dasselbe ist die Sunmie aus
den Volumen des Atomkörpers, der Aetherhülle und des zugehörigen
Zwischenraums zwischen den Hüllen. Die Aetherhüllen haben nun
bei den verschiedenen Elementen eine ungleiche Mächtigkeit, da
dieselbe von der Natur und Vertheilung der anziehenden und ab-
stossenden Kräfte im Atomkörper abhängt. Die Grösse des Zwischen-
raumes zAdschen den Aetherhüllen aber wird mitbedingt durch die
Schwingungsweite der Atomkörper und letztere bei gleicher Beschaffen-
heit des äusseren Aethers durch die Kraftbegabung der Atomkörper.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 49
770 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Wenn daher, um extreme Beispiele anzuführen, Kahum ein
Atomvolumen von 45,5 und Rubidium von 56,3 haben, dagegen
Kohlenstoff (im Diamant) ein solches von 3,4, Aluminium von 5,
Nickel von 6,6, so darf man deswegen noch nicht folgern, dass die
Atomkörper der beiden ersteren Elemente diejenigen der drei letz-
teren merklich an Grösse übertreffen. Dagegen wird die Mächtigkeit
der Aetherhüllen und die Schwingungsweite bei den ersteren viel
beträchtlicher sein als bei den letzteren.
Bezüglich der Vorstellungen über die Grösse der Atomkörper
bei den verschiedenen chemischen Elementen müssen wir, da uns
andere entscheidende Gründe im Stiche lassen, jedenfalls ein Haupt-
gewicht auf Bau und Gestalt in Vergleichung mit der Wirkungsweise
legen. Die Grösse ist so zu bemessen, dass sie die hinreichende An-
näherung der sich verbindenden Particelle gestattet, besonders dann,
wenn sich sehr feste Verbindungen bilden. Man hätte die Ver-
muthung hegen können, dass die Particelle mehrwerthiger Atome,
da dieselben im Grunde verwachsene einwerthige Atome darstellen,
als die richtigen chemischen Einheiten auch von gleicher Grösse
seien. Allein dem widersprechen die wechselnde Valenz und die
chemische Sättigung mehrerer Particelle durch ein einziges. Wir
kommen vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände zu der
Ueberzeugung , dass die Grösse der Atomkörper bei den verschie-
denen chemischen Elementen einen mittleren Werth einhalten muss
zwischen der Gleichheit der Atome und der Gleichheit der Particelle,
dass also ein 1 werthiger Atomkörper grösser ist als das Particell
eines mehrwerthigen, und dass im allgemeinen der Atomkörper mit
der Zunahme der Particellzahl an Grösse zunimmt. Doch muss
letztere Regel jedenfalls Ausnahmen zulassen. Es ist also ein
2 werthiger Atomkörper grösser als ein 1 werthiger, dagegen kleiner
als zwei 1 werthige zusammen. Aber ein 7 werthiger Atomkörper,
welcher auch 1-, 3- und öwerthig functionirt, dürfte nur wenig
grösser sein als ein 4 werthiger, der stets seine vier Werthigkeiten
geltend macht.
Mit Rücksicht auf die Zusammensetzung der mehrwerthigen
Atome drängt sich noch die Frage auf, in welcher Art die Particelle
mit einander zusammenhängen, ob sie durch Zwischenräume ge-
trennt, ob und in welchem Grade sie gegen einander beweglich
seien. Hierüber gibt uns die specifische Wärme einigen Aufschluss.
9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 77l
Bekanntlich verbraucht ein Atom der verschiedenen chemischen
Elemente, wenn die Temperatur um einen Grad steigt, eine gleiche
Wärmemenge, welche sich in Bewegung umsetzt. In den Molekülen
ferner wird ein um so grösserer Theil der Molecularwärme für innere
Arbeit (Disgregation) verwendet, je grösser die Zahl ihrer Atome ist.
Wäre nun die Vereinigung der Particelle zu mehrwerthigen Atomen
ähnlicher Art, wie die Vereinigung der Atome zu Molekülen, so
müsste die Atomwärme um so grösser sein, aus je mehr Particellen
ein Atom besteht. Da dies nicht der Fall ist, so folgt unzweifelhaft,
dass die Wärme keinen Einfluss auf die gegenseitige Lage der
Particelle ausübt und dass auch ein mehrwerthiges Atom nicht durch
irgend welche Temperatur zersetzt werden könnte.
Es folgt daraus aber nicht, dass die Particelle eines Atoms sich
unmittelbar berühren, noch auch, dass die kleineren Theile eines Atoms
der Bewegung ermangeln. Es ist aus verschiedenen Gründen wahr-
scheinlich und wird namentlich auch durch die Theorie der chemi-
schen Verwandtschaft gefordert, dass die Amere und Amergruppen,
aus denen die Atome zusammengesetzt sind, sich bewegen. Ihre
Bewegungen müssen schwingende, drehende und fortschreitende sein ;
ein Theil der Amere und Amergruppen wird also innerhalb des
Atomkörpers wandern und seinen Platz wechseln können. Aber diese
Bewegungen werden nicht durch die Wärmeschwingungen des Aethers,
welche nur auf den ganzen Atomkörper mrken, beeinflusst, sind
also auch durch die W^ärme weder nachweisbar noch messbar. Da-
gegen werden dieselben durch die Einzelstösse der Aethertheilchen
(S. 731) erregt, indem die lebendigen Kräfte der Amere und Amer-
gruppen ausserhalb und im Innern eines Atoms sich gegenseitig auf
einander übertragen und sich stetsfort ins Gleichgewicht setzen.
Grösser als im Atomkörper ist die Beweglichkeit der Theilchen in
der Aetherhülle. Was die Verbindung der Particelle betrifft, so ist
es mir wahrscheinlich, dass ein Zwischenraum zwischen denselben
vorhanden und dass dieser Zwischenramn mit ponderabelm Aether
von der gleichen Beschaffenheit wie im innersten Theil der Aether-
hülle erfüllt sei.
9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome.
Wenn wir uns eine Vorstellung über die Entstehung der
chemischen Atome bilden wollen , so mangeln uns dafür die wich-
49*
772 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
tigsten Anhaltspunkte , nämlich einerseits eine Einsicht in die bei
der Agglomeration der Amere wirkenden Ursachen, und andrerseits
eine genauere Kenntniss des Productes. Bezüglich des letzteren
Punktes wissen wir, abgesehen von der Zusammensetzung aus Parti-
cellen, nicht, ob die Substanz der Atome homogen oder ob sie in
irgend einer bestimmten Weise gegliedert ist , in der Art , dass die
Amere erst zu kleineren Systemen zusammentraten, aus deren Ver-
einigung dann das Particell sich aufbaute. Es lassen sich daher
von Seite der Amertheorie nur, soweit die Erfahrung genügende An-
deutungen gibt, einigermaassen sichere Hypothesen aufstellen.
Wie ich früher ausgeführt habe, ballen sich die ponderabeln
Amere in Folge der Anziehung, die sie in der ursprünglichen Zer-
streuung auf einander ausüben, zusammen. Wegen der Elasticität,
die wir ihnen zuschreiben müssen , legen sie sich dabei nicht un-
mittelbar an einander an; sondern führen innerhalb der Systeme,
zu denen sie zusammentreten, theils schwingende und drehende,
theils kreisende und überhaupt fortschrittliche Bewegungen aus. Je
grösser eine Gruppe wird, um so langsamer muss ihre Gesammt-
bew^egung sein. Die lebendigen Kräfte , welche die einzelnen
Amere in der Zerstreuung besassen, sind zum kleinern Theil in die
lebendige Kraft der ganzen Gruppe, zum grossem Theil in die
lebendigen Kräfte der internen Bewegungen übergegangen. Das
Wachsthum der Gruppen geschieht ohne Zweifel sowohl dadurch,
dass sie sich mit einander vereinigen, als dadurch, dass einzelne
Amere in dieselben eintreten.
Soweit entspricht die Entstehungsgeschichte der Atome den
mechanischen Folgerungen aus den von der Amertheorie gegebenen
Prämissen. Für alle ferneren und ins Einzelne gehenden Vor-
stellungen besteht nur grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit,
die sich vorzüglich aus den Erfahrungsthatsachen ergibt. Sowie
die Amergruppen anwachsen und sich langsamer bewegen, wird
sich um dieselben nach und nach die ponderable Aetherhülle anlegen,
deren Amere mit schwächeren Attractionskräften begabt und daher
beweglicher sind als die Amere der Gruppen selber. Bei der Ver-
schmelzung von Amergruppen wird diese beginnende Aetherhülle
wieder verdrängt. Hat sie aber um die grossen und langsam sich
bewegenden Gruppen eine gewisse Mächtigkeit erlangt, so gestattet
sie wohl noch die feste Vereinigung derselben, ohne aber selber
9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome.
773
ganz verdrängt zu werden. Solche Gruppen stellen "nun die Parti-
celle eines Atoms dar. Ist die Aetherhülle noch mächtiger geworden,
so hat die Gruppe die Eigenschaft des Atoms erlangt; sie kann
nicht mehr mit andern Gruppen fest verw^achsen, sondern nur noch
lockere und löshare Vereinigungen mit andern Atomen bilden , wie
wir sie als Moleküle kennen.
Es ist fast unzweifelhaft, dass die Atome der verschiedenen chemi-
schen Elemente nicht gleichzeitig und auch nicht an dem nämlichen
Ort entstanden sind , und dass sie ihre ungleichen Eigenschaften
der nach Zeit und Ort ungleichen Beschaffenheit der anfänglichen
gasartig zerstreuten Substanz verdanken. Diese Beschaffenheit hängt
aber von den Mengenverhältnissen der dynamisch ungleichen Amere
ab. Vielleicht lässt sich nun annehmen, dass je ein bestimmtes
A'olumen von dem atombildenden Himmelsraum, dessen Grösse von
der Bewegung und der Anzielmng der Amere bestimmt wurde, das
Material für ein Atom lieferte und dass dadurch die in jeder Be-
ziehung gleiche Beschaffenheit und Grösse der Atome eines Ele-
mentes sich erklärt.
Die chemischen Elemente sind familienweise näher mit einander
verwandt, wobei sich gewisse abgestufte Eigenschaften in den ver-
schiedenen Familien wiederholen, was zur Aufstellung des periodischen
Systems Veranlassung gegeben hat. Diejenige der wechselnden Eigen-
schaften, die am meisten hervortritt, ist das Atomgewicht. Ich er-
innere an die Elemente folgender fünf Familien mit den beigesetzten
Atomgewichten.
Caesium
Rubidium
Kalium .
Natrium
Lithium
133
85,4
39,1
23
II
Barvum . .
. 137
Strontium
. 87,5
Calcium . .
40 !
Magnesium .
24
Beryllium . .
14
in
Wismuth
Antimon
Arsen
Phosphor
Stickstoff
210
122
75
31
14
lY
Tellur 129
Selen 79,5
Schwefel .... 32
Sauerstoff ... 16
Jod 127
Brom 80
Chlor 35,5
Fluor 19
Zur Erklärung des wechselnden Atomgewichts in jeder Familie
möchte ich es für sehr wahrscheinlich halten, dass die einer Familie an-
gehörenden Elemente sich in dem nämlichen Himmelsraum, aber
774 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
nach einander in verschiedenen Zeitperioden gebildet haben.
Und zwar sind nach meiner Ansicht je die Elemente mit dem
höheren Atomgewicht zuerst entstanden, weil die Amere mit grösserer
Gravitationsanziehung immer das lebhafteste Bestreben zur Ver-
einigung besitzen. Der betreffende Himmelsraum wurde nach und
nach ärmer an Ameren mit stark überwiegender Gravitation und
zuletzt war nur noch Material für leichte Atome vorhanden. In
den fünf aufgeführten Familien ist stets das oberste Element das
zuerst gebildete , das unterste das letzte. Ihre übereinstimmenden
Eigenschaften verdanken die Glieder einer Familie dem Umstände,
dass sie unter den nämlichen Verhältnissen, d. h. nach einander in
dem nämlichen Himmelsraum, entstanden sind.
Die Elemente der aufgeführten Familien zeigen die bemerkens-
wertlie Erscheinung, dass das Atomgewicht der früher gebildeten
ungefähr ein Vielfaches des Atomge\vdchtes der spätem darstellt.
Doch lässt sich das Verhältniss keineswegs als ein bestimmtes
mathematisches ansehen und auch niclit durch eine Formel aus-
drücken. Die rasche Abnahme des Atomgewichtes deutet mög-
licherweise darauf hin, dass ausser der angegebenen Ursache noch
eine andere mitgewirkt hat, dass nämlich je die früheren Glieder
einer Familie nicht bloss Amere mit grösserer Gewichtsanziehung
enthalten , sondern dass auch eine grössere Zahl von Kernen sich
zur Anlage eines Particells oder eines Iwerthigen Atoms vereinigt
haben. Damit würde dann in begreiflichem Zusammenhange stehen,
dass in der nämlichen Familie die Elemente mit grösserem Atom-
gewicht auch einen etwas grösseren Atomkörper besitzen, was in
der That der Fall zu sein scheint.
Es trifft meistens zu", dass innerhalb derselben Familie der
Raum , der in dem festen Aggregatzustande auf ein Atom sammt
dem zugehörigen Schweräther sich berechnet und den man als Atom-
volmnen bezeichnet, mit dem abnehmenden Atomgewicht kleiner
wird. Dies ist zwar noch kein sicherer Beweis, dass auch die Atom-
körper der verschiedenen Elemente ein solches Verhalten zeigen. Denn
das Atomvolumen bei einer bestimmten Temperatur hängt nicht bloss
von dem Volumen der Atomkörper, sondern ebenso sehr von der Dicke
der Aetherhülle und von der Grösse der Anziehung zwischen den
Atomen ab. Zu dem uns bekannten Resultat der Raumerfüllung wirken
also drei bezüglich ihrer Grösse unbekannte Factoren zusammen.
9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 775
Auf die letzteren beiden Factoren, Aetherhülle und Anziehung,
lässt sich aus einer anderen Erscheinung theilweise ein Schluss
ziehen. Der Zusammenhang zwischen den Molekülen ist, gleiche
Temperatur vorausgesetzt, um so fester, je grösser die Anziehung
zwischen denselben und je dünner die Aetherhülle, welche ihre An-
näherung verhindert. Ueber die Festigkeit des Zusammenhanges,
somit über die gemeinsame Wirkung der Anziehung und der Aether-
hülle, geben uns die Temperaturen des Schmelz- und Siedepunktes
Aufschluss. Meistens zeigt sich nun bei den Gliedern einer Familie,
dass mit dem Sinken der Atomgewichte auch die Festigkeit des
Zusammenhanges zwischen den Molekülen sich stetig verändert,
aber bei den einen Familien wird die Festigkeit grösser, bei den
anderen kleiner. Als Beispiel führe ich vier Elemente einer der
vorhin aufgezählten Familien an:
Atomgewicht
Atomvolumen
Atomdurchmesser
Schmelzpunkt
Rubidium .
. . 85,4
56,3
3,8
38»
Kalium . .
. . 39,1
45,5
3,6
58
Natrium . .
. . 23
23,7
2.9
95
Lithium . .
. . 7
11,7
2,3
180
Diese Familie zeichnet sich aus durch eine ungewöhnlich starke
Abnahme der Atomvolumen, wie sie in gleicher Weise sonst nur
bei den vier Elementen einer anderen Familie (Strontium, Calcium,
Magnesium und Beryllium) auftritt. Ich habe in der dritten Vertical-
columne unter dem Namen »Atomdurchmesser« den mittleren Durch-
messer des Atomvolumens beigefügt. Man könnte aus der grossen
Verschiedenheit der Atomvolumen Zweifel schöpfen, wie es möglich
sei, dass so ungleich grosse Atonje in ihren Verbindungen sich
gleich verhalten. Die Vergleichung der mittleren Atomdurchmesser
zeigt, dass die maassgebenden linearen Dimensionen durchaus
nicht so sehr abweichen. In dem vorliegenden Falle sind aber
jedenfalls die Durchmesser der Atomkörper noch weniger verschieden
als die Durchmesser der Atomvolumen. Es lässt sich nämlich aus
der niedrigeren Schmelztemperatur der Elemente mit grösserem Atom-
gewicht und Atomvolumen mit Wahrscheinlichkeit auf eine grössere
Mächtigkeit der Aetherhülle und des Zwischenhülläthers schliessen,
wodurch die Durchmesser der Atomkörper verhältnissmässig kleiner
werden, als man es nach den angeschriebenen »Atomdurchmessern«
erwarten könnte.
776 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Nun gibt es aber auch Familien , in denen das Gegentheil
auftritt, indem mit der Abnahme der Atomgewichte und der ohne
Zweifel parallel gehenden Abnahme der Atomvolumen auch der
Zusammenhang der Moleküle geringer wird, so dass die Moleküle
des leichtesten Elements die grösste Beweglichkeit besitzen. Dies
zeigt sich bei der Vergleichung des (gasförmigen) Sauerstoffs mit
Schwefel und Selen, des (gasförmigen) Stickstoffs mit Phosphor und
Arsen, des Chlors mit Brom und Jod. Hier haben mit grosser
Wahrscheinlichkeit die leichteren Elemente eine grössere Mächtigkeit
der Aetherhüllen und des Zwischenhülläthers als die schwereren
und es kommen ihnen daher kleinere Atomkörper zu, als es nach
dem Atomvolumen scheinen möchte.
