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Full text of "Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre"

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Meclianiscli-pliysiologisclie 


Theorie  der  Abstammungslehre. 


Von 


C.   V.   Nägeli. 


Mit  einem  Anhang : 

1.  Die  Sclu'anken  der  naturwissenscliaftliclien  Erkenntniss, 

2,  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 


München  und  Leipzig. 

Druck    u  n  d    Verl  a  g    v  o  n    R.    0  1  d  e  n  b  o  u  r  g. 
1884. 


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3  333 


Vorwort. 


Vorliegende  Schrift  verdankt  ihre  Entstehung  dem  Vortrag  über 
die  Schranken  der  naturwissenschafthchen  Erkenntniss,  den  ich  im 
Jahre  1877  bei  der  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte 
zu  halten  veranlasst  war.  Die  in  demselben  entwickelte  Ansicht, 
dass  unserer  Vorstellung  und  unserem  Wissen  einzig  und  allein  die 
endlichen  Erscheinungen,  dagegen  aber  auch  alle  endlichen  Er- 
scheinungen, sofern  sie  in  den  Bereich  unserer  sinnlichen  Wahr- 
nehmung fallen,  zugänglich  seien,  verlangte  in  verschiedener  Be- 
ziehung eine  weitere  Ausführung  und  Begründung. 

Es  musste  gezeigt  werden,  wie  sich  diese  Theorie  für  das  Gebiet 
der  unendlichen  Theilbarkeit  gestaltet,  und  wie  mit  ihr  die  experi- 
mentellen Erfahrungen  über  moleculare  Kraftbegabung  und  Form- 
bildung in  üebereinstimmung  sich  befinden.  Es  musste  andrerseits 
dargethan  werden,  dass  jene  Theorie  ebenfalls  in  dem  Gebiet  der 
grössten  uns  bekannten  Zusammensetzung ,  in  den  Abstammungs- 
reihen der  belebten ,  zum  Theil  mit  Gefühls-  und.  Geistesleben  be- 
gabten Organismen  durchführbar  ist.  Letzteres  lag  auch  deswegen 
nahe,  weil  in  der  genannten  Versammlung  das  Problem  der  Ab- 
stammungslehre im  Vordergrund  wdssenschaftlicher  Besprechung 
sich  befand.     Da  hierbei  dieses  Problem  und  gewissermaassen  auch 


IV  Vorwort. 

mein  Vortrag  den  beiden  jetzt  noch  so  weit  verbreiteten  wissen- 
schaftlichen Richtungen,  die  wir  mit  dem  Namen  der  objectiven 
und  der  subjectiven  Methode  summarischer  Erfahrung  bezeichnen 
können,  Gelegenheit  gegeben  hatten,  jeder  im  Gegensatz  zur  andern, 
den  Ansj^ruch  auf  Wissenschaftlichkeit  in  Forschung  und  Lehre  vor 
dem  gebildeten  Publikum  zu  behaupten ,  so  schien  es  angezeigt, 
diesen  beiden  Richtungen  gegenüber  die  logische  Alleinberechtigung 
der  exacten  Methode,  wie  sie  sich  in  den  mathematischen  und 
physicalischen  Disciplinen  bewährt  hat,  auch  für  die  übrigen  Ge- 
biete der  Naturwissenschaften  aufrecht  zu  erhalten.  Die  Schrift 
sollte  daher  ausser  dem  Vortrag  über  die  Schranken  der  natur- 
wissenschaftlichen Erkenntniss  noch  Abhandlungen  über  die  Mole- 
cularerscheinungen ,  über  die  Abstammungslehre  und  über  die 
Forschungs-  und  Lehrmethode  enthalten. 

Bei  der  Ausführung  nahm  die  Abhandlung  über  die  Abstam- 
mungslehre infolge  der  freieren  Behandlung,  welche  sich  unwill- 
kürlich aufdrängte,  eine  grössere  Ausdehnung  an,  als  beabsichtigt 
war.  Ich  stellte  sie,  weil  damit  die  Harmonie  in  Vergleich  mit  den 
übrigen  Abhandlungen  gestört  war,  nunmehr  voran  und  gab  ihr, 
schon  des  genetischen  Zusammenhanges  wegen ,  als  Anhang  den 
Vortrag  über  die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss 
und  den  bereits  vor  längerer  Zeit  geschriebenen  Aufsatz  über  die 
Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet  bei,  indem  ich  die 
nur  halbvollendete  und  weiter  abliegende  Abhandlung  über  die 
Forschungs-  und  Lehrmethode  wegliess.  Die  Beigabe  der  beiden 
Abhandlungen  des  Anhanges  rechtfertigt  sich  übrigens  auch  aus 
inneren  Gründen,  da  die  natürliche  Abstammungslehre  als  unzweifel- 
hafte Thatsache  allein  auf  den  allgemeinen  Principien  des  Causal- 
gesetzes  oder  des  Gesetzes  von  der  Erlialtung  der  Kraft  und  somit 
auf  den  Principien  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss  beruht, 
und  da  ferner  die  genaue  Ausführung  an  die  spontane  Entstehung 


Vorwort.  V 

der  organischen  Welt  ans  dem  Unorganischen  anknüpfen  muss, 
wofür  eine  Einsicht  in  die  molecularen  Kräfte  und  Gestaltungen  als 
selbstverständliche  Voraussetzung  erscheint. 

Was  die  Abstammungslehre  betrifft,  so  ist  dieselbe  durch  eine 
Reihe  von  Jahren,  während  derer  längere  Krankheiten  wiederholte 
Unterbrechungen  verursachten,  entstanden.  Sie  hat  während  der 
Abfassung  in  verschiedenen  Punkten  eine  Wandlung  erfahren,  indem 
nur  die  allgemeinen  mechanischen  Gesichtspunkte  unverrückt  fest- 
gehalten wurden.  Sie  ist  daher  nicht  in  einem  Zuge  geschrieben, 
auch  nicht  nach  einem  festen ,  ins  Einzelne  gehenden  Plane  ge- 
arbeitet; man  sieht  ihr  vielmehr  das  mühsame  Werden  an.  Das 
anfänglich  wenig  umfangreiche  Manuscript  erhielt  wiederholte  Zu- 
sätze, die  nun  mehrfach  sich  episodenhaft  ausnehmen.  Auch  bleibt 
schliesslich,  wie  es  bei  einem  so  comphcirten  und  schwierigen  Problem 
wie  der  mechanisch-physiologischen  Betrachtung  der  Abstammungs- 
lehre nicht  anders  möglich  ist,  mancher  Punkt  zweifelhaft  und  ge- 
stattet verschiedene  Erklärungen.  Ich  konnte  es  daher  nicht  als 
meine  Aufgabe  erachten,  eine  Umarbeitung  behufs  einer  systematisch 
gegliederten  Theorie  zu  versuchen,  welche  vielleicht  durch  ihre  fertige 
Bestimmtheit  sich  leichter  die  allgemeinere  Zustimmung  erworben, 
aber  wie  jedes  bloss  durch  formale  Dialektik  und  nicht  durch  innere 
Nothwendigkeit  abgeschlossene  System  dem  wissenschaftlichen  Fort- 
schritt mehr  Hemmung  als  Förderung  gewährt  hätte. 

Es  lag  nicht  in  meiner  Absicht,  alle  Gebiete  der  Abstammungs- 
lehre zu  besprechen ,  sondern  ich  berührte  vorzugsweise  nur  die- 
jenigen, welche  über  die  allgemeine  Theorie  Licht  zu  verbreiten  im 
Stande  sind.  So  sind  die  sonst  vielfach  behandelten  Gebiete  der 
geographischen  Verbreitung,  sowie  des  paläontologischen  Vorkommens 
von  mir  fast  gänzhch  vernachlässigt  worden,  weil  die  vorliegenden 
sicheren  Thatsachen  vielfacher  Deutung  fähig  sich  erweisen,  und 
weil    sie    viel    eher    ihre    Erklärung    von    einer    richtigen    Theorie 


VI  Vorwort. 

erwarten,    als   dass   sie   zur  BcgTÜnduiig   derselben   in   erlieblicliem 
Maasse  beitragen  könnten. 

Dagegen  schien  es  mir  zweckmässig  zu  zeigen,  wie  sich  die 
neue  Theorie  der  Abstammung  für  das  Pflanzenreich  gestaltet. 
Bisher  sind  zur  Begründung  der  Abstammungslehre  fast  aus- 
schliesslich die  Erscheinungen  des  Thierreiches  verwerthet  worden, 
woraus  sich  die  naturgemässe  Folge  ergab,  dass  die  offen  daliegende 
Anpassung  an  äussere  Verhältnisse  in  den  Vordergrund  trat,  indem 
sie  die  vcrl)orgene  gesetzmässige  Entwicklungsgeschichte  durch 
innere,  in  der  kraftbegabten  Substanz  begründete  Ursachen  in  den 
Hintergrund  drängte  und  ül)ersehen  licss.  Im  Pflanzenreiche  liegen 
die  Verhältnisse  gerade  umgekehrt ;  das  Studium  derselben  ist  daher 
besonders  geeignet,  die  Abstannnung  der  Organismen  bezüglich 
ihrer  ursächlichen  Bedeutung  in  das  richtige  Licht  zu  stellen. 


Inhalt. 


Mechanisch -physiologische  Theorie  der 
Abstammungslehre. 

Seite 
3 
Einleitung 

I.  Idioplasma  als  Träger  der  erblichen  Anlagen 21 

Offene  und  verborgene  Merkmale.     Anlagen — 

Idioplasma  und  Ernährungsplasma ^ 

Function  und  Structur  des  Idioplasmas  im  allgemeinen 30 

Structur  anderer  organisirter  Körper 

Die  specifische  Natur  des  Idioplasmas  besteht  in  der  Contiguration  des 

Querschnitts  von  Strängen  paralleler  Micellreihen 37 

Die  Anlagen  sind  im  Idioplasma  in  ihre  micellaren  Componenten  auigeiust      43 
Mechanische  Vorstellung   bezüghch   der  specifischen  Wirksamkeit  des 

Idioplasmas 

Locale  Entstehung  erljlicher  Anlagen   und  Älittheilung  derselben  durch 

T'"  .       53 

den  ganzen  Korper 

Zahl  und  Grösse  der  ISIicelle  im  Idioplasma 

Pangenesis  von  Darmn 

Perigenesis  von  Häckel 

.      83 

II.  Urzeugung 

Das  Organische  entsteht  aus  dem  Unorganischen — 

Die  spontan  entstehenden  Wesen    sind   nicht    die    niedersten    der    be- 
kannten Organismen,  sondern  Probien ^ 

Beziehungen  zwischen  der  organischen  und  unorganischen  Natur  ...  93 

102 

III.  Ursachen  der  Veränderung 

Die  Emährungseinflüsse  bewirken  vorübergehende  Veränderungen.         .      — 

Verhalten  der  inneren  Ursachen  zur  Ernährung 

Die  inneren  Ursachen  sind  Molecularkräfte  und  wirken  als  solche          .     116 
Entwicklung    der    äusseren   Gestaltung    und    der    inneren  Structur   des 
Idioplasmas 


Vni  Inhalt. 

Seite 

Wii'kuiig  der  VcräiKlcrungcn  des  Idioplasmas  auf  seine  Umgebung    .     .  129 

Das  Idioplasma  verändert  sich  stetig,  die  Organismen  meist  sprungweise  132 

Wirkung  der  äusseren  Einflüsse  im  Gegensatz  zu  den  inneren  Ursachen  136 
Die  äusseren  Einflüsse,   welclie   erbliclie  Veränderungen  hervorbringen, 

sind  hing  andauernde  Reize 139 

Die  Reize  bewirken  Reiz))arkeit ...  142 

Die  Reize  bewirken  sichtbare  Anpassungen :  Kork,  mechanische  Gewelie, 

Winden  und  Klettern 144 

Blumenblätter,  Honigdrüsen,  klebriger  Pollen .149 

Farbe  und  Geruch  der  Blüthen .          .  ir>3 

Dimorphe  und  trimorphe  Blüthen      ...          ....               .     .  156 

Das  Bedürfniss  wirkt  als  Reiz,  ebenso  tlie  Sinnesempfindungen     .  1(52 
'    Die  Anpassungen  sind  die  directe  Folge  der  äusseren  Einwirkungen  (nicht 

der  Auslese)     ■ 166 

Wirkungen  eines  Reizes  von  unbegrenzter  und  von  begrenzter  Dauer    .  168 
Verschiedener  Charakter  der  Anpassung  im  Pflanzen-  und  im  Tliierreich  169 
Die  Veränderung  tritt  zuerst  im  Idiojjlasma  und  erst  nachher  am  Orga- 
nismus auf 171 

Zusammenwirken  der  inneren  und  der  äusseren  verändernden  Einflüsse  173 

IV.  Anlagen  und  sichtbare  Merkmale 183 

Die  idioplasmatische  Anlage  muss  einen  gewissen  Grad  der  Ausl)ildung 

erreichen,  um  entfaltungsfähig  zu  werden  (Vervollkommnungs-  und 

Anpassungsanlagen) — 

Verschiedene  Arten  der  Entfaltungsfähigkeit  und  Ursacben  der  Entfaltung  191 
Der  Entfaltungszustand  ist  die  nothwendige  Folge  der  Eigenthümlichkeit 

der  idioplasmatischen  Anlagen 196 

Nur  in   den   idioplasmatischen  Anlagen  ist  das  vollständige  Wesen  der 

Organismen  enthalten 197 

Vererbungsantheil  der  beiden  Eltern  bei  der  gcschleclitlichen  Fortpflanzung  1 98 
Verhalten    des   Idioplasmas    bei    der    Kreuzung    l)ezüglich  Vereinigung, 

Häufung  und  Entfaltung  der  Anlagen 205 

Moleculare  Vorgänge  bei  der  Vereinigung  des  mauuiicuL'u  und  weiblicben 

Idioplasmas       215 

Materielle  Befruchtungstheorie .     .          .          .     .          .  220 

Dynamische  Befruchtungstheorie  228 

V.Varietät.    Rasse.     Ern  ährungsmodification.    —  Vererbung 

und  Veränderung 231 

Die  Rasse   ist   das  Product   von  abnormalen  Eigenschaften  und  gehört 

der  Domestication  an — 

Rasse  und  Varietät 234 

Beobachtungen  und  Culturresultate  bei  Hieracium 236 

Ursachen  der  Verschiedenheit  von  Rasse  und  Varietät     ...          .     .  245 

Entstehung  der  Varietät ...  248 

Ernährungsmodification  im  Gegensatz  zu  Rasse  und  Varietät   ....  259 

Ernährungsmodification  bei  niederen  Pilzen 264 

Vererbung .     .  272 

Veränderung 277 


Inhalt.  IX 

Seite 
yi.  Kritik   der  Dar  wi n'sche  n  Th corie    von    der    natürlichen 

Zuchtwahl 284 

Yergleichung  der  Selectionstheorie  mit   der  Theorie  von  der  tlirecten 

Bewirkung — 

Aufzählung  der  maassgehenden  Gesichtspunkte     ...  ....  288 

Allgemeine  Bedeutung  der  Theorie 290 

Sohlussfolgerung  von  der  Rassenbildung  auf  die  Varietätenbildung    .  297 

Wirkung  der  Verdrängung  auf  die  Zuchtwahl 310 

Wirkung  der  Ernährungseinflüsse 316 

Morphologische  Merkmale ....  326 

Systematischer  Aufbau  der  ganzen  Reiche 330 

Anpassung  der  Bewohner  eines  Landes 334 

AT:I.  Phylogenetische  Entwicklungsge schichte  des  Pflanzen- 
reiches      338 

Entwicklungserscheinungen  im  probialen  Reich  341 

1.  Wachsthum — 

2.  Zunahme  der  inneren  Gliederung  und  der  Function  .  .     .     .  ■ — 

3.  Bildung  der  Hautschicht 342 

4.  Theilung 343 

5.  Bildung  der  nichtplasmatischen  Zellmembran 346 

6.  Trennung  der  Zellen 347 

7.  Freie  Zellbildung 349 

Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches 351 

I.  Vegetativwerden  der  Zelltheilung       ...  357 

n.  Vegetativwerden  der  Sprossung 364 

III.  Vegetati\-werden  der  freien  Zellbildung .  366 

TV.  Gewebebildung  aus  der  Verzweigung     ....  ...  369 

Zusammenfassung  von  I — IV  als  Gesetz  der  Vereinigung      .  378 

V.  Gesetz  der  Amphation 380 

\T;.  Gesetz  der  Differenzirung ;  räumliche  Differenzirungen       .     .  382 

Zeitliche  Difiierenzirungen 399 

VII.  Gesetz  der  Reduction 405 

Zusammenfassung  von  V — VII   als  Gesetz   der  Compücation  410 

Vin.  Gesetz  der  Anpassung 411 

Zusammenwirken  der  verschiedenen  phylogenetischen  Processe      .     .  420 

Vlil.  Der  Generationswechsel  in  phylogenetischer  Beziehung  426 

Ontogenetische  Periode — 

Generationswechsel  bei  einzelligen  Pflanzen       428 

Generationswechsel  bei  \äelzelligen  Pflanzen 432 

Begriff  des  Pflanzenindi^-iduunls 437 

Bedeutung  dieses  Begriffs  für  den  Generationswechsel 444 

Generationswechsel  bei  den  Florideen 447 

Phylogenetische  Bedeutung  des  Generationswechsels 449 

IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissen- 
schaften       455 

Die    systematischen    (morphologischen)    Merkmale    können    nur    auf 

phylogenetischem  Wege  erkannt  werden — 


X  Inhalt. 

Seite 
Zwischen  den  jetzigen  Arten  besteht  in  WirkUchkeit  kein  allgemeiner 

genetischer  Zusammenhang.     Systematische  Verwandtschaft    .     .  462 
Abstammungslinie  der  Gefässpflanzen  von  den  Algen  durch  die  Leber- 
moose      472 

Phylogenetische  Entwicklung  der  systematischen  Merkmale  derPhanero- 

gamen 479 

Aufbau  des  Pflanzenstockes 480 

Gestaltung,  Stellung  und  Verwachsung  der  Phyllome 484 

Aufbau  der  Blüthe 496 

Einzelne  Theile  der  Blüthe 509 

Welches  ist  die  vollkommenste  Pflanzenfamilie? 513 

X.  Zusammenfassung      .     .• 524 

Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen 
Erkenntniss. 

Vorwort 555 

Einleitung 560 

BeschafEenheit  und  Befähigung  des  erkennenden  Ich 565 

Beschaöenheit  und  Zugänglichkeit  der  Natur .  570 

Wesen  des  Erkennens -  .     .     .     .  578 

Keine  principielle  Verschiedenheit  zwischen  unorganischer  und  organischer 

Natur : 585 

Keine  principielle  Verschiedenheit  zwischen  unbeseelter  und  beseelter  Natur  590 

Zusätze. 

1.  Physische  und  metaphysische  Atomistik 603 

2.  Unendüche  Abstufung  in  der  Zusammensetzung  und  Organisation  des  Stoffes  612 

3.  Naturphilosophische  Weltanschauungen.     Entropie 615 

4.  Bedingungen    für    empirisches  Wissen    und    Erkennen.      Morphologische 

Wissenschaften       622 

5.  Apriorität  a)  des  Gravitationsgesetzes 6aO 

b)  der  Mathematik 633 

c)  als  allgemeines  Princip 635 

6.  Kraft.     Stoff.     Bewegung 657 

7.  Quahtät  in  der  Natur 662 

8.  Zurückführung  geistiger  Vorgänge  auf  stoffhche  Bewegungen      ....  666 

9.  Vergleichung  der  thierischen  Affecte  mit  analogen  unorganischen  Erschei- 

nungen        677 

Kräfte  und  Gestaltungen  im  moiecularen  Gebiet. 

Elementarkräfte.     Theilchen  der  kleinsten  Grössenordnung  (Amere)     .  '\    .  683 

1.  Vertheilung  der  Elementarkräfte  auf  die  Amere 688 

2.  Agglomeration  und  Dispersion  der  Amere 690 

Gesammtmengen  der  verschiedenen  Elementarkräfte  ;  Scheidung  in  wäg- 
bare und  unwägbare  Massen 694 

Gesammtmenge   der   Gravitationsanziehung    und   der   Aetherabstossung 

in  den  wägbaren  Massen 698 

Organisation  der  aus  Ameren  bestehenden  wägbaren  und  Aethermassen  701 


Inhalt.  XI 

Seite 

3.  Elasticität '^^ 

4.  Schwerkraft ''l'^ 

Ihre  Wirkung  ist  die  Differenz  zwischen  der  Gravitationsanziehung  und 

der  Aetherabstossung 

Ver<^leichung  ihrer  Intensität  mit  derjenigen  der  Elementarkräfte       .     .  723 

5.  Wärme 729 

Aetherwärme,  deren  Fortpflanzung  und  Uebertragung  auf  die  wägbaren 

Stoffe • — 

Bedeutung  der  Energie  und  der  Masse  im  Gebiet  der  Amere    ....  736 

6.  Elektricität ''^^ 

Elektrische  Erregung 

Elektrische  Strömung ^^2 

Elektrodynamik .     .  tii 

7.  Magnetismus.     Diamagnetisnms     ....          750 

8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung  der  Atome 755 

Bedeutungslosigkeit  des  Atomgewichts 

Beträchthche  Grösse  des  Atomkörpers  im  Verhältniss  zum  Atomvolumen  759 

Zusammensetzung  der  Atome  aus  Particellen 761 

Atomgrösse  bei  den  verschiedenen  chemischen  Elementen 769 

9.  Entstehung,  Beschaffenheit  und  Veränderung  der  Atome       771 

Vorübergehende  Veränderung  der  Atome   durch  Bewegung  ihrer  Theile  777 

Dauernde  Veränderung  der  Atome.     Positive  und  negative  Entropie      .  779 

10.  Chemische  Verwandtschaft.     Adhäsion 783 

Unzulänghchkeit  der  elektrochemischen  Theorie — 

Zusammenwirken  der  verschiedenen  Elementarkräfte     ....          .     .  786 

Wesen  der  chemischen  Sättigung       .          •          ...  793 

Opponirte,  collaterale  und  dorsale  Bindung 798 

Benetzung  und  Imbibition °00 

Cohäsionserscheinungen ^^'^ 

11.  Isagität Ö07 

12.  Zusammenfassung ^•'■^ 


ffleclaiiiscli-plpölopclie  Tleoiie 


der 


Abstammungslehre 


V.  Niigeli,  AVistainmungsk'hre. 


E  i  11 1  e  i  t  u  11 «'. 


Wohl  seit  anderthalb  Jahrzelmten  bot  sich  den  Physiologen 
ein  wunderbares  Schauspiel  dar.  Das  schwierigste  Prol)lem  ihrer 
eigenen  Wissenschaft  wurde  mit  wachsendem  Eifer  und  Kraftaufwand 
von  Nichtphysiologen  in  einer  Fluth  von  Schriften  publicistiscli  l)e- 
arl^eitet.  Die  Entstehung  der  organischen  Welt  geliört  zum  innersten 
Heiligthum  der  Physiologie.  Ihre  Behandlung  setzt  ein  richtiges 
Urtheil  in  den  dunkelsten  Gebieten  voraus;  dieselljen  betreffen  das 
Verhältniss  des  Organischen  zum  Unorganischen,  das  Wesen  des 
Lebens  selbst,  die  Ernährung,  das  Wachsthum,  die  Fortpflanzung, 
die  Vererbung,  die  Veränderung  durch  eine  Reihe  von  Generationen, 
die  Beziehungen  zwischen  den  verschiedenen  Organismen,  zwisclien 
ihnen  und  der  Aussenwelt,  zwischen  den  Theilen  oder  Organen  des 
gleichen  Organismus. 

Wiewohl  die  Entstehung;  der  organischen  Welt  theils  wes-en 
ihrer  unvergleichlichen  wissenschaftlichen  Bedeutung,  theils  wiegen 
des  allgemeinen  Interesses  in  den  gebildeten  Kreisen  die  Physiologen 
aufzumuntern  geeignet  war,  so  erschien  ihnen  dieses  letzte  und  höcliste 
Problem  doch  so  verwickelt  und  schwierig,  dass  sie  nur  etwa  gelegent- 
lich und  bloss  im  allgemeinen  darüber  sich  auszusprechen  wagten. 
Dieses  Bedenken  wurde  von  den  Nichtphysiologen  weniger  schwer 
emjifunden. 

Die  Lehre  von  der  Entstehung  der  organischen  Welt  ist  zwar 
rein  physiologischer  Natur.  Sic  bedarf  al)er  zu  ihrer  L()sung  ver- 
schiedener Hilfswissenschaften :  der  Zoologie  mit  vergleichender 
Anatomie  und  Histologie,  der  morphologischen  und  S3'stematisfhen 
Botanik,  der  Paläontologie  und  Geologie,  der  Antln'0}>ologie. 

1* 


4  Einleitung. 

Daher  fühlten  Zoologen,  Anatomen,  Anthropologen,  beschreibende 
Botaniker,  Paläontologen  den  Beruf,  sich  mit  der  Entstehungslehre  zu 
beschäftigen,  und  es  war  dies  im  höchsten  Grade  verdienstlich,  soweit 
die  betreffende  Wissenschaft  ihrem  Inhalte  nach  wirklich  dabei  be- 
theiligt ist.  Da  sich  diese  Beschäftigung  aber  häufig  nicht  auf  den 
eigenen  Horizont  beschränkte,  sondern  in  andere  Horizonte  übergriff 
und  zu  einer  Uebersicht  und  Beurtheilung  des  Ganzen  sich  verstieg, 
so  vermengte  sich  mit  dem  Brauchbaren  viel  Unbrauchbares  und 
Irrthümliches.  Denn,  wenn  auch  Schlosser,  SjDängler,  Schreiner, 
Glaser,  Maler,  Dachdecker  bei  dem  Bau  eines  Hauses  unentl)ehrlich 
sind,  folgt  daraus  nicht  für  jeden  derselben  die  Befähigung,  den  Plan 
zu  entwerfen  und  den  Bau  zu  führen,  oder  auch  nur  Plan  und  Bau- 
führung zu  kritisiren. 

Die  Entstehungslehre  der  organischen  Welt  berührt  auch  die 
Philosophie  und  die  Theologie  an  sehr  empfindlichen  Stellen,  und 
sie  interessirt  das  grosse  gebildete  Pubhcum  theils  aus  eben  diesem 
Grunde,  theils  weil  die  Eitelkeit  der  Menschen  von  jeher  \'iel  auf 
Abkunft  und  Verwandtschaft  gehalten  hat. 

Daher  sahen  wir  denn  auch  Philoso2:>hen,  Theologen  und  über- 
dem  Literaten  aller  Art  und  aller  Abstufung  sich  der  Frage  be- 
mächtigen. Auch  dies  wäre  ganz  in  der  Ordnung,  wenn  jeder  die 
sicheren  Ergebnisse  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  für  sein 
Gebiet  verwendet  und  darüber  in  seinem  Kreise  aufklärenden  und 
belehrenden  Bericht  erstattet  hätte,  wenn  nicht  so  mancher  das  Ge- 
biet schwieriger  physiologischer  Probleme  für  einen  freien  Tummel- 
platz widersinniger  Dialectik  betrachtet  hätte.  Denn  wenn  schon 
die  Handwerker,  die  bei  einem  Bau  mitlielfen,  nicht  im  Stande  sind, 
selber  ein  Haus  zu  ]3auen  und  die  Construction  zu  beurtheilen,  so 
sind  gewiss  diejenigen  nicht  eher  dazu  befähigt,  welche  dasselbe, 
nachdem  es  fertig  und  verkleidet  ist,  bewohnen,  oder  welche  den 
Inwohnern  Besuche  machen,  oder  durch  irgend  welche  Geschäfte 
in  eine  Räumhchkeit  desselben  geführt  werden. 

So  treten  denn  beim  Ueberblick  der  ganzen  literarischen  Be- 
wegung, welclie  die  Entstehung  der  Organismen  zmn  Gegenstand 
hat,  einige  Erscheinungen  hervor,  welche  theils  für  unsere  Zeit,  theils 
auch  für  unsere  Nation  bemerkenswerth  sind.  Die  eine  derselben, 
die  ich  bereits  angedeutet  habe,  wiederholt  sich  freilich  überall,  wo 
sich  die  allgemeine  Tlieilnahme  einei-  Frage  zuwendet.    Die  Sicherheit 


Einleitung.  5 

und  Bcstinuiitlieit  des  Urtlieils  niinnit  zu,  sowie  sicli  die  Berechtigung 
dazu  vermindert. 

Während  die  Physiologen  mit  der  Besprechung  der  schwierigen 
physiologischen  Fragen  zurückhielten  und  die  der  Physiologie  näher 
stehenden  Naturforscher  sich  noch  einigermaassen  behutsam  äusserten, 
wurden  die  Meinungen  immer  entschiedener,  je  weiter  man  sich  von 
dem  sicheren  Boden  entfernte,  gleich  als  ob  das  Interesse  für  eine 
Sache  die  realen  Kenntnisse  und  die  formale  Schulung  des  Urtlieils 
ersetzen  könnte. 

Dem  Physiologen  wird  dabei  zu  Muthe,  wie  etwa  dem  Physiker 
würde,  wenn  sich  das  grosse  Publicum  an  der  Lösung  des  Problems 
der  mechanischen  Elektricitätstheorie  betheiligen  wollte.  Bekanntlich 
hat  die  Physik  noch  keine  sichere  Vorstellung  über  das  Wesen  der 
Elektricität ,  und  vermeidet  es  womöglich,  darüber  eine  bestimmte 
Ansicht  auszusprechen.  Die  Erfahrung,  die  wir  jetzt  mit  der  Lehre 
von  der  Entstehung  der  Organismen  machen,  wairde  sich  wieder- 
holen, wenn  aus  irgend  einem  Grunde  die  Theilnahme  an  der 
Elektricitätslehre  ebenso  lebhaft  erwachte.  Könnten  die  Fragen,  ob 
der  elektrische  Strom  eine  eigene  Substanz  (ein  Fluidum)  oder  eine  Be- 
wegungsform der  kleinsten  Th eilchen  sei,  ferner  in  welcher  Weise  sich 
diese  Th  eilchen  bew^egen  und  in  welchem  Causalverhältniss  die  elek- 
trischen Bewegungen  zu  andern  Bewegungsformen  stehen,  —  könnten 
diese  Fragen  dem  Pul)licum  soviel  Interesse  gewähren  wie  die  Ab- 
stannnung  des  Menschen  und  die  Herkunft  des  Organischen ,  so 
dürfte  ohne  Zweifel  auch  die  Physik  mit  Erstaunen  die  Erfahrung 
machen,  dass  ihr  dunkelstes  Gebiet  von  den  Verfertigern  der  Elektrisir- 
maschinen,  von  den  Blitzableitermachern,  von  den  Verkäufern  von 
Rheumatismusketten,  von  den  Telegra23histen,  schliesslich  von  den 
Aufgeldern  und  Empfängern  der  Telegramme  und  nicht  am  wenigsten 
von  den  Literaten,  w^elche  bald  bei  elektrischem  Licht  ihr  Feuilleton 
schreiben  werden,  mit  steigender  Bestimmtheit  discutirt  und  ent- 
schieden würde. 

Das  unlogische  Verfahren  ging  soweit,  dass  die  Proljleme,  welche 
die  Entstehung  der  Organismen  betreffen,  ohne  die  nöthigen  Kennt- 
nisse und  die  erforderliche  Bildung  selbst  V)is  ins  Einzelne  bes])rochen 
und  als  wissenschaftliches  System  dargestellt  wurden,  indem  man, 
statt  mit  dem  Lernen,  mit  dem  Lehren  beginnen  zu  diu-fen  moiiito. 
Man  kann  das  Docendo  discinius   doch  gar  zu  früh  in  Anwendung 


6  Einleitung. 

bringen  wollen.  Wenn  es  nicht  im  Charakter  der  Zeit  im  all- 
gemeinen läge,  schon  Ernte  zu  verlangen,  ehe  nur  die  Saat  recht 
aufgegangen  ist,  und  wenn  nicht  in  manchen  Gel)ieten  des  Wissens 
eine  wenig  gründliche  Speculation  zur  Lösung  schwieriger  Fragen 
für  ausreichend  erachtet  würde,  so  wäre  schwer  begreiflich,  wie  selbst 
ernsthafte  und  in  ihrem  Fache  angesehene  wissenschaftliche  Männer 
ihre  Studien  im  Alphabet  der  Abstammungslehre  in  grossen  Zeitungen 
und  Zeitschriften  sowie  in  eigenen  Büchern  niederlegen  und  dem 
kundigen  physiologischen  Publicum  zeigen  mochten,  welch  langsame 
Fortschritte  ihre  Erkenntniss  in  dem  neuen  Gebiete  machte,  und 
wie  sie  selbst  nach  Jahren  noch  in  den  bedenklichsten  naturwissen- 
schaftlichen Irrthümern  befangen  blieben,  die  ein  gründliches 
Studium  von  einigen  Monaten  zu  beseitigen  im  Stande  gewesen 
wäre: 

Eine  andere  Erscheinung,  welche  mit  der  Lehre  von  der  Ent- 
stehung der  organischen  Welt  zu  Tage  getreten  ist,  betrifft  fast 
ausschliesslich  unsere  Nation.  Man  hätte  erwarten  können,  dass 
nach  der  natm-philosophischen  Periode,  welche  in  Deutschland  viele 
der  besten  Kräfte  für  den  Fortschritt  der  Wissenschaft  unbrauchbar 
machte,  die  Ernüchterung  liinreichend  gewesen  wäre,  um  uns  auf 
dem  eigentlich  naturwissenschaftlichen  Felde  vor  philosophischer 
Speculation  zu  bewaln-en.  Wir  machen  aber  die  Erfahrung,  dass 
im  grossen  und  ganzen  die  philosophische,  i^hilologische  und  ästhe- 
tische Bildung  immer  noch  so  sehr  die  Oberhand  hat,  dass  eine 
gründliche  und  exacte  Behandlung  naturwissenschaftlicher  Fragen 
nur  auf  enge  Kreise  besclniinkt  Ijleibt  und  dass  auch  ein  grösseres 
Publicum  sich  mit  Vorliebe  von  einer  sogenannten  idealen,  poetischen, 
speculativen  Darstellung  angezogen  fühlt. 

Während  nun  einerseits  in  Deutschland  der  von  England  kom- 
mende Anstoss  auf  dem  Gebiet  der  Abstammungslehre  die  fruchtbarste 
Wirkung  äusserte,  während  eine  Menge  von  Arbeiten  in  allen  die 
allgemeine  Frage  berührenden  Gebieten  unternommen  wurde  und 
eine  Fülle  von  werthvollen  Erfahrungen  im  einzelnen  für  die  Wissen- 
schaft ergab,  wurde  andrerseits  jene  Lehre  in  ein  dem  strengen 
Forscher  wenig  anziehendes  Gewand  gehüllt.  Die  nüchterne,  von 
dem  praktischen  gesunden  A-^erstande  der  Engländer  zeugende  Dar- 
stellung Darwin 's,  namentlich  in  der  ersten  Veröffentlichung,  wurde 
in  Deutschland,  ohne  Bereicherung  des  wissenschaftlichen  Gehaltes, 


Einleitung.  7 

ins  Phantastisch-philosophische  übersetzt,  die  Lehre  wurde  dognia- 
tisirt,  systeniatisirt,  schematisirt  und  —  um  aucli  das  philologische 
Bedürfniss  zu  befriedigen  —  gräcisirt. 

Die  xVljstaniniungslehre,  soweit  sie  die  eigentlich  physiologischen 
Probleme  und  nicht  Dinge  betrifft,  welche  den  einzelnen  HilfsAvissen- 
schaften  .angehören,  wurde  bisher  gewöhnlich  als  ganzes  System 
behandelt.  Es  ist  dies  aus  zwei  Gründen  begreiflich.  Einmal  hatte 
die  Darstellung  nicht  bloss  die  Förderung  der  Wissenschaft,  sondern 
auch  die  Wünsche  eines  grösseren  Publicums  im  Auge ,  und  in 
letzterer  Beziehung  war  ein  fertiges  System  Bedürfniss. 

Ferner  wurden,  wie  bereits  erwähnt,  die  Bearbeitungen  nicht 
unter  dem  Einfluss  der  exacten  physiologischen  Methode,  sondern 
vom  Standj)unkte  der  beschreibenden  Naturgeschichte  aus  unter- 
nommen. Da  die  letztere  die  Beantwortung  allgemeiner  Fragen 
betreffend  den  Zusammenhang  der  Dinge  nur  durch  erweiterte  In- 
duction  und  durch  Analogieschlüsse  zu  Stande  bringt  und  bloss  zur 
Wahrscheinlichkeit,  nicht  zur  Gewissheit  gelangt,  so  ist  es  begreiflich, 
dass  sie  immer  zum  Ausl)au  des  Systems  drängt,  um  jedes  Ein- 
zelne im  Zusammenhange  mit  dem  Uebrigen  und  als  Tlieil  des 
Ganzen  zu  betrachten  und  zu  prüfen.  Daher  beurtheilt  auch  der 
beschreibende  Naturkundige,  der  ein  Abstammmigssystem  aiü'gestellt 
hat,  eine  neue  Thatsache,  die  ihm  von  anderer  Seite  geboten  wird, 
nicht  sowohl  nach  den  Beobachtungen,  aus  denen  sie  erschlossen 
wurde,  sondern  vor  allem  nach  dem  Verhältniss,  in  welchem  sie 
zu  seinem  System  steht.  Da  er  gewohnt  ist,  auf  seinem  Wege  nur 
zur  anfechtbaren  Hj'pothese,  nicht  zum  sicheren  Gesetz  zu  kommen, 
so  betrachtet  er  alles,  auch  das  aiü"  dem  Wege  genauer  Beobachtung 
und  strenger  Kritik  gewonnene,  nicht  als  Thatsache,  sondern  als 
Meinungssache.  Dies  war  beispielsweise  der  Fall  mit  der  Thatsache 
von  der  gemeinschaftlichen  Entstehung  der  Pflanzenarten  und  mit 
derjenigen  von  der  Bedeutmigslosigkeit  der  klimatischen  und  Er- 
nährungseinflüsse auf  die  Entstehung  der  Varietäten,  die  ich  beide 
hinlänglich  begründet  zu  haben  glaube^),  und  die  ein  unbefangener 
und  gewissenhafter  Beobachter    leicht  prüfen    und  bestätigen   kann. 


1)  Ueber  den  Einfluss  der  äusseren  Verhältnisse  auf  die  Varietätenl)ildung 
im  Pflanzenreiclie.  Sitzungsber.  d.  niatli.-i)liys.  Classe  d.  k.  bayr.  Acad.  d.  Wiss. 
zu  München,  18.  Nov.  ]8()5. 

Das  gesellschaftliche  Entstehen  neuer  Species.     EbendaseU.)st  1.  Febr.  1873. 


8  Einleitung. 

Diese  Thatsachen  fügten  aber  dem  ganzen  Meinungsgebäude  der 
Abstammungslehre,  wie  es  jetzt  bestellt,  den  schwersten  Schaden  zu 
und  konnten  daher  von  demselben  auch  nicht  Ijerücksichtigt  werden, 
ohne  sich  selber  aufzugeben.  Sie  wurden  daher  stillschweigend  ad 
acta  gelegt,  —  in  gleicher  Weise  wie  die  neuen  mikroskopischen 
und  entwicklungsgeschichtlichen  Thatsachen  des  dritten  und  vierten 
Decenniums  unsers  Jahrhunderts  von  einem  berühmten  Naturphilo- 
sophen, in  dessen  System  sie  nicht  passten,  mit  den  Worten 
beseitigt  wurden:   »Das  kann  ich  nicht  l)rauchen.« 

Die  Physiologie,  die  Physik  des  Organisclien,  geht  einen  anderen 
Weg.  Die  Entstehung  der  Organismen  ist,  wie  jedes  naturwissen- 
scliaftliche  Gebiet,  nach  ihren  Bestandtheilen  und  Beziehungen  ein 
unendliches  Feld.  Die  exacte  Forschung  sucht  darin  einzelne  That- 
sachen (Gesetze)  festzustellen,  wobei  sie  sich  sowohl  der  Beoljachtung 
des  Einzelnen  und  der  Induction  als  der  Deduction  aus  allgemeinen 
formalen  oder  realen  Gesetzen  bedient.  Jede  Tliatsache  muss  für 
sich  begründet  werden  und  durchaus  unabhängig  von  irgend  welchen 
Meinungen  sein ;  dadurch  erlangt  sie  eine  unveränderliche  Beständig- 
keit, mao;  die  Lehre  als  Ganzes  noch  so  sehr  Gestalt  und  Aussehen 
wechseln.  Solche  Thatsachen  bilden  einen  Stock  von  sicheren  Errungen- 
schaften, die  nicht  mehr  verloren  gehen  und  die  mit  jeder  neuen  gründ- 
hclien  Arbeit  sich  vermehren.  An  sie  mögen  sich,  von  ihnen  bestimmt 
und  begrenzt,  die  Hypothesen  anlehnen,  soweit  es  der  Wissenstrieb 
verlangt ;  da  dieselben  uns  bloss  Wahrscheinlichkeiten  und  Möglich- 
keiten geben,  so  bilden  sie  das  vergängliche  und  veränderliche  Gut 
der  Lehre.  

A^orliegende  Abhandlung  hat  nicht  den  Zweck,  die  Abstammungs- 
lehre mit  Rücksicht  auf  ihren  sicheren  thatsächlichen  Inhalt  über- 
haupt zu  besprechen.  Sie  will  vorzugsweise  bloss  untersuchen,  ob  und 
inwiefern  in  dem  letzteren  bereits  mechanisch-physiologische  Prin- 
cipien  zur  Anwendung  zu  gelangen  vermögen.  Und  da  die  Mechanik 
des  Organischen  fast  ausschhesslich  auf  moleculari)liysiologischem 
Gebiete  sicli  bewegt,  so  muss  sie,  soweit  es  möglich  ist,  die  Er- 
scheinungen auf  dieses  Gebiet  zurückführen. 

Die  wissenschaftliche  Betrachtung  eines  Dinges  fi'agt  zuerst, 
wie  es  ist,  und  nachher  warum  es  ist.  Die  Erkenntniss  ist  be- 
endigt,   wenn    es   als  die  noth wendige   Folge   bestimmter    Ursachen 


Einleitung.  9 

sich  nachweisen  lässt.  Dieses  ursächliche  Erkennen  nennen 
wir  im  Gebiete  des  Stofflichen  auch  ein  meclianistisches,  weil 
jede  natürliche  Erscheinung  durch  Bewegungen  zu  Stande  kommt 
und  weil  die  Mechanik  die  Bewegungen  bestimmt,  welche  unter 
dem  Einfluss  von  Kräften  erfolgen.  Eine  Naturwissenschaft  nähert 
sich  daher  um  so  mehr  der  Vollkonnnenheit ,  jemehr  die  mecliu- 
nischen  Principien  in  ihr  Anwendung  finden. 

Die  Ijeschreibenden  Naturwissenschaften  können  zwar,  besonders 
wenn  sie  sicli  der  streng  genetischen  oder  entwicklungsgeschicht- 
lichen Methode  bedienen  und  jeden  Zustand  mit  dem  ihm  un- 
mittelbar vorausgehenden  und  mit  dem  unmittelbar  nachfolgenden 
zusammenhalten,  eine  grosse  Vollständigkeit  im  beobachtenden 
oder  messenden  Erkennen  erreichen.  Aljer  dabei  mangelt  ihnen 
immer  noch  die  höhere  Weihe  des  ursächlichen  Wissens,  welches 
das  Geschehen  als  ein  noth wendiges  erkennen  soll.  Wir  müssen 
es  daher  als  ein  besonders  befriedigendes  Ereigniss  begrüssen,  wenn 
es  gelingt,  in  eine  bisher  rein  beschreibende  Wissenschaft  ein 
mechanistisches  Element  einzuführen  und  sie  dadurch  den  exacten 
Wissenschaften  zu  nähern. 

Die  Abstammungslehre  beruht,  im  Gegensatz  zur  Schöpfungs- 
lehre, als  allgemeine  Wahrheit  selbst  aiü'  dem  allgemeinsten  mecha- 
nischen Princip,  auf  dem  Causalgesetz  oder  dem  Gesetz  der  Er- 
haltung von  Kraft  und  Stoff.  Die  Entstehung  der  organischen 
Welt  aus  der  unorganischen  ist  eine  Gewissheit,  sofern  alles  in  der 
endlichen  Welt  nach  Ursache  und  Wirkung  zusammenhängt,  und 
somit  auf  natürlichem  Wege  zu  Stande  kommt.  Wie  ferner  jedes 
Zusammengesetzte  auf  natürlichem  Wege  ursprünglich  nur  aus  dem 
nächst  Einfacheren  entstehen  kann,  so  kann  auch  das  zusammen- 
gesetzte Organische  nur  aus  dem  einfacheren  Organischen  hervor- 
gehen, und  dies  um  so  gewisser,  als  alle  zusammengesetzteren  oder 
sogenannt  höheren  Organismen  in  ihren  ersten  Entwicklungsstadien 
für  sich  allein  nicht  existenzfähig  sind,  sondern  einen  mütterlichen 
die  Ernährung  besorgenden  Organismus  voraussetzen.  Es  vermögen 
daher  nur  die  allereinfachsten  und  niedrigsten  Organismen  sich 
unmittelbar  aus  dem  Unorganischen  zu  gestalten,  und  alle  üljrigen 
müssen  in  allmählicher  Stufenfolge  aus  ilnien  sich  entwickeln. 

Innerhalb  dieser  allgemeinen  Thatsache  der  natürlichen  Al)- 
stammung   war    früher    aller    Inhalt   der   Abstanmiungslehre    hypo- 


10  Einleitung. 

thetischer  Natur,  du  selbstverständlich  für  ein  längstvergangenes 
Geschehen  das  ]x!ol:)aclitcnde  genetische  Verfahren  unmöglich  ist,  und 
bloss  durch  Analogieschlüsse  grössere  oder  geringere  Wahrscheinlich- 
keit begründet  werden  kann.  In  das  Feld  der  Hypothesen  hat 
Darwin  ein  mechanisches  Princip  eingeführt,  indem  erzeigte,  dass 
eine  Reihe  von  Erscheinungen  in  den  organischen  Reichen  die  noth- 
w^endige  Folge  einer  bestimmten  Ursache  ist.  Dieser  That  verdankt 
die  Abstammungslehre  den  ungeheuren  Aufschwung,  den  sie  auf 
einmal  nahm.     Das  Darwin 'sehe  Princip  aber  ist  folgendes: 

Da  bei  der  starken  Vermehrung,  welclie  allen  Organismen  von 
Natur  eigenthümlich  ist,  fortwährend  eine  grosse  Zahl  von  Individuen 
als  Keime  oder  in  späteren  Ent\vicklungsstadien  zu  Grunde  gehen 
muss,  so  bleiben  nur  diejenigen  erhalten,  welche  in  der  Gesammt- 
heit  ihrer  Eigenschaften  sich  als  die  lebensfähigeren  erweisen.  Der 
jeweilige  Bestand  der  organischen  Reiche  an  Sippen^),  der  unter  den 
gegebenen  äusseren  Verhältnissen  ein  Gleichgewichtszustand  ist, 
kann  nur  geändert  werden,  wenn  neue  existenzfähigere  Sippen  in 
die  Gesannntheit  eintreten  und  durch  theilweise  oder  gänzliche 
Verdrängung  bisheriger  Sippen  sich  Raum  schaffen.  Jede  einzelne 
Sippe  kann  nur  durch  eine  allen  Umständen  angepasstere,  eine  in- 
dividuelle Eigenschaft  nur  durch  eine  dem  individuellen  Träger 
oder  der  Sipj^e  nützlichere  ersetzt  werden. 

Dieses  Princip  erklärte,  wenn  einmal  die  natürliche  Abstannnung 
der  Organismen  aus  einander  feststand ,  im  allgemeinen  das  Ver- 
hältniss  der  Sippen  zu  einander  und  die  Gliederung  der  Reiche  durch 
Lückenbildung,  wie  sie  uns  in  der  Natur  entgegentritt.  Darwin 
begnügte  sich  ahüv  nicht  mit  dieser  Errungenscliaft,  die  für  immer 
sein  Verdienst  l)leil)en  wird ;  vielmehr  glaul)te  er  aus  dem  Princif)  der 
Verdrängung  des  weniger  Befähigten  dm'ch  das  Befähigtere  einen 
noch  viel  weiter  gellenden  Schluss  ziehen  zu  können.  Er  glaubte 
darin  das  treibende  Moment  zu  finden,  welches  die  Entwicklungsreihen 


1)  Es  maivj;<'lt  in  der  Wissenschaft  ein  Wort,  welches  kurz  das,  was  ich 
früher  »systeinutisclie  Einheit«  genannt  habe,  also  eine  grössere  oder  kleinere 
Zahl  von  verwandten  Organismen,  bezeichnete.  Man  gebraucht  dafür  wohl  die 
Ausdrücke  »Form«  oder  »Grupite«  oder  selbst  vArt«  ;  dieselben  werden  aber  oft 
zweideutig  und  für  Zusammensetzungen  unbiaucbbai'.  Unter  Sippe  verstehe  ich 
also  jede  systematische  Einheit :   Kasse,  Varietät,  Art,  Gattung,  Ordiumg,  Classe. 


Einleitung.  1 1 

der  organischen  Reiche  von  den  niedrigsten  und  einfachsten  zu  den 
vollkommensten  und  comjjlicirtesten  Formen  emporführte. 

Die  bekannte,  als  natürliche  Zuchtwahl  <  l)ezeichnete  Theorie, 
die  auf  einem  kleinen  und  Ijeschränkten  Felde  der  Beobachtung  und 
Erfahrung  gewachsen  ist  und  dann  durch  Analogie  auf  grosse  Ver- 
hältnisse übertragen  wurde,  ist  folgende.  Die  Rasse  eines  Haus- 
thieres  verändere  sich  nicht,  wenn  ungeliinderte  Kreuzung  der 
Individuen  statt  habe.  In  einzelnen  Thieren  beginne  zwar  immer 
eine  geringe  Veränderung,  aber  durch  Vermischmig  mit  andern 
Individuen  werde  dieselbe  mehr  oder  weniger  aufgehoben  und 
abgelenkt.  Würden  dagegen  durch  >;  künstliche  Zuchtwahl «  nur 
diejenigen  Individuen  mit  einander  gepaart,  in  denen  die  nämliche 
Veränderung  bemerkbar  geworden,  und  würde  dieses  Verfahren  in 
den  folgenden  Generationen  wiederholt,  so  gehe  die  Verändermig 
ungehindert  weiter  und  könne  überhaupt  so  weit  gefülirt  werden, 
als  es  die  Natur  der  Dinge  erlaube.  Man  erzeuge  eine  neue 
Rasse. 

Das  nämliche  müsse  im  natürlichen  Zustande  geschehen,  wenn 
die  Concurrenz  imd  die  gegenseitige  Verdrängung  eine  »natürliche 
Zuchtwahl«  treife,  indem  alle  Individuen,  in  denen  eine  für  die 
ISIitbewerbung  nützliche  Eigenschaft  nicht  vorhanden  oder  in  ge- 
ringerem Grade  entwickelt  sei,  vernichtet  und  somit  von  der 
Paarung  und  Fortpflanzung  ausgeschlossen  werden.  —  Ich  werde 
später  einen  besonderen  Aljschnitt  der  Besprechung  dieser  als  Dar- 
winismus bekannten  Theorie  widmen  und  bemerke  hier  vorläufig 
folgendes  über  das  Princip  derselben. 

Die  natürliche  Zuchtwahl  setzt,  wie  jede  Theorie  über  die  Ent- 
wicklung der  organischen  Reiche,  die  individuelle  Veränderung 
voraus.  Letztere  ist  Thatsache,  denn  die  höheren  Organismen 
können  aus  den  niedrigsten ,  spontan  entstandenen  nur  dadmch 
hervorgegangen  sein,  dass  die  Individuen  in  den  auf  einander 
folgenden  Generationen  sich  veränderten. 

Die  individuelle  Veränderlichkeit  kann  nun  aber  in  verschie- 
dener Weise  aiü'gefasst  werden  und  zwar  sind  zwei  Möglichkeiten 
denkbar.  Entweder  hat  sie  eine  ganz  beliebige,  eine  richtungslose 
Beschaffenheit,  oder  sie  zeigt  einen  bestimmten  Charakter.  In  dieser 
Beziehung  ist  vor  allem  ein  Punkt  von  Wichtigkeit,  nämlich  ob  die 
Veränderung  rücksichtlich  der  einfacliercn  und  zusannnengcsetzteren 


12  Einleitung. 

Organisation  sicli  indifferent  verhalte  oder  nielit.  Im  einen  Fall 
können  die  Generationsreilien  ebenso  wohl  nach  oben  als  nach  unten, 
im  anderen  Fall  müssen  sie  ausschliesslich  oder  vorzugsweise  nach 
oben  sich  ansl)ilden. 

Ich  will  die  Veränderung  nach  olien  zum  Zusammengesetzteren 
als  positiv,  diejenige  nach  unten  zum  Einfacheren  als  negativ  be- 
zeichnen. Wir  können  uns  nun  eine  deutliche  Vorstellung  von 
beiden  Möglichkeiten  machen,  wenn  wir  einen  phylogenetischen 
Stamm  durch  eine  unendliche  Reihe  von  Generationen,  ohne  Ein- 
fluss  der  Zuchtwahl,  sich  entwickeln  lassen.  Unter  diesen  Voraus- 
setzungen geben  in  dem  ersten  der  genannten  zwei  Fälle  bei  einer 
unendlichen  Menge  von  Veränderungen  die  positiven  Schritte  die 
gleiche  Summe  wie  die  negativen ;  die  beiden  Summen  heben  sich 
auf  und  der  Stamm  ist  nach  unendlicher  Zeit  genau  so  organisirt 
wie  im  Anfang.  Im  andern  Falle  werden  bloss  Schritte  mit  positiven 
Vorzeichen  gemacht,  oder  dieselben  überwiegen  nach  Zahl  und 
Grösse,  so  dass  am  Ende  einer  hinreichend  langen  Generationen- 
reihe die  positive  Sunune  grösser  ist  als  die  negative;  die  End- 
glieder der  Reihe  haben  also  eine  complicirtere  oder  höhere  Organi- 
sation als  die  Anfangsglieder. 

Die  beliebige  oder  richtungslose  Veränderung  der  Individuen 
wäre  denkbar,  wenn  sie  durch  äussere  Einflüsse  (Nahrung,  Tempe- 
ratur, Licht,  Elektricität,  Schwerkraft)  bedingt  würde.  Denn  da  diese 
Ursachen  offenbar  in  keine  bestimmte  Beziehung  zu  der  mehr  oder 
weniger  zusammengesetzten  Organisation  sich  bringen  lassen,  so 
müssten  sie  bald  einen  positiven,  bald  einen  negativen  Schritt 
bewirken.  Wenn  aber  die  Ursachen  der  Veränderung  innere,  in  der 
Beschaffenheit  der  Substanz  gelegen  sind,  so  verhält  sich  die  Sache 
anders.  Dann  muss  die  bestimmte  Organisation  der  Substanz  einen 
maassgebenden  Einfluss  auf  ihre  eigene  Veränderung  ausüben,  und 
dieser  Einfluss  kann,  da  die  Entwicklung  zu  unterst  beginnt,  nur 
in  der  Richtung  nach  oben  sich  geltend  machen. 

Ich  habe  dies  früher  das  Vervollkommnungsprincip 
genannt,  unter  dem  Vollkommneren  die  zusammengesetztere  Organi- 
sation verstehend.  Minder  Weitsichtige  haben  darin  Mystik  finden 
wollen.  Es  ist  aber  mechanischer  Natur  und  stellt  das  ßeharrungs- 
p;esetz  im  Gebiet  der  oroanischen  Entwicklung  dar.    SoM'ie  die  Ent- 

o  r^  <j 

Wicklungsbewegung  einmal  mi  Gange  ist,  so  kann  sie  nicht  stille  stehen 


Einleitunjj.  13 

und  sie  muss  in  ihrer  Richtung  heharren.  A^crvollkommnung 
in  meinem  Sinne  ist  also  nichts  anderes  als  der  Fortschritt  zum 
complicirtorcn  Bau  und  zu  grösserer  Thoilung  der  Arheit  und 
würde,  da  man  im  allgemeinen  geneigt  ist,  dem  Worte  mein"  Px;- 
deutung  zu  gewähren  als  dem  ihm  zu  Grunde  liegenden  Begriff, 
vielleicht  besser  durch  das  unverfängliche  Wort  Progression  ersetzt. 

Indem  ich  mich  des  Wortes  Vollkonnneidicit  in  der  angesehenen 
Bedeutung  bediente,  folgte  ich  dem  früher  allgemeinen  Sprach- 
gel^rauch,  nach  welchem  man  von  jeher  niedere  und  höhere,  un- 
vollkommenere und  vollkommenere  Pflanzen  und  Thiere  unterschied. 
Zwar  hat  schon  Seh  leiden,  und  zwar  vor  Darwin,  bei  seinem 
Versuche,  die  Botanik  auf  dem  Wege  der  Negation  neu  zu  gestalten, 
auch  diesen  Begriff  als  nichtig  erklärt,  indem  er  ihm  nur  bildlichen 
Werth  zugestellt  und  behauptet,  dass  xdas  Gleichniss  umgekehrt  sich 
eben  so  gut  durchführen  liesse«,  mit  der  Bemerkung,  dass  eine  gesund 
entwickelte  Conferve  vollkommener  sei  als  ein  verkrüppelter  Eich- 
baum. Nach  dieser  Meinung  könnten  also  gesunde  Infusorien  und 
Würmer  sich  einer  grösseren  Vollkommenheit  rühmen  als  kranke 
Menschenkinder. 

Darwin,  welcher  bloss  die  mehr  oder  weniger  gute  Anpassung 
im  Auge  hatte,  bezeichnete  als  das  vollkommenere  lediglich  das, 
was  im  Kampfe  um's  Dasein  sich  besser  bewährt.  Dies  ist  aber 
offenbar  nicht  das  einzige  Kriterium ,  das  bei  der  Vergleichung  der 
Organismen  in  Anwendung  kommen  darf,  und  in  der  Darwin 'sehen 
Einseitigkeit  ist  nicht  das  ganze  Wesen  der  Dinge  enthalten ;  ^^elmehr 
bleibt  dabei  die  bessere  Hälfte  unberücksichtigt.  Es  gibt  bezüglich 
der  Vollkommenheit  zwei  verschiedene  Kategorien,  die  wir  scharf 
trennen  müssen : 

1.  Die  Organisationsvollkommenheit,  charakterisirt  durch  den 
zusammengesetztesten  Bau  und  die  durchgeführteste  Theilung  der 
Verrichtungen. 

2.  Die  Anpassungsvollkommenheit,  welche  auf  jeder  Organi- 
sationsstufe sich  wiederholt  und  welche  in  derjenigen,  unter  den 
jeweiligen  äusseren  Verhältnissen  vortheilhaftesten,  Ausbildung  des 
Organismus  besteht,  die  mit  seiner  Zusammensetzung  im  Bau  und 
mit  seiner  Theilung  der  Functionen  verträglich  ist. 

Die  erstere  nannte  ich  schlechthin  Vollkommenheit  in  Ermang- 
lung eines  anderen  einfachen  Ausdruckes,  die  letztere  aber  Anpassung, 


24  Einleitung. 

und  ich  glaube  damit  die  Begriffe  nicht  unrichtig  ausgedrückt  zu 
haben.  Das  cinzelhge  Si^indelpflänzchen  (Closterium)  und  der 
Schimmelpilz  sind,  jedes  für  seine  Lebensbedingungen,  auf  das 
beste  angepasste  und  gleichwohl  viel  unvollkommener  gebaute 
Pflanzen  als  ein  Apfelbamn  oder  eine  Weinrebe.  Das  Räderthior 
und  der  Blutegel  stehen,  obgleich  für  ihre  Verhältnisse  vortrefflich 
ausgerüstet,  doch  weit  hinter  den  Wirbelthieren  zurück.  Andrerseits 
gehört  der  Walfisch  der  nämlichen  Organisations-  oder  Vollkommen- 
heitsstufe an,  wie  die  ülmgen  Säugethiere,  wäre  aber  für  den  Auf- 
enthalt auf  dem  Lande  das  unpassendste  Geschöpf  der  Welt.  Des- 
gleichen haben  die  schmarotzenden  Orchideen  (Neottia,  Limodorum) 
eine  ebenso  vollkommene  Organisation  (wenn  die  Vollkommenheit 
durch  das  Wesentliche  und  qualitativ  Verschiedene  bestimmt  wird) 
wie  die  übrigen  Orchideen,  die  schmarotzenden  Personaten  (Oro- 
banche,  Lathra3a)  sind  ebenso  vollkonnnen  gebaut,  wie  die  nicht- 
schmarotzenden ;  o,ber  auf  einem  Gartenbeet  mit  den  besten  Nahrungs- 
und klimatischen  Verhältnissen  können  die  Schmarotzer  wegen 
mangelnder  Anpassung  an  unorganische  Nährstoffe  nicht  leben. 

Berücksiclitigen  wir  bloss  Organisation  und  Arbeitstheilung, 
also  bloss  die  Merkmale  der  Vervollkonnnnung ,  und  lassen  wir 
die  Anpassungen  einstweilen  ganz  aus  dem  Spiele,  so  erhalten  wir 
folgendes  Bild  von  der  Entwickelung  der  organischen  Reiche.  Aus 
dem  Unorganischen  entspringen  die  denkbar  einfachsten,  aus  einem 
Plasmatropfen  bestehenden  Wesen.  Dieselben  können,  wenn  eine 
Veränderung  eintritt,  mu'  solche  von  etwas  complicirterem  Bau 
erzeugen  und  in  derselben  Weise  setzt  sicli  die  Bewegung  in  auf- 
steigender Reihe  fort.  Jeder  Organismus  ist  aus  einem  weniger 
zusammengesetzten  entstanden  und  erzeugt  selber  einen  mehr 
zusammengesetzten. 

Ist  die  Bewegung  in  irgend  einem  Punkte  angelangt,  so  kann 
sie  zwar,  wie  sie  durch  die  ganze  vorausgehende  Reihe  nach  oben 
verlief,  im  allgemeinen  auch  nur  in  derselben  Richtung  sich  fort- 
setzen. Al^er  sie  kaini,  da  das  Zusannnengesetztere  mehr  Com- 
binationen  zulässt  als  das  Einfachere  und  da  somit  über  jeder  ein- 
facheren Gestaltung  mehrere  zusannnengesetzte  stehen,  an  jedem 
Punkte  mehrere  aufsteigende  Richtungen  einschlagen,  somit  auch 
an  jedem  Punkte  in  mehrere  divergirend  aufsteigende  Bewegungen 
sich   theilen.      Die    organischen   Reiche   bestehen   daher   aus   vielen 


Einleitung.  15 

baimiartig  verzweigten  Reihen,  die  nach  unten  in  gemeinschafthche 
Ausgangspunkte  zusammenlaufen. 

Die  Urzeugung  und  mit  ihr  der  Beginn  von  aufsteigenden 
Reihen  hat  wie  im  Anfange,  so  auch  späterhin  jederzeit  stattgefunden 
und  findet  auch  jetzt  noch  statt.  Die  Reiche  bestehen  daher  aus 
Organismen  von  jeder  Organisationsstufe,  deren  ausgestorbene  Reihen 
ihren  Ausgangspunkt  in  den  verschiedenen  Erdperioden  Ijis  herab 
zur  jüngsten  hatten. 

Nach  dem  \'^ervollkonnnnungsprincip  erbt  das  Kind  (Individuum 
oder  Stamm)  als  meclianische  Notliwendigkeit  die  Eigenschaften  der 
Eltern ,  und  da  unter  diesen  Eigenschaften  auch  die  Veränderung 
in  der  Richtung  nach  oben  sich  befindet,  so  erlangt  es  eine  etwas 
vollkommenere,  d.  i.  zusammengesetztere  Organisation  und  erzeugt 
wieder  mit  mechanischer  Notliwendigkeit  noch  vollkommenere  Nach- 
kommen. Der  niedrigste,  uns  aus  Erfahrung  bekannte,  aus  einem 
blossen  Plasmatroj^fen  bestehende  Organismus  ist  aus  einem  noch 
einfacheren  Wesen  hervorgegangen,  und  er  bringt  mit  mechanischer 
Notliwendigkeit  einen  zweiten  Organismus  hervor,  der  sich  zu  ihm 
verhält  wie  er  selber  zu  dem  ihn  erzeugenden  Wesen. 

Dass  die  Veränderung  bei  der  Varietäten-  und  Artenbildung 
ein  mechanisches  Princip  der  Beharrung  sei,  und  dass  sie  im  all- 
gemeinen von  dem  Einfacheren  und  Unvollkommeneren  zu  dem 
Zusammengesetzteren  und  Vollkommeneren  fortschreite,  habe  ich 
übrigens  schon  drei  Jahre  vor  der  ersten  Veröffentlichung  Dar win's 
ausgesprochen  ^).     Ich  führe  folgende  zwei  Stellen  an : 

»Die  Individuen  vererben  auf  ihre  Nachkommen  die  Neigung, 
ihnen  ähnlich  zu  werden;  die  Nachkommen  sind  aber  den  Eltern 
nicht  vollkommen  gleich.  Es  muss  also  auch  die  Neigung  zur  ^"er- 
änderung  vererbt  werden.  Es  muss,  wenn  alle  Umstände  günstig 
sind,  eine  Anlage  durch  eine  Reihe  von  Generationen  hindurch  sich 
immer  weiter  ausbilden  können ,  wie  ein  Capital ,  zu  dem  jährlich 
die  Zinsen  geschlagen  werden,  sich  vergrössert.  Denn  jede  Gene- 
ration erbt  von  der  vorhergehenden  nicht  bloss  die  Möglichkeit, 
das  Capital  zu  realisiren ,  sondern  auch  die  Möglichkeit,  demsell)cn 
die  Zinsen  zuzufügen.«     Ferner: 


')  In  oinem  (iffentlichen  Vortrag  »Die  Individualität  in  der  Natur«,  der  im 
Winter  ISb^lbVt  gehalten  und  in  der  ^Älonatssehrift  des  wisseu.schaftlichen  Vereins 
in  Zürich  18r>6«  abgedi-uckt  wurde. 


IQ  Einleitnwg. 

»Wie  überhaupt  keine  natürliche  Erscheinung,  so  kann  auch 
die  Art  nicht  in  vollkommener  Ruhe  beharren.  Gleichwie  die  Nach- 
kommen des  ersten  Individuums  von  demselben  etwas  verschieden 
waren,  so  mussten  auch  die  Keime,  die  sie  erzeugten,  in  etwas  von 
denen  abweichen,  aus  denen  sie  selber  hervorgingen.'  Es  musste 
die  Veränderung  perennirend  werden ;  und  diese  Veränderung  kann 
nicht  anders  als  zuletzt  den  Untergang  der  Art  oder  den  Uebergang 
in  eine  andere  herbeiführen. «     Endlich : 

»Wir  müssen  uns  also  die  Verwandlung  der  Pflanzenarten 
zugleich  in  der  bestimmten  Form  einer  Vervollkommnung,  einer 
höheren  Organisirung  derselben  denken.  Eine  Art,  die  sich  in  eine 
andere  umändert,  erscheint  in  ihr  nicht  l)loss  mit  allen  ihren 
Attributen,  sondern  fügt  noch  ein  neues  Merkmal  hinzu,  und  erhel>t 
sich  zu  etwas  Höherem.  Die  frühere  Art  tritt  also  in  der  folgenden 
als  vorletztes  Entwicklungsstadiüm  auf,  über  das  hinaus  diese  sich 
zum  entwickelten  Zustande  erhebt.  Eine  Bestätigung  von  Seite  der 
Erfahrung  liegt  in  der  Thatsache,  dass  manche  vorweltliche  Thiere 
den  Jungen  jetzt  lebender  Thiere  ähnlich,  wiewohl  viel  grösser  waren 
u.  s.  w.«  —  Dal^ei  wurde  auf  eine  Analogie  mit  der  Rassenbildung 
hingewiesen,  in  der  gleichfalls  eine  Steigerung  in  der  Veränderung 
statt  habe. 

Die  Organismen  unterscheiden  sich  nicht  bloss  darin  von  ein- 
ander,  dass  die  einen  einfacher,  die  anderen  complicirter  organisirt 
sind,  sondern  auch  darin,  dass  die  auf  gleicher  Organisationsstufe 
stehenden  in  ihren  Functionen  und  in  ihrem  Bau  ungleich  ausgebildet 
sind,  was  vorzugsweise  mit  der  Verschiedenheit  gewisser  äusserer  A^er- 
hältnisse  zusammenhängt  und  daher  als  Anpassung  bezeichnet  wird. 
Die  Anpassung  bewirkt  auf  jeder  Organisationsstufe  die  für  bestimmte 
Umgebungen  vortheilhafteste  Ausprägung  der  durch  die  inneren  Ur- 
sachen erzeugten  Haupttypen. 

Für  eine  solche  Ausbildung  ist  eine  bewirkende  Ursache  er- 
forderlich; ich  werde  später  die  Natur  derselben  besprechen.  In 
manchen  Fällen  wird  diese  Ursache  bis  zur  vollendeten  Anpassung 
wirken  müssen.  In  anderen  Fällen  wird  es  genügen,  dass  unter 
ihrem  Einfluss  die  Veränderung  in  einer  bestimmten  Richtung  ent- 
schieden beginnt  und  sich  zum  fortbildungsfähigen  Anfange  ge- 
staltet. Alsdann  geht  die  Ausbildung  mit  mechanischer  Nothwendig- 
keit  in  der  eingesclüagenen  Richtung  fort.    Denn  wenn  vermöge  des 


Einleitung.  17 

geschaffenen  Anfanges  eine  Generation  Nachkommen  erzengt,  die 
in  einer  Beziehung  über  sie  selber  hinausgehen,  so  müssen  nach 
dem  Beharrungsgesetz  die  Naclikommen  dieser  Nachkommen  um 
einen  weiteren  Grad  verändert  sein,  und  die  Ausl)il(huig  muss  so  weit 
gehen,  als  es  die  Natur  der  A^erhältnisse  erlaubt. 

Wir  haben  also  als  mechanische  Ursachen  für  die  Entwicklung 
der  organischen  Reiche  die  Beharrung  in  der  Vervollkommnung  vom 
Einfacheren  zum  Zusammengesetzteren  und  ferner  (voi'l)elialtlich  der 
späteren  Erörterung)  die  bestimmten  Wirkungen  der  äusseren  Ein- 
flüsse auf  die  Anpassung.  Wir  können  den  Erfolg  dieser  mecha- 
nischen Principien  mit  demjenigen  der  natürlichen  Zuchtwahl  in 
Darwin's  Sinne  am  besten  vergleichen,  wenn  wir  uns  die  Gon- 
currenz  und  Verdrängung  abwechselnd  mangelnd  und  vorhanden 
denken. 

C'oncurrenz  und  \\irdrängung  hätten  für  das  Pflanzenreich  ganz 
gemangelt,  wenn  von  dem  Beginne  desselben  die  Erdoberfläche  stets 
in  dem  Maasse  sich  vergrösserte,  als  die  Individuen  an  Zahl  zu- 
nahmen, und  wenn  das  Thierreich  nicht  vorhanden  war.  Denn  jeder 
Keim  konnte  nun,  da  er  Nahrung  und  Raum  in  hinreichender 
Menge  vorfand,  ungehindert  sich  entfalten.  War  unter  dieser  Vor- 
aussetzung die  individuelle  Veränderung  richtungslos,  so  konnte 
die  Entwicklungsl)ewegung,  da  sie  in  positiven  und  negativen  Schritten 
hin  und  her  schwankte,  nicht  von  der  Stelle  kommen  und  das  Pflanzen- 
reich blieb  fortwährend  in  seiner  Gesammtheit  auf  der  Stufe  der 
ersten  nackten  oder  mit  Mem]:)ran  umhüllten  Plasmatropfen.  Nur 
die  Concurrenz  mit  Verdrängung  ist,  bei  richtungsloser  individueller 
Veränderung,  im  Stande,  die  Organismen  auf  eine  höhere  Stufe  zu 
bringen,  indem  diejenigen,  welche  einen  Schritt  nach  oben,  nach 
einer  complicirteren  Organisation  gemacht  haben,  vor  den  andern, 
die  still  standen  oder  einen  Schritt  im  negativen  Sinne  zurücklegten, 
im  Voi-theil  sind  und  dieselben  verdrängen.  Die  Concurrenz  ist 
also  im  Darwin'schen  Sinne  zugleich  Sippen  bildend  und  Sippen 
scheidend. 

Wurde  aber  unter  obiger  Voraussetzung  einer  ungeliemmten 
Entwicklung  aller  Keime  die  individuelle  Veränderung  durch  me- 
chanische l*rincipien  bestinnnt,  so  bildeten  sich  alle  Pflanzen- 
formen, die  jetzt  bestehen,  und  sie  würden  jetzt  ebenso  neben  einander 
leben,  wie   es   in  Wirklichkeit   der  Fall  ist.     Aber   es   kämen    unter 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  2 


\  g  Einleitung. 

ihnen  noch  andere  Pflanzenfornien  in  unendhcher  Menge  vor, 
nämhch  alle  die  Ahkünnrdinge  der  verdrängten  und  ausgestorbenen 
Reihen. 

Tritt  in  dem  Reiche  der  bestimmt  gerichteten  Vervollkommnungs- 
und Anpassungsveränderung  Concurrenz  mit  Verdrängung  ein,  so  ist 
sie  sippenscheidend  und  sippenumgrenzend,  aber  nicht  sipj^enbildend. 
Kein  einziger  phylogenetischer  Stamm  verdankt  ihr  das  Dasein,  aber 
die  einzelnen  Stämme  treten  durch  ^Verdrängung  der  zwischen- 
liegenden deutlicher  und  charakteristischer  hervor.  Ohne  Concurrenz 
wäre  das  Pflanzenreich  wie  der  Nebel  der  Milchstrasse,  durch  sie 
ist  es  zum  Firmament  mit  hellleuchtendon  Sternen  geworden. 

Noch  besser  können  wir  das  Pflanzenreich  einem  grossen  von 
der  Basis  an  verzweigten  Baume  vergleichen,  an  welchem  die 
Enden  der  Zweige  die  gleichzeitig  lebenden  Pflanzenformen  dar- 
stellen. Dieser  Baum  hat  eine  ungeheure  Triebkraft,  und  er  würde, 
wenn  er  sich  vmgehindert  entwickeln  könnte ,  ein  unermessliches 
Buschwerk  von  zahllosen  verworrenen  ^''erzweigLmgen  sein.  Die 
Verdrängung  schneidet  als  Gärtner  ihn  fortwährend  aus,  nimmt  ihm 
Zweige  und  Aeste  und  gibt  ihm  ein  gegliedertes  Aussehen  mit 
deutheh  unterscheidbaren  Theilen.  Kinder,  die  den  Gärtner  täglich 
an  der  Arbeit  sehen,  könnten  wohl  meinen,  dass  er  die  Ursache  sei, 
warum  sich  Aeste  und  Zweige  bilden.  Gleichwohl  wäre  der  Baum, 
ohne  die  ewigen  Nergeleien  des  Gärtners,  allein  noch  viel  weiter 
o-ekommen,  zwar  nicht  an  Höhe,  wold  aber  an  Umfang,  an  Reich- 
tlnnn  und  Mannigfaltigkeit  der  Vei-zweigung. 

In  der  Vervollkommnung  (Progression)  und  Anpassung 
liegen  die  mechanischen  Momente  für  die  Bildung  des 
Formenreichtliums,  in  der  Concurrenz  mit  Verdrängung 
oder  in  dem  eigentlichen  Darwinismus  nur  das  mechanische 
Moment  für  die  Bildung  der  Lücken  in  den  beiden  orga- 
nischen Reichen.  Zur  Begründung  der  mechanischen  Principien 
will  ich  die;  wiclitigstcn  darauf  Ijezüglichen  Punkte  der  Abstammungs- 
leln-e  besprechen,  und  da  die  Mechanik  des  organischen  Lebens  fast 
ausschliesslich  nicht  auf  Massenbewegungen,  sondern  auf  Bewegungen 
der  kleinsten  Theilchen  beruht,  so  nuiss  ich  mich  demgemäss  vor- 
zugsweise auf  das  molecularphysiologische  Gebiet  begeben.  Die 
Physiologie  iial  iihrigens  um  so  eher  Veranlassung,  die  Lösung  des 
Räthsels  auf  diesem  uiisielitbaren  Gebiete  zu  unternehmen,  als  schon 


Einleitung.  1 9 

zwei  iNTal    der   näniliebe  Weg   von   Nichtpliysiologen,    von    Darwin 
1111(1  von  Häckel,  versucht  wurde. 

Wenn  es  sieli  iiiii  Dinge  handelt,  die  sicli  der  uniiiittell)aren 
Beobachtung  entziehen,  so  l)e.stelit  die  Aiil"gal)e  der  Wissenscliat't 
darin,  Hypothesen  zu  finden,  welche  das  Unbekannte  erklären  und 
die  mit  keiner  der  bekannten  Thatsachen  in  Widerspruch  .^^iiid. 
Lassen  sieh  mehrere  solcher  Hypothesen  aufstellen,  so  krtniicn  die- 
sellien  vorerst  bloss  nach  ihrem  Wahrscheinlichkeitsgrad  mit  einander 
verglichen  werden,  bis  die  Forschung  neue  Thatsaclien  aufdeckt, 
welche  die  eine  oder  andere  unmöglich  machen.  Die  Hv])otliese 
wird  zur  Gewissheit,  wenn  sie  als  die  allein  mrigliche  und  das 
Gegentheil  als  unmöglich  dargethan  werden  kann. 

Eine  molecularphysiologische  Hypothese  muss  mit  den  Gesetzen 
und  Thatsachen  der  Physik,  der  Chemie  und  der  Physiologie  in 
Uebereinstimmung  sein.  Glücklicherweise  ist  der  Rahmen,  in  welchem 
sich  die  m()glichen  Hypothesen  der  Abstammungslelire  bewegen, 
enge  begrenzt.  Im  allgemeinen  erweist  sich  nur  eine  einzige  als 
möglich,  nämlich  die,  dass  das  Wesen  der  Organismen  in  der  Be- 
schaffenheit und  Anordnung  der  kleinsten  Theilchen  derjenigen 
Sul  »stanz  bestehe,  welche  die  Vererbung  bei  der  Fortpflanzung  und 
die  specifische  Entwicklung  des  Individuums  bedingt.  Diese  Hypo- 
these oder  \aelmehr,  da  sie  die  auf  realem  Boden  einzige  Möglichkeit 
ist,  diese  allgemeine  Thatsache  bildet,  wenn  sie  auch  bei  der  Aus- 
führung im  besondern  verschiedene  Möglichkeiten  erlaul)t,  die  sichere 
Grundlage,  auf  der  sich  bestimmte  mechanisclie  ^'^orstellungen  ge- 
winnen lassen.  —  Ich  werde  daher  vorzüglich  folgende  Punkte  der 
Descendenzlehre  besi^rechen : 

Das  Wesen  der  in  der  organisirten  lebenden  Sul)stanz  liefind- 
lichen  unsichtbaren  Anlagen  für  die  sichtliaren  Erscheinungen  des 
entwickelten  Zustandes. 

Die  Entstehung  der  organisirten  lel)endeii  Suljstaiiz  aus  den 
unorganischen  Verbindungen. 

Die  durch  die  Natur  der  organisirten  Substanz  hedingicn  inneren 
Ursachen  der  phjdogenetischen  Veränderung  und  der  iMnlhiss  (U'r 
äusseren  Ursachen  auf  diese  Veränderung. 

Die  Entstehung  und  Ausbildung  der  in  der  organisirten  Sub- 
stanz enthaltenen  unsichtbaren  Anlagen  und  deren  Entfaltung  zu 
sichtbaren  Erscheinungen. 

2* 


20  Einleitung. 

Die  Veränderung  der  organisirten  Sul^stanz,  welche  zur  Rassen- 
bildung, und  diejenige ,  welche  zur  Varietäten-  und  Artenbildung 
führt. 

Die  irrthümliche  Folgerung  von  der  Rassenl)ildung  auf  die 
Artenbildung  in  der  Hjqwthese  von  der  natürlichen  Zuchtwahl. 

Die  Entmcklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 


Idioplasma  als  Träger  der  erblichen  Anlagen. 


Die  Beurtlieiliing  und  Vergleichung  der  Organismen  gründet 
sich  auf  die  Merkmale,  die  wir  an  ihnen  wahrnehmen.  Die  Beolj- 
achtung  in  dieser  Beziehung  hat  immer  grössere  Fortschritte  ge- 
macht; sie  ist  von  der  äusseren  Gestalt  zum  Aufbau  aus  den  Or- 
ganen, zur  Zusammensetzung  aus  Zellen,  zu  den  Bestandtheilen  der 
Zellen,  zur  chemischen  Zusammensetzung,  —  von  der  Formliildung 
und  Zusammensetzung  zur  physiologischen  Verrichtung,  —  von 
dem  fertigen  Zustand  zu  der  Entwicklungsgeschichte  desselben  aus 
der  ersten  Zelle  fortgeschritten.  Damit  hat  die  Erkenntniss  der 
Organismen  an  Umfang  und  Sicherheit  ungemein  zugenommen. 

Dennoch  sind  uns  noch  viele  Eigenschaften  verborgen ,  und 
unter  diesen  befinden  sich  gerade  die  wichtigsten,  vor  allem  die 
cliemische  und  physikalische  Beschaffenheit  der  kleinsten  Theilchen, 
ihre  Zusammenordnung  und  die  Kräfte,  mit  denen  sie  aufeinander 
wirken.  Trotz  der  grossen  Fortschritte  bleibt  daher  die  Erkenntniss 
der  Organismen  immer  noch  sehr   unvollständig   und   ol)erflächlicli. 

Die  Vergleichung  der  Organismen  unter  einander  leidet  aber 
nicht  bloss  unter  der  mangelhaften  Kenntniss,  sondern  überdem 
unter  dem  Umstände,  dass  in  Folge  der  ungleichen  Organisation 
ein  gemeinschaftliches  Maass,  das  uns  genau  den  Werth  und  damit 
den  richtigen  Unterschied  angeben  würde ,  mangelt.  Wir  können 
beispielsweise  den  Pilz,  das  Farrenkraut,  den  Tanncnl)aum  und  den 
0])stbaum  nicht  anders  vergleichen,  als  dadurcli,  dass  bei  der  einen 
rtlanze  ein  Merkmal  vorhanden  ist,  ho\  der  andern  nicht,  und  dass 


22  I-  I<lioi)lusiiia 

es  bei  der  einen  diese,  bei  der  andern  jene  Beschaffenheit  hat. 
Aber  nirgends  lässt  sieh  der  Unterseliied  als  Quantität  und  damit 
als  deutlieh  vorstellbare  Grösse  ausdrücken.  Daher  ist  alle  systema- 
tische Unterscheidung  und  Schätzung  mehr  oder  weniger  willkürlich 
und  alle  Folgerung,  welche  daraus  für  phylogenetische  Theorien 
gezogen  wird,  hypothetisch. 

Es  gibt  indess  einen  Zustand,  in  welchem  die  Merkmale, 
deren  genaue  ^^ergleichung  und  Werthschätzung  unmöglich  ist,  eli- 
minirt,  und  in  welchem  alle  Organismen  auf  die  gleiche  Form  und 
Structur  reducirt  sind.  Dies  ist  das  erste,  noch  einzellige  Ent- 
wicklungsstadium ;  im  Eizustande  gleichen  sich  alle  Pflanzen  und 
Thiere.  Die  Eizellen  enthalten  aber  alle  wesentlichen  Merkmale 
ebenso  gut  wie  der  ausgebildete  Organismus,  und  als  Eizellen  unter- 
scheiden sich  die  Organismen  nicht  minder  von  einander  als  im 
entwickelten  Zustande.  In  dem  Hühnerei  ist  die  Species  ebenso 
vollständig  enthalten  als  im  Huhn,  und  das  Hülmerei  ist  von  dem 
Froschei  ebenso  weit  verschieden  als  das  Huhn  vom  Frosch.  Wenn 
uns  dies  anders  erscheint,  so  rührt  es  nur  daher,  weil  im  Huhn 
und  im  Frosch  viele  Unterscheidungsmerkmale  greifl:)ar  sind,  während 
uns  die  unterscheidenden  Eigenschaften  in  den  Eiern  verljorgen 
bleiben.  Enthielte  das  Hühnerei  nicht  das  ganze  Wesen  der  Species, 
so  könnte  sich  aus  demselben  nicht  immer  mit  der  gleichen  Be- 
stimmtheit ein  Huhn  entwickeln. 

Die  Eizustande  sind  die  kurzen  Anfangsstücke  der  individuellen 
Entwicklungsgeschichten  und  als  solche  gewissermaassen  mit  kurzen 
Stücken  verschiedener  krummer  Linien  zu  vergleichen;  die  kurzen 
Linienabschnitte  erscheinen  uns  alle  gleich  und  nicht  von  der 
Geraden  verschieden,  obgleich  in  ihnen  das  Wesen  und  die  mathe- 
matische Formel  der  verschiedenen  krummen  Linien  ebenso  scliarf 
ausgesi)rochon  ist,  als  wenn  sie  sich  verlängert  haben  und  dann 
auch  dem  l)lossen  Auge  ihre  charakteristische  Verschiedenheit 
offenbaren. 

Die  Eizellen  wären  also  eigentlich  die  richtigen  Vergleichsobjecte; 
sie  würden  uns  die  Unterschiede  alle  in  der  nändichcn  Form,  also 
messbar  angeben.  Leider  gehören  ihre  wesentlichen  Eigenschaften 
zu  den  verborgenen  Merkmalen;  sie  beruhen,  wie  diejenigen  Merk- 
male des  ausgebildeten  Zustandes,  welche  verljorgen  bleiben  und 
als   latent  bezeichnet  werden,    in   der  Beschaffenheit  der  Substanz 


als  Träger  der  erV)licheu  Aulagen.  23 

bezüglich  ihrer  Zusammensetzung  aus  den  kleinsten  Theilchen. 
Aber  es  besteht  ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  der  Substanz 
des  ausgebildeten  Organismus,  welche  nicht  das  Vermögen  einer 
weitergehenden  Entwicklung  besitzt,  und  der  Substanz  des  Eies, 
welcher  dieses  Vermögen  zukommt.  Dadurch  charakterisirt  sich  die 
letztere  als  Anlage,  als  Keim.  In  der  Eizelle  sind  alle  Eigen- 
schaften des  ausgebildeten  Zustandes  potentiell  enthalten. 

Insofern  hat  die  Anlage  eine  gewisse  Analogie  mit  der  poten- 
tiellen Energie  oder  der  Spannkraft  der  unorganischen  Materie. 
Während  aber  die  Spannkraft,  sowie  sie  ausgelöst  wird,  von  selbst 
eine  Bewegung  hervorbringt,  ertheilt  die  Anlage  der  Entwicklungs- 
bewegung })loss  ihre  bestimmte  Richtung,  indess  die  Bewegung 
selbst  durch  den  Umsatz  der  Nahrung  unterhalten  wird. 

Die  Substanz,  welche  die  Anlagen  darstellt,  ist  Plasmasubstanz, 
besteht  also  aus  den  verschiedenen  Modificationen  der  Albuminate, 
deren  Moleküle  zu  krystallinischen  Molekülgruppen  (Micellen)  ver- 
einigt, in  löshcher  und  unlöslicher  Form  gemengt,  eine  meist  halb- 
flüssige schleimartige  Masse  bilden').  Al^er  nur  der  kleinere  Theil 
dieses  Stereoplasmas  der  Organismen   stellt   wirkliche  Anlagen   dar. 

Aus  dem  Anlageplasma  geht  immer  eine  bestimmte  und  eigen- 
thümliche  Entwicklungsbewegung  hervor,  die  zu  einem  grösseren 
oder  kleineren  Zellencomplex  führt,  zu  einer  bestinnnten  Pflanze, 
zum  bestimmten  Blatt,  zur  Wurzel,  zmn  Haar  einer  bestimmten 
Pflanze.  Insofern  können  wir  es,  um  einen  kurzen  und  bezeich- 
nenden Ausdruck  zu  haben,  als  Idioplasma  von  dem  üljrigcn 
Stereoplasm  a  unterscheiden . 

Jede  wahrnehmbare  Eigenschaft  ist  als  Anlage  im  Idioplasma 
vorhanden,  es  gibt  daher  ebenso  viele  Arten  von  Idioplasma  als 
es  Combinationen  von  Eigenschaften  gibt.  Jedes  Indi\äduum 
ist  aus  einem  etwas  anders  gearteten  Idioj^lasma  hervorgegangen 
und  in  dem  nämlichen  Individuum  verdankt  jedes  Organ  und  jeder 
Organtheil  seine  Entstehung  einer  eigenthümlichen  Modification 
oder  eher  einem  eigenthümlichen  Zustand  des  Idioplasmas.  Das 
Idioplasma,  welches    wenigstens   in  einer  bestimmten  Entwicklungs- 


»)  Das  lösliche  5> Plasma  <=  der  Thierphysiologen  und  das  unlösliche  »Proto- 
plasiiuu<  hilden  l)einahe  immer  eine  Mischung,  in  welcher  die  einzelnen  Theile 
nicht  zu  trennen  sind,  hli  nenne  sie  Plasma,  und  unterscheide,  sofern  es  nothig 
wird,  lösliches  und  uulOsUches  Plasma  oder  Hygro-  und  t>tereoplasmu. 


24  I-  I'lioplasma 

|)criode  durch  alle  Theile  des  Organismus  vertheilt  ist,  hat  also  an 
jedem  Punkte  etwas  andere  Eigenschaften,  indem  es  Ijeispielsweise 
bald  einen  Ast,  bald  eine  ßlüthe,  eine  Wurzel,  ein  grünes  Blatt, 
ein  Blumenblatt,  ein  Staubgefäss ,  eine  Fruchtanlage,  ein  Haar, 
einen  Stachel  bildet. 

Bei  der  Fortpflanzung  vererljt  der  Organismus  die  Gesammtheit 
seiner  Eigenschaften  als  Idioplasma.  In  der  Keimzelle  sind  die 
Merkmale  aller  Vorfahren  als  Anlagen  eingeschlossen.  Aber  die 
verschiedenen  Anlagen  haben  rücksichtlich  der  Aussicht  auf  Ent- 
faltung eine  sehr  ungleiche  Bedeutung.  Während  die  einen  stets 
und  ausnahmslos  zur  Entwicklung  gelangen,  l)leiben  die  andern  unter 
bestimmten  Verhältnissen  unentwickelt.  Beim  Generationswechsel 
z.  B.  treten  gewisse  morphologische  und  physiologische  Eigenschaften 
nur  in  bestimmten  Generationen  auf,  während  sie  durch  hundert 
folgende  Generationen  im  Anlagezustand  verharren.  Es  gibt 
Merkmale,  die  nur  unter  günstigen  äusseren  Einflüssen  sich  ver- 
wirklichen, und  während  der  Zeit  von  Erdperioden  latent  bleiben, 
weil  diese  Einflüsse  mangeln').  Manche  Anlagen  befinden  sich  gegen- 
seitig im  Zustande  der  Correlation  oder  der  Ausschliessung,  so  dass 
die  Entfaltung  der  einen  Anlage  die  der  andern  bald  veranlasst, 
bald  verhindert. 

Es  gibt  nicht  nur  fertige  Anlagen,  die  jederzeit  fähig  sind 
sich  zu  entwickeln  ,  sondern  auch  unfertige,  entstehende  und  ver- 
schwindende Anlagen.  Eine  Anlage  kann  durch  eine  Reihe  von 
Generationen  an  Stärke  aljnehmen  und  zuletzt  so  schwach  werden, 
dass  sie  sich  nicht  mehr  zu  entfalten  vermag.  Umgekehrt  kann  sie 
durch  eine  Reihe  von  Generationen  an  Stärke  zunehmen  und  zuletzt 
so  intensiv  werden,  dass  sie  entweder  von  selbst  oder  durch  einen 
besonderen  Anstoss  von  aussen  in  den  manifesten  Zustand  über- 
geht. Zu  den  Ursachen,  welche  Anlagen  von  geringerer  Stärke 
(noch  im  Entstehen  oder  schon  im  Verschwinden  begxiffene)  zur 
Entwicklung  veraidassen,  gehch't  namentlicli  die  Kreuzung.  An- 
lagen, die  schon  längere  Zeit  latent  gebUeben  sind,  kommen  über- 
haupt leichter  zur  Entfaltung  bei  der  Fortpflanzung  durch  Befruch- 


1)  Ich  nenne  als  Beispiel  einige  Alponliieracien,  welche  V)ei  der  Cultur  im 
(larten  an  den  zweiton  (Sommer-)  Trieben  jedes  Jahres  eine  merkwürdige  Ab- 
weielumg  in  der  Verzweigung  zeigen.  In  den  Alpen  ))ilden  sieh  wegen  der  kurzen 
Vegetationszeit  nur  Frülijalu-striebe;  die  Sommertriebe  kommen  nie  zur  Enti'altung. 


als  Träger  der  erblichen  Aulagen.  25 

tung,  Avo  zwei  verschiedene  individuelle  Idioplasmen  sich  ver- 
mischend den  Keim  l:)ilden,  als  bei  der  ungeschlechtlichen  Ver- 
mehrung. 

Ich  erinnere  an  diese  Thatsachen,  um  die  unendliche  Mainiig- 
faltigkeit  in  der  Beschaffenheit  des  Idioplasmas  klar  vor  Augen  zu 
legen.  Nicht  nur  gi])t  es,  wenn  wir  Ijloss  das  Pflanzenreich  in 
seinem  jetzigen  Bestände  und  hier  wieder  bloss  die  Eizellen  berück- 
sichtigen, also  die  Anlagen  für  die  Organe  vernachlässigen,  weit 
mehr  als  eine  Million  von  verschiedenen  Keimen  für  alle  Sippen 
(Species  und  Varietäten),  sondern  in  jeder  Sippe  wieder  Billionen 
von  verschiedenen  Keimen  für  alle  jetzt  lebenden  und  früheren 
Individuen.  Diese  unendliche  Mannigfaltigkeit  ist  in  winzigen  Tröpf- 
chen von  Idioplasma  verwirklicht,  welche  durch  das  Mikroskop, 
durch  chemische  und  physikalische  Hilfsmittel  nicht  von  einander 
zu  unterscheiden  sind.  An  der  Keimanlage  seliger  ist  nicht  die 
Masse,  sondern  nur  die  Beschaffenheit  einer  kleinen  wirksamen 
•Partie  von  Idioplasma  das  Entscheidende,  denn  die  väterliche  und 
mütterliche  Erbschaft  ist  ungefähr  gleich  gross,  obgleich  der  Vater 
zm^  befruchteten  Eizelle  bloss  den  hundertsten  oder  tausendsten 
Theil  beigetragen  hat. 

Die  Beschaffenheit  des  Idioplasmas  wird  durch  seine  moleculare 
Zusammensetzung  bestimmt.  Besonders  muss  die  Zusammenordnung 
der  kleinsten  Theilchen  (Micelle)  mit  den  eigenthümlichen  Be- 
wegungen und  Kräften,  die  dadurch  bedingt  sind,  maassgebend  sein. 
Es  ist  ferner  wahrscheinlich,  dass  einer  reicheren  morphologischen 
Gliederung  und  grösseren  Arbeitstheilung  im  entwickelten  Zustande 
auch  eine  zusammengesetztere  Anordnung  der  kleinsten  Idioplasma- 
theilchen,  welche  zu  Schaaren  niederer  und  höherer  Abtheilungen  zu- 
sammengestellt sind,  entspricht,  während  die  niedersten  Organismen, 
die  zeitlebens  einfache  Plasmatropfen  biedren,  eines  sehr  wenig  aus- 
gel)ildeten,  fast  ungeordneten  oder  vielmehr  ganz  einfach  geordneten 
](li(tplasnias  l)C'dürfen.  Um  durch  ein  Bild  meine  Meinung  anschau- 
licher zu  machen,  möchte  ich  das  einfach  geordnete  Idioplasma  der 
niederen  Organismen  einer  wenig  disciplinirten  Truppe  vergleichen 
mit  losem  Verbände,  wie  sie  im  Mittelalter  unter  iln-em  Feldhaupt- 
mann in  den  Kam})f  zog,  —  das  com|)licirt  geordnete  Idioplasma  da- 
gegen einer  regelmässigen  Armee ,  in  der  die  verschiedenen  01)er- 
und  Unterabtheilungen  einem  einheitlichen  Plane  folgen,  sodass  jede 


26  I-  ItliopUisma 

bis  lieruntor  auf  den  einzelnen  Mann  in  bestimmter  Beziehimg  zu  den 
übrigen  und  zum  Ganzen  steht,  selbstverständUch  mit  dem  Unter- 
schiede, dass  das  einigende  Band  nicht  in  Ober-  und  Unterbefehls- 
habern, sondern  in  den  (anziehenden  und  abstossenden)  Beziehungen 
der  einzelnen  Theilchen  unter  einander  besteht. 

Das  Idioplasma  des  Keimes  wäre  somit  gleichsam  das  mikro- 
kosmische Abbild  des  makrokosmischen  (ausgewachsenen)  Indivi- 
duums; es  wäre  nach  Maassgabe,  als  dieses  aus  Organen,  Gewel)s- 
systemen  und  Zellen  aufgeljaut  ist,  aus  Schaaren  von  Micellen 
zusaimnengesetzt ,  welclie  zu  höheren  Einheiten  verschiedener  Ord- 
nungen verbunden  sind  und  die  Anlagen  für  jene  Zellen,  Gewebs- 
systeme  und  Organe  darstellen.  Damit  soll  aber  selbstverständlich 
nicht  gesagt  sein,  dass  die  Micelle  des  Idioplasmas  etwa  den  Zellen 
des  ausgebildeten  Organismus  entsprechen  und  eine  analoge  An- 
ordnung besitzen.  Diese  beiden  Anordnungen  sind  im  Gegentheil 
grundverschieden,  wie  ich  später  noch  darthun  werde. 

Wenn  ich  die  Eigenthümlichkeit  des  Idioplasmas  vorzüglich  in 
die  Zusammenordnung  der  kleinsten  Theilchen  verlege,  so  geschieht 
es,  weil  dieser  jedenfalls  eine  wichtige,  wahrscheinlicli  die  Haupt- 
rolle zukommt,  während  wir  ül)er  die  chemisclie  Verschiedenheit 
bei  der  jetzigen  mangelhaften  Erkenntniss  der  Albuminate  uns  keine 
deutliche  Vorstellung  machen  können.  Die  ungleiche  Gestalt,  Grösse 
und  Zusannnenordnung  der  Idioplasmamicelle  ergil)t  allein  schon 
zahllose  Combinationen  der  wirksamen  Kräfte  und  somit  auch  zahl- 
lose Verschiedenheiten  in  den  dadurcli  bedingten  chemischen  und 
plastischen  Vorgängen  der  lebenden  Substanz,  welche  ebenso  viele 
Verschiedenheiten  im  Wachsthum,  in  der  inneren  Organisation,  in 
der  äusseren  Gestaltung  und  in  den  Verrichtungen  verursachen. 
Diese  Mannigfaltigkeit  in  der  Constitution  des  Idioplasmas  wird 
aber  noch  unendlich  gesteigert  durch  den  Umstand,  dass  jedes 
Micell  auch  eine  verscliiedene  chemische  Beschaffenheit  hal>en  kann. 
Jedenfalls  muss  eine  weitgehende  chemische  Verschiedenheit  vor- 
handen sciii,  icli  werde  dies  noch  besonders  besprechen. 


Vor  allem  ist  es  wichtig,  sich  eine  Vorstellung  ü])er  das  Ver- 
hällniss  zu  Itildcn,  in  welchem  das  Idioplasma  zu  den  übrigen  Sub- 
stanzen des  Orgaiiisnnis  steht,  und  da  alle  Bildungen  von  dem 
riasma  (l'roloplasma)  ausgehen,  so  ist  zunächst  die  Frage,  wie  sich 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  27 

jenes  zu  diesem  verbalte.  Ich  habe  beide  als  verschieden  ange- 
gcl)en,  weil  mir  dies  der  einfachste  mid  natürlichste  Weg  scheint, 
mn  die  ungleichen  Beziehungen  der  Plasmasul)stanzen  zu  den  erb- 
lichen Anlagen  zu  begreifen,  wie  sie  bei  der  geschlechtlichen  Fort- 
pflanzung deutlich  werden.  An  die  befruchtete  und  entwicklungs- 
fähige Eizelle  hat  die  Mutter  hundert-  oder  tausendmal  mehr  Plasma- 
substanzen, in  denselben  aber  keinen  grösseren  Antheil  an  erblichen 
Eigenschaften  geliefert  als  der  A'^ater.  Wenn  das  unbefruclitete  Ei 
ganz  aus  Idioplasma  bestände,  so  würde  man  nicht  begreifen,  warmii 
es  nicht  entsprechend  seiner  Masse  in  dem  Kinde  wirksam  wäre,  warmn 
dieses  nicht  immer  in  ganz  überwiegendem  Grade  der  Mutter  ähnlich 
würde.  Besteht  die  spezifische  Eigenthümlichkeit  des  Idioplasmas  in 
der  Anordnung  und  Beschaffenheit  der  Micelle,  so  lässt  sich  eine 
gleich  grosse  Erbschaftsübertragung  nur  denken,  Avenn  in  den  bei  der 
Befruchtung  sich  vereinigenden  Substanzen  gleichviel  Idioplasma 
enthalten  ist,  und  der  überwiegende  Erbschaftsantheil,  der  bald  von 
der  Mutter,  bald  vom  Vater  herstanmien  soll,  muss  dadurch  erklärt 
werden,  dass  bald  in  der  unbefruchteten  Eizelle,  l)ald  in  den  mit 
derselben  sich  vereinigenden  Spermatozoiden  eine  grössere  Menge  von 
Idioplasma  sich  befindet.  Bestehen  die  Spermatozoide  bloss  aus  Idio- 
l)lasma,  so  enthalten  die  nicht  befruchteten  Eizellen  Ijis  auf  *J*J9  Pro- 
mille niclit  idioplasmatisches  Stereoplasma. 

Eine  andere  Betrachtung  führt  zu  dem  nämlichen  Schluss. 
Wenn  die  Anordnung  der  Micelle  die  spezifischen  Eigenschaften  des 
Idioplasmas  begründet,  so  nuiss  das  letztere  eine  ziemlich  feste  Sub- 
stanz darstellen,  in  welcher  die  Micelle  durch  die  in  dem  lebenden 
Organismus  wirksamen  Kräfte  keine  Verschiebung  erfahren,  und  in 
welcher  der  feste  Zusammenhang  bei  der  Vermehrung  durch  Ein- 
lagerung neuer  Micelle  die  bestimmte  Anordnung  zu  sichern  vermag. 
Das  gewöhnliche  Plasma  dagegen  ist,  so"\del  wir  von  demselben 
wissen,  ein  Gemenge  von  fiüssigem  und  festem  Plasma  (Hygro- 
plasma  und  Stereoplasma),  wobei  die  beiden  Modificationen  leicht  in 
einander  ül)ergehen  und  die  Micelle  oder  Micellverbände  der  unlös- 
liclien  Modification,  wie  dies  für  das  strömende  Plasma  nicht  anders 
angenommen  Averden  kann,  sich  mit  grosser  Leichtigkeit  gegen- 
seitig verschieben. 

Dass  aber  das  Idioplasma  eine  Substanz  von  zieuüich  festem 
Gefüge  sein  muss  und  jedenfalls  nicht  gelöst  sein  kann,  wird  nicht 


28  I-  I<lioplasma 

bloss  durch  die  theoretische  Erwägung  gefordert,  sondern  aucli  durch 
die  Erfahrung  bestätigt;  denn  diese  zeigt  uns,  dass  die  erbhchen 
Eigenschaften  nicht  durcli  gelöste  Stoffe  übertragen  werden.  Ich 
verweise  hierüber  auf  die  späteren  Erörterungen  l)etrefl:end  die  Wir- 
kungen der  äusseren  Einflüsse. 

Was  die  Unterscheidung  des  Idioplasmas  von  dem  übrigen  Plasma 
betrifft-,  so  kann  nicht  bestritten  werden,  dass  die  Thatsachen  eine 
doi)pelte  Erklärung  zulassen.  Es  ist  nämlich  auch  die  Annahme 
denkbar,  dass  das  gesammte  mehr  oder  weniger  feste  Plasma  der 
Träger  der  erblichen  Anlagen  sei.  Dann  muss  demselben  die  Fähig- 
keit, Eigenschaften  zu  vererben,  in  ungleichem  Grade  zukommen. 
Wenn  das  männliche  Befruchtungsplasma  (im  Spermatozoid)  bloss 
den  hundertsten  Theil  der  Masse  von  dem  weiljlichen  Befruchtungs- 
plasma  (in  der  Eizelle  oder  im  Keimbläschen)  beträgt  und  trotzdem 
gleich  viel  orbliche  Anlagen  enthält,  so  l^esitzt  das  erstere  in  der 
Masseneinheit  hundertmal  mehr  ideoplastische  Kraft  als  das  zweite. 

Es  kommt  nun  jjraktisch  auf  das  Nämliche  hinaus,  ob  ich 
sage,  es  sei  eine  gewisse  Summe  von  idioplastisclien  Eigenschaften 
oder  es  sei  eine  gewisse  Menge  Idioplasma  durch  eine  gegebene 
Menge  von  Plasma  verbreitet.  Die  letztere  Ausdrucksweise  hat  den 
Vorzug  der  Anschaulichkeit,  und  erweist  sich  als  viel  brauchbarer 
für  weitere  Ausfüln'ungen  der  Theorie. 

Die  Annahme  eines  l)estimmten  Idioplasmas  lüetet  sich  übrigens 
um  so  ungesuchter  dar,  als  es  bereits  verschiedene  durch  ungleiche 
})hysikalische  und  physiologische  Eigenschaften  charakterisirte  Modi- 
ficationen  von  Plasma  gibt.  Wir  unterscheiden  nicht  nur  gelöstes 
(Ilygro-)  und  ungelöstes  (Stert^)-)  Plasma,  sondern  in  dem  letzteren 
wieder  hyalines  (Hyalo-)  und  trül)es,  oft  k()rnigcs  (Polio-,  Körner-) 
Plasma.  Ferner  hat  nur  ein  Theil  des  Polic^plasmas  die  Fähigkeit, 
durch  Chlorophylleinlagerung  sich  grün  zu  färben  und  aus  Kohlen- 
säure und  Wasser  Zucker  (Kohlenhydrate)  zu  l)ilden.  Ebenso  zeichnet 
sich  ein  Theil  des  Stere(»])lasnias  in  den  Zellkernen  und  in  kcrn- 
iUmlichen  Plasmakörpern  dm-cli  die;  Fähigkeit  aus,  grössere  Mengen 
von  Farbstoff  aufzunehmen. 

Es  ist  somit  aus  mehr  als  einem  (.irunde  wahrscheinlich,  dass 
von  den  iVlbuminaten,  welche  das  Plasma  des  lolKUiden  Organismus 
darstellen,  inu'  ein  sehr  kleiner  Theil  Träger  der  erbliclien  Anlagen 
und    als    Idioplasma   zu  l)ezciclmen  ist,    während    die  ül.)rige    Masse 


als  Träger  der  erhliolien  Anlagen.  29 

als  Ernährunosplasma  betrachtet  werden  muss.  Die  Wirksamkeit  des 
Idioplasmas  macht  sich  überall  geltend ,  wo  ein  erblicher  Wachs- 
thnms-  oder  Und)ildungsprocess  vor  sich  geht;  es  darf  daher  seine 
Anw^esenheit  an  diesen  Stellen  vorausgesetzt  werden. 

Wenn  es  im  umgekehrten  Falle  eine  Menge  Stellen  im  Orga- 
nismus gibt,  wo  das  Plasma  weder  Wachsthum  noch  Umbildung 
hervorzubringen  vermag,  so  kann  die  Ursache  theils  im  relativen 
Mangel  des  Idioplasmas  liegen,  theils  darin,  dass  dasselbe  nicht  die 
richtige  Mischung  mit  dem  Ernährungsplasma  bildet.  Die  Annahme 
möchte  auch  nahe  zu  liegen  scheinen,  dass  in  so  vielen  Fällen  die 
zusammenhängenden  Plasmamassen,  welche  durch  andere  stickstoff- 
haltige oder  stickstofflose  Verbindungen  (leimgebende  und  elastische 
Substanzen  in  den  thierischen,  Cellulose  in  den  jjflanzlichen  Ge- 
weben) von  einander  getrennt  sind,  auf  allzu  geringe  Mengen  ver- 
mindert worden  seien,  um  ein  ferneres  Wachsthum  möglich  zu 
machen,  dass  also  die  erforderliche  Menge  von  Ernährungsplasma 
für  die  Wachsthumsprocesse  entscheide. 

Allein  dieser  Umstand  darf  nicht  für  eine  allgemeine  Theorie 
des  Gestaltungsprocesses  benutzt  werden.  Er  kann  vielleicht  erklären, 
warum  gewisse  Ernährungsvorgänge,  wie  die  Streckung  und  Xer- 
dickimg  der  Zellmembran  bei  Pflanzen,  aufhören.  Aber  die  eigent- 
lichen Wachsthmnsprocesse,  welche  die  eigenthümliche  Gestalt  und 
Structur  der  Organe  bedingen  und  vorzugsweise  auf  der  Zellbildung 
beruhen,  sind  unabhängig  davon.  Denn  es  ist  eine  häufige,  im 
Pflanzenreiche  leicht  zu  beobachtende  Erscheinung,  dass  die  Ver- 
mehrung der  Zellen  schon  zu  einer  Zeit  aufhört,  wo  sie  noch 
ganz  mit  Plasma  erfüllt  sind,  und  ebenso  dass  von  den  zwei  Tochter- 
zellen einer  Mutterzelle,  obgleich  beide  gleiche  Mengen  von  Plasma 
enthalten,  die  eine  Zellen  bildet,  die  andere  nicht. 

Eine  Theorie,  welche  allen  thatsächlichen  Beobachtungen  oenüo-t 
scheint  nur  die  zu  sein,  dass  in  erster  Linie  die  Beschaffenheit 
des  Idioplasmas,  in  zweiter  auch  seine  Menge  und  die  Art,  wie  es 
mit  dem  Ernährungsplasma  gemengt  ist,  für  die  Dauer  und  das 
Aufhören  der  Wachsthumsvorgänge  entscheidend  seien,  und  dass  in 
dem  sich  entwickelnden  Organismus  das  Idioplasma  in  einer  steten 
Wanderung  nach  den  Bildungsstätten  begriffen  sei. 


30  1-  Idioplasma 

Es  bandelt  sieli  al)er  nicht  l)l()ss  nni  die  Tliatsaclie,  dass  das 
Wachsthmn  zeitweise  und  stellenweise  thätio;  ist  oder  7Aiv  Ruhe 
kommt,  sondern  um  die  andere  noch  viel  rätliselhaftere  Erscheinung, 
dass  das  Wachsthumsvermögen  nach  Zeit  und  Ort  der  individuellen 
Entwicklungsgeschichte  sich  verändert.  Beim  Aufbau  des  Organs 
aus  Zellen  besitzen  viele  Zellen  <lie  Fähigkeit  in  einer  ganz  be- 
stimmten Weise  zu  wachsen  und  in  ganz  bestimmter  Weise  sich  in 
zwei  neue  Zellen  zu  theilen,  was  bei  den  einfacher  gebauten  niederen 
Pflanzen  oft  so  ausserordentlich  deutlich  zu  beol^achtcn  ist.  Ferner 
])ildet  beim  Aufbau  des  IMlanzenstockes  der  Stengel  zuerst  schuppen- 
förmige  Niederblätter,  dann  grüne  Laubblätter,  dann  kleinere  oft 
bleiche  oder  Inmte  Hochljlätter,  und  zuletzt  in  regelmässiger  Folge 
die  verschiedenen  Blätter  der  Blüthe,  Kelch,  Krone,  Staubgefässe 
und  Stemjiel. 

Von  den  Billionen  Zellen,  welclie  einer  Pflanze  während  ihrer 
ganzen  Lebensdauer  angehören,  mangelt  vielen  die  Fähigkeit  neue 
Zellen  zu  bilden,  die  andern  erzeugen  je  nach  Zeit  und  Ort  ver- 
schiedenartige Gewebezellen  oder  Anfangszellen  für  verschiedenartige 
Organe.  Wenn  wir  diese  I)ildungszellen  nicht  l)loss  nach  ihrer 
nächsten,  sondern  nach  ihrer  ganzen  Nachkommenschaft  Ijeurtheilen, 
so  verhält  sich  jede  anders,  und  jeder  kommt  ein  eigenthümlicher 
Bildungstrieb  zu.  Da  dieser  durch  den  ganzen  Organismus  sich 
verändcirnde  Bildungstriel)  durch  das  Llioplasma  l)edingt  wird,  so 
stehen  uns  nur  zwei  Annahmen  offen. 

Entweder  verändert  sich  das  Idioplasma,  sei  es  in  materieller, 
sei  es  bloss  in  dynamischer  Beziehung,  wäln-end  des  individuellen 
Wachsthumsprocesses  stetig,  um  am  Schlüsse  dessel])en  l)ei  der 
Bildung  der  Keime  wieder  zu  der  ursprünglichen  Bescliaffenheit 
zurückzukeliren,  die  es  in  der  Anfangszelle  hatte,  aus  welclier  das 
Individuum  hervorgegangen  ist. 

Oder  das  Idioplasma  l)ehält  die  nämhche  Beschaffenheit  und 
es  wird  das  verschiedene  A\a*mügen  des  Bildungstriebes  durch  die 
veränderten  Umstände  verursacht,  welche  mit  dem  Idio])lasma  zu- 
samnuinwirken,  und  welche  von  Zeit  und  Ort  der  individuellen  Ent- 
wicklungsgeschichte abhängen. 

Die  eine  und  die  andere  dieser  beiden  LTrsachen  würde  für  sich 
allein  wohl  nicht  ausreiclien,  um  die  normalen  und  al)normalen  Ver- 
hältnisse,   welche   die   Geschichte   des  Individumns    darbieten   kann, 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  3l 

ZU  erklären.  Da  aber  beide  ohnehin  vorhanden  sein  müssen,  so 
wird  die  Erklärung  durch  ihr  Zusammenwirken  wcsenthch  erleichtert. 
Es  ist  überflüssig  auszAil'ühren,  wie  auf  das  Idioplasma  iortwälu'end 
andere  umgebende  (dem  Individuum  angehörige)  Einflüsse  einwirken ; 
denn  jede  Zelle,  die  wächst  und  sich  theilt,  nimmt  eine  bestimmte 
ontogenetische  Stelle  ein,  und  l)efindet  sich  unter  einer  eigenthüm- 
lichen  Combination  von  vorausgegangenen  Organisationsverhältnissen. 

Dass  ferner  das  Idio[)lasma  in  den  verscliiedenen  Abschnitten 
der  Ontogenie  thatsächlich  nicht  ganz  gleich  ist,  ergiljt  sicli  aus 
dem  Umstände,  dass  bei  Arten  mit  Generationswechsel  die  einzelligen 
Samen  ungleicher  Generationen  sich  zu  ungleichen  Individuen  ent- 
wickeln, —  ferner  ebenso  aus  dem  Umstände,  dass  bei  Gefässpflanzen 
und  l)ei  Moosen  die  von  vegetativen  Th eilen  sich  ablösenden  Zellen 
beim  Keimen  sicli  etwas  anders  verhalten  als  die  befruchteten  Ei- 
zellen oder  die  Sporen,  indem  jene  nändich  die  allerersten  Stadien 
der  Entwicklung  überspringen. 

Dass  das  Idioplasma  innerhall)  des  Individuums  auch  eine  phylo- 
genetische Umbildung  erfährt,  beweist  uns  die  Thatsache,  dass 
aus  einem  Bamne  ausnahmsweise  ein  Zweig  mit  anderen  Eigen- 
schaften als  die  übrigen  Zweige,  mit  anders  gestalteten  Blättern  oder 
Blüthen  hervorwächst,  wobei  die  äusseren  Einflüsse  selbstverständlich 
nicht  in  Betracht  kommen  können. 

Die  Annahme,  das  Idioplasma  verändere  sich  während  des  indi- 
viduellen Wachsthums  innerhalb  bestimmter  Grenzen,  ist  aber  des- 
halb leicht  möglich,  weil  es  sich  immer  um  ein  \^ielfaches  vermehrt, 
und  weil  diese  Vermehrung  in  den  verschiedenen  Stadien  der  indi- 
viduellen Entwicklungsgeschichte  ohne  Zweifel  in  ungleicher  Weise 
erfolgt,  wie  ich  nachher  auseinandersetzen  werde. 

Es  ist  also  jedenfalls  das  zweckmässigste,  das  Idioplasma  ver- 
schiedener Zellen  eines  Individuums,  wenn  auch  nur  als  S3nnljol, 
als  verschieden  zu  bezeichnen,  insofern  es  eigenthihnliclie  Productions- 
fähigkeit  besitzt,  und  darunter  auch  alle  die  Umstände  im  Individuum 
zu  l)egreifen,  die  auf  das  bezügliche  Verhalten  der  Zellen  Einfluss 
halben.  Die  Wirksamkeit  des  also  beeinflussten  Idioplasmas  ist  nun 
nichts  anderes  als  der  Bildungstrieb  (Nisus  formativus). 

Nicht  nur  die  Umstände  innerhalb  des  Individuums  halben 
Einfluss  auf  das  Idioplasma.  Dasselbe  kann  auch  durch  äussere 
Ursaclien    umaestimmt    und    zu    einem    veränderten    Bildunostrieb 


32  .  I-  Idioiilasma 

veranlasst  werden.  Dies  wird  uns  durch  eine  Menge  abnormaler  Bil- 
dungen aufgenöthigt,  welche  auf  äussere  Eingriffe  erfolgen,  —  sei  es, 
dass  Insektenstiche  in  einem  Gewebe,  das  sich  sonst  nicht  weiter 
vercändern  würde,  Wucherungen  und  Gallen  erzeugen,  oder  dass 
verschiedene  künstliche  Maassregeln,  welche  eine  Störung  in  den 
normalen  Lebensvorgängen  bewirken,  z.ur  Ruhe  bestimmte  Zellen 
veranlassen,  sich  zu  vermehren  und  eine  Knospe  oder  eine  Wurzel 
zu  bilden.  Der  Einfluss  der  äusseren  Umstände  auf  die  Entscheidung, 
welche  von  den  im  Idioplasma  enthaltenen  Anlagen  zur  Entfaltung 
gelangen,  zeigt  sich  namentlich  auch  in  der  bekannten  Thatsache, 
dass  es  von  der  Ernährung  alihängt,  ob  an  gewissen  Bäumen  sich 
Laub-  oder  Blüthentriebe  bilden,  und  dass  manche  Pflanzen  in 
einem  ihnen  wenig  günstigen  Klima  es  überhaupt  nicht  zur  Blüthen- 
bildung  bringen ,  sondern  in  der  vegetativen  Entwicklungssphäre 
gebannt  bleiben. 

Wenn  es  nun  feststeht,  dass  die  Veränderungen,  welclie  der 
Bildungstrieb  in  den  auf  einander  folgenden  Stadien  der  individuellen 
Entwicklungsgeschichte  und  an  den  verschiedenen  Stellen  des  indi- 
viduellen Organismus  zeigt,  durch  nichts  Anderes  bedingt  werden 
kann,  als  durch  die  auf  einander  folgenden  Modificationen  im  Idio- 
jjlasma  und  durch  die  ebenfalls  wechselnden  Einflüsse,  unter  denen 
dasselbe  seine  Anlagen  zur  Entfaltung  bringt,  so  legen  wir  uns 
weiter  die  Frage  vor,  in  welclien  Vorgängen  diese  Modificationen 
des  Idioplasmas  bestehen  und  wie  wir  uns  die  Einwirkung  der  um- 
gebenden Umstände  zu  denken  haben?  Dies  führt  uns  dann  auf 
eine  nähere  Betrachtung  der  Constitution  und  der  Wirksamkeit  des 
Idioplasmas. 

Was  die  Vorgänge  im  Idioplasma  betrifft,  so  ist  zunächst  die 
Zunahme  desselben  während  des  Wachstimms  zu  berücksichtigen. 
Wir  beobachten,  dass  die  Substanz,  aus  welcher  der  Organismus  be- 
steht, von  dem  Anfangsstadium  aus  ])is  zum  ausgewachsenen  Zustande 
fortwährend  sich  vermehrt,  dass  diese  Vermehrung,  abgesehen  von 
vielen  einzelligen  Wesen ,  sehr  beträchtlich  ist  (oft  um  mehr  als 
das  Billionenfache)  und  dass  alle  wesentliche  Veränderung  in  der 
morphologischen,  inneren  und  äusseren  Gestaltung  nur  durch  Zu- 
nahme der  Substanz  und  niclit  etwa  durch  Umlao-eruno-  derselben 
bewirkt  wird.  Mit  d(!r  Substanzzunahme  muss  eine  entsprechende 
Vermeln-ung    des   Idioi^lasmas    in   derselben   verbunden    sein;    jede 


als  Trii*rei-  (Ut  orl)lichen  Anlagen.  33 

beliebige  Zelle  muss  davon  eine  gewisse  Menge  cntlialten,  weil  dadurch 
alle  ererbte  Thätigkeit  bedingt  wird;  und  jode  Zelle,  die  aus  den 
Fortpflanzungsorganen  und  bei  den  Pflanzen  auch  aus  vegetativen 
Geweben  frei  wird,  um  ein  neues  Individuum  zu  erzeugen,  muss 
eine  annähernd  gleiche  IVIenge  von  Idioplasma  besitzen,  wie  die  Zelle, 
aus  der  das  elterliche  Individuum  li  er  vorgegangen  ist.  Bei  einzelligen 
Wesen,  die  bloss  zwei  Kinder  hinterlassen,  vermehrt  sich  das  Idio- 
plasma während  der  Lebensdauer  auf  das  Doppelte,  bei  allen  anderen 
um  so  mehr,  je  grösser  und  zusammengesetzter  sie  sind,  und  je  mehr 
Keime  sie  hervorljringen,  bei  manchen  Organismen  gewiss  auf  das 
Millionenfache. 

Mit  dieser  Zunahme  des  Idioplasmas  während  der  individuellen 
Entwicklungsgeschichte  könnten  wir  seine  verschiedene  Wirksamkeit 
während  dieser  Periode  in  Verbindung  bringen.  In  Folge  seiner  zwar 
höchst  kunstvollen ,  aber  ungleichmässigen  Constitution  wächst  es 
nämlich  nicht  ülierall  und  nicht  immer  gleichmässig  fort;  sondern 
es  finden  stets  Bevorzugungen  statt,  sei  es,  dass  die  einen  Gru|)pen 
oder  Dimensionen  in  stärkerem  Maasse  als  die  übrigen,  sei  es,  dass 
dieselben  in  activer  Weise  zunehmen,  indess  die  übrigen  nur  passiv, 
soweit  es  der  feste  Zusammenhang  verlangt,  folgen^). 

Wir  könnten  nun  annehmen,  dass  immer  die  Anlagen  derjenigen 
Gruppen  oder  Dimensionen,  die  sich  am  lebhaftesten  oder  in  activer 
Weise  vermehren,  zur  Entwicklung  gelangen,  während  die  übrigen 
latent  bleiben,  so  dass  also  die  successive  Entfaltung  der  Anlagen 
in  dem  entstellenden  und  wachsenden  Individuum  durch  den  Wechsel 
in  den  Wachsthumsprocossen  des  Idioplasmas  Ijedingt  würde.  Dieser 
Wechsel  aber  wird  mitbedingt  durch  die  umgebenden  Umstände,  indem 
das  in  den  Zellen  ])estinnnter  Entwicklungsstadien  eingeschlossene 
Idioplasma  die  Entfaltung  der  dieser  Situation  entsprechenden  An- 
lagen anregt. 

Die  ^'^erschiedenheit  der  Wachstlunnsprocesse  im  Idioplasma 
könnte  allenfalls  in  folgender  Weise  gedacht  werden.  Da  dasselbe 
eine  feste  Anordnung  darstellt,    so  lassen  sich  seine  Theilclieii  (die 


*)  Ein  artivos  Wachsthum  ist  dann  gegelton,  -wenn  ilnrcli  ilic  Mdlccularknifte 
Einlagerung  von  kleinsten  Theilchen  stattfindet  und  damit  ein  entgegensteiiendi-r 
Druck  überwunden  wird,  ein  i)assives  Wachsthuni  dann,  wi'un  die  Snl)stanz 
aus  einander  gezogen  wird  und  wenn  in  Folge  dieses  Zuges  neue  Thrilclien  sicii 
einlagern. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  3 


34  I-  Idioplasma 

Micellc)  luicli  mehreren  sich  kreuzenden  Dimensionen  in  Reihen 
zerlegen,  wol)ei  immer  das  nämhche  Theilclien  Reihen  der  verschie- 
denen Dimensionen  angehört.  Alle  Zunahme  des  Idioplasmas  ist 
ein  Wachsthum  seiner  Reihen  und  geschieht  dadurch,  dass  die  Reihe 
durch  Zutritt  neuer  Micelle  zu  den  schon  vorhandenen  sich  ver- 
längert. Diese  Verlängerung  kann  durch  gleichmässige  Zwischen- 
lagerung in  allen  Partien  der  Reihe  oder  durch  ungleichmässige, 
stellenweise  gesteigerte  Zwischenlagerung  oder  auch  durch  Auflagerung 
an  einem  Ende  erfolgen.  Eine  ganze  zusammengehörende  Gruppe 
von  Idio})lasma  oder  das  gesammte  Idioplasma  aber  kann  durch 
Wachsthum  der  Längsreihen  allein  oder  der  nach  der  Breite  gelagerten 
Querreihen  oder  der  nach  der  Dicke  verlaufenden  Reihen  oder  auch 
durch  Wachsthum  der  in  irgend  einer  schiefen  Richtung  geordneten 
Reihen  allein  sich  vermeln-en.  Die  verschiedenen  Anlagen  werden 
durch  die  in  verschiedenen  Dimensionen  verlaufenden  Micellarreihen 
dargestellt,  und  eine  bestimmte  Anlage  entfaltet  sich ,  wenn  die  be- 
treffenden Reihen  der  bestimmten  Dimension  wachsen.  Enthalten 
beisjjielsweise  die  Längsreihen  im  allgemeinen  die  Anlagen  für  die 
vegetativen,  die  damit  sich  kreuzenden  Querreihen  die  Anlagen  für 
die  reproductiven  Bildungen,  so  verlängern  sich  durch  Einlagerung 
von  Micellen  in  der  ersten  Richtung  nur  die  Vegetationsreihen,  indess 
die  in  der  Querrichtung  verlaufenden  Reproductionsreihen  bei  diesem 
Wachsthums})rocess  ihre  Länge  behalten ,  aber  in  entsprechendem 
Maasse  an  Zahl  zunehmen.  Solange  dieses  Wachsthmnsstadium  des 
Idioplasmas  andauert,  werden  nur  Laubtriebe  hervorgebracht;  schlägt 
später  an  bestinnnten  Stellen  das  Wachsthum  in  die  Reproductions- 
reihen des  Idioj^lasmas  um,  so  dass  also  die  Einlagerung  nur  in  der 
Querrichtung  erfolgt,  so  bilden  sich  daselbst  Blüth entriebe. 

Die  soeben  entwickelte  Hypothese  des  Wachsthums  des  Idio- 
plasmas deutet  den  Weg  an,  auf  dem  ich  anfänglich  die  Lösung  des 
Räthsels  versuchte.  Ich  hal)e  aber  bald  gefunden ,  dass  die  Aus- 
führung der  Theorie  im  einzelnen ,  oljgleich  sie  allerdings  Adele 
V^orzüge  enthält,  auf  kaum  übersteigbare  Schwierigkeiten  stösst,  und 
ich  wurde  veranlasst,  sie  als  zweiten  Versuch  so  weit  zu  ändern, 
dass  alle  Anlagen  durch  die  in  der  Längsrichtung  verlaufenden 
Reihen  dargestellt  werden.  Ich  erachtete  jedoch  für  zweckmässig, 
den  ersten  A'(>rsu(li  niitzutheilen,  weil  er  am  anschaulichsten  zeigt, 
wie  ich   mir  die  Structur   des  Idioplasmas   bezüglich    des  A'^erhaltens 


als  Träger  der  er1)liclien  Anlagen.  35 

der  verschiedenen  Dimensionen  7ai  einander  denke.  Eine  gleichzeitige 
feste  Anordnung  in  dun  Querrichtungen  ist  für  die  veränderte  Theorie 
ebenfalls  nothwendig,  weil  die  Anlagereihen  sich  in  vielfacher  Füh- 
lung mit  einander  l)efinden  müssen,  und  weil  dies  nur  (hirch  den 
seitlichen  C'ontact  der  Längsreihen  mciglich  ist,  wol)ei  die  Micelle 
auch  in  Querreihen,  welche  nach  der  Breite  und  nacli  der  Dicke 
verlaufen,  zu  liegen  kommen. 


Ehe  ich  die  mögliche  Structur  des  idioplasmatischen  Systems  weiter 
verfolge,  will  ich  zunächst  dariiul'  liinweisen,  dass  in  einer  solchen 
Theorie  niclit  etwas  Neues  enthalten  ist,  das  erst  in  die  Physiologie 
eingeführt  werden  soll.  Sie  ist  im  Gegentheil  nur  einer  bereits  fest- 
stehenden analogen  Structur  anderer  organisirter  Körper  nachgebildet. 
Jeder  dieser  Körper  bestellt  aus  krystallini sehen  Micellen  (mikro- 
skoj)isch  unsichtl)aren,  aus  einer  grösseren  oder  kleineren  Zahl  von 
Molekülen  l)estehenden  Kry ställchen,  von  denen  jedes  im  imbibirten 
Zustande  mit  einer  Wasserhülle  umgeben  ist) ;  aber  jeder  Körper  ist 
mit  Rücksicht  auf  seine  Bestimmung,  oder  vielmehr  mit  Biicksicht 
auf  die  bei  seiner  Entstehung  maassgebenden  Ursachen  eigenthümlich 
gebaut. 

Am  regelmässigsten  sind  die  Micelle  in  den  Krystalloiden  (krystall- 
älmlichen  K(')rporn)  der  All)Uininate  angeordnet,  und  zwar  ziendich 
genau  so  wie  die  Moleküle  oder  Pleone  (chemische  Molekülverbin- 
dungen) in  den  Krystallen,  nämlich  in  ebenen  Micellschichten,  die 
sich  nach  drei  oder  mehr  Riclitungen  kreuzen,  und  somit  auch  in 
geraden  Micellreihen,  die  nach  drei  oder  mehr  sich  kreuzenden  Rich- 
tungen orientirt  sind.  —  In  den  Amylodextriu sc li eibchen  (Cylindro- 
kr^'stalloiden)  liegen  die  aus  Amylodextrin  bestehenden  Micelle  in 
concentrischen  Schichten  von  der  Form  von  Cylindermänteln  und 
in  dazu  rechtwinkligen  ebenen  Schichten ,  also  in  radialen ,  von 
der  Cylinderaxe  nach  der  Peripherie  ausstrahlenden,  zur  Axe  recht- 
winkligen Reihen  und  in  mit  der  Axe  parallelen  Reihen. 

Was  die  Stärkekörner  betrifft,  so  kann  man  in  denselben  im 
allgemeinen  nur  concentrische  Micellschichten,  die  um  den  centralen 
oder  excentrischen  »Kern«  verlaufen,  und  radiale,  von  dem  Kern 
strahlenförmig  au.sgehende  Micellreihen  unterscheiden;  die  Anordnung 
der  Micellreihen  in  der  Fläche  der  concentrischen  Schichten  ist  un- 
bekannt. —  Die  Membranen  freier  kugeliger  Zellen  (z.  B.  Chroococcus) 

3* 


36  I.  Idioplasma 

vcrluilten  sicli  ähnlicli  wie  Kngelsclialen  von  sphärischen  Stärke- 
körnern, und  diejenigen,  welche  die  Seitenfläche  freier  cyhndrischer 
Zellen  darstellen  (z.  B.  Oscillaria,  Spirogyra),  ähnlich  wie  Cylinder- 
mäntel  von  Cylindrokrystalloiden. 

Im  übrigen  sind  bei  den  Pflanzonzolhneml^ranon,  wie  sich  ans 
Schichtung  und  Streifung  ergi])t,  die  Micellschichten  nach  drei 
Dimensionen  geordnet,  von  denen  die  eine,  welche  der  Schichtung 
ents])richt,  mit  der  Membranfläche  parallel  läuft,  während  die  zwei 
anderen,  den  Streifensystemen  entsprechend,  sich  unter  beliebigen 
Winkeln  kreuzen,  zur  Schichtung  aber  rechtwinklig  stehen.  Dem 
entsprechend  gibt  es  auch  drei  Hauptsysteme  von  Micellreihen,  zwei 
sich  recht-  oder  schiefwinklig  kreuzend,  mit  den  Streifen  gleichgehend 
und  in  der  Fläche  der  Schichten  verlaufend,  und  ein  drittes,  die 
Ixnden  ersten  und  somit  die  Schichten  rechtwinklig  durchsetzend. 
Dieser  Bau  ist  an  grossen  cylindrischen  Zellen  (Meerconferven, 
Charen),  wo  die  einen  Streifen  meist  der  Länge  nach,  die  andern 
der  Quere  nach  verlaufen,  ausserordentlich  deutlich. 

Die  Anordnung  der  Micellschichten  in  den  Krystalloiden  und 
den  Cylindrokrystalloiden  ist  ausserordentlich  regelmässig,  bei  den 
Stärkekörnern  und  Zellmembranen  mehr  oder  weniger  unregelmässig, 
indem  die  sichtbaren  Schichten  sich  hin  und  wieder  in  zwei  und 
mehr  Blätter  spalten.  Dieser  Erscheinung  muss  eine  Verzweigung 
der  Micellschichten  und  Micellreihen  entsprechen.  Besonders  wichtig 
als  Vergleich  mit  dem  Idioplasma  sind  die  Stärkekörner. 

Das  Wachsthum  der  Stärkekörner  findet  genau  so  statt,  wie  es 
die  diu'ch  die  genannten  Kräfte  bedingten  Spannungen  verlangen, 
(he  sich  (heoretisch  aus  den  mechanischen  Prämissen  ableiten  lassen^). 
Tritt  friÜier  oder  später  eine  A])weichung  von  der  ursprünglichen 
regelmässigen  kugeligen  Form  und  mathematisch  concentrischen  An- 
ordnung auf,  so  wird,  wenn  nicht  äussere  störende  Einflüsse  sich 
geltend  machen,  die  Abweichung  innner  grösser,  die  Unregelmässig- 
k(!it  und  damit  die  Complicirtheit  der  Configuration  wächst  immer 
mehr.  Dies  steht  ebenfalls  in  strenger  Uebereinstimmung  mit  den 
mechanischen  Forderungen. 

Die  A])weiclumgen  der  Stärkek<)rner  vom  sphärischen  Bau  sind 
verschiedener    Art.      Diese    s})ecifischen    A^erschiedenheiten    werden 


')  Nägel  i.   Die  Stiirkckörner.   1858,  S.  289. 


als  Träger  der  erblichen  Aulagen.  37 

bedingt  durcli  die  chemische  Beschaffenheit  des  Zcllinhcdte,«<,  wclclio 
auf  die  Bescliaffenheit,  Gestalt  und  Zusunnnenlagorung  der  Micellc 
Einfluss  ausüljt.  Es  sind  gleichsam  die  Anpassungen  der  Stärke- 
körner, während  die  Ursache,  welche  die  Abweichung  vom  sphäri- 
schen Bau  Ijewirkt,  eine  allgemeine  ist  und  allen  Körnern  zukommt. 
Die  Stärkekörner  geben  uns  ein  Vorbild  für  das  Idioplasma. 
Beides  sind  feste  Micellsysteme ,  die  frei  im  Zelleninhalte  (in  der 
Zellflüssigkeit  oder  im  hall^flüssigen  Plasma)  liegen  und  durch  Micell- 
einlagerung  wachsen ;  in  l^eiden  tritt  der  erste  Schritt  zur  compli- 
cirteren  Anordnung  mit  mechanischer  Nothwendigkeit  ein,  und 
führt  ebenso  nothwendig  zu  immer  w'eiter  gehenden  Schritten  in 
der  steigenden  Complication  der  Configuration  des  Systems.  Bei 
den  Stärkekörnern  aber  halben  wir  es  mit  einer  bekannten  Anordnung 
zu  thun,  bei  der  sich  die  mechanischen  Bedingungen  der  Einlagerung- 
genau  angeben  lassen,  während  bei  dem  idioplasmatiselien  System 
uns  der  Charakter  der  Configuration  noch  verborgen  bleibt. 


Wenn  das  Idioplasma  so  beschaffen  ist,  wie  ich  mit  Rücksicht 
auf  die  Eigenschaften,  die  es  nothwendig  besitzen  muss,  vermuthet 
habe,  so  kennen  wir  seine  Structur  nur  in  der  einen  Dimensioi], 
nändich  in  derjenigen,  in  welcher  sein  ontogenetisches  Wachsthum 
stattfindet.  Wie  ich  bereits  erwähnte,  kann  es  im  einzelnen  Indi- 
viduum auf  das  Zehntausendfache,  selbst  auf  das  Millionenfache 
zunelnnen.  Trotzdem  behält  es  Ijei  geschlechtsloser  ^^ermehrung 
der  Individuen  (durch  Stecklinge,  Knollen,  Pfropfreiser  u.  s.  w.) 
während  einer  ganzen  Reihe  von  Generationen  so  genau  seine  An- 
ordnung bis  ins  Einzelne,  dass  selbst  die  allerleichtesten  individuellen 
Eigenthümlichkeiten,  die  sonst  gar  keinen  Bestand  haben,  ohne  die 
geringste  A^'eränderung  sich  vererben.  Ferner  sind  viele  wildwachsende 
Pflanzen  seit  der  Eiszeit  auf  den  verschiedensten  Standorten  so  gleicli 
geblieben,  dass  man  sie  nicht  von  einander  unterscheiden  kann ; 
—  es  ist  dies  eine  Thatsache,  auf  die  ich  später  noch  wiederholt 
zurückkommen  w-erde.  Das  Idioplasma  dieser  Pflanzen  muss  während 
dieses  langen  Zeitraums  fast  in  unl^egrenztem  Maasse  zugenommen 
hal)en,  ohne  sich  merkbar  zu  verändern. 

Diese  Erscheinung  scheint  keine  andere  Erklärung  zuzulassen 
als  die,  dass  das  Idio|)lasma  strenge  in  ])arallelcn  Reihen  von  festem 
Zusannnenhang  geordnet  ist,  welche  durch  Einlagerung  von  Micellen 


38 


I.  Idioplasina 


wuchsL'u  und  dabei  fortwährend  die  gleiche  Zusanimenorihiung  he- 
ludten  (Fig.  1,  Längsschnitt  durch  eine  Partie  von  Idioplasma).  Da- 
durcli  Ijleibt  die  Configuration  des  Querschnittes  unverändert  und 
in  dieser  Configuration  ist  ja  die  specifische  ßeschatfenheit  des  Idio- 
plasnias  entlialten.  Würden  eine  oder  mehrere  Längsreihen  chirch 
Störungen  im  Wachsthum  bei  loserem  Zusammenhang  sich  theilen 
oder  sich  vereinigen ,  würde  also  die  Zahl  der  Längsreihen  beim 
Wachsthum  zu-  oder  abnehmen,  so  wäre  dadurch  eine  Aenderung 
in  der  Configuration  dos  idioplasmatischen  Systems  und  damit  auch 
eine  Veränderunu'  in  den  Merkmalen  verursacht. 


DüGG 
nDGD 

gogg 
dgüo 
aOüo 
oOoo 

OOQÜ 

dOoo 


DÜD 
DGü 

DÜDn 

DGD^ 

DDG 

DD[ 


Fig.  1. 


Das  Constantl)k'iben  der  Merkmale  durch  eine  Folge  von  Gene- 
rationen verlangt,  dass  die  Micellreihen  des  Systems  während  des 
ontogenetischen  Wachsthums  ihren  strengen  Parallelismus  bewahren. 
Die  Veränderung  der  Merkmale  bei  der  j)hylogenetischen  Entwickelung 
erfordert  dagegen  eine  Vermehrung  oder  auch  eine  Uml)ildung  der 
Micellreihen,  ohne  welche  eine  neue  Anlage  nicht  in  das  idioplas- 
matische  System  sich  einordnen  kann. 

Die  Art  und  Weise,  wie  wir  uns  die  Fortbildung  der  Querschnitts- 
configuration  im  hlioplasma  vorzustellen  hal)en,  hängt  wesentlich 
mit  der  Art  des  Längenwachsthums  zusammen.  Würden  die  Längs- 
reihen an  dem  einen  (oberen)  Ende  wachsen ,  so  könnte  ihre  Ver- 
melu'ung  als  Verzweigung  stattfinden  (Fig.  2,  wo  a  die  neue  Gruppe 
oder  Anlage  im  Querschnitt  gesehen  darstellt).    Diese  Bildungsweise 


als  Träger  der  erljlicheu  AnlaKeii. 


39 


kommt  aber  ohne  Zweifel  nicht  vor,  denn  sie  entspricht  wenig  der 
Vorstellung,  welche  wir  uns  von  dem  micellaren  Wachsthum  über- 
haupt zu  machen  haben,  und  noch  weniger  den  Eigenschaften,  die 
wir   im   übrigen   dem  hlioplasma   zuschreiben  müssen,    wie    sich    in 


der  Folge  noch  ergeben  wird. 


l 


I     :         1 

Fig.  .•! 


1 


Fig.  4. 


Das  Längenwachsthum  der  Micellreihen  geschieht  höchst  wahr- 
scheinlich überall  in  der  ganzen  Länge  durch  Zwischenlagerung 
neuer  Micelle,  also  intercalar  (Fig.  5,  Längsschnitt;  die  neuen  Micelle 

<i  b 


Cr" 

D  r  •  -^  ^' 


Fig.  5. 


L.J  L.....,j 
□  DD 

CZJOQ 


□  GG 
GDGG 


0^ 


□  DO        000 

0  00       OGG 

Fig.  (i. 


Fig.  7. 


sind  (hircli  die  leeren  Rechtecke  angedeutet).  Die  Zunahme  und 
Ax'rändcrung  des  Querschnittes  kann  durch  das  Wacbstbuui  (hi- 
zehier  Alieehe,  also  durch  Verstärkung  von  Längsi'cihen  oder  (hnch 
Bildung   neuer  Micelle,    also  durcli  Einschaltung    von    Längsreihen 


40  I-  I'lioplasma 

erfolgen.  Wenn  die  Längsreilien  sicli  verstärken,  so  tritt  mit  der 
Zeit  wahrscheinlich  auch  eine  Theilung  derselben  ein,  indem  sich 
heim  Längenwachsthum  statt  eines  grösseren  Micells  zwei  kleinere 
einlagern  (Fig.  6a).  Im  Anfange  besteht  nini  eine  solche  Reihe  ab- 
wechselnd ans  ungleichen  Elementen;  da  aber  die  Längenzunahme 
während  einer  einzigen  ontogenetischen  Periode  auf  das  Vieltausend- 
fache steigt,  so  könnte  unter  Umständen  schon  das  nächstfolgende 
lndi\i(lmim  an  der  Stelle  der  früheren  verstärkten  Reihe  durchgehends 
eine  r)o|)j)elreihe  besitzen  (Fig.  (»^  zeigt  das  nächste  Stadium,  welches 
auf  a  folgt). 

Doch  wird  die  Verstärkung  der  Längsreihen  und  ihre  Theilung 
mn-  selten  oder  selbst  gar  nicht  stattfinden,  wenn  die  Ansicht,  die 
ich  bei  Aidass  der  Betrachtung  ül)er  die  Zahl  und  (Jrössc  der  Idio- 
])lasmamicelle  äussern  werde,  dass  nänüich  die  letzteren  nur  aus 
einer  geringen  Zahl  von  IMolekülen  l)estehen,  begründet  ist.  In 
diesem  Falle  kann  die  Zunahme  des  Querschnittes  des  Idioplasmas 
bloss  durch  Einschaltung  neuer  Reihen  erfolgen,  die  ül)rigens  unter 
allen  Umständen,  aucli  wenn  eine  Verstärkung  der  Reihen  statt- 
haben sollte,  das  Ilauptmoment  des  Wachsthums  in  der  Querrichtung 
ausmacht  (Fig.  7,  mit  einer  eingeschalteten  Reihe).  Wir  können 
also  die  Zimahme  und  Veränderung  des  Quersclmittes  im  allgemeinen 
als  eine  A'^ermehrung  der  Längsreihen  betrachten,  wolxä  die  neu 
eingelagerten  Reihen  allein  oder  mit  älteren  Reihen  vemiischt  die 
neue  Anlage  l)ilden  (Fig.  3  und  4,  a  die  neue  Anlage;  die  neu  ein- 
gelagerten Reilien  sind  durch  pmiktirte,  die  alten  durch  ausgezogene 
Linien  angegel)en). 

Findet  eine  Und>ildnng  der  Micellreihen  zur  Erzeugung  von 
neuen  Anlagen  statt,  so  müssen  die  sich  einlagernden  Micelle  eine 
etwas  andere  Natur  besitzen.  Dann  wird  die  Reihe  nach  und  nach 
ihren  ("harakter  verändern.  Man  kann  in  diesem  Falle  von  einer 
Differenzirung  der  Substanz  des  Idioi^lasmas  sprechen,  insofern  in 
einem  Complex  ursprünglich  gleichartiger  Reihen  die  einen  sich  so, 
die  andern  sich  anders  umbilden. 

Mag  die  Lildung  der  neuen  Anlagen  durch  Einschaltung  von 
Micellreihen  oder  durcli  Umbildung  der  schon  vorhandenen  er- 
folgen, so  kann  man  dieselbe  innnerhin  so  langsam  oder  so  rasch, 
als  es  erforderlich  ist,  sich  vorstellen,  so  dass  also  auch  die  zeit- 
liclieii   Lcdingungen  in  jeilcr  Hinsieht   sicher    gestellt    sind.    —   Der 


als  Träger  der  erbliehen  Anlagen.  41 

einfachste,  bei  den  niedrigsten  Organismen  vorkommende  Bau  des 
Idioplasmas  bat  die  geringste  Zabl  von  differenten  Reihen;  ihre 
Zald  vermehrt  sich  mit  der  comphcirteren  Einrichtung  der  höheren 
Organismen  immer  mehr. 

Das  Idioplasma  besteht  also  eigenthch  aus  strangförmigen 
Körpern,  welclie  während  jeder  ontogenetischen  Periode  mit  dem 
Wachsthum  des  Individuums  stetig  sich  verlängern.  Ferner  müssen 
die  Idioplasmastränge,  da  alle  erblichen  Vorgänge  chemischer  und 
plastischer  Natur  durch  sie  geregelt  werden,  überall  im  Organismus, 
selbst  an  den  verschiedenen  Stellen  jeder  Zelle  gegenwärtig  sein, 
und  ebenso  muss,  wie  sich  bei  Betrachtung  der  phylogenetischen 
Veränderung  ergeben  wird,  eine  Communication  zwischen  den  in  ver- 
schiedenen Theilen  eines  Organisnuis  befindlichen  Idioplasmapar- 
tien  statt  finden.  Es  ist  daher  eine  kaum  von  der  Hand  zu  weisende 
Annahme,  dass  das  Idioplasma  durch  den  ganzen  Organismus  als 
zusammenhängendes  Netz  ausgespannt  sei;  dasselbe  wird  in  den 
Zellen  selbst  je  nach  der  Beschaffenheit  derselben  eine  verschiedene 
Gestalt  annehmen,  in  den  grösseren  Pflanzenzellen  aber  gewöhnlich 
innerhalb  der  Meml^ran  die  Oberfläche  überziehen,  ferner  auch 
häufig  durch  den  Zellraum  verlaufen  und  besonders  auch  im  Kern 
zusammengedrängt  sein !  Der  in  Pflanzenzellen  so  häufig  vorkom- 
menden netzförmigen  xVnordnung  des  Plasmas  und  der  netzförmigen 
Beschaffenheit  der  Kernsuljstanz  liegt  wahrscheinlich  das  Idio})lasma- 
netz  zu  Grunde. 

Dieses  Netz  lässt  sich,  wie  ich  vorläufig  ])emerken  will,  in 
doj)pelter  Art  denken,  entweder  als  ununterbrochene,  netzförmig 
anastomosirende  Stränge,  oder  als  Strangstücke  von  begrenzter 
Länge,  die  netzförmig  zusammengeordnet  sind.  Im  ersten  Falle 
muss  angenommen  werden,  dass  zwischen  den  durch  Längenwachs- 
thum  sich  streckenden  Strängen  A^erl)indungsstränge  gebildet  werden, 
im  zweiten  Fall,  dass  die  sich  verlängernden  Stränge  fortwährend 
sich  theilen  und  neu  anordnen. 

Ich  habe  die  strangförmige  Natur  des  Idioplasmas  aus  dem 
Grunde  angenommen,  weil  sie  allein  uns  alle  Erscheinungen,  die 
wir  von  ihm  kennen,  zu  erklären  vermag.  Eine  ganz  andere  Ueber- 
legung  scheint  zu  dem  nämlichen  Ziele  zu  führen.  Die  Vermehrung 
der  Zellen  geschieht  in  der  Hauptsache  durch  Tlieilung,  indem  die 
andern  \\'rmehrungsarten,  die  im  Lauh'  der  Generationen   mit    der 


42  I-  Idiopliisina 

Theilung  abwechseln,  niimuriscli  ganz  zurücktreten.  Jeder  Zell- 
tlicilong  geht  eine  Streckung  voraus,  bei  welcher  das  weichere  Er- 
näln'ungsj)lasma  sich  l)eliebig  verschiebt,  während  die  festeren 
Plasmai)artien  die  Neigung  haben,  sich  fadenförmig  zu  verlängern. 
Bekanntlich  beobachtet  man  dies  besonders  schön  bei  der  Kern- 
theilung,  wo  die  beiden  auseinander  rückenden  Kernhälften  durch 
eine  Zahl  von  Fäden  verbunden  sind. 

Bei  der  Entstehung  der  Organismen  trat  bald  ein  Stadium  ein, 
in  welchem  die  als  Idio})lasma  sich  organisirende  festere  Substanz 
so  viel  Zähigkeit  besass,  dass  sie  bei  der  Theilung  eine  verlängerte 
fadenförmige  Gestalt  annahm.  Da  nun  diese  Substanz  bei  den  in 
verschiedenen  Richtungen  erfolgenden  successiven  Theilungen  auch 
in  den  verschiedenen  Richtungen  fadenförmig  ausgezogen  wurde, 
so  bildete  sie  sich  noth wendig  zu  einem  Netz  von  Fäden  aus.  An- 
fänglich war  dieser  Rrocess  vielleicht  wirklich  ein  Ausziehen  in 
Fäden,  verluniden  mit  Verschiel)ung  der  Idioplasmamicelle.  Später, 
als  das  Idioplasma  eine  hinreichende  Consistenz  erlangt  hatte, 
bestand  die  in  der  Theilungsrichtung  eintretende  Verlängerung 
bloss  in  einem  normalen  Wachsthum  durch  Einlagerung  von  Mi- 
cellen,  und  es  ist  möglich ,  dass  sie  diesen  Charakter  schon  von 
Anfang  an  hatte. 

Die  eben  angestellte  Betrachtung  zeigt,  dass  ein  Idioplasmanetz 
entstehen  musste,  wenn  bloss  die  aus  Beobachtung  Ijekannten  nior})ho- 
logischen  Erscheinungen  im  Zelleide])en  berücksichtigt  werden. 
S}xiter  (in  dem  Al)schnitte  über  die  Ursachen  der  Veränderung) 
werde  ich  zu  zeigen  suchen,  dass  auch  die  molecularphysiologischen 
Vorgänge  allein  schon  ausreichen ,  um  die  Bildung  eines  Netzes 
höchst  wahrscheinlich  zu  machen. 

Die  specifische  Beschaffenheit  des  Idioplasmas  wird  durch  die 
Configuration  des  Querschnittes  der  Stränge  ausgedrückt,  in  welcher 
die  ganze  Ontogenie  mit  allen  ihren  Eigenthümlichkeiten  als  Anlage 
enthalten  sein  muss.  Wir  hätten  die  Lösung  des  grössten  Räthsels  der 
AI  )staiiimungslehre  gewonnen,  wenn  wir  jene  Configuration  zu  erkennen 
vermöchten.  Dies  ist  aber  nicht  möglich ;  man  könnte  vielleicht 
den  einen  und  andern  Punkt  durch  die  Theorie  befriedigend  erledigen  ; 
man  k()nnte  vielleicht  selbst  eine  Gesammtanordnung  ausdenken, 
die  den  wichtigsten  Anforderungen  ein  Genüge  leistete.  Allein  ich 
würde  dies  für  unnütz  und  unfruchtbar  halten.      Die  Configuration 


als  Triiger  der  (.■iljlichen  Anlagen.  43 

des  idiopksinatisclion  Systems  ist  keine  geometrische,  sondern  eine 
]>1iylogenetisclie  Aul'galje.  Die  richtige  Anordnmig  kann  nur  auf 
dem  Wege  erkannt  und  construirt  werden,  auf  dem  der  Organismus 
dazu  gelangt  ist.  Dazu  müssten  wir  vor  allem  die  ganze  Ahnen- 
reihe einer  Sippe  von  dem  primordialen  Plasmatropfen  aus,  mit  dem 
die  organische  Entwickelung  begonnen  liat,  kennen.  Wir  sind  aber 
noch  weit  entfernt  von  einer  solchen  Erkenntniss  für  irgend  eine 
Pflanze  oder  für  irgend  ein  Thier. 

Wir  müssen  daher  auf  den  eigentlichen  Kern  der  Sache  vorerst 
gänzlich  verzichten,  und  uns  mit  einigen  allgemeinen  Beziehungen  be- 
gnügen, welche  von  einer  bestimmten  Anordnung  in  der  Querrichtung 
der  idioplasmatischen  Stränge  gänzlich  unabhängig  sind.  Einer  dieser 
Punkte,  den  ich  bereits  berührt  habe,  ist  der  feste  Zusammenhang 
ihrer  Micellreihen  unter  einander.  Diese  Annahme  ist  einmal  noth- 
wendig,  damit  bei  den  ontogenetischen  Wachsthumsprocesseii  einer 
sich  nicht  verändernden  Abstammungsreihe  keine  Micelle  zwischen 
den  Reihen  sich  bilden  können,  weil  dadurch  die  Configuration  des 
Querschnittes  gefährdet  würde.  Sie  ist  ferner  nothwendig,  damit, 
wenn  die  einen  Partien  des  Idioplasmas  in  activem  Wachsthum  be- 
griffen sind,  die  übrigen  Partien  durch  die  auftretenden  Si)annungen 
zu  einem  entsjjrechenden  passiven  Wachsthum  veranlasst  werden, 
was  ohne  festen  Zusammenhang  nicht  möglich  w^äre.  Es  gibt  aber 
noch  einen  dritten  wichtigen  Grund  für  die  genannte  Annahme : 
es  müssen  nämlich,  wie  ich  bereits  angedeutet  habe,  durch  die  in 
der  Querrichtung  verlaufenden  Micellreihen  der  enge  aneinander 
liegenden  Längsreihen  Leitungen  hergestellt  werden,  welche  die  ver- 
schiedenen Anlagen  unter  einander  in  Verbindung  setzen,  wie  sich 
aus  folgender  Betrachtung  ergibt. 


Oljgieich  wir  durchaus  nichts  Positives  über  die  Configuration 
des  idio})lasmatischen  Systems  wissen,  nichts  darüljer,  welche  Micell- 
anordnungen  den  einzelnen  Anlagen  entsprechen ,  so  können  wir 
doch  sagen,  wie  die  Anordnung  in  verschiedenen  Beziehungen  nicht 
sein  kann.  So  ist  es  nicht  möglich ,  dass  jede  Cond)ination  von 
Merkmalen  durch  eine  ])esondere  Micellgrup}>e  sc^lbstiindig  vertreten 
sei.  Es  gibt,  um  ein  Beispiel  anzuführen,  Zellen  von  jeder  Form 
und  Grösse,  mit  dicker  und  dümier,  geschichteter  und  ungeschich- 
teter, weicher  und  fester  Mendjran,    mit  Spiralfasern    oder    poröser 


44  !■  Idioplasma 

Verdickung  (Tü])l"olii)  oder  ohne  das  Eine  und  Andere,  mit  oder  ohne 
Chloropliyll,  init  oder  oluie  Fetttro})fen ,  Stärkekörnern,  Krystallen 
von  oxulsaureni  Kalk,  die  wieder  in  verschiedenen  Formen  auftreten 
können  n.  s.  w.  Es  gil)t,  um  noch  ein  zweites  Beis|)iel  anzuführen, 
Blätter  von  sehr  verschiedener  Gestalt,  mit  ungetheiltem  oder  ver- 
schiedenartig getheiltem  Rand,  mit  ungetheilter  oder  verschiedenartig 
getheilter  Fläche,  ohne  oder  mit  verschiedenartigen  Nebenblättern,  mit 
verschiedenartig  gestaltetem  oder  fehlendem  Blattstiel,  mit  verschieden- 
artiger Verth eilung  der  Nerven  und  Adern,  mit  wenigen  oder  vielen 
Zellschichten  und  verschiedenartiger  Anordnung  der  Zellen,  welche 
wieder  in  all  den  vorhin  aufgezählten  Verschiedenheiten  vorhanden 
sein  können. 

Die  Zellen  sowohl  als  die  Blätter  gestatten  eine  fast  unendliche 
Zald  von  Comljinationen  rücksiclitlich  ihrer  Zusammensetzung  aus 
Theilen.  Diese  Combinationen  sind  zwar  in  dem  einzelnen  Individuum 
nur  in  begrenzter  Zahl  vorhanden  ;  allein  in  jeder  folgenden  Generation 
fallen  dieselben  wieder  etwas  anders  aus ,  und  es  wiederholt  sich 
wohl  niemals  ganz  die  nämliche  Comljination  der  Theile  in  einem 
Organ,  auch  nicht  einmal  in  einer  Zelle.  Es  ist  also  geradezu  un- 
möglich, dass  das  Idio])lasnia  alle  denkl)aren  Combinationen  gleichsam 
auf  Lager  halte;  dazu  hätte  der  Querschnitt  seiner  Stränge  niclit 
Raum  genug.  Sondern  es  werden  offenbar  die  Coml)inationen  jeweilen 
aus  den  Elementen  zusammengesetzt. 

Wir  müssen  uns  also  vorstellen,  dass  das  Idioplasma  die  Anlagen 
für  verschiedene  Organe  in  ähnlicher  Weise  zur  Entfaltung  bringe, 
wie  der  Klavierspieler  auf  seinem  Instrument  die  auf  einander  folgenden 
Harmonien  und  Disharmonien  eines  Musikstückes  zum  Ausdruck 
bringt.  Derselbe  schlägt  für  jedes  a  und  jeden  anderen  Ton  immer 
wieder  die  nämlichen  Saiten  an.  So  sind  die  im  Idioplasma  neben  ein- 
ander liegenden  Gruppen  von  Micellreihen  gleichsam  Saiten,  von  denen 
jede  eine  andere  elementare  Erscheinung  darstellt.  Wird  während  der 
ontogenetischen  Entwicklung  in  irgend  einer  Zelle  Chlorophyll  oder 
vielmehr  das  Chromogen  desselben  gebildet,  aus  dem  bei  Einwirkung 
des  Lichtes  Cldorophyll  entsteht,  so  setzt  das  dort  befindliche  Idio- 
plasma die  Chlorophyllsaite  in  Thätigkeit,  und  ebenso,  wenn  sich  in 
einer  Zelle  s})iralfaserige  oder  Tüpfelverdickungen  der  Meml)ran  bilden, 
die  Spiralfaser-  oder  die  Tüpfelsaite. 


als  Träger  <ler  erl)lic'lien  Anlagen.  45 

Ich  (lenke  mir  also  die  Merkmale,  Organe,  Einrichtnnoen,  Funo- 
tionc-n,  die  alle  uns  nur  in  sehr  zusammengesetzter  Form  wahrnelnnbar 
sin<l,  im  Idioplasma  in  ihre  wirklichen  Elemente  zerlegt.  Das  Idio- 
})lasma  hringt  dann  die  specifische  Erscheinung,  wie  sie  jedem 
Organismus  eigenthümlich  ist,  durch  die  erfonkirliche  Zusammen- 
setzung jener  Elemente  zu  Stande.  Wenn  ich  aher  l)eispielsweisc 
die  Bildung  des  Chlorophylls,  der  Spiralt'asern  und  Tüpfel  an  der 
Zellwandung  als  Elemente  anführte,  so  ist  dies  nur  geschehen,  um 
an  verständliche  Erscheinungen  anzuknüpfen.  Ich  l^in  mir  wohl 
bewusst,  dass  die  sinnlichen  Wahrnehmungen  nicht  das  wirkliche 
Wesen  der  Dinge  uns  berichten ,  dass  dieses ,  in  seine  letzten ,  uns 
denkl)aren  Elemente  zerlegt,  nur  in  Bewegungen  und  gegenseitigen 
Einwirkungen  materieller  Theilchen  Ijesteht,  dass  daraus  materielle 
Systeme  mit  eigenthümlichem  Gleichgewicht  der  Theilchen  hervor- 
gehen, welches  immer  wieder  gestört  einem  neuen  Gleichgewicht  in 
einem  System  mit  theilweise  veränderten  Theilchen  und  anderer 
Configuration  ziistrebt. 

Ich  könnte  nun,  der  wahren  Sachlage  entsprechend,  die  uns 
l)ekannten  Erscheinungen  stets  in  ihre  muthmasslichen  micellaren, 
molecularen  oder  atomistischen  Elemente  zerlegt,  im  Idioplasma  auf- 
treten lassen.  Die  Darstellung  würde  dadurch  ebenso  schleppend  als 
pedantisch.  Ich  versetzte  daher  in  symbolischer  Weise  die  Erschei- 
nungen, wie  sie  zu  unserer  Kenntniss  gelangen,  als  Elemente  in  das 
Idioplasma.  Dieses  Verfahren  werde  ich  auch  in  der  ganzen  folgenden 
Darstellung  befolgen,  worauf  ich  hier  noch  ausdrücklich  aufmerksam 
mache,  damit  nicht  etwa  Missverständnisse  stattfinden  und  aus  den 
angewendeten  Symbolen  Schlüsse  gezogen  werden,  die  ausserhalb 
meiner  Intentionen  liegen.  Für  die  ganze  Theorie  hat  ja  dieses 
abgekürzte  Verfahren  keinen  Naclitheil;  denn  es  ist  gleichgültig, 
ob  ich  beis^^ielsweise  in  dem  vorliegenden  Falle  sage,  das  Idioplasma 
setze  die  Chlorophyllsaite  und  die  Spiralfasersaite  in  Thätigkeit,  oder 
es  rege  alle  diejenigen  Micellarreihen  an,  welche  den  einzelnen  mole- 
cularen Vorgängen,  aus  denen  die  Chloroi)hyllbildung  und  die 
Spiralfaserbikknig  zusammengesetzt  ist,  entsprechen. 

Ueln'igens  ist  es  durchaus  nicht  nöthig  anzunehmen,  dass  alle 
molecularen  N^orgänge  in  dem  Organisnms  auch  von  dem  Idioplasma 
besonders  angeregt  werden.     In  vielen  Fällen  wird  sich  dieses  darauf 


4G 


1.  Idioplasnia 


beschränken ,  einzelne  derselben  in  Gang  zu  setzen ,  worauf  dann 
eine  ganze  Reihe  nothwendig  daraus  hervorgehender  Processe  die 
Folge  sein  kann.  Nur  wenn  erl^liche  Verschiedenheiten  irgend 
welcher  Art,  mögen  sie  auch  noch  so  geringfügig  sein,  auftreten, 
sind  wir  sicher,  dass  dieselben  in  der  Configuration  des  Llioplasnias 
vorgebildet  sein  müssen. 


Um  zu  dem  Thema,  das  uns  jetzt  beschäftigt,  zurückzukehren, 
so  müssen  also  die  Längsreihen  des  hlioplasmas,  welche  die  ver- 
schiedenen Anlagen  des  Querschnittes  darstellen,  unter  einander  in 
dynamischer  Verbindung  stehen.  Dies  ist  bei  der  dichten  Zusammen- 
ordnung derselben  leicht  begreiflich,  und  um  so  anschaulicher,  je 
mehr  die  Micelle  der  Längsreihen  auch  als  deutliche  Querreilien 
auftreten,  was  wohl  meistens  der  Fall  sein  wird  (Fig.  8;  in  dieser 
Figur  treten  die  Querreihen  weniger  anschaulich  liervor,  als  es  in 
Wirklichkeit  der  Fall  sein  wird,  weil  in  den  Micellen  das  Maximum 
der  denkbaren  Ungleichheit  dargestellt  ist). 


QS-gOoH§1-§Q 


I — ^ 


Q 


'Q 


r^ 


8-0 


6B 


Fig.  8. 


Li  welcher  Weise  nun  die  Mittluülung  unter  den  Micellreihen 
erfolge ,  ist  für  die  Molecularphysiologie  noch  ein  Geheimniss,  wie 
auch  die  Leitung  durch  die  Nerven  ein  Geheimniss  ist.  Es  herrscht 
aber  olfenbar  (Muigo  Analogie  zwischen  der  gegenseitigen  Communi- 
cation  uuivr  den  Reihen  des  Idioplasmas  und  der  Communication, 
welche    durch    die  Nervensubstanz,    namentlich    des    sympatliischen 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  47 

Nerven,  erfolgt.  Die  seitliclie  Leitung  im  Idioplasma  bestellt  niu- 
darin,  dass  die  Erregung,  in  der  sich  gewisse  Gruppen  desselben 
befinden,  auf  bestinnnte  andere  Reihen  sich  fortpflanzt,  so  dass  diese 
im  Gegensatz  zu  allen  üla'igen  ebenfalls  activ  werden,  —  ein  Zustand, 
von  dem  ich  nachher  sprechen  werde. 

Wenn  ich  das  Idioplasma  mit  der  Nervensubstanz  vergleiche, 
so  soll  damit  keine  nähere  Beziehung,  sondern  nur  eine  ganz  all- 
gemeine Analogie  angedeutet  werden  bezüglich  der  Leitungsfähigkeit 
von  dj'^namischen  Einwirkungen.  Wenn  auch  unter  allen  Pflanzen- 
substanzen einzig  das  Idioplasma  an  die  Nervensubstanz  der  Thiere 
erinnert,  so  dürfen  wir  doch  keineswegs  die  Idioplasmastränge  die 
Nerven  der  Pflanzen  nennen,  —  und  zwar  schon  deswegen  nicht,  weil 
die  Thiere  neigen  den  Nerven  die  Lliojdasmastränge  besitzen  wie  die 
Pflanzen.  Beide  Erscheinungen  sind  überhaupt  nicht  coordinirte  Be- 
griffe; —  werden  ja  die  Nerven,  wie  alle  anderen  thierischen  Organe, 
bei  der  ontogenetischen  Entwickolung  erst  durch  die  Thätigkeit  des 
Idioplasmas  hervorgebracht. 

Was  nun  diese  Thätigkeit  l)etrilTt,  so  wäre  einmal  die  allgemeine 
Frage  von  grossem  Interesse,  wie  das  Idioplasma  seine  Aufga])e, 
bestimmte  Erscheinungen  in  der  Entwicklung  des  Individuiuns 
hervorzubringen,  erfüllen  könne.  Es  erzeugt  weicheres  Ernährungs- 
plasma, oft  in  tausendfacher  Menge,  und  mit  Hilfe  desselben  bewirkt 
es  die  Bildung  von  nicht  albmninartigem  Bamnaterial ,  von  leim- 
gebenden, elastischen,  hornartigen,  celluloseartigen  Substanzen  u.  s.  w., 
und  es  gibt  diesem  Baumaterial  die  gewünschte  plastische  Gestalt. 
Zu  diesem  Behuf e  müssen  diejenigen  Micellgru^^ipen  des  Querschnittes 
(Bündel  von  Längsreihen),  welche  activ  werden ,  in  einen  Zustand 
besonderer  Erregung  gerathen ,  der  sie  geeignet  macht ,  eine  ent- 
sprechende Wirkung  auf  die  Umgebung  auszuüben.  Derselbe  ist 
nicht  vorübergehend,  wie  die  Erregung  der  sensiblen  und  motorischen 
Nerven,  sondern  er  dauert  längere  Zeit  an,  oft  Tage,  Wochen  und 
Monate  lang,  und  während  dieser  Zeit  vermehrt  sich  das  in  Wirk- 
samkeit befindliche  Idioplasma  um  das  A'^ielfache. 

Deshalb  habe  ich,  um  diesem  Erregungszustande,  l)is  er  allenfalls 
in  anderer  Weise  sich  als  sell)ständige  Erscheinung  rechtfertigen  lässt, 
einen  greifliaren  Ausdruck  zu  geben,  angenommen,  dass  die  betreffenden 
Bündel  von  Miccllreihen  sich  in  activem  Längenwachsthum  Itefiuden, 
während  das  ü])rige  Idioplasma,  dessen  Anlagen  latent  bleiben,  bloss 


48  I-  I<iioi)lusina 

in  passiver  Weise  das  Wachsthiim  mitmaclion.  Dabei  denke  ich  mir 
nicht  eigenthch ,  dass  das  Wachsthum  der  Micehreihen  selbst  die 
Entfaltung  der  entsprechenden  Anlagen  bedinge,  sondern  ^^elmehr, 
dass  l)eide  Erscheinungen  durch  die  gleiche  Ursaclie  hervorgebracht 
werden.  Ausnahmsweise  können  die  beiden  Folgen  der  Erregung 
auch  einzeln  sich  verwirklichen.  Wenn  alle  Reihen  des  Idioplasmas 
sich  in  sehr  schwacher  Erregung  befinden,  so  kann  dasselbe  allein 
zunehmen,  ohne  irgend  eine  Wirkung  auszuüljen,  wie  dies  wohl  bei 
der  Bildung  der  Keime  vorkommt.  Wenn  dagegen  nur  ganz  wenige 
Reihen  in  Erregung  gerathen,  so  vormögen  dieselben  nicht  den  ganzen 
Idioplasmastrang  zum  Wachsthum  zu  bringen,  wolil  aber  ihre  spe- 
cifische  Wirkung  zu  l)ethätigon ,  wie  z.  B.  beim  Wachsthum  der 
Cellulosememl:)ran  älterer  Pflanzenzellen,  insofern  dasselbe  eine  erb- 
liche Erscheinung  ist. 

Die  Wirkung,  welche  die  in  activem  Wachsthum  (resp.  in  dem 
besonderen  Erregungszustande)  befindlichen  hlioplasmagruppen  auf 
das  umgebende  Idioplasma  ausüben,  kann  auf  ähnliche  Weise  erfolgen, 
wie  die  Gärungsbewegung  von  dem  Plasma  der  Hefenzellen  auf  das 
Gärmaterial  (Zucker  etc.)  übertragen  wird^).  Wenn  die  erregten 
Reihen  nicht  unmittelbar  an  der  Oberfläche  des  Querschnittes  liegen, 
so  übernimmt  die  zwischenliegendo  Substanz  des  hlioplasmas  die  Fort- 
pflanzung. Es  ist  auch  möglich,  dass  die  Idioplasmastränge,  um 
leichter  auf  die  Umgebung  einwirken  zu  können,  nicht  einen  rund- 
lichen oder  ovalen,  sondern  mit  der  Zunahme  der  Zahl  der  Anlagen 
einen  mehr  und  mehr  gelappten  Querschnitt  ])esitzen,  wodurch  die 
Oberfläche  stark  vergrössert  und  die  einzelnen  Anlagen  der  Ober- 
fläche genähert  werden. 

Die  genaue  Wiederholung  bei  der  Fortpflanzung  eines  mannig- 
faltig organisirten  Wesens,  wie  es  die  meisten  Pflanzen  und  Thiere 
sind,  l)eruht  auf  der  strengen  Regelmässigkeit,  mit  der  die  zur  Ent- 
faltung bestimmten  Anlagen  während  der  individuellen  Entwicklung 
einander  ablösen.  Wenn  die  ganze  ontogenetische  Reihenfolge  der- 
selben durchlaufen  ist,  so  gehen  aus  den  Zellen  der  letzten  Zellen- 
generation die  Keime  hervor :  Sporen,  Eizellen,  Spermatozoide.  Bei 
den  meisten  Pflanzen  wiederholen  sich  viele  Entwicklungsstadien 
eine  begrenzte   oder  unbegrenzte  Zahl  von  Malen  und  ziehen  dann 


1)  Nägeli,  TlieoriL'  dt-r  (iilruug.   187il. 


als  Träger  der  erl)licheu  Anlagen.  49 

auch  die  Wiederholung  des  ganzen  Restes  der  ontogenetischen  Reihen- 
folge nach  sich. 

Die  mechanische  Einrichtung,  welche  die  ein  bestimmtes  Ent- 
wicklungsstadium erzeugende  Erregung  einer  Zahl  von  idioplas- 
matisehen  Micellreihen  mit  Noth wendigkeit  in  die  Erregung  der 
dem  folgenden  Entwicklungsstadium  entsprechenden  Reihen  hinüber- 
leitet, ist  uns  nun  allerdings  unbekannt  ^^de  die  Natur  der  Erregung 
selbst.  Wenn  wir  aber  einstweilen  das  mit  derselben  gleichzeitig 
auftretende  und  wohl  auch  causal  verknüpfte  active  Wachsthum  an 
die  Stelle  der  Erregung  setzen,  so  kann  uns  folgende  Betrachtung 
wenigstens  ein  Bild  für  die  regelmässige  Aufeinanderfolge  in  dem 
Anlagenchaos  des  Idioplasmas  gewähren. 

Sobald  die  ontogenetische  Entwicklung  beginnt,  so  werden  die 
das  erste  Ent^\^cklungsstadium  bewirkenden  Micellreilicn  im  Idio- 
plasma  thätig.  Das  active  Wachsthum  dieser  Reihen  veranlasst 
zwar  ein  passives  Wachsthum  der  übrigen  Reihen,  und  eine  Zu- 
nahme des  ganzen  Idioplasmas  vielleicht  auf  ein  Mehrfaches.  Aber 
die  beiden  Wachsthumsintensitäten  sind  ungleich,  und  die  Folge 
davon  ist  eine  steigende  Spannung,  welche  nothwendig  und  je  nach 
Zahl,  Anordnung  und  Energie  der  activen  Reihen,  früher  oder 
später  die  Fortdauer  des  Processes  zur  Unmöglichkeit  macht.  Actives 
Wachsthum  und  Erregung  gehen  nun  in  Folge  der  Gleichgewichts- 
störung in  die  nächste  Anlagengru})})e,  welche  die  als  Reiz  wirkende 
Spannung  am  stärksten  empfindet,  über,  und  dieser  Wechsel  wieder- 
holt sich,  bis  alle  Anlagengruppen  durchlaufen  sind  und  die  onto- 
genetische Entwicklung  mit  dem  Stadium  der  Fortpflanzung  auch 
wieder  bei  dem  ursprünglichen  Keimstadium  anlangt. 

Wenn  das  active  Wachsthum  oder  die  Erregung  einer  Anlagen- 
gruppe ein  gleiches  actives  Wachsthum  oder  eine  gleiche  Erregung 
in  der  näcl istfolgenden  Gruppe  herbeigeführt  hat,  so  kann  die  erstere 
Gruppe  mit  diesem  Uebergange  zur  Ruhe  gelangen,  oder  sie  kann 
neben  ihrem  Nachfolger  noch  längere  oder  kürzere  Zeit  tliätig  l)U'iI)('n. 
Ihre  Erregung  kann  selbst  eine  unbegrenzte  Dauer  annehmen,  wie 
dies  bei  der  Laubblattsprossbildung   vieler  Pflanzen  der  Fall  ist. 

Um  die  Erklärung  des  in  Frage  stehenden  Räthsels  in  der 
Abstamnmngslehre,  nämlicli  der  regelmässigen  I^cihcnrolge,  mit  der 
die  Anlagen  sich  entfalten,  unserer  A^orstellung  niUier  zu  bringen, 
ist  es  auch  fcirderlich,  sicli  an  die  frühere  Bemerkung  zu  erinnern, 

Y.  Nagel  i,  Abstammungslehre.  4 


50  I-  Idioplasma 

dass  die  Configuration  des  Idioplasmas  mehr  eine  phylogenetische, 
als  eine  geometrische  Aufgabe  sei.  Die  Entfaltung  der  Anlagen 
hält  sich  im  Grossen  und  Ganzen  an  diese  jihylogenetische  Ordnung. 
Indem  der  ontogenetisch  sich  entwickelnde  Organismus  nach  ein- 
ander die  Stadien  durchläuft,  welche  sein  phylogenetischer  Stannn 
durchlaufen  hat,  konnnen  die  idioplasmatischen  Anlagen  in  der- 
jenigen Folge  zur  A'erwirklichung,  in  der  sie  entstanden  sind.  Mit 
diesem  wichtigen  Umstände  steht  ferner  der  andere,  vielleicht  nicht 
minder  bemerkenswerthe  in  Verbindung,  dass  das  Idioplasma  bei 
der  ontogenetischen  Entwicklung  sich  successive  in  anderer  morpho- 
logischer, theilweise  auch  in  anderer  physiologischer  Umgebung 
l)efindet,  und  zwar  jeweilen  in  derjenigen  Umgebung,  welche  mit 
jener  analog  ist,  in  der  die  Anlage,  die  sich  zunächst  entfalten 
soll,  entstanden  ist.  Es  ist  aber  selbstverständlich,  dass  die  Be- 
schaffenheit der  umgebenden  Substanz  nicht  ohne  Einfiuss  auf  die 
Entfaltung  der  idioplasmatischen  Anlagen  sein  kann. 

Ein  Beispiel  wird  diesen  Gedanken  näher  darlegen.  Es  gibt 
einfach  gebaute  blattartige  Florideen  und  Fucoideen,  die  aus  mehreren 
Zellschichten  bestellen.  Dieselben  sind  phylogenetisch  aus  solclien 
Pflanzen  hervorgegangen,  die  bei  ebenfalls  blattartiger  Gestalt  nur 
eine  einzige  Zellschicht  hatten,  und  diese  aus  fadenförmigen  Pflanzen, 
welche  einfache  Zellreihen  (gegliederte  Fäden)  waren.  Ich  will  diese 
drei  Stufen  als  einreihige,  einschichtige  und  mehrschichtige  unter- 
scheiden. Das  Idioplasma  der  vorweltlichen  einreihigen  Stufe 
bereicherte  sich  durch  eine  Micellanordnung,  welche  den  Uebergang 
aus  den  einreihigen  Pflanzen  in  die  einschichtigen  verursachte;  und 
das  Idioplasma  der  vor  weltlichen  einschichtigen  Stufe  veränderte  sich 
weiter  in  der  Weise,  dass  der  Uebergang  in  die  mehrschichtige  Stufe 
erfolgte.  Bei  der  ontogenetischen  Entwicklung  der  jetzt  lebenden 
mehrschichtigen  Pflanzen  bildet  sich  zuerst  eine  einfache  Zellroilie, 
diese  geht  in  eine  einfache  Zellschicht  und  die  letztere  schliesslich 
in  den  mehrschichtigen  blattartigen  Körper  über.  Die  idioplas- 
matischen Anlagen  entfalten  sich  also  ontogenetisch  in  der  nämliclien 
Ordnung,  in  der  sie  phylogenetisch  entstanden  sind;  und  jede  An- 
lage, die  sich  zur  Entfaltung  anschickt,  befindet  sich  in  derjenigen 
morphologischen  Umgel)ung,  in  der  sie  ursprünglich  sich  gebildet 
liat.  In  dem  cini'eihigen  Stadium  der  Ontogenie  gelangt  die  Anlage 
der    einfachen   Zellschidit    nnd    in    dem    einschichtigen  Stadium   die 


als  Träger  der  erhlichen  Anlagen.  51 

Anlage  des  niehrschichtigen  Körpers  zur  Entfaltung.  Würde,  was 
natiirgesetzlich  ausgeschlossen  ist,  eine  Unordnung  in  der  onto- 
genetischen  Reihenfolge  eintreten  und  die  später  entstandene  Anlage 
sich  früher  entfalten,  so  ginge  die  einfache  Zellroihe  durch  Dicken- 
wachsthum  zuerst  in  einen  fadenförmigen  Zellkörper  und  dieser 
durch  Breitenwachsthum  in  die  blattartige  Form  ül)er. 

Um  ein  anschauliches  Bild  von  dem  Wechsel  in  der  Wirksam- 
keit des  Idioplasmas  bei  complicirten  Erscheinungen  zu  geben,  will 
ich  noch  einen  concreten  Fall  herausgreifen.  Die  Blattbildung  an 
einer  beliebigen  Pflanze  verändert  sich  stetig  von  dem  ersten  Nieder- 
l)latt  bis  zum  letzten  Blatt  der  Blüthe,  und  zwar  geschieht  dies  in 
einer  für  die  Sippe  genau  bestimmten  Weise.  Wir  können  diesen 
Wechsel  durch  eine  Curve  darstellen,  wobei  die  Abscisse  den  Stengel 
in  Zellgenerationen  ausgedrückt  oder  die  Zeit,  welche  er  zu  seiner 
Entwicklung  bedarf,  ]:)ezcichnet,  die  Ordinaten  aber  den  auf  einander 
folgenden  Blättern  entsprechen.  Die  Ordinate  ist  hier  ein  zusammen- 
gesetzter Ausdruck,  eine  bestimmte  Combination  aller  zur  Blatt- 
l)ildung  zusammenwirkenden  Elemente.  Jede  Sippe  hat  ihre  speci- 
fische  Curve  der  Blattl)ildung.  Jodes  Individuum  einer  Si^^pe  ver- 
wirklicht Ordinaten  ihrer  Curve;  al)er  für  jedes  Individuum  ist  die 
Zahl  und  die  Lage  der  Ordinaten  eine  andere. 

Die  Curve  der  Blatt])ildung  ist  also  kein  mathematischer 
Begriff,  sondern  ein  Symljol  für  die  Gesammtheit  vieler  mathe- 
matischer Curven ,  indem  jedes  an  der  Blattbildung  betheiligte 
Element  seine  besondere  Curve  hat.  Es  sind  eine  Menge  von  Längs- 
reihen des  Idioplasmas  in  der  Weise  activ,  dass  in  jeder  die  Er- 
regung zu  einer  ihr  eigenthümlichen  Zeit  beginnt,  dann  in  eigen- 
lliümlicher  Weise  an  Intensität  zu-  und  alniinmit  und  schliesslich 
zu  einer  ihr  eigenthümlichen  Zeit  erlischt.  So  ist  also  nach  jedem 
Zeitintervall  die  Comljination  aller  bei  der  Blattl)ildung  thätigen 
Micellreihen  eine  etwas  andere,  und  diese  Combinationcn  stellen  die 
Ordinaten  der  Blattcurve  dar. 

Die  Blattbildung  erfolgt  absatzweise;  sie  gehört  zu  denjenigen 
Entwicklungsprocessen,  welche  niclit  continuirlich,  sondern  i)eriodisch 
vor  sich  gehen,  ol)gleich  die  entsprechenden  Veränderungen  im 
Idioplasma  conti uuii-lich  sind.  Wenn  in  einem  bestimuitcii  Zeit- 
moment, also  aus  einer  bestimmten  Ordinate,  die  Bildung  eines  Blattes 
erfolgt,    so   ist    die    Curve    erst  nach  einiger  Zeit   wieder   im  Stande 


52  I-  Idioplasma 

ein  neues  Blatt  hervorzubringen.  Wir  könnten  uns  dies  einfach 
in  der  Art  vorstehen,  dass  das  entstehende  Blatt  die  verfügbare 
N<ährsubstanz  absorbirt,  und  dass  erst  nach  einiger  Zeit  oder  räum- 
lich aufgefasst  in  einiger  Entfernung  am  Stengel  wieder  eine  hin- 
reichende Menge  Substanz  zur  Bildung  eines  Blattes  verfügbar  wird. 
Eichtiger  aber  wird  die  Vorstellung,  wenn  wir  die  Blattljildung  mit 
der  Zellth eilung  am  wachsenden  Stengelscheitel  in  Verbindung  bringen, 
so  dass  nur  aus  bestimmten  Zellen  Blätter  entstehen  können,  wie 
])eispielsweise  bei  den  Moosen  aus  jeder  Segmentzelle  des  Stengels 
die  erste  Zelle  für  ein  Blatt  erzeugt  wird. 

Die  Blattbildung  an  einer  Pflanze  beginnt  damit,  dass  eine  der 
unendlich  \'ielen  Ordinaten  der  Blattcurve,  deren  Bestimmung  von 
allen  mitwirkenden  Umständen  abhängt,  sich  als  Blatt  verwirkliclit. 
Von  dem  Einflüsse,  den  die  Bildung  des  ersten  Blattes  weiter  aus- 
übt, und  von  den  übrigen  Verhältnissen  der  jeweiligen  Entwick- 
lungszustände  hängt  es  dann  ab,  welche  von  den  späteren  Ordinaten 
sich  als  zweites  Blatt  verwirkliche,  und  so  geht  es  fort  bis  zur  Bil- 
dung des  letzten  Blattes.  Es  ist  sonach  begreiflich,  dass  in  jedem 
Individuum  der  nämlichen  Sippe  die  Reihe  der  Blätter,  abgesehen  von 
den  Verschiedenheiten ,  die  von  den  Ernährungseinflüssen  bedingt 
werden,  einen  etwas  anderen  Verlauf  und  ein  etwas  verschiedenes 
Aussehen  zeigt,  obgleich  die  zu  Grunde  liegenden  idioplasmatischen 
Eigenthümlichkeiten  vollkommen  identisch  sind. 

Ich  habe  in  der  vorstehenden  Auseinandersetzung  zeigen  wollen, 
wie  man  sich  allenfalls  die  ontogenetische  Entwicklungsfolge  und 
die  Folge  der  sie  bedingenden  Erregungen  in  den  Idioplasmagruppen 
schon  jetzt  als  einen  regelmässigen  und  nothwendig  verlaufenden 
Process  vorstellen  kann ,  ohne  dass  ich  mit  dieser  Hypothese  einer 
künftigen  besseren  —  Opposition  machen  möchte.  Die  genannten  Er- 
regungen, welche  die  Wirksamkeit  des  Idioplasmas  in  jedem  Augen- 
blick auf  die  chemischen  und  plastischen  Vorgänge  seiner  nächsten 
Umgebung  bedingen,  sind  aber  selbstverständlich  nichts  anderes  als 
die  Spanmmgs-  und  Bewegungszustände  seiner  Micelle,  —  und  auf 
diese  wirkt  nothwendig  die  Beschaffenheit  der  Umgebung  ein.  Es 
kann  uns  deswegen  nicht  überraschen,  dass  das  Idiojjlasma  in  einer 
Wurzel  in  anderer  Weise  beeinflusst  ist  als  in  einem  Stengel  oder 
in  (Muem  Blatt,  und  dass  dasselbe  an  diesen  drei  verschiedenen  Orten, 
obgleich  materiell  ganz  dassell)e,  doch  ungleiche  Anlagen,  wiewohl 


als  Träger  der  erbliclien  Anlagen.  53 

in  der  gesetzlichen  Reihenfolge,  zur  Entfultung  bringt.  Wir  Ijegreifen 
aucli,  dass  die  Ernährungsursacben,  ailgeincin  genonnnen,  ()1)glricli 
sie,  wie  ich  später  zeigen  werde,  das  Idioplasnia  qualitativ  nicbt 
verändern,  doch  auf  die  Entfaltung  der  Anlagen  einwirken  können, 
dass  nach  Quantität  und  Qualität  der  Nahrung  einerseits  Anlagen 
zur  Entfaltung  kommen,  die  sonst  latent  bleiben,  andrerseits  die  Ent- 
wicklung von  Anlagen,  die  normal  eintreten  sollte,  verhindert  wird. 
Das  Idioplasnia  behält,  indem  es  sich  vermehrt,  überall  im 
Organismus  seine  specifische  ßeschaifenheit  und  wechselt  innerhalb 
dieses  festen  Rahmens  bloss  seine  Spannungs-  und  Bewegungs- 
zustände  und  durch  dieselben  die  nach  Zeit  und  Ort  möglichen 
Formen  des  Wachsthums  und  der  Wirksamkeit.  Daraus  folgt,  dass, 
wenn  in  irgend  einem  ontogenetischen  Entwicklungsstadium  und 
an  irgend  einer  Stelle  des  Organismus  eine  Zelle  sich  als  Keim 
ablöst,  dieselbe  alle  erblichen  Anlagen  des  elterlichen  Individuums 
enthält,  und  dass  bloss  nach  den  verschiedenen  Spannungs-  und 
Bewegungszuständen ,  in  denen  sich  das  Idioplasnia  liefindet,  die 
ontogenetische  Entwicklung  aus  solchen  Zellen  in  etwas  ungleicher 
Weise  beginnt. 


Im  Keimstadium  kehrt  das  Idioplasnia  nach  der  ganzen  Reihe 
von  Veränderungen  seiner  Siiannungs-  und  Bewegungszustände,  die 
es  während  der  individuellen  Entwicklungsgeschichte  durchgemacht 
hat,  wieder  zu  seiner  ursprünglichen  Beschaffenheit  zurück.  Die 
Rückkehr  w'äre  vollkommen  genau ,  wenn  die  specifischen  Eigen- 
schaften absolut  constant  blieben,  wenn  nicht  eine  langsame  j)liylo- 
genetische  Umbildung  stattfände.  Befindet  sich  aber  die  Generationen- 
reihe eines  Organismus,  wie  ich  eingangs  erwähnte,  in  einem  steten 
Fortschritt,  so  hat  daran  jedes  einzelne  IndiA^duum  seinen  Theil, 
und  das  Idioplasnia  gelangt  im  Keimstadium  nur  nahezu,  nicht 
ganz  genau  in  den  früheren  Zustand.  Die  geringe  Verschiedenheit 
zwischen  den  Keimen  der  Eltern  und  der  Kinder  gibt  uns  das 
Maass  für  die  Umwandlung,  welche  das  Idioplasnia  während  der 
Dauer  einer  Generation  erfahren  hat. 

Würde  absolut  keine  Umwandlung  stattfinden,  so  behielten  die 
idioplasmatischen  Micellreihen  ihre  ursprüngliclie  Zahl  und  Anord- 
nung. Ist  sie  aber  vorhanden ,  so  wird  da  und  dort  eine  Reihe 
verstärkt  oder  eine   neue  Reihe   eingeschoben  oder   der  Zusammen- 


54  I-  I<linplasma 

hang  gewisser  Reihen  fester  gelügt,  wcxhirch  sich  die  Configuration 
des  Querschnittes  etwas  verändert.  Die  eingeschol)ene,  die  verstärkte, 
die  fester  verbundene  Reihe  bedeutet  die  Weiterbildung  einer  be- 
gonnenen Anlage  oder  den  Anfang  einer  neuen.  Diese  geringen 
Veränderungen  im  Idioplasnia  können  lange  Zeiträmne  fortdauern, 
ohne  dass  deswegen  die  sichtbaren  Merkmale  irgend  eine  Modifi- 
cation  erfahren. 

Rücksichtlich  der  phylogenetischen  Veränderungen  des  Idio- 
plasmas  liegt  nun  eine  wichtige  Frage  vor,  nämlich  wie  wir  uns 
die  Mittlieilung  der  an  bestimmten  Stellen  im  Organismus  neu  ge- 
womienen  Eigenschaften  an  das  Idio2:)lasma  der  Keime  zu  denken 
haben.  Die  Ursachen  der  Veränderung  sind,  wie  wir  später  sehen 
werden,  doppelter  Art,  es  sind  theils  innere  Ursachen,  theils  äussere 
Einflüsse.  Die  inneren  Ursachen  mögen  das  Idiojjlasma  überall 
gleiclmiässig  treffen,  da  sie  wesentlich  in  ihm  sell)er  liegen ;  und 
es  besteht  somit  die  Möglichkeit,  dass  das  Idioplasma  sich  üljerall 
im  Organismus  in  gleicher  Weise  umbilde. 

Die  äusseren  Einflüsse  dagegen  werden  in  der  Regel  local  auf 
den  Organismus  einwirken,  und  sie  müssen,  damit  die  Wirkung- 
beständig  und  erl>lich  werde,  direct  oder  indirect  eine  Umljildung 
des  dort  befindlichen  Idioplasmas  hervorlmngen. 

Wenn  ein  in  eine  kurze  Spitze  oder  in  ein  Blättchen  aus- 
gehendes Blatt  sich  in  ein  solches  mit  einer  langen  ästigen  Wickel- 
ranke, wie  es  bei  Erl)sen,  W^icken,  Linsen  u.  s.  w.  vorkommt,  um- 
wandelt, so  wird  von  den  äusseren  als  Reiz  wirkenden  Einflüssen, 
ausser  der  genannten  localen  Veränderung  auch  eine  derselben  ent- 
sprechende locale  Veränderung  des  Idioplasmas  hervorgebracht.  Die 
nämliche  Veränderung  muss  aber  auch  im  Idioplasma  des  bei  der 
Fortpflanzung  entstehenden  Keimes  stattfinden,  sonst  wäre  die  ge- 
wonnene Anpassung  für  die  folgenden  CJenerationen  verloren.  Sie 
muss  also  von  dem  Blatte  aus  dem  unbefruchteten  Keimbläs- 
clien  oder  dem  Pollenkorn  oder  eher  beiden  zugleich  mitgetheilt 
werden. 

Findet  eine  Umwandlung  in  den  Samenla])pen  statt  (die  Cotyle- 
donen  der  einen  PHanzen  l)leiben  unvei'ändert  unter  der  Erde,  bei 
anderen  Pflanzen  erhellen  sich  dieselben  in  Folge  starken  Wachs- 
thiiiiis  über  die  Erde,  werden  blattartig  und  grün),  so  nmss  die 
stattgefundene    Umwandlung    des   Idioj)lasmas   in   den  Stengel   und 


als  Träger  der  erl)liclien  Anlagen.  55 

von  du  höher  iiiul  liöher  und  zuletzt  in  die  ßlütlien  überliefert 
werden.  An  dieses  Ziel  gelangt  sie,  wenn  die  Pilanzen  spät  zur 
Fruchtbildung  kommen ,  zuweilen  erst  viele  Jahre  nachdem  die 
Samenlappen  verschwunden  sind. 

Geht  eine  erbliche  Umbildung  in  einem  localen  Theil  einer 
Pflanze  vor  sich,  welche  sich  auf  geschlechtslosem  Wege  fortpflanzt, 
so  muss  die  Fortleitung  der  idioplasmatischen  Umstimmung  andere 
Wege  einschlagen.  In  dem  Falle,  dass  die  Vermehrung  durch  unter- 
irdische Knollen  erfolgt,  wie  bei  den  Kartoffeln,  wird  eine  in  den 
Blättern  eintretende  Veränderung  abwärts  in  die  Wurzelregion ,  im 
Falle  der  Vermehrung  durch  die  grünen  Blätter  wird  eine  in  den 
Wurzeln  stattfindende  Umänderung  aufw'ärts  in  die  Laubblattregion 
übermittelt.  Da  nun  die  ungeschlechtliche  Vermehrung  in  allen 
Theilen  der  Pflanze  erfolgen  kann  und  da  sie  auch  neben  der  ge- 
schlechtlichen Fortpflanzung  tliätig  ist ,  so  muss  man  wohl  den 
Schluss  ziehen,  dass,  wenn  äussere  Einflüsse  auf  einen  localen  Theil 
einwirken  und  denselben  dauernd  umw^andeln,  von  da  die  Mittheilung 
an  das  Idioplasma  im  ganzen  Pflanzenstock  stattfinde. 

Die  Frage  ist  also :  In  welcher  Weise  vermag  eine  Veränderung, 
die  das  Idioplasma  an  einer  beliebigen  Stelle  des  Organismus  erfährt, 
die  nämliche  Veränderung  im  Idioplasma  des  übrigen  Organismus 
zu  verursachen  ?  Für  das  Pflanzenreich  ist  die  Beantw^ortung  dieser 
Frage  mit  nicht  geringen  Schwierigkeiten  verbunden.  Sie  wird  aber 
dadurch  vereinfacht,  dass  die  Möglichkeiten  klar  vorliegen.  Es 
sind  nur  zwei:  Entweder  geschieht  die  Mittheilung  der  idioplastischen 
Eigenschaften  auf  materiellem  oder  auf  dynamischem  Wege. 

Im  ersteren  Falle  muss  Substanz,  in  welcher  die  neuen  erb- 
lichen Eigenschaften  enthalten  sind,  nach  allen  Theilen  des  Orga- 
nismus wandern  und  durch  Vermischung  überall  eine  entsprechende 
Umbildung  des  Idioplasmas  hervorbringen.  Eine  solche  Substanz 
kann  nicht  gelöst  sein;  sie  muss  also  selber  aus  Idioplasma  be- 
stehen. Jener  Forderung  widerspricht  nun  der  als  allgemein  gültig 
angesehene  Satz  der  Pflanzenphysiologie,  dass  von  den  Zellen  bloss 
gelöste  Stoffe  aufgenommen  und  ausgeschieden  werden ;  und  dass 
unter  den  gelösten  Stofl^en  selber  es  nur  die  Molecularlösungen  seien, 
welche  ungehindert  durch  die  Membran  gehen ,  während  die  mi- 
cellaren  (colloiden)  Lösungen  entweder  gar  nicht  oder  in  sehr  be- 
schränktem Maasse  dies  zu  thun  vermögen. 


FyQ  I.  Idioplasnia 

Bei  einer  früheren  Gelegenheit  luihe  ich  gezeigt'),  dass  unter 
bestimmton  Umständen  auch  Micellarlösungen  mit  Leichtigkeit 
diosmiren  und  dass  mit  Rücksicht  auf  diesen  Umstand  eine  be- 
stimmte Structur  der  Pflanzenzelhneml)ran  anzunehmen  ist.  Ausser 
den  gewöhnhchen  Micellarinterstitien  müssen  nämUch  noch  besondere 
Canälchen  von  solcher  Weite,  dass  Eiweissmicelle  mit  dem  nöthigen 
Wasser  frei  circuliren  können,  die  Memln-an  durchsetzen,  so  dass  die 
letztere,  bei  hinreichend  starker  Vergrösserung  von  der  Fläche  be- 
trachtet, das  Aussehen  eines  feinen  Siebes  gewähren  würde. 

Solche  Canälchen ,  wie  sie  die  Diosmose  von  Albuminaten 
bedarf,  würden  al)er  für  den  Transi)ort  von  Idioplasnia  lange  nicht 
ausreichen;  denn  da  die  Eigenthümlichkeit  des  Idioplasmas  in  der 
Configuration  eines  ganzen  micellösen  Systems  besteht,  so  müssten 
grössere  Partien  transportirt  werden,  und  zwar,  wenn  meine  Annahme 
von  der  strangförmigen  Beschaffenheit  gegründet  ist,  Strangstücke, 
die  sich  abgelöst  haben.  Für  diesen  Zweck  müsste  jede  Zelle 
noch  einige  grössere  Oeffnungen  in  der  Memljran  besitzen,  • —  Löcher, 
welche  sich  zwar  immer  noch  der  mikroskopischen  Wahrnehmung 
entzögen,  die  aber  doch  so  weit  wären,  um  die  strangförmigen 
Tdioplasmakörper  durchtreten  zu  lassen.  Eine  solche  Annahme, 
wenn  sie  auch  für  die  Lehre  neu  und  ungewohnt  ist,  hat  doch 
nichts  Unwahrscheinliches,  da  die  Siebröhren  nicht  bloss  in  Folge 
der  siebartigen  Durchbrechungen  ihrer  Scheidewände  ununterbrochene 
Canäle  darstellen,  welclie  durch  die  ganzu  Pflanze  verlaufen,  sondern 
auch  an  ihren  Seitenwänden  durch  feine  Poren  mit  den  angrenzenden 
Zellen  in  VerlMndung  stehen,  und  da  solche  Poren  von  nocli  grösserer 
Feinheit  zuweilen  auch  zwischen  den  übrigen  Parenchymzellen  sich 
nachweisen  lassen. 

Wir  könnten  uns  also  eine  Mittheilung  der  idioplastischen 
Eigenschaften  auf  materiellem  Wege  folgendermaassen  denken.  Alle 
Zellen  communiciren  durch  sehr  feine  Poren  unter  einander  und  mit 
den  nächsten  Siebröhren,  wol)ei  die  Poren  nach  den  letzteren  hin  an 
Grösse  zunehmen.  Die  Siebröhren  aber,  welche  durch  den  ganzen 
Pflanzenstock  ununterbrochene  Canäle  mit  ziemlich  grossen  Durch- 
brechungen der  Scheidewände  darstellen,  vermitteln  den  Austausch 
zwischen  den  verschiedensten  und  entlegensten  Organen. 


')  Theorie  der  Gärung.    Anmerkung  l»etr.  die  INIolekül Vereinigungen. 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  57 

Dmiiit  wäre  auch  diu  ])i.s  jetzt  räthsolhafte  Finictioii  der  Siel)- 
rr)]ireii  aufgefunden.  Sie  sind  dann  die  SamnieLstellen  für  das  Idio- 
plasnia  au.s  dem  Gewebe;  in  ihnen  mischt  sich  das  Idioplasma  der  ver- 
scliiedencn  Regionen  des  rtianzenstockes,  und  von  ihnen  aus  ver- 
breitet sich  das  gemischte  Ichoi^lasma  wieder  in  (he  einzehicn  Ge- 
webezellen. —  Was  aber  diese  Mischung  von  verschiedenartigem 
Idioplasma  betrifft,  welche  el^enfalls  als  ein  matericfller  Act  aufzu- 
fassen wäre,  so  verweise  ich  auf  die  Betrachtung,  die  ich  in  einem 
späteren  Abschnitt  über  die  molecularen  Vorgänge  bei  der  mit  der 
Befruchtung  verljundenen  Mischung  des  männlichen  und  weiblichen 
Id)(>])lasmas  anstellen  werde. 

Es  ist  aber  auch  noch  die  Frage  zu  erörtern,  ol)  die  ]Mittheilung 
der  in  einem  Organ  entstandenen  idioplastischen  Eigenschaften 
an  die  übrigen  Pflanzentheile  nicht  auf  d^aiamischem  Wege,  also 
ohne  Stoffwanderung  erfolgen  könne.  In  dieser  Beziehung  gil)t  es 
zwei  mögliche  Fälle,  je  nachdem  Avir  das  Pflanzengewebe  in  der 
berge] )rachten  Weise  aus  geschlossenen  Zellen  zusammengesetzt  an- 
nehmen, oder,  wie  ich  es  soeben  als  denkbaren  Fall  hingestellt  hahe, 
die  Zellhöhlungen  in  der  Pflanze  alle  unter  einander  communiciren 
lassen. 

Wenn  nach  gewöhnlicher  Anschauung  die  Zellen  wenigstens 
zum  weitaus  grössten  Theil  geschlossene  Blasen  sind,  so  dass  ihr 
Idioplasma  durch  Cellulosewände  getrennt  ist,  müsste  die  dynamische 
Einwirkung  wohl  in  folgender  Weise  gedacht  werden.  Jede  eigen- 
thümliche  Anordnung  von  INIicellen,  besonders  wenn  eine  eigenthüm- 
liclie  chemische  Beschaffenheit  hinzukommt,  hat  ihre  eigenartigen 
Bewegungszustände  und  ihre  eigenartigen  (anziehenden  und  ab- 
stossenden)  Kräfte,  mit  denen  sie  auf  die  nächstliegende  Substanz  ein- 
wirkt. Wir  könnten  uns  nun  denken,  dass  die  idio])lasti sehen  Eigen- 
schaften in  dieser  Weise  von  Zelle  zu  Zelle  durch  die  Meml)ranen 
hindurch  mitgetheilt  würden  und  uns  dabei  an  die  Fortpflanzung 
Vdii  molecularen  und  mici'llaren  Schwingungszustäiiden  erinnern, 
welche  von  dem  Plasma  einer  Hefenzelle  auf  das  Gärmalcrial  bis 
auf  einige  Entfernung  erfolgt. 

Da^Ai  wäre  einmal  erforderlich,  dass  die  Zellmembranen  kein 
llinderniss  für  die  Ueljcrtragung  von  Bewegungszusländen  N"on 
Zelle  zu  Zelle  darböten.  Ferner  wäre  wohl  zu  berücksichtigen,  dass 
die  Uel)ertrai>un<'-   von   Px'weuimuszuständen    nicht    mmiittelbar   eine 


58  I-  Tdioplasma 

Anordnung  zu  verändern  im  Stande  ist,  sondern  nur  insofern  als 
die  Vermehrung  des  Idioplasmas  unter  dem  Einflüsse  der  fremden 
Bewegungsznständc  eine  andere  und  denselben  analoge  Form  an- 
nimmt. Diese  Theorie  möchte  ich  für  ganz  unwahrscheinlich  halten, 
denn  wenn  auch  die  imbibirte  Zellmembran  gewisse  Schwingungen 
fortzupflanzen  vermag  wie  bei  der  (nirung,  so  ist  sie  doch  offenbar 
nicht  dazu  eingerichtet,  die  complicirten  und  (pialitativ  verschiedenen 
idioplasmatischen  ßewegungszustände  zu  übermitteln ,  so  wenig  als 
ein  Muskel  oder  eine  Sehne  als  Element  in  die  Nervenloitung  einzu- 
treten vermag. 

Wenn  dagegen  nach  meiner  Anschauung  alle  Pflanzenzellen 
unter  einander  durch  feine  Poren  communiciren ,  so  gestaltet  sich 
die  dynamische  Uebertragung  der  Idioplasmazustände  viel  natür- 
licher und  annehmbarer.  Diese  Poren  enthalten  dann  ausser  Er- 
nährungsplasma besonders  auch  Idioplasma,  so  dass  das  letztere 
durch  den  ganzen  Pflanzenorganisnuis  ein  zusanmienhängendes 
System  Ijildet.  Am  einfachsten  wird  die  Vorstellung  von  der  dyna- 
mischen Mittheilung,  wenn  die  Idioplasmastränge  ununterbrochen 
durch  den  ganzen  Organisnms  verlaufen,  in  analoger  Weise,  wie 
dies  mit  den  Nerven  der  Fall  ist.  Al)er  auch  wenn  das  Idioplasma 
aus  kurzen,  an  einander  gereihten  Strangstücken  besteht,  stösst  die 
Mittheilung  in  die  Ferne  auf  keine  erheblichen  Schwierigkeiten. 
Daini  sind  innerhalb  der  Zelle  die  selljständigen  strangförmigen 
Idioplasmakörj^er  netzartig  zusannnengefügt ,  und  mit  dem  Inhalte 
der  angrenzenden  Zellen  ist  dieses  Netz  durch  Ketten ,  welche  die 
Porencanäle  durchsetzten,  verlamden.  Wie  nun  eine  dynamische 
Leitung  zwischen  den  Micellreihen  des  nämlichen  Idioplasma- 
körpers  besteht,  welche  die  zur  Entfaltung  der  Anlage  nothwendige 
Erregung  mittheilt,  so  ist  auch  eine  Fortloitung  durch  Körper,  welche 
sich  l)erühren,  denkbar. 

Allerdings  handelt  es  sich,  behufs  Uebertragung  einer  local 
vorhandenen  Anlage  auf  ein  davon  entferntes  Idioplasma,  nicht  bloss 
darum,  eine  einzelne  Erregung,  sondern  vielmehr  eine  Summe  ver- 
schiedener Erregungen  zu  übermitteln,  welche  einen  qualitativ  be- 
stimmten Vorgang  zu  veranlassen  im  Stande  ist.  Wir  können  als 
Analogie  an  die  Bewegung  denken,  welche  die  Sinneseindrücke  und 
die  Willensäusserimgen  in  den  Nerven  f()i't])llanzt.  Wenn  die  orga- 
liisirten  Albumiiiate  die   mannigfaltigsten    Wahrnehmungen    fremder 


als  Träger  der  erljliclien  Anlagen.  59 

Dinge  in  den  feinsten  Abstufungen  zum  Centralorgan  des  Nerven- 
systems leiten,  daselbst  ein  genau  übereinstinnnendes  Bild  erzeugen 
und  in  F(^lge  davon  entsprechende  Bewegungen  veranlassen,  so 
möchte  die  Annahme  nicht  ferne  liegen,  dass  die  zum  Idioplasma 
organisirten  Eiweisskörper  ein  Bild  ihrer  eigenen  localen  Verän- 
derung nach  anderen  Stellen  im  Organismus  führen  und  dort  eine 
mit  dem  Bilde  übereinstinunende  Veränderung  bewirken. 

Diese  Theorie  der  dynamischen  Mittheilung  scheint  mir  die 
vorliegende  Frage  in  der  einfachsten  Weise  zu  lösen.  Das  Idio- 
})lasma  aller  Zellen  einer  Pflanze  befindet  sich  in  unmittell>)arer  gegen- 
seitiger Berührung.  Jede  Veränderung,  die  es  an  irgend  einer 
Stelle  erfährt,  wird  ülK'rall  wahrgenommen  und  in  entsprechender 
Weise  verwerthet.  Wir  müssen  sogar  annehmen ,  dass  schon  der 
Reiz,  der  local  einwirkt,  sofort  überall  hin  telegra|)hirt  werde,  und 
überall  die  gleiche  Wirkung  habe;  denn  es  tiudct  eine  stete  Aus- 
gleichung der  idi()}ilasmatischen  Spannungs-  und  l)c\vegungszustände 
statt.  Diese  fortwährende  und  allseitige  Fühlung,  welche  das  Idio- 
plasma unterliält,  erklärt  den  sonst  auffallenden  Umstand,  dass  das- 
sel])e  trotz  der  so  ungleichartigen  Ernährungs-  und  Reizeinflüsse, 
denen  es  in  den  verschiedenen  Theilen  eines  Organismus  ausgesetzt 
ist,  doch  sich  ül)erall  vollkommen  gleich  entwickelt  und  gleich 
verändert,  wie  wir  namentlich  aus  dem  Umstände  ersehen,  dass  die 
Zellen  der  Wurzel ,  des  Stanmies  und  des  Blattes  ganz  dieselben 
lu(li\i(hicn  hervorl »ringen. 

Das  idioplasmatische  System  der  Pflanzen,  das  auch  die  Thiere 
in  der  nämlichen  Weise  besitzen,  wäre  somit  in  manchen  Be- 
ziehungen dem  Nervensystem  analog.  Es  wäre,  um  mich  so  aus- 
zudrücken, ein  System  dynamischer  Leitungen  in  einer  einfacheren 
imd  mehr  materiellen  Sphäre,  während  die  Nervensul)stanz  ein 
solches  Leitungssystem  in  einer  complicirteren  und  mehr  geistigxMi 
Sphäre  darstellt.  Es  ist  selbst  nicht  unwahrscheinlich,  dass  zwischen 
beiden  ein  phylogenetischer  Zusanmienhang  besteht,  dass  im  Thier- 
reicli  die  eine  Hälfte  des  idioplasmatischen  Systems  nach  und  nach 
zum  Nervensystem  geworden  ist. 

Welche  von  den  beiden  Theorien,  die  icii  betrclTcnd  die  idio- 
l)lasmatische  Leitung  und  Mittheilung  entwickelt  habe,  die  riclitigc, 
ob  der  Vorgang  ein  mnteric^lk'r  oder  ein  dynamischer  sei,  lässt  sifh 
bei    der    noch    so    geringen    Kenntniss    des    hlioplasmas    niclit    ent- 


CO  !■  Idioplasma 

scheiden.  Insofern  es  sich  nni  das  Pflanzenreich  handelt,  möchte 
man  vieUeicht  elicr  geneigt  sein,  eine  materielle  Commnnication  an- 
zunehmen. Diese  aljer  ])efindet  sich ,  wenn  auch  der  Transport 
leicht  verständlich  ist,  doch  bezüglich  des  Hau})tpunktes,  der  noch 
nicht  besprochen  wurde,  nämlich  bezüglich  der  Ausgleichung 
zwischen  den  ungleich  veränderten  Partien  in  entschiedenem  Nach- 
theil. Wäre  das  IdiojDlasma  eine  halbflüssige  Substanz  mit  beweg- 
lichen Micellen,  so  könnte  allerdings  leicht  eine  Vermischung  statt- 
finden.  Da  dassell:)C  al>er  aus  einer  ziemlich  festen  Vereinigung 
von  INIicellen  bestehen  nmss,  so  ergeben  sich  für  die  gegenseitige 
Durchdringung  die  grössten  Schwierigkeiten. 

Wir  haben  zwar  bei  der  Befruchtung  ebenfalls  eine  materielle 
Vereinigung  von  männlichem  und  weil)lichem  Idio})lasma ,  und  es 
lässt  sich  dort  der  materielle  Vorgang  zur  Noth  ])is  zur  Neben- 
einanderlagerung je  eines  Micells  von  männlichem  und  eines  solchen 
von  weil)lichem  Ursprung  durchführen,  wie  ich  später  bei  der  Be- 
sprechung der  Kreuzung  und  der  mit  ihr  verbundenen  molecularen 
Vorgänge  zeigen  werde.  Dort  wird  die  Annahme  der  materiellen 
Vermischung  durch  die  quantitative  Gleichheit  der  Ijeiden  geschleclit- 
lichen  Idioplasmen  erleichtert,  ol)gleich  wahrscheiidicher  Weise  auch 
bei  der  Befruchtung  der  materielle  Vorgang  nicht  mehr  bedeutet, 
als  dass  das  männliche  ndt  dem  weiblichen  Idioplasma  zusammen 
kommt,  worauf  dann  die  gegenseitige  Beeinflussung  auf  dynamiscbem 
Wege  erfolgen  dürfte.  Indem  ich  auf  diese  Auseinandersetzung 
verweise,  schliesse  ich  mit  der  Bemerkung,  dass,  wenn  auch  das 
Idioplasma  in  den  Organismen  wandern  und  sich  materiell  ver- 
mengen sollte,  die  Ausgleichung  zwischen  den  verschiedenartig  um- 
gebildeten Partien  doch  wahrscheinlich  auf  dynamischem  Wege  ge- 
scliehen  wird. 


h-b  will  schliesslich  noch  die  Frage  besprechen,  wie  sich  die 
Eigenschaften,  die  dem  Idioplasma  zugeschrieben  wurden,  zu  der 
Zahl  und  Grösse  der  Moleküle  und  Micelle  verhalten.  Es  könnten 
vielleicht  Zweifel  sich  erheben,  ol)  die  mäiuilichen  Elementarorgane, 
die  theilweise  zu  den  kleinsten  mikroskopischen  Objecten  gehören,  in 
ihrer  Su])stanz  so  viele  Idioplasmamicelle  besitzen,  wie  es  die  Theorie 
voraussetzt.  Denn  eine  grosse  Menge  von  Anlagen  verlangt  eine 
sehr   complicirte   Anordnung  und   diese   lässt  sich    nur   durch    eine 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  61 

grosse  Menge  kleinster  Theilchen  herstellen ,  —  und  wenn  ferner 
auch  von  sehr  kleinen  Spermatozoideu  eine  Mehrzahl  zur  Befruchtung 
verwendet  wird,  so  muss  doch  jedes  derselben  die  Gesammtheit  der 
Anlagen  und  somit  auch  eine  vollständige  idioplasmatische  Anord- 
nung von  Micellen  enthalten. 

Früher  waren  unsere  \"orstellungen  ülicr  die  Grösse  der  Moleküle 
und  Micelle  bloss  durch  eine  obere  Grenze  bestimmt;  man  wusste 
aus  verschiedenen  That.sachcn,  dass  sie  ein  gewisses  Maass  nicht  er- 
reichten; unterhalb  dieses  Maasses  aber  war  der  Hypothese  jede 
Kleinheit  gestattet.  In  neuerer  Zeit  wurde  die  aljsolute  Grösse  der 
Moleküle  in  verschiedener  Weise  direct  bestimmt.  Namentlich 
verdanken  wir  der  mechanischen  Gastheorie  die  Berechmmg,  wie  viel 
Gasmoleküle  bei  bestinnnter  Temperatur  und  unter  bestimmtem  Druck 
in  einem  Gasvolumen  enthalten  sind. 

Aus  der  Zahl  der  Moleküle,  die  in  einem  bestimmten  Gas- 
volumen sich  befinden,  und  aus  dem  specifischen  Gewicht  dieses 
Gases  berechnet  sich  das  absolute  Gewicht  eines  Moleküls  und  daraus 
das  absolute  Gewicht  der  Moleküle  aller  anderen  bekannten  Ver- 
l)indungen.  Aus  dem  absoluten  Moleculargewicht  und  dem  specifischen 
Gewicht  eines  flüssigen  oder  festen  Körpers  berechnet  sich  ferner 
der  Raum,  den  ein  Molekül  sammt  seiner  Wirkungssphäre  in 
diesem  Körper  einnimmt,  oder  das  absolute  Molecularvolumen. 

Da  in  1 ""'  unter  dem  Drucke  einer  Atmosphäre  und  bei  0  Grad 
sich  21  Trillionen  Gasmoleküle  befinden,  so  wiegt  beispielsweise  ein 
Wassermolekül  den  trillionsten  Theil  von  U,04'"-,  und  es  nimmt 
dassell^e  im  tropfbar  flüssigen  Zustande  den  trillionsten  Theil  von 
0,04™""  (den  millionsten  Theil  von  0,00004"""')  ein.  Ferner  gehen 
auf  die  Länge  von  1 '""'  3  Millionen  und  auf  die  dem  Mikroskopiker 
wohll)ekannte  Länge  von  l""''i)  300ü  Wassermoleküle. 

Um  nun  die  Zahl  der  Micelle  zu  bestimmen,  die  auf  dem  Quer- 
schnitt eines  Idioplasmastranges  von  gegebener  Grösse  befindHch 
sind,  müssten  wir  das  A'^erhältniss  von  Substanz  und  Wasser,  die 
Zahl  der  Eiweissmoleküle,  die  zu  einem  Micell  zusannnentreten,  und 
die  Grösse  der  Eiweissmoleküle  kennen.  Was  den  letzteren  Punkt 
Ijetrifft,  so  ist  die  Chemie  trotz  aller  Anstrengungen,  die  sie  in  dieser 
Beziehung  gemacht  hat,  noch  zu  keinem  Resultat  gelangt.    Da  jedoch 


>)  mik  =  Mikn.niillimeter  ^  (),0()1 """. 


62  I-  Itlioplasma 

die  Lösung  der  chemischen  Eiweissfrage  für  die  Function  des  Lho- 
plasmas  von  entscheidender  Bedeutung  ist,  so  erlaul)e  ich  mir  be- 
züglich derselben  einige  Bemerkungen  vom  molecularpliysiologischen 
Standpunkt  aus. 

Die  Albuminate  konnnen,  wie  die  Stärke  und  Cellulose,  nur  im 
festen  Zustande  und  in  Micellarlösungen  vor.  Letztere  al)er  sind 
nur  scheinbare  Lösungen,  weil  die  in  der  Flüssigkeit  vertheilten 
Micelle  krystallinische  Zusammenhäufungen  von  Molekülen  sind. 
Die  Micelle  bestehen  ferner  möglicherweise  nicht  bloss  aus  den 
Molekülen  einer  und  derselben  Yerl)indung ;  es  dürften  wohl  mehrere 
^^er])indungen  in  ilnion  gemengt  und  auch  andere,  namentlich 
unorganische  Stoffe  gleichsam  als  Verunreinigungen  mit  in  das 
krj^stallinische  Micell  eingetreten  sein  oder  sich  an  seiner  Oberfläche 
fest  angelagert  haben.  Endlich  sind  die  Micelle  von  sehr  ungleicher 
Grösse.  Durch  diese  verschiedenen  Umstände  worden  die  mannig- 
faltigen physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften,  namentlich 
auch  die  verschiedenen  Zersetzungsproducte  bedingt.  Es  ist  un- 
möglich eine  chemisch  reine  Substanz  herzustellen,  weil  die  Albuminat- 
micelle  in  keinem  Medium  in  ihre  Moleküle  zerfallen. 

In  den  genannten  Beziehungen  verhalten  sich  die  Albuminate 
ähnlich  wie  die  Cellulose,  die  ebenfalls  in  einer  unendlichen  Zahl 
von  Abstufungen  vorkonnnt.  Das  Cellulosemolekül  ist  zwar  überall 
das  nämliche;  aber  es  bildet  Micelle  von  verschiedener  Form  und 
Grösse  und  mit  verschiedenen  organischen  und  unorganischen  An- 
lagerungen, daher  auch  Substanzen  mit  verschiedenem  Wassergehalt, 
von  verschiedener  Härte  und  Elasticität,  mit  verschiedener  Wider- 
standsfähigkeit gegen  chemische  Mittel,  welche  von  der  Löslichkeit 
in  Wasser  ])is  zur  Unlöslichkeit  in  Schwefelsäure  variirt  u.  s.  w. 

Währenddem  den  verschiedenen  Celluloseformen  das  nämliche 
Cellulosemolekül  zu  Grunde  zu  liegen  scheint,  möchte  ich  es  dagegen 
für  äusserst  w-ahrscheinlich  lialten ,  dass  es  verschiedene  Eiweiss- 
moleküle  gebe,  die  durch  den  ungleichen  Wasserstoff-  und  Sauerstoff- 
gehalt und  namentlich  dadurch  von  einander  abweichen,  dass  die 
einen  schwefelhaltig,  die  andern  schwefelfrei  sind.  Nicht  zwei  Ana- 
lysen von  Albuminaten  sind  gleich :  der  Stickstoligehalt  variirt  von 
IT)  bis  17  %,  der  Schwefelgehalt  von  0,1)  bis  1,7  %  und  zwar  in  allen 
möglichen  Abstufungen ;  überdem  finden  sich  wechselnde  Mengen 
von  Phosphor,  Magnesia  und  Kalk. 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  63 

Diese  Ergebnisse  der  chemischen  Anal^'se  erklären  sich  in  der 
einl'aclisten  nnd  befriedigendsten  Weise,  wenn  wir  annehmen,  dass 
die  Micelle  der  Albuminate  aus  einem  Gemenge  von  zwei  oder  mehreren 
verschiedenartigen  Eiweissmolekülen,  mit  mehr  oder  weniger  H  und  O, 
mit  oder  ohne  S,  bestehen.  In  jedem  Albuminat  wären  die  ver- 
schiedenartigen Eiweissmoleküle  in  eigenthümhchen  Verhältnissen 
gemengt;  in  jedem  wären  ferner  eigentliümhchc  Mengen  von  Phos- 
phaten, von  Magnesia-  und  Kalksalzen  und  vielleicht  auch  noch 
verschiedene  organische  ^^erbindungen  in  untergeordneten  Mengen 
enthalten. 

Unabhängig  von  der  olien  l)osprochenen  Frage  ist  die  betreffend 
die  Grösse  der  Eiweissmoleküle.  Die  jetzige  Chemie  gibt  denselben, 
um  die  verschiedenen  Zersetzimgsproducte  aus  der  chemischen  Formel 
herleiten  zu  können,  vermuthungsweise  eine  sehr  hohe  Zusammen- 
setzung. Die  Formel  soll  zum  mindesten  C72  H  10(i  N18  SO 22 
enthalten;  es  wird  selbst,  behufs  Polymerisation,  das  IVIehrfache  dieses 
Ausdruckes  angenommen.  Die  Frage  ist  von  hoher  Bedeutung  für 
die  Molecularphysiologie ,  welche  in  mehr  als  einer  Bczielumg  die 
möglichste  Kleinheit  des  Eiweissmoleküls  und  der  Albuminatmicelle 
verlangt. 

Für  die  Ernährungsphysiologie  im  Anschluss  an  die  Gärungs- 
pliysiologie  sind  kleine  Moleküle  und  Micelle  erwünscht,  weil  die 
katalytische  Wirkung  der  Albuminate,  auf  der  wesentlich  die  chemi- 
schen Lebenserscheinungen  beruhen,  von  den  Schwingungen  der 
Micelle,  Moleküle  und  ihrer  Theile  abhängt,  und  weil  diese  Schwin- 
gungen mit  zunehmender  Grösse  der  schwingenden  Systeme  langsamer 
und  somit  unwirksamer  werden. 

Für  die  Physiologie  des  Idioplasmas  ist  die  Kleinheit  der 
Micelle  und  somit  auch  der  Eiweissmoleküle  eine  nothwendige  Be- 
dingung, weil  eine  grosse  Mannigfaltigkeit  und  Com})licirtheit  der 
Anordnung  auf  einem  beschränkten  Raum  nur  durch  eine  grosse 
Zahl  der  Micelle  erreichbar  erscheint. 

Diesen  Anforderungen  der  Physiologie  würde  am  besten  durch 
die  Annahme  ein  Genüge  geleistet,  dass  die  hypothetische  Formel 
der  Chemiker  mit  72  oder  mehr  Atomen  Kohlenstoff  nicht  das 
Eiwcissmolekül,  sondern  ein  aus  mehreren  Molekülen  mit  je  24  oder 
12  Atomen  C  krj^stallinisch  gebautes  Micell  darstelle.  Es  könnten 
beispielsweise  die  verschiedenartigen  Moleküle  aus  12  C,  3  N  mit  oder 


64  I-  Idioplasma 

ohne  S  und  uns  ungleichen  Mengen  H  und  0  zusammengesetzt 
sein.  Die  verschiedenen  Zersetzungsproducte  würden  sich  durch 
Umlagerung  der  Atome  bilden ,  wie  dies  auch  beim  Zucker  und 
anderen  organischen  Verbindungen  der  Fall  ist.  —  Solche  Micelle 
mit  72  C  wären  die  kleinsten  in  den  plasmatischen  Substanzen  vor- 
kommenden. Andere  können  immerhin,  indem  zahlreichere  Atome 
sich  zusammenlagern,  jede  beträchtlichere  Grösse  besitzen.  In  dieser 
Beziehung  werden  sich  die  verschiedenen  Plasmasubstanzen  und  ihre 
verschiedenen  Zustände  sehr  ungleich  verhalten. 

Ebensowenig  wie  über  die  Grösse  der  Plasmamicelle  wissen 
wir  irgend  etwas  Bestimmtes  über  die  Menge  des  sie  trennenden 
Wassers.  Wir  kennen  zwar  annähernd  den  Wassergehalt  verschie- 
dener plasmatischer  Substanzen.  Aber  das  Wasser  in  denselben  wird 
aus  verschiedenen  Gründen  sehr  ungleichartig  vertheilt  sein,  besonders 
weil  die  Substanz  der  Micelle  eine  ungleiche  chemische  Zusammen- 
setzung und  deswegen  auch  eine  ungleich  grosse  Anziehung  zu 
Wasser  besitzt,  und  ferner  weil  die  Micelle  sehr  häufig  keine  regel- 
mässige Anordnung  haben. 

Das  thierische  Sperma  enthält  20  ",o  Trockensubstanz,  also  SO  "/o 
Wasser.  Die  Idioplasmastränge  sind  aber  möglicher  Weise  ziemlich 
weniger  wasserhaltig.  Die  regelmässige  Anordnung  ihrer  Micelle  und 
der  feste  Zusammenhang  derselben  spreclien  für  einen  möglichst 
hohen  Substanzgehalt,  den  wir  auch  schon  deswegen  anzunehmen 
geneigt  sind,  um  eine  grössere  Zahl  von  Micellen  für  die  Idioplasma- 
stränge zu  erhalten.  Die  geringste  zulässige  Wassermenge  des  imbibirten 
Zustandes  ist  aber  wohl  die,  dass  jedes  Micell  mit  einer  einfachen 
Schicht  von  Wassermolekülen  benetzt  ist,  so  dass  also  zwischen  je 
zwei  Micellen,  deren  Gestalt,  da  sie  in  Reihen  stehen,  prismatisch*) 
zu  denken  ist,  wenigstens  zwei  Schichten  von  Wassermolekülen  sich 
befinden.  Daneben  müssen  dann  aber  noch  weitere  Canälchen  das 
Idioplasma  durchziehen ,  welche  den  Eintritt  der  Nährstoffe  sowie 
auch  den  Austritt  von  Stoffen  möglicli  machen. 

Unter  den  gemachten  A^oraussetzunoon  können  wir  uns  nun 
eine  \'orstellung  von  den  al)S()luton  Dimensionen  in  der  Structur 
des  Idioplasmas   machen.     Ich    gehe   von   dem    materiellen   System; 


')  Die  Gründ(>,  warum  die  Micelle  polyedrisch  o(li>r  in-isniatisch  sein  müssen 
und  nicht  rundlich  oder  cylindrisch  sein  können,  lialic  ich  anderwärts  für  die 
Stärke  an<^egüben;  sie  gelten  auch  für  das  Idioplasma. 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  (35 

bestehend  ans  C  72  H  106  N  18  SO 22,  das  man  gewöhnlich  als  das 
Eiwoissniolekül  l)ezeichnet,  das  ich  nun  aber  vorläufig  als  das  kleinste 
Plasnianiicell  ]:)otrachten  will,  aus.  Das  absolute  Gewicht  desselben 
beträgt  den  trilHonsten  Theil  von  Sjöo"'".  Das  si^ecifische  Gewicht 
des  trockenen  Eiweisses  ist  1,344.  Daraus  folgt,  dass  1"'"  des- 
selben nahezu  400  Tiillionen,  l'"""  nahezu  400  Milhonen  Micelle 
enthält. 

Hieraus  dürfen  wir  aber  nicht  ohne  weiteres  das  Volumen  des 
Micells  berechnen.  In  dem  trockenen  Ei  weiss  als  einer  organisirten 
Substanz  müssen  sich  nämlich,  wenn  auch  noch  so  kleine,  leere 
Zwischenräume  zwischen  den  Micellen  befinden.  Das  krystallisirte 
Eiweiss  würde  daher  ein  grösseres  specifisches  Gewicht  als  1,344 
haben.  Wir  dürfen  dasselbe  wohl  auf  1,7  anschlagen.  Aus  diesem 
amendirton  specifischen  Gewicht  l)erechnet  sich  das  '\''olumen  des 
Micells  mit  72  C  zu  2,1  Trilliontel  von  1™"'  oder  zu  0,0000000021 '""^ 

Bezüglich  der  Grösse  der  strangförmigen  Idioplasmakörper,  die 
uns  unbekannt  ist,  lässt  sich  bloss  eine  obere  Grenze  feststellen. 
Dieselben  müssen  jedenfalls  so  klein  sein,  dass  sie  mit  unseren 
mikroskopischen  Vergrösserungen  nicht  gesehen  werden  können, 
wenn  nicht  etwa  die  Fäden,  die  sich  in  Zellkernen  durch  Färbemittel 
sichtbar  machen  lassen,  als  Idioplasmastränge  in  Anspruch  zu  nelniien 
sind.  Uebrigens  ist  zu  bemerken,  dass  die  IdioplasmakörjuT  wohl 
inuner  von  Ernährungsplasma  eingehüllt  und,  sofern  sie  durch  Zell- 
membranen hindurchgehen,  von  Cellulose  umgeben  sind,  und  dass 
sie  sich, somit  bei  einer  Grösse,  bei  der  sie  in  Wasser  schon  gesehen 
würden ,  immerhin  noch  der  Beobachtung  entziehen.  Aus  diesen 
Gründen  kann  ein  Querschnitt  von  0,1'"'"''  (Dm=  0,32""'-)  noch  als 
zulässig  erachtet  werden,  stellt  aber  jedenfalls  ein  nicht  überschix^it- 
bares  Maximum  dar.  Auf  diesem  Querschnittsareal  hat  die  grösste 
Menge  von  prismatischen  Micellen  Platz,  wenn  dieselben  überall 
bloss  durch  zwei  Schichten  von  Wassermolekülen  getrennt  sind. 

Unter  den  beiden  genannten  \'oraussetzungen  ist  die  folgende 
Tabelle  berechnet.  Die  erste  Verticalcokmme  gibt  die  Grösse  der 
Micelle  durch  die  Zahl  der  in  ihnen  enthaltenen  Kohlenstoffatome 
an,  die  zweite  die  Menge  solcher  Micelle  auf  einem  Areal  von 
0,1  ''""''  in  runden  Zahlen,  die  diitte  die  iirocentische  Wassermenge, 
.welche  das  Idio})lasma  unter  der  Voraussetzung  enthält,  dass  die 
Micelle  nicht  länger  als  breit  sind,  ebenfalls  in  runden  Zahlen. 

V.  Nägel i,  Abstammungslehre.  5 


66 


Grösse  der  Micelle 

72  C 

2-72C 

3.72C 

5.72C 

10-72C 

20-72C 

50 -72  0 

100 -720 

Die  Mengen  der  Micelle  auf  der  Qiierschnittsfläche  eines  Idio- 
plasmakörpers,  welche  in  der  zweiten  Columne  enthalten  sind,  stellen, 
da  in  jeder  Beziehung  die  günstigsten  Bedingungen  angenommen 
wurden,  für  die  angegebenen  Micellgrössen  Maxima  dar,  welche  wohl 
nie  erreicht  werden.  Zur  A^ergleichung  will  ich  noch  einige  Zahlen 
beifügen ,  die  für  den  Fall ,  dass  die  prismatischen  Micelle  durch 
die  doppelte  Wassermenge  (durch  je  4  Wassermolekülschichten)  ge- 
trennt sind,  berechnet  wairden. 

Wassergehalt 


I.  Idioplasma 

Menge  der  Micelle 
auf  0,11""" 

Wassergehalt 
des  Idiojilasmas 

25000 

74 

18700 

66 

15200 

62 

12100 

57 

8300 

49 

5700 

42 

3400 

34 

2300 

28 

jsse  der  Micelle 

Menge  der  Micelle 

flpQ    T/lini»l 

auf  (),l'i'"ik 

72C 

13700 

89 

2-72C 

1 1000 

85 

5 -72  0 

7800 

78 

20 -72  0 

4100 

64 

100-72C 

1800 

47 

Aus  den  beiden  Tabellen  ergibt  sich,  dass  zwar  nicht,  wie  man 
häufig  für  moleculare  Verhältnisse  sich  irrthümlich  vorstellt,  eine 
unendliche  Menge  von  materiellen  Theilchen  zur  Verfügung  stehen, 
sondern  dass  gerade  für  die  Substanz,  in  welcher  alle  Eigenschaften 
eines  Individuums  auf  seine  Kinder  vererbt  werden ,  die  Anzahl 
jener  Theilchen  ziemlich  enge  Grenzen  hat.  Doch  möchte  ich 
glauben,  dass  die  Menge  der  Micelle,  namentlich  wenn  dieselben 
kleiner  (zu  72  0  oder  zu  2-72  0)  angenommen  werden  dürfen,  für 
die  Function,    die  sie  zu  erfüllen  haben,  ausreicht,    auch  wenn  die 


als  Träger  der  crblichoii  Anlagen.  67 

strangförmigen  Idioplasinakörper  einen  kleineren  Quersclniitt  als 
0,1""""  besitzen  sollten^). 

Sie  reicht  ans  unter  den  früher  festgestellten  Bedingungen, 
dass  nicht  die  zusammengesetzten  Erscheinungen ,  wie  wir  sie  an 
den  Organismen  wahrnehmen,  sondern  die  einfachen  Elemente,  aus 
denen  sie  sich  zusammensetzen,  als  Anlagen  im  Idioplasma  ent- 
halten sind.  Während  im  ersteren  Falle  das  Idioplasma  allerdings 
aus  fast  unendlich  vielen  Theilen  bestehen  müsste,  genügt  im  letz- 
teren Falle  eine  begrenzte  Zahl,  in  gleicher  Weise  wie  die  Sprache 
aus  einer  begrenzten  Menge  von  Wörtern,  die  Musik  aus  einer  be- 
grenzten Menge  von  Tönen  zusammengesetzt  ist. 

Die  unendliche  Mannigfaltigkeit  in  den  Eigenschaften  der  Or- 
ganismen kann  im  Anlagezustand  um  so  leichter  von  einer  begrenzten 
Zahl  von  Micellen  dargestellt  werden,  als  diese  Micelle,  wenn  sie 
so  gebaut  sind,  wie  ich  es  angedeutet  habe,  auch  bei  geringer  Grösse 
einer  grossen  Mannigfaltigkeit  in  Gestalt  und  chemischer  Beschaffen- 
heit fähig  sind.  Da  aber  die  Micelle  oder  die  Micellreihen  der 
Idioplasmakörper  für  sich  allein  noch  keine  Anlagen  sind,  sondern 
nur  durch  ihre  Zusammenordnung  zu  Gruppen,  die  durch  ihre  Con- 
figuration  auf  dem  Querschnitt  der  Körper  sich  charakterisiren ,  zu 
Anlagen  werden,  so  ist  für  das  Idioplasma  eines  reich  differenzirten 
Organismus  immerhin  eine  erheljliche  Anzahl  von  Micellen  noth- 
wendig ;  —  und  damit  konnne  ich  auf  die  Constitution  des  Eiweiss- 
moleküls  zurück. 

Würde  dasselbe  entsprechend  der  Neigung  der  heutigen  Chemie 
in  Folge  von  Polymerisation  3  •  72  C  enthalten ,  so  kämen  auf  das 
grösste  Querschnittsareal  der  Idioplasmakörper  von  0,1'^'""'  und  mit 
der  kleinsten  Wassermenge  (2  Molekülschichten  zwischen  den  Mi- 
cellen) bloss  etwa  6000  Micelle  (zu  6  Molekülen)  und  auf  den  Dui'ch- 
messer  kaum  Hö  Micelle  (gegen  25000  Micelle  auf  dem  Querschnitt 
und  160  auf  dem  Durchmesser,  wenn  das  Eiweissmolekül  bloss 
12  C  enthält).  Unter  ungünstigeren  Voraussetzungen  (geringere 
Grösse  und  grösserer  Wassergehalt  der  Idioplasmakörper)  würden 
diese  Zahlen  in  entsprechenden  Vorhältnissen  kleiner.  Die  eben  an- 
gegebenen numerischen  Werthe  motiviren  ausreichend  das  Bedürfniss 


■)  Bei  einem  Quersclinittssiireal  von  0,054""''  (Dm  =  0,'2o""^)  würden  die  Zahlen 
der  zweiten  Columne  anf  die  Hiilfte  redncirt. 

5* 


68  I-  Mioplasma 

der  Physiologie,   das  IdioplasmamiccU  und  damit  auch  das  Eiweiss- 
molekül  möglichst  klein  anzunehmen. 

Ich  habe  es  oben  wahrscheinlich  zu  machen  gesucht,  dass  das 
Idioplasma  entweder  durch  die  ganze  Pflanze  wandert  oder  durch 
die  ganze  Pflanze  in  unmittelbarer  Berührung  sich  befindet,  und 
dass'  zu  diesem  Behuf e  alle  Zellmembranen  siebartig  durchbrochen 
sein  müssen.  Es  fragt  sich  noch,  wie  sich  diese  Annahme  zu  den 
eben  besprochenen  absoluten  Maassen  des  Idioplasmas  verhält.  Wenn 
die  Idioplasmakörper  den  grössten  Querschnitt  von  0,1''"*''  erreichen, 
so  müssen  die  Oeffnungen  in  den  Zellmembranen  wohl  0,4™"'  Weite 
haben.  Betr.ägt  der  Querschnitt  jener  Körper  bloss  0,05''""'',  so  genügt 
eine  Weite  der  Oeffnungen  von  nahezu  0,3'""'.  In  dieser  Grösse 
bleiben  sie  unsichtbar,  so  lange  sie  mit  Plasma  erfüllt  sind.  Kommen, 
wie  ich  glaube,  die  Siebporen  wirklich  allgemein  im  Pflanzenreiche 
vor,  so  begreifen  wir,  dass  dieselben  in  der  Regel  bloss  in  der 
nächsten  Umgebung  der  Siebröhren ,  wo  sie  etwas  grösser  werden, 
zu  sehen  sind.  —  Was  dagegen  die  Diosmose  der  Eiweissmicelle 
betrifft,  so  müssen  die  für  sie  bestimmten  Canälchen  in  der  Zell- 
membran kaum  einen  Durchmesser  von  0,01 '""'  besitzen,  um  Micelle, 
die  sell)st  l)is  zu  300  •  72  C  enthalten,  frei  passiren  zu  lassen. 


In  diesem  Abschnitte  habe  ich  versucht,  eine  Hypothese  über 
die  materielle  Natur  der  erblichen  Anlagen  aufzustellen,  welche  nach 
den  jetzt  l)ekannten  molecularphysiologischen  Thatsachen  in  jeder 
Beziehung  als  möglich  erscheint  und,  wie  ich  hoffe,  als  erster  Schritt 
zur  Lösung  des  Räthsels  führen  kann.  Die  heutige  wissenschaft- 
liche Einsicht  verlangt  die  unbedingte  Annahme,  dass  die  erblichen 
Anlagen  in  der  physikalischen  und  chemischen  Beschaffenheit  der 
Albuminate  begründet  sein  müssen ,  also  in  der  Zusammensetzung 
des  einzelnen  Micells  aus  den  Molekülen  und  in  der  Zusammen- 
ordnung der  gesammten  Micelle  zum  Idioplasma.  Wenn  aber  auch 
über  die  Theorie  im  allgemeinen  kein  Zweifel  bestehen  kann ,  so 
ist  rück  sichtlich  der  bestimmten  Anordnung  und  rücksichtlich  der 
Frage,  wie  das  Idioplasma  seine  Anlagen  zur  Entfaltung  bringe, 
den  Hypothesen  noch  ein  weites  Feld  geöffnet.  Ich  lege  daher  auch 
dem  \^ ersuche,  den  ich  gemacht  habe,  die  unbestreitbar  vorhandenen 
allgemeinen  Eigenschaften  des  Idioplasmas  in  eine  concrete  Form 
zu  bringen,  keinen  a])soluten  Werth  ])ei.    Die  Vermuthunji  betreffend 


als  Träger  der  erl •liehen  Anlagen.  60 

seine  Strangnatur,  für  welche  bloss  eine  grosse  Wahrselieinliclikeit 
besteht,  könnte  ungegründet  sein;  deswegen  ist  doc-h  die  Existenz 
des  Idioplasmas  mit  seiner  Beschaffenheit  im  allgemeinen  durch 
die  Thatsachen  sicher  gestellt. 

Ich  habe  die  Theorie  eingehender  entwickelt  und  ihre  Ausführ- 
barkeit nachgewiesen,  weil  in  neuerer  Zeit  zwei  Versuche  gemacht 
wurden,  sich  die  erblichen  Anlagen  materiell  vorstellbar  zu  machen, 
—  Versuche,  die  allerdings  nicht  den  Namen  von  Theorien  ver- 
dienen, da  sie  nicht  von  physiologischen  Thatsachen,  sondern  von 
willkürlichen  und  unmöglichen  Meinungen  ausgehen.  Sie  Averden 
auch  von  ihren  Urhebern  selbst  bloss  als  »provisorische  Hypothesen«, 
also  gleichsam  als  hypothetisch  in  der  zweiten  Potenz  bezeichnet. 
Es  sind  die  Pangenesis  von  Darwin  und  die  Plastidulperigenesis 
von  Häckel. 

Darwin  nimmt  an,  dass  alle  Zellen  oder  auch  Theile  von  Zellen 
während  des  erwachsenen  Zustandes  und  ebenso  alle  Zellen  während 
aller  Entwicklungszustände  des  Organismus  »kleine  Körnchen  oder 
Atome  abgeben,  welche  durch  den  ganzen  Körper  frei  circuliren, 
und  w^elche,  wenn  sie  mit  gehöriger  Nahrung  versorgt  werden,  durch 
Theilung  sich  vervielfältigen  und  später  zu  Zellen  entwickelt  werden 
können,  gleich  denen,  von  welchen  sie  berühren«.  Diese  Keimchen 
oder  Zellenkeimchen  werden  von  den  Eltern  den  Nachkommen  über- 
liefert und  entwickeln  sich  meist  in  der  unmittelbar  folgenden  Ge- 
neration, können  aber  auch  durch  viele  Generationen  hindurch  im 
schlunuiiernden  Zustande  verharren.  Ihre  Entwicklung  hängt  ab 
von  der  Vereinigung  mit  anderen  theihveise  entwickelten  Zellen 
oder  Keimchen,  welche  ihnen  in  dem  regelmässigen  Verlauf  des 
Wachstliums  vorausgehen.  Die  Keimchen  haben  in  ihrem  schlum- 
mernden Zustande  eine  gegenseitige  Verwandtschaft  zu  einander 
und  vereinigen  sich  zu  Knospen  oder  Sexualorganen. 

Dass  diese  mit  den  Worten  ihres  Autors  wiedergegebene  Hypo- 
these alle  Erscheinungen  der  ^^ererbung  vollständig  erklärt,  ist 
sofort  einleuchtend,  auch  ohne  die  von  demselben  angeführten  ver- 
schiedenartigen Beispiele.  Da  jeder  auch  noch  so  geringfügige 
und  winzige  Theil  des  Organismus,  der  eine  besondere  Qualität  oder 
Quantität  darstellt,  seine  Keimchen  aussendet,  die  sieh  vermehren, 
überallhin  verbreiten,  während  unbegrenzter  Zeit  im  latenten  Zu- 
stande verharren  und  unter  günstigen  Umständen   den  Theil,    von 


70  I-  Idioplasma 

dem  si(3  ursprünglich  herstainnien,  wieder  hervorbringen,  so  ist  der 
den  thatsächUchen  Verhältnissen  entsprechende  Erfolg  gesichert, 
wenn  die  Keimchen  am  richtigen  Ort,  in  der  richtigen  Weise  und 
zur  richtigen  Zeit  sich  vereinigen  und  entwickeln. 

Die  Hypothese  erweist  sich  also,  wde  dies  übrigens  bei  dem  so 
praktischen  und  gesunden  Sinne  ihres  Urhebers  nicht  anders  mög- 
lich ist,  mit  Rücksicht  auf  ihre  Leistungsfähigkeit  als  untadelhaft,  — 
und  es  ist  bloss  die  Frage,  ob  die  Eigenschaften,  die  den  Keimchen 
zugeschrieben  werden,  von  Seite  der  Physiologie  als  möglich  zuge- 
standen werden.  Darwin  selbst  geht  auf  diesen  Punkt  nicht  ein, 
indem  er  sich  bloss  an  allgemeine  Analogien  hält  und  sogar  gele- 
gentlich gewisser  Thatsachen  die  Aeusserung  thut,  er  wisse  nicht,  wie 
die  Physiologen  dieselben  betrachten,  nach  der  Pangenesis  aber  sei 
die  Erklärung  einfach  und  glatt. 

Die  Beurtheilung  der  Hypothese  kann  einmal  die  theoretische 
Zulässigkeit  und  dann  die  praktische  Ausführl^arkeit  derselben  j)rüfen, 
und  in  jeder  Beziehung  wieder  verschiedene  Punkte  betrachten.  Ich 
will  nur  je  einen  Punkt  besprechen  und  zwar  zunächst  die  Aus- 
führbarkeit in  molecularj^hysiologischer  Beziehung. 

Was  die  Beschaffenheit  der  Pangenesiskcimchen  betrifft,  welche 
»Körnchen  oder  Atome«  genannt  und  nicht  weiter  charakterisirt 
werden,  so  können  dieselben  weder  chemische  Atome  noch  Moleküle 
sein,  da  Kohlenstoffatome  und  Eiweismoleküle  selbstverständlich  die 
gleichen  Eigenschaften  haben,  ob  sie  von  dieser  oder  jener  Zelle 
herstammen.  Es  können  auch  nicht  einzelne  Micelle  (kr3^stallinische 
Molekülgruppen)  sein,  denn,  wenn  diese  auch  als  Gemenge  von 
verschiedenen  Albuminatmodificationen  ungleiche  Eigenschaften  be- 
sässen,  so  würde  ihnen  doch  die  Fähigkeit,  sich  zu  vermehren  und 
neue  gleiche  Micelle  zu  bilden,  mangeln.  AVir  finden  alle  Bedin- 
gungen für  die  Beschaffenheit  der  Keimchen  bloss  in  unlöslichen 
und  festverbundenen  Gruppen  von  All)Uininatmicellon;  nur  diese 
können  vermöge  ihrer  ungleichen  Anordnung  alle  erforderlichen 
Eigenschaften  annehmen  und  vermittelst  Einlagerung  von  Micellen 
in  beliebigem  Maasse  wachsen  und  durch  Zerfallen  sich  ver- 
melnvn.  Die  Pangenesiskcimchen  müssten  also  kleine  Mengen  von 
Idioplasma  sein. 

Nacli  der  Pangenesis-Hypothese  sollen  von  allen  Zellen  eines 
Organismus  Keimchen  aljgegeben  werden ;  dieselben  sollen  sich  ver- 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  71 

vielfältigen,  überall  vorhanden  sein  und  bei  der  Fortpflanzunii,-  mit  der 
Keimanlage  sich  verbinden.  Diese  Annahme  ist  nothwendig;  es 
kann  nicht  etwa  eine  Gattung  von  Zellen  durch  eine  einzige  Art 
von  Keimchen,  sondern  jede  einzelne  Zelle  muss  durch  ihre  eigen- 
artigen Kemichen  vertreten  sein,  und  zwar  aus  zwei  Gründen,  ein- 
mal weil  jede  Zelle  besondere  Eigenschaften  enthalten  kann  und 
nach  Zeit  und  Ort  wirklich  etwas  Besonderes  ist,  ferner  weil  nur 
auf  diesem  Wege  die  gesetzmässige  Folge  der  Zellen  gesichert  ist, 
denn  »die  Entwicklung  der  Keimchen  hängt  ab  von  der  Vereinigung 
mit  anderen  theilweise  entwickelten  Zellen  oder  Keimchen,  welche 
ihnen  in  dem  regelmässigen  Verlauf  des  Wachsthums  vorausgehen«. 
Jedes  Keimchen  ist  also  gleichsam  orientirt  und  es  vermag  seine 
richtige  Rolle  in  der  individuellen  Entwicklungsgeschichte  eben  da- 
durch zu  spielen ,  dass  es  dann  lebendig  wird ,  wenn  es  nacli  der 
ihm  innewohnenden  Orientirung  an  die  Reihe  kommt. 

Dieser  Umstand  erlaubt  uns,  einen  Schluss  auf  das  numerische 
Minimum  der  Keimchen  in  der  Keimzelle  eines  bestimmten  Orga- 
nismus zu  machen.  Ich  habe  früher  einmal  die  Zahl  der  Zellen 
eines  grossen  Lindenbaums  berechnet  und  2000  Billionen  erhalten '). 
Da  im  Pflanzenreiche  das  Wachsthum  durch  Zelltheilung  geschieht 
und  mit  einer  Zelle  beginnt,  so  beträgt  die  Zahl  der  verschwundenen 
Zellen  früherer  Stadien  genau  die  Zahl  der  jeweilen  vorhandenen 
Zellen  weniger  1.  Der  fragliche  Lindenl)aum  musste  also,  wenn  jede 
Zelle  nur  einerlei  Keimchen  erzeugte,  4000  Billionen  verschiedener 
Keimchen  enthalten  und  bei  der  Fortpflanzung  mussten  eben  so 
viele  sich  in  dem  Keim  vereinigen,  ausser  den  noch  viel  zahlreicheren 
Keimchen,  welche  von  früheren  Individuen  und  von  früheren  Varie- 
täten herstammten.  Vernachlässigen  wir  diese  letzteren  und  halten 
wir  uns  an  die  Zahl  von  4000  Billionen  als  ein  Minimum. 

Nun  ist  es  sicher,  dass  in  dem  Befruchtungsstoff,  welchen  die 
Linde  bei  der  Fortpflanzung  verwendet  und  in  welchem  alle  Anlagen 
enthalten  sind,  nur  eine  sehr  beschränkte  Zahl  von  Idioplasma- 
portionen  (wie  sie  die  Physiologie  als  Keimchen  verlangen  würde) 
und  zwar  kaum  der  billionste  Tlieil  jener  Zahl  Platz  findet,  —  dass 
von  den  unzulässigen  Micellen,  selbst  wenn  man  ihnen  die  denkbar 
kleinste  Grösse  gibt,  kaum  der  hundert  millionste  Theil  Raum  hätte. 


^)  Die  IndividualiUit  in  der  IS'atur.  185G. 


72  I-  I'lioplafsma 

Allgenommen  nämlich,  die  Keimclien  enthielten  bloss  72  C,  wären 
also  die  Eivveismoleküle  der  Chemiker  oder  nach  meiner  Ansicht  die 
kleinsten  Micelle  und  besässen  somit  die  kleinste  denkbare,  aber  für 
Uebertragung  von  Anlagen  vollständig  untangliche  Form,  so  müsste 
für  das  Minimum  von  4000  Billionen  Keimchen  das  befruchtende 
Ende  des  Pollenschlauches  hundertmillionenmal  mehr  Substanz  ent- 
halten, als  es  in  Wirklichkeit  der  Fall  ist. 

In  diesem  Beispiel  habe  ich  eine  viel  zu  geringe  Zahl  von 
Keimchen  in  Rechnung  gebracht.  Wird  ihre  Menge  so  hoch  ange- 
nommen als  es  die  Darwin'sche  Theorie  wirklich  verlangt,  so  ergibt 
sicli  auch  für  kleinere  Phanerogamen,  dass  ihre  einzelligen  Keime 
milhonenmal  grösser  sein  müssten,  um  alle  Keimclien  bloss  in  der 
Form  von  Eiweissmolekülen  oder  kleinsten  Micellen  aufzunehmen. 
Hierdurch  ist  die  Unmöglichkeit  der  Pangenesishypothese  mit  Rück- 
sicht auf  die  numerischen  und  (juantitativen  Verhältnisse  dargethan. 
Sie  wäre  nur  ausführ1»ar,  wenn  man  den  Keimchen  nicht  physische, 
sondern  metaphysische  Beschaffenheit,  Gewichtslosigkeit  und  Aus- 
dehnuiigslosigkeit  zuschreiben  und  damit  die  Frage  auf  ein  für  den 
Naturforscher  undiscutirljares  Geljiet  hinüljerschiel)en  wollte.. 

Was  die  theoretische  Zulässigkeit  der  Pangenesishypothese  be- 
trifft, so  gründet  sich  dieselbe  auf  die  Annahme,  dass  die  Zellen 
die  Einheiten  der  organischen  Natur  seien.  Diese  Annahme  von 
Schieiden  und  Schwann,  die  noch  von  manchen  Morphologen 
festgehalten  wird,  ist  aljer  nicht  nur  im  Princip  unrichtig,  sondern 
auch  namentlich  für  die  Physiologie  unbrauchbar.  Die  Zelle  ist  für 
den  morphologischen  Aufl)au  eine  sehr  wichtige  Einheit,  aber  nicht 
etwa  allgemein  die  Einheit  schlechthin. 

Unter  Einheit  müssen  wir,  physikalisch  aufgefasst,  ein  System 
von  materiellen  Theilen  verstehen.  Es  gibt  demnach  in  der  orga- 
nischen Welt  eine  grosse  Zahl  von  über-  und  untergeordneten 
Einheiten'):  die  Pflanzen-  und  Thierindividuen,  —  die  Organe,  — 
Gewebstheile,  —  Zellgruj^pen  (im  Pflanzenreiche  z.  B.  die  Gefässe 
und  Siebröhren),  —  die  Zellen,  —  Theile  von  Zellen  (Pflanzenzell- 
meinbran,  Plasmakörper,  Plasmakrystalloide,  Stärkekörner,  Fettkügel- 


')  Ich  ha])c  diese  ]jei  iillseiti,u;er  Wünligniifj;  der  Tliatsacheu  fast  selhst- 
vcrstaiidliclie,  aber  immer  noch  niclit  zu  richtij!:er  und  allgemeinerer  Anerkennung 
gelangte  Anschauung  sclion  1853  (Systematische  Uebersicht  der  Erscheinungen  im 
Pflanzenreich)  und  besonders  1856  (Die  Individualität  in  der  Natur)  ausgesprochen. 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  73 

clieii  u.  s.  w.),  —  die  Micelle,  —  die  Moleküle,  —  die  Atoine.  ßald 
tritt  die  eine,  bald  die  andere  Einheit  in  morphologischer  und  })hy- 
siologisclier  Beziehung  charakteristischer  und  ausgeprägter  hervor. 
Somit  ist  kein  Grund,  warum  bei  einer  allgemeinen  Theorie  eine 
besondere  Stufe  der  Gestaltung  begünstigt  sein  sollte. 

Darwin  verbindet  aber  mit  dem  Begriff  der  Einheit  offenlmr 
iioeli  den  Nebenbegriff  der  inneren  Gleichartigkeit,  und  er  scheint 
dafür  zu  halten,  dass  die  Zellen  als  innerlich  homogen  in  der  Regel 
durch  eine  einzige  Art  von  Keimchen  hervorgebracht  werden  können. 
Denn  er  sagt,  wenn  ein  Protozoon  aus  einer  homogenen  Masse  ge- 
l)ildet  sei,  so  werde  ein  von  irgend  einer  Partie  desselben  abgelöstes 
Keimchen  das  Ganze  reproduciren.  Wenn  aber  die  obere  und  untere 
Fläche  in  ihrer  Textur  von  den  centralen  Tlieilen  abweichen,  so 
müssen  alle  drei  Theile  Keimchen  abgeben,  welche  vereinigt  wieder 
das  Ganze  liervorl)ringen. 

Nach  der  Meinung  Darwin's  muss  also  jeder  materiell  ver- 
scliiedene  Theil  einer  Zelle  seine  besondern  Keimchen  erzeugen, 
um  dereinst  wieder  in  seiner  Eigenartigkeit  sich  verwirklichen  zu 
können.  Nun  gil>t  es  nicht  nur  viele  Pflanzenzellen,  die  aus  einer 
grossen  Menge  schon  durch  das  Mikroskop  nachzuweisender  ver- 
scliiedener  Theile  bestehen ;  sondern  es  lässt  sich  darthun,  dass  nicht 
zwei  der  kleinsten  Plasmapartien,  selbst  nicht  zwei  Micelle  einander 
ganz  gleich  sein  können,  und  dass,  um  eine  neue  gleiche  Zelle  zu  er- 
zeugen, wenigstens  jedes  Micell  durcli  seine  Keimchen  vertreten  sein 
müsste.  So  wird  die  Pangenesishypothese,  welche  nach  allgemeinen 
morphologischen  Vorstellungen  ausgedacht  und  nicht  physiologisch 
erwogen  wurde,  ad  absurdum  geführt,  —  ein  Resultat,  das  allerdings 
der  Nichtphysiologe  unmöglich  voraussehen  konnte. 

Wir  bedürfen,  um  die  Erl>lichkeit  zu  begreifen,  nicht  für  jede 
durch  Raum,  Zeit  und  Beschaffenheit  bedingte  Verschiedenheit  ein 
selliständiges  besonderes  Symbol,  sondern  eine  Sul)stanz ,  welche 
durch  die  Zusannnenfügung  ihrer  in  beschränkter  Zahl  vorlumdencn 
Elemente  jede  mögliche  Combination  von  Verschiedeidieiten  dar- 
stellen und  durch  Pernuitation  in  eine  andere  Comljination  derselben 
übergehen  kann. 

Darwin  hat  viel  Mühe  und  Scharfsinn  (hmiuf  verwendet  zu 
zeigen,  dass  seine  Hypothese  die  mannigfaltigen  Tiuitsachen  der  Ver- 
erl)ung  zu  erklären  vermag,    oder  wenigstens  nicht   in  Widerspruch 


74  I-  Idioplasma 

mit  denselben  gerätli.  Dies  ist  ihm  nun  auch  vollkommen  ge- 
lungen^); deswegen  wird  aber  die  Hypothese  um  nichts  sicherer. 
Denn  es  steht  zum  voraus  fest,  dass,  wenn  eine  Theorie  das  Allge- 
meine erklärt,  sie  auch  alle  Einzelheiten  zu  erklären  vermag,  die 
jener  Allgemeinheit  untergeordnet  sind. 


Der  Pangenesis  wurde  von  H  ä  c  k  e  1  die  P 1  a  s  t  i  d  u  1  p  e  r  i  - 
genesis  entgegengestellt.  Ich  kann  die  letztere  nicht  unerwähnt 
lassen,  da  sie  sich  als  >ein  Versuch  zur  mechanischen  Erklärung 
der  elementaren  Entwickelungsvorgänge«  eingeführt  hat  und  somit 
als  in  naher  Beziehung  zu  dem  Motiv  dieser  Abhandlung  erscheint. 
Der  Gedankengang  mit  den  eigenen  Worten  des  Autors  ist  folgender : 

»Der  ganze  Weltprocess  ist  bedingt  durch  Gesetze  der  Mechanik. 
Um  in  die  Mechanik  des  l)iogenetischen  Processes  einzudringen,  muss 
die  l)ewirkende  Ursache  in  der  Bewegung  der  »Plastidule«^)  (Plas- 
mamoleküle) gesucht  werden.  Vom  höchsten  Gesichtspunkte  aus 
l)etrachtet,  verläuft  der  Ijiogenetische  Process  als  eine  periodische 
Bewegung,  deren  anschaulichstes  Analogon  das  Bild  einer  verwickelten 
Wellenl)ewegung  ist.  Die  i)hylogenetische  Ahnenreihe  gleicht  einer 
Wellenlinie,  in  welclier  das  individuelle  Leben  jeder  einzelnen  Person 
einer  Welle  entspricht,  und  der  ganze  Stammbaum  erhält  das  Bild 
einer  verzweigten  Wellenljewegung.  In  gleicher  Weise  ist  die  Ontogenie 
eine  verzweigte  Wellenbewegung,  in  welcher  die  »Piastiden«  (Zellen) 
den  einzelnen  Wellen  entsprechen,  und  da  die  »Plastide«  das  Product 
aus  den  activen  Bewegungen  ihrer  constituirenden  »Plastidule«  ist, 
so  nmss  auch  die  unsichtbare  Plastidull^ewegung  eine  verzweigte 
Wellenbewegung  sein.  Diese  wahre  und  letzte  causa  efficiens  des 
l)iogenetischen  Processes  nennen  wir  Perigenesis  der  Plastidule 
oder  die  periodische  Wellenbewegung  der  Lebenstheilchen.« 

Diese  ganze  sc]ieinl)are  Analyse  der  Lel)enserscheinungen  Ijeruht 
darauf,  dass  die  verschiedenen  Stufen  derselben  in  das  nämliche 
Bild   gebracht    werden,    welches    in   der   Form    einige   mechanische 

')  AVenn  Hacke  1  l)eliaui)tet,  dass  die  Pangenesis -Hypothese  mit  den  Er- 
fahrungen über  Differenzirung,  Arbeitstheikmg,  Generationenfolge  unvereinbar  sei, 
so  scheint  dem  deutschen  Natnrphilosophen  der  rotlie  Faden  in  den  nüchternen 
Auseinandersetzungen  des  })raktischen  Engländers  entgangen  zu  sein. 

■■^)  »riastidnle  (riassonmoleküle)  =  Plasniodule  (Protoplasmamoleküle)  -f  Cocco- 
dule  (Coccoplasnuunoleküle). « 


als  Träger  der  erblichen  AnUtgen.  75 

Anklänge  hat,  dessen  Berechtigung  aljer  mehr  als  l'raghch  ist. 
Wenn  die  individuelle  Erscheinung  (Art,  Individuum,  Zelle,  Molekül) 
einer  Welle  verglichen  ^vird,  so  ist  dieses  einigende  Band  die  Welle 
der  Poeten,  nicht  die  der  Physiker.  Die  Individuen  einer  Ahnen- 
reihe beisj)eilsweise  sind  nach  Zeit  und  Stoff  scharf  von  einander 
geschieden;  jedes  besteht  bis  auf  einen  meistens  minimalen  Theil 
aus  anderer  Materie.  Die  nach  einander  durch  ein  Medium  ver- 
laufenden Wellen  der  Physiker  dagegen  werden  durch  die  nämliche 
Materie  Ijewirkt  und  ents})rechen  bloss  verschiedenen  Schwingungs- 
zuständen  der  gleichen  und  nicht  von  der  Stelle  rückenden  materiellen 
Theilchen.  Eine  Analogie  zwischen  den  beiden  Erscheinungen, 
welche  über  den  äusseren  Anschein  hinausginge  und  für  mehr  als 
eine  dichterische  Vergleichung  bemitzbar  wäre,  besteht  in  keiner 
Weise.  Wenn  ferner  deswegen,  weil  die  Ahneiu'eihe  sich  verzweigt, 
auch  von  einer  verzweigten  Wellenbewegung  gesproclien  wird,  so 
entfernt  sich  das  Gleichniss  der  Perigenesis-Hypothese  vollends  von 
dem  physikalischen  Boden,  indem  die  Physik  wohl  von  einer 
Kreuzung  der  Wellen,  aber  nichts  von  einer  Verzweigung  derselben 
im  Sinne  jener  Hypothese  weiss. 

Die  verzweigte  Wellenbewegung  der  »Plastidule«  (Moleküle)  wird 
bloss  durch  einen  Schluss  vom  Ganzen  auf  den  Theil  vermutliet. 
Weil  die  Entwickelung  der  »Plastide«  (Zelle)  das  Product  aus  den 
Plastidulbewegungen  ist,  so  sollen  diese  nach  der  Meinung  des  Autc^rs 
den  nämlichen  Charakter  besitzen  wie  die  Lebensbewegungen  der 
Piastiden,  Personen,  Arten  u.  s.  w.  Nun  kommt  es  wohl  ausnahms- 
weise vor,  dass  der  Theil  die  Bewegung  des  Ganzen  hat.  In  der 
Regel  besteht  a])cr  zwischen  beiden  eine  Verschiedenheit,  indem  ja 
die  Bewegung  des  Ganzen  in  der  Summe  der  Bewegungen  seiner 
Theile  besteht.  So  haben  auch  die  Wassermoleküle  ganz  andere 
Bewegungen,  als  sie  die  ganze  wellenbewegte  Wasserfläche  zeigt, 
und  die  Bewegung  des  Wassertropfens  ist  gänzlich  verschieden  von 
den  Bewegungen  seiner  Moleküle. 

Der  Irrthum,  der  in  dem  Schlüsse  vom  Ganzen  auf  den  Theil 
liegt,  wird  noch  bedeutender,  da  die  Perigenesis-Hypothese  Bewegung 
und  materielle  Beschaffenheit  in  causale  Beziehung  zu  einander 
l)ringt.  Die  Folge  davon  ist,  dass  das  Molekid  nicht  bloss  die  Be- 
wegung, sondern  auch  das  ganze  Wesen  des  Organismus  in  sich 
vereinigen  soll.     Wenn  der  Autor  beispielsweise  sagt,    dass   bei   den 


76  I-  Idioplasma 

Moneren  »jedes  Tlieilchen  alles  leisten  könne,  was  das  Ganze  leistet«, 
und  somit  »jedes  Molekül  in  physiologischer  oder  pliysikalisch- 
chennscher  Beziehung  gleich  dem  ganzen  Körper  sei«,  so  ist  dies 
eine  für  die  ganze  Natm'anschauung  verhängnissvolle  Behauptung, 
die  nur  einer  ausschliesslich  morphologischen  Betrachtung  als  möglich 
vorkommen  kann,  vor  jeder  etwas  eingehenderen  physiologisclien 
Analyse  aber  sich  als  nichtig  erweist.  Plasmamolekül  und  Plasma- 
masse können  rücksichtlich  der  Gestaltung  und  der  Verrichtung 
gar  nicht  mit  einander  verglichen  werden;  sie  sind  noch  vielmehr 
von  einander  verschieden,  als  ein  Eisenmolekül  imd  ein  complicirtcr, 
aus  eisernen  Rädern  und  Federn  liestehender  Mechanismus.  Ich 
werde  auf  diesen  Punkt  bei  der  Urzeugung  näher  eintreten. 

Indem  die  Perigenesis-Hypf)these  mit  der  Veränderung  der  Or- 
ganismen in  der  phylogenetischen  Reihe  in  entsprechendem  Maasse 
die  Wellenbewegung  und  die  Zusammensetzung  der  Plastidule  sich 
verändern  lässt,  so  gewinnt  sie  eine  von  den  jetzigen  chemischen  Vor- 
stellungen wesentlich  abweichende  Anschauung  von  den  Albuminaten. 
Nach  ihrer  Annahme  müssen  in  allen  verschiedenen  Pflanzen  und 
Thieren  aueh  ungleiche  Albuminatm oleküle,  also  ungleiche  Albuminat- 
ver1)indungen,  vorkommen,  und  namentlich  könnte  bei  niederen  und 
höheren  Pflanzen  oder  Thieren  nicht  die  gleiche  Verbindung  die 
Plastidule  l)ilden.  Im  Gegensatze  hiezu  weisen  alle  Erfahrungen 
der  Chemie  entschieden  darauf  hin,  dass  die  grosse  Mannigfaltig- 
keit in  den  Allanninaten  durch  Gemenge  weniger  Verbindungen 
bewirkt  wird. 

Betrachten  wir  mm  die  Rolle,  welche  die  Moleküle  nach  der 
Perigenesis- Hypothese  übernehmen  sollen,  um  den  Lebensprocess 
der  Organismen  hervorzubringen,  so  fällt  uns  zunächst  der  Mangel 
an  Uebereinstimmung  zwischen  den  Prämissen  und  den  Folgerungen 
auf.  Weil  die  Entwickelungsbewegung  der  Stämme,  Classen,  Ord- 
nungen, Familien,  Gattungen,  Arten,  Individuen  und  Zellen  die 
verzweigte  Wellenbewegung  sei,  müsse  auch  dem  Theilchen  des 
letzten  Theils,  dem  Molekül,  die  gleiche  Form  der  Bewegung  zu- 
kommen. Diese  besteht  nun,  wie  in  Wort  und  Zeichnung  aus- 
geführt wird,  darin,  dass  ein  in  Wellen! )ewegung  befindliches  orga- 
nisches Individuum  wächst  und  sich  dann  durch  Verzweigung 
der  Wellenbewegung  in  zwei  oder  mehrere  neue  Individuen  tlieilt. 
Man  erwartet  also,  dass  die  »verzweigte  Wellenbewegung  des  Mole- 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  77 

küls«  ebenfalls  durch  Wcichstliuiii  und  Theilung  sich  äussere.  Dies 
würde  die  Consequenz  verlangen  und  der  Lehre  einen  logischen  Ge- 
halt geben,  während  eine  anders  geartete  verzweigte  Wellenbewegung 
des  Moleküls  keinen  Daseinsgrund  hat. 

Der  Autor  glaubt  aber  in  diesem  Punkte  der  Chemie  eine  Con- 
cession  machen  zu  müssen.  Die  Plastidule  der  Perigenesis  sind 
Einzelmoleküle,  welche  nicht  wachsen  und  sich  niclit  vervielfältigen. 
»Sie  können  bloss  ihre  individuelle  Plastidulbewegung  auf  die  be- 
nachbarten Plastidule  übertragen  und  dm'ch  Assimilation  in  ihrer 
unmittelbaren  Umgebung  neue  Pastidule  von  derselben  Beschaffen- 
heit ])ilden,  ...  sie  können  ferner  ihre  atomistische  Zusammensetzung 
infolge  äusserer  Einflüsse  sehr  leicht  ändern  und  damit  aucli  ihre 
Plastidulbewegung.  .  .  .  Indem  die  schwingende  Molecularbewegung 
der  Plastidule  sich  als  ^^ererbung  überträgt,  gestaltet  sie  sich  zu 
einer  verzweigten  Wellenbewegung.«  So  steht  also  die  verzweigte 
Wellenbewegung  der  Moleküle,  die  aus  der  Bewegung  der  Individuen 
höherer  Grade  abgeleitet  wurde,  in  keinem  nothwendigen  Zusammen- 
hang mit  ihren  Prämissen;  sie  steht  vielmehr  im  Gegensatz  zu 
denselben  und  verdiente  daher  auch  einen  neuen  griechischen 
Namen. 

Diese  Inconsequenz,  dm'cli  die  freilich  die  ganze  vorausgehende 
Dcduction  des  Autors  hinfällig  wird,  lassen  wir  uns  aber  gerne 
gefallen ;  denn  damit  sind  wir  aus  dem  Dunkel  der  nicht  vorstell- 
baren Ideen  von  verwickelten  und  verzweigten  Wellenbewegungen, 
die  den  Zellen  und  Personen  zukommen  sollen,  in  das  klare  Licht 
der  thatsächlichen  Begriffe  getreten.  Die  Schwingungen  der  Mole- 
küle, wenn  anders  darunter  die  bekannte  physikalische  Erscheinung 
verstanden  wird,  bieten  eine  sichere  Grundlage  für  eine  naturwissen- 
schaftliche Hypothese.  Hier  also  erwarten  wir,  dass  der  »Versuch 
zur  mechanischen  Erklärung  der  elementaren  Entwickelungsvorgänge« 
beginnen  werde.  Aber  dieser  Versuch  wird  nicht  unternonnnen ; 
die  angeführten  Worte  sind  das  Einzige,  was  zur  besagten  Erklärung 
beigebracht  wird. 

Da  der  Urheber  der  Perigenesis-Hypothese  nicht  zu  zeigen  ver- 
sucht, wie  aus  den  Schwingungen  der  Moleküle  die  Erscheinungen 
des  organischen  Lebens  zu  Stande  konnneii,  da  also  die  Möglichkeit, 
dass  es  geschehe,  imiiun-  iiocli  vorausgesetzt  werden  könnte,  will 
ich  kurz  zeigen,  dass  diese  M()gli(hkoit  niclit  besteht. 


78  I.  Idioplasma 

Der  Autor  nimmt  an,  dass  die  Plastidule  (Moleküle)  vereinzelt 
seien,  nnd  er  meint,  dass  jedes  wahrscheinlich  von  einer  Wasserhülle 
umgehen  werde.  Dadurch  würde  wohl  Raum  für  seine  ])iogenetischen 
Schwingungen  und  für  die  Erzeugung  neuer  Moleküle  zwischen  den 
schon  vorhandenen  geschaffen.  Eine  solche  Annahme  ist  aher 
unmöglich ,  wie  ich  schon  vor  22  Jahren  für  Stärkekörner  und 
Pflanzenzellmembranen  nachgewiesen  habe,  und  wie  sich  aus  analogen 
Gründen  auch  für  die  übrigen  micellösen  Substanzen  ergibt.  Die 
Moleküle  der  jetzigen  Chemie,  wie  sie  auch  der  Autor  annimmt, 
sind  in  den  organisirten  Körpern  nicht  vereinzelt,  sondern  zu  kr}^- 
stallinischen,  das  polarisirte  Licht  doppeltbrechenden,  auch  für  das 
Mikroskop  unsiclitbar  kleinen  Micellen  vereinigt^).  In  den  letzteren 
spielen  die  Moleküle  die  gleiche  Rolle  wie  in  den  sichtbaren  Kr}^- 
stallen.  Die  Ucächsten  Elemente  der  organisirten  Substanzen  sind 
also  nicht  die  Moleküle,  sondern  die  festen  aus  mehreren  oder 
vielen  Molekülen  bestehenden  Micelle.  Diese  letzteren  sind  von 
dem  Imbibitionswasser  umspült;  unter  ihrem  Einflüsse  geschehen 
die  Lebensprocesse  der  organisirten  Körper,  namentlich  auch  das 
Wachsthum  durch  Einlagerung  neuer  Micelle. 

Wäre  aber  auch  die  Micellarconstitution  nicht  vorhanden  und 
wären  wirklich,  wie  der  Autor  annimmt,  die  vereinzelten  Moleküle 
die  constituirenden  Elemente  der  organisirten  Substanz,  so  könnten 
sie  docli  unmr)gli('h  in  der  von  der  Perigenesis-Hypothese  vorge- 
schlagenen Weise  die  Organisation  erklären,  wie  sich  aus  einer  Analyse 
der  Molecularbewcgungen  ergil)t.  Die  Physik  kennt  fortschreitende, 
drehende  und  schwingende  Bewegungen  des  ganzen  Moleküls,  und 
andere  sind  überhjuipt  nicht  denkl)ar.  Die  Perigenesis-Hypothese 
nun  knüpft  an  die  Schwingungen  an,  und  gewiss  wären  die  fort- 
schreitenden und  drehenden  Bewegungen  noch  weniger  brauchbare 
Elemente. 

Die  verschiedene  Wirkung  der  Plastidule,  welche  Infusorium 
oder  Säugethier,  Alge  oder  Phanerogamenpflanze  hervorbringt,  muss 
also  nach  der  genannten  Hypothese  in  der  Verschiedenheit  ihrer 
Schwingungen  begründet  sein;    und  diese  besteht  bekanntlich  bloss 


')  Ich  nannte  die  Micelli^  damals  in  Uebereinstimnning  mit  den  Thier- 
physiologen,  welelie  die  kleinsten  Tlieilclien  als  Molekeln  l)ezeichneten,  Moleküle, 
bestehend  aus  einer  grösseren  Zahl  von  (zusammengesetzten)  Atomen  der  da- 
maligen oder  Molekülen  der  jetzigen  Chenüe. 


als  Träger  der  erljliclien  Anlaf^en.  71) 

in  der  ungleichen  Schwingungsdauer  und  der  ungleichen  Schwingungs- 
intensität (Schwingungsweite).  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass 
wie  hei  der  Farben-  und  Tonerzeugung  die  Schwingungsdauer  die 
Qualität,  die  Schwingungsintensität  die  Stärke  der  Wirkung  bedingen 
müsste;  es  müssten  beispielsweise  die  niederen  Organismen  eine 
längere,  die  höheren  eine  kürzere  Schwingungsdauer  der  Moleküle 
besitzen,  sodass  sie  sich  wie  tiefe  und  hohe  Töne  zu  einander  ver- 
halten würden.  Nun  wird  niemand  verkennen,  dass  eine  solche  Yor- 
stellung  ganz  unhaltbar  wäre ;  denn  niedere  und  höhere  Organismen 
verhalten  sich  zu  einander  wie  Einfaches  und  Zusammengesetztes, 
was  mit  der  Schwingungsdauer,  mit  Tönen  und  Farben  nicht  der 
Fall  ist;  und  ferner  gibt  es  bei  den  Organismen  stets  mehrere  oder 
viele,  die  der  gleichen  Stufe  der  Zusammensetzung  angehören  und 
also,  obgleich  unter  einander  verschieden,  doch  der  nämlichen 
Sehwingungsdauer  ihrer  Plastidule  entsprechen  würden. 

Offenbar  verbindet  aber  die  Perigenesis-Hypothese ,  wenn  sie 
von  »schwingenden  Molecularbewegungen «  als  der  bewirkenden  Ur- 
sache der  Organisation  spricht,  damit  eine  ganz  andere  Meinung 
als  die  Ph3'sik.  Denn  sie  schreiltt  denselben  verschiedene  mechanisch 
unmögliche  Eigenschaften  zu.  Die  Plastidule  sollen  Moleküle  ganz 
besonderer  Art  sein;  ihnen  kommen  active  Bewegungen  zu,  die 
sie  übertragen  können,  während  den  üljrigen  Sul)stanzmolekülen  nur 
passive  Bewegungen  zugestanden  werden,  welche  die  Schwingungen 
der  Plastidule  nicht  beeinflussen;  die  letzteren  ändern  ferner  ihre 
Molecularschwingungen ,  wenn  sich  die  Atome  in  ihrem  Innern 
umlagern. 

Nach  mechanischen  Principien  können  Verschiebungen  des 
Schwerpunktes  eines  materiellen  Systems  (Moleküls),  somit  auch 
Scliwingungen  oder  Schwingungsänderungen  des  Sj^stems  nur  durch 
äussere,  nicht  durch  innere  Kräfte,  nur  durch  Druck  oder  Zug,  der 
von  aussen  wirkt,  nicht  durch  Configurationsänderungen  oder  Um- 
lagerungen  im  Innern  erfolgen.  Ferner  werden,  wenn  Körper  mit 
ungleichen  Schwingungen  auf  einander  einwirken,  nicht  etwa  die 
Schwingungen  des  einen  (activen)  auf  den  andern  (passiven)  Körper 
ül)ertragen;  sondern  beide  sind  mechanisch  gleich  berechtigt,  beide 
sind  in  gh^clicm  Maassc  activ  und  passiv  und  l)eide  verändern  ihre 
Schwingungen.  Es  müssen  also  nach  mechanischen  Gesetzen  nicht 
nur  die  Schwingungsintensität,  sondern  auch  die  Sclnvingungsdauer 


80  I-  I'Hoplasma 

eines  Plastidiils  verändert  werden,  sowie  die  Wassermenge,  die  Menge 
und  Natur  der  darin  gelösten  Verbindungen,  die  Anordnung  und 
Beschaffenheit  der  übrigen  Moleküle  in  seiner  Umgebung  sich  ändert, 
weil,  um  mich  bildlich  auszudrücken,  durch  alle  diese  Momente  die 
Länge  des  Molekülj^endels  verändert  wird.  Im  Widerspruche  mit 
dieser  Thatsache  muss  die  Perigenesis-Hypothese  eine  specifische 
Schwingungsdauer  der  Plastidule  annehmen. 

Diese  Hypothese  legt  iilso  ihren  Molecularschwingungen  nicht 
die  bekannten  physischen,  sondern  neue  unphysikalische  Eigen- 
schaften bei,  und  sie  hätte  dies  in  vermehrtem  Maasse  thun  müssen, 
wenn  sie,  statt  auf  einige  allgemeine  Andeutungen  sich  zu  beschränken, 
es  versucht  hätte,  aus  den  Molecularschwingungen  der  Plastidule  die 
verschiedenen  Eigenschaften  der  Organismen  wirklich  zu  construiren. 
Wird  sie  ja  schon,  um  sich  die  ^"ererbung  zurecht  zu  legen,  ver- 
anlasst, den  Plastidulen  ein  Gedächtniss  zu  ertheilen ;  die  Moleküle 
sollen  ihre  Erfahrungen  nicht  vergessen,  daher  es  ihnen  denn 
auch  nicht  schwer  fallen  kann,  wieder  das  zu  thun,  was  sie  früher 
oder  was  ihre  Vorfahren  gethan  haben. 

Die  Perigenesis-Hj'pothese  macht  sich  in  allen  Stücken  frei  von 
den  engen  Fesseln  der  exacten  Wissenschaft.  Sie  schreibt  ihren 
Molekülen  andere  Eigenschaften  zu  als  die  Physik  und  Chemie. 
Wenn  sie  verlangt,  dass  »jede  zusunnnengesetzte  und  verwickelte 
Erscheinung  nur  durch  Auflösung  in  ihre  einzelnen  Bestandtheile 
und  genaueste  analytische  Untersuchung  dieser  letzteren  zum  Ver- 
ständniss  gebracht  und  erklärt  werde;  deswegen  müssen  wir  noth- 
wendig  auch  in  der  mechanischen  Entwicklungstheorie  bis  in  die 
letzten  Elementarvorgänge  eindringen«;  —  so  glaubt  sie  diese  Auf- 
gabe dadurch  erfüllen  zu  können,  dass  sie  mit  jeder  Eigenschaft 
des  zusammengesetzten  Organismus  (Gedächtniss  etc.)  schon  die  ein- 
fachsten Bestandtheile  desselben  (die  Moleküle)  ausstattet.  Während 
die  strenge  Wissenschaft  eine  mechanische  Erklärung  erst  dann  als 
gegel>en  erachtet,  wenn  eine  Erscheinung  als  die  nothwendige  Folge 
bestimmter  Ursachen  nachgewiesen  wird ,  versteht  die  Perigenesis- 
Hypothese  unter  mechanischer  Erklärung  schon  die  blosse  Hin- 
deutung, dass  etwas  auf  mechanische;n  Wege  geschehen  könnte. 
So  sagt  sie:  »dass  der  biogenetische  Process  eine  verzweigte  Wellen- 
bewegung darstellt,  wird  wohl  allgemein  zugegeben  w^erden;  da  wdr 
nun  aber  die  bewirkende  Ursache  dieser  höchst  zusammengesetzten 


als  Träger  der  erblichen  Anlagen.  81 

Wellenbeweguii«;  nur  in  der  molecularon  Plastidulbewegung  finden 
können ,  so  müssen  wir  ancli  die  letztere  als  eine  Undulation 
auffassen«  ;  —  und  damit  soll  die  mechanische  Erklärung  ge- 
leistet sein. 

Die  Plastidulperigenesis  ist  ein  Product  der  Naturphilosophie 
und  als  solches  so  gut  wie  jedes  andere  aus  der  gleiclien  Quelle 
erflossene  Product.  Ihr  Fehler  wie  bei  jeder  naturphilosophischen 
Lehre  ist  der,  dass  sie  ihre  Ahnungen  als  Thatsachen  ausgibt 
und  für  dieselben  unpassende  naturwissenschaftliche  Bezeichnvnigen 
braucht  und  in  unberechtigter  Weise  naturwissenschaftliche  Bedeutung 
in  Anspruch  nimmt. 


Ich  habe  den  Hj'pothesen  der  Pangenesis  und  der  Plastidul- 
perigenesis eine  einlässlichere  Besprechung  gewidmet,  weil  durch 
dieselbe  am  besten  die  Notli wendigkeit  der  Idioplasmatheorie  sich 
herausstellt.  Wenn  ein  grosser,  in  zahlreiche  Theile  gegliederter  und 
mit  zusammengesetzten  Functionen  begabter  Organismus  bei  der 
Fortpflanzung  seine  ganze  Eigenthümlichkeit  vermittels  einer  winzigen 
Partie  scheinbar  homogener  Suljstanz  vererbt,  so  sind  dafür  über- 
haupt nur  zweierlei  Erklärungen  möglich. 

Entweder  sind  die  kleinsten  Theilchen  der  Keimsubstanz  in  Folge 
besonderer  und  übernatürlicher  Begabung  die  individuellen  Träger 
der  Eigenschaften  des  Ganzen  und  dadurch  im  Stande  diese  Eigen- 
schaften wieder  ins  Leben  zu  rufen,  —  oder  die  kleinsten  Theilchen 
sind  gewöhnliche  Moleküle,  die  bloss  mit  ihren  natürlichen  Kräften 
und  Bewegungen  ausgestattet  sind  und  die  einen  specifischen  Orga- 
nismus nur  dadurch  hervorzubringen  vermögen,  dass  sie  der  Ent- 
wicklung desselben  durch  ihre  besondere  Zusammenordnung  mit 
Nothwendigkeit  eine  eigenthümliche  Bahn  anweisen. 

Die  erstere  Erklärung  ist  die  Folge  morphologischer  und  natur- 
pliilosophischer  Anschauung.  Sie  personificirt  wie  die  Pangenesis- 
Hypothese  jede  einzelne  Theileigenschaft  in  besonderen  m3'stischen 
Keimchen,  oder  wie  die  Perigenesis-Hypothese  complicirte  Functionen 
in  den  durch  besondere  mystische  Bewegungen  (und  Kräfte)  ausge- 
zeichneten Molekülen.  Das  eine  und  das  andere  führt  logisch  zu 
metaphj'^sischen  Voraussetzungen. 

Y.  Nägeli,  Abstammungslehre.  fj 


g2  I-  Idioplasma  als  Träger  der  erblichen  Anlagen. 

Die  zweite  Erklärung  sucht  auf  dem  Boden  der  natürlichen 
Dinge  die  Entwicklung  organisch  zu  gestalten.  Die  Idioplasma-Theorie 
macht  keinen  Anspruch  darauf,  eine  mechanische  Erklärung  zu  geben, 
denn  dazu  fehlen  noch  alle  Anhaltspunkte;  wohl  aber  gestattet  sie 
die  einzig  mögliche  Vorstellung,  wie  die  Vererbung  und  die  phylo- 
genetische Veränderung  auf  natürlichem,  somit  auf  mechanischem 
Wege  erfolgen  kann. 


IL 

Urzeugung. 


Die  Entstehung  des  Organischen  aus  dem  Unorganischen  ist 
in  erster  Linie  nicht  eine  Frage  der  Erfahrung  und  des  Experiments, 
sondern  eine  aus  dem  Gesetze  der  Erhaltung  von  Kraft  und  Stoff 
folgende  Thatsache.  Wenn  in  der  materiellen  AVeit  alles  in  ursäch- 
lichem  Zusammenhange  steht,  wenn  alle  Erscheinungen  auf  natür- 
lichem Wege  vor  sich  gehen,  so  müssen  auch  die  Organismen,  die 
aus  den  nämlichen  Stoffen  sich  aufl^auen  und  schliesslich  wieder  in 
dieselben  Stoffe  zerfallen,  aus  denen  die  unorganisclie  Natur  besteht, 
in  ihren  Uranfängen  aus  unorganischen  A'^erbindungen  entspringen. 
Die  Urzeugung  leugnen  heisst  das  AA'^under  verkünden. 

Sowie  die  Abkühlung  der  früher  feurig-heissen  Erdoberfläche 
bis  zu  der  das  Leben  gestattenden  Temperatur  fortgeschritten  war, 
entstanden  die  ersten  Organismen  an  den  die  nöthigen  Bedingungen 
enthaltenden  Stellen ;  und  auch  später  und  jetzt  noch  muss  Ur- 
zeugung überall  stattfinden ,  wo  die  A^erhältnisse  die  nämlichen 
sind,  wie  in  der  L^rzeit.  Die  dagegen  vorgebrachten  Beoliachtungen 
vnid  A'^ersuche,  welche  das  Nichteintreten  der  LTrzeugung  ergal)en, 
beweisen  nichts,  da  sie  nur  für  l)estimmte  Annahmen  gültig  sind, 
für  welche  die  Theorie  selbst  schon  das  freiwillige  Entstehen  als 
umnöglich  behaupten  muss. 

Man  hat  die  Nothwendigkeit  der  Annahme,  dass  die  ersten 
Organismen  auf  der  abgekühlten  Erde  sich  geljildi't  halten,  (hircli 
den  Einwurf  zurückweisen  wollen,  dass  diesell)en  möglicherweise  von 
andern  AVeltkörpern  hergeflogen  kamen.  Sie  konnten  die  Reise  auf 
Meteorsteinen   machen,    und   es    ist   nicht   undenkljar,    dass    in  der 

6* 


84  II.  Urzeugung. 

Vertiefung  eines  grosseren  solchen  Körpers  die  Temperatur  beim 
Durcheilen  der  Erdatm osphcäre  nicht  so  hoch  stiege,  um  die  darin 
befindlichen  Lebewesen  oder  deren  Keime  zu  zerstören,  da  dieselben 
einer  trockenen  Hitze  von  ziemlich  mehr  als  100  Graden  wider- 
stehen. Damit  wurde  aber,  meiner  Ansicht  nach,  nicht  die  Haupt- 
schwierigkeit beseitigt. 

Die  grosse  Gefahr,  welche  Organismen  auf  einer  Wanderung 
von  einem  Weltkörper  auf  den  andern  bedroht,  l)esteht  wohl  nicht 
in  extremen  Temperaturen,  selbst  nicht  in  der  grossen  Kälte  des 
Weltraumes ,  obgleich  wir  über  die  Wirkung  der  letzteren  nichts 
wissen ,  sondern  in  dem  vollstcändigen  Austrocknen ,  wovor  sie  im 
luftleeren  Räume  nicht  bewahrt  bleiben  können.  Die  widerstands- 
fähigsten Organismen,  die  wir  kennen,  die  Spaltpilze,  welche  die 
feuchte  Siedhitze  ertragen,  gehen  durch  längeres  scharfes  Austrocknen 
zu  Grunde,  und  ich  bin  überzeugt,  dass  selbst  ihre  Sporen  nach 
einem  nicht  sehr  langen  Aufenthalt  in  dem  Vacuum  des  Weltraumes, 
wo  sie  ihren  Wassergehalt  vollständig  verlieren  würden ,  leblos  auf 
der  Erde  anlangten.  Es  ist  daher,  wenn  es  nicht  noch  andere,  mit 
anderen  Eigenschaften  begabte,  niedere  Organismen,  als  die  uns 
bekannten,  gibt,  keine  Hoffnung,  dass  ein  Weltkörper  den  andern 
mit  organischem  Leben  besame,  aber  auch  keine  Gefahr,  dass  einer 
den  anderen  mit  den  (in  Spaltpilzen  bestehenden)  Keimen  seiner 
Lifectionskrankheiten  anstecke. 

Sollte  aber  gleichwohl  die  organische  Welt  unserer  Erde  aus 
dem  Welträume  eingewandert  sein,  so  wäre  damit  die  Nothwendigkcit 
der  Annahme  einer  spontanen  Entstehung  nicht  beseitigt,  sondern 
nur  in  andere  Zeiten  und  Räume  verlegt.  Die  Frage  aber,  ob  das 
organische  Leben  von  Ewigkeit  her  von  der  unorganischen  Natur 
gesondert  sein  konnte,  ist  wie  etwa  diejenige  über  die  Ewigkeit  des 
Kohlenstoffs  transcendenter  Natur  und  daher  nicht  besprechbar. 
Was  wir  sicher  wissen,  —  dass  das  Unorganische  in  den  Organismen 
zu  organischer  Substanz  wird  und  dass  die  organische  Substanz 
wieder  vollständig  in  unorganisclie  ^'^erbindungen  sich  zurückver- 
wandelt, —  genügt,  um  vermöge  des  Causalgesetzes  die  sj^ontane 
Entstehung  der  organisclion  Natur  aus  der  unorganischen  abzuleiten. 

Mit  Hülfe  dessen ,  was  uns  über  das  Leben  und  die  Entwicke- 
hmgsgesetze  der  Organismen  l)ekannt  ist,  können  wir  die  Urzeugung 
auf  gewisse  Formen  beschränken,  indem  wir  darthun,    dass  sie  bei 


11.  Urzeugung.  85 

den  ül)rigcn  unniöglicli  ist.  Zu  den  physiologischen  Bedingungen 
gehört,  dass  der  entstehende  Organismus  existenzfähig  sei,  d.  h.  dass 
er  von  der  ihm  dargehotenen  unorganischen  Nahrung  leben  könne. 
Da  nur  die  grünen  Pflanzen  diese  Bedingung  erfüllen,  da  die  Pilze 
und  die  Thiere  von  den  unveränderten  oder  sich  zersetzenden  Stoffen 
leben,  welche  jene  gebildet  ha])en,  so  habe  ich  früher  angenommen, 
die  spontan  entstehenden  Wesen  müssten  Chlorophyll  oder  einen 
verwandten  Farbstoff  enthalten,  mn  Kohlensäure  und  Ammoniak 
als  Nahrung  verwenden  zu  können  ^).  Die  Erfaln-ungen ,  welche 
seitdem  über  Ernährung  der  niederen  Pilze  von  mir  ^)  und  An- 
deren gemacht  wurden  und  welche  zeigten,  dass  für  dieselben 
eine  einfachere  Stickstoffkohlenstoffverbindung  oder  Ammoniak  mit 
einer  organischen  Säure  ausreicht,  haben  jene  Meinung  erschüttert. 
Es  kann  also  auch  ein  farbloser  Organismus ,  wenn  er  diese  Stoffe 
dauernd  vorfand,  die  organische  Welt  begonnen  haben. 

Eine  andere  sowohl  physiologische  als  morphologische  Bedingung 
für  die  Urzeugung  ist  die,  dass  das  entstehende  Wesen  sich  nicht 
in  einem  Zustande  befindet,  welcher  die  vorhergehende  Thätigkeit 
eines  anderen  lebenden  Wesens  voraussetzt.  Es  können  daher  keine 
mehrzelligen  Organismen  als  solche  ursprünglich  entstehen,  denn 
diese  entwickeln  sich  naturgemäss  aus  einzelligen  Keimen.  Auch 
diese  einzelligen  Keime  mehrzelliger  Wesen  können  sich  nicht 
sjjontan  bilden,  denn  sie  sind  von  ihren  Eltern  mit  organischen 
Nährstoffen  ausgestattet,  und  ferner  sind  sie  mit  Rücksicht  auf  eine 
l)ereits  durchgeführte,  wenn  auch  noch  wenig  weit  reichende  Arbeits- 
theilung  angelegt.  Aus  dem  nämlichen  Grunde  ist  auch  die  grosse 
Mehrzahl  der  zeitlebens  im  einzelligen  Zustande  verharrenden  Or- 
ganismen von  der  Urzeugung  auszuschliessen. 

Wir  können  überhaupt  als  Bedingung  aussprechen ,  dass  das 
spontan  entstehende  Wesen  noch  vollkommen  einfach  und  ohne 
Differenzirung  sei,  dass  keinerlei  Theilung  der  A^'errichtungen  bestehe, 
dass  es  niclit  verschiedene  Zustände  durchlaufe,  dass  also  in  seinem 
Idiojjlasma   noch   keine  Anlagen  vorhanden  seien,    denn  diese  sind 


')  Entstehung  und  Begriff  der  natnrliistorisehen  Art.   1HG5. 

2)  Ernährung  der  niederen  Pilze  duicli  Kohlenstoff-  und  Stickstoffverl)indungen 
(Untersuchungen  über  niedere  Pilze  aus  dem  jiflaiizeniihysioldgisclien  Institut  in 
31ünchen.  1882) 


86  II-  Urzeugung. 

das  Product  physiologischer  und  morpliologischer  Ghederung,  somit 
das  Ergebniss  vorausgehender  Arbeit. 

Wenn  icli  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  die  Frage  aufwerfe, 
welche  Formen  der  organischen  Reiche  durch  Urzeugung  entstehen 
können,  so  ergibt  sich  die  Antwort,  dass  keiner  der  bekannten  Or- 
ganismen dazu  fähig  sein  möchte.  Die  niedersten  Pflanzen  (Chroo- 
coccaceen  und  Schizomyceten)  sind  schon  wiegen  der  Zellmembran, 
wclclie  den  Plasmainhalt  undiüllt,  lange  nicht  einfach  genug.  Und 
was  die  Moneren  betrifft,  deren  spontane  Entstehung  von  Häckel 
als  gewiss  angenommen  wird,  so  sclieint  mir,  wie  ich  später  zeigen 
werde,  deren  geringe  Grösse  und  ausgebildete  Bewegung  auf  einen 
längeren  vorausgehenden  pliylogenetischen  Entwickehmgsj^rocess  hin- 
zudeuten, abgesehen  davon,  dass  dieselben  sicher  nicht  allein,  d.  h. 
ohne  die  Zersetzungsproducte  anderer  Organismen,  leben  können. 

Die  Wesen,  die  einer  spontanen  Entstehung  fähig  sind,  kennen 
wir  also  noch  nicht.  Sie  müssen  eine  noch  einfachere  Beschaffen- 
heit hal)en,  als  die  niedrigsten  Organismen,  welche  uns  das  Mikro- 
skop zeigt;  darin  liegt  zugleich  auch  der  Grund,  dass  sie  noch  nicht 
entdeckt  sind.  Je  einfacher  die  Organismen,  um  so  kleiner  sind 
sie  auch.  Da  nun  die  Grösse  der  bekannten  niedrigsten  Pflanzen 
und  Thiere  schon  an  der  Grenze  der  Sichtbarkeit  sicli  befindet  und 
da  es  so  kleine  Sj^altpilze  gibt,  dass  sie  kamn  gesehen  und  bloss 
durch  ihre  zersetzenden  Wirkungen  sicher  erkannt  werden,  so  können, 
wenn  es  noch  einfachere  Wesen  gibt,  dieselben  unter  der  mikro- 
skopisch erkennbaren  Grösse  sich  befinden. 

Für  derartige  Wesen  haben  alle  Versuche  über  Urzeugung  keine 
Beweiskraft.  Diese  Versuche  bestehen  innner  darin,  dass  man  eine 
gärungs-  und  fäulnissfähige  Flüssigkeit  durch  Erhitzen  von  allen 
lebenden  Keimen  befreit,  und  dann  zeigt,  dass  bei  hinreichendem 
Verschluss  keine  Zersetzung  eintritt.  Es  ist  damit  nur  bewiesen, 
dass  imlcr  den  angewendeten  Verhältnissen  keine  Pilze  entstehen, 
während  die  Bildung  von  nicht  zersetzenden  organischen  Wesen, 
die  eine  geringere  oder  selbst  ebenso  beträchtliche  Grösse  haben 
als  die  kleinsten  Spaltpilze,  sowie  die  Bildung  von  ziemlich  grossen, 
aber  nocli  mikroskopischen  primordialen  Plasmamassen  immerhin 
möglich  wäre. 

Da  das  durch  Urzeugung  entstehende  Wesen  vollkommen 
einfach  sein  muss,   so  kann  es  nur  ein  Tröpfchen  von  homogenem 


II.  Urzeugung.  87 

Plasma  sein,  das  bloss  aus  Albumiiiaten  ohne  Beimengung  von 
anderen  organischen  Verbindungen  als  den  Nährstoffen,  ohne  äussere 
Formbildung  und  ohne  innere  Gliederung  besteht  und  durch  die 
unorganischen  oder  einfachen  organischen  Verbindungen,  aus  denen 
es  selbst  entstanden  ist,  sich  vergrössert  und  ernährt. 

Die  Urzeugung  setzt  also  die  spontane  Bildung  von  Albuminaten 
voraus.  Das  Problem,  Eiweiss  auf  synthetischem  Wege  darzustellen, 
ist  zwar  der  organischen  Chemie  noch  nicht  gelungen.  Dieser  Mangel 
ist  aber  um  so  begreiflicher,  als  die  künstliche  Zusammensetzung 
der  organischen  Verbindungen  überhaupt  noch  eine  so  Junge 
Wissenschaft  ist  und  diejenige  des  so  räthselhaften  Eiweissmoleküls 
von  noch  unbekannter  Atomformel  jedenfalls  die  schwierigste 
sein  ward. 

Was  aljer  die  Entstehung  in  freier  Natur  betrifft,  so  gibt  es 
keinen  Grund,  warum  dieselbe  als  unmöglich  oder  auch  nur  als 
unwahrscheinhch  zu  bezeichnen  wäre.  Der  Einwurf,  dass  spontane 
Eiweissbildung  nicht  beobachtet  sei,  hätte  nur  einigen  Werth,  wenn 
zugleich  wahrscheinlich  gemacht  wäre,  dass  ihr  Vorhandensein  nicht 
verborgen  bleiben  könnte  —  was  aber,  da  aus  verschiedenen  Gründen 
eine  Beschränkung  auf  mikroskopische  Mengen  sehr  nahe  liegt,  nicht 
zutrifft.  Wahrscheinlich  geschieht  sie  nicht  in  einer  freien  Wasser- 
masse, sondern  in  der  benetzten  oberflächlichen  Schicht  einer  fein 
porösen  Substanz  (Lehm,  Sand),  wo  die  Molecularkräfte  der  festen, 
flüssigen  und  gasförmigen  Körper  zusammenwirken.  Wie  sehr  die 
Fläclienkräfte  eines  in  sehr  feiner  Vertheilung  h)efindlichen  festen 
Körpers  die  chemische  Umsetzung  befördern  können ,  ist  ja  durch 
die  Beispiele  von  Platinschwamm  und  Kohle  bekannt.  Wahrscheinlich 
wird  ferner  die  spontane  Eiweissbildung  durch  einen  bestimmten 
Wärmegrad  begünstigt,  so  dass  sie  in  der  Urzeit  nach  der  Abkühlung 
der  Erdoberfläche  auf  Brutwärme  an  zahlreichen  Stellen,  in  unserer 
Zeit  aber  wohl  noch  da  und  dort  in  wärmeren  Klimaten ,  sowie  in 
der  wärmeren  Jahreszeit  kälterer  Gebiete  geschehen  kann. 

Für  die  Art  und  Weise,  wie  sich  Eiweiss  spontan  l)ilden  könnte, 
gibt  uns  seine  Entstehung  in  den  Pflanzen  aus  einfachen  Stickstoff- 
kohlenstoffverbindungen und  aus  Verbindungen  von  Aiunioniak  mit 
organischen  Säuren  einigen  Aufschluss.  Der  eine  oder  andere  Weg 
ist  denkbar ;  in  jedem  Fall  wird  kohlensaures  Ammoniak  der  Ausgangs- 
punkt der  spontanen  Bildung   sein   und   einerseits   durch  Harnstoff 


88  II.  Urzeugung. 

oder  cyansaures  Ammoniak  und  weiterliin  durch  stickstoffhaltige 
Verbindungen  wie  Asparagin  u.  s.  w. ,  anderseits  durch  weinsaures 
Ammoniak  u.  s.  w.  zu  eiweissartigen  Körpern  hinüberführen ,  wie 
dies  auch  bei  der  Ernährung  der  Pilze  der  Fall  ist. 

Wenn  nun  irgendwo  Albuminate  spontan  entstehen,  so  ist  damit 
von  selbst  auch  Wachsthum  und  Fortpflanzung,  also  Urzeugung 
iresfeben.  Das  Wachsthum  bestellt  darin,  dass  zwischen  den  vor- 
handenen  Eiweissmicellen  neue  sich  bilden,  und  diese  Bildung  muss 
unter  dem  Einfluss  der  bereits  vorhandenen  um  so  eher  fortdauern, 
als  sie  schon  ohne  diesen  Einfluss  begonnen  hat.  Die  Fortpflanzung 
aber  geschieht  dadurch,  dass  die  Plasmamasse  in  Folge  ihres  An- 
wachsens früher  oder  später  zum  Zerfallen  in  zwei  oder  mehrere 
Massen  veranlasst  wird. 

Eine  solche  Plasmamasse  kann  der  Anfang  einer  Reihe  sein, 
die  zu  einem  Organismus  führt.  Sie  selber  verdient  noch  kaum  den 
Namen  eines  Organismus,  denn  Wachsthum  und  Fortpflanzung  sind 
noch  nicht  innerlich  geordnet.  Die  ursjjrünglich  entstandenen  Eiweiss- 
micelle  haben  eine  durchaus  ungeordnete  oder  eine  von  den 
äusseren  Einflüssen  bedingte  Anlagerung,  und  die  anfänglich  zwischen 
dieselben  eingelagerten  verhalten  sich  im  wesentlichen  el^enso.  Auch 
hat  die  Plasmamasse  noch  keine  bestimmte  Gestalt  und  Grösse  und 
ihr  Zerfallen  in  kleinere  Massen  hängt  von  zufälligen  äusseren  Um- 
ständen ab. 

Wachsthum  und  Fortpflanzung  gewinnen  aber  nach  und  nach 
durch  innere  Verhältnisse  mehr  Bestimmtheit.  Da  die  Zunahme 
der  Substanz  durch  Einlagerung  von  Micellen  unter  der  moleculären 
Einwirkung  der  bereits  vorhandenen  geschieht,  so  muss  mit  der  Zeit, 
wenn  auch  vielleicht  sehr  langsam,  ein  bezüglicher  Einfluss  auf  ihre 
gegenseitige  Stellung  sich  geltend  machen.  Die  ursj^rüngliche  regel- 
lose oder  von  äusseren  Umständen  bewirkte  Anlagerung  muss  zuletzt 
in  eine  geordnete  und  IjIoss  von  der  Natur  der  Eiweissmicelle  be- 
dingte üljergehen.  Und  dieses  geordnete  Wachsthum  muss  auch 
beim  Zerfallen  der  sich  vergrössernden  Massen  maassgebend  mithelfen, 
also  auch  eine  geordnete  Fortpflanzung  zur  Folge  habeii. 

Bezeichnen  wir  erst  diesen  Zustand  als  den  eigentlichen,  durch 
Urzeugung  entstandenen  Organismus  und  die  vorausgehenden  Zu- 
stände als  die  Einleitung  dazu,  so  gibt  es  schon  eine  Mehrzahl  von 
verschiedenartigen  spontan  gebildeten  Organismen.    Denn  die  Bildung 


n.  Urzeugung.  89 

der  einleitenden  Zustände  geschieht  unter  sehr  ungleichen  physika- 
lischen und  cheniischen  Verhältnissen.  Berücksichtigen  wir  bloss 
die  letzteren,  so  ist  schon  eine  fast  unendliche  Mannigfaltigkeit 
denkbar,  einerseits  weil  verschiedene  unorganische  \"erbindungen  in 
verschiedenen  Combinationen  in  die  Plasmamassen  eintreten  und  auf 
die  sich  gestaltende  Anordnung  ihrer  Micelle  Einfluss  ausül^en, 
anderseits  weil  die  eiweisserzeugenden  Verbindungen  verschiedener 
Art  sein  können  und  dieser  Umstand  sich  ebenfalls  geltend  machen 
wird.  Wir  wissen  zwar,  dass  die  Ernährungseinflüsse  die  höheren 
Organismen  während  sehr  langen  Zeiträumen  nicht  bemerkbar  zu 
verändern  vermögen,  dass  sie  also  keine  Macht  auf  das  Idioplasma 
haben.  Aber  dieses  Idioplasma  ist  durch  erdperiodenlange  Aus- 
bildung festgeordnet  und  zwar  mit  Rücksicht  auf  diese  verschiedenen 
Einflüsse,  während  in  der  einleitenden  Periode  der  Urzeugung  die 
bestimmte  Ordnung  erst  gesucht  und  daher  auch  von  allem  mit 
bestimmt  wird,  was  die  moleculären  Anziehungen  und  Bewegungen 
modificirt.  Die  organischen  Reiche  nehmen  also  ihren  Ursprung 
nicht  mit  einem  einzigen  bestimmten  Organismus  sondern  mit  vielen, 
die  aber  noch  wenig  von  einander  abweichen. 

Die  Eigenschaften  der  organisirten  Substanz  werden  bedingt 
durch  die  Zusammenordnung  der  Micelle  und  durch  die  physikalisch- 
cliemischen  Vorgänge  zwischen  denselben.  Beide  Momente  haben 
Einfluss  auf  einander.  Mit  einer  veränderten  Anordnung  der  Micelle 
werden  auch  die  wirksamen  Molecularkräfte,  von  denen  die  chemischen 
und  2ili3\sikalischen  Processe  abhängen,  andere,  und  durch  die  ver- 
änderten chemischen  und  physikalischen  Processe  wird  wiedermn  die 
fernere  Einlagerung  der  Micelle,  also  das  Wachsthum  und  die  Structur 
modificirt.  Diese  beiden  Bedingungen  ändern  sich  stetig  von  dem 
Beginne  des  ersten  Wesens  mit  noch  ungeordneten  Micellen  an  und 
führen  durch  eine  Reihe  von  Zuständen  der  einleitenden  Periode  zu 
den  niedrigsten  und  einfachsten  der  uns  bekannten  Organismen; 
sie  wirken  in  diesen  fort  und  veranlassen  deren  Weiterbildung  zu 
höheren  und  complicirteren  Organismen. 

Die  im  vorstehenden  entwickelte  Ansicht  von  der  Urzeugung 
weicht  von  der  jetzt  herrschenden,  namentlidi  durch  Häckel  ver- 
tretenen, wesentlich  ab.  Häckel  betrachtet  seine  Moneren  als  die 
einfachst  denkl)aren  Organismen,  noch  olnie  alle  Differenzirung,  so 
dass  jedes  Molekül  in  physiologischer  Beziehung  gleich  dem  Ganzen 


90  II-  Urzeugung. 

sei.  Ich  möchte  dagegen  die  Behauptung  aufstellen,  und  ich  glaube 
bei  den  Physiologen  wohl  allgemeine  Zustimnunig  zu  finden ,  dass 
von  der  Bildung  des  Eiweissmoleküls  (oder  xPlastiduls«)  bis  zur 
Organisation  des  Moners ,  welche  beiden  Vorgänge  nach  Häckel 
zusammenfallen,  der  Abstand  in  qualitativer  Beziehung  nicht  geringer 
sondern  eher  grösser  ist  als  zwischen  dem  Moner  und  dem  Säuge- 
thier,  wenn  auch  die  phylogenetische  Entwicklung  dort  rascher  und 
in  viel  weniger  Stufen  durchlaufen  wird  als  hier.  Alle  Eigenschaften 
des  Säugethieres  sind  im  Moner  wenigstens  als  Andeutungen  schon 
vorhanden,  während  die  Eigenschaften  des  Moners  aus  dem  Eivveiss- 
molekül  erst  neu  geschaffen  werden  müssen. 

In  der  einleitenden  Periode,  welche  zwischen  der  unorganischen 
Natur  und  den  uns  bekannten  niedrigsten  Organismen  sich  befindet, 
haben  wir  zwei  Stufen  zu  unterscheiden.  Die  erste  Stufe  besteht  in 
der  Synthese  der  Eiweissverbindungen  und  in  der  Organisation  der- 
selben zu  Micellen,  mit  welcher  die  primordiale  Plasmamasse  gegeben 
ist.  Die  zweite  Stufe  besteht  in  der  Fortljildung  der  primordialen 
Plasmamasse  bis  zu  den  uns  bekannten  einfachsten  Organismen. 
Die  Wesen  dieser  zweiten  Stufe  will  ich,  um  einen  kurzen  Ausdruck 
zu  halben,  als  Probien  bezeichnen,  da  sie  den  aus  Erfahrung  be- 
kannten Anfängen  des  Lebens  vorausgehen.  Eigentlich  sind  sie 
selber  die  ersten  Leljewesen,  somit  Protobien,  ein  Ausdruck,  den  ich 
nicht  geljrauchen  kann,  da  der  Name  Protisten  Ijereits  von  einer 
Gruppe  später  auftretender  und  liölier  organisirter  Wesen  in  Anspruch 
genommen  ist. 

Was  die  erste  Stufe  der  einleitenden  Periode  betrifft,  so  werde 
ich  später  von  derselben  sprechen  und  versuchen,  die  physiologischen 
Probleme,  welche  sich  an  dieselbe  knüpfen,  einigermassen  aufzuklären. 
Vorher  will  ich,  im  Anschluss  an  das  Vorhergehende,  das  Verhältniss 
zwischen  dem  Wesen  der  zweiten  Stufe  und  den  eigentlichen  Orga- 
nismen betrachten.  In  dieser  Beziehung  mangeln  die  Anhaltspunkte 
durchaus  nicht,  um  wenigstens  im  allgemeinen  die  Unterschiede 
zwischen  der  primordialen  Plasmamasse  und  den  niedrigsten  be- 
kannten Organismen,  den  Moneren,  Schizomyceten  und  Chroococcaceen 
feststellen  zu  können.  Welche  von  diesen  drei  Gruppen  als  die 
unterste  und  einfachste  in  Anspruch  zu  nehmen  sei,  lässt  sich  bei 
der  unvollkonnnenen  Kenntniss  derselben  nicht  entscheiden ;  aber 
jede  derselben  hat  sich  schon  sehr  weit  von  dem  primordialen,  noch 
vollkommen  undifferenzirten  Plasma  entfernt. 


n.  Urzeugung.  91 

Ich  will  nicht  ausführen,  dass  in  den  hekannten  Organismen 
die  Suljstanz  in  Hautschicht  und  innere  Masse  geschieden,  und  dass 
sie  wenigstens  aus  zwei  Formen  von  Plasma,  aus  Idioplasma  und 
Ernährungs2:)lasma  bestehen  muss ,  noch  auch ,  dass  die  Cellulose- 
nieudjran  der  niedrigsten  Pflanzen  schon  auf  eine  gewisse  Organisation 
des  Inhaltes  hinweist.  Dagegen  will  ich,  indem  ich  mich  bloss  an 
die  als  so  einfach  erklärten  Moneren  halte,  auf  zwei  Erscheinungen 
hinw^eisen,  welche  den  grossen  Abstand  derselben  von  der  primordialen 
Plasmamasse  jedem  physiologischen  ^^erständniss  darthun  müssen, 
nämlich  auf  die  bestimmte  Grösse  und  Form  und  auf  die  Bewegung. 

»Wenn  eine  einfacliste  Plastide,  ein  homogenes  Moner,  bis  zu 
einer  gewissen  Grösse  herangewachsen  ist,  so  zerfällt  der  structurlose 
Plassonkörper  bei  fortdauerndem  Wachsthum  in  zwei  gleiche  Hälften, 
weil  die  Cohäsion  der  Plastidule  nicht  mehr  ausreicht,  um  die  ganze 
Masse  zusammenzuhalten.«  Ich  führe  diese  Worte  Häckel's  an, 
weil  sie  zugleich  die  Veranlassung  des  Irrthums  andeuten,  warum 
er  die  Moneren  trotz  bestimmter  und  geringer  Grösse  als  einfach 
und  structurlos  erklärt.  Derselbe  ist  offenbar  der  Ansicht,  dass  ein 
structurloser  Körper  wegen  der  geringeren  Cohäsion  der  kleinsten 
Theilchen  bei  einer  bestimmten  Grösse  zerfalle,  während  ein  organi- 
sirter  Körper  noch  Widerstand  leisten  könne,  womit  allerdings  die 
Thatsache  übereinstimmt,  dass  die  meisten  liöher  organisirten  Körper 
auch  eine  viel  beträchtlichere  Grösse  besitzen  als  die  Moneren. 
Indessen  verhält  es  sich  doch  in  der  That  auf  den  allerersten  Stufen 
der  Organisation  gerade  umgekehrt. 

Eine  vollkonmien  structurlose  Masse  kann ,  eben  wegen  der 
mangelnden  Organisation ,  nur  durch  äussere  Ursachen  zerfallen. 
Structurlos  ist  Wasser  oder  eine  Lösung;  nehmen  wir  die  Grösse 
eines  kleinen  Moners  vor  der  Theilung  zu  20""^  Durchmesser  an, 
so  bleibt  ein  Tropfen  Wasser  oder  ein  Tropfen  Eiweisslösung,  welcher 
<S  Millionen  mal  mehr  Masse  enthält  als  jenes  Moner,  selbst  in  der 
Luft  noch  vollkonnnen  cohärent');  und  doch  ist  die  Cohäsion  des 
Moners  als  unlöslicher  Substanz  gewiss  iKiträchtlich  grösser  als  die 
des  Wassers  oder  der  Eiweisslösung.  A^erhältnissmässig  grosse  Tropfen 
dieser  Flüssigkeiten    sind    vor    dem    Zerfallen    geschützt,    weil    ihre 


*)  Die   grö.ssten   INIoiU'icii   weiden  von   WassertroptVn   im   Volumen    um    das 
300 fache  übertroffen. 


92  II-  Urzeugung. 

Cohäsioiiskraft  grösser  ist  als  die  entgegenwirkenden  änsseren  Kräfte 
(Luftströmungen,  Schwerkraft). 

Eine  structurlose  Plasniamasse  muss  aber  in  ruhigem  Wasser 
wegen  des  geringen  Unterschiedes  im  specifischen  Gewicht  noch 
weit  mehr  vor  dem  Zerfallen  gesichert  sein  als  ein  Flüssigkeitstropfen 
in  der  Luft;  es  ist  überhaupt  gar  kein  Grund  vorhanden,  warum 
sie  entgegen  dem  Beharrungsvermögen  sich  in  Stücke  theilen  sollte. 
So  verhält  es  sich  auch  mit  dem  ersten  Stadium  der  Probien;  die 
primordiale  Plasmamasse  wächst  zu  unbestimmter  Grösse  an.  Da 
sie  aber  etwas  schwerer  ist  als  Wasser,  so  bildet  sie  einen  Ueberzug 
auf  dem  Grunde.  Sie  befindet  sich  also  in  einem  ähnlichen  Zustande, 
wie  man  ihn  im  Bathybius  gefunden  zu  haben  glaubte;  nur  w^ürde 
dieser  in  anderen  Eigenschaften  über  das  Primordialplasma  hinaus- 
gehen. 

Damit  eine  Plasmamasse  zerfalle,  müssen,  um  mich  so  auszu- 
drücken, die  centrifugalen  Kräfte  organisirt  sein.  Es  ist  unnöthig, 
auf  die  Art  und  Weise  dieser  Organisation  einzugehen,  die  man  sich 
übrigens,  bei  dem  Vorhandensein  von  verschiedenen  Möglichkeiten 
der  mechanischen  Wirkung ,  auch  verschieden  denken  kann.  So 
viel  bleibt  gewiss,  dass  die  Organisation  um  so  weiter  fortgeschritten 
und  um  so  l)estimmter  sein  muss,  je  kleiner  die  individuellen  Massen 
werden,  da  zugleich  mit  der  Grössenaljnahme  die  AViderstandskraft 
gegen  das  Zerfallen  zunimmt.  Wir  sind  daher  zu  der  Annahme 
genötliigt,  dass  das  Moner,  das  zu  den  kleinsten  mikroskopischen 
Objecten  gehört,  schon  eine  ziemlich  ausgesprochene  Structur  d.  h. 
eine  bestimmte  Anordnung  der  Micelle  wenigstens  stellenweise  er- 
langt habe. 

Aus  der  eben  angestellten  Betrachtung  erhalten  wir  folgende 
Vorstellung  von  der  \^eränderung  in  den  Grössenverhältnissen  der 
Individuen  während  der  Entwicklungsgeschichte  der  ganzen  Reiche. 
Die  primordialen  Plasmamassen  erlangen  eine  beträchtliche  aber  ganz 
unbestimmte  Grösse,  weil  ihr  Zerfallen  von  zufälligen  äusseren 
Ursachen  abhängt.  Ihre  Abkömmlinge  werden  mit  der  beginnenden 
und  zunehmenden  inneren  Organisation,  weil  dieselbe  iixuner  mehr 
die  Theilung  zu  beherrschen  und  die  Cohäsion  zu  überwinden  ver- 
mag, nach  und  nach  kleiner  bis  zu  einem  Minimum.  Von  hier  an 
ninnnt  die  Grösse  der  Individuen  wieder  stetig  zu,  weil  die  wach- 
sende Organisation  auch  eine  stets  grössere  Menge  Substanz  verlangt. ' 


II.  Urzeugung.  93 

Die  einfachsten  bekannten  Pflanzen  und  Thiere  sind  anch  die 
kleinsten;  das  Minimum  der  individuellen  Grösse  dürfte  aber  noch 
innerhalb  des  ihnen  vorausgehenden  Reiches  der  Probien  sich  be- 
finden. Es  versteht  sich,  dass  die  Veränderung  der  Grösse,  wie  ich 
sie  geschildert  hal)e,  nur  im  Grossen  und  Ganzen  gültig  ist,  und 
dass  im  Einzelnen  durch  besondere  Ursachen  viele  Ausnahmen  von 
der  Regel  bedingt  werden. 

Eine  andere  ausgezeichnete  Eigenschaft,  durch  die  sich  das 
Moner  gegenüber  dem  primordialen  Prol)ium  auszeichnet,  l)eruht  in 
seiner  Bewegung.  Die  structurlose  Plasmamasse,  deren  Theilchen 
ungeordnet,  d.  h.  nach  allen  Seiten  unterschiedslos  orientirt  sind, 
kann  nur  regungslos  sein.  Mag  die  Bewegung  der  Moneren  zu 
Stande  kommen,  wie  sie  will,  immerhin  muss  sie  ihren  Sitz  in  den 
kleinsten  Theilchen  haben  und  diese  können  nur  bei  einer  bestimmten 
Orientirung  eine  bemerkbare  Wirkung  ausüben.  Ein  einzelnes 
Theilchen  vermag  nur  eine  äusserst  geringe  Kraft  zu  entwickeln, 
und  wenn  die  Theilchen  nach  verschiedenen  Seiten  gerichtet  sind, 
so  heben  sich  ihre  Wirkungen  um  so  sicherer  auf,  je  grösser  ihre 
Zahl  ist. 

Um  einen  Begriff  von  der  Menge  der  Plasmatheilchen  zu  geben, 
die  ein  Moner  zusammensetzt,  bemerke  ich,  dass  ein  grosses  Individuum 
von  0,6 """  Durchmesser ,  wenn  die  Ti'ocken Substanz  l)loss  zu  10  % 
angesetzt  wird ,  über  5000  Billionen  Eiweissmoleküle  der  jetzigen 
Chemie  (zu  720  angenommen)  und  also  jedenfalls  über  100  Billionen 
Micelle  enthält.  Bei  den  allerkleinsten  Moneren  belauft  sicli  die 
Zahl  der  Micelle  in  die  Millionen.  —  Man  wird  daher  unschwer 
einsehen,  dass  eine  Plasmamasse  von  gleicher  Grösse  und  gleichem 
Gewicht,  wenn  dieselbe  structurlos  ist  und  aus  ungeordneten  Theilchen 
besteht,  der  Ortsl)ewegung  und  der  periodischen  Gestaltsänderung 
(Contractilität)  durchaus  ermangelt.  Auch  das  kleinste  und  leichteste 
sich  ])ewegende  Moner  nniss  in  der  taktischen  Anordnung  seiner 
Theilchen  schon  sehr  weit  fortgeschritten  sein  und  somit  eine  lange 
Ahnenreihe  hinter  sich  haben. 


In  der  bisherigen  Darstellung  habe  icli  di(>  Urzeugung  vorzüglich 
mit  Rücksicht  auf  die  aus  derselben  hervorgehenden  Organismen 
betrachtet  und  gezeigt,  dass  diese,  soweit  sie  uns  bekannt  sind,  ohne 


94  II-  Urzeugung. 

Ausnahme  verhcältnissniässio;  schon  sehr  zusammengesetzt  sind  und 
aus  viel  einfacheren,  uns  noch  unljekannten  Anfängen  abgeleitet 
werden  müssen.  Eine  andere  Aufgabe  der  Physiologie  ist  es,  diese 
einfachsten  Anfänge  des  Organischen  mit  der  unorganischen  Natur 
zu  vergleichen  und  die  Beziehungen  zwischen  beiden  festzustellen. 
Aus  dieser  Untersuchung  muss  vorzüglich  der  Untersclned  zwischen 
unorganisirten  und  organisirten,  ferner  zwischen  todten  und  lebenden 
Körpern  sich  ergeben. 

Zu  diesem  Ende  müssen  w'ir  zuerst  einen  Blick  auf  die  Ge- 
staltung des  Unorganisirten  werfen.  Es  kann  sich  hier  nur  um 
feste  Gebilde  handeln,  da  der  flüssige  und  der  gasförmige  Zustand, 
in  welchen  die  Moleküle  getrennt  sind  und  sich  durch  einander 
bewegen,  keine  individuelle  Gestaltung  der  Massen  erlauben.  Die 
Ursachen  der  Ortsbewegungen  und  gegenseitigen  Verschiebungen  der 
Moleküle  im  flüssigen  Zustande  sind  die  Wärme  oder  ein  Lösungs- 
mittel. Werden  diese  Ursachen  beseitigt,  so  legen  sich  die  Moleküle 
zu  festen  Massen  an  einander.  Dieselben  sind  krystallisirt,  wenn 
die  Molecularkräftc  bei  der  Bildung  ungestört  wnrken  können;  amorph, 
wenn  dal)ei  Störungen  eintreten. 

Die  ungest()rte  Wirksamkeit  der  Molecularkräftc  Ijei  der  Kry- 
stallisation  besteht  darin,  dass  die  Moleküle,  indem  ihre  Bewegungen 
zur  Ruhe  gelangen,  sich  so  neben  einander  anlagern,  wie  es  die 
stärksten  Anziehungen  verlangen.  Der  Krystall  beginnt  mit  einer 
Gruppe  von  einigen  wenigen  Molekülen;  alle  folgenden,  die  hinzu- 
treten, Orientiren  sich,  indem  sie  die  Ortsbewegung  verlieren,  ent- 
sprechend ihren  dynamischen  Beziehungen  zu  den  bereits  angelagerten 
Molekülen.  Da  nun  alle  Moleküle  einer  Verbindung  einander  gleich 
sind,  so  muss  auch  die  Orientirung,  die  sie  annehmen,  stets  die 
nämliche  bleiben,  und  der  Krystall  muss  nach  verschiedenen  Rich- 
tungen des  Raumes  aus  })arallelen  Schichten  und  Reihen  von 
Molekülen  bestehen.  Es  ist  daher  begreiflich,  dass  er  auch  äusserlich 
gewöhnlich  von  ebenen  Flächen   und   geraden  Kanten  begrenzt  ist. 

Die  Krystallmoleküle  lagern  sich  so  nahe  aneinander,  als  es  das 
Gleichgewicht  zwischen  den  geg(niseitigen  anzielienden  und  al)stossen- 
den  Kräften  verlangt.  Man  bezeichnet  dies  ItildHch  als  unmittelbare 
Berührung,  da  ihre  Wirkungssphären  aneinander  stossen.  Es  können 
daher  in  einen  fertigen  Krystall  keine  Moleküle  eindringen ;  derselbe 
ist  für  Flüssiukeiten  und  Gase  undurclidrinulich. 


II.  Urzeujrung.  95 

Das  Wesen  des  Krystalls,  welches  in  der  regelmässigen  Anord- 
nung seiner  Moleküle  besteht,  wird  bloss  durch  die  diesen  Molekülen 
eigenthümlichen  Kräfte  bedingt,  und  ist  innerhalb  bestimmter  Grenzen 
unabhängig  von  den  äusseren  Einflüssen  (Temperatur,  Lösungsmittel, 
Concentration  der  Lösung  u.  s.  w\).  Die  letzteren  spielen  übrigens 
immer  auch  eine  Rolle  bei  der  Krj^stallisation,  indem  sie  derselben, 
soweit  es  die  inneren  Kräfte  erlauben,  zu  verschiedenartigem  Aus- 
druck verhelfen.  Sie  bedingen  die  Grösse  und  die  Gestalt  der  einzelnen 
Krystalle,  ferner  den  LTmstand,  ob  dieselben  einzeln  auftreten  oder 
mit  einander  verwachsen,  und  ob  eine  festwerdende  Substanz  wenige 
grosse  oder  viele  kleine  Krystalle  bilde.  Geht  das  Festwerden  der 
Substanz  bei  hinreichend  grosser  Beweglichkeit  der  Moleküle  langsam 
von  Statten,  so  können  sich  dieselben  alle  zu  einem  einzigen  Kry- 
stalle vereinigen. 

Die  chemische  Natur  einer  Su])stanz,  insofern  dieselbe  löslich 
oder  schmelzbar  ist,  macht  keinen  Unterschied  rücksichtlich  des 
Zustandekommens  der  Krystallisation.  Die  complicirten  Kohlenstoff- 
verbindungen (Säuren,  Zucker,  Fette  etc.)  verhalten  sich  wie  die 
unorganischen  ^'^erljindungen  und  die  Elemente.  —  Bisweilen  legen 
sich  die  Moleküle  verschiedener  Verbindungen  zunächst  zu  Molekül- 
gruppen (Pleonen^)  aneinander.  Besonders  häufig  ist  dies  bei  den 
sog.  Hydraten  der  Fall,  indem  Substanzmoleküle  mit  Wassermolekülen 
Hydropleone  bilden.  Die  Pleone  krystallisiren  genau  so  wie  die  ein- 
zelnen Moleküle. 

Jeder  krystallartige  Körper  muss  vor  seiner  Bildung  sich  im 
flüssigen  (geschmolzenen  oder  gelösten)  Zustande  ])cfun(len  haben. 
Dies  gilt  auch  von  dem  Diamant,  obgleich  der  Kohlenstoff"  gegenüber 
den  bis  jetzt  angewendeten  Mitteln  sich  als  unschmelzl)ar  und  un- 
löslich erwiesen  hat.  —  Es  gibt  einige  complicirte  kohlenstoffhaltige 
Verbindungen,  die  weder  molecular  löslich  noch  schmelzl)ar  sind, 
und  von  denen  man  auch  nicht  vermuthen  kann,  dass  man  sie  je  in 
diesen  Zustand  wird  versetzen  können,  da  sie  durch  die  energischeren 
Lösungs-  und  Schmelzungsmittel  zersetzt  werden.  Zu  denselben 
gehören  die  Kohlenhydrate  mit  Ausnahme  der  Zuckerarten,  die 
Albuminate,  die  leimgebenden,  elastischen  und  hornartigen,  die 
muskel-  und  nervenbildenden  Sul)stanzen.    Alle  diese  Verbindungen 


*)  Theorie  der  Gärung.  Anmerkung  Ijetr.  die  Älolekülvereiuigungen. 


96  II-  Urzeugung. 

entstehen  leicht  aus  einfacheren,  in  Wasser  löshclien  Vorl)indungen 
und  hahen  selber  eine  sehr  grosse  Verwandtscliaft  zu  Wasser,  obgleich 
sie  sich  unter  keinen  Umständen  in  wässrigen  Flüssigkeiten  moleeular 
vertheilen  lassen. 

Aus  den  Eigenschaften  der  genannten  Verbindungen,  dass  sie 
leicht  in  wässrigen  Lösungen  sich  bilden  und  zu  denselben  eine 
grosse  Anziehung  besitzen,  aber  darin  moleeular  unlöslich  sind,  geht 
ein  neuer  Zustand  hervor,  welcher  als  der  organisirte,  imbibitions- 
fähige  oder  mi cell  ose  bekannt  ist.  Um  den  Vorgang  anschaulich 
zu  machen,  will  ich  den  ersten  Anfang  eines  Stärkekorns  schildern. 

Die  Stärke  entsteht  in  einer  Zellflüssigkeit,  welche  Zucker  ent- 
hält. \^on  den  Stärkemolekülen,  die  sich  zuerst  bilden,  legen  sich 
immer  diejenigen,  die  unmittelbar  l)eisammen  liegen,  wegen  ihrer 
Unlöslichkeit  an  einander  an  und  bilden  einen  winzigen  Krystall- 
anfang,  ein  kleines  Micell.  Da  die  Stärke  wie  der  Zucker,  aus  dem 
sie  entstanden  ist,  das  Wasser  energisch  anzieht,  so  umgibt  sich  jedes 
Micell  mit  einer  verdichteten  Hülle  von  Wassermolekülen.  Wenn 
ein  Stärkemolekül  sich  nicht  in  unmittelbarer  Nälie  von  anderen 
Molekülen  bildet,  an  die  es  sich  krystallinisch  anlegen  kann,  so 
stellt  es,  indem  es  von  einer  Wasserhülle  umschlossen  wird,  ein 
einmoleküliges  Micell  dar. 

Ueber  die  Wasserhülle  hinaus  ist  die  Anziehung  des  Micells 
zur  Stärkesubstanz  grösser  als  zu  Wasser;  deswegen  treten  immer 
einige  zunächst  neben  einander  entstandene  Micelle  zusammen  und 
bilden  ein  festes  System,  den  Anfang  eines  Stärkekorns.  Die  Micelle 
mit  ihren  Wassorhüllen  verhalten  sicli  bezüglich  des  Gleichgewichts 
in  diesem  System  analog  wie  die  Moleküle  mit  ihren  Aetliers})hären 
in  einem  Krystall  oder  in  einem  Micell.  Die  Stärkekörner  sind  mit 
Wasser  durchdrungen  (imbil)irt),  indem  die  Micelle  durch  Wasser- 
schichten  von  bestimmter  Mächtigkeit  getrennt  worden. 

Sowie  Anfänge  von  Stärkekörnern  vorhanden  sind,  geht  die 
Stärkeljildung  in  ihrem  Innern  leichter  von  Statten  als  l)is  auf 
eine  gewisse  Entfernung  von  ihrer  Oberfläche  in  der  umgebenden 
Zellflüssigkeit.  Die  mittels  des  Imbibitionswassers  fortwährend  ein- 
dringenden Zuckermoleküle  werden  unter  dem  Einfluss  der  Molecular- 
kräfte  in  Stärkemoleküle  übergeführt.  Dal^ei  kann  zweierlei  geschehen 
entweder   ley-cn    sich   die   neuuebildeten  Stärkcmoleküle   an  die  vor- 


n.  Urzeugung.  97 

handenen  Micelle  an  und  vergrössern  dieselben,  oder  sie  bilden  An- 
lange von  neuen  Micellen. 

Ob  das  eine  oder  andere  geschehe,  hängt  von  verschiedenen 
Umständen  ob,  ^xie  z.  B.  von  den  Bewegungen  im  Imbibitionswasser, 
vorzüglicli  aber  von  der  Stelle,  wo  das  Stärkemolekül  sich  l)ildet. 
Da  wo  zwei  parallele  Micellflächen  mit  ihren  Wasserhüllen  an  ein- 
ander stossen ,  ist  kein  Raum  für  eine  Neubildung,  die  ebenfalls 
ihrer  Wasserhülle  bedürfte.  -  In  den  Ecken  dagegen,  wo  zwischen  3 
oder  4  Micellen  ein  grösserer  Zwischenraum  sich  Ijefindet,  legen 
sich  die  entstehenden  Stärkemoleküle  leichter  zu  einem  neuen  Micell 
zusammen,  als  dass  sie  zu  den  entfernteren  Micelloberfiächen  hin- 
wandern. Im  allgemeinen  kann  man  \delleicht  sagen,  dass  die 
Stärkemoloküle,  die  in  den  Wasserhüllen  der  Micelle  selbst  entstehen, 
die  Micelle  vergrössern,  dass  diejenigen  dagegen,  die  ausserhalb  der 
Wasserhüllen  (resp.  zwischen  denselben)  sich  Ijilden,  neue  Micelle 
erzeugen.  Ferner  dürfen  wir  annehmen,  dass  die  grossen  Micelle 
ihre  Wasserhüllen  energischer  anziehen  als  die  kleinen,  dass  daher 
die  kleinen  Micelle  eine  stärkere  Neigung  haben,  durch  Anlagerung 
neuer  Moleküle  zu  wachsen,  als  die  grossen,  und  dass  besonders 
die  einmolekühgen  Micelle  bald  in  mehrmolekülige  übergehen.  Diese 
ßildungsweise  macht  die  ungeheure  Kleinheit  und  die  ungeheure 
Anzahl  der  Micelle  erklärlich. 

Aehnlich  wie  die  Stärkekörner  verhalten  sich  die  übrigen  organi- 
sirten  Substanzen,  und  yne  ich  besonders  hervorhebe,  es  gilt,  was 
ich  von  der  Entstehung  der  Stärkekörner  gesagt  habe,  Punkt  für 
Punkt  für  die  Urzeugung  der  Plasmamassen.  Mag  die  wässrige 
Lösung,  in  welcher  die  ursprüngliche  Eiweissbildung  vor  sich  geht, 
wie  immer  beschaffen  sein,  mag  die  Synthese  des  Eiweissmoleküls 
so  oder  anders  erfolgen  und  das  Molekül  seilest  eine  beliebige  Zu- 
sammensetzung haben,  —  es  werden  die  (unlöslichen)  Moleküle  stets 
sich  sofort  zu  Micellen  vereinigen  und  die  Micelle  in  Menge  nel)en 
einander  entstehen.  Jedes  Micell  ist  mit  einer  Wasserhüllo  uingolu'u 
und  vi(Ae  Micelle  stellen  zusammen  eine  mit  der  wässrigen  Lösung 
imbibirte  kleine  Plasmamasse  dar,  innerhalb  welcher  die  Eiweiss- 
bildung unter  dem  Einfluss  der  daselbst  wirksamen  Molecularkräfte 
leichter  erfolgt  als  ausserhalb  derselben.  Die  Plasmamasse  wächst 
durch  Vergrösserung  ihrer  Micelle,  vorzüglich  al)er  durch  Einschaltung 
neuer  Micelle  zwischen  den  vorhandenen. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  7 


98  II-  Urzeugung. 

Wie  das  eigentliche  Wesen  der  Kr3^stalle  nur  durch  die  Be- 
schaffenheit ihrer  Moleküle  bestimmt  wird,  so  hängt  auch  die  Ent- 
stehung und  das  Wachsthum  der  organisirten  Substanzen  im  wesent- 
lichen von  den  Molecularkräften  ab,  welche  die  Vereinigung  der 
Moleküle  zu  Micellen  und  die  Zusaimnenlagerung  dorMicelle  bewirken. 
Die  Urzeugung  der  Plasmamassen  und  ihr  weiteres  Wachsthum  ist 
das  Product  der  dem  Eiweissmolekül  anhaftenden  Eigenschaften. 
Die  äusseren  Einflüsse  verhalten  sich  den  organisirten  Substanzen 
gegenüber  noch  viel  ohnmächtiger  als  gegenüber  den  Krystallen, 
weil  bei  jenen  das  Wachsthum  in  ihrem  Innern,  bei  diesen  aber  an 
der  Aussenfläche  stattfindet.  So  muss  die  Gestalt  und  mehr  noch 
die  Structur  der  frei  im  Wasser  befindlichen  primordialen  Plasma- 
massen und  ihrer  nächsten  Abkömmlinge  von  den  äusseren  Um- 
ständen ziemlich  unabhängig  sein,  sofern  dieselben  nicht  so  grosse 
Dimensionen  erreichen,  dass  das  grössere  sjiecifische  Gewicht  (im 
A'^ergleich  mit  Wasser)  und  die  Strömungen  im  Wasser  die  äussere 
Form  der  weichen  Massen  zu  modificiren  vermögen. 

Unter  Umständen  lassen  sich  die  organisirten  Substanzen  in 
ihre  einzelnen  Micelle  trennen,  welche  dann  mit  der  Flüssigkeit 
eine  micellare  Lösung  darstellen  und  sich  darin  wie  Lösungsmoleküle 
verhalten,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  sie  wiegen  ihrer  l:)eträcht- 
licheren  Grösse  mit  einer  entsprechend  geringeren  Beweglichkeit 
ljegal)t  sind.  Diese  Lösungsmicelle  hängen  sich  leicht  in  Ketten  und 
andere  Verbände  zusammen,  oder  bilden  Krystalloide,  oder  es  geht 
die  ganze  Lösung,  wenn  sie  concentrirtcr  ist,  in  einen  festen  Zustand 
von  verschiedener  Structur  über. 

Das  Zerfallen  einer  organisirten  Substanz  in  eine  Micellarlösung 
findet  dann  statt,  wenn  die  ^^erwandtschaft  der  Micelle  zur  Flüssig- 
keit und  die  Bewegungsursachen  so  sehr  zunehmen,  dass  die 
Adhäsion  der  Micelle  unter  einander  überwunden  wird.  Sind  diese 
Verhältnisse  schon  bei  der  Entstehung  der  Micelle'  vorhanden,  so 
l)ildet  sich  kein  fester  organisirter  Körper,  sondern  eine  Micellar- 
lösung, die  aber  nachher  zu  einer  mehr  o<ler  weniger  festen  Sub- 
stanz sich  umbilden  kann.  Dies  gilt  namentlich  für  die  plasma- 
tischen Sul)stanzen,  welche  in  allen  Uebergangsstufen  von  der 
vollkonniKinen  Micellarlösung  l^is  zum  feston  Kcirper  erzeugt  werden. 