Es ist übrigens nicht ausser Acht zu lassen, dass das Gesagte
nur von dem Zusammenhang der Moleküle und somit von der
Mächtigkeit der Aetherhüllen und des Zwischenhülläthers zwischen
den Molekülen, und nicht zwischen den beiden Atomen des näm-
lichen Moleküls, gilt. Die Festigkeit, mit der die Atome zum
Molekül vereinigt sind, lässt sich meistens nicht bestimmen, und
daher bleiben wir auch über die Mächtigkeit des ponderabeln Aethers
auf dieser Seite des Atoms und über die Folgerung, die sich daraus
für die Grösse der Atomkörper ergibt, im Unklaren. Gleichwohl
ist es, wenn alle Umstände in Erwägung gezogen werden, sehr
wahrscheinlich, dass bei gleicher Construction der Atome, wie wir
sie bei den verwandten Elementen derselben Familie voraussetzen
können, dem grösseren Atomgewicht auch eine etwas beträchtlichere
Grösse des Atomkörpers entspricht, und dass daher eine Verschmelzung
von Agglomerationskernen bei iier Entstehung derselben wohl an-
zunehmen ist.
Ich habe die Theorie aufgestellt, dass die chemischen Elemente,
die ihrer Verwandtschaft nach zu derselben Familie gehören, in
dem nämlichen Himmelsraum und in der nämlichen Weltperiode
und zwar zuerst diejenigen mit grösserem, nachher diejenigen mit
kleinerem Atomgewicht entstanden sind. Es ist mir wahrscheinlich,
dass eine ähnliche Regel auch für die Elemente der verschiedenen
Familien gilt, und dass im allgemeinen bei dem Agglomerations-
process zuerst die schwereren und nachher die leichteren Elemente
sich gebildet haben. Daher wäre die Familie, zu welcher Platin,
Iridium, Osmium gehören, als eine der ältesten, der Wasserstofi
9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 777
dagegen, den man früher als das Urelement in Anspruch zu nehmen
geneigt war, als das jüngste aller Elemente zu betrachten. Derselbe
bildete sich erst, als der Himmelsraum an Ameren mit wirksamer
Gravitationsanziehung nahezu erschöpft war.
Gemäss ihrer Entstehungsw^eise sind die Atomkörper aus Ameren
und Amergruppen zusammengesetzt, welche, wie schon gesagt, sich
nicht ruhend gegen einander verhalten, sondern in allen möglichen
Bewegungen begriffen sind , da die lebendige Kraft , welche die
Amere in dem ursprünglichen Zustande der Zerstreuung besassen,
später vollständig als lebendige Kraft im Innern der Agglomera-
tionsmassen sich wiederfindet. Von der ursprünglichen Geschwin-
digkeit der Amere ist dem Atom als Ganzem nichts übrig geblieben;
dasselbe gehört einer andern Grössenordnung an und wird bloss
durch die Massenschwingungen des Aethers in Bewegung gesetzt.
Die Beweglichkeit der Theilchen im Atomkörper steht nicht im
Widerspruch mit der Erfahrung der Physik und Chemie, welche
uns die Atome und ihre Particelle in ihren wesentlichen Eigen-
schaften als constant zeigt. Denn einem System aus beweglichen
oder bewegten Theilchen kann jede beliebige Festigkeit und Dauer-
haftigkeit zukommen. Die Beweglichkeit der Theilchen wird übrigens
nicht bloss von der Theorie, sondern auch von der Erfahrung ge-
fordert. Die Eigenschaften der Atome sind nämlich nur innerhalb
gewisser Grenzen beständig, und ihre Veränderlichkeit innerhalb
dieser Grenzen lässt sich, wie ich in dem folgenden Abschnitt über
die chemische Verwandtschaft zeigen werde, nur aus der Beweg-
lichkeit der Theilchen innerhalb der Atomkörper erklären.
Aus dem Grade der Beständigkeit und Unbeständigkeit der
Eigenschaften, namentlich der gleichen und ungleichen dynamischen
Wirkungen, welche die verschiedenen Seiten eines Atoms, wie sich
aus dem Studium der chemischen Verbindungen ergibt, bethätigen
können, lässt sich folgende Beschaffenheit des Atomkörpers folgern.
Derselbe ist im allgemeinen ein festes und unveränderliches System,
indem ein grosser Theil seiner Amere und Amergruppen zwar nicht
unbeweglich mit einander verbunden sind, aber doch, ohne ihren
Platz zu verlassen, schwingende, wohl auch kreisende Bewegungen
ausführen. Ein anderer Theil der Amere und Amergruppen ist
778 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
fortschrittsbeweglich, indem dieselben durch den Atomkörper wandern
können, in der Art, dass sie ihre Stellungen mit einander vertauschen.
Bei einer solchen Beschaffenheit erscheint es als unvermeidlich,
dass die flüchtigsten Theilchen auch den Atomkörper verlassen
können, wobei sie von anderen Theilchen, die von aussen eintreten,
nach Bedürfniss ersetzt werden. Die Wanderung der Amere im
Atomkörper hat zur Folge, dass die Anziehungen und Abstossungen,
welche derselbe auf die Umgebung ausül)t, innerhalb gewisser
Grenzen wechseln, sei es dass sie an der ganzen Überfläche, sei es
dass sie an bestimmten Seiten grösser oder kleiner werden. Denn
die dynamische Einwirkung berechnet sich für jedes einzelne Amer
nach der Entfernung, und kann daher nur für grössere Abstände
ohne merklichen Fehler als Wirkung von Centralkräften des Atoms
betrachtet werden.
Die ponderable Aetherhülle, welche den Atomkörper umgibt,
wird von der Anziehung des letzteren festgehalten. Da die An-
ziehung auf verschiedenen Seiten ungleich ist, so muss auch die
Mächtigkeit der Aetherhülle verschieden sein, und da jene mit der
Zeit wechselt, so muss auch diese im ganzen oder an einzelnen
Stellen zu oder abnehmen. Obwohl die Aetherhülle als Ganzes
durch den Atomkörper festgehalten wird, sind doch ihre Theilchen,
wenn sie auch namentlich in den innersten Schichten oft nur
schwingende Bewegungen ausführen, doch vollkommen fortschritts-
beweglich, indem sie gegenseitig den Platz wechseln, und ferner
besonders aus den äussersten Schichten die Hülle verlassen' und
durch andere Theilchen ersetzt werden. — Da die Aetherhüllen
mit einer beträchtlichen Kraft an die Atomkörper gebunden sind,
so verhindern sie die vollständige Annäherung dieser letzteren an
einander; sie werden aber bei den Schwingungen der Atome ab-
geplattet und in geringem Grade zusammengedrückt.
Der Raum, in welchem die Bewegungen der Atomkörper und
ihrer Aetherhüllen stattfinden, ist mit dem ponderabeln Zwischen-
hülläther ausgefüllt. Derselbe wird in den festen Körpern von
den schwingenden Atomen, in den Flüssigkeiten von den schwingen-
den Atomen und den fortschreitenden Molekülen hin und her ge-
schoben, indem seine Theilchen wegen der vollkommenen Elasticität
und grossen Beweglichkeit nur einen sehr geringen Widerstand zu
leisten vermögen.
9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 779
Die Atome sind, soweit unsere Erfahrung reicht, rücksichthch
ihrer allgemeinen Eigenschaften constant. Da sie dieselben aber,
ebenfalls erfahrungsgemäss, durch Umlagerung ihrer Theilchen inner-
halb bestimmter Grenzen verändern, so wäre es nicht unmöglich,
dass sie infolge der Wanderung ihrer Theilchen zwar langsam
und unmerkhch, aber doch dauernd sich umwandelten. Dies ist
namentlich auch deshalb leicht denkbar, da der Atomkörper gegen
aussen nicht vollkommen abgeschlossen ist. Wenn Theilchen aus-
treten und andere eintreten, so lässt sich denken, dass die aus-
tretenden durch solche von anderer Beschaffenheit ersetzt werden,
und dass die Folge eines solchen lang andauernden Austausches
die bleibende Umstimmung des Atomkörpers ist. Eine solche Um-
stimmung dürfte zuerst durch ihre Wirkung auf die AetherhüUe
bemerkbar w^erden, indem diese ihre Mächtigkeit und ihre Eigen-
schaften verändert. Von der Beschaffenheit der AetherhüUe wird
wesentlich die Festigkeit des Zusammenhanges, also Aggregatzustand,
Schmelz- und Siedepunkt bedingt. Wir haben keinen Grund an-
zunehmen, dass die chemischen Elemente nicht mit der Zeit eine
langsame Erhöhung oder Erniedrigung ihrer Schmelz- und Siede-
temperaturen erfahren. — Es können aber infolge des Stoffwechsels
mit der Zeit noch bedeutendere Umbildungen in den Atomkörpern
erfolgen, so dass die chemischen Elemente wesentlich andere Eigen-
schaften annehmen. Jedenfalls dürfen wir den Atomen keine absolute
Beständigkeit zuschreiben; dieselben müssen, .wie alle Individuen
der endlichen Welt, der A^eränderung unterworfen und in ihrer
Individualität dem Untergange geweiht sein.
Diese Frage hat eine grosse naturphilosophische Bedeutung^).
Wenn die Atome in ihren Eigenschaften constant wären, so ginge
die Welt ihrem entropischen Ende entgegen. Sind sie aber ver-
änderlich, so tritt früher oder später in der jetzt herrschenden
entropischen Weltentwicklung ein Umschwamg ein, und es folgt
auf die positive eine negative Entropie. — Die A^eränderung der
Atome kann auf zweierlei Art herbeigeführt werden. Die eine Mög-
lichkeit besteht darin, dass der Atomkörper unter den jetzt be-
stehenden Verhältnissen infolge der Configurationsumwandlungen,
') Ich verweise auf den 3. Zusatz zu der Abhandlung »Die Schranken der
naturwissenschaftlichen Erkenntniss« S. 615.
780 Kräfte und Gestaltungen im rnolecularen Geriet.
die er mit Hülfe der äusseren Einwirkungen durchmacht, mit Noth-
wendigkeit zu einer dauernden Umbildung geführt wird. In diesem
Falle geht die Veränderung äusserst langsam und in verschiedenen
chemischen Elementen in ungleichem Sinne vor sich.
Die andere Möglichkeit dagegen ist die, dass die gegenwärtige
Beschaffenheit der Atome einen stationären Gleichgewichtszustand
zwischen der Substanz derselben und dem Weltäther, in dem unser
Sonnensystem sich befindet, darstellt, und dass dieselbe daher nur
eine Veränderung erfahren kann, wenn der Weltäther eine andere
Natur annimmt. Nun hat aber der Aether in der unendlichen Welt
gewiss nicht überall die nämliche Zusammensetzung, nicht genau
die nämlichen Gesammtmengen der sechs Elementarkräfte und nicht
das nämliche Verhältniss dieser Kräfte in den Aethertheilchen. Ferner
ist der Weltäther als Gesammtmasse gewiss nicht in Ruhe ; es finden
Massen Strömungen statt, oder, was den nämlichen Effect gewährt,
unser Sonnensystem kommt in fremde Welt- und Aetherräume. Ein
etwas anders constituirter Aether, der vielleicht auch mit einer etwas
andern Geschwindigkeit der Einzelbewegungen, begabt ist, übt noth-
wendig auch eine etwas veränderte Einwirkung auf die Atome aus. Es
treten dauernd in den Schweräther und von diesem in die Atom-
körper andersartige Theilchen ein als diejenigen sind, welche von
ihnen ersetzt werden. Atomkörper und Aetherhülle verändern sich,
und wenn diese Veränderungen in dem Sinne erfolgen, dass die
Aetherhüllen mächtiger, somit der Zusammenhang zwischen den
Atomen lockerer wird, so werden die festen Körper zuerst flüssig
und nachher gasförmig. Die Weltkörper unsers Sonnensystems
können auf diesem Wege aus der Zusammenballung in einen Zu-
stand der Zerstreuung zurückkehren, in welchem wenigstens die
Moleküle oder selbst die Atome vollständig von einander getrennt sind.
Es ist noch ein Umstand zu berücksichtigen, welcher gegen die
Unveränderlichkeit der Atome spricht. Die sie zusammensetzenden
Amere müssen nämlich ebenso wohl Umbildungen erleiden, wie die
individuellen Gebilde aller höheren Ordnungen. Durch diese Um-
bildung der Amere erlangen die Atome selbstverständlich mit der
Zeit andere Eigenschaften und es kann dadurch selbst ihre Existenz
in Frage gestellt werden, indem die Atome in die Particelle, diese
in kleinere Stücke zerfallen und zuletzt in die Amere sich ver-
flüchtigen.
9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 781
Das Verhalten der Wärme bei den geschilderten A^orgängen ist
leicht zu übersehen. Beginnen wir, um ein vollständiges Bild zu haben,
mit der ursprünglichen Zerstreuung, in welcher alle Materie in die
Amere aufgelöst war. Die Amere führten ihre Einzelbewegungen mit
der vollen Energie aus, wie sie jetzt den Aetherameren zukommen.
Aber Massenschwingungen, welche Wärme und Licht darstellten, gab
es noch nicht, soweit dieselben nicht aus anderen Himmelsräumen,
die in einem anderen Zustande der Entwicklung sicli befanden, an-
langten. Abgesehen von dieser importirten Wärme war also der
betreffende, noch in der Amerzerstreuung befindliche Bümmelsraum
wärme- und lichtlos und zeigte die absolute Nulltemperatur.
Sowie sich nun infolge der eintretenden Agglomeration Atome
bildeten und sich zunächst zu Molekülen, dann zu grösseren Gruppen
vereinigten, entstanden durch das Zusammenstossen der Agglomera-
tionskörper, zunächst der Atome und durch die heftigen Schwingungen
derselben, die dem Zusanmienstoss folgten, nothwendig Schwingungen
des Aethers, in gleicher Weise wie jeder Zeit bei der Vereinigung
von Atomen, z. ß. bei der Bildung von Wassergas aus Wasserstoff
und Sauerstoff, Wärme oder Licht und Wärme erzeugt werden. Mit
der zunehmenden Agglomeration ging immer wieder mechanische
Bewegung in Wärme über, welche zunächst die Temperatur der
Agglomerationsmassen erhöhte, nachher allmählich an den EQmmels-
raum abgegeben wurde.
Wir befinden uns in dieser Periode; die dunkeln Himmels-
körper werden durch Wärmeverlust sehr langsam kälter, indess auf
die grossen leuchtenden Sonnen infolge der stärkeren Anziehung
immer noch so beträchtliche Massen von kleineren im Weltenraum
herumfliegenden Massen (Sternschnuppen) stürzen, dass dieselben
ungeachtet des ungeheuren Wärmeverlustes ihre Glühhitze bewahren.
Lidessen auch diese Periode wird ihr Ende erreichen. Die Sonnen
werden erlöschen und nur zeitweilig wieder aufleuchten, wenn grössere
dunkle Weltkörper sich mit ihnen vereinigen. Nach der letzten Ver-
einigung der Weltkörper und nach dem Erlöschen und Erkalten
der letzten Sonne wird das Endstadium der jetzigen entropischen
Weltentwicklung eingetreten sein , in welchem die Agglomerations-
masse und der Aether des Weltraumes die nämliche Temperatur besitzen.
Dauert die entropische Entwicklung so lange, bis sie zu dem
eben genannten stationären Zustand gelangt ist, so hat scheinbar
782 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
die Veränderung in der Welt aufgehört. Es ist aber nur eine schein-
bare Stagnation ; der Aether bleibt in Bewegung und durch die
Einzelbewegungen der Aethertheilchen wird ein Stoffwechsel in den
Atomen unterhalten, der früher oder später dahin führt, dass die
Aetherhüllen der Atome mächtiger und die Anziehungen zwischen
den Atomen schwächer werden. Hat diese Veränderung eine ge-
wisse Höhe erreicht, sind die Atome der festen Körper in die Ver-
fassung gelangt, in der sich jetzt das Quecksilber, und später in
diejenige, in der sich jetzt Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff be-
finden, so wird ihr lockerer Zusammenhang durch die Aether-
schwingungen überwunden. Es verwandelt sich Aetherwärme in
Atombewegung. Dadurch wird die ponderable Masse unter die
Temperatur des Weltenraumes abgekühlt ; es findet nun eine Rück-
strömung von Wärme aus diesem nach jener statt, die so lange an-
dauert, bis die Materie flüssig und gasförmig geworden ist.
Die Entropie der Welt hat in dieser Entwicklungsperiode ihren
Charakter geändert. Es geht dann bei all den zahlreichen Umwand-
lungen von Wärme in Atombewegung und von dieser in jene immer
eine gewisse Menge Wärme verloren, weil die mechanische Energie
nicht mehr vollständig sich in Wärme umsetzen kann; dies aus
dem einfachen Grund, weil die Agglomerationsmassen eine niedrigere
Temperatur besitzen als der umgebende Weltenraum und daher stets
Wärme aufnehmen. In unserer Zeit findet das Umgekehrte statt;
die Wärme kann nicht mehr vollständig zu mechanischer Energie
werden, weil immer ein Theil derselben an den kälteren Weltenraum
abgegeben wird.
Die Entropie der Welt, welche durch das Verhalten der Wärme
bestimmt wird, ist keine Erscheinung von absoluter Allgemeinheit,
weil die Wärme nicht als Maass für alle Energien gelten kann.
Durch Wärme lassen sich die Energien der Einzelbewegungen der
Amere nicht ausdrücken. Die Entropie der Welt, wie sie formulirt
worden ist, berücksichtigt bloss die mechanischen Bewegungen der
als unveränderlich vorausgesetzten Atome und die Wärmeschwingungen
des Aethers; es ist also nur eine partielle Entropie und sagt uns
nichts über den Verwandlungsinhalt des Ganzen, zu welchem auch
die Einzelbewegungen der Amere im Weltäther, im ponderabeln
Aether und in den Atomkörpern gehören.
10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. 783
Ich suchte zu zeigen, wie auf natürhchem Wege die festen und
flüssigen Massen wieder in die Zerstreuung der Gase zurückkehren
können. Damit ist indessen nur ein Theil des gesammten Agglo-
merationsprocesses zurückverwandelt. Die Umkehr wurde nur so
weit verfolgt, als dafür Anhaltspunkte in der Amertheorie gegeben
sind. Mit ihrer Hülfe können wir uns recht gut vorstellen, dass
die ponderabeln Massen wieder in die einzelnen Atome aufgelöst
werden. Die Zerstreuung der Atome aber in die einzelnen Amere,
die sehr wahrscheinlich ebenfalls eintritt, lässt sich nur denken,
wenn wir die Grundlage der Amertheorie selber einer Analyse unter-
werfen und wenn wir infolge derselben zu der Annahme gelangen,
dass auch die Amere sich verändern. Es ist nun gewiss unstatthaft,
die Amere als ewige und absolut unveränderliche Einheiten zu be-
trachten. Dieselben müssen, wie alle endlichen Dinge, sich um-
wandeln, und wenn mit der Umwandlung ihre dynamischen Eigen-
schaften andere w^erden, so kann auch eine Trennung derselben,
also ein Zerfallen der Atome in die einzelnen Amere und eine Rück-
kehr in denjenigen Zustand der Zerstreuung, von dem die Betrach-
tung über die Zusammenballung in dieser Abhandlimg ausgegangen
ist, die Folge sein. Aber die Veränderung der Amere sowie die
Ursachen derselben lassen sich jedenfalls zur Zeit noch nicht zum
Vorwurf einer Hypothese machen.
10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion.
Zu den schwierigsten Aufgaben der Molecularphysik gehört eine
naturgesetzliche Erklärung der chemischen Anziehung. Dieselbe
muss drei Bedingungen genügen, welche anscheinend unter einander
im Widerspruch sind:
1. Je 2 Atome, resp. Particelle zweier Atome, sie mögen ver-
schiedenen chemischen Elementen oder auch dem nämlichen Element
angehören, ziehen sich an und verbinden sich mit einander.
2. Mit der erfolgten Verbindung ist die chemische Anziehung
erschöpft (gesättigt), so dass die verbundenen Atome oder Particelle
sich gleichzeitig nicht mit anderen Atomen oder Particellen verbinden
können.
3. In demselben mehrwerthigen Atom treten die Particelle bald
selbständig auf, indem jedes einzelne eine Verbindung eingeht und
784 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet,
gesättigt wird, bald unselbständig, indem mehrere zusammen mit
einem 1 werthigen Atom oder mit einem Particell sich verbinden und
dadurch unfähig zu gleichzeitigen andern Verbindungen werden.
Es dürfte unmöglich sein, diese Bedingungen ohne Hilfe der
Amertheorie zu erfüllen, wie eine Besprechung der bisherigen Ver-
suche zeigen wird. Dieselben stützen sich, wenn überhaupt eine
Erklärung angestrebt wurde, auf die Elektricität. Dass bei der chemi-
schen Anziehung die elektrischen' Kräfte eine wichtige Rolle spielen,
ist namentlich mit Rücksicht auf die elektroljrtischen Erscheinungen
schon lange erkannt worden. Die Wirksamkeit der Elektricität lässt
sich auf zweierlei Weise denken: Entweder sind die chemischen
Elemente an und für sich in verschiedenem Grade elektrisch und
behalten constant diese Elektricität; oder ihre Elektricitäten werden
erst bei der Annäherung frei und verlieren sich nach der Trennung
wieder. Weder die eine noch die andere dieser Annahmen vermag
uns eine Erklärung der chemischen Erscheinungen zu geben.
Was die erste Annahme betrilBit , so lässt sie sich auf eine that-
sächliche Grundlage zurückführen , insofern man die elektrische
Spannungsreihe der Elemente als den Ausdruck für die Abstufung
ihrer inhärenten wirksamen Elektricität ansieht. Aber aus dieser
Elektricität allein lassen sich nicht alle chemischen Anziehungen
ableiten. Dem widerstrebt entschieden die zweite der obigen drei Be-
dingungen. Wenn die chemischen Elemente infolge ihrer abge-
stuften Elektricitätsmengen eine grössere oder geringere Verwandt-
schaft zu einander besässen, so vermöchten die Atome des nämlichen
Elements sich nicht mit einander zu verbinden, und dadurch würde
die in Wirklichkeit vorhandene Constitution der Elementmoleküle,
welche im allgemeinen aus je 2 Atomen zusammengesetzt sind, zur
Unmöglichkeit. Die Atome eines Elements müssten im Gegentheil,
da sie die gleiche Elektricität besitzen, einander abstossen. Die Ab-
stossung müsste bei den an den beiden Enden der Spannungsreihe
stehenden Elementen besonders auffallend sein, weil dieselben grössere
Mengen positiver oder negativer Elektricität enthalten, so z. B. beim
Sauerstoff. Aber im Widerspruche mit dieser Folgerung haften die
beiden Atome eines Sauerstoffmoleküls so fest an einander, dass sie
selbst noch bei hohen Temperaturgraden vereinigt bleiben. Die erste
der beiden elektrochemischen Annahmen erweist sich also als un-
zureichend.
10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. 785
Nach der zweiten Annahme enthahen die Atome neutrale Elek-
tricität, welche bei der Annäherung eines zweiten gleichen oder un-
gleichen Atoms zerlegt wird. Dies ist die Theorie von Berzelius
und von Fee hn er. Infolge der Trennung der neutralen Elektricität
vereinigen sich die frei werdenden, positiven und negativen Elektri-
citäten des einen und andern Atoms zum Theil mit einander, während
der Rest getrennt in den beiden Atomen verharrt, so dass dieselben
mit entgegengesetzter Elektricität geladen sind und sich dauernd
anziehen. Diese Annahme, welche sich auf die Erscheinungen der
Elektricitätserregung durch Berührung berufen kann, findet ihre that-
sächliche Grundlage ebenfalls in der Spannungsreihe der Elemente,
lässt aber die letztere in anderer Weise zu Stande kommen als die
erste Annahme.
Für die Erklärung der chemischen Thatsachen erweist sich die
zweite elektrochemische Theorie ebenso unzureichend. Wäre sie
richtig, so müssten zwei Elemente sich um so stärker anziehen, je
weiter sie in der Spannungsreihe von einander abstehen, weil diesem
Abstand das elektromotorische Moment proportional wäre. Am
geringsten wäre die Anziehung zwischen den Atomen des nämlichen
Elements. Nun gibt es aber vielleicht keine einzige chemische Ver-
bindung , welche nicht , mit bestimmten anderen Verbindungen ver-
glichen, als Ausnahme von der ausgesprochenen Regel angeführt
werden könnte. Was die Verwandtschaft zwischen den Atomen des
gleichen Elements betrifft, so gibt es unter den bekannten Fällen
bloss drei (Quecksilber, Cadmium und Zink), wo dieselbe so gering
ist, dass die Atome bei der Verdampfung nicht zu Molekülen ver-
bunden bleiben, während die Moleküle anderer Gase weit über ihrer
Verdampfungstemperatur der Dissociation widerstehen. Am auf-
fallendsten tritt diese grosse Anziehung zwischen den nämlichen
Atomen bei den permanenten Gasen hervor, die eine sehr niedrige
Verdampfungstemperatur besitzen und daher eine grosse Menge
latenter Wärme in sich aufgenommen haben, welche den Zusammen-
hang der Moleküle zu lockern bestrebt ist. Unter den genannten
Gasen zeigt der Stickstoff eine grössere Verwandtschaft zu sich selbst,
als zu den meisten anderen Elementen.
Einen noch stärkeren Einwand gegen die elektrochemische
Theorie von Berzelius und Fechner geben uns die ungesättigten
Verbindungen und die wechselnde Valenz. Wenn die Atome durch
V. Nägel i, Abstammungslehre 50
786 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet
Vertheilung elektrisch würden, wenn somit die Elektricität das Atom
verlassen und in das Atom eintreten könnte, so müsste dieselbe auch
von einem Particell des mehrwerthigen Atoms auf die andern Particelle
übergehen und sich über das ganze Atom verbreiten können. Dadurch
würde das Particell die relative Selbständigkeit verlieren, welche ihm
doch als Träger einer Werthigkeit zugestanden werden muss. Wenn
beispielsweise ein Sauerstoffatom sich mit einem Kohlenstoffatom
zu Kohlenoxyd verbindet, so fände zwischen den beiden Atomen
diejenige elektrische Erregung statt, welche überhaupt bei der Be-
rülirung von Kohlenstoff und Sauerstoff möglich ist. Ein zweites
Sauerstoff atom, welches herankäme, um mit dem Kohlenoxyd Kohlen-
säure zu bilden , würde mit seiner neutralen Elektricität entweder
keine abermalige elektrische Vertheilung bewirken können, oder, wenn
es möglich wäre, so müsste ein drittes Atom von Sauerstoff das
Nämliche zu Stande bringen und sich mit dem Kohlenstoffatom ver-
binden. Wie wäre es ferner, wenn die Elektricitätserregung in der
angegebenen Weise über die Verbindung entscheiden würde, bei
wechselnder Valenz denkbar, dass z. B. das Chloratom von Wasser-
stoff oder Kalium, gegen welche Elemente es stark elektromotorisch
ist, nur ein einziges Atom anzieht, während es von Sauerstoff, gegen
welchen es schwach elektromotorisch ist, 4 Atome oder vielmehr
7 Particelle zu fesseln vermag. Die gleiche Erwägung gilt auch für
Schwefel, Selen, Stickstoff, Brom, Jod bezüglich ihrer Verbindungen
mit Sauerstoff und mit den Alkalien.
Wenn die gemachten Ausstellungen darthun , dass die elektro-
chemischen Theorien nicht die Eingangs aufgeführten drei Bedin-
gungen zu erfüllen und alle Erscheinungen, welche die Atomverkettung
darbietet, zu erklären vermögen, so soll damit nicht etwa ausgesprochen
werden, dass die Elektricität bei der chemischen Anziehung nicht
eine grosse Bedeutung habe und in manchen Fällen selbst die Haupt-
rolle übernehme. Aber neben ihr müssen auch die anderen, in den
Atomen befindlichen Kräfte, namentlich die Isagität, berücksichtigt
werden. Ferner muss die von der Amertheorie geforderte Annahme
in vollem Maasse verwerthet werden, die Annahme, dass die Theil-
chen des Atomkörpers theilweise wandern , ohne denselben zu ver-
lassen, dass also die dynamischen Mittelpunkte der verschiedenen
10. Chemische Verwandtschaft. Adhiision. 787
Elementarkräfte ihren Platz wechseln, ohne dass der Atomkörper
einen Verlust oder einen Zuwachs an Kraft erfährt , und dass
jedes einzelne Particell sich hierin dem Atonikörper gleich verhält.
Die Werthigkeiten sind also constante Systeme von Kräften, deren
innere Configuration sich verändert. Von den Ameren, welche die
Träger dieser Kräfte sind, vereinigt zwar jedes alle Kräfte in sich,
aber in ungleichem Maasse, und deswegen verschiebt sich für jede
Kraft mit der Wanderung der Amere auch der Punkt, in welchem
man sie sich bezüglich ihrer Wirkung nach aussen vereinigt denken
kann, oder der dynamische Mittelpunkt.
Der Einfachheit wegen will ich als Beispiel zwei Iwerthige
Atome betrachten, welche zusammenkommen und auf einander ein-
wirken, wobei ich aber im voraus bemerke, dass Alles, was sich
hier ergibt, auch für die einzelnen Particelle der mehrwerthigen Atome
Gültigkeit hat. Die Kräfte jedes Atoms befinden sich vor der An-
näherung unter sich im Gleichgewicht. Infolge der gegenseitigen
dynamischen Einwirkung, welche bei der Annäherung eintritt, wird
dieses Gleichgewicht gestört; die gegenseitigen Anziehungen und
Abstossungen bewirken eine Ortsveränderung der fortschrittsbeweg-
lichen Theilchen und eine Orientirung der drehungsbeweglichen
zusammengesetzten Theilchen (Amergruppen). Da die Kräfte der
drei Paare (der dominanten, isagischen und elektrischen Kräfte) nur
auf sich selber wirken, so sind sie getrennt zu betrachten.
Ich beginne mit den Dominantenkräften , deren Verhalten am
einfachsten ist und daher am klarsten vorliegt. Die Gravitations-
anziehung muss von der Entstehung der Atome her ihrer Natur
nach in überwiegendem Maasse im Innern , die Aetherabstossung
vorzugsweise unter der Oberfläche sich befliiden. Nähern sich zwei
Atome einander, so müssen diejenigen ihrer Ije weglichen Theilchen,
welche mehr Gravitation als Aether-
abstossung enthalten, nach den ein-
ander zugekehrten Seiten, die be-
weglichen Theilchen dagegen , in
denen mehr Aetherabstossung als
Gravitation vorhanden ist, nach den ^'^' ^^"
abgekehrten Seiten der Atomkörper fortrücken. Die dynamischen
Centren der beiden Kräfte verschieben sich also in entgegengesetzter
Richtung , und wenn sie ursprünglich central waren , so zeigen sie
50*
788 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
jetzt die Stellungen, die in Fig. 32 angegeben sind, wo A und A' die
Centren der Gravitation, B und JB' diejenigen der Aetherabstossung
bedeuten.
Die Isagitäten haben sich bei der Bildung der Atome infolge
der Anziehung gleichnamiger und der Abstossung ungleichnamiger
Kräfte, soweit es möglich war, auf zwei Hälften des Atomkörpers
vertheilt, so dass in dem vereinzelten Atom die eine Hälfte den
grössern Theil der gesammten a-Isagität, die andere Hälfte den
grössern Theil der gesammten /^-Isagität besitzt, und dass somit für
den Fall, in welchem beide Isagitäten in gleicher Menge vorhanden
sind , ihre beiden Mittelpunkte sich wie die Brennpunkte eines
Ellipsoids gelagert zeigen. Nähern sich zwei Atome einander, so
haben sie das Bestreben , sich dergestalt zu orientiren , dass die
dynamischen Centren der beiden Isagitäten einander opponirt sind,
und ausserdem wandern die fortschrittsbeweglichen vorzugsweise
isagischen Theilchen, soweit es möglich ist, gegen die zugekehrten
Seiten hin, so dass die zwei verbundenen Atome die in Fig. 33 I dar-
gestellte Lagerung der isagischen Mittelpunkte a, a\ ß, /?' aufweisen.
Ist eine solche Orientirung aus anderweitigen Ursachen unmöglich,
oder ist die eine der beiden Isagitäten und zwar dieselbe in jedem
Atom in beträchtlich grösserer Menge vorhanden als die andere, so
werden die Atome nach der Annäherung auch das in Fig. 5 II dar-
gestellte Bild zeigen.
Die beiden Figuren 33 I und II geben uns die Vorstellung von
zwei besondern und extremen Fällen. Um das Gesetz kurz aus.
zusprechen, so werden die beiden Atome sich stets so zu orientiren,
und ihre fortschrittsbeweglichen Theilchen werden stets so zu wandern
suchen, dass die Summe der isagischen Anziehungen den grössten
Fig. 33.
Ueberschuss über die isagischen Abstossungen ergibt. Die Summe
der isagischen Anziehungen ist a • a^ -\- ß • ß'; die Summe der isagischen
Abstossungen ist a • /? -|- a • /?* -j- a' • /? -f- «' • ß\ wobei die Wirkungen
10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. 789
aller Kräfte nach dem reciproken Verhältniss des Quadrats der Ent-
fernung und als Componenten zu berechnen sind, die in einer mit
der Verbindungslinie der beiden Atommittelpunkte parallelen Richtung
wirken.
Was endlich das dritte Kräftepaar betrifft, so enthält jeder
Atomkörper eine grössere Menge neutraler Elektricität und eine
geringe, bei den verschiedenen chemischen Elementen wechselnde
Menge positiver oder negativer Elektricität, welche den elektrischen
Charakter der Elemente bestimmt, aber, da sie die Atome nicht ver-
lassen kann, durch das Elektroskop nicht angezeigt wird. Die neu-
trale Elektricität besteht aus den sich compensirenden Mengen posi-
tiver und negativer Elektricität; sie ist vorzugsweise in der Gestalt
von Amergruppen vorhanden, welche aus Ameren mit überwiegender
entgegengesetzter Elektricität zusammengesetzt sind. Die freie Elek-
tricität ist der Oberfläche genähert. Haben die zwei sich annähernden
Atome ungleichnamige P^lektricität, so bewegt sich dieselbe nach den
zugekelnien, haben sie gleichnamige, so bewegt sie sich nach den
abgekehrten Seiten hin. Ausserdem wird, weil durch die verschie-
denen dynamischen Einwirkungen der Atome auf einander und durch
die erfolgenden Wanderungen der Theilchen das frühere elektrische
Gleichgewicht gestört wurde, eine grössere oder geringere Menge
von neutraler Elektricität zerlegt, und die frei werdenden Elektrici-
täten nebst der bereits vorhandenen freien Elektricität haben das
Bestreben, soweit es die Beweglichkeit der Amere erlaubt, sich in
der Weise in jedem der beiden Atome zu vertheilen, dass der Ueber-
schuss der Anziehung über die Abstossung den grössten Betrag er-
reicht. Zugleich suchen die elektrisch neutralen Gruppen , welche
nicht zerlegt werden, durch Drehung sich so zu orientiren, wie es
der A^ertheilung der freien Elektricitäten entspricht. Die d\mamischen
Fig. 34.