Die  Albumin atmicelle  vereinigen  sich  unter  den  verschiedensten 
Umständen   und    in   der    mannigfaltigsten    Weise.     Sie   stellen    bald 


n.  Urzeugung.  99 

ein  ganz  flüssiges,  bald  ein  halbflüssiges  Plasma,  l^ald  ziemlich  feste 
mit  Wasser  durchdrmigene  Substanzen  dar,  deren  Micelle  bald  leicht 
bald  sehr  schwer  sich  wieder  lostrennen.  So  sind  die  Eiweissmicelle 
einer  unendlich  verschiedenen  Gruppirung  und  zudem  einer  grossen 
Besttändigkeit  rücksichtlich  der  einen  Anordnungen  und  einer 
grossen  Veränderlichkeit  bezüglich  anderer  Anordnungen  fähig, 
und  sie  besitzen  somit,  wenn  wir  noch  die  leichte  und  viel- 
fache chemische  Umsetzung  der  Albuminate  hinzufügen ,  alle  die 
Eigenschaften,  welche  das  Plasma  für  seine  mannigfaltigen  Auf- 
gaben befähigen. 

Die  physiologischen  Bedingungen  der  Urzeugung  bestehen,  wie 
aus  der  ganzen  bisherigen  Betrachtung  sich  ergibt,  darin,  dass 
Eiweiss  in  einer  wässrigen  Lösung  unter  Umständen  sich  bilde, 
welche  die  A'ereinigung  der  Micelle  zu  einem  nicht  allzu  weichen 
Plasma  gestatten,  und  dass  in  der  Lösung  die  Möglichkeit  der  Ei- 
weissbildung  dauernd  gegeben  sei,  um  das  Wachsthum  des  Plasmas 
zu  unterhalten.  Treifen  diese  Voraussetzungen  ein,  so  muss  jedes 
Mal  Urzeugung  stattfinden. 

Wenn  man  die  Bedingungen  der  Plasmabildung  erwägt,  so  er- 
klärt sich  das  scheinbar  grösste  Räthsel,  warum  in  den  unzähligen 
Fällen,  in  denen  Eiweiss  unter  den  verschiedensten  Umständen  sich 
in  einer  wässrigen  Flüssigkeit  befindet,  doch  nie  Organismen  zu 
Stande  konnuen.  Die  theoretische  Meinung,  die  ich  früher  ebenfalls 
theilte,  dass  bei  Anwesenheit  von  Eiweiss  oder  wenigstens  von  le- 
bendem Eiweiss  unter  übrigens  günstigen  Umständen  Urzeugung  mög- 
lich sei,  ist  deshalb  unrichtig,  weil  das  Eiweiss  nicht  in  molecularer 
Lösung,  sondern  nur  in  Form  von  Micellen  vorkommt.  Die  Eiweiss- 
micelle aber,  mit  denen  wir  Versuche  anstellen,  haben  sich  in  irgend 
welchen  Organen  gebildet,  und  können  sich  nicht  so  zusammen- 
ordnen, wie  es  nöthig  wäre,  um  den  wachsthumsfähigen  Keim  eines 
Organismus  darzustellen.  Nehmen  wir  selbst  den  günstigsten  Fall  an, 
es  verwandle  sich  ein  Keim  selbst  in  eine  Micellarlösung,  so  wären 
zwar  alle  Bausteine  in  der  nötliigen  Form  und  Beschalfenheit  ge- 
geben, aber  sie  könnten  sich  nicht  wieder  zum  Keime  reconstruiren. 
Die  Micelle  würden  sich  ebensowenig  in  die  richtige  Anordnung 
zusammenfinden,  als  die  pulverartigen  Trümmer  eines  Krystalls,  die 
in  einer  Flüssigkeit  von  gleichem  specifischem  Gewicht  suspendirt 
wären,  wieder  zu  einem  Krystall  zusammentreten  könnten. 


100  II.  Urzeugung. 

Auch  Peptonlösungen  sind  unfähig,  Urzeugung  einzuleiten. 
Mögen  dieselben  irgend  eine  chemische  Constitution  besitzen,  jeden- 
falls sind  es  nicht  die  Molecularlösungen  der  Albuminate.  Man 
kann  die  letzteren  wohl  in  Peptone  spalten;  aber  dieser  Vorgang 
bat  sicher  mehr  Analogie  mit  der  Spaltung  der  Stärke  in  das 
micellar  gelöste  Dextrin,  als  mit  der  Spaltung  dos  Dextrins  in  den 
molecular  gelösten  Zucker.  Die  Peptonlösungen  krystallisiren  eben- 
sowenig als  die  Dextrinlösungen.  Wenn  auch  eine  Sjaithese  des 
Dextrins  aus  Zucker  im  Bereiche  der  Möglichkeit  hegt,  so  erscheint 
dagegen  die  Ueberführung  des  Dextrins  in  Stärke  und  ebenso  des 
Peptons  in  Eiweiss  als  unmöglich  wegen  der  miceharen  Beschaffen- 
heit der  Dextrin-  und  Peptonlösungen. 

Die  Urzeugung  setzt  also  nicht  das  Vorhandensein  einer  eiweiss- 
artigen  Substanz,  sondern  die  Eiweiss bildung  voraus.  Denn  nur 
wemi  das  Eiweiss  entsteht,  können  die  Micelle  zu  einer  ihren  Mole- 
cularkräften  ents])rechenden  Configuration  zusammentreten  und  nur 
durch  fortgesetzte  Eiweissbildung  können  sie  beim  Wachsthum  diesen 
Charakter  bewahren. 

Aus  dem  gleichen  Grunde  ist  es  unmciglich,  irgend  etwas  Orga- 
nisirtes  auf  künstlichem  Wege  darzustellen.  Denn  alle  Organisationen 
sind  unter  dem  Einfluss  von  micellaren  Verhältnissen  und  mole- 
cularen  Kräften  entstanden,  welche  bloss  in  dem  betreffenden  Orga- 
nismus vorhanden  sind  und  sich  nicht  nachahmen  lassen. 

Die  nämliche  Betrachtung  gibt  uns,  wie  ich  glaube,  auch  Auf- 
schluss  über  den  sonst  so  räthselhaften  Unterschied  zwischen  dem 
lebenden  und  todten  Zustand  einer  organisirten  Sul)stanz.  Man 
kann  diis  lebende  Plasma  durch  schädliche  Einwirkungen  ver- 
schiedener Art  und  oft  sehr  geringer  Intensität  tödten,  ohne  dass 
die  mikroskopische  Untoi-suchung  die  kleinste  ^^eränderung  an  dem- 
selben wahrnimmt.  Um  die  merkwürdige  Erscheinung  des  Lebens 
zu  erklären,  ist  man  bis  auf  das  Molekül  zurückgegangen  und  hat 
von  lcl)cuidom  und  tcKltem  Eiweissmolekül  gesprochen.  Eine  solche 
Aufstellung  braucht  kaum  widerlegt  zu  werden;  denn  das  Molekül 
ist  weder  todt  noch  lebendig ;  es  wirkt  immer  mit  den  Kräften  seiner 
Atome  und  behält  seine  Eigenthümlichkeit,  bis  die  gesteigerten  Ein- 
griffe seine  Zersetzung  oder  Umsetzung  verursachen.  Auch  dem 
Micell  köinien  wir  keine  specifische  Lebensfähigkeit  zuschreiben. 
Als   feste   Vereinigung   von   Molekülen    bewahrt    es   entweder    seine 


II    Urzeugung.  101 

Beschaffenheit,  oder  es  zerfällt  unter  zerstörenden  Einflüssen  in 
Stücke,  wohl  auch  in  die  einzelnen  Moleküle,  gerade  so  wie  ein 
Krystall. 

Anders  verhält  es  sich  niit  einer  Zusammenordnung  von  Mi- 
cellen;  dieselbe  kann  durch  leichte  Verschiebungen  ihrer  Theile  so 
verändert  werden,  dass,  obgleich  das  Aussehen  das  nämhche  bleibt, 
doch  die  Functionen  eine  Störung  erfahren.  Wenn  auf  eine  lebende 
Plasmamasse  nachtheilige  Einflüsse  einwirken,  so  wird  die  Zusammen- 
ordnung der  Micelle  entweder  nur  wenig,  gleichsam  nur  innerhalb 
ihrer  Elasticitätsgrenzen,  verschoben  und  kann,  wenn  die  Einflüsse 
aufhören,  ^deder  hergestellt  werden;  in  diesem  Falle  tritt  ein  vorüber- 
gehender krankhafter  oder  scheintodter  Zustand  ein.  Oder  die  A^'er- 
schiebung  ist  so  bedeutend,  dass  sie  nicht  wieder  rückgängig  ge- 
macht werden  kann ;  dann  ist  der  Tod  die  Folge  derselben.  Es 
versteht  sich,  dass,  um  den  Tod  des  Organismus  oder  eines  Organs 
herbeizuführen,  nicht  alle  Micellaranordnungen,  sondern  nur  die- 
jenigen, von  denen  die  normalen  Functionen  der  übrigen  abhängen, 
gestört  werden  müssen. 

Das  Leben  einer  Plasmamasse  beruht  also  darin,  dass  die  eigen- 
thümliche  Configuration  ihrer  Structur  unangetastet  bleibe,  und 
zwar  kommt  es  dabei  sicher  nur  auf  die  Configuration  des  idio- 
plasmatischen  Systems  an.  Erleidet  dassellje  eine  dauernde  Dislo- 
cation  seiner  Theile,  so  kann  es  nicht  mehr  in  der  normalen  Weise 
auf  das  Ernährungsplasma  einwirken  und  sich  selber  vermehren; 
als  nothwendige  Folge  tritt  der  Tod  ein. 


m. 
Ursachen  der  Veränderung. 


Die  Ursache  der  Varietätenbildung  wird  von  den  Systematikern 
gewöhnlich  den  äussern  Einflüssen  des  Khnias  und  der  Nahrung, 
die  Ursache  der  Rassen-  und  Speciesbildung  von  der  Darwin 'sehen 
Schule  nach  Willkür,  Bedürfniss  oder  Wahrscheinlichkeit  bald 
denselben  l)ald  inneren  Dispositionen  und  Anstössen  zugeschrieben. 
Nach  meinen  früheren  Untersuchungen  musste  ich  die  unmittelbare 
Wirkung  der  äusseren  gegenüber  den  inneren  Ursachen  für  unmerk- 
lich gering  halten').  Ich  will  hier  zunächst  bloss  von  den  klima- 
tisclien  und  Ernährungseinflüssen  sprechen,  die  man  so  häuflg  im 
Munde  führt  und  als  die  Ursachen  der  Veränderung  bezeichnet,  ohne 
sich  darüber  Rechenschaft  zu  geben,  ob  und  welche  bestimmte 
Wirkung  einer  bestimmten  Ursache  entsprechen  könnte.  Später 
werde  ich  unter  den  äusseren  Einflüssen  eine  Classe  von  solchen 
ausscheiden,  welche  nach  meiner  Ansicht  mit  Nothwendigkeit  An- 
passungsveränderungen hervorbringen. 

In  erster  Linie  ist  also  hervorzuhel)cn,  dass  es  zweierlei  Arten 
der  ^Veränderung  gil)t,  deren  stete  Vermengung  die  vielfachen  un- 
riclitigon  Urtheile  veranlasst.  Die  eine  ist  vorübergehend  und 
wiUu't  nur  so  lange  als  die  Ursache  anhält;  die  andere  ist  dauernd 
und  bleibt,  nachdem  die  Ursaclie  aufgehört  zu  wirken.  Nur  die 
letztere  ist  der  Vererbung  fähig  und  konmit  bei  der  Abstammung 
in  Betracht. 

Die  äusseren  klimatischen  und  Nahrungseinflüsse  bewirken  als 
unmittelbare  Folge  nur  vorübergehende  Veränderungen.     Reichliche 

')  Sitzuugsbor.  d.  k.  bayr.  Alviid.  d.  Wiss.  Ib.  Nov.  18(J5. 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  lOo 

Nahrung  kann  fett  machen,  Nahrungsentziehunt;'  iührt  die  frühere 
Magerkeit  wieder  herbei;  ein  warmer  Sommer  macht  eine  Pflanze 
aromatischer  oder  ihre  Früchte  süsser,  ein  darauf  folgendes  kaltes 
Jahr  bringt  Blätter  mit  weniger  Geruch  und  saure  Früchte  hervor. 
Von  zwei  ganz  gleichen  Samen  erzeugt  der  eine  auf  gedüngtem 
Humusboden  einen  grossen,  stark  verzweigten,  vielblüthigen  Stock 
mit  ansehnlichen  Blättern,  der  andere  auf  Sandboden  einen  kurzen, 
unverzweigten,  einl^lüthigen  Stengel  mit  kleinen  Blättern ;  die  Samen 
aber  der  einen  oder  anderen  Pflanze  verhalten  sich  ganz  gleich ;  sie 
haben  von  der  Ungleichheit  ihrer  Eltern  gar  nichts  geerbt. 

Die  äusseren  Ursachen  vermögen  die  Eigenschaften,  welche  sie 
in  dieser  Weise  unmittelbar  hervorbringen,  auch  nicht  dauernd  zu 
machen,  wenn  sie  durch  noch  so  viele  Generationen  eingewirkt 
haben.  Alpenpflanzen,  von  denen  man  annehmen  muss,  dass  sie  von 
jeher  (wenigstens  seit  der  Eiszeit)  unter  den  nämlichen  A'^erhält- 
nissen  gelebt  und  die  charakteristischen  Eigenschaften  der  Hoch- 
gebirgspflanzen besessen  haben,  verlieren  diese  Eigenschaften  bei 
der  Verpflanzung  in  die  Ebene  vollständig  schon  im  ersten  Sommer, 
wobei  es  gleichgültig  ist,  ob  man  sie  aus  Samen  oder  ausgegrabenen 
Stöcken  erzieht.  Statt  des  früheren  gedrungenen  unverzweigten 
Wuchses  und  der  geringen  Zahl  von  Organen  sind  sie  nun  in  die 
Höhe  geschossen,  stark  verzweigt  und  mit  zahlreichen  Blättern  und 
ßlüthen  versehen ;  und  sie  behalten  die  neu  erlangten  Eigenschaften, 
so  lange  sie  in  der  Ebene  leben,  ohne  dass  eine  neue  Veränderung 
an  ihnen  bemerkbar  würde ^).  Auch  andere  Merkmale,  welche  die 
Pflanzen  durch  die  äusseren  Einflüsse  auf  verschiedenen  Standorten 
(im  feuchten  Schatten,  an  trockenen  sonnigen  Hängen,  auf  ungleicher 
geologischer  Unterlage)  gewinnen,  gehen  unter  geänderten  Einflüssen 
sogleich  verloren. 

Diese  vorübergehenden  Eigenschaften  bilden  die  Merkmale  der 
Standortsmodificationen.  Dass  sie  keine  Beständigkeit  haben, 
ist    übrigens    begreiflich,    weil    sie   nicht   in    neuen   besonderen   Er- 


')  Auf  die  Frage  Darwin's,  wer  könne  behaupten,  dass  die  ZwergpHan/.en 
der  Alpen  nicht  in  einigen  Fällen  auf  wenigstens  einige  Generationen  vererbt 
werden?  antworte  ich,  dass  dies  niemand  geringerer  behauptet  als  der  Versuch 
selbst,  welcher  zeigt,  dass  nur  diejenigen  Alpenpflanzen  in  der  Ebene  ihre  Zwerg- 
haftigkeit  Ixübehalten  und  oft  noch  steigern,  welche  daselbst  nicht  gedeihen  und 
in  Folge  mangelhafter  Ernährung  wieder  aussterben.  Es  gibt  bis  jetzt  aber  keine 
solchen,  die  in  der  Ebene  anfänglich  klein  sind  und  nachher  grösser  werden. 


104  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

seheinuiigen,  sondern  nur  darin  bestehen,  dass  die  nämlichen  Er- 
scheinungen, durch  die  äusseren  Einflüsse  in  ungleichem  Maasse 
unterstützt,  dem  entsprechend  auch  in  ungleicher  Quantität  auftreten, 
dass  die  nämlichen  chemischen  und  Gestaltungsprocesse  hier  nur 
Avährend  kurzer  Zeit  und  wenig  intensiv,  dort  mit  grösserer  Energie 
und  während  längerer  Zeit  anlialten.  —  Die  von  den  äusseren  Ur- 
sachen bewirkten  Veränderungen  sind  den  Veränderungen  vergleichbar, 
welche  elastische  Körper  innerhall)  der  Elasticitätsgrenze  erleiden; 
wenn  die  Spannungen  noch  so  oft  sich  wiederholen  oder  noch  so 
lange  andauern,  lassen  sie  den  Körper  schliessli(-h  doch  unver- 
ändert. 

Sehen  wir  aus  den  mitgetheilten  Thatsachen,  dass  Erscheinungen, 
welche  durch  äussere  Ursachen  unmittelbar  hervorgebracht  werden, 
nicht  l)eständig  sind,  so  gibt  es  eine  andere  Reihe  von  Erfahrungen, 
welche  uns  zeigen,  dass  ungleiche  äussere  Ernährungseinflüsse  nel)en 
diesen  unl)eständigen  auch  keine  beständigen  und  oft  überhaupt 
keine  Veränderungen  bewirken.  Es  gibt  Pflanzen,  welche  seit  der 
Eiszeit  an  verschiedenen  Orten  der  Erdoberfläche  und  unter  sehr  ver- 
schiedenen Verhältnissen  gelebt  haben  und  trotzdem  ganz  gleich  sind, 
woraus  wir  schliessen  müssen,  dass  dieselben  durch  die  Ernährungs- 
einflüsse nicht  verändert  wurden.  Es  könnten  hierfür  viele  Bei- 
spiele angeführt  werden ;  ich  will  die  beiden  Alpenrosen  unserer 
Gebirge  erwähnen,  Aveil  es  l^ekanntere  Pflanzen  sind  und  weil  sich 
eine  pflanzengeographische  Theorie  an  sie  knüpft. 

Von  den  beiden  Arten  kommt  die  eine  (Rhododendron  ferru- 
gineum)  vorzugsweise  auf  Urgel)irgen  und  überhaupt  auf  kalkarmer 
Unterlage,  die  andere  (Rh.  hirsutum)  auf  kalkreichem  Boden  vor. 
Man  hat  die  Verschiedenheiten  von  diesem  ungleichen  Vorkommen 
abgeleitet,  und  es  wäre  daher  denkbar,  dass  ein  langer  Aufenthalt 
unter  den  einen  oder  anderen  Verhältnissen  eine  Veränderung  be- 
wirken möclite.  Nun  lässt  sich  aber  von  der  rostigen  Alpenrose 
nachweisen,  dass  sie  seit  der  Eiszeit  einerseits  auf  feuchter  Granit- 
und  Gneisunterlage  in  der  Nähe  der  Gletscher,  ebenso  auf  kalk- 
armem Boden  an  den  oberitalienischen  Seen  unter  Kastanienbäumen 
und  in  der  Nähe  der  Weinreben  und  Feigen,  dann  aber  andrerseits 
auch  auf  trockenen  sonnigen  Kalkfelsen  in  den  Apenninen  und  auf 
dem  Jura  gelebt  hat.  Trotz  dieser  langdauernden  ungleichen  Er- 
nährung,  welche,   wie   man   meinen  sollte,   die  emjjfindlichste  Seite 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  105 

der  Pflanze  berührte,  ist  nicht  die  geringste  Veränderung  bemerkbar 
geworden  ^). 

Man  könnte  aber  rücksichtlich  dieser  Pflanzen  sowie  vieler 
anderer  den  Einwurf  erheben,  dass  diesell)en  nicht  im  Zustande  der 
Veränderhchkeit  sich  Ijefindcn,  vielleicht  ül)erhaupt  veränderungs- 
unfähig geworden  seien.  Ich  will  daher,  ol)gleich  diese  Theorie 
nicht  ohne  weiteres  annehml)ar  ist,  noch  als  Beispiel  diejenige 
Gattung  anführen,  welche  unter  allen  Pflanzen  die  grösste  Ver- 
änderlichkeit der  Formen  zeigt.  Einzelne  Varietäten  der  Gattung 
Habichtskraut  (Hieracium)  haben  seit  der  Eiszeit  in  der  alpinen 
Region  der  Alpen,  der  Karpathen,  des  hohen  Nordens,  in  der  Ebene, 
auf  verschiedener  geologischer  Unterlage  gew^ohnt  und  sind  ganz 
gleich  geblieben,  obgleich  die  von  ihnen  nach  verschiedenen  Seiten 
ausgehenden  gleitenden  Uebergänge  zu  andern  Formen  auf  eine 
geringe  Beständigkeit  hindeuten  möchten. 

Eine  besondere  Kategorie  von  Beispielen,  w^elche  uns  das  näm- 
liche Ergebniss  liefern,  finden  wdr  in  den  Schmarotzergewächsen. 
Ausser  einigen  Arten  von  Orobanche  und  von  parasitischen  Pilzen 
ist  besonders  die  Mistel  (Viscum)  zu  nennen,  welche  aus  Gegenden, 
wo  sie  von  jeher  auf  Birken,  und  aus  solchen,  wo  sie  auf  Apfel- 
bäumen geleljt  hat,  ganz  gleich  aussieht;  und  w^enn  die  auf  Coni- 
feren  vorkommenden  Mistelpflanzen  in  geringen  IVIerkmalen  ab- 
weichen, so  ist  es  noch  sehr  fraglich,  ob  diese  Merkmale  nicht  ]3eim 
Verpflanzen  auf  Birken  und  auf  Obstbäume  sich  sofort  verlieren 
und  somit  als  nicht  beständig  erweisen  würden. 

Es  ist  überhaupt  eine  ganz  allgemeine  Erscheinung,  dass 
einerseits  ganz  die  gleichen  Varietäten  auf  verschiedenen  Standorten 
und  unter  sehr  ungleichen  äusseren  Einflüssen,  andrerseits  zw^ei  oder 
mehrere  noch  so  w^enig  verschiedene  Varietäten  beisammen  auf  dem 
gleichen  Standort,  also  unter  gleichen  äusseren  Umständen  getroffen 
werden.  Daraus  liegt  der  Schluss  nahe,  dass  die  unmittelbar  wir- 
kenden äusseren  Ursachen  in  keiner  Beziehung  zu  den  beständigen 
und  erblichen  Varietätsmerkmalen  stehen,  dass  die  Ernährungs- 
ursachen diese  Merkmale  weder  hervorbringen  noch  austilgen  können. 
Die  viel  selteneren  Fälle,  wo  auf  andern  Localitäten  andere  Varietäten 
auftreten,  beweisen  nichts,  weil  dieses  Vorkommen  durch  die  Con- 
currenz  und  die  gegenseitige  Verdrängung  geregelt  wird. 
*)  Sitzungsber.  d.  k.  bayr.  Akad.  d.  Wiss.  18.  Nov.  1865. 


106  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Wir  können  die  Frage  noch  von  einem  andern  Gesichtspunkt 
aus  betrachten.  Wenn  die  Ernälirungsursaclien,  wie  es  so  häufig 
dargestellt  wird,  in  benierkenswerther  Weise  auf  die  Organismen 
einwirken,  so  muss  sich  nachweisen  lassen,  welche  Wirkung  einer 
bestimmten  Ursache  /Aikommt;  es  müssen  bei  den  Gewächsen  ge- 
wisse Merkmale  einem  warmen  oder  kalten,  einem  trockenen  oder 
feuchten  Klima,  einem  kalkreichen  oder  kalkarmen,  einem  viel 
oder  wenig  Kieselerde  enthaltenden  Boden  entsprechen.  Man  hat 
in  der  That  solche  Wirkungen  finden  wollen,  man  hat  beispiels- 
weise wollige  und  flockige  Behaarungen  aus  trockenen  warmen 
Standorten,  Mangel  an  Haaren  sowie  drüsige  Behaarung  aus  feuchten 
und  schattigen  Wohnplätzen  abgeleitet.  Das  mag  bei  gewissen 
Arten  zutreffen,  l)ei  andern  aber  ist  gerade  das  Gegentheil  der  Fall; 
selbst  die  gleichen  Arten  verhalten  sich  in  verschiedenen  Gegenden 
ungleich. 

Mit  den  Formen  der  so  veränderlichen  Gattung  Hieracium 
könnte  man  sowohl  die  eben  angeführte  als  auch  die  gegentheilige 
Regel  begründen.  In  Süddeutschland  (München),  um  nur  ein  Bei- 
spiel anzuführen,  macht  man  vielfach  die  Beobachtung,  dass  von 
den  mit  Hieracium  silvaticum  (murorum)  verwandten  Formen  die 
drüsigen  Varietäten  im  Waldschatten,  die  drüsenlosen  mit  reich- 
licheren Haaren  und  Flocken  versehenen  Varietäten  dagegen  an 
trockenen  sonnigen  Abhängen  wachsen.  Die  euganeischen  Hügel 
in  der  Nähe  von  Padua  gehören  zu  den  trockensten  und  heissesten 
Localitäten,  wo  die  betreffenden  Hieracien  noch  wachsen  können ; 
ich  habe  dort  nur  Varietäten  mit  reichlichen  Drüsen,  ohne  Haare 
und  mit  wenig  Flocken  gefunden^). 

So  verhält  es  sich  mit  allen  Eigenschaften,  welche  man  den 
äusseren  Ursachen  zuschreibt.  Wenn  man  in  dieser  Beziehung  eine 
Entdeckung  gemacht  zu  haben  glaubt,  so  kann  man  sicher  sein, 
in  anderen  Fällen   das  Gegentheil  zu  finden.     Man  macht   mit  den 


')  Die  Sclu'iilunji  der  verschiedenen  Varielüten  nach  den  Standorten  in  Süd- 
deutschland rührt  von  der  Concurrenz  her,  welche  die  gegenseitige  Verdrängung 
bewirkt.  Wenn  auf  den  euganeischen  Bergen  drüsenlose  Varietäten  vorkämen, 
so  hätten  sie  die  drüsigen  entweder  ganz  verdrängt  oder  auf  einige  feuchte  und 
schattige  Stellen  einges(;hränkt.  —  Eine  Menge  anderer  Fälle  zeigt  in  ganz  gleicher 
Weise ,  dass  die  Ernährungsursachen  keine  unnnttelbare  Wirkung  auf  die  Be- 
haarung ausüben,  wohl  aber  zuweilen  dnrcli  Vi'rdrängung  Ijestininitor  Formen 
den  Schein  einer  solchen  Wirkung  hervor])ringen. 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  107 

Einflüssen  der  Aussenwelt  auf  die  Organismen  die  nämliche  Er- 
faln'ung  wie  mit  den  Wetterregeln;  sobald  man  die  Sache  kritisch 
und  statistisch  verfolgt,  so  ergeben  sich  ebenso  viele  Ausnahmen 
als  Bestätigungsfälle  für  jede  Hegel. 

Wenn  die  klimatischen  und  Ernährungsursachen  auf  die  Ver- 
änderung der  Individuen  und  somit  auf  die  Varietätenbildung  Ein. 
fluss  hätten,  so  müsstcn  die  Pflanzen  von  bestimmten  ausgezeichneten 
Standorten  einen  übereinstimmenden  Charakter  rücksichtlich  ihrer 
\'^arietätsmerkmale  zeigen,  und  es  müssten  die  Floren  eines  ausge- 
zeichneten Klimas  in  ihren  Arten  und  Gattungen  etwas  Gemein- 
sames in  sich  tragen.  Das  Pflanzenreich  widerspricht  in  allen  Be- 
ziehungen einer  solchen  Voraussetzung. 

Die  Pflanzengeographen  schildern  zwar  die  Physiognomien  der 
verschiedenen  Vegetationsgebiete.  Al)er  das  Auffällige  und  Unter- 
scheidende besteht  nicht  etwa  in  übereinstimmenden  Merkmalen  der 
Gewächse,  sondern  in  dem  zufälligen  Vorhandensein  von  grossen 
baumartigen  und  massenhaft  vertretenen  kleineren  Pflanzen.  Der 
Charakter  einer  Vegetation  wird  nicht  dadurch  bedingt,  dass  die 
äusseren  Verhältnisse  den  Pflanzen  (abgesehen  von  den  Standorts- 
modificationen)  einen  besondern  Charakter  aufprägten,  sondern  da- 
durch, dass  die  Vegetation  von  bestimmten  vorweltlichen  Floren 
abstanmit,  und  ferner  dadurch,  dass  die  Concurrenz  nur  bestimmten 
Pflanzen  und  zwar  solchen  von  sehr  verschiedenem  Gepräge  ein 
genau  bemessenes  Vorkommen  gestattet. 

Schliessen  wir  aus  allen  den  angeführten  Beobachtungen  nicht 
mehr  als  sie  wirklich  beweisen,  so  stellt  Folgendes  fest.  Alle  uns 
aus  Erfahrung  l)ekannten  bedeutenden  Veränderungen,  welche  die 
äusseren  (klimatischen  und  Ernährungs-)  Einflüsse  auf  die  Organismen 
ausül)en,  treten  sogleich  in  ihrer  ganzen  Stärke  auf;  sie  dauern 
ferner  nur  solange  als  die  Einwirkung  währt,  und  gehen  schliesslich 
ganz  verloren,  indem  sie  nichts  Bleibendes  hinterlassen;  dies  ist 
selbst  dann  der  Fall,  wenn  die  äusseren  Einflüsse  seit  der  Eiszeit 
ununterbrochen  in  gleichem  Sinne  thätig  waren.  Von  irgend  einer 
er])liclien  Eigenschaft  oder  von  irgend  einer  Sippe  (Rasse,  Varietät, 
Species),  welche  den  Ernährungsursachen  ihr  Entstehen  verdankten, 
wissen  wir  nichts. 

Damit  möchte  ich  indess  nur  die  landläufigen  unmotivirten 
Meinungen,  betreffend   die    unmittelbare   und    ersichtliche   Wirkung 


108  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

von  Nahrung  und  Klima,  zurückweisen.  Die  Behauptung  Hegt  mir 
ferne,  dass  die  äusseren  Ursachen  für  die  Veränderung  gleichgültig 
seien  und  dass  sie  nicht  in  irgend  einer  Weise  dabei  eine  Rolle 
übernehmen. 


Zunächst  ist,  nachdem  wir  uns  die  Frage  gestellt  haben,  was 
die  Erfahrung  über  die  Wirkung  der  äusseren  Ursachen  ergibt,  die 
Gegenfrage  zu  prüfen:  Was  wissen  wir  aus  Erfahrung  über  die 
Veränderung  durch  innere  Ursachen?  In  dieser  Beziehung  muss 
sogleich  eingeräumt  werden,  dass  Beobachtung  und  Versuch  ebenso 
wenig  die  Entstehung  einer  Sjjecies  oder  auch  nur  einer  Varietät 
aus  inneren  Ursachen  darthun.  An  der  organischen  Welt  lässt  sich 
ja  seit  der  Eiszeit  und  sogar  seit  noch  viel  längerer  Zeit  eine  be- 
merkenswerthe  Veränderung  nicht  darthun.  Selbst  manche  Varietäten 
sind  nachweisbar  in  dieser  ganzen  Periode  die  nämlichen  geblieben; 
und  w^enn  sich,  was  nicht  bezweifelt  werden  kann,  Varietäten  gebildet 
haben,  so  lassen  sich  die  Ursachen  ihrer  Entstehung  auf  emj^irischem 
Wege  nicht  nachweisen. 

Die  dauernden  und  erblichen  Eigenschaften,  von  deren  Bildung 
wir  empirisch  etwas  wissen,  gehören  alle  der  individuellen  Ver- 
änderung im  Culturzustande  und  der  Rassenbildung  an  und  hängen 
meistens  mit  der  Kreuzung  zusannnen.  Dieselben  rühren  sämmtlich, 
soweit  etwas  Sicheres  darüber  bekannt  ist,  von  inneren  und  nie  von 
äusseren  Ursachen  her;  sie  sind  immer  das  Product  der  Vererbung 
und  stammen  von  den  Eltern  oder  früheren  Vorfahren  her. 

Wir  erkennen  dies  bestimmt  daraus,  dass  unter  den  gleichen 
äusseren  Umständen  die  Individuen  sich  ungleich  verhalten,  dass 
auf  dem  nämlichen  Gartenbeet  von  den  Sämlingen  einer  Mutter- 
pflanze die  einen  unverändert  bleiben,  die  andern  verschiedene  Ver- 
änderungen zeigen.  Die  Erdbeere  mit  einzähligen  (statt  dreizähligen) 
Blättern  erschien  bei  einer  Aussaat  im  vorigen  Jahrhundert  unter 
vielen  anderen  Sämlingen.  Aus  den  zehn  Kernen  einer  Birne  erhielt 
van  Mons  ebenso  viele  verschiedene  Birnsorten.  Die  zahlreichen 
Rassen  der  Nutz-  und  Zierpflanzen  sind  fast  alle  durch  Aussaat  und 
zwar  unter  den  nämlichen  äusseren  Einflüssen  entstanden. 

Besonders  deutlich  aber  tritt  die  ausschliessliche  Wirkung  der 
inneren  Ursachen  dann  hervor,  wenn  an  demselben  Pflanzenstock 
die  Aeste  sich  ungleich  verhalten.     An   einem   Rosskastanienbamne 


in.  Ursaclien  der  Verilndenmg.  IQJ) 

in  Genf  trug  ein  Zweig  gefüllte  Blütlieu;  von  diesem  Zweige  stammen 
durch  Vermehrung  vermittelst  Pfro2)freisern  die  über  Europa  ver- 
breiteten gefüllten  Kastanienbäume.  Im  botanischen  Garten  in 
München  steht  eine  Buche  mit  schmalen  geschlitzten  ßLättern;  ein 
Ast  derselben  hat  die  gewöhnlichen  breiten  ungetheilten  Blätter. 
Es  sind  viele  solcher  Beispiele  bekannt;  manche  Ziergewächse  wurden 
auf  diese  Weise  gewonnen.  Der  Vorgang  lässt  sich  nur  so  erklären, 
dass  die  Zelle  oder  Zellgruppe,  aus  welcher  der  anders  geartete  Zweig 
hervorgeht,   durch    innere  Ursachen   eigenthümlich   modificirt  wird. 

Die  Eigenschaften,  welche  dauernd  sind  und  sich  somit  ver- 
erben, sind  in  dem  Idioplasma  enthalten,  w^elches  sie  von  den  Eltern 
auf  die  Kinder  überträgt.  Eine  Ursache,  welche  die  Organismen 
l)leibend  verändert,  muss  das  Idioplasma  umbilden.  Wie  ohnmächtig 
in  dieser  Beziehung  die  Ernährung,  der  wirksamste  unter  den  äusseren 
Einflüssen,  gegenüber  den  inneren  Ursachen  ist,  ergibt  sich  am 
überzeugendsten  aus  den  Erscheinungen  bei  der  Fortpflanzung.  Auf 
den  Gegensatz  zwischen  Vererbung  und  Ernährung  habe  ich  schon 
im  Jahre  185G  hingewiesen  (»die  Individualität  in  der  Natur«),  indem 
ich  sagte,  dass  nur  die  erste  Keimanlage  durch  feste  (organisirte) 
Substanz  der  Eltern  erzeugt  werde,  und  dass  dieselbe  fortan  gemäss 
ihrer  Organisation  selbständig  und  ungestört  durch  die  von  der 
Mutter  empfangene,  gelöste  (nicht  organisirte)  Nahrung  sich  entwickle. 

Bei  den  Menschen  erben  die  Kinder  im  allgemeinen  gleichviel 
vom  A^ater  wie  von  der  Mutter.  Nach  den  uns  zugänglichen  Merk- 
malen zu  schliessen,  scheinen  sie  bald  von  der  einen,  bald  von 
der  andern  Seite  mehr  empfangen  zu  halben,  und  sie  gleichen  in  jedem 
einzelnen  Merkmal  bald  dem  Vater,  bald  der  Mutter.  Da  aber  viele 
Eigenschaften  latent  bleiben  und  die  wesentliche  Erbschaft  in  der 
Beschaffenheit  des  Idioplasmas  beruht,  so  ist  eine  ziemlich  gleiche 
Betheiligung  von  väterlicher  und  mütterlicher  Seite  im  höchsten 
Grade  walirscheinlich.  Um  jedoch  jeder  Meinung  zu  genügen,  so 
wählen  wir  für  unsere  Betrachtung  ein  Kind,  welches  sowohl  in  der 
Jugend  als  im  Alter  ganz  besonders  dem  Vater  ähnlich  ist,  und  das 
von  der  Mutter  nur  wenig  bekommen  zu  haben  scheint.  Jedermann 
wird  in  diesem  Falle  das  väterliche  Erbe  dem  mütterlichen  mindestens 
gleich  gross,  wenn  nicht  überlegen  erachten.  An  die  Substanz  aber, 
aus  welcher  dieses  Kind  bei  der  Geburt  oder,  wenn  es  von  der 
Mutter  gestillt  wird,    einige   Zeit   nach    der  Geburt  besteht,  hat  der 


110  in.  Ursachen  der  Veränderung. 

Vater  nur  etwa  den  hundertbillionstcn  Theil,  die  Mutter  alles  Uebrige 
geliefert. 

Wenn  irgend  ein  Factum  Aufscbluss  ül)er  das  Verbältniss  der 
inneren  Ursachen  zur  Ernälirung  zu  geben  vermag,  so  ist  es  dieses. 
Hätte  die  Erncälirung  einen  bemerkbaren  Einfluss,  so  müsste  sie  ihn 
hier  bethätigen;  sie  müsste  sich  am  wirksamsten  in  den  ersten 
Stadien  des  individuellen  Lebens  erweisen,  in  welchen  sich  das 
Idioplasma  stark  vermehrt  und  in  welchen  sich  die  in  ihm  ent- 
haltenen Anlagen  entfalten.  Wenn  die  Mutter  aus  ihrer  eigenen 
Substanz  den  Keim  auf  das  Hundertbillionenfache  vermehren  kann, 
ohne  dem  Kind  dadurch  das  geringste  Plus  von  ihren  Eigen- 
schaften mitzuth eilen,  wie  soll  dann  die  Ernährung  späterhin,  wenn 
der  Organismus  aus  dem  bildsamen  Jugendzustand  in  den  gefestigten 
erwachsenen  Zustand  übergegangen  ist,  noch  irgend  welche  erheb- 
liche Wirkung  vollbringen  können? 

Wir  dürfen  daher  mit  grösster  Gewissheit  behaupten,  dass  die 
Ernährung,  vorausgesetzt  dass  sie  ausreichend  ist,  in  jedem  Zustande 
ziemlich  indifferent  sich  verhält,  dass  der  Vegetarianer  bezüglich 
aller  dauernden  Eigenschaften  ebenso  gesichert  ist,  wie  derjenige, 
der  sich  ausschliesslich  von  Fleisch  nährt,  und  dass  auch  die 
Meinung  von  der  vererbenden  Wirkung  der  Ammenmilch  nicht 
mehr  ist  als  ein  Ammenmährchen. 

Die  nämliche  Schlussfolgerung,  wie  für  den  Menschen,  gilt  für 
die  geschlechtliche  Fortpflanzung  aller  Organismen.  Die  Mutter 
übernimmt  die  ausschliessliche  Ernährung  in  den  ersten  Lebens- 
stadien entweder  unmittelbar,  wie  bei  den  Säugethieren  und  den 
Embryopflanzen  (Phanerogamen),  oder  mittelbar,  indem  sie  den  Keim 
mit  Reservenahrung  ausstattet,  wie  bei  den  eierlegenden  Thieren  und 
den  Sporenpflanzen.  Der  aus  dem  Ei  ausschlüj^f ende  Vogel  ist  seiner 
Substanz  nach  ebensowohl  ein  Erzeugniss  der  Mutter,  wie  das 
lel)endig  geborene  Kalb.  Gleichwohl  zeigt  sich,  wenn  ausgeprägte 
individuolle  Merkmale  bei  Thieren  und  Pflanzen  vorhanden  sind 
(wie  z.  B.  ungleiche  Farbe  oder  in  einzelnen  Fällen  auch  ungleiche 
Behaarung),  die  väterliche  und  mütterliche  Erbschaft  als  Durch- 
schnittsergebniss  ziemlich  gleichgross. 

Besonders  deutlich  tritt  die  Regel  der  gleichen  Vererlmng  bei 
der  Kreuzung  verschiedener  Sippen  (Rassen,  Varietäten,  Arten)  her- 
vor.    Und  gerade  hier  sollte  man,    wemi  die  Ernäbrung  gegenüber 


m.  Ursachen  der  Veränderung.  1  [  1 

den  inneren  Ursachen  etwas  vermöchte,  einen  überwiegenden  Ein- 
fluss  der  Mutter  erwarten,  weil  bei  der  Kreuzung  zwei  verschieden 
geartete  IdiojDlasmen  zusammentreten,  weil  in  Folge  des  daraus  her- 
vorgehenden Conflictes  das  vereinigte  Idioj)lasma  für  anderweitige 
Einflüsse  empfänglicher  sein  muss,  und  w^eil  es  wohl  begreiflich 
wäre,  dass  die  mütterliche  Ernährung  ihrem  eigenen  Idioplasma 
den  Vorrang  sicherte.  In  der  That  beweisen  ja  alle  Erfahrmigen, 
dass  durch  die  Kreuzung  die  Variabilität  in  den  folgenden  Gene- 
rationen gesteigert  wird;  aber  von  einem  Ueberwiegen  der  mütter- 
lichen Erbschaft  in  früheren  oder  späteren  Generationen  tritt  nirgends 
die  geringste  Spur  hervor. 

Die  Vererbung  bei  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  lässt  nur 
die  eine  Erklärung  zu,  dass  die  Anlagen  bloss  durch  feste  (unlös- 
liche), nicht  durch  gelöste  Stoffe  übertragen  w^erden.  Bei  dem 
Befruchtungsact  vereinigt  sich  das  väterliche  mit  dem  mütterlichen 
Idioplasma  zur  idioplasmatischen  Anlage  des  Kindes,  wobei  die 
beiderseitigen  Antheile  quantitativ  wohl  ziemlich  gleich  sein  und 
der  Ueberschuss  der  mütterHcherseits  gelieferten  Substanz  aus  in- 
differentem Ernährungsplasma  bestehen  dürfte.  Alles,  W'as  von  diesem 
Augenblicke  an  die  Mutter  zur  Ernährung  der  Keimanlage  und  des 
Embr^'os  beiträgt,  tritt  in  gelöster  Form  in  dieselben  ein. 

Dass  aber  die  gelösten  Stoffe  sich  indifferent  verhalten  und  dass 
sie  nicht  Träger  von  bestimmten  Eigenschaften  sein  können,  geht 
nothwendig  aus  dem  Umstände  hervor,  dass  das  Idioplasma  seine 
Eigenschaften  der  Anordnung  fester  Theilchen  verdankt  und  dass 
die  eintretenden  gelösten  Substanzen  sich  unter  dem  Einfluss  der 
bereits  vorhandenen  festen  Theilchen  einordnen.  Es  ist  daher  für 
die  eigenartige  Entwicklung  vollkommen  gleichgültig,  woher  das 
Eiweiss,  durch  welches  das  Kind  wächst,  stamme,  ob  von  der  Mutter, 
von  der  Amme,  von  der  Kuhmilch  oder  vom  Kindermehl,  wiewohl 
diese  Nahrungsmittel  wegen  ihrer  Mischung  mehr  oder  weniger  zu- 
träglich sein  können.  Wir  begreifen  daher  auch ,  warum  die  ver- 
schiedenartige Ernährung  keinen  Einfluss  auf  die  individuelle  Ver- 
änderung und  die  Sippen! )ildung  ausübt,  warum  das  Pfropfreis  auf 
seiner  Unterlage  fast  immer  unverändert  bleibt,  und  warum  der 
Schmarotzer  nichts  von  seinem  Ernährer  annimmt.  Wir  kömien 
andrerseits  den  Schluss  ziehen,  dass  l)ei  der  Befruchtung  immer 
(ungelöste)  Idioplasmen    sich  vereinigen   und    dass  der  befruchtende 


112  ITI.  Ursachen  der  Veränderung. 

Stoff  niemals  in  der  indifferenten  Form  der  Lösung  (wie  so  oi't  für 
die  plianerogamisclien  Pflanzen  angenommen  wurde)  eindringen  kann. 


Wenn  ich  l)is  jetzt  von  inneren  Ursachen  gesprochen  hahe,  so 
war  es  in  der  Meiiunig ,  dass  etwas  Inneres  vorlianden  sei ,  olnie 
welches  eine  bestimmte  Veränderung  nicht  erfolgen  würde.  Auch 
die  Darwin'sche  Schule  spricht,  wohl  in  gleichem  Sinne,  hin  und 
wieder  von  inneren  Ursachen.  Ein  Gegner  der  Abstannnungslehre 
entgegnete  hierauf,  die  inneren  Ursachen  seien  logisch  erschlichen. 
Ich  will  zunächst  nicht  im  Namen  der  Logik,  sondern  mit  einem 
Beispiel  antworten  und  an  dasselbe  die  weiteren  Bemerkungen  über 
die  Wirkung  der  inneren  Ursachen  anknüpfen. 

Der  Inhalt  des  Hühnereis  verwandelt  sich  im  Brütkasten  inner- 
halb <lrei  Wochen  in  ein  Küchlein.  Was  ist  die  Ursache  dieser 
Veränderung?  Gewiss  nicht  die  Wärme,  obgleich  dieselbe  eine 
nothwendige  Bedingung  ist,  wie  jeder  chemische  Process  nur  inner- 
halb gewisser  Temperaturgrenzen  stattfindet.  Ein  paar  Grade  mehr 
oder  weniger  als  Brütwärme  würden  die  Entwicklung  des  Keims 
verhindern;  der  Inhalt  des  zerschlagenen  Eies  aber  würde  bei  Brüt- 
wärme in  Fäulniss  übergehen  und  bei  höherer  Temj^eratur  im  besten 
Fall  zum  Eierkuchen  werden.  Ob  während  der  Brützeit  von  dem 
Ei  etwas  Wärme  aufgenommen  oder  abgegeben  ward,  ist  für  die 
Beurtheilung  der  Ursachen  gleichgültig.  Das  Küchlein,  das  bereit 
ist,  aus  der  Schale  auszuschlüpfen,  wird  nahezu  die  nämliche  Ver- 
brennungswärme geben  wie  der  Inhalt  des  unbebrüteten  Eies;  eine 
nennenswerthe  Vermehrung  oder  Verminderung  der  Kraftsumme 
hat  während  der  Entwicklung  nicht  stattgefunden. 

Niemand  wird  bestreiten  wollen,  dass  im  Ei  der  ganze  Um- 
wandlungsprocess  durch  innere  Ursachen  erfolgt.  Derselbe  beginnt, 
wenn  die  Brütwärme  die  Keimanlage  erreicht,  und  dann  folgen  die 
Entwicklungsstadien  regelmässig  auf  einander,  indem  jedes  mit 
mechanischer  Nothwendigkeit  aus  dem  nächst  früheren  hervorgeht. 
Wenn  aber  innerhalb  der  Eischale  durch  innere  Ursachen  aus  einem 
Plasmatröpfchcn  sich  ein  Vogel  entwickeln  kann,  warum  sollten 
nicht  in  ganz  analogen  Entwicklungsprocessen  innere  Ursachen 
aus  einem  Urplasmatröpfchen  durch  eine  Reihe  von  Organismen 
ebenfalls  ein  organisirtes  Wesen  zu  Stande  bringen  können? 


in.  Ursachen  der  Veränderung.  113 

Allerdings  besteht  ein  Unterschied  zmschen  beiden  Fällen ;  das 
Plasmatröpfchen  des  Eies  stammt  von  einem  Vogel  und  enthält  alle 
dauernden  Eigenschaften  desselben  als  Anlagen;  das  Urplasma- 
tröpfehen  dagegen  besitzt  noch  gar  keine  Anlagen,  sondern  nur  die 
Fähigkeit,  solche  zu  erlangen.  Dieser  Unterschied  macht  aber  für 
die  Logik  oder  vielmehr  für  die  Mechanik,  welche  hier  im  Spiele 
ist,  nichts  aus.  Das  Hauptgewicht  beruht  darin,  dass  in  der  Keim- 
anlage eine  eigenthümliche  Beschaffenheit  der  Substanz  gegeben  ist, 
welche  durch  Einlagerung  neuer  Substanz  wächst  und  sich  dabei 
verändert,  und  dass  eine  Veränderung  die  andere  mit  Nothwendigkeit 
ablöst,  bis  der  Vogel  fertig  ist.  In  dem  Urplasmatröpfchen  des  ersten 
Wesens  ist  ebenfalls  eine  bestimmte,  nur  ^'iel  einfachere  Beschaffen- 
heit der  Substanz  vorhanden,  welche  dadurch,  dass  sie  sich  verändert, 
fernere  Veränderungen  bedingt  und  somit  nothwendig  zum  Ausgangs- 
punkt  einer  ganzen  Reihe  von  verschiedenen  Organisationen  wird. 

Um  ein  Bild  zu  gebrauchen,  so  ist  die  letztgenannte  oder  die 
phylogenetische  Veränderungsbewegung  in  einer  Abstammungslinie 
zu  vergleichen  der  Fortpflanzung  eines  Lichtstrahles,  während  die 
ontogenetischen  Veränderungsbewegungen  der  Individuen  den  Schwin- 
gungen der  einzelnen  Aethertheilchen  entsj^rechen.  Der  Unterschied 
ist  der,  dass  der  Lichtstrahl  auf  seinem  Wege  und  ebenso  seine 
Elemente ,  die  Aetherscll^\'ingungen ,  die  nämlichen  bleiben ,  dass 
dagegen  die  phylogenetische  Bewegung  in  einer  steten  Veränderung 
nach  einem  bestimmten  Ziele  besteht,  und  dass  in  entsprechendem 
Maasse  auch  die  Träger  derselben,  die  Individuen,    sich  verändern. 

Wenn  der  Anhänger  der  unveränderlichen  Arten  die  Veränderung 
in  jeder  Organisationsstufe  auf  einen  bestimmten  Kreis  beschränkt, 
so  ist  dies  eine  Glaubenssache  und  w^enig  übereinstimmend  mit  der 
Logik.  Denn  wenn  einmal  Veränderung  innerhalb  der  Species  be- 
steht (was  unbestritten  ist),  so  kann  nach  mechanischen  Principien, 
wenn  der  Zustand  a  den  Zustand  h  hervorbrachte,  der  Zustand  h 
nicht  abermals  den  Zustand  b  oder  gar  a  hervorbringen,  sondern 
nur  einen  folgenden  Zustand  der  Reihe,  also  (",  und  so  weiter  ins 
Unendhche.  Es  muss  daher  von  dem  Idioplasma  eines  Organismus 
zu  dem  seines  Kindes  ein  gewisser  Fortschritt  stattfinden;  es  kann 
die  individuelle  Entwicklung  mit  dem  Keim,  den  sie  bildet,  nicht 
genau  auf  den  nämlichen  Punkt  zurückkehren,  von  dem  sie  selber 
ausgegangen  ist.     Würde  dies  einmal  geschehen,  so  müsste  gemäss 

Y.  Nägeli,  Abstammungslehre.  8 


114  m.  Ursachen  der  Veränderung. 

dem  Trägheitsgesetze  die  Entwicklungsbewegung  immer  w^ieder  auf 
denselben  Punkt  zurückgehen,  und  eine  Veränderung  wäre  auch 
innerhalb  der  Species  unmöglich. 

Im  Ei  bildet  sich  der  Embryo  aus,  indem  er  die  umgebende 
Masse  aufnimmt  und  assimilirt.  Diese  liefert  ihm  Stoff  und  Kraft, 
aber  das  eigentliche  Agens,  welches  die  Bewegung  veranlasst  und 
ihr  die  specifische  Richtung  ertheilt,  ist  die  Keimanlage  in  ihren 
aufeinanderfolgenden  Zuständen.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem 
pflanzlichen  und  thierischen  Embryo,  der  sich  im  Mutterleib  ent- 
wickelt, und  mit  dem  einzelligen  Pflanzenkeim,  der  auf  feuchter 
Erde  keimt  und  wächst,  nur  dass  ersterer  die  Lebensbedingungen 
aus  der  Mutter,  letzterer  aus  der  unorganischen  Natur  bezieht. 

Bei  allen  Organisationsveränderungen  ist  das  Idioplasma  das 
Maassgebende,  während  ihm  die  äusseren  Einflüsse,  besonders  in  der 
Nahrung,  den  Stoff  und  die  Kraft  liefern.  Die  Wirkung  des  Idio- 
plasmas  wird  nicht  verändert,  mag  die  Nahrung  sammt  den  übrigen 
Umständen  so  oder  anders  beschaffen  sein,  wie  eine  Maschine  immer 
die  gleiche  Arbeit  verrichtet,  ob  sie  durch  Wasser,  Wind  oder  Dampf, 
durch  ein  fallendes  Gewicht,  eine  gespannte  Feder  oder  durch 
thierische  Kraft  in  Bewegung  gesetzt  wird.  Das  Idioplasma  lenkt 
die  complicirte  Entwicklungsmaschine;  es  ist  zugleich  ihr  kunstvoll 
construirtes  Räderwerk. 

Das  Charakteristische  in  der  Entwicklung  der  Organismen  tritt 
uns  noch  deutlicher  entgegen,  wenn  wir  sie  mit  dem  Wachsthum 
des  Krystalls  vergleichen.  Der  letztere  vergrössert  sich  in  der  Mutter- 
lauge nach  den  seiner  Substanz  eigenthümlichen  Krystalüsations- 
gesetzen  (vgl.  S.  94);  die  bereits  im  festen  Zustande  angelagerten 
kleinsten  Theilchen  ziehen  die  gleichartigen  Moleküle  der  Lösung 
an  und  veranlassen  deren  Anlagerung  übcreinstinnnend  mit  der 
bereits  bestehenden  Ordnung.  In  analoger  Weise  wird  durch  die 
bereits  voi-haiKlene  Anordnung  der  Idioplasmamicelle  die  eigenartige 
iMidagcrung  der  aus  der  Nährflüssigkeit  sich  neubildenden  Micelle 
bedingt.  Der  Unterschied  ist  nur  der,  dass  beim  Krystall  wegen 
dessen  Undurchdringlichkeit  die  Moleküle  an  der  Oberfläche  sich 
anlagern ,  in  dem  von  der  Nährflüssigkeit  durchdrungenen  Idio- 
plasma aber  die  Moleküle  theils  zur  Vergrösserung  der  schon  vor- 
handenen, besonders  aber  zur  Bildung  von  neuen  Micellen  verwendet 
werden,  welche  zwischen  jene  sich  einordnen. 


in.  Ursachen  der  Veränderung.  115 

Bei  einer  Anlagerung  der  Moleküle  auf  der  Oberfläche  des 
Krystalls  ist  eine  vollkommen  gleichbleibende  Stellung  derselben 
möglich  und  nothwendig ;  bei  einer  Einlagerung  von  Micellen  oder 
krj^stallinischen  Molekülgruppen  aber,  die  ihrer  Natur  nach,  wie  die 
verschiedenen  Kry.stalle  in  der  ncämlichen  Mutterlauge,  ungleich  gross 
und  ungleich  gestaltet  und  ül)ordem  auch  chemisch  ungleich  be- 
schaffen sind ,  ist  die  Beibehaltung  einer  vollkommen  gleichen  An- 
ordnung umnüglich,  und  es  muss  daher  sowohl  bei  der  Entwicklung 
des  Individuums  als  bei  der  Entwicklung  der  Stämme  das  sich  ver- 
mehrende Idioplasma,  wenn  auch  noch  so  wenig,  doch  stetig  seine 
Beschaffenheit  verändern. 

Beim  Wachsthmii  des  Krystalls  besteht  die  Beharrung  darin, 
dass  die  neu  angelagerte  Substanz  vollkommen  die  nämliche  Be- 
schaffenheit hat  wie  die  schon  vorhandene,  indem  die  letzten 
Schichten  an  der  Oberfläche  genau  den  ersten  Schichten  im  Innern 
entsprechen.  Die  Ursache  davon  ist  die  strenge  Regelmässigkeit  in 
der  Anordnung  der  kleinsten  Theilchen  (Moleküle),  w^elche  eine  gleiche 
strenge  Regelmässigkeit  in  den  neu  sich  ansetzenden  Schichten  be- 
dingi.  Beim  Wachsthum  des  Idioplasmas  besteht  die  Beharrung 
in  einer  steten  A'eränderung.  Die  Bedingung  dafür,  dass  auch  liier 
die  wachsende  Substanz  die  gleichen  Eigenschaften  behielte,  wäre 
eine  vollkommen  regelmässige  Anordnung  der  kleinsten  Theilchen 
(Micelle),  in  welcher  die  neuen  Micelle  mit  gleicher  Regelmässigkeit 
sich  einordnen  könnten ;  imd  diese  regelmässige  Anordnung  wäre 
nur  dadurch  zu  erfüllen,  dass  die  Micelle  unter  sich  gleiche  Grösse, 
Gestalt  und  chemische  Beschaffenheit  liätten,  dass  sie  wie  die  Mole- 
küle eines  Krj^stalls  nach  drei  Richtungen  des  Raumes  in  parallelen 
Schichten  gelagert  w^ären  und  dass  die  Einlagerung  der  neuen  Micelle 
auf  allen  Punkten  in  gleicher  Weise  erfolgte.  Thatsächlich  ist  diese 
Bedingung  nirgends  erfüllt,  mit  Ausschluss  der  Proteinkrystiilloide, 
die  aber  nicht  zum  Idioplasma  gehören. 

Das  Plasma,  aus  dem  sich  die  Zellen  gestalten  und  die  Orga- 
nismen hervorgehen ,  besteht  aus  ungleichartigen  und  nicht  geo- 
metrisch zusammengeordneten  Micellen.  Da  die  Einlagerung  der 
neuen  Micelle  zwischen  die  schon  vorhandenen  durch  die  Natur 
und  Anordnung  der  letzteren  bedingt  wird,  so  kann  aus  einer  nicht 
geometrischen  Configm^ation  bloss  wieder  eine  nicht  geometrische 
aber  ungleiche  Configuration  liervorgehcn,  auf  welche  abermal.'^  eine 


WQ  in.  Ursachen  der  Veränderung. 

andere  Znsammenordnung  folgen  mnss.  Während  also  die  mecha- 
nische Beharrung  beim  Wachsthum  des  Krystalls  das  Ausbleiben 
einer  Veränderung  bedingt,  so  verursacht  sie  beim  Wachsthum  des 
Idioplasmas  dessen  stete  Veränderung. 

Die  Lagerung  der  Micelle  in  dem  durch  Urzeugung  entstandenen 
primordialen  Plasma  ist  ganz  ungeordnet,  wie  dieselben  eben  durch  die 
äusseren  Umstände  zufällig  zusammenkamen.  Mit  doni  Wachsthum 
durch  Einlagerung  von  Micellen  beginnt  die  Veränderung  durch 
innere  Ursachen.  Die  Micelle  ordnen  sich  in  Grui^pen,  deren  Con- 
figuration  mehr  und  mehr  durch  ihre  eigene  Natur  bedingt  ist  und 
die  nothwendig  zu  immer  grösseren,  aus  zahlreicheren  und  mannig- 
faltiger geordneten  Schaaren  bestehenden  Micellgruppen  führen 
müssen.  Dies  ist  die  Vervollkommnung  oder  die  Steigerung  der 
Zusammensetzung  im  Idioplasma  durch  innere  Ursachen. 

Verschiedene  äussere  Verhältnisse  haben  Einfluss  auf  die  Grösse, 
Gestalt  und  die  Verwachsungen  der  Kry stalle,  indess  das  Wesent- 
liche, die  eigenartige  Anordnung  der  kleinsten  Theilchen,  immer  die- 
selbe bleibt  bei  der  nämlichen  Substanz.  Ebenso  muss  das  eigen- 
thümliche  Verhalten  des  Idioj^lasmas  in  gewissen  wesentlichen 
Eigenschaften ,  nämlich  in  den  Grundzügen  der  Organisation  von 
seiner  eigenen  Beschaffenheit  vorgezeichnet  sein ,  während  sie  in 
andern  Beziehungen  durch  die  äusseren  Ursachen  modificiert  wird. 
Ich  werde  nachher  von  der  Wirkung  der  letzteren  sprechen. 


Wie  aus  dem  Vorstehenden  sich  ergibt,  sind  die  inneren  Ur- 
sachen,'welche  die  stete  Veränderung  des  Idioplasmas  und  zwar  im 
Sinne  einer  mannigfaltigeren  Gliederung  desselben  und  dem  ent- 
sprechend auch  die  stete  Veränderung  der  Organismen  im  Sinne 
einer  zusammengesetzteren  Organisation  und  Function  l)edingen, 
nichts  anderes  als  die  der  Substanz  anliaftenden  Molecularkräfte. 
Diese  inneren  Ursachen,  die  von  den  Anhängern  der  Abstammungs- 
lehre im  Sinne  Darwin's  und  auch  von  den  Gegnern  derselben 
als  unlogisch  und  als  mystisch  missachtet  und  verspottet  wurden, 
beruhen  auf  jenen  unscheinbaren  aber  unwiderstehlichen  Wirkungen 
der  kleinsten  Theilchen,  welche  von  der  morphologischen  und  der 
naturphiloso])hischen  Anschauung  in  Descendenzsachen  zwar  im  All- 
gemeinen als  dunkles  M3\sterium  anerkannt,    sonst  al)er  von  ihr  so 


m.  Ursachen  der  Veränderung.  1  [  7 

gilt  wie  für  nichts  gehalten  werden,  und  die  gleichwohl  in  so  sicht- 
barer und  fühlbarer  Weise  die  Welt  regieren. 

Wir  können  uns  die  Wirkungen  der  inneren  Ursachen  am 
besten  deutlich  machen,  wenn  wir  für  einen  Augenblick  annehmen, 
dass  die  äusseren  Ursachen,  welche  erbliche  Veränderungen  be- 
dingen, gar  nicht  existiren.  Dann  würde  das  spontan  entstandene 
Plasma  bloss  in  indifferenter  Weise  ernährt,  indem  die  Aussenwelt 
ihm  nur  die  chemischen  Verbindungen  lieferte,  aus  denen  es  die 
neuen  Eiweissmicelle  für  sein  Wachsthum  erzeugte. 

Unter  dieser  Voraussetzung  geht,  sowie  auf  der  unorganischen 
Unterlage  sich  etwas  primordiales  Plasma  gebildet  hat,  die  Bildung 
der  Micelle  im  Innern  desselben  unter  dem  Einfluss  seiner  Molecular- 
kräfte  leichter  von  Statten  als  ausserhalb.  Es  hört  daher  die  Sub- 
stanzbildung in  der  nächsten  Umgebung  der  bereits  vorhandenen 
Massen  ganz  auf,  indem  die  eindringende  Nährlösung  schon  bei 
einer  geringeren  Concentration  Eiweiss  bildet,  als  sie  es  ohne  den 
Einfluss  der  Micelle  ausserhalb  zu  thun  vermag. 

Ferner,  da  die  ursprüngliche  Lagerung  der  Micelle  in  der  spontan 
entstehenden  Substanz  ungeordnet  ist,  und  da  die  von  nun  an  im 
Innern  der  Substanz  sich  bildenden  Micelle  sich  so  einlagern ,  wie 
es  die  Molecularkräfte  der  vorhandenen  Micelle  verlangen,  so  ändert 
sich  nothwendig  die  Anordnung,  und  die  veränderte  Anordnung 
bedingt  auch  wieder  eine  Veränderung  der  Molecularkräfte,  welche 
eine  abermalige  Modification  in  der  Anlagerung  verursachen  u.  s.  f. 
So  erzeugt  in  nicht  endender  Folge  die  neue  Configuration  der 
Theilchen  neue  Combinationen  von  Kräften,  und  die  neuen  Kräfte- 
Combinationen  wdeder  eine  neue  Configuration  der  Theilchen.  —  Aber 
nicht  nur  die  Zusammenordnung  der  Micelle  wird  stetig  geändert, 
sondern  auch  ihre  Beschaffenheit.  Denn  die  unter  dem  Einfluss 
anderer  Molecularkräfte  sich  bildenden  Micelle  müssen  nothwendie: 
in  den  Mengenverhältnissen  und  in  der  Lagerung  ihrer  Bestandtheile 
(Ei Weissmoleküle  und  fremdartige  organische  und  unorganische  \^er- 
bindungen)  und  somit  auch  in  ihrer  Grösse  und  Gestalt  etwas  anders 
ausfallen. 

Dies  Alles  müsste  erfolgen,  auch  wenn  die  äusseren  Einwirkungen 
keine  dauernden  und  erblichen  Veränderungen  liervorbrächten.  Die 
wachsende  organische  Substanz,  in  der  fortwährend  die  veränderte 
\\'irkung  zur  Ursache   einer  neuen  Wirkung  wird ,    stellt  also  nicht 


118  III.  Ursachen  der  Veränderung. 

bloss  ein  perpetiium  mobile  dar,  insofern  der  Substanz  ohne 
Ende  Kraft  und  Stoff  von  aussen  geboten  wird,  sondern  auch  durch 
innere  Ursachen  ein  j^eri^etuum  variabile.  Durch  die  inneren 
Ursachen  verändert  sich  die  Substanz  der  Abkömmlinge  der  Ur- 
wesen  beständig,  auch  wenn  die  Generationenreihe  eine  unendliche 
Dauer  erreichte. 

Diese  Behauptung  steht  nun  im  Widerspruch  mit  den  herr- 
schenden Ansicliten.  Gewöhnlich  wird  gelehrt,  dass  ein  Organismus 
bloss  unter  dem  Einfluss  von  äusseren  Ursachen  sich  verändern 
könne,  und  Avcnn  innere  Ursachen  angenommen  oder  zugegeben 
werden,  so  denkt  man  sich  unter  denselben  lediglich  latente  Anlagen, 
die  zur  Entfaltung  gelangen,  also  gleichsam  Spannungen,  die  in 
Bewegung  übergehen,  welche  aber  früher  durch  äussere  Ursachen 
erzeugt  wurden.  Damit  meint  man  wohl  ein  eminent  meclianisches 
Princip  ausgesprochen  zu  haben. 

Es  ist  aber  durchaus  keine  Forderung  der  Mechanik,  dass  ein 
System  von  Stoffen  und  Kräften  niu-  durch  äussere  Einwirkung  ver- 
ändert werde,  ^'^ielmehr  kann  sich  die  Configuration  eines  materiellen 
Systems  im  allgemeinen  stets  durch  die  Wirkung  seiner  Theile  auf 
einander  umwandeln,  und  bloss  die  Lage  des  ganzen  Systems  oder 
mit  anderen  Worten  die  Lage  seines  Massencentrums  vermag  nicht 
durch  innere  Kräfte  verschoben  zu  werden. 

Unter  den  in  der  Natur  stattfindenden  Processen  gibt  es  einerseits 
solche,  welche  in  irgend  einer  Weise  kreisförmig  verlaufen,  so  dass 
das  materielle  System  schliesslich  wieder  in  seinen  Anfangszustand 
zurückkehrt,  und  andrerseits  solche,  welche  die  Natur  mit  Vorliebe 
in  einer  bestimmten  Richtung  erfolgen  lässt  und  Ijei  denen  ein 
Körper  sich  nicht  in  den  Anfangszustand  zurückvervvandeln  kann, 
indem,  wenn  wir  die  begünstigte  Richtung  als  positiv  bezeichnen, 
die  positiven  Schritte  der  Veränderung  entweder  grösser  oder  häufiger 
sind,  als  die  negativen.  Im  ersten  Falle  bleibt  ein  materielles  S3^stem 
während  unbestimmter  Zeit  im  allgemeinen  gleich ;  im  zweiten  Falle 
verwandelt  es  sich  stetig  in  der  nämlichen  Weise  und  sein  Ver- 
wandlungsinhalt nimmt  immer  mehr  zu. 

Im  grossen  und  ganzen  ist  die  Tendenz  zu  einer  bestimmten 
Veränderung  als  zweites  Gesetz  der  mechanischen  Wärmetheorie  oder 
als  Gesetz  der  Entropie  von  Clausius  begründet  worden.  Das 
unserer  Erfahrung   zugängliche   Weltall   wandelt  sich   unaufhörlich 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  119 

in  dorn  nämlichen  Sinne  um  und  strebt,  während  es  strenge  dem 
Gesetz  von  der  Constanz  der  Energie  unterworfen  bleibt  ^  einem 
Maximum  der  Entropie  zu. 

Bei  der  Entwicklung  der  organischen  Reiche  herrschen  eljenfalls 
die  beiden  Gesetze  der  Energie  und  der  Entropie.  Die  Constanz  der 
Energie  regelt  die  Beziehungen  der  Organismen  zur  Aussenwelt,  das 
Gesetz  der  Entropie  weist  der  phylogenetischen  Entwicklung  eine 
bestimmte  Richtung  an.  Die  spontane  Entstehung  der  allereinfachsten 
Wesen  aus  den  Eiweissverbindungen  und  ihr  Fortschritt  zu  etwas 
weniger  einfachen  Wesen  zeigt  uns,  dass  unter  gewissen  Bedingungen 
die  Albuminate  die  Neigung  haben,  aus  dem  ungeordneten  Zustand  in 
den  einfacher  geordneten  und  aus  diesem  in  complicirtere  Zustände 
überzugehen.  Es  vermehrt  sich  also  in  den  Abstammungsreihen 
der  Organismen  der  Verwandlungsinhalt  oder  die  Entropie.  Der 
Umstand,  dass  die  Organismen  von  aussen  Kraft  und  Stoff  auf- 
nehmen, gehört  zu  den  Bedingungen  der  Erhaltung  der  Energie  und 
ändert  nichts  an  der  Bedeutung  der  entropisclien  Bewegung.  Der 
andere  Umstand,  dass  auch  äussere  Ursachen  als  ein  zweites  Moment 
auf  die  Verwandlung  der  Organismen  einwirken,  beeinträchtigt  eben- 
sowenig jene  Bedeutung,  indem  [es  bloss  den  Verwandlungsinhalt 
in  den  einzelnen  Abstammungsreihen  modificirt  und  ihm  ein  ge^dsses 
Gepräge  aufdrückt. 

Das  Gesetz  der  Entropie  bewährt  sich  im  Weltall  und  im  orga- 
nischen ^likrokosmus  in  der  nämlichen  Weise.  Während  die  Energie 
constant  bleibt,  verändert  sich  die  Anordnung  der  materiellen  Tlieil- 
chen  und  die  Form  ihrer  Bewegungen  stetig  nach  einem  bestimmten 
Ziele  hin.  Es  besteht  zwischen  den  beiden  mit  einander  verglichenen 
Systemen  nur  der  Unterschied,  dass  das  unserer  Erfahrung  ])ekannte 
Weltall  als  abgeschlossen  gedacht  wird,  die  phylogenetischen  Reihen 
aber  in  ihren  Ontogenien  mit  der  Aussenwelt  in  einem  ununter- 
brochenen Kraft-  und  Stoffwechsel  stehen  und  im  allgemeinen  eben- 
soviel von  aussen  aufnehmen  als  sie  nach  aussen  abgeben. 


Fragen  mr  uns  nun,  worin  denn  eigentlich  die  entropische 
^^eränderung  in  den  Abstammungsreihen  bestehe,  so  können  wir 
uns  mit  Hilfe  der  Thatsachen,  welche  uns  die  Morphologie  und 
Physiologie  der  organisirten  Substanzen  darl  )ictct,  folgende  Vorstellung 
davon  machen.    —    Das  aus   der   unorganischen   Unterlage   hervor- 


120  in.  Ursachen  der  Veränderung. 

gehende  primordiale  Plasma  ist  homogen  und  seine  Micelle  sind 
durchaus  ungeordnet,  also  nach  allen  möglichen  Richtungen  orientirt. 
Die  Einlagerung  der  neuen  Micelle  nuiss ,  da  dieselbe  durch  die 
Molecularkräfte  bedingt  wird  und  diese  Kräfte  an  den  verschiedenen 
Punkten  ungleich  combinirt  sind,  auch  an  den  verschiedenen  Punkten 
einen  ungleichen  Charakter  annehmen. 

An  den  einen  Stellen  nämlich  stimmen  die  sich  einlagernden 
Micelle  in  ihrer  Orientirung  mehr  oder  weniger  überein;  an  den 
dazwischenliegenden  Stellen  dagegen  behalten  sie  ihre  ungeordnete 
und  widersprechende  Orientirung.  Jene  Stellen  sind  nothwendig  die 
dichteren ,  diese  die  wasserreicheren ;  denn  die  ül)ereinstimmende 
Lagerung  der  Micelle  gestattet  eine  stärkere  Wirkung  ihrer  Molecular- 
anziehungen  und  verursacht  daher  ein  engeres  Aneinanderschliessen. 
Dieser  Gegensatz  von  dichteren  und  weicheren  Partien  tritt  um  so 
entschiedener  auf,  als  die  ursprünglichen  Plasmamassen  sicher  schon, 
gleich  ihren  späteren  Nachkommen,  den  einzelligen  Pflanzen,  die 
Neigung  haben,  Wasser  aufzunehmen,  welches  sich  in  den  Partien 
mit  den  ungeordneten  Micellen  ansammelt. 

Es  ist  ferner  eine  mechanische  Noth wendigkeit ,  class  die  dich- 
teren oder  die  wasserreicheren  Stellen  oder  beide  unter  einander 
zusammenhängen  und  eine  netzartige  Anordnung  annehmen.  Wir 
sehen  daher  ähnliche  netzartige  Anordnungen  immer  entstehen,  wenn 
eine  micellöse  Substanz  wächst.  Das  anfänglich  liomogene  Plasma 
in  der  Zellhöhlung  und  in  den  Zellkernen  wird  schaumig  und  netz- 
artig; ebenso  gewähren  die  Schichten  der  Zellmembranen,  von  der 
Fläche  betrachtet,  bei  hinreichend  starker  Vergrösserung  ein  netz- 
artiges Aussehen ;  und  auf  eine  noch  feinere  und  daher  unsichtbare 
netzartige  Structur  müssen  wir  auch  in  den  Schichten  der  Stärke- 
körner schliessen. 

Das  primordiale  Plasma  würde  schon  in  seinen  nächsten  Ab- 
kömmlingen, wenn  man  es  hinreichend  vergrössert  ansehen  könnte, 
einen  netzartigen  Bau  zeigen,  bestehend  aus  einem  Balkenwerk  von 
dichterer  Masse  und  einer  dazwischen  liegenden  wasserreichen  halb- 
flüssigen Substanz.  Jenes  ist  das  Idio])lasma,  diese  das  Ernährungs- 
plasma. Das  erste  Auftreten  des  Idioplasmas  zeigt  also  im  allgemeinen 
die  nämliclie  Anordnung,  die  ich  aus  den  Eigenschaften,  welclie  man 
demselben  nach  seiner  Function  höchst  wahrscheinlich  zuschreiben 
iiiuss,  für  die  Organismen  überhaupt  abgeleitet  habe  (S.  41).     Aber 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  121 

wenn  aucli  die  beiden  Anordnungen  sich  änsserlieli  gieiclien,  so 
können  sie  doch  einen  verschiedenen  Charakter  haben,  und  wir 
dürfen  die  spätere  nicht  ohne  weiteres  als  aus  der  ersteren  folgend 
betrachten. 

Für  die  Beurtheilung  des  Vorganges,  wie  das  primordiale  hlio- 
plasma  des  probialen  Reiches  sich  in  dasjenige  der  Pflanzen  und 
Thiere  umwandelt,  stehen  uns  keine  entscheidenden  Analomen  zu 
Gebote.  Alle  organisirten  Substanzen,  deren  Entwicklungsgescliichte 
wir  beobachten  können,  gehören  den  Ontogenien  an  und  gehen  mit 
den  Individuen  zu  Grunde.  Sie  sind  immer  Neubildungen  und  von 
verhältnissmässig  sehr  kurzer  Dauer.  Das  Idioplasma  ist  der  einzige 
Körper,  der  durch  alle  Ontogenien  sich  fortsetzt  und  eine  unbegrenzte 
Dauer  hat ;  denn  das  Idioplasma  des  letzten  und  höchst  entwickelten 
Organismus  ist  das  stetig  fortgewachsene  Idioplasma  des  ersten 
probialen  Wesens.  Kein  organischer  Elementarkörper  gibt  uns  also 
in  seinem  Verhalten  ein  Vorbild  dafür,  wie  die  phylogenetische 
Ausbildung  des  Idioplasmas  erfolgen  muss ;  er  kann  uns  aber  eben- 
sowenig irgend  eine  Annahme  verbieten.  Die  Lösung  dieser  Frage 
wird  immer  nur  auf  theoretischem  Wege  möglich  sein.  Bei  der 
noch  so  mangelhaften  Kenntniss  der  Molecularkräfte  lassen  sich 
vorerst  nur  einige  allgemeine  Gesichtspunkte  feststellen. 

Die  übereinstimmende  Orientirung  der  Idioplasmamicelle  und 
mit  ihr  die  Dichtigkeit  des  Idioplasmas  nimmt,  wie  sie  begonnen 
hat,  nach  und  nach  zu  l)is  zu  einem  Maximum.  In  gleichem  Maasse 
vermindert  sich  das  Wachsthum  durch  Einlagerung.  Es  ist  nämlich 
eine  aus  der  Natur  der  Micellarstructur  nothwendig  sich  ergebende 
Folge,  dass  unter  übrigens  gleichen  Umständen  neue  Micelle  um  so 
schwieriger  zwischen  den  schon  vorhandenen  sich  bilden,  je  gedrängter 
diese  beisammen  liegen.  Daher  muss  das  Ernährungsplasma  von 
Anfang  an  stärker  wachsen  als  das  dichtere  und  geordnetere  Idio- 
plasma, und  die  Ungleichheit  im  Wachsthum  muss  mit  der  Ausbildung 
des  letzteren  sich  steigern.  Durch  das  stärkere  Wachsthum  des 
Ernährungsplasmas  wird  aber  Druck  und  Zug  auf  das  netzförmige 
Idioplasma  ausgeübt.  Diese  mechanische  Action  muss  dazu  bei- 
tragen, dass  die  Balken  des  Netzes  stärker  in  die  Länge  wachsen 
als  in  die  Dicke ,  und  dass ,  wenn  das  Maximum  der  Dichtigkeit 
erreicht  ist,  die  IVIicelleinlagerung  fast  ausschUesslich  für  das  Längen- 
wachsthum  derselben  verwendet  wird. 


122  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Wir  könnten  also  ohne  Anstand  annehmen,  dass  das  ontogene- 
tische  Wachsthum  des  Idioplasmas  lediglich  durch  die  mechanische 
Einwirkung  der  Substanzzunahme  bei  der  individuellen  Entwicklung 
erfolge  und  daher  mit  der  letzteren  gleichen  Schritt  halte.  Damit 
wäre  das  erforderliche  Maass  des  idioplasmatischen  Wachsthums  in 
genauester  Weise  erfüllt.  Gleichwohl  ist  es  möglich,  dass  die  mecha- 
nische Action  nur  einen  gewissen  Anstoss  gibt  und  in  dieser  indirecten 
Weise  das  Maass  bestimmt,  dass  es  aber  im  wesentlichen  innere 
Krcäfte  sind,  welche  das  oiitogenetische  Wachsthum  des  Idioj)lasmas 
bedingen.  Der  Gegensatz  zwischen  dem  fast  ausschliesslichen  onto- 
genetischen  Längenwachsthum  und  dem  fast  verscli^\dndend  geringen 
phylogenetischen  Dickenwach sthum  hängt  dann  ohne  Zw^eifel  mit 
dem  Umstand  zusammen,  dass  in  der  Querrichtung  die  Micelle  fest 
zusammenschliessen,  während  sie  in  der  Längsrichtung  durch  grössere 
wassergefüllte  Zwischenräume  getrennt  sind.  Wir  beobachten  auch 
bei  anderen  ontogenetischen  Erscheinungen  zuweilen  ein  über^^'iegendes 
und  bestimmt  bemessenes  oder  selbst  ein  ausschliessliches  Wachs- 
thum in  einer  gewissen  Richtung.  So  besitzen  beispielsw^eise  manche 
Zellmembranen  Ijloss  plächenwachsthum  durch  Micelleinlagerung 
(ohne  Dickenwachsthum),  einige  selbst  (z.  B.  Spirog}T:a)  bloss  Längen- 
wachsthum (ohne  Breiten-  und  Dickenwachsthum).  Auch  bei  diesen 
Zellmembranen  ist  mechanische  Einwirkung  durch  den  Druck  der 
Zellflüssigkeit  mit  im  S2:>iele;  aber  sie  ist  nicht  allein  maassgebend, 
wie  sich  aus  dem  Umstände  ergibt,  dass  das  Wachsthum  in  den 
beiden  Richtungen  der  Fläche  ein  ungleiches  Maass  einhält,  und  in 
der  einen  zuweilen  ganz  mangelt.  Das  Dickenwachsthum  der  Zell- 
mem])ranen  aber  ist,  ähnlich  wie  dasjenige  der  Idioplasmastränge, 
eine  von  der  mechanischen  Action  und  von  dem  Flächen  wachsthum 
unabhängige  Erscheinung. 

Es  wäre  niclit  unmöglich,  dass  das  Netz ,  als  welches  sich  das 
Idiojdasma  ursprünglich  ausscheidet,  unmittelbar  zu  dem  spätem 
Netz  von  Idioplasmasträngen  sich  ausl)ildete.  Wahrscheinlicher  ist 
es,  dass  die  Entwicklungsgeschichte  vorher  durch  analoge  Zwischen- 
l)ilduiigen  hindurchgeht.  Im  ersten  Stadium  mag  nämlich  das  Idio- 
plasma  noch  wenig  dichter  als  das  Ernährungsplasma  sein  und 
selbständig  in  allen  Richtungen  wachsen.  Dann  muss  die  Sul)stanz 
seiner  Balken  selber  netzartig  werden ,  da  die  Einlagerung  nicht 
überall  gleichmässig  geschieht,   und   diesem   secundären   Netz   folgt 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  123 

vielleicht  noch  ein  tertiäres.  Die  Netzbildiing  hört  auf,  wenn  in  der 
Substanz  der  Balken  die  Uebereinstimmung  in  der  Orientirung  der 
^licelle  hinreichend  gross  geworden  ist  und  das  Dickenwachsthuni 
fast  aufgehört  hat.  —  Ob  diese  wiederholte  Netzl)ildung  wirklich 
eintrete  oder  nicht,  macht  für  das  schliessliche  Ergebniss  keinen 
Unterschied.  Das  letzte  Product  derselben  ist  zwar  anfänglich  als 
ein  feines  Netz  vorhanden,  w'elches  seinem  Ursprünge  gemäss  die 
Maschen  eines  gröberen  Netzes  darstellt.  Aber  diese  Anordiumg, 
welche  gleichsam  als  die  Einschachtelung  eines  Netzes  in  die  Elemente 
eines  andern  bezeichnet  werden  könnte,  verliert  sich  mit  dem  Wachs- 
thum  des  letzten  Netzes  und  mit  der  fortwährenden  Theilung  der 
Plasmamassen  bald,  so  dass  dann  in  dem  Plasma  nur  noch  dieses 
letzte  Idioplasmanetz  gegeben  und  wirksam  ist. 

Wenn  das  Idioplasma  den  geschilderten  netzartigen  Ursprung 
hat  und  die  Stränge  desselben  bloss  in  die  Länge  wachsen,  so  müsste, 
wenn  nicht  ein  neues  Moment  hinzukäme,  wegen  der  starken  onto- 
genetischen  Zunahme  der  Substanz  die  netzartige  Anordnung  in  den 
einzelnen  Partien  derselben  sich  bald  ganz  verlieren  und  in  unver- 
zweigte nicht  anastomosirende  Stränge  übergehen,  und  es  müssten 
wegen  der  mit  der  Zunahme  verbundenen  fortwährenden  Zelltheilung 
viele  Zellen  selbst  ausserhalb  der  Stränge  zu  liegen  kommen  und 
daher  des  Idioplasmas  ganz  entbehren.  Die  vorgetragene  Theorie 
verlangt  daher  die  Annalmie,  dass  zur  beständigen  Erhaltung  des 
feinen  überall  ausgebreiteten  Netzes  sich  Verbindungsstränge  bilden, 
welche  unter  dem  Einfluss  der  Hauptstränge  eine  diesen  ganz  gleiche 
Structur  und  Beschaffenheit  annehmen.  Dass  nachträgliche  Ver- 
bindungen entstehen,  kommt  auch  bei  andern  netzförmigen  Bildungen 
der  Ontogenien  vor  und  hat  nichts  Unwahrscheinhches.  Dass  ferner 
die  neuen  Verbindungsstränge  den  schon  vorhandenen  identisch 
werden,  ist  um  so  eher  anzunehmen,  als  ja  die  geringsten  Abänderungen 
des  Idioplasmas  in  ii^gend  einem  Theil  des  Organismus  an  die  übrigen 
Theile  übermittelt  und  eine  beständige  Ausgleichung  in  dem  ganzen 
idioplasmatischen  Sj'stem  eines  Indi\äduums  zu  Stande  gebracht  wird. 

Ich  habe  oben  (S.  42)  einer  anderen  Ursache  Erwähnung  gethan, 
welche  das  Idioplasma,  auch  ohne  die  jetzt  besprochene  molccular- 
physiologische  Entstehung  des  Idioplasmanetzes,  netzförmig  zu  ge- 
stalten vermag.  Die  beiden  Ursachen  schliessen  sich  nicht  aus; 
sie   können   neljen    einander    bestehen    und    einander    unterstützen, 


124  III-  Ursarhen  der  Veränderung. 

Die  Netzbildiiiig,  die  eine  Folge  der  Zelltheiliuig  sein  iiiiiss,  wird 
die  Bildung  der  anastoniosirenden  Stränge  fördern  und  vielleicht  uls 
selbständigen  Process  überflüssig  machen. 

Was  das  Verhalten  des  Idioplasmas  rücksichtlich  Form  und 
Bau  des  Querschnittes  betriflit,  so  wird  dasselbe  wesentlich  davon  ab- 
hängen, ol)  seine  Stränge  unmitten)ar  aus  den  Balken  des  primordialen 
Idioplasmanetzes  entstehen  oder  nicht.  Die  Balken  des  ursprünglichen 
Netzwerkes  müssen,  da  sie  aus  einer  ziemlich  weichen  Sul^stanz  in 
einer  wasserreicheren  Umgebung  bestehen,  eine  cylindrische  Gestalt 
und  infolge  der  Oberflächenwirkung  eine  concentrische  Anordnung 
ihrer  Micelle  besitzen.  Dies  gilt  überhaupt  für  nicht  sehr  feste 
Körper,  die  frei  in  einer  Flüssigkeit  sich  bilden  und  durch  Ein- 
lagerung wachsen.  Ich  erinnere  beispielsweise  an  die  Stärkekörner 
und  an  die  Cellulosestränge ,  welche  durch  die  Zellhöhlung  von 
Caulerpa  ausgespannt  sind. 

Wenn  dagegen  die  einzelnen  Balken  des  ursprünglichen  Netzes 
infolge  ihres  allseitigen  Wachsthums  selljst  in  Netze  zerfallen,  und 
noch  mehr,  wenn  der  Process  sich  wiederholen  sollte,  hat  der  Quer- 
schnitt der  Stränge,  weil  dieselben  schon  im  Augenblick  ihrer  Bil- 
dung aus  einer  Substanz  von  geordneterer  Micellarstructur  und 
festerer  Consistenz  bestehen,  keinen  concentrischen  Bau  mehr,  sondern 
er  wird  im  allgemeinen  dem  Sector  einer  concentrischen  Anordnung 
entsprechen  und  somit  eine  grössere  Uebereinstimmung  in  der  Orien- 
tirung  der  Micelle  zeigen. 

Im  einen  und  andern  Falle  müssen  die  Idioplasmastränge  nach 
und  nach  die  bei  der  gegebenen  Configuration  möglich  grösste  Ueber- 
einstimmung in  der  Lagerung  der  Micelle  auf  dem  Querschnitt 
und  die  möglich  grösste  Dichtigkeit  und  Festigkeit  der  Substanz 
erlangen;  und  zwar  wird  dieser  Zustand  in  nicht  sehr  späten  Ab- 
kömmlingen der  primordial  entstandenen  Plasmamassen  eintreten. 
Von  jetzt  an  wachsen  die  Stränge  fast  ausschliesslich  in  die  Länge, 
soweit  es  nämlich  die  ontogenetische  Zunahme  verlangt. 

Das  äusserst  langsame  Dickenwachsthum  der  Stränge,  welches 
die  phylogenetische  Zunahme  des  Idioplasmas  darstellt,  führt  mit 
Nothwendigkeit  eine  immer  complicirter  werdende  Configuration  des 
Querschnittes  herbei.  Die  Ursachen  der  sich  steigernden  Zusammen- 
setzung liegen  im  Idioplasma  selber;  es  sind  die  ungleichmässige 
Anordnung  der  Micelle  im  Querschnitt,  die  durch  das  ungleichmässige 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  125 

Längenwachsthum  bedingten  Spannungen  und  die  dynamischen  Ein- 
wirkungen der  MicellgruiDpen  des  Querschnitts  auf  einander.  Wenn 
Conti guration  und  Spannungen  vollkonnnen  regelmässig  wären  und 
die  Regehnässigkeit  auch  nicht  durch  das  Längenwachsthmn  gestört 
würde,  so  könnte  das  Dickenwachsthum  keine  Veränderung  hervor- 
bringen, und  die  Micelle  behielten  fortwährend  eine  Anordnung, 
wie  sie  die  Moleküle  in  den  Krystallen  zeigen. 

Da  diese  Regelmässigkeit  nicht  vorhanden  ist,  so  erfolgen  die 
Einlagerungen  ungieichmässig,  indem  sie  an  gewissen  Stellen  stärker 
oder  allein  thätig  sind. 

Die  gesteigerte  Einlagerung  an  irgend  einem  Punkte  in  einer 
Schaar  von  ziemlich  gleichartig  geordneten  Micellen  kann  nur  dazu 
führen,  dass  innerhalb  jener  Sehaar  eine  neue  Schaar  etwas  anders 
geordneter  Micelle  sich  ausbildet.  Wir  sehen  dies  in  einem  ver- 
grösserten  Maassstabe  deutlich  an  der  Entwicklungsgeschichte  der 
Stärkekörner,  welche,  da  sie  frei  in  einer  Flüssigkeit  oder  weichen 
Plasmamasse  liegen,  ebenfalls  fast  nur  unter  dem  Einfluss  ihrer 
eigenen  Molecularkräfte  sich  ausbilden.  Tritt  eine  Störung  in  der 
regelmässigen  Substanzeinlagerung  ein,  so  ist  die  Folge  davon  ein 
neuer  eigenthümlicher  Complex  von  Schichten  oder  selbst  ein  neues 
Theilkorn  innerhalb  der  Substanz  des  ganzen  Korns. 

Die  phylogenetische  Fortbildung  des  Querschnittes  muss  daher 
im  allgemeinen  den  gleichen  Charakter  zeigen,  ob  dieser  Querschnitt 
anfänglich  ein  concentrisch  geschlossenes  System  oder  ein  offenes 
System  von  Micellen  darstellt.  In  jedem  Falle  können  wir  seine 
ursprüngliche  Beschaffenheit  gleichsam  als  eine  einzige  Micellschaar 
betrachten,  und  das  fortgesetzte  Dickenwachsthum  bringt  nun  stets 
neue  eigenartige  Schaaren  zu  Stande.  Vorerst  kommt  es  ja  nicht 
darauf  an ,  dass  bestimmte  Anordnungen  entstehen ,  sondern  nur 
darauf,  dass  die  Anordnungen  immer  complicirter  werden. 

Die  Nothwendigkeit  einer  ungleichmässigen  Einlagerung  auf 
dem  Querschnitt  ist  am  einleuchtendsten  bei  concentrischem  Bau 
der  Stränge,  weil  hier  die  ü])ereinstimmende  Lagerung  der  Micelle 
nach  innen  hin  sich  vermindert  und  im  Centrum  vollständig  gestört 
ist.  An  der  letzteren  Stelle  liegen  also  die  Micelle  lockerer  beisammen 
und  haben  mehr  AVasser  zwischen  sich,  so  dass  sich  leichter  neue 
Micelle  einlagern.  Nach  und  nach  kann  aber,  indem  der  ursj^rüng- 
lich  kreisförmige  Querschnitt  eine  andere  Gestalt  annimmt  und  grössere 


126  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Abweichungen  von  der  concentrischon  Anordnung  erfährt,  auch  die 
Substanz  im  Centrum  eine  ziemhch  grosse  Festigkeit  erlangen.  Inuner- 
hin  bleibt  für  alle  Zeiten  die  Micellanordnung  mehr  als  unregel- 
mässig genug,  um  stets  da  oder  dort  ein  gesteigertes  Wachsthum  zu 
gestatten. 

Eher  möchte  man,  wenn  der  Querschnitt  nicht  ein  concentrisch 
geschlossenes,  sondern  ein  offenes  System  darstellt,  für  denkbar 
halten,  dass  die  Regelmässigkeit  der  Anordnung  möglicherweise  hin- 
reichend gross  wäre,  um  ein  ungleichmässiges  Wachsthum  auszu- 
schliessen.  Die  genaue  Ueberlegung  zeigt  aber,  dass  dies  nie  der 
Fall  sein  kann.  Denn  die  Micelle  sind  ihrer  Natur  nach  nie  unter 
einander  gleich  an  Grösse,  Gestalt  und  chemischer  Beschaffenheit 
und  wirken  nicht  überall  mit  gleiclien  Kräften  auf  einander  ein. 
Es  gibt  daher  immer  einzelne  Stellen,  welche  der  Einlagerung  den 
geringsten  Widerstand  darbieten  und  wo  ein  die  regelmässige  An- 
ordnung störendes  Micell  sich  einschieben  kann.  Dieses  erste  störende 
Micell  ist  der  Anfang  einer  ganzen  von  der  übrigen  Anordnung 
mehr  oder  weniger  abweichenden  Micellschaar,  und  mit  der  ersten 
eigenartigen  Micellschaar  sind  zahlreiche  Stellen  gegeben,  wo  wieder 
die  Einlagerung  beginnen  kann.  Dieser  Process  wiederholt  sich 
unaufhörlich,  und  die  Zahl  der  Micellschaaren  wird  immer  grösser. 

Zu  den  Störungsursachen,  welche  dem  Querschnitt  als  solchem 
angehören,  gesellen  sich  noch  die  Spannungen,  welche  durch  das 
ungleiche  Längenwaclisthum  und  die  ungleiche  Erregung  der  ver- 
schiedenen micellaren  Längsreihen  hervorgebracht  werden  (S.  49). 
Diese  in  der  Längsrichtung  thätigen  Kräfte  müssen  mit  irgend  einer 
Componente  auch  in  der  Querrichtung  wirken,  und  an  gewissen  Stellen 
die  Einlagerung  fördern,  an  andern  sie  verhindern. 

Man  könnte  vielleicht  den  Einwurf  machen,  dass,  da  die  Ver- 
änderung der  Querschnittsconfiguration  von  dem  mehr  oder  weniger 
festen  Zusammenhang  der  Micellreihen  und  von  dem  durch  deren 
ungleiches  Längenwaclisthum  bewirkten  Spannungen  verursacht  werde, 
nicht  nothwendig  die  Einlagerung  neuer  Micellreihen  und  die  Be- 
reicherung des  Querschnittes  erfolgen  müsse,  sondern  dass  unter 
Umständen  auch  die  Unterdrückung  von  Micellreihen  und  die  Ver- 
arnumg  des  Querschnitts  eintreten  könne.  Diesen  Einwurf  halte 
ich  nicht  für  gerechtfertigt;  denn  es  ist  weniger  w^ahrscheinlich,  dass 
eine   MiccUreihe,    die    sich   in   der  ganzen    Länge    des   Idioplasma- 


ni.  Ursachen  der  Veränderung.  127 

Stranges  ausdehnt  und  mit  den  übrigen  parallelen  Micellreihen  durch 
Einschaltung  von  neuen  Micellen  zwischen  die  schon  vorhandenen 
sich  verlängert,  durch  den  hier  möglichen  Druck  versclnvinden 
kann,  während  es  sehr  begreiflich  ist,  dass  an  einer  Stelle,  wo  durch 
Zug  Raum  geschaffen  wird,  sich  eine  neue  Reihe  einzulagern  beginnt. 

Unter  den  Ursachen,  welche  auf  die  Veränderung  der  Structur 
der  Idioplasmastränge  Einfluss  haben,  sind  von  besonderer  Bedeutung 
die  dynamischen  Einwirkungen,  welche  die  Micellreihen  oder  die 
Micelle  des  Querschnitts  auf  einander  ausüben,  und  welche  mit  der 
zunehmenden  Organisation  der  Stränge  stets  stärker  und  mannig- 
faltiger werden.  Dieselben  haljen  noth wendig  eine  schärfere  Son- 
derung der  Micellgruppen  und  neue  Diiferenzirungen  der  Micellreihen 
zur  Folge.  So  bewirkt  die  mannigfaltigere  Organisation  eine  mannig- 
faltigere dynamische  Einwirkung  und  diese  wiederum  eine  Steigerung 
der  Organisation,  besonders  wenn  eine  A^ermehrung  der  Micellreihen 
nebenhergeht.  Ist  die  phylogenetische  Entwicklung  einmal  im  Gang, 
so  muss  sie  in  gleicher  Richtung  fortschreiten.  Wir  haben,  worauf 
ich  bereits  hingewiesen  habe  (S.  118),  in  der  Veränderung  des  Idio- 
plasmas  ein  analoges  Beispiel  für  die  in  der  unorganischen  Welt 
als  Entropie  der  mechanischen  Wärmetheorie  bekannte  Erscheinung, 
wonach  ein  Zustand  in  einen  andern  üljergeht,  während  der  Ueber- 
gang  in  umgekehrter  Richtung  nicht  möglich  ist.  In  beiden  Fällen 
bedingt  die  \^ertheilung  von  Stoff  und  Kraft  oder  Configuration  des 
ganzen  Sj^stems  mit  Noth  wendigkeit  die  Umwandlung  nach  einem 
Ziele. 

Die  Hypothese,  welche  icli  bezüglich  der  phylogenetischen  Ent- 
wicklungsgeschichte aus  dem  i:)rimordialen  Netzwerk  der  sj)ontan 
entstandenen  Plasmamassen  aufgestellt  habe,  hält  sich  lediglich  an 
Erscheinungen,  welche  in  den  Ontogenien  der  Organismen  vorkommen. 
Ich  habe  kein  Moment  angeführt,  das  nicht  in  einem  ontogenctischen 
Vorgange  seine  Analogie  fände.  Damit  ist  jedoch  nicht  gesagt,  dass 
die  Entwicklung  nicht  auch  in  anderer  Weise  geschehen  könnte. 
Diese  Möglichkeiten  sind  aljer  sehr  beschränkt,  und  durch  diese 
Beschränkung  erhält  die  Hypothese  eine  erhöhte  Bedeutung. 

Wenn  ich  das  Idioplasma  aus  der  netzförmigen  Ungleichheit 
von  dichteren  und  weicheren  Partien,  welche  mit  absoluter  Noth- 
wendigkeit  als  erste  Differenzirung  im  primordialen  Plasma  sich 
einstellt,  hervoroehen  lasse,  so  steht  dieser  Annahme  noch  die  andere 


128  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Möglichkeit  gegenüber,  dass  das  Idiojjlasma  als  eine  von  dem  ursprüng- 
lichen Netzwerk  unabhängige  Bildung  auftrete  und  ebenfalls  ein  von 
den  übrigen  Wachsthumserscheinungen  unabhängiges  Wachsthuni 
besitze.  Es  ist  recht  wohl  denkbar,  dass  innerhalb  der  dichteren 
Partien  des  primordialen  Plasmas  sich  besondere  Körper  bilden, 
welche  durch  noch  grössere  Dichtigkeit  \ind  Festigkeit  ausgezeichnet 
sind  und  eine  selbständige,  nur  von  ihrer  eigenen  Natur  bedingte  Ent- 
wicklung zeigen.  Diesen  idioplasmatischen  Körpern  müssten  wir 
ebenfalls  ein  fast  ausschliessliches  Längenwachsthum  und  somit 
strangförmige  Beschaffenheit  zuschreiben;  wir  müssten  ferner  an- 
nehmen, dass  sie  sich  netzförmig  an  einander  legen,  und  dass  sie 
sich,  mn  die  netzförmige  Anordnung  bei  der  ontogenetischen  Ver- 
mehrung zu  erhalten,  regelmässig  theilen  und  neu  anordnen. 

Die  zwei  wesentlich  neuen  Momente  dieser  zweiten  möglichen 
Hj'pothese,  das  Zerfallen  der  Idioplasm astränge  und  ihre  neue  An- 
ordnung, finden  ebenfalls  in  vorhandenen  Erscheinungen  thatsächliche 
Anhaltspunkte.  Das  Zerfallen  eines  micellösen  Körpers  in  zwei  tritt 
bei  der  Vermehrung  der  Chlorophyllkörner  und  Zellkerne,  sowie 
meistens  bei  der  Fortpflanzung  einzelliger  Organismen,  das  Ablösen 
von  Zellen  bei  der  Fortpflanzung  mehrzelliger  Organismen  ein.  Die 
Ursachen  für  einen  solchen  Process  sind  offenbar  je  nach  den  ob- 
waltenden Verhältnissen  ungleich ;  bei  den  Idioplasmasträngen  müsste, 
wenn  dieselben  eine  gewisse  Länge  erreiclit  haben,  an  der  Theilungs- 
stelle  eine  vermehrte  Wassereinlagerung  stattfinden,  wodurch  die 
Cohäsion  vermindert  und  gegenüber  den  mechanischen  Einwirkungen 
unmächtig  wird. 

Was  das  Zusammentreten  getrennter  Idioi3lasmastränge  zu  einem 
Netz  betrifft,  so  kommen  solche  netzförmige  Anordnungen  bei  Plasma- 
körpern (z.  B.  Chlorojjhyllkörnern)  vor.  Die  Ursachen  der  letzteren 
Erscheinung  sind  unbekannt;  die  netzförmige  Anlagerung  der  Idio- 
plasmastränge  könnte  nur  durch  die  gegenseitige  Anziehung  ihrer 
Enden  erfolgen,  wofür  die  Analogie  nicht  mangeln  würde.  Ich 
werde  bei  Anlass  der  Anpassung  gewisser  Fortj)flanzungserscheinungen 
von  Phanerogamen  und  bei  der  Befruchtung  zeigen ,  dass  solche 
Anziehungen  und  ebenfalls  Abstossungen  zwischen  Idioplasmapartien 
wirklich  angenommen  werden  müssen. 

Die  zweite  Hypothese  über  die  phylogenetische  und  ontogenetische 
Entwicklung    des   Idioplasmas   enthält   somit    ebenfalls   nichts,   was 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  ]  29 

nicht  anderweitig  schon  voi'känio.  Die  heiden  Hypothesen ,  ausser 
denen  es  wohl  keine  andere  denkbare  Annahme  gibt,  stimmen  in 
der  Hauptsache  unter  einander  überein.  Sie  zeigen  beide  in  gleiclier 
Weise  die  Möghchkeit  der  mechanischen  Vorstelhnig,  dass  das  Idio- 
plasma,  der  Träger  der  specifischen  Eigenthümhchkeiten,  trotz  seiner 
ungeheuren  ontogenetischen  Zunahme ,  phylogenetisch  seine  Con- 
figuration  äusserst,  langsam  verändert,  und  dass  diese  ^'^eränderung 
stetig  und  sicher  durch  die  unendliclie  Zahl  der  Generationen  ver- 
läuft und  mit  Nothwendigkeit  einer  zusammengesetzteren  Beschaffen- 
heit, also  einer  höheren  Vollkommenheit  zustrebt. 


Ich  habe  darzulegen  versucht,  wie  das  primordiale  Plasma  durch 
die  in  ihm  gegebenen  Molecularkräfte  sich  umbilden  und  wie  das 
aus  diesem  Process  hervorgehende  Idioplasma  gleichfalls  durch  seine 
eigenen  Molecularkräfte  sich  entwickeln  muss,  wenn  man  die  äusseren 
auf  die  Organismen  einwirkenden  Ursachen  als  nicht  vorhanden 
betrachtet.  Die  nächste  Frage  ist  nun ,  welche  Folgen  aus  dieser 
selbständigen  Configurationsänderung  des  Idioplasmas  für  das  ge- 
sammte  physiologische  Verhalten,  für  die  chemischen  I'rocesse,  die 
plastischen  Bildungen  und  die  verschiedenen  Bewegungen  sich  er- 
geben. 

Die  aus  der  unorganischen  Unterlage  ursprünglich  ge])ildeten 
Eiw^eissmicelle  haben  wegen  ihrer  ungeordneten  Lagerung  noch 
keine  andere  Wirkung,  als  dass  unter  dem  Einfluss  jedes  einzelnen 
oder  einiger  weniger  die  Eiweissbildung  leichter  vor  sich  geht,  als 
in  der  umgebenden  unorganisirten  Flüssigkeit.  Massenwirkungen 
sind  noch  nicht  vorhanden,  weil  die  Molecularkräfte  der  nach  allen 
möglichen  Richtungen  orientirten  Micelle  bloss  in  unmittelbarer 
Nähe  sich  geltend  machen  können,  darüber  hinaus  aber  sich  gegen- 
seitig aufheben. 

Sowie  jedoch  die  Micelle  sich  zu  gleich  orientirten  Schaaren 
ordnen  und  somit  die  Anfänge  des  Idioplasmas  darstellen,  so  werden 
auch  ihre  Molecularkräfte  übereinstimmend  gerichtet  und  zu  einer 
gemeinsamen  Wirkung  summirt.  Diese  Wirkung  steigert  sich  in 
dem  Maasse ,  als  in  dem  sich  weiter  entwickelnden  Idioplasma  die 
Anordnung  an  Bestimmtheit  und  Umfang  zuninnnt.  Es  treten 
ferner  mehrere  ungleichartige  Wirkungen  auf,  wenn  das  Idio})lasma 
sich  in  mehrere  ungleichartige  Micellschaaren  gliedert. 

Y.  Nägeli,  Abstammungslehre.  'J 


130  ni.  Ursachen  der  Veränderung. 

Diese  verstärkte  Action  der  vereinten  Molecularkräfte  macht 
sich  namenthch  nach  aussen  bemerkbar.  Im  Innern  des  Idioplasmas 
selbst  kann  sie  wegen  der  Dichtigkeit  und  Festigkeit  seiner  Structur 
nur  die  sehr  langsame  phylogenetische  Aenderung  in  der  chemi- 
schen Beschaffenheit,  Gestalt  und  Anordnung  der  neu  eingelagerten 
Micelle  mitbedingen.  In  den  Zwischenräumen  und  in  der  nächsten 
Umgebung  der  Idioplasmakörper  dagegen  verursacht  sie  neue  che- 
mische Processe,  ferner  plastische  Bildungen  und  Ortsveränderungen 
ganzer  individueller  Massen  und  ihrer  Theile. 

Der  Einfluss  auf  den  Chemismus  ist  leicht  erklärlich,  da  durch 
stärkere  Kräfte  oder  durch  Zusammenwirken  von  verschiedenen 
Kräften  Verbindungen  und  Zersetzungen  veranlasst  werden,  welche 
sonst  nicht  zu  Stande  kämen.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  Ge- 
staltungsprocess ,  welcher,  wenn  wir  auf  den  Grund  zurückgehen, 
immer  von  der  Anlagerung  der  Micelle  und  Moleküle  abhängt.  Es 
ist  klar,  dass  stärkere  Kräfte  und  Zusammenwirken  verschiedener 
Kräfte  das  Vermögen  besitzen ,  die  entstehenden  Micelle  in  be- 
stimmte Lagen  zu  rücken ,  den  sich  ansetzenden  Molekülen  be- 
stimmte Stellen  anzuweisen,  und  somit  am  Organismus  einen  grösseren 
oder  kleineren  Körper  von  besonderer  Gestalt,  Structur  und  Be- 
schaffenheit zu  erzeugen,  der  sich  sonst  nicht  bilden  würde. 

Auf  den  untersten  Ent^\dcklungsstufen  wird  zwischen  den  Idio- 
plasmakörpern  bloss  wasserreicheres  Ernährungsplasma  erzeugt,  und 
diese  Bildung  erfolgt  auch  auf  allen  höheren  Stufen  unter  dem  Ein- 
fluss sowohl  des  Ernährungsj^lasmas  selber,  als  des  angrenzenden 
Idioj)lasmas  in  reichlichem  Maasse ,  so  dass  das  Ernährungsj)lasma 
Stetsfort  den  grössten  Theil  der  in  den  Organismen  vorhandenen  plas- 
matischen Substanzen  ausmacht.  Dasselbe  ist  stets  weicher  als  das 
Idioplasma,  und  wenn  unter  der  Einwirkung  des  letzteren  auch  festere 
Partion  von  Ernährungsplasma  sich  bilden,  so  ist  denselben  sowohl 
durch  ihre  kurze  ontogenetische  Dauer,  als  durch  die  chemische  Be- 
schaffenheit der  All)uminate  eine  Schranke  gesetzt,  welche  sie  ver- 
hindert, über  einen  bestimmten  Grad  der  Organisation,  der  Dichtig- 
keit und  Festigkeit  hinaus  zu  gehen. 

Sind  die  ersten  Entwicklungsstufen  überschritten  und  die  ge- 
einten idioplasmatischen  Kräfte  theils  stärker,  theils  verschiedenartig 
geworden,  so  entstehen  neben  dem  Ernährungsplasma  auch  andere 
Verbindungen ,    die   ihrer   Natur    nach    eine   micellöse   Structur   an- 


III.  Ursaehen  der  Veränderung.  131 

nehmen.  Es  sind  dies  dem  Eiweiss  verwandte  Substanzen,  die 
namentlich  im  Thierreiche,  und  Kohlenhydrate,  die  besonders  im 
Pflanzenreiche  vorkommen.  Diese  nicht  plasmatischen  Substanzen, 
obgleich  nur  von  kurzer  ontogenetischer  Dauer,  erlangen  doch  zu- 
weilen in  Folge  ihrer  chemischen  Beschaffenheit  mit  Hilfe  der  idio- 
plasmatischen  Einwirkung  eine  hoch  entwickelte  Organisation;  in 
andern  Fällen  können  sie  entweder  in  Folge  ihrer  eigenen  Be- 
schaffenheit, oder  weil  andere,  vorzüglich  unorganische  Verbindungen, 
sich  an  die  Micelle  anlagern,  eine  ausserordentliche  Dichtigkeit  und 
Festigkeit  erreichen. 

Was  die  Bewegungen  betrifft,  so  ist  unzweifelhaft,  dass  unter 
übrigens  gleichen  Umständen  um  so  grösseren  Massen  eine  um  so 
schnellere  Orts  Veränderung  mitgetheilt  wird ,  je  mehr  die  dabei 
thätigen  Micelle  übereinstimmend  geordnet  sind ,  wie  ich  schon 
anlässlich  der  vermeintlichen  Urzeugung  der  Moneren  hervorgehoben 
habe  (S.  9o).  Da  die  gleichsinnigen  Orientirungen  zuerst  im  Idio- 
plasma  auftreten  und  von  demsell)en  dann  auf  die  übrigen  Sub- 
stanzen übergehen,  so  haben  alle  Massenbewegungen  im  Idioplasma 
ihren  Ursprung.  Nur  in  seltenen  Fällen  ist  das  letztere,  durch  die 
Anziehung,  die  es  ausül)t,  die  unmittelbare  Ursache  der  Bewegung 
oder  ihrer  Richtung,  wie  dies  ohne  Zweifel  bei  Spermatozoiden  der 
Fall  ist,  die  ihren  Lauf  im  Wasser  nach  der  Eizelle  hin  nehmen. 
Gewöhnlich  verursacht  das  Idioplasma  Ortsbewegungen  von  Massen 
nur  auf  indirectem  Wege,  indem  es  andere  Substanzen  mit  den 
nöthigen  Mitteln  dazu  ausstattet. 

Die  chemischen  Processe,  die  plastischen  Bildungen  und  die 
Bewegungen  werden,  wie  sich  aus  der  vorstehenden  Betrachtung 
ergibt,  in  dem  Maasse  mannigfaltiger,  als  die  verschiedenartigen 
Miccllschaaren  in  dem  Idioplasma  an  Zahl  zunehmen.  Die  Menge 
der  eigenthümlichen  Erscheinungen  ,  die  einen  Organismus  zu- 
sammensetzen, nimmt  daher  zu,  so  lange  die  phylogenetische  Ent- 
wicklung andauert.  Ort  und  Zeit  für  das  Auftreten  einer  jeden 
Ersclieinung  aber  hängt,  wie  ich  früher  ausgeführt  hal)e  (S.  .'>0), 
von  dem  wechselnden  Erregungsstande,  in  dem  sich  das  Idioplasma 
befindet,  und  von  der  Einwirkung,  die  es  von  der  ihm  angewiesenen 
Stelle  in  der  Ontogenie  empfängt,  ab.  So  bewirkt  das  nändiche 
Idioplasma  die  Bildung  von  Stärkekörnern  im  Innern  vom  l^rnäh- 
rungsplasma,    die  Bildung  von  Cellulosemembranen  an  der  Aussen- 

9* 


i32  III'  Ursachen  der  Veränderung. 

fiäclie  desselben ,  die  Entstehung  von  Wurzeln  an  bestimmten  und 
die  Entstehung  von  Blättern  an  bestimmten  andern  Stellen  des  Ge- 
fässstengels,  die  Erzeugung  von  Niederblättern  am  Anfange  und  die- 
jenige der  Fruchtl>lätter  am  Ende  des  Stengel wachsthums. 

Die  vorstehende  Betrachtung  wurde  unter  der  Voraussetzung 
angestellt ,  dass  die  äusseren  Einwirkungen ,  welche  erbliche  Ver- 
änderungen verursachen,  ganz  gemangelt  und  nur  eine  indifferente 
Ernährung  stattgehmden  hätte.  In  diesem  Falle  musstc  die  orga- 
nische Welt  aus  dem  primordialen  Plasma  durch  innere  Kraft  zu 
immer  li oberen  Organisationsstufen  und  zu  immer  grösserer  Voll- 
konnnenheit  gelangen,  wenn  wir  unter  Vollkommenheit  eine  reichere 
Gliederung  in  Bau  und  Function  verstehen.  —  Von  der  Beschaffen- 
heit der  auf  solche  Weise  zu  Stande  gekommenen  Organisationen 
können  wir  uns  aljer  bloss  eine  ganz  allgemeine  und  unklare  Vor- 
stellung machen ;  die  Gestaltung  eines  concreten  Bildes  ist  aus  zwei 
Gründen  unmöglich :  1 .  weil  wir  die  Beschaffenheit  der  Micelle  nur 
ganz  im  allgemeinen  kennen ,  und  daher  nichts  Specielles  damit 
construiren  können,  und  2.  weil  alle  unsere  Vorstellungen  über  Or- 
ganisation an  Organismen  gel)ildet  wurden,  die  unter  dem  Einfluss 
der  von  aussen  wirkenden  Kräfte  ein  bestimmtes  Gepräge  ange- 
nonnnen  haben,  und  weil  wir  uns  dieses  Gepräge  nicht  wegzudenken 
vermögen.  Dies  thut  indessen  der  Gewissheit ,  dass  die  inneren 
Kräfte  bei  der  phylogenetischen  Entwicklung  der  Reiche  eine  ganz 
entscheidende  Rolle  gespielt  haben,  keinen  Eintrag,  —  und  ebenso 
wenig  kann  es  uns  zweifelhaft  sein,  welches  diese  Rolle  gewesen  sei. 


Die  l)isherige  Betrachtung  hat  zu  dem  Ergel)niss  geführt,  dass 
die  noth wendige  Folge  der  inneren  mechanisch  wirkenden  Ursachen 
eine  stetige  in  bestimmter  Bahn  fortschreitende  Entwicklung  der 
Stamm})äume  sein  muss ;  auch  die  äusseren  Einflüsse  wirken ,  wie 
wir  sj)äter  sehen  werden ,  wäln'cnd  grösserer  Zeiträume  langsam 
verändernd  ein.  —  Wir  möchten  dalier  erwarten,  dass  die  Erfahrung 
diese  continuirliche  Entwicklung  l)estätige.  Nun  ist  dies  aber  be- 
kanntlicli  dem  Anscheine  nach  nicht  der  Fall ,  und  nach  der  Dar- 
stellung der  Darwin 'sehen  Scliule  soll  die  Veränderung  während 
langer  Zeiträume  ruhen  und  dann  in  Folge  eines  inneren  oder 
äusseren  Anstosses  wieder  beginnen ;  so  sind  viele  Arten  und  Varie- 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  133 

täten  seit  der  Eiszeit  und  länger  sicher  so  gleich  gehhehcn ,  dass 
wir  keinen  Unterschied  an  ihnen  l)emerken  (S.  104).  Dahei  blei])t 
uns  nur  unverständlich ,  welcher  Natur  der  Anstoss  sein  möchte, 
der  nach  einem  langen  Zeitraum  plötzlich  von  innen  oder  aussen 
kommen  soll.  Besonders  unl)egreiflich  ist  der  Anstoss  von  aussen, 
da  ja  die  äusseren  Ursachen  fortwährend  die  nämlichen  sind  und 
nicht  in  einem  bestimmten  Jahr  etwas  bewirken  können,  was  sie  in 
Tausenden  von  Jahren  vorher  nicht  zu  bewirken  vermochten. 

Schon  diese  Betrachtung  zeigt  uns ,  dass  die  Organismen ,  o]> 
gleich  sie  den  greifbaren  Merkmalen  nach  vollkommen  gleich  zu 
bleiben  scheinen,  doch  in  Wirklichkeit  nicht  still  stehen,  dass  eine 
innere  Umbildung  in  ihnen  vorgeht,  welche  sie  mit-  der  Zeit  für 
die  Anstösse  empfänglicher  macht.  Müssen  wir  aber  eine  solche 
Umbildung  annehmen,  so  brauchen  war  überhaupt  die  räthselhaften 
besonderen  Anstösse  nicht  mehr;  sondern  die  äussere  A'^eränderung 
tritt  unter  gewöhnlichen  Umständen  von  selbst  ein,  wenn  in  Folge 
der  inneren  Umbildung  eine  Disposition  auf  eine  gewisse  Höhe  ge- 
diehen ist.  Natürlich  kann  dieser  Zeitpunkt  durch  die  Combination 
der  inneren  Verhältnisse  und  in  erheblichem  Maasse  wohl  auch 
durch  die  äusseren  Einflüsse  viel  früher  eintreten  oder  lang  ver- 
schoben werden. 

Wir  sind  somit  auf  diesem  Wege  genau  dahin  gekommen, 
wohin  uns  auch  die  Theorie  des  Idioplasmas  geführt  hat.  In  dem- 
selben sind,  wie  alle  Erfahrungen  zeigen,  stets  fertige,  werdende 
und  vergehende  Anlagen  enthalten.  Bei  der  langsamen  Umbildung 
des  Idioplasmas  werden  alte  Anlagen  nach  und  nach  geschwächt 
und  gehen  verloren,  indess  neue  beginnen  und  sich  ausbilden,  bis 
sie  nach  einer  Zahl  von  Generationen  zu  äusserlich  bemerkbaren 
physiologischen  und  morphologischen  Merkmalen  sich  entfalten.  Es 
hat  somit  durchaus  nichts  Befremdendes,  wenn  uns  die  organischen 
Reiche  das  Schauspiel  von  Sippen  darbieten,  welche  eine  Zeit  lang 
stille  stehen  und  dann  auf  einmal  sich  zu  verändern  begiimen.  Man 
könnte  bloss  allenfalls  das  Bedenken  hegen,  ob  ein  so  gar  langes 
Stillstehen  denkbar  sei,  ob  die  Anlagen  vieler  Tausende  von  Jahren 
bedürfen,  um  actionsfähig  zu  werden. 

Wir  stehen  da  wieder  vor  der  Zeitfrage,  die  bezüglich  der  Ab- 
stammungslehre schon  viel  unnöthigen  Staub  aufgeworfen  hat.  Da 
wir    über    die    ganze    für    den    vollständigen    Stammbaum    zur  Yvv- 


134  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

fügung  stellende  Zeit,  über  die  Zeit,  während  welcher  organisches 
Leben  auf  der  Erde  möglich  war,  im  Unklaren  sind,  so  vermögen 
wir  auch  kein  Urtheil  zu  haben  über  die  Zeit,  welche  durchschnitt- 
lich auf  jeden  einzelnen  Schritt  im  Stannnl)aum  tritt't,  und  wir 
könnten  el)ensowohl  durch  Annahme  zu  grosser  als  zu  kleiner  Zeit- 
abschnitte irre  gehen.  Uebrigens  ist  niclit  gesagt,  dass  jeder  Schritt 
in  der  sichtbaren  Veränderung  gleich  viel  Zeit  erfordere.  Im  Gegen- 
theil  spricht  die  Wahrscheinlichkeit  dafür,  dass  periodenweise  die 
äusserlich  wahrnehmbaren  Schritte  rascher  auf  einander  folgen  und 
mit  längeren  Stillständen  abwecliseln,  —  wie  dies  auch  in  der  Ent- 
wicklungsgeschichte der  Individuen,  welche  offenbar  so  viel  Aehn- 
lichkeit  mit  der  Geschichte  der  Stamml)äume  hat,  der  Fall  ist. 

Das  Idioplasma  verändert  sich  unaufhörlich ;  aber  wie  in  der 
unorganischen  Materie  bald  eine  geringe,  l>ald  eine  grosse  Menge 
von  Spannkraft  sich  anhäuft,  ehe  sie  als  Bew^egung  frei  wird,  so 
mögen  im  Idioplasma  bald  die  einzelnen  Anlagen ,  sowie  sie  fertig 
gebildet  sind,  die  entsjjrech enden  äusseren  Veränderungen  hervor- 
rufen, bald  mögen  sie  durch  eine  längere  Periode  in  Mehrzabl  sicli 
anstauen  und  dann  rasch  nach  einander  sich  in  ihren  morphologischen 
und  physiologischen  Merkmalen  verwirklichen. 

Was  aber  die  andere  Seite  der  theoretischen  Frage  betrifft,  ob 
es  denkbar  sei,  dass  die  Veränderung  un  Idioplasma  so  langsam  vor 
sich  gehe  und  dass  die  jährlichen  Schritte  so  klein  seien,  um  erst 
nach  vielen  tausend  Jaliren  eine  fertige  Anlage  zu  Stande  zu  bringen, 
so  hängt  dies  von  der  Vorstellung  ab,  die  wir  uns  über  diese  Schritte, 
somit  über  die  micellare  Beschaifenheit  des  Idioplasmas,  namentlich 
über  Grösse,  Zahl  und  Anordnung  der  Micelle  zu  machen  haben. 
Je  zahlreicher  und  kleiner  dieselben  sind,  um  so  geringer  vermag 
der  einzelne  Schritt  in  der  Veränderung  auszufallen,  und  um  so 
mehr  solcher  Schritte  bedarf  es,  bis  eine  merkliche  Umbildung  in 
der  Substanz  erreicht  ist.  Was  nun  diesen  Punkt  betrifft,  so  sind 
in  dem  einzelligen  Keim  unter  allen  Umständen  viele  Millionen  von 
Idioplasmamicellen  enthalten.  Hat  das  Idioplasma  überdem  die 
strangförmige  Structur,  wie  ich  es  angenommen  habe,  und  wird 
demnach  die  phylogenetische  Bereicherung  des  Querschnitts  von 
dem  ontogenetischen  Längenwachsthum  l)loss  durch  die  Verursachung 
von  schwaclien  Spannungen  berührt,  so  können  wir  uns  die  Ein- 
schiebung  eines  einzigen  Micells  sehr  langsam  denken,  indem  zuerst 


III.   Urwachen  der  Veränderung.  135 

eine  locale  Sj^annimg  iiacli  und  nach  zunimmt  und  erst,  wenn  sie 
eine  gewisse  Höhe  erreicht  hat,  die  beginnende  Bildung  des  Micells 
bewirkt.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Umbildung  der  Quer- 
schnittsconfiguration  durch  die  dynamische  Einwirkung  der  Micell- 
gruppen  auf  einander,  indem  die  Verstärkung  der  Anlagen,  die 
schärfere  Sondermig  derselben  und  die  Differenzirung  in  ihrem 
Innern  in  jedem  beliebig  langsamen  Zeitmaass  gedacht  werden 
kann.  Es  ist  uns  also  gestattet,  die  unaufhörlich  thätige  und  nie 
stillstehende  Entwicklung  des  Idioplasmas  anzunehmen,  und  wir 
dürfen  bezüglich  der  Frist,  die  wir  für  die  Bildung  einer  fertigen 
und  entfaltungsfähigen  Anlage  zugestehen,  auch  vor  Eiszeitweiten 
nicht  zurückschrecken. 

Endlich  lässt  sich  die  Zeitfrage  noch  von  einigen  Erfahrungs- 
thatsachen  aus  beleuchten.  Es  ist  bekannt,  dass  bei  Menschen  nach 
mein-eren  Generationen  frühere  Merkmale  wieder  zum  A^orschein 
kommen.  Wenn  nun  eine  Anlage  ein  Jahrhmidert  latent  bleiben 
und  dann  in  Qualität  und  Quantität  scheinbar  unverändert  w^ieder 
hervorbrechen  kann,  so  begreifen  war,  dass  zu  ihrer  Bildung  mög- 
licherweise viele  Jahrtausende  erfordert  werden.  Und  wenn  gar, 
nach  der  Annahme  der  Darwin'schen  Schule,  Merkmale  von  vor- 
weltlichen Organismen  abermals  auftreten,  so  müsste,  w^ie  dem  Ver- 
l)orgensein  und  dem  Verschwinden,  auch  dem  Werden  der  Anlagen 
eine  Erdperiodenzeit  zugestanden  werden. 

Es  steht  also  der  mechanischen  Forderung,  dass  die  begonnene 
A^'eränderungsbewegung  nicht  zeitweise  stille  stehe  und  dann  will- 
kürlich wieder  beginne,  sondern  dass  sie  durch  alle  Generationen 
thätig  bleibe,  nichts  im  Wege,  wenn  war  uns  nicht  bloss  an  die 
äusserlich  hervortretenden  Ereignisse,  sondern  an  die  im  ^^erborgenen 
wirkenden  Ursachen  dersel])en  halten.  Die  gewöhnliche  Betrachtungs- 
weise, welche  die  Veränderung  bloss  nach  den  wahrnehmbaren  Merk- 
malen abschätzt,  gleicht  der  Geschichtschreilmng,  welche  nur  von 
Kriegen  und  Eroberungen,  Verträgen  und  Friedensschlüssen,  Revo- 
lutionen und  Parteikämpfen,  Beginn  und  Ende  der  Reiche  und  der 
Dynastien  berichtet,  aber  sich  um  den  im  Stillen  arbeitenden,  die 
Ereignisse  vorbereitenden  und,  wenn  zur  Reife  gediehen,  auch  un- 
widerstehlich durchführenden  Fortschritt  in  der  Bildung  und  Sitte 
der  Individuen  nicht  kümmert. 

Es  ist  nocli  ehi  Punkt  zu  l)esprcchcn,  über  den  die  gewöhnliche 


J36  I^^I-  Ursachen  der  Veränderung. 

Betrachtungsweise,  welche  sich  an  das  Aeiisserhche  hält,  nicht  weniger 
im  Irrthiim  sich  hcfindet;  dieselhc  nimmt  an,  dass  die  Veränderung 
mit  der  Fortpflanzung  zusammenfalle.  Dies  rührt  von  dem  schon 
früher  erwähnten  Umstände  her,  dass  man  durch  unmittelbare  Be- 
obachtung die  Veränderungen  bloss  bei  der  Vermischung  ungleicher 
Individuen  und  l)ei  der  Kreuzung  kennt.  Hier  muss  man  nun 
begreiflicherweise  die  neue  Combination  von  Eigenschaften  mit 
dem  Moment  Ijcginnen  lassen,  in  welchem  die  beiden  verschieden 
gearteten  Idioplasmen  des  Vaters  und  der  Mutter  zusammentreten 
und  den  Charakter  des  Kindes  zu  Stande  l)ringen.  Aber  diese 
Veränderung  bedeutet  nur  ein  Hin-  und  Herschwanken  zwischen 
den  sich  vermisclienden  Individuen  und  den  sich  kreuzenden  Sippen; 
sie  erzeugt  bloss  die  individuellen  und  die  Rassentypen,  aber  nicht 
die  Varietäten  und  Species. 

Die  innere  Veränderung,  welche  die  neuen  Anlagen  hervorbringt, 
erfolgt  nicht  mit  der  Zeugung,  denn  diese  ist  eigentlich  nur  ein 
Augenblick,  welcher  den  Beginn  eines  neuen  Daseins  bezeichnet. 
Das  Idioplasma  bildet  sich  während  der  ganzen  Lebensdauer  um, 
und  bloss  weil  dasselbe  in  den  Eltern  mit  der  Zeit  etwas  anders  ge- 
worden ist,  sind  auch  die  Keime  etwas  anders  angelegt  als  die  Keime 
der  Eltern.  Bei  geschlechtlicher  Zeugung  ist  es  nicht  so  leicht,  sich 
eine  klare  Vorstellung  von  diesem  Vorgang  zu  machen,  wie  bei  der 
ungeschlechtlichen  Fortpflanzung.  Indem  bei  der  letzteren  das  Idio- 
plasma sich  stetig  verändert,  hat  der  Uebergang  von  einer  Generation 
in  die  folgende  keine  andere  Bedeutung,  als  dass  nur  ein  kleiner 
Theil  des  vermehrten  und  veränderten  Idioplasmas  in  dem  sich 
ablösenden  Keim  sein  Wachsthum  und  seine  Veränderung  getrennt 
vom  elterlichen  Individuum  fortsetzt. 


Die  inneren  Ursachen  machen  sich  also  dadurch  geltend,  dass 
das  Idio})lasma,  indem  es  sich  vermehrt,  sich  auch  umbildet,  wobei 
jede  Veränderung  mit  Nothwendigkeit  eine  neue  weitergehende 
Veränderung  in  der  Richtung  einer  gesteigerten  Zusammensetzung 
veranlasst.  Die  Organismen  sind  aber  nicht  bloss  auf  sich  selbst 
angewiesen ;  sie  stehen  in  mannigfaltigen  Beziehungen  zur  Aussen- 
welt  und  es  ist  möglich,  dass  sie  aus  derselben  nicht  bloss  Kraft  und 
Stoff  für  ihr  Wachsthum  und  ihre  Veränderung   schöpfen,   sondern 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  137 

dass  ihr  Entwicklungsgang  selbst  dadurch  modificirt  wird.  Somit 
ist  die  Frage  zu  erörtern,  was  die  äusseren  Dinge  in  den  Organismen 
bewirken.  Die  letzteren  empfangen  von  aussen  verschiedenartige 
Nahrung  und  mannigfaltige  immaterielle  Einflüsse.  Es  verstellt  sich, 
dass  jede  dieser  Einwirkungen  eine  entsprechende  Folge  innerhalV) 
der  Su])stanz  hat,  dass  die  aufgenommenen  Stoff-  und  Kraftmengen 
verarbeitet  werden  und  dass  nichts  davon  verloren  gehen  kann. 
Aber  die  Grösse  des  Eindruckes,  den  dadurch  die  von  inneren 
Ursachen  bedingte  Entwicklungsbewegung  erfährt,  kann  eine  drei- 
fache sein. 

Eine  erste  Möglichkeit  ist  die,  dass  diese  Bewegung  gar  keine 
Störung  erfährt.  AVenn  ein  Stal)  innerliall)  der  Elasticitätsgrenze 
gebogen  wnrd,  so  kehrt  er  in  seine  ursprüngliche  Lage  zurück,  ohne 
eine  materielle  Veränderung  erlitten  zu  haben.  Ebenso  ist  es  denkbar, 
dass  ein  Organismus  eine  Menge  äusserer  Einwirkungen  erfährt, 
ohne  dass  sein  Entwicklungsgang  im  geringsten  modificirt  wird. 
Ungleiche  Nahrung,  ungleiche  Temperatur,  ungleiche  Feuchtigkeit 
der  Luft,  ungleiche  Lichteinwirkung,  ungleiche  sinnliche  Eindrücke 
aller  Art  verursachen  dann  bloss  einen  rascheren  oder  langsameren 
Gang  des  Lebensprocesses ;  aber  ihre  Angriffe  l)leiben  gleichsam 
innerhalb  der  Elasticitätsgrenze  und  hinterlassen  keine  dauernden 
und  vererbbaren  Eindrücke. 

Eine  zweite  Möglichkeit  besteht  darin,  dass  ein  äusserer  Einfluss 
zwar  eine  bleibende  Einwirkung  hinterlässt  und  die  Entwicklungs- 
bewegung ablenkt.  Aber  da  diese  Ablenkung  äusserst  gering  ist 
und  da  andere  Ablenkungen  in  anderen  und  zum  Theil  in  entgegen- 
gesetzten Richtungen  eintreten,  so  ist  der  Gesammterfolg  ein  un- 
merklich geringer  und  kann  deshalb  vernachlässigt  werden. 

Endlich  haben  wir  noch  die  dritte  Möglichkeit,  dass  die  äusseren 
Einwirkungen,  welche  geringe  bleibende  Veränderungen  zur  Folge 
haben,  während  langer  Zeiträume  beständig  in  dem  gleichen  Sinne 
thätig  sind,  so  dass  die  Umstimmung  zu  einer  bemerkbaren  Grösse 
sich  steigert,  d.  h.  zu  einer  Grösse,  welche  in  sichtl)aren  äusseren 
Merkmalen  sich  kund  gibt.  Zwei  j)hylogenetische  Stämme,  die  den 
gleichen  Ursprung  haben,  können,  wenn  sie  während  hinreichend 
langer  Zeit  unter  solchen  ungleichen  äusseren  Einflüssen  lebten, 
auch  ungleiche  Merkmale  erlangt  haben. 


138  in.  Ursachen  der  Veränderung. 

Es  ist  einleuchtend,  dass  die  beiden  ersten  Kategorien  sich  l^loss 
theoretisch  unterscheiden  lassen ,  und  dass  sie  praktisch  für  uns 
auf  das  Gleiche  herauskommen.  Nach  allen  Erfalnamgen  müssen 
wir  die  Ernährungseinfiüsse,  zu  denen  auch  die  meisten  klimatischen 
Einwirkungen  gehören,  ihnen  zuzählen  (S.  102).  Die  genaue  Aus- 
scheidung der  indifferenten  Einflüsse  von  denen,  welche  wahrnehm- 
l)are  Veränderungen  bewirken,  ist  aljer  deshalb  schwierig,  weil  beide 
fast  immer  gemeinsam  vorkommen. 

Was  nun  diese  dritte  Kategorie  von  äusseren  Einwirkungen, 
nändich  diejenigen,  welche  deutliche  und  bleibende  Merkmale  an 
den  Organismen  hervorbringen,  betrifft,  so  sind  zwei  Fragen  zu  be- 
antworten :  1.  Welche  äusseren  Ursachen  hierher  gehören  und 
2.  welclie  Merkmale  durch  sie  hervorgebracht  werden.  Die  letztere 
Frage  beantwortet  sicli  leichter,  und  hilft  dann  auch  zur  Lösung 
der  ersteren  mit.  Schon  eine  allgemeine  Uebersicht  der  Merkmale 
deutet  uns  den  Weg  an.  Die  Gesammtheit  der  Eigenschaften ,  die 
wir  an  den  Organismen  beobachten,  lassen  sich  nämlich  unter  zwei 
Gesichtspunkte  bringen:  1.  die  Organisation  und  Arbeits- 
tli eilung  im  allgemeinen;  2.  die  Anpassung  an  die 
Aussenwelt. 

Der  organisatorische  Aufbau  im  allgemeinen  besteht  darin, 
dass  von  den  unteren  zu  den  oberen  Stufen  eines  Reiches  immer 
zahlreichere  Zellgeiierationen  mit  einander  zu  einem  Individuum 
verljunden  bleiben,  dass  in  gleichem  Maasse  die  Gliederung  in  dem- 
selben und  damit  die  Zahl  der  Organe  und  ihrer  Theile  zunimmt. 
Die  Arbeit sth eilung  im  allgemeinen  geht  mit  der  Organi- 
sation parallel  und  ist  eine  Folge  derselben ;  sie  bewirkt  eine  räum- 
liche Trennung  der  früher  vereinigten  Functionen  und  in  Folge 
derselben  eine  Zerlegung  der  Functionen  in  Partialfunctionen.  Die 
Anjjassung  an  die  Aussenwelt  bestimmt  die  specielle  Ge- 
staltung der  Organisation  und  die  specielle  Beschaffenheit  der  Arbeits- 
theilimg  und  damit  das  charakteristische  Gepräge  und  den  Local- 
ton  des  Organismus. 

Die  inneren  Ursachen  bedingen  ein  stetiges  Fortschreiten  der 
micellaren  Beschaffenheit  des  Idioplasmas  vom  Einfacheren  zum 
Zusammengesetzteren,  und  da  die  äusseren  A'^eränderungen  aus  den 
inneren  micellaren  Anlagen  hervorgehen  und  denselben  entsprechen, 
so   muss   die   fortschreitende   Organisation    und   Arbeitstheiluiig    im 


in.  Ursachen  der  Veränderung.  139 

allgemeinen  durch  die  inneren  Ursachen  bewirkt  werden;  aus  den 
äusseren  Ursachen  wäre  uns  dieselbe  überdem  ganz  unerklärlich. 
Dagegen  erscheint  fast  als  selbstverständlich,  dass  die  Anpassung 
an  die  Aussenwelt,  die  Mannigfaltigkeit  und  specielle  Beschaffenheit 
der  Gestaltung,  Organisation  und  Arbeitstlieilung  nur  Folge  der 
äusseren  Einflüsse  sein  können;  zudem  liesscn  sich  dieselben  kaum 
aus  inneren  Ursaclien  ableiten,  da  diese  für  sich  allein  unter  allen 
Umständen  eine  übereinstimmende  Beschaffenheit  bewirken  würden. 
In  dieser  Weise  scheint  mir  sowohl  vom  theoretischen  als  vom 
Erfahrungsstandpunkte  aus  der  Antheil  der  inneren  und  äusseren 
Ursachen  ziemlich  richtig  geschieden  zu  sein;  jenen  ist  die  wesent- 
liche Construction,  der  Aufbau  aus  dem  Groben,  diesen  die  äussere 
Verzierung,  jenen  das  Allgemeine,  diesen  das  Besondere  auf  Rech- 
nung zu  setzen.  Dieser  Gegensatz  wird  in  der  Folge  weiter  aus- 
gefüln-t  und  begründet  werden.  Ich  bemerke  nur  im  voraus ,  dass 
ich  die  Wirkung  der  Aussenwelt  nicht  im  Darwin 'sehen  Sinne 
auf  dem  Umwege  der  Concurrenz  und  Verdrängung,  sondern  als 
unmittelbares  Bewirken  verstehe,  und  dass  die  Verdrängung  und 
mit  iljr  die  Sonderung  der  Stämme  erst  nachträglich  in  Betracht 
kommt. 

Viel  schwieriger  und  dunkler  als  die  Frage,  was  die  äusseren 
Einflüsse  zu  Stande  bringen,  ist  die  Frage,  Avie  sie  es  thun,  wie  sie 
mechanisch  in  den  Organismus  eingreifen.  Diese  Frage  ist  bekanntlich 
von  Darwin,  der  alle  Organisation  als  Anpassung  betrachtet,  so 
beantwortet  worden ,  dass  von  den  zufällig  eintretenden  Abände- 
rungen nur  die  unter  den  bestehenden  Verhältnissen  existenzfähigeren 
erhalten  bleiben,  iiidess  die  anderen  unterdrückt  werden.  Die  äusseren 
Einflüsse  hätten  nach  dieser  Theorie  bloss  eine  negative  oder  passive 
Wirksamkeit,  nämlich  die,  das  Unpassende  zu  beseitigen.  Nach 
meiner  Ansicht  bringen  sie  in  activer  Weise  direct  diejenigen  Er- 
scheinungen zu  Stande,  die  man  als  eigentliche  Anpassungen  be- 
zeiclnien  kann,  indem  sie  mechanisch  in  den  Organismus  ein- 
greifen. 

Aber  die  Art  und  Weise,  wie  dieses  Eingreifen  geschieht,  bleil)t 
uns  noch  verborgen.  Da  nämlich  alle  Anpassungserscheinungen 
erblich  sind  und  aus  Anlagen  hervorgehen,  so  muss  die  Einwirkung 
auf   die    miccllare   Beschaffenheit    des  ;Idioplasmas    stattfinden    und 


140  III.  Ursachen  der  Veränderung. 

kann  um  so  weniger  vorstellig  gemacht  werden ,  als  ja  alle  Vor- 
stellung ül^er  den  Mechanismus  plasmatischer  Suljstanzen  noch 
mangelt.  Es  lassen  sich  daher  nur  ganz  allgemeine  Möglichkeiten 
und  Wahrscheinlichkeiten  darthun. 

Vorerst  ist  denkhar  und  fast  gewiss,  dass  der  gleiche  äussere 
Einfluss ,  er  mag  seinerseits  irgend  eine  Beschaffenheit  haben ,  in 
verschiedenen  Organismen  oder  zu  verschiedenen  Zeiten  in  dem 
nämlichen  Organismus  die  dauernden  Eigenschaften  in  ganz  un- 
gleicher Weise  modificirt,  weil  der  Weg  von  der  Angriffsstelle  bis 
zur  Organisation  des  Idioplasmas  durch  zahllose  Verschlingungen 
und  Umsetzungen  verläuft  und  daher  nothwendig  zu  verschiedenen, 
selbst  scheinbar  entgegengesetzten  Resultaten  führen  muss. 

Im  Anschluss  hieran  ist  festzustellen,  dass,  wenn  alle  die  Orga- 
nismen treffenden  Einflüsse  berücksichtigt  werden,  jedenfalls  zwei 
Arten  der  äusseren  Einwirkung  zu  trennen  sind,  die  unvermittelte 
und  die  vermittelte.  Bei  der  unvermittelten  Einwirkung  ist  der 
Process  im  wesentlichen  mit  den  Folgen  beendigt,  welche  sofort  und 
zwar  in  analoger  Weise  wie  in  der  unorganischen  Natur  zu  Stande 
kommen,  so  dass  man  sie  auch  unschwer  als  die  Folgen  der  be- 
stimmten Ursache  erkennt.  Intensiveres  Licht  vermehrt  in  den 
grünen  Pflanzengeweben  den  Reductionsprocess  und  die  Ausschei- 
dung von  Sauerstoff,  Kälte  verlangsamt  den  Chemismus  der  Ge- 
wächse, Mangel  an  Wasser  bringt  A^erwelkung,  reichliche  Nahrung 
lebhafteres  Wachsthum  hervor.  Diese  unmittelbare  Einwirkung  wird 
im  allgemeinen  keine  dauernde  Veränderung  im  Idioplasma  zurück- 
lassen. 

Bei  der  vermittelten  Einwirkung,  die  man  hn  allgemeinen 
als  Reiz  l^ezeichnen  kann ,  tritt  eine  mamiigfaltige  Uebersetzung 
ein.  Die  Ursache  bewirkt  eine  ganze  Reihe  aufeinander  folgender 
molecularer  Bewegungen,  die  uns  verborgen  bleuten  und  die  in  eine 
sichtbare  Erscheinung  auslaufen ,  deren  ursächliche  Beziehung  zu 
dem  ursprünglichen  Angriff  wir  uns  nicht  mehr  vorstellen  können 
und  die  vielfach  etwas  ganz  anderes  ist,  als  was  wir  von  demselben 
erwartet  haben. 

Sehr  häufig  erzeugt  der  Reiz  eine  Reflexbewegung  und  gewöhn- 
lich macht  sich  seine  Hauptwirkung  gerade  an  der  gereizten  Stelle 
geltend,  und  zwar  l)ei  einem  schädlichen  Eingriff  in  der  Weise, 
dass  der  Organismus  sich  bereit  macht,  densell)en  aljzuwehren.     Es 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  141 

findet  ein  Zudrang  von  Säften  nach  der  Stelle  statt,  welche  von 
dem  Reiz  getroffen  wurde,  und  es  treten  diejenigen  Neuhildungen 
ein ,  welche  geeignet  sind ,  die  Integrität  des  Organismus  wieder 
herzustellen  und  allenfalls  verloren  gegangene  Theile,  so  weit  es 
möglich  ist,  wieder  zu  ersetzen. 

Ausser  der  allgemein  bekannten  Reaction,  welche  im  thierischen 
Organismus  auf  eine  Verletzung  oder  einen  heftigen  Reiz  mit  Blut- 
andrang und  Neubildung  von  Gewebe  antwortet ,  erinnere  ich  an 
die  Ileaction  lebender  Pflanzengewebe,  welche  um  die  verletzte  Stelle 
Zellbildung  beginnen  lässt  und  das  gesunde  Gewebe  mit  einer  viel- 
schichtigen undurchdringlichen  Korkhaut  (Wundkork)  aljschliesst 
und  schützt,  an  das  Ueberwallen  von  Schnittfläclien ,  und  an  die 
Reaction,  welche  um  die  winzige  Stelle  im  Innern  des  Gewebes,  in 
die  ein  Insectenstich  ein  Ei  mit  einer  ätzenden  Flüssigkeit  gelegt 
liat,  reichliche  und  mit  dem  Reiz,  den  die  sich  entwickelnde  Larve 
ausübt,  andauernde  Zelltheilung  und  Gallenl)ildung  hervorbringt,  — 
dann  an  die  bei  Thieren  bekannte  Erscheinung,  dass  der  vermehrte 
Geljrauch  eines  Organs  Knochen  und  Muskeln  stärker  macht, 
während  der  Nichtgebrauch  sie  schw^ächt  u.  s.  w. 

Nicht  immer  bewirkt  der  Reiz  das  Herbeiströmen  von  plastischen 
Stoffen  und  das  Auftreten  von  Neubildungen ;  ist  er  schwächer,  so 
veranlasst  er  bloss  eine  vermehrte  oder  auch  eine  abnormale  mole- 
culare  Thätigkeit  chemischer  oder  pll3^sikalischer  Natur.  So  verhält 
es  sich  mit  den  schwächeren  Reizen,  welche  Licht,  Wärme,  Kälte, 
mechanische  Angriffe  ausüben.  Ueberhaupt  haben  alle  äusseren 
Einwirkungen,  auch  diejenigen,  welche  wir  als  unvermittelte  unter- 
scheiden können,  nebenbei  die  Bedeutung  von  schwächeren  Reizen. 

Ein  Reiz,  der  nur  eine  geringere  Zahl  von  Malen  oder  nur 
eine  kürzere  Zeit  lang  einwirkt,  hinterlässt,  wenn  er  auch  von 
heftigen  Reactionen  begleitet  ist,  keinen  bemerkbaren  Eindruck  auf 
das  Idioplasma.  Eine  Person,  die  noch  so  oft  von  Wespen  ge- 
stochen wurde,  oder  eine  Eiche,  die  auf  den  Stich  der  Gallwespen 
noch  so  viele  Galläpfel  erzeugt  hat,  vererbt  davon  nichts  Sichtbares 
auf  die  Nachkommen.  Eine  Familie ,  deren  Glieder  in  mehreren 
aufeinander  folgenden  Generationen  die  Blatternkranklieit  bestanden 
oder  mit  Kuhpocken  geimpft  wurden,  hat  davon  keine  bemerkbaren 
erblichen  Folgen. 


142  ni-  Ursachen  der  Veriinderung. 

Dauert  der  Reiz  aber  während  sehr  langer  Zeiträume,  also 
durch  eine  sehr  grosse  Zahl  von  Generationen  an,  so  kann  er,  auch 
wenn  er  von  geringer  Stärke  ist  und  keine  wahrnehmbaren  sofortigen 
Reactionen  hervorruft,  das  Idioplasma  doch  so  weit  verändern,  dass 
erbliche  Dispositionen  von  bemerkbarer  Stärke  gebildet  werden.  Dies 
scheint  wenigstens  für  die  Wirkung  des  Lichtes  zu  gelten,  welche  viele 
Pflanzentheile  der  Sonne  zu-,  einige  auch  von  derselben  abwendet, 
und  für  die  Wirkung  der  Schwerkraft,  welche  die  meisten  Stengel 
emporrichtet,  die  Wurzeln  nach  unten  zu  wachsen  veranlasst.  Man 
könnte  zwar  meinen ,  dass  diese  Wirkungen  in  ihrer  vollen  Stärke 
unmittelbare  Folgren  der  äusseren  Ursachen  seien  und  dass  es  nicht 
der  Annahme  einer  erblichen  Disposition  bedürfe.  Doch  ist  diese 
Meinung  unmöglich,  weil  es  Pflanzentheile  gibt,  die  sich  gegenüber 
von  Licht  und  Schwerkraft  gleichgültig,  und  auch  solche,  die  sich 
gerade  umgekehrt  verhalten  als  andere  ähnliche  Pflanzentheile,  z.  B. 
Stengel,  die  statt  nach  oben  nach  unten  wachsen  (manche  Rhizome 
und  die  Stiele  der  kleistogamen  Blüthen  von  Cardamine  chenopodi- 
folia),  und  solche,  die  statt  nach  dem  Lichte  hin,  von  demselben 
sich  abwenden.  Daraus  geht  wohl  hervor,  dass  das  Idioplasma 
unter  dem  Einfluss  der  Reize  in  verschiedenen  Pflanzen  sich 
ungleich  ausgebildet  hat  und  dass  es  vermöge  dieser  ungleichen 
erblichen  Beschaffenheit  den  einen  Pflanzenstengeln  das  Vermögen 
gibt,  auf  den  Reiz,  den  das  Licht  oder  die  Schwerkraft  ausübt,  in 
einer  bestimmten  Weise,  andern  Stengeln  in  entgegengesetzter  Weise, 
und  noch  andern  gar  nicht  zu  reagiren. 

In  den  eben  angeführten  Fällen  haben  die  äusseren  Einwir- 
kungen eine  bestimmte  Reizbarkeit  erzeugt.  Dies  führt  uns  auf 
den  Umstand,  dass  ihre  erblichen  Folgen  in  den  Organismen  über- 
haupt doppelter  Art  sind.  Entweder  werden  Organisation  und  Func- 
tion in  sichtbarer  Weise  verändert,  oder  es  wird,  indem  der  Orga- 
nismus scheinbar  gleich  bleibt,  bloss  die  moleculare  Beschaffenheit 
so  weit  modificirt,  dass  dieselbe  ein  anderes  Vermögen  erlangt,  auf 
Reize  zu  reagiren.  Von  den  ersteren  Veränderungen,  zu  denen  alle 
Anpassungen  im  Bau  und  in  den  Verrichtungen  gehören,  werde 
ich  nachher  Si:)rechen.  Was  die  Reizbarkeit  (im  weiteren  Sinne)  be- 
triff't,  so  besteht  dieselbe  darin,  dass  eine  Erscheinung  nur  dann 
eintritt,  wenn  eine  gewisse  äussere  Einwirkung  ihr  vorausgeht.  Dies 
ist  der  Fall  nicht  bloss  bei  den  bekannten  momentanen  Reactionen, 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  143 

die  im  Thierreiche  allgemein  sind  und  im  Pflanzenreiche  mehr  aus- 
nahmsweise vorkommen,  sondern  auch  bei  den  vorhin  erwähnten, 
durch  das  Licht  mid  die  Schwerkraft  bedingten  Wachsthumsrich- 
tungen.  Die  letzteren  werden  durch  langsam  eintretende  Krüm- 
mungen verursacht,  indem  beispielsweise  an  der  beleuchteten  Seite 
gewöhnhch  das  Wachsthum  verlangsamt  ist,  so  dass  sie  concav 
wird,  selten  gefördert,  so  dass  sie  convex  wird. 

Als  ein  anderes  Beisj^iel,  dass  in  der  Pflanze  bloss  das  Vermögen 
ausgebildet  wurde,  auf  eine  äussere  Einwirkung  zu  reagiren,  will 
ich  die  Wurzelbildung  anführen,  die  bei  bestimmten  Pflanzenarten 
dann  eintritt,  wenn  gewisse  Stengeltheile  mit  Wasser  in  Berührung 
kommen,  während  anderen  Stengeltheilen  der  gleichen  Arten  und 
den  nämlichen  Stengeltheilen  anderer  Gattungen  diese  Erscheinung 
mangelt.  Abgeschnittene  Zweige  von  Weiden  und  Paj)peln,  die 
man  ins  Wasser  stellt,  bewurzeln  sich  sehr  schnell,  während  der 
Erfolg  bei  Zweigen  von  gleicher  Stärke,  die  auf  dem  Bamiie  dauernd 
benetzt  werden,  langsamer  und  oft  nicht  eintritt.  Ein  im  Frühjahr 
vor  dem  Austreiben  der  Knospen  abgenommener  Weidenzweig,  der 
sich  nur  in  feuchter  Luft  befindet,  verhält  sich  ziemlich  so  wie  im 
natürlichen  Zustande  auf  dem  Baume;  er  führt  die  in  der  Rinde 
aufgespeiclierten  plastischen  Stoffe  nach  oben,  um  zunächst  die 
Endknospe  zur  Entfaltung  zu  bringen.  Sowie  aber  ein  solcher  Zweig 
mit  seinem  untern  Ende  ins  Wasser  gebracht  wird,  so  bewirkt  dieses 
die  Umkehr  der  strömenden  Nährstoffe;  dieselben  bewegen  sich  nun 
nach  unten,  um  in  der  Nähe  der  Schnittfläche  Wurzeln  zu  bilden, 
worauf  dann  die  Strömmig  nach  oben  zur  Knospenentwicklung 
fortgesetzt  wird.  Der  Zweig  eines  AjDfelbaumes  verhält  sich  anders. 
Die  Wurzelbildmig  unter  dem  Einfluss  der  Benetzung  setzt  also  eine 
Disposition  voraus. 

Die  Fähigkeit  der  Pflanzenorgane,  sich  dm-ch  Wachsthum  zu 
drehen  und  zu  krümmen,  damit  sie  eine  günstige  Lage  und  Rich- 
tung erlangen,  oder  Wurzeln  zu  treiben,  ist  offenbar  nicht  durch 
innere  Ursachen  erzeugt  worden.  Sondern  es  hat  sich  das  Idioplasma 
unter  dem  langdauernden  Einflüsse  des  Lichtes  und  der  Schwerkraft 
sowie  des  Wassers  (letzteres  ])ei  Sumpfpflanzen)  allmählich  so  umge- 
bildet, dass  es  nun  auf  den  Reiz  dieser  Agentien  zu  antworten  vermag. 

Was  Licht  und  Gravitation  betrifft,  so  ist  zu  bemerken,  dass 
Kräfte,  welche  die  Richtung  beeinflussen,    leicht,    je  nach  den  Um- 


244  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

ständen,  den  entgegengesetzten  Erfolg  bewirken.  Grüne  Scliwärm- 
zellcn  (Algen)  bewegen  sieb  gewölndicb  mit  der  bcleucbteten  Seite 
voran,  also  dem  Liebte  entgegen,  bei  sebr  intensiver  -Wirkung  des 
Licbtes  aber  von  demselben  weg.  In  gleicber  Weise  kann  das  Liebt 
und  die  ebenfalls  linear  wirkende  Scbwerkraft  die  entgegengesetzten 
Krümnnmgen  bewirken,  je  nacb  dem  Grade  der  Emj^findlicbkeit 
des  Objects  und  der  Litensität  des  Angriffes.  Es  w1ire  nun  denkbar, 
dass  in  einem  noch  unbestimmten  Organ  je  nach  dem  Ausschlage, 
welclier  von  der  Combination  der  Molecularkräfte  abhcängig  ist,  unter 
den  gleichen  Verhältnissen  die  einen  Individuen  der  nämlichen 
Sippe  sich  positiv,  die  anderen  negativ  krümmten,  und  dass  dann 
die  Concurrenz  die  Entscheidung  gäbe,  welche  Individuen  Bestand 
haben  und  welche  zu  Grunde  gehen,  somit  welche  heliotropische 
und  geotropische  Richtung  späterliin  dem  Organ  der  l)etreffenden 
Sippe  zukommt. 

Auch  die  übrigen  Formen  der  Reizbarkeit,  namentlich  diejenige, 
welche  vorzugsweise  als  solche  bezeichnet  wird  und  die  sich  in  einer 
sofortigen  deutlichen  Reaction  kund  gibt,  verdanken  ihr  Dasein  sehr 
wahrscheinlich  den  nämlichen  Ursachen,  welche  nach  Ausbildung 
der  Empfindlichkeit  die  Reaction  hervorrufen.  So  dürfte  die  Fähig- 
keit des  Blattes  von  Dionaea  muscipula,  sich  auf  den  Reiz  eines 
Insectes  zu  schliessen  und  dasselbe  zu  fangen,  nach  und  nacli  durch 
die  krabbelnden  Insecten  selber  entwickelt  worden  sein. 


Weniger  gewiss  als  die  Ursachen  der  Reizbarkeit  sind  im  all- 
gemeinen diejenigen,  welche  die  sichtbaren  Anpassungen  in  der 
Organisation  und  Function  liewirkt  haben.  Ueber  einige  derselben 
wird  zwar  kaum  ein  Zweifel  bestehen  können.  Den  Schutz,  den 
die  Thiere  kalter  Klimate  in  ihrer  dicken  Behaarung  und  diejenigen 
weniger  kalter  Gegenden  in  ihrem  Winterpelz  finden,  hat  ihnen  die 
Einwirkung  der  Kälte  auf  das  Hautorgan  gegeben.  Die  verschiedenen 
Waffen  zur  Abwehr  und  zum  Angriff,  den  die  Thiere  in  den  Hörnern, 
Krallen,  Stosszähnen  u.  s.  w.  besitzen,  sind  durch  den  Reiz,  der 
beim  Angriff  oder  bei  der  Vertheidigung  auf  bestimmte  Stellen  der 
Köri^eroberfläclie  ausgeübt  wurde,  nach  und  nach  entstanden  und 
grösser  geworden. 


in.  Ursathen  der  Veränderung.  145 

Die  Ursachen  anderer  und  namentlich  der  bei  den  Pflanzen 
vorkommenden  Anpassungen,  von  denen  ich  einige  anführen  will, 
liegen  weniger  offenkundig  da.  —  So  sind  die  Landpflanzen  durch 
eine  Korkbedeckung  an  ihrer  Oberfläche  mehr  oder  weniger  vor 
^^erdunstung  geschützt.  Die  AVirksamkeit  derselben  ist  jedermann 
dm'ch  die  Erfahrung  bekannt,  wie  z.  B.  dass  ein  Apfel,  der  den  ganzen 
Winter  frisch  l^lciben  würde,  rasch  eintrocknet,  nachdem  er  geschält 
wairde.  Die  frühesten  Gewächse  w^aren  Wasserbewohner;  sie  accli- 
matisirten  sich  nach  und  nach  an  eine  feuchte,  dann  an  eine  trocknere 
Luft;  es  gibt  jetzt  noch  viele  niedere  und  auch  einige  höhere  Pflanzen, 
die  im  Wasser  und  ausserhalb  desselben  leben  können.  Sowie  nun 
in  der  Urzeit  die  Gew^ächse  aus  dem  Wasser  kamen,  wirkte  die  Ver- 
dunstung als  Reiz  auf  die  Oberfläche.  Das  partielle  Austrocknen 
verursaclite  daselbst  eine  negative  Spannung,  die  man  beispielsweise 
auch  in  der  Rindenschicht  eines  austrocknenden  Tropfens  von  Gummi- 
schleim leicht  nachweisen  kann.  Ausser  dieser  veränderten  Com- 
bination  der  Molecularkräfte  bestand  der  Reiz  ferner  noch  in  der 
reichlicheren  Zufuhr  von  Sauerstoff,  wohl  auch  in  der  energischeren 
Wirksamkeit  des  zwisclien  den  äussersten  Membranmicellen  ver- 
dichteten Sauerstoffs  und  verursachte  die  chemische  Umwandlung 
der  oberflächlichsten  Celluloselage  in  Korksubstanz. 

So  haben  die  Landpflanzen  die  erbliclie  Fähigkeit  erlangt,  die 
äusserste  Celluloseschicht  ihrer  Epidermiszellen  zu  verkorken .  Wachsen 
die  Organe  mit  dem  Aelterwerden  in  die  Dicke,  so  wird  das  aus 
Kork  Ijestehende  Oberhäutchen  zerrissen;  die  Verdunstung  und  der 
Zutritt  von  Sauerstoff  wirken  nun  auf  das  unterliegende  Zellgewebe 
ein  und  der  Reiz  veranlasst  die  Bildung  einer  mehrschichtigen  Kork- 
zellenhaut, welcher  Vorgang  bei  andauerndem  Dickenw^achsthum  sich 
von  Zeit  zu  Zeit  wiederholt.  Man  kann  die  Bedingungen  künstlich 
herstellen.  AVenn  man  Kartoffeln,  welche,  gleich  den  übrigen  Land- 
pflanzen, die  Fähigkeit  erlangt  haben,  eine  solche  Korkhaut  (die 
Kartoffelschale)  zu  bilden,  quer  durchschneidet  und  die  Schnittfläche 
der  Verdunstung  und  der  Einwirkung  der  Luft  aussetzt,  so  entsteht 
innerhalb  derselben  eine  schützende  Korkhaut.  Bewahrt  man  da- 
gegen die  Schnittfläche  vor  der  Verdunstung  und  der  Lufteinwir- 
kung, indem  man  sie  auf  eine  Glasplatte  oder  einen  Teller  legt 
oder  in  Wasser  bringt,  so  l^leibt  die  Korkbildung  aus  und  es  tritt 
Fäulniss  ein. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  10 


146  ni-  Ursachen  der  Veränderung. 

Der  Reiz  hat  bei  verschiedenen  Pflanzen  und  verschiedenen 
Organen  einen  sehr  ungleichen  Grad  der  Verkorkung  verursacht. 
Pflanzen,  die  für  eine  feuchte  Atmosphäre  bestimmt  sind,  Organe, 
die  nur  eine  kurze  Lebensdauer  erreichen,  haben  eine  dünne  Kork- 
bedeckung, während  Pflanzentheile  von  längerer  Dauer  und  in  sehr 
trockener  Luft  auch  sehr  gut  geschützt  werden. 

Die  Land2:>flanzen  haben  ausser  dem  weichen  Zellgewebe,  welches 
die  Ernährung  und  auch  die  Leitung  der  Stoffe  besorgt,  dickwandige 
durch  ^''erholzung  festgewordene  Zellen,  die  das  Holz  und  den  Bast 
zusannnensetzen.  Diese  verholzten  Gewebe  verrichten  mechanische 
Functionen  und  sind  deshalb  auch  mechanische  genannt  worden*). 
Sie  tragen  und  stützen  die  weichen  Gewebe,  sie  bewahren  die  Organe 
vor  dem  Zerbrechen  und  Zerreissen.  Den  Wasser j)flanzen,  welche 
weder  ihr  eigenes  Gewicht  zu  tragen,  noch  der  Gew^alt  der  Winde 
zu  widerstehen  haben,  mangeln  die  mechanischen  Zellen  fast  gänz- 
lich. Dieselben  bildeten  sich  erst  und  zwar  vorzugsweise  aus  den 
dünnwandigen,  langen  und  engen  Zellen  der  Gefässstränge,  als  die 
ursj^rünglichen  Wasserbewohner  zu  Landbewohnern  wurden. 

Da  die  mechanischen  Gewebe  genau  so  angeordnet  sind,  wie 
es  für  freistehende  oberirdische  Organe  die  Druck-  und  Biegungs- 
festigkeit, für  die  unterirdischen  und  für  einige  oberirdische  Organe 
die  Zugfestigkeit  verlangt,  da  also  ihre  Lage  den  mechanischen 
Anforderungen  entspricht,  so  ist  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  sie 
durch  die  Spannungen,  welche  Druck  und  Zug  bewirkten,  entstanden 
sind.  Denn  diese  Spannungen  waren  gerade  da  am  stärksten,  wo 
sich  jetzt  die  mechanischen  Zellen  befinden.  Ferner  mussten  die 
Spannungen  vorzugsweise  in  den  langgestreckten  Zellen  der  Fil)ro- 
vasalmassen  (Gefässstränge)  sich  geltend  machen,  weil  die  kurzen 
und  weiten  Parenchymzellen  mit  ihren  grösseren  Zwischenzellräumen 
leichter  durch  Gestaltsänderung  der  mechanischen  Gewalt  nachgeben 
können.  Es  ist  also  wohl  denkbar,  dass  die  wichtige  Einrichtung 
der  mechanischen  Gewebe  im  Pflanzenreiche  unter  dem  Einfluss 
des  von  äusseren  Kräften  bewirkten  Reizes  zur  Ausbildung  gelangte. 

Während  die  meisten  Pflanzen  durch  den  aufgerichteten  festen 
Stengel  in  den  Genuss  von  Licht,  Luft  und  Thau  gelangen,  klettern 
andere  mit  schwachen  Stengeln   versehene   an   den  ersteren  empor, 

')  Seh  wen  d  en  e  r,  Das  meclianische  Princip  im  anatomischen  Bau  der 
Monocotylen. 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  147 

um  sich  in  den  Genuss  der  nämlichen  Vortheile  zu  setzen.  Sie 
bedienen  sich  dazu  verschiedener  Mittel,  die  aber  alle  phylogenetisch 
den  nämlichen  Ursprung  haben  konnten.  Denken  wir  uns,  es  be- 
finden sich  Gewächse ,  die  eines  beti'ächtlichen  Längen wachsthums 
fähig  sind,  aber  aus  irgend  einem  Grunde  keinen  tragfesten  Stengel 
gebildet  haben  oder  bilden  konnten,  im  Gebüsch.  Der  Lichtmangel 
und  die  grössere  Feuchtigkeit  des  Schattens  macht  sie  einigermaassen 
vergeilen;  ihre  Organe  werden  in  Folge  dessen  länger,  dünner,  mit 
weicherem  Gewebe  und  schwächerem  Korküberzug;  zugleich  wird 
durch  diese  Eigenschaften  die  Empfindlichkeit  für  Reize  gesteigert. 
Der  schlaffe  Stengel  legt  sich  da  und  dort,  sowie  er  wieder  ein 
Stück  in  die  Hcihe  gewachsen  ist,  auf  die  festen  Aeste  des  Busch- 
werks. An  diesen  Stellen  entsteht  schon  durch  die  mechanische 
Wirkung  eine  schwache  Biegung,  welche  durch  den  Reiz  der  Be- 
rührung vermehrt  wird,  indem  derselbe  an  der  betreffenden  Seite 
eine  relative  Verkürzung  (geringere  Streckung)  bewirkt.  Die  Reiz- 
barkeit wird  erblich  und  bildet  sich  von  Generation  zu  Generation 
weiter  aus.  Sie  kommt  nicht  bloss  dem  Stengel,  sondern  auch  den 
Blättern  zu,  weil  diese  ebenso  häufig  mit  fremden  Körpern  in  Be- 
rührung treten  und  zu  Biegungen  veranlasst  werden.  Die  Biegungen 
der  Stengel  und  Blätter  dienen  den  Pflanzen  als  Stützpunkte,  ver- 
mittelst welcher  sie  in  allerdings  noch  einfacher  und  primitiver 
Weise  im  Buschwerk  emporklettern. 

Dies  mag  der  ursiDrüngliche,  aber  erst  nach  langen  Zeiträumen 
erreichte  Zustand  der  Kletterpflanzen  gewesen  sein ;  derselbe  hat 
sich  durch  noch  längere  Zeiträume  in  verschiedener  Weise  um-  und 
ausgebildet.  Die  Veränderungen  bestanden  einmal  darin,  dass  die 
Reizbarkeit,  indem  sie  sich  steigerte,  nur  in  bestimmten  Organen 
oder  auch  nur  auf  einer  bestimmten  Seite  eines  Organs  erhalten  blieb 
und  sich  im  übrigen  verlor ;  —  ferner  darin ,  dass  die  reizfähigen 
Organe  ihre  Gestalt  veränderten  und  rankenförmig  (dünn  und  lang) 
wurden ;  —  endlich  darin ,  dass  die  Biegung ,  die  früher  auf  den 
Reiz  erfolgte,  später  von  selbst  eintrat,  und  dass  sie,  da  keine  Seite 
des  Organs  einen  Vorzug  hatte,  und  da  rotirende  Processe  in  den 
Pflanzen  überhaupt  häufig  und  in  verschiedener  Form  auftreten, 
naturgemäss  zur  Circumnutation  wurde. 

Bei  den  einen  Gewächsen  traten  diese,  bei  anderen  jene  Aende- 
rungen  ein.     Die  Ursachen  des  verschiedenen  Verhaltens  bestanden 

10* 


148  ni-  Ursachen  der  Veränderung. 

jedenfalls  einerseits  in  der  verschiedenen  Natur  der  Pflanzen,  andrer- 
seits in  der  verschiedenen  Beschaffenheit  des  Buschwerkes,  in  dem 
sie  sich  befanden ,  sowie  in  dem  Wechsel  dieser  Umgebung ,  dem 
sie  bei  Wanderungen  unterworfen  waren.  Die  urscächliche  Erklärung 
aber  lässt  sich  wohl  noch  nicht  im  einzelnen  ausführen ;  wir  haben 
einstweilen  nur  das  Resultat  der  Veränderungen  vor  uns.  Die  Blatt- 
kletterer umschlingen  mit  den  reizbaren  Stielen  oder  verlängerten 
Spitzen  der  grünen  Blätter  die  Stütze.  Bei  den  Rankenklettcrern 
ist  das  ganze  Organ  oder  der  Endtheil  desselben  fadenförmig  und 
reizbar,  umschlingt  in  Folge  des  Reizes  und  rollt  sich  am  freien 
Theil  schraubenförmig  ein.  Die  Stengelkletterer  (windende  oder 
Schlingpflanzen)  mögen  anfänglich  einen  reizbaren  Stengel  gehabt 
und  sich  mit  demselben  in  der  Art  um  die  Stütze  gewunden  haben, 
wie  es  Mohl  irrthümlich  für  die  jetzigen  Schlinggewächse  annahm, 
nämlich  so,  dass  das  sich  verlängernde  Ende  fortwährend  durch 
Berührung  mit  der  Stütze  gekrümmt  und  somit  an  dieselbe  ange- 
drückt wurde.  Die  Reizl)arkeit  ging  dann  ganz  verloren,  indem  an 
die  Stelle  der  Reizbiegung  die  autonome  Circumnutation  trat,  welche 
in  Verbindung  mit  anderen  Wachstliumsvorgängen  zur  Befestigung 
der  kletternden  Pflanzen  ausreichte. 

Die  grünen  Blätter  zeigen  eine  bemerkenswerthe  Verschiedenheit 
zwischen  der  ol3eren  dem  Lichte  zugekehrten  und  der  unteren  im 
Schatten  befindlichen  Fläche.  Dort  ist  das  Gewebe  fester,  mit 
wenigen  oder  ohne  Spaltöffnungen ,  somit  vor  der  A^erdunstung  ge- 
schützt ;  die  Aushauchung  von  Wasserdampf  geschieht  fast  aus- 
schliesslich an  der  unteren,  aus  lockerem  Gewebe  bestehenden  und 
mit  zahlreichen  S2)altöffnungen  versehenen  Seite,  wo  sie  nie  durch 
das  directe  Sonnenlicht  zu  einem  verderblichen  Grade  gesteigert 
wird.  Diese  ungleiche  Beschaffenheit  in  Bau  und  Verrichtung  kann 
eine  Folge  der  ungleichen  Einwirkung  von  Licht  und  strahlender 
Wärme  sein,  indem  der  stärkere  Reiz  an  der  oljeren  Seite  das  festere 
Gefüge  des  Zellgewebes  verursachte. 

Es  gibt  auch  grüne  flachgedrückte  Stengel,  welche  die  gleiche 
Function  l)esitzen  wie  die  grünen  Blätter,  die  aber  an  beiden  Flächen 
gleich  gebaut  sind.  Man  könnte  nun  vielleicht  fragen,  warum  dieselben 
nicht,  analog  den  Blättern,  zwei  verschiedene  Seiten,  eine  Sonnen- 
und  eine  Schattenseite  besitzen.  Bei  den  Stengeln  konnte  sich  aber 
die   Ungleichheit   nicht   ausbilden,    weil    die   Orientirung   derselben 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  149 

mit  jeder  Generation  und  selbst  bei  dem  nämlichen  Stengel  in  Folge 
der  Drehung  um  seine  Achse  von  unten  nach  oben  wechselt,  während 
bei  den  Blättern  die  Orientirung  durch  die  Anheftung  am  Stengel 
morphologisch  bestimmt  ist  und  daher  durch  alle  Generationen  die 
nämliche  bleibt. 


Besondere  Aufmerksamkeit  haben  von  jeher  die  mit  der  Fort- 
pflanzung verbundenen  Einrichtungen  erregt  und  sind  in  neuester 
Zeit  bestimmt  als  Anpassungen  an  die  Aussenwelt  in  Ansprucli  ge- 
nommen worden.  So  sehen  wir  bei  der  Mehrzahl  der  Phanero- 
gamen  die  Geschlechtsorgane  umgeben  von  grossen  glänzend  ge- 
färbten Blmnenkronen ,  welche  keinen  änderen  Nutzen  gewähren, 
als  dass  sie  die  blüthenbesuchenden ,  Blumenstaub  und  Honig 
sammelnden  Insecten  anlocken  und  dadurch  die  Kreuzung  zwischen 
den  Individuen  gegenüber  der  Selbstbefruchtung  befördern.  Sie 
mangeln  den  Gefässcryptogamen  und  den  Gymnospermen ,  welche 
die  niedrigste  Abtheilung  der  Fhanerogamen  darstellen,  sowie  einigen 
Gruppen  der  Monocotylen  (z.  B.  den  grasartigen  Gewächsen)  und 
der  Dicotylen  (z.  B.  den  kätzchentragenden  Bäumen). 

Staubgefässe  und  Kronblätter  sind  mit  einander  nahe  verwandt; 
die  ersteren  verwandeln  sich  leicht  in  die  letzteren,  welche  Um- 
wandlung bei  den  doppelten  oder  gefüllten  Blumen  sichtl)ar  wird. 
Die  Staubgefässe  sind  blattartige  Organe;  sie  treten  auch  in  ihrer 
einfachsten  und  ursprünglichsten  Form  als  kleine  schuppenförmige 
Blätter  auf.  Aus  solchen  schupj^enartigen  Stauljgefässen,  in  einigen 
Fällen  vielleicht  auch  aus  sterilen ,  dieselben  umhüllenden  Deck- 
blättern sind  durch  beträchtlich  gesteigertes  Wachsthum  die  Kron- 
blätter hervorgegangen.  Diese  Steigerung  des  Wachsthmns  mag 
wesentlich  durch  den  Reiz  veranlasst  worden  sein ,  welche  die 
blüthenstaub-  und  säfteholenden  Insecten  fortwährend  durch  Krabbeln 
und  kleine  Stiche  verursachten.  Wenn  ein  einmal  wirkender  Reiz 
eine  Wucherung  des  Zellgewebes  erzeugt,  wie  wir  sie  bei  der  Gallen- 
bildung durch  Gall Wespenstich,  bei  den  haarförmigen  Bildungen  aus 
den  Epidermiszellen  an  verschiedenen  Blättern  durch  eine  Colonie 
winziger  Milben  kennen ,  so  muss  auch  ein  durch  zahllose  Genera- 
tionen fortdauernder  schwacher  Reiz  die  Umwandlung  einer  kleinen 
Schuppe  in  ein  grosses  Kronblatt  zu  Stande  bringen  können. 


150  ^^-  Ursachen  der  Veränderung. 

Zu  den  merkwürdigsten  und  allgemeinsten  Anpassungen,  die 
wir  an  der  Gestalt  der  Blütlien  beobachten,  gehören  die  langröhrigen 
Kronen  in  Verbindung  mit  den  langen  Rüsseln  der  Insecten,  welche  im 
Grunde  der  engen  und  langen  Röhren  Honig  holen  und  dabei  die 
Fremdbestäubung  der  Pflanzen  vermitteln.  Beide  Einrichtungen,  die 
vegetabilische  und  die  animalische,  erscheinen  so  recht  wie  für 
einander  geschaffen.  Beide  haben  sich  allmählich  zu  ihrer  jetzigen 
Höhe  entwickelt,  die  langröhrigen  Blüthen  aus  röhrenlosen  und 
kurzröhrigen ,  die  langen  aus  kurzen  Rüsseln.  Beide  haben  sich 
ohne  Zw^eifel  in  gleichem  Schritt  ausgebildet,  so  dass  stets  die  Länge 
der  beiden  Organe  ziemlich  gleich  war. 

Wie  könnte  nun  ein  solcher  Entwicklungsprocess  nach  der 
Selectionstheorie  erklärt  werden,  (""a  in  jedem  Stadium  desselben 
vollkommene  Anpassung  bestand  ?  Die  Blumenröhre  und  der  Rüssel 
hatten  beispielsweise  einmal  die  Länge  von  5  oder  10"'"'  erreicht. 
Wurde  nun  die  Blumenröhre  bei  einigen  Pflanzen  länger,  so  war 
die  Veränderung  nachtheilig,  weil  die  Insecten  beim  Besuche  der- 
selben nicht  melir  befriedigt  wurden  und  daher  Blüthen  mit  kürzeren 
Röhren  aufsuchten ;  die  längeren  Röhren  mussten  nach  der  Selec- 
tionstheorie wieder  verschwinden.  Wurden  andrerseits  die  Rüssel 
bei  einigen  Thieren  länger,  so  erwies  sich  diese  Veränderung  als 
überflüssig  und  musste  nach  der  nämlichen  Theorie  als  unnöthiger 
Aufwand  beseitigt  werden.  Die  gleichzeitige  Umwandlung  der  beiden 
Organe  aber  wird  nach  der  Selectionstheorie  zum  Münchhausen, 
der  sich  selbst  am  Zopfe  aus  dem  Sumpfe  zieht. 

Nach  meiner  Vermuthung  konnten  die  langen  Blumenröhren 
aus  kurzen  in  gleicher  Weise  entstehen  wie  die  grossen  Blumen- 
blätter aus  kleinen.  Durch  die  beständigen  Reize,  welche  die  kurzen 
Rüssel  der  Insecten  ausübten,  wurden  die  kurzen  Röhren  veranlasst 
sich  zu  verlängern.  Dieses  Wachsthum  erfolgte  als  nothwendige  Wir- 
kung ihrer  Ursache,  obgleich  es  zunächst  für  die  Pflanzen  sich  unvor- 
theilhaft  erwies.  Mit  der  wachsenden  Länge  der  Blumenröhre,  welche, 
weil  durch  die  nämliche  Ursache  bewirkt,  eine  allgemeine  Erscheinung 
bei  den  Individuen  einer  Sippe  w^ar,  verminderte  sich  für  die  In- 
secten die  Leichtigkeit  des  Nektarholens.  Dieselben  wurden  zu 
grösseren  Anstrengungen  gezwungen,  und  der  damit  verbundene 
Reiz,  sowohl  der  physische,  den  das  Organ  bei  der  Arbeit  erlitt,  als 
der  psychische,  welcher  in  der  gesteigerten  Begierde  nach  dem  Ziele 


in.  Ursachen  der  Veränderung.  151 

lag,  verursachte  eine  Verlängerung  des  Rüssels,  so  lange,  als  eine  Ver- 
längerimg der  Blumenröhre  ihr  vorausging.  Dabei  ist  selbstverständ- 
lich, dass  jede  Pflanze  nur  zu  einem  begrenzten  Wachsthum  der 
Blume  mid  jedes  Insect  nur  zu  einem  begrenzten  Wachsthum  des 
Rüssels  sich  befähigt  zeigt. 

Die  Honigabsonderung,  die  im  Grunde  der  meisten  nicht  stäu- 
benden Blüthen  stattfindet,  ist  offenkundig  eine  für  die  Pflanzen 
nützliche  Einrichtung,  weil  sie  den  Insectenbesuch  ganz  besonders 
befördert.  Honigdrüsen  kommen  aber  nicht  bloss  in  den  Blüthen, 
sondern  auch  an  den  Laubblättern  einiger  Pflanzen  (Viburnum 
Tinus,  Clerodendron  u.  s.  w.)  vor  und  sind  daher  keine  eigens  für 
die  Befruchtung  hergestellte  Anpassung.  Was  die  Ursache  betrifft, 
welche  diese  Organe  erzeugte ,  so  möchte  ich  vermuthen ,  dass  sie 
ebenfalls  in  dem  durch  die  Insecten  ausgeübten  Reiz  zu  suclien  ist, 
welche  mit  Bohrwerkzeugen  an  ihren  Mundtheilen  versehen  sind 
(Fliegen,  Bienen,  Schmetterlinge)  und  Pflanzenzellen  anbohren,  um 
den  Saft  derselben  zu  gewinnen. 

Es  erscheint  mir  nun  sehr  plausibel  und  ganz  in  Ueberein- 
stimmung  mit  den  Ijekannten  ontogenetischen  Reactionen  auf  ähn- 
liche Verwundungen ,  wenn  wir  annehmen ,  dass  der  mit  dem  ge- 
nannten Angriff  verbundene  und  durch  eine  lange  Generationenreihe 
sich  stets  wiederholende  Reiz  schliesslich  zu  der  phylogenetischen 
Bildung  eines  besonderen  Drüsenorgans  geführt  habe.  Dass  das- 
selbe fast  bloss  im  Grunde  der  Blüthen  sich  findet,  erklärt  sich 
daraus ,  dass  diese  Region  wie  keine  andere  an  der  Oberfläche  des 
Pflanzenkörpers  aus  einem  weichen  saftigen  Gewebe  besteht. 

Die  Nützlichkeit  der  Erscheinung  für  die  Fortpflanzung  hatte 
keinen  Einfluss  aiff  die  Entstehung  des  Organs,  und  wenn  die  Selec- 
tionstheorie  durch  ihr  Princip  sich  genöthigt  sieht,  auch  in  den  an 
grünen  Blättern  befindlichen  Honigdrüsen  eine  für  die  betreffenden 
Pflanzen  besondere  vortheilhafte  Einrichtung  zu  vermuthen ,  so 
dürfte  sie  sich  wohl  einer  Täuschung  hingeben.  Der  Organismus 
liat  in  diesem  Fall,  wie  in  allen  anderen,  lediglich  auf  einen  Reiz 
geantwortet.  Eine  solche  Reaction  ist,  wenn  sie  sich  phylogenetisch 
zu  einer  Einrichtung  entwickelt,  allerdings  vortheilhaft ,  indem  sie 
einen  ferneren  Reiz  unmöglich  oder  unwirksam  macht.  Durch  die 
Bildung  eines  Honig  absondernden  Organs  hat  sich  die  Pflanze  auf 
eine  natürliche  Art  gegen  die  störenden  ICiiigriffe  der  Insectenbohr- 


152  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Werkzeuge  geschützt,  da  an  dieser  Stelle  eine  derbe  luiutartige  Be- 
deckung mit  dem  Organisationsplan  unvereinbar  war.  Wenn  ausser 
diesem  unmittelbaren  Nutzen  ein  ganz  anderer  mittelbarer  Vortheil 
für  das  ßefruchtungsgeschäft  aus  der  Einrichtung  gezogen  wird, 
so  ist  dies  weiter  nichts  als  ein  glücklicher  Zufall. 

Es  gibt  noch  eine  Einrichtung  in  den  meisten  Blüthen  der 
Phanerogamen,  welche  ich  von  der  Einwirkung  der  Insecten  ableiten 
möchte.  Pflanzen  mit  kleiner  unscheinbarer  oder  mangelnder  Blüthen- 
decke  und  ohne  Honigabsonderung,  die  deswegen  auch  von  den 
Insecten  im  ganzen  wenig  oder  nicht  l)esucht  werden ,  verstäuben 
ihren  Pollen  durch  den  Wind.  In  den  Blüthen  dagegen  mit  grossen 
Blumenblättern  mit  Honigdrüsen  und  mit  reichlichem  Insecten- 
besuch  hängen  die  Pollenkörner  durch  eine  klebrige  Substanz  mehr 
oder  weniger  zusammen  und  werden  vom  Winde  nicht  zerstreut. 
Die  erste  Erscheinung  ist  die  ursprüngliche,  die  letztere  hat  sich 
phylogenetisch  aus  jener  herausgebildet. 

Die  Insecten ,  welche  auf  den  Blüthen  herumkrochen  ,  um 
Blüthenstaub  und  Säfte  zu  holen,  übten  bei  dieser  Beschäftigung 
nicht  bloss  auf  die  Blätter  und  den  Grund  der  Blütlie  einen  Reiz 
aus  ,  sondern  namentlich  auch  auf  die  Staubbeutel ,  sowohl  durch 
die  Tritte  ihrer  Füsse  und  die  Stiche  ihrer  Bohrwerkzeuge,  als  durch 
verschiedene  andere  mechanische  Angriffe.  Die  Folgen  solcher  Reize 
sind  im  allgemeinen  Wucherung  des  Zellgewebes  bei  stärkerer  Ein- 
wirkung, Vermehrung  verschiedener  Thätigkeiten  bei  schwächerer 
Reizwirkung.  Die  genannten  Eindrücke,  welche  während  langer 
Zeiträume  auf  die  Staubbeutel  ausgeübt  wurden,  haben  denn  auch 
eine  phylogenetische  Veränderung  derselben  hervorgebracht.  Die 
Staubbeutel  sind  grösser,  die  Wandungen  der  Zellen,  in  denen  sich 
die  Pollenkörner  bilden,  dicker  geworden,  und  aus  der  desorgani- 
sirten  Substanz  dieser  Wandungen  ist  die  klebrige  Substanz  hervor- 
gegangen, welche  die  Pollenkörner  zusammenhält.  —  Zwar  kann 
man  das  Bedenken  äussern,  dass  die  Staubbeutel  den  Reiz  in  der 
Regel  erst  zu  der  Zeit  in  sehr  wirksamer  Weise  empfingen,  als  die 
Pollenkörner  schon  geljildet  waren.  Allein  in  protogynischen  Blüthen 
erfolgte  derselbe  doch  in  verhältnissmässig  früher  Zeit  und  ferner 
hatten  auch  die  noch  ungeöffneten  Blüthenknospen  verschiedene 
Angriffe  der  Insecten  zu  bestehen.  Ueberdem  ist  es  sicher,  dass 
ein  säcularer  Reiz,    welcher  eine  phylogenetische  Wirkung  hat,   das 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  153 

Organ  nicht  bloss  in  dem  Zustande ,    in    dem   er   es  trifft ,    sondern 
auch  in  früheren  Entwicklungsstadien  zu  verändern  vennag. 


Ausser  der  Grösse  und  Gestalt  der  Blumenkronen ,  der  Honig- 
absonderung und  dem  klebrigen  Blüthenstaub  gibt  es  bekanntlich 
noch  zwei  Erscheinungen ,  welche  die  Anpassung  der  Blüthen  an 
den  Insectenbesuch  vervollständigen ,  nämlich  die  Farbe  und  der 
Geruch  dieser  Organe.  Aber  diese  beiden  Erscheinungen  können 
am  allerwenigsten  als  eigens  für  die  Fortpflanzung  bestimmt  gelten, 
da  sie  nur  ganz  allgemeine  ^^orkommnisse  der  vegetativen  Organe 
in  der  reproductiven  Sphäre  wiederholen. 

Was  die  Farbe  betrifft,  so  ist,  wie  ich  zuerst  erwähnen  will, 
von  Wichtigkeit,  dass  die  Blumenblätter  in  Bau  und  Verrichtung 
der  Gewebe  genau  mit  dem  sterilen  Theil  der  Staubgefässe  überein- 
stimmen, und  dass  sie  von  den  übrigen  Blättern  vorzüglich  durch 
die  nicht  grüne  Farbe,  die  zartere  Structur  der  Zellen  und  den 
Mangel  der  Spaltöffnungen  sich  unterscheiden.  Diese  Eigenthümlich- 
keiten  der  Staubgefässe  hängen  ohne  Zweifel  mit  ihrer  kurzen  Dauer 
zusammen;  und  sie  kommen  als  Erbtheil  auch  den  aus  den  Staub- 
gefässen  hervorgegangenen  Blumenblättern  zu.  Ein  Organ,  welches 
kein  Chlorophyll  bildet  und  also  nicht  grün  w4rd,  muss  entweder 
farblos  (weiss)  sein  oder  irgend  eine  andere  Farbe  zeigen.  Das  sterile 
Gewebe  der  Staubgefässe  ist  öfters  schwach  gefärbt ;  die  Blumenblätter 
nehmen  ähnliche,  nur  intensivere  Farben  an,  was  mit  auf  die  viel 
stärkere  Einwirkung  des  Lichtreizes  zu  setzen  sein  dürfte.  Die  näm- 
lichen Farbstoffe ,  wie  sie  in  den  Blüthen  gebildet  werden ,  sind 
übrigens  häufig  auch  in  anderen  Organen  enthalten.  Wir  finden 
die  rotlien  und  blauen  Farbstoffe,  die  im  Zellsaft  der  meisten  Blumen- 
blätter gelöst  sind,  nicht  nur  in  Früchten  (Kirschen,  Trauljen),  sondern 
auch  in  Laubblättern  schon  im  Sommer  oder  erst  im  Herbst  (Ampe- 
lopsis),  in  Stengeln  (Cornus),  in  Haaren  und  Wurzeln  (rothe  Rüben). 
Wir  finden  sie  seilest  abwärts  durch  das  ganze  Pflanzenreich  bis  zu 
den  einfachsten  Gewächsen  (einige  Florideen  enthalten  neben  dem 
rothen  unlöslichen  Farbstoff  einen  rothen  gelösten,  einige  Oscillariaceen 
ausser  dem  spangrünen  unlöslichen  einen  violetten  oder  blauen  gelösten 
Farbstoff). 


154  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Die  Ursachen,  welche  die  genannten  Farbstoffe  erzeugen,  sind 
also  nicht  auf  die  Blüthen  beschränkt,  sondern  allgemein  durch  das 
Pflanzenreich  verbreitet.  Sehr  wahrscheinlich  liegen  sie  nicht  schon 
in  der  Sul)stanz  selber,  sondern  in  äusseren  Einflüssen.  Da  diese 
Einflüsse  sich  unserer  Erkenntniss  entziehen,  so  vermögen  wir  auch 
den  unmittelbaren  Vortheil,  der  vielleicht  durch  die  fragliche  Farb- 
stoffbildung  für  die  Pflanzen  erlangt  wird,  nicht  einzusehen.  Der 
weitere  Nutzen  al)er,  den  sie  unzweifelhaft  bei  der  Fortpflanzung 
gewähren,  kann,  wie  derjenige  der  Honigabsonderung,  nur  ein  mittel- 
barer und  zufälliger  sein. 

Ganz  ebenso  wie  mit  den  Farben  verhält  es  sich  mit  den  Ge- 
rüchen der  Blüthen.  Die  Gewissheit,  dass  ihre  Ursachen  keine 
direkte  Beziehung  zu  der  Befruchtung  und  Fortpflanzung  haben, 
tritt  hier  noch  überzeugender  hervor,  weil  die  Gerüche  der  Blmnen 
an  Intensität  und  allgemeinem  Vorkommen  sogar  von  den  aroma- 
tischen \^erbindungen  der  vegetativen  Organe,  namentlich  der  grünen 
Blätter,  übertroffen  werden. 

Wenn  ich  die  Ursachen  für  die  mit  dem  Insectenbesuch  zu- 
sammenhängenden Anpassungen  bei  der  Fortpflanzung  der  Phane- 
rogamen  richtig  erkannt  habe,  so  wurden  die  Abänderungen  der 
ursprünglichen  Blüthen  wesentlich  durch  die  bei  diesem  Besuche 
stattfindenden  mannigfaltigen  Reize  hervorgebracht.  Man  könnte 
vielleicht  entgegnen,  warum  die  Gallwespen,  die  jährlich  ihre  Eier 
in  die  vegetativen  Organe  der  Eichbäume  und  anderer  Pflanzen 
legen,  nicht  ebenfalls  Anpassungsveränderungen  hervorgebracht  haben. 
Al)er  die  Verhältnisse  sind  in  den  beiden  Fällen  doch  wesentlich 
verschieden.  In  den  Blüthen  erfährt  das  nämliche  Organ  durch  alle 
Generationen  hindurch  ganz  in  der  gleichen  Weise  den  Insecten- 
reiz.  In  den  vegetativen  Organen  ist  es  bald  diese,  bald  jene  Stelle, 
welche  getroffen  und  welche  bald  in  der  einen,  bald  in  der  andern 
Weise  verletzt  wird.  Genau  die  gleiche  Stelle  an  dem  Stamm- 
gerüste oder  der  nämliche  Theil  des  gleichen,  durch  seine  Stellung 
am  Stammgerüste  bestimmten  Blattes  wird  kaum  alle  zehn,  vielleicht 
kaum  alle  hundert  Jahre  einmal  von  dem  nämlichen  Insect  ge- 
stochen. Ueberdies  ist  der  Reiz  der  Insecten  auf  die  Blüthentheile 
ein  dauernder  und  schwacher ,  und  als  solcher  für  Erzeugung 
phylogenetischer  Um1)ildung  viel  geeigneter  als  ein  einmaliger  hef- 
tiger Eingriff. 


in.  Ursachen  der  Veränderung.  155 

Indem  die  Insecten  die  Veranlassung  zur  Vergrösserung  der 
Blumenkrone,  zur  Honigabsonderung  und  zum  Klebrigwerden  des 
Pollens  gaben,  war  ihre  Wirkung  für  die  Pflanzen  nachtheilig,  weil 
für  die  ersten  zwei  Erscheinungen  eine  grössere  Arbeit  aufgewendet 
werden  musste,  und  weil  die  dritte  Erscheinung  die  regelmässige 
Befruchtung  beeinträchtigte.  Besonders  der  letztere  Umstand  hat 
wohl  unter  den  Myriaden  ausgestorbener  Pflanzensippen  die  Ver- 
nichtung mancher  derselben  verursacht,  und  er  würde  noch  gründ- 
licher aufgeräumt  haben,  wenn  nicht  der  Insectenbesuch  durch  Ver- 
mittelung  der  Bestäubung  die  Nachtheile,  die  er  gebracht,  selber 
aufgewogen  hätte. 

Während  die  meisten  auffallenden  Abänderungen  der  ursprüng- 
lichen kleinen  und  unscheinbaren  Blüthen  auf  Rechnung  der  In- 
secten zu  setzen  sind,  läs.st  sich  dasselbe  nicht  auch  für  Farbe  und 
Geruch  annehmen,  wie  ich  gezeigt  habe.  Wenn  zwar  auch  diese 
Erscheinungen  den  Insecten  als  Selectionsresultat  zugeschrieben 
werden,  so  ist  dafür  doch  nicht  der  geringste  Beweis  geleistet. 
Bezüglich  der  Farben,  welche  von  den  Pflanzen  durch  Auswahl 
festgehalten  w^orden  sein  sollen,  um  gewisse  Classen  von  Insecten 
vom  Besuche  auszuschliessen ,  sind  die  Beobachter  selber  ganz  un. 
gleicher  Meinung.  Dass  bestimmte  Blimienfarben  deswegen  Bestand 
gewonnen  haben,  weil  bestimmte  Insecten  eine  Vorliebe  für  sie 
besassen,  ist  im  Grunde  weiter  nichts  als  eine  willkürliche  An- 
nahme, und  wenn  H.  Müller  in  consequenter  Verfolgung  dieses 
Gedankens  u.  a.  sagt,  dass  »Bienen  mid  Hummeln  sich  Blumen 
der  verschiedensten  Farben  gezüchtet  haben«  und  dass  beispielsweise 
dieselljcn  >auch  in  der  Familie  der  Primulaceen  sich  ausser  rotlien 
und  violetten  auch  gelbe  Blumen  gezüchtet  haben«,  so  könnte  man 
wohl  mit  mehr  Recht  annehmen,  dass  die  Aufmerksamkeit  dieser 
Insecten  von  jeder  Farbe  erregt  wird  und  dass  sie  sich  gar  niclits 
züchteten. 

Um  die  Frage  sicher  zu  entscheiden,  ob  gewisse  Farben  mehr 
als  andere,  und  gewisse  Gerüche  mehr  als  andere,  bestimmte  Insecten 
anzulocken  vermögen,  niüsste  der  Weg  des  Experiments  einge- 
schlagen werden.  Es  müssten  künstliche  Blumen  von  verschiedener 
Farbe,  theils  ohne  Geruch,  theils  mit  verschiedenen  aromatischen 
Verbindungen  wohlriechend  gemacht,  an  grüne  Zweige  befestigt  und 
der  Insectenbesuch  genau  beobaclitet  werden.     Ich  habe  mit  Erfolg 


156  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

eine  solche  experimentelle  Behandlung  schon  in  den  Jahren  1863  und 
1864,  aber  nur  für  einen  ganz  allgemeinen  Zweck  angewendet^)  und 
mich  dabei  überzeugt,  dass  die  Insecten  durch  die  Farbe  und  den 
Geruch  cler  papiernen  Blumen  herbeigelockt  wurden.  Dieser  Weg 
hätte  für  specielle  Zwecke  weiter  verfolgt  werden  sollen;  derselbe 
hätte  wohl  zuverlässigere  Ergebnisse  versprochen,  als  die  blosse  Be- 
obachtung der  natürlichen  Blumen ,  in  denen  immer  verschiedene 
Momente  zusammenwirken.  Er  würde  zwar  nicht  gezeigt  haben,  welche 
Farben  und  Gerüche  den  Insecten  ihr  Dasein  verdanken,  aber  ganz 
bestimmt,  für  welche  Farben  und  Gerüche  jede  Art  Vorliebe  besitzt. 


Zu  den  merkwürdigsten  Anpassungen ,  die  bei  der  Fortj^flan- 
zung  der  Phanerogamen  vorkommen ,  gehört  die  Einrichtung  der 
dimorphen  und  trimorphen  Blüthen.  Um  diese  Einrichtung  dem 
nicht  botanischen  Leser  in  Erinnerung  zu  bringen,  bemerke  ich,  dass 
bei  Dimorphismus  (z.  B.  Primula)  die  einen  Blüthen  kurze,  die 
anderen  lange  Griffel  besitzen.  In  den  kurzgriffeligen  Blüthen  be- 
finden sich  die  Staubgefässe  oben,  in  den  langgriff eligen  aber  tiefer 
in  der  Kronröhre,  so  dass  also  Narbe  und  Staubbeutel  in  der  gleichen 
Blüthe  in  zwei  Stockw^erken  befindlich  und  möglichst  von  einander 
entfernt  sind,  in  verschiedenen  Blüthen  aber  in  gleicher  Höhe  liegen, 
indem  die  einen  Blüthen  im  untern  Stockwerk  die  Narbe,  im  obern 
die  Staubbeutel,  die  andern  dagegen  im  untern  Stockwerk  die  Staub- 
beutel, im  obern  die  Narbe  enthalten.  —  Bei  Trmiorphismus  (z.  B. 
Lythrum  Salicaria)  gibt  es  dreierlei  Blüthen,  nämlich  solche  mit 
kurzem,  solche  mit  mittellangem  und  solche  mit  langem  Griffel. 
Von  den  meist  10  Staubgefässen  hat  die  eine  Hälfte  einen  höheren, 
die  andere  einen  tieferen  Stand,  in  der  Weise,  dass  die  männlichen 
und  weiblichen  Geschlechtsorgane  in  jeder  Blüthe  drei  Stockwerke 
einnehmen.  Die  Narbe  befindet  sich  im  unteren,  mittleren  oder 
oberen  Stockwerk  und  je  die  beiden  anderen  Stockwerke  sind  von 
den  Staubgefässen  besetzt. 

Dieser  morphologischen  Anordnung  entspricht  in  physiologischer 
Beziehung  die  Erfahrung,  dass  männliche  und  weibliclie  Organe, 
flio  dem  gleichen  Stockwerk  angehören,  in  den  Blütlien  also  einen 
gleich  hohen  Stand  zeigen,  sich  am  leichtesten  befruchten  und  die 
grösste  Menge   von  Samen  liefern,   während  Geschlechtsorgane  ver- 

^)  Entstehung  und  Begriff  der  uaturliistorischen  Art.    18G5. 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  157 

schiedeiier  Stockwerke  eine  Abneigung  gegen  die  Begattung  kund 
tliuii  und  eine  weniger  zahlreiche  Nachkommenschaft  geben;  die 
Abneigung  kann  so  weit  gehen,  dass  die  Befruchtung  ganz  au.sbleibt. 
Die  Begattungen  zwischen  den  Organen  des  gleichen  Stockwerkes 
sind  legitime,  diejenigen  zwischen  ungleichen  Stockwerken  illegitime 
genannt  worden.  Aus  der  morphologischen  Anordnung  ergibt  sich, 
dass  die  legitimen  Befruchtungen  nur  durch  Kreuzung  verschiedener 
Blüthen  zu  Stande  kommen,  und  dass  Selbstbestäubung  immer  ille- 
gitim ist. 

In  bemerkenswerther  Uebereinstimmung  mit  der  physiologischen 
Erfahrung  steht  die  Anpassung  an  die  Insectenwelt.  Die  Insecten, 
welche  nacheinander  verschiedene  Stöcke  einer  Pflanzenart  besuchen, 
und,  um  ihr  Ziel,  den  Honig  im  Grunde  der  Blumenröhre,  zu  er- 
reichen, immer  gleich  weit  in  dieselbe  eindringen,  bedecken  sich  in 
dimorphen  Blüthen  auf  zwei,  in  trimorphen  auf  drei  Zonen  ihres 
Körpers,  welche  den  zwei  oder  drei  Stockwerken  der  Blüthen  ent- 
sprechen, mit  Blüthenstaub.  Bei  fortgesetztem  Blütlienl.)esuche  ]je- 
wirken  sie  fast  ausschliesslich  legitime  Kreuzungsbefruchtungen, 
indem  jede  mit  Blüthenstaub  beladene  Körperzone  mit  Narben  des 
nämlichen  Stockwerkes  in  Berührung  kommt. 

Was  nun  die  Ursache  der  sonderbaren  mori^hologischen  An- 
ordnung betriift,  die  sich  so  nützlich  für  die  Befruchtung  erweist, 
so  sollte  man  meinen,  dass  man  hier,  ^vie  bei  kaum  einer  anderen 
Einrichtung,  auf  zufällige  A^ariation  und  auf  die  Auslese  der  gün- 
stigen aus  den  ungünstigen  Combinationen  angewiesen  sei.  Doch 
gibt  es  einen  Weg,  der,  wie  mir  scheint,  auf  direct  bewirkende 
Ursachen  zu  führen  vermag.  Um  dieselben  klar  zu  legen,  muss 
ich  zuerst  einige  Punkte  feststellen. 

Der  erste  Punkt,  den  wir  ins  Auge  zu  fassen  haben,  ist  der, 
dass  die  Lagerung  der  Geschlechtsorgane  in  zwei  oder  drei  Stock- 
werke eine  erbliche  Erscheinung  ist,  indem  sie  sich  in  den  ver- 
schiedenen Combinationen  immer  wiederholt;  ferner,  dass  für  jedes 
Stockwerk  eine  besondere  männliche  und  weibliche  Anlage  im  Idio- 
plasma  vorhanden  sein  muss.  Letzteres  ist  um  so  nothwendiger, 
als  die  Pollenkörner  und  die  Narbenpapillen  auf  den  verschiedenen 
Stockwerken  ungleich  ausgebildet  sind.  Es  gibt  also  im  Idioplasma 
der  dimorphen  Pflanzen  je  zwei,  in  demjenigen  der  trimorphen 
Pflanzen  je   drei  Anlagen   sowohl   für   die  Staubgefässe   als  für  die 


158  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Griffel.  Diese  Anlagen  oder,  wenn  dieselben  entsprechend  der  früher 
ausgesprochenen  Vermuthuiig  in  ihre  Componenten  aufgelöst  sind 
(S.  44),  diejenigen  Componenten,  welche  die  örtliche  Lage  bestimmen, 
werden  wie  ihre  Entfaltungsmerkmale  räumlich  getrennt  sein. 

Der  zweite  Punkt  betrifft  die  Abneigung  gegen  illegitime  Be- 
gattung, welche  sich  deutlich  in  der  verminderten  Samenzahl  aus- 
spricht. Diese  Abneigung  muss  in  den  Pollenkörnern  und  in  den 
Narbenpapillen  begründet  sein,  indem  die  Substanz  dieser  Organe, 
wenn  sie  von  verschiedenen  Stockwerken  herstammt,  sich  gegen- 
seitig weniger  anzieht,  als  wenn  sie  dem  gleichen  Stockwerk  an- 
gehört. Die  nämliche  Eigenschaft  ist  aber  auch  den  betreffenden 
idioplasmatischen  Anlagen  zuzuschreiben.  Zur  Begründung  dieser 
Folgerung  führe  ich  an,  dass  wirkliche  Anziehung  zwischen  ver- 
schiedenen Idioplasmen  vorkommt,  nämlich  zwischen  dem  Sperma- 
tozoid  und  dem  Keimfleck  der  Eizellen,  wie  ich  später  zeigen  werde. 
Und  wenn  Anziehung  erwiesen  ist,  so  muss  auch  die  Möglichkeit 
von  vorkommender  Abstossung  angenommen  werden.  Für  das  Vor- 
handensein von  dynamischen  Beziehungen  zwischen  den  Geschlechts- 
organen spricht  auch  der  Umstand,  dass  bei  manchen  Pflanzen  die 
Staubgefässe  und  die  Griffel  sich  zur  Zeit  der  Befruchtung  gegen 
einander  neigen. 

An  diesen  zweiten  Punkt  schliesst  sich  dann  die  Thatsache  an, 
dass  bei  manchen  Pflanzen  Abneigung  gegen  Selbstbefruchtung  be- 
steht, indem  Fremdbestäubung  mehr  Samen  hervorbringt  als  Selbst- 
bestäubung. Daraus  geht  deutlich  hervor,  dass  die  ganze  Ein- 
richtung der  dimorphen  und  trimorphen  Blüthen,  wie  dies  übrigens 
bereits  feststehende  Annahme  ist,  ihre  physiologische  Bedeutung  nur 
in  der  verhinderten  Selbstbefruchtung  und  in  der  beförderten 
Kreuzung  erhält. 

Aus  dem  Zusammenhalte  der  eben  angeführten  Momente  ziehe 
ich  nun  folgenden  Schluss  für  die  phylogenetische  Entstehung  der 
dimorphen  Blüthen.  Diese  waren  ursprünglich  homomorph ;  die  Vor- 
fahren von  Primula  hatten  nur  einerlei  Blüthen,  deren  Staubbeutel 
und  Narben  in  gleicher  Höhe  lagen.  Die  beginnende  Abneigung 
gegen  Selbstbefruchtung  bewirkte  in  den  Idioplasmareihen,  welche 
die  örtliche  Stellung  bestimmen,  eine  Scheidung  in  zwei  Anlagen 
und  in  Folge  der  gegenseitigen  Abstossung  eine  Entfernung  dieser 
Anlagen   von    einander   oder   wenigstens    eine   Entfernung   der   ent- 


ni.  Ursachen  der  Veränderung.  159 

falteten  Organe.  Die  beiden  bloss  örtlichen  und  die  Stellung  in  den 
zwei  Stockwerken  bedingenden  Anlagen  sind  beiden  Geschlechtern 
gemeinsam;  und  die  Abneigung  gegen  Sellistbefruchtung  hat  nun 
die  nothwendige  Folge,  dass,  wenn  in  einem  bestimmten  Pflanzen- 
individuum bei  der  Staubgefässbildung  die  eine  Anlage  wirksam 
wird,  sie  für  die  Griffel) )ildung  latent  bleibt,  und  dass  für  die  letztere 
dann  die  andere  Anlage  in  Thätigkeit  versetzt  wird,  dass  also  Staub- 
beutel und  Narben  immer  zwei  verschiedenen  Stockwerken  angehören. 

Die  trimorphen  Blüthen  von  Lythrum  Salicaria  waren  in  den 
Vorfahren  ebenfalls  homomorph.  Der  Scheidungsprocess  gestaltete 
sich  aber  etw'as  comphcirter,  indem  er  nicht  nur  zwdschen  den 
Staubbeuteln  und  Narben,  sondern  auch  zwischen  den  Staubbeuteln 
unter  sich  auftrat.  Was  die  letztere  Scheidung  betrifft,  so  kommt 
es  überhaupt  nicht  selten  vor,  dass,  wenn  die  Staubgefässe  in  zwei 
Kreise  gestellt  sind,  die  Staubbeutel  des  einen  Kreises  höher  hegen 
als  die  des  anderen.  Ich  nehme  hier  diese  Thatsache  als  gegeben  an, 
ohne  ihre  Ursache  ergründen  zu  wollen.  In  den  trimorphen  Blüthen 
besteht,  zugleich  mit  der  Thatsache,  dass  die  nämlichen  Anlagen 
im  Idioplasma  die  Höhenlage  der  männlichen  und  weiblichen  Organe 
bedingen,  Scheidung  der  beiden  Staubbeutelkreise  neben  der  Ab- 
neigung zwischen  den  letzteren  und  der  Narbe.  So  mussten  sich 
drei  idioplasmatische  Anlagen  für  den  örtlichen  Sitz  der  Geschlechts- 
organe bilden,  die  sich  in  jeder  Pflanze  möglicher  Weise  in  anderer 
Combination  verwirklichen.  Nimmt  die  Narbe  den  unteren,  den 
mittleren  oder  den  oberen  Stand  ein,  so  werden  die  zwei  Staubbeutel- 
kreise wegen  ihrer  Abstossung  gegen  die  Narbe  und  untereinander 
in  die  beiden  übrigbleibenden  Stockw^erke  verwiesen. 

Die  Entstehung  der  heteromorphen  aus  den  homomorphen 
Blüthen  lässt  sich  auf  mechanischem  Wege  denken,  w^enn  die  ört- 
liche Stellung  der  männlichen  und  w^eiblichen  Geschlechtsorgane 
durch  eine  gemeinsame  Grupj:)e  im  Idioplasma  bestimmt  wird,  welche, 
sobald  die  der  Abneigung  gegen  Selbstbefruchtung  entsprechende 
innere  Abstossung  einen  gewissen  Grad  erreicht  hat,  in  zwei  oder 
drei  Anlagen  aus  einander  weicht.  Ob  dann  in  dem  einzelnen 
Individumn  die  eine  oder  andere  Stellung  dem  weiblichen  Organ 
zufalle  (dm^cli  welche  selbstverständhch  auch  die  der  männhchen 
Organe  bestimmt  ist),  hängt  von  unbekannten  bei  der  Keimbildung 
schon    entscheidenden    Ursachen    ab,    in    ähnhcher  Weise    wie  bei 


160  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Arten  mit  getrenntem  Geschlecht  in  jenem  Zeitraum  ebenfalls  dm^h 
unl)ekannte  Ursachen  entschieden  wird,  ob  das  entstehende  Individuum 
männlich  oder  weiljlich  sein  wird.  Daraus  folgt  aber  nicht,  dass 
jede  Pflanzenart,  die  eine  entschiedene  Abneigung  gegen  Selbst- 
befruchtung erlangt,  nothwendig  auch  heteromorph  in  der  Blüthen- 
bildung  werde.  Die  Abstossung  kann  sich  auch  einfach  dadurch 
])ethätigen,  dass  Staubbeutel  und  Narben  aus  einander  weichen,  wo- 
durch die  Selbstbefruchtung  erschwert  wird  und  die  Art,  sofern  nicht 
Fremdbestäubung  auf  irgend  einem  Wege  statt  findet,  zu  Grunde 
gellt.  Ob  die  Blüthen  bei  Eintritt  der  Al)neigung  gegen  Selbst- 
bestäubung homomorph  bleiben  oder  heteromorph  werden,  hängt  von 
dem  Umstände  ab,  ob  die  beiden  Geschlechtsorgane  für  ihre  örtliche 
Stellung  gemeinsame  oder  getrennte  Anlagen  im  Idioplasma  besitzen. 

Man  kann  sich  die  phylogenetische  Entstehungsweise  der  ver- 
schiedenen Vorkommnisse  in  folgender  Weise  denken.  Auf  den 
niederen  Stufen  der  Phanerogamen  verhalten  sich  die  Höhenlagen 
der  Staubbeutel  und  der  Narben  sowie  ihre  getrennten  Anlagen  im 
Idioplasma  indifferent  gegen  einander,  wobei  die  beiden  Organe 
bald  in  gleicher,  bald  in  ungleicher  Höhe  sich  befinden.  Dann 
treten  dynamische  Beziehungen  zwischen  denselben  auf:  Abstossung 
der  Anlagen  unter  einander  in  Folge  von  Aljneigung  gegen  Selbst- 
befruchtung bewirkt  die  Entfernung  der  Staubbeutel  von  den  Narben ; 
Anziehung  dagegen  bedingt  die  Lagerung  dieser  Organe  in  gleicher 
Höhe  oder  eine  gegenseitige  Annäherung  durch  Krümmung  der 
Stauljfäden  und  Griffel  umnittelbar  vor  der  Befruchtung. 

Die  Anziehung  der  beiden  Anlagen  hat  aber  noch  eine  andere 
wichtige  Folge.  Steigert  sich  dieselbe  zu  einem  gewissen  Grade,  so 
verursacht  sie  die  Vereinigung  derselben,  so  dass  nunmehr  für  die 
Höhenlage  der  beiden  Geschlechtsorgane  eine  einzige  Anlage  besteht, 
deren  Erregung  sowohl  die  Stellung  der  Staubbeutel  als  der  Narbe 
bedingt.  Sj^äter  kann  dann  im  Verlaufe  der  Generationen  Abneigung 
gegen  Selbstbefruchtung  auftreten,  und  es  ist  nicht  unmöglich,  dass 
diese  Abneigung  durch  eine  mit  der  Annäherung  der  Geschlechts- 
organe verbundene,  allzu  ausschliessliche  Bestäubung  mit  eigenem 
Pollen  hervorgerufen  wdrd.  Sie  bewirkt,  dass  die  gemeinschaftliche 
Anlage  im  Idioi:)lasma  sich  in  zwei  trennt,  und  dass  die  Staub- 
beutel und  die  Narbe  sich  von  einander  entfernen.  Aber  die  beiden 
neuen  Anlagen  sind  nicht  die  nämlichen,  wie  diejenigen,  aus  denen 


ni.  Ursachen  der  Veränderung.  Ißl 

ursprünglich  die  einfache  Anlage  zusammengeflossen  ist,  sondern  es 
sind  ihrem  Ursprünge  entsprechend,  gemeinschaftliche  Anlagen 
für  die  Lagerung  der  Staubbeutel  und  Narben,  so  dass  die  Blüthen 
bald  lange  Griffel  und  tiefliegende  Staubbeutel,  bald  km-ze  Griffel 
und  hochliegende  Staubbeutel  enthalten.  —  Was  die  trimorphen 
Blüthen  betrifft,  so  entstehen  dieselben  entweder  aus  dimorphen, 
indem  mit  dem  Auseinandergehen  der  beiden  Staubbeutelkreise  die 
eine  der  beiden  gemeinschaftlichen  Anlagen  im  Idioplasma  sich  noch 
einmal  in  zwei  theilt.  Oder  die  ursprünglich  einfache  Anlage  theilt 
sich  sofort  in  drei  gemeinschaftliche,  indem  gleichzeitig  die  Narbe 
und  die  beiden  Staub]3eutelkreise,  die  bis  dahin  das  gleiche  Stock- 
werk einnahmen,  in  drei  Stockwerke  mit  alternirender  Besetzung 
auseinander  weichen. 

Die  räumliche  Trennung  der  Geschlechtsorgane  in  der  herma- 
phroditischen Blüthe,  welche  durch  den  Widerwillen  gegen  Selbst- 
bestäubung herbeigeführt  wird,  hat  bei  eintretendem  Heteromor- 
phismus  noch  die  weitere  Folge,  dass  a,uch  Geschlechtsorgane 
anderer  Blüthen,  welche  der  Stellung  nach  den  gemiedenen  Organen 
der  eigenen  Blüthe  entsprechen,  zur  Befruchtung  weniger  geeignet 
sind,  und  dass  nur  Kreuzung  von  Staubbeuteln  und  Narben  gleicher 
Stockwerke  eine  vollkommene  Fruchtbarkeit  ergibt.  Diese  Er- 
scheinung erklärt  sich  leicht  aus  dem  Umstände,  dass  sow^ohl  die 
Pollenkörner  als  die  Narbenpapillen  der  verschiedenen  Stockwerke 
etwas  ungleich  ausgebildet  sind,  was  man  aus  der  verschiedenen 
Grösse   und   theilweise   auch  aus   der  verschiedenen  Farbe   erkennt. 

Was  die  ungleiche  Grösse  betrifft,  welche  mit  dem  höheren 
Stand  wächst,  so  hat  man  sie  als  ein  Ergebniss  der  Zuchtwahl  er- 
klären wollen,  indem  man  annahm,  dass  Pollenkörner,  die  für  eine 
höher  gelegene  Narbe  bestimmt  sind  und  daher  längere  Schläuche 
bilden  müssen,  dazu  auch  mehr  Stoff  verbrauchten.  Diese  Erklärung 
ist  physiologisch  unhaltbar.  Die  Pollenschläuche  empfangen  die  für 
ihr  Wachsthmn  nothwendigen  Stoffe  im  gelösten  Zustande  aus  den 
Secreten  der  Narbe  und  des  Griffelcanals.  Dies  ergibt  sicli  deutlich 
daraus,  dass  die  Substanz  des  Pollenschlauches  oft  das  Vielfache 
des  Pollenkorns  beträgt,  sowie  ferner  daraus,  dass  bei  verschiedenen 
Pflanzengattungen  Grösse  der  Pollenkörner  und  Länge  des  Griffol- 
weges  in  keinem  von  einander  abhängigen  Verhältniss  stehen,  dass 
oft  lange  Griffel  und  kleine  Pollenkörncr  und  andrerseits  kurze  Griffel 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  11 


]ß2  ni.  Ursachen  der  Veränderung. 

und  grosse  Pollenkörner  zusammengehören.  Die  ungleiche  Grösse 
der  Pollenkörner  in  heteromorphen  Blüthen  scheint  mir  daher  nicht 
die  angenommene  Bedeutung  und  überhaupt  keine  grosse  Wichtig- 
keit zu  haben.  Vielleicht  lässt  sie  sich  einfach  aus  der  bei  den  Vege- 
tationsorganen allgemein  gültigen  und  auch  bei  Fortpfianzungsorganen 
zuweilen  eintreffenden  Erscheinung  erklären,  dass  bei  übrigens 
gleicher  Beschaffenheit  höher  gelegene  Theile  stets  rascher  sich  ent- 
wickeln und  eine  beträchtlichere  Grösse  erreichen  als  die  ent- 
sprechenden tiefer  liegenden  Theile. 


Bei  allen  den  Beispielen,  die  ich  angeführt  habe,  und  die  sich 
übrigens  leicht  vermehren  liessen,  befriedigt  die  Anpassung,  welche 
als  Reaction  auf  einen  äusseren  Reiz  eintritt,  stets  ein  Bedürfniss 
und  erweist  sich  somit  als  nützlich.  Oft  ist  der  Mangel,  welchem 
abgeholfen  wird ,  viel  deutlicher  zu  erkennen ,  als  die  von  aussen 
kommende  Einwirkung,  und  man  verfällt  naturgemäss  auf  den  Ge- 
danken, dass  das  Bedürfniss  oder  der  Mangel  selbst  als  Reiz  wirken 
können.  Wenn  ich  von  dieser  Möglichkeit  spreche,  so  denke  ich 
natürlich  nicht  an  neue  Bedürfnisse,  die  der  Organismus  gar  nicht 
kennt,  sondern  an  solche,  die  bei  den  Vorfahren  befriedigt  waren 
und  von  denen  gleichsam  eine  Erinnerung  vorhanden  ist.  Ein 
Beispiel  wird  meinen  Gedanken  deutlich  machen. 

Es  handle  sich  um  den  Schutz  der  Landpflanzen  gegen  das 
^^erdunsten.  Dieselben  sind  die  Nachkommen  von  Wasserpflanzen, 
die  von  Wassermangel  nichts  wussten.  Ihr  Idioplasma  war  so  be- 
schaffen, dass  es  einen  Organismus  erzeugte,  welcher  das  Dm-ch- 
drungensein  mit  Wasser  und  somit  das  Vorhandensein  dieses  Mediums 
voraussetzte.  Als  die  Gewächse  das  bisherige  Medium  mit  feuchter 
Luft  vertauschten ,  wurde  die  genannte  Voraussetzung  nicht  mehr 
erfüllt.  Die  aus  dem  Idioplasma  hervorgehende  Pflanzensubstanz, 
welche  nun  etwelcher  Verdunstung  ausgesetzt  war,  empfand  also 
den  Mangel  von  etwas,  das  ihr  bisher  nicht  mangelte,  und  dieser 
Mangel  konnte  als  Reiz  wirken,  welcher  zu  den  von  aussen  wirkenden 
Reizen  hinzukam,  —  oder,  um  mich  anders  auszudrücken,  dieser 
Mangel  konnte  der  Reaction  des  Organismus  auf  die  äusseren  Reize 
die  bestimmte  Richtung  geben,  so  dass  die  Anj^assung  in  einer  zur  Be- 
friedigung des  empfundenen  Bedürfnisses  dienenden  Weise  erfolgte. 


in.  Ursachen  der  Veränderung.  163 

Es  gibt  nun  aber  auch  Anpassungen,  wo  dem  Anscheine  nach 
die  äusseren  Einflüsse  keine  Rolle  spielen  und  wo  das  Bedürfniss, 
welches  befriedigt  wird,  nicht  als  Reiz  wirken  kann.  Hieher  ge- 
hören die  zahllosen  Erscheinungen,  die  sich  unter  dem  Namen  Sorge 
für  die  Brut  zusammenfassen  lassen.  Um  nur  von  dem  einen  und 
wichtigsten  Punkt  zu  sprechen,  so  werden  die  Keime  von  den  Eltern 
entweder  eine  Zeit  lang  ernährt,  oder  sie  werden  von  denselben  mit 
Nährstoffen  ausgestattet,  von  denen  sie  leben,  bis  sie  sich  selbst 
nähren  können.  Man  wird  wohl  zu  der  Behauptung  geneigt  sein, 
dass  die  äusseren  Einwirkungen  hier  sich  nicht  geltend  machen, 
so  dass  als  Reiz  nur  das  Bedürfniss  übrig  bliebe;  aber  dasselbe 
müsste  gleichsam  eine  Fernwirkung  in  die  Zukunft  zu  Stande 
bringen.  Das  Bedürfniss  nach  Nahrung,  welches  der  Keim  empfindet, 
müsste  eine  derartige  Umstimmung  im  Idioplasma  hervorbringen, 
dass  das  erwachsene  Individuum  die  Neigung  empfände,  seine  Keime 
besser  mit  Nährstoffen  zu  versehen. 

Eine  so  complicirte  Vermittlung  des  durch  das  Bedürfniss  be- 
wirkten Reizes,  so  dass  die  Reaction  erst  viel  später  und  zwar  in 
dem  Zeitpunkte  eintreten  würde,  wo  sie  sich  als  vortheilhaft  erwiese 
und  das  von  neuem  auftretende  Bedürfniss  zu  befriedigen  vermöchte, 
ist  zwar  vielleicht  nicht  als  absolut  unmöglich  zu  verwerfen,  aber 
sie  hat  doch  nur  eine  sehr  geringe  Wahrscheinlichkeit.  Es  erhebt 
sich  daher  die  Frage,  ob  wir  für  die  ganze  Kategorie  von  Erschei- 
nungen, welche  die  Sorge  füi-  die  Brut  betreffen,  auf  die  direct  be- 
wirkenden Ursachen  verzichten  müssen?  Vor  dieser  Misslichkeit 
vermag  uns,  wie  ich  glaube,  folgende  Erwägung  zu  bewahren. 

A^on  jeder  Anpassungserscheinung  ist  Zeit  und  Ort  ihres  Ent- 
stehens aufzusuchen  und  hier  ist  sie  nach  ihren  ursächlichen 
Momenten  zu  beurtheilen;  denn  allen  späteren  Organismen  wurde 
sie  wenigstens  theilweise  als  Erbschaft  überliefert.  Um  die  Anfänge 
der  Sorge  für  die  Brut  aufzufinden,  müssen  wir  zu  dem  Ursprünge 
der  niedrigsten  bekannten  Organismen  und  selbst  noch  weiter  in 
das  Reich  der  Probien  hinuntersteigen.  Auf  der  ersten  Stufe  dieses 
Reiches  findet  bloss  Zunahme  des  primordialen  Plasmas  statt;  auf 
der  zweiten  kommt  regelmässige  Theilung  hinzu  und  zwar,  wie  ich 
später  zeigen  werde ,  vermittels  des  aus  geordneten  Micellen  be- 
stehenden Plasmahäutchens,  welches  die  kleinen  individuellen  Plasma- 
tröpfchen umschliesst;  auf  den  folgenden  Stufen  schreitet  die  Organi- 

11* 


164  in.  Ursachen  der  Veränderung. 

sation  des  Riiidenplasmas  fort  bis  zur  Beweglichkeit  des  ersten 
Tliieres  (Moners)  und  zur  Cellulosemenibranbildung  der  ersten  Pflanze. 

Schon  auf  der  zweiten  Stufe  mochte  die  Ausstattung  für  die 
Zukunft  und  somit  die  Sorge  für  die  Brut  beginnen,  insofern  schon 
hier  aus  irgend  einem  Grunde  (Eintritt  kälterer  Temperatur,  theil- 
weiser  Wassermangel ,  Ausgehen  der  Nährstoffe)  ein  j^eriodisches 
Stillstehen  der  Vegetation  statthatte.  Dabei  konnte  selbstverständlich 
nicht  einfach  das  Wachsthum  oder  die  Theilung  in  jedem  beliebigen 
Stadium  aufhören,  um  sj^äter  an  dem  gleichen  Punkte  wieder  fort- 
zufahren. Da  die  ungünstige  Veränderung  der  äusseren  Umstände 
allmählich  eintrat,  so  mussten  zuerst  diejenigen  Lebensprocesse  zur 
Ruhe  gelangen,  die  am  empfindlichsten  davon  getroffen  wurden, 
indessen  die  anderen  noch  einige  Zeit  fortdauerten.  Es  musste  die 
Theilung  als  das  Spätere  und  Complicirtere  schon  aufhören,  indess 
die  Substanzzunahme  als  das  Ursprüngliche  und  Einfachere  noch 
thätig  war.  So  finden  wir  auch  bei  den  Gewächsen  als  allgemeine 
Erscheinung,  dass  schädliche  Einflüsse,  welche  die  Fortpflanzung 
unterdrücken,  das  Wachsthum  noch  gestatten. 

Beim  periodischen  Uebergang  in  die  Vegetationsruhe  fand  also 
jedesmal  eine  Störung  des  regelmässigen  Wechsels  zwischen  Theilung 
und  Wachsthum  statt,  wobei  das  letztere  begünstigt  war  und  die  in 
den  Ruhestand  sich  begebenden  Individuen  durch  Umfang  und 
Masse  sich  vor  den  übrigen  Generationen  auszeichneten.  Diese 
Störung  musste  sich  in  dem  Idioplasma  geltend  machen  und  eine 
entsprechende  Veränderung  desselben  bewirken,  also  erblich  werden. 
Die  erbliche  Eigenschaft  aber  musste,  da  die  bewirkenden  Ursachen 
stets  eintraten,  sich  allmählich  steigern;  und  diese  Ursachen  sind 
wenigstens  im  Pflanzenreiche  auf  allen  Stufen  thätig,  da  jährlich 
durch  äussere  Umstände  eine  Vegetationsruhe  veranlasst  wird.  Es 
musste  also  die  Neigung,  unter  gewissen  Verhältnissen  die  Zellthei- 
lung  aufhören  und  an  ihrer  Stelle  eine  A^'ermehrung  des  Inhaltes 
eintreten  zu  lassen,  immer  grösser  werden  und  bemerkbarere  Folgen 
hervorbringen. 

Ueberdies  ist  daran  zu  erinnern,  dass  die  verschiedenen  An- 
lagen im  Idioplasma  nicht  unabhängig  neben  einander  liegen,  son- 
dern dass  sie  zusammen  ein  einziges  System  bilden,  in  welchem 
die  Theile  sich  gegenseitig  bedingen.  Wenn  nun  aucli  eine  äussere 
Ursache  zu  wirken  aufhört,  so  kann  doch  die  Anlage,  die  sie  erzeugt 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  165 

hat,  mit  dem  fortschreitenden  Complicirterwerden'  des  Idiojjlasnias 
sich  weiter  aus-  und  imibilden.  Was  uns  daher  bei  den  hölieren  Orga- 
nismen als  voraussehende  Sorge  und,  wenn  hier  allein  l^etraclitet, 
als  unverständliche  Einrichtung  erscheint,  ist  nichts  anderes  als  eine 
ererbte,  durch  natürliche  Ursachen  hervorgerufene  und  weitergebildete 
Eigenschaft. 

Auf  eine  eigenthümliche  Art  der  Reizwirkung,  die  darin  besteht, 
dass  mangelnde  Organe  ersetzt  werden,  dass  also  der  empfundene 
Mangel  dem  Bildungstrieb  die  einzuschlagende  Bahn  vorzeichnet, 
werde  ich  bei  der  Entfaltung  latenter  Anlagen  zu  sprechen  kommen. 

Im  Thierreich  wirkt  der  Reiz  noch  auf  eine  andere,  dem  Pflanzen- 
reiche fremde  Weise,  nämlich  durch  die  Sinnesorgane.  Es  kann 
keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  sinnliche  Eindrücke  sammt  den 
dadm-ch  bedingten  Emj) findungen,  Vorstellungen  und  Willensäusse- 
rungen, wenn  sie  durch  lange  Zeiträmne  sich  stets  in  der  nämlichen 
Weise  wiederholen,  gleich  so  vielen  anderen  Reizen  eine  dauernde 
Um  Stimmung  im  Idioplasma  und  somit  auch  sichtbare  Verände- 
rungen in  Bau  und  Verrichtung  hervorbringen.  Indem  ich  übrigens 
dieses  Feld  den  Thierphysiologen  überlasse,  wdll  ich  nur  auf  eine 
Erscheinung  aufmerksam  machen.  Bekanntlich  gibt  es  manche  Tliiere, 
welche  in  ihrer  Färbung  die  Farbe  der  Umgebung  nachahmen  und 
sich  dadurch  der  Aufmerksamkeit  sei  es  ihrer  Verfolger,  sei  es  der 
von  ihnen  verfolgten  Beute  entziehen.  Ist  es  nun  nicht  denkbar, 
dass  bei  dieser  Anpassung  der  Gesichtssinn  zu  der  Zeit,  als  sich 
die  Färbung  des  Thieres  ohnehin  durch  andere  Ursachen  veränderte, 
einen  bestimmenden  Einfluss  ausgeübt  hat?  und  dies  um  so  eher, 
als  Verfolgung  und  Verfolgtsein  von  den  heftigsten  Empfindungen 
begleitet  sind.  Ueberdem  ist  auch  denkbar,  dass  die  durch  Färbung 
angepassten  Thiere  von  Vorfahren  abstammen ,  welche ,  wie  die 
Cephalopoden  und  das  Chamäleon,  ihre  Farbe  willkürlich  oder  in 
Folge  unwdllkürlicher  Reflexe  wechseln  konnten  und  dass  späterhin 
eine  Fixirung  der  Farbe  eintrat,  wobei  wieder  die  Gesichtsempfin- 
dung den  Ausschlag  gab.  Als  beachtenswerthe,  für  die  Tlieorie  der 
Sinneseinwirkung  günstige  Thatsache  darf  erwähnt  werden,  dass  dem 
Pflanzenreiche  eine  solche  Anpassung  mangelt,  dass  es  keine  Pflanzen 
oder  Pflanzenorgane  gibt,  Avelche  dadurch,  dass  sie  die  Farbe  der  Um- 
gebung annehmen,  vor  den  Blicken  ihrer  Feinde  Sicherheit  finden. 


166  ni.  Ursachen  der  Veränderung. 

Nachdem  ich  zu  zeigen  versuchte,  dass  die  von  aussen  auf  die 
Organismen  wirkenden  Einflüsse  die  verschiedenen  Anpassungen 
derselben  verursachen,  will  ich  noch  auf  einige  Punkte,  welche  das 
Zustandekommen  betreffen,  näher  eintreten.  Die  genannten  Ein- 
wirkungen haben  immer  vielfach  vermittelte  Bewegungen  in  der 
organisirten  Substanz  zur  Folge,  deren  Endresultat  als  Reaction 
bemerkbar  wird,  weshalb  ich  sie  allgemein  als  Reize  bezeichnete. 
Die  Reactionen  sind  in  der  Regel  nützliche  Einrichtungen,  und  es 
wirft  sich  nun  zunächst  die  Frage  von  principieller  Wichtigkeit  auf, 
ob  dieselben  nothwendig  und  allein  eintraten,  oder  ob  sie  die  nütz- 
lichste Auswahl  von  verschiedenen  Reactionen  sind.  Da  nämlich 
der  Reiz  sehr  compHcirte  Molecularbewegungen  verursacht,  so  kann 
auch  das  Endresultat  ein  verschiedenes  sein.  Es  wäre  möglich,  dass 
bei  den  einen  Sippen  oder  bei  den  einen  Individuen  der  nämlichen 
Sippe  diese,  bei  andern  aber  andere  Reactionen  einträten,  die  sich 
naturgemäss  weiter  ausbildeten,  und  je  nach  ihrer  Nützlichkeit  das 
Bestehen  oder  den  Untergang  der  Träger  zur  Folge  hätten. 

Wenn  beispielsweise  das  Klima  in  einem  Lande  kälter  wird,  so 
könnte  die  Temperaturerniedrigung  bei  den  Säugethieren  die  ver- 
schiedensten Reactionen  bewirken,  gleichwie  beim  Menschen  eine 
Erkältung  sehr  ungleiche  Folgen  hat.  Nur  diejenigen  blieben  in 
dem  angenommenen  Falle  als  existenzfähig  übrig,  welche  in  der 
dichter  gewordenen  Behaarung  oder  in  dem  erlangten  Fettpolster 
unter  der  Haut  hinreichenden  Scluitz  gegen  die  Kälte  gewonnen 
hätten. 

Als  zweites  Beisjjiel  will  ich  noch  die  Verletzungen  anführen, 
welche  bei  Thieren  und  Pflanzen  ein  Herbeiströmen  von  plastischen 
Stoffen  und  Neubildungen  an  der  verletzten  Stelle  hervorrufen.  Es 
wäre  nun  denkbar,  dass  ursprünglich  die  Reactionen  auf  einen 
mechanischen  Eingriff  sehr  ungleich  waren ;  —  dass,  um  nur  von  der 
Bewegung  der  Stoffe  zu  sprechen ,  dieselbe  nach  dem  einen  oder 
anderen  l*unkte,  auch  wohl  nach  der  dem  Angriffe  abgekehrten 
Seite  hin  stattfand,  da  ja  in  dem  so  unendlich  complicirten  Räder- 
werk des  Organismus  ein  Druck  auf  der  vorderen  Seite  je  nach 
Umständen  auch  in  eine  Summe  von  Bewegungen  auf  der  hinteren 
Seite,  statt  auf  der  Angriffsstelle ,  ausgehen  könnte.  Waren  die 
Reactionen  ursprünglich  verschieden,  so  mussten  bei  den  so  häufig 
eintretenden  Verletzungen  immer  diejenigen  Individuen   zu  Grunde 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  IGT 

gehen,  welche  mit  einer  schädhchen  Gegenwirkung  antworteten, 
und  zuletzt  blieben  nur  diejenigen  übrig,  welche  die  nützliche  Gegen- 
wirkung an  der  angegriffenen  Stelle  selbst  eintreten  Hessen. 

Man  möchte  vielleicht  denken,  dass  sich  diese  Frage  durch 
Versuche  entscheiden  lasse,  indem  man  künstliche  Verletzungen 
herbeiführt,  wie  sie  sonst  in  der  Natur  nicht  vorkommen,  so  dass 
also  die  Organismen  sich  nicht  darauf  vorbereiten  konnten.  Wenn 
man  Blätter  von  manchen  Pflanzen  abschneidet  und  in  feuchten 
Sand  steckt,  so  bildet  sich  am  Grunde  des  Blattstieles  unmittelbar 
neben  der  Schnittfläche  ein  Wulst  von  Gewebe  und  daran  eine 
Knospe,  welche  sofort  in  einen  sich  bewurzelnden  Stengel  auswächst. 
Der  Reiz,  den  das  Wasser  und  die  Luft  auf  die  Schnittfläche  aus- 
üben, bewirken  diese  Erscheinung;  ein  analoger  Vorgang  kommt  in 
der  Natur  nicht  in  der  Art  vor,  dass  die  bestimmte  Reaction  als 
ein  Auslesefall  zu  erklären  wäre.  Aber  sie  ist  im  Princip  nichts 
Neues  ;  die  Pflanzen  haben  im  allgemeinen  das  Vermögen,  plastische 
Stoffe  an  die  verletzte  Stelle  zu  senden  und  daselbst  zur  Zellbildung 
zu  verw^enden.  Schon  bei  den  einzelligen  Gewächsen  finden  wir 
ähnliche  Reactionen,  indem  an  dem  Punkte,  wo  eine  Verletzung 
stattgefunden  hat,  ein  neues  Stück  Plasmaschlauch  und  Cellulose- 
membran  entsteht,  so  dass  die  Zelle  gegen  die  zu  Grunde  gehende 
verletzte  Partie  in  gleicher  Weise  sich  abschliesst,  wie  sie  sich  bei 
der   ersten  Bildung    gegen   die   äusseren  Medien   abgeschlossen  hat. 

Man  könnte  also  immerhin  an  die  Möglichkeit  denken ,  dass 
die  äusseren  Einwirkungen  vorzugsweise  bei  den  niedersten,  aber 
auch  noch  bei  den  höheren  Organismen  die  verschiedenartigsten 
Folgen  hatten  und  dass  von  allen  Folgen  nur  diejenigen  übrig 
blieben,  welche  ihren  Trägern  nützlich  waren  und  sie  existenzfähig 
machten.  Dieser  Möglichkeit  glaube  ich  aber  die  andere  als  die 
viel  wahrscheinhchere  und  wohl  einzig  berechtigte  gegenüberstellen 
zu  dürfen,  dass  die  vorth eilhaften  Reactionen  allein  eingetreten  sind 
und  dass  es  einer  Auswahl  und  Verdrängung  unter  densell)en  uiclii 
bedurfte.  Jede  äussere  Einwirkung,  die  eine  dauernde  Veränderung 
verursacht,  hat  nämlich  nicht  etwa  ül)orhaupt  die  Bedeutung  eines 
allgemeinen  Reizes,  der  irgendwelche  Reaction  zur  Folge  hat,  son- 
dern sie  trifft  in  ganz  bestimmter  Weise  ein  besonderes  Organ,  eine 
besondere  Function,  eine  besondere  Stelle,  und  erweckt  hier  ein  dein 
Reiz  entsprechendes  bestimmtes  Bedürfniss,    wie  ich  dies  bereits  an 


1G8  in.  Ursachen  der  Veränderung. 

einem  Beispiel  (Schutz  der  Landj)flanzen  gegen  A''erdunstung  S.  145) 
erörtert  habe  und  wie  es  auch  für  alle  anderen  Fälle  gilt.  Es  scheint 
mir  ganz  natürlich,  dass  die  Reaction  unter  dem  Einflüsse  dieses 
Bedürfnisses  sich  so  gestaltet,  dass  demselben  abgeholfen  wird,  — 
dies  um  so  mehr,  als  alle  diese  äusseren  durch  lange  Zeiträume 
dauernden  Einwirkungen  so  schwach  sind,  dass  sie  von  den  Orga- 
nismen nicht  als  wirklicher  Eingriff,  sondern  bloss  als  Bedürfniss 
oder  Mangel  empfunden  werden. 

Wir  können  kurz  sagen,  dass  die  Wirkung  eines  Reizes  ab- 
hängen muss  von  der  Beschaffenheit  des  getroffenen  Organismus 
und  von  allen  übrigen  Verhältnissen ,  unter  denen  sich  derselbe 
befindet.  Da  nun  die  Individuen  einer  natürlichen  Sippe  (die  künst- 
lichen oder  Cultursippen ,  die  meistens  Rassenmerkmale  besitzen, 
verhalten  sich  anders)  unter  sich  in  morphologischer  und  physio- 
logischer Beziehung  bis  auf  verschwindend  kleine  individuelle  Ver- 
schiedenheiten gleich  sind  und  unter  den  nämlichen  klimatischen 
Einflüssen  some  in  der  nämlichen  Umgebung  anderer  Organismen 
leben,  so  muss  der  Reiz  ebenso  gewiss  eine  ganz  bestimmte  Ver- 
änderung hervorbringen ,  als  gleiche  Ursachen  gleiche  Wirkungen 
bedingen.  Er  wird  dagegen  mehr  oder  weniger  verschiedene  Ver- 
änderungen verursachen,  wenn  entweder  die  nämhche  Sippe  an 
ungleichen  Orten  oder  zwei  noch  so  nahe  verwandte  Bippen  bei- 
sammen vorkommen.  Die  Theorie  der  directen  Bewirkung,  im 
Gegensatz  zur  natürhchen  Auslese,  kann  also  rücksichtlich  aller 
durch  Reize  erfolgten  Auffassungen  Ansj^ruch  auf  Gültigkeit  machen. 

Eine  andere  Frage  betrifft  den  Grad  der  Veränderung,  den 
eine  unaufhörliche  und  endlose  äussere  Einwirkung  hervorzuln-ingen 
vermag,  und  im  Gegensatz  dazu  die  Nachwirkung  eines  nur  eine 
Zeit  lang  dauernden  Reizes.  Was  den  ersteren  Punkt  betrifft,  so 
könnte  man  leicht  meinen,  dass  ein  von  aussen  kommender  Einfluss, 
der  eine  Veränderung  bewirkt,  die  Veränderung  endlos,  wenn  auch 
in  sehr  geringem  Maasse,  steigern  müsste,  wie  eine  mechanisch 
T\drkende  Ursache,  welche  einer  Bewegung  in  der  Zeiteinheit  eine 
gewisse  Beschleunigung  ertheilt,  ihr  die  nämliche  Beschleunigung  in 
jeder  folgenden  Zeiteinheit  hinzufügt,  so  dass  die  Bewegung  immer 
schneller  wird.  Bei  den  A'^eränderungen  der  Organismen  tritt  dieser 
Fall  nie  ein,  wodurch  indessen  nicht  etwa  das  Gesetz  von  der  Er- 
haltung der  Kraft  alterirt  wird.    Denn  bei  einem  organischen  Process 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  169 

ist  die  von  aussen  kommende  Reizwirkung  nur  eine  der  vielen  mit- 
wirkenden Ursachen;  sie  dient  nur  als  Veranlassung  und  Richt- 
schnur, indess  die  vom  Organismus  anderswoher  bezogenen  Kräfte 
und  Stoffe  als  die  eigentlichen  mechanischen  Ursachen  arbeiten. 

Wenn  eine  äussere  Einwirkung  endlos  fortdauert,  so  hört  die 
A'eränderung,  die  sie  in  den  Organismen  hervorruft,  stets  nach  einer 
gewissen  Zeit  auf.  Der  Grund  davon  ist  häufig  der,  weil  in  Folge 
der  von  den  Organismen  getroffenen  Gegenmaassregeln  und  der  in 
ihnen  aufgetretenen  Veränderungen  der  von  aussen  kommende  An- 
griff nicht  mehr  als  Reiz  zu  mrken  vermag  und  somit  kein  Bedürfniss 
mehr  erweckt.  In  diesem  Falle  ist  der  Reizwirkung  volles  Genüge 
geschehen ;  in  anderen  Fällen  hört  die  Verändermig  fi'üher  auf,  weil 
der  Organismus  an  der  Grenze  seiner  Leistungsfähigkeit  angelangt 
ist.  Der  von  aussen  kommende  Angriff  wird  zwar  noch  als  Reiz 
empfunden,  aber  die  Beschaffenheit  der  lebenden  Substanz  erlaubt 
keine  Steigerung  der  Abwehr. 

Was  den  Reiz  betrifft,  der  nur  eine  Zeit  lang  eine  Generationen- 
reihe trifft,  so  ist  bezüglich  seiner  Wirkung  zweierlei  möglich.  Entweder 
wächst  die  ihm  entsprechende  Anlage  im  Idloj^lasma  niu-  so  lange 
als  der  Reiz  vorhanden  ist,  oder  die  durch  denselben  hervorgerufene 
Anlage  entwickelt  sich  in  Folge  des  erlangten  Anstosses  auch, 
nachdem  der  Reiz  aufgehört  hat,  noch  weiter.  Da  die  werdenden 
Anlagen  im  Idioplasma  meistens  eine  gewisse  Ausbildung  erlangt 
haben  müssen,  um  in  sichtbare  Merkmale  des  Baus  oder  der  Function 
überzugehen ,  so  kann  es  geschehen ,  dass  ein  W'ährend  einer  be- 
grenzten Zeit  wirksamer  Reiz  bloss  das  Idioplasma,  nicht  aber  die 
sichtbaren  Eigenschaften  des  Organismus  modificirt,  und  es  kann 
ferner  geschehen,  dass  beim  Vorhandensein  einer  Nachwirkung  die 
äusseren  bemerkbaren  Veränderungen  erst  eintreten,  nachdem  der 
Reiz  bereits  längere  Zeit  aufgehört  hat. 

Eine  fernere  Bemerkimg  ist  über  den  Charakter  der  Reaction 
zu  machen,  mit  welcher  der  Organismus  auf  eine  äussere  Einwir- 
kung antwortet.  Die  Reize,  welche  man  als  die  Veranlassung  von 
erblichen  Veränderungen  betrachten  kann ,  sind  im  allgemeinen 
schwach  und  werden  von  dem  Organismus  auch  für  eine  längere 
Dauer  noch  leicht  ertragen.  Die  meisten  von  ihnen  haben  je  nach 
ihrer  Intensität  und  je  nach  der  Beschaffenheit,  in  der  sich  der 
Organismus  befindet,  bald  einen  günstigen,  bald  einen  ungünstigen 


170  ni.  Ursachen  der  Veränderung. 

Einfluss  auf  das  Leben.  Es  ist  daher  begreiflich,  dass  auch  die 
Gesammtreaction ,  für  welche  sich  der  Organismus  entscheidet, 
ungleicher  Natur  sein,  und  dass  von  den  ursprünglich  gleichen 
primordialen  Anfängen  des  organischen  Reiches  verschiedene  An- 
passungsreihen ausgehen  können. 

Im  grossen  und  ganzen  ist  die  Reaction  auf  die  äusseren  Ein- 
wirkungen eine  doppelte.  Entweder  schliesst  sich  der  Organismus 
gegen  die  Reize  so  viel  als  möglich  ab;  er  schützt  sich  gegen  die- 
selben durch  einen  reizfesten  Panzer.  Oder  er  macht  sich  den  Reiz, 
so  weit  es  geht,  dienstbar,  und  wo  dies  nicht  möglich  ist,  sucht  er 
ihm  auszuweichen.  Die  erste  Art  der  Reaction  finden  wir  bei  den 
Pflanzen,  die  zweite  bei  den  Thieren.  Die  Probien,  die  weder 
Pflanzen  noch  Thiere  waren ,  bestanden  aus  einem  nackten ,  unbe- 
weglichen, für  Reize  beinahe  unempfindlichen  Plasmatro23fen.  Die 
auf  ihre  Oberfläche  einwirkenden  Reize  hatten  bei  den  einen  nach 
und  nach  die  Ausscheidung  einer  Cellulosememl)ran  zur  Folge: 
damit  war  die  erste  Pflanzenzelle  geschaffen,  starr  und  für  Reize 
unempfänglich.  Bei  den  anderen  aber  steigerten  sich  Reizbarkeit 
und  Beweglichkeit  besonders  durch  entsprechende  Anordnung  der 
die  Rindenschicht  bildenden  Micelle,  so  dass  die  Oberfläche  vor  den 
Reizen  sich  zurückziehen  oder  denselben  entgegenkommen  konnte: 
damit  war  die  erste  thierische  Zelle  entstanden,  amöbenartig,  mem- 
branlos, beweglich  und  reizbar. 

Entsprechend  diesen  Anfängen  haben  sich  die  beiden  Reiche 
entwickelt.  Das  Pflanzenreich  verdankt  verhältnissmässig  wenig  den 
Reizen,  da  es  sich  denselben  gegenüber  mehr  passiv  verhält;  die 
Mannigfaltigkeit  der  Anpassungen  ist  daher  auch  sehr  gering.  Die 
Starrheit  der  Zelle  bedingte  die  Beschränkung  der  Lebensprocesse 
auf  Ernährung  und  Fortpflanzung  und  dem  entsprechend  eine 
ziemlich  ärmliche  Arljeitstheilung.  Die  Umhüllung  jeder  einzelnen 
Zelle  mit  einer  Cellulosemembran  verhinderte  die  Vereinigung  einer 
Mehrzahl  von  Zellen  zu  einer  energischen  gemeinsamen  Aeusserung. 
Deswegen  finden  wir  im  Pflanzenreiche  eine  im  Verhältniss  zu  den 
physiologischen  Verrichtungen  sehr  reiche  morphologische  Gliederung 
und  einen  mannigfaltigen  Chemismus.  Auch  diejenigen  Gewächse, 
die  sich  bezüglich  ihrer  Ernährung  wie  Thiere  verhalten  (Schmarotzer- 
pflanzen, Pilze),  vermögen  sich  doch  nicht  über  die  von  der  Natur 
gezogenen  Schranken  zu  erheben. 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  171 

Im  Thierreich  dagegen  konnte  wegen  der  Nacktheit  der  Zellen 
die  Empfänglichkeit  für  Reize  sich  weiter  ausbilden,  und  der  Mangel 
einer  trennenden  Membran  gestattete  den  Zellen  sich  zu  sehr  wirk- 
samen Massen  zu  vereinigen.  Die  thierische  Substanz  hat  deim  auch 
unter  dem  Einflüsse  der  Reizbarkeit  die  wichtigsten  Veränderungen 
erfahren.  Die  Reize  haben  manche  besondere  Einrichtungen,  wo- 
runter namentlich  die  Sinnesorgane  zu  nennen  sind,  veranlasst;  sie 
haljen  überdem  die  rein  morphologische  Weiterbildung  zu  einem 
complicirteren  Bau  befördert  und  die  Theilung  der  Arbeit  bis  in  die 
feinsten  Einzelheiten  durchgeführt.  Wegen  des  Ueberwiegens  der 
Reizwirkungen  zeigt  jedoch  die  morphologische  Differenzirung  im 
Verhältniss  zm'  physiologischen  eine  verhältnissmässig  geringere 
Mannigfaltigkeit  als  im  Pflanzenreiche.  Und  weil  die  Reizwirkungen 
die  Verrichtungen,  soweit  es  möglich  ist,  beherrschen,  so  beschränkt 
sich  im  Tliierreich  die  Assimilation  organischer  Substanz  aus  un- 
organischen Verbindungen  auf  einige  Formen  der  niedrigsten  Stufen 
(z.  B.  Eugiena);  die  Weiterbildung  dieser  Anlage  wurde  verhindert 
durch  Verdrängung  von  Seite  der  mit  grösserer  Beweglichkeit  und 
Reizbarkeit  ausgestatteten  und  zur  Aneignung  fremden  organischen 
Eigenthums  befähigten  Formen. 

Schliesslich  will  ich  bezüglich  der  äusseren  Einflüsse  noch  die 
Frage  erörtern,  ob  dieselben  in  erster  Linie  die  Eigenschaften  des 
entwickelten  Organismus  oder  das  Idioplasma  verändern.  ]\Ian  dürfte 
vielleicht  allgemein  zu  der  Antwort  geneigt  sein,  dass  zuerst  das 
Merkmal  im  entfalteten  Zustand  sich  ausbilde,  und  dass  dann  dem 
entsprechend  das  Idioplasma  umgestimmt  werde,  dass  beis2:»ielsweise 
zuerst  die  Behaarung  sich  ändere  und  dann  erst  sich  als  Anlage 
vererbe,  —  mid  man  könnte  zur  Begründmig  anführen,  die  äussere 
Ursache  wirke  ja  auf  den  entwickelten  Organismus. 

Diese  Ansicht  wäre  kaum  zu  bestreiten,  wenn  die  Uml)ildung 
am  Indi\dduum  gleichen  Schritt  mit  der  äusseren  Einwirkung  hielte, 
sei  es,  dass  die  ganze  Veränderung  in  einem  einzigen  Individuum, 
sei  es,  dass  sie  durch  eine  Reihe  von  Generationen  stufenweise  er- 
folgte. Dies  ist  aber  häufig  nicht  der  Fall;  manche  Veränderung 
tritt  erst  ein,  nachdem  eine  ganze  Reihe  von  Generationen  die 
äussere  Einwirkung  erfahren  hat,  weil  gewisse  Eigenschaften  des 
entfalteten  Zustandes  nielit  alhuählich  ,  sondern  sprungweise  in 
einander  übergehen,  wie  wir  später  sehen  werden.    Hier  handelt  es 


172  ni.  Ursachen  der  Veränderung. 

sich  nur  (laniiii ,  wie  wir  uns  die  Wirkung  der  äusseren  Einflüsse 
in  einem  solchen  Füll  zu  denken  haben. 

Es  treffe  ein  dauernder  Reiz  irgend  einen  Theil  des  Organismus ; 
die  Veränderung,  die  er  während  der  ganzen  Lebensdauer  eines  In- 
dividumns  hervorzubringen  vermag,  ist  im  Vergleich  mit  der  Eigen- 
schaft, die  er  schliesslich  bewirkt,  äusserst  gering,  denn  es  bedarf, 
wie  alle  Erfahrung  zeigt,  zur  Abänderung  einer  Varietät  im  natür- 
lichen Zustande  langer  Zeiträume  und  zahlreicher  aufeinanderfol- 
gender Individuen.  Die  neue  Eigenschaft  kann  nun  in  dem  frag- 
lichen Falle  am  entwickelten  Individuum  nicht  allmählich,  sondern 
nur  auf  einmal  auftreten,  weil  sie  mit  der  Eigenschaft,  die  sie  er- 
setzen soll,  unverträglich  ist.  Der  Reiz,  der  auf  die  bestimmte  Ein- 
richtung des  Organismus  trifft,  kann  also  nur  auf  die  dieser  be- 
stimmten Einrichtung  entsprechende  Idioplasmagruppe  einwirken. 
Er  ändert  dieselbe  in  der  ersten  Generation  nur  sehr  wenig  um. 
Das  Idioplasma  wird  auf  die  folgende  Generation  vererl)t  und  hier 
geht  die  Veränderung  stufenweise  weiter. 

So  bildet  sich  unter  dem  Einfluss  des  Ijestimmten  Reizes  vielleicht 
durch  tausend  und  mehr  Generationen  eine  Anlage  aus,  die,  wenn 
sie  fertig  ist,  zur  sichtbaren  Eigenschaft  sich  entfaltet  und  die  bis- 
herige Eigenschaft,  die  nun  latent  wird,  verdrängt.  Für  die  Theorie 
des  Reizes  ist  es  natürlich  gleichgültig,  ob  derselbe  das  entwickelte 
Organ  oder  das  Idioj^lasma  verändere,  da  ja  das  Idioplasma  durch 
den  ganzen  Körper  verbreitet  und  in  jedem  Theil  vorhanden  ist, 
also  von  dem  Reiz  unstreitig  afhcirt  wird. 

Um  den  Vorgang  deutlicher  zu  machen,  wdll  ich  zwei  Beispiele 
anführen,  die  ich  weniger  deswegen,  weil  sie  in  aller  Strenge  hieher 
gehören,  als  wiegen  der  allgemeinen  Verständlichkeit  auswähle.  Ich 
habe  bereits  von  den  Farben  der  Blüthen  gesprochen  als  von  einer 
Erscheinung,  deren  Ursache  noch  unbekannt  ist ;  sehr  wahrschein- 
lich aber  verdanken  sie  ihre  Entstehung  äusseren  Einflüssen.  Das 
Nämliche  gilt  auch  von  der  Füllung  der  Blüthen.  Nun  geschieht 
es,  dass  in  einer  roth  oder  blau  blühenden  SipjDC  plötzlich  einzelne 
Individuen  mit  weissen  Blüthen  auftreten,  ebenso  dass  unter  Pflanzen 
mit  normalen  Blüthen  plötzlich  eine  solche  mit  gefüllten  Blüthen 
zum  Vorschein  kommt.  Beide  Veränderungen  werden  nicht  bloss 
in  der  Cultur,  sondern  auch  auf  natürlichen  Standorten  beobachtet. 
Beide  sind  erblich  und  somit  auch  im  Idioplasma  enthalten. 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  173 

Für  die  Bildung  der  idioplasmatisclien  Anlage  bedarf  es  im 
einen  und  andern  Falle  zwar  nicht  einer  grossen  Zahl ,  aber  doch 
sicher  wenigstens  einiger  Generationen.  Dies  ist  anzunehmen  wegen 
der  Grösse  der  A^eränderung,  wegen  ihres  erblichen  Charakters  und 
weil  in  Ausnahmefällen  der  Uebergang  von  der  intensiven  Färbung 
zu  weiss  oder  von  den  einfachen  Blüthen  zu  gefüllten  wirklich  durch 
mehrere  Abstufungen ,  also  durch  mehrere  Generationen  verläuft. 
Hat  bei  plötzlichem  Umschlag  die  Bildung  der  Anlage  vorher  schon 
durch  mehrere  Generationen  gedauert,  so  wurde  während  dieser  Zeit 
durch   die  Einwirkung   von   aussen   bloss    das  Idioplasma  getroffen. 

Aber  w^enn  auch  die  allerkürzeste  Einwirkung  der  äusseren 
P'inflüsse  angenommen  wird  und  wenn  die  ganze  Veränderung  in 
einem  einzigen  Individuum  sich  vollzieht,  so  enthält  doch  der  Same, 
aus  dem  die  erste  weissblühende  oder  gefüllte  Pflanze  erwächst, 
schon  die  neue  Eigenschaft,  welche  somit  jedenfalls  im  IdiojDlasma 
vorhanden  ist,  ehe  sie  als  Merkmal  sichtbar  wird.  Die  von  aussen 
wirkenden  Ursachen  führen  also  in  längerer  oder  kürzerer  Zeit  eine 
molecularphysiologische  Umstimmung  herbei,  welche  als  erbliche 
Eigenschaft  im  Idioplasma  des  Samens  an  die  Nachkommen  über- 
liefert w^rd  und  wenn  die  Anlage  hinreichend  stark  geworden,  als 
entfaltetes  Merkmal  zum  Vorschein  kommen  kann. 

Da  nun,  wie  eben  gezeigt  wurde,  für  gewisse  Fälle  die  Annahme 
nothwendig  ist,  dass  der  Reiz  unmittelbar  nur  das  Idioplasma  und 
den  entwickelten  Organismus  bloss  durch  das  Idioplasma  verändere, 
so  dürfte  es  sich  mit  Recht  fragen ,  ob  dies  nicht  ein  allgemeiner 
A'^organg  sei,  und  ich  glaube,  es  stehe  nichts  der  Theorie  im  Wege, 
dass  alle  von  aussen  angeregten  erblichen  Veränderungen  primär 
durch  Umbildung  des  Idioplasmas  geschehen.  Dies  ist  um  so  wahr- 
scheinlicher, als  die  durch  innere  Ursachen  erfolgenden  A^erände- 
rungen  sicher  zuerst  als  Anlagen  im  Idioplasma  auftreten,  welche 
früher  oder  später  zur  Entfaltung  gelangen. 


Nachdem  ich  die  Wirkung  der  zwei  Ursachen,  welche  die  erb- 
lichen Veränderungen  der  Organismen  und  somit  die  Entwicklungs- 
geschichte der  organischen  Reiche  bedingen,  nämUch  die  Wirkung 
der  Beschaffenheit  des  Idioplasmas ,  welche  eine  fortschreitende 
Complication  zur  Folge  liat,   und   diejenige   der  äusseren   Einflüsse 


174  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

einzeln  besprochen  habe,  will  ich  noch  zeigen,  wie  aus  deren  Zu- 
sammenwirken die  Eigenthümlichkeiten  der  Organismen  hervorgehen. 

In  dem  durch  Urzeugung  entstehenden  primordialen  Plasma 
scheidet  sich  das  Idioplasma  aus,  welches  durch  die  in  ihm  wirkenden 
Ursachen  stets  complicirter  und  reicher  gegliedert  wird.  Bezeichnen 
wir  den  ursprünglichen  und  einfachsten  Zustand  des  Idioplasmas 
mit  J,  so  kann  die  stufenweise  Ausbildung  und  Vervollkommnung 
desselben  durch  J,  Ji,  J2  .  .  .  Jn  dargestellt  werden.  Wären  die 
äusseren  Einwirkungen  gar  nicht  vorhanden  und  würde  das  Idio- 
plasma bloss  auf  eine  völlig  indifferente  Weise  ernährt,  so  müsste 
dasselbe  vermöge  seines  Wachsthums  eben  diese  Stufen  J  ...Jn  durch- 
laufen. —  Die  Configuration  des  Idioplasmas  ist  das  getreue  Abbild 
des  zugehörigen  Organismus.  Es  müsste  also,  wenn  die  Aussenwelt 
weiter  gar  nichts  bewirkte,  als  dass  sie  gleichgültiges  Material  zum 
Wachsthmii  lieferte,  die  sichtbare  Organisation  mit  jeder  höheren 
Stufe  zusammengesetzter  werden  und  eine  reichere  Differenzirung  auf- 
weisen, insoweit  als  ohne  äussere  Einwirkung  überhaupt  eine  Organi- 
sation  nach  der  Vorstellung,  die  wir  damit  verbinden,  möglich  ist. 

Nun  ist  aber  schon  das  primordial  entstehende  Plasma  und  dann 
das  in  demselben  sich  ausbildende  Idioplasma  mannigfaltigen  äusseren 
Einwirkungen  ausgesetzt,  welche  auf  seine  Bescliaffenheit  Einfluss 
haben.  Machen  wir  zuerst  die  Annahme,  die  äusseren  Verhältnisse 
blieben  vollkommen  die  nämlichen,  und  bezeichnen  wir  dieselben 
mit  a,  so  wird  das  durch  Urzeugung  entstehende  Plasma  in  der 
bestimmten  Modification  aJ  erscheinen  (worin  a  nicht  als  Factor, 
sondern  als  Index  zu  betrachten  ist)  und  sich  durch  die  inneren 
Vervollkommnungsursachen  zu  «Ji,  aJ^  ...  aJn  weiterbilden.  Die 
Veränderung  erfolgt  unabhängig  von  äusseren  Einflüssen,  weil  diese 
sich  nicht  ändern.  Die  Anpassung  kann  auf  jeder  Stufe  voll- 
kommen sein;  dieselbe  behält  auf  allen  Stufen  ihren  allgemeinen 
Charakter,  ist  aber  auf  jeder  derselben  modificirt  entsprechend  der 
neuen  complicirteren  Organisation.  Das  organische  Reich  hätte  in 
diesem  Falle  eine  analoge  Gliederung,  wie  beim  gänzlichen  Mangel 
der  äusseren  bestimmenden  Einwirkungen,  aber  es  besässe  einen  aus- 
gesprochenen Anpassungscharakter  und  zwar  den  gleichen  in  allen 
seinen  GHedern.  Es  ist  unzweifelhaft,  dass  einzelne  kleine  Gruppen 
der  jetzigen  Reiche  sich  in  der  eben  geschilderten  Weise  entwickelt 
haben  und  daher  dem  angegebenen  Typus   folgen,    d.  h.  dass  diese 


in.  Ursachen  der  Veränderung.  175 

Gruppen  ohne  modificirenden  Einfluss  von  aussen  bloss  durch  den 
inneren   Bildungstrieb  umgewandelt  worden  sind. 

In  Wirklichkeit  bleiben  die  äusseren  Verhältnisse  nicht,  wie 
soeben  angenommen  wurde,  die  gleichen;  sondern  sie  verändern 
sich,  oder  die  Organismen  gelangen  durch  Wanderung  unter  andere 
äussere  Umstände,  —  in  ein  wärmeres  oder  kälteres  Khma,  mit 
grösserem  oder  geringerem  Temperaturwechsel ,  an  hellere  oder 
dunklere  Orte,  in  eine  trocknere  oder  feuchtere  Luft,  auf  einen  Boden 
mit  mehr  oder  weniger  Wasser,  auf  eine  chemisch  verschiedene  Unter- 
lage und  damit  in  den  Genuss  einer  chemisch  verschiedenen  Nahrung, 
endlich  in  eine  andere  Umgebung  von  lebenden  Organismen.  Wirken 
die  veränderten  Verhältnisse  als  hinreichend  starke  Reize,  so  bildet 
sich  eine  neue  Anpassung  mit  einer  entsprechenden  ^''eränderung 
in  der  Anordnung  der  Idioplasmamicelle ,  wobei  die  frühere  An- 
ordnung, welche  die  Anpassung  darstellte,  je  nach  dem  Grade  ihrer 
Verträglichkeit  mit  der  neuen,  mehr  oder  weniger  ausgelöscht  wird. 
Sind  die  äusseren  Einwirkungen  aus  a  zu  h  geworden,  so  wird  das 
Idioplasma  aJn  zu  hJ^-^i  oder  zu  ahJn+i.  Die  Anpassung  a  wird 
durch  h  vollständig  vernichtet  also  =  0,  wenn  die  diese  Anpassungen 
bewirkenden  Reize  a  und  b  in  der  nämlichen  Weise,  aber  der  eine 
positiv,  der  andere  negativ  wirken.  Dagegen  bleibt  a  neben  h  un- 
versehrt, wenn  die  entsprechenden  Micellaranordnungen  einander 
unbedingt  dulden.  Unter  der  Einwirkung  neuer  äusserer  Einflüsse 
kann   das   Idioplasma  abJn^i  zu  abcJn+2,   ahcdJn^a   u.  s.  w.   werden. 

Aus  dem  Wechsel  der  äusseren  Verhältnisse,  vorausgesetzt  dass 
dieselben  immer  so  lange  andauern,  um  erbliche  Eigenschaften 
hervorzubringen,  geht  eine  grosse  Mannigfaltigkeit  in  den  Anpassungs- 
formen hervor.  Wenn  schon  bei  der  Annahme,  dass  die  verändernden 
äusseren  Einflüsse  gänzlich  mangeln  oder  dass  sie  fortwährend  die 
nämliche  Beschaffenheit  behalten,  durch  die  inneren  Ursachen  eine 
in  geometrischer  Progression  steigende  Zahl  der  Formen  auf  den 
successiven  Organisationsstufen  bedingt  wurde ,  so  steigt  nun  die 
Anzahl  in  \ael  stärkeren  Verhältnissen,  wenn  die  äusseren  Einflüsse, 
wie  es  in  Wirklichkeit  der  Fall  ist,  wechseln.  Wir  finden  daher 
auf  der  nämlichen  Organisationsstufe  im  Pflanzenreich  und  im  Thier- 
reich  oft  eine  fast  unendliche  Menge  von  Sippen  (Gattungen,  Arten, 
A^arietäten) ;  ich  erinnere  bloss  an  die  Moose  und  die  Compositen 
im  Pflanzenreich  und  an  die  Insecten  im  Thierreich. 


176  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Ich  glaube  in  dem  Vorstehenden  die  Wirkung  der  dem  Idio- 
plasma  von  Natur  innewohnenden  und  der  von  aussen  kommenden 
Ursachen  hinreichend  deuthch  unterschieden  zu  haben.  Um  aber 
nicht  abermals  Missverständnisse  über  das  Vervollkommnungsprincip 
aufkommen  zu  lassen,  will  ich  noch  ausdrücklich  beifügen,  dass  ich 
demselben  keine  bestimmte  Einrichtung  an  den  Organismen  zu- 
schreibe, weder  den  langen  Hals  der  Giraffe  und  den  Greif  schwänz 
der  Affen,  noch  die  Scheeren  des  Krebses  und  das  Gefieder  des 
Paradiesvogels,  weder  die  Gliederung  des  Individuums  in  Organe, 
noch  die  Zusammensetzung  der  Organe  aus  Zellen.  Das  Alles 
wurde  durch  das  Zusammenwirken  der  beiden  Ursachen  hervorge- 
bracht. Ich  kann  mir  nicht  vorstellen,  wie  die  äussern  Ursachen, 
und  ebenso  wenig  wie  die  inneren  Ursachen  für  sich  allein  auf 
mechanischem  Wege  aus  der  Monade  ein  Säugethier,  aus  der  ein- 
zelligen Alge  einen  Apfelbamii  oder  eine  Palme  zu  erzeugen  ver- 
möchten, —  nicht  einmal  wie  durch  die  einen  oder  andern  allein 
ein  einzelliger  pflanzlicher  oder  thierischer  Organismus  aus  dem 
j)rimordialen  Plasma  hervorgehen  könnte. 

Wenn  aber  einmal  auf  irgend  einer  Organisationsstufe  die  eine 
der  beiden  Kategorien  von  Ursachen  ganz  aufhören  sollte,  so  würden 
nach  meinem  Dafürhalten  die  äusseren  Ursachen,  wenn  sie  allein 
vorhanden  wären,  das  Lebewesen  auf  der  erreichten  Organisations- 
stufe beharren  lassen,  aber  seine  Anpassung  fortwährend  verändern  ; 
das  Lebermoos  würde  beispielsweise  nicht  zur  Gefässcryptogame, 
ein  Wurm  nicht  zum  Fisch  w^erden  können,  sondern  sie  wäirden 
ewig  Lebermoos  und  Wm'm  bleiben.  Wären  dagegen  die  Vervoll- 
kommnungsursachen allein  vorhanden,  so  würden  sie  innerhalb  der 
erlangten  Anpassung  die  Organisation  und  Verrichtung  weiter  bilden, 
ohne  Neues  zu  leisten :  die  Zellen  und  Organe  würden  vermehrt  mit 
Beibehaltung  ihrer  Form  und  Anordnung ;  die  Functionen,  die  früher 
vereinigt  waren,  würden  nach  Zellen  und  Organen  getrennt,  aber 
es  entständen  keine  neuen  Functionen;  es  würde  sich  also  ein 
grösserer  und  differenzirterer  Organismus  bilden,  ohne  das  Gepräge 
zu  ändern.  In  beiden  Fällen  könnte  die  gesammte  Nachkommen- 
schaft eines  Wesens  zwar  zu  einer  zahlreichen  Mannigfaltigkeit, 
jedoch  inn'  innerhalb  einer  trostlosen  Einförmigkeit  gelangen. 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  177 

Die  Vorstellung,  die  ich  mir  von  dem  Zusammenwirken  der 
inneren  und  äusseren  Ursachen  mache,  wird  noch  deutlicher  her- 
vortreten ,  wenn  ich  dassell^e  in  seinen  molecularphysiologischen 
Beziehungen  von  den  ersten  Anfängen  aus  verfolge,  wie  ich  es  früher 
(S.  117)  hezüglich  der  inneren  Ursachen  allein  gethan  habe. 

Unter  dem  Einfluss  der  Molecularkräfte,  welche  als  die  inneren 
Ursachen  wirken,  bilden  sich  in  der  Substanz  des  primordialen 
Plasmas ,  indem  dieselbe  im  ül^rigen  zu  Ernährungsplasma  wird, 
Gruppen  oder  Körj^er  von  Plasmamicellen.  Diese  Körper,  welche 
in  den  Nachkommen  stetig  aber  langsam  complicirter  werden,  stellen 
das  Idioplasma  dar.  Durch  die  gleichzeitig  als  Reize  wirkenden 
äusseren  Ursachen  werden  die  Idioplasmakörper  modificirt,  indem 
unter  ihrem  Einfluss  die  Micelle  sich  theilweise  eigenthümlich 
Orientiren  und  zusammenlagern. 

Die  noch  ungeordneten  Micelle  des  spontan  entstandenen 
Plasmas  vermögen  nichts  Anderes  als  die  Eiweissbildung  und  somit 
das  Wachsthum  durch  Micelleinlagerung  zu  vermitteln.  Die  unter 
dem  gleichzeitigen  Einfluss  der  inneren  und  der  äusseren  Ur- 
sachen zu  Schaaren  orientirten  Idioj)lasmamicelle  vermögen  dm-ch 
die  geeinten  Molecularkräfte  neue  chemische  Processe,  plastische 
Bildungen  und  Bewegungen  verschiedener  Art  zu  erzeugen,  die 
alle  entsprechend  den  von  aussen  erfolgten  Reizwirkungen  ange- 
passt  sind. 

Da  die  äusseren  Einwirkungen  sehr  mannigfaltig  sind,  so  kann 
das  durch  die  inneren  Ursachen  zu  einem  ge-^issen  Grad  differenzirte 
Idioplasma  ein  sehr  verschiedenes  Anpassmigsgej)räge  annehmen  und 
sehr  verschiedene  Producte  hervorbringen.  Schon  die  niedrigsten 
Organismen,  die  wir  kennen,  die  einzelligen  Pflanzen  und  Thiere, 
treten  uns  in  einer  grossen  Mannigfaltigkeit  entgegen.  Sie  entsprechen 
zwar  in  ihrer  Gesammtheit  mehreren  Graden  der  inneren  Vollkommen- 
heit (oder  mehreren  Organisationsstufen),  so  dass  also  ihre  Verschieden- 
heiten nicht  allein  von  den  äusseren  Einflüssen  abzuleiten  sind.  Allein 
es  gibt  immer  eine  Zahl  von  einzelligen  Pflanzen  und  Thieren  (z.  B. 
die  Chroococcaceen,  Schizomyceten  und  Moneren),  welche  unter  ein- 
ander in  der  Organisationsstufe  (ihres  Idioplasmas  und  ihrer  Zellen) 
übereinstimmen,  so  dass  ihre  Unterschiede  bloss  auf  Reclnumg  der 
Aussenwelt  kommen. 

Y.  Nägcli,  Abstammungslehre.  12 


17ft  ni.  Ursachen  der  Veränderung. 

Die  erste  Anpassung,  welche  die  äussere  Einwirkung  am  prim- 
ordialen Plasma  vollbringt,  dürfte  die  Bildung  einer  Hautschiclit 
sein.  Man  erinnert  sich  hierbei  unwillkürlich  an  die  Thatsache, 
dass  das  Plasma,  welches  aus  zerrissenen  Pflanzenzellen  in  das  um- 
gebende Wasser  heraustritt,  sofort  ein  dünnes  Häutchen  an  seiner  Ober- 
fläche bildet.  Die  Entstellung  dieses  Häutchens  ist  eine  unmittelbare 
Reaction  des  Plasmas  auf  die  Einwirkung  des  chemisch  verschiedenen 
Wassers,  und  vielleicht  als  eine  Art  Rückschlag  des  früheren  phylo- 
genetischen ^'^organges  zu  betrachten.  An  den  letzteren  erinnert 
ferner  die  Thatsache,  dass  die  Plasmakörper  in  den  Pflanzenzellen 
(Zcllkorn,  Chlorophyllkörner  u.  s.w.)  sich  gleichfalls  mit  einem  Plasma- 
häutchen  umgeben.  Von  diesen  ontogenetischen  Erscheinungen 
unterscheidet  sich  die  Bildung  der  fraglichen  Hautschicht  an  den 
Abkömmlingen  des  })rimordialen  Plasmas  dadurch,  dass  die  letztere 
durch  die  anlialtende  Reizwirkung  verursacht  wurde,  welche  das 
Wasser  während  langer  Zeiträume  ausübte,  wobei  auch  das  in  dem 
primordialen  Plasma  sich  ausscheidende  Idioplasma  modificirt  und 
damit  eine  erbliche  Anlage  erzeugt  wurde ,  welche  immer  zur 
Entfaltung  kommt,  wenn  bei  freier  Zellbildung  Plasmamassen  im 
Innern  einer  Zelle  sel])ständig  und  zu  besondern  Zellen  werden, 
und  ebenfalls,  wenn  irgend  welche  Plasmakörper  innerhalb  der 
Zellen  sich  ausscheiden  und  ein  beschränktes  individuelles  Dasein 
beginnen. 

Diese  Hautschicht  der  niedersten  Thiere  kann  der  mikroskopi- 
schen Beobachtung  leicht  verborgen  bleiben,  und  wenn  sie  nicht 
gesehen  wird,  so  ist  dies  noch  kein  Beweis  dafür,  dass  sie  nicht 
vorhanden  sei.  Ilu'e  Anwesenheit  wird  durch  die  jihysiologisclien 
A^errichtungen  bewiesen.  Sie  wird  sich  aber  der  optischen  Walir- 
nehmung  entziehen,  wenn  sie  die  gleiche  Dichtigkeit  besitzt,  wie 
das  übrige  Plasma  oder  wenn  sie  allzudünn  ist.  Bei  der  unsicht- 
baren Dicke  von  0,3""''  und  einem  Wassergehalt  von  80  "b  besteht 
sie  aus  120  Schichten  von  Eiweissmicellen  mit  je  72  Atomen  C  oder 
aus  60  Schichten  von  Micellen  mit  je  144  C  u.  s.  w. 

Die  Hautschicht,  die  an  der  Oberfläche  der  frühesten  Plasma- 
massen entsteht,  hat  je  nach  der  verschiedenen  Wirkung  der  äusseren 
Reize  einen  ungleiclien  Charakter.  Dieselbe  bedeckt  sich  bei  den 
einzelhgen  Pflanzen  mit  einer  starren  Cellulosemembran ;  bei  den 
einzelljoen    Tliit-ren    bl(^i])t    sie  nackt    und    bildet    sich    nebst   ihren 


III.  Ursachen  der  Veränderung.  179 

Anliängen  zu  grosser  Beweglichkeit  aus,  die  auch  den  cihenartigcn 
Anhängen  der  Plasinahaut  von  manchen  Pflanzenzellen  zukoniiut. 
Aber  die  Natur  der  verschiedenen  äusseren  Reize  und  der  verschie- 
denen Umstände,  welche  das  eine  und  das  andere  bewirken,  ist  uns 
noch  unbekannt. 

Sowie  das  Idioplasma  durch  die  inneren  Ursachen  compli- 
cirter  wird,  so  nimmt  unter  IMitwirkung  der  äusseren  Reize  l'ür 
den  Fall,  dass  dieselben  gleichbleiben,  die  frühere  Anjjassung  des 
Idioplasmas  unter  Beibehaltung  ihres  Charakters  eine  neue,  der  statt- 
gehabten Weiterbildung  entsprechende  Form  an.  Und  in  gleicliom 
Maasse,  wie  das  Idioplasma,  verändert  sich  der  entfaltete  Organisnuis, 
indem  er  sich  in  zahlreichere  Theile  gliedert  und  seine  Anpassung 
demgemäss  weiter  ausbildet  und  verbessert.  —  Wenn  aber  während 
der  inneren  Vervollkommnung  die  äusseren  Reizwirkungen  sich  ver- 
ändern und  lange  genug  andauern,  so  wird  natürlich  sowohl  die 
Anpassung  des  Idioplasmas  als  die  des  entfalteten  Organismus  eine 
andere. 

Die  anschaulichsten  Belege  für  die  Weiterbildung  und  die  Xer- 
ändorung  der  Anpassung  finden  wir  im  Thierreiche,  weil  hier  die 
Anpassungen  viel  ausgesprochener  und  leichter  verständlich  sind 
als  Ijei  den  Pflanzen.  Zu  den  Ijemerkenswerthesten  Producten,  an 
denen  die  äusseren  Einwirkungen  Theil  haben,  gehören  die  Sinnes- 
organe. Sie  behalten  wälirend  der  ganzen  Phylogenie  des  Thier- 
reiches  den  nämlichen  Charakter,  da  sie  die  gleichen  Bedürfnisse 
zu  befriedigen  haben;  sie  werden  aber  entsprechend  der  höheren 
Organisation  des  ganzen  Individuums  immer  complicirter.  Die  Aus- 
bildung des  so  hoch  entwickelten  Gesichts-  und  Gehörorgans  der 
Wirbelthiere  aus  den  einfachsten  Anfängen  bei  den  niederen  Thieren 
ist  nicht  durch  den  Einfluss  der  Licht-  und  Tonschwiijgungen  er- 
folgt; sondern,  indem  das  Idioplasma  durch  die  inneren  Ursachen 
eine  reichere  Gliederung  gewinnt,  bewirkt  es  die  entsprechende 
reicliere  Gliederung  auch  an  den  genannten  Organen ,  wobei  die 
fortdaiiernde  Einwirkung  der  Licht-  und  Tonschwingungen  bloss  den 
Anpassungscharakter  der  Organe  erhält  und  möglicherweise  nocli 
steigert.  —  Beispiele  wie  auf  gleicher  Organisationsstufe  das  Idio- 
plasma und  die  entsprechenden  Organe  sich  ungleich  an[)asscn 
können,  geben  uns  bei  niederen  und  höheren  Thieren  die  Anhangs- 
organe, welche  für  die  verschiedensten  Bewegungen  ausgebildet  wurden. 

12* 


180  III.  Ursachen  der  Veränderung. 

Im  Pflanzenreiche  besteht  (he  Vervohkommnung  (die  reichere 
( Jhederung  der  Organismen)  in  einer  grösseren  Zahl  von  Zehen  nnd 
Organen,  die  eine  grössere  Zahl  von  Ordnungen  darstellen.  Die 
anschaulichsten  Beispiele,  wie  bei  gleicher  äusserer  Anpassung  der 
vegetabilische  Organismus  zusammengesetzter  wird,  finden  wir  nament- 
lich bei  den  Florideen,  bei  den  Moosen,  bei  den  Phanerogamen. 
Beispiele  dagegen,  wie  auf  der  gleichen  Organisationsstufe  die  Organe 
durch  ungleiche  Anpassung  verändert  werden,  ge])en  uns  die  Gattung 
Euphorbia,  bei  der  die  einen  Arten  einen  dünnen  holzigen  Stengel 
und  ausgebildete  grüne  Blätter,  die  anderen  einen  dicken  fleischigen 
grünen,  sclieinbar  blattlosen  Stengel  besitzen,  —  die  Gattung  Acacia, 
bei  der  die  einen  Arten  mohrfach  gefiederte  Blätter  tragen,  die  andern 
den  grössten  Theil  dieser  Blätter  verloren  und  bloss  den  gemeinsamen 
Blattstiel  behalten,  diesen  aber  blattartig  ausgebildet  haben,  —  die 
Gattung  Ranunculus,  bei  der  die  landbewohnenden  Arten  einen  ver- 
mittelst verholzter  Zellen  für  Trag-  und  Biegungsfestigkeit  construirten 
Stengel  und  breite  Blätter  haben,  indess  bei  den  im  Wasser  lebenden 
Arten  die  verholzten  Zellen  im  Stengel  fehlen  und  die  Blätter  in 
schmale  fadenförmige  Lappen  vielfach  zertheilt  sind,  u.  s.  w. 

Wenn  es  auch  Arten  von  Ranunculus  und  anderen  Gattungen 
gibt,  die  bald  im  Wasser  l)ald  auf  dem  Lande  leben  und  mit  dem 
Wechsel  des  Mediums  ihre  Merkmale  ändern,  so  ist  dies  nicht  als 
ein  unmittelbares  Bewirken  durch  die  äusseren  Einflüsse  aufzufassen. 
Sondern  diese  Pflanzen  haben  von  jeher  als  Amphiliien  gelebt  und 
in  Folge  dieses  LTm Standes  gleichzeitig  zweierlei  Anpassungsanlagen 
ausgebildet,  von  denen  nun  je  nach  dem  Medium,  in  dem  sich  die 
Pflanze  befindet,  die  entsprechenden  manifest  werden,  indess  die 
anderen  latent  bleiben. 

Ich  habe  bis  jetzt  die  Anpassung  so  dargestellt,  als  ob  lediglich 
die  entstehenden  Vervollkommnungsanlagen  unter  dem  Einfluss  der 
äusseren  Reize  ein  besimmtes  AnpassungsgeiDräge  annehmen.  Die 
Anpassungsanlage  wäre  also  niclits  Selbstständiges,  keine  isolirte 
Micellgruppe  im  Idioplasma,  die  für  sich  entstände.  Der  Orga- 
nismus könnte  seine  Anpassung  nicht  ändern,  wenn  er  unter  andere 
äussere  Verhältnisse  kommt,  insofern  nicht  eine  Weiterl)ildung  des 
Idioplasmas  durch  die  inneren  Ursachen  erfolgt ,  die  unter  den 
neuen  Reizwirkungen  einen  denselben  entsprechenden  Charakter 
annimmt. 


in.  Ursachen  der  Veränderung.  181 

Es  ist  dies  keine  iiothwendige  Forderung  der  Theorie;  denn 
diese  würde  es  auch  als  jjlausibel  erscheinen  lassen,  dass  ein  Orga- 
nismus, während  sein  Idioplasma  auf  dem  nämlichen  Organisations- 
grad verbleiljt,  unter  dem  Einfluss  äusserer  Reize  die  Anpassung 
seines  Idioplasmas  sowie  seiner  Organe  ändere.  Sondern  die  Er- 
fahrung ist  es,  welche  eine  solche  Annahme  nicht  zu  gestatten 
scheint.  Dies  ergibt  sich  aus  der  Thatsache,  die  ich  früher  schon 
angeführt  habe,  dass  viele  Pflanzen  seit  der  Eiszeit  unter  ganz  ver- 
schiedenen klimatischen  Verhältnissen  und  in  Gesellschaft  mit  einer 
ganz  verschiedenen  Pflanzen-  und  Tlderwelt  geleljt  hal)en  und  doch 
sich  nicht  im  geringsten  von  einander  unterscheiden,  —  ol^gleich 
unter  diesen  Umständen  auch  die  Reiz  Wirkungen,  die  sonst  An- 
passungen bewirken,  verschieden  sein  mussten,  und  der  Zeitraum 
hinreichend  lange  erscheint,  um  Anlagen  hervorzubringen. 

Wir  müssen  daher  wohl  schHessen,  dass  das  Idioplasma  nur 
insoweit,  als  es  sich  durch  innere  Ursachen  weiter  bildet,  gegenüber 
den  äusseren  Reizwirkungen  sich  als  bildsam  erweise.  Dabei  ist  zu 
bemerken,  dass  seit  der  Eiszeit  die  Weiterljildung  durch  innere 
Ursachen  gewiss  nicht  unthätig  gewesen  ist,  und  dass  die  äusseren 
Einflüsse  sicher  auch  bei  der  Prägung  der  entstehenden  Micellgruj^pen 
betheiligt  waren ;  aber  die  letzteren  haben  bei  vielen  Pflanzen 
noch  nicht  die  entfaltungsfähige  Höhe  erreiclit.  Denn  die  selb- 
ständige Ausbildung  des  Idioplasmas  geht,  wie  aus  allem  geschlossen 
werden  muss,  äusserst  langsam  vor  sich  und  verzögert  daher  auch 
die  Anpassungsuml)ildung  desselben. 

Die  phylogenetische  Entwicklung  jjesteht  also  darin,  dass  das 
Idioplasma  dm-ch  die  inneren  Ursachen  stetig  complicirter  wird  und 
dal)ei  unter  dem  Einfluss  der  gleichbleibenden  oder  sich  vorändernden 
äusseren  Reizwirkungen  seinen  Anpassungscharakter  l;)eibehält  oder 
wechselt.  Sowie  die  Micellschaaren  in  dem  Idioplasma  an  Zahl 
zunehmen,  wird  nothwendig  auch  der  Organismus  complicirter,  weil 
ja  seine  Ontogenie  darin  Ijesteht,  dass  eine  Schaar  nach  der  andern 
in  Wirksamkeit  tritt  und  sich  an  dem  Aufl^au  in  der  ihr  eigenthüm- 
lichen  Weise  betheiligt.  Der  Weg  von  der  Keimzelle  bis  wieder  zur 
Keimzelle  wird  also  in  einer  ilbstammungsreihe  immer  länger,  die 
Individuen  erheben  sich  auf  immer  höhere  Organisationsstufen  und 
bilden  eine  grössere  Menge  von  Organen,  wobei  sich  die  Yvr- 
richtungen   scheiden  und   auf  verschiedene  Organe   vertheilun.     Die 


132  III-  Ursachen  der  Veränderung. 

Anpassungen  an  die  Aussenwelt  al)er,  welche  die  innere  und  äussere 
Beschaffenheit  der  Organe  wesentiich  bedingen,  werden,  w^eil  nach 
und  nach  jeder  einzehien  Anj^assungsfunction  ein  eigenes  Organ 
zur  Verfügung  gestellt  wird,  immer  mehr  localisirt,  und  können  in 
Folge  dessen  ohne  Störung  der  übrigen  Verrichtungen  sich  der 
Reizwirkung  entsprechend  ausbilden. 


i 


IV. 

Alllagen  und  sichtbare  Merkmale. 


Die  unmittelbar  vorausgehende  Auseinandersetzung  hatte  den 
Zweck,  das  Zusammenwirken  des  Vervollkommnungstriel)es  und  der 
äusseren  Einflüsse ,  wodurch  das  Idioplasma  in  Ijestimmter  Weise 
verändert  wird,  darzulegen.  Es  fragt  sich  nun  zunächst,  wie  die 
zeitlicli  aufeinanderfolgenden  Zustände  des  Idioplasmas  und  die  in 
demselben  entstehenden  Anlagen  sich  zu  den  sichtbaren  Merkmalen 
verhalten.  Zwar  geben  uns  die  letzteren  allein  Kunde  von  der  Be- 
schaffenheit des  Idioplasmas ;  aber  deswegen  dürfen  wir  dieses  doch 
nicht  etwa  als  ihr  Spiegelbild  betrachten  und  uns  vorstellen,  dass 
mit  den  ^Veränderungen  der  Organismen  auch  die  ^"eränderungen 
in  der  Bescliaffenheit  des  Idioplasmas  genau  übereinstimmen,  ^^iele 
Thatsachen  bew^eisen  uns,  dass  beide  A^orgänge  nur  l^is  auf  einen 
gewissen  Punkt  einander  entsprechen  und  dass  die  Kunde ,  welclie 
uns  der  entfaltete  Zustand  von  den  Anlagen  gibt,  unvollständig  ist, 
weil  innner  eine  Anzahl  von  Anlagen  latent  bleibt. 

Wir  können  die  (phylogenetische)  Ausbildung  des  Idioplasmas 
(lureli  eine  ganze  Generationenreihe  einem  Strome  vergleichen,  der 
von  kleinem  Anfange  aus  immer  mächtiger  wird  und  dessen  Ober- 
fläche von  mannigfaltigen  Wellenzügen  bewegt  ist.  Die  fortschreitende 
Strömung,  welche  der  Steigerung  in  der  zusammengesetzten  Anord- 
nung des  Idioplasmas  entspricht,  macht  sich  absatzweise  in  einer 
bestimmten  Organisationsstufe  geltend,  welche  so  lange  fortbesteht, 
bis  die  um  einen  gewissen  Grad  stärker  gewordene  Strömung  zu 
einer  folgenden  Organisationsstufe   drängt.     Von    (]vn  WelUüizügeii, 


134  ^^-    Anlagen  nnd  8iclit))are  Merlanale. 

welche  die  Oberfläche  modeniren  und  den  Anpassungsveränderungen 
im  Idioplasnici  entsprechen,  werden  nur  die  kräftigsten  zu  sichtbaren 
Merkmalen,  indess  die  anderen  latent  bleiben,  und  jene  sichtbaren 
Merkmale  bleiben  so  lange,  bis  neue,  liinreichend  kräftige  Wellen- 
züge, die  in  entgegengesetzter  Richtung  verlaufen,  sie  durch  andere 
Merkmale  verdrängen. 

Wenn  eine  Anlage ,  sei  es  eine  Vervollkommnungs-  oder  eine 
Anpassungsanlage,  entsteht,  so  muss  die  Veränderung  im  Idioplasma 
bis  auf  einen  gewissen  Punkt  gedeihen ,  ehe  sie  sich  zu  entfalten 
vermag.  Dieser  Punkt  kann  je  nach  Umständen  früher  oder  sj)äter 
eintreten.  Es  verhält  sich  damit  gleichsam  wie  mit  einer  verschlossenen 
Flasche,  welche  eine  gärungsfähige  Flüssigkeit  enthält.  Man  bemerkt 
äusserlich  nichts  von  der  im  Innern  vor  sich  gehenden  Bewegung, 
bis  der  Pfropf  durch  das  gespannte  Gas  herausgeschleudert  wird, 
was  nacli  kürzerer  oder  längerer  Zeit  erfolgt,  je  nach  der  Intensität 
der  Gärung  und  der  Festigkeit  des  ^^erschlusses.  So  vergeht  auch 
eine  gewisse  Zeit,  bis  die  Spannung,  welche  eine  werdende  Anlage 
im  Idioplasma  verursacht,  hinreichend  intensiv  geworden  ist,  um 
die  Widerstände  zu  überwinden  und  manifest  zu  werden.  Daher 
geschieht  die  phylogenetische  Veränderung  der  Organismen  im  all- 
gemeinen sprungweise,  indem  auf  eine  Zeit  der  Ruhe  eine  rasche 
äussere  Umwandlung  erfolgt. 

Die  Ursache,  warum  eine  werdende  Anlage  im  Idioplasma  in  so 
vielen  Fällen  nicht  sofort  auch  als  werdendes  Merkmal  äusserhch  sich 
kund  gibt,  sondern  eine  gewisse  Höhe  erreichen  muss,  um  dann 
plötzlich  als  fertiges  IMerkmal  sich  zu  entfalten,  liegt  wohl  immer  darin, 
dass  dieses  Merkmal  ein  anderes  verdrängt  und  die  Uebergangsstufen 
von  dem  Organismus  nicht  oder  nur  schwer  hervorgebracht  werden. 
Es  giljt  eine  Menge  von  Beisj^ielen ,  wo  man  einen  sprungweisen 
Uebergang  beobachten  kann,  obgleich  allmähliche  Uebergangsstufen 
denkbar  sind  und  auch  ganz  natürlich  erscheinen  würden.  Man 
könnte  leicht  auf  die  Vermuthung  kommen,  dass  die  Zwischen- 
glieder sich  bei  der  phylogenetischen  Umwandlung  zwar  gebildet 
haben,  aber  als  nicht  existenzfähig  durch  die  Concurrenz  beseitigt 
worden  seien.  Wenn  aber  dem  so  wäre,  so  müssten  die  Zwischen- 
glieder bei  der  Kreuzung  wieder  zum  Vorschein  kommen,  was  nicht 
der  Fall  ist.  Ich  werde  diesen  Punkt  in  der  Besprechung  des  Verhaltens 
der  Anlagen    bei    der   geschlechtlichen  Befruchtung   näher  erörtern. 


rV.    Anlagen  und  siflitljare  INIerknialc.  185 

Für  jetzt  will  icli  nur  zwei  Merkmale  kurz  erwähnen ,  die  ich 
früher  sclion  angeführt  hahe,  weil  sie  leicht  zu  beobachten  sind,  die 
Zahl  und  die  Farbe.  INIanche  Pflanzen  mit  fünfl^lättrigen  Blumen- 
kronen ändern  mit  vierblättrigen  ab,  aber  es  giljt  keine  Krone  mit 
vier  Blättern  und  einem  Bruchtheil  des  fünften.  Manche  Pflanzen 
bringen  neben  rothen  oder  blauen  Blüthen  auch  weisse  hervoi'; 
bei  den  einen  Arten  mangeln  die  Zwischenstufen  gänzlich,  bei 
andern  kommt  ein  hellrothes  oder  helll)laues  Zwischenglied  vor,  bei 
wenigen  mehrere  Zwischenglieder  mit  abgestufter  Intensität  der  Fär- 
bung. Ich  nenne  die  blaublüthigen  Gentianen,  welche  selten  w^eiss 
oder  überdem  auch  hellljlau  auftreten,  die  blaue  Campanula  Ijarbata, 
die  auf  gewissen  Standorten  auch  zahlreiche  weisse  und  sehr  spär- 
liche hellblaue  Blüthen  trägt  (andere  Campanula -Arten  zeigen  im 
Gebirg  ein  gleiches  numerisches  Verhältniss  von  drei  Blüthenfarljen), 
Erica  carnea  und  Rhododendron  ferrugineum  mit  rothen  und  äusserst 
selten  mit  weissen  Blüthen,  Anemone  he2:>atica  blau  blühend,  selten 
auch  weiss  oder  roth  (in  manchen  Gegenden  ohne  Uebergänge), 
Achillea  Millefolium,  die  auf  hohen  alpinen  Standorten  spärlich 
intensiv  roth ,  häufig  rein  weiss  und  ebenfalls  häufig  hellroth  in 
verschiedenen  Abstufungen  vorkommt. 

Diese  und  viele  andere  Beisj^iele  beweisen  uns,  dass  manche 
Merkmale  des  entwickelten  Organismus  sich  nicht  allmählich  in 
einander  umwandeln  können  oder  wenigstens  eine  Abneigung  gegen 
die  Bildung  der  Uebergangsglieder  zeigen.  Ohne  Zweifel  gilt  dies 
auch  schon  für  die  Anlagen  im  Idioplasma,  indem  nicht  die  alte 
Anlage  in  die  neue  umgewandelt  wird,  sondern  indem  vielmehr 
neben  jener  die  neue  sich  allmählich  heranbildet  und  dann,  wenn 
sie  hinreichend  stark  gew'orden,  an  der  Stelle  derselben  sich  ent- 
faltet. Dies  ist  als  sicher  zu  betrachten  für  die  vielen  Fälle,  wo 
das  neue  Merkmal  gelegentlich  wieder  in  das  frühere  zurückschlagen 
kann. 

Eine  Veränderung  im  Idioplasma  oder  eine  werdende  Anlage 
muss  also  bis  auf  einen  gewissen  Grad  anwachsen,  ehe  sie  eine 
fertige  Anlage  darstellt,  welche  sich  zum  sichtbaren  Merkmal  ent- 
falten kann.  Sie  behauptet  diese  Höhe  so  lange,  bis  sie  durch  das 
Auftreten  einer  anderen  verwandten  Anlage,  die  nun  ihrerseits 
manifest  wxrden  kann ,  oder  durch  anderweitige  Umbildungen  im 
Idioplasma  geschwächt  wird.    Sie  kehrt  nun  in  denjenigen  Zustand 


186  IV.    Anlagen  und  siclitljare  Merkmale. 

zurück,  in  welchuin  sie  gieiclisam  bloss  eine  Spannung  darstellt,  die 
nicht  mehr  in  Bewegung  überzugehen  vermag.  Sie  bleibt  längere 
oder  kürzere  Zeit  in  diesem  Zustande,  nimmt  nach  und  nach  ab 
und  verschwindet  zuletzt  ganz,  oder  nimmt  auch  wieder  zu  und 
wird  von  neuem  entfaltungsiahig. 

Mit  Rücksiclit  auf  dieses  weitere  Schicksal  müssen  wir  übrigens 
zwischen  Vervollkommnungs-  und  An2>assungsanlagen  unterscheiden. 
Was  die  ersteren  betrifft,  so  wird  mit  der  Einlagerung  neuer  Micelle 
beim  Wachsthum  die  Structur  des  Idioplasmas  immer  zusammen- 
gesetzter, und  von  Zeit  zu  Zeit  wird  diese  iiniere  Bewegung  als 
weitergehende  Gliederung  im  Bau  und  in  den  Functionen  des  Orga- 
nismus sichtbar.  Man  nimmt  nun  vielfach  an,  dass  ein  Organismus 
in  der  phylogenetischen  Entwicklungsreihe  zuweilen  auch  wieder 
auf  eine  niedrigere  Organisationsstufe  zurücksinken  könne,  und  es 
ist  daher  die  Frage,  ob  es  deidvbar  sei,  dass  das  Idioplasma  aus- 
nahmsweise eine  frühere,  einfachere  Beschaffenheit  annehme,  oder 
dass  die  späteren  Veirvollkonnnimngsanlagen  in  demselben  latent 
werden. 

Die  erstere  Annahme  halte  ich  für  unmöglich,  da  die  Fort- 
sei u'ittsljewegung  in  der  Configuration  des  Idioplasmas  ausscldiesslich 
auf  die  demselben  innew^ohnenden  Eigenschaften  beschränkt  und 
die  Wirkung  äusserer  Ursachen  davon  ausgeschlossen  wurde.  Es 
kann  daher  jene  Bewegung  weder  stille  stehen,  noch  eine  entgegen- 
gesetzte Richtung  einschlagen,  indem  dafür  die  bewirkenden  Ur- 
sachen mangeln. 

Dagegen  lässt  sich  denken,  dass  ein  Rückschlag  des  Organismus 
auf  die  nächst  einfachere  Organisationsstufe  durch  Latentwerden 
de]' letzton  VervoUkomnnmngsanlagen  stattfindet.  Dann  werden,  wenn 
wir  die  Anpassung  vernachlässigen,  in  einem  Organismus  mit  dem 
Idioplasma  Jn  nm'  die  dem  Zustande  J„-i  entsprochenden  Merk- 
male verwirklicht.  Mit  Berücksichtigung  der  An^jassung  und  unter 
der  Annahme,  es  verändere  sich  ein  bestinlmtes  Merkmal  derselben 
gleichzeitig  mit  der  Organisation,  luiben  wir  folgendes  Beisj^iel.  Das 
Idioplasma  aJr,  sei  in  (aJhJi^  übergegangen,  indem  die  Organisation 
um  eine  Stufe  gestiegen  ist  (von  J-,  auf  J^■^  und  die  äussere  An- 
passung sich  geändert  hat  (von  a  zu  />).  Die  Anpassungsanlage  a 
ist  im  Idioj)lasma  noch  vorhanden,  al»er  latent,  dalier  in  ()  einge- 
schlossen,    Ji;  (üithidt  '/,-,  vollständig  in   sich  ,    aber  vermehrt  durch 


IV.    Anlagen  und  sichtbare  Merkmale.  187 

neue  Micellschaaren  und  damit  zugleich  mit  einem  etwas  anderen 
Gesammtgleichgewicht.  Wenn  heispielsweise  «-/-,  eine  hestimmte  ein- 
zellige Pflanze  mit  der  Anpassung  a  darstellt  und  (a)hJ^:,  die  erste 
und  niedrigste  Stufe  der  Yielzelligkeit  mit  der  Anpassung  h,  so  kann 
diese  Form  wieder  einzellig  werden,  stellt  nun  aher  in  diesem  Zu- 
stande nicht  die  Form  der  Stufe  J5  dar,  aus  der  sie  hervorgegangen 
ist,  sondern  eine  andere  Anpassungsform  derselben  Stufe.  Hätte 
sich  a  Jf,  in  aJ^  (nicht  in  (a)hJti)  mngewandelt,  so  würde  beim  Rück- 
schlag wieder  der  beinahe  unveränderte  Vorfahr  aJ^  zimi  Vorschein 
gekommen  sein. 

Die  neuen  Micellschaaren ,  welche  den  Fortschritt  des  Idio- 
plasmas  von  J5  zu  Jo  l)edingten  und  die  Vervollkomnniungsanlage 
in  sich  fassen,  müssen,  um  in  Merkmalen  manifest  zu  werden,  zu 
einer  gewissen  Höhe  anwachsen.  Der  Wendepunkt  wird  früher  oder 
später  eintreten  können;  die  Ursachen,  die  auf  das  Manifestwerden 
einwirken,  sind  uns  unl)ekannt;  die  Ernährung  und  andere  äussere 
Einflüsse  mögen  dabei  eine  Rolle  spielen.  Die  nänüichen  Ursachen, 
die  das  Manifestwerden  der  Anlage  beschleunigten,  versetzen  die- 
selbe, wenn  sie  in  entgegengesetzter  Richtung  wirken,  wieder  in  den 
latenten  Zustand.  Die  neuen  Micellschaaren,  welche  die  einzellige 
Pflanze  in  eine  mehrzellige  verwandelten,  lassen,  wenn  sie  unwirksam 
werden  und  im  Spannungszustande  ver])leil)en ,  den  mehrzelligen 
Organismus  wieder  einzellig  werden.  Sie  verschwinden  aber  nicht 
aus  dem  Idioplasma,  sondern  sie  verstärken  sich,  vermöge  des  in- 
härenten Forschrittes  zur  Complication ,  immer  mehr  und  führen 
nothwendig  wieder  zur  mehrzelligen  Pflanze,  welche  nun  aber  viel 
schwieriger  wieder  zur  Einzelligkeit  zurücksinken  kann. 

Wenn  die  vorgetragene  Theorie  richtig  ist,  so  tritt  ein  Zurück- 
fallen auf  frühere  Organisationsstufen  höchstens  vorüliergehend,  al)er 
nie  für  dauernd  ein.  Damit  stimmt  die  Entwicklungsgeschichte 
der  organischen  Reiche  überein,  soweit  sich  dieselbe  sicher  beurtheilen 
lässt,  da  überall  ein  Fortschritt  zum  Zusammengesetzteren,  aber 
nirgends  mit  Gewissheit  ein  Rückschritt  zum  Einfacheren  dargethan 
ist.  —  Ferner  findet  in  der  Regel  nur  ein  Rückschlag  auf  die  nächst 
frühere  Organisationsstufe  statt  und  auch  dies  nur,  wenn  die  neue 
A'^ervollkommnungsanlage  niclit  vollständig  durchgebildet  und  ge- 
festigt ist.  Wenn  daher  auch  ein  mehrzelliger  Organismus  der  nie- 
drigsten Stufe  (J,,)  einzellig  wird,  so  ist  die  nämliche  Umwandlung  für 


188  rV.    Anlagen  und  siclitbare  Mci'kmale. 

einen  solchen  der  Stufe  J^  und  noch  weit  mehr  für  höhere  Stufen 
(f/J;  u.  s.  w.)  als  nahezu  unmöglich  7a\  Ijetrachten. 

Die  Norm  des  Rückschlages  wird  gewöhnlich  anders  aufgefasst, 
indem  man  annimmt,  dass  allgemein  der  vollkommnere  Zustand 
auch  wieder  in  den  unvoUkommnercn  ül)ergehen  könne.  Daljei 
handelt  es  sich  al^er  meistens  nicht  um  Erscheinungen,  die  der  von 
mir  unterschiedenen  Vervollkommnungs-  oder  Progressionsbewegung 
angehören,  sondern  um  Anpassungen,  die  nach  den  Umständen  als 
mehr  oder  weniger  vollkommen  erscheinen.  Rückschläge  auf  frühere 
Organisationsstufen,  die  nicht  als  Anpassungen  zu  betrachten  sind, 
finden  im  Pflanzenreiche  jedenfalls  nur  höchst  selten  und  zwar  in 
der  angegebenen  Beschränkung,  vielleicht  auch  gar  nicht  statt;  so 
schlägt  die  geschlechtliche  Befruchtung  nicht  in  die  Conjugation, 
die  beblätterte  Pflanze  nicht  in  die  Thallompflanze  zurück.  —  Es 
gil)t  freilich  einen  scheinbaren  Rückgang  in  der  Vervollkommnungs- 
bewegung, indem  ein  Organismus  zur  Vermehrung  gelangt,  ehe  er 
alle  ontogcnetischen  Entwicklungsstadien  durchlaufen  hat,  so  dass 
also  ein  Abschnitt  der  Ontogonie  constant  ausljleibt.  So  bringen 
unter  ungünstigen  äusseren  Umständen  manche  Pflanzen  keine 
Blüthen  hervor,  sondern  vermehren  sich  auf  geschlechtslosem  Wege. 
Dies  kann  wahrscheinlich  Jahrtausende  lang  fortdauern ;  aber  die 
Pflanzen  haben  deshalb  phylogenetisch  keinen  Rückschritt  gemacht. 
Sie  besitzen  alle  idioplasmatischen  Anlagen,  die  ihrer  Organisations- 
stufe zukommen,  und  es  bedarf  bloss  der  günstigen  äusseren  Ein- 
flüsse, um  sie  wieder  zur  Blüthenbildung  zu  veranlassen.  In  ähn- 
licher Weise  kann  bei  niederen,  mit  Generationswechsel  begabten 
Pflanzen,  z.  B.  bei  Pilzen,  ausnahmsweise  die  eine  Generation 
während  langer  Zeiträume  ausfallen. 

Während  uns  die  Erfahrung  über  das  Schicksal  der  Vervoll- 
kommnungsanlagen ])loss  die  Aussicht  eröffnet,  dass  die  Merkmale, 
die  der  Anlage  einer  niederen  Stufe  entsprechen,  durch  solche  ver- 
drängt werden,  die  der  Ausdruck  der  nächsthöheren  Anlage  sind, 
so  ist  das  Verhalten  der  Anpassungsanlagen  und  ihrer  mani- 
festen Merkmale  ein  höchst  mannigfaltiges,  —  und  was  ül)er  Yqv- 
änderung  der  Merkmale  und  über  Rückschlag  in  frühere  Formen 
wirklich  beobachtet  wurde,  gehört  alles  dieser  Kategorie  an.  Dies 
ist  begreiflich  ;  die  Anpassungsanlagen  werden  durch  äussere  Ein- 
wirkungen  erzeugt   und   gestärkt,    sie  werden  durch  dieselben  auch 


IV.    Anlagen  und  siclitl)are  ^Morkniale.  18'J 

wieder  geschwächt  und  vernichtet.  El)en.so  hal)en  die  äusseren  Um- 
stände auf  das  ISlanifest-  und  Latentwerden  dieser  Anlagen  einen 
entschiedenen  Einfluss. 

Wenn  das  Idioplasnia  sich  gewissen  äusseren  Einwirkungen  an- 
gepasst  hat,  so  besitzt  es  eine  denselben  entsprechende  partielle 
Anordnung,  welche  die  Anpassungsanlage  darstellt  und  unter  gün- 
stigen Umständen  als  iSIerkmal  manifest  wird.  Kommen  nachher 
andere  äussere  Einflüsse  zur  Geltung,  so  tritt  eine  neue  partielle 
Anordnung  im  Idioj)lasma  auf,  welche  je  nach  Umständen  jene 
frühere  unverändert  lässt  oder  schwächt  oder  vernichtet;  im  ersten 
Fall  bleibt  das  Merkmal  der  früheren  Anpassungsanlage  neben  dem 
neuen  jSIerkmal  fortbestehen  ;  in  den  andern  Fällen  verschwindet  es 
und  das  neue  Merkmal  tritt  an  seine  Stolle.  Die  geschwächte  An- 
lage beharrt  noch  längere  oder  kürzere  Zeit  als  partielle  Anordnung 
im  hlioj^lasma;  sie  kann  später  wieder  gestärkt  werden  und  als 
Rückschlag  ein  sichtbares  Merkmal  hervorbringen,  das  dem  ursprüng- 
hchen  Merkmal  mehr  oder  weniger  gleicht. 

Um  dies  in  einem  schematischen  Beispiel  auszuführen ,  so 
komme  ein  Organismus  mit  dem  Idioplasnia  aJn  unter  neue  äussere 
Verhältnisse  h  und  die  neue  Anj)assungsanlage  lasse  die  frühere 
unversehrt.  aJn  geht  also  über  in  ahJ„^i  und  die  Entfaltung  zeigt 
die  beiden  Merkmale  [a  und  h)  neben  einander.  Darauf  entstehen 
durch  abermahge  Anpassungen  an  veränderte  äussere  Verhältnisse 
die  partiellen  idioplasmatischen  Anordnungen  c  und  d ;  dabei  werde 
a  durch  das  verwandte  c,  und  h  durch  das  verwandte  d  geschwächt. 
Es  verwandelt  sich  somit  alul^j^-i  in  (a)c(h)dJn^2,  wozu  ich  be- 
merke, dass  die  geschwächten,  nicht  mehr  entfaltungsfähigen  Anlagen 
wieder  in  ()  eingeschlossen  sind,  indess  die  nicht  eingeschlossenen 
offenbar  werden.  Der  Organismus  hat  somit  die  Merkmale  a  und  h 
mit  c  und  d  vertauscht.  —  Noch  später  wird  dmxh  die  neue  An- 
passungsanlage e  die  frühere  c  und  durch  die  neue  Anlage  /  die 
frühere  d  geschwächt,  so  dass  das  Idioplasnia  sich  von  (a)  c  (b)  d  Jn -^- 2 
in  (a,c)c(b,d)fJn-\-2,  umwandelt,  und  am  Organismus  die  Merkmale 
c  und  d  durch  e  und  f  ersetzt  werden.  —  Im  Idioplasnia  befinden 
sich  nun  die  latenten  Anlagen  a,  c,  h,  d,  von  denen  die  eine  oder 
die  andere  unter  günstigen  Umständen  wieder  zur  Entfaltung  ge- 
langen kann,  wobei  dann  das  entsprechende  unverträgliche  Merkmal 
verdrängt  wird.    Beispielsweise  geht  das  Idioplasnia  in  den  Zustand 


190  rV.    Anlagen  und  sichtl)are  Merkmale. 

(c,c)a(h,f)dJ,,^i  über,  indem  an  dem  Organismus  die  Rückschläge 
a  und  cl  auftreten,  zwei  Merkmale,  die  früher  nicht  gleichzeitig  be- 
standen. 

Während  das  Idioj)lasma  durch  die  äusseren  Einflüsse  in  der 
angegebenen  Weise  verändert  wurde  und  einen  mehrmaligen  Wechsel 
der  Anpassungsmerkmale  am  Organismus  bewirkte,  bildete  sich 
dasselbe  durch  den  Vervollkommnungstrieb  stetig  weiter  aus  und 
erreichte  möglicherweise  eine  neue  entfaltungsreife  Stufe.  Es  trat 
also  in  dem  vorletzten  der  angeführten  StsidiGii  uls  (a,c)e(h,d)fJn-^-6 
auf  und  der  Organismus  zeigte  ausser  den  neuen  Anpassungsmerk- 
malen e  und  f  auch  eine  der  Stufe  Jn^r'-i  entsprechende  vermehrte 
Gliederung  seiner  Organisation. 

Ich  wiederhole  hier,  dass,  wie  ich  früher  schon  ausfüln^te,  die  Orga- 
nisationsanlagen und  die  Anpassungsanlagen  zu  einem  combinirten 
System  vereinigt  zu  denken  sind,  in  welchem  dieselben  nicht  neben 
einander  liegen,  sondern  in  welchem  die  Organisationsanlagen,  welche 
die  Grundlage  des  Idioplasmas  bilden,  von  den  Anpassungsanlagen 
gleichsam  durchdrungen  und  bestimmt  gemodelt  werden.  Gleich- 
wohl erscheinen  die  Merkmale,  welche  den  beiderartigen  Anlagen 
entsprechen,  in  gewissem  Sinne  selbständig,  so  dass  die  einen  oluie 
die  andern  sich  umwandeln  können.  Wenn  auch,  wie  ich  anzu- 
nehmen genöthigt  bin  (S.  181),  die  Anpassung  des  Idioplasmas  sich 
nur  ändert  nach  Maassgabe  als  dasselbe  in  innerer  Umwandlung 
begriffen  ist,  so  dauert  docli  dieser  innere  Umwandlungsprocess,  bis 
er  eine  neue  Organisation  am  entwickelten  Organismus  bewirkt,  so 
lange  Zeiträume  an ,  dass  das  Idioplusma  indessen  mehrmals  neue 
Anpassungsanlagen  l)il(len  kann.  Daher  vermag  auch  der  Orga- 
nismus, indem  er  in  seinen  allgemeinen  Merkmalen  auf  der  näm- 
lichen Organisationsstufe  verbleibt,  seine  Anpassungsmorkmale  zu 
wechseln.  Dass  aber  auch  die  Anpassung  sicli  nur  sehr  langsam 
umwandelt,  beweist  der  wiederholt  angeführte  Umstand,  dass  viele 
Pflanzen  seit  der  Eiszeit  dieselbe  nicht  zu  ändern  vermochten. 

Wie  der  auf  der  gleiclicn  Organisationsstufe  beharrende  Orga- 
nismus seine  Anpassungen  ändert,  kann  umgekehrt  ein  Wechsel  der 
(.)rganisationsstufe  bei  gleichbleibender  Anpassung  stattfinden.  Ich 
crwillme  als  verständlichstes  Beisj)iel  einzelhge  Pflanzen,  die  ohne 
irgend  eine  weitere  Modification  melu'zellig  werden.  In  diosemVer- 
hältniss  stellen  zu  einander  die  ((mizclligon)  (-hroocuccaceen  und  die 


rV.  Anlagen  und  sichtbare  IMerkmale.  10 1 

übrigen  (mehrzelligen)  Gruj^pen  der  Nostocliinen  (Nostochaceen,  Oscil- 
lariaceen,  Scytonemaceen,  Ri^allariaceen),  —  gewisse  (einzellige)  Pal- 
mellinen  und  verwandte  Gattungen  der  (mehrzelligen)  Confervoi'den,  — 
die   (einzelhgen)  Desmidiaceen  und  die  (mehrzelligen)  Zygnemaceen. 


Es  gibt  also,  wenn  wir  von  den  beiden  der  Organisation  und 
der  Anpassung  entspreclienden  Kategorien  absehen,  zweierlei  An- 
lagen im  Idioplasma,  entfaltungsfällige  und  entfaltungsunfähige, 
solche,  die  am  Organismus  sichtbare  Merkmale  veranlassen  können 
und  solche,  die  im  geschwächtem  oder  unfertigem  Zustande  sich 
befinden  und  nothw^endig  latent  lileiben.  Unter  den  entfaltungs- 
fähigen Anlagen  gibt  es  wieder  zwei  Gruppen,  solche  mit  unaus- 
ljleil)licher  oder  nothwendiger  und  solche  mit  zufälliger  Entfaltung; 
man  kann  sie,  in  Analogie  mit  der  Bezeichnung  der  auf  bestimmten 
Bodenarten  vorkommenden  Gewächse,  entfaltungsstet  und  entfaltungs- 
vag nennen.  Die  entfaltungssteten  Anlagen  kommen  in  jedem 
Individuum  zur  Entwicklung,  während  die  entfaltungsvagen  bald 
latent  bleiben,  bald  manifest  werden.  Unter  den  letzteren  gibt  es 
übrigens  alle  Abstufungen  zwischen  der  Entfaltungsstetigkeit  und 
der  Entfaltungsunfähigkeit,  indem  die  einen  nur  selten  verborgen 
bleiben  und  die  anderen  nur  selten  sichtbar  werden,  und  man  könnte 
daher  unter  ihnen  wieder  entfaltungsliolde  und  entfaltungsscheue 
unterscheiden.  Fast  jede  Pflanzenart  hat  entfaltungsvage  Anlagen ; 
sie  betreffen  vorzüglich  die  Grösse  des  Individuums  und  der  Organe, 
die  Zahl  der  Organe  und  Zellen,  die  Verzweigung,  Bewurzelung, 
Behaarung,  Färbung,  die  A'ermelu'ung  im  Verhältniss  zur  Fort- 
pflanzung, die  Füllung  der  ßlüthen,  endlich  verschiedene  krank- 
hafte und  abnormale  Erscheinungen,  —  und  sind  sehr  geeignet  den 
Systematiker  irre  zu  führen. 

Ob  die  entfaltungsvagen  Anlagen  zu  manifesten  Merkmalen 
werden  oder  nicht,  hängt,  wenn  eine  Pflanze  normal  und  unverletzt 
ist,  von  den  äusseren  Einwirkungen,  namentlich  von  der  riclitigen 
Ernährung  ab.  Die  nämliche  Pflanze,  die  auf  magerem  sandigem 
Boden  kaum  handgross  wird  mit  unverzweigtem  einblüthigen 
Stengel,  erlangt  auf  fruchtbarem  Boden  die  Höhe  von  einem  Meter 
und  reiche  Verzweigung  mit  hunderten  von  Blüthen;  sie  bringt  hier 
alle  entfaltungsfähigen  Anlagen  zur  Ausbildung.  —  Die  äusseren 
Einflüsse    führen   dem  Organismus   vorzüolich  Stoß:   und  Kraft   zu. 


192  •  IV.  Anlagen  und  .si("lit.l)are  Merkmale. 

Sie  haben  die  Bedeutung,  welche  das  Brennmaterial  für  die  Dampf- 
maschine hat.  Wie  die  Vermehrung  des  Brennmaterials  die  Kraft  der 
Maschine  und  die  Geschwindigkeit  der  dadurch  in  Bewegung  ge- 
setzten Locomotive  vermehrt,  so  steigert  eine  reichlichere  Nahrung 
in  Verbindung  mit  einer  grösseren  Menge  von  Wärme  und  Licht 
die  Leistungen  der  lebenden  Pflanze  so  sehr,  dass  dieselbe  nun  alle 
entfaltungsfähigen  Spannungen  in  Bewegung  üljcrgehen  lässt. 

Wir  begreifen  diese  Thatsache  auch  von  der  mechanischen 
Seite,  wenn  die  Vermuthung,  die  ich  früher  über  die  Beziehung 
zwischen  den  Vorgängen  im  Idioplasma  und  am  entfalteten  Organismus 
äusserte  (S.  47)  richtig  ist.  Eine  entfaltungsfähige  Anlage  wird  dann 
zum  sichtbaren  Merkmal,  wenn  die  ihr  entsprechende  Gruppe  von 
Längsreihen  im  Idioplasma  in  activer  Weise  wächst,  während  die 
andern  Gruppen  nur  so  weit  passiv  folgen,  als  es  die  eintretende 
Spannung  erfordert.  Es  ist  in  diesem  Falle  selbstverständlich,  dass 
bei  mangelhafter  Ernährung  nur  diejenigen  Gruppen  des  Idioplasmas 
zum  activen  Wachthum  und  somit  zur  Entfaltung  ihrer  Merkmale 
gelangen,  welche  dazu  die  grösste  Neigung  besitzen,  und  dass  bei 
reichlichster  Ernährung  auch  die  andern,  die  überhaupt  jene  Fähig- 
keit besitzen,  dazu  angeregt  werden. 

Es  gibt  unter  abnormalen  Verhältnissen  noch  eine  andere  Art 
von  Entfaltung  sonst  latent  bleibender  Anlagen.  Zellen  von  Stengeln, 
Blättern,  Wurzeln,  die  im  normalen  Zustande  in  Ruhe  verharren, 
gelangen  nach  Verletzungen  und  Verstümmelungen  des  Individuums 
zur  Entwicklung.  Aus  gekappten  Stämmen,  Aesten  und  Wurzeln,  aus 
Stücken  von  solchen,  an  abgeschnittenen  Blättern  bilden  sich  Adventiv- 
knospen. Das  Idioplasma  bestimmter  Zellen,  das  sonst  ruhend 
bleibt,  beginnt  in  diesem  Falle  sich  sammt  dem  Ernährungsplasma 
zu  vermehren  und  dadurch  Zellenbildung  einzuleiten.  Die  Er- 
scheinung hat  nichts  Auffallendes  und  erklärt  sich  zum  Theil  in 
gleicher  Weise,  wie  die  Entwicklung  der  einzelnen  entfaltungsvagen 
Anlagen.  Durch  die  Verstümmelung  häufen  sich  nämlich  die  Nähr- 
stoffe an,  die  unter  normalen  Verhältnissen  nach  denjenigen  Or- 
ganen, wo  Neubildungen  stattfinden,  abfliessen,  und  veranlassen 
das  Idioplasma,  zu  dem  die  stärkste  Zufuhr  stattfindet,  zum  Wachs- 
thum.  Uebcrdem  wird  aber  auch  bei  der  Verstünnnelung  der  Orga- 
nismus durch  verschiedene  Einwirkungen  getroffen,  welche  er  im 
unversehrten  Zustande  nicht  s^DÜrt. 


TV.  Anlagen  und  siclitbare  Merkmale.  1*),'] 

Dagegen  ist  die  Eigenartigkeit,  in  der  diese  adventiven  JJildnngen 
erfolgen,  benierkenswertli ;  aus  dem  nämlichen  Gewebe  können  unter 
verschiedenen  Umständen  verschiedene  Bildungen  hervorgehen.  Wird 
ein  Stengel  oben  abgeschnitten,  so  dass  ihm  Zweige  und  Blätter 
mangeln,  aber  die  Wurzeln  bleiben,  so  bildet  er  Adventivknosj^en 
und  aus  denselben  bel^lätterte  Zweige ;  wird  er  unten  abgeschnitten, 
so  dass  er  die  Zweige  und  Blätter  behält  aber  die  Wurzeln  verliert, 
so  erzeugt  er  aus  densell3en  Zellen  Adventivwiu-zeln.  Aehnlich  ver- 
hält es  sich  mit  abgeschnittenen  Wurzeln.  Es  ist  als  ob  das 
Idioplasma  genau  wüsste,  was  in  den  übrigen  Theilen  der  Pflanze 
vorgeht,  und  was  es  thun  muss,  um  die  Integrität  und  die  Lebens- 
fähigkeit des  Individuums  wieder  herzustellen. 

Diese  merkwürdige  Erscheinung  erklärt  sicli  mit  Hilfe  zweier 
Hypothesen,  die  ich  oben  aufgestellt  habe  und  dient  denselben  zu- 
gleich als  Stütze.  Sie  beweist  einerseits  wohl  unz  weif  eil  laft,  dass 
das  Idioplasma  in  einem  beliebigen  Theil  des  Organismus  Kunde 
erhält  von  dem,  was  in  den  übrigen  Theilen  vorgeht.  Dies  ist  dann 
möglich,  wenn  seine  Veränderungen  und  Stimmungen  auf  materiellem 
oder  dynamischem  Wege  überall  hin  mitgetheilt  werden  (S.  55). 
In  diesem  Falle  muss  es  das  locale  Idioplasma  sofort  fühlen,  wenn 
ein  wesentlicher  Theil  des  Individumns  mangelt,  weil  von  dorther 
keine  Mittheilungen  mehr  anlangen.  Sollte  in  dem  pflanzhchen 
Organismus  die  Communication  auf  materiellem  Wege  erfolgen,  was 
ich  indess  für  wenig  wahrscheinlich  halte,  so  würde  in  dem  angeführten 
Beispiel  das  Idioplasma  des  Stengels  entweder  keine  Theilchen  von  den 
Wurzeln  oder  keine  solchen  von  den  Blättern  und  Zweigen  erhalten. 

Andrerseits  beweist  jene  Erscheinung,  dass  das  Bedürfniss  als 
Reiz  wirken  kann  (S.  1G2),  und  dass  das  bestimmte  Bedürfniss  auch 
eine  bestimmte  Reaction  veranlasst.  Während  aber  sonst  ein  solcher 
Reiz  nach  sehr  langer  Dauer  Anlagen  im  Idioplasma  erzeugt,  dient 
er  hier  nach  kurzer  Einwirkung  dazu,  bereits  vorhandene  Anlagen 
zur  Entfaltung  zu  bringen.  Das  Idioplasma  des 'Stengels,  welches 
keine  Mittheilung  von  Wurzeln  oder  von  beblätterten  Zweigen  er- 
hält, empfindet  diesen  Mangel  und  reagirt  darauf,  wie  es  immer  auf 
ein  Bedürfniss  reagirt;  es  hilft  dem  Mangel  al)  und  wählt  dazu  die 
nach  den  Umständen  geeigneten  und  ilim  zu  (iebot  stellenden 
Mittel,  in  diesem  Falle  die  Anregung  zur  Entwicklung  von  l)e- 
stimmten   Anlagen.     Die   Thatsache,    dass   aus   dem    nänüichen  Ge- 

V.  Nägel i,  Abstammungslehre.  13 


194  IV.  Aulagen  und  siclitbare  INIerkmale. 

webe  von  den  verschiedenen  Organen,  die  liier  gebildet  werden 
können,  gerade  dasjenige  entsteht,  welches  dem  Individuum  ge- 
nommen wurde,  scheint  mir  auf  keine  andere  Art  sich  deuten  zu 
lassen,  als  dass  der  Mangel  als  Reiz  zu  wirken  vermag,  welcher  der 
durch  Anhäufung  von  Nährstoffen  erfolgenden  Neubildung  die  be- 
stimmte Richtung  anweist. 

Eine  eigenthümliche  Kategorie  von  Anlagen ,  die  gleichsam 
zwischen  den  entfaltungssteten  und  den  entfaltungsvagen  die  Mitte 
halten,  bilden  je  zwei  oder  mehrere  zusammen  gehörende  Anlagen, 
von  denen  Eine  mit  Ausschluss  der  übrigen  sich  entfalten  muss.  Welche 
zur  Entfaltung  gelangen  und  welche  latent  bleiben,  hängt  bald  von 
inneren  bald  von  äusseren  Ursachen  ab.  So  sind  es  ohne  Zweifel 
innere,  aber  noch  unbekannte  Ursachen,  welche  bei  getrennt  geschlech- 
tigen Organismen  bestimmen,  ob  in  einem  entstehenden  Keim  die 
männlichen  oder  die  weiblichen  Geschlechtsorgane  zur  Entwicklung 
gelangen  werden.  Dagegen  tritt  der  Einfluss  der  äusseren  Ursachen 
bei  der  ßlattl)ildung  einiger  Wasserj^flanzen  ganz  auffallend  hervor. 

Bei  Ranunculus  fluitans,  der  im  Wasser  wächst  und  nur  seine 
Blüthen  über  die  Oberfläche  erhebt,  sind  alle  Blätter  untergetaucht 
und  borstenförmig-vielspaltig.  Bei  R.  hederaceus,  der  in  fast  aus- 
getrockneten Wassertümpeln  auf  Schlamm  und  Sand  als  kriechende 
Landpflanze  lebt,  befinden  sich  die  Blätter  in  der  Luft  und  haben 
eine  nierenförmige,  gelappte  Spreite.  Ein  Mittelglied  zwischen  den 
beiden  genannten  Arten  stellt  R.  aqnatilis  dar,  welcher  im  Wasser, 
aber  mehr  an  der  Oberfläche  desselben  wächst.  Hier  sind  die  einen 
(unteren)  Blätter  untergetaucht  und  borstenförmig  -  vielspaltig  wie 
l}ei  R.  fluitans,  die  anderen  (oberen)  Blätter  sind  auf  dem  Wasser 
schwinmiend  und  haben  eine  nierenförmige  gelappte  Spreite  wie 
bei  R.  hederaceus. 

Die  genannten  drei  Ranunculusarten  stehen  in  sehr  naher  Ver- 
wandtschaft zu  einander;  sie  zeigen  im  Vereine  deutlich  den  Ein- 
fluss der  beiden  Elemente,  des  Wassers  und  der  Luft,  auf  die  Form- 
bildung der  Blätter.  Aber  nur  l)ei  R.  aquatilis  macht  sich  dieser 
Einfluss  bei  der  Entwicklung  der  Blattanlageii  jetzt  noch  in  jeder 
Generation  geltend.  Das  Idioplasma  dieser  Art  enthält  zwei  ent- 
wickkmgsfähige  Anlagen,  von  denen  sich  bei  jeder  einzelnen  Blatt- 
bildung die  eine  oder  andere  entfalten  muss.  Solange  der  Stengel 
tiefer  im  Wasser   sich  befindet,    bringt  er   die  Anlagen  der  borsten- 


IV.  Alllagen  luid  sichtljare  jMerkmiile.  195 

löniiig-sclimalen  Blätter,  kommt  er  über  an  die  Oljerfiüclie,  (liejcnigen 
der  breiten  Blätter  zur  Entfaltung. 

In  den  zwei  anderen  Arten  sind  die  Anlagen  für  die  beiden 
ßlattformen  gewiss  el^enfalls  im  Idioplasma  vorhanden ;  aber  in  jeder 
vermag  sich  nur  noch  die  eine  Anlage  zu  entfalten.  Während  R.  aqua- 
tilis  jetzt  noch  für  ein  amphibisches  ^'^erhalten,  mn  mich  so  auszu- 
drücken, befähigt  ist,  hat  sich  R.  hederaceus  ganz  als  Landpflanze, 
R.  fluitans  ganz  als  Wasserpflanze  angepasst:  in  R.  hederaceus  sind 
die  Anlagen  für  die  borstenf örmig  -  vieltheiligen ,  in  R.  fluitans  die- 
jenigen für  die  nierenförmig-gelaj^pten  Blätter  geschwächt  und  ent- 
faltungsunfähig geworden. 

Gleich  wie  der  Einfluss  des  Wassers  jetzt  noch  bei  der  onto- 
genetischen  Entfaltung  der  Blattanlagen  bemerkbar  wird,  hat  er 
einst  die  phylogenetische  Entstehung  dieser  Anlagen  vollbracht.  Es 
ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  hierbei  die  lichtmässigende  Wirkung 
des  Wassers  die  Hauptrolle  spielte.  Bekanntlich  hat  Lichtmangel 
eine  starke  Streckung  des  Stengels  bei  den  höheren  Pflanzen  und 
ebenso  der  Blätter  bei  den  Monocotyledonen  zur  Folge  (\"ergeilung). 
Allerdings  bleiben  in  der  Dunkelheit  die  Blätter  der  Dicotyledonen 
klein  und  unentwickelt;  allein  die  Ursache  hiervon  besteht  darin, 
dass  bloss  schuppenförmige  Niederljlätter  sich  bilden.  Dass  aber 
die  Blattstiele  von  Dicotyledonen  unter  dem  Einfluss  der  Dunkelheit 
sich  ebenso  sehr  strecken  können  wie  die  Stengel,  sehen  wir  an 
den  im  tiefen  Wasser  wachsenden  Seerosen,  welche  ihre  schwün- 
menden  Blattspreiten  auf  den  langen  Blattstielen,  wie  ihre  Blüthen 
auf  den  langen  Blüthenstielen,  an  die  Oberfläche  des  Wassers  bringen. 
Es  ist  daher  möglich,  dass  unter  noch  nicht  näher  bekannten  Um- 
ständen die  Blätter  der  Dicotyledonen  bei  Lichtmangel  sich  strecken 
und  schmal  bleiben,  und  dass  bei  ihrer  ursjDrünglichen  phylogene- 
tischen Ausbildung  die  Blätter  der  Wasserpflanzen  von  unten  nach 
oben  am  Stengel  allmählich  breiter  wurden,  worauf  dann  bei  einer 
späteren  j)hylogenetischen  Umbildung  der  gewöhnliche  Process  ein- 
trat, welcher  mit  Unterdrückung  der  ZwischengUeder  nur  einige 
extreme  Typen  beibehielt,  nämlich  bei  den  genannten  Ranunculus- 
arten  die  borstenf  örmig- vielspalti  gen  und  die  nierenförmig-gelappten 
Blätter,  von  denen  Ijei  einigen  Arten  zuletzt  auch  noch  der  eine 
dieser  beiden  Typen  verloren  ging. 

13* 


1  i  •(  ■)  IV.  Anlagen  und  sichtbiire  Älerkmale. 

Ehe  ich  das  Verhältniss  von  Anlagen  und  sichtl:)aron  Merk- 
malen weiter  verfolge  und  dasselbe  bei  der  geschlechtlichen  Fort- 
pflanzung betrachte,  will  ich  hier  noch  zwei  Bemerkungen  ein- 
schieben, eine  theoretische  und  eine  praktische.  Die  theoretische 
betrifft  das  Verhältniss  der  Anlagen  zum  ontogeneti sehen  Entfaltungs- 
zustand, welches  uns,  wenn  wir  nur  die  nächst  liegenden  Beispiele 
ins  Auge  fassen,  leicht  als  etwas  Mysteriöses  erscheint.  Wir  können 
es  nur  richtig  beurtheilen,  wenn  wir  mis  das  Wesen  der  Anlagen 
auf  den  niedrigsten  Stufen  deutlich  machen.  Man  möchte  geneigt 
sein,  den  einzelligen  Organismus  als  der  Anlagen  ermangelnd  anzu- 
sehen ;  aber  dies  wäre  nur  im  Vergleich  mit  den  vielzelligen  und  höher 
ausgebildeten  Wesen  richtig.  Selbst  die  erste  Stufe  des  Probienreiches, 
das  primordiale  Plasma  besitzt  im  Grunde  schon  eine  Anlage,  die- 
jenige, nämlich  neue  gleichartige  Micelle  einzulagern,  also  zu  wachsen. 
Auf  der  nächsten  Stufe,  wo  das  primordiale  Plasma  sich  zu  Tropfen 
von  bestimmter  Grösse,  die  sich  theilen,  individualisirt  hat,  sind 
dem  jugendlichen  Zustande  (nach  der  Theilung)  zwei  Anlagen  eigen, 
nämlich  auf  die  volle  Grösse  anzuwachsen  und  dann  sich  zu  theilen. 

In  diesen  einfachen  Fällen  liegt  der  mechanische  Zusammenhang 
zwischen  dem  jugendlichen  oder  Anlagezustand  und  dem  bestimmten 
entwickelten  Zustande  klar  vor.  Sowie  nun  die  Wesen  complicirter 
werden,  mehren  sich  allmählich  die  Anlagen ;  das  entwickelte  Stadium 
lässt  sich  aber  immer  noch  mehr  oder  weniger  deutlich  als  die  noth- 
wendige  Folge  des  jugendlichen  Stadiums  einsehen,  wie  dies  bei 
allen  einzelligen  und  den  einfachsten  mehrzelligen  Organismen  der 
Fall  ist.  Gehen  wir  stufenweise  zu  den  complicirteren  und  dann 
zu  den  complicirtesten  mehrzelligen  Pflanzen  weiter,  so  ändert  sich 
im  Princip  nichts;  es  stellt  sich  stets  die  ganze  Entwicklung  aus 
dem  Keime  bis  zum  erwachsenen  Zustande  und  die  Absonderung- 
neuer  Keime  in  diesem  Zustande  wenigstens  der  Analogie  nach 
als  eine  ebenso  nothwendige  Consequenz  dar,  wie  das  Wesen  und 
die  Theilung  des  primordialen  Plasmatropfens. 

Dies  gilt  für  die  Totalanlage,  für  den  ganzen  einzelligen  Keim 
der  Organismen.  Was  die  Partialanlageii  betrifft,  so  lässt  sich  die 
Nothwendigkeit  der  Entfaltung  zu  bestimmten  Merkmalen  für  jede 
einzelne  auf  den  untersten  Stufen  noch  deutlich  wahrnehmen.  Sowie 
die  Partialanlagen  aber  zahlreicher  werden,  geht  der  Faden  für  die 
einzelnen  verloren,  da  wir  die  Beschaffenheit  des  Idioplasmas  nicht 


rV.  Anlagen  und  sichtbare  INIerkmale.  197 

kennen ;  und  wir  vermögen  die  Nothwendigkeit  der  bestimmten  Ent- 
faltmig  nur  dadurch  zu  erweisen,  dass  das  causale  Gesetz,  wo  es  die 
ganze  Entwicklung  beherrscht,  auch  für  die  Theile  gelten  muss. 

Die  andere  Bemerkung,  die  ich  als  praktische  bezeichnete,  be- 
trifft den  Werth,  den  die  Beobachtung  des  Entfaltungszustandes,  im 
Vergleich  zu  den  Anlagen,  für  die  Beurtheilung  des  Wesens  und 
der  Verwandtschaft  der  Organismen  hat.  In  dem  einzelligen  Keim, 
der  nur  die  Anlagen  in  sich  birgt,  ist  das  ganze  Wesen  eines  Orga- 
nismus enthalten.  Dieser  Keim  besitzt  nicht  nur  das  Geheimniss 
aller  der  Eigenschaften,  die  wirklich  zur  Entfaltung  gelangen,  sondern 
auch  das  Geheimniss  aller  derjenigen,  die  verlwrgen  l)leiben  und 
vielleicht   erst   nach    vielen  Generationen    zum  Vorschein   kommen. 

Von  dem  wirklichen  und  vollständigen  Wesen,  das  durch  den 
Keim  dargestellt  wird,  gibt  uns  die  Beobachtung  der  uns  zugäng- 
hchen  morphologischen  und  physiologischen  Merkmale  nur  eine 
dürftige  Vorstellung.  Selbst  wenn  wir  die  Entwicklungsgeschichte 
eines  Organismus  vom  ersten  Entstehen  bis  zum  Tode  lückenlos 
und  in  den  feinsten  Einzelheiten  ergründen  könnten,  so  hätten  wir, 
da  viele  Anlagen  latent  bleiben,  doch  nur  ein  mangelhaftes  Bild 
gewonnen.  Von  der  ganzen  Entwicklungsgeschichte  sind  uns  aber 
nur  die  groben  Merkmale  zugänglich;  alle  feineren  Merkmale,  die 
sich  aus  dem  Idioplasma  entfaltet  haben  und  welche  die  moleculare 
Physiologie  und  Morphologie  der  nicht  idioplasmatischen  Substanzen 
betreffen,  bleiben  uns  verborgen.  Es  ergibt  sich  hieraus  deutlich, 
wde  vorsichtig  die  Systematik  mit  ihren  Schlüssen  ül)er  Verwandt- 
schaft und  Abstammung  sein  sollte. 

Wo  es  sich  um  tiefgreifende  Verschiedenheiten  handelt,  be- 
sonders wenn  dieselben  mit  Hilfe  allgemeiner  Entwicklungsgesetze, 
von  denen  ich  im  letzten  Abschnitt  sprechen  werde,  sich  feststellen 
lassen,  mag  die  vergleichende  Morphologie  allerdings  kaum  irre 
gehen.  Es  kann,  um  nur  vom  Pflanzenreiche  zu  sprechen,  beispiels- 
weise kein  Zweifel  über  das  A^erhältniss  von  einzelligen  und  mehr- 
zelhgen  Gewächsen,  wenn  dieselben  in  der  Beschaffenheit  der  Zellen 
ül^ereinstimmen,  ebenso  über  das  Verhältniss  von  Algen,  Moosen, 
Gefässkryptogamen,  gymnospermen  und  angiospermen  Phanerogamen 
bestehen.  Wenn  man  aber  von  den  grossen  und  allgemeinen  Gruppen 
der  Reiche  zu  den  Classen  und  Ordnungen  oder  gar  zu  den  Gattungen 
und  Arten   heruntersteigt,    so   ist  in  der  Regel   keine  sichere  Beur- 


198  I^'^-  Anlagen  nnd  sichtliare  Merlanale. 

tlieilung  mehr  möglich  und  alle  pliylogenetisclien  Hypothesen  werden 
werthlos.  In  diesen  Regionen  des  Pflanzenreiches  werden  die  Unter- 
schiede nach  der  äusseren  Form,  selten  auch  nach  der  anatomischen 
Structur,  die  wenig  mehr  Aufschluss  gil)t,  hestimmt.  Dies  mag 
nothdürftig  zur  blossen  Unterscheidung  der  Sippen  ausreichen,  aber 
für  die  Erfassung  des  Wesens  haben  die  Merkmale  der  beschreibenden 
Botanik  oft  nicht  mehr  Werth,  als  wenn  man  das  Wesen  von 
Wohnhäusern,  Scheunen,  Kirchen,  Fal)rikgcbäuden  aus  ihrer  äusseren 
Form  erkennen  wollte. 