Mittelpunkte, die als der Ausdruck der gesammten anziehenden und
abstossenden elektrischen Kräfte gelten können (a, b, a\ 6'), werden
790 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet.
bei den verschiedenen Combinationen der chemischen Elemente sehr
verschiedene Stellungen zu einander einnehmen, welche zwischen
den in den Figuren 34 I und 11 angezeigten extremen Stellungen sich
bewegen müssen.
Es werden also bei der Annäherung zweier Atome die fortschritts-
beweglichen Theilchen in Bewegung gesetzt, so dass die einen sich
nähern, die andern sich entfernen. Dabei treten sicher einzelne der
beweglichsten Theilchen, sei es infolge der Anziehung oder der Ab-
stossung, aus dem Atomkörper heraus und werden durch andere ein-
tretende ersetzt. Die grosse Mehrzahl der fortschrittsbeweglichen
Amere wird aber durch die Einwirkung der übrigen Kräfte im Atom-
körper festgehalten und gewinnt hier die für die dynamischen Be-
ziehungen günstigste Vertheilung.
Die chemische Anziehung zweier Atome besteht nun in der
Summe der Anziehungen aller Elementarkräfte abzüglich der Summe
aller Abstossungen. Sie ist eine Function der Zahl der Attractions-
und Repulsionseinheiten in jedem Atom und der Entfernungen, auf
welche diese Krafteinheiten nach erfolgter Annäherung wirksam
sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die einzelne Kraft nicht
genau diejenige Stellung der Theilchen zu Stande gebracht hat,
welche sie, wenn allein vorhanden, nach der gepflogenen Erörterung
verursachen würde, sondern dass je die stärkere Kraft die schwächere
verdrängte und dass sich ein Gleichgewicht zwischen allen Kräften
herstellte , welches die grösstmögliche attractive Gesammt Wirkung
ergibt.
Bei dieser Gesammtwirkung sind die Elektricität und die Isagität
maassgebend, aber bei verschiedenen Verbindungen in sehr ungleichem
Verhältniss, indem bald die eine, bald die andere das entscheidende
Moment bildet. Im allgemeinen können wir wohl sagen , dass bei
der Verbindung von Elementen, welche in der elektrischen Spannungs-
reihe weit von einander entfernt sind, die Elektricität den Ausschlag
gibt, bei nahe stehenden Elementen dagegen die Isagität. Am
sichersten lässt sich wohl das Verhältniss der beiden Kräfte bei
der Molekülbildung aus den Atomen des nämlichen Elements be-
urtheilen. Da die sich verbindenden Atome in diesem Falle den
gleichen elektrischen Charakter haben, so kann, besonders wenn
ihnen schon von Natur eine grössere Menge freier Elektricität zu-
kommt, wie beispielsweise beim Sauerstoff, keine bedeutende elek-
lU. Chemische Verwandtschaft. Adhäsiou. 791
irische Anziehung zu Stande kommen. Da die Atome aber auch
den gleichen isagischen Charakter, also die gleiche Isagität im Ueber-
schuss besitzen, so muss bei der Annäherung eine beträchtliche
isagische Anziehung sich ergeben. Ebenso dürfte die grosse chemi-
sche Verwandtschaft zwischen Sauerstoff und Schwefel, welche Elemente
in der elektrischen Spannungsreihe Nachbarn sind , vorzugsweise
auf der Wirkung der Isagität beruhen.
Wenn dagegen entschieden elektropositive und entschieden elektro-
negative chemische Elemente sich mit einander verbinden, so muss
die elektrische Anziehung in der Regel sehr bedeutend ausfallen,
während die isagische Wirkung unbekannt ist und bald einen grösseren,
l)ald einen geringeren Betrag erlangen mag. Die Verbindung von
Sauerstoff oder Schwefel mit Wasserstoff und mit den Alkalien lässt
sich jedenfalls zur Genüge durch die Elektricität erklären. Es ist
nicht unw'ahrscheinlich , dass die Verwandtschaft des Schwefels zu
den Alkalien einerseits, zu dem Sauerstoff anderseits auf ungleichen
Ursachen beruht, dass die erstere eine vorzugsweise elektrische, die
letztere eine vorzugsweise isagische ist.
Da von den Dominantenkräften die Gravitationsanziehung in
den chemischen Elementen immer grösser ist als die Aetherabstossung,
so möchte man ^delleicht erwarten, dass die erstere auch bei jeder
chemischen Verbindung irgend eine Rolle spielen, und dass bei
Elementen mit hohem Atomgewicht diese Rolle nicht unbedeutend
ausfallen werde. Vergleichen wir Sauerstoff (Atomgewicht 1) und
Quecksilber (Atomgewicht 200) mit einander, so beträgt die ver-
hältnissmässige Anziehung durch die Sch\vere auf grössere (nicht
moleculare) Entfernungen zwischen zwei Wasserstoffatomen 1 (nämlich
1-1), zwischen zwei Quecksilberatomen dagegen 40000 (nämlich
200 • 200). Nun ist aber diese Anziehung bloss ein winziger Theil
der ganzen Gravitationsanziehung, welche zwischen zwei beliebigen
Atomen (I und II) durch die Formel ausgedrückt wird
nii mo = Äi Ä-i — JBiBi,
wenn m^ und m, die Masse oder das Gewicht, Äi und A. die Summe
der Gravitationskräfte, B^ und B. die Summe der Aetherabstossungs-
kräfte von I und II bezeichnen (S. 7H), 757).
Für die Gewichtsanziehungen zwischen zwei Wasserstoffatomen
{H) und zwischen zwei Quecksilberatomen {Hy) gelten die Gleichungen
71)2 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
H- H= Äi~£l oder Iq^^^Äl-^Bl
HgHg = Äl-~ B\ oder 40000 g^ = A\ — B\,
wenn H=^\q und Hg = 200 q gesetzt wird.
Für die Beurtheikmg aller dieser Gleichungen sind die zwei
sowohl von der ganzen Theorie als von der Erfahrung geforderten
Annahmen von Wichtigkeit, 1. dass die Verhältnisse der Gravitations-
kräfte zu den Aetherabstossungskräften bei den verschiedenen chemi-
Ä Äo A
sehen Elementen, also ~, ^, -^ u. s. w. im allgemeinen ungleiche
iJl ij2 -03
Werthe darstellen , 2. dass die Summen der Gravitationskräfte in
den Atomen der verschiedenen chemischen Elemente in einem andern
Verhältniss zu einander stehen als die Atomgewichte. Aus den
letzteren lässt sich somit kein Schluss auf eine bestimmte Intensität
der Gravitationskräfte und der Aetherabstossungskräfte ziehen. Es
wäre selbst möglich , dass das Wasserstoffatom eine ebenso grosse
oder selbst eine grössere Summe von Gravitationskräften enthielte
als das Quecksilberatom, wenn die Summe der Aetherabstossungs-
kräfte in entsprechendem Maasse erhöht wäre. Ich habe schon oben
(S. 758) gezeigt, worauf die verschiedenen Atomgewichte beruhen.
Wegen der grossen Bedeutung, die man oft den Atomgewichten in
chemischer Hinsicht beizulegen geneigt ist, will ich noch an zwei
Beispielen zeigen, wie die ungleichen Gewichte des Wasserstoffs und
des Quecksilbers zu Stande kommen können.
In der Gleichung AA^ — BB^ ^= mnii bedeute A die Summe
der Gravitationskräfte der Erde, B die Summe ihrer Aetherabstossungs-
kräfte und m ihre Masse oder ihr Gewicht , A,, Bi und nh die
entsprechenden Grössen eines Wasserstoff atomes. Die Gleichung
AA. — BB. = mnio, sowie die Zeichen A., B. und m^ gelten für ein
Quecksilberatom. W^enn^ = 1 000000000001 Q,B = 1 000000000000^,
ferner
I A, ^-. 1,00001g, B, = 1,00 g, so folgt mm, = 10000001 Qq
I J, = 1,002 g, ^2 = 1,00g, » mm._ = 2000000001 Qq
2 f ^ = 0,013 g, B, = 0,01299g, » mm, = 10 0000000 13 (;>g
|^, = 0,012 g, B, = 0,0100q, > mm, = 2000000000012 ^g
In beiden Beispielen besteht das gleiche Verhältniss zwischen
dem Atomgewicht des Wasserstoffes und demjenigen des Queck-
10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. 793
Silbers, nämlich 1 : 200. In dem ersten Beispiel aber ist Ä. grösser
als Äi, in dem zweiten dagegen ist Ä., kleiner als vi,, also die Summe
der Gravitationskräfte im Quecksilberatom kleiner als im Wasserstoff-
atom ^).
Das Atomgewicht kann aber um so weniger Anspruch auf Be-
rücksichtigung bei der Beurtheilung chemischer Vorgänge erheben,
als die Gewichtsanziehung ebenso wie gegenüber der Wirkung der
Dominantenkräfte, so auch gegenüber den elektrischen und isagi-
schen Anziehungen und Abstossungen höchst unbedeutend ist, und
weil es bei der im Verhältniss zur Schwerkraft ungeheuren Menge
der Gravitations- und Aetherabstossungskräfte viel melir als auf die
genaue Quantität derselben, darauf ankommt, welche Bruchtheile
der einen und andern im Atom beweglich sind und die für die An-
ziehung günstigste Lage anzunehmen vermögen. — Man kann sich
daher nicht im geringsten verwundern , dass die Quecksilberatome
mit dem hohen Atomgewicht 200 und der gegenseitigen Schwere-
anziehung von 40000 bei der Verdampfungstemperatur nicht zu Mole-
külen sich zu verbinden vermögen, w^ährend die Wasserstoffatome
mit dem Atomgewicht 1 und der gegenseitigen Gewichtsanziehung
von 1 noch sehr hoch über der (unbekannt tiefen) Verdampfungs-
temperatur zu Molekülen verbunden bleiben, und das Kohlenstoff-
atom mit dem Atomgewicht 12 und der gegenseitigen Gewichts-
anziehung von 144 bei keinem erreichbaren Temperaturgrad sich
von den anderen Kohlenstoffatomen ablöst.
Die am meisten charakteristische Erscheinung der chemischen
Anziehung ist die mit dieser Anziehung erfolgende Sättigung. Dieselbe
zeigt sich am einfachsten bei dem einwerthigen Atom, welches,
nachdem es eine Verbindung eingegangen hat, keine zweite ein-
gehen kann , ohne die erste zu lösen. Das Atom übt also im
Sättigungszustande eine einseitige chemische Wirkung aus. Die
freien Seiten, die ihm übrig bleiben, können keine chemische An-
*) Die numerischen Werthc für Ai, Bi, A2 und Bi sind wie oben (S. 758)
willkürlich gewählt. In Wirklichkeit ist für ein gleiches Gewicht die Differenz
zwischen den Gravitationskräften und den Aetherabstossungskräften im Wasser-
stoff kleiner, im Quecksilber grösser als in der Erde.
794 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet.
Ziehung mehr zu Stande bringen. Daraus folgt, dass entweder
Gestalt und Bau des Atoms in der Art unsymmetrisch sind , dass
es an einer Seite eine eigenartige Wirksamkeit besitzt, — oder dass
diese Einseitigkeit bei der Annäherung zweier Atome gegen einander
zu Stande kommt. Ich habe im Sinne der Amertheorie zu zeigen
gesucht, dass das letztere jedenfalls eintreten muss, auch wenn das
Atom im ursprünglichen, d. h. im freien Zustande, in welchem
keine anderen Atome dasselbe aus unmittelbarer Nähe beeinflussen,
auf allen Seiten gleich gebaut ist. Die auf diese Weise erlangte
Einseitigkeit besteht darin , dass die Elementarkräfte der sich ver-
bindenden Atome in die für die Anziehung möglichst günstige Lage,
nämlich die Attractionskräfte in die möglichst geringste , die Re-
pulsion skräfte in die möglichst grösste Entfernung gebracht wurden.
Zwei Iwerthige Atome, die sich mit einander zu einem Molekül
verbunden haben , befinden sich daher gegenül^er anderen Atomen
in dynamisch ungünstigerer ^"erfassung, indem sie auf dieselben eine
geringere Anziehung ausüben als im freien Zustande. Deswegen
können drei 1 werthige Atome sich nicht mit einander verbinden ;
ein aus drei Atomen Wasserstoff bestehendes Molekül ist eine Un-
möglichkeit. Kommt aber ein Atom mit beträchtlich grösserer Ver-
wandtschaft in unmittelbare Nähe eines Moleküls und vermag das-
selbe die Kräfte in dem einen Atom dieses Moleküls anders zu
Orientiren , so löst sich die bisherige Verbindung und es entsteht
eine neue. So zersetzen Chloratome die Wasserstoffmoleküle und
bilden Salzsäuremoleküle.
Treten mehrwerthige Atome in eine A^erbindung ein, so finden
zwar ganz analoge Erscheinungen statt, wie die eben geschilderten,
aber doch mit besonderen Modificationen. Es verbindet sich zwar
ebenfalls in der Regel ein Particell mit einem andern, wie es Iwerthige
Atome thun. Aber das Particell wirkt dynamisch nicht bloss auf
das mit ihm verbundene, sondern überdem auf alle Particelle des
Moleküls ein. Die Sättigung hat daher bei mehrwerthigen Atomen
eine etwas andere Bedeutung als bei Iwerthigen. Man darf nicht
etwa annehmen, dass die chemischen Kräfte eines Particells oder
Iwerthigen Atoms durch die Verbindung vernichtet oder dergestalt
in Anspruch genommen wären, dass dieselben gleichzeitig keine
andere Wirkung auszuüben vermöchten. Denn keine Kraft wird
dadurch , dass sie ein Object ihrer Anziehung oder Abstossung
10. Chemische Verwandtschaft Adhäsion.
71*5
O
Fig.-:«.
findet, für andere Objecte schwächer. Sie wirkt immer und überall
liin im umgekehrten ^'^erhältniss des Quadrats der Entfernung.
Um das einfachste Beispiel zu wählen, so sind in einem Molekül,
das aus zwei 2wertliigen Atomen besteht (Fig. Bö), die vier folgenden
dynamischen Beziehungen als Gesammtan-
ziehung wirksam: df-\- dg -f- ef -\- ey, und
nicht etwa bloss die Anziehungen zwischen
den opponirten Particellen df-\- ey. Ebenso
haben bei der Annäherung und Verbindung
der beiden Atome nicht lediglich die ein-
ander opponirten Particelle, einerseits d und /', anderseits e und g,
ihre fortschrittsbeweglichen Theilchen durcli Einwirkung auf ein-
ander angeordnet, sondern jedes Particell hat die dynamische Ein-
wirkung aller anderen erfahren und seine der Wanderung fähigen
Kräfte in der Weise angelagert , dass die grösstmögliche Gesammt-
anziehung zwischen den beiden Atomen mit Gleichgewicht zwischen
allen Theilen hergestellt wurde. Der dynamische Gesammtschwer-
punkt in jedem Particell (z. B. d) liegt also etwas näher der Grenze
gegen das Schwesterparticell («) als es der Fall wäre, wenn ersteres
{d) ein Iwerthiges Atom wäre und bloss einem anderen Iwerthigen
Atom (/') gegenüber stände.
Der Beweis für die Annahme, dass ein Particell nicht l)loss
mit dem ihm opponirten, das von ihm »gesättigt« wird, sondern
auch mit den benachbarten Particellen dynamisch verbunden ist,
lässt sich in Fällen der unvollständigen Sättigung thatsächlich er-
bringen. Bei unvollständiger Sättigung ergibt nämlich die genan^ite
Annahme eine andere Stellung der Atome und einen anderen Grad
der Festigkeit, als man nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise er-
warten möchte. Am einfachsten lässt sich die Frage erörtern für
r~\
II
VJ'
Fig. 36.
den Fall, dass ein Iwerthiges Atom mit einem 2werthigen eine im-
gesättigte Verbindung bildet. Wenn bloss Particell auf Particell
796 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
und Werthigkeit auf Werthigkeit wirken würde, so wäre die Stellung
der Atome die in Fig. 36 I angegebene. Der naturgemässen An-
nahme entspricht aber allein Fig. 36 II, wo das Iwerthige Atom von
den beiden Particellen des 2werthigen angezogen wird und diejenige
Lage annimmt, welche der grössten Anziehung entspricht. Es ist
klar, dass in dieser mittleren Stellung das Iwerthige Atom durch
die zwei Particelle fester gebunden wird als in der andern Stellung
(Fig. 36 I) , wo es nur die Einwirkung des einen Particells erfährt.