Wie  wenig  die  äusseren  Unterscheidungsmerkmale  dem  inneren 
Werth  entsprechen,  sehen  wir  deutlich  daraus,  dass  in  gewissen 
Pflanzenordnungen  (z.  B.  den  Ranunculaceen)  nahe  verw^andte  Arten 
durch  viel  auffallendere  Merkmale  geschieden  sind,  als  in  anderen 
Ordnungen  (z.  B.  den  Cruciferen)  die  Gattungen.  Es  kommt  selbst  vor, 
dass  die  sichtbaren  und  definirbaren  Unterschiede  ganz  mangeln, 
obgleich  die  innere  ^^erschiedenheit  unzweifelhaft  ist.  Apfelbaum 
und  Birnbaum  sind,  wiewohl  der  gleichen  Gattung  angehörend, 
doch  als  Arten  so  weit  von  einander  entfernt,  dass  es  bis  jetzt  nicht 
gelungen  ist,  sie  gegenseitig  zu  befruchten  und  einen  Bastard  zu 
erhalten,  während  Mandelbaum  und  Pfirsichbamn,  die  man  in  zwei 
Gattungen  trennt,  sich  bastardiren  lassen.  Mit  Ausnahme  eines 
geringfügigen  Unterschiedes  in  der  Blüthe,  wonach  die  Griffel  beim 
Apfelbaum  an  der  Basis  zusammengewachsen,  beim  Birnbaum  frei 
sind,  weiss  der  Botaniker  für  diese  beiden  Bäume  keine  durch- 
greifenden, für  alle  Sorten  geltenden  Untersclieidungscharaktere,  ob- 
gleich das  Gefühl  einem  immer  sagt,  welche  Art  man  vor  sich  habe, 
und  kein  Bauer  sich  täuscht,  w^enn  man  ihm  die  Bäume  oder  auch 
nur  die  beblätterten  Zweige  derselben  zeigt. 


Das  Verhalten  und  die  Bedeutung  der  latent  bleibenden  und 
manifest  werdenden  Anlagen  wird  in  vorzügiiclier  Weise  durch  die 
Erscheinungen  bei  der  digenen  Fortpflanzung  klar  gelegt.  Bei  der- 
selben sind  es  zwei  elterliche  Individuen,  aus  deren  Zusammenwirken 
der  einzellige  Keim  gebildet  wird.  Selten  spielen  die  beiden  Eltern 
bei  diesem  Process  die  gleiche  Rolle  (was  bei  der  Conjugation 
niederer  Algen  und  Pilze  vorkommt);  gewöhnlich  ist  ein  Individuum 
das  befruclitende,  das  andere  das  l)cfruchtete,  jenes  bei  der  Keim- 
l)ildung  (quantitativ  scliwach,  dieses  sehr  stark  botheiligt. 


TV.  Anlapon  und  sichtbare  Merkmale.  199 

Wir  haben  hier  zwei  Fragen  zu  beantworten,  die  sich  gegen- 
seitig bedingen  mid  auch  vielfacli  verschhngen:  Wie  gross  ist  der 
Betrag  an  Anlagen,  welche  der  Keim  vom  Vater  und  von  der  Mutter 
erbt?  Wie  verhalten  sich  die  sichtbaren  Merkmale  des  Kindes  zu 
den  ererbten  Anlagen?  Sehr  häufig  beurtheilt  man  das  Maass  der 
Erbschaft  nach  den  sichtbaren  Eigenschaften,  und  sagt,  das  Kind 
habe  dies  vom  Vater,  jenes  von  der  Mutter,  und  überhaupt  von 
dem  einen  oder  anderen  »Elter«  ^)  mehr  geerbt.  Dies  ist  ja  ganz 
richtig,  w^enn  es  sich  nur  um  das  Verständniss  handelt,  welches  der 
alltägliche  Verkehr  verlangt.  Aber  es  wäre  ganz  irrthümlich,  wenn 
man  damit  eine  wissenschaftliche  Bedeutung  verbinden  und  den 
väterlichen  oder  mütterlichen  Einfluss  bei  der  Zeugung  ausdrücken 
wollte.  Man  würde  dadurch  zu  falschen  Schlüssen  über  die  A"er- 
erbung  und  ül:)er  das  Verhältniss  zwischen  latenten  und  manifesten 
Eigenschaften  gelangen. 

Erfahrung  und  Theorie  beweisen  uns  übereinstimmend,  dass 
der  Erbschaftsantheil  nicht  nach  den  sichtbaren  Merkmalen  bemessen 
werden  darf.  Was  die  Erfahrung  betrifft,  so  mag  nur  an  die  zahl- 
reichen bekannten  Beispiele  von  Rückschlägen  erinnert  werden.  Ich 
will,  um  die  Art  und  Weise  des  Beweises  darzuthun,  einen  die  Ver- 
erbungsfrage in  sehr  wirksamer  Weise  erläuternden  Fall  anführen. 
Eine  Angorakatze  und  ein  gewöhnlicher  Kater  (erste  Generation) 
erhielten  in  einem  Wurf  bloss  gewöhnliche  Katzen  (zw^eite  Generation) ; 
die   alltägliche  xVnschauung   würde   in   diesem  Falle  dem  Vater  ein 


^)  Sit  venia  verbo !  Es  mangelt  der  deutschen  Sprache  ein  Wort ,  das 
synou\Tii  mit  »erzeugendem  oder  elterlichem  Indi\äduum«  und  zugleich  handlich  für 
den  Gebrauch  ist.  Bei  der  geschlechtslosen  Fortpflanzung  l)ezeichnet  man  den 
Erzeuger  als  Mutterindividuum ,  Mutterpflanze ,  Mutterzelle  u.  s.  w. ;  man  ge- 
In-aucht  cUese  Ausdrücke  aber  auch  für  weibliche  mid  für  hermaphroditische 
Indi^^duen  und  Mird  dadurch  oft  zweideutig,  denn  bei  Arten  mit  geschlechtslosen 
und  geschlechtlichen  Generationen  bedeutet  Mutterpflanze  sowohl  die  mütterliche 
weibliche  als  die  erzeugende  geschlechtslose  Pflanze  und  bei  Arten,  die  ein- 
geschlechtig und  zweigeschlechtig  vorkommen,  bedeutet  Mutterijflanze  sowohl  die 
mütterliche  weibliche  als  die  elterliche  hermaphroditische  Pflanze.  Ueberdem 
klingen  einige  Zusammensetzungen  wie  Grossmutterzelle,  Urgrossmutterpflanze 
sonderl)ar.  Diese  Unzukönunlichkeiten  vermeidet  man,  wenn  das  Wort  »der  Elter« 
in  die  Sprache  aufgenommen  wird.  Man  hat  dann  Eiterpflanze,  Elterthier,  Elter- 
zelle, Grosselterzelle  u.  s.  w.  —  Es  versteht  sich,  dass  dem  entsprechend  das  Er- 
zeugte, wenn  es  geschlechtslos  ist,  nicht  als  »Tochter«,  sondern  als  »Kinc^  zu 
l)ezeichnen  ist. 


200  rV-  Anlagen  inid  sichtbare  Merkmale. 

starkes  Uebergewicht  zuerkennen.  Die  jungen  Katzen  enthielten 
aber  trotz  ihres  gewöhnhchen  Aussehens  viel  Angorablut;  denn  aus 
der  Begattung  zweier  derselben  entsprang  in  der  dritten  Generation 
neben  gewöhnlichen  eine  unveränderte  weibliche  Angorakatze.  Viel- 
leicht wäre  in  der  vierten  Generation  das  Verhältniss  für  das  An- 
gorablut noch  günstiger  geworden.  Halten  wir  uns  aber  bloss  an 
die  berichtete  Thatsache,  so  beweist  sie  uns,  dass  auf  die  äusseren 
Merkmale  gar  kein  Verlass  ist;  denn  wde  sollten  zwei  gew^öhnliche 
Katzen  dazu  kommen,  eine  Angorakatze  zu  erzeugen? 

Was  die  Theorie  betrifft,  so  sagt  uns  dieselbe,  dass  bei  der  ge- 
schlechtlichen Befruchtung  das  Idioplasma  zweier  Individuen  sich 
vereinigt,  um  einen  Keim  zu  bilden,  und  dass  die  Menge  der  idio- 
plastischen  Eigenschaften,  die  von  dem  Vater  und  der  Mutter  zum 
Keim  abgegeben  werden,  den  genauen  Betrag  der  beiderseitigen 
Erbschaft  darstellen.  Es  können  daher  dem  Kinde  keine  Anlagen 
gänzlich  mangeln,  welche  die  Eltern  besitzen,  und  es  selber  kann 
keine  Anlagen  besitzen,  die  den  Eltern  fehlen.  Es  ist  nur  ein  schein- 
barer Widerspruch  gegen  diese  Forderungen  der  Mechanik,  wenn 
das  Kind  sichtbare  Merkmale  zeigt,  welche  weder  A^ater  noch  Mutter 
haben,  oder  solche,  die  nur  dem  einen  Elter  zukommen,  und  wenn 
es  Merkmale  entbehrt,  welche  beiden  Eltern  gemeinsam  sind.  Zur 
richtigen  Beurtheilung  des  väterlichen  und  mütterlichen  Erbschafts- 
antheils  kommt  es  bloss  auf  die  Anlagen  an.  Für  dieselbe  ist  es 
ganz  gleichgültig,  welche  von  diesen  Anlagen  zur  Entfaltung  ge- 
langen; dieser  Punkt  betrifft,  eine  andere,  nachher  zu  besprechende 
Frage. 

Da  wir  kein  Mittel  besitzen,  um  die  Menge  und  die  Stärke  der 
Anlagen  in  einem  Keim  oder  in  dem  daraus  sich  entwickelnden 
Individuum  direct  zu  bestimmen,  so  sind  wir  bezüglich  der  Schätzung 
der  vom  Vater  und  der  Mutter  überkommenen  Erbschaft  auf  die  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung angewiesen.  Wenn  auch  im  einzelnen  Fall 
die  sichtbaren  Merkmale  und  die  Anlagen  keine  Ueberein Stimmung 
zeigen,  so  ist  doch  anzunehmen,  dass  die  Uebereinstimmung  um  so 
mehr  erreicht  werde,  je  grösser  die  Zahl  der  l)eobachteten  Fälle  ist. 
Diese  Vielzahl  ist  auf  doppelte  Art  erhältlich. 

Ich  will  an  das  vorhin  angeführte  ßeis^^iel  von  gewöhnlicher 
und  Angorakatze  anknüpfen  und  die  Annahme  machen,  dass  wie 
in  den  ersten  Generationen  so  auch  in  den  folo^enden  eine  Zwischen- 


TV.  Anlagen  und  sichtbare  Merkmale.  201 

bildung  in  den  äusseren  Merkmalen  nicht  eintrete,  sondern  nur  die 
reinen  Rassenmerkmale  sichtbar  werden.  Vermehrt  sich  die  Nach- 
kommenschaft bei  strenger  Inzucht,  so  muss  das  den  Anlagen  ent- 
sprecliende  Verhältniss  sich  um  so  sicherer  einstellen,  je  grösser 
die  Zahl  und  je  später  die  Generation.  Wäre  unter  den  lOOi)  In- 
dividuen der  10.  Generation  die  Hälfte  Angorakatzen,  so  dürfte 
man  mit  ziemlicher  Sicherheit  annehmen,  dass  Männchen  und 
Weibchen  des  ursprüngliclien  Paares  gleich  viel  vererbt  haben,  ob- 
gleich die  zweite  Generation  bloss  aus  gewöhnhchen  Katzen  bestand. 
Würde  aber  unter  jenen  1000  Individuen  die  eine  oder  andere  Rasse 
ein  numerisches  Uebergewicht  zeigen,  so  wäre  mit  einiger  Wahr- 
scheinlichkeit auf  ungleiche  Erbschaftsantheile  für  die  bestimmte 
Paarung  des  betreffenden  Stammpaares  zu  schlies'sen.  Es  ist  mir 
nicht  bekannt,  dass  eine  in  dieser  Weise  durchgeführte  Züchtung 
sicheren  Aufschluss  gäbe. 

Eine  andere  Grundlage  für  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
geben  mis  zahlreiche  Zeugungsfälle,  wo  die  Kinder  mit  den  Eltern 
verglichen  werden  ohne  Rücksichtnahme  auf  die  Herkunft  der  letzteren. 
Dies  ist  selbstverständlich  nur  beim  Menschen,  aber  hier  in  ausgie- 
bigster Weise  möglich.  Wenn  man  hier  die  Fälle,  in  denen  die  Kinder 
mein-  sichtbare  Eigenschaften  vom  Vater,  und  diejenigen,  wo  sie 
mehr  von  der  Mutter  besitzen,  zälilt,  so  nähern  sich  die  beiden 
Summen  sicher  einander  um  so  mehr,  je  grösser  sie  sind.  Daraus 
dürfen  wir  wohl  mit  ziemlicher  Gewdssheit  schliessen,  dass  die  Kinder 
auch  an  Anlagen  im  Durchschnitt  gleich  viel  von  jedem  der  beiden 
Eltern  erben,  wobei  es  jedoch  zweifelhaft  bleibt,  oIj  dies  auch  für 
jeden  einzelnen  Fall  gelte. 

Man  sollte  denken,  dass  das  väterliche  und  mütterliche  Erbtheil 
sich  deutlich  bei  der  Bastardzeugung  erkennen  lasse,  wenn  man  die 
beiden  elterlichen  Sippen  bei  der  Befruchtung  vertauscht,  wenn 
nämlich  von  den  beiden  Sippen  Ä  und  B,  das  eine  Mal  Ä  das 
andere  Mal  B  die  männliche  Rolle  übernimmt,  so  dass  man  die 
beiden  Bastarde  AB  und  BÄ  erhält.  Einen  solchen  Fall  haben  wir 
beim  Maulthier  und  Maulesel ;  ersteres  ist,  wenn  man  den  Bastard 
nach  den  Eltern  benennt  und  den  Vater  voranstellt,  ein  Eselpferd, 
letzterer  ein  Pferdeesel.  Gerade  dieses  Beispiel  zeigt  deutlich,  dass 
die  Bastarde  AB  und  BA  in  den  sichtbaren  Merkmalen  verschieden 
sein   können.      Aber    über   die   vorliegende   Frage    der   Anlagenver- 


202  IV.  Anlagen  und  sichtbare  Merkmale. 

erbung  gibt  es  keinen  Aufscbluss.  Der  Umstand,  dass  Manltbicr 
und  Maulesel  in  gleicbem  Grade  unfrucbtl)ar  zu  sein  scbeinen, 
macht  es  niclit  unwalirscheinlicb,  dass  beide  den  Anlagen  nacb 
mittlere  Bildungen  sind.  A^on  Bastarden  zwischen  Pflanzenarten 
gibt  Gärtner  an,  dass  die  Combinationen  AB  und  BA  einander 
so  ähnlich  sehen,  wie  ein  Ei  dem  anderen. 

Es  gibt  eine  andere  Betrachtung,  die  mir  noch  von  grösserer 
Bedeutung  zu  sein  scheint.  Wenn  wir  die  Vererbung  der  sicht- 
baren Merkmale  bei  den  verschiedenen  Pflanzenbastarden  verfolgen, 
so  zeigt  dieselbe  mit  der  abnehmenden  A'^erwandtschaft  der  Eltern 
eine  bemerkenswerthe  Reihenfolge.  Bei  der  grössten  ^Verwandtschaft 
(wenn  bloss  ein  Rassenunterschied  zwischen  den  Eltern  besteht)  ist 
die  Vererbung  am  unregelmässigsten,  indem  der  Bastard  bald  dem 
Vater,  bald  der  Mutter  sehr  ähnlich,  selbst  scheinbar  gleich  ist  oder 
auch  über  beide  Eiterrassen  hinausgeht.  Bei  der  Kreuzung  von 
natürlichen  Varietäten  ist  die  Unregelmässigkeit  geringer  und  bei 
derjenigen  von  Species,  namentlich  von  verwandtschaftlich  ent- 
fernter stehenden  Species,  wird  die  Vererbung  der  sichtbaren  Eigen- 
schaften ganz  regelmässig,  indem  alle  BastardindiAdduen  AB  unter 
einander  gleich  sind,  ebenso  alle  Bastarde  BA,  und  gleichfalls  wird, 
wie  schon  bemerkt,  der  Unterschied  von  AB  und  BA  sehr  klein 
oder  verschwindet  ganz.  Diese  Thatsache,  die  übrigens  nur  für  die 
Merkmale  der  zweiten  Generation  (d.  h.  der  ersten  Generation  der 
hybriden  Nachkommenschaft)  gilt,  spricht  entschieden  dafür,  dass 
die  väterlichen  und  mütterlichen  Erl)theile  an  Anlagen  einander 
gleich  sind. 

Aus  den  vorstehenden  Betrachtungen  ergibt  sich,  wie  ich 
glaube,  ül)ereinstinmiend  die  sehr  grosse  Wahrscheinlichkeit,  dass 
Vater  und  Mutter  in  allen  Fällen  gleichviel  oder  nahezu  gleichviel 
an  Anlagen  oder  idioplastischen  Eigenschaften  auf  das  Kind  über- 
tragen. Dieses  Ergebniss  ist  für  die  Lehre  von  der  Vererbung  imd 
weiterbin  auch  für  die  Abstammungslehre  von  grosser  Wichtigkeit. 
Die  sichtbaren  Merkmale  des  Kindes  geben  also  im  einzelnen  Falle 
kein  Zeugniss  dafür,  wie  viel  und  welche  Anlagen  von  einem  Elter 
geerbt  wurden ;  denn  die  von  jenen  sichtbaren  Merkmale  abweichen- 
den Merkmale  des  andern  Elters  wurden  gleichfalls  vererbt,  sind 
aber  latent  geblieben.  Wenn  beispielsweise  das  Kind  eines  Vaters 
mit  rotlien  und  einer  Mutter  mit  scliwarzen  Haaren  rothhaarig  wird, 


IV.  Anla<ren  und  siclitliare  Merkmale.  203 

SO  sagt  man  mit  Unrecht,  die  Haare  seien  vom  A^'ater  allein  vererl)t 
worden.  Auch  die  schwarzen  Haare  der  Mutter  wurden  vererbt; 
sie  befinden  sich  als  Anlage  in  dem  Kinde  und  konnnen  oft  in  den 
Enkeln  wieder  zum  "\^orschein. 

Wenn  daher  Darwin  neben  dem  gewöhnlich  bestehenden 
Gleichgewicht  auch  ein  »Gesetz  des  Uebergewichts«  anninnnt,  wel- 
ches darin  besteht,  dass  gewisse  Individuen,  Rassen  oder  Species 
beiderlei  Geschlechts  oder  auch  nur  diejenigen  des  einen  Geschlechts 
Ijei  der  Kreuzung  mehr  als  die  Hälfte  vererben,  so  gilt  dies  nicht 
für  die  Totalität  der  Eigenschaften,  sondern  nur  für  die  sichtbaren 
Merkmale  und  für  die  erste  Generation  der  Nachkommenschaft. 
Und  w^enn  Häckel  eine  Mehrzahl  von  Yererbungsgesetzen  unter- 
scheidet, zunächst  Gesetze  der  erhaltenden  (conservativen)  und  fort- 
sclireitenden  ^progressiven)  A^'ererbung,  und  innerhalb  der  conser- 
vativen Vererbung  eine  continuirliche,  eine  unterbrochene,  eine  ge- 
schlechtliche, eine  gemischte  (oder  amphigone)  und  eine  abgekürzte, 
ferner  innerhalb  der  progTessiven  Vererbung  eine  angepasste,  eine 
befestigte,  eine  gleichzeitliche  und  eine  gleichörtliche,  so  sind  diese 
Kategorien  durch  verschiedene  Nebenumstände  bedingt  und  dürfen 
logischervveise  nicht  als  ungleiche  Vererbungen  in  Anspruch  ge- 
nommen werden. 

Was  wir  gewöhnlich  bei  AY^rgleichung  der  Kinder  mit  ihren 
Eltern  als  Vererbung  und  Nichtvererljung  bezeichnen,  verdient  eigent- 
lich diesen  Namen  gar  nicht.  Es  ist  ein  unriclitiger  Ausdruck  für 
die  Entfaltung  und  Nichtentf altung  der  vererbten  Anlagen. 
Merkwürdigerweise  wird  aber  gerade  diejenige  Eigenthümlichkeit, 
worin  die  Kinder  ganz  vorzugsweise  dem  Vater  oder  der  Mutter 
gleichen,  nämlicli  das  Geschlecht,  nie  als  Verer])ung  bezeichnet. 
Man  sagt  wohl  von  zwei  Geschwistern,  der  Knabe  habe  die  braunen 
Augen  und  die  krausen  Haare  von  der  Mutter,  das  Mädchen  die 
blauen  Augen  und  die  schlichten  Haare  vom  Vater  geerbt,  nicht 
aber,  jener  habe  die  männlichen  Greschlechtsorgane  vom  Vater,  dieses 
die  weiblichen  Organe  von  der  Mutter  erhalten.  Schätzt  man  die 
Erbschaft  nach  den  entfalteten  Merkmalen  ab,  so  sollte  man  eigent- 
lich immer  den  Söhnen  eine  überwiegende  väterliclie  Erbschaft,  den 
Töchtern  eine  überwiegende  mütterliche  Erbschaft  zuschreil)en.  Das 
(reschlecht  bleibt  aus  Inconsequenz  unberücksichtigt;  und  doch  ver- 
liiilt   es   sich    mit   demselT)en   genau   wie   mit   allen   ülmgen   Eigen- 


204  IV.  Anlagen  und  sichtbare  Merkmale. 

Schäften.  Sowohl  in  dem  Knaben  als  in  dem  Mädchen  sind  die 
Anlagen  für  braune  und  blonde  Augen,  für  krause  und  schlichte 
Haare ,  für  männliche  und  weibliche  Geschlechtsorgane  enthalten ; 
von  jedem  Anlagenpaar  entfaltet  sich  al)er  nur  das  eine  Glied,  indem 
das  andere  latent  bleibt. 

Der  Zusammenhalt  der  Nachkommenschaft  mit  den  Stammeltern 
zeigt  uns,  welche  Eigenschaften  unter  bestimmten  Umständen  im 
latenten  Zustande  verbleiben  und  welche  sich  entwickeln,  welche 
sichtbaren  Merkmale  mit  einander  verträglich  sind  und  welche  sich 
ausschliessen.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  verdiente  die  soge- 
nannte Vererbungslehre  aufgenommen  und  neu  bearbeitet  zu  werden  ; 
sie  würde  bei  kritischer  Sichtung  der  in  grosser  Fülle  bekannten 
Thatsachen  und  mit  Hülfe  neuer,  mit  richtiger  Fragestellung  ange- 
ordneter Versuche  schöne  und  fruchtbringende  Resultate  versprechen. 
Ich  will  das  allgemeine  Problem  bei  Seite  lassend,  nur  einige  Punkte, 
die  auf  das  Verhalten  des  Idioplasmas  bei  der  Vererbung  und  Ent- 
faltung der  Anlagen  bei  der  digenen  Fortpflanzung  Bezug  haben, 
erörtern. 

Zunächst  möge  im  Vorbeigehen  die  nach  dem  Gesagten  eigent- 
lich überflüssige  Bemerkung  eine  Stelle  finden,  dass  die  nicht  wenig- 
zahlreichen  Fälle,  wo  das  Kind  in  seinen  sichtbaren  erblichen  Eigen- 
schaften qualitativ  und  quantitativ  über  die  beiden  Eltern  hinaus- 
geht, nichts  beweist  gegen  den  in  aller  Strenge  gültigen  Satz,  das 
Kind  sei  nichts  Anderes  als  die  Resultirende  aus  Stoff  und  Kraft 
der  beiden  Eltern.  Denn  es  können  sich  in  ihm  Anlagen  ent- 
wickeln, die  bei  diesen  latent  waren.  Solche  Anlagen  sind  sehr 
häufig  in  früheren  Generationen  entfaltet  gewesen  und  nachher 
latent  geworden,  so  dass  also  bei  der  abermaligen  Entfaltung  ein 
Rückschlag  eintritt.  In  andern  Fällen  sind  es  Anlagen,  die  noch 
im  Wachsthum  begriffen  waren  und  nun  bei  dem  Anlass  einer 
ihre  Entfaltung  begünstigenden  Befruchtung  zu  sichtbaren  Merk- 
malen werden. 

Als  Grundlage  aller  Betrachtungen  über  die  Vererbung  bei  der 
geschlechtlichen  Fortpflanzung  muss  ganz  ausnahmslos  der  Satz 
festgehalten  werden,  dass  das  Wesen  des  Kindes  das  vereinigte 
Wesen  der  beiden  Eltern  ist ,  dass  in  ilnn  nichts  enthalten  sein 
kann,  was  den  Eltern  mangelt,  und  nichts  verloren  gegangen,  was 
den  Eltern  zukommt. 


r\".   AnlagL'ii  und  sichtbaiv  ^Sferkiiiale.  205 

Bei  der  digenen  Fortpflanzung  treten  die  Idioplasmen  der  Ijeiden 
Eltern  zusammen;  es  findet  also  \^ereinigung  von  zwei  Systemen 
geordneter  Micelle  statt.  Die  Erfahrung  zeigt,  dass  eine  entwicklungs- 
fähige Vereinigung  nur  möglich  ist,  wenn  die  Eltern  ziemlich  nahe 
verwandt  sind.  Die  Ursache  mag  eine  doppelte  sein.  Es  erscheint 
einmal  sehr  plausibel,  dass  idioplasmatische  Systeme  bloss  wenn 
sie  in  allen  Hauptzügen  identisch  sind  und  nur  in  ganz  unterge- 
ordneten Gru^^pen  von  einander  abweichen,  sich  mischen  und  durch- 
dringen können.  Ferner  kommt  noch  folgendes  in  Betracht:  von 
den  beiden  Eltern  liefert  der  A^ater  bei  dem  Befruchtungsact  bloss 
Idioplasma,  die  Mutter  dagegen  Idioj^lasma  sammt  den  Nährsub- 
stanzen, welche  dem  sich  entwickelnden  Keim  eine  Zeit  lang  Kraft 
und  Stoff  liefern.  Es  ist  nun  begreiflich,  dass  das  vereinigte  Idio- 
plasma eine  Naln^mig  verlangt,  welche  nur  wenig  von  derjenigen 
abweicht,  die  genau  den  Bedürfnissen  des  väterlichen  Idioplasmas 
entspricht. 

Aus  den  beiden  eben  angeführten  Gründen  folgt,  dass  die  ge- 
schlechtHche  Befruchtung  mn  so  mehr  Aussicht  auf  Gelingen  und 
auf  das  Zustandekommen  eines  entwicklungsfähigen  Keimes  hat,  je 
näher  Männchen  und  Weibchen  einander  verw^andt  sind,  —  und 
dies  mag  für  die  ersten  Zustände  der  Keimentwicklung  auch  ohne 
Ausnahme  gültig  sein.  Dass  bei  allernächster  ^Verwandtschaft  die 
Nachkommenschaft  weniger  lebensfähig  ist,  dafür  scheint  mir  der 
Grund,  den  ich  schon  vor  langer  Zeit  angeführt  habe  ^),  ausreichend, 
und  ich  wüsste  mir  überhauj^t  keinen  anderen  zu  denken.  Unter 
allen  äusseren  Einflüssen,  welche  das  Idioplasma  verändern,  be- 
finden sich  auch  solche,  welche  eine  krankhafte  und  die  normalen 
A^orgänge  störende  Beschaffenheit  bedingen.  Ferner  mag  durch  die 
in  früheren  Generationen  erfolgte  Kreuzung  ungleich  constituirter 
Individuen  oft  eine  solche  abnormale  Beschaffenheit  des  Idioplasmas 
veranlasst  worden  sein.  Aber  auch  bei  ungestörter  Umbildung  im 
Idioplasma,  die  lediglich  eine  Folge  der  einmal  bestehenden  micel- 
laren  Anordnung  ist,  können  partielle  Anfänge  einer  Configuration 
entstehen,  die  sich  für  das  Leben  als  nicht  befähigt  erweisen.  In 
ganz  nahe  verwandten  Individuen  nun  werden  diese  durch  äussere 
und  innere  Ursachen  bewirkten  Störungen  am  ehesten  gleichsinnig 

')  Die  Tlieorie  der  Bastardbilduug.  Sitzuiigsber.  d.  math.-pliys.  Classe  d. 
k.  b.  .Vkad.  d.  W.  13.  Januar  18G6. 


200  IV.  Anlügen  und  sichtbare  Merkmale. 

sein  und  daher  in  deren  Nachkommenscliaft  leicht  eine  Steigerung- 
erfahren,  während  in  den  Indi^'iduen  mit  geringerer  Verwandtschaft 
die  Störungen  in  ungleichem  Sinne  begonnen  haben  und  somit  bei 
der  Vereinigung  ihrer  Idioplasmen  sich  mehr  oder  weniger  aufheben. 

Es  ist  theoretisch  begreiflich,  dass  solche  Störungen  um  so  eher 
eintreten,  je  mehr  das  Idioplasnia  zusammengesetzt  und  von  je  zahl- 
reicheren Momenten  sein  Gleichgewicht  bedingt  ist.  Die  Erfahrung 
bestätigt  dies ,  indem  die  niedersten  Pflanzen  (Schizophyten)  und 
ohne  Zweifel  das  ganze  Reich  der  ihnen  vorausgehenden  Probien 
der  Conjugation  und  der  geschlechtliclien  Befruchtung  ermangeln. 
Es  hat  also  auf  den  untersten  Stufen  der  Organisation  die  phylo- 
genetische Entwicklungsgeschichte  bei  monogener  Fortpflanzung  zahl- 
lose Generationen  ohne  Nachtheil  durchlaufen,  und  wir  können 
daraus  schliessen ,  dass  für  einfache  Organismen  die  zeitweilige 
Vermischung  durch  Kreuzung  überflüssig  ist.  Erst  bei  den  höheren 
Pflanzen  und  Thieren  bringt  eine  hin  und  wieder  eintretende 
Kreuzung  Nutzen.  Doch  dürften  die  schädlichen  Folgen  der  Selbst- 
befruchtung und  einer  sehr  engen  Inzucht  im  allgemeinen  allzu- 
hocli  angeschlagen  worden  sein,  indem  bei  den  wenigen  thatsäch- 
lichen  Erfahrungen  auch  noch  andere  nachtheilige  Ursachen  wirksam 
gewesen  sein  mögen. 

Da  bei  der  digenen  Fort})lianzung  alle  Anlagen  der  Eltern  auf 
das  Kind  übergehen,  so  müssen  in  diesem  immer  einige  Anlagen 
latent  bleiben,  wenn  die  Eltern  verschiedenartig  sind,  und  die  un- 
gleichen Merkmale  sich  nicht  zu  Mittelljildungen  zu  verschmelzen 
vermögen.  Wiederholte  Kreuzung  kann  daher  die  Ansammlung 
einer  grösseren  AnzaJil  verborgen  bleibender  Eigenschaften  verur- 
sachen, und  sie  ist  auch  der  Grund,  warum  im  Menschen,  in  den 
Hausthieren  und  Kulturpflanzen  so  viele  latente  Anlagen  angehäuft 
sind.  Man  könnte  zwaf  den  logisch  unanfechtbaren  Satz  aufstellen, 
dass  in  einem  Organismus  alle  Eigenschaften  seiner  ganzen  Ahnen- 
reilie  latent  sein  müssen.  Allein  es  wäre  dies  eine  rein  ideale  und 
unfruchtbare  Theorie ;  denn  es  kann  uns  nicht  interessiren,  was  der 
Idee  nach,  sondern  nur  was  real  vorhanden  ist  und  was  somit  auch 
in  der  Nachkommenscliaft  irgendwie  wirksam  zu  werden  vermag. 
Je  älter  nun  die  latenten  Anlagen  werden,  um  so  mehr  werden  sie 
geschwächt  und  ausgelöscht.  Wenn  auch  das  Pferd,  vorzüglich  in 
seiner  Jugend,  als  seltene  Ausnahme  noch  zebraartige  Streifen  zeigt. 


rV.  Anlagen  und  sichtbare  ^Merkmale.  207 

SO  stamnieu  dieselben  doch  mir  von  seinen  nächsten  phylogenetischen 
Vorfahren  her.  Die  ganze  Reihe  der  noch  früheren  Ahnen  hat  im 
Idioplasma  des  Pferdes  wohl  keine  "wirklichen  Zeugen,  die  gelegent- 
lich als  Rückschläge  hervorbrechen  könnten,  hinterlassen,  insofern 
nämlich  die  der  Gel)urt  vorausgehenden  Entwicklungsstadien  aus- 
geschlossen und  nur  die  Merkmale  des  entwickelten  Zustandes  be- 
rücksichtigt werden. 

Der  Rückschlag  oder  die  Entfaltung  der  durch  Kreuzung  oder 
wiederholte  ungleiche  Anj^assung  der  Vorfahren  angehäuften  An- 
lagen tritt  am  leichtesten  in  Folge  von  neuer  Kreuzung  ein ,  sei  es 
in  den  Kindern  selbst,  die  von  ungleichen  Eltern  erzeugt  werden, 
sei  es  erst  in  deren  Nachkommen,  während  sie  in  den  Indi"väduen, 
die  auf  geschlechtslosem  Wege  entstehen  oder  von  gleichartigen 
Eltern  abstammen,  ausblei])t.  Der  ungleiche  Einfluss  der  verschie- 
denen Fortpflanzungsarten  auf  die  Entfaltung  der  latenten  Anlagen 
ist  besonders  auffallend  bei  den  phanerogamischen  Gewächsen,  wo 
sehr  variable  Rassen  (Sorten  von  Culturpflanzen)  bei  geschlechtsloser 
A'ermohrung  fast  unbegrenzt  erhalten  bleiben,  während  sie,  aus 
Samen  erzogen,  wobei  eine  Kreuzung  mit  andern  Sorten  unvermeid- 
lich ist,  durch  Entfaltung  anderer  Merkmale  sofort  ausarten. 

Dass  die  Kreuzung  die  Entwicklung  von  verborgenen  Eigen- 
schaften befördert,  ist  begreiflich.  Bei  der  Vereinigung  zweier  Sy- 
steme von  verschiedener  idioplasmatischer  Anordnung  müssen  noth- 
wendig  A^erschiebungen  zwischen  den  Micellgruj^pen  vorkommen, 
wodurch  die  Erregungsfähigkeit  und  in  Folge  davon  die  Entfaltungs- 
fähigkeit derselben  bald  vermehrt,  bald  vermindert  wird,  so  dass 
einzelne  entfaltungsstete  oder  entfaltungsholde  Anlagen  zu  entfaltungs- 
unfähigen und  anderseits  entfaltungsunfähige  oder  entfaltungsscheue 
zu  entfaltungssteten  werden.  So  kann,  statt  dass  ein  Merkmal  des 
A^aters  oder  der  Mutter  sich  entwickelt,  das  entsprechende  eines 
Grosselters  oder  eines  noch  früheren  Ahnen  zum  Vorschein  kommen. 

Die  Mischung  des  väterlichen  und  mütterlichen  Idioplasmas 
und  die  Fertigstellung  des  kindhchen  Idioplasmas  vollzieht  sich 
schon  unmittelbar  nach  der  Befruchtung.  Schon  bei  diesem  Acte 
entscheidet  es  sich,  welche  Anlagen  des  Vaters,  der  Mutter  oder 
früherer  Vorfahren  zur  Entfaltung  kommen  und  welche  latent  bleiben 
werden.  Dies  geht  daraus  hervor,  dass  die  verschiedenen  der  näm- 
lichen Ontogenie  angehörenden  Abkömndinge   des   Keimes   sich   in 


208  rV-  Anlagen  und  8ichtl)are  INIeikmale. 

ihren  Merkmalen  ganz  gleich  verhalten,  —  eine  Tliatsaclie,  die  sich 
natürlich  nur  an  Organismen  beobachten  lässt,  welche  wie  die 
meisten  Pflanzen  aus  dem  durch  Befruchtung  entstandenen  Keim- 
ling eine  Reihenfolge  von  individuellen  Sprossen  entwickeln.  Dauert 
aber  diese  geschlechtslose  Vermehrung  der  Sprosse  längere  Zeit  fort, 
so  können  geringe  Configurationsänderungen  im  Idioplasma  bemerk- 
bar werden,  indem  die  väterlichen  und  mütterlichen  Merkmale  an 
der  entfalteten  Pflanze  ein  etwas  anderes  Verhältniss  annehmen. 
Sind  es  aucli  nur  untergeordnete  Eigenschaften,  welche  in  den 
spätem  Sprossen  dem  Vater  oder  der  Mutter  ähnlicher  werden,  so 
beweisen  sie  doch  unzweifelhaft,  dass  das  Idioplasma  während  der 
ontogenetischen  Entwicklung  sich  verändert. 

Das  Idioplasma  der  natürlichen  Sippen  ist  ein  materielles 
System  mit  sehr  stabilem  Gleichgewicht,  wie  sich  aus  der  Unveränder- 
lichkeit  der  entfalteten  Organismen  während  vieler  Jahrtausende 
(S.  104)  ergibt.  Dieses  Gleichgewicht  mrd  bei  der  Kreuzung  ver- 
schiedener Sippen  um  so  mehr  gestört,  je  ungleicher  dieselben 
sind.  Es  kann  auch  in  der  Regel  nicht  schon  in  der  ersten 
Generation  wieder  hergestellt  werden;  sondern  es  finden  in  den 
folgenden  Generationen  verschiedene  Configurationsänderungen  statt, 
bis  endlich  ein  Gleichgewicht  von  einiger  Beständigkeit  gefunden 
wird.  Die  Configurationsänderungen  treten  gewöhnlich  beim  Be- 
fruchtungsacte  ein,  wie  dies  aus  folgender  Erwägung  leicht  be- 
greiflich ist. 

Das  Idioplasma  verändert  sich  während  der  Ontogenie,  wie  vorhin 
gezeigt  wurde,  und  diese  Veränderung  ist  natürlich  um  so  bedeu- 
tender, je  mehr  das  Gleichgewicht  zwischen  den  idioplasmatischen 
Anlagen  gestört  worden  ist.  Ausnahmsweise  kann  sie  bei  ge- 
schlechtsloser Vermehrung  des  Bastardes  so  gross  werden,  dass 
das  neue  Gleichgewicht  sich  plötzlich  in  einer  Umwandlung  der 
entfalteten  Merkmale  Luft  macht  und  Sprosse  mit  anderen  Eigen- 
schaften hervorbringt.  Viel  leichter  geschieht  aber  die  Umstimmung 
des  Idioplasmas  und  die  Herstellung  eines  neuen  Gleichgewichts 
bei  geschlechtlicher  Fortpflanzung,  strenge  Inzucht  vorausgesetzt. 
Die  Bastardgeschwister  der  ersten  Generation  waren  schon  in  ihren 
Keimen  nicht  ganz  gleich ;  ihr  Idioplasma  ist  dann  durch  ^^eränderung 
während  der  Ontogenie  noch  ungleicher  geworden.  Bei  der  Befruch- 
tung findet    nun   eine  Vermischung  von  zwei  etwas   ungleich  con- 


IV.  Anlagen  und  sichtljare  jMeikniiilc.  2ü',> 

«stituirteii  Idioplasmun  mit  theilwcise  labilem  Gleichgewichte  statt, 
und  bei  der  Reconstruirung  des  Systems  tritt  ein  neues ,  vielleiclit 
wieder  bloss  labiles  Gleichgew^icht  ein,  wobei  bisher  entfaltungs- 
unfähige  Anlagen  entfaltungsfällig  werden   und   umgekehrt. 

Demgemäss  bringen  Bastarde  von  Pfianzenarten ,  die  in  ihrer 
ersten  Generation  eine  mittlere  Bildung  zwischen  A^ater  und  Mutter 
zeigen,  nach  dem  Zeugniss  von  Gärtner,  wenn  sie  sich  selbst 
zu  befruchten  vermögen,  nicht  selten  in  einer  folgenden  Generation 
andere  und  später  wieder  andere  Merkmale  zum  Vorschein.  Diese 
Merkmale  sind  selbstverständlich  solche,  die  von  den  Stammeltern 
der  hybriden  Reihe  herkommen,  weshalb  die  Bastarde  im  Laufe  der 
Zeiten  bald  dem  einen,  bald  dem  andern  Stammeiter  ähnlich  sehen. 
Der  aus  der  Kreuzung  von  A  und  B  entsprungene  Bastard ,  der 
die  sichtbaren  Merkmale  u  und  h  besitzt,  kann  also  in  seinen  Nach- 
kommen den  Sprung  von  u  -\-  h  zu  2  a  -{-  b  und  in  noch  spätem 
Nachkommen  den  Sprung  von  2a-\-h  zu  a  -{- 2  h  machen. 

Was  die  miifangreiche  und  verwickelte  Frage  betrifft,  welche 
Anlagen  und  in  welcher  Weise  dieselben  bei  der  Kreuzung  zur 
Entfaltung  gelangen,  so  will  ich  zuerst  an  einem  schematischen 
Beispiel  zeigen,  wie  das  Idioplasma  dabei  betheiligt  sein  muss.  Die 
zwei  sich  kreuzenden  Individuen  seien  in  dem  Merkmal ,  um  das 
es  sich  handelt  (Behaarung,  Gestalt,  Farbe  etc.) ,  verschieden ;  und 
die  betreffenden  Anlagen  seien  durch  Ji  und  m  bezeichnet;  andere 
Moditicationen  des  nämlichen  Merkmals  seien  als  latente  Anlagen 
[W ,  m ,  ,")  von  früheren  Generationen  her  in  jenen  beiden  Indi- 
viduen vorhanden.  So  sind  in  dem  Idioplasma  der  aus  der 
Kreuzung  entstandenen  Keimzelle  5  verschiedene  Anlagen  von  Ab- 
änderungen des  einen  Merkmals  enthalten  [31,  m,  Wc,  m,  //),  von 
denen,  da  sie  ün  entwickelten  Zustande  sich  gegenseitig  ausschliessen, 
nur  die  eine  oder  andere  sich  entfalten  kann. 

Im  allgemeinen  haben  M  und  m  die  grösste  Neigung  zur 
Entfaltung;  die  Micellanordnungen  sammt  dem  chemischen  Charakter 
im  Idioplasma  der  Eltern  sind  ja  so  beschaffen ,  dass  sie  ihre  Ent- 
wicklung begünstigen,  indess  die  übrigen  Anlagen  unter  dem  l^^infiuss 
dieser  Umstände  latent  geblieben  sind.  Im  Kreuzungsproduct  wird 
also  am  ehesten  Ji  oder  m  zum  sichtbaren  Merkmal.  Indessen  ist 
auch  die  Möglichkeit  vorhanden,  dass  die  beiden  sich  vereinigenden 
Llioplasmen  eine  derartige  neue  Zusammenordnung  bedingen,   dass 

V.  Xägeli,  Abstammungslehre.  14 


210  IV.  Alllugen  und  siclitbare  JMerkiuale. 

mit  dcrsclljen  eine  der  von  früher  her  hitenten  Anlagen  (9!}J,  in,  //) 
besser  harmonirt  und  daher  zur  Entfaltung  gebracht  wird,  während 
nun  31  und  m  als  latent  bleibende  Gruppen  im  Idioplasma  ver- 
harren. 

Wenn  aber  die  Abänderungen  des  Merkmals  sich  nie  h  t  gegen- 
seitig ausschliessen,  so  können  in  dem  Kreuzungsproduct  zwei  oder 
drei  derselben  neben  einander  auftreten.  Es  entfalten  sich  dann 
in  der  Regel  M  und  m ;  seltener  kommt  neben  31  oder  neben  m 
oder  auch  neben  beiden  eine  der  älteren  Anlagen  (SO?,  m,  ,«)  zur 
Entfaltung. 

Das  Manifestwerden  und  Latentbleiben  der  bei  der  Befruchtung 
zusammenkommenden  Anlagen  ist  eine  der  merkwürdigsten  Er- 
scheinungen im  Leben  des  Idioplasmas.  Es  kann  bloss  von  zw^ei 
Ursachen  abhängen:  1)  von  der  Beschaffenheit  der  einzelnen  An- 
lagen rüeksichtlich  ihrer  Entfaltungsfähigkeit  und  2)  von  dem  Zu- 
sammenstimmen der  einzelnen  Anlagen  mit  der  Beschaffenheit  des 
ganzen  bei  der  Befruchtung  hergestellten  Idioplasmas ,  besonders 
aber  mit  der  Beschaffenheit  desjenigen  Theiles,  dessen  Entfaltung- 
unmittelbar  vorausgeht  oder  gleichzeitig  stattfindet  und  zugleich 
auch  örtlich  nahe  gerückt  ist. 

Was  den  ersten  Punkt,  die  Beschaffenheit  der  einzelnen  Anlagen 
selbst  betrifft,  so  können  dieselben  einen  verschiedenen  Grad  der 
Stärke  besitzen,  und  wir  können  uns  denselben,  um  eine  concrete 
Vorstellung  zu  haben ,  von  der  Zahl  der  Micellreihen  (der  Micelle 
auf  dem  Querschnitt)  abhängig  denken.  So  wird  eine  Anlage ,  die 
unter  übrigens  gleichen  Umstände*!  aus  12  Micellreihen  besteht, 
sich  eher  entfalten  als  eine  solche  aus  9  Reihen.  Da  nun  jede 
Anlage  während  ihrer  phylogenetischen  Existenz  von  geringstem 
Anfange  aus  allmählich  an  Stärke  zunimmt  und  dann  wieder  bis 
zu  völligem  Verschwinden  allmählich  abninnnt,  so  werden  die  väter- 
hchen  und  die  mütterlichen  Anlagen  für  die  ungleichen  Modifi- 
cationen  des  nämlichen  Merkmals  im  allgemeinen  eine  verschiedene 
Stärke  besitzen  und  daher  auch  im  Kinde  eine  verschiedene  Neigung 
sich  zu  entfalten  äussern. 

Bezüglich  des  zweiten  Punktes  oder  des  Zusammenstimmens 
der  einzelnen  Anlagen  mit  der  Beschaffen] leit  des  übrigen  Idio- 
plasmas mangelt  uns  eine  bestimmte  Vorstellung.  Ohne  Zweifel 
sind  aber    theils    chemische,    theils  Configurationseigenschaften    die 


IV.  Anlagen  uml  sichtlnire  Merkmale.  211 

Ursache  davon,  das.s  die  einen  Anlagen  leichter  in  den  Erregungs- 
zustand versetzt  und  dadurcli  zur  Entfaltung  veranlasst  werden  als 
andere.  Ich  will  dies  den  Grad  der  Stimmung  nennen,  indem  ich 
mir  vorstelle,  dass,  je  besser  die  Substanz  des  ganzen  Idioplasmas 
mit  derjenigen  einer  einzelnen  Anlage  in  der  chemischen  Zu- 
sammensetzung und  in  der  Morphologie  der  Micelle  übereinstimmt, 
um  so  eher  die  Entfaltungserregung  auf  diese  Anlage  übertragen 
werde. 

Der  Antheil,  den  im  einzelnen  Fall  die  Stärke  der  Anlage  und 
ihre  Stinmiung  an  der  Entfaltung  haben,  lässt  sich  fast  niemals 
auseinander  halten.  Es  gibt  vielleicht  nur  einen  einzigen  Fall,  wo 
der  Einfluss  der  beiden  Momente  sicher  ist,  nämlich  der  Grenzfall, 
wo  die  beiden  Anlagen,  die  sich  um  die  Entfaltung  streiten,  gleiche 
Stärke  und  gleiche  Stimmung  besitzen.  Dies  gilt  für  das  Geschlecht 
der  getrennt  geschlechtigen  Organismen,  wenn  die  männlichen 
und  die  weil^lichen  Geburten  gleich  zahlreich  sind ,  wie  dies  beim 
Menschen  der  Fall  ist.  In  diesem  Falle  kann  es  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dass  die  Anlagen  der  männlichen  und  weibliclien 
Geschlechtsorgane  in  dem  Idioplasma  ihre  volle  Stärke  besitzen 
und  auch  gleich  gut  zu  der  Gesammtstimmung  passen.  Wenn  aber 
bei  einer  Art  die  männlichen  oder  die  weiblichen  Geburten  der 
Zahl  nach  überwiegen  würden,  so  müssten  ihre  Anlagen  entweder 
stärker  sein  oder  mit   dem  üljrigen   IdiojDlasma  besser  harmoniren. 

Das  Idioplasma  des  Keims  und  des  aus  ihm  hervorgehenden 
männlichen  oder  weiblichen  Individuums  enthält  die  beiden 
Gesclüechtsanlagen  in  unveränderter  Stärke  und  Vollkommenheit, 
wenn  auch  die  eine  derselben  sich  in  Ruhe  befindet.  Dies  geht 
deutlich  aus  dem  bekannten  Umstände  hervor,  dass  alle  geschlecht- 
lichen Eigenthümlichkeiten  der  Mutter  ebensogut  durch  den  Sohn 
als  durch  die  Tochter,  alle  geschlechtlichen  Eigenthümlichkeiten 
des  A^aters  ebensogut  durch  die  Tochter  als  durch  den  Sohn  auf 
die  Enkel  übergehen.  Obgleich  beide  Sexualanlagen  gleich  stark 
sind  und  an  und  für  sich  gleich  sehr  mit  dem  Gesammtidio^^lasma 
stimmen,  so  geht  doch  diese  Uebereinstimmung  im  Moment  des 
Zusammenkommens  bei  der  Zeugung  für  die  eine  derseh^en  ver- 
loren. Diese  wird  gleichsam  in  den  Hintergrund  gedrängt,  wo  sie 
sich  ausserhalb  der  Verkettumr  botindet,  welche  die  Entfaltuiiusfolcre 
der  Anlagen  bedingt. 

14* 


212  1^^    Anlagen  und  sichtbare  jMerkmale. 

AVciiii  also  zwei  Anlagen  gleiche  Stärke  und  gleiche  Stimmnng 
besitzen,  sich  aber  nicht  gleichzeitig  und  mit  einander  entfalten 
können,  so  hängt  es  lediglich  vom  Zufall  ab,  welche  von  ihnen, 
um  mich  eines  Bildes  aus  der  Elektricitätslehre  zu  bedienen,  in  die 
Leitung  aufgenommen  wird  und  welche  ausserhalb  derselben  bleibt. 
Zufall  aber  nenne  ich  es,  weil  die  entscheidenden  individuellen  Ur- 
sachen unbekannt  sind  und  nur  soviel  ersichtlich  ist,  dass  beim 
Menschen  die  Wahrscheinlichkeit  für  männliche  oder  weibliche 
Zeugung  sich  die  Wage  hält,  gerade  so  wie  beim  Würfeln  die 
Wahrscheinlichkeit  für  einen  geraden  oder  ungeraden  Wurf.  — 
Können  die  beiden  gleichstarken  und  gleichgestimmten  Anlagen 
sich  mit  einander  entfalten,  so  erzeugen  sie  ein  Merkmal  von  genau 
mittlerer  Beschaffenheit. 

Haben  aber  die  vom  Vater  und  der  Mutter  geerbten  Anlagen 
ungleiche  Stärke  bei  gleicher  Stimmung  oder  ungleiche  Stimmung 
bei  gleicher  Stärke,  so  wird  sich  dieser  Umstand  bei  der  Entfaltung 
darin  geltend  machen,  dass,  wenn  sich  die  Merkmale  ausschliessen, 
das  eine  häufiger  erscheint  als  das  andere,  und  dass,  wenn  sie  mit 
einander  sich  verwirklichen,  eine  Zwischenbildung  entsteht,  die  dem 
einen  Merkmal  sich  mehr  nähert.  Da  sich  Stärke  und  Stimmung 
der  Anlagen  nicht  unterscheiden  lassen  und  wir  bloss  das  Ergebniss 
der  beiden  zusammenwirkenden  Momente  kennen ,  so  lässt  sich  in 
jedem  einzelnen  Fall  bloss  sagen,  ob  das  bei  der  Befruchtung  zu 
Stande  gekommene  Idioplasma  des  Kindes  eine  grössere  Vorliebe  für 
die  bestimmte  Eigenschaft  des  A^aters  oder  der  Mutter  zeige. 

Die  merkwürdige  Thatsache,  dass  von  zwei  (oder  mehreren) 
zusammengehörenden  Anlagen,  welche  verschiedenen  Modificationen 
des  nämlichen  Merkmals  entsj^rechen  und  durch  geschlechthche 
Befruchtung  oder  auf  andere  Weise  im  Idioplasma  vereinigt  sind, 
bald  eine  einzige  bald  alle  zwei  sich  entfalten,  muss  schon  in  der 
Constitution  des  Idioplasmas  liegen.  Sie  kann  nur  davon  abhängen, 
ob  eine  allein  oder  beide  in  die  Kette  der  Entfaltungsfolge  einge- 
schaltet und  demgemäss  in  den  Zustand  der  Erregung,  Avelcher  die 
Entfaltung  bedingt,  versetzt  werden.  Dass  nicht  etwa  die  Verträg- 
lichkeit oder  Unverträglichkeit  der  Merkmale  im  entfalteten  Zustande 
daran  schuld  ist,  ersehen  wir  deutlich  aus  denjenigen  Beispielen, 
wo  die  verschiedenen  Modificationen  eines  Merkmals  bald  in  den 
Individuen    vereinigt,    bald    auf    verschiedene   Individuen    vertheilt 


TV.  Anlagen  und  sichtbare  ^Merkmale.  213 

auftreten.  Ueberhaupt  lässt  sieh  die  Unverträglichkeit  zweier 
Merkmale  kaum  denken ;  denn  selbst  die  Vereinigung  der  beiden 
Geschlechtsorgane  wird  in  ausnahmsweisen  Zwitterbildungen  voll- 
zogen und  kann  nur  dadurch  erklärt  werden ,  dass  die  männliche 
und  die  weibliche  Anlage  sich  gleichzeitig  entfaltet  haben. 

Wenn  von  zwei  Anlagen  nur  je  die  eine  oder  andere  in  einem 
Individuum  zur  Entfaltung  gelangi,  so  müssen  wir  daraus  schliessen, 
dass  in  dem  Idioplasma  eine  irgendwie  beschaffene  Abneigung  vor 
der  gleichzeitigen  Erregung  derselben  bestehe.  Das  Vorhandensein 
einer  solchen  Abneigung  setzt  eine  vollständige  Selbständigkeit  und 
Trennung  der  Anlagen  voraus.  Erreicht  die  Abneigung  nicht  den 
erforderlichen  Grad  und  gelangen  demgemäss  beide  Anlagen  mit- 
einander in  einem  Individuum  zur  Entwicklung,  so  können  je  nach 
dem  Grade  der  Zu-  oder  Abneigung  ihre  Merkmale  auf  verschiedene 
Weise  vereinigt  sein  und  somit  ein  verschiedenartiges  Gesammt- 
merkmal  darstellen.  Die  Verschiedenheiten  bewegen  sich  in  allen 
möglichen  Abstufungen  zwischen  zwei  extremen  Fällen,  von  denen 
der  eine  die  beiden  Merkmale  in  unveränderter  Beschaffenheit  neben 
einander  hegend,  der  andere  sie  ^^ollständig  zu  einer  mittleren  Be- 
schaffenheit dm'clidrungen  zeigt.  ISIan  kann  sich  das  Zustande- 
kommen dieser  verschiedenen  Bildungen  in  einfachster  Weise  wohl 
so  vorstellen,  dass  dieselben  ein  Bild  der  Anlagen  selbst  geben,  dass 
entweder  die  ganzen  Anlagen  neben  einander  sich  befinden,  oder 
dass  sie  in  grössere  oder  kleinere,  selbst  bis  in  die  kleinsten  Partien 
getrennt  und  durcheinander  gemengt  sind. 

Um  das  Gesagte  anschaulicher  zu  machen,  wdll  ich  es  an  einem 
Beispiel  erläutern  und  dazu  wieder  die  Farbe  wählen.  Es  giebt 
Pflanzen,  deren  Blüthen  zwischen  blau,  roth,  weiss  und  gelb  ab- 
ändern, und  ich  will  annehmen,  dass  für  diese  Farben  eben  so 
viele  verschiedene  Anlagen  im  Idioplasma  vorhanden  seien.  Obwohl 
diese  Annahme  ohne  Zweifel  nicht  ganz  den  richtigen  Ausdruck 
besitzt,  mache  ich  sie  dennoch,  da  es  sich  bloss  um  ein  erläuterndes 
Beispiel  handelt,  und  die  Voraussetzung  jedenfalls  für  verschiedene 
andere  Merkmale  gelten  würde,  die  aber  dem  ^''erständniss  schwerer 
zugänglich  sind.  Gewöhnlich  ist  eine  der  Blüthen farl)en  die  domi- 
nirende  und  kommt,  wenn  jene  einander  ausschhessen,  den  meisten 
Individuen  zu.  So  blüht  das  Leberblümchen  (Anemone  Ilepatica) 
in   der  Regel  blau,    ausnahmsweise   auch   roth   oder  weiss.     In  den 


214  IV.  Anlagen  und  sic'litl)ar(>  Merkmale. 

rotlieii  und  weissen  ist  sicher  die  ])laue  Anlage  latent.  Würden  roth- 
und  weissblübende  gekreuzt,  so  hätten  die  Kinder  rothe  oder  weisse 
oder  hellrothe  Blüthen ;  es  kämen  aber  entweder  schon  in  der 
ersten  Bastardgeneration,  oder  bei  strenger  Inzucht  gewiss  in  einer 
folgenden  wieder  blaublühende  zum  Vorschein,  weil  die  Natur  des 
Idioplasmas  am  meisten  die  Anlage  dieser  Farbe  begünstigt.  Die 
Kreuzung  von  blauen  mit  rotlien  oder  mit  weissen  ergäbe  aber  eine 
ganz  überwiegend  blaublühende  Nachkommenscliaft.  Dies  gilt  für 
den  Fall,  dass  in  einem  Pflanzenindividuum  nur  eine  einzige  Far- 
benanlage sicli  entfaltet. 

Können  in  der  nämlichen  Pflanze  die  Anlagen  von  zwei  oder 
mehreren  Blüthenfarben  sich  verwirklichen,  so  zeigen  dieselben  eine 
grössere  oder  geringere  A'erwandtscliaft  zu  einander  und  treten  ein- 
ander mehr  oder  weniger  nahe.  Die  Befruchtung  einer  roth-  und 
einer  gelbblühenden  Pflanze  kann  })ei  ausgesprochener  Abneigung 
der  beiden  Anlagen ,  welche  dann  ungetheilt  oder  in  grösseren 
Partien  neben  einander  liegen,  Kinder  erzeugen,  welche  zugleich 
rothe  Blüthen  und  gelbe  Blüthen  tragen,  oder  Blüthen,  an  denen 
die  einen  Blumenblätter  roth,  die  andern  gelb,  oder  Blüthen,  an 
denen  die  Blumenl^lätter  zur  Hälfte  roth  und  zur  Hälfte  gelb  sind 
(Cytisus  Adami).  Bei  etwas  geringerer  gegenseitiger  Abneigung 
der  Anlagen  liegen  dieselben  in  grösseren  oder  kleineren  Partien 
neben  und  durch  einander.  Die  Kinder  einer  roth-  und  einer 
weissblühenden  Pflanze  haben  dann  bunt  gestreifte  oder  gefleckte 
Blüthen,  indem  die  rothen  und  weissen  Stellen  in  verschiedener 
Gestalt  mit  einander  wechseln.  Bei  grösster  Verwandtschaft  der 
Anlagen  findet  eine  vollständige  gegenseitige  Durclidringung  der- 
selben statt,  und  die  Blüthen  haben  eine  hellrothe  Farbe,  weil 
jeder  kleinste  Theil  Roth  und  Weiss  gibt.  Die  Nebeneinander- 
lagerung von  grösseren  oder  kleineren  Partien  der  Merkmale,  wie 
sie  in  den  gestreiften  und  getupften  Blumenblättern  oder  gar  in  den 
Blüthen,  deren  ganze  Blumenblätter  ungleich  gefärbt  sind,  vorkommt, 
stellt  eine  eigenthümliche  und  ungewöhnliche  Bildung  dar,  wie  sie 
in  den  meisten  Fällen  bloss  durch  Kreuzung,  nicht  aber  auf  dem 
gemeinen  phylogenetischen  Wege  entstehen  kann. 

Hat  das  Idioplasma  eine  grössere  Vorliebe  für  die  eine  Farben- 
anlage, so  ninnnt,  wenn  die  Far])en  getrennt  sind,  die  einc^  derselben 
einen    grösseren  Flächenraum    ein ;    die  Blütlien  sind    beispielsweise 


IV.  Anlagen  nnd  sichtbare  INIorknialo.  215 

weiss  mit  schmäleren  rothen  Streifen  oder  mit  kleineren  rotlicn 
Tupfen.  Wenn  aber  die  Farben  sich  durchdringen,  so  nähert  sich 
die  Mischfarbe  mehr  demjenigen  Ton,  welcher  der  begünstigten 
Anlage  entspricht. 

Wenn  sich  die  von  Eltern  mit  verschiedener  Blüthenfarbe  er- 
zeugten Bastarde  durch  Inzucht  fortiDflanzen,  so  kann  die  Gunst 
des  Idioj^lasmas  für  die  Entfaltung  der  einen  und  anderen  Farl^e 
in  dem  Laufe  der  Generationen  die  nämliche  bleiben  oder  sich  ver- 
ändern. Im  letzteren  Falle  drängt  die  eine  Farbe  die  andere  mehr 
oder  weniger  zurück,  sei  es  dass  sie  einen  grösseren  Flächenraum 
in  Anspruch  nimmt  als  früher,  sei  es  dass  sie  einen  grösseren  An- 
theil  an  der  Mischfarbe  erlangt.  Sind  die  Blumenblätter  gescheckt 
und  bleibt  die  Entfaltungsfähigkeit  der  beiden  Farbenanlagen,  somit 
auch  das  Areal  der  beiden  Farben  unverändert,  so  behält  zuweilen 
die  Zeichnung  der  Blumenblätter  mehr  oder  weniger  genau  ihren 
Charakter  bei.  Häufiger  wohl  nimmt  dieselbe  in  den  auf  einander 
folgenden  Generationen  einen  anderen  Charakter  an ;  die  Vertheilung 
der  Farljon  hat  dann  (he  Neigung,  die  Streifen  und  Flecken  zahl- 
reicher und  feiner  zu  machen  und  sich  somit  der  Durchdringung 
(einem  homogen  erscheinenden  Mittelton)  zu  nähern.  Der  letztere 
A'^organg  kann  als  die  natürliche  Folge  der  Vermischung  zweier 
Idioplasmen  bei  der  Fortpflanzung  erscheinen,  so  dass  gleichsam 
bei  jeder  folgenden  Inzuchtbefruchtung  eines  Bastards  mit  weiss- 
und  rothgefleckten  Blüthen  ein  ähnlicher  Process  stattfindet,  wie 
bei  der  ursprünglichen  Kreuzung  einer  weissen  und  einer  rothen 
Blüthe,  wobei  die  Farbenanlagen  getheilt  und  partienweise  neben 
einander  gelagert  wurden. 


Bei  der  digenen  Fortpflanzung  (durch  Conjugation  oder  ge- 
schlechtliche Befruchtung)  vereinigen  sich  die  beiden  elterlichen 
Idioplasmen,  um  das  Idioplasma  des  Kindes  zu  bilden.  Es  ist  noch 
die  schwierige  Frage  zu  erörtern,  wie  diese  Vereinigung  geschehen 
könne.  Man  möchte  wohl  geneigt  sein,  den  Vorgang  allgemein  als 
eine  gegenseitige  Durclidringung  zu  bezeichnen.  Aber  damit  wäre 
bloss  das  Resultat  richtig  angegeben;  die  Schwierigkeiten  beginnen, 
wenn  man  sich  eine  ^'^orstellung  bilden  will,  wie  das  Resultat  zu 
Stande  komme.     Wie  ist  eine  gegenseitige  Durchdringung   möglich, 


21 G  I^^'  Anlagon  und  sichtbare  Merkmale. 

da  das  Idioplasma  ein  complicirtes  System  mit  festem  Zusammenhang 
der  Micelle  sein  muss? 

Die  Schwierigkeiten  wären  beseitigt,  wenn  die  Meinung  vieler 
Forscher,  es  könne  die  Befruchtung  durch  eindringende  gelöste 
Stoffe  erfolgen,  gegründet  wäre.  Diese  Meinung  wurde  nicht  nur 
für  die  phanerogamischen  Gewächse,  sondern  auch  für  einzelne 
Kryptogamen  (so  für  Peronospora)  wurde  die  aus<lrückliche  Be- 
hauptung ausgesprochen,  dass  der  Befruchtungsstoff  diosmotisch 
durch  die  Zellmembranen  hindurchgehe,  während  bei  der  Mehrzahl 
der  Kry2:)togamen  sich  bekanntlich  das  männliche  Stereoplasma  mit 
dem  weiblichen  vermischt. 

Ich  habe  zwar  bereits  in  einem  früheren  Absclmitt  kurz  bemerkt, 
dass  die  Befruchtung  nur  durch  eine  organisirte  ungelöste  Substanz 
erfolgen  könne,  will  aber  hier  die  Gründe  für  diese  Behauptung 
noch  ausführlicher  darlegen  wegen  der  entscheidenden  Bedeutung, 
welche  diese  Frage  in  mehr  als  einer  Beziehung  hat.  Denn  so  lange 
man  die  Befruchtung  durch  Diffusion  annehmbar  findet,  kann  man 
unmöglich  einen  richtigen  Begriff  von  der  Beschaffenheit  der  An- 
lagen, von  der  ^'^ererbung  und  den  damit  verbundenen  Vorgängen 
haben. 

Um  durcli  Membranen  diosmiren  zu  können,  muss  eine  Sub- 
stanz vorher  sich  in  die  Moleküle  auflösen.  Da  das  Eiweiss  molecular 
unlöslich  ist,  so  zerfallen  die  Albuminate,  die  trans23ortirt  werden 
sollen,  in  Asparagin,  vielleicht  auch  in  Peptone.  Ein  solcher  Trans- 
j)ort  ist  für  Ernährungszwecke  sehr  brauchbar,  weil  die  gewanderten 
Stoffe  am  Ort  ihrer  Bestimmung  sich  wieder  zu  Eiweiss  zusammen- 
setzen. Aber  für  die  Uebertragung  von  specifischen  Eigenschaften 
ist  er  durchaus  ungeeignet.  Das  Asparagin-  oder  Peptonmolekül, 
selbst  das  Eiweissmolekül  des  männlichen  Befruchtungsstoffes  hat 
nichts  voraus  vor  jedem  andern  Asparagin-,  Pepton-  oder  Eiweiss- 
molekül, so  wenig  als  das  Thonmolekül  von  einer  zerbrochenen 
griechischen  A^ase  irgend  etwas  mehr  wäre  als  das  Thonmolekül 
von  einem  ganz  gewöhnlichen  Backstein. 

Man  könnte  aber  annehmen  wollen,  dass  der  männliche  Stoff 
bloss  in  die  Micelle  zerfalle  und  ausnahmsweise  in  dieser  Form  l)ei 
der  Befruchtung  diosmire,  da  es  sich  neuerdings  gezeigt  hat,  dass 
unter  besonderen  Umständen  auch  das  Eiweiss  als  solches  durch 
Membranen    hindurchgeht  (so   bei   der  Gärung).     Docli    würde  auch 


rV.  Anlagon  und  sichtbare  Merkmale.  217 

diese  Annahme  ihren  Zweck  nicht  erfüllen.  Die  Micelle  haben 
zwar  das  vor  den  Molekülen  voraus ,  dass  sie  eine  grosse  \^er- 
schiedenheit  in  Grösse,  Gestalt,  Structur  und  chemischer  Zusammen- 
setzung gestatten,  während  die  jNIoleküle  der  nämlichen  Verl)indung 
unter  sich  identisch  sind.  Würden  aher  die  einzelnen  Micelle  des 
männhchen  Zeugungsstoffes  in  die  weibliche  Zelle  eintreten,  so 
könnte  nur  eine  geringe  allgemeine  Umstimmung  in  dem  Inhalte 
derselben  eintreten. 

Damit  wäre  für  die  Zwecke  der  Befruclitung  nichts  erreicht; 
denn  diese  besteht  ja  darin,  dass  in  dem  weiblichen  Idioplasma 
die  einen  Anlagen  ungeändert  bleiben,  andere  sich  mehr  oder  weniger 
verändern  und  dass  neben  die  vorhandenen  weiblichen  auch  neue 
männliclie  Anlagen  eingeordnet  werden.  Das  einzelne  Albuminat- 
micell,  wenn  es  auch  durch  die  ungleiche  Zusammensetzung  ver- 
schiedene Eigenschaften  annehmen  kann,  vermag  doch  ebensowenig 
als  das  einzelne  Molekül  der  Träger  von  besondern  Anlagen  zu 
sein.  Das  vermag  bloss  eine  eigenthümliche  Zusammenordnung 
oder  Grupj^e  von  solchen  Micellen.  Nur  bliese  kann  durch  Ein- 
lagerung neuer  Micelle,  die  unter  dem  Einfluss  ihrer  Molecularkräfte 
vor  sich  geht,  in  beliebigem  Maasse  sich  vermehren  und  dabei  ihre 
Eigenthümlichkeit  bewahren  oder  in  selbständiger  Weise  uml)ilden. 
Nur  eigenthümhche  Gruppen  von  Micellen  können  sich  als  Anlagen 
bewähren  und  die  plastischen  Bildungen  hervorbringen,  in  welclie 
sich  die  Anlagen  entfalten. 

Diese  theoretische  Betrachtung  wird  in  ausreichendem  Maasse 
durch  die  Erfahrung  bestätigt,  welche  uns  zeigt,  dass  die  Diosmose 
von  All)uminaten  bloss  als  Ernährung  wirkt  und  nicht  den  geringsten 
Einfluss  auf  die  erblichen  Anlagen  hat.  Ich  verweise  auf  die  frühere 
hierauf  bezügliche  Erörterung  (S.  109 — 111).  —  Die  »Befruchtung 
durch  Diffusion«  beweist,  wie  wenig  in  diesen  Gebieten  der  Phy- 
siologie noch  die  Meinungen  geklärt  sind. 

Zum  Ueberfluss  gibt  es  noch  eine  Erwägung  ganz  anderer 
Natur,  welche  zu  dem  gleichen  Ergebniss  führt,  die  jihylogenetische. 
Die  geschlechtliche  Befruchtung  ist  aus  der  Conjugation  hervorge- 
gangen. Auf  den  untersten  Stufen  des  Pflanzenreiches  sind  es  zwei 
gleiche  sich  conjugirende  Zellen,  deren  ganzer  Inhalt  sich  zur 
Bildung  einer  Spore  vereinigt.  Auf  den  nächstfolgenden  Stufen  wird 
die  eine   dieser  beiden   Zellen   grösser   und  zur  Eizelle,   die  andere 


218  rV-  Anlagen  und  sichtbare  Merkmale. 

wird  kleiner  und  zum  Spermatozoid,  das  sich  bei  der  Befrnclitimg 
mit  dem  Inhalt  der  Eizelle  vereinigt.  Das  letztere  aber  kann  nicht 
mehr  als  alles  Ernährungsplasma  verlieren,  so  dass  es  fast  bloss 
aus  Idioplasina  besteht ;  ein  weiterer  Uebergang  vom  Spermatozoid 
zum  gelösten  Befruchtungsstoff  ist  eine  j^liysiologische  und  somit 
auch  eine  phylogenetische  Unmöglichkeit. 

Man  wird  mir  vielleicht  entgegenhalten,  dass  in  einzelnen  Fällen 
der  Uebergang  des  Befruchtungsstoffes  auf  dem  Wege  der  Diosmose 
als  Erfahrung  zu  betrachten  sei,  indem  man  in  den  Membranen 
nicht  die  kleinsten  Oeffnungen  zu  entdecken  vermöge.  Damit  wären 
wir  denn  auf  dem  Gebiete  der  »negativen  Beweise«  angelangt,  mittels 
deren  die  neueren  Forschungen  der  Morj^hologen  im  Widerspruche 
mit  der  klaren  Forderung  einer  logischen  und  exacten  Methode  so 
manche  unhaltbare  Meinung  in  die  Wissenschaft  einführen  wollen. 
Der  negative  Beweis  kann  nichts  Positives  darthun;  er  sagt  uns 
weiter  nichts,  als  dass  auf  diesem  Wege  der  Forschung  die  Grenze 
des  Könnens  erreicht  sei.  Für  den  vorliegenden  Fall  bleiben  immer 
noch  verschiedene  Möglichkeiten  offen,  entweder  dass  der  Beobachter 
den  rechten  Moment  versäumt  hat,  oder  dass  das  Oeffnen  der  Mem- 
bran und  das  Uebertreten  der  festen  Substanz  in  einer  noch  nicht 
erkannten  Weise  erfolgt,  oder  dass  die  Oeffnungen  in  der  Membran 
zu  klein  sind,  um  direct  gesehen  zu  werden  u.  s.  w. 

Wir  sind  also  zu  der  Annahme  genöthigt,  dass  bei  der  ge- 
schlechtlichen Befruchtung  in  jedem  Falle  das  männliche  Idioplasma 
in  die  weibhche  Zelle  eindringe,  und  wir  können  die  Schwierig- 
keiten der  Frage,  wie  sich  zwei  idioplasmatische  Systeme  von  ziem- 
lich fester  Consistenz  in  ein  einziges  vereinigen,  nicht  umgehen. 
Denn  die  allfällige  ^^ermuthung,  dass  im  Inneren  der  w^eiblichen 
Zelle  das  männliche  Idioplasma  sich  auflöse  und  in  das  w^eibliche 
hineindiffundire,  wäre  nicht  besser  als  die  bereits  widerlegte  Ver- 
muthung,    dass   die  Diffusion   von  Zelle   zu  Zelle  geschehen  könne. 

Auch  dürfen  wir  nicht  etwa  auf  die  abenteuerliche  Idee  ver- 
fallen, dass  die  beiden  Systeme  in  die  einzelnen  Micelle  zerfallen, 
welche  nach  gegenseitiger  ^^ermengung  sich  wieder  zu  einem  ge- 
meinsamen System  zusammenfügen.  Die  Zahl  der  Micelle  der  beiden 
Idioplasmen  kann  hundert  Millionen  weit  übersteigen.  Aber  wenn 
es  auch  viel  weniger  wären,  so  mangeln  docli  die  organisirenden 
Kräfte,   die   sie   in   der   richtigen  Weise  vereinigen  würden,  —  und 


W.  Anlagon  und  sichtliare  Merkmale.  219 

wir  dürfen  den  Organismen  nicht  ansinnen,  dass  sie  sieh  auf  ein 
solches  Zusammensetzspiel  einlassen.  Es  sind  zwar,  wenn  nach 
der  früher  entwickelten  Hypothese  das  idioplasmatische  System 
strangförmig  ist  und  die  Configm'ation  des  Querschnittes  seine  eigen- 
thümliche  Begabung  ausmacht,  möglicher  Weise  nicht  zwei  Micelle 
des  Querschnittes  einander  ganz  gleich  und  mit  den  nämlichen 
Kräften  ausgestattet.  Diese  Ungleichheit  der  genau  zusammen- 
passenden Micelle  erlaubt  den  Systemen  eine  grosse  Festigkeit  und 
zugleich  eine  grosse  Mannigfaltigkeit  zu  erlangen.  Aber  die  specifische 
Micellanordnung  wurde  durch  phylogenetisches  Wachsthum  ge- 
wonnen und  könnte  nach  einer  Auflösung  in  die  einzelnen  Bau- 
steine schon  wegen  der  geringen  Verschiedenheit  ihrer  Molecular- 
kräfte  nicht  wieder  hergestellt  werden.  Damit  aus  zwei  verschiedenen 
idioplasmatischen  Systemen  sich  ein  solches  von  mittlerer  Beschaffen- 
heit bilde,  muss  wenigstens  das  eine  seine  Configuration  ziemlich 
intact  bewahren,  um  als  Norm  für  die  eintretenden  Veränderungen 
zu  dienen. 

Wiewohl  wir  noch  weit  davon  entfernt  sind,  uns  eine  befriedigende 
Vorstellung  über  die  l)ei  der  Befruchtung  stattfindenden  molecularen 
Processe  zu  bilden,  so  lassen  sich  doch  die  ISIöglichkeiten,  welche 
dafür  in  beschränkter  Zahl  vorliegen,  erwägen.  Dies  erscheint  um 
so  eher  thunlich,  als  die  ^Vermischung  von  erblichen  Eigenschaften 
bei  der  Keimbildung  mit  einem  verwandten  A'organg  in  der  indivi- 
duellen Entwicklungsgeschichte,  nämlich  mit  der  Mittheilung  von 
erblichen  \'^eränderungen,  die  in  den  einen  Theilen  des  Organismus 
erfolgen,  an  die  anderen  Theile  desselben  (S.  54  bis  60)  verglichen 
werden  kann,  und  die  ^''orstellungen  über  die  beiden  Erscheinungen 
einander  zu  ergänzen  und  zu  berichtigen  im  Stande  sind. 

Beide  ^"orgänge  müssen  entweder  auf  materiellem  oder  auf 
dynamischem  Wege  geschehen ;  entweder  findet  eine  Vermischung 
des  Stoffes  oder  nur  eine  gegenseitige  Einwirkung  der  Kräfte  statt. 
Was  den  materiellen  Weg  betrifft,  so  habe  ich  bei  Anlass  der  Mit- 
theilung von  erblichen  Abänderungen  innerhalb  desselben  Individuums 
bloss  den  Transport  durch  den  Organismus  berücksichtigt  und  die 
Mischung  des  verschiedenartigen  Idioplasmas  dort  nicht  besprochen, 
sondern  auf  den  analogen  Vorgang  bei  der  Befruchtung  verwiesen, 
weil  liier  die  Umstände  und  Bedingungen  viel  klarer  vorliegen.  Ich 
will  nun  auf  den  Vorgang,  wie  man  sich  die  materielle  ^^ermischung 


220  IV.  Anlagen  und  sichtbare  Merkmale. 

vorstellen   kann,    etwas   weitläufiger   eintreten,    da    der    allgemeinen 
Meinung  dieser  Weg  der  Befruchtung  wohl  näher  liegt. 


Wenn  das  männliche  und  das  weibliche  idioplasmatische  System 
sich  matei'ioll  mit  einander  vermischen,  so  muss  eine  Wanderung 
ihrer  Micelle  und  eine  gegenseitige  Durchdringung  ihrer  Substanz 
stattfinden.  Fragen  wir  zunächst  nach  den  Kräften,  die  eine  solche 
Bewegung  der  Idioplasmen  gegen  einander  bewirken  könnten,  so  ist 
uns  aus  Erfahrung  nur  eine  Kraft  bekannt,  welche  beim  Befruchtungs- 
act  sich  offenbart.  Zwischen  den  sich  conjugirenden  Zellen,  ebenso 
zwischen  den  männlichen  und  weiblichen  Zellen ,  besteht  eine 
materielle  Anziehung  (nicht  etwa  Anzieliung  im  figürlichen  Sinne 
einer  biologischen  Schwärmerei).  Dieselbe  äussert  sich  in  der 
Orientirung  und  Ortsveränderung  der  räumlich  getrennten  beweg- 
lichen Elemente,  bei  der  Conjugation  auch  in  einem  dadurch  ver- 
anlassten Zellwachsthum.  Die  sich  conjugirenden  Zellen  wachsen 
gegen  einander  und  nach  stattgefundener  Vereinigung  der  Zell- 
h  öl  düngen  fliesst  der  Inhalt  der  beiden  Zellen  zusammen  und  ver- 
mischt sich  zu  einer  Masse.  Bei  der  eigentlichen  geschlechtlichen 
Befruchtung  richtet  sich  das  Spermatozoid  so ,  dass  sein  vor- 
deres Ende  nach  der  Eizelle  gekehrt  ist;  es  bewegt  sich  in  dieser 
Richtung  vorwärts,  legt  sich  an  das  vordere  etwas  vorsjjringende 
hellere  Ende  der  Eizelle  (»Keimfleck«)  an  und  dringt  in  dasselbe  ein. 

Diese  geschlechtliche  Anziehung  lässt  sich  auf  mikroskopische 
Entfernungen  nachweisen,  wobei  zu  berücksichtigen  ist,  dass  auch 
die  anziehenden  Massen  von  mikroskopischer  Kleinheit  sind.  Bei 
einigen  niedern  Algen  (z.  B.  einzelnen  Arten  von  Oedogonium)  finden 
die  in  sehr  geringer  Zahl  gebildeten  selbstljeAveglichen  schwärm- 
zellenartigen  Spermatozoide  sicher  ihren  Weg  zu  der  kleinen  Oeff- 
nung  des  Oogoniums,  obgleich  unter  Berücksichtigung  der  Ent- 
fernung und  des  Umstandes ,  dass  sie  im  Wasser  nach  allen 
Richtungen  Ihn  fortschwimmen  können,  die  Wahrscheinlichkeit, 
am  Ziele  anzulangen,  sich  für  sie  nicht  auf  Vioo  berechnet.  Wenn 
also  nicht  eine  bestimmte  Anziehung  mitwirken  würde,  so  könnte 
unter  100  Fällen  kaum  ein  Mal  Befruchtung  eintreten,  während  sie 
im  allgemeinen  nie  ausbleil)t.  —  Auch  von  den  unbeweglichen 
Sj^ermatozoiden   der  Florideen,    von   denen   man  annimmt,    dass  sie 


IV.  Anlagen  und  sirlitlnuv  Mi-rkiiiale.  221 

durch  die  Bewegung  des  Meerwassers  zu  den  wei])lic]ien  Organea 
hingeführt  werden,  würde  man  nicht  begreifen,  wie  sie  stets  die 
Befruchtung  verursachen  könnten,  wenn  nicht  eine  besondere  An- 
ziehung mit  im  Spiele  wäre. 

Da  eine  Anziehung  zwischen  anderen  Zellen  als  den  Geschlechts- 
zellen, soviel  uns  bekannt  ist,  nicht  statthat,  und  da  diese  von  den 
übrigen  Zellen  nur  durch  das  männliche  und  weibliche  Idioplasma 
sich  unterscheiden,  so  müssen  wir  schliessen,  dass  es  dieses  Idio- 
plasma sei,  an  welchem  die  anziehenden  Kräfte  haften.  Welcher 
Natur  diese  Kräfte  seien,  ist  zwar  durch  irgend  welche  Erscheinungen 
nicht  bekannt;  da  aber  eine  andere  bekannte  Kraft,  die  man  in 
Anspruch  nehmen  könnte,  mangelt,  so  dürfte  man  vielleicht  elek- 
trische Anziehung  vernnithen.  Dieselbe  würde  von  geringen  Mengen 
freier  (positiver  und  negativer)  Elektricität  herrühren,  die  aber,  bei 
der  Annäherung  bis  zur  Berührung,  die  Substanz  doch  nicht  gänzlich 
verlassen  und  sich  nicht  vollständig  neutralisiren  können.  Wie  dem 
nun  sei,  die  beiden  Geschlechtszellen  legen  sich  an  einander  an  und 
dringen  in  einander  ein,  weshalb  wir  annehmen  müssen,  dass  in 
Folge  der  gleichen  Anziehung  die  männlichen  und  die  weiblichen 
Idioplasmakörper  ebenfalls  sich  dicht  an  einander  anlegen. 

Wenn  zwei  materielle  Systeme  sich  anziehen,  so  besteht  die 
Anziehung  selbstverständlich  zwischen  den  einzelnen  Theilchen  der- 
selben, also  in  dem  vorliegenden  Falle  zwischen  den  Idioplasma- 
mieellen.  Wenn  ferner  die  ganzen  Systeme  durch  ihre  Structur 
verhindert  werden,  in  einander  einzudringen,  so  haben  die  Micelle 
die  Neigung,  sich  von  ihren  Complexen  loszulösen  und  einzeln  dem 
Zuge  zu  folgen.  Nun  besitzen  die  Idioplasmakörper  allerdings  einen 
ziemlich  festen  Zusammenhang,  aber  derselbe  muss  in  beiden  Systemen 
durch  die  zwischen  denselben  herrschende  Anziehung  gelockert 
werden,  —  und  das  mn  so  eher,  wenn,  wie  soeben  als  möglich  be- 
zeichnet wurde,  die  Anziehung  durch  ungleichnamige  Elektricitäten 
bewirkt  wird  und  diese  Elektricitäten  bei  der  Annäherung  der  beiden 
Systeme  noch  eine  Vertheilung  von  neutralen  Elektricitätsraengen  in 
denselben  verursachen.  Es  besteht  ferner  die  Wahrscheinlichkeit,  dass 
das  männliche  System  als  das  Ijeweglichere  zu  betrachten  und  dass 
in  demselben  schon  an  imd  für  sich  der  Zusammenhang  etwas 
lockerer  und  der  Widerstand  gegen  die  Trennung  etwas  geringer 
sei.     Daher   wäre   es  vielleicht  möglich,    dass  von  dem  männlichen 


222  IV.  Anlagen  und  siclitl)iire  Merlanale. 

Idioplasma  nach  und  nach  sich  Micelle  ablösten,  in  das  weibhche 
System  hinüber  wanderten  und  sich  in  die  entsprechenden  Miceh- 
gruppen  einlagerten. 

Wollen  wir  uns  eine  bestimmtere  ^'^orstellung  von  diesem  Vor- 
gange machen,  so  müssen  wir  an  eine  bestimmte  Vorstellung  von 
der  Structur  des  Idioplasmas  anknüpfen.  Ich  habe  die  Hypothese 
entwickelt,  dass  dasselbe  aus  strangförmigen  Körpern,  die  aus 
parallelen  Längsreihen  von  Micellen  zusammengesetzt  seien,  be- 
stehen könne.  Die  Längsreilien  stehen  seitlich  in  inniger  Berührung, 
so  dass  durch  diesen  Contact  gleichsam  Leitungen  zwischen  ihnen 
hergestellt  werden,  welche  ähnlich  wie  Nervenleitungen  functioniren. 
Sowie  nun  das  männliche  System  sich  an  das  weibliche  angelegt  hat, 
so  geht  die  Leitung  aus  einem  System  in  das  andere  hinüber,  und 
indem  jede  bestimmte  Micellgruppe  oder  Anlage  des  weiblichen 
Systems  mit  der  gleichnamigen  des  männlichen  Systems  gleichsam 
in  Nervenverbindung  sich  befindet,  so  ist  den  sich  ablösenden  und 
hinüber  wandernden  Micellen  des  männlichen  S3^stems  der  Weg, 
sowie  der  Ort  der  Bestimmung  genau  vorgezeichnet. 

Einer  solchen  Einwanderung  von  Micellen  in  das  weibliche 
Idioplasma  scheint  aber  seine  Structur  hinderlich  zu  sein.  Die  Micell- 
reihen  sind  nach  der  Darstellung,  die  ich  früher  zu  geben  versuchte, 
einander  so  sehr  genähert,  dass  unmöglich  Micelle  zwischen  ihnen 
sich  hindurch  bewegen  könnten.  Wenn  auch  der  Idioplasmastrang 
keinen  geschlossenen  Querschnitt  hat,  wenn  wir  uns  vielmehr  vor- 
stellen müssen,  dass  mit  Ernährungsplasma  ausgefüllte  Längsspalten 
vielleicht  tief  in  denselben  hinein  reichen,  so  ist  damit  die  Wanderung 
der  männlichen  Idioplasmamicelle  bis  zur  Einlagerungsstelle  doch 
nicht  ermöglicht.  Es  bleibt  daher  wohl  nur  die  allerdings  nicht 
ganz  unwahrscheinliche  Annahme  übrig,  dass  zur  Zeit  der  Be- 
fruchtung das  weibliche  System  ol)cnfalls  gelockert  sei  und  dass  es 
sich  bald  da  bald  dort  öffne,  um  die  männlichen  Micelle  eintreten 
zu  lassen. 

Hat  das  Idioplasma  eine  strangförmige  Beschaffenheit,  so  sind, 
wie  ich  früher  ausfüln'te,  zwei  Annahmen  möglich:  entweder  sind, 
die  Stränge  getrennt,  von  bestimmter  und  gleicher  Länge  und  zu 
einem  Netz  zusannnengeordnot ,  oder  sie  sind  von  unbestimmter 
Länge ,  verzweigt  und  netzfönmg  -  verwachsen.  Bei  der  ersteren 
Annahme    müssten    wir    uns    vorstellen ,    dass    je    ein    männlicher 


IV.  Anlagen  und  siclitl)ai-L'  ^Merkmale.  223 

und  ein  weiblicher  Strang  zusammentreten,  dass  also  gleiche  Mengen 
von  männlichem  und  weiblichem  Idioplasma  sich  mit  einander 
vermischen.  Da  nun  ohne  Zweifel  die  weiblichen  Zellen  und  die  sie 
Ijefruchtenden  Spermatozoide  ungleich  viel  Idioplasma  enthalten, 
so  würde  aus  dieser  Vorstellung  weiter  zu  folgern  sein,  dass  ein 
allfälliger  Ueberschuss  von  männhchem  oder  weiljliehem  Idioplasma 
beim  Befruchtungsact  aus  dem  idioplasmatischen  System  ausge- 
schlossen, als  unwirksam  beseitigt  und  zu  Ernährungsplasma  mnge- 
wandelt  werde.  Nach  dieser  H}'|3othese  wäre  also  die  väterliche 
und  die  mütterliche  Erbschaft  im  Kinde  ohne  Ausnahme  gleich 
gross,  was  mit  der  früher  erwähnten  Erfahrung  übereinstimmte, 
dass  die  Kinder  dem  ^'^ater  und  der  Mutter  ziemlich  gleiche  Antheile 
von  beständigen  Eigenschaften  verdanken  (vgl.  S.  191) — 202),  und 
dass  unter  zahlreichen  Bastarden  zweier  Arten  die  Individuen  oft 
l^is  auf  die  geringsten  Kleinigkeiten  einander  ähnlich  sehen. 

Die  zweite  Annahme,  dass  nämlich  die  Idioplasmastränge  eine 
unbestimmte  Länge  besitzen,  würde  dagegen  die  Folgerung  ergeben, 
dass,  da  bei  der  Befruchtung  gewöhnlich  ungleiche  Mengen  von 
Idioplasma  zusammenkommen,  auch  männliche  und  weibliche  Stränge 
von  ungleicher  Länge  sich  mit  einander  vereinigen.  Die  väterliche 
und  mütterhche  Erbschaft  wäre  somit  im  Princip  ungleich,  und  es 
könnte  die  eine  oder  andere  in  einzelnen  Fällen  merklich  überwiegen, 
ol)gleicli  dieser  Ueberschuss  gemss  nie  einen  sehr  hohen  Betrag 
erreichen  wird. 

Ein  Umstand,  der  bei  der  Vereinigung  der  von  den  Eltern 
stammenden  idioplasmatischen  Systeme  noch  zu  berücksichtigen 
ist,  betrifft  das  ^"olumen  des  Productes.  Das  Idioplasma  des  ent- 
stehenden Keimes  hat  in  Folge  dieses  A-^organges  ungefähr  das 
doppelte  A'olumen  von  dem  Idioplasma  jedes  der  Eltern.  Das  würde 
nun  weiter  nichts  ausmachen ;  es  konnte  in  der  neuen  vergrösserten 
Auflage  ebensogut  sich  vermehren  und  die  Entfaltung  der  Anlagen 
besorgen.  Wenn  aber  bei  jeder  Fortpflanzung  durch  Befruchtung  das 
Volumen  des  irgendwie  beschaffenen  Idioplasmas  sich  verdoppelte, 
wenn  speciell  die  Idioplasmastränge  durch  Vereinigung  einen  dopj^elt 
so  grossen  Querschnitt  erlangten,  so  würden  nach  nicht  sehr  zahl- 
reichen Generationen  die  Idioplasmakörper  so  sehr  anwachsen,  dass 
sie  selbst  einzeln  nicht  mehr  in  einem  Spermatozoid  Platz  fänden. 
Es  ist  also  durchaus  nothwendig,  dass  bei  der  digenen  Fortpflanzung 


224  IV-  Anlagen  und  »iclitbare  Merkmale. 

die  A'ereinigung  der  elterlichen  Idioplusmakörper  erfolge,  ohne  eine 
den  vereinigten  Massen  entsprechende  dauernde  Vergrösserung  dieser 
materiellen  Systeme  zu  verursachen. 

Dieser  Forderung  kann  wohl  nur  durch  die  Annahme  der  strang- 
förmigen  Natur  des  Idioplasmas  Genüge  gethan  werden,  weil  nach 
derselben  die  phylogenetische  Zunahme  des  Querschnitts  und  die 
ontogenetische  Zunahme  in  der  Längsrichtung  strenge  geschieden 
sind,  und  Aveil  somit  die  A^ereinigung  bei  der  Befruchtung  sich  in 
der  Weise  denken  lässt,  dass  sie  zum  grössten  Theil  als  der 
Ontogenie  angehörig  und  als  der  erste  Schritt  des  individuellen 
Wachsthums  erscheint. 

Damit  der  Querschnitt  im  allgemeinen  unverändert  bleibe, 
müssen  die  von  den  Eltern  stammenden  strangförmigen  Idioplasma- 
körper  sich  zu  Strängen  vereinigen,  deren  Länge  der  Summe  jener 
gleichkommt.  In  diesem  Falle  wird  je  aus  einer  väterlichen  und 
einer  mütterlichen  Anlage  eine  kindliche  Anlage  von  gleicher  Stärke, 
d.  h.  eine  Gruppe  von  gleich  viel  Micellreihen  (von  gleich  viel 
Micellen  auf  dem  Querschnitt).  Nur  wenn  einzelne  väterliche  und 
mütterliche  Anlagen  wesentlich  verschieden  sind,  wie  dies  bei  der 
Kreuzung  von  Rassen,  Varietäten  und  Arten  vorkommt,  legen  sich 
dieselben  in  voller  Stärke  neben  einander  und  dadurch  erfährt  der 
Querschnitt  eine  Vergrösserung.  Da  aber  selbst  bei  der  Kreuzung 
von  möglichst  ungleichen  Lidividuen  stets  die  grosse  Mehrzahl  der 
Anlagen  sannnt  der  ganzen  Configuration  des  Idioplasmas  in  den 
beiden  Eltern  gleich  beschaffen  ist  und  nur  wenige  Anlagen  un- 
gleicher Natur  sind,  so  ist  die  Vergrösserung  des  idioplasmatischen 
Querschnittes  in  dem  Kinde  immerhin  eine  sehr  geringe,  und  sie 
beträgt  nicht  mein-,  als  wenn  die  neu  hinzugekommenen  Anlagen 
durch  den  gewöhnliclien  phylogenetischen  Bildungsprocess  entstanden 
wären.  Diese  dem  Zuwachs  an  Anlagen  entsprechende  Querschnitts- 
zunahme stellt  gleichsam  die  phylogenetische  Componente  des  Be- 
fruchtungsactes  bei  der  Kreuzung  dar.  Die  Zunahme  in  der  Längs- 
richtung dagegen  ist  nichts  anderes  als  der  erste  Wachsthumsschritt 
der  neuen  Ontogenie.  Haben  die  Idioplasmastränge,  gemäss  der 
einen  Hypothese,  eine  bestimmte  und  gleiche  Länge,  so  würden 
zunächst  Stränge  von  genau  der  dop23elten  Länge  entstehen  und 
diese  dann  sogleich  in  je  zwei  zerfallen,  wie  dies  für  die  onto- 
genetische Vermehrung  überhaupt  anzunehmen  wäre. 


rV^.  Anlaufen  und  siclitbaiv  Mi-rkniaU' 


22b 


Die  Vereinigung  der  strangiorniigen  Idioplusiiiakörper  in  dem 
eben  angegebenen  Sinne,  nämlich  zu  verlängerten  Strängen  mit 
nahezu  gleichem  Querschnitt,  kann  nach  zweierlei  T}^pen  vor  sich 
gehen.  Der  eine  Typus  besteht  darin,  dass  sich  gemischte  Micell- 
reilien  bilden,  indem  die  mäinilichen  Idioplasmamicelle  alternirend 
zwischen  die  Micelle  der  weibhchen  Reihen  sich  einlagern.  Fig.  9 
a  und  b  stellen  eine  männliche  und  eine  weibliche  Anlage  in  der 
Längsansicht  dar;    c   zeigt   dieselben  nach  ihrer  Vereinigung.     Der 


Don 
ogU 

00 
DD 
ODU 


0 
0 


W«J      W/,^J     W.^jg      \llL^     ^/Ui..^ 


Fig.  9. 


SSG 


LJ 


r™~i  f"^ 


l J   l i    WJ   ^<uLJ  ^^■^^^^  '"'^J^ 

U  U  -""^  "^ 


G 

0 
0 


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□OQQOQI 

m%j    y--   _J  12  U 
LJ  LJ  LJ  kj  ^  S  B 


■moDOö 

W  LJ  \ä}  W  (üb3  ^^ 


Vorgang  kann  regelmässig  erfolgen,  wenn,  wie  in  den  gezeichneten 
Stücken,  die  männlichen  und  die  weiblichen  Idioplasmastränge  gleiclie 
Länge  besitzen.  Sind  sie  aber  ungleich  lang,  so  müssen,  statt  des 
regelmässigen  Alternirens  von  einzelnen  Micellen,  stellenweise  Paare 
des  längeren  Stranges  mit  einzelnen  Micellen  des  kürzeren  Stranges 
wechseln;  oder,  was  wohl  wahrscheinlicher  ist,  der  überschüssige 
Theil  des  längeren  Stranges  wird  ausgeschieden  und  in  Erniünanigs- 
plasma  umgewandelt. 

V.  Nägeli,  Abstammungslchru.  •  15 


226 


IV.  Anlatreii  und  sichtbare  ]\k'rkniale. 


liuloni  die  gemischten  Längsreihen  beim  ontogenetischen  Wachs- 
tlium  durch  Micelleinlagermig  sich  verlängern,  nehmen  die  sich  neu 
bildenden  Micelle,  wenn  Ungleichheit  zwischen  der  männlichen  und 
weiblichen  Anlage  besteht,  eine  mittlere  Beschaffenheit  an.  Da  die 
ontogenetische  Zunahme  des  Idioplasmas  ins  Tausend-  und  Millionen- 
fache geht,  so  besteht  die  gemischte  Anlage  im  entwickelten  Indi- 
viduum fast  ausschhesslich  aus  solchen  Micellen  von  mittlerer  Be- 
schaffenheit. Dieser  erste  Typus  der  Vereinigung  bringt  also  mittlere 
Anlagen  und  dem  entsprechend  auch  mittlere  entfaltete  Merkmale 
hervor ;  er  entspricht  dem  Vorgange ,  den  ich  als  Durchdringung 
der  Eigenschaften  bezeichnet  habe  (S.  214);  ein  Rückschlag  zu  dem 
unveränderten  väterlichen  oder  mütterlichen  Merkmal  ist  für  alle 
Zukunft  unmöglich.  Man  könnte  vermuthen,  dass  eine  solche  Durch- 
dringung für  den  Fall,  dass  die  Vereinigung  auf  materiellem  Wege 
geschieht,  immer  dann  eintrete,  wenn  die  Anlagen  des  männlichen 
und  weiblichen  Idioplasmas  vollkonmien  oder  naliezu  gleich  be- 
schaffen sind,  dass  sie  aber  bei  grösserer  Ungleichheit  der  Anlagen 
nur  ausnahmsweise  erfolge. 

Der  zweite  Typus  der  A'^ereinigung  besteht  darin,  dass  die  männ- 
lichen Micellreihen  sich  neben  die  unveränderten  weiblichen  Micell- 
reihen  einordnen,  so  dass  die  entstehende  Anlage  beispielsweise  eine 
der   in   Fig.  10  c  und  d   dargestellten   Längsansichten    zeigt,    wenn 


DOOOOO 
OOOODO 
000  000 
000000 


OiOaO       OÜQÜOG 
OIOSO       OGQOOO 

OtOlO       OOOODO 


Fig.  10. 


a  und  b   die   männliche   und  weibliche  Anlage  bedeuten.     Er  muss 
als   der    uewöhnliclie  Voruanu'    für    die   Vcreiniuunir    von    merklich 


TV.   Anla^^i-ii   nml   sicIitlmi-L'   .Mcikiuulc.  227 

uiigkdfhen  Anlagen  Ijetruclitet  werden,  wie  sie  vorzüglieli  lici  der 
Kreuzung  von  verschiedenen  Rassen ,  Varietäten  oder  Arten  vor- 
kommt. Da  aucli  bei  der  Kreuzung  die  grosse  Mehrzahl  der  elter- 
lichen Anlagen  sich  nicht  oder  niu"  wenig  von  einander  unterscheidet 
daher  dem  ersten  A^ereinigungstypus  folgt  und  eine  allgemeine  Zu- 
nahme der  Idioplasmastränge  auf  ungefähr  die  doppelte  Länge  be- 
dingt, so  müssen  die  wenigen  dem  zweiten  Typus  folgenden  Anlagen 
in  ihrer  Länge  sich  nach  der  allgemeinen  Zunahme  richten.  Dies 
kann  einmal  dadurch  geschehen,  dass  je  zwei  weibliche  Micellreihen 
durch  Wanderung  ihrer  Micelle  zu  einer  einzigen  Reihe  von  dopjjelter 
Länge  werden,  und  dass  ebenso  je  zwei  männliche  Micellreihen  sich 
als  eine  einzige  dopj^elt  längere  Reihe  einordnen,  w'obei  die  Reihen 
des  kürzeren  Idioplasmastranges  durch  Micellbildung  zur  Länge  der 
Reihen  des  längeren  Stranges  anwachsen  müssen.  Ein  solcher  V^or- 
gang  reducirt  die  Reihen  der  männlichen  und  diejenigen  der  weib- 
lichen Anlage  auf  die  Hälfte  ihrer  Zahl,  und  die  vereinigten  Anlagen 
haben  keinen  grösseren  Querschnitt  als  jede  der  elterlichen  Anlagen 
(Fig.  10).  Jede  Anlage  hat  dann  also  im  Kinde  bloss  die  Hälfte 
der  Stärke,  die  sie  in  den  Eltern  besass. 

Wenn  dies  auch  in  manchen  Fällen  mit  den  entfalteten  Merk- 
malen übereinstinmit,  so  entspricht  es  doch  offenbar  nicht  der  Sach- 
lage, wie  wir  sie  in  so  vielen  Kreuzungsproducten  voraussetzen 
müssen,  wo  einzelne  Anlagen  im  Kinde  sich  eben  so  stark  erw^eisen 
wie  im  Vater  oder  in  der  Mutter.  Um  diese  Bedingung  zu  erfüllen, 
muss  dann  angenommen  werden,  dass  die  eine  elterliche  Anlage 
ihre  Reihenzahl  behalte  und  durch  Einlagerung  von  Micellen  auf 
die  erforderliche  (im  allgemeinen  doppelte)  Länge  sich  ausdehne, 
indess  die  andere  elterliche  Anlage  entw^eder  ebenfalls  in  ihrer  un- 
veränderten Reihenzahl  sich  einordnet,  indem  sie  durch  Micellbildung 
sich  zu  gleicher  Länge  streckt,  oder  durch  Micell Wanderung  auf  eine 
verminderte  Zahl  von  Micellreihen  reducirt  wird. 

Die  eben  erwähnten  beiden  Arten  der  A'ereinigung,  in  denen 
sich  der  zweite  Typus  verwirklichen  kann,  —  wobei  die  väterliche  und 
die  mütterliche  Anlage  das  eine  Mal  auf  die  halbe  Stärke  beschränkt, 
das  andere  Mal  in  voller  Stärke  neben  einander  gelagert  werden,  — 
stellen  zwei  Extreme  dar,  zwischen  denen  alle  Zwischenstufen  möglich 
sind.  Es  können  nämlich  beide  Anlagen  mehr  oder  weniger  ge- 
schwächt werden,    oder   die   eine    kann    ihre   volle  Stärke   behalten, 

15* 


228  IV.  Anlagen  und  sichtljare  IMerknuile. 

wälirend  die  andere  geschwächt  wird.  —  Bei  dieser  dem  zweiten 
Typus  eigenthünihchen  Nebeneinanderordnung  der  väterHchen  und 
mütterHchen  Micelheihen  bewahrt  jede  derselben  ihr  besonderes 
Wachsthum  und  bleibt  bei  der  ontogenetischen  Vermehrung  unver- 
ändert, indem  sie  Micelle  von  ihrer  eigenen  Beschaffenheit  einlagert. 
Es  ist  noch  zu  bemerken,  dass  die  männlichen  und  die  weib- 
lichen Micellreihen  sich  in  verschiedener  AVeise  zu  einer  vereinigten 
Anlage  zusammen  ordnen  können.  Die  zwei  denkbaren  Extreme 
sind  in  Fig.  10,  c  und  d,  in  der  Längsansicht  dargestellt;  in  d 
liegen  die  beiden  Anlagen  getrennt  neben  einander,  in  c  sind  ihre 
Reihen  alternirend  mit  einander  gemengt.  Was  den  Querschnitt 
betrifft,  so  lassen  sich  für  die  beiden  Anlagen  alle  mögliche  Arten 
der  Configuration  denken.  Sind  dieselben  ungetheilt,  so  können 
sie  mit  gleichem  Umriss  aneinander  stossen,  oder  die  eine  kann 
die  andere  mehr  oder  weniger  umfassen.  Sind  sie  in  grössere  oder 
kleinere  Partien  aufgelöst,  so  können  diese  Partien  in  der  ver- 
schiedensten Weise  neben  einander  liegen.  —  Aus  der  ungleichen 
Anordnung,  sowie  aus  dem  Umstände,  dass  die  beiden  Anlagen  mit 
dem  umgebenden  Idioplasma  molecular-physiologisch  ungleich  zu- 
sammenstimmen, erklärt  sich  zur  Genüge  das  mannigfaltige  Ver- 
halten ,  das  wir  an  den  Merkmalen  der  Kreuzungsproducte  beob- 
achten (vgl.  S.  200  —  215). 


Nachdem  ich  gezeigt  habe,  wie  man  sich  die  materielle  Ver- 
mischung der  beiden  geschlechtlichen  ldio])lasmen  allenfalls  zu 
denken  liat,  wall  ich  im  Gegensatze  hierzu  untersuchen ,  wie  das 
Idioplasma  des  Kindes  durch  dynamische  Einwirkung  entstehen 
kann.  Soll  die  letztere  eintreten,  so  legen  sich  e])enfalls  in  Folge 
der  gegenseitigen  Anziehung,  die  als  Thatsache  zu  betrachten  ist, 
die  männlichen  und  weiblichen  Idioplasmakörper  an  einander  an. 
Aber,  statt  zu  zerfallen  und  sich  materiell  zu  durchdringen,  l^leiben 
sie  intact  und  wirken  bloss  gegenseitig  auf  das  Wachsthum  der 
einen  und  anderen  so  ein,  dass  dasselbe  zu  einer  mittleren  Bildung 
hinstrebt.  Die  Berührung  und  die  wechselseitige  Beeinflussung  dauert 
so  lange,  bis  in  Folge  des  Wachsthums  durch  Micelleinlagerung  die 
ursprünglich  ungleichen,  männlichen  und  weiblichen  Idioplasmakörper 
einander  ganz  gleich  geworden  sind ,  was  im  allergünstigsten  Falle 
schon   ])ei    einer    Zunahme    auf   die    doppelte  Länge   erreichbar   ist. 


IV.  Anlagen  und  sichtliare  Merlanale.  229 

Die  Unibildiiiig  der  Idioplasniakörper  erfolgt  entweder  dadurch, 
dass  die  einzelnen  Reihen ,  in  denen  eine  Ungleichheit  besteht, 
nach  und  nach  durch  Einlagerung  andersartiger  Micelle  sicli  um- 
formen, oder  dadurch,  dass  neue  Micellreihen  neben  die  vorhandenen 
Reihen,  welche  qualitativ  unverändert  bleiben  und  welche  durch 
Micellwanderung  in  ihrer  Zahl  mehr  oder  weniger  reducirt  werden 
können,  sich  einordnen.  Im  ersteren  Fall  gehen  aus  dem  Um- 
bildungsprocess  Micellreihen  und  Anlagen  hervor,  welche  die  Mitte 
halten  zwischen  den  männlichen  und  weiblichen  Reihen  und  An- 
lagen. Im  letzten  Falle  enthält  das  Idioplasma  des  Kindes  die 
väterlichen  und  mütterlichen  Micellreihen  und  Anlagen  in  unver- 
änderter Beschaffenheit  neben  einander.  Das  Resultat  ist  ganz  das 
nämliche  wie  dasjenige,  weichesauf  dem  Wege  materieller  Vermischung 
erzielt  wan^de,  so  dass  es  überflüssig  ist,  darauf  noch  weiter  einzutreten. 

Noch  ist  zu  bemerken,  dass  wdr  uns  die  Berührung  der  männ- 
lichen und  weiblichen  Idioplasmastränge  auf  zweierlei  Art  denken 
können.  Die  eine  Art  ist  die,  dass  sie  sich  der  Länge  nach  an  ein- 
ander legen,  und  dass  die  dynamische  Einwirkung  in  der  Quer- 
richtung statt  hat.  Hiebei  verändern  sich  entweder  der  weibliche 
und  der  männliche  Strang  gleichzeitig  und  werden  zuletzt  einander 
gleich,  so  dass  das  Idioj)lasma  des  befi'uchteten  Keimes  die  doppelte 
Strangzahl  besitzt.  Oder  es  verändert  sich  bloss  der  eine  Strang 
z.  ß.  der  weibliche,  indem  der  männliche  lediglich  die  Umbildung 
desselben  bis  zum  Schlüsse  beeinflusst  und  dann  in  Ernährungs- 
plasma sich  auflöst.  Die  andere  denkbare  Art  der  Vereinigung  ist 
die,  dass  die  männlichen  und  die  weiblichen  Stränge  sich  mit  den 
Enden  an  einander  legen,  und  dass  eine  gegenseitige  dynamische 
Einwirkung  in  der  Längsrichtung  erfolgt.  Da  die  beiden  Stränge 
eine  beinahe  gleiche  Querschnittsconfiguration  besitzen,  so  können 
sie  sich  so  gegeneinander  stellen,  dass  die  homologen  Anlagen  auf 
einander  treffen  und  demnach  unmittelbar  auf  einander  wirken.  Auch 
in  diesem  Falle  lässt  sich  denken,  dass  der  männliche  Strang  sich  in 
gleicher  Weise  umbilde  wie  der  weibliche,  oder  aber  dass  er  bloss 
die  Umwandlung  des  letzteren  veranlasse  und  dann  seine  eigene 
Idioj)lasmanatur  verhere. 

Die  beiden  Theorien  des  materiellen  oder  dynamischen  Vor- 
ganges bei  der  digenen  Bildung  des  kindlichen  Idioplasmas  umfassen 
alle  Möglichkeiten;  eine  von  ihnen  muss  die  richtige  sein.     Welche 


230  IV.  Aiila<i:en  un<l  sichtbare  Merkmale. 

aber  von  beiden  den  Vorzug  a^ erdiene,  bleibt  vorerst  nocb  eine 
offene  Frage.  Ich  habe  bereits  bei  einem  nahe  verwandten  Vor- 
gange, bei  der  Ausgleichung  des  während  der  Ontogenie  verschieden- 
artig umgewandelten  Idioplasmas  mich  für  den  dynamischen  Weg 
als  den  wahrscheinlicheren  ausgvesprochen  (S.  59).  Auch  bei  der 
Befruchtung  erscheint  mir  diese  Theorie  als  die  einfachere  und  an- 
nehmbarere, und  zwar  namentlich  auch  desswegen,  weil  die  Theorie 
der  materiellen  Vermischung  fast  eben  so  viel  dynamische  Einwir- 
kung verlangt  als  der  rein  dynamische  Weg  selber,  und  ausserdem 
genöthigt  ist,  noch  ein  neues  hypothetisches  Moment,  die  Wanderung 
der  gesammten  männlichen  Idioplasmamicelle,  anzunehmen. 

Ein  Argument  für  die  Befi'uchtung  auf  dynamischem  Wege 
finden  wir  auch  in  dem  eigenthümlichen  Vorgange  bei  der  geschlecht- 
lichen Fortpflanzung  der  Florideen,  wo  die  Zelle,  in  welcher  die 
durch  die  Befruchtung  angeregte  Zellbildung  beginnt,  um  einige 
Zellen  von  der  das  Spermatozoid  aufnehmenden  Trichogyne  entfernt 
ist.  Hier  muss  entweder  das  Idioplasma  des  Spermatozoids  durch 
die  Zellen  des  Trichophors  hindurch  wandern,  um  an  den  Ort  seiner 
Bestimmung  zu  gelangen.  Oder  es  müssen  die  Eigenschaften  des 
männlichen  Idioplasmas  durch  die  Idio})lasmastränge  der  zwischen- 
liegenden Zellen  auf  dynamischem  Wege  dem  Idioplasma  der  weib- 
lichen Zelle  mitgetheilt  werden,  in  gleicher  Weise  wie  wir  uns  vor- 
zustellen haben,  dass  die  erl)lichen  Eigenschaften,  die  eine  Wurzel 
gewinnt,  auf  das  Idioplasma  der  Fortpflanzungsorgane  vermittelst 
Erregung  übertragen  werden.  Der  Vorgang  bei  den  Florideen  deutet 
auch  darauf  hin,  dass,  wenn  die  Befruchtung  bei  den  Organismen 
überhaujit  auf  dynamischem  Wege  geschieht,  die  Leitung  eher  in  der 
Längsrichtung  als  in  der  Querrichtung  zu  denken  ist,  und  dass  daher 
die  männlichen  und  weiblichen  Idioplasmastränge  eher  sich  mit  ihren 
Enden  als  mit  den  Seiten  an  einander  legen  werden. 

Zu  den  gleichen  Erwägungen  füVirt  auch  die  Befruchtung  von 
Flechten  und  Pilzen,  und  möglicher  W^eise  selbst  die  Befruchtung 
der  Phanerogamen,  insofern  die  Zellen  im  Embryosack,  welche  von 
Strassburger  als  Gehülfinnen  bezeichnet  wurden,  das  Geschäft 
von  A^ermittlerinnen  zwischen  dem  Ende  des  Pollenschlauches  und 
der  Eizelle  übernehmen. 


V. 

Varietät,  Easse,  Ernährmigsmodification. 


Die  erblichen  Eigenschaften  der  Organismen  wurden  von  mir 
direct  (ohne  die  Mithilfe  der  Zuchtwahl)  aus  zwei  Ursachen  abge- 
leitet: aus  dem  .Vervollkommnungstrieb,  welcher  die  Configuration 
des  idioplasmatischen  Systems  beim  Wachsthum  durch  Einlagerung 
von  Micellen  und  Umlagerung  der  Micelle  stetig  aber  langsam  com- 
plicirter  macht,  und  den  äusseren  Einflüssen,  welche  dieser  Con- 
figuration ein  bestimmtes  Ge23räge  aufdrücken  und  ihrer  Umbildung- 
besondere  Richtungen  anweisen.  Die  erste  Ursache  bedingt  die 
Organisationsstufe ,  die  zw^eite  die  Anpassungen ;  damit  sind  im 
grossen  und  ganzen  die  Organismen  mit  ihren  Eigenschaften  ge- 
geben. 

Innerhall)  dieses  Rahmens  bewirkt  die  Kreuzung  nichts  weiter 
als  veränderte  Combinationen  untergeordneter  Anpassungsmerkmale, 
denn  sie  findet  nur  zwischen  nächst  verw^andten  Sippen  statt.  Da 
die  Kreuzung  vorzugsweise  der  Domestication  angehört  und  im  wdlden 
Zustande  nur  ausnahmsweise  vorkommt,  so  können  die  durch  sie 
hervorgebrachten  Merkmale,  die  von  eigenthümlicher  Beschaffenheit 
sind  und  im  allgemeinen  dem  wilden  Zustande  fehlen,  als  »abnor- 
male« bezeichnet  werden. 

Ausser  diesen  Kreuzungsmerkmalen  gibt  es  noch  eine  Gruppe 
Ijesonderer  Merkmale ,  die  ich  bis  jetzt  nicht  berücksichtigt  habe 
und  die  sich  ebenfalls  als  »abnormale«  darstellen.  Sie  verdienen 
eine  eigene  Besprechung,  nicht  w^eil  sie  bezüglich  der  Ursachen  eine 
Ausnahme  machten,  sondern  weil  sie  im  allgemeinen  niu-  imt<M'  den 


232  ^^-  Varietät,  Rasse,  Ernälirnngsmodifieation. 

Verhältnissen  der  Doniestication  vorkommen  und  weil  sie  zu  der 
bisherigen  Abstammungslehre  in  inniger  und  verhängnissvoller  Be- 
ziehung stehen. 

Bei  den  Culturj)flanzen  und  Hausthieren  bilden  sich  erbliche 
Abänderungen  aus,  die  den  Pflanzen  und  Thieren  im  wilden  Zu- 
stande fast  gänzlich  mangeln.  Dieselben  bestehen  in  Schwächungen 
gewisser  physiologischer  Processe,  in  krankhaften  Umbildungen  und 
Monstrositäten,  überhaupt  in  mehr  oder  weniger  abnormalen  Er- 
scheinungen. Bei  den  Pflanzen  sind  es  beispielsweise  gefüllte  Blüthen, 
anders  gebaute  (metamorphosirte)  Blüthen,  panaschirte  oder  krause 
oder  zerschlitzte  Laubblätter,  hängende  Zweige  (Trauerbäume),  auf- 
rechte Aeste  (Pyramidenbäume),  übermässig  verdickte  Stengel,  Wurzeln 
und  Früchte. 

Auch  diese  Merkmale  treten  zuerst  als  werdende  Anlagen  auf, 
die,  wenn  sie  fertig  gebildet  sind,  sich  entfalten  und  nachher  wieder 
für  längere  oder  kürzere  Zeit  latent  werden.  Der  erste  Entfaltungs- 
zustand zeigt  uns  entweder  das  vollendete  Merkmal  oder  nur  einen 
Anfang,  der  sich  durch  eine  Zahl  von  Generationen  bis  zur  voll- 
kommenen Höhe  steigert. 

Was  die  Ursachen  dieser  Anlagen  betrifft,  so  sind  sie  theils 
innere  theils  äussere  und  gehören  nach  meiner  Ansicht  zu  jener 
grossen  Kategorie  von  Ursachen,  von  denen  ich  bereits  früher  ge- 
sprochen habe ,  welche ,  überall  vorhanden ,  stets  kleine  Störungen 
veranlassen,  aber  meistens  durch  die  geschlechtliche  Kreuzung  un- 
schädlich gemacht  werden  (S.  205).  In  einzelnen  Fällen  aber  gehen 
die  Störungen  weiter,  indem  sie  entfaltungsfähige  Anlagen  in  merk- 
barer Weise  modificiren  oder  Anlagen,  die  sonst  latent  geblieben 
wären,  zur  Entwicklung  bringen.  Dies  geschieht  dadurch,  dass  sich 
eine  Micellgruppe  im  Idioplasma  in  abnormaler  Weise  umbildet,  sei 
es,  dass  die  einmal  bestehende  micellare  Anordnung  dazu  disponirt 
war,  sei  es,  dass  bei  einer  vorgängigen  Kreuzung  ungleiche  Systeme 
sich  unnatürlich  gemischt  haben,  oder  endlich  in  Folge  tief  ein- 
greifender äusserer  Einflüsse.  Meistens  werden  mehrere  dieser  Um- 
stände zusammentreffen,  und  sehr  oft  dürften  die  Kreuzungen,  die 
bei  den  Hausthieren  und  Culturpflanzen  fast  nie  mangeln,  den  Anfang 
der  Störung  und  der  abnormalen  Anlage  gebildet  haben. 

Der  Grund,  warum  die  al^normalen  Merkmale  fast  nur  im 
domcsticirton    Zustande   auftreten,    mag   einmal    i]i    der   ol)cn    angc- 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernährnngsmodification.  233 

führten  Thatsache  der  viel  häufigeren  und  viel  wirksameren  Kreuzung- 
Hegen.  Denn  bei  den  Pflanzen  und  Thieren  des  natürlichen  Zu- 
standes  bleibt  die  Kreuzung  im  allgemeinen  auf  die  Individuen  der- 
selben engen  Varietät  beschränkt;  selten  findet  geschlechtliche  Be- 
fruchtung zwischen  verschiedenen  A^arietäten  oder  Arten  statt,  indem 
dieselbe  im  ganzen  gewiss  nicht  den  mihionsten  Theil  aller  Befruch- 
tungen ausmacht. 

Ueberdem  ist  aber  ein  anderer  maassgebender  Umstand  vor- 
handen, der,  wenn  auch  die  Kreuzung  nicht  in  Betracht  gezogen 
wird,  für  sich  allein  die  Beschränkung  der  al)normalen  Merkmale  auf 
die  domesticirten  Organismen  erklären  würde.  Der  Mangel  der  Con- 
currenz  im  C^ulturzustande  gestattet,  dass  auch  Träger  unvortheil- 
hafter  und  nicht  existenzfähiger  Eigenschaften  Bestand  haben  und 
sich  vermehren,  während  dieselben  im  wilden  Zustande  sofort  be- 
seitigt werden  und  daher  keine  Nachkommen  hinterlassen. 

Ueber  die  Ursachen  der  in  der  Cultur  entstandenen  abnormalen 
Eigenschaften  hegt  Darw^in  eine  andere  Meinung.  Dieselben  werden 
als  die  Wirkung  minder  einförmiger  Lebensbedingungen  betrachtet. 
In  der  Natur  seien  die  Individuen  einer  und  derselben  Species  nahezu 
gleichförmigen  Umständen  ausgesetzt;  die  domesticirten  Producte 
dao-eo-en  seien  aus  ihren  natürlichen  Verhältnissen  und  oft  aus  ihrem 
Heimathlande  entfernt  worden,  werden  auch  häufig  von  District  zu 
District  geführt,  wo  sie  eine  verschiedene  Behandlung  erfahren.  In 
Uebereinstimmung  hiermit  stehe  die  grössere  A'ariation  der  <lomosti- 
cirten  Producte. 

Es  scheint  mir  dies  ein  Kreisschluss  zu  sein.  Die  grössere 
Variabilität  der  Pflanzen  und  Thiere  im  Culturzustande  wird  aus 
der  Mannigfaltigkeit  ihrer  Lebensbedingungen  erklärt;  aber  eigentlich 
wird  diese  Manni^- faltigkeit,  die  an  und  für  sich  sehr  fraglich  ist, 
nur  wegen  der  grösseren  Variabilität  angenommen.  AVenn  wir  die 
Verhältnisse  der  Cultur  nicht  bloss  in  Bausch  und  Bogen  nach  der 
Veränderlichkeit  der  Producte  beurtheilen,  sondern  eine  genauere 
Analyse  und  Vergleichung  mit  dem  wilden  Zustande  vornehmen,  so 
kommen  wir  sicher  auf  ein  ganz  anderes  Resultat. 

Für  die  Pflanzen,  und  ich  glaube  kaum,  dass  es  bezüglich  der 
Thiere  viel  anders  sein  sollte,  gilt  Folgendes.  Ein  Gewächs  in  C'ultur 
nehmen  heisst,  im  Gegensatz  zu  der  Annahme  Darwin's  und  seiner 
Öcliule,   AHchnehr,   dasselbe   aus   ^^elförnligen   unter  sehr  einförmige 


234  V.  Varietät,  Rasse,  Ernäbrnngsmodification. 

Umstände  versetzen.  Auf  den  verschiedenen  natürlichen  Standorten 
zeigt  die  Nahrung  nach  Mischung  und  Menge  alle  möglichen  Ab- 
stufungen von  derjenigen  Gunst,  welclie  die  Individuen  selbst  grösser 
und  üj^piger  werden  lässt  als  die  Cultur,  bis  zu  jener  Ungunst,  wo 
sie  zwerghaft  sich  gerade  noch  kümmerlich  zu  erhalten  vermögen. 
Auf  den  verschiedenen  natürlichen  Standorten  herrschen  ferner  be- 
züglich der  Feuchtigkeitsmenge,  der  Temperatur,  der  Beleuclitung, 
der  Luftströmungen  viel  grössere  Ungleichheiten  als  in  Garten  und 
Feld.  Endlich  sind  im  natürlichen  Zustande  die  Vergesellschaftung 
und  Concurrenz,  welche  auf  die  Abänderungen  so  energisch  ein- 
wirken sollen,  äusserst  mannigfaltig,  während  sie  in  der  Cultur 
wirkungslos  gemacht  wurden. 

Dem  entsprechend  variirt  eine  Pflanzenvarietät  auf  den  verschie- 
denen natürlichen  Standorten  wold  hundert  Mal  mehr  als  in  der 
Cultur,  soweit  es  sich  um  die  nicht  erblichen,  unmittelbar  durch 
die  äusseren  Einflüsse  verursachten  Merkmale  (Standorts-  oder  Er- 
nährungsmerkmale) handelt.  Wenn  nun  trotzdem  in  der  Cultur  die 
erblichen  Eigenschaften  mannigfaltiger  und  reichlicher  vorhanden 
sind,  so  müssen  wir  geradezu  schliessen,  dass  diese  Variationen  nicht 
als  der  reine  Ausdruck  der  äusseren  A'erhältnisse ,  sondern  aus  be- 
sonderen Umständen,  welche  die  C^ultur  vor  dem  natürlichen  Zustande 
voraus  hat,  zu  erklären  sind,  und  zwar,  wie  ich  bereits  ausgeführt  habe, 
aus  der  Kreuzung  verschiedener  Varietäten  und  Arten  und  aus  dem 
Mangel  an  Concurrenz.  Ich  werde  den  Unterschied  zwischen  natür- 
lichem und  domesticirtem  Zustande  in  der  Folge  noch  weiter  erläutern. 


Die  Ergebnisse,  zu  denen  die  Betrachtung  der  aus  der  Kreuzung 
und  den  übrigen  Einflüssen  der  Domestication  hervorgehenden 
»abnormalen«  Merkmale  geführt  liat,  veranlassen  mich  zu  einer 
Vergleichung  zweier  Kategorien  von  Sippen,  die  oft  mit  einander 
zusammengeworfen,  oft  auch  ziendich  richtig  auseinander  gehalten, 
aber  nocli  nie  ihrem  inneren  Wesen  nach  richtig  erkannt  wurden. 
Es  sind  die  Begrifle  Rasse  und  Varietät,  deren  Wesen  bestimmt 
wird  durch  die  Natur  ihrer  Merkmale  und  somit  eigentlich  durch 
die  Natur  ihres  Idioplasmas. 

Die  Rassen  gehören  der  Cultur,  die  Varietäten  dem  wilden 
Zustande  an,  wie  dies  ebenfalls  von  Darwin  festgehalten  wird, 
welclier,    um    den    Unterschied    nocli    besonders    hervorzuheben,    die 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernälinintjsmodifif'atinii.  235 

ersteren    auch    als    >^ domesticirte   Rassen«    den  letzteren   als  »natür- 
lichen Varietäten«  gegenüberstellt. 

Die  Rassen  bilden  sich  rasch  und  verlieren  sich  ebenso  ge- 
schwind; sie  dauern  nur  bei  Ausschluss  der  C^oncurrenz  und  oft 
auch  nur  bei  gehöriger  Pflege  durch  eine  Reihe  von  Generationen. 
Sie  sind  in  ihren  erblichen  Merkmalen  wenig  beständig,  werden 
durch  äussere  Einflüsse  leicht  verändert,  durch  Kreuzung  mit  anderen 
Rassen  vernichtet,  arten  selbst  bei  geschlechtliclier  Befruchtung  mit 
ihres  Gleichen  leicht  aus.  So  erzeugten  l^eispiels weise  nach  der 
Mittheilung  von  Darwin  in  216  Fällen,  wo  gleichfarbige  Pferde 
gepaart  wurden,   1 1  Paare  (also  5  Proc.)  Junge  mit  anderer  Färbung. 

Die  Varietäten  dagegen  entstehen  äusserst  langsam  und  haben 
eine  seculare  Dauer ;  sehr  viele  Arten  sind  nachweisbar  unter  den 
verschiedensten  äusseren  Umständen  und  in  ganz  ungleicher  ge- 
sellschaftlicher Umgebung  seit  der  Eiszeit  un^'erändert  geblieben 
oder  nur  so  äusserst  wenig  modificirt  worden,  dass  man  kaum  von 
der  leichtesten  Varietätenbildung  sprechen  kann.  Die  Varietäten, 
so  weit  sie  durch  äussere  Merkmale  erkennbar  sind,  beginnen  und 
bilden  sich  weiter  aus  trotz  der  Concurrenz  nächst  verwandter 
Formen,  mit  denen  sie  gemeinsam  vorkommen.  Sie  sind  in  ihren 
erblichen  Eigenschaften  ausserordentlich  Ijeständig  und  werden  durch 
die  wirksamsten  äusseren  Einflüsse  selbst  während  der  längsten  Zeit- 
räume nicht  verändert,  eljenso  nicht  durch  Kreuzung  mit  verwandten 
Varietäten  oder  Arten,  wie  dieselbe  in  der  freien  Natur  hin  und 
wieder  eintritt.  Die  \' arietäten  lassen  sich  erfahrungsgemäss  nicht 
von  den  wirklichen  Arten  unterscheiden,  und  wenn  wir  ihnen  eine 
geringere  Constanz  zuschreiben  als  diesen,  so  geschieht  dies,  weil 
die  Consequenz  der  Theorie  es  unabweislich  verlangt,  nicht  weil  es 
durch  bestimmte  Thatsachen  sich  beweisen  lässt. 

Diese  Darstellung  der  unterscheidenden  Merkmale  von  Rasse 
und  A^arietät  bedarf  einer  näheren  Begründung,  da  sie  von  den 
herrschenden  Ansichten  wesentlicli  al)weicht.  Was  die  Eigenthüm- 
lichkeiten  der  Rasse  betrifft,  so  bestellt  darüber  zwar  keine  Meinungs- 
verschiedenheit, da  die  vielen  \'ersuche,  die  wir  den  praktischen 
Thierzüchtern  verdanken,  und  die  Erfahrungen  der  Pflanzencultur 
darüber  hinreichend  Aufschluss  geben.  Anders  verhält  es  sich  mit 
den  Varietäten,  weil  man  dieselben  thatsächlich  gar  nicht  oder 
höchstens   aus  dürftigen  und    ungenügenden  Versuchen  kennt  und 


236  ^^-  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification. 

sie  daher  meistens  bloss  nach  oberfläehhchen  Beobachtungen  nnd 
vorgefassten  Meinungen  beurtheilt. 

Ziemhch  übereinstimmend  wird  die  A^arietät  als  wenig  constant 
betrachtet,  aber  aus  ganz  verschiedenen  Motiven.  Die  Darwinisten, 
welche  von  der  Beweglichkeit  und  A'^eränderlichkeit  der  Rasse  aus- 
gehen, sehen  in  der  Varietät  die  der  Rasse  analoge  Erscheinung 
des  wilden  Zustandes  und  schreiben  ihr  daher  eine  grosse  Ver- 
änderlichkeit zu.  Gründe  für  dieses  auf  blosser  Vernmthung  be- 
ruhende Verfahren  vermögen  sie  nicht  anzugeben.  Die  Art  ist 
ihnen  dann  begreiflicher  Weise,  als  fortgeschrittene  und  gefestigtere 
Varietät,  ebenfalls  noch  ziemlich  veränderlich. 

Die  Systematiker  der  alten  Schule  dagegen,  welche  die  Arten 
für  absolut  beständig  halten,  betrachten  die  Varietäten  innerhalb 
der  Art  als  das  einzig  A'^eränderliche  in  der  organischen  Welt.  Da 
aber  thatsächliche  Anhaltspunkte  für  dieses  A^erfahren  eljenfalls 
mangeln,  so  werden  die  Grenzen  zwischen  dem  vermeintlich  Be- 
harrenden und  dem  vermeintlich  allein  A^ergänglichen  nach  sub- 
jectivem  Gutfinden  oder  auch  ganz  willkürlich  gezogen. 

Die  Ursachen  der  unrichtigen  Ansichten  bezüghch  der  A^ arietäten 
beruhen  vorzüglich  in  der  A^erwechslung  von  Rasse  und  A^arietät, 
ferner  in  der  A^erwechslung  von  Standortsmodification  und  A'^arietät 
und  endlich  in  der  A'^erwechslung  von  zeitlicher  und  räumlicher 
Constanz,  resp.  A^eränderlichkeit ;  sie  entspringen  aus  dem  Mangel 
an  gründlichen  Beobachtungen  und  aus  dem  Alangel  an  genauen 
Culturversuchen.  Icli  werde  dies  im  folgenden  nacli weisen  und  dabei 
an  die  Ergebnisse  anknüpfen,  zu  denen  vorzüglich  langjähriges 
Beol)achten  und  Züchten  der  \delförmigsten  aller  Pflanzengattungen 
geführt  hat.  Bei  dem  fast  gänzlichen  Alangel  an  sicheren  Thatsachen, 
betreffend  die  wildwachsenden  Formen,  halte  ich  es  für  zweckmässig, 
etwas  einlässlicher  darüber  zu  berichten. 


Ich  hatte  mich  schon  in  den  Jahren  1840 — 1846  mit  der 
Abtheilung  Pilosclloiden  der  Gattung  Hieracium  beschäftigt  und 
den  A^ersuch  gemacht,  die  Formen  dersell)en  als  Stammarten  und 
Bastarde  zu  unterscheiden,  in  ähnlicher  Weise,  wie  es  für  die  Gattung 
Cirsium  geschehen  war.  Nachher  verlor  ich  zwar  diese  Pflanzen 
nicht   aus    den   Augen,    ohne    mich    jedoch    einlässlicher    damit  zu 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsinodilicatioii.  237 

beschäftigen.  Mit  dem  Jahr  1<S64,  als  die  Speciesfrage  durch  die 
Schriften  Darwin's  eine  brennende  wurde,  nahm  ich  das  Studium 
der  Gattung  Hieracium  wieder  auf,  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
die  Erscheinungen,  welche  über  die  Entstehmig  der  Varietäten  und 
Arten  Aufschluss  geben  könnten.  Von  1864 — 187G  brachte  ich  jeden 
Sommer  meistens  in  Begleitung  meines  Sohnes  einige  Monate  im 
Gebirge  zu,  ausschhesslich  mit  Beobachten  und  Sammeln  von 
Hiaracien  beschäftigt.  Zu  gleichem  Zweck  machte  seit  1876  Dr. 
A.  Peter  jährlich  einen  längeren  Gebirgsaufenthalt.  Unsere  Stationen 
befanden  sich  in  der  Alpenkette  vom  Wallis  bis  zum  Karst,  in  den 
Apenninen,  den  Seeal^ien  und  den  Gebirgen  von  Mähren,  Schlesien 
und  Galizien.  Ausserdem  wm^de  die  bayerische  Hochebene  bis  zum 
Frankenjura  und  bayerischen  Walde  durchforscht. 

Von  diesen  Reisen  wurden  eine  grosse  Menge  von  Formen 
tlieils  in  lebenden  Stöcken,  tlieils  durch  Samen  in  den  botanischen 
Garten  von  München  gebracht.  Gegenwärtig  befinden  sich  ca.  2500 
Nmnmern  der  Gattung  Hieracium  in  Cultur.  Im  ganzen  wmxlen 
ungefähr  4450  Nummern  ausgepflanzt  und  während  kürzerer  oder 
längerer  Zeit,  manche  während  5  bis  17  Jahren,  beobachtet,  theils 
am  gleichen  Stock,  theils  in  mehreren  durch  Aussaat  erhaltenen 
Generationen.  Von  den  kultivirten  Pflanzen  wurden  womöglich 
jedes  Jahr  ExennDlare  eingelegt  und  getrocknet,  um  dieselben  mit 
der  ursprünglichen  Pflanze  und  untereinander  zu  vergleichen.  Da 
dieser  A^ergleich  von  besonderer  Wichtigkeit  war,  so  wurden  die 
wilden  Pflanzen  im  Herbarium,  von  denen  Samen  ausgesäet  wurden, 
bezeichnet,  und  es  wurden  von  den  aus  dem  Gebirg  gebrachten 
Stöcken   die   blühenden  Stengel   eingelegt  und   ebenfalls  bezeichnet. 

Die  meisten  Arten  gedeihen  gut  im  Garten.  Davon  machen 
eine  Ausnahme  einige  Arten  der  höheren  Alpen,  wie  namentlich 
H.  glanduliferum,  H.  piliferum,  H.  albidum  und  H.  alpicola,  ferner 
auch  H.  alpinum  und  IL  glaciale,  dann  einige  südliche  und  östliche 
Arten,  wie  H.  echioides,  H.  stuppeum,  H.  barbatum,  indem  dieselben 
kümmerlich  wachsen  und  nach  einigen  Jahren  ausgehen ').  Mit  dem 
kränklichen  Befinden  können  auch  andere  Abweichungen  von  dem 


')  Von  H.  alljidum  gibt  es  eine  in  den  botanischen  Gärten  befindliche  Form, 
die  sich  gut  hält,  während  die  aus  den  iUpen  iniiwrtirten  Stöcke  und  Samen  stets 
ein  wenig  halt1>ares  Product  liefern. 


238  ^^-  Varietät,  Rasse,   Eriiälirungsinixlification. 

Verluilten  der  übrigen  kräftig  vegetirendeii  Arten  zusammentreten. 
Die  letzteren  stimmen  alle  in  den  Ergebnissen  der  Cnltur  überein, 
welche   sich  unter   folgende  Gesichtspunkte  zusammenfassen  lassen: 

I.  Die  möglichen  Veränderungen,  soweit  dieselben  unserer  Wahr- 
nelnnung  zugänglich  sind,  treten  schon  im  ersten  Cultm-jahr  ein 
und  sind  ganz  gleich,  ob  ein  ausgegral)ener  Stock  in  den  Garten 
verpflanzt  oder  Samen  ausgesäet  werden^).  Sie  sind  um  so  grösser, 
je  mehr  die  Ernährungsfähigkeit  des  natürlichen  Standortes  und  des 
Gartens  verschieden  ist.  Die  kleinen  Alpenhieracien  werden  gross, 
stark  verzweigt  und  reichblütig,  so  dass  man  sie  oft  kaum  wieder 
erkennt.  Versetzt  man  die  in  dieser  Weise  auf  dem  Gartenbeet  ver- 
änderten Pflanzen  auf  einen  mageren  Kiesboden,  so  erhält  man 
wieder  die  urs})rüngiichen  alpinen  Exemplare.  Diese  Veränderungen 
sind  also  nicht  er1)lich,  und  bestehen  bloss  in  einem  kümmerlichen 
oder  üppigen  AVachsthum.  Sie  bewegen  sich  innerhalb  der  onto- 
genetischen  Elasticitätsgrenze  und  bedingen  die  Standorts-  oder 
Ernährungsmerkmale . 

II.  Die  Merkmale,  wodurch  sich  zwei  auf  dem  nämlichen  Stand- 
orte wachsende  Arten  oder  Varietäten  unterscheiden,  bleiben  im 
Culturzustande  durchaus  constant,  so  dass  also  die  üppig  und  gross 
gewordenen  Alpenpflanzen  die  nämlichen  charakteristischen  Unter- 
scheidungsmerkmale zeigen,  wde  die  kleinen  Pflanzen,  von  denen 
sie  herstammen.  Man  könnte  erwarten  und  es  würde  den  herr- 
schenden Ansichten  entsprechen,  dass  bei  einem  so  eingreifenden 
Wechsel  der  Ernährungs-  und  der  klimatischen  Einflüsse,  wie  er 
beim  Verpflanzen  aus  den  Alpen  oder  dem  Norden,  aus  Italien  oder 
Ungarn  in  den  Münchner  Garten  eintreten  muss,  kleine  Verschieden- 
heiten verschwinden  oder  entstehen  möchten.  Dies  ist  nicht  der 
Fall;  auch  die  geringsten  erbliclien  Merkmale  erweisen  sich  als 
beständig. 

Für  diese  Beständigkeit  innerhalb  einer  fast  unendlichen  Viel- 
förmigkeit  finden  wir  die  besten  ßew^eise  in  den  Ergebnissen  einer 
systematischen  Bearbeitung,  welche  ich  begonnen  hatte  und  die 
von  Dr.  Peter  seit  7  Jahren  fortgesetzt  und  in  der  einen  Gattungs- 


1)  Um  vollständige  (fciwissheit  zu  erhalten,  habe  ich  mehrmals  eine  i'llanze 
aus  dem  Gebirg  lebend  in  den  Garten  versetzt  und  zugleich  Samen,  die  von  der 
nämlichen  T'Hanze  abgenommen  worden,  ausgesäet. 


V.  Viirit'tat,  Russe,  EnialinuigsniDdilication.  2oV* 

al)tlieiliing  beendigt  wurde.  Von  der  Section  der  Piloselloideu  allein, 
Avelche  Grisebticli  in  25  Arten  und  12  Varietäten,  Fries  in  42  Arten 
getlieilt  hatte,  sind  jetzt  2800  untersclieidbare  ^^Q'ietäten  bekannt, 
-welche  alle  nach  den  Culturresultaten,  die  ein  Theil  derselben  ergel>en 
hat,  als  durchaus  constant  betrachtet  werden  müssen. 

Aus  den  beiden  unter  I  und  II  angeführten  Thatsachen  geht 
einmal  klar  hervor,  dass  man  die  Verschiedenheiten  zweier  Arten  oder 
Varietäten  nur  dann  richtig  berurtheilen  kann,  wenn  sie  entweder 
unter  ganz  gleichen  Ernährungs-  und  klimatischen  Einflüssen,  also 
auf  dem  gleichen  Standorte  vorkommen,  oder  wenn  man  sie  auf 
den  gleichen  Standort  verpflanzt  liat.  Als  passendster  gemeinsamer 
Standort  ist  aber  der  Garten  zu  betrachten,  weil  er  einen  mittleren, 
gleichsam  neutralen  Charakter  hat  und  die  Pflanzen  vor  der  Con- 
currenz  schützt.  —  Wenn  zwei  Pflanzen  neben  einander  wachsen, 
so  sind  die  durcli  verschiedene  Ernährung  und  verschiedenes  Klima 
bedingten,  veränderlichen  Merkmale  gleichgemacht  und  die  übrig- 
bleibenden Verschiedenheiten  müssen  erbliche  sein.  Vergleicht  man 
aber  Pflanzen  von  verschiedenen  Standorten  und  aus  verschiedenen 
Gegenden  mit  einander,  so  läuft  man  Gefahr,  Ernährungsverschie- 
denheiten als  erbliche  zu  betrachten,  und  man  kann  dieser  Gefahr , 
wenn  die  Cultur  nicht  ausführbar  ist,  nur  dann  entgehen,  wenn 
man  sich  durch  die  Cultur  verwandter  Pflanzen  ein  Urtheil  bilden 
konnte,  was  hier  erblich  und  was  veränderlich  ist.  Ich  finde  mich 
zu  dieser  Bemerkung  besonders  deswegen  veranlasst,  weil  bei  der 
herrschenden  und  gewiss  gerechtfertigten  Neigung  der  Systematik, 
immer  mehr  Formen  zu  unterscheiden,  es  auch  immer  häufiger  vor- 
kommt, dass  man  nicht  constante  Standorts  -  oder  Ernährungsmerk- 
male irrthümhcher  Weise  in  die  Diagnosen  aufnimmt  und  zur  Unter- 
scheidung benützt. 

Aus  den  Beobachtungen  an  der  Gattung  Hieracium  ergibt  sich 
ferner  auf  das  deutlichste,  dass  man  strenge  zwischen  Einförmigkeit 
und  Constanz  unterscheiden  muss,  und  eljenso  zwischen  Vielförmig- 
keit  und  Veränderlichkeit.  Es  sind  dies  Begriffe,  die  stets  von  den 
Systematikern  verwechselt  werden.  Eine  Sippe  mit  zahlreichen 
Formen,  besonders  wenn  diese  in  einander  übergehen,  heisst  variabel, 
und  ein  Merkmal,  das  sich  allmählich  abstuft,  wird  ebenfalls  als 
ein  veränderliches  bezeichnet ;  man  sollte  aber  in  diesen  Fällen  bloss 
von  Vielförmigkeit   sprechen.     Die  Beobachtung   und   Vergleichung 


240  ^^-  Varietät,  Rasse,  Ernahruugsmodificatioii. 

vieler  gleichzeitiger  Individuen  gibt  ja  nur  über  die  räumliche 
Beständigkeit,  um  mich  dieses  Ausdrucks  zu  bedienen,  nicht  über 
die  eigenthche  oder  zeitliche  Constanz  Aufschluss. 

Man  kann  zwischen  manchen  Hieracienarten  aus  Exemplaren 
verschiedener  Standorte  eine  ununterbrochene  Reihe  herstellen,  so 
dass  man  von  einem  gleitenden  Uebergang  von  der  einen  zur  andern 
Art  sprechen  darf.  Man  hat  aber  Unrecht,  dies  als  ^'eränderhcllkeit 
zu  bezeichnen,  denn  Jedes  einzelne  Glied  der  Reihe  bringt  eine  ganz 
o-leiche  Nachkommenschaft  hervor  und  verhält  sich  bei  der  Fort- 
Pflanzung  durch  eine  Reihe  von  Generationen  ebenso  constant  als 
eine  Pflanzenart,  die  durch  keine  Uebergangsglieder  mit  anderen 
Arten  zusammenhängt.  Die  Gattung  Hieracium  ist  offenbar  die 
vielförmigste  aller  Pflanzengattungen;  aber  wir  haben  keinen  Grund, 
ihr  eine  grössere  (zeitliche)  Veränderlichkeit  zuzuschreiben  als  anderen 
Pflanzen.  Desgleichen  scheinen  die  Gattungen  Rubus  und  Rosa 
wohl  vielförmig,  aber  nicht  variabel  zu  sein. 

Was  von  der  ganzen  Pflanze,  gilt  auch  von  jeder  einzelnen 
Eigenschaft.  Ein  Merkmal,  das  in  allen  Individuen  einer  Varietät 
oder  einer  Art  sich  ganz  gleich  verhält,  darf  deswegen  noch  nicht 
auch  als  wirklich  constant  betrachtet  werden.  Die  Uebereinstimmung 
kann  ja  daher  rühren,  dass  die  Ernährungseinflüsse  die  nämlichen 
sind;  das  angebhch  constante  Merkmal  würde  sich  dann  unter 
anderen  Einflüssen  verändern.  Es  wäre  zweckmässig,  der  räumhchen 
Constanz  eine  besondere  Bezeichnung  zu  geben  und  sie  etwa  »Per- 
manenz« zu  nennen.  Der  Systematiker,  der  nicht  im  Falle  war, 
seine  Pflanzen  hinreichend  durch  die  Cultur  zu  prüfen,  weiss  in 
der  Regel  nur,  ob  die  Merkmale  mehr  oder  weniger  permanent  sind. 
Manchmal  zwar  wird  die  Permanenz  auch  der  Constanz  entsprechen ; 
sehr  häufig  aber  wird  dies  nicht  der  Fall  sein.  Immerhin  wäre  die 
Unterscheidung  schon  im  Interesse  des  besseren  Verständnisses 
wünschbar,  indem  man  beim  jetzigen  Sprachgebrauch  nicht  weiss,  ob 
ein  constant  genanntes  Merkmal  sich  bei  der  Fortpflanzung  unter  ver- 
schiedenen Umständen  als  erblich  erweist,  oder  ob  es  nur  bei  allen 
beobachteten  Individuen  unverändert,  also  permanent  gefunden  wurde. 

Die  Cultur  der  Hieracien  hat,  wie  ich  zeigte,  das  Ergebniss 
geliefert,  dass  die  Ernährungs-  oder  Standortsmodificationen  nicht 
die  geringste  Constanz   erlangen,    auch    wenn  dieselben  durch  noch 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernälirungsmodification.  241 

SO  lange  Zeiträume  gleich  geblieben  sind.  Kleine  einköpfige  Alpen- 
pflanzen nehmen  im  Garten  schon  während  des  ersten  Sonnners 
den  Habitus  der  Ebenenpflanzen  an  und  werden  gross,  verzweigt 
und  vielköpfig,  während  ihre  erblichen  Merkmale  sich  ganz  unver- 
ändert erhalten.  Dies  gilt  niclit  bloss  für  morphologische  Charaktere, 
deren  man  sich  gewöhnlich  bei  der  Vergleichung  bedient,  sondern 
auch  für  physiologische  und  biologische  Eigenschaften.  Ich  will 
noch  die  Ergebnisse  bezüglich  einer  der  letzteren  mittheilen,  weil 
hier  eine  viel  grössere  Genauigkeit  möglich  ist  als  bei  Merkmalen 
der  Gestaltung. 

Die  Blüthezeit  ist  ein  leicht  zu  beobachtendes  Merkmal,  das 
auch  als  sehr  constant  zur  Charakteristik  einzelner  Pflanzenarten 
benutzt  wird.  Es  war  von  Interesse  zu  erfahren,  wie  sich  die  zahl- 
reichen, neben  einander  cultivirten  Hieracienformen  in  dieser  Be- 
ziehung verhalten,  ob  und  welche  constante  A'^erschiedenheiten  sie 
zeigen,  und  ob  ein  langer  Aufenthalt  auf  Standorten,  die  eine  frühe 
oder  eine  sj^äte  Blüthezeit  bedingen,  irgend  eine  dauernde  Veränderung 
zurückgelassen  habe.  Es  wurde  daher  seit  dem  Frühjahr  1869 
jährlich  an  allen  Sätzen  des  Gartens  das  Aufblühen  notirt. 

Bezüglich  der  letzten  Frage  war  die  einstimmige  Antwort  aller 
Varietäten  und  Arten,  dass  die  äusseren  Einflüsse,  die  während 
einer  säcularen  Dauer  auf  die  Pflanzen  einwirken,  und  eine  eben 
so  lange  Gewohnheit,  frühe  oder  spät  zu  blühen,  bedingen,  keine 
erbliche  Veränderung  hervorbringen.  Die  gleichen  Varietäten,  die 
im  Hochgebirg  einen  Monat  später,  im  Süden  fast  einen  Monat 
früher  blühen  als  in  der  bayerischen  Ebene,  gelangen,  nachdem  sie 
von  diesen  drei  verschiedenen  Standorten  in  den  Garten  gebracht 
wurden,  am  nämlichen  Tage  zur  Blütlie.  Dies  gilt  für  alle  kleineren 
liieracien.  - —  Von  den  hoch"  'üchsigsten,  als  Accipitrinen  bezeichneten 
Sij^pen  blühen  die  an  der  mittelländischen  Küste  auf  trockenen  und 
heissen  Standorten  lebenden  in  ihrer  Heimath  erst  im  Herbst,  etwa 
4  Wochen  später  auf  als  die  ihnen  verwandten  Formen  in  unserer 
Gegend ;  in  den  Garten  verpflanzt  entwickeln  sie  ihre  Blüthen  zu 
gleicher  Zeit  mit  unseren  Accipitrinen^).  Ebenso  blüht  das  aus 
Dalmatien  in  mehreren  Stöcken  in  den  Münchener  Garten  gebrachte 
H.  stuppeum,   das   auf  dem  heissen  felsigen  Boden  seiner  Heimath 


^)  Hiervon  inaclien  unter  vielen  Sätzen  nur  zwei  eine  Ausnahme. 
V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  IQ 


242  ^-  Varietät,  Rasse,  Ernähningsmocliflcation. 

erst  Ende  Septem lier  zur  Blüthe  gelangt,  bei  uns  schon  6  Wochen 
früher  und  stellt  sich  damit  seinen  Verwandten  ziemlich  gleich. 

Versuche,  die  einen  gleichen  Zweck  verfolgten,  hat  A.  de  Can- 
d olle  im  Jahre  1872  veröffentlicht^).  Derselbe  säete  Samen  der  näm- 
lichen Arten  aus  verschiedenen  Gegenden  Europas  aus  und  beob- 
achtete die  Zeit  des  Keimens  und  Blühens.  Er  glaubte  daraus  auf 
Verschiedenheiten,  die  oft  erblich  seien,  schliessen  zu  dürfen,  welche 
die  Pflanzen  an  ihren  verschiedenen  Wohnorten  erlangt  hätten. 
Seitdem  sind  auch  andere  ähnliche  Versuche  bekannt  gemacht  worden. 

Der  Grund,  warum  die  Experimente  de  C and  olle 's  Ver- 
schiedenheiten zwischen  den  Samen  aus  verschiedenen  Gegenden 
und  somit  einen  Einfluss  des  Wohnortes,  also  ein  abweichendes 
Resultat  von  den  Beobachtungen  an  den  Hieracien,  ergeben  haben, 
ist  nicht  etwa  darin  zu  suchen,  class  verschiedene  Pflanzen  sich 
ungleich  verhalten,  sondern  eher  in  der  Mangelhaftigkeit  der  Frage- 
stellung und  Ausführung  bei  jenen  Versuchen.  Wenn  Samen  der 
nämlichen  Pflanzenart,  beispielsweise,  wie  es  geschehen  ist,  solche, 
die  in  Moskau,  Edinburg,  Montpellier  und  Palermo  von  wild- 
wachsenden Pflanzen  gesammelt  worden,  mit  einander  ausgesäet 
werden,  so  wird  die  Zeit  des  Keimens  und  Blühens  nicht  von  einer, 
sondern  von  mehreren  Ursachen  bedingt.  Das  Ergebniss  ist  daher 
vieldeutig,  und  wenn  jene  Ursachen  nicht  durch  Elimination  auf 
eine  einzige  reducirt  werden,  so  müssen  die  ^^ersuche  stets  ungleich 
und  zweifelhaft  ausfallen. 

Die  Ursachen,  welche  auf  das  Resultat  Einfluss  haben,  sind 
vorzüglich  dreierlei.  1.  Die  Pflanzen  einer  Art,  die  in  einer  Gegend 
oder  in  verschiedenen  Gegenden  wachsen,  können  verschiedenen, 
mor23hologisch  vielleicht  nur  schwer  erkennl)aren,  Varietäten  ange- 
hören. Man  muss  sich  daher  vor  allem  und  durch  die  geeigneten 
Mittel  davon  überzeugen,  wie  es  sich  in  dieser  Beziehung  verhält. 
Es  ist  möglich,  dass  in  einer  Gegend  zwei  Varietäten  vorkommen 
und  in  einer  anderen  Gegend  nur  eine  derselben,  und  dass  man, 
wenn  einem  der  Zufall  die  ungleichen  Varietäten  in  die  Hand  spielt, 
die  Verschiedenheit  mit  Unrecht  auf  Rechnung  der  Gegend  setzt  ^). 


')  Arch.  des  sc.  de  la  bil)l.  nniv.    Juin  1872. 

2)  Bezüslieli  der  Tlicracien  fällt  dieser  Einwurf  schon  deswegen  hinw^eg,  w^eil 
die  Blütliezeit  von  Formen  verschiedener  Herkunft,  wenn  sie  sicli  unter  gleichen 


V.  Varietät,  Rasse,  Emährungsmodification.  243 

2.  Die  Samen,  die  in  dem  nämlichen  Jahre  in  verschiedenen  Gegenden 
Europas  gesammelt  werden,  haben  sich  unter  Witterungseinflüssen 
von  ungleicher  Gunst  gebildet.  Es  ist  möglich,  dass  in  dem  einen 
Jahr  die  Moskauer,  in  einem  anderen  Jahr  die  Palermitaner  Samen 
im  Vortheil  sind.  Man  muss  also  die  Versuche  durch  eine  Reihe 
von  Jahren  wiederholen.  3.  Die  Auspflanzungen,  die  neben  einander 
auf  einem  Pflanzenbeet  oder  in  Töpfen  bewerkstelligt  werden,  sind 
häufig  nicht  strenge  vergleichbar,  weil  die  chemische  und  phj'sika- 
lische  Beschaffenheit  des  Bodens  oder  die  Befeuchtung  desselben 
etwas  ungleich  ausfallen.  Säet  man  Samen  vom  gleichen  Stock, 
selbst  aus  der  gleichen  Blüthe,  anscheinend  unter  ganz  gleichen 
Verhältnissen  aus,  so  erhält  man  bezüglich  der  Zeit  des  Keimens 
und  Blühens  oft  Abweichungen  von  einigen  Tagen.  Vergleichende 
Versuche  haben  daher  nur  dann  Werth,  wenn  jede  Samenart  nicht 
ein  Mal,  sondern  ein  Dutzend  Mal  ausgesäet  wird,  um  ein  Durch- 
schnittsverhalten zu  bekommen. 

Aus  diesen  kritischen  Bemerkungen  geht  deutlich  hervor,  dass 
die  Aussaaten,  die  bis  jezt  gemacht  wurden,  resultatlos  bleiben 
mussten.  Um  zu  sicheren  Ergebnissen  zu  gelangen,  sind  die  Ver- 
suche mit  anderen  Methoden  und  in  einem  viel  umfassenderen 
IMaassstabe  auszuführen.  Da  es  sich  dabei  besonders  auch  um  die 
Frage  handelt,  ob  allfällige  Verschiedenheiten  erblich  sind,  so  müssen 
endlich  die  Aussaaten  durch  eine  Reihe  von  Generationen  an  dem 
nämlichen  Orte  fortgesetzt  werden. 

Ich  bin  auf  diese  Versuche  von  A.  de  Candolle  näher  ein- 
getreten, weil  durch  dieselben  die  so  häufig  ohne  Begründung  be- 
haujjtete  Einwirkung  der  Ernährung  und  des  Klimas  auf  die  Varietäten- 
bildung in  anscheinend  exacter  Weise  ermittelt  werden  soll,  und 
weil  es  für  die  Theorie  der  Abstammung  von  so  grosser  Wichtigkeit 
ist,  diejenigen  äusseren  Einflüsse,  welche  den  Organismen  bloss 
Kraft  und  Stoff  für  die  phj'^siologische  Arbeit  zuführen,  und  welche 
die  Standortsmodi ficationen  verursachen,  von  denjenigen,  welche  als 
Reize  wirken  und  dauernde  Veränderungen  hervorzubringen  im 
Stande  sind,  zu  scheiden. 


klimatischen  Einflü8seu  befinden,  übereinstimmt  und  es  sich  also  nicht  um  die 
ErkläruniT  von  Abweichungen  handelt.  TJebrigens  ist  tlie  kritische  Prüfung  der 
Formen  nach  allen  Eichtungen  hin  ausgeführt  worden. 

16* 


244  V-  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification. 

Die  Gültigkeit  der  an  den  Hieracien  gewonnenen  Resultate  wird 
durch  die  übergrosse  Zahl  von  übereinstimmenden  Beobachtungen 
über  jeden  Zweifel  erhoben.  Wäln^end  13  Jahren  wurden  mehr  als 
16000  Aufzeichnungen  gemacht.  Es  ist  besonders  auffallend,  wie 
die  meisten  Piloselloiden  (eine  Ausnahme  machen  namentlich  die 
grösseren  Formen  mit  beblättertem  Stengel,  die  entschieden  später 
blühen)  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Herkunft,  nordische,  südliche, 
alpine  und  campestre,  gleichzeitig  ihre  Blüthen  öffnen.  Die  Alpen- 
bewohner, die  in  ihrer  Heimath  gleichzeitig,  aber  je  nach  der  Meeres- 
höhe 3  bis  5  Wochen  später  aufblühen  als  ihre  A^er wandten  der 
Ebene,  verhalten  sich  in  der  Ebene  genau  wie  diese  letzteren.  Dies 
ist  um  so  bemerkenswerther,  als  einige  von  den  Alj)enbewohnern  (wie 
H.  Hoppeanum)  nicht  nur  seit  der  Eiszeit  sondern  viel  länger  unter 
einem  Alpenklima  gelebt,  und  ebenso  einige  von  den  Bewohnern 
der  Ebene  (wie  H.  collinum)  die  Einwirkung  des  Ebenenklimas 
schon  seit  einer  voreiszeitlichen  Ej)oche  erfahren  haben.  Es  sind 
das  nämlich  einerseits  diejenigen  Arten,  die  ausschliesslich  den 
Alpen  angehören  und  während  der  Eiszeit  in  der  Ebene  lebten, 
andererseits  diejenigen,  die  nur  in  der  Ebene  fortkommen  und  nach 
der  Eiszeit  aus  dem  Osten  eingewandert  sind. 

Bei  diesen  Beobachtungen  an  den  Hieracien  zeigte  sich  auf 
das  deutlichste,  wie  wichtig  es  ist,  dieselben  an  einer  grösseren 
Zahl  von  Sätzen  anzustellen  und  durch  eine  Reihe  von  Jahren  fort- 
zusetzen. Einige  wenige  Beobachtungen  geben  immer  ein  unsicheres 
Resultat,  indem  nicht  mir  die  äusseren  Umstände,  sondern  auch 
das  von  unbekannten  Ursachen  abhängige  Wohlbefinden  der  Pflanzen 
einen  merkbaren  Einfluss  ausübt.  Man  versteht  leicht,  dass  ein 
etwas  schattigerer  Standort,  das  spätere  Wegschmelzen  der  Schneedecke, 
ein  etwas  feuchterer  Boden  die  Blüthezeit  um  Tage,  selbst  um  eine 
Woche  verzögert.  Aber  es  kommt  stets  vor,  dass,  obgleich  ein 
Unterschied  in  den  äusseren  Umständen  nicht  wahrnehmbar  ist, 
die  unmittelbar  nebeneinander  befindlichen  Pflanzen  sich  doch  etwas 
ungleich  verhalten.  Man  theilt  beispielsweise  einen  Satz  von  Hieracien 
in  zwei  Sätze,  die  bloss  einen  Meter  von  einander  entfernt  sind,  und 
dennoch  blüht  zuweilen  der  eine  etwas  früher  als  der  andere.  Dass 
diese  Verschiedenheit  nicht  constant  ist,  sondern  nur  von  unbe- 
kanntem Wohlbefinden  abhängt,  geht  daraus  hervor,  dass  in  einem 
andern  Jahr   das  Verhältniss    sich  umkehrt  und  dass  der  Satz,   der 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification.  245 

in  einem  vorhergehenden  Juln*  um  einige  Tage  früher  blühte,  jetzt 
um  einige  Tage  später  blülit.  Ein  ähnhches  wechselndes  Verhalten 
zeigen  nun  auch  die  Scätze  von  verschiedenem  Ursprung ;  bald  ist  der 
eine,  bald  der  andere  der  geförderte,  bei  einem  Durchschnitt  von  8 
und  mehr  Jahren  aber  verschwinden  die  Verschiedenheiten  gänzlich. 
Eine  solche  Uebereinstimmung  besteht  aber  nur  zwischen  den 
Pflanzen,  die  sich  in  voller  '\^egetationskraft  befinden.  Man  muss 
sich  wohl  hüten,  nicht  solche  von  ungleicher  Vegetation  mit  einander 
zu  vergleichen.  Es  gibt  immer  einzelne  Stöcke,  oft  auch  ganze  Sätze, 
die  mehr  oder  weniger  leidend  sind,  nicht  kräftig  sich  entwickeln 
und  die  auch  zu  anderer  Zeit  blühen.  Man  unterscheidet  solche 
Stöcke  und  Sätze  leicht  an  der  Farbe,  Grösse  und  Zahl  der  Laub- 
blätter, sowie  an  dem  schwächlichen  Wuchs.  Hieracien,  die  sich  in 
diesem  abnormalen  Zustande  befinden,  blühen  später,  wenn  es 
kleinere  Arten  mit  Blattrosette  und  schaftartigem  Stengel  sind, 
früher,  wenn  es  grössere  Arten  mit  beblättertem  Stengel  sind,  wobei 
dann  der  Stengel  kürzer  oder  spärlicher  beblättert  wird. 


Die  Beobachtung  an  den  Hieracien  ergibt  unzweifelhaft,  dass 
erbliche,  sowohl  morphologische  als  physiologische  Eigenschaften 
durch  ein  noch  so  langes  Verweilen  unter  besondern  klimatischen 
und  Ernährungseinflüssen  nicht  geändert  werden.  Die  Accommodation 
an  die  äusseren  Umstände  dauert  nur  so  lange,  als  diese  vor- 
handen sind.  Werden  die  äusseren  Umstände  andere,  so  verändert 
sich  auch  die  Accommodation,  und  von  einer  Gewohnheit,  welche  die 
Dauer  einer  Erdperiode  hatte,  bleibt  nichts  zurück.  Die  Hieracien, 
die  in  Cultur  genommen  werden,  besitzen  noch  die  Natur  der  wilden 
Pflanzen  und  offenbaren  uns  das  Verhalten  der  natürlichen  Varie- 
täten. Es  unterliegt  aber  keinem  Zweifel,  dass,  wenn  ihre  Cultur 
ein  praktisches  Interesse  gewähren  und  durch  lange  Zeiträume  fort- 
gesetzt würde,  sie  in  den  nämlichen  Zustand  gelangen  müssten,  wie 
die  übrigen  domesticirten  Pflanzenarten.  Durch  reichliche  Kreuzung 
und  durch  das  Aufhören  der  Concurrenz  würden  variable  Rassen- 
merkmale entstehen,  und  auch  die  Blüthezeit,  die  jetzt  in  den  natür- 
lichen Varietäten  eine  so  zähe  Constanz  zeigt,  könnte  dann  zu  einer 
leicht  veränderlichen  Grösse  werden.  Dies  beweist  uns,  dass  bei 
Beobachtungen  über  die  Beständigkeit  der  Eigcnscliaften  eines  Orga- 


246  ^-  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification. 

iiismus  vor  allem  festzustellen  ist,  ob  er  sich  noch  in  dem  natür- 
lichen Zustand  befinde,  oder  ob  er  eine  mehr  oder  weniger  lange 
Culturperiode  durchgemacht  habe. 

Der  Unterschied  zwischen  Varietät  und  Rasse,  die  Einförmigkeit 
und  Beständigkeit  der  ersteren,  die  Vielförmigkeit  und  Unbeständig- 
keit der  letzteren,  kann  nur  begriffen  werden,  wenn  man  auf  die 
Ursachen  dieser  Erscheinungen  eingeht.  Die  Meinungen,  die  man 
darüber  ausgesprochen  hat,  betreffen  entweder  Nebenumstände  oder 
sind  auch  ganz  ungegründet,  wie  ich  dies  bezüglich  der  vermeint- 
lichen Einförmigkeit  der  LelDcnsbedingungen  im  Naturzustande  und 
ihrer  vermeintlichen  Vielförmigkeit  in  der  Domestication  ausgeführt 
habe  (S.  233).  Der  Schlüssel  zu  dem  Räthsel  findet  sich  lediglich  in 
dem  Umstände,  dass  die  Rassen,  im  Gegensatze  zu  den  Varietäten, 
entweder  das  Product  vielfacher  vorausgehender  Kreuzung  oder  un- 
gehemmter und  geschützter  Entwicklung  von  Störungen  im  normalen 
Lebensprocess  sind. 

Es  gibt  wohl  keine  Culturpflanze  und  kein  Hausthier  mit  vielen 
Rassen,  welches  nicht  von  zwei  oder  mehreren  wilden  Arten  ab- 
stammte und  bei  welchem  nicht  die  Kreuzung  so  erfolgreich  gewesen 
wäre,  dass  die  Grenze  zwischen  jenen  Arten  vollkommen  verwischt 
wurde.  So  kommen  unsere  fast  zahllosen  ßirnsorten  wahrscheinlich 
von  zwei  wilden  Pyrus- Arten,  die  Apfelsorten  ebenfalls  von  zwei 
wilden  Arten,  die  Sorten  der  Weinrebe  von  zwei  oder  drei  Arten  von 
Vitis  her.  —  Durch  die  wiederholte  Kreuzung  der  Nachkommenschaft 
zweier  oder  mehrerer  Arten  werden  nicht  nur  die  sichtbaren  Merkmale 
der  letzteren  in  der  mannigfaltigsten  Weise  cüml)inirt  und  al:)gestuft, 
sondern  es  werden  auch  latente  Anlagen  derselben  zur  Entfaltung 
gebracht  oder  unter  Betheiligung  der  latenten  Anlagen  und  unter 
dem  Einfluss  der  durch  die  hybride  Mischung  abgeänderten  Con- 
stitution des  Idioplasmas  die  Merkmale  der  Stannneltern  in  viel- 
facher Weise  umgebildet. 

Durch  die  Beseitigung  aller  Concurrenz  und  die  Pflege  der 
Cultur  vermögen  ferner  Metamorphosen  und  Monstrositäten  sich  aus- 
zubilden. Dieselben  haben  wolil  immer  in  latenten,  nun  zu  abnor- 
maler Entwicklung  gelangenden  Anlagen  ihren  Ursprung,  weshalb 
sie  auch  sich  stets  gewissermassen  als  Rückschläge  kund  geben. 
Dieselben  bieten,  namentlich  wenn  Kreuzung  hinzukommt,  die 
A^eranlassung  zu  vielfach  vermehrter  Abänderung. 


V.  Varietät,  Kasse,  Ernälu'ungsuKHlification.  247 

Bei  der  E-assenbildung  in  Folge  von  li}'bridcr  Kreuzung  mid 
von  Metamorphosirung  werden  also  nicht  wirklich  neue  Anlagen 
erzeugt,  sondern  bereits  vorhandene  in  anderer  Weise  combinirt  inid 
bisher  latent  gebhebene  ^^^eder  lebendig  gemacht.  Deswegen  geht 
die  Veränderung  der  Rassen  so  ausserordentlich  rasch  vor  sich. 

Bei  der  Varietätenbildung  dagegen  entstehen  neue  Anlagen, 
indem  das  Idioplasma  clm-ch  den  innewohnenden  Vervollkommnungs- 
trieb und  durch  che  als  Reize  wirkenden  äusseren  Einflüsse  stetig 
sich  verändert.  Diese  Veränderung  geschieht  in  allen  Individuen, 
weil  die  Ursachen  die  nämlichen  sind,  gleichsinnig ;  daher  zeigen  die 
A^irietäten  eine  so  auffallende  Einförmigkeit.  —  Ferner  haben  die 
äusseren  Einflüsse  häufig,  da  die  Organismen  denselben  bereits  an- 
gepasst  sind,  keine  Gelegenheit,  ihre  Wirksamkeit  zu  äussern,  und 
wenn  sie  auch  eine  andere  Anpassung  verlangen,  so  scheinen  sie 
die  Veränderung  doch  nm'  nach  Maassgabe,  als  das  Idiojilasma  durch 
innere  Ursachen  sich  umbildet,  bewirken  zu  können  (vgl.  S.  181). 
Diese  durch  den  Vervollkommnungstrieb  erfolgende  Complication 
in  der  Configuration  des  Idioplasmas  steigert  sich  aber  äusserst  lang- 
sam, bis  die  fertig  gewordenen  Anlagen  sich  als  sichtbare  Merkmale 
zu  entfalten  vermögen;  daher  bleiben  die  Varietäten  durch  lange 
Zeiträume  äusserlich  unverändert.  Kreuzungen  und  Rückschläge 
durch  Störungen  finden  in  den  Varietäten  wohl  statt,  —  aber,  da  ihre 
Träger  durch  die  Concurrenz  sofort  beseitigt  werden,  nur  vereinzelt 
und  ohne  Wirkung  auf  die  ganze  Sippe ;  sie  vermögen  also  die  Ein- 
förmigkeit und  Stetigkeit  der  Varietäten  nicht  zu  trüben. 

Kurz  ausgedrückt  können  wir  sagen :  Bei  der  (künstlichen  oder 
domesticirten)  Rassenbildung  wird  nicht  die  Summe  der  idioj^las- 
matischen  Anlagen,  sondern  nur  das  Gleichgewicht  zwischen  den- 
selben oder  das  Verhältniss  von  manifest  werdenden  und  latent 
bleibenden  Anlagen  geändert ;  bei  der  (natürlichen)  ^^arietätenbildung 
dagegen  vermehrt  sich  die  Summe  der  Anlagen.  Bei  der  ersteren 
wird  die  Configuration  des  idioplasmatischen  Systems  durch  Yer- 
schiebung  von  Micellgrui^pen  bloss  modificirt,  bei  der  letzteren  aber 
durch  Einschiebung  neuer  Gruppen,  durch  scliärfere  Scheidung  der 
vorhandenen  Grupj^en  und  durch  Ditfercnzirung  in  ihrem  Innern 
erweitert  und  bereichert. 


248  V.  Varietät,  Rasse,  Ernähruiigsniodiflcation. 

Die  A'^arietäten  unterscheiden  sich  von  den  Rassen  im  allge- 
meinen durch  ihre  Einförmigkeit  und  Beständigkeit.  Die  Ein- 
förmigkeit rührt  daher,  dass  die  nämlichen  abändernden  Ursachen 
auf  die  Individuen  einer  Sippe  einwirken,  die  Beständigkeit  daher, 
dass  Kreuzung  zwischen  Varietäten  nicht  häufig  stattfindet  und  dass 
die  Bastarde  in  der  Concurrenz  bald  unterliegen  und  verdrängt 
werden.  Als  Beispiel  und  Beweis  hiefür  kann  die  grosse  Mehr- 
zahl der  Pflanzensippen  angeführt  werden.  Gleichwohl  gibt  es 
Fälle,  welche  bezüglich  der  Einförmigkeit  der  Varietäten  scheinbar 
eine  Ausnahme  machen;  es  gibt  in  wenigen  Gattungen  auch  viel- 
förmige  Varietäten. 

Um  diese  Ausnahme  zu  verstehen  und  in  das  richtige  Verhältniss 
zur  Regel  zu  bringen,  müssen  vnr  die  Entstehung  der  Varietäten  etwas 
genauer  betrachten.  Es  wird  sich  dann  zeigen,  dass  die  Einförmigkeit 
und  Vielförmigkeit  derselben  auf  den  nämlichen  Ursachen  beruhen 
und  eigentlich  die  nämliche  Erscheinung  nur  in  verschiedener  Ab- 
stufung sind.  Wir  müssen  aber  zum  voraus  festhalten,  dass  die 
Eigenschaften  der  Varietäten  nur  erbliche  sein  können,  und  dass 
also  die  mannigfaltigen ,  unendlich  abgestuften ,  nicht  erblichen 
Merkmale,  welche  die  äusseren  Einflüsse  unmittelbar  hervorl)ringen, 
nicht  die  Vielförmigkeit  der  Varietät,  sondern  die  Vielförmigkeit  der 
Modification  bestimmen,  von  der  ich  nachher  sprechen  werde.  Eine 
andere,  durch  die  Kreuzung  hervorgebrachte  Vielförmigkeit  ist,  da 
dieselbe  der  Rassenbildung  angehört,  ebenfalls  auszuschliessen ;  ich 
werde  aber,  weil  es  sich  hier  um  erbliche  Eigenschaften  handelt, 
die  Grenze  zu  bestimmen  suchen,  wo  die  Varietätenbildung  aufhört 
und  die  Rassenbildung  beginnt. 

Die  Vielförmigkeit  der  Varietäten  gibt  sich  in  den  Anpassungs- 
merkmalen kund  und  beruht  auf  der  Mannigfaltigkeit  der  äusseren 
Einwirkungen  und  auf  den  verschiedenartigen  Reactionen,  welche 
in  den  nämlichen  Organismen  eintreten  können.  Wir  haben  zwei 
allgemeine  Fälle  zu  unterscheiden,  je  nachdem  nächst  verwandte 
Varietäten  räumlich  getrennt  und  somit  isolirt,  oder  aber  in  der 
nämlichen  Gegend  gesellschaftlich  entstehen. 

Eine  einförmige  Sippe  begebe  sich  auf  die  Wanderung  und 
verbreite  sich  so  ühev  ein  grosses  Gebiet,  dass  ihre  einzelnen  Stationen 
zerstreut  sind  und  nicht  unter  einander  zusammenhängen.  Da  die 
äusseren  Ursachen  sich  mannigfaltig  combiniren   und   abstufen ,    so 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernährangsinodification.  249 

empfängt  möglicher  Weise  die  Anpassung  der  Sippe  in  jeder  Station 
einen  etwas  anderen  Impuls  und  geht  in  eine  etwas  andere  erbliche 
Form  über.  Anfänglich  sind  die  neuen  erblichen  Merkmale  gering 
und  verschwinden  unter  den  unbeständigen  Modificationsmerkmalen. 
Sie  werden  nach  und  nach  deutlicher ;  die  eingewanderte  einförmige 
Sippe  ist  vielförmig  geworden. 

Aber  die  Vielförmigkeit  besteht,  wenn  wir  sie  als  Vielförmigkeit 
der  Varietät  auffassen,  nur  darin,  dass  die  Formen  der  verschiedenen 
Stationen  noch  zu  wenig  von  einander  abweichen,  um  sie  als  eben 
so  viele  besondere  A^arietäten  zu  betrachten.  In  Wirkliclikeit  sind  es 
beginnende  Varietäten,  die  sich  wie  ächte  Varietäten  verhalten; 
denn  jede  ist  selbst  einförmig  und  zeigt  sich  unter  verschiedenen 
Ernährungseinflüssen  constant,  wie  uns  das  Beispiel  der  Gattung 
Hieracium  aufs  deutlichste  zeigt.  Bestehen  die  angegebenen  Ver- 
hältnisse während  hinreichend  langer  Zeiträume  unverändert  fort,  so 
erlangen  die  Anpassungsmerkmale  nach  und  nach  ihre  grösstmög- 
liche  Ausbildung,  und  die  beginnenden  Varietäten  können  schhesslich 
zu   entschiedenen  Varietäten  und  Arten  werden. 

In  dem  vorstehenden  Falle  wurde  angenommen,  dass  die  auf 
jede  Station  gekommene  einförmige  Sippe  in  allen  ihren  Individuen 
durch  die  daselbst  herrschenden  einförmigen  Einflüsse  die  näm- 
lichen Eindrücke  empfangen  und  sich  demgemäss  gleichförmig  um- 
gebildet habe.  Diesses  Ergebniss  wird  aber  nur  ziemlich  selten 
eintreffen,  da  aus  verschiedenen  Gründen  eine  ungleichartige  Ab- 
änderung der  Individuen,  welche  auf  derselben  Station  leben,  wahr- 
scheinlich ist.  Die  nächstliegende  Möglichkeit  besteht  darin ,  dass 
die  äusseren  Einflüsse,  welche  erbliche  Abänderungen  bedingen,  nicht 
gleichartig  sind  und  daher  auch  ungleiche  Anpassungen  be"w^rken. 
Eine  andere  Möglichkeit  ist  aber  auch  die,  dass  gleichartige  äussere 
Einflüsse  bei  verschiedenen  Individuen  verschiedene  Reactionen 
hervorrufen.  Sind  die  Einflüsse  schädlicher  Natur,  so  stehen  dem  Orga- 
nismus oft  verschiedene  Mittel  zu  Gebote,  um  sich  dagegen  zu  schützen ; 
sind  sie  günstig,  so  vermag  er  sich  dieselben  durch  verschiedene 
neue  Einrichtungen  nutzbar  zu  machen.  Es  können  also  bei  scheinbar 
gleichartigen  Organismen  auf  scheinbar  gleicliartige  äussere  Einwir- 
kungen hin  ungleichartige  Anpassungsmerkmale  entstehen. 

Dieser  Ausspruch  darf  nicht  missverstanden  werden.  Es  ist 
selbstverständlich ,    dass    identische    Organismen    unter   identischen 


250  ^-  Varietät,  Rasse,  Ernähruugsmodification. 

äusseren  Verhältnissen  auch  nm*  in  ganz  gleicher  Weise  sich  ver- 
ändern. Aljer  es  sind,  wenn  auch  die  als  Reiz  wirkende  abändernde 
Ursache  die  nämliche  ist,  theils  die  Dispositionen  in  den  Individuen, 
theils  die  äusseren  Umstände,  welche  das  Wachsthum  der  Individuen 
bedingen,  ungleich.  Bei  den  Pflanzen  ist  die  Nahrung,  die  Feuch- 
tigkeit, der  Lichteinfluss,  die  Einwirkung  der  organischen  Umgebung 
oft  auf  die  kürzesten  Entfernungen  ungleich,  und  wenn  dadurch 
auch  bloss  die  Ernährung  modificirt  wird,  so  hat  die  Ernährung, 
wiewohl  sie  nicht  in  directer  Weise  erbliche  Veränderungen  bewirkt, 
doch  ebenso  wie  auf  die  Entfaltung  der  idioplasmatischen  Anlagen, 
auch  auf  die  Bildung  derselben  einen  fördernden  oder  hemmenden 
Einfluss.  Machen  wir  beispielsweise  die  Annahme,  eine  Pflanze  sei  ihrer 
Natur  nach  befähigt,  auf  den  Reiz ,  den  der  Angriff  eines  Thieres  auf 
die  Frucht  ausül^t,  drei  verschiedene  Reactionen  zum  Schutze  der 
Samen  eintreten  zu  lassen :  entweder  bilden  sich  bittere  und  giftige  Stoffe 
in  derFruchtwandung,  oder  die  Fruchtwandung  wird  hart  und  fest,  oder 
sie  bewehrt  sich  mit  stachlichon  Auswüchsen.  Hat  die  Pflanze  eine 
gleiche  Neigung  zu  diesen  Reactionen,  so  kann  die  Wahl  der  einen 
oder  andern  durch  die  ungleiche  Ernährung  bestimmt  werden. 

Es  kann  also  in  den  gesellschaftlich  lebenden  Individuen 
einer  Sippe  die  Anpassung  aus  verschiedenen  Gründen  in  ungleicher 
Weise  beginnen.  Wie  ich  früher  wahrscheinlich  gemacht  habe, 
trifft  die  von  äusseren  Reizen  bewirkte  erbliche  Veränderung  zuerst 
das  Idioplasma.  Würde  sie  aber  auch  in  j)rimärer  Weise  den  ent- 
falteten Organismus  treffen,  so  müsste  doch  gleichzeitig  das  Idio- 
plasma mit  verändert  werden,  weil  sonst  eine  Vererbung  unmöglich 
wäre.  Ich  kann  also  für  alle  Fälle  die  Veränderung  des  Idioj)lasmas 
der  Betrachtung  zu  Grunde  legen. 

Sind  nach  Lage  der  Umstände  mehrere  Anpassungen  möglich, 
so  kann  die  begonnene  Veränderung  denkbarer  Weise  durch  zwei 
Ursachen  gestört  werden,  1)  dadurch,  dass  die  Abstammungslinien, 
deren  Anpassung  unter  bestimmten  Einflüssen  angefangen  hat, 
durch  die  Verbreitung  der  Keime  unter  andere,  eine  verschieden- 
artige Anpassung  bedingende,  Einflüsse  kommen ,  2)  dadurch,  dass 
die  Individuen  jener  verschiedenen  Abstammungslinien  sich  mit 
einander  kreuzen. 

Um  die  erste  Frage  zu  erörtern,  nehmen  wir  am  zw^eckmässigsten 
an,  dass   die   Organismen   sich   auf  ungeschlechtlichem   Wege  fort- 


Y.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodiflcation.  251 

pfiaiizeii,  um  dadurch  die  Complication  der  Kreuzung  zu  climiniren. 
Wechselt  nun  eine  AbstammungsHnie  ein-  oder  mehrmals  ihren 
Aufenthalt,  so  dass  bald  die  einen  bald  die  anderen  Einflüsse  auf 
sie  einwirken,  so  kann  das  Ergebniss  sehr  ungleich  ausfallen ,  je 
nach  dem  gegenseitigen  Verhalten  der  verschiedenen  Anlagen,  die 
den  einen  und  den  anderen  Einflüssen  entsprechen.  Wir  können 
in  dieser  Beziehung  folgende  vier  Fälle  unterscheiden.  * 

1.  Der  einfachste  Fall  ist,  dass  die  verschiedenartigen  Einflüsse 
Anpassungsanlagen  (P,  Q,  R  .  .  .)  hervorbringen,  welche  unabhängig 
von  einander  sind,  sich  neben  einander  bilden  und  deren  Entfaltungs- 
merkmale  ebenfalls  neben  einander  bestehen  können.  Der  Erfolg 
wird  nun  von  der  Länge  der  Zeit  abhängen,  während  welcher  jede 
Abstammungslinie  die  einen  und  die  anderen  Einflüsse  erfahren  hat. 
Es  grenzen  beis2)ielsweise  zwei  Standorte  an  einander,  von  denen 
der  eine  die  Anpassungsanlage  P,  der  andere  die  Anlage  Q  bewirkt ; 
die  Uebersiedelung  von  einem  Standort  auf  den  andern  findet  häufig 
statt.  Auf  den  beiden  Standorten  kommen  somit  dm^ch  einander 
Individuen  vor,  in  denen  die  beiden  Anlagen  P  und  Q  ungleich 
weit  entwickelt  sind,  deren  Stärke  selbstverständlich  im  umgekehrten 
Verhältniss  zu  einander  steht.  Geht  die  Entfaltung  der  Merkmale 
Hand  in  Hand  mit  der  Entstehung  der  Anlagen,  so  finden  sich  auf 
jedem  Standort  alle  möglichen  Abstufungen  der  Ijeiden  ISIerkmale. 
Müssen  aber  die  Anlagen  eine  gewisse  Stärke  erlangen,  ehe  sie  ent- 
raltungsfähig  werden,  so  wird  es  ein  Stadium  geben,  in  welchem  die 
einen  Individuen  bloss  die  Anlage  P,  die  anderen  bloss  che  Anlage 
Q  zur  Entfaltung  bringen  ,  indess  in  einer  dritten  Partie  von  In- 
dividuen sowohl  P  als  Q  noch  nicht  entfaltungsfähig  sind.  Dem 
entsjDrechend  beherbergt  jeder  Standort  drei  dem  äusseren  Ansehen 
nach  verschiedene  Formen,  von  denen  die  eine  die  ursi^rüngliche, 
unveränderte  Form  darstellt,  die  beiden  andern  je  ein  neues  Merk- 
mal aufweisen.  Hören  die  abändernden  Einflüsse  in  diesem  Stadium 
auf,  indem  z.  B.  eine  neue  Wanderung  eintritt,  so  können  die  drei 
Formen  für  alle  Zeiten  verschieden  bleiben. 

2.  Die  äusseren  Ursachen,  welche  auf  zwei  neben  einander  be- 
findlichen Standorten  thätig  sind,  bemrken  zwei  vicarirende  Anlagen 
P  und  Fl ,  die  sich  zu  einander  verhalten  wie  die  nämlichen  Grössen 
mit  positivem  und  negativem  Vorzeichen.  Dies  ist  beispielsweise  dann 
der  Fall,   wenn  die  eine  Ursache  auf  die  Vergrösserung,  die  andere 


252  ^-  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification. 

auf  die  Verkleinerung  eines  Organs  hin  arbeitet,  wenn  die  eine  Ur- 
sache die  Zahl  der  Zellen  und  der  Organe  vermehrt,  die  andere  sie 
beschränkt,  wenn  die  eine  Ursache  eine  Eigenschaft  hervorruft,  die 
andere  sie  austilgt.  Ist  dies  der  Fall,  so  wird  bei  der  Uebersiedelung 
von  dem  einen  Standort  auf  den  andern  die  bisherige  Anpassungs- 
veränderung wieder  rückgängig  gemacht,  und  die  beide  Standorte 
bewohnende  Sippe  bleibt  um  so  gleichförmiger.  Je  öfter  ein  solcher 
Wechsel  eintritt, 

3.  Die  zwei  vicarirenden  Anlagen  P  und  Q,  welche  durch  die 
äusseren  Ursachen  bedingt  werden,  sind  zwei  divergirende  Be- 
wegungen, die  aber  nicht  diametral  auseinandergehen  und  sich  nicht 
gegenseitig  aufheben,  sondern  nach  einer  Seite  gewendet  sind  und 
daher  eine  Vereinigung  in  eine  resultirende  FQ  zulassen.  Es  ver- 
einigen sich  also  die  beiden  Anlagen  zu  einer  gemeinschaftlichen 
Anlage,  welche,  wenn  die  Ursachen  wieder  auf  zwei  benachbarten 
Standorten  getrennt  sind,  um  so  mehr  von  P  oder  um  so  mehr  von 
Q  enthält,  je  nach  der  Länge  der  Zeit,  während  welcher  eine  Ab- 
stammungslinie auf  jedem  der  beiden  Standorte  gelebt  hat.  Viele 
Bastarde  geben  uns  ein  Bild  von  der  Vereinigung  der  Merkmale, 
wie  sie  in  der  freien  Natur  ohne  Kreuzung  durch  den  Einfluss  ver- 
schiedenartiger Ursachen  zu  Stande  kommen  kann.  So  gibt  es  auch 
Pflanzenbastarde  zwischen  Varietäten  und  Arten,  die  den  natürhch 
und  selbständig  entstandenen  Zwischenformen  sehr  ähnlich  sind. 

Wenn  in  den  unter  2.  und  3.  aufgeführten  Fällen  die  Ent- 
faltung der  Anlagen  gleichen  Schritt  hält  mit  der  Entstehung  der- 
selben, so  finden  sich  einige  Zeit,  nachdem  die  einförmige  Sippe 
auf  die  beiden  Standorte  gekommen  ist,  auf  jedem  derselben  eine 
Reihe  von  Formen  beisammen,  die  sich  zwischen  zwei  Extremen 
abstufen.  Muss  aber  die  Anlage,  um  entfaltungsfähig  zu  werden, 
eine  gewisse  Stärke  der  Ausbildung  erlangt  haben,  so  stellt  sich 
einige  Zeit  nach  der  Einwanderung  neben  der  ursprünglichen  un- 
veränderten Form  eine  zweite  abgeänderte  ein. 

4.  Von  den  vicarirenden  Merkmalen  kann  nur  eines  sich  ent- 
falten, während  ihre  Anlagen  P,  Q,  li  im  Idioplasma  entweder  un- 
gehemmt neben  einander  sich  entwickeln  oder  aber  sich  gegenseitig 
mehr  oder  weniger  beschränken,  so  dass,  wenn  die  eine  vorhanden 
ist,  sie  die  Bildung  der  anderen  verzögert  oder  verhindert.  Der  un- 
günstige Einfluss   einer   vorhandenen  Anlage   auf  die   entstehenden 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernähriingsmodification.  253 

vicarirenden  Anlagen  tritt  leicht  in  den  so  häufigen  Fällen  ein,  in 
denen  diese  Anlagen  die  verschiedenen  Reactionen  auf  den  näm- 
lichen äusseren  Reiz  darstellen.  Hat  nun  eine  Ahstamnuniüslinie 
unter  hestimniten  Umständen  die  Anpassungsänderung  P  hegonnen 
und  gelangt  sie  unter  A^erhältnisse,  welche  der  Anpassung  Q  gün- 
stiger sind,  so  fährt  möglicher  Weise  die  Anlage  P  dennoch  fort  zu 
wachsen,  statt  durch  Q  verdrängt  zu  werden.  Das  Nämhche  kann 
mit  der  Anlage  Q  geschehen,  deren  Träger  unter  Verhältnisse 
kommen,  welche  die  Anj^assung  P  veranlassen.  So  bilden  sich  da 
und  dort  neben  einander  zwei  Formen  aus,  von  denen  die  eine  die 
Anlage  P,  die  andere  die  Anlage  Q  zur  Entfaltung  bringt. 

Um  den  Vorgang  dem  Verständnisse  noch  näher  zu  bringen, 
will  ich  ein  specielles  Beispiel  wählen.  Es  komme  eine  einförmige 
Pflanzensippe  durch  Wanderung  in  ein  wärmeres  oder  kälteres  Klima. 
Die  ungewöhnliche  Temperatur  wirkt  als  Reiz  und  bringt  je  nach 
den  begünstigenden  Factoren  (Feuchtigkeit  oder  Trockenheit  des 
Bodens  und  der  Luft,  Beleuchtung  oder  Beschattung,  ungleiche  Nah- 
rung, ungleiche  vegetabilische  Umgebung)  verschiedene  AnjDassungen 
P,  Q,  II  hervor.  Hat  die  Anlage  P  auf  einem  trockenen,  sonnigen, 
mageren,  kalkreichen,  mit  kurzem  Rasen  bedeckten  Standort  be- 
gonnen, so  setzt  sie  auf  anderen  Standorten,  welche  feuchter  oder 
schattiger  oder  reicher  an  Nährstoffen  oder  kalkarm  oder  mit  grossen 
Stauden  besetzt  sind,  ihre  Ausbildung  gleichwohl  ungestört  fort.  Die 
anderen  Anpassungsanlagen  Q  und  R  verhalten  sich  ihrerseits  ebenso ; 
sie  fangen  auf  bestimmten  Standorten  an  und  entwickeln  sich  nach- 
her auf  anderen  Standorten  weiter,  da  der  Reiz,  den  die  Temperatur 
ausübt,  überall  der  nämliche  ist.  Es  können  also  die  verschiedenen, 
diesem  Reiz  entsprechenden  Anpassungsformen  in  Gesellschaft  neben- 
einander auf  verschiedenen  Standorten  sich  ausbilden. 

Dass  der  "^^organg  in  der  geschilderten  Art  eintrete,  müssen 
drei  Bedingungen  erfüllt  sein:  es  müssen  die  vicarirenden  Anlagen 
einander  in  ihrer  Ausbildung  in  hinreichendem  Maasse  beschränken ; 
es  muss  ferner  die  eine  Anlage  in  hinreichend  bestimmtem  Grade 
angefangen  haben;  es  müssen  endlich,  gegenüber  der  als  Reiz  vnr- 
kenden  allgemeinen  Ursache,  die  übrigen  äusseren  Einflüsse  nicht 
so  stark  auf  das  Idioplasma  einwirken,  dass  sie  die  Verdrängung 
der  bereits  vorhandenen  Anlage  und  Entstehung  einer  neuen  ver- 
ursachen.    Was  das  Verhalten  der  idioplasmatischen  Anlagen  \aca- 


254  V.  Varietät,  Rasse,  Ernäliningsmodificatlon. 

rirender  Merkmale  zu  einander  betrifft,  so  kommt  es  in  manchen 
Fällen  möglicher  Weise  bloss  auf  den  ersten  Anstoss  an;  derselbe 
entscheidet  dann,  indem  er  bestimmte  Spannungen  im  Idioplasma 
auslöst,  ob  die  Reaction  auf  den  Reiz  fortan  in  der  einen  oder 
anderen  Weise  erfolge.  Die  Anpassung  kann  in  diesem  extremen 
Fall  auch  unter  veränderten  äusseren  Umständen,  vorausgesetzt  dass 
der  massgebende  Reiz  in  der  nämlichen  Weise  fortwirkt,  nicht  mehr 
umgewandelt  w^erden. 

Es  ist  kaum  nöthig  die  Erscheinungen  zu  besj)rechen,  welche 
in  dem  entgegengesetzten  Extrem  eintreten,  wenn  nämlich  die  vica- 
rirenden  Anlagen  ungehindert  neben  einander  im  Idioplasma  ent- 
stehen und  bestehen  können.  Wechseln  in  diesem  Falle  die  Ab- 
stammungslinien die  Standorte,  so  steht  die  AVeiterbildung  der  übrigen 
Anpassungsanlagen  still,  und  es  bildet  sich  nur  die  dem  jeweiligen 
Standort  entsprechende  Anlage  aus.  Es  kann  also  eine  Anlage  bloss 
auf  ihrem  Standorte  entfaltungsfähig  werden.  Ist  sie  einmal  in 
diesen  Zustand  gelangt,  so  entfaltet  sie  sich  fortan  ebenfalls,  w^enn 
die  Abstammungslinie  auf  andere  Standorte  übersiedelt.  Es  kommen 
daher  auch  in  diesem  Falle  auf  den  verschiedenen  Standorten  die 
verschiedenen  Anpassungsformen  (P,  Q,  li)  und  vielleicht  die  ur- 
sprüngliche noch  unveränderte  Form  gesellschaftlich  vor,  obgleich 
man  hier  nicht  von  einem  gesellschaftlichen  Entstehen  sprechen  kann. 

Ich  habe  bis  jetzt  die  Ergebnisse  betrachtet,  w^elche  eintreten 
müssen,  wenn  verschiedene  äussere  Einflüsse  auf  die  Anpassung 
von  gesellschaftlich  beisammen  lebenden  Individuen  einer  Sippe 
einwirken,  insofern  dieselben  auf  ungeschlechtlichem  Wege  sich  fort- 
pflanzen. Der  Mangel  einer  geschlechtlichen  Fortpflanzung  kommt 
aber  normal  nur  den  niedrigsten  Pflanzen  zu ;  die  höheren  Gewächse 
entbehren  derselben  höchstens  ausnahmsweise  und  als  abnormale 
Erscheinung.  Die  gesellschaftlich  lebenden  Pflanzen  können  sich, 
da  sie  Geschlechtsorgane  besitzen,  gegenseitig  befruchten ;  es  sind 
daher  die  gewonnenen  Ergebnisse  nicht  ohne  weiteres  als  die  in 
Wirklichkeit  vorhandenen  in  Anspruch  zu  nehmen,  sondern  es  muss 
erst  noch  untersucht  werden,  ob  und  wiefern  dieselben  durch  die 
Krcuzvmg  modificirt  werden. 

Wir  können  uns  die  Wirkung  der  Kreuzung  auf  die  Varietäten- 
bildung am  besten  klar  machen,  wenn  wir  die  möglichen  Fälle,  die 
ich  unter  Nr.   1  —  4  unterschieden   habe,    der   Reihe   nach   getrennt 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernährnngsmodification.  255 

betrachten.  Sind  die  entstehenden  Anlagen  unabhängig  von  einander 
und  können  ihre  Entfaltungsmerkmale  neben  einander  bestehen,  wie 
es  unter  Nr.  1  (S.  251)  angenommen  wurde,  so  hat  die  Kreuzung  der 
Abstammungslinien,  in  denen  eine  ungleiche  Anpassung  begonnen 
hat,  im  allgemeinen  keinen  anderen  Erfolg,  als  ein  Wechsel  der 
Standorte.  Sie  vereinigt  die  verschiedenen  Anlagen  und  Merkmale, 
wobei  als  Grundsatz  festzuhalten  ist,  dass  der  Erbtheil  der  beiden 
Eltern  sich  ziemlich  die  Wage  hält  und  dass  Vater  und  Mutter  ihrem 
Wesen  nach,  d.  h.  mit  ihren  idioplasmatischen  Anlagen  je  zur 
Hälfte  in  dem  Kinde  enthalten  sind.  Wir  können  uns  von  dem 
einzelnen  Kreuzungsfall  eine  bestimmte  Vorstellung  machen,  wenn 
wir  die  begonnenen  Anlagen  je  nach  der  Stärke,  die  sie  erlangt 
haben,  durch  numerische  Werthe  bezeichnen,  und  durch  1  diejenige 
Stärke  ausdrücken,  w^odurch  die  Anlage  eben  entfaltungsfähig  ge- 
worden ist.  Folgendes  BeisiDiel  mag  das  Verhalten  von  4  jungen 
Anlagen  P,  Q,  li,  S  bei  der  Kreuzung  deutlich  machen. 


P 

Q 

B 

S 

Vater      .     . 

,     .     0,5 

2,0 

1,2 

0,3 

Mutter   .     . 

,     1,8 

0,4 

0,6 

1,2 

Kind      .     .     .     1,15        1,2        0,9        0,75 

Im  Vater  waren  che  Anlagen  Q  und  -R,  in  der  Mutter  die  An- 
lagen P  und  S  in  den  ersten  Entfaltungszuständen  sichtbar  geworden ; 
P  und  S  waren  im  Vater,  Q  und  P  in  der  Mutter  noch  latent.  Die 
A^ermischung  des  väterlichen  und  mütterlichen  Idioplasmas  hat  zur 
Folge,  dass  in  dem  Kinde  ein  Merkmal  des  Vaters  (P)  und  eines  der 
Mutter  [S]  wieder  latent  geworden  sind.  Solche  Schwankungen  werden 
durch  die  Kreuzung  nothwendig  im  Entwicklungsgang  der  einzelnen 
Abstammungshnien  hervorgebracht;  dadurch  wird  aber  die  Bildung 
der  Varietäten  im  grossen  und  ganzen  nicht  erheblich  beeinträchtigt. 

Wenn  zwei  vicarirende  Anlagen  eine  Vereinigung  gestatten,  wie 
dies  unter  Nr.  2  und  3  (S.  251,  252)  der  Fall  ist,  so  hat  die  Kreuzung 
zweier  ungleich  abgeänderter  Abstammungshnien  genau  das  gleiche 
Ergebniss,  wie  wenn  die  beiden  Abstammungslinien  während  einer 
hinreichenden  Zeitdauer  auf  den  vertauschten  Standorten  lebten. 

Der  wichtigste  und  wohl  auch  am  häufigsten  vorkommende 
Fall  ist  der,  dass  die  vicarirenden  Merkmale  sich  gegenseitig  aus- 
schhessen,  da  eine  Vereinigung  derselben  unzulässig  ist,  wobei  ihre 
Anlagen  meistens  in  ihrer  Bildung  sich  gegenseitig  mehr  oder  weniger 


256  .  ^^-  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodiflcation. 

beeinträchtigen  (Nr.  4 ,  S.  252).  Tritt  geschlechtliche  Vermischung 
zwischen  Abstammungslinien  ein,  welche  ungleiche  Anpassungs- 
anlagen zu  bilden  angefangen  haben,  so  wird  je  nach  dem  Grade 
der  Unduldsamkeit  entweder  der  schwächere  Anfang  aus  dem  Idio- 
plasma  des  Keimes  ganz  ausgeschlossen ,  oder  er  wird  zwar  darin 
aufgenommen,  aber  in  eine  untergeordnete  Stellung  verwiesen,  während 
der  stärkere  Anfang  begünstigt  ist  und  sich  in  der  Folge  unter  der 
fortdauernden  Einwirkung  der  allgemeinen  Anpassungsursache  auch 
unter  verschiedenen  anderweitigen  Einflüssen  allein  oder  vorzugs- 
weise entwickelt.  Sind  aber  die  ungleichartigen  Anpassungsanfänge 
in  den  beiden  Eltern  von  gleicher  Stärke,  dann  muss  sich  bei  der 
Keimbildung  entscheiden,  welcher  von  den  beiden  Anfängen  die 
bevorzugte  Stellung  im  Idioplasma  einzunehmen  hat,  gerade  so  wie 
in  jenem  Zeitpunkt  auch  die  Entscheidung  getroffen  wird,  ob  das 
männliche  oder  das  weibliche  Geschlecht  der  Eltern  in  dem  Keime 
Platz  greifen  soll.  In  dem  extremen  Fall,  welcher  darin  besteht, 
dass  die  beiden  verschiedenartigen  Anpassungsanfänge  der  Eltern 
als  gleichwerthige  Bestandtheile  in  das  Idioj)lasma  des  Kreuzungs- 
productes  aufgenommen  werden,  entwickelt  sich  der  eine  oder  andere 
je  nach  den  anderweitigen  äusseren  Einflüssen  weiter. 

Von  diesen  verschiedenen  Vorgängen  können  wir  uns  eine  Vor- 
stellung machen,  wenn  wir  in  zahlreichen  Bastarden  von  natürlichen 
Varietäten  und  von  Arten  die  einzelnen  Merkmale  genau  mit  denen 
der  Eltern  vergleiclien.  In  diesem  Falle  liegt  zwar  die  Sache  etwas 
anders  als  bei  entstehenden  Varietäten,  da  das  elterliche  Idioplasma 
fertige  Anlagen  enthält,  die  mit  grösserer  Zähigkeit  ihr  Recht,  in 
das  kindliche  Idioplasma  aufgenommen  zu  werden,  behaupten.  Gleich- 
wohl sehen  wir  oft  das  eine  oder  andere  schwächere  Merkmal,  das 
nur  dem  einen  von  den  Eltern  zukommt,  ganz  versch^^^nden,  während 
die  stärkeren  Merkmale  zu  unnatürlichen  und  für  die  Dauer  unhalt- 
baren Vereinigungen  zusammentreten. 

Es  unterliegt  also  keinem  Zweifel,  dass  zwei  oder  mehrere  Varie- 
täten, deren  unterscheidende  Merkmale  nicht  nebeneinander  sich  zu 
entfalten  vermögen,  gesellschaftlich  entstehen  können,  und  dass  die 
allfällige  Kreuzung  der  verschiedenartigen  Abstammungslinien  keines- 
wegs ein  Hinderniss  ihrer  strengen  Scheidung  abgibt.  Im  un- 
günstigsten Falle  enthalten  die  Individuen  der  einen  Varietät  die 
Anlagen  der  anderen  Varietät  im  nicht  entfaltungsfähigen  Zustande. 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernahrungsinoditic'ation.  25'7 

In  vielen  Fällen  aber  sind  diese  Anlagen  verkümmert  oder  mangeln 
auch  gänzlich. 

Dieses  Resultat,  das  schon  aus  dem  gegenseitigen  Verhalten  der 
Anlagen  allein  sich  ergibt,  wird  durch  zwei  Umstände  sehr  merklich 
gefördert.  Einmal  treten  wegen  der  räumlichen  Vertheilung  der 
Individuen  die  Kreuzungen  zwischen  den  in  ungleicher  Weise  ab- 
ändernden Abstammungslinien  besonders  im  Anfange  seltener  ein. 
Die  ungleichen  Anpassungen  werden  ja  im  allgemeinen  stets  unter 
verschiedenartigen  äusseren  Einflüssen  beginnen,  also  wenigstens 
ursprünglich  räumlich  getrennt  sein;  diese  räumliche  Trennung 
wird  jedoch  durch  die  Verbreitung  der  Samen  und  durch  die  Ver- 
breitung des  die  Kreuzung  bewirkenden  Blüthenstaubes  bald  gestört 
und  dann  immer  mehr  verwischt.  Die  in  gleicher  Weise  abändernden 
Individuen  sind  also  ursprünglich  beisammen,  und  die  Inzucht 
zwischen  ihnen  ist  gegenüber  der  Kreuzung  mit  einer  unter  anderen 
Verhältnissen  beginnenden  Varietät  ausserordentlich  begünstigt.  Es 
ist  somit  wenigstens  ein  bestimmter  Anfang  der  Anpassungsverän- 
derung gesichert. 

Sowie  nun  die  Veränderung  des  Idioplasmas  in  eine  bestimmte 
Bahn  eingelenkt  hat,  so  tritt  ein  neues  wichtiges  Moment  hiezu, 
welches  das  Verlassen  dieser  Bahn  verhindern  hilft.  Die  Individuen 
sind  nunmehr  ihrer  Natur  nach  zur  Begattung  mit  solchen  Individuen, 
in  denen  eine  andersartige  Veränderung  des  Idioplasmas  begonnen 
hat,  weniger  geneigt,  und  es  erfolgt,  auch  wenn  durch  die  Ver- 
breitung der  Samen  eine  räumliche  Vereinigung  der  verschieden- 
artig abändernden  Abstammungslinien  eingetreten  ist,  die  Kreuzung 
zwischen  denselben  viel  spärlicher  als  die  Befruchtung  durch  Inzucht. 
Wir  dürfen  dies  mit  Sicherheit  aus  der  so  vielfach  bestätigten  That- 
sache  schliessen,  dass  nächst  verwandte  Varietäten,  deren  verschiedene 
Merkmale  eine  Vereinigung  in  einem  Bastard  wohl  zulassen  würden, 
in  der  Natur  gesellschaftlich  auf  den  nämlichen  Standorten  ohne 
alle  Kreuzungsproducte  oder  nur  mit  spärlichen  Zwischenformen  vor- 
kommen. Diese  Thatsache  Ijeweist,  dass  den  (natürlichen)  V'arietäten 
schon  in  Folge  geringster  ^^erschiedenheit  in  der  Constitution  des 
Idioplasmas  eine  Abneigung  vor  geschlechtlicher  Vereinigung  ein- 
wohnen kann.  Ich  werde  dies  in  dem  folgenden  Abschnitt  bei  der 
Beurtheilung  der  von  Darwin  gezogenen  Schlussfolgerung  von  der 
Rassenbildung  auf  die  Varietätenbildung  weiter  ausführen. 

V,  Nägeli,  Abstammungslehre.  17 


258  V.  Varietät,  Rasse,  Ernäkrungsmodification. 

Ich  habe  in  den  vorstehenden  Betrachtungen  bezüglich  der 
Varietätenbildung  bloss  die  Entstehung  der  hervorragenden  An- 
passungsmerkmale berücksichtigt,  weil  darin  jedenfalls  der  ent- 
scheidende Anstoss  enthalten  ist.  Die  Veränderung  beschränkt  sich 
freilich  nicht  hierauf,  sondern  gibt  sich  noch  in  einer  Zahl  A^on 
Erscheinungen  kund,  die  aber  als  die  Folgen  jener  Anj^assung  zu 
betrachten  sind.  Die  Einfügung  einer  neuen  idioplasmatischen 
Anlage ,  welche  dem  Anpassungsmerkmale  entsj^richt ,  veranlasst 
selbstverständlich  verschiedene  grössere  und  geringere  Umbildungen 
in  der  Configuration  des  Idioplasmas,  führt  Modificationen  anderer 
Merkmale  herbei  und  kann  schliesslich  den  ganzen  Habitus  umge- 
stalten. Es  sind  dies  nach  meiner  Ansicht  secundäre  Erscheinungen, 
und  dieVarietätenbildung  wird  ursächlich  nur  durch  die  eigentlichen 
Anpassungsmerkmale  bestimmt. 

Ziehen  wir  die  Summe,  so  ergibt  sich,  dass  in  vielen  Fällen, 
wenn  nämlich  die  Anpassungsmerkmale  sich  ausschliessen ,  die 
Entstehung  mehrerer  Varietäten  und  die  divergirende  Ausbildung 
derselben  unter  den  gesellschaftlich  beisammen  lebenden  Individuen 
einer  Sij^pe  durch  die  Kreuzung  weder  verhindert  noch  überhaupt 
gestört  und  auch  durch  hybride  Zwischenformen  nicht  maskirt 
wird.  Die  beginnenden  und  sich  entwickelnden  Varietäten  machen 
die  Sippe  zwar  mehrförmig,  sie  selber  aber  sind  einförmig.  Mit 
diesem  theoretischen  Ergebniss  stimmen  die  Erfahrungsthatsachen 
über  das  gemeinsame  Vorkonnnen  nächst  verwandter  Varietäten 
vollkommen  überein. 

In  andern  Fällen,  wenn  nämlich  die  Anpassungsmerkmale  sich 
nicht  beeinträchtigen,  ist  zwar  das  gesellschaftliche  Entstehen  zweier 
oder  mehrerer  Varietäten  aus  einer  einförmigen  Sipj)e  keine  Unmög- 
lichkeit; sie  wird  aber  meistens  durch  die  Kreuzung  verhindert. 
Solche  Varietäten  haben  gewöhnlich  einen  räumlich  getrennten 
Ursprung;  wobei  sie  vor  der  Kreuzung  gesichert  sind.  Kommen 
sie  nachträglich  durch  Verbreitung  der  Samen  zusammen,  so  ent- 
stehen durch  Kreuzung  Bastardformen,  welche  je  nach  Umständen 
eine  vollständige  Uebergangsreihe  oder  nur  vereinzelte  Zwischen- 
glieder darstellen,  aber,  weil  sie  in  viel  zu  geringer  Zahl  vorhanden 
sind,  das  gesellschaftliche  Fortbestehen  der  Varietäten  und  ihre 
weitere  Ausbildung  nicht  mehr  zu  verhindern  vermögen.  —  Die 
genannten  Kreuzungsproducte  geben   den  Varietäten   den  Anschein 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification.  259 

der  erblichen  Yielf örmigkeit ,  denn  die  einzelnen  Formen  bleiben 
bei  Reinzucht  erhalten.  Es  ist  aber  eigentlich  nur  die  Rassen- 
vielf örmigkeit ,  welche  sich  zwischen  die  einförmigen  Varietäten 
hineinlagert. 

Die  durch  Kreuzung  von  Varietäten  (oder  Arten)  entstehenden 
Bastarde  sind  für  die  Varietäten-  und  Artbildung  beinahe  ohne 
Bedeutung,  indem  sie  nichts  Neues  und  Selbständiges  hervorbringen 
und  auch  die  fernere  Entwicklung  der  SipjDcn  kaum  modificiren. 
Dagegen  ist  ihr  Vorhandensein  für  die  Beurtheilung  der  Sijjpen  von 
grossem  Werth,  indem  es  einen  nahen  Verwandtschaftsgrad  und 
somit  einen  nicht  allzufernen  gemeinsamen  Ursprung  derselben 
anzeigt. 


Die  Varietät  wird  nur  durch  die  erblichen  Eigenschaften  be- 
stimmt; dies  gilt  auch  von  der  Rasse,  und  wenn  ich  bis  jetzt  von 
Rasse  gesprochen  habe,  so  setzte  ich  bloss  erbliche  Merkmale  als 
zum  Begriff  derselben  gehörig  voraus;  nur  in  dieser  Beschränkung 
hat  der  Begriff  eine  wissenschafthche  Bedeutung.  Dies  bleibt  oft 
unbeachtet,  und  besonders  die  Praktiker  nehmen  als  Rassenmerk- 
male auch  Ernährungsmodificationen  in  Anspruch.  Deswegen  konnte 
mir  auch,  als  ich  vor  Jahren  die  Behauj^tung  ausgesprochen,  die 
Ernährung  verändere  weder  A^arietäten  noch  Rassen,  erwiedert 
werden,  dass  dies  der  Erfahrung  widerspreche,  nach  welcher  viele 
Rassen  bloss  bei  einer  bestimmten  Ernährung  constant  bleiben. 
Der  Einwurf  war  ja  vollkommen  richtig,  wenn  man  dem  Begriff 
eine  unwissenschaftliche  Ausdehnung  gab.  Artet  die  Rasse  einer 
Pflanze,  welcher  bestimmte  Düngung  und  Cultur,  die  Rasse  eines 
Thieres,  welchem  Ijestimmtes  Futter  und  Pflege  entzogen  werden, 
aus,  indem  sie  gewisse  Ernährungsmerkmale  verhert,  so  liegt  darin 
gerade  der  Beweis,  dass  man  es  nicht  mit  einer  Rasse  im  strengen 
Sinne  zu  thun  hat,  dass  ihre  Eigenschaften,  soweit  dieselben  aus- 
arten, nicht  erblicli  sind.  Es  mag  nun  für  den  Praktiker  bequem 
und  nützlich  sein,  mit  dem  Ausdruck  Rasse  auch  die  veränderlichen 
Ernährungsmodificationen  zu  bezeichnen,  und  dies  um  so  mehr,  als 
den  letzteren,  wenn  sie  in  der  Cultur  entstehen,  häufig  etwas  Be- 
ständiges und  Erbliches  beigemengt  ist.  Aber  auf  wissenschaftliche 
Erörterungen  darf  dieser  Missbrauch  keinen  Einfluss  gewinnen.  Unter 
Rassenmerkmalen  dürfen  nur  solche  verstanden  werden,  welche  unter 

17* 


260  ^^-  Varietät,  Rasse,  Ernührungsmodification. 

yerschiedenen  äusseren  Verhältnissen  sich  eine  Zeit  lang  vererben; 
von  ihnen  muss  man  sorgfältig  alle  nicht  vererblichen  Eigenschaften 
ausscheiden. 

Die  Individuen ,  die  einer  Rasse  angehören ,  haben  selbst- 
verständlich immer  auch  Modificationsmerkmale  an  sich,  da  sie  sich 
in  einem  bestimmten  Ernährungszustand  befinden  müssen,  —  und 
die  Aufgabe  der  Wissenschaft  ist  es,  die  letzteren  von  den  erblichen 
Eigenschaften  zu  unterscheiden.  Im  allgemeinen  lassen  sich  die 
Merkmale  zum  voraus  ziemlich  scharf  trennen.  In  den  Formen, 
die  durch  Bastardirung  entstanden  sind,  gehören  die  von  den  Eltern 
überkommenen  hybriden  Merkmale,  in  den  Formen,  die  aus  krank- 
haften Veränderungen  hervorgegangen,  diese  krankhaften  Merkmale 
der  Rasse  an.  Was  dagegen  die  sog.  Pfropfbastarde  betrifft,  so 
lässt  sich  nach  den  meist  wenig  kritischen  und  wenig  zuverlässigen 
Angaben  nichts  allgemein  Gültiges  aussagen.  Es  ist  sicher,  dass 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  die  Unterlage  des  Pfropfreises  demselben 
nur  Nahrung  zuführt,  und  dass  somit,  wenn  eine  geringe  Ver- 
änderung der  Sorte  eintritt,  diese  als  vorübergehende  Ernährungs- 
modification  und  nicht  als  erbliche  Rasseneigenschaft  zu  betrachten 
ist;  denn  das  Pfropfen  dient  ja  gerade  zur  Conservirung  der  Rasse. 
In  gewissen  Fällen  jedoch  (Cytisus  Adami,  Pfropf  hybriden  von  Kar- 
toffeln) scheint  das  Pfropfreis  und  zwar  unmittelbar  durch  das 
Pfropfen  eine  erbliche  Veränderung  zu  erfahren,  während  es  später- 
hin, für  den  Fall,  dass  die  ^'^ereinigung  j^erennirend  ist,  nur  indiffe- 
rente Nahrung  aus  der  Unterlage  bezieht. 

Im  concreten  Fall  ist  es  oft  nicht  leicht,  die  Ernährungsmerk- 
male und  die  eigentlichen  Rassenmerkmale  genau  von  einander  zu 
unterscheiden,  weil  die  letzteren  zwar  erbhch,  aber  doch,  ihrem 
Ursprung  entsprechend,  von  geringer  Constanz  sind.  Man  muss 
sich  daher  wohl  hüten,  aus  unvollständigen  Beobachtungen  voreilige 
Schlüsse  zu  ziehen.  Wenn  man  eine  sog.  Rasse  von  ihrem  Ursprünge 
aus  verfolgen,  wenn  man  sie  längere  Zeit  beobachten  und  mit  ihr 
experimentiren  kann,  so  mag  es  gelingen,  die  einzelnen  Erscheinungen, 
welche  an  ihr  bemerklDar  sind,  auf  die  ursächlichen  Momente  zurück- 
zuführen. Ist  aber  das  Erfahrungsmaterial  für  einen  Schluss  unzu- 
reichend, so  läuft  man  immer  Gefahr,  Irrthümer  zu  begehen. 

Um  den  Einfluss  des  Klimas  auf  die  Pflanzen  darzuthun,  führt 
Darwin  Beobachtungen  von  Metzger  (Getreidearten  S,  206)  an  einer 


Y.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodiflcation.  201 

amerikanischen  Maissorte  an,  welche  in  Heidelberg  im  ersten  Jahr 
eine  Höhe  von  12  Fuss  erreichte,  in  den  folgenden  Jahren  kleiner 
wurde  und  zugleich  Gestalt  und  Farbe  der  Samen  veränderte,  und 
in  der  sechsten  Generation  vollständig  einer  europäischen  Varietät 
glich.  An  zwei  anderen  ^Nlaissorten  wurden  geringere  Umwandlungen 
beobachtet.  »Diese  Thatsachen,«  lautet  die  Folgerung  Darwin's, 
»bieten  das  merkwürdigste  mir  bekannte  Beisj)iel  der  directen  und 
sofortigen  Einwirkung  des  Klimas  auf  eine  Pflanze  dar.« 

Nach  meiner  Ansicht  sind  die  in  diesem  Falle  überlieferten 
Thatsachen  viel  zu  unvollständig,  um  überhaupt  zu  einem  Schluss 
auf  die  Ursachen  zu  berechtigen.  Unbekannt  ist  der  Ursprung 
und  die  Vorgeschichte  der  betreffenden  amerikanischen  Maissorten,  — 
unbekannt  die  Verschiedenheit  der  klimatischen  Einflüsse  ihres 
Vaterlandes  und  deren  Heidelbergs,  —  unbekannt,  ob  an  der  in 
Heidelberg  erfolgenden  Umwandlung  Kreuzung  mitgewirkt  habe  oder 
nicht.  Es  liegt  also  der  Antheil  der  Ernährungs-  und  klimatischen 
Einflüsse  gegenüber  den  Ursachen,  welche  erbliche  oder  eigentliche 
Rassenmerkmale  erzeugen,  umändern  und  vernichten,  gänzlich  im 
Dunkeln.  Es  wäre  ja  möglich,  dass  die  fraglichen  Sorten  in  Amerika 
unter  Umständen  eine  gleiche  Umwandlung  erfahren.  Damit  soll 
natürlich  nicht  ausgesprochen  werden,  dass  die  Folgerung  Darwin's 
an  und  für  sich  unmöglich  sei ;  aber  sie  ist  nur  eine  der  verschiedenen 
Möglichkeiten,  und  somit  keineswegs  bewiesen. 

Dass  der  Nichtbotaniker  oder  auch  der  Botaniker,  der  bis  dahin 
die  Wirkung  der  Ernährungs-  und  klimatischen  Einflüsse  nicht 
studirt  hat,  gerade  auf  diejenige  Möglichkeit  verfällt,  die  der  her- 
kömmlichen Meinung  entspricht,  ist  ja  sehr  begreiflich.  Nimmt 
man  aber  bei  der  Beurtheilung  der  Metzger'schen  Beobachtungen 
auch  die  kritisch  gesichtete  Erfahrung  über  die  genannten  Einflüsse 
zu  Hilfe,  so  wird  jene  Folgerung  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich. 

Dieses  Beispiel  gibt  zu  zwei  allgemeinen  Bemerkungen  Veran- 
lassung, von  denen  die  eine  das  Ergebniss,  und  die  andere  die  Methode, 
mittels  der  es  gewonnen  wurde,  betrifft.  Bezüglich  des  Ergebnisses 
verdient  die  Aeusserung  Darwin's,  dass  die  Umwandlung  der  Mais- 
sorten das  merkwürdigste  ihm  bekannte  Beispiel  von  der  directen 
und  sofortigen  Einwirkung  des  Klimas  auf  eine  Pflanze  darbiete, 
eine  besondere  Beachtung.  Wenn  ein  Mann  von  der  reichen  Er- 
fahrung,  von   der   ausserordentlichen  Findigkeit    und   dem    grossen 


262  V.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsraodification. 

Scharfsinn  im  Combiniren  der  Thatsachen,  wie  Darwin  sie  besitzt, 
zugesteht,  dass  er  mit  der  Beobachtung  Metzger's  den  besten  Beweis 
für  die  Ursächhchkeit  des  Khmas  bei  den  Umwandhnigen  der 
Pflanzensippen  beigebracht  habe,  so  muss  es  gewiss  sehr  sclihmm 
stehen  vmi  die  inductiven  Beweise  für  diese  Ursächhchkeit.  Aller- 
dings spricht  Darwin  nur  von  einer  »directen  und  sofortigen  Ein- 
wirkung« ;  wenn  aber  diese  sich  nicht  darthun  lässt,  wie  lassen  sich 
indirecte  und  langwierige  Einwirkungen  nachweisen? 

Rücksichtlich  der  Methode  ist  zu  beachten,  dass  der  Bericht 
Metzger's,  wie  ich  bereits  bemerkte,  ein  mageres  Bruchstück  aus 
der  Geschichte  der  betreffenden  Maissorten  ist,  aus  welchem  sich 
mit  Sicherheit  bloss  schliessen  lässt,  dass  die  Maissorten  leicht  aus- 
arten, aber  nichts  über  die  Ursachen  dieses  Vorganges.  In  der 
Leichtigkeit  des  Ausartens  kommen  aber  Adele  Sorten  von  Cultur- 
pflanzen  dem  Mais  gleich.  Warum  wird  nun  nicht,  zur  Ermittelung 
der  Ursachen,  das  Ausarten  einer  Sorte  benützt,  die  der  eigenen 
Beobachtung  zugänglich  ist,  über  deren  Geschichte  sich  mancherlei 
ermitteln  lässt,  die  stetsfort  unter  verschiedenen  Ernährungs-  und 
klimatischen  Einflüssen  cultivirt  wird,  und  die  der  allgemeinen 
Controlle  unterstellt  werden  kann?  Ich  glaube,  es  geschieht  des- 
wegen, weil  gerade  solche  Beispiele  immer  die  vorgefasste  Meinung 
täuschen,  und  weil  dieselben  in  der  Fülle  der  Thatsachen  zeigen, 
dass  man  mit  einer  einfachen  Formel  nicht  auskommt,  sondern  dass 
bei  den  beobachteten  Umwandlungen  mehrere  und  verschiedenartige 
Ursachen  zusammenwirken,  die  sich  nur  auf  dem  mühsamen  Wege 
exacter  Forschung  trennen  und  erkennen  lassen. 

Damit  bin  ich  auf  einen  der  wunden  Punkte  gekommen,  an 
denen  die  Methode  der  heutigen  Abstammungslehre  überhaupt  leidet. 
Man  geht  nicht  immer  auf  streng  inductivem  Wege  von  den  einzelnen 
sicher  gestellten  Thatsachen  aus,  sondern  man  baut  sich  mehr  nach 
einem  allgemeinen  und  oberflächlichen  Ucberblick  Theorien  auf,  für 
welche  man  dann  die  bestätigenden  Thatsachen  zusammensucht. 
Und  da  man  —  es  gilt  dies  besonders  von  den  natürlichen  Varietäten 
und  Arten  —  die  gewünschte  Bestätigung  nicht  in  den  zahllosen 
unzweifelhaften,  jeder  Beobachtung  zugänglichen  Vorkommnissen 
unserer  nächsten  Umgebung  findet,  so  sucht  man  sie  in  den  mangel- 
haften und  fragmentarischen  Berichten,  die  von  früheren  Beobachtern 
oder   von   Reisenden    in   fremden  Ländern    herstammen,    und    mit 


V.  Vatietät,  Rasse,  Ernährungsmodification.  263 

Vorliebe  auch  in  den  mangelhaften  und  fragmentarischen  paläonto- 
logischen Funden,  mit  einem  Wort  in  Ueberlieferungen  oder  That- 
sachen,  die  verschiedene  Deutungen  und  darunter  auch  die  ge- 
wünschte zulassen. 

Wie  der  Rassenbegriff  nur  dann  deutlich  und  rein  hervortritt, 
wenn  man  von  ihm  die  vorübergehenden  Merkmale  ausscheidet, 
welche  durch  Ernährung  und  Klima  unmittelbar  hervorgebracht 
werden,  so  verhält  es  sich  auch  mit  dem  Begriff  der  Varietät;  von 
demselben  muss  alles  Nichtvererbbare  ausgeschlossen  werden.  Die 
wirklichen  Varietätsmerkmale  lassen  sich  nur  dann  sicher  erkennen, 
wenn  eine  natürhche  Form  unter  die  verschiedensten  äusseren  Ver- 
hältnisse gebracht  wird.  Nur  die  bei  einer  solchen  Behandlung 
constant  bleibenden  Eigenschaften  gehören  der  Varietät  an ;  alle 
sich  verändernden  Eigenschaften  sind  als  Ernährungs-  und  Standorts- 
Modificationen  zu  eliminiren. 

^'  Neben  Rassen  und  Varietäten  muss  also  noch  eine  Kategorie 
von  Formen  unterschieden  werden,  die  durch  nicht  erbliche  Merk- 
male charakterisirt  ist,  und  die  ich  einstweilen  in  Ermangelung 
eines  anderen  Wortes  mit  der  bisher  bereits  gebrauchten  Benennung 
Modification  bezeichnen  will.  Die  Modificationen  werden  durch 
verschiedene  äussere  Einflüsse,  durch  Nahrung,  Klima,  Reize  hervor- 
gebracht und  sind  vorzüglich  Standorts-,  Ernährungs-  und  krankhafte 
Modificationen.  Sie  bestehen  in  Erscheinungen,  die  am  Individuum 
entstehen  und  wieder  vergehen,  oder,  wenn  sie  ihm  bis  zu  seinem 
Ende  anhaften,  doch  nicht  auf  die  Kinder  übertragen  werden. 
Kommen  sie  auch  den  Kindern  zu,  so  ist  dies  nicht  Folge  der 
Vererbung,  sondern  weil  sie  in  ihnen  durch  die  nämlichen  Ursachen 
wie  in  den  Eltern  erzeugt  werden. 

Ich  habe  von  den  Alpen-Hieracien  angegeben,  dass  dieselben 
in  den  Garten  der  Ebene  verpflanzt,  die  Ebenenmodification  an- 
nehmen, und  wenn  man  sie  von  da  auf  einen  mageren  Sandboden 
bringt,  wieder  in  die  zwerghafte  Alpenmodification  zurückkehren. 
Die  Hieracien  sind  krautartige  Gewächse,  welche  aus  dem  aus- 
dauernden kriechenden  Wurzelstock  jährlich  einen  im  Herbste 
absterbenden  oberirdischen  Trieb  bilden.  Ein  solcher  Wurzelstock 
stellt  ein  langlebiges  Individuum  dar,  mit*  demselben  Rechte  wie 
jeder  Baum,  besonders  aber  vde  ein  tropischer  Feigenbaum  mit 
seinen  Luftwurzeln.    Dieses  Indi^äduum  geht  nun  beim  Verpflanzen 


264  V-  Varietät,  Rasse,  Ernährungsinodification. 

in  eine  andere  Modification  über.  IManche  Systematiker  führen  die 
zwerghaften  einbUithigen  oder  einküpfigen  Alpenformen  als  besondere 
Varietäten  auf,  wenn  sie  sich  auch  von  den  grösseren  verzweigten 
mehrblüthigen  Formen  durch  kein  weiteres  Merkmal  unterscheiden. 
Bei  einer  solchen  systematischen  Behandlung  wird  der  »Varietät«  die 
allergeringste  Constanz  zugeschrieben ;  denn  man  kann  das  nämliche 
Individuum,  das  man  jährlich  in  andere  Ernährungsverhältnisse 
bringt,  Jahr  um  Jahr  in  die  alpine  und  wieder  in  die  campestre 
»A^'arietät«  überführen.  Dieses  Beispiel  zeigt  uns,  wie  wichtig  es 
ist,  die  Begriffe  Varietät  und  Modification  auseinander  zu  halten; 
denn  die  auf  erbliche  Merkmale  beschränkte,  wirkliche  Varietät  hat 
eine  Constanz,  deren  Dauer  nahezu  einer  Erdperiode  gleichkommt. 
Die  Modification  unterscheidet  sich  also  dadurch  von  der  Varietät 
und  der  Rasse,  dass  sie  nicht  erblich  ist.  Sie  hat  Bestand,  so  lange 
sie  sich  unter  den  nämlichen  äusseren  Einflüssen  befindet,  weil  diese 
Einflüsse  in  jeder  Ontogenie  wieder  die  nämlichen  Merkmale  hervor- 
bringen. Es  ist  dies  aber  keine  Constanz  im  naturwissenschaftlichen 
Sinne;  in  das  Idioplasma  wird  nichts  Erbliches  aufgenommen,  und 
wenn  die  Sippe  unter  andere  Einflüsse  kommt,  ist  ihr  daher  von 
den  Wirkungen  der  früheren  Einflüsse  nichts  zurückgeblieben.  — 
Der  Ausspruch,  dass  die  Modification  nicht  erblich,  die  Rasse  dagegen 
erblich  sei,  darf  aber  nicht  so  verstanden  werden,  dass  alle  Merk- 
male, welche  bei  der  Fortpflanzung  verloren  gehen  können,  der 
Modification  angehören.  Es  kommt  ja  bei  der  Fortpflanzung  der 
Rassen,  sei  es  durch  Inzucht,  sei  es  durch  Selbstl:)efruchtung,  nicht 
selten  vor,  dass  Eigenschaften  latent  und  dafür  andere  Eigenschaften 
manifest  werden.  Der  Unterschied  besteht  darin,  dass  die  Rasse  das 
verschwindende  Merkmal  bloss  äusserlich  verliert,  aber  als  idio- 
plasmatische  Anlage  bewahrt,  und  dass  das  Verschwinden  und  Wieder- 
erscheinen ihrer  Merkmale  nicht  mit  den  äusseren  Einflüssen  parallel 
geht,  während  die  Modificationen  die  bisherigen  Merkmale  bloss 
dann  verlieren,  wenn  sie  unter  andere  äussere  Verhältnisse  kommen, 
und  stets  wieder  erwerben,  sowie  sie  unter  die  früheren  Verhältnisse 
zurückversetzt  werden. 


Ich  will   nun    auf   die  merkwürdigen  Erscheinungen   eintreten, 
welche  die  Ernährungscinflüsse  an  den  niederen  Pilzen  hervorbringen. 


Y.  Yarietät,  Rasse,  Eniährungsmodification.  205 

Diese  Frage  liätte  eigentlich  schon  in  dem  Al)schnitt  über  die  Ur- 
sachen der  A^eränderung  erörtert  werden  sohen  ;  ich  habe  dies  dort 
unterlassen,  weil  die  Deutung  der  Ergebnisse  nicht  so  sehr  auf  der 
flachen  Hand  liegt  wie  bei  den  übrigen  Ernährungsresultaten,  und 
nur  nach  einer  kritischen  Yergleichung  der  Begriffe  Varietät,  Rasse 
und  Modification  in  befriedigender  AVeise  festgestellt  werden  kann. 
Jene  merkwürdigen  Erscheinungen,  von  denen  ich  nun  hier  sprechen 
will,  beruhen  darin,  dass  die  Wirkungsweise  der  niederen  Pilze  auf 
ihre  Umgebung  —  eine  Kraftäusserung,  die  bei  anderen  Organismen 
unbekannt  ist  —  durch  Ernährungs-  und  klimatische  Einflüsse  ge- 
ändert werden  kann. 

Schon  bei  anderen  Gelegenheiten  wm'de  von  mir  darauf  auf- 
merksam gemacht,  dass  die  Spaltj^ilze,  welche  die  Milch  sauer 
machen,  das  Vermögen  der  Säuerung  verlieren,  wenn  man  sie  ver- 
schiedenen schädlichen  Einwirkungen  aussetzt,  namentlich  wenn  man 
sie  mit  der  IVIilch  auf  100  "  C.  und  darülier  erhitzt,  oder  wenn  man 
sie  austrocknet.  So  wird  beispielsweise  ]\Iilch,  die  während  einiger 
Zeit  gekocht  wurde,  durch  die  SjDaltpilze,  die  sie  vor  dem  Kochen 
enthielt,  nicht  mehr  sauer,  sondern  bitter.  Das  verlorene  Vermögen, 
Zucker  in  Milchsäure  überzuführen,  kann  aber  den  geschwächten 
Pilzen  nach  und  nach  wieder  angezüchtet  werden.  Je  nach  dem 
Grad  der  Schwächung  und  je  nach  den  mehr  oder  weniger  günstigen 
Culturverhältnissen  bedarf  es  einer  geringeren  oder  grösseren  Zahl 
von  Generationen,  bis  die  frühere  Wirksamkeit  einigermaassen  her- 
gestellt ist. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  Wirksamkeit  anderer  gärungs- 
erregender Spaltpilze  und  auch  mit  dem  den  Zucker  in  Alkohol  und 
Kohlensäure  spaltenden  Sprosspilz.  Dabei  ist  zu  bemerken,  dass  die 
Verminderung  und  der  Verlust  der  Gärtüchtigkeit  als  eine  selbst- 
ständige und  specifische  Erscheinung  auftritt  und  nicht  etwa  mit 
einer  allgemeinen  Schwächung  zusammenhängt ;  denn  die  Pilze, 
denen  das  Vermögen,  Gärung  zu  erregen,  genommen  wurde,  haben 
oftmals  von  ihrem  Wachsthums-  und  Fortpflanzungsvermögen  nichts 
eingebüsst,  wiewohl  in  anderen  Fällen  durch  die  nämlichen  nach- 
theiligen Ursachen  die  Schwächung  gleichzeitig  in  der  einen  und 
anderen  Beziehung  erfolgt. 

Wie  die  Gärtüchtigkeit  wird  auch  das  Vermögen,  als  Contagien 
und  Miasmen  Krankheiten  zu  erzeugen,  durch  Ernährung  und  andere 


266  V-  Varietät,  Easse,  Ernährungsmodiflcation. 

äussere  Einflüsse  von  den  Pilzen  gewonnen  und  verloren.  Gewöhn- 
liche und  unschädliche  Fäulnissjiilze  w^erden  in  einer  Wunde  nach 
und  nach  zu  äusserst  gefährlichen  septischen  Contagien.  —  Der  so 
häufige  Fadenpilz  Penicillium  glaucuni,  der  besonders  auf  schimmeln- 
dem Brod  und  auf  schimmelnden  Käsearten  in  grosser  Menge  ohne 
den  geringsten  Nachtheil  verzehrt  wird,  lässt  sich,  wie  Grawitz 
gezeigt  hat,  zu  einem  tödtlichen  Contagium  heranzüchten. 

Besonders  aber  sind  die  Veränderungen  an  den  Heubakterien 
von  H.  B  u  c  h  n  e  r  in  exactester  Weise  erforscht.  Diese  Pilze,  die  in 
unendlicher  Menge  auf  Gras  und  Heu  vorkommen ,  von  dem  Vieh 
ohne  die  geringste  üble  Wirkung  mit  dem  Futter  gefressen  werden 
und  auch  bei  Einimpfungen  keine  Krankheit  hervorbringen,  werden 
durch  24  stündige  Züchtung  in  frischem  Blut  bei  Brutwärme  soweit 
umgebildet,  dass  sie  nun,  in  grösserer  Menge  einem  gesunden  Thiere 
eingeimpft,  Milzbrand  erzeugen.  Die  Heubakterien  verwandeln  sich 
also  in  dem  von  dem  Thierkörper  getrennten  Blut  in  Milzbrand- 
bakterien von  geringerer  Wirksamkeit  und  gehen  nachher  in  dem 
im  lebendigen  Körper  circulirenden  Blut  in  solche  von  vollkommener 
Infectionstüchtigkeit  über;  denn  aus  dem  kranken  Thier  vermögen 
sie  in  geringster  Menge  Milzbrand  zu  verursachen.  Zu  bemerken 
ist,  dass  zwischen  Stäbchen  der  einen  und  anderen  Modification 
keine  wesentlichen  Verschiedenheiten  wahrgenommen  werden,  weder 
in  der  Gestalt,  noch  im  Inhalt,  noch  in  der  Theilung. 

Wie  die  Heupilze  in  giftige  Milzbrandpilze  umgezüchtet  werden 
können,  so  lassen  sich  durch  den  umgekehrten  Process  die  letzteren 
in  harmlose  Heupilze  überführen,  wenn  sie  in  Fleischextractlösung 
mit  reichlichem  Luftzutritt  und  zuletzt  in  FTouaufguss  cultivirt  werden. 
Die  allmähliche  Umwandlung  gibt  sich  nicht  nur  in  einigen  Er- 
scheinungen desWachsthums,  sondern  namentlich  auch  in  der  stetig 
abnehmenden  Infectionstüchtigkeit  kund;  denn  während  anfänglich 
die  geringsten  Mengen  von  Pilzen  zur  Ansteckung  ausreichen,  be- 
darf es  dazu  mit  der  fortschreitenden  Umänderung  steigender  Mengen 
und  späterhin  vermag  auch  die  grösste  Anzahl  von  Pilzen  nicht 
mehr  Milzbrandkrankheit  zu  erzeugen. 

Bei  der  Umwandlung  auf  dem  angegebenen  Wege  hatten  die 
Milzbrandpilze  ungefähr  mit  der  360.  Generation  das  specifische 
Vermögen,  ein  Thier  milzbrandkrank  zu  machen,  verloren  und  mit 
der  1500.  Generation  nach  Verfluss  eines   halben  Jahres   waren   sie 


Y.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmoclification.  267 

ZU  vollkommenen  Heuj^ilzen  geworden.  Es  kann  aber  den  Milz- 
brandbakterien die  Infectionstüchtigkeit,  ohne  sie  zu  tödten,  in  der 
nämlichen  Generation  genommen,  und  die  vollständige  Uebcrführung 
in  Heubakterien  in  einer  viel  geringeren  Generationenzahl  zu  »Stande 
gebracht  werden,  wie  auch  der  umgekehrte  Process,  die  Umbildung 
der  Heupilze  in  vollendete  Milzbrandpilze  jedenfalls  nicht  mehr  als 
20  Generationen  erfordert. 

Beim  Uebergang  der  gewöhnlichen  Pilze  in  Krankheitspilze  und 
der  letzteren  in  die  ersteren,  sowie  bei  allen  Veränderungen  in 
der  Wirksamkeit  der  Pilze  sind  Ernährungs-  und  klimatische  Ein- 
flüsse allein  maassgebend,  nämlich  die  verschiedene  Mischung  der 
Nährlösung,  der  Temperaturgrad  und  die  zutretende  Sauer stoffim enge, 
—  also  gerade  diejenigen  Ursachen,  welche  bei  andern  Organismen 
die  vorübergehenden,  nicht  erblichen  Eigenschaften,  die  Merkmale 
der  Modificationen  bedingen.  Nun  haben  aber  die  Eigenschaften, 
welche  die  Heuljakterien  und  die  Milzbrandbakterien  unterscheiden, 
und  ebenso  die  Eigenthümlichkeiten  der  Pilze,  welche  das  Sauer- 
werden der  Milch  und  das  Bitterwerden  derselben  bewirken,  einige 
Constanz  und  sind  erblich.  Darin  beruht  scheinbar  eine  Ver- 
schiedenheit dieser  Pilzformen  gegenüber  den  anderen  Ernährungs- 
modificationen.  Constanz  und  Erblichkeit  kommt  aber  den  ge- 
nannten Pilzformen  sicher  zu,  denn  nur  mit  ihrer  Hilfe  ist  eine 
Umwandlung  durch  eine  Reihe  von  Generationen  möglich ,  indem 
in  jeder  Generation  die  ererbte  Eigenthümlichkeit  wieder  um  einen 
kleinen  Schritt  gesteigert  wird.  Wären  diejenigen  Eigenschaften, 
welche  die  specifische  Wirksamkeit  der  Pilze  bedingen,  nicht  erblich, 
so  müssten  sie  in  einer  einzigen  Generation  erlangt  werden.  Nun 
kann  zwar  das  specifische  Vermögen,  sei  es  Gärtüchtigkeit,  sei  es 
Infectionstüchtigkeit,  bei  Anwendung  von  energischen  Mitteln  in 
einer  einzigen  Generation  verloren  gehen;  aber  zur  Wiederher- 
stellung bedarf  es  immer  einer  nicht  geringen  Anzahl  von  Gene- 
rationen. 

Während  die  durch  ungleiche  Wirksamkeit  ausgezeichneten 
Pilzformen  bezüglich  der  A'ererbung  von  den  Ernälirungsmodi- 
ficationen  der  übrigen  Organismen  abzuweichen  scheinen,  stimmen 
sie  in  einem  anderen,  ebenfalls  die  Vererbung  betreffenden  Punkte 
mit  denselben  überein.  Ich  habe  angegeben,  dass  die  Alpenmodi- 
fication  einer  Pflanze  in   ihre  Ebenenmodification ,    diese  wieder  in 


268  V.  Varietät,  Rasse,  Ernähningsmodification. 

jene  übergeführt  werden  kann  und  so  weiter,  ohne  dass  etwas 
Bemerkbares  zurückbleibt.  Ganz  ebenso  können  die  Heubakterien 
in  ]\Iilzbrandbakterien  oder  die  säurebildenden  Spaltj)ilze  in  nicht 
säurebildende,  diese  wieder  in  Jene  übergeführt  werden  und  so  weiter, 
ohne  dass  diese  Metamorphosen  etwas  AVahrnehmbares  hinterlassen. 
Es  unterscheiden  sich  also  die  genannten  Pilzformen  in  gleicher 
Weise  wie  die  Standortsmodificationen  der  höheren  Pflanzen  von 
den  ^^arietäten  und  Arten,  weil  diese  sich  nicht  zurückverwandeln 
können.  Der  Grund  dieses  verschiedenen  "N^erhaltens  liegt  darin, 
dass  dem  Idioplasma  bei  der  A^arietätenbildung  immer  etwas  Bleibendes, 
bei  der  Erzeugung  von  Modificationen  dagegen  nichts  Bleibendes 
mitgetheilt  wird. 

Somit  erscheint  uns  die  Vererbung  bei  den  Wirkungsmetamor- 
j)hosen  der  Pilze  in  einem  doppelten  Lichte,  je  nachdem  wir  kürzere 
oder  längere  Abschnitte  einer  Generationenreihe  ins  Auge  fassen. 
Während  der  Metamorphose  vererben  sich  die  Eigenschaften  von 
Generation  zu  Generation.  Der  Pilz  hat  aber,  wenn  die  Metamor- 
phose wieder  rückwärts  gegangen  ist,  von  der  ganzen  Umwandlungs- 
periode nichts  Bleibendes  behalten.  Die  ganze  specifische  Wirk- 
samkeit der  Pilze  ist  ein  vorübergehender  Zustand,  gerade  so  wie 
die  Standortsmodificationen  der  höheren  Pflanzen.  Die  betreffenden 
Pilzformen  sind  daher  ebenfalls  als  Modificationen  zu  bezeichnen, 
allgemein  als  Wirkungsmodificationen,  specieller  als  Gärungs-  und 
Ansteckungsmodificationen  und  ganz  sj^eciell  als  Säuremodification, 
Alkoholmodi fication ,  Milzbrandmodification  u.  s.  w.  Sie  dürfen 
weder  als  Rassen  noch  als  Varietäten  oder  gar  als  Species  betrachtet 
werden,  wie  dies  ziemlich  allgemein  von  Morj)hologen  und  Aerzten 
geschehen  ist. 

Die  scheinbare  Verschiedenheit  bezüglich  der  Vererbung  von 
Generation  zu  Generation  zwischen  den  Wirkungsmodificationen  der 
Pilze  und  den  Ernährungsmodificationen  der  höheren  Pflanzen 
erklärt  sich  bei  näherer  Betrachtung  in  vollständig  befriedigender 
AVeise.  Indem  wir  nämlich  die  Generationen  der  niederen  Pilze 
und  der  Phanerogamen  zusammenhalten,  vergleichen  vnr  ganz  ver- 
schiedene Dinge  und  erhalten  daher  ein  widersprechendes  Resultat. 
Das  Ergebniss  ist  sofort  ein  anderes,  wenn  wdr  nicht  die  Genera- 
tionen der  Pflanzenindividuen,  sondern  die  Zellgenerationen  mit 
einander  vergleichen.     Die  unschädlichen  Heubakterien  verwandeln 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernähruiigsmodification.  269 

sich  durch  wenig  mehr  als  20  Zellgenerationen  ^)  in  Milzhrand- 
bakterien  mit  höchster  Infectionstüchtigkeit.  Der  Stock  der  Alj^en- 
pfianzen,  den  wir  aus  dem  Gebirge  in  die  Ebene  versetzen,  hat  in 
allen  seinen  Zellen  die  Natur  der  Alpenmodification.  Diese  Natur 
verliert  sich  zwar  schon  mit  dem  ersten  Trieb,  aber  nicht  etwa  mit 
der  ersten  Zellgeneration,  die  in  der  Ebene  gebildet  wird ;  sondern 
die  Veränderung  erfolgt  unter  dem  Einfiuss  der  neuen  klimatischen 
und  Ernährungseinflüsse  durch  eine  Reihe  von  Zellgenerationen, 
und  es  ist  recht  gut  möglich,  dass  dazu  eine  eben  so  grosse  oder 
selbst  eine  grössere  Zahl  von  Zellgenerationen  erforderhch  ist  als 
für  die  Umwandlung  der  Heu-  in  Milzbrandpilze.  Wir  können 
aber  dort  die  Veränderung  nicht  Schritt  für  Schritt  verfolgen  wie 
bei  den  letzteren,  sondern  wir  erkennen  bloss  das  schliessliche 
Resultat. 

Wir  haben  also  genügenden  Grund  zu  der  Annahme,  dass  die 
Bildung  der  Pilzmodificationen  keinem  andern  Princij:»  folgt  als 
diejenige  der  übrigeii  Ernährungsmodificationen.  Die  Veränderung 
vollzieht  sich  durch  eine  Anzahl  von  Zellgenerationen,  indem  jede 
Generation  die  mehr  und  mehr  veränderte  Substanz  auf  die  folgende 
Generation  vererbt.  Die  Verschiedenheit  besteht  nur  darin,  dass 
bei  den  Spaltpilzen  die  einzelnen  Zellen  oder  kleine  Zellgruppen 
getrennt  sind  und  ein  individuelles  Dasein  führen,  indess  dieselben 
bei  den  höheren  Pflanzen  zu  einem  Gewebe  vereinigt  bleiben  und 
Theile  eines  grossen  und  langlebigen  Individuums  darstellen,  sodass 
an  demselben  sich  nicht  nur  eine  vollständige  Metamorphose  voll- 
ziehen kann,  sondern  dass  selbst,  wenn  die  äusseren  Einflüsse 
wechselten,  mehrere  solcher  Metamorphosen  auf  einander  folgen 
könnten. 

Die  Vererbung  der  durch  ^^eränderung  gewonnenen  Eigen- 
schaften mangelt,  wie  aus  dem  Vorstehenden  sich  ergibt,  den 
Modificationen  durchaus  nicht.     Aber  sie  hat,    da  der   Bestand 


')  Die  Heu-  und  Milzbrandbakterien  sind  Stäbchen  aus  mehreren  hinter- 
einander hegenden  Zellen  bestehend.  Die  Stäbchen  vergrössern  .sich  durch  Wachs- 
thum  und  Theilung  der  Zellen  auf  ungefähr  die  doppelte  Länge  und  die  doppelte 
Zellenzahl,  um  dann  in  zwei  Stäbchen  zu  zerfallen.  Daraus  folgt,  dass  die  Genera- 
tionenzahl der  Stäl)chen  mit  der  Generationenzahl  der  Zellen  identisch  ist,  — 
was  nicht  der  Fall  wäre ,  wenn  die  mehrzelligen  Stäbchen  sich  durch  einzelne 
Zellen  fortpflanzten. 


270  ^-  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification. 

ihrer  Eigenschaften  nur  unter  der  Bedingung  gesichert  ist,  dass 
die  bewirkenden  Ursachen  fortdauern ,  eine  andere  Bedeutung 
als  die  Vererbung  bei  den  Varietäten  und  den  Rassen. 
Diese  Verschiedenheit  in  der  Beständigkeit  der  ererbten  Merkmale 
beruht  darin,  dass  bei  der  Varietäten-  und  Rassenbildung  das 
veränderte  Idioplasma  vererbt  wird,  bei  der  Bildung  der  Modi- 
ficationen  dagegen  neben  dem  unveränderten  Idioplasma  nur  ver- 
ändertes Ernährungsplasma  und  andere  nichtplasmatische 
Substanzen,  welche  bei  der  Zellth eilung  selbstverständlich  von  einer 
Zellgeneration  auf  die  andere  übergehen. 

Die  Modificationen  sind  alle  so  beschaffen,  dass  für  ihre 
Entstehung  die  Annahme  einer  Veränderung  des  Idioplasmas  weder 
erforderlich  noch  auch  nur  wahrscheinlich  ist.  Das  letztere  regelt 
vorzugsweise  den  Gestaltungsprocess  (nisus  formativus)  in  den  mi- 
cellaren  Gebieten  des  Ernährungsplasmas  und  der  übrigen  Sub- 
stanzen und  damit  auch  den  Gestaltungsprocess  in  den  gröberen, 
unseren  Sinnen  zugänglichen  Gebieten.  Mit  der  Veränderung  in 
der  micellaren  Beschaffenheit  ist  natürlich  in  der  Regel  auch  eine 
Veränderung  im  Chemismus  verbunden.  Aus  der  constanten  und 
erblichen  Veränderung  im  Gestaltungsprocess  und  im  Chemismus 
schliessen  wir  auf  die  Umbildung  des  Idioplasmas.  —  Eine  solche 
Veränderung  findet  nun  bei  der  Umwandlung  der  Alpenmodification 
in  die  Ebenenmodification  und  umgekehrt  nicht  statt,  sondern  nur 
eine  quantitative  Zu-  und  Abnahme  der  Zelltheilung  und  des  Zell- 
wachsthums,  der  Organbildung  und  des  Organwachsthums.  Dabei 
wird  ohne  Zweifel  auch  der  Zellinhalt  verändert,  aber,  soviel  wir 
wissen,  mn-  in  den  Mengenverhältnissen  der  vorhandenen  plastischen 
Stoffe  und  chemischen  Verbindungen,  indem  die  Bildungsprocesse 
zu-  oder  abnehmen,  und  indem  die  Zu-  und  Abnahme  in  ungleichem 
Verhältniss  erfolgt.  Das  Idioj^lasma  ist  also  bei  der  Umwandlung 
der  Standortsmodificationen  in  keiner  anderen  Weise  betheiligt,  als 
dass  in  Folge  der  veränderten  äusseren  Einflüsse  gewisse  Anlagen 
in  demselben  häufiger  oder  energischer  erregt  werden  und  daher 
auch  zahlreicher  oder  üppiger  sich  entfalten. 

Was  die  Wirkungsmodificationen  der  niederen  Pilze  betrifft,  so 
können  dieselben,  da  der  Gestaltungsprocess  unverändert  bleibt ,  aus 
einer  blossen  Veränderung  in  der  Mischung  des  Ernährungsplasmas 
erklärt  werden.     Die   verschiedene   Wirksamkeit  erscheint  uns   nur 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification.  271 

als  etwas  Ausserordentliches  und  Specifisches,    so  lange  ■v\dr  sie  aus 
der  Ferne  als  etwas  ^fysteriöses  anstaunen.    Ziehen  w^r  den  Schleier 
von  dem   Mysterium   weg   und    zergliedern    wir    die    demselben    zu 
Grunde  liegende  Erscheinung,    so  haben   wir  es  mit  gewöhnlichen 
Ernährungsvorgängen    zu    thun,    wie    sie    thatsächlich    immer    von 
Individuum    zu  Individuum    wechseln    können.      Die   Gärthätigkeit 
der  Pilze  beruht  auf  gewissen  Bewegungszuständen  des  Ernährungs- 
plasmas, welche  auf   das  Gärmaterial  übertragen   werden.     Die   In- 
fectionsthätigkeit  der  Krankheitspilze  beruht  entweder  ebenfalls  auf 
solchen    specifischen    Bewegungszuständen,    welche    die    normalen 
Bewegungszustände  der  lebenden  Substanz  des  inficirten  Organismus 
stören,     gleichwie     von    verschiedenen   Gärpilzen   der    stärkere    die 
übrigen    stört  und   verdrängt.      Oder  die   Krankheitspilze   erweisen 
sich  in  der  A^erwandtschaft  zu  gewissen  Nährstoffen  als  die  stärkeren 
und    entziehen    dem    Blut   und    den    Gewebezellen    Sauerstoff    oder 
andere  unentl)ehrliche  Verbindungen.     Wahrscheinlich  treffen  diese 
beiden  Momente  stets  zusammen,  da  sie  die  Folge  der  specifischen 
physikalisch-chemischen  Beschaffenheit  des  Ernährungsplasmas  sind. 
Damit    wäre   nicht   ausgeschlossen,    dass    die    Infectionspilze    auch 
sehr    giftige   Verbindungen   in   geringen  Mengen  erzeugten,   welche 
ihre  nachtheiligen  Wirkungen  auf  den  inficirten  Organismus  unter- 
stützten. 

Mag  nun  in  Wirklichkeit  das  eine  oder  andere  Moment  allein 
vorhanden  sein  oder  mögen  sie  vereint,  auftreten,  so  lassen  sie  sich 
durch  geringe  und  vorübergehende  Veränderungen  in  der  Lebens- 
weise der  Pilzzellen  erklären.  Die  veränderten  Einflüsse  in  Nahrung:, 
Temperatur  und  Sauerstoffzufuhr  bewirken  nicht  eine  Umbildung 
des  Idioplasmas,  sondern  nur  eine  vermehrte  Erregung  der  einen 
und  eine  verminderte  Erregung  der  anderen  idioplasmatischen  An- 
lagen und  in  Folge  dessen  eine  Zunahme  der  einen,  eine  Abnahme 
der  anderen  plastischen  und  chemischen  Processe  im  Ernährungs- 
plasma, also  eine  andere  Mischung  des  Zelleninhaltes,  eine  Steigermig 
der  einen  Bewegungszustände  und  eine  stärkere  Anziehung  auf  gewisse 
Verbindungen  in  der  Umgebung.  Findet  Bildung  von  giftigen  Sub- 
stanzen in  den  Krankheitspilzen  statt,  so  mangelt  dieselbe  ihren 
gewöhnlichen  und  unschädlichen  Modificationen  nicht  gänzlich, 
sondern  ist  in  denselben  nur  auf  ein  Minimum,  vielleicht  auch  auf 
eine    latent    bleibende   Anlage   beschränkt,    wie    die    Bildung    von 


272  ^-  Varietät,  Rasse,  Ernährnngsinodification. 

Amygdalin  in  den   bitteren   Mandeln    nur  viel   stärker   auftritt,   als 
in  den  süssen  Mandeln. 

Die  veränderte  Wirksamkeit  der  niederen  Pilze  entspringt  also 
aus  einer  anderen  Mischung  des  Zelleninhaltes ,  wie  dieselbe  bei 
allen  Ernährungsmodificationen  auftritt.  Wenn  diese  Mischungs- 
änderung bei  den  höheren  Pflanzen  sich  nicht  in  einer  veränderten 
Wirkung  kund  gibt,  wie  bei  den  niederen  Pilzen,  so  rührt  dies 
einerseits  daher,  weil  die  letzteren  durch  einen  besonders  lebhaften 
Vegetationsprocess  sich  auszeichnen,  indem  unter  günstigen  Um- 
ständen ihre  Substanz  schon  in  20  IMinuten  sich  verdoppeln,  in 
einer  Stunde  sich  auf  das  Achtfache  vermehren  kann.  Andererseits 
wird  die  Wirkung  der  niederen  Pilze  auf  die  Umgebung  dadurch 
gefördert,  dass  sie  in  die  Zellen  oder  in  die  einzelnen  Zellreihen 
aufgelöst  sind  und  somit  mit  einer  sehr  grossen  Berührungsfläche 
an  die  umgel:)enden  Substanzen  angrenzen,  während  bei  den  höheren 
Organismen  die  zu  einem  Gewebe  vereinigten  Zellen  nur  einander 
selbst  berühren  und  die  Oberhautzellen  wegen  der  geringen  Thätig- 
keit  ihres  Ernährungsplasmas  und  wegen  ihrer  schwer  durchdring- 
baren Bedeckung  (Cuticula)  für  eine  Wirkung  nach  aussen  nicht 
befähigt  sind. 


Die  Erörterung  des  Wesens  der  Varietäten,  Rassen  und  Modi- 
ficationen  fülirt  uns  naturgßmäss  auf  die  Erörterung  der  Begriffe 
Vererbung  und  Veränderung,  welche  die  Grundlage  der  Ab- 
stammungslehre bilden.  Indem  ich  die  Erwägung  dieser  allgemeinen 
Begriffe  an  den  Schluss  meiner  gesammten  Betrachtungen  verweise, 
weil  jene  erst  das  Resultat  der  letzteren  sind,  so  gehe  ich  den  um- 
gekehrten Weg  gegenüber  dem  gewöhnlichen  Verfahren.  Gewöhnlich 
stehen  in  der  Abstammungslehre  die  Vererbung  und  die  Veränderung 
voran,  nicht  aber  als  Objecto  der  Untersuchung,  sondern  als  allge- 
meine Gesetze,  welche  man  als  gegeben  aus  den  allgemeinen  Er- 
fahrungen annimmt.  Die  Gesetze  werden  weder  kritisch  gej^rüft 
noch  in  ihrer  Gültigkeit  fest  bestimmt;  sondern  sie  dienen  bloss 
als  Ausgangspunkt  für  die  weitere  Behandlung. 

So  kommt  es,  dass  in  den  Abstammungslehren  der  Darwin'schen 
Schule  Vererbung  und  Veränderung  als  gleichwerthig  einander 
gegenüber   gestellt  und  als   conservatives   und   progressives  Princip 


V.  Varietät,  Rasse,  ErnährUngsmodificatioü.  273 

unterschieden  werden.  Obgleich  dies  dem  äusserhchen  Anscheine 
entspricht  und  sich  für  die  Darstellung  einem  Laienpublikum  gegen- 
über als  effectvoU  erweist,  so  trifft  es  doch  nicht  den  Kern  der  Sache. 
Die  Vererbung  und  Veränderung,  von  denen  der  Darwinismus  aus- 
geht, sind  Erscheinungen,  die  bloss  den  Rassen  angehören  und  bei 
der  Kreuzung  mehr  oder  weniger  ungleicher  Individuen  bemerkbar 
werden.  Sie  beruhen  hier,  wie  ich  bereits  gezeigt  habe  (S.  203),  auf 
einer  irrthümlichen  Berurtheilung  der  thatsächlichen  Erscheinungen, 
indem  ^"ererbung  und  Veränderung  nach  den  sichtbaren  (entfalteten) 
Merkmalen  geschätzt  werden,  während  in  Wirklichkeit  bei  der  digenen 
Fortpflanzung  alle  idioplasmatischen  Eigenschaften  ohne  Ausnahme 
und  somit  auch  ohne  A^eränderung  vererbt  werden  und  alle  mög- 
licher Weise  eintretenden  Verschiedenheiten  auf  der  Entfaltungs- 
fähigkeit der  vererbten  Anlagen  in  der  neuen  idiojDlasmatischen 
Constitution  des  Keims  beruhen. 

Das  Gesetz  der  Vererbung  ist  das  Analogon  des  physikahschen 
Gesetzes  der  Trägheit  oder  der  Beharrung.  Wie  eine  fortschreitende 
Bewegung  in  ihrer  Richtung  und  ihrer  Geschwindigkeit  beharrt, 
so  behält  auch  die  durch  eine  Abstammungslinie  verlaufende,  ins- 
besondere die  von  den  Eltern  auf  die  Kinder  übergehende  Bewegung 
ihre  Beschaffenheit  bei.  Da  aber  in  dieser  Beschaffenheit  auch  eine 
nothwendige  Umbildung  und  Weiterbildung  aus  inneren  Ursachen 
enthalten  ist,  so  hat  die  Beharrung  in  der  Abstammung  oder  die 
Vererbung  nicht  bloss  emen  erhaltenden  sondern  zugleich  auch  einen 
fortschrittlichen  Charakter. 

Was  andrerseits  die  Veränderung  betrifft,  so  ist  dieselbe,  wie 
ich  eben  sagte,  zu  einem  grossen  Theil  von  der  Vererbung  untrennbar 
und  bildet  mit  derselben  einen  einheithchen  Begriff;  die  Vererbung 
würde  revolutionär  gegen  die  Gesetze  der  Natur,  wenn  man  ihr  die 
Veränderung  nehmen  wollte.  Ausser  dieser  mit  der  Beharrung 
identischen  Veränderung  gibt  es  in  den  Organismen  noch  andere 
durch  die  äusseren  Einflüsse  bewirkte  Veränderungen,  von  denen 
die  eine  vergängliche,  nicht  vererbbare  Merkmale,  die  andere  dagegen 
bleibende  Eigenschaften,  die  als  Erbtheil  auf  die  Nachkommen  über- 
gehen, hervorbringt. 

Vererbung  als  allgemeiner  Begriff  gefasst  ist  eigentlich  nichts 
Anderes  als  die  mit  dem  Uebergang  eines  Zustandes  in  den  nächst- 
folgenden  nothwcndig    verljundenen  Erscheinungen,   und  die  ganze 

V.  Xägeli,  Abslammungslehre.  lg 


274  V.  Varietät,  Rasse,  Emälirungsmodification. 

ontogenetische  und  phylogenetische  Bewegung  besteht  aus  einer 
continuirHchen  Reihe  solcher  Uebergänge.  Gewöhnlich  bezeichnet 
man  aber  als  Vererbung  bloss  bestimmte  Schritte  der  ganzen  Reihe, 
nämhch  bloss  die  Uebergänge  zwischen  getrennten  Individuen, 
indem  man  die  viel  zahlreicheren  Uebergänge  innerhalb  der  Ent- 
wicklungsgeschichte des  nämlichen  Individuums  vernachlässigt  oder 
wenigstens  nicht  als  Vererbung  ansieht.  Es  ist  aber  ebensogut 
Vererbung,  wenn  im  Individuimi  eine  Zelle,  die  sich  theilt,  ihre 
ganze  Eigenthümlichkeit  in  die  beiden  neuen  Zellen  niederlegt,  oder 
wenn  der  Pfianzenstock  jährlich  neue  Zweige,  Blätter  und  Blüthen 
treibt,  oder  wenn  aus  dem  Kinde  ein  Mann  und  ein  Greis  wird. 

Bei  den  folgenden  Erörterungen  will  ich  indessen,  dem  allge- 
meinen Sprachgebrauche  folgend,  mich  an  den  engern  Begriff  der 
Vererbung  als  einer  Uebertragung  der  Eigenschaften  zwischen  ge- 
trennten Individuen  halten.  In  dieser  Beziehung  fragen  wir  uns 
zuerst:  Was  wird  vererbt?  Die  Beantwortung  dieser  Frage  fällt 
bei  den  verschiedenen  Organismen  nicht  ganz  übereinstimmend  aus. 
Berücksichtigen  wir  zuerst  die  grosse  Mehrzahl  der  Organismen, 
die  sich  auf  geschlechtlichem  Wege  fortpflanzen,  die  also  aus  der 
Substanz  der  Eizellen  und  der  Spermatozoide  den  Anfang  der  neuen 
Generation  bilden,  so  wdrd  eigentlich  bloss  Idioplasma  vererbt  und 
es  gehen  von  den  Eltern  auf  die  Kinder  nur  Eigenschaften  über, 
welche  in  dem  Idioplasma  enthalten  sind.  Alles,  wodurch  sich  die 
Individuen  auszeichnen,  Gestalt,  Bau,  Grösse,  Farbe,  Krankheiten, 
Fertigkeiten,  überhaupt  alle  Errungenschaften,  welche  durch  die 
innere  Begabung  mit  Hilfe  der  äusseren  Gunst  oder  Ungunst  erlangt 
wurden,  gehen  mit  dem  Individuum  zu  Grunde,  wenn  sie  nicht 
einen  entsj)rechenden  Ausdruck  in  der  Beschaffenheit  des  idioplasma- 
tischen  Systems  gefunden  haben. 

Für  die  geschlechtlichen  Organismen  besteht  also  die  Continuität 
von  den  Eltern  auf  die  Kinder  bloss  durch  das  Idioplasma  in  den 
Spermatozoiden  und  Eizellen,  und  das  neue  Individuum  bringt  nur 
hervor,  wozu  es  die  vererbten  idioplasmatischen  Anlagen  und  die 
äusseren  Einflüsse,  die  es  selber  aufnimmt,  befähigen.  Die  Geschichte 
eines  Stammbaumes  von  der  einfachsten  bis  zur  comphcirtesten 
Pflanze,  von  dem  niedersten  bis  zmn  höchsten  Thier  ist  eigenthch 
nichts  w^eiter  als  die  Geschichte  des  idioplasmatischen  Systems, 
welches  in  dem  Laufe  der  Zeiten  immer  reicher  gegliedert  wird  und 


V.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodificatioü.  275 

daher  mit  der  Generationenfolge  immer  reicher  geghederte  Individuen 
erzeugt.  Der  ganze  Stammbamn  ist  im  Grunde  ein  einziges  aus 
Idioplasma  Vjestehendes,  continuirhches  Indi\'iduum,  welches  wächst, 
sich  vermehrt  und  dabei  verändert,  und  welches  mit  jeder  Generation 
ein  neues  Kleid  anzieht,  d.  h.  einen  neuen  individuellen  Leib  bildet. 
Es  gestaltet  dieses  Kleid,  entsprechend  seiner  eigenen  Veränderung, 
periodisch  etwas  anders  und  stets  mannigfaltiger,  mid  gibt  jedes 
Mal  mit  dem  Wechsel  desselben  auch  den  grössten  Theil  seiner 
eigenen  Substanz  Preis. 

Diese  Betrachtung  des  Stammbaumes  als  eines  einzigen  Indi- 
viduums ist  vollkonunen  correct,  weil  das  bei  der  Urzeugung  ent- 
stehende primordiale  Plasma  ebensogut  als  Idioplasma  betrachtet 
wird,  aus  dem  sich  dann  zunächst  das  Ernährungsplasma  ausscheidet, 
weil  ferner  in  den  darauffolgenden  Stadien  das  Idioplasma  das  fast  allein 
Wesentliche  der  vererbten  Substanz  ausmacht  und  weil  noch  später 
bei  den  geschlechtlichen  Organismen  das  Idioj^lasma  allein  die  durch 
alle  Generationen  ununterbrochen  fortdauernde  Substanz  darstellt. 
Betrachtet  man  eine  Reihe  von  Generationen  in  diesem  Lichte,  so 
hat  die  Vererbung  nur  noch  eine  figürliche  Bedeutung.  Die  wissen- 
schaftliche Darstellung  kann  zwar  des  Bildes  nicht  wohl  entbehren, 
ohne  die  bisherige  Anschauung  wesentlich  zu  ändern;  aber  gleich- 
wohl stellt  das  Bild  im  Grunde  die  Wirklichkeit  auf  den  Kopf.  Denn 
statt  dass  die  Eltern  einen  Theil  ihrer  Eigenschaften  auf  die  Kinder 
vererben,  ist  es  vielmehr  das  nämliche  Idioplasma,  welches  zuerst 
den  seinem  Wesen  entsprechenden  elterlichen  Leib  und  eine  Ge- 
neration nachher  den  seinem  Wesen  entsprechenden  und  daher  ganz 
ähnlichen  kindlichen  Leib  bildet. 

Während  bei  den  Organismen  mit  geschlechtlicher  Fortpflanzung 
nur  Idioplasma  vererbt  wird  und  alle  Errungenschaften  von  bloss 
individueller  Bedeutung  mit  jeder  Generation  wieder  verloren  gehen, 
verhält  sich  die  ^^ererljung  bei  den  niederen  Organismen,  die  sich 
durch  Theilung  vererben,  einigermaassen  anders.  Denn  hier  whd 
nicht  bloss  Idioj^lasma,  sondern  auch  Ernährungsplasma  und  andere 
Substanzen  auf  die  folgende  Generation  übertragen ;  die  zwei  Kinder 
theilen  sich  in  die  ganze  Masse  des  Elters  und  empfangen  somit 
auch  alle  individuellen  Eigenschaften  desselben.  Die  ^^ererbung  ist 
also  eine  viel  vollständigere  als  bei  den  grösseren  und  geschlecht- 
hchen  Organismen.    Käme  die  nämliche  Einrichtung   auch  bei  den 

18* 


276  V-  Varietät,  Rasse,  Ernähruiigsinodifioation. 

letzteren  vor,  würde  beispielsweise  der  Mensch  sich  durch  Theilung 
in  zwei  gleiche  Hälften,  die  sich  bloss  zu  vervollständigen  brauchten, 
vermehren,  so  ist  kein  Zweifel,  dass  er  viel  vollständiger  in  den 
Kindern  fortlebte  als  es  jetzt  der  Fall  ist,  dass  er  auch  das  individuell 
Gewonnene,  seine  Erfahrungen  und  Gewohnheiten,  sein  Wissen 
und  Können,  seine  Tugenden  und  Leidenschaften  auf  die  Kinder 
vererbte. 

Es  gibt  also  zweierlei  Arten  der  Vererbung,  ein  Umstand,  der 
bei  vergleichenden  Betrachtungen  wohl  zu  berücksichtigen  ist  und 
bei  dessen  Vernachlässigung  man  leicht  in  Irrthümer  verfallen  kann. 

Der  Gegensatz  der  beiden  Vererbungen  tritt  am  schärfsten 
hervor,  wenn  wir,  wie  es  eben  geschehen  ist,  die  Zweitheilung  der 
niedersten  und  die  geschlechtliche  Fortj)flanzung  der  höchsten  Orga- 
nismen gegen  einander  halten.  Die  Vererbung  durch  Idioplasma 
kommt  den  A^arietäten  und  Arten  sowie  den  Rassen  zu;  es  ist  die 
phylogenetische.  Die  Vererbung  durch  Ernährungsplasma  und  nicht- 
plasmatische  Substanzen  findet  bei  den  Modificationen  statt,  und  ist 
bloss  bei  einzelligen  und  wenigzelligen  Organismen,  die  sich  durch 
Theilung  vermehren,  bemerkbar,  worüber  ich  auf  das  bezüglich  der 
Spaltpilze  Mitgetheilte  verweise  (S.  205) ;  sie  beschränkt  sich  bei  den 
höheren  Organismen  auf  eine  Reihe  von  Zellgenerationen  innerhalb  der 
Ontogenien  und  ist  somit  nicht  Vererbung  im  engeren  Sinne  (S.  2(38). 

Die  zweite  Art  der  A^ererbung  ist  für  die  Abstammungslehre 
gleichgültig.  Sie  kann  immer  Platz  greifen,  wenn  die  Fortpflanzungs- 
zellen neben  dem  Idioplasma  noch  andere  Substanzen  enthalten. 
Letzteres  ist  nun  zwar  auch  bei  aller  geschlechtlichen  Fortpflanzung 
der  Fall ;  die  Spermatozoide  bestehen  zwar  fast  bloss  aus  Idioplasma, 
aber  die  Eizellen  besitzen  ausser  demselben  noch  eine  viel  grössere 
Menge  von  Substanzen,  die  als  Nährstoffe  verwendet  werden.  Daher 
wäre  es  möglich,  dass  von  der  Mutter  etwas  auf  die  Kinder  über- 
ginge, was  von  dem  Vater  niemals  vererbt  wird.  In  der  That  sollen 
gewisse  Krankheiten  von  mütterlicher,  aber  nicht  von  väterlicher 
Seite  auf  die  Kinder  übertragen  werden.  Aber  dieses  Erbe,  das  in 
dem  Ernälirungsplasma  enthalten  ist,  stellt  sich  bei  der  geschlecht- 
lichen Fortpflanzung  im  Allgemeinen  gegenüber  dem  phylogenetischen 
Erbtheil  durch  das  Idioplasma  als  so  winzig  heraus,  dass  es  meistens 
gänzlich  verschwindet  und  dass  Vater  und  Mutter  als  gieichbetheiligt 
in   dem  Kinde   erscheinen.     Immerhin   smd   die   beiden  Arten   der 


V.  Varietät,  Kasse,  Ernährungsmodification.  277 

Vererbung,  wenn  sie  auch  stets  mit  einander  vereinigt  auftreten,  als 
verschieden  in  ihrer  Bedeutung  zu  unterscheiden. 


Die  Veränderung,  die  gewöhnlich  der  Vererbung  gegenüber 
gestellt  wird,  steht  nicht  im  Gegensatz  zu  dieser,  sondern  zur 
Constanz.  —  Sie  ist  auch  nicht  gleichbedeutend  mit  Anpassung, 
wie  es  von  der  Dar  w  i  n  'sehen  Schule  gelehrt  wird ;  denn  die  An- 
passungsveränderung ist  nur  ein  Theil  der  Veränderungen,  welche 
die  Organismen  erfahren. 

Mit  dem  Ausdruck  »Veränderung«  bezeichnet  man  nicht  nur 
den  Vorgang,  welcher  von  dem  früheren  zu  dem  späteren  Zustand 
hinüberführt,  sondern  auch  das  Resultat  dieses  Vorganges,  aus- 
gedrückt durch  den  Unterschied  zwischen  den  beiden  Zuständen. 
In  diesem  Sinne  heisst  eine  Veränderung  constant,  wenn  das  Ge- 
wonnene dauernd  behalten,  und  vergänglich,  wenn  es  bald  wieder 
preisgegeben  wird.  Die  constante  oder  die  phylogenetische  Ver- 
änderung, wiewohl  sie  nach  den  sich  vererbenden  Eigenschaften 
des  entfalteten  Organismus  beurtheilt  wird,  ist  eigentlich  nichts 
anderes  als  die  Constitutionsänderung  des  Idioplasmas,  mit  welcher 
diejenige  der  sichtbaren  Merkmale  gleichen  Schritt  hält.  Die  ver- 
gängliche oder  transitorische  Veränderung  erfolgt  durch  die  von 
aussen  in  ungleicher  Weise  angeregte  Thätigkeit  des  Idioplasmas 
bei  gleichbleibender  Constitution  desselben.  —  Die  transitorischen 
Veränderungen  bedingen  die  Modificationen,  welche  für  die  Bildung 
der  Stammbäume  ohne  Bedeutung  sind.  Die  constanten  A-'^erände- 
rungen  erzeugen  die  Rassen  und  Varietäten,  von  denen  die  ersteren 
ebenfalls  keinen  Werth  für  die  Abstammung  haben,  indem  der 
Aufbau  der  Reiche  nur  durch  die  Veränderung,  die  zur  A'arietäten- 
bildmig  führt,  erfolgt. 

Die  individuelle  Veränderung  bedeutet  den  Schritt,  den  die 
Veränderung  von  einer  Generation  zur  nächstfolgenden  zurücklegt. 
Die  genaue  Würdigung  dieses  Werthes  ist  für  die  Abstammungs- 
lehre von  grösstem  Interesse,  weil  aus  demselben  die  Art  und 
Weise  sowie  das  Zeitmaass  des  phylogenetischen  Fortschrittes  sich 
ergibt.  Zu  diesem  Zweck  muss  die  individuelle  Veränderung  bei  der 
Varietätenbildung  von  derjenigen  bei  der  Rassen-  und  bei  der  Modi- 
ficationenbildung   strenge  unterschieden  werden.     Die  Vervs^echslung 


278  ^'-  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodificatinn. 

dieser  verschiedenen  Begriffe  hat  zu  ganz  irrigen  Vorstehungen  über 
die  Abstammungsbewegung  geführt.  Ich  will  daher  diesen  Punkt 
etwas  eingehender  betrachten. 

Der  Fortschritt  von  einer  Generation  zur  andern,  der  als  indi- 
viduelle Veränderung  bezeichnet  wird,  ist  gewöhnlich  das  Resultat 
eines  stetigen  Umbildungsj^rocesses  während  der  ontogenetischen 
Entwicklung.  Dies  lässt  sich  für  die  Varietätenbildung  nicht  be- 
zweifeln, mag  die  langsame  Umbildung  des  Idioplasmas  in  autonomer 
Weise  vermöge  seiner  eigenen  Constitution  oder  in  Folge  der 
äusseren  Einwirkungen  geschehen;  denn  die  al^ändernde  Ursache 
mangelt  gänzlich  beim  Fortpflanzungsacte.  Für  die  Bildung  der 
Modificationen  aber  ist  es  selbstverständlich,  weil  hier  ja  die  Ver- 
änderung mit  den  Wachsthumsprocessen  selbst  verbmiden  ist. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  Rassenbildung,  w^o  die  indivi- 
duelle Veränderung  wenigstens  dem  Anschein  nach  vorzugsweise 
mit  der  Befruchtung  eintritt,  weil  bei  der  Kreuzung  ungleiche  Idio- 
plasmen  zusammenkommen,  wodurch  theils  neue  Combinationen 
der  Anlagen  entstehen,  theils  früher  latente  Anlagen  manifest  werden. 
Man  kann  aber  hier  nur  insofern  von  individueller  Veränderung 
sprechen,  als  die  Resultirende  (das  Kind)  von  jeder  der  beiden 
elterlichen  Componenten  verschieden  ist,  nicht  insofern,  als  dass 
durch  sie  etwas  principiell  Neues  entstände.  Diese  Neues  schaffende 
Veränderung,  die  während  der  Dauer  der  Ontogenien  thätig  ist, 
mangelt  auch  den  Rassen  nicht;  aber  nur  soweit  sie  der  Modi- 
ficationenbildung  angehört,  macht  sie  sich  deutlich  bemerkbar, 
während  die  der  Varietätenbildung  angehörende  idioplasmatische 
Veränderung  wegen  ihrer  Geringfügigkeit  vollständig  gegenüber  den 
Sprüngen  der  Kreuzung  verschwindet. 

Die  individuelle  Veränderung  bei  stattfindender  Kreuzung  darf 
nicht  einfach  durch  die  Verschiedenheit  zwischen  der  Mutter  und 
den  Kindern  oder  durch  die  Verschiedenheit  unter  den  Kindern  als 
gegeben  betrachtet  werden,  eine  Bemerkung,  welche  für  die  Ge- 
schlechtspflanzen nicht  ganz  überflüssig  ist.  Ein  solches  Verfahren 
hätte  nur  Berechtigung,  wenn  man  sicher  wüsste,  dass  die  Samen 
aus  SelbstbefiTTchtung  entsprungen  sind.  Hat  aber,  was  immer 
möglich  ist,  wenn  man  nicht  besondere  Vorsiclitsmaassregeln  an- 
wendet, Befruchtung  durch  andere  Individuen  statt  gefunden  und 
haben  die  Kinder  somit  zwei  Eltern,   so  darf  die   individuelle  Ver- 


V.  Varietät,  Rasse,  Eniälxrungsmodification.  279 

änderlichkeit  nur  mit  Berücksichtigung  dieses  Umstandes  heurtheilt 
werden.  Wenn  das  Individuum  A  durch  das  Individuum  B  be- 
fruchtet wurde,  so  sind  die  Kinder  BA,  und  die  individuelle  Ver- 
änderung ist  nicht  etwa  gleich  der  Differenz  von  A  und  BA,  und 
wenn  von  den  Kindern  des  Individuums  A,  was  häufig  vorkommt, 
die  einen  aus  Selbstbefruchtung,  die  andern  aus  der  Befruchtung 
durch  B  hervorgegangen  sind,  so  kann  selbstverständlich  die  indivi- 
duelle Veränderlichkeit  abermals  nicht  aus  dem  Unterschiede  der  Halb- 
geschwister A  A  und  B  A  ermessen  werden.  —  Sind  die  Kinder  durch 
das  Zusammenwirken  zweier  Individuen  entstanden ,  so  darf  die 
individuelle  ^"eränderung  nicht  durch  Vergleichung  des  Kindes 
(BA)  mit  dem  Vater  (B)  oder  mit  der  Mutter  (A),  sondern  nur  mit 
der  Summe  des  elterlichen  Paares  (B  -|-  A)  oder  auch  durch  Ver- 
gleichung der  legitimen  Geschwister  unter  einander  heurtheilt  werden. 

Wenn  die  individuelle  Veränderung  nicht  durch  Kreuzung  erfolgt, 
sondern  in  Folge  des  Wachsthumsprocesses  während  der  ontogenetischen 
Entwicklungen  tliätig  ist,  so  muss  bei  vergleichenden  Untersuchmigen 
der  ungleiche  Werth  der  Generationen  bei  den  verschiedenen  Orga- 
nismen in  Rechnung  gebracht  werden.  Die  Veränderung  erlangt, 
da  sie  ununterbrochen  arbeitet,  einen  grösseren  oder  geringeren 
Betrag  je  nach  der  Dauer  der  Ontogenien  und  je  nach  dem  Bau 
und  der  Grösse  der  Individuen.  Bei  einzelligen  Organismen,  die 
sich  durch  Theilung  vermehren,  wirkt  die  individuelle  Verändermig 
nur  während  der  Dauer  einer  Zelle  und  w^ährend  der  Verdoppelung 
des  Idioplasmas  und  der  übrigen  Substanz.  Bei  den  höheren 
Organismen  kann  die  Veränderung  vom  einzelligen  Keimstadium 
bis  zmn  Eintritt  der  Fortpflanzung  während  der  Dauer  von  Hundert- 
tausenden  und  Millionen  von  Zellgenerationen  und,  während  sich 
das  Idioplasma  und  die  übrige  Substanz  auf  das  Millionenfache  ver- 
mehrt, thätig  sein. 

Es  ist  klar,  dass  im  letzteren  Falle  eine  viel  beträchthchere 
Umwandlung  in  jeder  Beziehung  möglich  ist  als  im  ersteren,  und 
dass  wir  beispielsweise  eine  Million  von  Generationen  einzelliger 
Organismen  nicht  als  gleichwerthig  neben  eine  Million  von  Genera- 
tionen höherer  Organismen  stellen  dürfen,  sondern  dass  wir  im 
Gegentheil  eine  Million  Generationen  der  ersteren  mit  einer  einzigen 
Generation  der  letzteren  vergleichen  müssen.  Schon  aus  diesem 
Grunde  konnte  man  rücksichtlich  der  oben  besprochenen  Umwand- 


29iO  V.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification. 

hing  der  Wirkungsmodificationen  niederer  Pilze  (S.  265)  auf  die 
Verniuthung  kommen,  dass  dieser  Vorgang  keine  Varietätenbildung 
sein  könne,  weil  bei  demselben  die  ^^eränderung  während  hundert 
Zellgenerationen  grösser  ist  als  die  phylogenetische  Veränderung 
während  hundert  Generationen  höherer  Pflanzen,  von  denen  jede 
hunderttausend  oder  eine  Million  Zellgenerationen  durchläuft. 

Vergleichen  wir  noch  die  individuelle  A^eränderung  bei  der 
Bildung  der  Modificationen,  der  Rassen  und  der  Varietäten  mit  ein- 
ander, so  bedarf  diejenige,  welche  zur  Entstehung  der  Modificationen 
führt,  keiner  weiteren  Erörterung.  Je  nach  den  äusseren  Einwirkungen 
mangelt  sie  bald  vollständig,  wenigstens  dem  Anscheine  nach,  bald 
verursacht  sie  eine  bis  zur  Unkenntlichkeit  gehende  ^Verschiedenheit. 
Ich  habe  bereits  ausgeführt,  wie  sehr  sie  die  Rassen-  und  die  Va- 
rietätenbildung verdecken  kann,  und  wie  wichtig  es  ist,  diese  trans- 
itorische  Veränderung  von  den  dauernden  Veränderungen  strenge 
zu  scheiden. 

Was  die  individuelle  Veränderung  bei  der  Rassenbildung 
betrifft,  so  ist  diesell)e  meistens  von  deutlich  wahrnehmbarer  Grösse. 
Bald  besteht  sie  in  kleinen  Schritten,  die  sich  nach  wenigen  Gene- 
rationen zu  einem  in  die  Augen  fallenden  Schritte  summiren,  bald 
in  einem  Sprunge,  wodurch  die  Rasse  auf  einmal  zu  Stande  kommt. 
Der  Sprung  kann  so  gross  sein,  dass  die  Merkmale  der  neuen  Rasse 
bei  verwandten  natürlichen  Sippen  eine  Art  oder  eine  Gattung,  sogar 
eine  Ordnung  oder  eine  Classe  charakterisiren  würden. 

Als  Beispiel  für  einen  sehr  grossen  Sprung  nenne  ich  die 
Metamorphose,  welche  bei  der  gewöhnlichen  Unkrautpflanze  Capsella 
bursa  pastoris  und  bei  einigen  anderen  Cruciferen  (Iberis  semper- 
florens,  Matthiola  annua,  Cardamine  jiratensis)  beobachtet  worden 
ist.  Die  normale  Blüthe  mit  6  tetradynamischen  Staubgefässen  und 
4  Blumenblättern  verwandelt  sich  dabei  in  eine  apetale  Blüthe  mit 
10  Staubgefässen;  es  werden  also  die  4  Blumenblätter  unterdrückt 
und  dafür  4  Staul^gefässe  gebildet.  Dies  ist  ein  Sprung,  der  zu 
vollkommener  Constanz  gelangt,  den  Uebergang  in  eine  andere 
Classe  bedeuten  könnte.  —  Unter  den  Sprüngen ,  welche  zu  den 
Merkmalen  einer  anderen  natürlichen  Ordnung  führen,  ist  die  Ver- 
wandlung unregelmässiger  Blüthen  in  regelmässige  zu  nennen,  oder 
die  Pelorienbildung,  wie  sie  beispielsweise  bei  Linaria  und  An- 
tirrhinum  vorkommt.    —    Oft    treten    diese    Sprünge    an    einzelnen 


Y.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodüication.  281 

Aesten  oder  Zweigen  auf,  sodass  letztere  in  eine  andere  Varietät, 
Art  oder  Gattung  umgewandelt  scheinen;  so  trägt  ein  einzelner 
Zweig  geschlitzte  oder  krause  oder  panaschirte  Blätter  oder  gefüllte 
Blüthen  u.  dgl. 

Wenn  ich  sage,  dass  die  individuelle  Veränderung  bei  der 
Rasse  Eigenschaften  hervorbringe,  welche  sonst  Arten ,  Gattungen, 
Ordnungen  und  Classen  unterscheiden,  so  meine  ich  natürlich  nicht, 
dass  diese  Sippen  wirklich  gebildet  werden.  Denn  das  Wesen  einer 
systematischen  Einheit  besteht  nicht  in  den  Merkmalen,  sondern  in 
dem  Grade  der  Constanz.  Die  erwähnten,  durch  grosse  Sprünge  der 
individuellen  Veränderung  hervorgebrachten  Merkmale  haben  aber 
nur  eine  sehr  geringe  Constanz  und  können  daher  auch  nur  die 
Bedeutung  von  Rassenmerkmalen  in  Anspruch  nehmen. 

Wie  ich  bereits  oben  ausgeführt  habe  (S.  246),  bestehen  die 
Sprünge  der  individuellen  ^Veränderung  bei  den  Rassen  nicht  darin, 
dass  wirklich  neue  Merkmale  entstehen,  sondern  darin,  dass  latente 
Anlagen  zur  Entfaltung  gelangen.  Wenn  eine  rothblühende  Pflanze 
bei  Selbstbefruchtung  unter  ihren  Kindern  auch  weissblühende  hat, 
so  ist  dies  nicht  ein  Beweis  dafür,  dass  durch  einen  individuellen 
Schritt  rothe  Blüthen  weiss  werden  können,  sondern  dafür,  dass  die 
Anlage  zu  rothen  Blüthen  latent  und  dafür  die  früher  latente 
Anlage  zu  weissen  Blüthen  manifest  werden  kann.  —  Was  das 
vorhin  erwähnte  Beispiel  von  Capsella  bursa  pastoris  und  anderer 
Cruciferen  betrifft,  so  erlaubt  das  Verschwinden  von  4  Blumen- 
blättern und  das  Auftreten  von  4  neuen  Staubgefässen  eine  doppelte 
Deutung.  Man  kann  eine  directe  Umwandlung  der  Blumenblätter 
in  Staubgefässe  annehmen,  und  sich  dabei  auf  den  Umstand  berufen, 
dass  die  Blumenblätter  aus  Staubgefässen  entstanden  sind,  sodass 
also  die  Anlagen  auf  einen  früheren  Zustand  zurückgehen ,  oder 
vielmehr,  dass  die  noch  im  latenten  Zustande  vorhandenen  Anlagen 
von  Staubgefässen  sich,  anstatt  der  Anlagen  von  Blumenblättern, 
entfalten  würden.  Man  kann  sich  aber  auch  denken,  dass  für  die 
4  Blumenblätter  der  Cruciferen  keine  besonderen  latenten  Anlagen 
von  Staubgefässen  mehr  im  Idioplasma  enthalten  sind ,  und  dass 
beim  Latentwerden  der  Blumenblätter  die  Anlage  der  Staubgefässe 
sich  lediglich  in  vermehrter  Zahl  entfaltet,  wobei  die  Architektur 
der  Blüthe  unverändert  bleibt.  Die  Zahl,  in  der  ein  Organ  auftritt, 
ist  nämlich  bei  den  Pflanzen  sehr  häufig  Variationen  unterworfen, 


282  V.  Varietät,  Rasse,  Ernährungsmodification, 

und  wir  müssen  wohl  annehmen,  dass  für  ein  und  dasselbe  Organ 
nur  ein  Complex  von  Anlagen  vorhanden  sei  und  dass  es  von  der 
Configuration  und  Beschaffenheit  des  Idioplasmas  abhänge,  ob  dieser 
AnlagencomiDlex  sich  einmal  oder  vielmal,  ob  er  in  bestimmter  oder 
in  unbestimmter  Zahl  sich  verwirkliche.  Da  nun  die  Natur  des 
Idioplasmas  für  die  Cruciferenblüthe  4  Blumenblätter  und  6  Staub- 
gefässe  verlangt,  so  ist  es  begreiflich,  dass  die  Anlage  der  Staub- 
gefässe  beim  Verschwinden  der  Blumenblätter  die  entstehende  Lücke 
auszufüllen  bestrebt  ist.  *' 

Während  die  individuelle  Veränderung  bei  der  (künstlichen) 
Rassenbildung  in  ganz  gewaltigen  Sprüngen  bestehen  kann ,  sind 
die  individuellen  Schritte  bei  der  (natürlichen)  Varietätenbildung 
unendlich  klein,  sodass  man  sie  gar  nicht  wahrnimmt.  Man  weist 
zwar  darauf  hin,  dass  nicht  zwei  Bäume  eines  Waldes  oder  zwei 
Stöcke  einer  anderen  wildwachsenden  Pflanze  gleich  seien.  Allein 
die  Verschiedenheiten,  die  wir  hier  beobachten,  gehören  ausschliesslich 
den  Standorts-  oder  Ernährungsmodificationen  an  und  liegen  inner- 
halb der  ontogenetischen  Elasticitätsgrenze.  Eine  wildwachsende 
Pflanze  ist  von  ihren  Eltern  in  wahrnehmbarer  Weise  bloss  durch 
nichterbliche  Eigenschaften  imterschieden.  Ich  habe  in  früheren 
Zeiten  die  individuelle  Verschiedenheit  bei  den  natürlichen  Sippen 
für  ebenso  sicher  gehalten,  wie  dies  jetzt  noch  allgemein  der  Fall 
ist.  Aber  die  zahlreichen  Erfahrungen,  die  ich  bei  der  Cultur  wild- 
wachsender Pflanzen  gemacht  habe,  waren  so  übereinstimmend  und 
so  schlagend,  dass  ich  mich  nunmehr  zu  der  Behauptung  gezwungen 
sehe:  Die  individuelle  Verschiedenheit  sei  zwar  theoretisch  unan- 
fechtbar und  es  können  zwei  Individuen,  seien  es  Geschwister,  seien 
es  Elter  und  Kind,  auch  in  ihren  erblichen  Eigenschaften  nicht 
vollkommen  identisch  sein;  allein  die  erblichen  Verschiedenheiten 
beschränken  sich  auf  nicht  bemerkbare  physikalische  und  chemische 
Molecularverhältnisse. 

Da  die  Beobachtung  am  Individuum  kein  sichtbares  Resultat 
gibt,  so  lässt  sich  das  Maass  der  individuellen  Veränderung  bei  den 
Varietäten  nur  in  der  Weise  feststellen,  dass  man  untersucht,  wie 
weit  dieselbe  durch  eine  Reihe  von  Generationen  sich  häufen  kann. 
Die  Vergleichung  der  letzten  vorweltlichen  (nämlich  der  tertiären) 
Sippen  mit  den  jetzt  lebenden  zeigt  uns  in  vielen  Fällen  bloss  einen 
Fortschritt  zu  nahe  verwandten  Species;  die  Vergleichung   der   seit 


Y.  Varietät,  Rasse,  Ernähriingsniodification.  283 

der  Eiszeit  getrennten  Pflanzen  zeigt  uns ,  dass  unter  den  '  ver- 
schiedensten äusseren  Verhältnissen  die  Varietäten  gleich  geblieben 
sind  oder  nur  wenig  sich  verändert  haben.  Darnach  wäre  der  Fort- 
schritt, der  auf  die  einzelne  Generation  trifft,  wirklich  unendlich 
klein.  Hiebei  ist  aber  zu  berücksichtigen,  dass  die  Beobachtung 
bloss  beweist,  die  Veränderung  sei  in  vielen  Fällen  sehr  gering 
gewesen,  während  sie  in  andern  Fällen  grösser  sein  konnte;  und 
ferner ,  dass ,  wenn  meine  Ansicht  von  der  Ausbildung  des  Idio- 
plasmas  richtig  ist,  die  innere  und  die  äussere  Veränderung  nicht 
gleichen  Schritt  halten  und  dass  in  manchen  scheinbar  gleich  ge- 
bliebenen Organismen  möglicher  Weise  Anlagen  erzeugt  wurden,  die 
zu  einer  grösseren  äusseren  Veränderung  führen  werden.  Immerhin 
ist  der  individuelle  Fortschritt  bei  der  Varietätenbildung  so  gering, 
dass  alle  während  einer  Erdperiode  auf  einander  folgenden  Genera- 
tionen zusammen  bloss  eine  Strecke  zurücklegen ,  die  von  der 
einzelnen  individuellen  Veränderung  bei  der  Rassenbildung  weit 
überholt  wird. 


VI. 

Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  natürlichen 

Zuchtwahl. 


Ich  habe  die  Berechtigung  der  Tlieorie  darzuthun  gesucht,  dass 
einerseits  die  Configuration  des  idioplasmatischen  Systems  mit  innerer 
Nothwendigkeit  stetig  comphcirter  und  periodisch  neue  Organisations- 
anlagen fertig  (entfaltungsfähig)  werden,  dass  andrerseits  die  äussern 
Einflüsse,  welche  als  directe  Reize  und  indirect  als  Bedürfnissreize 
wirken,  Anpassungsanlagen  im  Idioplasma  erzeugen,  —  dass  somit 
die  Eigenschaften  der  Organismen  die  nothwendigen  Folgen  von 
bestimmten  Ursachen  seien. 

Es  ist  nun  auch  die  Berechtigung  der  gegentheiligen  Theorie 
Darwin's  zu  prüfen,  welche  die  Abstammungsveränderungen  durch 
natürliche  Zuchtwahl  aus  unbestimmten  Wirkungen  äusserer  Ur- 
sachen entstehen  lässt.  Diese  Frage  wurde  schon  eingangs  im  all- 
gemeinen besprochen ;  nun  handelt  es  sich  darum,  sie  im  einzelnen 
rücksichtlich  der  Grundlagen  und  der  Folgerungen  mit  meiner  Theorie 
der  bestimmten  und  directen  Bewirkung  zu  vergleichen.  Obgleich 
die  entscheidenden  Thatsachen  in  den  vorstehenden  Auseinander- 
setzungen bereits  enthalten  sind  und  den  Leser  in  den  Stand  setzen, 
die  Vergleichung  vorzunehmen,  so  halte  ich  es,  angesichts  der  so 
allgemeinen  und  begeisterten  Zustimmung,  welche  das  Darwin'sche 
Princip  gefunden  hat,  doch  für  zweckmässig,  die  Unannehmbarkeit 
desselben  noch  in  besonderen  Ausführungen  darzuthun. 

Die  Erfahrungen  über  die  Rassenbildung  werden  von  Darwin 
folgendermaassen  zusammengefasst.  Wenn  die  Individuen  einer  Rasse 


VI.  Kritik  der  Darmu' sehen  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl.     285 

variiren  und  zwischen  denselben  ungehemmte  Vermischung  statt- 
findet, so  bleibt  die  Rasse  im  wesentlichen  dieselbe,  weil  beginnende 
neue  Merkmale  durch  die  Kreuzung  wieder  verloren  gehen.  Werden 
aber  nur  diejenigen  Individuen,  welche  die  neue  Eigenschaft  voll- 
ständig oder  in  einem  Anfange  besitzen,  durch  eine  Reihe  von 
Generationen  zur  Fortpflanzung  ausgewählt,  so  wird  die  Eigenschaft 
nach  und  nach  beständig,  indem  häufig  zugleich  eine  Steigerung 
derselben  eintritt.  Dieser  Vorgang  wird  nun  weiter  von  Darwin 
zu  der  Theorie  verwendet,  dass  im  natürlichen  Zustande  ein  ana- 
loger Process  stattfinde;  nur  werde  die  Zuchtwahl  hier  durch  die 
Concurrenz  getroffen.  Die  Individuen  der  natürlichen  Sippen  sollen 
variiren;  und  indem  die  Träger  der  nützlichen  Eigenschaften  die 
übrigen  verdrängen,  sollen  sie  allein  zur  A^ermehrung  gelangen  und 
vor  der  geschlechtlichen  Vermischung  mit  den  anderen  weniger  gut 
angepassten  Individuen  bewahrt  bleiben.  Wenn  der  Kampf  ums 
Dasein  nicht  eine  Auswahl  träfe,  so  würden  durch  die  Kreuzung 
die  beginnenden  Veränderungen  immer  wieder  abgelenkt  und  ver- 
nichtet. 

Zwischen  dieser  Selectionstheorie  und  derjenigen  der  directen 
Bewirkung  ist  scheinbar  nur  ein  kleiner  Unterschied,  indem  nach 
meiner  Ansicht  der  jetzige  Zustand  der  organischen  Reiche  eben- 
falls durch  die  Veränderung  der  Individuen  und  durch  die  Ver- 
drängung herbeigeführt  wurde.  Aber  die  cansalo  Bedeutung  dieser 
beiden  Processe  ist  eine  andere :  nach  Darwin  ist  die  Veränderuns: 
das  treibende  Moment,  die  Selection  das  richtende  und  ordnende; 
nach  meiner  Ansicht  ist  die  A'^eränderung  zugleich  das  treil^ende 
und  das  richtende  Moment.  Nach  Darwin  ist  die  Selection  noth- 
wendig;  ohne  sie  könnte  eine  Vervollkommnung  nicht  stattfinden 
und  würden  die  Sippen  in  dem  nämlichen  Zustande  beharren ,  in 
welchem  sie  sich  einmal  befinden.  Nach  meiner  Ansicht  beseitigt 
die  Concurrenz  bloss  das  weniger  Existenzfähige ;  aber  sie  ist  gänzlich 
ohne  Einfluss  auf  das  Zustandekommen  alles  A'ollkomnmoren  und 
besser  Angepassten^). 


•)  Dabei  ühersehe  ich  keineswegs,  dass  Darwin  die  natürliche  Zuchtwahl 
nur  als  das  hauptsächlic'hste  und  nii'lit  geradezu  als  das  einzige  Mittel  zur  Ab- 
änderung der  LeT)ensformen  bezeichnet;  aber  nach  meiner  Ansicht  ist  sie  in 
keinem  Falle  ein  Mittel  dazu, 


286     VI.  Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl. 

Der  Unterschied  z\\ischen  den  beiden  Theorien  offenbart  sich 
am  deuthchsten,  wenn  wir  uns  fragen,  wie  die  Reiche  wohl  be- 
schaffen wären,  wenn  die  Concurrenz  ganz  mangelte.  Ich  habe 
diese  Voraussetzmig  schon  in  der  Einleitung  (S.  17)  gemacht.  Nach 
der  Selectionstheorie  müsste  mit  dem  Auftreten  der  Geschlechts- 
differenz die  Entwicklung  der  Reiche  bei  mangelnder  Concurrenz 
aufgehört  haben,  weil  nun  eine  ungehemmte  Kreuzung  die  organische 
Welt  in  einem  Chaos  festgebannt  hätte.  Nach  meiner  Ansicht  da- 
gegen würden  sich  auch  bei  fehlender  Concurrenz  alle  Organismen, 
die  wir  jetzt  kennen,  gebildet  haben ;  es  wäre  in  der  nämlichen  Zeit 
aus  der  einzelligen  Alge  ein  Eichbaum  und  aus  dem  Infusorium  ein 
Säugethier  geworden;  aber  es  wären  neben  den  jetzt  lebenden  Wesen 
auch  noch  die  Abkömmlinge  aller  derjenigen  vorhanden,  welche 
der  Kampf  ums  Dasein  verdrängt  und  vernichtet  hat. 

Auf  den  untersten  Stufen  der  lebenden  Wesen,  im  Reiche  der 
Probien  und  bei  den  niedrigsten  Pflanzen  und  Thieren,  geschieht 
die  Vermehrung  auf  ungeschlechtlichem  Wege.  Hier  hat  die  Selection 
noch  keine  Bedeutung,  ein  Umstand,  der  besondere  Beachtung  ver- 
dient. Hat  nämlich  eine  Veränderung  in  einem  Individuum  be- 
gonnen, so  kann  sie  sich  stets  in  den  Nachkommen  desselben  ver- 
erben und  weiterbilden,  weil  keine  Kreuzung  sie  stört.  Der  Kampf 
mns  Dasein  entfernt  das  weniger  Existenzfähige  und  in  zu  grosser 
Zahl  A^orhandene,  aber  er  befördert  nicht  die  Veränderung.  Nach 
meiner  Ansicht  nun  verhalten  sich  die  geschlechtlichen  Organismen 
ganz  wie  die  ungeschlechtlichen ,  so  dass  der  Fortschritt  in  der 
Organisation  seinem  Wesen  nach  überall  der  nämliche  ist. 

Der  Grund  der  verschiedenen  Ansichten  liegt  in  der  Vorstellung 
über  die  Natur  der  Veränderung,  und  hierin  besteht  der  Kern- 
punkt der  Differenz  zwischen  den  beiden  Theorien.  Nach  der 
Meinung  Darwin 's  ist  die  Veränderung  beliebig,  richtungslos, 
daher  in  verschiedenen  Individuen  ungleich;  nach  meiner  Ansicht 
hat  sie  einen  bestimmten  Charakter  und  daher  in  den  verschiedenen 
Individuen  eine  gewisse  Uebereinstimmung. 

Der  Erfolg  der  einen  und  der  anderen  Annahme  lässt  sich 
leicht  einsehen.  Eine  Sippe  variire  in  ihren  Individuen  und  die 
Veränderungen  seien,  wie  Darwin  es  voraussetzt,  ganz  ungleich 
geartet,  so  werden  die  extremen  Formen  in  der  Regel  nicht  erreicht. 
Die  Möglichkeit  hiezu  ist  zwar  nicht  ausgeschlossen,  aber  die  Wahr- 


VI.  Kritik  der  Darmn'schen  Theorie  von  der  natürlit-lien  Zuchtwahl.     287 

scheinlichkeit  ist  ausserordentlich  gering.  Es  müssten  nämlich  gerade 
zwei  Individuen,  die  nach  der  nämlichen  Richtung  hin  zu  variiren 
angefangen  hahen,  sich  begatten,  und  es  müssten  ihre  Nachkommen 
durch  eine  Reihe  von  Generationen  immer  nur  unter  einander  sich 
kreuzen^).  Da  aber  eine  allgemeine  Kreuzung  zwischen  den  Indivi- 
duen einer  Sippe  statthat,  so  erfolgt  eine  stete  Ausgleichung  zw^ischen 
den  begonnenen  Veränderungen  rmd  die  Sippe  bleibt  in  der  Mitte 
ihres  ganzen  möglichen  Formenkreises,  wenn  nicht  die  künstliche 
oder  natürliche  Zuchtwahl  wirksam,  eingreift  und  einer  bestimmten 
Veränderung  durch  Entfernung  der  übrigen  das  Feld  einräumt. 

Wenn  aber  dem  entgegengesetzt  in  der  fraglichen  Sippe  die 
Umbildung  in  allen  Individuen  nach  der  nämlichen  Richtung  statt- 
findet, so  kann  sie  durch  die  Kreuzung  nicht  gestört  werden.  Ver- 
ändern sich  in  einem  bestimmten  Falle  die  übrigen  Eigenschaften 
in  den  verschiedenen  Individuen  allseitig,  eine  Eigenschaft  dagegen 
einseitig,  so  macht  die  Kreuzung  alle  anderen  Variationen  unmöglich, 
lässt  aber  die  eine  sich  migehemmt  ausbilden.  Zeigt  beisj)ielsweise 
die  Behaarmig  diese  gleichmässige  Abänderung,  so  wandelt  sie  sich 
in  der  ganzen  Sippe  so  um,  wie  etwa  in  der  Nachkommenschaft 
eines  übereinstimmenden  Paares,  das  sich  nach  der  IMigrationstheorie 
in  die  Einsamkeit  begeben  hätte,  um  da  einen  neuen  Stamm  zu 
gründen,  oder  dem  es  nach  der  Selectionstheorie  gelungen  wäre,  im 
Kampfe  ums  Dasein  alle  übrigen  Individuen  zu  vernichten. 

Ein  ähnliches  Verhalten,  wie  eben  für  eine  Sippe  angenommen 
wurde,  zeigen  nun  nach  meiner  Ansicht  allgemein  die  natürlichen 
Sippen.  Es  gibt  bei  allen  ein  gewisses  Gebiet  von  Eigenschaften, 
in  welchem  die  Variationen  allseitig,  und  andere  Gebiete,  in  denen 
sie  einseitig  erfolgen.  Die  Variationen  des  ersten  Gebietes  unter- 
liegen im  grossen  und  ganzen  den  Gesetzen,  die  nach  Darwin  für 
alle  Variationen  maassgebend  sein  sollten.  Sie  sind  die  unmittel- 
baren Folgen  von  klhuatischen  und  Ernährungseinflüssen,  bestehen 
in  mannigfaltigen  Störungen  der  normalen  Vorgänge  und  werden 
durch  die  Ki-euzung  zum  Theil  unschädlich  gemacht  (S.  205),  ent- 
wickeln sich  zuweilen  aber  zu   abnormalen  Merkmalen,   die  in   der 


^)  Deshalb  ist  die  Hypothese  der  Absonderung  oder  Migration  ersonnen 
worden,  wie  denn  immer  eine  unnatürhche  und  deshalb  ungenügende  Hypothese, 
um  sich  zu  stützen,  eine  andere  noch  unhaltbarere  Hypothese  aufsucht. 


288     VI.  Kritik  der  iDarwin'sclien  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahh 

Cultur  erhalten  bleiben  und  Rassen  bilden  (S.  232),  im  natürlichen 
Zustande  jedoch  von  den  normalen  und  lebenskrältigen  Individuen 
durch  die  Concurrenz  beseitigt  werden.  Kreuzung  und  Concurrenz 
haben  in  diesem  Falle  eine  conservative ,  die  Sippe  in  dem  einmal 
bestehenden  Zustande  erhaltende  Wirkung. 

Die  anderen  Gebiete  von  Eigenschaften,  diejenigen  nämlich,  in 
denen  die  Variationen  gleichsinnig  eintreten ,  werden  dadurch  be- 
dingt, dass  alle  Individuen  von  den  nämlichen  Ursachen  in  der- 
selben Weise  getroffen  werden.  Diese  Ursachen  sind,  wie  ich  früher 
ausgeführt  habe,  einerseits  die  Molecularkräfte ,  welche  die  in  den 
Individuen  einer  Sippe  übereinstimmende  Configuration  des  Idio- 
plasmas  bei  der  fortwährenden ,  mit  dem  Wachsthum  verbundenen 
Micell-Einlagerung  und  -Umlagerung  zu  einer  complicirteren  Organi- 
sation führen,  und  andrerseits  die  äusseren  Einflüsse,  die  als  Reize 
wirken  und  die  Anpassungen  zu  Stande  bringen.  Bezüglich  dieser 
beiden  Gebiete  können  Kreuzung  und  Verdrängung  die  Veränderung 
weder  beschleunigen  noch  verlangsamen. 


Nachdem  ich  den  Gegensatz  der  zwei  Descendenztheorien  dar- 
gelegt habe,  will  ich  sie  von  den  verschiedenen  maassgebenden  Ge- 
sichtspunkten aus  vergleichend  prüfen.  Von  zwei  Theorien,  die,  wie 
es  hier  der  Fall  ist,  einander  ausschliessen ,  muss  die  eine  falsch 
sein;  die  richtige  aber  muss  sich  als  wahr  erweisen,  man  mag  sie 
von  irgend  einer  Seite  betrachten,  und  ihr  darf  keine  Thatsache 
und  kein  Gesetz  widersprechen,  —  während  kein  logischer  Weg  von 
einer  Thatsache  oder  einem  Gesetze  aus  zu  der  falschen  Theorie 
führen  kann.  Ich  glaube,  dass  die  Selectionstheorie  in  jedem  Falle, 
wo  ein  tliatsächlicher  Anhalt  gegeben  und  ein  logisches  Verfahren 
möglich  ist,  sich  entweder  als  unhaltbar  oder  als  weniger  wahr- 
scheinlich erweist. 

Es  wurden  früher  schon  von  mir  und  Andern  verschiedene 
Einwürfe  gegen  die  Selectionstheorie  gemacht,  und  Darwin  selbst 
hat  sich  alle  Mühe  gegeben,  dieselben  zu  entkräften,  während  die 
Darwinisten  sie  nicht  beachteten  oder  flüchtig  darüber  hinweg- 
gingen. Dies  ist  nicht  überraschend ;  der  Meister  kennt  die  Schwächen 
seiner  Theorie,  die  er  mühsam  aufgerichtet  hat,  während  die  Jünger, 
auf  die  Worte  des  Meisters  schwörend,  Thatsachen  und  Gründe  leicht 


VI.  Kritik  der  Darwin' sehen  Theorie  von  der  natürhchen  Zuchtwahl.     289 

der  Autorität  der  Lehre  unterordnen.  Ich  werde  übrigens  jetzt, 
nachdem  ich  meinen  früheren  vermittelnden  Standpunkt  verlassen 
und  auch  die  Ani^assmigen  von  der  Zuchtwahl  befreit  habe,  die 
Einwände  in  vermehrter  Zahl  und  in  schärferer  Form  begründen 
können. 

Ich  hebe  folgende  sieben  Gesichtspunkte  hervor,  welche  uns 
die  Abstammung  durch  Zuchtwahl  unannehmbar  machen: 

1.  Bezüglich  der  allgemeinen  Bedeutung  der  Selectionstheorie 
ist  die  unbestimmte  Wirkmig  unbestimmter  Ursachen  und  die  dem 
Zufall  allzusehr  überlassene  Entscheidung  durch  die  natürliche  Zucht- 
wahl unserem  natm^wissenschaftlichen  Bewusstsein  weniger  zusagend. 
Ferner  setzt  sich  die  Selectionstheorie,  welche  ihrem  Princip  gemäss 
nur  nach  dem  erreichten  Nutzen  einer  Erscheinung  fi'ägt,  um  die- 
selbe zu  rechtfertigen,  in  Widerspruch  mit  der  wahren  und  exacten 
Naturforschung,  welche  vor  allem  die  bewirkenden  Ursachen  der 
Dinge  zu  erkennen  sucht. 

2.  Die  Folgerung  von  der  (künstlichen)  Rassenbildung  auf  die 
(natürliche)  Yarietätenbildung,  welche  die  Grundlage  der  Selections- 
theorie ausmacht,  ist  unzulässig,  da  beide  wesentlich  verschieden 
sind  und  namentlich  sich  rücksichtlich  der  Kreuzung  ungleich  ver- 
halten. Die  Varietäten  nämlich  vermischen  sich  sehr  schwer  mit 
einander  und  nehmen  kein  fremdes  Blut  in  irgend  wirksamer  Menge 
auf,  werden  somit  auch  durch  die  ihnen  gebotene  Gelegenheit  zur 
Kreuzung  nicht  verändert;  mit  diesen  Eigenschaften  stimmen  ihre 
Vorkommensverhältnisse  genau  überein. 

3.  Nützliche  A^eränderungen  können  erst,  wenn  sie  eine  bemerk- 
bare Höhe  erreicht  haben  und  in  zahheichen  Individuen  vorhanden 
sind,  eine  ausgiebige  Verdrängung  der  Mitbewerber  bewirken.  Da 
sie  aber  im  Anfange  durch  eine  lange  Reihe  von  Generationen  jeden- 
falls noch  sehr  unbedeutend  und  nach  der  Selectionstheorie  auch  nur 
in  einer  kleinen  Zahl  von  Individuen  vertreten  sind,  so  bleibt  die 
Verdrängung  aus  und  eine  natürliche  Zuchtwahl  kommt,  da  ihr  der 
wirksame  Hebel  mangelt,  überhaupt  nicht  zu  Stande. 

4.  Die  Ernährungseinflüsse,  welche  die  Selectionstheorie  voraus- 
setzt, bewirken  thatsächlich  keine  erblichen  Veränderungen,  und  wenn 
sie  es  thäten,  so  könnte  eine  Steigerung  der  begonnenen  Abänderung 
nicht  eintreten,  weil  die  unvermeidhche  Kreuzung  eine  natürliche 
Zuchtwahl  unmöglich  machen  würde.  Ferner  lässt  sich  aus  den  unbe- 

Y.  Nägeli,  Abstammungslehre.  19 


290  ^'^I-  Kritik  der  Darwdn'schen  Theorie  von  der  natüi-lichen  /Zuchtwahl. 

stimmten,  in  allen  denkbaren  Richtungen  wirkenden  Ernährungs- 
einflüssen der  so  stetige  phylogenetische  Fortschritt  zu  einer  com- 
plicirteren  Organisation  nicht  erklären .  Ebenso  wenig  werden 
durch  dieselben  die  Erscheinungen  der  Anpassung  verursacht; 
dies  ergibt  sich  einerseits  aus  dem  Umstände,  dass  Gebrauch  und 
Nichtgebrauch  die  Zu-  und  Abnahme  der  Organe  bedingen,  da  diese 
Ursache  für  sich  vollkommen  ausreicht  und  daher  die  Mitwirkung 
einer  zweiten  andersartigen  Ursache  ausschliesst,  —  und  andrerseits 
durch  den  ferneren  Umstand,  dass  Anfänge  von  Organen  bis  zu 
der  Grösse,  wo  sie  in  Gebrauch  kommen  mid  ihre  Nützlichkeit  zu 
erproben  vermögen,  mangeln,  obgleich  sie  durch  die  Ernährungs- 
einflüsse in  Menge  hervorgebracht  werden  müssten. 

5.  Die  Eigenschaften  der  Organismen  müssten  in  Folge  der 
natürlichen  Zuchtwahl  um  so  constanter  sein,  je  nützlicher  sie  sind, 
und  Einrichtungen ,  die  keinen  Vortheil  gewähren,  könnten  keine 
Beständigkeit  erlangen.  Im  Widerspruche  hiemit  gehören  gewisse, 
rein  morphologische,  mit  Rücksicht  auf  den  Nutzen  indifferente 
Merkmale  zu  den  allerbeständigsten. 

6.  Aus  der  Selectionstheorie ,  nach  welcher  von  den  ein- 
tretenden richtungslosen  Veränderungen  bloss  die  nützHchen  fest- 
gehalten würden,  lassen  sich  weder  die  Divergenz  der  Reihen  in 
den  organischen  Reichen,  noch  die  bestehenden  Lücken  in  und 
zwischen  den  Reihen  erklären,  indem  vielmehr  eine  netzförmige 
Anordnung  der  Sippen  zu  Stande  kommen  müsste. 

7.  Ebenso  widersprechen  jener  Theorie  das  Nichtvorhandensein 
der  von  ihr  behaupteten  gegenseitigen  Anpassung  der  Bewohner 
eines  Landes  und  die  bestehenden  Naturalisationen  fremder  Er- 
zeugnisse. 

Diese  Einwürfe  gegen  die  Selectionstheorie,  die  ich  hier  bloss 
ganz  allgemein  formulirt  habe,  sollen  im  folgenden  des  Näheren 
begründet  werden. 


I.  Allgemeine  Bedeutung  der  Theorie. 

Ich  stelle  diesen  Punkt  wegen  seiner  Allgemeinheit  voran, 
obgleich  ich  ilnn  keine  entscheidende  Wichtigkeit  zugestehe.  Es  ist 
aber  immerhin  interessant  zu  untersuchen,   in    welchem  Verhältniss 


VI.  Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl.     291 

die  beiden  Theorien  zu  unserer  ganzen  übrigen  naturwissenschaft- 
lichen Anschauung  stehen  und  welche  allgemeine  Bedeutung  sie  haben. 

Zunächst  ist  es  zweckmässig,  sich  darüber  klar  zu  sein,  was  die 
Theorien  für  die  Abstammungslehre  selbst  zu  leisten  vermögen. 
Eine  Richtigsteüung  dieses  Punktes  wird  deshalb  nothwendig,  weil 
bezüglich  der  Selectionstheorie  in  Deutschland  fortwährend  viel 
gesündigt  wird.  Ich  will  nicht  von  den  Ueberschwenglichen  sprechen, 
welche  die  Selection  als  ein  Evangelium  preisen  und  als  Dogma 
verkünden.  Aber  selbst  besonnenere  Beurtheiler  behaupten,  dass 
die  Abstammungslehre  durch  die  Selectionstheorie  wissenschaftlich 
begründet  und  bewiesen  werde,  wiewohl  sie  doch  durch  nichts 
anderes  begründet  und  bewiesen  werden  kann  als  durch  die  Allge- 
meingültigkeit des  Causalitätsgesetzes.  Wie  die  Undulationstheorie 
nicht  die  Fortpflanzung  des  Lichtes  beweist,  sondern  bloss  zeigt,  wie 
man  sich  dieselbe  vorstellen  könne,  so  vermag  auch  die  Selections- 
theorie für  die  Abstammungslehre  nicht  mehr  zu  thun.  Uebrigens 
wird  dieser  Lehre  dm'ch  solche  Behauptungen  ein  schlechter  Dienst 
geleistet ;  denn  würde  die  natürliche  Abstammung  wirklich  begründet 
und  l)ewäesen  durch  die  Selectionstheorie,  so  müsste  sie  als  falsch 
aufgegeben  werden,  sobald  sich  die  Selection  als  Irrthum  heraus- 
stellte. Die  natürliche  Abstammung  steht  aber  als  allgemeine  That- 
sache  so  fest,  dass  sie  alle  unhaltbaren  Theorien  überdauern  wird, 
die  man  an  sie  anknüpft. 

Der  Unterschied  der  beiden  Theorien  lässt  sich  in  seiner  allge- 
meinsten Form  folgendermaassen  aussprechen.  Nach  der  Selections- 
theorie bringen  unbestimmte  und  nicht  zu  analysirende  Ursachen 
(die  äusseren  Einflüsse)  in  den  verschiedenen  Individuen  unbestimmte 
und  nicht  zu  analysirende  Wirkungen  (die  individuellen  Verän- 
derungen) hervor,  von  denen  eine,  die  nützlichste,  durch  Verdrängung 
der  mit  den  übrigen  Wirkungen  behafteten  Individuen  allein  Bestand 
gewannt.  Die  Theorie  der  directen  Be Wirkung  dagegen  setzt  be- 
stimmte, theils  bekannte,  theils  zu  erkennende  Ursachen  voraus, 
welche  bestimmte  Wirkungen,  die  morphologischen  und  phj^sio- 
logischen  Eigenschaften  der  Organismen  unmittelbar  zur  Folge  haben. 

Die  bestimmte  Eigenschaft  kommt  nach  der  Selectionstheorie 
nur  durch  Elimination  einer  Menge  von  unbestimmten  Eigenschaften 
zu  Stande.  Diese  Elimination  ist  die  Hauptsache;  was  Alles  vor 
derselben   entstehe,    erscheint  als  gleichgültig,   vorausgesetzt,    dass 

19* 


292     ^^-  Kritik  der  Darwin' sehen  Theorie  von  der  natürlichen  Zuclitwahl. 

darunter  auch  das  Nützliche  sich  befindet.  Deswegen  begnügt  sich 
die  Theorie  damit,  bloss  ganz  im  allgemeinen  auszusprechen,  dass 
in  den  klimatischen  und  Ernährungseinflüssen  die  Ursachen  zu 
mannigfaltiger  Veränderlichkeit  gegeben  seien.  Sie  beschäftigt  sich 
eingehend  mit  der  A^erdrängung  und  Anpassung,  erweist  sich  aber 
als  unfruchtbar  für  die  Erforschung  der  Ursachen  und  ihrer  Wirkungs- 
weise, also  gerade  für  das,  was  sonst  als  die  Hauptaufgabe  der  exacten 
Naturwissenschaft  angesehen  werden  muss. 

Nach  der  Selectionstheorie,  welche  die  Veränderungen  in  unbe- 
stimmter Weise,  also  in  jedem  Theil  des  Organismus,  selbst  in  jeder 
Zelle  und  nach  allen  Richtungen  hin  eintreten  lässt,  ist  die  bestehende 
organische  Welt  nichts  anderes  als  ein  Einzelfall  von  einer  unend- 
lichen Zahl  von  Fällen,  von  denen  viele,  vielleicht  alle  durchprobirt 
und  bis  auf  den  einen  unbrauchbar  befunden  wurden.  Dies  hat 
als  ein  blindes  Walten  von  Natm^kräften  Anstoss  erregt.  Allein  von 
Seite  der  Naturforschung  würde  in  dieser  Beziehung  allerdings  kein 
Bedenken  bestehen,  da,  wenn  auch  die  Ursachen  erforscht  sind, 
doch  ihr  erster  Grund,  uns  unbekannt  bleibt,  und  daher  überall  in 
der  Natur  schliesslich  von  einem  blinden,  d.  h.  uns  unverständlichen 
Geschehen  gesprochen  w^erden  kann. 

Dagegen  wird  das  naturwissenschaftliche  Bewusstsein  weniger 
befriedigt  durch  den  Umstand,  dass  von  der  Selectionstheorie  in  den 
höchsten  Regionen  und  in  den  kunstA^oUsten  Einrichtungen  der 
Natur  dem  Zufall  em  so  grosser  Einfluss  eingeräumt  mrd.  Die 
phylogenetische  Entwicklungsgeschichte  eines  Stammes  besteht  in 
einer  grossen  Zahl  von  Schritten.  Die  Eigenartigkeit  jedes  einzelnen 
Schrittes  lässt  jene  Theorie  bedingt  werden  durch  die  Beschaffenheit 
des  Organismus,  also  durch  die  Eigenartigkeit  der  vorausgehenden 
Schritte,  ferner  durch  die  unbestimmte  Beschaffenheit  der  äusseren 
Einflüsse,  welche  alle  möglichen  Veränderungen  bewirken,  und 
endlich  durch  diejenigen  äusseren  Verhältnisse,  von  denen  es  ab- 
hängt, welche  der  Veränderungen  die  anderen  verdränge. 

Bau  und  Function,  die  ein  Organismus  animmt,  hängen  also 
nach  der  Selectionstheorie  bei  jedem  Schritt  von  verschiedenen 
zufälligen  Umständen  ab,  und  dem  entsprechend  hat  sich  die  Monade 
in  dem  einen  Stamm  zum  Räderthier,  in  einem  andern  zur  Qualle, 
in  noch  anderen  zum  Insect,  zum  Fisch,  zmn  Vogel,  zum  Säuge- 
thier  und  Menschen  entwickelt.     Hätten  sich  die  Umstände   anders 


■\T;.  Kritik  der  Darwin'sclien  Theorie  von  der  natürlifhen  Zuchtwahl.     293 

combinirt,  hätten  die  klimatischen  Veränderungen  einen  anderen 
Verlauf  genommen,  wäre  die  Wanderung  der  Organismen  in  anderer 
Weise  eingetreten,  so  wäre  nach  dieser  Theorie  auch  die  Veränderung 
in  den  Individuen  mid  besonders  die  Verdrängung  und  die  Zucht- 
wahl eine  andere  geworden;  es  hätten  sich  andersartige  Stämme 
gebildet,  und,  was  beispielsweise  den  Stamm  der  Säugethiere  und 
des  Menschen  betrifft,  so  würde  derselbe  entweder  ganz  mangeln 
oder  er  hätte  zu  mehr  oder  weniger  von  der  jetzigen  Beschaffenheit 
abweichenden  Organisationen  sich  entwickelt. 

Wenn  ich  sage,  dass  die  Selectionstheorie  dem  Zufall  einen  wich- 
tigen Theil  an  der  Abstammung  überlasse,  so  meine  ich  nicht  etwa, 
dass  dieselbe  nicht  für  jedes  Geschehen  die  bestimmte  Ursache  voraus- 
setze. Aber  wenn  auch  von  einem  absoluten  Standpunkte  aus  Alles 
Nothwendigkeit  und  ebensogut  Alles  Zufall  ist,  so  gibt  es  doch  in 
relativem  Sinne  neben  der  Nothwendigkeit  einen  Zufall  von  objectiver 
(nicht  bloss  subjectiver)  Bedeutung,  indem  jedes  Ereigniss  nur  zu 
gewissen  anderen  in  causalem  Verhältniss  steht  und  in  Bezug  auf  alle 
übrigen  Ereignisse  den  Charakter  der  Zufälligkeit  besitzt.  Es  ist  dies 
die  Zufälligkeit,  welche  von  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  zum 
Object  ihrer  Untersuchungen  gemacht  wird,  —  und  dieser  Zufälligkeit 
gestattet  die  Selectionstheorie  einen  allzu  grossen  Spielraum. 

Ich  kann  meinen  Gedanken  vielleicht  am  besten  dm-ch  ein  Bild 
anschaiüich  machen,  das  ich  an  ein  Klndermärchen  anknüpfen  will. 
In  demselben  werden  Zwerge  in  den  Besitz  der  ersten  Zeile  eines 
Reimspruches  gesetzt,  zugleich  mit  der  Bestimmung,  dass  sie  so  lange 
einem  bestimmten  Banne  unterworfen  sein  sollen,  bis  sie  eine  dazu 
passende  zweite  Zeile  gefunden.  Sie  singen  nun  beständig  die 
erste  Zeile,  und  keinem  fällt  etwas  Gescheites  ein,  das  sich  dazu 
reimt.  Endlich  werden  sie  von  einem  Sonntagskind  erlöst,  welches 
in  einfachster  Weise  den  Spruch  ergänzt.  Die  Zwerge  hätten  ihre 
Aufgabe  auf  dem  Wege  der  Selection  zu  Stande  bringen  können, 
nämlich  durch  Probiren  aller  möghchen  kleinen  Zusätze  zu  der 
empfangenen  Reimzeile,  bis  sich  zuletzt  eine  zweite  angepasst  hätte. 

Sie  konnten,  um  mit  den  allergeringsten,  gleichsam  molecularen 
Abänderungen  vorzugehen,  aus  einem  Alphabet  durchs  Loos  einen 
Buchstaben  ziehen,  dann  aus  dem  wieder  ergänzten  Alphabet  einen 
zweiten  Buchstaben  und  so  weiter.  Durch  Verwerfen  aller  unbrauch- 
baren Buchstaben  wären  sie  zum  ersten  Wort,   dann  zum.  zweiten 


294     ^"I-  Kritik  der  Darwin'sclien  Tlieorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl. 

und  den  folgenden  Wörtern  gekommen.  Es  hätte  also  jeder  Buch- 
stabe und  dann  auch  jedes  Wort  die  Probe  der  Nützlichkeit 
bestanden,  und  alles  wäre  beseitigt  worden,  was  mit  Bezug  auf  den 
Sinn,  die  Construction,  den  Rhythmus  und  schliesslich  den  Reim 
sich  als  nicht  existenzfähig  erwiesen.  In  dieser  Weise  konnten  die 
Zwerge  sicher,  wenn  auch  durch  mühsame  und  langwierige  Arbeit, 
sich  von  dem  Banne  befreien ;  aber  es  hing  vom  Zufall  ab,  welchen 
Vers  sie  auf  das  ihnen  Gegebene  machten  und  welche  von  den 
Dutzenden  möglicher  Reimzeilen  sie  fanden.  —  Dies  ist  das  Bild 
des  indirecten  Weges,  auf  dem  die  Selectionstheorie  durch  Probiren 
von  allen  möglichen  Veränderungen  die  kleinen  brauchbaren  Fort- 
schritte gewinnt,  welche  sich  zur  Entwicklung  der  Reiche  summiren. 

Nach  der  Theorie  der  directen  Bewirkung  dagegen  ist  Bau  und 
Function  der  Organismen  in  den  Hauptzügen  eine  nothwendige  Folge 
von  den  der  Substanz  innewohnenden  Kräften  und  somit  unabhängig 
von  äusseren  Zufälligkeiten.  Auch  wenn  die  klimatischen  Verände- 
rungen und  die  Wanderungen  der  Organismen  in  früheren  Perioden 
sich  wesentlich  anders  gestaltet  hätten,  so  mussten  die  Organisations- 
stufen gerade  so,  und  die  Anpassungen  konnten  nicht  viel  anders 
werden,  als  sie  jetzt  sind.  Damit  treten  die  Organismen  in  Ueberein- 
stimmung  mit  den  anderen  individuellen  Gestaltungen  der  Materie, 
namentlich  mit  den  Krystallen,  deren  Bau  ebenfalls  im  Wesentlichen 
von  den  der  krystallisirenden  Substanz  innewohnenden  Kräften  und 
nur  in  unwesentlichen  Dingen  von  den  äusseren  Umständen  abhängt. 

Die  Theorie  der  directen  Bewirkung,  welche  alles  Wesentliche 
an  den  Organismen  aus  bestimmten  Ursachen  hervorgehen  lässt, 
setzt  der  Forschung  ein  klares  und  auf  exacte  Weise  zu  erreichendes 
Ziel,  nämlich  für  die  bekannten  bestimmten  Ergebnisse  die  noch 
unbekannten  bestimmten  Ursachen  zu  erforschen.  Die  Selections- 
theorie hat  sich,  indem  sie  von  unbestimmten  kleinen  Ursachen  und 
unbestimmten  kleinen  Wirkungen  ausgeht,  ihre  Aufgabe  schwieriger 
gemacht  als  jene  Theorie  oder  auch  leichter,  je  nach  der  Art,  wie 
sie  dieselbe  erfüllen  will.  Die  Aufgabe  wäre  offenbar  schwieriger, 
wenn  sie  in  exacter  Weise  gelöst  werden  sollte.  Eine  solche  Lösung 
müsste  nämlich  möglich  sein,  —  denn  auch  die  Herleitung  von 
bestimmten  Ergebnissen  aus  unbestimmten  Anfängen  gestattet  eine 
präcise  Formulirung  und  eine  genaue  Behandlung,  —  wenn  über- 
haupt die  Ergebnisse  auf  diesem  Wege  zu  Stande  gekommen  wären. 


\T;.  Kritik  der  Darwn'schen  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl.     295 

Aber  ein  solches  streng  logisches  Verfahren  hätte  zu  unannehmbaren 
Folgerungen  geführt  und  dadurch  die  Unhaltbarkeit  der  Prämissen 
dargethan. 

Die  Anhänger  der  Selectionstheorie  haben  sich  denn  auch  ihre 
Aufgabe  im  allgemeinen  wesentlich  erleichtert,  indem  sie  der  Theorie 
selbst  einen  allzu  wenig  bestimmten  Ausdruck  gaben  und  bei  der 
Ausführung  häufig  auf  noch  weniger  bestimmten  Bahnen  wandelten, 
mitunter  wohl  auch  auf  exacte  Forschung  überhaupt  schlecht  zu 
sprechen  waren.  In  dieser  Weise  wurde  es  möglich,  trotzdem  dass 
im  einzelnen  viel  Treffliches  geleistet  wurde,  den  jedesmaligen 
thatsächlichen  Bestand  aus  der  Theorie  plausibel  zu  machen  und 
als  Bestätigung  derselben  hinzustellen,  wenn  im  einzelnen  Fall  die 
Thatsachen  auch  noch  so  sehr  mit  den  streng  logischen  Consequenzen 
im  Widerspruche  waren.  Ich  werde  dies  bei  der  Besprechung  der 
übrigen  Punkte  darthun. 


Das  Princip  der  Selectionstheorie,  dass  aus  zufälligen  und  un- 
bestimmten Abänderungen  nur  das  Beste  behalten  werde,  erzeugt 
naturgemäss  die  Meinung,  dass  jede  Bestand  gewinnende  Er- 
scheinung etwas  Auserlesenes,  etwas  durch  seine  Nützlichkeit  Er- 
j)robtes  sein  müsse.  Deswegen  geht  die  Forschung  der  Darwin- 
schen Schule  vor  allem  aus  nach  dem  Nutzen  einer  jeden  orga- 
nischen Einrichtung.  Ein  solches  Verfahren  hat  innerhalb  rationeller 
Grenzen  gewiss  seine  Berechtigung;  denn  zur  vollständigen  Er- 
kenntniss  eines  Dinges  gehört  ja  auch  die  Kenntniss  seiner  Wir- 
kungen, insofern  wir  aus  denselben  eine  bessere  Einsicht  in  seine 
Natur  erlangen. 

Hier  ist  aber  nun  zuvörderst  eine  Einschränkung  zu  machen. 
Die  Wirkungen  eines  Ereignisses  sind  mehr  oder  weniger  unmittelbar 
und  sie  sind  der  Zahl  nach  unbestimmt,  da  von  demselben  eine 
Menge  von  nachfolgenden  Ereignissen  in  grösserem  oder  geringerem 
Maasse  beinflusst  wird.  Was  uns  wissenschaftlich  interessirt,  sind 
die  unmittelbaren  Folgen,  die  in  der  Kette  von  Ursachen  und 
Wirkungen  zunächst  aus  jenem  Ereigniss  hervorgehen  und  als  deren 
bewirkende  Ursache  es  erscheint.  Einzig  in  dieser  Beschränkimg  lege 
ich  Werth  auf  die  nützliche  Function  der  AnjDassungserscheinungcn, 
weil  aus   ihr  zuweilen   ein  Pückschluss   auf  die  Ursachen   möglich 


296     ^"I-  Kritik  der  Darwin'sehen  Tlieorie  von  drr  natürliclien  Zuclitwahl. 

ist.  Der  Nutzen  einer  organischen  Einrichtung  ist  aber  manchmal 
nicht  eine  solche  unmittelbare,  sondern  eine  mehr  oder  weniger 
vermittelte,  zuweilen  selbst  ziemlich  weit  abliegende  Wirkung.  Er 
bietet  dann  auch,  indem  er  wenig  zur  Erkenntniss  des  Wesens  jener 
Einrichtung  beiträgt,  nicht  ein  unmittelbar  wissenschaftliches,  sondern 
mehr  ein  praktisches  Interesse  mit  Rücksicht  auf  das  ontogenetische 
und  phylogenetische  Bestehen  des  bestimmten  Organismus  dar. 

Der  wissenschaftliche  Werth,  den  das  Forschen  nach  dem  Nutzen 
der  organischen  Erscheinungen  haben  kann,  wird  oft  noch  ver- 
kümmert durch  ein  Verfahren,  das  man  nicht  immer  als  ein  genaues 
und  kritisches  anzuerkennen  vermag.  Indem  manche  Anhänger  der 
Selectionstheorie  nicht  unbefangen  die  Wirkungen  prüfen,  sondern 
um  allen  Preis  in  jedem  Vorkommniss  einen  Nutzen  auffinden 
wollen,  welcher  den  Daseinsgrund  und  die  phylogenetische  Erklärung 
seiner  Entstehung  abgeben  soll,  verfallen  sie  in  einen  ähnlichen 
Fehler  wie  die  auf  einem  ganz  entgegengesetzten  Standpunkte  be- 
findlichen Teleologen.  So  wird  das  Verfahren,  statt  wissenschaftlich 
zu  bleiben,  zur  Manier.  Es  braucht  ja  nicht  gar  sehr  viel  Scharf- 
sinn, um  aus  irgend  einer  organischen  Erscheinung  einen  wirklichen 
oder  eingel^ildeten  Nutzen  für  ihren  Träger  herauszuklügeln.  Aber 
welche  Berechtigung  liegt  in  einem  solchen  Erfolge,  w^enn  man  sich 
gestehen  muss,  dass,  wenn  die  Erscheinung  anders  wäre,  der  Nutzen 
ebenso  deutlich  oder  noch  deutlicher  hervorträte. 

Man  muss  s-ich  überhaupt  damit  bescheiden,  dass  die  Dinge  in 
der  organischen  Welt,  gerade  so  wie  in  der  unorganischen  Natur, 
da  sind,  weil  sie  eben  da  sind,  weil  nämlich  die  sie  bewirkenden 
Ursachen  ihnen  vorausgingen,  und  dass  ihr  Bestehen  weiter  nichts 
als  ihre  Existenzfähigkeit  und  den  Mangel  anderer  verwandter  Dinge 
mit  grösserer  Existenzfähigkeit  beweist.  Wenn  man  das  Verfahren 
der  Selectionstheorie  auf  die  unorganische  Natur  anwenden  wollte, 
was  liesse  sich  nicht  Alles  über  nützliche  Anpassungen  der  Er- 
scheinungen sowohl  an  andere  unorganische  als  an  organische 
Erscheinungen  sagen?  Welche  Betrachtungen  könnten  nicht  allein 
über  die  theilweise  exceptionellen  Eigenschaften  des  Wassers  an- 
gestellt werden.  Glücklicher  Weise  begnügen  sich  Physik  und  Chemie 
damit,  die  Ursachen  zu  erforschen,  und  niemand  stellt  Speculationen 
darü])er  an,  welche  Vortheile  oder  Nachtheile  die  sechseckige  Form 
der  Schneeflocken  und  die  kugelige  Gestalt  der  Regentropfen  gewähren. 


VT.  Kritik  (k'i-  Darwiii'schfu  Thcork'  von  ilcr  natiu-lichcii  Zuchtwahl.      297 

Die  unorganische  Natur  im  ganzen  und  im  einzelnen  wird 
von  der  exacten  Wissenschaft  jeweilen  als  ein  System  von  Krcäften 
und  Bewegungen  angesehen,  die  sich  gegen  einander  ins  Gleich- 
gewicht gesetzt  haben  und,  wo  dasselbe  gestört  wird,  einem  neuen 
Gleichge\Wcht  zustreben.  Die  organische  Natur  ist  ebenfalls  sowohl 
als  Ganzes  wie  in  jedem  einzelnen  Theil  ein  solches,  nur  ^^el  com- 
plicirteres,  System  von  Kräften  und  Bewegungen,  und  die  Aufgabe 
der  phylogenetischen  Wissenschaft  ist  es  vor  allem,  die  Ursachen 
der  Gleichgewichtsstörungen  und  damit  der  stetsfort  eintretenden 
Veränderungen,  nicht  irgendwelcher  anderer  daraus  sich  ergebender 
Beziehungen,  aufzusuchen. 

Die  Generationenreihen,  die  von  den  einfachsten  organischen 
Formen  und  ihren  Entstehungszeiten  zu  den  jetzt  bestehenden  Orga- 
nismen hinül)er  führen,  sind,  wie  ich  zu  zeigen  gesucht  habe,  nichts 
anderes  als  materielle  Systeme  aus  Idioplasma  bestehend,  welche  die 
ganze  Zeit  über  andauern,  ihren  Gleichgewichtszustand  unter  dem 
Einfluss  von  inneren  und  äusseren  Ursachen  stetig  ändern,  durch 
Vermehrung  sich  vervielfältigen  und  in  Folge  der  gegenseitigen 
Verdrängung  jeweilen  in  den  existenzfähigsten  Gleichgewichtszu- 
ständen fortbestehen.  Die  Erkenntniss  jedes  spätem  Gleichgewichts- 
zustandes beruht  auf  der  Erkenntniss  des  früheren  Zustandes  und  der 
d^enselben  abändernden  Ursachen.  Die  Werthschätzung  aber  der 
Existenzfähigkeit  und  Verdrängungstüchtigkeit  des  Ueberlebenden 
ist  im  allgemeinen  unmöglich,  weil  der  Werth  der  unterlegenen 
und  verdrängten  Gleichgewichtszustände  unl)ekannt  ist;  sie  lässt 
sich  möglicher  Weise  nur  für  den  bestimmten  Fall  beurtheilen, 
wenn  die  ^'^erdrängung  noch  nicht  perfect  geworden  ist  und  somit 
die  concurrirenden  Zustände  der  Beobachtung  zugänglich  sind. 


2.  Schlussfolgerung  von  der  Rassenbildung  auf  die  Varietätenbildung. 

Nachdem  ich  die  allgemeine  wissenschaftliclie  Bedeutung  der 
Selectionstheorie  betrachtet  habe,  scheint  es  passend,  zuerst  den- 
jenigen Punkt  ins  Auge  zu  fassen,  welcher  zu  der  Theorie  Veran- 
lassung gegeben  hat.  Indem  Darwin  die  Entstehung  der  (natür- 
lichen) Varietäten  aus  der  natürlichen  Zuchtwahl  erklärt,  leitet  er 
diese  Annahme  nicht  etwa  aus  der  Beobachtung  thatsächlicher  A^er- 


298     ^^I-  Kritik  der  Darmn'sclien  Theorie  von  der  natttrliehen  Zuchtwalil. 

hältnisse  ab,  er  stützt  sie  auch  keineswegs  durch  thatsächhche  Anhalts- 
punkte; sondern  er  beruft  sich  dafür  ledigUch  auf  die  Analogie  der 
(künstlichen)  Rassenbildung.  Wie  eine  neue  Rasse  nur  dann  entstehe, 
wenn  die  Kreuzung  mit  abweichenden  Individuen  verhindert  werde, 
so  soll  eine  neue  Varietät  nur  dann  Bestand  gewinnen  können,  wenn 
die  abweichenden  Individuen  durch  die  Concurrenz  beseitigt  und 
somit  die  Reinzucht  durch   natürliche  Zuchtwahl  ermöglicht  werde. 

Nun  besteht  aber  zwischen  Rasse  und  Varietät  in  den  wesent- 
lichen Eigenschaften  ein  scharfer  Gegensatz,  indem  die  erstere 
innerhalb  weiter  Grenzen  äusserst  variabel,  die  letztere  in  den  engsten 
Grenzen  sehr  constant  ist  (S.  235).  Es  ist  also  bei  Anwendung  der 
Analogie  die  grösste  Vorsicht  geboten  und  vorher  zu  untersuchen, 
ob  bezüglich  der  Kreuzung  und  deren  Wirksamkeit  die  vorausgesetzte 
Uebereinstimmung  bestehe.  In  der  That  waltet  nun  aber  auch  in 
dieser  Beziehung,  nach  den  zahlreichen  Beobachtungen,  die  ich 
darüber  angestellt  habe,  eine  wesentliche  Verschiedenheit  ob. 

Während  die  Rassen  von  gleicher  Abstammung,  auch  wenn 
ihre  sichtbaren  Merkmale  noch  so  weit  von  einander  abweichen, 
sich  äusserst  leicht  kreuzen,  so  haben  Pflanzenvarietäten,  die  einander 
sehr  nahe  stehen,  eine  grosse  Abneigung  gegen  geschlechtliche  Ver- 
mischung. Es  geht  dies  aus  ihrem  Verhalten  in  der  Natur  und  im 
Garten  deutlich  hervor.  Verfolgt  man  nahe  und  nächst  verwandte 
Varietäten  auf  ihren  Standorten,  so  findet  man  sie  oft  ohne  alle 
Zwischenformen  beisammen.  Man  darf  freilich,  besonders  wenn  sie 
bloss  in  einem  einzigen  Merkmal  von  einander  abweichen,  nicht  ohne 
weiteres  auf  fehlende  Kreuzung  schliessen,  weil  möglicherweise  das 
Unterscheidungsmerkmal  sprungweise  abändern  könnte  (S.  185,  199). 
In  den  meisten  Fällen  jedoch  zeigt  der  Mangel  von  Mittelformen 
sicher  an,  dass  keine  Kreuzung  stattgefunden  hat.  Andere  Varietäten 
dagegen  findet  man,  wenn  sie  in  Gesellschaft  leben,  mit  Uebergangs- 
stufen,  die  offenbar  hybriden  Ursprungs  sind.  Aber  diese  Uebergänge 
kommen  immer  verhältnissmässig  spärlich  vor,  oft  nur  in  wenigen 
Exemplaren.  Aus  ihrer  Zahl  ergibt  sich  das  Verhältniss  der  Kreuzungen 
zur  Inzucht. 

Setzen  wir  zuerst  den  hypothetischen  Fall,  dass  zwei  Sippen  in 
gleicher  Indi\dduenzahl  beisammen  seien  und  die  Kreuzung  zwischen 
ihnen  ebenso  leicht  erfolge ,  wie  die  Selbstbefruchtung  und  die 
Inzucht.     Dann  ist  gemäss  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  in  der 


VI.  Kritik  th-v  Dai-\vin'schcii  Theorie  von  der  natürliehen  Zuchtwahl.      299 

ersten  Generation  die  Individuenzahl  der  Bastarde  doppelt  so  gross 
als  die  Individuenzahl  jeder  Sippe;  in  der  zweiten  Generation  beträgt 
die  Zahl  der  hybriden  Individuen  14  mal  so  ^del  als  die  Individuen- 
zahl jeder  der  beiden  reinen  Sippen,  in  der  dritten  Generation  254mal 
so  viel,  und  so  steigt  das  numerische  Uebergewicht  der  hybriden 
Produete  dermaassen  rasch,  dass  nach  wenigen  Generationen  die 
reinen  Sippen  verschwinden^). 

Sind  die  beiden  Sippen  ursprünglich  in  ungleicher  Individuen- 
zahl vorhanden,  so  zeigen  unter  der  nämlichen  A^oraussetzung  die 
Bastarde  natürlich  andere  Verhältnisszahlen.  Immer  aber  steigt  ihre 
Menge  sehr  rasch  und  die  numerisch  schwächere  der  reinen  Sippen 
wird  bald  ganz  verdrängt.  Ist  von  diesen  die  eine  anfänglich  10  mal 
zahlreicher  als  die  andere,  so  macht  die  letztere  schon  nach  der 
ersten  Generation  bloss  den  121.,  nach  der  zweiten  den  14641.,  nach 
der  dritten  Generation  den  2 14  millionsten  Theil  aller  Individuen 
aus,  indess  die  zahlreichere  Sippe  schon  nach  der  dritten  Generation 
von  den  hybriden  Producten  numerisch  übertroffen  wird^). 


1)  Die  beiden  Sippen  seien  mit  A  und  B,   die  ursprüngliche  Individuenzahl 
einer  Jeden  mit  n  bezeichnet,   so   zeigen  die  aufeinander  folgenden  Generationen 
nachstehende  Verhältnisszahlen : 
O.Gen,  n  Ä-\-  n  B.  —  Summe  der  Individuen  2n. 
I.Gen,  n  A-\~n  B-\-2n  {Ä~{-B).  —  Summe  4n. 

2.  Gen.  n  A-i^  n  B -^  6n  (A-\- B)  +  An  (SA-{-B)-\- 4n  (^  +  3J5).  —  Summe  16« 

S.Gen,  n  A-\-n  B +  10n  (A-\-B)-\-2Sn  (ßA~{-B)-\-28n(A-^3B)-\-Sn(l  A-\-B. 

-)-  8«  (^  +  75)  -f-  56 /i  (5^  +  BB)  +  56w  (3^  +  5B).  —  Summe  256«. 

Die  in  ()  eingeschlossenen  Formeln  zeigen  die  Mischung  des  Blutes  in  den 
Bastarden  an;  (5A-{'3B)  bedeutet  also,  dass  in  dem  Bastard  ^/s  Blut  von  A  und 
^/s  Blut  von  B  enthalten  ist. 

Wemi  che  beiden  Sippen  und  ihre  Abkömmlinge  zusammen  in  1000  Indi- 
viduen auf  einem  Standorte  vertreten  sein  kömien,  so  kommen  anfänglich  (in  der 
0.  Generation,  d.  h.  ehe  die  hybride  Begattung  beginnt)  500  J  und  500  B  vor,  in 
der  1.  Generation  250  4,  250B  und  500  Bastarde,  in  der  2.  62V2^,  ^2'liB  und 
875  Bastarde  und  in  der  3.  Generation  4:A,  AB  und  992  Bastarde. 

^)  Man  hat  in  den  aufeinander  folgenden  Generationen : 
O.Gen,  n  A-\~10n  B.  —  Summe  der  Indiwluen  11«. 
I.Gen,  n  .1  +  100«  B  +  20n(A  +  B).  —  Summe  121«. 

2.  Gen.  n  A  -\-  10000«  B  +  600«  (A  -j- B) -\-  40«  (34  +  JB)  -f  4000«  (A  -}-  SB).   — 

Summe  146417*. 

3.  Gen.  «  A  +  100000000«  B  -f-  700000«  (A  +  B)  -f  2800«  (3.4  +  B) 

4-28000000«  (A  +  35)  +  80«  {1 A  +  J5)  +  80000000«  (A -j- 1 B) 
+  56000«  (54  +  3ii)  4-  5600000«  (34  +  5B).  —  Summe  214358881 «. 
Wenn  die  beiden  Sippen  mit  ihren  Abköimnlingen   in   der   constanten  Zahl 
von  1100  auf  einer  Locahtät  leiten  können,  so  treffen  auf  tlie  0.  Generation  (vor 


300     VI.  Kritik  der  Darwin' scheu  Tlieorie  von  der  natürlichen  Zuclitwahl. 

Aus  dem  Zusammenhalt  dieser  Berechnungen  mit  dem  natür- 
lichen Vorkommen  geht  deutlich  die  geringe  Neigung  der  Varietäten, 
sich  mit  einander  zu  kreuzen,  hervor.  Wenn  bei  gleicher  Individuen- 
zahl der  beiden  Sippen  auf  je  1000  Individuen  einer  jeden  derselben 
in  einer  bestimmten  Gegend  je  1  Bastard  trifft  und  die  Bastarde 
keine  Nachkommen  haben,  so  ist  hier  die  Neigung  zur  Kreuzung 
2000 mal  geringer  als  diejenige  zur  Inzucht.  Würden  die  Bastarde 
sich  fortpflanzen,  so  würde  sich  aus  dem  Vorkommens verhältniss 
1 :  1000  eine  noch  geringere  Neigung  zur  Kreuzung  berechnen. 

Ich  bemerke  noch,  dass  die  Varietäten  aus  den  verschiedensten 
Gruppen  des  Pflanzenreiches  sich  in  dieser  Beziehung  gleich  verhalten 
und  dass  auch  die  vielförmigsten  Gattungen,  bei  denen  man  eine 
grössere  Neigung  zu  geschlechtlicher  Vermischung  erwarten  möchte, 
keine  Ausnahme  machen.  Bei  der  Gattung  ■  Hieracium  mit  ihren 
zahllosen  Varietäten  sind  die  hybriden  Formen,  wie  sich  aus  einem 
genaueren  Studium  ergibt,  viel  seltener  als  man  beim  ersten  Anlaufe 
vermuthet. 

Die  Erfahrungen  der  Cultur  stimmen  mit  dem  Ergebniss  der  Beob- 
achtungen im  Freien  überein.  Es  ist  bekannt,  dass,  wenn  mehrere 
verwandte  Rassen  neben  einander  cultivirt  werden,  aus  den  Samen 
derselben  immer  eine  grössere  Anzahl  von  Kreuzungsproducten  auf- 
geht. Befinden  sich  aber  aus  dem  Freien  eingeführte  Varietäten  neben 
einander  im  Garten,  so  sind  unter  den  Samen  nur  sehr  selten  solche 
hybriden  Ursprungs.  Wie  ich  angegeben  habe,  werden  im  Münchner 
Garten  ca.  2500  Nummern  von  Hieracien  gezogen.  Aus  den  geern- 
teten Samen  wurden  bis  auf  einige  wenige  Ausnahmen,  die  Bastarde  er- 
gaben, genau  die  Mutterpflanzen  erhalten,  und  unter  den  vielen  spontan 
aufgegangenen  Samen  befanden  sich  nur  ganz  vereinzelte  Bastarde. 

Der  Grund,  warum  Rassen  gemeinschafthchen  Ursprungs  selbst 
bei  grosser  Verschiedenheit  der  Merkmale  sich  leicht,  dagegen 
Varietäten  gemeinsamen  Ursprungs  bei  germger  Verschiedenheit  der 
Merkmale  sich  schwer  unter  einander  kreuzen,  dürfte,  insofern  beide 
durch  die  nämlichen  Merkmale  unterschieden  sind,  in  ihrem  un- 
gleichen Alter  zu  suchen  sein.  Die  ersteren  bestehen  immer  nur 
seit  verhältnissmässig  kurzer  Zeit,  die  Blutsverwandtschaft  zwischen 


Beginn  der  hybriden  Befruchtung)  100  A  und  1000  B ,  auf  die  erste  9  A,  909  B 
und  182  Bastarde,  auf  die  zweite  ^lisA,  7ol  B  und  349  Bastarde  und  auf  die 
chitte  Generation  Vi94s7w4.,  513 B  und  577  Bastarde. 


VI.  Kritik  der  Dar^Ain'sclie'u  Theorie  von  der  natürliclien  Zuchtwahl.     301 

ihnen  ist  sehr  nahe,  die  Constanz,  die  sie  erlangt  haben,  sehr  gering. 
Die  Varietäten  aber  haben  ein  ganz  ungleich  höheres  Alter,  dem- 
entsprechend eine  geringe  Blutsverwandtschaft  und  eine  grosse  Be- 
ständigkeit. Die  Wirkung  dieser  Momente  geschieht  durch  das 
Idioplasma,  welches  bei  der  geschlechtlichen  Befruchtung  eine  grössere 
oder  geringere  Neigung  zur  Vereinigung  besitzt.  Das  Idioplasma 
der  Rassen  von  gemeinsamem  Ursprung  hat  die  Configuration,  die 
es  in  den  Stammeltern  besass,  noch  nicht  wesentlich  verändern  und 
eigenthümlich  gestalten  können.  Das  Idioplasma  der  Varietäten 
dagegen  hatte  Zeit,  sich  specifisch  auszubilden,  und  in  Folge  dessen 
ist  die  Uebereinstimmung  in  seiner  Configuration  geringer.  —  Es 
gibt  übrigens  auch  Varietäten,  die  sich  schon  deswegen  nicht 
kreuzen,  weil  ihre  idioplasmatischen  Anlagen  an  und  für  sich  eine 
Vereinigung  nur  schwer  oder  gar  nicht  gestatten.  Diese  Varietäten 
haben,  schon  ehe  sie  fertig  gebildet  sind,  eine  Abneigung  vor  gegen- 
seitiger Befruchtung  (vgl.  S.  255 — 257). 

Es  ist  nun  die  Frage,  welchen  Einfluss  werden  zwei  Sippen, 
die  in  dem  beschränkten  Connubimn  leben,  wie  es  mit  den  natür- 
lichen Varietäten  thatsächlich  der  Fall  ist,  aufeinander  ausüben? 
Wir  können  diese  Frage  sowohl  theoretisch  als  durch  Erfahrung 
beantworten.  Was  die  Theorie  betrifft,  so  lässt  sich  nach  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung bestimmen,  wie  viel  Blut  bei  bestimmter 
Anzahl  der  hybriden  Producte  eine  Varietät  aus  der  andern  auf- 
nimmt. Sind  keine  hybriden  Zwischenformen  vorhanden,  so  geht 
natürlich  kein  Blut  von  einer  Sippe  in  die  andere  über.  Ebenso 
verhält  es  sich,  w^enn  nur  die  Mittelform  [Ä-]-B)  besteht,  weil  in 
diesem  Fall  eine  weitere  Bastardirung  nicht  statt  hat. 

Kommen  aber  ausser  der  Mittelform  auch  andere  hybride  Glieder 
zwischen  dieser  und  den  Stammsippen  vor,  so  hängt  der  Erfolg  von 
der  Häufigkeit  dieser  weiteren  Bastardirungen  ab.  Dieselbe  lässt 
sich  in  der  Praxis  jedoch  nicht  ziffermässig  angeben,  weil  die  ein- 
zelnen Glieder  nicht  sicher  erkannt  werden.  Wenn  der  j^i'i'^^^ii'e 
Bastard  {Ä-\-B)  der  beiden  Sippen  Ä  und  B  sich  weiter  mit  der 
Sippe  Ä  kreuzt,  so  hat  die  zweite  hybride  Generation  die  Formel 
(3^4-5),  die  dritte  {lÄ-\-B),  die  vierte  (15.4+1>'),  die  fünfte 
[iMÄ-{-B)  u.  s.  w.  Schon  die  zweite  Generation  (o^l-j-J5)  lässt  sich 
in  der  Regel  nur  schwer,  die  andern  aber  meist  gar  nicht  nacli 
ihrem  Bastardirungsgrade  erkennen. 


B02     ^""T-  Kritik  der  Darwin'sclien  Theorie  von  der  natürlichen  5iuchtwahl. 

Eine  sichere  Berechnung  lässt  sich  daher  nur  in  der  Art  aus- 
führen, dass  man  für  einen  bestimmten  Fall  das  Maximum  des 
Blutes,  das  aus  einer  Varietät  in  die  andere  übergeht,  feststellt. 
Dieses  Maximum  erhält  man,  indem  man  eine  grössere  Neigung  zur 
Bastardirung  zwischen  der  Mittelform  und  einer  Stammsippe  voraus- 
setzt, als  sie  wirklich  vorkommen  kann.  Zu  diesem  Behuf  nehme 
ich  a]i,  dass  die  Neigung  des  primären  Bastardes  (^l-j-l)'),  sich  mit  ^ 
zu  kreuzen,  100  mal  so  gross  sei  als  die  Neigung  zur  Bastardirung 
zwischen  Ä  und  JB,  was,  nach  der  Seltenheit  der  Form  {3Ä~\-B) 
bei  allen  natürlichen  Pflanzenbastardon  entschieden  zu  viel  ist,  und 
dass  die  Neigung  der  zweiten  hybriden  Generation  (3  A  -4-  B)  sowie 
der  folgenden  zur  geschlechtlichen  Vermischung  mit  der  Varietät  A 
genau  ebenso  gross  sei  als  die  Neigung  der  letzteren  zur  Inzucht, 
was  ganz  sicher  weit  übertrieben  ist.  Wenn  nun  auf  je  1000  Indi- 
viduen von  A  und  von  B  1  Individuum  der  Mittelform  [A-}-B) 
trifft,  so  ist  die  Neigung  dieser  beiden  Formen,  sich  mit  einander 
zu  bastardiren,  2000  mal  geringer  als  die  Neigung  zur  Inzucht,  und 
die  Neigung  der  Sippe  A,  sich  mit  dem  primären  Bastard  zu  kreuzen, 
20  mal  geringer  als  die  Neigung  zur  Inzucht.  Solange  imn  dieses 
Verhalten  andauert,  geht  mit  jeder  Generation  V^oooo  Blut  von  der 
Varietät  B  in  A  über,  oder  mit  andern  Worten,  40000  Individuen  von  A 
nehmen  das  Blut  von  einem  Individuum  B  auf.  Ist  die  Individuum- 
zahl von  A  nicht  sehr  gross,  so  wird  die  Form  {oA-{-B),  weil  ihre 
Ziffer  unter  V2  sinkt,  leicht  ausbleiben,  und  dann  auch  der  Ueber- 
gang  von  Blut  gar  nicht  zu  Stande  kommen^). 

Diese  Berechnung  gilt  bloss  für  den  Fall,  dass  die  gemachten 
Annahmen  wirklich  erfüllt  sind,  dass  nämlich  in  einer  Gegend  der 
primäre  Bastard  [A-\-B)  den  tausendsten  Theil   der  Individuenzahl 


')  Unter  den  obigen  Voraussetzungen  berechnen  sich  für  die  aufeinander 
folgenden  Generationen  folgende  Verhältnisszahlen,  wenn  die  beiden  Stammsippen 
in  gleicher  Zahl  vorhanden  sind  und  die  Gesammtindividuenzahl  ungefähr  20000 
beträgt : 

0.  Gen.  10000  A  +  10000  B. 

1.  Gen.  10000  A  +  10000  J3  +  10  (^  +  B). 

2.  Gen.  10000  A  +  10000  £  +  10  (^  -|-  5)  4-  1  (3^  -f  5). 

3.  Gen.  10000  A  +  10000  B -\-10(A -\- B)-\-l  (ßA  ]- B)'^2  (7  A-\-  B). 

4.  Gen.  10000  A  -f  10000  B -\-\0{A^B)-\-l(ßA  -|- J5)  +  2(7  ^+iJ)+4(15^  +  £). 

1(^1  habe  die  kleinsten  Glieder  weggelassen,  da  sie  gar  keine  Wirkung  haben 
können  ;  in  der  3.  Generation  wäi-e  nämlich  noch  Vioo(5.4  -|-37?),  in  der  4.  Genera- 


VI.  Kritik  der  Danvin'sc-hen  Theorie  von  der  natürliehen  Zuclitwahl.      308 

von  Ä  ausmacht,  dass  auf  je  10  Individuen  desselben  1  Individuum 
des  secundären  Bastards  {3Ä-\-B)  kommt,  und  dass  die  übrigen 
Glieder  der  hybriden  Uebergangsreihe  in  der  angegebenen  Zahl 
vorhanden  sind.  Diese  Bedingungen  treffen  aber  fast  nie  ein,  weil  die 
Bastarde  nicht  das  angegebene  numerische  Verhältniss  erreichen,  und 
es  kann  daher  als  ein  höchst  seltener  Fall  bezeichnet  werden,  wenn 
einmal   eine  Sippe   wirklich   V40000  fremdes  Blut  in  sich  aufnimmt. 

Man  möchte  vielleicht  einwenden,  dass  die  primären  Bastarde 
in  einzelnen  Gattungen  mehr  als  Vi  000  der  Individuenzahl  einer 
Stammsippe  betragen.  Dies  ist  gewiss  richtig  für  einzelne  Standorte, 
Aber  es  gibt  andere  Standorte,  wo  die  beiden  Stammsippen  ohne 
Bastarde  vorkommen,  und  viele  Standorte,  wo  nur  eine  derselben 
(ebenfalls  ohne  Bastarde)  wächst,  so  dass  das  Verhältniss  von  f  looo 
selten  erreickt  wird.  —  Sollte  dieses  Verhältniss  aber  auch  da  oder 
dort  überschritten  werden,  so  wächst  wohl  der  Bruchtheil  des  auf- 
genommenen fremden  Blutes  in  entsprechendem  Maasse,  ohne  dass 
deswegen  das  allgemeine  Resultat  sich  ändert. 

Das  wichtigste  und  das  ausschlaggebende  Moment  besteht  nämhch 
nicht  in  der  Zahl  der  Bastarde  überhaupt,  sondern  in  der  Thatsache, 
dass  fast  nie  die  ganze  hybride  Uebergangsreihe  von  dem  primären 
Bastard  [Ä-^B)  bis  zu  einer  der  beiden  StammsijDpen  vorkommt. 
Häufig  findet  man  bloss  den  primären  Bastard  [Ä-\-B);  seltener  beob- 
achtet man  neben  demselben  noch  den  secundären  Bastard  [3ä-\-B) 
oder  einen  anderen,  der  sich  noch  mehr  der  Sippe  J.  nähert.  Ein 
solches  Verhalten  lässt  aber  die  Reinheit  der  Sippe  ganz  unberührt; 
nur  wenn  sich  die  ganze  Uebergangsreihe  bildete,  könnte  fremdes 
Blut  in  die  Stammsippe  übergeführt  werden.  Gewöhnlich  sterben 
die  Bastarde  oder  ihre  Nachkommen,  ohne  dieses  Ziel  zu  erreichen. 


tion  wären  V500  (5  J.  +  SB)  -f  2/500  (U  ^  -f-  5B)  +  Vsooo  (134  +  SB)  iind  drei  andere 
noch  viel  kleinere  Ausdrücke  beizufügen. 

Die  Bedeutung  dieser  Eeihe  ist  klar.  Die  Bastarde,  die  der  Stammsippe  Ä 
am  nächsten  kommen ,  haben  in  der  2.  Generation  die  Formel  Qi  A-{~  B),  somit 
*/4  Blut  von  A  und  V*  Blut  von  B,  in  der  3.  Generation  die  Formel  (7Ä-\-B), 
also  Vs  Blut  von  B,  in  der  4.  Generation  Vie  Blut  von  B  und  die  Formel 
(15  J.-I--B)  u.  s.  w. ;  in  gleichem  Maasse,  wie  das  Blut  von  B  in  den  im  Ueber- 
gange  zu  A  am  meisten  fortgeschrittenen  Bastarde  sich  verdünnt,  ninnnt  die  Zahl 
dieser  Bastarde  zu.  Die  2.  Generation  hat  1  Individuum  mit  V4B,  die  3.  2  Indiv. 
mit  VsJB,  die  4.  4  Indiv.  mit  VisJB,  die  5.  Generation  hat  8  Indiv.  mit  Vsa^  u.  s.  w., 
so  dass  also  mit  jeder  Generation  das  Blut  von  V4JB  in  die  10000.1  übergeht. 


304     VI.  Kritik  der  Darwin'selien  Tlieorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl. 

Tritt  nun  aber  einmal  unter  ganz  besonders  günstigen  Um- 
ständen der  Ausnahmefall  ein,  dass  ^/loooo  oder  auch  etwas  mehr 
fremdes  Blut  in  eine  Sijjpe  übergeht,  so  erhebt  sich  erst  die  Frage, 
was  denn  ein  solches  Ereigniss  eigentlich  zu  bedeuten  habe.  Darüber 
gibt  uns  folgende  Er\vägung  hinreichenden  Aufschluss. 

Der  primäre  Bastard  [A  -\-  B)  enthält  V2 ,  der  secundäre  (3  ^  -]-  B) 
enthält  '/-i,  der  tertiäre  [lA^B]  Vs,  die  folgenden  Glieder  der  hybriden 
Uebergangsreihe  Viü,  ^32,  V«*,  V128,  \256,  V512,  '/102.1  u.  s.  w.  Blut 
der  andern  Sippe  [B).  Je  mehr  das  fremde  Blut  sich  in  einer  Sippe 
ausl:)reitet,  um  so  geringer  wird  sein  Bruchtheil.  Die  Micellgruppen 
des  Idioplasmas,  welche  die  Anlagen  darstellen,  bestehen  aus  einer 
begrenzten  Zahl  von  Micellen.  Wenn  das  fremde  Blut  in  dem 
Maasse,  wie  es  die  vorhin  angeführte  Reihe  zeigt,  abnimmt,  so  werden 
die  demselben  entsj^rechenden  Micellgruppen  bald  so  klein,  dass  sie 
nicht  mehr  die  Bedeutung  von  Anlagen  haben.  Denn  ein  einzelnes 
Micell  oder  auch  ein  Paar,  vielleicht  noch  3  und  4  Micelle  wirken 
nicht  als  fremdes  Blut,  sondern  bloss  als  ernährende  Substanz. 

Man  kann  also  nicht  sagen,  dass  die  Sippe  J.,  wenn  sie  */4oooo 
Blut  von  B  aufnimmt,  sich  um  V40000  ihrer  Eigenschaften  der  Sippe  B 
nähere ;  sie  bleibt  in  Wirklichkeit  ganz  unverändert,  weil  das  fi"emde 
Blut  bei  einer  gewissen  Verdünnung  seine  specifische  Wirksamkeit 
ganz  verliert.  Auch  die  öfters  wiederholte  Aufnahme  von  so  geringen 
Mengen  fremden  Blutes  hätte  keine  Wirkung,  weil  dabei  nicht  etwa 
kleine  Werthe,  sondern  Nullen  summirt  würden.  Dies  gilt  für  alle 
Anlagen  des  fremden  Blutes,  die  in  bemerkbarer  Weise  von  denen 
des  eigenen  Blutes  abweichen,  denn  dieselben  werden  unvermischt 
in  das  Idioplasma  eingelagert,  wie  es  auf  Seite  226  der  »zweite  Typus 
der  Vereinigung«  angibt. 

Anders  als  die  (natürlichen)  Varietäten  und  Arten  verhalten 
sich  die  (künstlichen)  Rassen,  und  man  spricht  mit  vollem  Rechte 
davon,  dass  eine  Rasse  fremdes  Blut  aufgenommen  habe  und  dadurch 
verändert  worden  sei.  Die  Verschiedenlieit  rührt  aber  nur  daher, 
weil  die  Mengenverhältnisse  ganz  andere  sind.  Wird  eine  Rasse 
durch  fremdes  Blut  verbessert,  so  macht  das  letztere  bei  diesem 
künstlich  eingeleiteten  und  überwachten  Vorgang  einen  Bruchtheil 
von  merklicher  Grösse  aus.  Man  begreift,  dass  Vi  bis  Vie  oder  selbst 
V32  Blut  einen  Organisnms  in  einer  bestimmten  Weise  zu  verändern 
vermag. 


VI.  Kritik  der  Darwin'schcu  TliCMjrie  von  der  natürlielien  Zuclitwald.     IJOo 

Uebrigens  koniint  bei  diesem  Vorgang  noch  ein  anderer  Umstand 
zur  Geltung.  Wenn  beispielsweise  eine  Rasse  A  durch  Einführung 
von  bloss  V32  Blut  von  B  merklich  verändert  wird,  so  besteht  diese 
Veränderung  nicht  etwa  nur  in  einem  in  der  Grösse  von  V32 
nach  B  hin  gemachten  Schritt,  sondern  die  Veränderung  besteht 
namentlich  auch  darin,  dass  durch  die  Kreuzung  Eigenschaften,  die 
bisher  in  Ä  latent  waren,  manifest  werden.  Würde  aber,  was  aller- 
dings keinem  Thierzüchter  einfällt,  in  eine  Rasse  IdIoss  Vi 000  bis 
V40000  fremdes  Blut  eingeführt,  so  verschwände  dasselbe  darin  wohl 
ebenso  spurlos  wie  in  einer  natürlichen  Varietät  oder  Art.  Und 
wenn  es  eine  geringe  Wirkung  haben  sollte,  so  geschähe  es  gewiss 
bloss  durch  manifest  werdende  eigene  Eigenschaften,  nicht  durch 
Uebertragung  fremder  IMerkmale. 

Die  theoretische  Betrachtung  drängt  uns  also  die  Schlussfolge- 
rung auf,  dass  natürliche  Varietäten  und  Arten,  die  in  dem  be- 
schränkten Connubium  leiten,  wie  es  in  der  freien  Natur  der  Fall 
ist,  gar  keine  verändernde  Wirkung  auf  einander  auszuüben  ver- 
mögen. Es  ist  dies  ein  sehr  merkwürdiges  Resultat,  welches  man 
bei  einem  allgemeinen  Ueberschlag  kaum  erwarten  würde,  und  das 
man  erst  begreift,  wenn  man  den  Verlauf  der  Kreuzungen  in  exacter 
Weise  analysirt. 

Dieses  aus  dem  Vorkommen  der  Kreuzungsproducte  abgeleitete 
Resultat  ist  übrigens  in  genauer  Uebereinstimmung  mit  einer  Reihe 
von  Erfahrungsthatsachen.  Wenn  in  einer  Gegend  eine  Sippe  Ä 
mit  einer  andern  B  im  Connubium  lebt  und  Blut  aus  ihr  aufnimmt, 
so  möchte  man  erwarten,  dass  sie  in  ihren  Merkmalen  etwas  ver- 
schieden sei  von  ihren  Sipj)enangehörigen,  die  in  einer  andern  Gegend 
leben  und  daselbst  Reinzucht  halten.  Dies  ist  nicht  der  Fall,  und 
dadurch  wird  l:)ewiesen ,  dass  in  der  That  entweder  kein  Blut  auf- 
genommen wird,  oder  dass  das  aufgenommene  Blut  keine  A^erände- 
rung  der  Merkmale  verursacht. 

Ich  habe  Hieracien -Varietäten  von  Standorten,  wo  sie  durch 
gleitende  Uebergänge  verbunden  zu  sein  scheinen  und  wo  somit  die 
Mögliclikeit  besteht,  dass  sie  Blut  von  einander  empfangen  hal)en, 
mit  solchen  aus  anderen  Gegenden,  wo  keine  Uebergänge  vor- 
konnnen,  genau  verglichen  und  nicht  den  geringsten  Unterschied 
auründen  können.  Das  gleiche  Ergebniss  erhielt  ich  bei  Cirsien- 
Arten.      Einige    derselben    l)ilden    in    gewissen   Gegenden    ziemlich 

V.  Nägel i,  Abstammungslehre.  20 


^306     VI.  Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl. 

zahlreiche  Bastarde,  so  z.  B.  C.  palustre  und  C.  oleraceum,  C.  rivii- 
lare  und  C.  oleraceum.  Es  gibt  auch  Individuen  von  C.  oleraceum 
sowie  von  C.  rivulare  und  C.  2:)alustre,  welche  unzweifelhaft  den 
Einfluss  wiederholter  Bastardirung  zeigen,  so  dass  sie  vielleicht  der 
Formel  [31  A-\-1j)  oder  (G3^-|--^)  entsprechen.  Aber  alle  übrigen 
Individuen  unterscheiden  sich  nicht  von  C.  oleraceum,  C.  rivulare 
oder  C.  palustre  aus  Gegenden,  wo  diese  Arten  allein  vorkommen 
und  wo  man  eine  von  jeher  bestehende  Reinzucht  sicher  annehmen 
kann. 

.Aus  den  angeführten  Thatsachen  und  Erwägungen  geht  un- 
bestreitbar hervor,  dass  man  aus  den  Erfahrungen  an  den  (künst- 
lichen) Rassen  nicht  auf  das  Verhalten  der  (natürlichen)  Varietäten 
bei  der  Kreuzung  schliessen  darf.  Die  Rasse  kann  nur  zu  Stande 
kommen ,  wenn  die  schädliche  Kreuzung  vermieden  ist.  Die  Aus- 
bildung und  Divergenz  der  Varietäten  dagegen  ward  durch  die  Kreu- 
zung nicht  gestört.  Diese  Folgerung  habe  ich  vor  längerer  Zeit 
schon  aus  der  Thatsache  gezogen,  dass  alle,  auch  die  geringsten 
Grade  der  Variation  von  Pflanzenarten  beisammen  auf  den  näm- 
lichen Standorten  getroffen  werden,  und  ich  habe  daraus  weiter  das 
mit  der  Selectionstheorie  im  Widerspruche  stehende  gesellige  Ent- 
stehen der  Varietäten  gefolgert^).  Dabei  beurtheilte  ich  die  Verän- 
derung noch  ausschliesslich  nach  den  sichtbaren  Merkmalen. 

Ich  habe  nun  die  Entstehung  der  Varietäten  auch  von  der  einzig- 
vorwurfsfreien  und  zulässigen  Seite,  nämlich  mit  Rücksicht  auf  das 
Verhalten  des  Idioplasmas,  geprüft  (S.  248 — 258)  und  gefunden,  dass 
es  Varietäten  geben  muss,  die  schon  während  der  früheren  Perioden 
ihres  Entstehens  ein  gesellschaftliches  Vorkommen  und  die  beständige 
Möglichkeit  gegenseitiger  Begattung  ohne  Gefahr  ertragen,  weil  die 
beiderseitigen  idioplasmatischen  Anlagen  eine  Vereinigung  nicht  oder 
nur  schwer  gestatten  und  daher  die  Begattung  ohne  Erfolg  ist,  — 
dass  es  dagegen  andere  A'' arietäten  gibt,  welche  in  den  früheren 
Perioden  durch  Kreuzung  vernichtet  werden,  und  welche  die  Kreu- 
zung erst  dann  ohne  Gefahr  bestehen,  wenn  ihre  Anlagen  bis  zu 
einer  gewissen  Festigkeit  gediehen  sind. 


*)   Das   gesellschaftliche   Entstehen   neuer   Species.      Sitzungsher.    d.    math.- 
phys.  Classi"  <1.  k.  h.  Akad.  d.  W.   1.  lu-l.r.   187;}. 


VI.  Kritik  der  Darwin'sclien  Tlieorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl.      ;-)07 

Im  letzteren  Fall  kann  man  bezüglich  der  Frage  des  gesell- 
schaftlichen oder  getrennten  Entstehens  leicht  in  Irrthum  gerathen, 
wenn  man  dasselbe  nach  den  sichtbaren  Merkmalen  beurtheilt.  Der 
Irrthum  ist  zwar  unmöglich,  w^enn  die  sichtbaren  Merkmale  mit  den 
sich  bildenden  Anlagen  gleichen  Schritt  halten,  aber  nicht  zu  ver- 
meiden, wenn  die  Anlagen  bis  zu  einer  gewissen  Stärke  sich  ent- 
wickeln müssen,  ehe  sie  entfaltungsfähig  werden  (S.  184).  Sieht 
man  also  eine  oder  mehrere  neue  Varietäten  gesellschaftlich  unter 
andern  sich  nicht  abändernden  Individuen  zum  Vorschein  kommen, 
so  muss  die  Möglichkeit  ins  Auge  gefasst  werden,  dass  vor  dem 
Erscheinen  der  neuen  Merkmale  die  Anlagen  derselben  vielleicht 
schon  durch  lange  Zeiträume  anderwärts  sich  herangebildet  haben, 
und  dass  somit  die  Varietäten  vor  ihrem  wahrnehmbaren  Auftreten 
eine  verborgene  A^'orgeschichte  hatten,  während  der  sie  eine  be- 
trächtliche Constanz  erlangen  konnten. 

Die  Entstehung  der  Varietäten  stellt  sich  in  diesem  Falle  ganz 
verschieden  dar,  je  nachdem  wir  sie  von  dem  ersten  sichtbaren 
Auftreten  ihrer  Merkmale  oder  von  dem  Beginne  der  Bildung  ihrer 
Anlagen  her  datiren.  Nehmen  wir  den  letzteren  Standpunkt  ein, 
so  entstehen  die  Varietäten,  d.  h.  ihre  Anlagen,  bei  getrenntem  Yov- 
kommen.  Da  alle  mit  einander  vorkommenden  Indi-\dduen  einer 
Sippe  die  gleichen  inneren  Ursachen  und  die  gleichen  äusseren  Ein- 
wirkungen erfahren,  so  bildet  sich  auch  ihr  Idioplasma  in  gleicher 
Weise  um  und  wird  durch  die  gleiche  Anlage  bereichert.  Bleibt 
die  Sippe  während  sehr  langer  Zeiträume  unter  den  nämlichen 
äusseren  Einflüssen,  so  entfaltet  sich  die  Anlage  da,  w^o  sie  sich 
gebildet  hat,  und  die  neue  sichtbare  Varietät  tritt  isolirt  auf.  Werden 
aber  die  Individuen  jener  Sipj)e  vor  dem  Entfalten  der  Anlage  durch 
Wanderung  zerstreut  und  kommen  sie  mit  Individuen  der  nämlichen 
Sippe,  die  unter  anderen  Verhältnissen  eine  andere  entfaltungsfähige 
Anlage  gebildet  haben,  zusammen,  so  werden  sich  die  verschiedenen 
Anlagen  auf  dem  nämlichen  Platze  entfalten,  und  es  treten  dann 
zwei  verschiedene  sichtbare  Varietäten  der  nämlichen  Sippe  ge- 
meinsam auf,  so  dass  man  nach  der  blossen  Bemtheilung  der  ent- 
falteten Merkmale  auch  hier  ein  gesellschaftliches  Entstehen  der 
Varietäten,  w'iewohl  mit  Unrecht,  vermuthen  könnte. 

Wir  müssen  also  sichtbare  Varietäten  mit  entfalteten  Merk- 
malen und   unsichtbare  Varietäten   mit   noch   unentfalteten    An- 

20* 


30B     ^^I-  Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl. 

lagen  unterscheiden.  Die  letzteren  entstehen  in  dem  angenommenen 
Falle  isolirt,  die  ersteren  können  isolirt  oder  gesellschajftlich  zum 
Vorschein  kommen ;  es  hängt  dies  von  der  vorausgegangenen  Wan- 
derung ab.  Der  Zustand  und  die  geographische  Verbreitung  der 
Varietäten  kann  daher  nur  dann  richtig  beurtheilt  werden,  wenn  wir 
dabei  von  der  letzten  grossen  Wanderung  der  Organismen  ausgehen. 

Das  gegenwärtige  Vorkommen  der  Pflanzen  und  Thiere  besteht 
seit  dem  Aufhören  der  Eiszeit.  Während  derselben  lebten  die  alpinen 
Pflanzen  in  der  mitteleuropäischen  Ebene  und  wanderten  nachher 
theils  auf  die  verschiedenen  Gebirge,  theils  nach  dem  Norden, 
während  aus  dem  Osten  her  Ebenenpflanzen  einwanderten  und  sich 
mit  den  wenigen  in  der  Ebene  zurückgebliebenen  alpinen  mischten. 
Es  gibt  nun  zwei  Reilien  von  Thatsachen,  welche  uns  über  die  Ver- 
änderung der  Gewächse  seit  jener  Wanderung  einigen  Aufschluss 
gewähren. 

Die  eine  Reihe  von  Thatsachen ,  die  schon  wiederholt  erwähnt 
wurde,  zeigt  uns  die  nämlichen  sichtbaren  Varietäten  auf  verschie- 
denen Gebirgen,  in  der  Ebene  und  im  Norden  ent'weder  genau  gleich 
oder  nur  sehr  wenig  ungleich.  Sie  belehrt  uns  über  die  Zeiträume, 
welche  für  die  Varietätenbildung  erforderlich  sind.  Entweder  ist 
die  sichtbare  Varietät  seit  der  Eiszeit  unverändert  geblieben,  oder 
sie  war  zur  Eiszeit  eine  andere  und  ist  mit  den  nämlichen  Anlagen 
auf  ihre  jetzigen  verschiedenen  Wohnsitze  gekommen,  wo  sich  die- 
selben überall  zu  den  nämliclien  äusseren  Merkmalen  entfaltet  haben. 
Zeigt  die  ^^arietät,  die  in  der  Ebene  lebt,  eine  geringe  Verschieden- 
heit von  der  in  den  Alpen  wohnenden  Varietät,  so  hat  sich  entweder 
seit  der  Eiszeit  eine  neue  Anlage  gebildet  und  auch  bereits  entfaltet, 
oder,  was  vielleicht  wahrscheinlicher  ist,  die  Pflanzen  sind  mit  nicht 
ganz  fertigen  Anlagen  in  iln-e  neuen  Wohnorte  gekommen  und  haben 
dieselben  unter  den  veränderten  äusseren  Umständen  in  etwas  un- 
gleicher Weise  fertig  gebildet  und  dann  entfaltet. 

Die  zweite  Reihe  von  Thatsachen  beruht  in  dem  voi'hin  er- 
wälinton  gesellschaftlichen  Vorkommen  naher  und  nächster  sicht- 
])aror  \'arietäten.  Es  ist  durchaus  unwahrscheinlich,  dass  sie  alle 
durch  W'^anderung  sich  zusammengefunden  haben ;  sie  müssen  sich 
zum  Theil  da,  wo  sie  sich  jetzt  befinden,  gebildet  haben.  Dies  geht 
aus  einer  einfachen  Erwägung  hervor.  Wären  die  siclit])aren  Varie- 
täten alle  zusammengekommen,  so  müssten  sie  schon  vor  der  Wan- 


VI.  Kritik  der  Darwin'sclK'ii  Tlu'orie  von  der  natiirlirlieii  Zuehtwuhl.      )]()[) 

derung  existirt  haben.  Bei  jeder  grossen  Wanderung  gehen  aher 
viele  Arten  und  Varietäten  verloren,  weil  ja  das  Weiterwandern  von 
mannigfaltigen  Zufälligkeiten  abhängt.  Es  niüsste  also  unter  jener 
^^oraussetzung  zur  Eiszeit  beträchtlicli  mehr  Varietäten  gegeben 
haben  als  jetzt.  Dies  ist  durchaus  unannehmbar.  Die  Zahl  der 
Varietäten  nimmt  im  Laufe  der  Zeiten  eher  zu  als  ab;  und  wenn 
sie  auch  nur  gleich  bleibt,  so  muss  doch  der  Verlust,  der  bei  einer 
grossen  Wanderung  eintritt,  ersetzt  werden.  Es  mussten  also  seit 
der  Eiszeit  ziemlich  viele  neue  sichtbare  Varietäten  zum  Vorschein 
kommen  und  zwar  gesellschaftlich,  da  auch  das  jetzige  Vorkommen 
ein  gesellschaftliches  ist. 

Entweder  haben  sich  nun  die  Anlagen  dieser  in  Gesellschaft 
lebenden  nächstverwandten  sichtbaren  Varietäten  gesellschaftlich  ge- 
bildet und  entfaltet,  oder  die  Anlagen  haben  sich  bis  zu  einem 
gewissen  Grad,  der  sie  vor  Vernichtung  durch  Kreuzung  schützte, 
local  getrennt  gebildet.  Die  nämliche  Sippe  leljte  beispielsweise 
während  der  Eiszeit  unter  verschiedenen  Verhältnissen  und  an  ver- 
schiedenen Orten  der  europäischen  Ebene ,  auf  der  Nordseite  und 
der  Südseite  der  Alpen,  und  bildete  daselbst  verschiedene  Anlagen. 
A'^on  den  verschiedenen  Orten  kamen  beim  Verschwinden  der  Eiszeit 
einzelne  Individuen  in  die  gleichen  alpinen  Wohnorte,  und  aus  ihren 
Nachkommen  gingen,  indem  sich  die  geerbten  Anlagen  entfalteten, 
verschiedene  sichtbare  Varietäten  hervor. 

Der  gleiche  Vorgang  konnte  in  der  El:)ene  mit  den  aus  dem 
Osten  eingewanderten  Pflanzen  stattfinden.  Die  nämliche  sichtbare 
A^arietät  {A)  konnte  nach  der  Eiszeit  aus  drei  verschiedenen  östlichen 
Gegenden  in  drei  noch  unsichtbaren  und  bloss  mit  ungleichen  An- 
lagen begabten  Varietäten  [Ä^ ,  Ä, ,  Ä:^)  westwärts  wandern :  diesell)en 
konnten  auf  der  Wanderung  sich  vermengen  und  dann  gemeinsam 
sich  festsetzen.  Die  drei  unsichtl)aren  A^arietäten  entfalteten  ihre 
Anlagen  nach  kürzerer  oder  längerer  Zeit  und  stellten  drei  in  Gesell- 
schaft lebende  sichtbare  A^arietäten  dar. 

Das  Nämliche  wird  einst  mit  den  jetzigen  A'^arietäten  geschehen. 
Es  gibt  solche,  die  eine  weite  Verbreitung  ]uil)en;  die  Anlagen,  die 
in  ihnen  entstehen,  müssen  je  nach  den  wirksamen  Einflüssen  ver- 
schieden sein.  Bleibt  die  jetzige  A^erbreitung  der  Gewächse  während 
hinreichend  langer  Zeit  die  nämliche,  so  werden  früher  oder  später 
an  den    bezüglich   der  Einflüsse   ungleichen  Orten ,    also   in   localcr 


310     ^"i-  Ki'itik  (k'i-  Darwin'sdiun  Theorie  von  der  natürliclicn  Zuclitwahl. 

Trennung,  ebenso  viele  neue  Varietäten  auftreten ;  findet  aber  vorher 
eine  grössere  Wanderung  und  eine  veränderte  Vertheilung  statt,  so 
werden  zwei  oder  mehrere  der  neuen  Varietäten  auf  dem  gleichen 
Standort  sich  entfalten  können. 

Das  gesellschaftliche  Entstehen  der  Varietäten  erklärt  uns  auch 
die  nicht  zu  verkennende  Erscheiimng,  dass  zuweilen  die  Varietäten 
oder  Arten  einer  Gegend  in  gewissen  Merkmalen  oder  im  Habitus 
mit  einander  verwandt  sind,  dass  sie  gleichsam  einen  Gesellschafts- 
typus zeigen.  Wir  begreifen  dies  vollkommen  für  den  Fall ,  dass 
sowohl  die  Bildung  als  die  Entfaltung  der  verschiedenen  Anlagen 
gesellschaftlich  erfolgt.  Es  ist  aber  aucli  nicht  unwahrscheinlich 
für  den  zuletzt  besj)rochenen  Fall,  dass  die  Anlagen  bis  zu  einem 
bestimmten  Grade  getrennt  entstehen  müssen.  Ihre  Ti'äger  bilden 
sie  dann  auf  dem  Wohnsitze,  wo  sie  zusammenkommen,  unter  den 
nämlichen  äusseren  Einflüssen,  vielleicht  aucli  unter  Mithülfe  der 
Kreuzung,  in  übereinstimmender  Weise  vollständig  aus,  und  dadurch 
erlangen  die  sich  entfaltenden  Varietäten  einen  gemeinsamen  Typus. 

Die  Annahme  Darwin's,  dass  die  Varietätenbildung  in  ana- 
loger Weise  erfolge  wie  die  Rassenbildung,  gibt  keine  Erklärung  für 
die  zahlreichen  und  mannigfaltigen  in  der  Natur  bestehenden  That- 
sachen,  und  die  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl  lässt  sich  mit 
den  Vorkommensverhältnissen  nicht  in  Uebereinstimmung  bringen. 
Man  kann  dieser  Theorie  gewiss  nicht  den  Vorwurf  machen,  dass 
sie  in  der  Studirstube  entstanden  sei,  —  wohl  aber,  dass  sie  Stall 
und  Taubenschlag  zwar  gründlich  untersucht ,  die  freie  Natur  da- 
gegen, namentlich  das  Pflanzenreich,  aus  der  Vogelperspective  an- 
gesehen habe. 


3.  Wirkung  der  Verdrängung  auf  die  Zuchtwahl. 

Nach  der  Selectionstheorie  müssen  die  Einrichtungen,  welche 
Bestand  gewinnen  sollen,  bei  der  Concurrenz  die  anderen  w^eniger 
günstigen  verdrängen,  um  die  schädliche  Kreuzung  unmöglich  zu 
machen.  Nun  liegt  es  auf  der  Hand,  dass  eine  Einrichtung  erst 
dann  die  Zuchtwahl  herbeiführen  kann,  wenn  sie  sich  so  weit  ent- 
wickelt hat,  um  sich  als  nützlich  zu  bewähren  und  eine  ausgiebige 
Verdrängung  zu  verursachen. 


VI.  Kritik  der  Darwiii'sclu'ii  Theorie  von  der  uatürlielu'ii  Zucht\\;dil.      ']  1  1 

Aus  diesem  Grunde  ist  die  Selectionstlieorie  im  Widers])riich 
mit  der  Lehre  vom  Idioplasma,  namentlich  mit  der  Annahme,  dass 
die  Eigenschaften  zuerst  als  idioj)lasmatische  Anlagen  entstehen  und 
nachher  erst  sich  entfalten ,  denn  bei  einem  verborgenen  '\''organge 
kann  selbstverständlich  eine  Zuchtwahl  nicht  eintreten.  Die  phylo- 
genetische Entwicklungsgeschichte  vermag  jedoch  dieser  den  sicht- 
baren Merkmalen  vorausgehenden  Anlagen,  wenigstens  für  viele  Fälle, 
nicht  zu  entbehren. 

Aber  auch  wenn  wir,  der  bisher  allgemeinen  Anschauungsweise 
folgend,  die  phylogenetische  Entwicklung  bloss  nach  Maassgabe  der 
sichtbaren  Veränderungen  sich  vollziehen  lassen,  stellt  sich  die 
Selectionstlieorie  bei  genauerer  Analyse  der  eintretenden  Erschei- 
nungen als  unhaltbar  heraus.  Diese  Theorie  beruhigt  sich  allzu- 
sehr mit  der  allgemeinen  Ueberzeugung ,  dass  das  Nützliche  das 
weniger  Nützliche  verdrängen  und  dadurch  zur  Zuchtwahl  führen 
müsse,  ohne  sich  den  Process  in  seinen  Einzelheiten  klar  zu  machen. 

Die  angenommene  Verdrängung  tritt  ja  jedenfalls  ein,  aber 
immer  erst  in  einem  Stadium,  in  welchem  sie  nicht  mehr  durch 
Zuchtwahl  wirkt.  Sie  würde  die  verlangte  Aufgabe  erfüllen  können 
wenn  die  neuen  Merkmale  so  zu  sagen  über  Nacht,  wenigstens  in 
einer  oder  ein  Paar  Generationen  und  in  einer  überwiegenden  Zahl 
von  Individuen  entständen.  Aber,  mögen  die  Veränderungen  wie 
immer  zu  Stande  kommen,  so  viel  ist  unbestreitbar,  dass  sie  äusserst 
langsam  sich  vollziehen.  Wird  ja  das  scheinbare  Stillstehen  der 
Sij)pen  in  den  beiden  Reichen  als  ein  Hauptgrund  gegen  die  Ab- 
stammungslehre geltend  gemacht.  Erfolgt  ausnahmsweise  einmal, 
wenn  der  allmähliche  Uebergang  der  Merkmale  unmöglich  ist,  eine 
Veränderung  rasch  (sprungweise),  so  muss  eine  lange  innere  Vor- 
bereitung (Bildung  von  Anlagen)  vorausgehen,  und  dann  haben 
wir  den  bereits  besprochenen,  die  Zuchtwahl  ausschliessenden  Fall.  — 
Was  aber  die  andere  Bedingung  betrifft,  dass  die  neue  Eigenschaft 
in  einer  überlegenden  Anzahl  von  Individuen  auftrete,  so  wider- 
spricht sie  der  Annahme  Darwin's,  und  sie  würde  auch  die  Selec- 
tionstlieorie überhaupt  überflüssig  machen,  weil  sie  die  Anwesenheit 
einer  bestimmten  und  allgemein  wirkenden  Ursache  voraussetzte  und 
somit  das  Gelingen  an  und  für  sich  verbürgte. 

In  der  Regel  geschieht  also  die  ganze  Veränderung  durch  eine 
Menge   sehr   kleiner  Schritte,    die   sich   auf   einen  langen  Zeitraum 


312     VI.  Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  natürliehen  Zuchtwahl. 

verth eilen.  Der  einzelne  kleine  Schritt  kann  über  auch  nur  einen 
entsj)rech enden  winzigen  Vortheü  gewähren,  der  neben  allen  anderen 
die  Existenzfähigkeit  bedingenden  Momenten  gänzlich  verschwindet 
und  somit  auch  keinen  Einfluss  auf  die  Verdrängung  hat.  Dabei 
macht  es  keinen  Unterschied,  ob  ein  bereits  vorliandenes  Merkmal 
sich  verändere  oder  ein  neues  sich  bilde. 

Als  Beispiel  einer  ganz  einfachen  Veränderung  will  ich  den 
Hals  der  Giraffe  oder  den  Rüssel  des  Elej^hanten  wählen,  wo  es 
sich  bloss  um  eine  Verlängerung  handelt.  In  der  vorweltlichen 
Sippe,  von  der  die  Giraffe  abstammt,  begann  die  Variation  und 
einige  Tliiere  erhielten  dadurch  einen  unmerklich  längeren  Hals ; 
bei  einer  Zunahme  von  1™™  im  Individuum,  die  wohl  zu  gross  an- 
genommen ist,  würden  etwa  1000  Generationen  für  die  ganze  Um- 
wandlung in  Anspruch  genommen.  Das  konnte  aber  selbstver- 
ständlich auf  die  Zuchtwahl  gar  keinen  Einfluss  haben.  Selbst 
eine  ziemlich  merkbare  Verlängerung  gab  den  Individuen  kein  so 
grosses  Uebergewicht  bei  der  Concurrenz,  um  eine  Kreuzung  mit 
anderen  Individuen  und  den  Rückfall  in  die  frühere  Form  zu  ver- 
hindern. 

Nach  der  Theorie  der  directen  Bewirkung  war  die  Verlängerung 
Folge  des  Bedürfnisses,  das  auf  verschiedene  Weise  einen  mecha- 
nischen Reiz  ausüben  konnte,  und  das  wir  uns  nur  dann  in  einiger- 
maassen  sicherer  Weise  vorzustellen  vermöchten,  wenn  wir  die  Be- 
schaffenheit der  Ahnensippe  und  die  damals  herrschenden  Verhält- 
nisse kannten.  Gingen  auch  vielleicht  zuerst  zahlreiche  Generationen 
vorbei,  in  denen  bloss  das  Idioplasma  sich  veränderte,  und  dann 
wieder  zahlreiche  Generationen,  in  denen  die  Verlängerung  jedesmal 
bloss  1°^™  oder  weniger  betrug,  so  war  der  Erfolg  doch  gesichert, 
da  die  Ursache  in  allen  oder  doch  weitaus  in  den  meisten  Individuen 
und  durch  alle  Generationen  thätig  war. 

Als  Beisj)iel  für  ein  neu  auftretendes  Merkmal  will  ich 
die  Hörner  der  Wiederkäuer  anführen.  Ich  möchte  bezweifeln,  dass 
1000  Generationen  hinreichten,  um  dieselben  zu  ihrer  jetzigen  Grösse 
auszubilden.  Erfolgte  deren  Bildung  nach  der  Selectionstheorie,  so 
traten  die  ersten  Abänderungen  bei  wenigen  der  ungehörnten  Vor- 
fahren auf;  da  sie  aber  von  mikroskopischer  Kleinheit  waren,  so 
konnten  sie  während  der  ersten  fünfzig  Generationen  nur  eine  so 
unbedeutende  Ausdehnung  erreichen,  dass  sie  keinen  nennenswerthen 


VI.  Kritik  diT  Darwiu'sdu'ii  Tlicoric  von  der  natürlichen  Znclitwalil.      313 

Vortheil  gowälirtuii.  Was  half  os  also  den  wenigen  Tiiflividuon  in  einer 
Heerde,  in  denen  diese,  bei  den  Nachkommen  erst  als  günstig  sich 
erweisende  Einrichtung  anfing?  Von  einer  Selection  konnte  keine 
Rede  sein;  die  Kreuzung  musste  die  begonnene  Variation  immer 
wieder  stören. 

Die  Theorie  der  directen  Bewirkung  lässt  die  Hörner  durch 
mechanischen  Reiz  entstehen.  Die  Thiere,  denen  kein  anderes 
Mittel  der  Vertheidigung  oder  des  Angriffes  zu  Gebote  stand,  stiessen 
mit  dem  Kopf.  Wenn  die  dadurch  bewirkte  Veränderung  auch 
zunächst  sich  auf  das  Idioplasma  beschränkte ,  wenn  sie  dann 
äusserlich  auch  noch  so  klein  war  und  noch  so  langsam  fortschritt,  so 
konnte  sie,  da  sie  bei  allen  Individuen  gleichmässig  stattfand  und 
durch  alle  Generationen  fortdauerte,  nicht  wieder  verloren  gehen 
und  musste  sich  so  lange  mid  so  weit  ausbilden,  als  es  alle  in  Be- 
tracht kommenden  Umstände  erlaubten. 

Die  natürliche  Zuchtwahl  kann  also  aus  dem  Grunde  nicht  zu 
Stande  kommen ,  weil  die  Veränderungen  im  Anfange  gering  und 
ohne  Nutzen  sind.  Aber  wenn  dieselben  auch,  was  nie  möglich 
ist,  sofort  l^eträchtlich  genug  wären,  um  einen  erheljlichen  Vortheil 
zu  gewähren,  so  könnten  sie,  weil  nur  in  wenigen  Individuen  eintretend 
und  noch  ohne  Constanz,  keine  ausgiebige  Verdrängung  und  Rein- 
zucht bewirken.  Es  zeigen  beispielsweise  4  auf  1000  Individuen  die 
allernützlichste  Variation ,  so  geht  sie  durch  Kreuzung  wieder  ver- 
loren. Denn  eine  Reinzucht  wäre  ja  nur  möglich,  wenn  die  vier 
Individuen  und  ihre  Nachkommen  so  lange  bloss  unter  einander  sich 
paarten,  bis  sie  die  übrigen  verdrängt  hätten,  was  eine  ziendiehe 
Zahl  von  Generationen  in  Anspruch  nehmen  würde.  Für  eine 
solche  Reinzucht  ist  aber  kein  Grund  vorhanden. 

Darwin  hat  den  vorhin  angeführten  Fall  der  Giraffe  gleichfalls 
erörtert,  um  an  demselben  die  Möglichkeit  der  Zuchtwahl  dazuthun. 
Er  wiederholt  aber  nur  die  bekannten  allgemeinen  Sätze,  welche 
nach  meiner  Ansicht,  sowie  man  ihnen  eine  concrete  und  bestimmte 
Form  geben  will,  zu  Unmöglichkeiten  führen.  Unter  den  Vorfahren 
des  genannten  Thieres,  sagt  er,  hätten  sich  wie  gewöhnlich  individuelle 
Verschiedenheiten  in  der  Grösse  gefunden;  diejenigen  Individuen, 
welche  nur  1  bis  2  Zoll  höher  hinaufreichten,  wären  in  Zeiten  der 
Hungersnöthe  allgemein  am  Leben  geblieben  und  hätten  sich  ge- 
kreuzt, während  die  kleineren  dem  Aussterljen  allein  ausgesetzt  waren. 


314     y^-  Kritik  der  Darwin'sclien  Theorie  von  der  natürlielieii  Zuchtwahl. 

Hierauf  könnte  man  erwidern,  dass  in  der  jährlich  eintretenden 
Zeit  der  knappen  Nahrung  nicht  ein  ahgemeines  Sterben  eintritt, 
sondern  die  Thiere  magern  al),  um  sich  in  der  günstigeren  Jahres- 
zeit wieder  zu  erholen.  Sterben  mehrere,  so  sind  es  nicht  die  um 
1  bis  2  Zoll  w^eniger  hohen,  sondern  die  ältesten  und  überhaupt 
die  schwächsten. 

Mit  diesen  1  bis  2  Zoll  Grössendifferenz  Darwin 's  scheint 
übrigens  der  geringe  Zuwachs  von  1 "™,  den  ich  in  Anschlag  gebracht 
habe,  in  sonderbarem  Widerspruch  zu  stehen.  Aber  es  ist  zu  be- 
merken, dass  die  genannten  1  bis  2  Zoll  die  individuelle  Verschie- 
denheit innerhalb  der  Sippe,  nicht  die  eintretende  phylogenetische 
Variation  bedeuten,  und  dass  in  der  Vermengung  dieser  beiden  Be- 
griffe der  Ti'ugschluss  Darwin 's  liegt.  Nehmen  wir  einmal  mit 
demselben  an,  dass  die  unbekannte  Sippe,  aus  der  die  Giraffe  her- 
vorging, in  ihrer  Höhe  um  1  bis  2  Zoll  variirte,  dass  also  beispiels- 
weise die  kleineren  Individuen  12',  die  grösseren  12'  2"  hoch  waren. 
Diese  Verschiedenheit  ist  wohl  mit  Rücksicht  auf  die  so  auffallende 
Einförmigkeit  der  natürlichen  Sippen  gross  genug  angeschlagen; 
wäre  sie  aber  auch  viel  grösser,  so  würde  dies  auf  den  Erfolg  keinen 
Einfluss  haben.  Denn  die  nämliche  Verschiedenheit  war  von  jeher 
vorhanden  und  hatte  keine  andere  Bedeutung,  als  wie  sie  die  Grenz- 
werthe  des  Formenkreises  in  jeder  Sippe  haben.  Es  sind  die  Maasse, 
zwischen  denen  die  Individuen  hin  und  her  schwanken  und  über 
die  sie  nicht  hinaus  können.  Die  Nachkommen  der  kleinsten  In- 
dividuen werden  wieder  grösser,  die  Nachkommen  der  grössten 
wieder  kleiner. 

Wenn  nun  auch  der  unwahrscheinliche  Fall  eintrat,  dass  in 
einer  Zeit  der  Hungersnoth  alle  kleineren  Individuen  zu  Grunde 
gingen  und  nur  die  12'  2"  hohen  übrig  blieben,  was  war  die  Folge? 
Keine  andere  als  die,  dass,  entsprechend  der  Befähigung  der  Sij^pe, 
sich  imierhalb  eines  bestimmten  Formenkreises  zu  bewegen,  unter 
den  Nachkommen  der  12'  2"  hohen  Individuen  sich  auch  wieder 
kleinere  befanden,  und  dass  in  besseren  Zeiten  bei  stärkerer  Ver- 
mehrung der  alte  Formenkreis  von  12'  bis  12'  2"  Höhe  wieder 
herrschend  wurde.  Dies  ist  ja  der  Wechsel,  der  an  allen  Varietäten 
und  Arten  beobachtet  wird;  geht  bei  natürlichen  Sij^pen  in  Folge 
von  ungünstigen  Verhältnissen  ein  Theil  des  Formenkreises  verloren, 
so   wird   er  unter  besseren  Verhältnissen   wieder  hergestellt.     Eine 


VI.  Kritik  der  DurwiiiHclK'ii  Tlicoric  von  der  natürliehen  Zuclitwalil.      ol5 

gieiclie  Rediiction  auf  die  gröbsten  üborlel)cndcii  Thieru  imis.ste  ja 
während  der  langen  Dauer  der  Almensq^ipe  der  Giraffe  wiederholt 
bei  Hungersnoth  eingetreten  sein,  und  ungeachtet  dieses  wiederholten 
Ereignisses  hat  sich  die  angenommene  Höhendifferenz  in  dem  Formen- 
kreis erhalten.  Und  sie  musste  sich  so  lange  erhalten,  als  die  erb- 
lichen,   d.  h.  idioplasmatischen   Eigenschaften  unverändert  blieben. 

Diese  indi\dduelle  Verschiedenheit,  die  uns  der  Formenkreis 
angibt,  ist  ohne  Bedeutung  für  die  j^hylogenetische  Fortbildung  zu 
einer  neuen  Sippe;  sie  bleibt  ja,  wde  ich  mich  schon  früher 
ausgedrückt  habe,  innerhalb  der  ontogenetischen  Elastizitätsgrenze. 
Gingen  auch  einmal  alle  Individuen  der  Ahnensippe  bis  auf  die 
grössten  (von  12'  2"  Höhe)  zu  Grunde,  so  musste  nun  zur  Um- 
änderung in  eine  neue  Sijipe  noch  die  phylogenetische  Variation 
hinzukommen,  die  ich  zu  1'"'"  taxirte.  Und  wir  stehen  wieder  vor 
der  gewiss  nicht  zu  bestreitenden  Thatsache,  dass  1'""'  Höhenunter- 
schied bei  einem  12  Fuss  hohen  Thier  ohne  alle  Wirkung  bezüglich 
der  Verdrängung  ist. 

Ich  sehe  recht  wohl  ein,  dass,  wenn  in  einer  Gesellschaft  von 
10000  Individuen  stetsfort  auch  nur  ein  einziges  Individuum  in 
nützlicher  Weise  sich  dauernd  (erl)lich)  verändert,  dann  die  ganze 
Gesellschaft  wenigstens  theoretisch  mit  mechanischer  Nothwendigkeit 
in  der  gleichen  Richtung  nachfolgen  wird.  Denn  die  entstehenden 
Eigenschaften  breiten  sich  durch  Kreuzung  in  der  Gesellschaft  aus, 
und  wenn  sie  sich  soweit  ausgebildet  haben,  um  ihre  Nützlichkeit 
zu  1)e währen,  so  müssen  sie  sich  auch  an  der  ohnehin  stets  thätigen 
Verdrängung  mitbetheiligen.  Ob  jedoch  und  wie  diese  theoretische 
Nothwendigkeit  in  die  Praxis  übergehe,  das  w'ürde  von  verschiedenen, 
hier  nicht  weiter  zu  erörternden  Bedingungen,  welche  die  Ver- 
änderung erblich  machen,  abhängen. 

Sollte  aber  auch  dieser  Vorgang  wirklich  statthaben,  —  (ich 
bezweifle,  dass  dies  je  der  Fall  ist,  weil  die  Ursachen,  welche  erb- 
liche A'^eränderungen  hervorbringen,  gleichartiger  Natur  sind  und 
wenigstens  auf  die  grosse  Mehrzahl  der  Individuen,  wenn  nicht  auf 
alle,  einw'irken)  —  so  dürfte  er  doch  offenbar  nicht  als  natürliche 
Zuchtwahl  der  künstlichen  an  die  Seite  gestellt  werden,  da  die 
Kreuzung  mit  allen  anderen  Individuen  der  Gesellschaft  nie  gehemmt 
ist.  Die  Selectionstheorie,  welche  hier  natürliche  Zuchtwahl  annimmt, 
verwechselt,   wie   mir   scheint,    Ursache   und  Wirkung.     Die  A'^erän- 


3  IG     VI.  Kritik  der  Darwin' sdien  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl. 

derung  findet  nicht  statt,  weil  die  Verdrängung  als  Ursache  mithilft; 
sondern,  wenn  die  Veränderung  durch  ihre  specifischen  Ursachen 
hinreichend  gross  geworden,  so  führt  sie  als  nothwendige  Folge  die 
Verdrängung  herbei. 

Dass  eine  phylogenetische  Veränderung  in  der  langen  Periode 
ihres  Beginnes  nicht  durch  Verdrängung  eine  natürliche  Zuchtwahl 
verursachen  und  dadurch  sich  die  Existenz  sichern  kann,  ist  unbe- 
streitbar, und  daher  ist  es  auch  sehr  begreiflich,  dass  ein  begeisterter 
Anhänger  der  Selectionstheorie  diese  durch  eine  Hilfstheorie,  die 
Separation  oder  Migration,  retten  wollte.  Ich  halte  es  für  eine 
logische  Nothwendigkeit,  dass,  wenn  man  an  der  Selection  festhält, 
man  die  Migration  mit  in  den  Kauf  nehmen  muss. 

Die  Migrationstheorie  habe  ich  für  unmöglich  erklärt,  weil  sie 
im  Widerspruche  steht  mit  den  thatsächlichen  Vorkommensverhält- 
nissen der  Pflanzen  und  noch  mehr  mit  den  klaren  Forderungen 
natürlicher  Gesetze.  Diese  Theorie  ist  auch  der  Darwin 'sehen 
Schule  offenbar  sehr  ungelegen  gekommen.  Der  schwache  Punkt 
in  der  Selectionstheorie,  den  sie  beseitigen  will,  lässt  sich  ja  mit 
gutem  Gewissen  nicht  wegleugnen;  aber  das  Heilmittel  ist  doch  für 
schlimmer  angesehen  worden  als  das  Uebel.  Denn  die  Unmöglichkeit 
der  Migration  ist  viel  leichter  einzusehen  als  die  Unmöglichkeit  der 
natürlichen  Selection.  Jener  schwache  Punkt  dieser  letzteren,  dass 
werdende  Vortheile  noch  keine  Verdrängung  zu  bewirken  vermögen, 
lässt  sich  durch  allgemeine  Phrasen  umgehen  und  verdecken.  Aber 
die  Vorstellung,  dass  die  abändernden  Individuen  sich  zur  Reinzucht 
isoliren,  ist  so  bestimmt  und  zugleich  so  unnatürlich,  dass  kein 
Zoolog  oder  Botaniker  sie  seinem  Publikum  ohne  ganz  entscheidende 
Belege  und  neue  theoretische  Erklärungen  bieten  dürfte.  Immerhin 
gehört  die  Migrationstheorie,  weil  sie  eine  logische  Folge  der  Selec- 
tionstheorie ist,  zu  den  stärksten  Widerlegungen  der  letzteren. 


4.  Wirkung  der  Ernährungseinflüsse. 

Nach  der  Selectionstheorie  ist  die  ganze  Organisation  eine  Folge 
der  Ernährungsursachen  im  weitesten  Sinne  oder  überhaupt  der 
äusseren  Einflüsse.  Dieselben  wirken  auf  alle  einzelnen  Theile  des 
Organismus  und  veranlassen  vielerlei  A^ariationen,  aus  denen  dann 
die  Zuchtwahl  die  nützliclien  festhalte  und  fortpflanze. 


VI.  Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  natürliehcn  Zuchtwahl.     ,->l7 

Hierauf  ist  zunächst  zu  erwidern,  dass  man,  was  bisher  nicht 
berücksichtigt  wurde,  zweierlei  Ursachen  trennen  muss,  diejenigen, 
welche  Kraft  und  Stoff  liefern,  und  diejenigen,  welche  der  organi- 
sirenden  Thätigkeit  die  Richtung  geben  und  erbliche  Veränderungen 
verursachen.  Dass  Kraft  und  Stoff  aus  der  Ernährung  geschöpft 
werden,  ist  längst  unzweifelhaft,  denn  es  gibt  keine  andere  Mög- 
lichkeit. Was  aber  die  organisirende  und  vererbende  Thätigkeit 
bestimme,  musste  erst  noch  bewiesen  werden. 

Es  ist  eine  beliebte  Redensart,  dass  die  den  äusseren  Verhält- 
nissen angepassten  Organismen  unverändert  bleiben,  so  lange  sie 
in  diesen  A'erhältnissen  leben,  dass  sie  aber,  wenn  sie  wandern  und 
unter  andere  äussere  Einflüsse  kommen,  zu  variiren  anfangen,  womit 
dann  die  Wirkung  dieser  Einflüsse  dargethan  wäre.  Allein  bezüglich 
des  Pflanzenreiches  ist  dieser  Satz  in  dem  Sinne,  wie  er  ausge- 
sprochen wird,  durch  keine  einzige  Thatsache  bewiesen,  wohl  aber 
durch  viele  widerlegt.  Ich  erinnere  daran,  dass  manche  Pflanzen- 
arten am  Ende  der  Eiszeit  theils  auf  die  Alj^en,  theils  in  den  hohen 
Norden  gew^andert  und  jetzt  noch  an  beiden  Orten  ganz  gleich  sind, 
dass  andere  zur  nämlichen  Zeit  aus  dem  Osten  nach  Deutschland 
gekommen  und  jetzt  noch  unverändert  sind,  dass  sehr  nahe  ver- 
wandte Varietäten  seit  der  Eiszeit  unter  den  verschiedensten  äusseren 
Verhältnissen  gleich  geblieben  sind  (S.  104).  Auch  die  Wanderungen 
aus  einem  Welttheil  in  den  anderen  in  historischer  Zeit  sind  zu 
erwähnen,  obgleich  die  Dauer  des  neuen  Aufenthaltes  viel  kürzer 
ist.  Wenn  die  Ernährungsursachen  im  weitesten  Sinne  eine  erbliche 
Veränderung  bewirken  würden,  warum  haben  sie  es  in  diesen  Fällen 
niclit  gethan? 

Uebrigens  könnten  wir  uns  nur  schwer  vorstellen,  wie  die  so 
unbestimmten  Ursachen  all  die  verschiedenen  und  charakteristischen 
Eigenschaften  der  Thiere  und  Pflanzen  hervorgebracht  hal)en  sollten. 
Dies  wäre  jedenfalls  imr  in  der  Art  möglich,  dass  sie  entsj^rechend 
ihrer  Natur  mannigfaltige  Veränderungen  bewirkten,  und  dass  dann 
in  irgend  einer  Weise  die  passenden  ausgewählt  würden,  wie  dies 
auch  die  Selectionstheorie  anninnnt.  In  einer  variirenden  Sippe  — 
und  es  ist  kein  Grund  vorhanden,  warum  sie  nicht  alle  und  immer 
variirten  —  müssten  in  den  verschiedenen  Individuen  Anfänge  von 
allen  möglichen  Merkmalen  entstehen,  denn  nur  so  ist  Sicherheit 
geboten,  dass  auch  das  Richtige  dariuiter  sei.     Sonst  könnte  es,  da 


318     Vi.  Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  nattirliehen  Zuelitwahl. 

die  Ernähruiigseinflüsse  keine  Beziehung  zu  bestimmten  Eigenschaften 
haben,  leicht  geschehen,  dass  gerade  diejenige,  die  in  dem  betreffenden 
Falle  Bedürfniss  ist,  mangelte.  Unter  den  Veränderungen  in  der 
Ahnensippe  der  Giraffe  wären  vielleicht  stärkere  Hörner,  ein  längerer 
Schwanz,  dickerer  Pelz,  eine  andere  Farbe,  verbesserte  Sinnesorgane, 
eine  kleinere  Statur  u.  s.  w.,  aber  nicht  der  längere  Hals  und  die 
höheren  Beine,  welche  Nutzen  gewährten,  vertreten  gewesen. 

Um  also  den  Erfolg  zu  sichern,  müsste  die  Theorie  annehmen, 
dass  alle  Veränderungen,  die  nach  der  vorhandenen  Organisation 
denkbar  und  möglich  sind,  zu  jeder  Zeit  auch  wirklich  eintreten, 
soweit  es  nämlich  die  Individuenzahl  gestattet.  Die  Menge  dieser 
Veränderungen  geht  aber  nicht  nur  in  die  Tausende,  sondern  selbst 
in  die  Milhonen,  weil  jede  einzelne  Zelle  in  verschiedener  Weise 
sich  mnbilden  kann.  Man  macht  sich  vielleicht  diese  Forderung 
nicht  ganz  klar ;  sie  ist  aber  logisch  und  nothwendig,  wenn  sie  auch 
wenig  natürlich  und  vernünftig  erscheinen  mag.  Die  Theorie  müsste 
nämlich  ferner  annehmen,  dass  die  allseitig  eintretenden  Verände- 
rungen erblich  seien,  was  sie  offenbar  unbewusst  thut,  ohne  sich 
Rechenschaft  zu  geben,  dass  die  zahllosen  kleinen  Abweichungen,  die 
wirklich  in  den  Zellen  vorkommen,  innerhalb  der  Elastizitätsgrenze 
liegen  und  dem  Gebiete  der  nicht  erblichen  Modificationen  angehören, 
also  auch  für  den  phylogenetischen  Fortschritt  ohne  Bedeutung  sind. 

Wie  wird  nun  unter  den  vielen  Variationen  die  richtige  aus- 
gewählt? Da,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  Zuchtwahl  durch  Ver- 
drängung unmöglich  ist  (S.  310  ff.),  so  müsste  sie  auf  eine  andere 
Art,  z.  B.  durch  Absonderung  der  wenigen  in  gleicher  Weise  und 
zugleich  nützlich  abgeänderten  Individuen  zu  Stande  kommen.  Ich 
mll  die  höchste  Unwahrscheinlichkeit  dieses  oder  jedes  andern  die 
Reinzucht  bewirkenden  Vorganges  an  dieser  Stelle  nicht  darthun; 
es  genügt  zunächst  auszusprechen,  dass  in  keinem  Falle  eine  Zucht- 
wahl zu  Stande  kommen  kann. 

Um  den  Erfolg  der  Zuchtwahl  anschaulicher  zu  machen,  setzt 
man  gewöhnlich  voraus,  dass,  wenn  die  Variation  begonnen  habe, 
sie  leicht  in  den  folgenden  Generationen  fortdauere  und  sich  steigere. 
Es  ist  dies  wieder  eine  Vorstelhmg,  welche  die  Selectionstheorie 
mit  Unrecht  von  der  künstlichen  Rassenbildung  auf  die  natürliclie 
Varietätenbildung  übertragen  hat.  Die  A^ergleichung  wäre  nur  ge- 
rechtfertigt l)ei  Identität  der  ursächlichen  Momente.     Nun  hat  aber 


VI.  Kritik  der  Darwin'schen  Thoorio  von  der  natürlichen  Znolitwalil.     319 

das  leichte  Variiren  und  das  Fortdauern  oder  Steigern  der  begonnenen 
Variation  bei  der  Rasse  bestimmte  physische  Ursachen,  während 
das  plötzhche  Auftreten  der  Veränderung  und  mehr  noch  die  er- 
folgende Steigerung  in  den  nächsten  Generationen  bei  den  natür- 
lichen Sij)pen,  wo  es  die  Selectionstheorie  ebenfalls  annimmt,  ein 
wahrer  deus  ex  machina  ist. 

In  der  Rasse  tritt,  vornehmlich  in  Folge  von  Kreuzung,  A'ariation 
ein,  weil  latente  Anlagen,  die  von  vorgängigen  Kreuzungen  her  in 
Menge  vorhanden  smd,  manifest  w^erden,  —  und  es  ist  sehr  be- 
greiflich, dass  dieser  Umbildungsprocess  des  gemischten  Idioplasmas 
manchmal  nicht  mit  einem  Schlage  beendigt  wird,  sondern  durch 
einige  Generationen  fortdauert.  Diese  Ursachen  sind  bei  den  natür- 
hchen  Sippen  nicht  vorhanden.  Für  den  Fall,  dass  Kreuzung  mit 
anderen  Sippen  eintritt,  so  kann  dieselbe  im  allgemeinen  keine 
latenten  Anlagen  zur  Entfaltung  bringen,  w^eil  fast  keine  vorhanden 
sind,  und  wenn  es  etwa  der  Fall  wäre,  so  bewirkt  dieser  Vorgang 
ja  nur  einen  Rückschritt,  nicht  aber  den  Fortschritt,  der  zu  erklären 
ist.  —  Es  können  daher  für  den  Standj3unkt  der  Selectionstheorie 
bloss  äussere  Einflüsse  sein,  welche  die  Variation  einleiten.  Warmn 
sie  es  durch  lange  Zeiträume  nicht  thaten  und  nun  auf  einmal 
die  Kraft  dazu  erlangen,  bleibt  ein  Räthsel,  dessen  Auflösung  uns 
die  bereits  erwähnte  Hinweisung  auf  die  geänderten  Einflüsse  nicht 
zu  geben  vermag.  Denn  wenn  eine  Sippe  unter  andere  äussere 
Verliältnisse  kommt,  so  könnten,  wenn  hierin  die  Ursache  der  Ver- 
änderung liegt,  nicht  nur  einzelne  Individuen,  vde  es  die  Selections- 
theorie annimmt,  sondern  es  müssten  alle  oder  doch  die  grosse 
Mehrzahl  sich  verändern. 

Setzen  wir  uns  über  dieses  Räthsel  hinw^eg,  so  stehen  wir  vor 
dem  noch  grösseren  Räthsel,  warum  die  begonnene  ^^ariation  in 
den  folgenden  Generationen  andauern  soll.  Da  die  Selectionstheorie 
von  einer  ganzen  Gesellschaft,  die  sich  unter  den  nämlichen  äusseren 
Verhältnissen  befindet,  nur  einzelne  wenige  variiren  lässt,  so  muss 
angenommen  w^erden,  dass  von  allen  auf  die  Individuen  hier  ein- 
wirkenden Combinationen  der  Ernährungseinflüsse  nur  eine  ganz 
bestimmte  und  selten  verwirklichte  Combination  die  Veränderung 
hervorbringe.  Die  Individuen,  die  diese  erste  Stufe  der  Veränderung- 
erfahren,  übertragen  die  beginnende  Eigenschaft  dm'ch  Vererbung 
auf  ihre  Kinder.     Ob  aber  in  diesen  abermals  die  gleiche  Variation 


320     VI.  Kritik  der  Darwin'öchen  Theorie  von  der  natürlichen  Znclitwahl. 

eintrete,  ist  ein  Zufall ;  es  geschieht  nur,  wenn  die  nämliche  specifische 
Combination  der  Ernährungseinflüsse,  die  sich  als  günstig  erwiesen 
hat,  abermals  eintritt.  Die  Aussicht,  dass  dies  geschehe,  lässt  sich 
unter  bestimmten  Annahmen  durch  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
ermitteln.  Der  nämliche  Wechselfall  wiederholt  sich  dann  bei  jeder 
folgenden  Generation. 

Angenommen,  es  zeige  durchschnittlich  unter  je  100  Individuen 
eines  die  günstige  Variation,  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  sie  über- 
haupt eintrete,  betrage  also  Vioo,  —  und  die  Grösse  der  Veränderung 
in  diesem  Individuum,  gleichsam  die  Menge  neuen  Blutes,  die  dem- 
selben durch  die  äusseren  Einflüsse  zugeführt  wird,  w^erde  durch 
h  bezeichnet.  Ferner  bestehe  die  Gesellschaft  durch  die  auf  ein- 
ander folgenden  Generationen  constant  aus  2000  Individuen,  wovon 
die  Hälfte  Männchen,  die  Hälfte  Weibchen,  und  jedes  Paar  habe 
gleich  viele  Kinder,  ebenfalls  zur  Hälfte  männlichen  und  zur  Hälfte 
weiblichen  Geschlechts.  In  der  Generation,  in  welcher  die  Variation 
beginnt,  befinden  sich  also  unter  den  2000  Individuen  20  abgeän- 
derte [b)  und  zwar  10  männliche  [mb)  und  10  weibliche  [wb).  Zu- 
nächst ist  zu  bestimmen,  in  w^elchen  Verhältnissen  die  Paarungen 
wahrscheinlich  eintreten;  dieselben  sind  Einblut2Jaarungen(/>) zwischen 

mh  und  u'b,   Halbblutpaarungen  1  t«  ),  indem   nur   das   eine  Glied  b 

enthält,  also  ml)  oder  wb  ist,  und  Ohnblutpaarungen  (o).    Die  denkbar 

möglichen  Paarungen   sind  lOOOOOO,    darunter  100  (/>),    19800  (--j 

und  980  100  (o).     Die  Zahl  der  wirklichen  Paarungen  beträgt  1000, 

darunter  wahrscheinlich  0,1   (/>),   19,8  (  ,,  |  und  98(),1  (o);  d.  h.  wenn 

das  Ereigniss,  nämlich  die  \"ariation  unter  den  angenommenen  Um- 
ständen zehn  Mal  einträte,  so  würde  wahrscheinlicher  Weise  ein 
einziges  Mal  eine  Einblutpaarung  statthaben. 

Die  Nachkommenschaft  der  stattgefundenen  Paarungen  wird 
durch  die  Concurrenz  auf  die  frühere  Zald  (2000)  vermindert,  und 
da  die  abgeänderten  Individuen  nocli  keinen  bemerkbaren  Vortheil 
im  Kampfe  ums  Dasein  gewähren  (S.  310  ff.),  so  ist  das  Zahlen- 
verhältniss  der  Individuen  in  der  zweiten  Generation  gleich  dem 
der  Paarungen.     Nehmen  wir,  um  die  weiteren  Ereignisse  anschau- 


Vi.  Kritik  der  Darwiu'sclien  Tlieorio  von  der  natiirliclKMi  Zuchtwalil.     321 

lieber  zu  machen,   die  Zahlen  lOOOmal   grösser,    so   haben   wir  für 
jedes  Geschlecht 

100  {h)  +  10800  (y)  +  ^^80100  (o)  =  1000000.  (I 

Dies  ist  die  Erbschaft  aus  der  ersten  Generation.  Nun  tritt 
die  Variation  hinzu,  welche  je  einem  unter  100  Individuen  wieder 
h  verleiht.  Nachdem  dies  geschehen,  besteht  die  zweite  Generation 
auf  1000000  Individuen  von  jedem  Geschlecht  aus 

1  (2/>)  +  198  (^/2Z>)  +  9900  (^>)+  19G02  {^)  +  97 0299 (o)=  1000000.  (II 

Wenn  sich  diese  Individuen  jiaaren,  so  entstehen  neben  den 
nicht  abgeänderten  Paaren  8  Stufen  der  Abänderung,  von  denen  die 
geringste  'k  b,  die  höchste  2b  hat.  Die  Zahl  aller  denkbaren  Paarungen 
beträgt  1000000000000.  Die  Individuen  der  3.  Generation  bestehen 
als  Erbschaft  der  2.  Generation  (vor  eintretender  neuer  Variation) 
aus  9  Kategorien,  deren  Zahlenverhältniss  genau  dem  der  Paarungen 
entspricht.  Ich  theile  das  Resultat  der  Rechnung  mit,  weil  es  ein 
helles  Licht  verbreitet  über  die  Vertheilung  des  Blutes  durch  die 
Kreuzung  und  über  die  Aussichtslosigkeit  einer  einigermaassen  reinen 
Zucht  der  abgeänderten  Individuen.  Da  es  sich  nur  um  die  Ver- 
hältnisse handelt,  so  gebe  ich  dieselben  als  ganze  Zahlen  für  eine 
Gesammtmenge  von  1  Bilhon.  Durch  Theilung  mit  1000000000  erhält 
man  die  Zahl,  in  der  jede  Kategorie  durchschnitthch  in  einer  Ge- 
sellschaft von  1000  Individuen  vertreten  ist,  oder,  insofern  es  ein 
Bruch  ist,  die  Wahrscheinlichkeitsziffer  für  ihre  Verwirkhchung. 

Es  besteht  nun  also  eine  Gesellschaft  von  1  Billion  Individuen, 

die  eine  Veränderung  während  2  Generationen  erfahren  hat,  in  der 

3.  Generation,  bevor  die  Variation  dieser  Generation  eingetreten  ist, 

aus  folgenden  Individuen: 

1    (2/>)  (III 

396  {'Üb) 

59004  (%?>) 

3  959604  {'"kb) 

107  712  990     (/>) 

772  358004  (^/.t/;) 

19596  158  604  (^2//) 

38039  601996  {'kh) 

941480  149  401     (0) 

TÖÖÖÖÖÖ  000000 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  21 


322     ^'I-  Kritik  dor  Panvin'sclK'n  Theorie  von  der  natürliclieu  ZuclitA\alil. 

Aus  dieser  Berechnung  geht  hervor,  dass  nach  zweimahger 
Variation  und  Kreuzung  unter  den  angenommenen  Umständen  etwas 
üher  G%  aher  Individuen  mehr  oder  weniger  abgeändert  sind; 
darunter  befinden  sich  4%  mit  der  geringsten  Veränderung  (V4&). 
Die  grosste  Veränderung  {'2h),  welche  die  Reinzucht  aller  abge- 
änderten Individuen  darstellt,  ist  unter  1  Billion  nur  mit  1  Indi- 
viduum, die  Abänderungen,  die  mehr  als  h  betragen,  also  die  Hälfte 
der  grössten  Veränderung  überschreiten,  nur  mit  4  011)005  Individuen 
oder  mit  4  Millionstel  der  Gesammtheit  vertreten.  Die  Wahrschein- 
lichkeit einer  Reinzucht  aller  al:»geänd ertön  Individuen  innerhalb 
der  Gesellschaft  von  2000  Individuen  beträgt  für  die  erste  Paarung 
1  Zehntausendstel,  für  die  zweite  Paarung  1  Billionstel ;  für  die  dritte 
Paarung  würde  sie  1  Zehntausendquadrillionstel  betragen^). 

In  Folge  der  Kreuzung  verbreitet  sich  die  Veränderung  nach 
und  nach  über  die  ganze  indifferente  Gesellscliaft  und  macht,  je 
grösser  diese  ist,  bezüglich  der  Steigerung  um  so  langsamere  Fort- 
schritte. In  dem  vorhin  angenommenen  Beispiel,  wo  unter  100  Indi- 
viduen sich  je  eines  um  einen  Schritt  verändert,  würde,  wenn  der 
einzelne  Schritt  den  200.  Theil  der  ganzen  Umwandlung  oder  Varie- 
tätenbildung ausmacht,  die  Gesellschaft  im  günstigsten  Falle  nach 
20000  Generationen  umgewandelt  sein.  Aber  dies  wäre  nicht  eine 
Varietätenbildung  durch  Zuchtwahl,  welche  ohne  Trennung  der  ab- 
geänderten von  den  nicht  abgeänderten  Individuen  sich  als  undenkbar 
erweist. 

Doch  auch  die  bloss  einmalige  Sej^aration  oder  Migration,  wie 
sie  zur  Bettung  der  Selectionstheorie  erfunden  wurde,  hat  keinen 
Erfolg.  Angenommen,  die  abgeänderten  Individuen  der  1.  Generation 
(mit  der  Veränderung  h)  emigriren  in  einem  oder  in  mehreren  Paaren 
und  pflanzen  sich  in  der  Einsamkeit  fort,  so  besteht  allerdings  die 
2.  Generation  aus  lauter  gleichen  Individuen  auf  der  ersten  Varia- 
tionsstufe. Sowie  jedoch  die  abermalige  Veränderung,  welche,  um 
bei  den  Annahmen  des  ersten  Beispiels  zu  bleil)en ,  auf  100  Indi- 
viduen bloss  je  eines  trifft,    stattgefunden  hat,    so   ist  auch  die  Un- 


*)  Wenn  die  Menge  der  abgeänderten  Individuen  in  der  ].  Generation  — 
ist  und  in  den  folgenden  Generationen  keine  Variation  nulir  stattfindet,  so  be- 
trägt die  Wahrsclieinlichkeit  der  Eeinzncht  ffir  die  2.  Generation  .,  ,  für  die 
3.  G.       ,   ,  für  die  4.  Generation  — r-  u.  s.  vv. 


VI.  Kritik  der  Darwinschen  Tlieorie  von  der  natürlichen  Zuelüwahl.     323 

gleichheit  gegeben.  Wenn  die  2.  Generation  vor  der  Abänderung 
aus  2000  Individuen  [b]  be.stelit,  so  enthält  sie  nach  derselben  20  {2h) 
und  1980  [b],  und  nun  erfolgt  die  weitere  Entwicklung  genau  so, 
wie  ich  sie  für  das  erste  Beispiel  dargelegt  habe.  Der  Unterschied 
ist  bloss  der,  dass  diesmal  die  Haui^traasse  der  Gesellschaft  nicht 
aus  Individuen  ohne  Abänderung,  sondern  aus  solchen  der  ersten 
Variationsstufe,  d.  h.  mit  einer  unmerklich  geringen  Veränderung 
besteht.  Man  hat  dann  in  der  3.  Generation  vor  der  Veränderung, 
auf  1  Million  Individuen,  analog  wie  I  auf  S.  321 

100  {2h)  +  19800  {'^l-2h)  +  980100  {h), 

und  nach  der  dieser  Generation  zukommenden  Veränderung  über- 
einstimmend mit  II  auf  S.  321 

1  {3b)  +  198  (•^/2&)  +  9900  {2h)  -f  19602  {^kh)  -f  970299  (&). 

Die  4.  Generation  besteht  dann  ferner  vor  ihrer  Veränderung 
aus  den  unter  III  auf  S.  321  aufgeführten  9  Kategorien  von  In- 
di^dduen,  nur  dass  die  Bezeichnung  einer  jeden  um  h  zu  vermehren 
ist.  Die  Gesellschaft,  die  von  einer  emigrirten  und  mit  Reinzucht 
beginnenden  kleinen  Schaar  auserwählter  Individuen  abstammt,  wäre 
von  derjenigen,  welche  ohne  Emigration  und  mit  Kreuzung  begonnen 
hat,  gar  nicht  zu  unterscheiden. 

Damit  die  Migrationstheorie  den  von  ihr  gewünschten  Erfolg 
habe,  müsste  von  zwei  Bedingungen  eine  erfüllt  sein.  Entweder 
müssten  die  von  den  Emigrirten  abstammenden  Indi\iduen  theils 
selbständig  durch  innere  Ursachen,  theils  durch  äussere  auf  alle 
gleichmässig  einwirkende  Ursachen  weiter  variiren,  was  im  Wider- 
spruche mit  der  Selectionstheorie  steht,  welche  die  Veränderung  als 
zufällige  von  äusseren  Einflüssen  ableitet.  Oder  es  müsste  die  Mi- 
gration mit  jeder  Generation  sich  wiederholen  und  die  Auserwählten 
isoliren,  bis  die  neue  Sipj)e  fertig  wäre.  Es  müssten  also  nach  ein- 
ander vielleicht  100  bis  1000  Migrationen  eintreten,  was  natürlicli 
nur  dann  möglich  wäre,  wenn  Separation  Ijei  der  Tuarung  und  Mi- 
gration in  einem  nothwendigen  phj^siologi sehen  Zusammenhang  mit 
der  Variation  stände,  wofür  auch  nicht  die  allergering.ste  Wahr- 
scheinlichkeit besteht. 

Wir  mögen  uns  die  Dinge  noch  so  günstig  zurechtlegen :  wenn 
die  erblichen  Abänderungen  in  der  von  der  Selectionstheorie  ge- 
forderten Art  und  Weise  stattfinden  und  nui-  in  einzelnen  Individuen 

21* 


324     ^^^-  Kritik  der  Darwin'selien  Theorie  von  der  natürlichen  Znchtwalil. 

auftreten,  so  kann  eine  natürliche  Zuchtwahl  und  eine  Steigerung 
der  Abänderungen  gar  nicht  zu  Stande  kommen. 

Lässt  man  dagegen  an  die  Stelle  der  Ernährungsursachen  und 
der  Zuchtwahl  die  Abänderung  durch  directe  ßewirkung  treten,  so 
sind  alle  Schwierigkeiten  beseitigt.  Was  die  Vervollkommnung  der 
Organisation  durch  Uebergang  in  eine  höhere  Organisationsstufe 
betrifft,  so  haben  die  einfacheren  Organismen  ein  einfacheres,  die 
complicirteren  ein  complicirteres  Idioplasma.  Am  entwickelten  Or- 
ganismus vollzieht  sich  der  Fortschritt  entweder  dadurch,  dass  die 
reproductive  Zellbildung  vegetativ  wird,  wodurch  die  individuelle 
Entwicklungsgeschichte  um  ein  Stück  sich  verlängert  und  die  Fort- 
pflanzungszellen erst  von  einer  sjoäteren  Generation  erzeugt  werden, 
oder  dadurch,  dass  mitten  in  der  individuellen  Entwicklungsgeschichte 
Complexe  von  Zellen  oder  Organen  eingeschoben  und  Differenzi- 
rungen  herbeigeführt  werden  ^).  In  beiden  Fällen  ist  das  idioplasma- 
tische  System  um  eine  oder  mehrere  Micellgruppen  reicher  geworden. 

Es  ist  nun  einleuchtend,  dass,  wenn  die  Fortbildung  des  Idio- 
plasmas  das  Ursprüngliche  ist  und  seine  Configuration  durch  den 
Zuwachs  einer  Micellgruppe  complicirter  wird,  auch  der  entwickelte 
Organismus  veranlasst  wird,  seiner  Organisation  ein  neues  Glied 
hinzuzufügen.  Dieser  Fortschritt  tritt  in  allen  Individuen  einer 
A'^arietät  ein,  da  sie  das  nämliche  Idioplasma  besitzen,  und  wenn 
auch  einzelne  Individuen  den  andern  vorausgeeilt  oder  hinter  den 
andern  zurückgeblieben  wären,  so  würde  die  Kreuzung  nichts  anderes 
als  eine  Ausgleichung  unter  den  in  der  nämlichen  Richtung  sich 
verändernden  Individuen  zu  Stande  bringen. 

Rücksichtlich  der  Anpassung  ist  das  Verhalten  noch  klarer 
und  einfacher.  Die  ^Veränderung  einer  Varietät  kann  nur  durch 
einen  allgemein  wirkenden  Reiz  erfolgt  sein,  weil  sie  in  diesem 
Falle  ein  allgemeines  Bedürfniss  befriedigt.  Wenn  aber  alle  Indi- 
viduen und  alle  auf  einander  folgenden  Generationen  von  dem  näm- 
lichen Reiz  getroffen  werden,  so  muss  auch  das  Idioplasma,  das  ja 
ebenfalls  das  nämliche  ist,  in  übereinstimmender  Weise  sich  um- 
bilden, so  dass  die  Umbildung  durch  die  Kreuzung  nicht  gestört 
wird  und   die  Zuchtwahl   keinen  Boden   für  ihre  Thätigkeit  findet. 


')  Ich  verweise  auf  den  folgenden  Abs('hnitt    Phylogenetische  Entwicklungs- 
ge.setze«. 


VI.  Kritik  lU-r  Diirwinsclieu  Theorie  von  der  natürlichen  Znchtwnhl.      325 

Auf  die  Fnige,  wodurch  die  Anpassungserscheinungen  erzeugt 
werden,  wirft  die  Wirkung  des  Gebrauches  und  Nichtgebrauches 
der  Organe  ein  helles  Licht.  Man  ist  bei  Besprechung  der  bezüg- 
lichen Erfahrungen  nicht  immer  sehr  kritisch  verfahren,  man  hat 
ferner  mit  den  erblichen  auch  nichterbliche  Wirkungen,  mit  der 
Uebung  oder  NichtÜbung  auch  die  reichlichere  oder  spärlichere  Er- 
nährung zusammengeworfen.  Wenn  die  Thatsachen  kritisch  gesichtet 
und  die  nicht  erblichen  Wirkungen,  wohin  auch  diejenigen  der  Er- 
nährung gehören,  ganz  aus  dem  Spiele  gelassen  werden,  so  bleiben 
die  erblichen  Folgen  des  Gebrauches  und  Nichtgebrauches  zwar 
ganz  dieselben,  wie  sie  schon  Darwin  angegeben  hat,  sie  zeigen 
nun  aber  deutlich  die  Ursachen  der  Anpassungen. 

Durch  den  Gebrauch  bildet  sich  ein  Organ  oder  eine  Einrichtung 
mehr  aus  und  nimmt  an  Grösse,  Stärke,  Schärfe,  Feinheit  zu,  was 
eine  bestimmtere  Configuration  der  betreffenden  Idioplasmagruppe 
anzeigt,  —  während  durch  den  Nichtgebrauch  die  umgekehrte  A'^er- 
änderung  des  Organs  stattfindet  und  zuletzt  sein  vollständiges  Ver- 
schwinden eintritt.  Es  ist  einleuchtend,  dass  der  Gebrauch  nur  als 
Reiz  wirken  kann.  Hat  dieser  andauernd  einen  bestimmten  Stärke- 
grad, so  steigt  die  Veränderung  im  Idioplasma  bis  auf  eine  demsell)en 
entsi^rechende  Höhe.  Nimmt  der  Gebrauch  und  mit  ihm  der  Reiz 
zu,  so  wird  auch  die  Wirkung  grösser.  Vermindert  er  sich  stetig 
bis  zum  Aufhören,  so  wird  die  Anordnung  der  Micelle  in  der  Idio- 
plasmagruj)pe  weniger  bestimmt  und  die  Gruj^pe  wird  durch  andere 
Gruppen  mehr  zurückgedrängt,  bis  sie  zuletzt  ganz  in  den  latenten 
Zustand  übergeht. 

Wie  man  die  Folgen  des  Gebrauches  und  Nichtgebrauches  aus 
Ernährungseinflüssen,  Verdrängung  und  Zuchtwahl  erklären  kann, 
ist  mir  logisch  unbegreiflich.  Gebrauch  und  Nichtgebrauch  haben 
nur  die  Zu-  und  Al)nahme  des  betreffenden  Organs  im  Verhältniss 
zu  den  übrigen  zur  Folge.  Wäre  neben  dem  gesteigerten  oder  ver- 
minderten Reiz  noch  eine  andere  Ursache  für  diese  erbliche  Wirkung 
vorhanden,  so  müsste  ausser  der  Zu-  und  Abnahme  auch  irgend  eine 
andere  Veränderung  an  dem  Organ  stattfinden.  Da  dieselbe  mangelt, 
so  ist  schon  durch  den  Gebrauch  und  Nichtgebrauch  die  Wirkung 
vollständig  erklärt.  Uebrigens  veranlassen  die  klimatischen  und 
Ernährungseinflüsse,  wenn  sie  qualitativ  und  quantitativ  verschieden 
sind,  wie  ich  gezeigt  habe,  selbst  während  der  Zeit  von  Erdperioden 


326      ^^I-  Kritik  der   Duiwiusrlieii  Theorie  vnn  der  luitiirliclii'u  Zuclilwalil. 

keine  erblichen  Veränderungen.  —  Ferner,  wenn  die  An})assungen 
durch  die  Ernährungseinfiüsse  verursacht  würden,  wie  kommt  es 
denn,  dass  sie,  obwohl  diese  Einflüsse  andauern ,  durch  Nicht- 
gebrauch geschwächt  werden,  und  verschwinden?  Und  wie  kommt 
es,  dass  sie  bis  zu  der  Grösse  heran  zu  wachsen  vermochten,  welche 
sie  befähigt,  in  Gebrauch  zu  kommen,  und  dass  sie  nicht  schon, 
ehe  diese  Grösse  erreicht  war,  in  ihrem  Anfangszustande  durch 
Nichtgebrauch  wieder  ausgelöscht  wurden? 

Es  gibt  noch  eine  andere  Erwägung,  welche  gegen  die  Be- 
wirkung  der  Anpassungen  durch  die  Ernährungsursachen  spricht. 
Diese  müssten  die  Anfänge  eines  Organs  l)is  zu  der  Grösse,  wo  der 
Gebrauch  über  die  Nützlichkeit  entscheidet,  überall  da  hervorl)ringen, 
wo  die  Möglichkeit  dazu  gegeben  ist.  Um  nur  ein  Beispiel  zu  er- 
wähnen, so  hätten  Anfänge  von  Hörnern  nicht  bloss  überall  auf 
dem  Kojife  der  Wiederkäuer,  sondern  auch  über  den  ganzen  Rücken 
bis  zur  Schwanzspitze  und  ebenso  auf  andern  Thieren  entstehen 
müssen,  und  es  müssten  fortwährend  Anfänge  von  allen  möglichen 
Organen,  wo  sie  die  vorhandenen  nicht  beeinträchtigen,  sich  bilden. 
Thatsächlich  sind  solche  Anfänge  nicht  vorhanden,  und  die  Theorie 
der  directen  Bewirkung  erklärt  diesen  Mangel  vollständig:  Auch  die 
ersten  Anfänge  können  nur  da  zum  Vorschein  kommen,  wo  ein 
Reiz  dauernd  wirkt,  und  wo  dies  der  Fall  ist,  da  gewinnt  das  Organ 
Bestand ;  sein  Fortbestehen  aber  ist  die  Folge  einer,  fortwährenden 
Reaction  auf  den  bestimmten  Reiz,  welche  durch  den  Gebrauch  be- 
dingt wird,  ein  Bedürfniss  befriedigt  und  somit  nützlich  ist. 


5.  Morphologische  Merkmale. 

Nach  der  Selectionstheorie  verdrängt  ein  Merkmal  um  so  voll- 
ständiger die  andern  und  die  Inzucht  tritt  durch  die  Verdrängung 
um  so  früher  und  um  so  reiner  ein,  je  nützlicher  dasselbe  ist.  Die 
Constanz  hängt  nach  dieser  Theorie  davon  ab,  dass  ein  Merkmal, 
bei  Ausschluss  der  Kreuzung  mit  andersgearteten  Individuen,  sich 
längere  Zeit  vererbt  hat.  Dasselbe  sollte  daher  unter  übrigens 
gleichen  Umständen  um  so  constanter  sein,  je  nützlicher  es  ist; 
eine  Eigenschaft  dagegen,  die  keinen  Nutzen  gewährt,  sollte,  indem 


VI.  Kritik  der  Darwin'sclu'n  Theorie  von  der  natiü-lielieu  Zuehtwalil.      ;J27 

sie  keine  Verdrängung  bewirken  und  daher  die  Kreuzung  nicht  aus- 
schhessen  kann,  auch  zu  keiner  Constanz  geUingen.  Nun  sind  aljer 
im  Pflanzenreiche  die  allerbeständigsten  Merkmale  gewisse  morpho- 
logische Eigenthümlichkeiten,  wiewohl  dieselben  bei  der  Concurrenz 
gar  keinen  Nutzen  gewähren. 

"Was  die  ßestinnninig  der  Beständigkeit  betrifft,  so  erinnere  ich 
an  die  früher  hervorgehobene  Thatsache,  dass  alle,  selbst  die  leich- 
testen Varietäten  constant  sind,  indem  ihre  erblichen  Merkmale, 
wenn  die  äusseren  Verhältnisse  auch  noch  so  sehr  sich  ändern,  in 
den  auf  einander  folgenden  Generationen  nicht  die  geringsten  Modi- 
ficationen  zeigen.  Es  lässt  sich  daher  der  Grad  der  Constanz  auf 
directem  Wege  nicht  erproben,  sondern  er  muss  aus  der  Permanenz 
erschlossen  werden  (S.  239,  240),  indem  ein  Merkmal  um  so  be- 
ständiger sein  muss ,  je  grösser  seine  Verbreitung  in  einem  der 
beiden  Reiche  ist.  Wir  werden  ihm  nur  geringe  Beständigkeit  zu- 
schreiben, wenn  es  unter  mehreren  Gattungen  einer  Ordnung  oder 
unter  mehreren  Arten  einer  Gattung  nur  je  bei  einer  derselben  vor- 
kommt, dagegen  eine  sehr  grosse,  wenn  es  bei  mehreren  Classen 
oder  gar  bei  mehreren  Abtheilungen  des  Reiches  permanent  ist. 

Nun  zeigen  ganz  allgemein  im  Pflanzenreiche  die  Anpassungs- 
merkmale, welche  durch  die  äusseren  Reizeinflüsse  hervorgerufen 
werden  und  mit  Rücksicht  darauf  ihre  Nützlichkeit  erproben ,  eine 
geringere  Pennanenz  als  die  Organisationsmerkmale,  welche 
durch  die  selbständige  Umbildung  des  Idioplasmas  bedingt  werden, 
und  welche  in  Uebereinstimmung  mit  ihrem  Urs^irung  sich  den 
äusseren  Verhältnissen  gegenüber  gleichgültig  verhalten.  Die  letzteren 
habe  ich  früher  gegenüber  den  x  durch  eine  bestimmte  Verrichtung 
bedingten«  Erscheinungen  als  »rein  morphologische«  bezeichnet 
und  gesagt,  dass  dieselben,  obwohl  indifferent,  doch  constanter  seien 
als  die  ersteren,  die  sich  als  nützlich  erweisen*). 

Als  solche  rein  morphologische  Merkmale  nannte  ich  die 
Stellungsverhältnisse  und  Zusammenordnung  von  Zellen  und  Or- 
ganen. Als  allgemein  verständliches  Beispiel  führte  ich  die  gegen- 
überstehenden Blätter  im  Vergleich  mit  den  spiralständigen  an; 
jene  kommen  beispielsweise  bei  den  Labiaten ,  diese  bei  den  Bor- 
ragineen  vor.     Ich  hatte   aber   besonders  gewisse  Anordnungen  der 


^)  Entstehung  und  Begrift"  der  naturliistorischen  Art.    18ti.'i. 


328     VI.   Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  natürlichen  Znehtwahl. 

Zellen  im  Auge,  deren  ich,  vor  einem  niclit  eigentlich  naturwissen- 
schaftlichen Puhlicum,  keine  Erwähnung  that.  Ich  will  jetzt,  statt 
zahlreicher  Beispiele,  bloss  an  die  Theilung  der  Scheitelzellen  durch 
horizontale  und  an  diejenige  durch  schiefe  Scheidewände  erinnern, 
wodurch  auch  die  Stellung  der  Hauptcomplexe  des  Zellgewebes  be- 


Fig.  n. 
dingt  wird.  Die  erstere  kommt  bei  den  meisten  Algen,  die  letztere  bei 
den  Moosen  mit  cylindrischen  Stämmchen  und  bei  den  Gefässcryp- 
togamen  vor  (Fig.  11,  a  und  b;  die  auf  einander  folgenden  Scheide- 
wände sind  mit  1,  2,  3,  4,  5  bezeichnet,  die  nächstfolgende  Scheide- 
wand in  der  Scheitelzelle  durch  eine  punktirte  Linie  angedeutet)'). 
Darwin  geht  ziemlich  weitläufig  auf  diesen  meinen  gegen  die 
Zuchtwahl  gemachten  Einwand  ein,  aber  statt  die  von  mir  aller- 
dings nur  allgemein  bezeichneten  Fälle  zu  besprechen,  führt  er 
eine  Menge  morphologischer  Erscheinungen  an ,  die  ich  nicht  ge- 
wagt haben  würde,  als  Beweise  für  meine  Ansicht  anzuführen,  da 
sie  für  mich  zweifelhaft  und  wohl  meistens  als  Anpassungen  zu 
betrachten  sind.  Eine  Erscheinung  kann  erst  dann  Gegenstand 
erfolgreicher  Betrachtungen  werden,  wenn  man  sie  bis  auf  den 
Ursprung  zurückverfolgen  kann.  Dies  ist  aber  der  Fall  mit  der 
opponirten  und  sjjiraligen  Stellung,  indem  beide  Stellungen  schon 
bei  verzweigten  einzelligen  Pflanzen  und  bei  solchen ,  die  aus 
verzweigten  Zellreihen  bestehen  (beides  bei  niederen  Algen),  vor- 
handen sind,  —  und  mit  der  vorhin  angeführten  Stellung  der  Seg- 


')  Für  alle  diese  Stellungsverhältnisse  ist  es  natürlich  gleichgültig,  durch 
welche  mechanischen  Mittel  sie  zunächst  zu  Stande  kommen.  Das  für  die  vor- 
liegende Frage  Entscheidende  l)esteht  darin,  dass  sie  in  strenger  Weise  vererbt 
werden  und  also  als  Anlagen  im  Idioplasma  enthalten  sind.  Das  Idioplasma  wirkt 
seinerseits  auf  das  Ernährungsplasma  derartig  ein,  dass  in  Folge  einer  längeren 
oder  kürzeren  Reihe  von  molecularen  Processen  schliesslich  stets  die  nämlichen 
Stellungsverhältnisse  resultiren. 


VI.  Kritik  (k-r  Durwiii'sclu'u  Tlieorie  von  der  iiatüiiifiu'u  Zuchtwahl.      329 

mente  in  Folge  der  Tlieiluiig  der  Scheitelzclle.  Bei  beiderlei  Stell- 
nngsverliältnissen  ist  weder  eine  Ueberlieferung  von  Vorfahren,  für 
welche  die  Eigenschaft  von  Bedeutung  war,  noch  eine  unter  dem 
Einfluss  anderer  Anpassungen  zu  Stande  gekommene  correlative 
Anpassung  möglich. 

Wie  sehr  übrigens  D  a  r  w  i  n  selbst  sich  der  Ueljerzeugung  hin- 
neigt, dass  es  morphologische  Erscheinungen  gebe,  die  stets,  auch 
bei  ihrer  Entstehung,  ohne  jeden  Nutzen  waren ,  geht  daraus  her- 
vor, dass  er  für  dieselben  eine  Erklärung  erfindet :  Er  sei  zu  glauben 
geneigt,  dass  morphologische  Differenzen  zuerst  in  vielen  Fällen  als 
fluctuirende  Abänderungen  erschienen  seien ,  welche  früher  oder 
später  durch  die  Natur  des  Organismus  und  der  umgebenden  Be- 
dingungen, ebenso  wie  durch  die  Kreuzung  verschiedener  Indivi- 
duen, aber  nicht  durch  die  natürliche  Zuchtwahl  constant  geworden  ; 
denn  da  diese  morphologischen  Charaktere  die  Wohlfaln't  der  Art 
nicht  berührten ,  so  könnten  auch  unbedeutende  Abänderungen  an 
ihnen  nicht  von  natürlicher  Zuchtwahl  beeinfiusst  oder  gehäuft 
worden  sein. 

Sollte  diese  Erklärung  wirklich  Grund  haben ,  so  würde  sie 
die  Selectionstheorie  geradezu  über  den  Haufen  werfen.  Wenn 
fluctuirende  Aljänderungen  in  vielen  Fällen  durch  die  Kreuzimg 
und  nicht  durch  die  Zuchtwahl  constant  werden  konnten ,  warum 
konnten  sie  es  nicht  in  allen  ?  Wenn  die  Kreuzung  die  Aus- 
bildung und  das  Constantwerden  eines  indifferenten  Merkmals  nicht 
verhindert,  so  sollte  ein  nützliches  Merkmal  um  so  eher  trotz  der 
Kreuzung  ohne  weitere  Beihilfe  sich  ausbilden  und  constant  werden. 

Während  von  Darwin  mein  Einwurf  ernstlich  behandelt  wurde, 
haben  ihn  deutsche  Darwinisten  entweder  einfach  ignorh't  oder  in 
vollständiger  Verkennung  seiner  Bedeutung  meine  rein  morpholo- 
gischen Eigenschaften  mit  den  sogenannten  »morphologischen  Arten« 
zusanmiengestellt.  Die  letzteren  unterscheiden  sich  durch  ganz  unbe- 
deutende Merkmale,  welche  unbekannten  Ursprungs  und  daher  auch 
von  zweifelhafter  Bedeutung  sind ,  indess  meine  morphologischen 
Merkmale  die  Hauptzüge  an  dem  Gebäude  ausmachen,  welches  die 
Entwicklungsgeschichte  des  Pflanzenreiches  darstellt  und  an  dem 
die  nützlichen  Anpassungen  die  Ausführung  im  einzelnen  und  die 
Verzierung  bilden. 


330      Vi-  Kiitik  der  Darwin'schen  Theorie  vdu  der  natürlielu'ii  Zuehtwalil. 

6.  Systematischer  Aufbau  der  ganzen  Reiche. 

Es  ist  eine  allgemein  anerkannte  Tliatsache ,  dass  die  Reiche 
aus  aufsteigenden  Reihen  zusammengesetzt  sind ,  welche  divergiren 
und  sich  baumartig  verzweigen,  und  dass  in  dem  gegenwärtigen 
Bestand  grosse  Lücken ,  sowohl  in  den  einzelnen  Reihen  als  durch 
das  Fehlen  ganzer  Verzweigungssysteme,  bestehen;  unter  dem  Auf- 
steigen der  Reihen  wird  das  Fortschreiten  von  einfacheren  zu  com- 
plicirteren  Organisationsstufen  verstanden.  Ferner  nimmt  auch 
Darwin  an,  dass  es  keine  absteigenden  Reihen  gebe  und  dass  eine 
Art  nicht  in  diejenige,  von  der  sie  entsprungen  ist,  noch  in  eine 
andere  verwandte  ül)ergelien  könne,  was  ich  ebenfalls  als  sichere 
Thatsachen  betrachte.  Aljer  für  alle  diese  Thatsachen  hat  die  Se- 
lectionstheorie  nicht  nur  keine  Gründe  anzugeben  vermocht,  sondern 
sie  befindet  sich  sel])st  in  scharfem  Widerspruche  mit  denselben. 
Ich  habe  bereits  früher  ')  auf  den  Kardinalpunkt  hingewiesen,  was 
aber  von  den  Anhängern  jener  Lehre  bei  der  w^enig  sorgfältigen 
Behandlung,  die  sie  der  mechanischen  Seite  der  Abstannnungslehre 
zuwenden,  unbeachtet  geblieben  ist. 

Wenn  nach  der  Annahme  der  Darwinisten  durch  die  unbe- 
stimmten Ernährungseinflüsse  die  molecularen  Verhältnisse  geändert 
werden  und  aus  diesen  die  grossen  und  sichtbaren  Abänderungen 
liervorgehen,  so  müssten  die  Uml>ilduiigeii  in  jedem  einzelnen  Falle 
nach  allen  möglichen  Seiten  und  in  allen  Theilen  eines  Organismus 
geschehen  können,  denn  die  molecularen  Verschielxmgen  und  Neu- 
bildungen können  ja  in  jeder  Zelle  erfolgen,  und  thatsächlich  wären 
ja  alle  die  so  verschiedenen  Eigenschaften  aus  ihnen  hervorgegangen. 
Wenn  ferner  die  Häufung  der  Abänderungen  bloss  durch  die  Nütz- 
lichkeit geregelt  wird ,  so  müsste  ein  Organismus  unter  allen  Um- 
ständen nach  derjenigen  Form  und  Function  streben,  bei  der  er 
unter  den  bestehenden  Umständen  am  besten  seine  Rechnung  findet. 

Es  ist  eine  mechanische  Noth wendigkeit,  dass  eine  bestimmte 
Kraft  eine  bestimmte  Bewegung  verursacht,  dass  auf  eine  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  wirkende  Kraft  die  entgegengesetzte  Be- 
wegung erfolgt,  und  dass  eine  Kraft,  die  in  irgend  einer  anderen 
Richtung  wirkt,  auch  die  Bew'egung  nach  dieser  Richtung  ablenkt. 


*)  Entstellung  und  Begriff  der  naturlnsturist'lien  Art.    18ü5. 


VI.  Kritik  der  Darwiiisclieu  Theorie  von  der  natürlielieu  Ziiclitwald.      331 

Für  die  Selectionstlieorie  sind  die  Ernährungseinflüsse,  welche  die 
chemische  und  physikalisclie  Beschaffenheit  umbilden,  und  die  Nütz- 
lichkeit, welche  alle  unvortheilhaften  Umbildungen  bis  auf  eine 
eliminirt,  die  einem  Stosse  zu  vergleichenden  treibenden  Kräfte, 
und  die  durch  kleine  Schritte  nach  der  nützlichen  Seite  erfolgende 
Abänderung  entspricht  der  mechanischen  Bewegungsrichtung. 

Deswegen  müsste  eine  Sippe  je  nach  den  wirkenden  Ursachen 
in  ihre  Eitersippe,  ebenso  in  eine  andere  verwandte  Sippe  über- 
gehen können.  Sie  müsste  ferner  die  ganze  aufsteigende  Entwick- 
lungsreihe wieder  zurückgehen ,  wenn  die  äusseren  Umstände  sich 
jeweilen  so  gestalteten ,  dass  ein  weiterer  Schritt  abwärts  vor- 
theilhaft  wäre.  Endlich  müssten  neben  den  aufsteigenden  diver- 
girenden  auch  alle  möglichen  seitlichen  theils  convergirenden  theils 
anastomosirenden  Reihen  sich  bilden;  es  hätten  also  keine  Lücken 
entstehen  dürfen,  indem  jeder  sich  bildende  grössere  Abstand  früher 
oder  später  wieder  ausgefüllt  worden  wäre.  Statt  der  l_)aum förmigen 
Anordnung  müsste  also  eine  vollständige  netzartige  Vertheilung  der 
Sijjpen  die  Reiche  darstellen.  —  Es  ist  auch  sicher,  dass,  wenn 
Uebergänge  einer  Art  in  eine  andere  bestehende  oder  untergegan- 
gene Art,  wenn  ferner  Convergenz  und  Anastomose  der  Reihen  und 
lückenlose  netzförmige  Anordnung  derselben  vorhanden  wären ,  die 
Selectionstlieorie  auf  solche  Vorkommnisse  mit  dem  grössten  Triumjdi 
als  auf  die  schönsten  Beweise  ihrer  theoretischen  Voraussetzungen 
hinweisen  würde. 

Ganz  anders  als  die  Selectionstlieorie  steht  die  Theorie  der 
directen  Bewirkung  den  Thatsachen  gegenüber,  indem  die  strenge 
Consequenz  ihrer  Anwendung  genau  zu  dem  bestehenden  Sachver- 
halte führt.  Da  das  Idioplasma  mit  innerer  Nothwendigkeit  stetig 
complicirter  wird ,  so  kann  die  Veränderung  nur  zu  einer  höheren 
Organisationsstufe  fortschreiten;  daher  gilit  es  nur  aufsteigende 
Reihen.  Da  aber  in  Folge  ungleicher- Com plication  oder  ungleicher 
Anpassungen  auf  jeder  Stufe  eine  Reihe  in  mehrere  Sippen  aus- 
einander gehen  kann  und  jede  dieser  Sippen  unter  günstigen  Um- 
ständen den  Anfang  einer  neuen  Reihe  bildet,  welche  dem  Be- 
harrungsgesetze gemäss  immer  mehr  von  den  Schwesterreihen  sich 
entfernt,  so  verzweigen  sich  die  Reihen  mit  divergirenden  Aesten. 
Convergenz  der  Reihen  sowie  der  Uebergang  einer  Sippe  in  eine 
andere  Sippe  ist  principiell  unmöglich. 


332     VI.  Kritik  der  Darwin'sfheii  Theorie  von  der  natürlichen  Zuclitwalil. 

Auch  kann  sich  eine  bloss  durch  Anpassung  entstandene  Sippe 
nicht  in  ihre  Eitersippe  zurückverwandeln ,  selbst  wenn  ihre  An- 
passungsinerkmale  in  die  elterlichen  Anpassungsmerkmale  zurück- 
gehen, weil  mittlerweile  die  allgemeine  Configuration  des  Idioplasmas 
in  Folge  der  stetig  fortschreitenden  Vervollkommnungsbewegung 
eine  etwas  andere  geworden  ist  und  daher  die  darin  entstehenden 
Anpassungsanlagen  ebenfalls  eine  etwas  veränderte  Beschaffen- 
heit annehmen  müssen.  Aus  dem  gleichen  Grunde  können  die 
Sippen  zweier  Reihen  um  so  weniger  durch  gleiche  Anpassung 
sich  nähern,  je  grösser  die  Divergenz  und  je  grösser  somit  die 
Verschiedenheit  in  der  allgemeinen  Configuration  des  Idioplasmas 
geworden  ist.  Aber  zwei  Klassen  oder  Ordnungen  können,  je  mehr 
ihre  Ungleichheit  auf  Anpassungsmerkmalen  beruht,  in  einzelnen 
Gattungen  einander  um  so  näher  treten. 

Die  eben  erörterte  Frage  ist  schon  von  Darwin  berührt  worden, 
allerdings  nur  kurz  und  lediglich  vom  Standpunkte  des  praktischen 
Empirikers.  Auf  den  Einwurf  von  Watson,  dass  auch  Convergenz 
der  Charaktere  in  Betracht  gezogen  werden  müsse ,  sagt  er  bloss 
»es  sei  unglaublich  ,  dass  die  Nachkommen  zweier  auffallend  ver- 
schiedener Organismen  später  je  so  nahe  convergiren  sollten,  dass 
sie  sich  einer  Identität  durch  ihre  gesammte  Organisation  näherten. 
Wäre  dies  eingetreten,  so  würden  wir,  unabhängig  von  einem 
genetischen  Zusammenhang,  derselben  Form  wiederholt  in  weit  von 
einander  entfernt  liegenden  geologischen  Formationen  l^egegnen, 
und  hier  widerspreche  der  Ausschlag  des  thatsächlichen  Beweis- 
materials jeder  derartigen  Annahme. '^ 

Mit  dieser  Antwort,  die  von  Anhängern  der  Selectionstheorie 
als  theoretische  Widerlegung  l>egrüsst  worden  ist,  sagte  Darwin 
Aveiter  gar  nichts  und  wollte  auch  nichts  sagen,  als  dass  die  Er- 
fahrung keine  Bestätigung  gebe.  Aber  die  Berufung  auf  die  Palae- 
ontologie  ist  werthlos,  da  in  dieser  Wissenschaft  bei  der  notorischen 
und  von  Darwin  selbst  zu  anderem  Zwecke  hervorgehobenen 
Mangelhaftigkeit  des  Materials    negative  Resultate   nichts   beweisen. 

Bei  einer  verwandten  Gelegenheit  sagt  ferner  Darwin:  xMan 
begreife  leicht ,  dass  eine  einmal  zu  Grunde  gegangene  Art  nicht 
wieder  zum  Vorschein  kommen  könne ,  selbst  wenn  die  nämlichen 
unorganischen  und  organischen  Lebensbedingungen  nochmals  ein- 
treten.    Denn  obwohl  die  neue  Art  die  alte  vollkommen  ersetze,  so 


VI.  Kritik  der  Darwin'schen  Theorie  von  der  natürlichen  y^uchtwahl.     333 

können  doch  beide  nicht  identisch  sein ,  weil  sie  gewiss  von  ihren 
Stammvätern  auch  verschiedene  Charaktere  mitgeerbt  haben.«  Da- 
gegen möchte  ich  erwiedern,  man  begreife  leicht,  dass,  wenn  die 
Merkmale  nm'  durch  die  Ernährungsursachen  und  die  Zuchtwahl 
bewirkt  werden ,  zwei  Arten  mit  verschiedenen  Merkmalen ,  nach- 
dem sie  lange  genug  unter  ursächlichen  Verhältnissen,  die  ihre 
Verschiedenheiten  austilgen ,  gelebt  haben ,  identisch  werden.  Es 
ist  dies  eine  mechanische  Nothwendigkeit ,  die  gar  nicht  zurück- 
gewiesen werden  kann. 

Ich  habe  eine  das  nämliche  darlegende  Antwort  bereits  in  der 
»Entstehung  der  Art'<  gegeben.  Dass  Darwin  darauf  kein  Ge- 
wicht legte,  ist  mir  begreiflich,  da  er  als  reiner  Emj^iriker  nur  That- 
sachen  anführt  und  dieselben  seiner  aus  der  Thierzüchtung  abge- 
leiteten allgemeinen  Theorie  anzupassen  sucht,  ohne  sie  mit  den 
strengen  theoretischen  Folgerungen  aus  derselben  zu  vergleichen. 
Weniger  begreiflich  ist  es  mir  von  deutschen  Darwinisten,  welche 
sich  gerne  auf  mechanische  Nothwendigkeit  berufen  und  diese 
namentlich  auch  für  die  molecularen  Veränderungen  in  Anspruch 
nehmen,  die  in  Folge  der  Ernährungsursachen  im  Organismus  ein- 
treten und  die  ihrerseits  die  Entstehung  und  somit  auch  die  Yer- 
nichtung  der  Merkmale  bewirken  sollen. 

Eine  hieher  gehörende  Tliatsache  ist  das  Aussterben  ganzer 
Stämme  wie  der  Lepidodendreen,  der  Calamiteen,  der  Asterophylliten, 
der  Sigillarien.  Nach  der  Theorie  der  directen  Bewirkung  ist  die 
Möglichkeit  leicht  einzusehen.  Die  Vervollkoimnungsveränderung 
eines  Stammes  geschieht  nur  in  einer  Richtung  und  tann  leicht 
einmal  früher  oder  später  ein  nothwendiges  Ende  durch  innere  Ur- 
sachen finden.  Es  ist  auch  denkbar,  dass  sie,  bevor  dieses  Ende 
erreicht  ist,  zu  einer  Organisationsstufe  führt,  welche  ihrer  Natur 
nach  nicht  oder  wenig  existenzfähig  ist.  In  beiden  Fällen  nmss 
der  Stamm  aussterben.  Die  Selectionstheorie  aber  hat  dafür  keine 
genügende  Erklärung.  Die  nach  allen  Seiten  hin  stattfindende 
Veränderung  hätte  ja  leicht  den  Ausweg  zu  einer  nützlichen  An- 
jDassung  finden  sollen,  und  zwar  um  so  melir  als  keine  Concurreiiz 
mit  nahen  Verwandten  zu  bestehen  war. 


o;')4     ^*I-  Kritik  der  Darwin'sclien  Theorie  von  der  natürliclien  Ziirhtwahl. 

7.  Anpassung  der  Bewohner  eines  Landes. 

Ich  will  nicht  weitläufig  auf  diese  ziemlich  dunkle  Frage  ein- 
treten ,  sondern  nur  einige  Gesichtspunkte  hervorheben.  Nach 
Darwin  besteht  unter  den  Bewohnern  eines  Landes  eine  bedeutende, 
wenn  auch  keineswegs  vollkommene  gegenseitige  Anpassung.  Die- 
selbe folgt  auch  logisch  aus  der  Selectionstheorie ,  in  der  Weise, 
dass  sie  stetig  zunehmen  und  nach  hinreichend  langer  Zeit  voll- 
konnnen  werden  soll.  Nach  Darwin  sind  ferner  die  Bewohner  in 
grösseren  und  zusammenhängenden  Gebieten  vollkommner  angepasst 
als  in  kleineren  und  isolirten ;  daher  komme  es ,  dass  die  Erzeug- 
nisse des  kleinen  australischen  Continents  jetzt  vor  denen  des 
grösseren  europäisch-asiatischen  Bezirkes  im  Weichen  begriffen  sind, 
und  dass  festländische  Erzeugnisse  allenthalben  so  reichlich  auf 
Inseln  naturalisirt  werden.  Darnach  müsste  die  Anpassung  der 
Bewohner  von  Europa-Asien  und  von  Amerika  als  grosser  Continente 
sehr  beträchtlich  sein.  Es  ist  nun  die  Frage,  ob  die  Thatsachen 
diesen  Behauptungen  entsprechen. 

Bei  der  Anpassung  spielen  für  die  Selectionstheorie  natürlich 
die  klimatischen  und  Ernährungsverhältnisse  eine  wichtige  Rolle; 
denn  mit  Rücksicht  auf  sie  soll  sich  jede  Art  unter  den  übrigen 
Bewohnern  so  modificirt  haben,  dass  sie  die  Concurrenz  mit  ihren 
'Mitbewerbern  erfolgreich  bestehe  und  den  Platz  unter  ihnen  behaupte. 
—  Lassen  wir  nun,  immer  im  Sinne  der  Selectionstheorie,  eine 
arenide  Art  aus  einem  fernen  Lande  einw^andern ;  dieselbe  hat  sich 
auf  ganz  andere  Verhältnisse,  auf  andere  Pflanzen  und  Thiere, 
anderes  Klima  und  anderen  Boden  seit  vielen  Jahrtausenden  an- 
gepasst. Ihre  ganze  bisherige  Anpassung  nützt  ihr  in  dem  neuen 
Wohnsitze  nichts;  sie  ist  ihr  vielmehr,  je  vollkommner  sie  war, 
um  so  hinderlicher;  sie  muss  hier  ausgetilgt  und  dafür  eine  neue 
Anpassung  erworben  werden.  Was  wäre  daher  natürlicher,  als  dass 
die  fremde  Art  unter  so  ungünstigen  Umständen  keinen  festen  Fuss 
zu  fassen  vermöchte?  Und  köinite,  wenn  es  keine  Naturalisation 
gäbe,  die  Anpassungstheorie  dann  nicht  diese  Thatsache  als  eine 
nothwendige  Folgerung  und  somit  als  einen  vorzüglichen  Beweis 
in  Anspruch  nehmen? 

Nun  bestehen  aber  die  Naturalisationen  in  grosser  Zahl  und 
in  umfassendstem  Maasse.  Europäische  Pflanzen,  die  von  jeher  der 
alten  Welt  angehört  hatten   und  hier   geformt   worden   waren,    sind 


VI.  Kritik  iler  Darwin'schen  Tlieorie  von  (U-r  iiatürlichoii  Zuchtwahl.     33;*) 

nach  der  Entdeckung  von  Amerika  dorthin  verschleppt  worden 
und  haben  sich  unter  einem  fremden  Khma  und  unter  einer  fremden 
vegetabihschen  und  animalischen  Bevölkerung  eingebürgert.  Amerika- 
nische Pflanzen,  die  seit  der  Lostrennung  Amerikas  von  Europa 
Zeit  hatten,  sich  amerikanisch  anzupassen,  sind  zufällig  nach  Europa 
gebracht  worden,  und  haben  hier  unter  einer  em'opäisch  angepassten 
Einwohnerschaft  sich  einen  Platz  erobert  und  rasch  eine  weite  Ver- 
breitung gewonnen.  Am  merkwürdigsten  ist  dies  von  Erigeron 
canadense,  weil  die  natürliche  Pflanzenfamilie,  der  diese  Pflanze 
angehört,  auch  in  Europa  unter  allen  Familien  weitaus  die  grösste 
Menge  von  Arten  enthält.  Und  was  besondere  Beachtung  verdient, 
diese  Pflanze  hat  sich  in  ihrem  neuen  Wohnsitze  -  angepasst ;,  ohne 
ihre  Merkmale  im  geringsten  zu  ändern. 

Wir  k()nnten  durch  die  letztere  Beobachtung  dazu  veranlasst 
werden,  an  der  gegenseitigen  Anpassung  überhaupt  zu  zweifeln.  In 
der  That  hat  eine  solche,  was  ich  schon  wiederholt  erwähnt  habe, 
während  des  ungeheuer  langen  Zeitraumes,  der  seit  der  Eiszeit  ver- 
flossen ist,  nicht  stattgefunden,  insofern  dieselbe  in  Eigenschaften 
besteht,  welche  unserer  Wahrnehmung  zugänglich  sind.  Während 
der  Eiszeit  lebten  die  alpinen  und  nordischen  Pflanzen,  mit  Aus- 
nahme der  hochalpinen  und  hochnordischen,  in  der  mitteleuropäischen 
Ebene.  Als  sie  nach  der  Eiszeit  in  ihre  früheren  Wohnsitze  zurück- 
kehrten, wanderten  manche  nach  beiden  Gebieten,  so  dass  die  Alj^en 
und  der  Norden  eine  Anzahl  von  Arten  gemein  haben.  Trotzdem 
dass  sie  seitdem  in  ungleichen  Klimaten  und  in  ungleicher  pflanz- 
licher und  thierischer  Gesellschaft  gelebt  haben,  sind  sie  einander 
doch  so  gleich,  dass  man  sie  nicht  einmal  als  die  allerleichtesten 
Varietäten  zu  unterscheiden  vermag.  Das  Nämliche  gilt  für  einige 
östliche  Pflanzen,  die  während  des  gleichen  Zeitraumes  in  Mittel- 
europa und  im  Osten,  und  für  einige  Alpenpflanzen,  die  seit  der  Eis- 
zeit zugleich  auch  in  der  Ebene  gelebt  haben.  Aus  diesen  und  anderen 
ähnlichen  Thatsachen  ziehe  ich  den  Schluss,  dass  eine  gegenseitige 
Anjiassung  der  Bewohner  eines  Landes  nicht  stattfindet,  womit 
natürlich  solche  Anpassungen  im  einzelnen,  namentlich  zwischen 
einzelnen  Thieren  und  Pflanzen,  oder  der  Schmarotzer  an  den  Wirth 
nicht  beanstandet  werden  sollen. 

Indem  Darwin,  um  die  reichlichere  Naturalisation  fremder 
Erzeugnisse  auf  Neuholland  und  auf  andern  Inseln  zu  erklären,  die 


3ii(j     VI-  Kritik  der  Darwin'sclien  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl. 

Bewohner  grösserer,  mit  mannigfaltigerer  Pflanzen-  und  Thierwelt 
besetzter  Länder  als  vollkommener  angepasst,  und  demnach  als 
concurrenzfähiger  und  stärker  bezeichnet,  legt  er  in  nicht  zu  billigender 
Weise  einem  speciellen  Begriff  allgemeine  Gültigkeit  bei.  Es  gibt  ja 
bestimmte  Gebiete,  in  denen  ein  solches  Verfahren  nicht  zu  bean- . 
standen  ist.  Wenn  z.  B.  ein  Handeltreibender  sich  irgendwo  ver- 
wickelten Verhältnissen  angepasst  und  zum  geriebenen  Geschäftsmann 
ausgebildet  hat,  so  wird  er,  unter  ganz  andere  und  ihm  neue  Ver- 
hältnisse versetzt,  auch  hier  seine  Concurrenztüchtigkeit  und  seine 
Ueberlegenheit  gegenüber  einem  Neuling  im  Geschäft  beweisen. 
Die  Anpassung  war  ihm  eine  Schule  und  hat  ihm  Anj)assungs- 
fähigkeit  verschafft ;  die  specielle  Anpassung  an  bestimmte  Geschäfts- 
verhältnisse  ist  ihm  zugleich  eine  allgemeine  Anj^assung  an  das 
Geschäftsleben  überhaupt. 

Dieses  Beispiel  gilt  für  viele  andere  Arten  der  Concurrenz, 
denen  der  Mensch,  und  auch  noch  für  solche,  denen  die  höheren 
Thiere  ausgesetzt  sind,  aber  nur  soweit  geistige  Fähigkeiten,  die 
durch  Uebung  und  Erfahrung  gefördert  werden,  mit  im  Spiele  sind. 
Dagegen  findet  es  keine  Anwendung  für  alle  bloss  stofflichen  oder 
körperlichen  Anpassungen ;  diese  gewähren  keinen  allgemeinen  Vor- 
theil  für  den  Kampf  mns  Dasein  überhaupt,  sondern  bloss  für  die 
bestimmten  Verhältnisse,  denen  sie  ihre  Existenz  verdanken.  Unter 
anderen  Verhältnissen  sind  sie  dem  Träger  entweder  eine  überflüssige 
Last  oder  selbst  geradezu  ein  Hemmniss.  Eine  Pflanze  habe  in 
einem  trockenen  Lande  mit  reichlicher  Insolation,  mit  heissen  Som- 
mern und  kalten  Wintern  unter  ihren  Mitbewerberinnen  sich  als 
concurrenzfähig  erwiesen.  Gesetzt,  dass  diese  Tüchtigkeit  eine  Folge 
der  Anpassung  sei,  was  kann  ihr  denn  diese  Anpassung  in  einem 
fernen  Lande  mit  feuchtem  nebligem  Klima  und  gleichmässiger 
mittlerer  Temperatur  gegenüber  von  Mitbewerberinnen  nützen,  die 
gerade  diesen  Verhältnissen  angepasst  sind  und  die  überdem  theil- 
weise  andern  Gattungen,  Ordnungen  und  Klassen  angehören  und 
daher  auch  eine  andere  Organisation  und  andere  Verrichtungen  haben? 

Wir  können  uns  die  Frage  am  deutlichsten  machen,  wenn  wir, 
was  ja  bei  exacten  Untersuchungen  immer  der  sicherste  Weg  'zur 
richtigen  Beurtheilung  ist,  durch  Elimination  alles  andere  bis  auf 
dasjenige  Moment,  worauf  es  ankommt,  gleich  machen.  Die  näm- 
liche  Pflanzenart   sei   vor   Urzeiten   theils    nach   Asien   theils    nach 


VI.  Kritik  der  Darwin'srlion  Theorie  von  der  natürlichen  Zuchtwahl.      ;-j37 

Neuholland  gekoiiinieii  und  habe  .sieh  an  beiden  Orten  vollkonnnen 
angepasst.  Sie  ist  also  nun  in  zwei  Anpassungsl'ornien,  die  dm'eli 
irgend  welche  materielle  Eigenschaften  sich  von  einander  unter- 
scheiden, vorhanden.  Die  asiatische  Anpassungsforni  ist  aber  nach 
der  Theorie  Darwin 's  überhaupt  die  stärkere  und  vollkonmniere, 
weil  unter  einer  reichen  Vegetation  gemodelt.  Wenn  dieselbe  dnrch 
Wanderung  nach  Neuholland  kommt,  so  nmss  sie  nach  der  näm- 
lichen Theorie  die  unter  einer  ärmlichen  ^^egetation  angepasste  neu- 
holländische  Form  verdrängen,  während  doch  naturgesetzlicli  die 
letztere,  weil  ihren  ^^erhältnissen  vollkommen  angepasst,  ganz  sicher 
die  Oberhand  behalten  wird. 

Diese  Betrachtungen  haben  Gültigkeit  für  den  Fall,  dass  es 
wirklich  eme  gegenseitige  Anpassung  im  Sinne  Darwin 's  gäbe. 
Wie  schon  gesagt,  mangelt  nach  meiner  Ansicht  einer  solchen  An- 
nahme sowohl  die  theoretische  als  die  erfahrungsmässige  Begründung 
und  die  vorhandenen  Naturalisationen  sind  gleichfalls  in  anderer 
Weise  zu  erklären.  Wie  aus  der  Theorie  der  directen  Bewirkung 
hervorgeht,  gibt  es  in  der  Flora  und  Fauna  eines  jeden  Landes, 
wie  zahlreich  auch  ihre  Sippen  sein  mögen,  bezüglich  der  Ansj^rüche 
an  die  Aussenwelt  immer  zahlreiche  Lücken,  die  von  der  Concurrenz 
nicht  beherrscht  werden.  Tritt  ein  Fremdling  in  eine  dieser  Lücken 
ein,  so  naturalisirt  er  sich  ohne  Mühe.  Daher  finden  in  alle  Länder 
Einwanderungen  statt.  Die  Thatsache  aber,  dass  auf  Inseln  diese 
Einwanderungen  viel  häufiger  sind  und  leichter  von  statten  gehen 
als  auf  Continenten,  ist  die  nothwendige  Folge  des  Umstandes,  dass 
jene  Lücken  im  allgemeinen  um  so  zahlreicher  und  grösser  sind, 
aus   je   weniger  Sippen   die  Einwohnerschaft   eines  Landes   besteht. 


V.  Niigeli,  Abstammungslehre.  22 


VII. 
Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 


Die  Abstammungslehre  darf  sich  niclit  darauf  beschränken,  im 
allgemeinen  das  Princip  festzustellen,  nach  dem  sich  die  Organismen 
aus  einander  entwickelten.  Sie  muss  auch  im  einzelnen  darlegen, 
wie  dies  geschehe.  Ihr  letztes,  wohl  immer  unerreichbares  Ziel  wäre 
die  Feststellung  der  Stammbäume  für  die  bekannten  Organismen. 
Es  sind  zwar  bereits  solche  Versuche  gemacht  worden.  Allein,  soweit 
sie  das  Pflanzenreich  in  seiner  Gesammtheit  betreffen,  müssen  sie 
als  reine  Illusion  bezeichnet  werden,  da  sie  nichts  anderes  vermögen, 
als  von  dem  ersten  besten  sog.  natürlichen  Pflanzensystem  die  Haupt- 
abtheilungen als  Hauptäste  eines  Stammes,  die  Unterabtheilungen 
als  deren  erste  Verzweigungen  aufzutragen,  und  so  weiter  bis  zu  den 
Gattimgen. 

Wenn  die  Darwinisten  den  Satz  aufstellen,  dass  ein  wahrhaft 
natürliches  System  nur  ein  genetisches  sein  könne,  so  sind  unsere 
»natürlichen  Pflanzensysteme«  durchaus  künstliche,  indem  sie,  und 
das  ist  ja  das  einzig  Mögliche,  die  Pflanzen  nach  den  sichtbaren 
morphologischen  und  physiologischen  Merkmalen  zusammenstellen 
und  von  den  viel  wichtigeren  unsichtbaren  Verhältnissen  ganz  ab- 
sehen. Es  gibt  wohl  nur  wenige  der  jetzigen  natürlichen  Famihen, 
die  einen  einheitlichen,  von  den  übrigen  gesonderten  Ursprung  be- 
sitzen, und  sicher  keine  einzige  höhere  GrupjDe,  die  nicht  einen  mehr- 
fachen Ursprung  hätte.  Der  Stammbamn  des  Gewächsreiches  leistet 
also  nicht  mehr,  als  dass  er,  im  Widerspruche  mit  sich  selbst,  die 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  339 

systematische  Aehnliclikeit  in  eine  genetische  Form  bringt.  Uebrigens 
ist,  wenn  wir  von  den  uns  Ijekannten  Organismen  ausgehen  und 
nicht  in  das  Reich  der  Probien  hinuntersteigen  wollen,  die  mono- 
phyletische  Abstammung  der  Pflanzen  eine  Unmöglichkeit,  indem 
allein  die  Süsswasser-Algen  mehrere  Anfänge  haben. 

In  ebenso  unfruchtbarer  Weise  ist  es  in  neuerer  Zeit  Sitte  ge- 
worden, einer  systematischen  botanischen  Monographie  einen  Stamm- 
baum beizufügen,  wobei  gleichfalls  bloss  die  gewonnene  systematische 
Einsicht  ins  Stammbaumliche,  das  Räumliche  ins  Zeitliche,  also  ein 
Begriff  in  einen  andern,  mit  dem  er  nichts  zu  thun  hat,  über- 
setzt wird.  Wenn  zwei  jetzt  lebende  Pflanzen  [A  und  B)  mit  ein- 
ander verwandt  sind,  so  lässt  sich  mit  Ausnahme  w^eniger  Fälle,  die 
den  einfachsten  Algen  und  Pilzen  angehören ,  nichts  Genaues  über 
ihre  genetischen  Beziehungen  aussagen,  und  es  bleibt  rein  willkür- 
lich ,  ob  wdr  A  von  B ,  oder  B  von  A ,  oder  ferner  A  und  B  von 
einem  dritten  jetzt  lebenden  C  oder  von  einem  vierten  unter- 
gegangenen D  ableiten.  Mit  der  Zunahme  der  SipjDenzahl  steigt 
die  Zahl  der  Möglichkeiten  in  geometrischer  Progression,  indem  sie 
für  eine  Gruj)pe  von  3  Sippen  schon  mehr  als  GO  beträgt. 

Dabei  ist  zu  bemerken,  dass  auch  alle  Bearbeitungen  von  Gat- 
tungen und  Gattungsgruppen  nothwendig  mehr  oder  weniger  künst- 
lich sind  und  schon  aus  diesem  Grunde  nicht  das  Material  für  einen 
Stammbaum  liefern  können,  sowie,  dass  bei  solchen  Abstammungs- 
schematen  offenbar  ein  Irrthum  über  die  ^löglichkeit  der  Ueber- 
gänge  besteht,  indem  nicht  jede  Pflanze  in  eine  verwandte  andere 
Pflanze  durch  die  anscheinend  geringe  Aenderung  der  Merkmale, 
der  es  zu  bedürfen  scheint,  sich  umwandeln  kann.  Jedes  noch  so 
geringe  Merkmal  entsj)richt  einer  oder  mehreren  Micellgruppen  im 
Idioplasma ,  die  nur  in  bestimmter  gesetzmässiger ,  von  der  Con- 
figuration  des  ganzen  Systems  abhängiger  Art  mngeändert  werden 
können. 

Die  Wissenschaft  verlangt  nicht  das  Unmögliche ,  und  mit 
Phantasiegebilden  ward  ihr  mehr  Schaden  als  Nutzen  gebracht;  da- 
gegen ist  es  für  sie  ein  entschiedener  Gewinn,  wenn  einzelne  sichere 
Stücke  der  phylogenetischen  Entwicklungsgeschichte  festgestellt  wer- 
den, mögen  dieselben  den  genetischen  Zusammenhang  von  grossen 
Gruppen  oder  von  Arten  und  Gattungen  oder  von  einzelnen  Merkmalen, 
also  von  Theilerscheinungen  der  Ontogenien  betreffen.     Eine  solche 

22* 


340  VII.  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Behandlung  vermag  uns  eine  begründete  Vorstellung  zu  geben,  wie 
auf  einzelnen  Stufen  des  Reiches  oder  in  einzelnen  Abstammungs- 
reihen die  Organismen  aus  einander  hervorgegangen  sind,  und  sie 
wird  mit  der  Zeit  zu  einer  allgemeinen  Entwicklungsgeschichte  des 
Pflanzenreiches,  wenigstens  in  ihren  Hauptzügen,  führen. 

Sind  die  genannten  Stücke  des  phylogenetischen  Weges  ganz 
kurz  (bis  zur  nächsten  Varietät  oder  Species),  so  müssen  sie  ent- 
weder in  einem  allmählichen  Uebergang  oder  in  einem  Sprung, 
dessen  Nothwendigkeit  dann  nachzuweisen  ist,  bestehen.  Was 
längere  Stücke  betrifft,  so  muss  die  Möglichkeit  gegeben  sein,  dass 
sie  in  eine  ununterbrochene  Kette  solcher  kleinen  Schritte  zerlegt 
werden.  Die  Abstammung  aber  muss  entweder  so  sicher  gestellt 
sein,  dass  eine  andere  Möglichkeit  gar  nicht  vorliegt,  oder  es  muss 
für  sie  eine  der  Gewissheit  nahekommende  Wahrscheinlicheit  vor- 
handen sein.  Solche  Beispiele  dürfen  als  Thatsachen  betrachtet 
werden,  aus  denen  allgemeine  Entwicklungsgesetze  abzuleiten  sind, 
die  um  so  grössere  Gewissheit  erlangen ,  je  mehr  Thatsachen  über- 
einstimmen, und  die  ihrerseits  wieder  dazu  benutzt  werden  können, 
um  weniger  deutliche  Fälle  aufzuklären. 

Ich  beschränke  mich  im  folgenden  um  so  eher  auf  einige 
wenige  Beispiele,  als  es  sich  ja  nur  darum  handelt,  zu  zeigen,  wie 
die  Thatsachen  in  Uebereinstimmung  mit  meiner  Theorie  zu  bringen 
sind,  und  wie  die  beiden  grossen  Principien  derselben,  die  Vervoll- 
kommnung durch  innere  Bewegung  und  die  Anpassung  durch  directe 
Einwirkung  von  aussen,  im  einzelnen  sich  ausscheiden.  Die  Bei- 
spiele entnehme  ich  vorzüglich  den  untersten  Stufen  des  Pflanzen- 
reiches, weil  hier  die  Thatsachen  so  überaus  einfach  vorliegen  und 
der  Deutung  keine  weiteren  Möglichkeiten  offen  lassen. 


Bei  der  Vervollkommnungsbewegung  wird  das  idioplas- 
matische  System  stetig  complicirter,  indem  es  neue  Micellgruppen 
an-  oder  einlagert.  Jede  derselben  bedingt  eine  etwas  höhere  Orga- 
nisationsstufe ;  die  Entwicklungsgeschichte  wird  um  einen  Schritt 
länger  und  der  Organismus  um  ein  Organ  reicher.  Es  sind  mehrere 
Arten  solcher  VervoUkommnungsprocesse  bekannt,  die  nachher  als 
Entwicklungsgesetze  I^ — VII  aufgeführt  werden. 


VII.  riiylogenetische  Entwicklungsgesetze  <les  Pflanzenreiches.  341 

Bei  der  A  n  pass im gs Veränderung  dagegen  werden  Micell- 
gruppen  des  idioplasniatischen  Systems  eigenthümlicli  ausgeprägt. 
Gehört  die  Anpassung  einer  neuen  Kategorie  an,  so  bereichert  sich 
auch  der  Organismus  um  eine  neue  Einrichtung.  Gehört  sie  aber 
einer  schon  vertretenen  Kategorie  an ,  so  gehen  die  Micellgruppen 
der  früheren  Anpassung  in  den  latenten  Zustand  über  und  die 
neue  Einrichtung  tritt  an  die  Stelle  der  früheren. 

Die  Entwicklungsgeschichte  der  Reiche  sollte  eigentlich  mit 
dem  aus  der  Urzeugung  hervorgehenden  primordialen  Plasma  be- 
ginnen. Sie  müsste  aber  für  das  probiale  Reich  rein  theoretiscli 
construirt  w^erden.  Ich  will  daher  aus  diesem  Reich  nur  einige  all- 
gemeine Momente  herausheben,  die  um  so  sicherer  sind,  da  sie  auch 
den  bekannten  Organismen  angehören,  und  ich  werde  die  Entwick- 
lungsgesetze dann  erst  mit  denjenigen  Erscheinungen  beginnen,  die 
im  Pflanzenreiche  neu  auftreten. 

1.  Das  Primordialplasma  nimmt  gelöste  Nährstoffe 
auf  und  lagert  sie  als  Plasmamicelle  zwischen  die 
schon  vorhandenen  ein;  darauf  beruht  ein  stetiges 
Wachsthum   durch   Substanzzunahme. 

Dieser  Vorgang  der  Micelleinlagerung  aus  der  aufgenommenen 
Nahrun  o-  bleibt  auf  allen  Stufen  der  Reiche  die  erste  Ursache  des 
Wachsthums.  Er  geht  aus  der  Natur  des  Plasmas  ebenso  noth- 
wendig  hervor,  wie  der  krystallinische  Niederschlag  und  die  Schichten- 
auflagerung der  Krystalle  in  der  unorganisirten  Natur  aus  den  Ge- 
setzen des  Chemismus  (S.  88). 

2.  Durch  den  Wachsthumsprocess  erlangen  die  Mi- 
celle  in  dem  Primordialplasma  stellenweise  bestimmte 
Anordnungen,  und  unter  dem  Einfluss  der  dadurch 
organisirten  Molecularkräf te  werden  neue  Functionen 
und  damit  neue  Verbindungen  erzeugt.  In  der  Folge 
gestalten  sich  die  Micellanordnungen  immer  ungleicher 
und  die  Functionen  werden  stets  zahlreicher  und  man- 
nigfaltiger. 

Das  primordiale  Plasma  hat  anfänglich  bloss  die  Function,  aus 
den  unorganischen  Stoffen,  aus  denen  es  selber  entstanden  ist,  neue 
gleiche  Eiweissmicelle  einzulagern  und  dadm'ch  zu  wachsen  (§  1). 
Durch  diese  Einlagerungen  werden  im  phylogenetischen  Verlaufe 
die  Plasmamassen   in   ihrem   Innern   ungleich ,    stellenweise  dichter 


342  ^Ti-  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

oder  weicher,  stellenweise  so  oder  anders  geordnet.  Unter  dem  Ein- 
flüsse der  verschiedenartig  geeinten  Molecularkräfte  entstehen  andere 
Modificationen  von  Albuminaten  und  denselben  verwandte  Stoffe 
(unorganisirte  Fermente),  sowie  fernerhin  verschiedene  stickstoffhaltige 
und  stickstofffreie  A^erbindungen.  Da  der  Bau  der  Plasmasubstanzen 
durch  ihre  autonome  Umbildung  immer  complicirter  und  durch  die 
äusseren  Anj^assungseinflüsse  mannigfaltiger  wird,  und  da  gleichen 
Schrittes  auch  die  nicht  plasmatischen  Stoffe  sich  vermehren,  so 
zeigt  nothwendig  als  Folge  dieser  zusammenwirkenden  Ursachen  die 
Zahl  der  verschiedenen  Functionen  (chemische  Processe,  plastische 
Bildungen,  Bewegungen)  eine  stete  Zunahme.  Dieser  Entwicklungs- 
process  erreicht  schon  in  dem  probialen  Reiche  eine  ziemliche  Höhe, 
wie  wir  aus  den  Eigenschaften  der  einfachsten  Pflanzen  (Schizo- 
phyten)  und  der  einfachsten  Thiere  (Moneren)  erkennen.  Er  dauert 
aber  weiter  durch  die  phylogenetischen  Reihen  des  Pflanzen-  und 
Thierreiches  fort,  so  dass  die  Gesammtheit  der  Functionen  einen 
immer  grösseren  Umfang  gewinnt  (S.  129). 

3.  Das  Primordialplasma  erzeugt  an  der  Oberfläch  e 
eine  Hautschicht,  deren  Micelle  übereinstimmend 
geordnet  und  nach  der  Oberfläche  orientirt  sind,  und 
die  im  allgemeinen  gleichen  Schrittes  mit  dem  um- 
schlossenen Plasma  durch  Einlagerung  wächst. 

Diese  Bildung  erfolgt  durch  die  Einwirkung  des  angrenzenden 
Wassers  und  ist  somit  eine  Anpassungserscheinung.  Das  Häutchen 
war  anfänglich  unbestimmt,  äusserst  dünn  und  von  gleicher  Weich- 
heit wie  das  Plasma;  es  wurde  nach  und  nach  bestimmter,  dicker 
und  von  eigenthümlicher  Consistenz.  —  Alle  Plasmakörper  der  Or- 
ganismen (Zellen,  Kerne,  Körner)  besitzen  diese  Umhüllung. 

Was  die  Bildungsursache  betrifft,  so  wirkt  das  Wasser,  in 
welchem  das  primordiale  Plasma  liegt,  wie  dies  bei  allen  erblichen 
Reizwirkungen  der  Fall  ist,  nicht  unmittelbar  verändernd,  sondern 
als  dauernder,  das  Wachsthum  modificirender  Reiz.  Die  oberfläch- 
lichen Micelle  zeigen  zuerst ,  als  Folge  der  zwischen  Plasma 
und  Wasser  bestehenden  Molecularbeziehungen ,  nur  eine  schwache 
Andeutung  von  Orientirung.  Da  aber  die  beim  Wachsthum  sich 
einlagernden  Micelle  stets  die  gleiche  Einwirkung  erfahren ,  so 
gewinnt  die  Anordnung  immer  mehr  an  Bestimmtheit  und  Mäch- 
tigkeit. 


VII.  Pliylogeneti^clie  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  343 

So  lange  die  primordialen  Plasmaniassen  sich  ausschliesslich 
durch  Theilung  vermehren  (§  4) ,  was  in  manchen  Fällen  bis  zur 
Entstehung  von  einzelligen  Pflanzen  und  Thieren  fortdauern  kann, 
lindot  ein  Wechsel  der  Hautschicht  nicht  statt,  so  dass  diejenige 
eines  Moners  in  ununterbrochener  Folge  von  dem  Ijeginnenden 
Häutchen  des  ersten  Plasmatropfens  abstammen  kann.  Tritt  aber 
freie  Zellbildung  ein  (§  7),  so  muss  auch  eine  Neubildung  der  Haut- 
schicht  stattfinden.  In  diesem  Falle  entsteht  sie  aber  sogleich  mit 
all  den  Eigenschaften,  die  ihre  Vorgängerin  hatte  und  die  ihr  erb- 
schaftlich zukommen,  weil  das  Idioplasma  sich  bei  dem  ßildungs- 
process  betheiligt.  Da  nämlich  alle  Theile  eines  Plasmatropfens 
unter  einander  in  materieller  und  dynamischer  Verbindung  stehen, 
so  hat  auch  die  ursprünglich  entstehende  Hautschicht  auf  das  ein- 
geschlossene Primordialj)lasma ,  besonders  auf  die  festeren  Theile 
desselben,  die  sich  als  Idioplasma  auszuscheiden  anfangen,  gewirkt. 
Wenn  sich  nun  eine  neue  Hautschicht  um  die  in  dem  Plasma  sich 
besondernden  Partien  bilden  muss,  so  übt  seinerseits  das  Idioplasma 
seinen  Einfluss  auf  diesen  Process  aus,  so  dass  also  die  Neubildung 
der  Hautschicht  als  die  Entfaltung  einer  ererbten  Anlage  erscheint. 

4.  Periodisch  tritt  in  der  Hautschicht  ein  stärkeres 
Flächenwach  st  hum  ein,  das  sich  hauptsächlich  auf 
eine  ringförmige  mittlere  Zone  concentrirt.  Dadurch 
wird  eine  ringförmige,  nach  innen  fortschreitende 
Einfaltung  erzeugt,  welche  die  Plasmamasse  in  zwei 
Hälften   scheidet   (Theilung). 

Diesen  Process  der  Einfaltung  und  Theilung  finden  wir  im 
wesentlichen  durch  die  ganzen  Reiche  als  Theilung  von  Zellen, 
Kernen  und  Plasmakörnern.  Ich  habe  als  die  mechanische  Ursache 
desselben  allgemein  das  vermehrte  Wachsthum  der  Hautschicht  be- 
zeichnet, weil  dies  für  die  der  sicheren  Beobachtung  zugänglichen 
Fälle  thatsächlich  richtig,  und  weil  auch  für  alle  übrigen  Fälle  eine 
andere  Ursache  in  micellarphy  siologischer  Beziehung  kaum  denkl^ar  ist. 

Der  geschilderte  Vorgang  ist  aber  jedenfalls  nicht  das  Ursprüng- 
Hclie  und  Ursächliche;  dieses  liegt  vielmehr  in  der  inneren  Con- 
figuration  der  Plasmamassen.  Das  Primordialplasma  ist  anfänglich 
in  seinen  Micellen  ganz  ungeordnet  und  das  Zerfallen  seiner  Massen 
noch  zufällig:  dieselben  wachsen  jeweilen  an,  bis  sie  durch  äussere 
Ursachen   getheilt   werden.      Gleichzeitig   mit   der  Entstehung   der 


344  ^'11-  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Hautschiclit  an  der  Oberfläche  werden  die  Micelle  im  Innern,  in 
Folge  des  Wachsthunis  durch  Einlagerung,  nach  und  nach  geordnet 
(S.  116  ff.).  Je  bestimmter  die  Anordnung  wird,  um  so  entscheidender 
wirkt  sie  auf  das  Zerfallen  der  Plasmamassen  ein ;  denn  diese  bilden 
sich  zu  mehr  und  mehr  ausgesprochenen  materiellen  Systemen  aus, 
deren  Kräfte  ein  geschlossenes  Ganze  darstellen  und  somit  um  einen 
Mittelpunkt  orientirt  sind.  Solche  Systeme  müssen  ihrer  Natur  nach 
bezüglich  der  Grösse  innerhalb  einer  untern  und  obern  Grenze 
bleiben  und  zerfallen,  wenn  sie  über  ein  bestimmtes  Maass  an- 
W'achsen,  nothwendig  in  kleinere  Systeme  (vgl.  auch  S.  92).  Es  ist 
begreiflich,  dass  unter  Mitwirkung  der  durch  andere  Ursachen  ge- 
bildeten Hautschicht  eine  freiliegende  Plasmamasse  gewöhnlich  in 
zwei  Hälften  sich  theilt. 

Die  Richtung,  in  der  die  Theilung  erfolgt,  ist  anfänglich  unbe- 
stimmt. Denn  die  Plasmamasse  hat  eine  kugelige  Gestalt  und  be- 
züglich ihrer  inneren  Configuration  verhalten  sich  alle  Richtungen 
identisch.  Es  wird  daher  von  irgend  einem  äusseren  Anstoss  ab- 
hängen, nach  welcher  Richtung  sie  sich  verlängere  und  in  zw^ei 
zerfalle ;  die  Theilung  der  successiven  Generationen  hat  noch  keine 
Beziehung  zu  einander.  Sowie  aber  mit  der  weiteren  phylogene- 
tischen Ausbildung  der  Configuration  des  Systems  die  Richtungen 
in  der  Plasmakugel  ungleich  werden,  so  wird  dadurch  ein  Einfluss 
auf  die  Theilung  ausgeübt.  Diese  ist  keine  Anpassung  mehr,  sondern 
in  den  wichtigsten  Beziehungen  eine  Folge  innerer  Ursachen  geworden. 

Die  Theilungsrichtung ,  resp.  die  Stelle,  wo  die  Einfaltung  der 
Hautschicht  erfolgt,  stellt  sich  jetzt  als  eine  erbliche  Eigenschaft 
dar;  sie  wird  einzig  durch  das  Idioplasma  bestimmt,  da  für  eine 
andere  mechanische  Ursache  in  den  Verhältnissen  der  Zelle  keine 
Möglichkeit  geboten  ist.  So  gibt  es  auf  der  tiefsten  Stufe  des 
Pflanzenreiches  einzellige  kugelige  Organismen,  die  sich  nach  der 
Theilung  von  einander  trennen  und  die  durch  nichts  anderes  von 
einander  verschieden  sind,  als  dass  bei  der  einen  Gattung  (Gloeothece, 
Synechococcus)  die  Teilung  immer  in  der  nämlichen  Richtung,  bei 
einer  anderen  (Merismopedia)  abwechselnd  in  den  zwei  Richtungen 
einer  Ebene  und  bei  der  dritten  (Chroococcus ,  Gloeocapsa)  abwech- 
selnd in  den  drei  Richtungen  des  Raumes  erfolgt,  so  dass,  wenn 
die  Zellen  sich  nicht  von  einander  trennen  oder  durch  Gallerte  lose 
verbunden  bleiben,  im  ersten  Fall  eine  Reihe,  im  zweiten  eine  ein- 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 


545 


faclie  Scliiclit  iiiul  im  drittcu  t'inc  kör[)erliclic  Ziisaininenordiiung 
von  Zellen  entsteht.  Fig.  12a  und  b  zeigen  den  ersten,  e,  d,  e,  f,  g 
successive  Zustände  des  zweiten  Falles. 


a 


(DO 


booo 


i_v  ^-J  L3 


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O  O  O  i 

Fig.  la. 


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lOOO 


Dieser  Cliarakter  der  Theilung,  welcher  sie  als  von  äusseren 
Ursachen  vollkommen  unabhängig  erscheinen  lässt,  erhält  sich  auf 
allen  Stufen  des  Pflanzenreiches.  Man  hat  die  Theilungsrichtung 
von  dem  vorausgehenden  Wachsthum  ableiten  wollen.  Es  ist  un- 
zw^eifelhaft,  dass  Wachsthum  und  Theilung  in  einer  gewissen  ursäch- 
lichen Beziehung  zu  einander  stehen,  da  beide  durch  das  Idioplasma 
zu  Stande  kommen.  Das  hindert  aber  nicht ,  dass  das  Verhältniss 
der  Theilungsrichtung  zu  dem  Wachsthum  und  den  Dimensionen 
der  Elterzelle  thatsächlich  ein  ungleiches  ist.  Indess  würde,  wenn 
auch  die  Theilungsrichtung  eine  Function  der  Wachsthumsrichtung 
wäre,  durch  diesen  Umstand  nichts  geändert  in  Bezug  auf  die  vor- 
liegende Frage;  denn  auch  die  Wachsthumsrichtung  wird  in  den 
fraglichen  Fällen  von  äusseren  Ursachen  nicht  beeinflusst. 

Wenn  in  dem  vorhin  angeführten  Beisjjiel,  wo  die  kugeligen 
Zellen  einzeln  im  Wasser  liegen,  das  Wachsthum  das  eine  Mal 
parallel  zu  der  vorausgehenden  Wand,  das  andere  Mal  parallel  dieser 
Wand,  aber  rechtwinklig  zur  vorvorigen  Wand,  das  dritte  Mal  recht- 
winklig zur  vorigen  und  zur  vorvorigen  Wand  erfolgt,  so  sind  es 
nothwendig  jedes  Mi\\  im  Idioplasma  liegende  und  mit  demselben 
vererbte  Anlagen,  welche  diese  Wachsthumsrichtungen  und  somit 
auch  die  Theilungsrichtungen  beherrschen.  Audi  ihr  Ursprung 
lässt  sich  nicht  von  äusseren  Einflüssen  ableiten,  sondern  bloss  von 


346  VII.  Pliylogenetisclie  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

eigenthünilich  verschiedenen  Anordnungen  der  Micelle,  welche  ))ald 
ein  Beharren  der  Wachsthumsrichtung,  bald  einen  ein-  oder  zwei- 
maligen Wechsel  dersell)en  ])ewirkten.  Dadurch  wird  nicht  aus- 
geschlossen, dass  die  Theilungsrichtung  in  gewissen  Fällen  auf  allen 
Stufen  des  Reiches  durch  äussere  Einflüsse  mitbestimmt  worden 
sei.  —  Auch  die  Grösse  der  ursprünglichen  Plasmamassen,  bei  der 
die  Theilung  durch  Einfaltung  der  Hautschicht  eintrat,  war  wenigstens 
theilweise  eine  Folge  innerer  Ursachen,  wobei  die  äusseren  Verhältnisse 
allerdings  ihre  Mitwirkung  geltend  machten,  so  dass  beispielsweise 
die  Ungleichheit  im  Volumen  der  einzelligen  Pflanzen,  welche,  selbst 
bei  Ausschluss  der  durch  Scheitelwachsthum  sich  verlängernden  Algen 
(Siphoneen)  und  Pilze,  bis  auf  das  Millionenfache  steigt,  vielleicht 
eben  so  sehr  als  eine  Anpassungsersclieinung  zu  betrachten  ist. 

Der  geschilderte  Vorgang  der  Theilung  reicht,  wie  ich  schon 
angedeutet  habe,  zur  Erklärung  der  betreffenden  Erscheinungen  für 
das  ganze  Pflanzenreich  und  wohl  auch  für  das  Thierreich  aus. 
Es  gibt  Fälle,  wo  man  die  Einfaltung  deutlich  verfolgen  kann, 
besonders  wenn  die  entstehende  Scheidewand  mit  hineinwächst; 
andere  Fälle  dagegen,  wo  sie  sich  vollzieht,  ohne  dass  man  wegen 
der  ausserordentlichen  Dünnheit  der  Hautschicht  und  wegen  ihrer 
geringen  optischen  Verschiedenheit  vom  angrenzenden  Plasma  etwas 
zu  sehen  vermag.  Auch  mit  den  durch  die  neueren  Beobachtungen 
Strasburger 's  und  Flemming's  festgestellten  Thatsachen  ist 
der  Process  nicht  im  Widerspruch,  wohl  aber  mit  den  Deutungen, 
welche  dieselben  erfahren  haben  und  die  keineswegs  nothwendig 
sind,  sowde  sie  auch  einer  Analyse  der  micellarphysiologischen  und 
mechanischen  Möglichkeiten  schwerlich  Stand  halten. 

5.  Die  Hautschicht  erzeugt,  wo  sie  an  äussere  Me- 
dien oder  an  andere  Hautschichten  anstösst,  einen  aus 
nicht  plasmatischen  Substanzen  bestehenden  Ueber- 
zug  (Zellmembran),  welcher  die  Zellen  von  einander 
trennt,  und  der  bei  der  Theilung  gleichzeitig  mit  der 
Einfaltung   der  Hautschicht   sich    zu   bilden   anfängt. 

Die  nicht  plasmatische  Membran  war  jedenfalls  schon  im  pro- 
bialen  Reich  vorhanden  und  ging  dann  auf  Pflanzen  und  Thiere 
über.  Wir  müssen  annehmen,  dass  sie,  allerdings  äusserst  dünn 
und  weich,  auch  bei  der  Entstehung  der  sogenannten  nackten  Zellen 
und  stets  bei  der  Einfaltung  der  Hautschicht  vorkomme.    Denn  bei 


VII.  Pliylogenetische  Eiitwicklung.sgesetze  des  Pflanzeru'eiches.  347 

der  bekannten  halbflüssigen  Beschaffenheit  des  Plasmas,  die  Haut- 
schicht nicht  ausgenommen,  müssten  nackte  Zellen,  die  in  einer 
Elterzelle  gedrängt  beisammen  liegen,  ebenso  die  beiden  Blätter  der 
eingefalteten  Hautschicht  zusammenfliessen ,  wenn  nicht  eine  noch 
so  dünne  nichtplasmatische  Substanz  sie  trennte.  Das  Vorhanden- 
sein einer  solchen  Substanz  ergibt  sich  auch  deutlich  aus  dem 
Umstände,  dass  man  meistens  eine  trennende  Linie  wahrnimmt,  die 
nichts  anderes  sein  kann,  als  eine  dünne  Lage  von  optisch  ver- 
schiedener Masse. 

Die  Membranbildung  ist  eine  Anpassungserscheinung,  die  ur- 
sprünglich durch  den  Reiz  der  äusseren  Medien  auf  die  Hautschicht 
des  Plasmas  hervorgerufen  wurde,  dann  aber  durch  die  entsprechende 
Ausprägung  des  Idioplasmas  erblich  geworden  ist. 

6.  Nach  der  Theilung  sind  die  beiden  Hälften 
(Zellen)  zunächst  mit  einander  verbunden.  Im  pro- 
bialen  Reich  und  bei  den  einzelligen  Organismen 
trennen  sie  sich  meistens  von  einander,  bevor  aber- 
malige Theilung  eintritt.  Bei  den  mehrzelligen  Orga- 
nismen bleiben  sie  innig  zu  einem  Gewebe  vereinigt; 
Trennung  oder  Ablösung  findet  erst  bei  den  Zellen 
der  letzten   Ordnung   statt. 

Diese  Erscheinungen  gehören  nicht  zu  den  Anpassungen,  indem 
sie  unabhängig  von  äusseren  Einflüssen  entstanden  und  zu  erblicher 
Beständigkeit  gelangt  sind.  —  Was  das  mechanische  Zustandekommen 
betrifft,  so  hängt  dasselbe  wesentlich  von  der  Beschaffenheit  der 
zwischen  den  Zellen  befindlichen  Membran  ab.  Hat  dieselbe  eine 
weiche  schleimige  Consistenz,  so  dass  die  Adhäsion  sehr  gering  ist, 
so  erfolgt  die  Trennung  lediglich  durch  das  physikalische  Bestreben 
der  Plasmamassen  (Zellen)  sich  abzurunden  und  durch  die  mecha- 
nische Einwirkung  des  umgebenden  Medimiis  (Strömungen,  Stösse 
u.  s.  w.).  Ist  die  Membran  aber  von  festerer  Beschaffenheit,  so  sind 
zur  Trennung  noch  besondere  Veränderungen  in  derselben,  welche 
durch  das  Ernährungsplasma  unter  dem  Einfluss  des  Idioplasmas 
bedingt  werden ,  nothwendig.  Entweder  wird  die  Mittellamelle  der 
Scheidewand  so  weich,  dass  dann  das  Abrundungsbestreben  und 
die  mechanische  Aktion  des  Mediums  zum  Losreissen  genügen. 
Oder  dieselbe  erlangt  nicht  die  hierzu  erforderliche  Weichheit ;  dann 
muss  noch  eine  selbständige  Wölbung  der  Seitenlamellen  zu  Hülfe 


348  ^'II'  Pliylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

kommen.  Die  letzteren  wölben  sich  gegen  einander,  wenn  ihr  Flächen- 
wachsthuni  vom  Cinitrum  nach  der  Peripherie  liin  zunimmt,  wobei  eine 
hinreichend  feste  Bescliaffenheit  ihrer  Sul)stanz  und  eine  regelmässige 
Anordnung  der  Membranmicelle  vorausgesetzt  wird.  —  In  besonderen 
Fällen  kommt  die  Trennung  auch  dadurch  zu  Stande,  dass  der  ganze 
Inhalt  aus  der  ^lembran  ausschlüi)lt  und  als  nackte  Zelle  frei  wird. 

Die  eben  gegebene  Darstellung  der  mechanischen  Vorgänge  bei 
der  Ti-ennung  der  Zellen  entspricht  den  jetzigen  Vorstellungen  über 
die  Vereinigung  derselben.  Ich  glaube  jedoch,  dass  damit  nicht  der 
ganze  Process  erschöpft  ist.  Wie  ich  bereits  bei  Anlass  der  Ueber- 
tragung  idioplastischer  Anlagen  an  die  verschiedenen  Theile  des 
Organismus  ausgeführt  habe,  liegen  die  Zellen  eines  Gewebes  wahr- 
scheinlich nicht  bloss  unmittelbar  neben  einander,  so  dass  zwischen 
ihnen  ein  diosmotischer  Austausch  von  gelösten  Stoffen  möglich 
ist.  Sondern  die  Zelleninhalte  selbst  sind  in  Communication,  indem 
die  Wand  siebartig  von  kleinen  Löchern  durchljohrt  ist,  durch  welche 
das  Plasma  entweder  übertreten  kann  oder  doch  in  direkter  Berührung 
sich  befindet.  Der  ganze  Organismus  würde  also  aus  kleinen  mit 
Inhalt  gefüllten  Höhlungen  bestehen,  welche  unter  einander  com- 
municiren,  und  das  Zerfallen  in  Zellen  oder  die  Ablösung  von  Zellen 
müsste  damit  beginnen,  dass  diese  Communicationen  unterbrochen 
werden,  worauf  dann  die  geschilderten  Vorgänge  in  der  Membran 
eintreten. 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  Zellen  vereinigt  sind,  ist  auch 
von  besonderer  Wichtigkeit  für  die  Unterscheidung  von  ein-  und 
vielzelligen  Organismen.  Die  einzelligen  Pflanzen  kommen  häufig 
zu  Colonien  vereinigt  vor,  wobei  sie  zuweilen  gerade  so  wie  in 
einem  Zellgew^ebe  neben  einander  liegen.  Wenn  meine  Vermuthung 
über  die  Gewebebildung  richtig  ist,  so  würde  sich  die  Zellreihe,  zu 
welcher  sich  einzellige  Pflanzen  an  einander  legen  (Desmidium, 
manche  Diatomeen  u.  s.  w.),  dadurch  von  der  einreihigen  mehr- 
zelligen Pflanze  (Zygnemaceen  u.  s.  w.)  unterscheiden,  dass  bei  jener 
die  siebartigen  Durchbrechungen  der  Scheidewände  mangelten,  bei 
diesen  aber  vorhanden  wären.  Nach  dieser  Anschauung  wäre  die 
vielzellige  Pflanze  ein  zusammenhängendes  System  von  Plasma,  aus 
ebenso  vielen  Theilsystemen  bestehend,  als  Zellen  vorhanden  sind,  — 
und  die  Fortpflanzung  bestände  darin,  dass  je  einTheilsystem  vonPlasma 
als   Fortpflanzungszelle   seine   vollständige   Selbständigkeit  erlangte. 


VII.  Phyloffenetische  Kiitwicklungsgesetzo  des  Pliaiizonreiches.  349 

7.  In  dem  (formlosen)  Plasma  gewisser  Individuen 
des  probialen  Reiches  ])esondern  sieh  im  Innern  ein- 
zelne Plasmatropi'en.  Sie  bilden  sich  auf  Kosten  des 
u  m  g  e  b  e  n  d  e  n  absterbenden  Fla  s  m  a  aus,  erzeugen  eine 
umhüllende  Hautschicht  und  werden,  sowie  das  Eiter- 
individuum zu  Grunde  geht,  zu  selbständigen  Indi- 
viduen. Diese  Erscheinung  vererbt  sich  auf  Pflanzen 
und   Thiere   als   freie   Zellbildung. 

In  dem  probialen  Reich  entstanden  nach  und  nach  verschiedene 
Sippen  theils  durch  die  selbständige  divergirende  Umbildung  in 
der  Configuration  des  primordialen  Plasmas  theils  durch  ungleiche 
Anpassungen.  Unter  diesen  Sippen  gab  es  einerseits  solche  von 
geringerer  Grösse  und  festerer  Consistenz  mit  derberer  Hautschicht, 
andrerseits  grössere  aus  weicherem  Plasma  mit  zarterer  Haut.  Beim 
Eintritt  einer  relativen  Vegetationsruhe,  die  von  Temperaturerniedri- 
gung ,  von  theilweisem  Austrocknen ,  von  Nahrungsentziehung  und 
dergleichen  bedingt  war,  litten  die  letzteren  Sippen  mehr  als  die 
ersteren.  Die  Individuen  der  am  wenigsten  widerstandsfähigen  gaben 
ab  und  zu  kleine  Partien,  deren  Vegetation  am  meisten  gestört  wairde, 
preis,  ergänzten  an  der  Grenze  derselben  ihre  Hautschicht  und  ver- 
wendeten die  aus  der  preisgegebenen  Partie  aufgenommene  Nahrung 
zur  Verdichtung  ihrer  Substanz. 

Die  Zeit  der  Vegetationsruhe  war  anfänglich  von  der  Vegetations- 
periode wenig  verschieden ;  ihre  Ungunst  steigerte  sich  mit  der 
langsamen  Ausprägung  der  Jahreszeiten.  Zugleich  wurden  einzelne 
Sippen  durch  zunehmende  feinere  Organisation  ihrer  Substanz  und 
ilirer  Hautschicht  noch  weniger  widerstandsfähig  und  verloren  beim 
Aufhören  der  Vegetationszeit  immer  grössere  Partien,  bis  zuletzt 
nur  eine  oder  einige  innere  Partien  lebensfähig  blieben ,  die  dann 
aus  der  absterbenden  Masse  sich  ausreichend  verdichteten,  mn  die 
A^egetationsruhe  ohne  Nachtheil  zu  überdauern.  Dieser  Vorgang, 
durch  einen  äusseren  Reiz  veranlasst,  wurde  erblich,  —  und  damit 
war  die  freie  Zellbildung,  w^enn  wir  hier  schon  von  Zellen  sprechen 
dürfen,  gegeben  und  zugleich  auch  ein  Generationswechsel  für  die 
betreffenden  Sippen,  indem  beim  Beginn  der  nächsten  A^egetationszeit 
die  Theilung  wieder  begann. 

Die  freie  Zellbildung  und  der  erste  Generationswechsel  waren 
also  ursprünglich  Anpassungserscheinungen,  und  zwar  an  die  jähr- 


350  VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

liehe  Periodicität  der  äusseren  Einflüsse.  Die  erste  Veränderung 
dazu  erscheint  ledighch  als  eine  unmittelbare  Folge  der  letzteren, 
indem  unter  den  ungünstigeren  Ernährungsverhältnissen  nur  mehr 
ein  Theil  des  Plasmatropfens  sich  der  Nahrung  bemächtigte,  mid 
die  übrige  Masse  zu  Grunde  ging.  Der  zurückbleibende  lebenskräftige 
Theil  verhielt  sich  aber  etwas  anders  als  das  Plasma  der  früheren 
Generationen,  da  er  nicht  bloss  unorganische  Nahrung  von  aussen 
aufnahm  und  assimilirte,  wie  es  bisher  geschah,  sondern  auch 
gewisse  Verbindungen  aus  dem  absterbenden  Plasma  bezog  und, 
was  früher  ebenfalls  nicht  vorgekommen  war,  eine  neue  Hautschicht 
bildete.  Diese  neuen  Functionen,  die  sich  jährlich  wiederholten, 
mussten  auch  das  Idioplasma  etwas  umbilden  und  eine  erbliche 
Disposition  erzeugen,  vermöge  welcher  das  Plasma  zur  freien  Zell- 
bildung immer  geschickter  wurde  und  zuletzt  dieselbe,  auf  eine 
schwache  Anregung  von  aussen,  selbständig  durchführte. 

Durch  lange  Zeiträume  trat  die  freie  Zellbildung  stets  beim 
Einti'itt  der  ungünstigen  Jahreszeit,  welche  die  Vegetationsruhe 
bedingte,  ein,  und  dies  mag  jetzt  noch  bei  gewissen  sehr  einfachen 
Pflanzen  der  Fall  sein.  Bei  etwas  complicirteren  Organismen  mit 
einjähriger  Ontogenie  traf  mit  der  Vegetationsruhe  der  Schluss  der 
ontogenetischen  Entwicklungsgeschichte  zusammen,  so  dass  die  Zeit 
der  freien  Zellbildung  nicht  bloss  durch  die  äusseren  Umstände, 
sondern  auch  durch  die  ererbten  Anlagen,  also  durch  zwei  Ursachen 
bestimmt  wurde.  Bald  erwies  sich  die  letztere  Ursache  als  die 
stärkere,  und  als  die  ontogenetische  Entwicklungsgeschichte  im 
weiteren  Verlauf  der  jDhylogenetischen  Stämme  nicht  mehr  mit  der 
jährlichen  Periodicität  übereinstimmte,  so  trat  auch  die  freie  Zell- 
bildung, der  Ontogenie  entsprechend,  zu  jeder  Jahreszeit  ein. 

Wir  haben  hier  ein  Beispiel,  —  das  sich  übrigens,  namentlich 
bei  Fortpflanzungserscheinungen,  mehrfach  wiederholt,  —  wde  ein 
Vorgang,  der  ursprünglich  durch  äussere  Ursachen  herbeigeführt 
wurde  und  durchaus  sich  als  Anpassung  an  dieselben  kundgab,  nach 
und  nach  in  dem  sich  umbildenden  Idioplasma  so  befestigt  wird, 
dass  er  nun  unabhängig  von  der  Ursache,  die  ihn  erzeugt  hat,  und 
im  Widerspruch  mit  derselben  sich  verwirklichen  kann. 


VII.  Phylogenetische  Eiit  ^\^f•kh^ngsgesetze  des  Pflanzenreiches.  351 

Die  in  dem  Vorhergehenden  geschilderten  7  Erscheinungen 
(§  1 — 7)  fanden  schon  im  probialen  Reiche  statt  und  wurden  auf 
die  ersten  Pflanzen  und  Thiere  vererbt.  Sie  dauern  während  der 
ganzen  Entwicklungsgescliichte  der  Reiche  an  und  vemiittehi  alle 
ontogenetischen  und  phylogenetischen  Vorgänge  derselben.  Ein- 
lagerung von  Micellen  in  die  organisirte  Substanz  (§  1)  unterVermehrung 
der  Functionen  (§  2),  ferner  Theilung  der  Zellen  (§  4)  mit  der  durch 
die  Hautschichtbildung  (§  3)  und  die  Membranl)ildung  (§  5)  ermög- 
lichten relativen  Selbstäijdigkeit  derselben  stellen  das  Wachsthum 
der  Organismen  dar,  während  die  Lostrennung  früher  verbundener 
Zellen  (§  6)  und  die  freie  Zellbildung  (§  7),  welche  beide  Vorgänge 
der  Fortj)flanzung  angehören,  der  individuellen  Wachsthumsgeschichte 
eine  frühere  oder  spätere  Grenze  setzen.  Eben  so  wie  die  genannten  Er- 
scheinungen die  Ontogenien  mit  ihrer  nothwendigen  Begrenzung  zu 
Stande  bringen,  so  bilden  sie  auch  die  Elemente  für  den  phjdo- 
genetischen  Fortschritt. 

Ich  \xi\\  nun  versuchen,  die  Gesetze  zu  entwickeln,  welche  den 
genannten  Fortschritt  im  Pflanzenreiche  beherrschen.  In  diesen 
Entwicklungsgesetzen  soll  der  geregelte  Verlauf  der  Abstammungs- 
geschichte ausgesprochen  sein ;  sie  sollen  die  Nomien  angeben,  nach 
denen  aus  kugeligen  mikroskopisch  kleinen  einzelligen  Pflänzchen 
die  aus  vielen  Millionen  von  Zellen  bestehenden  und  reich  geglie- 
derten höchsten  Gewächse  entstehen.  Diese  Gesetze  gehören  zwei 
verschiedenen  Gebieten  an. 

1.  Die  einen  betreffen  diejenigen  Veränderungen  der  Pflanzen 
im  entfalteten  Zustande,  welche  dem  selbständigen  Fortschritt  desidio- 
plasmatischen  Systems  zu  einer  immer  complicirteren  Configuration 
entsprechen  (Ges.  I — VII). 

2.  Die  anderen  umfassen  die  durch  äussere  Einflüsse  hervor- 
gebrachten Anpassungen  (Ges.  VIII). 

Unter  den  Gesetzen  der  ersten  Kategorie  befinden  sich  einige, 
die  uns  zeigen,  auf  welche  Weise  die  individuelle  Entwicklungs- 
geschichte von  Stufe  zu  Stufe  um  einen  Schritt  länger  wird.  Diese 
Schritte  werden  entweder  am  Ende  angefügt,  so  dass  das  letzte 
Stück  der  Ontogenie  auch  der  letzte  und  jüngste  Schritt  der  Phylo- 
genie  ist  (Ges.  I — III).  Oder  sie  werden  irgendwo  früher  in  die 
Ontogenie  eingeschoben,  so  dass  der  letzte  Zuwachs  der  Phylogenie 
irgend  einem  Stücke   zwischen  Anfang   und  Schluss   der  Ontogenie 


352  ^'11-  Pliylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreichee. 

entspricht  (Ges.  V).  Um  ein  Bild  hierfür  zu  haben,  kann  die  erstere 
Art  des  Fortschrittes  dem  Scheitelwach sthuni,  die  letztere  dem  inter- 
calaren  Längenwachsthum  der  Organe  durch  Zellenbildung  verglichen 
werden.  Ixili  will  die  beiden  Vorgänge  auch  als  terminale  und  inter- 
calare  Zunahme  unterscheiden.  Die  Gesetze  des  terminalen  Zuwachses 
geben  uns  Aufschluss  über  die  Entstehung  der  wichtigsten  Organi- 
sationsverhältnisse. Sie  lassen  sich  als  folgendes  allgemeines  Gesetz 
zusammenfassen : 

Die  reproductive  Erscheinung  einer  Stufe  wird  auf 
der  höheren  Stufe  vegetativ.  Die  Zellen,  die  bei  der 
e  i  n  f  a  c  h  e  r  e  n  P  f  1  a  n  z  e  sich  a  1  s  K  e  i  m  e  lostrennen  und  die 
Anfänge  neuer  Individuen  darstellen,  werden  bei  der 
nächst  höheren  Pflanze  Theil  des  individuellen  Orga- 
nismus, und  verlängern  die  Ontogenie  um  einen  ent- 
s  p  r  e  c  h  e  n  d  e  n  S  c  h  r  i  1 1. 

Dies  ist  das  fundamentale  Gesetz  der  organischen  Entwick- 
lung, ohne  welches  die  Organismen  nicht  aus  dem  einzelligen  Zu- 
stande herausgekommen  wären.  Es  verwirklicht  sich  auf  dreierlei 
Weise : 

I.  Die  durch  Theilung  entstehenden  Fortpflanzungszellen  werden 
zu  Gewebezellen. 

II.  Die  durch  Sprossung  (Abschnürung)  entstehenden  Fort- 
pflanzungszellen werden  zu  Zellästen  oder  gegliederten  Zellfäden. 

III.  Die  durch  freie  Zellbildung  entstehenden  Fortpflanzungs- 
zellen werden  zu  Inhaltskörjjern  der  Zelle. 

Ich  bemerke  zum  Voraus,  dass  diese  Gesetze  nicht  etwa  als 
naturphilosophische  Analogien  zu  betrachten  sind,  sondern  als  reale 
Vorgänge,  deren  Zutreffen  ich  bis  auf  das  letzte  Molekül  in  Anspruch 
nehme.  Das  allgemeine  Gesetz  wurde  von  mir  schon  im  Jahre  1853 
ausgesprochen  '),  und  zwar  in  folgender  Weise : 

»Ein  erstes  Gesetz  .  .  .  lautet,  dass  eine  höhere  Art  oder  Gruppe 
die  Erscheinungen  der  tiefern  wiederholt,  aber  darüber  hinaus  zu 
einer  neuen  Erscheinung  fortschreitet.« 

»Dieses  erste  Gesetz  findet  seine  Erklärung  und  seinen  Ursprung 
aus  einem  zweiten,  welches  mir  überhaupt  für  die  Aufeinanderfolge 


*)    Systematische    Uebersicht    der.  Erscheinungen    im    Pflanzenreich.      Frei- 
burg i.  B.  1853. 


VII.  Pliylogenetische  EnUvicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  35o 

der  Gruppen  im  Pflanzenreiche  von  der  höchsten  Bedeutung  zu  sein 
scheint.  Es  heisst:  Die  reproductive  Erscheinung  einer  Stufe  wird 
auf  einer  liöhern  Stufe  vegetativ.  Dasselbe  bewährt  sich  mit  Rück- 
sicht auf  die  Bildung  der  Zelle,  des  Organs  und  den  Aufbau  des 
Pflanzenstockes.  Der  nämliche  Vorgang,  Avelcher  bei  der  niedern 
Gruppe  die  Fortpflanzung  vermitteln  hilft,  stellt  bei  einer  höhern 
Gruppe  bloss  eine  Seite  der  vegetativen  Entwicklung  dar,  indess 
hier  ein  neues,  der  tieferen  Gruppe  mangelndes  Moment  auftritt, 
um  die  neuen  Individuen  zu  erzeugen.« 

Unter  den  zahlreichen  zur  Erläuterung  dienenden  Thatsachen 
habe  ich  damals  schon  fast  alle,  die  ich  jetzt  als  Belege  benützen 
werde,  aufgeführt.  Das  Gesetz  ist  von  den  Botanikern,  die  in  jenen 
Zeiten  für  solche  Fragen  noch  kein  Interesse  hatten,  und  später 
von  den  Darwinisten  unberücksichtigt  geblieben.  Diese  hätten  es 
auch  nicht  berücksichtigen  können,  da  die  Thatsachen  nicht  zu 
widerlegen  waren,  und  da  ja  der  gesetzmässige  Fortschritt  in  meinem 
Sinne  mit  der  Theorie  der  natürlichen  Zuchtwahl  aus  unbestimmten 
Veränderungen  im  Widerspruche  steht. 

Was  die  Beweise  für  die  Entwicklungsgesetze  betrifft,  so  ist  vor 
allem  daran  zu  erinnern,  dass  jedenfalls  nur  sehr  wenige,  vielleicht 
keine  einzige  jetzt  lebende  Art  von  einer  andern  jetzt  lebenden  a1)- 
stammt.  Das  Studium  der  jetzigen  Verwandten  einer  Art  gibt  uns 
aber  die  einzige  Möglichkeit,  um  bestimmt  zu  wissen,  wie  ihre  Vor- 
fahren ausgesehen  haben  müssen.  Leider  sind  aber  in  dem  jetzigen 
i*flanzenreiche  auch  die  natürlichen  Familien,  denen  die  Vorfahren 
angehören  mussten,  nur  spärlicli  vertreten.  Wir  können  wohl  sagen, 
dass  kaum  der  hundertste  Theil  aller  Familien  gegenwärtig  existirt, 
welche  nothwendig  wären ,  um  die  Abstammungslinien  zu  vervoll- 
ständigen. Weini  man  die  Lücken  überhaupt  durcli  IJebergangs- 
stufen  ausfüllen  will,  so  kann  das  nur  durch  Interpolation  geschehen, 
was  übrigens  mit  einiger  Aussicht  auf  Erfolg  erst  dann  versucht 
werden  kann,  wenn  alle  Entwicklungsgesetze  und  iln^e  Anwendung 
sehr  genau  erkannt  sind. 

Die  zwei  grössten  und  für  die  Abstammungslehre  des  Pflanzen- 
reiches empfindlichsten  Lücken  befinden  sich  zwischen  den  faden- 
förmigen Algen  (Confervoiden)  und  den  IMoosen  einerseits,  zwischen 
den  letzteren  und  den  Phanerogamen  sanmit  Gefässkryptogamen 
andrerseits.    Die  Abstammungsreihe  oder  vielmehr  der  Büschel  von 

V.  Xägeli,  Abstammungslehre  23 


S54 


VII.  Phylogenetische  Entwickkingsgesetze  des  Pflanzenreiches. 


Cl:) 


parallelen  Abstammungsreihen,  welche  von  den  Confervoiden  durch 
die  Moose  zu  den  Gefässpflanzen  aufsteigen,  verschweigen  in  den 
beiden  Lücken  viel  mehr  als  sie  in  dem  Anfangs-,  dem  kurzen 
Mittel-  und  dem  Endstück  offenbaren.  Unter  den  Süsswasseralgen 
gibt  es  eine  einzige  Gattung  (Schizomeris) ,  welche  einen  aus  wirk- 
lichem Zellgewebe  bestehenden  Körper  besitzt;  alle  übrigen,  selbst 
Batrachospermum  und  Ohara  bestehen  nur  aus  eng  an  einander 
gelegten  Fäden,  und  das  Gewebe  von  Lemanea  ist  wenigstens  auf 
eine  solche  Entstehung  zurückzuführen.  Unter  der  ganzen  Gruppe 
der  Moose  gibt  es  nur  einige  Lebermoose,  welche  Aehnlichkeit  mit 
den  ausgestorbenen  Gliedern  der  zu  den  höhern  Pflanzen  führenden 

Abstammungsreihen  in  An- 
V^  Spruch  nehmen  können. 

Was  die  Lücke  über 
den  Confervoiden  betrifft,  so 
steigen  zwar  die  Fucoiden 
und  Florideen  von  denselben 
aus  ziemlich  hoch  auf ;  aber 
es  sind  dies  Weiterbildungen 
in  besonderen  Richtungen, 
welche  nicht  zu  den  Leber- 
moosen hinüberführen.  Das- 
selbe gilt  von  der  Klasse 
der  Moose,  welche  zwar  von 
den  niedrigsten  Lebermoosen 
zu  höheren  Entwicklungs- 
formen sich  erhebt,  aber 
durchaus  nicht  in  der  Rich- 
tung zu  den  Gefässkrypto- 
gamen  hin  verläuft.  Wären 
die  Lücken  zwischen  den 
Confervoiden  und  den  Leber- 
moosen und  zwischen  diesen 
und  den  Gefässkryptogamen 
mit  jetzt  noch  lebendenPflan- 
zen  ausgefüllt,  so  ständen  die 
Beispiele  für  die  ausgesprochenen  Gesetze  I— III  viel  reichlicher  zu 
Gebot,  als  es.  jetzt  der  Fall  ist. 


Fig.   13. 


Vn.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  355 

Die  eben  angeführten  phylogenetischen  Reihen  sind  in  Fig.  13 
graphisch  dargestellt.  C  bedeutet  die  Sippe  der  Confervoiden.  Von 
derselben  gehen  in  drei  Richtungen  Al^stammungslinien  aus;  die 
einen  führen  zu  den  Fucoiden  (F),  die  andern  zu  den  Florideen  (Fl), 
die  dritte  zu  den  niedrigsten  Lebermoosen  (H).  Die  Reihen  der  zwei 
ersten  Richtungen  sind  zum  Theil  erhalten  und  daher  durch  aus 
gezogene  Linien  wiedergegeben;  die  Reihe  der  dritten  Richtung  ist 
als  ausgestorbene  durch  eine  punktirte  Linie  angedeutet.  Von  den 
niedrigsten  Lebermoosen  (H)  steigen  nach  zwei  Richtungen  Ab- 
stammungslinien auf;  die  einen  Reihen,  die  theilweise  noch  leben, 
gehen  zu  den  höheren  Moosen  (M);  die  anderen,  von  denen  nichts 
mehr  erhalten  ist,  führen  zu  den  niedrigsten  Gefässpflanzen  (V). 

Ich  habe  das  allgemeine  Entwicklungsgesetz  der  organischen 
Reiche  mit  Rücksicht  auf  den  Fortschritt,  welchen  die  entfalteten 
Organismen  zeigen,  ausgesprochen:  Die  reproductive  Erscheinung 
(der  sich  ablösende  Keim)  einer  Stufe  mrd  auf  der  nächst  höheren 
Stufe  vegetativ  (zu  einem  integrirenden  Theil  des  individuellen  Orga- 
nismus). Das  Gesetz  lässt  sich  auch  als  idioplasmatischer  Vorgang 
ausdrücken.  Der  entfaltete  Zustand  ist  die  Folge  der  Bewegungen 
im  Idioplasma;  wenn  ein  Rej)roductionsprocess  sich  verwirklicht, 
so  gelangen  nach  einander  verschiedene  Anlagen  zur  Entfaltung, 
und  zuletzt  diejenige  Anlage,  welche  die  Lostrennung  oder  wenig- 
stens die  morphologische  Selbständigkeit  der  Keimzellen  bedingt. 
Wenn  nun  das  Gesetz  auf  das  Verhalten  des  Idioplasmas  gegründet 
wird,  so  heisst  es: 

Die  idio plasmatischen  Anlagen,  welche  die  Bildung 
der  Keime  bewirken  und  somit  der  allerletzten,  die 
Ablösung  der  Keime  bedingenden  Anlage  vorausgehen, 
entfalten  sich  auf  der  niederen  Stufe  nur  einmal  und 
bedingen  mit  der  letzten  Anlage  zusammen  die  Fort- 
pflanzung. Auf  der  höheren  Stufe  w^erden  sie,  mit  Aus- 
schluss der  allerletzten  Anlage,  wiederholt  erregt  und 
zur  Entfaltung  gebracht,  wodurch  die  Ontogenie  einen 
entsprechenden   Fortschritt   erfährt. 

Oder  noch  allgemeiner  gefasst: 

Die  allerletzte  Anlage  der  Ontogenie,  welche  die  Ab- 
lösung der  Keime  bedingt,  tritt  auf  der  höheren  Stufe 
um  eine  oder  mehrere  Zellengenerationon  später  ein. 

23* 


^56  Vli.  Phylogenetische  Entwicldungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Die  phylogenetische  Veränderung  ist  also  möglichst  gering,  indem 
die  Beschall'enheit  des  Idioplasmas  sich  nur  so  weit  umbildet,  dass 
ein  Complex  von  Anlagen  statt  einmal  sich  mehrmals  entfaltet,  und 
dass  die  Entfaltungsproducte  desswegen,  Aveil  die  den  Schluss  dieses 
Complexes  bildende  Anlage  latent  bleibt,  selbstverständlich  einen 
etwas  anderen,  nämlich  vegetativen  Charakter  annehmen.  Die« Ver- 
längerung, welche  dadurch  der  Ontogenie  zugefügt  wird,  ist  ur- 
sprünglicli  rein  quantitativer  Natur;  sie  wird  aber  in  jedem  Falle 
sehr  bald  etwas  Besonderes,  indem  der  neue  Zuwachs  der  Ontogenie 
einerseits  sich  mit  den  übrigen  Elementen  der  Ontogenie  ins  Gleich- 
gewicht setzt  und  andrerseits  durch  die  äusseren  Anpassungseinflüsse 
eigenthümlich  ausgeprägt  wird. 

Dass  eine  Anlage  oder  ein  Anlagencomplex  wiederholt  oder  an- 
dauernd zur  Entfaltung  kommt  und  dass  die  Zahl  der  Entfaltungen 
oder  die  Dauer  des  Entfaltungsprocesses  in  den  auf  einander  fol- 
genden Ontogenien  sich  ungleich  verhält,  ist  eine  im  Pflanzenreiche 
ganz  gewöhnliche  Erscheinung.  Gestattet  die  Beschafl^enheit  des 
Idioplasmas  einen  Wechsel  innerhalb  bestimmter  Grenzen,  so  hängt 
es  von  äusseren  Einwirkungen  ab,  ob  die  Entfaltung  innerhalb  dieser 
Grenzen  sich  mehr  oder  weniger  oft  wiederhole;  und  es  ist  begreif- 
lich, dass,  wenn  schon  die  Einwirkung  der  nicht  idioplasmatischen 
Substanzen  einen  solchen  Erfolg  hat,  eine  sehr  geringe  Aenderung 
im  Idioplasma  selbst  genügt,  um  das  zulässige  Maass  in  der  Dauer 
oder  Zahl  der  Erregungen  erblich,  also  phylogenetisch  zu  verändern. 

Das  allgemeine  Gesetz,  wie  es  S.  352  ausgesprochen  wurde,  gilt 
für  den  Fall,  dass  an  die  Ontogenie  ein  neues  Stück  gleichsam  ter- 
minal angefügt  wird ,  und  ist  dem  andern  Fall  entgegengesetzt ,  in 
welchem  die  neuen  Stücke  vor  dem  Ende  intercalar  in  die  Onto- 
genie eingeschaltet  werden  (S.  351).  Diese  Form  des  Ausdruckes 
ist  zutreffend,  wenn  die  entfalteten  Zustände  mit  einander  verglichen 
werden,  indem  die  sich  ablösenden  Keimzellen  der  niederen  Stufe  zur 
Vergrösserung  des  der  höheren  Stufe  angehörenden  Individuums 
dienen.  Sprechen  wir  dagegen  das  Gesetz  mit  Rücksiclit  auf  die 
idioplasmatischen  Vorgänge  aus,  so  köünen  wir  nicht  sagen,  dass 
ein  Stück  auf  das  Ende  der  Ontogenie  aufgesetzt  werde ;  denn  die 
allerletzte  Anlage,  welche  die  Ablösung  der  Keime  bedingt,  bleibt 
die  nämliche,  und  es  wird  nur  unmittelbar  vor  derselben  die  Reihe 
der  JOntfaltungen   verlängert.     Das   scheinbar  terminale  Wachsthum 


VII.  Phylogenetische  Entwioklitngsgesetze  des  Pflanzenreiches.  357 

der   Ontogenien   ist   also  in   aller   Strenge  ein   intercalares ,   welches 
vor  der  Entfaltung  der  allerletzten  Anlage  eintritt. 


I.  phylogenetisches  Gesetz. 

Die  durch  Th  eilung  entstehenden  geschlechtslosen 
Fortpflanzungszellen  hleihen  verbunden  und  werden 
zu   G  e  webe  Zellen. 

In  diesem  Gesetze  gelangt  das  eigentlich  gewebebildende  Princip 
zum  Ausdruck.  Zellen,  die  auf  der  niederen  Stufe  sich  von  einander 
trennen  und  zu  eben  so  vielen  Pfianzenindividuen  oder  Anfängen 
neuer  Individuen  werden,  bleiben  auf  der  höheren  Stufe  mit  einander 
verbunden  und  sind  bloss  Theile  eines  und  desselben  Individuums. 
Auf  diesem  Wege  gehen  die  einzelligen  in  mehrzellige  Individuen, 
ferner  Organe,  die  aus  einer  einzigen  Zelle,  einer  einfachen  Zellreihe 
oder  einer  einfachen  Zellschicht  bestehen,  in  körperliche  Gebilde  über. 

Den  Uebergang  von  einzelligen  Pflanzen  in  mehrzellige  können 
wir  deutlicli  wahrnehmen  bei  der  Vergleichung  der  Chroococcaceen 
mit  den  Nostochaceen ,  Oscillariaceen ,  Rivulariaceen  und  Scytone- 
maceen,  welche  alle  zusammen  die  Klasse  der  Nostochinae  aus- 
machen, bei  der  Vergleichung  der  Palmelhnen  (Protococcoiden)  mit 
den  Confervoiden  und  bei  der  A^'ergleichung  der  Desinidiaceen  mit 
den  Zygnemaceen.  Die  Klasse  der  Nostochinae  ist  deshalb  bemerkens- 
werth,  weil  die  einzelligen  und  die  mehrzelligen  einander  so  ähnlich 

J  LI  IE  N 

^O     oo     oooo   oooooooo 


f>  o     CO       axo         (xnnxD 

c   O       CD  OID  CllJ  NID 

Fig.  U. 

sind,  dass  man  die  ersteren  als  die  noch  Jetzt  lebenden  Erzeuger  der 
letzteren  in  Anspruch  zu  nehmen  geneigt  sein  kann.  Als  Beispiel 
füge  ich  in  Fig.   14  die  bildliche  Darstellung  a)  einer  Chroococcacee 


358  VU.  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

(Synechococcus  oder  Gloeothece),  b)  einer  Nostochacee  und  c)  einer 
Oscillariacee  bei,  je  in  4  auf  einander  folgenden  Generationen 
I,  II,  III,  IV  dargestellt. 

Bei  den  Chroococcaceen  (a)  können  die  Zellen,  nachdem  sie  sich 
von  einander  losgelöst  haben,  sich  im  Wasser  zerstreuen  oder  durch 
Gallerte  in  geringer  Entfernung  von  einander  festgehalten  werden. 
Bei  den  Nostochaceen  (b)  sind  die  mehr  oder  weniger  kugeligen 
Zellen  nur  mit  einer  kleineren  Stelle  der  Ol^erfläche,  bei  den  Oscil- 
lariaceen  (c)  sind  die  cylindrischen  Zellen  mit  den  ganzen  End- 
flächen verbunden. 

Vergleicht  man  alle  einzelligen  Pflanzen  mit  den  nächst  ver- 
wandten mehrzelligen,  so  findet  man  alle  möglichen  Zwischenstufen 
in  den  Merkmalen,  so  dass  es  eigentlich  unmöglich  wird,  einen 
strengen  Unterschied  zwischen  Einzelligkeit  und  Mehrzelligkeit  fest- 
zustellen. Die  Zellen  sind  mehr  oder  weniger  fest  mit  einander 
verbunden,  wohl  auch  ziemlich  weit  von  einander  entfernt  und 
durch  Plasmastränge  zusammenhängend,  —  und  man  ist  oft  im 
Zweifel,  ob  man  ein  mehrzelliges  Gebilde  als  eine  Colonie  einzelliger 
Individuen  oder  als  ein  mehrzelliges  Individuum  ansprechen  soll, 
da  schon  bei  unzweifelhaft  einzelligen  Pflanzen  (in  den  Coenobien 
von  Hydrodictyon  und  Pediastrum)  sehr  innige  Verwachsung  vor- 
kommen kann.  Ich  habe  daher  als  unterscheidendes  Merkmal 
zwischen  beiden  die  (noch  mangelnde  oder  bereits  eingetretene) 
Differenzirung  benutzt  und  die  Einzelligkeit  soweit  ausgedehnt,  als 
die  Zellen  in  einer  Gruppe  physiologisch  gleich  sind^).  Doch  ist 
dies  nur  ein  Nothbehelf.  Wo  die  bei  der  phylogenetischen  Um- 
wandlung sich  bildenden  Formen  noch  reichlich  vorhanden  sind, 
ist  eine  Sonderung  innerhalb  der  Abstammungsreihen  immer  mehr 
oder  weniger  willkürlich. 

Die  merkwürdige,  in  neuerer  Zeit  beobachtete  Erscheinung,  dass 
röhrenförmige  und  mehrzellige  Algen  zeitweise  in  einzellige,  soge- 
nannte Palmella-  und  Protococcus-Zustände  übergehen  können,  beweist 
nichts  dagegen,  dass  jene  Pflanzen,  wie  es  nach  dem  I.  und  IL  phylo- 
genetischen Gesetz  geschehen  soll ,  aus  einzelligen  entstanden  sind. 
Denn  wenn  auch  einzelne  einzellige  Formen  durch  jene  Beobach- 
tungen aus  der  Zahl  der  selbständigen  Sippen  gestrichen  wurden,  so 


')  Einzellige  Algen.    1849. 


Vn.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches 


350 


bleibt  doch  die  Mehrzahl  der  einzelligen  Organismen  unangefochten ; 
—  und  die  genannte  Erscheinung  wird  ^^elmehr  zur  Stütze  der 
phylogenetischen  Gesetze,  da  sie  als  ein  ontogenetischer  Rückschlag 
auf  die  frühere  phylogenetische  Stufe  zu  betrachten  ist. 

Als  Beispiel  dafür,  wie  in  vielzelligen  Pflanzen  durch  Xgv- 
einigung  der  Fortpflanzungszellen  der  früheren  Stufe  eine  compli- 
cirtere  Gewebestufe  erreicht  wird ,  will  ich  die  Verwandlung  einer 
Zellreihe  in  einen  cylindrischen  Zellkörper  anführen.  Die  Confer- 
voiden  sind  gegliederte  Fäden  und  pflanzen  sich  durch  Keimzellen 
fort,  die  zu  mehreren  innerhalb  der  Gliederzellen  entstehen.  Die 
Bildung  der  Keimzellen  erfolgt  in  verschiedener  Weise,  manchmal 
bloss  aus  dem  in  kleinere  Portionen  zerfallenden  Wandbeleg,  bei  den 
niedrigsten  Sippen  aber  sicher  durch  normale  Theilung  des  ganzen 
Zelleninhalts.  Die  Zellen  trennen  sich  dann  von  einander  und 
treten  aus  der  Elterzelle  heraus,  oder  werden  in  irgend  einer  anderen 
Art  fi'ei;  aus  ihnen  erwachsen  neue  gleiche  Pflanzen  von  faden- 
förmiger Beschaffenheit.  Wird  diese  Zellbildung  vegetativ,  so  ent- 
steht  ein   cylindrischer   Zellkörj^er,    wie   wir   ihn    unter   den    Süss- 


Fig.  15. 


wasseralgen  Ijei  Schizomeris  finden,  die  im  Jugendzustande  von  einer 
Confervoide  nicht  zu  unterscheiden  ist.  In  dieser  Weise  ist  auch 
die  Meeralgengattung  Enteromorpha  entstanden.     Dieselbe   tritt   im 


360  ^'^II-  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

jugendlichen  Zustande  ebenfalls  als  Zellreihe  auf,  die  sich  durch 
Theilung  in  den  Gliederzellen  in  einen  Zellkörper  von  einfachstem 
Bau  und  weiter  durch  Ausscheidung  von  Wasser  zwischen  den  Zellen 
in  einen  einschichtigen  Schlauch  verwandelt. 

In  Fig.  15  stellt  a  eine  ConfervoTde  dar;  die  unteren  Zellen 
noch  unverändert,  die  oberen  keimzellenbildend ;  b  den  Endtheil  einer 
Schizomeris,  die  oberen  Glieder  noch  ungetheilt,  die  unteren  in  ver- 
schiedenen Theilungszuständen ;  c  den  Querschnitt  durch  die  unterste 
Partie  von  b ;  d  den  Längsschnitt  durch  den  Endtheil  einer  Entero- 
morpha,  die  oberen  Glieder  noch  ungetheilt,  die  untern  in  Theilung 
begriffen  und  schlauchbildend;  e,  f,  g,  h  Querschnitte  durch  d  in 
zunehmender  Entfernung  vom  Scheitel.  Die  Theilung  erfolgt,  wie 
aus  d  bis  h  ersichtlich,  ausschliesslich  durch  Wände,  welche  die 
Oberfläche  rechtwinklig  berühren. 

An  Enteromorpha  schliesst  sich  die  so  nahe  verwandte  Gattung 
Ulva  an.  Wie  die  niederen  Confervo'iden  zu  Schizomeris  und  den 
Ulveen,  verhält  sich  Bangia  zu  Porphj^ra,  welche  offenbar  von  einer 
vorweltlichen  Gruppe  als  einziges  Glied  übrig  geblieben  und  dadurch 
ausgezeichnet  ist,  dass  die  vegetativen  Theilungen  ausschliesslich  in 
einer  Ebene  vor  sich  gehen.  Den  gleichen  Fortschritt  finden  wir 
auch  in  der  Klasse  der  Fucoiden  von  Ectocarpus  und  andern 
Gattungen  zu  den  mit  körperlichem  Thallom  begabten,  zunächst 
Sphacelaria  u.  s.  w. ,  während  die  phylogenetische  Umwandlung  in 
der  Klasse  der  Florideen  einen  anderen  Charakter  zeigt. 

Wie  jeder  phjdogenetische  Fortschritt,  erfolgt  auch  die  Umwand- 
lung der  Fortpflanzungszellen  in  Gewebezellen,  die  im  Idioplasma 
ganz  allmählich  sich  vollzieht,  im  entfalteten  Zustande  so  successive, 
als  es  die  Umstände  erlauben.  Die  ungeschlechtlichen  Fortpflanzungs- 
zellen der  Algen  sind  auf  der  unteren  Stufe  lebhaft  bewegte  Schwärm- 
sporen. Dann  nimmt  ihre  Bewegungsfähigkeit  stufenweise  ab  und 
erlischt  schliesslich.  Sie  verlassen  die  Höhlung  ihrer  Elterzelle  nicht 
mehr,  sondern  keimen  in  derselben ;  es  trennen  sich  erst  die  Keim- 
pflänzchen  los  (was  bei  Ulothrix  beispielsweise  vorkommt).  Auf  der 
höhern.  Stufe  dient  die  Zelltheilung ,  welche  die  Keimpflänzchen 
erzeugte,  zur  Gewebebildung. 

Den  ersten  Schritt  eines  solchen  phylogenetischen  Vorganges 
finden  wir  an  dem  Product  der  Oosporen  von  Coleochaete.  Bei  den 
Pflanzen  der  vorausuelienden  Stufen   (Sphaeroplea ,    Ulothrix,  Oedo- 


\T!I.  PhyloGrenetisclie  Entwifklmigsgesetze  des  Pflanzenreiches. 


361 


o-oniimi)  theilt  sich  der  Tiilialt  in  den  riilienden,  diiivli  geschleelit- 
liclie  Befruchtung  entstandenen  Sporen  (ZygosiJorcn  und  Oosporen) 
in  mehrere  Schwärnisporen.  In  den  Oosporen  von  Coleochaete 
dagegen  bleiben  die  durch  Theilung  entstandenen  Zellen  zu  einem 
Gewebekörper  vereinigt;  aus  ihnen  tritt  später  je  eine  Schwärmspore 
aus.  Wären  die  höheren  Stufen  dieser  Algen  unter  den  jetzt  lebenden 
Pflanzen  vertreten,  so  würden  wir  ohiu!  Zweifel  bei  denselben  sehen, 
wie  der  aus  der  Oospore  hervorgehende  ^ellkörper  seine  vegetative 
Natur  behält  und  durch  Zelltheilung  weiter  wächst. 

]\lanche  Fucoiden  und  die  meisten  Florideen  waclison  mit  einer 
Scheitelzelle  in  die  Länge,  welche  sich  durch  horizontale,  unter 
einander  parallele  Wände  theilt  (wie  Fig.  IGa),    die  diöheren  Flori- 


Fig.  Ki. 


deen,  die  Moose  und  Gefässkryptogamen  dagegen  mit  einer  Scheitel- 
zelle,  welche  sich  durch  schiefe,  alternirend  nach  verschiedenen  Seiten 
geneigte  Sclieidewände  theilt  (wie  Fig.  1(5 1)).  Bemerkenswerth  ist 
lum ,  dass  bei  Plocamium ,  welches  in  dieser  Beziehung  zwischen 
den  niederen  und  höheren  Florideen  in  der  Mitte  steht,  die  vege- 
tativen Theile  des  Thalloms  das  erste,  die  Fruchtäste  aber  das  zweite 
Scheitelwachsthum  besitzen.  Fig.  IGa  zeigt  den  Scheitel  eines  vege- 
tativen, 1)  den  Scheitel  eines  sporenbildenden  Zweiges  von  Plocamium, 
und  c  den  Anfang  eines  sporenbildenden  Zweiges,  an  welchem  die 
Scheitelzelle  sich  zuerst  3 mal  horizontal,  dann  schief  getheilt  hat. 
In  den  3  Figuren  sind  die  nach  einander  entstandenen  AVände  mit 
Zahlen  bezeichnet. 

Die  schiefe  Theilung  der  Scheitelzelle  tritt  also  zuerst    bloss  in 
den  reproductiven  und  erst  auf  der  höheren  phylogenetischen  Stufe 


362  ^'^II-  Pbylogenetische  EiitAvicklimgsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

auch  in  den  vegetativen  Organen  auf  ^).  Sehr  wahrscheinlich  jedoch 
ist  dieses  schiefwandige  Scheitelwachsthum  in  den  Fruchtästen  von 
Plocamium  seiher  ein  phylogenetischer  Fortschritt  von  solchen  Flori- 
deen aus,  hei  denen  die  Elterzellen  der  Tetrasporen  durch  schief- 
wandige Theilungen  sich  Ijildeten.  Wenn  dies  richtig  ist,  so  hätte 
die  eigenthümliche  Zellenbildung  zuerst  die  Fortpflanzungszellen 
erzeugt,  dann  durch  Vereinigung  dieser  Zellen  zu  einem  Gewebe 
das  Organ  hervorgebracht,  in  welchem  die  Fortpflanzungszellen 
gebildet  wurden,  und  schliesslich  wäre  aus  diesem  Organ  der  ganze 
vegetative  Pflanzenkörper  hervorgegangen. 

Die  Gefässkryptogamen  stammen  von  lebermoosartigen  Pflanzen 
ab;  namentlich  ist  dies  für  die  Farne  sehr  augenscheinlich,  deren 
Prothallimii,  welches  aus  der  keimenden  Spore  hervorgeht,  die  grösste 
Aehnhchkeit  mit  einem  kleinen  Lebermoos  hat.  Die  grosse  blätter- 
tragende Pflanze  der  Gefässkryptogamen  ist  der  j^hylogenetische  Ab- 
kömmling der  Moosfrucht,  welche  vegetativ  wird.  Ich  will  auf  die  suc- 
cessiven  Bildungen,  die  den  weitläufigen  Uebergang  vermitteln  mussten, 
liier  nicht  eintreten,  sondern  nur  einen  Punkt  hervorheben.  Das  Moos- 
sporogonium  ist  entweder  so  gebaut,  dass  eine  das  Centrum  ein- 
nehmende oder  durchsetzende  Zellgruppe  die  Sporen  bildet,  indess 
das  äussere  Gewebe  zur  Wandung  der  Sporenkapsel  ward,  —  oder 
so,  dass  ein  das  Mittelsäulchen  umgebender  Cylindermantel,  der  von 
der  Kapselwandung  umschlossen  ist,  die  Sporen  erzeugt.  Wenn  die 
Moosfrucht  bei  der  phylogenetischen  Weiterbildung  vegetativ  und  zu 
einem  Stengel  wird,  so  müssen  die  Zellen,  die  in  jener  die  Sporen 
bildeten,  vegetativen  Charakter  annehmen.  Es  ist  mir  nun  sehr 
wahrscheinlich,  dass  sie  zum  Cambium  und  weiter  zu  Gefässmassen 
werden,  welche  im  Stengel  der  Gefässkryptogamen  bezüglich  ihrer 
Lage  ebenfalls  einem  doppelten  Bauplan  folgen.  Bei  den  Lycopodien 
stellen  sie  einen  marklosen  Cylinder,  bei  andern  einen  das  Mark 
umschliessenden  Hohlcylinder  resji.  einen  Kreis   von  Strängen   dar. 

Das  I.  Gesetz ,  und  dies  gilt  auch  für  das  II. ,  beschränkt  den 
phylogenetischen  Fortschritt  auf  die  LTmbildung  der  geschlechts- 
losen Fortpflanzungszellen.  Die  geschlechtlichen  Elemente  sind 
nicht  fähig,   durch  Vegetativwerden  die  gemeinsame   Ontogenie 


^)  Der  Umstand,  dass  viele  vegetativ  Ijleibende  Sprossenden  schon  bei  Tlo- 
camium  ihr  Scheitel wachstlunn  ebenfalls  mit  schiefen  Wänden  abschliessen,  ist 
ohne  Zweifi'l  so  /u  (U'uten,  dass  dieselljen  als  abortive  Fruchtäste  zu  beti-achten  sind. 


yjl.  Phylogenetische  Entwickhmgsgesetze  des  Pflanzenreiches.  363 

ZU  bereichern,  weil  sie  unter  einander  verschieden  sind.  Aus  der. 
Umbildung  der  geschlechtlich  differenzirten  Zellen  kann  bloss  eine 
höhere  Entwicklung  der  bezüglichen  Geschlechtsorgane  erfolgen. 

Auf  der  untersten  Stufe  jeder  phylogenetischen  Reihe  sind 
die  Geschlechtsorgane  einander  ganz  gleich  und  unterscheiden  sich 
nin*  durch  die  geschlechtlich  differenzirten  Fortpflanzungszellen  von 
einander;  häufig  bestehen  sie  selbst  bloss  aus  diesen  Zellen.  Sie 
können  anfänglich  noch  keine  anderen  Verschiedenheiten  zeigen, 
da  sie  aus  dem  nämlichen  ungeschlechtlichen  Organ  hervorgingen. 
So  sind  bei  Ulothrix  die  Zellen,  welche  die  männlichen  und  die 
weiblichen  Schwärmsporen  erzeugen,  so  wie  diese  selbst,  einander 
ganz  gleich;  ebenso  bei  Equisetum  die  Sporen,  aus  welchen  männ- 
liche und  weibliche  Vorkeime  (Prothallien)  entstehen.  Wenn  man 
in  einer  Abstammungsreihe  die  Geschlechtsorgane  nicht  bis  dahin 
zurückverfolgen  kann,  wo  sie  sich  nicht  mehr  von  einander  unter- 
scheiden, so  ist  dies  stets  ein  Beweis,  dass  ein  Stück  der  Reihe 
mangelt.  So  fehlen  in  der  Reihe  der  Florideen  die  den  Gallitham- 
nieen  vorausgehenden  Glieder,  weil  bei  ihr  die  Antheridien  und  die 
Kapselfrüchte  eine  beträchtlich  verschiedene  Entwicklungsgeschichte 
darbieten  ^).  Noch  auffallender  tritt  dieser  Umstand  bei  den  Geschlechts- 
organen der  Moose  hervor,  während  dagegen  die  männlichen  und 
weiblichen  Sporangien  der  höheren  Gefässkryptogamen  bis  auf  ihren 
Ursprung  zurück  verfolgt  werden  können. 

Die  Geschlechtsorgane  lassen  in  den  verschiedenen  phylogene- 
tischen Reihen  eine  Weiterbildung  zu  einem  complicirteren  Bau 
wahrnehmen.  Neben  anderen  Ursachen  spielt  dabei  ohne  Zweifel 
auch  das  Vegetativwerden  der  männlichen  und  weiblichen  Zellen, 
die  sich  auf  den  unteren  Stufen  ablösen,  eine  wichtige  Rolle.  Doch 
lässt  sich  dies  noch  nicht  überzeugend  darthun,  weil  die  Entwicklungs- 
geschichten der  Geschlechtsorgane  für  diesen  Zweck  nicht  hinreichend 
genau  erforscht  sind.  Aus  einzelnen  Beispielen  erkennen  wk  aber 
deuthch  die  Neigung  der  Pflanzen,   die  in  diesen  Organen  frei  und 


1)  Von  Bangia  (ebenso  von  Porphyra),  die  jetzt  zu  den  Florideen  gestellt 
wird,  bezweifle  ich  sehr,  dass  hier  ihre  richtige  Stelle  im  System  sich  befinde. 
Aber  ganz  sicher  ist  es,  dass  sie  mit  den  Callithamnieen  nicht  zur  gleichen  phylo- 
genetischen Reihe  gehören  kann,  da  die  erstere  ein  ganz  übenviegendes  inter- 
calares  Längenwachsthum ,  die  letzteren  ein  ausschliessliches  Scheitelwachsthum 
besitzen,  und  da  die  Bildung  der  Fortpflanzungsorgane  nach  ganz  verschiedenen 
Typen  erfolgt. 


364  ^'11-  l'hylngenetischc  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

selbständig  werdenden  Zellen  auf  höheren  Stufen  in  dem  erzeugenden 
Organe  festzuhalten  und  schliesslich  als  einen  Gewebetheil  demsel])en 
anzufügen. 

Die  weiblichen  Fortpflanzungszellen  trennen  sich  anfänglich 
als  Schwärmsporen  von  der  Eiterpflanze  los  (Ulothrix).  Auf  einer 
höheren  Stufe  l)leibt  die  Eizelle  innerhalb  ihrer  Elterzellc  und  erst 
die  aus  ihr  entstehende  Oospore  wird  später  selbständig  (Oedogoniuni). 
Auf  einer  noch  höheren  Stufe  steigert  sich  die  Innigkeit  der  Ver- 
bindung, indem  auch  das  ganze  aus  der  befruchteten  Eizelle  hervor- 
gehende Organ  mit  der  erzeugenden  Pflanze  verwächst  (Moose).  — 
Die  Gynospore  der  höchsten  Gefässkrj^ptogamen  löst  sich  los ;  bei 
den  Plianerogamen  stellt  sie  als  Eml)ryosack  eine  Gewebezelle  des 
elterlichen  Organs  dar.  —  Die  Pollenkörner  der  meisten  Plianero- 
gamen, gleich  den  ihnen  entsprechenden  Androsporen  der  Gefäss- 
kryptogamen,  trennen  sich  von  einander;  bei  wenigen,  wie  bei  den 
Orchideen  und  Asclepiadeen  bleiben  sie  zu  einem  Gewebekörper 
(Pollenmasse)  vereinigt. 


II.  phylogenetisches  Gesetz. 

Die  durch  Sprossung  entstehenden  gesclilecii  ts- 
losen  Fortpflanzungszellen  werden,  statt  sich  abzu- 
lösen,   zu  Zell  ästen    oder   gegliederten   Zellfäden. 

Dieses  Gesetz  drückt  das  eigentliche  Princij)  der  Verzweigung 
aus,  indem  seitenständige  Keime  der  niederen  Stufe  auf  der  höhern 
Stufe  sich  nicht  ablösen,  sondern  zum  seitlichen  Organ  der  Pflanze 
werden.  Doch  hat  es  theilweise  auch  noch  einen  gewebebildenden 
Charakter  wie  das  I.  Gesetz. 

Die  Sj^rossung  besteht  darin,  dass  eine  Zelle  an  einer  Stelle  ihrer 
01)erfläche  in  einen  kurzen  Fortsatz  ausw^ächst,  welcher  durch  Ent- 
stehung einer  Scheidewand  zur  besonderen  Zelle  wird.  Die  Sprossung 
ist  durch  Differenzirung  aus  der  normalen  Zweitheilung  hervor- 
gegangen, indem  die  eine  der  beiden  Zellen  an  Grösse  zunahm,  die 
andere  an  Grösse  abnahm,  so  dass  die  letztere  schliesslich  als  der 
von  der  grösseren  Zelle  abgesonderte  Keim  erscheint  (Gesetz  ^^I). 
Einige  wenige  einzellige  Algen  und  Pilze  (Sprosspilze)  vermehren 
sich  durch  Spros.sung,    wobei   die   auswachsende  Stelle  breiter  oder 


Vil.  Phylogenetische  KntAvickhm.fjsoesetze  des  Pflaiizenreiehes.  ^iOo 

schmäler  und  die  erzeugte  Zelle  grösser  oder  kleiner  ist;  diese  Zelle 
löst  sich  hald  ab  und  wird  zur  selbständigen  l*flanze  (Fig  17  a,  b,  c, 
d,  e  mit  schmaler,    1',  g')  mit  breiter  Sprossung).    Wenn  die  durch 


[•ig.  n. 


Sprossung  entstandenen  Zellen  noch  eine  Zeit  lang  mit  einander 
verbunden  bleiben,  so  bilden  sie  baumförmige  Colonien  einzelliger 
Pflanzen,  wie  man  sie  oft  in  der  Weinhefe  findet  (Fig.   17d). 

Dieser  Fortpflanzungsvorgang  wird  vegetativ,  indem  der  auswach- 
sende Theil  der  Zelle,  statt  eine  Wand  zu  bilden  und  sich  aljzu- 
lösen,  in  seinem  Wachsthum  fortfährt  und  zum  r()hrenförmigen 
Zellschlauch  sich  verlängert,  welcher  durch  Wiedeiboluiig  dos  näm- 
hclien  Processes  sich  verzweigt  (Fig.  17  h,  i).  Auf  diesem  Wege 
sind  die  Sijjhoneen  unter  den  Algen  und  die  scldauchförmigen 
Fadeupilze  entstanden. 

1)  a,  h,  c,  d  sind  Saccharomyees  ;  e,  f,  g  sind  einzellige  Algen,  die  ich  früher 
unter  dem  Namen  Exococcus  zusamniengefasst  habe,  die  ahei-  wahr.scheinlich  als 
Sprossfornien  zu  anderen  Gattungen  einzelliger  Algen  gehören.  Diese  systema- 
tische Frage  ist  bezüglich  der  phylogenetisclien  Bedeutung  der  Erscheinung  ohne 
Belang. 


366  ^^I-  Phylogenetische  Entwicklvingsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Bei  der  Sprossung  findet  an  der  sich  erhebenden  Stelle  der 
Oberfläche  ein  starkes  Wachsthum  der  Membran  durch  Einlagerung 
statt,  welches  man  im  Gegensatze  zu  der  übrigen  nicht  wachsenden 
Membran  bildlich  als  Neubildung  bezeichnen  kann,  und  unter  der 
entstehenden  Membranausbuchtung  eine  Anhäufung  und  wohl  auch 
Neubildung  von  Plasma.  Durch  diese  Vorgänge  wird  die  Sprossung, 
wenn  sie  in  den  vegetativen  und  dauernden  Zustand  übergeht,  noth- 
wendig  zum  Scheitel  wach  stimm  der  sicli  röhrenförmig  verlängernden 
Zolle  und  ihrer  Verzweigungen,  indem  nach  dem  Scheitel  hin  Wan- 
derung von  Plasma  und  am  Scheitel  Neubildung  von  Plasma  und 
Membran  stattfindet,  indess  rückwärts  vom  Scheitel  Inhalt  und 
Membran  mit  zunehmender  Entfernung  zunehmende  Alterszustände 
zeigen. 

Der  Sprossungsvorgang  kann  auch  erst  in  einem  späteren  Zu- 
stande, wenn  nämlich  die  Scheidewand  schon  gebildet  ist,  vegetativ 
werden,  indem  die  Kindzelle,  statt  sich  abzulösen,  mit  der  Elterzelle 
verbunden  bleibt.  Wiederholt  sich  die  Sprossung  an  der  neugebildeten 
Zelle  und  findet  das  Auswachsen  mit  der  ganzen  Breite  der  Zelle  an 
ihrem  Scheitel  statt,  so  entsteht  ein  ausschliesslich  durch  Theilung 
der  Scheitelzelle  in  die  Länge  wachsender  Zellfaden  (Fig.  1 7  k,  1,  m).  Da 
die  durch  Sprossung  sich  vermehrende  einzellige  Pflanze  das  Vermögen 
besitzt,  wiederholt  zu  sprossen  (Fig.  17  c,  e),  so  kann  auch,  wenn  der  Vor- 
gang vegetativ  geworden  ist,  jede  Gliederzelle  des  Zellfadens  in  einen 
oder  mehrere  Aeste  auswachsen  (Fig.  1 7  m).  Es  gibt  verzweigte  con- 
fervenartige  Pflanzen,  welche  den  Sprosscolonien  der  einzelligen 
Pilze  (Fig.  17d)  ganz  ähnlich  sehen.  —  Viele  Algen  und  Schimmel- 
pilze verdanken  ihren  phylogenetischen  Urs2)rung  der  geschilderten 
Umwandlung.  Es  sind  röhrenzellige  Algen  und  Pilze,  denen  in  der 
Septirung  auch  das  zweite  Element  der  Sprossung  geblieben  ist. 


ill.  phylogenetisches  Gesetz. 

Die  durch  freie  Zellbildung  entstehenden  Fort- 
pflanzungszellen  werden  zu  Inhaltskörpern  der  Zelle. 

Es  gibt  bezüglich  des  Zelleninhaltes  in  den  untersten  Regionen 
des  Pflanzenreiches  drei  ziemlich  scharf  geschiedene  Stufen,  1.  form- 
loses Plasma,    2.  Plasma   mit   einfachen  Plasmakörpern,   3.  Plasma 


VII.  Phylogenetische  Entwickhmgsgesetze  des  Pflanzenreiches.  36? 

mit  zusammengesetzten  Plasmakörpern.  Bei  den  niedersten  Pflanzen 
sowie  wahrscheinlich  in  dem  ganzen  Reiche  der  Prohien  kommt 
nur  formloses  Plasma  vor,  noch  ohne  bestimmte  Plasmakörper  wie 
Zellkerne  u.  s.  w.  Die  Fortpflanzung  dieser  ersten  Stufe  geschieht 
bald  durch  Theilung  bald  durch  freie  Zellbildung  (S.  .'349).  Wenn 
nun  in  dem  letztern  Falle  die  sich  besondernde  Plasmapartie,  statt 
sich  von  dem  Eiterindividuum  los  zu  machen  und  vollkommen 
selbständig  zu  werden ,  vegetativ  wird  und  als  integrirender  Theil 
des  Eiterindividuums  in  dessen  Inhalt  verbleibt,  so  haben  wir  eine 
Zelle  der  zweiten  Stufe  mit  einfachen  Plasmakörpern  in  dem  form- 
losen Plasma. 

Zu  den  Zellen  der  ersten  Stufe  mit  durchaus  formlosem  Plasma 
gehören  alle  Nostochinen  (Chroococcaceen,  Nostochaceen ,  üscillaria- 
ceen,  Rivulariaceen,  Scytonemaceen),  ferner  ohne  Zweifel  die  Spalt- 
pilze und  vielleicht  die  Sprosspilze  (Saccharomyces).  Zu  den  Zellen 
der  zweiten  Stufe  mit  einfachen  Plasmakörpern  im  formlosen  Plasma 
gehören  viele  Algen  und  Pilze ,  unter  den  letzteren  vielleicht  auch 
die  Sprosspilze.  Die  Plasmakörper  sind  entweder  farblos  oder  gefärbt 
und  dann  vorzugsweise  Chlorophyllkörner  oder  andere  Farbkörner 
darstellend.  Die  Kerne  haben  noch  keine  Kernchen  (Kernkörper- 
chen)  oder  andere  geformte  Plasmaeinschlüsse.  Die  niedrigsten  Zellen 
dieser  Stufe  haben  nur  einen  einzigen  Kern  oder  nur  ein  einziges 
Chloroph^'llkorn ,  welches  dann  gleichsam  als  der  Kern  der  Zelle 
erscheint  (Palmellinen).  In  höher  entwickelten  Zellen  dieser  Stufe 
finden  sich  mehrere  Chlorophyllkörner,  in  noch  höher  entwickelten 
Kerne  und  Chlorophyllkörner  zugleich,  beide  in  grösserer  oder 
geringerer  Zahl.  In  den  Chloroj)hyllkörnern  bilden  sich  meistens 
Stärkekörner. 

Die  Plasmakörper,  welche  die  zweite  Stufe  gegenüber  der  ersten 
Stufe  unterscheiden,  sind  dadurch  charakterisirt ,  dass  sie  sich  im 
Innern  des  formlosen  Plasmas  ausscheiden.  Auf  der  ersten  Stufe 
kommt  es  auch  wohl  vor,  dass,  wenn  das  Plasma  im  Verhaltniss 
zur  Zellflüssigkeit  in  geringer  Menge  vorhanden  ist,  einzelne  Partieen 
desselben  mechanisch  losgetrennt  werden  und  scheinbare  Plasma- 
körper darstellen ;  dieser  Vorgang  kommt  häufig  auch  in  den  Zellen 
der  zweiten  und  der  dritten  Stufe  vor.  Die  eigentlichen  Plasma- 
körper aber ,  welche  diese  zwei  Stufen  auszeichnen ,  sind  im  Ent- 
stehen von  formlosem  Plasma  umschlossen ;  ihre  Bildung  setzt  daher 


308  VII.  Phj'logene tische  Entwicklungsgeeotze  des  rflanzenreiches. 

eine  besondere  organisirende  Tliätigkeit  voraus,  welche  den  Plasma- 
körper  mittels  eines  hyalinen  Häutchens  isolirt. 

Wenn  die  Zellen  der  zweiten  Stute  durch  freie  Zellbildung  sich 
vermehren,  so  enthalten  die  in  ihrem  Inhalte  auftretenden  neuen 
Zellen  schon  PlasmakörjDer  wie  die  Elterzelle,  oder  sie  besitzen 
A\euigstens  das  Vermügen,  später  solche  zu  bilden.  Werden  aber 
diese  neuen  Zellen  vegetativ,  und  bleiben  sie,  ohne  eine  Cellulose- 
membran  zu  bilden,  als  Zelleninhalt  in  der  Elterzelle,  so  stellen  sie 
Kerne  dar,  in  denen  sich  Kernchen  und  auch  andere  einfache  Plasma- 
körper befinden.  Ausser  diesen  Kernen  kommen  dann  noch  die 
verschiedenen  andern  einfachen  Plasmakörper  der  zweiten  Stufe  in 
den  Zellen  der  dritten  Stufe  vor.  Diese  Zellen  der  dritten  Stufe 
enthalten  meistens  nur  einen  einzigen  Kern,  der  in  jugendlichen 
Zuständen  einen  sehr  ansehnlichen  Theil  des  gesammten  Zellen- 
inhaltes ausmachen  kann.  Sie  kommen  schon  bei  einzelligen  Pflanzen 
(Desmidiaceen)  vor. 

Die  Phylogenie  gibt  uns  Aufschluss  über  die  ursprüngliche 
Bedeutung  der  organischen  Erscheinungen,  welche  späterhin  dann 
verschiedene  Modificationen  eingehen  kann.  Dieselbe  ■  vermag  uns 
auch  einige  Aufklärung  über  die  noch  räthselhafte  Bedeutung  der 
Plasmakörper,  namentlich  des  Zellkerns,  zu  verschaffen.  Der  Plas- 
makörper ist  ursprünglich  aus  einem  durch  freie  Zehbildung  ent- 
stehenden Keim  hervorgegangen ;  er  enthielt  somit  Idioplasma  mit 
Ernährungsplasma  in  concentrirterer  Beschaffenheit.  Diese  iS'atur 
dürfte  ihm  überall  geblieben  sein,  wo  er  in  der  ursprünglichen 
Einzahl  verliarrte.  Wir  werden  daher  den  Kern  gleichsam  als  ein 
Magazin  von  Idioplasma  und  Ernährungsplasma  ansehen;  die  An- 
ordnung der  Plasmaströmchen ,  die  von  dein  Kerne  ausgehen  und 
zu  denisell)en  zurückkehren,  deutet  ohnehin  darauf,  dass  sich  hier 
ein  Centrum  von  Stoff  und  Kraft  befindet,  wenn  auch  noch  jede 
Vorstellung  mangelt,  in  welcher  Weise  dasselbe  auf  das  Zellenleben 
einwirkt.  Ilat  der  Kern  diese  Bedeutung,  so  ist  begreiflich,  dass 
seine  Theihnig  der  Zelltheilung  normal  vorausgehen  muss.  Der  auf 
den  tieferen  Stufen  in  der  Einzahl  vorhandene  Kern  oder  Plasma- 
körper kann  aber  auch  auf  einer  höheren  Stufe  sich  theilen,  ohne 
dass  Theilung  der  ganzen  Zelle  nachfolgt.  Je  höher  die  Zahl  der 
in  einer  Zelle  vorhandenen  Kerne  oder  Plasmakörper  ansteigt,  um 
so  gerin^^ur  wird  selbstverständlich   ihre  Bedeutuny,'  für   die  Lebens- 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  369 

Vorgänge,   und   die  Theilung  der  Zelle  tritt  ein,    ohne  dass  vorher 
die  Kerne  oder  Plasmakörper  sich  theilen  müssen. 


IV.  phylogenetisches  Gesetz. 

Die  durch  Verzweigung  entstehenden  Theile  eines 
Pflanzenstockes  legen  sich  zusammen  und  hilden  einen 
geflecht-   oder  gewebeartigen   Körper. 

Die  phylogenetischen  Vorgänge,  welche  den  drei  ersten  Gesetzen 
sich  unterordnen  und  die  bis  jetzt  besprochen  wairden,  bestehen 
darin,  dass  einzellige  Keime,  die  sich  auf  der  unteren  Stufe  lostrennen, 
um  sich  zu  selbständigen  Individuen  zu  entwickeln,  auf  der  höheren 
Stufe  vereinigt  bleiben  und  ein  mehrzelliges  Gebilde  darstellen. 
Eine  andere  Wirkung,  welche  das  organisatorische  Bestreben  der 
Phylogenie  nach  A'^ereinigung  hervorbringt,  besteht  darin,  dass  durch 
Verzweigung  entstandene  Theile,  die  auf  der  unteren  Stufe,  mit  Aus- 
nahme der  angewachsenen  Basis,  getrennt  sind  und  den  Pflanzen- 
stock zusammensetzen,  auf  der  höheren  Stufe  sich  zu  Einem  Körper 
mehr  oder  weniger  innig  vereinigen. 

Diese  Vereinigung  kommt  schon  bei  den  allerniedrigsten  Pflanzen 
vor  und  ist  hier  auch  am  häufigsten.  Die  aus  einer  einzigen  schlauch- 
förixdgen  Zelle  bestehenden  Röhrenalgen  (Siphoneen)  breiten  ihre 
Verzweigungen  bei  Vaucheria,  Bryopsis,  Caulerpa  frei  aus;  bei  den 
Codieen  legen  sie  dieselben  zu  einem  dichten  Geflecht  zusammen. 
In  gleicher  Weise  bilden  die  einreihigen  Fäden,  deren  Aeste  bei  den 
confervenartigen  Algen  und  bei  den  Schimmelpilzen  frei  bleiben, 
auf  einer  höheren  Stufe  durch  Verflechtung  und  Verwachsung  körper- 
liche Gebilde,  welche  bei  den  Schwämmen  und  Flechten  alle  Ueber- 
gänge  von  der  lockeren,  bloss  durch  Gallerte  zusammengehaltenen 
bis  zur  innigsten  gewebeartigen  Vereinigung  zeigen.  Beispiele  für 
das  erstere  Extrem  der  Vereinigung  finden  wir  überdem  in  den 
Wurzelhaaren  mancher  Algen,  welche  sich  als  Berindungsfäden  an 
die  Stämmchen  anlegen,  Beispiele  für  das  letztere  Extrem  in  den 
Wurzelhaaren  anderer  Algen,  die  zu  Haftscheiben  verwachsen,  und 
dann  namentlich  in  dem  Gewebe  der  Corallineen  \uu\  überhaupt 
der  Florideen. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  24 


370  VII.  Pliylogcnetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiclies. 

Zugleich  mit  der  Vereinigung  tritt  sowolil  bei  den  rölirenförmigen 
(monosiphonen)  als  bei  den  einreihigen  (gegliederten)  Fäden  meistens 
eine  sehr  reichliche  Verzweigung  ein,  welche  wohl  theilweise  die 
^Veranlassung  zu  dem  phylogenetischen  Fortschritt  ist.  Im  allge- 
meinen lassen  sich  drei  Typen  der  Vereinigung  unterscheiden.  Der 
erste  besteht  darin,  dass  die  Spitzen  der  Aeste  an  andere  Aeste 
anwachsen,  wo  sie  dieselben  berühren;  er  tritt  besonders  ausgezeichnet 
bei  der  Algengattung  Microdictyon  auf,  wo  die  verwachsenen  Ver- 
zweigungen ein  Netz  bilden ,  ebenso  bei  I)ict3'urus ,  ferner  bei  Ana- 
dyomene,  bei  welcher  auch  die  in  einer  El)ene  liegenden  Seiten  der 
einzelligen  Aeste  sich  vollständig  berühren. 

Der  zweite  Typus  zeichnet  sich  dadurch  aus,  dass  sich  viele 
unter  einander  gieichwerthige  Fäden  zusammenlegen ;  der  daraus  ent- 
stehende Körper  ist  aus  Fasern  zusammengesetzt,  die,  mit  der  Achse 
im  allgemeinen  parallel  laufend,  nach  oben  bogenförmig  auseinander 
gehen,  und  von  denen  jede  gewissermaassen  selbständig  an  der  Spitze 
in  die  Länge  wächst.  Dabei  ist  der  Körper  entweder  verkürzt  und 
nimmt  die  mannigfaltigsten  Gestalten  an  (mehrere  Codieen,  die 
Fruchtkörper  der  Pilze,  viele  Flechten,  die  aus  Rhizoiden  verwach- 
senen Haftscheiben  mancher  Algen),  oder  er  streckt  sich  in  die 
Länge  und  verzweigt  sich  (Codiimi  tomentosum,  Usnea). 

Der  dritte  Tj^pus  für  die  Vereinigung  von  Fäden  Ijesteht  darin, 
dass  die  Grundlage  des  ganzen  Systems  durch  eine  einzige  axile 
Zellenreihe  gebildet  wird,  mit  der  sich  ihre  seitlichen  Auszweigungen 
vereinigen.  Der  daraus  hervorgehende  Körper  ist  immer  verlängert 
und  gewöhnlich  verzweigt;  er  wächst  mit  einer  Scheitelzelle  in  die 
Länge  (Batrachospermum,  Chara,  Ceramium  u.  s.  w.).  Dieser  Typus 
verwirklicht  sich  bloss  unvollständig,  wenn  die  seitlichen  Ver- 
zweigungen nur  unter  sich,  nicht  mit  dem  Hauptstrahl  verwachsen, 
so  bei  Acetabularia. 

Das  merkwürdigste  Beispiel  für  den  phylogenetischen  Ver- 
einigungsprocess  gegliederter  und  verzweigter  Fäden  bieten  uns  die 
Florideen  dar.  Ich  will  die  bezüglichen  Erscheiimngen  nur  für  die- 
jenige Abtheilung  betrachten ,  deren  vegetative  Organe  mit  einer 
sich  horizontal  theilenden  Scheitelzelle  in  die  Länge  wachsen  (Calli- 
thamnion,  Ceramium,  Polysiphonia,  Laurencia,  Nitoj^hyllum ,  Deles- 
seria).  Wenn  wir  diese  Reihe  der  Florideen  mit  derjenigen  Reihe 
der  Fucoiden  vergleichen,  bei  denen  die  Scheitelzelle  ebenfalls  durch 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  371 

horizontale  Wände  sich  theilt  (Ectocarpus^),  Sphacelaria,  Cladostephus, 
Dictyota,  Halyseris,  Fucus),  so  bemerken  wir  in  der  Gewebebildung 
einige  auffallende  und  tiefgreifende  Unterschiede. 

Der  eine  Unterschied  zwischen  Fucoiden  und  Florideen  zeigt 
sich  in  der  Theilung  der  Gliederzelle.  Bei  jenen  würd  dieselV)e  durch 
eine  mit  der  Achse  zusammenfallende  Längs  wand  halbirt  (Fig.  18  a), 
worauf  jede  Hähte  in  gleicher  Weise  sich  noch  einmal  halbirt  (b), 
sodass  zunächst  4  cylinderquadrantische  Zellen  von  der  Länge  des 
Gliedes  entstehen.  Bei  den  Florideen  dagegen  theilt  sich  die  Glieder- 
zelle zuerst  durch  eine  extraaxile,  mit  der  Achse  parallel  laufende 
Wand  (Fig.  18c),  worauf  noch  mehrere  solcher  Wände  folgen  (d,  e), 
sodass  sich  eine  Achsenzelle  und  ein  Kranz  von  gleichlangen  Aussen- 
zellen,  meistens  in  der  Zahl  von  4  oder  5,  bilden.  Dem  entsprechend 
finden  wir  auch,  wenn  die  Zelltheilung  des  Dickenwachsthums  weiter- 
geht, im  Centrum  des  Querschnittes  bei  den  Fucoiden  ein  Kreuz 
von  Scheidewänden,  bei  den  Florideen  eine  axile  Zelle. 


Fig.  18. 

Der  andere  Unterschied  zwischen  Fucoiden  und  Florideen  besteht 
darin ,  dass  bei  den  ersteren  neben  der  peripherischen  auch  inter- 
calare  Zelltheilung  thätig  ist,  während  die  intercalare  Zelltheilung 
bei  den  Florideen  ganz  mangelt.  Bei  den  Ectocarpeen  (Fucoiden) 
theilt  sich  die  Scheitelzelle  nur  kurze  Zeit;  dann  sind  bloss  noch 
die  Gliederzellen  theilungsfähig ;  es  folgt  also  auf  das  Scheitelwachs- 
thum  intercalares  Längenwachsthum.  Bei  den  im  Bau  auf  gleicher 
Stufe  stehenden  Callithamnieen  (Florideen)  wird  das  Längenwachs- 
thum ausschliesslich  durch  die  Theilung  der  Scheitelzelle  bewerk- 
stelligt. ■ —  Beim  Breitenwachsthum  von  Dictyota  (Fucoiden)  th eilen 
sich  alle  Flächenzellen,  bei  dem  Breitenwachsthum  von  Nitophyllum 
und  Delesseria  (Florideen)  th  eilen  sich  bloss  die  Randzellen.  —  Bei 


*)  Bei  dieser  Gattung  hört  die  Theilung  der  Scheitelzelle  schon  frühzeitig  auf. 

24* 


372  ^'^11-  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

den  aus  Zellköri^ern  bestehenden  Fucoidcn  findet  neben  der  Theilung 
der  Aussenzellen  auch  Theilung  der  Innenzellen  statt,  wodurch  mter- 
calares  Längen-,  Breiten-  und  Dickenwachsthum  erfolgen  kann.  Bei 
den  körperlichen  Florideen  sind  bloss  die  Aussenzellen  theilungstahig. 

Die  beiden  erwähnten  Unterschiede  in  der  Gewebebildung  der 
Fucoiden  und  Florideen  erklärt  sich  daraus,  dass  die  Phylogenie  bei 
den  beiden  Gruppen  gänzlich  verschieden  ist.  Bei  den  Fucoiden 
kommt  nämlich  die  Gewebebildung  der  Zellflächen  und  Zellkörper 
phylogenetisch  durch  Vegetativwerden  von  Keimzellen  (nach  Gesetz  I), 
bei  den  Florideen  dagegen  durch  Vereinigung  von  Verzweigungen 
zu  Stande.  Da  wir  von  beiden  Gruppen  den  genaueren  Anschluss 
nach  unten  nicht  kennen,  so  müssen  wir  den  phylogenetischen  Fort- 
schritt mit  den  Ectocarpeen  und  Callithamnieen  beginnen.  Diese 
beiden  Anfänge  der  Fucoiden  und  Florideen  sind  schon  wesentlich 
verschieden.  Bei  den  Ectocarpeen  theilen  sich,  wie  schon  erwähnt, 
vorzugsweise  die  Gliederzellen ;  die  Fortpflanzungszellen  (geschlechts- 
lose Schwärmsporen)  entstehen  durch  wiederholte  Zweitheilung  des 
Inhaltes  von  Gliederzellen  (Sporangien).  Indem  dieser  Process  der 
Fortpflanzung  vegetativ  wird,  verwandelt  sich  der  einreihige  Faden 
von  Ectocarpus  in  das  anfänglich  einschichtige  Thallom  von  Dictyota 
und  in  das  körperliche  Thallom  von  Sphacelaria  mid  Dasycladus. 

Von  einer  ganz  anderen  Grundlage  aus  verläuft  der  phylogene- 
tische Process  in  der  Gruppe  der  Florideen.  Bei  den  Callithamnieen 
theilen  sich  zum  Behufe  des  Längenwachsthums  bloss  die  Scheitel- 
zellen. Die  Gliederzellen  können  nur  seitlich  auswachsen  und  durch 
Abschnürung  eine  seitlich  angeheftete  Astzelle  bilden,  welche  als 
erste  Scheitelzelle  den  Anfang  eines  Astes  darstellt.  Dieses  aus- 
schliesslich peripherische  Wachsthum  (Theilung  der  Scheitelzelle  und 
Bildung  von  Astzellen)  ist  auch  bei  der  Erzeugung  der  Fortpflanzungs- 
zellen, resp.  deren  Elterzellen,  ausschliesslich  thätig.  Da  nun  die 
geschlechtlichen  Fortpflanzungszellen  nicht  zur  Bereicherung  der 
gemeinsamen  Ontogenie  beitragen  können  (S.  362 — 363),  da  ferner  die 
Tetrasporen  nicht  endogen  im  Thallom  entstehen,  da  endlich  der 
Mangel  eines  intercalaren  Wachsthums  eine  intercalare  Fortbildung 
der  Ontogenie  ebenfalls  nicht  gestattet  (vgl.  Gesetz  V  und  VI),  so 
können  die  Callithamnieen  nur  dadurch  sich  phylogenetisch  weiter- 
bilden und  namentlich  nur  dadurch  zu  einem  flächenartigen  und 
körperlichen  Bau  gelangen,  dass  die  Verzweigung  durch  Vereinigung 


YIl.  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pflanzenreiches.  373 

zur  Gewebebildiuig  wird.  Dieser  Vorgang  tritt  uns  denn  auch  aufs 
deutlichste  entgegen. 

Den  ersten  Schritt  der  Vereinigung  zeigen ,  wenn  wir  von  den 
nur  sehr  locker  sich  anlegenden  Wurzelhaaren  (Berindungsfäden) 
einiger  Callithamnieen  absehen,  die  Ceramieen.  Hier  legen  sich  die 
unmittelbaren  Auszweigimgen  der  Gliederzellen ,  so^\de  die  weiteren 
(secundären,  tertiären  etc.)  Auszweigungen  alle  an  die  Hauptstrahlen 
an  und  bilden  die  Rinde  derselben.  Das  Thallom  verzweigt  sich 
bloss  durch  Dichotomie  in  den  Scheitelzellen.  Aber  das  Gewebe  des 
Thalloms  hat  noch  nicht  den  vollständigen  Charakter  eines  wahren 
Zellgewebes,  indem  seine  Zellen  in  ungleich  innigem  Grade  unter 
einander  zusammenhängen.  Der  Ursprung  desselben  aus  einem 
System  von  Verzweigungen  gibt  sich  deutlich  dadurch  kund,  dass 
sich  bloss  zwischen  denjenigen  Zellen  je  ein  Porus  (Tüpfel)  befindet, 
welche ,  wenn  die  Verzweigungsstrahlen  frei  wären ,  an  einander 
grenzen  würden. 

Bei  den  Ceramieen  trägt  jede  Gliederzelle  einen  Qmrl  von  4  bis 
14,  meistens  5  bis  8  primären  Rindenzellen  (Astzellen).  Diesell^en 
haben  anfänglich  die  ganze  Länge  der  Gliederzelle,  berühren  also 
auch  die  primären  Rindenzellen  des  nächst  unteren  und  nächst 
oberen  Gliedes.  Nachher  bleibt  ihr  Wachsthum  in  der  Richtung 
der  Längsachse  des  Thalloms  zm^ück;  sie  trennen  sich  von  den 
primären  Rindenzellen  der  angrenzenden  Glieder,  bilden  somit  einen 
Gürtel  an  den  Gelenken,  und  sind  durch  Poren  nur  mit  der  Glieder- 
zelle, nicht  unter  einander  verbunden.  Die  Ceramieen  sind  jedenfalls 
aus  einer  Urform  hervorgegangen,  welche  bloss  den  Gürtel  von  pri- 
mären Rindenzellen  an  jedem  Gelenke  und  weiter  keine  Berindung 
besass.  Aus  einer  solchen  Urform  ist  durch  einen  anderen  phylo- 
genetischen Fortschritt  die  Gattung  Polysiphonia  entstanden. 

Das  Thallom  von  Polysiphonia  ist  ein  gegliederter  Faden ;  jedes 
Glied  besteht  aus  einer  Achsenzelle  und  einem  Kranz  von  gleich- 
langen  Rindenzellen,  welche  nicht  nur  mit  der  axilen  Zelle,  sondern 
auch  unter  einander  und  namenthch  auch  mit  den  angrenzenden 
Rindenzellen  des  oberen  und  unteren  Gliedes  durch  Poren  verbunden 
sind.  Die  Bildungsweise  der  (primären)  Rindenzellen  erfolgt  bei 
Ceramium  und  bei  Polysiphonia  ganz  in  der  nämlichen  Weise  (vgl. 
Fig.  18  c,  d,  e,  auf  S.  371),  und  die  Jugendzustände  der  Glieder 
sind-  bei   beiden   identisch.     Bei   der  weiteren   Entwicklung   erweist 


374  ^  il-  Pliylogeaetisclie  Entwicklungsgesetze  des  Pfianzenreiclies. 

sich  aber  die  Vereinigung  der  Zellen  bei  Polysiplionia  viel   inniger 
als  bei  den  Ceramieen. 

Bei  Laurencia,  Rliodomela  u.  a.  theilen  sich  die  primären  Rinden- 
zellen, sodass  die  axile  Zellreihe  von  mehreren  Zellschichten  um- 
schlossen ist,  die  von  innen  nach  aussen  kleinzelliger  werden.  Rings 
um  jede  Achsenzelle  befindet  sich  ein  Kreis  von  gleichlangen  pri- 
mären Rindenzellen;  auf  jeder  von  diesen  liegen  ])ei  Laurencia 
4  secmidäre  Rindenzellen,  auf  jeder  secundären  Rindenzelle  4  tertiäre; 
dann  können  wieder  je  4  oder  auch  weniger  quartäre  Rindenzellen 
folgen.  Bei  andern  Gattungen  ist  die  Zunahme  der  Zeilenzahl  von 
innen  nach  aussen  eine  geringere.  Die  Zelltheilung  erfolgt  wie  bei 
der  Berindung  der  Ceramieen  dadurch ,  dass  von  den  Ausseiizellen 
Ecken  oder  Kanten  abgeschnitten  werden,  und  entspricht  somit 
im  allgemeinen  einer  doldenförmigen  Verzweigung;  aber  die  Zellen 
nehmen  vollständig  die  Eigenschaften  von  Gewebezellen  an. 

Auch  bei  den  flächenförmigen  Florideen  hat  die  Gewebebildung 
in  morphologischer  Rücksicht  den  Charakter  einer  wiederholten  Ver- 
zweigung. Bei  Nitophyllum  bilden  sich  an  den  Gliederzellen  bloss 
2  opponirte  Astzellen;  aus  diesen  setzen  sich  die  weiteren  Zell- 
bildungen in  einer  Ebene  fort  und  erzeugen  eine  einfache  Zellschicht. 
Bei  den  Delesserieen  entstehen  zwar  an  jeder  Gliederzelle  4  Astzellen 
(primäre  Rindenzellen) ;  aber  von  denselben  sind  2  gegenständige 
gefördert  und  aus  ihnen  erfolgt  die  weitere  Bildung  von  Zellreihen 
und  deren  Verzweigungen  wie  bei  Nitophyllum  in  einer  Ebene.  In 
der  auf  diese  Weise  entstandenen  Zellschicht  kann  stellenweise  Dicken- 
wachsthum  beginnen  und  mehrschichtige  Nervationen  bilden.  Die 
Nitophyllen  und  Delesserien  sind  phylogenetisch  aus  den  Ptiloteen 
und  weiterhin  aus  den  in  einer  Ebene  verzweigten  Callithamnieen 
hervorgegangen.  Die  Zellbildung  wiederholt  sich  auf  diesen  ver- 
schiedenen Stufen  oft  bis  in  die  Einzelheiten  genau. 

Ich  muss  mich  bezüglich  der  Phylogenie  der  Florideen  auf  die 
gegebene  allgemeine  Schilderung  beschränken,  da  der  Nachweis  im 
einzelnen  hier  zu  weit  führen  würde.  Die  Zusammenlegung  ganzer 
Verzweigungssysteme  zu  einer  ununterbrochenen  Masse  lässt  sich 
Schritt  für  Schritt  verfolgen,  wobei  namentlich  zwei  Stufen  der  Ver- 
einigung hervortreten.  Die  ursprünglich  freien  Verzweigungsstrahlen 
legen  sich  zuerst  locker  aneinander  und  bilden  ein  Geflecht  von 
Berindungsfäden,  indem  zwischen  den  Zellen  verschiedener  Strahlen 


YII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  375 

eine  innigere  Verbindung  durch  Poren  noch  unterbleibt.  Dann  wird 
diese  Verbindung,  wie  die  auftretenden  Poren  anzeigen,  eine  physio- 
logisch festere  und  das  Geflecht  geht  in  ein  wahres  Zellgewebe  über. 

Mit  der  fortschreitenden  Vereinigung  kann  auch  die  Lage  der 
Scheidewände,  die  sich  bei  der  Zelltheilmig  bilden,  nach  und  nach 
eine  andere  werden ,  sodass  man  in  dem  Endglied  einer  phylogene- 
tischen Reihe  kaum  mehr  den  Anfang  derselben  erkennen  würde, 
wenn  nicht  die  verknüpfenden  Zwischenstufen  den  Weg  anzeigten. 
Der  Charakter  dieser  Verändermig  gibt  sich  in  einzelnen  Fällen 
bestimmt  darin  zu  erkennen,  dass  die  anfänglich  zur  Achse  der 
Zellreihe  rechtwinkligen  Scheidewände  mehr  und  mehr  eine  schiefe 
Lage  annehmen,  was  durch  die  zunehmende  Differenzirung  zwischen 
den  verschiedenen  Zellendurchmesscrn  zu  erklären  ist  (vgl.  Gesetz  ^"I). 

Da  bei  den  Callithamnieen,  die  den  Ausgang  für  die  phylogene- 
tischen Reihen  der  Florideen  bilden,  die  Zellreihen  bloss  durch 
Theilung  der  Scheitelzelle  wachsen,  so  mangelt  auch  bei  den  höheren 
Grup23en  dieser  Pflanzenklasse  die  intercalare  Zelltheilung  gänzlich. 
Damit  soll  aber  nicht  gesagt  sein ,  dass  bloss  die  am  Rande  oder 
an  der  Oberfläche  befindlichen  Zellen  sich  theilen.  Denn  bei  der 
Zusammenlegung  eines  complicirten  Verzweigungssystems  kommen 
auch  manche  Strahlen  desselben  ins  Innere  zu  liegen.  Daher  gibt 
es  auch  viele  innere  Zellen,  die  sich  theilen;  aber  es  ist  dies  nie- 
mals eine  wirkliche  intercalare  Theilung ,  sondern ,  soweit  man  die 
Zellbildung  im  Räume  genau  verfolgen  kann,  nachweisbar  stets 
entweder  Theilung  der  Scheitelzelle  eines  oft  sehr  kurzen  Fadens 
(Verzweigungsstrahles)  oder  Bildung  von  Astzellen  an  einem  solchen 
Zellfaden  1). 

Es  kommen  nicht  nur  Vereinigungen  von  Zellfäden  bei  niederen 
Pflanzen  (Algen,  Pilzen,  Flechten),  sondern  auch  Verwachsungen 
von  grösseren,  aus  Zellgewebe  gebildeten  Organen  bei  den  Gefäss- 
pflanzen    vor.     Seltener   sind  dieselben    an   den   Laubblättern    und 


*)  Das  geschilderte  Wachsthum  gilt  für  die  genannten  und  die  ihnen  ver- 
wandten Florideen.  Für  andere  Gruppen  dieser  Klasse  mangeln  mir  him-eichende 
entwicklungsgeschiclitliche  Thatsachen,  um  zu  entscheiden,  ob  sie  dem  nämlichen 
phylogenetischen  Gesetze  folgen.  Wenn  die  Bangiaceen  wirklich  zu  den  Florideen 
gehörten,  zu  denen  man  sie  jetzt  stellt,  so  würden  sie  der  Ausgangspunkt  sein 
für  eine  zweite  ganz  verschiedene  phylogenetische  Reilie,  welche  Analogie  mit 
der  Reihe  der  Fucoiden  haben  könnte;  denn  die  Bangiaceen  unterscheiden  sich 
von  den  Calüthamnieen  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Ectocarpeen. 


376  Yll.  Phylogenetische  EntwicWungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

treten  hier  vorzugsweise  in  der  Art  auf,  dass  qnirlständige  und  oj^po- 
nirte  Blätter  röhrig  verwachsen  (Equisetum,  Casuarina,  Blattbasen  bei 
Dipsacus,  Chlora,  Lonicera  etc.).  Bloss  ausnahmsweise  wird  normale 
Verwachsung  zwischen  den  auf  einander  folgenden  spiralständigen 
Blättern  beobachtet  (Pycnophyllum  molle),  während  dieselbe  als  ab- 
normale Erscheinung  etwas  häufiger  auftritt. 

Es  ist  mir  ferner  nur  eine  Pflanze  bekannt  (Struthiopteris  ger- 
manica), bei  welcher  die  dicht  über  einander  liegenden  spiralständigen 
Laubblätter  auf  eine  kurze  Strecke  nahe  über  ihrer  Basis  zu  einem 
ununterbrochenen  Gewebe  verwachsen  sind.  Dieses  Gewebe  bildet 
einen  Mantel,  der  den  ganzen  Stamm  umschliesst,  mit  demselben 
verwachsen,  aber  von  ihm  durch  zahlreiche  kleine  Lücken  (je  eine 
innerhalb  einer  Blattbasis)  getrennt  ist  und  das  ganze  Netz  der  Ge- 
fässstränge  enthält,  sodass  der  Stamm  selbst  bloss  aus  Parenchym 
besteht. 

Bei  den  Phanerogamen  treten  Verwachsungen  normal  in  der 
Blüthenregion  häufig  auf.  Dieselben  sind  bei  den  Kelchblättern, 
Kronblättern,  Staubgefässen  und  Fruchtblättern  so  l^ekannt,  dass  ich 
nur  daran  zu  erinnern  brauche.  Ich  beschränke  mich  auf  eine  Be- 
merkung über  die  Berechtigung  der  Bezeichnung.  Mit  Rücksicht 
auf  die  Entwicklungsgeschichte  ist  gegen  die  »Verwachsungen«  Ein- 
sprache erhoben  worden,  weil  die  genannten  Blüthentheile  vom  ersten 
Anfange  an  vereinigt  sind  und  nicht  erst  aus  einem  freien  Zustande 
unter  einander  verwachsen.  Dagegen  könnte  erwiedert  werden,  dass 
die  Ausdrücke  »verwachsen«  und  »angewachsen«  nicht  noth wendig 
ein  ursprüngliches  Getrenntsein  voraussetzen,  sondern  dass  sie  auch 
bloss  eine  innige  Verbindung  bedeuten.  Aber  die  Ausstellung  hat 
nur  dann  einen  Schein  von  Begründung,  wenn  man  sich  auf  die  Be- 
trachtung der  einzelnen  Ontogenie  beschränkt.  Erhebt  man  sich 
auf  den  Standpunkt  der  vergleichenden  Morphologie  und  namentlich 
zu  einem  Urtheil  über  das  phylogenetische  Werden,  so  kann  kein 
Zweifel  über  den  Verwachsungs Vorgang  bestehen.  Es  waren  die 
verwachsenen  Organe  bei  den  Vorfahren  wirklich  getrennt  und  führen 
also  ihren  Namen  auch  der  subtilsten  Kritik  gegenüber  mit  vollem 
Rechte. 

Was  den  unterständigen  Fruchtknoten  betrifft,  so  ist  darüber 
noch  folgendes  zu  bemerken.  Derselbe  soll  nach  der  jetzt  vorherr- 
schenden Lehre  lediglich  der  vertiefte  becherförmige  Blüthenboden 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  377 

sein,  welcher  auf  dem  Rande  die  beinahe  auf  die  Griffel  reduch'ten 
Carpelle,  sowie  die  übrigen  Blüthenblätter  trage.  Nach  dieser  Hypo- 
these, welche  sich  einzig  auf  die  mikroskopische  Beobachtung  der 
jungen  Zustände  stützt  und  die  Vergleichung  verwandter  Bildungen 
vernachlässigt,  wäre  das  Gynäceum  bei  Pflanzen  mit  oberständigem 
und  unterständigem  Fruchtknoten,  die  einander  oft  sehr  nahe  ver- 
wandt sind ,  nach  einem  wesentlich  verschiedenen  Plane  gebaut. 
Die  Carpelle  wären  von  der  Mitte  des  Blüthenbodens ,  wo  sie  sich 
bei  Oberständigkeit  befinden,  ziemlich  weit  weg  auf  den  vorstehenden 
Rand  gewandert  und  hätten  auf  dieser  Wanderung  ihren  wesent- 
lichsten Theil,  den  Fruchtknoten  eingebüsst;  es  wären  dabei  auch 
alle  inneren  Erscheinungen  (Septirung  u.  s.  w.) ,  die  sonst  dem  aus 
Carpellen  gebildeten  Fruchtknoten  zukommen,  auf  den  vertieften 
Blüthenboden  übergegangen.  Es  scheint  mir  nun  nicht,  dass  der 
Uebergang  von  so  wesentlich  verschiedenen  Bildungen  in  nahe  ver- 
wandten Familien  phylogenetisch  denkbar  wäre. 

Die  gegen theilige  Ansicht  dagegen ,  nach  welcher  im  unter- 
ständigen Fruchtknoten  die  Carpelle  enthalten  sind,  stösst  auf  gar 
keine  Schwierigkeiten.  Wir  sehen  in  der  Familie  der  Rosaceen,  dass 
die  verschiedenen  Formen  des  Blüthenbodens  leicht  in  einander 
übergehen ;  denn  es  gibt  hier  Gattungen  mit  gewölbtem,  flachem  und 
becherförmig  vertieftem  Blüthenboden.  Tritt  Vertiefung  ein,  so 
rücken  aber  die  Carpelle  nicht  etwa  allmählich  nach  aussen,  son- 
dern sie  behalten  ihre  Anheftung  im  Grunde  des  Bechers  (Rosa) 
und  verwachsen  in  dieser  Stellung  mehr  oder  weniger  mit  der 
Wandung  des  Bechers  (Pomeen).  Wird  die  Verwachsung  noch 
inniger  und  reicht  sie  vollständig  bis  oben,  so  ist  der  wirklich  unter- 
ständige Fruchtknoten  fertig. 

Die  Ansicht  von  der  theilweisen  Carpellnatur  des  unterständigen 
Ovariimis  wird  also  durch  Uebergangsbildungen  begründet.  Ueber- 
dem  gewinnt  dieselbe  eine  ausserordentliche  Wahrscheinlichkeit  dm'cli 
den  Umstand,  dass  die  Fächerung  dieses  Ovariums  mit  der  Stelkmg 
und  Zahl  der  Griffel  übereinstimmt,  und  dass  auch  die  Anheftung 
der  Ovula  ganz  die  gleiche  ist  wie  im  oberständigen  Ovarium. 

Ist  einmal  die  A'^erwachsung  phylogenetisch  vollzogen,  so  ist  es 
sehr  begreiflich ,  dass  die  individuelle  Entwicklungsgeschichte  von 
dem  Zustandekommen  nichts  mehr  sehen  lässt.  Denn  die  Ontogenie 
ist  zwar  die  Wiederholung   der  Phylogenie ,   aber  nur  in  ganz  sum- 


378  ^11-  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

marisclier  Weise.  Sie  würde,  ihrem  Ursprünge  gemäss,  das  Werden 
der  Abstammmigslinie  bis  ins  Einzelne  wiederholen,  wenn  nicht  die 
phylogenetische  Reduction  (Gesetz  VII)  eine  Menge  von  Uebergängen  in 
den  Ontogenien  unterdrückt  und  nur  die  Hauptstadien  übrig  gelassen 
hätte.  Die  Wirkungen  dieser  Reduction  liegen  im  Pflanzenreiche 
und  namentlich  in  der  individuellen  Entwicklungsgeschichte  der 
höheren  Thiere  in  anschaulicher  Weise  und  reichlicher  Menge  vor. 
Dem  entsprechend  sehen  wir  auch  von  den  phylogenetisch  erfolgten 
Verwachsungsprocessen  im  Individuum  gewöhnlich  nur  noch  das 
Resultat. 

Die  ontogenetische  Entwicklungsgeschichte  ist  zwar  für  die  Deu- 
tung der  Erscheinungen  ein  absolutes  Erforderniss,  ohne  welches  ein 
Schluss  nicht  zulässig  ist;  aber  sie  ist  dazu  nicht  ausreichend.  Sie 
lässt,  eljen  weil  sie  fragmentarisch  ist,  verschiedene  Deutungen  zu, 
und  sie  kann  erst  mit  Hülfe  der  systematischen  Verwandtschaft  und 
vergleichenden  Beobachtung  zu  der  richtigen  phylogenetischen  Er- 
klärung gelangen. 

Wenn  es  sicher  ist,  dass  in  dem  unterständigen  Fruchtknoten 
Carpelle  enthalten  sind,  so  folgt  daraus  nicht  nothwendig,  dass  immer 
auch  der  l^echerförmige  Blüthenljoden  daran  theilnehme.  Es  wäre 
möglich ,  dass ,  wie  die  Staubgefässe  an  die  Blumenkrone  oder  an 
den  Griffel  anwachsen  können,  in  manchen  Fällen  auch  Kelch, 
Krone  und  Stau])fäden  mit  dem  Fruchtknoten,  ohne  Beihülfe  des 
Blüthenbodens,  verwachsen  und  denselben  unterständig  machen. 


Die  phylogenetischen  Gesetze  I — IV  stinnnen  darin  überein,  dass 
Zellen,  Zelläste  oder  vielzellige  Organe,  welche  auf  der  früheren  Stufe 
sich  ganz  von  einander  lostrennen  oder  nur  stellenweise  verbunden 
sind ,  auf  der  späteren  Stufe  sich  zusammenlegen  und  mit  einander 
verschmelzen.  Wir  können  daher  die  4  Gesetze  als  ein  einziges 
allgemeines  phylogenetisches  Gesetz,  nämlich  das  der  Vereini- 
gung, aussprechen. 

Tb  eile,  die  ganz  oder  t  heil  weise  getrennt  sind, 
haben  die  Neigung,  sicli  immer  vollständiger  und 
inniger   in   ein    c o n t i n u i r  1  i c h e s  Gewebe   zu   vereinigen. 

Diese  phylogenetische  Vereinigung  geschieht  auf  zweierlei 
Arten.    Die  eine  Art  besteht  darin,  dass  Theile  (Zellen),  welche  auf 


VII    Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pflanzenreiches.  379 

der  früheren  Stufe  bei  der  Entstehung  einander  berühren  und  sich 
nachher  trennen ,  um  selbständig  zu  leben ,  auf  der  späteren  Stufe 
zeitlebens  vereinigt  bleiben  und  einen  zusammenhängenden  Körper 
bilden  (Ges.  I — III).  Mehrere  individuelle  Existenzen  werden  also 
zu  einer  einzigen.  Die  »Vereinigung«,  wenn  auf  das  Wort  Gewicht 
gelegt  wird,  besteht  nicht  darin,  dass  getrennte  Theile  während  der 
ontogenetischen  Entwicklung  in  Berührung  mit  einander  gelangen, 
sondern  darin,  dass  die  Trennung,  die  auf  der  unteren  phylogeneti- 
schen Stufe  eintritt,  auf  der  höheren  ausbleiljt. 

Die  andere  Art  der  Vereinigung  besteht  darin,  dass  Theile,  die 
auf  der  unteren  Stufe  nicht  in  Berührung  sind,  aiü"  der  höheren 
Stufe  sich  an  einander  legen  und  mit  einander  verwachsen.  Diese 
Theile  hängen  auf  der  unteren  Stufe  meistens  durch  Verzweigung 
zusanmien,  sodass  der  eine  mit  seinem  Grunde  an  dem  andern 
befestigt  ist  oder  dass  mehrere  gleichwerthige  auf  einem  gemeinsamen 
Träger  stehen  und  mittelbar  durch  diesen  zusammenhängen ;  auf  der 
höheren  Stufe  berühren  sie  sich  der  Länge  nach,  entweder  theilweise 
oder  vollständig  (Ges.  IV).  Auch  dieser  Process  wird  in  der  onto- 
genetischen Entwicklung  der  höheren  Stufe  gewöhnlich  nicht  mehr 
als  Vereinigungs -  oder  A^erwachsungsvorgang  sichtbar,  indem  die 
Theile,  die  auf  der  früheren  Stufe  getrennt  waren,  auf  der  höheren 
schon  bei  ihrem  Entstehen  sich  berühren  (congenitale  Verwachsung). 
- —  Hiervon  gibt  es  jedoch  Ausnahmen,  indem  es  auch  vorkommt, 
dass  Theile  während  der  nämlichen  Ontogenie  zuerst  getrennt  auf- 
treten und  nachher  mit  einander  verwachsen.  Ein  Beispiel,  wo  dies 
mit  selbständigen  Zellen  der  Fall  ist,  finden  wir  bei  den  (einzelligen) 
Hydrodictyeen,  deren  Zellen  bei  der  Entstehung  sich  berühren,  dann 
sich  loslösend  einzeln' schwärmen  und  nachher  sich  fest  an  einander 
anlegen. 

Die  phylogenetische  Vereinigung  spielt  im  Pflanzenreiche  zwar 
eine  ül^eraus  wichtige  Rolle,  da  ohne  sie  die  Pflanzen  nicht  aus  der 
Einzelligkeit  herausgekommen  wären ;  aber  sie  ist  hier  doch  in  viel 
geringerem  Umfange  thätig  als  im  Thierreich.  In  dem  letzteren 
sind  die  Organe  meistens  zu  einem  Leib  vereinigt,  und  es  sind  vor- 
zugsweise nur  die  Bewegungsorgane,  die  sich  in  ihrer  Freiheit  er- 
halten haben.  Im  Pflanzenreiche  verlangen  die  Assimilation,  wegen 
ihres  Lichtbedürfnisses,  und  die  Aufnahme  der  Nahrung  eine  grosse 
Oberfläche,  daher  Verzweigung  und  Ausbreitung  der  Substanz.    Diese 


380  ^'11-  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  Jes  Pflanzenreiches. 

Existenzbedingungen  verhindern  die  unbeschränkte  Verwirkhchung 
des  Vereinigungsbestrebens.  Die  Vereinigung  beschränkt  sich,  nach- 
dem die  Organe  zu  einer  bestimmten  Stärke  gelangt  sind,  vorzügUch 
auf  die  Sphäre  der  Fortpflanzung. 


Die  Verlängerung  der  Ontogenie  ist  in  den  bis  jetzt  betrachteten 
Fällen  (Ges.  I — III)  dadurch  geschehen,  dass  am  Ende  derselben  ein 
neues  Stück  angefügt  wurde ,  was  durch  Vegetativwerden  der  ge- 
schlechtslosen Keime  erfolgte.  Ein  solcher  Vorgang  erscheint  uns 
aber ,  wie  schon  früher  bemerkt  wurde ,  als  unmöglich ,  sobald  die 
Fortpflanzung  durch  geschlechtlich  differenzirte  Elemente  erfolgt, 
aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  eine  gleichartige  Weiterbildung 
durch  Anfügung  ungleichartiger  Theile  nicht  denkbar  ist.  Erfolgt 
er  gleichwohl,  so  hat  er  nicht  mehr  die  Bedeutung  einer  Verlänge- 
rung der  gemeinsamen  Ontogenie ,  sondern  nur  die  ungleichartige 
Verlängerung  derselben  in  der  Geschlechtssphäre,  indem  aus  ein- 
fachen männlichen  und  weiblichen  Fortpflanzungszellen  nach  den 
erörterten  drei  verschiedenen  Normen  (I,  II,  IV)  vielzellige,  eigen- 
thümlich  gebaute  Geschlechtsorgane  werden. 

Die  Verlängerung  der  gemeinsamen  Ontogenie  bei  den  Geschlechts- 
pflanzen geschieht  also  durch  Einschiebung  neuer  Theile  an  irgend 
einer  Stelle  zwischen  dem  Anfang  und  dem  Ende  der  vegetativen 
Entwicklung  vom  Keimstadium  bis  zur  Geschlechtssphäre  und  lässt 
sich  allgemein  ausdrücken  als 

V.  phylogenetisches  Gesetz. 

Ein  bestimmtes  früher  beschränktes  Wachsthum 
dauert  an,  oder  eine  bestimmte  früher  nur  einmal  vor- 
handene Bildung  von  Theilen  einer  Ontogenie  wieder- 
holt sich  (Ampliation). 

Beispiele  für  dieses  Gesetz  der  bloss  quantitativen  Zunahme 
sind  überall  vorhanden  bei  den  Geschlechtspflanzen,  indem  jede 
einzelne  mit  der  nämlichen  Fortpflanzung  begabte  Reihe  mit  klei- 
neren, aus  einer  geringeren  Zahl  von  Zellen  und  Organen  be- 
stehenden Pflanzen  beginnt  und  zu  grösseren,  mehr  zusammen- 
gesetzten Pflanzen  ansteigt,  so  bei  den  Phanerogamen,  den  Moosen, 


VII.  Phylogenetische  EntwickUingsgesetze  des  Ptlaiizonreiches.  381 

den  Florideen  und  den  anderen  Algengruppen.  Aber  der  reine 
gesetzmässige  Vorgang  der  Ampliation  tritt  kaum  je  klar  hervor, 
weil  er  immer  mit  anderen  phylogenetischen  Entwicklungsprocessen 
vergesellschaftet  ist  und  durch  sie  verdeckt  wird.  Während  nämlich 
die  Weiterbildung  der  Configuration  des  Idioplasmas  ein  verlängertes 
ontogenetisches  Wachsthum  und  eine  vermehrte  Bildung  von  Theilen 
des  Individuums  bewirkt ,  verursacht  sie  zugleich  verschiedene  Ver- 
änderungen in  Bau  und  ^^errichtung ,  die  als  Differenzirmig  und 
Arbeitstheilung ,  sowie  als  Bereicherung  durch  neue  chemische  und 
plastische  Vorgänge  uns  entgegentreten  mid  unsere  Aufmerksamkeit 
fesseln,  und  die  ich  als  VI.  j^hylogenetisches  Gesetz  zusammenfassen 
werde.  Ich  habe  die  rein  quantitative  Zunahme  einzelner  Partien 
der  Ontogenie  als  besonderes  Gesetz  ausgesprochen,  weil  dieselbe 
nicht  notlnvendig  mit  der  qualitativen  Veränderung  des  VI.  Gesetzes 
verbunden,  sondern  bis  zu  einem  gewissen  Grad  selbständig  erscheint. 
Denn  es  kann  einerseits  eine  starke  Zunahme  bei  sehr  geringer  Ver- 
änderung, und  andrerseits  eine  beträchtliche  Veränderung  bei  geringer 
oder  mangelnder  Zunahme  erfolgen.  Desshalb  sind  diese  beiden 
Componenten  der  phylogenetischen  Entwicklmig  in  der  wissenschaft- 
lichen Betrachtung  auseinander  zu  halten. 

Die  quantitative  Zunahme  der  Ontogenie  ist  überall  als  möghch 
zu  denken,  wo  bereits  ein  Wachsthumsprocess  thätig  ist;  denn  sie 
setzt  bloss  voraus,  dass  dieses  Wachsthum  andauere,  d.  h.  dass  die 
Erregung  der  bezüglichen  Anlage  im  Idioplasma  sich  öfter  als  bisher 
wiederhole.  Desshalb  kann  jeder  Organismus  bloss  in  bestimmten 
Richtungen  seine  Ontogenie  verlängern.  Nur  wenn  beispielsweise 
eine  bestimmte  intercalare  Zelltheilung  schon  vorhanden  ist,  kann 
sie  im  Verlaufe  der  Phylogenie  häufiger  eintreten;  aber  es  kann 
keine  andersartige  intercalare  Zelltheilung  neben  ihr  erfolgen.  Die 
Florideen,  die  der  früher  besprochenen  Reihe  angehören  (S.  372 — 374), 
vermögen  nicht  auf  dem  Wege  der  intercalaren  Zelltheilung  sich 
weiter  zu  bilden,  weil  ihnen  diese  Zelltheilung  ganz  mangelt;  ihre 
phylogenetische  Entwicklung  geschieht  bloss  durch  Zunahme  des 
Scheitelwaclisthums  und  der  Zweigbildung.  Die  Nostochaceen  und 
Oscillariaceen,  bei  denen  das  intercalare  Wachsthum  bloss  in  Einer 
Richtung  thätig  ist,  können  auch  nur  in  dieser  Richtung  sich  weiter 
entwickehi,  wie  wir  dies  bei  den  Scytonemaceen  und  Rivulariaceen 
sehen ;  und  wenn  in  einer  Familie  der  Nostochinen  (bei  den  Stigone- 


382  ^'^11-  Pliy^ogf'^ctische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

maceen)  aucli  Zelltheilung  in  anderer  Richtung  auftritt,   so  kommt 
dabei  noch  eine  andere  pliylogenetisclie  Ursaclie  zur  Geltung. 


Jeder  Organismus  und  jede  individuelle  Partie  desselben  besteht, 
wenn  wir  die  pliy logen etischen  Reihen  weit  genug  rückwärts  ver- 
folgen, ursprünglich  aus  gleichen  Theilen.  Die  Regionen  einer 
Zelle,  ebenso  die  Richtungen  in  derselben,  unterscheiden  sich  nicht 
von  einander,  dessgleichen  die  Zellen  eines  vielzelligen  Gebildes  und 
die  Organe  eines  Organcomplexes,  indem  jeder  Tlieil  die  näudichen 
Functionen  ausübt  wie  die  andern.  Dann  werden  die  Theile  un- 
gleich, indem  die  Functionen,  die  früher  unterschiedslos  allen  zu- 
kamen, sich  so  scheiden,  dass  jeder  einzelne  bloss  eine  Partie  der- 
selben übernimmt,  was  gewöhnlich  als  Differenzirung  bezeichnet 
w^rd.  Die  Ungleichheit  der  differenzirten  Theile  ist  anfänglich 
gering ;  sie  wird  im  phylogenetischen  Verlaufe  beträchtlicher,  indem 
die  Differenzirung  in  verstärktem  Grade  durchgeführt  wird ,  indem 
ferner  die  geschiedenen  Functionen  eine  Steigerung  erfahren ,  und 
indem  endlich  als  nothwendige  Folge  der  stattgefundenen  Um- 
lagerung  neue  Functionen  in  den  ungleich  gewordenen  Theilen 
auftreten  (S.  341  §  2). 

Jede  Differenzirung  kann  eine  räumliche  oder  eine  zeitliche  sein. 
Bei  der  räumlichen  Differenzirung  werden  die  neben  einander  vor- 
kommenden Theile  einer  Ontogenie,  mögen  dieselben  gleichzeitig 
oder  ungleichzeitig  entstanden  sein,  ungleich.  Bei  der  zeitlichen 
Differenzirung  werden  die  von  einander  abstammenden  und  einander 
ersetzenden  Theile,  mögen  dieselben  Generationen  von  selbständigen 
Individuen  oder  Entwicklungsstadien  eines  Individuums  darstellen, 
ungleich.  Gewöhnlich  bezeichnet  man  nur  die  erstere  Veränderung 
als  Differenzirung ;  die  letztere  zeigt  aber  die  gleichen  Erscheinungen 
und  folgt  den  nändichen  Gesetzen.  Wir  können  somit  die  allge- 
meine Norm  folgendermaassen  aussprechen: 

VI.  phylogenetisches  Gesetz. 

Die  Theile  einer  Ontogenie  werden  ungleich,  indem 
die  früher  vereinigten  Functionen  auseinander  gelegt, 
und  indem  in  den  verschiedenen  Theilen  neue  ungleich- 


VII.  Phj'loEconetisclie  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  383 

artige  Functionen  erzeugt  werden.  Diese  Differenzirung 
ist  entweder  eine  räumliche  zwischen  den  nehen  ein- 
ander vorkommenden,  oder  eine  zeitliche  zwischen  den 
von  einander  abstammenden  Th eilen  der  Ontogenie. 

Von  den  im  Pflanzenreiche  äusserst  zahlreich  vertretenen  räum- 
lichen Differenzirungen  will  ich  einige  herausheben,  bei  denen  der 
Vorgang  klar  hervortritt.  Unter  den  Lycopodiaceen  gibt  es  Arten 
(L.  Selago),  bei  denen  die  Laubblätter  nicht  bloss  die  Assimilation 
vollbringen,  sondern  auch  die  Sporangien  erzeugen.  Bei  anderen  Arten 
(L.  clavatum)  hat  sich  die  Scheidung  der  vegetativen  und  reproduc- 
tiven  Processe  in  der  Weise  vollzogen,  dass  die  unteren  Blätter  grün 
und  ohne  Sporangien,  die  obersten,  zu  Fruchtähren  oder  vielmehr 
Blüthen  zusammengestellten  Blätter  blassgrün  und  sporangi entragend 
sind.  —  Eine  analoge  Differenzirung  findet  bei  den  Farnen  statt. 
Die  Mehrzahl  derselben  trägt  die  Fruchthäufchen  auf  den  unver- 
änderten grünen  Blättern.  Bei  einigen  (Osmunda,  Schizaea,  Lygo- 
dium,  Aneimia)  ist  der  untere  Theil  der  Blätter  ausgebreitet  und 
grün,  der  oberste  zusammengezogen  und  fruchttragend.  Einige  andere 
(Struthiopteris ,  Allosoms,  Blechnum)  haben,  neben  den  breiteren, 
bloss  assimilirenden  Blättern  schmälere,  ganz  mit  Sporangienhäufchen 
bedeckte  Blätter.  —  Weitergehende  Differenzirungen,  sowohl  zwischen 
den  Theilen  eines  Blattes  als  zwischen  den  ganzen  Blättern ,  voll- 
ziehen namentlich  sich  bei  den  Phanerogamen,  bieten  aber  in  ihrer 
Mehrzahl  einer  genauen  Analyse  des  Vorganges  grössere  Schwierig- 
keiten dar. 

Die  Verzweigungen  einer  Pflanze  sind  auf  den  untersten  Stufen 
einer  jeden  phylogenetischen  Reihe  qualitativ  einander  gleich,  indem 
sie  gleichen  Bau  und  gleiche  Verrichtungen  besitzen ;  auf  den  fol- 
genden Stufen  treten  zwei,  dann  mehrere  Ungleichheiten  auf.  Die 
erste  Differenzirung  besteht  gewöhnlich  darin,  dass  die  einen  Ver- 
zweigungen ausschliesslich  vegetativ,  die  andern  reproductiv  werden, 
womit  meistens  der  andere  Unterschied  verbunden  ist,  dass  die 
vegetativen  Strahlen  (Achsen)  ein  stärkeres,  häufig  ein  unbegrenztes 
Längen wachsthum  zeigen,  während  die  reproductiven  Strahlen  kürzer 
und  immer  begrenzt  bleiben.  —  Als  Beispiel  will  ich  den  Blüthen- 
stand  der  Phanerogamen  anführen.  Bei  manchen  derselben  geht  der 
Laubblattspross  in  einen  terminalen  Blüthenstand  aus ,  an  welchem 
jeder  Strahl   mit  einer   Blüthe   abschliesst   (Fig.  19  a);    die  Blüthen 


384  ^'11-  Pliylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflan/.enreiches. 

sind  durch  die  kleinen  Kreise  angedeutet.  Andere  haben  sich  in 
der  Weise  weitergebildet,  dass  der  mittlere  Strahl  des  Blüthenstandes, 
indem  seine  Blüthe  verkümmert,  zum  Träger  für  die  blüthengekrönten 
Seitenstrahlen  wird,  wobei  er  sich  gewöhnlich  durch  stärkeres  Längen- 
wachsthum  auszeichnet  (Fig.  11)  b).  Die  gleichzeitige  A^eränderung, 
die  darin  besteht ,  dass  die  Seitenstrahlen ,  von  denen  die  unteren 
ursprünglich  grösser  und  stärker  verzweigt  sind,  einander  gleich  und 
unverzweigt  werden  (Fig.  19  c),  ist  mittels  vollständig  durchgeführter 
Differenzirung  unter  Mitwirkung  einer  anderen  Ursache  (der  Reduc- 
tion),  die  in  dem  VII.  phylogenetischen  Gesetz  dargelegt  wird,  zu 
erklären.  Die  gleiche  Umbildung  eines  geschlossenen  Systems  (Fig.  19a) 
in  ein  ungeschlossenes  (b,  c)  kommt  bei  lateralen  Inflorescenzen  vor.  — 
Durch  Rückschlag  kann  der  ungeschlossene  Blüthenstand  abnormal 
zu  einem  geschlossenen  werden ,  indem  die  phylogenetisch  verküm- 


i''ig.  li». 


merte  aber  noch  als  latente  Anlage  im  Idioplasma  vorhandene 
Mittelblütlie  wieder  zur  Entfaltung  gelangt  (Scrophulariaceen ,  Um- 
belliferen). 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  385 

In  dem  angeführten  Beispiel  findet  eine  möglichst  geringe 
DifEerenzirung  statt,  indem  der  mittlere  Strahl  des  ßlüthenstandes, 
der  auf  den  unteren  Stufen  einer  phylogenetischen  Reihe  selber 
blüthenbildend  ist  und  die  blüthenbild enden  Seitenstrahlen  erzeugt, 
auf  den  höheren  Stufen  die  erste  Function  vollständig  den  Seiten- 
strahlen überlässt  und  dafür  die  zweite  um  so  ausgiebiger  vollzieht. 
Eine  bedeutendere  Differenzirung  besteht  darin,  dass  auf  den  unteren 
Stufen  die  Laubblattsprosse  in  Blüthen  oder  Blüthen stände  ausgehen, 
also  zugleich  vegetativ  und  reproductiv  sind  (Ranunculaceen,  Cruci- 
feren),  indess  auf  den  höheren  Stufen  ein  ausschliesslich  vegetatives 
Verzweigungssystem  seitliche  reproductive  Verzweigungssysteme  (Inflo- 
rescenzen)  trägt  (Papilionaceen).  Auf  den  unteren  Stufen  endigt  der 
Laubblattspross  in  eine  Blüthe  oder  in  eine  Blüthenspindel  mit  seit- 
lichen Blüthen ,  auf  den  höheren  Stufen  sind  die  Laubblattsprosse 
bis  zur  S|)itze ,  die  meistens  unbegrenzt  in  die  Länge  wächst ,  mit 
Laubblättern  besetzt.  Die  Differenzirung  von  den  unteren  zu  den 
höheren  Stufen  hat  sich  ohne  Zweifel  allmählich  vollzogen ,  in  der 
Weise,  dass  die  Hauptsprosse  sich  immer  mehr  verlängerten  und  zuletzt 
ausschliesslich  vegetativ  wurden ,  indess  die  seitlichen  Sprosse  sich 
verkürzten  und  am  Ende  unter  ^^erlust  der  Laubblätter  nur  noch 
die  Function  der  Blüthenbildung  behielten.  Hiebei  hat  ebenfalls  die 
Reductionsursache  des  VII.  Gesetzes  mitgewirkt. 

Eine  Differenzirung  der  jährlich  aus  dem  Wurzelstock  auf- 
schiessenden  Triebe  in  vegetative  und  reproductive  findet  in  der 
Gattung  Equisetum  statt.  Die  einen  Arten  (E.  palustre)  besitzen  einen 
Laubstengel,  der  in  eine  Fruchtähre  (Blüthe)  ausgeht,  während  bei 
E.  arvense  u.  s.  w.  die  einen  Tiiebe  nicht  fructifizirend  und  grün, 
die  anderen  nichtgrün,  schaftartig  und  fructifizirend  sind. 

Wenden  wir  unsern  Blick  nach  dem  Aufbau  der  Organe  aus 
den  Zellen,  so  lässt  die  grosse  Mannigfaltigkeit  in  der  Gewebebildung 
der  Gefässpflanzen  auch  auf  eine  vorausgegangene  reichliche  Diffe- 
renzirung schliessen.  Allein  die  Deutung  ist  meistens  nicht  so  ein- 
fach, als  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  möchte.  Die  wichtigsten 
Differenzirungen  treten  uns  nämlich  schon  fertig  entgegen  und  lassen 
sich  nicht  in  ihrem  Entstehen  verfolgen,  da  ja  die  ganze  ph3'logene- 
tisclie  Entwicklungsreihe  vom  Moossporogonium  bis  zur  Gefässpflanze 
ausgestorben  ist.  Man  spricht  zwar  bezüglich  der  Gewebebildung 
der  Gefässpflanzen  viel  von  Differenzirung,  indem  man  den  ursprüng- 

V.  Nägeli,  Abstammungslelire.  25 


38ß  ^"11-  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

liehen  gleichförmigen  merismatischen  Zustand  als  einen  undifferen- 
zirten  bezeichnet,  der  sich  dann  zu  der  mannigfaltigen  Beschaffenheit 
des  fertigen  Zustandes  differenzire.  Doch  hat  das  Wort  bei  dieser 
Anwendung  im  Grunde  bloss  einen  wissenschaftlichen  Klang.  Wenn 
wir  mit  demselben  einen  wissenschaftlichen  Begriff  verbinden  wollen, 
so  kann  es  wohl  nur  so  geschehen,  wie  ich  es  im  VI.  phylogene- 
tischen Gesetz  ausgesprochen  habe,  dass  nämlich  gleichartige  Theile 
durch  Scheidung  ihrer  Functionen,  also  durch  Arbeitstheilung,  un- 
gleich werden.  Die  Differenzirung  ist  ein  j^hylogenetischer  Vorgang; 
sie  kommt  nicht  während  der  ontogenetischen  Entwicklung  zu  Stande. 
Was  man  hier  mit  Unrecht  als  Differenzirung  bezeichnet,  ist  nm^ 
die  Entfaltung  der  ungleichen  Anlagen.  Die  Zellen  in  den  jüngsten 
Geweben  sind  bloss  scheinbar  gleich;  in  Wirklichkeit  sind  sie  eben 
so  sehr  verschieden  wie  im  entfalteten  Zustande ;  aber  die  Verschieden- 
heiten entziehen  sich  unserer  Wahrnehmung,  weil  sie  sich  noch  im 
Zustande  der  Anlage  befinden.  —  In  manchen  Fällen  gibt  uns  zwar 
die  ontogenetische  Entwicklung  Aufschluss  über  das  ^phylogenetische 
Werden.  Aber  gerade  rücksichtlich  der  Gewebebildung  trifft  diese 
Uebereinstimmung  gewiss  am  seltensten  und  auch  am  wenigsten  auf- 
fällig zu. 

Wir  müssen  daher  sichere  Beispiele  für  Differenzirungen  zwischen 
Zellen  bei  den  sog.  Zellenpflanzen  aufsuchen ,  und  wir  finden  sie 
da  um  so  leichter,  je  einfacher  und  näher  verwandt  die  phylogene- 
tischen Stadien  sind,  die  durch  die  jetzt  lebenden  Pflanzen  angedeutet 
werden.  Die  augenfälligsten  Thatsachen  bietet  uns  auch  hier  die 
Scheidung  der  vegetativen  und  reproductiven  Vorgänge,  indem  im 
allgemeinen  auf  den  untersten  Stufen  jede  Zelle  zuerst  vegetativ  ist 
und  nachher  Keime  bildet,  indess  auf  den  folgenden  Stufen  die 
einen  Zellen  ihre  vegetative  Natur  zeitlebens  behalten,  andere  Zellen 
aber  die  Assimilationsthätigkeit  mehr  oder  weniger  beschränken  und 
dafür  die  Fortpflanzung  übernehmen. 

Eben  so  offen  liegt  die  Arbeitstheilung  zwischen  den  Fort- 
pflanzungszellen selber.  Auf  der  untersten  Stufe  sind  die  Schwärm- 
sporen der  Algen  einander  in  jeder  Beziehung  vollkommen  gleich; 
aus  jeder  entsteht  eine  neue  Pflanze.  Der  erste  Differenzirungsprocess 
gibt  sich  darin  kund ,  dass  die  Schwärmsporen  einander  anziehen, 
in  Folge  dessen  in  Berührung  kommen  und  vermöge  ihrer  weichen 
plasmatischen  Beschaffenheit  mit  einander  zu  Einer  Zelle  verschmelzen. 


VlI.  Pliylogenetipche  "Rntwicklunpsjiesetze  des  Pflanzenreiches.  387 

Diese  Anziehung  kann  nach  unserer  jetzigen  Kenntniss  der  Natur- 
kräfte bloss  elektrischer  Natur  sein  (S.  220).  Jedenfalls  muss,  wie 
klar  aus  den  beobachteten  Thatsachen  hervorgeht,  die  Anziehung 
durch  Kräfte  bewirkt  werden,  welche  sich  insofern  wie  die  Elektri- 
citäten  verhalten,  als  die  ungleichnamigen  sich  anziehen.  Denn  es 
gibt  Algen,  bei  denen  die  Schwärmzellen  des  nämlichen  Sporangiums 
(Ulothrix,  Acetabularia)  oder  der  nämlichen  Pflanze  (Dasj^cladus) 
unfähig  smd,  sich  mit  einander  zu  copuliren,  die  sich  also  nicht 
anziehen  sondern  abstossen.  Die  A'^ereinigung  findet  in  diesen  Fällen 
nur  dann  statt,  wenn  die  Schwärmsporen  mit  solchen  aus  bestimmten 
anderen  Sporangien  oder  von  bestimmten  anderen  Pflanzenindividuen 
zusanunenkommen . 

Diese  Erscheinung  kann  auf  keine  andere  Weise  erklärt  werden 
als  durch  die  Annahme,  dass  die  Schwärmsporen  von  doppelter 
Beschaffenheit  sind ,  a  und  b ,  dass  nur  a  mit  b  sich  zu  coj)uliren 
vermag,  und  dass  die  einen  Zellen  oder  die  einen  Pflanzenstöcke 
bloss  a,  die  andern  bloss  b  erzeugen.  Wenn  es  im  Gegensatze  hiezu 
auch  solche  Algen  gibt,  bei  denen  Copulation  zwischen  den  Schwärm- 
zellen des  nämlichen  Sporangiums  stattfindet  (Hydrodictj^on,  Botry- 
dium,  Endosphaera,  Chlorochytrium),  so  zeigt  dieser  Umstand  bloss, 
dass  schon  Geschwisterzellen  die  ungleiche  Natur  a  mid  b  annehmen 
können. 

Die  einfachste  und  natürlichste  Deutung  des  phylogenetischen 
Vorganges  ist  nun  die,  dass  in  den  Schwärmsporen  der  ersten  Stufe 
die  beiden  (a  und  b)  Kräfte  vereinigt  sind  und  sich  neutralisü"en, 
dass  dieselben  auf  der  zweiten  Stufe  sich  getrennt  haben,  so  dass 
die  einen  Schwärmsporen  negativ,  die  andern  positiv,  die  einen 
männlich  also  Spermatozoide,  die  andern  weiblich  also  Eizellen  sind. 
Diese  Deutung  erleidet  keinen  Eintrag  durch  die  Thatsache,  dass 
zuweilen  mehr  als  zwei  Schwärmzellen  sich  mit  einander  vereinigen 
(Botrydimn,  Hydrodictyon).  Es  ist  leicht  denkbar,  dass  die  positiven 
und  negativen  Kräfte  der  Geschlechtszellen  quantitativ  ungleich  sind, 
und  dass  beispielsweise  eine  b-Zelle  dm'ch  2  bis  5  a-Zellen  oder 
2  b-Zellen  durch  3  a-Zellen  neutralisirt  werden. 

Die  vorgetragene  Theorie  erklärt  auch  den  sonst  räthselhaften 
Umstand,  dass  die  differenzirten  und  zur  Copulation  bestimmten 
Schwärmsporen  für  sich  allein  nicht  keimfähig  sind.  Als  Bedingung 
der  Entwicklungsfähigkeit  ist  ein  gewisses  Gleichgewicht   der  elek- 

25* 


,'j88  VII.  PhyU>f;e netische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

trischen  Kräfte  nothwondig  und  dieses  ist  in  den  Gesclilechtszellen 
gestört.  Die  Erscheinung,  dass  ausnahmsweise  die  Sehwärmsporen 
der  zweiten  Stufe,  ohne  sich  zu  copuhren,  zur  Keimung  gelangen, 
ist  als  Rückschlag  auf  die  erste  Stufe  zu  betrachten,  indem  die 
Scheidung  der  sexuellen  Kräfte  unterbleibt  und  die  Geschlechtszellen 
parthenogenetisch  oder,  wenn  es  männliche  Zellen  sind,  eitheogenetisch 
sich  entwickeln.  Möglicher  Weise  ist  ferner  der  allererste  Schritt 
der  Differenzirung  nicht  vollständig  und  der  sexuelle  Charakter  der 
untersten  Geschlechtspflanzen  noch  wenig  ausges})rochen,  indem  die 
Fortpflanzungszellen  neben  neutralisirter  Geschlechtselektricität  geringe 
Mengen  von  positiven  oder  negativen  Kräften  enthalten  und  in  Folge 
dessen  eben  so  wohl  zum  Einzelleben  als  zur  Copulation  befäliigt  sind. 

Die  sich  copulirenden  Scliwärms|)oren  der  zweiten  Stufe  haben 
sich  bloss  rücksichtlich  der  Geschlechtselektricitäten  differenzirt. 
Männliclie  und  weibliche  Elemente  sind  einander  in  Grösse,  Gestalt 
und  Beschaffenheit  der  Substanz  vollkommen  gleich.  Desswegen 
wurde  auch  iln-e  Vereinigung  als  Copulation  gleicher  Zellen  be- 
trachtet. Insbesondere  konnnt  ihnen  die  nämliche  Beweglichkeit 
und  der  nämliche  Gehalt  an  Ernährungsjilasma  und  an  nicht  plas- 
matischen  Substanzen  zu.  Diese  Eigenschaften  sind  es  nun,  welche 
zu  weiterer  Differenzirung  die  Veranlassung  geben.  Den  männlichen 
Elementen  bleibt  die  Beweglichkeit,  indess  sie  die  nicht  idioplas- 
]natischen  Substanzen  verlieren  und  zuletzt  bloss  noch  aus  Idioplasma 
bestellen.  Die  weiblichen  Elemente  hingegen  verlieren  die  Beweg- 
lichkeit und  werden  dafür  mit  Ernährungsplasma  und  mit  nicht- 
plasmatischen  Stoffen  ausgestattet.  Die  Verschiedenheit  zwischen 
den  männlichen  und  weiblichen  Zellen  wird  übrigens  noch  sehr 
gesteigert  durch  die  hinzutretenden  Anpassungsveränderungen.  —  Die 
genannten  Differenzirungen  haben  sich  ganz  allmäldich  vollzogen, 
Avas  auch  von  Seite  der  Erfahrung  durch  die  nocli  vorhandenen 
Uebergangsglieder  bestätigt  wird.  Uebrigens  ist  noch  zu  bemerken, 
dass  die  angefüln'te  Differenzirung  einer  bestimmten  phylogenetischen 
Reihe  angehört,  und  dass  es  überdem  Andeutungen  für  andere  mehr 
oder  weniger  abweichende  Reihen  bei  den  Algen  gibt. 

]''.iue  gleiche  Differenzirung  wie  an  den  Schwärmsporen  vollzieht 
sich  an  d(!n  (ruhenden)  Tetrasporen  der  Gefässkryptogamen.  Die- 
jenigen der  Filices  sind  noch  uiidifferenzirt ;  aus  jeder  Spore  ent- 
wickelt sich  ein  gleicher  Vorkeim  (Prothallium).   Bei  den  Equisetaceen 


VII.  Phylogenetische  EutwickUuigsgesetze  des  Pfiaiizenreiehes.  380 

haben  sich  die  geschlechthchen  Kräfte  geschieden;  bei  gleicher 
Grösse  und  Gestah  erzeugen  die  einen  Sporen  männhche,  die  anderen 
weibHche  Vorkeime.  Die  höchsten  Gefässkryptogamen  haben  männ- 
hche und  weibhche  Sporen,  die  ausserdem  noch  in  Grösse  und  Zahl 
sich  von  einander  unterscheiden,  indem  Anpassung  (Gesetz  Ylll) 
und  Reduction  (Gesetz  VII)  zu  der  Geschlechtsdifferenz  hinzuge- 
kommen sind. 

Als  Beispiel,  wie  die  DifEerenzirung  zwischen  den  Zellen  erfolgt, 
will  ich  noch  die  Theilung  derselben  betrachten  und  zwar  die  Zwei- 
theihmg  der  gewöhnlichen,  mit  einer  Cellulosemembran  umkleideten 
Pflanzenzellen,  so  dass  der  Process  charakterisirt  wird  durch  die 
Gestalt  und  Beschaffenheit  der  Zellen  und  die  Lage  der  Scheide- 
wand. Die  Art  und  Weise,  ^\ie  eine  Zelle  sich  theilt,  hängt  über- 
hauj^t  von  der  Anordnung  der  scheidewandbildenden  Stoffe  und 
Kräfte  ab,  in  diesem  Falle,  da  es  sich  um  die  phylogenetischen 
Veränderungen  der  erblichen  Eigenschaften  handelt,  von  der  Be- 
schaffenheit und  Anordnung  des  Idioplasmas  und  der  durch  die 
Torausgehende  Thätigkeit  des  Idioplasmas  erzeugten  nicht  iclioplas- 
matischen  Substanzen. 

Auf  den  untersten  Stufen  der  phylogenetischen  Entwicklungs- 
reihen sind  die  Stoffe  und  Kräfte  in  den  einzelligen  Pflanzen  ganz 
gleichmässig  um  den  Mittelpunkt  vertheilt,  wodurch  die  Kugelgestalt 
der  Zelle  und  die  Theilung  derselben  in  zwei  gleiche  Hälften  bedingt 
wird  (manche  Chroococcaceen  und  Palmellinen).  Weiterhin  findet 
eine  Reihe  von  Differenzirungen  zwischen  den  verschiedenen  Rich- 
tungen innerhalb  der  Zelle  statt,  indem  sich  eine  Achsenrichtung 
mit  gleichen  Achsenenden  ausscheidet  und  die  Dimensionen  in  den 
zur  Zellenachse  senkrechten  Ebenen  verschiedene  Abstufungen  der 
Symmetrie  annehmen.  Der  Charakter  der  Theilung  bleibt  aber  noch 
derselbe,  indem  die  entstehende  Scheidewand,  welche  die  Achse  stets 
rechtwinklig  schneidet,  die  Zelle  in  zwei  gleiche  Hälften  zerlegt. 
Beispiele  hiefür  finden  wir  bei  einzelligen  Pflanzen:  Chroococcaceen, 
Palmellinen,  Desmidiaceen,  Diatomeen  und  Schizomyceten,  und  bei 
vielzelligen  Familien :  Nostochaceen ')  Oscillariaceen,  Zj^gnemaceen 
und  anderen  Algen. 


')  Die  Angabe,  dass  in  den  Hormogonien  (Fadenstücken)  von  Nostoc  die 
Zelltheihtngen,  statt  in  der  Richtung  der  Achse  des  Fadens,  auch  senkrecht  zu 
derselben  geschehen,  kann  ich  nach  vieljährigen  Beobachtungen  nicht  bestätigen, 


390  ^^I-  Phylogenetische  Eiitwieklungsgesetze  des  nianzenreiehes. 

Eine  neue  und  wichtige  Differenzirung  tritt  nun  in  der  Achsen- 
richtung selber  ein,  so  dass  die  Zelle  zwei  ungleiche  Enden  (Pole) 
hat  und  durch  die  zur  Achse  senkrechte  Theilungswand  in  zwei 
ungleiche  Hälften  zerfällt.  Die  beiden  Kindzellen  können  hei  gleicher 
Grösse  und  Gestalt  ungleichen  Inhalt,  d.  h.  ungleiche  Mengen  von 
Idioplasma  und  anderen  Substanzen,  enthalten,  oder  es  können  auch 
ihre  Grösse  und  Gestalt  verschieden  sein.  Diese  Ungleichheit  ist 
auf  den  tieferen  Stufen  einer  bestimmten  phylogenetischen  Reihe 
gering;  sie  wird  auf  den  folgenden  Stufen  beträchtlicher,  bis  sie 
zuletzt  den  ausgesprochensten  Charakter  der  eigentlichen  Sj^rossung 
angenommen  hat  (S.  3G5,  Fig.  17  1,  k,  g,  f,  a). 

Eine  andere  phylogenetische  Reihe  führt  zum  Scheitelwachs- 
thum  des  einreihigen  Zellfadens.  Die  Ungleichheit  in  der  Vertheilung 
des  Idioplasmas  und  Ernährmigsplasmas  auf  die  beiden  Achsenseiten 
wird  schliesslich  so  gross,  dass  von  den  beiden  Kindzellen  die  eine 
vollkommen  die  Natur  der  Elterzelle  hat  und  wieder  eine  Scheitel- 
zelle ist,  während  die  andere  als  Gliederzelle  wesentlich  andere  Eigen- 
schaften besitzt.  Der  Zelleninhalt  der  Scheitelzelle  ist  wie  auf  den 
vorausgehenden  phylogenetischen  Stufen  in  den  die  Achse  recht- 
winklig schneidenden  Ebenen  gieichmässig  über  die  verschiedenen 
Radien  vertheilt,  und  in  Folge  dessen  schneidet  die  entstehende 
Theilungswand  die  Achse  immer  noch  unter  einem  rechten  Winkel 
(manche  Confervoiden,  Fucoiden,  viele  Florideen,  die  Characeen  etc. ; 
Fig.  20  a). 

Die  einzig  noch  mögliche  Differenzirung  in  der  Anordnung  des 
Inhaltes  der  Scheitelzelle  bezüglich  der  Richtung  besteht  darin,  dass 
die  zur  Achse  rechtwinkligen  Ebenen  ungleichhälftig  werden,  indem 
auf  der  einen,  mit  der  Achse  parallel  laufenden  Seite  Idioplasma 
und  Ernährungsplasma  sich  anders  verhalten  als  auf  der  gegenüber 
liegenden  Seite.  Damit  verträgt  sich  eine  zur  Achse  senkrechte 
Theilungswand  nicht  mehr.  Aus  der  ungleichen  Anordnung  des 
Inhaltes  in  der  Längsrichtung  und  in  der  Querrichtung  der  Scheitel- 
zelle ergibt  sich  mit  mechanischer  Nothwendigkeit  eine  schiefe  Lage 
der  Theilungsebene.    Diese  Differenzirung  in  der  Querrichtung  ging 


und  ich  glaube,  dass  jener  Angabe  ein  Irrthuiu,  veranlayst  durcli  die  1)ei  den 
Schizophyten  nicht  seltene  Verschiebung  der  Zellen,  zu  Grunde  liegt.  Diese  Ver- 
schiebungen sind  oft  so  gross,  dass  man  nur  bei  genauer  Verfolgung  der  Ent- 
wicklungsgeschichte sich  zurecht  zu  finden  vermag. 


YII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 


391 


ohne  Zweifel  phylogenetisch  ganz  allmählich  vor  sich  (Fig.  20  h  stellt 
eine  Uebergangsstufe  dar;  Andeutungen  hiezu  finden  sich  bei 
Florideen),  und  führte  zu  dem  Scheitelwachsthum  durch  schiefe 
Wände,  welche  auf  der  einen  Seite  die  Aussenwand  der  Schoitelzelle, 
auf  der  andern  Seite  die  frühere  Theilungswand  berühren  (Fig.  20  c), 
wie  es  bei  den  höheren  Florideen,  den  Moosen,  Gefässkryptogamen 
und  einigen  Phanerogamen  bekannt  ist. 


Fig.  20. 

Eine  analoge  Differenzirung  wie  beim  Scheitelwachsthum,  welches 
als  peripherisches  Längenwachsthum  gegenüber  dem  intercalaren  zu 
bezeichnen  ist,  vollzieht  sich  ebenfalls  bei  dem  übrigen  peripherischen 
^^^achsthum.  Auch  hier  ist  in  den  Zellen  eine  Achsenrichtung  mit 
ungleichen  Enden  bereits  ausgebildet ;  auf  den  tieferen  Stufen  besteht 
in  den  zur  Achse  rechtwinkligen  Ebenen  allseitiges  Gleichgewicht 
der  auf  die  Theilung  einwirkenden  Stoffe  und  Kräfte,  indess  auf  den 
höheren  Stufen  dieses  Gleichgewicht  gestört  ist. 

Beim  peripherischen  Breitenw^achsthum  sind  es  die  Rand- 
zellen eines  einschichtigen  oder  eines  flachen  mehrschichtigen  Organs, 
welche  sich  theilen.  Wenn  der  bei  der  Theilung  der  Randzelle 
maassgebende  Inhalt  rings  um  ihre  auf  die  Mitte  des  Randes  treffende 
Medianlinie  gleichmässig  angeordnet  ist,  so  zerfällt  die  Randzelle 
entweder  durch  eine  mit  der  Randfläche  parallele  Wand  in  eine 
Flächenzelle  und  eine  neue  Randzelle  (Fig.  21  a)  oder  durch  eine 
mit  der  Medianlinie  zusammenfallende  halbirende  AVand  in  zwei 
neue  Randzellen  (Fig.  21  b).  —  Ist  der  Inhalt  in  Folge  eingetretener 
Differenzirung  rings  um  die  Medianline  ungleichmässig  vertheilt,  so 
erfolgt  schiefe  Theilung  und  zwar  gewöhnlich  in  der  Weise,  dass 
eine  Kante  (meist   die   akroskope)  durch   eine  Wand  abgeschnitten 


392 


\n.  Phylogenetische  Entwickhiiigporesetze  des  Pflanzenreiches. 


wird  (Fig.  21  c),  worauf  dann  die  andere  Kante  ebenfalls  durch  eine 
schiefe  Wand  abgetrennt  wird  (Fig.  21  d).  Das  Resultat  der  zwei 
auf  einander  folgenden  Theilungen  ist  eine  von  zwei  Randzellen 
bedeckte  Flächenzelle.  In  den  Figuren  ist  der  Rand  niitxx,  die 
zuletzt  gebildete  Wand  durch  eine  punktirte  Linie  angegeben.  — 
Das  äussere  Ende  der  schiefen  Wand  berührt  nicht  immer  den  Rand 
wie  in  Fig.  20  c ,  sondern  in  selteneren  Fällen  auch  die  andere 
Seitenwand.  In  Fig.  20  e  sind  die  schiefen  Wände  nach  einander 
von  links  nach  rechts  entstanden;  nur  die  letzte  trifft  auf  den  Rand. 
Dies  kommt  bei  Gelidium  und  einigen  anderen  Florideen  vor. 


Fig.  21. 


Das  peripherische  Dickenwachsthum  geschieht  durch  Thei- 
lung  der  Aussenzellen.  Wenn  die  scheidewandbildenden  Elemente 
derselben  in  den  zur  Oberfläche  parallelen  Ebenen  gleichmässig  ver- 
theilt  sind,  so  erfolgt  entweder  Theilung  vermittelst  einer  mit  der 
Aussenfläche  parallelen  Wand  in  eine  Innenzelle  und  eine  neue 
Aussenzelle,  oder  Halbirung  vermittelst  einer  auf  der  Aussenfläche 
rechtwinklig  aufsitzenden  Wand  in  zwei  neue  Aussenzellen;  die 
Durchschnittsansichten  sind  die  nämlichen  wie  in  Fig.  20  a  und  b.  — 
Ist  aber  Differenzirung  in  den  mit  der  Oberfläche  parallelen  Ebenen 
eingetreten,  so  bilden  sich  schiefe  Theilungswände,  welche  meistens 
entweder  äussere  Kanten  oder  äussere  Ecken  abschneiden ;  die 
Durchschnittsansichten  gleichen  den  in  Fig.  20  c  und  d  gezeichneten. 
Aus  einer  Aussenzelle  geht  durch  eine  Folge  von  2  bis  4  solchen 
schiefen  Theilungen  eine  von  2  bis  4  Aussenzellen  bedeckte  Innen- 
zelle hervor. 

Die  geschilderten  Differenzirungen  in  den  Rand-  und  in  den 
Aussenzellen  treten  vorzüglich  bei  Algen  auf,    und  vielleicht  zuerst 


VIT.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  rflanzemviches.  393 

hei  der  Bildung  von  Anfangszellen  seitlicher  Organe.  Bei  einer 
grossen  Gruppe  der  Florideen  erfolgt  die  Gewehehildung  fast  aus- 
schliesslich durch  solche  schiefe  Zelltheilungen ,  welche  hier  be- 
stimmt von  der  Verzweigung  einfacherer  Formen  vererbt  worden 
sind  (S.  372—735). 

Ich  habe  bis  jetzt  die  Differenzirung  der  Zellen  mit  Rücksicht 
auf  die  Lage  der  bei  der  Theilung  entstehenden  Scheidewand  be- 
trachtet, wodurch  die  Gestalt  und  die  Stellung  der  Geschwisterzellen 
bedingt  wird.  Die  aus  der  Theilung  herA^orgegangenen  Zellen  werden 
auch  in  verschiedenen  anderen  Beziehungen  mehr  oder  weniger  un- 
gleich. Die  näclist  liegende  Eigenschaft,  welche  der  Differenzirung 
unterliegt,  ist  die  Dauer  und  Theilungsfähigkeit  der  Zellen.  Der 
Vorgang  lässt  sich  am  einfachsten  bei  der  Klasse  der  Nostochinen 
verfolgen. 

Gewisse  einzellige  Chroococcaceen  werden,  indem  die  Zellen  nach 
der  Theilung  vegetativ  in  Vereinigung  bleiben,  phylogenetisch  zu 
einem  einreihigen  Faden  (vgl.  Ges.  I  S.  357),  dessen  Glieder  auf  der 
ersten  Stufe  vollkommen  ihre  frühere  Theilungsfähigkeit  bewahrt 
haben;  alle  Zellen  eines  Fadens  wachsen  und  theilen  sich  in  der 
nämlichen  Weise;  der  Faden  verlängert  sich  unbegrenzt  (Nostocha- 
ceen).  Die  erste  Differenzirung  besteht  darin,  dass  die  beiden  End- 
zellen eines  Fadens  etwas  lebhafter  wachsen  und  sich  theilen  als 
die  übrigen  Zellen,  also  gleichsam  Scheitelzellen  darstellen;  die 
übrigen  Zellen  sind  in  dem  unbegrenzt  sich  verlängernden  Faden 
vollkommen  gleich ;  bricht  derselbe  entzwei ,  so  nehmen  die  End- 
zellen die  angegebene  Natur  von  Scheitelzellen  an  (Oscillariaceen)  ^). 

Eine  fernere  Differenzirung  trifft  die  zwischen  den  Enden  be- 
findlichen  Fadenstücke.      Die    beiden   Scheitelzellen    zeichnen    sich 


')  Man  möchte  vielleicht  geneigt  sein,  das  etwas  stärkere  Wachsthnm  der 
Endzellen  bei  Oscillaria  als  eine  Folge  der  Wassereinwirkung,  somit  als  Anpassung 
zu  betrachten.  Allein  die  Thatsachen,  dass  bei  den  Nostochaceen  die  Enden  sich 
nicht  von  den  übrigen  Theilen  des  Fadens  unterscheiden,  dass  bei  den  Scyto- 
nemaceen  das  Wachsthnm  der  Enden  ganz  ausserordentlich  gefördert  ist,  und 
dass  bei  den  Rivnlariaceen  die  Enden  ein  vermindertes  und  bald  ersterbendes 
Wachsthnm  zeigen,  —  dass  also  bei  so  nahe  verwandten  Familien  der  Wachs- 
thumsüberschuss  der  Enden  bald  in  ungleichem  Grade  positiv,  bald  negativ  und 
bald  null  ist,  —  beweisen  wohl  deutlich,  dass  hier  innere  Ursachen  maassgebend 
sein  müssen. 


3D4  VII.  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Manzenreiches. 

dann  noch  deutlicher  durch  stärkeres  Wuchsthum  und  häufigere 
Theihmg  aus ;  nach  rückwärts  von  densell  )en  vermindert  sich  Wachs- 
thum  und  Theihingsfähigkeit  alhnähhch  und  liört  in  einer  gcAvisson 
Entfernung  ganz  auf.  Hat  der  Faden  eine  grössere  Länge  erreicht, 
so  hesitzt  er  innerhalb  der  beiden  vegetirenden  Enden,  die  aus  der 
Scheitelzelle,  einer  durch  intercalare  Theilung  wachsenden  und  einer 
ausgewachsenen  Partie  bestehen,  ein  abgestorbenes  Mittelstück.  Da 
späterhhi  der  Faden  in  zwei  Fäden  zerfällt,  so  gewinnt  es  den  An- 
schein, als  ob  jeder  derselben  ein  unteres  und  ein  oberes  Ende  be- 
sitze (Scytonemaceen). 

In  der  Klasse  der  Nostochinen  erfährt  diese  Differenzirung  keine 
weitergehende  Steigerung.  Dagegen  tritt  sie  noch  bestimmter  bei 
manchen  Confervoiden  auf,  bei  denen  ausser  der  unbegrenzt  wach- 
senden und  sich  vermehrenden  Scheitelzelle  je  die  obersten  Glieder- 
zellen sich  bloss  noch  einige  Male  theilen.  Bei  den  Characeen  ist 
das  intercalare  Längenwachsthum  durch  Zellenbildung  auf  ein  Mi- 
nimum beschränkt,  indem  die  durch  Theilung  der  Scheitelzelle  ab- 
geschnittene primäre  Gliederzelle  sich  bloss  einmal  durch  eine  hori- 
zontale Wand  in  zwei  secundäre  Gliederzellen  theilt.  Hört  auch 
diese  Theilung  auf,  so  hat  die  Differenzirung  ihr  Maximum  erreicht 
und  das  Scheitelwachsthum  bleibt  ausschliesslich  auf  die  Theilung 
der  Scheitelzelle  beschränkt,  wie  dies  bei  den  Florideen  so  charak- 
teristisch der  Fall  ist.  —  Dieses  Ziel  wird  auch  auf  einem  anderen 
phylogenetischen  Wege,  nämlich  durch  Vegetativwerden  der  durch 
Sprossung  entstehenden  Keimzellen  erreicht  (Ges.  H  S.  336). 

Eine  andere,  gewissermaassen  gegentheilige  Differenzirung  tritt 
in  dem  ursprünglichen  aus  ganz  gleichen  Zellen  bestehenden  Faden 
dadurch  auf,  dass  Wachsthum  und  Zelltheilung  in  dem  oberen  Faden- 
ende träger  werden  und  dann  ganz  aufhören ;  dieses  Ende  wird  zu- 
gleich dünner  und  seine  Zellen,  die  sich  nicht  mehr  theilen,  strecken 
sich  in  die  Länge,  so  dass  der  Faden  in  eine  haarförmige  Sj)itze 
ausgeht.  Das  Aufhören  der  Zelltheilung,  die  Streckung  der  Zellen 
und  das  Absterben  dersell)en  schreitet  in  basipetaler  Richtung  fort 
(Rivulariaceen,  verschiedene  Confervoiden). 

Diese  Differenzirung  geht  noch  einen  Schritt  weiter,  indem  der 
Uebergang  der  Zellen  in  den  Dauerzustand  nicht  bloss  von  der 
Spitze  abwärts,  sondern  auch  von  der  Basis  aufwärts  fortschreitet, 
so   dass    nur    die   Partie    des   Fadens ,    welche  unterhalb    der   haar- 


VII.  rhylogenetisclii'  Entwicklungsgesetze  des  rflanzenreiches.  o\)b 

förmigen  Spitze  sich  befindet,  in  fortdauernder  Zelltlieilung  verharrt 
(Ectoear]3us). 

Die  erörterten  phylogenetischen  Erscheinungen ,  die  mit  dem 
Wachsthum  dm'ch  Zelltheihmg  verbunden  sind,  gehören  einem  ganz 
allgemeinen  Differenzirungsvorgang  an.  Bei  den  niedrigsten  Pflanzen 
sind  alle  Lebensfunctionen  in  Einer  Zelle  vereinigt.  Die  zuerst  be- 
ginnende Differenzirung  scheidet  die  vegetativen  und  die  reproduc- 
tiven  Processe,  welche  in  den  Abstammungslinien  immer  strenger 
auf  verschiedene  Zellen  vertheilt  werden.  Eine  andere  etwas  später 
auftretende  Differenzirung,  die  ebenfalls  nach  und  nach  schärfer 
ausgeprägt  wird,  scheidet  die  gesammte  Vegetation  in  zwei  Sphären, 
die  wir  als  Assimilation  und  Wachsthum  bezeichnen  können.  Die 
"N^egetation  hat  nämlich  im  grossen  und  ganzen  zwei  Aufgaben  zu 
erfüllen : 

1.  Die  von  aussen  aufgenommenen  Nahrungsstoffe  in  eine  für 
den  pflanzlichen  Organismus  verwendbare  Form  überzuführen:  hie- 
her  gehört  Aufnahme,  Umsetzung,  Transj)ort,  Ausscheidung. 

2.  Die  assimilirten  Verbindungen  für  den  Aufbau  zu  verwenden, 
indem  aus  den  molecular  gelösten  Stoffen  molecular  unlösliche  Yqy- 
bindungen  gebildet  und  als  Micelle  eingeordnet  werden:  hieher  ge- 
hört das  Wachsthum  des  Idioplasmas,  des  Ernährungsplasmas  und 
der  nicht  plasmatischen  Substanzen. 

Die  Scheidung  in  Assimilation  und  Wachsthum  beginnt  schon 
bei  einzelligen  Pflanzen;  sie  bewirkt  hier  die  Sprossung,  indem, 
während  die  ganze  übrige  Zelle  assimilirt,  das  Wachsthum  auf  einen 
peripherischen  Punkt  concentrirt  wird.  Das  Andauern  dieser  Schei- 
dung verursacht  die  Bildung  der  röhrenförmigen,  mit  Scheit elwachs- 
thum  begabten  Zellen  (Siphoneen)  und  die  Bildung  der  durch  aus- 
schliessliche Theilung  der  Scheitelzelle  ausgezeichneten  niederen 
Florideen  (Callithamnieen).  Diese  Scheidung  geht  als  Erbtheil  auf 
die  höheren  Pflanzen  über,  wo  sie  zunächst  den  Gegensatz  des  mit 
Wachsthum  begabten  Scheitels  und  der  assimilirenden ,  unter  der 
Scheitelregion  befindlichen  Partien  bedingt.  Daraus  erklärt  sich  die 
Erscheinung,  dass  die  normale  Bildung  der  seitlichen  Organe  des 
Stengels  auf  die  Scheitelregion  desselben  beschränkt  ist ,  und  dass 
die  stärksten  mid  wichtigsten  seitlichen  Organe  (die  Blätter  sammt 
den  Axillarknosi^en)  ausschliesslich  in  akropetaler  Folge  entstehen. 
Dies    betrifft    das  Wachsthum    im    allgemeinen;    die  verschiedenen 


390  VII.  Phylogenetische  Eiitwickkuigsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Modificatioiien  desselben  gehen  aus  weiteren   untergeordneten  Diffe- 
renzirungen  hervor. 


Bis  jetzt  suchte  ich  die  Art  und  Weise  klar  zu  legen,  wie  die 
räumliche  Differenzirung  erfolgt:  An  die  Stelle  der  neben  einander 
befindlichen  gleichartigen  Theile  treten  ungleichartige,  welche  zu- 
sammen die  Eigenschaften  jener  besitzen.  Das  Zustandekommen 
dieses  Processes  setzt  voraus ,  dass  die  sich  differenzirenden  Theile 
auf  einander  eimdrken,  dass  sie  somit  unter  einander  in  Verbindung 
stehen.  Meistens  liegen  diesell:>en  unmittelbar  neigen  einander,  und 
dann  ist  kaum  ein  Zweifel  über  die  Bedeutung  des  Vorganges  möglich. 
Man  darf  aber  wohl  annehmen ,  dass  die  Differenzirung  auch  ehi- 
treten  kann,  wenn  die  Theile  an  dem  Ucämlichen  Individuum  weiter 
von  einander  entfernt  sind,  w^eil  ja  die  Differenzirung  im  Idioj^lasma 
geschieht  und  dieses  durch  den  ganzen  Organismus  in  dynamischer 
Verbindung  steht.  In  diesem  Falle  wird  die  Bedeutung  des  phylo- 
genetischen A^organges  sich  leicht  der  Erkenntniss  entziehen. 

Bezüglich  des  W'Citeren  Schicksals  der  differenzirten  Theile  können 
wir  uns  einmal  die  Frage  stellen,  ob  dieselben,  wie  sie  unter  gegen- 
seitiger dynamischer  Einwirkung  zn  Stande  gekommen  sind,  auch 
nur  unter  gegenseitiger  Einwirkung,  also  nur  gemeinsam,  oder  ob 
sie  auch  getrennt  sich  weiter  zu  entwickeln  und  zu  entfalten  ver- 
mögen. Dies  hängt  offenbar  von  der  Beschaffenheit  ihrer  Eigen- 
schaften ab.  Können  diese  unabhängig  von  einander  bestehen ,  so 
entfalten  sich  die  idioplasmatischen  Anlagen ,  nachdem  sie  sich 
geschieden  liaben,  selbständig,  und  setzen  auch  ihre  weitere  Ent- 
wicklung in  selbständiger  A¥eise  fort.  Es  kann  somit  von  zwei  ur- 
sprünglich zusammengehörigen  und  durch  Differenzirung  geschiedenen 
Eigenschaften  jede  sich  eigenartig  weiter  ausbilden  und  ebenso  für 
sich  zur  Entfaltung  gelangen,  indess  die  andere  latent  bleibt.  Dadurch 
geht  der  Anschein  der  Zusammengehörigkeit  und  des  gemeinsamen 
Ursprungs  verloren,  und  es  ist  nur  dann  möglich,  diesen  Ursprung 
nachzuweisen ,  wenn  alle  phylogenetischen  Uebergangsstufen  der 
Beobachtung  zugänglich  sind. 

Es  gibt  andere  Eigenschaften,  welche,  gleich  wie  sie  gemeinsam 
entstanden  sind,  auch  stetsfort  nur  gemeinsam  sich  weiter  entwickeln 
und  auch  nur  gemeinsam   zur  Entfaltung   gelangen  können.     Dies 


VII.  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pfliuizenreielies.  397 

ist  dann  der  Fall,  wenn  sie  nicht  über  eine  ontogenetische  Periode 
liinans  unabhängig  von  einander  zu  bestehen  vermögen ,  sondern 
jieriodisch  wieder  in  Beziehung  zu  einander,  gewissermaassen  zu 
einer  Vereinigung  kommen  müssen,  um  sich  von  neuem  zu  scheiden. 
Die  Trennung  der  Geschlechter  gibt  uns  ein  Beispiel  hiefür  und 
wir  finden  dies  nicht  unbegreiflich,  wenn  gemäss  der  von  mir  ausge- 
sprochenen Vermuthung  die  Trennung  in  einer  Scheidung  der  beiden 
Elektricitäten  besteht.  Geschlechtliche  Trennung  und  A^ereinimmo- 
findet  naturgemäss  in  jeder  Ontogenie  einmal  statt. 

Die  Vereinigung  der  Geschlechter  tritt  je  im  Momente  des  Ueber- 
ganges  von  einer  Ontogenie  in  die  folgende  ein.  Die  Scheidung 
derselben  aber  ist  nicht  an  einen  Ijestimmten  Zeitpunkt  gebunden; 
sie  kann  in  einem  frühern  oder  späteren  Stadium  erfolgen.  Ur- 
sprünglich, d.  h.  auf  der  untersten  phylogenetischen  Stufe  einer 
Reihe,  findet  die  Ditferenzirung  zwischen  eben  den  Zellen  statt,  die 
sich  dann  als  Geschlechtszellen  mit  einander  vereinigen.  Die  Elter- 
zelle  ist  geschlechtslos;  von  den  in  derselben  entstehenden  Zellen 
sind  die  einen  männlich,  die  anderen  weiblich  (Hydrodictyon,  Botry- 
dium,  Endosphaera,  Chlorochytrium).  Auf  der  nächst  hölieren  Stufe 
geschieht  die  geschlechtliche  Scheidung  zwischen  den  Elterzellen 
der  Geschlechtszellen  und  gibt  sich  dadurcli  kund,  dass  die  einen 
Zellen  nur  männliche,  die  anderen  inn*  weibliche  Fortpflanzungs- 
zellen erzeugen  (Ulotlmx,  Acetabularia,  Oedogoniumpart.,  Volvoxu.  A.). 
Auf  einer  noch  höheren  Stufe  sind  schon  vielzellige  Organe  des 
nämlichen  Pflanzenstockes  geschlechtlich  getrennt,  wie  die  Sporangien 
der  höchsten  Gefässcryptogamen,  von  denen  die  einen  Androsporen, 
die  andern  Gynosporen  enthalten,  ferner  die  Staubgefässe  und  Car- 
pelle  der  Phanerogamen. 

Der  letzte  Schritt  in  dieser  pliylogenetischen  Stufenleiter  vollzieht 
sich  dadurch ,  dass  die  Individuen  selbst  geschlechtlich  gescliieden 
werden.  Ein  solches  geschlechtliches  Individuum  kann  sich  auf 
geschlechtslosem  Wege  vermehren  und  in  dieser  Weise  eine  ganze 
Reihe  von  Generationen  innerhalb  derselben  Ontogenie  durchlaufen. 
Ich  führe  als  Beispiel  die  aus  abgeschnittenen  Zweigen  erwachsenen 
Weiden  und  Pappeln  an ;  eine  grosse  Zahl  von  Trauerweiden,  ebenso 
von  italienischen  Pappeln ,  die  in  Europa  fast  ausschliesslich  in 
männlichen  Exemplaren  vorkommen,  gehört  der  nämlichen  Onto- 
genie an.     Zur  Erzeugung  ehies  Embryos  aber  ist  die  geschlechtliche 


398  ^TfT-  Phylogenetische  Entwickhmosgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Neutrali sirung  vermittelst  der  Vereinigung  von  männlichen  und  weib- 
lichen Fortpflanzungszellen  erforderlich.  Unmittelbar  nach  der  Be- 
fruchtung besitzt  auch  das  Product  derselben  schon  wieder  einen 
bestimmten,  männlichen  oder  weil)lichen,  Charakter'). 

Diese  i^liylogenetische  Stufenfolge  zeigt  uns  jedenfalls,  dass  die 
Organismen  das  Bestreben  haben,  auch  die  geschlechtlichen  Eigen- 
schaften selbständiger  zu  machen.  Denn  die  ungeschlechtliche,  der 
Geschlechtsdifferenzirung  vorausgehende  Partie  der  ontogeneti sehen 
Periode  wird  immer  kürzer.  Zuletzt  dauert  sie  nur  noch  einen  Augen- 
blick, indem  mit  der  Vereinigung  der  von  Vater  und  Mutter  kom- 
menden männlichen  und  weiblichen  Zellen  auch  das  Geschlecht 
des  Kindes  entschieden  ist.  Als  ein  weiterer  Schritt  in  dieser  Rich- 
tung ist  die  Parthenogenesis  anzusehen,  bei  welcher  die  weiblichen 
Fortpflanzungszellen  das  Vermögen  erlangt  haben,  ohne  Ausgleichung 
mit  einer  männlichen  Zelle  eine  neue  Ontogenie  einzuleiten  und  die 
Generationenreihe  fortzusetzen.     Auch  die   Ajjogamie^)   der  höheren 


^)  Die  Beobachtungen,  welche  dafür  angeführt  werden,  dass  das  Geschlecht 
nicht  schon  Ijei  der  Bildung  des  Keims,  sondern  erst  späterhin  durch  äussere 
Einflüsse  bestimmt  werde,  lassen  allzusehr  eine  exacte  experimentelle  Behand- 
lung vermissen,  um  gegenüber  den  andern  Gründen  und  Erfahrungsthatsachen 
Berücksichtigung  zu  verdienen.  Die  Scheidung  des  Geschlechts  besteht  im  Idio- 
plasma,  in  welchem  sich  die  männliche  und  weiljliche  Anlage  befindet.  Bei  den 
hermaphroditischen  und  einhäusigen  Pflanzen  sind  beide  Anlagen  entfaltungsstet; 
nur  stehen  sie  bei  den  ersteren  und  letzteren  mit  ungleichen  anderen  Anlagen 
in  Verbindung.  Bei  den  zweihäusigen  (eingeschlechtigen)  Pflanzen  ist  nur  die 
eine  geschlechtliche  Anlage  entfaltungsfähig,  die  andere  bleibt  latent.  Beim 
phylogenetischen  Uebergang  von  der  Einhäusigkeit  zur  Zweihäusigkeit  befindet 
sich  die  eine  Geschlechtsanlage,  vor  dem  völligen  Latentwerden,  zuerst  in  einem 
geschwächten  Zustande  und  vermag  bloss  unter  günstigen  Innern  und  äussern 
Umständen  sich  zu  entfalten,  so  dass  die  männUche  Pflanze  auch  einzelne  weib- 
liche Blüthen  hervorbringen  kann  und  umgekehrt. 