Beständen die dynamischen Beziehungen bloss zwischen den
zwei einander gegenüber stehenden Werthigkeiten (Particellen oder
Iwerthigen Atomen), so wäre das Iwerthige Atom in der ungesättigten
Verbindung (Fig. 36 I) genau mit der halb so grossen Kraft gebunden,
als die beiden Iwerthigen Atome zusammen in der gesättigten \er-
bindung (wie Fig. 36 III). Wirken dagegen alle Werthigkeiten dyna-
misch auf einander ein , wie es die punktirten Linien in den
Figuren 36 II und III andeuten, so ist die Bindung in dem unge-
sättigten Molekül (Fig. 36 II) mehr wie halb so stark als in dem
gesättigten (Fig. 36 III). Ein bestimmtes Verhältniss zwischen der
Stärke der beiden Bindungen lässt sich aber nicht angeben, da die-
selbe von der Menge und Kraftbegabung der fortschrittsbeweglichen
Amere in den Atomen , sowie von der Gestalt und dem Bau der
Atome bedingt wird. — Dass die in Wirklichkeit vorhandene Festig-
keit der Stellung in Fig. 36 II entspricht, wird durch die Bildungs-
wärme der Verbindungen erwiesen. Dieselbe ist für
Quecksilberchlorür Hg Gl 41275 cal.j . ikiI' 1
Quecksilberchlorid Hg Gl, 63160 » |
Wenn also ein (in diesem Falle Iwerthiges) Atom Chlor sich
mit dem 2wertliigen Atom Quecksilber verbindet, so werden 41275
Wärmeeinheiten frei. Tritt dann das zweite Atom Chlor in das
Molekül ein, so werden bloss noch 18115 Wärmeeinheiten frei. Das
erste Atom Chlor war also in der ungesättigten Verbindung mit
2
ungefähr — von der Kraft gebunden, welche die beiden Atome Chlor
ö
in der gesättigten A^erbindung festhält. Die nämliche Erscheinung
zeigt sich bei der Brom- und Jodverbindung. Die Bildungswärmen
sind nämlich für
10. Chemische Verwandtschaft.. Adhäsion. 797
Quecksilberbromür HeBr 34145 cal. l ,,.^ , . , .-
^ . .„ 1 .-, TT. Differenz l«i40o cal.
Quecksilberbromid HgBr, 50550 >/ |
Quecksilberiodür HoJ 24220 cal. 1 t,.„. ,, , ,
2 1 .„ • j-j TT T o.o. Differenz 10090 c-al.
Quecksilber] odid HgJ, 84310 » J
Ein analoges Resultat wird sich stets ergeben, wenn eine unge-
sättigte A'^erbindung in eine gesättigte übergeht. Bei der Bildung von
Kohlenoxyd und Kohlensäure besteht wohl nur eine scheinbare Aus-
nahme. Wenn ein einziges 2werthiges Sauerstoffatom mit dem
4werthigen Kohlenstoffatom sich verbindet, so muss naturgemäss
jedes Particell des ersteren mit zweien des letzteren in dynamischer
Beziehung sein und analog wie in Fig. 31 c und d (S. 768) eine
mittlere Stellung zwischen denselben einnehmen. Tritt das zweite
Atom Sauerstoff hinzu, so sind die vier Sauerstoffparticelle den vier
Kohlenstoff particellen opponirt. Mit dieser naturgemässen Annahme
sind die Bildungswärmen in scheinbarem Widerspruch.
Bei der Verbrennung von Kohlenstoff zu Kohlenoxyd (CO)
werden auf 1 Molekül CO 28 800 cal. frei. Verbrennt Kohlenoxyd
zu Kohlensäure (CO.), so werden 68 200 cal. frei, und dem ent-
sprechend ist die Verbrennungs wärme von C zu CO2 97600 cal.
Aus dem Umstände, dass die Bildungswärme von CO aus C und O
mit 28800 cal. viel kleiner ist als die Bildungswärme von CO, aus
CO und 0 mit 68200 cal., darf man aber nicht schliessen, dass das
erste Atom O von C mit geringerer Kraft festgehalten werde als
das zweite, weil die Bildungswärmen in diesem Falle nicht direct
vergleichbar sind. Wenn Kohle in Kohlenoxyd übergeht, so muss
das mit grosser Kraft festgehaltene Kohlenstoffatom weggerissen
und frei gemacht werden ; es muss nämlich die Kohle aus dem
festen in den flüssigen Zustand übergehen, was durch Wärme allein
erst bei einer noch nicht herstellbaren Temperatur geschieht, und
sie muss überdem im Kohlenoxyd gasförmig werden. Für diese
physikalischen Veränderungen wird eine unbekannte, aber jedenfalls
sehr beträchtliche .Wärmemenge verbraucht , die zu der Bildungs-
wärme des Kohlenoxyds hinzu zu addiren ist und diese letztere in
ein ganz anderes Verhältniss zur Bildungswärme der Kohlensäure
bringen muss, als die angeführten Zahlen besagen.
798 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Bis jetzt habe ich von den dynamischen Beziehungen ge-
sprochen , in denen innerhalb eines Moleküls die Atome zu den
gegenüberstehenden Atomen sich befinden , und welche die
eigentliche chemische Verwandtschaft bedingen. In allen
Molekülen, die ans drei und mehr Atomen zusammengesetzt sind,
müssen solche Beziehungen auch zwischen den übrigen Atomen
bestehen. Ein Beispiel hiefür geben uns die zwei Iwerthigen Atome
in Fig. 36 III (S. 795), deren gegenseitige Bindung als collaterale
bezeichnet werden kann. Denn auch in den coUateralen Atomen
eines Moleküls bedingen die Attractions- und Repulsionskräfte noth-
wendig eine mehr oder weniger beträchtliche Wanderung der fort-
schrittsbeweglichen Amere und eine unter den übrigen Umständen
möglichst grosse Anziehung. Im allgemeinen stehen diese coUa-
teralen Bindungen den opponirten an Festigkeit merklich nach; es
ist aber kein Grund vorhanden, warum sie nicht in besonderen
Fällen die letzteren selbst übertreffen sollten.
Sind die Moleküle nicht vereinzelt, wie in den meisten Gasen,
sondern an andere Moleküle angrenzend, so werden zwischen den
Atomen des einen und denen des anliegenden Moleküls ebenfalls
Atomkräfte wirksam. Es findet ein analoger Vorgang statt, wie
zwischen den coUateralen Atomen des nämlichen Moleküls, aber im
allgemeinen mit noch geringerem Erfolg, da die Atome eines jeden
Moleküls wegen der beim Verbindungsakt zu Stande gekommenen
specifischen Anordnung ihrer Elementarkräfte bereits die festeste
Bindung gewonnen haben. Immerhin ist es noth wendig , dass die
an einander stossenden Atome zweier Moleküle ihre fortschritts-
bewegiichen und drehungsbeweglichen Theile und damit ihre Attrac-
tions- und Repulsionskräfte so günstig für ihre gegenseitige An-
ziehung anordnen, als es die bereits vorhandenen allseitigen dyna-
mischen Beziehungen gestatten.
Ich habe die Beziehungen der Atome (Particelle) eines Moleküls
als opponirte und collaterale unterschieden. Da diejenige Seite eines
Atoms, welche sich am Molekül aussen befindet, als Rückenseite
bezeichnet werden kann, so lassen sich die Beziehungen der an
einander stossenden Atome zweier Moleküle dorsale nennen. Das
Verhältniss zwischen der opponirten Affinität (die collaterale ist zu
wenig bekannt) und der dorsalen zeigt die allergrössten Verschieden-
heiten. Im allgemeinen überwiegt zwar die erstere bedeutend, aber
10. Chemische Verwan<ltschaft. Adhäsion. 799
es können beide auch nahezu gleich sein. Der letztere extreme Fall
trifft, wenn wir bloss die Moleküle der chemischen Elemente be-
rücksichtigen, einerseits beim Quecksilber ein, wo beide Affinitäten
sehr schwach sind, und wo die Atome des Moleküls im gleichen
Augenblick sich von einander trennen, in welchem die Moleküle
sich ablösen und gasförmig werden, — anderseits beim Kohlenstoff,
wo beide Verwandtschaften so gross sind , dass sie bis jetzt durch
Wärme allein nicht überwunden werden konnten. Den anderen
extremen Fall finden wir bei den permanenten Gasen, wo die oppo-
nirte Verwandtschaft sehr gross, die dorsale äusserst gering ist, indem
die Moleküle schon bei den allerniedrigsten Temperaturen getrennt,
die Atome aber bei den höchsten noch verbunden sind. Zmscheu
diesen beiden Extremen, — Quecksilber und Kohlenstoff einerseits,
Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff anderseits, — bewegen sich
alle übrigen Elemente.
Wenn die Atomkräfte als Centralkräfte wirksam wären , so
würden die nämhchen zwei Atome oder Atomparticelle auf gleiche
Entfernung immer die gleiche Anziehung auf einander ausüben,
was aller Erfahrung widerspricht. Sind aber, entsprechend der
Amertheorie, die Theilchen in den Atomkörpern bis zu einem ge-
wissen Grad beweglich, so kann die Anziehung zwischen zwei Atomen
alle möglichen Abstufungen zeigen, je nachdem dieselben gleich-
zeitig von andern Atomen mehr oder weniger stark in Anspruch
genommen und in ihren beweglichen Kräften orientirt sind. Nehmen
wir als Beispiel das Wasserstoff- und Sauerstoff atom. Dieselben sind
im gasförmigen Wassermolekül am festesten verbunden, weil sie ihre
Kräfte bloss mit Rücksicht auf einander, also auf die günstigste
Art anordnen. Im Hj'droxyl eines gasförmigen Moleküls ist die
Verbindung schon etwas lockerer, weil auf beide Atome, besonders aber
auf das betreffende Sauerstoffparticell noch andere Atomkräfte, wenn
auch nur in geringem Maasse einwirken. Noch geringere Verwandt-
schaft, und zwar in allen möglichen Graden, haben ein Wasserstoff-
atom und ein Sauerstoffparticell zu einander, wenn sie im nämlichen
Molekül coUateral sind, oder wenn sie verschiedenen Molekülen an-
gehören und in festen Körpern unmittelbar neben einander zu liegen
kommen, also in dorsaler Beziehung sich befinden.
Ebenso ist es einleuchtend , dass zwei Moleküle an ihren ver-
schiedenen Seiten ungleiche Verwandtschaft zu einander haben.
gQQ Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Nehmen wir den einfachsten Fall, die gleichen zwei aus Iwerthigen
Atomen bestehenden Moleküle (z. B. Kaliumjodid KJ, insofern J
wirklich einwerthig ist). Dieselben können in symmetrischer Weise
auf 7 verschiedene Arten sich neben einander lagern, von denen
jede eine andere Verwandtschaft bedingt. Bei stärker zusammen-
gesetzten Verbindungen steigt die Zahl der möglichen Stellungs-
combinationen in rasch zunehmender Progression. Legen sich die
Moleküle aus einer Lösung an einander an , so können sie ihrer
Neigung folgen und diejenigen Seiten einander zukehren , welche
die grösste Anziehung ergeben. Auf diese Weise bilden sich ab-
geschlossene Gruppen (Pleone^), Molekül Vereinigungen, die aus einer
bestimmten , meist geringen Zahl von Molekülen bestehen und in
verschiedener Beziehung sich wie ein einziges Molekül verhalten.
Aus 2 Molekülen bestehen die Pleone des Alauns. Eine besondere
Gruppe bilden die Hydropleone , indem 1 oder 2 Moleküle einer
Verbindung sich mit Wassermolekülen vereinigen , die als Pleon-
wasser zu bezeichnen sind, da das eigentliche Hydratwasser einen
integrirenden Bestandtheil eines Moleküls bildet. Es können sich
bis auf 10 Wassermoleküle mit 1 Salzmolekül (Natriumsulfat) und
bis auf 24 Wassermoleküle mit 2 Salzmolekülen (Kalium-Aluminium-
Doppelsulfat) vereinigen.
Die abgeschlossenen Vereinigungen der Pleone bestehen aus
ungleichen Molekülen. Wenn gleiche Moleküle sich an einander
ordnen, so können an die freien Seiten sich immer wieder neue
Moleküle in der nämlichen Weise anlegen. Es bildet sich eine un-
geschlossene Vereinigung, die unter günstigen Umständen unbegrenzt
fortwachsen kann und die man als Krystall bezeichnet. Da die
Pleone im allgemeinen , ähnlich wie die Moleküle , auf ihren ver-
schiedenen Seiten ungleiche dynamische Beschaffenheit besitzen und
ungleiche Verwandtschaft äussern, so können sie ebenfalls sich in
bestimmten Richtungen an einander lagern und Krystalle bilden.
Die Anziehungen zwischen den Molekülen bedingen, sofern diese
dem nämlichen Körper angehören, die Cohäsion und, sofern sie ver-
schiedenen Körpern angehören, die Adhäsion. Unter den Adhäsions-
1) Theorie der Gärung. Molekülvereinigungen S. 121.
!(•. Cliemischi' Verwandtschaft. Adlülsion gQJ
erscheinungen ist die })enierkenswertheste die ßenetzung fester und
die Imbibition organisirter Körper. Gewisse Substanzen haben grosse
Fläclienanziehung 7-11 Wasser und benetzen sich an ihrer Oberfläche.
Sind sie porös, so nehmen sie dasselbe in ihr Inneres auf. Die
organisirten K()rper bestehen aus Micellen, d. h. aus getrennten
Theilchen mit krystaUinischem Bau, die aus zahh-eichen Molekülen
zusammengesetzt und wie Krystalle entstanden sind, ohne die regel-
mässige Form der Krystalle zu besitzen. Die Iml)il)ition ist nichts
anderes als die Benetzung dieser Micelle, indem sich jedes mit einer
Wasserhülle umgibt.
Die Flächenanziehung vermag nur eine äusserst dünne Wasser-
schicht festzuhalten. Deswegen kann der organisirte Körper, wenn
er ausgetrocknet war, nur eine bestimmte Menge Wasser aufnehmen
und, indem seine Micelle infolge der Benetzung auseinander weichen,
sein Volumen nur um einen besthnmten Betrag vergrössern. Werden
mit Wasser durchdrungene Stärkekörner gedrückt, Membranen ge-
zerrt oder Fasern gebogen, so erfahren ihre Micelle eine entsprechende
Verschiebung, und die mit Wasser gefüllten Zwischenräume zwischen
denselben werden theils grösser, theils kleiner, wie dies in den nicht-
micellösen Körpern mit den von j^onderabelm Aether erfüllten
Zwischenräumen zwischen den Atomen der Fall ist. Bleibt die
mechanische Einwirkung innerhalb gewisser Grenzen, so kehrt nach
ihrem Aufhören der ursprüngliche Zustand in der äussern Form
und in der innern Configuration des organisirten Körpers zurück.
Auch nichtmicellöse Substanzen (z. B. Glas) benetzen sich mit
Wasser und in die capillaren Räume eines Pulvers dringt das Wasser
mit einer gewissen Kraft ein. Wären die Theilchen des Pulvers so
klein wie die Micelle, wären somit die trennenden Wasserhüllen der-
selben viel zahlreicher, so würde auch eine Volumenzunahme des
sich imbibirenden Pulvers bemerkbar werden.
Die Thatsache, dass zwischen die Micelle Wasser eindringt und
sie auseinander treibt , beweist , dass die organische Substanz eine
grössere Anziehung auf Wasser ausüljt als auf die organische Sub-
stanz selber. Aber es dringt in einen micellösen Körper nur eine
gewisse Menge Wasser ein; die Micelle werden durch dasselbe nur
bis auf eine bestimmte Entfernung auseinander gerückt. Es bedarf
selbst, um sie weiter von einander zu entfernen, einer äusseren Kraft,
wäe eine äussere Kraft noth wendig ist, mn sie mehr zu nähern. Dies
V. Nägeli, Abstammungslehre. 51
302 Kräfte und Oestaltungen im molecularen Gebiet
beweist, dass die Substanz des Micells bloss in nächster Nähe das
Wasser stärker anzieht als eine gleich grosse Menge Substanz, und
dass über eine bestimmte Entfernung hinaus , welche als Gleich-
gewichtslage zu bezeichnen ist, die dynamischen Beziehungen sich
umkehren.
Wir können, wie ich es schon früher gethan habe ^), dieses Ver-
halten in sjTubolischer Weise durch die Formel der Gleichgewichts-
A B
läge ausdrücken, -^ = , wenn A die Anziehung zwischen zwei
Volumeneinheiten der Substanz , B die Anziehung zwischen einer
solchen Volumeneinheit Substanz und einer Volumeneinheit Wasser
und d den Abstand der Mittelpunkte dieser Volumeneinheiten be-
zeichnet. Doch hat eine solche Aushilfsformel bloss eine vorläufige
empirische Bedeutung , indem sie eine Umschreibung , nicht eine
Erklärung der Erscheinung gibt. Wenn die theoretische Forderung
der Physik erfüllt werden soll , dass jede Anziehung nur im um-
gekehrten Verhältniss des Quadrats der Entfernung wirken kann,
so ist bloss Eine Annahme möglich, nämlich die, dass die oberfläch-
liche Partie des Micells auf die angrenzende Wassersehicht eine
grössere Anziehung ausübe als die innere Substanz des IVIicells auf
das übrige Wasser, und dass jene Anziehung grösser sei als die des
ganzen Micells auf ein anderes Micell, wobei natürlich stets gleiche
Volumina zu verstehen sind. Dadurch wird die vollständige An-
näherung der Micelle bei Vorhandensein von Wasser verhindert. Es
muss aber zugleich , sobald eine geringe Entfernung überschritten
ist, die Anziehung von Substanz zu Substanz grösser sein als die
Anziehung von Substanz zu Wasser, sonst würden sich die Micelle
unbegrenzt von einander entfernen und in Micellarlösung übergehen.