^)  Unter  dem  neuen  Namen  Apogamie  (Geschlechtsverlust)  werden  zwei  Er- 
scheinungen vereinigt,  die  in  physiologischer  und  phylogenetischer  Beziehung 
sich  verschieden  verhalten: 

1.  die  Parthenogenesis,  bei  welcher  tlie  weibliche  Zelle,  ohne  befruchtet  zu 
werden,  entwicklungsfähig  ist; 

2.  die  vegetative  Wucherung  mit  geschlechtsloser  Vermehrung,  wobei  die 
Geschlechtszellen  entweder  gar  nicht  gebildet  oder,  wenn  vorhanden,  functionslos 
werden.  Diese  Erscheinung  tritt  infolge  des  den  Pflanzenzüchtern  längst  be- 
kannten Wechselverhältnisses  zwischen  geschlechtlicher  und  ungeschlechtlicher 
Fortpflanzung  ein  und  gehört  sehr  wahrscheinlich  bloss  der  Cultur  an.  Die  merk- 
würdigsten Fälle  sind  diejenigen,  wo  die  vegetative  Wucherung  in  unmittelbarer 
Nähe  neben  den  steril   bleibenden   oder   ganz   geschwundenen  Geschlechtszellen 


M:I.  Phj'logenotisclie  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  399 

Pilze  (de  Bary),  bei  denen  sicli  Organe  bilden,  die  den  Geschlechts- 
organen analog  sind,  aber  keinen  Befruchtungsact  vollziehen,  ist 
vielleicht  als  eine  ähnliche  weitere  Stufe  zu  betrachten ,  aber  phy- 
siologisch noch  nicht  sicher  zu  deuten. 

Eine  andere  Erscheinung ,  die  das  weitere  phylogenetische 
Schicksal  der  differenzirten  Theile  betrifft,  ist  die,  dass  zu  den  Eigen- 
schaften, die  ursprünglich  sich  geschieden  haben,  sf)äter  noch  andere 
ungleiche  Eigenschaften  sich  gesellen  und  dass  diese  ungleiche  Aus- 
1  jildung  nicht  bloss  die  Theile  selbst  trifft ,  um  die  es  sich  bei 
der  Differenzirung  eigentlich  handelt ,  sondern  gleichsam  mit  rück- 
wirkender Kraft  auch  diejenigen  Theile,  von  denen  sie  erzeugt  werden. 
Am  besten  lässt  sich  diese  Erscheinung  bei  der  geschlechtlichen 
Differenzirung  nachweisen ,  weil  die  geschlechtlichen  Eigenschaften 
so  charakteristisch  sich  von  den  andern  Merkmalen  unterscheiden. 
Nicht  nur  die  männlichen  und  weiblichen  Fortpflanzungszellen  werden 
in  der  phylogenetischen  Reihenfolge  immer  ungleicher,  sondern  es 
tritt  dies  auch  bei  den  Elterzellen  derselben  ein  (Oedogonium  etc.), 
bei  den  ganzen  erzeugenden  Organen  (Phanerogamen)  und  bei  den 
geschlechtlich  geschiedenen  Individuen  (einige  Pflanzen,  fast  alle 
Thiere).  Wenn  ich  von  Rückwirkung  gesprochen  habe,  so  besteht 
dieselbe  nur  scheinbar.  Die  geschlechtliche  Differenzirung  ist  ja 
als  Anlage  im  Idioplasma  enthalten  und  somit  in  allen  Theilen 
und  allen  Entwicklungsstadien  vorhanden.  Aber  ihre  Entfaltungs- 
fähigkeit ist  ursprünglich  beschränkt ,  ihr  Gebiet  wird  dann  nach 
und  nach  grösser ,  und  an  die  geschlechtlichen  Eigenschaften 
schliessen  sich  theils  infolge  anderweitiger  Differenzirungen,  theils 
infolge  anderweitiger  phylogenetischer  Vorgänge  fernere  Verschieden- 
heiten an. 


Durch  die  zeitliche  Differenzirung  werden  die  von  einander 
abstammenden  Theile  in  ihren  auf  einander  folgenden  Generationen 
ungleich.  Die  geringste  Veränderung  besteht  darin,  dass  eine  Function, 
die  auf  früheren  phylogenetischen  Stufen  in  ihrer  Richtung  un- 
bestimmt war,   auf  einer  späteren  Stufe  in  den  successiven  Genera- 


erfolgt, vne  im  Embryo^ack  der  Phanerogamen  (StrasLurger)  oder  auf  dem  Pro- 
thallium der  Farne  (de  Bary). 

Ob  die  Apogamie  der  Pilze  zur  ersten  oder  zweiten  Kategorie  zu  zählen  sei, 
lässt  sich  noch  nicht  entscheiden. 


400  VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

tionen  bestimmt  ist,  was  sich  sehr  deiithch  tui  der  Zelltheilung 
nachweisen  lässt.  Es  gab  jedenfalls  in  jeder  der  verschiedenen 
phylogeneti seilen  Reihen,  die  mit  der  Urzeugnng  begannen,  eine  Stufe, 
auf  welcher  die  Riclitung  der  Scheidewand  bei  der  Zweitheilung 
bloss  durch  äussere  Kräfte  beeinflusst  wurde.  Die  Bedingungen  für 
eine  solche  noch  ganz  undifferenzirte  Zelle  sind  offenbar  eine  kugelige 
Gestalt  und  eine  auf  den  verschiedenen  Radien  gleiche  Vertheilung 
von  Kräften  und  Stoffen.  Wenn  eine  solche  Zelle  sich  theilt,  so  kann 
die  Theilungsrichtung  nicht  durch   innere  Ursaclien   bestimmt  sein. 

Die  erste  Differenzirung  erfolgt  nun  in  der  Weise,  dass  die  auf 
die  Bildung  der  Scheidewand  einwirkenden  Verhältnisse  in  der  Zelle 
eine  zur  vorausgehenden  Theilungsrichtung  ])estimmte  Lage  an- 
nehmen. Während  auf  der  früheren  Stufe  alle  durch  den  Mittel- 
punkt gelegten  Ebenen  für  die  VVandbildung  gleich  günstig  gestimmt 
waren,  besitzt  jetzt  bloss  noch  eine  Ebene  diese  günstige  Stimmung; 
alle  anderen  sind  dazu  nicht  befähigt.  Es  ist  selbstverständlich,  dass 
diese  Differenzirung  nur  mit  Rücksiclit  auf  die  vorausgehende  Theilung 
erfolgen  kann,  weil  durch  diese  selbst  die  Stoffe  und  Kräfte  in  einer 
bestimmten  Weise  gerichtet  werden.  Hat  dieser  Vorgang  eine  Nach- 
wirkung, so  ist  die  nothwendig  sich  ergebende  Theilungsrichtung 
entweder  senkrecht  auf  die  vorausgehende  oder  parallel  zu  derselben. 

Der  geringste  Grad  der  Differenzirung,  der  am  wenigsten  von 
der  vollständigen  Unbestimmtheit  der  früheren  Stufe  abweicht,  besteht 
darin,  dass  die  Theilungsebenen  der  auf  einander  folgenden  Genera- 
tionen sich  rechtwinklig  schneiden  und  in  den  drei  Richtungen  des 
Raumes  wechseln,  so  dass  die  vierte  mit  der  ersten  jiarallel  läuft. 
Die  Differenzirung  wird  bestimmter,  indem  die  sich  reclitwinklig 
schneidenden  Wände  in  zwei  Richtungen  mit  einander  wechseln, 
so  dass  einerseits  die  Generationen  mit  geraden  Ziffern,  andrerseits 
diejenigen  mit  ungeraden  Ziffern  in  der  Theilungsrichtung  über- 
einstimmen. Noch  bestimmter  scheidet  sich  die  scheidewandbildende 
Richtung  in  der  Zelle  aus,  wenn  sie  in  allen  Generationen  die  näm- 
liche bleibt.  Diese  Verhältnisse  lassen  sich  bei  einzelligen  Pflanzen 
bloss  dann  sicher  entscheiden,  wenn  die  Zellen  nach  stattgefundener 
Theilung  sich  nicht  von  einander  trennen ,  sondern  zu  Colonien 
verbunden  bleiben.  Sie  liegen  dann  entweder  würfelförmig  beisammen 
wie  bei  Chroococcus,  Gloeocapsa,  Sarcine  u.  a.,  oder  in  einschichtigen 
Täfelchen  wie  bei  Merismopedia,  Gonium  u.  a.,  oder  in  einreihigen 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 


401 


Fäden  wie  bei  Gloeothece,  Bacterium,  bei  einigen  Diatomeen,  Desmi- 
diaceen  und  Palmellinen.  Fig.  22  a  u.  1)  zeigen  einreihige  Colonien 
mit  gleichbleibender  Theilungsrichtung,  Fig.  22  c — g  eine  einscliich- 
tige   Colonie  mit  zwei  alternirenden   Theilungsrichtungen.    —   Ein- 


0QOO;     ioooo 


o"öo"m\ 


OQOO 

oooo 


zellige  Pflanzen,  bei  denen  die  Theilungsrichtung  noch  nicht  idio- 
plasmatisch  bestimmt  wäre,  sondern  von  äusseren  Einflüssen  bedingt 
würde,  sind  nicht  bekannt;  denn  die  scheinbar  unregelmässigen 
Zusammenlagerungen  der  Zellen  kommen  durch  Verschiebmig  zu 
Stande. 

Die  besprochene  Differenzirung  zwischen  den  Theilungsrichtungen 
der  auf  einander  folgenden  Generationen  geschieht  übrigens,  wie  alle 
Difiierenzirung ,  möglichst  allmählich.  Damit  ist  nicht  gesagt,  dass 
die  Theilungsebenen  durch  Mittelstellungen  in  einander  übergehen, 
sondern  dass  der  Wechsel  zwischen  den  verschiedenen  Stellungs- 
tj'^pen  zuerst  un regelmässig  auftritt  und  erst  nach  und  nach  zu  einer 
Constanten  Regelmässigkeit  gelangt.  Der  Uebergang  durch  mittlere 
schiefgestellte  Theilungswände  erscheint  als  eine  mechanische  Un- 
möglichkeit, da  die  Veränderung  des  Idioplasmas  bei  schiefwinkligem 
Wechsel  offenbar  grösser  sein  müsste  als  bei  rechtwinkligem  Wechsel. 
Die  Erfahrung  bestätigt  die  hier  ausgesprochene  theoretische  Behaup- 
tung, indem  die  Zusammenordnung  in  den  Colonien  einzelliger 
Pflanzen  in  gewissen  Fällen  wohl  (he  un  regelmässige  Folge  der 
rechtwinkligen  Kreuzung,  aber  niclit  eine  schiefe  Stellung  der  Scheide- 
wände darthut. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  26 


402  VIT.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Der  Fortschritt  von  solchen  einzelligen  Pflanzen,  bei  denen  die 
Zelltheilung  in  allen  drei  Richtungen  des  Raumes  regelmässig  ab- 
wechselt ,  zu  solchen ,  wo  der  Wechsel  bloss  in  zwei  Richtungen 
statthat,  muss  also  in  der  Weise  gedacht  werden,  dass  die  Theilungen 
in  der  dritten  Richtung  nach  und  nach  seltener  werden  und  zuletzt 
ganz  unterbleiben.  Auf  einem  analogen  Wege  kann  aus  einer  Pflanze 
der  ersten  Art  sich  eine  solche  herausbilden ,  bei  welcher  die  Zell- 
theilung nur  in  einer  Richtung  erfolgt,  indem  die  Theilungen  in  den 
zwei  andern  Richtungen  allmählich  spärlicher  eintreten  und  endlich 
ganz  aufhören.  Es  wird  nämlich  in  Folge  der  sich  langsam  voll- 
ziehenden Differenzirung  im  Idioplasma  die  Zelltheilung  in  den  einen 
Richtungen  immer  mehr  begünstigt  und  diejenige  in  den  übrigen 
Richtungen  in  den  latenten  Zustand  verwiesen. 

Man  könnte  vielleicht  zu  der  Ansicht  geneigt  sein,  dass  die 
Theilung  mit  gleichbleibender  Richtung  die  einfachere  und  ursprüng- 
lichere sei  und  dass  die  Theilung  mit  wechselnder  Richtung  (in  2 
oder  3  Dimensionen  des  Raumes)  die  complicirtere  und  abgeleitete 
sein  müsse.  Eine  solche  Meinung  könnte  man  aber  nur  dann  fest- 
halten wollen,  wenn  man  die  genannten  Theilungen  bloss  für  sich 
betrachtet  und  dieselben  gleichsam  auf  einer  tabula  rasa  beginnen 
lässt.  Wir  dürfen  eine  j^hylogenetische  Erscheinung  jedoch  nur 
mit  Rücksicht  auf  die  ihr  vorausgehenden  Zustände,  aus  denen 
sie  entsjDrungen  ist,  beurtheilen.  Diese  Zustände  bestanden  nun 
ihrem  Wesen  nach  darin,  dass  die  Zellen  sich  üi  ganz  gleiche 
Hälften  theilten;  dabei  war  die  Theilung srichtung  unbestimmt,  was 
mit  der  noch  sehr  einfachen  und  wenig  bestimmten  Anordnung 
der  Kräfte  zusammenhing.  Als  diese  Anordnung  complicirter  und 
bestimmter  wurde,  stellte  sich  auch  allmählich  ein  Unterschied 
zwischen  den  beiden  Hälften  einer  Zelle,  der  alten,  von  der  Elter- 
zelle geerbten ,  und  der  neuen ,  nach  der  Theilung  zugewachsenen, 
heraus.  Wäre  nun  die  Theilung  zwischen  der  alten  und  neuen 
Hälfte,  also  parallel  der  früheren  Theilung  erfolgt,  so  wären  die  zwei 
sich  bildenden  Geschwisterzellen  unter  einander  ungleich  gewesen.  Die 
Theilung  in  zwei  gleiche  Hälften  war  nur  möglich,  wenn  die  Scheide- 
wand die  alte  und  die  neue  Hälfte  halbirte,  also  senkrecht  zu  der 
nächst  vorausgehenden  gerichtet  war.  Aus  dem  gleichen  Grunde 
musste  die  folgende  Theilung  rechtwinklig  auf  ihren  beiden  ^'^or- 
gängerinnen  stehen.  —  Erst  von  diesen  Zuständen  aus  konnte  dann 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 


403 


durch  noch  weiter  gehende  Differenzirung  die  Theilungsrichtung  in 
einer  und  nachher  in  zwei  Richtungen  verloren  gehen  und  der 
scheinbar  einfachste  Fah,  die  Theihmg  mit  gleichbleibender  Richtung 
eintreten. 

Eine  andere  Art  der  zeitlichen  Differenzirung  betrifft  die  Dauer 
der  auf  einander  folgenden  Generationen.  Am  einfachsten  stellt  sich 
dieselbe  bei  einzelligen  Pflanzen  dar.  Auf  der  unteren  Stufe  ist  die 
Dauer  der  Generationen  gleich  gross;  geschieht  die  Fortpflanzung 
durch  Theilung,  so  wachsen  die  Kindzellen  stets  zum  Volumen  und 
zur  Form  der  Elterzellen  heran,  ehe  sie  sich  von  neuem  theilen 
(Chroococcaceen,  viele  Palmellinen).  Dann  tritt  Ungleichheit  ein,  indem 
die  einen  Generationen  ihre  Lebensdauer  verkürzen,  die  andern  sie 
verlängern;  diejenigen  mit  kürzerer  Dauer  erlangen  auch  eine  ge- 
ringere Grösse.  Die  Differenzirung  erreicht  den  höchsten  Grad, 
indem,  im  Gegensatz  zu  einer  einzigen,  langlebigen  und  wachsthums- 
fähigen  Generation,  eine  ganze  Reihe  von  Generationen  eine  sehr 
kurze  Dauer  und  kein  Wachsthum  besitzt. 

Es  theilt  sich  beispielsweise  bei  Cystococcus  eine  kugelige  Zelle 
in  zwei  halbkugelige,  diese  sogleich  wieder  in  zwei,  und  die  Theilung 
wiederholt  sich  sofort  noch  mehrmals,  ohne  dass  die  Zellen  der  auf 
einander  folgenden  Generationen  eine  Veränderung  in  der  Grösse, 
Gestalt  und  im  Inhalt  erfahren.    Die  Theilung  hört  auf,  wenn  inner- 


g 


V 


Fig.  23. 


halb  der  Membran  der  ursprüngHclien  kugeligen  Zelle  eine  grosse 
Menge  von  kleinen  Zellen  eingesclüossen  ist.  Diese  Individuen  der 
letzten  Generation  haben  sich  also  in  den  Raum  und  die  Substanz 

26* 


404  VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

des  Ahnenindividuums  getheilt.  Dieselben  werden  dann  frei  und 
trennen  sich  von  einander,  worauf  jede  allmählich  zu  der  ursprüng- 
lichen Form  und  Grösse  heranwächst;  und  nach  längerer  Dauer 
beginnt  in  ihr,  als  Ausgang  einer  neuen  Reihe,  wieder  der  Theilungs- 
process.  Die  beistehende  Figur  (23  a — f)  zeigt  den  geschilderten 
Vorgang ;  a,  b,  c,  d  sind  successive  Theilungszustände ;  in  e  ist  die 
Theilung  beendigt  und  die  Zellen  der  letzten  Generation  haben  sich 
bereits  von  einander  losgelöst  und  abgerundet;  f  successive  Wachs- 
thumszustände  einer  Zelle  der  Uebergangsgeneration.  Zur  Verglei- 
chung  sind  in  g,  h,  i  drei  Generationen  einer  einzelligen  Alge,  bei  der 
die  Differenzirung  noch  nicht  eingetreten  ist,  dargestellt.  Bei  der 
letzteren  sind  die  Individuen  durch  weiche  Gallertmembranen  mit 
einander  verbunden;  mit  der  Zunahme  der  Zellen  wird  die  Gallert- 
kugel in  entsprechendem  Maasse  grösser. 

Bei  dieser  Dil3:erenzirung  tritt  die  Individualität  der  Reihen- 
generationen mehr  und  mehr  zurück;  zuletzt  erscheint  die  ganze 
Reihe  der  Wiederholungsgenerationen  bloss  als  der  Fortpflanzungsakt 
der  langlebigen  Uebergangsgeneration.  Die  zeitliche  Differenzirung 
hat  in  diesem,  wie  in  andern  Fällen,  den  nämlichen  Erfolg,  der 
dem  phylogenetischen  Organisationsprocess  überhaupt  zukommt,  dass 
nämlich  die  individuellen  und  selbständigen  Erscheinungen  der 
untern  Stufe  Tlieile  des  Individuums  der  höheren  Stufe  werden. 

Die  Beispiele  für  die  zeitlichen  Differenzirungen ,  die  ich 
angeführt  habe,  sind  alle  den  einzelligen  Pflanzen  entnommen,  weil 
der  A^organg  hier  nicht  durch  andere  Erscheinungen  verdunkelt  wird. 
Auch  bei  den  mehrzelligen  Pflanzen  kommen  ohne  Zweifel  Differen- 
zirungen zwischen  den  auf  einander  folgenden  Generationen  der 
Zellen  und  der  Organe,  also  zwischen  verschiedenen  Entwicklungs- 
stadien vor.  Allein  die  Processe  sind  auf  diesem  Gebiete  nicht 
leicht  klar  zu  legen,  weil  die  bestehenden  Ungleichheiten  meistens 
schon  geerbt  sind  und  weil  Ort  und  Zeit,  sowie  die  Art  und  Weise 
ihres  Entstehens  wegen  der  Lücken  in  den  Abstammungsreihen 
und  wegen  Mangels  an  sicherem  Beobachtungsmaterial  verborgen 
bleiben. 


Die    Differenzirungen    erfolgen ,    soweit    es    die    Organisations- 
verhältnisse erlauben,  ganz  allmählich,  so  dass  von  dem  undifferen- 


YII.  riiylogenetiselie  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  405 

zirten  Zustande  bis  zu  einem  hohen  Grade  der  Differenzirung  alle 
Uebergangsstufen  durchlaufen  werden.  Die  Mittel  hierzu  werden,  wenn 
sie  nicht  ohnehin  vorhanden  sind,  durch  die  Vermehrung  der  Theile 
geliefert,  welche  vorgängig  oder  gleichzeitig  eintritt  (Gesetz  V,  S.  380). 
Es  befinden  sich  daher  bei  der  räumlichen  Differenzirung  zwischen 
den  beiden  Extremen  zahlreiche  Uebergangsbildungen ;  und  bei  der 
zeitlichen  Differenzirung  folgen  diese  Uebergangsbildungen  durch 
Abstammung  auf  einander.  Dieser  Umstand  gibt  nun  zu  einem 
neuen  phylogenetischen  Process  Veranlassung,  zu  der  Reduction  der 
differenzirten  Theile. 

VII.  phylogenetisches  Gesetz. 

Die  durch  Differenzirung  ungleich  gewordenen 
Theile  erfahren  eine  Reduction,  indem  die  Zwischen- 
bildungen unterdrückt  werden,  und  zuletzt  bloss  die 
qualitativ  ungleichen  Gestaltungen  mit  qualitativ  un- 
gleichen   Functionen    erhalten    bleiben. 

Die  Reduction  der  differenzirten  Theile  erscheint  auch,  weil  sie 
die  Uebergänge  unterdrückt  und  die  stärksten  Gegensätze  räumlich 
oder  zeitlich  unmittelbar  neben  einander  bringt,  als  eine  bestimmtere 
Differenzirung,  lässt  sich  al)er  aus  dem  Gesetz  der  Differenzirung 
allein  nicht  erklären. 

Die  drei  phylogenetischen  Processe:  die  intercalare  Ampliation 
der  Ontogenie  (Y),  die  Differenzirung  (^^)  und  die  Reduction  (VII) 
wirken  in  der  Art,  dass  der  erste  die  Theile  quantitativ  vermehrt, 
der  zweite  sie  qualitativ  verändert  und  der  dritte  sie  quantitativ 
vermindert,  so  dass  statt  der  ursprünglich  beschränkten  Zahl  von 
gleichen  Theilen  zuletzt  eine  ebenfalls  beschränkte  Zahl  von  ungleichen 
Theilen  vorhanden  ist.  Der  höchste  und  letzte  Organisationszustand, 
der  durch  Wiederholung  der  drei  phylogenetischen  Processe  erlangt 
wird,  ist  eine  möglichst  grosse  Zahl  von  qualitativen  Ungleichheiten 
in  einer  möglichst  geringen  Zahl  von  Theilen. 

Wenn  ein  Organ  bei  einer  Pflanze  in  geringer,  bei  einer  anderen 
in  grösserer  Zahl  vorhanden  ist,  so  kann  die  Deutung  dieses  Ver- 
hältnisses zweifelhaft  sein.  Die  grössere  Zahl  zeigt  möglicher  Weise 
einen  phylogenetischen  Fortschritt  an,  wenn  sie  als  Ampliation 
eine  neue  Differenzirung  einleitet.  Es  stellt  aber  möglicher  AVcise 
auch  die  geringere  Zahl  die  höhere  Stufe  dar,   wenn   sie   die  Folge 


406  ^^n.  Phylogeuetipche  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

des  Reductionsprocesses  ist.  Es  sind  also  in  jedem  Falle  die  beiden 
Möglichkeiten  zu  erwägen.  Wenn  die  grössere  Zahl  keine  beginnenden 
neuen  Verschiedenheiten  wahrnehmen  lässt,  so  wird  sie  in  der  Regel 
als  die  tiefer  stehende  Stufe  zu  bem^theilen  sein.  Die  kleinere  Zahl 
ihrerseits  kann  um  so  eher  als  die  höhere  Entwicklung  gelten,  wenn 
mit  ihr  auch  eine  bessere  morphologische  Ausbildung  und  eine  voll- 
kommenere Function  bemerkbar  ist.  Die  Bedeutung  der  durch  Re- 
duction  erlangten  geringeren  Zahl  offenbart  sich  in  sehr  überzeugender 
Weise  im  Thierreiche,  wo  die  Organe  nach  oben  hin  an  Zahl  ab- 
nehmen und  auf  der  höchsten  Stufe  meistens  bloss  noch  in  der 
Einzahl  oder  Zweizahl  vorhanden  sind. 

Die  Endresultate  der  Reductionsprocesse  treten  uns  überall  im 
Pflanzenreiche  entgegen,  während  die  verschiedenen  Stadien  derselben 
nur  selten  bei  verschiedenen  Pflanzen  noch  erhalten  sind.  Doch 
gibt  es  einzelne  Fälle,  wo  der  Vorgang  der  Reduction  sehr  deutlich 
sich  kundgibt. 

Die  verschiedenen  Blattformen  der  Phanerogamen  waren  ur- 
sprünglich durch  allmähliche  Uebergänge  verbunden.  Es  gibt  jetzt 
noch  Pflanzen,  bei  denen  diese  Uebergänge  die  Lücken  zwischen 
einzelnen  Blattformen  überbrücken :  zwischen  Niederblättern  und 
Laubblättern,  zwischen  Laubblättern  und  Hochblättern  (Deckblättern), 
zwischen  diesen  und  den  Kelchblättern,  zwischen  Kelch-  und  Kron- 
blättern, zwischen  den  letzteren  und  den  Staubgefässen.  So  gehen 
bei  den  Cacteen  die  Hochblätter  allmählich  in  die  Kelch-  und 
Blumenblätter,  bei  Nymphaea  die  Kelchblätter  allmählich  in  die 
Blmnenblätter  und  Staubgefässe  über. 

Der  phylogenetisch  höchste  Organisationszustand  ist  erreicht, 
wenn  die  für  den  Lebensprozess  nothw^endigen  Blattformen  einerseits 
in  geringster  Stückzahl,  andrerseits  in  grösster  Ungleichheit  und  Voll- 
kommenheit ohne  Zwischenstufen  neben  einander  liegen.  So  ist  beispiels- 
weise das  Vorhandensein  eines  Blattkreises  zwischen  Blumenkrone  und 
Staubgefässen  oder  eines  Blattkreises  zwischen  Staubgefässen  und 
Stemj^el  nicht  etwa  als  ein  höher  stehender  Bereicherungszustand, 
sondern  als  die  tiefer  stehende,  einer  noch  nicht  vollständig  gewor- 
denen Reduction  entsprechende  Bildung  zu  betrachten. 

Wenn  der  geschlossene  rispige  Blüthenstand  durch  Differenzirung 
in  den  ungeschlossenen  traubigen  Blüthenstand  übergeht  (S.  384), 
so  findet  eine  Reduction  der  seitlichen  Verzweigungen  zu  einfachen 


YII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  407 

Blüthenstielen  statt.  Die  seitlichen  Inflorescenzen  (z.  B.  der  Papi- 
lionaceen)  waren  ursprünglich  die  Enden  von  Laubsprossen;  durch 
Reduction  gfng  die  Assimilation  derselben  verloren  (S.  385). 

Manche  aus  einreihigen  Fäden  bestehende  Algen  endigen  in  mehr- 
zellige haarförmige  Spitzen.  Bei  Bulbochaete  sind  dieselben  auf 
eine  einzige  borstenförmige ,  am  Grunde  zwiebeiförmig  erweiterte 
Zelle  reduzirt ;  die  phylogenetischen  Vorfahren  von  Bulbochaete  hatten 
ohne  Zweifel  mehrzellige,  allmählich  in  den  Körper  des  Fadens 
übergehende  Borsten. 

Sehr  deutlich  zeigt  sich  der  Reductionsprocess  in  der  Zahl  der 
weiblichen  Sporen  (Gynosporen,  Makrosporen)  der  höchsten  Gefäss- 
kryptogamen.  Bei  den  Vorfahren  waren  anfänglich  die  Sporen  ge- 
schlechtslos und  gleichförmig,  wie  sie  es  jetzt  noch  l^ei  der  Mehrzahl 
der  Gefässkryptogamen  sind.  Dann  trat  Differenzirung  in  männliche 
und  weibliche  SjDoren  ein,  wobei  dieselben  in  Grösse,  Bau  und  Be- 
schaffenheit einander  noch  gleich  waren,  wie  dies  jetzt  noch  mit 
den  geschlechtlich  differenzirten  Sporen  von  Equisetum  der  Fall 
ist.  Der  weitere  phylogenetische  Entwicklungsgang  bewirkte  mit 
zunehmender  Grösse  der  Gynosporen  eine  stetige  Abnahme  ihrer 
Zahl ;  die  Art  und  Weise,  wie  dieser  Reductionsprocess  erfolgte,  lässt 
sich  noch  aus  den  ontogenetischen  Entwicklungsstadien  der  wenigen 
überlebenden  Glieder  der  Abstammungsreihen  erkennen. 

Bei  Isoetes,  wo  die  Reduction  am  weitesten  fortgeschritten  ist, 
bildet  sich  in  jedem  Fach  der  Androsporangien  (Mikrosporangien) 
aus  zahlreichen  Elterzellen  (Sporenmutterzellen)  durch  Viertheilung 
eine  grosse  Menge  von  Androsporen.  In  den  Gynosporangien 
dagegen  ist  in  jedem  Fach  die  Zahl  der  Elterzellen  auf  eine 
einzige  beschränkt ,  welche  4  Gynosporen  erzeugt.  —  Das  Andro- 
sporangium  von  Selaginella  enthält  im  jugendlichen  Zustande  zahl- 
reiche Elterzellen,  von  denen  jede  4  Androsporen  bildet.  Das  Gyno- 
sporangium  verhält  sich  im  Jugendzustande  ebenso;  aber  nur  eine 
einzige  der  Elternzellen  theilt  sich  und  bringt  4  Gynosporen  hervor, 
sodass  also  das  Gynosporangium  bloss  viersporig  ist.  —  Bei  den  Mar- 
siliaceen  sind  die  beiderlei  Sporangien  in  einem  früheren  Entwdcklungs- 
stadium  ebenfalls  gleich;  in  jedem  treten  16  Sporenelterzellen  auf,  die 
sich  je  in  4  Zellen  theilen.  In  den  Androsporangien  werden  alle  diese 
Zellen  zu  Androsporen,  deren  Zahl  somit  64  beträgt.  In  den  jmigen 
Gynosporangien  w^ächst  anfänglich  an   jeder  der   16  Tetraden   eine 


408  ^"^11-  Phylogenetische  Entwckhingsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Zelle  stärker  als  die  3  übrigen;  nachher  hören  15  Tetraden  auf  zu 
wachsen  und  gehen  zu  Grunde,  und  nur  an  einer  Tetrade  ver- 
grössert  sich  die  bevorzugte  Zelle  und  wird  mit  Unterdrückung  der 
drei  Geschwisterzellen  zur  Gynospore,  sodass  das  Gynosporangium 
1  sporig  ist.  Eine  frühere  phylogenetische  Stufe  hatte  IGsporige,  eine 
noch  frühere  64sporige  Gynosporangien. 

Die  wenigen  bis  jetzt  angeführten  Beispiele  von  Reductionen, 
die  aus  der  Masse  von  Thatsachen  aufs  Gerathewohl  herausgegriffen 
wurden,  zeigen  die  numerische  Abnahme  der  aus  der  räumlichen 
Differenzirung  hervorgegangenen,  neben  einander  liegenden  Theile 
einer  Ontogenie.  Die  durch  Abstammung  auf  einander  folgenden 
Theile  werden  in  gleicher  Weise  reducirt.  Die  niedrigsten  einzelligen 
Pflanzen  theilen  sich  in  den  successiven  Generationen  durch  Scheide- 
wände, die  in  den  3  Richtungen  des  Raumes  alterniren  (S.  400). 
Der  phylogenetische  Fortschritt,  der  durch  Differenzirung  und 
Reduction  zugleich  bewirkt  wird,  besteht  darin,  dass  zuerst  eine, 
dann  auch  die  andere  Theilungsrichtung  unterdrückt  wird.  Es 
fallen  also  von  3  Generationen  gleichsam  2  aus;  dadurch  wird  der 
Gegensatz  zwischen  der  gleichbleibenden  scheidewandbildenden 
Richtung  und  den  übrigen  Richtungen,  in  denen  andere  Functionen 
vor  sich  gehen,  auf  ein  Maximum  gesteigert. 

Bei  den  niedrigsten  einzelligen  Pflanzen  sind  die  auf  einander 
folgenden  Generationen  an  Dauer,  Wachsthum  und  Grösse  einander 
gleich.  Durch  Differenzirung  und  Reduction  vermindert  sich  die 
Lebensdauer  und  das  Wachsthumsvermögen  aller  Wiederholungs- 
generationen (S.  403).  Durch  noch  weitere  Reduction  geht,  indem 
gleichsam  die  ganze  Reihe  der  genannten  Generationen  verschwindet, 
die  successive  Theilung  in  Simultanth eilung  über,  wie  sie  z.  B.  bei 
Hydrodictyon  und  Sciadium  vorkommt. 

Die  Gefässpflanzen  haben  Generationswechsel;  ihre  Ontogenie 
besteht  aus  zwei  Generationen,  einer  geschlechtslosen,  Sporen  er- 
zeugenden und  einer  geschlechtlichen,  männliche  und  weibliche 
Elementarorgane  hervorbringenden  Generation.  Auf  der  untersten 
Stufe  der  Gefässpflanzen  ist  die  Geschlechtsgeneration  ein  kleines 
assimilirendes  Pflänzchen  (Filices).  Auf  den  folgenden  Stufen  mrd 
die  Grösse  der  Gcschlechtspflänzchen  mehr  und  mehr  reducirt  und 
die  Assimilationsfähigkeit  geht  nach  und  nach  verloren ,  bis  auf 
der  höchsten  Stufe  die   männliche  und   weibliche   Generation   bloss 


VII.  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pflanzenreiches.  409 

noch  aus  einer  oder  einigen  wenigen  Zellen  besteht.  Noch  viel 
deutlicher  zeigt  sich  diese  Reduction,  wenn  wir  die  phylogenetische 
Reilie  von  den  lebermoosartigen  Pflanzen  beginnen  lassen ,  aus 
denen  die  Gefässpflanzen  hervorgegangen  sind. 

Neben  der  genannten  Reduction  der  einen  Generation  verläuft 
ein  Vergrösserungs-  und  Bereicherungsprocess  der  andern  mit  ihr 
alternirenden  Generation.  Dieses  Wechselverhältniss  zwischen  den 
zwei  Generationen,  aus  denen  die  Ontogenien  der  Hauptreihen  des 
Pflanzenreiches  bestehen,  gehört  zu  den  merkwürdigsten  Erscheinungen 
der  phylogenetischen  Entwicklung.  Diejenige  Generation,  welche 
aus  der  Vereinigung  der  Geschlechtszellen  hervorgeht  und  auf  ge- 
schlechtslosem Wege  Sporen  erzeugt,  ist  auf  den  untersten  Stufen 
höchst  einfach  in  Bau  und  Function,  indem  sie  bei  confervenartigen 
Algen  bloss  von  einer  einzigen  Zelle  dargestellt  wird.  Sie  nimmt 
dann  zu,  ist  aber  bei  den  Moosen  erst  ein  kugeliges  bis  längliches, 
äusserlich  fast  ungegliedertes  Sporogonium  mit  sehr  einfachem  inneren 
Bau.  Bis  zu  den  Gefässpflanzen  dagegen  hat  sie  so  sehr  zugenommen, 
dass  sie  als  der  ganze,  äusserlich  und  innerlich  reich  gegliederte 
Pflanzenstock  auftritt. 

Die  andere  Generation,  welche  aus  einer  geschlechtslos  erzeugten 
Spore  entspringt  und  selber  die  Geschlechtszellen  hervorbringt,  zeigt 
den  umgekehrten  Entwicklungsgang.  Auf  der  untersten  Stufe  ist  sie 
die  ganze  Pflanze  (Confervoiden).  Sie  nimmt  zwar  auf  den  folgenden 
Stufen  absolut  etwas  zu,  aber  relativ  (im  Verhältniss  zur  geschlechts- 
erzeugten Generation)  sehr  deutlich  ab.  Bei  den  Moosen  ist  sie  noch 
ein  ziemlich  hoch  organisirter,  antheridien-  und  archegonientragender 
Pflanzenstock.  Bei  den  Gefässpflanzen  aber  hat  sie,  wie  schon  er- 
wähnt, auch  nach  absolutem  Maass  abgenommen,  und  verhältniss- 
mässig  (im  Vergleich  mit  der  andern  Generation)  zeigt  sie  sich  hier 
zuletzt  auf  das  äusserste  beschränkt. 

Zur  ursächlichen  Erklärung  dieses  Wechselverhältnisses  weiss 
ich  nichts  anderes  als  das  Streben  nach  Diiferenzirung  anzuführen. 
Es  scheint,  dass  die  Pflanze  die  Neigung  hat,  die  Erzeugung  der 
Geschlechtszellen  von  den  übrigen  Functionen  zu  trennen,  um  den 
Sexualact  desto  vollkommner  ausführen  zu  können.  Die  Erzeugung 
der  Geschlechtszellen  ist  anfänglich  mit  allen  andern  Functionen 
auf  dem  nämlichen  Individuum  vereinigt,  während  das  mit  dem- 
selben  alternirende    aus   der   Verschmelzung    der   Geschlechtszellen 


410  ^'^11.  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pflanzenreiches, 

hervorgehende  Individuum  bloss  einen  einzelligen  Uebergang  dar- 
stellt. Dadurch  nun,  dass  die  geschlechtserzeugende  Generation  durch 
Reduction  kleiner,  die  geschlechtserzeugte  Generation  aber  durch 
Amjjliation  und  Differenzirung  grösser  wird,  gehen  die  vegetativen 
Functionen  nach  und  nach  auf  die  letztere  über,  und  der  ersteren 
bleibt  auf  der  höchsten  Stufe  keine  andere  Function ,  als  die  Ge- 
schlechtszellen hervorzubringen. 


Die  Vorgänge,  die  in  den  drei  vorhergehenden  Gesetzen  dargelegt 
^nu'den,  die  Ampliation  (A^),  Differenzirung  (VI)  und  Reduction  (VII), 
stehen  in  inniger  Beziehung  zu  einander  und  haben  das  gemeinsame 
Resultat,  dass  sie  einen  Organismus  mit  einfachem  Bau  und  be- 
schränkten Functionen  in  einen  solchen  mit  zusammengesetzterem 
Bau  und  zahlreicheren  Functionen  umwandeln.  In  der  Vorstellung 
lassen  sich  die  Vorgänge  stets  aus  einander  halten;  in  der  Wirk- 
lichkeit sind  sie  sehr  häufig  mit  einander  zu  einem  Gesammtprocess 
verbunden.  Wir  können  daher  die  genannten  drei  Gesetze  in  ein 
einziges  phylogenetisches  Gesetz,  nämlich  das  der  Complication 
zusammenfassen , 

Das  gleichartige  Stück  einer  Ontogenie  wird, 
indem  es  sich  vergrössert,  innerlich  ungleich,  und 
die  Ungleichheit  steigert  sich,  indem  die  Uebergangs- 
glieder  der  ungleich  gewordenen  Tlieile  verschwinden 
und    nur    die    extremen    Bildungen    übrig    bleiben. 

Der  Gesammtprocess  der  Complication  durchläuft  also  zwei  Peri- 
oden, die  meistens  auch  zeitlich  auf  einander  folgen.  In  der  ersten 
Periode  findet  Ampliation  mit  Differenzirung,  in  der  zweiten  Reduction 
mit  zunehmender  Differenz  statt.  Die  beginnende  Differenzirung, 
welche  die  Functionen  auseinander  legt,  bedarf  naturgemäss  eines 
vergrösserten  Feldes  ihrer  Thätigkeit,  weil  die  räumlich  neben  ein- 
ander befindlichen  oder  zeitlich  auf  einander  folgenden  Theile,  die  von 
dem  gleichartigen  in  den  ungleichartigen  Zustand  übergehen,  zuerst 
eine  Menge  von  Uebergängen  zeigen.  Die  fortgesetzte  Differen- 
zirung, welche  die  Ungleichheiten  erhöht,  wird  naturgemäss  dadurch 
unterstützt,  dass  der  Organismus  die  Uebergangsstufen  j^reisgibt  und 
bloss  die  extremen  Bildungen  beibehält,  denen  er  nun  mehr  Kraft 
und  Stoff  zuführen  kann. 


YII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  411 

Ist  in  diesen  zwei  Perioden  aiicli,  \vie  die  Erfahrung  zeigt,  der 
gewöhnliche  Verlauf  ausgedrückt ,  so  kann  doch ,  wie  es  scheint, 
auch  jedes  einzelne  Moment  derselhen,  die  Ampliation,  die  Reduction, 
die  Differenzirung  allein  thätig  sein ,  indem  dasselbe  in  geA\isscii 
Fällen  unzweifelhaft  vorhanden  ist,  während  die  übrigen  sich  der 
Wahrnehmung:  entziehen. 


Die  phylogenetischen  Processe,  die  gemäss  den  vorausgehenden 
Gesetzen  (I — VII)  erfolgen,  haben  das  Bestreben,  die  Organisation- 
der  Pflanzen  mannigfaltiger  und  den  Zusammenhang  ihrer  Theile 
inniger  zu  machen.  Diese  Ver\"ollkommnungsbewegung  geht  ohne 
Rücksicht  auf  die  von  aussen  auf  die  Organismen  einwirkenden 
Einflüsse  vor  sich.  Sie  erhält  aber  durch  die  letzteren  ein  bestimmtes 
Gepräge,  sodass  die  concreteli  Pflanzenformen,  wie  sie  in  die  Er- 
scheinung treten,  als  die  Resultirende  der  zusammentreffenden  inneren 
und  äusseren  Kräfte  zu  betrachten  sind.  Die  Wirkung  der  äusseren 
Ursachen  gibt  uns  das  letzte  Gesetz  der  Altstammungsgeschichte. 

VIII.  phylogenetisches  Gesetz. 

Die  äusseren  Verhältnisse,  unter  denen  die  Pflanzen 
leben,  wirken  direkt  als  Reiz  oder  indirekt  als  em- 
pfundenes Bedürfniss  verändernd  ein,  verleihen  da- 
durch der  Gestaltung  und  den  Verrichtungen  einen 
bestimmten  zeitlichen  und  örtlichen  Ausdruck  und 
bringen  somit  verschiedene  Anpassungen  zu  Stande. 
Die  Anpassungen  sind  durch  Vererbung  beständig, 
gehen  aber,  wenn  neue  andere  Anpassungen  sie  ausser 
Wirksamkeit    setzen,    wieder    allmählich    verloren. 

Ich  habe  die  sämmtlichen  Anpassungen  in  Ein  allgemeines 
Gesetz  zusammengefasst ,  weil  ich  dasselbe  nicht  in  die  besonderen 
Gesetze  zu  zerlegen  vermag.  Es  gibt  offenbar  verschiedene  Arten,  wie 
die  Anpassungen  zu  Stande  kommen,  gleichwie  es  verschiedene  Arten 
für  den  Fortschritt  der  Vervollkommnungsbewegung  gibt.  Man  kann 
auch  nach  verschiedenen  Gesichtspunkten  Ijcstinmite  Kategorien  der 
Anpassung  unterscheiden ;  allein  diese  Gesichtspunkte  beziehen  sich 
weder  auf  die  mechanischen  Vorgänge  noch  auf  die  Ursachen  der 
Veränderung,  und  haben  daher  für  die  vorliegende  Betrachtungsweise 
der  Abstammungslehre  keinen  Werth. 


412  ^T^I-  Phylogenetische  Entwickhingsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Die  Erkenntniss  der  Anpassungsvorgänge  wird  dadurch  erschwert, 
class  sie,  weil  auf  dem  langsamen  phylogenetischen  Wege  erfolgend, 
dem  Experiment  nicht  zugänglich  sind,  —  ferner  dadurch,  dass  die 
neuen  Anpassungen  oft  gleichsam  auf  die  von  früher  her  vererbten 
Anpassungen  gepfi'opft  werden  und  eine  Verbindung  mit  denselben 
Inlden,  —  endlich  dadurch,  dass  die  Anpassungen  mit  den  Errungen- 
schaften des  Vervollkommnungsprocesses  ein  einheitliches  und  un- 
theill^ares  Ganze  darstellen.  Die  Anpassungsursachen  sind  überdem 
so  verschiedenartig  und  wirken  in  so  mannigfaltigen  Combinationen 
ein,  dass  es  nur  selten  gelingt,  eine  Ursache  in  ihren  Wirkungen 
zu  erfassen. 

Es  wurden  bereits  oben  (S.  142 — 165)  mehrere  Anpassungen, 
die  auf  directem  Wege  durch  Reize  oder  auf  indirectem  Wege  durch 
das  Bedürfniss  verursacht  werden,  besprochen.  Um  eine  Anpassungs- 
veränderung vollständig  zu  begreifen ,  muss  man  wissen ,  woraus 
sie  geworden ,  welche  Ursachen  sie  hervorgebracht  haben ,  und  wie 
diese  mechanisch  eingewirkt  haben.  Nur  in  wenigen  Fällen  sind 
uns  alle  drei  Momente  hinreichend  bekannt.  Wir  wissen  beisj)iels- 
weise,  woher  die  Wurzelhaare  (Rhizoide)  der  niedrigsten  Algen  her- 
kommen. Es  werden  nämlich  die  Auswüchse  der  einzelligen  Pflanze 
auf  der  untersten  Stufe  zur  Fortpflanzungszelle  (durch  Sprossung); 
indem  letztere  vegetativ  wird ,  wächst  sie  zum  Thallom  oder  zum 
Trichom  aus.  Die  Trichome  sind  zuerst  reproductiv;  auf  einer 
höheren  Stufe  werden  sie  steril,  in  welchem  Zustande  sie  verschiedene 
Anpassungsumbildungen  erfahren ,  von  denen  eine  das  Wurzelhaar 
ist.  Die  Ursachen  dieser  Anpassung,  unter  denen  sich  jedenfalls  die 
Schwerkraft  befindet,  entziehen  sich  noch  unserer  Einsicht. 

Etwas  deutlicher  gibt  sich  die  Wurzelbildung  der  Gefässpflanzen 
zu  erkennen.  Es  ist  unzweifelhaft,  dass  die  eigentlichen  Wurzeln 
aus  unterirdischen  Caulomen  (Ausläufern)  hervorgegangen  sind.  Die 
Veränderung  in  der  Lage  der  mechanischen  Gewebe,  und  die  Umkehr 
des  anfänglichen  Wachsthums  der  Gefässstränge,  welche  dabei  einge- 
treten sind,  lassen  sich  aus  den  veränderten  mechanischen  Angriffen 
erklären  (S.  146).  Die  wichtigste  Anpassung  aber  besteht  in  der 
Unterdrückung  der  Blattbildung  und  in  der  Bildung  einer  Wiu'zel- 
liaube;  sie  ist  durch  den  Druck  zu  erklären,  den  die  Spitze  des  sich 
verlängernden  Organs  in  der  Erde  erfährt.  Die  Caulome  der  Gefäss- 
kryi^togamen  haben  an  der  Spitze  eine  Scheitelzelle,  die  sich  durch 


VII.  Phylogenetische  Entwdcklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  413 

alternirend  schiefe  Wände  theilt  (v  in  Fig.  24  a).  Wird  während  einer 
langen  Reihe  von  Generationen  fortwährend  durch  den  Druck  ein 
Reiz  auf  die  Scheitelzelle  ausgeübt,  so  reagirt  dieselbe  in  der  Art, 
dass  das  ihr  specifisch  zukonniiende  Scheitelzellenplasma  durch  das 
Ernährungsplasma  von  dem  Scheitelpunkt  zurückgedrängt  wird.  Das 
letztere  verdickt  dann  zunächst  die  Aussenwand,  und  in  Folge  stärkerer, 
d.  h.  noch  länger  andauernder  Reizeinwirkung  wird  die  äussere,  das 
Ernährungsplasma  enthaltende  Partie  durch  eine  Scheidewand  als 
Zelle  abgeschnitten,  aus  welcher  die  zum  Schutz  des  Scheitels  dienende 
Wurzelliaube  sich  bildet.  (Fig.  24  b  zeigt  zwei  mit  r  bezeichnete  Initial- 
zellen der  Wurzelhaube).  Dies  stünmt  mit  der  allgemeinen  Thatsache 
überein,  dass  ein  Reiz  vermehrtes  Wachsthum  und  vermehrte  Zell- 
theilmig  bewirkt. 

Durch  den  von  aussen  ausgeübten  Druck  wird  ferner  und  zAvar 
schon  vor  der  Wurzelhaubenbildung  das  Wachsthum  der  Blätter  unter- 
drückt. Die  unterirdischen  als  Wurzeln  functionirenden  Caulome  von 
Psilotum  zeigen  mis  eine  erste  Stufe  dieses  Vorganges ;  dieselben  halben 
bloss   wenigzellige   nicht   über   die   Oberfläche   vorspringende   Blatt- 


Pig.  24. 


anfange,  die  sich  nicht  weiter  entwickeln  (f  in  Fig.  24  c).  Diese  Caulome 
besitzen  aber  noch  keine  Wurzelhaube ;  der  Druck,  den  ihre  Scheitel- 
zelle (v)  erfährt,  ist  durch  die  beträchtliche  Dicke  des  Caulomkörpers 
und    die    flache   Gestalt   der    Scheitelregion   bedeutend   vermindert; 


414  ^"11-  Phylogenetische  Entwickhmgsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

wenn  aber  Psilotum  eine  künftige  Erdperiode  erlebt,  so  wird  es  bis 
dahin  wohl  auch  zur  Bildung  einer  Wurzelhaube  gelangen. 

Ist  die  Wurzelhaubenbildung  eingetreten,  so  sind  die  Segmente, 
aus  denen  die  BLätter  entstehen  sollten  (s  in  Fig.  24  b) ,  mit  einer 
Zelle  bedeckt.  Die  Bildung  der  Blattanfänge  unterblei])t  nun  in  Folge 
der  veränderten  Umgebung  gänzlich.  Es  ist  aber  noch  unklar,  auf 
welche  mechanische  Weise  die  Initialzelle  der  Wurzelhaube  auf  die 
unterliegende  Segmentzelle  einwirkt.  Wir  wissen  nur,  dass  die 
Bildung  der  Blattanfänge  immer  in  einer  Aussenzelle  erfolgt,  mid 
dass  durch  die  Wurzelhaubenbildung  die  sonst  blatterzeugende  Zelle 
(s  in  Fig.  24  a)  zur  Innenzelle  geworden  ist. 

Ein  anderes  Beispiel,  wo  wir  den  Ursprung  einer  Anpassungs- 
veränderung kennen  und  auch  ihre  Ursache  mit  grösster  Wahrschein- 
lichkeit vermuthen  können ,  aber  den  mechanischen  Vorgang  nicht 
begreifen,  geben  uns  die  flächenförmigen  Organe.  Auf  den  tiefsten 
Stufen  waren  die  in  die  Länge  wachsenden  Organe  sämmtlicli  cylin- 
drisch  mit  allseitiger  Verzweigung.  Es  ist  dies  die  ursprüngliche 
Form,  die  sowohl  durch  den  Mangel  einer  Differenzirung  in  den  zur 
Achse  rechtwinkligen  Ebenen  als  durch  bekannte  allgemeine  mecha- 
nische Ursachen  bedingt  wm'de.  Auf  den  folgenden  Stufen  findet 
einerseits  Verzweigung  der  noch  cylindrischen  Fäden  in  einer  Ebene 
statt  (Bryojisis,  Ptilota  etc.),  andrerseits  nehmen  die  Thallome  in  ihrer 
Totalität  oder  in  einzelnen  Theilen  eine  flächenförmige  Gestalt  an 
(Caulerpa,  Udotea,  Porph}Ta,  Nitophyllmn  etc.).  Der  Erfolg  dieser 
Veränderung  ist  eine  ausgiebigere  Einwirkung  des  Lichtes  auf  die 
Zellen. 

Den  Anstoss  zu  der  Veränderung  mag  die  durch  innere  Ursachen 
erfolgende  Differenzirung  geben ;  die  Einwirkung  des  Lichtes  bestimmt 
dann  jedenfalls  die  Richtung,  welche  die  flächenförmige  Ausbildung 
annimmt.  Vielleicht  aber  verursacht  die  letztere  allein  den  ganzen 
pliylogenetischen  Umbildungsprocess.  —  Was  nun  das  Vermögen 
des  Lichtes  in  Bezug  auf  Veränderungen  an  den  Pflanzen  bedingt, 
so  wissen  wir,  dass  dasselbe  ungleiche  Wachsthumsprocesse  an  der 
beleuchteten  und  an  der  beschatteten  Seite  von  verschiedenen  assi- 
milirenden  Organen  hervorbringt.  Die  nothwendige  Consequenz  hier- 
von ist,  dass  die  beiden  Seiten,  welche  in  der  zu  den  einfallenden 
Lichtstrahlen  rechtwinkligen  Ebene  liegen ,  sich  anders  verhalten 
müssen  als  die  beleuchtete  und  die  beschattete  Seite,  und  es  ist  nicht 


\^I.  Phylogonetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  415 

uiimöglicli ,  dass  in  dieser  Ebene  durch  den  Einfluss  des  Lichtes 
Wachsthum  und  Verzweigung  begünstigt  werden. 

Von  den  verschiedenen  Beziehungen,  unter  denen  wir  (he 
Anpassungen  betrachten  können ,  ist  der  Nutzen ,  den  sie  ge- 
währen, in  der  Regel  die  am  besten  bekannte.  Aus  demselben  lässt 
sich  in  einzelnen  Fällen  auf  die  Ursachen  schliessen,  während  in 
anderen  Fällen  die  Wirkung  keine  Andeutung  über  die  Ursache  und 
deren  mechanische  Thätigkeit  gibt.  Als  Beispiel  für  letzteres  können 
manche  Schutzeinrichtungen  angeführt  werden.  Besonders  sind  es 
die  Fortpflanzungsorgane ,  dann  auch  die  jungen  noch  im  Stadimn 
der  Zelltheilung  befindhchen  Partien,  welche  vor  mechanischen  Ein- 
wirkungen und  vor  den  Angriffen  von  Thieren  geschützt  w^erden. 

Eine  Art  des  Schutzes  besteht  darin ,  dass  die  solche  Theile 
tragende  Oberfläche  sich  vertieft.  Ist  die  Anpassung  vollständig,  so 
hat  sich  die  Vertiefung  zu  einer  mit  engem  Ausführungsgang  ver- 
sehenen Grube  ausgebildet.  Wir  finden  diese  Einrichtung  schon  bei 
Algen,  nämlich  als  Sorusgrübchen  und  Fasergrübchen  bei  den  Fuca- 
ceen,  als  Antheridiengrübchen  bei  wenigen  Florideen  (Corallina,  Graci- 
laria),  als  vertiefter  Scheitel  (Laurencia,  Fucaceen).  Der  Nutzen  der 
Einrichtung  ist  unverkennbar;  die  Ursache  derselben  dürften  wohl 
Reize  sein,  denen  die  im  Wachsthum  begriffenen  Theile  ausgesetzt 
waren.  Aber  wir  haben  keine  A'^orstellung  davon,  wie  durch  einen 
solchen  Reiz  das  Flächenwachsthum  der  Aussenzellen  local  gesteigert 
und  das  durch  die  Innenzellen  bewirkte  Dickenwachsthimi  an  der- 
selben Stelle  vermindert  wird. 

Eine  andere  ähnliche  Schutzvorrichtung  besteht  darin,  dass  ein 
Organ  durch  Einrollung  der  Spitze  seinen  zellenbildenden  Scheitel 
umhüllt  (unter  den  Algen  Padina,  Ceramium,  Rhodomela).  Sie 
schliesst  sich  an  die  vorhergehende  Einrichtung  in  der  Beziehung 
an,  dass  die  Fortpflanzungsorgane  sich  auf  der  concaven  ,  also  ge- 
schützten Seite  befinden.  Der  Grund  aber,  warum  die  (concave) 
Bauchseite  anfänglich  weniger  stark  in  die  Länge  wächst  als  die 
(convexe)  Rückenseite,  bleibt  zur  Zeit  noch  ebenso  unbekannt.  — 
Viel  häufiger  wird  der  Schutz  junger  Theile  dadurch  zu  Stande 
gebracht,  dass  ältere  Organe  dieselben  miigeben  und  bedecken,  was 
ebenfalls  schon  bei  Algen  vorkommt.  Auch  diese  Einrichtung  wird 
aus  noch  verborgenen  Ursachen  durch  stärkeres  Längenwachsthum 
auf  der  (convexen)  Rückenseite  der  Schutzorgane  bewirkt. 


41 G  ^^11-  PliJ'logenetischc  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Wie  bereits  Eingangs  dieses  Abschnittes  bemerkt  wurde  und  wie 
sich  auch  aus  den  angeführten  Beispielen  ergibt,  trifft  die  Anpassungs- 
veränderung mit  dem  durch  innere  Ursachen  bewirkten  VervoU- 
kommnungsfortschritt  zusammen  und  verleiht  dem  letzteren  den 
concreten  specifischen  Charakter.  Es  sind  daher  für  eine  Erscheinung 
sehr  häufig  zweierlei  Ursachen  aufzusuchen  und  man  würde  leicht 
in  Irrthum  gerathen,  wenn  man  beispielsweise  eine  bestimmte  Ver- 
änderung bloss  als  die  Folge  der  Differenzirung  oder  bloss  als  die 
Folge  der  Anpassung  betrachten  wollte,  während  in  Wirklichkeit  die 
vollständige  Erklärung  nur  durch  die  beiden  zusammenwirkenden 
Momente  gegeben  wird. 

Dies  zeigt  sich  unter  anderem  deutlich  bei  den  Anpassungen, 
welche  durch  den  Wechsel  der  Jahreszeiten  bedingt,  durch  die  Diffe- 
renzirung aber  unterstützt  oder  eingeleitet  werden.  Dieselben  treten 
uns  bei  allen  Pflanzen  in  grösserem  oder  geringerem  Umfange  ent- 
gegen, am  augenfälligsten  bei  den  höheren  Gewächsen,  die  im  Winter 
wie  unsere  Bäume  und  Sträucher  nach  Verlust  der  Blätter,  oder  wie 
unsere  ausdauernden  Kräuter  nach  Verlust  der  sämmtlichen  über 
der  Erde  befindlichen  Theile  einen  Ruhezustand  durchmachen.  Die 
einfachsten  Verhältnisse  und  das  sicherste  Urtheil  gewähren  aber  die 
niederen,  aus  einer  einzigen  Zelle  oder  aus  einer  geringen  Zahl  von 
Zellen  bestehenden  Pflanzen. 

Die  niedrigsten  Pflanzen  in  jeder  Beziehung  sind  die  Schizo- 
phyten,  zu  denen  die  Nostochinen  (im  weitesten  Sinne)  und  die 
Spaltpilze  gehören.  Bei  manchen  derselben  beschränken  sich  die 
Lebensvorgänge  darauf,  dass  die  Zellen,  zwischen  denen  noch  gar 
keine  Verschiedenheit  besteht,  auf  die  doppelte  Grösse  anwachsen 
und  dann  sich  theilen.  Werden  die  äusseren  Verhältnisse  für  diese 
Lebensvorgänge  ungünstig,  so  stehen  dieselben  still,  um  jeder  Zeit, 
wenn  die  äusseren  Umstände  sich  wieder  günstiger  gestalten,  von 
neuem  zu  beginnen.  Bei  den  einen  dieser  Scliizoph}i.eii  ist  gar  kein 
Unterschied  zwischen  dem  Vegetationszustand  und  dem  Ruhezustand 
zu  bemerken ;  bei  den  anderen  wird  mit  der  Abnahme  der  A-^egetation 
der  Zellen  Inhalt  wenig  dichter  und  die  Membran  etwas  derber.  In 
diesem  Zustande  verharren  die  Zellen  während  der  Ruhezeit,  woljei 
eine  grössere  oder  kleinere  Zahl  derselben,  je  nach  der  Ungunst  der 
äusseren  Einflüsse,  zu  Grunde  geht.  Es  ist  hier  noch  ganz  unbe- 
stimmt, welche  Zellen  ausdauern  und  die  Sippe  erhalten. 


Vn.  rhylogonetisclie  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzoiireirhos.  417 

Auf  der  näclist  höheren  Stufe  gehen  die  Zellen  vor  der  Ruhe- 
zeit, theils  durch  die  weiter  gehende  Anpassung,  welche  in  Folge 
der  fortgesetzten  Einwirkung  der  äusseren  Agentien  statthat,  theils 
durch  zeitliche  und  räumliche  Differenzirung  in  den  Sporenzustand 
über,  indem  die  Membran  dick  und  fest,  der  aus  Fett  und  Eiweiss 
bestehende  Inhalt  dicht  (wasserarm)  wird.  In  diesem  Zustande  sind 
die  Zellen  gegen  die  Unbilden,  welchen  sie  während  der  Vegetations- 
ruhe ausgesetzt  sind,  viel  'waderstandsfähiger.  In  der  phylogenetischen 
Reihenfolge  sind  es  zuerst  alle  Zellen,  welche  ohne  eine  Gestalts- 
veränderung zu  Sjjoren  sich  uml:)ilden,  wie  dies  noch  bei  Nodularia 
der  Fall  ist.  Dann  tritt  Scheidung  zwischen  den  Zellen  ein,  indem 
in  den  einen  die  vegetative  Zelltheilung  fortdauert,  während  die 
andern,  statt  sich  weiter  zu  theilen,  beträchtlich  an  Grösse  zunehmen 
und  zu  Sporen  werden.  Erst  sind  es  unl^estmimt  viele  Zellen,  die 
in  den  Sporenzustand  übergehen ;  dann  ist  es  nur  noch  eine  einzige 
in  einem  Faden  oder  Fadenstück  (Rivularia). 

Diese  Anpassung  an  den  Wechsel  der  Jahreszeiten  hat  einen 
Generationswechsel  zur  Folge.  Sind  die  Pflanzen  einzellig,  so  wird 
die  Reihe  der  gewöhnlichen  Generationen  durch  eine  Generation  ab- 
geschlossen, welche  als  Ruhespore  während  des  Vegetatiousunter- 
bruches  ausdauert  und  beim  Beginn  der  nächsten  Vegetationszeit  die 
Theilung  in  unveränderter  Weise  fortsetzt.  Sind  die  Pflanzen  mehr- 
zellig, so  vermehrt  sich  eine  Reihe  von  Generationen  durch  Zerfallen 
der  Fäden  in  Stücke,  und  die  Uebergangsgeneration  bildet  Ruhe- 
sporen. 

Auf  der  höheren  Stufe  tritt  zu  der  Differenzirung  und  An]3assung, 
welche  auf  der  untersten  Stufe  die  Ruhesporen  erzeugen,  noch  die 
weitere  Differenzirung  in  Geschlechtszellen  ein.  Durch  Copulation 
zweier  äusserlicli  gleicher  Zellen  oder  einer  Eizelle  mit  Spermatozoiden 
entsteht  eine  Zelle,  die  zur  Ruhespore  (Zygospore  oder  Oospore)  wird. 
Ist  die  Pflanze  einzellig,  so  besteht  der  Generationswechsel  darin, 
dass  eine  Reihe  von  Generationen  sich  auf  ungeschlechtlichem  Wege 
fortpflanzt,  während  die  Uebergangsgeneration  geschlechtlich  dif- 
ferenzirt  ist  und  sich  zu  einem  den  Vegetationsunterbruch  über- 
dauernden Product  vereinigt  (Volvox,  Pandorina,  Hydrodictyon). 
Ist  die  Pflanze  mehrzellig,  so  bildet  eine  Reihe  von  Generationen 
Schwärmsporen ;  die  letzte  Generation  der  Vegetationszeit  aber  erzeugt 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  27 


418  VII.  Phj^ogenetisclie  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

Geschlechtszellen,   aus   deren  A^ereinigung   die  Ruhesporen    hervor- 
gehen (Ulothrix). 

Auf  dieser  Stufe  trifft  also  Geschlechtsdifferenz  und  Bildung  von 
Ruhesporen  mit  dem  Wechsel  der  Jahreszeiten  zusammen  und  zeigt 
demnach  den  Charakter  der  Anpassung.  Die  ganze  Einrichtung 
verliert  aber  bald  ihre  Bedeutung  als  Anpassung,  und  beweist  auch 
durch  diesen  Umstand,  dass  sie  nicht  bloss  durch  die  von  aussen  wir- 
kenden Einflüsse  hervorgebracht  wurde.  Auf  der  nächst  höheren 
Stufe  nämlich  findet  Befruchtung  und  Bildung  von  Ruhesporen  nicht 
nur  am  Ende  der  Vegetationszeit,  sondern  auch  wiederholt  während 
derselben  statt  (Vaucheria,  Oedogonimn). 

Werden  auf  den  folgenden  Stufen  die  Pflanzen  mehrjährig,  so 
treten  andere  Anpassungserscheinungen  in  der  vegetativen  Sphäre 
und  in  der  geschlechtslosen  Fortpflanzung  auf,  welche  die  Ueber- 
dauerung  des  Vegetationsunterbruches  ermöglichen  oder  erleichtern. 
Die  geschlechtliche  Befruchtung  aber  hat  den  Charakter  der  An- 
passung an  den  Wechsel  der  Jahreszeiten  gänzlich  eingebüsst;  sie 
erfolgt  während  der  Vegetationszeit  und  leitet  sofort  Wachsthum  mit 
Zelltheilung  ein  (Moose,  Gefässpflanzen). 

Die  Trennung  der  Geschlechter  ist  m-sprünglich  ein  reiner 
Differenzirungsact,  indem  die  männlichen  und  weiblichen  Zellen  mit 
Ausnahme  der  getrennten  Geschlechtselektricität  einander  noch  ganz 
gleich  sind  (S.  387).  Die  Differenzirung  schreitet  dann  weiter  fort; 
zugleich  aber  kommen  Anpassungsveränderungen  hinzu.  Die  Pflanzen, 
in  denen  die  Geschlechtsdifferenzirung  beginnt,  haben  schon  von 
ihren  Vorfahren  das  durch  Anpassung  erlangte  Bestreben  geerbt, 
ihre  Keime  mit  Nährstoffen  zu  versehen  (S.  163).  Die  ersten  ge- 
schlechtlichen Schwärmzellen  sind  damit  noch  sehr  sj^ärlich  ausge- 
stattet. Indem  Anpassung  und  Differenzirung  sich  steigern,  werden 
die  einen  (die  weiblichen)  mit  reichlicher  Nahrung  ausgerüstet  und 
verlieren  dadurch  ihre  Beweglichkeit ;  sie  werden  entweder  bloss  von 
der  Mutterpflanze  ausgestossen  oder  bleiben  in  derselben  liegen,  indem 
dm'ch  eine  Oeffnung  der  Zugang  für  die  SjDermatozoide  frei  gemacht 
wird.  Die  andern  geschlechtlichen  Schwärmzellen  (die  männlichen) 
werden ,  gleichsam  durch  Compensation ,  von  Nährstoffen  ganz  ent- 
blösst  und  gewinnen  dafür  an  Beweglichkeit.  Durch  weitere  An- 
passung  gehen   sie   in   die   längliche   (Eudorina)   und    dann    in   die 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  419 

fadenförmige  Gestalt  (Ohara)  über,  und  werden  mehr  und  mehr 
schraul)enförmig,  wie  aucli  die  lebhaft  vorwärts  gehenden  und  sich 
drehenden  Pflänzchen  von  fadenförmiger  Gestalt  (Spirillum ,  S])iru- 
lina)  zu  Schrauben  geworden  sind. 

Ein  anderes  Beispiel,  wo  mit  der  Anpassung  auch  Differeuzirung 
durch  innere  Ursachen  mitgewirkt  liat,  finden  wir  in  der  Veränderung 
der  Gewebe  durch  mechanische  Einwirkung.  Ich  habe  aus  der  letz- 
teren die  Entstehung  der  sog.  mechanischen  Zellen  abgeleitet  (S.  14G). 
Das  Resultat  hätte  aber  nicht  so  bestimmt  und  charakteristisch  aus- 
fallen können,  die  mechanischen  Zellen  wären  von  dem  angrenzenden 
Gewebe  nicht  so  scharf  geschieden,  wie  es  gewöhnlich  der  Fall  ist, 
wenn  nicht  noch  eine  andere  Ursache  dabei  thätig  gewesen  w^äre. 
Es  ist  dies  die  Neigung  des  Idioplasmas  zur  Dilferenzirung ;  dieselbe 
übergab  die  einen  Zellen  gänzhch  oder  grösstentheils  ihrem  mecha- 
nischen Berufe,  stattete  sie  mit  dicken  festen  Membranen  aus  und 
entblösste  sie  an  Inhalt,  w^ährend  die  angrenzenden  Zellen  dünn- 
wandig blieben  und  andere  Verrichtungen  übernahmen. 

Ein  solches  Zusammenwirken  der  äusseren  mechanischen  Ur- 
sachen und  der  inneren  Neigung  zur  Differenzirung  glaube  ich 
schon  auf  der  untersten  Stufe  des  Pflanzenreiches  bei  der  Entstehung 
der  Grenzzellen  in  den  Familien  der  Nostochaceen,  Scytonemaceen 
und  Rivulariaceen  annehmen  zu  dürfen.  Werden  einreihige  Zellfäden 
durch  allseitiges  Wachsthum  (Th eilung  aller  Zellen)  sehr  lang,  so 
brechen  sie  leicht  entzwei ,  wenn  irgend  eine  mechanische  Ursache 
auf  sie  einwirkt  (Oscillariaceen ,  Zygnemaceen).  Dabei  trennen  sich 
entweder  die  Endzellen  der  beiden  Hälften  einfacli  von  einander, 
oder  es  wird  eine  Zelle  zwischen  den  l>eiden  Hälften  zerdrückt  und 
stirbt  ab. 

Bei  den  genannten  Familien  der  Nostochinen  wird  an  der  Stelle, 
wo  die  Trennung  der  Fadenstücke  stattfinden  soll,  eine  Zelle  zur 
sog.  Grenzzelle,  indem  sie  ihre  Membran  verdickt,  ihren  Inhalt  ver- 
liert und  abstirbt.  Von  dieser  Zelle  lösen  sich  die  Fadenstücke  ab, 
und  aus  dem  Umstände,  dass  dieselbe  gewöhnlich  noch  an  dem  einen 
Faden  haften  bleibt,  hat  sie  den  Namen  Grenzzelle  erhalten.  Dass 
bei  deren  Bildung  die  Differenzirung  wesentlich  betheiligt  ist,  ersieht 
man  daraus,  dass  die  der  Grenzzelle  anliegenden  Zellen  oft  zu 
Sporen  werden  (Cylindrospermum ,  Rivularia),  oder  in  Fäden  aus- 
wachsen   (Rivulariaceen ,    Scytonemaceen).     Aber   es   liesse   sich   das 

27* 


420  "^"TI.  Phylogenetische  Eiitwiekhingsgesetzc  des  Pflanzenreiches. 

Entstehen   der  Grenzzellen   aus   der  DifEerenzirung^  allein  kaum  be- 
greifen. 

Dass  eine  mechanische  Ursache  dabei  mitgeholfen  habe,  ist  mir 
desswegen  wahrscheinlich,  weil  die  Grenzzelle  in  der  Regel  sich  in 
der  Mitte  des  Fadens  bildet,  also  da,  wo  Druck  und  Zug  bei  der 
Biegung  des  Fadens  am  stärksten  empfunden  werden,  und  weil  die 
Grenzzelle  die  nämlichen  Veränderungen  erfährt  wie  die  mechani- 
schen Zellen.  Die  mechanische  Wirkung  ist  jedoch  nicht  etwa  als 
eine  unmittelbare  und  ontogenetische  aufzufassen.  Sondern  es  hat 
die  fortwährend  wiederholte  mechanische  Einwirkung  während  einer 
langen  Generationenreihe  eine  erbliche  Anlage  im  Idioplasma  ge- 
schaffen, die  nun  allen  Zellen  zukommt,  und  die  sich  in  derjenigen 
Zelle  eines  Fadens  entfaltet,  auf  welche  die  maassgebenden  Einflüsse,, 
wozu  auch  die  durch  mechanische  Einwirkung  hervorgerufene  Span- 
nung gehört,  sich  concentriren. 


Das  Vorhandensein  der  phylogenetischen  Vorgänge,  welche  sich 
den  8  aufgestellten  Gesetzen  oder  den  3  allgemeinen  Gesetzen  der 
Vereinigung,  Complication  und  Anpassung  unterordnen, 
ist  deutlich  zu  erkennen,  und  es  kann  darüber  kein  Zweifel  be- 
stehen. Dagegen  erhebt  sich  nun  die  wichtige  Frage,  ob  damit  der 
ganze  Organisationsprocess  erschöpft  sei,  oder  ob  es  Erscheinungen 
gebe,  welche  sich  daraus  nicht  erklären  lassen  und  welche  auf  noch 
anderweitige  Vorgänge  hinweisen.  Letzteres  scheint  mir  nicht  der 
Fall  zu  sein.  Es  gibt  zwar  eine  Menge  von  Organisationsverhält- 
nissen ,  über  deren  Zustandekommen  wir  uns  vollkommen  im  Un- 
gewissen befinden;  aber  nicht  desswegen,  weil  sie  uns  etwas  neues 
darbieten,  sondern  einmal  weil  sie  noch  zu  wenig  erforscht  und 
erkannt  sind,  ferner  weil  wegen  ihrer  Complicirtheit  und  wegen 
der  vorausgehenden  Lücken  in  der  phylogenetischen  Reihenfolge 
keine  bestimmte  Andeutung  gegeben  ist,  durch  welche  Combination 
und  Stufenreihe  der  bekannten  Vorgänge  sie  entstanden  sein  könnten. 
Damit  ein  Organisationsverhältniss  mit  anderen  in  genauer  Weise 
verglichen  und  daraufhin  pliylogenetisch  richtig  gedeutet  werden 
kann,  muss  seine  Entwicklungsgeschichte  bis  in  alle  Einzelheiten 
klar  gelegt  sein. 


VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  I'flanzenreiohes.  421 

Wenn  icli  sage,  dtiss  nach  meiner  Ansicht  die  8  Gesetze  aus- 
reichen, um  alle  Erscheinungen  im  Pflanzenreiche  zu  erklären,  so 
setze  icli  voraus,  dass  die  niedrigsten  Pflanzen,  mit  denen  die  phylo- 
genetischen Reihen  beginnen,  bereits  diejenigen  Eigenschaften  be- 
sitzen, welche  sie  aus  dem  Probienreich  geerbt  haben,  und  welche 
die  allgemeinsten  Erscheinungen  des  Wachstliums  und  der  Fort- 
pflanzimg  der  Organismen  umfassen  (vgl.  §  1 — 7  S.  341 — 350).  Da  die 
genannten  7  Erscheinungen  als  Anlagen  im  Idioplasma  aller  Pflanzen 
enthalten  sind,  so  können  sie  unter  günstigen  Umständen  auch  stets 
zur  Entfaltung  gelangen,  und  ebenso  werden  sie  je  nach  Umständen 
einen  grösseren  oder  geringeren  Antheil  an  der  weiteren  phylogene- 
tischen Entwicklung  des  Idioplasmas  geltend  machen. 

Diese  phylogenetische  Entwicklung  des  Idioplasmas  besteht,  wie 
sich  aus  der  ganzen  vorliegenden  Untersuchung  ergibt,  darin,  dass 
die  Configuration  desselben  zusammengesetzter  wird,  dass  die  Zahl 
und  die  Verschiedenheit  der  idioplasmatischen  Anlagen  zunimmt, 
und  dass  zugleich  die  Anlagen  in  innigere  Beziehung  zu  einander 
treten ,  indem  die  Idioplasmamicelle  in  bestinmiten  Richtungen  des 
Querschnitts  der  Stränge  fester  zusammenschliessen  und  somit  dy- 
namisch besser  auf  einander  einwkken  können.  Dabei  erhält  die 
ganze  Zusammenordnung  der  Anlagen  natm'gemäss  ein  ihrer  suc- 
cessiven  Entstehung  entsprechendes  Gefüge;  ihre  ontogenetische 
Entfaltung  wiederholt  daher  in  gewissem  Maasse  die  vorausgehende 
phylogenetische  Reihe  und  ihre  weitere  Entwicklung  bedingt  einen 
entsprechenden  Fortschritt  in  der  Ontogenie,   . 

Aus  dieser  phylogenetischen  Entwicklungsgeschichte  des  Idio- 
plasmas und  aus  ihrer  Beziehung  zur  jeweiligen  ontogenetischen 
Entfaltung  ergeben  sich  die  verschiedenen  phylogenetischen  Ent- 
wicklungsgesetze, wie  sie  mittels  einer  Vergieichung  der  entfalteten 
Organismen  beurtheilt  und  abgeleitet  wurden.  Dieselben  bestehen  im 
allgemeinen  darin ,  dass  die  den  Ontogenien  angehörenden  Tlieile, 
welche  auf  den  früheren  Stufen  zeitlich  und  räumlich  sich  ganz 
oder  theil weise  trennten,  auf  den  sj^äteren  Stufen  sich  vereinigen 
und  in  dauernde  Beziehung  zu  einander  treten  (Ges.  I — IV),  während 
zugleich  Lebens  Vorgänge,  die  früher  in  jedem  der  getrennten  Theile 
beisammen  waren,  nun  in  den  zu  einem  Ganzen  vereinigten  Theilen 
aus  einander  gelegt  werden  (Differenzirung  VI).  Ferner  erfolgen 
unter   der  Einwirkung   des   umgeänderten   und   complicirter  gewor- 


422  ^'11-  Phylogenetische  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

denen  Idioplasmas  andere  chemische  und  plastische  Processe  (VI). 
Das  Auftreten  dieser  neuen  Processe  und  des  eigentlichen  Differen- 
zirungsactes  selber  verursachen  eine  Verlängerung  des  betreffenden 
ontogenetischen  Abschnittes  (Ampliation  V),  während  andere  Ab- 
schnitte der  Ontogenie,  in  denen  die  Differenzirung  vollendet  ist, 
durch  Unterdrückung  von  Zwischenbildungen  auf  das  qualitativ 
Verschiedene  reducirt  werden ,  so  dass  die  Gegensätze  schärfer  her- 
vor und  einander  näher  treten  (VII). 

Ob  nun  der  phylogenetische  Fortschritt  auf  jeder  Stufe  in  der 
einen  oder  anderen  Weise  erfolge,  muss  einmal  von  der  ganzen 
vorausgehenden  phylogenetischen  Bewegung  und  somit  von  der  Be- 
schaffenheit der  Ontogenie  abhängen.  Er  kann  aber  auch  von  den 
äusseren  Einflüssen  bedingt  werden,  welche  nicht  nur  bestimmte 
Anpassungen  verursachen,  sondern  ohne  Zweifel  auch  in  vielen 
Fällen  bestimmen,  w^elche  von  den  inneren  Ursachen  des  phylo- 
genetischen Fortschritts  die  Oberhand  gewinnen.  In  dieser  Be- 
ziehung dürften  sich  die  Phylogenien  gerade  so  verhalten,  wie  die 
Ontogenien.  Die  letzteren  entfalten  mit  unbedingter  Noth wendigkeit 
eine  gewisse  Summe  von  Anlagen,  während  es  von  den  äusseren 
Ursachen  (Nahrung,  Feuchtigkeit,  Licht,  Wärme,  Schwerkraft)  ab- 
hängt, ob  und  welche  von  gewissen  anderen  Anlagen  zur  Entfaltung 
gelangen.  So  muss  es  in  der  Phylogenie  bestimmte  Entwicklungen 
des  Idioplasmas  geben,  welche  unbedingt  durch  die  bisherige  phylo- 
genetische Bewegung  bewirkt  werden,  während  in  Fällen,  wo  die 
inneren  Ursachen  fast  mit  gleicher  Energie  zw^ei  verschiedene  Ent- 
wickhmgsvorgänge  anstreben,  die  von  aussen  kommenden  Reize 
den  Ausschlag  geben.  Man  muss  also  annehmen,  dass,  während 
in  den  einen  Fällen  die  äusseren  Einflüsse  sich  indifferent  verhalten 
und  eine  Pflanzensippe  sich  überall  in  der  nämlichen  Weise  fortbildet, 
in  anderen  Fällen  die  Abkömmlinge  der  nämlichen  Sippe  in  einem 
warmen  und  einem  kalten  Klima,  im  Wasser  und  auf  dem  Lande, 
abgesehen  von  der  ungleichen  Anpassung,  auch  eine  verschiedene 
phylogenetische  Entwicklung  durch  innere  Kräfte  erfahren  können. 

Aus  dem  Zusammenwirken  der  verschiedenen  phylogenetischen 
Processe  erklären  sich  nicht  nur  alle  einzelnen  Erscheinungen,  aus 
denen  die  Ontogenien  zusammengesetzt  sind,  sondern  es  stellen  sich 
auch  die  Ontogenien  als  Totalerscheinungen  und  ihr  Wechsel  in 
der  Generationenfolge  als  eine  nothwendige  Folge  jener  Processe  dar. 


VII.  Phylogenetisclie  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches.  423 

Um  hier  einen  Hauptpunkt  hervorzuheben,  so  möchte  es  uns,  wenn 
wir  die  Individuen  für  sich  Ijetrachten,  als  ein  fast  unlösbares  Räthsel 
vorkommen,  warum  dieselben  bis  zu  einer  bestimmten  Grösse  heran- 
wachsen und  nach  einer  bestimmten  Dauer  mit  Ausnahme  der  win- 
zigen Keime,  die  sie  abgesondert  haben,  zu  Grunde  gehen. 

Dies  kann  uns  um  so  räthselhafter  erscheinen,  da  die  einfachsten 
Organismen  in  der  genannten  Beziehung  sich  anders  verhalten. 
Wcährend  fast  die  ganze  Substanz  der  höheren  Pflanzen  und  Thiere 
nothwendig  abstirbt,  muss  von  der  Substanz  der  niedrigsten  Lebe- 
wesen mit  Nothwendigkeit  gar  nichts  absterben.  Dies  ist  der  Fall 
l)ui  den  meisten  einzelligen  und  bei  einigen  mehrzelligen  Pflanzen. 
Eine  Chroococcus-  oder  Micrococcuszelle ,  die  für  sich  ein  selbstän- 
diges Individuum  bildet,  theilt  sich  in  2  Zellen,  die  sich  wieder  in 
gleicher  Weise  theilen.  Von  Substanz  geht  bei  dieser  Fortpflanzung 
nichts  verloren,  da  die  beiden  Kinder  sich  stets  in  die  ganze  Sub- 
stanz und  Leljensfähigkeit  ihres  Elters  theilen.  Alles  Absterben  ist 
hier  ein  zufälliges,  durch  die  Ungunst  der  äusseren  Verhältnisse 
bedingtes ,  wobei  nicht  Theile  der  Individuen ,  sondern  die  ganzen 
Individuen  zu  Grunde  gehen.  —  Mit  den  genannten  Gattungen  der 
Schizophyten  stimmen  die  meisten  einzelligen  Gewächse  überein, 
indem  die  bei  ihnen  mögliche  zeitliche  Diff erenzhung ,  welche  die 
successiven  Generationen  ungleich  macht  und  den  Generations- 
wechsel bedingt,  die  volle  Existenzfähigkeit  und  Fortpflanzungs- 
fähigkeit jeder  einzelnen  Generation  nicht  beeinträchtigt.  Die  räum- 
liche Differenzirung  al^er,  welche  die  Zellen  der  nämlichen  Generation 
ungleich  macht ,  bringt  bei  den  einzelligen  Organismen  bloss  ge- 
schlechtlich geschiedene  Individuen  hervor,  welche  an  dem  Be- 
fruchtungsprocess  mit  ihrer  ganzen  Plasmasubstanz  sich  betheiligen, 
so  dass  also  auch  bei  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  ausser  den 
mnhüUenden  nichtplasmatischen  Substanzen  nichts  zu  Verlust  geht. 

Ein  anderes  Ergebniss  hat  die  räumliche  Differenzirung,  nachdem 
durch  andere  phylogenetische  Vorgänge  aus  den  einzelligen  mehr- 
zellige Organismen  geworden  sind,  indem  nun  die  verschiedenen 
Functionen  auf  die  verschiedenen  Zellen  sich  vertheilt  haben.  Für 
die  vorliegende  Frage  kommt  nur  Eine  Scheidmig  in  Betracht,  die- 
jenige nämlich  in  Zollen,  welche  die  Fortpflanzung  übernehmen, 
und  in  solche,  welche  die  mannigfaltigen  anderen  Verrichtungen 
zur  Erhaltung  des  Individuums  besorgen.    Schon  bei  den  einzelligen 


424  VII.  Phylogeuetisclie  Eutwk'klinigsgL'setze  des  niaiizenrt'iches. 

Pflanzen  kommt  eine  analoge  zeitliche  Differenzirung  vor,  nämlich 
zwischen  den  übrigen  Generationen  und  der  Sporengeneration;  alier 
hier  haben  alle  Individuen  (Zellen)  zur  Ix'stimmten  Zeit  das  Ver- 
mögen, in  den  Sporenzustand  überzugehen.  Bei  den  mehrzelligen 
Pflanzen  wird  die  Differenzirung  eine  räumliche ,  und  von  vielen 
Zellen  werden  nur  einzelne  Zellen  zu  Sporen. 

Auf  der  untersten  Stufe  der  mehrzelligen  Pflanzen  unterscheiden 
sich  die  zu  Ruhesporen  werdenden  Zellen  bloss  durch  die  Fälligkeit, 
während  der  Vegetationsruhe  (resp.  während  des  Winters)  auszu- 
dauern,  indess  die  übrigen  Zellen  zu  Grunde  gehen.  Die  Dilferen- 
zirung  hat  hier  durch  die  Anpassung  ihren  bestimmten  Charakter 
erhalten;  das  Individuum  stirl:)t  mit  Noth  wendigkeit  in  seiner  grösseren 
Partie  ab.  Bei  der  weiteren  j)hylogenetischen  Entwicklung  wird, 
wie  dies  stets  eintritt,  die  Anpassungsanlage  selbständig  und  von 
der  Anpassungsursache  unabhängig.  Sie  kann  sich  nun  zu  jeder 
Zeit  entfalten  und  ist  in  dieser  Beziehung  nicht  mehr  an  das  Ende 
der  Vegetationszeit  gebunden.  Zunächst  findet  Ruhesporenbildung 
mehrmals  während  einer  Vegetationsperiode  statt,  so  dass  mehrere 
Ontogenien  während  eines  Jahres  auf  einander  folgen  und  die 
Sporen  der  letzten  Ontogenie  überwintern.  Auf  höheren  phylo- 
genetischen Stufen  dagegen  gelangt  häufig  das  Individuum  erst  nach 
mehreren  Jahren  zur  Sporenbildung,  so  dass  die  Ontogenie  einen 
grösseren  Zeitraum  in  Anspruch  nimmt. 

Obgleich  aber  die  Differenzirung  in  absterbende  Zellen  und  in 
solche,  welche  w^ährend  der  Vegetationsruhe  lebensfähig  bleiben, 
ursprünglich  eine  Anpassung  an  den  Wechsel  der  Jahreszeiten  war, 
so  behält  sie,  nachdem  sie  von  den  äusseren  Einflüssen  unabhängig 
geworden,  doch  mit  Nothwendiglceit  durch  Beharrung  (Vererbung) 
ihren  vollständigen  Charakter,  w^elcher  im  Gegensatze  der  beiden 
Zellenarten  besteht,  bei.  Mit  der  Sporenbildung  oder  allgemein  mit 
der  Fortpflanzung  geht  naturgemäss  der  übrige  Theil  des  Indi- 
viduums zu  Grunde.  Vermöge  weiterer  phylogenetischer  Fortschritte 
geschieht  es  dann,  dass  die  Individuen  nicht  mehr  in  Folge  der 
Fortpflanzung  sofort  absterben,  sondern  dass  sie  wiederholt  sich 
fortpflanzen  können;  aber  die  beschränkte  Dauer  ihrer  Existenz  ist 
ihnen  nothwendig  als  Erbtheil  geblieben. 

Die  genaue  Erörterung  der  phylogenetischen  Ursachen  zeigt 
uns  also,    dass  von    allen  Zeilgenerationenreihen,    in   die  ein  Orga- 


VII.  Ph}-li;)gfnetische  Entwifklungsgesetze  des  rHaiizenreiches.  425 

nisnius  sich  gliedert,  die  meisten  mit  Notliwendigkeit  einem  dm"ch 
die  Differenzirung  gesetzten  Ende  verfallen  siiid ,  während  einige 
wenige  das  Vermögen  hesitzen,  sieh  unbegrenzt  zu  verlängern,  indem 
sie  periodisch  sich  durch  den  Zustand  von  Fortpflanzungszellen  er- 
neuern. Mit  anderen  Worten,  die  Organismen  sterben  nach  einer 
bestimmten  Lebensdauer  und  bleiben  nur  in  den  von  ihnen  er- 
zeugten Keimen  lebensfähig. 


VIII. 


Der  Generationswechsel  in  ontogenetischer  nnd  phylo- 
genetischer Beziehung. 


Das  Pflaiizenruich  beginnt  mit  Zellen ;  es  niiiss  daher  für  die 
Betraclitiing  der  phylogenetischen  Entwicklung,  insofern  dieselbe  als 
Generationenfolge  anfgefasst  wird,  die  Zelle  als  die  einfachste  uns 
bekannte  selbständige  Einheit  zu  Grunde  gelegt  werden.  Die  nie- 
dersten Pflanzen  sind  Zellen ,  die  wdeder  ganz  gleiche  Zellen  er- 
zeugen; alle  Generationen  sind  einander  gleich,  und  die  Kenntniss 
einer  Generation  genügt  zur  vollständigen  Erkenntniss  der  Pflanze. 
Sowie  die  Zellgenerationen  ungleich  werden  und  somit  ein  Zell- 
generationswechsel eintritt,  bedarf  es  zu  dieser  Erkenntniss  nunmehr 
der  Kenntniss  eines  ganzen  Cyclus  von  Generationen,  nämlich  der 
Reihenfolge  von  einer  Zelle  bis  zur  Wiederkehr  einer  ganz  gleichen 
Zelle.  Dieser  Cyclus  von  Zellgenerationen  ist  das  Element  für  die 
Vergieichung  der  Organismen  und  als  ontogenetisc he  Periode^) 
zu  bezeichnen. 

Die  ontogenetische  Periode  umfasst  also  den  Abschnitt  der 
phylogenetischen  Entwicklungsl^ewegung   zwischen  je  zwei  gleichen 


^)  Ich  habe  diesen  Begriff  früher  (Systeinat.  Uel)ersicht  der  Erscheinungen 
im  Pflanzenreich.  1853) ,  um  einen  neuen  Namen  zu  vermeiden ,  in  weniger 
passender  Weise  als  »Artperiode«  bezeichnet.  Die  von  Häckel  eingeführten 
Worte  »Ontogenie«  und  »Phylogenie«  drücken  die  für  die  Abstammungslehre 
allgemeinsten  Begriffe  sehr  gut  aus,  wenn  unter  Ontogenie  nicht  die  Geschichte 
des  Inchviduunis,  sondern  der  sich  wiederholende  Cyclus,  mag  er  aus  einem  oder 
aus  vielen  Individuen  bestehen,  verstanden  Avird. 


^TH.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylogenet.  Beziehung.     427 

Punkten.  Sie  nimmt  in  den  Abstammungsreihen  an  Lcänge,  d.  h. 
an  Zahl  der  Zellgenerationen,  im  allgemeinen  immer  mehr  zu.  Die 
letzteren  können  entweder,  iiachdem  sie  sich  gebildet  haben,  sich 
von  einander  trennen  und  einzellige  Individuen  darstellen,  —  oder 
sie  können  partienweise  vereinigt  bleiben,  sodass  die  Ontogenie  aus 
einer  Anzahl  mehrzelliger  Individuen,  häufig  auch  aus  mehrzelligen 
und  einzelligen  Individuen  besteht,  —  oder  endlich  sie  können  alle 
zu  einem  einzigen,  die  ganze  Ontogenie  ausfüllenden  Individuum 
verbunden  sein.  Im  letzteren  Falle  sind  die  auf  einander  folgenden 
Individuen  einander  gleich;  in  den  beiden  ersten  Fällen  sind  sie 
noth wendig  ungleich  und  es  besteht  Generationswechsel  im 
gewöhnlichen  Sinne. 

Für  die  Darstellung  und  Beurtheilung  des  Generationswechsels 
kommt  es  darauf  an,  welchen  Umfang  man  dem  Pflanzenindividuum 
gibt.  Wird  beispielsweise,  entsprechend  der  ^^orstellung  mancher 
Morphologen,  der  einzelne  Spross  als  das  Individuum  der  höheren 
Pflanzen  angesehen,  so  folgt  an  einem  Baum  eine  ganze  Menge 
Generationen  auf  einander,  während  derselbe  nach  der  gewöhnlichen 
Ansicht  ein  einziges  Individuum  und  somit  eine  Generation  darstellt. 

Doch  ist  diese  Verschiedenheit  der  Anschauung  von  geringerem 
Belang;  es  hat  mehr  eine  formelle  Bedeutung,  ob  wir  eine  Folge 
von  individuellen  Bildungen  als  ebenso  viele  Pflanzenindividuen 
oder  als  Theile  eines  einzigen  Individuums,  dem  dann  der  Name 
Pflanzenstock  beigelegt  wdrd,  ansehen.  Dagegen  ist  es  von  Wichtig- 
keit, dass  dem  Begriff  des  Individuums  und  somit  auch  dem  Gene- 
rationswechsel ,  so  weit  es  möglich  ist,  eine  gleiche  Ausdehnung 
gegeben  werde,  —  und  von  noch  grösserer  Wichtigkeit,  dass  für 
den  Generationswechsel  und  somit  für  die  ontogenetische  Periode 
der  nämliche  Ausgangspunkt  gewählt  werde,  weil  nur  dadurch  die 
verschiedenen  Stufen  der  phylogenetischen  Reihen  sich  richtig  mit 
einander  vergleichen  lassen. 

Da  die  grosse  Mehrzahl  der  Pflanzen  geschlechtlich  differenzirt 
ist  und  auf  eine  ontogenetische  Periode  bloss  einmal  geschlecht- 
liche Befruchtung  trifft,  so  wechselt  eine  Geschlechtsgeiieration  mit 
einer  oder  mit  vielen  geschlechtslosen  Generationen.  Da  ferner  der 
geschlechtliche  Befruchtungsact  die  Grenze  zwischen  zwei  auf  einander 
folgenden  Individuen  oder  Generationen  l)ildet,  so  ist  es  naturgemäss, 
denselben  als  Grenzstein  zwischen  den  Cyclen  des  Generationswechsels 


428     VUI.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylogenet.  Beziehung. 

ZU  setzen.  Da  endlich  die  Geschlechtszellen  phylogenetisch  auf  die 
geschlechtslosen  Zellen  folgen  und  aus  densell^en  durch  Differen- 
zirung  entstehen,  so  muss  die  Ihldung  der  Geschlechtszellen  an  das 
Ende  des  Generation  encyclus  oder  der  ontogenetischen  Periode  ge- 
setzt werden. 

Die  ungleichen  Generationen,  welche  den  Generationswechsel 
verursachen,  sind  entweder  in  Einzahl  vorhanden,  sodass  2  oder 
3  ungleichartige  Individuen  regelmässig  mit  einander  abwechseln, 
oder  eine  der  Generationen  wiederholt  sich  eine  unhestimmte  Zahl 
von  Malen  in  der  nämlichen  Weise ;  der  Generationencyclus  besteht 
dann  aus  einer  Reihe  von  Wiederholungs gener ationen  und 
einer  Einzelgeneration,  von  denen  die  letztere  l)ei  Vorhandensein  von 
Geschlechtsdifferenz  entweder  durch  die  männlichen  und  weiblichen 
Zellen  allein  dargestellt  wird  oder  mit  denselben  beginnt.  Meistens 
sind  auch  die  der  Geschlechtsgeneration  oder  der  androgynen 
Generation,  wie  ich  sie  zur  Vermeidung  von  Missverständnissen 
nennen  wdll,  vorausgehenden  und  nachfolgenden  Einzelgenerationcn 
von  den  Wiederholungsgenerationen  verschieden. 

Ehe  ich  auf  die  phylogenetische  Bedeutung  des  Generations- 
wechsels eintrete,  will  ich  einige  Beispiele  betrachten,  an  denen  die 
Folge  der  Generationen  sicher  und  deutlich  ist.  Ich  wähle  sie  vor- 
zugsweise aus  den  niederen  Stufen  des  Pflanzenreiches,  weil  hier  ein 
Irrthum  in  der  Beurtheilung  am  ehesten  ausgeschlossen  ist. 


Die  einfachsten  uns  bekannten  Pflanzen  sind  die  Schizophyten, 
denen  die  geschlechtliche  Diiferenzirung  noch  mangelt.  Unter  den 
einzelligen  Schizophyten  gibt  es  solche  ohne  Generationswechsel; 
die  auf  einander  folgenden  Generationen  sind  einander  ganz  gleich, 
nicht  bloss  in  der  Beschaffenheit  der  Zellen,  sondern  auch  darin, 
dass  die  Zelltheilung ,  wodurch  je  zwei  neue  Individuen  erzeugt 
werden,  in  der  nämlichen  Richtung  stattfindet;  beim  Aufhören  der 
Vegetation  dauern  die  Individuen  unverändert  bis  zum  Beginn  der 
nächsten  Vegetationsperiode  aus  (Gloeothece,  Synechococcus,  Micro- 
coccus;  Fig.  22  a,  b  auf  S.  401).  —  Andere  haben  einen  einmaligen 
oder  zweimaligen  Generationswechsel,  je  nachdem  die  Theilungs- 
richtung  regelmässig  in  2  oder  in  3  Richtungen  des  Raumes  wechselt. 
Bei  einmaligem  Wechsel  sind  je  die  geraden  und  je  die  ungeraden 


VIII.  Der  Generationswcclisel  in  ontogenet.  und  ])liylogenot.  Beziehung.     429 

Generationen  (also  n  —  2,  n  und  n  -\-  2)  einander  gleich  (Mcrismo- 
pedia,  Fig.  22  c — g  auf  S.  401);  bei  zweimaligem  Wechsel  stimmt 
je  die  w*®  Generation  mit  der  n  —  o^'^"  und  mit  der  n  -j-  3*^°  überein 
(Chroococcus ,  Gloeocaj)sa).  Auch  bei  diesen  tritt  eine  Veränderung 
der  Individuen  beim  Uebergang  in  die  Vegetationsruhe  meist  nicht  ein. 

Nehmen  aber  am  Ende  einer  A-'egetationsperiode  die  Zellen  der 
letzten  Generation  den  Charakter  von  Sporen  an,  indem  sie  den 
Inhalt  verdichten  und  die  Zellmembran  stärker  und  fester  machen, 
wie  dies  bei  Gloeocapsa  und  Bacterium  vorkommt,  so  folgt  auf  eine 
Reihe  von  Wiederholungsgenerationen  die  einzelne  geschlechtslose 
Sporengeneration,  mit  welcher  der  ontogenetische  Cyclus  abschliesst. 
Die  Reihe  der  Wiederholungsgenerationen  gliedert  sich,  wenn  die 
Theilungsrichtung  in  2  oder  in  3  Richtungen  des  Raumes  abwechselt, 
in  2  oder  3  zählige  Perioden. 

Die  mehrzelligen  Schizophyten  sind  fast  ausschliesslich  ein- 
reihige Fäden.  Diese  Individuen  vermehren  sich  durch  Theilung, 
indem  die  Theilungsstellen  durch  Grenzzellen  (S.  419)  bestimmt 
werden ,  oder  indem  der  Faden  auch  ohne  Grenzzellenbildung  in 
kurze  Stücke  (Hormogonien)  zerfällt.  Bei  den  einen  tritt  keine 
weitere  Erscheinung  auf,  indem  sie  unverändert  die  Zeit  des  Vege- 
tationsunterbruches überdauern ;  hier  mangelt  ein  Generationswechsel 
(Oscillaria).  Bei  den  andern  bildet  die  letzte  Generation  einer  Vege- 
tationsjDeriode  Ruhesporen,  indem  eine  grössere  oder  kleinere  Zahl 
von  Zellen  sich  vergrössert,  die  Wandung  verdickt  und  sich  mit 
dichtem  Inhalte  anfüllt ;  hier  folgt  auf  eine  Reihe  von  Wiederholungs- 
generationen eine  einzelne  sporenbildende  Generation  (Cylindro- 
spermum,  Rivularia). 

Während  bei  den  geschlechtslosen  Pflanzen  die  einzelne  Sporen- 
generation einer  Reihe  von  ganz  gleichen  Wiederholungsgenerationen 
gegenübersteht,  weichen  bei  den  geschlechtlichen  Pflanzen,  welche 
einen  Generationswechsel  mit  Wiederholungsgenerationen  haben,  die 
erste  und  letzte  der  ungeschlechtlichen  Generationen  mehr  oder 
weniger  von  den  übrigen  ab.  Bei  diesen  Pflanzen  gilt  folgendes 
Schema  für  die  Folge  der  Generationen  eines  ontogcnetischen  Cyclus : 

Ä      B,...B„       G       D, 
wenn    mit    Bi  .  .  .  B„    die    Wiederholungsgenerationen ,    mit    C    die 
geschlechtserzeugende  (gamotoke),  mit  D  die  androgyne  und  mit  Ä 
die  geschlechtserzeugte  (gamogene)  Generation  bezeichnet  wird. 


430     VIII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylogenet.  Bezieliung. 

Bezüglich  des  Umfanges  der  androgynen  Generation  könnte 
man  verschiedener  Meinung  sein.  Am  deutUchsten  stellen  sich  die 
zwei  möglichen  Ansichten  bei  den  einzelligen  Pflanzen  heraus.  Ent- 
weder betrachtet  man  die  männliche  und  weibliche  Zelle  und  ihr 
Vereinigungsproduct,  die  befruchtete  Eizelle  (Zygote),  als  eine  einzige 
oder  als  zwei  Generationen.  Das  erstere  erscheint  mir  als  das  natur- 
gemässe;  denn  der  Befruchtungsact  ist  doch  eigentlich  keine  Fort- 
j)flanzung.  Es  widerstrebt  dem  natürlichen  Gefühl,  die  weibliclie 
Zelle  vor  und  nach  der  Befruchtung  als  zwei  verschiedene  Gene- 
rationen zu  bezeichnen  und  somit  auch  anzunehmen,  dass  bei  der 
Parthenogenesis  eine  Generation  ausfalle.  Lässt  man  die  Geschlechts- 
zellen und  ihre  Zygoten  als  Eine  Generation  gelten,  so  muss  man 
doch  zwei  Stadien  derselben  unterscheiden :  die  androgyne  Generation 
als  getrennte  männliche  und  weibliche  Zellen  (D')  und  dieselbe  nach 
der  Verschmelzung  dieser  Zellen  (D").  Damit  ist  jedem  Bedürfniss 
Genüge  geleistet  und  zugleich  die  Analogie  mit  den  anderen  Gene- 
rationen gewahrt. 

Als  Beispiel  der  niedrigsten  Geschlechtspflanzen  mag  zunächst 
Chlamydomonas  pulvisculus  dienen.  Die  Wiederholungsgenerationen 
(jBi  .  .  .  B„)  sind  einzellige  Pflänzchen ,  welche  zeitlebens  als  zwei- 
wimprige,  mit  einer  Membran  umhüllte  Schwärmzellen  herum- 
schwimmen, und  durch  wiederholte  Zweitheilung  mehrere  Kinder 
erzeugen.  Darauf  folgt  eine  Generation,  die  letzte  der  ungeschlecht- 
lichen (C),  deren  Individuen  sich  ungleich  verhalten.  Die  einen 
erzeugen  nämlich  2  bis  4  grössere  weibliche,  die  andern  erzeugen 
8  kleinere  männliche  Schwärmzellen.  Von  der  Geschlechtsgeneration 
(D')  legen  sich  je  eine  männliche  und  eine  weibliche  Pflanze  mit 
ihren  Wimperenden  an  einander  an,  verwachsen  daselbst,  indem  sie 
ihre  Wimpern  verlieren,  und  nach  Resorption  der  Zellmembran  an 
der  Verwachsungsstelle  wandert  der  Inhalt  der  männlichen  Zelle  in 
die  Höhlung  der  weiblichen  Zelle  über,  worauf  aus  den  vereinigten 
beiden  Zellinhalten  die  Zygospore  entsteht  {!)").  Aus  der  letzteren 
werden  nach  der  Ruhezeit  mehrere  Schwärmzellen  gebildet;  es  ist 
dies  die  geschlechtserzeugte  Generation  {Ä).  —  Die  beiden  Genera- 
tionen C  und  A  unterscheiden  sich  bei  Chlamydomonas  äusserlich  noch 
nicht  wesentlich  von  den  Wiederholungsgenerationen  Bi  .  .  .  B„;  man 
erkennt  die  erstere  daran,  dass  sie  ein  andersartiges  Zeugungsvermögen, 
die  letztere  daran,  dass  sie  einen  andersartigen  Ursprung  besitzt. 


VIII.  Der  Genorationswechsel  in  ontogenet.  und  jjhylogenet.  Beziehung.     43l 

Bei  der  verwandten  einzelligen  Alge  Pandorina  morum  sind  die 
zweiw^mprigen  Individuen  der  Wiederholungsgenerationen  zu  IG  bis 
04  in  schwärmende  kugelige  Colonien  vereinigt.  Bei  der  Fortpflanzung 
entstehen  durch  wiederholte  Theilung  des  Inhaltes  aus  den  einzelnen 
Zellen  eben  so  viele  kugelige  Colonien,  die  sich  von  einander  trennen 
(jB,  .  .  .  B„).  Die  letzte  ungeschlechtliche  Generation  (C)  unterscheidet 
sich  auch  hier  von  den  vorausgehenden  Wiederholungsgenerationen 
nur  durch  das  Product ;  ihre  Individuen  erzeugen  nämlich  geschlecht- 
lich differenzirte,  bloss  8  zellige  Colonien.  Von  diesen  Colonien  der 
androgynen  Generation  (D)  sind  die  einen  männlich ,  die  andern 
weiblich,  ohne  übrigens  sich  äusserlich  sonst  von  einander  zu  unter- 
scheiden. Sie  zerfallen  schon  im  jugendlichen  Zustande  in  die  ein- 
zelnen Zellen ,  welche  schwärmen  und  sich,  je  eine  männliche  und 
eine  weibliche,  vereinigen  um  eine  kugelige  Zygospore  zu  bilden.  Nach 
der  Ruhezeit  erzeugt  die  Zygospore  1 — 3  grössere  Schwärmzellen, 
welche  die  erste  ungeschlechtliche  Generation  darstellen  {Ä)  und 
durch  wiederholte  Theilung  in  16  Zellen  die  erste  Wiederholungs- 
generation (jBi)  hervorbringen. 

Die  androgyne  Generation  von  Pandorina  durchläuft  3  Zustände : 
im  ersten  sind  die  Geschlechtszellen  zu  männlichen  und  weiblichen 
Colonien  verbunden,  im  zweiten  schw^ärmen  sie  einzeln,  im  dritten 
sind  sie  zu  Zygosporen  verschmolzen.  Die  zwei  ersten  Stadien  werden 
auch  als  zwei  Generationen  betrachtet,  indem  man  sagt,  dass  die 
Zellen  der  Colonie  je  ein  geschlechtliches  Individuum  erzeugen,  — 
eine  Vorstellung,  die  mir  bei  Vergleichung  mit  andern  verwandten 
Pflanzen  nicht  gerechtfertigt  erscheint. 

Das  Wassernetz  (Hj'drodictyon)  verhält  sich  bezüglich  der  Gene- 
rationenfolge im  Wesentlichen  ebenso  wie  Pandorina.  Die  cylin- 
drischen  Zellen  der  Wiederholungsgenerationen  sind  in  grosser  Zahl 
zu  weitmaschigen  geschlossenen  Netzen  verwachsen.  Die  Fortpflanzung 
geschieht  dadurch ,  dass  in  jeder  Zelle  des  Netzes  durch  simultane 
Theilung  des  Inhaltes  bis  zu  20  000  Zellen  entstehen,  w'elche  inner- 
halb der  Membran  ihrer  Elterzelle  schwärmen  und  sich  dann  zu 
einem  Netz  vereinigen ,  das ,  nachdem  es  frei  geworden ,  sich  stark 
vergrössert.  Die  geschlechtserzeugende  Generation  (C)  bildet  viel 
zahlreichere  männliche  und  weibliche  Zellen  (bis  zu  100  000),  welche 
sich  nicht  zu  einem  Netz  zusammenordnen,  sondern  einzeln  schwär- 
men, dann  zu  2  oder  auch  zu  mehreren  mit  einander  verschmelzen 


432     VIII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylogenet.  Beziehung. 

lind  ruhende  kugelige  Zygosi3oren  darstellen.  Beim  Wiederbeginn 
der  Vegetation  erzeugt  jede  Spore  einige  wenige  grosse  Schwärmzellen, 
welche  nach  kurzer  Zeit  zur  Ruhe  gelangen  und  eine  polyedrische 
Gestalt  annehmen  [Ä);  aus  ihnen  entstehen  die  noch  rudimentären 
Netze  der  ersten  Wiederholungsgeneration  (Ui). 

Bei  den  der  Gattung  Pandorina  nahe  stehenden  Gattungen  Eu- 
dorina  und  Volvox  zeigt  der  Generationswechsel  eine  bemerkens- 
werthe  Verschiedenheit  zwischen  der  männlichen  und  der  weiblichen 
GeschlechtssiDhäre.  In  der  letzteren  wird  nämlich  eine  Generation 
unterdrückt,  indem  die  Zellen,  welche  sonst  die  geschlechtserzeugende 
Generation  (C)  darstellen,  ungetheilt  bleiben  und  zu  weiblichen 
Geschlechtszellen  (Eizellen)  werden.  In  der  männlichen  Geschlechts- 
s})häre  dagegen  erzeugt  jede  Zelle  der  Generation  C  durch  wieder- 
holte Theilung  eine  Mehrzahl  von  männlichen  einzelligen  Individuen 
(Spermatozoiden).  Diese  Verschiedenheit  stimmt  mit  der  bekannten 
Erscheinung  der  mehrzelligen  Pflanzen  überein,  dass  in  der  männ- 
lichen Geschlechtssphäre  eine  grössere  Zahl  von  Zellgenerationen 
durchlaufen  wird  als  in  der  weiblichen;  nur  gibt  sie  sich  hier  bei 
den  einzelligen  Pflanzen  als  eine  Verschiedenheit  in  dem  Wechsel 
der  Individuen  kund.  —  Aus  dem  Verhalten  von  Eudorina  und 
Volvox  ergibt  sich  übrigens  aucli  für  den  Generationswechsel  der 
einzelligen  Pflanzen  die  Nothwendigkeit ,  die  geschlechtserzeugende 
Generation  C  von  den  Wiederholungsgenerationen  (B^  .  .  .  B„)  zu 
trennen. 


Gehen  wir  von  den  einzelligen  zu  den  vielzelligen  Geschlechts- 
j^flanzen  über,  so  finden  wir  in  der  Algengattung  Ulothrix  ein  höchst 
einfaches  Vergieichsobject.  Die  Wiederholungsgenerationen,  die  im 
Herbst  und  Winter  leben,  sind  un verzweigte  einfache  Zellreihen 
(gegliederte  Wasserfäden).  Dieselben  pflanzen  sich  durch  4wimprige, 
nackte  Schwärmsporen ,  welche  meistens  zu  4  in  den  Gliedern  des 
Fadens  entstehen,  fort.  Die  geschlechtserzeugende  Generation  (C) 
gleicht  vollkommen  den  Wiederholungsgenerationen,  aber  sie  bildet 
in  ihren  Zellen  zahlreichere  kleine  Schwärmzellen,  welche  geschlecht- 
lich differenzirt  sind  und  sich  je  2  oder  auch  je  3  zu  einer  ZygosjDore 
vereinigen  (D).  Letztere  dauert  den  Sommer  über  aus  und  erzeugt 
im  Herbst  mehrere  Schwärmsporen,  welche  den  Anfang  der  geschlechts- 


VIII.  Der  GciiorationswerliRol  in  ontoo;enct.  nml  iiliylogenot.  Boziclmnir.     4;>3 

erzeugten  Generation  (^)  darstellen  und  wahrscheinlich  in  ilu*er  weiteren 

Entwicklung  sich  analog  den  Wiederholungsgenerationen  verhalten. — 

Bei  Ulothrix  unterscheidet  sich  also  die  androgyne  Generation  von 

allen  andern  Generationen  dadurch,  dass  sie  einzellig  ist.   Das  Schema 

der  Generationen,  die  zu  einer  Ontogenie  gehören,  ist  das  nämliche 

wie   das   oben   (S.   429)   für  eine   Gruppe   von   einzelligen   Pflanzen 

aufgestellte 

Ä       B,...B„       C      D. 

Bei  Oedogonium,  für  welche  Gattung  das  nämliche  Schema  gilt, 
sind  die  Wiederholungsgenerationen  {B^  .  .  .  B,)  ebenfalls  unverzw^eigte 
Zellreihen.  Aus  den  Gliedern  dieser  Wasserfäden  tritt  je  der  ganze 
Zelleninhalt  als  nackte,  mit  einem  Kranz  von  Wimpern  versehene 
Schwärmspore  heraus,  welche  sich  sofort  zu  einem  Wasserfaden  ent- 
wickelt. Die  letzte  oder  die  geschlechtserzeugende  Generation  (C) 
besitzt  zwei  neue  Organe,  die  durch  Diiferenzirung  aus  den  Schwärm- 
sporen-bildenden Gliedern  hervorgegangen  sind.  Einzelne  bestimmte 
Gliederzellen  sind  angeschwollen  (üogonien) ;  ihr  Inhalt  zieht  sich 
etwas  zusammen  und  stellt  die  Eizelle  dar ;  seine  der  sich  bildenden 
Oeffnung  zugekehrte  Seite  ist  der  farblose  Keimfleck.  Einzelne  höher 
gelegene,  ebenfalls  bestimmte  Glieder  des  Fadens  (wenn  die  Pflanzen 
monöcisch  sind)  theilen  sich  in  w^enige  kürzere  Zellen ,  welche  je 
ihren  ganzen  Inhalt  als  kleines  bewegliches,  ebenfalls  einen  Wimper- 
kranz tragendes  Zellchen  heraustreten  lassen.  Dies  sind  die  Sperma- 
tozoide,  welche  durch  die  Oeffnung  der  Oogonien  zu  der  Eizelle 
hineinschwimmen  und  mit  dem  Keimfleck  verschmelzen.  Die  be- 
fruchtete Eizelle  (D")  wird  durch  Bildung  einer  Membran  zur  Oospore, 
welche  nach  einer  Ruheperiode  4  Schwärmsporen  erzeugt,  aus  denen 
wieder  gegliederte  Wasserfäden  {A)  sich  entwickeln. 

Oedogonium  stimmt  mit  Ulothrix  in  der  Einzelligkeit  der  andro. 
gynen  Generation  und  im  ganzen  Verhalten  des  Generationsweclisels 
überein,  unterscheidet  sich  aber  von  der  letzteren  Gattung  durch 
die  weitgediehene  Ungleichheit  der  geschlechtlich  differenzirten  Zellen 
und  darin,  dass  die  geschlechtserzeugende  Generation  auch  äusser- 
lich  von  den  Wiederholungsgenerationen  abweicht,  nämlich  durch 
die  angesch-woUenen  Oogonienglieder  und  die  kurzen  Antheridien- 
glieder.  Die  androgyne  Generation  tritt  weniger  deutlich  als  beson- 
dere Generation  hervor,  weil  die  weil)lich('n  Zollen  (Eizellen)  sicli 
nicht  von  der  Elterptianze  lostrennen. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre,  28 


434      VIII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylogenet.  Beziehung. 

Man  nennt  die  gesehlechtserzeiigende  Generation  von  Oedogonium 
die  Geschleclitsgeneration,  und  dies  ist  insofern  ganz  richtig,  als  sie 
die  Geschlechtsorgane  trägt.  Damit  begeht  man  aber  unwillkürlich 
eine  Inconsequenz  gegenüber  dem  Verfahren  bei  den  einzelligen 
Pflanzen,  wo  die  männlichen  und  weiblichen  einzelhgen  Individuen 
unbestritten  die  Geschlechtsgeneration  darstellen.  Die  allgemein  als 
Geschlechtspflanzen  bezeichneten  Fäden  von  Oedogonium  und  an- 
deren Algen  sind  eigentlich  nur  die  geschlechtserzeugenden  Individuen, 
und  erst  die  einzellige  androgyne  Generation  ist  in  Wirklichkeit  die 
Geschleclitsgeneration.  Um  aber  Missverständnisse  zu  verhüten,  habe 
ich  sie  die  androgjaie  Generation  genannt,  und  diesen  Ausdruck 
gewählt,  um  zugleich  den  Unterschied  von  dem  Begriffe  gynandrisch 
anzudeuten.  Was  ich  soeben  bezüglich  einiger  fadenförmiger  Algen 
gesagt  habe ,  gilt  auch  für  alle  übrigen  vielzelligen  Pflanzen  mit 
Geschlechtsdifferenz ;  bei  denselben  sind  die  sogenannten  geschlecht- 
lichen Individuen  stets  die  geschlechtserzeugenden  und  erst  ihre 
Kindindividuen  stellen  die  androgyne  Generation  dar. 

Eine  Grujij^e  von  Oedogonium  zeichnet  sich  dadurch  aus,  dass 
in  der  männlichen  Geschlechtssphäre  eine  Generation  eingeschaltet 
wird.  Die  geschlechtserzeugende  Generation  bildet  ihre  Oogonien  und 
Eizellen  ganz  Inder  vorhin  angegebenen  Weise;  aber  statt  derSperma- 
tozoide  bringt  sie  männliche  Schwärmsporen  (Androsporen)  hervor, 
welche  in  der  Grösse  die  Mitte  halten  zwischen  den  ungeschlecht- 
lichen Schwärmsporen  und  den  Spermatozoiden.  Aus  denselben  ent- 
stehen Zwergmännchen,  die  meistens  aus  zwei  Zellen  bestehen,  von 
denen  die  obere  zum  mehrgliedrigen  Antheridium  wird  und  Sper- 
matozoide  erzeugt.  Diese  eingeschaltete  Generation  gehört  nicht  dem 
gemeinsamen  Generationswechsel  an,  sondern  ist  als  eine  phylo- 
genetische Bereicherung  der  männlichen  Geschlechtssphäre  zu  be- 
trachten. Sie  kann  auf  einer  folgenden  phylogenetischen  Stufe 
dadurch,  dass  die  Androsporen  sich  nicht  lostrennen,  sondern  als 
Gewebezellen  mit  dem  elterlichen  Individuum  verbunden  bleiben,  zum 
zusammengesetzten  männlichen  Geschlechtsorgan  werden. 

Das  Thallom  von  Vaucheria  ist  in  allen  Generationen  eine 
röhrenförmige  (nicht  septirte)  verzweigte  Zelle.  Die  Wiederholungs- 
generationen {Bi .  .  .  B„)  lassen  aus  den  keulenförmig  angeschwollenen 
Enden  der  Schläuche  je  eine  grosse,  an  der  ganzen  Oberfläche  kurz- 
bewimperte  Schwärmspore  heraustreten,  die  nach  kurzer  Zeit  keimt. 


Vin.  Der  Generationswechsel  in  ontogenct.  und  phylogenet.  Bezielmng.     435 

Die  gesclileclitserzeugende  Generation  (C)  bildet  in  kleinen  Seiten- 
zweigen die  Geschlechtszellen,  und  zwar  in  dünnern  gebogenen 
Antheridienzweigen  mehrere  sehr  kleine  zweiwiniprige  Spermatozoide, 
in  den  bauchigen  Oogonienzweigen  je  eine  nicht  heraustretende  Ei- 
zelle, welche  nach  der  Befruchtung  zur  Oospore  (D")  wird.  Die  nach 
einer  Ruhezeit  keimende  Oospore  wächst  zu  einer  verzweigten 
Schlauch zelle  aus. 

Vaucheria  unterscheidet  sich  in  ihrem  Generationswechsel  da- 
durch von  den  bis  jetzt  angeführten  Wasserfäden,  dass  sie  nur  3  ver- 
schiedenartige Generationen  besitzt:  1)  die  Wiederholungsgenerationen 
{Bi .  .  .  B,^,  2)  die  gesclileclitserzeugende  Generation  (C),  w^elche  sich 
von  jenen  auch  morphologisch  durch  den  Geschlechtsapparat  unter- 
scheidet, und  3)  eine  Generation,  welche  in  drei  verschiedenen  Stadien 
auftritt,  nämlich  zuerst  als  Eizelle  und  als  Sj)erniatozoid  (D'),  dann 
als  Ooospore  {D")  und  zuletzt  als  röhrenförmiges  Tliallom.  Es  sind 
also  hier  die  androgyne  Generation  (D)  und  die  geschlechtserzeugte 
Generation  {Ä)  in  eine  einzige  vereinigt ;  der  ontogenetische  Cyclus 
zeigt  folgendes  Schema 

B,...  B„       C      (D  +  A). 

Man  kann  die  letzte  Generation  {D  -f-  -4)  bei  A'^aucheria  nicht  in 
zwei  trennen ;  denn  es  würde  zu  ganz  unannehmbaren  Consequenzen 
führen,  wenn  man  die  Spore  und  ihr  Keimproduct  als  zwei  Indi- 
viduen betrachten  wollte.  Andrerseits  ist  es  ebenso  unmöglich,  die 
Ruliespore  von  Oedogonium  und  von  Ulothrix  sammt  ihren  Keim- 
producten  als  eine  einzige  Generation  anzusehen,  da  aus  einer  Spore 
mehrere  Individuen  hervorgehen. 

Als  Beispiel  einer  Alge,  bei  welcher  der  Generationswechsel  noch 
mehr  reducirt  ist,  führe  ich  Acetabularia  an.  Diese  Pflanze  hat  ein 
röhriges  Thallom  mit  einem  Quirl  von  Aesteii,  die  zu  einer  schirm- 
förmigen Scheibe  verwachsen  sind.  In  den  Strahlen  des  Schirms 
bilden  sich  zahlreiche  Ruhesporen  auf  ungeschlechtlichem  Wege. 
Dieselben  lassen  nach  einigen  Monaten  zahlreiche  zweiMdmprige 
Schwärmsporen  heraustreten,  welche  geschlechtlich  differenzirt  und 
je  nach  den  Pflanzen,  von  denen  die  Ruhesjioren  herstammen,  männ- 
lich oder  weiblich  sind.  Aus  der  Verschmelzung  je  zweier  oder  auch 
mehrerer  dieser  Geschlechtszellen  entstehen  Zygosporen,  welche  nach 
mehrmonatlicher  Ruhe  keimen  und  kleine  Pflänzchen  bilden.    Von 

2ö* 


436     VIII.  Der  Gencrationsweclisel  in  ontogenet.  und  phylogenet.  Bezieluing. 

denselben  überwintert  der  basale  Theil,  der,  in  den  folgenden  Jahren 
stärker  werdend,  auch  an  Stärke  zunehmende  Triebe  hervorbringt, 
bis  dieselben  zur  fortpflanzungsfähigen  Schirmpflanze  geworden  sind. 
Acetabularia  hat  also  nur  zweierlei  Generationen,  die  beide  sich 
nicht  wiederholen.  Die  ungeschlechtlich  entstandenen  Ruhesporen 
stellen  die  kurzlebige  geschlechtserzeugende  Generation  (C)  dar.  Die 
langlebige  Generation  durchläuft  eine  Reihe  von  Stadien,  deren  erstes 
die  männlichen  und  weiblichen  Schwärmsporen,  das  zweite  die  Zygo- 
sporen ,  die  übrigen  aber  die  auf  einander .  folgenden  Jahrestriebe 
sind.  Vergleichen  wir  Acetabularia  mit  dem  Schema  des  Generationen- 
cyclus,  wie  es  für  Chlamydomonas,  Pandorina,  Ulothrix,  Oedogonium 
gilt,  so  entsj)richt  die  langlebige  Generation  in  ihren  Stadien  zugleich 
der  androgynen  (D),  der  geschlechtserzeugten  (Ä)  und  der  ganzen 
Reihe  von  Wiederholungsgenerationen  {Bi  .  .  .  B„) ,  so  dass  also  das 
Schema  der  ontogenetischen  Periode  von  Acetabularia  sich  also 
darstellt 

C      (D  +  A  +  ^i  •  .  •  ^»)- 

Bei  vielen  höheren  Algen  mangelt  der  Generationswechsel  ganz, 
lieh,  so  dass  hier  die  getrennten  Generationen  der  niederen  Algen 
bloss  noch  mehr  oder  weniger  deutlich  als  Entwicklungsstadien  des 
nämlichen  Individuums  zu  erkennen  sind.  Als  Beispiele  sind  zu 
nennen  Ectocarpus,  Fucus,  Ohara. 

Auch  die  Zygnemaceen  haben  keinen  Generationswechsel.  Aus 
der  Zygospore  entsteht  eine  unverzweigte  Zellreihe  (gegliederter 
Wasserfaden),  welche  zufällig  in  mehrere  Fäden  zerfallen  kann  und 
deren  Zellen  durch  Conjugation  Zygosporen  bilden.  —  Die  nahe 
verwandte  Ordnung  der  Desmidiaceen  dagegen,  welche  einzellig  ist, 
besitzt  Generationswechsel.  Die  Wiederholungsgenerationen  ver- 
mehren sich  durch  Zelltheilung.  Die  letzten  durch  Theilmig  ent- 
standenen Individuen  bilden  Zygosporen,  in  welchen  nach  der 
Ruhezeit  wieder  Zelltheilung  beginnt.  Das  erste  Product  derselben 
ist  die  geschlechtserzeugte  Generation,  die  sich  durch  einfacher  ge- 
baute Zellen  von  den  darauffolgenden  Wiederholungsgenerationen 
unterscheiden.  Der  Generationswechsel  der  Desmidiaceen  stimmt  also 
mit  demjenigen  anderer  geschlechtlich  differenzirter  einzelliger  Algen 
überein ,  nur  mit  dem  Unterschiede ,  dass  hier  die  androgyne  Gene- 
ration vor  dem  Conjugations-  und  Befruchtungsprocess  vollkommen 
den  Wiederholungsgenerationen   gleicht,    und   dass   somit  auch   die 


^TII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phj'logenet.  Beziehung.     4o7 

vorausgehende  geschlechtserzeugende  Generation  nicht  unterscliieden 
werden  kann. 

Bei  den  Moosen  nimmt  man  jetzt  gewöhnhch  zwei  Generationen 
an.  Die  grüne ,  oft  mit  Blättern  begabte ,  den  Assimilationsprocess 
besorgende  MoosjDflanze ,  welche  die  männlichen  und  weiblichen 
Organe  (Antheridien  und  Archegonien)  trägt,  wird  als  die  Geschlechts- 
generation bezeichnet.  Die  Moosfrucht,  welche  aus  der  befruchteten 
Eizelle  entsteht  und  Tetrasporen  erzeugt,  ist  die  ungeschlechtliche 
Generation.  Vergleichen  wir  die  Moose  bezüglich  des  Generations- 
wechsels mit  den  Algen,  so  entspricht  die  Generation,  welche  mit 
den  Spermatozoiden  und  der  Eizelle  beginnt  und  durch  die  befruchtete 
Eizelle  zum  Sporogonium  fortschreitet,  der  vereinigten  androgynen 
und  geschlechtserzeugten  Generation  {D-\-Ä).  Die  andere  Generation, 
welche  mit  einer  Spore  beginnt  und  mit  Bildung  von  Antheridien 
und  Archegonien  abschliesst,  stellt  die  vereinigten  Wiederholungs- 
generationen sammt  der  geschlechtserzeugenden  Generation  dar 
(B.  .  . .  B,,  +  C). 

Bei  den  Gefässcrj^ptogamen  wechseln,  genau  wie  bei  den  jNIoosen, 
regelmässig  zwei  Generationen  mit  einander  ab.  Das  aus  der  Spore 
hervorgehende  die  Geschlechtsorgane  tragende  Prothallium  wird  als 
die  geschlechtliche,  der  blättertragende  aus  der  befruchteten  Eizelle 
am  Prothallium  entspringende  Stengel,  welcher  die  Sporangien  bildet, 
als  die  ungeschlechtliche  Generation  in  Anspruch  genommen. 

Die  angeführten  Beispiele  genügen,  um  einen  deutlichen  Begriff 
von  dem  Generationswechsel  im  Pflanzenreiche  zu  geben.  Demselben 
kann,  wie  ich  schon  eingangs  bemerkte,  bei  manchen  Pflanzen  eine 
verscliiedene  Form  gegeben  werden,  je  nach  der  Grundlage,  von  der 
man  ausgeht.  Es  ist  daher  diese  Grundlage,  das  Individuum,  näher 
zu  prüfen  und  festzustellen. 


Die  Auffassung  der  ontogenetischen  Generationenfolge  oder  des 
Generationswechsels  hängt  davon  ab,  was  wir  unter  Individuum 
verstehen.  Beide  Begriffe  stehen  in  innigster  Beziehung  zu  demVef- 
laufe  des  phylogenetischen  Entwicklungsvorganges ;  die  Betrachtung 
des  letzteren  führt  naturgemäss  auch  zu  der  Beurth  ei  hing  ;deri  Frage, 
was  als  Pflanzenindividuum  in  Anspruch  zu  nehmen  gei.'  "■^'"  ■^"'•'*'' 


438      VIII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  nnd  pliylogenet.  Beziehung. 

Diese  Frage  ist  in  der  verschiedenartigsten  Weise  beantwortet 
worden.  Scheinbar  hat  sie  für  das  Pflanzenreich  eine  andere  Be- 
deutung und  bietet  viel  grössere  Schwierigkeiten  dar  als  für  das 
Thierreich.  In  Wirklichkeit  aber  sind  die  Schwierigkeiten  nicht 
grösser,  sondern  liegen  nur  viel  offenkundiger  da  und  bieten  daher 
auch  Gelegenheit,  leichter  überwunden  zu  werden. 

Als  Pflanzenindividuum  ist  von  Galle sio  die  ganze  aus  dem 
Samen  hervorgehende  Entwicklung  betrachtet  worden,  sodass  die 
ungeschlechtliche  Vermehrung  nicht  im  Stande  wäre,  neue  Indi- 
viduen hervorzubringen  ;  nach  dieser  Theorie  ist  Individuum  identisch 
mit  Ontogenie.  Manche  Morphologen  dagegen  nehmen  nach  dem 
Vorgange  E.  Darwin 's  die  Knospe  und  den  daraus  erwachsenden 
Spross  als  das  Individuum  in  Anspruch ,  sodass  der  Baum  eine 
zusammenhängende  Colonie  oder  Familie  von  Individuen  wäre. 
Endlich  verkündete  Schieiden,  dem  Anstoss  von  T u r p i n  fol- 
gend, die  Zelle  als  das  eigentliche  Pflanzenindividuum.  Jede  dieser 
Annahmen  hat  in  ihrer  Einseitigkeit  eine  gewisse  Berechtigung; 
aber  keine  gibt  die  Lösung  der  allgemeinen  Frage.  Dies  habe  ich 
schon  im  Jahre  1853  ausgesprochen  mit  den  Worten  ^) : 

»Jede  individuelle  Erscheinung  im  Pflanzenreich :  Zelle,  Organ, 
Pflanze  oder  Pflanzenstock,  um  die  dazwischen  liegenden  Erschei- 
nungen zu  übergehen ,  hat  ihre  Berechtigung ;  keine  aber  darf  als 
das  Individuum  schlechthin  betrachtet  werden.  Bald  ist  die  Selb- 
ständigkeit der  Zelle ,  bald  die  des  Organs ,  bald  die  der  ganzen 
Pflanze  überwiegend ;  und  es  ist  gerade  die  Aufgabe  der  Wissen- 
schaft, zu  zeigen,  wie  nach  und  nach  die  Zelle  und  das  Organ  an 
Selbständigkeit  verlieren  und  die  Individualität  des  ganzen  Pflanzen- 
stockes erstarkt.« 

Diese  Theorie  habe  ich  im  Jahre  1856  allgemein  begründet  und 
weiter  ausgeführt,  dabei  namentlich  auch  hervorgehoben,  dass  man 
im  Pflanzenreiche  verschiedene  Begriffe  der  Individualität  aus  ein- 
ander halten  müsse.  Ich  unterschied  morphologische  und  phy- 
siologische Individuen,  indem  ich  unter  morj^hologischem  Indi- 
viduum jede'  Erscheinung  mit  »einheitlichem  Ursprung,  eigenthüm- 
licher  Entwicklung    und  innerlich    bestimmtem   Abschluss«,    unter 


0  In  einer  Anmerkung  zu  »Systematische  TJebersicht  der  Erscheinungen  im 
Pflanzenreich«   S.  33. 


Vin.  Der  GeuerationsweH'lisel  in  uiitDjAeiu't.  uml  ])liyl(),<it'iH't.   Rrziclmiii;-.      430 

j^liysiologischem  Individuum  jode  Ersclioinuiig,  die  »selbständig  für 
sieh  leben  kann«,  verstand^). 

Individuum  ist  seinem  Wortlaute  naeli  ein  Ding,  das  nicht  gc- 
thcilt  werden  kann,  ohne  sein  Wesen  einzubüssen,  Avomit  nichts 
anderes  gesagt  wird,  als  dass  es  kein  Conglomerat  von  gleichartigen 
Dingen  sein  kann.  Meelianisch  aufgefasst  ist  das  Individumu  ein 
materielles  System,  welches  aus  Theilsystemen  besteht,  die  von  dem 
Ganzen  wesentlich  verschieden  sind.  Ein  Sandhaufen,  eine  Wasser- 
masse, ein  Gasvolumen  können  nicht  als  Individuen  betrachtet 
werden.  Desswegen  habe  ich  auch  die  aus  gleichen  Zellen  be- 
stehenden Aggregate  der  niederen  Algen  nicht  als  mehrzellige 
Pflanzen,  sondern  als  Golonien  von  einzelligen  Pflanzen  erklären 
zu  müssen  geglaubt,  sell)st  in  den  Fällen,  wo  die  Zellen,  wie  bei 
Pediastrum,  Hydrodictyon  u.  A.  fest  mit  einander  verwachsen  sind^). 

Nun  kann  aber  das  einheitliche  Wesen  bei  den  Organismen, 
je  nach  dem  Standpunkt,  auf  den  man  sich  stellt,  in  verschiedener 
Weise  aufgefasst  werden.  Die  morphologische  Einheit  oder 
Individualität  wird  nach  dem  Bau  und  der  Zusammensetzung  aus 
Theilcn  beurtheilt ;  sie  kann  ein  Ganzes  oder  irgend  ein  Theil  eines 
Ganzen  sein,  muss  aber  stets  von  einem  einheitlichen  Ursprung 
ausgegangen  sein.  Insofern  gibt  es  Individuen  verschiedener  Grade, 
wie  ich  schon  oben  erwähnt  habe  (S.  72),  indem  je  das  Ganze  einem 
höheren  Individualitätsgrad  angehört  als  die  dasselbe  zusammen- 
setzenden Theile.  Man  vnrd  dies  leicht  zugestehen,  soweit  das  indi- 
viduelle Ganze  aus  zusammenhängenden  Theilen  besteht,  vde  bei- 
spielsweise der  Pflanzenstock. 

Aber  nicht  nur  zusammenhängende  Körper  sind  als  Individuen 
zu  betrachten,  sondern  auch  getrennte  Körper,  die  aus  einander  ent- 
stehen und  in  der  Zeit  regelmässig  und  mit  innerer  Nothwendigkeit 
auf  einander  folgen.  Eine  individuelle  Erscheinung  ist  also  jedes 
organische  Individuum  sammt  einer  grösseren  oder  kleineren  Reihe 
von  Vorfahren  und  von  Nachkommen,  somit  eine  Abstamraungs- 
linie  oder  ein  Stammbaum,  insofern  nicht  dm'ch  Befruchtung  andere 
Abstammungslinien  sich  eingemischt  haben.  Solche  Einheiten 
köinien,  gegenüber  den  zusammenhängenden  Individuen,  als  Ketten- 


^)  »Die  Individualität  in  der  Natur«  in  der  INIonatschrift  des  wissenschaftl. 
Vereins  in  Zürich. 

*)  Gattungen  einzelliger  Algen.    1849. 


440     VIII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  pliylogenet.  Bezieliung, 

individuen  unterschieden  werden.  Die  Kettenindividuen  sind  ent- 
weder ontogenetische ,  insofern  Generationswechsel  besteht  und  die 
Generationen  bis  zur  Wiederkehr  der  nämUchen  Generation  zu- 
sammengefasst  werden  (bei  mangelndem  Generationswechsel  ist  das 
ontogenetische  Individuum  em  zusammenhängendes),  oder  phylo- 
genetische,   insofern   sie  aus   einer  Reihe  von  Ontogenien  bestehen. 

Für  die  Ansicht,  dass  eine  Folge  von  getrennten  Organismen 
als  ein  Individuum  betrachtet  werden  kann,  spricht  der  Umstand, 
dass  die  Naclikommen  aus  einer  Partie  von  Substanz  der  ^^orfahren 
entstehen,  und  namontlich  die  Thatsache,  dass  durcli  die  ganze  Ab- 
stammungsreihe hindurch  materiell  das  nämliche  Idioj)lasma  besteht 
und  sich  weiterbildet.  Wenn  aber  auch  ein  ganzer  Stammbaum  als 
eine  Einheit  angesehen  werden  muss,  so  gilt  dies  nicht  mehr  für 
die  frühere  oder  spätere  Nachkommenschaft  eines  Individuums ; 
dieselbe  stellt,  für  sich  betrachtet,  ein  Conglomerat  dar  und  wird 
bloss  in  Verbindung  mit  allen  Vorfahren  bis  zurück  zum  einheit- 
lichen Ausgangspunkt  zur  wirklich  individuellen  Erscheinung.  So 
können  also  die  jetzt  lebenden  Arten  einer  natürlichen  Familie, 
auch  wenn  sie  alle  von  der  nämlichen  Urart  abstannnen ,  für  sich 
allein  betrachtet  bloss  als  eine  Zusammenhäufung  von  verwandten 
Dingen  gelten,  wie  etwa  die  abgeschnittenen  Zweigspitzen  eines 
Baumes;  erst  in  Verbindung  mit  ihren  Abstammungslinien  werden 
sie  zmn  baumartigen  Individuum,  dessen  Enden  sie  sind. 

Die  physiologische  Einheit  oder  Individualität  wird  nach 
der  Verrichtung  beurtheilt,  ohne  Rücksicht  auf  Bau  und  Ursprung. 
Sie  setzt  immer  den  materiellen  oder  wenigstens  den  dynamischen 
Zusammenhang  ihrer  Tlieile  voraus,  stimmt  sehr  häufig  mit  dem 
morphologischen  Individuum  überein,  kann  aber  auch  von  dem- 
selben abweichen.  —  Eine  besondere  Art  des  physiologischen  Indi- 
viduums wird  durch  die  Berücksichtigung  der  Selbständigkeit 
gegeben.  Organische  Körper,  die  aus  anderweitigen  physiologischen 
oder  aus  morphologischen  Gründen  als  individuell  bezeichnet  werden 
müssen ,  können  selbständig  oder  unselbständig  sein  und  somit  als 
Individuen  gelten  oder  nicht,  je  nachdem  ihre  Lebensvorgänge  bloss 
mit  den  äusseren  Medien  oder  mit  anderen  gleichen  Individuen  in 
Beziehung  stehen.  So  ist  die  einzeln  lebende  Zelle  selbständig,  die 
im  Gewebe  befindliche  unselbständig  ^).     Ich  habe  früher   den  selb- 

'■)  Vgl.  über  den  Unterschied  von  ein-  und  mehrzelligen  rtiauzeu  S.  348. 


Vni.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  })hylogenet.  Beziehunjj;.     441 

ständigen  Organismus  als  das  physiologische  Individuum  schlechthin 
angenommen,  indem  ich  nur  die  eine  physiologische  Beziehung  be- 
rücksichtigte. Es  ist  aber  jedenfalls  bezeichnender  und  dient  zur 
Vernieidung  von  Miss  Verständnissen,  wenn  der  Ausdruck  selb- 
ständiges Individuum  gewählt  wird. 

Das  unselbständige  Individuum  kann  ebenso  gut  ein  physio- 
logisches oder  ein  morphologisches  Individuum  sein  wie  das  selb- 
ständige. Die  Zelle  in  einem  Gewebe  ist,  wiewohl  unselbständig, 
in  morphologischer  und  physiologischer  Hinsicht  ebenso  individuell 
als  die  selbständig  im  Wasser  lebende  einzellige  Pflanze ;  die  erstere 
ist  ein  materielles  System  ,  dessen  Bewegungen  und  Veränderungen 
durch  andere  ähnliche  materielle  Systeme  beeinflusst  werden;  die 
letztere  ist  ein  materielles  System,  auf  welches  nur  äussere  Bewe- 
gungen und  Kräfte  einwirken.  Das  aus  der  befruchteten  Eizelle 
der  Moose  hervorgehende  Sporogonium  und  der  aus  der  l;)efruchteten 
Eizelle  der  Farne  sich  entwickelnde  Ijeblätterte  Stengel  sind  zwar 
unselbständige  Wesen,  aber  doch  sonst  in  allen  Beziehungen  sehr 
ausgesprochene  individuelle  Einheiten. 

Der  Unterschied  zwischen  selbständigen  und  unselbständigen 
Individuen  ist  ein  gradweiser,  indem  alle  Uebergänge  von  der  voll- 
kommenen Selbständigkeit  bis  zur  vollkommenen  Unselbständigkeit 
vorkommen.  Es  gibt  Zellen,  die  bloss  von  äusseren  Medien  um- 
geben und  durch  dieselben  bedingt  werden,  —  ferner  solche,  die 
ausserdem  mehr  oder  weniger  von  anderen  Zellen  abhängen,  — 
endlich  solche,  die  ringsum  in  innigster  Berührung  mit  Zellen  stehen 
und  bloss  durch  dieselben  beeinflusst  sind.  Die  gleiche  Abstufung 
beobachtet  man  an  vielzelligen  Wesen. 

Der  Grad  der  Selbständigkeit  des  Individuums  erweist  sich  für 
die  Phylogenie  der  Pflanzen  von  grosser  Wichtigkeit,  indem  das 
nämliche  Gebilde  auf  der  früheren  phylogenetischen  Stufe  selb- 
ständig ist  und  auf  der  späteren  Stufe  unselbständig  wird.  Dabei 
lässt  sich  zuweilen  eine  schrittweise  Verminderung  der  Selbständig- 
keit nachweisen.  Auf  diesen  ^'^orgängen  beruhen  die  oben  aufge- 
stellten phylogenetischen  Gesetze  I,  II,  III  und  IV  (S.  357 — 380). 

Für  die  Generationenfolge  und  den  Generationswechsel  ist  die 
Selbständigkeit  und  Unselbständigkeit  der  morphologischen  Indivi- 
duen von  wesentlicher  Bedeutung;  doch  ist  sie  nicht  allein  ent- 
scheidend.    Oefter  muss   ein  unselbständiges  morphologisches  Indi- 


442     VIII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylngenet.  Beziehung. 

viduimi  als  besondere  Generation  betrachtet  werden ,  weil  es  die 
Analogie,  die  aus  der  Vergleichung  mit  andern  Pflanzen  sich  ergibt, 
fordert.  Wir  erhalten  dadurch  eine  neue  Kategorie  von  Individuen ; 
ich  will  sie  das  s 5^ stemati sehe  Individuum  nennen,  weil  es  durch 
das  systematische  Bedürfniss  bestimmt  wird. 

Das  systematische  Individuum  ist  das  Ergebniss  eines  Compro- 
misses  zwischen  den  widerstrebenden  Forderungen  der  verschiedenen 
Standj^unkte  l)ezüglich  der  Individualität  zu  Gunsten  einer  con- 
sequenten  Behandlung.  Es  hat  desshalb  nur  Gültigkeit  für  eine 
zusammengehörende  Gruppe  von  Pflanzen  und  kann  in  anderen 
Gruppen  anders  bestimmt  werden.  Als  eine  für  das  ganze  Pflanzen- 
reich gültige  Regel  muss  festgehalten  werden,  dass  jeder  selbständig 
auftretende  Theil  ein  Pflanzenindividuum  darstellt,  also  jeder  abge- 
löste ein-  oder  mehrzellige  Keim  und  joder  auf  natürlichem  oder 
künstlichem  Wege  losgetrennte,  entwicklungsfähige  Spross. 

Aber  diese  Regel  lässt  sich  nicht  umkehren ;  war  können  nicht 
sagen,  dass  ein  unselbständiger  Theil  kein  Pflanzenindividuum  sein 
könne.  Die  Erscheinungen,  welche  uns  die  Geschlechtspflanzen 
darbieten,  zwingen  uns  unbedingt  dazu,  in  manchen  Fällen  einen 
Theil,  der  mit  der  Eiterpflanze  verbunden  bleibt,  als  besonderes 
Individuum  anzusehen.  Bei  den  niederen  Algen  lösen  sich  die 
männlichen  und  weil )li eben  Fortpflanzungszellen  ab  und  stellen  be- 
sondere Individuen  dar.  Bei  etwas  hölier  stehenden  Algen  und  bei 
anderen  Cryptogamen  trennen  sich  nur  die  männlichen  Zellen  los, 
nicht  aber  die  Eizellen.  Gleichwohl  müssen  die  letzteren  ebenfalls  als 
individuell  gelten,  selbst  wenn  sie  auch  nach  der  Befruchtung  nicht 
selbständig  werden.  Denn  der  weiblichen  Zelle  kommt  der  gleiche 
Rang  zu  v.äe  der  männlichen ,  und  nach  der  Befruchtung  kann  sie 
schon  desswegen  nicht  als  Theil  des  mütterlichen  Individuums  be- 
trachtet werden,  weil  sie  durch  Aufnahme  der  Spermatozoide  ziu 
Hälfte  die  Fortsetzung  des  väterlichen  Individuums  geworden  ist. 

Die  nämliche  Rücksicht  macht  sich  beim  Uebergang  von  den 
Gefässcryptogamen  zu  den  Phanerogamen  geltend.  Bei  den  ersteren 
beginnen  mit  den  Sporen  neue  Individuen;  und  nachdem  bei  den 
höchsten  Gruppen  der  Gefässcryptogamen  die  geschlechtliche  Dif- 
ferenzirung  der  Sporen  in  Androsporen  und  Gynosporen  eingetreten 
ist,  stellen  dieselben  die  Anfänge  von  männlichen  imd  weiblichen 
Individuen   dar.     Bei   den  Phanerogamen  trennen   sich  bloss  noch 


^^II.  Der  Geiieratioiiswcflisel  in  outogoiiet.  und  i>liyl(i.<:oiK't.  rV'zichung.      443 

die  Androsporen  (Pollenkörner)  los,  während  die  Gynosporen  (Em- 
bryosäcke) zeitlebens  mit  dem  Gewebe  der  Elterpflanze  verwachsen 
bleiben.  Gleichwohl  müssen  die  Embryosäckc  wegen  der  Analogie 
mit  den  Gynosporen  der  Gefässcryptogamen  und  mehr  noch  wegen 
der  Analogie  mit  den  den  nämlichen  Rang  behauptenden  Pollen- 
körnern als  Pflanzenindividuen  und  als  besondere  Generation  be- 
trachtet werden. 

Aus  dem  Umstände,  dass  jeder  selbständige  und  lebensfähige 
Theil  als  Pflanzenindividuum  anzusehen  ist,  folgt  noch  nichts  für 
die  Berücksichtigung,  welche  derselbe  bei  der  Generationenfolge 
und  dem  Generationswechsel  zu  beanspruchen  hat.  Unter  den  In- 
dividuen und  Generationen  gibt  es  solche,  die  nothwendig  zur  Onto- 
genie  gehören  und  ohne  welche  die  phylogenetische  Entwicklung 
undenkbar  ist,  und  andere,  welche  diese  Bedeutung  niclit  haben, 
wiewohl  sie  ebenfalls  zur  Erhaltung  der  Abstamnmngslinien  dienen. 
Individuen  der  letzteren  Art  sind  beim  Generationswechsel  nicht 
zu  berücksichtigen.  Um  ein  Beispiel  anzuführen ,  so  haben  die 
Moose  einen  ganz  bestimmten  Generationswechsel ,  indem  das  ge- 
schlechtserzeugende und  das  sporenbildende  Individuum  mit  ein- 
ander alterniren.  Es  ist  eine  accessorische,  nicht  nothwendig  in  den 
ontogenetischen  Cyclus  gehörende  Erscheinung,  wenn  das  erstere 
der  beiden  Individuen,  ehe  es  zur  Bildung  der  Geschlechtsorgane 
gelangt,  sich  dm-ch  Brutkeime  vermehrt.  —  Dessgleichen  mangelt 
der  Generationswechsel  den  Characeen,  obgleich  diese  Pflanzen  auch 
auf  geschlechtslosem  Wege  sich  vermehren  können. 

Will  man  aber,  was  sich  j^rincipiell  nicht  beanstanden  Hesse, 
die  eben  erwähnten  Erscheinungen  als  Generationswechsel  bezeichnen, 
so  muss  man  zwischen  noth wendigem  und  zufälligem  Gene- 
rationswechsel unterscheiden.  Dann  kommt  beispielsweise  den 
Characeen  und  verschiedenen  anderen  Algen  bloss  ein  zufälliger 
Generationswechsel  zu.  Ferner  besteht  dann  bei  den  Moosen  der 
nothwendige  Wechsel  darin ,  dass  eine  sjiorenerzeugte ,  geschlechts- 
erzeugende Generation  mit  einer  geschlechtserzeugten,  sporenbilden- 
den Generation  alternirt,  und  der  zufällige  Wechsel  darin,  dass  statt 
der  erstgenannten  Einzelgeneration  eine  Reihe  von  Generationen 
auftritt,  von  denen  die  erste  aus  Sporen,  die  folgenden  aus  Brut- 
keimen hervorgehen.  Für  den  systematischen  (rebrauch  dürfte  sich 
das   Verfahren,    welches   den   Generationswechsel    einzig   nach    den 


4-4:4     VIII.  Der  Generationsweclisel  in  ontogenet.  und  phylogenot.  Beziehung. 

nothwendig  der  Ontogenie  angehörenden  Generationen  bestimmt,  als 
das  einfachere  emj^fehlen. 


Es  scheint  zweckmässig,  die  Anwendung  des  Begriffes  vom  syste- 
matischen Individuum  und  seine  Bedeutung  für  den  Generations- 
wechsel bei  einigen  Pflanzengruppen  näher  zu  betrachten.  —  Auf 
den  untersten  Stufen  des  Pflanzenreiches  muss  im  allgemeinen  das 
morphologische  Individuum,  nämlich  die  Zelle,  als  das  Pflanzen- 
individuum gelten ,  weil  Selbständigkeit  und  Unselbständigkeit  der 
Zellen  in  allen  Abstufungen  vorkommen  und  somit  keine  durch- 
greifende Unterscheidung  zulassen.  Eine  einzellige  Pflanze  in  syste- 
matischer Beziehung  ist  daher  eine  solche,  bei  welcher  alle  Zellen 
einander  gleich  sind ,  mögen  sie  vereinzelt  leben  oder  mehr  und 
weniger  innig  mit  einander  zusammenhängen.  Wollte  man  die 
Sell)ständigkeit  der  Zellen  als  Criterium  berücksichtigen ,  so  wären 
von  nächst  verwandten  Sippen  die  einen  einzellig,  die  andern  melir- 
zellig;  von  anderen  wäre  es  zweifelhaft,  ob  man  sie  als  ein-  oder 
mehrzellig  erklären  sollte ;  und  bei  noch  anderen  würden  die  Pflanzen 
in  einem  Stadium  einzellige  Individuen  und  in  einem  spätem  Stadium 
nur  noch  Theile  eines  mehrzelligen  Individuums  sein  (Hydrodictyon). 

Man  hat  Volvox  als  mehrzellige  Pflanze  erklärt,  weil  von  den 
zalflreichen,  zu  einer  kugeligen  Colonie  zusammengeordneten  Zellen 
regelmässig  nur  wenige  der  Fortpflanzung  dienen.  Wäre  in  diesem 
Verhalten  wirklich  eine  bestimmte  Differenzirung  zwischen  den  Zellen 
in  vegetative  und  reproductive  ausges23roehen ,  so  liesse  sich  aller- 
dings erwägen ,  ob  diese  Gattung  als  Typus  einer  besonderen 
Familie  aufzustellen  sei.  Bei  der  nahen  Verwandtschaft  zwischen 
Volvox  einerseits  und  Eudorina,  Pandorina  etc.  andrerseits  ist  aber, 
wie  mir  scheint,  der  genannten  Verschiedenheit  keine  so  grosse 
Bedeutung  beizulegen.  Es  ist  nämlich  zu  berücksichtigen,  dass  bei 
den  einzelligen  Organismen  die  Zellen  qualitativ  zwar  einander  gleich 
sind,  und  dass  auch  jede  das  ^''ermögen  besitzt,  unter  günstigen 
Umständen  sich  fortzupflanzen.  Aber  dieses  Vermögen  kann  sich 
nur  sehr  unvollständig  verwirklichen,  und  zwar  schon  desswegen, 
weil  behufs  ErhaHung  des  numerischen  Gleichgewichts  stets  die 
grösste  Zahl  zu  Grunde  gehen  muss.  Bilden  die  einzelligen  Pflanzen 
Colonicn,  so  werden  häufig  ganze  Colonien  aussterben;  aber  es  kann 


VIII.  Der  Genorationswechsel  in  ontogenet.  und  ])hylogeiiet.  Bezi(>hung.      445 

auch  der  Fall  sein,  dass  von  einer  Colonie  die  einen  Zellen  sieh 
fortpflanzen,  die  anderen  zu  Grunde  gehen,  je  nachdem  sie  in  quan- 
titativer Hinsicht  besser  oder  weniger  gut  ausgerüstet  sind.  Mög- 
licher Weise  ist  nun  die  beschränkte  Zahl  der  fruchtbaren  Zellen  in 
der  Volvoxkugel  bloss  quantitativ  besser  ausgestattet  und  deutet  erst 
den  Anfang  einer  Differenzirung  an,  wie  ja  der  erste  Schritt  einer 
qualitativen  Verschiedenheit  stets  in  (quantitativen  Unterschieden 
besteht. 

Dagegen  ist  in  der  Klasse  der  Conjugaten  der  Gegensatz  zwischen 
einzelligen  und  mehrzelligen  Pflanzen  in  bestimmter  Weise  durch- 
geführt. Die  Desmidiaceen  sind  einzellig,  da  bei  der  grossen  Mehrzahl 
die  Zellen  einzeln  leben  und  nur  bei  wenigen  in  einreihige  Colonien 
vereinigt  sind  (Desmidium).  Die  Zygnemaceen  sind  stets  einreihige 
Fäden  und  können  nicht  als  einzellig  aufgefasst  werden,  weil  jedes 
aus  einer  Z^^gospore  hervorgehende  Individuum  einen  andersartigen 
einzelligen  Fusstheil  besitzt.  Die  Spore  theilt  sich  nämlich  in  zwei 
ungleiche  Zellen  ,  von  denen  die  eine  theilungsunfähig  ist  und  zur 
Fusszelle  wird,  indess  bei  den  Desmidiaceeen  die  Zygospore  zwei 
gleiche,  theilungsfähige  Zellen  erzeugt. 

Wesentlich  anders  und  eigenthünilich  stellt  sich  das  Bedürfniss 
für  das  systematische  Individuum  in  der  Klasse  der  Schizophyten 
heraus.  Es  kann  hier  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  die  Chroo- 
coccaceen,  deren  Zellen  einzeln  leben  oder  nur  lose  zusammenhängen, 
einzellig  sind,  eben  so  wenig,  dass  bei  den  Scytonemaceen  mid  Kivu- 
lariaceen  der  ganze  gegliederte  (vielzellige)  Faden  das  Individuum 
vorstellt,  weil  hier  die  Differenzirung  zwischen  den  Zellen  des  Fadens 
so  ausgesprochen  ist  (S.  393 — 394).  Dagegen  kann  man  bezüglich  der 
Nostochaeeen  und  Oscillariaceen  mi  Zweifel  sein,  ob  sie  als  einzellig 
oder  mehrzellig  zu  erklären  seien,  weil  manche  Formen  derselben 
kaum  eine  A^erschiedenheit  zwischen  den  Zellen  eines  Fadens  erkennen 
lassen.  Da  jedoch  andere  Formen  in  den  Grenzzellen,  welche  das 
Zerfallen  der  Fäden  in  Stücke  einleiten,  und  ferner  in  den  zu  Sporen 
werdenden  Zellen  bestimmte  Ungleichheiten  gegenüber  den  übrigen 
Zellen  zeigen,  da  endlich  in  den  Oscillariaceen  die  Zellen  eines 
Fadens  sehr  innig  verbunden  sind,  da  zudem  die  beiden  Ordnungen 
unverkennbar  sich  viel  näher  an  die  Rivulariaceen  und  Scytonema- 
ceen anschliessen  als  an  die  Chroococcaceen ,  so  sind  sie  als  mehr- 
zelliti'  zu  betrachten. 


44G     VIII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylogenet.  Beziehung. 

Bezüglich  der  ebenfalls  zu  den  Schizopliyten  gehörenden  Schizo- 
myceten  stellt  sich  ein  gegentheiliges  Verfahren  als  notli wendig  heraus. 
Fadenförmige  und  stäbchenförmige  Zustände  derselben  haben  zwar 
die  grösste  Aehnlichkeit  mit  den  Nostochaceen  und  Oscillariacecn 
und  empfehlen  sich  als  vielzellige  Pflanzen  besonders  dann,  wenn 
einzelne  und  bestimmte  Zellen,  z.  B.  die  Endzellen  eines  Stäbchens, 
zu  Sporen  werden  oder  wenn  die  Endzellen  eine  Wimper  tragen. 
Da  aber  bei  Culturen  in  geeigneten  Nährflüssigkeiten  die  Stäbchen 
(Bacterien)  kürzer  und  wenigzelliger  werden  und  in  den  einzelligen 
Zustand  übergehen,  da  ferner  in  manchen  Fällen  die  Entscheidung, 
ob  einzellige  oder  mehrzellige  Zustände  vorliegen,  ganz  willkürlich 
ist,  sei  es  weil  die  Zellen  der  Fäden  und  Stäbchen  sehr  lose  zusammen- 
hängen, sei  es  weil  einzellige  und  wenigzellige  Zustände  mit  einander 
gemengt  sind  und  in  der  Generationenfolge  beliebig  mit  einander 
wechseln,  so  liegt  unzweifelhaft  das  systematische  Bedürfniss  vor, 
allen  Schizomyceten  den  nämlichen  Character  zuzuschreiben  und 
zwar  sie  als  einzellige  Pflanzen  zu  betrachten,  da  ja  für  die  ein- 
zelligen Zustände  die  Annahme  der  Mehrzelligkeit  unmögHch  ist. 

Für  die  geschlechtlich  differenzirten  Pflanzen  gilt,  wie  ich  schon 
angedeutet  habe,  die  Regel,  dass  mit  den  männlichen  und  weiblichen 
Zellen,  die  sich  vermischen,  ein  neues  Individuum  beginnt ;  denn  es 
kann  ja  immer  der  Fall  eintreten,  dass  jene  Zellen  von  verschiedenen 
Individuen  herstammen,  und  dass  das  Befruchtungsproduct  desshalb 
nicht  als  Theil  der  Pflanze,  mit  der  es  verl)unden  bleibt,  angesehen 
werden  darf.  So  muss  also  die  Moosfrucht  unbedingt  ein  Pflanzen- 
individuum darstellen  und  den  Moosen  Generationswechsel  zukommen. 
Der  Vorkeim  aber  stellt  bei  diesen  Pflanzen  keine  besondere  Generation 
dar,  selbst  wenn  er  wie  bei  den  Laubmoosen  einen  ganz  abweichenden 
Bau  zeigt.  Denn  es  kommt  vor,  dass  ein  Spross  des  confervenartigen 
Protonema  nach  oben  sich  unmittelbar  in  das  beblätterte  Moosstämm- 
chen  fortsetzt,  und  ebenso,  dass  das  letztere  -selbst  unmittelbar  aus 
derjenigen  Zelle  des  Vorkeims,  welche  der  Spore  entspricht,  entsteht, 
so  dass  also  in  diesem  Falle  das  Vorkeimstadium  bei  der  ontogene- 
tischen  Entwicklung  morphologisch  übersprungen  wird. 

Die  Gefässcryptogamen  verhalten  sich  wie  die  Moose  bezüglich 
des  Generationswechsels ;  es  sprechen  die  nämlichen  Gründe  für  die 
Nothwendigkeit  der  Annahme,  dass  auch  bei  ihnen  die  Ontogenie 
zwei  Individuen  durchlaufe.  —  Rücksichtlich  der  Phanerogamen  habe 


VIII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylogenet.  Beziehung.     447 

ich  bereits  dargethan,  dass  eine  Generation  mit  den  Pollenkörnern 
und  den  Embryosäcken  beginnt.  Eine  zweite  Generation  muss  mit 
der  Befruchtung  der  Eizelle  anheben.  Dies  wird,  ausser  dem  früher 
angegebenen  Grund,  auch  dadurch  bewiesen,  dass  es  einige  wenige 
Phanerogamen  gibt,  welche  im  Embryosack  2  Eizellen  bilden  (San- 
talum).  Die  eine  Generation,  diejenige  nämlich,  die  der  geschleehts- 
erzeugenden  bei  den  niedern  Cryptogamen  entspricht,  ist  aber  so 
sehr  reducirt,  dass  sie  nur  einen  kleinen  Theil  des  Fortpflanzungs- 
apparates ausmacht. 

Ich  will  noch  die  Verhältnisse  einer  Pflanzengruppe  besprechen, 
bei  denen  die  Beschaffenheit  des  Generationswechsels  zweifelhaft  ist. 
Die  Florideen  haben  3  Fortpflanzungsorgane,  die  fast  ausschliesslich 
auf  verschiedene  Pflanzen  vertheilt  sind.  Es  gibt  männliche  oder 
Antheridien-,  weibliche  oder  Cystocarpien-,  und  ungeschlechtliche  oder 
Tetraspofen-Pflanzen.  Da  die  Tetrasporen  bei  den  Moosen  und  bei 
den  Gefässpflanzen  den  Anfang  derjenigen  Generation  darstellen, 
welche  die  Geschlechtsorgane  oder  wenigstens  die  männhchen  und 
weiblichen  Zellen  erzeugt,  so  scheint  die  Vermuthung  sehr  nahe  zu 
liegen ,  dass  auch  bei  den  Florideen  eine  Tetrasporen-  und  eine 
Antheridien-Cystocarp-Generation  mit  einander  alterniren.  Es  gibt 
aber  wichtige  Gründe  gegen  diese  Auffassung. 

Schon  der  Umstand  erregt  Bedenken,  dass  bei  allen  Florideen 
die  geschlechtlichen  und  die  ungeschlechtlichen  Pflanzen  einander 
ganz  gleich  sind.  Hätte  die  Tetrasporenforti:>flanzung  die  gleiche  Be- 
deutung wie  bei  den  Moosen  und  den  Gefässcryptogamen,  so  m'öchte 
man  erwarten,  dass,  wie  es  bei  diesen  der  Fall  ist  (S.  408—409),  auch 
bei  den  Florideen,  sofern  Abstammungsreihen  sich  unterscheiden 
lassen,  das  Verhältniss  der  Tetrasporengeneration  zu  der  Geschlechts- 
generation sich  stetig  ändere. 

Eine  andere  Thatsache,  warum  den  Florideen  ein  regelmässiges 
Alterniren  einer  Tetrasporengeneration  mit  einer  Antheridien-Cysto- 
carp-Generation  nicht  zugeschrieben  werden  darf,  besteht  darin,  dass, 
wenn  auch  die  triöcische  Vertheilung  der  drei  Fortpflanzungsorganc 
die  Regel  ausmacht,  doch  in  verschiedenen  Ausnahmsfällen  geschlecht- 
liche und  ungeschlechtliche  Fortpflanzungsorgane  auf  der  nämlichen 
Pflanze  gefunden  wurden.  Das  Verhältniss  dieser  Organe  zu  einander 
muss  also  ein  anderes  sein  als  l)ei  den  Moosen  und  Gefässcryptogamen ; 


448     VIII.  Der  Gonorationswcdiscl  in  onioi;enet.  und  ])liyloocnot.  Beziehung. 

denn  es  wäre  unmöglich,  dass  auf  dem  Vorkeim  (Protliallium)  eines 
Farnkrautes  Tetrasporen  oder  auf  dem  Farnblatt  Antheridien  und 
Archegonien  enständen. 

Der  wichtigste  Grund  aber  gegen  die  Gleichstellung  der  Tetra- 
sporengeneration der  Florideen  mit  der  Tetrasporengeneration  der 
Moose  und  Gefässcryptogamen  beruht  darin,  dass  die  Florideen  bereits 
eine  der  letzteren  entsprechende  Generation  haben.  Dieselbe  beginnt 
mit  der  Befruchtung  und  endigt  mit  der  Bildung  der  Cystocarp- 
sporen.  Das  Sporogon  der  Florideen  ist  vollkommen  demjenigen 
der  Moose  analog. 

Es  gibt  nun  zwei  Möglichkeiten ,  zwischen  denen  noch  keine 
bestimmte  Entscheidung  getroffen  werden  kann.  Nach  der  einen 
stimmen  die  Florideen  im  Generationswechsel  genau  mit  den  Moosen 
überein,  so  dass  die  Ontogenie  ihrem  wesentlichen  und  nothwendigen 
Begriffe  nach  durch  die  Antheridien-  und  Cystocarp-tragenden  Pflanzen 
erschöpft  ist.  Die  Tetrasporenbildung  erfolgt  dann  mehr  zufällig  auf 
derjenigen  Generation,  die  eigentlich  die  Geschlechtsorgane  erzeugen 
sollte,  und  ist  analog  der  Bildung  von  Brutkeimen  auf  den  Spitzen 
von  Blättern  und  Stengeln  von  Jungermannien.  Dabei  ist  anzu- 
nehmen, dass  die  Tetrasporenbildung  regelmässig  die  geschlechtliche 
Sterilität  des  Individuums  zur  Folge  habe,  wie  dies  häufig  auch  bei 
den  Jungermannien  der  Fall  ist.-  Aus  den  Sporen  der  Kapselfrüchte 
müssten  also  sowohl  männliche  und  weibliche  als  auch  geschlechts- 
lose Pflanzen  erwachsen,  und  das  Gleiche  wäre  auch  mit  den  Tetra- 
sporen der  Fall.  Es  wäre  ferner  ganz  begreiflich,  dass  es  auch  Flori- 
deen gibt,  denen  die  Tetrasporen  ganz  mangeln  (Lemaneaceen  und 
Nemalieen). 

Die  andere  Möglichkeit  besteht  darin,  dass  der  Generationswechsel 
der  Florideen  so  beschaffen  sei,  wie  bei  vielen  anderen  Algen  (Ulo- 
thrix,  Oedogonium  etc.) ,  dass  nämlich  auf  mehrere  Wiederholungs- 
generationen eine  einzelne  geschlechtserzeugende  und  eine  androgyne 
Generation  folge.  Die  Tetrasporenpflanzen  stellen  dann  die  Wieder- 
holungsgen erationen,  und  die  Pflanzen,  w^elche  Antheridien  und  Cysto- 
carpien  tragen,  die  geschlechtserzeugende  Generation  dar;  aus  den 
Cystocarpsporen  können  bloss  Tetrasporenpflanzen,  aus  den  Tetra- 
sporen aber  entweder  Tetrasporen-  oder  Antheridien-Cystocarppflanzen 
hervorgehen.  Der  Umstand,  dass  im  allgemeinen  die  Tetrasporen- 
tragenden  Pflanzen  bei  den  Florideen  viel  häufiger  sind  als  die  mit 


\T^II.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  i)hylogenet.  Beziehung.     441' 

Geschlechtsorganen  ausgerüsteten  hätte,  in  dem  Generationswechsel 
ihre  natürliche  Ursache.  Dass  die  Wiederholungsgenerationen  und 
die  geschlechtserzeugende  Generation  vegetativ  gleich  entwickelt  sind, 
erregt  kein  Bedenken,  da  dies  auch  bei  den  andern  Algen  eintrifft. 
Dass  es  Beispiele  gibt,  wo  Tetrasporen  mit  Geschlechtsorganen  auf 
dem  nämlichen  Individuum  vorkommen ,  ist  ebenfalls  kein  Grund 
mehr  gegen  die  Annahme  eines  Generationswechsels,  da  auch  bei 
Oedogonium  die  geschlechtserzeugenden  Pflanzen  noch  Schwärm- 
sporen (das  Fortpflanzungsproduct  der  Wiederholungsgenerationen) 
hervorbringen  können.  Die  Vereinigung  der  geschlechthchen  und 
ungeschlechtlichen  Fortpflanzungsorgane  auf  dem  nämlichen  Indi- 
viduum würde  also  bei  den  Florideen  ebenfalls  nur  bei  der  geschlechts- 
erzeugenden Generation  möglich  sein  und  den  Wiederholungsgene- 
rationen maneeln. 


Der  Generationswechsel  wurde  bis  jetzt  nach  seinem  ontogene- 
tischen  Verhalten  beprochen.  Wir  fragen  uns  nun,  welche  j^hy lö- 
ge netische  Bedeutung  ihm  zukomme.  Auf  der  alleruntersten 
Stufe  des  Pflanzenreiches  sind  die  Generationen  der  einzelligen  In- 
dividuen einander  gleich.  Eine  Art  der  pliylogenetischen  Entwick- 
lung besteht  darin,  dass  durch  innere  Differenzirung  und  durch 
Anpassung  an  den  Wechsel  der  Jahreszeiten  beim  Beginn  der  Ruhe- 
zeit eine  andersartige  Generation  auftritt,  die  bis  zum  Beginn  der 
folgenden  Vegetationsperiode  im  ruhenden  Zustande  verharrt.  Damit 
ist  der  Gegensatz  zwischen  der  Reihe  von  Wiederholungsgenerationen, 
welche  ein  Stück  der  ursprünglichen  endlosen  Reihe  darstellt,  und 
der  Uebergangsgeneration  gegeben.  Die  letztere  tritt  gemäss  ihrer 
Entstehung  als  Einzelgeneration  und  in  der  Form  der  Ruhe- 
spore auf. 

Der  Unterschied  zwischen  den  Wiederholungsgenerationen  und 
der  Uebergangsgeneration  wird  nach  und  nach  grösser,  —  am 
grössten,  wenn  diese  sich  in  männliche  und  weibliche  Zellen  diffe- 
renzirt  und  somit  androgyn  wird.  Weicht  die  Uebergangsgeneration 
in  bedeutendem  Maasse  ab,  so  wirkt  sie  auch  auf  die  ihr  zunächst 
vorausgehende  und  auf  die  ihr  zunächst  folgende  Generation  ein, 
die  ebenfalls   mehr  oder  weniger  andersartig  werden.     Jene  ist  aus 

V.  Xägeli,  Abstammuiig.slelire.  29 


450     VIII.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  }>liylogenet.  Beziehung. 

der  letzten,  diese  aus  der  ersten  der  Wiederholungsgenerationen  her- 
vorgegangen. Es  wird  nun  also  der  Uebergang  zwischen  je  zwei 
Reihen  von  Wiederholungsgenerationen  durch  3  Einzelgenerationen 
gebildet,  und  die  ontogenetische  Periode  hat  die  allgemeine  Form 

A      B,...B„       C      D 

wenn  D  die  androgyne  Generation  bedeutet. 

Ausser  der  soeben  angeführten  Differenzirung ,  welche  mit  der 
Anpassung  an  die  Jahreszeiten  zusammentrifft,  spielt  eine  andere 
Differenzirung  im  Generationswechsel  eine  Rolle.  Es  tritt  eine 
j)eriodische  Ungleichheit  zwischen  den  durch  Zweitheilung  sich  ver- 
mehrenden Zellen  einer  Generationenreihe  auf,  meist  in  der  Weise, 
dass  eine  Generation  in  dem  Maasse  an  Dauer  und  Wachsthum 
zuninnnt,  als  die  Periode  der  darauf  folgenden  Generationen  darin 
beschränkt  wird.  Die  Generationenreihe  besteht  nun  also  aus  einer 
Reihe  von  (kürzeren  oder  längeren)  Perioden;  dies  gilt  auch  für 
das  obige  Schema,  in  welchem  für  diesen  Fall  jedes  Zeiclien  nicht 
eine  einzelne  Generation,  sondern  eine  Periode  von  Generationen 
bedeutet.  Mit  der  zunehmenden  Differenzirung  geht  die  Periode 
von  Zellen,  die  sich  durch  Zweitheilung  vermehren,  in  eine  einzige, 
viele  Fortpflanzungszellen  erzeugende  Generation  über  (S.  403). 

Das  Zustandekommen  des  Generationswechsels  der  einzelligen 
Pflanzen,  wie  er  in  dem  obigen  Schema  ausgesprochen  ist,  wird 
durch  die  vorhandenen  Beispiele,  welche  verschiedenen  Stufen  der 
Differenzirung  angehören,  klar  begründet.  Der  nämliche  Generations- 
wechsel findet  sich  auch  bei  den  einfacheren  Formen  der  mehr- 
zelligen Pflanzen.  Für  die  Art  und  Weise,  wie  er  liier  zu  Stande 
gekonniien  ist,  wird  einer  der  möglichen  Wege  durch  die  Thatsachen 
ebenfalls  unzweifelhaft  angezeigt.  Derselbe  nimmt  seinen  Ausgang 
von  den  vorhin  erwähnten  Perioden,  welche  durch  Differenzirung 
in  der  Generationenreihe  einer  Ontogenie  von  einzelligen  Pflanzen 
entstehen. 

Denken  wir  uns  eine  einzellige  Pflanze,  welche  wie  Chlamj'do- 
monas  zeitlebens  schwärmt  und  Generationswechsel  besitzt.  Die  Reihe 
der  ursprünglich  gleichen  Wiederholungsgenerationen  wird  dann 
durch  eintretende  Ampliation  und  Differenzirung  in  Perioden  geglie- 
dert, in  der  Art,  dass  einzelne  Generationen  ihre  Schwärmbewegung 


Vin.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylogenet.  Beziehung.     451 

liehalten,  während  die  zwischen  ihnen  hegenden  Perioden  von  Gene- 
rationen die  Beweghchkeit  verheren,  mit  einander  erst  lose,  nachher 
fester  verl)iinden  l)leiben  und  schhesshch  zu  niehrzelhgen  Individuen 
werden.  Ist  die  phylogenetische  Umwandlung  fertig,  so  besteht  die 
Ontogenie,  statt  aus  einer  Reihe  von  Perioden  einzelliger  Generationen, 
aus  einer  Reihe  von  eben  so  vielen  mehrzelligen  Individuen,  die  sich 
durch  Schwärmzellen  fortpflanzen.  In  der  veränderten  Ontogenie 
sind  die  der  androgynen  Generation  vorausgehende  und  die  ihr  nach- 
folgende Generation  (die  geschlechtserzeugende  und  die  geschlechts- 
erzeugte) ebenfalls  mehrzellig,  wie  dies  von  ihrer  nahen  Verwandt- 
schaft mit  den  Wiederholungsgenerationen  erwartet  werden  konnte. 
Dagegen  ist  die  androgyne  Generation  noth wendig  einzellig,  da  sie 
einer  Einzelgeneration,  nicht  einer  Periode  von  Generationen  im  onto- 
genetischen  Cyclus  der  einzelligen  Pflanze  entspricht. 

Auf  dem  eben  angegebenen  Wege  ist  der  Generationswechsel 
einiger  mehrzelliger  Algen  entstanden;  ich  habe  von  denselben 
Ulothrix  und  Oedogonium  als  Beispiele  angeführt  (S.  432 — 433).  An 
diese  beiden  Gattungen  schliesst  sich  Volvox  (S.  432,  444)  unter  den 
einzelligen  Algen  so  nahe  an ,  dass  man  letztere  Gattung  fast  als 
mehrzellig  betrachten  könnte.  —  Die  androgyne  Generation,  die  bei 
Ulothrix  und  Oedogonium  einzellig  ist,  kann  durch  weitere  phylo- 
genetische Entwicklung  mehrzellig  werden,  so  dass  dann  der  ganze 
Generationswechsel  aus  mehrzelligen  Individuen  besteht. 

Es  gibt  noch  einen  andern  Weg,  wie  aus  einzelligen  Pflanzen 
ein  Generationswechsel  von  mehrzelligen  Individuen  entstehen  kann. 
Für  diesen  Weg  liegen  bei  dem  dürftigen  Beobachtungsmaterial,  das 
zur  Zeit  vorhanden  ist,  noch  keine  Stationen  vor,  die  wirklich  durch- 
laufen werden.  Aber  er  lässt  sich  von  seinem  AusgangsjDunkte  bis 
zu  seinem  Ziele  verfolgen,  indem  man  dazu  keine  anderen  Vorgänge 
in  Anspruch  nimmt  als  solche,  die  erwiesenermaassen  in  der  Natur 
vorkommen. 

Zuerst  geht  die  ganze  ontogenetische  Reihenfolge  einzelliger 
Generationen  in  ein  einziges  mehrzelliges  Individuum  über,  wie  dies 
in  den  Klassen  der  Schizophyten  (S.  357,  393,  445)  und  Conjugaten 
(S.  445)  so  augenscheinlich  vorkommt.  Hatte  die  Ontogenie  der  ein- 
zelligen Pflanzen  die  durch  Differenzirung  erlangte  Form 

A      B,...B^       G      D, 

29* 


452     Vin.  Dei'  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  ])hylogenet.  Beziehung. 

SO  zeigt  das  daraus  hervorgegangene  Individuum  in  seiner  vege- 
tativen Entwicklung  die  nämliche  Form,  indem  aus  der  Spore  zuerst 
eine  eigenartige  Zellgeneration  (=  A)  hervorgeht,  worauf  eine  Reihe 
von  unbestimmt  vielen  gleichartigen  Zellgenerationen  {^^Bi  .  .  .  B„) 
und  dann  wieder  eine  andersartige  Zellgeneration  (=  C)  folgt, 
welche  die  Sporen  (=  D)  erzeugt.  Nahm  bei  der  einzelligen  Plianze 
der  ontogenetische  Cyclus  von  Generationen  eine  Vegetationszeit 
in  Anspruch  und  ging  die  androgyne  Generation  als  Dauerzelle 
in  den  Ruhezustand  über,  so  füllt  auch  das  Individuum  der  mehr- 
zelligen nianze  eine  Vegetationsperiode  aus  und  bildet  mit  dem 
Ende  derselben  die  Sporen  zu  Ruhesporen  aus. 

Die  durch  Differenzirung  und  Anpassung  entstandene  Ruhe- 
sporenbildung ist  als  erbliche  Erscheinung  in  der  Folge  nicht  mehr 
nothwendig  an  den  Wechsel  der  Jahreszeiten  gebunden  und  kann 
zu  beliebiger  Zeit  eintreten.  Wenn  nun  durch  Ampliation  die  ganze 
Entwicklung  beschleunigt  wird,  so  folgen  während  einer  Vegetations- 
periode mehrere  vielzellige  Individuen  mit  Sporenbildung  auf  ein- 
ander, wie  auch  die  Ontogenien  von  Vaucheria,  Oedogonium  u.  A. 
sich  während  einer  Vegetationszeit  öfter  wiederholen  können.  Die 
vielzelligen  Individuen,  die  während  eines  Jahres  auf  einander  folgen, 
sind  ursprünglich  gleich;  es  bildet  sich  dann  durch  neue  Differen- 
zirung nach  und  nach  ein  Generationswechsel  aus,  worin  die  letzte 
Jahresgeneration  sich  andersartig  verhält.  Die  Sporen  der  übrigen 
Generationen  verlieren  den  Charakter  von  Ruhesporen  gänzlich, 
ebenso  ihre  androgyne  Beschaffenheit,  indem  sie  nach  Unterdrückung 
des  männlichen  Geschlechtes  parthenogenetisch  erzeugt  werden.  Ist 
die  phylogenetische  Umänderung  vollendet,  so  folgt  auf  eine  Reihe 
scheinbar  geschlechtsloser  Pflanzen  eine  Geschlechtsgeneration,  welche 
Ruhesporen  hervorbringt  und  die  in  ihren  Merkmalen  ebenfalls  weiter 
fortgeschritten  ist.  Dieser  Generationswechsel  hat  niemals  eine  ein- 
zellige Generation,  kann  übrigens  in  seiner  allgemeinen  Form  ganz 
mit  demjenigen  übereinstimmen ,  dessen  Entstehungsweise  zuerst 
besprochen  wurde. 

Das  weitere  Schicksal  des  also  beschaffenen  Generationswechsels 
mehrzelliger  Pflanzen,  er  mag  auf  die  eine  oder  andere  Weise  ent- 
standen sein ,  lässt  sich  nicht  mehr  Schritt  für  Schritt  verfolgen. 
Die  Beobachtung  zeigt  uns  nur,  dass  derselbe  auf  den  folgenden 
Stufen  des  Pflanzenreiches  einfacher  wird,  dass  zwei  oder  mehr  Gene- 


Vni.  Der  Generationswechsel  in  ontogenet.  und  phylogenet   Beziehung.     453 

rationell  der  tieferen  Stufe  auf  der  liölieren  Stufe  in  eine  einzige 
Generation  vereinigt  zu  sein  scheinen ,  und  dass  zuletzt  bloss  noch 
zwei  Generationen  mit  einander  alterniren  oder  dass  der  Generations- 
wechsel ganz  unterdrückt  ist.  Dabei  sind  augenscheinlich  zwei  phy- 
logenetische Processe  thätig,  nämlich  1.  die  Vereinigung  früher  ge- 
trennter Zellen  zu  einem  Gewebe,  wodurch  die  androgjme  Generation 
mit  der  geschlechtserzeugten  verschmilzt  und  die  Wiederholungs- 
generationen  zu  einem  Individuum  mit  Sprossgenerationen  verwachsen, 
und  2.  in  andern  Fällen  die  Reduction  der  (einander  gleichen)  Wieder- 
holungsgenerationen auf  eine  einzige.  —  Um  das  Einfacherwerden 
des  Generationswechsels  anschauHch  zu  machen,  will  ich  die  sicher 
bekannten  Fälle  schematisch  zusammenstellen,  indem  die  zu  einem 
Individuum  vereinigten  Generationen  in  ( )  eingeschlossen,  und  indem 
wie  früher  die  androg^^ne  Generation  mit  D,  die  geschlechtserzeugte 
mit  A ,  die  Wiederholungsgenerationen  mit  Bi  .  .  .  B„  und  die  ge- 
schlechtserzeugende Generation  mit  C  bezeichnet  sind. 

1.  i>  A                      B,  .  .  .  Bn                        C 

2.  {D -\-Ä)  Bi  .  ..  B„                         C 

3.  {D-{-A-\-Bi  .  .  .Bn)  C 

4.  (Z»  +  .1  4-  5i  .  .  .  B„  +  C) 

5.  (D-iA)  {B,...Bn+C) 

1.  Ulothrix,  Oedogonium. 

2.  Vaucheria. 

3.  Acetabularia, 

4.  Ohara,  Fucus,  Ectocarpus. 

5.  Moose,  Gefässpflanzen. 

Aus  dem,  was  man  bis  jetzt  sicher  über  den  Generationswechsel 
im  Pflanzenreiche  weiss,  geht  dessen  phylogenetische  Bedeutung 
deutlich  hervor.  Er  ist  der  Uebergangszustand  von  einzelligen  zu 
vielzelligen  und  von  einfacheren  vielzelhgen  zu  complicirteren  viel- 
zelligen Pflanzen.  Der  Vorgang  besteht  immer  darin,  dass  die 
Generationen,  die  auf  der  unteren  Stufe  gleich  sind,  auf  der  höheren 
Stufe  durch  Differenzirung  und  Anpassung  ungleich  werden  und 
einen  Generationswechsel  darstellen,  und  dass  auf  noch  höheren 
Stufen  diese  ungleichen  Generationen  des'  ontogenetischen  Cyclus 
sich  zu  einem  innerlich  gegliederten  Individuum  vereinigen,  indem 
also  der  Generationswechsel  zu  einem  Wechsel  in  der'  vegetativen 
Entwicklung  wird. 


454     VIII.  Der  Generationswfchsel  in  outogenet.  und  phylogenet.  Beziehung. 

Als  Folge  des  phylogenetischen  Umwandlungsprocesses  ergibt 
sich,  dass  die  morphologische  und  physiologische  Bedeutung  des 
Pflanzenindividuums  auf  den  successiven  Stufen  einer  Abstammungs- 
linie sich  stetig  ändert,  und  dass  die  Theile,  die  anfänglich  ihre  volle 
Selbständigkeit  besitzen,  später  immer  weniger  selbständig  werden, 
indem  sie  auf  der  ersten  Stufe  ihrer  Existenz  vollständige  Pflanzen 
sind  und  dann  von  Stufe  zu  Stufe  einen  kleineren  Theil  des  Pflanzen- 
individuums ausmachen.  Dies  lässt  sich  am  anschauliclisten  für  die 
Zelle  nachweisen;    es  gilt  aber  ebensowohl  für  vielzellige  Theile. 


IX. 


Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische 
Wissenschaften. 


Die  naturgeschichtlicheii  Disciplinen  sind  in  der  Neuzeit  zu  der 
Einsicht  gelangt,  dass  irgend  eine  Erscheinung  nur  dann  sicher 
erkannt  werden  kann,  wenn  man  ihre  Entstehungsweise  erforscht. 
Es  ist  dies  eigenthch  nichts  anderes  als  eine  Anwendung  des  viel 
allgemeineren  Axioms,  dass  die  erste  und  unerlässliche  Bedingung 
zur  Erkenntniss  eines  Dinges  in  der  Erforschung  seiner  Ursachen 
besteht.  Die  Entwicklungsgeschichte  jedoch  bildet  nur  den  ersten 
Schritt  und  die  unumgängliche  ^Voraussetzung,  um  zu  einer  causalen 
Einsicht  zu  gelangen.  Sie  ist,  wie  man  \ielfach  übersehen  hat,  nicht 
etwa  schon  die  Erfüllung  jener  allgemeinsten  Forderung.  Denn 
wenn  ich  auch  schon  genau  weiss,  wie  etwas  geworden  ist,  so  weiss 
ich  desswegen  noch  nicht,  warum  und  w^odurch  es  geworden  ist. 

Aljer  auch  die  rationelle  Forderung  nach  Entwicklungsgeschichte 
ist,  wenigstens  bezüglich  des  Pflanzenreiches,  fast  allgemein  unrichtig 
aufgefasst  worden,  indem  man  darunter  allein  das  Werden  des  Indi- 
viduums verstanden  hat.  Es  unterliegt  nun  keinem  Zweifel,  dass,  wenn 
man  eine  Erscheinmig,  l)eispielsweise  ein  einzelnes  Organ  oder  eine 
Zusammenordnung  von  Organen,  von  den  kleinsten  Anfängen,  im 
günstigsten  Falle  von  der  ersten  Zelle  aus,  Schritt  für  Schritt  ver- 
folgen kann ,  man  über  vieles  aufgeklärt  wird ,  was  bei  ausschliess- 
licher Beobachtung  des  entwickelten  Zustandes  verborgen  bleibt. 
Allein  man  sollte  nicht  übersehen ,   dass  damit  das  eigentliche  Ent- 


456     I^X.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften 

stehen  und  die  wirkliche  genetische  Bedeutung  nicht  erforscht  sind. 
Im  Individuum  kommen  grossentheils  bloss  Anlagen  zur  Entfaltung, 
die  durch  Erbschaft  von  den  Vorfahren  erhalten  wurden.  Dies  gilt 
von  allen  individuellen  Erscheinungen,  die  eine  Entwicklungsgeschichte 
haben.  Zwar  ist  ja  jedes  Individuum  am  phylogenetischen  Fort- 
schritt betheiligt ;  allein  sein  Antheil  ist  so  winzig  klein ,  dass  er 
bei  solchen  Untersuchungen  vollständig  vernachlässigt  werden  kann. 

Um  die  genetische  Bedeutung  irgend  einer  Erscheinung  zu  er- 
fassen, muss  man  sie  also  in  den  Abstannnungsreihen  zurück- 
verfolgen bis  da,  wo  sie  begonnen  hat.  Kann  dies  mit  Hülfe  der 
Beobachtung  und  der  Combination  geschehen,  so  ist  auch  die  Mög- 
lichkeit gegeben,  die  Ursachen  der  Erscheinung  zu  erkennen,  ob  es 
innere  (Vereinigung  getrennter  Theile,  Complication)  oder  äussere 
(Anpassung  an  irgendwelche  äussere  Einflüsse)  sind.  Zur  Zeit  als 
man  die  Entwicklungsgeschichte  noch  nicht  als  Disciplin  kannte, 
suchte  man  durch  vergleichende  morphologische  Betrachtung  der 
fertigen  Zustände  die  systematische  Bedeutung  einer  Erscheinung 
zu  bestimmen,  und  es  haben  in  dieser  Beziehung  besonders  C.  Schim- 
per,  A.  Braun  und  Wydler  sehr  werth volle  Ergebnisse  erlangt. 
Als  dann  die  Entwicklungsgeschichte  nicht  nur  in  bewusster  Weise 
als  wissenschaftliche  Forderung,  sondern  eben  so  sehr  in  unbewusster 
Weise  als  Modesache  betrieben  wurde,  kam  sie  oft  in  Conflict  mit 
der  früheren  vergleichenden  Morphologie.  Statt  beide  Methoden  in 
rationeller  Weise  zu  vereinigen,  glaubten  die  Neuerer,  dass  die  Ent- 
wicklungsgeschichte allein  ausreichend  sei ,  und  dass  sie  sich  über 
die  vergleichende  Behandlung,  die  ja  auch  mehr  Kenntnisse,  mehr 
Arbeit  und  Nachdenken  erforderte,  hinwegsetzen  könnten. 

Der  Gegensatz  trat  nur  im  Gebiete  der  Phanerogamen  recht 
auffallend  zu  Tage,  da  eigentlich  bloss  hier  sich  eine  vergleichende 
Morphologie  ausgebildet  hatte,  und  war  besonders  für  die  Auffassung 
des  Baues  der  Blüthe  und  des  Blüthenstandes  von  Wichtigkeit.  Mit 
Hülfe  der  ontogenetischen  Entwicklungsgeschichte  Hessen  sich  die 
Phyllome  (Blätter)  und  ebenso  die  Caulome  (Sprosse)  bis  auf  kleine 
ZcUhöcker  zurück  verfolgen.  Damit  konnte  man  nun  allerdings  Blüthe 
nnd  Blüthenstand  einer  Pflanze  für  sich  und  unabhängig  von  anderen 
Pflanzen  besser  als  bisher  construiren.  Man  konnte  auch  die  unter- 
scheidenden Merkmale  zwischen  dieser  Pflanze  und  jeder  andern  in 
gleicher  Weise  untersuchten  vollständiger  als  bisher  angeben.    Aber 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     457 

höher  hinaus  reichte  die  neue  Methode  nicht,  und  es  war  eine  ge- 
dankenlose Ueberhebung,  wenn  man  weiter  gelien  und  vei'\van<lt- 
schaftHche  systematische  Beziehungen,  die  nur  durch  die  phylogene- 
tische Bedeutung  der  Baupläne  gegeben  sind,  im  Widerspruche  mit 
der  vergleichenden  Morj)hologie,  feststellen  wollte. 

Die  Beobachtung  eines  primordialen  Zellgewebshöckers  gestattet 
uns  ja  nicht  einmal  eine  vollständige  ontogenetische  Entwicklungs- 
gescliiclite,  indem  derselbe  in  verschiedener  Weise  aus  den  Initial- 
zellen entstehen  und  somit  eine  verschiedene  ontogenetische  Bedeutung 
haben  kann,  ^^ollends  aber  können  wir  aus  einer  Anordnung  von 
primordialen  Höckern  nichts  über  deren  phylogenetischen  Zusammen- 
liang  mit  andersartigen  Anordnungen  ersehen.  Der  einzelne  Höcker 
stellt  beispielsweise  nicht  immer  eine  Blatteinheit  dar.  Es  ist  mög- 
lich, dass  er  phylogenetisch  aus  2  oder  3  getrennten  Blatteinheiten 
hervorgegangen  ist  und  somit  ein  Paar  oder  eine  Dreiheit  von  Blatt- 
einheiten, die  im  jüngsten  Zustande  mit  einander  verschmolzen  sind, 
bedeutet.  Es  ist  ferner  möglich ,  dass  zwei  oder  mehrere  Höcker 
phylogenetisch  aus  einer  einzigen  Blatteinheit  entstanden  sind,  und 
durch  das  mit  dem  Caulom  verschmolzene  Basalgew^ebe  ^)  zusammen- 
hängend ,  die  Theile  eines  zusammengesetzten  Blattes  repräsentiren. 
Es  ist  endlich  möglich,  dass  zwischen  den  vorhandenen  primordialen 
Höckern  andere  durch  phylogenetische  Reduction  abortiv  geworden 
sind,  sodass  die  mikroskopische  Beobachtung  nichts  mehr  von  ihnen 
wahrnimmt. 

Es  sind  dies  alles  nicht  wegzuläugnende  Möglichkeiten,  und  es 
ist  gar  keinem  Zweifel  unterworfen,  dass  bald  die  eine,  l)ald  die 
andere  der  Wirklichkeit  entspricht.  Ob  mid  inwiefern  sie  in  Betracht 
zu  ziehen  sind ,  muss  durch  ein  vergleichendes  Verfahren ,  das  im 
wesentlichen  nur  ein  jjhylogenetisches  sein  karm,  festgestellt  werden, 
und  zwar,  wie  sich  von  selbst  versteht,  unter  Berücksichtigung  aller 
einschlägigen  Thatsachen,  mit  grösster  Umsicht  und  Vermeidung 
willkürlicher  Hypothesen. 

Wir  kommen,  mögen  wir  von  allgemeinen  Gesichtspunkten  aus- 
gehen oder  eine  bestimmte  einzelne  Erscheinung  zu  erklären  ver- 
suchen, immer  zu  dem  Satze,  dass  nur  die  phylogenetische  Einsicht 


*)  Der  unterste  Theil  eines  Blattes  ist  in  dmi  Gewebe  des  Stengels  ein- 
gesenkt, wie  sich  sehr  deutlich  an  den  verkümmerten  Blättern  von  PsUotum  zeigt 
(f  in  Fig.  24  c  auf  S.  413). 


458     IX-  Morphologie  und  SysteinatUc  als  phylogenetisclie  Wissenschaften. 

uns  über  die  Bedeutung  der  organischen  Einrichtungen  und  ihre 
Stellung  im  ganzen  Bauplan  der  organischen  Natur  Auskunft  zu 
geben  vermag.  Dabei  dürfen  wir  aber  natürlich  nie  aus  dem  Auge 
verlieren,  dass  dies  nur  für  die  erblichen  Eigenschaften  der  Organismen 
gilt.  —  Ich  habe  in  dieser  ganzen  Schrift  stets  darauf  hingewiesen, 
dass  es  im  Organismus  zwei  scharf  zu  trennende  Ge])iete  gibt, 
welche  aus  ungleichen  Ursachen  hervorgehen  und  daher  auch  eine 
ungleiche  wissenschaftliche  Behandlung  verlangen.  Es  sind  1.  das 
Gebiet  der  ererbten  Eigenschaften,  welche  die  solide  und  unveränder- 
liche Grundlage  der  ontogenetischen  Entwicklung  bilden,  und  2.  das 
Gebiet  derjenigen  Erscheinungen,  welche  an  jedem  Individuum  durch 
die  äusseren  Ursachen  ontogenetisch  bewirkt  werden  und  nicht  im  Idio- 
plasma  des  Keimes  als  vererbbare  Anlagen  auf  die  Kinder  übergehen. 

Die  scharfe  Unterscheidung  dieser  zwei  Gebiete  ist  die  noth- 
wendige  Bedingung  für  eine  richtige  Orientirung  in  den  physio- 
logischen und  morphologischen  Wissenschaften.  Man  möchte  w^ohl 
glauben,  dass  für  das  Geliiet  der  von  äusseren  Ursachen  unmittelbar 
bewirkten  Erscheinungen  fast  kein  Raum  übrig  bleibe,  da  dem  An- 
scheine nach  alle  sichtbaren  Eigenschaften  innerhalb  der  Art  und 
selbst  innerhalb  der  geringsten  Varietäten  constant  sind ,  oft  selbst 
die  kleinsten  Verschiedenheiten  in  Form,  Grösse,  Färbung.  Aber 
es  ist  zu  berücksichtigen,  dass  die  vollständige  Ueberein Stimmung 
zwischen  Eltern  und  Kindern  zum  Tlieil  darauf  beruht,  dass  sie 
die  gleiche  äussere  Einwirkung  namentlich  des  Lichtes  und  der 
Schwerkraft  erfahren.  Wenn  wir  von  zwei  Samen  der  nämlichen 
Pflanze  den  einen  im  Sonnenlichte,  den  andern  in  einem  finstern 
Raiune  heranwachsen  lassen,  so  werden  die  zwei  Geschwister  sehr 
ungleich,  und  fast  noch  grösser  wäre  die  Verschiedenheit,  wenn 
man  die  eine  Pflanze  wie  gewöhnlich  unter  dem  Einfluss  der  Schwer- 
kraft und  die  andere  olnie  diesen  Einfluss  sich  entwickeln  lassen 
könnte. 

Die  erblichen  Eigenschaften  sind  eben  im  Keime  nur  als  An- 
lagen vorhanden,  deren  Entfaltung  durch  die  äusseren  Verhältnisse 
mehr  oder  weniger  modificirt  wird.  Die  experimentelle  Physiologie 
zeigt  uns,  inwieweit  die  Erscheinungen  im  Individuum  die  unmittel- 
baren Folgen  der  äusseren  Ursachen  sind.  Wenn  die  experimentelle 
Behandlung  auf  alle  Ersclieinungen  in  der  Pflanze  und  zwar  in  allen 
Beziehungen  ausgedelujt  wird,  und  wenn  es  ihr  gelingt,    alles  Ver- 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     459 

änderliche  und  die  Normen  desselben  festzustellen,  so  entspricht  ihr 
Inhalt  genau  dem  Gebiet,  das  ich,  als  durch  äussere  Ursachen  onto- 
genetisch  bewirkt,  dem  Gebiet  der  erblichen  Erscheinungen  entgegen- 
gesetzt habe.  Aber  sie  muss  sich  vor  der  Klippe  bewahren ,  auch 
erbliche  Dinge  in  ihren  Bereich  ziehen  zu  wollen. 

So  gehören  beispielsweise  fast  alle  Erscheinungen,  welche  das 
Licht  an  lichtempfindlichen  Pflanzen  und  deren  Theilen  hervorln'ingt 
(aucli  die  grüne  Färbung  der  Lauborgane,  zum  Theil  die  Farben  der 
ßlüthen  etc.),  zu  dem  experimentellen  Gebiet.  Dagegen  ist  die 
Fähigkeit,  in  einer  gewissen  Weise  auf  den  Lichtreiz  zu  reagiren, 
eine  geerbte  Eigenscliaft ;  sie  besteht  in  einer  bestimmten  cliemisclien 
und  physikalischen  Beschaffenheit  der  Substanz,  welche  durch  die 
Anlagen  im  Idiojjlasma  hervorgebracht  wird  und  welche  allen  experi- 
mentellen Eingriffen  unerreichbar  ist.  Nur  wenn  ein  Versuch  mit 
einer  bestimmten  Lichtwirkung  durch  Jahrtausende  fortgesetzt  werden 
könnte,  möchte  es  vielleicht  gelingen,  eine  bezügliche  neue  Anlage 
zu  schaffen  oder  eine  schon  vorhandene  abzuändern.  Das  experi- 
mentelle Verfahren  kann  also  zugleich  dazu  dienen,  um  die  Grenze 
der  beiden  Gebiete  festzustellen.  Da  wo  die  Macht  des  experimen- 
tellen Eingriffes  aufhört,  beginnt  die  Herrschaft  der  erblichen  Anlagen. 

Dabei  darf  man  sich  natürlich  nicht  durch  den  Umstand  täuschen 
lassen,  dass  es  eine  Kategorie  von  Anlagen  gibt  (die  entfaltungs- 
vagen), deren  Entfaltung  dm-ch  äussere  Ursachen  verhindert  oder 
befördert  werden  kann.  Wenn  aber  auch  das  Ergebniss  eines  Ver- 
suches bezüglich  der  Deutung  zweifelhaft  w^äre,  so  kann  durcli  ein 
fortgesetztes  experimentelles  A^erfahren  immer  ermittelt  werden ,  ob 
die  beobachtete  Veränderung  von  einer  geerbten  entfaltungsvagen 
Anlage  oder  von  einer  Neuwirkung  der  äusseren  Einflüsse  herrühre.  — 
Die  Versuche  geben  uns  also  nicht  bloss  Aufschluss  über  die  Wir- 
kungen der  äusseren  Agentien,  sondern  aucli  über  die  innere  ererbte 
Natur  der  Organismen.  Die  letztere  Bedeutung  kommt  auch  allen 
Experimenten  zu,  die  über  Kreuzung  und  Bastardirmig  angestellt 
werden;  dieselben  zeigen,  welche  Anlagen  bei  der  Vermischung 
ungleichen  Blutes  in  den  latenten  oder  manifesten  Zustand  über- 
gehen und  in  welcher  Weise  die  Entfaltung  erfolgt. 

Ich  habe  das  Gebiet  der  experimentellen  Wissenschaft  nur  dess- 
wegen  erwähnt,  um  das  Gebiet  der  Wissenschaft  von  den  erblichen 
Eigenschaften,  das  hauptsächhch  in  der  äusseren  und  inneren  Mor- 


460     I^-  Morphologie  und  Systematik  als  "pliylogenetisclie  Wissenschaften. 

phologie  besteht,  genau  zu  umgrenzen.  Von  den  rein  morphologi- 
schen Erscheinungen  gehören  nur  wenige  zu  den  nicht  erbHchen 
Dingen.  Wenn  wir  die  Nalntuig  und  das  Khma,  ferner  das  Licht 
und  die  Schwerki'aft  ausnehmen,  welclie  auf  Grösse,  Gestalt  und 
Richtung,  überhaupt  auf  die  Quantitäten  unmittelbaren  Einfluss  aus- 
üben, so  gibt  es  wohl  nur  noch  den  Druck  der  Theile  gegen  ein- 
ander, wodurch  Verschiebungen,  und  den  Druck  äusserer  Gegenstände, 
wodurch  vollständige  Gestaltsentstellungen  entstehen  können.  Solche 
Verschiedenheiten  werden  immer  beobachtet,  wenn  zwei  Individuen 
der  gleichen  A^arietät,  am  besten  zwei  Geschwister,  unter  verschiedenen 
Umständen  sich  befinden;  sie  lassen  den  Betrag  der  von  den  äusseren 
Ursachen  hervorgebrachten  Modificationen  erkemien. 

Wachsen  aber  zwei  Individuen  verscliiedener  Varietäten,  Arten, 
Gattungen  u.  s.  w.  ungehindert  unter  den  nämlichen  äusseren  Ein- 
flüssen, so  sind  die  Verschiedenheiten  als  Ausdruck  der  geerbten 
Anlagen  anzusehen.  Handelt  es  sich  nun  bloss  um  die  Feststellung 
der  erblichen  (constanten)  Unterschiede,  so  genügt  eine  genaue  Ver- 
gleichung,  wobei  aber  wo  möglich  nicht  bloss  die  entfalteten  Indi- 
viduen, sondern  die  ganzen  Ontogenien  zu  vergleichen  sind.  Handelt 
es  sich  aber  um  die  Bedeutung  der  Unterschiede  im  ganzen  Aufbau 
des  Organismus,  also  um  die  phylogenetische  Bedeutung  der  betref- 
fenden morphologischen  Erscheinungen ,  so  gibt  es ,  wie  ich  bereits 
wiederholt  betonte,  nur  einen  einzigen  wissenschaftlichen  Weg. 

Die  genannten  erblichen  Erscheiimngen  sind  da  aufzusuchen 
und  zu  betrachten,  wo  sie  in  ihren  Abstammungslinien  entstanden 
sind.  Denn  von  jenem  Zeitpunkt  an  sind  sie  durch  Vererbung  über- 
liefert, dabei  aber  möglicher  Weise  mehr  oder  weniger  verändert 
worden.  Da  wo  sie  entstanden  sind,  müssen  die  Ursachen  ihres 
Entstehens ,  und  wo  sie  sich  abgeändert  haben ,  die  Ursachen  der 
Veränderung  studirt  w^erden.  Es  gibt  nun  manche  Fälle,  wo  die 
Bedingungen  für  eine  phylogenetisch-wissenschaftliche  Untersuchung 
vorhanden  sind,  und  wo  sich  mit  ziemlicher  Sicherheit  oder  doch 
mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  bestimmen  lässt,  in  welchem  Stadium 
der  Al)stammungslinien  und  auch  durch  welche  Ursachen  eine  be- 
stimmte Erscheinung  hervorgebracht  wurde.  Ich  unterlasse  es,  hier 
wieder  einzelne  Beispiele  aufzuführen,  da  ich  in  früheren  Abschnitten 
(III.  Ursachen  der  A'eränderung  S.  102  und  VII.  Phylogenetische 
Entwicklmigsgesetzc  S.  'M^'■J)  gezeigt  ha])e,  wie  nach  meiner  Ansicht 


IX.  Morphologie  und  S5'stematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.      461 

die    verschiedenen    Kategorien    der    organischen    Bildungen    aufzu- 
fassen sind. 

Es  ist  früher  und  auch  in  neuerer  Zeit  versucht  worden,  orga- 
nische Bildungen  nach  irgend  welchem  Axiom  zu  construiren.  Das 
Axiom  wurde  ohne  Begründung  hingestellt,  auf  die  Ursachen  nicht 
eingetreten,  die  Hypothese  auch  den  widerstrebenden  Thatsachen 
aufgezwungen  oder  letztere  ignorirt.  Ein  solches  Verfahren  ist  ein 
Nachklang  aus  der  naturphilosophischen  Epoche ,  wenn  auch  der 
Flug  minder  kühn  geworden  ist.  Wir  verlangen  aber  jetzt  einer- 
seits ein  streng  objectives  Verfahren  mit  genauer  Beobachtung  des 
Thatsächlichen  und  andrerseits  streng  logische  Folgerungen  aus 
sicheren  Thatsachen  oder  Gesetzen.  Soweit  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung reicht,  darf  kein  beobachtetes  Factum  der  aufgestellten 
Theorie  widersprechen,  oder  es  müssen  für  die  Ausnahmen  [die  Ur- 
sachen nachgewiesen  werden.  Verhältnisse,  welche  jenseits  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung  liegen,  dürfen  nur  auf  Grund  ganz  sicherer 
physikalischer  und  chemischer  Thatsachen  mit  Hülfe  eines  exacten 
mechanischen  Verfahrens  beurtheilt  und  entschieden  werden. 

Dies  sind  ja  die  Grundsätze,  die  allgemein  gültig  für  die  mo- 
derne Wissenschaft  sind,  wodurch  sie  sich  als  exacte  Methode  von 
dem  früheren  Meinungsverfahren  unterscheidet.  Ist  aber  die  zu 
beurtheilende  Bildung  organischer  Natur,  so  muss  nach  den  vor- 
ausgehenden Erörterungen  zuerst  entschieden  werden,  ob  sie  dem 
erblichen  Gebiet  angehöre  oder  nicht,  und  ob  sie  demnach  nach 
der  phylogenetischen  oder  nach  der  experimentellen  Methode  zu 
entscheiden  sei. 

Ich  hebe  noch  einmal  ausdrücklich  hervor,  dass  nach  meiner 
Ansicht  die  Bedeutung  einer  jeden  vererbten,  physiologischen  oder 
morphologischen  Erscheinung  im  Bauplane  des  ganzen  Pflanzen- . 
reiches  nur  auf  dem  phylogenetischen  Wege  erforscht  werden  kann, 
und  ich  wiederhole  dies,  um  bei  der  Besprechung  der  andern  Auf- 
gabe, nämlich  der  systematischen  Bedeutung  der  einzelnen  Pflanzen- 
sipjDcn,  nicht  missverstanden  zu  werden.  So  leicht  verhältinssmässig 
der  phylogenetische  Nachweis  bezüglich  der  einzelnen  Theilerschei- 
nungen  einer  Ontogenie  gelingt,  so  schwer  oder  unausführbar  ist 
meistens  der  phylogenetische  Nachweis  für  die  ganze  Ontogenie,  mid 
also  auch  für  die  Sippe.  Man  schlägt  gewöhnlich  das  umgekehrte 
Verfahren  von  demjenigen  ein,  das  man  nach  meiner  Ansicht  anwenden 


4C)2     I^-  ^lorphologie  und  Systematik  als  i)hylogeuetische  Wissenschaften. 

sollte.  Man  beschäftigt  sich  nämlich  viel  mit  der  Abstammung  der 
Pflanzensi^^pen,  aber  nicht  mit  der  Herleitmig  der  einzelnen  Organe 
und  Tlieile  der  Pflanzen ,  und  doch  muss  diese  vorausgehen  und 
den  Boden  iür  jene  bereiten.  Um  die  phylogenetische  Bedeutung 
jeder  einzelnen  Theilerscheinung  der  Ontogenie  zu  bestimmen,  kann 
man  dieselbe  überall,  wo  sie  vorkommt,  benutzen.  Um  die  phylo- 
genetische Bedeutung  der  ganzen  Ontogenie,  also  der  Sippe,  fest- 
zustellen, muss  eine  Reihe  von  Sippen  gefunden  werden,  in  der 
alle  Einzelerscheinungen  von  einander  abstammen ,  was  sehr  selten 
möglich  ist. 


Wenden  wir  uns  nun  zu  der  Frage,  inwiefern  die  sj'^stematische 
Bedeutung  der  Pflanzensippen  phylogenetisch  erkannt  werden  könne, 
und  was  aus  den  bisherigen  Ergebnissen  bezüglicli  des  Stammbaums 
oder  besser  der  Stammbäume  des  Pflanzenreiches  für  die  Construction 
des  Pflanzensj'stems  folge.  Nach  der  bisherigen  Abstammungslehre 
ist  diese  Frage,  wenigstens  theoretisch,  entschieden;  phylogenetische 
und  System atisclie  Verwandtschaft  sollen  identische  Begriffe  sein. 
Sagt  doch  Darwin,  »die  Gemeinsamkeit  der  Abstammung  (die 
einzige  l)ekannte  Ursache  der  Aehnlichkeit  organischer  Wesen)  sei, 
wie  er  glaube,  das  durch  mancherlei  Modificationsstufen  verborgene 
Band,  welches  durch  unsere  natürliche  Classification  theilweise  ent- 
hüllt werden  könne«,  und  Häckel  geradezu:  »Das  natürliche  System 
ist  der  Stannnbaum  der  Organismen«. 

Dies  wäre  nun  auch  als  theoretischer  Satz  unbedingt  zuzugeben, 
wenn  die  Reiche  einen  einheitlichen  (monophyletischen)  Ursprung 
hätten,  wie  man  sich  das  wohl  ursprünglich  vorstellte.  Eine  solche 
Vorstellung  ist  aber  unnatürlich  und  darf  l)ei  wissenschaftlichen 
Erörterungen  nicht  in  Betracht  gezogen  werden.  Als  die  Verhältnisse 
auf  der  Erde  sich  so  gestaltet  hatten,  dass  Eiweiss  spontan  entstehen 
und  sich  organisiren  konnte,  musste  Urzeugung  überall  auf  der  Erd- 
oberfläche, wo  die  günstigen  Umstände  zusammentraten,  stattfinden,  und 
sie  musste  späterhin  immer  eintreten,  wo  die  nämlichen  Bedingungen 
gegeben  waren.  Wenn  nun  aber  im  Anfange  einerseits  am  Nordpol, 
andrerseits  am  Südpol,  wo  die  für  organisches  Leben  nothwendige 
Temperaturerniedrigung  zuerst  eintrat,  sich  Organismen  aus  unorgani- 
schen Verbindungen  bildeten,  ferner  wenn  in  der  Urzeit,  dann  zur 


IX.  ^lorphologie  und  S\stematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     463 

Kohlenzeit  und  in  allen  andern  Perioden  unserer  Erde  Organismen 
entstanden  sind,  so  kann  man  doch  für  die  von  diesen  verschiedenen 
Anfängen  ausgehenden  phylogenetischen  Linien  keine  Gemeinsamkeit 
der  Abstammung  und  keine  Blutsverwandtschaft  in  Anspruch  nehmen, 
wenn  sie  einander  auch  noch  so  ähnlich  ausfallen  möchten. 

Um  diese  unbequeme  Consequenz  abzuschwächen,  sieht  sich 
Häckel  denn  auch  zu  dem  Ausspruche  genöthig-t,  dass  »der  scheinbar 
sehr  bedeutende  Gegensatz  zwischen  der  monophyletischen  und  der 
polyphyletischen  Hypothese  im  Grmide  von  sehr  geringer  Wichtigkeit 
sei«,  da  ja  beide  auf  Moneren  zurückgehen  m.üssten.  Er  nimmt 
übrigens  den  monophyletischen  Ursprung  der  Organismen  als  den 
wahrscheinlicheren  an,  indem  er  behauptet,  dass  die  Stammform 
einer  jeden  grösseren  oder  kleineren  Gruppe  nur  einmal  im  Laufe 
der  Zeit  und  nur  an  einem  Orte  der  Erde  entstehen  konnte.  — 
Mit  Rücksicht  auf  die  Bedürfnisse  der  Lehre  ist  es  ja  ganz  klar, 
dass  die  monophyletische  Hypothese  für  eine  übersichtliche  Dar- 
stellung sich  als  sehr  bequem  erweist,  aber  es  ist  zugleich  wahr, 
dass  eine  solche  Darstellung ,  indem  sie  die  systematische  Ver- 
wandtschaft in  dem  Prokrustesbett  zustutzt,  nur  eine  oberflächliche 
werden  kann. 

Gegen  den  monophjdetischen  Ursprung  der  Organismen  sprechen 
eben  so  sehr  die  Gründe  einer  richtigen  Theorie  als  die  Thatsachen 
der  Erfahrung.  Was  die  Theorie  betrifft,  so  ist  der  merkwürdige 
Ausspruch  Häckel's,  die  Verschiedenheit  zwischen  dem  einfachen 
und  dem  vieKachen  Ursprung  sei  ohne  Belang,  offenbar  eine  Folge 
seiner  Hypothese,  dass  die  einfachsten  Organismen  mit  den  Eiweiss- 
molekülen  identisch  seien.  Die  Unhaltbarkeit  dieser  Hypothese  ist 
bereits  in  dem  Abschnitt  über  die  Urzeugung  nachgewiesen  worden. 
Wenn  auch  das  allererste  Product  der  Urzeugung  als  Eiweissmolekül 
überall  das  nämliche  ist,  so  gestatten  doch  die  vielen  Millionen  von 
Eiweissmolekülen ,  die  ein  ursprünglicher  Plasmatropfen  enthält, 
in  der  Micellbildung  und  in  der  Zusammenordnung  der  Micelle 
eine  fast  unendliche  Zahl  von  Combinationen ,  welche  durch  die 
äusseren  Einflüsse  bestimmt  werden.  Wir  können  mit  vollster 
Sicherheit  annehmen,  dass  nicht  zweiUrzeugungen  identisch  sind.  Es 
werden  somit  den  autonomen  Entwicklungsbewegungen  schon  von 
Anfang  an  verschiedene  Richtungen  angewiesen,  die,  wenn  auch 
zuerst  und  vielleicht  durch  lange  Zeiträume  unmerkHch  klein,  doch 


4G4     IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

sich  stetig  steigern  und  endlich  deutlich  hervortreten  müssen.  Ferner 
bedingen,  sobald  einmal  einfachste  Organismen  gebildet  sind,  die 
äusseren  Einflüsse  Anpassungsänderungen,  welche  zu  verschiedenen 
Zeiten  und  auf  verschiedenen  Punkten  der  Erdoberfläche  ungleich 
ausfallen  müssen,  und  die  bei  der  weiteren  phylogenetischen  Aus- 
bildung ebenfalls,  wenn  auch  in  geringerem  Maasse,  mitwirken. 

Die  polyphyletische  Abstammung  der  Reiche  hat  also  jedenfalls 
eine  andere  Bedeutung  als  die  monophyletische ,  selbst  dann,  wenn 
nur  in  der  Urzeit  spontane  Bildung  von  Organismen  statt  gefunden 
hätte.  Von  besonderer  Wichtigkeit  aber  ist  der  Gegensatz  zwischen 
einmaliger  und  fortdauernder  Urzeugung;  denn  die  Beschaffenheit 
der  organischen  Reiche  in  der  Gegenwart  muss  offenbar  wesentlich 
verschieden  ausfallen,  wenn  alle  Organismen  ohne  Ausnahme  von  Wesen 
der  Urzeit  abstammen,  oder  wenn  je  die  Stammbäume  der  einfacheren 
Organismen  in  immer  späteren  Perioden  ihren  Ursprung  hatten. 

Die  entscheidende  Frage  ist  also :  Hat  die  spontane  Entstehung 
nur  einmal,  nämlich  beim  Beginn  des  organischen  Lebens,  oder  hat 
sie  zu  allen  Zeiten  stattgefunden?  Nach  meiner  Ansicht,  —  die  icli 
stets  gehegt  und  namentlich  auch  in  der  Schrift  »Entstehung  und 
Begriff  der  naturhistorischen  Art«  1865  Anmerkung:  »Gibt  es  eine 
Urzeugung?«  verfochten  habe,  —  lässt  sich  bloss  die  letztere 
der  zwei  Annahmen  wissenschaftlich  begründen.  Die  theoretischen 
Gründe  dafür  ergeben  sich  aus  den  Bedingungen  der  Urzeugung,  die 
ich  oben  (S.  83  ff.)  erörtert  habe.  Wenn  einmal  aus  unorganischen 
Stoffen  organische  Verbindungen  und  Organismen  entstehen  konnten, 
so  musste  dies  stets  eintreten,  wo  und  wann  jene  Bedingungen  vor- 
handen waren. 

Was  die  Erfahrung  betrifft,  so  spricht  die  gegenwärtige  Be- 
schaffenheit der  organischen  Reiche  entschieden  zu  Gunsten  der 
Annahme,  dass  zu  allen  Zeiten  Urzeugung  stattgefunden  habe.  Im 
Pflanzen-  und  Thierreich  sind  alle  Stufen  der  Organisation,  auch  die 
allereinfachsten ,  als  Spaltpflanzen  (Schizophyten)  und  Moneren  ver- 
treten, und  wenn  die  noch  einfacheren  Wesen,  die  nach  meiner 
Theorie  den  letztgenannten  vorausgehen  müssen  und  die  ich  Probien 
genannt  habe,  zu  mangeln  scheinen,  so  erklärt  sich  dies  zur  Genüge 
aus  dem  Umstand,  dass  sich  dieselben  wegen  ihrer  Kleinheit  und 
wegen  ihrer  übrigen  noch  so  wenig  ausgesprochenen  Eigenschaften 
der  Beobachtung  entziehen. 


IX.  ^Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     4G5 

Das  jetzige  Vorhandensein  einfachster  Pflanzen  und  Thiere  ist 
nach  der  gewöhnHchen  Annahme  dadurch  zu  erklären,  dass  sie  seit 
der  Urzeit  auf  der  nämhchen  Organisationsstufe  stehen  gebhehen  sind, 
nach  meiner  Theorie  dagegen,  dass  sie  erst  in  einer  der  letzten  geologi- 
schen Perioden  sich  gebildet  haben.  Um  die  Wahrscheinlichkeit  der 
einen  und  andern  dieser  beiden  Annahmen  zu  prüfen,  haben  wir 
uns  die  zwei  Fragen  vorzulegen :  Ist  es  denkbar,  dass  ein  Organismus 
während  der  Dauer  der  organischen  Reiche,  also  sozusagen  während 
unbegrenzter  Zeit,  beinahe  unverändert  fortlebe?  Wie  muss  eine 
sehr  alte  Sippe  beschaffen  sein? 

Die  erste  Frage  muss  icli  nacli  der  Theorie,  die  ich  in  dieser 
ganzen  Schrift  ausgeführt  habe,  verneinen.  Wenn  wir  die  Conse- 
quenzen,  die  sich  aus  den  inneren  Ursachen  der  Veränderung  ergeben, 
berücksichtigen,  und  damit  dasjenige,  was  wir  aus  Erfahrung  über 
die  Entwicklungsgeschichte  der  organischen  Reiche  wissen,  ver- 
gleichen, so  müssen  wir  zu  dem  Schlüsse  gelangen,  dass  das  Idio- 
plasma  sich  sehr  langsam  aber  stetig  fortbildet  und  dass  die  Orga- 
nismen dem  entsprechend  in  Bau  und  Verrichtungen  immer  complicirter 
werden,  —  ferner  dass,  wenn  in  manchen  Abstammungslinien  das 
Idioplasma  und  mit  ihm  die  Gesammtheit  der  Entfaltungsmerkmale 
auf  einen  Punkt  kommen,  wo  ein  weiterer  Fortschritt  nicht  möglich 
ist,  dann  die  Sippe  längere  Zeit,  als  es  sonst  der  Fall  wäre,  unver- 
ändert fortbesteht,  aber  nach  einer  begrenzten  Zeit  nothwendig  zu 
Grunde  geht. 

Diese  Ansicht  stimmt  offenbar  auch  besser  mit  der  Thatsache 
überein,  dass  zwischen  Phylogenie  und  Ontogenie  eine  gewisse  Ueber- 
einstimmung  herrscht  und  dass  die  Ontogenie  die  Entwicklungsstufen, 
welche  die  Phylogenie  durchlaufen  hat,  in  morphologischer  Beziehung- 
wiederholt.  Die  Ontogenie  macht  dabei  keine  langen  Pausen  und 
bringt  ein  Entwicklungsstadium  nicht  eine  unbestimmte  Zahl  von 
Malen  hervor,  sondern  geht  stetig  von  einem  Stadium  zum  folgenden. 
Man  darf  nun  wohl  erwarten,  dass  es  sich  mit  ihrem  Urbild  ebenso 
verhalte  und  dass  die  Phylogenie  ebenfalls  nicht  auf  irgend  einer 
Stufe  unbegrenzt  stehen  bleibe,  sondern  nothwendig  zu  einem  w^jtern 
Schritt  oder  zum  Untergang  gedrängt  werde.  Dabei  kann  aller- 
dings die  phylogenetische  Fortschrittsbewegung  in  den  verschie- 
denen Abstammungslinien  eine  ziemlich  ungleiche  Geschwindigkeit 
besitzen. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  30 


4G6     IX-  Moriiliologio  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

Prüfen  wir  nun  die  andere  Frage,  wie  nämlich  eine  Sippe  be- 
schaffen sein  müsse ,  die  während  nngewöhnhch  langer  Zeit  miver- 
ändert  blieb,  somit  als  alt  bezeichnet  werden  muss.  Hiezu  ist  folgendes 
über  die  Sippenbildung  zu  bemerken.  Die  autonome  Veränderung, 
welche ,  wenn  sie  weit  genug  gediehen  ist ,  eine  höhere  Stufe  der 
Organisation  herbeiführt,  findet  gleichmässig  in  allen  Individuen 
der  einförmigen  Sippe  statt,  weil  ja  alle  das  nämliche  Idioplasma 
besitzen.  Die  A^eränderung  durch  äussere  Reizeinflüsse,  welche  die 
Anpassungen  verursachen,  erfolgt  ungleichmässig  und  macht  die 
Sippe  vielförmig.  Die  entstehenden  Formen  bilden  sich  mit  der 
Zeit  weiter  aus  und  werden  zu  Varietäten ,  Arten ,  Gattungen ; 
zugleich  variiren  sie  von  neuem,  sowie  die  äusseren  Einflüsse  sich 
dauernd  verändern.  Die  Variation  hält  aber  nur  so  lange  an,  als 
das  Idioplasma  in  autonomer  phylogenetischer  Fortbildung  begriffen 
ist  und  somit  auch  gegenüber  den  äussern  Reizeinwirkungen  sich 
als  bildungsfähig  erweist. 

Es  kann  also  zweierlei  geschehen.  Entweder  dauert  die  auto- 
nome Entwicklung  des  Idioplasmas  fort:  dann  gelangen  die  aus  der 
ursprünglichen  Sippe  durch  ungleiche  Anpassung  hervorgegangenen 
Sippen,  die  einen  früher,  die  andern  später,  auf  eine  höhere  Stufe 
des  Baues  und  der  Verrichtungen,  wo  die  Variation  durch  äussere  Ein- 
flüsse ein  neues  Feld  der  Thätigkeit  findet.  Oder  die  autonome  Fort- 
bildung des  Idioplasmas  wird  aus  irgendwelchen  Ursachen  unmöglich 
und  hört  auf:  dann  steht  auch  die  Variation  still,  und  da  die  von 
der  ursprünglichen  Sij)pe  abstammenden  Sippen  sich  nicht  mehr 
vermehren,  so  nehmen  sie  an  Zald  ab  und  verschwinden  zuletzt  ganz, 
weil  bald  die  eine  bald  die  andere  verdrängt  wird  oder  vor  Alters- 
schwäche zu  Grunde  geht. 

Demnach  wird  es  auf  allen  Organisationsstufen  Sippen  in  jedem 
Entwicklungsstadium,  also  auch  altersschwache  und  aussterbende 
geben,  und  viele  Organisationsstufen  sind  in  dem  jetzigen  Reiche 
gar  nicht  vertreten ,  weil  ihre  Repräsentanten  entweder  auf  eine 
höhere  Stufe  vorgerückt  oder  ausgestorben  sind.  Als  eine  alters- 
schwache und  aussterbende  Gruppe  gibt  sich  im  Pflanzenreiche  die 
Familie  der  Cycadeen  zu  erkennen.  Aber  auch  andere  Familien 
stehen,  wenn  auch  nicht  in  so  offenkundiger  Weise,  auf  dem  Aussterbe- 
etat, ebenso  viele  einzelne  Gattungen  und  Arten. 

Wenn  entsprechend   der   gewöhnlichen  Annahme  die  spontane 


IX.  Morphologie  uml  Systciinitik  als  i)]iyloä:enotisclie  Wissenschaften.     467 

Entstehung  der  Pflanzen  nur  im  Anfange  stattgefunden  hätte,  so 
wären  unter  den  jetzt  lebenden  Sippen  die  niedrigsten  (einzelhgen) 
als  die  ältesten,  die  liöchsten  dagegen  (angiosperme  Phanerogamen) 
als  die  jüngsten  zu  betrachten.  Nun  scheinen  mir  aber  gerade  die 
allerniedrigsten  Pflanzen,  die  ganze  Gruppe  der  Schizophyten,  ganz 
entschieden  den  Charakter  einer  noch  sehr  jungen  und  nicht  einer 
sehr  alten  Gruppe  an  sich  zu  tragen.  Denn  die  Vielförmigkeit  in 
den  Sippen  ist  so  gross,  die  Formen  sind  einander  so  nahe  stehend 
und  in  einander  übergehend,  dass  Varietäten,  Arten,  Gattungen  sich 
nicht  sicher  trennen  lassen.  Die  Chroococcaceen,  die  Nostochaceen, 
die  Oscillariaceen ,  die  Scytonemaceen ,  die  Rivulariaceen ,  die  Spalt- 
pilze sind  in  dem  Zustande,  wie  man  es  von  noch  ganz  jungen 
Familien  erwarten  möchte.  Wie  die  unterste  Gruppe  der  Pflanzen, 
die  Schizophyten,  verhält  sich  im  wesentlichen  auch  die  nächst 
folgende,  die  der  (einzelligen)  Palmellinen  (Protococcoiden),  nur  dass 
sieh  hier  die  einzelnen  Sippen  schon  schärfer  herausheben. 

Meiner  Ansicht  nach  haben  die  Abstammungslinien  der  jetzt 
lebenden  Pflanzen  zu  den  verschiedensten  Zeiten  der  Erdgeschichte 
begonnen.  Diejenigen  der  Schizophyten  sind  die  jüngsten,  die  der 
Palmellinen  sind  im  Durchschnitt  etwas  älter,  die  der  Conjugaten 
und  Diatomeen  noch  älter,  u.  s.  f.;  die  ältesten  Abstammungslinien 
sind  die  der  Phanerogamen.  Wenn  von  den  in  der  Urzeit  entstandenen 
Wesen  noch  Abkömmlinge  vorhanden  sind,  so  müssen  wir  sie  jedenfalls 
unter  den  höchsten  Phanerogamen  suchen.  Es  ist  aber  auch  mög- 
lich ,  dass  alle  Abstammungslinien  der  ersten  Zeit  schon  in  den 
Lepidodendreen ,  Calamiteen ,  Asterophylliten ,  Sigillarien  oder  noch 
früher  in  uns  unbekannten  Gruppen  ausgestorben  sind. 

Die  Abstammungsreihen  der  Pflanzen  sind  aber  verschiedener 
Art.  Es  gibt  solche  Anfänge,  die  sich  stets  und  überall  bilden ;  ihre 
Abkömmlinge  stellen  scheinbar  eine  zusammenhängende  Entwicklungs- 
reihe dar.  Hieher  sind  zu  rechnen  die  Palmellinen',  Confervoiden, 
Moose,  Gefässkryptogamen,  Phanerogamen.  Andere  Abstammungs- 
reihen bilden  sich  seltener  und  haben  auch  eine  beschränkte  Fort- 
bildungsfähigkeit. Hieher  gehören  nach  meiner  Vermuthung  die 
Schizoph}i;en ;  es  gibt  keine  höhere  Pflanzengruppe,  die  man  mit 
einiger  Wahrscheinhchkeit  von  einer  schizophytenähnlichen  Pflanze 
herleiten  könnte.  Ob  und  wie  weit  die  Schizophyten  sich  phylo- 
genetisch noch  entwickeln  werden,  lässt  sich  nicht  bemessen. 

30* 


468     IX.  ^Morphologie  und  S\'steinatik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

Die  Diatomeen  haben  eine  noch  viel  ausgesprochenere  Eigen- 
artigkeit; es  gibt  keine  niedere  Pflanze,  von  der  man  vermuthen 
dürfte,  dass  ihre  Abkömmlinge  diatomeenähnlich  werden  könnten, 
und  keine  höhere  Pflanze,  die  von  einer  diatomeenähnlichen  Pflanze 
abzuleiten  wäre.  Ich  möchte  glauben,  dass  die  Diatomeen  sich  phylo- 
genetisch überhaupt  nicht  weiter  bilden  können. 

Je  isolirter  und  eigenartiger  eine  Pflanzensippe  ist,  um  so  eher 
können  wir  annehmen,  dass  die  ihr  entsprechenden  Anfänge  sich 
selten  bilden  und  dass  die  Abstammungslinien  derselben  eine  be- 
schränkte Entwicklungsfähigkeit  besitzen.  An  die  Diatomeen  und 
Schizophyten  schliessen  sich  in  dieser  Beziehung  die  Florideen  und 
vor  allem  aus  die  Myxomyceten  an,  deren  Zugehörigkeit  zum  Pflanzen- 
reiche mir  übrigens  sehr  zweifelhaft  ist. 

Es  können  aber  auch  von  den  gewöhnlichen  und  häufig  sich 
bildenden  Anfängen  aus  früher  oder  später  sich  eigenartige  Abstam- 
mungslinien von  beschränkter  Entwicklungsfähigkeit  abzweigen.  Die 
Siphoneen,  C'onjugaten,  Characeen  geben  uns  Beisj^iele  hievon. 

Das  Pflanzenreich  in  seiner  historischen  Totalität  ist  sonach 
nicht  ein  einziger,  sehr  stark  verzweigter  phylogenetischer  Stamm, 
noch  auch  mehrere  Stämme,  die  gleichzeitig  von  identischen  Anfängen 
ausgegangen  wären  und  somit  gleichsam  als  Aeste  desselben  Stammes 
angesehen  werden  könnten.  Sondern  das  Pflanzenreich,  —  und 
ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  Thierreiche  —  als  der  Inbegriff  aller 
der  vegetabilischen  Formen,  die  je  gelebt  haben,  besteht  aus  einer 
Unzahl  von  phylogenetischen  Stämmen,  welche  zu  allen  Zeiten  und 
an  den  verschiedensten  Stellen  der  Erdoberfläche  ihren  Ursprung 
genommen  haben,  eine  ungleiche  Dauer,  Entwicklungshöhe  und  Ver- 
zweigung erreicht  haben  und  zum  grössten  Theil  ausgestorben  sind. 
Die  jetzt  lebenden  Pflanzen  sind  Enden  von  zahlreichen  Abstammungs- 
linien ,  welche  verschiedene  Geburtsstätten  und  ein  verschiedenes 
Alter  besitzen  und  somit  in  keiner  genetischen  Verwandtschaft  zu 
einander  stehen. 

Wie  viele  verwandte  Arten  und  Gattungen  demselben  Stamme 
angehören,  lässt  sich  nie  mit  Sicherheit  bestimmen.  Wir  sind  geneigt, 
einförmige  Familien,  wie  die  Cruciferen,  die  Gramineen  etc.  als  Ab- 
kömmlinge eines  einzigen  Stammanfanges  zu  betrachten;  und  wir 
können  dafür  wohl  eine  grosse  Wahrscheinlichkeit,  aber  keine  absolute 
Gewissheit  in  Ans])rucli  nehmen.     Es  ist  ferner  ganz   gut  möglich, 


IX.  Morphologie  und  .Sj'stt'iiuitik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     460 

dass  mehrere  oder  viele  Pflanzenfamilien  von  einem  Punkte  aus- 
gegangen und  somit  phylogenetisch  verwandt  sind ;  aher  es  ist  ebenso 
gut  denkbar,  dass  jede  derselben  einen  besonderen  Ursprung  hat, 
dass  die  Gräser  und  Halbgräser,  der  Apfelbaum  und  der  Kirsch- 
baum, der  Haselnussstrauch  und  der  Eichbaum,  ebenso  im  Thierreiche 
der  Fisch  und  das  Amj^liibium,  der  Affe  und  der  Mensch  in  keinem 
genetischen  Zusammenhange  stehen  und  ihre  besonderen  Abstam- 
mungslinien besitzen.  Das  schliesst  nicht  aus,  dass  ihre  Ahnen 
einander  no(ih  ähnlicher  waren,  als  sie  selbst  es  sind;  es  ist  dies 
sogar  gewiss,  da  die  Abstammungslinien  nicht  anders  als  diver- 
girend  gedacht  werden  können.  Wir  dürfen  auch  immerhin  sagen, 
die  Phanerogamen  stammen  von  Gefässkryptogamen,  diese  von  Leber- 
moosen, der  Mensch  vom  Affen  u.  s.  w.  ab ;  aber  diese  Redensart  ist 
nur  bildlich  zu  verstehen,  insoferne  die  Ahnen  der  jetzigen  Organismen, 
wenn  vdr  sie  etw^a  aus  palaeontologischen  Ueberresten  kennten,  aller- 
dings in  die  Gruppe  der  Gefässkryptogamen,  Lebermoose,  Affen  zu 
stellen  wären;  denn  die  systematische  Verwandtschaft  setzt  keines- 
wegs die  genetische  voraus. 

Wenn  Darwin  sagt,  die  Gemeinsamkeit  der  Abstammung  sei 
die  einzige  bekannte  Ursache  der  Aehnlichkeit  organischer  Wesen, 
und  wenn  Häckel  behauptet,  dass  die  Stammform  einer  jeden 
grösseren  oder  kleineren  Gruppe  nur  einmal  und  nur  an  einem 
Orte  entstehen  konnte,  so  ist  solchen  Aussprüchen  gegenüber  doch 
daran  zu  erinnern,  dass  die  Erfahrung  von  keiner  einzigen  Art  die 
Abstammung  kennt,  und  dass  die  Theorie  zur  Sache  nichts  anderes 
beizubringen  vermag  als  das  unzweifelhafte  Axiom,  dass  gleiche 
Ursachen  gleiche  Wirkungen  und  ähnliche  Ursachen  ähnliche  Wir- 
kungen haben.  Es  ist  unbestreitbar,  dass  mehrere  oder  viele  Urzellen, 
die  unter  den  nämlichen  Verhältnissen,  aljer  unabhängig  von  ein- 
ander, spontan  entstanden  sind,  w^enn  ihre  Abstammungshnien  während 
gleichlanger  Zeit  unter  gleichen  Verhältnissen  sich  entwickeln,  auch 
zu  ganz  ähnlichen  Organismen  führen  müssen. 

Ueber  die  Möglichkeit,  dass  zwei  einander  mehr  oder  weniger 
nahe  stehende  Organismen  der  gegenseitigen  Blutsverwandtschaft  ent- 
behren, kann  also  kein  Zweifel  obwalten.  Eme  ganz  andere  Be-" 
wandtniss  hat  es  mit  dem  Grade  der  Wahrscheinlichkeit,  ob 
Blutsverwandtschaft  bestehe  oder  nicht.  AVenn  wir  alle  Umstände 
in  Betracht  ziehen,   die  seit  dem  Ursprung  einer  Abstammungslinie 


470     IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  "Wissenschaften. 

bis  auf  den  heutigen  Tag  mit  deren  Entwicklung  verknüpft  waren  und 
auf  die  ich  hier  nicht  näher  eintreten  will,  so  kommen  wir  nothwendig 
7A\  folgendem  Schlüsse.  Für  einen  bestimmten  Grad  der  systemati- 
schen Verwandtschaft  nimmt  wegen  der  Divergenz  der  Abstammungs- 
linien die  Wahrscheinlichkeit  der  gemeinsamen  Abstammung  zu,  je 
höher  entwickelt  der  Organismus  ist,  d.  h.  je  länger  die  phylogene- 
tische Entwicklung  gedauert  hat.  Bei  den  allerniedrigstcn  Organismen 
können  wir  für  zwei  nahe  verwandte  Arten  keine  Blutsverwandt- 
schaft behaupten,  während  wir  sie  für  die  Gattungen  einer  ganzen 
Familie  in  den  höheren  Regionen  der  Reiclie  für  äusserst  wahr- 
scheinlich erachten.  —  Von  grosser  Wichtigkeit  ist  auch  das  Ver- 
halten der  Sippen  zu  einander.  Zwei  extremen  Gattungen  oder  Arten, 
die  nicht  den  niedrigsten  Classen  angehören,  werden  wir  die  Bluts- 
verwandtschaft kaum  absjo rechen  können,  wenn  sie  durch  eine  Reihe 
von   Zwischengattungen   oder  Zwischenarten   innig  verbunden  sind. 

Die  allseitige  Blutsverwandtschaft  der  jetzt  lebenden  Organismen 
und  ebenso  das  phylogenetische  System  sind  also  in  Wirklichkeit 
nichts  weiter  als  ein  schöner  Traum;  sie  können  aber  wegen  der 
Einheit  der  gesetzmässigen  Entwicklung,  welche  durch  die  ganzen 
organischen  Reiche  besteht,  in  symbolischer  Weise  als  allge- 
meine Norm  gelten ,  da  die  Organismen ,  wenn  sie  auch  genetisch 
nicht  verwandt  sind,  sich  doch  im  grossen  und  ganzen  so  zu  ein- 
ander verhalten,  als  ob  diese  Verwandtschaft  bestände. 

Im  einzelnen  jedoch  findet  das  Symbol  der  genetischen  Ver- 
wandtschaft im  Pflanzenreiche  nur  sehr  beschränkte  Anwendung. 
Soweit  es  aber  zulässig  erscheint,  lässt  sich  der  Werth  der  systema- 
tischen Verwandtschaft  in  einigermaassen  theoretisch  genauer  Weise 
bestimmen ,  wenn  wir  von  dem  Anpassungsgepräge  absehen  und 
uns  nur  an  die  durch  die  autonome  Entwicklung  erzeugten  Organi- 
sationsmerkmale halten.  Die  Verwandtschaft  ist  eine  zweifache,  je 
nachdem  die  zu  vergleichenden  Sippen  der  gleichen  oder  verschie- 
denen phylogenetischen  Linien  angehören.  Im  ersten  Falle  ist  es 
Verwandtschaft  in  auf-  oder  absteigender,  im  zweiten  Verwandt- 
schaft in  Collaterallinien,  analog  A\ie  im  Erbrecht. 

Der  Grad  der  erstgenannten  Verwandtschaft  wird  bestimmt 
durch  die  Entfernung  der  zwei  Sippen  in  ihrer  Abstammungslinie, 
d.  h.  von  der  Zahl  und  Grösse  der  phylogenetischen  Stufen,  welche 
durchlaufen  wurden,  um  die  eine  Sippe  in  die  andere  überzuführen,  — 


IX.  Morphologie  und  Systriuatik  als  i)liylogeiieti.sdie  Wissenschaften      471 

der  Grad  der  collateralen  Verwandtschaft  dagegen  durch  die  Ent- 
fernung von  dem  Punkte,  von  welchem  die  beiden  Abstanimnngs- 
hnien  ausgegangen  sind,  d.  h.  durch  die  Zahl  der  phylogenetischen 
Stufen,  welche  durchlaufen  wurden,  um  die  gemeinsame  Ahnensij^pe 
in  die  beiden  fraglichen  Sippen  umzuwandeln. 

In  beiden  Verwandtschaf tsf allen  handelt  es  sich  darum,  ob  die 
zu  vergleichenden  Sippen,  sei  es  mrklich  oder  bildlich,  von  einander 
abstammend  gedacht  werden  können.  Ihre  Beziehungen  sind  nach 
den  oben  festgestellten  phylogenetischen  Gesetzen  (S.  336)  zu  be- 
urtheilen,  wobei  als  allgemeine  Regel  festzuhalten  ist,  dass  die  Orga- 
nismen in  ihrer  ontogenetischen  Entmcklungsgeschichte  die  voraus- 
gehende  phylogenetische   Reihe   in   abgekürzter  Form  durchlaufen. 

Letzteres  gilt  schon  längst  als  Erfahrungssatz ;  die  ursächliche 
Erklärung  gibt  uns  die  Theorie  des  Idioplasmas.  Die  Anlagen  ent- 
stehen im  Idioplasma  nach  Maassgabe,  als  sich  die  Abstammungs- 
linie  entwickelt,  und  gelangen  in  jeder  Ontogenie,  da  die  Art  mid 
Weise  ihrer  Einordnung  eine  phylogenetische  ist,  auch  in  gleicher 
Reihenfolge  zur  Entfaltung  (S.  49  f.).  Die  Ontogenie  ist  deshalb  die 
Wiederholung  der  Phylogenie ;  aber  die  früheren  Stadien  werden  im 
allgemeinen  wegen  der  Reduction,  die  fortwährend  im  Lauf  der  Ab- 
stammungslinie thätig  war,  rasch  zurückgelegt.  —  Unter  Umständen 
können  ausnahmsweise  aber  auch  einzelne  frühere  Stadien  der  Onto- 
genie auf  höheren  Stufen  der  phylogenetischen  Reihe  von  längerer 
Dauer  sein,  eine  Amphation  erfahren  und  neue  Differenzirungen 
oder  andere  phylogenetische  Fortbildungen  eingehen,  während  diese 
Veränderungen  gewöhnlich  nur  in  den  späteren  Stadien  der  Onto- 
genie auftreten. 

Die  phylogenetische  Erkenntniss  einer  Sippe  setzt  voraus,  dass 
wir  wissen,  woraus  sie  entstanden  ist,  somit  welcher  Abstammungs- 
linie sie  angehört.  Damit  zwei  Sippen  als  Stufen  der  gleichen  i:)hylo- 
genetischen  Reihe  angesehen  werden  können,  muss  sich  nachweisen 
lassen,  dass  die  Ontogenie  der  tieferstehenden  mit  der  entsprechenden 
Partie  in  der  Ontogenie  der  höherstehenden  übereinstimme  und  dass 
somit  die  letztere  sich  als  phylogenetische  Fortbildung  aus  der  ersteren 
betrachten  lasse.  Dabei  darf  der  Aehnlichkeit  im  äusseren  Ansehen 
und  im  mneren  Bau  wenig  Bedeutung  beigemessen  werden,  da  die 
eine  und  die  andere  auf  verschiedenem  Wege  zu  Stande  kommen 
kann. 


472     I^-  ^lorpliologie  und  Systematik  als  jjliylcjgenctisclie  Wisscnsoliaftcn. 

Um  die  Methode  der  Behandlung  bezüghch  der  Abstammung 
deuthcher  zu  machen,  will  ich  als  Beispiel  die  phylogenetische 
Hauptreihe  der  Pflanzen  betrachten,  welche  von  den  Confervoiden 
durch  die  Lebermoose  zu  den  Gefässkryptogamen  und  Phanerogamen 
aufsteigt  und  deshalb  Schwierigkeiten  darbietet,  weil  sie  nur  sehr 
lückenhaft  unter  den  lebenden  Pflanzen  vertreten  ist. 

Wenn  wir  von  einer  solchen  phylogenetischen  Reihe  sprechen 
und  als  Durchgangspunkte  derselben  jetzt  lebende  Pflanzen  be- 
zeichnen ,  so  hat  das  nach  dem  früher  Gesagten  nur  bildliche  Be- 
deutung, insofern  als  die  jetzigen  Phanerogamen  von  vorweltlichen 
Gefässkryptogamen,  diese  von  lebermoosartigen  Pflanzen  einer  früheren 
Periode  und  diese  von  Confervoiden  einer  noch  früheren  Zeit  ab- 
stammten. Von  den  zwei  grossen  Lücken  in  dieser  Reihe  befindet 
sich  die  eine  zwischen  Lebermoosen  und  Algen.  Wir  fragen  uns 
nun,  w^elcher  bekannten  Alge  die  Ahnensippe,  von  der  die  Leber- 
moose herstammen,  wohl  ähnlich  gewesen  sein  mag.  Die  äusseren 
Merkmale  scheinen  deutlich  auf  Coleochaete  hinzuweisen.  Diese 
Pflanze  hat  einige  Merkmale,  wodurch  sie  gleichzeitig  von  den 
übrigen  Süsswasseralgen  abweicht  und  den  Lebermoosen  ähnlich 
ist.  Ihre  gegliederten  Fäden  legen  sich  zusammen  und  bilden  ein 
flächenförmiges  Thallom ,  w^elches  einige  äussere  Aehnlichkeit  mit 
den  einfachsten  Lebermoosen  hat;  das  Oogonimn  verlängert  sich  in 
einen  Hals,  so  dass  man  es  als  die  Urform  der  Archegonien  in  An- 
spruch nehmen  möchte;  nachträglich  mrd  das  Oogonium  berindet, 
so  dass  die  Oospore  eingeschlossen  ist,  ähnlich  wie  die  Eizelle  im 
Archegonium. 

Doch  sind  diese  Analogien  zwischen  Coleochaete  und  den  Leber- 
moosen nur  scheinbar  und  dürfen  uns  nicht  irreleiten.  Vergleichen 
wir  die  Ontogenie  der  ersteren  mit  derjenigen  der  letzteren,  so  finden 
wir  einen  wesentlichen  Unterschied  im  Generationswechsel.  Die  Onto- 
genie der  Coleochaete  besteht,  in  analoger  Weise  wie  bei  Oedo- 
gonium,  in  den  Generationen  (vgl    S.  433,  453) 

B,...B„       CDA, 
diejenige  eines  Lebermooses  in  den  zwei  Generationen 
(i>\...£,.  +  (7)      [I)-\-Ä). 

Die  Frage  ist  nun,  ob  die  Generationenreihe  von  Coleochaete 
B^ .  .  .  B„  -\-  C  phylogenetisch  in  eine  einzige  Generation,  mit  anderen 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  jihylogeiietisehe  Wis^seuschaften.     473 

Worten  in  das  Thallom  der  Lebermoose  übergehen  könne.  Dies 
stellt  sich  uns  nach  dem ,  was  wir  aus  anderen  Fällen  wissen,  als 
ganz  unwahrscheinlich  dar.  Es  konnnt  zwar  häufig  vor,  dass  auf 
der  niederen  Stufe  die  Ontogenie  aus  einer  grösseren,  auf  der  höheren 
Stufe  aus  einer  geringeren  Zahl  von  Generationen  besteht.  Der 
Uebergang  geschieht  aber  dadurch,  dass  die  Generationen  vereinigt 
bleiben  und  ein  vergrössertes  Individuum  darstellen.  So  wird  aus 
einer  Generationenreihe  einzelliger  Pflanzen  eine  einzige  ^äelzellige 
Pflanze.  Es  ist  mir  nun  kein  sicheres  Beispiel  dafür  bekannt,  wie 
eine  Generationenreihe  vielzelliger  Individuen  zu  Einem  Indi- 
viduum sich  umbildet.  Sehr  j^lausibel  wäre  der  Uebergang  in  eine 
Pflanze  mit  einer  Mehrzahl  von  Sprossgenerationen,  indem  jede 
Generation  der  niederen  Stufe  zum  Spross  der  höheren  Stufe  würde. 

In  dem  vorliegenden  Falle  aber  müsste  eine  ganze  Reihe  von  Coleo- 
chaetethallomen  zu  einem  einzigen  denselben  ähnlichen  Lebermoos- 
thallom  werden,  was  nur  durch  Reduction  geschehen  könnte.  Ob 
nun  die  Verminderung  einer  Generationenreihe  auf  eine  einzige  Ge- 
neration wirklich  durch  Reduction  erfolgen  kann ,  lässt  sich  wohl 
noch  nicht  sicher  entscheiden,  ist  aber  nicht  gerade  wahrscheinlich. 
M^'enn  dies  aber  bei  Coleochaete  geschehen  sollte,  so  müsste  ihr 
Thallom  zugleich  in  dasjenige  eines  Lebermooses  sich  umbilden,  ein 
phylogenetischer  Process ,  dessen  Möglichkeit  sich  wohl  ebenfalls- 
noch  nicht  beurtheilen  lässt.  Ohne  hierüber  in  eine  Besprechung 
einzutreten,  will  ich  bloss  bemerken,  dass  mir,  wenn  ich  alle  L'^m- 
stände  berücksichtige ,  die  Entstehung  des  Lebermoosthalloms  aus 
einer  Ulothrix-ähnlichen  Pflanze  viel  wahrscheinlicher  vorkommt. 

Was  die  Abstammung  des  Moosarchegoniums  aus  dem  Oogonium 
von  Coleochaete  betrifft ,  so  ist  die  Berindung  des  letzteren ,  da  sie 
erst  nach  der  Befruchtung  entsteht  und  eine  andere  morphologische 
Bedeutung  besitzt,  eher  ein  Grund  gegen  jene  Abstammung;  denn 
die  fragliche  Berindung  hätte  bei  der  j^hylogenetischen  Umwandlung 
wieder  verschw^nden  müssen.  Aber  auch  die  Umwandlung  des 
Oogoniums  in  das  Archegonium  muss  ich  nach  phylogenetischen 
Gesetzen  für  unmöglich  halten,  wenn  es  mir  auch  wahrscheinlich 
ist,  dass  die  halsartige  Verlängerung  bei  beiden  durch  analoge  Ur- 
sachen herbeigeführt  AMirde. 

Für  die  Abstammung  der  Lebermoose  möchte  ich  im  Anschluss 
an  sichere  bekannte  Vorgänge  folgende  A^erniuthung  aufstellen.    Die 


474     I^-  Mori>hologie  und  Systeiiuitik  als  pliylogenetisclie  Wissensfliaftfii. 

ZU  den  Algen  gehörende  Ahnensippe  hatte  aussenständige  einzeUige 
Sporangien,  von  denen  die  einen  männüche,  die  anderen  weiljhche 
Schwärmsporen  in  grösserer  Zahl  erzeugten.  Durch  das  Zusammen- 
wirken zweier  phylogenetischer  Processe,  nämlich  durch  das  Streben 
nach  Differenzirung  und  nach  Vereinigung,  wurden  die  männlichen 
Sporangien  zu  Antheridien,  die  weiblichen  zu  Archegonien.  Bei  beiden 
ging  die  Schwärmsporenbildung,  indem  die  Zelltheilung  durch  Amplia- 
tion  zunahm,  zum  Theil  in  den  vegetativen  Zustand  über,  wobei 
die  unteren  und  äusseren  Zellen  zu  Stiel  und  Wandung  wurden  und 
nur  die  inneren,  einer  späteren  Zellgeneration  angehörenden  Zellen 
ihren  reproductiven  Charakter  beibehielten.  Damit  hatten  die  An- 
theridien im  Avesentlichen  den  Bau  erreicht,  den  sie  bei  den  Moosen 
besitzen.  Die  weiblichen  Organe  aber  mussten  überdem ,  um  zu 
Moosarchegonien  zu  werden,  die  Zahl  der  Schwärmsporen  auf  Eine 
reduciren  und  diese  zur  grossen  und  unbeweglichen  Eizelle  machen, 
abgesehen  von  der  Bildung  des  Halses,  welche  durch  andere  Vorgänge 
zu  Stande  kam. 

Die  Ahnensipj)e  musste  ferner  einen  Generationswechsel  ohne 
Wiederholungsgenerationen  besitzen:  die  geschlechtliche  Pflanze  er- 
zeugte männliche  und  weil  »liehe  Schwärmsporen ;  die  befruchtete 
Eizelle  theilte  sich  in  mehrere  Ruhesj)oren.  Der  Generationswechsel 
war  also  übereinstimmend  mit  dem  der  Moose,  mit  dem  Unterschiede, 
dass  aus  der  befruchteten  weiblichen  Zelle  nicht  ein  Sporogonimn, 
sondern  unmittelbar  die  Sporen  entstanden.  Dass  dies  so  sein 
musste,  dafür  gibt  es  zwei  Gründe,  die  aus  der  Entstehung  und 
aus  der  Weiterbildung  der  Ahnensippe  entnommen  sind. 

Wenn  wir  von  unten  zu  der  Ahnensippe  zu  gelangen  suchen, 
so  musste  sie  wohl  aus  einer  Confervoide  entstehen,  die  einen  Gene- 
rationswechsel wie  Ulothrix  hatte  und  deren  Zygosporen  mehrere 
Schwärmzellen  erzeugten.  Alle  Generationen  mit  Ausnahme  der 
androgynen  vereinigten  sich  dann  zu  einem  Individuum ;  damit 
gingen  nothwendig  die  von  dieser  androgynen  Generation  erzeugten 
Schwärmsporen  in  RuhesjDoren  über. 

Suchen  wir  von  oben  zu  der  Ahnensippe  zu  gelangen,  so  ist  der 
Umstand  enscheidend,  dass,  sowie  wir  in  der  Abstamnmngslinie 
rückwärts  gehen ,  von  den  Phanerogamen  und  Gefässkr3^ptogamen 
zu  den  Moosen  die  sporenerzeugende  Generation  an  Grösse  und 
Dauer  abnimmt,  indem  sie  dort  ein  sporangientragender  Pflanzenstock, 


IX.  Morpholo.uie  imd  8ysU'iiiatik   als  phylogfiictisclic  Wissenschaften.      475 

hier  nur  noch  ein  Sj)orangium  ist.  Auf  früheren  Stufen  niusste  die 
sporenbildende  Generation  noch  kleiner,  auf  den  frühesten  eine 
einfache  sporenbildende  Zelle  sein. 

Der  Fortschritt  vom  einzelligen  Sporangium  der  Ahnensippe  zum 
Sporogonium  der  jNIoose  vollzieht  sich  in  ähnlicher  Weise,  wie  ich 
sie  für  die  Bildung  der  Antheridien  und  Archegonien  in  Anspruch 
genommen  ha]:»e.  Die  in  der  befruchteten  Eizelle  beginnende  Zell- 
theilung  nimmt  durch  Ampliation  zu ;  durch  das  Bestreben  zur 
Differenzirung  und  zur  Vereinigung  der  früher  getrennten  Zellen 
werden  die  unteren  und  äusseren  Zellen  vegetativ,  indem  nur  einer 
Gruppe  von  iimeren  Zellen  die  Sporenbildung  bleibt. 


Beträchtlich  länger  und  auch  schwieriger  zu  construiren  ist  der 
Weg  von  den  Leijermoosen  zu  den  Gefässkryptogamen.  Während 
die  geschlechtliche  Generation  auf  diesem  Wege  mehr  oder  weniger 
reducirt  wird,  erfährt  die  sporenbildende  Generation  eine  ganz  ge- 
waltige Bereicherung,  die  sich  indess  durch  die  phylogenetischen 
Vorgänge  der  Ampliation,  Differenzirung  und  des  Vegetativwerdens 
der  reproductiven  Erscheinungen  erklären  lässt. 

Am  meisten  Schwierigkeiten  machen,  wenn  wir  die  Umbildung 
des  Moossporogons  in  den  Stengel  der  Gefässpflanzen  nicht  l)loss 
oberflächlich  in  Bausch  und  Bogen  sich  vollziehen  lassen,  sondern 
Schritt  für  Schritt  genau  verfolgen ,  die  allerersten  Schritte.  Das 
Sporogon  ist  seiner  morphologischen  Bedeutung  nach  jedenfalls  noch 
kein  Caulom  (Stengel),  denn  dieses  setzt  Phyllome  (Blätter)  voraus, 
welche  es  seitlich  an  seiner  Spitze  erzeugt.  Richtiger  vergleichen 
wir  es  mit  dem  Thallom  vieler  Lebermoose  selber  und  der  Algen. 
Es  ist  sonach  schon  von  vornherein  aus  phylogenetischen  Gründen 
gar  nicht  unwahrscheinlich ,  dass  auch  die  Gefässpflanzen  in  ihrer 
Abslammungslinie  zuerst  ein  Thallomstadium  durchmachten  und 
dasselbe  auch  jetzt  noch  in  ihrer  Ontogenie  durchlaufen.  Ich  komme 
hier  auf  die  nämliche  Vermuthung,  die  ich  schon  früher  aus  rein 
ontogenetischen  Gründen  ausgesprochen  habe,  dass  das  erste  Stadium 
einer  phanerogamen  Pflanze,  nämlich  das  Stengelchen  des  Embrj^os 
sammt  den  Samenlappen,  ein  Thallom  sei.  Es  gibt  Lebermoos- 
sporogonien,  welche  genau  die  gleiche  Zelltheilung  besitzen,  wie 
die  Embryokugel  von  Capsella. 


470     IX.  I\Iori)hologie  und  Systematik  als  pliylogeuetische  Wissenscliaften. 

Schon  innerhalb  der  Gruppe  der  Lebermoose  vollzieht  sich 
eine  Fortbildung  des  Sporogons,  welche  für  unsere  Betrachtung  von 
Wichtigkeit  ist.  Dasselbe  bildet  nämlich  auf  der  untersten  Stufe  in 
seinem  ganzen  Innern  Sporen;  auf  der  höheren  Stufe  verlängert  es 
sich  und  verwendet  bloss  eine  kleine  obere  Partie  des  Gewebes  für 
die  Fortpflanzung.  Es  ist  nun  denkbar,  dass  später  auch  dieser 
Rest  vegetativ  wird  und  dass  das  Sporogon  als  eine  Sprossbildung 
seitlich  an  der  Spitze  sich  bildet ;  ferner  dass  dieses  Sporogon  durch 
weitere  Umbildung  in  der  sogleich  zu  erörternden  Weise  zum  blätter- 
tragenden Stengel  wird.  In  diesem  Falle  hätten  wir  als  erstes  Product 
aus  der  befruchteten  Eizelle  der  Gefässpflanzen  einen  thallomartigen 
Embryo,  aus  dem  ein  beblätterter  Stengel  als  zweite  Sprossgeneration 
entspringt. 

Es  ist  wahrscheinlich,  dass  es  Abstammungslinien  des  Moos- 
sporogoniums  gab,  welche  bloss  ein  durch  Sprossung  sich  ver- 
mehrendes Thallom  besassen,  und  dass  die  Lemnaceen  noch  Ueber- 
bleibsel  solcher  Bildungen  sind. 

Es  ist  aber  andrerseits  auch  denkbar,  dass  das  thallomartige 
Sporogon,  indem  es  vegetativ  wird,  unmittelbar  (nicht  erst  durch 
seitliche  Sprossung)  zum  blättertragenden  Stengel  sich  verlängert, 
so  dass  der  daraus  hervorgehende  Spross  am  Grunde  Thallomnatur 
besitzt  und  weiter  oben  zum  Caulom  wird.  Das  ist  ja  nichts  uner- 
hörtes; denn  an  dem  Protonema  der  Moose  gibt  es  einzelne  Aeste, 
welche,  nachdem  sie  einen  aus  mehreren  Gliedern  bestehenden  proto- 
nematischen,  also  thallomartigen  Fuss  gebildet  haben,  eine  anders- 
artige Zellbildung  in  der  Scheitelzelle  beginnen  und  als  directe 
Fortsetzung  das  blättertragende  Moosstämmchen  erzeugen. 

Hiezu  können  wir  uns  daran  erinnern,  dass  in  der  Gruj^pe  der 
Laubmoose  das  Sporogonium  sich  noch  weiter  bildet  als  es  bei  den 
jetzt  bekannten  Lebermoosen  der  Fall  ist,  indem  das  Längenwachs- 
thum  wenigstens  in  einem  späteren  Stadium  durch  alternirend-schiefe 
Theilung  der  Scheitelzelle  erfolgt  und  auch  Verzweigung  als  Aus- 
nahmsfall schon  vorkommt.  Diese  Thatsachen  zeigen  uns,  dass  die 
Moose  ihre  idioplasmatischen  Anlagen,  nämlich  Längenwachstlmm 
durch  schiefe  Theilung  der  Scheitelzellen  und  Verzweigung,  auch 
auf  das  Sporogon  ül)ertragen  können.  Tritt  die  Verzweigung  ver- 
einzelt auf,  so  erscheint  dieselbe  als  Sprossung  und  kann,  wie  vorhin 
angenommen  wurde,  seitlich  unter  dem  Scheitel  ein  Sporogon  bilden. 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     477 

Tritt  sie  aber  in  Folge  von  Ampliation  regelmässig  und  in  Gemein- 
scliaft  mit  fortgesetztem  Scheitelwachstlimn  auf,  so  ist  es  begreiflich, 
dass  sie  in  den  der  Scheitelzelle  jeweilen  zunächstliegenden  Zellen, 
nämlich  in  den  Segmentzellen,  mit  schiefen  Theilungen  l)eginnt,  in 
analoger  Weise,  wie  die  erste  schiefe  Theilung  im  Moossporogonium 
in  der  Zelle  statthat,  welche  den  Scheitel  einnimmt. 

Mit  dem  fortgesetzten  Längenwachsthmn  des  Sporogons  rückt 
der  sporenbildende  Theil  desselben  hinter  dem  Scheitel  in  die  Höhe, 
so  dass  daraus  ein  gestieltes  Sporogon  wird.  Die  seitlichen  Zweige 
werden  ebenfalls  fruchtbar  und  bilden  sicli  zu  sitzenden  Sporogonien 
aus.  Es  entsteht  also  ein  ährenförmiger  Sporogonienstand,  der  die 
directe  Fortsetzung,  oder  wenn,  wie  zuerst  angenommen  wurde, 
durch  Sprossung  ein  laterales  Sporogonium  sich  bildete,  die  seitliche 
Fortsetzung  des  ursprünglichen  thallom artigen  Körpers  ist.  Ob  das 
eine  oder  andere  erfolgt,  dürfte  davon  abliängen,  ob  dieser  Körper, 
nämlich  das  ursprüngliche  Sporogon,  eine  einzige  Scheitelzelle  oder 
eine  Mehrzahl  gleichwerthiger  Zellen  am  Scheitel  besass. 

Beim  weiteren  phylogenetischen  Fortschritt  wird  durch  Amplia- 
tion, Diiferenzirung  und  Reduction  der  ährenförmige  Sporogonien- 
stand, welcher  als  das  erste  phylogenetische  Stadium  gelten  mag, 
länger,  die  seitlichen  Sporogonien  nehmen  an  Zahl  zu,  das  terminale 
Sporogon  schwindet,  so  dass  die  sterile  Spindel  nun  ein  fortgesetztes 
Längenwachsthum  erlangt.  Ferner  vergrössern  sich  die  Sporogonien, 
indem  sie  theilweise  in  den  vegetativen  Zustand  übergehen.  Diese 
seitlichen  Sporogonien  zeigen  nun  einen  ähnlichen  phylogenetischen 
Entwicklungsgang,  wie  das  ursprüngliche  Sporogon;  ihr  Haupt- 
körper, der  nur  noch  an  einzelnen  Stellen  Sporogonien  erzeugt,  wird 
überdem  durch  Anpassung  blattartig.  Die  zweite  Stufe  ist  also  ein 
unverzweigter  belilätterter  Stengel ;  die  noch  höchst  einfach  gestalteten 
Blätter  sind  alle  gleich  und  sporogonientragend ;  die  Sporogonien  be- 
finden sich  an  verschiedenen  Stellen  des  Blattes,  auf  der  Rückseite, 
am  Rande,  auf  der  Bauchseite,  auch  einzeln  am  Grunde  der  Bauch- 
seite. In  der  Abstammungslinie  der  Lycopodiaceen  mag  diese  Stufe 
grosse  Aehnlichkeit  mit  einem  unverzweigten  Lycopodium  Selago 
gehabt  haben. 

Wenn  auch  die  Sporogonien  bei  den  meisten  Selaginellen  nicht 
wie  bei  Lycopodium  aus  der  Blattbasis,  sondern  dicht  über  den 
Blättern  aus  dem  Stengel  zu  entspringen  scheinen,  so  muss  ich  sie 


47<^     I^-  ^lorphologie  und  Rysteniatik  als  plnioo-enetische  Wissenschaften. 

doch  für  blattständig  halten ,  denn  ein  Theil  des  morphologischen 
Blattes  (im  Gegensatz  zum  äusserlich  erkemibaren)  ist  jedenfalls  in 
das  Gewebe  des  Stengels  eingesetzt,  wie  ich  schon  früher  bemerkt 
habe  und  wie  sich  aus  den  verkümmerten  Blättern  von  Psilotum 
ergibt  (f  in  Fig.  24  c  auf  S.  413).  Das  die  sichtbare  Blattbasis  zunächst 
umgebende  Gewebe  der  Stengeloberfläche  gehört  also  höchst  wahr- 
scheinlich dem  Blatte  an  und  trägt  bei  Selaginella  die  Sporogonien. 
Für  diese  Deutung  spricht  auch  ganz  entschieden  die  nahe  phylo- 
genetische Verwandtschaft  zwischen  Lycopodium  und  Selaginella. 

Eine  der  möglichen  phylogenetischen  Weiterbildungen,  die  von 
der  zweiten  Stufe  aus  erfolgen ,  besteht  darin ,  dass  der  Stengel, 
nachdem  er  eine  grössere  oder  kleinere  Zahl  von  Blättern  gebildet 
hat,  seitlich  am  Scheitel  über  dem  obersten  Blattanfang  einen  Ast 
bildet  oder  sich  dichotomisch  theilt,  worauf  er  weiter  wächst,  um 
später  die  acrogene  Verzweigung  zu  wiederholen.  Diese  dritte  Stufe 
hat,  wenn  sie  sich  auf  der  Abstammungslinie  der  Lycopodiaceen 
befindet,  schon  grosse  Aehnlichkeit  mit  dieser  Familie. 

Eine  andere  Fortbildung  der  zweiten  Stufe  geschieht  dadurch, 
dass  das  Sporogon  vegetativ  wird  und  dass  sich  —  was  auf  dieser 
Stufe  die  naturgemässe  Art  des  Vegetativwerdens  erscheint  — ;  an 
seiner  Stelle  eine  Knospe  bildet,  die  in  einen  beblätterten  Stengel 
auswächst.  Vorzüglich  waren  es  die  Blätter  mit  axillaren  Sporo- 
gonien (wie  bei  Lycopodium  und  Selaginella),  welche  die  Fähigkeit 
zur  Reproduction  gegen  diejenige,  axillare  Knospen  zu  bilden,  ver- 
tauschten. Damit  ist  die  axillare  oder  phyllogene  Verzweigung  ge- 
geben, welche  principiell  von  der  acrogenen  verschieden  ist.  Ob 
die  letztere  den  dichotomischen  oder  monopodialen  Charakter  an- 
nehme, ist  von  untergeordneter  Bedeutung  und  vielleicht  bloss  eine 
nachträgliche  ungleiche  Fortbildung  ursprünglich  übereinstimmender 
Anfänge. 

Die  acrogene  Verzweigung  kommt  bei  den  meisten  Gefässkrypto- 
gamen ,  die  j)liyllogene  bei  den  Phanerogamen  vor.  Die  letztere 
wurde  zuerst  wohl  so  geregelt,  dass  die  oberen  Blätter  am  Stengel 
reproductiv  blieben,  die  unteren  aber  Aeste  (resp.  Knospen)  erzeugten, 
so  dass  Stengel  und  Aeste  in  endständige  sog.  Fruchtähren  aus- 
gingen (wie  dies  unter  den  acrogen  verzweigten  Pflanzen  bei  Lyco- 
podium vorkommt),  aus  welchen  dann  später  durch  mehrfache  Diffe- 
renzirungen  in  den  l^lättern  die  terminalen  Blüthen  sich  ausbildeten. 


IX.  Morphologie  und  Sj'steiiiatik  als  phylogenetischo  Wissenscliaften.     470 

Das  Schwinden  eines  Si)orogons  hatte  nicht  noth wendig  (he 
Folge,  dass  an  seiner  Stelle  die  Fähigkeit,  eine  Knospe  zu  hilden, 
sich  einstellte.  A^ielmehr  seheint  die  phyllogene  Verzweigung  zu 
der  acrogenen  imVerhältniss  der  Ausschliessung  zu  stehen.  Pflanzen, 
denen  die  letztere  zukommt,  entbehren  gewöhnhch  der  ersteren  und 
umgekehrt.  Am  ausgesprochensten  findet  sich  die  acrogene  A^er- 
zweigung  bei  Lycopodiuni  und  Selaginella  vor,  wo  die  Axillaräste 
fehlen.  In  der  Gruppe  der  Farne  kommt  acrogene  und  phyllogene 
Verzweigung  vor,  letztere  aus  allen  Theilen  des  Blattes,  wie  auch 
die  Sporogonien  überall  am  Blatte  stehen  können.  Die  Equisetaceen 
und  die  Phanerogamen  besitzen  allgemein  die  blattbürtige  Verzwei- 
gung, während  ihnen  die  acrogene  mangelt. 


Bei  der  Abstammung  der  Gefässpflanzen  von  den  Moosen  und 
Algen  kommen  bloss  ganz  allgemeine  Sippen  in  Betracht.  Wir 
können  weder  l)estimmte  Confervoiden,  noch  bestimmte  Lebermoose, 
noch  bestimmte  Gefässpflanzen  in  die  Abstammungshnie  einsetzen; 
denn  dies  würde  das  Vorhandensein  einer  Unzahl  von  vermittelnden 
Formen  in  der  jetzigen  Pflanzenwelt,  die  als  TyjDcn  dienen  konnten, 
voraussetzen.  Selbst  in  Gebieten,  wo  dem  Anschein  nach  eine  Menge 
aller  möglichen  Formen  uns  zugänglich  ist,  wie  z.  B.  in  der  Gruppe 
der  Phanerogamen,  lassen  sich  keine  phylogenetischen  Reihen  fest- 
stellen ,  weil  dieselben  einen  genau  bestimmten  Charakter  haben 
müssten  und  weil  dafür  die  uns  bekannten  Beispiele  lange  nicht 
ausreichen. 

Dagegen  bieten  die  Phanerogamen  einen  Ueberfluss  von  That- 
sachen,  um  die  phylogenetische  Entwicklungsgeschichte  der  einzelnen 
Merkmale  zu  studiren.  Das  Princip  ist  natürlich  das  nämliche  wie 
für  den  stufenweisen  Fortschritt  eines  phylogenetischen  Stammes, 
nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  beim  letzteren  immer  alle  seine 
Merkmale  bezüglich  ihres  stillstehenden  oder  fortschrittlichen  Ver- 
haltens zu  berücksichtigen  sind.  —  Ich  will  die  wichtigsten  Merkmale 
der  Phanerogamen  der  Reihe  nach  mit  Rücksicht  auf  ihre  phylo- 
genetische Ausbildung  betrachten.  Es  sind  ausschliesslich  Eigen- 
thümlichkeiten  des  äusseren  Baues,  wie  sie  bisher  stets  von  den 
Systematikern    für  die   Beschreibung  benutzt   wurden.     Der   innere 


480     IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

Bau  gibt  bis  jetzt  nur  wenige  systematisch  l^raiichbare  Merkmale, 
und  diese  eignen  sich  noch  keineswegs  für  eine  phylogenetische 
Betrachtung. 

A,  B,  C.     Aufbau  des  Pflanzenstockes. 

Auf  der  untersten  Stufe  sind  die  ^''erzweigungen  uu regelmässig 
und  unlx'stimmt;  jeder  Caulomspross  ist  mit  Laubblättern  besetzt 
und  endigt  normal  in  eine  Blüthe.  Im  weiteren  phylogenetischen 
Verlaufe  scheiden   sieh    zwei   gleich werthige  Typen  Ai  und  Bi   aus. 

Ai.  Die  Verzweigung  ist  untergipflig  und  geschieht  in  der  Art, 
dass  je  die  Hauptstralden  länger  werden  und  sich  stärker  verzweigen 
als  ihre  Seitenstrahlen.  Das  Entwicklungsvermögen  nimmt  also  in 
den  successiven  Strahlonordnungen  stetig  alx  Dies  ist  der  racemöse 
oder  botrytisclie  Typus  in  seinen  ersten  noch  durchaus  belaubten 
Anfängen. 

Ji,.  Die  Verzweigung  ist  übergipflig,  indem  die  Seitenstrahlen 
je  über  die  Hauptstrahlen  hinauswachsen ,  so  dass  also  das  Ent- 
wicklungsvermögen von  einer  Strahlenordnung  auf  die  folgende  un- 
geschwächt übertragen  wird  und  in  dieser  somit  länger  andauert. 
Dies  ist  der  cymöse  Typus  in  seinen  ersten  noch  l^elaubten  Anfängen. 
Es  sind  stets  die  obersten  Zweige  einer  Ordnung,  welche  das  stärkste 
Entwicklungsvermögen  besitzen. 

Ich  will  zuerst  die  iDhylogenetische  Fortbildung  von  .4,  ver- 
folgen. Aus  dieser  ersten  Stufe  gehen  nach  einander  die  folgenden 
Stufen  A-,,  A.,  A,,  A;,  hervor. 

A..  Dm'ch  Differcnzirung  werden  die  obersten  Theile  der  Ver- 
zweigung von  Ai  zur  Hochblattregion.  Diese  Veränderung  erstreckt 
sich  mehr  oder  weniger  weit  nach  unten ;  der  Uebergang  von  den 
Hochblättern  in  die  Laubblätter  der  unteren  Partien  erfolgt  zuerst 
allmählich,  in  den  späteren  phylogenetischen  Stadien  plötzlich.  Die 
Laubblattcaulome  endigen  auf  dieser  Stufe  in  einen  geschlossenen, 
rispigen  Blüthenstand.  ■ —  Ranunculus ,  Rosaceen ,  Alisma  Plan- 
tago  etc. 

A-^.  Durch  Reduction  werden  die  j^rimären  Seitenstrahlen  der 
terminalen  Inflorenscenz  von  A-.  einblüthig,  so  dass  nun  also  die 
Laubblattcaulome  in  einfach  traubige  oder  ährige  Blüthenstände  aus- 
gehen. Durch  weitere  Differcnzirung  werden  dieselben  doldig  oder 
kopfförmig.    Durcli  Verkümmerung  der  Eiidblüthe  wird  früher  oder 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     481 

später  die  Inflorescenz  ungeschlossen.  —  Cruciferen,  Scrophularia- 
ceen  part.,  Compositen  part.  etc. 

Der  Uebergang  kann  in  doppelter  Art  stattfinden.  Entweder 
verkümmert  die  Endblüthe,  ehe  die  Reduction  der  Seitensprosse  auf 
einfache  Blüthen  vollendet  ist,  so  dass  der  Blüthenstand  den  Bau 
von  Fig.  19  b  auf  S.  384  hat  (Labiaten,  Scrophulariaceen  part.,  Aco- 
nitum, Delphinium).  Oder  der  Blüthenstand  behält  seine  Endblüthe, 
bis  die  genannte  Reduction  vollendet  ist  (Campanulaceen). 

Ä^.  Die  allgemeine,  unter  den  Inflorescenzen  befindliche  Ver- 
zweigung in  der  Stufe  A3  geschah  durchaus  in  der  Laubblattregion. 
Durch  Differenzirung  werden  die  obersten  Aeste  zu  Hochblattcaulomen ; 
es  vollzieht  sich  die  nämliche  Umwandlung  wde  in  A.,  so  dass  nun 
die  Laubblattsprosse  in  einen  zusammengesetzten  Blüthenstand 
ausgehen.  Die  Hauptverzweigung  desselben  ist  ursprünglich,  ihrer 
Entstehung  aus  Ä^  gemäss,  eine  untergipflige  Rispe ;  im  phylogene- 
tischen Verlaufe  kann  sie  sich  in  eine  gleich-  oder  in  eine  über- 
gipflige  Rispe  umbilden.  —  Compositae  part. ,  rispige  Gramineen, 
Cyperus. 

J-5.  Die  seitlichen  Hochblattäste  von  Äi  werden,  abgesehen  von 
ihrer  terminalen  Inflorescenz,  durch  Reduction  unverzweigt,  so  dass 
der  allgemeine  Blüthenstand  aus  dem  rispigen  in  den  traubigen 
und  ährigen  Bau  übergeht,  also  eine  gleiche  Fortbildung  zeigt  wie 
von  Äi  zu  Äi,  wobei  der  Hauptstrahl  ursprünglich  in  einen  ein- 
fachen Blüthenstand  endigt,  im  phylogenetischen  Verlaufe  aber  durcli 
Verkümmerung  desselben  blind  aufliören  kann.  —  Aehrige  Grami- 
neen wie  Triticum,  Lolium. 

Sind  die  besonderen  Blüthenstände  von  J.^  doldig  oder  kopf- 
förmig,  hat  also  die  Pflanze,  wie  sich  aus  diesem  Umstände  ergibt, 
dieNeigung,  ihre  obersten  Internodien  zu  verkürzen,  so  tritt  leicht  eine 
Häufung  der  oberen  Aeste  des  allgemeinen  Blüthenstandes  ein. 
Werden  dieselben  durch  Reduction  un verzweigt,  so  entstehen  die 
der  zusammengesetzten  Aehre  gleichw^erthigen  Inflorescenzen:  die 
zusammengesetzte  Dolde  (Umbelliferen)  und  der  zusammengesetzte 
Kopf  (Echinops,  Vernoniaceen). 

Bei  allen  diesen  Umbildungen  endigt  der  Hauptstrahl  ursprünglich 
in  einen  besonderen  Blüthenstand  und  kann  im  phylogenetisclien 
Verlaufe  durch  Verkümmerung  desselben  blind  ausgehen.  Durch 
Rückschlag  kommt  die  verloren  gegangene  terminale  Blüthe  sowolil 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre  31 


482     I^-  Morphologie  und  Sj'steniatik  als  pliylogenetisdie  Wissenschaften. 

in  den  besonderen  Blüthenständen  als  im  allgemeinen  Blüthenstand 
wieder  zmn  Vorschein  (Umbelliferen). 

Die  phylogenetischen  Entwicklungen  von  Bi  erfolgen  in  analoger 
Weise,  wie  die  eben  betrachteten  von  Ä^ ,  so  dass  ich  mich  hier 
kürzer  fassen  kann. 

Bi.  Die  laubige  übergipflige  Rispe  von  Bi  erfährt  die  nämliche 
Fortbildung,  wie  sie  beim  Uebergang  von  Ai  zu  Ä.,  stattfindet,  indem 
der  oberste  Theil  der  Verzweigung  durch  Differenzirung  zum  hoch- 
blatttragenden Blüthenstand  wird,  wobei  wie  in  i»,  je  die  obersten 
Strahlen  einer  Ordnung  am  längsten  werden  und  sich  am  stärksten 
verzweigen. 

B3.  Durch  Reduction  schwinden  in  B2  die  unteren  Strahlen  einer 
Ordnung  und  es  bleiben  bloss  die  obersten  und  entwicklungsfähigsten 
in  der  Zahl  von  1,  2  oder  mehreren,  ziemlich  gleich  hoch  inseriiten 
übrig.  Die  übergipflige  Rispe  verwandelt  sich  in  das  Pleiochasium, 
Dichasium,  Monochasium. 

Die  heutige  Morphologie  geht  bei  der  Darlegung  der  Blüthenstände 
von  den  sogenannten  einfachen  Inflorescenzen  wie  z.  B.  Traube  und 
Dichasimn  aus  und  leitet  daraus  die  zusammengesetzten  ab,  zu  denen 
auch  die  Rispe  gehören  soll.  Dies  ist  jedenfalls  nicht  der  phylo- 
genetische Entwicklungsgang;  denn  aus  dem  in  eine  Blüthe  endi- 
genden Blüthenstiel  kann  gewiss  nie  ein  Blüthenstand  sich  entwickeln. 
Wenn  wir  einfache  und  zusammengesetzte  Inflorescenzen  unterscheiden 
wollen,  müssten  wir  einfach  diejenige  nennen,  die  aus  gleichen 
Strahlen  besteht ,  zusammengesetzt  diej  enige ,  die  aus  verschie- 
denen Strahlen  zusammengesetzt  ist;  dann  wäre  die  Rispe  ein  ein- 
facher, die  Traube  ein  zusammengesetzter  Blüthenstand.  In  diese 
Lehre  kann  überhaupt  erst  dann  volle  Klarheit  kommen,  wenn  sie 
nach  phylogenetischer  Methode  bearbeitet  wird.  Alle  phylogenetische 
Entwicklung  geht  aber  von  dem  undifferenzirten,  unbestimmten  und 
der  Zahl  nach  mehrfachen  aus;  und  dieses  ist  bezüghch  der  Ver- 
zweigung die  Rispe. 

C.  Die  beiden  phylogenetischen  Reihen,  die  in  A  und  B  be- 
trachtet wurden ,  haben  das  gemeinsam ,  dass  das  laubblatttragende 
Caulom  in  eine  Blüthe  oder  einen  Blüthenstand  endigt.  Zu  ihnen 
gehört  die  grosse  Mehrzahl  der  Phanerogamen.  Indessen  gibt  es 
eine  Minderzahl,  bei  welchen  die  Laubblattsprosse  unbegrenzt  fort- 
wachsen oder  auch  jedes  Jahr  durch  einen  mit  Niederblättern  begin- 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  i>hylogenetische  Wissenschaften.     483 

nenden  Trieb  sich  verlängern  und  die  Blüthen  oder  Blüthenstände 
seitlich  tragen.  Man  könnte  meinen,  dass  diese  unbegrenzten  Laub- 
blattcaulome  eine  ursprüngliche  Bildung  seien,  und  vom  phylogene- 
tischen Gesichtspunkte  aus  wäre  dies  ganz  gut  denkbar.  Indessen 
erweist  sich  die  Annahme  für  die  meisten  Fälle  als  unmöglich,  weil 
bei  nächst  verwandten  Pflanzen,  die  höchst  wahrscheinlich  von 
gleicher  Abstammung  sind,  die  Laubblattsprosse  durch  Blüthen  oder 
Blüthenstände  begrenzt  werden. 

Wir  können  uns  nun  recht  gut  vorstellen,  dass  jede  Stufe  der 
Reihe  A  sich  phylogenetisch  zu  unbegrenzten  Laubblattsprossen  um- 
wandelt. Am  leichtesten  freilich  geschieht  es  bei  der  Stufe  A^  und 
überhaupt  bei  denjenigen  Formen,  wo  die  Laubblätter  am  höchsten 
hinaufreichen.  Der  Vorgang  ist  folgender:  Der  Hauptspross,  der 
ohnehin  eine  grössere  Entwicklungsfähigkeit  besitzt  als  die  von  ihm 
seitlich  erzeugten  Strahlen,  steigert  sein  Wachsthum  vermöge  der 
nun  platzgreifenden  Ampliation  immer  mehr  und  wird,  indem  durcli 
einen  andern  phylogenetischen  Process  die  Hochblätter  und  Blüthen- 
blätter,  die  er  trägt,  vegetativ  und  zu  Laubblättern  werden,  zuletzt 
unbegrenzt,  wobei  er  selbstverständlich  auch  die  Fähigkeit  erlangt, 
seitliche  unbegrenzte  Laubblattcaulome  zu  erzeugen.  Die  übrigen 
Seitenstrahlen  gehen,  je  nach  der  Stufe,  von  welcher  die  phylogene- 
tische Abzweigung  erfolgt  ist,  durch  Reduction  entweder  in  achsel- 
ständige Blüthen  (Viola,  Tropaeolum)  oder  in  axillare  Blüthenstände 
(Papilionaceen,  Plantago)  aus. 

Der  hauptsächlichste  phylogenetische  Fortschritt,  den  die  ganze 
vorstehende  Auseinandersetzung  darzulegen  sucht,  besteht  darin,  dass 
das  Gerüste  der  Gefässpflanzen  anfänglich  aus  gleich werthigen  Strahlen 
1)esteht,  indem  jedes  Caulom  unten  Laubblätter  und  am  Ende  Blüthen- 
blätter  trägt,  also  in  eine  Blüthe  ausgeht,  und  dass  das  Caulom- 
gerüste  auf  den  folgenden  Stufen  aus  2,  3  und  4  Strahlen  von  ver- 
schiedener Werthigkeit  zusammengesetzt  ist.  Diese  Werthigkeiten 
\\airden  im  »Mikroskop«  (IL  Auflage  S.  594  und  620)  als  Rangstufen 
und  die  verschiedenen  Pflanzen  als  1-,  2-,  3-  und  4  stufige  (statt  der 
unpassenden  Benennung  1 — 4  axige)  bezeichnet.  Ich  habe  diese  Aus- 
drücke jetzt  vermieden,  um  keine  Verwechslung  mit  den  phylo- 
genetischen Stufen  zu  veranlassen,  und  will  sie  in  der  Folge  haplo- 
caulisch,  diplo-,  triplo-,  tetrapocaulisch  nennen.  Es  haben  also  von 
den  angeführten  Stufen  Ai,  J.,,  Bi,  B^,  B3  einen  haplocaulischeu, 

31* 


484     IX.  Morphologie  und  Systematik  als  iihylogenetische  Wissenschaften. 

A3,  A,,  Ä:,  part.   und   C  part.    einen    diplocaulischen ,   Ä,,  part.  und 
C  part.  einen  triplocaulischen  Aufbau. 


D,  E,  F.     Gestaltung,  Anordnung  und  Verwachsung  der  Blätter. 

D.  Die  Gestaltung  der  Phyllome  durchläuft  3  Stufen. 

Dl.  Ursprünglich  stellt  das  Blatt  ein  Organ  dar,  das  äusserlich 
noch  keine  Differenzirung  wahrnelnnen  lässt  (Lycoi3odiaceen). 

B,.  Durch  Differenzirung  tritt  Scheidung  in  Blattspreite,  Blatt- 
stiel und  Blattscheide  ein.  Die  Blattspreite  wird  mehr  oder  weniger 
zertheilt  und  geht  durch  weitere  Differenzirung  in  die  folgende 
Stufe  über. 

Dj.  Das  zusammengesetzte  Blatt  besitzt  auf  dem  verzw^eigten 
Blattstiel  mehrere  oder  viele  Spreiten. 

Durch  Anpassungsmetamorphosen  und  durch  Reductionen  werden 
die  Stufen  D,  und  D^  in  vielfacher  Weise  verändert.  Unter  den 
Reductionen  gibt  es  solche,  die  als  ein  Uebergang  auf  eine  höhere 
Stufe  zu  betrachten  sind ;  dies  ist  dann  der  Fall ,  wenn  bei  gleich- 
bleibender oder  selbst  sich  vervollkommnender  Qualität  das  quanti- 
tative oder  numerische  Verhältniss  sich  vermindert,  wenn  z.  B.  ein 
zusammengesetztes  Blatt  mit  zahlreichen  Blättchen  ohne  Veränderung 
des  Verzweigungscharakters  in  ein  solches  mit  wenigen  grösseren 
Blättchen  übergeht.  —  Die  meisten  Reductionen  aber  sind  mit 
Anpassungsänderungen  verbunden  oder  selbst  eine  Folge  der  An- 
passung. Letzteres  müssen  wir  annehmen,  wenn  ein  Blatt  Spreite 
und  Stiel  verliert  und  zur  Schuppe  wird,  oder  wenn  ein  zusammen- 
gesetztes Blatt,  wie  bei  Acacia-  und  Oxalisarten,  sich  in  ein  Phyl- 
lodium  umwandelt.  Als  Anpassungsreduction  muss  es  wohl  ebenfalls 
betrachtet  werden,  wenn  ein  Phyllom  scheinbar  ganz  verschwindet, 
wie  dies  zuw^eilen  mit  den  Tragblättern  der  Blüthenstiele  der  Fall 
ist.  Man  kann  nicht  sagen,  dass  das  Blatt  hier  ganz  fehle;  denn 
ohne  Zweifel  ist  es  nur  auf  den  im  Stengelgewebe  eingesenkten 
Theil  beschränkt,  und  somit  von  ähnlicher  Beschaffenheit  wie  die 
verkümmerten  Phyllome  an  den  wurzelartigen  Caulomen  von  Psilotum 
(f  in  Fig.  24  c  auf  S.  413). 

E.  Gesammtbeblätterung  des  Pflanzenstockes. 

El.  Auf  der  untersten  Stufe  besteht  die  Beblätterung  aus  ganz 
gleichen  Phyllomcn ,  wie  dies  bei  Lycopodium  Selago  vorkommt. 


IX.  IMorphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     485 

E>.  Durcli  Differeiiziriiiig  in  der  Gestalt  und  in  den  Functionen 
gehen  die  gleieliförmig-en  Blätter  von  £',  in  Niederblätter,  Laubljlätter, 
Hochblätter  und  Blüthenblätter  über.  Diese  verschiedenen  Formen, 
von  denen  jede  in  grosser  Zahl  vertreten  ist,  sind  noch  durch  all- 
mähliche Uebergangsformen  verbunden. 

Ei.  Durch  Reduction  der  Zwischenglieder  stellt  sich  ein  sprung- 
weiser Uebergang  von  einer  Blattform  zur  andern  ein.  Im  weitern 
phylogenetischen  Verlauf  vermindert  sich  die  Zahl  der  einer  Blatt- 
form angehörenden  Phyllome  immer  mehr,  bis  auf  der  höchsten  Stufe 
die  einzelne  Form  nur  noch  durch  ein  einziges  oder  einige  wenige 
Blätter  vertreten  ist.  —  Diese  Reduction  geschieht  nicht,  wie  es  bei 
dem  vorhin  (unter  D)  besprochenen  Schwinden  der  Fall  ist ,  dm'ch 
Beschränkung  auf  das  im  Stengel  verborgene  Basalgew^ebe,  sondern 
durch  Verminderung  der  Caulomglieder  (Internodien).  Wir  haben 
also,  worauf  ich  hier  Gewicht  legen  möchte,  zw^eierlei  Arten  des 
Schwindens  der  Phyllome  zu  unterscheiden.  Die  eine  erfolgt  durch 
Reduction  des  Cauloms  auf  eine  geringere  Zahl  von  Gliedern, 
womit,  da  jedes  Glied  ein  Phyllom  oder  einen  Phyllomquirl  trägt, 
indirect  auch  eine  Beschränkung  der  Blätterzahl  verbunden  ist.  Die 
andere  Art  des  Schwindens  ist  eine  Reduction  der  Phyllome 
selber,  erst  auf  einen  noch  sichtbaren,  dann  auf  einen  unsichtbaren 
verkümmerten  Rest.  —  Eine  Reduction,  wie  die  letztgenannte,  auf 
eine  im  Caulom  verborgene  Partie  ist  auch  dann  anzunehmen,  wenn, 
was  in  Blüthen  nicht  selten  vorkommt,  aus  einem  Quirl  einzelne 
Phyllome  oder  zwischen  zwei  opponirten  Quirlen  der  intermediäre 
mit  ihnen  alternirende  Quirl  so  vollständig  verkümmert,  dass  keine 
Spur  davon  sichtbar  bleibt. 

F.  Stellung  und  Verwachsung  der  Phyllome.  Diese 
])eiden  scheinbar  so  verschiedenen  Erscheinungen  stehen  doch  in  sehr 
inniger  Beziehung  zu  einander,  indem  die  Verwachsung  wohl  nur 
eine  Folge  der  bei  der  Entstehung  sehr  gedrängten  Stellung  ist. 

Fy.  Die  unterste  Stufe  besitzt  einzelnstehende  Blätter  (spiralige 
oder  alternirende  Stellung).  Anfänglich  sind  dieselben  durch  ungefähr 
gleiche  verticale  Abstände  (Internodien)  getrennt ;  bei  der  phylogene- 
tischen Weiterbildung  zeigen  sie  regionenwei.se  ungleiche  Abstände, 
indem  im  allgemeinen  die  ersten  und  letzten  Internodien  eines 
Jahrestriebes  verkürzt  sind. 


486     IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

F,.  Durch  Differenzirung  werden  altemirend  die  einen  Internodien 
sehr  stark  verkürzt,  und  zwar  zuletzt  so  sehr,  dass  sie  ganz  zu  mangehi 
scheinen,  indess  die  mit  ihnen  in  verschiedener  Weise  abwechselnden 
Internodien  sich  verlängern.  Dadurch  entsteht  die  Quirlstellung  der 
Phyllome. 

F-i.  Die  Blätter  eines  Quirls  verwachsen  mit  ihren  Rändern  unter 
einander  und  bilden  dadurch  ein  zusammengesetztes  röhriges  Organ. 

F,.  Die  Blätter  der  aufeinander  folgenden  Quirle  verwachsen 
mit  ihren  Flächen,  sodass  aus  mehreren  Quirlen  eine  einzige  Röhre 
entsteht. 

Ich  betrachte  also  die  alternirende  Stellung  der  Blätter  bei  den 
Gefässpflanzen  als  die  ursprüngliche  und  die  quirlständige  als  die 
phylogenetisch  daraus  hervorgegangene.  Dies  bedarf  eines  erläuternden 
Zusatzes.  Wenn  ich  den  Quirl  als  aus  einer  Spirale  entstanden  erkläre, 
so  ist  dies  nicht  etwa  eine  Wiederholung  der  Lehre  von  C.  Schimper 
und  A.  Braun,  dass  jeder  Quirl  aus  einer  den  Abständen  seiner 
Blätter  entsprechenden  Spirale  sich  gebildet  habe,  beispielsweise  der 
2-,  3-  und  5  zählige  Quirl  je  aus  dem  Umlauf  (resp.  aus  zwei  Um- 
läufen) einer  Spirale  mit  der  Divergenz  V2 ,  Va ,  ^  s  oder  Vs  ,  und 
dass  der  Schritt  vom  letzten  Blatt  eines  Quirls  (Cyclur)  zum  ersten 
des  folgenden  (Cyclarch)  durch  einen  positiven  oder  negativen  Zuschlag 
(Prosenthese  genannt)  verändert  (vergrössert  oder  verkleinert)  worden 
sei.  Solche  Betrachtungen  haben  bloss  gepmetrische  Bedeutung  und 
stehen  in  keiner  Beziehung  weder  zur  ontogenetischen  noch  zur 
phylogenetischen  Entwicklungsgeschichte. 

Nach  meiner  Ansicht  sind  alle  Quirle  aus  einer  ununter- 
brochenen gleichförmigen  Spirale  entstanden,  deren  Blätter 
gruppenweise  zu  Quirlen  vereinigt  blieben,  wobei  das  regelmässige 
Alterniren  der  Quirle  als  mechanische  Folge  klar  vorliegender  Ur- 
sachen zu  deuten  ist.  Durch  diesen  Process  hat  die  ursprünglich 
gleiche  Divergenz  sowohl  innerhalb  der  Quirle  als  in  dem  Uebergang 
vom  Cyclur  zum  Cyclarch  eine  noth wendige  Veränderung  erfahren. 

Die  Divergenzen  der  ursprünglichen  Spiralen  waren  verschieden; 
sie  lassen  sich  unschwer  aus  den  von  ihnen  herstammenden  Quirl- 
stellungen berechnen.  Für  die  2  zähl  igen  Quirle  oder  die  opponirte 
Blattstellung  beträgt  der  Abstand  der  erzeugenden  Spirale 

I.  Divergenz  =  (^_  _}_  _ j  __  ,t  =  -g- ^r  =  135«. 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     43 7 

Alle  mehrzäliligen  Quirle  können  verschiedenartig  aiifgefasst  und 
aus  Spiralen  mit  ungleichen  Divergenzen  abgeleitet  werden.  Es  hängt 
dies  davon  ab,  ob  man  von  dem  letzten  Blatt  eines  Quirls  zu  dem 
einen  oder  andern  Blatt  des  folgenden  Quirls  übergehe,  ob  man  also 
die  » Prosenthese  X  grösser  oder  kleiner,  positiv  oder  negativ  annehme. 
Die  o zähligen  Quirle  lassen  drei  Annahmen  (II,  III  und  IV)  zu. 

IL  Divergenz  =.  (2  •  ^  +^2)^'' =  Js'' =  ^"^^"• 

III.  Divergenz  =  (2  ■  ~ -^  ^)^7v  =  ^7t  =  100". 

IV.Divergenz=.  (2.1  +  1  +  24  +  1)1.  =  |.=.  120". 

Zur  Berechnung  bemerke  ich,  dass  die  Divergenz  gleich  ist  der 
Summe  aller  Schritte  vom  Cyclarch  eines  Quirls  bis  zum  Cyclarch  des 
folgenden  Quirls ,    getheilt  durch  die  Zahl  dieser  Schritte ,    also  für 

die  3  zähligen  Quirle  II  und  III :  2  mal  -^  jt  +  der  Abstand  vom 
Cyclur  zum  Cyclarch,  die  ganze  Summe  getheilt  durch  3.  Bei  II  beträgt 
der  Schritt  vom  Cyclur  zmn  Cyclarch  —  (also  die  »Prosenthese«  4"  7^)) 
bei  III  beträgt  er  -^  /r  (also  die  Prosenthese ^|.    Bei  IV  wechseln 

diese  Werthe  von  Quirl  zu  Quirl,  sodass  zur  Berechnung  der  mittleren 
Divergenz  die  Summirung  von  2  Quirlen  erforderlich  ist. 

Die  Berechnung,  sowie  auch  die  Vorstellung  der  Entstehung 
von  Quirlen  aus  ununterbrochenen  Spiralen  wird  durch  folgende 
Diagramme  deutlicher  werden ,  in  welchen  auf  der  flachgelegten 
Stengeloberfläche  die  Lage  der  Quirle  angegeben  ist.  Der  Stengel 
ist  in  horizontaler  Lage  dargestellt  und  die  Oberfläche  in  6  gleiche 
Längsstreifen  getheilt.  Auf  den  Grenzlinien  dieser  Streifen  sind  die 
Blätter  inserirt  und  nach  der  Reihenfolge,  die  sie  in  der  ursprüng- 
lichen Spirale  hatten,  numerirt.  Die  Quirle  erscheinen,  wegen  der 
horizontalen  Richtung  des  Stengels,  als  verticale  Reihen. 

IV 
.    6    ...     12 


II 

III 

0      . 

.     .     3    . 

.      8      . 

.      0      . 

.     4   . 

.      7     . 

.     0 

1 

.     .     4    . 

.      6      . 

1 

.     f) 

.      8     . 

.     1 

2      . 

f)    . 

.      7      . 

.      2      . 

3 

6     . 

.     2 

(0)    . 

•    (8)     • 

.   (0)  . 

•     (7)    . 

•  (o: 

(0)   .     .   (6) 


.  .     13 

10  .      . 

.  .     14 

11  .      . 

.  .  (12) 


488     IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

Nimmt  die  Blätterzahl  der  Quirle  zu,  so  vermehren  sich  die 
Möglichkeiten  der  Ableitung  aus  Spiralen.  Zunächst  ist  die  Frage, 
aus  wie  viel  Umläufen  der  ursprünglichen  Spirale  ein  Quirl  gebildet 
sei;  davon  hängt  am  wesentlichsten  die  Grösse  der  Divergenz  ab. 
Nach  meiner  Ansicht  sind  die  4-  und  5  zähligen  Quirle  stets  2  umläufig. 
Wollte  man  sie  1  umläufig  nehmen ,  so  betrüge  die  Divergenz  der 
erzeugenden  Spirale  höchstenfalls  101,25"  für  die  Vierzahl  und 
93,6"  für  die  Fünfzahl.  So  kleine  Divergenzen  kommen,  wie  ich 
glaube,  bei  alternirenden  Phanerogamenblättern  wohl  nicht  vor ;  die 
unzweifelhaft  sicheren  befinden  sich  in  den  Grenzen  von  120"  und 

180",  Div.  =  ^fr- und -TT-     Die   kleinen  Abstände   der    auf  einander 
o  z 

folgenden  Blätter  bei  einigen  Phanerogamen  und  Gefässkryptogamen 
(Lycopodiaceen  undEquisetum  mit  zu  einer  Spirale  aufgelösten  Quirlen) 
sind  wohl  aus  Spaltung  (Verzweigung)  der  Blatteinheiten  hervor- 
gegangen und  somit  auch  die  Quirle  von  Equisetum  gleich  denen 
von  Galium  zu  deuten. 

Unter  der  eben  erörterten  Voraussetzung  lassen  die  5  zähligen 
Quirle  folgende  fünf  Möglichkeiten  zu: 

V.  Divergenz  =  (4  . 1  +  -1)  | ,.  =  ^^  ,.  =  122,4«. 
VI.  Divergenz  =  (4  ■  l  +  A)  _L,,  =  ^^  ,,  =  136.8". 
VII.  Divergenz  =  (4  ■  |-  +  1)  l.r  =  ^J  ,r  =  151,2». 
VIII.  Divergenz  =  (4  ■  |  f  f^  +  4  ■  |  +  -1)  !„  -_=  ii.  =  120,6». 
IX.  Divergenz  =  (4  .  ^  +  i;,  +  4  4  +  i- )  j;. --=  I-.  =  144". 

1  3 

Der  Abstand  vom  Cyclur  zum  Cyclarch  ist  bei  V  j-,  bei  VI  -— 

1  3  1 

und  bei  VII  — -  tt  ;  bei  VIII  alternirend  —  und  -^,  bei  IX  alternirend 

'  >  i 

jT-  und  -^  7r.    In  dem  folgenden  Diagramm  sind  die  Stellungen  V, 
VI,  VII  und  IX  zur  Anschauung  gebracht. 


IX.  INIorjihologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften      489 


V 

VI 

1 

VII 

1 

IX 

0 

14    . 

.    0 

13  . 

.     0 

12  . 

.    0 

.     10 

.     G 

8 

5 

8  .     . 

18 

3 

.     9 

\2    . 

.    3 

6 

11 

.     3 

8 

•  10 

.    3 

.     13 

1(3 

1 

7 

10    . 

.    1 

9 

14 

.     1 

6 

13 

.    1 

.     11 
9  .     . 

19 

4 

.     .0 

13    . 

.    4 

7 

12 

.     4 

9 

11 

1 

.    4 

.     14 
7  .     . 

17 

2 

.     8 

11    . 

.    2 

5 

10 

i 

.     2 

7 

14 

! 

.    2 

.     12 
5  .     . 

.  15 

(0) 

T7M 

(14)  . 

•  (0) 

T      •      I 

(13) 

1 
1 

•    (0) 

(12) 

1 

■  (0) 
1  ■ 

.    (10) 

/-\      VI 

Etwas  complicirter  wird  die  Sache  bei  4  zähl  igen  Quirlen, 
weil  die  Abstände  in  dem  2  nniläufig  angenommenen  Quirl  ungleich 
ausfallen.  Die  Ableitung  aus  einer  ununterbrochenen  Spirale  erlaubt 
hier  drei  Annahmen. 

X.  Divergenz  =  (-^  +  X  "^  Y  ^"  t)  T '"  ^  32  "^  "^  123,75". 
XL  Divergenz  =  (y  +  ^  "f  y  +  |)  "i"  ^  =  o^  ^^  =  146,25 ". 
XII.Divergenz  =  (^+^444  8-f^  +  l+;  +  ^)^^^  =  |-=1350. 


Der  Abstand    vom    Cyclur    zum    Cyclarch    beträgt    bei    X  -^ 


3         .  13 

bei  XI       ,  bei  XII  abwechselnd  -^  und  -— 

o  o  o 


X 

XI 

xn 

0     . 

.     11     . 

0 

10    . 

.     0     . 

8 

.      .       li 

6 

5 

.     i) 

14     . 

3     . 

4 

9 

3 

6 

8 

3     . 

.      4 

11 

.  .  19 
12     . 

1 

7 

.     10     . 

1 

4 

11 

1     . 

.      7 

9 

.  .  17 
15     . 

2     . 

5 

.       8     . 

2 

7 

9 

2     . 
.      5 

10 

.  .  18 
13     . 

(0)    . 

•    (11)    • 

(ö) 

(10) 

(0)    . 

(8) 

•     •    (lö) 

Von  6  zähl  igen  Quirlen,  die  stets  2  umläufig  zu  nehmen  sind 
und  die  schon  eine  grössere  Zahl  von  Ableitungen  aus  den  erzeugenden 
Spiralen  offen  lassen,  will  ich  nur  diejenigen  drei  Fälle  anführen, 
die  wohl  am  ehesten  vorkommen. 


490     I^-  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  AVissenschaften. 

XIII.  Divergenz  =  (2.  ^  +  A-[-2.  ^ -f  A^-1^  =  |-.r  =  185«. 

XIV.  Divergenz  ^  (- "  i  +  2  +^-T  +  T)i^^  ==  S^'  =  ^^^"• 
XV.Divergenz^  (24  +  ^  +  2-^+^  +  2.^4  +  24+^)^ 


52 
l44 


12 


7r  =  130°. 


Bei  XIII  beträgt  der  Scliritt  vom  Cycliir  zum  Cyclarch  ~^,  bei 

3  5  3 

XIV  -^,  bei  XV  abwechsehid  — ^  und    -„  ^. 


XIII 


3 
1 

4 

2 
5 

(0) 


11 


10 

8 


1(3 


14 
17 


12 
If) 


13 

(16) 


XIV 


2 
5 

(0) 


10 


8 
11 


17 


12 
15 


13 
IG 


14 

(17) 


XV 

0  .  .  14  .  .  25 

11  .   .  22  . 


(0) 


17 


.  28 

G  .  .  20  . 

.  12  .  .  26 

9  .  .  23  . 

.  15  .  .  29 

7  .  .  18  . 

.  13  .  .  24 

10  .  .  21  . 

.  16  .  .  27 

8  .  .  19  . 

.  (14)  .  .  (25) 


Es  können  also  Quirle  mit  der  nämlichen  Zahl  von  Blättern 
aus  Spiralen  mit  verschiedener  Divergenz  entstehen,  ebenso  wie  um- 
gekehrt Quirle  mit  verschiedener  Blätterzahl  aus  Spiralen  mit  der 
gleichen  Divergenz  sich  bilden.  Die  Reihenfolge  der  Blätter  in  den 
successiven  Quirlen  und  somit  der  Charakter  der  erzeugenden  Spirale 
lassen  sich  zuweilen  aus  der  Deckung  der  Blattränder  und  aus  andern 
Erscheinungen  direct  bestimmen.  —  Wenn,  was  nicht  selten  vor- 
kommt, an  den  Individuen  der  nämlichen  Pflanze  Quirle  mit  ver- 
schiedener Blätterzahl  wechseln  (die  einen  Stengel  haben  beispiels- 
weise 2 zählige,  die  andern  3 zählige  Blattquirle,  die  einen  Blüthen 
sind  4-,  die  andern  5  zählig,  oder  die  einen  5-,  die  andern  6  zählig), 
so   müssen   diese  verschiedenen  Zahlen   aus   der  nämlichen   Spirale 


IX.  Morpliologie  und  Systematik  als  phylogeueti-sclic  Wissenschaften.      41)  1 

entstanden  sein,  und  daraus  lässt  sich  oft  ein  Scliluss  von  einem 
Quirl  auf  einen  anderszähligen  machen.  Es  sei  beispielsweise  durch 
irgendwelche  Gründe  festgestellt,  dass  ö  zählige  Quirle  dem  Schema  VI 
folgen  (Divergenz  der  erzeugenden  Spirale  106,8"),  so  können  4  zählige 
Quirle,  die  bei  den  nämlichen  Pflanzen  stellvertretend  vorkommen, 
nur  nach  dem  Schema  XII  (Div.  =  135*^)  und  stellvertretende 
6  zählige  Quirle  nur  nach  dem  Schema  XIII  (Div.  =  135")  gebaut 
sein.  Wir  dürfen  überhaupt  folgende  Schemate  als  vicarirend  ansehen: 
I  und  II,  dann  II  und  VI  oder  auch  II  und  IX,  ferner  VI,  XII 
und  XIII,  endlich  IV,  X  und  V  u.  s.  w. 

Die  soeben  als  stellvertretend  genannten  Schemata  stimmen  in 
den  Divergenz-Werthen  der  erzeugenden  Spirale  nicht  ganz  überein. 
Aber  es  machen  diese  Werthe  überhaupt  keinen  Anspruch  auf  absolute 
Geltung.  Wenn  sich  beispielsweise  für  das  so  häufig  bei  den  Dico- 
tylen  verwirklichte  Schema  \1  die  Divergenz  13G,8°  berechnet,  so 
heisst  das  nichts  anderes  als  dass  Spiralen  mit  nahe  kommenden,  ^ 
etwa  zwischen  135 — 139"  oder  zwischen  noch  weiteren  Grenzen  be- 
findlichen Divergenzen  die  jenem  Schema  folgende  Anordnung  er- 
zeugen. Es  ist  sehr  leicht  möglich,  dass  die  relative  Häufigkeit  der 
stellvertretenden  Quirle  theilweise  von  der  Divergenz  der  erzeugenden 
Spirale  bedingt  wird,  wofür  ich  folgendes  Beispiel  anführen  will. 
Die  5  zähligen  Quirle  nach  Schema  VI  entsprechen  der  Divergenz 
136,8",  die  4  zähligen  nach  Schema  XII  der  Divergenz  135".  A'on 
zwei  verschiedenen  Arten,  deren  idioplasmatische  Anlagen  ebenso 
leicht  die  Fünfzahl  als  die  Vierzahl  sich  entfalten  lassen,  und  von 
denen  die  eine  ursprünglich  eine  Blattspirale  mit  der  Divergenz 
137",  die  andere  eine  solche  mit  der  Divergenz  135"  hatte,  wird 
diejenige  mit  der  ursprünglichen  Divergenz  137"  eine  Menge  5  zählige 
und  wenige  4  zählige,  diejenige  mit  der  ursprünglichen  Divergenz  135" 
eine  Menge  4  zählige  und  wenige  5  zählige  Quirle  in  den  Ontogenien 
verwirklichen.  Das  ist  natürlich  so  zu  verstehen,  dass  aus  der  einen 
ursprünglichen  Divergenz  sich  normal  die  Fünfzahl,  aus  der  andern 
die  Vierzahl  ergäbe ,  dass  aber  die  inneren  und  äusseren  Ursachen, 
welche  noch  auf  Blattstellung  Einfluss  haben,  die  angeführten  Vari- 
ationen hervorbringen. 

Von  4-  und  6  zähligen  Quirlen  wird  meistens  angenommen,  dass 
sie  aus  zwei  je  2-  oder  3  zähligen  Quirlen  zusammengesetzt  seien,  und 
selbst  5  zählige  Quirle  sollen   in  ge^^^ssen  Fällen  aus  einem  2-  und 


492     I^-  Moqihologie  und  Systeiuatik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

einem  3  zähligen  Quirl  gebildet  sein.  Wenn  solche  Vorstellungen 
bloss  arithmetische  und  geometrische  Bedeutung  beanspruchen ,  so 
ist  Ja  nichts  dagegen  einzuwenden.  Al)er  ich  glaube  nicht,  dass 
man  sie  als  den  Ausdruck  des  phylogenetisclien  Geschehens  nehmen 
darf,  zweifle  auch,  dass  die  Hypothese,  es  seien  irgend  einmal 
den  5  zähligen  Quirlen  alternirende,  2-  und  '6  zählige  vorausgegangen, 
im  Ernste  behauptet  werden  könnte.  Ebenso  wenig  ist  anzunehmen, 
dass  die  4-  und  6  zähligen  Quirle  aus  2-  oder  3  zähligen  Quirlen 
entstanden  seien ,  denn  diese  würden  alterniren  und  bei  ihrem 
Zusammenrücken  oj^ponirte  (nicht  alternirende)  4-  und  6  zählige  Quirle 
erzeugen. 

Die  einfachste  und  natürlichste  Annahme  ist  doch  die,  dass  von 
der  ursprünglichen  Spirale  in  einem  Fall  je  4,  im  anderen  je  5, 
im  dritten  je  6  Blätter  zum  Quirl  vereinigt  bleiben;  und  eljenso 
können  noch  grössere  Zahlen  von  Phyllomen  (10,  12  etc.)  sich  in 
alternirende  Kreise  ordnen.  Der  ursächliche  Vorgang  ist  folgender- 
maassen  zu  erklären.  Im  Idioplasma  bildet  sich  eine  neue  Anlage, 
vermöge  welcher  statt  der  ununterbrochenen  Spirale  nun  die  l^etref- 
fende  Quirlstellung  sich  entfaltet.  Ist  die  Blätterzahl  der  Quirle 
nicht  constant,  variiren  beispielsweise  bei  der  nämlichen  Pflanze 
4-,  5-  und  () zählige  Quirle,  so  werden  vermöge  der  idioplasmatischen 
Anlage  unbestimmt  grosse  Abschnitte  der  ursprünglichen  Spirale 
(nämlich  je  4  bis  6  Blätter)  zu  Quirlen,  und  es  hängt  dann  von 
verschiedenen  inneren  und  äusseren  Ursachen  ab,  ob  die  eine  oder 
andere  Zahl  sich  verwirkliche.  So  sehen  wir  nicht  selten,  dass  mit 
dem  Stärkerwerden  des  Cauloms  die  Blätterzahl  der  Quirle  sich 
erhöht.  Bei  der  phylogenetischen  Fortbildung  des  Idioplasmas  können 
die  Anlagen  sich  dann  so  verändern,  dass  die  quirlbildenden  Ab- 
schnitte der  ursprünglichen  Spirale  grösser  oder  kleiner,  und  dass 
sie  numerisch  mehr  und  mehr  l;)estimmt  werden. 

Die  Quirlbildung,  die  wir  an  den  Pflanzen  beobachten,  ist  rück- 
sichtlich der  Stellung  der  Phyllome  zu  mehr  oder  weniger  genauer 
Vollendung  gelangt.  Manchmal  erkennt  man  noch  aus  verschiedenen 
Merkmalen  die  Folge  der  ursprünglichen  Spiralstellung ;  in  anderen 
Fällen  sind  alle  Spuren  davon  verwischt.  Nur  selten  ist  die  Quirl- 
l)ildung  in  ihren  Anfangszuständen  zu  beobachten ,  wie  z.  B.  bei 
Lycopodium-Artcn.  Die  Aiü'lösung  der  Quirle  zu  einer  ununter- 
brochenen Spirale,   welche   als   abnormale  Erscheinung   vorkommt, 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  i)liyl(»gcnc>tische  Wisst'iischaften.     493 

ist  ein  phylogenetischer  Rückschlag  und  zeigt  dann  den  ursprüng- 
lichen Zustand  an. 

Es  ist  nicht  nothwendig,  dass  die  Umbildung  der  Spiral-  in  die 
Quirlstellung  sich  bei  der  ontogenetischen  Entwicklung  wiederhole, 
da  ja  von  allen  andern,  in  einer  Abstammungslinie  vorausgegangenen 
phylogenetischen  Stadien  eine  Menge  vollständig  unterdrückt  wird. 
Möglich  wäre  aber  auch ,  dass  die  ursprüngliche  Spiralstellung  in 
der  ontogenetischen  Entwicklungsgeschichte  gesehen  würde ,  wenn 
diese  bis  auf  die  ersten  Zellen  zurückverfolgt  werden  könnte. 

Wenn  eine  continuirliche  Spirale  in  Stücke  zerfällt,  welche  zu 
alternirenden  Quirlen  sich  gestalten ,  so  finden  Verschiebungen  der 
Blätter  in  horizontaler  Richtung  statt,  um  die  gleichmässigen  Abstände 
zu  gewmnen.  Es  sind  dies  aber,  ebenso  wie  die  relativen  Lage- 
änderungen in  verticaler  Richtung,  nicht  etwa  durch  eigentlichen 
Druck  bewirkte  Verrückungen,  sondern  die  Folgen  ungleichen  Wachs- 
thums.  Die  Blattanfänge  haben  auf  dem  engen  Umfang  der  Caulom- 
spitze  ungleiche  horizontale  Abstände;  mit  dem  Dickerwerden  des 
Cauloms  wachsen  die  Zwischenräume  in  ungleichem  Maasse  und 
dadurch  gelangen  die  Blätter  in  gleiche  Entfernungen  von  einander. 
Dies  war  wenigstens  der  phylogenetische  A^organg,  als  die  Quirle 
sich  aus  der  Spirale  bildeten  und  blieb  gewiss  lange  der  ontogene- 
tische  Entwicklungsvorgang.  Es  ist  aber  möglich ,  dass ,  wenn  die 
Quirle  phylogenetisch  so  gefestigt  sind,  dass  die  Fähigkeit  der  Um- 
bildung in  anderszählige  Quirle  oder  des  Rückschlages  in  die  Spiral- 
stellung verloren  gegangen  ist,  dann  schon  die  allerersten  Blatt- 
anfänge eines  Quirles  in  der  späteren  regelmässigen  A^ertheilung 
auftreten. 

Die  Annahme  von  phylogenetisch  ursprünglicher  (nicht  aus  der 
Spiralstellung  hervorgegangener)  Quirlbildung  ist  in  keiner  Beziehung 
berechtigt.  Die  ontogenetische  Entwicklungsgeschichte  gibt  uns,  wie 
schon  gesagt ,  in  vielen  Fällen  keinen  Aufschluss  über  das  phylo- 
genetische Werden.  Die  Berufung  auf  die  unzweifelhaft  originäre 
Quirlbildung  bei  Characeen  und  Florideen  ist  müssig,  da  ja  die 
Organisationsverhältnisse  ganz  andere  sind,  und  unstatthaft,  weil 
keine  genetischen  Beziehungen  zwischen  den  Gefässpflanzen  und 
jenen  Algen  bestehen.  —  An  und  für  sich  würde  ja  Quirlstellung 
für  die  aus  dem  Moossporogonium  liervorgehenden  Organcomplexe 
ebenso  möglich  erscheinen  als  Spiralstellung.    Aber  darum  handelt 


494     IX-  Morjihologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

es  sich  nicht ,  sondern  nm  das ,  was  aus  einer  Vergleichung  und 
sorgfältigen  Erwägung  sich  als  wirklich  ergibt.  Nun  haben  wir 
vier  Thatsachen,  welche  das  Nämliche  darthun  und  nach  meiner 
Ansicht  für  die  vorgetragene  Theorie  bezüglich  der  Phanerogamen 
entscheidend  sind  : 

1.  der  ganz  allmähliche  Uebergang  von  einem  oder  zwei  Um- 
läufen einer  Spirale  bis  zu  dem  ausgesprochensten  Quirl,  wenn  man 
viele  Pflanzen  mit  einander  vergleicht ; 

2.  das  Vorkommen  der  Spiralstellung  und  der  Quirlstellung  bei 
dem  nämlichen  Organ  ganz  nahe  verwandter  Pflanzen; 

3.  die  Unmöglichkeit,  eine  phylogenetisch  zusammengehörige 
Gruppe  von  Pflanzenfamilien  auszuscheiden,  bei  welcher  in  einer 
bestimmten  Region  des  ontogenetischen  Aufbaues  ausschliessliche 
Quirlstellung  vorhanden  wäre; 

4.  der  zuweilen  als  Abnormität  auftretende  Rückschlag  einer 
Quirlstellung  in  die  Spiralstellung. 

Die  Umänderung  der  Spiralstellung  in  die  Quirlstellung  ist, 
wie  schon  gesagt,  ein  phylogenetischer  und  nicht  etwa  ein  onto- 
genetischer  Process.  Sie  kommt  nach  und  nach  durch  lange  Zeit- 
räume zu  Stande ,  indem  zuerst  unbestimmte  und  unregelmässige 
Quirle ,  dann  solche ,  denen  man  noch  deutlich  ihre  Herkunft  aus 
einer  Spirale  ansieht,  endhch  Quirle,  in  denen  die  Phyllome  voll- 
kommen gleich werthig  erscheinen,  auftreten.  Jede  dieser  Entwick- 
lungsstufen vererbt  sich  durch  zahllose  Generationen.  Ueber  die 
Ursache  der  Veränderung  wissen  wir  nichts  anderes,  als  dass  eben 
ein  im  Idioplasma  beruhender  Antrieb  die  Differenzirung  bewirkt. 
Wenn  etwa  von  Morphologen  das  Schwenden  er 'sehe  Gesetz  der 
mechanischen  Veränderung  der  Blattstellung  angezogen  wird ,  um 
zu  erklären,  dass  in  einer  Familie  bei  den  einen  Pflanzen  spiralige, 
bei  den  anderen  cyklische  Stellung  der  Phyllome  vorkommt,  so  liegt 
darin  eine  Verkennung  der  Tragweite  jenes  Gesetzes.  Nach  dem- 
selben können  nur  die  Stellungen  gedrängt  stehender  Blätter  in  be- 
stimmte andere  Stellungen,  auch  spiralige  in  quirlständige  übergehen, 
also  die  ursprünglichen  morphologisch  gegebenen  Stellungen  der 
Ontogenien  verändert  werden ;  aber  die  beim  ontogenetischen  Wachs- 
thum  an  den  Caulomspitzen  primär  auftretenden  Stellungen  sind 
beständig  und  durch  Vererbung  bestimmt,  was  sich  namentlich  bei 
der  vergleichenden  Morphologie  der  Blüthen  klar  herausstellt.    Somit 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     495 

sind  auch  die  in  den  jüngsten  Zuständen  schon  vorhandenen  spira- 
Hgen  und  cycHschen  Stelhingen  verwandter  Pflanzen  als  erbliche 
und  demnach  als  phylogenetische  zu  betrachten. 

Da  die  Ursachen  der  Quirlbildung  innere  sind,  so  entzieht  sich 
auch  unserer  Beurtheilung  der  Grund,  warum  oft  an  der  nämlichen 
Pflanze  die  einen  Caulome  oder  Caulomregionen  sj^iralige,  die  anderen 
C3i'clische  Blätter  tragen,  warum  der  nämliche  Unterschied  zuw^eilen 
zwischen  Arten  der  gleichen  Gattung  beobachtet  wird  und  ebenso 
wie  die  zwischen  so  weiten  Grenzen  variirende  Zahl  der  Pliyllome 
eines  Quirls  zu  erklären  ist.  In  letzterer  Hinsicht  möchte  ich  jedoch 
auf  eine  Beziehung  zu  einer  anderen ,  ebenfalls  durch  innere  Ur- 
sachen bedingten  Erscheinung,  nämlich  zu  der  verhältnissmässigen 
Breite  der  Blattbasis  aufmerksam  machen.  Ich  habe  bereits  bemerkt, 
dass  mit  dem  ontogenetischen  Stärkerwerden  des  Cauloms  zuweilen 
eine  Erhöhung  der  Blätterzahl  in  den  Quirlen  eintritt.  Es  scheint 
mir  nun ,  dass  die  Zunahme  des  Caulomumfanges ,  wenn  dieselbe 
eine  individuell  veränderliche  Erscheinung  ist,  stets  grösser  ausfällt, 
als  die  Zunahme,  welche  die  Breite  der  Blattanheftung  zeigt,  und 
hieraus  leitet  sich  unschwer  folgende  Theorie  ab. 
1^  If^Es  gibt  bezüglich  der  Con stanz  zwei  Arten  der  Quirlbildmig ; 
bei  der  einen  ist  die  Zahl  der  Phyllome  in  einem  Quirl  idioplas- 
matisch  besthnmt  und  unabhängig  von  der  individuellen  Veränder- 
lichkeit. Bei  der  anderen  Quirlbildung  treten  stets  soviel  Blätter 
zu  einem  Quirl  zusammen,  als  es  das  Verhältniss  zwischen  der  Breite 
der  Blattbasis  und  dem  Caulomumfang  erlaubt.  Daraus  erklärt  sich, 
dass  beim  Stärkerwerden  des  Cauloms  auch  die  Phyllomzahl  in  den 
(Quirlen  wächst ,  ferner  dass  im  allgemeinen  die  Laubblattquirle 
M'enigzähliger  sind,  als  die  Quirle  in  der  Blüthe  (die  Laubblätter 
haben  breitere  Anheftungsstellen)  und  dass  in  Blüthen  mit  dicken 
Caulomen  die  Phyllomzahl  in  den  Quirlen  hoch  ansteigen  kann 
(Sempervivum  und  andere  Crassulaceen),  endlich  dass  die  Laubblatt- 
quirle bei  den  Monocotylen  verhältnissmässig  viel  seltener  sind  als 
bei  den  Dicotylen  (jene  haben  breitere  Blattbasen  als  diese;  und 
Blätter,  die  mehr  als  den  halben  Stengelumfang  einnehmen,  scheinen 
zur  Quirlbildung  unfähig  zu  sein).  Es  liegt  nun  die  Annahme  nahe, 
dass  die  zweite  Art  der  Quirlbildung  —  d.  h.  diejenige,  bei  welcher 
die  Pflanze  idioplasmatisch  erst  überhaupt  Neigung  zu  cychscher 
Anordnung  der  Phyllome   erlangt   hat  und  jeweilen  die  nach   den 


49G     IX.  Morphologie  und  Systematik  als  i)liylogenetische  Wissenschaften. 

Umständen  gestattete  Maximalzahl  verwirklicht  —  phylogenetisch 
zuerst  auftrete ,  und  dass  aus  ihr  dann  im  weiteren  phylogene- 
tischen Verlauf  die  erstgenannte  Quirlbildung  —  d.  h.  diejenige,  bei 
welcher  das  Idioplasma  eine  Beziehung  zu  der  Zahl  der  Quirlphyl- 
lome  gewonnen  hat  —  sich  entwickle.  Die  numerische  Beziehung 
im  Idioplasma  besteht  zuerst  darin,  dass  der  Zahl  gewisse  nicht 
übersteigbare  Grenzen  gesetzt  werden,  und  schreitet  dann  durch 
Beschränkung  dieser  Grenzen  zu  bestimmten  Zahlen  fort.  Durch 
Rückschlag  kann  abnormal  die  bestimmte  Zahl  zur  früheren  un- 
bestimmten oder  die  Quirlstellung  zur  früheren  Spiralstellung  zurück- 
kehren. 


Es  wurden  im  vorstehenden  die  phylogenetischen  Stufen,  welche 
die  Entwicklung  der  Caulome  und  "Phyllome  im  allgemeinen  wahr- 
nehmen lässt,  dargelegt.  Die  Beschaffenheit  der  Blüthe  und  ihrer 
Theile  verlangt  noch  eine  besondere  Besprechung. 

G.  Aufbau  der  Biüthe. 

Der  Blüthenbau  zeigt  die  nämlichen  Verhältnisse,  die  ich  schon 
bezüglich  der  Beblätterung  des  Pflanzenstockes  (S.  484)  und  bezüglich 
der  Stellung  der  Phyllome  (S.  485  ff.)  erörtert  habe.  Es  lassen  sich 
zunächst  folgende  Stufen  in  der  Stellung  der  Blüthenblätter  unter- 
scheiden. 

Gl.  Alle  Blüthenphyllome  spiralständig:  acyclische  oder  spiroi- 
dische  Blüthen. 

6r...  Die  einen  Phyllome  spiral-,  die  andern  quirlständig:  spiro- 
cyclische  Blüthen^). 

Gi.  Alle  Phyllome  in  alternirenden  Quirlen :  holocyclische  oder 
schlechthin  cyclische  Blüthen. 

Jede  dieser  drei  Stellungen  kann  durch  Reduction  mehr  oder 
weniger  verändert  werden.  Die  spiralständigen  Blüthenphyllome 
treten    zuerst  in   grosser  und   unbestimmter  Zahl   auf   und   werden 


')  Die  spiroidischen  Blüthen  werden  auch  weniger  passend  »aphanocyclischec 
genannt.  Da  dieses  Wort  »mit  undeutlichen,  unscheiuharen  oder  unsichtbaren 
Quirlen«  bedeutet,  so  liesse  es  .sich  eher  da  anwenden,  wo  die  Quirle  durch  Ver- 
schiebung undeutlich  geworden  sind.  —  Ebenso  ist  die  Bezeichnung  »hemicyclisch« 
statt  spirocyclisch  zu  beanstanden,  da  Hemicyclus  ein  Halbkreis  ist. 


IX.  Möipliolofrie  und  Rj^stenialik  als  jibylogenetische  Wissenscliafteii.     497 

zuletzt  auf  wenige  beschränkt ;  es  lässt  sieli  bei  ihnen  eine  Anfangs- 
und eine  Endstufe  unterscheiden: 

1.  polymer,  2.  ohgonier. 

Die  cychschen  Blütlienphyllome  erscheinen  zuerst  in  grr)ssorer 
und  unbestimmter  Quirlzahl  un«l  worden  dann  auf  eine  bestinunte 
oder  gesetzmässige  Zahl  von  Quirlen  reducirt,  die  regelmässig  alter- 
niren.  Eine  weitere  Reduction  führt  eine  Verminderung  ohne  Stel- 
lungsänderung herbei,  so  dass,  wenn  nur  ein  Quirl  oder  wenn  drei 
Quirle  ausfallen ,  Opposition  der  Cj'^clen  eintritt.  Daraus  ergeben 
sich  drei  phylogenetische  Stufen: 

1.  polycyclisch,  2.  nomocyclisch,  3.  oligocyclisch. 

In  dem  einzelnen  Quirl  können  durch  Reduction  einzelne  oder 
mehrere  Phyllome  schwinden ,  so  dass  aus  diesem  Umstände  zwei 
Stufen  unterscheidbar  werden : 

1.  mit  vollständigen,  2.  mit  unvollständigen  Quirlen. 

Die  angedeuteten  phylogenetischen  Stufen  des  Blüthenbaues  ver- 
langen eine  weitere  Auseinandersetzung.  Der  Beginn  der  Blüthen- 
l^ildung  ist  gegenwärtig  noch  in  der  Gattung  Lycoj^odium  erhalten. 
Während  bei  Lycopodium  Selago  die  Laubblätter  Sporangien  tragen, 
sind  bei  den  anderen  Arten  die  fruchttragenden  Phyllome  auf  das 
Ende  der  Gaulome  beschränkt,  und  damit  ist  die  Blüthe  in  ihrer 
einfachsten  Gonstitution  und  zugieicli  der  allgemeine  Begriff  der 
Blüthe  gegeben  als  ein  Gaulomende  oder  kurzes  laterales  Gaulom, 
das  mit  fruchttragenden  Phyllomen  besetzt  ist. 

Von  diesem  einfachsten  Stadium  ])is  zu  den  phylogenetisch  am 
weitest  fortgeschrittenen  Bildungen  gibt  es  \äele  Entwicklungsreihen. 
Da  die  Ausbildung  in  verschiedenen  Beziehungen  geschehen  kann, 
welche  sich  vielfach  verschlingen,  so  lässt  sich  wohl  in  jeder  einzelnen 
Beziehung  eine  stufenweise  Gliederung  feststellen ,  aber  für  die  Ge- 
sammtheit  des  Aufbaues  lassen  sich  keine  gemeinsamen  Stufen  unter- 
scheiden, sondern  nur  eine  Anfangsstufe  und  eine  Menge  von  Endstufen. 

Die  Anfangsstufe  ist  die  vorhin  genannte,  nämlich  ein  Gaulom- 
ende mit  gleichartigen  Sporenblättm'n  und  einigen,  denselben  voraus- 
gehenden unfruclitbaren  Hochblättern,  alle  in  ununterbrochener 
Spirale.  Berücksichtigen  wir  zuerst  diejenigen  Entwicklungsreihen, 
in    denen    die    ununterljrochene   Spirale   erhalten   bleibt   und  fassen 

V.  Nägeli,  Abstammungsichre.  32 


498     IX-  Morphologie  und  Systematik  als  ])liylogenetisclH'  Wissenschaften. 

wir  sie  als  eine  Gruppe  zusammen,  so  finden  sich  in  dieser  Gruppe 
schon  ziemhch  hoch  entwickehe  Blüthen. 

Ein  erster  Schritt  besteht  darin,  dass  die  Sporenblätter  sich  in 
männliche  und  weibliche  scheiden,  welche  später  in  die  Staubgefässe 
und  Carpelle  übergehen.  Bemerkenswerth  ist,  dass  die  unteren  Stufen 
bei  den  lebenden  Geiasspflanzen  (Gefässkryptogamen,  gymnosperme 
Phanerogamen)  bloss  eingeschlechtige  Blüthen  besitzen,  so  dass  also 
die  einen  Blüthen  (Fruchtähren)  der  untersten  Stufen  männlich,  die 
anderen  weiblich  wurden. 

Es  musste  aber  auch  von  den  ursprünglichen  ungeschlechtlichen 
Blüthen  der  Gefässkryptogamen  aus  Entwicklungsreihen  geben,  in 
welchen  die  Sporogonien  der  oberen  Blätter  weiblich,  die  der  unteren 
Blätter  männlich  wurden ,  und  welche  weiterhin  in  die  hermaphro- 
ditischen Plianerogamenblüthen  übergingen.  Wahrscheinlich  befand 
sich  zwischen  den  beiden  Geschlechtsblättern  ursprünglich  eine  An- 
zahl durch  Geschlechtsvermischung  steril  gewordener  Blätter.  Diese 
sterilen  Blätter  haben  sich  in  einigen  Fällen  noch  sehr  lange  er- 
halten ,  insoferne  die  zwischen  Androeceum  und  Gynaeceum  vor- 
handenen sterilen  Blätter  niclit  etwa  als  umgewandelte  Staubgefässe 
oder  Fruchtblätter  zu  deuten  sind.  Meistens  aber  sind  sie  ver- 
schwunden, indem  die  Caulomglieder  (Internodien)  sich  verminderten 
und  somit  die  Stellen  der  geschwundenen  IMiyllome  von  den  einander 
sich  nähernden  Staubgefässen  und  Carpellen  eingenommen  wurden. 

In  manchen,  möglicherweise  in  allen  Sippen  der  Anfangsstufe 
gingen  die  unfruchtbaren  Hochblätter  zuerst  allmählich  in  die  frucht- 
baren über:  ein  Zustand,  der  in  den  meisten  der  von  hier  auf- 
steigenden Reihen  l)ald  ein  Ende  nahm,  indem  die  unteren  Blätter 
dieser  Uebergangszone  ganz  unfruchtbar,  die  oberen  ganz  fi-uchtbar 
wurden.  In  einigen  Reihen  blieb  er  erhalten,  so  dass  noch  zwischen 
den  unfruchtbaren  Hochblättern  oder  den  Kelchblättern  und  den 
Staub] )lättern  und  noch  später,  als  die  Blumenkronen  sich  gebildet, 
zwischen  den  Kelch l)lättern  und  den  Kronl)lättern  abgestufte  Ueber- 
gangsglieder  vorhanden  waren. 

Die  jetzt  besprochene  Gruppe  zeichnet  sich,  wie  gesagt,  dadurch 
aus,  dass  die  Phyllome  der  Blüthe  in  einer  ununterl)rochenen  Spirale 
stellen.  Diese  Gruppe  enthält  viele  divergircnd  ^mf steigenden  Reihen. 
Von  jedem  Punkte  einer  jeden  Reihe  kann  nun  der  phylogenetische 
Fortschritt  in  anderen   I^ahiicn    lui^imien ,    indem  (^uirll)ildung    und 


IX.  Moi'itholoüie  und  Systematik  als  pliylogenetische  WissenHcluiftcii.      4i)l) 

darauf  Schwinden  von  ganzen  Quirlen  oder  von  Theilen  derselben 
erfolgt. 

Bezüglich  der  Beschaffen! leit  der  Quirle  zeigt  die  Blüthenbildung 
die  merkwürdige  Thatsache,  dass  jeder  derselben  schon  bei  der  Ent- 
stehung aus  ganz  gleichen  Elementen  zusammengesetzt  ist.  Man 
möchte  vielleicht  ein  ganz  anderes  Verhalten  erwarten.  Eine  spiroi- 
dische  Blüthe  bestehe  aus  m  Kelchblättern,  n  Kronblättern,  ^>  Sta- 
minodien ,  q  Staubgefässen  und  r  Carpellen ,  wenn  m,  n,  p,  <j,  r 
Zahlen  bedeuten.  Es  wäre  nun  gewiss  nicht  aul'f'allend,  wenn  daraus 
gleichzählige  Quirle  hervorgingen,  unter  denen  sich  auch  einzelne 
gemischte  l^efänden ,  z.  B.  einer  aus  Kelch  und  Kronblättern ,  ein 
anderer  aus  Kronblättern  und  Staminodien,  einer  aus  Staminodien 
und  Staubgefässen  und  einer  aus  Staubgefässen  und  Carpellen  ge- 
mischt. Dies  würde  wohl  auch  eingetreten  sein ,  wenn  die  Zahlen 
der  verschiedenen  Phyllome  [m,  n,  i),  q,  r)  bestimmt  wären.  Sie 
sind  aber  bei  Spiralstellung  immer  unbestimmt. 

Es  variire  nun  beispielsweise  die  Zahl  der  Staubgefässe  ((/)  in 
einer  gewissen  Sippe  zwischen  26  und  42  und  es  trete  bei  deren 
Nachkonmien  Quirlbildung  ein ,  so  muss  die  Zahl  der  Quirle  eben- 
falls unbestimmt  sein.  Die  Pflanze  hat  aber  zugleich  das  Bestreben, 
jeden  Quirl  gleichartig  zu  gestalten.  Daher  ist  in  dem  angegebenen 
Falle  die  Zahl  der  sich  bildenden  ögliedrigen  Staubgefäss(-[uirle  gleich 

-p-  oder  ^ ,  mit  der  Beschränkung,  dass  mit  Vernachlässigung 

der  Brüche  nur  die  ganzen  Zahlen  Geltung  haben ;  es  kommen  also 
den  Abkömmlingen  der  Sippe  unmittelbar  nach  der  phylogenetischen 
Umbildung  5  —  8  fünfzählige  Staubgefässquirle  zu.  Und  so  verhält 
es  sich  mit  den  übrigen  Organen  der  Blüthe.  Wenn  Ungleichartig- 
keit  der  Quirle  vorkommt,  indem  z.  B.  die  einen  Elemente  eines 
Quirls  Staubgefässe,  die  anderen  Staminodien  sind,  so  ist  dies  keine 
ursprüngliche  Bildung,  sondern  erst  nachträglich  durch  Differenzirmig 
oder  Reduction  entstanden. 

Die  Quirlbildung  in  der  Blüthe  kann  entweder  nach  und  nach 
(succedan)  eintreten,  so  dass  zuerst  bloss  einzelne  Organe,  z.  B.  Kelch 
und  Krone  quirlständig  werden,  indess  die  nachfolgenden  Blätter  (Ge- 
schlechtsphyllome)  noch  spiralständig  sind.  Oder  sie  kann  auf 
einmal  (sinmltan)  perfect  werden.  Letzteres  beobachtet  man  schon 
auf  der  niedrigsten    Stufe,   noch   bevor   die  Differenzirung   der  Ge- 

32* 


500     TX.  i\rorphologie  und  fiystematik  als  ])1i)'logenetischc  Wissenschaften. 

schlechter  eintritt,  nämlich  hei  Equisetmii,  wo  allerdings  auch  schon 
die  Laubhlätter  Quirlstellung  zeigen.  In  den  anderen  Fällen,  wo 
alle  Blüthenphyllome  in  Quirlen  stehen,  ist  es  oft  zweifelhaft,  oh 
nicht  phylogenetische  Zustände  mit  partieller  Quirlstellung  voraus- 
gegangen sind. 

Das  vorhin  angeführte  Beispiel  von  Equisetum  gibt  die  Veran- 
lassung zu  einer  Bemerkung  über  das  Verhältniss  der  Blattstellung 
in  den  Blüthen  zu  der  in  den  übrigen  Theilen  der  Pflanze.  Eine 
volle  Ueberein Stimmung  zwischen  beiden  kommt  im  allgemeinen  nur 
bei  durchgehender  Spiralstellung  vor.  Ist  dagegen  Quirlstellung  ein- 
getreten ,  so  mangelt  diese  Uebereinstimmung ,  sei  es  dass  in  den 
einen  Partien  die  Phyllome  noch  schraubenständig,  in  den  anderen 
quirlständig  sind,  sei  es  dass  die  Quirlstelhnig  in  den  verschiedenen 
Partien  ungleich  ausgefallen  ist.  Häufig  ist  Quirlstellung  in  den 
Blüthen  allein  vorhanden ;  es  können  aber  auch  die  Laubblätter 
quirlständig  sein,  während  die  Hochblätter  oder  Theile  der  Blüthen 
alternirend  stehen. 

Equisetum  bietet  ein  seltenes  Beispiel  für  übereinstimmende 
Quirlstelluug  an  der  ganzen  Pflanze.  Es  ist  mir  unwahrscheinlich, 
dass  dieselbe  erst  eingetreten  sei,  nachdem  die  Differenzirung  zwischen 
vegetativen  und  reproductiven  Blättern  schon  stattgefunden  hatte, 
denn  in  einem  solchen  Falle  sehen  wir  sonst  immer,  dass  Laub- 
blätter und  Fortpflanzungsblätter  in  ungleicher  Weise  Quirle  bilden. 
Ich  vermuthe  daher,  dass  in  der  Abstammungslinie  von  Equisetum 
sich  eine  Ahnensippe  befand,  in  welcher  alle  Blätter  einander  gleich 
(also  sporogonienbildend)  und  überdem  spiralständig  waren,  dass 
diese  Spiralstellung  bei  einer  folgenden  Sippe  zur  Quirlstellung 
wurde ,  und  dass  erst  in  einer  noch  späteren  Sippe  Differenzirung 
in  sterile  und  fertile  Blätter  statt  hatte,  wobei  dann  natürlich  beide 
die  nämliche  Quirlstellung  zeigen  mussten. 

Ebenso  sehr  als  durch  die  Quirlbildung  wird  der  Aufbau  der 
Blüthe  verändert  durch  die  Reduction  der  Phyllome  oder  der  Phyl- 
lomquh'le.  Diesel])e  kann  auf  die  früher  erörterte  doppelte  Art  ge- 
schehen, entweder  durcli  ^'^erminderung  der  phyllomtragendenCaulom- 
glieder  oder  durcli  Verkümmerung  der  l'hyllome;  im  ersteren  Falle 
gehen  die  entsprechenden  Stellen  am  Caulom  verloren,  im  letzteren 
bleiben  sie  erhalten  (S.  485).  In  den  spiraligen  sowie  in  den  cyclischen 
Blüthen  können  ganze  Abtheilungen  der  Blüthenblätter  schwinden, 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     501 

wodurch  die  Blütheii  beispielsweise  apetal  oder  eingeschlechtig 
werden.  In  den  spiroidischen  Bhithen  können  die  Phyllonie  der 
einzehien  Abtheikmgen ,  die  ursprünghch  vielzählig  sind ,  bis  auf 
eine  Minimalzahl  verloren  gehen. 

Die  quirligen  Blüthen  sind  ursprünglich  polycyclisch  mit  un- 
bestimmter Quirlzahl  besonders  im  Androeceum  und  Gynaeceum. 
Die  Reduction  der  Quirle  zeigt,  wie  ich  glaube,  zwei  scharf  zu 
trennende  Vorgänge,  zuerst  Verminderung  auf  eine  Ijestimmte  be- 
schränkte Zahl  von  Cyclen,  welche  durch  Reduction  der  Caulom- 
glieder  erfolgt  und  die  polycyclischen  Blüthen  in  nomocyclische 
umwandelt.  Es  bleibt  dabei  die  ursprüngliche  Alternanz  der  Quirle, 
insofern  sie  gleichzählig  waren,  oder  ein  anderw^eitiges  ursprüngliches 
Stellungsverhältniss  der  successiven  Quirle,  insofern  die  Zahl  ihrer 
Elemente  wechselte,  erhalten.  Der  zweite  Reductionsprocess  nimmt 
aus  den  nomocyclischen  Blüthen  einzelne  Quirle  hinweg,  deren  Stelle 
frei  bleil)t  (oligocyclische  Blüthen).  Dabei  wird  das  Stellungsverhältniss 
der  auf  einander  folgenden  Quirle  möglicherweise  verändert;  aus 
drei  alternirenden  Quirlen  werden  beisjjielsweise  durch  Schwinden 
des  mittleren  Quirls  zwei  opponirte. 

Endlich  besteht  eine  Art  des  Schwindens  darin ,  dass  aus  den 
vollständigen  Quirlen  ein  oder  mehrere  Elemente  verloren  gehen, 
was  gewöhnlich  mit  einer  starken  Ausbildung  der  Dorsiventralität 
der  Blüthe  zusammenhängt. 

Die  höchsten  Stufen  der  Entwicklungsreihen  sind  erreicht,  wenn 
in  der  Blüthe  die  Qiiirlbildung  vollständig  und  die  Reduction  am 
weitesten  durchgeführt  ist.  Wir  müssten  es  als  das  nicht  zu  überschrei- 
tende Ende  anselien,  wenn  jedes  qualitativ  verschiedene  und  als  noth- 
wendig  erscheinende  Organ,  nämlich  Kelch  (als  Schutz  der  Blüthen- 
knospe),  Krone  (zur  Anziehung  der  Insekten),  Staubgefässe  und 
Stempel  1)1  oss  je  in  einem  einzigen  Quirl  vertreten,  und  wenn  dieser 
Quirl  bis  auf  ein  einziges  Phyllom  geschwunden  wäre,  was  beim 
Androeceum  und  Gynaeceum  zuweilen  der  Fall  ist. 


Der  pliylogenetische  Aufbau  der  Blüthe,  wie  ich  ihn  dargelegt 
habe ,  weiclit  von  den  bisherigen  Vorstellungen  über  die  Blüthen- 
bildung   wesentlich   alj.     Die  vergleichende   Morphologie   geht  jetzt 


502     I^-  Morpliolngie  und  i^ysteiuatik  als  phylogenetische  Wisseiischatten. 

von  verschiedenen  »Typen«  aus  und  erklärt  daraus  namentlicli  mit 
Zuliülfcnahnie  von  Abort,  Vervielfachung  (Verdoi^pelung,  Spaltung) 
und  Verschiebung  das  abweichende  Verhalten  verwandter  Pflanzen. 
Damit  ist  gegenüber  dem  rein  beschreibenden  Verfahren  sehr  viel 
gewonnen,  indem  der  Blüthenbau  ganzer  Familien  oder  ganzer 
Gruppen  von  Familien  auf  einen  einheitlichen  Plan  zurückgeführt 
wurde.  Aber  es  wird  durch  dieses  Verfahren  nur  das  gegenseitige 
Verhältniss  derjenigen  Bildungen  erklärt,  die  von  einem  Typus  ab- 
geleitet werden  können.  Für  die  Beziehung  der  verschiedenen  Typen 
unter  einander  ist  damit  noch  nichts  geschehen,  el)enso  wenig  für 
die  überall  so   zahlreich   auftretenden  Ausnahmen  und  Variationen. 

Unter  »Typus«  versteht  man  ferner  nicht  bloss  ein  Vorbild,  dem 
andere  nachgebildet  sind,  sondern  sehr  häufig  auch  überhaupt  die- 
jenige Form,  die  am  häufigsten  vorkommt  oder  die  den  Vorstellungen 
der  Schule  am  congruentesten  ist.  Man  sagt  beispielsweise:  »In  dieser 
Familie  sind  5  Carpelle  typisch;  aber  es  kommen  auch  bloss  4,  o 
und  2  und  andrerseits  10  und  mehr  Carpelle  vor;  ferner  können 
die  2  Carpelle  auf  verschiedene  Arten  orientirt  sein  u.  s.  w.«  Bei 
solchen  Vorkommensverhältnissen  hätte  das  Wort  typisch  nur  dann 
einen  rationellen  Sinn,  wenn  aus  der  einen  Bildung  die  anderen  er- 
klärt werden  könnten.  Dies  wird  aber  nicht  versucht  und  könnte 
auch  nicht  durchgeführt  werden. 

Es  muss  also ,  abgesehen  von  allen  anderen  Abweichungen  in 
der  Blüthe,  schon  wegen  des  Gynaeceums  für  eine  solche  Familie 
ein  (3bertypus  aufgesucht  werden,  aus  dem  sich  alle  Vorkommnisse 
begreifen  lassen ;  —  denn  dass  man  nicht  einfach  neben  den 
als  typisch  erklärten  Bildungen  von  Ausnahmen  und  Variationen 
gleichsam  als  von  einem  Naturspiel  sprechen  darf,  liegt  doch  auf 
der  Hand.  Jede  Bildung  hat  ihre  reale  Existenz ,  ihre  bestimmten 
Ursachen  und  muss  erklärt  werden.  Erst  wenn  für  alle  Variationen 
in  einer  Familie  die  phylogenetischen  Ursachen  nachgewiesen  sind, 
kann  von  systematischer  Erkenntniss  die  Rede  sein. 

Ich  will  bloss  im  allgemeinen  zeigen,  wie  nach  meiner  Ansicht 
die  phylogenetische  Methode  sich  gestalten  dürfte.  Die  Haupt- 
schwierigkeiten beginnen  erst  mit  der  Quirlbildung;  diese  konnnt, 
wie  ich  ])ereits  erwähnt  hal)e,  jedenfalls  auf  zweierlei  Art  zu  Stande, 
entweder  simuUau  oder  succedan.  Den  einfacheren  Fall  stellt  die 
simultane  Bildung  dar,   wenn  nämlich  alle  Blätter  der  Blüthen  gleich- 


IX.  Morphologie  und  Systematik  al.s  2>liylogeiietische  Wissenschaften.     503 

zeitig  oder  in  rascher  Folge  (etwa  von  unten  iiacli  (jl>en)  zu  Quirlen 
sich  ordnen.  Dann  werden  alle  Quirle  gleichzählig  sein  und  regel- 
mässig alterniren.  Ferner  werden  die  Quirle  ziendich  zahlreich  sein. 
Bloss  allenfalls  von  Kelch  und  Krone  ist  anzunehmen,  dass  sie  ur- 
sprünglich schon  einquirlig  sein  konnten ,  denn  sie  sind  schon  hei 
spiraliger  Stellung  meistens  wenigzählig.  Die  Staubgefässe  und  die 
Carpelle  dagegen  sind  bei  Spiralstellung  gewöhnlich  vielzählig  und 
daher  ist  für  dieselben  auch  eine  Mehrzahl  von  ursprünglichen 
Quirlen  sehr  waln-scheinlich. 

Die  Quirlzahl  war  ferner  ursprünglich  eine  unbestimmte.  Erst 
im  phylogenetischen  Verlaufe  wurde  sie,  indem  sie  sich  verminderte, 
constant  und  zwar  zuerst  für  die  Staubgefässe ;  denn  es  wurde  zu- 
gleich die  fi-üher  unbestimmte  Orientirung  des  ersten  Carpells  (und 
somit  des  ersten  Carpellquirls)  eine  mit  Rücksicht  auf  Kelch  und 
Krone  bestimmte.  Damit  war  die  constante  Zahl  der  Staubgefäss- 
(juirle  von  selbst  gegeben.  Für  die  Limitirung  der  Carpellzahl  war 
keine  solche  Ursache  vorhanden ;  daher  sehen  wir  denn ,  dass  die- 
selbe in  so  vielen  Fällen  noch  variirt,  in  denen  das  Androeceum 
ganz  beständig  ist.  Da  die  Carpelle  aber,  wenn  sie  verwachsen, 
nur  in  w^enigen  Fällen  eine  Sonderung  in  hinter  einander  stehende 
Quirle  gestatten ,  so  beobachten  wir,  statt  der  Unbeständigkeit  der 
Quirle,  eine  Unbeständigkeit  in  der  Zahl  der  Ovariumfächer  oder 
der  wandständigen  Placenten  sowie  der  Narben. 

Simultane  Quirlbildung  fand  wohl  bei  den  Ahnen  der  meisten 
ISlonocotylen  statt,  da  bei  denselben  gleichzähhge  Quirle  durch  die 
eanze  Blüthe  so  häufi«-  sind,  ferner  wahrscheinlicli  auch  bei  manchen 
Dicotylen.  —  Nehmen  wir  beispielsweise  an,  eine  bestinnnte  Blüthe 
habe,  nachdem  die  Quirlzahl  des  Androeceums  fixirt  war,  folgendes 
Schema  gehabt: 

sep  (y),  pet  (v),  stam  {v  -|-  v  -f-  '')'  "^"^^T  (unbestimmt). 

Bedeutet  /.'  einen  ^undäuiigcn  Quirl,  so  können  bei  Vierzahl 
oder  Sechszahl  auch  2  zweizälilige  oder  2  dreizählige  Quirle  dafür 
eintreten.  Werden  die  Carpelle  auf  v  reducirt,  so  stehen  sie  über 
den  Blumenblättern.  Schwindet  der  untere  Staubgeiassquirl,  so  hat 
man  bei  Fünfzahl  der  Quirle  eine  typische  obdiplostemonische, 
schwinden  die  2  oberen  Staubgefässquirle ,  eine  typische  haplostc- 
monische  Blüthe :  ersteres  bei  den  Ericaceen,  Geraniaceen,  Zygophyh 


504     1^-  Morphologie  uml  (Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

laceeii,  Crassiüaceen  etc. ,  letzteres  bei  den  Convolvulaceen ,  Solana- 
ceen, Campaniüaceeii  etc. ;  von  diesen  beiden  Typen  ist  weder  der  eine 
noch  der  andere  als  noniocyclische  Bildung  einer  quirligen  Blüthe 
zu  betrachten. 

Von  der  vorhin  scliematisirten  Blüthe  kann  auch  der  diplo- 
stemonische  Typus  herstammen.  Die  in  unljestimmter  Zahl  vor- 
handenen Carpelle  schwanden  anfänglich  auf  die  nomocyclische  Zahl 
von  zwei  Quirlen  (r  -j-  c);  ging  nun  der  untere  Carpellquirl  und  der 
oberste  Staubgefässquirl  verloren,  so  ist  die  tj^pische  diplostemonische 
Blüthe  gegeben :  Primulaceen,  Plumbaginaceen,  Sapotaceen. 

Um    die  Herleitung   der   3    genainiten  Typen  von   dem   iiomo- 

cyclischen  Bau  anschaulicher  zu  machen,  will  ich  den  letzten  noch 

einmal  und  zwar  mit  Andeutung  der  Alternanz  schematisiren : 

12  3  4  5  6  7 

sep ....     staui     .     .     .     stam     .     .     .     carj) 

.     .     .  pet     .     .     .      stam    ....  carp     .     . 

Die  Zahlen  1 — 7  bezeichnen  die  auf  einander  folgenden  Quirle. 

Die  in  der  oberen  Horizontalreihe  ]:»ctindlichen  Quirle  sind  einander 

superponirt,    ebenso   diejenigen   der  unteren  Reihe;   3,  5,  7  stehen 

also  über  den  Kelchblättern,  4  und  6  über  den  Kronblättern.    Das 

Schwinden   von   Quirl   4,   5   und  7    gibt  die   haplostemonischen  (I), 

das  Schwinden  von  3  und  7  den  obdijjlostemonischen  (II)   und  das 

Schwinden  von  5  und  0  den  diplostemonischen  Typus  (III): 

1  2  3  4  5  G  7 

^sep      .     .     .     stam 

l .     .     .  pet carp  . 

(sep stam 

\  .     .     .  pet     .     .     .       stam     .     .     .      carp  .     .     . 

TTT  \^^'V      ■     ■     ■     stam carp 

)  .     .     .  pet     .     .     .       stam 

Man  wird  mir  wohl  von  mor|)liologisclier  Seite  antworten,  dies 
sei  eine  blosse  Hyj^othese;  die  Annahme,  dass  bei  dem  haplostemo- 
nischen und  diplostemonischen  Typus  (I  und  III)  je  zwei  Quirle  ge- 
schwunden seien,  erscheine  überflüssig;  wenn  auch  beim  letzteren  die 
Carpelle  ursprünglich  zahlreicher  waren ,  so  sei  es  doch  unwahr- 
scheiidich,  dass  der  unterste  Quirl  derselben  schwinde  und  der  zweite 
übrig  bleibe.  Ich  verkenne  keineswegs,  dass,  wenn  man  sich  auf 
die  Betrachtung  der  einem  Typus  angehörenden  Blüthen  und  deren 
ontogenetischer  Entwicklungsgeschichte  beschränkt,    diese  Einwürfe 


IX.  Morphologie  und  Systeuuitik  als  jüiylogenetische  Wissenscliat'ten.     505 

als  gegründet  gelten  können.  Aber  sie  verlieren  ihren  Halt,  sowie 
man  alle  verwandten  Bildungen  mitberücksiclitigt.  Ich  betrachte 
meine  Annahme   aus   folgenden  Gründen  als  die  wahrscheinlichere. 

Erstens  gibt  es  viele  Fälle,  wo  einer  der  drei  genannten  Typen  bei 
verwandten  Gattungen  oder  verwandten  Familien  mit  polymeren  oder 
polycyclischen  Staubgefässen  wechselt.  Dies  ist  ein  deutlicher  Finger- 
zeig, dass  jene  Typen  sich  durch  Reduction  des  Androeceums  gebildet 
haben,  mid  es  steht  der  Annahme,  dass  bei  ihnen  freie  Stellen  von 
geschwundenen  Staubgefäss(|uirlen  vorhanden  seien,  nichts  im  Wege. 

Zweitens  ist  zu  bemerken,  dass,  wie  sich  aus  zahlreichen  Bei- 
spielen ergibt,  die  Stellung  der  unter  die  nomocyclische  Zahl  (auf 
einen  Quirl  oder  weniger)  reducirten  Carpelle,  nicht  von  der  Stellung 
der  vorausgehenden  Staubgefässe.  sondern  von  derjenigen  des  Kelches 
und  der  Orientirung  der  ganzen  Blüthe  bedingt  wird.  Daraus  ergibt 
sich,  dass  für  diese  Fälle  zwischen  Androeceum  und  Gynaecemn  Ele- 
mente durch  Schwinden  verloren  gegangen  sind.  Es  gibt  nun  nicht 
wenige  Familien  unter  den  Choripetalen  (Polypetalen) ,  in  denen  in 
Blüthen  mit  gleichzähligen  Quirlen  bald  epipetale,  bald  episepale 
Carpelle  vorkommen.  Dies  beweist  uns,  dass  hier  das  Gynaeceum 
ursprünglich  dicyclisch  war  und  dass  l)ald  der  äussere,  bald  der 
innere  Carpellkreis  geschwunden  ist. 

Drittens  ist  hervorzuheben,  dass,  wenn  in  Blüthen  mit  5  zähligen 
Quirlen  das  Gynaeceum  noch  mehr  reducirt  wird,  dann  die  in  der 
Zahl  von  4,  3  und  2  vorhandenen  Carjjelle  verschiedene  Stellungen 
zeigen  können,  die  aber  für  die  Gattungen  constant  sind;   es  haben 

z.  B.  3  Carpelle   die    Stellung  "^   oder  .^  ,    indem  2  hinten ,    1  vorne 

sich  befindet  und  umgekehrt.  Diese  verschiedenen  Stellungen  lassen 
sich  nicht  als  Ueberbleibsel  eines  einzigen  Quirls,  wohl  aber  die  einen 
als  Ucberreste  des  episepalen,  die  anderen  als  Ueberreste  des  epipe- 
talen  Quirls  von  Carj^ellen  erklären.  Würden  die  einen  Stellungen 
bloss  mit  episepalem,  die  anderen  ])loss  mit  epipetalem  Gynaeceum 
in  der  nämlichen  Familie  vorkonnnen,  so  bestände  mit  Rücksicht 
auf  diese  oligomeren  Carpelle  kein  Grund  zur  Annahme  zweier 
ursprünglicher  Carpellkreise.  Da  aber  die  verschiedenen  reducirten 
Stellungen  mit  einander  einerseits  in  der  nämlichen  Familie  mit 
episepalem  Gynaeceum  und  andrerseits  ebenso  in  einer  und  derselben 
Familie  mit  epipetalem  Gynaeceum  sich    finden ,    so   muss  man  an- 


506     I^-  Morphologie  und  Systematik  als  pliylü;^enetisc-lie  Wisseiiscliaften 

nehmen,  dass  sowohl  die  erstere  als  die  letztere  Familie  ursprünglich 
ein  2  quirliges  CJyiiaeceuui  hatte.  Es  gibt  selbst  reducirte  Gynaeceen, 
nämlich  die  2-  und  die  4  zähligen  (bei  sonstiger  5  Zähligkeit  der 
Quirle),  von  denen  man  annehmen  möchte,  dass  die  eine  Hälfte  ihrer 
Carpelle  von  dem  episopalen  und  die  andere  Hälfte  von  dem  epipe- 
talen  Quirl  des  Gynaeceums  üljrig  geblieben  sei. 

Viertens  ist  noch  daran  zu  erinnern,  dass  in  vielen  Familien 
mit  typischem  episepalem  oder  epipetalem  Carpellquirl  einzelne 
Gattungen  mit  doppeltzähligem  oder  mehrzähligem  Gynaeceum  vor- 
kommen. Da  nun  die  zwei-  und  mehrquirligen  Bildungen  nicht  aus 
dem  einfachen  Quirl,  wohl  aber  der  letztere  aus  den  ersteren  auf 
naturgemässem  phylogenetischem  Wege  entstehen  kann,  so  sind  die 
genannten  typischen  Bildungen  nicht  als  ursprüngliche,  sondern  als 
secundäre,  aus  einem  dicyclischen  Gynaeceum  hervorgegangene  zu 
betrachten. 

Die  eben  angestellten  Betrachtungen  betreffen  vorzugsweise  Blüthen 
mit  ursprünglich  gleichzähligen  Quirlen  und  von  denen  allenfalls  an- 
genommen werden  kann ,  dass  die  cyclische  Anordnung  simultan 
stattgefunden  habe.  Wenn  die  Quirll)ildung  in  der  Blüthe  succedan 
eintritt,  so  begiinit  sie  gewöhnlich  unten  mit  den  Kreisen  des  Peri- 
gons,  während  die  Staubgefässe  und  Carpelle  noch  in  grosser  Zahl 
und  in  schrauljcnförmiger  Stellung  vorhanden  sein  können.  Tritt 
Verwachsung  im  Gynaeceum  ein,  so  ordnen  sich  die  Carpelle  in  einen 
Kreis,  und  lassen  bloss  aus  den  unbestimmten  Zahlenverhältnissen 
wahrnehmen,  dass  der  nomocyclische  Typus  noch  nicht  eingetreten 
sei.  Dies  ist  unverkennl)ar ,  wenn  Ijeisj^ielsweise  die  Zahl  der  im 
Kreise  stehenden  Carpelle  bei  Nymphaea  alba  zwischen  12  und  20, 
bei  Papaver  somniferum  zwischen  7  und  15  wechselt.  Ich  möchte 
also  ein  solches  Gynaeceum  noch  für  polycyclisch  halten  inid  dasselbe 
erst  dann  als  in  das  nomocyclische  Stadium  eingetreten  ansehen, 
wenn  die  Zahl  der  Carpelle  eine  absolut  oder  relativ  (nämlich  im 
Verhältniss  zu  anderen  Quirlen  der  Blütlie)  bestimmte  geworden  ist. 
Wie  das  Gynaeceum  vermindert  auch  das  Androeceum  mit  dem  phylo- 
genetischen Fortschreiten  die  Zahl  der  Phyllome  und  ordnet  sie  dann 
cyclisch  an.  Die  Zahl  der  Quirle  ist  wahrscheinlich  zuerst  unbestimmt 
und  wird  dann  ])estiiiimt. 

Kmc  Blüthe,  in  der  die  Quirll)il(hnig  succedan  stattgefunden  hat, 
wird  also  nach  der   ersten  Fixining  der  Quirlzahl   jedes  Organs   in 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     507 

das  gleiche  Stadimii  eingetreten  sein,  in  welches  die  Blüthen  mit 
simultaner  Qnirll^ildung  auf  kürzerem  Wege  gelangen ;  und  möglicher 
Weise  sind  in  diesem  Zustande  beide  nicht  von  einander  zu  imter- 
scheiden.  Oft  aber  wird  darin  ein  Unterschied  bestehen,  dass,  während 
die  letzteren  gleichzählige,  die  ersteren  ungleichzählige  Quirle  besitzen. 

You  dem  nomocyclischen  Stadium  aus  verläuft  die  phylogenetische 
Weiterbildung  in  allen  Blüthen,  sie  mögen  durch  simultane  oder 
succedane  Quirlbildung  sich  entwickelt  haben,  in  gleicher  Weise  durch 
Schwinden  ganzer  oder  auch  partieller  Quirle,  und  ferner,  wenn  ein 
Gegensatz  zwischen  Rücken-  und  Bauchseite  sich  geltend  macht, 
durch  Schwinden  einzelner  Quirltheile  und  Diiferenzirung  sowohl 
der  vollständigen  als  der  defecten  Quirle  in  Gestaltung  und  Function. 

Ich  kann  den  Process  nicht  weiter  ins  Einzelne  verfolgen.  Das 
Bisherige  wird  genügen ,  um  die  ph^dogenetische  Methode  für  den 
Aufbau  der  Blüthe  verständlich  zu  machen.  Die  Aufgabe  besteht 
also  darin,  Reihen  zu  begründen,  in  denen  die  Anordnung  von  der 
ursprünglich  spiraligen  und  vielzähligen  zu  der  cyclischen  und  reducirt 
wenigzähligen  Blüthe ,  Stufe  für  Stufe ,  fortschreitet ,  und  weiterhin 
festzustellen,  welcher  Reihe  jeder  einzelne,  genetisch  zusammengehörige 
Complex  von  Phanerogamen  angehöre.  Man  möchte  vielleicht  meinen, 
dass  diese  Aufgabe  zu  unbestimmt  gefasst  sei  und  der  Willkür  grossen 
Spielraum  gestatte.  Bei  näherer  Ueberlegung  wird  man  aber  finden, 
dass  dies  durchaus  nicht  der  Fall  ist.  Die  phylogenetische  Methode, 
wie  ich  sie  entwickelt  habe,  hilft  zwar  leicht  über  einige  Schwierig- 
keiten der  bisherigen  Betrachtungsweise  hinweg,  indem  sie  die  betref- 
fenden Vorkommnisse  (z.  B.  Wechsel  verschiedenzähliger  Quirle  bei 
verschiedenen  Individuen)  in  einfachster  Weise  erklärt,  aber  im  all- 
gemeinen bleiben  die  Rücksichten  des  Ijish erigen  vergleichenden  Ver- 
fahrens in  unveränderter  Kraft.  Es  kommen  ausserdem  noch  viele 
neue  Rücksichten  hinzu,  indem  alles,  was  l)isher  als  Ausnahmen  und 
als  Variationen  unerklärt  Ijlieb,  durch  die  phylogenetische  Methode 
erklärt  und  dafür  die  Norm  festgestellt  werden  muss.  Diese  Methode 
erfordert  also  viel  mehr  Umsicht  in  der  Bcurtheihmg  der  thatsäch- 
liclien  Vorkommnisse  im  Blüthenbau  als  das  bisherige  vergleicbende 
Verfahren,  verspricht  dafür  aber  auch  um  so  sicherere  Resultate. 

Das  bisherige  vergleichende  Verfahren  beschäftigte  sich  vorzüglich 
damit,  die  Zahl  der  Quirle  nach  dem  Gesetz  der  Alternanz  festzu- 
stellen, nöthigenfalls  zu  emendiren,  und  die  Art  und  Weise  der  Auf- 


508     IX.  Morphologie  und  Systematik  als .  phylogenetische  Wissenschaften. 

einanderfolge  zu  bestimmen,  ferner  namentlich  mit  Rücksicht  auf 
das  häufigste  A^ürkonmien  den  sogenannten  Typus  zu  fixiren.  Das 
phylogenetische  Verfahren  benutzt  dazu  ausserdem  alle  Variationen 
und  sucht  namentlich  aus  den  polymeren  Variationen  die  innerhalb 
einer  Gruppe  von  verwandten  Pflanzen  vorkommen,  und  aus  der 
Stellung  der  nach  der  Reduction  ül)rig  bleibenden  Organe  den  ganzen 
Entwicklungsgang  und  besonders  den  nomocyclischen  Aufbau  als 
Grundplan,  aus  dem  die  verschiedenen  sogenannten  typischen  Bildungen 
durch  Reduction  hervorgehen,  festzustellen. 

So  ergibt  sich  beispielsweise  mit  Rücksicht  auf  den  vielbespro- 
chenen Blüthenbau  der  Cruciferen  aus  dem  polymeren  Androeceum, 
das  bei  einigen  Cruciferen  selber,  dann  bei  anderen  Familien  der 
Rhoeadeen  (Papaveraceen,  Capjiarideen,  Resedaceen)  vorkommt,  die 
wahrscheinliche  Folgerung,  dass  in  der  Abstammungslinie  dieser 
Klasse  die  Quirlbildung  succedan  (zuletzt  im  Androeceum)  eingetreten 
ist,  dass  die  Quirle  ursprünglich  4  zälilig  und  in  grösserer  Zahl  vor- 
handen waren ,  dass  sie  sich  dann  im  Androeceum  auf  die  Zahl 
von  2  limitirten,  und  dass  schliesslich  das  Androeceum  durch 
Schwinden  zweier  Phyllomc  des  unteren  Quirls  in  den  für  die  Cruci- 
feren »typischen«  Zustand  üljcrging,  — wobei  ich  die  Vervielfachung 
(»Verdoppelung«)  der  Staubgefässe  in  einzelnen  Fällen  durchaus 
nicht  leugnen  will ,  wenn  sie  nicht  eher  als  Rückschlag  zu  er- 
klären ist. 

Das  Gynaeceum  der  Cruciferen  bestand  ursprünglich  ebenfalls 
aus  zahlreichen  Phyllomen  (Papaveraceen,  Capparideen,  Resedaceen) 
und  wurde  wohl  zuerst  auf  zwei,  daini  auf  einen  einzigen  4  zähligen 
Quirl  reducirt,  der  bei  den  (yruciferen  durch  Schwinden  der  zwei 
medianen  (bei  den  Resedaceen  auch  durch  Schwinden  der  zwei  trans- 
versalen) Carpelle  2 zählig  geworden.  DieVariationen  indeiiBlüthen  der 
Rhoeadeen  mit  .'5-,  5-  und  Ozähhgen  Quirlen  würden  eine  besondere 
Betrachtung  mit  genauer  Berücksichtigung  der  Stellungsverhältnisse 
verlangen,  sind  aber  wahrsclieinlich  so  zu  deuten,  dass,  während  in 
dem  einen  Zweig  der  Abstammungslinie,  der  zu  den  Cruciferen  führt, 
strenge  Vierzahl  herrscht,  in  einem  anderen  die  Zahl  der  Quirl- 
elemente zwischen  4,  5  und  6  wechselt,  und  dass  die  6-  und  3  zähligen 
Gj'naeaceen  der  Resedaceen,  wie  ihre  Orientirungen  beweisen,  die 
Reste  eines  gesetzmässig  doppelt  6  zähligen  Carpellkreises  sind. 


IX.  M(>r])li()looi(^  und  Sj'steinatik  als  phylogenetisolie  Wisscnscliat'tcn.      500 

H,  I,  K.     Einzelne  Theile  der  Blüthe. 

Nachdem  dei'  Aiilhau  der  Blüilic  im  allgemeinen  betraclitet 
worden  ist,  verliing(!n  die  Besonderlicilcn  iin'ci'  Tlieile  iioeli  eine 
eigene  kurze  Besprechung. 

11.  Perigon.  Die  Phyllome  des  Perigons  durehlauren  die  be- 
reits besprochenen  Stufen  der  SteUung: 

1.  spirahg,  2.  cychsch, 
die  Stul'en  der  Verwaclisung: 

1.  alle  Pliyllome  getrennt,    2.  die  einen  Cj^chis  bildenden 

rölu^ig  verwachsen,  3.  die  successiven  Quirle  mit  einander  ver- 
wachsen 
und  endhch  die  Stufen  der  Reduction.     Im  übrigen  ist  das  Perigon 
wesenthch  durch  Anpassung  entstanden ;  deshalb  möchte  ich  nament- 
hch  darauf  aufmerksam  machen,  dass  man  nicht  etwa 

1 .  Perigonmangel ,   2.    gleichartiges   Perigon ,    3.   in  Kelch 

und  Krone  geschiedenes  Perigon 
als  drei  phylogenetische  Stufen  ansehe.  Diese  drei  Bildungen  stehen 
nach  meiner  Ansicht  in  keiner  genetischen  Beziehung  zu  einander, 
da  ursjirünglich  auf  die  Hochblätter  (Bracteen)  die  Staubblätter 
folgten,  dann  Kelch  oder  kelchartiges  Perigon  aus  den  obersten 
Hochl;>lätiei'n,  Krone  oder  kronartiges  Perigon  aus  den  untersten 
Staubblättern  und  Zwischenbildungen  zwischen  Kelch-  und  Kron- 
blättern aus  Uebergängen  zwischen  Hochblättern  und  Staubblättern 
hervorgingen . 

/.  Androeceum.  Rücksichtlich  der  Gestaltung  der  Staub- 
blätter, welclie  mehr  Schwierigkeiten  darbietet  als  diejenige  der 
übrigen  Phyllome,  liegen  zwei  Stufen  klar  vor: 

ii.  Staubblätter  schuppenförmig  mit  mehreren  Staubsäcken  (C3- 
cadeen  und  einige  Coniferen); 

L.  Staubblätter  diiTereiizirt  in  einen  Staubkolbcn  (Anthere)  mit 
zwei  Staubsäcken  und  einen  Staubfaden,  zuweilen  mit  nebelblatt- 
artigen  Gel)ilden  am  Grunde. 

Diese  beiden  Stufen  scheinen  mir  Anfang  und  Ende  der  phylo- 
genetischen Umbildung  zu  bezeichnen.  Auf  die  erste  Stufe  folgt 
die  Verzweigung  oder  Theilung  des  Staubblattes,  auch  wohl  Verviel- 
fachung (»Verdoppelung«,  basale  Verzweigung),  aber,  wie  ich  glaube, 
zuletzt  immer  Rückkehr  durch  Reduction  zum  unverzweigten,  in 
Stiel  und  Anthere  differenzirten  Staubgefäss.     Es  gibt  noch,    abge- 


i=> 


510     IX.  Morpholoj^ie  und  %stt'iuatik  als  pliylogenctische  Wissenschaften. 

sehen  vom  inneren  Bau,  verschiedene  Modificationen  in  der  Ge- 
staUiing  der  Staubblätter,  deren  phylogenetische  Bedeutung  zweifelhaft 
ist,  und  die  vielleicht  als  Anpassungen  zu  betrachten  sind. 

Im  übrigen  finden  wir  beim  Androeceum  die  früher  besprochenen 
Stufen  der  Stellung  und  \^ erwachsung 
1.  spiralig,  2.  cyclisch, 

1 .  frei,  2.  mit  den  Staubfäden  oder  mit  den  Staubbeuteln 
verwachsen, 

1.   bodenständig,    2.    kelchständig   oder   kronständig   oder 
pistillständig,  d.  h.  mit  Kelch,  Krone  oder  Pistill  verwachsen, 
letzteres  in  den  gynandrischen  Blüthen, 
und  die  verschiedenen  Stufen  der  Reduction 

1.  polymer,  2.  oligomer  (bei  spiraliger  Stellung), 
1.  polycyclisch,  2.  nomocyclisch,  3.  oligocyclisch  (bei  Quirl- 
stellung), 

1.  mit  vollständigen,  2.  mit  unvollständigen  Quirlen. 
Die   Pollenkörner   sind    1.    frei    oder   2.    in  Gruppen   oder  3.  in 
ganze  Pollenmassen  verwachsen. 

K.  Gynaeceum.  Gestaltung  und  Verwachsung  der  Carpelle 
zeigen  vier  Stufen: 

Kl.  Carpelle  schuppenförmig,  flach  (Gymnospermen). 
lu.  Carpelle  in  Sclieide,  Stiel  und  Spreite  differenzirt,  die  Scheide 
mit   den   Rändern   zum   Fruchtknoten   verwachsen   (Ranunculaceen, 
Papilionaceen  etc.). 

K:i.  Wie  2,  aber  die  quirlständigen  Carpelle  mehr  oder  weniger 
hoch  mit  einander  verwachsen ;  Fruchtknoten  mehrcarpellig,  mehr- 
fächerig (Liliaceen,  Solanaceen,  Geraniaceen  etc.). 

Ä",.  Durch  Reduction  oder  Zurückziehen  der  Scheidewände  auf 
den  Rand  verwandelt  sich  der  mehrfächerige  Fruchtknoten  von  K3 
in  einen  typisch  einfächerigen  mehrcarpelligen,  indem  nun  die  Frucht- 
blätter in  gleicher  Weise  wie  die  Kelchblätter  in  dem  röhrigen  Kelch 
klappig  verwachsen  sind  (Papaveraceen,  Violarieen,  Cruciferen;  — 
Uebergang  von  K,  in  K,  bei  den  Caryophyllaceen). 

Bezüglich  der  Stellung  der  Carpelle  haben  wir  den  gewöhn- 
lichen Fortschritt  von  der  Spiral-  zur  Quirlstellung ;  aber  die  letztere 
unterscheidet  sich  von  der  der  übrigen  Phyllome  dadurch,  dass  nur 
in  Ausnahmefällen  über  einander  stehende  Quirle  auftreten,  und 
dass   gewöhnlich   alle  Carpelle   sich  in  einen  einzigen  Kreis  ordnen 


IX.  Moii)li<tlogie  und  Systoiuatik  als  pliylogenetische  Wissenschaften.     511 

(S.  ;')()(■)).  Daher  lässl  «leim  auch  die  Reduction  bloss  eine  Vermin- 
derung der  Elemente  dieses  Kreises  wahrnehmen  und  das  nomo- 
cychsche  Gynaeceum  besteht  bloss  in  einem  bestimmten  \'^ielt"achen 
der  in  der  Blüthe  herrschenden  Gliederzahl  der  Quirle  (z.  B.  2  X  ^)- 
Wir  haben  somit  rücksichtlich  der  Stellung  und  Ileduction  die 
Stufen : 

1.  spiralig  a)  poljmier,  b)  oligomer, 

2.  cyclisch  a)  polycycliscli  oder  polymer,  b)  nomocyclisch 
oder  nomomer,  c)  oligomer. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Lage  zu  den  ül)rigen  Phyllomen  der 
Blüthe  sind  zwei  Stufen  zu  unterscheiden 

1.  Fruchtknoten  ol)erständig,  2.  Fruchtknoten  unterständig. 

Das  unterständige  Ovarium  ist  jedenfalls  die  höhere  Entwick- 
lungsstufe, mag  dasselbe  durch  Verwachsung  mit  dem  Kelch  und 
den  ül^rigen  Blüthenphyllomen  oder  mit  dem  vertieften  Blüthen- 
boden  zu  Stande  kommen  (vgl.  S.  376 — 377). 

Das  Ovulum  (Samenknospe)  scheint  bezüglich  seiner  Umhüllung 
drei  Stufen  zu  durchlaufen 

1.  mit  nacktem  Kern,  2.  mit  1  Eihülle,  3.  mit  2  EihüUen. 

Rücksichtlich  der  Gestaltung  schreitet  das  gerade  (orthotrope) 
Ovulum  einerseits  zum  umgebogenen  (anatropen),  andrerseits  zum 
zusammengebogenen  (camp^dotropen)  Ovulum  fort. 

L.  Samen.  Ein  phylogenetischer  Fortschritt  gibt  sich  in  der 
zunehmenden  Grösse  der  Samen  kund  ,  indem  darin  die  vermehrte 
Sorge  für  die  Brut  ausgesprochen  ist.  Von  gleich  grossen  Samen 
sind  unter  übrigens  gleichen  Umständen  diejenigen ,  welche  einen 
grossen  Embryo  enthalten,  phjdogenetiscli  weiter  fortgeschritten  als 
diejenigen,  welche  mit  dem  kleineren  Keimling  nocli  einen  Eiweiss- 
körper  besitzen.  —  Vorstehendes  ist  in  Uebereinstinnuung  mit  der 
Thatsache,  dass  die  höheren  Thiere  (Vögel)  grössere  Eier  haben  als 
die  niederen,  und  dass  die  höchsten  Thiere  (Säuge thiere)  einen  Embryo 
im  Mutterleib  bilden. 

Was  die  Samenlapi)en  betrifft,  so  scheinen  mir  die  bekannten 
Verhältnisse  drei  Stufen  anzudeuten. 

Xj.  Mehrere  quirlständige  Samenlappen  (Coniferen). 

L,.  Zwei  opponirte  Samenlappen  mit  schmaler  Basis  (Dicotylen). 

L,.  Ein  einziger  Samenlappen  mit  scheidenförmiger  Basis  (Mono- 
cotylen). 


512     I^-  ^lor})liol<)gio  uiul  Sj'steniatik  als  pliylogenetis(!he  Wissenschaften. 

Dies  ist  keineswegs  im  Widerspruch  mit  der  früheren  Annahme, 
dass  quirlständige  Blätter  phylogenetisch  höher  stehen  als  schraul)en- 
ständige.  Fünf  einzelstehende  Blätter  erfahren  einen  Fortschritt, 
wenn  sie  zum  Quirl  sich  vereinigen,  und  ahermals  einen  Fortschritt, 
wenn  sie  durch  Reduction  auf  zwei  und  auf  eines  sich  vermindern. 
Ueberdem  ist  eine  breite  Anheftung  seitlicher  Organe  als  die  voll- 
kommenere zu  betrachten ,  weil  sie  eine  innigere  Vereinigung  an- 
zeigt. Die  mannigfaltigen  Umhüllungen  der  Samen  mit  den  Samen- 
häuten und  weiterliin  mit  den  verschiedenartigen  Fruchtgehäusen 
werden  wesentlich  durch  Anpassungserscheinungen  verursacht  und 
erlauben  keine  Gliederung  in  phjdogenetische  Stufen. 

Die  vorstehende  Aufzählung  macht  keineswegs  Anspruch  auf 
Vollständigkeit.  So  fehlt  Lage  und  Gestalt  der  Placenta  mit  der 
Anheftung  der  Ovula.  Ich  habe  dieselbe  übergangen,  weil  ich  darüber 
in  phylogenetischer  Beziehung  nichts  Treffendes  zu  sagen  w-eiss.  Man 
darf  jedoch  die  Bedeutung  der  hierher  zählenden  Merkmale  nicht 
überschätzen.  Denn  es  ist  wohl  keinem  Zw^eifel  unterworfen,  dass 
der  morphologische  Werth  der  Placenten  und  der  Eichen  überall 
der  nämliche  ist.  Die  Placenta  ist  nichts  anderes  als  eine  verdickte 
Stelle  des  Fruchtblattgewebes  und  das  Oviüum  ist  ein  auf  dem 
Carpell  entstehendes  Ti"ichom  oder  Emergenzgebilde. 

Die  Ovula  sind  phylogenetisch  die  Fortsetzung  der  weiblichen 
Sjjorogonien  der  heterosporen  Gefässkryptogamen ,  wie  die  Staub- 
säcke die  Abkömnüinge  der  männlichen  Sporogonien  sind.  Die 
Sporogonien  der  Gefässkryptogamen  aber  gehen  aus  einer  oder 
mehreren  oberflächlichen  Zellen  verschiedener  Regionen  des  Sporen- 
blattes hervor  (S.  477)  und  haben  somit  trichomatische  oder  Emer- 
genz- Natur.  Iln*e  Naclikommen,  die  Ovula,  müssen  die  nämliche 
Natur  besitzen   und  Theile   der  Fruchtblätter   sein^).     Eine  andere 


*)  Gegen  diese  Deutung  der  Natur  der  Ovula  wird  wohl  der  Einwurf  er- 
hoben werden,  dass  sie  einen  Gefässstrang  besitzen  und  daher  keine  Trichome 
sein  können.  Es  ist  ja  ein  nicht  mein-  seltenes  Verfahren,  dass  man  Anwesenheit 
und  Verlauf  der  Gefässstränge  als  Mi'rknial  für  die  Natur,  den  Ursprung  und 
die  Stellung  eines  Organs  verwendet.  Ein  solches  Verfahren  kann  aljer  nur  als 
ein  iiTthüniliches  hezeichnet  werden,  welches  seinen  Grund  in  der  Begriffsver- 
wirrung findet,  die  noch  so  vielfach  bezÄiglich  der  Erscheinungen  im  Pflanzen- 
rei(!he  berrscht.  Was  die  uiori)hologische  Bedeutung  eines  Organs  (als  Caulom, 
Phyllom,  Wurzel,  Trichom)  betriift,  um  die  es  sich  hier  handelt,  so  wird  dieselbe 
durch    die   Bolle    Ijestimnit,    die    es  beim  Aufbau  des  Pflanzenstockes  einnimmt. 


IX.  Morpliologie  und  Systoniatik  als  pliylogenetische  WissenscliafttMi.      513 

Bedeutung  könnten  sie  auf  phylogenetischem  Wege  bloss  etwa  sclieinl)ar 
durch  lieduction  erlangen,  indem  das  Carpell  l)is  auf  ein  Minimum 
schwände  und  somit  fast  nur  das  Ovulum  übrig  bliebe,  in  ähnlicher 
Weise  wie  das  männliche  Prothallium  bei  den  höchsten  Gefässkrypto- 
gamen  fast  bis  auf  das  Antheridium  schwindet.  Das  Ovulum  er- 
schiene uns  dann  fälschlich  in  der  Würde  eines  Phylloms.  Bei  den 
Primulaceen  wären,  wenn  die  centrale  Placenta  als  Caulomspitze  sich 
erweisen  sollte,  die  daran  befestigten  Ovula  solche  reducirte  Carpelle. 
Doch  halte  ich  für  wahrscheinlicher,  dass  die  Placenten  in  allen 
Fällen  Blatttheile  sind  und  im  angeführten  Falle  durch  die  Basis 
der  Carpelle  gebildet  werden. 

Das  Ovulum  aber  für  ein  Caulom  resp.  für  eine  Knospe  (Samen- 
knospe) zu  erklären,  scheint  mir  phylogenetisch  ganz  unhaltbar,  wie 
auch  keine  einzige  der  verschiedenen  ontogeuetischen  Beziehungen 
nur  einigermaassen  dafür  spricht. 


Wenn  man  zwei  Pflanzenfamilien  der  Phanerogamen  nach  den 
phylogenetischen  Stufen  ihrer  Merkmale  vergleicht,  so  findet  man 
fast  ausnahmslos,  dass  die  eine  in  den  einen,  die  andere  in  den 
anderen  Merkmalen  eine  höhere  Stufe  erreicht  hat.  Dies  beweist, 
dass  sie  verschiedenen  Abstammungslinien  angehören;  denn  wären 
sie  auch  nur  bildlich  Stufen  der  nämlichen  Linie,  und  würde  somit 
die  eine  von  der  anderen  abstammen,  so  könnte  selbstverständlich 
die  erzeugende  Familie  in  keinem  Merkmale  höher  entwickelt  sein 
als  die  erzeugte,  sondern  ihr  höchstens  gleichkommen.  Daraus  geht 
hervor,  dass  die  Phanerogamen  einer  grösseren  Menge  von  Abstam- 
mungslinien angehören  und  dass  fast  jede  der  jetzigen  natürlichen 
Familien  das  Ende  einer  solchen  Linie  bildet. 

Die  zwei  Fragen,  welche  uns  nun  am  meisten  interessiren 
würden,  —    1.  wie  die  Familien   genetisch   mit   einander   verwandt 


nämlicli  durch  den  Ort,  wo  es  entsteht,  und  (hircli  die  Art  und  Weise,  wie  es 
seHjer  Organe  hervorhringt.  Die  Bildung  der  Get'ässstränge  dagegen  ist  eine 
nachträgliche,  durch  physiologische  Functionen  hervorgel)rachte  Erscheinung,  die 
mit  jener  Rolle  in  keiner  Beziehung  steht.  Daher  gibt  es  ausnahmsweise  Fhyl- 
lome,  Caulome  (S.  •ilij),  Wurzeln  ohne  Gefässstriinge ,  —  und  es  ist  kein  Grund 
vorhanden,  warum  Trichome,  die  zu  grösserer  und  ungewöhnliclier  Entwicklung 
gelangen,  nicht  solche  bekommen  könnten. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  33 


514     IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

sind  und  wie  der  ganze  Stammbaum  sich  aufl)aut,  und  2.  wie  sich 
die  Famihen ,  welche  ungleichen  Abstammungslinien  angehören, 
bezüglich  ihrer  Vollkommenheit  zu  einander  verhalten  und  welche 
als  die  höchst  entwickelte  zu  erklären  ist,  —  lassen  sich  noch  gar 
nicht  beantworten.  Was  die  erstere  Frage  l^etrifft,  so  haben  wir  als 
Grundlage  der  genetischen  Verwandtschaft  bloss  die  systematische 
Affinität  und  als  Grundlage  für  den  Stammbaum  einzig  das  System, 
welches  wohl  in  einigen  Ilauptzügen  feststeht  und  dem  Stammbaum 
entsprechen  dürfte,  in  allen  anderen  Beziehungen  aber  willkürlich 
gestaltet  wird. 

Was  aber  die  Schätzung  der  grösseren  oder  geringeren  Vollkommen- 
heit der  Familien  betrifft,  so  hängt  dieselbe  von  der  Beurtheilung  der 
Merkmale  ab,  und  man  kann  daher,  da  die  Familien  l)ald  in  den 
einen,  bald  in  den  anderen  Merkmalen  eine  höhere  phjdogenetische 
Stufe  erreicht  haben,  ganz  ungleiche  Familien  als  die  vollkommensten 
erklären,  je  nachdem  man  dem  einen  oder  anderen  Merkmale  den 
Vorrätig  einräumt.  In  dieser  Beziehung  liegt  das  Pflanzenreich  der 
Erkenntniss  ungleich  ferner  als  das  Thierreich,  w^eil  bei  diesem  eine 
bestimmte  Gruppe  (die  Wirbelthiere)  so  deutlich  sich  als  die  voll- 
kommenste darstellt,  und  in  dieser  Gruppe  sicli  der  vollkommenste 
Organismus  so  deutlicli  lieraushel)t. 

Wenn  wir  wüssten,  welches  die  vollkommensten  Pflanzen  sind, 
so  wären  wir  um  einen  grossen  Sehritt  dem  Ziele  näher  gerückt, 
und  wir  könnten  wenigstens  in  allgemeinen  Zügen  das  phylogene- 
tische S3^stem  der  Phanerogamen  zu  entwerfen  versuchen.  Man  hat 
aber  über  jene  Frage  die  verschiedenartigsten  Ansichten.  A^erdienen  die 
Papilionaceen ,  die  Pomaceen ,  die  Ranunculaceen  ,  die  Umbelliferen 
oder  irgend  eine  andere  Familie  den  Rang  der  höchsten  Pflanzen?  — 
Wir  können  zwar  mit  Sicherheit  sagen,  dass  diejenige  als  die  höchste 
Pflanze  erkannt  wird,  in  welcher  Differenzirung,  Reduction  und  Ver- 
einigung am  weitesten  fortgeschritten  sind ;  aber  wenn  wir  nach 
diesen  Merkmalen  zu  vergleichen  suchen ,  so  gibt  es  keine  Gruppe, 
welche  in  allen  Beziehungen  ülier  die  anderen  hinausragt.  Es  stellt 
denn  auch  fast  jeder  Systematiker  eine  andere  Familie  an  die  Spitze 
seines  Systems.  Allerdings  mag  dies  zuweilen  nur  eine  unabsicht- 
liche Folge  der  systematischen  Anordnung  sein;  von  anderen  Autoren 
aber  wird  ausdrücklich  eine  bestimmte  Familie  als  die  höchste  in 
Anspruch  genommen. 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften       f)!;") 

Da  die  einen  Pflanzenfamilien  in  den  einen,  andere  in  anderen 
Merkmalen  als  die  höherstehenden  sich  erweisen,  so  erhebt  sich  die 
für  alle  systematische  Vergleichung  so  bedeutungsvolle  Frage,  welche 
von  den  verschiedenen  Eigenschaften  als  die  wichtigeren  zu  betracliten 
seien.  Die  Praxis  hat  darauf  die  Antwort  gegeben,  dass  die  Merk- 
male der  Blüthe  und  der  Frucht  einen  viel  grösseren  Werth  besitzen 
als  die  der  vegetativen  Organe.  Es  ist  selb.st  fast  allgemein  als  Axiom 
festgehalten  worden,  dass  nur  die  ersteren  zu  Gattungsunterschieden 
benutzt  werden  dürfen ,  indess  die  Speciesunterschiede  überall  ge- 
nommen werden,  wo  man  sie  findet. 

Versuchen  wir  die  Lösung  der  eben  gestellten  Frage  auf  den 
zwei  Wegen,  deren  Uebereinstimmung  allein  die  Wahrheit  verbürgt, 
nämlich  mit  Hilfe  der  Erfahrung  und  der  Theorie.  Von  Seite  der 
Erfahrung  ist  von  zwei  Merkmalen  stets  demjenigen  die  grössere 
Wichtigkeit  zuzuerkennen ,  welches  die  grössere  Constanz  ,  oder,  da 
wir  die  letztere  eigentlich  nicht  zu  beurtheilen  vermögen,  die  grössere 
Permanenz  (vergl.  S.  2;J9 — 240)  besitzt.  Von  diesem  Standpunkte 
aus  rechtfertigt  sich  nun  das  Verfahren  der  Systematiker,  der  Blüthe 
und  Frucht  eine  grössere -Bedeutung  beizulegen,  als  den  vegetativen 
Organen,  wenn  auch  niclit  in  der  Ausschliesslichkeit,  mit  der  es 
durchgeführt  wird.  Manche  Blüthen-  und  Samenmerkmale  zeichnen 
sich  durch  eine  sehr  grosse  Permanenz  aus,  indem  sie  in  ganzen 
Familien  oder  in  grösseren  Abtheilungen  des  Pflanzenreiches  unver- 
änderlich jedem  Individuum  zukonnnen.  Dagegen  gibt  es  allerdings 
auch  Merkmale  der  Blüthe  und  namentlich  der  Frucht,  welche 
selbst  in  den  Arten  einer  Gattung  variiren ;  und  andrerseits  Eigen- 
thümlichkeiten  in  der  vegetativen  Sphäre,  welche  sich  als  sehr  per- 
manent erweisen. 

Von  Seite  der  Theorie  ist,  wenn  wir  von  den  früheren  miss- 
lungenen  Versuchen  der  Naturphilosophie  absehen,  eine  Lösung  der 
vorliegenden  Frage  nicht  unternommen  worden.  Dieselbe  kann  nur 
auf  phylogenetischem  Wege  gelingen,  und  vielleicht  ist  folgende  Er- 
Avägung  geeignet,  die  maassgebenden  Gesichtspunkte  anzudeuten. 

Eine  Abstammungslinie  —  der  Einfachheit  halber  will  ich  ge- 
schlechtslose Forti)flanzung  voraussetzen  —  ist  eine  Kette  von  auf- 
einander folgenden  Tndi\nduen,  von  denen  jedes  an  dem  endliclion 
Resultat,  nämlich  an  der  Beschaffenheit  der  Lidividuon  der  letzten 
Generation,  die  ich  als  A  bezeichnen  will,  Ijetheiligt  ist.    Alle  anderen 

33* 


510'    IX.  Morpliologie  und  S_vsteiii;itik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

Abstanimungsliiiieii,  die  von  früheren  Punkten  der  genannten  Linie 
abgegangen  sind,  mögen  sie  ausgestorben  sein  oder  zu  anderen 
Resultaten  (i>,  C,  I)  .  .  .  .)  geführt  haben,  fallen  ausser  Betracht,  wenn 
es  sich  bloss  um  A  und  die  Ursachen  von  A  liandelt.  —  Es  gibt 
selbst  Individuen,  die  an  keiner  Abstammungslinie  überhaupt  Theil 
nehmen;  es  sind  dies  die  von  Natur  zur  Unfruchtbarkeit  bestimmten, 
wie  die  Arbeiterinnen  der  Ameisen  und  Bienen.  Irgendwelche  Ver- 
änderungen in  diesen  Individuen  würden  für  das  Resultat  der  Ab- 
stamnumgslinien  indifferent  bleiben. 

Wir  können  eine  Abstammungslinie  statt  als  eine  Kette  von 
Pflanzen-  oder  Thierindividuen,  auch  als  eine  Kette  von  Organen 
oder  von  Zellen  ansehen.  Dann  ist  es  von  allen  Organen  oder 
Zellen  der  auf  einander  folgenden  Ontogenien  verhältnissmässig  nur 
eine  geringe  Zahl,  welche  dieser  Kette  angehört;  alle  anderen  stellen 
appendiculäre  Theile  derselben  dar.  —  Nehmen  wir  die  Zelle  als  das 
Element  der  Abstannnungslinie  und  lösen  wir  also  das  Individuum 
in  die  einzelnen  Zellen  auf,  so  beginnt  mit  der  befruchteten  Eizelle 
eine  wiederholte  Zweitheilung ;  es  geht  von  ihr  ein  fast  ins  Unendliche 
verzweigter  Stammbaum  von  Zellen  aus.  Aber  nur  wenige  der  so 
zahlreichen  Abstammungszellreihen  führen  zu  den  befruchteten  Ei- 
zellen, mit  denen  die  Individuen  der  folgenden  Generation  beginnen; 
alle  übrigen  Abstammungszellreihen  sind  accessorische  und  haben 
keine  Nachkommen.  Jene  wenigen  Reihen  bezeichnen  den  uiunittel- 
baren  Weg  der  durch  das  Individuum  verlaufenden  phylogenetischen 
Entwicklung.  Insoferne  können  wir  die  ihr  angehörigen  Zellen  als 
phylodische  bezeichnen,  während  alle  übrigen  Zellen  des  Indi- 
vidumns,  als  ausserhalb  des  phylogenetischen  Weges  liegend,  paro- 
dis(;h  genannt  werden  können.  Eine  verwandte  Betrachtung  diente 
mir  oben  (8.  423)  dazu,  um  die  Noth wendigkeit  des  Absterbens  der 
Individuen  darzuthun. 

Wie  mit  den  Zellen  verliält  es  sich  mit  den  Organen.  Nur 
wenige  derselben  befinden  sich  bei  den  höheren  Pflanzen  auf  dem 
directen  phylogenetischen  Wege,  sind  also  2>hylodiscli,  nämlich  der  aus 
dem  Samen  erwachsende  Stengel  sammt  den  zu  den  Blüthen  fülirenden 
Verzweigungen  und  die  Eortpflanzungsphyllome  (Staubgefässe  und 
Carpelle).  Alle  übrigen  Organe  liegen  abwegs  und  sind  parodisch, 
nämlich  alle  'frichome,  alle  Wurzeln,  alle  Phyllome  mit  Ausnahme 
der  die  Siaubsäcke  und  Ovula  tragenden  und  manchmal  auch  gewisse 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     517 

Caulome;  nur  ausnahmsweise  wird  etwa  das  eine  oder  das  andere 
der  parodischen  Organe  in  den  phylodischen  Weg  aufgenommen 
(Sprossung  aus  Wurzeln,  aus  Laubblättern). 

Man  wird  es  nun  an  und  für  sich  nicht  unwahrscheinlich  finden, 
dass  die  phylodischen  und  die  parodischen  Organe  oder  Zellen  nicht 
die  nämliche  phylogenetische  Bedeutung  besitzen,  womit  dann  zugleich 
ausgesprochen  ist,  dass  die  Bedeutung  der  phylodischen  Theile  grösser 
sein  muss.  Dies  stimmt  vollkommen  mit  der  Theorie  des  Idioplasmas, 
wde  ich  sie  in  dieser  Schrift  entwickelt  habe,  überein.-  Den  phylo- 
dischen Theilen  einer  Pflanze  müssen  die  Hauptzüge  der  idioplas- 
matischenConfiguration,  den  appendiculären  oder  parodischen  Theilen 
müssen  mehr  untergeordnete  idioplasmatische  Gruppen  entsprechen. 
Daraus  folgt,  dass  die  ersteren  beständiger,  also  auch  permanenter 
sind  als  die  letzteren. 

Die  einen  und  die  anderen  Organe  besitzen  zweierlei  erbliche 
Merkmale,  solche,  welche  durch  innere,  und  solche,  welche  durch 
äussere  Ursachen  hervorgebracht  wurden.  Die  letzteren  oder  die 
Anpassungsmerkmale  haben  eine  viel  geringere  Permanenz  (Constanz) 
und  somit  auch  eine  geringere  Wichtigkeit;  aber  es  macht  keinen 
Unterschied,  ob  sie  den  phylodischen  oder  den  parodischen  Organen 
zukommen.  Wohl  aber  sind  sie  an  den  parodischen  Theilen  ungleich 
häufiger,  was  sich  leicht  daraus  erklärt,  dass  diese  im  allgemeinen 
gleichsam  als  seitliche  Anhängsel  die  phylodischen  Theile  umgeben 
und  dieselben  wenigstens  in  den  jüngeren  Stadien  vollständig  ein- 
hüllen und  somit  vor  äusseren  Angriffen  schützen,  indem  sie  selber 
diese  Angriffe  aushalten.  Man  denke  an  die  zahllosen  Modificationen 
der  Phyllome  und  der  Trichome,  zum  Theil  auch  der  Wurzeln.  Den 
phylodischen  Organen  kommt  ebenfalls  die  Fähigkeit  der  Anpassung 
zu,  da  .sie  in  den  älteren  Stadien  frei  und  den  äusseren  Einflüssen 
ausgesetzt  sind ;  sicher  aber  erfahren  in  ihnen  nur  die  aus  parodischen 
Zellen  gebildeten  Gewebe  eine  Anpassung. 

Es  entspricht  also  vollkommen  der  Theorie,  wenn  den  IJhithen 
und  Samen  sammt  Blüthenstand  die  höchste  Bedeutung  in  der  Syste- 
matik eingerämnt  wird;  denn  in  ihnen  sind  die  meisten  phvlodisclien 
Theile  der  Pflanze  enthalten.  Es  fehlt  sogar  gar  nichts  von  den 
phylodischen  Theilen,  wenn  das  Wesentliche  des  Blüthenstandes  im 
Verhältniss  des  Blüthencauloms  zu  den  übrigen  Caulomen  der  Pflanze, 
also  im  Aufbau  des  ganzen  Pflanzenstockes  gefunden  wird  (S.  48U— 483). 


518.     IX.  Morphologie  luid  Systematik  als  pliylogenctisclie  Wisseiiscliaften. 

In  der  o1)igeii  Betrachtung  ül)er  die  phylogenetischen  Entwick- 
lungen in  der  Grui)pe  der  Phanerogamen  (S.  47'J — 513)  sind  die 
wichtigsten  phylo(hschen  Merkmale,  welche  sich  auf  die  äussere  Ge- 
staltung heziehen,  aufgezählt.  Dieselhen  können  im  allgemeinen 
als  sehr  permanent  und  wichtig  gelten.  Dahei  ist  aher  nicht  aus- 
geschlossen, dass  jedes  Merkmal  in  denjenigen  Familien  variireh 
kann,  in  welchen  der  Fortschritt  von  der  niederen  zu  der  höheren 
Stufe  noch  im  Werden  begriffen  oder  noch  jung  und  nicht  hin- 
reichend befestigt  ist. 

Man  darf  ferner  nicht  etwa  den  Einwand  machen,  dass  die 
Stellung  und  Verwachsung  der  Phyllome  (F  S.  -185),  soweit  dieselben 
nicht  Staubblättei-  oder  Carpelle  sind,  die  Zahl  der  Samenlappen 
{L  S.  511),  die  Belilätterung  der  Pflanze  {E  S.  484)  nach  meiner  eben 
gemachten  Auseinandersetzung  keine  wichtigen  Merkmale  wären? 
da  sie  von  parodischen  Theilen  entnommen  seien.  Allerdings  sind 
die  Phyllome  im  allgemeinen  jjarodische  Organe;  aber  ihre  Stellung 
und  ihre  Zahl  gehören,  weil  diesel]>en  unmittelbar  von  dem  erzeu- 
genden Caulom  abhängen,  eigentlich  zu  den  Merkmalen  des  Cauloms, 
somit  zu  den  phylodischen  Merkmalen.  Die  A^erwachsung  der 
Blätter  unter  einander,  besonders  der  Perigonljlätter ,  ist  eine  Folge 
der  Quirlstellung  und  tritt  wohl  immer,  wenn  nicht  etw^a  die  schmalen 
Blattstiele  ein  Ilinderiiiss  bilden,  im  phylogenetischen  Verlaufe  ein; 
sie  wird  also  ebenfalls  durch  das  Verhalten  des  Cauloms ,  eines 
phylodischen  Organs,  bestimmt.  Dagegen  ist  die  Gestaltung  der 
Phyllome  sowie  der  ül)rigen  parodischen  Organe  (Trichome,  Wurzeln) 
von  geringer  phylogenetischer  Bedeutung. 


Schliesslich  will  ich  noch  bezüglich  einiger  Pflanzen ,  denen 
man  den  höchsten  Rang  im  Reiche  einräumen  wollte,  und  bezüglich 
einiger  anderer,  die  wohl  ebenso  sehr  diesen  Rang  hätten  ])ean- 
spruchen  können,  untersuchen,  inwiefern  ihre  Merkmale  überhaupt 
zu  einem  Schlüsse  auf  grössere  Vollkommenheit  berechtigen.  Ich 
wiederhole  hier,  dass  wir  als  die  vollkonnnensten  diejenigen  Pflanzen 
zu  betrachten  haben,  in  welchen  in  den  wichtigsten  Organen  die 
Differenzirung  und  zugleich  die  Reduction  sowie  ferner  die  Ver- 
einigung am  weitesten  fortgeschritten  sind.     Die   grössere  Zahl   der 


IX.  Morphologie  und  Systeiuatik  als  [)hylogenetische  Wissenschaften.     51JJ 

Organe  ist  also  nicht  das  Merkmal  einer  höheren  Stufe,  sondern  im 
allgemeinen  das  Gegeiitheil  davon,  und  die  quantitative  Verschieden- 
heit, welche  in  einer  Menge  von  Ahstufungen  besteht,  ist  unvoll- 
kommener als  der  Zustand,  in  welchem  nach  Unterdrückung  aller 
Uel)ergänge  Ijloss  die  wenigen  ausgeprägten  Bildungen  ül)rig  Ijleiben 
und  unvermittelt  neben  einander  liegen. 

Die  R  a  n  u  n  c  u  1  a  c  e  e  n ,  die  als  die  vollkommensten  Pflanzen 
an  der  Spitze  des  Systems  von  A.  P.  de  Ca nd olle  stehen,  erreichen 
in  keinem  einzigen  Merkmale  einen  hohen  phylogenetischen  Rang. 
Der  Aufbau  des  Pflanzenstockes  bleibt  auf  der  untersten  Stufe,  indem 
die  ßlüthen  an  den  Laubblattsprossen  terminal  sind.  Ebenso  stellen 
das  Androeceum  und  Gynaeceum  bezüglich  Stellung  und  ^''crwachsung 
niedrige  Bildungen  dar,  da  die  Staubgefässe  und  Carpelle  ge- 
wöhnlich zahlreich,  schraubenständig  und  nicht  mit  einander  ver- 
wachsen sind. 

Die  Pomaceen,  von  Oken  für  die  höchsten  Pflanzen  ge- 
halten ,  1)efinden  sich  bezüglich  des  Aufbaues  des  Pflanzenstockes 
auf  der  nämlichen  niedrigen  Stufe  wie  die  eben  genannte  Familie. 
Androecemn  und  Gynaeceum  jedoch  stehen  etwas  höher,  indem  die 
Staubblätter  kelchständig  und  in  Quirle  geordnet  sind ,  deren  Zahl 
aber  noch  nicht  normirt  ist,  und  indem  die  (zwar  unter  sich  freien) 
Carj)elle  mit  dem  vertieften  Blüthenboden  zu  einem  unterständigen 
Fruchtknoten  verwachsen  sind. 

Bei  den  Papilionaceen,  die  von  Endlicher  an  die  Spitze 
des  Systemes  gestellt  wurden ,  erreicht  der  Aufbau  des  Pflanzen- 
stockes die  höchsten  Stufen  (er  ist  diplo-triplo-  und  tetraplocaulisch), 
ebenfalls  die  Gestaltung  der  Laubblätter.  Dagegen  bleiben  die  Blüthen 
rücksichtlich  der  Verwachsung  ihrer  Theile  auf  niederen  Stufen 
stehen,  und  das  Gynaeceum,  wenn  es  auch  die  liöchste  Reduction 
(auf  1  Carpell)  erlangt  hat,  ist,  wie  sich  aus  seinem  Bau  und  aus 
der  ganzen  Verwandtschaft  schliessen  lässt,  als  der  Rest  einer  Mehr- 
zahl von  getrennten  Carpellen,  also  einer  niederen  Bildung  zu  be- 
trachten. 

Die  Um bellif ereil,  gleichfalls  schon  für  die  vollkonuncnsten 
Pflanzen  gehalten,  stehen  zwar  bezüglich  des  Aufbaues  des  Pflanzen- 
stockes etwas  hinter  der  vorhergehenden  Familie  zurück,  indem  sie 
zwar  diplo-  und  triplocaulisch  sind ,  aber  leicht  durch  Rückschlag 
auf    die    haplocaulische   Stufe    zurücksinken,    wie    auch    die  .Dorsi- 


520     IX-  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften. 

ventralität  der  Blüthe  noch  wenig  ausgebildet  ist.  Dagegen  befindet 
sich  im  übrigen  die  Blüthe  entschieden  auf  einer  höheren  Stufe. 
Was  den  Bauplan  betrifft,  so  ist  das  Androeceum  und  Gj^naeceum 
wahrscheinlich  durch  Reduction  aus  der  nomocyclischen  Zahl  3  mal  5 
Staubblätter  und  2  mal  5  Carpelle  entstanden ,  wie  es  durch  Mon- 
strositäten und  durch  das  Verhalten  der  verwandten  Araliaceen  nahe 
gelegt  wird.  Besonders  aber  ist  es  der  streng  unterständige  Frucht- 
knoten mit  ursprünglich  2,  durch  Verkümmerung  auf  1  beschränkten 
Eichen  in  jedem  der  beiden  Fächer,  welcher  die  Uml^elliferen  über 
alle  vorhergenannten  Familien  erhebt. 

Die  bisherigen  Familien ,  deren  ich  deswegen  erwähnt  habe, 
weil  sie  schon  an  die  Spitze  von  Pflanzensystemen  gestellt  wurden, 
gehören  den  Choripetalen  an ,  welche  die  Systematiker  gewöhnlich 
für  die  höchste  Pflanzengruppe  halten.  Ich  will  damit  noch 
eine  Familie  der  Gamopetalen  vergleichen.  Die  Compositen, 
bereits  von  E.  Fries  für  die  vornehmste  Familie  erklärt,  können 
in  mehreren  Beziehungen  mit  den  Umbelliferen  zusammengestellt 
werden.  Der  Aufbau  des  ganzen  Pflanzenstockes  ist  etwas  weiter 
fortgeschritten,  nämlich  diplocaulisch  oder  triplocaulisch  ohne  Rück- 
schlag zu  einer  terminalen  Blüthe.  Der  Bauplan  der  Blüthe  scheint 
mir  durchaus  identisch  mit  dem  der  Umbelliferen  und  die  typische 
Zahl  (5  Sep.  5  Pet.  5  Stam.  2  Carp.)  aus  der  nämliclien  nomo- 
cyclischen Zahl  durch  Reduction  entstanden.  Die  C'om})Ositen  stehen 
aljer  höher  als  die  Umbelliferen ,  indem  die  Staubfäden  mit  den 
Blumenblättern  röhrig  verwachsen  und  ebenso  die  Antheren  unter 
sich  in  eine  Röhre  verschmolzen  sind,  und  indem  ferner  das  unter- 
ständige aus  2  Carpellen  verwachsene  Ovarium  1  fächerig  und  leiig  ist. 

Obgleich  die  Monocotylen  ausnahmslos  als  den  Dicotylen  unter- 
geordnet behandelt  werden ,  will  ich  doch  zur  Vergleichung  zwei 
Familien  derselben  heranziehen.  Die  Orchideen  stehen  bezüglich 
ihres  ganzen  Aufbaues  ziemlich  auf  derselben  Stufe  mit  den  Papi- 
lionaceen  und  Compositen,  indem  sie  diplo-  und  triplocaulisch  sind. 
Viele  zeichnen  sich  durch  eine  starke  Reduction  ihrer  Phyllome  aus, 
indem  die  Zahl  der  Laubblätter  nicht  selten  auf  2  oder  ein  einziges 
sich  beschränkt.  Der  cyclische  Aufbau  der  Blüthen  zeigt  im  Androe- 
ceum die  grösstmögliche  Reduction  auf  ein  Staubblatt,  im  Gynaeceum 
die  Reduction  auf  8  (fruclitbare)  Carpelle.  Einen  sehr  hohen  Ent- 
wicklungsgrad zeigen  auch  die  Unterständigkeit  des  Ovariums,  dessen 


IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenschaften.     521 

klappige  Verwachsung  und  die  Gynandrie  an.  Dagegen  bieten  die 
Samen  wegen  ihrer  grossen  Zahl  und  wegen  der  geringen  Ausbildung 
des  Embryos  ein  bei  Phanerogamen  seltenes  Beispiel  der  Unvoll- 
kommenheit ;  denn  es  ist  ja  ein  Merkmal  der  niederen  Organismen, 
zalilreiche,  schleclit  ausgestattete  Keime  hervorzubringen,  während 
die  höheren  Organismen  ihre  wenigen  Keime  viel  besser  versorgen. 

Die  Gramineen,  meistens  an  eine  der  untersten  Stellen  im 
System  der  angiospermen  Phanerogamen  verwiesen,  sind  im  ganzen 
Aufbau  diplocauhsch ,  und  zeigen  eine  selten  in  solchem  Maasse 
erreichte  Scheidung  zwischen  Laub-  und  verkümmerten  Hochblättern. 
Die  cyclisch  gebauten  Blüthen  sind  im  Perigon  aufs  äusserste,  im 
Androeceum  meist  auf  3 ,  im  G3'naeceum  auf  1  (vielleicht  auf  2) 
Carpelle  reducirt.  Jedenfalls  ist  das  Ovarium,  auch  wenn  es  1  carpellig 
ist,  phylogenetisch  aus  mehreren  klappig  verwachsenen  Carpellen 
entstanden,  wde  aus  den  verwandten  Cyperaceen  zu  erselien  ist,  und 
entspricht  somit  bezüglich  seines  Baues  und  ebenso,  weil  es  ein  ein- 
ziges Ovulum  einschliesst,  der  höchsten  Entwicklungsstufe,  während 
es  in  der  Oberständigkeit  hinter  den  Orchideen  zurückbleibt. 

Der  Grund ,  warum  den  Gramineen  gewöhnlich  eine  so  tiefe 
Stelle  im  System  angewiesen  wird ,  liegt  in  der  rudimentären  Be- 
schaffenheit des  Perigons  und  wohl  aucli  in  der  Spelzennatur  der 
Hochl)lätter  ,  sowie  in  der  Gestalt  und  Consistenz  der  Laul)ljlätter. 
Doch  sind  dies  alles  Anpassungseigenschaften  und  von  geringerer 
systematischer  Bedeutung;  und  ebenso  wenig  darf  den  Orchideen 
wegen  ihres  grossen,  bunten  und  mannigfaltig  gestalteten  Perigons 
ein  höherer  Platz  im  System  eingeräumt  werden.  Welche  von  den 
beiden  Familien  die  andere  überrage,  wüsste  ich  nicht  zu  entsclieiden; 
und  wie  sich  dieselben  zu  den  höher  stehenden  Familien  unter  den 
Dicotyleii  verhalten,  hängt  vorzüglich  von  dem  gegenseitigen  Wertlie 
der  Dicotyleii  und  Monocotylen  ab. 

Was  nun  die  Stellung  dieser  beiden  grossen  Pflanzengruppen 
betrifft,  so  datirt  sich  die  tiefere  Stellung  der  Monocotylen  von  Jus- 
s  i  e  u ,  dem  Begi'ünder  des  natürlichen  Pflanzeiisystcmes  her,  dessen 
dreiHauptabtheilungen  Acotyledonen,  Monocotyledonen,  Dicotyledonen 
in  dieser  Anordnung  die  natürliche  Reihenfolge  gefunden  zu  haben 
schienen.  Als  man  dann  zu  der  Einsicht  kam  ,  dass  in  den  Dico- 
tyleii von  Jussieu  eine  Pflanzengruppe,  die  Gymnospermen,  ent- 
halten   sei,    welche    zwischen  den    übrigen  Phanerogamen   und   den 


522     I^-  Morphologie  und  Systematik  ul«  phylogenetische  Wissenschaften. 

Kryptogameii  stehe,  so  räumte  man  ilmen  diesen  Platz  ohne  weitere 
Aenderung-  im  System  ein,  so  dass  nun  auf  die  Geliisskr^^ptogamen 
nach  einander  Gymnospermen ,  Monocotylen ,  Dicotylen  folgten ; 
während  doch  die  richtigere  Reihenf(jlge  unter  den  Phanerogamen 
gewesen  wäre: 

1.  Gymnospermen  oder  Polycotylen.  Mit  2  bis  vielen 
am  Grunde  schmalen  Samenlappen,  Gefässstränge  des  CVmloms  zu 
fortgesetztem  Dickenwachsthum  und  zur  Verschmelzung  in  einen 
Ring  befähigt. 

2.  Dicotylen.  Mit  2  (selten  mehreren)  am  Grunde  schmalen 
Samenlappen,  Gefässstränge  des  Cauluins  zu  fortgesetztem  Dicken- 
w^achsthum  und  zur  Verschmelzung  in  einen  Ring  befähigt. 

3.  Monocotylen.  Mit  1  am  Grunde  scheidenförmig  ver- 
breiterten Samenlappen,  Gefässstränge  des  Cauloms  zerstreut,  weder 
zu  fortgesetztem  Dickenwachsthum  noch  zur  Verschmelzung  in  einen 
Ring  fähig. 

Dass  der  monocotyle  Embryo  als  das  höhere  j)hylogenetische 
Merkmal  zu  betrachten  sei,  habe  icli  oben  gesagt  (S.  511).  Doch 
würde  aus  diesem  einen  Merkmal  noch  nichts  für  die  ganzen  Pflanzen 
und  die  ganzen  Gruppen  folgen.  —  Man  kann  die  Vergleichung  der 
Monocotylen  und  Dicotylen  nacli  drei  Gesichtspunkten  vornehmen: 
1.  nach  dem  Ursprung  derselljen ,  2.  nach  dem  durchschnittlichen 
Bau  der  zu  ihnen  gehörenden  Pflanzen,  3.  nach  dem  Bau  der  höchst 
entwickelten  Pflanzen. 

Was  zuerst  den  Ursprung  betrifft,  so  wäre  der  genetische  Werth 
entschieden,  wenn  wahrsclieinlich  gemacht  werden  könnte,  dass  die 
Dicotylen  aus  den  Monocotylen  oder  diese  aus  jenen  entstanden 
seien.  Aber  es  ist  weder  das  eine  noch  das  andere  möglich,  soweit 
es  sich  um  den  jetzigen  Umfang  der  Gruppe  handelt.  Man  muss 
jedenfalls  die  Abstamnmngslinien  der  Gymnospermen ,  der  Mono- 
cotylen und  der  Dicotylen  sehr  weit  zurückverfolgen,  ehe  man  zu 
dem  gemeinsamen  Ausgangspunkte  kommt.  Möglicher  Weise  ist  jede 
dieser  Gruppen  mit  mehreren  oder  vielen  getrennten  Stämmen  von 
den  niedersten  ausgestorl)enen  Gefässkryptogamen  ausgegangen,  oder 
alle  ihre  Abstammungslinien  waren  auf  der  Stufe  der  niedersten 
Gefässkryptogamen  in  einen  einzigen  oder  in  einige  wenige  Stämme 
vereinigt.  Ob  das  eine  oder  das  andere  der  Wirklichkeit  entspricht, 
macht  aber  keinen  Unterschied  für  den  phylogenetischen  Werth. 


IX.  MorpLologie  und  Systematik  als  phylogenetische  Wissenscliafteu.     523 

Bezüglich  des  durchschnittlichen  Baues  kann  ^vu]d  kein  Zwcii'el 
bestehen,  dass  die  Monocotylen  den  höheren  Rang  einnehmen,  da 
bei  übrigens  gleichen  Verhältnissen  die  Blüthen  in  der  grossen  Mehr- 
zahl c}-cliscli ,  und  zwar  meist  nomucyclisch  oder  oligocyclisch  (die 
Quirle  und  Quirlelemente  durch  Reduction  auf  eine  geringe  Zahl 
vermindert)  sind.  Die  durchschnittliche  hohe  Ausbildung  der  Mono- 
cotylen deutet  aber  vielleicht  bloss  darauf  hin  ,  dass  sie  die  ältere 
Gruijpe  sind  und  ihre  niederen  Familien  meistens  durch  Aussterben 
verloren  haben. 

Fragen  wir  uns  endlich,  ob  die  höchst  organisirte  Pflanze  bei 
den  Monocotylen  oder  Dicotylen  sich  finde ,  so  ist  dies  jetzt  wohl 
noch  nicht  mit  Sicherheit  zu  Ijeantworten.  Nach  meiner  Ansicht 
muss  als  der  höchste  Organisnms  derjenige  betrachtet  werden,  der 
den  zusammengesetztesten  Bau  und  die  grösste  Theilung  der  Functionen 
besitzt,  oder  mit  anderen  Worten  derjenige,  dessen  Organisation  die 
grösste  Zahl  von  vorausgegangenen  Entwicklungsstufen  voraussetzt. 
Nun  sind  aber  bei  den  phanerogamischen  Gewächsen  mehrere  Organe 
an  dem  phylodischen  Theil  der  Ontogenie  betheiligt  und  jedes  der- 
selben kann  eine  grössere  oder  geringere  Zahl  von  Entwicklungsstufen 
zurückgelegt  haben.  Es  handelt  sich  also  bei  jeder  Pflanze  um  eine 
Summirung,  für  deren  exacte  Ausführung  es  noch  an  einer  wissen- 
schafthchen  Methode  fehlt.  Die  Werthschätzung  hängt  somit  zum 
guten  Theil  von  subjectiver  Meinung  ab.  Nacli  meinem  Gefühle 
würde  ich  den  Conipositen  einen,  wenn  auch  nur  geringen,  Vorrang 
vor  allen  anderen  Dicotylen  und  Monocotylen  einzuräumen  geneigt 
sein.  Man  könnte  auch  daran  sich  erinnern,  dass  diesell)en  jedenfalls 
diejenige  Pflanzenfamilie  darstellen,  welche  in  der  jüngsten  Zeit  die 
stärkste  phylogenetische  Vermehrung  erfahren  hat,  in  der  jetzigen 
Pflanzenwelt  alle  anderen  an  Zahl  der  Sippen  übertrifft  und  wahr- 
scheinlich zu  dem  Maximum  ihrer  numerischen  Vertretung  gelangt 
ist,  so  dass  in  Zukunft  wohl  wieder  Verminderung  der  Sippenzahl 
eintreten  wird.  Al)er  aus  dieser  Thatsache ,  durch  welche  sich  die 
Conipositen  so  charakteristisch  im  Pflanzenreiche  hcraushel)en,  lässt 
sich  kaum  etwas  auf  ihren  Rang  in  demselljen  entnehmen. 


X. 

Zusammenfassung. 


In  dieser  Zusammenfassung  verfolge  ich  im  allgemeinen  den 
umgekehrten  Weg  von  dem,  welchen  die  Al)handlung  eingeschlagen 
hat.  Ich  gehe  nämlich  von  dem  unorganischen  Urzustände  aus 
und  suche  zu  zeigen,  wie  in  demselben  die  micellös-organisirte  Sub- 
stanz und  aus  dieser  die  Organismen  mit  ihren  mannigfaltigen  Eigen- 
schaften entstanden  sind.  Da  eine  solche  Synthese  noch  weit  von 
einer  streng  naturgesetzlichen  Folgerung  aus  den  gegebenen  Stoffen 
und  Kräften  entfernt  ist,  so  wird  sie  auch  nur  durch  die  genaue 
Kenntniss  der  vorausgegangenen  Erörterungen  verständlich  und  ein- 
leuchtend. Obgleich  das  synthetische  Verfahren  die  Mängel  der 
Theorie  offener  darlegt  als  die  analytischen  Untersuchungen,  so 
hielt  ich  es  doch  für  nützlich,  diese  Darstellung  zu  versuchen,  um 
ein  anschaulicheres  Bild  der  ganzen  mechanisch  -  physiologischen 
Lehre  zu  geben  und  zugleich  ihre  Leistungsfähigkeit  zu  prüfen. 

I.  Aufbau  der  unorganisirten  Körper  (Krystailbildung). 

Wenn  die  getrennten  und  sich  durch  einander  bewegenden 
Moleküle  des  gelösten  oder  geschmolzenen  Zustandes  irgend  einer 
Substanz  nach  Verminderung  der  Treiniungs-  und  Bewegungsursachen 
(der  Wärme  oder  des  Lösungsmittels)  in  den  ruhenden  Zustand  über- 
gehen, so  legen  sie  sich  zu  festen,  für  Flüssigkeiten  undurchdring- 
lichen Massen  an  einander, -welche  durch  Auflagerung  an  der  Ober- 


X.  Zusammenfassung.  525 

fläche  wachsen  und,  wenn  die  Molecnhirkridte  ungestört  wirken 
können,  den  regehuässigen  inneren  Bau  und  die  regehnässige  äussere 
Gestalt  der  Krystalle  annehmen.  Xon  den  äusseren  Umständen  hängen 
Zahl  und  Grösse,  die  Modifi('ation  der  äusseren  Gestalt  und  die 
^Verwachsungen  der  Krystalle  ah. 
S.  93  —  95. 

2.  Aufbau  der  lebenden  organisirten  (micellösen)  Körper. 

Einige  organische  A^erbindungen ,  darunter  das  Eiweiss,  sind 
weder  molecularlöslich,  trotz  ilu-er  grossen  Verwandtschaft  zu  Wasser, 
noch  auch  schmelzbar  und  werden  deshalb  im  micellösen  Zustande 
erzeugt.  Dieselben  bilden  sich  in  Wasser,  wobei  sich  die  unmittelbar 
neben  einander  entstehenden  Moleküle  zu  Krystallanfängen  oder 
Micellen  an  einander  legen.  Von  den  in  der  Folge  sich  bildenden 
Molekülen  können  nur  solche,  die  ein  Micell  berühren,  zur  Ver- 
grösserung  desselben  beitragen ,  während  die  übrigen  wegen  ihrer 
Unlöslichkeit  neue  Micelle  erzeugen.  Daher  bewahren  die  Micelle 
eine  auch  für  das  bewaffnete  Auge  unsichtbare  Kleinheit. 

Die  Micelle  umgeben  sicli,  wegen  der  Verwandtschaft  ihrer  Sub- 
stanz zu  Wasser,  mit  einer  verdichteten  Wasserhülle.  Ueber  die- 
selbe hinaus  überwiegt  die  Anziehung  zu  gleicher  Substanz.  Daher 
vereinigen  sich  die  mit  Wasser  umhüllten  Micelle  zu  festen  (von 
Wasser  durchdrungenen)  Massen,  wenn  nicht  die  bewegenden  Kräfte 
die  Anziehung  überwinden  und  eine  micellare  Lösung  herstellen 
(Eiweiss,  Leim,  Gummi) ,  wobei  die  wenig  beweglichen  Micelle  die 
Neigung  zeigen,  in  kettenartigen  und  anderen  Verbänden  zusammen 
zu  hängen.  Sehr  häufig  kommen,  namentlich  beim  Eiweiss,  halb- 
flüssige, zwischen  dem  ersteren  und  dem  letzteren  Zustand  befind- 
liche Modificationen  vor. 

Die  innere  und  äussere  Beschaffenheit  der  micellösen  Körper 
hängt  wesentlich  von  der  Grösse,  Gestalt  und  dynamischen  Natur 
ihrer  Micelle  ab,  indem  diese  Momente  die  Anordnung  der  ur- 
sprünglich sich  vereinigenden  und  die  Einordnung  der  später  sich 
Itildeiiden  Micelle  bedingen.  Die  äusseren  Umstände  hal)en  auf  die 
Structur  geringen  und  auf  die  äussere  Gestalt  vorzüglich  nin-  insofern 
maassgebenden  Einfluss,  als  sie  die  freie  Ausbildung  mechanisch 
hemmen  können. 


526  ^-  Zusammenfassung. 

Die  Eiweiss-  oder  Plasmaniicelle  sind  der  grössteii  Mannigfaltig- 
keit t'ähio;,  sowohl  rücksichtlicli  der  Gestalt  und  Grösse  als  rück- 
sichtlich  der  chemischen  Zusammensetzung,  da  sie  aus  ungleich- 
artigen Gemengen  von  verschiedenen  Ei  weiss  Verbindungen  bestehen 
und  überdem  mit  verschiedenen  organischen  und  unorganischen 
Stoffen  als  Auf-  oder  Zwischenlagcrungen  vermengt  sind.  Deswegen 
verlialten  sich  auch  die  chemischen  und  phj^sikalischen  Eigenschaften 
des  Plasmas  so  sehr  verschieden;  dasselbe  zeigt  in  Folge  der  un- 
gleichen Verwandtscliaft  der  Micelle  zu  Wasser  alle  Abstufungen  von 
der  Micellarlösung  bis  zu  ziemlich  festen  Massen. 

S.  35  —  37,  6Q— 68,  95  —  99. 

3.  Urzeugung.     Leben.     Wachsthum. 

Wenn  in  einer  unorganisclien  Unterlage  die  Molecularkräfte  so 
combinirt  sind ,  dass  spontane  Eiweissbildung  stattfindet,  so  sind 
mit  der  Vereinigung  der  Micelle  die  primordialen  Plasmamassen 
der  Urzeugung  gegeben.  Im  Inneren  der  letzteren  geht  fortan  unter 
dem  Einfluss  ihrer  Molecularkräfte  die  Erzeugung  von  Albumin  noch 
leichter  von  Statten  als  ausserhalb  in  der  Flüssigkeit.  Es  treten 
daher  die  in  der  unorganischen  Unterlage  vorhandenen,  der  Eiweiss- 
bildung fähigen  A^erbindungen  vorzugsweise  in  die  Plasmamassen 
ein  und  bewirken  durch  Einlagerung  von  Eiweissmicellen  das  Wachs- 
thum derselben.  Hierin  besteht  das  organische  Leben  in  seiner  ein- 
fachsten Form. 

Die  Urzeugung  setzt  die  Entstelumg  von  Plasmamicellen  aus 
den  Molekülen  voraus  und  kann  daher  nicht  durch  Eiweiss-  oder 
Peptonlösungen,  da  dies  micellare  Lösungen  sind,  eingeleitet  werden. 
Das  Leben  setzt  die  Einlagerung  von  Plasmamicellen  voraus;  es 
hört  daher  auf,  sobald  durch  schädliche  Einflüsse  die  Micellar- 
anordnung  so  w^eit  gestört  ist,  dass  jener  Wachsthumsprocess  un- 
möglich wird. 

Das  durch  Urzeugung  entstehende  Wesen  muss  vollkommen 
einfach,  eine  Plasmamasse  mit  noch  ungeordneten  Micellen  sein, 
weil  jede  Organisation  ohne  eine  vorausgehende  organisirende  Thätig- 
keit  undcidvbar  ist.  Desw^egen  können  die  bekannten  Organismen 
nicht  spontan  entstanden  sein ;  es  muss  ihnen  ein  Reich  von  ein- 
facheren Wesen  (Probien)  vorangegangen  sein. 


X.  Zusammenfassung.  527 

Das  Wacli.stliuni  der  Plasmainassen  dauert  an,  so  lange  die 
Ernährungsverhältnisse  günstig  sind.  Werden  diese  ungünstig,  so 
tritt  je  nach  Umständen  (Nährstoffmangel,  Temperaturerniedrigung, 
relatives  Austrocknen)  Vegetationsruhe  (latent(!S  Lel)en)  oder  par- 
tieller oder  vollständiger  Tod  ein.  Das  Wachsthnm  der  Pflanzen 
und  Thicrc  i.st  nichts  anderes  als  die  Fortsetzung  des  im  })rim<)rdialen 
Plasma  Ix^gonncnen  Wcichsthuiiis,  welches  jcwcilcii  in  den  lehens- 
fähigen Resten  weiter  geht. 

8.  S3  — 101. 

4.  Partielles  Absterben  der  Individuen.     Fortpflanzung. 

Da  die  primordialen  Plasmamassen  in  unheg'renzter  Weise  die 
Nährstoffe  anziehen  und  zum  Wachsthum  verwenden,  so  gehen  bald 
da  haM  dort  die  Nährstoffe  aus  und  die  Substanz,  die  nicht  mehr 
ernährt  wird,  geht  grösstentheils  zu  Grunde.  Es  stellt  sich  nun  ein 
allgemeiner  Gleichgewichtszustand  ein ,  indem  die  lebenskräftigen 
Plasmamassen  stets  ungefähr  so  viel  durch  Wachsthum  zunehmen, 
als  abgestorbenes  Plasma  zersetzt  und  in  die  ursprünglichen  Nährstoffe 
zurückverwandelt  wird. 

Dieses  Bilanzveri'aliren  ist  im  primordialen  Zustande  und  auch 
noch  später  bei  manchen  der  niedrigsten  Organismen  ungeregelt  und 
zufällig.  Es  wird  ^phylogenetisch  nach  und  nach  regelmässiger,  in 
der  Weise,  dass  die  Individuen  nur  mehr  ein  bestimmtes  Maass  der 
Grösse  und  der  Dauer  erreichen  und  dann  zu  Grunde  gehen,  indem 
bloss  die  von  ihnen  abgesonderten  Keime  lebensfähig  bleiben.  Diese 
als  Fortpflanzung  bekannte  Erscheinung  hat  einen  dopj^elten  Ursprung. 

A.  Das  zu  beträchtlicher  Grösse  anwachsende  primordiale  Plasma, 
als  eine  weiche  fast  lialljflüssige  Masse,  zerfällt  durch  die  mechanische 
Wirkung  der  äusseren  Umstände  in  kleinere  Partien  von  unbe- 
stiinrjiter  Zahl  und  Grösse.  Damit  ist  die  unregelmässige  und  zufällige 
Fortpflanzung  der  untersten  Stufe  gegeben. 

In  den  A])könmdingen  des  primordialen  Plasmas  wird  in  Folge 
dt;r  ( )rganisirung  der  Sul>stanz,  besonders  in  Folge  der  Plautbildnng 
an  derselben,  die  Theilung  nach  und  nach  regelmässiger,  bis  endlich 
in  mikroskopisch  kleinen  Massen,  die  nunmehr  Zellen  heissen,  die 
Zweitheilung  stets  eintritt,  nachdem  dieselben  etwa  auf  das  Doppelte  der 
ursprünglichen  Grösse  angewachsen  sind.    Nach  der  Theilung  trennen 


528  ^'  Zusammenfassung. 

sich  die  beiden  Hälften  von  einander  und  stellen  selbständige  Indi- 
viduen dar. 

Im  weiteren  phylogenetischen  Verlaufe  tritt  die  Zweitheilung 
der  Zellen  zwar  in  der  nändichen  regelmässigen  Weise  ein.  Aber 
die  Zellen  blei])en  mit  einander  verbunden  und  bilden  mehrzellige, 
durch  Zelltheilung  sich  vergrössernde  Indi\dduen,  welche  auf  den 
untersten  Stufen  zuweilen  in  regelmässigen  Intervallen  in  kleinere 
Individuen,  wold  auch  zuletzt  in  die  einzelnen  Zellen  zerfallen,  aus 
denen  aber  sonst  sich  periodisch  Zellen  ablösen,  die  sich  als  Keime 
zu  neuen  mehrzelligen  Individuen  entwickeln. 

B.  Eine  andere  Erscheinung,  welche  am  primordialen  Plasma 
oder  dessen  nächsten  Abkömmlingen  eintritt,  ist  die,  dass  unter 
gewissen  ungünstigen  Ernährungsum ständen  der  grössere  Theil  des 
Plasmas  zu  Grunde  geht,  indess  ein  kleinerer  Theil  auf  dessen  Un- 
kosten noch  ernährt  wird  und  dann  während  der  Vegetationsruhe 
lebenskräftig  bleibt. 

Diese  Erscheinung  wird  in  den  Nachkommen  nach  und  nach 
zur  freien  Zellbildung,  welche  vor  der  Vegetationsruhe  oder  vor  dem 
Absterben  vieler  ein-  und  mehrzelliger  Organismen  stattfindet  und 
aus  einem  Theil  des  Inhaltes  der  betreffenden  Elterzellen  Keime 
bildet. 

Die  Keiml)ildung  diu'ch  Zelltheilung  (A)  oder  durch  freie  Zell- 
bildung {B)  ist  die  Fortpflanzung  der  Organismen.  Die  Keime  sind 
die  Elemente,  in  denen  sich  das  Leben  und  das  Wachsthum  des 
elterlichen  Individuums  fortsetzt. 

S.  342  ff.  §3u.  4;  349. 

5.  Morphologie  des  Idioplasmas  im  allgemeinen. 

Von  dem  ungeordneten,  weichen  und  gleichartigen  primordialen 
Plasma,  das  durch  Micelleinlagerung  wächst,  wird  der  grössere  Theil 
zu  wasserreichem  Ernährungsplasma  mit  ungeordneten  und  leicht 
beweglichen  Micellen.  Der  kleinere  Theil  verwandelt  sich  ph3do- 
genetisch  in  Idioplasma,  indem  an  einzelnen  günstigen  Punkten  die 
unter  dem  Einfluss  der  Molecularkräfte  sich  einlagernden  Micelle  zu 
Schaaren  mit  gleicher  Orientirung  sich  anordnen  und  daher  Körper 
von  geringerem  Wassergehalt  und  grösserer  Festigkeit  bilden.  Jeder 
Idioplasmakörper  besteht  anfänglich  nur  aus  einer  Micellschaar,  die 


X.  Zusammenfassung.  529 

aber  mit  der  zunehmenden  Einlagerung  nothwendig  in  mehrere 
Schaaren  zerfällt.  Die  Micellschaaren  des  Idioplasmas  werden  ver- 
möge ihrer  dynamischen  Einwirkung  auf  ihr  eigenes  Wachsthum 
Iheils  schärfer  ausgeprägt  und  bestimmter  geschieden,  theils  dvTrch 
neue  al)  weich  ende  Einlagerungen  in  ihrem  Innern  al)ermals  diffe- 
renzirt.  Dieser  phylogenetische  Process,  bei  welchem  die  neue  Kräfte- 
combination  eine  neue  Configuration  erzeugt  und  umgekehrt,  setzt 
sich  ohne  Ende  fort,  so  dass  der  Idioplasmakörper  lediglich  durch 
innere  Ursachen,  d.  h.  dm'ch  die  jMolecularkräfte  der  Eiweissmicelle, 
unter  deren  Einfluss  das  Wachsthmn  vor  sich  geht,  eine  stets  zu- 
nehmende Complication  der  Configuration  annimmt:  autonome  Ver- 
vollkommnung oder  Progression  des  Idioplasmas,  Entropie  der  orga- 
nisirten  Substanz  (vgl.  §  8). 

B.  Die  eben  charakterisirte  phylogenetische  Vervollkommnung 
des  Idioplasmas  durch  innere  Ursachen  wird  kamn  beeinträchtigt 
durch  die  verschiedene  Ernährung  und  durch  die  klimatischen  Ein- 
flüsse, welche  die  Ernährung  modificiren.  Dagegen  sind  alle  die- 
jenigen äusseren  Kräfte ,  welche  während  langer  Zeiträume  in 
gleicher  Weise  als  Reize  einwirken,  bei  der  Einlagerung  der  Micelle 
in  das  Idioplasma  und  bei  den  molecularen  Vorgängen  zwischen 
den  Micellen  in  sehr  bemerkbarer  Weise  betheiligt  (§11).  Die  Reiz- 
wärkungen  veranlassen  die  eigenartige  Ausbildung  der  unter  dem 
Einfluss  des  Vervollkommnungstriebes  sich  neu  einordnenden  Micell- 
schaaren. So  ninnnt  die  stetig  complicirter  werdende  Configuration 
des  Idiojjlasmas  auch  stetig  einen  den  äusseren  Verhältnissen  ent- 
sprechenden Localton  an:  Anjjassung  des  Idioplasmas. 

S.  22—29,  115—119,  173—182. 

6.  Function  des  Idioplasmas  im  allgemeinen. 

Die  ungeordneten  Eiweissmicelle  des  spontan  entstandenen 
Plasmas  haben  vor  dem  unorganisirten  Zustande,  aus  dem  sie  her- 
vorgegangen, noch  keinen  anderen  Vorzug,  als  den,  dass  unter  dem 
Einfluss  ihrer  Molecularkräfte  die  Bildung  neuer  gleicher  Eiweiss- 
micelle leichter  erfolgt.  So  wie  sich  aber  durch  die  fernere  Wirkung 
der  Molecularkräfte  Idioplasmakörjicr  mit  Schaaren  gleich  orientirter 
Micelle  bilden ,  so  werden  die  Molecularkräfte  dieser  letzteren  zu 
Massenwirkungen   smnmirl    und   dadurch    neue   chemische  Processe 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  34 


530  ^-  Zusammenfassung. 

eingeleitet,  jilastische  Bildungen  aus  plasmatischen  und  nicht  plas- 
matischen Substanzen  erzeugt  und  Massenbewegungen  hervorge- 
bracht; —  und  da  die  Idioplasmakörper  unter  dem  Einfluss  der 
äusseren  Reizwirkungen  sich  ausbilden,  so  treten  auch  ihre  eben 
genannten  Producte  stets  mit  einem  bestimmten  Charakter  der  An- 
passung an  die  Aussenwelt  auf. 

Sowie  dann  im  weiteren  phylogenetischen  Verlauf  die  Idioplasma- 
körper immer  complicirter  werden  und  aus  einer  grösseren  Zahl 
unter  sich  verschiedener  Micellschaaren  bestehen,  so  müssen  auch 
die  Organismen  zusammengesetzter  werden  und  sich  in  eine  grössere 
Zahl  von  Theilen  gliedern,  weil  jede  Micellschaar  des  Idioplasmas 
ihre  specifische  Wirkung  rücksichtlich  des  inneren  Baus,  der  äusseren 
Gestaltung  und  der  Verrichtungen  ausübt. 

S.  30—35,  43—53,   129—132,  173—182. 

7.  Anlagen;  Entstehen  und  Verschwinden  derselben. 

Da  eine  eigenartige  Gruppe  oder  Schaar  von  Micellen  des  Idio- 
plasmas eine  eigenartige  Erscheinung  am  Organismus  hervorbringt, 
so  wird  die  erstere  als  die  Anlage  der  letzteren  bezeichnet.  Der 
Organismus  muss  also  mindestens  so  viele  Anlagen  in  seinem  Idio- 
plasma  enthalten,  als  seine  erbliche  Ontogenie  aus  verschiedenen  Er- 
scheinungen zusammengesetzt  ist,  und  wenn  in  derselben  neue  Er- 
scheinungen auftreten,  so  müssen  vorher  neue  Micellgruppen  in  das 
Idioplasma  eingelagert  oder  schon  vorhandene  bezüglich  der  Orien- 
tirung  und  Anordnung  der  Micelle  umgewandelt  werden.  Die  Bil- 
dung einer  solchen  Anlage ,  sie  mag  die  Vervollkommnung  der 
Organisation  oder  die  Anpassung  an  die  Aussenwelt  betreffen,  geht 
immer  sehr  langsam  vor  sich ;  und  in  der  Regel  wird  sie  erst,  wenn 
sie  fertig  ist,  auch  entfaltungsfähig.  Neben  den  fertigen  Anlagen 
befinden  sich  daher  immer  werdende  oder  unfertige  im  Idio- 
plasma. 

Wenn  eine  Abstammungslinie  unter  andere  äussere  Verhältnisse 
kommt  und  andere  äussere  Reize  auf  sie  einwirken  als  bisher,  so  tritt 
phylogenetisch  eine  denselben  entsprechende  neue  eigenartige  Micell- 
anordnung  im  Idioplasma  auf.  Dabei  bleiben  die  anderen  Anpassungs- 
anlagen entweder  ungestört,  oder  die  neue  Anlage  bildet  sich  auf 
Unkosten  bereits  vorhandener  verwandter  Anlagen  aus,  welche  zuletzt 


X.  Zusammenfassung.  531 

ganz  verschwinden  können.  Nebenden  werdenden  und  fertigen 
Anlagen  enthält  daher  das  Idioplasma  ünmer  auch  geschwächte 
und  verschwindende  Anlagen.  Dadurch  dass  ein  phylogene- 
tischer Stamm  mehrmals  unter  andere  äussere  Verhältnisse  geräth, 
kann  er  zuletzt  in  seinem  Idiojjlasma  eine  grosse  Zahl  von  werdenden, 
fertigen  und  vergehenden  Anpassungsanlagen  vereinigen.  Diese  Zahl 
vermehrt  sich  beträchtlich,  wenn  infolge  von  Kreuzung  eine  Ver- 
schmelzung der  Idioplasmen  verschiedener  Sippen  stattfindet. 

8.  Bestimmte  Vorstellung  über  die  Morphologie  des  Idioplasmas. 

Indem  bei  der  phylogenetischen  Entwicklung  des  Plasmas  sich 
in  dem  weicheren  Ernährungsplasma  das  dichtere  Idioplasma  aus- 
scheidet (§  5),  hat  das  letztere  von  Natur  die  Neigung,  eine  netz- 
förmige Anordnung  anzunehmen.  Die  Balken  dieses  Netzes  bestehen 
ihrem  Ursprünge  gemäss  aus  parallelen,  der  Länge  nach  verlaufenden 
Micellreihen ,  welche  zu  Schaaren  niederer  und  höherer  Ordnungen 
vereinigt  sind,  so  dass  der  Querschnitt  der  Balken  die  Configuration 
des  Idioplasmas  darstellt. 

Jede  Ontogenie  (Individuum)  beginnt  mit  einem  winzigen  Keim, 
in  welchem  eine  kleine  Menge  von  Idioplasma  enthalten  ist.  Dieses 
Idioplasma  zerfällt,  indem  es  sich  fortwährend  in  entsi^rechendem 
Maasse  vermehrt ,  bei  den  Zelltheilungen ,  durch  welche  der  Orga- 
nismus wächst,  in  eben  so  viele  Partien,  die  den  einzelnen  Zellen 
zukommen.  Die  ontogenetische  Vermehrung  des  Idioplasmas  ge- 
schieht durch  das  Längenwachsthum  der  Balken,  nämlich  durch 
intercalare  Einlagerurig  von  Micellen  in  jede  Micellreihe  der  Balken, 
welche  sich  dadurch  verlängern,  ohne  ihre  Querschnittsconfiguration 
zu  ändern.  Demzufolge  enthält  jeder  Idioplasmabalken  alle  An- 
lagen, die  das  betreffende  Individuum  mi  Keime  geerbt  hat,  und 
jede  Zelle  des  Organismus  ist  idioplasmatisch  befähigt,  zum  Keim 
für  ein  neues  Individuum  zu  werden.  Ob  diese  Befähigung  sich 
verwirklichen  könne,  hängt  von  der  Beschaffenheit  des  Ernährungs- 
plasmas ab.  Das  Vermögen  hierzu  kommt  bei  niederen  Pflanzen 
jeder  einzelnen  Zelle  zu;  bei  den  höheren  Pflanzen  haben  es  manche 
Zellen  verloren;  im  Thierreiche  besitzen  es  im  allgemeinen  nur  die 
zu  ungeschlechthchen  oder  geschlechtlichen  Keimen  normal  be- 
stimmten Zellen. 

34* 


532  X-  Zusammenfassung. 

Die  phylogenetische  Fortbildung  der  Idioplasmastränge  geschieht 
durch  das  Wachstlium  in  der  Querrichtung.  Ihre  Querschnittscon- 
figuration,  welche  die  Summe  aller  Anlagen  enth<ält,  ändert  sich  im 
allgemeinen  nur  dann,  wenn  neue  Micellreihen  eingelagert  werden.  Die 
Micellreihen  des  Idioplasmas  schliessen  aber,  entsprechend  der  Dichtig- 
keit desselben ,  enge  an  einander,  so  dass  nur  selten  neue  Reihen 
eintreten  können,  und  zwar  nur  an  den  bestimmten  Stellen,  wo  der 
Zusammenhang  weniger  fest  ist  und  daher  von  den  Spannungen 
überwunden  wird.  Der  Zusammenhang  ist  in  unregelmässiger  Weise 
ungleich,  weil  die  Configuration  des  Querschnittes  gemäss  dem  Ur- 
sprünge nie  regelmässig  ist;  die  Si:)annungen  werden  durch  das  un- 
gleiche Längenwachsthum  der  einzelnen  Micellreihen  verursacht.  Auf 
den  Zusammenhang  und  die  Spannungen  haben  einen  entscheidenden 
Einfluss  die  dynamischen  Einwirkungen,  welche  die  Micellschaaren 
der  bereits  erlangten  Configuration  auf  einander  ausüben  und  welche 
durch  die  von  aussen  kommenden  Reize  modificirt  werden  können. 

Das  Idiojilasma  verändert  mit  der  Zunahme  in  den  auf  einander 
folgenden  Ontogenien  seine  Configuration  stetig,  aber  verhältniss- 
mässig  äusserst  langsam ,  so  dass  dieselbe  von  dem  Keim  einer 
Generation  bis  ziun  Keim  der  näclisten  Generation  einen  winzigen 
Fortschritt  macht.  Die  Summirung  dieser  Fortschrittsdifferentiale 
durch  eine  ganze  Abstammungslinie  stellt  die  Stammesgeschichte 
eines  Organismus  dar,  indem  derselbe  allein  durch  sein  Idioj^lasma 
in  ununterbrochener  Continuität  mit  dem  einzelligen  Anfang  seines 
Stammes  zusammenhängt. 

S.  37—43,  GO— 08,  116  — 12U,  177—182. 

9.  Bestimmte  Vorstellung  über  die  Function  des  Idioplasmas. 

Eine  plasmatischc  Sul>stanz  verursacht  nur  dann  bestimmte 
chemische  und  physikalische  Veränderungen,  wenn  sie  sich  in  einem 
gewissen  Bewegungszustande  befindet.  Die  eigenartige  Wirksamkeit, 
w^elche  das  Idioplasma  in  jedem  ontogenetischen  Entwicklungsstadium 
und  in  jedem  Theil  des  Organismus  vollbringt,  hängt  davon  ab, 
dass  jeweilen  eine  bestimmte  Micellgruppe  des  Strangquerschnittes 
oder  ein  Complex  von  solchen  Gruppen  thätig  wird,  indem  diese 
locale  Erregung  durch  dynamische  Einwirkung  und  durch  Ueber- 
tragung  eigenthüinl icher  Schwingungszustände    bis  auf   eine    mikro- 


X.  Zusammenfassung.  533 

skopisch  sehr  geringe  Entfernung  die  chemischen  uiul  plastischen 
Processe  beherrscht. 

Der  wirksame  Erregungszustand  einer  plasmatischen  Substanz  wird 
von  ihrer  eigenen  Beschaffenheit  und  von  der  Einwirkung,  die  sie 
von  aussen  empfängt,  bedingt.  Welche  Micellgruppe  des  Idioplasmas 
in  Erregung  gerathe,  hängt  von  der  Configuration  desselben,  von 
den  vorausgegangenen  Erregungen  und  von  der  Stelle  im  indivi- 
duellen Organismus  ab ,  an  welcher  sich  das  Idioplasma  befindet. 
Die  Anlagen  sind  während  der  ganzen  Abstammungszeit  von  der 
Primordialzelle  aus  nach  einander  entstanden ;  die  Configuration  des 
Idioplasmas  ist  daher  eine  j)hylogenetische  und  die  Anlagen  in  dem- 
selben haben  von  Natur  die  Neigung ,  in  der  Reihenfolge  sich  zu 
entfalten,  in  der  sie  sich  gebildet  haben.  Indem  ferner  bei  der 
Keimbildung  die  neue  Ontogenie  als  einzelliges  Individuum  beginnt, 
so  kommt  diejenige  Anlage  des  IdiojDlasmas  zur  Entfaltung,  die  in 
dem  einzelligen  Vorfahr  entstanden  war,'  und  ebenso  unterstützen 
die  weiterhin  folgenden  Entwicklungsstadien  die  jeweilige  Entfaltung 
der  Anlagen,  die  in  den  ihnen  analogen  Vorfahren  ihren  Ursi>rung 
hatten.  Die  beiden  zusammenwirkenden  Ursachen,  die  phylogene- 
tische Configuration  des  Idioi:)lasmas  und  die  durch  dieselbe  bedingten 
auf  einander  folgenden  morphologischen  Entwicklungsstadien  des 
Individuums  halben  zur  nothwendigen  Folge,  dass  die  Ontogenie  die 
Wiederholung  der  Phylogenie  ist. 

Wenn  in  einer  Ontogenie  die  ganze  übrige  Reihe  der  idioplas- 
matischen  Anlagen  zur  Entfaltung  gelangt  ist,  so  folgt  schliesslich 
sowohl  nach  der  Configuration  des  Idioplasmas  als  nach  der  Be- 
schaffenheit des  Organismus  die  Erregung  der  keimbildenden  An- 
lagen; das  Individuum  ist  fortpflanzungsfähig  und  in  den  Keimen 
beginnen  die  neuen  Ontogenien. 

S.  30—35,  43—53,  129—132,  177  —  182. 

10.  Uebertragung  der  idioplasmatischen  Anlagen  bei  localer  Veränderung 
und  bei  der  Befruchtung. 

Die  autonome,  progressive  (oder  VervollkoinuHiungs-)  Umwand- 
lung des  Idioplasmas  ist  wahrscheinlich  in  allen  Eiitwicklungsstadien 
thätig  und  erfolgt  in  allen  Theilen  des  Organismus  gleichmässig, 
weil  das  Idioplasma  seine  Configuration  während  der  Ontogenie  stets 


534  X.  Zusammenfassung. 

und  überall  bewahrt.  Die  von  aussen  kommenden  Reize  treffen 
den  Organismus  gewöhnlich  an  einer  bestimmten  Stelle;  sie  be- 
wirken aber  nicht  bloss  eine  locale  Umänderung  des  Idioplasmas, 
sondern  pflanzen  sich  auf  dynamischem  Wege  auf  das  gesammte 
Idioplasma,  welches  durch  das  ganze  Individuum  in  ununterbrochener 
Verbindung  sich  befindet,  fort  und  verändern  es  überall  in  der  näm- 
lichen Weise,  so  dass  die  irgendwo  sich  ablösenden  Keime  jene 
localen  Reizwirkungen  empfunden  haben  und  vererben. 

Bei  der  Keimbildung  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  müssen 
die  beiden  elterlichen  Idioplasmen  in  Berührung  mit  einander 
kommen,  worauf  entweder  eine  materielle  Vereinigung  und  Bildung 
eines  gemischten  Idioplasmas  oder  eher  eine  dynamische  Einwirkung 
und  dadurch  eine  Umbildung,  welche  aber  jenem  gemischten  Idio- 
plasma vollkommen  gleichwerthig  ist,  erfolgt.  Befi'uchtung  durch 
Diosmose  des  männlichen  Zeugmigsstoffes  ist  unmöglich. 

In  dem  Idioplasma  des  bei  Kj-euzung  ungleicher  Individuen 
entstandenen  Keimes  haben  die  Micellreihen  der  einzelnen  Anlagen 
bald  eine  mittlere  Beschaffenheit  und  bringen  Eigenschaften  an  dem 
Organismus  hervor,  welche  zwischen  den  elterlichen  Eigenschaften 
die  Mitte  halten.  Bald  liegen  die  väterlichen  und  die  mütterlichen 
Micellreihen  in  dem  Idioplasma  des  Kindes  unverändert  und  in  ver- 
schiedener Gruppirung  neben  einander  und  bringen  am  Organismus 
die  beiderseitigen  Merkmale  entweder  ebenfalls  unvermittelt  neben 
einander  oder  nur  das  eine  der  elterlichen  Merkmale  hervor,  indem 
das  andere  latent  bleibt. 

Wegen  der  bei  der  Befruchtung  erfolgenden  Vereinigung  der 
beiden  Idioplasmen  vermögen  zwei  zeugungsfähige  Organismen  um 
so  eher  mit  einander  einen  entwicklungsfähigen  Keim  zu  bilden,  je 
näher  sie  genetisch  mit  einander  verwandt  sind ,  je  mehr  also  das 
männliche  und  das  weibliche  Idioplasma  in  ihrer  Configuration  und 
chemischen  Beschaffenheit  übereinstimmen,  weil  in  diesem  Falle  die 
Mcellanordnungen  am  besten  in  einander  j^assen  und  das  Idioplasma 
des  beginnenden  Keims  in  der  mütterlichen  Ernährung  den  ge- 
eignetsten Unterhalt  findet.  Wenn  trotzdem  Selbstbefruchtung  oder 
die  engste  Inzucht  oft  Producte  von  geringerer  Existenzfälligkeit 
liefert  und  von  der  Natur  vermieden  wird,  so  ist  dies  die  Folge  von 
späterhin  sich  geltend  machenden  Nachtheilen,  indem  in  allzu  nahe 
verwandten    Idioplasmen    gleichsinnige    Störungen    vorhanden    sein 


X.  Zusammenfassung.  535 

können,    die  bei  ungehemmter  Ausbildung  gefährlich   werden;    dies 
trifft  um   so   mehr   zu,    je   complicirter  das  Idioplasma  gebaut   ist, 
während  den  einfachsten  (ungeschlechtlichen)  Organismen  der  abso- 
lute Mangel  der  Kreuzung  keinen  Schaden  bringt. 
S.  53—60,  205—206,  215—230. 

II.  Wirkung  der  äusseren  Einflüsse. 

Die  Einflüsse  der  Aussenwelt  liefern  dem  Organismus  vor  allem 
Kraft  und  Stoff  für  die  Lebensvorgänge ;  sie  verursachen,  wenn  bei 
den  bezüglichen  Eingriffen  die  idioplasmatischen  Elasticitätsgrenzen 
nicht  überschritten  werden,  keine  bleibenden  Veränderungen  und 
halben  nur  ontogenetische  Bedeutung;  sie  unterhalten  das  Wachs- 
thum  und  den  Stoffwechsel  der  Individuen  und  bedingen  indivi- 
duelle (nicht  erbliche)  Verschiedenheiten,  welche  die  Ernährungs- 
modificationen  ausmachen;  die  von  ihnen  hervorgebrachten  Lei- 
stungen erscheinen  als  die  unmittelbaren  Folgen  der  wirkenden 
Ursachen. 

Die  Einflüsse  der  Aussenwelt  bewirken  ferner,  indem  ihre  An- 
griffe die  idioplasmatischen  Elasticitätsgrenzen  überschreiten,  dauernde 
Veränderungen,  welche  in  dem  einzelnen  Individuum  zwar  unmerklich 
gering,  aber  wenn  sie  durch  lange  Zeiträume  in  gleichem  Sinne 
thätig  sind,  sich  zu  bemerkbarer  Grösse  steigern.  Diese  Verände- 
rungen sind  als  erbliche  von  phylogenetischer  Bedeutung  und  führen 
zur  Varietäten-  und  Speciesbildung ;  sie  erscheinen  wohl 
immer  als  die  Folgen  von  mehr  oder  weniger  vermittelten  Reactionen, 
welche  auf  die  von  den  äusseren  Ursachen  ausgeübten  Reize  eintreten. 

Die  von  der  Aussenwelt  auf  den  Organismus  ausgeübten  Reize 
werden  auf  das  Idioplasma  fortgepflanzt.  Da  der  erstere  bei  jedem 
Wechsel  der  Ontogenien  zu  Grunde  geht  und  nur  das  letztere  aus- 
dauert, so  bewirken  die  äusseren  Einflüsse  einzig  in  dem  Idioplasma 
bleibende  Veränderungen,  welche  erst,  nachdem  sie  zu  fertigen  und 
entfaltungsfähigen  Anlagen  sich  entwickelt  haben,  an  dem  Orga- 
nismus sichtbare  Umbildungen  hervorbringen. 

Die  phylogenetischen  Wirkungen  der  äusseren  Reize  geben  der 
durch  innere  Ursachen  complicirter  werdenden  Configuration  des 
Idioplasmas  das  bestimmte  Anpassungsgepräge  und  vermögen  dieses 
Ge|)räge  wahrscheinlich  nur  nach  Maassgabe  der  autonomen  Aus- 
bildung des  Idioplasmas  umzugestalten. 


536  X-  Zusammenfassung. 

Wenn  eine  äussere  Ursache  endlos  auf  eine  Abstammungslinie 
einwirkt,  so  erreicht  die  ihr  entsprechende  Veränderung  des  Idio- 
plasmas  nach  einer  gewissen  Zeit  ihr  Maximum  und  damit  ihr 
Ende,  entweder  weil  in  Folge  der  Umprägung,  die  den  Charakter 
der  Abwehr  zeigt,  die  Ursache  nicht  mehr  als  Reiz  empfunden  wird, 
oder  weil  die  Beschaffenheit  der  Substanz  keine  Steigerung  der 
Umprägung  erlaubt.  Dauert  die  Reizeinwirkung  nur  kurze  Zeit,  so 
steht  die  begonnene  Umbildung  des  Idioplasmas  nachher  entweder 
still,  oder  sie  geht  infolge  des  erlangten  Anstosses  selbständig  fort 
und  die  Anlage  wird  entfaltungsfähig,  nachdem  ihre  Ursache  längst 
schon  zu  wirken  aufgehört  hat. 

Da  auf  einen  Reiz  eine  vielfach  vermittelte  Umsetzung  im  Or- 
ganismus folgt,  so  kann  das  Endresultat,  das  als  Reaction  zum  Vor- 
schein kommt ,  sehr  verschiedenartig  ausfallen ,  und  die  nämliche 
äussere  Ursache  kann  je  nach  der  Beschaffenheit  des  Organismus 
und  der  übrigen  Verhältnisse  sehr  ungleiche  Veränderungen  zur 
Folge  haben.  Sie  bewirkt  aber  im  bestimmten  Falle  inmier  auch 
ganz  bestimmte  Veränderungen. 

Wegen  der  mannigfaltigen  Vermittlung  ist  es  oft  schwer,  die 
äussere  Ursache  einer  bestimmten  phylogenetischen  Anpassungs- 
veränderung aufzufinden;  in  manchen  Fällen  erkennen  wir  siezwar 
unschwer  in  einer  bestimmten  mechanischen  Action,  oder  in  der 
Wärme,  im  Licht,  in  der  Verdunstung.  Meistens  erweckt  der  Reiz  in 
dem  Organismus  bloss  ein  ßedürfniss,  dem  letzterer  durch  Reaction 
abzuhelfen  bestrebt  ist,  und  es  scheint,  dass  auch  das  Bedürfniss 
oder  der  Mangel  allein  schon  eine  solche  Reaction  hervorzurufen 
vermag.  In  der  Geschlechtssphäre  wirken  ferner  (elektrische?)  An- 
ziehungen und  Abstossungen  zwischen  den  idioplasmatischen  An- 
lagen zu  phylogenetischen  Veränderungen  mit. 

Die  Anpassungen  des  entfalteten  Organismus,  welche  Folgen 
der  äussern  Einflüsse  sind,  bestehen  entw'eder  bloss  in  einer  eigen- 
thümlichen  molecularen  Beschaffenheit  (Reizbarkeit),  vermöge  welcher 
das  Individuum  auf  jene  Einflüsse  mit  vorübergehenden  oder 
dauernden  Erscheinungen  zu  antworten  befähigt  ist,  —  oder  in 
fertigen  Einrichtungen.  Die  letzteren  haben  im  allgemeinen  eine 
doppelte  Function:  entweder  schützen  sie  den  Organismus  vor  den 
äusseren  Einflüssen ,  deren  Folgen  sie  sind ,  oder  sie  setzen  ihn  in 
den  Stand,   dieselben  zu  seinem  Vortheil   zu  verwenden.     Das  Vor- 


X.  Zusammenfassung.  537 

wiegen  der  einen  oder  anderen  licaction  führte  zu  der  Entwicklung 
des  Pflanzen-  un<l  dus  Thierreiches.  Im  einen  Falle  bildete  das 
primordiale  Plasma  in  der  Celluloseliaut  eine  roizfeste  Bedeckung; 
wegen  dieser  für  Reize  unemi:)findliclien  Zellmembran  beschränkten 
sich  die  Anpassungen  im  Pflanzenreiche  wesentlich  auf  die  Ernäh- 
rungs-  und  Fortpflanzungssphäre.  Im  anderen  Falle  steigerte  sich 
die  Reizbarkeit  und  Beweglichkeit  des  primordialen  Plasmas  in  der 
Weise,  dass  es  in  den  Stand  gesetzt  wurde,  vor  dem  Reize  zurück- 
zuweichen oder  denselben  durch  Entgegenkommen  dienstbar  zu 
machen ;  die  reizempfängliche  Zelle  führte  im  Thierreich  zur  Bil- 
dung der  Sinnesorgane  und  des  Nervensystems. 
S.  102—116,   132—182,  316—326. 

12.  Phylogenetische  Entfaltungsfähigkeit  der  Anlagen.     Rückschläge. 

Im  primordialen  Zustande  fällt  Bildung  und  Entfaltung  der 
Anlagen  zusammen,  indem  das  den  Organismus  constituirende  Plasma 
die  Fähigkeit  besitzt,  durch  Einlagerung  neuer  Micelle  zu  w^achsen 
und  das  Wachsthum  durch  innere  und  äussere  Ursachen  zu  ver- 
ändern. Sowie  al)er  das  j^rimordiale  Plasma  sich  in  Idioplasma  und 
Ernährungsplasma  scheidet,  so  besteht  die  Anlagenbildung  in  der 
Veränderung  des  Idioplasmas  und  die  Anlagenentfaltung  in  der  Er- 
zeugung von  Ernährungsplasma  und  von  nicht  ^^Is^smatischen  Sub- 
stanzen unter  dem  Einfluss  des  Idioplasmas. 

Nur  die  fertige  Anlage  vermag  sich  zu  entfalten,  zumal 
wenn  zugleich  eine  verwandte,  bisher  wirksame  Anlage  in  den  ent- 
faltungsunfähigen Zustand  zurückgedrängt  werden  muss.  Aber  auch 
weini  es  sich  um  eine  ganz  neue  Anpassungserscheinung  handelt, 
die  nicht  an  die  Stelle  einer  anderen  tritt,  muss  ihre  Anlage,  che 
sie  manifest  werden  kann,  so  weit  heranwachsen,  dass  die  Molecular- 
kräfte  eine  hinreichend  grosse  Summe  darstellen.  Desswegen  ändern 
sich  die  Merkmale  des  entfalteten  Organismus  meistens  sprungweise, 
indcss  die  Umbildung  seines  Idioplasmas  ganz  allmählic;h  vor  sich 
gegangen  ist. 

Da  die  Configuration  des  Idioplasmas  durch  die  autonome  Ver- 
vollkommnungsbewegung complicirter  wird,  wodurch  der  Organismus 
auf  immer  höhere  Organisationsstufen  sich  erhebt,  so  müssen  die 
entfaltungsfähigen    Organisation s-    oder   Vervollkommnungsanlagen 


538  X.  Zusammenfassung. 

durch  jene  Bewegung  stets  nach  einer  gewissen  Zeit  überholt  und 
in  den  latenten  Zustand  versetzt,  dann  immer  mehr  geschwächt  und 
zuletzt  ganz  vernichtet  werden.  Nur  in  der  ersten  Zeit  nach  ihrem 
Latentwerden  vermögen  solche  Anlagen  wieder  in  den  entfaltungs- 
fähigen Zustand  überzugehen  und  somit  den  Organismus  auf  die 
nächst  frühere  Organisationsstufe  zurückschlagen  zu  lassen. 

Da  die  durch  innere  Ursachen  complicirter  werdende  Configura- 
tion  des  Idioplasmas  durch  die  äusseren  Ursachen  stets  ein  bestimmtes 
Anpassungsgepräge  annimmt,  so  können  die  entfaltungsfähigen  An- 
passungsanlagen, wenn  andere  äussere  Ursachen  andere  Anpassungs- 
anlagen bewirken,  stets  geschwächt  und  latent  gemacht  werden ;  sie 
können  aber  auch  jeder  Zeit  durch  die  früheren  Ursachen  wieder 
gestärkt  und  zur  Entfaltung  befähigt  werden,  und  der  Organismus 
kann  daher  bezüghch  seiner  Anj)assung  die  verschiedenartigsten 
Rückschläge  zeigen.  Bei  solchen  Rückschlägen  kommen  aber  nie 
wieder  genau  die  früheren  Formen  zu  Stande,  weil  mittlerweile  das 
Idioplasma  durch  die  autonome  Fortliildung  sich  etwas  verändert  hat 
und  desshalb  auch  den  Anpassungen,  die  den  früheren  Charakter 
annehmen,  einen  etwas  andern  Ausdruck  verleiht. 

S.  132—136,  183—191,  330—333. 

13.  Ontogenetische  Entfaltung  der  Anlagen. 

Da  die  ursprünglich  allein  vorhandene  Anlage  die  Fähigkeit 
des  primordialen  Plasmas  zu  wachsen  ist,  so  besteht  die  ganze  Onto- 
genie  auf  dieser  ersten  Stufe  in  der  Zunahme  der  abgelösten  Partie 
zu  der  früheren  Grösse.  In  gleicher  Weise  ist  auch  auf  allen  fol- 
genden Stufen  die  Entfaltung  der  Anlagen  nichts  anderes  als  das 
Wachsthum  der  als  Keim  abgelösten  Substanz  nach  Maassgabe  der 
im  phylogenetischen  Verlaufe  veränderten  Beschaffenheit  ihres  Idio- 
plasmas, wobei  auf  den  untersten  Stufen  alle  Anlagen  zur  Entfal- 
tung gelangen  können,  auf  den  höheren  aber  eine  zunehmende  Zahl 
von  Anlagen  latent  bleiben  muss. 

Unter  den  entfaltungsfähigen  Anlagen  gibt  es  solche,  die  un- 
bedingt während  jeder  ontogenetischen  Periode,  ferner  stellvertretende, 
von  denen  unbedingt  die  eine  oder  andere,  und  endlich  solche,  die 
imr  unter  günstigen  Umständen  zur  Entfaltung  gelangen.  Welche 
von  zwei    stellvertretenden  Anlagen  sich    entfalte,    hängt   bald   von 


X.  Zusammenfassung.  539 

inneren,  bald  von  äusseren  Ursachen  ab,  je  nachdem  die  betreffende 
Anlage  phylogenetisch  durch  innere  oder  äussere  Ursachen  ent- 
standen ist.  Auf  das  Manifestwerden  von  entfaltungsvagen  Anlagen 
wirken  vorzüglich  die  khniatischen  und  Ernährungs-Einflüsse  ein. 
Ebenso  kommt  es,  wenn  eine  Anlage,  wie  so  häufig  im  Pflanzen- 
reiche, sich  wiederholt  entfalten  kann,  vorzüglich  auf  die  Ernährung 
an,  ob  die  entsprechende  Erscheinung  sich  sj)ärlich  oder  häufig 
wiederhole.  Eine  geschwächte  Anlage  wird  zuweilen  durch  eine 
bestmimte  Reizwirkung  zu  vorübergehender  Entfaltung  gebracht. 

Leidet  die  Integrität  des  Organismus  durch  abnormale  Eingriffe 
Schaden,  so  entfalten  sich  ausnahmsweise  Anlagen  an  solchen 
Stellen,  wo  dies  im  normalen  Zustande  nicht  der  Fall  ist;  der  Vor- 
gang wird  angeregt  durch  Anhäufung  von  Nährstoffen  und  durch 
äussere  Reize  unter  der  maassgebenden  Leitung  des  Bedürfnisses, 
welches  der  verstümmelte  Organismus  empfindet. 

S.  191—196. 

14.  Wesen  eines  Organismus. 

Das  Wesen  eines  Dinges  beruht  in  seinen  Ursachen  und  in 
seinen  Wirkungen.  Die  Organismen  entstehen  aus  einem  Keim, 
der  aus  Idioplasma  besteht,  und  erzeugen  wieder  gleiche  Keime. 
Ihr  Wesen  beruht  also  in  ihrem  Idioplasma,  d.  h.  in  der  ganzen 
Summe  ihrer  idioplasmatischen  Anlagen.  Die  Beobachtung  der  Or- 
ganismen, selbst  in  der  vollständigsten  Entwicklungsgeschichte,  gibt 
uns  einen  unvollkommenen  und  überdem  einen  ungetreuen  Begriff 
von  ihrem  wahren  Sein,  da  sie  nur  die  äusseren  groben  Merkmale 
und  diese  in  einer  von  zufälligen  Ernährungseinflüssen  abhängigen 
Modification,  nicht  aber  die  in  der  molecularen  Physiologie  und 
Morphologie  begründeten  feineren  Eigenschaften  und  namentlich 
nicht  die  im  Idioplasma  latenten  Anlagen  zeigt. 

Für  die  Beurtheilung  der  idioplasmatischen  Eigenschaften  sind 
wir  aber  auf  die  wahrnehmbaren  Merkmale  angewiesen.  Die  Erkenntniss 
des  wahren  Wesens  setzt  daher  allerdings  die  vollständige  Erforschung 
der  Merkmale  in  ihrer  Aufeinanderfolge  während  der  ganzen  Ontogenie 
voraus;  die  Ergebnisse  müssen  jedoch  durch  Vergleichung  mit  andern 
Organismen  und  durch  ein  möglichst  umfassendes  experimentelles 
Verfahren  (Kultur  unter  verschiedenen  Verhältnissen  und  Kreuzung 


540  X    Zusammenfassung. 

mit  näheren  und  entfernteren  Verwandten)  geprüft  und  ergänzt  werden. 
Durch  das  experimentelle  Verfahren  sollen  namentlich  die  Modifications- 
uiid  allfällige  Kreuzungsmerkmale  von  den  specifischen  Merkmalen 
geschieden  und  latente  Anlagen  zur  Erscheinung  gebracht  werden. 
S.  197—198. 

15.  Fortpflanzung  und  Verhältniss  zwischen  Eltern  und  Kindern. 

Die  Fortj^flanzung  ist  nichts  anderes  als  der  Uebergang  von 
einer  Generation  zur  nächstfolgenden,  vermittelt  durch  das  Idioplasma 
des  Keims.  Bei  der  ungeschlechtlichen  (monogenen)  Fortpflanzmig 
besteht  Continuität  des  nämlichen  Idioj^lasmas ;  das  elterliche  Indi- 
viduum setzt  im  Kinde  sein  specifisches  Leben  fort,  wie  der  Stamm 
in  seinem  Aste,  und  es  bleiben  alle  durch  das  Idioplasma  bedingten 
Eigenthümlichkeiten  im  Kinde  unverändert.  Das  letztere,  als  die 
unmittelbare  Fortsetzung  der  vorhergehenden  Ontogenie,  knüpft  an 
der  Stelle  an,  wo  der  Keim  dieselbe  verlassen  hat,  sodass,  je  nachdem 
der  Keim  am  Schlüsse  der  Ontogenie  oder  fi'üher  sich  ablöst,  das 
Kind  bald  die  ganze  Ontogenie  bald  nur  den  Rest  oder  einen  Theil 
derselben  durchläuft  (letzteres  beim  Generationswechsel  und  bei  der 
geschlechtslosen  Vermehrung  der  Geschlechtspflanzen). 

Bei  der  geschlechtlichen  (digenen)  Fortpflanzung  besteht  die 
Keimbildung  in  der  Vereinigung  der  beiden  elterlichen  Idioj)lasmen, 
und  zwar  zu  gleichen  Theilen;  das  Kind  ist  die  Resultirende  aus 
Kraft  und  Stoff  der  Eltern  und  stellt  seinem  Wesen  nach  die  geeinte 
Fortsetzung  ihrer  Ontogenien  dar.  Die  Entfaltungsmerkmale  des 
Kindes  aber  hängen  ab  von  der  Entfaltungsfähigkoit  der  Anlagen 
in  dem  gemischten  Idioplasma,  in  welchem  sich  ein  neues  Gleich- 
gewicht gebildet  hat.  Wenn  daher  das  Kind  dem  Vater  oder  der 
Mutter  ähnlicher  ist,  so  kommt  dies  daher,  dass  von  den  geerbten 
Anlagen  die  einen  sich  entfalten,  die  andern  latent  bleiben;  und 
wenn  das  Kind  in  den  wahrnehmbaren  Merkmalen  über  beide  Eltern 
hinausgeht,  so  wird  dies  nur  dadurch  möglich,  dass  in  ihm  Anlagen, 
die  in  diesen  latent  blieben,  zur  Entfaltung  gelangen.  Durch  den 
Umstand,  dass  die  Mutter  den  Keim  mit  Ernährungsplasma  versieht 
oder  selbst  eine  Zeit  lang  ernährt,  wird  weder  der  mütterliche  Erb- 
schaftsanthcil  an  Anlagen,  noch  die  Entfaltungsfähigkeit  der  von 
der  Mutter  herstammenden  Anlagen  erhöht. 


X.  Zusammenfassung.  541 

Gerathen  bei  der  gesclilechtliclicn  Fort|jflan/Aiiig  zwei  stellver- 
tretende Merkmale,  von  denen  das  eine  dem  Vater,  das  andere  der 
Mutter  zukommt,  mit  einander  in  Conflict,  so  kann  in  dem  Kind 
das  eine  oder  das  andere  oder  selbst  ein  drittes  stellvertretendes 
Merkmal,  das  bisher  in  latenter  Anlage  vorhanden  war,  sich  ent- 
falten ;  es  können  aber  auch  die  beiden  elterlichen  Merkmale  zugleich 
und  zwar  in  verschiedenartigen  Vereinigungen  auftreten.  Ob  die 
Entfaltung  in  der  einen  oder  andern  Weise  erfolge,  hängt  ab  von 
der  Stärke  der  einzelnen  Anlagen,  von  der  Art  ihrer  idioplasmatischen 
Zusammenordnung  und  von  ihrem  Zusammenstimmen  mit  der  Be- 
schaffenheit des  neu  constituirten  Idioplasmas. 

S.   198—215. 

16.  Vererbung  und  Veränderung. 

Vererbung  und  ^Veränderung  sind,  wenn  sie  nach  dem  wahren 
Wesen  der  Organismen  (§  14)  bestimmt  werden,  nur  scheinbare 
Gegensätze.  Da  von  einer  Ontogenie  auf  die  nächstfolgende  bloss 
Idioplasma  übertragen  wird,  so  besteht  die  phylogenetische  Ent- 
wicklung lediglich  in  der  continuirlichen  Fortbildung  des  Idioj)lasmas, 
und  der  ganze  Stammbaum  von  dem  primordialen  Plasmatropfen 
bis  zu  dem  jetzt  lebenden  Organismus  (Pflanze  oder  Thier)  ist  eigent- 
lich nichts  anderes  als  ein  aus  Idioplasma  bestehendes  Individuimi, 
welches  in  jeder  Ontogenie  einen  neuen,  seinem  Fortschritt  ent- 
sprechenden indi\äduellen  Leib  bildet. 

In  diesem  idioplasmatischen  Individuum  ist  die  autonome  oder 
VervoUkommnungs Veränderung  immer  thätig,  sodass  das 
Idioi^lasma  einer  Abstammungslinie  durch  Vermehrung  der  darin  ent- 
haltenen Anlagen  stets  wächst,  wie  ein  Baum  während  seiner  ganzen 
Lebensdauer  durch  Verzweigung  grösser  wird.  Die  durch  äussere 
Reize  verursachte  An j)assungs Veränderung  dagegen  ist  nur  in 
denjenigen  Perioden  der  Abstan^mungslinie  wirksam,  in  welchen  das 
Idioplasma  und  mit  ihm  die  Individuen  nicht  das  errcichl>are  Maximum 
der  Anpassung  an  die  jeweilige  Umgebung  besitzen.  Diese  beiden 
idioplasmatischen  Veränderungen  geschehen  so  langsam,  dasserst  nach 
langen  lieihcn  von  Generationen  die  neuen  Anlagen  entfaltungsfähig 
und  dm-ch  Umwaiidkmg  der  sichtbaren  Merkmale  manifest  werden. 

Ausser  den  genannten  phylogenetischen  ^''eränderungen ,  die 
nach  Massgabe  des  ontogenetischen  Wachsthums  stattfinden,  erleidet 


542  X-  Zusammenfassung. 

das  Idioplasma  in  Folge  der  Kreuzung,  somit  beim  Wechsel  der 
Ontogenien,  Kreuzungs Veränderungen,  die  man  als  still- 
stehende bezeichnen  kann,  da  durch  die  Vermischung  der  geschlecht- 
hch  verschiedenen  Idioplasmen  nur  neue  Zusammenordnungen  der 
vorhandenen  Anlagen  (nicht  Neubildungen  von  Anlagen)  und  damit 
auch  neue  Combinationen  der  Entfaltungsmerkmale  entstehen  (§  15). 

In  Folge  schädlicher  äusserer  Einwirkungen  treten  in  dem  Idio- 
plasma abnormale  oder  Krankheits-Veränderungen  auf, 
bestehend  in  Verschiebungen  seines  Gleichgewichts,  ebenfalls  ohne 
Neubildung  von  Anlagen ;  dadurch  werden  die  vorhandenen  Anlagen 
veranlasst,  in  abnormalen  Verhältnissen  und  meistens  in  Rückschlägen 
sich  zu  entfalten. 

Abgesehen  von  den  aufgezählten  erblichen  Veränderungen  des 
Idioplasmas  und  den  damit  zusammenhängenden  Umwandlungen  der 
sichtbaren  Merkmale,  erfahren  das  Ernährungsplasma  und  die  nicht- 
plasmatischen  Substanzen  durch  die  Einflüsse  der  Ernährung  und 
des  Klimas  grössere  oder  geringere  Veränderungen,  welche  die 
Ernährungsmodificationen  darstellen  und  im  grossen  und 
ganzen,  da  das  Idioplasma  unberührt  bleibt,  nur  so  lange  andauern 
als  die  Ursachen,  die  sie  hervorgerufen  haben. 

Von  Vererbung  als  einer  specifischen  Erscheinung  kann,  wenn 
wir  das  innere  Wesen  der  Organismen  im  Auge  haben,  eigentlich 
keine  Rede  sein,  da  die  Abstammungslinie  ein  continuirliches  Indi- 
viduum von  Idioplasma  ist.  In  diesem  Sinne  ist  sie  nichts  anderes 
als  die  Beharrung  der  organisirten  Substanz  in  einer  sich  verändernden 
Bewegung  oder  der  nothwendige  Uebergang  einer  idioplasmatischen 
Configuration  in  die  nächstfolgende ;  und  sie  ist  nicht  bloss  zwischen 
den  ontogenetisch  geschiedenen  Pflanzen-  und  Thierindividuen,  sondern 
auch  innerhalb  dieser  Individuen  überall  da  vorhanden,  wo  indivi- 
duelle Theile  (Zellen,  Organe)  der  Zeit  nach  auf  einander  folgen. 
Erbliche  Erscheinungen  sind  solche,  die  mit  Nothwendigkeit  auf  die 
folgenden  Generationen  übergehen,  und  im  allgemeinen  solche,  die 
im  Idioplasma  ihren  Sitz  haben,  da  die  nichtidioplasmatische  Substanz 
sich  nur  durch  eine  begrenzte  Zahl  von  Zellgenerationen  zu  ver- 
erben vermag. 

Gewöhnlich  beurtheilt  man  Veränderung  und  Vererbung  nicht 
nach  dem  innern  Wesen,  sondern  nach  dem  Verhalten  der  ent- 
falteten  Individuen   in   den   successiven  Generationen,    indem   man 


X.  Zusammenfassung.  543 

Vererbung  annimmt,  wenn  die  Entfaltungsmerkmale  die  nämlichen 
bleiben,  Veränderung,  wenn  bisher  latente  Merkmale  manifest  werden. 
Diese  Erscheinungen  gehören  aber  einem  andern  Gebiete  an;  sie 
betreffen  die  Entfaltungsfähigkeit  und  Entfaltung  der  idioplasmatischen 
Anlagen. 

S.  272—283. 

17.  Varietät,  Rasse,  Modification. 

Aus  den  verschiedenartigen  Veränderungen  der  Organismen  gehen 
verschiedene  Kategorien  von  Sippen  hervor.  Die  A^arie täten  ent- 
stehen durch  die  äusserst  langsamen  Vervollkommnungs-  und  An- 
passungsänderungen des  Idioplasmas,  welche,  da  sie  von  den  nämlichen 
Ursachen  bedingt  werden,  auch  in  allen  Individuen  der  gleichen 
Varietät  in  gleichmässiger  Weise  erfolgen.  Die  Varietäten  sind  ein- 
förmig, unter  den  verschiedensten  äusseren  Verhältnissen  durchaus 
constant,  kreuzen  sich  im  allgemeinen  nur  schwer  mit  verwandten 
Varietäten,  werden  durch  allfällige  solche  Kreuzungen  nicht  ver- 
ändert und  haben  eine  Dauer  von  Erdperioden.  Die  Varietäten 
gehören,  im  Gegensatz  zur  Cultur,  der  freien  Natur  an ;  sie  können, 
unbeschadet  ihrer  specifischen  Merkmale,  alle  möghchen  Modificationen 
annehmen,  aber  keine  Rassenunterschiede  zeigen,  indem  Anfänge  zur 
Rassenbildung  durch  die  Concurrenz  stets  vernichtet  werden ;  ihr  Yer- 
hältniss  zu  den  Species  beruht  nur  darin,  dass  sie  als  näher  verwandte 
Species  oder  die  Species  als  entfernter  stehende  Varietäten  zu  bezeichnen 
sind,  während  jeder  andere  unterscheidende  Charakter  mangelt. 

Die  Rassen  entstehen  durch  die  Kreuzungs-  und  Krankheits- 
ändermigen  des  Idioplasmas;  im  ersten  Fall  setzen  sie  Kreuzung 
zwischen  verw^andten  Varietäten  oder  Species,  im  zweiten  Fall  eine 
gesteigerte  Empfindlichkeit  und  Schwächung  des  Idioplasmas  voraus ; 
sehr  häufig  unterstützen  sich  die  beiden  Momente,  indem  die  Kreuzung 
leichter  erfolgt,  wenn  das  Idioplasma  durch  schädliche  Einflüsse  ge- 
schwächt wird ,  und  indem  die  Reizbarkeit  und  Schwächimg  des 
Idioplasmas  sich  vermehrt,  wenn  Kreuzung  vorausgegangen  ist.  Die 
Rassenbildung  beginnt  in  einzelnen  Individuen,  und  weil  die  Ursachen 
verschieden  sind,  bei  mehreren  Individuen  in  verschiedener  Richtung, 
und  kann  daher  eine  grosse  Vielförmigkeit  zeigen.  Die  Rassen  zeichnen 
sich  durch  mehr  oder  weniger  abnormale  Merkmale  aus,  sie  entstehen 
rasch,  oft  in  einer  einzigen  Generation,  und  besitzen  eine  sehr  ungleiche 


544  ^-  Zusammenfassung. 

Constanz,  die  nur  bei  strengster  Inzucht  einigermaassen  gesichert 
ist ;  durch  Kreuzung  gehen  alle  Rassen ,  manche  aus  Krankheits- 
änderungen entstandene  Rassen  gehen  auch  schon  durch  geschlecht- 
liche Fortpflanzung  (bei  Selbstbefruchtung)  zu  Grunde.  Die  Rassen 
gehören  ausschliesslich  dem  Culturzustande  an,  wo  sie  vor  der  Con- 
currenz  geschützt  sich  entwickeln  und  bestehen  können. 

Während  Varietäten  und  Rassen  durch  fortschrittliche  oder  still- 
stehende Veränderungen  des  Idioplasmas  entstehen ,  werden  die 
Modificationen  durch  solche  Einflüsse  der  Ernährung  und  des 
Klimas  erzeugt,  welche  bloss  auf  das  Ernährungsplasma  und  die 
nicht  plasmatischen  Substanzen  einwirken  und  daher  nicht  erbliche 
Eigenschaften  an  den  Organismen  hervorbringen.  Die  Modificationen 
haben  nur  so  lange  Bestand,  als  ihre  Ursachen  andauern,  und  gehen 
unter  anderen  Verhältnissen  alsbald  in  die  denselben  entsprechenden 
Modificationen  über ;  der  Uebergang  vollzieht  sich  bei  den  niedersten 
Pflanzen  durch  eine  Ijeschränkte  Zahl  von  Zellengenerationen ,  bei 
den  höheren  Pflanzen  am  nämlichen  Stock  während  der  Bildung 
eines  Jahrestriebes.  Jede  Varietät  und  jede  Rasse  tritt  stets  in 
einem  bestimmten  Modificationskleide  auf  und  kann  dasselbe  in 
einem  ihr  eigenthümhchen  Umfange  wechseln. 

S.  229  —  272,  297—310. 

18.  Gesellschaftliche  und  gesonderte  Entstehung  der  Arten. 

Die  Art  gelit  Aveder  aus  der  Ernährungsmodi fieation  noch  aus 
der  Rasse  hervor;  sie  ist  stets  eine  weiter  gediehene  Varietät,  und 
Artbildung  daher  mit  Varietätenbildung  identisch.  Grund  zur  Ver- 
änderung und  somit  zur  Varietätenbildung  ist  immer  gegeben,  wenn 
entweder,  auch  bei  gleichbleibenden  äusseren  Verhältnissen,  die  auto- 
nome Veränderung  des  Idioplasmas  soweit  gediehen  ist,  dass  die 
Ontogenie  sich  auf  eine  höhere  Stufe  der  Organisation  und  Arbeits- 
theilung  erhebt,  oder  wenn  die  von  aussen  kommenden  Reizeinflüsse 
in  einer  mit  der  bisherigen  Anpassung  nicht  übereinstimmenden 
Weise  während  hinreichend  langer  Zeit  einwirken.  Es  entstehen 
daher  leicht  verschiedene  Varietäten  aus  einer  einförmigen  Sippe, 
wenn  diese  diu'ch  locale  Ti'ennung  unter  ungleiche  äussere  Einflüsse 
geräth,  weil  an  den  gesonderten  Orten  einerseits  die  autonome  Weiter- 
bildung ungleich  rasch  vor  sich  gelit  und  andrerseits  die  Anpassung 
ungleich  ausfällt. 


X.  Zusammenfassung.  545 

Im  allgemeinen  aber  müssen  die  verschiedenen  Varietäten  aus 
einer  einförmigen  Sippe  gesellschaftlich  entstehen,  weil  die  beisammen 
lebenden  Individuen  der  letzteren  wegen  der  grossen  Ungleichheit 
der  äusseren  Einflüsse  auf  die  kleinsten  Entfernungen  ungleich 
angeregt  werden,  und  weil  ferner  auch  bei  geringer  individueller 
Verschiedenheit  auf  die  nämlichen  äusseren  Einwirkungen  oft  un- 
gleiche Reactionen  erfolgen.  Wenn  identische  Individuen  gleich 
sehr  7A1  verschiedenen  Reactionen  auf  den  nämlichen  Reiz  geneigt 
sind,  so  entscheidet  manchmal  die  Richtung  der  ersten  Veränderung 
über  den  Charakter  der  Anpassung  und  somit  über  die  Beschaffen- 
heit der  Varietät,  weil  die  einmal  begonnene  Veränderung  auch  unter 
etwas  verschiedenen  Einflüssen  unbeirrt  weiter  fortschreitet,  —  so 
dass  also  die  auf  benachbarten  ungleichen  Standorten  durch  Um- 
bildung des  Idioplasmas  begonnenen  verschiedenen  Varietäten,  welche 
wegen  der  leichten  Verbreitung  durch  Samen  räumlich  bald  ver- 
mengt werden,  auf  allen  Standorten  in  Gesellschaft  mit  einander 
sich  divergirend  ausbilden. 

Die  gesellschaftliche  Varietätenbildung  wird  durch  die  Kreuzung, 
welche  allein  die  Rassenbildung  beherrscht,  im  Allgemeinen  nicht 
gestört.  —  Sie  wird  erfahrungsgemäss  bestätigt  durch  die  überall  sich 
wiederholende  Thatsache,  dass  mehrere  Anfänge  von  allernächsten 
Varietäten  nicht  nur  in  der  nämlichen  Gegend,  sondern  selbst  auf 
den  nämlichen  Standorten  zusammen  vorkommen,  während  die 
geographische  Verbreitung  der  besseren  A^arietäten  und  der  ver- 
wandten Arten  keinen  Aufschluss  über  deren  Entstehen,  sondern 
bloss  ül jer  die  letzten  grossen  Wanderungen  der  Pflanzenwelt  bietet, 
weil  sie,  wie  schon  aus  ihrer  Verbreitung  selbst  sich  ergibt,  vor 
dieser  Periode  entstanden  sind. 

Ebenso  wie  verschiedene  Varietäten  gleichzeitig  an  dem  näm- 
lichen Orte  aus  einer  Sippe  sich  bilden,  so  kann  die  nämliche  Varietät 
an  weit  von  einander  entfernten  Orten  entstehen,  wenn  die  analogen 
äusseren  Reizeinflüsse  im  Idioplasma  eine  identische  Umbildung 
verursachen.  Die  erfahrungsgemässe  Bestätigung  findet  sicli  in  der 
Tliatsache,  dass  die  gleichen  Varietätsanfänge  oft  in  weiten  Entfer- 
nungen von  einander  auftreten. 

Eine  scheinbare  gesellschaftliche  Entstehung  der  Varietäten 
ist  dann  gegeben,  wenn  dieselben  die  ungleichen  Anlagen,  die  sie 
an   verschiedenen  Orten  gewonnen  haben,    erst,    nachdem  sie  durch 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  35 


546  X.  Zusammenfassung. 

Wanderung  zusammen  gekommen  sind,  entfalten,  —  eine  schein- 
bare gesonderte  Entstehung  der  nämlichen  oder  auch  verschiedener 
Varietäten  dann,  wenn  die  Bildung  der  Anlagen  an  einem  und  dem- 
selben Ort  stattfindet,  die  Entfaltung  der  Anlagen  aber  erst,  nachdem 
die  Sippe  durch  Wanderung  sich  zerstreut  hat,  eintritt. 
S.  248—259,  21)7—310. 

19.   Allgemeines  Verhalten    der   phylogenetischen  Stämme  in   den  orga- 
nischen Reichen. 

Da  das  Wesen  eines  Organismus  allein  auf  der  Summe  seiner 
idioplasmatischen  Anlagen  beruht  (§14),  so  besteht  die  Entwicklung 
eines  phylogenetischen  Stammes  in  der  Entwicklung  des  Idioplasmas, 
welche  aus  der  mit  ihr  im  allgemeinen  parallel  gehenden  Umände- 
rung der  sichtbaren  ontogenetischen  Merkmale  erkannt  wird.  Das 
Idioplasma  verändert  sich  auf  zweierlei  Weise:  1.  durch  autonome 
Vervollkommnung,  2.  durch  die  Anpassung  an  die  äusseren  Ver- 
hältnisse. 

Vermöge  der  autonomen  ^'^eränderung  des  Idioplasmas  erlangen 
die  Ontogenien  einer  Abstammungslinie  eine  stets  complicirtere  Or- 
ganisation und  grössere  Theilung  der  Functionen ,  wobei  aber  nur 
die  qualitative  Verschiedenheit,  nicht  die  quantitative  und  numerische 
Vertretung  maassgebend  ist.  Da  das  Zusammengesetztere  mehr  Com- 
binationen  zulässt  als  das  Einfachere,  so  kann  sich  ein  phylogene- 
tischer Stamm,  wenn  er  durch  die  autonome  Entwicklung  eine 
höhere  Stufe  erreicht,  in  mehrere  Stämme  sj)alten,  von  denen  jeder 
als  seine  Fortsetzung  erscheint. 

Da  die  Anpassungsänderung  nur  von  dem  Wechsel  der  äusseren 
Verhältnisse  abhängt,  so  kann  ein  Organismus  auf  eine  höhere  Stufe 
der  Organisation  und  Arbeitstheilung  sich  erheben,  indem  er  seine 
Anpassung  behält  und  dieselbe  bloss  entsprechend  seiner  reicheren 
Gliederung  weiterbildet.  Er  kann  aber  auch,  indem  er  auf  der 
nämhehen  Organisationsstufe  verharrt,  seine  Anpassung  verändern; 
und  da  die  Anpassungsänderung,  ol)wohl  im  Verhältniss  ziu*  Dauer 
der  Ontogenien  äusserst  langsam,  doch  im  A'^ergleich  mit  der  auto- 
nomen Entwicklung  rasch  sich  vollzieht,  so  kann  ein  Organismus, 
so  lange  er  auf  der  nämlichen  Stufe  der  Organisation  und  Arbeits- 
theilung   verharrt,    mehrmals    seine   Anpassung    wechseln.      Da   es 


X.  Zusammenfassung.  547 

ferner  zahlreiche  verschiedenartige  Anpassimgen  gibt,  so  kann  ein 
Stamm  sich  aiü'  jeder  Stufe  in  mehrere  Anpassungsformen  und  selbst 
in  ganze  Verzweigungssysteme  von  Anpassmigsformen  spalten ,  die 
im  System  als  Arien,  Gattungen,  oft  selbst  als  ganze  Familien  er- 
scheinen, wiewohl  in  andern  Fällen  innerhalb  einer  Familie  auch 
verschiedene  Organisationsstufen  vertreten  sind. 
S.  129—132,  177—182,  197—198. 


20.  Entwicklungsgesetze  des  Pflanzenreiches. 

In  dem  i>robialen  Reich,  das  dem  Pflanzen-  und  Thierreiche 
vorausgeht,  bildet  sich  aus  dem  spontan  entstandenen  Plasma  all- 
mählich die  selbständige  Zelle  mit  ihren  charakteristischen  Eigen- 
schaften :  Wachsthum  durch  Micelleinlagerung,  Bildung  einer  plas- 
matischen Hautschicht  und  einer  nichtplasmatischen  Membran  um 
dieselbe,  Theilung  der  Zelle,  Trennung  der  so  entstandenen  Zellen, 
Zellbildung  frei  im  Inhalte.  Diese  Eigenschaften  vererben  sich  von 
den  Probien  auf  die  phylogenetisch  ihnen  folgenden  Pflanzen  und 
Thiere.  Die  Entwicklung  des  Pflanzenreiches  geschieht  durch  fol- 
gende gosetzmässige  I^rocesse,  die  ihre  Wirksamkeit  durch  die  ganzen 
phylogenetischen  Reihen  bewahren. 

Gesetz  der  phylogenetischen  Vereinigung.  Die  aller- 
einfachsten  Pflanzen  sind  Zellen  von  rundlicher  Gestalt,  welche 
wachsen  und  sich  durch  Theilung,  Sprossung  oder  freie  Zellbildung 
fortpflanzen.  Dadm'ch,  dass  die  Kindzellen,  statt  sich  von  einander 
zu  trennen  und  zu  selbständigen  Pflanzenindividuen  zu  werden,  mit 
einander  vereinigt  bleiben,  entstehen  aus  den  einzelligen  Pflanzen 
vielzellige.  Der  nämliche  Uebergang  der  Fortpflanzungszellen  in 
(sich  nicht  ablösende)  Gewebezellen  wiederholt  sich  noch  mehrmals 
bei  vielzelligen  Pflanzen  und  dient  dazu,  das  Individuum  zu  ver- 
grössern.  In  diesem  phylogenetischen  Process  gibt  sich  das  Be- 
streben der  Pflanze  kmid,  Tlieile,  die  auf  den  tieferen  Stufen  sich 
loslösen  mid  selbständig  werden,  auf  den  höheren  Stufen  zu  einem 
zusammengesetzten  Körper  zu  verbinden.  Ein  gleiches  Vereinigungs- 
bestreljen  zeigt  sich  aucli  bei  solchen  Pflanzentheilen,  die  durch  Ver- 
zweigung entstanden  sind  und  nur  stellenweise  zusammenhängend 
ein  ästiges  System  darstellen ;  dieselben  legen  sich  auf  den  höheren 

35* 


548  X.  Zusammenfassung. 

Stufen  zusammen  und  verwaclisen  unter  einander  zu  einem  con- 
tinuirliclien  Gewebe. 

Gesetz  der  phylogenetischen  Complication  oder 
der  Ampliation,  Differenzirung  und  Reduction.  Die 
Zellen  und  überhaupt  die  Theile  der  Pflanzen,  die  räumlich  neben 
einander  liegen,  oder  zeitlich  auf  einander  folgen,  sind  auf  den 
tieferen  Stufen  stets  einander  gleich.  Durch  Differenzirung 
werden  sie  ungleich,  so  dass  die  Summe  der  Functionen,  die  unter- 
schiedslos allen  Theilen  zukam ,  nun  auf  die  einzelnen  Theile  ge- 
schieden ist,  wobei  jeder  Theil  die  ihm  zukommende  Function  um 
so  besser  auszuführen  vermag.  Die  Differenzirung  wiederholt  sich 
im  phylogenetischen  Verlaufe,  indem  zuerst  alle  Theile  einer  Onto- 
genie  sich  in  zwei  oder  mehr  Partien,  dann  die  Theile  dieser  Partien 
sich  abermals  scheiden  u.  s.  f.  —  Neben  diesem  Scheidungsprocess 
ist  stets  ein  anderer  Vorgang  thätig,  der  jenem  gleichsam  den  Boden 
bereitet,  nämlich  die  Ampliation,  vermöge  welcher  das  Wachs- 
thum  der  ganzen  Ontogenie  oder  einzelner  Abschnitte  derselben  eine 
quantitative  Steigerung  erfährt,  so  dass  ein  Organ  eine  grössere  Zahl 
von  Zellen,  ein  Verzweigungssystem  eine  grössere  Zahl  von  Organen 
gewinnt.  Nach  dieser  numerischen  Zunahme  der  Theile  eines  Onto- 
genieabschnittes  erfolgt  die  Differenzirung,  soweit  es  die  Natur  der 
Functionen  zulässt,  in  der  Weise,  dass  die  am  meisten  geschiedenen 
Theile  durch  Zwischenbildungen  in  einander  übergehen.  Durch  den 
weiteren  phylogenetischen  Process  der  Reduction  werden  dann 
die  Zwischenbildungen  unterdrückt,  so  dass  zuletzt  nur  die  extremen 
Producte  der  Differenzirung,  und  auch  diese  quantitativ  und  numerisch 
so  viel  als  möglich  beschränkt,  räumlich  neben  einander  liegen  oder 
zeitlich  auf  einander  folgen. 

Neben  den  genannten  phylogenetischen  Processen,  welche  durch 
die  autonome  Fortbildung  des  Idioplasmas  geschehen,  ist  eine  stete 
Einwirkung  der  äusseren  Einflüsse  thätig,  die  dem  Organismus 
jeweilen  ein  seiner  Umgebung  entsprechendes  locales  Gepräge  ver- 
leihen und  den  Gesetzen  der  Anpassung  folgen  (§0,  11). 

S.  338—425. 

21.  Der  Generationswechsel  in  phylogenetischer  Beziehung. 

Da  die  einfachsten  Pflanzen  Zollen  sind  und  die  zusammen- 
gesetzteren  aus  Zellen  sich  aufbauen,   so  kann  eine  ganze  Abstam- 


X.  Zusammenfassung.  549 

mungsliiiie  als  eine  Reihe  auf  einunder  folgender  Zellgenerationen 
betrachtet  werden.  Auf  der  untersten  Stufe  sind  alle  Zellgenerationen 
einander  gleich;  auf  allen  übrigen  zeigen  sie  stets  grösser  und 
zahlreicher  werdende  Verschiedenheiten.  Es  besteht  also  Generations- 
wechsel der  Zellen,  indem  ihre  Generationenreihe  in  immer  mannig- 
faltigerer Weise  sich  in  Perioden  gliedert.  Unter  diesen  Perioden 
umfasst  die  ontogenetische  Periode  oder  Ontogenie  alle  Ge- 
nerationen von  einer  Zelle  bis  zur  Wiederkehr  der  ganz  gleichen 
Zellenart.  Auf  den  untersten  Stufen  der  Zellenungieichheit  sind 
die  Zellen  der  successiven  Generationen  alle  selbständig;  die  onto- 
genetische Periode  besteht  aus  einem  Cyclus  von  Generationen  ein- 
zelliger Pflanzen.  Später  sind  die  Zellgenerationen  einer  Ontogenie 
partienweise  zu  Pflanzenindividuen  verbunden;  die  ontogenetische 
Periode  besteht  aus  einem  Cyclus  von  vielzelligen  und  einzelligen 
oder  bloss  von  vielzelligen  Pflanzengenerationen.  Wenn  alle  Zell- 
generationen einer  ontogenetischen  Periode  zu  einem  einzigen  Indi- 
viduum sich  vereinigt  haben,  so  sind  die  auf  einander  folgenden 
Pflanzengenerationen  gleich  und  der  Generationswechsel  hat  auf- 
gehört. 

Die  Ungleichheit  der  Generationen  entsteht  entweder  durch 
die  inneren  Ursachen  der  zeitlichen  Differenzirung  allein,  oder  diurch 
zeitliche  Difi:erenzirung ,  welche  ein  bestimmtes  Gepräge  durch  den 
Wechsel  der  Jahreszeiten  erhält.  Im  letzteren  Falle  geht  aber  das 
Merkmal  der  Anpassung  im  phylogenetischen  Verlaufe  wieder  ver- 
loren und  der  Generationswechsel  erfolgt  dann  ohne  Rücksicht  auf 
die  Jahreszeit.  Ist  bei  den  niederen  Pflanzen  mit  dem  Generations- 
wechsel die  angegebene  Anpassung  verljunden,  so  wiederholt  sicli 
während  der  ontogenetischen  Periode  die  eine  der  ungleichen  Pflanzen- 
generationen eine  unbestimmte  Zahl  von  IVIalen  (Wiederholungs- 
generationen), während  die  andere  nur  einmal  und  zwar  bei  Beginn 
der  Ruhezeit  eintritt  und  in  Form  einer  Dauerspore  bis  zum  Anfang 
der  nächsten  Vegetationszeit  latent  bleibt.  An  diese  eigentliche 
Uebergangsgeneration,  welche  auf  den  tieferen  Stufen  geschlechtslos, 
auf  den  folgenden  durch  Zusammentreten  einer  männliclien  und 
einer  weiblichen  Zelle  entstanden,  also  androgyn  ist,  reihen  sich 
gewöhnlich  später  noch  zwei  Einzelgenerationen  an,  nämlich  eine 
vor  und  eine  nach  der  androgynen  Generation,  jene  als  geschlcchts- 
erzeugende,  diese  als  geschlechtserzeugte  Generation. 


550  X.  Zusammenfassung. 

Die  phylogenetische  Bedeutung  des  Generationswechsels  besteht 
darin,  dass  er  eine  Uebergangsstufe  von  den  einzelligen  zu  den  ein- 
facheren vielzelligen  und  von  diesen  zu  den  zusammengesetzteren 
vielzelligen  Pflanzen  darstellt.  Die  Pflanzengenerationen  auf  irgend 
einer  phylogenetischen  Stufe  vermehren  sich  durch  Ampliation, 
werden  durch  zeithche  Differenzirung  ungleich  (Generationswechsel) 
und  vereinigen  sich  zu  einem  gegliederten  Pflanzenindividuum, 
dessen  ungleiche  Abschnitte  den  ungleichen  Pflanzengenerationen  der 
fi'üheren  Generationenreihe  entsprechen. 

S.  426—454. 


22.  Morphologie  als  phylogenetische  Wissenschaft. 

Alle  Erscheinungen,  welche  die  Organismen  darbieten,  gehören 
ihren  Ursachen  nach  zwei  verschiedenen  Gebieten  an.  1 .  Die  einen 
sind  in  jeder  Ontogenie  die  Folgen  der  äussern  Einflüsse  und  ver- 
erben sich  nicht ;  sie  stellen  die  Ernährungsmodificationen  dar, 
werden  durch  Versuche  geprüft  und  machen  den  Inhalt  der  experi- 
mentellen Physiologie  aus,  2.  Die  andern  sind  geerbt  und  vererben 
sich  wieder;  sie  gehören  der  Physiologie  des  Idioplasmas  an.  Das 
Hauptgebiet  der  letzteren  beschäftigt  sich  mit  der  Entstehung  der 
Anlagen,  sohin  mit  der  Varietäten-  und  Artbildung;  es  ist  allen 
Versuchen  unzugänglich  und  macht  die  Phylogenie  oder  die  Phy- 
siologie der  Anlagenbildung  aus.  Ein  kleineres  Nebengebiet  be- 
schäftigt sich  mit  der  Entfaltung  der  vorhandenen  Anlagen,  sohin 
mit  der  Rassenbildung ;  es  wird  vorzüglich  durch  Kreuzungsversuche 
gefördert  und  kann  als  Physiologie  der  Anlagenentfaltung  bezeichnet 
werden. 

Die  morphologischen  Erscheinungen,  welche  in  der  Systematik 
ihre  Verwendung  finden ,  gehören  ausschliesslich  dem  phylogene- 
tischen Gebiet  an.  Die  ontogenetische  Entwicklungsgeschichte  gibt 
uns  keinen  Aufschluss  über  ihre  wahre  Bedeutung;  diese  kann  bloss 
auf  phylogenetischem  Wege  durch  Vergleichung  einer  Erscheinung 
mit  denjenigen,  aus  denen  sie  im  Verlaufe  der  Abstammungslinie 
hervorgegangen  ist,  erkannt  werden. 

S.  455— 4G2,  472—479. 


X.  Zusammenfassung.  551 

23.  Das  Pfianzensystem  vom  phylogenetischen  Standpunkt. 

Die  spontane  Entstehung  der  Organismen  hat  zu  allen  Zeiten 
und  an  allen  Orten  stattgefunden,  insofern  die  dazu  nothwendigen 
Bedingungen  vereinigt  waren.  Nach  der  Entstehung  beginnt  die 
autonome  phylogenetische  Entwicklung  und  schreitet  beständig  fort ; 
in  Folge  dessen  erhebt  sich  die  Abstammungslinie  von  Zeit  zu  Zeit 
auf  höhere  Stufen  der  Organisation  und  Functionstheilung ,  stirbt 
aber,  wenn  die  autonome  Fortbildung  aufhört,  als  altersschwach  aus. 
Die  Abstammungslinien  der  jetzt  lebenden  Organismen  haben  daher 
ein  ungleiches  Alter;  diejenigen  der  höchst  entwickelten  Pflanzen 
und  Thiere  nahmen  ihren  Ursprung  in  den  frühesten  Perioden  des 
organischen  Lebens,  diejenigen  der  niedrigsten  Organismen  in  den 
letzten  Perioden.  Es  besteht  also  keine  allgemeine  genetische  Ver- 
wandtschaft zwischen  den  jetzt  lebenden  Sippen;  bloss  die  nahe 
verwandten  und  ziemlich  auf  gleicher  Orgauisationsstufe  stehenden 
können  als  Zweige  des  nämlichen  phylogenetischen  Stammes  be- 
trachtet werden.  Ein  phylogenetisches  Pflanzensystem  besteht  nicht 
wirklich,  sondern  bloss  bildlich. 

Wenn  zwischen  zwei  Sippen  genetische  Verwandtschaft,  in  Wirk- 
hchkeit  oder  als  Symbol,  angenommen  werden  kann,  so  lässt  sich 
ihr  Verwandtschaftsgrad  in  theoretisch  genauer  Weise  durch  die 
Zahl  und  Grösse  der  phylogenetischen  Schritte  bestimmen,  welche, 
je  nachdem  die  Sippen  der  nämlichen  oder  collateralen  Linien  an- 
gehören, entweder  zwischen  ihnen  beiden  oder  zwischen  ihnen  und 
dem  gemeinsamen  Ausgangspunkt  sich  befinden.  —  Die  Zugehörig- 
keit zweier  Organismen  zur  nämlichen  Abstammungslinie  ist  daran 
zu  erkennen,  dass  die  Ontogenie  des  höher  stehenden  diejenige  des 
tiefer  stehenden  umfasst  und  als  deren  naturgemässe  Weiterljildung 
sich  kund  gibt. 

Da  wegen  der  grossen  Lückenhaftigkeit  der  jetzigen  Pflanzen- 
welt nur  eine  verhältnissmässig  geringe  Zahl  von  bekannten  Formen 
als  Symbole  für  die  ausgestorbenen  Entwicklungsstufen  eintreten 
kann,  so  lassen  sich  nur  wenige  und  ganz  allgemein  gelialteiie  Ab- 
stammungslinien feststellen ;  eine  solche  geht  von  den  grünen  Faden- 
algen durch  die  Lebermoose  zu  den  Gefässpflanzen.  In  dem  Gebiete 
der  scheinbar  so  reich  vertretenen  Phanorogamen  können  bloss 
phylogenetische  Entwicklungsreihen  der  einzelnen  Organe,  aber  keine 


552  X.  Zusammenfassung. 

Abstanimiingslinien  der  Familien  ermittelt  werden.  Ein  phylogene- 
tisches System  der  Phanerogamen  ist  nicht  einmal  in  den  rohesten 
Anfängen  zn  wagen ;  selbst  das  Rangverhältniss  zwischen  den  beiden 
Hauptabtheilungen  der  angiokarj^ischen  Phanerogamen,  zwischen 
Monocotylen  und  Dicotylen,  bleibt  fraglich,  und  ebenso  fraglich, 
welche  Familie  in  jeder  dieser  beiden  Abtheilungen  als  die  voll- 
kommenste zu  betrachten  sei. 
S.  462—523. 


Die  Sclraiilßii 


der 


naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 


Die  nachfolgende  Abhandlung  ist  eine  Gelegenheitsschrift,  welche 
in  dem  Tageblatt  der  50.  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und 
Aerzte  in  München  1877  veröffentlicht  und  in  verschiedenen  Zeitungen 
und  Zeitschriften  abgedruckt  wurde.  Sie  kam  aber  nicht  bloss  ge- 
legentlich, sondern  auch  eilfertig  zu  Stande,  wie  ich  schon  bei  der 
Veröffentlichung  zur  Erklärung  der  wenig  sorgfältigen  Ausarbeitung 
eines  öffentlichen  Vortrages  in  einer  Anmerkung^)  darzuthun  ver- 
anlasst war.  Ich  lasse  dem  Vortrage  seine  ursprüngliche  Form  und 
schalte  nur  eine  kurze  Ausführung  über  die  Grenze  zwischen  der 
unorganischen  und  organischen  Natur  ein,  wie  dieselbe  schon  in 
dem  ersten  Entwurf  enthalten  war. 

Wenn  aber  auch  die  Abhandlung  in  ihrer  Form  das  gelegent- 
liche und  flüchtige  Machen  verräth,  so  gilt  dies  nicht  von  ihrem 
Inhalte.  Derselbe  war  nicht  bloss  Jahre  lang  erwogen  worden,  son- 
dern er  stellte  selbst  das  Ergebniss  der  Gedankenarbeit  eines  ganzen 
Lebens  dar,  und  auch  seit  der  Aljfassung  haben  weder  fremde  Ein- 
würfe, noch  eigene  Ueberlegung  mich  zu  irgend  einer  Aendermig 
zu  veranlassen  vermocht. 

Es  sei  mir  gestattet,  den  Entwicklungsgang  meiner  Erkenntniss 
m  seinen   allgemeinen  Zügen   darzulegen.     Schon  in  meinen  Lehr- 

')  »Dieser  Vortrag  musste  einen  der  Vorträge  des  Progra,mms,  für  welche 
auswärtige  Mitglieder  aufgefordert  worden,  ersetzen.  Am  Sclilusse  des  Sommer- 
semesters machte  Herr  Prof.  Tschermak  die  Anzeige,  dass  er  verhindert  sei, 
nach  München  zu  kommen.  In  Folge  dessen  erhielt  der  Verfasser  von  den  Ge- 
schäftsführern die  Auff ox'derung ,  in  die  Lücke  einzutreten.  Derselbe  war  im 
P>egrifEe  dringende  Geschäfte  zu  erlechgen  und  nachher  eine  Reise  in  die  Ali)en 
anzutreten.  Der  Vortrag  trägt  die  Spuren  seines  Ursprungs,  indem  auf  einer 
Gebirgsreise  weder  Gelegenheit,  noch  die  nöthige  Sammlung  zu  einer  sorgfältigeren 
Ausarbeitung  gegeben  sind.« 


556  Die  Schranken  der  naturwissenschaftliclien  Erkenntniss. 

Jahren  ,  als  ich  auf  der  Universität  mich  mit  NaturAvdssenschaften 
zu  beschäftigen  begann ,  hatte  ich  den  Drang,  das  Aufgenommene 
unter  sich  in  Verbindung  zu  bringen  und  unter  allgemeinen  Gesichts- 
punkten zusammen  zu  fassen.  Diese  angeborene  Neigung  wurde 
durch  das  Colleg  Oken's  über  Naturgeschichte  gefördert  und  auf 
das  Allerallgemeinste  hingeleitet.  Glücklicherweise  fand  sie  eine 
Correctur  in  einer  anderen  angeborenen  und  ebenso  starken  Neigung 
zur  Kritik,  welche  mir  verbot,  irgend  eine  Theorie  als  richtig  an- 
zuerkennen, wenn  dieselbe  nicht  durch  sichere  Thatsachen  begründet 
M'ar  oder  wenigstens  nicht  in  Widerspruch  mit  solchen  sich  befand. 
Deswegen  war  ich  zwar  von  dem  idealen  Streben  Oken's  begeistert, 
konnte  mich  aber  mit  seiner  willkürlich  schematischen  Ausführung 
nicht  befreunden ,  ebenso  wenig  als  ich  es  vermochte  seine  Natur- 
philosophie zu  hören. 

Ueberhaupt  versagte  mir  ein  strenger  Realismus,  welcher  eine 
Verallgemeinerung  nur  dann  begriff,  wenn  sie  an  concreten  Beispielen 
klar  gemacht  werden  konnte,  jedes  Verständniss  für  metaphysische 
Dinge.  Am  Schlüsse  meiner  Studienjahre  versuchte  ich  es  zwar 
noch  in  Berlin,  einem  Colleg  über  Hegel 'sehe  Philosophie  zu 
folgen  und  aus  den  Schriften  Hegel 's  mir  eine  Vorstellung  über 
seinen  Gedankenfiug  zu  bilden.  Es  war  dies  aber  ein  ganz  frucht- 
loses Bemühen ;  ich  konnte  in  den  vorgetragenen  Abstractionen  mit 
dem  besten  Willen  nichts  Verständliches  und  Vernünftiges  finden. 
Ich  erwähne  dieses  Umstandes  namentlich  auch  deswegen,  weil 
wenige  Jahre  nachher  Schleidien  mich  als  Hegelianer  denunzirte. 
Bei  Anlass  einer  Polemik  über  den  Unterschied  zwischen  Flechten 
und  Pilzen,  in  welcher  ich  zeigte,  dass  die  thatsächlichen  Verhält- 
nisse im  Widerspruche  mit  den  Behauptungen  Schieiden 's  seien, 
lenkte  derselbe  mit  der  ihm  eigenen  kecken  Dialektik  die  Aufmerk- 
samkeit des  Lesers  auf  ein  ganz  fremdes  Gebiet  mit  dem  Ausspruch : 
»Mein  Freund  Nägeli  ist  Hegelianer«,  womit  wohl  nahegelegt 
werden  sollte,  dass  zwischen  einem  Kant  -  Friesianer  und  einem 
Hegelianer  eine  Verschiedenheit  der  Auffassung  nicht  überraschen 
könne.  —  Ich  hatte  seit  jener  Zeit  keine  Gelegenheit,  über  das  Ver- 
hältniss  der  Naturforschung  zur  Philosophie  zu  sprechen  und  war 
darum  auch  nie  im  Falle,  mich  gegen  den  Ausspruch  Schieiden 's 
verwahren  zu  können.  Da  er  in  den  »Grundzügen  der  wissenschaft- 
lichen Botanik«  enthalten  war   und  daher   auch  allgemein  bekannt 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  557 

geworden  ist,  so  sj^reche  ich  jetzt  noch  davon ;  denn  es  möchte  sonst 
wohl  räthselhaft  erscheinen,  wie  die  einstige  Heeresfolgc  Hegel 's 
sich  zu  dem  strengen  Realismus  und  der  nüchternen  Kritik,  wie  sie 
in  dieser  Abhandlung  vertreten  sind,  entwickeln  konnte. 

Was  die  Veranlassung  zu  der  sonderbaren  Aeusserung  Schleiden's 
gegeben  hat,  weiss  ich  zwar  nicht  sicher,  vermuthe  aber,  dass  es 
der  Ausdruck  »absolute  Begriffe«  war,  den  ich  gebraucht  hatte,  und 
mit  dem  ich  —  weit  entfernt  von  einer  Hegel 'sehen  Abstraction  — 
bloss  den  Charakter  der  absolut  verschiedenen,  specifischen  Erschei- 
nungen im  Pflanzenreiche  bezeichnen  wollte.  Ich  befand  mich 
nämlich  damals  noch  auf  dem  bei  den  Botanikern  und  Zoologen 
allgemein  herrschenden  Standj)unkt  von  absoluten,  nicht  durch  Ueber- 
gänge  verbundenen  specifischen  Unterschieden,  ohne  deswegen  die 
schon  von  Lamarck  gelehrte  Abstammung  der  Arten  von  einander 
zu  verwerfen.  Damit  komme  ich  nun  auf  die  selbständigen  Be- 
strebungen der  Wanderjahre.  Die  genannten  absoluten  Begriffe 
gingen  aus  folgendem  Gedankengang  hervor,  der  mir  in  jenem 
Stadium  der  geistigen  Entwicklung  zu  der  riclitigen  Erkenntniss  der 
natürlichen  Dinge  zu  führen  schien. 

Die  göttliche,  alle  Materie  durchdringende  Vernunft  hat  die  realen 
Erscheinungen  geschaffen;  ihr  Abbild,  die  menschliche  Vernunft, 
vermag  bloss  die  formalen  Begriffe  der  Mathematik  hervorzubringen. 
In  beiden  Gebieten  des  Schattens  müssen  analoge  Gesetze  walten ; 
das  Verhältniss ,  in  dem  die  Begriffe  der  natürlichen  Dinge  zu 
einander  stehen,  muss  dem  Verhältniss  zwischen  den  formalen  Be- 
griffen entsprechen.  Gleichwie  die  letzteren  von  der  Matliematik 
aus  einander  abgeleitet  werden,  so  müssen  die  Begriffe  der  materiellen 
Existenzen  von  den  Naturwissenschaften  aus  einander  sich  ent- 
wickeln lassen.  Da  al^er  die  mathematischen  Begriffe  zum  Theil 
a])solut  von  einander  verschieden  sind  (z.  B.  die  Linien  oder  Flächen 
verschiedener  Ordnungen),  so  folgt  eine  gleiche  absolute  A'^erschieden- 
heit  auch  für  viele  natürlichen  Erscheinungen,  und  für  die  Orga- 
nismen eine  sprungweise  Aufeinanderfolge. 

Dieser  Standpunkt  der  Wanderjahre,  in  welchem  ein  Körnchen 
Wahrheit  von  einem  grossen  Irrthum  umhüllt  ist,  wurde  durch  das 
genaue  und  gründliche  Studium  der  concreten  Dinge  bald  über- 
wunden. Schon  im  Jahre  1853  war  icli  der  Ueberzeugung ,  dass 
von  al)soluten  Unterschieden   in    der  Naturgeschichte    füglich   niclit 


558  Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

die  Rede  sein  könne,  und  im  Jahre  185G  habe  ich  es  bestimmt  aus- 
gesprochen, dass  die  Arten  durch  alhnähhche  Uebergänge  sich  in 
einander  verwandeln  müssten.  Für  das  Absolute  fand  ich  in  dem 
wissenschaftlich  zu  erkennenden  Gebiete  keinen  Platz  mehr  und 
setzte  die  Grenze  für  das  Wissen  überall  da,  wo  die  Unendlichkeit 
in  Zeit,  Raum  und  Theilbarkeit  beginnt;  »was  ausserhalb  der  end- 
lichen materiellen  Erscheinung  liege,  liege  auch  ausserhalb  der  Macht 
der  Naturwissenschaften«.  Für  das  geistige  Gebiet  glaubte  ich  noch 
eine  andere  Behandlung  als  die  der  exacten  naturwissenschaftlichen 
Methode  fordern  zu  sollen^). 

Seitdem  gelangte  ich  immer  mehr  zu  der  klaren  Ueberzeugung, 
dass  es  in  der  Natur  keine  Kluft  gibt,  welche  verschiedene  Gebiete 
trennte,  dass  in  allen  ihren  Erscheinungen  die  nämlichen  Gesetze 
herrschen,  dass  das  geistige  Leben  nicht  im  Menschen  oder  im 
Thier  als  etwas  principiell  Neues  beginnt,  sondern  dass  die  Elemente, 
aus  denen  es  besteht,  schon  in  der  Pflanze  und  im  Unorganischen 
vorhanden,  aber  nur  viel  einfacher  combinirt  sind.  Daraus  ergab 
sich  als  logische  Folgerung,  dass  für  die  Erkenntniss  in  allen  Er- 
scheinungen ohne  Ausnahme  die  gleichen  Bedingungen  und  somit 
die  gleichen  Grenzen  bestehen,  dass  mit  dem  Complicirterwerden 
der  Erscheinungen  die  Schwierigkeiten  des  Erkennens  zwar  grösser 
aber  nicht  qualitativ  andere  werden,  dass  das  Gebiet  des  Vorstell- 
baren und  Wissbaren  alles  Endliche  und  Relative  an  den  Dingen, 
das  Gebiet  des  Mystischen  und  Unbegreiflichen  aber  das  Absolute, 
Unendliche,  Ewige,  Göttliclie  ist.  Dieser  Gedanke  nun  wird  in  der 
vorliegenden  Abhandlung  ausgeführt  und  begründet. 

Da  ein  exactes  Urtheil  nur  so  weit  möglich  ist,  als  der  eigene 
Horizont  reicht  und  als  ein  Jeder  die  Dinge  wirklich  zu  überschauen 
vermag,  so  sind  auch  die  Urtheile  über  das  Gebiet,  welches  unserer 
Vorstellung  und  Erkenntniss  zugänglich  ist,  verschieden.  Ich  unter- 
lasse es,  auf  polemische  Beurtheilungen ,  .welche  mein  Vortrag  er- 
fahren hat,  einzugehen.  Bedingung  für  die  Verständigung  wäre  ja 
stets  ein  gleicher  geistiger  Horizont,  und  es  würde  mir  ohne  Zweifel 
von  einer  der  gegnerischen  Seiten  vorgehalten  werden,  dass  der 
meinige  nach  der  Seite  des  metaphysischen  Gebietes  hin  beschränkt 
sei,    was  ich  unbedingt  zugebe,   ohne   deswegen    einzuräumen,   dass 


*)  In  der  Einleitung  zu  »Die  Individualität  in  der  Natur«.    18.50. 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  559 

der  gegnerische  um  etwas  anderes  als  um  eine  duftige  _^und  gestalt- 
lose Ferne  erweitert  ist. 

Die  Bestimmung  der  Grenze,  bei  welcher  grundsätzlich  die  Er- 
keinitniss  aufhören  und  der  Glaube  beginnen  muss,  hat  als  Lösung  eines 
theoretischen  Problems  bloss  wissenschaftliche  Bedeutung.    Sie 
gibt  nur  die  unübersch reitbare  Linie  für  das  Wissbare  überhaupt,  nicht 
aber  ein  Maass  des  Gewussten  und  ebenso  wenig  eine  Norm  für  das 
Glaubensgebiet  des  Einzelnen,  welches  stets  durch  den  Umfang  des 
verstandesmässigen  Begreifens    bestimmt  wird.     Das  praktisch  Ver- 
werthbare   findet   sich   höchstens   in  dem  gewonnenen  Bewusstsein, 
dass  die  Schranke,   wo   dem   menschlichen  Wissen  für  immer  Halt 
geboten  ist,  uns  so  nahe  liegt,  und  dass,  weini  wir  einige  der  diesseits 
gelegenen  kleinen  Räthsel  wirklich  zu  lösen  vermögen,  die  jenseitigen 
grossen  Räthsel   an   und  für  sich  unlösbar  sind.     Dieses  Ergebniss 
zeigt  nur  im  allgemeinen,  dass  die  exacte  wissenschaftliche  Erkenntniss 
mit  der  im  Menschen  lebenden  Ahnung  nicJit  im  Widerspruche  steht. 
Dasselbe  tritt  in  scharfe  Opposition   gegen  die  Ueberhebung,   deren 
sich   sowohl   die   Philosophie   als   der  philosopliische  Materialismus 
schuldig  machen,  wenn  sie  den  menschlichen  Geist  ganz  oder  zum 
Theil  an  die  Stelle  des  Ewigen  setzen  und  Fragen,  die  jenseits  der 
Endlichkeit   liegen,    beantworten   wollen;    aber  es  lässt  die  den  je- 
weiligen Bedürfnissen   entsprechenden  Glaul^enssymbole   unberührt. 
Es  zeugte  daher  von  keinem  besonderen  Verständniss,  wenn  meinem 
Vortrage  materialistische,  von  der  orthodox  -  protestantischen  Kreuz- 
zeitung sogar  nihilistische  Tendenzen  vorgeworfen  wurden,  —  wenn- 
gleich anderseits  die  gute  Note,    welche  die  ultramontan-katholische 
Germania   dem  Vortrag  durch  vollständigen  Wiederabdruck  ertheilt 
hat,  nicht  weniger  überraschend  war. 


Hochgeehrte  A''  e  r  s  a  m  ni  1  u  n  g ! 

Mein  heutiges  Thema  wurde  vor  einigen  Jahren  hei  der  Zu- 
sammenkunft in  Lei^izig  1872  von  Herrn  Prof.  Du  Bois  Reymond 
in  ausgezeichneter  Weise  hesprochen.  Wenn  ich  den  nämhchen 
Gegenstand  wieder  aufnehme,  so  geschieht  es,  weil  icli  denselhen 
von  einem  etwas  verschiedenen  und  umfassenderen  Gesichtspunkte 
aus  betrachten  möchte. 

Auch  in  Form  und  Sprache  will  ich  mir  eine  Abweichung  von 
den  mannigfaltigen  bisherigen  Behandlungen  erlauben.  Der  Gegen- 
stand in  seiner  Allgemeinheit  verleitet  leicht  zu  Streifzügen  auf  das 
philosopliische  Gebiet  und  zu  der  entsprechenden  Ausdrucksweise. 
Ich  werde  mich  einer  möglichst  einfachen  und  nüchternen  Sprache 
bedienen  und  nichts  anderes  voraussetzen ,  als  die  Kenntniss  der 
elementarsten  Erscheinungen  in  den  verschiedenen  Gebieten  der 
Natur.  In  allgemeinen  Dingen  wird  ja  der  Ausdruck  stets  um  so 
einfacher  und  verständlicher,  je  mehr  man  sich  der  Klarheit  und 
damit  auch  der  Wahrheit  nähert. 

Ehe  ich  den  Gegenstand  selbst  in  i.ngriff  nehme,  scheint  es 
zweckmässig ,  kurz  der  verschiedenen  Arten  zu  gedenken ,  wie  die 
Frage  über  die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss 
von  den  Naturforschern   meistens   aufgefasst   und  beantwortet  wird. 

Es  ist  eiiiu  unter  den  sogenannten  Praktikern  weit  verbreitete 
Ansicht,  dass  eine  sichere  und  bleibende  Erkenntniss  natürlicher 
Erscheinungen  überhauj^t  unmöglich  sei.  Dieselben  wissen,  dass 
ihre  Systeme  und  Meinungen  bisher  keinen  Bestand  hatten,  und  sie 
denken  sich,  dass  die  wissenschaftlichen  Theorien  überhaupt  nm' 
Versuche  seien,  sich  der  unerreichbaren  Wirklichkeit  zu  nähern, 
Versuche,  welche  mit  den  Anschauunaen  der  Zeit  Inhalt  und  Ausdruck 


Die  Schranken  der  naturvvissenschaftlichen  Erkenntniss.  oßl 

verändern.  Dies  ist  augenscheinlich  keine  grundsätzliche  Ansicht, 
sondern  die  durch  den  Misserfolg  hervorgerufene  Verzweiflung,  die 
nothwendige  Folge  der  falschen  Methode  und  der  naturwissenschaft- 
lichen Unfähigkeit. 

Der  Praktiker  verlässt  sich  angeblich  auf  seine  Erfahrung.  Diese 
aber  kommt  auf  folgende  Weise  zu  Stande.  Bei  jeder  Naturerschei- 
nung sind  verschiedene,  oft  zahlreiche  Ursachen  und  begleitende  Um- 
stände betheiligt.  Die  Aufgabe  des  Naturforschers  ist  es,  zu  ermitteln, 
was  von  den  einzelnen  Ursachen  und  Umständen  bewirkt  wird;  sie 
kann  in  den  meisten  Fällen  durch  Beobachtung  allein  nicht  gelöst 
werden.  Der  Praktiker  greift  nun  irgend  eine  Ursache  oder  einen  Um- 
stand heraus,  der  ihm  gerade  in  die  Augen  springt  und  findet  darin 
den  Grund  der  Erscheinung ;  dies  nennt  er  seine  Erfahrung.  Es  ist 
daher  begreiflich,  dass  die  Praktiker  miter  einander  verschiedener 
Ansicht  über  die  nämliche  Erscheinung  sind,  dass  ihre  Meinungen 
das  Gepräge  der  wissenschaftlichen  Epoche  tragen  und  mit  der  Zeit 
wechseln.  Es  ist  ebenfalls  begreiflich,  dass  die  auf  sogenannte  Er- 
fahrung sich  berufenden  Theorien  in  denjenigen  Gebieten  noch  ihre 
üppigsten  Blüthen  treiben,  wo  die  Erscheinungen  am  verwickeltsten 
sind ,  in  der  organischen  Morphologie ,  in  der  Physiologie  und 
Pathologie. 

Das  Problem  einer  Naturerscheinung  ist  eine  algebraische  Glei- 
chung mit  vielen  unbekannten  Grössen.  Der  Praktiker  sieht  sich 
die  Gleichung  an  und  versucht  die  Lösung  derselben,  indem  er  für 
die  eine  oder  andere  Unbekannte  einen  meist  grossen  imd  ent- 
scheidenden Werth  einsetzt;  die  Probe  der  Richtigkeit  macht  er 
nicht.  —  Es  erfordert  nicht  viel  zur  Einsicht,  dass  auf  diesem  Wege 
allerdings  die  Lösung  und  damit  die  Erkenntniss  in  Ewigkeit  nicht 
erreicht  wird. 

Die  Lösung  einer  Gleichung  mit  vielen  Unbekannten  ist  nur 
möglich,  wenn  man  dazu  ebenso  viele  Gleichungen  zu  gewinnen 
weiss,  in  denei.  die  nämlichen  Unbekannten  enthalten  sind.  Da 
dies  bei  Naturerscheinungen  gewöhnlich  nicht  möglich  ist,  so  sucht 
man  sich  Gleichungen  zu  verschaffen,  in  denen  nur  eine  unbekannte 
Grösse  vorkommt.  Dies  geschieht  durch  den  wissenschaftlichen 
Versuch,  der  mit  dem  sogenannten  Versuch  der  Praktiker  nichts  gemein 
hat,  da  alle  unbekannten  Grössen  bis  auf  eine  einzige  entfernt  und 
dadurch  der  Werth  und  die  Wirkung  dieser  einen  sicher  ermittelt  werden. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre  30 


562  r^it^  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis«. 

Schon  längst  hat  die  Physik  den  Weg  des  mssenschafthchen 
Experimentes  eingeschlagen.  Die  Physiologie  hat  denselben  erst  in 
neuerer  Zeit  allgemeiner  als  den  richtigen  erkannt.  Auf  diesem 
zwar  mühsamen  und  zeitraubenden,  aber  einzig  sicheren  und  för- 
dernden Wege  werden  allerdings  nicht  grosse  Gebäude  von  Systemen 
aufgeführt,  die  nur  das  Schicksal  haben  könnten,  bald  wieder  zu- 
sammenzustürzen ;  - —  sondern  es  werden  bloss  einzelne,  an  und  für 
sich  vielleicht  unscheinbare  Thatsachen  gewonnen,  die  aber  für 
immer  ihren  Werth  bewahren  und  zur  Auffindung  neuer  Thatsachen 
befähioen.  So  vermehrt  sich  der  Stock  der  erkannten  Thatsachen 
zwar  langsam  aber  stetig.  Eine  Schnecke,  die  den  geraden  Weg 
nach  ihrem  Ziele  einschlägt,  kommt  vorwärts,  indess  die  Heuschrecke 
mit  ihren  Kreuz-  und  Quersprüngen  auf  der  Stelle  bleibt.  So  be- 
weist die  wissenschaftliche  Empirie  den  praktischen  Empirikern 
durch  die  That,  dass  vermittelst  der  exacten  Methode  sichere  und 
bleibende  Erkenntnisse  der  Naturerscheinungen  gewonnen  werden 
können. 


Viele  methodische  Naturforscher,  welche  auf  exactem  Wege  den 
Stock  der  feststehenden  Thatsachen  vermehren,  geben  auf  die  Frage 
nach  den  Grenzen  der  Naturerkenntniss,  indem  sie  eine  grundsätz- 
liche Lösung  für  unzulässig  halten,  bloss  die  thatsächliche  Antwort: 
»Der  Glaube  beginnt  immer  da,  wo  das  Wissen  aufhört.«  Dabei 
verfolgen  sie  diesen  Gedankengang.  Die  Menschheit  tritt  an  die 
Gesammtheit  der  Natur  heran.  Ihre  Einsicht  bewältigt  durch  For- 
schung und  Nachdenken  stets  neue  Gel)iete.  So  ist  beispielsweise 
die  Jetztzeit  in  der  Erkenntniss  der  Natur  viel  weiter  vorgedrungen 
als  Mittelalter  und  Alterthum ,  und  die  europäische  Cultur  ist  der 
übrigen  Menschheit  weit  voran.  Mit  der  fortschreitenden  geistigen 
Arbeit  wird  also  das  Reich  des  Wissens  immer  umfangreicher,  und 
das  Reich,  wo  wir  uns  mit  dem  Glauben  begnügen  müssen,  immer 
mehr  beschränkt. 

Diese  Auffassung  hat  eineii  unverkennl)aren  Werth  in  gewisser 
Beziehung.  Sie  gibt  uns  den  Maassstab  für  die  Stufe,  welche  die 
naturwissenschaftliche  Bildung  im  allgemeinen  in  jedem  Jahrhundert 
erreicht  hat,  und  ebenso  den  Maassstab  im  einzelnen  für  die  ver- 
schiedenen   Menschenrassen   und  Völker ,    für  verschiedene   Classen 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  503 

eines  Volkes  und  endlich  für  jedes  einzelne  Individuum.  Es  ge- 
währen solche  Erhebungen  ebenso  grosses  wissenschaftliches  Interesse 
für  den  Geschichtsforscher  und  Anthroj^ologen ,  als  praktisches  In- 
teresse für  den  Theologen,  den  Politiker  und  selbst  für  eine  Menge 
von  Beruf sarten. 

Der  Satz,  dass  unser  Glaube  da  beginne,  wo  das  Wissen  auf- 
höre, ist  eine  thatsächliche  Lösung  für  bestimmte  Zwecke.  Damit 
ist  unser  Interesse  nicht  befriedigt.  Mit  besonderer  Theilnahme 
wenden  wir  uns  der  theoretischen  Seite  des  Problems  zu.  Wir 
wünschen  zu  wissen,  ob  die  Grenze,  wo  das  menschliche  Wissen 
Halt  machen  muss,  überhaupt  bestimmbar  sei  oder  nicht,  —  wenn 
ja,  wie  weit  die  Erkenntniss  überhaupt  in  die  Natur  einzudringen 
vermöge,  wie  viel  die  Menschheit  von  der  Natur  wissenschaftlich  zu 
begreifen  vermöchte,  wenn  sie  eine  ungemessene  Zeit,  sagen  wir 
geradezu  eine  Ewigkeit,  sich  mit  Naturwissenschaften  beschäftigte 
und  wenn  ihr  dazu  alle  denkl^aren  Hilfsmittel  zu  Gebote  ständen,  — 
welches  also  die  Schranken  seien,  welche  die  wissenschaftliche  Er- 
kenntniss der  Natur  niemals  und  unter  keinen  Bedingungen  zu 
überschreiten  vermag,  —  welches  die  grundsätzliche  Grenze  zwischen 
dem  Gebiete  des  Wissens  und  dem  Gebiete  des  Glaubens  sei. 

Die  strenge  Untersuchung  dieser  Frage  verdient  um  so  mehr 
wiederholt  in  Angriff  genommen  zu  werden,  als  bekanntlich  von 
zwei  entgegengesetzten  Seiten  mit  vollkommener  Bestimmtheit  die 
absolute  Herrschaft  des  menschlichen  Geistes  über  die  Natur  in  An- 
spruch genommen  wird,  —  mit  abnehmender  Energie  von  der  natur- 
philosophischen, mit  zunehmender  Energie  von  der  materialistischen 
Geistesrichtung.  Jene  wähnt,  die  formale  Natur  aus  sich  con- 
struiren  zu  können,  und  das  Natin'erkennen  besteht  für  sie  in  nichts 
anderem  als  darin,  für  die  construirten  abstracten  Begriffe  die  con- 
creten  Naturerscheinungen  aufzusuchen ,  —  wobei  ihr  freilich  in 
keinem  Punkte  die  Selbsttäuschung  erspart  bleibt,  die  Begriffe  nach 
Maassgabe  der  sinnlichen  Wahrnehmungen,  statt  aus  sich  zu  con- 
struiren.  Diese  lässt  nichts  anderes  als  Kraft  und  Stoff  in  Zeit 
und  Raum  gelten  und  es  erscheint  ihr  daher  eine  vernunftgemässe 
Annahme,  dass  der  aus  Kraft  und  Stoff  aufgebaute  Mensch  die  aus 
den  gleichen  Factoren  zusammengesetzte  Natur  bewältigt.  Beide, 
die  naturphilosophische  und  die  materialistische  Richtung  stellen 
den  Menschen  auf  eine  für  sein  Selbstbewusstsein  sehr  schmcicliel- 

36* 


5G4  I^ie  Rchrankoi  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

hafte  Höhe;  —  sie  erklären  ihn  zum  Herrn  der  Welt,  zwar  nicht 
zum  wirklichen  Herrn,  der  die  Welt  macht,  aher  doch  zum  einge- 
bildeten Herrn ,  der  das  Werk  des  wirklichen  Herrn  begreift.  — 
Können  wir  diese  Herrscherrolle  mit  Grund  beanspruchen? 

Diese  Frage  ist  öfter  und  von  verschiedenen  Standpunkten  aus 
zu  beantworten  versucht  worden,  wohl  am  besten  von  meinem  Vor- 
gänger in  diesem  Kreise,  von  Du  Bois  Reymond  in  der  viel- 
besprochenen und  vielfach  missverstandenen  Rede  »Ueber  die  Grenzen 
des  Naturerkennens«.  Ich  werde  nur  diese  letztere  Antwort  berück- 
sichtigen, welche  in  geistreicher  Weise  und  in  bilderreicher  poetischer 
Sprache  die  Edelsteine  der  Gedanken  mit  den  schönsten  Redeblumen 
verziert  und  umhüllt.  Es  wäre  nützlich  gewesen  und  hätte  manchen, 
der  nicht  so  leicht  den  Kern  aus  der  Schale  löst,  auf  den  richtigen 
Weg  gewiesen,  wenn  Ergebniss  und  Begründung  in  einigen  kurzen 
Sätzen  zusammengefasst  worden  wären. 

Der  Redner  will,  gleich  einem  Welteroberer  der  alten  Zeit  an 
einem  Rasttage,  die  wahren  Grenzen  des  unermesslichen  Reiches, 
welches  die  weltbesiegende  Naturwissenschaft  ihrer  Erkenntniss  unter- 
worfen liat,  klar  vorzeichnen  und  kommt  zu  diesen  drei  Schlüssen : 
1.  Naturerkennen  ist  Zurückführen  eines  Naturvorganges  auf  die 
Mechanik  der  einfachen  oder  untheilbaren  Atome.  2.  Atome  in 
diesem  Sinne  gibt  es  nicht  und  daher  auch  überhaupt  kein  wirk- 
liches Erkennen.  3.  Wenn  aber  auch  die  Welt  aus  der  Mechanik 
der  Atome  erkannt  werden  könnte,  so  vermöchten  wir  doch  Empfin- 
dung und  Bewusstsein  nicht  aus  derselben  zu  begreifen. 

Es  dürfte  wohl  das  allgemeine  Verständniss  wesentlich  erleichtert 
haben,  wenn  diese  Ergebnisse  sich  nicht  als  Grenzen  des  Natur- 
erkennens ,  sondern  als  Nichtigkeit  oder  Unmöglichkeit  des  Natur- 
erkennens eingeführt  hätten.  Denn,  da  der  Redner  nicht  über  die 
Negation  hinausgeht,  so  kann  die  erkennende  Naturwissenschaft, 
wenn  ihr  das  Reich,  über  das  sie  gebietet,  mangelt,  auch  die  Grenzen 
desselben  nicht  abstecken,  —  und  wenn  ihr  sogar  die  Einsicht  in  die 
materiellen  Vorgänge  für  immer  abgeht,  so  verschlägt  es  ihr,  als 
einer  depossedirten  Herrscherin,  wenig,  ob  sie  bei  vorausgesetzter 
Herrschaft  auch  Ansprüche  auf  das  geistige  Gebiet  erliebcn  könnte. 

Man  kann  mit  den  einzelnen  Gedanken  von  Du  Bois  Rey- 
mond  vollkommen  einverstanden  sein  und  doch  die  Ueberzeugung 
haben,  dass  sie  nicht  vollständig  und   umfassend  genug  sind,   um 


Die  Schrauken  der  iiatunvisseuscluiftlichen  Ei'kenntuiss.  505 

die  naturwissenschaftliche  Erkenntniss  nach  allen  Seiten  hin  abzu- 
grenzen, dass  sie  in  ihrer  Unvollständigkeit  zu  falschen  und  mit 
dem  naturwissenschaftlichen  Bewusstsein  im  Widerspruche  stehenden 
Folgerungen  führen ,  und  dass  es  wünschbar  ist ,  die  Frage  nicht 
bloss  nach  der  negativen  Seite  zu  behandeln ,  sondern  zu  unter- 
suchen, ob  nicht  der  menschliche  Geist  zu  naturwissenschaftlicher 
Erkenntniss  befähigt  sei,  von  welcher  Beschaffenheit  und  in  welchem 
Umfange  ? 


Die  Lösung  der  Frage:  In  w^e  fern  und  wie  weit  vermag  ich 
die  Natur  zu  erkennen  ?  wird  offenbar  durch  Dreierlei  bedingt,  durch 
die  Beantwortung  von  drei  Theilfragen:  1.  die  Beschaffenheit  und 
Befähigung  des  Ich,  2.  die  Beschaffenheit  und  Zugänglich- 
keit der  Natur  und  3.  die  Forderung,  welche  wir  an  das  Er- 
kennen stellen.  Es  sind  also  Subject,  Object  und  Copula  bei  der 
Lösung  betheiligt. 

Man  möchte  vielleicht  eine  solche  Trennung  für  überflüssig, 
selbst  für  unstatthaft  halten,  weil  ja  das  Erkennen  des  Objects  durch 
das  Subject  ein  untheilbarer  Process  sei.  Indessen  ist  sie  doch 
richtig,  weil  die  Beurtheilung  bald  den  einen,  bald  den  andern 
Factor  mehr  in  den  Vordergrund  rückt,  und  nützlich,  weil  sie  eine 
erschöpfendere  Behandlung  fordert.  Die  Schwierigkeiten,  die  sich  für 
das  Erkennen  mit  Rücksicht  auf  das  Subject  oder  das  Object  er- 
geben, treten  selbst  am  deutlichsten  hervor,  wenn  wir  den  andern 
Factor  durch  die  Annahme,  dass  er  keine  Schwierigkeit  darbiete, 
ganz  bei  Seite  schaffen. 

Was  die  Befähigung  des  Ich  betrifft,  die  natürlichen  Dinge 
zu  erkennen,  so  ist  dafür  die  unzweifelhafte  Thatsache  entscheidend, 
dass,  mag  unser  Denkvermögen  wie  immer  beschaffen  sein,  uns  nur 
die  sinnliche  Wahrnehmung  Kunde  von  der  Natm*  gibt.  Wenn  wir 
nichts  sehen  und  hören ,  nichts  riechen ,  schmecken  und  betasten 
könnten,  so  wüssten  wir  überhaupt  nicht,  dass  etwas  ausser  uns  ist, 
noch  auch  dass  wir  selber  körperlich  sind. 

Es  besteht  also  für  die  Richtigkeit  unserer  Vorstellungen  immer 
die  Bedingung,  dass  unsere  äusseren  und  inneren  Sinne  richtig  be- 
richten. Unsere  Erkenntniss  ist  nur  wahr,  soferne  die  sinnliche 
Wahrnehmung  und  die  innere  Vermittelung  wahr  sind.     Dass  aber 


566  ^ic  Sclu'ankeii  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

beide  zuletzt  auch  zur  objectiven,  im  Object  begründeten  Wahr- 
heit führen,  dafür  besteht  eine  unendHch  grosse  Wahrscheinhchkeit 
deswegen,  weil  die  Irrthümer,  die  der  Einzelne,  oder  die  Gesammt- 
heit  begeht,  schliesslich  stets  als  solche  erkannt  und  nachgewiesen 
werden,  und  weil  die  Naturwissenschaften,  je  weiter  sie  fortschreiten, 
immer  mehr  die  scheinbaren  Widersprüche  zu  beseitigen  und  alles 
unter  einander  in  Uebereinstimmung  zu  bringen  wissen. 

Halten  wir  uns  in  dieser  Beziehung  für  beruhigt,  so  erhebt  sich 
die  Frage,  in  welcher  Ausdehnung  und  in  welcher  Vollständig- 
keit die  Sinne  uns  Kunde  von  den  Naturerscheinungen  geben. 
Rücksichtlich  der  Ausdehnung  darf  bloss  an  die  Schranken  er- 
innert werden,  um  sie  jedermann  klar  vor  die  Seele  treten  zu  lassen. 
In  der  Zeit  ist  uns  nur  die  Gegenwart  und  im  Räume  nur  dasjenige 
zugänglich,  was  unseren  eigenen  räumlichen  Verhältnissen  entspricht. 
Wir  köimen  unmittelbar  nichts  von  dem  bemerken,  was  in  der  Ver- 
gangenheit war  und  in  der  Zukunft  sein  wird,  nichts  von  dem,  was 
im  Räume  zu  entfernt  ist  und  was  eine  zu  grosse  oder  zu  kleine 
Ausdehnung  hat. 

Rücksichtlich  der  Vollständigkeit  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmungen besteht  eine  andere  Schranke ,  an  die  man  gewöhnlich 
nicht  denkt  und  auf  die  ich  etwas  näher  eintreten  muss.  Die  wissen- 
schaftliche Zergliederung  ergibt  uns  Folgendes :  In  der  Gesammtheit 
von  kraftbegabten  Stoffen,  welche  wir  die  Welt  nennen,  steht  jedes 
Stofftheilchen  durch  alle  ihm  eigenthümlichen  Kräfte  mit  allen  an- 
deren in  Beziehmig ;  es  wird  von  allen  beeinflusst  und  wirkt  seiner- 
seits auf  alle  ein,  natürlich  nach  Maassgabe  der  Entfernungen.  Und 
wie  das  einzelne  Stoiltheilchen  verhält  sich  selbstverständlich  eine 
Vereinigung  von  solchen;  die  Wirkung,  die  sie  empfängt  und  aus- 
übt, ist  die  Summe  der  Wirkungen  aller  einzelnen  Theilchen.  Der 
Krystall,  die  Pflanze,  das  Thier,  der  Mensch  empfindet  die  Anwesen- 
heit aller  Stofftheilchen,  jedes  einzelnen  für  sich  und  jeder  Vereinigung 
von  solchen,  und  zwar  mit  Rücksicht  auf  alle  Kräfte,  die  denselben 
innewohnen,  und  in  Folge  dessen  mit  Rücksicht  auf  alle  Bewegungen, 
welche  dieselben  ausführen.  Aber  diese  Empfindungen  sind  in  ihrer 
unendlichen  Mehrzahl  so  schwach,  dass  sie  als  unmerklich  vernach- 
lässigt werden  können. 

Dem  menschlichen  Organismus  steht  also  theoretisch  die 
Möglichkeit  offen,  von  allen  Erscheinungen  in  der  Natur  körperliche 


Die  Schranken  der  uatui-wissenschaftlichen  Erkenntniss.  567 

Wahrnehmungen  zu  empfangen.  Wie  gestaltet  sich  al)er  die  Sache 
in  AVirklichkeit?  welche  Eindrücke  sind  so  mächtig,  dass  sie 
für  uns  bemerkbar  werden ,  und  welche  gehen  als  zu  geringfügig 
für  uns  verloren? 

Unter  den  uns  bekannten  Wesen  hat  der  Mensch  mit  den 
höheren  Thieren  das  voraus,  dass  einzelne  Theile  sich  zu  Sinnes- 
werkzeugen ausgebildet  haben,  welche  für  bestimmte  Naturerschei- 
nungen sehr  empfindlich  sind.  Diese  Sinnesorgane  haben  sich  im 
Laufe  zahlreicher  auf  einander  folgender  Arten  und  zahlloser  Genera- 
tionen innerhalb  jeder  einzelnen  Art  von  unscheinbaren  Anfängen 
aus  auf  hohe  Stufen  vervollkommnet. 

Der  geniale  Gedanke  Dar win's,  dass  in  der  organischen  Natur  nur 
solche  Einrichtungen  zur  Ausbildung  gekommen  sind,  w^elche  dem  in- 
dividuellen Träger  Nutzen  gewähren,  ist  so  einfach,  so  vernunftgemäss 
und  so  sehr  in  Uebereinstimmung  mit  aller  Erfahrung,  dass  die 
hier  allem  competente  Physiologie  unbedingt  zustünmt  und  sich 
höchstens  verwimdert,  dass  nicht  schon  längst  ein  Columbus  dieses 
physiologische  Ei  festgesteUt  hat. 

Demgemäss  entspricht  der  Grad  der  Vollkommenheit,  zu  dem 
sich  jedes  Sinnes  Werkzeug  ausgebildet  hat,  genau  dem  Bedürfnisse, 
und  es  gibt  keines,  in  welchem  der  menschliche  Organismus  nicht 
von  irgend  einer  Thierspecies  sich  w^eit  übertroffen  sähe,  wenn  der- 
selben die  ausserordenthche  Feinheit  einer  besonderen  Sinneswahr- 
nehmung zur  Bedingung  des  Daseins  wurde.  —  Demgemäss  hat 
aber  auch  der  menschliche  und  der  thierische  Organismus  nur  für 
diejenigen  äusseren  Einwirkungen  Sinnesorgane  ausgebildet,  welche 
seine  Existenz  ün  günstigen  oder  ungünstigen  Sinn  erfolgreich 
treffen. 

Wir  haben  beispielsweise  ein  feines  Gefühl  für  die  Temj^eratur; 
es  ist  für  unser  Bestehen  nothw^endig,  wir  könnten  sonst,  ohne  es 
zu  ahnen ,  durch  Kälte  oder  Hitze  zu  Grunde  gehen.  Wir  haben 
ein  feines  Gefühl  für  das  Licht ;  es  gibt  uns  die  beste  und  schnellste 
Kunde  von  allen  Gegenständen,  die  uns  mugeben,  und  die  uns 
Schaden  oder  Nutzen  bringen  können.  Dagegen  haben  wir  kein 
Gefühl  für  die  uns  umgebende  Elektricität.  Während  wir  die  Zu- 
und  Abnahme  der  Wärme  und  des  Lichtes  w^ahrnehmen,  wissen  wir 
nicht,  ob  die  Luft,  in  w'elcher  wir  atlmien,  freie  Elektricität  enthält 
oder  nicht,  ob  diese  Elektricität  positiv  oder  negativ  ist.    Wenn  wir 


568  Diö  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

den  Telegraphendraht  berühren,  spüren  wir  nicht,  ob  die  Theilchen 
desselben  elektrisch  in  Ruhe  oder  in  Bewegung  sich  befinden. 

Es  hatte  keinen  Nutzen,  dass  der  Sinn  für  Elektricität  in  den 
höheren  Thieren  und  im  Menschen  besonders  ausgebildet  wurde, 
weil  es  für  die  Species  gleichgiltig  ist,  ob  jährlich  einige  Individuen 
vom  Blitze  erschlagen  werden  oder  nicht.  Würde  diese  Gefahr  alle 
Individuen  täglich  bedrohen,  so  hcätte  die  Empfindung  für  Elek- 
tricität, welche  die  niedersten  Thiere,  geradeso  wie  die  Empfindung 
für  das  Licht  und  die  Wärme,  in  den  ersten  Anfängen  besitzen, 
sich  nothwendig  weiter  ausgebildet.  Wir  w^ürden  dann  durch  ein 
besonderes  Sinnesorgan  die  Nähe  einer  in  elektrischer  Spannung 
befindHchen  Substanz  bemerken  und  dem  Blitzschlage  entfliehen 
können.  Wir  würden  geringe  Veränderungen  des  elektrischen  Zu- 
standes,  schwache  elektrische  Ströme  in  unserer  Nähe  wahrnehmen 
und  auch  die  Geheimnisse  des  Telegraphendrahtes  abzufangen  ver- 
mögen. 

Der  Mangel  eines  solchen  Organs  hätte  leicht  die  Ursache  sein 
können,  dass  wir  von  der  Elektricität  nichts  wüssten.  Wir  können 
uns  die  Atmosphäre  der  Erdkugel  ganz  gut  ohne  Blitz  und  Donner 
denken.  Diese  grossen  elektrischen  Entladungen  haben  uns  zur 
Elektricitätslehre  verholfen.  Wenn  sie  zufälhg  mangelten,  wenn 
überdem  einige  ganz  zufällige  Erfahrungen,  welche  eine  durch  Rei- 
bung erzeugte  anziehende  oder  abstossende  Kraft  offenbarten,  nicht 
gemacht  worden  wären,  so  hätten  wir  vielleicht  keine  Ahnung  von 
der  Elektricität,  keine  Ahnung  von  derjenigen  Kraft,  welche  in  der 
unorganischen  und  organischen  Natur  wohl  die  grösste  Rolle  spielt, 
welche  die  chemische  Verwandtschaft  wesentlich  bedingt,  welche  bei 
allen  moleculären  Bewegungen  in  den  organisirten  Wesen  wohl  ent- 
scheidender eingreift  als  irgend  eine  andere  Kraft,  und  von  welcher 
wir  die  wichtigsten  Aufklärungen  über  physiologisch  und  chemisch 
noch  räthselhafte  Vorgänge  erwarten. 

Unsere  Sinne  sind  eben  nur  für  die  Bedürfnisse  der  körperlichen 
Existenz,  nicht  aber  dafür  organisirt,  dass  sie  unser  geistiges  Be- 
dürfniss  befriedigen,  dass  sie  uns  Kenntniss  von  allen  Erscheinungen 
der  Natur  verschaffen  und  uns  darüber  belehren  sollen.  Wenn  sie 
zugleich  diese  Function  übernehmen,  so  geschieht  es  nur  neben])ei. 
Wir  können  uns  also  nicht  darauf  verlassen,  dass  die  sinnlichen 
Wahrnehmungen  uns  über  a  1 1  e  Erscheinungen  in  der  Natur  Kunde 


Die  Sclirankun  der  naturwissenscliaftlichen  Erkemitiiiss.  509 

geben.  Wie  wir  auf  die  elektrischen  Vorgänge,  die  in  jedem  Sfcoff- 
theilchen  ihren  Sitz  haben,  gleichsam  nur  durch  Zufall  etwas  er- 
fahren halben,  so  ist  es  leicht  möglich,  selbst  sehr  walirscheinlich, 
dass  es  auch  noch  andere  Naturkräfte,  noch  andere  moleculäre  Be- 
wegmigsformen  gibt,  von  denen  wir  keine  sinnlichen  Eindrücke  be- 
kommen, weil  sie  sich  nie  zu  einer  für  unsere  unvollkommenen  und 
unvollständigen  Sinnesorgane  bemerkbaren  Summe  vereinigen,  und 
die  uns  deshalb  verborgen  bleiben.  —  Wenn  uns  einer  der  Sinne, 
wenn  uns  besonders  der  Gesichtssinn  fehlte,  so  wären  wir  über  die 
Naturerscheinungen  viel  mangelhafter  unterrichtet,  als  wir  es  wirklich 
sind.  Hätten  sich  aber  ausser  den  fünf  Sinnen  noch  einige  andere 
an  unserem  Organismus  ausgebildet,  so  würden  wir  wohl  von  den 
natürlichen  Dingen  Manches  erfahren,  was  uns  jetzt  verborgen  bleibt. 

Unser  Vermögen ,  die  Natur  unmittelbar  durch  unsere  Sinne 
wahrzunehmen ,  ist  somit  in  zwei  Beziehungen  sehr  beschränkt. 
Es  mangelt  uns  wahrscheinlich  die  Empfindung  für  ganze  Gebiete 
des  Naturlebens ,  und  so  weit  wir  sie  wirklich  haben ,  trifft  sie  in 
Zeit  und  Raum  nur  einen  verschwindend  kleinen  Theil  des  Ganzen. 

Freilich  beschränkt  sich  unsere  NaturerkenntnisS  nicht  auf  das 
sinnlich  Wahrnehmbare.  Wir  können  durch  Schlüsse  auch  Kenntniss 
von  dem  bekommen,  was  die  Sinne  nicht  erreichen.  Der  fernste 
Planet  unseres  Sonnensystems ,  der  Neptun ,  war  seiner  Stellung, 
seiner  Grösse  und  seinem  Gewichte  nach  durch  Rechnung  bekannt, 
ehe  die  Astronomen  ihn  mit  dem  Fernrohr  entdeckt  hatten.  Wir 
wissen ,  obgleich  w^r  es  auch  mit  den  besten  Mikroskopen  nicht 
sehen,  dass  das  Wasser  aus  kleinsten  in  Bewegung  befindlichen 
Th eilchen  oder  Molekülen  besteht,  und  wenn  es  Zuckerwasser  oder 
Salzwasser  ist,  so  kennen  wir  auch  genau  das  verhältnissmässige 
Gewicht  und  die  verhältnissmässige  Zahl  der  Wasser-,  Zucker-  und 
Salztheilchen,  welche  es  zusammensetzen. 

Durch  Schlüsse  aus  Thatsachen,  die  mit  Hilfe  der  Sinne  er- 
kannt werden ,  gelangen  w  ir  zu  ebenso  sicheren  Thatsachen ,  die 
sinnlich  nicht  mehr  wahrnehmbar  sind.  Man  könnte  deshalb  allen- 
falls die  sanguinische  Hoffnung  hegen,  dass  von  dem  kleinen  Ge- 
biete aus,  w^elches  uns  die  Sinne  aufschliessen,  nach  und  nach  das 
Gesammtgebiet  der  Natur  durch  den  Verstand  erobert  werde.  Aber 
diese  Hoffnung  kami  niemals  in  Erfüllung  gehen.  Wie  die  Wirkmig 
einer  Naturkraft  mit  der  Entfernung  a])nimmt,    so   vermindert  sich 


570  I^ic  Schranken  der  naturwissenHcliaftliehen  Erkeuntniss. 

auch  die  Möglichkeit  der  Erkenntniss,  nach  Maassgabe,  als  die  zeit- 
liche und  räumliche  Entfernung  wächst.  Ueber  die  Beschaffenheit, 
die  Zusammensetzung,  die  Geschichte  eines  Fixsterns  letzter  Grösse, 
über  das  organische  Leben  auf  seinen  dunklen  Trabanten,  über  die 
stofflichen  und  geistigen  Bewegungen  in  diesen  Organismen  werden 
wir  nie  etwas  wissen.  In  gleicher  Weise  vermindert  sich  die  Mög- 
lichkeit, eine  noch  unbekannte  Naturkraft,  eine  noch  unbekannte 
Bewegungsform  der  kleinsten  Stofftheilchen  zu  erkennen,  je  weniger 
dieselbe  ilirer  Eigenthümlichkeit  nach  befähigt  ist,  zu  einer  grösseren 
Gesammtwirkung  zusanmien  zu  treten.  Wir  werden  uns  glücklich 
schätzen  dürfen,  weim  wdr  nur  eine  Ahnung  davon  erlangen. 

Die  beschränkte  Befähigung  des  Ich  gestattet  uns  somit 
nur  eine  äusserst  fraomentarische  Kenntnissnahme  des  Weltalls. 


Gehen  wir  nun  von  der  Betrachtung  des  Subjectes  zu  der  des 
Objectes,  der  Beschaffenheit  und  Zugängliclikeit  der  Natur  über. 
Die  Schranken,  welche  die  Natur  selbst  unserer  Erkenntniss  ent- 
gegensetzt, springen  am  deutlichsten  in  die  Augen,  wenn  wir  die 
hypothetische  Annahme  machen ,  der  Mensch  hätte  seinerseits  die 
vollkommenste  Befähigung  für  die  Naturerkenntniss.  Dies  wäre 
dann  der  Fall,  wenn  das  Hemmniss  von  Zeit  und  Raum  für  ihn 
nicht  bestände,  wenn  er  jede  Vergangenheit  so  gut  beurtheilen 
könnte  wie  die  Gegenwart,  wenn  der  fernste  Gegenstand  ihm  nicht 
mehr  Schwierigkeit  machte,  als  derjenige  in  seiner  unmittelbaren  Nähe, 
wenn  er  die  grössten  Fixsternsysteme  und  die  kleinsten  Atome  ebenso 
leicht  üljersehen  würde  als  einen  Körper  seiner  eigenen  Grösse, 
wenn  er  endlich  mit  so  vollständigen  Sinnen  ausgerüstet  wäre,  dass 
alle  Erscheinmigen  der  Natur,  alle  Kräfte  und  alle  Bewegungsformen 
von  ihm  unmittelbar  emj^fundeh  würden. 

Eine  in  dieser  Weise  ausgestattete  Menschheit  könnte  allenfalls 
sich  vermessen,  an  die  Lösung  des  berühmten  Problems  von  La- 
place  zu  gehen.  Derselbe  sagt:  »Ein Geist,  der  für  einen  gegebenen 
Augenblick  alle  Kräfte,  welche  in  der  Natur  wirksam  sind,  und  die 
gegenseitige  Lage  der  Wesen,  aus  denen  sie  besteht,  kennte,  wenn 
sonst  er  umfassend  genug  wäre,  um  diese  Angaben  der  Analysis  zu 
unterwerfen  —  würde  in  derselben  Formel  die  Bewegungen  der 
grössten  Weltköri^er   und  des  leichtesten  Atoms  vereinigen.     Nichts 


Die  Sehranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  571 

wäre  ungewiss  für  ihn,  und  Zukunft  wie  Vergangenlieit  wäre  seinem 
Blicke  gegenwärtig.  Der  menschliche  A'^erstand  bietet  in  der  Voll- 
endung, die  er  der  Astronomie  zu  geben  vermochte,  ein  schwaches 
Abbild  solchen  Geistes  dar.« 

Aber  auch  ein  so  universeller  Geist,  wie  Lai:>lace  ihn  voraus- 
setzt, würde  die  ihm  gestellte  Aufgabe  nicht  lösen  können.  Denn 
die  andere  Voraussetzung,  von  der  Laj^lace  nicht  spricht,  von  der 
er  aber  stillschweigend  ausgeht,  ist  die  Endlichkeit  der  Welt  nach 
allen  Beziehungen,  und  diese  ist  nicht  gegeben.  Die  Schwierigkeit, 
welche  die  Natur  der  menschlichen  Erkenntniss  entgegensetzt,  ist 
ihre  Endlosigkeit,  Endlosigkeit  des  Raumes  und  der  Zeit,  und 
von  allem,  was  als  noth wendige  Folge  dadurch  bedingt  wird. 

Die  Natur  ist  räumlich  nicht  bloss  unendlich  gross ;  sie  ist  endlos. 
Das  Licht  legt  in  1  Secunde  eine  Strecke  von  42000  geographischen 
Meilen  zurück;  um  die  ganze  uns  jetzt  bekannte  Fixsternwelt  zu 
durcheilen,  bedürfte  es  nach  wahrscheinlicher  Schätzung  20  Millionen 
Jahre.  Versetzen  wir  uns  in  Gedanken  an  das  Ende  dieses  uner- 
messlichen  Raumes,  auf  den  fernsten  uns  bekannten  Fixstern,  so 
würden  wir  nicht  ins  Leere  hinausblicken,  sondern  es  thäte  sich 
ein  neuer  gestirnter  Himmel  vor  uns  auf.  Wir  würden  glauben, 
wieder  in  der  Mitte  der  Welt  zu  sein,  wie  jetzt  die  Erde  uns  als 
deren  Centrmn  erscheint.  Und  so  können  vnr  in  Gedanken  den 
Flug  vom  fernsten  Fixstern  zum  fernsten  Fixstern  endlos  fortsetzen, 
und  unser  jetziger  Sternenhimmel  ist  schliesslich  gegenüber  dem 
Weltall  noch  unendlich  viel  kleiner  als  das  kleinste  Molekül  im 
Vergleich  zum  Sternenhimmel. 

Wie  mit  dem  Raum  verhält  es  sich  mit  der  Gruppirung  im 
Raum,  mit  der  Zusammensetzung,  Organisirung  und  Individualisirung 
des  Stoffes,  welche  das  Object  der  beschreibenden  oder  morphologi- 
schen Naturwissenschaften  ist.  Jedes  der  uns  bekannten  Dinge  be- 
steht aus  Theilen  und  ist  selbst  Theil  eines  grösseren  Ganzen.  Der 
Organismus  ist  zusammengesetzt  aus  Organen,  diese  aus  Zellen,  die 
Zellen  aus  kleineren  Elementartheilen.  Indem  wir  weiter  zerlegen, 
kommen  wir  bald  zu  den  chemischen  Molekülen  und  den  Atomen 
der  chemischen  Elemente.  Die  letzteren  widerstehen  zwar  zur  Zeit 
noch  der  Scheidekunst,  aber  schon  ihrer  Eigenschaften  wegen  müssen 
sie  als  zusammengesetzte  Körper  angesehen  werden.  So  können  wir 
in  Gedanken  die  Theilung  weiter  und  endlos  fortsetzen.    In  der  That 


572  I^ic  Schranken  der  naturwisseuschaftlicben  Erkenntniss. 

kann  es  keine  pliysisclien  Atome  im  strengen  Sinne  des  Wortes 
geben,  keine  Körperclien,  die  wirklich  untheilbar  wären,  keine  Ur- 
oder  Punktatome ^).  Alle  Grösse  ist  ja  nur  relativ;  der  kleinste  Kör^^er, 
von  dessen  Dasein  wir  Kunde  haben,  das  Theilchen  des  Licht-  und 
Wänneäthers  wird  beliebig  gross  für  unsere  Vorstellung,  selbst  un- 
endlich gross,  wenn  wir  uns  danel^en  hinreichend  klein  denken.  Wie 
die  Theilbarkeit  nicht  aufhört,  so  müssen  wir  nach  Analogie 
dessen,  was  wir  im  ganzen  Bereiche  unserer  Erfahrung  bestätigt 
finden,  annehmen,  dass  auch  die  Zusammensetzung  aus  indi- 
\dduellen,  von  einander  gesonderten  Theilen  nach  unten  sich  endlos 
fortsetze.  Ebenso  sind  wdr  genöthigt,  eine  endlose  Zusammensetzung 
nach  oben  zu  immer  grösseren  individuellen  Gruppen  vorauszusetzen. 
Die  Weltkörper  sind  die  Moleküle,  welche  sich  zu  Gruppen  niederer 
und  höherer  Ordnungen  vereinigen,  und  unser  ganzes  Fixsternsystem 
ist  nur  eine  Molekülgruj^pe  in  einem  unendlich  viel  grösseren  Ganzen, 
das  wir  uns  als  einheitlichen  Organismus  und  wieder  nur  als  Theilchen 
eines  noch  grösseren  Ganzen  vorzustellen  halben  ^). 

Wie  der  Raum  nach  allen  Richtungen  endlos  ist,  ist  es  die  Zeit 
nach  zwei  Seiten ;  sie  hat  nicht  begonnen  und  sie  wird  nicht  aufhören. 
Die  Bibel  sagt:  Im  Anfang  schuf  Gott  Himmel  und  Erde,  und  die 
Geologie  sagt:  Im  Anfang  war  die  Welt  eine  gasförmige  Masse,  aus 
welcher  sich  die  Weltkör j)er  verdichteten.  Aber  dieser  Anfang  ist 
nur  ein  relativer,  der  Anfang  einer  Endlichkeit,  und  die  Zeit,  die 
seit  diesem  Anfang  verfloss,  ist  nur  ein  Augenblick  im  Vergleich 
zur  Ewigkeit  vor  demselben. 

Aus  der  Vereinigung  von  Zeit  und  Raum  geht  ein  Reich  von 
Erscheinungen  hervor,  welches  neben  den  beschreibenden  Natur- 
wissenschaften den  Inhalt  der  andern  Hälfte  der  Natm-betrachtung, 
der  physikalischen  und  physiologischen  Wissenschaften  ausmacht. 
Der  den  Raum  erfüllende  Stoff  ist  nicht  in  Ruhe,  sondern  in  Be- 
wegung befindlich,  und  da  die  Stofftheilchen  mit  verschiedenen 
(anziehenden  und  abstossenden)  Kräften  auf  einander  einwirken,  so 
setzt  jeder  sich  bewegende  Körper  auch  die  anderen  in  Bewegung, 
vielmehr  er  verändert  deren  Bewegungen.  Er  gibt  von  seiner  Be- 
wegung  und   potentiellen  Energie   an   andere   ab,   diese   wieder  an 


*)  S.  Zusatz  1 :  Physische  und  metaphysische  Atomistik. 
^)  S.  Zusatz  2 :    Unendhche  Abstufung   in  der  Zusammensetzunj^  und  Orga- 
nisation des  Stolfes. 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  573 

andere  und  so  fort.  Dies  ist  die  Kette  von  Ursache  und  Wirkung, 
gleichfalls  endlos ,  da  sie  für  unsere  Vorstellung  weder  mit  einer 
ersten  Ursache  ihren  Anfang  nehmen,  noch  mit  einer  letzten  Wirkung 
abschliessen  kann. 

Die  Natur  ist  überall  unerforschlich ,  wo  sie  endlos  oder  ewig 
wird.  Sie  kann  daher  als  Ganzes  nicht  erfasst  werden,  denn  ein 
Process  des  Erkennens,  welcher  weder  Anfang  noch  Ende  hat,  führt 
nicht  zur  Erkenntniss.  —  Deswegen  erscheint  auch  das  Problem  von 
Laplace  von  vornherein  als  nichtig.  Es  ist  zwar  erlaubt,  jede 
Voraussetzung  zu  machen,  die  aus  irgend  einem  Grunde  unm()glicli, 
aber  keine,  die  undenkbar  ist.  Undenkbar  aber  ist  eine  Formel, 
für  welche  selbst  die  einzuführenden  Grössen  mangeln,  und  welche, 
wären  dieselben  gegeben,  nie  zu  Ende  käme.  Die  Kenntniss  aller 
Kräfte,  welche  für  die  Formel  von  Laplace  gefordert  wird,  setzt 
voraus,  dass  die  Körper  bis  in  ihre  letzten  kraftbegabten  StofE- 
theilchen  zerlegt  werden,  was  wegen  der  endlosen  Theill )arkeit  un- 
möglich ist.  Es  fehlen  also  die  Elemente,  aus  denen  die  Formel 
sich  zusammensetzen  soll ,  die  einfachen  Naturkräfte ;  man  kann 
mit  dem  Ansetzen  der  Formel  nicht  einmal  beginnen,  —  und  wenn 
man  es  könnte,  so  vermöchte  man,  wegen  der  räumlichen  Endlosig- 
keit des  Weltalls,  dieselbe  niemals  fertig  zu  bringen.  Du  Bois 
Reymond  hat  bereits  die  erste  Endlosigkeit  als  eine  unübenvind- 
liche  Grenze  bezeichnet;  die  andere  wäre,  könnte  auch  die  erste  über- 
wunden werden,  immer  noch  eine  ebenso  unübersteigbare  Schranke. 

Wenn  die  Formel  von  Laplace  nur  etwa  das  uns  sinnlich 
bekannte  Weltall  oder  auch  ein  unendlich  viel  grösseres  (aber  kern 
wirklich  endloses)  umfasste ,  und  wenn  in  dieselbe  etwa  die  Kräfte 
der  uns  bekannten  chemischen  Elemente  imd  der  supponirten  Aether- 
theilchen  oder  auch  noch  viel  kleinerer  Stofflheilchen  eingesetzt 
werden  könnten,  so  vermöchte  sie  besonders  für  die  Mitte  des 
Systems  und  für  die  grösseren  Erscheinungen  vielleicht  für  sehr 
lange  Zeiträume  von  der  Gegenwart  aus  vor-  und  rückwärts  aus- 
zureichen. Es  müssten  aber  sofort  einerseits  von  dem  Umfange 
aus  Störungen  eintreten ,  welche  zuletzt  die  Formel  auch  für  die 
Mitte  unbrauchbar  machten ;  anderseits  müssten  die  Störungen  auch 
auf  jedem  einzelnen  Punkte  beginnen  und,  da  sie  sich  fortwährend 
steigerten,  schliesslich  zu  merklichen  Ungenauigkeiten  führen,  weil 
ja  die  angenommenen  »Atome«  keine  wirklichen  Einheiten  sind  und 


574  Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

weil  die  Resultirende ,  mit  der  jedes  einzelne  »Atom«  als  ein  aus 
gesonderten  Theilen  zAisammengesetzter  Körper  in  die  Gesammtheit 
eingreift,  nicht  constant  l)leibt,  sondern  mit  der  wechselnden  Um- 
gebung einen  ebenfalls  stetig  wechselnden  Werth  annimmt.  Immerhin 
brächte  uns  eine  solche  Formel,  wie  es  die  astronomische  Berech- 
nung wirklich  thut,  eine  innerhalb  gewisser  Grenzen  richtige,  — 
eine  praktische,  aber  keine  grunds<ätzliche  Lösung. 

Der  Naturforscher  muss  sich  wohl  bewusst  werden,  dass  seine 
Forschung  nach  allen  Beziehungen  innerhalb  endlicher  Grenzen  ge- 
bannt ist,  dass  von  allen  Seiten  das  unerkennbare  Ewige  ihm  ein 
kategorisches  Halt  gebietet.  Dass  dies  nicht  immer  klar  eingesehen, 
dass  namentlich  das  unendlich  Grosse  und  unendlich  Kleine  mit 
dem  Endlosen  und  dem  Nichts  verwechselt  werden ,  hat  zu  mehr- 
fachen irrigen  Vorstellungen  geführt.  Zu  denselben  gehören  die 
Theorien  über  die  j)hysischen  Atome  im  kleinen,  über  Anfang  und 
Ende  der  Welt  im  grossen.    Ich  will  nur  von  den  letzteren  sprechen. 

Man  nimmt  an,  dass  die  Masse  der  Weltkörper  im  Anfang  gas- 
artig vertheilt  gewesen  sei;  und  Du  Bois  Reymond  findet  daran 
nur  die  eine  Schwierigkeit:  Wäre  diese  Materie,  wie  es  theoretisch 
gefordert  wird,  ruhend  und  gieichmässig  vertheilt  gewesen,  so  wüsste 
er  nicht,   woher  Bewegung   und   ungleiche  Vertheilung  gekommen. 

Seit  unendlicher  Zeit  nun,  d.  h.  seit  jenem  vorausgesetzten 
Anfange,  geht  Verdichtung  der  Materie  vor  sich,  erst  zu  Nebeln, 
dann  zu  feurig  -  flüssigen  Tropfen,  welche  zu  dunkeln  Körpern  er- 
kalten. Wir  befinden  uns  in  der  Gegenw^art  auf  einem  solchen  er- 
starrten ,  nicht  mehr  leuchtenden  Welttropfen.  Nach  den  uns 
bekannten  Naturgesetzen  müssen  die  noch  feurigen  und  die  schon 
verdunkelten  Weltkörper  ihren  Wärmevorrath  mehr  und  mehr  an 
den  Weltraum  abgeben.  Sie  müssen  später  auf  einander  stürzen, 
und  wenn  auch  dabei  local  wieder  Erwärmung  stattfindet,  so  dient 
dieselbe  nur  dazu,  um  den  Erkaltungsprocess  im  grossen  und  ganzen 
zu  beschleunigen.  Am  Ende  aller  Dinge  aber  werden  die  Welt- 
körper zu  einer  dunklen,  starren,  eiskalten  Masse  vereinigt  sein,  auf 
der  CS  keine  Bewegung  und  kein  Leben  mehr  gibt. 

Dieses  ist  das  Ergebniss  einer  nach  unseren  jetzigen  Kennt- 
nissen correcten  physikalischen  Betrachtung.  Sie  zeigt  uns  das 
trostlose  Ende  der  bewegungsreichen  und  wechselvollen,  der  farben- 
glühonden  und   lebenswarmen  Gegenwart.   —   In  der  That  aber  ist 


Die  Scliranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  575 

dieses  Ergebniss  nur  die  Folge  unserer  menschlich  beschränkten 
Einsicht;  es  wäre  nur  dann  eine  logische  Noth wendigkeit ,  wenn 
wir  alles  wüssten  und  daher  unser  Wissen  zu  einem  Schluss  auf 
den  Anfang  und  das  Ende  benutzen  dürften.  Da  wir  aber  nur 
einen  winzigen  Theil  des  Weltalls  übersehen  und  auch  nur  eine 
mangelhafte  Kenntniss  der  Kräfte  und  Bcwegungsformen  in  diesem 
winzigen  Theil  besitzen,  so  können  zwar  die  Schlüsse  rückwärts  und 
vorwärts  für  gewisse  allgemeine  Verhältnisse  vielleiclit  auf  Billionen 
Jahre  ohne  merkljaren  Fehler  sein.  Sie  müssen  aber  mit  der  grösseren 
Zeitferne  unsicherer  und  zuletzt  ganz  fehlerhaft  werden.  Es  lässt 
sich  dies  besonders  für  die  Vergangenheit  sehr  anscliaulich  machen. 

Das  Sicherste,  was  wir  von  der  Vergangenheit  wissen,  ist  der 
feurig-flüssige  Zustand,  in  dem  sich  einst  unser  Erdball  befand,  mid 
wir  ziehen  daraus  den  nahe  liegenden  Analogieschluss ,  dass  auch 
die  übrigen  Planeten  unseres  Systems  leuchtende  Körper  waren,  wie 
es  die  Sonne  zur  Zeit  noch  ist.  Von  diesen  Sonnen  rückwärts  ge- 
langen wir  durch  weitere  Schlüsse  zu  zusammengeballten  Wolken, 
den  Embryonen  der  späteren  Sonnen,  zu  Wolkenringen  und  weiterhin 
zu  der  ziemlich  gleichmässig  vertheilten  gasförmigen  Masse,  dem 
Anfangszustande ,  über  den  mit  unserer  jetzigen  Einsicht  nicht 
hinauszukommen  ist. 

Dies  alles  zeigt  uns  deutlich,  dass,  wie  auf  der  Erde  ein  steter 
Wechsel  herrscht,  auch  der  Himmel  sich  verändert.  Jede  ^^erände- 
rung  besteht  in  einer  Summe  von  Bewegungen,  und  setzt  voraus 
eine  frühere  Veränderung  oder  Summe  von  Bewegungen,  aus  der 
sie  mit  mechanischer  Nothwendigkeit  hervorging,  und  weiterhin  eine 
von  Ewigkeit  her  dauernde  Kette  von  Veränderungen.  So  muss 
auch  dem  gasförmigen  Zustande  unsers  Sonnensystems  eine  conti- 
nuirliche  und  endlose  Reihe  von  Veränderungen  vorausgegangen 
sein,  und  wenn  unsere  wissenschaftliche  Einsicht  uns  nicht  dazu 
führt,  uns  nicht  einmal  dazu  berechtigt,  so  beweist  sie  damit  nur 
ihre  Mangelhaftigkeit. 

Aus  der  Ewigkeit  der  Veränderungen  im  Wellall  müssen  wir 
vielmehr  schliessen,  dass  der  ganze  Entwicklungsprocess  unseres 
Sonnensystems  oder  des  ganzen  Sternenhimmels  von  der  ursprüng- 
lichen Gasmasse  durch  die  kugeligen  Nebelmassen ,  feurigen  und 
dunkeln  Bälle  zm'  kalten,  dichten  und  starren  Masse  nur  eine  der 
zahllosen   auf   einander  folgenden   Perioden   ist,   und   dass   analoge 


576  I^ie  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

Vorgänge  ohne  Ende  vorausgegangen  sind  und  nachfolgen  werden. 
Nun  ist  uns  zwar  nach  den  jetzigen  physikah sehen  Kenntnissen 
ganz  begreiflich,  dass  eine  sich  verdichtende  Gasmasse  Wärme  er- 
zeugt und  dass  die  heisse  verdichtete  Masse  diese  Wärme  abgibt, 
bis  sich  ihre  Temj^eratur  mit  der  Umgebung,  in  unserem  Falle  mit 
dem  kalten  Weltenraumc  ausgeglichen  hat.  Aber  es  ist  uns  unbe- 
greiflich, wie  die  feste  Masse  wieder  gasförmig  werden,  wie  sich  die 
dazu  nöthige,  im  Weltenraume  vertheilte  Wärme  wieder  sammeln  soll. 

Es  besteht  hier  offenbar  eine  Lücke  in  unseren  Kenntnissen, 
die  vielleicht,  trotz  der  fast  vollständigen  Unwissenheit  der  Physik 
und  Chemie  über  die  Eigenschaften  der  chemischen  Elemente  und 
der  Aethertheilchen,  in  folgender  Weise  auszufüllen  ist.  Den  chemi- 
schen Atomen  muss,  wie  aus  ihren  mannigfaltigen,  unter  einander 
abweichenden  Eigenschaften  hervorgeht,  eine  complicirte  Zusammen- 
setzung aus  zahlreichen,  mit  verschiedenen  Kräften  begabten  Theilchen 
zukommen.  Sie  müssen  ferner,  wie  alles  Endliche  und  Zusammen- 
gesetzte, sich  verändern,  indem  ihre  Theilchen  in  andere  Zusammen- 
ordnungen übergehen.  Dadurch  wird  die  Verwandtscliaft  der  Atom- 
oberfläche für  den  Wärmeäther  grösser  oder  kleiner  und  die  physikalisch 
umgestimmte  Substanz  bindet  neue  Wärme  oder  lässt  Wärme  aus- 
treten, so  dass  auch  der  Aggregatzustand  bei  gleicher  Temperatur 
ein  anderer  werden  kann.  Die  jetzt  festen  oder  geschmolzenen  Ele- 
mente und  Verbindungen,  welche  die  Planeten  zusammensetzen, 
w^aren  in  der  nebularen  Urzeit  gasförmig  trotz  der  grossen  Kälte 
des  Weltenraumes.  Wie  sie  nun  ihre  damalige  Natur  aus  uns  unbe- 
kannten Gründen  geändert  haben  und  unter  Wärmeabgabe  flüssig 
und  fest  geworden  sind,  so  können  sie  auch  durch  die  entgegen- 
gesetzte Veränderung  wieder  Wärme  binden  und  gasförmig  werden^). 

Dieses  Beispiel  zeigt  uns,  dass  wir  unsere  Erfahrungen  über 
das  Endliche  auch  nur  zu  Schlüssen  innerhalb  des  Endlichen  be- 
nutzen dürfen.  Sowie  der  Mensch  dieses  Gebiet,  das  ihm  seine 
Sinne  eröffnen  und  das  seinem  Erkennen  zugänglich  ist,  überschreiten 
und  sich  eine  Vorstellung  vom  Ganzen  machen  ^\äll,  so  verfällt  er 
dem  Aberwitz.  Entweder  er  lässt  das  durch  Anschauung  und  Nach- 
denken Gewonnene  unberücksichtigt,  dann  geräth  er  in  willkürliche 
und  haltlose  Phantasien ;  oder  er  geht  consequent  von  den  Gesetzen 


*)  S.  Znsatz  3;  Naturphilosophische  Weltanschauungen.    Entropie. 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  577 

des  Endlichen   ans,    dann   langt   er   schliesslich    bei   ganz   absurden 
Folgerungen  an. 

Um  letzteres  anschaulich  zu  machen,  mag  mir  wieder  das  vorhin 
angeführte  Beispiel  dienen.  Die  uns  bekannte  Welt  verändert  sich. 
Verfolgen  wir  diese  Veränderung  nach  dem  Gesetze  der  Causalität 
rückwärts  in  die  Vergangenheit  und  vorwärts  in  die  Zukunft,  so 
ergeben  sich,  wenn  wir  uns  auf  den  früher  besprochenen  physi- 
kalischen Standpunkt  der  Nebulartheorie  stellen  und  das  uns  Be- 
kannte als  maassgebend  betrachten,  nach  beiden  Zeitrichtungen 
Zustände,  welche  sich  der  vollkommenen  Ruhe  immer  mehr  nähern, 
ohne  dieselbe  je  vollständig  zu  erreichen.  Wenn  wir  uns  aber  auf 
einen  weiteren  Standpunkt  stellen  und  annehmen,  dass  Weltkörper 
und  Weltkörpersysteme  ohne  Ende  im  Weltenraume  entstehen  und 
vergehen,  so  stehen  uns  wieder  zwei  Wege  offen :  entweder  haben  die 
auf  einander  folgenden  Zustände,  nach  materialistisch-philosophischer 
Auffassung,  den  gleichen  Werth ;  oder  sie  verändern ,  nach  idea- 
listisch-philosophischer Auffassung,  ihren  relativen  Werth  continuirlich, 
indem  sie  vollkommener  werden,  wobei  das  Weltall  in  der  ewigen 
Vergangenheit  der  absoluten  Unvollkommenheit  (somit  der  Ruhe) 
und  in  der  ewigen  Zukunft  der  absoluten  Vollkommenheit  (somit 
wieder  der  Ruhe)  immer  näher  kommen  würde.  —  Alle  drei  An- 
nahmen sind  in  gleichem  Grade  widersinnig.  Die  erste  (physikalisch- 
philosophische) und  dritte  (idealistisch-philosophische)  lassen  die  Welt 
von  todter  Ruhe  erwachen  und  wieder  zu  solcher  einschlafen.  Die 
zweite  (materialistisch-philosophische)  verurtheilt  sie  zu  ewiger  Ruhe, 
denn  eine  gleichbleibende  Veränderung  bedeutet  für  die  Ewigkeit 
nichts  anderes  als  Ruhe^). 

Nicht  besser  als  mit  der  Zeit  geht  es  uns  mit  dem  Raum.  Es 
ist  ein  naheliegender  Wunsch,  sich  das  Weltganze  als  von  endlicher 
räumlicher  Ausdehnung  zu  denken  und  damit  unserer  Vorstellung 
zugänglich  zu  machen.  Da  aber  der  stofferfüllte  Raum  überall  wieder 
an  stofferfüllten  Raum  angrenzen  muss,  so  kommen  wir  auf  die 
absurde  Folgerung,  die  endliche  Welt  grenze  an  ilirem  Umfange 
überall  an  sich  selber  an.  —  Lassen  wir  aber  dem  Weltenraum  die 
Endlosigkeit,  die  er  nach  räumlichen  Begriffen  haben  muss,  so  folgen 


')  S.  Zusatz  3:  Naturphilosophische  Weltanschauungen. 

Nägeli,  Abstammungslehre.  37 


578  I^ie  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

ohne  Ende  Weltkörper  auf  Weltkörper  in  verschiedener  Grösse, 
verschiedener  Zusammensetzung,  verschiedenem  Entwicklungszu  - 
stände.  Da  nun  Grösse,  Zusammensetzung  und  Entwicklungszu- 
stände  innerhalb  endlicher  Grenzen  sich  bewegen,  so  machen  auch 
die  möglichen  Combinationen  zwar  eine  nach  sprachgebräuchlichem 
Ausdruck  unendlich  grosse,  aber  doch  nicht  endlose  Zahl  aus.  Wenn 
diese  Zahl  erscböj^ft  ist,  müssen  sich  die  gleichen  Combinationen 
wiederholen.  Wir  können  dagegen  nicht  aufkommen  mit  der  Ueber- 
legung,  dass  Centillionen  von  Weltkörpern  oder  Weltkörpersystemen 
nicht  genügen,  um  die  Zahl  der  möglichen  Combinationen  voll  zu 
machen.  Denn  Centillionen  sind  ja  in  der  Endlosigkeit  weniger 
als  ein  Tropfen  Wasser  im  Ocean.  —  Wir  langen  somit  bei  der 
mathematisch  richtigen,  aber  für  unsere  Vernunft  abgeschmackten 
Folgerung  an,  dass  unsere  Erde,  gerade  so  wie  sie  jetzt  ist,  im  end- 
losen Weltall  mehrfach,  ja  zahllos  vorkomme  und  dass  auch  das 
Jubiläum,  das  wir  feiern,  auf  vielen  andern  Erden  jetzt  gerade  eben- 
so begangen  werde. 

Die  logischen  Folgerungen  dieser  Art  lassen  sich  vervielfältigen. 
Die  Beispiele  genügen,  um  zu  zeigen,  dass  unser  endlicher  Verstand 
nur  endlichen  Vorstellungen  zugänglich  ist  und  dass,  wenn  er  noch 
so  folgerichtig  sich  zu  Vorstellungen  über  das  Ewige  erheben  will, 
ihm  die  Schwingen  versagen,  und  dass  er,  ein  zweiter  Ikarus,  ehe 
die  sonnige  Höhe  erreicht  ist,  in  die  endliche  und  begriffsclunkle 
Tiefe  zurückstürzt. 


Nachdem  ich  die  Befähigung  des  Subjects  und  die  Zugänglich- 
keit des  Objects  erörtert  habe,  handelt  es  sich  noch  um  die  For- 
derungen, welche  an  das  Bindeglied,  an  das  Erkennen  zu  stellen 
sind. 

Da  alle  Vorstellungen,  welche  wir  von  der  Natur  haben,  uns 
durch  die  sinnliche  Wahrnehmmig  vermittelt  werden,  so  kann  auch 
unser  Erkennen  nicht  weiter  gehen,  als  dass  wir  die  wahrgenommenen 
Erscheinungen  mit  einander  vergleichen  und  sie  mit  Rücksicht  auf 
einander  beurtheilen.  Wenn  eine  besonders  geartete  Erscheinung 
nur  einmal  vorkäme,  wemi  wir  beispielsweise  die  einzigen  Organismen 
wären,  so  würde  unsere  Einsicht  äusserst  beschränkt  sein ;  denn 
wir  schöpfen  ja  die  Kenntniss  des  menschlichen  Organismus  wesent- 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  570 

licli  aus  dem  Zusammenhalte  mit  allen  andern  organischen  Wesen. 

—  Die  Vergleichung  vieler  Erscheinungen  lässt  uns  eine  Einheit 
oder  einen  Maassstab  gewinnen,  mit  dem  wir  jede  einzelne  messen 
und  bestimmen.  Wir  erhalten  also  eben  so  viele  Maasse,  als  es  sinnlich 
wahrnehmbare  oder  durch  das  Urtheil  aus  den  sinnhchen  Wahr- 
nehmungen abziehbare  Eigenschaften  in  der  Natur  gibt.  Da  diese 
Maasse  endlichen  Thatsachen  entnommen  sind,  so  haben  sie  auch 
nur  einen  relativen  Werth,  und  unsere  Erkenntniss  bleibt  auch  aus 
diesem  Grunde  in  der  Endlichkeit  befangen. 

Wir  erkennen  also  eine  Erscheinung,  vdr  begreifen  ihren  Werth 
in  Beziehung  zu  den  übrigen  Erscheinungen,  wenn  wir  sie  messen, 
zählen,  wägen  können.  Wir  haben  eine  klare  Vorstellung  von 
der  Grösse  des  niedersten  Pilzes,  von  welchem  wir  2  bis  3  Millionen 
Individuen  hinter  einander  legen  müssen,  um  die  Länge  eines  Meters 
voll   zu  machen,   —  von   der  Grösse    des  Elephanten,  —  der  Erde, 

—  unseres  Sonnensystems,  dessen  Halbmesser  etwa  622  Mllionen 
geographische  Meilen  beträgt.  Wir  haben  eine  klare  Vorstellung 
von  der  Zeit,  in  welcher  der  Lichtstrahl  die  Schrift  eines  Buches, 
das  wir  lesen,  in  unser  Auge  führt,  und  die  etwa  den  800  millionsten 
Theil  einer  Secunde  beträgt,  —  von  der  Lebensdauer  des  niedersten 
Pilzes,  welcher  im  Brütkasten  und  im  menschlichen  Körper  schon 
nach  20  Minuten  von  einer  neuen  Generation  abgelöst  wird,  —  von 
der  Lebensdauer  eines  mehrtausendjährigen  Eichbaums,  —  von  den 
500  Milhonen  Jahren,  welche  nach  einer  Hypothese  seit  Entstehung 
der  Organismen  auf  unserer  Erde  verflossen  sein  sollen. 

Die  Katurkörper  sind  aus  Theilen  zusammengesetzt ;  der  Werth 
ihrer  Innern  Beschaffenheit,  ilirer  Organisation  wird  genau  bestimmt 
durch  die  Menge,  Natur  und  Zusammenordnung  der  Theile.  Diese 
geben  uns  also  das  Maass,  nach  dem  wir  das  zusammengesetzte  Ganze 
beurtheilen,  mit  dem  wir  gleichsam  seine  Organisation  messen.  Die 
morphologischen  oder  beschreibenden  Naturwissenschaften  haben 
durch  dieses  Messen  ihren  wissenschaftlichen  Inhalt.  Die  Chemie, 
die  zur  Zeit  noch  eine  vorzugsweise  morphologische  Wissenschaft 
ist  und  die  Zusammenordnung  der  Elementatome  zu  ^'Verbindungen 
erforscht,  und  die  Mineralogie,  welche  die  gleichartige  Lagerung  der 
Moleküle  zm'  ^^oraussetzung  hat,  stehen  auf  einer  hohen  Stufe  der 
Ausbildung.  Das  allgemeine  Maass  für  die  Organismen  finden  wir 
in  der  Zelle,   und   weiterhin   im  Organ,    das   allgemeine   Maass   für 

37* 


580  I^'f"   Schninken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

die  systematisclien  Einheiten  der  organischen  Natur  (für  A^arietäten, 
Arten,  Gattungen)  in  den  Individuen  und  den  Generationen^). 

Wir  können  aber  niclit  nur  die  verschiedenen  Dinge  mit  ein- 
ander vergleichen  und  durch  einander  messen,  sondern  wir  können 
auch  ein  System,  eine  einheitliche  Gruppe  von  zusammengehörigen 
Dingen,  insofern  sie  sicli  verändert,  in  verschiedenen  auf  einander 
folgenden  Zeiten  mit  sich  selbst  vergleichen  und  durch  sich  selbst 
messen.  Die  Erkenntniss  der  Veränderung  ist  vollendet,  wenn  der 
spätere  Zustand  als  die  nothwendige  Folge  des  frülieren,  oder  dieser 
als  der  nothwendige  Vorgänger  des  späteren  nachgewiesen,  wenn 
einer  aus  dem  andern  construirt,  wenn  also  die  beiden  Zustände 
in  das  ^^erhältniss  von  Ursache  und  Wirkung  gebracht  werden 
können. 

In  den  elementaren  Gebieten  des  Stofflichen  ist  dieses  ur- 
sächliche Verhältniss  die  mechanische  Noth wendigkeit ,  welche 
für  zwei  auf  einander  folgende  Zustände  die  gleiche  Summe  von 
Bewegung  mit  bestimmter  Richtung  (von  lebendiger  Kraft)  und  von 
potentieller  Energie  fordert.  Die  Astronomie  nimmt  unter  den  hieher 
gehörenden  Wissenschaften  den  ersten  Rang  ein;  an  sie  schliessen 
sich  mehrere  Disciplinen  der  Physik  w'ürdig  an,  besonders  die 
mechanische  Wärmelehre  und  die  Optik.  Die  Physiologie  oder  die 
Physik  des  Organischen  sucht  in  den  Fusstapfen  ihrer  älteren 
Schwester  auf  einem  viel  verwickeiteren  und  schwierigeren  Gebiete 
vorzudringen. 

In  den  höheren  Gebieten  des  Stofflichen  lässt  sich  für  das  ur- 
sächliche Erkennen  nicht  mehr  die  Forderung  dieser  mechanischen 
Nothwendigkeit  festhalten.  Vielleicht  gilt  dies  selbst  für  alle  Ge- 
staltung. Sogar  die  Entstehung  der  chemischen  Verbindung  und 
des  Krystalls  wird  wohl  nie  mit  aller  Strenge  sich  als  das  noth- 
wendige Ergebniss  von  bekannten  Kräften  und  Bewegungen  der 
Elementatome  und  der  Moleküle  darthun  lassen.  Noch  viel  weniger 
wird  dies  mit  der  Bildung  der  Zellen,  mit  dem  Wachsthum  der 
Organismen,  mit  der  Fortpflanzung,  mit  der  Vererbung  der  Merk- 
male der  Fall  sein.  Dennoch  lässt  sich  auch  in  diesen  Gebieten 
mit  einigem  Rechte  von  ursächlichem  Erkennen  sprechen ;  nur  sind 
die  Elemente,    von   denen    dasselbe   ausgeht,    nicht  einf9,che  Kräfte 

*)  S.  Zusatz  4:  Berlinguncon  für  empirisches  Wissen  und  Erkennen.  Morpho- 
logische Wissen  schaften. 


Die  Schranken  der  naturwisseiiscliat'tlidK'ii  Kikenntiiiss.  581 

und  Bewegungen,  sondern  deren  sein-  verwickelte  Combinationen, 
die  nicht  weiter  analysirt  werden.  Das  ursächliche  Erkennen  wird 
seine  Probe  bestehen,  wenn  es  ihm  gehngt,  mit  derselben  Sicherheit 
und  Bestimmtheit  künftige  Ereignisse  vorherzusagen,  wie  es  die 
Astronomie  thut.  Andeutungen  hiezu  finden  wir  Jetzt  schon  in 
der  Chemie  der  ^"erbindungen  und  in  der  organischen  Morphologie, 
indem  es  möglich  ist,  aus  gewissen  Entwicklungszuständen  eines 
Organismus  auf  frühere  oder  spätere  Zustände  desselben  zu  schliessen . 
Und  wir  werden  einmal,  wenn  die  organischen  Gesetze  der  noch 
so  jungen  Entwicklungsgeschichte  des  Individuums  und  der  noch 
viel  jüngeren  Entwicklungsgeschichte  der  Species  besser  erforscht 
sind,  nicht  bloss  von  ontogenetischer  und  phylogenetischer  Notli- 
wendigkeit  als  von  einer  selbstverständlichen  Voraussetzung  sprechen, 
sondern  dieselbe  auch  erkennen  können. 

Man  wird  mir  wohl  einwenden,  dass  das  ursächliche  Erkennen 
in  der  Einsicht  der  Nothwendigkeit  bestehe,  wie  dies  in  der  Me- 
chanik der  Fall  sei,  aber  nicht  in  Gebieten,  wo  man  von  unerforschten 
zusammengesetzten  Dingen  ausgehen  müsse.  Die  Mechanik  des 
Himmels  ist  gegründet  auf  die  allgemeine  Gravitation  und  die  Centri- 
fugalkraft,  beides  einfache,  gradlinig  wirkende  Kräfte.  Aber  beides 
sind  Annahmen,  die  bloss  auf  unserer  Erfahrung  beruhen  und  für 
die  wir  den  Grund  nicht  kennen.  Die  Astronomie  lässt  uns  nicht  die 
Nothwendigkeit  an  und  für  sich,  sondern  nur  unter  der  Voraussetzung 
von  Erfahrungsthatsachen  einsehen.  Wenn  wir  für  unser  Begreifen 
die  Forderung  erheben  wollten,  dass  uns  das  Warum  klar  sei,  so  gäbe 
es   auch  kein   astronomisches   und   kein  physikalisches  Erkennen.^) 

Die  nämliche  Berechtigung  wie  in  der  Physik  und  Astronomie 
hat  das  ursächliche  Erkennen  in  den  organischen  Gebieten.  Aus 
Erfahrung  ist  uns  ein  System  von  Kräften  und  Bewegungen 
bekannt,  beispielsweise  die  Zelle.  Wir  setzen  für  dieses  System 
gewisse  allgemeine  Thatsachen  fest  (wie  es  die  Gravitation  und 
die  Centrifugalkraft  für  den  Himmelsraum  sind),  und  w'ir  be- 
nutzen dieselbe  für  unsere  weiteren  Schlüsse.  Die  Einsicht  in  die 
Nothwendigkeit  eines  Wachsthumsprocesses  besteht  darin,  dass  der- 
selbe  als   eine   nothwendige  Folge  jener  Thatsachen   erkannt  wird. 

Die  Erkenntniss  der  natürlichen  Dinge  beruht  also  darauf,  dass 
wir  sie  messen  entweder  durch  einander  oder  durch  sich  selber.    Ein 


*)  S.  Zusatz  5 :  Apriorität  des  Gravitationsgesetzes. 


582  Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

anderer  Weg  der  Betrachtung  führt  uns  zu  dem  gleichen  Ergebniss. 
Wir  begreifen  und  beherrschen  etwas  vollständig,  wenn  wir  es  selbst 
schaffen,  denn  in  diesem  Falle  sehen  wir  seinen  Grund  ein.  Das 
einzige  im  Gebiete  des  Wissens,  was  wir,  gestützt  auf  unsere  sinn- 
lichen Wahrnehmungen,  vollbringen,  ist  die  Mathematik.  Der  Inhalt 
dieser  formellen  Wissenschaft  ist  uns  vollkommen  klar,  denn  er  ist 
ja  mit  Hilfe  der  allgemeinsten  Erfahrung  das  Product  unseres  Geistes. 
Wir  können  daher  auch  die  realen  Dinge  sicher  erkennen,  so  weit 
wir  an  ihnen  mathematische  Begriffe,  Zahl  und  Grösse  mit  allem, 
was  die  Mathematik  daraus  ableitet,  verwirklicht  finden.  Das  Natur- 
erkennen beruht  also  in  der  Anwendung  des  mathematischen  Ver- 
fahrens auf  die  natürlichen  Erscheinungen;  einen  Naturvorgang 
begreifen  heisst  gleichsam  nichts  anderes ,  als  ihn  denkend  wieder- 
holen, ihn  in  Gedanken  hervorbringen^). 

Indem  ich  die  naturwissenschaftliche  Erkenntniss  als  eine 
mathematische  und  zugleich  als  eine  relative  bezeichne, 
welche  die  Dinge  je  weilen  nach  einem  aus  ihnen  selbst  abgeleiteten 
Maass  beurtheilt,  weiche  ich  wesentlich  von  meinem  Vorgänger, 
DuBoisReymond,  ab.  Derselbe  stellt  als  Bedingung  für  das 
Naturerkennen  auf,  dass  es  gelinge,  die  Veränderungen  der  Körper- 
welt auf  Bewegungen  von  Atomen,  die  durch  deren  von  der  Zeit 
unabhängige  Centralkräfte  bewirkt  werden,  zurückzuführen,  oder 
mit  andern  Worten  die  Naturvorgänge  in  Mechanik  der  Atome  auf- 
zulösen. Indem  Du  ßois  Reymond  hiebei  von  der  unbestreit- 
baren Forderung  ausgeht,  dass  etwas  Zusammengesetztes  nur  aus 
seinen  Theilen  zu  erkennen  ist,  bleibt  er  jedoch  nicht  bei  den  end- 
lichen und  wirklichen  Theilen  stehen,  sondern  verfolgt  die  Theilung 
bis  zu  den  für  uns  undenkbaren  absoluten  Einheiten  und  stellt 
damit  die  Bedingungen  für  das  unmögliche  absolute  Erkennen 
auf.  Da  es  sich  aber  für  uns  nicht  um  göttliche,  sondern  um  mensch- 
liche Erkenntniss  handelt,  so  dürfen  wir  von  dieser  auch  nicht  mehr 
verlangen,  als  dass  sie  in  jeder  endlichen  Sjihäre  bis  zum  mathe- 
matischen Begreifen  vordringe,  —  und  der  Ausspruch  von  Kant, 
dass  in  jeder  besonderen  Naturlehre  nur  so  viel  eigentliche  Wissen- 
schaft angetroffen  werden  könne,  als  darin  Mathematik  anzutreffen 
sei,  muss  immer  noch  als  richtig  gelten. 


*)  S.  Zusatz  5  b :  Apriorität  der  Mathematik. 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  583 

Wenn  Du  Bois  Reymond  die  Analyse  des  Stoffes  bis  auf 
Atome  mit  einfachen  Centralkräften  fortsetzen  will,  so  treibt  er  ein 
l^eliebtes  Verfahren  der  neueren  Physik  und  Physiologie  zur  äussersten 
Consequenz,  und  wenn  er  zeigt,  dass  dieses  Verfahren  nicht  zur  Er- 
kenntniss führt,  so  bricht  er  den  Ansprüchen  auf  ausschliessliche 
Wissenschaftlichkeit,  welche  dasselbe  zuweilen  erhebt,  die  grundsätz- 
liche Spitze  ab.  Wenn  Physik  und  physikalische  Physiologie  auf 
supponirte  Atome,  materielle  Punkte,  Volumelemente,  die  man  sich 
unendlich  klein  denkt,  zurückgehen,  so  ist  dieser  Versuch  berechtigt, 
insoferne  die  wirklichen  chemischen  Moleküle  so  klein  sind,  dass 
man  ohne  Rechnungsfehler  sich  den  Raum  als  continuirlich  mit 
Materie  erfüllt  denken  kann.  Man  kann  beispielsweise  an  die  Stelle 
eines  aus  zahlreichen  Kohlenstoff-,  Wasserstoff-,  Stickstoff-  und  Sauer- 
stoffatomen bestehenden  Eiweissmoleküles  ein  Massendifferential  dieser 
Verbindung  einsetzen.  Jedenfalls  ist  der  Versuch  nützlich,  indem 
erprobt  w^erden  muss,  wde  weit  eine  solche  Vorstellung  für  die 
mathematische  Behandlung  sich  als  brauchbar  erweist,  und  indem 
aus  dem  Erfolg  wieder  rückwärts  Schlüsse  auf  die  Zusammensetzung 
des  Stoffes  gezogen  werden  können. 

Aber  wir  müssen  uns  vor  der  Meinung  hüten,  die  nicht  selten 
mit  diesem  Verfahren  verbunden  wdrd,  als  ob  dasselbe  allein  Natur- 
wissenschaft wäre  und  allein  ziu?  Erkenntniss  führte.  Wir  würden 
sonst  unsere  Ansprüche,  die  Natur  zu  erfassen,  für  immer  auf  ein 
einziges  Gebiet  beschränken  müssen  und  andere  Gebiete,  die  einer 
sicheren  Begründung  fähig  sind,  verlieren.  Die  naturwissenschaft- 
liche Erkenntniss  muss  nicht  nothwendig  mit  hypothetischen  und 
unbekannten  kleinsten  Dingen  beginnen.  Sie  finden  ihren  Anfang 
überall,  w^o  der  Stoff  sich  zu  Einheiten  gleicher  Ordnung  gestaltet 
hat,  die  unter  einander  verglichen  und  durch  einander  gemessen 
werden  können,  und  überall,  wo  solche  Einheiten  zu  zusammen- 
gesetzten Einheiten  höherer  Ordnung  zusammentreten  und  das 
Maass  für  deren  Vergleichung  unter  einander  und  mit  sich  selbst 
abgeben.  Die  naturwissenschaftliche  Erkenntniss  kann  auf  jeder 
Stufe  der  Organisation  oder  Zusammensetzung  des  Stoffes  beginnen ; 
beim  Atom  der  chemischen  Elemente,  welches  die  chemischen  Ver- 
bindungen bildet ,  beim  Molekül  der  Verbindungen ,  welches  den 
Krystall  zusammensetzt,  beim  krystalhnischen  Micell,  welches  die 
Zelle  und  deren  Theile,   bei  der  Zelle,  welche  den  Organismus  auf- 


584  Die  Sfliranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

baut,  beim  Organismus  oder  Iiidividuum,  welches  das  Element  der 
Species])ildung  wird.  Jede  naturwissenschaftliche  Disciplin  findet 
ihre  Berechtigung  wesenthch  in  sich  selber. 

Unser  Naturerkennen  ist  also  immer  ein  mathematisches  und 
beruht  entweder  auf  einfachem  Messen,  wie  in  den  morphologischen 
und  beschreibenden  Naturwissenschaften  ,  oder  auf  ursächlichem 
Messen ,  wie  in  den  physikalischen  und  ph5^siologi sehen  Wissen- 
schaften. Mit  Hilfe  der  Mathematik ,  mit  Maass,  Gewicht,  Zahl 
können  aber  nur  relative  oder  quantitative  Unterschiede  begriffen 
werden.  Eigentliche  Qualitäten,  absolut  verschiedene  Eigenschaften 
entziehen  sich  unserer  Erkenntniss,  da  wir  keinen  Maassstab  dafür 
haben.  Eigentlich  qualitative  Unterschiede  vermögen  wir  nicht  zu 
erfassen ,  weil  die  Qualitäten  nicht  verglichen  werden  können.  Es 
ist  dies  eine  wichtige  Thatsache  für  die  Erkenntniss  der  Natur.  Es 
folgt  daraus ,  dass,  wenn  es  innerhalb  der  Natur  qualitativ  oder 
absolut  verschiedene  Gebiete  gibt,  ein  wissenschaftliches  Erkennen 
nur  gesondert  innerhalb  jedes  einzelnen  möglich  ist,  und  dass  keine 
vermittelnde  Brücke  von  einem  Gebiet  in  das  andere  hinüber  führt. 
Es  folgt  daraus  aber  auch  ferner,  dass,  so  weit  wir  die  Natur  zu- 
sammenhängend erforschen  können,  so  weit  unser  messendes  Er- 
kennen lückenlos  fortschreitet,  so  weit  wir  namentlich  eine  Erschei- 
nung aus  einer  anderen  begreifen  oder  als  aus  derselben  entstanden 
nachzuweisen  vermögen,  absolute  Unterschiede,  unausfüUbare  Klüfte 
in  der  Natur  überhaupt  nicht  bestehen. 


Ich  habe  versucht,  die  Fähigkeit  des  Ich,  die  Zugängiichkeit 
der  Natur  und  das  Wesen  des  menschlichen  Begreifens  festzustellen. 
Es  ist  nun  leicht,  die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Er- 
kenntniss abzustecken. 

Wir  können  nur  das  erkennen,  wovon  uns  die  Sinne  Kenntniss 
geben,  und  dies  beschränkt  sich  nach  Raum  und  Zeit  auf  ein  winziges 
Gebiet  und  wegen  mangelnder  Ausbildung  von  Sinnesorganen  wahr- 
scheinlich nur  auf  einen  Theil  der  in  diesem  Gebiete  befindlichen 
Naturerscheinungen.  An  dem,  wovon  wir  ül^erhaupt  Kenntniss  er- 
halten, können  wir  ferner  nur  das  Endliche,  Wechselnde,  Vergäng- 
liche, nur  das  gradweise  Verschiedene  und  Relative  erkennen,  weil 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  585 

Avir  nur  mathematische  Begriffe  aiif  die  natürhclien  Dinge  üljer- 
tragen  und  die  letzteren  nur  nach  den  an  ilmen  selber  gewonnenen 
Maassen  })eurtlieilen  können.  Für  alles  Endlose  oder  Ewige,  für 
alles  Beständige,  für  alle  absoluten  A'erscbiedenheiten  haben  Avir 
keine  Vorstellungen.  Wir  wissen  genau,  was  eine  Stunde,  ein  Meter, 
ein  Kilogi-amm  bedeutet,  aber  wir  Anssen  nicht,  Avas  Zeit,  Raum, 
Kraft  und  Stoff ,•  Bewegung  und  Ruhe,  Ursache  und  Wirkung  ist^). 

Umfang  und  Grenze  unserer  möglichen  Naturerkenntniss  lässt 
sich  kurz  und  genau  so  angeben:  Wir  können  nur  das  End- 
liche, aber  AA'ir  können  auch  alles  Endliche  erkennen, 
das  in  den  Bereich  unserer  sinnlichen  Wahrnehmung 
fällt. 

Sobald  AA'ir  uns  dieser  Einsicht  klar  bcAvusst  sind,  so  befreien 
wir  die  Naturbetrachtung  von  manchen  ScliAAderigkeiten  und  In- 
thümern,  die  darin  bestehen,  dass  man  einerseits  nicht  bloss  das 
wirklich  Endliche  erforschen  will ,  sondern  demselben  Ewiges  bei- 
mischt und  es  dadurch  unergründlich  macht,  —  dass  man  ander- 
seits das  Endliche  nicht  strenge  und  unauflialtsam  verfolgt,  sondern 
mitten  in  demselben,  da  oder  dort  anhält,  indem  man  dasselbe  mit 
EAvigem  A'erAA'echselt. 

Es  würde  mich  weit  führen,  wenn  ich  die  Folgen  im  einzelnen 
betrachten  wollte,  welche  aus  dem  Mangel  eines  richtigen  grund- 
sätzlichen Verfahrens  entsprungen  sind.  Die  bemerkenswerthesten, 
die  gleichzeitig  ein  ganz  allgemeines  Interesse  in  Anspruch  nehmen, 
sind  die  Meinungen,  dass  die  endhche  Natur  in  grundsätzlich  ge- 
schiedene Gebiete  getrennt  sei,  dass  namentUch  zwischen  der  un- 
organischen und  organischen  Natur  oder  zA\1schen  der  materiellen 
und  geistigen  Natur  eine  unüberschreitbare  Grenze  l^estehe. 

Die  Frage,  ob  zAvischen  den  natürlichen  Dingen  der  endlichen 
Welt  absolute  oder  bloss  relative  Verschiedenheiten  bestehen,  kann 
nur  dadurch  entschieden  werden,  dass  entweder  von  der  einen  Seite 
gezeigt  wird,  wie  unsere  Erkenntniss  irgendwo  auf  eine  nicht  zu 
überspringende  Grenze  trifft,  und  wie  von  dieser  Grenze  an  eine 
neue  Kraft  in  die  Combinationen  eintritt,  —  oder  dass  von  der 
anderen  Seite  dargethan  wird,  Avie  das  Erkennen  ungehindert  durch 
das  ganze  Gebiet  fortschreitet,  immer  das  eine  aus  dem  anderen 
begreifend,  und  Avie  die  nämlichen  Naturkräfte  überall  thätig  sind. 

1)  S.  Zusatz  6:  Kraft.  Stoff.  Bewegung. 


586  I^ie  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

Die  Antwort  hierauf  ist  bestimmt  und  sicher:  Wenn  wir  die 
ganze  Natur  von  den  einfachen  unorganischen  bis  zu  den  comph- 
cirtesten  organischen  Wesen  durchlaufen,  so  finden  wir  überall  die 
gleichen  Stoffe  und  Kräfte,  indem  das  Zusammengesetzte  aus  dem 
Einfachen  sich  aufbaut;  die  neuen  Qualitäten,  die  auf  jeder  höheren 
Stufe  auftreten,  erscheinen  uns  zwar  nicht  als  noth wendige,  aber 
doch  auch  nicht  als  unmögliche  Ergebnisse  der  integrirenden  Be- 
standtheile ;  sie  bekunden  ihren  bloss  relativen  Werth  dadurch,  dass 
sie  sichtlich  aus  blossen  quantitativen  Verhältnissen  hervorgehen  ^). 

Die  Behauptung,  dass  in  der  materiellen  Welt  eine  unausfüll- 
bare  Kluft  z\\ischen  Unorganischem  und  Organischem  bestehe  und 
dass  das  letztere  nicht  aus  dem  ersteren  begriffen  werden  könne, 
stützt  sich  im  wesentlichen  auf  drei  Gründe,  1.  dass  zwischen  den 
niedrigsten  Organismen  und  den  unorganischen  Körpern  die  ver- 
bindenden Mittelglieder  mangeln,  2.  dass  in  den  Organismen  andere 
Qualitäten  oder  Principien  zur  Geltung  kommen  als  in  der  un- 
organischen Natur,  3.  dass  organisirte  Körper  nicht  auf  künstHchem 
Wege  aus  unorganischen  Stoffen  hervorgebracht  werden  können. 

Der  erste  Einwurf  ist  unbedingt  zuzugeben;  wir  kennen  kein 
selbständiges  Gebilde,  welches  zwischen  dem  einfachsten  Organismus 
und  dem  Eiweismolekül  stände.  Es  besteht  hier  für  unsere  objective 
Wahrnehmung  eine  ungeheuere  Lücke,  denn  die  Theorie,  dass  die 
einfachsten  einzelligen  Wesen  aus  Eiweiss  hervorgegangen,  verlangt 
die  Annahine  einer  ganzen  Reihe  von  vermittelnden  Gliedern  ^). 
Aber  dieser  Mangel  in  unserer  Erfahrung  beweist  nichts,  weil  er 
nur  zu  wohl  motivirt  ist. 

Bekanntlich  werden  die  Organismen  im  allgemeinen  um  so 
kleiner,  je  einfacher  sie  sind.  Unter  den  einzelligen  Pflanzen  be- 
steht eine  sehr  grosse  Verschiedenheit  bezüglich  der  Organisation 
und  der  Grösse.  Die  einfachsten  sind  so  klein,  dass  sie  für  die 
besten  MikroskojDe  an  der  Grenze  der  Wahrnehmbarkeit  liegen,  dass 
sie  unter  den  stärksten  Vergrösserungen  nur  als  Punkte  erscheinen, 
und  dass  sie  zuweilen  selbst,  ihren  Wirkungen  nach,  vorhanden  sein 
müssen,  obgleich  man  sie  nicht  sicher  erkennen  kann  (Formen  von 
Micrococcus).  Diese  unsichtbar  kleinen  Pflanzen  haben  einen  Inhalt 
von  Eiweiss   und   eine   Membran   von   Cellulose.     Wir  können   aus 


^)  8.  Zusatz  7 :  QnaUtät  in  der  Natur. 

^)  Mechaniscli-physiülogische  Theorie  der  Abstammungslehre,  Urzeugung  S.  83. 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  587 

diesem  Umstände  ganz  sicher  schliessen,  dass  es  unter  den  einzelligen 
Organismen  ohne  Zellhaut  solche  geben  muss,  die  für  das  bewaffnete 
Auge  immer  unsichtbar  bleiben.  Um  so  mehr  aber  müssen  alle 
Gebilde  von  noch  einfacherem  Bau,  welche  den  Uebergang  zu  den 
Eiweissmolekülen  bilden,  auch  wenn  sie  vorhanden  sind,  ihrer  Klein- 
heit wegen  sich  jeder  mikroskopischen  Beobachtung  entziehen.  Diese 
Lücke  in  unserer  Erfahrung  hat  also  keine  grössere  Beweiskraft  für 
den  ^langel  an  Uebergangsgiiedern,  als  der  Umstand,  dass  das  Tele- 
skop uns  keine  Bewohner  auf  den  Planeten  zeigt,  für  deren  Un- 
bewohntsein. 

Der  zweite  Einwurf,  dass  in  der  organischen  Natur  neue  Quali- 
täten oder  Principien  auftreten,  findet  im  Unorganischen  strenge 
mathematische  Gesetzmässigkeit  und  todte  starre,  ausgefüllte,  regel- 
mässige Formen,  während  in  der  organischen  Gestaltung  mehr  Frei- 
heit herrsche  mid  die  hohlen  (zellenartigen)  organischen  Formen  zu 
stetiger  Veränderung  in  ihrem  Innern ,  zum  Wachsthum  und  zur 
Fortpflanzung  befähigt  seien.  Die  Richtigkeit  dieses  thatsächlichen 
Gegensatzes  kann  nicht  bestritten  werden,  wohl  aber  die  Folgerung, 
dass  er  einen  grundsätzlichen  und  absoluten  Gegensatz  beweise. 
Denn  einmal  stellt  sich  selbstverständlich  die  Ungleichheit  zwischen 
Organischem  und  Unorganischem  viel  greller  dar,  weil  das  verbin- 
dende Uebergangsgebiet  uns  noch  unbekannt  ist,  —  wie  etwa  das 
Thierreich,  wenn  bloss  die  Wirbelthiere  und  die  Infusorien  für  unsere 
naturhistorische  Beobachtung  vorhanden  wäre,  aus  zwei  kaum  mit 
einander  zu  verbindenden  Gebieten  zu  bestehen  schiene. 

Ferner  sind  die  angegebenen  Unterschiede  zwischen  den  un- 
organischen und  den  organischen  Wesen  doch  in  der  That  keine 
andern,  als  wir  sie  zwischen  dem  Einfachen  mid  dem  Zusammen- 
gesetzten für  w^ahrscheinlich  anzunehmen  berechtigt  sind.  Die  starre 
Form  des  Kr^^stalls  ist  an  der  Zelle  in  den  zahllosen  unsichtbar 
kleinen  krystallinischen  Körperchen  (Micellen)  vertreten,  aus  denen 
alle  organisirteu  Substanzen  bestehen  und  deren  regelmässiger  kiy- 
stallartiger  Bau  durch  das  polarisirte  Licht  dargethan  wird,  —  und 
die  ganze  Zelle  verhält  sich  so,  wie  wir  es  von  einer  Zusammen- 
häufung solcher  von  Wasser  umgebener  Körperchen  erw'arten  können, 
die  wegen  der  leichten  Beweglichkeit  ihrer  Theilchen  eine  weiche, 
zu  runden  hohlen  Formen  und  zu  Gestaltsveränderungen  geneigte 
Substanz  darstellt,   und   wegen  der  leichten  chemischen  Umsetzbar- 


588  I^i*^  Schranken  der  nuturwissenschat'tliehen  Erkenntuiss. 

keit  ihrer  Verbindungen  auch  stetig  in  ihrem  Innern  sich  verändert 
und  dadurch  Wachsthum  und  Fortpflanzung  bedingt. 

Damit  ist  auch  der  Unterschied,  wonach  das  Unorganische  in 
der  regehnässigen  Form  und  Bewegung  der  strengen  mathematischen 
Gesetzmässigkeit  gehorchen,  das  Organische  aber  auch  in  der  Ge- 
staltung l)is  zu  einem  gewissen  Grade  der  Naturnothwendigkeit  sich 
entziehen  und  unregelmässige  Bewegungen  annehmen  soll,  auf  sein 
relatives  Maass  zurückgeführt.  Dies  ist  um  so  mehr  der  Fall,  als 
in  der  unorganischen  Natur  selber  nirgends  strenge  Regelmässigkeit 
offenbar  wdrd.  Zwar  wirkt  jede  Naturkraft  für  sich  mit  mathemati- 
scher Genauigkeit ;  aber  da  immer  noch  andere  Kräfte  in  ungleicher, 
theil weise  fast  verschwindender  Stärke  mitwirken  und  nicht  sämmt- 
lieh  in  die  Rechnung  aufgenommen  werden  können,  so  vermag  uns 
auch  die  exacteste  Forschung  nur  Näherungswerthe  zu  geben,  — 
und  da  für  jeden  einzelnen  Fall  wegen  der  steten  Bewegung  und 
Veränderung  in  allen  Gebieten  der  Natur  die  bedingenden  Ursachen 
mit  jedem  Zeitdifferential  etwas  andere  werden ,  so  gibt  es  keine 
Form  und  keine  Bewegung,  welche  nicht  innerhalb  gewisser  Grenzen 
variirte.  Es  ist  nun  begreiflich,  dass  eine  Erscheinung  sich  scheinbar 
um  so'  mehr  von  der  mathematischen  Regelmässigkeit  entfernt,  je 
zusammengesetzter  sie  ist  und  je  mannigfaltiger  und  veränderlicher 
die  maassgebenden  Kräfte  zusammenwirken,  und  dass  die  Einsicht 
in  die  Ordnung  uns  bei  der  Zelle  um  so  sicherer  abgehen  muss,  als 
sie  schon  beim  struktur-  und  formlosen  Mineral  mangelt. 

Der  dritte  Einwurf,  dass  man  keinen  Organismus,  keine  Zelle, 
keine  Muskelfaser  aus  den  Bestandtheilen  zusammensetzen,  die  ab- 
gestorbenen nicht  l)eleben,  durch  das  Experiment  nicht  umgestalten 
könne,  ist  an  und  für  sich  riclitig,  aber  unrichtig,  wenn  er  von  den 
unorganischen  Körpern  das  Gegentheil  annimmt.  Wir  vermögen 
keinen  natürlichen  CJogenstand,  mag  er  dem  Unorganischen  oder 
dem  Organischen  angehören,  künstlich  zu  machen;  wir  vermögen 
ihn  bloss  entstehen  zu  lassen,  und  dies  in  keiner  anderen  Weise, 
als  dass  wir  die  Umstände  gerade  so  herstellen,  wie  er  in  der  Natur 
von  selbst  (ohne  unser  Zuthun)  entsteht.  Wir  lassen  den  Krystall 
in  der  Mu.tterlauge  anschiessen ;  wir  ziehen  aus  dem  Samen  eine 
Pflanze,  indem  wir  ihn  in  die  feuchte  Erde  legen  und  ihm  weitere 
Pflege  angedeihen  lassen ;  wir  verwandeln  das  Eiweiss  des  Hühnereis 
in  Muskeln,  Nerven  und  andere  Organe  dadurch,  dass  wir  das  Ei  in  den 


Die  Sclminkcn  der  naturwisscnscliaftliclicn   Krkenntniss.  589 

Brütkasten  bringen.  Und  wenn  die  Chemie  einmal  die  Constitution 
des  Eiweissmoleküls  erforscht  hat,  wird  sie  auch  das  Ei  weiss  zu 
machen  wissen,  wie  ihr  die  Synthese  so  vieler  organischer  Verbin- 
dungen bereits  gelungen  ist;  —  und  wenn  einmal  die  Physiologie 
tiefer  in  die  Elemente  des  organischen  Lebens  eindringt ,  ward 
sie  auch  die  Bedingungen  erkennen,  unter  denen  die  Uranlange  des- 
sellten  entstehen,  und  sie  w^ird  im  Stande  sein,  dieselben  beliebig  ent- 
stehen zu  lassen.  Bleibt  es  denn  so  verwunderlich,  dass  die  Kunst 
die  unendlich  complicirten  organischen  Gebilde  nicht  hervorbringen 
kann,  während  iln'  die  Erzeugung  so  vieler  einfacher  Krystalle  noch 
nicht  gelungen  ist.  Ich  erinnere  nur  an  einen  der  einfachsten,  an 
den  Kohlenstoffkrystall  oder  Diamant,  dessen  Herstellung  so  viel- 
fach, aber  noch  immer  vergeblich  versucht  wurde.  Es  ist  gar 
nicht  unmöglich,  dass  die  Chemiker  das  Eiw^eiss,  die  Grundlage  der 
Organismen,  und  dass  die  Physiologen  die  Uranfänge  des  organischen 
Lebens  entstehen  lassen  werden,  ehe  man  in  den  glücklichen  Fall 
kommt,  selbstgefertigte  Brillanten  zu  tragen. 

Es  ist  w'ahr,  dass  kein  todtes  organisches  Gebilde  wieder  zum 
Leben  zurückgerufen  werden  kann;  aber  es  kann  auch  kein  durch 
mechanische  Gewalt  oder  durch  Hitze  zerstörter  Krystall  wieder 
hergestellt  werden,  er  kann  nur  aus  dem  flüssigen  Zustande  ,  auf 
natürlichem  Wege  neu  entstehen.  —  Es  ist  ferner  richtig,  dass  der 
entstehende  oder  w^achsende  Organismus  durch  kein  Experiment, 
durch  keine  äussere  Einwirkung  sich  wesentlich  umgestalten  lässt. 
Ebenso  wenig  lässt  sich  aber  die  Krystallform  einer  Substanz  dm^ch 
irgendwelche  Mittel  abändern.  Man  kann  in  beiden  Reichen  durch 
künstliche  Einwirkung  die  Bildung  ganz  verliindern,  man  kann  sie 
verkrüj)peln  oder  sonstwie  krankhaft  und  abnormal  werden  lassen ; 
dabei  bleibt  aber  die  innere  Natur  des  Krystalls  wie  die  des  Orga- 
nismus im  wesentlichen  unverändert. 

Erweisen  sich  somit  die  Einwürfe,  welche  gegen  die  Annahme 
einer  bloss  relativen  Verschiedenheit  zwischen  dem  Unorganischen 
und  dem  Organischen  gemacht  wurden,  als  unstichhaltig,  so  haben 
wir  anderseits  für  diese  Annahme  einen  unwiderleglichen  PJeweis 
in  der  Thatsache,  dass  das  Organische  aus  dem  Unorganischen  auf- 
gebaut wird.  Wir  sehen  täglich,  wie  in  den  Pflanzen  organische 
Substanz  aus  unorganischen  Verbindungen  entsteht,  und  ebenso 
mussten   beim   Ursprünge   des   Pflanzen-   und   Thierreiches   die  Bil- 


590  I^ie  Sclirankou  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

dungsstoffe  für  die  ersten  Organismen  ausschliesslich  der  unorgani- 
schen Natur  entnommen  werden.  Da  nun  alle  Kraft  untrennbar 
mit  der  Materie  verbunden  ist,  da  es  keine  Kraft  gibt,  die  sich  von 
der  Materie  loslösen,  für  sich  bestehen  und  Avieder  mit  derselben 
sich  vereinigen  könnte,  so  folgt,  dass  die  unorganischen  Stoffe  in 
der  organischen  Substanz  nur  in  neuer  complicirterer  Combination 
auftreten  und  dass  Bewegung  und  Gestaltung  in  den  Organismen 
nichts  grundsätzlich  und  al)solut  Verschiedenes  zeigen  kann. 


Die  andere  Behauptung,  welche  den  innigen  Zusammenhang 
zwischen  materieller  und  immaterieller  Natur  leugnet,  zieht  die 
trennende  Kluft  an  verschiedenen  Stellen.  Einmal  soll  die  belebte 
Natur  überhaupt  (oder  die  »beseelte«  Natur,  insofern  man  auch  den 
Pflanzen  eine  Seele  zuschreibt),  dann  die  mit  Empfindung  begabte 
Thierwelt,  endlich  das  geistig  bewusste  Menschengeschlecht  etwas 
absolut  Besonderes  darstellen,  indem  auf  der  höheren  Stufe  neue 
immaterielle  oder  ewige  Princij)ien  zur  Geltung  kommen.  Du  Bois 
RejT^mond  huldigt  der  mittleren  Ansicht.  Mit  der  ersten  Regung 
von  Behagen,  sagt  er,  die  im  Beginn  des  thierischen  Lebens  auf 
Erden  ein  einfachstes  Wesen  empfand,  ist  eine  unübersteigbare  Kluft 
gesetzt,  —  während  er  von  hier  bis  zur  erhabensten  Seelenthätigkeit 
aufwärts,  anderseits  von  der  Lebenskraft  des  Organischen  bis  zur 
einfachen  physikalischen  Kraft  abwärts  nirgends  eine  Kluft  mehr 
entdeckt. 

Gegen  die  Behauptung  von  immateriellen  Principien,  die  da 
oder  dort  plötzlich  in  der  Natur  auftauchen  sollen,  ist  für  den  Natur- 
forscher schwer  aufzukommen,  da  sich  dieselbe  von  vornherein  auf 
einen  Standpunkt  stellt,  der  ausserhalb  der  Naturwissenschaft  in 
der  Luft  schwebt  und  von  ihr  nicht  direct  angegriffen  und  widerlegt 
werden  kann.  Die  Naturwissenschaft  vermag  nur  zu  zeigen,  dass 
die  Behauptung  überflüssig  ist,  weil  alles  sich  auf  natürlichem  Wege 
erklären  lässt,  und  wahrscheinlich,  weil  sonst  in  die  endliche  Natur 
ein  Widerspruch  eingeführt  wird,  der  unserer  ganzen  Erfahrung 
widerspricht  und  unser  geistiges  Bedürfniss,  überall  causale  Ver- 
hältnisse aufzufinden,  verletzt. 

Die  Erfahrung  zeigt  uns,  dass  von  dem  klarsten  Bewusstsein 
des  Denkers   durch   das   dunklere  Bewusstsein    des    Kindes  zur  Be- 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  591 

wusstlosigkeit  des  Embryos  und  zur  Gefühlslosigkeit  des  menschlichen 
Eis,  —  durch  das  dunklere  Bewusstsein  unentwickelter  Menschen- 
rassen und  höherer  Thiere  zur  Bewusstlosigkeit  der  niederen  Thiere 
und  Sinnpfianzen  und  zur  Gefühlslosigkeit  der  übrigen  Pflanzen 
eine  allmähliche  Abstufung  ohne  vollziehbare  Grenze  statt  hat,  und 
dass  die  nämliche  Abstufung  von  dem  Leben  des  tliierischen  Eis 
und  der  Pflanzenzelle  durch  mehr  oder  weniger  leblose  organisirte 
Elementargebilde  (Theile  der  Zelle)  zu  den  Kry stallen  und  chemischen 
Molekülen  sich  fortsetzt. 

Der  Analogieschluss  aber  sagt  uns  Folgendes.  Wie  alle  Orga- 
nismen nur  aus  Stoffen  bestehen  und  gebildet  worden  sind,  die  in 
der  unorganischen  Natur  vorkommen,  so  sind  selbstverständlich 
auch  die  den  Stoffen  anhaftenden  Kräfte  mit  in  die  Bildung  ein- 
gegangen. Wenn  Stoffe  zusammentreten,  so  vereinigen  sich  ihre 
Kräfte  zu  einer  Besultirenden,  welche  die  neue,  allerdings  nur  relative 
Eigenschaft  des  entstandenen  Körpers  darstellt.  So  ist  Zinnober  Queck- 
silber -j-  Schwefel  —  Wärme ;  Schwefelkohlenstoff'  ist  Kohle  -j-  Schwefel 
-)-  Wärme ;  Zucker  ist  Kohle  -j-  Wasserstoff  +  Sauerstoff  —  Wärme. 
So  sind  auch  Leben  und  Gefühl  neue  relative  Eigenschaften,  die 
den  Eiweissmolekülen  unter  besonderen  Lmständen  zukommen.  Dem 
entsprechend  zeigt  uns  die  Erfahrung,  dass  das  Geistesleben  überall 
aufs  innigste  mit  dem  Naturleben  zusammenhängt,  dass  das  eine 
das  andere  beeinflusst  und  ohne  dasselbe  nicht  bestehen  kann.  Es 
ist  daher  nothwendig,  dass,  wie  überall  in  der  Natur  Kräfte  und 
Bewegungen  nur  an  die  Stofftheilchen  gebunden  sind,  auch  die 
geistigen  Kräfte  und  Bewegungen  dem  Stoffe  anhaften,  mit  anderen 
Worten,  dass  sie  aus  den  allgemeinen  Kräften  und  Bewegungen 
der  Natur  zusammengesetzt  sind  und  nach  Ursache  und  Wirkung 
mit  denselben  zusammenhängen^). 

Dieser  Forderung  eines  causalen  Zusammenhanges  kann  sich 
kein  Naturforscher,  welcher  nicht  bewusst  oder  unbewusst  seinem 
obersten  Princip  untreu  wird,  entziehen.  Die  Aufgabe  wäre  also 
die,  zu  erkennen,  wie  die  Kräfte  des  unorganischen  Stoffes  in  dem 
zu  Organismen  gestalteten  Stoffe  sich  combiniren,  dass  ihre  Resul- 
th'enden  Leben,  Gefühl,  Bewusstsein  darstellen.     Die  Erfüllung  dieser 


1)    S.    Zusatz  8 :    Zurückführung    geistiger    Bewegungen    auf    stoffliche    Be- 
wecrungen. 


592  I^JG  Schranlven  der  natnrwisseiischaftlicheii  Erkenntuiss. 

Aufgabe  liegt  in  weiter  Ferne;  aber  sie  ist  möglich.     Es  lassen  sich 
für  jeden  einzelnen  Punkt  genügende  Andeutungen  geben. 

Es  sei  mir  gestattet,  einen  dieser  Punkte  näher  zu  besprechen, 
denjenigen  nämlich,  in  welchem  mein  Vorgänger  eine  Grenze  des 
Naturerkennens  erblickt.  Dies  ist  um  so  einladender,  als  D  u  ß  o  i  s 
Reymond  sich  im  übrigen,  wenn  auch  nicht  mit  so  nackten 
Worten,  doch  ebenso  bestimmt  und  unbedingt  auf  den  Boden  des 
Causalprincips  stellt,  und  dass  daher,  wenn  diese  eine  Lücke  aus- 
gefüllt wäre,  eine  andere  für  seinen  Standpunkt  nicht  mehr  bestände. 
Die  ganze  Weltgeschichte,  selbst  die  Weltordnung  ist  ihm  eine  Folge 
der  Mechanik  der  Atome.  Es  gebe  keine  Geistesthat,  welche  nicht 
aus  den  Kräften  und  Bewegungen  des  Stoffes  sich  berechnen  Hesse, 
wenn  es  möglich  wäre,  diese  zu  kennen.  Die  materiellen  Vorgänge, 
die  mit  der  Lösung  eines  Rechenexempels,  mit  der  Seligkeit  des 
musikalischen  Empfindens,  mit  dem  geistigen  Vergnügen  über  eine 
wissenschaftliche  Entdeckung  verbunden  sind,  seien  Produkte  der 
Hirnmechanik.  Der  Geist  könne  sogar,  wie  Karl  Vogt  und  vor 
ihm  Cabanis  ausgesprochen  haben,  als  die  Absonderung  der  Ge- 
hirnsubstanz betrachtet  werden,  ebenso  wie  die  Galle  das  Secret  der 
Leiter  ist. 

Alles  dieses  erklärt  Du  Bois  Reymond  als  im  Princip  be- 
greiflich ;  allein,  sagt  er,  wir  lernen  nur  die  Bedingungen  des  Geistes- 
lebens kennen,  nicht  aber  wie  aus  diesen  Bedingungen  das  Geistes- 
leben selbst  zu  Stande  kommt.  Die  Empfindung  und  das  Bewusst- 
sein  begleiten  wohl  nothwendig  die  materiellen  ^^orgänge  im  Gehirn, 
a])er  sie  stehen  ausserlialb  des  Causalgesetzes  und  bleiben  uns  ewige 
Räthsel. 

Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  die  eben  dargelegte  Ansicht  von 
Du  Bois  Reymond,  die  er  des  weiteren  in  Bildern  und  Beispielen 
ausführt,  in  ihre  Consequenzen  zu  verfolgen  und  uns  das  allgemeine 
Ergebniss  klar  vorzulegen.  Wir  kommen  dann  auf  dieses:  Der  end- 
liche Geist,  wie  er  dm'ch  das  Thierreich  bis  zum  Menschen  sich 
entwickelt  hat,  ist  ein  doppelter  —  einmal  der  handelnde,  erfindende, 
die  Muskeln  in  Bewegung  setzende,  in  die  Weltgeschichte  eingreifende, 
bewusstlose,  materielle  Geist;  derselbe  ist  nichts  anderes  als  die 
Mechanik  der  Stoff theilchen  und  unterliegt  dem  Causalgesetz,  — 
dann  der  unthätige,  beschauliche,  Lust  und  Schmerz,  Liebe  und 
Ilass  empfindende,    sich    erinnernde,    phantasirende,    bewusste,    im- 


Die  Schranken  <lor  natnrwi.ssenschaftlichen  Erkenntniss.  593 

materielle  Geist;  derselbe  liegt  ausserhalb  der  Mechanik  des  Stoffes 
und  kehrt  sich  nicht  an  Ursache  und  Wirkung. 

Gewöhnlich  fasst  man  beide  Seiten  des  Geisteslebens  als  Geist 
zusammen.  Du  Bois  Reymond  bezeichnet  den  letzteren  aus- 
schliesslich als  Geist,  und  derselbe  wäre,  wenn  die  Trennung  in  der 
angegebenen  Art  bestände,  wirklich  die  allerdings  unbegreifliche 
Absonderung  des  materiellen  Geistes  oder  der  Gehirnatome ;  er  wäre 
nichts  als  seine  nutzlose  Verzierung,  der  ihm  unfehlbar  folgende, 
wesenlose  Schatten.  Denn  er  steht  ausserhalb  der  Verkettung  von 
Ursache  und  Wirkung;  er  ist  ohnmächtig  und  ohne  Einfluss  auf 
die  Handlungen;  ohne  ihn  hätte  sich  die  Weltgeschichte  genau  so 
abgesponnen,  wie  sie  es  gethan.  Auch  ohne  Bewusstsein  wären  die 
mathematischen  Formeln  erfunden,  aufgeschrieben,  gelehrt  und  an- 
gewendet, Telegraphen  und  Dampfmaschinen  gebaut  worden,  — 
auch  ohne  Bewusstsein  wären  theologische  und  philosophische  Dis- 
putationen gehalten,  gedruckt,  gelesen  und  ihre  Verfasser  unter  Um- 
ständen verbrannt  worden,  —  auch  ohne  bewusstes  Gedächtniss 
wäre  in  den  Schulen  auswendig  gelernt  und  überhört  worden,  — 
auch  ohne  musikalische  Empfindung  wäre  Musik  componirt,  in  den 
Proben  wiederholt,  aufgeführt  und  mit  allen  äusseren  Zeichen  des 
Entzückens  oder  Unbehagens  angehört  worden,  —  auch  ohne  poetische 
und  künstlerische  Empfindung  wäre  gedichtet,  gemalt  und  geformt, 
wären  die  Werke  der  Künstler  bewundert  und  kritisirt  worden.  Man 
hätte  also  ohne  empfundenes  und  bewusstes  Geistesleben  alles  ge- 
dacht, gethan  und  gesprochen,  aber  bloss  mechanisch  und  nicht 
anders,  als  ein  sehr  künstlich  erfundener  todter  Automat  denken, 
handeln  und  sprechen  würde. 

Die  Grossartigkeit  dieser  Weltanschauung  lässt  sich  nicht  leug- 
nen ;  sie  kann  auf  den  Naturforscher  um  so  grösseren  Eindruck 
machen,  als  sie  überall  folgerichtig  verfährt  und  gegen  kein  natur- 
wissenschaftliches Princip  verstösst,  da  ja  das  Immaterielle  und  Un- 
begreifliche in  ein  Gebiet  verlegt  wird,  welches  ausserhalb  des  Zu- 
sammenhanges der  natürlichen  und  wirklichen  Dinge  liegt.  Aus 
diesem  Grunde  ist  auch  die  Anschauung  naturwissenschaftlich  nicht 
discutirbar.  Doch  drängen  sich  gerade  dem  Naturforscher  verschie- 
dene Einwürfe  auf. 

Ist  es  wohl  denkbar,  dass  so  viele  Vorgänge,  die  ganz  augen- 
scheinlich aus  Empfindung  und  Bewusstsein  entsprungen  sind,  einen 

V.  Nägel i,  Abstammungslehre.  ?,S 


594  Die  Schranken  der  naturwissenscliaftlicben  Ei'kenntniss. 

anderweitigen,  einen  empfindungs-  und  bewusstlosen  Ursprung  haben  ? 
Ist  es  wohl  denkbar,  dass  Empfindung  und  Bewusstsein  so  ganz 
umsonst  da  seien,  dass,  während  überall  die  Zweckmässigkeit  in 
der  organischen  Natur  so  deutlich  hervortritt,  eine  so  zwecklose 
und  überflüssige  Erscheinung  gerade  da  eintrete,  wo  wir  die  höchste 
Zweckmässigkeit  erwarten?  Ist  es  wohl  denkbar,  dass  das  Causal- 
princip,  das  die  ganze  Natur  regiert,  gerade  an  der  wichtigsten 
Stelle  seinen  Dienst  versage?  Ist  es  w^ohl  denkbar,  dass  der  organi- 
sirte  Stoff  beliebig  und  ohne  Ursache  eine  Eigenschaft  (Empfindung 
und  Bewusstsein)  erlange,  und  dass  er  sie  beliebig  und  ohne  Wir- 
kung wieder  verliere;  denn  im  Ei  und  im  Embryo  wäre  das  em- 
pfundene und  bewusste  Geistesleben  nicht  vorhanden,  es  würde  nach 
und  nach  auftreten,  im  Schlafe  jede  Nacht  verloren  gehen,  im 
wachenden  Zustande  mehr  oder  weniger  vollständig  wieder  gewonnen 
und  beim  Tode  für  immer  vernichtet  werden? 

Das  njiturwissenschaftliche  Bewusstsein  wird  durch  diesen  neuen 
Dualismus,  wenn  es  ihn  auch  nicht  direct  widerlegen  kann,  doch 
wenig  befriedigt.  Derselbe  ist  zwar  himmelweit  verschieden  von 
dem  gewöhnlichen  Dualismus,  indem  er  den  Naturkräften  die  Allein- 
herrschaft, dem  Geiste  eine  thatenlose  nichtige  Würde  zutheilt,  und 
somit  in  keiner  Weise  die  streng  causalistische  oder  materialistische 
Betrachtung  aller  stofflichen  Vorgänge,  auch  derjenigen,  die  das 
Geistesleben  zu  Stande  l^ringen,  behindert.  Gleichwohl  wünschen 
wir  eine  Lösung,  die  mehr  mit  unseren  Erfahrungen  und  unseren 
theoretischen  Vorstellungen  übereinstimmt.  Und  diese  Lösung  liegt, 
wie  ich  glaube,  ziemlich  nahe,  wenn  Wir  das  Urtheil  über  die  Er- 
scheinungen in  der  organischen  Natur  auch  auf  diejenigen  in  der 
unorganischen  Natur  ausdehnen. 

Es  ist  ganz  richtig,  wenn  Du  Bois  Reymond  sagt,  dass  wdr 
nur  die  materiellen  Bedingungen  des  Geisteslebens  erkennen  können, 
dass  uns  aber  das  Zustandekommen  desselben  aus  den  Bedingungen 
für  immer  verborgen  bleibt.  Aber  es  wäre  ein  Irrthum,  anzunehmen, 
dass  wir  das  Zustandekommen  des  Naturlebens  überhaupt  aus  seinen 
Ursachen  begreifen.  Die  gleiche  Schranke,  wie  in  den  geistigen, 
finden  ,wir  in  allen  rein  materiellen  Vorgängen.  Wir  wissen  aus 
Erfahrung,  dass  in  der  unorganischen  Welt  die  Ursache  in  der  Wir- 
kung aufgeht,  aber  es  ist  uns  unf assbar,  wie  die  Uebertragung  ge- 
schieht.  Wir  wissen  aus  Erfahrung,  dass  ein  in  die  Luft  geworfener 


Die  Schranken  der  naturwissensehaftlichen  Erkenntniss.  596 

Stein  auf  die  Erde  fällt,  und  wir  sagen,  es  geschehe  dcshalh,  weil 
die  Erde  ihn  anziehe;  allein  diese  Anziehung  ist  für  uns  unbe- 
greiflich. 

Was  wir  wissen,  ist,  dass  zwei  von  einander  entfernte  Körper 
so  auf  einander  wirken,  dass  sie,  wenn  kein  Hinderniss  entgegen- 
steht, sich  bis  zur  Berührung  nähern.  Worin  aber  diese  Einwirkung 
besteht,  wie  diesel])e  die  gegenseitige  Bewegung  zu  Stande  l^ringt, 
ist  uns  gerade  so  unbegreiflich  und  wird  uns  gerade  so  ein  ewiges 
Räthsel  bleiben,  wie  das  Zustandekommen  der  Empfindung  und  des 
Bewusstseins  aus  den  materiellen  Ursachen. 

Das  nämliche  finden  wir  bei  allen  materiellen,  physikalischen 
und  chemischen  Vorgängen.  Ein  positiv  und  ein  negativ  elektrischer 
Körper  bew'egen  sich  gegen  einander,  zw^ei  Körper  mit  gleichnamiger 
Elektricität  l^ewegen  sich  von  einander  weg.  Wenn  wir  sagen,  dass 
im  ersten  Falle  Anziehung,  im  zweiten  Abstossung  stattfinde,  so 
sind  dies  nur  kurze  Ausdrücke,  welche  Reihen  von  gleichartigen 
A'^orgängen  zusammenfassen,  aber  keine  Erklärungen.  Wir  gewöhnen 
uns  aber  an  solche  Ausdrücke;  sie  werden  uns  nach  und  nach  so 
geläufig,  dass  wir  glaul^en,  wir  begriffen  wirklich  die  durch  sie  be- 
zeichneten Vorgänge.  Deswegen  ist  denn  auch  die  Ansicht  ganz 
allgemein  verbreitet,  die  Natur  in  ihren  einfacheren  unorganischen 
Erscheinungen  biete  unserer  Erkenntniss  keine  Schwderigkeiten  dar, 
während  die  Schwierigkeiten  grundsätzlich  überall  die  nämlichen  sind. 

Man  wird  mir  hier  vielleicht  einwenden,  die  Sache  liege  doch 
nicht  ganz  gleich.  Bei  den  rein  materiellen  Vorgängen  sei  uns 
allerdings  die  Beziehung  zweier  Stofftheilchen,  welche  deren  Bewegung 
veranlasst,  unbegreiflich.  Bei  den  geistigen  Vorgängen  sei  diese  un- 
begreifliche Beziehung  der  Stofftheilchen  ebenfalls  gegeben ;  es  komme 
aber  noch  etwas  anderes,  etwas  neues  hinzu,  die  geistige  Regung, 
welche  den  materiellen  Vorgang  begleitet.  Dieser  Einwurf,  w^enn 
er  wirklich  sich  erhöbe,  wäre  aber  ungegründet;  man  w^ürde  dabei 
übersehen,  dass  die  zwei  Seiten,  in  welche  man  den  geistigen  Vorgang 
zerlegt,  bei  dem  rein  materiellen  Vorgang  ebenfalls  vorhanden  sind, 
hier  aber  nicht  getrennt,  sondern  als  eins  aufgefasst  werden,  nämlich 
die  Empfindung  und  die  Reaction,  welche  durch  die  Empfindung 
h  ervorgebra  cht  wird . 

Diese  Thatsache,  dass  die  einfachsten  unorganischen  Vorgänge 
in    ihrem    Zustandekommen    el^cnso    unzugänglich    sind ,    wie    die 

38* 


59()  Die  Sehranken  der  naturwisRenschaftliolien  Krkenntniss. 

zusammengesetztesten  Vorgänge  im  menschlichen  Gehirn,  haut  uns 
die  Brücke ,  die  zu  einer  einheithchen  Auffassung  der  Natur  zu 
führen  vermag.  Gehen  wir  von  dem  Bekannten  aus  —  in  diesem 
Falle  ist  es  die  complicirte  geistige  Erscheinung  — ,  um  daraus  eine 
Vorstellung  über  das  uns  noch  Unhekannte  zu  gewinnen. 

Wir  kennen  das  Geisteslehen  nur  aus  unseren  suhjectiven  Er- 
fahrungen; wir  wissen,  dass  wir  Schlüsse  machen,  dass  wir  uns 
erinnern,  dass  vnr  Lust  und  Schmerz  empfinden.  Dass  verwandte, 
aber  unentwickelte  Vorgänge  bei  Kindern  und  höheren  Thieren  vor- 
kommen ,  schliessen  wir  aus  ihren  Handlungen  und  aus  ihren 
körperlichen  Aeusserungen ,  die  wir  als  Ausdruck  von  Gemüths- 
bewegung  und  Empfindung  deuten.  Dafür,  dass  auch  die  niederen 
Thiere  noch  Empfindung  besitzen ,  die  nur  gradweise  von  der  be- 
wussten  Empfindung  des  Menschen  verschieden  ist,  haben  wir  that- 
sächliche  Beweise  bloss  in  ihren  auf  einen  Reiz  erfolgenden  Bewe- 
gungen und  in  dem  wichtigen  Umstände,  dass  diese  Reizbewegungen 
mit  den  aufsteigenden  Thierclassen  durch  alle  Abstufungen  in  die 
complicirtesten  Vorgänge  des  menschlichen  Gehirns  ül)ergehen.  Von 
den  Reizbewegungen  der  niedersten  Thiere  kommen  wir  unvermerkt 
zu  denen  der  einzelligen  Pflanzen  und  der  Sinnjiflanzen ,  und  von 
da  zu  den  A^orgängen  der  scheinbar  reizlosen  Gewächse,  welche  von 
den  Vorgängen  in  der  unorganischen  Natur  nicht  zu  trennen  sind. 
Zwischen  den  Reizbewegungen  der  Pflanzen  und  Tliiere  und  den 
scheinbar  reizlosen  unorganischen  Bewegungen  ist  aber  kein  anderer 
Unterschied  als  der,  dass  beim  Reiz  eine  mächtige  Ursache  auf 
zahllose  gleichartig  geordnete  Stofftheilchen  einwirkt  und  dadurch 
eine  unseren  Sinnen  bemerkbare  Orts-  oder  Empfindungsbewegung 
hervorbringt,  während  beim  Mangel  dieser  bemerkbaren  Bewegung 
die  Ursache  der  molecularen ,  nach  verschiedenen  Richtungen  er- 
folgenden Bewegungen  nicht  als  Reiz  bezeiclinet  wird. 

Mit  den  Reizbewegungen  ist  in  der  höheren  Thierwelt  deutlich 
Empfindung  verbunden.  Wir  müssen  dieselbe  auch  den  niederen 
Tliieren  zugestehen,  und  wir  haben  keinen  Grund,  sie  den  Pflanzen 
und  den  unorganischen  Körpern  abzusj^rechen.  Die  Empfindung 
versetzt  uns  in  Zustände  des  Wohlbehagens  oder  Missl)ehagens.  Im 
allgemeinen  entsteht  das  Gefühl  der  Lust,  wenn  den  natürlichen 
Trieben  Befriedigung  gewährt,  das  Gefühl  des  Schmerzes,  wenn 
diese  Befriedigung  versagt  wird.     Da  alle  materiellen  Vorgänge  aus 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlielien  Krkenntniss.  5U7 

Bewegungen  der  Moleküle  und  Elementatome  zusammengesetzt  sind, 
so  müssen  Lust  und  Schmerz  in  diesen  kleinsten  Theilchen  ihren 
Sitz  haben,  sie  müssen  durch  die  Art  und  Weise  bedingt  werden, 
wie  die  kleinsten  Theilchen  den  auf  sie  einwirkenden  Zug-  und 
Druckkräften  folgen  können.  Die  Empfindung  ist  also  eine  Eigen- 
schaft der  Eiweissmoleküle ;  und  wenn  sie  den  Eiweissmolekülen 
zukommt,  müssen  wir  sie  auch  denen  der  übrigen  Stoffe  zugestehen. 

Betrachten  wir  nun  die  Beziehung  zweier  Moleküle  ungleicher 
chemischer  Elemente  (z.  B.  eines  Sauerstoff-  und  eines  Wasserstoff- 
moleküls), die  in  geringer  Entfernung  von  einander  sich  befinden. 
Jedes  besteht  nach  der  Annahme  der  jetzigen  Chemie  aus  zwei 
nicht  weiter  zerlegbaren,  aber  doch  sicher  zusammengesetzten  Atomen. 
Vermöge  seiner  Zusammensetzung  besitzt  das  Atom  verschiedene 
Eigenschaften  und  Kräfte,  es  übt  somit  auch  verscliiedene  Reize 
(Anziehungen  und  Abstossungen)  auf  die  anderen  Atome  aus.  Die 
fraglichen  zwei  Moleküle  spüren  oder  empfinden  in  verschiedener 
Weise  ihre  gegenseitige  Anwesenheit,  sie  wirken  in  verschiedener 
Weise  anziehend  und  abstossend  auf  einander  ein. 

Untersuchen  wir,  was  bei  einer  bestimmten  Anziehung  (z.  B. 
der  chemischen)  geschieht.  Es  ist  dreierlei  möglich,  entweder  folgen 
die  Moleküle  ihrer  Neigung  und  nähern  sich  einander,  oder  sie  sind 
durch  andere,  der  Anziehung  das  Gleichgewicht  haltende  Kräfte  zur 
Ruhe  verurtheilt,  oder  sie  entfernen  sich  von  einander,  indem  die 
ihrer  Neigung  feindlichen  Kräfte  das  Uebergewicht  erlangen.  Die 
nämlichen  drei  IMöglichkeiten  sind  für  eine  bestimmte  Abstossung 
(z.  B.  durch  Wärme)  gegeben:  die  beiden  Moleküle  folgen  ihrem 
natürlichen  Triebe  und  entfernen  sich  von  einander,  oder  sie  be- 
harren in  der  gleichen  Entfernung,  oder  sie  werden  mit  Ueberwin- 
dung  ihres  Triebes  durch  andere  Ursachen  gegen  einander  gestossen. 

Wenn  nun  die  Moleküle  irgend  etwas  besitzen,  was  der  Empfin- 
dung wenn  auch  noch  so  ferne  verwandt  ist,  —  und  wir  können 
nicht  daran  zweifeln,  da  jedes  die  Gegenwart,  die  bestimmte  Be- 
schaffenheit, die  besonderen  Kräfte  des  anderen  empfindet  und  ent- 
sprechend dieser  Empfindung  den  Trieb  zur  Bewegung  hat  und 
unter  Umständen  auch  wirklich  sich  zu  bewegen  anfängt,  gleichsam 
lebendig  wird,  da  ferner  solche  Moleküle  die  Elemente  sind,  welche 
Lust  und  Schmerz  im  Thier  und  im  Menschen  bedingen,  —  wenn 
also  die  Moleküle   etwas    der   Empfindung  Verwandtes    spüren ,    so 


598  I^i<^  Öchrauken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 

miiss  es  Wohlbehagen  sein,  wenn  sie  der  Anziehung  oder  der  Ab- 
stossung,  ihrer  Zuneigung  oder  Abneigung  folgen  können,  Missbe- 
hagen, wenn  sie  zu  einer  gegentheiligen  Bewegung  gezwungen  sind, 
weder  Wohlbehagen  noch  Missbehagen,   wenn  sie  in  Ruhe  bleiben. 

Da  nun  die  Moleküle  mit  mehreren  ungleichen  Zug-  und  Druck- 
kräften auf  einander  einwirken,  so  werden,  wenn  sie  in  Bewegung 
gerathen ,  von  ihren  Neigungen  immer  die  einen  befriedigt,  die 
andern  beleidigt.  Diese  verschiedenen  Empfindungen  sind  aber 
notli wendig  nach  Beschaffenheit  und  Stärke  ungleich ,  je  nachdem 
sie  durch  die  allgemeine  Gravitations-  und  Elasticitätsanziehung, 
durch  die  allgemeine  Abstossung  der  Elasticität  und  der  Wärme, 
durch  elektrische  und  magnetische  Anziehung  und  Abstossung,  durch 
chemische  Verwandtschaft  verursacht  werden.  Die  einfachsten  Organis- 
men, wenn  ich  diesen  Ausdruck  brauchen  darf,  die  wir  kennen,  die 
Moleküle  der  chemischen  Elemente  und  Verbindungen,  werden  also 
gleichzeitig  von  mehreren  qualitativ  und  quantitativ  verschiedenen 
Empfindungen  bewegt,  die  sich  zu  einer  Gesammtempfindung  der 
Lust  oder  des  Schmerzes  zusammensetzen. 

Wir  finden  somit  auf  der  niedersten  und  einfachsten  Stufe  der 
Stofforganisation,  die  wir  kennen,  wesentlich  die  nämliche  Erschei- 
nung wie  auf  der  höchsten  Stufe,  wo  sie  uns  als  bewusste  Empfin- 
dung entgegentritt.  Die  Verschiedenheit  ist  nur  eine  gradweise; 
auf  der  höchsten  Stufe  sind  die  Affecte  infolge  der  reichen  Gliede- 
rung nur  viel  zusammengesetzter  und  feiner  und  infolge  massen- 
hafter Zusammenordnung  der  Stoff theilchen  viel  lebhafter  geworden. 

Fassen  wir  das  Geistesleben  in  seiner  allgemeinsten  Bedeutung 
als  den  immateriellen  Ausdruck  der  materiellen  Erscheinung,  als 
die  Vermittlung  von  Ursache  und  Wirkung,  so  finden  wir  es  überall 
in  der  Natur.  Geistige  Kraft  ist  das  Vermögen  der  Stoff  theilchen, 
auf  einander  einzuwirken.  Der  geistige  Vorgang  ist  die  Vollziehung 
dieser  Einwirkung,  welche  in  Bewegung,  somit  in  Lageveränderung 
der  Stofftheilchen  und  der  ihnen  anhaftenden  Kräfte  besteht,  und 
dadurch  unmittelbar  zu  einem  neuen  geistigen  Vorgang  führt.  So 
schlingt  sich  das  nämliche  geistige  Band  durch  alle  materiellen 
Erscheinungen. 

Der  menschliche  Geist  ist  inchts  anderes  als  die  höchste  Ent- 
wicklung der  geistigen  Vorgänge,  welche  die  Natur  überall  beleben 
und  bewegen,  auf  unserer  Erde.    Er  ist  aber  nicht  das  Absonderungs- 


Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss.  599 

product  der  Geliirnsubstanz ;  als  solches  wäre  er  ohne  weiteren  Ein- 
fluss  auf  das  Gehirn,  wie  die  abgesonderte  Galle  ohne  weitere  Be- 
deutung für  die  Leber  ist.  Em])findung  und  Bewusstsein  haben 
vielmehr  ihren  festen  Sitz  im  Gehirn,  mit  dem  sie  unauflöslich  ver- 
bunden sind,  und  in  welchem  durch  ihre  Vermittlung  neue  Vor- 
stellungen gebildet  und  in  Thaten  umgesetzt  werden.  Wie  der  Stein 
nicht  zur  Erde  flöge,  wenn  er  die  Anwesenheit  der  Erde  nicht  em- 
pfände, so  würde  auch  der  getretene  Wurm  sich  nicht  krümmen, 
wenn  ihm  die  Empfindung  mangelte,  und  das  Gehirn  würde  nicht 
vernünftig  handeln,  wenn  es  ohne  Bewusstsein  wäre. 

Diese  Anschauung  befriedigt  auch  vollständig  unser  causales 
Bedürfniss.  Es  ist  für  den  Naturforscher  eine  logische  Noth wendig- 
keit, in  der  endlichen  Natur  nur  gradeweise  Unterschiede  gelten  zu 
lassen.  Wie  es  für  alles  Räumliche,  ebenso  für  alles  Zeitliche  ein 
Maass  gibt,  so  muss  es  auch  ein  gemeinsames  Maass  für  die  geistigen 
Vorgänge  geben.  Wie  die  materielle  Natur  sich  vom  Einfachsten 
zum  Zusammengesetztesten  allmählich  abstuft,  so  muss  auch  in  der 
ihr  parallel  gehenden  geistigen  Natur  eine  ähnliche  Abstufung  be- 
stehen. Wir  finden  in  den  Atomen  und  Molekülen  zwar  noch  nicht 
Lust  und  Schmerz,  noch  nicht  Liebe  und  Hass  ausgesprochen,  aber 
doch  die  ersten  Keime,  gleichsam  die  Uranfänge  zu  diesen  Affecten, 
und  es  wäre  die  Aufgabe  einer  vergleichenden  Psychologie,  das  Be- 
wusstsein durch  die  unbewusste  Empfindung  bis  zum  empfindungs- 
losen Reiz  der  Stoff theilchen  zu  verfolgen  ^). 

Das  geistige  Gebiet  bietet  aber  der  Erkenntniss  viel  grössere 
Schwierigkeiten  dar  als  das  materielle,  weil  wir  als  unmittelbare 
Erfahrung  l:)loss  unsere  subjectiven  Wahrnehmungen  benutzen  können, 
und  weil  uns  ein  besonderes  Sinnesorgan  mangelt,  um  an  anderen 
Körpern  objective  Wahrnehmungen  zu  machen.  Die  Beobachtung 
mit  unsern  für  andere  Zwecke  eingerichteten  Sinnen  gibt  uns  nur 
auf  Umwegen  und  in  sehr  mangelhafter  Weise  Kunde  von  den 
geistigen  ^'^orgängen  in  anderen  Wesen,  und  unser  Urtheil  über  die- 
selben wird  um  so  unsicherer,  je  weiter  wir  uns  abwärts  in  der 
Natm-  von  uns  selber  entfernen.   Es  wird  daher  vielleicht  nie  möglich, 


*)  S.  Zusatz  9 :   Vergleichung  der  thierischen  Affecte   mit  analogen  unorga- 
nischen Erscheinungen. 


ßQO  I^J6  Schranken  der  naturwissenseliaftlichen  Erkenutniss. 

das  Miiass  für  die  geistigen  Vorgänge  wirklich  tiiil'zii finden  und 
zu  begründen,  und  die  vergleichende  Psychologie  zu  einer  Natur- 
wissenschaft zu  erheben. 


Die  naturwissenschaftliche  Erkenntniss  bleibt  in  der  Endlichkeit 
befangen,  der  Naturforscher  muss  sich  daher  strenge  auf  das  End- 
liche beschränken.  Die  Forderung,  die  man  wohl  an  ihn  stellt, 
dass  er  mehr  philosophische  Bildung  haben,  dass  er  philosophische 
Kritik  üben  müsse,  weil  die  meta|jhysische  Speculation  doch  nicht 
ganz  zu  umgehen  sei,  zeigt  nur,  wie  schwer  es  ist,  zwei  absolut 
verschiedene  Gebiete,  die  einmal  zur  allgemeinen  Verwirrung  mit 
einander  vermengt  waren,  von  einander  loszulösen.  Die  Macht  der 
Erziehung  und  Gewohnheit  war  auch  bis  in  die  neueste  Zeit  ein 
Hinderniss,  dass  diese  Scheidung  sich  vollständig  und  grundsätzlich 
vollziehe,  und  doch  ist  ja  von  vornherein  und  aus  Erfahrung  sicher, 
dass  jeder  metaphysische  Zusatz  die  Naturforschung  nur  zu  einer 
trüben  und  unklaren  Legirung  macht. 

Die  Naturforschung  muss  exact  sein ;  sie  muss  sich  durchaus 
von  allem,  was  die  Grenze  des  Endlichen  und  Erkennbaren  über- 
schreitet, von  allem  Transscendenten  fern  halten ;  sie  muss,  da  ihr 
Object  nur  der  endliche  kraftbegabte  Stoff  ,ist,  streng  materialistisch 
verfahren,  ohne  zu  vergessen,  dass  dieser  richtige  Materialismus  ein 
empirischer  und  kein  philosophischer  ist,  und  dass  ihm  die  gleichen 
Grenzen  gesteckt  sind,  wie  dem  Gebiete,  auf  dem  er  sich  bewegt. 

Damit  soll  nicht  gesagt  werden,  dass  der  Naturforscher  nicht 
j)hilosophiren,  dass  er  sich  nicht  auch  auf  idealen  und  transscendenten 
Gebieten  bewegen  dürfe.  Aber  er  hört  auf  Naturforscher  zu  sein, 
und  was  ihm  dabei  etwa  aus  seinem  Berufe  zu  Gute  kommt,  ist  nur 
das,  dass  er  die  beiden  Gebiete  streng  auseinander  hält,  dass  er  das 
Eine  als  das  reine  Gebiet  des  Forschens  und  Erkennens,  das  Andere 
aber,  indem  er  es  von  allem  Endlichen  befreit,  als  das  verborgene 
Gebiet  der  Ahnung  zu  behandeln  weiss.  —  Während  für  ihn  die 
Endlichkeit  nur  monistisch  sein  kann,  so  steht  ihm  für  die  Ahnung 
des  Ewigen  der  Monismus  wie  der  Dualismus  offen.  Der  letztere 
mag  ihm  vielleicht  selbst  besser  behagen,  und  es  mag  ihm  vielleicht 
annehmbarer  erscheinen,   dass  in  der  ihm  sinnlich  bekannten  Welt 


Die  Schraiikuu  der  iiaturwisseiiscluii'tlichen  Erkenntniss.  601 

nicht  das  ganze  grosse  Geheimniss  eingeschlossen  sei,  dass  dieselbe 
vielmehr  nur  eine  der  vielen  Gedankenreihen  des  höchsten  Wesens 
darstelle. 

Dem  menschlichen  Geiste,  seinem  Forschungstriehe  und  seiner 
Erkenntniss  steht  die  ganze  sinnlich  wahrnehmbare  Welt  offen.  Er 
dringt  vermittelst  Teleskop  und  Kechnung  in  die  grössten  Ent- 
fernungen, vermittelst  Mikroskop  und  Combination  in  die  kleinsten 
Räume.  Er  erforscht  den  zusammengesetztesten  und  verwickeltsten 
Organismus,  der  ihm  selber  angehört,  nach  den  mannigfaltigsten 
Richtungen.  Er  erkennt  die  in  der  Natur  herrschenden  Kräfte  und 
Gesetze,  und  macht  sich  dadurch  die  unorganische  und  organische 
Welt,  so  weit  er  sie  erreichen  kann,  dienstbar.  Wenn  er  die  bis- 
herigen Errungenschaften  in  den  Gebieten  des  Wissens  und  der 
Macht  überblickt  und  an  die  künftigen  noch  grösseren  Eroberungen 
denkt,  so  kann  er  mit  Stolz  sich  als  den  Herrscher  der  Welt  fühlen. 

Aber  was  ist  diese  Welt,  die  der  menschliche  Geist  beherrscht  ? 
Nicht  einmal  ein  Sandkörnchen  in  der  Raumewigkeit,  nicht  eine 
Secunde  in  der  Zeitewigkeit  und  nur  ein  Aussenwerk  an  dem  wahren 
Wesen  des  Alls.  Denn  auch  an  der  winzigen  Welt,  die  ihm  zu- 
gänglich ist,  erkennt  er  nur  das  Veränderliche  und  Vergängliche. 
Das  Ewige  und  Beständige,  das  Wie  und  das  Warum  des  Alls 
bleibt  dem  menschlichen  Geiste  für  immer  mifassbar,  und  wenn  er 
es  versucht,  die  Grenze  der  Endlichkeit  zu  überschreiten,  so  vermag 
er  nur  sich  selbst  zum  lächerlich  ausgestatteten  Götzen  aufzublähen 
oder  das  Ewige  und  Göttliche  durch  menschliche  Verunstaltungen 
zu  entwürdigen.  Selbst  der  zu  vollkommener  naturwissenschaftlicher 
Einsicht  gereifte  Geist  vermöchte  in  seiner  Beschränktheit  aus  der 
Gottheit,  die  er  von  allem  Endlichen  und  Vergänglichen  frei  machen 
will,  nur  einen  constitutionellen  Scheinkönig  zu  bilden,  welcher 
nach  dem  bekannten  Ausspruche  eines  jüngst  dahingegangenen 
Staatsmannes  »herrscht,  aber  nicht  regiert«. 

In  der  endlichen  Welt  walten  unabänderlich  die  ewigen  Natur- 
kräfte, deren  Wirkungen  wir  als  Gesetze  der  Bewegung  und  A^er- 
änderung  erkennen.  Ob  und  wie  sie  Inhalt  und  Ausfluss  eines  in 
Ewigkeit  beharrenden ,  bewussten  Zweckes  sind ,  übersteigt  unser 
Fassungsvermögen . 

Wenn  mein  Vorgänger  Du  Bois  Reymond  seinen  Vortrag 
mit  den  niederschmetternden  Worten:    Ignoramus  und  Ignora- 


602  I^i«-'  Sehraiikeu  der  naturwissenseliuftlichen  Erkeiintiiiös. 

bim  US  geschlossen,  so  möchte  ich  den  meinigen  mit  dem  bedingten 
aber  trösthcheren  Ausspruche  schhessen,  dass  die  Früchte  unseres 
Forschens  nicht  l)loss  Kenntnisse,  sondern  wirkhche  Erkenntnisse 
sind,  welche  den  Keim  eines  fast  unendlichen  Wachsthmiies  in  sich 
tragen,  ohne  deshalb  der  Allwissenheit  um  den  kleinsten  Schritt 
sich  zu  nähern.  Wenn  wir  eine  vernüni'tige  Entsagung  üben,  wenn 
wir  als  endliche  und  vergängliche  Menschen,  die  wir  sind,  uns  mit 
menschlicher  Einsicht  bescheiden,  statt  göttliches  Erkennen  in  An- 
spruch zu  nehmen,  so  dürfen  wir  mit  voller  Zuversicht  sagen: 

Wir  wissen   und    wir   werden   wissen. 


Zusätze. 


I.  Physische  und  metaphysische  Atomistii(  (S.  572). 

Die  physikalischen  Erörterungen  über  Atome  und  Atomistik 
werden  häufig  von  den  philosophisch  Gebildeten  aljer  chemisch 
nicht  Unterrichteten  inissverstanden.  Dies  war  auch  mit  meinem 
Vortrage  der  Fall,  indem  man  das,  was  ich  über  die  chemischen 
Atome  sagte,  als  für  die  von  Alters  her  bekannten  metaphysischen 
Atome  gültig  ansah.  Ich  bemerke  deshalb  zui^Ächst  zur  Auf- 
klärung, dass  das  Wort  Atom  in  doppeltem  Sinne  gebraucht  wird 
und  dass  die  beiden  Bedeutungen  gar  keine  Beziehung  zu  einander 
haben,  wiewohl  selbst  Physiker  und  Physiologen  der  Neuzeit  von 
einer  Vermengung  der  Begriffe  nicht  frei  zu  sprechen  sind. 

Das  absolut  einfache,  imaginäre  oder  metaphysische  Atom  der 
alten  und  neuen  philosophischen  Materialisten  ist  ein  untheilbares 
Kraftcentrum.  Das  reale  oder  physische  Atom  der  neueren  Chemie 
ist  ein  kleines  ausgedehntes  individuelles  Körperchen,  ohne  allen 
Zweifel  aus  Theilen  bestehend,  aber  mit  den  jetzigen  Hülfsmitteln 
noch  nicht  zerlegbar.  Den  Materialisten  des  Alterthums  waren  die 
Atome  zwar  unendlich  ungleich  nach  Grösse  und  Gestalt,  aber 
doch  nicht  qualitativ-verschieden,  —  ferner  ohne  innere  Zustände  und 
wirklich  untheilbar.  Die  mathematische  Physik  der  neuern  Zeit 
hat  sie  als  ausdehnungslose  Kraftpunkte  gedacht.  —  Im  Gegensatze 
hiezu  sind  die  Atome  der  neueren  Chemie  Körper  wie  alle  andern; 
nur  sind  es  die  kleinsten  bis  jetzt  sicher  bekannten.  Es  sind  die 
für  unsere  Hülfsmittel  nicht  weiter  theilbaren  Partikeln  der  chemischen 


(304  Zusätze. 

Elementars  tolle,  mit  den  Kräften  und  Eigenschaften  dieser  letzteren 
begabt,  —  Individuen,  welche,  sobald  es  gelingen  wird,  sie  zu  zer- 
legen, in  Theile  zerfallen,  die  von  dem  Individuum  (dem  ganzen 
Atome)  verschieden  sind.  Zwei  oder  mehrere  solcher  Atome  (die 
Zahl  ist  genau  bekannt,  wenn  die  chemische  Constitution  ermittelt 
ist)  verbinden  sich  zu  einem  Molekül.  Die  reale  Existenz  der 
chemischen  Atome  und  Moleküle  kann  als  Gewissheit  betrachtet 
werden  (vgl.  Zusatz  3). 

Es  ist  allerdings  sehr  unthunlich,  dass  zwei  so  ganz  verschiedene 
Begriffe,  nämlich  das,  was  man  wegen  Unzulänglichkeit  der  Hülfs- 
mittel  zur  Zeit  nicht  mehr  theilen  kann,  und  das,  was  man  zum 
Voraus  als  untheilbar  erklärt,  den  gleichen  Namen  tragen.  Ich 
habe  daher,  um  sie  zu  unterscheiden,  die  einen  Atome  als  metaphy- 
sische, philosophische  oder  imaginäre  (Punkt-  oder  Ur-)Atome  und 
die  andern  als  chemische,  physische  oder  reale  (Element-)Atome 
bezeichnet. 

Es  gehört  zum  Merkmal  des  metaphysischen  Begriffes  überhaupt, 
dass  er  nur  so  lange  etwas  zu  erklären  scheint,  als  man  sich  an 
die  oberflächliche  Allgemeinheit  hält,  dass  er  sich  aber  nirgends 
greifen  lässt,  sowie  man  ihm  näher  tritt  und  etwas  Reales  daraus 
gestalten  oder  begreifen  will.  So  verhält  es  sich  auch  mit  der  philo- 
sophischen Atomistik,  einer  mehr  als  2000  Jahre  alten  Lehre,  die 
in  der  neueren  Zeit  wieder  aufgenommen  wurde.  Sie  hat  von  dem 
mystischen  Dunkel,  das  sie  von  Natur  umhüllt,  auch  in  der  den 
Anschauungen  der  fortgeschrittensten  Naturwissenschaft  entsprechen- 
den Umbildung  nichts  verlieren  können,  da  jenes  Dunkel  in  der 
Nichtvorstellbarkeit  des  Begriffes  besteht.  Wir  können  uns  weder 
etwas  Untheilbares  noch  etwas  Raumloses  als  wirkliches  Ding  denken. 

Wenn  die  Materialisten  des  Alterthums  ihren  einfachen  Atomen 
Ausdehnung  gaben,  so  liegt  darin  eine  logische  Unmöglichkeit,  weil 
der  Begriff  der  Grösse  ein  relativer  ist  und  weil  etwas  Ausgedehntes 
nicht  untheilbar  gedacht  werden  kann.  Mit  den  neueren  Materia- 
listen die  Atome  als  ausdehnungslose  Kraftpunkte  anzunehmen,  er- 
scheint ebenso  unmöglich,  da  wir  nicht  begreifen,  wie  ausdehnungs- 
lose Dinge  sich  zu  etwas  Ausgedehntem  an  einander  legen  können, 
denn  dazu  ist  Anziehung  erforderlich  und  zwei  oder  viele  sich 
anziehende  Punkte  müssten  sich  zu  einem  ausdehnungslosen  Punkt 
vereinigen. 


1.  Physisclic  und  metaphysische  Atomistik.  605 

Von  dem  philosophisclien  Atom  /Air  realen  Welt  gähnt  eine 
Kluft,  deren  TJeberschreitung  um  so  mehr  als  eine  Unmöglichkeit 
eingesehen  wird,  je  schärfer  wir  einerseits  das  Atom  zu  fassen  suchen 
und  je  tiefer  wir  andrerseits  in  die  Erkenntniss  der  realen  Welt 
eindringen.  Es  nützt  der  philosophischen  Atomistik  auch  nichts, 
wenn  man  sie  mit  dem  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  in 
Beziehung  bringt;  denn  dieses  Gesetz  muss  für  jede  andere  An- 
schauung ebenfalls  als  Bedingung  vorausgesetzt  werden. 