Jene einzig mögliche Annahme wird durch die Einwirkung der
Moleküle auf einander erfüllt, welche nach der Amertheorie stets
vorhanden sein muss , und welche eine der grössten gegenseitigen
Anziehung entsprechende Anordnung der beweglichen Theilchen in
den Atomkörpern verursacht. Es wird also die dynamische Be-
schaffenheit der oberflächlichen Moleküle der Micelle einerseits
und der angrenzenden Wassermoleküle andrerseits im Sinne- einer
gesteigerten Verwandtschaft geändert. Dieser Vorgang ist selbst-
1) Die Stärkekörner (1858) S. 333.
10. Cheinisrlie Verwandtsrhaft. Adliäslon. 903
verständlicli ein specifischer, indem das Wasser yai jeder anderen
chemischen \'erbindung einen anderen Grad der Verwandtschaft
äussert. Es gibt Kr)r[)er, welche sich gar nicht benetzen und somit
eine sehr geringe Anziehung zu Wasser kundgeben ; unter den
organischen Verbindungen gehören dazu die sauerstoffarmen Ver-
bindungen, Fette, Wachse, Stearoptene, Harze, Kautschuk.
Je nach der Stärke der Einwirkung maclit sich dieselbe auf
eine geringere oder grössere Entfernung geltend. Es ist denkbar,
dass von den Micellen der einen Substanzen nur eine einzige Schicht
von Wassermolekülen, von andern 2 und 3 Molekülschichten stärker
angezogen werden, so tlass zwischen je zwei Micellen, mit Ausschluss
der grösseren Interstitien an den Ecken, sich 2 bis 4 und 6 Schichten
von Wassermolekülen befinden, und dies reicht zur Erklärung aller
Erscheinungen der Imbibition vollständig aus^).
Die Wassermolekülschichten, welche in der angegebenen Weise
von der Micelloberfläche festgehalten werden , haben im X'^ ergleich
mit dem übrigen Wasser ihre dynamische Beschaffenheit etwas ver-
ändert. Diese Aenderung ist durch Wanderung von beweglichen
Theilchen in ihren Atomen eingetreten , welcher eine analoge Dis-
location in den Atomen der Micelloberfläche entspricht. Daraus
ergibt sich zugleich die Annahme, dass die betreffenden Wasser-
moleküle unbeweglicher werden, dass sie nicht mehr l)eliebig nach
allen Richtungen sich drehen und fortbewegen , sondern ihren Ab-
stand und ihre Orientirung zur Micelloberfläche bewahren, zu welcher
sie sich entsprechend der stärksten \'^erwandtschaft gerichtet haben,
— eine Annahme, die übrigens schon aus anderen Gründen noth-
wendig war-).
Gleichgewicht zwischen zwei einzelnen Micellen, wenn sich die-
selben allein im Wasser befanden , würde dann vorhanden sein,
wenn sie so weit von einander entfernt w-ären, dass die gegenseitige
Anziehung der beiden Micelle gleich käme der Anziehung zwischen
ihren oberflächlichen Molekülen und den die Micelle trennenden
Schichten von Wassermolekülen sammt der Anziehung zwischen den
ganzen Micellen und den durch sie verdrängten Wassermassen.
Daraus ergeben sich die Bedingungen für das Gleichgewicht der
1) Theorie der (iännig. Molekülvereiuigungen R. 147 ff.
2) Ebendaselbst S. 129 und 13:5.
804 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
Gesammtheit der Micelle in imbibirten organischen Körpern. Der
Abstand der Micelle hängt von der Massenanziehung zwischen den-
selben, von der Massenanziehung zwischen den Micellen und dem
Wasser und von den Berührungs- oder Adhäsionskräften ab, welche
zwischen der Überfläche der Micelle und den nächsten Wasser-
molekülen wirksam werden. Für gleiche chemische Beschaffenheit
der Micellsubstanz und der Imbibitionsflüssigkeit wird der Abstand
mit dem Grösserwerden der Micelle kleiner, weil die Oberflächen-
kräfte, mit welchen sie die wässrige Flüssigkeit anziehen, nach der
zweiten Potenz des Radius, die Anziehung zwischen den Micellkörpern
dagegen nach der dritten Potenz wächst.
Die Eigenthümlichkeiten der chemischen Anziehung und der
Adhäsionsanziehung lassen sich nach der Amertheorie , wie es in
dem Vorstehenden geschehen ist, durch Ortsveränderung beweglicher
Theilchen in den Atomen erklären. Dass eine solche Ortsveränderung
wirklich stattfinde , dafür bestehen zwei entscheidende Gründe , ein
theoretischer und ein empirischer. Was die Theorie betrifft, so sind
die Atome ihrer Entstehung gemäss Systeme von elastischen, in Be-
wegung befindlichen Ameren. Die Bewegungen der Amere müssen,
je nach den dynamischen Beziehungen derselben, ungleicher Natur
sein; ausser schwingenden muss es auch fortschreitende geben.
Daraus folgt beim Eintritt einer äusseren dynamischen Einwirkung
nothwendig eine Orts Veränderung dieser fortschrittsbeweglichen Amere.
Was die Erfahrung betrifft, so zeigen uns alle chemischen und
Adhäsionserscheinungen , dass die dynamischen Eigenschaften der
Atome nicht constant sind, sondern unter verschiedenen Umständen
eine bestimmte Veränderung erfahren, welche ohne eine Wanderung
der kraftbegabten Theilchen unmöglich erschiene. Wären die Eigen-
schaften der Atome beständig , so müsste man erwarten , dass ein
Molekül die Summe aus den Eigenschaften seiner Atome darstellte,
dass also auch die Schmelz- und Siedepunkte einer Verbindung,
welche von dem Grade der Adhäsion zwischen den Molekülen ab-
hängen, gewissermaassen in der Mitte lägen zwischen dem Schmelz-
und Siedepunkte ihrer constituirenden Elemente. Diese Erwartung
wird aber häufig getäuscht, indem die Verbindungen in der genannten
Beziehung über ihre Constituenten hinausgreifen.
10. Chemische N'erwaudtschaft. Adhäsion. 805
Betrachten wir beispielsweise das Wasser, das aus zwei perma-
nenten Gasen entstanden ist. Die Sauerstoffmoleküle, aus 'A Atomen 0
bestehend, haben eine so geringe Verwandtschaft zu einander, dass
sie bei den niedrigsten Temperaturen noch nicht zu einer Flüssigkeit
sich vereinigen, was wohl nur durch die Anwesenheit einer Aether-
hülle von beträchtlicher Mächtigkeit erklärt werden kann. Eben so
verhält es sich mit den Wasserstoff molekülcn, welche aus 2 Atomen H
zusammengesetzt sind. Wir würden es daher sehr natürlich finden,
wenn die Wassermoleküle, H,0, ebenfalls ein permanentes Gas dar-
stellten. Sie sind aber weit entfernt davon, die Eigenschaften ihrer
constituirendcn Elemente zu bewahren, da sie bei 100" sich zum
flüssigen und bei 0 ° zum festen Zustand vereinigen. Die Sauerstoff-
und Wasserstoffatome müssen also bei der Wasserbildung andere
Eigenschaften annehmen. Sowie sich dieselben einander nähern,
ordnen sich in beiden die fortschrittsbeweglichen Kräfte anders an;
infolge dessen wird der ponderable Aether mit geringerer Stärke
von den Atomkörpern angezogen; die Aetherhülle verliert an Mäch-
tigkeit und die Adhäsion zwischen den Molekülen nimmt zu.
Man könnte vielleicht geneigt sein , die grössere Adhäsion
zwischen den Wassermolekülen dem Umstände zuzuschreiben, dass
die dorsale Anziehung zwischen einem Wasserstoff- und einem Sauer-
stoffatom grösser und im Wasser gerade eben so häufig vorhanden
sei als die dorsale Anziehung zwischen zwei Wasserstoffatomen und
diejenige zwischen zwei Sauerstoff atomen. In diesem Falle würde
man die dorsale Verwandtschaft an der Oberfläche der Moleküle nach
der opponirten Verwandtschaft innerhalb der Moleküle beurtheilen,
was nicht nur theoretisch unzulässig, sondern auch mit der Erfahrung
im Widerspruche ist. Um nur von der letzteren zu sprechen, so
müsste, wenn der angeführte Grundsatz richtig w^äre, die Cohäsion
einer Menge von Verbindungen grösser sein als die Cohäsion eines
jeden ihrer Elemente, was nicht der Fall ist. Gerade das wechselnde
Verhältniss zwischen den beiden Anziehungen (der opponirten und
der dorsalen) beweist uns, dass beide unabhängig von einander und
in jeder Verbindung von der Anordnung der wanderungsfähigen
Kräfte bedingt sind.
Das nämliche Verhalten wie beim Wasser finden wir bei den
Verbindungen zwischen Sauerstoff und Stickstoff, Wasserstoff und
Stickstoff u. a. Auch in Bleiprotoxyd (PO), welches bei 1»54° schmilzt,
30(3 Kräfte und Gestaltungen im inolernlaren Gebiet.
ist die Cohäsion grösser als im Sauerstoff uiifl im Blei, von denen
das letztere seinen Schmelzpunkt bei 334" hat.
Viele binäre Verbindungen halten sich rücksichtlich der Adhäsion
ihrer Moleküle zwischen den sie zusammensetzenden Elementen. Be-
merkenswerth sind die Erscheinungen, welche Kohlensäure und
Kohlenoxyd zeigen. Die Kohlensäure (Kohlendioxyd , CO.) hat
ihren Schmelz- und Siedepunkt l)ei — IH^; sie steht somit in Bezug
auf die Adhäsionsanziehung ihrer Moleküle zwischen Kohlenstoff
und Sauerstoff, wenn sie auch dem letzteren viel näher kommt. Von
dem Kohlenoxyd (CO) aber sollte man erwarten, dass es zwischen
Kohlensäure und Kohlenstoff stehe, während es als permanentes Gas
sich wie Sauerstoff verhält oder wenigstens eine Zwischenstellung
zwischen Kohlensäure und Sauerstoff einnimmt. Eine solche Er-
scheinung wäre einmal ganz unerklärlich, wenn im Kohlenoxyd das
Sauerstoffatom wie in der Kohlensäure mit zwei Particellen des
Kohlenstoffatoms sich verbunden und die übrigen zwei Werthigkeiten
in Wirklichkeit frei gelassen hätte ; denn in diesem Falle würde das
Kohlenoxydmolekül gleichsam aus einem halben Molekül Kohlen-
säure und einem halben Kohlenstoffatom bestehen. Verbindet sich
aber jedes der zwei Particelle des Sauerstoff atoms mit zwei Particellen
des Kohlenstoffatoms, wie ich es für mechanisch nothwendig halte
(S. 795), so verändert sich das bisherige dynamische Gleichgewicht
in allen Particellen des Kohlenstoffs und zwar in anderer Weise, als
es bei der Verbindung von 4 Particellen Sauerstoff mit 4 Particellen
Kohlenstoff zu Kohlensäure geschieht, — und es lässt sich recht wohl
denken , dass infolge der im einen und andern Falle eintretenden
('Onfigin-ationsänderungen in den Atomkörpern die Aetherhülle des
Kohlenoxydmoleküls stärker ausfällt als diejenige des Kohlensäure-
moleküls. — Analog wie Kohlenoxyd und Kohlensäure verhalten
sich Schwefligsäureanhydrid und Schwefel Säureanhydrid.
Eine dritte Art des Verhaltens einer A^erbindung im Vergleich
mit den beiden Elementen, aus denen sie zusammengesetzt ist, zeigt
uns der Schwefelkohlenstoff (CS.). Derselbe siedet bei 47*" und hat
somit eine geringere Cohäsion als seine Constituenten Kohlenstoff
und Schwefel, von denen der letztere bei 320° siedet.
Bemerkens werth sind die isomeren Verbindungen, welche durch -
gehends eine ungleiche Adhäsionsanziehung zwischen den Molekülen
besitzen. So siedet beispielsweise die Buttersäure (C.HoO.) bei 156"
11. Isagität. 807
und der Essigäther (ebenfalls CjH,0/) bei 74". Die isomeren Ver-
bindungen unterscheiden sich dadurch von einander, dass ihre Atome
eine ungleiche Lagerung im Molekül besitzen, wodurch natürlich
ungleiche dynamische Beziehungen zwischen den Atomen, ungleiche
Anordnung der Kräfte in denselben und ungleiche mittlere Mäch-
tigkeit der Aetherhülle um das ganze Molekül verursacht werden.
11. Isagität.
Die Annahme der Isagität ist eine Hypothese, ein Versuch, die
unvollständigen erfahrungsmässigen Vorstellungen über die dyna-
mische Beschaffenheit der Materie zu ergänzen. Eine Hypothese
ist um so gerechtfertigter, für je zahlreichere Erscheinungen sie die
Einheit einer vernünftigen Erkenntniss gewährt, und um so nütz-
licher, je mehr sie geeignet ist, zur Auffindung neuer Thatsachen
zu führen. In beiden Beziehungen entspricht , wie ich glaube , die
Annahme der Isagität in Verbindung mit der Amertheorie den An-
forderungen an eine erlaubte Hypothese, da sie alle natürlichen
Erscheinungen zu umfassen und ihnen einen naturgesetzlichen Aus-
druck zu geben sucht, und da sie gewiss, wenn sie einmal Gegen-
stand physicalischer Experimente geworden ist, auch zu neuen
Erkenntnissen führen wird.
Alle Naturwissenschaft muss gleichzeitig deductiv und inductiv
sein. Eine Hypothese muss daher einerseits mit den Gesetzen der
Vernunft und andrerseits mit den Erfahrungen der sinnlichen Wahr-
nehmung übereinstimmen, wobei nicht übersehen werden darf, dass die
vernunftgemässe Betrachtung doch eigentlich nichts anderes ist als
eine solche, welche die allerallgemeinste Erfahrung und die daraus
mit logischer Nothwendigkeit sich ergebenden Normen zur Grund-
lage hat. Die vernunftgemässe Deduction verlangt, dass die Elementar-
kräfte gradlinig und nach dem umgekehrten Quadrat der Entfernung
wirken, und dass bei der Construction derselben eine gewisse Regel-
mässigkeit und, da es sich um Anziehung und Abstossung handelt,
eine gewisse Symmetrie beobachtet werde. Die letztere Bedingung
ist erfüllt, wetm ausser den elektrischen und den Dominantenkräften
noch die Isagitäten angenommen werden.
808 Kräfte und Gestaltungen iin molecularen Gebiet.
Was die Kritik betrifft, welche die Erfahrung an dieser Deduction
ausübt , so folgen bis jetzt bereits die Elektrieitäten und die Gravi-
tationsanziehung den vernunftgemässen Forderungen, indess für die
noch unbekannten Beziehungen der Aetherabstossung, der chemischen,
elastischen, Adhäsions- und Cohäsionskräfte entweder bestimmte An-
nahmen mangeln, oder in Form von sogenannten empirischen Ge-
setzen in Ermanglung einer bessern Einsicht einstweilen geduldet
werden. Dagegen befriedigt, wie ich glaube, die deductive Annahme
einer neuen Kraft mit der Wirkungsweise der Isagität in A^erbindung
mit der Amertheorie alle Bedürfnisse der Erfahrung und erklärt die
natürlichen Erscheinungpn in streng rationeller Weise, indem sie
alle Kräfte nicht anders als im umgekehrten Verhältniss des Quadrats
der Entfernung wirken lässt.
Dass eine besondere Elementarkraft mit den Eigenschaften der
Isagität angenommen werden muss , ergibt sich ganz entschieden
aus dem Umstände, dass ohne sie manche chemischen und Adliäsions-
anziehungen, besonders diejenigen zwischen den Atomen und Mole-
külen des nämlichen Elements , gar nicht erklärt werden könnten.
Die Elektricität allein würde in diesen Fällen nur eine sehr schwache
Anziehung oder eher eine Abstossung ergeben, während die Atome
des Sauerstoffs, Wasserstoffs, Kohlenstoffs, Schwefels und der meisten
übrigen Elemente doch so fest an einander haften. Es kommt zwar
vor, dass zwei gleiche Körper oder zwei Hälften des nämlichen
Körpers durch Verth eilung ungleich elektrisch werden; aber die
Ursache dieses Vorganges ist immer auf eine Störung des Gleich-
gewichts durch ungleiche Erwärmung oder ungleiche mechanische
Action zurückzuführen. Dass zwei gleiche Atome, z. B. zwei Sauer-
stoffatome, die in geringen Abständen von einander schweben und
gleiche Schwingungsbewegungen ausführen, also in allen Beziehungen
sich gleich verhalten, durch gegenseitige Einwirkung einen merklichen
Theil ihrer neutralen Elektricität zerlegen und dadurch ungleich elek-
trisch werden sollten, ist wohl ganz undenkbar. Vielmehr führt die
Thatsache, dass gleichartige Atome einander anziehen, direct zu der
Schlussfolgerung , dass sich in ihnen Kräfte befinden mit dem ent-
gegengesetzten Charakter der Elektricität, so dass die gleichnamigen
sich anziehen. Die chemischen und Adhäsionskräfte sind offenbar
nicht einfacher Natur, sondern durch das Zusammenwirken der ver-
schiedenen Elementarkräfte, namentlich der Elektricität und Isagität
11. Isagität. 809
hervorgebracht, in der Weise, dass bald die eine Ijuld die andere
dieser beiden Kräfte einen grössern und selbst den ausschliesslichen
Antheil am Effect hat.