Wäre  das  einfache  und  untheilbare  Atom  etwas  Wirkliches  und 
Denkbares,  so  würde  der  IVaum  der  Naturphilosophen,  die  Natur 
philosophisch  zu  construiren,  in  Erfüllung  gehen  können.  Man  hätte 
ja  das  einheitliche  Element,  aus  dem  die  Dinge  mit  ihren  Eigen- 
schaften eben  so  exact  sich  aufbauen  liessen,  als  irgend  eine -mathe- 
matische Operation  vollzogen  wird.  Der  Umstand,  dass  der  Natur- 
philosophie auch  nicht  die  ersten  Schritte  gelungen  sind,  rührt  nicht 
etwa  daher,  weil  die  Aufgabe  für  jetzt  noch  zu  schwer  wäre  und 
erst  in  der  Zukunft  ihre  Lösung  erhoffen  dürfte,  sondern  daher, 
weil  sie  überhaupt  nicht  zu  lösen  ist.  Der  Beweis  dafür  fällt  nicht 
sehr  schwer. 

DieUratome  als  Kraftpunkte  müssen  eine  absolut  ein  fache  Wirkung 
ausüben.  Kämen  ihnen  verschiedene  Eigenschaften  und  mehrfache 
Wirkung  zu,  so  müssten  sie  innerlich  zusammengesetzt  sein.  Sie 
können  also  bloss  entweder  anziehen  oder  abstossen,  wie  schon  De- 
mokrit  angenommen.  Wenn  wir  uns  nun  die  Aufgabe  stellen,  die 
einfachen  Atome  als  brauchbare  Bausteine  zurecht  zu  legen,  so  er- 
innern w^r  uns  zunächst  eines  Versuches  der  neuern  Physik.  Die- 
selbe hat  wohl,  um  überhaupt  eine  Vorstellung  zu  gewinnen,  die 
Annahme  gemacht,  dass  es  zweierlei  kleinste  Theilchen  gebe,  solche, 
die  die  wägbaren  Stoffe,  und  solche,  die  den  Licht-  und  Wärme- 
äther zusammensetzen.  Die  ersten  sollten  sich  gegenseitig  anziehen, 
die  zweiten  sich  gegenseitig  abstossen,  zwischen  den  ersten  und 
zweiten  aber  sollte  Anziehung  bestehen.  Mit  dieser  Annahme  liess 
sich  die  Elasticität,  die  Gravitation  der  Massen  und  die  Beschaffen- 
heit des  Weltäthers  anschaulich  machen,  aber  nur  unter  der  un- 
physikalischen Voraussetzung,  dass  Anziehung  und  Abstossung  bei 
wachsender  Entfernung  in  ungleichem  Grade  abnehmen ;  ferner 
blieb  auch  die  Elektricität  unerklärt.  Endlich  war  damit  eine  philo- 
sophische  Lösung   der   Frage    weder   beabsiclitigt  noch   erreichbar; 


606  Zusätze 

denn  abgesehen  davon,  dass  den  wägbaren  Atomen  der  verschiedenen 
chemischen  Elemente  ungleiche  Eigenschaften  zugeschrieben  werden 
müssen,  sind  die  Beziehungen  zwischen  den  Theilchen  nicht  sym- 
metrisch und  daher  unbefriedigend.  Wenn  a  und  a  (die  wägbaren 
Atome)  sich  anziehen,  h  und  h  (die  Aethertheilchen)  sich  abstossen, 
so  fragen  wir  uns,  warum  a  und  h  sich  gegenseitig  anziehen  und 
nicht  ebenso  gut  sich  abstossen. 

Unser  Bedürfniss  nach  einer  vernünftigen  Weltordnung  verlangt 
entweder  Identität  aller  Uratome  oder  eine  Ungleichheit  mit  sym- 
metrischer Vertheilung  der  Functionen.  Identität  wäre  gegeben, 
wenn  alle  Atome  mit  gegenseitiger  Attraction  oder  Repulsion  begabt 
wären;  im  ersten  Falle  wäre  die  scheinbare  Abstossung  der  Körper 
ein  Minus  von  Anziehung,  im  zweiten  Falle  die  scheinbare  An- 
ziehung ein  Minus  von  Abstossung.  —  Beide  Annahmen  sind  un- 
möglich. Bei  gegenseitiger  Anziehung  aller  Kraftpunkte  müsste 
mit  der  Störung  der  gleichmässigen  Vertheilung  und  mit  dem  Be- 
ginn der  Bewegung  eine  successive  Vereinigung  der  Kraftpunkte 
eintreten,  bis  zuletzt  alle  in  einen  einzigen  Punkt  zusammengeflossen 
wären.  Bei  gegenseitiger  Abstossung  könnte  die  anfängliche  gleich- 
massige  Vertheilung  nicht  gestört,  und  wäre  sie  einmal  gestört,  so 
müsste  sie  nach  und  nach  wieder  hergestellt  werden. 

Wir  werden  daher,  wenn  überhaupt  ein  Versuch  zu  natur- 
philosophischer Lösung  gemacht  werden  soll,  sogleich  mit  Noth- 
wendigkeit  auf  die  Forderung  ungleicher  Uratome  geführt,  zwischen 
denen  theils  Attraction,  theils  Repulsion  wirksam  ist.  Dieselbe 
setzt  zwar  schon  einen  philosophisch  schwerlich  nachzuweisenden 
Dualismus  voraus  und  ist  jedenfalls  nur  zulässig,  wenn  die  Atome 
jeder  Gruppe  unter  sich  identisch  und  wenn  die  Beziehungen  der 
beiden  Gruppen  gleichmässig  vertheilt  sind.  Diese  Bedingungen 
sind  denkbar  auf  drei  verschiedene  Arten  zu  erfüllen. 

I.  Von  den  beiden  Gruppen  [a  und  h)  stossen  die  gleichnamigen 
Atome  {a  und  a,  ebenso  h  und  V)  sich  ab,  während  die  ungleich- 
namigen [n  und  h)  sich  anziehen  (Fig.  25,  I). 

II.  Von  den  Atomen  der  beiden  Gruppen  [a  und  ß)  ziehen  die 
gleichnamigen  sich  an  («  und  a,  ebenso  ß  und  /?),  indess  die  un- 
gleichnamigen [a  und  ß)  sich  gegenseitig  abstossen  (Fig.  25,  II). 

III.  Die  Atome  der  einen  Gruppe  [Ä)  ziehen  sich  an,  die  der 
andern  [B)  stossen  sich  ab,  während  die  ungleichnamigen  {A  und  7)) 


1.  Physisclu'  nml  mctaphysisolip  Atomistik. 


007 


sich   indifferent   verlialton,    also   einander  weder  anziehen    noch  ah- 
stossen  (Fig.  25,  III). 


n 


-a 


A- 


E 


Fie.  25. 


In  den  vorstehenden  Figuren  I,  II,    III   sind  die   Anzieliungen 

zwischen  je  zwei  Uratomen  durch ,  die  Ahstossungen  durch 

angegeben. 

Jedes  der  drei  symmetrischen  Verhältnisse  ist  logisch  unan- 
fechtbar; und  wenn  es  möglich  wäre,  auf  einer  der  drei  Grundlagen 
etwas  zu  construiren  und  von  den  dynamisch  einfachen  Uratomen 
aus,  nach  kürzerer  oder  längerer  Operation,  zu  den  uns  physisch 
bekannten  kleinsten  Theilchen,  nämlich  den  Aethertheilchen  und 
den  wägbaren  Atomen  der  chemischen  Elementarstoffe  mit  ihren 
Eigenschaften  zu  gelangen,  so  müsste  diese  Errungenschaft  als  der 
grösste  Triumph  des  menschlichen  Geistes  gefeiert  werden.  Allein 
die  Construction  ist  unmöglich ;  sie  kann  nicht  über  den  allerersten 
Schritt  hinauskommen.  Keines  der  drei  symmetrischen  Verhältnisse 
vermag   uns   den    Schlüssel   zu   den   wirklichen   Dingen    zu    geben. 

Was  das  erste  derselben  betrifft,  so  käme  es  uns  um  so  an- 
nehmbarer vor,  als  wir  es  schon  in  der  Elektricität  verwirklicht 
finden.  Aber  wenn  die  metaphysischen  oder  Uratome,  welche  aus- 
dehnungslose Punkte  sein  müssten,  seinem  Schema  folgten,  so  würde 
zunächst  immer  ein  a-  und  ein  ft-Punkt  sich  zu  einem  neutralen 
Punkt  vereinigen,  und  es  ergäbe  sich,  bei  gleicher  Anzahl  von 
a-  und  ?v-Punkten,  als  erstes  und  letztes  Product  der  Veränderung 
eine  el:)enso  grosse  Zahl  von  neutralen  ö?>Punkten,  die  sich  weder 
anziehen  noch  abstossen,  also  nicht  mehr  auf  einander  einwirken 
würden. 

Wollte  man  aber  die  Uratome  als  ausgedehnte  kleine  Massen 
mit  einfachen  (anziehenden  und  abstossonden)  Centralkräften  auf- 
fassen, so  würden  sich  dieselben  zunächst  ebenfalls  zu  Paaren  und 
weiterhin  zu  Ketten  mit  alternirenden  a-  und  /^-Gliedern  vereinigen, 


r,08  Zusätze. 

—  fliese  Ketten  würden,  je  nach  der  gegenseitigen  Lage  ihrer  Gheder, 
das  Bestreben  haben,  sich  bis  zur  Berührung  zu  nähern  oder  immer 
weiter  von  einander  zu  entfernen,  und  da  mit  der  Bewegung  selbst 
die  gegenseitige  Lage  wechselte,  so  könnte  dieses  Spiel  des  Sich- 
suchens  und  Fliehens  nie  zur  Ruhe  kommen.  Aber  eine  weitere 
Organisation  und  Dil^erenzirung  der  Materie  wäre  auch  in  diesem 
Falle  nicht  möglich. 

Ueberhaupt  lässt  sich,  selbst  wenn  man  von  den  angeführten 
principiellen  Folgerungen  absehen  wollte,  gar  keine  Anordnung 
der  nach  dem  ersten  Schema  wirkenden  a-  und  />-Atome  denken,  w^oraus 
die  meisten  allgemeinen  physikalischen  Thatsachen,  wie  namentlich 
die  Gravitationsanziehung,  die  Elasticität,  die  Wärme,  die  verschie- 
denen Aggregatzustände,  erklärt  werden  kömiten. 

Was  das  zweite  der  drei  symmetrischen  Verhältnisse  betrifft,  so 
müssten,  wenn  die  ganze  materielle  Welt  aus  a-  und  /:?-Uratomen  zu- 
sammengesetzt wäre,  nach  und  nach  einerseits  Gruppen  von  «-Atomen, 
andrerseits  solche  von  /^Atomen  zu  Sammelpunkten,  oder  bei  An- 
nahme von  ausgedehnten  Atomen  zu  Massen  sich  vereinigen.  Diese 
Massen  könnten  Weltensj'steme  l)ilden,  welche  durch  Bewegung, 
durch  Anziehung  und  Abstossung  im  Gleichgewichte  erhalten  würden. 

Aber  abgesehen  hievon  besteht  keine  Möglichkeit,  die  nach 
dorn  zweiten  Schema  wirkenden  a-  und  /^Atome  so  anzuordnen, 
dass  dadurch  die  Elektricität,  das  Verlialten  des  Licht-  und  Wärme- 
äthers, die  Elasticität,  die  flüssigen  und  gasförmigen  Aggregatzustände 
erklärt  würden. 

Würde  endlich  die  Welt  nach  dem  dritten  der  symmetrischen  ^'^er- 
hältnisse  gebaut  sein  und  aus  Uratomen,  die  wie  A  und  B  sich 
verhalten,  bestehen,  so  ist  einleuchtend,  dass  ganze  Gruppen  von 
yl-Atomen  (wie  es  mit  den  a-  und  /':/-Atomen  des  zweiten  Schemas  der 
Fall  war)  sich  zu  Sammelpunkten  oder,  wenn  den  Atomen  Ausdehnung 
gegeben  wird,  zu  Massen  zusammenballen  müssten,  während  die 
sich  abstossenden  2?-Atome  in  dem  üljrigen  Raum  gleichmässig  ver- 
breitet wären. 

Man  erhielte  somit  gravitirende  Weltkörper  in  einem  äther- 
erfüllten Raum,  wie  sie  wirklich  bestehen.  Aber  es  mangelten  der 
Materie  nicht  nur  die  Elektricität,  sondern  auch,  da  zwischen  A- 
und  5-Atomen  keine  Beziehung  besteht,  die  Elasticität  und  die 
nicht  starren  Aggregatzustände. 


1.  Physische  und  metaphysische  Atomistik.  609 

Somit  lässt  sich  aus  den  einfachen  metaphysischen  Atomen, 
man  mag  sich  die  Sache  zurecht  legen,  wie  man  will,  nichts  der 
Wirklichkeit  Entsprechendes  construiren ;  und  wenn  man  sie  ohne 
weitere  Ueberlegung  und  ohne  Bezugnahme  auf  die  reale  Welt 
hypothetisch  als  die  letzten  Elemente  gelten  lässt,  so  stellt  man 
einen  unbrauchbaren  und  werthlosen  Begriff  auf. 


Verlassen  wir  die  luftigen  Regionen  der  metaphysischen  Atome 
und  begeben  wir  uns  auf  den  Boden  der  wirklichen  Welt.  In  der- 
selben kennen  wir  bloss  Materie,  die  mit  verschiedenen  Kräften 
begabt  ist,  und  darüber  kommen  wir  weder  mit  unserer  Theorie 
noch  mit  unserer  Erfahrung  hinaus.  Man  mag  die  Bausteine  der 
Materie  so  klein  annehmen  als  man  will,  so  dürfen  sie,  wenn  man 
etwas  in  der  Natur  Vorhandenes  damit  herstellen  will,  nie  einfach, 
sondern  immer  nur  schon  zusammengesetzt  und  mit  verschiedenen 
Kräften  ausgestattet  sein.  Diese  Einsicht  wird  mis  sowohl  durch 
die  Deduction  aus  den  Principien  als  durch  die  Induction  aus  den 
Thatsachen  aufgenöthigt. 

In  ersterer  Beziehung  müssen  wir  jede  Deduction  dem  Werthe 
nach  einer  unbestreitbaren  Thatsache  gleich  achten,  wenn  sie  aus 
einem  vernünftigen  Axiom  ^)  in  logisch  richtiger  Weise  die  Folge- 
rungen entwickelt.  Ein  glänzendes  Beispiel  liegt  uns  in  der  Ma- 
thematik und  Mechanik  vor.  Aus  den  drei  Ausdehnungen  des 
Raumes  ist  die  ganze  Geometrie  abgeleitet.  Wird  in  vollkommen 
strenger  Weise  verfahren,  so  muss  alles,  was  als  vernünftig,  und 
dessen  Gegentheil  als  unvernünftig  dargethan  werden  kann,  sammt 
den  Folgerungen  daraus  auch  wirklich  sein. 

Wenden  wir  nun  die  Deduction  auf  die  in  der  Natur  waltenden 
elementaren  Kräfte  an.  Das  Axiom,  von  dem  dieselbe  ausgehen 
muss,  sagt  uns,  dass  die  Kräfte  zwischen  zwei  materiellen  Theilchen 
nur  als  Anziehung  oder  Abstossung  wirken  können,  und  dass  die 
beiden  zusammengehörigen  und  sich  widersprechenden  d.  h.  ein- 
ander aufhebenden  Kräfte  ein  symmetrisches  Verhältniss  darstellen 


*)    Ich  gehrauche    diesen   allgemein    verständlichen   Ausdruck   und  beziehe 
mich  auf  den  Zusatz  5.  Apriorität,  wo  ich  zu  zeigen  suche,  dass  die  Axiome 
nichts  anderes  sind,  als  ganz  allgemeine  und  unbestreitbare  Erfahrungsthatsachen. 
V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  39 


610  Zusätze. 

müssen,  wie  wir  dies  z.  B.  in  der  Elektricität  finden.  Wir  erhalten 
auf  diesem  Wege  drei  Paare  von  Elementarkräften ;  es  sind  die 
nämlichen  drei  symmetrischen  Verhältnisse,  die  ich  oben  schon 
in  hypothetischer  Weise  für  die  Uratome  unterschieden  habe.  Ich 
wiederhole  sie  hier,  indem  ich  ausdrücklich  bemerke,  dass  jetzt 
nicht  mehr  von  Atomen,  sondern  von  wirkhchen  Kräften,  die  in 
der  Natur  überall  vorhanden  sein  müssen,  die  Rede  ist.  Die  Buch- 
staben a  und  h,  a  und  ß,  A  und  B,  welche  oben  Uratome  bezeich- 
neten, bedeuten  jetzt  Kräfte  und  zwar  je  die  entsprechenden  und 
in  symmetrischem  Verhältniss  zu  einander  stehenden.  Während 
oben  die  zwei  Uratomarten  des  einen  oder  andern  Verhältnisses 
(a  und  h  oder  a  und  ß  oder  A  und  B)  für  sich  die  materielle  Welt 
aufbauen  sollten,  wirken  hier  die  6  Elementarkräfte  (a,  &,  a,  /?,  A^  B) 
zusammen,  um  die  dynamischen  Erscheinungen  im  Weltall  zu 
begründen. 

I.  Die  gleichnamigen  Kräfte  stossen  sich  ab,  die  ungleichnamigen 
ziehen  sich  an.     (Fig.  26,  I.) 

IL  Die  gleichnamigen  K^räfte  ziehen  sich  an,  die  ungleich- 
namigen stossen  sich  ab.     (Fig.  26,  II.) 

III.  Die  einen  gleichnamigen  Kräfte  {A  und  A)  ziehen  sich 
an,  die  andern  gleichnamigen  {B  und  B)  stossen  sich  ab;  die  un- 
gleichnamigen [A  und  B)  verhalten  sich  indifferent,  indem  sie  sich 
weder  anziehen,  noch  abstossen.     (Fig.  26,  III.) 


n                    ,        111 
a a  A 


Fig.  26. 

Ein  viertes  symmetrisches  Verhältniss  von  Kräften  ist  über- 
haupt undenkbar;  es  gibt  nur  diese  drei.  Die  Deduction  verlangt 
also,  dass  in  der  Natur  diese  drei  Kategorien  oder  Paare  von  Ele- 
mentarkräften und  überdem  keine  anderen  wirksam  seien. 

Die  Deduction  verlangt  ferner,  dass  in  jedem  materiellen  Theil- 
chen  Kräfte  der  drei  Kategorien  vereinigt  vorkonnnen.  Eine  Trennung 
derselben   auf   verschiedene   Theilchen    lässt   sich    nicht  annehmen, 


1.   Pliysische  und  metaphysische  Atomistik.  (JH 

weil  sonst  die  dynamischen  Beziehungen  zwischen  diesen  mangehi 
würden.  Wäre  in  dem  einen  materiellen  Theilchen  a  oder  }>,  in 
einem  zweiten  a  oder  ß  und  in  einem  dritten  A  oder  B  allein 
vorhanden,  so  könnten  die  drei  Theilchen  gar  nicht  auf  einander 
einwirken,  und  aus  solchem  Material  könnte  auch  nichts  construirt 
werden.  Wir  müssen  also  schon  a  priori  annehmen,  dass  in  einer 
Masse  von  beliebiger  Grösse  a  und  &,  a  und  ß,  A  und  B  vereinigt 
seien,  und  dass,  wenn  wir  dieselbe  auch  in  noch  so  kleine  Splitter 
theilen,  in  jedem  derselben  alle  Kräfte  als  der  Substanz  inhärente 
Eigenschaften  sich  vorfinden. 

Ich  will  die  Deduction  hier  nicht  weiter  fortzuführen  suchen. 
Vergleichen  wir  mit  den  eben  dargelegten  Ergebnissen  derselben 
die  auf  i n  d  u  c  t  i  v  e  m  Wege  gewonnenen  wissenschaftlichen  Thatsachen 
und  Gesetze,  so  sehen  \rä  alsbald  ein,  dass  die  Physik  von  den 
drei  Kategorien  von  Elementarkräften  bis  jetzt  nur  zwei  kennt, 
nämlich  die  erste  als  Elektricität  (mit  Magnetismus)  und  die  dritte 
als  Gravitationsanziehung  der  wägbaren  Stoffe  und  als  Abstossung 
des  Aethers.  Die  zweite  Kategorie  von  Kräften,  die  sich  dadurch 
auszeichnet,  dass  die  gleichnamigen  sich  anziehen,  die  ungleich- 
namigen sich  abstossen,  und  die  ich  deshalb  Isagität^)  nennen 
will,  ist  als  solche  durch  directe  Beobachtung  noch  nicht  erkannt. 
Die  Ursache  dieses  Mangels  besteht  darin,  dass  die  isagische  An- 
ziehung und  Abstossung  sich  nirgends  in  der  Natur  zu  merkbaren 
Grössen  summiren.  Dass  dieselben  aber  vorhanden  sein  müssen, 
ergibt  sich  aus  dem  Umstände,  weil  ohne  sie  die  molecularen  Er- 
scheinungen nicht  erklärt  werden  könnten. 

Die  Wissenschaft  kennt  nämlich  Eigenschaften  der  kleinsten 
Theilchen,  die  Elasticität  und  die  chemische  Affinität,  welche  nicht 
aus  den  bisherigen  Elementarkräften  zu  begreifen  sind.  Beide,  be- 
sonders aber  die  chemische  Verwandtschaft,  sind  Anziehungen,  die  sich 
w*eder  auf  die  Gravitation  und  Elektricität  allein  zurückführen,  noch 
als  besondere  einfache  Elementarkräfte  definiren  lassen.  Melmehr 
müssen  wir  sie  als  zusammengesetzte  Erscheinungen  betrachten, 
die  aus  dem  Zusammenwirken  aller  Elementarkräfte  hervorgehen, 
was  auch  keinen  Anstand  findet,  sobald  noch  die  bis  jetzt  im  bekannte 
Kategorie  von  Elementarkräften,   die  Isagität,  zu    Hülfe   genommen 


')  Von  i'aos,  gleich  und  äytiv,  anziehen. 

39^ 


612  Zusätze. 

wird.     Ich   verweise   hierüber  auf    die   am   Schlüsse    folgende    Ab- 
liaiidhing:  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 


2.  Unendliche  Abstufung  in  der  Zusammensetzung  und  Organisation  des 

Stoffes  (S.  072). 

Während  es  mit  Rücksicht  auf  Raum  und  Zeit  verhältniss- 
mässig  leicht  ist,  sich  der  Endlichkeit  im  Gegensatz  zur  Ewigkeit 
l)ewusst  zu  werden,  scheint  es  dagegen  nicht  leicht,  darüber  volle 
Klarheit  zu  erlangen,  dass  die  uns  bekannte  Welt  auch  rücksichtlich 
der  Zusammensetzung  oder  der  Organisation  des  Stoffes  sich  in 
einer  gleichen  Endlichkeit  befindet.  Denn  während  man  von  un- 
endlicher Theilbarkeit  spricht,  spricht  man  oft  gleichzeitig  von 
untheill:)aren  Atomen;  das  Eine  schliesst  aber  das  Andere  selbst- 
verständlich aus.  Sogar  die  Annahme  von  ausdehnungslosen  Kraft- 
punkten (vgl.  Zusatz  1)  setzt  einen  Anfang  Inder  Zusammensetzung, 
somit  ein  Ende  in  der  Theilbarkeit  voraus.  Die  unendliche  Theil- 
barkeit besteht  ja  darin,  dass  man  mit  dem  Th eilen  nicht  fertig 
ward  und  somit  niemals  bei  dem  absolut  Einfachen  anlangt. 

Mit  der  nicht  endenden  Theilbarkeit  ist  auch  eine  unendliche 
Abstufung  in  der  Zusammensetzung  und  Organisation  verbunden. 
Die  unaufhörliche  Theilbarkeit  hat  nur  dann  wirkliche  Bedeutung, 
wenn    die  Theile   früher  oder  später  dem  Ganzen  ungleich  w^erden. 

Ein  Liter  Wasser  kann  zw^ar  lange  getheilt  werden  und  man 
hat  immer  wieder  Wasser.  Würde  dies  ohne  Ende  so  fortgehen, 
so  wäre  das  Wasser  ein  homogener,  den  Raum  continuirlich  erfüllen- 
der Körper.  Ist  man  aber  etw^a  beim  25-quadrillionsten  Theil  des 
Liters  angekommen,  so  kann  derselbe  nicht  mehr  in  Wassertheilchen 
zerlegt  werden.  Man  hat  jetzt  das  Wassermolekül  vor  sich,  welches 
in  1  Sauerstoff-  und  2  Wasserstoffatome  zerfällt. 

In  welcher  Art  die  Atome  der  chemischen  Grundstoffe  zu- 
sammengesetzt seien,  ob  sie  nach  Analogie  der  chemischen  Mo- 
leküle aus  einer  beschränkten  Zahl  von  Theilen,  die  dem  Ganzen 
unähnlich  sind,  oder  nach  Analogie  des  Wassertropfens,  des  Krystalls, 
des  Weltkörpers  zunächst  aus  zahlreichen,  dem  Ganzen  ähnlichen, 
Theilen  bestehen,  bleibt  vor  der  Hand  ein  Räthsel.  Bei  der  durch- 
aus  relativen  Bedeutung   aller   Grössen  Verhältnisse   ist  es  immerhin 


'2.  Unendliche  Al)stufinig  in  d.  Zusammensetzung  u.  Orgiiuisation  des  Stoffes.     G13 

nicht  unmöglich  und  sogar  nicht  unwahrschcinhch,  duss  man  bei 
der  wiederholten  Theilung  der  chemischen  Atome  früher  oder  später 
l)ei  individuellen  Körperchen  anlangte,  welche  einen  den  Weltkörpern 
ähnlichen  Bau  besitzen,  an  ihrer  Oberfläche  mit  kleinen  Wesen 
bevölkert  sind  und  ia  ihrer  Vereinigung  den  gestirnten  Himmel 
nachahmen. 

Wie  die  endlose  Theilbarkeit  des  Raumes  auf  stets  neue  und 
kleinere  individuelle  Theile  führt,  so  ist  mit  der  endlosen  Ausdehnung 
des  Raumes  auch  eine  nicht  endende  Zusammensetzung  zu  immer 
grösseren  Ganzen  mit  individueller  Besonderheit,  also  eine  nicht 
endende  Organisation  gegeben.  Die  Gesammtheit  des  gestirnten 
Himmels,  die  aus  immer  grösseren  Systemen  sich  aufbaut,  kann 
ein  solches  individuelles  Ganzes  sein,  welches  als  Theil  eines  grösseren 
Ganzen  sich  entweder  wie  ein  Atom  in  einer  chemischen  Verbindung 
oder  wie  ein  Molekül  in  einem  Krystall  oder  wie  ein  Molekül  in 
einer  Gasmasse  oder  wie  ein  Weltkörper  selbst  oder  in  irgend  einer 
andern  Weise  verhält.  Möglich,  dass  die  Weltensysteme  zu  kunst- 
vollen Organismen  zusammengefügt  sind,  die  unseren  eigenen  Or- 
ganismus an  Intelligenz  weit  übertreffen. 

Man  möchte  vielleicht  die  Vorstellung  von  einer  endlosen  Zu- 
sammensetzmig  und  Organisation  sowohl  nach  dem  Kleinen  als 
nach  dem  Grossen  hin  für  die  Ausgeburt  einer  ungezügelten  Phan- 
tasie halten.  Gleichwohl  ist  sie  nichts  anderes  als  die  von  der 
nüchternsten  Ueberlegung  gewonnene  Consequenz,  deren  man  sich 
vorzüglich  deswegen  nicht  so  leicht  bewusst  wird,  weil  die  natür- 
liche Neigung  besteht,  sich  auf  die  unseren  Sinnen  und  unserem 
Erkenntnissvermögen  erfahrungsgemäss  zugängliche  Welt  zu  be- 
schränken. Dadurch  wird  man  zu  dem  falschen  Schluss  verleitet, 
das  Kleinste,  von  dem  man  durch  Wahrnehmung  und  Ueberlegung 
Kunde  erlangt,  als  einfaches  und  untheilbares  Element  —  und  andrer- 
seits den  gestirnten  Hinimel,  so  ^\•ie  wir  ihn  kennen,  wenn  auch 
in  noch  viel  grösserer  Ausdehnung,  als  das  Universum  zu  betrachten. 
Und  dieser  doppelte  falsche  Schluss  liegt  um  so  näher,  als  die  neuen 
Kraftcombinationen  und  Bewegungsformen,  welche  ohne  Zweifel 
sowohl  im  Kleinsten  als  im  Grössten  wirksam  sind  und  die  neuen 
Organisationsformen  erklären  helfen,  uns  verborgen  bleiben. 

Dafür,  dass  wirklich  eine  endlose  Zusammensetzung  mit  ent- 
sprechender Organisation  anzunehmen  ist,  sijricht  einmal  die  Analogie. 


ß  1 4  Zusätze. 

Wir  sind,  je  allgemeinerer  Natur  ein  Gesetz  ist,  um  so  mehr  zu 
der  Annahme  gezwungen,  dass  es  auch  in  den  uns  noch  unbekannten 
Gebieten  Gültigkeit  habe.  So  besteht  für  uns  die  Nothwendigkeit, 
dass  jenseits  des  durch  sinnliche  Wahrnehmung  bekannten  Raumes 
wieder  Raum,  dass  vor  und  nach  der  bekannten  Zeit  wieder  Zeit  zu 
setzen  ist,  und  es  wird  uns  die  Endlosigkeit  von  Raum  und  Zeit 
zum  Axiom. 

Bezüglich  der  Organisation  wissen  wir,  dass  alles,  was  uns 
hinreichend  bekannt  ist,  einerseits  aus  Theilen  zusammengesetzt 
(organisirt),  andrerseits  Tlieil  einer  grösseren  Organisation  ist.  Wir 
können  diese  Zusammensetzung  durch  eine  grosse  Zahl  von  Stufen 
verfolgen  und  wir  müssen  logischer  Weise  annehmen,  dass  diese 
Stufenreihe  sich  nach  unten  und  nach  oben  endlos  fortsetze.  Das 
Aufhören  nach  der  einen  oder  anderen  Seite  wäre  etwas  Neues, 
für  das  wir  keine  Analogie  haben,  sowenig  als  für  das  Aufhören 
von  Raum  und  Zeit. 

Für  die  Annahme  einer  endlosen  Zusammensetzung  und  Organi- 
sation spricht  ferner  der  Umstand,  dass  uns  das  Aufhören  derselben 
als  Unmöglichkeit  erscheint.  Alles  Endliche  und  Reale  bew^egt  und 
verändert  sich.  Nehmen  wir  einem  Ding  für  immer  Bewegung  und 
Veränderung,  so  befindet  es  sich  in  absoluter  Ruhe;  es  hört  auf, 
wirklich  zu  sein  und  für  unser  Begriffsvermögen  zu  existiren.  Diese 
absolute  Ruhe  müsste  aber  da  beginnen,  wo  die  Organisation  zu 
Ende  ginge.  Würde  beispielsweise  das  Aethertheilchen  oder  das 
chemische  Atom  oder  ein  Theilungsstück  dieser  kleinsten  Körperchen 
bei  der  Theilung  endlos  in  gleiche  Stücke  zerfallen,  so  wäre  es  in 
seinem  Iimern  homogen,  ohne  Bewegung  und  ohne  Veränderung. 
Es  wäre  in  todter  Ruhe  und  wir  würden  nicht  begreifen,  dass  es 
sich  in  lel)endiger  Wechselbeziehung  zu  andern  Körpern  befindet. 
Jedenfalls  könnte  es  nach  aussen  nur  eine  einfache  Wirkung  aus- 
üben, also  l)loss  anziehen  oder  abstossen,  und  mit  so  einfach  ge- 
dachten Elementen  lässt  sich  nichts  Reales  construiren  (vgl.  Zusatz  1). 

Bezüglich  der  endlosen  Zusammensetzung  im  Grossen  besteht 
eine  umgekehrte  Schlussfolgerung.  Würden  sich  die  Weltkörper- 
systemc  bloss  jedes  für  sich  in  seinem  Innern  verändern  und  im 
Uebrigen  in  endloser  Folge  sich  gleichartig  an  einander  reihen, 
so  wäre  dies  allerdings  wieder  die  todte  Ruhe.  Aber  dies  ist  un- 
möglich, weil  die  einzelnen  Weltkör^^er  und  daher  auch  die  ganzen 


3.  Nuturpliilosopliisflie  Weltunsc-hiuiungen.  615 

Systeme  auf  einaiuler  einwirken  und  somit  eine  gegenseitige  Ver- 
cänderung  Ijedingen.  Mit  einer  unendlichen  Zahl  von  Weltkörpern, 
die  durch  den  endlosen  Raum  vertheilt  sind,  muss  es  sich  ähnlich 
verhalten  wie  mit  der  ursprünglichen  Gasmasse,  mit  der  unser  Sonnen- 
system begonnen  hat.  Wie  die  letztere  durch  die  in  ihr  wirksamen 
Kräfte  nothwendig  sich  verdichtete  und  organisirte,  so  müssen  auch 
die  Weltkörper  sich  zu  niederen  und  höheren  Gruppen  vereinigen; 
es  muss,  wenn  auch  einmal  kaum  eine  Andeutung  einer  Gru^ipirung 
bestand,  dieselbe  immer  deutlicher  hervortreten  und  zu  einer  immer 
mehr  ausgesprochenen  Organisation  führen. 

Es  versteht  sich,  dass  mit  der  Abstufung  in  der  Zusammen- 
setzung und  Oi'ganisation  auch  eine  Abstufung  in  der  Zeitdauer 
parallel  geht,  und  dass  unser  Zeitmaass  in  dem  unendlich  Kleinen, 
sowie  in  dem  unendlich  Grossen  nicht  mehr  anwendbar  ist.  Für 
die  Veränderungen  in  dem  organisirten  Aethertheilchen  oder  chemi- 
schen Atom  mag  eine  Secunde  fast  eine  Ewigkeit,  für  die  Ver- 
änderungen in  dem  Organismus  dagegen,  in  welchem  der  gestirnte 
Himmel  einen  Theil  ausmacht,  mag  eine  Million  von  Jahren  gleich 
einem  Augenblicke  sein.  Zeit-  und  Raumgrössen  sind  ja  nm-  relative 
Begriffe.  Die  Grösse  eines  Raumabschnittes  wird  nach  der  Menge 
von  Dingen,  die  Grösse  eines  Zeitabschnittes  nach  der  Menge  von 
Ereignissen,  die  wir  darin  unterscheiden,  beurtheilt  und  nach  den 
gegebenen  Wahrnehmungen  das  Maass  von  Raum  und  Zeit  bestimmt. 


3.  Naturphilosophische  Weltanschauungen.  Entropie.  (S.  577). 

Unter  den  Weltanschauungen  hat  für  uns  die  pliysicahsche  einen 
besondern  Werth,  weil  sie  die  Consequenz  exacter  Forschung  ist. 
Aus  dem  allgemeinen  Princijj,  dass  AVärme  nicht  von  selbst  d.  h. 
nicht  ohne  Compensation  aus  einem  kälteren  in  einen  wärmeren 
Körper  übergehen  kann,  und  dem  andern  allgemeinen  Princip,  dass 
bei  den  unaufhörlich  in  der  Natur  stattfindenden  Verwandhmgen 
die  in  Wärme  verwandelte  mechanische  Energie  nie  vollständig 
wieder  in  diese  ül^erzugehen  vermag,  ward  geschlossen,  dass  alle 
in  der  Natur  vorkommenden  Veränderungen  in  einer  gewissen  (»posi- 
tiven«) Richtung  von  selbst  (oluie  Compensation)  eintreten  können, 
und   dass   sie  in   der  entgegengesetzlen   (>iiegativen<)  Richtung  nur 


616  Zusätze. 

dann  möglich  sind,  wenn  sie  durch  gleichzeitige  positive  Verän- 
derungen compensirt  werden.  Die  Grösse  dieser  Neigung,  welche 
die  Natur  hat,  einen  Process  in  einer  gewissen  (positiven)  Richtung 
auszuführen  und  einen  Körper  in  einem  gewissen  (positiven)  Sinne 
umzubilden,  wurde  von  Clausius  »Entropie«  genannt. 

Diese  Schlussfolgerung  ist  auf  das  Universum  angewendet  und 
behauptet  worden  (zuerst  von  W.  Thomson),  dass  die  Verwand- 
lungen in  j^ositivem  Sinne  hniner  die  negativen  an  Grösse  über- 
treffen, und  dass  das  Weltall  sich  stetig  einem  Grenzzustande  nähere, 
in  welchem  alle  Energie  die  Form  von  Wärme  angenommen  und 
alle  Temperaturdifferenzen  sich  ausgeglichen  hätten. 

Diese  Behauptung  wäre  richtig,  wenn  das  Gesetz  der  Entropie 
ganz  allgemein  d.  h.  für  alle  Kräfte  und  Bewegungen  in  allen 
möglichen  Zuständen  als  gültig  nachgewiesen  wäre.  Hiezu  niuss 
bemerkt  werden,  dass  das  Gesetz  physicalischer  Natur  ist,  dass  es 
allein  durch  die  Erfahrung  gewonnen  wurde  und  dass  es  nur  irr- 
thümlich  etwa  als  mathematisch  bewiesen  aufgefasst  mrd,  woran 
die  Urheber  wohl  kaum  gedacht  haben.  Ein  Princip  d.  h.  eine 
allgemeine  Thatsache  von  wirklicher,  nicht  bloss  formaler  Bedeutung 
kann  in  Differentialgleichungen  nie  seine  Begründung,  sondern  nur 
seinen  genauen  Ausdruck  finden.  Die  mathematische  Behandlung 
dient  immer  bloss  dazu,  für  bestimmte  Voraussetzungen  die  Fol- 
gerungen in  quantitativ  normirten  A'^erhältnissen  darzulegen,  und 
wenn  es  wohl  den  Anschein  gewinnt,  als  ob  die  Thatsache  selbst 
dadurch  bewiesen  werde,  so  geschieht  es  nur  deshalb,  weil  dieselbe 
schon  in  die  ersten  Ansätze  hineingelegt  wurde. 

Um  das  Gesetz  der  Entropie  in  ganz  allgemeiner  und  absoluter 
Gültigkeit  physicalisch  zu  begründen,  reichen  unsere  Kenntnisse 
sicherlich  nicht  aus.  Selbst  Elektricität  und  Magnetismus  bleiben 
vorerst  ausgeschlossen,  so  lange  die  entsprechenden  molecularen 
Kräfte  und  Bewegungen  durch  Erfahrung  so  wenig  bekannt  sind, 
als  es  gegenwärtig  der  Fall  ist.  Viel  mehr  aber  gilt  dies  von  den 
unzweifelhaft  vorhandenen,  aber  noch  ganz  unbekannten  Kraftcom- 
binationen  und  Bewegungsformen,  welche  die  Verschiedenheit  der 
chemischen  Elementarstoffe  mit  Rücksicht  auf  ihre  Affinität,  Werthig- 
keit  und  die  übrigen  physicalischen  Eigenschaften,  und  welche 
ferner  das  Verhältniss  zwischen  den  wägbaren  (chemischen)  und 
unwägbaren  (Aether-)    Theilchen  bedingen.      So   lange  diese  Lücke 


3.  Natiirphilosophische  Weltanschauungen.  617 

in  unserer  Erkenntniss  bestellt,  kann  auch  kein  allgemeines  Gesetz 
für  den  Verwandlungsinhalt  des  Universums  aulgestellt  werden. 

Dass  aber  dem  Gesetz  der  Entropie  eine  absolute  Gültigkeit 
in  der  That  nicht  zukommen  kann,  geht  aus  den  Conseciuenzen 
desselben  hervor.  Wenn  das  Universum  sicli  in  einer  bestimmten 
Richtung  verwandelt,  wenn  seine  Entropie  einem  Maximum  zustrebt 
und  somit  von  einem  Minimum  ausgegangen  ist,  so  haben  wir 
einen  endlichen  Process  vor  uns  mit  einem  Anfang  und  einem 
Ende.  Das  Ende  ist  der  allgemeine  Tod  ;  was  kommt  nachher? 
Was  ist  ferner  der  Anfang  und  was  ist  denisellien  vorausgegangen? 
Offenbar  köiniten  wir  zu  dem  Anfang  nur  durch  die  Hypothese  ge- 
langen, dass  in  einem  bis  dahin  unveränderlichen  und  ebenfalls 
todten  Zustande  Bewegung  begonnen  habe,  also  nur  durch  die 
Annahme  eines  Wunders  und  Preisgebung  des  Causalgesetzes.  Dies 
beweist  uns,  dass  die  (positive)  Entropie  keine  ganz  allgemeine  Er- 
scheinung sein  kann  und  dass  sie  ihre  Gompensation  in  uns  noch 
unbekannten  Gebieten  finden  muss. 

Es  wäre  möglich,  dass,  sobald  dereinst  die  in  der  uns  umgebenden 
Natur  jetzt  thätige  entropische  Umwandlung  eine  gewisse  Höhe 
erreicht  hat,  Kräfte,  die  uns  wegen  ihrer  gegenwärtig  geringen 
Wirkimg  verborgen  bleiben,  intensiver  wirken  und  eine  neue  Zer- 
streuung des  Stoffes  verursachen  werden,  wobei  Wärme  wieder  in 
mechanische  Energie  übergeht.  Es  wäre  möglich,  dass  diese  letztere 
Umwandlung  einst  dadurch  befördert  wird,  dass  unser  Sonnensystem 
mit  der  Zeit  in  Regionen  des  Universums  gelangt,  in  denen  andere 
Intensitäten  jener  noch  unbekannten  Kräfte  und  Bewegungen  herrschen; 
dass  also,  mit  andern  Worten,  auf  die  Periode  der  positiven  En- 
tropie eine  wahrscheinlich  rascher  verlaufende  Periode  negativer 
Entropie  folgen  wird,  und  dass  dann  andere  Intelligenzen  jener 
künftigen  Periode  die  negative  Entropie  als  ein  der  Erlaln'ung  ent- 
sprechendes  allgemeines  Gesetz   des   Universums   aufstellen  werden. 

Um  diese  Möglichkeit  anschaulich  zu  machen,  muss  ich  noch 
etw^as  näher  auf  die  molecularen  A^erhältnisse  eintreten.  Die  Atome 
der  chemischen  Verbindungen  sind  nothwendig  als  sehr  zusammen- 
gesetzte Körper  zu  betrachten ;  dafür  sprechen  ihre  verschiedenen 
Eigenschaften  (ungleiches  Gewicht,  ungleiche  chemische  Affinität, 
ungleiche  Werthigkeit,  ungleiche  Aggregat  zustände,  ungleiches  Lei- 
tungsvermögen für  Licht,   Wärme,   Elektricität  und   noch   manche 


61^  Zusätze. 

andere  Verhältnisse),  ferner  auch  der  Umstand,  dass  sie  die  Aether- 
theilchen  an  Grösse  und  Masse  last  unendlich  übertreffen.  Wir 
können  uns  die  innere  Bescliaffenheit  der  Atome  nur  so  denken, 
wie  wir  alle  zusammengesetzten  Körper  kennen,  nämlich  als  begabt 
mit  einer  gewissen  Beweglichkeit  der  Theilchcn  und  soliin  mit  einer 
gewissen  Veränderlichkeit. 

Alles  in  der  endlichen  Welt  ist  veränderlich  und  wenn  auch 
die  Sonne  und  die  Planeten  seit  Jahrtausenden  gleiche  Gestalt  und 
gleiches  Gewicht  besitzen  und  noch  viele  Jahrtausende  l^esitzen 
werden,  so  hindert  das  die  Physik  nicht,  anzunehmen,  dass  dieselben 
in  der  Urzeit  eine  ganz  andere,  und  zwar  gasförmige,  Beschaffenheit 
hatten  und  dass  zu  jener  Zeit  auch  die  astronomische  Weltordnung 
eine  ganz  andere  war ;  —  und  die  Physik  beweist  ferner,  dass  auch 
in  ferner  Zukunft  wichtige  Veränderungen  eintreten  müssen  und 
dass  die  Weltordnung  aljermals  eine  andere  sein  wird.  Die  Welt 
im  Grossen  ist  also  in  einer  Umwandlung  begriffen,  die  aber  so 
langsam  vor  sich  geht,  dass  wir  einen  stationären  und  unveränder- 
lichen Zustand  vor  uns  zu  haben  glauben. 

Da  alle  Systeme  von  materiellen  Theilen,  die  wir  hinreichend 
kennen,  vom  grössten  bis  zum  kleinsten,  sich  verändern,  so  sind 
wir  genöthigt,  dies  auch  von  den  chemischen  Atomen  anzunehmen. 
Ihre  Veränderungen  können  in  verschiedener  Weise  erfolgen,  ver- 
schiedene ihrer  Eigenschaften  betreffen  und  somit  auch  eine  ver- 
schiedene Bedeutung  haben.  Für  die  vorliegende  Frage  ist  das 
^'^erhalten  in  einer  Beziehung,  nämlich  rücksichtlich  des  Vermögens 
Wärme  zu  binden,  wichtig.  Vergleichen  wir  z.  B.  Kohlenstoff  und 
Wasserstoff;  ersterer  behält  bei  den  höchsten  Temperaturgraden, 
letzterer  bei  den  niedrigsten  seinen  Aggregatzustand;  ersterer  ist 
ein  permanent  fester,  letzterer  ein  permanent  gasförmiger  Körper. 
Unter  den  chemischen  Elementen  besitzen  die  Kohlenstoff atome 
die  geringste,  die  Wasserstoffatome  die  grösste  Menge  von  gebundener 
Wärme,  und  dies  in  Folge  ihrer  ungleichen  Beschaffenheit.  Wenn 
der  Kohlenstoff  seine  Natur  in  dieser  Beziehung  änderte  und  die- 
jenige des  Wasserstoffes  annähme,  so  würde  er  eine  entsprechende 
Menge  freier  Wärme  binden,  d.  h.  in  Bewegung  verwandeln,  und 
er  wäre  bei  gewöhnlicher  Temperatur  gasförmig. 

Bestehen  die  chemischen  Atome  aus  zahlreichen  Theilchcn,  denen 
verschiedene    anziehende    und    abstossende    Elementarkräfte    eigen- 


3.  Natur2>hilosophische  Weltanschauungen.  619 

thümlich  sind,  was  als  die  einzig  mögliche,  natiirgesetzliche  An- 
nahme erscheint'),  so  hängt  es  von  der  Anordnung  dieser  kraft- 
begabten Theilchen  ab,  ob  die  Atomoberfläche  eine  grössere  oder 
geringere  Zahl  von  andern,  beweglicheren  Theilchen,  eine  Aether- 
hülle  von  grösserer  oder  geringerer  Mächtigkeit  anzuziehen  mid 
festzuhalten  vermag.  Hiedurch  aber  wird  der  festere  oder  lockerere 
Zusammenhang  mit  den  andern  Atomen  und  die  Fähigkeit,  mehr 
oder  weniger  Wärme  aufzmiehmen,  somit  auch  der  Umstand  bedingt, 
ob  die  Substanz  bei  gewöhnlicher  Temperatur  im  gasförmigen,  flüssi- 
gen oder  festen  Zustande  auftritt.  Und  wenn  die  Anordnung  der 
Theilchen,  wozu  die  Möglichkeit  durch  ihre  Beweglichkeit  und  A^er- 
schiebbarkeit  gegel^en  ist,  in  einem  Atom  sich  verändert,  so  wird 
auch  die  Mächtigkeit  der  Aetherhülle  sammt  der  Adhäsion  an 
andere  Atome  und  damit  die  Schmelz-  und  Verdampfungstemperatur 
und  schliesslich  der  Aggregatzustand  bei  gewöhnlicher  Temperatur 
ein  anderer. 

Diese  Umlagerung  der  Theilchen  in  den  Atomen  erfolgt  möglicher 
Weise  ohne  äussere  Einwirkung ,  sodass  bei  der  Configurations- 
änderung  die  Gesammtenergie  sich  weder  vermehrt  noch  vermindert; 
sie  befähigt  aber  das  Atom,  äussere  Arbeit  in  positivem  oder  nega- 
tivem Sinne  zu  leisten,  d.  h.  mehr  oder  weniger  Anziehung  auf 
andere  Atome  auszuüben.  Möglicher  Weise  wird  jene  Umlagerung 
durch  Einwirkung  von  aussen  angeregt,  indem  das  Atom  Substanz 
aufnimmt  oder  abgibt.  Dadurch  ward  natürlich  die  Anziehung 
auf  andere  Atome  viel  sicherer  und  energischer  geändert  als  im 
ersten  Falle.  Geht  die  Veränderung  in  allen  oder  in  den  meisten 
chemischen  Elementen  im  gleichen  Sinne  vor  sich,  nämlich  so, 
dass  die  Aetherhüllen  der  Atome  mächtiger  und  der  Zusammenhang 
unter  den  Atomen  geringer  wird,  so  kann  ein  Zustand  herbeigeführt 
werden,  welcher  im  Grossen  und  Ganzen  eine  Umwandlung  von 
Wärme  in  mechanische  Energie,  somit  die  negative  Entropie  bedingt^). 

Die  Configurationsänderung  in  den  iVtomen  und  damit  die  Ver- 
änderung ihrer  physicalischen  Natur  ist  nicht  bloss  aus  allgemeinen 
Analogiegründen  möglich  und  wahrscheinlich ;  sie  wird  auch  durch 


')  Vgl.  die  folgende  Abliandlung:  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen 
Gebiet. 

■'')  Vgl.  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet.  9.  Entstehung, 
Beschaffenheit  und   \'eiänderung  der  Atome. 


620  Zusätze. 

bestimmte  Erwägungen  geradezu  gefordert.  Wenn  die  Materie  der 
Körper  unsers  Sonnensystems  in  der  Urzeit  sich  in  einem  gasförmigen 
Zustande  befunden  hat,  so  fragen  wir  uns,  wodurch  dies  möghch 
war.  Die  Hauptmasse  dieser  Materie  ist  ja  bei  gewöhnUcher  Tempe- 
ratur fest  und  geht  erst  Ijei  den  höchsten  uns  ])ekannten  Hitzegraden 
(GKihhitze)  in  den  flüssigen  Zustand  über.  Es  ist  ganz  undenkbar, 
dass  jemals  eine  Temperatur  geherrscht  habe,  welche  das  Gestein 
zu  Gas  verflüchtigte.  Wo  wäre  diese  Wärme  hingekommen,  wenn 
der  ganze  Himmelsraum  damit  erfüllt  war?  Und  wie  hätte  sie  sich 
zusammenhäufen  können,  wenn  es  nur  eine  locale,  den  Raum  unsers 
Sonnensystems  erfüllende  Hitze  war.  Ueberdem  hat  ja  die  Wärme- 
bildung, die  uns  bekannt  ist,  erst  mit  der  Zusammenballung  der 
ursprünglich  gasähnlich  zerstreuten  Materie  begonnen. 

Die  Annahme  eines  ursprünglichen  gasförmigen  Zustandes 
verlangt,  wenn  wir  nicht  viel  weiter  gehende  und  kühnere  Hypo- 
thesen aufstellen  wollen,  iiothwendig  die  weitere  Annahme,  dass 
die  chemischen  Elemente  der  die  Sonne  und  die  Planeten  zusammen- 
setzenden Materie  damals  eine  andere  Beschaffenheit  hatten  und 
in  Folge  derselben  bei  einer  Temperatur  des  Himmelsraumes,  die 
weit  unter  der  jetzigen  stand,  in  luftförmiger  Zerstreuung  auftraten. 
Indem  diese  Natur  sich  änderte,  ballten  sich  die  Gase  zusammen 
zu  flüssigen  und  festen  Körpern  und  gaben  ihre  gebundene  Wärme 
als  freie  Wärme  ab.  Dieser  Process  dauert  noch  immer  fort  und 
wird  so  lange  dauern,  bis  überall  gleichmässige  Temperatur  herrscht 
und  die  Erstarrung  der  AVeit  eingetreten  ist,  oder  bis  durch  neue 
Aenderung  der  Natur  der  chemischen  Stoffe  in  entgegengesetztem 
Sinne  wieder  freie  Wärme  gebunden  wird  und  unser  Planetensystem 
durch  die  rückläufige  negative  Entropie  zmn  gasförmigen  Zustande 
zurückkehrt. 

Es  wäre  denkbar,  dass  die  Umlagerung  der  Theilchen  in  den 
Atomen  ein  langsam  vor  sich  gehender,  wesentlich  durch  innere 
Entwicklung  geregelter  und  von  äusseren  Umständen  wenig  ab- 
hängiger Process  ist.  Dann  würde  sie  in  den  verschiedenen  chemi- 
schen Elementen  zu  ungleicher  Zeit  beginnen  und  somit  zu  der 
nämlichen  Zeit  in  ungleichem  Sinne  verlaufen,  z.  B.  im  Kohlenstoff 
in  positiver,  im  Wasserstoff  in  negativer  Richtung.  Es  ist  aber 
auch  denkbar,  dass  eine  neue  Umlagerung  erst  beginnt,  wenn  die 
äusseren   Umstände   in   gewissem   Sinne   andere   geworden  sind;  — 


3.  Naturphilosophische  Weltanschauungen.  621 

wenn  z.  B.  durch  die  fortschreitende  Abkühlung  die  Annäherung  der 
Moleküle  und  Atome  und  die  Verlangsamung  der  molecularen  Be- 
wegungen einen  bestimmten  Grad  erreicht  halben  und  damit  gewisse 
Kräfte,  die  bis  jetzt  weniger  wirksam  waren,  eine  entscheidende  Be- 
deutung gewinnen ;  —  oder  wenn  unser  Sonnensystem  mit  der  Zeit  in 
andere  Regionen  des  Universums  gelangt,  in  denen  der  Aether  eine 
etwas  andere  Beschaffenheit  besitzt,  welche  die  Umstimmung  in  den 
Atomen  anregt. 

Clausius  hat  sich  ein  grosses  Verdienst  erworben  durch  die 
Begründung,  die  mathematische  Formulirung  und  die  Anwendung 
des  Gesetzes  der  Entropie.  Aber  es  darf  nicht  vergessen  werden, 
dass  seine  Gültigkeit  im  Sinne  des  Autors  nur  für  die  uns  bekannten 
Verhältnisse  nachgewiesen  ist  und  daher  wegen  der  Lückenhaftigkeit 
unserer  Kenntnisse  auch  nicht  einmal  für  die  Endlichkeit  als  all- 
gemein betrachtet  werden  darf. 

Im  entschiedenen  Irrthum  aber  befinden  sich  diejenigen,  welche 
die  Entropie  für  die  Ewigkeit  in  Anspruch  nehmen.  Würde  sie 
selbst  alle  Naturprocesse  in  unserer  Zeit  und  in  unserem  Raum  be- 
herrschen, so  dürfte  sie  doch  nicht  als  Grundlage  einer  absoluten 
oder  philosophischen  Weltanschauung  benutzt  werden.  Diese  Hesse 
sich,  wie  ich  bereits  angedeutet  habe,  noch  anschaulicher  in  ihrer 
Absurdität  nachweisen  als  die  übrigen  naturphilosophischen  Welt- 
anschauungen. Der  Grund  dieses  Vorzuges  ist  einleuchtend.  Da 
aus  dem  Endlichen  nicht  auf  das  Ewige  geschlossen  werden  kann, 
so  lässt  sich  der  Trugschluss  um  so  leichter  als  solcher  durch- 
schauen, je  klarer  und  exacter  das  Endliche  gedacht  wird. 

AVir  können,  um  uns  die  philosophischen  Weltanschauungen 
vorstellbarer  zu  machen,  dieselben  als  Curven  verzeichnen.  Für  die 
physicalisch-philosophische,  welche  die  Welt  aus  einer  ursprünglichen 
Gasmasse  sich  verdichten  und  zuletzt  erstarren  lässt,.  geben  die 
Ordinaten  den  Grad  der  Verdichtung  an,  während  die  Zeiten  auf 
der  Abscissenaxe  aufgetragen  werden  (Fig.  27).  Die  Curve  nähert 
sich  von  dem  Nullpunkt  der  Gegenwart  aus  rückwärts  nach  der 
unendlichen  Vergangenheit  immer  mehr  der  Abscissenaxe,  vorwärts 
nach  der  unendlichen  Zukunft  immer  mehr  einer  Abscisse,  deren 
Ordinaten  dem  grössten  Grad  der  Verdichtung  entsprechen.  —  Die 
idealistisch -philosophische    Weltanschauung    gibt    uns  die   gleiche 


622 


Zusätze. 


Curve,   wenn   wir  den   zu   jeder   Zeit  erreichten   Grad   der  Vervoll- 
kommnung als  Ordinate  auftragen. 


T'ig.  27. 

Wir  können  aber  auch  die  Grcisse  (Intensität)  der  Veränderung 
während  der  Zeiteinheit  als  Maass  für  die  Ordinaten  benutzen,  indess 
die  Zeiten  paeder  als  negative  oder  positive  Entfernungen  auf  der 
Abscissenaxe  erscheinen  (Fig.  28).  Die  Curve  der  beiden  vorgenannten 
Weltanschauungen  nähert  sich  dann  sowohl  in  der  unendlichen 
Vergangenheit  als  in  der  unendlichen  Zukunft  immer  mehr  der 
Abscissenaxe,  während  ihr  Höhepunkt  in  einer  endlichen  Entfernung 
vor  oder  nach  dem  zeitlichen  Nullpunkt  der  Gegenwart  sich  be- 
findet ;  die  aufsteigende  und  die  absteigende  Hälfte  der  Curve  können 
einander  mehr  oder  weniger  ungleich  sein. 


Fig.  28. 

Für  die  materialistisch-philosophische  Weltanschauung  wird  die 
Curve,  wir  mögen  die  Vollkommenheit  oder  einen  anderen  Zustand 
der  Welt  oder  die  Intensität  der  Veränderung  während  der  Zeit- 
einheit durch  die  Länge  der  Ordinaten  ausdrücken,  eine  mit  der 
Abscissenaxe  im  allgemeinen  parallel  laufende  Linie,  die  je  nach 
der  A^orstellung  gerade  oder  wellenförmig  sein  kann,  aber  sich  der 
Abscissenaxe  auf  die  Dauer  weder  nähert,  noch  sich  von  derselben 
entfernt. 


4.  Bedingungen  für  empirisches  Wissen  und  Erkennen.     Morphologische 
Wissenschaften  (S.  580). 

Es  herrschen  bezüglich  des   Wissens  und  Erkennens  innerhalb 
des  Gebietes  der  Erfahrung  verschiedene  Ansichten,  die  denn  auch 


4.  Bedin<rungcn  für  empirisches  Wissen  und  Erkennen.  623 

für  die  Feststellung  der  Schranken  maassgebend  sind.  Ich  bin  von 
folgenden  Gesichtspunkten  ausgegangen,  wobei  ich  alle  Vorstellungen 
als  ursprünglich  aus  der  Erfahrung  herstammend  betrachtete;  ich 
verweise  hierüber  auf  den  folgenden  Zusatz:  »Ueber  die  Apriorität 
der  Erkenntnisse«. 

Dem  Erkennen  muss  das  Wissen  vorausgehen,  dem  Wissen  die 
Wahrnehmung.  Das  Nervensj'stem  empfängt  sinnliche  Eindrücke 
und  macht  Wahrnehmungen,  indem  es  durch  die  Schwingungen  des 
Aethers  und  der  Luftmoleküle,  durch  Berührung  von  gasförmigen, 
flüssigen  und  festen  Körpern  eigenartig  afficirt  wird.  In  Folge  einer 
langen  Erfahrung  und  einer  langen  Arbeit  von  geistiger  Vermittlung 
gelangt  das  Kind  zu  der  Vorstellung  äusserer  Gegenstände  von  ver- 
schiedener Gestalt,  verschiedener  Beschaffenheit  und  verschiedener 
räumlicher  Lage.  Damit  sind  die  ersten  Beobachtungsthatsachen  ge- 
wonnen, welche  in  der  Folge  mannigfaltiger,  complicirter  und  genauer 
werden. 

Die  Beobachtungsthatsachen  oder  Thatsachen  schlechthin,  wie 
sie  häufig  genannt  werden,  sind  durchaus  concreter  Natur.  Sie  sind 
aller  nicht  unmittelbar  gegeben  und  nicht  als  solche  auch  unbedingt 
richtig ;  vielmehr  werden  sie  erst  durch  die  allerdings  unbewusst  er- 
folgenden Schlüsse  eines  geschulten  Verstandes  erlangt.  Ein  Blind- 
geborener, der  plötzlich  die  Sehkraft  gewinnt,  muss,  obgleich  er  bereits 
eine  Menge  richtiger  Vorstellungen  über  die  Aussenwelt  besitzt,  doch 
ziemlich  lange  Erfahrungen  erwerben,  bis  er  richtig  sieht.  —  Auch 
der  Geübte  macht  unrichtige  Beobachtungen,  wenn  Sinnesstörungen 
vorkommen  oder  wenn  sein  Verstand  unrichtig  urtheilt.  Eine  Be- 
obachtung kann  aber  dann  als  ganz  sicher  und  als  Thatsache  gelten, 
wenn  der  Beobachter  bei  normaler  Beschaffenheit  seiner  sinnlichen 
und  geistigen  Anlagen  sie  immer  wieder  in  der  gleichen  Weise  macht, 
und  wenn  auch  Andere  dasselbe  Resultat  erhalten. 

Aus  den  concreten  oder  Beobachtungsthatsachen  werden  durch 
weitere  Schlussfolgerungen  allgemeine  (abgeleitete)  Thatsachen ,  ge- 
wöhnlicli  Gesetze  oder  Regeln,  auch  Principien  genannt,  gewonnen. 
Sie  sind  gewiss,  wenn  die  zu  Grunde  gelegten  Beobachtungsthatsachen 
gewiss,  und  wenn  das  logische  Verfahren  richtig  ist.  Letzteres  kann 
inductiv  sein,  indem  aus  einer  Vielheit  von  Einzelfällen,  oder  de- 
ductiv,  indem  aus  einem  durch  Erfahrung  gewonnenen  Princip  ein 
Gesetz  abgeleitet  wird.     Die  Mathematik   hat  bloss   ihre   allerersten 


624  Zusätze. 

Sätze  inductiv  erlangt;  von  da  aus  verfährt  sie  rein  deductiv.  Die 
Physik  bedient  sich  abwechsehid  der  Induction  und  der  Deduction. 
Die  beschreibenden  Naturwissenschaften  kennen  nur  das  inductive 
Verfahren ;  sie  vermögen  wegen  der  Comphcirtheit  der  Erscheinungen 
die  Al)leitung   aus   allgemeinen  Principien  noch   nicht  anzuwenden. 

Unsere  Vorstellungen  über  allgemeine  (abgeleitete)  Thatsachen 
sind  um  so  sicherer,  je  mehr  sie  auf  Deduction  fussen,  weil  wir  den 
deductiven  Schluss  als  einen  Vorgang,  der  unserem  Verstände  allein 
angehört,  vollständiger  überwachen  können.  Dabei  wird  natürlich 
vorausgesetzt,  dass  die  Principien,  aus  denen  geschlossen  wird,  richtig 
seien.  Daher  ist  die  Mathematik  die  festbegründetste  Wissenschaft. 
Ihr  folgt  im  Pange  die  Physik,  deren  Inhalt  eben  dadurch  einen 
so  hohen  Grad  der  Gewissheit  erlangt,  weil  sie  zugleich  auf  induc- 
tivem  und  deductivem  Wege  zu  ihren  Resultaten  gelangt  (experimen- 
telle und  mathematische  Physik).  Die  Naturphilosophie  hat  das 
deductive  Verfahren,  statt  wie  die  Physik  auf  einzelne  Naturprocesse, 
auf  die  Totalität  der  Natur  anwenden  wollen  und  ist  mit  allen  ihren 
Versuchen  gescheitert,  weil  sie  nicht  von  sicheren  Principien  aus- 
zugehen vermochte.  So  musste  sie  denn  auch,  um  die  Theorie  einiger- 
maassen  mit  der  Wirklichkeit  in  Ueberein Stimmung  zu  bringen,  die 
willkürlich  gesetzten  Principien  durch  willkürliche  und  unlogische 
Deductionen  corrigiren. 

Die  Deduction  gibt  nur  auf  dem  formalen  (mathematischen)  Gebiet 
und  auf  den  einfachsten  realen  Gebieten,  die  Induction  überhaupt 
nur  in  wenigen  Fällen  vollkommene  Gewissheit.  Die  nicht  voll- 
kommene Gewissheit  wird  als  Wahrscheinlichkeit  bezeichnet.  Wo 
auch  Wahrscheinlichkeit  nicht  gewonnen  werden  kann,  lässt  sich 
meistens  ermitteln,  ob  eine  bestimmte  Vorstellung  möglich  oder  un- 
möglich ist.  Man  kann  die  Vorstellungen  von  den  natürlichen  Dingen 
somit  in  drei  Gruppen  bringen,  in  gewisse,  wahrscheinliche 
und  mögliche. 

In  manchen  Beziehungen  ist  es  von  Nutzen,  die  Vorstellungen 
in  zwei  Kategorien  zu  scheiden.  Dann  sind  die  einen  die  That- 
sachen, die  andern  die  Meinungssachen.  Wir  betrachten  die 
ersteren  als  sicher,  weil  sie  direct  bewiesen  sind  oder  weil  das  Gegen- 
theil  als  unmöglich  erscheint.  Zu  ihnen  gehören  im  strengen  Sinne 
nur  die  concreten  oder  Beobachtungsthatsachen  und  die  allgemeinen 
oder   abgeleiteten  Thatsachen   (Gesetze).     Gewöhnlich    rechnen    wir 


4.  Bedingungen  für  oin]jiri.schc.s  Wissen  und  Erkennen.  (325 

aber  zu  den  Tluitsachen  auch  diejenigen  Vorstellungen,  für  welche 
bloss  eine  sehr  grosse  Wahrscheinlichkeit  besteht.  —  Jeder  menschliche 
Körper  besitzt,  soweit  wir  darüber  Erfahrung  haben,  Herz,  Lunge, 
Magen.  Es  muss  im  strengeren  Sinne  als  Thatsache  angesehen 
werden,  dass  auch  alle  anderen  Menschen,  von  denen  wir  aus  directer 
Erfalirung  nichts  wissen,  mit  diesen  Organen  begabt  sind ,  weil  sie 
ohne  dieselben  nicht  leljen  könnten.  Alle  menschlichen  Körjjer, 
welche  zergliedert  wurden,  enthielten  auch  eine  Milz,  und  die  Ana- 
tomen betrachten  es  ebenfalls  als  gewiss,  dass  es  keinen  milzlosen 
Menschen  gebe,  obgleich  in  dieser  Beziehung  zur  Zeit  nur  eine  sehr 
grosse  Wahrscheinlichkeit  besteht ,  da  man  nicht  weiss ,  wozu  die 
Milz  dient,  daher  die  Nothwendigkeit  ihres  Daseins  nicht  darthun 
und  ihren  Mangel  nicht  als  unmöglich  erweisen  kann. 

Diejenigen  Vorstellungen,  deneivnurein  geringerer  oder  grösserer 
(aber  nicht  überwältigender)  Grad  von  W^ahrscheinlichkeit  zukommt, 
oder  die  bloss  als  möglich  erscheinen,  werden  als  Meinungs- 
sachen  bezeichnet.  Sie  schliessen  das  Gegentheil  nicht  aus,  und 
es  sind  daher  über  das  nämliche  Ding  verschiedene  Meinungen  ge- 
stattet, indem  weder  die  eine  noch  die  andere  einen  logischen  Fehler 
begeht.  So  ist  es  beispielsweise  möglich,  dass  die  Planeten  bewohnt 
sind,  und  wahrscheinlich ,  dass  Thiere  und  Pflanzen  von  den  näm- 
lichen oder  wenigstens  einander  sehr  ähnlichen  Urwesen  abstammen. 

Die  Thatsachen  und  die  Meinungssachen  umfassen  zusammen 
das  Gebiet  des  Wissens,  d.  h.  alles  dessen,  was  als  dem  Wissen  niclit 
unzugänglich  erachtet  werden  muss.  Daneben  gibt  es  ein  ganzes 
Gebiet  von  Vorstellungen,  die  entweder  als  mit  den  Natur-  und 
Denkgesetzen  unverträglich,  demnach  als  physisch  unmöglich  er- 
scheinen, oder  die  nach  den  Natur-  und  Denkgesetzen  gar  nicht 
l)eurtheilt  werden  können,  somit  ausser  oder  über  denselben  stehen. 
Alle  diese  Vorstellungen  werden  als  Glaubenssachen  bezeichnet 
und  stellen  in  ihrer  Gesammtheit  das  Gebiet  des  Glaubens,  im  Gegen- 
satze zu  dem  des  Wissens  dar. 

Offenbar  sind  die  in  dem  Glaubensgebiete  vereinigten  Vor- 
stellungen ganz  ungleicher  Art  und  scheiden  sich  in  zwei  scharf 
geschiedene  Gebiete.  Das  eine  umfasst  alle  Vorstellungen  von  den 
übernatürlichen  Dingen  und  ist  trän  scend  on  ter  Glaube.  Das 
andere  enthält  die  unnatürlichen  und  ^\^dernatürlichen  Vorstellungen 
von  den  wirklichen  endlichen  Dingen  und  ist  Aberglaube. 

V.  Nägel  i,  AUstaiuiiiungslehre.  40 


626  Zusätze 

Richtiger  als  die  Dreitheiluiig  in  Thatsachen,  Meinungssachen 
und  Glaubenssachen  wäre  daher  die  Unterscheidung  der  Gesammtheit 
unserer  Vorstellungen  in  solche  über  die  Dinge  der  endlichen 
physischen  Welt  und  solche  über  die  ewige  metaphysische 
Welt.  Die  ersteren  gehören  dem  Gebiete  des  Wissens  an,  wenn 
sie  Vernunft-  und  naturgemäss  sind  (Thatsachen  und  Meinungssachen) 
oder  dem  Gebiete  des  Aberglaubens,  wenn  sie  Vernunft-  und 
naturwidrig  sind.  Die  letzteren  sind  transcendenter  Glaube, 
wenn  sie  das  Ewige  und  Göttliche  anerkennen,  und  Unglaube, 
wenn  sie  es  leugnen. 

Nicht  Alles,  was  wir  wissen,  ist  auch  Erkenntniss.  Gerade  die 
concreten  oder  Beobachtungsthatsachen,  die  der  o])jective  Natur- 
forscher oft  als  das  Sicherste  oder  selbst  als  das  einzig  Sichere  in 
unserem  Wissen  betrachtet,  sind  -am  weitesten  davon  entfernt,  erkannt 
zu  sein.  Um  von  dem  blossen  Wissen  zum  Erkennen  fortzuschreiten, 
muss  eine  Vorstellung  mit  anderem  Wissen  zusammengelialten  werden 
und  eine  Reihe  von  Denkprocessen  durchlaufen.  Sehr  häufig  knüpft 
man  an  die  Erkenntniss  eines  Dinges  die  Bedingung,  dass  seine 
Noth wendigkeit  begriffen ,  dass  also  dargethan  werde ,  wie  es  die 
logische  Folge  von  etwas  Anderem  sei.  Dies  ist  das  begreifende 
oder  u  r  s  ä  c  h  1  i  c  h  e  Erkennen.  Diesem  Erkenntnissgebiete  gehört 
der  Inhalt  der  Mathematik  vollständig  an  und  aus  den  realen  Wissen- 
schaften alle  Gesetze ,  insofern  die  Thatsachen ,  aus  denen  sie  als 
noth  wendig  gefolgert  werden ,  Gewissheit  oder  wenigstens  eine  der 
Gewissheit  nahe  kommende  Wahrscheinlichkeit  gewähren.  Die  Astro- 
nomie und  die  übrigen  Theile  der  Phj^sik  bieten  uns  viele  Beispiele 
des  ursächlichen  Erkennen  s  dar. 

Die  ursächliche  Erkenntniss  ist  mehr  oder  weniger  vollständig 
bezüglich  aller  der  Momente,  die  bei  complicirten  Erscheinungen  in 
Betracht  kommen ,  und  mehr  oder  weniger  vollkommen  bezüglich 
der  einzelnen  Vorstellungen,  aus  denen  sie  sich  zusammensetzt.  Daher 
ist  Umfang  und  Grenze  des  Erkenntnissgebietes  verschieden  je  nach 
den  mehr  oder  weniger  strengen  Anforderungen,  die  man  stellt.  Es 
lassen  sich  selbst  diese  Anforderungen  so  hoch  schrauben,  dass  das 
Erkennen  zur  Unmöglichkeit  wird.  Dies  ist  dann  der  Fall,  wenn 
man  verlangt,  dass  die  Ursachen  einer  Erscheinung  nicht  nur  als 
gewiss  nachgewiesen,  sondern  auch  selber  ursächlich  erkannt  seien.  — 
Die  astronomische  Erkenntniss  beruht  auf  der  Kombination  der  Kräfte, 


4.  Bedingungen  für  empirisches  Wissen  und  Erkennen.  627 

mit  denen  sich  die  Weltkörper  nach  Masse  und  Entfernung  anziehen, 
und  derjenigen  Kräfte,  die  aus  Masse  und  Bewegung  sich  ergeben. 
Hieraus  lässt  sich ,  was  am  Himmel  vorgeht ,  begreifen  und  auch 
voraussagen,  was  in  der  Folge  dort  geschehen  wird.  Die  Astronomie 
wäre  aber  nicht  mehr  Erkenntniss,  sondern  bloss  Wissen  und  Kunst, 
wenn  zur  Erkenntniss  auch  das  Begreifen  der  Gravitation  und  der 
Bewegung  gefordert  würde. 

Die  Berechtigung  so  weit  gehender  Forderungen  kann  an  und 
für  sich  nicht  bestritten  werden,  wohl  aber  die  Berechtigung,  sie  als 
die  Bedingung  der  Erkenntniss  zu  erklären.  Denn  unter  Erkenntniss 
versteht  der  Spracligebrauch  etwas  anderes,  nämlich  menschliches 
und  nicht  unmögliches  Begreifen.  Das  mögliche  ursächliche  Erkennen 
begnügt  sich  damit,  je  auf  die  nächsten  Ursachen  zurückzugehen. 
Das  göttliche  oder  transcendente  Erkennen,  welches  \ns  auf  die  erste 
Ursache  sich  versteigen  will,  gehört  nicht  mehr  der  menschlichen 
Erkenntnisslehre  an. 

Nur  wenige  Gesetze  der  Physik  gewähren  eine  so  vollkommene 
ursächliche  Erkenntniss  wie  die  astronomischen.  Von  manchem  der 
physicalischen  Gesetze  wird  für  unsere  Einsicht  nicht  viel  mehr 
geleistet,  als  dass  die  Erfahrungsthatsachen  einen  mathematischen 
Ausdruck  erhalten ,  welcher  es  möglich  macht ,  das  Resultat  eines 
natürlichen  Vorganges  im  Voraus  arithmetisch  genau  festzustellen. 
Man  kann  aber  auch  im  letztern  Falle  mit  einem  gewissen  Recht 
von  Erkenntniss  sprechen,  weil  das  Erfassen  eines  Dinges  nach  seinen 
genauen  Maassen  über  das  gewölmliche  Wissen  hinausgeht. 

So  verhält  es  sich  auch,  wenn  zwei  verschiedene  Dinge  nach 
einem  bestimmten  Maass  verglichen  und  ihre  ^'erschiedenheit,  somit 
der  relative  Werth  jedes  einzelnen,  in  exacter  Weise  ausgedrückt 
werden  können,  mag  nun  das  Maass  in  der  Längen-  und  Gewichts- 
einheit oder  in  der  Zahl  und  Anordnung  gleichartiger  Theile  oder 
in  irgend  etwas  Anderem  bestehen.  Desswegen  habe  ich  von  mes- 
sendem Erkennen  gesprochen  und  dasselbe  als  eine  dem  Wissen 
nach  (mit  Rücksicht  auf  Gewissheit)  gleichwerthige,  aber  für  die  Be- 
dürfnisse des  Verstandes  tiefere  Stufe  dem  begreifenden  oder  causalen 
Erkennen  vorausgehen  lassen. 

Ich  glaube  damit  um  so  eher  das  Richtige  getroffen  zu  haben, 
als  wir  sonst  den  morphologischen  Wissenschaften,  trotz  ihrer  hohen 
Ausbildung,  den  Erkenntnissgehalt  ganz  absprechen  müssten.     An- 

40* 


628  Zusätze. 

erkanntermaassen  ist  ein  blosses  Aggregat  von  Thatsachen,  also  von 
Gewusstem,  noch  keine  Wissenschaft;  wenigstens  müssen  die  That- 
sachen vergHclien  und  geordnet  werden,  damit  man  von  wissen- 
schafthcher  Behandlung  sprechen  darf.  Stellt  man  nun  an  diese 
Behandlung  die  strengen  Forderungen  der  exacten  Methode  und 
gesteht  man  dann  dersell)en  die  Berechtigung  des  (messenden)  Er- 
kennens  zu,  so  können  wir  den  eigentlich  wissenschaftlichen  Gehalt 
einer  Disciplin  ihrem  Erkenntnissgehalte  gleichsetzen. 

Unter  den  morphologischen  Wissenschaften  nimmt  die  Chemie 
den  ersten  Rang  ein.  Von  ihr  sagt  Du  Bois  Reymond,  dass 
sie  in  unserer  Zeit  von  dem  Ziele,  eine  Wissenschaft  in  seinem 
Sinne  zu  werden,  scheinbar  weiter  entfernt  sei  als  zu  Kant 's  Zeiten. 
Die  Chemie  hat  sich  seit  30  und  mehr  Jahren  fast  ausschliesslich 
mit  der  Constitution  der  Verbindungen  beschäftigt.  Sie  ist  nicht,  wie 
]nan  früher  wohl  erwarten  mochte,  zunächst  eine  physicalische  (vor- 
zugsweise thermische  und  elektrische),  sondern  eine  beschreibende 
oder  besser  morphologische  Wissenschaft  geworden.  Den  Namen 
einer  Wissenschaft  aber  verdient  sie  gewiss  in  hervorragender  Weise, 
wenn  wir  unter  wissenschaftlicher  Methode  das  Verbinden  von  sicheren 
Beobachtungsthatsachen  durch  logisch  richtige  Schlüsse  und  das 
nach  Maass  und  Zahl  exacte  Erkennen  verstehen.  Dies  müsste  selbst 
als  unanfechtbar  gelten,  wenn  die  chemischen  Moleküle  und  Atome 
eine  Hypothese  wären,  wofür  sie  noch  von  manchen,  besonders  von 
beschreibenden  Naturkundigen  gehalten  werden!  Da  dieselben  aber 
nicht  mehr  zu  den  Meinungssachen,  sondern  zu  den  wirklichen 
Thatsachen  gehören^),  so  hat  die  Chemie  eine  höhere  Stufe  wissen- 


*)  Ich  will  nicht  die  verschiedenen  Gründe  wiedei-holen ,  die  uns  zu  der 
Annahme  nöthigen,  dass  die  Materie  nicht  homogen  ist,  sondern  aus  discreten 
Theilchen  besteht.  Dagegen  weise  ich  darauf  hin,  dass  die  neuere  mathematische 
Physik  von  diesen  Theilchen,  soferne  sie  gasförmig  sind,  die  in  einem  gegeljenen 
Räume  enthaltene  Anzahl ,  das  Gewicht  Jedes  einzelnen  und  die  mittlere  Ge- 
schwindigkeit seiner  fortschreitenden  Bewegung  ermittelt  hat,  dass  aus  dem  Ge- 
wicht der  Theilchen  unmittelbar  auch  das  Volumen,  welches  ein  jedes  im  flüssigen 
und  festen  Zustande  einnimmt,  hervorgeht,  dass  dieses  Volumen  mit  dem  nach 
anderer  Methode  für  den  flüssigen  und  festen  Zustand  berechneten  Volumen  der 
kleinsten  Theilchen  übereinstimmt,  —  dass  ferner  Physik  und  Chemie  die  kleinsten 
Theilchen  der  gasförmigen  Elemente  oder  die  Moleküle  als  aus  zwei  gleichen 
Hälften  (Atomen)  bestehend  nachgewiesen  haben,  dass  also  die  kleinsten  Theilchen 
der  chemischen  Elemente  im  flüssigen  und  festen  Zustande  die  gleiche  Beschaö'en- 
heit  besitzen,  und  dass  von  dieser  Gmndlage  aus  ih'r  morphologische  Aufbau  der 


4.  Bedingungen  für  empirisches  Wissen  und  Erkennen.  020 

schaftlicher  Ausbildung  erlangt  als  irgend  eine  andere  niorpliologische 
Disciplin,  und  zwar  desswegen,  weil  ihr  niori)hologischer  Inhalt 
durch  ein  viel  grösseres  Maass  causalistischen  (physicalischen)  Gehaltes 
gestützt  wird. 

Als  Wissenschaft  erweist  sich  die  Clieniie  namentlich  auch  durch 
den  Umsümd,  dass  sie  vermöge  ihrer  Einsicht  in  das  Wesen  der 
Verbindungen  den  sicheren  Weg,  auf  dem  noch  unbekannte  und 
bisher  nicht  existirende  Verljindungen  dargestellt  werden,  sowie  deren 
Eigenschaften  nebst  der  genauen  Zusammensetzung  zum  Voraus 
angeben  kann. 

Die  Chemie  baut  ihre  Verbindungen  (Moleküle)  aus  den  Element- 
atomen auf.  Dass  diese  Atome  rücksichtlich  ihrer  Eigenschaften 
noch  wosontlich  unbekannte  Körperchen  sind,  thut  der  messenden 
Erkenntniss  der  chemischen  Verbindungen  keinen  Eintrag.  Es  genügt, 
dass  die  Existenz  der  Elementatome  gewiss  ist,  dass  ihr  relatives  Ge- 
wicht genau  und  ihre  gegenseitige  Verwandtschaft  genügend  bekannt 
sind.  Dadurch  werden  dieselben  befähigt,  als  exactes  Maass  zu  dienen, 
so  gut  als  Meter,  Gramm,  Secunde  vollkommene  Maasse  sind,  ohne 
dass  wir  w^eiter  etwas  von  ihrem  Wesen  wissen. 

Einer  hohen  morphologischen  Ausbildung  ist  auch  die  Botanik 
fähig.  Ihre  Bausteine,  nämlich  die  Zellen,  sind  zw^ar  sehr  complicirte 
und  in  Folge  dessen  auch  in  ihrem  ursächHchen  Wesen  ganz  un- 
bekannte Körper.  Für  die  messende  Erkenntniss  der  pflanzlichen 
Bildungen,  besonders  auf  den  einfacheren  Stufen  des  Reiches,  eignen 
sie  sich  aber  in  vorzüglicher  Weise.  Da  hier  die  ganze  Pflanze  und 
meistens  auch  ihre  einzelnen  Organe  mit  einer  einzigen  Zelle  beginnen 
und  durch  Zelltheilung  (Scheidewandl)ildung  in  den  Zellen),  die  in 
ganz  bestimmten  und  constanten  Richtungen  erfolgt ,  wachsen ,  so 
lässt  sich  der  morphologische  Aufbau  wenigstens  auf  die  allernächste 
Ursache  zurückführen  und  daher  die  Bedeutung  der  verschiedenen 
oft  sehr  complicirten  Bildungen  aus  der  Entwicklungsgeschichte  er- 
kennen. Dabei  bleibt  die  ursprüngliche  Regelmässigkeit  in  der  An- 
ordnung der  Zellen  oft  zeitlebens  erhalten  und  weist  deutlich  auf 
eine  regelmässige  Entwicklung  hin.    Oft  al)er  wird  die  ursprüngliche 


chemischen  Verl)indungen,  nicht  IjIoss  der  einfachen,  sondern  selbst  ziemlich  zu- 
sammengesetzter, ausgeführt  wird,  was  in  vielen  Fällen  mit  vollkommener  Ge- 
wissheit geschehen  kann,  weil  die  Miiglichkeit  einrr  amlercn  Annahme  ausge- 
sclilossen  ist. 


630  Zusätze. 

regelmässige  Anordnung  späterhin  gestört,  und  man  kann  in  der 
scheinbar  chaotischen  Zusammenlagerung  der  Zellen  bloss  mit  Hilfe 
des  erkannten  gesetzmässigen  Wachsthums  sich  zurechtfinden.  — 
Auf  den  höheren  Stufen  des  Pflanzenreiches,  wo  der  innere  Bau 
wegen  der  grossen  Complicirtheit  scheinbar  ganz  unregelmässig  ge- 
worden ist,  lässt  sich  auf  seine  Gesetzmässigkeit  aus  der  vollkommen 
regelmässigen  Anordnung  der  seitlichen  Organe  schliessen. 

Noch  deutlicher  tritt  uns  das  gesetzmässige  Werden  entgegen, 
wenn  wir  die  morphologischen  Erscheinungen  in  der  Pflanzenwelt 
nicht  bloss  nach  ihrer  ontogenetischen ,  sondern  auch  nach  ihrer 
phylogenetischen  Entwicklungsgeschichte  betrachten.  Ich  habe  in  der 
Abhandlung:  Mechanisch-j^hysiologische  Theorie  der  Abstammungs- 
lehre (VII.  Phylogenetische  Entwicklungsgescliichte  des  Pflanzen- 
reiches und  IX.  Morphologie  und  Systematik  als  phylogenetische 
Wissenschaften)  die  Entwicklungsgesetze  und  ihre  Anwendung  dar- 
zulegen versucht.  Obgleich  diese  Wissenschaft  noch  im  ersten 
Kindlieitsstadimn  und  wegen  Mangels  an  hinreichendem  brauch- 
baren Beobachtungsmaterial  noch  sehr  unvollkommen  ist,  so  lässt 
sich  doch  jetzt  schon  von  vielen  Pflanzenformen  mit  Sicherheit  an- 
geben, wie  die  Formen,  aus  denen  sie  phylogenetisch  hervorgegangen 
sind,  gebaut  w^aren,  und  wie  die  Formen,  in  welche  sie  sich  phylo- 
genetisch mnwandeln  werden,  beschaffen  sein  müssen. 

Schon  die  Einsicht  in  bestimmte  ontogenetische  und  jjhylo- 
genetische  Gtesetze  ist  ein  Beweis  von  Wissen  und  Erkennen;  als 
ein  noch  besseres  Zeugniss  davon  muss  es  angesehen  werden,  w^enn 
wir  die  phylogenetische  Entwicklungsbahn  eines  Organismus  — 
analog  wie  die  Bahn  eines  Kometen  —  sei  es  auch  vorerst  nur  auf 
eine  kurze  Strecke  zu  bestimmen  und  in  der  künftigen  Gestaltung 
eines  Organismus  ein  kommendes  Ereigniss  —  analog  wie  eine 
Sonnenfinsterniss  —  vorauszusagen  vermögen. 


5.  Apriorität. 

a)   Des   Gravitationsgesetzes   (S.  581). 

Man  hat  das  Gravitationsgesetz  als  unabhängig  von  unserer 
Erfahrung  und  schon  in  unserer  Vernunft  begründet  darstellen  wollen. 
Allein  es  ist  klar,  dass  die  Anzielmng  im  Verhältniss  des  umgekehrten 


5.  Apriorität.  631 

Quadrats  der  Entfernung  nichts  anders  ist  als  das  Gesetz  der  Er- 
haltung der  Kraft  mit  Beziehung  auf  den  Raum*).  Wie  die  Summe 
der  lebendigen  und  Spannkräfte  in  einem  bestimmten  System  durch 
alle  Zeiten  die  nämliche  bleibt  und  sich  somit  als  unabhängig  von 
der  Zeit  darstellt,  so  sagt  uns  das  Gravitationsgesetz  bloss,  dass 
die  Gesammtanziehung,  die  von  einer  bestimmten  Masse  aus- 
geübt ward,  auf  jede  Entfernung  die  nämliche  bleibt,  also  unabhängig 
vom  Räume  ist. 

Von  den  Versuchen,  das  Gravitationsgesetz  a  priori  zu  erklären, 
führe  ich  den  von  Kant  an.  Derselbe  sagt:  dieses  Gesetz  scheine 
als  nothwendig  in  der  Natur  der  Dinge  selbst  zu  liegen  und  pflege 
daher  auch  als  a  j^riori  erkennbar  vorgetragen  zu  werden,  und  fährt 
fort:  xSo  einfach  nun  auch  die  Quellen  dieses  Gesetzes  sind,  indem 
sie  bloss  auf  Verhältnisse  der  Kugelfläche  von  verschiedenen  Halb- 
messern beruhen,  so  ist  doch  die  Folge  davon  so  vortrefflich  in  An- 
sehung der  Mannigfaltigkeit  ihrer  Zusammenstimmung,  dass  kein 
anderes  Gesetz  der  Attraction,  als  das  des  umgekehrten  Quadrat- 
verhältnisses der  Entfernungen  zu  einem  Weltsystem  als  schicklich 
erdacht  werden  kann.  Hier  ist  also  Natur,  die  auf  Gesetzen  beruht, 
welche  der  Verstand  a  priori  erkennt,  und  zwar  vornehmlich  aus 
allgemeinen  Principien  der  Bestimmung  des  Raumes.  —  So  ist 
der  Verstand  der  Ursprung  der  allgemeinen  Ordnung 
der  Natur,  indem  er  alle  Erscheinungen  unter  seine 
eigenen  Gesetze  fasst.« 

Man  vermisst  in  diesem  Beweise,  da  er  etwas  Unmögliches 
leisten  soll,  die  gewohnte  Klarheit  und  Schärfe  des  Philosophen. 
Was  sagt  uns  das  Gravitationsgesetz  ?  Dass  die  Anziehung  zwischen 
einem  Gravitationseentrum  und  verschiedenen  Kugelschalen  von 
gleicher  Dicke  und  Dichtigkeit  aber  ungleichen  Radien  gleich  gross 
ist,  und  dass  somit  die  Anziehung  zur  Masseneinheit  in  den  ver- 
schiedenen Kugelschalen  sich  umgekehrt  wie  das  Quadrat  der  Radien 
verhält.  Die  Gravitation  wirkt  nach  allen  Richtungen  und  die  Summe 
aller  Anziehungen,  die  ein  Gravitatioiiscentrum  auszuüben  vermag, 
ist  auf  alle  Entfernungen  dieselbe.  Eben  so  verhält  es  sich  mit  allen 
andern  Kräften.     Bei  allen  bewährt  sich  der  Satz  der  Identität.    Gäbe 


*)  Ueber  die  Apriorität  der  Mathematik  s.  den  zweiten,  über  die  Ai)riorität 
des  Causalgesetzes  (und  des  GesetJüps  der  jMliultung  dvr  Kraft)  s.  den  dritten 
Theil  dieses  Zusatzes. 


632  Zusätze. 

es  eine  Kraft,  die  nur  nach  Einer  (linearen)  Richtung  wirkte,  so 
wäre  die  Anziehung  oder  Abstossung  auf  die  Masseneinlieit  unzweifel- 
haft in  allen  Entfernungen  die  gleiche. 

Das  Gravitationsgesetz  ist  ein  Erfahrungssatz.  Um  seine  Apri- 
orität  nachzuweisen,  um  es  unmittelbar  aus  unserer  Vernunft  ab- 
zuleiten, müsste  gezeigt  werden,  dass  in  den  Begriff  der  Anziehung 
auch  schon  die  besondere  Art  ihrer  Wirkung  eingeschlossen  und 
dass  eine  andere  Art  unlogisch  und  unmöglich  sei.  Nun  wäre  es 
aber  nichts  Absurdes  für  unsern  Verstand ,  wenn  die  Gesammt- 
anziehung mit  der  Entfernung  zu  oder  abnehmen,  wenn  also  die 
Anziehung  zur  Masseneinheit  sich  in  grösserem  oder  geringerem 
Verhältniss  als  nach  dem  umgekehrten  Quadrat  der  Entfernung 
verhalten  würde.  Dies  möchte  wohl  eben  so  »schicklich«  für  die 
Erhaltung  des  Gleichgewichtes  im  Weltensystem  sein ;  nur  würde 
das  Gleichgewicht  eine  etwas  andere  Gestalt  annehmen. 

Im  Gegensatz  zu  der  eben  besprochenen  Annahme,  wonach 
das  Gravitationsgesetz  nicht  bloss  durch  die  Erfahrung,  sondern 
auch  durch  die  Logik  l)ewiesen  wäre,  steht  die  Behauptung  Anderer, 
dass  dieses  Gesetz  eine  untere  Grenze  wirklich  besitze  und  möglicher 
Weise  auch  eine  obere  Grenze  haben  könne,  d.  h.  dass  es  für  un- 
messbar  kleine  Entfernungen  nicht  mehr  gelte  und  vielleicht  auch 
nicht  für  die  allergrössten  Entfernungen.  Diese  Behauptung  ist 
rationell  unwahrscheinlich  und  w^ird  auch  durch  die  Erfahrung  nicht 
wahrscheinlich  gemacht.  Allerdings  wird  die  Anziehung  in  unmess- 
bar  kleinen  Abständen  anders,  aber  nicht  weil  das  Gravitations- 
gesetz sich  ändert,  sondern  weil  jetzt  überdem  Molecularkräfte  wirk- 
sam werden. 

Dass  aber  Molecularkräfte  in  geringster  Entferimng  gegenüber 
der  Gravitation  eine  gesteigerte  Wirksamkeit  erlangen,  rührt  nicht 
etwa  davon  her,  dass  dieselben  bezüglich  des  Raumes  ein  anderes 
Verhalten  zeigen,  und  dass  sie,  wie  man  etwa  sich  ausdrückte,  im 
umgekehrten  Verhältniss  einer  höheren  Potenz  der  Entfernung  wirken. 
Die  moleculare  Anziehung  und  Abstossung  hat  gleichfalls  den  Coeffi- 

cienten  -^.  wenn  d  iVm  Abstand  zweier  Kraftcentren  bedeutet.    Da 
d 

aber  die  verschiedenen  molecularen  Kraftcentren  sehr  nahe  bei- 
sammen liegen,  so  ändert  sich  ihr  Effect  auf  einen  fernen  Körper, 
sobald  dif^ser  sich  so  sehr  nähert,  dass  d  der  gleichen  Grössenordnung 


5.  Apriorität.  ß33 

angehört  wie  die  moleculai'en  Entfernungen.  Die  Differenz  zwischen 
Anzielunig  und  Abstossung,    welche   2  moleculare  Kraftcentren  auf 

enien  andern  Körper  ausüben,  sei  ^^,  —  ^j^^y,  worin  e  die  geringe 

Grösse  ausdrückt,  um  welche  das  eine  von  dem  betreffenden  Körper 
weiter  a])st€ht.  Solange  nun  e  im  Verhältniss  zu  d  verschwindend 
klein  ist,  wird  dieGesammtwirkung  bloss  durch  d  beeinflusst.  Erreicht 
aber  in  Folge  der  Annäherung  e  gegenüber  von  d  einen  bemerk- 
l)aren  Werth,  so  übt  es  auch  auf  die  Gesammtwirkung  einen  ent- 
scheidenden Einfluss  aus  und  kann  dieselbe  selbst  bis  zum  entgegen- 
gesetzten Vorzeichen  verändern'). 

Es  liegt  also  in  dem  scheinbar  abweichenden  A'erhalten  der 
Molecularkräfte  kein  Grund  vor  zu  der  Beljauptung,  dass  die 
Wirkung  der  Kräfte  zu  sehr  kleinen  Entfernungen  eine  andere  Be- 
ziehung zeige  als  zu  grösseren. 


b)  Apriorität   der   Mathematik  (S.  582). 

Die  Philosophen  streiten  sich  ül)er  die  Apriorität  der  Mathe- 
matik. Die  Naturforscher  werden  wohl  unljedingt  die  Neigung  haben, 
die  mathematischen  Vorstellungen  in  gleicher  Weise  zuStande  kommen 
zu  lassen,  wie  alle  übrigen.  Ein  Mensch,  der  ohne  Sinnesorgane 
aufwüchse  und  keine  Eindrücke  von  aussen  empfinge,  also  auch 
nichts  von  seinem  körperhchen  Ich  erführe,  w^äre  wde  eine  Pflanze 
beschaffen;  er  hätte  auch  keine  Vorstellung  von  Zahl  und  Grösse. 
Er  könnte  weder  die  Zahl  5  seiner  Finger,  noch  ein  Dreieck  und 
einen  Kreis  construiren.  Solche  Vorstellungen  erlangt  er  bloss  durch 
die  sinnhche  Wahrnehmung.  Ohne  letztere  wüsste  er  nicht,  dass  es 
Dinge  ausser  ihm  gibt;  ohne  sie  wüsste  er  nicht  einmal  von  seiner 
eigenen  Existenz,  denn  dieses  Bewusstsein  entspringt  aus  dem 
Gegensatze  des  Ich  mit  der  Aussenwelt. 

Die  Mathematik  wie  alles  andere  Wissen  kann  also  nur  aus 
der  Erfahrung  hervorgehen ;  ihre  Grundlagen  sind  die  allgemeinsten 
Begriffe  derselben,  und  in  dieser  weitest  gehenden  Verallgemeinerung 
beruht   ein   wesentliches    Moment    ihrer   Stärke.      Die   allgemeinste 

»)  Ich  verweise  übrigens  auf  die  folgende  AMiandlung:  Kräfte  und  Ge- 
staltungen im  muleculareu  Gebiet. 


634  Zusätze. 

Abstraction  der  sinnlichen  Wahrnehmung  ist  die,  dass  es  überhaupt 
Dinge  gibt  und  dass  dieselben  mehr  oder  weniger  verschieden  von 
einander  sein  können. 

Ein  anderes  Moment  der  Stcärke  der  Mathematik  beruht  darin, 
dass  sie  innerhalb  der  eben  angeführten  Abstraction  die  einfache 
Identität  zur  Basis  ihrer  Operationen  macht  mid  daraus  ihre  Sätze 
logisch  ableitet.  In  der  That  kann  nichts  Unzweifelhafteres  voraus- 
gesetzt werden,  als  dass  etwas  sich  selbst  (oder  einem  Andern,  das 
es  selbst  ist)  gleich  sei,  a  =  a. 

Eine  solche  Identität  gilt  auch  für  den  Satz,  mit  dem  die  Mathe- 
matik des  Raumes  beginnt,  dass  zwei  parallele  Linien  sich  nicht 
schneiden  und  keinen  Raum  einschliessen.  Es  ist  zwar  die  Behauptung 
aufgestellt  worden,  dass  in  diesem  Satze  ein  unbewiesenes,  von  unserem 
Verstände  hineingelegtes  Axiom  enthalten  sei  und  dass  aus  dem 
Parallelismus  das  Sichnichtschneiden  noch  nicht  nothwendig  folge. 
Das  Irrthümliche  einer  solchen  Behauptung  rührt  augenscheinlich 
daher,  dass  der  Begriff  der  Linie  in  doppelter  Weise  gefasst  werden 
kann,  und  dass  beim  Ueberspringen  von  dem  einen  auf  den  andern 
leicht  der  Eindruck  einer  Lücke  erhalten  wird. 

Die  Linie  ist  einmal  die  Begrenzung  einer  Fläche ;  ferner  ist  sie 
die  Bewegung  eines  Punktes  (z.  B.  des  Schwerpunktes  eines  Körpers). 
Halten  wir  uns  ausschliesslich  an  den  einen  oder  an  den  andern 
dieser  beiden  Begriffe,  so  tritt  die  Identität  als  einzige  Voraussetzung 
in  dem  Satze  des  Parallelismus  klar  zu  Tage.  Sind  die  zwei  paral- 
lelen Linien  die  Seiten  eines  Rechteckes,  wodurch  ja  eben  der  überall 
gleiche  Abstand  postulirt  ist,  so  bleiben  sie  parallel,  behalten  den 
gleichen  Abstand,  schneiden  sich  nicht,  wenn  wir  uns  das  Rechteck 
länger  und  länger,  zuletzt  unendlich  lang  denken.  Sind  die  zwei 
parallelen  Linien  dagegen  zwei  sich  bewegende  Punkte,  was  nichts 
anderes  heisst,  als  dass  die  Bewegungen  eine  Strecke  weit  den  gleichen 
Abstand  einhalten ,  so  müssen  sie  parallel  bleiben ,  auch  wenn  die 
Bewegung  ins  Unendliche  sich  fortsetzt;  denn  mit  der  Abweichung 
vom  Parallelismus  würden  sie  den  vorausgesetzten  Charakter  verlieren. 

Der  Parallelisnuis  und  das  Nichtschneiden  sind  also  identische 
Begriffe,  was  nur  dann  nicht  sofort  ersichtlich  wird,  wenn  man  die 
linienförmige  Begrenzung  in  die  linienförmige  Bewegung  (die  beiden 
einzigen  Begriffe,  unter  denen  uns  die  Linie  anschaulich  ist)  über- 
gehen lässt.    Zeichnen  wir  zwei  parallele  Striche  auf  das  Papier,  so 


5.  Apriorität  635 

dürfen  wir  uns  nicht  einfach  die  Frage  vorlegen,  wie  sich  dieselben 
verhalten  werden,  wemi  wir  sie  ins  Unendliche  verlängern ;  sondern 
wir  müssen  uns  zuerst  darüber  klar  sein,  wie  sie  zu  Stande  gekommen 
sind  und  w'as  sie  bedeuten ,  und  ferner  müssen  wir  uns  ebenfalls 
klar  machen,  was  ihre  Verlängerung  bedeuten  soll. 

Auf  den  Einwurf,  dass  die  Identität  selber  ein  aprioristisches, 
vor  aller  Erfahrung  unserem  Verstände  an  gehöriges  Gesetz  sei,  wäre 
zu  erwidern,  dass  der  Vorstellung  von  der  Gleichheit  zweier  Dinge 
doch  unbedingt  diejenige  von  dem  Dasein  von  Dingen  vorausgehen 
muss.  Nun  erfahren  wir  erst  durch  die  sinnliche  Wahrnehmung, 
dass  es  überhaupt  Dinge  gibt,  und  gleichzeitig  erfahren  wir  durch 
die  nämliche  sinnliche  Wahrnehmung,  dass  diese  Dinge  einander 
sehr  unähnlich,  aber  auch  w'ieder  so  ähnlich  sein  können,  dass  wir 
sie  nicht  von  einander  zu  unterscheiden  vermögen.  Es  ist  somit 
der  Grundsatz  aller  mathematischen  Betraclitung  auf  empirischem 
Wege  gewonnen  worden. 


c)   Apriorität  als  allgemeines  Princip. 

Die  allgemeine  philosophische  Streitfrage,  ob  alles  Wissen  durch 
A^ermittlung  sinnlicher  Wahrnehmung  gewonnen  werde,  oder  ob  es 
auch  Erkenntnisse  a  j^riori  gebe,  würde  hier  keine  Erwähnung  finden, 
da  sie  durch  die  Beschränkung  des  Wissens  auf  das  Endliche  und 
durch  die  fernere  Erwägung,  dass  das  Endliche  nur  monistisch  auf- 
gefasst  werden  kann,  erledigt  scheint,  —  wenn  nicht  neuere  deutsche 
Physiologen  sich  für  die  Apriorität  und  somit  indirect ,  vielleicht 
ohne  volles  Bewusstsein,  in  dualistischem  Sinne  ausgesjjrochen  hätten. 

Die  Frage  ist  also,  ob  es  Denkgesetze  gebe,  die  aller  Erfahrung 
vorausgehen,  ob  unserem  Verstände  Ideen  angeboren  seien ,  ob  das 
Gesetz  der  Causalität  schon  ursprünglich  in  uns  liege,  ob  das  Gesetz 
von  der  Erhaltung  der  Kraft  uns  von  der  Natur  geschenkt  mid  nicht 
durch  die  mühsame  Arbeit  von  Jahrtausenden  errungen  worden  sei, 
ob  die  Idee  des  Raumes  und  der  Zeit  unserem  A'^erstande  von  der 
Natur  vorgeschrieben  und  nicht  erst  aus  der  Natur  geschöpft  wurden. 

Es  ist  zweckmässig ,  sich  vollständig  der  Folgen  bewusst  zu 
w^erden,  zu  denen  diese  Annahmen  nothwendig  führen.  Wenn  unser 
Verstand  von  sich  aus  den  Begrifl:  des  Allgemeinen  hat,  so  müssen 


636  Zusätze 

ihm  aiicli  sclion  die  Theilbegriffe  eigen  sein,  die  dem  Allgemeinen 
untergeordnet  «ind,  oder  er  muss  sie  wenigstens  ohne  äussere  Hilfe 
entwickeln  können.  Wenn  die  Idee  des  Raumes  schon  ursprünglich 
in  ihm  ist,  so  besitzt  er  auch  die  Vorstellung  der  3  räundichen 
Dimensionen  und  die  Vorstellung  ihrer  partiellen  und  gänzliclien 
Negation,  also  den  Begriff  des  Körpers,  der  Fläche,  der  Linie,  des 
Punktes,  und  ebenso  die  Vorstellung  der  durch  diese  Begriffe  be- 
stimmten besonderen  Raumgrössen,  der  verschiedenen  Linien,  Flächen 
und  Körper. 

Mit  der  Vorstellung  bestinunter  Raumgrössen  ist  zugleich  die 
Idee  der  Vielheit  und  Einheit,  der  Verschiedenheit  und  Gleichheit 
gegeben.  —  Aus  dem  allgemeinen  Begriffe  des  Raumes  und  der  Zeit 
entspringt  ferner  nothwendig  der  Begriff  der  Bewegung  und  zwar 
nicht  bloss  der  Bewegung  im  Allgemeinen ,  sondern  abermals  die 
Begriffe  aller  besonderen,  von  Raumgrössen  möglicher  Weise  aus- 
zuführenden Bewegungen.  —  Nach  dem  Gesetz  der  Gausalität,  das 
schon  ursprünglich  in  unserem  Verstände  wach  werden  soll,  hat  jede 
Ursache  eine  ihr  entsprechende  Wirkung  und  jede  Wirkung  setzt  eine 
entsprechende  Ursache  voraus.  Also  muss  auch  die  Bewegung  im 
allgemeinen  durch  eine  Ursache,  die  man  hier  Kraft  nennt,  und  jede 
besondere  Bewegung  durch  eine  Kraft  von  bestinunter  Grösse  und 
Richtung  bewirkt  werden  —  und  unser  Verstand  vermag  dies  alles 
aus  sich,  ohne  Zuthun  von  aussen,  zu  construiren. 

Somit  nmss,  wenn  es  angeborene  Ideen  gibt,  der  menschliche 
Geist  die  gesannnten  mathematischen  und  mechanischen  Wissen- 
schaften ohne  vorausgehende  sinnliche  Anschauung  entwickeln  können, 
—  und  soweit  möchte  wohl  Mancher  ])eistimmen ,  indem  er  die 
Apriorität  derErkenntniss  auf  die  formalen  Wissenschaften  beschränken 
zu  können  meint. 

Indessen  sind  hiemit  die  Consequenzen  in  der That  nicht  vollendet; 
sie  umfassen  vielmehr  auch  das  Gebiet  der  realen  Wissenschaften. 
Wenn  das  Causalgesetz  oder  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft 
Kräfte  voraussetzt,  die  eine  Wirkung  ausüben  und  Bewegungen  ver- 
anlassen, so  müssen  diese  Kräfte  auch  mit  den  besonderen  Raum- 
und  Zeitbegriffen  in  Beziehung  gesetzt  werden ;  sie  müssen  irgendwo 
und  irgendwann  wdrksam  werden;  sie  müssen  von  bestimmten  Raum- 
elementen (Punkten,  Linien,  Flächen,  Körpern)  ausgehen  und  andere 
Raumelemente  in  Bewegung  setzen. 


5.  Apriorität.  637 

Nun  ist  die  Physik  immer  mehr  zu  der  Gewissheit  gelangt,  dass 
alle  Erscheinungen ,  wenn  sie  hinreichend  analysirt  und  erkannt 
werden,  nur  aus  wirksamen  (positiven  oder  negativen)  Zugkräften  und 
aus  Bewegungen  hestehen.  Der  Unterschied  zwischen  den  formalen 
und  den  realen  Wissenschaften  besteht  eigentlich  nur  darin,  dass 
die  ersteren  einzelne  Begriffe  (Zahl,  Gestalt,  Kraft,  Bewegung)  von 
den  wirklichen  Dingen  ablösen  und  für  sich  betrachten,  während 
die  letzteren  die  Vereinigungen  der  einzelnen  Begriffe,  wie  sie  uns 
als  natürliche  Dinge  entgegentreten,  zum  Object  haben.  Die  formalen 
Wissenschaften  verhalten  sich  daher  zu  den  realen  Wissenschaften 
wie  das  Abstracte  zum  Concreten,  wie  das  Allgemeine  zum  Beson- 
deren ,  und  wie  das  Einfache  zum  Zusammengesetzten.  Wenn  der 
menschliche  Geist  die  ersteren  aus  sich  entwickeln  kann ,  so  muss 
er  aus  den  aprioristisch  gegebenen  Ideen  auch  die  letzteren  sammt 
ihrem  Inhalte  darstellen  können,  denn  in  der  Natur  ist  nichts  Denk- 
bares vorhanden,  welches  nicht  formell  aus  den  ihm  eigenthümlichen 
Begriffen  construirbar  wäre. 

Mit  dieser  unabweisbaren  Consequenz  ist  die  Naturwissenschaft 
theoretisch  auf  den  Kopf  gestellt  und  gewissermaassen  in  die  Natur- 
philosophie zurückgeworfen,  w'elche  in  aprioristischer  Ueberhebung 
vermeinte ,  die  Natur  in  Gedanken  erschaffen  zu  können ,  und  der 
Erfahrung  keine  andere  Aufgabe  überliess  als  diejenige,  ^ür  ihre 
Phantasiegebilde  die  entsprechenden  Realitäten  aufzusuchen. 

Die  Wissenschaft  von  den  realen  und  endlichen  Dingen  verträgt 
einmal  keine  dualistische  Auffassung.  Alles  steht  in  so  nothwendigem 
und  innigem  Zusammenhang ,  dass ,  wenn  ein  einziger  Begriff  oder 
ein  einziges  Gesetz  ohne  Erfahrung  gewonnen  wird,  auch  alle  andern 
derselben  nicht  bedürfen. 

Die  Frage ,  ob  es  angeborene  Ideen  gebe ,  ist  ferner  im  Lichte 
der  Entwicklungsphysiologie  zu  betrachten.  Dieselben  müssten  irgend- 
wie an  der  Substanz  des  Organismus  haften ;  sie  müssten  als  Kräfte 
oder  Bewegungen  materieller  Theilchen,  resp.  als  Combinationen  von 
solchen  vorhanden  sein.  Sie  müssten  entweder  seit  aller  Zeit  in 
der  organisirten  Substanz  enthalten  sein,  oder  sie  müssten  in  jedem 
Individuum  neu  entstehen,  und  in  diesem  Falle,  nach  dem  durch 
sie  selbst  gegebenen  Causalgesetz ,  durch  bestimmte  Ursachen  noth- 
wendig  hervorgebracht  werden.     Weder  das  Eine   noch   das  Andere 


638  Zusätze. 

scheint  mir  mit  einer  monistischen  Auffassung  der  endhchen  und 
messbaren  Natur  verträghch  zu  sein. 

Eigenthcli  ist  das  Neuentstehen  der  angeborenen  Ideen  in 
jedem  Individuum  schon  durch  den  auch  im  Namen  ausgedrückten 
Begriff  ausgeschlossen.  Doch  will  ich  weniger  Gewicht  auf  das 
Wort  »angeboren«  legen,  als  auf  den  Umstand,  dass  schon  vom 
ersten  Beginne  des  Individuums  an  die  aus  Eiweiss  bestehenden 
Substanzen,  die  späterhin  als  die  Träger  der  Ideen  angesehen  werden 
müssen ,  vorhanden  sind ,  und  dass  in  der  Entwicklungsgeschichte 
des  menscldichen  Individuums  sich  kein  so  wichtiger  Organisationsact 
vollzieht,  mit  dem  das  Auftreten  einer  absolut  neuen,  in  der  übrigen 
Natur  mangelnden  Q,ualität  vereinbar  wäre.  Die  angeborenen  Ideen 
müssten  also  nicht  nur  dem  Fötus,  sondern  auch  dem  unbefruchteten 
Keimbläschen  und  den  befruchtenden  Samenkörperchen  zukommen. 
Sie  müssten  ferner  auch  den  dem  Menschen  vorausgehenden  Thier- 
klassen  und  ihren  Entwicklungsstadien  angehören;  und  es  wäre  die 
Frage ,  ob  man  die  Pflanzen ,  ob  man  überhaupt  ein  Gebilde  mit 
lebendigen  Eiweissmolekülen  davon  freisprechen  könnte. 

Diese  Consequenz  lässt  sich  nicht  bestreiten ;  es  würde  als  ein 
Wunder  ersclieinen,  w^enn  an  irgend  einer  Stelle  einer  continuirlichen 
phylogenetischen  oder  ontogenetischen  Entwicklungsgeschichte  etwas 
principiell  Neues  auftreten  sollte,  und  mit  diesem  Wunder  wäre  das 
neuangeborene  Causalprincip  selbst  im  Widerspruch.  Kämen  aber  die 
aprioristischen  Ideen  jedem  eiweisshaltigen  Organismus  zu,  so  würden 
sie  sich  selbst  verneinen.  Sie  wären  wohl  ajirioristisch,  aber  sicher  nicht 
Ideen,  wie  man  sie  für  das  geistige  Bewusstsein  zu  bedürfen  meint. 

Wir  könnten  uns  noch  die  Frage  vorlegen,  was  wohl  geschehen 
möchte,  wenn  einem  Menschen  alle  sinnlichen  Eindrücke  mangelten. 
Ein  solcher  Mensch  müsste  blind  und  taub  geboren,  des  Geschmackes, 
Geruchs  und  des  Tastsinns  beraubt,  von  Lust  und  Schmerz  frei  sein. 
Er  würde  vegetiren  wie  eine  Pflanze.  Wäre  aber  sein  Gehirn  gehörig 
ausgebildet,  so  müsste  er  vermöge  der  angeborenen  Ideen  nicht  nur 
die  formalen  Wissenschaften,  sondern  aucli  die  Begriffe  der  realen 
Wissenschaften  construiren  können  und  es  würde  ihm  nur  das  Organ 
abgehen,  für  seine  Begriffe  die  entsprechenden  realen  Dinge  auf- 
zusuchen. Er  könnte  aber  ein  vollkommener  Mathematiker,  theo- 
retischer Mechaniker,  mathematischer  Physiker  werden.  Glaubt 
wohl  Jemand  an  eine  solclie  Möirliclikeit? 


f).   A Priorität.  639 

Die  Begriffe,  welche  eine  pliilosopliische  Anschauung  als  schon 
ursprünglich  in  uns  liegend  voraussetzt,  sind  die  allerallgemeinsten, 
die  wir  besitzen.  Die  entgegengesetzte  Anschauung,  die  ich  als  die 
naturwissenschaftliche  bezeichnen  will,  betrachtet  sie  als  die  letzten 
Producte  einer  langen  geistigen  Arbeit.  Sie  lässt  sie  entstellen  wie 
Alles,  was  in  der  Natur  entstellt,  durch  allmähliche  Veränderung, 
durch  stetige  Entwicklung  und  Vervollkoinmnung. 

Die  Idee  des  Raumes  z.  ß.  beginnt  im  Thier  und  Kinde  mit 
sinnlichen  Eindrücken,  welche  dadurch,  dass  sie  sich  wiederholen, 
verändern  und  combiniren,  allmählich  zu  bestimmteren  Vorstellungen 
führen.  Das  Thier  empfängt  nach  und  nach  eine  Menge  verschiedener 
sinnlicher  Wahrnehmungen  von  einem  Gegenstand.  Es  sieht  ihn 
anders,  wenn  es  sich  ihm  nähert  oder  von  ihm  entfernt;  es  sieht 
ihn  von  verscliiedenen  Seiten  und  mit  verschiedenen  optischen  Ein- 
drücken combinirt.  Es  nimmt  wechselnde  Geruchsempfindungen 
von  ihm  auf.  Derselbe  hemmt,  wenn  es  sich  allzusehr  nähert,  sein 
Fortschreiten ;  er  verursacht  ihm  Schmerz,  wenn  es  mit  einiger  Ge- 
schwindigkeit anstösst.  Das  Thier  lernt  allmählich  den  Gegenstand 
umgehen  und  den  Anstoss  vermeiden.  Dient  er  ihm  als  Nahrung, 
so  lernt  es  ihn  aufsuchen  und  erfassen,  indem  die  sich  steigernden 
Gesichts-,  Geruchs-  und  Gehörsempfindungen  ihm  von  der  Annäherung 
Kunde  geben.  Solche  sich  täglich  wiederholende  Vorgänge  bewirken 
nach  und  nach  selbst  bei  den  niedersten  Thieren  einzelne,  wenn  auch 
noch  so  unklare  räumliche  Vorstellungen.  Diese  Vorstellungen  werden 
mit  der  höheren  Entwicklung  des  Thierreiches  intensiver,  deutlicher 
und  mannigfaltiger,  bis  sie  sich  im  Menschen  und  selbst  schon  in 
den  höchsten  Thieren  zum  räumlichen  Bewusstsein  steigern.  Das 
Bewusstsein  des  Begriffes  Raum  als  reiner  Abstraction  ist  aber  die 
letzte  Stufe,  die  von  der  grossen  Mehrzahl  der  Menschen  gar  nicht 
erreicht  wird ,  und  es  scheint  mir  des  Umgekehrte  des  wirklichen 
und  naturgemässen  Vorganges  zu  sein ,  wenn  man  diesen  Begriff 
schon  als  vor  aller  Erfahrung  vorhanden  annimmt. 

Was  man  als  Beweise  für  die  Apriorität  der  Idee  des  Raumes 
ausgibt,  sind  doch  eigentlich  nichts  als  Behauptungen,  die  erst  be- 
wiesen werden  müssten,  und  die  man  jedenfalls  mit  ebenso  viel 
Recht  beanstanden  kann.  Es  sind  vorzüglich  drei  Beweisgründe, 
welche  seit  Kant  von  den  Philosophen  geltend  gemacht  werden. 


(^4(_)  Zusätze. 

Der  eine  Beweisgrund  beruft  sich  auf  die  Aprioritcät  des  Causal- 
gesetzes,  in  welchem  schon  die  Idee  des  Raumes  enthalten  sei.  Ich 
werde  nachher  auf  die  Ursprünglichkeit  dieses  Gesetzes  zurück- 
kommen. 

Der  andere  Beweisgrund  sagt,  dass  wir  die  Eigenschaften 
des  Raumes  erkennen,  ohne  dazu  der  Erfahrung  zu  bedürfen,  und 
dies  wäre  ja  unmöglich,  wenn  der  Raum  ein  Attribut  der  Dinge 
wäre  und  nicht  bloss  unserem  Vorstellungsvermögen  angehörte.  Man 
stellt,  wie  es  bei  den  allgemeinsten  Streitfragen  nicht  selten  geschieht, 
um  eine  Behauptung  glaubhaft  zu  machen,  eine  andere  tautologische 
Behauptung  auf.  Denn  den  Begriff  des  Raumes  erkennen  und  seine 
Eigenschaften  erkennen  ist  doch  das  Nämliche,  da  der  Begriff  eben 
yuf  den  Eigenschaften  beruht.  Man  nimmt  hiebei  die  Mathematik 
in  Anspruch,  wo  räumliche  Begriffe  a  priori  entwickelt  werden  sollen. 
Dass  aber  die  Mathematik  nichts  Ursprüngliches  voraussetzt,  sondern 
mit  den  allerallgemeinsten  Abstractionen  der  Erfahrung  beginnt, 
habe  ich  bereits  in  dem  ersten  Theil  dieses  Zusatzes  zu  zeigen 
gesucht. 

Ein  dritter  Beweisgrund  soll  endlich  der  sein,  dass  man  alle  Dinge 
wegdenken  könne,  nur  nicht  Raum  und  Zeit;  also  könnten  diese  Be- 
griffe nicht  dem  Ob] ect,  sondern  nur  dem  denkenden  Subject  angehören. 
Ich  meine  gerade,  dass,  wenn  ich  alle  einzelnen  Dinge  der  Welt  weg- 
denke und  mir  vorstelle,  dass  nichts  existire,  dann  auch  Raum  und 
Zeit  al)handen  gekommen  sind.  Mit  diesen  Begriffen  verhält  es  sich  ja 
wie  mit  jeder  Abstraction.  Wir  haben  das  Vermögen,  einzelne  Eigen- 
schaften, die  für  sich  keinen  realen  Bestand  haben,  von  den  Dingen 
in  Gedanken  zu  trennen,  ohne  dass  wohl  jemand  behaupten  möchte, 
alle  diese  Abstractionen  liegen  schon  ursprünglich  und  unabhängig 
von  den  Objecten  in  unserem  Geiste.  Wir  denken  alle  einzelnen 
Farben,  alle  Töne  der  Tonleiter  hinweg  und  es  bleiben  uns  doch 
die  allgemeinen  Begriffe  der  Farbe  und  des  Tons;  wir  abstrahiren 
von  allen  besonderen  Thier-  und  Pflanzenarten  und  halten  bloss  die 
allgemeinen  Begriffe  Thier,  Pflanze,  Organismus  fest.  Ganz  das 
Nämliche  findet  statt,  wenn  wir  die  Begriffe  Raum  und  Zeit  ge- 
winnen. Alle  Abstractionen  gehören  nicht  den  Dingen  als  solchen, 
aber  auch  nicht  dem  denkenden  Sul)ject  an,  sondern  bestehen  bloss 
als  Beziehungen  zwischen  Object  und  Subject.  Zeit  und  Raum  unter- 
scheiden sich  nicht  prineipiell,  sondern  nur  gradweise  von  den  übrigen 


5.  Apriorität.  641 

abstracten  ^"orstellungen ;  es  sind  die  allerallgemeinsten  Abstractionen 
und  daher  lässt  man  sich  leichter  über  ihre  wahre  Natur  täusclien, 
als  es  bei  den  andern  allgemeinen  Begriffen  möglich  wäre. 


Wie  mit  der  Ursprünglichkeit  des  Raumbegriffes  verhält  es  sich 
mit  der  Apriorität  der  übrigen  allgemeinsten  Vorstellungen,  nament- 
lich auch  mit  derjenigen  des  Causalgesetzes ,  welche  ich  noch  ein- 
gehender besprechen  will.  Auch  hier  ist  es  zweckmässig,  zuerst 
einen  entwicklungsgeschichtlichen  Ueberblick  zu  gewinnen.  Jedes 
Ding  in  der  Natur,  von  den  Aethertheilchen  und  den  Atomen  der  wäg- 
baren Stoffe  an,  wird  durch  Ursachen,  die  ihm  äusserlich  sind,  afficirt. 
Die  Pflanze  wendet  sich  dem  Lichte  zu  und  richtet  sich  in  einer 
der  Gravitation  entgegengesetzten  Richtung  auf.  Das  Thier,  von  dem 
niedrigsten  an,  wird  in  seinen  Handlungen  durch  äussere  Einwirkungen 
bestimmt;  aber  das  Gefühl  des  ursächlichen  Zusammenhanges  ist 
im  Thierreich  noch  sehr  unbestimmt.  Es  steigert  sich  im  Menschen 
und  gelangt  nach  langer  Erfahrung  und  Uebung  allmählich  zum 
Bewusstsein.  Das  volle  und  klare  Bewusstsein  des  allgemeinen  Cau- 
salitätsgesetzes  aber  kommt  nur  in  sehr  wenigen  Menschen  zum 
Durchbruch,  so  dass  selbst  die  Mehrzahl  der  Naturforscher  es  da 
oder  dort  verläugnen,  und  dass  mehrere  Physiker  erst  in  neuerer 
Zeit  es  in  der  Form  des  Gesetzes  von  der  Erhaltung  der  Kraft  ent- 
deckt zu  haben  glauben. 

Diese  Thatsachen  müssten  mehr  als  befremden ,  wenn  die  Idee 
des  Causalitätsj)rincips  angeboren  wäre.  Ebensowenig  würden  wir 
begreifen,  warum  gerade  Ursache  und  Wirkung  so  häufig  verwechselt 
werden ,  sodass  mit  Ausnahme  derjenigen  Gebiete ,  in  denen  man 
recht  eigentlich  eingeschult  ist,  es  in  allen  übrigen  Gebieten  für  die 
Mehrzald  der  Sterblichen  geradezu  als  Lotterie  bezeichnet  werden 
muss,  ob  sie  bei  der  Bezeichnung  dessen,  was  Ursache  und  was 
Wirkung  ist,  das  Rechte  treffen  oder  nicht. 

Mit  Rücksicht  auf  die  entwicklungsgeschichtlichen  Thatsjichen 
sowohl  der  ganzen  organischen  Welt  als  des  Individuums  wäre  es 
für  die  Klärung  der  Streitfrage  ungemein  förderlich,  wenn  die  Ver- 
fechter der  Apriorität  angeben  wollten,  welchen  Geschöpfen  der  in- 
härente  Causalitätsbegriff   zukomme,    welchen    nicht.     Diese   Unter- 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  41 


642  Zusätze. 

suchung  müsste  ihnen  selber  die  Ucberzeugung  aufdrängen,  dass  sein 
Auftreten  auf  keiner  Stufe  der  Entwickkingsgeschichte  möghch  ist, 
sondern  dass  er  ganz  alhnähhch  mit  den  vollkommener  werdenden 
Vorstellungen  von  den  objectiven  Dingen  aus  einem  unbestimmten 
Gefühl  zum  klaren  Begriff  herauswächst. 

Bis  die  Anhänger  des  angeborenen  Causalprincips  sich  auf  die 
naturwissenschaftliche  Erörterung  einlassen,  wo  dasselbe  im  natür- 
lichen Entwicklungsgange  zuerst  auftrete  und  woraus  es  werde,  da 
doch  alles  wirklich  Bestehende  seine  natürliche  Ursache  haben  muss,  — 
l)leiben  wir  auf  die  Versuche  einer  philosophischen  Begründung  an- 
gewiesen. Ich  halte  mich  hiebei  an  die  Ausführungen  von  Helm- 
h  o  1 1  z ,  der  wohl  in  der  treffendsten  und  dem  naturwissenschaftlichen 
Bewusstsein  am  meisten  zusagenden  Weise  die  Apriorität  verfochten 
hat.  Wenn  derselbe  sagt:  »Es  ist  klar,  dass  wir  aus  der  Welt  unserer 
Empfindungen  zu  der  Vorstellung  von  einer  Aussenwelt  niemals 
kommen  können ,  als  durch  einen  Schluss  von  der  wechselnden 
Empfindung  auf  äussere  Objecte  als  die  Ursachen  dieses  Wechsels  .... 
Demgemäss  müssen  wir  das  Gesetz  der  Causalität,  vermöge  dessen 
wir  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  schliessen,  auch  als  ein  aller 
Erfahrung  vorausgehendes  Gesetz  unseres  Denkens  anerkennen«,  — 
so  ist  der  Nachsatz  nicht  eine  nothwendige  Consequenz  des  Vorder- 
satzes, wohl  aber  eine  durch  denselben  eingeräumte  Möglichkeit,  eine 
erlaubte  Hypothese.  Er  könnte  ebenso  gut  lauten :  Demgemäss  müssen 
wir  das  Vermögen,  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  zu  schliessen, 
durch  Erfahrung  erlangen  können.  Ob  die  eine  oder  die  andere 
Hypothese  in  der  Wirklichkeit  begründet  sei,  ist  durch  anderweitige 
Betrachtungen  zu  entscheiden. 

Es  springt  in  die  Augen,  dass  in  den  beiden  eben  angeführten 
möglichen  Schlusssätzen  dem  Worte  »Erfahrung«  eine  ungleiche  Be- 
deutung beigelegt  wird.  Wenn  Helmholtz  das  Denkgesetz  der 
Causalität  vor  alle  Erfahrung  setzt,  versteht  er  unter  Erfahrung 
eben  die  Vorstellung  der  äusseren  Objecte  oder  den  Schluss  von  der 
Empfindung  auf  das  Ding,  welches  die  Empfindung  verursachte. 
Wenn  ich  dagegen  das  Denkgesetz  aus  der  Erfahrung  entstanden 
ansehe,  so  verstehe  ich  unter  Erfahrung  jede  Empfindung,  die  eine 
Erinnerung  zurücklässt  und  somit  bei  neuen  Empfindungen  und 
Willensäusserungen,  ebenso  bei  der  erwachenden  Verstandesthätigkeit 
als  Erfahrung  benutzt  werden  kann. 


f).  Apriorität.  643 

Es  würde  sehr  lohrroieh  sein ,  die  beiden  entgegengesetzten 
Schlussfolgerungen  mit  den  geistigen  Erscheinungen  auf  den  ver- 
schiedenen Stufen  des  Thicrreiches  und  in  den  verschiedenen  Ent- 
wicklungsstadien des  menschhchen  Individuums  zu  vergleichen.  Ich 
will  dies  nicht  versuchen  und  bloss  bezüglich  meiner  Ansicht  Fol- 
gendes beifügen.  Schon  das  Infusorium  macht  Erfahrungen,  indem 
die  äusseren  Einflüsse,  die  auf  dasselbe  einwirken,  mehr  oder  weniger 
bemerkbare  Erinnerungsspuren  hinterlassen.  Insofern  verhält  es  sich 
der  Aussenwelt  gegenüber  etwas  anders  als  die  Pflanze,  welche  zwar 
ebenfalls  durch  jeden  äusseren  Anstoss  einen  für  ihr  ferneres  Leben 
wirksamen  Eindruck  erhält;  aber  dieser  Eindruck  ist  nicht  mit  Er- 
innerung verbunden  und  kann  sich  nicht  zu  geistigem  Leben  steigern. 
Das  dunkle  Gefühl  einer  Aussenwelt,  das  in  dem  Infusorimn  beginnt, 
wird  bei  den  höheren  Thierklassen  lebhafter,  klarer,  bewusster  und 
ffelangt  beim  Menschen  zum  vollen  Bewaisstsein.  Indem  niederen  Thier 
steckt  ein  Minimum,  gleichsam  ein  Difierenzial  von  geistigem  Leben, 
M-elches  durch  die  Thierklassen  hindm^ch  bis  zu  den  fortgeschrittensten 
Menschen  zur  klaren  Verstandesthätigkeit  integrirt  wird.  Diese  ist 
wie  jede  Qualität  in  der  Natur  nicht  auf  einmal  gegeben,  sondern 
durch  quantitative  Steigerung  allmählich  geworden;  ich  verweise 
hierüber  auf  den  Zusatz  7  über  Qualität  in  der  Natur. 

Ich  möchte  somit  entgegen  der  Theorie,  dass  der  Causalitäts- 
begriff  selbst  schon  in  der  menschlich  organisirten  Substanz  ent- 
halten sei,  derselben  nur  die  Fähigkeit  zugestehen,  durch  eine 
Reihe  allmählicher  Stufen  von  der  ersten  Empfindung  an  bis  zu 
demselben  zu  gelangen,  und  diese  Fähigkeit  naturgemäss  in  dem 
Umstände  begründet  finden,  dass  wir  selber  ein  Stück  Natur  sind, 
und  dass  die  Eindrücke,  die  wir  von  aussen  aufnehmen  und  ver- 
arbeiten, in  unserem  Nervensystem  räumlich,  zeitlich  und  causal- 
gesetzlich  verlaufen,  weshalb  auch  das  Denken,  wenn  es  richtig  von 
statten  geht,  zu  der  Erkenntniss  von  dem  causalen  Zusammenhang, 
sowie  von  Raum  und  Zeit  führen  muss. 

Diese  Erkenntniss  ist  nun,  wie  unbedingt  zugestanden  werden 
muss,  nicht  eine  Frucht  wissenschaftlicher  inductiver  Forschung, 
wde  denn  auch  Helmholtz  mit  Recht  betont,  »dass  es  mit  dem 
empirischen  Beweise  des  Gesetzes  vom  zureichenden  Grunde  äusserst 
misslich  aussehe;  denn  die  Zahl  der  Fälle,  wo  wir  den  causalen 
Zusammenhang  von  Naturprocessen  vollständig  glauben  nachweisen 

41* 


(344  Zusätze. 

zu  können,  sei  verhältiiissmässig  gering  gegen  die  Zahl  derjenigen, 
wo  wir  dazu  durchaus  noch  nicht  im  Stande  sind.«  Daraus  folgt 
aber  keineswegs  die  Nothwendigkeit ,  einen  inneren  Ursprung  des 
Gesetzes  anzunehmen.  Die  Ueberzeugung  von  der  Richtigkeit  all- 
gemeiner Wahrheiten  kommt  uns  wohl  nie  durch  strenge  wissen- 
schaftliche Induction ,  sondern  durch  die  populäre  Erfahrung  von 
Jahrhunderten  und  Jahrtausenden.  Je  allgemeiner  und  einfacjher 
die  Wahrheit  ist,  um  so  weniger  bedarf  sie  des  exacten  empirischen 
Beweises,  um  die  Zustimmung  Aller  zu  gewinnen.  Die  Annahme, 
dass  jedes  Ding  in  dem  Zustande,  in  dem  es  sich  befindet,  beharre, 
wenn  es  nicht  durch  eine  Ursache  verändert  wird ,  und  dass  der 
Grad  der  A'eränderung  dem  Maass  der  Ursache  entspreche,  wird  als 
allgemein  gültiges  Gesetz  betrachtet,  nicht  weil  dasselbe  durch  Ver- 
suche und  Rechnung  sich  bewährt  hat,  sondern  weil  unsere  ganze 
Erfahrung  von  jeher  damit  übereinstimmte,  —  weil  wir  von  jeher 
wissen ,  dass  alles  unverändert  und  unverrückt  auf  seinem  Platze 
bleibt,  es  werde  denn  durch  eine  bemerkbare  Ursache  innerlich  oder 
äusserlich  in  Bewegung  gesetzt,  w^eil  war  wissen,  dass  wdr,  um  einen 
Gegenstand  zu  verschieben,  um  so  mehr  Kraft  aufwenden  müssen, 
je  grösser  und  schwerer  er  ist,  dass  seine  Zertrümmerung  um  so 
mehr  Gewalt  erfordert,  je  fester  sein  Zusammenhang. 

Gerade  deswegen,  weil  wir  uns  seit  dem  ersten  Erwachen  des 
Denkens  in  das  ursächliche  Geschehen  aller  Dinge,  die  auf  uns 
einwirken,  eingelebt  haben,  beachten  wir  gar  nicht,  wie  wir  zu  der 
Vorstellung  vom  Beharrungsvermögen  und  vom  zureichenden  Grund 
der  Veränderung  gelangt  sind,  und  wir  werden  leicht  veranlasst, 
als  ein  in  unserem  Geiste  liegendes  Gesetz  vorauszusetzen,  was  uns 
unbewusst  von  aussen  aufgedrängt  wurde. 

Uebrigens  ist  die  Erkenntniss  von  dem  ursächlichen  Geschehen 
zuerst  nicht  als  solche,  sondern  gemeinsam  mit  der  Erkenntniss  der 
Analogie  oder  vielmehr  nach  derselben  erlangt  worden.  Wir  ge- 
wöhnten uns ,  ein  Ereigniss  mit  um  so  grösserer  Sicherheit  wieder 
zu  erwarten,  je  öfter  es  sich  bereits  wiederholt  hatte,  wie  den  Auf- 
gang der  Sonne,  den  Wechsel  der  Jahreszeiten,  das  Sprossen  im 
Frühjahr  und  das  Welken  im  Her])st,  das  Reifen  der  Frucht  aus 
der  Blüthe.  Von  einem  Bestimmtwerden  unseres  Verstandes  durch 
das  angeborene  Causalgesetz  konnte  in  den  meisten  Fällen  nicht 
die  Rede  sein .    f1a  der  ursächlicho  Zusammenhang   unbekannt   und 


5.  Apriorität.  645 

fraglich  war.  Ist  doch  che  Analogie  die  maassgebende  Grundlage 
der  besclireibenden  Naturwissenschaften  geworden,  indem  man  sich 
lediglich  an  die  Erfahrung  hielt  und  nach  der  ursächlichen  Be- 
gründung nicht  einmal  fragte.  —  Die  Regelmässigkeit  der  Erfahrungen 
bewirkte  also  zunächst  nur  eine  Gewöhnung,  und  erst  als  es  sich 
durch  neue  Erfahrungen  ergab,  dass  diese  Regelmässigkeit  in  manchen 
Fällen  nur  beim  Zusammentreffen  mit  anderen  Ereignissen  sich  be- 
währt, dass  sie  in  anderen  Fällen  modificirt  wird,  und  dass  dabei 
die  Grösse  und  Beschaffenheit  der  Veränderung  von  bestimmten 
Umständen  bedingt  wird,  entwickelte  sich  aus  der  Erkenntniss  der 
Analogie  diejenige  der  Causalität. 

Die  Af)riorität  wird  von  Helmholtz  noch  durch  folgenden 
bemerkenswerthen  Ausspruch  verfochten:  »Endlich  trägt  das  Causal- 
gesetz  den  Charakter  eines  rein  logischen  Gesetzes  auch  w^esentlich 
darin  an  sich,  dass  die  aus  ihm  gezogenen  Folgerungen  nicht  die 
Avirkliche  Erfahrung  betreffen,  sondern  deren  Verständniss,  und  dass 
es  deshalb  durch  keine  mögliche  Erfahrung  je  widerlegt  werden  kann. 
Denn  wenn  wir  irgendwo  in  der  Anwendung  des  Causalgesetzes 
scheitern,  so  schliessen  wir  daraus  nicht,  dass  es  falsch  sei,  sondern 
nur,  dass  wir  den  Complex  der  bei  der  betreffenden  Erscheinung 
mitwirkenden  Ursachen  noch  nicht  vollständig  kennen.« 

Es  ist  klar,  dass  die  gemachten  Beobachtungen  in  unserem 
Geiste  nur  eine  dem  Verständnisse  entsprechende  Gestalt  annehmen. 
Deswegen  kann  die  nämliche  Beobachtung  bei  verschiedenen  Indi- 
viduen und  in  verschiedenen  Perioden  sehr  ungleiche  A^'orstellungen 
hervorbringen.  Wenn  aber  auch  Alle  übereinstimmen,  so  ist  des- 
wegen ein  Widerspruch  zwischen  dem  wirklichen  Geschehen  und 
unserer  Deutung,  also  ein  Irrthum,  nicht  ausgeschlossen.  Es  hängt 
nun  alles  davon  ab,  ob  die  Frage :  Unter  welchen  Bedingungen  muss 
die  objective  Wirklichkeit  und  die  subjective  Auffassung  derselben 
sich  decken?  einer  Lösung  fähig  ist  oder  nicht.  Die  Wissenschaft 
nimmt  im  allgemeinen  an,  dass  dies  möglich  sei,  und  sie  spricht  von 
Thatsache  und  Naturgesetz,  wo  sie  voraussetzt,  dass  unser  Verständ- 
niss der  w^irklichen  Erfahrung  entspreche,  von  Hypothese,  wo  dies 
zweifelhaft  ist. 

Wir  müssen  Identität  zwischen  der  Wirklichkeit  und  unserer 
Vorstellung  immer  dann  in  Anspruch  nehmen,  wenn  überhaupt  nur 
eine  einzige  Vorstellung  möglich  ist,   oder  wenn   alle  anderen  Vor- 


646  Zusätze. 

Stellungen  als  unmöglich  dargethan  werden.  So  ist  beispielsweise 
für  die  Bewegungen  der  Himmelskörper  nur  die  Vorstellung  möglich, 
welche  die  Astronomie  davon  erlangt  hat,  und  die  Behauptung  wäre 
ganz  unmöglich,  dass  die  Bewegungen  gar  nicht  oder  dass  sie  in 
anderer  Weise  vor  sich  gingen.  Die  Prüfung,  ob  unser  Verständniss 
mit  der  wirklichen  Erfahrung  harmonire,  gelingt  um  so  sicherer,  je 
allgemeiner  und  einfacher  die  Vorstellung  ist,  wie  gerade  diejenige 
über  den  causalen  Zusammenhang.  Dass  in  der  Natur  Gesetz- 
mässigkeit und  nicht  etwa  das  Gegentheil,  Willkür  und  Regellosig- 
keit, herrsche,  darüber  kann  doch  wohl  kaum  ein  Zweifel  bestehen, 
und  jedenfalls  Hesse  es  sich  gegenüber  einem  Widerspruche  in  der 
strengsten  Art  beweisen.  Der  Ausdruck  für  diese  Gesetzmässigkeit 
lautet  in  naturwissenschaftlicher  Form,  dass  in  einem  System  materi- 
eller Theilchen  die  Summe  der  Energien  nicht  behellig  wechselt.  Es 
wäre  nun  noch  möglich ,  entweder ,  dass  dieselbe  gleich  bleibt,  was 
man  als  Causalgesetz  bezeichnet,  oder  dass  sie  sich  stetig,  sei  es  in 
zunehmendem  sei  es  in  abnehmendem  Sinne,  ändert.  Die  letztere 
Annahme  könnte  man  um  so  eher  als  logisches  Gesetz  in  Anspruch 
nehmen,  da  sie  bestimmten  philosophischen  Theorien  entgegenkäme. 
Sie  ist  aber  gegenüber  der  Erfahrung  nicht  haltbar;  es  bleibt  uns 
somit  nur  eine  einzige  Deutung ,  und  wir  dürfen  behaupten ,  dass 
bezüglich  des  Causalgesetzes  Verständniss  oder  Vorstellung  und  wirk- 
liches Geschehen  identisch  sind. 


Ich  habe  in  den  bisherigen  Auseinandersetzungen  als  selbst- 
verständlich angenommen,  dass  die  äussere  Welt,  die  uns  umgibt, 
wirklich  besteht,  dass  wir  selber  ihr  als  Theile  nach  Raum  und 
Zeit  angehören,  dass  wir  von  ihr  durch  unsere  Sinne  subjectiv  modi- 
ficirte  Eindrücke  erhalten  und  mit  der  fortschreitenden  Erkenntniss 
das  Subjective  an  diesen  Eindrücken  immer  mehr  abzustreifen  und 
das  wahre  Wesen  der  Dinge  zu  erfassen  vermögen.  Es  wird  nun 
aber  mit  der  Frage  über  die  Apriorität  der  Erkenntnisse  wohl  auch 
die  Streitfrage  über  die  Wirklichkeit  der  objectiven  Natur,  wie  sie 
unserer  Vorstellung  zugänglich  ist,  verbunden  und  die  eine  als  durch 
die  andere  bedingt  dargestellt,  wie  dies  gewissermaassen  schon  in  der 
zuletzt  erwähnten  Aeusserung  von  Helm  holt  z  der  Fall  war. 


5.  Apriorität.  647 

Der  Physiologe  wird  unbedingt  zugeben,  dass  unsere  sinnlichen 
Wahrnehmungen,  Farben,  Töne,  Geruchs-,  Geschmacks-  und  Tast- 
empfindungen ebensowolil  deniSuljject  als  dem  Object  angehören,  dass 
die  Dinge  an  sich  nicht  warm  und  nicht  kalt,  nicht  süss  oder  sauer, 
nicht  fest  oder  weich ,  nicht  schwer  oder  leicht  sind.  Wenn  aber 
Helmholtz  sagt:  »Jede  Wirkung  hängt  ihrer  Natur  nach  ganz 
noth wendig  ab  sowohl  von  der  Natur  des  Wirkenden  als  von  der 
desjenigen,  auf  welches  gewirkt  wird.  Eine  Vorstellung  verlangen, 
welche  unverändert  die  Natur  des  Vorgestellten  wiedergäbe,  also  in 
absolutem  Sinne  wahr  wäre,  würde  heissen  eine  Wirkung  verlangen, 
welche  vollkommen  unabhängig  wäre  von  der  Natur  desjenigen 
0]:)jects,  auf  welclies  eingewirkt  wird,  was  ein  handgreiflicher  Wider- 
spruch wäre«,  —  so  ist  dieser  Schluss  richtig  für  den  Fall,  dass 
dem  Subject,  welches  die  Wirkung  empfängt,  eine  andere  Natur 
zukommt  als  dem  Object,  von  dem  die  Wirkung  ausgeht.  Er  hat  aber 
keine  Gültigkeit,  wenn  beide  die  gleiche  Natur  besitzen,  wenn  das 
Subject  ein  Theil  des  Ganzen  ist,  das  ihm  als  Object  bloss  scheinbar 
gegenüber  steht.  Der  Schluss  ist  richtig  für  eine  dualistische,  nicht 
aber  für  die  monistische  Naturbetrachtung,  welche  nach  meiner 
Meinung  im  Gebiete  des  Endlichen  allein  logisch  zulässig  ist. 

Wenn  Helmholtz  aus  der  eben  erwähnten  Betrachtung  weiter 
folgert,  »dass  es  gar  keinen  möglichen  Sinn  haben  könne,  von  einer 
andern  Wahrheit  unserer  Vorstellungen  zu  sprechen,  als  von  einer 
praktischen;  dass  unsere  Vorstellungen  von  den  Dingen  gar 
nichts  anderes  sein  könnten  als  Symbole,  welche  wir  zur  Regelung 
unserer  Bewegungen  und  Handlungen  benutzen  lernen«,  —  so  scheint 
mir  dies  doch  ein  allzuhoher  Grad  von  Skepsis,  ich  möchte  fast 
sagen  von  wissenschaftlichem  Pessimismus.  Ursprünglich  sind  ja 
alle  Vorstellungen  symbolisch  und  sie  können  selbst  in  der  weitest 
gehenden  wissenschafthchen  Verarbeitung  eine  durchaus  symbolische 
Form  behalten,  wie  dies  beispielsweise  mit  manchen  Gebieten  der 
mathematischen  Physik  (einige  Partien  der  mechanischen  AVärme- 
lehre  und  der  Optik,  sowie  die  Astronomie  machen  eine  vortheil- 
hafte  Ausnahme)  der  Fall  ist.  Aber  die  wissenschaftliche  Betrachtung 
emancipirt  sich  von  der  Symbolik  und  dringt  von  der  subjectiven 
Annahme  zur  objectiven  Gewissheit  vor,  wenn  die  letztere  entweder 
direct  bewiesen  oder  als  die  einzige  Möglichkeit  dargethan  werden 
kann. 


648  Zusätze. 

Die  Chemie  in  Verbindung  mit  der  mechanischen  Wärmetheorie 
beweist  die  objective  Existenz  von  Molekülen  der  wägbaren  Sub- 
stanzen, die  aus  Atomen  der  chemischen  Elemente  zusammengesetzt 
sind.  In  Verbindung  damit  beweisen  die  Wärmelehre  und  die  Optik 
die  objective  Existenz  der  einer  andern  Grössenordnung  angehörenden 
Aethertheilchen,  aus  denen  die  den  Weltenraum  erfüllende  und  die 
wägbaren  Körper  durchdringende  Substanz  besteht.  Wir  befinden 
uns  nun  auf  dem  sicheren  Wege  zur  objectiven  Erkenntniss,  wenn 
es  gelingt,  unsere  anfänglichen  Symbole  auf  einfache  Beziehungen  der 
kleinsten  Theilchen  zurückzuführen,  und  wir  müssen  sie  als  erreicht 
ansehen,  wenn  diese  Beziehungen  in  die  einzig  mögliche  Form  ge- 
bracht sind.  Allerdings  dürfen  diesen  Betrachtungen  nicht  will- 
kürhch  gedachte  kleinste  Theilchen  oder  Massendifferenziale  zu  Grunde 
gelegt  werden,  sondern  nur  die  wirklich  existirenden  Theilchen,  die 
chemischen  Atome  mit  den  ihnen  zukommenden  verschiedenen  Eigen- 
schaften und  die  Aethertheilchen.  So  wird  die  Wissenschaft  dereinst 
als  moleculare  Physik  des  Organischen  und  Unorganischen  zu  objec- 
tiver  Wahrheit  werden. 

Die  blaue  Farbe,  mit  der  die  Kornblume  geschmückt  ist,  wird 
durch  Schwingungen  der  Aethertheilchen  hervorgebracht,  welche  sich 
in  der  Secunde  700  Billionen  mal  wiederholen ,  während  das  Roth 
des  Ackermohns  durch  500  Billionen  Schwingungen  zu  Stande  kommt. 
Sind  die  Aetherschwingungen  langsamer,  so  bewirken  sie  das  Gefühl 
von  Wärme.  Unser  Ohr  hat  die  Tonempfindung  des  eingestrichenen 
c,  wenn  die  Moleküle  der  Luft  264  Schwingungen  in  der  Secunde 
machen,  während  die  anderthalbfache  Schwingungszahl  den  har- 
monischen Ton  der  Quinte  und  die  doppelte  Schwingungszahl  die 
Octave  bewirkt.  Die  verschiedenen  Zustände,  in  denen  wir  das  Wasser 
kennen,  als  festes  Eis,  als  Flüssigkeit  und  als  gasförmigen  Wasser- 
dampf, und  die  man  früher  als  ebensoviele  Elemente  unterschied, 
sind  nichts  anderes  als  verschiedene  Bewegungszustände  der  nämlichen 
Wassermoleküle. 

So  gelingt  es,  die  mannigfaltigen  Symbole,  als  welche  sich 
zunächst  die  Dinge  und  ihre  Eigenschaften  uns  darstellen,  auf  ein 
einheitliches  Maass  zurückzuführen ;  und  die  praktische  oder  sub- 
jective  Wahrheit,  die  den  anfänglichen  rohen  Vorstellungen  allein 
zukommt,  muss  um  so  mehr  eine  theoretische  und  objective  werden, 
je  mehr  dieselben  die  scheinbaren  Qualitäten  der  sinnlichen  Wahr- 


5.  Ai^riorität.  649 

nehmung  abgestreift  mul  die  Form  der  einfachsten  quantitativen 
Unterschiede,  die  unmöglich  eine  ^vcitere  Zerlegung  in  Componenten 
zulassen,  angenommen  haben. 

Wir  können  geradezu  sagen,  dass  unsere  Vorstellungen  von  den 
Dingen  so  lange  s3Tnbolisch  bleiben ,  als  sie  für  uns  in  der  Form 
von  Qualitäten  erscheinen,  und  dass  sie  der  Wirklichkeit  entsprechen, 
sobald  die  Qualitäten  in  Quantitäten  aufgelöst  sind^).  Alle  endlichen 
Erscheinungen  bestehen  aus  Bewegungen  grösserer  und  kleinerer 
Massen ;  jede  Bewegung  aljer,  —  mag  es  die  Drehung  der  Erde  um 
ihre  Achse,  oder  die  Bahn  derselben  um  die  Sonne  und  die  Bahn 
der  Gasmoleküle ,  oder  die  Schwingung  des  Pendels ,  der  Atome  in 
den  Molekülen  und  die  Schwingung  der  Aethertheilchen  sein,  — 
hat  für  uns  nicht  bloss  praktische  oder  symbolische,  sondern  reale 
und  objective  Wahrheit. 

Es  gibt,  wie  ich  bereits  angedeutet  habe,  ein  Moment,  welches 
der  philosophischen  Theorie,  dass  die  allgemeinsten  A^orstellungen 
und  Gesetze  schon  ursprünglich  unserem  Geiste  angehören ,  einiger- 
maassen  entgegenkommt.  Die  Uebereinstimmung  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung und  der  inneren  geistigen  Vermittlung  mit  den  bewirkenden 
Objecten  beruht  für  den  Monismus  der  endlichen  Welt  darin,  dass 
in  uns  die  nämlichen  Kräfte  thätig  sind  und  die  nämlichen  Gesetze 
herrschen,  wie  in  den  Dingen  ausser  uns.  Es  kann  daher  das  Bild, 
das  unsere  Sinne  uns  geben,  dem  Object  nicht  widersprechen,  und 
die  weiteren  Umbildungen,  die  dasselbe  beim  ürtheilen  erfährt, 
müssen  dem  wahren  Wesen  des  Objects  immer  näher  kommen. 
Dies  ist  die  naturwissenschaftliche  Erklärung  des  Factors,  welcher 
nach  Kant  in  aller  Erkenntniss  sich  findet  und  welcher  nicht  von 
der  äusseren  Einwirkung,  sondern  von  dem  Subject  abzuleiten  sei, 
weswegen  er  als  nothwendig  und  beständig  erscheine.  —  Die  Be- 
wegungen der  materiellen  Theilchen,  wodurch  unsere  Vorstellungen 
und  unsere  Urtheile  zu  Stande  kommen,  verlaufen  in  Zeit  und  Raum 
und  erfolgen  nach  mechanischen  Gesetzen,  also  in  streng  causaler 
Weise.  Die  sinnlichen  AVahrnehmungen ,  die  wir  von  aussen  auf- 
nehmen und  in  uns  verarbeiten,  finden  also  einen  ihrer  Natur 
durchaus  gleichartigen  Boden,  auf  welchem  die  Vorstellungen  ihrer 
wirklichen  Eigenschaften,  ihrer  Räumlichkeit,  Zeitlichkeit  und  Cau- 
salität  mit  Nothwendigkeit  sich  ergeben. 

1)  Vgl.  Zusatz  7.   Qualität  in  der  Natur. 


650  Zusätze.  ' 

Die  scheinbare  Apriorität  allgemeiner  Vorstellungen  beruht  also 
darauf,  dass  in  dem  Subject  als  Theil  des  Ganzen  die  nämliche 
Gesetzmässigkeit,  die  nämliche  Logik  gebietet  wie  in  dem  Universum. 
Aus  dieser  Uebereinstimmung  folgt  aber. nicht,  dass  die  Ideen  an- 
geboren sind,  sondern  nur,  dass  die  geistige  Thätigkeit  bloss  zu  ihnen 
und  zu  keinen  anderen  führen  kann;  gäbe  es  angeborene  Ideen,  so 
müssten  sie  eben  so  wohl  dem  Stein  und  der  Pflanze  als  dem  Thier 
und  dem  Menschen  zukommen. 


Vorstehende  Erörterungen  richten  sich  gegen  diejenigen  Ver- 
fechter der  Apriorität,  welche  am  wissenscliaftlichsten  und  exactesten 
urtheilen.  Es  gibt  indess  viele  Naturforscher,  welche,  nachdem  sie 
zu  einer  consequenten  Betrachtung  der  Natur  zu  gelangen  suchten, 
sich  als  Anhänger  der  aprioristischen  Erkenntnisse  bekennen  und 
sich  dabei  einer  Schlussfolgerung  bedienen ,  wie  sie  in  der  jetzigen 
Abstammungslehre  öfter  angewendet  wird.  Sie  lautet  ungefähr 
folgendermaassen. 

Erkenntniss  sei  das  Bestimmtwerden  durch  äussere  Einwirkung. 
Dieselbe  komme  also  auch  dem  Thier  und  der  Pflanze,  selbst  dem 
Mineral  und  dem  einzelnen  Molekül  zu;  denn  das  Eisentheilchen 
erkenne  den  Magnet,  der  sich  in  seiner  Nähe  befindet.  Die  Erkenntniss 
werde  gefördert  und  complicirt  durch  das  Gedächtniss,  sei  aber  durch 
dasselbe  nicht  noth wendig  bedingt,  wiewohl  auch  den  Molekülgruppen 
von  jeder  Einwirkung  eine  gewisse  Veränderung,  die  als  Erinnerung  in 
Anspruch  zu  nehmen  sei,  zurückbleiben  müsse.  Auch  das  Bewusstsein 
sei  nicht  erforderlich  für  den  Erkenntnissprocess ;  denn  dasselbe  ver- 
arbeite bloss  die  zurückgebliebenen  Erinnerungen. 

Zum  Zustandekommen  einer  Erkenntniss  seien  zwei  Dinge  er- 
forderlich, die  Einwirkung  des  Objects  auf  die  erkennende  Substanz 
und  die  Fähigkeit  der  letzteren,  zu  erkennen.  Das  Object  bilde  die 
materielle  unveränderliche  Unterlage  jeder  Erkenntniss;  die  specifisch- 
individuelle  Beschaffenheit  des  erkennenden  Subjects  sei  das  Ver- 
änderliche oder  Formelle  der  Erkenntniss.  So  werde  beispielsweise 
Essigsäure  von  Kali,  von  Lackmuspapier  (welchem  sie  als  rothe  Sub- 
stanz erscheint),  von  dem  Geschmacks-  und  dem  Geruchsorgan  in 
ganz   ungleicher   Weise   erkannt;    die   rothe  Farbe   werde   von   dem 


f).  Aj)riontät.  651 

normalen  Menschen  als  solche,  von  dem  rothbhnden  als  grün  und  von 
dem  Verstände  als  Aetherschwingungen  erkannt.  Die  Form  der 
Erkenntniss  sei  daher  der  erkennenden  Substanz  angeboren,  sie 
sei  a  priori,  vor  aller  Erfahrung  vorhanden  und  ermögliche  erst  die 
Erfahrung.  Zu  den  angeborenen  Erkenntnissen  oder  Ideen  gehören 
also  die  Fähigkeit  der  wägbaren  Substanzen,  einander  als  schwer  zu 
erkennen,  —  der  elektrischen  Substanz,  eine  andere  Substanz  als 
feindlich  oder  freundlich  zu  erkennen,  —  des  Lackmuspapiers,  die  Welt 
als  blau  oder  roth  zu  erkennen,  —  der  Geschmackspapillen ,  die 
Speisen  als  süss,  sauer,  bitter,  fade  zu  erkennen,  —  der  Tastwärzchen, 
die  Dinge  als  hart  und  weich ,  glatt  und  rauh ,  warm  und  kalt  zu 
erkennen,  —  der  sensiblen  Nerven,  Schmerz  und  Lust,  der  moto- 
rischen Nerven,  die  Willensregung  der  centralen  Nervenorgane  zu 
erkennen,  —  endlich  die  Fähigkeit  der  Gehirnzellen,  welche  den 
Denkprocess  vollziehen,  die  Existenz  der  Dinge,  ihre  Zahl  und  An- 
ordnung im  Räume,  ihre  Folge  in  der  Zeit,  ihre  Bewegungen  und 
dynamischen  Beziehungen,  somit  Raum,  Zeit  und  ursächlichen 
Zusammenhang  zu  erkennen. 

Diese  Auseinandersetzung  entbehrt  augenscheinlich  nicht  einer 
gewissen  äusseren  Logik.  Wir  haben,  seitdem  durch  die  Abstammungs- 
lehre Darwin 's  die  Einheit  der  Natur  mehr  zum  allgemeinen  Be- 
wusstsein  gelangt  ist,  von  den  Anhängern  derselben,  namentlich 
von  Häckel  mehrfach  verwandte  Schlussfolgerungen  gehört.  Die 
ununterbrochene  Reihe,  in  welche  wir  die  natürlichen  Dinge  von 
dem  Atom  und  Molekül  an  bis  zu  den  comphcirtesten  Organismen 
neben  einander  stellen  können,  ist  sehr  verführerisch,  um  die  Eigen- 
schaften der  einen  auf  die  andern  zu  übertragen,  und  da  keine  feste 
Grenze  sichtbar  ist,  allen  Dingen  die  gleichen  Eigenschaften  zuzu- 
schreiben. Man  muss  sich  daher  wohl  hüten,  über  einer  scheinbaren 
Identität  nicht  die  natürlichen  Verschiedenheiten  zu  übersehen ;  denn 
jene  ununterbrochene  Reihe  wird  für  das  Urtheil  leicht  zur  schiefen 
Ebene,  auf  der  es  unaufhaltsam  ins  Bodenlose  hinuntergleitet.  Ob- 
gleich ich  hievon  schon  in  der  »Abstammungslehre«  gelegentlich 
gesprochen  habe,  und  obgleich  die  wesentlichen  Elemente,  welche 
die  eben  angeführte  Auseinandersetzung  widerlegen,  eigentlich  schon 
in  diesem  Zusatz  üljer  die  aprioristische  Erkenntniss  enthalten  sind, 
scheint  es  doch  nothwendig,  sie  noch  zu  einer  besonderen  Beleuchtung 
zusammenzustellen. 


652  Zusätze. 

Das  Fehlerhafte  an  der  Ausemandersetzung  besteht  darin,  dass 
die  Eigenschaft  des  Ganzen  dem  Theil,  die  Eigenschaft  des  Zusammen- 
gesetzten dem  Einfachen  zugeschrieben  wird.  Nun  fällt  es  niemandem 
ein,  diesen  Fehler  in  morphologischer  Beziehung  zu  begehen ;  niemand 
sagt,  dass  das  Molekül  oder  das  Mineral  gebaut  sei,  wie  das  Thier 
oder  der  Mensch,  wie  die  Zelle,  wie  der  Muskel  oder  Nerv,  wie 
das  Sinnesorgan,  wie  das  Gehirn.  Man  darf  aber  eben  so  wenig 
sagen,  dass  das  Molekül  oder  Mineral  die  Functionen  der  Zelle, 
des  Muskels,  des  Nerven,  des  Sinnesorgans  und  des  Gehirns  besitze, 
dass  es  wahrnehme,  empfinde,  höre,  sehe,  denke,  erkenne;  —  und 
wenn  man  einen  dieser  Ausdrücke  gebraucht,  so  ist  es  nur  in  bild- 
licher Weise  zulässig.  Da  die  Beziehungen  zwischen  den  Molekülen, 
so  viel  wir  wissen,  nur  darin  bestehen,  dass  sie  sich  anziehen  und 
abstossen,  so  muss  man,  wenn  diese  Beziehungen  Wahrnehmung 
oder  Empfindung  genannt  werden,  sich  ihrer  Verschiedenheit  gegen- 
über der  wirklichen  Wahrnehmung  und  lilmpfindung,  wie  sie  dem 
thierischen  Organismus  zukommt,  bewusst  bleiben. 

Das  Zusammengesetzte  oder  das  Ganze  besteht  nur  in  der  Summe 
seiner  Theile.  Es  ist  dies  eine  Wahrheit,  welche,  soweit  es  sich 
um  den  morphologischen  Aufbau  handelt,  als  Trivialität  bezeichnet 
werden  kann,  welche  aber  mit  Rücksicht  auf  die  Function  leicht 
übersehen  wird.  Sie  entzieht  sich  dem  Blick,  weil  die  Elemente  der 
zusammengesetzten  Function,  die  nichts  anderes  als  die  Kräfte  und 
Bewegungen  der  morphologischen  Theile  sind,  uns  nicht  so  deutlich 
in  ihrer  Sonderung  entgegentreten,  weil  die  Functionen  der  zusammen- 
gesetzten Dinge  uns  bezüglich  ihres  Zustandekommens  nicht  so  be- 
kannt sind,  und  weil  die  Wissenschaft  die  Functionen  noch  nicht  so 
systematisch  gegliedert  darzustellen  vermag,  wie  den  morphologischen 
Aufbau.  Man  darf  also  die  Function  des  Ganzen  eben  so  wenig 
auf  die  Theile  übertragen  als  seine  Organisation.  So  wie  man  nicht 
sagt,  dass  das  Eiweissmolekül  ein  Gehirn  sei,  so  wenig  darf  man 
ihm  die  Function  des  Gehirns,  Denken  und  Erkennen,  zuschreiben. 

Vergleicht  man  Einfaches  und  Zusammengesetztes,  so  kommt 
dem  Ganzen,  weil  der  Theil  in  ihm  enthalten  ist,  immer  auch  die 
Eigenschaft  des  Theils  zu;  aber  der  Theil  hat  nie  die  Eigenschaft 
des  Ganzen.  Da  die  Functionen  der  Moleküle  in  Anziehungen, 
Abstossungen  und  Bewegungen  bestehen,  so  können  wir  mit  Sicher- 
heit  behaupten,    dass   die   Functionen   des   Gehirns,    somit   das   Er- 


f).  Apriorität.  (353 

kennen,  auf  jenen  Elementarfunctionen  begründet  seien  ;  aljer  es 
mangelt  uns  jede  Berechtigung  für  die  Annahme,  dass  den  Molekülen 
auch  das  Erkennen  zukomme.  Das  Gemeinsame  in  den  Functionen 
aller  Dinge  darf  also  nicht  in  dem  Erkennen,  sondern  nur  in 
dynamischen  Beziehungen  und  Bewegungen  gefunden 
werden.  Man  kann  ja  wohl,  wenn  man  sich  eines  kühnen  Bildes 
bedienen  will,  von  dem  Sauerstoffatom  sagen,  es  erkenne  das  Wasser- 
stoffatom, von  dem  Eisentheilchen,  es  erkenne  den  Magneten,  von 
dem  Ohr,  es  erkenne  den  bestimmten  Ton.  Aber,  wie  ich  bereits 
sagte,  auf  eine  bildliche  Sprache  darf  kein  wissenschaftlicher  Schluss 
errichtet  werden. 

Man  wird  nun  zwar  einwenden,  dass  die  Erkenntniss,  die  allen 
natürlichen  Dingen  zugeschrieben  werde,  nicht  identisch  sei,  sondern 
nur  etwas  Gemeinsames  habe ;  sie  unterscheide  sich  nämlich  in  der 
Form,  sei  aber  dem  Inhalte  oder  dem  Wesen  nach  dieselbe.  Hierin 
liegt  jedoch  eine  Verkennung  der  wirklichen  Beziehungen.  Das 
Wesen  eines  mateiiellen  Systems  besteht,  sowohl  rücksichtlich  des 
Baues  als  der  Function,  in  der  Beschaffenheit,  Zahl  und  Anordnung 
seiner  Theile.  —  Schon  die  ungleiche  Anordnung  allein,  bei  gleicher 
Zahl  und  Beschaffenheit  der  Theile,  genügt  in  vielen  Fällen,  um 
eine  wesentliche,  nicht  bloss  formelle  A^erschiedenheit  zu  begründen. 
So  sind  ein  Gemenge  von  Wasserstoff  und  Sauerstoff  und  eine  ent- 
sprechende Portion  Wasser  oder  Wasserdampf,  ebenso  Zucker  und 
Milchsäure,  endlich,  um  alles  Uebrige  zu  überspringen,  der  lebende 
Organismus  und  derselbe  im  todten  Zustande  gewiss  wesentlich  ver- 
schiedene Dinge.  Um  so  grösser  muss  die  Verschiedenheit  werden, 
wenn,  wie  dies  gewöhnlich  der  Fall  ist,  zu  der  ungleichen  Anordnung 
auch  ungleiche  Zahl   und  Beschaffenheit  der  Theile   sich  gesellen. 

Wir  begehen  daher  einen  Fehler,  wenn  wir  allen  natürlichen 
Dingen  Erkenntniss  zuschreiben  und  dieselbe  bloss  in  formeller  Be- 
ziehung als  verschieden  gelten  lassen.  Ein  exactes  Verfahren  gesteht 
als  das  Gemeinsame  in  den  Functionen  der  Dinge  nur  die  dynamischen 
Beziehungen  sammt  den  daraus  hervorgehenden  Bewegungen  zu, 
und  wenn  wir  dies  allgemein  als  »Erkennen«  bezeichnen  wollten, 
so  würden  wir  uns  in  Widerspruch  mit  dem  Sprachgebrauche  setzen, 
und  weiter  nichts  gewinnen,  als  dass  für  diejenige  Function,  die  bisher 
Erkennen  genannt  wurde,  eine  neue  Benennung  gefunden  werden 
müsste.     Denn  die  Verstandesoperation,  welche  das  eigentliclie  Wesen 


654  Zusätze. 

der  Dinge  ergründet,  bedarf  sicher  gegenüber  allen  andern  Functionen 
einer  besonderen  Bezeichnung.  Unter  diesen  Umständen  scheint 
es  aber  gerathener,  den  Begriffen,  die  man  nicht  ändern  kann,  ihre 
altbewährte  und  allbekannte  Firma  zu  lassen. 

Die  Erkenntniss  ist  die  Frucht  des  Denkens  und  das  Denken 
setzt  Erinnerung  voraus;  denn  es  besteht  aus  dem  Zusammenwirken 
von  geistigen  Eindrücken,  die  zu  verschiedenen  Zeiten  aufgenommen 
wurden.  Das  Erkennen  mangelt  also  sicher  allen  denjenigen  natür- 
lichen Dingen,  welche  keine  Erinnerungen  haben.  Nun  nimmt  zwar 
Häckel  an,  dass  auch  das  Molekül  Gedächtniss  besitze,  und  diese 
Vorstellung  liegt  auch  durchaus  in  dem  Sinne  der  angeführten  Aus- 
einandersetzung, welche  allen  Dingen  Erkenntniss  zuschreibt.  Denn 
mit  gleich  berechtigter  Folgerichtigkeit,  wie  die  Reaction  des  Moleküls 
auf  eine  Ursache  ein  Erkennen  dieser  Ursache  genannt  wird,  kann 
auch  jede  dauernde  Veränderung,  die  einem  Molekül  oder  einer 
Molekülgruppe  von  einer  Einwirkung  zurückbleibt,  als  eine  Erinnerung 
an  jenen  Vorgang  betrachtet  werden.  Nach  dieser  Auffassung  wären 
alle  Veränderungen  an  den  Dingen  Erinnerungen,  und  diese  neue 
Definition  würde  uns  nichts  anderes  eintragen,  als  dass  wir,  ebenfalls 
wie  für  das  Erkennen,  nunmehr  für  den  unentbehrlichen  Begriff, 
den  man  bis  jetzt  Erinnerung  genannt  hat,  ein  neues  Wort  er- 
finden müssten. 

Dass  aber  nicht  jede  Veränderung  eine  Erinnerung  sein  kann, 
wird  uns  besonders  klar,  wenn  wir  die  für  eine  wirkliche  Erinnerung 
nothwendige  materielle  Unterlage  uns  vergegenwärtigen.  Dieselbe 
muss  jedenfalls  in  einer  solchen  materiellen  Veränderung  bestehen, 
dass  sie  den  geistigen  Eindruck  gelegentlich  wieder  aufleben  lässt, 
ohne  Mithülfe  der  ursprünglichen  Ursache,  welche  den  ersten  Ein- 
druck und  mit  ihm  jene  materielle  Veränderung  hervorgerufen  hat. 
Dies  ist  nur  denkbar,  wenn  die  m'sprüngiiche  Vorstellung  in  einer 
bestimmten  Erregung  (durch  dynamische  Einwirkung  hervorgebrachten 
Bewegung)  einer  Partie  von  Theilchen  besteht,  verbunden  mit  einer 
bestimmten  dauernden  Orientirung  derselben,  welche  es  ermöglicht, 
dass  die  nämliche  Erregung  durch  irgend  welche  verwandte  Ursachen 
wieder  zu  Stande  kommt*). 


')  Ich  verweise  hierüber   auf   den   8.  Zusatz:    Zuniokfühning  geistiger  Vor- 
gänge auf  stolTliche  Bewegungen. 


f).  A  Priorität.  G55 

Hieraus  ergibt  sich  unwiderleglich,  dass  die  Erinnerung  nicht 
dem  einzelnen  Molekül  zukonnnt,  und  dass  sich  unter  den  zusammen- 
gesetzten materiellen  Systemen  nur  solche  dazu  befähigt  erweisen, 
welche  eine  hinreichend  grosse  Zahl  verschiedenartiger  Theilchen 
besitzen,  um  materielle  Erinnerungsspuren  zu  bilden,  dass  also  beispiels- 
weise die  krystallinischen  Körper  wiegen  ihrer  regelmässigen  und 
gleichartigen  Structur  jedenfalls  ausgeschlossen  sind.  Wir  sehen  aber 
ferner  ein,  dass,  wenn  auch  in  manchen  unorganisirten  Körpern 
die  erforderHche  Anordnung  verschiedenartiger  Moleküle  eine  analoge 
Erscheinung  gestatten  sollte,  was  mis  unbekannt  ist,  dieselbe  jedenfalls 
von  ganz  anderer  Beschaffenheit  sein  muss,  als  die  Erinnerung, 
welche  in  den  organisirten  (micellösen)  Körpern  zu  Stande  kommt. 
Die  Verschiedenheit  zwischen  den  beiden  Vorgängen  muss  eben  so 
gross  sein,  als  die  Verschiedenheit  zwischen  unorganisirtem  (nicht 
micellösem)  mid  organisirtem  (micellösem)  Bau.  Wir  begreifen  übrigens 
leicht,  dass  bei  dem  letzteren  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  in 
der  chemischen  Zusammensetzung  und  in  der  Gestalt  der  Micelle 
und  die  ungleiche  Verwandtschaft  der  verschiedenen  Micellseiten 
zu  Wasser  und  zu  Substanz  wohl  im  Stande  sind,  Spuren  von  so 
leichter  Beweglichkeit  bei  hinreichender  Festigkeit  und  von  so  grosser 
Mannigfaltigkeit  darzustellen,  wde  wir  sie  für  die  Erinnerungen  vor- 
aussetzen müssen. 

Durch  die  Ueberlegung,  wie  die  Erinnerung  zu  Stande  kommt, 
wird  sie  auf  die  organisirten  Wesen  beschränkt.  Ob  sie  aber  allen 
Organismen  und  somit  in  ihren  Uranfängen  auch  den  Pflanzen 
zukomme,  — ob  sie  bloss  den  aus  Albuminaten  und  deren  Abkömmlingen 
bestehenden  Theilen  oder  in  einfacheren  Modificationen  auch  anderen 
Theilen  angehöre,  — ob  nur  eine  bestimmte  Organisation  zur  Erinnerung 
befähige,  —  wie  sich  die  Erinnerung  und  die  Gewohnheit  zu  einander 
verhalten,  —  sind  weitere  Fragen,  in  deren  Erörterung  ich  nicht  ein- 
treten will. 

Die  Ausdehnung  der  Erkenntniss  und  der  Erinnerung  auf  alle 
Körper  ist  die  Folge  einer  unrichtig  angewendeten  Analogie.  Man 
meint,  es  könne  in  der  Reihe  der  natürlichen  Dinge,  da  ja  alle 
aus  derselben  Substanz  bestehen,  nicht  irgendwo  etwas  gänzlich 
Neues  auftreten,  und  es  müssen  daher  die  Eigenschaften  der  zu- 
sammengesetzten Körper  auch  schon  den  emfachen  zukommen.  Aber 
die   Identität  in  allem  Seienden  beschränkt   sich   auf  die   e lernen- 


656  Zusätze. 

taren  Kräfte  und  Bewegungen.  Von  solchen  kann  allerdings 
in  dem  Zusammengesetzten  nichts  Neues  beginnen.  Das  Neue  liegt 
in  der  Zusammensetzung  selbst.  Auf  jeder  höheren  Stufe  der  Zu- 
sammensetzung sind  die  elementaren  Kräfte  und  Bewegungen  auf 
eine  vorher  nicht  da  gewesene  Art  combinirt,  und  in  dieser  Combi- 
nation  ist  das  gänzlich  Neue  in  der  Function  mit  logischer  Noth- 
wendigkeit  gegeben.  Es  ist  eine  unabweisliche  Forderung,  dass  in 
dem  Kry stall  andere  Eigenschaften  zu  Stande  kommen  als  in  dem 
einzelnen  Molekül  oder  Pleon  (IMolekülgruppe),  und  dass  in  den 
micellösen  Körj^ern  der  organisirten  Welt  neue,  der  unorganischen 
Natur  vollständig  fremde  Functionen  (d.  h.  Combinationen  von  elemen- 
taren Kräften  und  Bewegungen)  auftreten.  Zu  diesen  Functionen 
gehören  das  Wahrnehmen,  Empfinden,  Erinnern,  Denken,  Er- 
kennen. 

Die  Eingangs  dieses  letzten  Abschnittes  angeführte  Auseinander- 
setzung (S.  65* J)  stellte  das  Erkennen  als  etwas  Aprioristisches, 
den  Dingen  schon  ihrer  Natur  nach  Anhaftendes  dar,  weil  es  allen 
ohne  Ausnahme  zukomme  und  in  den  einfachsten  Körpern  offenbar 
nicht  durch  Erfahrung  gewonnen  werde,  sondern  unmittelbar  gegeben 
sei.  Diese  Schlussfolgerung  hat  nach  dem  Gesagten  keine  Berech- 
tigung. In  dem  Unorganischen  sind  nicht  einmal  die  Anlagen, 
sondern  bloss  die  Materialien  enthalten,  aus  denen  auf  den  höheren 
Stufen  die  Anlagen  für  die  Werkzeuge  des  Erkennens  zusammen- 
gesetzt werden.  Erst  mit  dem  Auftreten  des  Organischen  erscheinen 
diese  Anlagen,  welche  anfänglich  bloss  ein  Minimum  der  einfachsten 
Functionen  (der  Wahrnehmung  und  Angewöhnung)  vollbringen, 
aber  die  Fähigkeit  besitzen,  immer  weiter  und  zuletzt  zu  Organen 
sich  auszubilden  ,  in  denen  die  Möglichkeit  des  Erkennens  be- 
gründet ist. 

Der  micellöse  Bau  der  Organismen  gestattet  eine  den  unorganisirten 
Körpern  unbekannte  Isolirung  der  auf  eine  äussere  Einwirkung 
erfolgenden  inneren  Bewegungen  und  dadurch  eine  vielfache  Um- 
setzung derselben.  Er  gestattet  ferner  eine  diesen  Bewegungen  ent- 
sprechende eigene  Orientirung  besonderer  Reihen  und  Gruppen  von 
Micellen,  welche  bei  wiederholter  Erregung  zu  Gewohnheiten  und 
Erinnerungen  werden.  Mit  der  bei  den  höheren  Organismen  immer 
weiter  gehenden  Complication  in  der  Configuration  eines  Systems 
werden   auch    die   besonderen    Orientirungen  in    demselben    mannig- 


6    Kraft.    Stoff.    Bewegung.  657 

faltiger,  treten  unter  einander  in  zahlreichere  Verbindungen  und 
führen  zu  Erfahrungen  von  steigender  Sicherheit  und  Benutzbarkeit, 
aus  denen  als  höchstes  Product  die  Erkenntnisse  hervorgehen. 


6.  Kraft.    Stoff.    Bewegung.    (S.  585.) 

Nach  einem  von  Aristoteles  her  sich  datirenden  Vorurtheil, 
das  aber  später  sich  noch  erheblich  steigerte,  betrachten  Viele  heute 
noch  die  Materie  als  eine  träge ,  todte ,  absolut  passive  Substanz, 
welche  erst  durch  die  Kraft  zu  Bewegung  und  Leben  gelange.  Diese 
dualistische  Auffassung  des  Endlichen  erhielt  bei  Nichtphysikern 
eine  scheinbare  Bestätigung  durch  das  allzuwörtlich  verstandene 
physicalische  Gesetz  der  Trägheit,  welches  richtiger  als  Beharrungs- 
vermögen bezeichnet  wird  und  eigentlich  nur  sagt,  dass  eine  bewegte 
Masse  ohne  fremde  Kräfte  ebensowenig  in  Ruhe,  als  eine  ruhende 
in  Bewegung  kommen  kann,  oder  genauer  ausgedrückt,  dass  die 
Bewegung,  in  der  ein  Körper  sich  befindet,  in  Richtung  und  Ge- 
schwindigkeit nur  durch  eine  äussere  Kraft  geändert  werden  kann. 

In  dem  endlosen  Streit  über  Kraft  und  Stoff  hat  man  fast  immer 
Physisches  und  Metaphysisches  vermengt;  und  so  lange  die  beiden 
Standpunkte  nicht  streng  geschieden  werden,  dürfte  auch  der  Streit 
nicht  zu  Ende  kommen.  Halten  wir  uns  streng  an  die  physische 
oder  endliche  Natur,  so  ist  die  Sache  klar  und  anschaulich.  Unter 
Kraft  verstehen  wir  die  Eigenschaft  eines  Körpers,  eine  bestimmte 
Wirkung  auf  andere  Körper  auszuüben.  Materie  oder  Stoff  dagegen 
ist  uns  die  Substanz  des  Körpers  abgesehen  von  einer  bestimmten 
Wirkung.  Materie  im  naturwissenschaftlichen  Sinne  ist  also  nichts 
Einfaches,  Unterschiedsloses,  sondern  immer  etwas  Zusammengesetztes, 
in  welchem  zahlreiche  Kräfte  ihren  Sitz  haben,  die  wir  aber  vorläufig 
nicht  berücksichtigen.  So  unterscheiden  wir  am  magnetischen  Eisen 
die  magnetische  Kraft  und  das  materielle  Substrat  derselben ,  das 
Eisen,  in  welchem  zwar  verschiedene  Kräfte  die  physicalischen  und 
chemdschen  Eigenschaften  bedingen,  bei  der  vorgenommenen  Abstrac- 
tion  aber  nicht  in  Betracht  kommen. 

Wenn  wir  einen  Körper  in  seine  Theile  zerlegen,  so  wird  ent- 
weder Kraft  frei  oder  gebunden,  so  dass  die  Theile  zusannnen  mehr 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  42 


658  Zusätze. 

oder  weniger  Kraft  enthalten  als  das  Ganze.  Dies  wiederholt  sich 
bei  jeder  Zerlegung  l)is  zur  Zerstreuung  in  die  einzelnen  Moleküle 
und  chemischen  Atome.  Dabei  wechselt  der  Stoff  seine  Eigenschaften 
je  nach  der  Summe,  der  Beschaffenheit  und  Anordnung  der  in  dem- 
selben befindlichen  Kräfte.  Wir  beobachten  also  an  einem  Körper 
nichts  anderes  als  seine  Kräfte.  Nehmen  wir  in  der  Abstraction 
diejenigen  weg,  deren  Wirkung  wir  erkennen,  so  bleibt  uns  als  Rest 
die  Materie,  nämlich  eine  Summe  von  gebundenen,  sich  das  Gleich- 
gewicht haltenden  und  nach  aussen  keine  merkbare  Wirkung  aus- 
übenden Kräften. 

Wir  können  an  einem  Gegenstand  jede  einzelne  Kraft  in  Ge- 
danken isoliren,  aber  wir  können  nie  etw^as  von  demselben  trennen, 
was  wir  als  Stoff  ohne  Kraft  bezeichnen  dürften.  Der  Begriff  der 
Kraft  reicht  aus,  um  einen  Gegenstand  zu  begreifen.  Deshalb 
konnten  die  mathematischen  Physiker  den  Begriff  des  Stoffes  an  sich 
ganz  aufgeben  und  von  ausdehnungslosen  Kraftpunkten  ausgehen. 
Auf  diesem  Wege  erhalten  wir  die  Ausfüllung  des  Raumes  durch 
anziehende  und  abstossende  Punkte,  wodurch  die  Körper  dargestellt 
und  in  allen  ihren  Eigenschaften  erklärt  werden  könnten,  w^enn  wir 
uns  nicht  zugleich  auf  ein  Gebiet  begeben  hätten,  wo  alle  Erkenntniss 
aufhört.  Die  letzte  Consequenz  der  mathematischen  Physik,  welche 
auf  die  einfachen  Elemente  zurückgehen  will,  ist  nicht  mehr  eine 
physische,  sondern  eine  metaphysische  Theorie,  wie  jede  andere 
Theorie  von  Kraft  und  Stoff,  die  nicht  in  der  vorstellbaren  End- 
lichkeit bleibt,  metaphysischer  Natur  ist. 

Ich  habe  Kraft  im  allgemeinen  als  dasjenige  angenommen,  was 
eine  Wirkung  auszuüben  im  Stande  ist.  Noch  anschaulicher  wird 
die  Vorstellung  von  dem  realen  Stoff  im  Sinne  des  Naturforschers, 
wenn  wir  den  allgemeinen  Begriff  der  Kraft  in  seine  besonderen 
Begriffe  zerlegen.  Wir  unterscheiden  dann  an  einem  Körper  die 
Bewegung  des  Ganzen,  womit  seine  lebendige  Energie  (lebendige 
Kraft)  gegeben  ist,  ferner  die  Bewegung  der  materiellen  Theilchen, 
wodurch  theilweise  die  potentiellen  Energien  (Spannkräfte) 
hervorgebracht  werden,  und  endlich  die  anziehenden  und  ab- 
stos senden  Elementarkräfte,  die  in  den  materiellen  Theilchen 
ihren  Sitz  haben,  unabhängig  von  der  Bewegung  derselben  sind, 
und  theils  auf  die  materiellen  Theilchen  des  Körpers  selbst,  theils 
auf  andere  entfernte  Körper  wirken,  und  welche  einen  anderen  Theil 


6.  Kraft.    Stoff.    Bewegung.  659 

der  potentiellen  Energien  darstellen.  Die  (lebendigen  und  poten- 
tiellen) Energien  wechseln  in  ihrer  Intensität  mit  der  Bewegung 
ihrer  Träger  und  können  auch  Null  werden,  während  Anziehung 
und  Abstossung  in  den  materiellen  Theilchen  unveränderliche  Grössen 
sind.  —  Stoff  oder  Materie  ist  also  eine  Summe  von  potentiellen 
Energien  (Bewegungen  der  Theilchen  sammt  den  anziehenden  und 
abstossenden  Elementarkräften,  insofern  die  bemerkbare  Gesammt- 
wnrkung  auf  die  Substanz  des  Gegenstandes  beschränkt  bleibt). 

Die  sinnliche  Wahrnehmung  zeigt  uns  unmittelbar  nur  die 
Existenz  von  Körpern,  die  sich  bewegen ;  ihre  Substanz  nennen  wir 
Stoff  oder  Materie.  Die  Bewegung  führt  uns  auf  das  Vorhandensein 
von  Bewegungsursachen  oder  Kräften.  Jeder  Körper  besteht  also 
aus  Stoff,  er  bewegt  sich  und  steht  durch  Kräfte  mit  anderen  Körpern 
in  Wechselwirkung.  Der  Stoff  des  Körpers  selbst  erscheint  uns 
dabei  als  indifferente  Masse  ohne  Kraftäusserung,  oder  wir  betrachten 
ihn  wenigstens  als  solche.  Analysiren  wir  ihn  aber ,  so  besteht  er 
aus  Theilen,  die  ihre  gegenseitige  Lage  verändern,  also  Bewegung 
besitzen ,  und  die  durch  Kräfte  auf  einander  einwirken.  Den  Stoff" 
dieser  Theile  können  wir  oft  wieder  in  der  nämlichen  Weise  in 
kleinere  mit  Bewegung  und  Kräften  begabte  Theile  zerlegen,  und  die 
Zerlegung  noch  weiter  fortsetzen. 

In  Wirklichkeit  hört  die  Analyse  bald  auf,  nicht  deswegen,  weil 
sie  beim  Einfachen,  sondern  weil  sie  bei  Grössen  anlangt,  welche 
für  unsere  Sinne  und  für  unsere  übrigen  Hilfsmittel  nicht  weiter 
zerlegbar  sind.  In  der  Vorstellung  aber  kann  die  Zerlegung  fort- 
gesetzt werden,  ohne  jedoch  ein  Ende  zu  erreichen.  Während  vA-ir 
daher  auf  den  einzelnen  Stufen  der  Analyse  Bewegung  und  Kraft 
deutlich  erkennen,  ist  uns  der  Stoff  immer  nur  der  nicht  weiter  zer- 
legte oder  auch  der  für  uns  nicht  weiter  zerlegbare  Rest,  der  aber 
immer  wieder  aus  Bewegung,  Kraft  und  Stoff  zusammengesetzt  ist. 

Innerhalb  dieser  Realität  muss  auch  das  Gesetz  von  der  Er- 
haltung der  Kraft  bleiben.  Dasselbe  darf  nicht  an  raumlose  Kraft- 
punkte oder  metaphysische  Atome  anknüpfen ;  auch  bedarf  es  dieser 
Voraussetzung  keineswegs ,  wie  man  wohl  irrthümlich  vermuthete. 
Jede  grössere  oder  kleinere  Stoffeinheit,  der  Weltkörper  sowohl  als 
des  Molekül,  wirkt  durch  Kräfte  und  Bewegungen  auf  andere  Stoff- 
einheiten, und  jede  Wirkung  erfolgt  so,  als  ob  sie  von  einem  Punkte 
ausginge,  weil  sie  die  lineare  Componente  aller  wirksamen  Theile  ist. 

42* 


660  Zusätze. 

Die  Elemente,  über  die  unsere  Analyse  nicht  hinauskommt  und 
die  auch  zur  Erklärung  unserer  Vorstellungen  in  jeder  Beziehung 
vollauf  genügen,  sind  also  Stoff  in  irgendwelcher  (fort- 
schreitender, schwingender,  drehender)  Bewegung  und  an  dem- 
selben haftende  (positive  und  negative)  Zugkräfte,  deren 
Differenz  als  Anziehung  oder  Abstossung  zur  Geltung  kommt.  Jede 
Stoffeinheit  (sowohl  die  Sonne,  als  das  Eisenatom  und  das  Aether- 
theilchen)  hat  die  Fähigkeit,  auf  jede  andere  Stoffeinheit  mit  be- 
stimmten Zugkräften  einzuwirken.  Diese  anziehenden  und  abstossenden 
Elementarkräfte  sind  unveränderlich ,  solange  nicht  etwa  die  Stoff- 
einheit selber  durch  Hinzufügung  oder  Hinwegnahme  anderer  Stoff- 
einheiten zu-  oder  abnimmt,  und  sie  sind  unabhängig  von  dem 
Umstände,  ob  und  in  welcher  Weise  die  Fähigkeit,  anzuziehen  und 
abzustossen,  durch  die  Anwesenheit  anderer  Stoffeinheiten  sich  ver- 
wirklichen kann  oder  nicht.  Hierin  beruht  das  Gesetz  von  der 
Erhaltung  des  Stoffes,  das  wdr  auch  das  Gesetz  von  der  Er- 
haltung der  Elementarkräfte  nennen  könnten. 

Eine  Folge  dieses  Gesetzes  ist  das  andere,  das  man  gewöhnlich 
als  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  oder  Energie  bezeichnet, 
und  welches  darin  besteht,  dass  die  Summe  der  lebendigen  und 
potentiellen  Kräfte  in  einem  beliebigen ,  durch  äussere  Kräfte  nicht 
beinflussten  und  keine  äussere  Wirkung  ausübenden  System  die 
nämliche  bleibt.  Während  die  lebendige  Kraft  immer  die  durch 
ihre  Geschwindigkeit  wirkende  Gesammtmasse  eines  Körpers  darstellt 


1-2- )•   * 


SO   besteht   die   potentielle   Energie    aus   drei    verschiedenen 

Factoren :  1 )  der  Wirkung,  welche  die  Zugkräfte  eines  Körpers  mit 
Bezug  auf  alle  fremden  Körper  zu  vollbringen  vermögen,  und  welche 
eine  Function  der  Entfernung  ist ;  2)  der  Wirkung,  welche  die  Zug- 
kräfte der  Theilchen  eines  Systems  auf  einander  ausüben,  insofern  sie 
sich  nicht  im  Gleichgewichte  befinden,  oder  insofern  sie  aus  einem 
Gleichgewichtszustande  in  einen  neuen  Gleichgewichtszustand  über- 
gehen können ;  3)  der  Wirkung ,  welche  die  in  Bewegung  befind- 
lichen Theilchen  eines  Systems  als  eben  so  viele  lebendige  Kräfte 
vollbringen. 

Ein  Körper,  der  um  eine  gewisse  Strecke  von  der  Erde  entfernt 
wird,  vermehrt  seine  potentielle  Energie  um  einen  dieser  Weglänge 
entsprechenden  Betrag.    Indem  er  fallend  den  nämlichen  Weg  zurück- 


6.  Kraft.    Stoff.    Bewegung.  G(31 

legt,  erlangt  er  eine  lebendige  Kraft,  die  genau  das  Aequivalent  jener 
potentiellen  Energie  ist. 

Die  Gase  üben  durch  ihre  sich  bewegenden  Moleküle,  von  denen 
jedes  mit  einer  seinem  Gewicht  und  seiner  Geschwindigkeit  ent- 
sprechenden lebendigen  Kraft  dahinfliegt,  einen  Druck  auf  die  an- 
grenzenden Körper.  Die  Summe  aller  in  der  Zeiteinheit  auf  die 
Flächeneinheit  treffenden  Stösse  stellt  die  Spannkraft  des  Gases  dar. 
Wird  das  Gas  zusammengedrückt,  so  werden  die  Molecularstösse  in 
entsprechendem  Maasse  zahlreicher  und  erhöhen  die  Spannkraft, 
welche  gemäss  der  Zunahme  wieder  äussere  Arbeit  leisten  kann. 
Die  potentielle  Energie  besteht  also  in  diesem  Falle  aus  einer  Summe 
von  lebendigen  Kräften ,  die  in  den  verschiedensten  Richtungen 
wirken.  Sie  darf  nicht  als  lebendige  Kraft  des  Gases  bezeichnet 
werden ;  diese  wäre  nur  dann  gegeben,  wenn  die  Gasmoleküle  ausser- 
dem noch  in  einer  gemeinsamen  Richtung  sich  bewegten  und  wenn 
somit  die  Gasmasse  als  Wind  dahinführe. 

In  einem  geraden  Stahlband  herrscht  Gleichgewicht  zwischen 
den  anziehenden  und  abstossenden  Kräften  seiner  Moleküle.  Krümmt 
man  dasselbe,  so  werden  die  Theilchen  auf  der  concaven  Seite  ein- 
ander genähert,  auf  der  convexen  Seite  von  einander  entfernt.  Dort 
sind  jetzt  die  abstossenden,  hier  die  anziehenden  Molecularkräfte  im 
Uebergewicht  und  stellen  zusammen  eine  Summe  von  Spannkräften 
dar,  welche  durch  die  Verschiebung  jedes  Theilchens  aus  der  Gleich- 
gewichtslage genau  bestimmt  sind.  Die  Summe  dieser  Spannkräfte 
ist  gleich  der  lebendigen  Kraft,  welche  zur  Krümmung  des  Stahl- 
bandes erforderlich  war  und  welche  dieses  bei  der  Rückkehr  in  den 
ungespannten  Zustand  meder  zu  leisten  vermag. 

Die  (grüne)  Pflanze  verwandelt  Kohlensäure  und  Wasser,  indem 
Licht  und  Wärme  aufgewendet  wird,  in  Holz  (Cellulose)  und  in  frei 
werdenden  Sauerstoff.  Beim  Verbrennen  des  Holzes  wird  die  gleiche 
Menge  Sauerstoff  aufgenommen ;  es  wird  wieder  die  nämliche  Menge 
von  Kohlensäure  und  Wasser  gebildet  und  eine  Summe  von  Licht 
und  W^ärme  entbunden,  welche  der  bei  der  Holzbildung  verschwun- 
denen Menge  von  Licht  und  Wärme  äquivalent  ist.  Letzteres  ist 
wenigstens  nach  dem  Gesetze  von  der  Erhaltung  der  Kraft  anzunehmen. 
Die  Verbrennungswärme  stellt  eine  Summe  von  frei  werdender  Energie 
dar ;  sie  kann  mechanische  Arbeit  leisten.  Holz  und  Sauerstoff  ent- 
halten  eine  gewisse  Menge  von  potentieller  Energie,   welche   beim 


ß(32  Zusätze. 

Uebergang  in  Kohlensäure  und  Wasser  frei  wird,  und  welche  aus 
einem  Ueberschuss  von  chemischer  Anziehung  und  gebundener  Wärme 
besteht.  Wenn  man  aber  gewöhnlich  sagt,  in  dem  Holze  sei  von 
der  Pflanze  Kraft  aufgespeichert  worden,  so  ist  dies  nur  in  figür- 
lichem Sinne  richtig ;  denn  die  aufgespeicherte  Spannkraft  ist  nicht 
in  dem  Holze,  sondern  in  dem  gasförmigen  Sauerstoff  enthalten. 


7.  Qualität  in  der  Natur  (S.  586). 

Die  Qualitäten ,  wodurch  die  natürlichen  Dinge  sich  von  ein- 
ander unterscheiden,  sind  nicht  absolut,  sondern  nur  relativ,  da  sie 
sämmtlich  aus  quantitativen  Verhältnissen  hervorgegangen  sind. 

Dieser  Satz  ist  so  wichtig  für  die  Naturbetrachtung,  dass  es 
wünschbar  erscheint,  durch  eine  nähere  Beleuchtung  sich  vollständige 
Klarheit  zu  verschaffen.  Betrachten  wir  zuerst  die  Begriffe  der 
Mathematik,  da  uns  diese  Wissenschaft  bei  aller  ßeurtheilung  der 
natürlichen  Dinge  den  Weg  erhellen  soll. 

Die  Mathematik,  die  Wissenschaft  von  Zahl  und  Grösse,  hat 
es  vorzugsweise  mit  quantitativen  Verhältnissen  zu  thun.  Doch 
mangeln  ihr  die  eigentlichen,  absoluten  Qualitäten  nicht.  Diese 
können,  soweit  es  sich  um  reelle  (nicht  imaginäre)  Grössen  handelt, 
dadurch  entstehen,  dass  ein  Werth  in  einer  Gleichung  Null  (nicht 
etwa  bloss  unendlich  klein)  wird.  —  Es  seien  a  und  h  die  Axen 
einer  Ellipse.  Setzen  wir  b  =^  a  —  m  und  lassen  wir  m  zu  Null 
werden,  also  h  ^^  a  —  0  oder  b  =  a,  so  verwandelt  sich  die  Ellipse 

in  einen  Kreis.   Ist  dagegen  m  nicht  0,  sondern  — ,  also  b  =  a , 

SO  haben  wir  eine  kreisähnliche  Ellipse.  Wird  anderseits  a  auf  Null 
reducirt,  so  geht  die  Ellipse  in  die  gerade  Linie  b  über,  und  wenn 
&  =  0 ,   in  die  Linie  a.     Schwindet   dagegen   a   oder  b   nicht   zu  0, 

sondern  zu  —  ,    so  erhalten  wir  nicht  gerade  Linien ,    sondern  un- 

GO 

endlich  schmale  Ellipsen.  Es  macht  also  begrifflich  einen  Unter- 
schied, ob  ein  Werth  zu  Nichts  oder  ob  er  nur  unendlich  klein  wird. 

Ein  Viereck,  dessen  eine  Seite  sich  auf  —  verkürzt  hat,  ist  dem  Be- 


7.  Qualität  in  der  Natur.  663 

griffe  nach  immer  noch  ein  Mereck ;  zum  wirklichen  Dreieck  wird 
es  erst,  wenn  die  Seite  0  und  damit  zur  Spitze  des  Winkels  ge- 
worden ist.  Ein  Körper,  dessen  eine  Dimension  unendlich  klein 
ist,  hleibt  immer  noch  ein  Körper;  er  schlägt  erst  in  Fläche  um, 
wenn  jene  Dimension  Null  ^\'ird. 

Aber  diese  begrifflichen  oder  absoluten  Unterschiede  haben  keine 
reale  Bedeutung;  sie  sind  für  die  Rechnung  werthlos.  Deswegen 
werden  sie  von  der  Mathematik  nicht  weiter  beachtet,  welche, 
obgleich  rein  formal,  dennoch  in  hohem  Grade  praktisch  verfährt. 
Sie  fragt  sich  bloss,  ob  etwas  für  die  weitere  Rechnung  vernach- 
lässigt werden  kann,  und  während  sie  zwischen  unendlich  Kleinem 
der  ersten,  zweiten,  dritten  Ordnung  unterscheidet,  macht  sie  keinen 
Unterschied  zwischen  unendlich  Kleinem  und  Nichts.  Das  mathe- 
matische Verfahren  kann  also,  indem  es  gleichsam  transcendent  ward, 
einen  Begriff  in  einen  absolut  verschiedenen  überführen,  aber  es 
vermeidet  diese  Consequenzen  zu  ziehen.  —  Uebrigens  setzt  das 
Nullwerden  eines  Werthes  nicht  immer  das  Entstehen  einer  neuen 
Qualität  voraus;  man  bleibt  innerhalb  der  quantitativen  Verhält- 
nisse, wenn  man  durch  Addition  oder  Subtraction  zur  Null  kommt. 
In  der  Zahlenreihe  von  —  (x  bis  -|-  oo  hat  die  Null  keine  andere 
Bedeutung,  als  die  einer  jeden  positiven  oder  negativen  Zahl,  und 
0  ist  von  -f-  1  oder  von  —  1  nicht  anders  verschieden ,  als  2  von 
3  oder  3  von  2. 

Gehen  wir  von  den  formalen  zu  den  realen  Dingen  der  Natur 
über,  so  können  die  letzteren  schon  deswegen  nur  durch  relative 
Qualitäten  sich  von  einander  unterscheiden,  weil  sie  durch  Addition 
und  Subtraction  aus  einander  entstehen.  Es  sind  die  nämlichen 
chemischen  Elemente ,  welche  in  wechselnden  Mengen  zusammen- 
treten ,  um  die  natürlichen  Körper  zu  bilden ,  deren  Bewegungen 
und  Wirkungen  dem  entsprechend  auch  nur  gradweise,  nm*  durch 
ein  Mehr  oder  Weniger  von  einander  abweichen.  Wenn  uns  gleich- 
wohl Erscheinungen,  die  durch  quantitative  Ursachen  bedingt  werden, 
als  verschiedene  Qualitäten  entgegentreten,  so  hegt  der  Grund  davon 
theils  in  der  eigenthümlichen  Organisation  unserer  Sinnesorgane, 
theils  in  dem  Umstände,  dass  die  Objecte  nicht  immer  allmählich, 
sondern  mitunter  sprungweise  in  einander  übergehen.  Der  sprung- 
weise \\'cchsel  aber  rührt  entweder  davon  her,  dass  die  Uebergangs- 


664  Zusätze. 

glieder,  weil  die  Combination  nach  Zahl  und  nicht  nach  Grösse 
erfolgt,  unmöglich  sind,  oder  davon,  dass  die  möglichen  Uebergangs- 
glieder  aus  irgend  einem  Grunde  mangeln. 

Die  schönsten  Beispiele,  wie  rein  quantitative  Verhältnisse  unseren 
Sinnesorganen  bald  als  Quantitäten,  bald  als  Qualitäten  erscheinen, 
geben  uns  die  Farben  und  Töne.  Schwingungen  von  gleicher  Dauer, 
aber  mit  ungleicher  Schwingungsweite  (also  mit  ungleicher  Geschwin- 
digkeit der  schwingenden  Theilchen),  lassen  uns  den  gleichen 
Ton  oder  die  gleiche  Farbe,  nur  schwächer  und  stärker,  empfinden. 
Wir  sind  uns  vollkommen  bewusst,  dass  wir  die  gleiche  Qualität 
in  ungleicher  Intensität  wahrnehmen.  Dagegen  fassen  unsere  Sinne 
die  Schwingungen  mit  ungleicher  Dauer  als  verschiedene  Töne 
und  Farben  auf.  Obgleich  durch  allmähliche  Zunahme  der  in  der 
Zeiteinheit  erfolgenden  Schwingungen  der  Ton  c  gleitend  in  den 
Ton  g,  die  gelbe  Farbe  gleitend  in  die  blaue  übergeht,  so  ist  für 
unser  Gefühl  das  g  niemals  ein  bloss  vermehrtes  c,  das  Blau  nie- 
mals ein  bloss  gesteigertes  Gelb,  sondern  ein  (qualitativ)  anderer 
Ton  und  eine  andere  Farbe. 

Die  verschiedenen  Aggregatzustände  der  gleichen  chemischen 
Substanz  erscheinen  uns  als  qualitativ  verschieden,  so  das  Eis,  — 
das  Wasser  in  zusammenhängender  Masse  oder  in  Nebelbläschen 
vertheilt,  —  der  unsichtbare  gasförmige  Wasserdampf.  Diese 
ungleichen  Eigenschaften  werden  bloss  durch  die  ungleichen  Mengen 
von  gebundener  Wärme  bewirkt,  welche  die  Bewegungszustände  der 
Moleküle  verändern.  1  Kilogramm  Eis  (von  0")  -f-  79  Wärmeeinheiten 
■^=  Wasser.  1  Kilogramm  Wasser  (bei  der  Siedhitze)  -j-  536  Wärme- 
einheiten =  Wassergas. 

Die  Eigenschaften  der  chemischen  Elemente  sind  zwar  nur  dem 
Grade  nach,  aber  doch  sprungweise  verschieden.  Gold,  Silber,  Eisen, 
Quecksilber ,  Chlor ,  Sauerstoff ,  Kohlenstoff  werden  durch  keine 
Zwischenglieder  verbunden.  Der  Nachweis,  dass  sie  nur  quantita- 
tiven Ursachen  ihr  Dasein  verdanken,  lässt  sich  nicht  ausführen, 
da  die  Elemente  jetzt  noch  der  Scheidekunst  widerstehen.  Aber 
nach  den  Thatsachen,  welche  uns  die  chemischen  Verbindungen  in 
so  reicher  Menge  darbieten ,  ist  es  gar  nicht  unmöglich ,  dass  die 
verschiedenen  Elemente  aus  den  nämlichen  Stoft"theilchen  mit  un- 
gleichen Mengen  gebundener  Kräfte  bestehen. 


7.  Qualität  in  der  Natur.  665 

Alle  chemischen  Verbindungen  geben  uns  Beispiele  dafür,  dass 
aus  zwei  oder  mehreren  chemischen  Elementen  unter  Abgabe  oder 
Aufnahme  von  Wärme  Körper  entstehen,  die  unsere  Sinne  als  neue 
Qualitäten  empfinden.  Metallisches  Eisen  verbindet  sich  mit  dem 
gasförmigen  Sauerstoff  der  Luft  unter  Abgabe  von  Wärme  zu  Eisen- 
rost. Kohle  und  Schwefel  verbinden  sich  unter  Aufnahme  von  Wärme 
zu  Schwefelkohlenstoff.  Besonders  aber  finden  wir  in  der  organischen 
C'hemie  eine  Menge  von  Fällen,  wo  bestimmte  Mengen  verschiedener 
Elemente  uns  als  etwas  ganz  anderes  sich  darstellen  je  nach  der 
Wärmetönung  (nach  der  Menge  von  Wärme,  die  gebunden  oder  frei 
wird).  So  sind  beispielsweise  12  At.  Kohlenstoff  -)-  24  At.  Wasserstoff  -\- 
12  At.  Sauerstoff"  =  Kohle  -j-  Wasser  =  Traubenzucker  =  Essigsäure  =^ 
Milchsäure  =  Rohrzucker  -|-  Wasser  =  Stärkemehl  (Gummi,  Cellulose) 
-|-  Wasser  =  Glycerin  -f  Kohlenoxyd  =^  Ölbildendes  Gas  -|-  Sauerstoff 
=  Weingeist  -f-  Kohlensäure  =  Fett  -[-  Wasser  -\-  Sauerstoff ,  wenn 
je  weilen  die  bestimmte  Wärmedifferenz  beigefügt  wird.  Dass  dabei 
die  räumliche  Anordnung  der  Elementatome  jedesmal  eine  andere 
ist,  erscheint  als  selbstverständlich  und  ändert  an  der  bloss  quanti- 
tativen Verschiedenheit  der  Ursachen  nichts  ;  denn  die  verschiedenen 
Lagerungen  sind,  wie  die  Permutationen  gegebener  Grössen  jedenfalls 
nicht  qualitativer  Natur. 

Die  Eigenschaften  der  chemischen  Verbindungen  wechseln,  wie 
diejenigen  der  chemischen  Elemente,  sj^rungweise ,  da  sie  nach  der 
Zahl  der  Atome  (Aequivalente)  erfolgen  und  somit  sich  numerisch 
abstufen.  Kupfer  und  Sauerstoff  geben  zu  1  Cu  und  1  0  verbunden 
das  schwarze  Kupferprotoxyd,  zu  2  Cu  und  1  0  verbunden  das  rothe 
Kupfersuboxyd  (Rothkupfererz).  Kohlenstoff,  Wasserstoff  und  Sauer- 
stoff stellen  in  der  Verbindung  1  C -(- 2  i/-f  3  0  Kohlensäure,  Inder 
Verbindung  1  C -{- 2  H -\- 2  0  Ameisensäure  dar.  Es  ist  begreiflich, 
dass  die  qualitativen  Verschiedenheiten  um  so  undeutlicher  werden, 
je  höher  bei  gleichen  Differenzen  und  unter  übrigens  gleichen  Um- 
ständen die  Zahl  der  Atome  in  den  Verbindungen  steigt.  So  weichen 
in  den  Reihen  der  Fette  und  Fettsäuren  die  niedern  Glieder  viel 
weiter  von  einander  ab,  obgleich  der  Unterschied  zweier  auf  einander 
folgender  Glieder  der  nämliche  ist  (z.  B.  1  C  2  B).  Dieser  Unterschied 
muss  eben  bei  kleinen  Zahlen  [2  C  4 H)  fühll)arer  hervortreten  als 
bei  grossen  (18  C  36//). 

Sind  die  chemischen  Verbindungen  noch  alle  sprungweise  ver- 


G66  Zusätze. 

schieden,  was  in  der  Zusammensetzung  und  gewöhnlich  auch  in 
den  physicahschen  Eigenschaften  leicht  wahrnehmbar  ist,  so  können 
dagegen  überall  gleitende  Uebergaiige  auftreten,  wo  die  Stoffe  (Elemente 
oder  Verbindungen)  nach  wechselnden  Gewichtsmengen  sich  ver- 
mischen, wie  dies  bei  vielen  Mineralien,  besonders  aber  bei  den 
Organismen  der  Fall  ist.  Bei  den  letzteren  wird  die  ungeheuere 
Mannigfaltigkeit  der  Eigenschaften  durch  die  quantitative  Mischung  der 
wenigen  maassgebenden  Eiweissverbindungen  des  Plasmas  bedingt, 
wodurch  uns  die  allmähliche  ^Veränderung  der  Organismen  in  ein- 
ander begreiflich  wird.  Die  bestehenden  Lücken  in  den  organischen 
Reichen  können  einen  dreifachen  Ursprung  haben :  1 .  Sie  sind  durch 
Aussterben  der  Zwischenglieder  entstanden,  was  der  gewöhnlichste 
Fall  ist;  '2.  die  Zwischenglieder  am  ausgebildeten  Organismus  sind 
nicht  möglich,  weil  die  Sprünge  durch  die  verschiedene  Zahl  der 
Organe  oder  Theile  erfolgen  (z.  B.  4  und  5 blättrige  Blumenkronen); 
3.  die  Zwischenglieder  am  ausgebildeten  Organismus  erscheinen  zwtir 
nicht  als  unmöglich,  aber  sie  sind  nicht  vorhanden,  weil  die  (un- 
merklichen und  gleitenden)  Veränderungen  im  Plasma  der  Keime 
bei  der  Entwicklung  des  Individuums  zu  bemerkbaren  Sprüngen 
ausw^achsen. 


8.  Zurückführung  geistiger  Vorgänge  auf  stoffliche  Bewegungen  (S.  591). 

Bei  der  Behandlung  des  Problems  betreffend  die  Zurückführung 
des  Geisteslebens  auf  das  körperliche  Leben  nmssen  wir  zwei  Fragen 
streng  unterscheiden  1)  ob  das  Zustandekommen  geistiger  Bewegungen 
aus  stofflichen  Bewegungen  als  Thatsache  angenommen  werden  müsse, 
2)  wie  wir  uns  dasselbe  vorzustellen  haben.  Die  erste  Frage  ist 
ganz  unabhängig  von  der  zweiten ;  sie  kann  längst  entschieden  sein, 
ehe  man  über  die  zweite  eine  nur  einigermaassen  annehmbare  Hypo- 
these aufzustellen  vermag.  Der  Einwurf,  das  ist  unmöglich,  weil 
ich  mir  es  nicht  erklären  kann,  hat  gar  keine  Bedeutung,  da  wir 
ja  gewöhnlich  von  dem  Vorhandensein  einer  Erscheinung  überzeugt 
sind,  ehe  wir  eine  Vorstellung  über  das  Geschehen  besitzen. 

Bezüglich  der  ersten  Frage  wissen  wir  bestimmt,  dass  materielle 
Bewegungen  durch  Vermittelung  der  Sinnesorgane  auf  den  Geist 
wirken  und  Bewegungen  in  demselben  veranlassen,   und  dass  diese 


8.  Zurückführuiig  geistiger  Vorgänge  auf  stoffliche  Bewegungen.         ß67 

letzteren  hinwieder  materielle  Bewegungen  in  Nerven  und  Muskeln 
erzeugen.  Der  endliche  Geist  und  die  kraftbegabte  Materie  stehen 
also  in  Wechselwirkung  mit  einander,  wie  die  Materie  unter  sich 
in  Wechselwirkung  steht.  Wollten  wir  den  Geist  als  etwas  für  sich 
bestehendes  Immaterielles  betrachten,  so  müsste  er  als  ausdehnungs- 
lose Kraftpunkte  zwischen  den  Molekülen  der  Nervensubstanz  vertheilt 
sein,  und  diese  geistigen  Kraftpunkte  müssten  von  den  materiellen 
Theilchen  durch  Druck  und  Zug  beeinflusst  werden,  und  sie  müssten 
selber  auf  dieselben  durch  Druck  und  Zug  einwirken.  Die  geistigen 
Elemente  müssten  also  gerade  so  sich  verhalten,  als  ob  es  kraft- 
begabte Stofftheilchen  wären.  Da  nun  an  den  letzteren  der  Stoff 
uns  eigentlich  werthlos  und  ohne  Bedeutung  ist,  da  es  nur  auf  die 
Kräfte  ankommt,  welche  darin  ihren  Sitz  haben,  so  ändern  wir  an 
der  ganzen  Causalreihe  (von  der  Materie  durch  den  Geist  zur  Materie) 
nichts,  wenn  wir  auch  den  geistigen  Kraftpunkten  eine  materielle 
Unterlage  geben  und  wenn  wir  sie  in  die  Moleküle  der  Nervensub- 
stanz selbst  verlegen. 

Der  Naturforscher  wird  die  letztere  Annahme  vorziehen,  da  sie 
Uebereinstimmung  in  das  ganze  endliche  Sein  bringt.  W^ollte  man 
aber  sich  das  intellectuelle  Opfer  auflegen  und  mj'^stische  geistige 
Punkte  zwischen  die  Stoffmoleküle  einschieben,  so  würde  dadurch 
an  der  materialistischen  Auffassung  der  endlichen  Welt  nichts  Wesent- 
liches geändert;  denn  diese  besteht  bloss  in  der  strengen  Durch- 
führung des  Causalgesetzes,  nicht  in  irgend  einer  Theorie  über  Kraft 
und  Stoff.  Die  Mechanik  der  Gehirntheilchen  zur  Hervorbringung 
geistiger  Processe  bleibt  mit  oder  ohne  geistige  Punkte  dieselbe. 

Die  andere  Frage,  in  welcher  Weise  das  Geistesleben  aus  den 
materiellen  Bewegungen  hervorgehe,  gehört  vorderhand  noch  dem 
Gebiet  der  Hypothesen  an  und  kann  wohl  nur  bezüglich  der  elemen- 
tarsten Erscheinungen  einigermaassen  befriedigend  gelöst  werden. 
Das  Gefühl  (angenehme  und  unangenehme  Empfindung)  lässt  sich 
aus  den  Erregungen,  welche  die  materiellen  Theilchen  bei  ihrer 
Bewegung  spüren  müssen,  ableiten,  wie  dies  im  Text  (S.  597)  aus- 
geführt wurde. 

Die  Empfindung,  welche  die  Peripherie  des  Nervensystems  durch 
einen  Reiz  erhält,  pflanzt  sich  durch  die  Nervenstränge  auf  das  Central- 
organ  fort,  durchsetzt  dassellje,  und  geht  als  motorischer  Strom  durch 
die  Nerven  wieder  nach  der  Peripherie,  wo  derselbe  bei  hinreichender 


6G8  Zusätze. 

Stärke  als  Bewegung  sichtbar  wird.  Im  Gehirn  erscheint  aber  die 
Empfindung  nicht  unverändert  als  solche,  sondern  als  deren  Bild, 
als  Vorstellung.  Die  meisten  Vorstellungen  bleiben  scheinbar  inner- 
halb des  Gehirns;  nur  wenige,  welche  qualitativ  und  quantitativ 
dazu  befähigt  sind,  bringen  bemerkbare  Muskelbewegungen  hervor.  — 
Das  nächst  Höhere,  das  auf  die  blosse  Empfindung  und  deren  Vor- 
stellung folgt,  ist  dann  die  Erinnerung,  aus  welcher  unmittelbar  das 
Bewusstsein  hervorgeht;  denn  dieses  ist  nichts  anderes  als  das  Zu- 
sammenwirken vieler  Erinnerungen. 

Die  Erinnerung  kommt  dadurch  zu  Stande,  dass  die  frühere 
Vorstellung  einer  Empfindung  sich  wiederholt.  Wir  können  uns 
diesen  Vorgang  etwa  in  folgender  Weise  denken.  Die  wirksame,  die 
Empfindung  wahrnehmende  Nervensubstanz  des  Gehirns  (Sensorium) 
besteht,  wie  alle  organisirten  Substanzen,  aus  Micellen  (krystallinischen 
Molekülvereinigungen),  die  von  Wasser  umgeben  sind.  Die  Micelle  kön- 
nen sich  etwas  verschieben  und  ziemlich  nach  allen  Richtungen  um 
ihren  Mittelpunkt  drehen,  da  sie  nach  allen  Richtungen  orientirt  und 
durchaus  ungeordnet  sind.  Eine  Empfindung,  die  zum  Sensorium  ge- 
leitet wird,  durchsetzt  dieses  auf  irgend  einem  Weg,  der  durch  eine 
oder  eher  durch  einige  benachbarte  Micellreihen  gebildet  wird.  Dabei 
Orientiren  sich  die  Micelle  dieser  leitenden  Reihen  mit  ihren  Axen 
in  bestimmter  Weise  zur  Leitungsrichtung,  indem  sie  kurze  Zeit 
um  ihre  Gleichgewichtslage  schwingen.  Es  bildet  sich  also  eine 
Vorstellungsbahn,  deren  Micelle  bestimmt  geordnet  sind  und  in  Folge 
von  Wasseraustritt,  welcher  mit  der  Orientirung  verbunden  ist,  fester 
zusam  m  enhängen . 

Diese  richtende  und  festigende  Veränderung  in  der  Stellung  der 
Micelle  kann  alle  möglichen  Abstufungen  von  einem  kaum  sicht- 
baren Anfang  bis  zur  vollendeten  Uebereinstimmung  in  der  Richtung 
und  zum  festesten  Zusammenhalt  betragen.  Ist  der  Eindruck,  den 
die  Empfindung  gemacht  hat,  schwach,  so  erfolgt  durch  den  schwachen 
Vorstellungsstrom  nur  eine  sehr  unvollständige  Orientirung,  die  bald 
wieder  verloren  geht.  Ist  der  Eindruck  stärker,  so  wird  die  Orien- 
tirung der  Micelle  bestimmter  und  dauernder.  Aeusserst  lebhafte 
Vorstellungen  können  in  dieser  Weise  eine  Spur  hinterlassen,  die 
zeitlebens  bleibt.  Jede  neue  Empfindung  macht  sich  im  Sensorium 
eine  neue  Vorstellungsbahn ;  wiederholt  sich  aber  die  ganz  gleiche 
Empfindung,    so  schlägt   sie   den   Weg   ihrer   Vorgängerin    ein-  und 


8.  Zurückführung  geistiger  Vorgänge  auf  stoffliche  Bewegungen.         669 

macht  die  Orientirung   der  Micelle   bestimmter  uii<l    haltbarer  (Aus- 
wendiglernen). 

Die  Vorstellung  selbst  ist  ein  momentaner  Nervenstrom,  und 
besteht  in  bestimmten  (schwingenden)  Bewegungen  der  Micelle,  ihrer 
Moleküle  und  Elementatome  sammt  den  zugehörigen  Aethertheilchen. 
Die  Erinnerung  besteht  darin,  dass  die  Elemente  einer  Spur  auf 
äussere  oder  innere  Veranlassung  wieder  erregt  werden  und  zu 
schwingen  beginnen,  wodurch  sich  die  frühere  Vorstellung  erneuert. 

Finden  zwei  Vorstellungen  (.4  und  B)  gleichzeitig  statt,  d.  h. 
mit  einem  Zeitunterschied,  der  geringer  ist  als  die  Dauer  ihrer  Er- 
regung, und  sind  sie  lebhaft  genug,  so  wirken  die  zwei  schwingenden 
Spuren  auf  einander  ein  und  werden  auf  dem  kürzesten  Weg  durch 
eine  Querspur  verbunden.  Wiederholt  sich  später  die  Vorstellung  A 
allein,  so  geschieht  es  leicht,  dass  vermittelst  der  Verbindungsspur 
auch  die  Spur  von  B  in  Schwingung  versetzt  und  damit  die  Vor- 
stellung B  wieder  lebendig  wird. 

Schliesslich  sind  in  dem  Sensorium  unzählige  Vorstellungsspuren 
vorhanden,  jede  durch  ungeordnete  Substanz  isolirt  und  somit  im 
Stande  allein  schwingen  zu  können,  aber  auch  jede  durch  eine  Menge- 
von  A^erbindungsspuren  mit  andern  Vorstellungsspuren  zusammen- 
hängend und  fähig,  dieselben  zu  beleben  oder  von  denselben  belebt 
zu  werden.  Es  können  daher  bei  jeder  Vorstellung  durch  directe 
Vermittelung  viele  andere  und  durch  weitere  Vermittelung  nach  und 
nach  alle  Vorstellungen,  die  im  Sensorium  als  Spuren  vorhanden 
sind,  erwachen.  Ich  sehe  beispielsweise  ein  Feuer,  dadurch  bekomme 
ich  möglicher  Weise  die  Vorstellung  von  Wärme,  von  Thermometer- 
graden und  Wärmeeinheiten ;  von  Kälte  und  Einheizen ;  von  Brennen, 
Feuersbrunst,  Löschen  und  Löschanstalten ;  von  Sieden,  Braten  und 
Dörren;  von  der  rothen  Farbe  des  Feuers  und  von  andern  Farben, 
von  verschiedenen  rothgefärbten  Gegenständen,  von  rother  Repubhk 
und  rothen  Kardinälen ;  von  Rauch,  von  rauchgeschwärzten  Gegen- 
ständen und  Personen ;  ferner  die  Vorstellung  des  Wortes  Feuer  und 
seiner  Buchstaben,  der  von  Feuer  abgeleiteten  Wörter,  der  Wörter, 
die  den  gleichen  Reim  geben  oder  die  gleiche  Alliteration  haben, 
der  Wörter  in   anderen  Sprachen,   welche   Feuer  bedeuten,  u.  s.  w. 

Die  im  Sensorium  enthaltenen  Vorstellungsspuren  geben  uns 
Aufschluss  darüber,  ob  eine  Empfindung,  die  wir  erhalten,  neu  ist 
oder  ob  wir  sie  schon  empfunden  haben,  und  zu  welcher  Zeit.    Trifft 


670  Zusätze. 

uns  eine  Empfindung  zum  ersten  Mal,  so  muss  ihre  Vorstellung  sich 
eine  besondere  Spur  bahnen  und  damit  ist  für  unser  Bewusstsein 
ihre  Neuheit  gegeben.  Sie  erscheint  uns  auch  neu,  wenn  sie  zwar 
früher  schon  da  war,  wenn  aber  ihre  Spur  mit  der  Zeit  gänzlich 
verschwunden  ist.  Findet  eine  Empfindung  eine  ihr  entsprechende 
Spur  bereits  vor,  so  wissen  wir,  dass  wir  die  nämliche  Empfindung 
früher  schon  hatten,  und  je  nachdem  die  Spur  noch  frisch  ist  oder 
mehr  oder  weniger  gelitten  hat,  wissen  wir  auch,  ob  die  Empfindung 
erst  kürzlich  oder  schon  vor  längerer  Zeit  statt  fand.  Vorzüglich 
aber  werden  wir  über  die  Zeit  derselben  belehrt  durch  die  mit  ihrer 
Spur  unmittelbar  verbundenen  Spuren,  also  durch  die  Vorstellungen, 
die  wir  gleichzeitig  mit  jener  Empfindung  hatten.  Und  den  ganz 
genauen  Zeitpunkt  erfahren  wir,  wenn  die  Vorstellungsspur  der 
Empfindung  entweder  selbst  oder  wenn  eine  mit  ihr  verbundene 
gleichzeitige  Spur  in  Zusammenhang  steht  mit  Zeitspuren  d.  h.  mit 
solchen,  welche  uns  das  Jahr,  den  Monat,  den  Tag,  die  Stunde  an- 
geben. —  Eine  Empfindung  kann  sich  mehrere  Male  wiederholen, 
und  möglicher  Weise  erinnern  wir  uns  an  jedes  einzelne  Mal.  Dies 
ist  dann  der  Fall,  wenn  ihre  Spur  sich  jedesmal  mit  Zeitspuren 
oder  überhaupt  mit  andern  Spuren,  die  über  die  Zeit  Auskunft  geben, 
in  Verbindung  gesetzt  hat. 

Die  Vorstellungen  hängen  im  Sensorium  zuweilen  in  der  Art 
zusammen,  dass  die  eine  unwillkührlich  die  andere  hervorruft.  Dieser 
Vorgang  stellt  sich  am  reinsten  dar,  wenn  ein  Kind  das  Abc,  oder 
die  Zahlenreihe  oder  einen  Spruch  auswendig  lernt,  von  dem  es 
gar  nichts  versteht,  der  ihm  also  nichts  anderes  als  eine  Reihe  von 
Wörtern  ist.  Jeder  Laut  macht  sich  beim  Memoriren  eine  Spur 
und  wird  mit  dem  nächstfolgenden  oder  mit  den  zwei  und  drei 
nächstfolgenden,  sofern  ihre  Vorstellungen  zeitlich  noch  zusammen- 
treffen, durch  Querspuren  verbunden.  Da  die  Laute  nicht  gleich- 
zeitig gesprochen  oder  gehört  werden,  so  wird  immer  die  ausschwingende 
Spur  mit  einer  solchen,  die  zu  schwingen  beginnt,  verbunden.  Die 
Verbindungen  zwischen  den  Gliedern  einer  Reihe  sind  also  nach 
vorn  und  nach  hinten  ungleichartig,  Wenn  nun  ein  Laut  mitten 
aus  der  Reihe  angegeben  wird,  so  leitet  seine  Spur  beim  Ausschwingen 
naturgemäss  nach  dem  folgenden  und  nicht  etwa  nach  dem  vorher- 
gehenden Glied  der  Reihe.  Sind  alle  Verbindungen  in  Ordnung, 
so  würd  die  Reihe  ohne  Fehler  und  ohne  L^nterbruch  hergesagt. 


8.  Zurückführung  geistiger  Vorgänge  auf  stoffliche  Bewegungen.         67 1 

Ich  habe  bis  jetzt  nur  von  den  Vorstellungen  gesprochen,  in- 
sofern dieselben  durch  äussere  Eindrücke  veranlasst  werden  und 
Spuren  im  Sensorium  zurücklassen,  welche  in  Folge  späterer  Ein- 
drücke wieder  in  Schwingung  gerathen  und  Erinnerungen  wach 
rufen.  Es  werden  aber  auch  durch  innere  Anregung  die  vorhandenen 
Vorstellungsspuren  in  Bewegung  gesetzt  und  neue  Vorstellungen 
gebildet,  die  bei  hinreichender  Lebhaftigkeit  ihre  Spuren  hinterlassen. 
Es  wäre  nun  weiter  zu  untersuchen,  wie  es  geschieht,  dass  man  fast 
beliebige  Spuren  schwingen  lässt  und  Erinnerungen  erweckt,  —  dass 
man  von  den  zahlreichen,  nach  Association  schwingenden  Spuren' 
die  einen  festhält,  die  andern  unbemerkt  vorübergehen  lässt,  —  dass 
man  ohne  äussere  Einwirkung  die  vorhandenen  Vorstellungen  zur 
Bildung  neuer  Vorstellungen  benutzt,  die  demnach  rein  innerliche 
sind,  da  ihnen  keine  von  aussen  kommende  Empfindung  entspricht,  — 
dass  man  also  sinnlich  gegebene  Vorstellungen  zu  Abstractionen 
und  Schlüssen  benutzt,  die  eben  so  viele  neue  Spuren  im  Sensorium 
erzeugen  können,  —  dass  man  von  den  Vorstellungen  und  Schluss- 
folgerungen zu  Entschlüssen  gelangt  und  dieselben  durch  den  Willen 
zu  Thaten  werden  lässt.  Alles  dies  sind  Aufgaben  der  physiologischen 
Psychologie,  welche,  wie  ich  glaube,  auf  dem  angegebenen  Weg  (ver- 
mittelst der  Vorstellungsspuren)  gelöst  w^erden  können.  Dabei  ist 
für  den  Naturforscher  selbstverständlich,  dass  das  Princip  der  Freiheit 
nicht  als  etwas  dem  Causalgesetz  Widersprechendes  und  Transcen- 
dentes  eingreifen  darf,  sondern  dass  die  Freiheit  etwas  Reales  und 
Vorstellbares  ist,  in  der  Weise,  dass  immer  materiell  gegebene  Dispo- 
sitionen vorhanden  sind  und  dass  der  Ueberlegung  die  Auswahl 
zwischen  verschiedenen  Entschlüssen  offen  steht.  Die  Ueberlegung 
ist  aber  nichts  anderes  als  die  gleichzeitige  Thätigkeit  verschiedener 
Vorstellungsspuren,  namentlich  auch  derjenigen,  welche  die  voraus- 
sichtlichen Folgen  und  die  Gründe  für  und  gegen  zum  Bewusstsein 
bringen,  und  welche  dann  den  Entschluss  zur  Ausführung  gelangen 
lassen.  —  Der  Versuch  zur  Beantwortung  der  genannten  Probleme 
auf  molecular-physiologischem  Weg  würde  hier  viel  zu  weit  führen. 
Dagegen  will  ich  noch  einige  Einwürfe  beantworten,  welche  vielleicht 
gegen  die  Elemente  der  allgemeinen  Theorie  erhoben  w^erden. 

Man  wird  vielleicht  die  Frage  auf  werfen,  wodurch  sich  denn 
die  unzähligen  Spuren  im  Sensorium  materiell  unterscheiden,  da 
jede   eine    andere   Vorstellung    gibt,    und    man   wird   vielleicht  die 


672  Zusätze. 

Möglichkeit  bestreiten,  die  Aufgabe  durch  Combinationen  der  mole- 
cularen  Verhältnisse  zu  lösen.  Allerdings  ist  die  Molecularphysiologie 
noch  lange  nicht  im  Stande,  die  erste  Frage  in  irgend  einer  plausibeln 
Weise  zu  beantworten.  Dagegen  lässt  sich  die  Möglichkeit  einer 
solchen  Lösung  unbestreitbar  darthun,  weil  in  den  Nerven  wirklich 
stattfindet,  was  für  das  Sensorium  vorausgesetzt  wird.  Da  die  Nerven 
die  verschiedensten  Empfindungen  leiten,  so  muss  jede  qualitativ 
und  quantitativ  verschiedene  Empfindung  in  anderer  Art  geleitet 
werden.  Bedenken  wir,  wie  die  von  dem  Gesichtsorgan  aufgenommenen 
zahllosen  Formen  und  die  mannigfaltigsten  Zeichnungen,  Schattirungen 
und  Färbungen  auf  denselben  durch  den  Sehnerven,  wie  von  dem 
Gehörorgan  die  verschiedenen  Töne  und  Geräusche  und  die  Tausende 
von  Wörtern  durch  den  Hörnerven,  wie  ferner  die  Gerüche,  die 
Geschmacksempfindungen  und  die  Wahrnehmungen  des  Tastorganes 
von  den  andern  Nerven  zum  Sensorium  geleitet  und  demselben  in 
unterscheidbarer  Weise  übergeben  werden,  so  müssen  wir  auch  dem 
Sensorium  selbst  die  Fähigkeit  zugestehen,  die  Vorstellungen  aller 
dieser  Empfindungen  in  unterscheidbarer  Weise  zu  reproduciren. 

Ein  anderes  Bedenken  könnte  darin  bestehen,  ob  das  Sensorium 
wohl  Raum  für  die  Unzahl  von  räumlich  geschiedenen  Vorstellungs- 
bahnen besitze.  Nehmen  vdr  an,  für  jede  Bahn  sammt  der  um- 
gebenden passiven  (ungeordneten)  Substanz  sei  ein  prismatischer 
oder  cylindrischer  Strang  erforderhch,  dessen  Querschnitt  J  00  Micelle 
(Molekülgruppen)  enthält  (was  wohl  eher  zu  viel  ist),  nehmen  wir 
ferner  an,  auf  die  Eiweissmicelle  treffen  durchsc*hnittlich  360  Kohlen- 
stoffatome (womit  ihre  Grösse  bestimmt  ist)  und  die  Stränge  ent- 
halten 78  bis  57  Procent  Wasser,  so  liegen  auf  dem  Raum  von 
jedem  Quadratmillimeter  78000  bis  121000  Millionen  von  Micellen 
neben  einander,  und  es  finden  somit  auf  diesem  Raum  780  bis 
1210  Milhonen  von  Vorstellungsbalinen  Platz  ^).  Bei  grösserer  Aus- 
dehnung des  Sensoriums  wächst  diese  Zahl  zu  einer  so  überwäl- 
tigenden Menge  an,  dass  sie  allen  Anforderungen  genügen  muss. 

Ueberdem  ist  zu  bemerken,  dass  nicht  jede  einzelne,  von  den 
übrigen  etwas  verschiedene,  concrete  Wahrnehmung  auch  ihre  be- 
sondere Spur  im  Sensorium  hervorbringen  wird ;  dafür  wäre  allerdings 


')  Vgl.   übeY   diese   Berechnung    die   Abhandlung   ü1)er  die   Abstammungs- 
lehre S.  G6. 


8.  Zurückführunfr  geistiger  Vorgänge  auf  stoffliche  Bewegungen.         G73 

kein  Raum  hinreichend  gross.  Sondern  es  muss  jedenfalls  angenommen 
werden,  dass  die  sinnliche  Gesammtwahrnehmung,  die  stets  eine  zu- 
sammengesetzte ist,  sich  in  ihre  Elemente  zerlege.  Dies  ist  schon 
behufs  der  Leitung  zum  Centralorgan  erforderlich  und  hier  bildet 
sich  dann  jedes  Element  seine  eigene  Vorstellungsbahn.  Die  zum 
Bewusstsein  gelangende  Gesammt -Vorstellung  wird  aus  den  gleich- 
zeitig erregten  Bahnen  dieser  Elemente  zusammengesetzt.  —  In  dieser 
Weise  bedarf  es  allerdings  für  die  Vorstellung  der  einzelnen  con- 
creten  Wahrnehmung  einer  Mehrzahl  von  Spuren  im  Sensorium; 
dafür  aber  kann  aus  50  Elementen  eine  Unzahl  von  verschiedenen 
concreten  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  durch  ungleiche  Com- 
bination  zusammengesetzt  werden '). 

Diese  Theorie  erklärt  uns  manclie  Erscheinungen  im  Geistesleben, 
die  unserem  Verständniss  sonst  Schwierigkeiten  bereiten  würden. 
Ich  erwähne  beispielsweise  der  mehr  oder  weniger  unklaren  Er- 
innerung. Dieselbe  begreift  sich  leicht  durch  den  Umstand,  dass 
nur  ein  Theil  der  sie  zusammensetzenden  Elementarbahnen  erregt 
wird.  Ist  uns  ein  Name  entfallen  und  wir  erinnern  uns  nur,  dass 
derselbe  mit  S  anfängt  oder  dass  in  demselben  ein  U  vorkommt,  so 
rührt  dies  daher,  dass  die  andern,  auf  den  Namen  hinweisenden 
Vorstellungen  im  Augenblick  bloss  die  Bahnen  dieser  zwei  Buch- 
staben, die  seiner  Zeit  unsere  Aufmerksamkeit  besonders  erregt  haben, 
in  Schwingung  zu  setzen  vennögen.  —  Die  Theorie,  dass  die  Vor- 
stellungen im  Sensorium  in  ihre  Elemente  zerlegt  sind,  gewährt  uns 
auch  sofort  eine  Einsicht  in  das  Zustandekommen  der  Abstractionen. 
Der  allgemeine  Begriff  wird  dann  lebendig,  wenn  die  ihm  angehörigen 
speciellen  Begriffe  in  gleichem  Maasse  zur  Vorstellung  gelangen. 
Wenn  die  Bahnen,  welche  die  Vorstellungen  der  besonderen  Zahlen 
darstellen,  gleichzeitig  und  gleich  stark  erregt  sind,  so  haben  wir  die 
Vorstellung  der  Abstraction  Zahl,  wenn  die  Bahnen  der  Farben  gleich- 
massig  erregt  sind,  die  Abstraction  Farbe. 


*)  In  analoger  Weise  niuss  die  Theorie  über  das  Zustandekommen  der 
Krljlichkeit  in  der  Abstamn^ungslehre,  mit  der  die  Theorie  über  das  Zustande- 
kommen der  Vorstellungen  und  Erinnerungen  in  allen  Beziehungen  grosse  Ana- 
logie zeigt  (mit  der  Ausnahme  jedocth,  dass  jenes  ein  phylogenetischer,  dieses  ein 
ontogenetischer  Vorgang  ist),  ebenfalls  eine  solche  Zerlegung  der  Erscheinungen 
in  ihre  Elemente  zur  Erzeugung  der  idioplasmatischen  Anlagen  annehmen 
(S.  43—45). 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre  43 


(j74  Zusätze. 

Endlich  muss  ich  noch  von  einem  Einwurf  sprechen,  der  wirk- 
Hch  gemacht  wurde  und  auf  den  ich  schon  Eingangs  hingewiesen 
habe.  Derselbe  bestreitet  die  Berechtigung  der  materialistischen  Be- 
trachtung an  und  für  sich ,  weil  es  undenkbar  sei ,  dass  sich  die 
Empfindungen  getrennter  kleinster  Theilchen  zur  Einheit  unserer 
Empfindung  und  unseres  Bewusstseins  summiren ;  weil  also  der 
atomistischen  Theorie  das  Zusammenfassende  mangle,  welches  aus 
der  quantitativen  Vielheit  ein  qualitatives  Ganzes  mache.  Können 
die  Motive  dieses  Einwurfs  nicht  bestritten  werden,  so  ist  damit  nur 
die  Unzulänglichkeit  unseres  Erkennens,  nicht  die  Unmöglichkeit 
des  Geschehens  bewiesen.  Es  wäre  sehr  kurzsichtig  zu  sagen:  Das 
begreife  ich  nicht,  darum  leugne  ich  seine  Existenz.  Wir  begreifen 
weder  die  Gravitationsanziehung,  noch  die  elektrische  Anziehung  und 
Abstossung,  noch  die  chemische  Verwandtschaft,  und  doch  machen 
die  zugehörigen  Vorgänge  den  Inhalt  von  wissenschaftlichen  Dis- 
ciplinen  aus.  Wir  begreifen  nicht,  wie  aus  den  Schwingungen  der 
Lichtäthertheilchen  für  unser  Auge  Farben,  aus  den  Schwingungen 
der  Luftmoleküle  für  unser  Ohr  Töne  entstehen,  aber  es  fällt  nie- 
manden ein,  deshalb  das  Vorhandensein  von  Schwingungen  zu  be- 
streiten. 

Geradeso  verhält  es  sich  auch  mit  dem  Zustandekommen  der 
Qualität  eines  Ganzen  aus  den  Eigenschaften  seiner  Theile.  Wir 
vermögen  nicht  einzusehen,  wie  aus  Kohlenstoff,  Wasserstoff  und 
Sauerstoff  die  Säure  des  Essigs,  die  Süsse  des  Zuckers,  das  Aroma 
des  Kamphers,  das  Belebende  und  Berauschende  des  Weingeistes  zu- 
sammengesetzt wird,  und  doch  wird  niemand  so  unwissenschaftlich 
sein  und  deswegen  die  Zusammensetzung  dieser  Substanzen  aus 
Kohlenstoff,  Wasserstoff  und  Sauerstoff  bestreiten  wollen.  Gleichwohl 
sind  diese  Zusammensetzungen  um  nichts  weniger  unbegreiflich,  als 
die  Zusammensetzung  unserer  einheitlichen  Empfindungen  und  Vor- 
stellungen aus  den  Empfindungen  zahlreicher  Moleküle  und  die 
Zusammensetzung  unseres  einheitlichen  Bewusstseins  aus  zahlreichen 
Vorstellungen. 

Was  den  Träger  und  die  Verbreitung  des  Geisteslebens  in  der 
Natm'  betrifft,  so  wissen  wir,  dass  dasselbe  an  die  Nervensubstanz 
gebunden  ist.  In  den  meisten  Thieren  ist  diese  Substanz  in  leitende 
Stränge  und  in  ein  Centralorgan  geschieden,  in  welchem  sich  die  Vor- 
stellungen bilden.   Im  Menschen  hat  sie  ihre  höchste  Differenzirung 


8.  Zurückführnnir  ffoistiger  Vorgänge  auf  stoffliche  Bewegungen.         675 

erreicht,  wiewohl  wir  nur  die  Functionen  der  Nervenstränge  bestimmt 
kennen,  welche  die  Leitung  zum  und  vom  Centralorgan  übernehmen, 
und  wiewohl  ül)er  die  Vertheilung  der  Functionen  im  Centralorgan  nur 
wenig  bekannt  ist.  —  Es  versteht  sich,  dass  jeder  Theil  des  Nerven- 
systems entsprechend  seiner  Verrichtung  molecular  organisirt  ist.  Die 
feinste  Organisation  verlangt  das  Sensorium.  Besonders  muss  die  Be- 
weglichkeit der  Micelle  ein  sehr  bestimmtes  Maass  einhalten,  damit 
in  der  ungeordneten  Substanz  die  Vorstellungsbahnen  entstehen,  als 
Spuren  dauernd  werden,  und  auf  Anstösse  wieder  in  Schwingung 
gerathen.  Die  Bew'egiichkeit  darf  weder  zu  gross  sein,  weil  in  einer 
allzu  weichen  Substanz  die  Orientirung  der  Micelle  zwar  leicht  erfolgt, 
aber  nicht  haltbar  ist  und  die  Erinnerung  verloren  geht ;  noch  darf 
die  Beweglichkeit  zu  gering  sein,  weil  in  einer  allzufesten  Substanz 
die  Micelle  nur  schwer  ihre  Gleichgewichtslage  verlassen,  die  Vor- 
stellungen nur  unvollkommen  und  die  Erinnerung  gar  nicht  zu 
Stande  kommt. 

Vom  Menschen  im  Thierreiche  abwärts  werden  die  Functionen 
des  Geisteslebens  einfacher  und  die  Nervensubstanz  in  sich  gleich- 
artiger. Auf  der  niedrigsten  Stufe  muss  auch  die  elementarste  Dif- 
ferenzirung  in  leitende  und  vorstellungbildende  Masse  verschwinden; 
die  nämliche  Substanz  übernimmt  beide  Verrichtungen,  und  die 
Vorstellungen,  die  bloss  durch  äussere  Reize  veranlasst  werden,  sind 
von  der  allereinfachsten  Art.  Hier  sind  wir  bei  der  Grenze  an- 
gekommen, wo  das  eigentliche  Geistesleben  im  engeren  Sinne  beginnt: 
Ein  äusserer  lebhafter  Eindruck  bleibt  in  der  Substanz  als  Spur 
zurück,  und  kann  bei  entsprechenden  späteren  Eindrücken  als 
Erinnerungsvorstellung  einer  angenehmen  oder  unangenehmen  Em- 
pfindung wach  werden,  so  dass  die  erfolgende  Bewegung  nicht  bloss 
durch  den  gegenwärtigen  äusseren  Reiz,  sondern  auch  dm'ch  Erin- 
nerungsvorstellungen beeinflusst  wird.  Dies  ist  das  geringste  Maass 
von  geistigem  Leben,  das  wir  von  einem  Thier  verlangen  müssen 
Die  Pflanze  besitzt  keine  Erinnerungsvorstellungen;  ihre  Bewegungen 
werden  durch  äussere  und  innere  Ursachen  bestimmt,  an  denen  aber 
die  Vorstellung  von  einer  früheren  Erfahrung  keinen  Theil  hat.  Wir 
können  der  Pflanze  die  Empfindung  nicht  absprechen;  aber  wir 
dürfen  ihr  keine  Seele  zuschreiben,  insofern  als  Seele  ohne  Vor- 
stellungen und  Erinnerung  nicht  denkbar  ist. 

Von   den  beiden  Unterscheidungsmerkmalen   Empfindung  und 

43* 


()7G  -  Zusätze. 

willkürliche  Bewegung,  durch  welche  man  früher  das  Thier  gegen- 
über der  Pflanze  charakterisirte,  ist  nur  das  letztere  stichhaltig.  Die 
Bewegung  erscheint  uns  dann  willkürlich,  wenn  sie  nicht  durch  die 
uns  sichtbaren  Ursachen  allein  erklärt  werden  kann,  und  dies  ist 
beim  Thier  der  Fall,  wo  nicht  bloss  die  äusseren  Eindrücke,  sondern 
auch  die  inneren  Vorstellungen  dabei  maassgebend  mitwirken.  Bei 
der  Pflanze  dagegen  lassen  sich  die  Reizbewegungen  vollständig  auf 
den  von  aussen  kommenden  Reiz  und  auf  die  Organisationsverhält- 
nisse zurückführen.  Die  Schwärmbewegungen  der  einzelligen  Pflanzen 
und  der  einzelligen  Thiere  sind,  so  ähnlich  sie  bei  oberflächlicher 
Beti'achtung  erscheinen,  doch  darin  verschieden,  dass  die  vegetabili- 
schen Schwärmzellen  sich  viel  regelmässiger  bewegen  und  dass  die 
Abweichungen  von  der  Regelmässigkeit  sich  aus  dem  ungleichen 
Bau  und  den  ungleichen  äusseren  Widerständen  erklären  lassen, 
während  die  viel  grössere  Unregelmässigkeit  der  thierischen  Schwärm 
Zellen  offenbar  noch  durch  andere  Ursachen  bedingt  wird.  Im  Thier 
tritt  also  eine  neue  allgemeine,  dem  Pflanzenreiche  mangelnde  Qualität 
auf,  die  aber,  wie  alle  Qualitäten  in  der  Natur,  aus  quantitativen  Ver- 
hältnissen entsteht  und  die  auch  keinen  absoluten  Unterschied  be- 
gründet ,  da  von  dem  mit  einfachster  Vorstellung  begabten  Thier 
zur  vorstellungslosen  Pflanze  ein  allmählicher  Uebergang  denkbar  und 
auch  wohl  vorhanden  ist. 

Dagegen  besteht  z\^'ischen  Thier  und  Pflanze  rücksichtlich  der 
Empfindung  nur  ein  Unterschied  im  Grade.  Wir  haben  keinen 
Grund,  den  Sinnpflanzen  dieselbe  abzusprechen,  wenn  wir  sie  man- 
chem noch  empfindungsloseren  niederen  Thier  zuschreiben,  welches 
in  dieser  Beziehung  vom  Menschen  und  den  höchsten  Thieren  so 
ungeheuer  weit  absteht.  —  Ob  zwischen  der  Empfindung  der  Thiere 
und  Pflanzen  und  der  Empfindung  der  Moleküle  und  Elementatome 
ebenfalls  nur  ein  gradweiser  Unterschied  anzunehmen  sei,  oder  ob 
die  erstere  eine  neue  Qualität  darstelle,  die  aus  der  letzteren  durch 
Zusammensetzung  hervorgeht  (wobei  das  Zusammengesetzte  nicht 
als  blosse  Summirung  erscheint,  vgl.  Zusatz  7  S.  662),  lässt  sich  wohl 
noch  nicht  übersehen,  doch  ist  das  Vorhandensein  eines  qualitativen 
Unterschiedes  wahrscheinlich . 

Wie  die  Empfindung  in  dem  gesammten  organischen  Reich 
nur  eine  gradweise  Abstufung  zeigt  und  wie  in  den  scheinbar  ganz 
empfindungslosen  Pflanzen  schon  die  Anfänge  der  Eigenschaft,  die 


9.  Vergleichung  d.  thierischen  Affccte  m.  analog,  unorgan.  Erscheinungen.       ß77 

uns  im  Menschen  so  sehr  gesteigert  nnd  differenzirt  entgegentritt, 
vorhanden  sind,  so  verhält  es  sich  mit  dem  Bewusstsein  für  das 
ganze  Thierreicli.  Die  Anfänge  desselben,  welche  dm-ch  die  wenigen 
und  einförmigen  Erinnerungs Vorstellungen  der  niedersten,  uns  ganz 
bewusstlos  erscheinenden  Thiere  dargestellt  werden,  führen  durch 
eine  continuirliche  Reihe  zu  dem  so  hoch  entwickelten  Bewusstsein 
des  INIenschen. 


9.  Vergleichung  der  thierischen  Affecte  mit  analogen  unorganischen 
Erscheinungen  (S.  599). 

Die  Vorstellung,  ^ie  das  Geistes-  und  Gefühlsleben  des  Menschen 
mit  analogen  Aifecten  in  der  unorganischen  Natur  in  Beziehung  zu 
bringen  sei,  hat  seit  Empedocles  keinen  wesentlichen  Fortschritt 
gemacht.  Derselbe  nahm  zwei  Grundkräfte  an,  Liebe  und  Hass, 
von  denen  die  eine  Vereinigung  und  Aufbau,  die  andere  Trennung 
und  Zerstörung  bewirkt,  denen  also  im  allgemeinen  die  gleiche  Auf- 
gabe zukommt  wie  den  zwei  Kraftkategorien  der  jetzigen  Physik, 
Anziehung  und  Abstossung.  Wenn  im  Anschluss  an  den  griechischen 
Philosophen  von  heutigen  Naturphilosophen  Anziehung  und  Ab- 
stossung der  kleinsten  Theilchen  geradezu  als  Liebe  und  Hass  be- 
zeichnet oder  damit  vergüchen  werden,  so  geschieht  das  w^ohl  ohne 
nähere  Ueberlegung.  Eine  solche  Idee  mag  als  poetisches  Gleichniss 
mitgehen,  aber  wissenschaftliche  Bedeutung  kommt  ihr  nicht  zu. 
Weder  lässt  sie  sich  für  die  Molecularerscheinungen  durchführen, 
noch  lassen  sich  Liebe  und  Hass  als  die  zwei  Grundkräfte  eines 
psychologischen  Systems  verwerthen. 

Wenn  Anziehung  und  Abstossung  Liebe  und  Hass  wären ,  so 
kämen  diese  Empfindungen  den  Elementatomen  und  Molekülen  im 
nämlichen  Moment  in  gleicher  Stärke  zu;  denn  die  Theilchen  der 
festen  Körper  werden  ja  durch  das  Gleichgewicht  der  anziehenden 
und  abstossenden  Kräfte  in  ihrer  Lage  erhalten.  Man  sollte  nun 
meinen,  dass  die  Annäherung  der  Moleküle  ein  Zeichen  der  Liebe 
sei ;  dann  wäre  die  Liebe  bei  grösster  Kälte,  bei  welcher  die  Moleküle 
in  den  kleinsten  Abständen  sich  befinden ,  am  wärmsten  und  bei 
grösster  Hitze,  bei  welcher  die  Moleküle  sich  am  weitesten  von 
einander  entfernen,  am  kältesten.   Dasselbe  würde  aber  auch  für  den 


678  Zusätze. 

Hass  gelten;  er  müsste  in  gleichem  Maasse  wie  die  Liebe  zu-  und 
abnehmen,  denn  bei  jeder  Temperatur  ist  ja  Anziehung  und  Ab- 
stossung  einander  wieder  gleich.  —  Um  diesen  wenig  plausiblen 
Consequenzen  zu  entgehen,  hätte  man  noch  den  Ausweg,  Liebe  und 
Hass  als  die  quantitative  Differenz  von  Anziehung  und  Abstossung, 
also  nur  dann  als  wirklich  vorhanden  anzunehmen,  wenn  die  eine 
oder  andere  dieser  Kräfte  überwiegt.  Dann  würde  in  einem  elastischen 
Körper,  den  man  zusammendrückt,  mit  der  Annäherung  der  Moleküle 
ihr  Hass  erwachen,  und  beim  Auseinanderziehen  würde  die  Liebe 
der  Moleküle  im  Verhältniss  der  Entfernung  sich  steigern,  was  gleich- 
falls nicht  als  sehr  natürlich  erscheint. 

Anziehung  und  Abstossung  sind  Eigenschaften  der  Stofftheilchen, 
welche  ihnen  beständig  und  in  unveränderlicher  Stärke  zukommen,  sie 
mögen  sich  in  Ruhe  oder  in  Bewegung  befinden.  Liebe  und  Hass  aber 
sind  offenbar  nicht  unveränderliche  und  bleibende  Eigenschaften  des 
Stoffes,  sondern  nur  mit  besonderen  Bewegungszuständen  derselben 
verbunden;  diese  Gefühle  treten  nur  bgi  bestimmten  Vorstellungen 
aui ;  sie  mangeln  im  Schlafe  oder  wenn  der  Geist  anderswie  beschäftigt 
ist.  Liebe  und  Hass,  sowie  überhaupt  die  Erscheinungen  des  Gefühls- 
und Geisteslebens  können  also  nicht  aus  den  Kräften  (als  con- 
stanten  Eigenschaften)  der  materiellen  Theilchen,  sondern  aus  Re- 
gungen, welche  den  letzteren  in  der  Bewegung  zukommen,  also  aus 
vorübergehenden  und  wechselnden  Eigenschaften  der  Theilchen  ab- 
geleitet werden ,  —  in  analoger  Weise ,  wie  das  materielle  Leben 
des  menschlichen  Körpers  aus  den  Bewegungen  der  Moleküle  und 
Elementatome  hervorgeht. 

Liebe  und  Hass  können  nicht  als  die  elementarsten  und  ein- 
fachsten, sie  müssen  vielmehr  schon  als  sehr  zusammengesetzte  und 
\delfach  vermittelte  Erscheinungen  des  Seelenlebens  betrachtet  werden. 
Mit  vollem  Recht  lässt  Du  Bois  Reymond  dasselbe  mit  dem  Be- 
hagen beginnen.  Wohlbehagen  und  IVIissbehagen ,  angenehme  und 
unangenehme  Empfindung  sind  die  einfachsten  psychischen  Affecte, 
die  wir  uns  zu  denken  vermögen.  Wir  können  daher  auch  den 
kleinsten  Theilchen  nichts  anderes  als  Wohl-  oder  Missbehagen  oder 
vielmehr  Regungen  zuschreiben,  die  das  Behagen  in  seiner  elemen- 
tarsten Form  darstellen;  wir  können  es  nur  mit  den  moleculären 
Bewegungen  auftreten  lassen,  und  wir  müssen  es  selbstverständlich, 
■s\de    dies    im   Texte    geschehen    ist,    dadurch    bedingt   sein    lassen. 


9.  Vergleichung  d.  thierischen  AfEecte  m.  analog,  unorgan.  Erscheinuugen.        079 

dass  den  verschiedenen  motorischen  Trieben  (Anziehung  und  Ab- 
stossung)  durch  die  Bewegung  in  positivem  oder  negativem  Sinne 
entsprochen  wird. 

Ein  solches  elementares  Wohlbehagen  ^\^rd  also  von  zwei  gleich- 
namig-elektrischen Theilchen  empfunden,  die  ihrer  Neigung  folgend 
sich  von  einander  entfernen,  Missbehagen  dagegen,  wenn  sie  im 
Widerspruch  mit  ihrer  Neigung  einander  genähert  werden.  Zwei 
ungleichnamig-elektrische  Theilchen  verhalten  sich,  wegen  ihrer  gegen- 
seitigen Anziehung,  umgekehrt ;  das  Näherrücken  befriedigt  sie,  das 
Auseinanderrücken  aber,  um  wieder  bildlich  zu  sprechen,  verdriesst 
sie.  Dies  hätte  unbeschränkte  Giltigkeit,  wenn  es  schlechthin  elek- 
trische Theilchen  gäbe.  Da  jedoch  die  Elektricität  nur  mit  andern 
Kräften  zugleich  an  den  Stofftheilchen  haftet^),  so  kann  man  für 
den  angegebenen  Fall  nicht  einfach  von  Behagen,  sondern  bloss 
von  elektrischem  Wohl- und  Missbehagen  sprechen.  Zwei  Atome 
mit  gleichnamiger  Elektricität  stossen  sich  in  Folge  der  Elektricität 
ab ,  sie  ziehen  sich  aber  vermöge  ihrer  Gravitation  an ,  und  sie 
müssen  daher,  so  oft  sie  ein  elektrisches  Wohlbehagen  empfinden, 
ein  Gravitationsmissbehagen  fühlen,  und  umgekehrt.  Die  Bewegung, 
welche  zwei  Atome  einander  näher  oder  ferner  rückt,  verursacht,  vde 
viele  anziehende  und  abstossende  Kräfte  in  denselben  ihren  Sitz 
haben,  eben  so  viele  Arten  des  Behagens,  welche  als  Theilempfindungen 
zusammenwirken  und  deren  Summirung  die  Gesammtempfindung 
darstellt. 

Wenn  meine  Theorie  richtig  ist,  so  gibt  es  für  unser  Nerven- 
system weder  eine  reine  Lust  noch  einen  reinen  Schmerz,  sondern 
jede  Empfindung  ist  aus  angenehmen  und  unangenehmen  Gefühlen 
gemischt,  und  zwar,  wenn  wir  sie  merklich  spüren,  fast  immer  so, 
dass  die  einen  oder  andern ,  weil  sie  überwiegen ,  allein  vorhanden 
zu  sein  scheinen.  —  Ueber  das  Zustandekommen  der  Empfindungen 
in  der  Nervensubstanz  lässt  sich  bloss  sagen,  dass  die  kleinsten 
Theilchen  —  nämlich  die  Eiweissmicelle,  deren  Bausteine  die  Eiweiss- 
moleküle  und  die  Theile  der  letzteren  die  Elementatome  —  als  die 
Träger  der  Empfindung  angesehen  werden  müssen ;  aber  wegen  der 
unendlichen  Complication  der  Erscheinungen  ist  nicht  einmal  die 
allgemeinste  und  oberfiächlichste  Analyse  ausführbar.     Schon    die 


1)  Vgl.  Zusatz  1.  Physische  und  metaphysische  Atomistik  S.  609. 


680  Zusätze. 

Empfindung  eines  einzelnen  Eiweissmicells  gegenüber  einem  andern 
Eiweissmicell  gestaltet  sich  sehr  verwickelt.  Bezeichnen  wir  das 
Behagen,  das  ein  Atom  in  Beziehung  zu  einem  andern  Atom  empfindet, 
als  Atomempfindung,  und  nehmen  wir  an,  jedes  Eiweissmicell  ent- 
halte 360  Kohlenstoffatome,  somit  im  Ganzen  ungefähr  1125  Atome 
[C,  H,  N,  S,  0):  so  hat  jedes  Atom  des  einen  Micells  mit  Rück- 
sicht auf  das  ganze  andere  Micell  1125  Atomempfindungen,  und  die 
Gesammtempfindung  des  einen  Eiweissmicells ,  das  einem  andern 
Eiweissmicell  sich  nähert  oder  von  demselben  sich  entfernt,  besteht 
schon  aus  der  Smnme  von  mehr  als  einer  Million  Atomempfindungen. 
Die  Zahl  der  Atomempfindungen ,  welche  einem  Eiweissmicell  in 
einem  Plasmatropfen  oder  einzelligen  Organismus  kleinster  Grösse 
zukommen,  erreicht  eine  nicht  mehr  zu  übersehende  Grösse. 

Die  Gesammtempfindung  des  einzelnen  Micells  ist  quantitativ 
unendhch  gering.  Die  Empfindung  in  einer  einzelnen  Zelle  oder 
in  einem  Complex  von  Zellen  kann  dadurch  zu  merklicher  Inten- 
sität anwachsen ,  dass  zahlreiche  Micelle  zu  Schaaren  niederer  und 
höherer  Ordnungen  zusammentreten  und  eine  übereinstimmende 
Wirkung  ausüben.  Die  mannigfaltige  und  feine  Abstufung  in  den 
Empfindungen  aber  rührt  von  den  unendlichen  Modificationen  in 
der  Zusammensetzung  her,  verbunden  mit  dem  Umstände,  dass  jede 
Empfindung  die  Differenz  von  zwei  (positiven  und  negativen)  Summen 
zahlloser  Theilaffecte  ist. 


Kräfte  ml  rTestalliiien 


molecularen    Gebiet. 


Ein  theoretischer  Versuch. 


In  dem  1.  Zusatz  zu  der  Abhandlung  »Die  Schranken  der  natur- 
wissenschafÜichen  Erkenntniss«,  welcher  die  »Physische  und  meta- 
physische Atomistik«  bespricht  (S.  603),  habe  ich  es  versucht,  den 
Grund  für  eine  neue  Theorie  der  Lehre  von  den  Kräften  mid  Ge- 
staltungen im  molecularen  Gebiet  zu  legen.  Da  die  Theorie  dort 
nur  in  ganz  allgemeinen  Umrissen  entworfen  werden  konnte,  so  scheint 
es  mir  zweckmässig,  in  einer  weiteren  Ausführung  zu  zeigen,  dass 
sie  einer  Anwendung  bis  in  alle  Einzelheiten  fähig  ist,  und  den 
Beweis  zu  unternehmen,  dass  die  neue  Anschaumig  einerseits  in  theo- 
retischer Beziehung  unserem  naturwissenschaftlichen  Bewusstsein 
vollkommen  entspricht,  was  nach  meiner  Ansicht  mit  keiner  der 
bisherigen  atomistischen  Hypothesen  der  Fall  ist,  und  dass  sie  andrer- 
seits die  erfahrungsmässige  Wirklichkeit  ausreichend  zu  erklären 
vermag.  Namentlich  halte  ich  es  für  nothwendig  darzuthun,  dass 
die  Annahme  einer  noch  unbekannten  Kategorie  von  Kräften,  welche 
ich  aus  Vernunftgründen  gefordert  habe,  eine  Lücke  in  unserem 
Wissen  ausfüllt  und  dieses  in  den  Stand  setzt,  die  allgemeinsten 
physicalischen  Thatsachen  wie  Elasticität  und  chemische  Verwandt- 
schaft zu  begreifen.  Selbstverständlich  soll  an  den  empirisch  ge- 
wonnenen Gesetzen  und  Thatsachen  der  Physik,  Chemie  und  Physio- 
logie nichts  geändert,  sondern  bloss  der  Versuch  gemacht  werden, 
dieselben  auf  ein  einheitliches  und  rationelles  Princip  zurückzuführen^). 


')  Bei  der  Abfassung  dieser  Abhandlung  hatte  ich,  wie  bei  den  beiden 
vorhergehenden  (»Mechanisch-physiologische  Theorie  der  Abstammungslehre«  und 
»Die  Schranken  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntniss«),  ein  allgemein  natur- 
wissenschaftlich gebildetes  Publikum  im  Auge,  das  sich  auch  um  die  allgemeinsten 
Fragen,  die  als  principielle  oder  naturphilosophische  zu  bezeichnen  sind,  interessirt. 
Es  ist  daher  manches  ausgeführt  und  wiederholt  worden,  was  gegenüber  dem 
speciell  physicalisch  Gebildeten  übei-flüssig  und  unstatthaft  wäre. 


G84  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Wenn  man  bis  jetzt  die  Deduction  auf  die  molecularen  Ver- 
hältnisse anwenden  wollte,  so  meinte  man  von  absolut  einfachen 
Individuen  (Atomen)  ausgehen  zu  müssen  und  gerieth  dabei  immer 
auf  unbegreifliche  und  für  den  Aufbau  der  concreten  Dinge  unbrauch- 
bare metaphysische  Existenzen,  wie  ich  in  dem  genannten  Zusatz 
nachgewiesen  habe.  Es  lässt  sich  weder  aus  Kraftpunkten  noch 
aus  kleinsten  Massen  mit  Centralkräften,  die  beide  als  metaphysische 
oder  Uratome  zu  bezeichnen  wären,  etwas  Reales  construiren. 

Das  aus  Kraft  und  Stoff  bestehende  Individuum  kann  auf  jeder 
Stufe  der  Organisation  und  in  jeder  Grössenordnung  nur  ein  zusammen- 
gesetztes und  ein  in  der  Endlichkeit  befangenes  Ding  sein ;  es  muss, 
man  mag  es  sich  noch  so  klein  denken,  immer  theilbar  bleiben, 
ferner  muss  auch  das  winzigste  Theilchen  alle  in  der  Natur  wirk- 
samen Elementarkräfte  in  sich  vereinigen ;  denn  sonst  gäbe  es  Theil- 
chen, die  nicht  auf  einander  wirken  würden  und,  weil  ohne  dynamische 
Beziehung  unter  einander,  nicht  zu  einem  zusammengesetzten  Ding 
zusammentreten  könnten.  Endlich  können  die  Elementarkräfte  nicht 
gleichmässig  durch  die  Materie  verbreitet  sein;  denn  sonst  wären 
kugelige  Theilchen  derselben  mit  Centralkräften  begabt,  und  Theil- 
chen von  nicht  kugeliger  Gestalt  würden  nach  allen  Richtungen  und 
auf  alle  Entfernungen  dynamisch  so  wirken,  als  ob  sie  nur  eine 
einzige  Kraft  enthielten.  Um  etwas  wirkliches  zu  construiren,  muss 
man  annehmen,  dass  in  einer  Masse  von  beliebiger  Grösse  die 
Elementarkräfte  ungleichmässig  und  unregelmässig  verbreitet  seien, 
so  dass  auch  jedes  Theilstück  ebenfalls  eine  ungleichmässige  An- 
ordnung derselben  enthalte.  Denn  nur  in  dieser  Weise  wird  es 
möglich,  dass,  wie  es  in  der  That  der  Fall  ist,  die  dynamische  Wir- 
kung auf  gleiche  Entfernung  nach  den  verschiedenen  Richtungen 
ungleich  ausfällt,  und  dass  sie  nach  der  nämlichen  Richtung  auf 
ungleiche  Entfernungen  einen  anderen  Werth  annimmt,  als  es  das 
Verhältniss  des  umgekehrten  Quadrats  der  Entfernung  verlangen 
würde. 

Aus  diesen  Gründen  ist  es  unmöglich,  dass  eine  deductive  Theorie 
gleichartige  individuelle  Dinge  als  kleinste  Theilchen  oder  Atome 
zur  Grundlage  ihrer  Betrachtungen  mache  und  daraus  etwas  ableite. 
Ich  habe  daher  einen  andern  Weg  versucht  und  die  Deduction  mit 
den  abstracten  Eigenschaften  der  Dinge,  nämlich  mit  den  Kräften 
begonnen.     Ich   wiederhole    kurz    die   Herleitung    der    elementaren 


Kräfte  und  Ges,taltiingen  im  molccularen  Gelnet  G85 

Kräfte.  Dieselben  können  nur  in  gradliniger  Richtung  als  Anziehung 
und  Abstossung  wirken,  und  ihre  Wirkung  muss  entsprechend  dem 
umgekehrten  Quadrat  der  Entfernung  abnehmen.  Die  beiden  zusammen- 
gehörigen und  sich  widersprechenden  (einander  neutralisirenden)  Kräfte 
müssen  ferner  ein  symmetrisches  Verhältniss  darstellen,  in  analoger 
Weise,  wie  es  mit  den  beiden  elektrischen  Kräften  der  Fall  ist.  Es 
muss  endlich  so  viele  Kategorien  von  Kräften  geben,  als  symmetrische 
^''erhältnisse  zwischen  zusammengehörigen  Kraftpaaren  denkbar  sind. 
Es  gibt  nur  drei  solcher  Verhältnisse. 

1.  Elektrische  Anziehung  und  Abstossung.  Die  gleich- 
namigen Kräfte  [a  und  a,  ebenso  h  und  h)  stossen  sich  ab,  die  un- 
gleichnamigen [a  und  h)  ziehen  sich  an  (Fig.  29,  I). 

2.  Isagische  Anziehung  und  Abstossung.  Die  gleich- 
namigen Kräfte  [a  und  a,  ebenso  ß  und  ß)  ziehen  sich  an,  die 
ungleichnamigen  («  und  ß)  stossen  sich  ab  (Fig.  29,  II). 

3.  Gravitationsanziehung  und  Aetherabstossung 
(Dominantenkräfte).  Die  einen  gleichnamigen  Kräfte  {A  und  A) 
ziehen  sich  an,  die  andern  gleichnamigen  {B  und  B)  stossen  sich 
ab ;  die  ungleichnamigen  [A  und  B)  verhalten  sich  indifferent,  indem 
sie  sich  weder  anziehen  noch  abstossen  (Fig.  29,  III).  Ich  habe,  um 
eine  Gleichförmigkeit  in  der  Benennung  zu  erhalten,  die  beiden 
Kräfte  der  dritten  Kategorie  Dominantenkräfte  genannt,  weil  sie  ihrer 
Natur  nach  die  Anziehung  und  Abstossung  in  der  Natur  beherrschen. 


/// 


-a 


ß- 


Fig.  29. 

In  den  Figuren  I,  II  und  III  sind  die  Anziehungen  zwischen 
je  zwei  Kräften   (d.  h.    die  Anziehungen   zwischen   zwei   beliebigen, 

mit  den   fi-aglichen   Kräften  begabten   Massen   durch ,   die 

Abstossungen  durch angezeigt. 

Es  gibt  also  theoretisch  3  Kategorien  oder  3  Paare  einfacher, 
gradlinig   wirkender   Naturkräfte ,    die   elektrischen ,    die    isagischen 


686  Kräfte  und  Gt'Staltungen  im  molecularen  Gebiet. 

und  die  Dominanten-Kräfte,  wobei  die  Kräfte  eines  Paares  nicht  auf 
die  der  andern  Paare  ■^drken.  Diese  G  Elementarkräfte  sind  die  noth- 
wendigen  und  die  einzigen  Eigenschaften  der  Materie;  kein  materi- 
elles Theilchen,  es  mag  noch  so  klein  angenommen  werden,  lässt 
sich  ohne  dieselben  denken,  und  zwar  müssen  in  jedem  alle  6  Kräfte, 
aber  in  ungleichen  Mengen,  vereinigt  sein.  Aus  dieser  Annahme 
sollen  alle  uns  bekannten  Erscheinungen  ohne  weitere  Hypothesen 
sich  ableiten  lassen. 

Ueber  die  quantitative  Vertheilung  der  Kräfte  gibt  uns  die 
Erfahrung  einigen  Aufschluss.  Sie  zeigt,  dass  die  beiden  gegen- 
sätzlichen Kräfte  eines  Paares  bald  in  ziemlich  gleicher  Menge  in 
einem  kleinsten  Theilchen  vereinigt  sein  können,  wie  dies  häufig 
mit  der  Elektricität  der  Fall  ist,  bald  fast  vollständig  getrennt 
zu  sein  scheinen ,  wie  dies  an  der  Gravitationsanziehung  und  der 
Aetherabstossung  beobachtet  wird,  von  denen  jene  den  wägbaren 
Stoffen,  diese  dem  Aether  zukommt.  Die  Erfahrung  zeigt  uns  ferner, 
dass  das  Nämliche  auch  bezüglich  der  Kräfte  verschiedener  Paare 
gilt,  indem  dieselben  in  ungefähr  gleicher  Menge  vorhanden  sein 
oder  auch  die  einen  mehr  oder  weniger  vorherrschen  können. 

Die  kleinsten  uns  aus  Erfahrung  bekannten  Theilchen  der 
Materie  sind  die  Aethertheilchen  und  die  Atome  der  chemischen 
Elemente.  Beide  gehören  zwei  verschiedenen  Grössenordnungen  an. 
Dieser  Ausspruch  wird  durch  folgende  Betrachtung  gerechtfertigt. 
Der  Weltäther  verursacht  keine  bemerkbare  Verzögerung  in  der  Be- 
wegung der  Himmelskörper,  er  muss  also  eine  äusserst  dünne  Sub- 
stanz sein.  Er  leitet  aber  mit  der  grössten  Regelmässigkeit  Licht 
und  Wärme,  also  müssen  seine  Theilchen  so  dicht  beisammen  liegen, 
dass  sie  mit  Leichtigkeit  auf  einander  einwirken  können.  Beides 
zusammen  ist  nur  durch  die  Annahme  erreichbar,  dass  die  Aether- 
theilchen äusserst  klein  seien.  Damit  steht  in  Verbindung,  dass  die 
Fortpflanzung  von  Bewegungen  durch  die  Aethertheilchen  (Licht, 
Wärme,  Elektricität)  ungefähr  eine  Million  mal  schneller  erfolgt  als 
die  Fortpflanzung  von  Bewegungen  durch  die  wägbaren  Moleküle 
(Schall).  Die  Aethertheilchen  werden  also  in  entsprechendem  Maasse 
kleiner  sein  als  die  Moleküle  und  Atome. 

Es  pflanzen  sich  nämlich  die  Schwingungen,  welche  den  Schall 
erzeugen,  in  der  Luft  mit  einer  Geschwindigkeit  von  332"^  in  der 
Secunde  fort,    während  die  Luftmoleküle  nach  Clausius   bei  0^  mit 


Kräfte  und  Gestaltungen  im  niolecularen  Gebiet.  687 

einer  mittleren  Geschwindigkeit  von  485 '"  dahinfliegen.  Die  Schall- 
geschwindigkeit in  Gasen  beträgt  ungefähr  ^k  der  fortschreitenden 
Moleculargeschwdndigkeit,  und  die  letztere  ist  von  dem  Gewichte  der 
Gasmoleküle  abhängig.  Die  Fortpflanzung  des  Lichtes  hat  eine 
Geschwindigkeit  von  311540000"^  in  der  Secunde.  Wenn  auch  das 
Verhältniss  zwischen  diesem  Werthe,  der  mittleren  fortschreitenden 
Bewegung  der  Aethertheilchen  (diese  fliegen  ohne  Zweifel  in  gleicher 
Weise  wie  die  Gasmoleküle  durcheinander)  und  der  mittleren  Grösse 
der  Aethertheilchen  unbekannt  ist,  so  müssen  diese  drei  Werthe 
doch  von  einander  abhängig  sein .  und  es  müssen ,  vde  die  Ge- 
schwindigkeiten des  Schalles  und  des  Lichtes,  auch  die  Grössen 
ihrer  Träger,  der  Moleküle  und  der  Aethertheilchen,  verschiedenen 
Grössenordnungen  angehören.  Diese  Schlussfolgerung  wird  noch 
dadurch  unterstützt,  dass  die  Fortpflanzung  des  elektrischen  Stromes 
fast  die  gleiche  Geschwindigkeit  hat  wie  das  Licht,  nämlich  463000000™ 
in  einem  Kupferdraht  von  1,5°^"^  Dicke.  Wenn  der  elektrische  Sti'om, 
wie  ich  es  später  darzuthun  suchen  werde,  auf  einer  fortschreitenden 
Bewegung  von  Theilchen  beruht,  welche  den  Aethertheilchen  an 
Grösse  gleichkommen,  so  wäre  eine  directe  Vergleichung  ihrer  Ge- 
schwindigkeit mit  der  Geschwindigkeit  der  Luftmoleküle  möglich. 

Da  es  für  die  fernere  Auseinandersetzung  vortheilhaft  ist,  für 
diese  kleinste  bekannte  Grössenordnung  einen  besonderen  Namen 
zu  haben,  so  will  ich  die  indi^dduellen  oder  untheilbaren  Theilchen 
derselben  Amere  ^)  nennen,  wobei  es  vorerst  unentschieden  bleibt,  ob 
die  Theilchen  des  Wärme-  und  Lichtäthers  einzelne  Amere  oder 
Gruppen  von  solchen  seien.  —  Was  die  wägbaren  bekannten  Stoff- 
theilchen  oder  die  Atome  der  chemischen  Elemente  betrifft,  so  sind 
dieselben  jedenfalls  sehr  zusammengesetzt,  wie  aus  ihrer  ungleichen 
Werthigkeit  und  namentlich  aus  der  Abstufung  ihrer  chemischen 
Anziehung,  ihres  Gewichtes  und  aller  übrigen  physischen  Eigen- 
schaften sich  ergibt.  Lieber  die  Art  und  Weise  der  Zusammensetzung 
wissen  wir  nichts.  Um  die  Vertheilung  der  Elementarkräfte  anschau- 
licher zu  machen,  nehme  ich  an,  dass  die  Atome  aus  Theilchen  von 
der  Grössenordnung  der  Aethertheilchen,  also  aus  Ameren,  zusammen- 
gesetzt seien. 

Diese  Annahme  präjudicirt  nichts;   sie  lässt  die  reale  Sachlage 


*)  Amer  von  «  privathoim  und  jue'oos  Theil. 


688  Ki'äfte  und  Gestaltungen  im  molecnlaren  Gebiet. 

unberührt  und  bietet  zunächst  bloss  einen  formalen  Vortheil.  Hätten 
die  chemischen  Atome  irgend  eine  andere  Zusammensetzung ,  so 
könnten  wir  gleichwohl  in  Gedanken  ihre  Substanz  in  Theilchen  von 
der  Grösse  der  Amere  zerlegen  und  mit  Rücksicht  hierauf  die  Ver- 
theilung  der  Elementarkräfte  vornehmen.  —  Es  möchte  "säelleicht 
Manchem  voraussetzungsloser  erscheinen,  die  Substanz  in  materielle 
Punkte  von  unbestimmter  oder  unendlicher  Kleinheit  zu  zerlegen. 
Diese  Operation  bleibt  immer  noch  vorbehalten,  sofern  sie  für  irgend 
einen  Zweck  wünschbar  erscheint.  Ehe  sie  aber  in  Anwendung 
kommen  kann,  müssen  vorerst  die  Eigenschaften  der  Theilchen, 
welche  der  kleinsten  bekannten  Grössenordnung  angehören,  also  der 
Amere,  bestimmt  werden,  und  wenn  dies  geschieht,  so  scheint  es 
nicht,  dass  irgend  eine  physicalische  Frage  eine  weitere  Zerlegung 
verlangen  würde.  —  Uebrigens  ist  es  aus  Gründen  der  Analogie 
wahrscheinlich ,  dass  die  Atome  der  chemischen  Elemente  wirklich 
aus  Theilchen  von  der  Grössenordnung  der  Amere  zusammengesetzt 
seien,  gerade  so  wie  auf  einer  höheren  Stufe  alle  wägbaren  Stoffe 
aus  Atomen  und  IMolekülen,  und  auf  einer  noch  höheren  Stufe  alle 
organisirten  Substanzen  aus  Micellen  zusammengesetzt  sind. 

Die  Aufgabe  ist  nun,  aus  den  gegebenen  Prämissen  ohne  andere 
theoretische  Voraussetzungen  oder  Hypothesen ,  als  solche ,  die  aus 
den  durch  die  Erfahrung  festgestellten  Thatsachen  nahe  gelegt  werden, 
die  Folgerungen  abzuleiten.  Die  Prämissen  sind  aber  keine  anderen, 
als  die,  dass  jedem  Theilchen  der  kleinsten  Grössenordnung  die 
G  Elementarkräfte  anhaften. 


I.  Vertheilung  der  Elementarkräfte')  auf  die  Amere. 

Um  diese  Vertlieilung  vornehmen  zu  können,  müssen  wir  uns 
zunächst  eine  Vorstellung  bilden,  wie  sich  die  in  der  Natur  vorhan- 
denen Gesammtmengen  der  beiden  Elementarkräfte  eines  zusammen- 
gehörenden Paares  verhalten.  —  Es  ist  an  und  für  sich  wahrscheinlich, 


*)  Ich  werrle  die  6  Elementarkriifte  der  Kürze  hallier  wie  in  dem  früheren 
Schema  (S.  685)  häufig  durch  Buchstaben  bezeichnen,  und  zwar  die  positive  und 
negative  Elektricität  durch  a  und  b,  die  positive  und  negative  Isagität  durch 
«  und  ß,  und  von  den  Dominantenkräften  die  Gravitationsanziehung  durch  A, 
die  Aetherabstossung  durch  B. 


1.  Vertheilung  der  Elementarkräfte  auf  die  Amere.  G89 

dass  die  jDOsitive  Hälfte  der  negativen  Hälfte  quantitativ  gleich- 
komme; diese  Annahme  hegt  eigentlich  schon  in  dem  Satze  der 
Symmetrie.  Auch  die  Erfahrung  spricht  entschieden  dafür.  Die 
freien  positiven  und  negativen  Elektricitäten  machen  nur  einen  sehr 
kleinen  Tlieil  der  positiven  und  negativen  Elektricitätsmengen  aus, 
die  in  den  Körpern  sich  das  Gleichgewicht  halten  und  zu  neutraler 
Elektricität  verbunden  sind,  und  die  durch  Vertheilung  frei  zu  werden 
vermögen.  Könnte  man  die  in  einem  bestimmten  Moment  freien 
Elektricitäten  zusammenlegen,  so  würde  man  sicher  um  so  eher  auf 
Null  kommen ,  je  weitere  Gebiete  man  umfasste.  Wir  müssen  also 
annehmen ,  dass  die  in  der  Welt  vorhandene  Summe  der  positiven 
Elektricität  gleich  sei  der  negativen,  also  Sa=Sb,  —  ferner,  dass 
gleichfalls  die  Menge  der  positiven  Isagität  gleich  sei  der  negativen, 
also  Sa=^  Sß ,  —  und  endlich ,  dass  die  gesammten  Gravitations- 
kräfte den  gesammten  Aetherabstossungskräften  gleichkommen,  also 
SÄ  =  SB  1). 

Die  in  der  Welt  vorhandene  Menge  einer  jeden  Elementarki"aft 
ist  auf  alle  Amere  und  zwar  in  verschiedenen  Mengen  vertheilt,  so 
dass  jedes  Amer  davon  eine  beliebige  Quantität  von  einem  Minimum 
bis  zu  einem  Maximum  enthält.  In  jedem  einzelnen  Amer  sind 
also  die  Kräfte  a,  b,  a,  ß,  A,  B  vertreten,  und  da  die  Quantitäten 
beliebig  wechseln,  so  überwiegt  in  einem  Amer  im  allgemeinen 
stets  die  eine  Hälfte  eines  Kräftepaars,  a  oder  h,  a  oder  ß,  A 
oder  B.  Der  Fall,  dass  a  und  &,  oder  a  und  ß,  oder  A  imd  B  in 
einem  Amer  sich  das  Gleichgewicht  halten,   ist  der  Grenzfall  einer 


')  Wenn  die  wirksamen  Kraftmengen  einander  gleich  sind,  so  sind  auch  die 
Summen  der  dadurch  hewrkten  Anziehungen  und  Abstossungen  einander  um  so 
eher  gleich,  je  grösser  die  Zahl  der  wirksamen  Theilkiitfte  ist.  Wirken  n  positive 
(a)  und  n  negative  (b)  elektrische  Elemente,  jedes  von  gleichem  Betrag,  auf  ein- 
ander, so  ist  der  Coefficient  für  tue  Sunmie  der  Anziehungen  (ah)  gleich  w^,  derjenige 
für  die  Summe  der  Abstossungen  zwischen  den  elektrisch-positiven  Elementen  («) 

«* — n 
gleich  — - —  (nämlich   the  Anzahl    der  Gomlnnationen   ohne  Wiederholungen   für 

«Elemente  und  für  die  zweite  Klasse),  der  Coefficient  für  die  Summe  der  Ab- 
stossungen zwischen  den  elektrisch-negativen  Elementen  (6)  ebenfalls  — - — ,  also 

die  Gesammtsumme  der  elektrischen  Abstossungen  n^ — n,  welcher  Ausdruck  dem 
Ausdruck  für  die  Anziehungen  n^  um  so  näher  kommt,  je  grösser  n  wird.  Im 
Universum,  wo  n  unendlich  gross  ist,  verschwindet  die  Differenz  zwischen  den 
beiden  Ausdrücken. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  44 


ß90  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

unendlichen   Menge   von   möglichen   Fällen   und   kann    somit  nach 
der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  vernachlässigt  werden. 

Jedes  Amer  erhält  also  seinen  dynamischen  Charakter  durch  die 
überwiegende  Menge  der  einen  Hälfte  eines  jeden  der  drei  Kräfte- 
paare. Mit  andern  Worten,  Jedes  Amer  ist  1.  elektrisch  positiv  [a] 
oder  negativ  (&),  2.  mit  überwiegender  a-  oder  /Msagität,  3.  mit  vor- 
herrschender Gravitationsanziehung  {Ä)  oder  Aetherabstossung  [B) 
ausgerüstet.  Daraus  folgt,  dass  es  8  verschiedene  Arten  von  Ameren 
gibt;  dieselben  sind,  wenn  bloss  die  ausschlaggebende  Hälfte  eines 
jeden  Kräftepaars  notirt  wird,  folgende : 

aaÄ,  aaB,  aßÄ,  aßB,  haÄ,  haB,  hßA,  hßB. 

Der  Ausdruck  aaÄ  heisst  nichts  anderes,  als  dass  in  dem  betref- 
fenden Amer  mehr  a  als  &,  mehr  a  als  ß  und  mehr  A  als  B  vor- 
handen sei,  und  so  verhält  es  sich  mit  den  übrigen  Ausdrücken. 

Da  die  Zahl  aller  Amere  unendlich  ist,  so  hat  mit  grösster 
Wahrscheinlichkeit  ziemlich  genau  die  eine  Hähte  a,  die  andere  b 
in  ihrem  Ausdruck.  Ebenso  lassen  sich  alle  Amere  in  zwei  (andere) 
Hälften  zerlegen ,  von  denen  die  eine  mit  a ,  die  andere  mit  ß  be- 
zeichnet ist.  Endlich  besitzen  von  zwei  (abermals  anderen)  Hälften 
die  eine  Ä ,  die  andere  B.  ■  —  Ferner  wird  wegen  der  unendlichen 
Anzahl  der  Combinationen  ziemlich  genau  die  eine  Hälfte  aller 
a- Amere  mit  a,  die  andere  mit  ß  behaftet  sein,  und  desgleichen 
ziemlich  genau  die  eine  Hälfte  aller  aa- Amere  mit  Ä,  die  andere  mit  B. 
Das  Nämliche  gilt  für  die  übrigen  Combinationen,  so  dass  also  im 
allgemeinen  gesagt  werden  kann,  jeder  der  obigen  8  Ausdrücke  um- 
fasse den  8.  Theil  aller  in  der  Welt  vorhandenen  Amere. 

Die  Vertheilung  der  6  Elementarkräfte  auf  alle  Amere  kann, 
wie  es  eben  geschehen  ist,  deswegen  strenge  nach  den  Principien 
der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  vorgenommen  werden,  weil  die  drei 
Kräftepaare  keine  dynamischen  Beziehungen  zu  einander  haben  und 
also  kein  mit  ihrer  Natur  in  Beziehung  stehendes  causales  Ver- 
hältniss  bei  der  Gruppirung  wirksam  sein  konnte. 


2.  Agglomeration  und  Dispersion  der  Amere. 

Wir  haben  aus  der  Vertheilung  der  Elementarkräfte  8  Gruppen 
von  Ameren  erhalten,  jede  mit  einer  anderen  Combination  von 
Kräften.     Die  Amere   wirken   auf  einander    durch  Anziehung    und 


2.  Agglomeration  und  Dispersion  der  Amere.  691 

Abstossung;  sie  machen  gleichsam  ihre  Wahlverwandtschaften  geltend. 
Uni  dieses  Spiel  von  Kräften  zu  überblicken,  müssen  wir  annehmen, 
dass  die  Amere  irgend  einmal  getrennt  von  einander  waren,  gleichsam 
im  gasförmigen  Zustande  sich  befanden.  Die  Beschaffenheit  der 
chemischen  Atome  spricht  auch  von  Seite  der  Erfahrung  aus  ent- 
schieden für  diese  Annahme ,  wie  ich  später  zeigen  werde ;  —  und 
die  Kant-Laplace'sche  Theorie  von  der  Entstehung  der  Himmels- 
körper durch  Verdichtung  dürfte  auf  keine  andere  Weise  zu  denken 
sein,  als  durch  allmähliche  Zusammenballung  von  früher  getrennten 
Ameren.  Damit  meine  ich  jedoch  nicht  etwa,  dass  das  ganze  un- 
endliche Weltall  einmal  gleichzeitig  in  die  Amere  aufgelöst  gewesen 
sei ;  es  ist  im  Gegentheil  viel  wahrscheinlicher,  dass  die  Zerstreuung 
und  der  darauf  folgende  VerdichtungS2:)rocess  immer  nur  local,  d.  h. 
in  Räumen,  die  zmn  mindesten  ganzen  Sonnensystemen  entsprechen, 
stattgefunden  haben. 

Ob  die  Amere  in  der  ursprünglichen  Zerstreuung  bleiben,  oder 
ob  sie  sich  zusammenballen,  hängt  davon  ab,  ob  die  anziehenden 
oder  abstossenden  Kräfte  überwiegen.  Betrachten  wir  zuerst  die 
Wirkungen  der  einzelnen  Elementarkräfte ,  wie  sie  sich  geltend 
machen  würden,  wenn  in  jedem  Amer  nur  eine  der  6  Kräfte  ent- 
halten wäre,  und  wie  sie  annähernd  auch  eintreten,  wenn  jedem 
Amer  zwar  alle  6  Kräfte  zukommen,  aber  eine  davon  die  übrigen 
an  Stärke  beträchtlich  übertrifft.  Die  Amere  sind  in  diesem  Fall 
durch  die  vorherrschende  Kraft  charakterisirt  und  tragen  die  Signatur 

a,  h,  a,  ß,  Ä,  B. 

Von  diesen  6  Kategorien  wirken  nur  a  und  h,  ferner  «  und  ß 
auf  einander  ein;  im  übrigen  verhalten  sie  sich  indifferent.  Was 
zuerst  die  elektrischen  Kräfte  a  und  h  betrifft,  so  bemerken  wir 
sogleich,  dass  dieselben  weder  im  Sinne  der  Zusammenballung,  noch 
im  Sinne  der  Zerstreuung  thätig  sind.  Zwei  Amere  a  und  h  (von 
denen  also  das  eine  positiv,  das  andere  negativ-elektrisch  ist)  ziehen 
sich  zwar  an  und  haften  fest  an  einander.  Aber,  sofern  a  und  h 
gleich  stark  sind,  kann  das  Doppelamer  al)  kein  anderes  Amer  fesseln, 
weil  es  dasselbe  in  gleichem  Maasse  anzieht  und  abstösst.  Nur  wenn 
a  oder  h  in  dem  gepaarten  ah  viel  stärker  und  somit  die  eine 
oder  andere  Elektricität  im  Ueberschuss  vorhanden  wäre,  könnte 
ein  drittes  Amer  hinzutreten.     Es  bilden   sich  also   im   allgemeinen 

44* 


(592  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

durch  die  elektrischen  Kr.äfte  l>loss  neutrale  Doppelamere,  zwischen 
denen  weder  anziehende   noch   abstossende  Beziehungen  bestehen^). 

Ganz  anders  verhalten  sich  die  isagischen  Kräfte  a  und  ß.  Wenn 
zwei  a  sich  mit  einander  vereinigt  haben,  so  kann  sich  noch  ein 
drittes,  viertes  und  eine  beliebige  Monge  von  a-Ameren  anlegen. 
Dasselbe  ist  andrerseits  .mit  den  /i-Ameren  der  Fall.  Es  haben  also 
alle  durch  die  Kraft  «  ausgezeichneten  Amere  die  Neigung,  sich  in 
eine  einzige  Masse  zu  vereinigen,  ebenso  alle  durch  ß  ausgezeichneten 
Amere,  und  die  beiden  a-  und  /:?-Massen  entfernen  sich  von  ein- 
an(ler.  —  Von  den  Dominantenkräften  gleicht  A  den  beiden  Isagi- 
täten;  alle  Gravitations-  oder  .i-Amere  haben  die  Neigung,  sich  zu 
einer  einzigen  Masse  an  einander  zu  legen.  Dagegen  kommt  den 
Aetherabstossungs-  oder  B-KmQVQn  das  Bestreben  zu,  sich  von  ein- 
ander zu  entfernen  und  somit  möglichst  gleichmässig  im  Räume  zu 
vertheilen. 

Unter  den  Elementarkräften  ist  die  Gravitationsanziehung  [Ä] 
die  eigentliche  Agglomerationskraft,  die  unter  allen  Umständen  in 
dem  gleichen  Sinne  wirkt.  Die  Aetherabstossung  [B]  ist  die  eigent- 
liche Dispersionskraft,  die  ebenfalls  ihren  Charakter  nie  verleugnet. 
Dagegen  haben  die  isagischen  und  die  elektrischen  Kräfte  einen 
doppelseitigen  Charakter.  Sind  nur  a-  oder  nur  &-Amere  irgendwo 
vorhanden,  so  wirken  sie  zerstreuend,  während  a  und  h  einander  an- 
ziehen. Sind  nur  a-  oder  nur  /i- Amere  in  einem  Raum,  so  wirken 
sie  zusammenballend,  während  a  und  ß  sich  von  einander  entfernen. 

Nun  trifft  aber  die  gemachte  Annahme,  dass  eine  einzelne 
Elementarkraft  in  einem  Amer  so  sehr  überwiege,  dass  die  anderen 
neben  ihr  fast  verschwinden,  jedenfalls  nur  selten  ein.  In  der  Regel 
wird  die  combinirte  Wirkung  der  drei  vorherrschenden  Kräfte  ent- 
scheiden.     Es    ist    also   die   Frage,    wie   sich   die  Amere,    die   den 


*)  Wenn  zwei  Körper,  von  denen  der  eine  positive,  der  andere  negative  freie 
Elektricität  enthält,  einander  bis  zur  Berührung  genähert  werden,  so  findet  Aus- 
gleichung der  Elektricitäten  statt  und  die  beiden  Körper  werden  mehr  oder  weniger 
neutral.  Dies  ist  sell)stverständlich  bei  der  Vereinigung  der  Amere  nicht  der 
Fall,  weil  sonst  die  elektrische  Kraft  die  Materie  verlassen  müsste.  Wenn  bei 
grösseren  Körpern  Elektricität  aus-  oder  eintritt,  so  ist  es  nicht  die  Kraft  allein, 
sondern  die  mit  Kraft  begabte  Materie;,  welche  diese  Bewegung  ausführt ;  es  sind 
elektrische  Amere,  welche  dem  Körper  gegeben  oder  entzogen  werden. 


2.   Aggloinonition  und  Disiiersion  der  Anicrc.  (JOo 

8  Kräftecoinljiiiationcn  (S.  GUO)  entsprechen,  zu  einander  verhalten. 
Schreiben  wir  die  8  Ausdrücke  folgendermaassen  an 

Aaa,  Aal),  Aßa,  Aßb 

Bau,  Bßa,  Bob,  Bßb, 
so  ist  sogleich  ersichtlich,  dass  alle  Amere,  welche  durch  die  beiden 
ersten  Ausdrücke  der  obern  Reihe  bezeichnet  werden,  sich  unbedingt 
vereinigen,  da  sie  die  Attractionselemente  A  und  A,  ferner  a  und  a 
enthalten,  während  a  und  h  sich  einzeln  zwar  anziehen,  in  Mehrzahl 
aber  neutral  verhalten.  Es  wäre  also  begreiflich,  wenn  alle  Aaa 
und  Aah  sich  zu  einer  einzigen  Masse  zusammenballten.  Das  Nämliche 
gilt  von  den  zwei  letzten  Ausdrücken  der  oberen  Reihe.  —  Ferner 
müssen  alle  Amere  mit  den  beiden  ersten  Ausdrücken  der  unteren  Reihe 
sich  unbedingt  zerstreuen,  weil  sie  die  Repulsionselemente  B  und  B, 
dann  a  und  a  führen,  während  a  und  ß  einzeln  zwar  sich  abstossen, 
in  Mehrzahl  aber  sich  das  Gleichgewicht  halten.  Ganz  ebenso  ver- 
halten sich  die  zwei  letzten  Ausdrücke  der  unteren  Reihe. 

Für  die  Combinationen  der  verschiedenen  Amere,  wie  ich  sie 
eben  vorgenommen  habe,  ist  der  Effect  unzweifelhaft,  und  wir  ver- 
mögen jedenfalls  zu  erkennen ,  dass  einerseits  Agglomeration ,  wde 
wir  sie  in  den  wägbaren  Stoffen  finden,  andrerseits  Zerstreuung,  wie 
wir  sie  in  dem  den  Weltenraum  erfüllenden  Aether  kennen,  statt- 
finden muss,  und  dass  jene  im  allgemeinen  auf  den  (^-haltigen) 
Ausdrücken  der  oberen  Reihe,  diese  auf  den  (l?-haltigen)  Ausdrücken 
der  unteren  Reihe  beruht.  Für  alle  anderen  Combinationen  ist 
der  Erfolg  zweifelhaft ,  weil  es  dabei  auf  die  Grösse  der  einzelnen 
Kräfte  ankommt,  die  uns  unbekannt  ist.  So  ziehen  sich  z.  B.  der 
erste  und  dritte  Ausdruck  der  oberen  Reihe  {Aaa  und  Aßa)  an, 
wenn  die  Anziehung  ÄA  gTösser  ist  als  die  beiden  Abstossungen  aß 
und  aa,  und  im  umgekehrten  Falle  findet  Abstossung  statt ;  ist  eine 
Mehrzahl  von  so  beschaffenen  Ameren  (Aaa  und  Aßa)  vorhanden, 
so  kommen  für  die  Gesammtheit  die  isagischen  Kräfte  («  und  ß) 
nicht  mehr  in  Betracht,  weil  sie  sich  gegenseitig  aufheben ,  und  es 
tritt  Agglomeration  oder  Dispersion  ein,  je  nachdem  die  Anziehung 
zwischen  den  .i-Kräften  grösser  oder  kleiner  ist  als  die  Al)Stossung 
zwischen  den  «-Kräften.  Es  ist  überflüssig,  von  andern  Combinationen 
zu  sprechen,  da  die  Bedingungen  des  Erfolges  leicht  ersichtlich  sind. 


G94  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Wenn  auch  die  Wirkung  der  meisten  Combinationen ,  sei  es, 
dass  sie  in  Mehrzahl  beisammen  oder  dass  sie  vereinzelt  vorkommen, 
wegen  der  ungleichen  Grösse  der  den  Ameren  anhaftenden  Elementar- 
kräfte zweifelhaft  ist,  so  würden  wir  doch  die  Wirkung  im  Grossen  und 
Ganzen  einigermaassen  beurtheilen  können,  wenn  wir  die  Gesammt- 
menge  jeder  einzelnen  in  der  Welt  vorhandenen  Kraft  kennten. 
Ich  habe  bereits  davon  gesprochen,  dass  ohne  Zweifel  die  beiden 
(positiven  und  negativen)  Glieder  einer  Kategorie  gleiche  Summen 
geben,  also  Sa  =  Sb,  Sa  =  Sß  und  SÄ  =  SS  (S.  689).  Dies  sagt 
uns  aber  nur,  dass  gleich  viel  jiositive  und  negative  Elektricität, 
ferner  gleich  viel  a-  und  /?-Isagität,  endlich  gleich  viel  Gravitations- 
anziehung und  Aetherabstossung  im  Universum  wirksam  sei  und 
sich  das  Gleichgewicht  halte.  Die  Frage  wäre  aber  nun,  wie  sich 
Sa,  Sa  und  SA  zu  einander  verhalten. 

Man  wird  wohl  a  priori  zu  der  Annahme  geneigt  sein,  dass 
das  Gesetz  der  Symmetrie  auch  auf  die  verschiedenen  Kategorien 
von  Elementarkräften  Anwendung  finde,  und  dass  gleiche  Mengen 
von  elektrischen,  von  isagischen  und  von  Dominantenkräften  existiren. 
Dann  ist  aber  die  Frage,  wie  die  Symmetrie  zu  deuten  sei,  ob 
Gleichheit  zwischen  den  wirksamen  Kräftemengen  oder  Gleichheit 
zwischen  den  Mengen  der  hervorgebrachten  Anziehungen  und  Ab- 
stossungen  bestehen  soll.  Denn  in  dem  vorliegenden  Fall  sind  dies 
zwei  verschiedene  Begriffe ,  da  die  beiden  Kräfte  des  Dominanten- 
paares sich  zu  einander  neutral  verhalten,  während  die  Kräfte  der 
übrigen  Paare  auf  einander  wirken.  Wir  können  uns  dies,  da  das 
Zurückgehen  auf  einfache  Kraftpunkte  auf  das  metaphysische  Gebiet 
führen  würde,  am  besten  deutlich  machen,  wenn  wir  die  Amere 
der  Betrachtung  zu  Grunde  legen. 

Um  diese  Betrachtung  möglichst  einfach  und  verständlich  zu 
gestalten,  will  ich  als  Beispiel  eine  Anzahl  von  Ameren  voraussetzen, 
von  denen  jedes  eine  der  6  Elementarkräfte  in  gleicher  Menge  als 
Ueberschuss  enthalte.  Es  seien  also  n  Amere  mit  a,  eben  so  viele 
mit  1) ,  und  eben  so  viele  mit  a ,  mit  ß ,  mit  A  und  mit  B  im 
Ueberschuss  ausgerüstet;  dann  sind  die  Summen  der  wirksamen 
Kräfte  a,  h,  a,  ß,  A  und  B  gleich  gross.  Die  Summen  der  An- 
ziehungen und  Abstossungen  aber  werden  durch  folgende  Coeffici- 
enten  ausgedrückt:  die  Summe  der  elektrischen  Anziehungen  ah 
durch  n'\  die  Summe  der  elektrischen  Abstossungen  aa  und  hh  durch 


2.  Agglomeration  und  Dispersion  der  Amere.  ()<)5 

ti' — n  ^),  diu  Summe  der  isagisclien  Anzieliuiigen  aa  und  ßß  durch  n' — n, 
die  Summe  der  isagisclien  Abstossungcn  aß  durch  n\  die  Summe  der 

Gravitationsanziehungen  ÄÄ  durch  — ^ —  und  die  Summe  der  Aether- 

abstossungcn  BB  durch  — ^ — .  Die  Summen  der  Dominanten- 
Anziehungen  und  Abstossungen  sind  also  nur  halb  so  gross  als 
die  Summen  der  Anziehungen  und  Abstossungen  jeder  der  übrigen 
Kräfte,  wenn  alle  Kräfte  in  gleicher  Menge  wirksam  sind,  und  wir 
haben  für  das  Universum 

Summen  der  wirksamen  Kräfte  SÄ  =  Sa=z  Sa  :=,SB  —  Sß  =  Sb, 
Summen  der  Anziehungen  und  Abstossungen 

^^  .   .  __  S(aa -\- ßß)       Sab        qt^tj       ^'^ß       S{aa-\-bb) 
^AA- -—  =  bBB  =  ^-  = 

Dieses  Resultat,  welches  uns  unerwartet  und  vielleicht  unwahr- 
scheinlich ist,  rührt  daher,  weil  den  Dominantenkräften  Ä  und  B 
nur  eine  einfache  Wirkung  (auf  sich  selber),  den  übrigen  Kräften 
dagegen  eine  doj)pe]te  Wirkung  (auf  sich  selber  und  auf  die  Schwester- 
kraft) zukommt.  Es  würde  daher  die  Forderung  der  Gleichheit  und 
Symmetrie  ebensowohl  befriedigen,  wenn  den  mit  einfacher  Wirkung 
begabten  Elementen  Ä  und  B  die  dopjDelte  Kraftmenge  zukäme. 
Sowie  ein  Element  a  die  übrigen  a-Elemente  abstösst  und  zugleich 
die  ^-Elemente  anzieht,  so  würde  dann  ein  Element  Ä,  welches 
bloss  auf  die  Ä-,  nicht  auf  die  i?-Elemente  ein-svirkt,  jene  mit 
doppelter  Kraft  anziehen  und  B  würde  die  ^-Elemente  mit  doppelter 
Kraft  abstossen,  so  dass  also  jedes  A-  und  i?-Element  gegenüber  den 
Krafteinheiten  die  nämliche  Arbeit  zu  leisten  vermöchte  wie  jedes  der 
Elemente  a,  b,  a  und  ß.  Bei  dieser  Annahme  wächst  die  Summe  der 
Gravitationsanziehungen  für  die  vorhin  vorausgesetzten  n  Amere  auf 
2(*2" — n),  und  den  gleichen  Betrag  hat  auch  die  Summe  der  Aether- 
abstossungen ,  sodass  also  die  Summen  der  Dominanten-Anziehungen 
und  Abstossungen  jetzt  doppelt  so  gross  sind  als  die  Summen 
der  Anziehungen  und  Abstossungen  jeder  der  übrigen  Kräfte.  Wir 
haben  daher  für  das  Universum 


*)  Vgl.  die  Anmerkung  auf  S.  689. 


696  Kräfte  and  Gestaltungen  auf  molecularem  Gebiet. 

Summen  der  wirksamen  Kräfte  --  =  /Sa  =  Sa  =  =^  Sß  =z  Sb. 
Smiimen  der  Anziehungen  und  Abstossungen 

^±f±-  =  S{aa  +  ßß)  =  Sah  =  ^^  =  Saß  =  S{aa  +  hh). 

Die  beiden  soeben  besprochenen  Annahmen  ül)er  das  quantitative 
Verhältniss  der  Summen  der  6  Elementarkräfte  sind  wohl  die  einzigen, 
die  unsere  theoretische  Naturanschauung  zu  befriedigen  vermögen. 
Es  ist  nun  leicht  zu  bestimmen,  welches  Resultat  die  eine  und  andere 
Annahme  bezüglich  der  Vertheilung  der  Amere  im  grossen  und 
ganzen  gibt.  Setzen  wir  wieder  die  8  Kategorien  der  letzteren  wie 
oben  in  zwei  Reihen  an 

Aaa^    Aah,    Äßa,    Äßh 
Baa,    Bßa,    Bah,    B ßo 

und  halten  wir  uns  zunächst  an  die  erste  Annahme,  nämlich  dass 
SÄ  =  Sa  ==1  Sa  =^  SB  =  Sß  =  Sh.  Dabei  ist  im  Auge  zu  halten, 
dass,  wie  früher  angegeben,  die  3  in  jedem  Amer  im  Ueberschuss 
vorhandenen  und  demselben  die  Signatur  gebenden  Kräfte  jedes 
behebige  Verhältniss  ihrer  Grösse  zu  einander  zeigen  können ,  so 
dass  also  beispielsweise  in  Äaa  jede  Kraft  bald  grösser  bald  kleiner 
als  die  beiden  andern  ist.  Denken  wir  uns,  um  einen  leichteren 
Ueberblick  zu  gewinnen,  es  seien  in  einem  Raum  nur  solche  Amere, 
die  zwei  Ausdrücken  der  oberen  Reihe  entsprechen,  befindlich,  so 
müssen,  wie  schon  für  den  allgemeinsten  Fall  erörtert  wurde,  ohne 
Ausnahme  alle  Amere  sich  vereinigen,  wenn  sie  den  zwei  ersten 
Ausdrücken  {Aaa  und  Aah)  angehören,  —  ebenso,  wenn  sie  den 
zwei  letzten  Kategorien  [Aßa  und  Aßh)  angehören ,  —  ferner  die 
grosse  Mehrzahl  der  Amere,  wenn  sie  der  1.  und  4.  Kategorie  [Aaa 
und  Aßh)  und  desgleichen,  wenn  sie  der  2.  und  3.  Kategorie  {Aah 
und  Aßa)  entsprechen.  Sind  Amere  des  1.  und  3.  Ausdruckes  [Aaa 
und  Aßa)  beisammen,  so  hängt  es  von  der  Grösse  der  (anziehenden) 
^-Kräfte  und  der  Grösse  der  (abstossenden)  a-Kräfte  ab,  ob  Zusammen- 
ballung oder  Zerstreuung  eintritt. 

Sind  aber  sehr  zahlreiche  Amere  aller  Kategorien  der  obern 
Reihe  in  einem  Ramn  beisammen,  so  gravitiren  sie  unbedingt  alle 
gegen  einander.  Denn  je  grösser  ihre  Zahl  ist,  um  so  vollständiger 
heben    sich    die    anziehenden    und    abstossenden    Kräfte   «  und   ß, 


2.  Agglomeration  und  Dispersion  der  Aniere.  007 

a  und  h  aui',  und  kommen  bloss  die  anziehenden  J.-Kräfte  zur 
Geltung. 

Analog  wie  die  Amere  der  oberen  Reihe  bezüglich  der  An- 
näherung an  einander,  verhalten  sich  diejenigen  der  unteren  Reihe 
bezüglich  des  Auseinanderweichens.  Wenn  nur  je  zwei  Kategorien 
in  einem  Räume  vertreten  sind,  so  zerstreuen  sich  die  Amere  der 
beiden  ersten  Ausdrücke  [Baa  und  Bßa)  unbedingt,  ebenso  die  der 
beiden  letzten  [Bob  und  Bßh);  —  ferner  die  grosse  Mehrzahl  des 
1.  und  4.  Ausdrucks  (Baa  und  Bßb)  und  des  2.  und  3.  (Bßa  und  Bah). 
Sind  Amere  der  1.  und  3.  Kategorie  (Baa  und  Bah)  oder  der  2.  und 
4.  Kategorie  (Bßa  und  Bßh)  in  einem  Raum  vereinigt,  so  entfernen 
sich  dieselben  von  einander  oder  nähern  sich  einander,  je  nachdem 
die  (abstossenden)  B-Kräite  oder  die  (anziehenden)  a-,  resp.  /?-Kräfte 
die  Oberhand  haben.  Ist  aber  eine  grosse  Anzahl  von  Ameren  der 
4  Ausdrücke  der  unteren  Reihe  l^eisammen,  so  tritt  im  allgemeinen 
Zerstreuung  ein,  weil  die  a-  und  ß-,  die  a-  und  Z>-Kräfte  sich  gegen- 
seitig neutralisiren. 

Folgen  wir  der  anderen  Annahme  bezüglich  der  quantitativen  Ver- 
hältnisse der  6  Elementarkraftsummen,  wonacli  -^  SÄ  =  Sa  =  Sa  = 

—  SB  =  Sß  =--  Sh,  so  ist  der  Erfolg  bezüglich  der  Zusammenballung 

und  Zerstreuung  ein  ganz  ähnlicher,  nur  viel  entschiedener,  indem 
jetzt  einerseits  die  Gravitationsanziehung,  andrerseits  die  Aether- 
abstossung  in  vielen  Fällen  überwiegend  wird,  in  denen  sie  bei  der 
ersten  Annahme  durch  andere  Kräfte  überwunden  wurde. 

Es  führen  also  beide  Annahmen  auf  dem  Wege  der  Deduction 
zu  der  Vertheilung  der  Substanz,  die  wir  aus  Erfahrung  kennen, 
und  die  uns  einerseits  die  zusammengeballten  wägbaren  Stoffe,  andrer- 
seits den  alles  erfüllenden  Weltäther  zeigt.  Nach  der  letzten  Annahme 
ist  es  nahezu  die  Hälfte  der  Amere,  welche  der  Gravitation  folgend, 
sich  einander  nähert,  während  nahezu  die  andere  Hälfte  in  Folge  der 
Aetherabstossung  sich  zerstreut,  und  ein  kleinerer  Theil  von  weniger 
ausgesprochenem  Charakter  je  nach  Umständen  an  der  Zusammen- 
ballung oder  Zerstreuung  Theil  nimmt.  Nach  der  ersten  Annahme 
ist  die  Zahl  der  Amere  von  unentschiedenem  ^^erhalten  viel  beträcht- 
licher. —  Diese  Resultate  treten  um  so  deutlicher  hervor,   je  mehr 


698  Kräfte  und  Gestaltungen  im  niolecularen  Gebiet. 

Amere  uuf  einander  einwirken ,  indess  bei  einer  geringeren  Menge 
derselben  bestimmte  Kategorien  vorherrschen  und  den  Erfolg  modi- 
ficiren  können. 


Wir  können  uns  ferner  die  Frage  stellen,  wie  hoch  verhältniss- 
mässig  die  Summen  der  Gravitationskräfte  und  der  Aetherabstossungs- 
kräfte  einerseits  in  den  Agglomerationsmassen  und  andrerseits  in  dem 
Weltäther  sich  belaufen  mögen.  Die  Prämissen,  welche  uns  die 
Amertheorie  für  einen  solchen  Schluss  darbietet,  sind  folgende :  Jedes 
der  unendlich  zahlreichen  Amere  enthält  eine  gewisse  Menge  von 
Gravitationsanziehung  und  von  Aetherabstossung ;  diese  Mengen 
schwanken  zwischen  einem  Maximum  und  einem  Minimum,  sind  in 
jedem  Amer  mit  einander  combinirt  und  in  der  Gesammtzahl  aller 
Amere  symmetrisch  vertheilt;  nahezu  die  eine  Hälfte  der  Amere 
bildet,  da  in  ihnen  die  Gravitation  überwiegt,  die  Agglomeratious- 
massen,  nahezu  die  andere  Hälfte  mit  überwiegender  Aetherabstossung 
setzt  den  Weltäther  zusammen.  Wäre  Maximum  und  Minimum  be- 
kannt, so  liesse  sich  das  Verhältniss  der  beiden  Kräfte  nach  der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  ziemlich  genau  angeben.  Da  wir  das 
Maximum  und  Minimum  nicht  kennen,  so  lässt  sich  nur  ein  extremes 
Verhältniss  feststellen,  das  jedenfalls  nicht  überschritten  sein  kann. 

Dieses  extreme  Verhältniss  stellt  sich  am  grössten  heraus,  wenn 
wir  die  freilich  als  unmöglich  erscheinende  Annahme  machen,  es 
enthalten  alle  Amere  der  wägbaren  Massen  mehr  als  die  halbe,  durch- 
schnittlich einem  Amer  zukommende  Gravitationsanziehung  und 
weniger  als  die  halbe  durchschnittliche  Aetherabstossung,  und  wenn 
wir  ferner,  was  nicht  undenkbar  ist,  voraussetzen,  dass  das  Minimum 
einer  Elementarkraft  in  den  Ameren  sehr  klein  und  das  Maximmn 
im  Vergleich  damit  sehr  gross,  dass  also  in  dem  vorliegenden  Fall 
die  kleinste  Aetherabstossung  äusserst  gering  und  die  grösste  Gravi- 
tationsanziehung vielmal  beträchtlicher  sei.  In  diesem  Falle  betrüge, 
wegen  der  unendlichen  und  ohne  Zweifel  gleichmässig  vertheilten 
Abstufung  der  Amerkräfte,  in  den  wägbaren  Massen  die  Summe  der 

3 
Gravitationsanziehungen  -—  aller  Gravitationsanziehungen  überhaupt 

■i 

und  die  Smnme  der  Aetherabstossungen  -r-  aller  im  Universum  ent- 
haltenen Aetherabstossungen.    Die  Berechnung  ist  die  nämliche,  wie 


2.  Agglomeration  und  Dispersion  der  Amere.  699 

beispielsweise  die  Summirung  der  Zahlciireilie  1  bis  50  die  Zald  1275 
und  diejenige  der  Zahlenreihe  51  bis  100  die  Zahl  3775,  also  fast 
3  mal  so  viel  ergibt. 

Indessen  ist  die  zu  Grunde  gelegte  Voraussetzung,  wie  bereits 
gesagt,  kaum  denkbar.  Wir  müssen  vielmehr  annehmen,  dass  die 
G  Elementarkräfte  in  der  unendlichen  Menge  von  Ameren  nicht  nur 
in  allen  möglichen  Verhältnissen  comljinirt,  sondern  dass  auch  die 
einzelnen  Verhältnisse  in  gleicher  Zahl  verwirklicht  seien.  Dann 
ergibt  sich  folgende  Grundlage  für  die  Berechnung.  In  der  Hälfte 
aller  Amere  ist  die  Gravitationsanziehung  [Ä]  grösser  als  die  Aetlier- 
abstossung  [B);  in  der  andern  Hälfte  verhält  es  sich  umgekehrt. 
Die  Amere  der  ersten  Hälfte  mit  der  Signatur  Ä^  B  setzen  die 
ponderabeln  Massen  zusammen ;  die  der  zw^eiten  Hälfte  mit  der 
Signatur  Ä  <i  B  gehören  dem  Weltäther  an.  —  Ferner  lassen  sich 
alle  Amere  in  4  gleichgrosse  Gruppen  scheiden,  je  nachdem  einer- 
seits die  Gravitationsanziehung  und  andrerseits  die  Aetherabstossung 
grösser  oder  kleiner  ist  als  die  einem  Amer  im  Mittel  zukommende 
Kraftmenge  (m).     Diese  4  Gruppen  sind  also 

1  Gr.    Ä<  m ;  B  <  m. 

2  Gr.    ^  <  in ;  B  >  m. 

3  Gr.    J.  >  w;  J5  <  tu. 

4  Gr.    A>  tu;  I>  >  m. 

In  den  Ameren  der  1.  und  4.  Gruppe  überwiegt  bald  die  Gravi- 
tationsanziehung, bald  die  Aetherabstossung.  Es  haben  daher  alle 
Amere  der  3.  Gruppe  und  je  die  Hälfte  der  1.  und  4.  Gruppe  die 
Signatur  J.  >»  J5  und  bilden  die  Agglomerationsmassen,  während  der 
Weltäther  aus  allen  Ameren  der  2.  Gruppe  sammt  der  Hälfte  je  der 
1.  und  4.  Gruppe,  welche  alle  die  Signatur  A<^B  haben,  besteht. 

Unter  der  Voraussetzung,  dass  die  in  den  Ameren  vorkommenden 
Minima  der  beiden  Dominantenkräfte  einander  gleich  seien,  ebenso 
die  Maxima,  und  dass  das  IVIininmm  sehr  klein  und  das  Maximum 
vielmal  grösser  sei,  ergibt  die  Summirung,  dass  von  der  Gesammt- 
masse   der   im  Universum   enthaltenen  Gravitationsanziehungskräfte 

2  1 

-^  den  ponderabeln  Massen,  -^  dem  Weltäther,  und  von  der  Gesannnt- 

masse  der  Aetherabstossungskräfte  -^  den  ponderabeln  Massen  und 

2 

-7j-  dem  Weltäther  zukommen. 
o 


700  Kräfte  und  Gestaltungen  im  luolecularen  Gebiet. 

Um  das  Resultat  dem  Verständuiss  näher  zu  legen ,  führe  ich 
noch  eine  andere  Art  der  Berechnung  mit  bestimmten  numerischen 
Werthen  an.  Die  Kraftintensitäten  von  Ä  und  von  B  variiren  z.  B. 
zwischen  1  und  20  und  zwar  in  Abstufungen,  die  den  ganzen  Zahlen 
1  ....  20  entsprechen.  In  einer  Anzahl  von  400  Ameren  können 
alle  möglichen  Combinationen  der  Ä-  und  I?-Kräfte  vertreten  sein, 
indem  immer  je  20  Amere  die  Gravitationsanziehung  in  der  Inten- 
sität 1 ,  resp.  2  ....  20  enthalten ,  und  indem  die  20  Amere  jeder 
dieser  Gruppen  der  Reihe  nach  die  Aetherabstossung  in  der  Intensität 
1  ....  20  besitzen.  Die  so  beschaffenen  40ü  Amere  geben  uns  ein 
Bild  aller  im  Universum  vorkommenden  Amere  und  stellen  einen 
Bruchtheil  der  letzteren  dar.  Die  Summirung  ihrer  Kräfte  gibt  daher 
ein  Verhältniss,  das  auch  dem  Ganzen  für  die  angenommenen 
numerischen  Werthe  entsprechen  muss. 

Die  weitere  Rechnung  ist  einfach.  Die  400  Amere  enthalten  eine 
Gesammtintensität  der  Gravitationskräfte  und  der  Aetherabstossungs- 
kräfte  von  je  4200.  Von  den  400  Ameren  haben  20  gleich  intensive 
A-  und  7?-Kräfte  (nämlich  1  und  1 ,  2  und  2  etc.) ,  sind  also  rück- 
sichtlich der  Dominantenkräfte  isodynamisch  und  indifferent;  die- 
selben besitzen  eine  Gesammtintensität  der  Ä-  und  I?-Kräfte  von  je 
210.  Die  ü])rigen  380  Amere  sind  heterodynamisch;  190  Amere 
mit  überwiegender  yl-Kraft  ballen  sich  zu  ponderabeln  Massen  zu- 
sammen, 190  mit  überwiegender  i?-Kraft  zerstreuen  sich  als  Aetlier. 
Die  Summirung  ergibt  für  die  190  ponderabeln  Amere  eine  Gesammt- 
intensität der  Gravitationskräfte  von  2660,  der  Aetherabstossungskräfte 
von  lo3(),  —  für  die  190  Aetheramere  eine  Gesammtintensität  der 
Gravitationskräfte   von    1330   und   der  Aetherabstossungskräfte   von 

2  1 

2660:    also   die    vorhin   angegebenen   Verhältnisse   von  -^  und  -,  . 

^  ^  3  3 

Diese  Verhältnisse  werden  durch  die  20  isodynamischen  Amere,  die 

sich   neutral   verhalten ,   und  je   nach  Umständen  den  ponderabeln 

Massen  oder  dem  Weltäther  angehören  können,  nicht  geändert. 

Geben  wir  al^er  die  Bedingung  preis,    dass   das  Minimum    der 

Amerkräfte   sehr    klein   und   das  Maximum  vielmal  grösser  sei,    so 

wird  das  Verhältniss  zwischen   den  A-  und  i>-Kräften   in  den  pon- 

2      1 

derabeln    und    in    den    imponderabcln    Massen    kleiner    als  -^ :  -^ . 

Es   wechsle   beispielsweise   in   den  400  Ameren  die  Intensität  jeder 


2.  Agglomeration  und  Dispersion  der  Amere.  "Ol 

der  beiden  Dominaiitenkräfte  von  1 1  bis  30  (statt  von  1  bis  20), 
so  dass  also  jedes  Amer  10  Einheiten  von  Ä-  und  jB-Kräften  mehr 
hat  als  in  dem  vorhin  betrachteten  Fall.  Die  Gesammtintensität 
der  A-  und  B-Kräite  in  den  400  Ameren  beträgt  je  8200;  die  Ge- 
sammtintensität in  den  20  isodynamischen  Ameren  (Intensität  in 
jedem  Amer  11  +  11,  12  +  12  etc.)  beträgt  410.  Die  VM  hetero- 
dynamischen Amere,  welclie  sich  zu  ponderabeln  Massen  vereinigen, 
enthalten  eine  Gesammtintensität  der  yl-Kräfte  von  45G0  und  der 
-B-Kräfte  von  3230,  während  in  den  190  heterodynamischen  Aineren, 
welclie  sich  als  Aether  zerstreuen,  eine  Gesammtintensität  der  J. -Kräfte 
von  3230  und  der  i?-Kräfte  von  4500  vorhanden  ist.  Das  Verhältniss 
der  Gesammtmengen  der  beiden  Kräfte  in  den  ponderabeln,  sowie 
in  den  imponderabeln  Massen,  das  in  dem  1.  Beispiel  1  :  2  war,  wird 
hier  1  :  1,41. 

Das  Verhältniss  1  :  2  stellt  einen  Grenzfall  der  denkbaren  Mög- 
lichkeiten dar.  Wenn  wir  uns  daher  auf  die  Deduction  aus  ver- 
nunftmässigen  Principieu  verlassen  dürfen,  so  lässt  sich  mit  Gewissheit 

2 
annehmen,  dass  von  allen  Gravitationskräften  höchstens  -^  den  wäg- 

baren   Massen   und  mindestens  -5-   dem  Weltäther,   und  von   allen 

o 

Aetherabstossungskräften  mindestens  -„    den  wägbaren  Massen  und 

ö 

2 
höchstens  -^  dem  Aether  zukommen.    In  den  ponderabeln  Substanzen 

ist  also  wenigstens  halb  so  \'iel  Aetherabstossung  als  Gravitations- 
anziehung enthalten;  möghcher  Weise  ist  der  quantitative  Unter- 
schied zwischen  beiden  sogar  viel  geringer.  Diese  grosse  Menge  von 
Aetherabstossungskräften  iimerlialb  der  Agglomerationskörper  ist  von 
grosser  Bedeutung  für  die  Theorie  von  dem  Zustandekommen  der 
Elasticität  (§  3)  und  für  die  Beurtheilung  des  Wesens  der  Schwer- 
kraft (§  4). 


Die  bisherige  Betrachtung  ergibt  uns  nm^  ganz  im  allgemeinen 
das  Resultat  bezüglich  Zusammenballung  und  Zerstreuung  der  Amere. 
Um  eine  Vorstellung  über  das  Verlialtcn  der  Amere  im  besondern, 
namentlich  über  ihre  grössere  oder  geringere  Annälierung,  ihr  Zu- 
sammentreten zu  individuellen  Gruppen  und  die  Beständigkeit  ihrer 


702  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Anordnung  zu  gewinnen,  müssen  wir  die  maassgebenden  Umstände, 
die  dynamische  Beschaffenheit  der  Amere  und  ihre  Bewegungen 
etwas  näher  berücksichtigen. 

Was  die  dynamische  Bechaffenheit  betrifft,  so  ist  zu  beachten, 
dass  ausser  den  die  Signatur  bestimmenden  Kräften  (S.  691),  aucli 
andere  in  geringerer  Menge  vorhanden  sind,  dass  also  in  jedem  mit 
A  bezeichneten  und  den  Gravitationsmassen  angehörenden  Amer 
auch  die  Aetherabstossung  B  in  geringerem  Betrage  enthalten  ist, 
dass  die  Aetheramere  auch  etwas  Gravitationsanziehung  besitzen,  dass 
mit  positiver  immer  auch  negative  Elektricität  und  mit  a-Isagität  immer 
auch  /:?-Isagität  combinirt  ist.  In  einem  Amer  z.  B. ,  welchem  der 
leichteren  Uebersiclit  wegen  die  Bezeichnung  Aßa  gegeben  wurde, 
zeigen  die  Werthe  A,  ß  und  a  nur  die  überwiegenden  Glieder  in 
den  drei  Kräftepaaren  an.  Eigentlich  lautet  seine  vollständige  Charak- 
teristik AB  aß  ah,  wobei  aber  A  ^  B,  et  <i  ß  und  a^h  ist. 

Die  vollständige  dynamische  Wirkung  zweier  Amere  auf  ein- 
ander, diiQ  vcni  AB  aß  ah  wwdi  \\\\i  A^B^a^ß^a^hi  bezeichnet  sind,  ergibt 
folgendes  Resultat: 

Anziehungen    AA^-\-aay  -f  ß  ßi  +  ^^i  +  ha^ 
Abstossungen  B Bi-\-  aß^  -j-  ßai  -f  «a,  -|-  hb^. 

Die  Summe  der  Anziehungen  weniger  die  Summe  der  Ab- 
stossungen ist 

AA,  —  BBi-{-aai  —  aßi-\-  ßßi —  /? «i  -f  a  h,  —  «  «i  -f-  6  «i  —  W>i 
oder  nach  leicht  zu  übersehender  Umbildung 

AA,  —  BB,^{a—ß)  {a,  —  ß,)-^{a-b)  (h-a,). 

Von  den  beiden  isagischen  (a  und  ß)  und  den  beiden  elektrischen 
{a  und  b)  Kräften  kommen  also,  wie  dies  übrigens  selbstverständlich 
ist,  nur  die  betreffenden  Ueberschüsse  in  einem  Amer  in  Betracht. 
Jeder  der  beiden  Ausdrücke  (a—ß)  («i — ßi)  und  (a — b)  [b^ — «i)  kann 
ferner  positiv  oder  negativ  ausfallen  und  somit  entweder  die  Gravi- 
tationsanziehung {AAi)  oder  die  Aetherabstossung  [BB^  verstärken. 

Aus  diesem  Umstände  ergibt  sich  bezüglich  der  Aether- 
zerstreuung,  dass  dieselbe  nicht  bloss  aus  einzelnen  Ameren, 
sondern  auch  aus  2-  und  mehrzähligen  Gruppen  bestehen  muss. 
An  der  Zerstreuung  nehmen,  wie  wir  bereits  gesehen  haben,  im  all- 
gemeinen alle  Amere  Theil,  in  denen  B  grösser  ist  als  A.  Es  müssen 
aber  im  Weltäther  stets  zwei  Amere   sich   mit   einander  vereinigen, 


2.  Agglomeration  und  Dispersion  der  Amere.  703 

wenn  die  Aetherabstossung  BB^   von  der  Summe  der  Anziehungen 
aller  Kräfte  übertroffen  wird,  wenn  also  zwar  AAi<iBBi  aber 

AÄ,  4-  {a-ß){a—ß,)^{a  —  h){h,  —  a,)  >  BB,, 
oder    mit    andern    Worten,    wenn    die    Gesammtwirkung    zwischen 
2  Aetherameren 

AA,-BB,-^{a-ß){a,  —  ß,)-^{a  —  h){h-a,) 
einen  positiven  Werth  darstellt.  Dies  ist  dann  leicht  der  Fall,  wenn 
JiBi  nur  wenig  grösser  als  AAi  ist,  wenn  ferner  in  den  beiden 
Ameren  die  gleichnamigen  Isagitäten  (entweder  a  und  a,  oder  ß  und  ßi) 
und  die  ungleichnamigen  Elektricitäten  (entweder  a  und  &i  oder 
h  und  rfi)  überwiegen. 

Wie  zwei,  können  natürlich  auch  drei  oder  mehrere  Aether- 
amere  eine  zusammenhängende  Gruppe  bilden,  wenn  die  Anziehung 
innerhalb  derselben  die  Abstossung  überwiegt.  Doch  wird  die  Ver- 
einigung um  so  schwieriger,  je  grösser  die  Zahl  der  Amere  ist.  Die 
ganze  Gruppe  aber,  welche  vorzüglich  durch  die  isagischen  und  die 
elektrischen  Kräfte  zusammengehalten  wird,  nimmt  an  der  Aether- 
zerstreuung  gerade  so  Theil,  wie  ein  einzelnes  Aetheramer,  weil  gegen- 
über den  Agglomerationsmassen  die  isagischen  und  die  elektrischen 
Kräfte  sich  ziemlich  indifferent  verhalten  und  daher  nur  der  Ueber- 
schuss  der  Aetherabstossung  über  die  Gravitationsanziehung  den 
Ausschlag  gibt. 

Die  zusammengesetzten  Aethertheilchen  müssen  aber  nicht  noth- 
wendig  bloss  aus  Aetherameren  bestehen;  es  können  auch  einzelne 
ponderable  Amere  d.h.  solche,  in  denen  J.  >  J5  ist,  in  die  Gruppen 
eintreten  und  zwar  um  so  eher,  je  mehr  die  Gravitationsanziehung 
quantitativ  hinter  der  isagischen  und  elektrischen  Anziehung  zurück- 
bleibt. 

Wenden  wir  uns  zu  den  ponderabeln  Massen,  so  reicht 
die  Kenntniss  der  dynamischen  Beziehungen  der  Amere,  wie  sie  aus 
den  Beträgen  aller  ihrer  Kräfte  berechnet  w'urden,  zu  einer  genauen 
Vorstellung  über  die  Zusammenballung  nicht  aus.  In  dieser  Be- 
ziehung ist  die  Entscheidung  der  Frage  von  grösster  Wichtigkeit, 
ob  die  Amere  sich  bis  zur  Berührung  nähern  oder  ob  grössere  und 
kleinere  Zwischenräume  zwischen  ihnen  bleiben.  Dies  hängt  einmal 
von  der  Vertheilung  der  verschiedenen  Elementarkräfte  in  der  Sub- 
stanz der  einzelnen  Amere  ab;    die  Vertheilung  aber  lässt  sich  all- 


704  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molccularen  Gebiet. 

gemein  in  doppelter  Art  denken.  Entweder  sind  die  verschiedenen 
anziehenden  und  abstossenden  Kräfte  in  dem  Amer  gleichartig 
oder  aber  ungleichartig  angeordnet. 

Die  gleichartige  Anordnung  der  Kräfte,  —  mögen  dieselben 
gleichmässsig  durch  die  Substanz  des  Amers  vertheilt ,  mögen  sie 
in  dessen  Centrum  vereinigt  oder  über  seine  Oberfläche  ausgebreitet 
sein,  — ■  hat  zur  Folge,  dass  die  Differenz  der  anziehenden  und  ab- 
stossenden Kräfte  nach  allen  Seiten  hin  gleich  wirkt,  und  dass  die 
Anziehung  oder  Abstossung  zweier  bestimmter  Amere  lediglich  eine 
Function  der  Entfernung  ist.  Denn  wir  müssen  jedenfalls  annehmen, 
dass  Attraction  und  Repulsion  aller  Elementarkräfte  sich  in  derselben 
Weise,  nämlich  nach  dem  reciproken  Verhältniss  des  Quadrats  der 
Entfernung  bemisst.  Bei  gleichartiger  Anordnung  wird  die  dyna- 
mische Beziehung  zweier  Amere,  die  sich  in  irgend  einer  Ent- 
fernung  (d)   von   einander  befinden,   einfach   durch   den   Ausdruck 

[ÄÄ,  —  BB,  +  («  -  ß)  («.  -  /i.)  -f  [a  ^  h)  {h,  -  «0]  ^ 
dargestellt  (vgl.  S.  703). 

Die  ungleichartige  Anordnung  dagegen,  bei  welcher  die  Kräfte 
eine  verschiedene  Stellung  im  Amer  haben,  die  einen  auf  dieser,  die 
andern  auf  jener  Seite,  die  einen  im  Innern,  die  andern  an  der 
Oberfläche  vorherrschend  sind,  bedingt  nothwendig  eine  wechselnde 
Gesammtwirkung  nach  verschiedenen  Seiten  und  bei  verschiedenen 
Entfernungen.  Diese  Gesammtwirkung  wird  um  so  ungleicher,  je 
geringer  die  Entfernung  zwischen  den  Ameren  ist;  erst  bei  einem 
Abstände,  gegen  welchen  der  Durchmesser  des  Amers  verschwindet, 
wird  die  Gesammtwirkung  constant.  Bei  ungleichartiger  Anordnung 
der  Kräfte  lässt  sich  die  dynamische  Beziehung  zweier  Amere,  die 
sich  in  einem  bestimmten  Abstände  von  einander  befinden,  nicht 
durch  einen  einfachen  arithmetischen  Ausdruck,  wie  dies  bei  der 
gleichartigen  Anordnung  der  Fall  ist,  wiedergeben,  da  jedem  einzelnen 
Kräfteproduct  wahrscheinlicher  Weise  ein  anderer  durch  die  Ent- 
fernung bedingter  Coefficient  zukommt:  ÄA^  -ß,  BBi  y^,  ora,  ^^,  u.  s.w. 

d'  rti  (*u 

Von  den  beiden  eben  erwähnten  Möglichkeiten  ist  bloss  die 
letztere  annehmbar.  Die  ungleichartige  Anordnung  der  Elementar- 
kräfte im  Amer  ist  einerseits  schon  im  Voraus  theoretisch  notli- 
wendig,   und  andrerseits   entspricht  sie  allein  der  Erfahrung.     Was 


2.  Agglomeration  und  Dispersion  der  Amere.  705 

zuerst  die  Theorie  betrifft,  so  ist  folgendes  zu  bemerken.  Die  Amere 
sind,  wie  alle  endlichen  Dinge,  selbst  wieder  aus  Partikeln  zusammen- 
gesetzt, an  denen  die  Kräfte  haften.  Sind  diese  Partikeln  beweglich, 
so  müssen  die  einzelnen  Kräfte  eine  ihrer  Wirksamkeit  entsprechende 
Lage  annehmen,  die  Gravitationsanziehung  muss  vorzugsweise  im 
Innern  des  Amers  concentrirt,  die  Aetherabstossung  vorzugsweise  in 
den  oberflächlichen  Partien  ausgebreitet,  die  a-Isagität  mehr  auf  der 
einen,  die  /':?-Isagität  mehr  auf  der  andern  Seite  des  Amers  angehäuft, 
und  ausserdem  müssen  diese  Kräfte  nebst  der  Elektricität  unregelmässig 
vertheilt  sein.  Sind  aber  die  Partikeln  unbeweglich,  so  muss  eine 
solche  ungleiche  Anordnung  der  Kräfte  zu  Stande  gekommen  sein, 
als  die  Amere  sich  aus  ihren  Theilen  aufbauten. 

Was  dagegen  die  Erfahrung  betrifft,  so  wissen  wir,  dass  die 
ponderabeln  Massen  aus  Atomen  und  Molekülen  bestehen,  die  durch 
Zwischenräume  getrennt  und  gegen  einander  beweglich  sind.  Ein 
solcher  Zustand  ist  wohl  nur  erklärlich,  wenn  die  Elementarkräfte 
in  den  Ameren  ungleichartig  angeordnet  sind.  Denn  bei  gleich- 
artiger Anordnung  würden  sie  als  Centralkräfte  wirken  und  in  diesem 
Falle  könnte  den  ponderabeln  Körpern  keine  Elasticität  zukommen. 
Die  Anziehung  ihrer  Amere  wäre  unter  allen  Umständen  bloss  eine 
Function  der  Entfernung  zwischen  den  djmamischen  Mittelpunkten 
derselben,  und  die  Annäherung  zweier  Amere  müsste  stets  bis  zur 
Berührung  fortschreiten,  wo  die  Anziehung  dann  ilir  Maximum  er- 
reichte. Es  müssten  aber  nicht  bloss  je  zwei,  sondern  überhaupt  alle 
Amere,  in  denen  die  anziehenden  Kräfte  überwiegen,  das  Bestreben 
besitzen,  sich  bis  zur  Berülirung  zusammenzuballen  und  agglomerirte 
Massen  zu  bilden,  die  continuirlich,  ohne  Zwischenrämne,  ohne  Glie- 
derung in  Theile,  absolut  starr,  ohne  Dehnbarkeit  und  Elasticität, 
ohne  die  Möglichkeit,  in  einen  flüssigen  und  gasförmigen  Zustand 
überzugehen,  wären. 

Erfahrung  und  Theorie  sprechen  also  übereinstimmend  gegen 
die  Annahme  einer  gleichartigen  Anordnung  der  Elementarkräfte  im 
Amer.  Bei  der  ungleicliartigen  Anordnung,  mit  der  auch  ein  un- 
regelmässiger innerer  Bau  und  eine  unregelmässige  äussere  Gestalt 
des  Amers  Hand  m  Hand  gehen  muss ,  ist  besonders  die  überwiegend 
oberflächliche  Lage  der  Aetherabstossung  wichtig  in  ^''erbindung  mit 
dem  Umstände,  dass  dieselbe  entsprechend  der  unregelmässigen  Form 
des   Amers    an   einzelnen   Seiten    und    Stellen    in   grösserer   Menge 

V.  Nägel i,  Abstammtingslelire.  4d 


706  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

angeliäiü't  ist  (ähnlich  wie  freie  Elektricität  an  der  Oberfläche  eines 
Körpers).  Es  wird  daher,  auch  wenn  die  Amere  sich  in  Ruhe  be- 
finden sollten ,  immer  einzelne  Stellen  geben ,  wo  ihre  vollständige 
Annäherung  an  einander  unmöglich  ist,  und  dies  um  so  mehr,  wenn 
zufällig  die  isagischen  und  vielleicht  auch  die  elektrischen  Kräfte  an 
den  nämlichen  Stellen  abstossend  wirken. 

Die  Summe  der  abstossenden  Kräfte  innerhalb  der  Agglomerations- 
körper, die  ich  oben  im  allgemeinen  zu  bestimmen  gesucht  habe 
(S.  698 — 701),  wird  noch  dadurch  erhöht,  dass  in  ähnlicher  Weise, 
wie  ponderable  Amere  in  die  Amergruppen  der  Aetherzerstreuung 
aufgenommen  werden,  auch  Aetheramere  (d.  h.  solche,  in  denen 
die  Aetherabstossung  grösser  ist  als  die  Gravitationsanziehung)  in  die 
Agglomerationen  eintreten  müssen;  denn  es  wird  dies  nur  davon 
abhängen ,  dass  in  einer  bestimmten  Gruppirung  von  ponderabeln 
Ameren  durch  die  überwiegende  isagische  und  elektrische  Anziehung 
die  Einfügung  von  Aetheratomen  ermöglicht  werde. 

Die  Agglomerationsmassen  könnten  also  schon  dann,  w^enn  ihre 
innere  Beschaffenheit  bloss  von  den  daselbst  befindlichen  anziehenden 
und  abstossenden  Kräften  abhängen  würde,  nicht  durchaus  solid 
sein;  sondern  sie  müssten  zahlreiche  Lücken  zwischen  den  Ameren 
enthalten  und  dadurch  einige  Dehnbarkeit  und  Elasticität  besitzen. 
Dies  ist  aber  um  so  mehr  der  Fall,  als  neben  den  wirksamen  Ele- 
mentarkräften noch  ein  anderer  ebenso  wichtiger  Factor  maassgebend 
ist,  nämlich  die  Bewegung.  Die  Amere  sind  an  und  für  sich 
nicht  in  Ruhe,  sondern  in  lebhaftester  Bewegung  (S.  687).  Im  Zu- 
stand der  vollständigen  Zerstreuung  besitzen  sie  fortschreitende  und 
rotirende  Bewegungen.  Vereinigen  sie  sich  aber  in  zusammenhängende 
Gruppen,  so  bleiben  die  fortschreitenden  und  rotirenden  Bewegungen 
imr  den  Gruppen,  gestalten  sich  aber  für  das  einzelne  Amer  unter 
dem  hemmenden  Einfluss  der  benachbarten  Amere  zu  schwingenden 
Bewegungen. 

Die  Amere  verhalten  sich  demnach  bezügfich  ihrer  Bewegung 
gerade  so  wie  die  Atome  und  Moleküle,  mit  dem  Unterschiede  jedoch, 
dass  ihre  Geschwindigkeiten  im  allgemeinen  die  Moleculargeschwin- 
digkeiten  in  dem  Maasse  übertreffen,  als  ihre  Grösse  hinter  der  Grösse 
der  Atome  und  Moleküle  zurückssteht.  Die  Bewegung  wird  daher 
der  Vereinigung  der  Amere  in  noch  höherem  Grade  entgegenwirken 
als  es  bei  den  unendlich  viel  grösseren  Molekülen  der  Fall  ist,  und 


2.  Agglomeration  und  Disi:)ersion  der  Amere.  707 

auch  in  den  festesten  Agglomerationen  mögen  die  dm*chschnittliclien 
Entfernungen  der  hin  und  her  schwingenden  Amere  ziemhch  be- 
trächthch  sein,  und  nirgends  dauernde  Berührungen  bestehen. 