Man darf gegen die Isagität nicht den Einwurf erheben, dass,
wenn sie vorhanden wäre, sie auch durch Erfahrung bekannt sein
müsste. j\Ian kennt sie allerdings, aber nur im Verein mit anderen
Elementarkräften als Molecularkraft, und von den Molecularkräften
sagt man ja ohnehin, dass sie nur auf kleinste Entfernungen wirken
und sich somit unserer directen Beobachtung entziehen. Dies darf
natürlich nicht so verstanden werden, dass ihre Wirkung rascher,
d. h. nach einer höheren Potenz der Entfernung abnehme, als bei
anderen Kräften, deren Wirkung auf messbare Entfernungen bemerkbar
ist. Sondern es rührt die scheinbare Ausnahme der Molecularkräfte
nur daher, weil immer benachbarte Kräfte vorhanden sind, die in
entgegengesetztem Sinne wirken, so dass nur in der nächsten Nähe
die eine oder andere ein bemerkenswerthes Uebergewicht erlangt.
Zwei Atome, deren fortschrittsbew^egliche Attractionskräfte an die
zugekehrten Seiten gewandert sind , ziehen sich auf ganz geringe
Entfernungen sehr stark an, während die Anziehung auf grössere
Entfernungen durch die Abstossung beinahe compensirt wird, und
nur ein winziger Ueberschuss als Schwerkraft üln-ig bleibt. Da nun
die Isagität ihrer Natur nach bloss als Molecularanziehung wirkt, so ist
es begreiflich, dass wir diese Kraft erfahrungsgemäss nicht in ihrer speci-
fischen Verschiedenheit von den anderen Elementarkräften erkennen.
Ungegründet wäre ebenfalls der Ein\\Tirf, dass die Isagität, wenn
sie existirte, bei ihrer grossen Analogie mit der Elektricität in ähn-
licher Weise w'ie diese zum ^"^ erschein kommen sollte. Denn, wenn
auch die Isagität und die Elektricität darin übereinstimmen , dass
beide in positiver und negativer Modification auftreten, so werden
sie doch durch die unterscheidenden Eigenschaften in ganz ungleichem
Maasse befähigt, sich l)emerkbar zu machen. Die Elektricität ist
hiezu von Natur sehr geeignet. Da die ungleichnamigen Elektrici-
täten sich anziehen, so entstehen elektrisch neutrale Amergruppen,
deren Lage im ponderabeln Aether bloss durch die andern Elementar-
kräfte (Dominanten und Isagitäten) bedingt wird. Werden diese
Amergruppen durch äussere Ursachen zerlegt, so übt die frei werdende
Elektricität eine Wirkung nach aussen aus , die frülier nicht vor-
handen war, und die Amere, an welche die freie Elektricität gebimden
810 Kräfte nnd Ge8taltiinp:en iin niolernlaren TTebiet.
ist, können wegen der Abstossung, die sie auf einander ausüben,
durch den ponderabeln Aether weit fort wandern und auch an andern
Orten eine Wirkung nach aussen vollbringen. Die beiden Isagitäten
dagegen liilden , da sie einander al)stossen , keine neutralen Amer-
gruppen; vielmehr treten sie überall, wo sie vorhanden sind, mit
den ihnen eigenthümlichen Anziehungen auf und sind durch die-
selben festgebunden. Es kann daher ein Körper nicht in analoger
Weise isagisch gemacht werden, wie man ihn elektrisch machen
kaim; es wird auch nicht leicht ein Mittel geben, wodurch einem
Körper in erheblichem Maasse Isagität zugeführt oder entzogen
werden kann. Die Veränderung des isagischen Charakters muss
sich wohl auf die Regionen innerhalb der Atome und Moleküle be-
schränken , wo sie durch Wanderimg der isagischen Amere ver-
ursacht wird.
Bei der Beurtheilung der Frage, warum die Isagität als solche
noch nicht durch Erfahrung bekannt ist, muss namentlich auch an
die wichtige Thatsache, die ich festgestellt habe, erinnert werden,
dass die Elementarkräfte, deren Wirkung wir gewahr werden, nur
einen fast verschwindend kleinen Theil derjenigen Kraftmengen aus-
machen, welche in der Natur vorhanden sind und sich so das Gleich-
gewicht halten, als ob sie nicht da wären (S. 728). Wenn sogar die
so auffallend hervortretende Schwerkraft bloss einen winzigen Bruch -
theil der Gravitationskräfte ausmacht, so begreifen wir, dass die für
die Wahrnehmung viel ungünstiger angelegte Isagität unserer Be-
obachtung entgeht.
Nachschrift. — Die vorstehende Abhandlung war geschrieben,
als ich an sehr sensibeln niedern Pflanzen ein Gebiet von Erschei-
nungen kennen lernte, welches meiner Ansicht nach nur durch die
Annahme einer neuen Elementarkraft erklärt werden kann, und
zwar einer Kraft, welche die der Isagität zugeschriebenen Eigen-
schaften besitzt. Die bezüglichen Thatsachen hoffe ich nächstens
in einer besonderen Schrift darzulegen.
12. Znsammenfassung. 811
12. Zusammenfassung der Lehre von den Kräften und Gestaltungen im
molecularen Gebiet nach der Amertheorie.
1. Elementarkräfte.
Von Elementarkräften, welche in geradliniger Richtung als An-
ziehung oder Abstossung wirken, gibt es drei Paare:
die Elektrici täten , von denen die gleiclmamigen sich al">-
stossen, die ungleichnamigen sich anziehen;
die I sag i täten, von denen die gleichnamigen sich anziehen,
die ungleichnamigen sich abstossen;
die Dominan tenkräf te, .von denen die Gravitation auf
sich selber anziehend und die Aet her abstossung auf sich selber
abstossend wirkt, während die erste und zweite sich indifferent zu
einander verhalten.
Zwischen den Kräften der verschiedenen Paare finden keine
dynamischen Beziehungen statt. Alle gegenseitigen P^inwirkungen
zweier Kräfte sind gleich dem Product aus den beiden Kraftmengen,
getheilt durch das Quadrat der Entfernung.
2. \'erth eilung der Elementarkräf te auf die kleinsten
T h e i 1 c h e n.
Die sechs Elementarkräfte (positive und negative Elektrici tat,
positive und negative Isagität, Gravitation und Aetherabstossung)
sind, als untrennbare Eigenschaften der Substanz, alle in jedem denk-
baren kleinsten Theilchen vereint, aber in jedem in ungleicher
Menge enthalten , so dass jedes Theilchen einen anderen dynami-
schen Charakter besitzt. Da anzunehmen ist, dass die zwei Kräfte
eines Paares im Weltall in gleichen Mengen vorhanden sind, so
ist, wenn die kleinsten Theilchen von gleicher Grösse gedacht
werden, wegen ihrer unendlichen Menge eine Hälfte der Theilchen
mit überwiegender positiver Elektricität, die andere mit überwiegender
negativer Elektricität begabt, ferner eine Hälfte vorzugsweise positiv
isagisch, die andere vorzugsweise negativ isagisch, endlich eine Hälfte
mit mehr Gravitationsanziehung (ponderable Theilchen), die andere
mit mehr Aetherabstossung ausgerüstet (imponderable oder Aether-
theilchen). Und wenn angenommen werden darf , dass alle sechs
Elementarkräfte gleiche Summen im Weltall bilden, so ist in jedem
Sechstel aller Theilchen eine andere Kraft in absolut grösster Menge
vorhanden.
812 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet
3. Agglomeration und Dispersi on durch die Elementar-
kräfte.
Die kleinsten aus Erfahrung bekannten Theilchen sind die
Aethertheilchen ; es ist anzunehmen, dass auch die wägbaren Stoffe
aus Theilchen von gleicher Grösse zusammengesetzt sind. Die
Theilchen dieser kleinsten Grössenordnung können als Araere be-
zeichnet werden. Die Amere w^aren anfänglich vereinzelt, in gas-
ähnlicher Zerstreuung, aus welcher sie sich theil weise durch die
Anziehung der ungleichnamigen Elektricitäten , der gleichnamigen
Isagitäten und der Gravitation zunächst zu Gruppen vereinigten.
Entscheidend für den Erfolg im grossen und ganzen war die Wir-
kung der Dominantenkräfte , da diese nicht auf einander wirken ;
die Gravitationsanziehung ballte die eine Hälfte der Amere (die
ponderabeln Amere) zu wägbaren Stoffen zusammen, während die
Aetherabstossung die andere Hälfte der Amere (die imponderabeln
oder Aetheramere) in der ursprünglichen Zerstreuung erhielt und
den Weltäther constituirte. Elektricität und Isagität, von denen
jede zugleich Anziehung und Abstossung ausübt, sind bei der
Agglomeration und Dispersion der Materie nur in untergeordneter
Weise betheiligt, insofern als sie das Bestreben haben, sowohl inner-
halb der Agglomerations- als der Dispersionsmassen elektrisch un-
gleichnamige und isagisch gleichnamige Amere mit einander zu
vereinigen.
4. Elasticität und Bewegung der Amere. Weltäther.
Maassgebend für den Zustand der Agglomeration imd der
Dispersion ist die vollkommen elastische Beschaffenheit der Amere
und ihre Bewegung. Was die Elasticität betrifft, so kann ihre Ur-
sache , wie die Ursache der Elasticität der Atome , nur darauf be-
ruhen, dass die Attractions- und Repulsionskräfte in nahezu gleichen
Mengen in jedem Amer vorhanden und durch sein Inneres vertheilt
sind. Was die Bewegungen betrifft, so müssen dieselben, in ähn-
licher Weise wie diejenigen der Gasmoleküle , fortschreitende und
drehende sein, und ihre Geschwindigkeit muss die Geschwindigkeit
der Gasmoleküle in analogem Maasse tibertreffen, wie die auf Aether-
schwingungen beruhende Fortpflanzung der Licht- und Wärme-
strahlen und die Bewegung der Elektricität die Fortpflanzung des
12. Zusammenfassung. 313
von Schwingungen der Luft getragenen Schalles und die fliegenden
Bewegungen der Gasmoleküle übertreffen.
Dem entsprechend besteht der Weltäther theils aus vereinzelten
Ameren mit der ursprünglichen fortschrittlichen Geschwindigkeit,
theils aus kleinen Gruppen von solchen Ameren, welche durch die
isagischen und elektrischen Kräfte zusammengehalten werden und
sich in scliwingender Bewegung Vjefinden. Die Amergruppen haben,
da die ursprüngliche lebendige Kraft ihrer Amere zum Tlieil in
interne Bewegung übergegangen ist, eine entsprechend geringere
Geschwindigkeit ; sie werden leicht durch den Stoss zertrümmert.
5. Entstehung der Atome.
Bei der Agglomeration ballten sich die ponderabeln Amere je
aus einem bestimmten Volumen der durch den Himmelsraum aus-
gebreiteten Substanz, dessen Grösse durch die Wirkung der Gravi-
tationsanziehung und die Bewegung der Amere bestimmt war, zu
einer Masse zusammen, die ein chemisches Atom darstellt. Bei
diesem Vorgang vereinigten sich zuerst die Amere mit stärkerer
Anziehung zu kleineren und diese zu grösseren Gruppen, deren fort-
schreitende Bewegung mit zunehmender Grösse sich verminderte,
und bildeten schliesslich den aus dichterer und weniger beweglicher
Substanz bestehenden Atomkörper. Um denselben legien sich dann
die Amere mit schwächerer Anziehung an und stellten eine Atmo-
sphäre dar, die von innen nach aussen an Dichtigkeit ab- und an
Beweglichkeit zunimmt. In einem bestimmten Weltenraum und in
einer bestimmten Zeitperiode entstanden die Atome eines bestimmten
chemischen Elements. Die verschiedenen Elemente bildeten sich
unter verschiedenen Verhältnissen, die in verschiedenen A\'elträumen
oder in verschiedenen Zeitperioden gegeben waren, — im allgemeinen
zuerst diejenigen mit grösserem Atomgewicht aus den Ameren mit
stärkster Gravitationsanziehung, zuletzt wohl, als der Raum an pon-
derabeln Ameren schon fast erschöpft war, das leichteste Element,
der Wasserstoff.
6. Atom kör per, Aet herhülle und Z wi schenhülläther.
Der Atomkörper besteht aus Ameren und Amergruppen, die
sich in schwingenden , theilweise auch in fortschreitenden und
drehenden Bewegungen befinden; die Summe der lebendigen Kräfte
814 Kräfte un.i Gestaltungen im molecularen Gebiet.
dieser Bewegungen ist gleich der Summe der lebendigen Kräfte,
welche die Amere im ursprünglichen Zustande der Zerstreuung be-
sassen. Die Amere des Atomkörpers gehören im allgemeinen dauernd
demselben an, und verhältnissrnässig nur wenige mögen ihn jeweilen
verlassen und durch andere von aussen eintretende ersetzt werden.
Die Atmosphäre um den Atomkörper besteht aus ponderabeln
Ameren und Amergruppen , die zwar alle ihren Platz verlassen
können, von denen aber die der innersten Schichten, durch stärkere
Anziehung gebunden , mehr schiwingende Bewegungen ausführen,
während die der äusseren Schichten mehr und mehr bloss fort-
schreitende Bewegungen zeigen. Diese Atmosphäre hat grosse Aehn-
lichkeit mit dem Aether, in den sie auch an der Oberfläche all-
mählich übergeht, und kann als ponderabler oder Schweräther von
dem eigentlichen Leicht- oder Weltäther miterschieden werden.
Wenn sich die Atome zu Molekülen und die Moleküle zu festen
und flüssigen Massen vereinigen, so wird ein Theil der Schweräther-
atmosphäre zwischen denselben verdrängt. An dem interatomaleu
Aether dieser Massen lassen sich nun bestimmter zwei Partien unter-
scheiden. Diejenige , welche die Atomkörper zunächst umgibt und
aus einer dichteren, weniger beweglichen Substanz besteht, kann als
Aetherhülle, die übrige weniger dichte, aber beweglichere Partie als
Zwischenhülläther bezeichnet werden. Die Aetherhülle verhindert
die vollständige Annäherung der Atomkörper und nimmt an dem
Zustandekommen der Elasticität Theil. Der Raum, in welchem die
Atome mit ihren Hüllen hin und her schwingen, im flüssigen Zu-
stande auch fortschreiten und sich drehen, ist mit Zwischenhüll-
äther gefüllt.
7. Dynamische Einwirkungen der Körper auf einander.
Schwere.
Da in jedem Amer alle sechs Elementarkräfte enthalten sind,
so besteht die Einwirkung zweier Amere auf einander in der Summe
aller Anziehungen weniger die Summe aller Abstossungen. Sie ist
also gleich
ÄA, — BB, + (« — /^) K — ß.) + (« — ^ [h. — «■)
wenn A und A^ die Gravitationsanziehung, B und B^ die Aether-
abstossung, « und a, die positive, ß und ß^ die negative Isagität,
12. Zusammenfassung. 815
a und (I, die positive, h und b, die negative Elektricität der beiden
Amere bezeichnen. Für die gegenseitige Einwirkung zweier Körper,
die sich in grösserer Entfernung von einander l)efinden , gilt obige
Formel ebenfalls, wenn die Buchstaben die Summen der gleich-
namigen Kräfte in allen Anieren bedeuten, weil die Entfernung der
beiden Mittelpunkte nun olme merklichen Fehler für die genannten
Summen in Rechnung gebracht werden kann. Bestehen die Körper
aus einer grossen Zahl von verschiedenen chemischen Elementen,
so können die beiden aus den isagischen und elektrischen Kräften
sich ergebenden Ausdrücke vernachlässigt werden, weil die positiven
und negativen Glieder dieser Kräfte in gleichen Mengen vorhanden
sind. Die Wirkung zweier solcher Körper wird also bloss durch
die beiden Ausdrücke AA^ — BB^ bestimmt; diese Differenz stellt,
wenn es sich um ponderable Massen handelt, die Schwereanziehung
derselben dar. Das Gesetz der Schwere beweist, dass in den Himmels-
körpern unseres Sonnensystems die Smnmen der Gravitationskräfte
und der Aetherabstossungskräfte im gleichen Verhältniss zu einander
stehen (A JB ^= Ai : B^). Die zwischen zwei Körpern bestehende
Anziehung durch die Schwerkraft ist nur ein winziger Theil der
durch alle ihre Gravitationskräfte bewirkten Anziehung, und die
gesammte Aetherabstossmig ist nur um einen unbedeutenden Bruch-
theil kleiner als die gesammte Gravitationsanziehung. Nach dieser
Auffassung erklärt sich der scheinbare Gegensatz zwischen der
Schwerkraft und den Molecularkräften, indem jene aus der Differenz
der letzteren zu Stande kommt.
8. Wärme und Licht.
Der Welt- oder Leichtäther zeigt in analoger Weise wie die
Luft, ausser den Einzelbewegungen der Aethertheilchen und den
fortschreitenden Massenbewegungen, auch schwingende Massenbewe-
gungen, bei denen eine grosse Menge von Theilchen sich gleich-
zeitig hin und her bewegt. Von den verschiedenen Aetherbewe-
gungen sind es diese Massenschwingungen , welche das Licht und
die Aetherwärme darstellen. Als Wärme setzen sie sich mit den
(schwingenden, fortschreitenden und drehenden) Bewegungen der
Moleküle und Atome ins Gleichgewicht, indem sie je nach Um-
ständen denselben eine Beschleunigung ertheilen oder durch die-
selben eine Beschleunigung erfahren, wobei Aetherwärme latent und
816 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
in Atombewegung übergeführt wird , und umgekehrt. — A^on der
ponderabeln Aetheratmosphäre, welche die Atomkörper umgibt, wird
der Zwischenhülläther infolge seiner grösseren Beweglichkeit durch
die Schwingungen des Leichtäthers in analoge Massenscliwingungen
versetzt. Bildet der Zwischenhülläther breitere und zusammen-
hängende Bahnen zwischen den Molekülen, so findet die Durch-
strahlung der Masse ohne merklichen A^erlust der Aetherschwingungen
statt und die Körper sind vollkonnnen diatherman und durchsichtig.
Sind aber die Bahnen des ZwischenhüUäthers infolge der Anord-
nung der Atome enge und unvollständig - zusammenhängend , so
setzen sich die Aetherschwingungen in x4.tombewegungen um und
die Körper sind mehr oder weniger adiatherman und undurchsichtig.
9. Erregung und Verbreitung der Elektricität.
Jedes Amer ist, je nachdem die eine oder andere Elektricität
überwiegt, dauernd positiv oder negativ elektrisch, da die Elektricität
eine Eigenschaft seiner Substanz ist und es daher nicht verlassen
kann. Die positiven und negativen Amere sind im allgemeinen zu
neutralen Gruppen vereinigt. Durch Zerlegung dieser Gruppen und
Ansammlung der elektrisch gleichnamigen Amere wird freie Elek-
tricität erzeugt. Dies erfolgt, wenn ein elektrischer Körper sich
einem neutralen Körper nähert, durch dynamische Einwirkung, oder
auch wenn durch irgend welche Eingriffe von aussen das bisher be-
standene Gleichgewicht in einem neutralen Körper gestört und dabei
infolge anderweitiger Anziehungen und Abstossungen elektrisch
neutrale Amergruppen gespalten werden.
Die in den Atomkörpern schon vorhandene oder durch eine
äussere Ursache frei werdende Elektricität beibt in denselben ein-
geschlossen, da die Amere im allgemeinen nicht heraus treten
können. Dagegen sind die elektrischen Theilchen der Aetherhüllen
und besonders des ZwischenhüUäthers fortschrittsbeweglich , und
die freie Elektricität, die an den Körpern zeitweise oder stellenweise
wahrgenommen wird, stammt stets aus dem Schweräther derselben. —
Die Amere der freien Elektricität stossen sich gegenseitig ab und
haben das Bestreben, sich von einander zu entfernen. Wenn sie
dem Leichtäther angehörten und somit auch noch die Aether-
abstossung wirksam wäre, so müssten sie stets die festen und flüssigen
Körper verlassen. Da sie aber mit ausreichender Gravitations-
12. Zusammenfassung. 317
anziehung und iiainentlicli mit isagisclier Anziehung begabt sind,
so werden sie von den Körpern festgehalten, breiten sich aber wegen
ihrer gegenseitigen Abstossung in den oberflächht-hsten Schichten
derselben ans.
10. Leitung der Elektricität.
Da die Theilchen des Schweräthers in den festen und tlü.s.sigcn
Körpern durch ihre gegenseitigen dynamischen Einwirkungen und
Bewegungen einen bestimmten Spannungszustand darstellen, welcher
der Spannung des äusseren Aethers das Gleichgewicht hält, so kann
ohne Spannungsänderung ein elektrisches Theilchen seinen Platz
nur verlassen, wenn es an die Stelle eines andern Theilchens des
Schweräthers tritt und wenn ebenso seine Stelle von einem anderen
Theilchen eingenommen wird. Die Wanderung der einander ab-
stossenden elektrischen Amere , welche den geringsten Widerstand
zu überwinden hat, findet daher naturgemäss so statt, dass elektrisch
neutrale Theilchen (Amergruppen) oder, wie dies beim galvanischen
Strom der Fall ist, Amere mit entgegengesetzter Elektricität sich
in der umgekehrten Richtung bewegen. So kann der elektrische
Strom durch einen Körper oder eine beliebig lange Reihe von Körpern
gehen, wenn sich auf diesem Wege ununterbrochene Reihen von
neutralen Amergruppen befinden, und es kann eine beliebäg grosse
Menge von Elektricität strömen, wenn der Weg in einen Körper
von hinreichend grosser Ausdehnung (z. B. in die Erde) endigt.
Die Leitung geschieht um so leichter, je näher die neutralen Amer-
gruppen der Strombahn beisanmien liegen, also je dichter der pon-
derable Aether ist. Sie ist unmöglich durch die Atomkörper hindurch,
weil diese den Ein- und Austritt von Ameren nur spärlich gestatten.
Andrerseits wird sie von dem Zwischenhülläther nur sehr unvoll-
kommen oder gar nicht ausgeführt, weil dessen Theilchen zu weit
von einander abstehen und wegen ihrer grösseren Beweglichkeit
keine constanten Reihen bilden. Dagegen eignen sich die Aether-
hüllen infolge ihrer grösseren Dichtigkeit und der geringeren Be-
weglichkeit ihrer Theilchen vorzüglich zur Leitung der Elektricität,
und als die besten Leiter sind diejenigen festen Körper zu betrachten,
deren Aetherhüllen in ununterbrochener Verbindung unter einander
stehen. Damit stimmt überein, dass z\^^schen der Leitungsfähigkeit
der Elektricität und andrerseits des Lichtes und der Wärme ein ge-
wisser Gegensatz besteht.
V. Nägeli, Abstammungslehre. 52
818 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
11. Magnetismus.
In den Atomkörpern der chemischen Elemente ist die eine oder
andere Elektricität in verschieden grossem Ueberschuss enthalten ;
derselbe bedingt die Stellung der Elemente in der elektrischen Span-
nungsreihe. Er wirkt auch in entsprechendem Maasse vertheilend
auf die Aetherhülle, von welcher daher namentlich die innern (den
Atomkörper zunächst umgebenden) Schichten neben den neutralen
Amergruppen auch elektrische Amere enthalten, deren Elektricität
mit der des Atomkörpers ungleichnamig ist. Da die Theilchen der
Aetherhülle zum Theil in fortschreitenden Bewegungen begriffen
sind, so bilden sich, wegen der Anwesenheit der elektrischen Amere,
leicht elektrische Strömchen, welche, wegen der Anziehung dieser
Amere durch den Atomkörper, die Neigung haben, in tangentialer
Richtung zu verlaufen und kreisförmig zu werden. Viele solcher
gleichgerichteter kreisförmiger Elementarströmchen bilden zusammen
den »Molecularstrom«, welcher das Atom zum »Molecularmagneten«
macht.
Die Molecularströme können schon von Natur vorhanden sein,
wobei ihre Richtung von Atom zu Atom wechselt ; dann werden sie
durch einen benachbarten Strom inducirt d. h. ganz oder theilweise
in die gegenläufige Richtung übergeführt. Beharren sie in dieser
Richtung, so bedingen sie den Diamagnetismus der festen Körper.
Geht die Wirkung des inducirenden Stromes noch weiter, so dreht
er die Molecularströme in die gleichläufige Richtung (Magnetismus).
Sind dagegen die Molecularströme nicht schon ursprünglich vor-
handen, so werden sie durch den inducirenden Strom zuerst in gegen-
läufiger Richtung erzeugt (Diamagnetismus) , und nachher in die
gleichläufige Richtung umgeändert (Magnetismus). Findet das eine
oder andere statt, so erfahren stets nur die den ISIolecularstrom zu-
sammensetzenden Elementarströmchen eine Richtungsänderung, indess
die Atomkörper ihre Stellung unverändert behalten. — Bei den
Gasen kommt es wegen der von Natur ihren Molekülen eigenthüm-
lichen fortschreitenden und drehenden Bewegungen in der Regel
bloss zur diamagnetischen Wirkung, während in den mit viel lang-
sameren Molecularbewegungen ausgestatteten Flüssigkeiten bald bloss
diamagnetische, 1)ald magnetische Molecularströme hervorgebracht
werden.
12. Zusammenfassung. 819
12. Gestalt, Grösse und Zusammensetzung der Atome.
Hierüber gibt das Atomgewicht keinen Aufschluss. Aus der
vollkommenen und unvollkommenen Sättigung, sowie aus der wech-
selnden Valenz, welche an mehrwerthigen Atomen beobachtet wird,
geht hervor, dass die Atome aus Particellen zusammengesetzt sind,
von denen jedes einer Werthigkeit entspricht und die bis auf einen
bestimmten Grad selbständig sind. Da die Particelle eines Atoms
so gelagert sein müssen , dass sie in den bekainiten chemischen
A^'erbindungen sich den andern Atomen stets so sehr zu nähern
vermögen, als es dem hier erlangten Grad der Anziehung entspricht,
so ist mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sie in einer
Ebene um einen Mittelpunkt liegen und somit tafelförmige mehr-
werthige Atome bilden. Aus der Festigkeit der Körper, der Fort-
pilanzung von Licht und Wärme durch dieselben, der Leitung der
Elektricität und aus der chemischen Anziehung ergibt sich, dass die
Atomkörper eine verhältnissmässig beträchtliche Grösse besitzen und
dass ihr Durchmesser in festen Körpern meistens fast die Hälfte des
Abstandes der Mittelpunkte erreicht. Die ^'erhältnisse der chemi-
schen Verbindungen machen es wahrscheinlich, dass ein einwerthiger
Atomkörper grösser ist als das Farticell eines mehrwerthigen, und
dass im allgemeinen der mehrwerthige Atomkörper an Grösse den
minderwerthigen ül^ertrifft.
13. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion.
Die chemische Anziehung zweier Atome besteht in der Summe
aller Anziehungen weniger die Summe aller Abstossungen. Bei dieser
Summenbildung sind die Dominantenkräfte in geringem Maasse, die
durch sie bestimmte Schwerkraft gar nicht iDetheiligt, während die Elek-
tricität bei denVerbindungen zwischen Elementen, die in der elektriscben
Spannungsreihe weiter von einander entfernt sind, und die Isagität
bei den Verbindungen der Atome des nämlichen Elements die Haupt-
rolle spielen. Bei der Annäherung zweier Atome bewirken ihre auf
einander wirkenden Attractions- und Repulsionskräfte eine Wanderung
der fortschrittsbeweglichen Theilchen in diejenigen Stellungen, welche
den grössten Ueberschuss der gesammten Anziehungen über die
gesammten Abstossungen ergeben. Indem somit im allgemeinen die
Amere mit der grössten Anziehung sich an die zugekehrten Seiten,
diejenigen mit der grössten Abstossung an die abgekehrten Seiten
S20 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.
der Atomkörper begeben, bildet sich eine ungleichseitige Anordnung
der Kräfte aus, worauf die chemische Sättigung beruht, weil sie eine
zweite analoge Verbindung nicht gestattet, so lange nicht die erste
Verbindung gelöst ist und die Kräfte sich neu orientiren können.
Wenn mehrwerthige Atome zu einem Molekül zusammentreten,
ist zwar die dynamische Einwirkung zwischen zwei einander gegen-
überstehenden und sich »bindenden« Particellen am grössten; aber
dadurch w^rd ihre Einwirkung auf alle anderen Particelle nicht auf-
gehoben, sondern bloss nach dem Quadrat der Entfernung ver-
mindert. Die Orientirung der Kräfte in jedem Particell ist mit
Rücksicht auf alle im Molekül wirksamen Kräfte durchgeführt und
die Festigkeit eines Moleküls beruht auf der Summe der über-
schüssigen Anziehungen aller Particelle auf alle übrigen Particelle.
Bei unvollständiger Sättigung eines mehrwerthigen Atoms betheiligen
sich alle Particelle an der Verbindung und nehmen, statt der oppo-
nirten , diejenige Stellung zu den mit ihnen sich verbindenden
Atomen an , welche zwar eine geringere Anziehung der einzelnen
Particelle, aber die grösste Gesammtanziehung bedingt.
Bei der Annäherung zweier Moleküle werden nicht einfach die
Kräfte, Avie sie sich in jedem derselben zur chemischen Anziehung
angeordnet haben, wirksam ; sondern es findet abermals eine Wan-
derung der fortschrittlichen Theilchen in den Atomen statt, um die
mit der chemischen Anziehung innerhalb jedes Moleküls verträgliche
möglichst grosse Anziehung zwischen den beiden Molekülen herbei-
zuführen. Diese Adhäsion der Moleküle an einander (= Cohäsion
der Substanz) gestattet eine Abstufung von dem allerschwächsten
bis zu dem festesten, der chemischen Anziehung zwischen den
Atomen gleichkommenden Zusammenhang. Die Anziehung zwischen
verschiedenartigen Molekülen bewirkt oft bestimmte Molekülver-
einigungen (Pleone), die Anziehung zwischen gleichartigen Molekülen
oder Pleonen dagegen die Krystallisation. — Die Imbibition der or-
ganisirten Substanzen beruht auf der Adhäsionsanziehung, welche
die oberflächlichen Moleküle der organischen Micelle auf eine oder
einige wenige angrenzende Schichten von Wassermolekülen ausüben,
so dass die Anziehung der Micelloberfläche zu Wasser grösser wird
als die Anziehung der Micelle zu einander, während andrerseits
^ie letztere grösser ist als die Anziehung der ganzen Micelle zu
Wasser.
12. Zusammenfassung. 821
Die chemische Verwandtschaft und die Adhäsion (Cohäsion),
welche die sogenannten Molecularkräfte darstellen, kommen also
dadurch zu Stande, dass die Amere, welche die Träger der an-
ziehenden (Gravitations-, elektrischen und isagischen) und der ab-
stossenden (Aetherrepulsions-, elektrischen und isagischen) Kräfte
sind, zum Theil Ortsveränderungen innerhalb der Atomkörper aus-
führen und bei der Annäherung solche Stellungen annehmen, dass
die Anziehungen zwischen den Atomen und Molekülen auf geringere
Entfernungen wirken und daher einen grösseren Effect ergeben, als
die Abstossungen.
Durch die theilweise Wanderung der kraftbegabten Amere er-
halten die Atome eine innerhalb gewisser Grenzen schwankende Un-
beständigkeit des dynamischen Charakters, welche allein das ver-
schiedenartige Verhalten des nämlichen Atoms bezüglich seiner
mannigfaltigen chemischen und Adhäsionsanziehungen zu erklären
vermag.
14. Dauernde Veränderung der Atome. Positive und
negative Entropie des Weltalls.
Da die Atome ponderable Aethertheilchen aufnehmen und ab-
geben, ferner ihre Amere theilweise umlagern können , so sind sie
nicht bloss einer vorübergehenden, sondern einer dauernden und
sich steigernden Veränderung ihrer morphologischen und dynami-
schen Beschaffenheit fähig. Dieselbe wird aber, da Atom und Amer
verschiedenen Grössenordnungen angehören, und da die ein- und
austretenden Amere nur höchst geringe Unterschiede zeigen können,
äusserst langsam erfolgen und vielleicht erst dann eine bemerkbare
Grösse annehmen, wenn allenfalls unser Sonnensystem in andere
Welträume mit etwas andersartigem Aether gelangt. Eine solche
Urustimmung im Atomkörper hat Einfluss auf die Beschaffenheit
und Mächtigkeit der Aetherhülle, von welcher wesentlich die Aggre-
gatzustände abhängen. So kann also nach langen Zeiträumen ein
permanentes Gas zum flüssigen und festen Körper und ein permanent
fester Körper zur Flüssigkeit und zum Gas sich umbilden.
Die Veränderung der Atome ist aber nocli mehr gesichert, wenn
wiv die theoretisch nicht abzuweisende Annahme machen, dass auch
die Amere selber, als endliche und zusammengesetzte Dinge, eine
innere Veränderung erfahren. Ist letztere wirklich vorhanden , so
322 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet.
können die Atome nicht nur leicht in der angegebenen Weise sieh
umbilden, sondern sie werden unter Umständen eine weiter gehende
Veränderung, einen Zerfall in die Partieelle, in kleinere Stücke und
vielleicht selbst in die Amere erleiden, so dass die Materie ganz
oder theilweise wieder in den ursprünglichen Zustand der äther-
artigen Zerstreuung zurückkehren würde.
In der ursprünglichen Zerstreuung, die in dem bestimmten
AVeltraum einmal bestand, führten die Amere bei der Temperatur
des absoluten Nullpunktes bloss Einzelbewegungen aus. Die Zu-
sammenballung der Amere zu Atomen und die Vereinigung der
Atome zu INlolekülen, weiterhin zu flüssigen und festen Körpern
hatten Massenschwingungen des Aethers und damit Licht und
Wärme zur Folge. Ursprünglich Avar die mechanische Energie bloss
als Einzelbewegungen der Amere vorhanden. Ein Theil derselben
blieb unverändert in den Aetherth eilchen, ein anderer Theil ging in
Wärme (mit Licht) und in die mechanische Energie der Agglomerations-
körper über. Die letztere verwandelte sich nach und nach immer
mehr in Massenschwingungen des Aethers (in Wärme). Diese ganze
Entwicklungsgeschichte stellt die Periode der positiven Entropie,
in der' wir uns befinden, dar.
Wenn die Atome und die Amere mit der Zeit ihre Beschaffenheit
ändern, wenn die festen Massen flüssig, dann gasförmig werden und
die Gase vielleicht schliesslich in die Amerzerstreuung zurückkehren,
so geht die Energie der Wärmeschwingungen in die Energie der
schwingenden , drehenden und fortschrittlichen Bewegungen der
Moleküle, Atome, zuletzt der Amere über. Dies ist die Periode der
negativen Entropie, welche mit derjenigen der positiven Entropie
abwechselt.