Die  A^ereinigungen  der  ponderabehi  Amere  müssen  überhaupt 
einerseits  von  der  Grösse  der  anziehenden  und  abstossenden  Kräfte  und 
andrerseits  von  der  Geschwindigkeit  ihrer  Bewegungen  gerade  so 
bestimmt  werden,  wie  dies  auf  einer  höheren  Stufe  bei  den  Atomen 
und  Molekülen  der  Fall  ist.  Die  Agglomerationen  der  Amere  müssen, 
um  die  eben  genannte  Grössenordnung  zur  Vergleichung  zu  wählen, 
von  der  Härte  des  Diamants  bis  zur  Flüchtigkeit  des  Wasserstoffs  sich 
abstufen,  also  Zustände  darstellen,  welche  dem  festen,  flüssigen 
und  gasförmigen  Aggregatzustande  entsprechen.  Wenn  wir  auch 
bloss  scheinbar  feste  Agglomerationskörper,  nämlich  die  chemischen 
Atome  kennen,  so  lassen  sich  doch  die  andern  Zustände  nicht  von 
der  Hand  weisen ,  und  was  die  flüssigen  Agglomerationen  betrifft, 
so  wäre  es  nicht  unmöglich,  dass  dieselben  sowohl  im  Innern  als 
namentlich  an  der  Oberfläche  der  Atome  vorkämen. 

Der  gasförmige  Zustand  der  Ameragglomerationen  ist  zwar  wesent- 
lich verschieden  von  der  Aetherzerstreuung,  da  in  dem  ersteren  die 
Anziehung,  in  der  letzteren  die  Abstossung  zwischen  den  Ameren 
und  Amergruppen  überwiegt,  da  somit  der  erstere  sich  wolkenartig 
zusammenballt  oder  AtmosjDhären  um  die  festen  Agglomerationen 
bildet,  während  die  letztere  stets  soweit  auseinander  weicht  als  es 
der  Raum  gestattet. 

Im  Uebrigen  hat  das  ponderable  Amergas,  wenn  dieser  Ausdruck 
gestattet  ist,  die  grösste  Aehnlichkeit  mit  dem  imponderabeln  Welt- 
äther ;  es  ist  auch  mit  demselben  an  den  Uebergangsstellen  gemengt 
und  lässt  sich  meistens  nicht  scharf  von  demselben  trennen.  Ich 
werde  es  daher  als  ponderabeln  Aether,  oder,  um  einen  be- 
quemeren Ausdruck  zu  haben,  als  Schweräther  (Baryaether)  im 
Gegensatze  zum  gewöhnlichen  oder  Leichtäther  (Weltäther) 
bezeichnen.  Beide  bestehen  aus  freien  Theilchen,  welche  ziemlich 
entfernt  von  einander  sind  und  nach  allen  Richtungen  durch  ein- 
ander fliegen,  und  welche  theils  einfache  Amere  theils  Amergruppen 
sind.  Von  diesen  haben  weder  die  einen  noch  die  anderen  Bestän- 
digkeit, indem  jedes  einfache  Amer  die  Fähigkeit  besitzt,  sich  unter 
günstigen  Umständen  mit  einem  oder  mit  mehreren  anderen  Ameren 
zu  vereinigen,  und  jede  Gruppe  dem  Zerfall  ausgesetzt  ist,  wenn  sie 

45* 


708  Kräfte  und  Gestaltungen  im  niolecularen  Gebiet. 

in  die  Nähe  von  Ameren  mit  hinreichend  starker  dynamischer  Wirkung 
kommt,  oder  wenn  sie  einen  hinreichend  starken  mechanischen  Stoss 
erfährt,  oder  wenn  beide  Ursachen  zusammentreffen. 

Die  Aggiomerationskörper  erster  Ordnung,  die  sich  zunächst 
aus  den  Ameren  aufbauen,  sind,  so  viel  wir  wissen,  die  Atome  der 
chemischen  Elemente.  Dieselben  verhalten  sich  zu  den  Ameren, 
ihrer  Ausdehnung  und  ihrem  Gewichte  nach ,  wie  eine  endliche  zu 
einer  verschwindend  kleinen  Grösse;  ein  Atoin  besteht  aus  einer 
ungeheuren  Zahl  von  Ameren,  die  sich  wohl  auf  Billionen  belaufen 
dürfte.  Ist  dasselbe  vereinzelt,  wie  im  Quecksilberdamj^f  bei  gewöhn- 
licher und  in  anderen  Gasen  bei  sehr  hoher  Temperatur,  so  muss 
es  mit  einer  Atmosphäre  von  ponderabelm  Aether  mngeben  sein. 
Denn  es  zieht  selbstverständlich  von  den  flüchtigen  Ameren  diejenigen 
am  stärksten  an,  bei  denen  die  Gravitationsanziehung  die  Aether- 
al)stossung  am  meisten  überwiegt. 

Diese  Atmosphäre  muss  unmittelbar  an  der  Oberfläche  des  Atoms 
die  grösste  Dichtigkeit  besitzen,  und  hier  müssen  ihre  Theilchen, 
indem  sie  von  den  anziehenden  Kräften  des  Atomkörpers  fester  ge- 
halten werden,  auch  die  geringste  Beweglichkeit  zeigen.  Es  ist  selbst 
nicht  unmöglich,  dass  der  Atomkörper  allmählich  in  den  Schweräther 
übergehe,  und  dass  der  Uebergang  durch  die  flüssige  Beschaffenheit 
seiner  oberflächlichen  Schicht  vermittelt  werde.  Wahrscheinlich  ver- 
halten sich  die  verschiedenen  chemischen  Elemente  rücksichtlich 
der  mehr  oder  minder  scharfen  Sonderung  dieser  Partien  ungleich. 
Für  alle  chemischen  Elemente  aber  muss  die  Regel  gelten,  dass  die 
Dichtigkeit  des  Schweräthers  mit  der  Entfernung  von  der  Oberfläche 
des  Atomkörpers  stetig  abnimmt,  und  dass  in  der  nämlichen  Richtung 
die  Beweglichkeit  und  Flüchtigkeit  seiner  Theilchen  zunimmt.  Die 
innere  dichtere  und  weniger  beweglictie  Schale  dieser  nach  aussen 
allmählich  in  den  Leichtäther  sich  verlierenden  Atmosphäre  will  ich 
als  die  eigentliche  Schweräther  hülle  bezeichnen^). 

Vereinigen  sich  die  Atome  zu  Molekülen  und  die  Moleküle  zu 
festen  und  flüssigen  Massen,    so  sind  alle  Zwischenräume  zwischen 


')  Die  Atinosplulro  un<l  die  Hülle  von  Schweräther,  von  der  ich  hier  spreche, 
dürfen  nicht  mit  der  jetzt  häufig  angenommenen  Aethersi^häre  der  Atome  und 
Moleküle  verwechselt  werden.  Die  letztere  werde  ich  in  dem  folgernden  Abschnitt 
besin-echen. 


3.  Elasticität.  709 

den  Atomen  und  zwischen  den  Molekülen  mit  ihren  Sehweräther- 
atmosphären  erfüllt.  Zunächst  ist  jedes  Atom  mit  seiner  Scliw er- 
at her  hülle  umgeben;  und  was  noch  an  Raum  zwischen  diesen 
Hüllen  übrig  bleibt,  wird  von  der  verdünnteren  und  beweglicheren 
äusseren  Partie  der  Atmosphären  eingenommen.  Diese  Partie  zwischen 
den  Schwerätherhüllen  will  ich  den  Z wisch enhülläther  nennen. 
—  Die  Stärke  der  l^eiden  Partien  des  ponderabeln  Aethers  in  den 
festen  und  flüssigen  Körpern,  nämlich  der  Schweräthcrhüllen  und  des 
Zwischenhülläthers,  wird  je  nach  der  Beschaffenheit  und  Anordnung 
der  in  den  Atomkörpern  befindlichen  Kräfte ,  also  nach  der  Natur 
der  chemischen  Elemente  und  Verbindungen,  sehr  ungleich  sein  und 
manchmal  in  einem  gewissen  Gegensatz  zu  einander  stehen,  sodass 
bei  beträchtlicher  Mächtigkeit  der  Hüllen  wenig  Raum  für  den 
ZwischenhüUäther  bleibt  und  umgekehrt.  Das  Grössenverhältniss 
l)eider  ist  namentlich  für  die  Forti^flanzung  des  Lichtes  und  der 
Wärme  (§  5),  sowie  der  Elektricität  (§  6)  von  Wichtigkeit. 


3.  Elasticität. 


Die  Elasticität  besteht  darin,  dass  die  kleinsten  Theilchen  eines 
Körpers,  wenn  sie  eine  Dislocation  durch  Druck  oder  Zug  erfahren 
haben,  nach  dem  Aufhören  des  Druckes  oder  Zuges  wieder  in  ihre 
frühere  Gleichgewichtslage  zurückkehren.  Worin  besteht  die  Ursache 
dieser  Erscheinung  ?  Man  hat  sie  in  der  Aethersphäre  finden  wollen, 
welche  jedes  wägbare  Theilchen  umgebe,  durch  Abstossung  die  voll- 
ständige Annäherung  der  wägbaren  Theilchen  verhindere  und  in 
Verbindung  mit  den  anziehenden  Kräften  derselben  einen  Gleich- 
gewichtszustand bei  einer  bestimmten  Entfernung  bedinge,  in  der 
Art,  dass  bei  geringerem  Abstand  die  Repulsion,  bei  grösserem  Abstand 
dagegen  die  Anziehung  grösser  werde. 

Diese  Theorie  ist  hervorgegangen  aus  der  Annahme  einfacher 
und  starrer,  mit  Centralkräften  ausgerüsteter  kleinster  Theilchen,  und 
sie  war  für  diese  Annahme  der  einzig  mögliche  Ausweg.  Sie  theilt 
das  Schicksal  aller  metaphysischen  Vorstellungen  über  die  kleinsten 
Theilchen,  dass  sie  nämhcli  nur  durch  unnatürliche  Vorstellungen 
haltbar  wird.  Ich  war  selber  früher  ein  Anhänger  dieser  Theorie, 
und  ich  habe  auch,  nachdem  ich  mir  schon  die  Amertheorie  angeeignet 


710  Ki'äfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

hatte ,  mir  iiocli  alle  Mühe  gegeben ,  emen  Weg  zu  finden,  \\ie  die 
Elasticität  auf  das  Vorhandensein  einer  Hülle  von  Aetherameren  um 
die  Atome  zurückgeführt  werden  könnte.  Allein  es  hat  sich  dies 
als  ganz  unmöglich  ermesen. 

Bezüglich  der  gewöhnlichen  Aethersphärentheorie  ist  Folgendes 
zu  bemerken.  Nimmt  man  die  ponderabeln  Theilchen  als  kugelig 
und  ihre  Aethersphären  als  Kugelschalen  an,  und  lässt  man  somit 
Anziehung  und  Abstossung  vom  Centrum  aus  wirken,  so  kann  der 
Gleichgewichtszustand  zweier  Theilchen  nicht  anders  als,  wie  dies 
auch  versucht  wm'de,  durch  die  Gleichung 

Ä         B         ,        ,,  .     A         R 

-TT  =  -^j-7,  oder  allgemein  -7-  =   ,„ . 
(V        d-+"  ^  dF        d^+^ 

ausgedrückt  werden,  wenn  Ä  die  Anziehung  der  beiden  wägbaren 
Theilchen,  E  die  Abstossung  ihrer  Aethersphären  und  d  den  Abstand 
ihrer  Mittelpunkte  bezeichnet.  Es  ist  einleuchtend,  dass,  wenn  man, 
vom  Gleichgewichte  ausgehend,  d  wachsen  lässt,  der  erste  Ausdruck 
oder  die  Anziehungsgrösse ,  wenn  man  dagegen  d  kleiner  werden 
lässt,  der  zweite  Ausdruck  oder  die  Abstossungsgrösse  das  Ueber- 
gewicht  erlangt. 

Man  kann  dieser  Lösung  das  Prädicat  der  einfachen  Eleganz 
gewiss  nicht  versagen.  Allein  man  muss  dabei  die  unj)hysikalische 
Vorstellung  in  den  Kauf  nehmen,  dass  moleculare  Anziehungen  und 
Abstossungen  oder  wenigstens  die  letzteren  nicht  nach  dem  um- 
gekehrten Verhältniss  des  Quadrats  der  Entfernung,  sondern  nach 
dem  einer  höhern  Potenz  wirksam  seien.  Dieser  Umstand  allein 
zeigt  uns ,  dass  der  Gleichung  nur  eine  empirische  und  bildliche, 
keine  rationelle  Bedeutung  zukommt,  mid  dass  die  Vorstellung,  die 
sich  in  ihr  ausspricht,  eine  real  unmögliche  ist. 

Ein  anderer  bedenklicher  Umstand  besteht  darin,  dass  für  die 
Constituirung  einer  solchen  Aethersphäre  die  Annahme  einer  neuen 
Kraft  nothwendig  wird,  welche  theoretisch  sich  nicht  rechtfertigen 
lässt.  Die  ponderabeln  Atome  müssten  nämlich  die  Aethertheilchen 
anziehen.  Da  zu  einer  solchen  Anziehung  die  entsprechende  Ab- 
stossung mangelt,  so  wäre  dies  ein  Verstoss  gegen  das  Gesetz  der 
Symmetrie  der  Kräfte,  welches  doch  als  eine  vernunftgemässe  For- 
derung so  lange  festgehalten  werden  muss,  als  es  zm'  Erklärung  des 
Bestehenden  ausreicht.   AVir  dürften  daher  zu  dieser  Vorstellung  einer 


3.  Elasticität.  711 

Aethersphäre  erst  dann  Zuflucht  nehmen,  wenn  keine  andere  Vor- 
stcüung  möglich  wäre.  —  Ich  will  niu-  noch  beiläufig  Ijemerken, 
dass  die  fragliche  Anziehung  zwischen  ponderabeln  und  Aetlier- 
theilchen  grösser  sein  müsste  als  die  andern  bekannten  Kräfte,  da 
sie  die  Attraction,  die  z^^'ischen  den  ponderabeln  Theilchen  besteht, 
überwinden  und  die  Aethertheilchen  trotz  ihrer  gegenseitigen  Re- 
pulsion zusammenhäufen  würde. 

Verlässt  man  den  metaphysischen  Boden  von  kleinsten,  durch 
Centralkräfte  wirksamen  Theilchen  und  betrachtet  man  die  chemi- 
schen Atome  oder  die  kleinsten  uns  bekannten  Körperchen  der 
wägbaren  Materie  als  "^delfach  zusammengesetzt,  so  kann  man  zwar 
auch  auf  natürlichem  Wege  unter  der  Voraussetzung,  dass  kein  pon- 
derabler  Aether  vorhanden  sei,  eine  Hülle  von  Ameren  des  eigent- 
lichen oder  Leichtäthers  um  dieselben  construiren ;  allein  diese  Hülle 
vermag  in  keiner  "Weise  das  zu  leisten ,  was  zur  Erklärung  der 
Elasticität  als  Gleichgewichtszustand  zwischen  Anziehung  und  Ab- 
stossung  nothwendig  wäre.  —  Sind  die  Amere  mit  den  6  Elementar- 
kräften ausgestattet,  wie  ich  es  angenommen  habe,  so  werden  sich 
Amere  des  Leichtäthers  an  die  Oberfläche  von  AggiomerationskörjDern 
anlegen,  wenn  der  Ueberschuss  der  Aetherabstossung  über  die  Gravi- 
ttitionsanziehung  durch  die  Attraction  der  elektrischen  mid  isagischen 
Kräfte  mehr  als  aufgewogen  wird.  Es  werden  also  solche  Aether. 
amere  an  der  Oberfläche  eines  Atoms  festhaften,  welche  im  Vergleich 
mit  diesem  die  ungleichnamige  Elektricität  und  die  gleichnamige 
Isagität  im  Ueberschuss  enthalten.  Ist  beispielsweise  das  Atom 
positiv  elektrisch  und  vorwiegend  a-isagisch ,  so  legen  sich  Aether- 
amere  an  dasselbe  an,  die  negativ  elektrisch  und  ebenfalls  vorwiegend 
a-isagisch  sind.  Aber  in  allen  Fällen  können  diese  Aetheramere 
niK  eine  sehr  spärliche  und  wirkungslose  Hülle  bilden,  da  ihre 
natürliche  gegenseitige  Aetherabstossung,  die  hier  noch  durch  ihre 
gleichnamigen  Elektricitäten  verstärkt  wü'd,  eine  grössere  Anhäufung- 
verhindert. 

Würde  aber  auch ,  im  Widerspruch  mit  den  gegebenen  Ver- 
hältnissen, eine  beliebige  Zahl  von  Leichtätherameren  jedes  Atom 
zu  umhüllen  vermögen,  so  wäre  damit  für  die  Elasticität  nichts  ge- 
wonnen, wenn  man  nicht  wieder  die  Abstossung  nach  einer  höhern 
Potenz  der  Entfernung  wirken  lassen  wollte  als  die  Anziehung.  Bloss 
wenn  bei  unregelmässiger  Gestalt  der  Atome  die  Aethersphäre  an 


712  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molccularen  Gebiet. 

besonderen  Stellen  eine  grössere  Mächtigkeit  besässe,  so  könnte  an 
diesen  Seiten  ein  Gleichgewichtszustand  für  einen  bestimmten  Abstand 

Ä  li 

[d)  eintreten,  nach  der  Gleichung  772  =  ttzt ^^ y- '  i^^^m  hierin  mit  der 

Zunahme  von  d  die  Anziehung,  mit  der  Abnahme  von  d  die  Ab- 
stossung  grösser  ^Adrd.  An  den  übrigen  Seiten  dagegen ,  wo  die 
Aethersphäre  weniger  mächtig  wäre,  würden  sich  die  Atome  bis  zur 
Berührung  nähern;  denn,  wollte  man  die  Aetheramere  auf  allen 
Seiten  in  hinreichender  Menge  anhäufen,  so  müsste  die  Gesammt- 
abstossung  je  zweier  Atome  grösser  werden  als  ihre  Gesammtanziehung 
und  damit  wäre  ein  Gleichgewichtszustand  wieder  unmöglich  gemacht. 

Es  ist  nach  dem  Gesagten  sicher,  dass  die  Elasticität  der  wäg- 
baren Körper  sich  nicht  durch  die  Leichtäthersphären  ihrer  Atome 
und  Moleküle  erklären  lassen.  Wir  müssen  jedenfalls  das  Geheimniss 
der  Elasticität  viel  weiter  rückwärts  verlegen.  Wir  müssen  nicht 
imr  den  Atomen  und  Molekülen,  sondern  auch  den  Ameren  eine 
ähnliche  Elasticität,  wie  wir  sie  an  zusammengesetzten  Körpern 
kennen,  zuschreiben,  und  die  Ursachen  davon  in  inneren,  mit  dem 
zusammengesetzten  Bau  gegebenen  Kräften  suchen.  Zwei  Elfenbein- 
kugeln stossen  sich  beim  Zusammenprall  ab,  ohne  dass  besondere 
Repulsion skräfte  an  ihrer  Oberfläche  wirksam  wären.  Es  ist  kein 
Grund  vorhanden,  warum  die  Moleküle  und  Atome  der  Gase,  der 
Flüssigkeiten  und  festen  Körper  nicht  ebenso  sich  verhalten  sollten. 

Wenn  man  eine  Gasmasse  zusammendrückt,  so  vermehrt  sich 
ihre  Spannung,  sie  übt  ihrerseits  einen  entsprechend  grösseren  Druck 
aus ,  weil  ihre  Moleküle  um  so  häufiger  an  einander  und  an  die 
Wandungen  anstossen,  und  sie  nimmt  nach  dem  Aufhören  des 
Druckes  wieder  ihr  früheres  Volumen  ein.  Drückt  man  einen  festen 
oder  flüssigen  Körper  zusammen,  so  tritt  die  nämliche  Erscheinung 
ein,  weil  die  kleinsten  Theilchen  mit  ihren  schwingenden,  zum  Theil 
auch  fortschreitenden  Bewegungen  häufiger  an  einander  und  an  den 
Körper,  der  den  Druck  ausübt,  anstossen.  Wird  der  Körper,  mag 
er  gasförmig,  flüssig  oder  fest  sein,  auseinander  gezogen,  so  findet 
das  Gegcntheil  statt ,  indem  sich  die  Spannung  vermindert  und  der 
Körper  kehrt  beim  Aufhören  des  Zuges  ebenfalls  in  seine  früheren 
Dimensionen  zurück. 

Die  Elasticität  gestaltet  sich  aber  für  die  verscliiedenen  Aggregat- 
zustände etwas  ungleich  nach  den  besonderen  Molecularbewegungenj 


3.  Elasticität.  713 

durcli  welche  dieselben  bedingt  werden.  Einmal  sind  die  Gase,  ent- 
sprechend ihren  ungleich  grösseren  durchschnittlichen  Molecular- 
abständen ,  viel  dehnbarer ,  ändern  somit  bei  Druck  oder  Zug  ihre 
Dimensionen  in  viel  stärkerem  Grade  als  die  flüssigen  und  i'esten 
Körper.  In  den  Gasen  und  Flüssigkeiten  ist  ferner  die  Aenderung 
in  der  Spannung  und  damit  die  Ausdehnung  oder  Zusammenziehung 
in  allen  Eichtungen  gleich  gross,  weil  ihre  Th eilchen  nach  allen 
Richtungen  verschiebbar  sind.  In  den  festen  Körpern,  deren  Theil- 
chen  bloss  um  eine  Gleichgewichtslage  schwingen  und  nicht  ver- 
schiebbar sind,  ändern  sich  die  Spannungen  und  die  Dimensionen 
in  verschiedenen  Richtungen  in  ungleichem  Maasse. 

Der  kleinste  zusammengesetzte  feste  Körper,  den  wir  aus  Er- 
fahrung sicher  kennen,  ist  das  Molekül  einfacher  Gase,  bestehend 
aus  zwei  Atomen.  Diese  Atome  schwingen  gegen  einander  in  gleicher 
M^eise,  wie  eine  vollkommen  elastische  Kugel,  die  man  auf  einen 
vollkommen  elastischen  Boden  fallen  liesse,  immer  wieder  auf  die 
gleiche  Höhe  springen  würde,  wenn  die  Luft  keinen  Reibungs- 
widerstand darböte.  Die  beiden  Atome,  welche  gegen  einander  prallen, 
werden  durch  ihre  Elasticität  zurück  und  durch  die  gegenseitige 
Anziehung  wieder  gegen  einander  geworfen. 

Wie  die  Atome  verhalten  sich  die  Amere.  Dass  der  Weltäther 
elastisch  ist,  steht  schon  lange  fest.  Doch  liesse  sich  die  Elasticität 
seiner  Theilchen  auch  bloss  aus  der  Abstossung  derselben  erklären. 
Sind  sie  aber  selber  elastisch  und  fliegen  sie  wde  die  Moleküle  eines 
Gases  durcheinander,  so  verleiht  ihnen  die  überwiegende  Abstossung 
keine  neue  und  besondere  Eigenschaft ;  sie  verhindert  bloss  bei  hin- 
reichender Stärke  ihre  Annäherung  bis  zur  vollständigen  Berührung. 
Die  mit  geringerer  Repulsionskraft  begabten  Aethertheilchen  al^er 
und  alle  ponderabeln  Amere  können  bloss  durch  ihren  zusammen- 
gesetzten Bau  elastisch  sein. 

Wenn  die  Amere  selber  elastisch  sind ,  so  erklärt  sich  die 
Elasticität  der  Atome  in  gleicher  Weise  wie  die  Elasticität  einer 
Elfenbeinkugcl.  Die  Amere ,  die  ein  Atom  zusammensetzen ,  sind 
fortwährend  in  schwingender,  vielleicht  theilweise  auch  in  fort- 
schreitender Bewegung  begriffen,  und  der  Effect  eines  Stosses  auf 
ein  Atom  ist  kein  anderer  als  der,  dass  seine  Amere  häufiger  gegen 
einander  und  gegen  den  anstossenden  Körper  anprallen.  —  Mit 
Rücksicht  auf   andere   Erscheinungen    ist   es   wahrscheinlich,   dass 


714  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

hierbei  nicht  die  Atomkörper  unmittelbar  und  allein  wirksam  sind. 
Vielmehr  sind  es  ihre  j)onderabeln  Aetherhüllen ,  welche  den  Stoss 
zunächst  emj)fangen,  durch  denselben  am  stärksten  zusammengedrückt 
werden,  somit  auch  den  meisten  Widerstand  leisten  und  erst  mittelbar 
den  elastischen  Atomkörper  in  Mitleidenschaft  versetzen. 

Worauf  die  Elasticität  der  Amere  beruhe,  lässt  sich  nicht 
weiter  verfolgen.  Wir  dürfen  aber  die  sichere  Ueberzeugung  hegen, 
dass  die  Amere  nichts  starres  und  einfaches  sein  können  und  dass 
sie  selber  wieder  aus  Theilchen  zusammengesetzt  sein  müssen.  Aber 
da  die  Analyse  des  kraftbegabten  Stoffes  endlos  ist  und  nicht  bis 
zu  den  metaphysischen  Einheiten  vorzudringen  vermag,  so  langt  sie 
früher  oder  sj^äter  bei  der  Grenze  an,  jenseits  welcher  das  Unbekannte 
beginnt.  Hinter  dieser  Grenze  liegt  in  dem  vorliegenden  Fall  die 
Elasticität  der  Amere. 

In  allen  Gebieten  der  Zusammensetzung  kann  die  Elasticität 
eines  Körpers  nur  durch  Anziehung  und  Abstossung  in  Verbindung 
mit  Bewegung  seiner  Theilchen  zu  Stande  kommen,  und  zwar  muss 
es  als  mn  so  günstiger  erachtet  werden,  je  mehr  die  abstossenden Kräfte 
quantitativ  den  anziehenden  Kräften  sich  nähern.  Nun  enthalten  die 
wägbaren  Körper,  wie  aus  der  rein  theoretischen  Erwägung  hervorgeht, 
von  den  beiden  Elementarkräften,  auf  die  es  hier  vorzugsweise  ankommt, 
wenigstens  halb  so  viel  Aetherabstossung  als  Gravitationsanziehung 
(S.  698 — 701),  und  wie  aus  anderen  Betrachtungen,  die  der  Theorie 
durch  Erfahrungsthatsachen  zu  Hülfe  kommen,  sich  ergibt,  kann  in 
den  genannten  Körpern  die  Gesammtmenge  der  Aetherabstossungs- 
kräfte  nur  sehr  w-enig  hinter  der  Gesammtmenge  der  Gravitations- 
kräfte zurückbleiben  (vgl.  §  4  Schwerkraft). 

Die  anziehenden  mid  die  abstossenden  Kräfte  sind  ungleich  durch 
die  Materie  vertheilt;  die  abstossenden  Kräfte  haben,  soweit  sie  be- 
weglich, die  Neigung,  sich  an  der  Oberfläche  der  Stoff  theilchen  und, 
da  diese  eine  unregelmässige  Gestalt  besitzen,  an  den  vorspringenden 
Ecken  derselben,  in  gleicher  Weise  wie  die  freie  Elektricität  in  einem 
Körper,  anzuhäufen.  An  solchen  Stellen  müssen,  auch  wenn  die 
Theilchen  in  Ruhe  gedacht  werden,  Lücken  zwischen  ihnen  bestehen, 
und  diese  müssen  um  so  grösser  und  um  so  häufiger  vorhanden 
sein,  je  beträchtlicher  die  Summe  der  abstossenden  Kräfte  im  Ver- 
hältniss  zu  den  anziehenden  ausfällt.  Auch  die  elektrischen  und 
isagischen  Kräfte  müssen  wegen  ihrer  ungleichen  Vertheilung,  wenn 


3.  Elasticität.  715 

auch  in  geringerem  Maasse,  Veranlassung  zu  solchen  Lücken  geben. 
Die  Substanz  hat  daher  von  Natur  eine  mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochene, schwammige  Beschaffenheit  und  ein  grösseres  oder 
geringeres  Maass  von  Dehnbarkeit,  in  Folge  dessen  auch  eine  mehr 
oder  weniger  beträchtliche  Elasticität. 

Dies  muss  für  alle  Stufen  der  Zusammensetzung  gelten  und 
somit  den  Körpern  höherer  und  niederer  Grössenordnungen  Elasticität 
zukommen,  so  auch  den  chemischen  Atomen  wegen  der  lückenhaften 
Zusammenordnung  ihrer  Amere  und  den  Ameren  selber  wegen  ähn- 
licher Zusammenordnung  ihrer  Theilchen. 

Denken  wir  uns  nun  vorerst  die  Theilchen  eines  festen  Körpers, 
beispielsweise  die  chemischen  Atome,  in  Ruhe.  Ihre  Zusammen- 
ordnung muss  den  vorhin  erörterten  Charakter  zeigen.  Die  beweg- 
lichen Kräfte,  von  denen  in  dem  vereinzelten  Atom  die  anziehenden 
sich  im  Innern,  die  abstossenden  in  den  oberflächlichen  Partien  an- 
häufen würden ,  ordnen  sich  unter  dem  Einfluss  der  beweglichen 
Kräfte  in  den  benachbarten  Atomen  dergestalt  an,  dass  der  grössten 
Anziehung  eine  Genüge  geleistet  und  der  festeste  Zusammenhang 
hervorgebracht  wird.  Es  berühren  sich  die  Atome  an  einzelnen 
Stellen,  während  sich  an  anderen  Stellen  Lücken  zwischen  3,  4  und 
mehr  Atomen  l^efinden,  die  mit  Z wisch enhülläther  (S.  708)  erfüllt  sind. 
An  den  letzteren  Stellen  sind  die  beweglichen  Repulsionskräfte  an- 
gesammelt. An  den  Berührungsstellen  liegen  die  Schwerätherhüllen 
(S.  709)  dicht  aneinander,  sind  auch  nach  Umständen  theilweise 
verdrängt. 

Durch  mechanische  Angriffe  von  aussen,  welche  das  bestehende 
Gleichgewicht  der  Kräfte  zu  überwinden  vermögen,  nämlich  durch 
Druck  oder  Zug,  wird  die  Anordnung  der  Atome  etwas  verschoben. 
Dm-cli  Druck  werden  die  hohlen  Räume,  und  damit  die  Dimension 
des  ganzen  Körpers  in  der  Druckrichtung  verkleinert,  dagegen  in 
den  zur  Druckrichtung  rechtwinkligen  Ebenen,  w^eil  die  beweglichen 
Abstossungskräfte  an  der  Oberfläche  der  Hohlräume  seitlich  aus- 
weichen, vergrössert.  Zug  bewirkt  die  entgegengesetzte  Veränderung : 
Vergrösserung  der  Hohlräume  und  der  Dimension  des  Körpers  in 
der  Richtung  des  Zuges  und,  weil  in  Folge  dessen  die  beweglichen 
Repulsionskräfte  nach  den  beiden  Seiten  der  verlängerten  Hohlräume 
hinströmen,  Verkleinerung  der  letzteren  und  mit  ihnen  der  Körper- 
dimensionen  in    den    zmn   Zug    senkrechten   Ebenen.     Nach    dem 


716  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Aufhören  des  Druckes  oder  Zuges  keliren  die  Atome  in  die  frühere 
Gleichgewichtslage  zurück.  Der  Körper  ist,  wiewohl  seine  Theilchcn 
sich  in  Ruhe  befinden,  elastisch. 

Nun  sind  aber  die  Theile  der  Körper  höherer  und  niederer 
Grössenordnungen  nicht  in  Ruhe;  die  chemischen  Atome  befinden 
sich  stets  in  lebhafter  und  die  Amere  in  noch  viel  lebhafterer  Be- 
wegung. Dadurch  wird  die  Elasticität  der  Körper  gesteigert  und  in 
bestimmter  AVeise  geregelt.  In  Folge  der  Bewegung  sind  die  Atome 
nirgends  in  dauernder,  sondern  nur  periodisch  in  momentaner  Be- 
rührung, so  oft  sie  gegen  einander  prallen,  um  durch  ihre  Elasticität 
wieder  zurückgeworfen  zu  werden;  sie  schweben  isolirt  im  Räume, 
wenn  auch  bestimmte  Stellen  stets  nur  durch  sehr  kleine  Zwischen- 
räume getrennt  sind,  und  die  Zahl  der  Stösse,  die  sie  auf  einander 
ausüben,  bedingt  das  Maass  der  Expansion.  Wird  das  Gleichgewicht, 
das  zwischen  den  Wirkungen  der  Atomstösse,  den  abstossenden  und 
anziehenden  Kräften  besteht,  durch  äusseren  Eingriff  (Stoss  oder 
Zug)  gestört,  so  tritt  die  Elasticität  des  Körpers  in  Wirksamkeit, 
indem  dieselbe  seine  früheren  Dimensionen  und  damit  das  Gleich- 
gewicht herzustellen  sucht.  —  So  beruht  also  die  Elasticität  eines 
Körpers  von  fester  oder  flüssiger  Beschaffenheit  auf  der  ungleichen 
Vertheilung  der  in  seinem  Innern  befindlichen,  anziehenden  und 
abstossenden  Kräfte,  sowie  weiterhin  auf  der  Bewegung  und  Elasti- 
cität seiner  Theilchen. 


4.  Schwerkraft. 


Das  Gesetz  der  Schwere  oder  das  Gravitationsgesetz  wird  so 
ausgedrückt,  dass  ein  jeder  Körper  auf  einen  andern  Kör^Der  nach 
dem  Verhält niss  seiner  Masse  einwirke,  und  dass  die  Anziehung 
zwischen   zwei   Körpern    gleich   sei   dem   Product    aus    den    beiden 

Massen ,   getheilt   durch    das  Quadrat   der   Entfernung ,  also  — 'jr~^- 

Masse  aber  wird  als  Quantität  von  Stoff  oder  ]\Iaterie  erklärt  und 
die  Gleichheit  zweier  Massen  an  die  Bedingung  geknüpft,  dass  sie 
durch  die  nändiche  Kraft  in  der  Zeiteinheit  gleiche  Beschleunigung 
erfahren.  Diese  Begriffe  wurden  durch  Pendelversuche  und  durch 
die  Bewegungen  der  Himmelskörper  festgestellt. 


4.  Schwerkraft.  717 

Nach  der  in  den  beiden  ersten  Abschnitten  dieser  Abhandlung 
entwickelten  dynamischen  Amertheorie  ist  die  Anziehung  zweier 
ponderabeln  Körper  gleich  der  Summe  der  Anzieliungcn  zwischen 
allen  Ameren  des  einen  und  allen  Ameren  des  andern  Körpers 
weniger  der  Summe  aller  Abstossungen  zwischen  den  Ameren  der 
beiden  Körper.  Nehmen  wir  die  Bezeichnungen,  die  früher  für  die 
Kräfte  des  einzelnen  Amers  gebraucht  wurden,  jetzt  für  die  in  einem 
Körper  vorhandenen  Summen  dieser  Kräfte,  bezeichnen  wir  also  die 
Summe  der  Gravitationskräfte  in  dem  einen  Körper  mit  A,  in  dem 
andern  mit  J.i,  die  Summen  der  Aetherabstossungskräfte  mit  B  unrl 
Bi,  ferner  die  Mengen  der  positiven  Isagität  mit  a  und  «i,  die  der 
negativen  mit  ß  und  ßi,  endlich  die  Mengen  der  positiven  Elektricität 
mit  a  und  a,,  die  der  negativen  mit  h  und  &i,  so  sind  in  dem  einen 
Körper  die  Kräftesummen  Ä,  B,  «,  ß,  a  und  h ,  in  dem  andern  die 
Kräftesummen  Äi,  B^,  a^,  ßi,  a^  und  &i  wirksam  und  die  gesammten 
dynamischen  Einwirkungen  der  beiden  Körper  auf  einander  bestehen 
in  den  zwei  Summen  (wie  S.  702) 

Gesammtanziehung    AA^  -\-  ciay-\-  ßß^  -\-  alj^  -{-ha^,  I 

Gesammtabstossung  BB^-\-  aß^-\-  ßa^  -\~  a  cti  -j-hbi  II 

und  die  Gesammtanziehung  weniger  die  Gesammtabstossung  ist 

AA,  —  BB,-{-{a^ ß)  («1  —  ß,)  +  {a  —  V)  (b,  —  a,)  III 

Diese  Formel  enthält  also  den  wirksamen  Ueberschuss  der  An- 
ziehung zwischen  den  beiden  Körpern,  welcher,  wenn  dieselben  frei 
beweglich  sind,  ihre  bestimmte  Beschleunigung  gegen  einander  be- 
dingt. Wenn  es  sich  um  grössere  Körper  handelt,  die  aus  ver- 
schiedenen chemischen  Verbindungen  bestehen,  so  können  die  zwei 
letzten  Ausdrücke  in  der  Formel  III  vernachlässigt  werden,  weil 
dann  die  beiden  Isagitäten  und  ebenso  die  beiden  Elektricitäten 
nahezu  in  gleichen  Mengen  vorhanden  sind.  Die  Ausdrücke  [a — ß) 
(«1  —  /?,)  und  (« —  &)  (&i  — «,)  müssen  nämlich  jeder  für  sich  um  so 
eher  Null  werden,  je  umfangreicher  die  Körper  und  je  zahlreicher 
ihre  chemischen  Elemente  sind.  Dies  wird  vor  allem  eintreffen  bei 
der  Einwirkung  der  Himmelskörper  auf  einander.  Wäre  es  nicht 
der  Fall,  hätten  z.  B.  die  Planeten  und  die  Sonne  bedeutende  Mengen 
freier  Elektricität  und  wäre  die  Elektricität  bei  den  einen  positiv,  bei 
den  anderen  negativ,  so  würde  die  Massenanziehung  in  den  einen 
Combinationen  durch  die  elektrische  Anziehung  vermehrt,  in  den 
anderen  durch  die  elektrische  Abstossung  vermindert,  und  es  müssten 


718  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Störungen  in  dem  Gravitationsgesetz,  welches  nur  die  Massen  berück- 
sichtigt, bemerkbar  werden. 

Die  von  der  Isagität  und  Elektricität  bedingten  dynamischen 
Einwirkungen  dürfen  aber,  auch  wenn  grössere  Körper  (d.  li.  solche 
von  nicht  molecularer  Kleinheit)  in  Frage  kommen,  nicht  mehr  ver- 
nachlässigt werden ,  wenn  dieselben  aus  einem  einzigen  chemischen 
Element  bestehen,  weil  dann  sehr  wahrscheinlich  die  eine  der  beiden 
Isagitäten  und  ebenso  die  eine  der  beiden  Elektricitäten  im  Ueber- 
schuss  vorhanden  ist.  So  verhalten  sich  beispielsweise  1^  Schwefel, 
Is  Blei  und  1^  Magnesium  gegenüber  der  elektiisch  und  isagisch 
neutralen  Erde  vollkommen  gleich  und  sie  würden,  als  Pendel  be- 
nutzt, die  nämliche  Schwingungsdauer  ergeben.  Wären  aber  die 
Untersuchungsmethoden  von  hinreichender  Genauigkeit,  so  würde 
sich  ohne  Zweifel  nachweisen  lassen,  dass,  wie  es  die  Amertheorie 
verlangt,  gleiche  Gewichte  der  genannten  Stoffe  nicht  die  gleiche 
dynamische  Bedeutung  besitzen ,  dass  1  ^  Schwefel  auf  1  s  Schwefel, 
auf  1  s  Blei  und  auf  1  s  Magnesium  eine  ungleiche  Einwirkung 
ausübt. 

Bei  der  Anziehung  grosser,  aus  vielen  Elementen  bestehender 
Körper,  namentlich  der  Himmelskörper,  kommen  also  bloss  die 
Gravitationskräfte  und  die  Aetheral^stossungskräfte  in  Betracht  und 
es  reducirt  sich  die  gegenseitige  dynamische  Einwirkung  zweier 
Körper  auf  die  Formel 

AÄ,  —  BB,  IV 

Dürfte  hierin  der  die  Aetherabstossung  enthaltende  Ausdruck 
BBi,  wie  es  mit  den  Ausdrücken  der  Isagität  und  der  Elektricität 
der  Fall  ist,  ebenfalls  als  sehr  klein  vernachlässigt  werden  und  wäre 
somit  die  bemerkbare  dynamische  Einwirkung  bloss  ÄÄ^ ,  so  hätte 
man  unmittelbar  das ,  was  das  Gravitationsgesetz  verlangt ,  indem 
dann  Ä  und  Ä^  die  Massen  der  beiden  Körper  ausdrückten.  Die 
Vernachlässigung  von  BBi  ist  aber  nicht  statthaft;  die  Aether- 
abstossung innerhalb  der  ponderabeln  Körper  muss  einen  im  Ver- 
hältniss  zur  Gravitationsanziehung  nicht  unbeträchtlichen  Betrag 
ausmachen,  wie  uns  die  Elasticitätserscheinungen  zeigen,  welche 
ohne  sehr  beträchtliche  Repulsionskräfte  im  Innern  der  Atome  und 
ihrer  Bausteine  der  Amere  gar  nicht  denkbar  wären.  Sind  die 
Gravitations-  und  die  Aetherabstossungskräfte  nach  der  Amertheorie 


4.  Schwerkraft.  719 

in  abgestuften  Mengen  und  nach  allen  möglichen  Verh<ältnissen  auf 
die  unendliche  Menge  der  Amere  vcrtheilt,  so  kann  schon  aus  rein 
theoretischen  Gründen  die  gesammte  Aetherabstossung  in  den  pon- 

derabeln  Körpern  nicht  weniger  als  —  der  gesammten  Gravitations- 

anzielmng  ausmachen  (S.  698 — 701). 

Dem  Gravitationsgesetz  wäre  auch  in  unmittelbarer  Weise  Genüge 
geleistet,  wenn  man  annehmen  dürfte,  dass  in  einem  Körper  nur 
die  Differenz  der  anziehenden  und  abstossenden  Kräfte  thätig  sei. 
Diese  Differenzen,  in  dem  vorliegenden  Fall  Ä — B  und  Äi — B^^  würden 
dann  die  ^Massen  der  Körper  m  und  9)h  angeben  und  die  Anziehung  der 
beiden  Körper  wäre  (Ä — B){Ai — Bi)=^mnh.  Ein  solches  Verfahren, 
das  für  die  beiden  Elektricitäten  sowie  für  die  beiden  Isagitäten 
angewendet  werden  könnte,  ist  für  die  Gravitation  und  die  Aether- 
abstossung nicht  gestattet,  da  diese  Kräfte  nicht  auf  einander  wirken. 
Wir  können  uns  also  der  Folgerung  nicht  entziehen,  dass  das  Product 
der  beiden  Massen  mnh,  wie  es  die  Mechanik  annimmt,  eigentlich 
die  Differenz  zweier  Producte  ist,  nämlich 

mm^  =^  ÄÄi — BB, 

Somit  ist  die  Masse,  wie  sie  in  Gewichtseinheiten  ausgedrückt 
wird,  nicht  unmittelbar  gegeben,  sondern  eine  Grösse,  die  sich  diu-ch 
Rechnung  bestimmen  lässt;  sie  ist  kein  realer,  sondern  ein  sym- 
bolischer, für  die  Rechnung  der  Mechanik  brauchbarer  Werth.  Nun 
sind  aber  wenigstens  für  die  HimmelsköriDer  unseres  Sonnensystems 
die  Massen  constante  Grössen.  Die  Erde  beispielsweise  tritt  der  Sonne, 
dem  Mond  und  den  Planeten  stets  mit  der  gleichen  Masse  entgegen, 
so  dass  die  Gravitationswirkungen  zwischen  4  Körpern,  denen  die 
Massen  m,  m^,  m..  und  nh  zukommen,  gleich  sind  den  Producten 
mwi,  rnnii,  mnis,  niim.,  m^nii,  m.nh.  Berücksichtigen  wir  die  ge- 
sammten anziehenden  und  die  abstossenden  Kräfte,  so  erhalten  wir 
für  die  dynamischen  Beziehungen  zwischen  den  4  Körpern  folgende 
6  Gleichungen 

I.  miih  =  AAi— BBi  und  hieraus  mm,  =  ^^i  (1  —  nn,) 

n.  m nio  =^  ÄÄo  —  BB.     , ,         , ,  m  nu  =  A  A.  (1  —  n  w.) 

III.  m m^  ^  AAi  —  BB^     „         ,,         mm3=^  AA^  {\  —  n ih) 

IV.  nhm.^  AiA.—  BiB.     ,,         ,,  ^1^0  =  ^1^2  (1  — w,w.) 
V.  mim3=^i^3 — BiB,     „         „  m,ms^=AiA3  {i—niH,) 

yi.  mim3=  A^A^—BiBi     „         ,,         m2m3  =  A.,A3  {l—nM,) 


720  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

In  diesen  Gleichungen  ist  mit  Ä,  Äi,  A.,  A.  die  Summe  der 
Gravitationskräfte  in  jedem  der  4  Körper,  mit  B,  I?,,  B.,  B^  die 
Summe  der  Aetlierabstossungskräfte  bezeichnet.  Die  Ausdrücke  der 
letzten  Verticalcolumne  wurden  dadurch  erhalten ,  dass  B  ^=nÄ, 
Bi=^fiiÄi,  Bi^tiiA.  und  jBs  =  Wj J.3  gesetzt  wurden. 

Die  mchtigste  Frage  ist  nun,  wie  sich  die  Summen  der  Attractions- 
kräfte  und  ebenso  diejenigen  der  Repulsionskräfte,  im  Vergleiche  mit 
den  berechneten  Massen,  zu  einander  verhalten,  welches  Verhältniss 
in  dem  vorliegenden  Fall  zwischen  Ä,  A^,  A.^  und  A3,  ebenso  zwischen 
B ,  Bi ,  B2  und  B3  im  Vergleich  mit  m,  m^ ,  m-i  und  m^  bestehe. 
Schon  der  blosse  Anblick  der  6  Gleichungen  gibt  die  Ueberzeugung, 
dass  in  den  eben  genannten  drei  Reihen  von  Ausdrücken  die  näm- 
liche geometrische  Proportionalität  herrschen  müsse.  Es  lässt  sich 
dies  übrigens  leicht  durch  Bestimmung  der  Werthe  von  w,  Wi,  n. 
und  n-i  beweisen.  Ich  will  die  Rechnung  nicht  ausführlich  darlegen, 
sondern  bloss  andeuten,  dass,  wenn  man  die  Gleichung  II  (S.  719), 
nämlich  m'nu^=^AA.{\ — nn^\  durch  die  Gleichung  IV,  nämlich 
m^m.=^AxA.  (1  —  n^n^,  ferner  die  Gleichung III  durcli  die  Gleichung V 
dividirt,  die  zwei  Gleichungen  erhalten  werden 

mA^  1  —  nn.         ,   m A^         1  —  nn^ 

und 


m^A         1 — n^n.  m  ^A         1 — n^ns 

1  ^  ^?  1  ■ 9Z  02 

dass  also  ,       — -  =  v -,  woraus  durch  Umfornmng  die  Gleichung 

1 WiWo  1- — «iWj 

n  — -  Ui  sich  ergibt. 

Ebenso  lässt  sich  mit  Hilfe  der  Gleichungen  I  und  IV,  III  und 
VI  zeigen,  dass  w  =  W2,  ferner  mit  Hilfe  der  Gleichungen.  I,  V,  II, 
VI,  dass  n  =  %  u.  s.  w.     Es  ist  also 

W  =r.  |^^  =  W^  =  W3. 

Dadurcli  erhalten  die  obigen  6  Gleichungen  folgende  Form 

I.  mmi=:  AAi  (1 — ir) 
II.  mm-i^AAz  (1 — w") 

III.  m  tu,,  -=AA3  (1  —  n') 

IV.  mim,^=AiAo  (1 — w") 
V.  m,m,,  =  AiA3  (1  —  w^) 

VI.  m,m3=^AoA3  (1 — w") 


4.  Schwerkraft.  721 

Hieraus  ergibt   sich   sofort    -=  —  =   ^  ■     —  =  —  =  —  ■ 
^  W:         A,         B,'     m,       A,       B/ 

^_^_^.  'nh  _  A  _  B,_  7fh  _  A,  _B,  m,  _A^  _  B, 
m,  ~  A,~  Bs'  m.  ~'  A,~  IT.'  n^  ~  Äs~  Bl'  m3~A,~W^ 
Mit  Worten:  Die  von  der  Mechanik  des  Himmels  in  Rechnung  ge- 
brachten Massen  (m  und  w,)  zweier  behebiger  Körper  verhalten  sich 
zu  einander  wie  die  Summen  ihrer  Gravitationsanziehung  (A  und  ^i) 
und  ebenso  wie  die  Summen  ihrer  Aetherabstossung  (B  und  5,). 

Ferner  berechnet  sich  aus  obigen  Gleichungen,  dass 

m  ^  AVl  — n- ;      m,  =  A^  Kl  — n" ;      m,  =  A.,  V\ — ^w"  etc. 
Mit  Worten:  die  Masse,  welche  die  Mechanik   in  Rechnung  bringt, 
ist  ein  constanter  Bruchtheil  der  Gesammtsumme  der  in  einem  Körper 
befindlichen  Gravitationsanziehung. 

Das  Gravitationsgesetz  beweist  uns  also  die  wichtige  Thatsache, 
dass  in  den  einzelnen  Himmelskörpern  unseres  Sonnensystems  die 
Mengen  der  Gravitationskräfte  und  der  Aetherabstossungskräfte  in 
dem  gleichen  Verhältniss  enthalten  sind.  Dies  konnte  allerdings  von 
vornherein  für  wahrscheinlich  gelten,  da  die  Himmelskörper,  die 
zusanunen  in  dem  nämlichen  Weltenraum  entstanden  und  aus  einer 
Menge  von  verschiedenen  chemischen  Elementen  zusammengesetzt 
sind,  im  grossen  und  ganzen  den  nämlichen  dynamischen  Charakter 
besitzen  müssen.  Dagegen  ist  es  durchaus  unwahrscheinlich,  dass 
auch  in  den  einzelnen  chemischen  Elementen  die  Dominantenkräfte 
das  gleiche  Verhältniss  zeigen.  Es  wird  sich  damit  wohl  verhalten 
wie  mit  den  Elektricitäten  und  Isagitäten,  so  dass  jedem  besonderen 
Element  ein  eigenthümliches  Verhältniss  zwischen  den  Gravitations- 
kräften und  den  Aetherabstossungskräften  zukommt.  Dafür  sprechen 
auch  die  so  sehr  ungleichen  Atomgewichte  bei  nicht  sehr  ungleicher 
Grösse  der  Atome  ^). 

Ich  habe  die  Vermuthung  ausgesprochen,  dass  gleiche  Gewichte 
der  verschiedenen  chemischen  Elemente  auf  grössere  d.  h.  nicht  mole- 
culare  Entfermmgen  sich  ungleich  stark  anziehen,  weil  die  isagischen 
und  elektrischen  Kräfte  in  ungleichen  Mengen  in  ihnen  enthalten  sind 
(S.  718).  Das  verschiedene  Verhältniss  der  Dominantenkräfte  ergibt 
eine  neue  Ursache  dafür,  dass  gleiche  Gewichte  der  Elemente  ungleich 


*)  Ich  verweise  auf  den  Aljsclinitt  8  »Grösse,  Gestalt  und  Znsammensetzung 
der  Atome«. 

V.  Nägel i,  Abstammungslehre.  46 


722  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

auf  einander  einwirken ;  diese  Ursache  kann  in  dem  nämlichen  oder 
in  entgegengesetztem  Sinne  wirken  wie  jede  der  beiden  ersteren. 

Es  seien  Ä,  A^  und  A..  die  Summen  der  Gravitationskräfte  der 
Erde  und  zweier  Atome  verschiedener  Elemente,   ferner  J5,  J5,  und 
Bi  die  Aetherabstossungskräfte  der  nämlichen  drei  Körper,  endlich 
1  und  g.  die  Atomgewichte  der  beiden  fraglichen  Elemente,   so  be- 
stehen die  beiden  Gleichungen 

g,  =  AA,—BB, 
g,  =  AA,—BB, 

Wären  die  beiden  Dominantenkräfte  in  den  verschiedenen  Ele- 
menten im  gleichen  Verhältniss  vorhanden ,  so  würden  sie  in  den 
Gewichtseinheiten  der  letzteren  auch  in  gleicher  Menge  enthalten  sein. 
Es  wäre  somit 

A,       A.    B,      B.        ,    ,  A,  —  B,       A,  —  B, 

—  =^  — -\  —  =  ~-  und  ebenso = 


gi      92    gi      g,  g,  gi 

Dies  ist  nun  aber  nicht  der  Fall,  und  deswegen  muss  auch  die  von 
den  Dominantenkräften  ausgeübte  Anziehung  zwischen  den  Gewichts- 
einheiten verschiedener  Elemente  ungleich  ausfallen.  Im  vorliegenden 
Fall  beträgt  die  Gesammtanziehung 


zwischen  den  Gewichtseinheiten  des  ersten    Elements 

„     zweiten 
„     ersten  u.  zweiten  El 


9^9^        9^9i 

A,A,     B,B, 

9^2       g,g2 

A,A,_B,B, 

9i92       g^gi 


Diese  3  Gesammtanziehungen ,  beispielsweise  die  Anziehungen 
zwischen  1^  Eisen  und  !§  Eisen,  zwischen  1^  Schwefel  und  1^  Schwefel 
und  zwischen  1  s  Eisen  und  1  ^  Schwefel ,  stellen  drei  verschiedene 
Werthe  dar,  wenn  bloss  ihre  Dominantenkräfte  in  Anschlag  kommen, 
und  Elektricität  sammt  Isagität  unberücksichtigt  bleiben. 


4.  Schwerkraft.  723 

Gewöhnlich  werden  der  Gravitation  die  »Molecularkräfte«  ent- 
gegengesetzt und  den  letzteren  eine  unvergleichlich  grössere  Stärke 
zugeschrieben.  Dies  trifft  zu  für  den  Fall,  dass  man,  wie  es  in  der 
Mechanik  üblich  ist,  die  Gravitationskraft  als  identisch  mit  der 
Schwere  betrachtet.  Nimmt  man  aber  die  Schwere,  wie  ich  es  als 
Consequenz  der  dynamischen  Amertheorie  versucht  habe,  bloss  als 
einen  Bruchtheil  der  wirklichen  Gravitationsanziehung,  so  erlangt 
diese  ganz  die  gleiche  Bedeutung  wie  die  übrigen  elementaren  Molecular- 
kräfte. Wenn  man  irgendwo  genau  das  Verhältniss  zwischen  einer 
dieser  Kräfte  und  der  Schwere  für  die  Masseneinheit  feststellen 
könnte,  so  ergäbe  sich  daraus,  immer  unter  den  Voraussetzungen  der 
sj'mmetrischen  Kraftvertheilung,  welchen  Bruchtheil  der  gesammten 
Gravitationsanziehung  die  Anziehung  durch  die  Schwere  ausmacht. 
Man  kann  jedenfalls  schon  aus  einer  allgemeinen  und  oberflächlichen 
Vergleichung  der  Wirkungen  der  Schwerkraft  mit  den  Wirkungen 
der  Molecularkräfte  schliessen,  dass  jener  Bruchtheil  fast  verschwin- 
dend klein  ist.  In  wenigen  Fällen  lässt  sich  derselbe  entfernter- 
maassen  in  Ziffern  angeben,  so  beim  Zusammenhalt  der  Schwere 
mit  der  Elektricität ,  was  um  so  überzeugender  ist,  als  die  letztere 
ebenfalls  auf  grössere  (nicht  moleculare)  Entfernungen  wirkt.  Aus 
dem  Verhältniss  der  Schwere  zur  Gravitationsanziehung  kann  dann 
auch  das  Verhältniss  der  letzteren  zu  der  zugleich  mit  ihr  in  den 
Körpern  enthaltenen  Aetherabstossung  berechnet  werden. 

Reibt  man  ein  kleines  Stück  Harz  (Siegellack),  so  wird  dasselbe 
elektrisch  und  zieht  kleine  Papierstückchen  an,  indem  es  dieselben 
in  die  Höhe  hebt.  Die  Elektricität  ül)erwindet  also  die  Anziehung, 
welche  die  Erde  auf  das  nämliche  Object  ausübt.  Für  die  Rechnung 
will  ich  die  Wirkung  der  Elektricität  auf  ein  Minimum  herabsetzen, 
welches  von  der  Wirklichkeit  bei  weitem  übertroffen  wird. 

Ein  rundliches ,  4  ^  schweres  Stück  Siegellack ,  das  auf  einem 
gläsernen  Halter  sich  befindet,  zieht,  nachdem  es  an  einem  wollenen 
Lappen  schwach  gerieben  wurde,  Papierstückchen  von  0,3™'"  Durch- 
messer, welche  auf  einer  trockenen  Glasplatte  liegen,  auf  eine  Ent- 
fernung von  3™"  in  die  Höhe.  Die  Erde,  deren  Gewicht  zu 
5  Quadrillionen  Kilogramm  und  deren  Halbmesser  zu  6  Millionen 
Meter  angenommen  werde ,  übt  auf  ein  solches  Stückchen  Papier, 
dessen  Gewicht  in  Kilogrammen  ich  durch  P  ausdrücken  will,  eine 

46* 


724  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Anziehung  aus,  die  '"^  ^.g^g-'j}!' "^  ^  oder  140000000000  P  beträgt. 

Die  Anziehung,  welche  das  Stück  Siegellack  auf  das  nämliche  Object 

0  004  X  P 
vermöge   der   Schwere   ausübt,    beträgt  ^tv /^iin^^ -=  ^3  P,    da   das 

Gewicht  des  Siegellacks  0,004  ^  und  der  Abstand  der  beiden  Centren 
0,011™  ausmacht. 

Die  Anziehung,  die  zwischen  der  Erde  und  dem  Papierstückchen 

besteht,   ist  also  ^r^ oder  4000 000 000 mal   grösser   als 

die  Anziehung,  welche  vermöge  der  nämlichen  Schwere  zwischen 
dem  Stück  Siegellack  und  dem  Papierstückchen  herrscht.  Da  die 
erstere  von  der  infolge  des  Reibens  wirksam  werdenden  Elektricität 
überwunden  wird,  so  ist  die  Macht  der  im  Siegellack  und  im  Papier- 
stückchen fi"ei  gewordenen  Elektricitäten  auch  mehr  wie  4000  000  000 
mal  grösser  als  die  Macht  der  Schwere  in  den  beiden  Körpern. 

Vorausgesetzt  nun,  dass  das  Verhältniss  zwischen  der  Elektricitäts- 
menge  und  dem  Gewicht,  im  Siegellack  und  im  Papier,  das  nämliche 
ist,  so  kann  doch  die  eben  berechnete  Proportion  von  1:4000000000 
nur  für  die  resultirenden  Gesammtwirkungen,  nicht  für  die  einfachen 
Anziehungen  der  zwei  Kräfte,  der  Schwere  und  der  Elektricität, 
gelten.  Denn  die  Wirkung  der  Schwere  ist  ein  einfaches  Product, 
die  Wirkung  der  elektrischen  Anziehung  dagegen  die  Differenz  von 
zwei  Producten.  Die  am  Harz  erregte  negative  Elektricität  ( — E) 
zieht  von  den  beiden  im  Papier  durch  Vertheilung  frei  gewordenen 
Elektricitäten  die  an  der  zugekehrten  Seite  befindliche  positive  (-j-e) 
an  und  stösst  die  an  der  abgekehrten  Seite  befindliche  negative  ( — e) 
ab.    Die  Wirkung  der  Elektricität  ist  also  für  den  vorliegenden  Fall 

£e  Ee 

rtTYiflW- ~~ /77nrm^ '    ^^    ^^^   Abstand    vom    Siegellack    zum    Papier 

0,003  "^  und  der  Durchmesser  des  Papierstück cheus  0,0003  ™  beträgt. 

Fe  Ee 

TTTTTn^^  — TÄT^öov-  =  HOOOO  Ee  —  90000  Ee  oder  20000  Ee;  mit 
(UjUUoj'       (U,OUoo)" 

Worten :   die  beobachtete  Wirkung  der  am  Siegellack  frei  gewordenen 

Elektricität    ist   5  mal   kleiner   als   die   einfache   Wirkung   derselben 

auf    eine    der    zwei    am   Papier   frei    gewordenen   Elektricitäten.  — 

Ferner  ist  zu  berücksichtigen,   dass   die   mit  einander  verglichenen 

Wirkungen   der   Schwere    und   der   Elektricität    für    ungleiche    Ent- 


4.  Schwerkraft.  725 

fernungen,  die  der  ersteren  für  einen  Abstand  von  0,0 11°^  und  die 
der  letzteren  für  einen  Abstand  von  0,003°^  berechnet  wurden.  Zur 
richtigen  A^ergleichung  muss  eine  Reduction  auf  gleiche  Entfernung 
vorgenommen    werden ;   dadurch   erfährt  die  Wirkung  der   Schwere 

eine  Steigerung  um  ^  '       ^3,  d.  h.  um  13,4  mal. 

Die  Anziehung  zwischen  der  frei  geworden enr  Elektricität  des 
Siegellacks  und  der  ungleichnamigen  des  Papiers  ist  also  in  Wirk- 
lichkeit  nicht  um   4000   Millionen,    sondern    in   Folge  der    beiden 

5 
Correcturen   um   -77— mal  diesen  Werth,  also  um  1500  Millionen  mal 
lo,4 

grösser  als  die  AVirkung  der  Schwere.  Ich  habe  aber  in  allen  Be- 
ziehungen die  ungünstigsten  Ansätze  für  die  Elektricität  gemacht, 
namentlich  auch  darin,  dass  die  gesammte  freie  Elektricität  des 
Harzes  an  das  dem  Papier  zugekehrte  Ende,  somit  in  die  geringste 
Entfernung  verlegt  wurde.  In  der  That  ist  die  frei  gewordene 
Elektricitätsmenge  im  Siegellack  und  im  Papier  weit  beträchtlicher, 
als  es  für  die  berechnete  Wirkung  erforderlich  erscheint.  Gleich- 
wohl macht  dieselbe  sicher  nur  einen  kleinen  Bruchtheil  der  in  den 
beiden  Körpern  enthaltenen  neutralen  Elektricitätsmengen  aus. 

Aus  dem  Verhältniss  der  Elektricitätsmenge  zum  Gewicht  lässt 
sich  ein  Schluss  auf  das  Verhältniss  der  beiden  Dominantenkräfte 
Ä  und  B  zu  einander  machen,  unter  der  oben  (S.  694 — 696)  als 
wahrscheinlich  erklärten  Voraussetzung,  dass  die  Summe  jeder  der 
beiden  Elektricitäten  so  gross  oder  halb  so  gross  ist  als  die  Summe 
jeder  der  beiden  Dominantenkräfte.  Nehmen  wir  die  gewonnene 
Proportion  1  :  1500000000  einstweilen  als  das  Verhältniss  der  An- 
ziehung zweier  Körper  durch  die  Schwere  zur  elektrischen  Anziehung 

an,  so  erhalten  wir  die  Gleichung  mnii  =  i-etaa  ATkrTnTv^'  wenn  m  und  nii 

1 OUU  uuu  uuo 

die  Massen  im  Sinne  der  Mechanik  als  Gewicht  ausgedrückt,  a  und  b 

die  ungleichnamigen  Elektricitäten  des   einen  und    andern  Körpers 

bedeuten.    Ferner  haben  wir  die  früher  (S.  720)  abgeleitete  Gleichung 

mm,=ÄÄ,  (1— »r)-  Also  ist  J^qqqqqqöq  =  -'^ -^^^  (1—^0  und 
wenn,  gemäss  der  vorhin  erwähnten  Voraussetzung,  Ä  =a  und  ^,  =  6 
gesetzt   wird ,   so   ergibt   sich   die  Gleicliung      ^  ^   0(10  000  ^^  ^  —  ^* " 


726  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Daraus  folgt  »*  =  ]/  ^  ~ TöOOOOO 000'  ^^"^^^  **^'  ^1—0.0000000007 

^ 

oder  w  =  K0,999  999  9993.     Da  w=-^,   so   ist  in  dem  vorliegenden 

Fall  Ä  weniger  als  um  den  tausendmillionsten  Theil  grösser  als  B, 
und  der  Unterschied  zwischen  der  Gravitationsanziehung  (Ä)  und 
der  Aetherabstossung  {B)  wäre  noch  viel  geringer,  wenn  die  Wirkung 
der  ganzen  gleichnamigen  Elektricität  (d.  h.  der  frei  gewordenen  und 
der  in  der  neutralen  Elektricität  gebundenen)  der  Rechnung  hätte 
zu  Grunde  gelegt  werden  können. 

Ein  anderes  Beispiel,  in  welchem  wir  die  Wirkungen  der  Schwer- 
kraft mit  den  Wirkungen  der  »Molecularkräfte«  entferntermaassen  in 
Ziffern  vergleichen  können,  bietet  uns  die  Cohaesion.  Ein  Eisendraht 
von  Iqmm  Querschnitt  wird  durch  ein  Gewicht  von  64^  zerrissen.  Die 
Kraft,  mit  der  seine  Theilchen  zusammenhängen,  ist  also  der  Kraft 
gleich  zu  setzen,  mit  der  64 '^  von  der  Erde  angezogen  werden. 
Durch  Rechnung  lässt  sich  zeigen,  wie  viel  mal  grösser  diese  Co- 
haesion im  Eisen  ist,  als  sie  es  wäre,  wenn  sie  bloss  durch  die 
Schwerkraft  zu  Stande  käme. 

Die  Anziehung  zwischen  der  Erde  (Gewicht  5  Quadrillionen 
Kilo,  Halbmesser  6  Millionen  Meter)   und   einem  Gewicht  von  64  "^ 

beträgt  ,     lyr-ii  \^ oder  9  Billionen  Einheiten.    Berechnet  man 

die  Summe  der  Anziehungen,  welche  alle  Eisenatome  der  abgerissenen 
Drahthälfte  auf  alle  Atome  der  andern  Drahthälfte  vermöge  ihres 
Gewichtes  ausüben,  so  erreicht  dieselbe  nicht  einmal  den  hundert- 
tausendbillionsten  Theil  jenes  Betrages.  Im  Eisen  ist  also  die  Co- 
haesion durch  die  »Molecularkräfte«  100000  Billionen  mal  grösser 
als  der  Zusammenhang,  w^elcher  durch  die  Schwerkraft  allein  ver- 
ursacht würde. 

Dieses  Ergebniss  gewährt  uns  aber  bloss  im  allgemeinen  eine 
Vorstellung,  wie  sehr  die  Schw^erkraf t  an  Wirksamkeit  den  » Molecular- 
kräften«  nachsteht.  Um  etwas  Bestimmteres  darüber  zu  erfahren, 
müssten  wir  wissen,  wie  die  Cohaesion  zu  Stande  kommt.  Wenn 
die  dynamische  Amertheorie  richtig  ist,  so  folgt  aus  derselben,  dass 
die  Cohaesion  fast  ausschliesslich  durch  die  unmittelbar  neben 
einander  liegenden  Atome   bewirkt  wird,   und   dass   die  Anziehung 


4.  Schwerkraft.  727 

auf  weiter  entfernte  Atome  vorzugsweise  nur  als  Wirkung  der  Schwer- 
kraft in  Betracht  kommt ^).  Beim  Zerreissen  eines  Dralits  wird  somit 
ledighch  die  Adhäsion  der  an  den  beiden  Bruchflächen  befindhchen 
Atome  überwunden,  und  es  lässt  sich  berechnen,  wie  gross  die  An- 
ziehung je  zweier  einander  gegenüber  hegender,  beim  Zerreissen  von 
einander  getrennter  Atome  ist. 

Da  aus  der  mechanischen  Gastheorie  die  absoluten  Gewichte 
der  verschiedenen  Gasmoleküle  bekannt  sind ,  so  kennt  man  auch 
die  absoluten  Gewichte  der  Atome  aller  übrigen  Elemente.  Das 
Eisenatom  wiegt  130  Quadrillion tel  s.  Aus  dem  Atomgewicht  und 
dem  specifischen  Gewicht  berechnet  sich  das  Volumen  des  Eisen- 
atoms im  Draht  zu  17  Quadrilliontel  ^^m  und  der  mittlere  Quer- 
schnitt des  Atomvolumens  zu  650  Trilliontel  'i^'"\  Es  befinden  sich 
demnach  auf  der  Fläche  von  1 1^'°^  1500  Billionen  Atome  und  auf 
dem  Querschnitt  des  fraglichen  Eisendrahts  15  Billionen,  welche 
unmittelbar  vor  dem  Zerreissen  durch  ihre  Adhäsion  an  die  an- 
grenzenden 15  Billionen  Atome  dem  vorhin  berechneten  Zug  von 
9  Billionen  Einheiten  das  Gleichgewicht  halten.  Die  Adhäsions- 
anziehung, welche  das  einzelne  Atom  auf  das  ihm  gegenüberstehende 

ausübt,  beträgt  ^.   ^.,,-. oder  0,6  Einheiten. 

^^    15  Billionen 

Der  mittlere  Abstand  zwischen  den  Centren  zweier  benach- 
barter Atome  im  Eisendraht  ist  0,000000  026  ^^  oder  260  Billiontel  >^, 
und  da  das  Gewicht  eines  Eisenatoms  0,13  Quadrilliontel  ^  beträgt, 
so  ist  die  Gewichtsanziehung  zweier  benachbarter  Atome  im  Eisendraht 
(0,000000000000000000000000 13f       ,       r.o^   r^   •   .•,!•       XI      • 

(Ö;ÖÖ0000ÖÖ0W '       Qumtilhonstel    einer 

Einheit.  Dieselbe  verhält  sich  zu  der  Adhäsionsanziehung  wie 
0,25  Quintillionstel :  0,6  oder  rund  wie  1  :  2  Quintillionen. 

Ich  habe  angenommen ,  dass  die  Cohäsion  der  Substanz  bloss 
durch  die  Anziehung  der  unmittelbar  neben  einander  liegenden  Atome 
hervorgebracht  werde.  Jedenfalls  ist  die  letztere  in  ganz  vorherr- 
schendem Maasse  dabei  betheiligt,  und  wenn  auch  entferntere  Atome 


1)  Ich  verweise  auf  die  Abschnitte :  8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung 
der  Atome ;  0.  Entstehung  und  Beschaffenheit  der  Atome ;  10.  Chemische  Be- 
schaffenheit. 


728  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

bei  der  Wirkung  nicht  ganz  ausgeschlossen  sind,  so  bleibt  es  doch 
unbestreitbar,  dass  zwei  Eisenatome  in  der  Lage,  wie  sie  im  Draht 
sich  nebeneinander  befinden,  sich  um  das  Quintillionfache  stärker  an- 
ziehen, als  es  der  Fall  wäre,  wenn  sie  sich  wie  die  Himmelskörper 
bloss  vermöge  ihrer  Schwere  anziehen  würden.  Dieses  Verhältniss  gilt 
aber  nur  für  die  Gesammtwirkung  der  Molecularkräfte  gegenüber 
der  Wirkung  der  Schwerkraft,  nicht  aber  für  die  einzelnen  Kräfte 
selbst.  Denn  die  Gesammtwirkung,  die  uns  in  dem  vorliegenden 
Fall  als  Cohäsion  bemerkbar  wird,  ist  nur  der  Ueberschuss  der  ver- 
schiedenen Anziehungen  über  die  verschiedenen  Abstossungen,  welche 
zwei  benachbarte  Atolne  auf  einander  ausüben.  Könnten  wir  die 
Attraction  zwischen  zwei  Atomen  ohne  die  zwischen  ihnen  bestehende 
Repulsion  berechnen,  so  würde  sie  gegenüber  der  Attraction  durch 
die  Schwerkraft  noch  ungleich  viel  grösser  ausfallen.  —  Was  die 
beiden  Dominantenkräfte  betrifft,  so  lässt  sich  ihr  gegenseitiges  quan- 
titatives Verhältniss  in  gleicher  Weise  berechnen,  wie  es  bereits  für 
einen  andern  Fall  geschehen  ist  (S.  725).  Wenn  die  Gravitations- 
anziehung, ebenso  die  Aetherabstossung  im  Universum  eine  eben 
so  grosse  Kraftsumme  darstellt  wie  die  positive  oder  negative  Elek- 
tricität,  wie  die  positive  oder  negative  Isagität,  so  ergibt  sich  aus 
dem  Verhältniss  zwischen  der  Cohäsionsanziehung  und  der  Schwere- 
anziehung, dass  die  Summe  der  Gravitationsanziehungskräfte  im  Eisen 
bloss  um  ein  Quintillionstel  grösser  sein  kann,  als  die  Summe  der 
Aetherabstossungskräfte,  wobei  immer  noch  nicht  berücksichtigt  ist, 
dass  die  Oohäsion  nur  im  Ueberschuss  der  Anziehung  über  die  Ab- 
stossung  besteht. 

Aus  den  vorstehenden  Betrachtungen  geht  eine  allgemeine  Schluss- 
folgerung hervor,  die  übrigens  auch  von  vornherein  als  ziemlich 
sicher  hätte  angenommen  werden  können.  In  der  Natur  sind  die 
6  Elementarkräfte  in  unendlich  grosser  Menge  an  den  Stoff  gebunden, 
wiewohl  sie  unserer  Wahrnehmung  nur  in  verschwindend  geringer 
Menge  bemerkbar  werden.  Jeder  grössere  oder  kleinere  Körper  bis 
herab  auf  die  chemischen  Atome  und  Aethertheilchen ,  diese  mit 
inbegriffen,  ist  ein  System  von  kraftbegabten  Theilen,  in  welchen 
die  verschiedenen  Attractions-  und  Repulsionskräfte  sich  das  Gleich- 
gewicht halten,  in  der  Art,  dass  stetsfort  oder  bei  Störung  des  Gleich- 
gewichts bloss  ein  winzig  kleiner,  nach  aussen  wirksamer  Ueberschuss 
sich  ergibt.     Die  Schwerkraft,  die  am  allgemeinsten  und  am  wuch- 


5.  Wärme.  729 

tigsten  sich  kundgibt,  entspricht  kaum  dem  quintiUionsten  Theil 
aller  in  den  wägbaren  Massen  befindlichen  Gravitationskräfte,  der 
von  der  Aetherabstossung  nicht  compensirt  und  somit  für  äussere 
Action  disponibel  ist. 


5.  Wärme. 


Es  gilt  als  ein  allgemein  angenommener  und  unbestreitbarer 
Satz  der  neueren  Physik ,  dass  die  Wärme  nichts  anderes  als  eine 
Bewegung  der  kleinsten  Theilchen  ist.  Jede  Bewegung  kann  in 
Wärme  verwandelt  und  durch  Wärme  gemessen  werden,  und  im 
gasförmigen  Zustande  nimmt  die  lebendige  Kraft  der  Molecular- 
bewegung  oder  das  Quadrat  der  molecularen  Geschwindigkeit  pro- 
portional der  Temperatur  zu.  Indem  man  aber  Wärme  als  Bewegung 
der  kleinsten  Theilchen  bezeichnet,  versteht  man  darunter  doch 
zweierlei  wesentlich  verschiedene  Dinge. 

Einmal  ist  Wärme  Bewegung  des  Aethers,  sowohl  des  Welt- 
äthers als  auch  des  leichter  bewegliehen  Schweräthers,  wie  er  in  den 
Körpern  als  Zwischenhülläther  vorhanden  ist:  so  die  Wärme,  die 
der  Erde  von  der  Sonne  mitgetheilt  wird,  und  ebenso  die  strahlende 
Wärme ,  die  durch  gasförmige ,  flüssige  und  feste  Körper  sich  aus- 
breitet. Wenn  man  von  Brechung,  Interferenz  und  Beugung  der 
Wärmestrahlen,  von  Polarisation  und  Doppelbrechung  der  Wärme, 
von  Wärmespectrum  spricht,  so  ist  immer  Bewegung  der  Aether- 
theilchen  gemeint.  —  Ferner  ist  Wärme  aber  auch  Bewegung  der 
Moleküle  und  Atome,  und  zwar  dies  immer,  wenn  es  sich  um 
die  Wärme  oder  Temperatur  der  Gase,  der  Flüssigkeiten  und  der 
festen  Körper  handelt. 

Es  können  allerdings  in  vielen  Fällen  die  beiden  Wärmen  ein- 
ander gleich  gesetzt  werden ,  wenn  nämlich  die  Bewegungen  des 
Aethers  und  der  wägbaren  Theilchen  sich  ausgeglichen  haben  und 
sich  somit  im  Gleichgewichte  befinden.  Dies  ist  aber  nicht  immer 
der  Fall ;  in  einem  durchstrahlten  Körper  kann  die  Wärmebewegung 
der  wägbaren  Theilchen  (der  Luft,  des  Glases  etc.)  weit  hinter  der 
Wärmebewegung  des  Aethers  zurückbleiben.  Wird  in  diesem  Falle 
die  freie  Wärme  durch  das  Thermometer  gemessen,  so  zeigt  dieses 
vorzugsweise  den  Bewegungszustand    der  Atome  und  Moleküle   des 


730  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

durchstrahlten  Körpers  an.  Uebrigens  werden  nicht  alle,  sondern 
nur  bestimmte  Bewegungen  der  wägbaren  Theilchen  als  freie  Wärme 
bezeichnet,  wie  dies  deutlich  aus  dem  Umstände  sich  ergibt,  dass 
Eis  und  Wasser  von  0",  obgleich  in  ungleicher  Molecularbewegvmg 
befindlich,  doch  die  gleiche  Temperatur  besitzen,  ebenso  Wasser  und 
Wasserdampi"  von  100". 

Ich  werde  im  folgenden  unter  Wärme  nm*  Bewegung  der  (eigent- 
lichen und  der  ponderabeln)  Aethertheilchen,  also  Aetherwärme  ver- 
stehen, welche,  indem  sie  den  Atomen  und  Molekülen  der  wägbaren 
Stoffe  schwingende,  drehende  und  fortschreitende  Geschwindigkeit 
ertheilt,  in  eine  andere  Form  der  Bewegung  übergeht.  Damit  soll 
nicht  gesagt  werden,  dass  alle  Bewegung  des  Aethers  als  Wärme 
zu  betrachten  sei;  vielmehr  scheint  diese  Function  nur  einer  be- 
stimmten Bewegung  zuzukommen.  Um  dies  deutlich  zu  machen, 
muss  ich  auf  die  Beschaffenheit  des  Aethers,  wie  sie  die  Amertheorie 
voraussetzen  muss,  etwas  näher  eingehen. 

Nach  Allem,  was  wir  von  dem  eigentlichen  Aether  als  Raum 
erfüllende,  die  Bewegungen  der  Gasmoleküle  wie  der  Weltkörper 
nicht  hemmende,  Wärme  und  Licht  in  die  grössten  Entfernungen 
tragende  Substanz  wissen,  muss  derselbe  vollkommen  elastisch,  voll- 
kommen beweglich  und  ohne  eine  Spur  von  Cohäsion  sein.  Er 
muss  die  flüchtigen  Eigenschaften  eines  Gases,  nur  in  ungleich 
höherem  Maasse,  besitzen ;  den  grösseren  Grad  der  Flüchtigkeit  ver- 
dankt er  der  grösseren  Kleinheit  seiner  Theilchen  und  dem  Umstände, 
dass  er  von  abstossenden  Kräften  beherrscht*  wird,  während  in  den 
Gasen  die  Schwere  eine  wichtige  Rolle  sj)ielt.  Ganz  gleich  wie  der 
eigentliche  Aether  verhält  sich  die  beweglichere  Hälfte  des  pon- 
derabeln Aethers  rücksichtlich  ihrer  Bewegungen,  da  diese  durch 
die  nämliche  Kleinheit  und  vollkommene  Elasticität  der  Theilchen 
bestimmt  werden.  —  Die  übereinstimmenden  wie  die  abweichenden 
Eigenschaften ,  welche  uns  die  Vergleichung  des  Aethers  und  der 
Gase  aufweist,  sprechen  also  dafür,  dass  den  Aethertheilchen  die 
gleichen  Bewegungen  wie  den  Gasmolekülen,  aber  in  erhöhtem  Maasse, 
zukommen. 

In  den  luf tförmigen  Körpern  können  wir  3  wesentlich  verschiedene 
Bewegungen  unterscheiden,  1.  die  selbständigen  Molecularbewegungen 
oder  Einzelbewegungen,  2.  die  schwingenden  Massenbewe- 
gungen und  3.  die  fortschreitenden  Massenbewegungen.    Was 


5.  Wärme.  731 

die  erstereil  betrifft,  so  ist  bekanntlich  in  neuerer  Zeit  von  Krönig 
und  namentlicli  von  Clausius  dargethan  worden,  dass  eine  Gas- 
masse aus  einer  Anzahl  vereinzelter  Moleküle  besteht,  welche  nach 
allen  Richtungen  durcheinander  fliegen  und  von  denen  jedes  seine 
gradlinige  Bahn  verfolgt,  bis  es  an  ein  anderes  Gasmolekül  oder 
an  einen  festen  Körper  anstösst  und  vermöge  seiner  Elasticität 
abgelenkt  oder  zurückgeworfen  wird.  Ausserdem  drehen  sich  die 
Moleküle  mn  ihre  Axe ,  und  die  sie  zusammensetzenden  Atome 
schwingen  hin  und  her,  drehen  sich  wohl  auch  unter  Umständen 
(intramoleculare  Bewegungen).  —  Die  Massenschwingungen 
der  Luft  sind  uns  durch  die  Fortpflanzung  des  Schalles,  die  fort- 
schreitenden Massenbewegungen  als  Gasströmung,  Wirbel- 
ströme und  Winde  bekannt. 

Die  Aethertheilchen  müssen  die  nämlichen  Erscheinungen  zeigen. 
Sie  führen  einmal  Einzelbewegungen  aus,  indem  jedes  nach  einer 
andern  Richtung  dahin  fährt,  dabei  sich  um  seine  Achse  dreht  und, 
insofern  es  aus  mehreren  Ameren  zusammengesetzt  ist,  auch  innere 
Bewegungen,  bestehend  in  Schwingungen  und  Drehungen  seiner 
Amere,  besitzt.  Dass  uns  von  diesen  Einzelbewegungen  aus  Erfah- 
rung noch  nichts  bekannt  ist,  begreift  sich  leicht  aus  dem  Umstände, 
dass  selbst  die  Einzelbewegungen  der  einer  höheren  Grössenordnung 
angehörenden  Gasmoleküle  erst  seit  kurzer  Zeit  als  Ursache  der  Ex- 
pansivkraft der  Gase  erkannt  sind.  —  Die  Massenschwingungen 
und  die  fortschreitenden  Massenbewegungen,  welche,  gleich- 
wie in  den  Gasen,  unabhängig  von  den  Einzelbewegungen  sind, 
bedingen  abwechselnde  und  räumlich  verschiedene  Verdichtungen 
und  Verdünnungen  des  Aethers. 

Von  diesen  verschiedenen  Bewegungen  der  (eigentlichen  sowie  der 
ponderabeln)  Aethertheilchen  sind  es  die  Massen  Schwingungen, 
welche  die  Erscheinungen  der  Wärme  (und  des  Lichtes)  hervorbringen. 
Sie  erth eilen  den  Atomen  und  Molekülen  die  verschiedenen  Bewegungen, 
die  wir  an  ihnen  kennen.  Dabei  geht  die  kinetische  Energie  der  Aether- 
wellen  auf  die  wägbaren  Theilchen  über,  und  es  verschwindet  so  viel 
Wärme  als  das  Quadrat  der  molecularen  und  atomalen  Geschwindig- 
keit der  letzteren  zunimmt.  Umgekehrt  theilen  die  ponderabeln  Parti- 
keln, wenn  der  umgebende  Aether  Wärme  verloren  hat,  demselben  von 
ihrer  Bewegung  mit  und  stellen  das  gestörte  Gleichgewicht  wieder 
her.     Wenn  daher  die  schwingende  Bewegung  des  Aethers  als  freie 


732  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Wärme  betrachtet  wird,  so  können  wir  die  Bewegungen  der  Moleküle 
und  Atome  als  gebundene  Aetherwärme  bezeichnen. 

Dagegen  vermögen  die  Einzelbewegungen  der  Aethertheilchen 
nicht  die  Atome  und  Moleküle,  die  ja  einer  anderen  Grössenordnung 
angehören,  in  Bewegung  zu  setzen.  Ihre  Stösse  sind  gegenüber  dem 
Koloss  eines  wägbaren  Theilchens  von  verschwindend  geringer  Wirk- 
samkeit, und  überdem  kommen  sie  von  allen  Seiten  in  so  grosser 
Menge,  dass  sie  sich  gegenseitig  aufheben  ^).  Ganz  anders  wirken 
die  Massenschwingungen,  da  bei  ihnen  eine  sehr  grosse  Menge  von 
Aethertheilchen,  unbeschadet  ihrer  individuellen  Bewegungen,  in 
jedem  Zeitmoment  nach  der  gleichen  Seite  hin  drückt. 

Die  Schwdngungen  des  Aethers  sind  ungleich  nach  ihrer  Dauer 
und  nach  ihrer  Intensität.  Ihr  Effect  wird  bedingt  durch  die  Summe 
der  lebendigen  Kräfte,  mit  denen  sie  auf  ein  wägbares  Theilchen 
treffen.  Von  dieser  Summe  hängt  die  Bewegung  der  Moleküle  und 
Atome,  und  wenn  eine  Ausgleichung  eingetreten  ist,  auch  die  Höhe 
der  Temperatur  ab ;  denn  die  kinetische  Energie  der  Aetherschwing- 
ungen  verursacht  in  der  Thermometerfiüssigkeit  die  ihnen  ent- 
sprechenden Bewegungen  der  Moleküle  und  Atome  und  damit  eine 
bestimmte  Raumerfüllung  durch  jene  Flüssigkeit. 

Es  ist  leicht,  sich  von  den  verschiedenen  Erscheinungen,  welche 
die  Wärme  verursacht,  Rechenschaft  zu  geben,  wenn  wir  im  Auge 
behalten ,  dass  die  Schwingungen  des  Aethers  einen  ihnen  ent- 
sprechenden Bewegungszustand  der  Moleküle  und  Atome  bewirken, 
—  dass  umgekehrt  die  Moleküle  und  Atome,  wenn  dieselben  sich 
schneller  bewegen  als  es  dem  Bewegungszustand  des  umgebenden 
Aethers  entspricht,  von  ihrer  lebendigen  Kraft  an  den  letzteren 
abgeben  und  in  freie  Wärme  umwandeln ,  —  endlich ,  dass  der 
zwischen  den  Molekülen  und  Atomen  befindliche  Zwischenhülläther 
durch  den  äussern  Aether,  mit  dem  er  in  Verbindung  steht,  in 
analoge  Schwingungen  versetzt  wird ,  und  dass  er,  wenn  er  in  Folge 
irgend  einer  Ursache  sich  in  lebhafteren  Schwingungszuständen  be- 
findet, den  Ueberschuss  seiner  Bewegungsintensität  dem  äusseren 
Aether  mittheilt,    dass    also   der   intermoleculare    und   interatomale 


*)  Es  verhält  sicli  damit  wie  mit  den  Stössen  der  Gasmoleküle  auf  die  in 
der  Luft  schwebenden  Sonnenstäubchen,  vgl.  Sitzungsberichte  der  kgl.  b.  Akad. 
d.  W.  7.  Juni  1879  oder  Untersuch,  über  niedere  Pilze  S.  78. 


5.  Wärme.  733 

Schweräther  th eilweise   das   verbindende  Mittelghed  bildet  zwischen 
den  Atomen  und  den  äusseren  Aetherschwingungen. 

In  einer  Gasmasse  befindet  sich  der  Wärnieäther  in  einem  ähn- 
lichen Zustande  wie  der  Lichtäther  bei  diffusem  Tageslicht.  Es 
gehen  die  Wärmestrahlen  nach  allen  Richtungen  durcheinander. 
Licht  und  Wärme  werden  von  dem  nämlichen  Aether  getragen, 
indem  sich  ihre  Wellen  wie  die  Wellen  auf  einer  Wasseroberfläche 
durchkreuzen.  Mit  den  Aetherschwingungen  befinden  sich  die  fort- 
schreitenden und  drehenden  Bewegungen  der  Gasmoleküle  und  die 
schwingenden  Bewegungen  ihrer  Atome  im  Gleichgewicht.  Dieser 
Zustand  bleibt  constant,  bis  sich  die  umgebende  Temperatur  ändert. 
Steigt  dieselbe,  so  wird  eine  gewisse  Menge  der  Energie  der  Aether- 
schwingungen zur  Beschleunigung  der  Molecularbewegungen  ver- 
wendet (specifische  Wärme),  und  zwar  bei  Gasen  von  einfacherer 
Zusammensetzmig  etwa  63  %  für  die  fortschreitenden  Bewegungen 
der  Moleküle  und  37  "o  für  die  intramolecularen  Bewegungen. 
Sinkt  die  Temperatur,  so  findet  die  umgekehrte  Umwandlung  statt. 

Nimmt  die  Energie  der  Aetherschwingungen  so  sehr  ab,  dass 
sie  den  Molekülen  nicht  mehr  die  Bewegungen  des  Gaszustandes 
zu  ertheilen  vermögen,  so  verdichtet  sich  das  Gas  zur  Flüssigkeit, 
indem  der  Ueberschuss  der  fortschreitenden,  drehenden  und  intra- 
molekularen Bewegungen  in  Aetherschwingungen  übergeht,  welche 
sich  in  den  allgemeinen  Aether  verlieren.  Beim  Verdampfen  setzt 
sich  die  nämliche  Menge  von  Aetherbewegung  wieder  in  moleculare 
Bewegung  um.  —  Werden  die  Aetherschwingungen  so  schwach,  dass 
sie  nicht  im  Stande  sind  den  Zusammenhang  der  Moleküle  zu  über- 
winden, so  tritt  der  feste  AggTegatzustand  ein,  wobei  die  Gesammt- 
menge  der  fortschreitenden  und  drehenden  und  ein  grosser  Theil 
der  schwingenden  Molecularbewegungen,  die  dem  flüssigen  Zustande 
eigenthümlich  sind,  zur  Vermehrung  der  äusseren  Aetherbewegung 
verwendet  werden ;  beim  Schmelzen  wandelt  sich  diese  Menge  von 
Aetherwärme  wieder  in  Molecularbewegung  um. 

Würde  die  Temperatur  so  sehr  sinken,  dass  die  Aetherschwing- 
ungen ganz  aufhörten ,  so  wäre  der  absolute  Nullpunkt  erreicht. 
Bei  demselben  kämen  die  Bewegungen  der  Moleküle  und  der  Atome 
zur  Ruhe;  es  wäre  aber  nicht  alle  Bewegung  erloschen.  Die  Einzel- 
bewegungen der  Aethertheilchen  würden  fortdauern  und  ebenso  die 
Bewegungen  der  Amere,   aus  denen  die  Atome  bestehen. 


734  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Die  Bedingungen  für  die  drei  Aggregatzustände  sind,  sofern  es 
sich  um  das  nämliche  chemische  Individuum  handelt,  bloss  von 
der  Energie  der  äussern  Aetherschwingungen  abhängig,  indem  diese 
Energie  bis  zu  einem  bestimmten  Grad  den  festen,  von  da  bis  zu 
einem  bestimmten  höheren  Grad  den  flüssigen  und  über  einen  be- 
stimmten dritten  Grad  den  gasförmigen  Zustand  bedingt.  Bei 
verschiedenen  chemischen  Stoffen  ist  aber  der  Widerstand,  den  die 
wägbaren  Theilchen  den  bewegenden  Kräften  entgegensetzen,  sehr 
ungleich.  Dieser  Widerstand  beruht  in  der  Adhäsion,  welche  durch 
die  Grösse  und  Vertheilung  der  anziehenden  und  abstossenden  Mole- 
cularkräfte,  durch  die  Gestalt  und  Zusammenordnung  der  Atome 
und  Moleküle  und  das  Verhalten  des  zwischen  ihnen  befindlichen 
Schweräthers  bestimmt  wird.  So  ist  beispielsweise  beim  Wasser- 
stoff, Sauerstoff  und  Stickstoff  die  gegenseitige  Adhäsion  der  Moleküle 
so  gering,  dass  schon  die  schwächste  uns  bekannte  Energie  der 
Aetherschwingungen  hinreicht,  um  dieselben  in  der  Bewegung  des 
Gaszustandes  zu  erhalten.  Beim  Kohlenstoff  dagegen  erlangt  die 
Adhäsion  der  Moleküle  eine  so  beträchtliche  Höhe ,  dass  auch  die 
grösste  bis  jetzt  erreichbare  Energie  der  Aetherschwingungen  nicht 
im  Stande  ist,  dieselben  zu  trennen  und  ihnen  die  Bewegungen  des 
flüssigen  oder  gar  des  gasförmigen  Zustandes  zu  ertheilen. 

Aus  der  Anordnung  und  der  Adhäsion  der  Moleküle  in  Ver- 
bindung mit  der  Beschaffenheit  des  zwischen  ihnen  befindlichen 
Aethers  erklärt  sich  die  verschiedene  Ausbreitung  der  Wärme  durch 
Strahlung  und  Leitung.  Die  Licht-  und  Wärmestrahlen ,  die  von 
der  Sonne  kommen,  gehen  durch  den  mit  Aether  gefüllten  Welten- 
raum; sie  werden  in  der  Atmosphäre  durch  den  Aether  zwischen 
den  Gasmolekülen  ungehindert  weiter  geführt,  und  ebenso  durch 
den  Zwischenhülläther  vieler  flüssiger  und  fester  Körper,  die  man 
deswegen  als  durchsichtige  und  als  diathermane  bezeichnet. 

Die  Beschaffenheit  des  Aethers  zwischen  den  Atomen  und  Mole- 
külen ist  aber  in  den  verschiedenen  festen  und  flüssigen  Körpern, 
wie  ich  dies  schon  früher  angedeutet  habe,  sehr  ungleich,  sowohl 
bezüglich  der  Lagerung  der  Theilchen  als  bezüglich  ihrer  Bewe- 
gungen, weil  beides  von  der  Natur  und  Stellung  der  Atome  und 
der  Stärke  und  Vertheilung  der  Atomkräfte  abhängt.  Im  allge- 
meinen stellt  der  zwischen  den  Aetherhüllen  der  Atome  befindliche 
und    beweglichere   Zwischenhülläther    dm'ch    den    ganzen    flüssigen 


5.  Wärme.  735 

oder  festen  Körper  ein  ununterbrochenes  Netz  dar.  Dieses  Netz  hat 
nun  eine  sehr  mannigfaltige  Gestalt  und  sein  Schweräther  steht  mit 
den  Atomen  durch  die  Aetherhüllen  in  sehr  ungleichen  dynamischen 
Beziehungen;  daher  rührt  das  verschiedene  Verhalten  der  Körper 
gegenüber  den  Licht-  und  Wärmestrahlen. 

Der  zwischen  den  Aetherhüllen  befindliche  Schweräther  ist,  wie 
schon  gesagt,  mit  dem  äusseren  Aether  in  unmittelbarer  Verbindung 
und  befindet  sich,  wenn  ein  Beharrungszustand  eingetreten,  in  gleichen 
Schwingungszuständen  mit  demselben.  Findet  nvni  in  dem  äusseren 
Aether  eine  besondere  Erregung  statt,  kommen  Licht  und  Wärme- 
strahlen heran,  so  gehen  ihre  Schwingungen,  wenn  die  Anordnung 
und  die  Beschaffenheit  des  genannten  Aethers  günstig  ist,  fast  un- 
geschwächt durch  die  Körper  hindurch,  d.  h.  ohne  etwas  Nennens- 
werthes  von  ihrer  Energie  abzugeben ;  die  vollkommene  Durchsichtig- 
keit und  Diathermanität,  wie  sie  den  meisten  Gasen  und  manchen 
festen  und  flüssigen  Körpern  zukommt,  verhindert  bei  der  Durch- 
strahlung eine  bemerkenswerthe  Erhöhung  ihrer  Temperatur.  In 
den  undurchsichtigen  und  adiathermanen  Körpern  dagegen  können 
sich  die  Schwingungen  der  Licht-  und  Wärmestrahlen  wegen  der 
Spärlichkeit,  der  mangelhaften  Continuität  und  überhaupt  wegen  des 
ungünstigen  Verhaltens  des  Zwischenhülläthers  nicht  ungehindert 
fortpflanzen;  ihre  Energie  geht  auf  die  Moleküle  und  Atome  über 
und  dient  dazu,  die  Temperatur  des  Körpers  zu  erhöhen.  Günstig 
für  die  Durchstrahlung  ist  es ,  wenn  hinreichend  breite  und  zu- 
sammenhängende Bahnen  eines  sehr  beweglichen  Zwischenhülläthers 
vorhanden  sind;  ungünstig,  wenn  wegen  der  Stellung  der  Atome, 
wegen  ihrer  grossen  Annäherung  oder  wegen  der  beträchtlichen 
Mächtigkeit  ihrer  Aetherhüllen  nur  enge  mid  unvollständig  zusam- 
menhängende Bahnen  für  den  Zwischenhülläther  frei  bleiben  und 
wenn  dieser  eine  geringere  Beweglichkeit  besitzt. 

Während  die  strahlende  Wärme  ihre  Schwingungen  durch  den 
Zwschenhülläther  ausbreitet,  werden  bei  der  Leitungswärme  die  der 
Wärmequelle  zunächst  liegenden  Atome  in  einen  der  einwirkenden 
Temperatur  entsprechenden  Bewegungszustand  versetzt,  welcher  sich 
dann  von  Atom  zu  Atom  weiter  fortpflanzt.  Von  der  Anordnung, 
dem  Zusammenhang  und  der  Bewegung  der  Atome  hängt  es  ab, 
ob  die  Fortpflanzung  rascher  oder  langsamer  erfolge,  ob  der  Körper 
ein  guter  oder  ein  schlechter  Wärmeleiter  sei. 


736  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

In  der  vorstehenden  Auseinandersetzung  handelte  es  sich  vorzüg- 
hch  um  die  Uebertragung  von  Energie  zwischen  den  Aethertheilchen 
und  den  Molekülen  (Atomen)  und  zwischen  den  letzteren  unter  sich. 
Es  ist  also  von  Wichtigkeit,  eine  richtige  Vorstellung  über  die  Be- 
dingungen der  Energie  bei  diesen  Theilchen  zu  haben.  Wenn  wir 
sagen ,  die  Summe  der  lebendigen  Aetherschwingungskräfte  in  der 
Raumeinheit,  gegeben  durch  die  Zahl  und  Beschaffenheit  der  schwang- 
enden Theilchen,  durch  die  Zahl  der  Schwingungen  jedes  einzelnen 
in  der  Zeiteinheit  und  durch  die  Schwingungsintensität  bedinge  die 
Höhe  der  Temperatur  und  verursache  in  den  w'ägbaren  Körpern  die 
ihnen  entsprechenden  Bewegungen  der  Moleküle  und  Atome,  so 
müssen  wir  uns  darüber  klar  sein,  wodurch  die  kinetische  Energie 
eines  Aethertheilchens  und  diejenige  eines  Moleküls  (Atoms)  in  den 
verschiedenen  Aggregatzuständen  bestimmt  werde.  Denn  es  ist  ein- 
leuchtend, dass  bei  den  hier  in  Frage  kommenden  Umsetzungen 
der  lebendigen  Kraft  nicht  die  Begriffe  der  gew^öhnlichen  Mechanik 
Gültigkeit  haben.  Namentlich  lässt  uns  der  Begriff  der  Masse,  wie 
er  allgemein  angewendet  wird,  gänzlich  im  Stich. 

Die  Definition  der  Masse,  dass  zwei  Körper  gleiche  Massen 
besitzen,  wenn  ihnen  durch  die  nämliche  Kraft  in  der  Zeiteinheit 
gleiche  Beschleunigungen  ertheilt  werden,  ist  zwar  umfassend  genug, 
um  für  alle  Fälle  auszureichen.  Allein  in  der  gewöhnlichen  Mecha- 
nik hat  man  damit  nur  einen  Fall  im  Auge ;  hier  ist  für  den  Betrag 

der  lebendigen  Kraft  -^mxr  stets  die  Schwere  d.  h.  der  Ueberschuss 

der  Gravitationsanziehung  über  die  Aetherabstossung  massgebend 
(S.  718);  dieser  Ueberschuss  wird  als  Masse  [m)  bezeichnet.  Eine 
solche  Behandlung  ist  für  alle  Erscheinungen  gestattet,  wo  die  Schwere 
durch  die  übrigen  Kräfte  keine  bemerkbare  Aenderung  erleidet.  Sie 
hat  also  in  den  Gebieten  der  kleinsten  Theilchen  bloss  noch  für  die 
fortschreitenden  Bewegungen  der  Gasmoleküle  Gültigkeit,  weil  diese 
Moleküle  nur  unter  dem  Einfluss  der  Erdanziehung  stehen,  gegenüber 
welcher  die  übrigen  Kräfte  verschwinden.    In  der  Bestimmung  ihrer 

kinetischen  Energie ,  ^  m  v' ,    wird   daher  m  durch   das   Molecular- 

gewicht  bemessen. 

Diese  Bestimmung  der  Masse  ist  aber  nicht  mehr  entscheidend 
für   alle   übrigen   Bewegungen   der  Moleküle  und  Atome,   weil  bei 


5.  Wärme.  737 

ihnen  neben  der  Schwere  auch  andere  Kräfte  maassgebend  werden, 
und  zwar  oft  in  dem  Grade,  dass  gegenüber  den  anderen  Kräften 
die  Schwere  selbst  unmerkbar  wird.  So  tritt  das  Wasserstoffatom 
bei  vielen  Vorgängen  mit  viel  grösserer  Wucht  in  die  Bewegung 
ein  als  das  Quecksilberatom,  welches  in  gewöhnhchem  Sinne  200  mal 
mehr  Masse  enthält  ^).  Die  gewöhnliche  Bestimmung  der  Masse 
ist  ferner  ganz  ohne  Bedeutung  für  die  Mechanik  des  eigentlichen 
Aethers,  weil  hier  in  überwiegendem  Maasse  abstossende  Kräfte  zur 
Wirksamkeit  gelangen. 

Für  die  meisten  Molecularbewegmigen  und  für  die  Aether- 
bewegungen  muss  statt  der  Masse  im  gewöhnlichen  Sinne  die 
Potenz  in  Anschlag  kommen,  welche  überhauj^t  in  den  nach  Ort 
und  Zeit  wirksamen  Kräften  besteht  und  welche  wegen  der  Klein- 
heit der  sich  verändernden  Abstände  nach  Ort  und  Zeit  stets  in 
bemerkbarer  Weise  wechselt.  Die  Masse  der  gewöhnlichen  Mechanik 
ist  ein  besonderer  Fall  der  Potenz,  welcher  den  Vorzug  grosser  Ein- 
fachheit besitzt,  weil  wegen  der  grossen  Entfernungen  die  Schwere 
die  Alleinherrschaft  behält  und  daher  die  Masse  als  unveränderlich 
betrachtet  werden  kann. 

Unter  Masse  versteht  man  häufig  nicht  bloss  die  dynamische 
Wirkung  eines  Körpers,  sondern  gewissermaassen  auch  seinen  mate- 
riellen Inhalt.  Doch  liegt  es  auf  der  Hand,  dass',  wenn  das  Gold 
in  der  Volumeneinheit  21  mal  mehr  Masse  enthält  als  das  Eis,  es 
deswegen  nicht  nothwendig  reicher  an  Stoff  sein  muss.  Wir  haben 
also  neben  Potenz  und  Masse,  welche  durch  die  Wirkungsfälligkeiten 
bestimmt  werden,  noch  den  Gehalt  zu  unterscheiden,  welcher  ein 
Product  von  Zahl  und  Grösse  der  in  der  Volumeneinheit  befindlichen 
Amere  ist.  Möglicherweise  hat  das  Wasserstoffatom  einen  gleichen 
,,Gelialt"  wie  das  Jodatom,  welches  ihm  an  Masse  imi  das  127fache 
überlegen  ist;  und  möglicherweise  steht  selbst  das  zusammengesetzte 
Theilchen  des  Weltäthers  an  ,, Gehalt"  einem  gleichgrossen  Volumen 
des  massigsten  Körpers  nahe,  obgleich  jenem  nicht  nur  kein  posi- 
tiver, sondern  sogar  ein  negativer  Besitz  an  „Masse"  zukommt. 


*)  Vgl.  bezüglich   der   Atomgewirlite  Abschnitt?:    Grösse    und   Zusannnen- 
setzung  der  Atome. 

V.  Nägcli,  Abstammungslehre.  47 


7B8  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gel)iot. 

6.  Elektricität. 

Dieser  schwierigste  Theil  der  Molecularphysik  wird  durch  den 
Umstand,  dass  unter  Elektricität  zweierlei  verstanden  wird,  ver- 
wickelter als  die  Lehre  von  der  Wärme,  vom  Licht,  von  der  Gravi- 
tation. Sie  ist  einmal  elementare  Kraft,  wie  die  Gravitations- 
anziehung und  die  Aetherabstossung,  und  ferner  ist  sie  Bewegung, 
wie  die  Wärme,  das  Licht,  der  Schall,  und  soll  selbst  nach  Maassgabe 
der  Bewegung  die  Intensität  ihrer  elementaren  Kraft  verändern. 

Was  die  Elektricität  als  Attractions-  und  Repulsionskraft  betrifft, 
so  hat  sie  ihren  Sitz  in  den  Ameren,  von  denen  jedes  die  beiden 
Elektricitäten ,  im  Allgemeinen  aber  die  eine  im  Ueberschuss  ent- 
hält. Die  elektrischen  Kräfte  sind  mit  den  Ameren  untrennbar  ver- 
bunden ;  sie  können  denselben  nicht  entzogen  und  nicht  mitgetheilt 
werden.  Jedes  Amer  ist  daher,  je  nachdem  die  eine  oder  andere 
Elektricität  überwiegt,  vorherrschend  positiv  oder  negativ  elektrisch, 
und  in  gleicher  Weise  hat  jede  Vereinigung  von  Ameren,  je  nach 
dem  Resultat  der  Summirung,    positiven  oder  negativen   Charakter. 

Die  Elektricität  hat,  wie  ich  früher  anführte,  keinen  bemerkbaren 
Einfluss  auf  die  Zusammenballung  der  wägbaren  Massen  und  auf 
die  Zerstreuung  des  Aethers.  Denn  es  besitzen  je  zwei  oder  mehrere 
Amere  mit  vorherrschend  positiver  und  negativer  Elektricität  das 
Bestreben  sich  zu  vereinigen  und  somit  elektrisch-neutrale  Gruppen 
zu  bilden,  in  welchen  die  Electricität  sich  gegenüber  dem  Agglo- 
merations-  und  Dispersionsprocess  indifferent  verhält.  Solche  neutrale 
Gruppen  müssen  besonders  im  Aether,  auch  in  dem  ponderabeln 
Aether,  der  zwischen  den  Molekülen  und  Atomen  sich  befindet, 
vorkommen,  weil  seine  Theilchen  beweglich  sind  und  sich  somit 
stets  entsprechend  ihren  Anziehungen  und  Abstossungen  zusammen- 
gruppiren  können. 

Es  bilden  sich  aber  auch  Vereinigungen  mit  ausgesprochener 
2:)0sitiver  oder  negativer  Elektricität;  dieselben  treten  vorzugsweise 
in  den  wägbaren  Massen  auf,  weil  hier  die  Abstossung  der  gleich- 
namigen Elektricitäten  leicht  durch  die  Anziehung  der  Gravitations-  und 
der  isagischen  Kräfte  übertroffen  wird.  Dem  entsprechend  überwiegt 
auch  in  den  Atomen  der  verschiedenen  Elemente  die  eine  oder  andere 
Elektricität  mehr  oder  weniger,  aber  immer  nur  in  einem  zur  Ge- 
sammtmenge  verhältnissmässig  sehr  geringen  Betrage.    Je  nach  dem 


(5.  Elektricität.  739 

grösseren  oder  kleineren  Betrage  nimmt  das  Element  seine  Stellung 
in  der  elektrochemischen  Spannungsreihe  ein.  Diese  überschüssige 
positive  oder  negative  Electricität  in  den  Atomen  ist  nicht  frei,  da 
sie  die  Atome  nicht  verlassen  kann,  worüber  ich  auf  die  späteren 
Abschnitte  (9.  Entstehung  und  Beschaffenheit  der  Atome  und  10. 
Chemische  Verwandtschaft)  verweise.  Sie  ist  aber  auch  nicht  gebun- 
den im  gewöhnlichen  Sinne,  da  ,, gebundene  Elektricität"  die  von 
der  ungleichnamigen  festgehaltene  Elektricität  bedeutet. 

Da  die  Amere  mit  positiver  und  negativer  Elektricität  in  der 
Regel  zu  mehr  oder  weniger  neutralen  Gruppen  vereinigt  sind,  so 
muss  die  elektrische  Erregung  darauf  beruhen,  dass  diese  neutralen 
Gruppen  gespalten  werden  und  dass  ihre  Componenten  einerseits 
zu  positiven,  andrerseits  zu  negativen  elektrischen  Massen  sich  an- 
sammeln. Der  einfachste  Fall  der  elektrischen  Erregung  ist  derjenige 
durch  Influenz,  wobei  durch  die  Fernwirkung  eines  elektrischen 
Kör2:)ers  die  neutrale  Elektricität  eines  andern  (influirten)  Körpers 
in  230sitive  und  negative  zerlegt,  und  die  ungleichnamige  an  der 
dem  influirenden  Körper  zugekehi'ten,  die  gleichnamige  an  der  ab- 
kehrten Seite  angehäuft  wird. 

An  der  eben  genannten  elektrischen  Vertheilung  können  nur 
Amere  theilnehmen,  die  nicht  unlösbar  mit  den  Atomen  verbunden 
sind,  nämlich  die  Amere  des  zwischen  den  Atomen  und  Molekülen 
befindlichen  Schweräthers,  während  diejenigen  der  Atomkör^jer  aus- 
geschlossen sind.  Eine  elektrisch-neutrale  Amergruppe  dieses  Aethers 
wird  nun  zerlegt,  wenn  die  Anziehung,  welche  die  positiven  und 
negativen  Amere  dieser  Gruppe  auf  einander  ausüben,  kleiner  ist 
als  die  Anziehung  einer  in  der  Nähe  befindlichen  elektrischen  Masse 
auf  die  ungleichnamig  elektrischen  Amere  jener  Gruppe  sammt  ihrer 
Abstossung  auf  die  gleichnamig  elektrischen  Amere  derselben.  Indem 
diese  gleichnamigen  elektrischen  Amere  infolge  der  Abstossung  durcli 
den  influirenden  Körper  nach  der  von  demselben  abgewendeten  Seite 
des  influirten  Körpers  sich  entfernen,  kommen  von  da  neue  elektrisch 
neutrale  Amergruppen  herbei  und  werden  gleichfalls  durch  den 
influirenden  Körper  zerlegt.  Dieser  Process  dauert  so  lange,  bis 
allseitiges  Gleichgewicht  eingetreten  ist.  Wird  der  influirende  Kör- 
per entfernt,  so  strömen  die  getrennten  Massen  positiver  und  nega- 
tiver Amere  gegen  einander  und  vereinigen  sich  wieder  zu  neutralen 
Gruppen. 


tJ^Ö^ 


740  Kräfte  und  Gestaltungen  Im  molecularen  Gebiet. 

Wie  ein  elektrischer  Körper  im  Grossen,  so  kann  auch  jedes 
Atom  im  Kleinen  vertheilend  wirken.  Da  dasselbe  die  eine  oder 
andere  Elektricität  im  Ueberschuss  enthält,  so  muss  es  einen  Theil  der 
zunächst  liegenden  elektrisch  neutralen  Amergruppen  seiner  Aether- 
hülle  zerlegen,  sofern  es  die  zusammenhaltenden  Kräfte  (elektrische, 
isagische  und  Gravitationsanziehung)  zu  überwinden  vermag.  Liegt 
das  Atom  frei,  so  befindet  sich  von  den  durch  Zerlegung  frei  ge- 
wordenen Elektricitäten  die  ungleichnamige  unmittelbar  am  Atom- 
körper, die  gleichnamige  an  der  Aussenseite  der  Aetheratmosphäre.  Sind 
viele  Atome  von  gleicher  elektrischer  Beschaffenheit  zu  einem  Körper 
vereinigt,  so  befindet  sich  die  in  den  Aetherhüllen  freigewordene 
ungleichnamige  Elektricität  im  Innern  des  Körpers  (zwischen  den 
Atomen),  die  gleichnamige  an  der  Oberfläche  desselben,  so  weit  sie 
nicht  etwa  den  Körper  ganz  verlässt.  Dass  eine  solche  Vertheilung 
wirklich  erfolge,  wird  nicht  nur  durch  die  gegebenen  Bedingungen 
angezeigt,  sondern  auch  durch  einen  andern,  ganz  allgemein  vor- 
kommenden Fall  elektrischer  Erregung  bestätigt. 

Dieser  andere  Fall  der  elektrischen  Erregung  ist  dann  gegeben, 
wenn  zwei  elektrisch  neutrale  Körper  von  verschiedener  Beschaffenheit 
in  Berührung  mit  einander  kommen.  Bekanntlich  wirkt  jede  Berüh- 
rung mehr  oder  weniger  elektromotorisch,  indem  sich  die  positive 
Elektricität  über  den  einen,  die  negative  über  den  andern  Körper 
ausbreitet.  Nach  der  Amertheorie  erklärt  sich  diese  Erscheinung 
folgendermaassen.  Die  Atomkörper  der  chemischen  Elemente  haben, 
wie  schon  gesagt,  einen  bestimmten  elektrischen  Charakter,  den  sie 
niclit  verlieren  können,  und  nehmen  daher  einen  bestimmten  Platz 
in  der  elektrischen  Spannungsreihe  ein.  Ich  will  nun  zuerst  anneh- 
men, der  eine  der  beiden  sich  berührenden  Körper  besitze  positive, 
der  andere  negative  elektrische  Atomkörper.  Die  Theilchen  des 
zwischen  den  Atomen  befindlichen  Schweräthers  haben  in  jedem 
der  beiden  Körper  bereits  eine  durch  die  Elektricität  der  Atomkörper 
bewirkte  theilweise  Zerlegung  erfahren,  so  dass  elektrisches  Gleich- 
gewicht besteht,  und  die  übrigen  Aethertheilchen  unzerlegt  bleiben. 
Sowie  nun  aber  Berührung  der  beiden  Körper  eintritt,  so  ist  das 
Gleichgewicht  an  der  Berührungsstelle  gestört.  Auf  die  elektrisch 
neutralen  Amergruppen  der  beiderseitigen  Grenzschichten  wirken 
jetzt  nicht  mehr  bloss  je  die  Elektricität  des  eigenen  Körpers,  son- 
dern zugleich  die  entgegengesetzten  Elektricitäten  der  beiden  Körper 


6.  Elektricität.  741 

ein,  indem  der  Körper  mit  positivem  Charakter  der  Atome  die  nega- 
tiven, derjenige  mit  negativem  Charakter  die  positiven  Amere  anzieht 
mid  die  gleichnamig  elektrischen  Amere  abstösst.  So  wird  durch  die 
vereinte  Action  eine  gewisse  Menge  neutraler  Elektricität  zerlegt.  Es 
versteht  sich,  dass  sich  um  so  mehr  freie  Elektricität  bildet,  je  aus- 
gesprochener der  positive  und  negative  Charakter  der  beiden  Körper 
ist,  und  dass,  indem  sich  die  beiden  Elektricitäten  über  die  Körper 
ausbreiten,  der  elektromotorische  Process  so  lange  fortgeht,  l)is  all- 
seitiges Gleichge-^ncht  besteht. 

In  dem  eben  angeführten  Beisj^iel  waren  die  Atome  des  einen 
Körpers  positiv,  die  des  anderen  negativ  elektrisch.  Haben  beide 
Körper  den  gleichen  (positiven  oder  negativen)  Charakter,  nur  in 
ungleichem  Grade,  so  erfolgt  mit  der  Berührung  ebenfalls  Störung 
des  elektrischen  Gleichgewichts.  Die  an  der  Berührungsstelle  be- 
findlichen neutralen  Amergruppen  des  Schweräthers  erfahren  von 
beiden  Seiten  her  ungleiche  Einwirkung;  die  gleichnamig  elektrischen 
Amere  werden  von  der  einen  Seite  her  stärker  abgestossen,  die 
ungleichnamigen  stärker  angezogen  als  von  der  andern,  und  so 
findet  der  nämliche  Zerlegungsprocess  statt,  wie  wenn  die  beiden 
Körper  ungleichnamige  wirksame  Elektricitäten  besitzen.  Die  Menge 
der  zerlegten  neutralen  Elektricität  hängt  bloss  von  der  Differenz 
der  wirksamen  Elektricitäten  ab.  Es  habe  in  einem  neutralen  Amer- 
paar  der  Berührungsstelle  das  eine  Amer  0,1  positive,  das.  andere 
0,1  negative  elektrische  Einheiten,  und  es  ^\drken  auf  gleiche  Ent- 
fernung von  der  einen  Seite  2000,  von  der  andern  1000  positive 
elektrische  Einheiten  ein,  so  ist  die  elektromotorisch  wirkende  Diffe- 
renz der  beiden  Anziehungen  100  (nämhch  0,1  X  2000  —  0,1  X  1000), 
die  elektromotorische  Differenz  der  beiden  Abstossungen  gleichfalls 
100,  ganz  ebenso  wie  wenn  auf  der  einen  Seite  500  positive,  auf 
der  andern  Seite  500  negative  elektrische  Einheiten  wirksam  wären 
(nämhch  0,1  X  ÖOO  +  0,1  X  ÖOO). 

Nachdem  ich  einige  Fälle  der  elektrischen  Erregung  näher 
erörtert  habe,  ist  es  überflüssig,  auf  die  übrigen  einzutreten,  bei 
welchen  durch  Reibung,  mechanische  Trennung,  Druck  und  Zug, 
Erwärmung  und  Abkühlung,  Capillarität  u.  s.  w.  die  Elektricitäten 
frei  werden  und  sich  auf  zwei  Körper  oder  auf  entgegengesetzte 
Seiten  des  nämlichen  Körpers  vertheilen.  Jede  äussere  Einwirkung 
stört   das   bisherige   Gleichgewicht    der   Molecularkräfte    und   damit 


742  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

uucli  clasjciiigo  der  Elektricitäteii ,  dabei  werden  tlieils  elektrische 
A  liier e  der  Aetlierhüllen ,  die  von  den  Atoiiikörjiern  festgehalten 
Avurdeii,  disponibel,   tlieils  elektrisch  neutrale  Amergruppen  zerlegt. 


Wenn  in  einem  Körper  freie  bewegliche  Elektricität  auftritt,  so 
haben  die  Amere ,  an  w^elche  sie  gebunden  ist,  infolge  der  gegen- 
seitigen elektrischen  Abstossung  das  Bestreben  sich  von  einander 
zu  entfernen.  Sie  l)reiten  sich  deshalb  erfahrungsgeniäss  ül)cr  die 
Oberfläche  aus  und  häufen  sich  an  den  vorragenden  Stellen  der- 
selben um  so  mehr  an,  je  kleiner  der  Krümmungshalbmesser  ist. 
Bei  übermässiger  Anhäufung  kann  die  Spannung  sich  so  sehr  stei- 
gern, dass  ein  Theil  der  elektrischen  Amere  fortgeschleudert  wird. 
Im  allgemeinen  verlassen  aber  dieselben  einen  Körper  nur  dann, 
wenn   mit   ihm    ein  leitender  Körper  in  Berührung   gebracht  wird. 

Die  Vorstellung ,  wie  die  Verbreitung  der  Elektricität  in  einem 
Körper  und  insonderheit  die  Leitung  derselben  erfolgt,  beruht  nach 
der  Amertheorie  auf  der  richtigen  Würdigung  des  Gleichgewichts, 
in  dem  sich  die  Theilchen  des  interatomalen  ponderabeln  Aethers 
befinden.  Dasselbe  besteht  in  Verbindung  mit  den  allseitigen  dyna- 
mischen Beziehungen,  gleichwie  in  einer  eingeschlossenen  Gasmasse, 
durch  die  Stösse,  mit  denen  die  Theilchen  auf  einander  treffen.  Es 
sind  somit  die  Räume  zwischen  den  Atomkörpern  vollständig  mit 
bewegten  Aethertheilchen  erfüllt;  es  kann  kein  Theilchen  eintreten, 
ohne  die  Spannung  zu  vermehren,  keines  hinausgehen,  ohne  dieselbe 
zu  vermindern,  und  eine  Dislocation  im  Innern  findet  im  allgemeinen 
nur  statt,  insofern  als  ein  Theilchen  an  die  Stelle  des  andern  tritt. 
Bewegen  sich  in  einem  elektrisch  neutralen  Körper  elektrische  Aether- 
theilchen in  einer  bestimmten  Richtung,  so  muss  in  entgegengesetzter 
Richtung  eine  Strömung  von  neutralen  Theilchen  eintreten.  Die  Lei- 
tung der  Elektricität  von  einem  Herde  aus,  wo  dieselbe  durch  Ver 
theilung  entsteht,  ist  also  ein  Platzwechsel  von  Aethertheilchen,  die 
wie  eine  Kette  durch  den  ganzen  Körper  verläuft. 

Am  anschaulichsten  tritt  uns  das  Wesen  der  elektrischen  Leitung 
jn  der  Thatsache  entgegen,  dass  aus  einem  elektrischen  Körper  keine 
Elektricität  an  den  leeren  Raum  abgegeben  wird,  dass  dieser  ein  »Nicht, 
leiter«  ist.    Man  möchte  erwarten,   dass  das  bloss  mit  Aether  erfüllte 


6.  Elektricität.  743 

Vacuuin  einer  in  Spannung  bclindliclien  Masse  von  elektrischen  Theil- 
chen  den  geringsten  Widerstand  darböte.  Nun  drückt  aber  der  äussere 
Aetlier  mit  der  nämlichen  Kraft  auf  den  zwischen  den  Atomen  und 
Molekülen  befindlichen  Aether  wie  dieser  nach  aussen.  Es  können 
also  Theilchen  von  dem  letzteren  nur  dann  austreten,  wenn  dafür 
Aethertheilchen  von  aussen  eintreten.  Der  Umstand,  dass  das  Gleich- 
gewicht zwischen  dem  inneren  und  dem  äusseren  Aether  sich  auch 
auf  die  Elektricität  erstreckt  und  dass  diese  nicht  einen  Körper 
verlassen  und  in  den  äussern  Aether  entweichen  kann,  beweist  uns 
die  Richtigkeit  der  theoretischen  Annahme,  dass  die  Elektricität  an 
Körperchen  von  der  Grössenordnuug  der  Aethertheilchen ,  also  an 
Amere  gebunden  sein  muss. 

Wäre  aber  der  interatomale  Aether  und  der  Aether  des  Va- 
cuums  von  gleicher  Beschaffenheit  und  somit  die  elektrische  Span- 
nung allein  maassgebend,  so  müssten  die  elektrischen  Theilchen 
des  ersteren  infolge  ihrer  gegenseitigen  Abstossung  den  Körper  ver- 
lassen und  es  würden  an  ihre  Stelle  neutrale  Theilchen  des  äusseren 
Aethers  eintreten.  Allein  die  Theilchen  des  interatomalen  Aethers 
sind  ponderabel,  und  werden  also  durch  Gravitationsanziehung  und 
wohl  auch  durch  die  Isagität  mit  einer  ge"s^dssen  Kraft  festgehalten. 
Nur  dmx'h  die  Annahme,  dass  diese  anziehenden  Kräfte  mächtiger 
sind  als  die  elektrische  Abstossung  sammt  der  Aetherabstossung, 
wird  die  Thatsache  erklärlich,  dass  der  leere  Raum  ein  Nichtleiter 
für  die  Elektricität  ist.  Die  Theorie  von  dem  ponderabeln  Aether, 
der  die  Atome  umgibt,  hat  damit  eine  Bekräftigung  in  der  Erfah- 
rung gewonnen. 

Wenn  die  elektrischen  Theilchen  des  ponderabeln  Aethers  in 
einem  neutralen  Körper  ihren  Platz  verlassen,  so  müssen  andere 
ebenfalls  ponderable  aber  neutrale  Aethertheilchen  an  ihre  Stelle 
treten.  Der  Austausch  findet  stets  zwischen  den  zunächst  liegenden 
Theilchen  statt;  die  dynamische  Ursache  desselben  besteht  darin, 
dass  die  aus  einem  bestimmten  Raum  austretenden  elektrischen 
Theilchen  abgestossen  werden,  während  die  eintretenden  neutralen 
Theilchen  eine  Abstossung  nicht  erfahren.  Diese  dynamische  Wir- 
kung muss  um  so  energischer  stattfinden,  je  geringer  die  Entfernung 
zwischen  den  platzwechselnden  Theilchen  ist.  —  Nur  wenig  anders 
gestaltet  sich  die  Leitung,  wenn  die  Elektricität  nicht  in  dem  neu- 
tralen Körper  selbst  durch  Vertheilung  frei  gemacht,  sondern  dem- 


744  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

selben  von  aussen  zugeführt  wird.  In  diesem  Falle  breitet  sie 
sich  möglicherweise  in  dem  Körper  aus,  ohne  dass  neutrale  Aetlier- 
theilchen  sich  in  entgegengesetzter  Richtung  bewegen. 

In  beiden  Fällen  hat  die  grössere  oder  geringere  Entfernung 
der  Aethertheilchen  noch  eine  andere  Bedeutung  als  die  vorhin  an- 
gegebene. Je  näher  ein  neutrales,  aus  zwei  (oder  auch  mehreren) 
Ameren  zusammengesetztes  Theilchen  sich  bei  einem  oder  mehreren 
elektrischen  Theilchen  befindet,  um  so  eher  wird  es  in  der  Weise 
orientirt,  dass  sein  ungleichnamig  elektrisches  Amer  diesen  zuge- 
kehrt, das  gleichnamige  aber  abgekehrt  ist.  Damit  wird  das  neutrale 
Tlieilchen  von  den  elektrischen  Theilchen  angezogen ,  weil  die 
Attraction  der  letzteren  zu  dem  näher  liegenden  ungleichnamigen 
Amer  selbstverständlich  grösser  ist  als  die  Repulsion  auf  das  ent- 
ferntere gleichnamige.  Die  Differenz  dieser  Attraction  und  Repulsion 
fällt  aber  um  so  beträchtlicher  aus,  je  kleiner  der  Abstand  ist. 
Bei  wachsendem  Abstand  zwischen  den  elektrischen  und  neutralen 
Theilchen  wird  der  Ueberschuss  der  Anziehung  bald  unmerklich 
gering. 

Die  Wanderung  eines  elektrischen  Amers  bei  gedrängter  Stellung 
der  neutralen  Theilchen  lässt  sich  nun  am  natürlichsten  so  denken, 
dass  dasselbe  sich  an  das  zugekehrte  ungleichnamige  Amer  des 
nächsten  (neutralen)  Paars  anlegt,  wodurch  das  abgekehrte  gleich- 
namige Amer  dieses  Paars  frei  wird  und  seinerseits  in  derselben 
Weise  zu  dem  nächsten  Paar,  dasselbe  zerlegend,  übertritt.  So 
findet  eine  Wanderung  durch  eine  ganze  Reihe  von  neutralen  Paaren 
oder  Gruppen  statt,  und  am  Ende  derselben  tritt  aus  dem  letzten 
Paar  ein  freies  elektrisches  Amer  aus.  Im  Moment  der  Zerlegung 
und  Wiedergestaltung  haben  die  neutralen  Gruppen  die  umgekehrte 
Orientirung,  nehmen  aber  durch  Drehung  sofort  wieder  die  frühere 
Lage  an. 

Die  Leitung  der  Elektricität  muss  also  um  so  leichter  erfolgen, 
je  näher  die  Theilchen  des  ponderabeln  Aethers  beisammen  liegen. 
Wir  dürfen  wohl  mit  ziemlicher  Sicherheit  annehmen,  dass  in  den 
Körpern  die  Leitung  durch  die  (dichteren)  Aetherhüllen  der  Atome 
viel  leichter  als  durch  die  zwischen  denselben  befindliche  (lockere) 
Mittelsubstanz  des  Schweräthers  erfolge.  Wahrscheinlich  hat  die 
letztere  gar  keinen  Theil  daran.  Am  günstigsten  wäre  es  aber  für 
die  elektrische  Leitung,    wenn  die  Aetherhüllen  ganz   oder  doch  in 


6.  Elektricität.  745 

ilirer  inneren  Partie  aus  flüssigem  (nicht  aus  gasförmigem)  Schwer- 
ätlier  beständen,  weil  in  diesem  Zustande  die  Aetliertheilclien  die 
grösste  gegenseitige  Annäherung  mit  vollkommener  Beweglichkeit 
verbinden.  Dagegen  ist  eine  Leitung  der  Elektricität  durch  die 
Atomkörper  hindurch  überall  nicht  denkbar,  soweit  die  Amere  fest 
mit  einander  verbunden  sind,  weil  dieselben  weder  durch  Drehung 
sich  in  der  erforderlichen  Weise  orientiren,  noch  ihren  Platz  wech- 
seln können. 

Wenn  dies  richtig  ist,  so  lässt  sich  die  Verschiedenheit  der 
molecularen  Beschaffenheit  zwischen  guten  und  schlechten  Leitern 
leicht  denken.  Ein  Körper  leitet  um  so  besser,  in  je  unmittelbarer 
Verbindung  sich  die  Aetherhüllen  seiner  Atome  befinden,  um  so 
schlechter,  je  zahlreicher  und  grösser  die  Lücken  zwischen  diesen 
Hüllen  sind.  In  Nichtleitern  mangelt  die  unmittelbare  Verbindung 
z^^'ischen  den  Aetherhüllen  gänzlich.  Dies  hängt  theils  von  der 
Anordnung  der  Atome,  vorzüglich  aber  von  der  sehr  ungleichen 
Stärke  ihrer  Schwerätherhüllen  ab  (vgl.  S.  734). 

Die  Bedingungen  für  die  Leitung  der  Elektricität  sind  demnach 
ganz  anderer  Art  als  diejenigen  für  die  Leitung  des  Lichtes  und 
der  Wärme,  da  die  Schwingungen  der  letzteren  vorzüglich  durch 
die  zwischen  den  Aetherhüllen  befindliche  iMittelsubstanz  sich  fort- 
pflanzen. Die  ununterbrochene  Verbindung  der  Hüllen  und  diejenige 
der  Mittelsubstanz  befinden  sich  in  einem  gewissen  Gegensatz  zu 
einander,  indem  im  allgemeinen  die  eine  um  so  vollkommener  vor- 
handen ist,  je  mehr  die  andere  mangelt.  Daraus  erklärt  sich  der 
Umstand,  dass  durchsichtige  und  diathermane  Körper  (wie  beispiels- 
weise das  Glas)  gewöhnlich  die  Elektricität  nicht  oder  schlecht  leiten, 
und  dass  die  guten  elektrischen  Leiter  (wie  die  Metalle)  undurch- 
sichtig und  adiatherman  sind.  Es  ist  aber  nicht  ausgeschlossen, 
dass  Elektricität,  Licht  und  Wärme  von  manchen  Körpern  gleich 
gut  geleitet  werden. 

Ich  habe  bis  jetzt  den  Fall  betrachtet,  in  welchem  freie  Elektricität 
durch  einen  neutralen  Körper  fortgeleitet  wird.  Werden  zwei  Körper 
mit  entgegengesetzter  Elektricität  in  Berührung  gebracht,  so  entsteht 
ein  doppelter  Strom,  indem  positive  Elektricität  nach  der  einen, 
negative  nach  der  andern  Richtung  durch  die  leitende  Substanz 
hindurchgeht,  wobei  die  Intensität  jedes  der  beiden  Ströme  von  der 
Dichtigkeit   der   betreffenden    Elektricität  abhängt..    Ein   dauernder 


746  Kräfte  und  Gestaltungen  im  niolccularen  Gebiet. 

gegenseitiger  Strom ,  bei  welchem  gleiche  Mengen  positiver  und 
negativer  Electricität  in  entgegengesetzter  Riclitung  sich  bewegen, 
bildet  sich  dann,  wenn  die  durch  Vertheilung  entstehenden  Elektri- 
citäten  in  leitender  Verbindung  sich  befinden,  wie  dies  beim  galva- 
nischen Strom  der  Fall  ist. 

Nach  der  Amertheorie  können  wir  uns  von  der  galvanischen 
Leitung  eine  ähnliche  Vorstellung  machen,  wie  sie  für  Wanderung 
der  Ionen  bei  der  Elektrolyse  besteht,  und  wie  ich  sie  schon  für 
die  einseitige  elektrische  Leitung  in  Anspruch  genommen  habe.  Die 
neutralen  Amergruppen,  die  in  dem  Leiter  ununterbrochene  Reihen 
bilden  und  die  wir  uns  der  Einfachheit  halber  als  Doppelamere 
vorstellen  können,  richten  sich  so,  dass  das  positive  Amer  der 
negativen,  das  negative  der  positiven  Elektricitätsquelle  zugekehrt 
ist.  Am  einen  Ende  einer  Reihe  wird  das  der  negativen  Elektricitäts- 
quelle zugekehrte  positive  Amer  angezogen  und  weggerissen;  infolge 
dessen  rücken  alle  positiven  Amere  der  Reihe  um  einen  Schritt  in 
gleicher  Richtung  vorwärts.  Ebenso  tritt  am  andern  Ende  der  Reihe 
das  letzte  negative  Amer  zu  der  positiven  Elektricitätsquelle  über, 
und  es  folgen  ihm  alle  negativen  Amere  der  Reihe  um  einen  Schritt 
nach.  Die  Amerpaare  der  Reihe  sind  im  ersten  Moment  verkehrt 
gerichtet;  sie  gelangen  sofort  durch  Drehung  wieder  in  die  richtige 
Orientirung.  Durch  den  eben  geschilderten  Vorgang  hat  sich  die 
Zahl  der  Glieder  in  der  Reihe  um  eines  vermindert;  die  Lücke 
muss  durch  ein  neues  neutrales  Doj^pelamer  ausgefüllt  werden,  was 
auf  zweierlei  Art  geschehen  kann.  Entweder  wandert  aus  dem  niclit- 
gereihten  intermolecularen  Schweräther  eine  Amergruppe  ein,  oder 
es  treten  aus  den  beiden  Elektricitätsquellen  je  ein  positives  und 
ein  negatives  Amer  in  die  Enden  der  Reihe  über  und  veranlassen 
in  derselben  eine  AVanderung  der  ungleichnamigen  Amere  in  ent- 
gegengesetzter Richtung,  bis  dieselben  zusammentreffend  sich  zu 
einem  Doppelamer  vereinigen. 

Die  eben  entwickelte  Hypothese  macht  die  Voraussetzung,  dass 
die  beiden  Elektricitäten  durch  die  nämlichen  Reihen  von  neutralen 
AmergrujDpen  in  entgegengesetzter  Richtung  wandern.  Es  ist  aber 
eben  so  gut  möglich  und  vielleicht  noch  wahrscheinHcher,  dass  von 
jeder  Reihe  nur  eine  Elektricität  geleitet  wird,  dass  also  in  gewissen 
Reihen  neutraler  Aethertheilchen  die  positive  Elektricität  in  der 
einen  Richtung,  in  andern  Reihen  dagegen  die  negative  Elektricität 


6.  Elektricität.  747 


in  entgegengesetzter  Richtung  strömt.  In  diesem  Fall  gestaltet  sich 
die  Leitmig  genau  so,  wie  es  bereits  für  die  einseitige  Strömung 
angedeutet  wurde  (S.  744). 


Die  Erregung  der  Elektricität,  die  Verbreitung  und  Leitung 
derselben  bietet,  wie  sich  aus  den  vorstehenden  Betrachtungen 
ergibt,  für  die  Amertheorie  keinerlei  Schwierigkeiten  dar.  Dagegen 
vermag  sie  einige  besondere  Erscheinungen  der  Elektrodynamik, 
nämlich  die  Wirkung  zweier  elektrischer  Ströme  auf  einander  und 
die  (Inductions-)  Wirkung  eines  Stromes,  dessen  Moment  sich  ver- 
ändert, auf  einen  geschlossenen  ruhenden  Leiter  noch  nicht  zu 
erklären. 

Es  ist  nun  bekanntlich  W.  Weber  gelungen,  ein  für  alle  elek- 
trischen Erscheinungen  gültiges  Grundgesetz  aufzustellen,  unter  der 
Annahme,  dass  die  Wirkung  nicht  bloss  von  der  Intensität,  Ent- 
fernung und  Richtung,  sondern  auch  von  der  Geschwindigkeit  und 
Beschleunigung  der  bewegten  elektrischen  Massen  gegen  einander 
abhänge.  Das  elektrostatische  Grundgesetz,  nach  welchem  die  V\u'- 
kung  (Anziehung  oder  Abstossung)  zweier  elektrischer  Massen  (eund  e,) 
gleich  dem  Product  derselben ,  getheilt  durch  das  Quadrat  der  Ent- 

ß  ■  6 

fernung  (r),   also  gleich  — ^  ist,  erhält  daher  von  W.  Weber  den 

Coefficienten  1  —  a  ■  v-  -\-  h  ■  //,  in  welchem  das  zweite  Glied  die  Wir- 
kung der  relativen  Geschwindigkeit  {v)  der  beiden  Elektricitäten  und 
das  dritte  Glied  die  Wirkung  ihrer  relativen  Beschleunigung  ((j) 
angibt,  während  a  und  h  Constanten  sind. 

Gegen  das  Weber' sehe  Gesetz  ist  namentlich  von  Helmholtz 
Einspruch  erhoben  worden,  welcher  zeigte,  dass  es  zu  Consequenzen 
führt,  die  dem  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  widersprechen. 
In  der  Erwiderung  legt  W.  Weber  namentlich  auch  darauf  Gewicht, 
dass  von  Molecularbewe  gungen ,  die  sich  in  unendlich  kleinen  Ent- 
fernungen vollziehen ,  kein  Schluss  auf  Bewegungen  in  endlichen 
Abständen  gemacht  werden  dürfe. 

Von  Seite  der  Amertheorie  ist  zunächst  gegen  die  letztere  Auf- 
stellung einzuwenden,  dass  es  gerade  als  die  Aufgabe  einer  rationellen 
Natm-w^ssenschaft  erscheint,  für  die  Moleculari)hysik  die  nämlichen 
Gesetze  zu  begründen  wie  für  die  Makrophysik,  indem  für  die  kleinsten 


748  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

in  die  Action  tretenden  Th eilchen  die  ihnen  zukommende  endhche 
Grösse  in  Anspruch  genommen  wird.  Der  Raum,  den  das  kleinste 
chemische  Atom  nebst  seiner  Wirkungssphcäre  einnimmt,  hat,  wie 
sich  aus  der  mechanischen  Gastheorie  und  aus  andern  Bestimmungen 
ergibt,  etwa  einen  Durclmiesser  von  1  Zehnmilliontel  Millimeter, 
und  das  Amer  nebst  seiner  Wirkungssphäre  ist  in  linearer  Aus- 
dehnung vielleicht  10000  oder  100  000  mal  kleiner.  Die  molecu- 
laren Dimensionen,  an  welche  die  Theorie  anknüpfen  muss,  haben 
.also  eine  angebbare  Grösse  und  dürfen  nicht  in  unendlich  kleine 
Werthe  verflüchtigt  werden. 

Was  ferner  das  Weber' sehe  Gesetz  als  solches  betrifft,  so 
spricht  es,  wenn  es  mehr  als  eine  empirische  Formel  sein  soll,  einen 
Grundsatz  aus,  der  nicht  nur  über  die  bisherigen  Grundsätze  der 
Mechanik  hinausgeht,  sondern  überhaupt  auch  schwer  mit  unseren 
vernunftgemässen  Forderungen  in  Einklang  zu  bringen  ist.  Die 
elementaren  Kräfte  der  Anziehung  und  Abstossung  bewirken,  was 
von  Niemandem  bestritten  werden  kann,  Bewegung  der  mit  diesen 
Kräften  begabten  Körper.  Nach  dem  Web  er 'sehen  Gesetz  soll  aber 
auch  das  Umgekehrte  stattfinden  und  Anziehung  oder  Abstossung 
durch  Bewegung  hervorgebracht  werden,  denn  dies  ist  der  eigent- 
liche Sinn  der  durch  Bewegung  verminderten  Anziehung  oder 
Abstossung.  Die  Bewegung  soll,  wenn  sie  eine  Folge  der  Anziehung 
ist,  Abstossung,  und  wenn  sie  eine  Folge  der  Abstossung  ist,  An- 
ziehung bewirken.  Lässt  man  in  der  Formel,  welche  die  Wirkung 
zweier  elektrischer  Massen  in  Bewegung  darstellt, 

die  Geschwindigkeit  wachsen,  so  wird  bei  einer  bestimmten  Grösse 
derselben  der  ganze  Ausdruck  Null,  sodass  weder  Anziehung  noch 
Abstossung  besteht,  und  l^ei  noch  grösserer  Geschwindigkeit  wird 
er  negativ,  sodass  die  zwei  Elektricitätsmassen ,  wenn  sie  in  Ruhe 
sich  anzogen,  jetzt  Abstossung,  und  wenn  sie  in  Ruhe  sich  abstiessen, 
jetzt  Anziehung  auf  einander  ausüben.  Schon  diese  allgemeine  Vor- 
stellung über  die  Wirkung  der  Bewegung  schliesst  eigentlich  eine 
Negation  des  Princips  von  der  Erhaltung  der  Kraft  in  sich. 

Sollten  demnach,  wofür  eine  hohe  Wahrscheinlichkeit  spricht, 
die  bis  jetzt  gültigen  Principien  der  Mechanik  auch  für  die  Elektricität 


6.  Elektricität.  749 

Gültigkeit  haben,  und  die  Wirksamkeit  der  letzteren  bloss  auf  den 
Lagerungsverhältnissen  der  positiven  und  negativen  Amere  in  jedem 
Zeitmoment  abhängen,  somit  von  ihrer  Bewegung  unabhängig  sein, 
so  wäre  es  die  Aufgabe  der  Amertheorie,  die  Configurationen  des 
Elektricitätsäthers ,  welche  die  verschiedenen  Wirkungen  bedingen, 
festzustellen,  —  eine  Aufgabe,  die  zwar  nicht  als  absolut  unmöglich, 
aber  zur  Zeit  wenigstens  noch  als  unausführbar  erscheint.  Es  müsste 
ferner  gezeigt  werden,  wie  die  Verschiedenheiten  dieser  Configurationen 
Functionen  der  Bewegung  und  Beschleunigung  sind,  mid  wie  somit 
auf  natürlichem  Wege  Wirkungen  erreicht  w'erden  ,  welche  mit 
den  in  der  W^eber'schen  Formel  ausgedrückten  Wirkungen  iden- 
tisch sind. 

Hierzu  ist  einmal  zu  bemerken,  dass  nach  der  Amertheorie  die 
elektrischen  Th eilchen  Amere  und  als  solche  nichts  einfaches  und 
beständiges,  sondern  zusammengesetzte  und  bis  auf  einen  gewissen 
Grad  unbeständige  Körper  sind,  die  alle  6  Elementarkräfte  (Gravi- 
tation, Aetherabstossung ,  positive  und  negative  Isagität,  positive 
und  negative  Elektricität)  enthalten ,  und  in  w^elchen  ohne  Zweifel 
ein  Tlieil  der  Kräfte  fortschrittsbeweghch  ist  und  seine  Stellung  im 
Amer  in  mannigfaltiger  W^eise  verändern  kann.  Deshalb  muss 
angenommen  werden,  dass  die  elektrische  Wirkung,  die  ein  elektri- 
sches Amer  nach  einer  bestimmten  Seite  hin  ausübt,  je  nach  seiner 
Orientirung  und  je  nach  Beeinflussung  seiner  fortschrittsbeweglichen 
Kräfte  durch  die  Umgebung,  sehr  ungleich  ausfalle;  dasselbe  gilt 
auch  für  die  elektrisch  neutralen  Paare  oder  Gruppen  von  Ameren. 
Ferner  ist  zu  berücksichtigen,  dass  die  beiden  gegenläufigen  elektri- 
schen Ströme  je  nach  Umständen  entweder  gemeinschaftlich  durch 
die  gleichen,  oder  getrennt  durch  ungleiche  Reihen  des  ponderabeln 
Aethers  verlaufen  können  und  dass  die  strömende  Elektricität  im 
allgemeinen  imr  einen  kleinen  Theil  der  in  der  Strombahn  befind- 
lichen neutralen  Elektricität  ausmacht.  Diese  beiden  Umstände  ge- 
statten sehr  ungleiche  Wirkungen  zweier  elektrischer  Elementar- 
strömchen  und  wohl  auch  zweier  Ströme  auf  einander,  von  denen 
aber  namentlich  die  letztere  sich  noch  nicht  üljcrsehen  und  beur- 
theilen  lässt. 


750  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

7.  Magnetismus. 

Nach  dem  Vorgange  Ampere 's  nimmt  die  Physik  an,  dass  die 
»Moleküle«  eines  Magneten  widerstandslos  und  daher  endlos  von 
elektrischen  Molecularströmen  umkreist  werden,  deren  Ebenen  zu 
der  Magnetachse  rechtwinklig  stehen,  sodass  der  Magnet  eigentlich 
nichts  anders  ist  als  ein  System  von  gleichgerichteten  Molecular- 
solenoiden.  In  dem  unmagnetischen  Eisen  sowie  in  den  übrigen 
magnetisirbaren  Substanzen  sind  die  Molecularsolenoide  nach  ver- 
schiedenen Seiten  gekehrt  und  geben  daher  keine  Gesammtwirkung. 
Die  Magnetisirung  besteht  darin,  dass  eine  grössere  oder  geringere 
Zahl  derselben  gerichtet  wird ;  ein  elektrischer  Strom,  der  eine  Stahl- 
nadel umkreist,  orientirt,  entsprechend  der  Wirkung,  welche  Ströme 
aufeinander  ausüben,  die  magnetischen  Moleküle  (Molecularsolenoide) 
in  der  Weise,   dass  ihre  Molecularströme  ihm  gleichlaufend  werden. 

In  den  des  Diamagnetismus  fähigen  Substanzen  ist  nach  der 
durch  W.  Weber  herrschend  gewordenen  Annahme  die  neutrale 
Elektricität  um  die  Moleküle  in  Ruhe;  sie  kann  aber  durch  indu- 
cirende  Ursachen  in  Rotation  versetzt  werden.  Da  jedoch  die 
Bahnen  dieser  Ströme  nicht  drehbar  sind,  so  bleibt  ihre  Richtung 
dem  inducirenden  Strom  entgegengesetzt.  Die  diamagnetischen  Mole- 
cularströme verlaufen  ebenfalls  widerstandslos  und  dauern  daher  so 
lange,  bis  sie  durch  eine  entgegengesetzt  inducirende  Bewegung, 
wohin  die  Entfernung  der  inducirenden  Ursache  gehört,  wieder  auf- 
gehoben werden. 

Nachdem  ich  die  Theorie  des  Magnetismus  und  Diamagnetismus 
kurz  formulirt  habe,  will  ich  nun  versuchen,  dieselbe  mit  den  im 
Vorstehenden  entwickelten  Vorstellungen  in  Verbindung  zu  bringen. 
Wenn  man  bis  jetzt  von  »magnetischen  Molekülen«  und  von  die- 
selben umkreisenden  Molecularströmen  gesprochen  hat,  so  hatte  man 
nicht  gerade  die  aus  Atomen  zusammengesetzten  Moleküle  der  Chemie, 
sondern  überhaupt  kleinste,  weiter  nicht  bestimmte  Theilchen  im  Auge. 
Die  Amertheorie  zwingt  uns  zu  bestimmten  Annahmen,  und  sie  ver- 
mag auch  die  Erscheinungen  in  genügender  Weise  zu  erklären,  wenn 
wir  als  die  »magnetischen  Moleküle«  die  Atomkörper  in  Anspruch 
nehmen. 

Die  Atomkörper  sind,  wie  ich  früher  zeigte,  von  einer  Hülle 
von  ponderabelm  Aether  umgeben,  deren  Dichtigkeit  von  innen  nach 
aussen    abnimmt,    während    die    Beweglichkeit    ihrer    Theilchen  in 


7.  Magnetismus.  751 

gleicher  Richtung  zunimmt.  Die  Aethertheilchen  der  Hülle  liegen 
also  in  concentrischen  Schichten  und  haben  in  jeder  Schicht  miter 
sich  gleiche  Abstände  und  gleiche  Bewegungszustände.  Ihre  Bewe- 
gungen werden  durch  die  Stösse  der  umgebenden  Aethertheilchen 
und  durch  die  wirksamen  Anziehungs-  und  Abstossungskräfte  ge- 
regelt, und  sind  theils  schwingende  theils  fortschreitende  Bewegungen. 
Unter  den  letztern  muss  es  sowohl  solche  geben,  bei  denen  die  Theil- 
chen  grössere  Strecken  durchlaufen,  als  solche,  bei  denen  ein  Theilchen 
an  das  nächstliegende  anstösst  und  dasselbe  aus  seiner  Stellung  ver- 
drängt, worauf  dieses  das  folgende  verdrängt  u.  s.  w.  Findet  die 
fortschreitende  Bewegung  der  einen  oder  andern  Art  in  einer  zm' 
Oberfläche  des  Atomkörpers  tangentialen  Richtung  statt,  so  lässt  sich 
leicht  denken,  dass  sie  unter  günstigen  Umständen  in  der  nämlichen 
concentrischen  Schicht  von  Aethertheilchen  rings  um  das  Atom  sich 
fortsetze. 

Solche  günstige  Umstände  sind  nun  allerdings  vorhanden.  Wie 
ich  schon  früher  angedeutet  habe  (S.  740),  müssen  die  Atomkörper 
der  verschiedenen  chemischen  Elemente,  da  dieselben  einen  bestimm- 
ten elektrischen  Charakter  besitzen,  einigermaassen  vertheilend  auf 
die  neutralen  Amergruppen  ihrer  Aetherhüllen  einwirken.  Von  den 
aus  der  Zerlegung  hervorgehenden  Ameren  werden  die  mit  dem 
Atomkörper  ungleichnamigen  festgehalten,  die  gleichnamigen  ent- 
fernt. Es  befinden  sich  also  namentlich  in  den  innern  Schichten 
der  AetherhüUe  neben  den  neutralen  Amergruppen  auch  elektrische 
Amere.  Die  fortschreitende  Bewegung  der  Aethertheilchen  muss 
hier  leicht  den  Charakter  von  elektrischen  Strömchen  annehmen, 
indem  die  (unter  sich  gleichnamigen)  elektrischen  Amere,  wegen  der 
gegenseitigen  Abstossung,  sich  in  der  gleichen  Richtung  bewegen; 
und  diese  Strömchen  behalten,  da  die  elektrischen  Amere  von  dem 
Atomkörper  angezogen  werden,  ihre  tangentiale  Richtung  und  kehren 
kreisförmig  in  sich  zurück.  Ein  elektrisches  Amer  bewegt  sich  dem- 
nach in  analoger  Weise  mn  den  Atomkörper  wie  ein  Planet  um  die 
Sonne.  Kreisen  mehrere  oder  viele  solcher  Elementarströmchen 
in  der  nämlichen  Richtung  um  einen  Atomkörper,  so  bilden  sie 
zusammen  einen  von  der  physikahschen  Theorie  vorausgesetzten 
»Molecularstrom«  oder  richtiger  einen  Atomalstrom. 

In  dem  magnetisch  werdenden  Eisen  richten  sich  die  »Molecular- 
magnete«  in  übereinstimmender  Weise.    Dies  kann  entweder  dadurch 


752  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

geschehen,  dass  die  »Moleküle«  sammt  den  sie  unikreisenden  Strömen 
ihre  Richtung  verändern,  oder  dadurch,  dass  bei  gleichbleibender 
Stellung  der  »Moleküle«  die  Ströme  allein  anders  orientirt  werden. 
Wenn  nach  der  entwickelten  Ansicht  die  chemischen  Atome  selber 
die  dem  Magnetismus  zu  Grunde  liegenden  magnetischen  »Moleküle« 
darstellen,  so  kann  man  nicht  wohl  annehmen,  dass  dieselben  in 
einem  festen  Körper,  wie  es  das  Eisen  ist,  ihre  Richtungen  soweit 
verändern,    als  es  beim  Magnetisch  werden  geschehen  müsste.     Man 

wird  eher  geneigt  sein  zu  vermuthen,  dass 
die  Stromebene  allein  sich  drehe.  Dies  könnte 
einmal  in  der  Weise  erfolgen ,  dass  die 
ganze  Schale,  die  aus  den  in  Strömung  be- 
griffenen concentrischen  Schichten  der  Hülle 
besteht ,  eine  Drehung  ausführt.  Wahr- 
scheinlicher aber  geschieht  es  so,  dass  die 
einzelnen  Aethertheilchen  ihre  Bewegungs- 
Fig.  30.  richtung  ändern  und  dass  somit  die  Elementar- 

strömchen  nachher  durch  andere  Reihen  von 
Theilchen  verlaufen  als  vorher,  wie  in  Fig.  30,  wo  eine  Anord- 
nung von  Aethertheilchen  dargestellt  und  die  Strömungsrichtung 
g  —  g  in  diejenige  h  —  h  übergegangen  ist. 

Im  gewöhnlichen  Zustande  kreisen  vielleicht  keine  eigentlichen 
»Molecularströme«  um  die  Atome,  sondern  nur  Elementarströmchen 
in  geringerer  oder  grösserer  Zahl  je  nach  der  chemischen  und  physi- 
kalischen Beschaffenheit  der  Substanz.  Und  diese  Elementarström- 
chen haben  dann  einen  sehr  ungleichen  Charakter,  ungleiche 
Geschwindigkeit,  ungleiche  Richtung  und  ungleiche  Dauer.  Gleich- 
gerichtete Elementarströmchen  in  grösserer  Zahl,  sodass  sie  zusanmien 
einen  eigentlichen  »Molecularstrom«  bilden,  entstehen  in  diesem 
Fall  erst  unter  dem  Einfluss  einer  magnetisirenden  Ursache  durch 
Induction.  Dieselben  haben  im  jMoment  ihres  Entstehens  eine  dem 
indueirenden  Strom  entgegengesetzte  Richtung,  werden  aber,  inso- 
fern sie  beweglich  sind,  durch  denselben  alsbald  homodrom  gerichtet. 
Die  Wirkung,  die  eine  magnetisirende  Ursache  auszuüben  ver- 
mag, hängt  ab  von  der  Fähigkeit  der  Aetherhüllen ,  »Molecular- 
ströme« entstehen,  und  von  der  Fähigkeit,  dieselben  orientiren  zu 
lassen.  Beide  Fähigkeiten  sind  sehr  ungleich  je  nach  den  ver- 
schiedenen  Atomen   und   je   nach    den   verschiedenen  Regionen   in 


7.  Magnetismus.  753 

der  Aetherhülle  des  nämlichen  Atoms.  Eine  stärkere  Ursache  ver- 
mag »MoleeiilarströmeK  zu  induciren  oder  solche  durch  Drehung 
zu  Orientiren,  wo  die  schwächere  Ursache  noch  nichts  ausrichtet. 
Für  jedes  Atom  gibt  es  eine  bestimmte  Stellung  zu  dem  Inductions- 
strom,  in  welcher  am  leichtesten  sich  ein  »Molecularstrom«  bildet, 
und  bestimmte  Zonen ,  innerhalb  welcher  am  leichtesten  eine  Ver- 
schiebung der  Stromebene  erfolgt.  Es  wird  daher  wegen  der  ver- 
schiedenartigen Orientirung  der  Atome  eines  Körpers  häufig  vor- 
konunen,  dass  die  einen  »Molecularströme«  ihre  ursprüngliche,  dem 
inducirenden  Strom  antidrome  Richtung  behalten,  andere  sich  ihm 
vollständig  homodrom  stellen,  und  noch  andere  in  mittleren  Stellungen 
verharren. 

Der  magnetische  oder  diamagnetische  Charakter  einer  Substanz 
hängt  ab  von  der  Differenz  zwischen  der  Zahl  und  der  Stärke  der 
homodromen  und  antidromen  /Molecularströme«  und  von  der  Resul- 
tirenden,  die  sich  aus  allen  andern  »Molecularströmen«  ergibt.  Das 
Eisen  zeichnet  sich  dadurch  aus,  dass  sich  in  demselben  eine  grosse 
Zahl  von  »Molecularströmen«  bildet,  und  dass  dieselben  leicht  ge- 
richtet werden.  Im  Wismuth  entstehen  weniger  »Molecularströme«, 
und  unter  ihnen  behaupten  diejenigen,  die  ihre  antidrome  Richtung 
behalten ,  ein  grösseres  Uebergewicht  als  in  irgend  einer  andern 
Substanz.  —  Es  gibt  gewisse  Körper,  die  bei  schwacher  Induction 
magnetisch,  bei  stärkerer  aber  diamagnetisch  sind;  so  stellt  sich  ein 
schwach  eisenhaltiges  Kohlenstäbchen  zwischen  schwachen  Magnet- 
polen axial,  zwischen  starken  dagegen  äquatorial.  Bei  schwächerer 
Einwirkung  entscheiden  diejenigen  Partien  der  Aetherhüllen,  welche 
von  den  Atomkräften  weniger  festgehalten  werden  und  somit  sich 
leichter  induciren  und  orientiren  lassen;  bei  starker  Einwirkung 
erlangen  die  festeren  Partien  des  Aethers  das  Uebergewicht,  in 
denen  unter  den  obwaltenden  Umständen  wohl  noch  »Molecular- 
ströme« erzeugt,  aber  nicht  gerichtet  werden  können.  Aus  dem 
gleichen  Grunde  nehmen  Körper  in  derjenigen  Richtung,  in  der  sie 
zusammengepresst  werden,  in  der  sie  somit  dichter  sind  und  wenigen 
bewegliche  Aetherhüllen  haben,  stärkere  diamagnetische  Eigenschaf- 
ten an.  —  Dass  an  den  Aetherhüllen  der  Atome  bestimmte  Zonen 
bevorzugt  sind  und  sich  anders  verhalten  als  die  übrigen,  zeigt 
sich  deutlich  aus  dem  Verhalten  der  Krystalle,  indem  in  einachsigen 
Krystallen    die    Magnetkrystallachse    mit    der    krystallographisclier 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  48 


754  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecnlaren  Gebiet. 

Hauptachse  zusammenfällt  und  sich  zwischen  den  Magnetpolen  ent- 
weder axial  oder  äquatorial  stellt,  und  indem  ferner  in  Krystallen 
mit  zwei  optischen  Achsen  auch  zwei  feststehende  magnetische 
Achsen  vorhanden  sind,  die  eine  bestimmte  Lage  zu  den  ersteren 
haben. 

Die  Moleküle  der  Flüssigkeiten  und  Gase  sind  drehbar;  man 
könnte  daher  erw-arten,  dass  sie,  wenn  auch  ihre  Molecularströme 
nicht  drehbar  sind,  doch  durch  das  Bestreben  der  letzteren,  sich  mit 
dem  inducirenden  Strome  homodrom  zu  stellen,  gedreht  würden  und 
sich  demnach  sämmtlich  als  magnetisch  erweisen  sollten.  Was  die 
Gase  betrifft,  so  tritt  fast  constant  das  Gegentheil  ein,  indem  sich  alle 
mit  Ausnahme  des  Sauerstoffs,  in  der  Luft  diamagnetisch  verhalten. 
Der  Diamagnetismus  erklärt  sich  wohl  daraus,  dass  die  Gase  wäh- 
rend der  Beobachtung  in  doppelter  Bewegung  begriffen  sind.  Einmal 
strömt  die  Gasmasse  zwischen  den  Magnetpolen  durch,  und  ferner 
hat  jedes  Gasmolekül  die  ihm  bei  der  bestimmten  Temperatur  zu- 
kommende fortschreitende  und  drehende  Bewegung.  Die  Orientirung 
des  einzelnen  Gasmoleküls  zu  den  Magnetpolen  ändert  sich  daher 
fortwährend.  Die  kurze  Zeit,  während  der  diese  Pole  auf  eine  be- 
stimmte Orientirung  einwirken,  reicht  wohl  aus,  um  einen  Molecular- 
strom  ^)  zu  induciren ,  welcher  sofort  abstossend  und  diamagnetisch 
wirkt.  Aber  ehe  dieser  Molecularstrom  homodrom  gerichtet  werden 
kann,  ist  das  Molekül  durch  seine  drehende  Bewegung  in  eine  andere 
Orientirung  gegenüber  den  Magnetpolen  gekommen  und  es  erfolgt 
eine  neue  Induction  und  damit  wieder  Abstossung.  Dies  gilt  für 
den  Fall,  dass  die  Molecularströme  in  den  Aetherhüllen  verschiebbar 
sind.  Sind  sie  nicht  selber  drehbar,  so  würden  sie  wohl  das  Molekül 
in  die  homodrome  (magnetische)  Stellung  bringen ,  wenn  dessen 
eigenes  Drehungsmoment  Null  wäre  und  wenn  sie  lange  genug  ein- 
wirken könnten.  Aber  ihre  Kraft  ist  viel  zu  gering,  um  während 
der  kurzen  Zeit  etwas  gegen  die  vorhandene  Drehung  des  Moleküls 
ausrichten  zu  können. 

Die  Moleküle  der  Flüssigkeiten  besitzen  ebenfalls  fortschreitende 
und  drehende  Bewegungen.  Da  aber  diese  Bewegungen  viel  lang- 
samer sind  als  bei  den  Gasen ,    so   wird   auch   iln*  Einfluss  auf  das 


•)  Unter  Molecularstrom  des  Moleküls  ist  hier  die  Summe  der  Ströme  seiner 
Atome  zu  verstehen. 


8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung  der  Atome.  755 

magnetische  Verhalten  der  Substanzen  ein  weniger  entscheidendes 
sein.  Das  Wasser  und  viele  andere  Flüssigkeiten  sind  diamagnetisch, 
ein  Beweis,  dass  ihre  Meleküle  nicht  lange  genug  in  der  nämlichen 
Orientirung  verharren,  um  zu  gestatten,  dass  die  durch  Induction 
hervorgebrachten  antidromen  (diamagnetischen)  Molecularströme  auch 
noch  in  die  homodrome  (magnetische)  Lage  gedreht  werden,  oder 
dass  sie  eine  solche  Drehung  des  ganzen  Moleküls  verursachen 
können.  Dagegen  zeigen  sich  die  Lösungen  von  Substanzen,  die 
des  Magnetismus  fähig  sind,  namentlich  von  Eisensalzen,  magnetisch, 
wenn  sie  eine  bestimmte  Concentration  überschritten  haben.  Be- 
züglich dieser  löslichen  Substanzen  ist  anzunehmen,  dass  in  kurzer 
Zeit  Molecularströme  inducirt  und  orientirt  w^erden,  wozu  besonders 
die  Eisenatome  geeignet  sind. 

In  den  eben  gemachten  Erörterungen  bin  ich  der  Annahme 
gefolgt,  dass  im  gewöhnlichen  Zustande  keine  eigentlichen  /Molecular- 
ströme« um  die  Atome  kreisen,  sondern  dass  dieselben  erst  dann 
in  einem  Körper  entstehen,  wenn  strömende  Elektricität,  die  sich  in 
der  Nähe  befindet,  auf  ihn  einwirkt.  Indessen  ist  es  ebensowohl 
möglich ,  dass  die  genannten  Atomalströme  in  allen  Körpern  vor- 
handen ,  aber  im  gewöhnlichen  Zustande  nach  verschiedenen  Rich- 
tungen orientirt  sind,  so  dass  sie  keine  gemeinsame  Wirkung  ergeben. 
In  diesem  Falle  hat  die  äussere  Ursache  bloss  die  Atomalströme  zu 
richten,  und  da  die  Richtungsfähigkeit  in  sehr  ungleichem  Maasse 
bei  den  verschiedenen  Atomen  vorhanden  ist,  so  tritt  bald  nur  die 
erste  Wirkung  ein,  indem  sie  in  die  dem  inducirenden  Strom  gegen- 
läufige Richtung  gedreht  werden  (Diamagnetismus),  bald  auch  noch 
die  zweite  Wirkung,  indem  sie  nachträglich  sich  umkehren  und 
jenem  Strom  gleichläufig  werden  (Magnetismus). 


8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung  der  Atome. 

Da  die  chemischen  Atome  keine  ausdehnungslosen  Kraftpunkte 
sondern  vielfach  zusammengesetzte  Körperchen  sind,  so  ergibt  sich 
die  Frage,  welche  Vorstellung  wir  uns  bezüglich  ihrer  Grösse  und 
Zusammensetzung  zu  machen  haben.  Die  Grösse  kann  in  zweifacher 
Hinsicht  Gegenstand  der  Untersuchung  sein ;  es  fragt  sich  nämlich, 
welches  Verhältniss    zwischen   dem  Volumen  des  Atomkörpers  und 

48* 


7o6  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

dem  mit  Aether  gefüllten  Raum ,  der  einem  Atom  in  den  festen 
Körpern  zukommt,  und  ferner,  welches  Grössenverhältniss  zwischen 
den  Atomkörpern   der  verschiedenen   chemischen  Elemente  bestehe. 

Ich  will  zuerst  auf  die  letztere  Frage  eintreten.  Man  wird  von 
vornherein  geneigt  sein,  den  Atomen  der  verschiedenen  Elemente, 
da  sie  die  kleinsten  empirisch  untheilbaren  und  mit  einander  sich 
verbindenden  Theilchen  des  ponderabeln  Stoffes  sind,  da  sie  uns  somit 
als  Dinge  von  gleicher  Bedeutung  entgegentreten,  auch  eine  un- 
gefähr gleiche  Grösse  zuzuschreiben.  Dem  scheint  zwar  ihr  un- 
gleiches Gewicht  entgegenzustehen,  welches  bis  auf  den  2 10  fachen 
Betrag  des  -Gewichtes  vom  Wasserstoff  sich  abstuft  und  wohl  als 
eine  ihrer  auffallendsten  Eigenthümlichkeiten  bezeichnet  werden  kann. 
Dieses  ungleiche  Atomgewicht  veranlasste  auch  die  Vermuthung, 
dass  der  Wasserstoff  das  Urelement  und  dass  die  übrigen  Elemente 
aus  demselben  zusammengesetzt  seien.  Wäre  dies  richtig  und  würde 
überhaupt  das  Volumen  der  Atomkörper  vom  Gewichte  abhängen, 
so  müsste  freilich  ihre  Grösse  sehr  verschieden  sein.  Wir  dürfen 
aber  das  Atomgewicht,  wenn  es  sich  um  moleculare  Dinge  handelt, 
in  keiner  Weise  als  maassgebend  betrachten ;  dasselbe  geht  mit  keiner 
physicali sehen  oder  chemischen  Eigenschaft  parallel  und  kann  auch 
für  die  Vorstellung  von  der  Grösse  der  Atome  von  keiner  oder  nur 
von  ganz  untergeordneter  Bedeutung  sein. 

Im  Sinne  der  gewöhnlichen  Mechanik,  welche  die  Masse  nach 
dem  Gewicht  bestimmt,  hat  allerdings  das  Quecksilberatom  200  mal 
mehr  Masse  als  das  Wasserstoffatom.  Ich  habe  aber  bereits  darauf 
hingewiesen,  dass  in  den  molecularen  Gebieten  es  nicht  auf  diese 
Masse,  sondern  auf  die  Zahl  und  Grösse  der  Amere  ankommt,  was 
ich  zum  Unterschied  von  der  gewöhnlichen  Masse  als  Gehalt  be- 
zeichnete (S.  737).  Es  wäre  leicht  möglich,  dass  das  Wasserstoff- 
atom aus  einer  grössern  Zahl  von  Ameren  zusammengesetzt  wäre 
als  das  Quecksilberatom,  wenn  gleiche  Grösse  der  Amere  voraus- 
gesetzt wird,  und  dass  es  demnach  ein  grösseres  Volumen  besässe 
als  letzteres. 

Das  Atomgewicht  gibt  uns  nur  Auskunft  über  die  Differenz 
der  Anziehung  und  Abstossung,  welche  zwischen  der  Erde  und  den 
Atomen  der  chemischen  Elemente  wirksam  sind.  Das  Quecksilber- 
atom wird  von  der  Erde  mit  200  mal  so  grosser  Kraft  angezogen 
als  das  Wasserstoff atom.     Hiebei  kommt  die  in  beiden  Atomen  ent- 


8.  Grösse,  Gestalt  uml  Zusammensetzung  der  Atome.  757 

haltene  Elektricität  gar  nicht  in  Betracht,  da  die  Erde  elektrisch 
neutral  ist.  Ebenso  hat  der  Ueberschuss  der  einen  Isagität  über 
die  andere,  wie  er  in  den  Atomen  des  einen  und  andern  Elements 
vorhanden  ist,  keine  Bedeutung,  da  die  Erde  beide  Isagitäten  in 
ziemlich  gleicher  Menge  enthalten  muss.  Als  wirksam  bleiben  somit 
nur  die  Gravitationsanziehung  und  die  Aetherabstossung  übrig,  von 
denen  sowohl  jedes  der  beiden  Atome  als  die  Erde  bestimmte  Mengen 
enthält,  wie  ich  dies  in  dem  Abschnitt  über  Agglomeration  und 
Dispersion  auseinandergesetzt  habe. 

Es  darf  aber  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden,  dass  die  Schwere 
uns  stets  bloss  die  Differenz  zwischen  Anziehung  und  Abstossung 
anzeigt  und  gar  keinen  Aufschluss  über  die  Mengen  der  einzelnen 
Kräfte  gibt  (S.  71 7  ff.).  Das  Quecksilberatom  enthält  nicht  etwa  200  mal 
mehr  Gravitationsanziehungseinheiten  als  das  Wasserstoffatom.  In 
dem  letzteren  können  verhältnissmässig  mehr  oder  weniger  davon 
vorhanden  sein.  Wenn  Ä  die  Summe  aller  Gravitationskräfte  der 
Erde,  JB  die  Summe  ihrer  Aetherabstossungskräfte,  Ä^  die  Summe 
der  Gravitationskräfte  eines  bestimmten  chemischen  Atoms  und  i'i 
die  Summe  seiner  Aetherabstossungskräfte,  m  die  Masse  oder  das 
Gewicht  der  Erde,  m^  die  Masse  oder  das  Gewicht  eines  Atoms  be- 
deutet, so  haben  wir  die  Gleichungen: 

AAi  —  BBi  =  mnii , 

und  wenn  wir  B  =  uÄ  und  B^  =  tiiÄ^  setzen, 

Ä  {Ä^  —  nBi)  =  7)1  Ml  oder  ÄÄi{i  —  ww,)  =  mtrh. 

Diese  Gleichungen  zeigen  uns,  wie  das  verschiedene  Atomgewicht 
zu  Stande  kommt.  Ä,  B  und  n  sind  für  alle  Elemente  constante 
Gtrössen,  dagegen  wechseln,  wie  man  nach  den  fi'üher  angegebenen 
Gründen  annehmen  muss,  Ä^  und  B^  oder,  was  dasselbe  ist,  Ai  und  n^. 
Ist  Wi  (das  Verhältniss  zwischen  Ai  und  5,)  constant,  so  steigt  das 
Atomgewicht  mit  der  Zunahme  von  A^.  Ist  Ai  constant,  so  steigt 
das  Atomgewicht  mit  der  Abnahme  von  n^,  d.  h.  mit  der  Abnahme 
von  Bi. 

Das  grössere  Atomgewicht  zeigt  also  nicht  noth wendig  einen 
grösseren  Betrag  der  Gravitationskräfte  an;  es  kann  eben  so  gut 
die  Folge  einer  kleineren  Summe  von  Aetherabstossungskräften  sein. 
Man    kann    sich  dies   leicht  durch    Beispiele    klar    machen.      Drei 


758  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

verschiedene  Atome  I,  II,  III  haben  die  Kraftsiimmen  Ä^  und  B^,  A. 
und  Bi,  A-i  und  B^  und  die  Atomgewichte  nu-,  nu  und  nh.  Es  sei 
nun  für  die  Erde  A  =  1000000000001  Q,  B  =  1000000000000  Q, 
ferner : 

I.  A,  =  1,001  r/,     5,  =  1,000 g,     so  ist  mm,  =     1000000001    Qq 

IL  A  =  0,1001  g,  B,  =  0,1000g,  mm,  =       1000000001  ^g 

III.  A,  =  1,001  g,     B,  =  0,991g,  mm,  =  10000000001   Qq 

Es  ist  also  das  Atomgewicht  von  II  10  mal  kleiner  als  dasjenige 

Ai  A. 

von  I,    weil   A,   bei    gleichem   Verhältniss  von  ~  und  ~    10  mal 

-Dl  B2 

grösser  ist  als  /I2,  und  das  Atomgewicht  von  A,^  ist  10  mal  grösser 
als  dasjenige  von  Ai  weil  bei  gleichem  Betrag  von  A,  und  A,, 
Bi  kleiner  ist  als  B^,^). 

Wenn  man  auch  die  Meinung  hegen  sollte,  dass  eine  grössere 
Kraftsumme  auf  ein  grösseres  Volumen  des  Atoms  hinweise,  so 
kann  jedenfalls  das  Atomgewicht  keinen  Aufschluss  darüber  geben. 
Denn  die  Schwerkraft,  welche  das  Atomgewicht  bedingt,  ist  ja  gegen- 
über den  Elementarkräften,  die  an  dem  Atom  haften,  winzig  klein, 
wie  uns  die  Elasticität,  die  chemische  Anziehung  und  alle  molecularen 
Erscheinungen  beweisen,  und  wie  ich  dies  in  dem  Abschnitt  über 
die  Schwerkraft  für  die  elektrische  Anziehung  (S.  723)  und  für  die 
Cohäsion  (S.  726)  ziifermässig  darzuthun  suchte.  Das  Wasserstoff- 
atom  übt  demnach  auch  bei  manchen  Vorgängen  eine  viel  grössere 
Wirkung  aus  als  das  200  mal  schwerere  Quecksilberatom. 

Sollte  eine  Beziehung  zwischen  der  Intensität  der  wirksamen 
Kräfte  und  der  Atomgrösse  bestehen,  so  müsste  viel  eher  aus  der 
Adhäsion  und  der  chemischen  Anziehung  etwas  zu  folgern  sein, 
als  aus  der  Schwere.  Aber  die  Wirkung  sagt  überhaupt  nichts 
bestimmtes  aus  über  die  Menge  der  Amere  in  den  Atomen  und 
somit  über  das  Volumen  der  letzteren,  da  ja  in  einer  kleineren  Zahl 
von  Araeren  eben  so  grosse  Ueberschüsse  der  drei  Kraftpaare  ent- 
halten sein  können  als  in  einer  viel  beträchtlicheren  Zahl  und  da 
die   Kraftwirkung   nicht   bloss   von    diesen   Ueberschüssen,   sondern 


^)  Diese  Beispiele  sollen  bloss  in  rechnerisclier  Beziehung  zeigen,  wie  sich 
die  Dominantenkräfte  und  die  Atomgewichte  zu  einander  verhalten  können.  Der 
Einfachheit  wegen  wurden  nicht  die  Verhältnisse,  wie  sie  in  Wirklichkeit  be- 
stehen müssen,  sondern  willkürliche  und  unnatürliche  Verhältnisse  gewählt. 


8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung  der  Atome.  759 

SO  weit  es  sich  iiin  kleinste  Entfernungen  liandelt,  eben  so  sehr 
von  der  Vertheihmg  der  Elementarkräfte  im  Atom  aljhängt.  —  Für 
die  Beurtheilung  der  Grösse  der  Atome  bei  den  verschiedenen  che- 
mischen Elementen  müssen  also  andere  Gesichtspunkte  massgebend 
sein  und  zwar  kommt  es  dabei,  wie  ich  in  der  Folge  zeigen  werde, 
vorzugsweise  auf  die  ^^orstellung  an,  welche  wir  über  Gestalt  und 
Zusammensetzung  der  Atome  gewinnen. 


Was  ferner  die  Frage  betrifft,  wie  sich  das  Volumen  des  Atom- 
körpers zu  dem  Raum  verhalte,  den  ein  Atom  mit  dem  zugehörigen 
Aether  in  einem  festen  oder  flüssigen  Körper  einnimmt,  so  ist  wohl 
schon  die  Meinung  ausgesprochen  worden,  dass  die  Atome  winzig 
klein  seien  und  sich  in  einem  Körper  gleichsam  wie  die  Himmels- 
körper im  Weltenraum  befänden.  Es  gibt  verschiedene  Gründe, 
welche  uns  die  Unhaltbarkeit  einer  solchen  Annahme  darthun,  und 
uns  zeigen,  dass  die  Atomkörper  einen  ganz  beträchtlichen  Theil 
des  Raumes  einnehmen.  Ehe  ich  auf  diese  Gründe  eintrete,  ist  es 
zweckmässig,  zuerst  das  Grössenverhältniss  zwischen  Atom  und 
Molekül  festzustellen. 

Man  könnte,  da  das  Molekül  in  den  flüssigen,  besonders  aber 
in  den  gasförmigen  Substanzen  so  deutlich  in  seiner  Einheit  hervor- 
tritt, vielleicht  sich  vorzustellen  geneigt  sein,  dass  die  Atome  in 
seiner  Mitte  zusammengedrängt  seien,  sodass  in  festen  Körpern  die 
Zwischenräume  zwischen  den  Atomen  eines  Moleküls  viel  kleiner 
wären,  als  der  Abstand  zwischen  den  einander  zugekehrten  Atomen 
zweier  benachbarter  Moleküle.  Dass  aber  diese  beiden  Abstände 
nicht  sehr  ungleich  sein  können,  geht  mit  vollkommener  Sicherheit 
aus  den  Thatsachen  hervor,  dass  die  Moleküle  vieler  chemischer 
Substanzen  sich  schwerer  trennen  lassen  als  die  Atome  anderer 
Moleküle,  und  dass  selbst  in  dem  nämlichen  chemischen  Element 
die  Trennung  der  Moleküle  zuweilen  eine  fast  eben  so  grosse  Kraft 
erfordert  als  die  Trennung  der  Atome.  Diese  Thatsachen  sind  ent- 
scheidend ,  weil  in  dem  Zustande  der  A^ereinigung  Gleichgewicht 
zwischen  den  anziehenden  und  den  durch  Elasticität  abstossenden 
Kräften  besteht  und  es  daher  zur  Störung  des  Gleichgewichtes  einer 
um  so  grösseren  Kraft  bedarf,  je  kleiner  der  Abstand  ist  und  weil 


760  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

offenbar  die  Kräfte,  welche  die  Atome  eines  chemischen  Elementes 
zu  Molekülen  verbinden,  analoger  Natur  sind,  wie  diejenigen,  welche 
diese  Moleküle  gegenseitig  zusammenhalten.  In  manchen  festen 
Körpern  sind  die  Moleküle  selbst  so  wenig  hervortretende  Gruppen, 
dass  deren  Existenz  durch  keine  Erscheinung  sich  kund  gibt,  sondern 
bloss  aus  der  Analogie  vermuthet  und  nach  verschiedenen  Voraus- 
setzungen auch  verschieden  angenommen  wird.  Man  kann  daher 
ohne  merklichen  Fehler  in  der  vorliegenden  Frage  die  festen  Körper 
als  unmittelbar  aus  den  Atomen  zusammengesetzt  ansehen. 

Nach  Feststellung  dieses  Umstandes  will  ich  als  ersten  Grund 
für  die  relativ  beträchtliche  Grösse  der  Atomkörper  die  Festigkeit 
anführen.  In  den  festen  Körpern  sind  die  Atome  nicht  gegen 
einander  verschiebbar,  weil  sie  an  bestimmten  Stellen  durch  stärkere 
Attraction  verbunden  sind.  Wir  müssen  uns  in  dieser  Beziehung 
das  Atom  als  dynamisch-eckig  vorstellen,  wenn  es  auch  seinen  Dimen- 
sionen nach  kugelig  sein  sollte,  denn  jene  stärkeren  Attractions- 
stellen  würden  gleichsam  dynamische  Vorsprünge  bilden.  Es  ist 
aber  kein  Grund  vorhanden,  warum  wir  die  Gestalt  nicht,  den  wirk- 
samen Kräften  entsprechend ,  wirklich  als  polyedrisch  und  eckig 
betrachten  sollten;  dadurch  werden  die  Erscheinungen,  welche  uns 
die  Festigkeit  darbietet,  viel  verständlicher.  —  Nun  wird  noth wendig 
die  Festigkeit  um  so  geringer,  je  grösser  die  Abstände  der  Atome 
sind,  da  die  Anziehung  im  umgekehrten  Verhältniss  des  Quadrats 
der  Entfernung  wirkt.  Wäre  der  Abstand  der  Atome  sehr  beträchtlich, 
so  müssten  die  festen  Körper  sich  wie  Gase  oder  Flüssigkeiten  ver- 
halten; denn  die  Ungleichheit  der  Anziehung  ihrer  verschiedenen 
Seiten  und  Ecken  würde  selbst  bei  günstigster  Gestalt  verschwinden. 
Im  Stickstoffgas  ist  nach  der  mechanischen  Gastheorie  der  durch- 
schnittliche Abstand  der  Moleküle  nur  etwas  mehr  wie  14  mal  so 
gross  als  der  Moleküldurchmesser  und  nur  etwas  mehr  wie  7  mal 
so  gross  als  der  Durchmesser  der  Cl au sius'schen  Wirkungssphäre, 
welche  als  eine  Hülle  betrachtet  wird,  in  welche  ein  anderes  Molekül 
nicht  einzudringen  vermag.  Ferner  wird  eine  Gasmasse,  die  sich 
unter  dem  Druck  einer  Atmosphäre  befindet,  durch  den  Druck  einer 
zweiten  Atmosphäre  auf  die  Hälfte  des  Volmiiens  zusammengepresst, 
während  eine  Wassermasse  durch  den  nämlichen  Druck  ihr  Volumen 
bloss  um  48  Millionstel  vermindert,  und  feste  Körper  im  allgemeinen 
noch   weniger   zusammendrückbar    sind.      Daraus    ergibt    sich    un- 


8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung  der  Atome.  761 

zweifelhaft,  dass  in  festen  und  flüssigen  Substanzen  der  Durch- 
messer der  Atomkörper  jedenfalls  einen  sehr  beträchtlichen  Theil 
des  Durchmessers  der  Atomvolumen  ausmacht. 

Ein  zweiter  Grund  für  die  Annahme  einer  relativ  beträchtlichen 
Grösse  der  Atomkörper  in  festen  und  flüssigen  Substanzen  ergibt 
sich  aus  der  Fortpflanzung  der  Wärme  und  des  Lichtes.  Wären 
die  Atome  weit  von  einander  entfernt,  so  müssten  alle  Substanzen 
diatherman  und  durchsichtig  sein,  weil  sie  dann  die  Aetherwellen 
ungehindert  durchgehen  liessen.  Das  Vorhandensein  von  dunkeln 
und  adiathermanen  Substanzen  beweist  uns,  dass  die  Atomkörper 
mit  ihren  Aetherhüllen  einen  sehr  grossen  Theil  des  Raumes  erfüllen 
und  somit  den  Licht-  und  Wärmestrahlen  leicht  den  AVeg  versperren. 

Einen  dritten  Grund  finden  wir  in  der  Leitung  der  Elektricität. 
Wenn  die  Theorie,  die  ich  in  dieser  Beziehung  ausgesprochen  habe, 
richtig  ist,  so  müssen  in  den  guten  Leitern  die  Aetherhüllen  der 
Atome  in  unmittelbarer  Verbindung  sein,  also  sich  stellenweise  be- 
rühren. Dies  ist  nur  bei  einer  relativ  beträchtlichen  Grösse  der 
Atomkörper  möglich. 

Der  vierte  und  nicht  geringste  Grund  besteht  endlich  in  den 
besonderen  Erscheinungen  der  chemischen  Anziehung,  worüber  ich 
auf  den  folgenden  Abschnitt  verweise. 

Wenn  mr  alle  Umstände  berücksichtigen,  so  dürfte  für  den 
Standpunkt  der  Amertheorie  folgen,   dass  die  Atomkörper  in  festen 

und  flüssigen  Substanzen  bei  der  Mehrzahl  der  Elemente  -^  bis  :j-^ 

o  Ib 

des  Raumes  einnehmen  und  dass  ihre  Durchmesser  sich  zum  Ab- 
stände ihrer  Mittelpunkte  im  Mittel  wie  1  :  2  bis  1  :  2,5  verhalten, 
dass  also  die  durchschnittlichen  Entfernungen  der  Oberflächen  der 
Atomkörper  (oder  die  Zwischenräume  zwischen  denselben)  eben  so 
gross  bis  1  V2  mal  so  gross  sind  als  ihre  Durchmesser.  Bei  einzelnen 
Elementen  bleibt  die  Grösse  des  Atomkörpers  offenbar  hinter  diesen 
Verhältnissen  zurück,  so  bei  Kalium  und  Rubidium,  oder  geht  über 
dieselben  hinaus,  so  besonders  bei  Kohlenstoff,  Bor,  Aluminium. 


Bezüglich    der   Zusammensetzung    der    Atome    geht   die 
Amertheorie  von  der  Annahme  aus,  dass  die  Atomkörper  aus  einer 


762  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

ungeheuren  Anzahl ,  vielleicht  aus  Billionen  von  Ameren  bestehen. 
Ueber  die  Art  und  Weise  des  Aufbaues  aus  diesen  Bausteinen  gibt 
uns  weder  Theorie  noch  Erfahrung  Aufschluss.  Bloss  bezüglich  der 
nächsten  Bestandtheile ,  also  bezüglich  des  allerletzten  Zusammen- 
setzungsactes  finden  wir  in  der  verschiedenen  Werthigkeit  der  Elemente 
einigen  Anhalt.  Wir  können  mit  Gewissheit  annehmen,  dass  die 
chemischen  Kräfte,  durch  die  sich  die  Affinitäten  oder  Verwandtschafts- 
einheiten äussern,  an  bestimmte  gesonderte  Partien  der  Atomsubstanz 
gebunden  sind;  und  da  ein  mehrwerthiges  Atom  oft  vollkommen 
die  Bedeutung  von  mehreren  einwerthigen  Atomen  hat,  so  ist  es 
im  höchsten  Grade  wahrscheinlich,  dass  die  melirwerthigen  Atome 
zunächst  aus  eben  so  viel  Theilen  bestehen,  als  sie  Affinitäten  be- 
sitzen ,  und  dass  sie  gleichsam  Verwachsungen  von  einwerthigen 
Atomen  sind. 

Diese  Annahme  wird  von  der  Wirkungsweise  der  mehrwerthigen 
Atome  mit  gebieterischer  Nothwendigkeit  gefordert.  Denn  andern 
Falles  müsste  jedes  mehrwerthige  Atom  auch  als  einwerthiges  auf- 
treten können  und  als  solches  eine  um  so  grössere  chemische  Ver- 
wandtschaft besitzen.  Würde  beispielsweise  das  öwerthige  Stickstoff- 
atom nicht  aus  5  Partien,  jede  mit  der  Kraft  eines  einwerthigen 
Atoms ,  bestehen ,  wäre  es  ein  ungegliedertes  Ganzes  mit  einer  be- 
stimmten Menge  chemischer  Kraft,  so  müsste  dasselbe,  wie  es  5  fremde 
Verwandtschaftseinheiten  aber  jede  nur  schwach  anzieht,  ein  ein- 
werthiges Atom  mit  der  5  fachen  Kraft  festhalten.  Dies  ergibt  sich 
aus  dem  Sättigungsvermögen  der  chemischen  Affinitäten,  dessen  Er- 
klärung ich  im  nächsten  Abschnitt  versuchen  werde. 

Nun  wird  zwar  behauptet,  dass  es  sich  beispielsweise  mit  einem 
4  werthigen  Atom  verhalten  könnte  wie  mit  einem  Magneten ,  der 
4  Pfund  zu  tragen  vermag ,  und  dem  wir  ebenfalls  nicht  4  Einzel- 
kräfte zuschreiben  dürfen.  Doch  ist  dieser  Vergleich  nicht  zutreffend. 
Wenn  man  einen  solchen  Magneten  mit  dem  Gewicht  von  1  Pfund 
belastet,  so  hält  er  es  mit  4  mal  so  grosser  Kraft  fest  als  ein  Magnet, 
der  nur  1  Pfund  zu  tragen  vermag.  Dies  lässt  sich  für  das  mehr- 
werthige Atom  entschieden  nicht  behaupten,  wie  alle  chemischen 
Erscheinungen  und  auch  die  Bildungswärmen  zeigen.  Das  4werthige 
Kohlen  Stoff  atom  zieht  das  Sauerstoff  atom  im  Kohlenoxyd  nicht  mit 
der  nämlichen  Kraft,  sondern  nur  mit  etwas  mehr  als  der  Hälfte 
der  Kraft  an,  mit  welcher  es  die  zwei  Sauerstoffatome  in  der  Kohlen- 


8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung  der  Atome.  763 

säure  anzieht.  Für  ein  4  werthiges  Atom  trifft  somit  nur  der  andere 
Vergleich  zu,  dass  es  sich  nämhch  wie  eine  Combination  von  zwei 
gekreuzten  Magneten  verhalte ,  deren  4  Pole  je  1  Pfund  und  nicht 
mehr  tragen.  Die  Affinitäten  wirken  nicht  summirt  als  Einheit, 
sondern  bloss  in  ihrer  Getrenntheit,  und  deswegen  müssen  auch 
ihre  Kräfte  räumlich  geschieden ,  also  auf  besondere  Partien  des 
Atoms  vertheilt  sein.  Wir  können  uns  daher  die  Frage  stellen, 
welche  Lagerung  diese  Theile,  die  ich,  um  eine  Bezeichnung  zu 
haben,  Part icelle  nennen  will,  zeigen,  ein  Umstand,  der  in  engster 
Beziehung  zur  Gestalt  der  Atomkörper  steht. 

Halten  wir  uns  zunächst  an  die  geometrischen  Möglichkeiten, 
so  gibt  es  für  die  mehrwerthigen  Atome  drei  Arten,  wie  die  Particelle 
angeordnet  sein  können.  Die  letzteren  liegen  nämlich  entweder  in 
einer  Linie  hinter  einander,  oder  in  einer  Ebene  neben  einander,  oder 
körperlich  neben  und  hinter  einander.  Im  ersten  Fall  sind  die  mehr- 
werthigen Atome  gegliederte  Stäbchen,  jedes  Glied  einer  Affinität  ent- 
sprechend. Im  zweiten  Fall  sind  sie  Täfelchen,  an  denen  die  Ecken 
die  Affinitäten  darstellen.  Im  dritten  Fall  sind  die  Atome  polyedrisch 
und  den  Affinitäten  entsprechen   ebenfalls   die  Ecken  der  Polyeder. 

Lieber  die  Lagerungs Verhältnisse  der  Particelle  vermögen  uns 
einige  Erwägungen,  die  sich  an  die  Constitution  der  A^erbindungen 
knüpfen,  Fingerzeige  zu  geben.  Die  Particelle  der  Atome,  als  Träger 
der  chemischen  Anziehung,  wirken  im  umgekehrten  Verhältniss  des 
Quadrats  der  Entfernung  auf  einander.  Um  sich  mit  einander  zu 
verbinden  und  sich  vollkommen  zu  sättigen ,  müssen  sie  sich  un- 
gehindert nähern  können.  Ist  die  ausreichende  Annäherung  in  Folge 
der  besonderen  Anordnung  der  Particelle  nicht  ausführbar,  so  mangelt 
auch  die  Möglichkeit  der  Sättigung.  Dieser  Umstand  macht  sich 
um  so  fühlbarer,  da  die  Affinitäten  nicht  etwa  als  Centralkräfte  der 
Particelle  wirken,  sondern  vielmehr  in  der  Nähe  der  Oberfläche 
ihren  Sitz  haben  ^). 

Denken  wir  uns  beispielsweise,  dass  an  einem  4  werthigen  Atom 
3  Particelle  der  ausgesprochenen  Forderung  genügen  und  dass  sie 
von  den  Particellen  derjenigen  Atome,  mit  denen  sie  sich  verbinden, 
um  den  Abstand  d  getrennt  seien,  dass  aber  das  4.  Particell,  in  Folge 
des  supponirten  Baues  des  Atoms,    sich   seinem  Gegenüber  in  dem 


')  Vgl.  den  folgenden  Abschnitt  über  die  chemische  Verwandtschaft. 


764  Kräfte  und  Gestaltungen  im  niolecularen  Gebiet. 

Molekül  bloss  bis  aiif  den  Abstand  2d  nähern  könnte,  so  wäre  der 

Coefficient  für  die  Anziehung  der  drei  ersten  Particelle  -^,  für  das 

vierte  -r^, .    Während  also  iene  ihre  volle  chemische  Verwandtschaft 

geltend  machen  könnten,  so  vermöchte  dieses  nur  den  4.  Theil  der 
vollen  Verwandtschaft  zu  erfüllen.  Geht  nun  aus  den  verschiedenen 
Erscheinungen,  aus  der  Festigkeit  der  Verbindungen  und  aus  den 
Bildungswärmen  hervor,  dass  an  dem  genannten  Atom  alle  4  Werthig- 
keiten  gleich  gesättigt  sind,  so  ist  dies  ein  Beweis,  dass  der  supponirte 
Bau  desselben  unmöglich  der  richtige  sein  kann,  und  dass  ein  solcher 
aufgesucht  werden  muss,  der  die  Annäherung  aller  Particelle  gestattet. 

Die  Anwendung  dieser  Regel  setzt  eine  genaue  Kenntniss  von 
der  Constitution  der  chemischen  Verbindungen,  d.  h.  des  Baues  der 
Moleküle ,  und  von  den  Kräften ,  welche  je  zwei  Particelle  mit  ein- 
ander verbinden,  voraus.  Schreiben  wir  den  Atomen  eine  stäbchen- 
förmige Gestalt  mit  linearer  Anordnung  der  Particelle  zu,  so  lassen 
sich  aus  denselben  leicht  die  Moleküle  aller  Verbindungen  herstellen. 
Dies  ist  auch  noch  möglich,  wenn  die  Particelle  in  einer  Ebene 
liegen  und  tafelförmige  Atome  bilden.  Dagegen  bietet  eine  poly- 
edrische  Gestalt  der  Atome  mit  körperlicher  Anordnung  der  Particelle 
bezüglich  der  Constitution  der  Moleküle  manche  Schwierigkeiten  dar. 
Wäre  beispielsweise  ein  4werthiges  Metallatom  (J/)  tetraedrisch  ge- 
baut, so  würden  die  Sauerstoffverbindungen  M.Oj,  M^^Ot,  31,0,  zwar 
Moleküle  von  nicht  unmöglicher,  aber  doch  von  wenig  natürlicher 
Construction  geben.  —  Um  mich  aber  nur  an  das  Einfachste,  an 
die  Moleküle  der  chemischen  Elemente  im  gasförmigen  Zustand  zu 
halten,  so  bestehen  dieselben  mit  w'enigen  Ausnahmen  aus  je  2  Atomen. 
Sind  ihre  Werthigkeiten  gesättigt,  so  können  ihre  Atome  nur  stäb- 
chenförmig oder  tafelförmig  gebaut  sein.  Hätte  beispielsweise  ein 
4werthiges  Atom  eine  tetraedrische  Gestalt,  so  müsste  bei  der  Ver- 
einigung von  2  Atomen  zu  einem  Molekül  an  jedem  Atom  wenigstens 
eine  Werthigkeit  frei  bleiben.  Betrachtet  man  aber  solche  Moleküle 
als  ungesättigte  Verbindungen  oder  zählt  man  sie  zu  den  Beispielen 
der  wechselnden  Valenz,  so  gehören  sie  zu  den  Kategorien,  die  ich 
sofort  besprechen  will. 

Eine  zweite  Erwägung  betrifft  die  ungesättigten  Verbindungen, 
bezüglich   derer  man   annimmt,    dass    ein   Theil   der  Werthigkeiten 


8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung  der  Atome.  765 

unter  gewissen  Umständen  frei  bleibe,  indess  dieselben  unter  andern 
Bedingungen  sich  sättigen.  Diese  Annahme,  wenn  sie  buchstäblich 
genommen  wird,  ist  aber  in  \4elen  Fällen  nicht  statthaft,  da  kein 
Grund  das  Freibleiben  erklären  könnte.  Viel  wahrscheinlicher  ist 
es  mir,  dass  in  den  nicht  gesättigten  Verbindungen  stets  alle  Particelle 
in  Anspruch  genommen  sind,  dass  aber  2  oder  mehrere  gemein- 
schaftlich die  Bindung  einer  gegenüberstehenden  Valenz  übernehmen. 
Dies  entspricht  auch  den  Forderungen  der  Mechanik,  nach  welchen 
die  Kräfte  eines  Particells  in  ihrer  Wirkung  sich  nicht  auf  ein 
einziges  ihnen  opponirtes  Particell  beschränken  können,  sondern 
auch  auf  die  benachbarten  Particelle  nach  Maassgabe  der  Entfer- 
nung sich  erstrecken  müssen. 

Es  gibt  unter  den  Metalloiden  und  Metallen  manche  4werthige 
Elemente,  welche  durch  ein  Atom  Sauerstoff  halb  und  durch  2  Atome 
ganz  gesättigt  werden.  Wären  diese  Elemente,  wie  auch  wohl  an- 
genommen wurde,  tetraedrisch  gebaut,  so  müssten  bei  der  Verbindung 
mit  einem  einzigen  2werthigen  Atom  zwei  oder  wenigstens  eine 
Werthigkeit  in  Wirklichkeit  frei  bleiben,  und  es  wäre  nicht  ein- 
zusehen, warum  diese  freien  Particelle  sich  nicht  ebenfalls  verbinden 
sollten.  Sind  aber  die  4  Particelle  der  4  werthigen  Elemente  wie  die 
Ecken  eines  Quadrats  zusammengeordnet  (Fig.  31b),  so  können  alle 
vier  sich  mit  einem  aus  zwei  Particellen  bestehenden  Atom  ver- 
binden (Fig.  31  c,  d).  Die  Verbindung  MO  ist  aber  eine  unvollständige, 
d.  h.  mit  unvollkommen  gesättigten  Werthigkeiten  und  sie  wird  unter 
günstigen  Umständen  durch  die  vollkommen  gesättigte  iüOo  ver- 
drängt. Es  sind  daher  die  »freien  Werthigkeiten  ,<  nicht  im  wirk- 
lichen, sondern  nur  in  bildlichem  Sinne  zu  verstehen. 

Eine  dritte  Erwägung  betrifft  die  wechselnden  Valenzen.  Es 
kommt  nämlich,  wie  bekannt,  sehr  häufig  vor,  dass  das  Atom  eines 
chemischen  Elements  in  verschiedenen  Verbindungen  eine  ungleiche 
Zahl  von  Werthigkeiten  anderer  Atome  sättigt.  Ich  erinnere  nur 
daran,  dass  Chlor,  Brom  und  Jod  in  den  meisten  Verbindungen 
1  werthig,  mit  Sauerstoff  aber  3,  5  und  7  werthig  sind,  dass  Schwefel 
meist  2  werthig,  gegenüber  Sauerstoff  6  werthig,  dass  Stickstoff  gegen 
Wasserstoff  3-  und  gegen  Sauerstoff  5  werthig  ist.  Man  kann  in 
diesen  Fällen  nicht  von  ungesättigten  Verbindungen  und  freien 
Werthigkeiten  sprechen,  weil  Chlor  niemals  mehr  als  1  (einwerthiges) 


766  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Atom  Kalium,  Schwefel  nicht  mehr  als  2  und  Stickstoff  nicht  mehr 
als  3  (einwerthige)  Wasserstoi^atome  zu  binden  vermögen. 

Trotz  dieser  Verschiedenheit  zwischen  dem  Begriff  der  wech- 
selnden Valenz  und  dem  der  ungesättigten  Verbindung  ist  die  erstere 
doch  in  gleicherweise  zu  erklären  wie  die  letztere,  nämlich  dadurch, 
dass  2  oder  mehrere  Werthigkeiten  eines  Atoms  sich  mit  1  Werthigkeit 
eines  andern  Atoms  verbinden,  und  dadurch  unfähig  werden,  andere 
Werthigkeiten  anzuziehen.  Wären  die  mehreren  Werthigkeiten  nicht 
in  solcher  Weise  in  Anspruch  genommen ,  wären  sie  wirklich  frei, 
so  bliebe  es  ja  ganz  unbegreiflich,  warum  sie  nicht  anderweitige  Ver- 
bindungen eingehen  könnten.  Dieser  Gesichtspunkt  muss,  wie  ich 
es  schon  bezüglich  der  ungesättigten  Verbindungen  angedeutet  habe, 
auf  die  Vorstellung  von  der  Lagerung  der  Particelle  einen  ent- 
scheidenden Einfluss  ausüben. 

Wir  dürfen  beispielsweise  dem  Chlor-,  Brom-  und  Jodatom 
weder  eine  linienförmige  noch  eine  körperliche  Zusammenordnung 
der  Particelle  zuschreiben.  Wäre  das  Chloratom  stäbchenförmig  mit 
7  in  einer  geraden  Reihe  liegenden  Particellen,  so  könnte  ein  Wasser- 
stoffatom, das  sich  mit  dem  mittelsten  Particell  verbände,  unmöglich 
die  an  den  Enden  des  Stäbchens  befindlichen  Particelle  auch  nur 
einigermaassen  sättigen,  und  man  würde  nicht  einsehen,  warum  nicht 
auch  Wasserstoffatome  sich  wenigstens  mit  diesen  Endparticellen 
verbinden  könnten,  so  dass  sich  statt  des  Moleküls  CIH,  ein  Molekül 
CIH3  bildete.  Lägen  aber  die  7  Particelle  körperlich  beisammen, 
so  dass  sie  etwa  die  Stellung  von  7  einigermaassen  gleichmässig 
über  die  Oberfläche  einer  Kugel  vertheilten  Punkten  hätten,  so  könnte 
ein  Wasserstoffatom  bloss  die  auf  der  einen  Seite  des  polyedrischen 
Chloratoms  liegenden  Particelle  bis  auf  einen  gewissen  Punkt  sättigen, 
und  es  müsste  wenigstens  noch  ein  zweites  Wasserstoffatom  auf  der 
entgegengesetzten  Seite  des  Polyeders  eine  Verbindung  eingehen 
können,  so  dass  das  Molekül  CIH2  entstände.  Sind  dagegen  die 
7  Particelle  in  einen  einfachen  Kreis  uni  den  Mittelpunkt  des  tafel- 
förmigen Atoms  gelagert  (Fig.  31jj),  so  kann  ein  zutretendes  Wasser- 
stoffatom sich  allen  gleichmässig  annähern  und  sich  mit  allen  ver- 
binden (Fig.  31 7),  so  dass  das  Chloratom  keinem  zweiten  Wasserstoff- 
atom zugänglich  ist. 

Für  den  2-  und  6  werthigen  Schwefel  gilt  eine  ganz  analoge 
Schlussfolgerung.     Die   6  Particelle   können   weder  linienförmig   zu 


8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung  der  Atome.  767 

einem  Stäbchen,  noch  körperhch  zu  einem  Octaeder  zusammengestellt 
sein;  in  dem  einen  und  andern  Falle  Hessen  sie  sich  nicht  durch 
ein  2werthiges  Atom  (wie  z.  ß.  im  Baryumsulfid)  sättigen.  Die 
Wahrscheinlichkeit  spricht  auch  hier  dafür,  dass  die  6  Particelle  in 
einer  Ebene  und  zwar  in  2  Gruppen  von  je  3  einander  gegenüber 
liegen  (Fig.  3 1  e).  Jede  dieser  Gruppen  kann  durch  ein  1  werthiges 
Atom  (Fig.  31//)  und  beide  zusammen  durch  die  2  Particelle  eines 
2werthigen  Atoms  [Fig.  31  f\g)  so  weit  gesättigt  werden,  um  eine 
weitere  Verbindung  unmöglich  zu  machen. 

Ist  nun ,  wie  ich  gezeigt  habe ,  die  flächenförmige  Anordnung 
der  Particelle  in  manchen  Fällen  eine  nothwendige  Hj-pothese, 
so  dürfte  sie  wohl  für  alle  mehrwerthigen  Atome  anzunehmen  sein, 
da  wahrscheinhcherweise  die  chemischen  Elemente  alle  nach  der 
gleichen  Regel  gebildet  sind.  Dann  ordnen  sich  die  mehrwerthigen 
Atome  bezüglich  ihres  Baues  in  zwei  Reihen,  von  denen  die  eine 
eine  gerade  Zahl  von  Particellen  und  einen  Wechsel  zwischen  ge- 
raden Valenzen,  die  andere  eine  ungerade  Zahl  von  Particellen  und 
vorzugsweise  einen  Wechsel  zwischen  ungeraden  Valenzen  aufweist. 
Die  Particelle  eines  Atoms  sind  übrigens  sehr  häufig  ungleich  aus- 
gebildet (wenn  die  äussere  Form  den  wirksamen  Kräften  entsprechend 
angenommen  wird).  Dadurch  erklärt  sich,  dass  das  nämliche  Atom 
3-,  5-  und  7  werthig  auftritt  und  dass  die  Werthigkeiten,  auch  wenn 
sie  sich  alle  verbinden ,  eine  ungleiche  Bedeutung  haben ,  indem 
beispielsweise  die  Schwefelsäure  2  basisch,  die  Salpetersäure  1  basisch, 
die  Phosphorsäure  3  basisch  ist. 

In  Fig.  31  sind  die  wichtigsten  Beispiele  für  den  Bau  der  Atome, 
wie  er  nach  der  entwickelten  Hj'pothese  wahrscheinlich  ist,  dargestellt. 
a  ein  2  werthiges  (aus  2  Particellen  bestehendes)  Atom ,  beispiels- 
weise ein  Sauerstoffatom ;  die  Werthigkeiten  sind  mit  0,0  bezeichnet, 
und  diese  Bezeichnung  tragen  auch  die  Sauerstoffatome  in  allen 
übrigen  Figuren ,  welche  Sauerstoffverbindungen  darstellen,  b  ein 
4  werthiges  Atom,  c  ein  Molekül  von  der  Zusammensetzung  MO, 
wenn  M  4  werthig  ist,  von  vorn  gesehen  (das  Sauerstoffatom  ist  dem 
Beobachter  zugekehrt),  d  das  nämliche  Molekül,  von  der  Seite  ge- 
sehen; die  pmiktirten  Linien  zeigen  hier,  wie  in  allen  folgenden 
Figuren,  die  Bindungen  an.  e  ein  6  werthiges  Atom  (z.  B.  ein  Scliwefel- 
atom)  mit  2  ausgezeichneten  Particellen,  welche  durch  -|-  -\-  bezeichnet 
sind,     f  ein  Molekül  Baryumsulfid   (BaS),    von  vorn  gesehen  (das 


768 


Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 


Baryumatom,  mit  AA  bezeichnet,  ist  dem  Beobachter  zugekehrt). 
g  das  nämhche  Molekül,  von  der  Seite  gesehen,  h  ein  Molekül 
Schwefelwasserstoff  (H,S).  i  ein  Molekül  Schwefelsäure  (SOiH.),  die 
Hydroxyl- tragenden    Particelle    sind    mit    -\--\-    bezeichnet,     k   ein 


öwerthiges  Atom  mit  einer  ausgezeichneten  Werthigkeit  (-]-),  bei- 
spielsweise ein  Stickstoff atom.  l  ein  öwerthiges  Atom  mit  3  ausgezeich- 
neten Werthigkeiten  (-|-  +  +))  beispielsweise  ein  Phosphoratom,  m  ein 
Molekül  Ammoniak  (NH^).  n  ein  Molekül  Salpetersäure ;  das  Hydroxyl- 
tragende  Particell  ist  mit  -(-  bezeichnet,  o  ein  Molekül  Phosphor- 
säure,   +  ++  die  Hydroxyl-tragenden  Particelle.   p  ein  Twerthiges 


8.  Grösse,  Gestalt  und  Zusammensetzung  der  Atome.  769 

Atom  mit  ziemlich  gleichen  Particellen,  welches  meistens  als  ein- 
werthig  functionirt,  beispielsweise  ein  Chloratom,  q  ein  Molekül 
Chlorkalimn  (CIK);  das  Kaliumatom  ist  dem  Beobachter  zugekehrt. 
r  ein  Twerthiges  Atom  mit  einer  ausgezeichneten  Werthigkeit  (-|-); 
es  ist  dies  eine  andere  Vorstellung,  die  man  sich  von  dem  Chloratom 
machen  kann,  und  wobei  sich  das  Kaliumatom  in  gleicher  Weise 
auf  die  7  Particelle  legen  würde  wie  in  q.  s  ein  Twerthiges  Atom 
mit  3  ausgezeichneten  Werthigkeiten  (-(-  -f-  -\-).  t  ein  Molekül  Chlor- 
säure ,  wenn  das  Chloratom  nach  dem  Typus  r  gebaut  ist ;  -\-  das 
Hydroxyl-tragende  Particell.  —  Zu  diesen  bildlichen  Darstellungen 
ist  zu  bemerken,  dass  sie,  schematisch  gehalten,  nur  den  Bau  des 
Atoms  und  die  Verbindungen  zwischen  den  Werthigkeiten  andeuten, 
aber  weder  über  die  relativen  Entfernungen  der  Atome  noch  über 
die  relative  Lage  derselben  Aufschluss  geben  sollen. 

Die  vorstehenden  Ausführungen  werden  genügen ,  um  deutlich 
zu  machen,  wde  ich  mir  den  Bau  der  Atome  denke,  und  zugleich 
den  Beweis  liefern,  dass  dieser  Bau  den  Anfordermigen  der  Con- 
stitutionschemie  vollkommen  entspricht.  Sie  waren  aber  nothwendig, 
um  für  die  Hypothese  der  chemischen  Wirkung,  wie  sie  sich  nach 
der  Amertheorie  gestaltet,  eine  feste  Unterlage  zu  gewinnen. 


Die  gewonnenen  Vorstellungen  über  Bau  und  Gestalt  der  Atom- 
körper geben  mü*  Veranlassung,  auf  die  Frage  zurückzukommen, 
wie  sich  die  Grösse  derselben  bei  verschiedenen  Elementen  zu  ein- 
ander verhalte.  Man  kennt  zwar  das  Atomvolumen  der  meisten 
Elemente,  d.  h.  den  Raum,  welchen  der  Atomkörper  sammt  dem  um- 
gebenden ponderabeln  Aether  in  festen  und  flüssigen  Körpern  ein- 
nimmt. Aus  diesem  Atomvolumen  lässt  sich  aber  kein  sicherer 
Schluss  auf  den  Atomkörper  machen.  Dasselbe  ist  die  Sunmie  aus 
den  Volumen  des  Atomkörpers,  der  Aetherhülle  und  des  zugehörigen 
Zwischenraums  zwischen  den  Hüllen.  Die  Aetherhüllen  haben  nun 
bei  den  verschiedenen  Elementen  eine  ungleiche  Mächtigkeit,  da 
dieselbe  von  der  Natur  und  Vertheilung  der  anziehenden  und  ab- 
stossenden  Kräfte  im  Atomkörper  abhängt.  Die  Grösse  des  Zwischen- 
raumes zAdschen  den  Aetherhüllen  aber  wird  mitbedingt  durch  die 
Schwingungsweite  der  Atomkörper  und  letztere  bei  gleicher  Beschaffen- 
heit des  äusseren  Aethers  durch  die  Kraftbegabung  der  Atomkörper. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  49 


770  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Wenn  daher,  um  extreme  Beispiele  anzuführen,  Kahum  ein 
Atomvolumen  von  45,5  und  Rubidium  von  56,3  haben,  dagegen 
Kohlenstoff  (im  Diamant)  ein  solches  von  3,4,  Aluminium  von  5, 
Nickel  von  6,6,  so  darf  man  deswegen  noch  nicht  folgern,  dass  die 
Atomkörper  der  beiden  ersteren  Elemente  diejenigen  der  drei  letz- 
teren merklich  an  Grösse  übertreffen.  Dagegen  wird  die  Mächtigkeit 
der  Aetherhüllen  und  die  Schwingungsweite  bei  den  ersteren  viel 
beträchtlicher  sein  als  bei  den  letzteren. 

Bezüglich  der  Vorstellungen  über  die  Grösse  der  Atomkörper 
bei  den  verschiedenen  chemischen  Elementen  müssen  wir,  da  uns 
andere  entscheidende  Gründe  im  Stiche  lassen,  jedenfalls  ein  Haupt- 
gewicht auf  Bau  und  Gestalt  in  Vergleichung  mit  der  Wirkungsweise 
legen.  Die  Grösse  ist  so  zu  bemessen,  dass  sie  die  hinreichende  An- 
näherung der  sich  verbindenden  Particelle  gestattet,  besonders  dann, 
wenn  sich  sehr  feste  Verbindungen  bilden.  Man  hätte  die  Ver- 
muthung  hegen  können,  dass  die  Particelle  mehrwerthiger  Atome, 
da  dieselben  im  Grunde  verwachsene  einwerthige  Atome  darstellen, 
als  die  richtigen  chemischen  Einheiten  auch  von  gleicher  Grösse 
seien.  Allein  dem  widersprechen  die  wechselnde  Valenz  und  die 
chemische  Sättigung  mehrerer  Particelle  durch  ein  einziges.  Wir 
kommen  vielmehr  unter  Berücksichtigung  aller  Umstände  zu  der 
Ueberzeugung ,  dass  die  Grösse  der  Atomkörper  bei  den  verschie- 
denen chemischen  Elementen  einen  mittleren  Werth  einhalten  muss 
zwischen  der  Gleichheit  der  Atome  und  der  Gleichheit  der  Particelle, 
dass  also  ein  1  werthiger  Atomkörper  grösser  ist  als  das  Particell 
eines  mehrwerthigen,  und  dass  im  allgemeinen  der  Atomkörper  mit 
der  Zunahme  der  Particellzahl  an  Grösse  zunimmt.  Doch  muss 
letztere  Regel  jedenfalls  Ausnahmen  zulassen.  Es  ist  also  ein 
2  werthiger  Atomkörper  grösser  als  ein  1  werthiger,  dagegen  kleiner 
als  zwei  1  werthige  zusammen.  Aber  ein  7  werthiger  Atomkörper, 
welcher  auch  1-,  3-  und  öwerthig  functionirt,  dürfte  nur  wenig 
grösser  sein  als  ein  4 werthiger,  der  stets  seine  vier  Werthigkeiten 
geltend  macht. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Zusammensetzung  der  mehrwerthigen 
Atome  drängt  sich  noch  die  Frage  auf,  in  welcher  Art  die  Particelle 
mit  einander  zusammenhängen,  ob  sie  durch  Zwischenräume  ge- 
trennt, ob  und  in  welchem  Grade  sie  gegen  einander  beweglich 
seien.     Hierüber  gibt  uns  die  specifische  Wärme  einigen  Aufschluss. 


9.  Entstehung,  Beschaffenheit  und  Veränderung  der  Atome.  77l 

Bekanntlich  verbraucht  ein  Atom  der  verschiedenen  chemischen 
Elemente,  wenn  die  Temperatur  um  einen  Grad  steigt,  eine  gleiche 
Wärmemenge,  welche  sich  in  Bewegung  umsetzt.  In  den  Molekülen 
ferner  wird  ein  um  so  grösserer  Theil  der  Molecularwärme  für  innere 
Arbeit  (Disgregation)  verwendet,  je  grösser  die  Zahl  ihrer  Atome  ist. 
Wäre  nun  die  Vereinigung  der  Particelle  zu  mehrwerthigen  Atomen 
ähnlicher  Art,  wie  die  Vereinigung  der  Atome  zu  Molekülen,  so 
müsste  die  Atomwärme  um  so  grösser  sein,  aus  je  mehr  Particellen 
ein  Atom  besteht.  Da  dies  nicht  der  Fall  ist,  so  folgt  unzweifelhaft, 
dass  die  Wärme  keinen  Einfluss  auf  die  gegenseitige  Lage  der 
Particelle  ausübt  und  dass  auch  ein  mehrwerthiges  Atom  nicht  durch 
irgend  welche  Temperatur  zersetzt  werden  könnte. 

Es  folgt  daraus  aber  nicht,  dass  die  Particelle  eines  Atoms  sich 
unmittelbar  berühren,  noch  auch,  dass  die  kleineren  Theile  eines  Atoms 
der  Bewegung  ermangeln.  Es  ist  aus  verschiedenen  Gründen  wahr- 
scheinlich und  wird  namentlich  auch  durch  die  Theorie  der  chemi- 
schen Verwandtschaft  gefordert,  dass  die  Amere  und  Amergruppen, 
aus  denen  die  Atome  zusammengesetzt  sind,  sich  bewegen.  Ihre 
Bewegungen  müssen  schwingende,  drehende  und  fortschreitende  sein ; 
ein  Theil  der  Amere  und  Amergruppen  wird  also  innerhalb  des 
Atomkörpers  wandern  und  seinen  Platz  wechseln  können.  Aber  diese 
Bewegungen  werden  nicht  durch  die  Wärmeschwingungen  des  Aethers, 
welche  nur  auf  den  ganzen  Atomkörper  mrken,  beeinflusst,  sind 
also  auch  durch  die  W^ärme  weder  nachweisbar  noch  messbar.  Da- 
gegen werden  dieselben  durch  die  Einzelstösse  der  Aethertheilchen 
(S.  731)  erregt,  indem  die  lebendigen  Kräfte  der  Amere  und  Amer- 
gruppen ausserhalb  und  im  Innern  eines  Atoms  sich  gegenseitig  auf 
einander  übertragen  und  sich  stetsfort  ins  Gleichgewicht  setzen. 
Grösser  als  im  Atomkörper  ist  die  Beweglichkeit  der  Theilchen  in 
der  Aetherhülle.  Was  die  Verbindung  der  Particelle  betrifft,  so  ist 
es  mir  wahrscheinlich,  dass  ein  Zwischenraum  zwischen  denselben 
vorhanden  und  dass  dieser  Zwischenramn  mit  ponderabelm  Aether 
von  der  gleichen  Beschaffenheit  wie  im  innersten  Theil  der  Aether- 
hülle erfüllt  sei. 

9.  Entstehung,  Beschaffenheit  und  Veränderung  der  Atome. 

Wenn  wir  uns  eine  Vorstellung  über  die  Entstehung  der 
chemischen  Atome  bilden  wollen  ,   so  mangeln  uns  dafür  die  wich- 

49* 


772  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

tigsten  Anhaltspunkte ,  nämlich  einerseits  eine  Einsicht  in  die  bei 
der  Agglomeration  der  Amere  wirkenden  Ursachen,  und  andrerseits 
eine  genauere  Kenntniss  des  Productes.  Bezüglich  des  letzteren 
Punktes  wissen  wir,  abgesehen  von  der  Zusammensetzung  aus  Parti- 
cellen,  nicht,  ob  die  Substanz  der  Atome  homogen  oder  ob  sie  in 
irgend  einer  bestimmten  Weise  gegliedert  ist ,  in  der  Art ,  dass  die 
Amere  erst  zu  kleineren  Systemen  zusammentraten,  aus  deren  Ver- 
einigung dann  das  Particell  sich  aufbaute.  Es  lassen  sich  daher 
von  Seite  der  Amertheorie  nur,  soweit  die  Erfahrung  genügende  An- 
deutungen gibt,  einigermaassen  sichere  Hypothesen  aufstellen. 

Wie  ich  früher  ausgeführt  habe,  ballen  sich  die  ponderabeln 
Amere  in  Folge  der  Anziehung,  die  sie  in  der  ursprünglichen  Zer- 
streuung auf  einander  ausüben,  zusammen.  Wegen  der  Elasticität, 
die  wir  ihnen  zuschreiben  müssen ,  legen  sie  sich  dabei  nicht  un- 
mittelbar an  einander  an;  sondern  führen  innerhalb  der  Systeme, 
zu  denen  sie  zusammentreten,  theils  schwingende  und  drehende, 
theils  kreisende  und  überhaupt  fortschrittliche  Bewegungen  aus.  Je 
grösser  eine  Gruppe  wird,  um  so  langsamer  muss  ihre  Gesammt- 
bew^egung  sein.  Die  lebendigen  Kräfte ,  welche  die  einzelnen 
Amere  in  der  Zerstreuung  besassen,  sind  zum  kleinern  Theil  in  die 
lebendige  Kraft  der  ganzen  Gruppe,  zum  grossem  Theil  in  die 
lebendigen  Kräfte  der  internen  Bewegungen  übergegangen.  Das 
Wachsthum  der  Gruppen  geschieht  ohne  Zweifel  sowohl  dadurch, 
dass  sie  sich  mit  einander  vereinigen,  als  dadurch,  dass  einzelne 
Amere  in  dieselben  eintreten. 

Soweit  entspricht  die  Entstehungsgeschichte  der  Atome  den 
mechanischen  Folgerungen  aus  den  von  der  Amertheorie  gegebenen 
Prämissen.  Für  alle  ferneren  und  ins  Einzelne  gehenden  Vor- 
stellungen besteht  nur  grössere  oder  geringere  Wahrscheinlichkeit, 
die  sich  vorzüglich  aus  den  Erfahrungsthatsachen  ergibt.  Sowie 
die  Amergruppen  anwachsen  und  sich  langsamer  bewegen,  wird 
sich  um  dieselben  nach  und  nach  die  ponderable  Aetherhülle  anlegen, 
deren  Amere  mit  schwächeren  Attractionskräften  begabt  und  daher 
beweglicher  sind  als  die  Amere  der  Gruppen  selber.  Bei  der  Ver- 
schmelzung von  Amergruppen  wird  diese  beginnende  Aetherhülle 
wieder  verdrängt.  Hat  sie  aber  um  die  grossen  und  langsam  sich 
bewegenden  Gruppen  eine  gewisse  Mächtigkeit  erlangt,  so  gestattet 
sie  wohl   noch   die   feste  Vereinigung   derselben,    ohne   aber  selber 


9.  Entstehung,  Beschaffenheit  und  Veränderung  der  Atome. 


773 


ganz  verdrängt  zu  werden.  Solche  Gruppen  stellen  "nun  die  Parti- 
celle  eines  Atoms  dar.  Ist  die  Aetherhülle  noch  mächtiger  geworden, 
so  hat  die  Gruppe  die  Eigenschaft  des  Atoms  erlangt;  sie  kann 
nicht  mehr  mit  andern  Gruppen  fest  verw^achsen,  sondern  nur  noch 
lockere  und  löshare  Vereinigungen  mit  andern  Atomen  bilden ,  wie 
wir  sie  als  Moleküle  kennen. 

Es  ist  fast  unzweifelhaft,  dass  die  Atome  der  verschiedenen  chemi- 
schen Elemente  nicht  gleichzeitig  und  auch  nicht  an  dem  nämlichen 
Ort  entstanden  sind ,  und  dass  sie  ihre  ungleichen  Eigenschaften 
der  nach  Zeit  und  Ort  ungleichen  Beschaffenheit  der  anfänglichen 
gasartig  zerstreuten  Substanz  verdanken.  Diese  Beschaffenheit  hängt 
aber  von  den  Mengenverhältnissen  der  dynamisch  ungleichen  Amere 
ab.  Vielleicht  lässt  sich  nun  annehmen,  dass  je  ein  bestimmtes 
A'olumen  von  dem  atombildenden  Himmelsraum,  dessen  Grösse  von 
der  Bewegung  und  der  Anzielmng  der  Amere  bestimmt  wurde,  das 
Material  für  ein  Atom  lieferte  und  dass  dadurch  die  in  jeder  Be- 
ziehung gleiche  Beschaffenheit  und  Grösse  der  Atome  eines  Ele- 
mentes sich  erklärt. 

Die  chemischen  Elemente  sind  familienweise  näher  mit  einander 
verwandt,  wobei  sich  gewisse  abgestufte  Eigenschaften  in  den  ver- 
schiedenen Familien  wiederholen,  was  zur  Aufstellung  des  periodischen 
Systems  Veranlassung  gegeben  hat.  Diejenige  der  wechselnden  Eigen- 
schaften, die  am  meisten  hervortritt,  ist  das  Atomgewicht.  Ich  er- 
innere an  die  Elemente  folgender  fünf  Familien  mit  den  beigesetzten 
Atomgewichten. 


Caesium 
Rubidium 
Kalium  . 
Natrium 
Lithium 


133 

85,4 
39,1 
23 


II 

Barvum      .     . 

.     137 

Strontium 

.       87,5 

Calcium     .     . 

40     ! 

Magnesium    . 

24 

Beryllium  .     . 

14 

in 


Wismuth 

Antimon 

Arsen 

Phosphor 

Stickstoff 


210 

122 

75 

31 

14 


lY 

Tellur 129 

Selen 79,5 

Schwefel    ....  32 

Sauerstoff       ...  16 


Jod 127 

Brom 80 

Chlor 35,5 

Fluor 19 


Zur  Erklärung  des  wechselnden  Atomgewichts  in  jeder  Familie 
möchte  ich  es  für  sehr  wahrscheinlich  halten,  dass  die  einer  Familie  an- 
gehörenden Elemente  sich   in   dem   nämlichen  Himmelsraum,   aber 


774  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

nach  einander  in  verschiedenen  Zeitperioden  gebildet  haben. 
Und  zwar  sind  nach  meiner  Ansicht  je  die  Elemente  mit  dem 
höheren  Atomgewicht  zuerst  entstanden,  weil  die  Amere  mit  grösserer 
Gravitationsanziehung  immer  das  lebhafteste  Bestreben  zur  Ver- 
einigung besitzen.  Der  betreffende  Himmelsraum  wurde  nach  und 
nach  ärmer  an  Ameren  mit  stark  überwiegender  Gravitation  und 
zuletzt  war  nur  noch  Material  für  leichte  Atome  vorhanden.  In 
den  fünf  aufgeführten  Familien  ist  stets  das  oberste  Element  das 
zuerst  gebildete ,  das  unterste  das  letzte.  Ihre  übereinstimmenden 
Eigenschaften  verdanken  die  Glieder  einer  Familie  dem  Umstände, 
dass  sie  unter  den  nämlichen  Verhältnissen,  d.  h.  nach  einander  in 
dem  nämlichen  Himmelsraum,  entstanden  sind. 

Die  Elemente  der  aufgeführten  Familien  zeigen  die  bemerkens- 
wertlie  Erscheinung,  dass  das  Atomgewicht  der  früher  gebildeten 
ungefähr  ein  Vielfaches  des  Atomge\vdchtes  der  spätem  darstellt. 
Doch  lässt  sich  das  Verhältniss  keineswegs  als  ein  bestimmtes 
mathematisches  ansehen  und  auch  niclit  durch  eine  Formel  aus- 
drücken. Die  rasche  Abnahme  des  Atomgewichtes  deutet  mög- 
licherweise darauf  hin,  dass  ausser  der  angegebenen  Ursache  noch 
eine  andere  mitgewirkt  hat,  dass  nämlich  je  die  früheren  Glieder 
einer  Familie  nicht  bloss  Amere  mit  grösserer  Gewichtsanziehung 
enthalten ,  sondern  dass  auch  eine  grössere  Zahl  von  Kernen  sich 
zur  Anlage  eines  Particells  oder  eines  Iwerthigen  Atoms  vereinigt 
haben.  Damit  würde  dann  in  begreiflichem  Zusammenhange  stehen, 
dass  in  der  nämlichen  Familie  die  Elemente  mit  grösserem  Atom- 
gewicht auch  einen  etwas  grösseren  Atomkörper  besitzen,  was  in 
der  That  der  Fall  zu  sein  scheint. 

Es  trifft  meistens  zu",  dass  innerhalb  derselben  Familie  der 
Raum ,  der  in  dem  festen  Aggregatzustande  auf  ein  Atom  sammt 
dem  zugehörigen  Schweräther  sich  berechnet  und  den  man  als  Atom- 
volmnen  bezeichnet,  mit  dem  abnehmenden  Atomgewicht  kleiner 
wird.  Dies  ist  zwar  noch  kein  sicherer  Beweis,  dass  auch  die  Atom- 
körper der  verschiedenen  Elemente  ein  solches  Verhalten  zeigen.  Denn 
das  Atomvolumen  bei  einer  bestimmten  Temperatur  hängt  nicht  bloss 
von  dem  Volumen  der  Atomkörper,  sondern  ebenso  sehr  von  der  Dicke 
der  Aetherhülle  und  von  der  Grösse  der  Anziehung  zwischen  den 
Atomen  ab.  Zu  dem  uns  bekannten  Resultat  der  Raumerfüllung  wirken 
also   drei   bezüglich   ihrer  Grösse   unbekannte   Factoren   zusammen. 


9.  Entstehung,  Beschaffenheit  und  Veränderung  der  Atome.  775 

Auf  die  letzteren  beiden  Factoren,  Aetherhülle  und  Anziehung, 
lässt  sich  aus  einer  anderen  Erscheinung  theilweise  ein  Schluss 
ziehen.  Der  Zusammenhang  zwischen  den  Molekülen  ist,  gleiche 
Temperatur  vorausgesetzt,  um  so  fester,  je  grösser  die  Anziehung 
zwischen  denselben  und  je  dünner  die  Aetherhülle,  welche  ihre  An- 
näherung verhindert.  Ueber  die  Festigkeit  des  Zusammenhanges, 
somit  über  die  gemeinsame  Wirkung  der  Anziehung  und  der  Aether- 
hülle, geben  uns  die  Temperaturen  des  Schmelz-  und  Siedepunktes 
Aufschluss.  Meistens  zeigt  sich  nun  bei  den  Gliedern  einer  Familie, 
dass  mit  dem  Sinken  der  Atomgewichte  auch  die  Festigkeit  des 
Zusammenhanges  zwischen  den  Molekülen  sich  stetig  verändert, 
aber  bei  den  einen  Familien  wird  die  Festigkeit  grösser,  bei  den 
anderen  kleiner.  Als  Beispiel  führe  ich  vier  Elemente  einer  der 
vorhin  aufgezählten  Familien  an: 


Atomgewicht 

Atomvolumen 

Atomdurchmesser 

Schmelzpunkt 

Rubidium     . 

.     .       85,4 

56,3 

3,8 

38» 

Kalium     .     . 

.     .       39,1 

45,5 

3,6 

58 

Natrium   .     . 

.     .       23 

23,7 

2.9 

95 

Lithium    .     . 

.     .        7 

11,7 

2,3 

180 

Diese  Familie  zeichnet  sich  aus  durch  eine  ungewöhnlich  starke 
Abnahme  der  Atomvolumen,  wie  sie  in  gleicher  Weise  sonst  nur 
bei  den  vier  Elementen  einer  anderen  Familie  (Strontium,  Calcium, 
Magnesium  und  Beryllium)  auftritt.  Ich  habe  in  der  dritten  Vertical- 
columne  unter  dem  Namen  »Atomdurchmesser«  den  mittleren  Durch- 
messer des  Atomvolumens  beigefügt.  Man  könnte  aus  der  grossen 
Verschiedenheit  der  Atomvolumen  Zweifel  schöpfen,  wie  es  möglich 
sei,  dass  so  ungleich  grosse  Atonje  in  ihren  Verbindungen  sich 
gleich  verhalten.  Die  Vergleichung  der  mittleren  Atomdurchmesser 
zeigt,  dass  die  maassgebenden  linearen  Dimensionen  durchaus 
nicht  so  sehr  abweichen.  In  dem  vorliegenden  Falle  sind  aber 
jedenfalls  die  Durchmesser  der  Atomkörper  noch  weniger  verschieden 
als  die  Durchmesser  der  Atomvolumen.  Es  lässt  sich  nämlich  aus 
der  niedrigeren  Schmelztemperatur  der  Elemente  mit  grösserem  Atom- 
gewicht und  Atomvolumen  mit  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  grössere 
Mächtigkeit  der  Aetherhülle  und  des  Zwischenhülläthers  schliessen, 
wodurch  die  Durchmesser  der  Atomkörper  verhältnissmässig  kleiner 
werden,  als  man  es  nach  den  angeschriebenen  »Atomdurchmessern« 
erwarten  könnte. 


776  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Nun  gibt  es  aber  auch  Familien ,  in  denen  das  Gegentheil 
auftritt,  indem  mit  der  Abnahme  der  Atomgewichte  und  der  ohne 
Zweifel  parallel  gehenden  Abnahme  der  Atomvolumen  auch  der 
Zusammenhang  der  Moleküle  geringer  wird,  so  dass  die  Moleküle 
des  leichtesten  Elements  die  grösste  Beweglichkeit  besitzen.  Dies 
zeigt  sich  bei  der  Vergleichung  des  (gasförmigen)  Sauerstoffs  mit 
Schwefel  und  Selen,  des  (gasförmigen)  Stickstoffs  mit  Phosphor  und 
Arsen,  des  Chlors  mit  Brom  und  Jod.  Hier  haben  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  die  leichteren  Elemente  eine  grössere  Mächtigkeit 
der  Aetherhüllen  und  des  Zwischenhülläthers  als  die  schwereren 
und  es  kommen  ihnen  daher  kleinere  Atomkörper  zu,  als  es  nach 
dem  Atomvolumen  scheinen  möchte. 

Es  ist  übrigens  nicht  ausser  Acht  zu  lassen,  dass  das  Gesagte 
nur  von  dem  Zusammenhang  der  Moleküle  und  somit  von  der 
Mächtigkeit  der  Aetherhüllen  und  des  Zwischenhülläthers  zwischen 
den  Molekülen,  und  nicht  zwischen  den  beiden  Atomen  des  näm- 
lichen Moleküls,  gilt.  Die  Festigkeit,  mit  der  die  Atome  zum 
Molekül  vereinigt  sind,  lässt  sich  meistens  nicht  bestimmen,  und 
daher  bleiben  wir  auch  über  die  Mächtigkeit  des  ponderabeln  Aethers 
auf  dieser  Seite  des  Atoms  und  über  die  Folgerung,  die  sich  daraus 
für  die  Grösse  der  Atomkörper  ergibt,  im  Unklaren.  Gleichwohl 
ist  es,  wenn  alle  Umstände  in  Erwägung  gezogen  werden,  sehr 
wahrscheinlich,  dass  bei  gleicher  Construction  der  Atome,  wie  wir 
sie  bei  den  verwandten  Elementen  derselben  Familie  voraussetzen 
können,  dem  grösseren  Atomgewicht  auch  eine  etwas  beträchtlichere 
Grösse  des  Atomkörpers  entspricht,  und  dass  daher  eine  Verschmelzung 
von  Agglomerationskernen  bei  iier  Entstehung  derselben  wohl  an- 
zunehmen ist. 

Ich  habe  die  Theorie  aufgestellt,  dass  die  chemischen  Elemente, 
die  ihrer  Verwandtschaft  nach  zu  derselben  Familie  gehören,  in 
dem  nämlichen  Himmelsraum  und  in  der  nämlichen  Weltperiode 
und  zwar  zuerst  diejenigen  mit  grösserem,  nachher  diejenigen  mit 
kleinerem  Atomgewicht  entstanden  sind.  Es  ist  mir  wahrscheinlich, 
dass  eine  ähnliche  Regel  auch  für  die  Elemente  der  verschiedenen 
Familien  gilt,  und  dass  im  allgemeinen  bei  dem  Agglomerations- 
process  zuerst  die  schwereren  und  nachher  die  leichteren  Elemente 
sich  gebildet  haben.  Daher  wäre  die  Familie,  zu  welcher  Platin, 
Iridium,   Osmium    gehören,    als   eine   der  ältesten,   der  Wasserstofi 


9.  Entstehung,  Beschaffenheit  und  Veränderung  der  Atome.  777 

dagegen,  den  man  früher  als  das  Urelement  in  Anspruch  zu  nehmen 
geneigt  war,  als  das  jüngste  aller  Elemente  zu  betrachten.  Derselbe 
bildete  sich  erst,  als  der  Himmelsraum  an  Ameren  mit  wirksamer 
Gravitationsanziehung  nahezu  erschöpft  war. 


Gemäss  ihrer  Entstehungsw^eise  sind  die  Atomkörper  aus  Ameren 
und  Amergruppen  zusammengesetzt,  welche,  wie  schon  gesagt,  sich 
nicht  ruhend  gegen  einander  verhalten,  sondern  in  allen  möglichen 
Bewegungen  begriffen  sind ,  da  die  lebendige  Kraft ,  welche  die 
Amere  in  dem  ursprünglichen  Zustande  der  Zerstreuung  besassen, 
später  vollständig  als  lebendige  Kraft  im  Innern  der  Agglomera- 
tionsmassen sich  wiederfindet.  Von  der  ursprünglichen  Geschwin- 
digkeit der  Amere  ist  dem  Atom  als  Ganzem  nichts  übrig  geblieben; 
dasselbe  gehört  einer  andern  Grössenordnung  an  und  wird  bloss 
durch  die  Massenschwingungen  des  Aethers  in  Bewegung  gesetzt. 
Die  Beweglichkeit  der  Theilchen  im  Atomkörper  steht  nicht  im 
Widerspruch  mit  der  Erfahrung  der  Physik  und  Chemie,  welche 
uns  die  Atome  und  ihre  Particelle  in  ihren  wesentlichen  Eigen- 
schaften als  constant  zeigt.  Denn  einem  System  aus  beweglichen 
oder  bewegten  Theilchen  kann  jede  beliebige  Festigkeit  und  Dauer- 
haftigkeit zukommen.  Die  Beweglichkeit  der  Theilchen  wird  übrigens 
nicht  bloss  von  der  Theorie,  sondern  auch  von  der  Erfahrung  ge- 
fordert. Die  Eigenschaften  der  Atome  sind  nämlich  nur  innerhalb 
gewisser  Grenzen  beständig,  und  ihre  Veränderlichkeit  innerhalb 
dieser  Grenzen  lässt  sich,  wie  ich  in  dem  folgenden  Abschnitt  über 
die  chemische  Verwandtschaft  zeigen  werde,  nur  aus  der  Beweg- 
lichkeit der  Theilchen  innerhalb  der  Atomkörper  erklären. 

Aus  dem  Grade  der  Beständigkeit  und  Unbeständigkeit  der 
Eigenschaften,  namentlich  der  gleichen  und  ungleichen  dynamischen 
Wirkungen,  welche  die  verschiedenen  Seiten  eines  Atoms,  wie  sich 
aus  dem  Studium  der  chemischen  Verbindungen  ergibt,  bethätigen 
können,  lässt  sich  folgende  Beschaffenheit  des  Atomkörpers  folgern. 
Derselbe  ist  im  allgemeinen  ein  festes  und  unveränderliches  System, 
indem  ein  grosser  Theil  seiner  Amere  und  Amergruppen  zwar  nicht 
unbeweglich  mit  einander  verbunden  sind,  aber  doch,  ohne  ihren 
Platz  zu  verlassen,  schwingende,  wohl  auch  kreisende  Bewegungen 
ausführen.      Ein    anderer  Theil    der  Amere  und   Amergruppen  ist 


778  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

fortschrittsbeweglich,  indem  dieselben  durch  den  Atomkörper  wandern 
können,  in  der  Art,  dass  sie  ihre  Stellungen  mit  einander  vertauschen. 
Bei  einer  solchen  Beschaffenheit  erscheint  es  als  unvermeidlich, 
dass  die  flüchtigsten  Theilchen  auch  den  Atomkörper  verlassen 
können,  wobei  sie  von  anderen  Theilchen,  die  von  aussen  eintreten, 
nach  Bedürfniss  ersetzt  werden.  Die  Wanderung  der  Amere  im 
Atomkörper  hat  zur  Folge,  dass  die  Anziehungen  und  Abstossungen, 
welche  derselbe  auf  die  Umgebung  ausül)t,  innerhalb  gewisser 
Grenzen  wechseln,  sei  es  dass  sie  an  der  ganzen  Überfläche,  sei  es 
dass  sie  an  bestimmten  Seiten  grösser  oder  kleiner  werden.  Denn 
die  dynamische  Einwirkung  berechnet  sich  für  jedes  einzelne  Amer 
nach  der  Entfernung,  und  kann  daher  nur  für  grössere  Abstände 
ohne  merklichen  Fehler  als  Wirkung  von  Centralkräften  des  Atoms 
betrachtet  werden. 

Die  ponderable  Aetherhülle,  welche  den  Atomkörper  umgibt, 
wird  von  der  Anziehung  des  letzteren  festgehalten.  Da  die  An- 
ziehung auf  verschiedenen  Seiten  ungleich  ist,  so  muss  auch  die 
Mächtigkeit  der  Aetherhülle  verschieden  sein,  und  da  jene  mit  der 
Zeit  wechselt,  so  muss  auch  diese  im  ganzen  oder  an  einzelnen 
Stellen  zu  oder  abnehmen.  Obwohl  die  Aetherhülle  als  Ganzes 
durch  den  Atomkörper  festgehalten  wird,  sind  doch  ihre  Theilchen, 
wenn  sie  auch  namentlich  in  den  innersten  Schichten  oft  nur 
schwingende  Bewegungen  ausführen,  doch  vollkommen  fortschritts- 
beweglich, indem  sie  gegenseitig  den  Platz  wechseln,  und  ferner 
besonders  aus  den  äussersten  Schichten  die  Hülle  verlassen'  und 
durch  andere  Theilchen  ersetzt  werden.  —  Da  die  Aetherhüllen 
mit  einer  beträchtlichen  Kraft  an  die  Atomkörper  gebunden  sind, 
so  verhindern  sie  die  vollständige  Annäherung  dieser  letzteren  an 
einander;  sie  werden  aber  bei  den  Schwingungen  der  Atome  ab- 
geplattet und  in  geringem  Grade  zusammengedrückt. 

Der  Raum,  in  welchem  die  Bewegungen  der  Atomkörper  und 
ihrer  Aetherhüllen  stattfinden,  ist  mit  dem  ponderabeln  Zwischen- 
hülläther  ausgefüllt.  Derselbe  wird  in  den  festen  Körpern  von 
den  schwingenden  Atomen,  in  den  Flüssigkeiten  von  den  schwingen- 
den Atomen  und  den  fortschreitenden  Molekülen  hin  und  her  ge- 
schoben, indem  seine  Theilchen  wegen  der  vollkommenen  Elasticität 
und  grossen  Beweglichkeit  nur  einen  sehr  geringen  Widerstand  zu 
leisten  vermögen. 


9.  Entstehung,  Beschaffenheit  und  Veränderung  der  Atome.  779 

Die  Atome  sind,  soweit  unsere  Erfahrung  reicht,  rücksichthch 
ihrer  allgemeinen  Eigenschaften  constant.  Da  sie  dieselben  aber, 
ebenfalls  erfahrungsgemäss,  durch  Umlagerung  ihrer  Theilchen  inner- 
halb bestimmter  Grenzen  verändern,  so  wäre  es  nicht  unmöglich, 
dass  sie  infolge  der  Wanderung  ihrer  Theilchen  zwar  langsam 
und  unmerkhch,  aber  doch  dauernd  sich  umwandelten.  Dies  ist 
namentlich  auch  deshalb  leicht  denkbar,  da  der  Atomkörper  gegen 
aussen  nicht  vollkommen  abgeschlossen  ist.  Wenn  Theilchen  aus- 
treten und  andere  eintreten,  so  lässt  sich  denken,  dass  die  aus- 
tretenden durch  solche  von  anderer  Beschaffenheit  ersetzt  werden, 
und  dass  die  Folge  eines  solchen  lang  andauernden  Austausches 
die  bleibende  Umstimmung  des  Atomkörpers  ist.  Eine  solche  Um- 
stimmung  dürfte  zuerst  durch  ihre  Wirkung  auf  die  AetherhüUe 
bemerkbar  w^erden,  indem  diese  ihre  Mächtigkeit  und  ihre  Eigen- 
schaften verändert.  Von  der  Beschaffenheit  der  AetherhüUe  wird 
wesentlich  die  Festigkeit  des  Zusammenhanges,  also  Aggregatzustand, 
Schmelz-  und  Siedepunkt  bedingt.  Wir  haben  keinen  Grund  an- 
zunehmen, dass  die  chemischen  Elemente  nicht  mit  der  Zeit  eine 
langsame  Erhöhung  oder  Erniedrigung  ihrer  Schmelz-  und  Siede- 
temperaturen erfahren.  —  Es  können  aber  infolge  des  Stoffwechsels 
mit  der  Zeit  noch  bedeutendere  Umbildungen  in  den  Atomkörpern 
erfolgen,  so  dass  die  chemischen  Elemente  wesentlich  andere  Eigen- 
schaften annehmen.  Jedenfalls  dürfen  wir  den  Atomen  keine  absolute 
Beständigkeit  zuschreiben;  dieselben  müssen,  .wie  alle  Individuen 
der  endlichen  Welt,  der  A^eränderung  unterworfen  und  in  ihrer 
Individualität  dem  Untergange  geweiht  sein. 

Diese  Frage  hat  eine  grosse  naturphilosophische  Bedeutung^). 
Wenn  die  Atome  in  ihren  Eigenschaften  constant  wären,  so  ginge 
die  Welt  ihrem  entropischen  Ende  entgegen.  Sind  sie  aber  ver- 
änderlich, so  tritt  früher  oder  später  in  der  jetzt  herrschenden 
entropischen  Weltentwicklung  ein  Umschwamg  ein,  und  es  folgt 
auf  die  positive  eine  negative  Entropie.  —  Die  A^eränderung  der 
Atome  kann  auf  zweierlei  Art  herbeigeführt  werden.  Die  eine  Mög- 
lichkeit besteht  darin,  dass  der  Atomkörper  unter  den  jetzt  be- 
stehenden Verhältnissen   infolge    der   Configurationsumwandlungen, 


')  Ich  verweise  auf  den  3.  Zusatz   zu   der  Abhandlung    »Die  Schranken  der 
naturwissenschaftlichen  Erkenntniss«  S.  615. 


780  Kräfte  und  Gestaltungen  im  rnolecularen  Geriet. 

die  er  mit  Hülfe  der  äusseren  Einwirkungen  durchmacht,  mit  Noth- 
wendigkeit  zu  einer  dauernden  Umbildung  geführt  wird.  In  diesem 
Falle  geht  die  Veränderung  äusserst  langsam  und  in  verschiedenen 
chemischen  Elementen  in  ungleichem  Sinne  vor  sich. 

Die  andere  Möglichkeit  dagegen  ist  die,  dass  die  gegenwärtige 
Beschaffenheit  der  Atome  einen  stationären  Gleichgewichtszustand 
zwischen  der  Substanz  derselben  und  dem  Weltäther,  in  dem  unser 
Sonnensystem  sich  befindet,  darstellt,  und  dass  dieselbe  daher  nur 
eine  Veränderung  erfahren  kann,  wenn  der  Weltäther  eine  andere 
Natur  annimmt.  Nun  hat  aber  der  Aether  in  der  unendlichen  Welt 
gewiss  nicht  überall  die  nämliche  Zusammensetzung,  nicht  genau 
die  nämlichen  Gesammtmengen  der  sechs  Elementarkräfte  und  nicht 
das  nämliche  Verhältniss  dieser  Kräfte  in  den  Aethertheilchen.  Ferner 
ist  der  Weltäther  als  Gesammtmasse  gewiss  nicht  in  Ruhe ;  es  finden 
Massen  Strömungen  statt,  oder,  was  den  nämlichen  Effect  gewährt, 
unser  Sonnensystem  kommt  in  fremde  Welt-  und  Aetherräume.  Ein 
etwas  anders  constituirter  Aether,  der  vielleicht  auch  mit  einer  etwas 
andern  Geschwindigkeit  der  Einzelbewegungen,  begabt  ist,  übt  noth- 
wendig  auch  eine  etwas  veränderte  Einwirkung  auf  die  Atome  aus.  Es 
treten  dauernd  in  den  Schweräther  und  von  diesem  in  die  Atom- 
körper andersartige  Theilchen  ein  als  diejenigen  sind,  welche  von 
ihnen  ersetzt  werden.  Atomkörper  und  Aetherhülle  verändern  sich, 
und  wenn  diese  Veränderungen  in  dem  Sinne  erfolgen,  dass  die 
Aetherhüllen  mächtiger,  somit  der  Zusammenhang  zwischen  den 
Atomen  lockerer  wird,  so  werden  die  festen  Körper  zuerst  flüssig 
und  nachher  gasförmig.  Die  Weltkörper  unsers  Sonnensystems 
können  auf  diesem  Wege  aus  der  Zusammenballung  in  einen  Zu- 
stand der  Zerstreuung  zurückkehren,  in  welchem  wenigstens  die 
Moleküle  oder  selbst  die  Atome  vollständig  von  einander  getrennt  sind. 

Es  ist  noch  ein  Umstand  zu  berücksichtigen,  welcher  gegen  die 
Unveränderlichkeit  der  Atome  spricht.  Die  sie  zusammensetzenden 
Amere  müssen  nämlich  ebenso  wohl  Umbildungen  erleiden,  wie  die 
individuellen  Gebilde  aller  höheren  Ordnungen.  Durch  diese  Um- 
bildung der  Amere  erlangen  die  Atome  selbstverständlich  mit  der 
Zeit  andere  Eigenschaften  und  es  kann  dadurch  selbst  ihre  Existenz 
in  Frage  gestellt  werden,  indem  die  Atome  in  die  Particelle,  diese 
in  kleinere  Stücke  zerfallen  und  zuletzt  in  die  Amere  sich  ver- 
flüchtigen. 


9.  Entstehung,  Beschaffenheit  und  Veränderung  der  Atome.  781 

Das  Verhalten  der  Wärme  bei  den  geschilderten  A^orgängen  ist 
leicht  zu  übersehen.  Beginnen  wir,  um  ein  vollständiges  Bild  zu  haben, 
mit  der  ursprünglichen  Zerstreuung,  in  welcher  alle  Materie  in  die 
Amere  aufgelöst  war.  Die  Amere  führten  ihre  Einzelbewegungen  mit 
der  vollen  Energie  aus,  wie  sie  jetzt  den  Aetherameren  zukommen. 
Aber  Massenschwingungen,  welche  Wärme  und  Licht  darstellten,  gab 
es  noch  nicht,  soweit  dieselben  nicht  aus  anderen  Himmelsräumen, 
die  in  einem  anderen  Zustande  der  Entwicklung  sicli  befanden,  an- 
langten. Abgesehen  von  dieser  importirten  Wärme  war  also  der 
betreffende,  noch  in  der  Amerzerstreuung  befindliche  Bümmelsraum 
wärme-  und  lichtlos  und  zeigte  die  absolute  Nulltemperatur. 

Sowie  sich  nun  infolge  der  eintretenden  Agglomeration  Atome 
bildeten  und  sich  zunächst  zu  Molekülen,  dann  zu  grösseren  Gruppen 
vereinigten,  entstanden  durch  das  Zusammenstossen  der  Agglomera- 
tionskörper, zunächst  der  Atome  und  durch  die  heftigen  Schwingungen 
derselben,  die  dem  Zusanmienstoss  folgten,  nothwendig  Schwingungen 
des  Aethers,  in  gleicher  Weise  wie  jeder  Zeit  bei  der  Vereinigung 
von  Atomen,  z.  ß.  bei  der  Bildung  von  Wassergas  aus  Wasserstoff 
und  Sauerstoff,  Wärme  oder  Licht  und  Wärme  erzeugt  werden.  Mit 
der  zunehmenden  Agglomeration  ging  immer  wieder  mechanische 
Bewegung  in  Wärme  über,  welche  zunächst  die  Temperatur  der 
Agglomerationsmassen  erhöhte,  nachher  allmählich  an  den  EQmmels- 
raum  abgegeben  wurde. 

Wir  befinden  uns  in  dieser  Periode;  die  dunkeln  Himmels- 
körper werden  durch  Wärmeverlust  sehr  langsam  kälter,  indess  auf 
die  grossen  leuchtenden  Sonnen  infolge  der  stärkeren  Anziehung 
immer  noch  so  beträchtliche  Massen  von  kleineren  im  Weltenraum 
herumfliegenden  Massen  (Sternschnuppen)  stürzen,  dass  dieselben 
ungeachtet  des  ungeheuren  Wärmeverlustes  ihre  Glühhitze  bewahren. 
Lidessen  auch  diese  Periode  wird  ihr  Ende  erreichen.  Die  Sonnen 
werden  erlöschen  und  nur  zeitweilig  wieder  aufleuchten,  wenn  grössere 
dunkle  Weltkörper  sich  mit  ihnen  vereinigen.  Nach  der  letzten  Ver- 
einigung der  Weltkörper  und  nach  dem  Erlöschen  und  Erkalten 
der  letzten  Sonne  wird  das  Endstadium  der  jetzigen  entropischen 
Weltentwicklung  eingetreten  sein ,  in  welchem  die  Agglomerations- 
masse  und  der  Aether  des  Weltraumes  die  nämliche  Temperatur  besitzen. 

Dauert  die  entropische  Entwicklung  so  lange,  bis  sie  zu  dem 
eben  genannten  stationären  Zustand  gelangt  ist,   so   hat  scheinbar 


782  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

die  Veränderung  in  der  Welt  aufgehört.  Es  ist  aber  nur  eine  schein- 
bare Stagnation ;  der  Aether  bleibt  in  Bewegung  und  durch  die 
Einzelbewegungen  der  Aethertheilchen  wird  ein  Stoffwechsel  in  den 
Atomen  unterhalten,  der  früher  oder  später  dahin  führt,  dass  die 
Aetherhüllen  der  Atome  mächtiger  und  die  Anziehungen  zwischen 
den  Atomen  schwächer  werden.  Hat  diese  Veränderung  eine  ge- 
wisse Höhe  erreicht,  sind  die  Atome  der  festen  Körper  in  die  Ver- 
fassung gelangt,  in  der  sich  jetzt  das  Quecksilber,  und  später  in 
diejenige,  in  der  sich  jetzt  Wasserstoff,  Sauerstoff  und  Stickstoff  be- 
finden, so  wird  ihr  lockerer  Zusammenhang  durch  die  Aether- 
schwingungen  überwunden.  Es  verwandelt  sich  Aetherwärme  in 
Atombewegung.  Dadurch  wird  die  ponderable  Masse  unter  die 
Temperatur  des  Weltenraumes  abgekühlt ;  es  findet  nun  eine  Rück- 
strömung von  Wärme  aus  diesem  nach  jener  statt,  die  so  lange  an- 
dauert, bis  die  Materie  flüssig  und  gasförmig  geworden  ist. 

Die  Entropie  der  Welt  hat  in  dieser  Entwicklungsperiode  ihren 
Charakter  geändert.  Es  geht  dann  bei  all  den  zahlreichen  Umwand- 
lungen von  Wärme  in  Atombewegung  und  von  dieser  in  jene  immer 
eine  gewisse  Menge  Wärme  verloren,  weil  die  mechanische  Energie 
nicht  mehr  vollständig  sich  in  Wärme  umsetzen  kann;  dies  aus 
dem  einfachen  Grund,  weil  die  Agglomerationsmassen  eine  niedrigere 
Temperatur  besitzen  als  der  umgebende  Weltenraum  und  daher  stets 
Wärme  aufnehmen.  In  unserer  Zeit  findet  das  Umgekehrte  statt; 
die  Wärme  kann  nicht  mehr  vollständig  zu  mechanischer  Energie 
werden,  weil  immer  ein  Theil  derselben  an  den  kälteren  Weltenraum 
abgegeben  wird. 

Die  Entropie  der  Welt,  welche  durch  das  Verhalten  der  Wärme 
bestimmt  wird,  ist  keine  Erscheinung  von  absoluter  Allgemeinheit, 
weil  die  Wärme  nicht  als  Maass  für  alle  Energien  gelten  kann. 
Durch  Wärme  lassen  sich  die  Energien  der  Einzelbewegungen  der 
Amere  nicht  ausdrücken.  Die  Entropie  der  Welt,  wie  sie  formulirt 
worden  ist,  berücksichtigt  bloss  die  mechanischen  Bewegungen  der 
als  unveränderlich  vorausgesetzten  Atome  und  die  Wärmeschwingungen 
des  Aethers;  es  ist  also  nur  eine  partielle  Entropie  und  sagt  uns 
nichts  über  den  Verwandlungsinhalt  des  Ganzen,  zu  welchem  auch 
die  Einzelbewegungen  der  Amere  im  Weltäther,  im  ponderabeln 
Aether  und  in  den  Atomkörpern  gehören. 


10.  Chemische  Verwandtschaft.     Adhäsion.  783 

Ich  suchte  zu  zeigen,  wie  auf  natürhchem  Wege  die  festen  und 
flüssigen  Massen  wieder  in  die  Zerstreuung  der  Gase  zurückkehren 
können.  Damit  ist  indessen  nur  ein  Theil  des  gesammten  Agglo- 
merationsprocesses  zurückverwandelt.  Die  Umkehr  wurde  nur  so 
weit  verfolgt,  als  dafür  Anhaltspunkte  in  der  Amertheorie  gegeben 
sind.  Mit  ihrer  Hülfe  können  wir  uns  recht  gut  vorstellen,  dass 
die  ponderabeln  Massen  wieder  in  die  einzelnen  Atome  aufgelöst 
werden.  Die  Zerstreuung  der  Atome  aber  in  die  einzelnen  Amere, 
die  sehr  wahrscheinlich  ebenfalls  eintritt,  lässt  sich  nur  denken, 
wenn  wir  die  Grundlage  der  Amertheorie  selber  einer  Analyse  unter- 
werfen und  wenn  wir  infolge  derselben  zu  der  Annahme  gelangen, 
dass  auch  die  Amere  sich  verändern.  Es  ist  nun  gewiss  unstatthaft, 
die  Amere  als  ewige  und  absolut  unveränderliche  Einheiten  zu  be- 
trachten. Dieselben  müssen,  wie  alle  endlichen  Dinge,  sich  um- 
wandeln, und  wenn  mit  der  Umwandlung  ihre  dynamischen  Eigen- 
schaften andere  w^erden,  so  kann  auch  eine  Trennung  derselben, 
also  ein  Zerfallen  der  Atome  in  die  einzelnen  Amere  und  eine  Rück- 
kehr in  denjenigen  Zustand  der  Zerstreuung,  von  dem  die  Betrach- 
tung über  die  Zusammenballung  in  dieser  Abhandlimg  ausgegangen 
ist,  die  Folge  sein.  Aber  die  Veränderung  der  Amere  sowie  die 
Ursachen  derselben  lassen  sich  jedenfalls  zur  Zeit  noch  nicht  zum 
Vorwurf  einer  Hypothese  machen. 


10.  Chemische  Verwandtschaft.     Adhäsion. 

Zu  den  schwierigsten  Aufgaben  der  Molecularphysik  gehört  eine 
naturgesetzliche  Erklärung  der  chemischen  Anziehung.  Dieselbe 
muss  drei  Bedingungen  genügen,  welche  anscheinend  unter  einander 
im  Widerspruch  sind: 

1.  Je  2  Atome,  resp.  Particelle  zweier  Atome,  sie  mögen  ver- 
schiedenen chemischen  Elementen  oder  auch  dem  nämlichen  Element 
angehören,  ziehen  sich  an  und  verbinden  sich  mit  einander. 

2.  Mit  der  erfolgten  Verbindung  ist  die  chemische  Anziehung 
erschöpft  (gesättigt),  so  dass  die  verbundenen  Atome  oder  Particelle 
sich  gleichzeitig  nicht  mit  anderen  Atomen  oder  Particellen  verbinden 
können. 

3.  In  demselben  mehrwerthigen  Atom  treten  die  Particelle  bald 
selbständig  auf,  indem  jedes  einzelne  eine  Verbindung  eingeht  und 


784  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet, 

gesättigt  wird,  bald  unselbständig,  indem  mehrere  zusammen  mit 
einem  1  werthigen  Atom  oder  mit  einem  Particell  sich  verbinden  und 
dadurch  unfähig  zu  gleichzeitigen  andern  Verbindungen  werden. 

Es  dürfte  unmöglich  sein,  diese  Bedingungen  ohne  Hilfe  der 
Amertheorie  zu  erfüllen,  wie  eine  Besprechung  der  bisherigen  Ver- 
suche zeigen  wird.  Dieselben  stützen  sich,  wenn  überhaupt  eine 
Erklärung  angestrebt  wurde,  auf  die  Elektricität.  Dass  bei  der  chemi- 
schen Anziehung  die  elektrischen' Kräfte  eine  wichtige  Rolle  spielen, 
ist  namentlich  mit  Rücksicht  auf  die  elektroljrtischen  Erscheinungen 
schon  lange  erkannt  worden.  Die  Wirksamkeit  der  Elektricität  lässt 
sich  auf  zweierlei  Weise  denken:  Entweder  sind  die  chemischen 
Elemente  an  und  für  sich  in  verschiedenem  Grade  elektrisch  und 
behalten  constant  diese  Elektricität;  oder  ihre  Elektricitäten  werden 
erst  bei  der  Annäherung  frei  und  verlieren  sich  nach  der  Trennung 
wieder.  Weder  die  eine  noch  die  andere  dieser  Annahmen  vermag 
uns  eine  Erklärung  der  chemischen  Erscheinungen  zu  geben. 

Was  die  erste  Annahme  betrilBit ,  so  lässt  sie  sich  auf  eine  that- 
sächliche  Grundlage  zurückführen ,  insofern  man  die  elektrische 
Spannungsreihe  der  Elemente  als  den  Ausdruck  für  die  Abstufung 
ihrer  inhärenten  wirksamen  Elektricität  ansieht.  Aber  aus  dieser 
Elektricität  allein  lassen  sich  nicht  alle  chemischen  Anziehungen 
ableiten.  Dem  widerstrebt  entschieden  die  zweite  der  obigen  drei  Be- 
dingungen. Wenn  die  chemischen  Elemente  infolge  ihrer  abge- 
stuften Elektricitätsmengen  eine  grössere  oder  geringere  Verwandt- 
schaft zu  einander  besässen,  so  vermöchten  die  Atome  des  nämlichen 
Elements  sich  nicht  mit  einander  zu  verbinden,  und  dadurch  würde 
die  in  Wirklichkeit  vorhandene  Constitution  der  Elementmoleküle, 
welche  im  allgemeinen  aus  je  2  Atomen  zusammengesetzt  sind,  zur 
Unmöglichkeit.  Die  Atome  eines  Elements  müssten  im  Gegentheil, 
da  sie  die  gleiche  Elektricität  besitzen,  einander  abstossen.  Die  Ab- 
stossung  müsste  bei  den  an  den  beiden  Enden  der  Spannungsreihe 
stehenden  Elementen  besonders  auffallend  sein,  weil  dieselben  grössere 
Mengen  positiver  oder  negativer  Elektricität  enthalten,  so  z.  B.  beim 
Sauerstoff.  Aber  im  Widerspruche  mit  dieser  Folgerung  haften  die 
beiden  Atome  eines  Sauerstoffmoleküls  so  fest  an  einander,  dass  sie 
selbst  noch  bei  hohen  Temperaturgraden  vereinigt  bleiben.  Die  erste 
der  beiden  elektrochemischen  Annahmen  erweist  sich  also  als  un- 
zureichend. 


10.  Chemische  Verwandtschaft.     Adhäsion.  785 

Nach  der  zweiten  Annahme  enthahen  die  Atome  neutrale  Elek- 
tricität,  welche  bei  der  Annäherung  eines  zweiten  gleichen  oder  un- 
gleichen Atoms  zerlegt  wird.  Dies  ist  die  Theorie  von  Berzelius 
und  von  Fee hn er.  Infolge  der  Trennung  der  neutralen  Elektricität 
vereinigen  sich  die  frei  werdenden,  positiven  und  negativen  Elektri- 
citäten  des  einen  und  andern  Atoms  zum  Theil  mit  einander,  während 
der  Rest  getrennt  in  den  beiden  Atomen  verharrt,  so  dass  dieselben 
mit  entgegengesetzter  Elektricität  geladen  sind  und  sich  dauernd 
anziehen.  Diese  Annahme,  welche  sich  auf  die  Erscheinungen  der 
Elektricitätserregung  durch  Berührung  berufen  kann,  findet  ihre  that- 
sächliche  Grundlage  ebenfalls  in  der  Spannungsreihe  der  Elemente, 
lässt  aber  die  letztere  in  anderer  Weise  zu  Stande  kommen  als  die 
erste  Annahme. 

Für  die  Erklärung  der  chemischen  Thatsachen  erweist  sich  die 
zweite  elektrochemische  Theorie  ebenso  unzureichend.  Wäre  sie 
richtig,  so  müssten  zwei  Elemente  sich  um  so  stärker  anziehen,  je 
weiter  sie  in  der  Spannungsreihe  von  einander  abstehen,  weil  diesem 
Abstand  das  elektromotorische  Moment  proportional  wäre.  Am 
geringsten  wäre  die  Anziehung  zwischen  den  Atomen  des  nämlichen 
Elements.  Nun  gibt  es  aber  vielleicht  keine  einzige  chemische  Ver- 
bindung ,  welche  nicht ,  mit  bestimmten  anderen  Verbindungen  ver- 
glichen, als  Ausnahme  von  der  ausgesprochenen  Regel  angeführt 
werden  könnte.  Was  die  Verwandtschaft  zwischen  den  Atomen  des 
gleichen  Elements  betrifft,  so  gibt  es  unter  den  bekannten  Fällen 
bloss  drei  (Quecksilber,  Cadmium  und  Zink),  wo  dieselbe  so  gering 
ist,  dass  die  Atome  bei  der  Verdampfung  nicht  zu  Molekülen  ver- 
bunden bleiben,  während  die  Moleküle  anderer  Gase  weit  über  ihrer 
Verdampfungstemperatur  der  Dissociation  widerstehen.  Am  auf- 
fallendsten tritt  diese  grosse  Anziehung  zwischen  den  nämlichen 
Atomen  bei  den  permanenten  Gasen  hervor,  die  eine  sehr  niedrige 
Verdampfungstemperatur  besitzen  und  daher  eine  grosse  Menge 
latenter  Wärme  in  sich  aufgenommen  haben,  welche  den  Zusammen- 
hang der  Moleküle  zu  lockern  bestrebt  ist.  Unter  den  genannten 
Gasen  zeigt  der  Stickstoff  eine  grössere  Verwandtschaft  zu  sich  selbst, 
als  zu  den  meisten  anderen  Elementen. 

Einen  noch  stärkeren  Einwand  gegen  die  elektrochemische 
Theorie  von  Berzelius  und  Fechner  geben  uns  die  ungesättigten 
Verbindungen  und  die  wechselnde  Valenz.    Wenn  die  Atome  durch 

V.  Nägel  i,  Abstammungslehre  50 


786  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet 

Vertheilung  elektrisch  würden,  wenn  somit  die  Elektricität  das  Atom 
verlassen  und  in  das  Atom  eintreten  könnte,  so  müsste  dieselbe  auch 
von  einem  Particell  des  mehrwerthigen  Atoms  auf  die  andern  Particelle 
übergehen  und  sich  über  das  ganze  Atom  verbreiten  können.  Dadurch 
würde  das  Particell  die  relative  Selbständigkeit  verlieren,  welche  ihm 
doch  als  Träger  einer  Werthigkeit  zugestanden  werden  muss.  Wenn 
beispielsweise  ein  Sauerstoffatom  sich  mit  einem  Kohlenstoffatom 
zu  Kohlenoxyd  verbindet,  so  fände  zwischen  den  beiden  Atomen 
diejenige  elektrische  Erregung  statt,  welche  überhaupt  bei  der  Be- 
rülirung  von  Kohlenstoff  und  Sauerstoff  möglich  ist.  Ein  zweites 
Sauerstoff atom,  welches  herankäme,  um  mit  dem  Kohlenoxyd  Kohlen- 
säure zu  bilden ,  würde  mit  seiner  neutralen  Elektricität  entweder 
keine  abermalige  elektrische  Vertheilung  bewirken  können,  oder,  wenn 
es  möglich  wäre,  so  müsste  ein  drittes  Atom  von  Sauerstoff  das 
Nämliche  zu  Stande  bringen  und  sich  mit  dem  Kohlenstoffatom  ver- 
binden. Wie  wäre  es  ferner,  wenn  die  Elektricitätserregung  in  der 
angegebenen  Weise  über  die  Verbindung  entscheiden  würde,  bei 
wechselnder  Valenz  denkbar,  dass  z.  B.  das  Chloratom  von  Wasser- 
stoff oder  Kalium,  gegen  welche  Elemente  es  stark  elektromotorisch 
ist,  nur  ein  einziges  Atom  anzieht,  während  es  von  Sauerstoff,  gegen 
welchen  es  schwach  elektromotorisch  ist,  4  Atome  oder  vielmehr 
7  Particelle  zu  fesseln  vermag.  Die  gleiche  Erwägung  gilt  auch  für 
Schwefel,  Selen,  Stickstoff,  Brom,  Jod  bezüglich  ihrer  Verbindungen 
mit  Sauerstoff  und  mit  den  Alkalien. 


Wenn  die  gemachten  Ausstellungen  darthun ,  dass  die  elektro- 
chemischen Theorien  nicht  die  Eingangs  aufgeführten  drei  Bedin- 
gungen zu  erfüllen  und  alle  Erscheinungen,  welche  die  Atomverkettung 
darbietet,  zu  erklären  vermögen,  so  soll  damit  nicht  etwa  ausgesprochen 
werden,  dass  die  Elektricität  bei  der  chemischen  Anziehung  nicht 
eine  grosse  Bedeutung  habe  und  in  manchen  Fällen  selbst  die  Haupt- 
rolle übernehme.  Aber  neben  ihr  müssen  auch  die  anderen,  in  den 
Atomen  befindlichen  Kräfte,  namentlich  die  Isagität,  berücksichtigt 
werden.  Ferner  muss  die  von  der  Amertheorie  geforderte  Annahme 
in  vollem  Maasse  verwerthet  werden,  die  Annahme,  dass  die  Theil- 
chen  des  Atomkörpers  theilweise  wandern ,  ohne  denselben  zu  ver- 
lassen,   dass   also  die  dynamischen  Mittelpunkte   der  verschiedenen 


10.  Chemische  Verwandtschaft.     Adhiision.  787 

Elementarkräfte  ihren  Platz  wechseln,  ohne  dass  der  Atomkörper 
einen  Verlust  oder  einen  Zuwachs  an  Kraft  erfährt ,  und  dass 
jedes  einzelne  Particell  sich  hierin  dem  Atonikörper  gleich  verhält. 
Die  Werthigkeiten  sind  also  constante  Systeme  von  Kräften,  deren 
innere  Configuration  sich  verändert.  Von  den  Ameren,  welche  die 
Träger  dieser  Kräfte  sind,  vereinigt  zwar  jedes  alle  Kräfte  in  sich, 
aber  in  ungleichem  Maasse,  und  deswegen  verschiebt  sich  für  jede 
Kraft  mit  der  Wanderung  der  Amere  auch  der  Punkt,  in  welchem 
man  sie  sich  bezüglich  ihrer  Wirkung  nach  aussen  vereinigt  denken 
kann,  oder  der  dynamische  Mittelpunkt. 

Der  Einfachheit  wegen  will  ich  als  Beispiel  zwei  Iwerthige 
Atome  betrachten,  welche  zusammenkommen  und  auf  einander  ein- 
wirken, wobei  ich  aber  im  voraus  bemerke,  dass  Alles,  was  sich 
hier  ergibt,  auch  für  die  einzelnen  Particelle  der  mehrwerthigen  Atome 
Gültigkeit  hat.  Die  Kräfte  jedes  Atoms  befinden  sich  vor  der  An- 
näherung unter  sich  im  Gleichgewicht.  Infolge  der  gegenseitigen 
dynamischen  Einwirkung,  welche  bei  der  Annäherung  eintritt,  wird 
dieses  Gleichgewicht  gestört;  die  gegenseitigen  Anziehungen  und 
Abstossungen  bewirken  eine  Ortsveränderung  der  fortschrittsbeweg- 
lichen Theilchen  und  eine  Orientirung  der  drehungsbeweglichen 
zusammengesetzten  Theilchen  (Amergruppen).  Da  die  Kräfte  der 
drei  Paare  (der  dominanten,  isagischen  und  elektrischen  Kräfte)  nur 
auf  sich  selber  wirken,  so  sind  sie  getrennt  zu  betrachten. 

Ich  beginne  mit  den  Dominantenkräften ,  deren  Verhalten  am 
einfachsten  ist  und  daher  am  klarsten  vorliegt.  Die  Gravitations- 
anziehung muss  von  der  Entstehung  der  Atome  her  ihrer  Natur 
nach  in  überwiegendem  Maasse  im  Innern ,  die  Aetherabstossung 
vorzugsweise  unter  der  Oberfläche  sich  befliiden.  Nähern  sich  zwei 
Atome  einander,  so  müssen  diejenigen  ihrer  Ije weglichen  Theilchen, 
welche  mehr  Gravitation  als  Aether- 
abstossung enthalten,  nach  den  ein- 
ander zugekehrten  Seiten,  die  be- 
weglichen Theilchen  dagegen  ,  in 
denen  mehr  Aetherabstossung  als 
Gravitation  vorhanden  ist,  nach  den  ^'^'  ^^" 

abgekehrten  Seiten  der  Atomkörper  fortrücken.  Die  dynamischen 
Centren  der  beiden  Kräfte  verschieben  sich  also  in  entgegengesetzter 
Richtung ,  und  wenn  sie  ursprünglich  central  waren ,    so  zeigen  sie 

50* 


788  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

jetzt  die  Stellungen,  die  in  Fig.  32  angegeben  sind,  wo  A  und  A'  die 
Centren  der  Gravitation,  B  und  JB'  diejenigen  der  Aetherabstossung 
bedeuten. 

Die  Isagitäten  haben  sich  bei  der  Bildung  der  Atome  infolge 
der  Anziehung  gleichnamiger  und  der  Abstossung  ungleichnamiger 
Kräfte,  soweit  es  möglich  war,  auf  zwei  Hälften  des  Atomkörpers 
vertheilt,  so  dass  in  dem  vereinzelten  Atom  die  eine  Hälfte  den 
grössern  Theil  der  gesammten  a-Isagität,  die  andere  Hälfte  den 
grössern  Theil  der  gesammten  /^-Isagität  besitzt,  und  dass  somit  für 
den  Fall,  in  welchem  beide  Isagitäten  in  gleicher  Menge  vorhanden 
sind ,  ihre  beiden  Mittelpunkte  sich  wie  die  Brennpunkte  eines 
Ellipsoids  gelagert  zeigen.  Nähern  sich  zwei  Atome  einander,  so 
haben  sie  das  Bestreben ,  sich  dergestalt  zu  orientiren ,  dass  die 
dynamischen  Centren  der  beiden  Isagitäten  einander  opponirt  sind, 
und  ausserdem  wandern  die  fortschrittsbeweglichen  vorzugsweise 
isagischen  Theilchen,  soweit  es  möglich  ist,  gegen  die  zugekehrten 
Seiten  hin,  so  dass  die  zwei  verbundenen  Atome  die  in  Fig.  33  I  dar- 
gestellte Lagerung  der  isagischen  Mittelpunkte  a,  a\  ß,  /?'  aufweisen. 
Ist  eine  solche  Orientirung  aus  anderweitigen  Ursachen  unmöglich, 
oder  ist  die  eine  der  beiden  Isagitäten  und  zwar  dieselbe  in  jedem 
Atom  in  beträchtlich  grösserer  Menge  vorhanden  als  die  andere,  so 
werden  die  Atome  nach  der  Annäherung  auch  das  in  Fig.  5  II  dar- 
gestellte Bild  zeigen. 

Die  beiden  Figuren  33  I  und  II  geben  uns  die  Vorstellung  von 
zwei  besondern  und  extremen  Fällen.  Um  das  Gesetz  kurz  aus. 
zusprechen,  so  werden  die  beiden  Atome  sich  stets  so  zu  orientiren, 
und  ihre  fortschrittsbeweglichen  Theilchen  werden  stets  so  zu  wandern 
suchen,    dass  die  Summe  der  isagischen  Anziehungen  den  grössten 


Fig.  33. 


Ueberschuss  über  die  isagischen  Abstossungen  ergibt.  Die  Summe 
der  isagischen  Anziehungen  ist  a  •  a^  -\-  ß  •  ß';  die  Summe  der  isagischen 
Abstossungen  ist  a  •  /?  -|-  a  •  /?*  -j-  a'  •  /?  -f-  «'  •  ß\  wobei  die  Wirkungen 


10.  Chemische  Verwandtschaft.     Adhäsion.  789 

aller  Kräfte  nach  dem  reciproken  Verhältniss  des  Quadrats  der  Ent- 
fernung und  als  Componenten  zu  berechnen  sind,  die  in  einer  mit 
der  Verbindungslinie  der  beiden  Atommittelpunkte  parallelen  Richtung 
wirken. 

Was  endlich  das  dritte  Kräftepaar  betrifft,  so  enthält  jeder 
Atomkörper  eine  grössere  Menge  neutraler  Elektricität  und  eine 
geringe,  bei  den  verschiedenen  chemischen  Elementen  wechselnde 
Menge  positiver  oder  negativer  Elektricität,  welche  den  elektrischen 
Charakter  der  Elemente  bestimmt,  aber,  da  sie  die  Atome  nicht  ver- 
lassen kann,  durch  das  Elektroskop  nicht  angezeigt  wird.  Die  neu- 
trale Elektricität  besteht  aus  den  sich  compensirenden  Mengen  posi- 
tiver und  negativer  Elektricität;  sie  ist  vorzugsweise  in  der  Gestalt 
von  Amergruppen  vorhanden,  welche  aus  Ameren  mit  überwiegender 
entgegengesetzter  Elektricität  zusammengesetzt  sind.  Die  freie  Elek- 
tricität ist  der  Oberfläche  genähert.  Haben  die  zwei  sich  annähernden 
Atome  ungleichnamige  P^lektricität,  so  bewegt  sich  dieselbe  nach  den 
zugekelnien,  haben  sie  gleichnamige,  so  bewegt  sie  sich  nach  den 
abgekehrten  Seiten  hin.  Ausserdem  wird,  weil  durch  die  verschie- 
denen dynamischen  Einwirkungen  der  Atome  auf  einander  und  durch 
die  erfolgenden  Wanderungen  der  Theilchen  das  frühere  elektrische 
Gleichgewicht  gestört  wurde,  eine  grössere  oder  geringere  Menge 
von  neutraler  Elektricität  zerlegt,  und  die  frei  werdenden  Elektrici- 
täten  nebst  der  bereits  vorhandenen  freien  Elektricität  haben  das 
Bestreben,  soweit  es  die  Beweglichkeit  der  Amere  erlaubt,  sich  in 
der  Weise  in  jedem  der  beiden  Atome  zu  vertheilen,  dass  der  Ueber- 
schuss  der  Anziehung  über  die  Abstossung  den  grössten  Betrag  er- 
reicht. Zugleich  suchen  die  elektrisch  neutralen  Gruppen ,  welche 
nicht  zerlegt  werden,  durch  Drehung  sich  so  zu  orientiren,  wie  es 
der  A^ertheilung  der  freien  Elektricitäten  entspricht.   Die  d\mamischen 


Fig.  34. 


Mittelpunkte,  die  als  der  Ausdruck  der  gesammten  anziehenden  und 
abstossenden  elektrischen  Kräfte  gelten  können  (a,  b,  a\  6'),  werden 


790  Kräfte  und  Gestaltungen  im  niolecularen  Gebiet. 

bei  den  verschiedenen  Combinationen  der  chemischen  Elemente  sehr 
verschiedene  Stellungen  zu  einander  einnehmen,  welche  zwischen 
den  in  den  Figuren  34  I  und  11  angezeigten  extremen  Stellungen  sich 
bewegen  müssen. 

Es  werden  also  bei  der  Annäherung  zweier  Atome  die  fortschritts- 
beweglichen Theilchen  in  Bewegung  gesetzt,  so  dass  die  einen  sich 
nähern,  die  andern  sich  entfernen.  Dabei  treten  sicher  einzelne  der 
beweglichsten  Theilchen,  sei  es  infolge  der  Anziehung  oder  der  Ab- 
stossung,  aus  dem  Atomkörper  heraus  und  werden  durch  andere  ein- 
tretende ersetzt.  Die  grosse  Mehrzahl  der  fortschrittsbeweglichen 
Amere  wird  aber  durch  die  Einwirkung  der  übrigen  Kräfte  im  Atom- 
körper festgehalten  und  gewinnt  hier  die  für  die  dynamischen  Be- 
ziehungen günstigste  Vertheilung. 

Die  chemische  Anziehung  zweier  Atome  besteht  nun  in  der 
Summe  der  Anziehungen  aller  Elementarkräfte  abzüglich  der  Summe 
aller  Abstossungen.  Sie  ist  eine  Function  der  Zahl  der  Attractions- 
und  Repulsionseinheiten  in  jedem  Atom  und  der  Entfernungen,  auf 
welche  diese  Krafteinheiten  nach  erfolgter  Annäherung  wirksam 
sind.  Dabei  ist  zu  berücksichtigen,  dass  die  einzelne  Kraft  nicht 
genau  diejenige  Stellung  der  Theilchen  zu  Stande  gebracht  hat, 
welche  sie,  wenn  allein  vorhanden,  nach  der  gepflogenen  Erörterung 
verursachen  würde,  sondern  dass  je  die  stärkere  Kraft  die  schwächere 
verdrängte  und  dass  sich  ein  Gleichgewicht  zwischen  allen  Kräften 
herstellte ,  welches  die  grösstmögliche  attractive  Gesammt Wirkung 
ergibt. 

Bei  dieser  Gesammtwirkung  sind  die  Elektricität  und  die  Isagität 
maassgebend,  aber  bei  verschiedenen  Verbindungen  in  sehr  ungleichem 
Verhältniss,  indem  bald  die  eine,  bald  die  andere  das  entscheidende 
Moment  bildet.  Im  allgemeinen  können  wir  wohl  sagen ,  dass  bei 
der  Verbindung  von  Elementen,  welche  in  der  elektrischen  Spannungs- 
reihe  weit  von  einander  entfernt  sind,  die  Elektricität  den  Ausschlag 
gibt,  bei  nahe  stehenden  Elementen  dagegen  die  Isagität.  Am 
sichersten  lässt  sich  wohl  das  Verhältniss  der  beiden  Kräfte  bei 
der  Molekülbildung  aus  den  Atomen  des  nämlichen  Elements  be- 
urtheilen.  Da  die  sich  verbindenden  Atome  in  diesem  Falle  den 
gleichen  elektrischen  Charakter  haben,  so  kann,  besonders  wenn 
ihnen  schon  von  Natur  eine  grössere  Menge  freier  Elektricität  zu- 
kommt,   wie  beispielsweise  beim  Sauerstoff,    keine  bedeutende  elek- 


lU.  Chemische  Verwandtschaft.     Adhäsiou.  791 

irische  Anziehung  zu  Stande  kommen.  Da  die  Atome  aber  auch 
den  gleichen  isagischen  Charakter,  also  die  gleiche  Isagität  im  Ueber- 
schuss  besitzen,  so  muss  bei  der  Annäherung  eine  beträchtliche 
isagische  Anziehung  sich  ergeben.  Ebenso  dürfte  die  grosse  chemi- 
sche Verwandtschaft  zwischen  Sauerstoff  und  Schwefel,  welche  Elemente 
in  der  elektrischen  Spannungsreihe  Nachbarn  sind ,  vorzugsweise 
auf  der  Wirkung  der  Isagität  beruhen. 

Wenn  dagegen  entschieden  elektropositive  und  entschieden  elektro- 
negative  chemische  Elemente  sich  mit  einander  verbinden,  so  muss 
die  elektrische  Anziehung  in  der  Regel  sehr  bedeutend  ausfallen, 
während  die  isagische  Wirkung  unbekannt  ist  und  bald  einen  grösseren, 
l)ald  einen  geringeren  Betrag  erlangen  mag.  Die  Verbindung  von 
Sauerstoff  oder  Schwefel  mit  Wasserstoff  und  mit  den  Alkalien  lässt 
sich  jedenfalls  zur  Genüge  durch  die  Elektricität  erklären.  Es  ist 
nicht  unw'ahrscheinlich ,  dass  die  Verwandtschaft  des  Schwefels  zu 
den  Alkalien  einerseits,  zu  dem  Sauerstoff  anderseits  auf  ungleichen 
Ursachen  beruht,  dass  die  erstere  eine  vorzugsweise  elektrische,  die 
letztere  eine  vorzugsweise  isagische  ist. 

Da  von  den  Dominantenkräften  die  Gravitationsanziehung  in 
den  chemischen  Elementen  immer  grösser  ist  als  die  Aetherabstossung, 
so  möchte  man  ^delleicht  erwarten,  dass  die  erstere  auch  bei  jeder 
chemischen  Verbindung  irgend  eine  Rolle  spielen,  und  dass  bei 
Elementen  mit  hohem  Atomgewicht  diese  Rolle  nicht  unbedeutend 
ausfallen  werde.  Vergleichen  wir  Sauerstoff  (Atomgewicht  1)  und 
Quecksilber  (Atomgewicht  200)  mit  einander,  so  beträgt  die  ver- 
hältnissmässige  Anziehung  durch  die  Sch\vere  auf  grössere  (nicht 
moleculare)  Entfernungen  zwischen  zwei  Wasserstoffatomen  1  (nämlich 
1-1),  zwischen  zwei  Quecksilberatomen  dagegen  40000  (nämlich 
200  •  200).  Nun  ist  aber  diese  Anziehung  bloss  ein  winziger  Theil 
der  ganzen  Gravitationsanziehung,  welche  zwischen  zwei  beliebigen 
Atomen  (I  und  II)  durch  die  Formel  ausgedrückt  wird 

nii  mo  =  Äi  Ä-i  —  JBiBi, 

wenn  m^  und  m,  die  Masse  oder  das  Gewicht,  Äi  und  A.  die  Summe 
der  Gravitationskräfte,  B^  und  B.  die  Summe  der  Aetherabstossungs- 
kräfte  von  I  und  II  bezeichnen  (S.  7H),  757). 

Für  die  Gewichtsanziehungen  zwischen  zwei  Wasserstoffatomen 
{H)  und  zwischen  zwei  Quecksilberatomen  {Hy)  gelten  die  Gleichungen 


71)2  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

H- H=  Äi~£l  oder  Iq^^^Äl-^Bl 

HgHg  =  Äl-~  B\  oder  40000 g^  =  A\  —  B\, 

wenn  H=^\q  und  Hg  =  200 q  gesetzt  wird. 

Für  die  Beurtheikmg  aller  dieser  Gleichungen  sind  die  zwei 
sowohl  von  der  ganzen  Theorie  als  von  der  Erfahrung  geforderten 
Annahmen  von  Wichtigkeit,  1.  dass  die  Verhältnisse  der  Gravitations- 
kräfte zu  den  Aetherabstossungskräften  bei  den  verschiedenen  chemi- 

Ä      Äo     A 
sehen  Elementen,  also  ~,  ^,  -^  u.  s.  w.  im  allgemeinen  ungleiche 

iJl  ij2         -03 

Werthe  darstellen ,  2.  dass  die  Summen  der  Gravitationskräfte  in 
den  Atomen  der  verschiedenen  chemischen  Elemente  in  einem  andern 
Verhältniss  zu  einander  stehen  als  die  Atomgewichte.  Aus  den 
letzteren  lässt  sich  somit  kein  Schluss  auf  eine  bestimmte  Intensität 
der  Gravitationskräfte  und  der  Aetherabstossungskräfte  ziehen.  Es 
wäre  selbst  möglich ,  dass  das  Wasserstoffatom  eine  ebenso  grosse 
oder  selbst  eine  grössere  Summe  von  Gravitationskräften  enthielte 
als  das  Quecksilberatom,  wenn  die  Summe  der  Aetherabstossungs- 
kräfte in  entsprechendem  Maasse  erhöht  wäre.  Ich  habe  schon  oben 
(S.  758)  gezeigt,  worauf  die  verschiedenen  Atomgewichte  beruhen. 
Wegen  der  grossen  Bedeutung,  die  man  oft  den  Atomgewichten  in 
chemischer  Hinsicht  beizulegen  geneigt  ist,  will  ich  noch  an  zwei 
Beispielen  zeigen,  wie  die  ungleichen  Gewichte  des  Wasserstoffs  und 
des  Quecksilbers  zu  Stande  kommen  können. 

In  der  Gleichung  AA^  —  BB^  ^=  mnii  bedeute  A  die  Summe 
der  Gravitationskräfte  der  Erde,  B  die  Summe  ihrer  Aetherabstossungs- 
kräfte und  m  ihre  Masse  oder  ihr  Gewicht ,  A,,  Bi  und  nh  die 
entsprechenden  Grössen  eines  Wasserstoff atomes.  Die  Gleichung 
AA. —  BB.  =  mnio,  sowie  die  Zeichen  A.,  B.  und  m^  gelten  für  ein 
Quecksilberatom.  W^enn^  =  1 000000000001  Q,B  =  1 000000000000^, 
ferner 

I  A,  ^-.  1,00001g,  B,  =  1,00  g,  so  folgt  mm,  =       10000001  Qq 
I  J,  =  1,002  g,       ^2  =  1,00g,  »       mm._  =  2000000001  Qq 

2  f  ^  =  0,013  g,       B,  =  0,01299g,  »      mm,  =      10 0000000 13 (;>g 
|^,  =  0,012  g,       B,  =  0,0100q,     >       mm,  =  2000000000012  ^g 

In  beiden  Beispielen  besteht  das  gleiche  Verhältniss  zwischen 
dem   Atomgewicht    des  Wasserstoffes    und    demjenigen    des   Queck- 


10.  Chemische  Verwandtschaft.     Adhäsion.  793 

Silbers,  nämlich  1  :  200.  In  dem  ersten  Beispiel  aber  ist  Ä.  grösser 
als  Äi,  in  dem  zweiten  dagegen  ist  Ä.,  kleiner  als  vi,,  also  die  Summe 
der  Gravitationskräfte  im  Quecksilberatom  kleiner  als  im  Wasserstoff- 
atom ^). 

Das  Atomgewicht  kann  aber  um  so  weniger  Anspruch  auf  Be- 
rücksichtigung bei  der  Beurtheilung  chemischer  Vorgänge  erheben, 
als  die  Gewichtsanziehung  ebenso  wie  gegenüber  der  Wirkung  der 
Dominantenkräfte,  so  auch  gegenüber  den  elektrischen  und  isagi- 
schen  Anziehungen  und  Abstossungen  höchst  unbedeutend  ist,  und 
weil  es  bei  der  im  Verhältniss  zur  Schwerkraft  ungeheuren  Menge 
der  Gravitations-  und  Aetherabstossungskräfte  viel  melir  als  auf  die 
genaue  Quantität  derselben,  darauf  ankommt,  welche  Bruchtheile 
der  einen  und  andern  im  Atom  beweglich  sind  und  die  für  die  An- 
ziehung günstigste  Lage  anzunehmen  vermögen.  —  Man  kann  sich 
daher  nicht  im  geringsten  verwundern ,  dass  die  Quecksilberatome 
mit  dem  hohen  Atomgewicht  200  und  der  gegenseitigen  Schwere- 
anziehung von  40000  bei  der  Verdampfungstemperatur  nicht  zu  Mole- 
külen sich  zu  verbinden  vermögen,  w^ährend  die  Wasserstoffatome 
mit  dem  Atomgewicht  1  und  der  gegenseitigen  Gewichtsanziehung 
von  1  noch  sehr  hoch  über  der  (unbekannt  tiefen)  Verdampfungs- 
temperatur zu  Molekülen  verbunden  bleiben,  und  das  Kohlenstoff- 
atom mit  dem  Atomgewicht  12  und  der  gegenseitigen  Gewichts- 
anziehung von  144  bei  keinem  erreichbaren  Temperaturgrad  sich 
von  den  anderen  Kohlenstoffatomen  ablöst. 


Die  am  meisten  charakteristische  Erscheinung  der  chemischen 
Anziehung  ist  die  mit  dieser  Anziehung  erfolgende  Sättigung.  Dieselbe 
zeigt  sich  am  einfachsten  bei  dem  einwerthigen  Atom,  welches, 
nachdem  es  eine  Verbindung  eingegangen  hat,  keine  zweite  ein- 
gehen kann ,  ohne  die  erste  zu  lösen.  Das  Atom  übt  also  im 
Sättigungszustande  eine  einseitige  chemische  Wirkung  aus.  Die 
freien  Seiten,   die  ihm  übrig  bleiben,   können  keine  chemische  An- 


*)  Die  numerischen  Werthc  für  Ai,  Bi,  A2  und  Bi  sind  wie  oben  (S.  758) 
willkürlich  gewählt.  In  Wirklichkeit  ist  für  ein  gleiches  Gewicht  die  Differenz 
zwischen  den  Gravitationskräften  und  den  Aetherabstossungskräften  im  Wasser- 
stoff kleiner,  im  Quecksilber  grösser  als  in  der  Erde. 


794  Kräfte  und  Gestaltungen  im  niolecularen  Gebiet. 

Ziehung  mehr  zu  Stande  bringen.  Daraus  folgt,  dass  entweder 
Gestalt  und  Bau  des  Atoms  in  der  Art  unsymmetrisch  sind ,  dass 
es  an  einer  Seite  eine  eigenartige  Wirksamkeit  besitzt,  —  oder  dass 
diese  Einseitigkeit  bei  der  Annäherung  zweier  Atome  gegen  einander 
zu  Stande  kommt.  Ich  habe  im  Sinne  der  Amertheorie  zu  zeigen 
gesucht,  dass  das  letztere  jedenfalls  eintreten  muss,  auch  wenn  das 
Atom  im  ursprünglichen,  d.  h.  im  freien  Zustande,  in  welchem 
keine  anderen  Atome  dasselbe  aus  unmittelbarer  Nähe  beeinflussen, 
auf  allen  Seiten  gleich  gebaut  ist.  Die  auf  diese  Weise  erlangte 
Einseitigkeit  besteht  darin ,  dass  die  Elementarkräfte  der  sich  ver- 
bindenden Atome  in  die  für  die  Anziehung  möglichst  günstige  Lage, 
nämlich  die  Attractionskräfte  in  die  möglichst  geringste ,  die  Re- 
pulsion skräfte  in  die  möglichst  grösste  Entfernung  gebracht  wurden. 
Zwei  Iwerthige  Atome,  die  sich  mit  einander  zu  einem  Molekül 
verbunden  haben ,  befinden  sich  daher  gegenül^er  anderen  Atomen 
in  dynamisch  ungünstigerer  ^"erfassung,  indem  sie  auf  dieselben  eine 
geringere  Anziehung  ausüben  als  im  freien  Zustande.  Deswegen 
können  drei  1  werthige  Atome  sich  nicht  mit  einander  verbinden ; 
ein  aus  drei  Atomen  Wasserstoff  bestehendes  Molekül  ist  eine  Un- 
möglichkeit. Kommt  aber  ein  Atom  mit  beträchtlich  grösserer  Ver- 
wandtschaft in  unmittelbare  Nähe  eines  Moleküls  und  vermag  das- 
selbe die  Kräfte  in  dem  einen  Atom  dieses  Moleküls  anders  zu 
Orientiren ,  so  löst  sich  die  bisherige  Verbindung  und  es  entsteht 
eine  neue.  So  zersetzen  Chloratome  die  Wasserstoffmoleküle  und 
bilden  Salzsäuremoleküle. 

Treten  mehrwerthige  Atome  in  eine  A^erbindung  ein,  so  finden 
zwar  ganz  analoge  Erscheinungen  statt,  wie  die  eben  geschilderten, 
aber  doch  mit  besonderen  Modificationen.  Es  verbindet  sich  zwar 
ebenfalls  in  der  Regel  ein  Particell  mit  einem  andern,  wie  es  Iwerthige 
Atome  thun.  Aber  das  Particell  wirkt  dynamisch  nicht  bloss  auf 
das  mit  ihm  verbundene,  sondern  überdem  auf  alle  Particelle  des 
Moleküls  ein.  Die  Sättigung  hat  daher  bei  mehrwerthigen  Atomen 
eine  etwas  andere  Bedeutung  als  bei  Iwerthigen.  Man  darf  nicht 
etwa  annehmen,  dass  die  chemischen  Kräfte  eines  Particells  oder 
Iwerthigen  Atoms  durch  die  Verbindung  vernichtet  oder  dergestalt 
in  Anspruch  genommen  wären,  dass  dieselben  gleichzeitig  keine 
andere  Wirkung  auszuüben  vermöchten.  Denn  keine  Kraft  wird 
dadurch ,    dass    sie    ein   Object    ihrer  Anziehung    oder    Abstossung 


10.  Chemische  Verwandtschaft    Adhäsion. 


71*5 


O 


Fig.-:«. 


findet,  für  andere  Objecte  schwächer.    Sie  wirkt  immer  und  überall 
liin  im  umgekehrten  ^'^erhältniss  des  Quadrats  der  Entfernung. 

Um  das  einfachste  Beispiel  zu  wählen,  so  sind  in  einem  Molekül, 
das  aus  zwei  2wertliigen  Atomen  besteht  (Fig.  Bö),  die  vier  folgenden 
dynamischen  Beziehungen  als  Gesammtan- 
ziehung wirksam:  df-\-  dg  -f-  ef  -\-  ey,  und 
nicht  etwa  bloss  die  Anziehungen  zwischen 
den  opponirten  Particellen  df-\-  ey.  Ebenso 
haben  bei  der  Annäherung  und  Verbindung 
der  beiden  Atome  nicht  lediglich  die  ein- 
ander opponirten  Particelle,  einerseits  d  und  /',  anderseits  e  und  g, 
ihre  fortschrittsbeweglichen  Theilchen  durcli  Einwirkung  auf  ein- 
ander angeordnet,  sondern  jedes  Particell  hat  die  dynamische  Ein- 
wirkung aller  anderen  erfahren  und  seine  der  Wanderung  fähigen 
Kräfte  in  der  Weise  angelagert ,  dass  die  grösstmögliche  Gesammt- 
anziehung zwischen  den  beiden  Atomen  mit  Gleichgewicht  zwischen 
allen  Theilen  hergestellt  wurde.  Der  dynamische  Gesammtschwer- 
punkt  in  jedem  Particell  (z.  B.  d)  liegt  also  etwas  näher  der  Grenze 
gegen  das  Schwesterparticell  («)  als  es  der  Fall  wäre,  wenn  ersteres 
{d)  ein  Iwerthiges  Atom  wäre  und  bloss  einem  anderen  Iwerthigen 
Atom  (/')  gegenüber  stände. 

Der  Beweis  für  die  Annahme,  dass  ein  Particell  nicht  l)loss 
mit  dem  ihm  opponirten,  das  von  ihm  »gesättigt«  wird,  sondern 
auch  mit  den  benachbarten  Particellen  dynamisch  verbunden  ist, 
lässt  sich  in  Fällen  der  unvollständigen  Sättigung  thatsächlich  er- 
bringen. Bei  unvollständiger  Sättigung  ergibt  nämlich  die  genan^ite 
Annahme  eine  andere  Stellung  der  Atome  und  einen  anderen  Grad 
der  Festigkeit,  als  man  nach  der  gewöhnlichen  Ausdrucksweise  er- 
warten möchte.     Am   einfachsten   lässt   sich    die  Frage  erörtern  für 


r~\ 


II 


VJ' 


Fig.  36. 


den  Fall,  dass  ein  Iwerthiges  Atom  mit  einem  2werthigen  eine  im- 
gesättigte  Verbindung   bildet.      Wenn    bloss   Particell    auf    Particell 


796  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

und  Werthigkeit  auf  Werthigkeit  wirken  würde,  so  wäre  die  Stellung 
der  Atome  die  in  Fig.  36  I  angegebene.  Der  naturgemässen  An- 
nahme entspricht  aber  allein  Fig.  36  II,  wo  das  Iwerthige  Atom  von 
den  beiden  Particellen  des  2werthigen  angezogen  wird  und  diejenige 
Lage  annimmt,  welche  der  grössten  Anziehung  entspricht.  Es  ist 
klar,  dass  in  dieser  mittleren  Stellung  das  Iwerthige  Atom  durch 
die  zwei  Particelle  fester  gebunden  wird  als  in  der  andern  Stellung 
(Fig.  36  I) ,    wo   es  nur  die  Einwirkung  des  einen  Particells  erfährt. 

Beständen  die  dynamischen  Beziehungen  bloss  zwischen  den 
zwei  einander  gegenüber  stehenden  Werthigkeiten  (Particellen  oder 
Iwerthigen  Atomen),  so  wäre  das  Iwerthige  Atom  in  der  ungesättigten 
Verbindung  (Fig.  36  I)  genau  mit  der  halb  so  grossen  Kraft  gebunden, 
als  die  beiden  Iwerthigen  Atome  zusammen  in  der  gesättigten  \er- 
bindung  (wie  Fig.  36  III).  Wirken  dagegen  alle  Werthigkeiten  dyna- 
misch auf  einander  ein ,  wie  es  die  punktirten  Linien  in  den 
Figuren  36  II  und  III  andeuten,  so  ist  die  Bindung  in  dem  unge- 
sättigten Molekül  (Fig.  36  II)  mehr  wie  halb  so  stark  als  in  dem 
gesättigten  (Fig.  36  III).  Ein  bestimmtes  Verhältniss  zwischen  der 
Stärke  der  beiden  Bindungen  lässt  sich  aber  nicht  angeben,  da  die- 
selbe von  der  Menge  und  Kraftbegabung  der  fortschrittsbeweglichen 
Amere  in  den  Atomen ,  sowie  von  der  Gestalt  und  dem  Bau  der 
Atome  bedingt  wird.  —  Dass  die  in  Wirklichkeit  vorhandene  Festig- 
keit der  Stellung  in  Fig.  36  II  entspricht,  wird  durch  die  Bildungs- 
wärme der  Verbindungen  erwiesen.     Dieselbe  ist  für 

Quecksilberchlorür  Hg  Gl  41275  cal.j      .  ikiI'      1 

Quecksilberchlorid  Hg  Gl,  63160    »    | 

Wenn  also   ein   (in  diesem  Falle  Iwerthiges)   Atom  Chlor   sich 

mit  dem  2wertliigen  Atom  Quecksilber  verbindet,  so  werden  41275 

Wärmeeinheiten   frei.     Tritt   dann  das   zweite   Atom  Chlor  in   das 

Molekül  ein,  so  werden  bloss  noch  18115  Wärmeeinheiten  frei.    Das 

erste  Atom  Chlor   war   also  in   der   ungesättigten  Verbindung   mit 

2 
ungefähr  —  von  der  Kraft  gebunden,  welche  die  beiden  Atome  Chlor 

ö 

in  der  gesättigten  A^erbindung  festhält.  Die  nämliche  Erscheinung 
zeigt  sich  bei  der  Brom-  und  Jodverbindung.  Die  Bildungswärmen 
sind  nämlich  für 


10.  Chemische  Verwandtschaft..     Adhäsion.  797 

Quecksilberbromür  HeBr     34145  cal.  l  ,,.^  ,  .  ,  .- 

^      .    .„     1         .-,   TT.  Differenz   l«i40o  cal. 

Quecksilberbromid  HgBr,    50550    >/    | 

Quecksilberiodür      HoJ       24220  cal.  1  t,.„.  ,,       ,      , 

2      1    .„      •   j-j        TT    T       o.o.  Differenz   10090  c-al. 

Quecksilber] odid       HgJ,      84310    »    J 

Ein  analoges  Resultat  wird  sich  stets  ergeben,  wenn  eine  unge- 
sättigte A'^erbindung  in  eine  gesättigte  übergeht.  Bei  der  Bildung  von 
Kohlenoxyd  und  Kohlensäure  besteht  wohl  nur  eine  scheinbare  Aus- 
nahme. Wenn  ein  einziges  2werthiges  Sauerstoffatom  mit  dem 
4werthigen  Kohlenstoffatom  sich  verbindet,  so  muss  naturgemäss 
jedes  Particell  des  ersteren  mit  zweien  des  letzteren  in  dynamischer 
Beziehung  sein  und  analog  wie  in  Fig.  31  c  und  d  (S.  768)  eine 
mittlere  Stellung  zwischen  denselben  einnehmen.  Tritt  das  zweite 
Atom  Sauerstoff  hinzu,  so  sind  die  vier  Sauerstoffparticelle  den  vier 
Kohlenstoff  particellen  opponirt.  Mit  dieser  naturgemässen  Annahme 
sind  die  Bildungswärmen  in  scheinbarem  Widerspruch. 

Bei  der  Verbrennung  von  Kohlenstoff  zu  Kohlenoxyd  (CO) 
werden  auf  1  Molekül  CO  28  800  cal.  frei.  Verbrennt  Kohlenoxyd 
zu  Kohlensäure  (CO.),  so  werden  68  200  cal.  frei,  und  dem  ent- 
sprechend ist  die  Verbrennungs wärme  von  C  zu  CO2  97600  cal. 
Aus  dem  Umstände,  dass  die  Bildungswärme  von  CO  aus  C  und  O 
mit  28800  cal.  viel  kleiner  ist  als  die  Bildungswärme  von  CO,  aus 
CO  und  0  mit  68200  cal.,  darf  man  aber  nicht  schliessen,  dass  das 
erste  Atom  O  von  C  mit  geringerer  Kraft  festgehalten  werde  als 
das  zweite,  weil  die  Bildungswärmen  in  diesem  Falle  nicht  direct 
vergleichbar  sind.  Wenn  Kohle  in  Kohlenoxyd  übergeht,  so  muss 
das  mit  grosser  Kraft  festgehaltene  Kohlenstoffatom  weggerissen 
und  frei  gemacht  werden ;  es  muss  nämlich  die  Kohle  aus  dem 
festen  in  den  flüssigen  Zustand  übergehen,  was  durch  Wärme  allein 
erst  bei  einer  noch  nicht  herstellbaren  Temperatur  geschieht,  und 
sie  muss  überdem  im  Kohlenoxyd  gasförmig  werden.  Für  diese 
physikalischen  Veränderungen  wird  eine  unbekannte,  aber  jedenfalls 
sehr  beträchtliche  .Wärmemenge  verbraucht ,  die  zu  der  Bildungs- 
wärme des  Kohlenoxyds  hinzu  zu  addiren  ist  und  diese  letztere  in 
ein  ganz  anderes  Verhältniss  zur  Bildungswärme  der  Kohlensäure 
bringen  muss,  als  die  angeführten  Zahlen  besagen. 


798  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Bis  jetzt  habe  ich  von  den  dynamischen  Beziehungen  ge- 
sprochen ,  in  denen  innerhalb  eines  Moleküls  die  Atome  zu  den 
gegenüberstehenden  Atomen  sich  befinden ,  und  welche  die 
eigentliche  chemische  Verwandtschaft  bedingen.  In  allen 
Molekülen,  die  ans  drei  und  mehr  Atomen  zusammengesetzt  sind, 
müssen  solche  Beziehungen  auch  zwischen  den  übrigen  Atomen 
bestehen.  Ein  Beispiel  hiefür  geben  uns  die  zwei  Iwerthigen  Atome 
in  Fig.  36  III  (S.  795),  deren  gegenseitige  Bindung  als  collaterale 
bezeichnet  werden  kann.  Denn  auch  in  den  coUateralen  Atomen 
eines  Moleküls  bedingen  die  Attractions-  und  Repulsionskräfte  noth- 
wendig  eine  mehr  oder  weniger  beträchtliche  Wanderung  der  fort- 
schrittsbeweglichen Amere  und  eine  unter  den  übrigen  Umständen 
möglichst  grosse  Anziehung.  Im  allgemeinen  stehen  diese  coUa- 
teralen Bindungen  den  opponirten  an  Festigkeit  merklich  nach;  es 
ist  aber  kein  Grund  vorhanden,  warum  sie  nicht  in  besonderen 
Fällen  die  letzteren  selbst  übertreffen  sollten. 

Sind  die  Moleküle  nicht  vereinzelt,  wie  in  den  meisten  Gasen, 
sondern  an  andere  Moleküle  angrenzend,  so  werden  zwischen  den 
Atomen  des  einen  und  denen  des  anliegenden  Moleküls  ebenfalls 
Atomkräfte  wirksam.  Es  findet  ein  analoger  Vorgang  statt,  wie 
zwischen  den  coUateralen  Atomen  des  nämlichen  Moleküls,  aber  im 
allgemeinen  mit  noch  geringerem  Erfolg,  da  die  Atome  eines  jeden 
Moleküls  wegen  der  beim  Verbindungsakt  zu  Stande  gekommenen 
specifischen  Anordnung  ihrer  Elementarkräfte  bereits  die  festeste 
Bindung  gewonnen  haben.  Immerhin  ist  es  noth wendig ,  dass  die 
an  einander  stossenden  Atome  zweier  Moleküle  ihre  fortschritts- 
bewegiichen  und  drehungsbeweglichen  Theile  und  damit  ihre  Attrac- 
tions- und  Repulsionskräfte  so  günstig  für  ihre  gegenseitige  An- 
ziehung anordnen,  als  es  die  bereits  vorhandenen  allseitigen  dyna- 
mischen Beziehungen  gestatten. 

Ich  habe  die  Beziehungen  der  Atome  (Particelle)  eines  Moleküls 
als  opponirte  und  collaterale  unterschieden.  Da  diejenige  Seite  eines 
Atoms,  welche  sich  am  Molekül  aussen  befindet,  als  Rückenseite 
bezeichnet  werden  kann,  so  lassen  sich  die  Beziehungen  der  an 
einander  stossenden  Atome  zweier  Moleküle  dorsale  nennen.  Das 
Verhältniss  zwischen  der  opponirten  Affinität  (die  collaterale  ist  zu 
wenig  bekannt)  und  der  dorsalen  zeigt  die  allergrössten  Verschieden- 
heiten.    Im  allgemeinen  überwiegt  zwar  die  erstere  bedeutend,  aber 


10.  Chemische  Verwan<ltschaft.     Adhäsion.  799 

es  können  beide  auch  nahezu  gleich  sein.  Der  letztere  extreme  Fall 
trifft,  wenn  wir  bloss  die  Moleküle  der  chemischen  Elemente  be- 
rücksichtigen, einerseits  beim  Quecksilber  ein,  wo  beide  Affinitäten 
sehr  schwach  sind,  und  wo  die  Atome  des  Moleküls  im  gleichen 
Augenblick  sich  von  einander  trennen,  in  welchem  die  Moleküle 
sich  ablösen  und  gasförmig  werden,  —  anderseits  beim  Kohlenstoff, 
wo  beide  Verwandtschaften  so  gross  sind ,  dass  sie  bis  jetzt  durch 
Wärme  allein  nicht  überwunden  werden  konnten.  Den  anderen 
extremen  Fall  finden  wir  bei  den  permanenten  Gasen,  wo  die  oppo- 
nirte  Verwandtschaft  sehr  gross,  die  dorsale  äusserst  gering  ist,  indem 
die  Moleküle  schon  bei  den  allerniedrigsten  Temperaturen  getrennt, 
die  Atome  aber  bei  den  höchsten  noch  verbunden  sind.  Zmscheu 
diesen  beiden  Extremen,  —  Quecksilber  und  Kohlenstoff  einerseits, 
Wasserstoff,  Stickstoff  und  Sauerstoff  anderseits,  —  bewegen  sich 
alle  übrigen  Elemente. 

Wenn  die  Atomkräfte  als  Centralkräfte  wirksam  wären ,  so 
würden  die  nämhchen  zwei  Atome  oder  Atomparticelle  auf  gleiche 
Entfernung  immer  die  gleiche  Anziehung  auf  einander  ausüben, 
was  aller  Erfahrung  widerspricht.  Sind  aber,  entsprechend  der 
Amertheorie,  die  Theilchen  in  den  Atomkörpern  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grad  beweglich,  so  kann  die  Anziehung  zwischen  zwei  Atomen 
alle  möglichen  Abstufungen  zeigen,  je  nachdem  dieselben  gleich- 
zeitig von  andern  Atomen  mehr  oder  weniger  stark  in  Anspruch 
genommen  und  in  ihren  beweglichen  Kräften  orientirt  sind.  Nehmen 
wir  als  Beispiel  das  Wasserstoff-  und  Sauerstoff atom.  Dieselben  sind 
im  gasförmigen  Wassermolekül  am  festesten  verbunden,  weil  sie  ihre 
Kräfte  bloss  mit  Rücksicht  auf  einander,  also  auf  die  günstigste 
Art  anordnen.  Im  Hj'droxyl  eines  gasförmigen  Moleküls  ist  die 
Verbindung  schon  etwas  lockerer,  weil  auf  beide  Atome,  besonders  aber 
auf  das  betreffende  Sauerstoffparticell  noch  andere  Atomkräfte,  wenn 
auch  nur  in  geringem  Maasse  einwirken.  Noch  geringere  Verwandt- 
schaft, und  zwar  in  allen  möglichen  Graden,  haben  ein  Wasserstoff- 
atom und  ein  Sauerstoffparticell  zu  einander,  wenn  sie  im  nämlichen 
Molekül  coUateral  sind,  oder  wenn  sie  verschiedenen  Molekülen  an- 
gehören und  in  festen  Körpern  unmittelbar  neben  einander  zu  liegen 
kommen,  also  in  dorsaler  Beziehung  sich  befinden. 

Ebenso  ist  es  einleuchtend ,  dass  zwei  Moleküle  an  ihren  ver- 
schiedenen   Seiten    ungleiche    Verwandtschaft    zu    einander    haben. 


gQQ  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Nehmen  wir  den  einfachsten  Fall,  die  gleichen  zwei  aus  Iwerthigen 
Atomen  bestehenden  Moleküle  (z.  B.  Kaliumjodid  KJ,  insofern  J 
wirklich  einwerthig  ist).  Dieselben  können  in  symmetrischer  Weise 
auf  7  verschiedene  Arten  sich  neben  einander  lagern,  von  denen 
jede  eine  andere  Verwandtschaft  bedingt.  Bei  stärker  zusammen- 
gesetzten Verbindungen  steigt  die  Zahl  der  möglichen  Stellungs- 
combinationen  in  rasch  zunehmender  Progression.  Legen  sich  die 
Moleküle  aus  einer  Lösung  an  einander  an ,  so  können  sie  ihrer 
Neigung  folgen  und  diejenigen  Seiten  einander  zukehren ,  welche 
die  grösste  Anziehung  ergeben.  Auf  diese  Weise  bilden  sich  ab- 
geschlossene Gruppen  (Pleone^),  Molekül  Vereinigungen,  die  aus  einer 
bestimmten ,  meist  geringen  Zahl  von  Molekülen  bestehen  und  in 
verschiedener  Beziehung  sich  wie  ein  einziges  Molekül  verhalten. 
Aus  2  Molekülen  bestehen  die  Pleone  des  Alauns.  Eine  besondere 
Gruppe  bilden  die  Hydropleone ,  indem  1  oder  2  Moleküle  einer 
Verbindung  sich  mit  Wassermolekülen  vereinigen ,  die  als  Pleon- 
wasser  zu  bezeichnen  sind,  da  das  eigentliche  Hydratwasser  einen 
integrirenden  Bestandtheil  eines  Moleküls  bildet.  Es  können  sich 
bis  auf  10  Wassermoleküle  mit  1  Salzmolekül  (Natriumsulfat)  und 
bis  auf  24  Wassermoleküle  mit  2  Salzmolekülen  (Kalium-Aluminium- 
Doppelsulfat)  vereinigen. 

Die  abgeschlossenen  Vereinigungen  der  Pleone  bestehen  aus 
ungleichen  Molekülen.  Wenn  gleiche  Moleküle  sich  an  einander 
ordnen,  so  können  an  die  freien  Seiten  sich  immer  wieder  neue 
Moleküle  in  der  nämlichen  Weise  anlegen.  Es  bildet  sich  eine  un- 
geschlossene Vereinigung,  die  unter  günstigen  Umständen  unbegrenzt 
fortwachsen  kann  und  die  man  als  Krystall  bezeichnet.  Da  die 
Pleone  im  allgemeinen ,  ähnlich  wie  die  Moleküle ,  auf  ihren  ver- 
schiedenen Seiten  ungleiche  dynamische  Beschaffenheit  besitzen  und 
ungleiche  Verwandtschaft  äussern,  so  können  sie  ebenfalls  sich  in 
bestimmten  Richtungen  an  einander  lagern  und  Krystalle  bilden. 


Die  Anziehungen  zwischen  den  Molekülen  bedingen,  sofern  diese 
dem  nämlichen  Körper  angehören,  die  Cohäsion  und,  sofern  sie  ver- 
schiedenen Körpern  angehören,  die  Adhäsion.    Unter  den  Adhäsions- 


1)  Theorie  der  Gärung.    Molekülvereinigungen  S.  121. 


!(•.  Cliemischi'  Verwandtschaft.     Adlülsion  gQJ 

erscheinungen  ist  die  })enierkenswertheste  die  ßenetzung  fester  und 
die  Imbibition  organisirter  Körper.  Gewisse  Substanzen  haben  grosse 
Fläclienanziehung  7-11  Wasser  und  benetzen  sich  an  ihrer  Oberfläche. 
Sind  sie  porös,  so  nehmen  sie  dasselbe  in  ihr  Inneres  auf.  Die 
organisirten  K()rper  bestehen  aus  Micellen,  d.  h.  aus  getrennten 
Theilchen  mit  krystaUinischem  Bau,  die  aus  zahh-eichen  Molekülen 
zusammengesetzt  und  wie  Krystalle  entstanden  sind,  ohne  die  regel- 
mässige Form  der  Krystalle  zu  besitzen.  Die  Iml)il)ition  ist  nichts 
anderes  als  die  Benetzung  dieser  Micelle,  indem  sich  jedes  mit  einer 
Wasserhülle  umgibt. 

Die  Flächenanziehung  vermag  nur  eine  äusserst  dünne  Wasser- 
schicht festzuhalten.  Deswegen  kann  der  organisirte  Körper,  wenn 
er  ausgetrocknet  war,  nur  eine  bestimmte  Menge  Wasser  aufnehmen 
und,  indem  seine  Micelle  infolge  der  Benetzung  auseinander  weichen, 
sein  Volumen  nur  um  einen  besthnmten  Betrag  vergrössern.  Werden 
mit  Wasser  durchdrungene  Stärkekörner  gedrückt,  Membranen  ge- 
zerrt oder  Fasern  gebogen,  so  erfahren  ihre  Micelle  eine  entsprechende 
Verschiebung,  und  die  mit  Wasser  gefüllten  Zwischenräume  zwischen 
denselben  werden  theils  grösser,  theils  kleiner,  wie  dies  in  den  nicht- 
micellösen  Körpern  mit  den  von  j^onderabelm  Aether  erfüllten 
Zwischenräumen  zwischen  den  Atomen  der  Fall  ist.  Bleibt  die 
mechanische  Einwirkung  innerhalb  gewisser  Grenzen,  so  kehrt  nach 
ihrem  Aufhören  der  ursprüngliche  Zustand  in  der  äussern  Form 
und   in    der   innern  Configuration  des  organisirten  Körpers   zurück. 

Auch  nichtmicellöse  Substanzen  (z.  B.  Glas)  benetzen  sich  mit 
Wasser  und  in  die  capillaren  Räume  eines  Pulvers  dringt  das  Wasser 
mit  einer  gewissen  Kraft  ein.  Wären  die  Theilchen  des  Pulvers  so 
klein  wie  die  Micelle,  wären  somit  die  trennenden  Wasserhüllen  der- 
selben viel  zahlreicher,  so  würde  auch  eine  Volumenzunahme  des 
sich  imbibirenden  Pulvers  bemerkbar  werden. 

Die  Thatsache,  dass  zwischen  die  Micelle  Wasser  eindringt  und 
sie  auseinander  treibt ,  beweist ,  dass  die  organische  Substanz  eine 
grössere  Anziehung  auf  Wasser  ausüljt  als  auf  die  organische  Sub- 
stanz selber.  Aber  es  dringt  in  einen  micellösen  Körper  nur  eine 
gewisse  Menge  Wasser  ein;  die  Micelle  werden  durch  dasselbe  nur 
bis  auf  eine  bestimmte  Entfernung  auseinander  gerückt.  Es  bedarf 
selbst,  um  sie  weiter  von  einander  zu  entfernen,  einer  äusseren  Kraft, 
wäe  eine  äussere  Kraft  noth wendig  ist,  mn  sie  mehr  zu  nähern.   Dies 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  51 


302  Kräfte  und  Oestaltungen  im  molecularen  Gebiet 

beweist,  dass  die  Substanz  des  Micells  bloss  in  nächster  Nähe  das 
Wasser  stärker  anzieht  als  eine  gleich  grosse  Menge  Substanz,  und 
dass  über  eine  bestimmte  Entfernung  hinaus ,  welche  als  Gleich- 
gewichtslage zu  bezeichnen  ist,  die  dynamischen  Beziehungen  sich 
umkehren. 

Wir  können,  wie  ich  es  schon  früher  gethan  habe  ^),  dieses  Ver- 
halten in  sjTubolischer  Weise  durch  die  Formel  der  Gleichgewichts- 

A  B 

läge  ausdrücken,  -^  =  ,  wenn  A  die  Anziehung  zwischen  zwei 

Volumeneinheiten  der  Substanz ,  B  die  Anziehung  zwischen  einer 
solchen  Volumeneinheit  Substanz  und  einer  Volumeneinheit  Wasser 
und  d  den  Abstand  der  Mittelpunkte  dieser  Volumeneinheiten  be- 
zeichnet. Doch  hat  eine  solche  Aushilfsformel  bloss  eine  vorläufige 
empirische  Bedeutung ,  indem  sie  eine  Umschreibung ,  nicht  eine 
Erklärung  der  Erscheinung  gibt.  Wenn  die  theoretische  Forderung 
der  Physik  erfüllt  werden  soll ,  dass  jede  Anziehung  nur  im  um- 
gekehrten Verhältniss  des  Quadrats  der  Entfernung  wirken  kann, 
so  ist  bloss  Eine  Annahme  möglich,  nämlich  die,  dass  die  oberfläch- 
liche Partie  des  Micells  auf  die  angrenzende  Wassersehicht  eine 
grössere  Anziehung  ausübe  als  die  innere  Substanz  des  IVIicells  auf 
das  übrige  Wasser,  und  dass  jene  Anziehung  grösser  sei  als  die  des 
ganzen  Micells  auf  ein  anderes  Micell,  wobei  natürlich  stets  gleiche 
Volumina  zu  verstehen  sind.  Dadurch  wird  die  vollständige  An- 
näherung der  Micelle  bei  Vorhandensein  von  Wasser  verhindert.  Es 
muss  aber  zugleich ,  sobald  eine  geringe  Entfernung  überschritten 
ist,  die  Anziehung  von  Substanz  zu  Substanz  grösser  sein  als  die 
Anziehung  von  Substanz  zu  Wasser,  sonst  würden  sich  die  Micelle 
unbegrenzt  von  einander  entfernen  und  in  Micellarlösung  übergehen. 
Jene  einzig  mögliche  Annahme  wird  durch  die  Einwirkung  der 
Moleküle  auf  einander  erfüllt,  welche  nach  der  Amertheorie  stets 
vorhanden  sein  muss ,  und  welche  eine  der  grössten  gegenseitigen 
Anziehung  entsprechende  Anordnung  der  beweglichen  Theilchen  in 
den  Atomkörpern  verursacht.  Es  wird  also  die  dynamische  Be- 
schaffenheit der  oberflächlichen  Moleküle  der  Micelle  einerseits 
und  der  angrenzenden  Wassermoleküle  andrerseits  im  Sinne-  einer 
gesteigerten   Verwandtschaft  geändert.     Dieser   Vorgang   ist   selbst- 

1)  Die  Stärkekörner  (1858)  S.  333. 


10.  Cheinisrlie  Verwandtsrhaft.     Adliäslon.  903 

verständlicli  ein  specifischer,  indem  das  Wasser  yai  jeder  anderen 
chemischen  \'erbindung  einen  anderen  Grad  der  Verwandtschaft 
äussert.  Es  gibt  Kr)r[)er,  welche  sich  gar  nicht  benetzen  und  somit 
eine  sehr  geringe  Anziehung  zu  Wasser  kundgeben ;  unter  den 
organischen  Verbindungen  gehören  dazu  die  sauerstoffarmen  Ver- 
bindungen, Fette,  Wachse,  Stearoptene,  Harze,  Kautschuk. 

Je  nach  der  Stärke  der  Einwirkung  maclit  sich  dieselbe  auf 
eine  geringere  oder  grössere  Entfernung  geltend.  Es  ist  denkbar, 
dass  von  den  Micellen  der  einen  Substanzen  nur  eine  einzige  Schicht 
von  Wassermolekülen,  von  andern  2  und  3  Molekülschichten  stärker 
angezogen  werden,  so  tlass  zwischen  je  zwei  Micellen,  mit  Ausschluss 
der  grösseren  Interstitien  an  den  Ecken,  sich  2  bis  4  und  6  Schichten 
von  Wassermolekülen  befinden,  und  dies  reicht  zur  Erklärung  aller 
Erscheinungen  der  Imbibition  vollständig  aus^). 

Die  Wassermolekülschichten,  welche  in  der  angegebenen  Weise 
von  der  Micelloberfläche  festgehalten  werden ,  haben  im  X'^ ergleich 
mit  dem  übrigen  Wasser  ihre  dynamische  Beschaffenheit  etwas  ver- 
ändert. Diese  Aenderung  ist  durch  Wanderung  von  beweglichen 
Theilchen  in  ihren  Atomen  eingetreten ,  welcher  eine  analoge  Dis- 
location  in  den  Atomen  der  Micelloberfläche  entspricht.  Daraus 
ergibt  sich  zugleich  die  Annahme,  dass  die  betreffenden  Wasser- 
moleküle unbeweglicher  werden,  dass  sie  nicht  mehr  l)eliebig  nach 
allen  Richtungen  sich  drehen  und  fortbewegen ,  sondern  ihren  Ab- 
stand und  ihre  Orientirung  zur  Micelloberfläche  bewahren,  zu  welcher 
sie  sich  entsprechend  der  stärksten  \'^erwandtschaft  gerichtet  haben, 
—  eine  Annahme,  die  übrigens  schon  aus  anderen  Gründen  noth- 
wendig  war-). 

Gleichgewicht  zwischen  zwei  einzelnen  Micellen,  wenn  sich  die- 
selben allein  im  Wasser  befanden ,  würde  dann  vorhanden  sein, 
wenn  sie  so  weit  von  einander  entfernt  w-ären,  dass  die  gegenseitige 
Anziehung  der  beiden  Micelle  gleich  käme  der  Anziehung  zwischen 
ihren  oberflächlichen  Molekülen  und  den  die  Micelle  trennenden 
Schichten  von  Wassermolekülen  sammt  der  Anziehung  zwischen  den 
ganzen  Micellen  und  den  durch  sie  verdrängten  Wassermassen. 
Daraus   ergeben   sich   die   Bedingungen    für   das  Gleichgewicht   der 


1)  Theorie  der  (iännig.    Molekülvereiuigungen  R.  147  ff. 

2)  Ebendaselbst  S.  129  und  13:5. 


804  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

Gesammtheit  der  Micelle  in  imbibirten  organischen  Körpern.  Der 
Abstand  der  Micelle  hängt  von  der  Massenanziehung  zwischen  den- 
selben, von  der  Massenanziehung  zwischen  den  Micellen  und  dem 
Wasser  und  von  den  Berührungs-  oder  Adhäsionskräften  ab,  welche 
zwischen  der  Überfläche  der  Micelle  und  den  nächsten  Wasser- 
molekülen wirksam  werden.  Für  gleiche  chemische  Beschaffenheit 
der  Micellsubstanz  und  der  Imbibitionsflüssigkeit  wird  der  Abstand 
mit  dem  Grösserwerden  der  Micelle  kleiner,  weil  die  Oberflächen- 
kräfte, mit  welchen  sie  die  wässrige  Flüssigkeit  anziehen,  nach  der 
zweiten  Potenz  des  Radius,  die  Anziehung  zwischen  den  Micellkörpern 
dagegen  nach  der  dritten  Potenz  wächst. 


Die  Eigenthümlichkeiten  der  chemischen  Anziehung  und  der 
Adhäsionsanziehung  lassen  sich  nach  der  Amertheorie ,  wie  es  in 
dem  Vorstehenden  geschehen  ist,  durch  Ortsveränderung  beweglicher 
Theilchen  in  den  Atomen  erklären.  Dass  eine  solche  Ortsveränderung 
wirklich  stattfinde ,  dafür  bestehen  zwei  entscheidende  Gründe ,  ein 
theoretischer  und  ein  empirischer.  Was  die  Theorie  betrifft,  so  sind 
die  Atome  ihrer  Entstehung  gemäss  Systeme  von  elastischen,  in  Be- 
wegung befindlichen  Ameren.  Die  Bewegungen  der  Amere  müssen, 
je  nach  den  dynamischen  Beziehungen  derselben,  ungleicher  Natur 
sein;  ausser  schwingenden  muss  es  auch  fortschreitende  geben. 
Daraus  folgt  beim  Eintritt  einer  äusseren  dynamischen  Einwirkung 
nothwendig  eine  Orts  Veränderung  dieser  fortschrittsbeweglichen  Amere. 

Was  die  Erfahrung  betrifft,  so  zeigen  uns  alle  chemischen  und 
Adhäsionserscheinungen ,  dass  die  dynamischen  Eigenschaften  der 
Atome  nicht  constant  sind,  sondern  unter  verschiedenen  Umständen 
eine  bestimmte  Veränderung  erfahren,  welche  ohne  eine  Wanderung 
der  kraftbegabten  Theilchen  unmöglich  erschiene.  Wären  die  Eigen- 
schaften der  Atome  beständig ,  so  müsste  man  erwarten ,  dass  ein 
Molekül  die  Summe  aus  den  Eigenschaften  seiner  Atome  darstellte, 
dass  also  auch  die  Schmelz-  und  Siedepunkte  einer  Verbindung, 
welche  von  dem  Grade  der  Adhäsion  zwischen  den  Molekülen  ab- 
hängen, gewissermaassen  in  der  Mitte  lägen  zwischen  dem  Schmelz- 
und  Siedepunkte  ihrer  constituirenden  Elemente.  Diese  Erwartung 
wird  aber  häufig  getäuscht,  indem  die  Verbindungen  in  der  genannten 
Beziehung  über  ihre  Constituenten  hinausgreifen. 


10.  Chemische  N'erwaudtschaft.     Adhäsion.  805 

Betrachten  wir  beispielsweise  das  Wasser,  das  aus  zwei  perma- 
nenten Gasen  entstanden  ist.  Die  Sauerstoffmoleküle,  aus  'A  Atomen  0 
bestehend,  haben  eine  so  geringe  Verwandtschaft  zu  einander,  dass 
sie  bei  den  niedrigsten  Temperaturen  noch  nicht  zu  einer  Flüssigkeit 
sich  vereinigen,  was  wohl  nur  durch  die  Anwesenheit  einer  Aether- 
hülle  von  beträchtlicher  Mächtigkeit  erklärt  werden  kann.  Eben  so 
verhält  es  sich  mit  den  Wasserstoff molekülcn,  welche  aus  2  Atomen  H 
zusammengesetzt  sind.  Wir  würden  es  daher  sehr  natürlich  finden, 
wenn  die  Wassermoleküle,  H,0,  ebenfalls  ein  permanentes  Gas  dar- 
stellten. Sie  sind  aber  weit  entfernt  davon,  die  Eigenschaften  ihrer 
constituirendcn  Elemente  zu  bewahren,  da  sie  bei  100"  sich  zum 
flüssigen  und  bei  0  °  zum  festen  Zustand  vereinigen.  Die  Sauerstoff- 
und  Wasserstoffatome  müssen  also  bei  der  Wasserbildung  andere 
Eigenschaften  annehmen.  Sowie  sich  dieselben  einander  nähern, 
ordnen  sich  in  beiden  die  fortschrittsbeweglichen  Kräfte  anders  an; 
infolge  dessen  wird  der  ponderable  Aether  mit  geringerer  Stärke 
von  den  Atomkörpern  angezogen;  die  Aetherhülle  verliert  an  Mäch- 
tigkeit und  die  Adhäsion  zwischen  den  Molekülen  nimmt  zu. 

Man  könnte  vielleicht  geneigt  sein ,  die  grössere  Adhäsion 
zwischen  den  Wassermolekülen  dem  Umstände  zuzuschreiben,  dass 
die  dorsale  Anziehung  zwischen  einem  Wasserstoff-  und  einem  Sauer- 
stoffatom grösser  und  im  Wasser  gerade  eben  so  häufig  vorhanden 
sei  als  die  dorsale  Anziehung  zwischen  zwei  Wasserstoffatomen  und 
diejenige  zwischen  zwei  Sauerstoff atomen.  In  diesem  Falle  würde 
man  die  dorsale  Verwandtschaft  an  der  Oberfläche  der  Moleküle  nach 
der  opponirten  Verwandtschaft  innerhalb  der  Moleküle  beurtheilen, 
was  nicht  nur  theoretisch  unzulässig,  sondern  auch  mit  der  Erfahrung 
im  Widerspruche  ist.  Um  nur  von  der  letzteren  zu  sprechen,  so 
müsste,  wenn  der  angeführte  Grundsatz  richtig  w^äre,  die  Cohäsion 
einer  Menge  von  Verbindungen  grösser  sein  als  die  Cohäsion  eines 
jeden  ihrer  Elemente,  was  nicht  der  Fall  ist.  Gerade  das  wechselnde 
Verhältniss  zwischen  den  beiden  Anziehungen  (der  opponirten  und 
der  dorsalen)  beweist  uns,  dass  beide  unabhängig  von  einander  und 
in  jeder  Verbindung  von  der  Anordnung  der  wanderungsfähigen 
Kräfte  bedingt  sind. 

Das  nämliche  Verhalten  wie  beim  Wasser  finden  wir  bei  den 
Verbindungen  zwischen  Sauerstoff  und  Stickstoff,  Wasserstoff  und 
Stickstoff  u.  a.   Auch  in  Bleiprotoxyd  (PO),  welches  bei  1»54°  schmilzt, 


30(3  Kräfte  und  Gestaltungen  im  inolernlaren  Gebiet. 

ist  die  Cohäsion  grösser  als  im  Sauerstoff  uiifl  im  Blei,  von  denen 
das  letztere  seinen  Schmelzpunkt  bei  334"  hat. 

Viele  binäre  Verbindungen  halten  sich  rücksichtlich  der  Adhäsion 
ihrer  Moleküle  zwischen  den  sie  zusammensetzenden  Elementen.  Be- 
merkenswerth  sind  die  Erscheinungen,  welche  Kohlensäure  und 
Kohlenoxyd  zeigen.  Die  Kohlensäure  (Kohlendioxyd ,  CO.)  hat 
ihren  Schmelz-  und  Siedepunkt  l)ei  — IH^;  sie  steht  somit  in  Bezug 
auf  die  Adhäsionsanziehung  ihrer  Moleküle  zwischen  Kohlenstoff 
und  Sauerstoff,  wenn  sie  auch  dem  letzteren  viel  näher  kommt.  Von 
dem  Kohlenoxyd  (CO)  aber  sollte  man  erwarten,  dass  es  zwischen 
Kohlensäure  und  Kohlenstoff  stehe,  während  es  als  permanentes  Gas 
sich  wie  Sauerstoff  verhält  oder  wenigstens  eine  Zwischenstellung 
zwischen  Kohlensäure  und  Sauerstoff  einnimmt.  Eine  solche  Er- 
scheinung wäre  einmal  ganz  unerklärlich,  wenn  im  Kohlenoxyd  das 
Sauerstoffatom  wie  in  der  Kohlensäure  mit  zwei  Particellen  des 
Kohlenstoffatoms  sich  verbunden  und  die  übrigen  zwei  Werthigkeiten 
in  Wirklichkeit  frei  gelassen  hätte ;  denn  in  diesem  Falle  würde  das 
Kohlenoxydmolekül  gleichsam  aus  einem  halben  Molekül  Kohlen- 
säure und  einem  halben  Kohlenstoffatom  bestehen.  Verbindet  sich 
aber  jedes  der  zwei  Particelle  des  Sauerstoff atoms  mit  zwei  Particellen 
des  Kohlenstoffatoms,  wie  ich  es  für  mechanisch  nothwendig  halte 
(S.  795),  so  verändert  sich  das  bisherige  dynamische  Gleichgewicht 
in  allen  Particellen  des  Kohlenstoffs  und  zwar  in  anderer  Weise,  als 
es  bei  der  Verbindung  von  4  Particellen  Sauerstoff  mit  4  Particellen 
Kohlenstoff  zu  Kohlensäure  geschieht,  —  und  es  lässt  sich  recht  wohl 
denken ,  dass  infolge  der  im  einen  und  andern  Falle  eintretenden 
('Onfigin-ationsänderungen  in  den  Atomkörpern  die  Aetherhülle  des 
Kohlenoxydmoleküls  stärker  ausfällt  als  diejenige  des  Kohlensäure- 
moleküls. —  Analog  wie  Kohlenoxyd  und  Kohlensäure  verhalten 
sich  Schwefligsäureanhydrid  und  Schwefel  Säureanhydrid. 

Eine  dritte  Art  des  Verhaltens  einer  A^erbindung  im  Vergleich 
mit  den  beiden  Elementen,  aus  denen  sie  zusammengesetzt  ist,  zeigt 
uns  der  Schwefelkohlenstoff  (CS.).  Derselbe  siedet  bei  47*"  und  hat 
somit  eine  geringere  Cohäsion  als  seine  Constituenten  Kohlenstoff 
und  Schwefel,  von  denen  der  letztere  bei  320°  siedet. 

Bemerkens  werth  sind  die  isomeren  Verbindungen,  welche  durch - 
gehends  eine  ungleiche  Adhäsionsanziehung  zwischen  den  Molekülen 
besitzen.     So  siedet  beispielsweise  die  Buttersäure  (C.HoO.)  bei  156" 


11.  Isagität.  807 

und  der  Essigäther  (ebenfalls  CjH,0/)  bei  74".  Die  isomeren  Ver- 
bindungen unterscheiden  sich  dadurch  von  einander,  dass  ihre  Atome 
eine  ungleiche  Lagerung  im  Molekül  besitzen,  wodurch  natürlich 
ungleiche  dynamische  Beziehungen  zwischen  den  Atomen,  ungleiche 
Anordnung  der  Kräfte  in  denselben  und  ungleiche  mittlere  Mäch- 
tigkeit der  Aetherhülle   um   das   ganze  Molekül   verursacht  werden. 


11.  Isagität. 


Die  Annahme  der  Isagität  ist  eine  Hypothese,  ein  Versuch,  die 
unvollständigen  erfahrungsmässigen  Vorstellungen  über  die  dyna- 
mische Beschaffenheit  der  Materie  zu  ergänzen.  Eine  Hypothese 
ist  um  so  gerechtfertigter,  für  je  zahlreichere  Erscheinungen  sie  die 
Einheit  einer  vernünftigen  Erkenntniss  gewährt,  und  um  so  nütz- 
licher, je  mehr  sie  geeignet  ist,  zur  Auffindung  neuer  Thatsachen 
zu  führen.  In  beiden  Beziehungen  entspricht ,  wie  ich  glaube ,  die 
Annahme  der  Isagität  in  Verbindung  mit  der  Amertheorie  den  An- 
forderungen an  eine  erlaubte  Hypothese,  da  sie  alle  natürlichen 
Erscheinungen  zu  umfassen  und  ihnen  einen  naturgesetzlichen  Aus- 
druck zu  geben  sucht,  und  da  sie  gewiss,  wenn  sie  einmal  Gegen- 
stand physicalischer  Experimente  geworden  ist,  auch  zu  neuen 
Erkenntnissen  führen  wird. 

Alle  Naturwissenschaft  muss  gleichzeitig  deductiv  und  inductiv 
sein.  Eine  Hypothese  muss  daher  einerseits  mit  den  Gesetzen  der 
Vernunft  und  andrerseits  mit  den  Erfahrungen  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung übereinstimmen,  wobei  nicht  übersehen  werden  darf,  dass  die 
vernunftgemässe  Betrachtung  doch  eigentlich  nichts  anderes  ist  als 
eine  solche,  welche  die  allerallgemeinste  Erfahrung  und  die  daraus 
mit  logischer  Nothwendigkeit  sich  ergebenden  Normen  zur  Grund- 
lage hat.  Die  vernunftgemässe  Deduction  verlangt,  dass  die  Elementar- 
kräfte gradlinig  und  nach  dem  umgekehrten  Quadrat  der  Entfernung 
wirken,  und  dass  bei  der  Construction  derselben  eine  gewisse  Regel- 
mässigkeit und,  da  es  sich  um  Anziehung  und  Abstossung  handelt, 
eine  gewisse  Symmetrie  beobachtet  werde.  Die  letztere  Bedingung 
ist  erfüllt,  wetm  ausser  den  elektrischen  und  den  Dominantenkräften 
noch  die  Isagitäten  angenommen  werden. 


808  Kräfte  und  Gestaltungen  iin  molecularen  Gebiet. 

Was  die  Kritik  betrifft,  welche  die  Erfahrung  an  dieser  Deduction 
ausübt ,  so  folgen  bis  jetzt  bereits  die  Elektrieitäten  und  die  Gravi- 
tationsanziehung den  vernunftgemässen  Forderungen,  indess  für  die 
noch  unbekannten  Beziehungen  der  Aetherabstossung,  der  chemischen, 
elastischen,  Adhäsions-  und  Cohäsionskräfte  entweder  bestimmte  An- 
nahmen mangeln,  oder  in  Form  von  sogenannten  empirischen  Ge- 
setzen in  Ermanglung  einer  bessern  Einsicht  einstweilen  geduldet 
werden.  Dagegen  befriedigt,  wie  ich  glaube,  die  deductive  Annahme 
einer  neuen  Kraft  mit  der  Wirkungsweise  der  Isagität  in  A^erbindung 
mit  der  Amertheorie  alle  Bedürfnisse  der  Erfahrung  und  erklärt  die 
natürlichen  Erscheinungpn  in  streng  rationeller  Weise,  indem  sie 
alle  Kräfte  nicht  anders  als  im  umgekehrten  Verhältniss  des  Quadrats 
der  Entfernung  wirken  lässt. 

Dass  eine  besondere  Elementarkraft  mit  den  Eigenschaften  der 
Isagität  angenommen  werden  muss ,  ergibt  sich  ganz  entschieden 
aus  dem  Umstände,  dass  ohne  sie  manche  chemischen  und  Adliäsions- 
anziehungen,  besonders  diejenigen  zwischen  den  Atomen  und  Mole- 
külen des  nämlichen  Elements ,  gar  nicht  erklärt  werden  könnten. 
Die  Elektricität  allein  würde  in  diesen  Fällen  nur  eine  sehr  schwache 
Anziehung  oder  eher  eine  Abstossung  ergeben,  während  die  Atome 
des  Sauerstoffs,  Wasserstoffs,  Kohlenstoffs,  Schwefels  und  der  meisten 
übrigen  Elemente  doch  so  fest  an  einander  haften.  Es  kommt  zwar 
vor,  dass  zwei  gleiche  Körper  oder  zwei  Hälften  des  nämlichen 
Körpers  durch  Verth eilung  ungleich  elektrisch  werden;  aber  die 
Ursache  dieses  Vorganges  ist  immer  auf  eine  Störung  des  Gleich- 
gewichts durch  ungleiche  Erwärmung  oder  ungleiche  mechanische 
Action  zurückzuführen.  Dass  zwei  gleiche  Atome,  z.  B.  zwei  Sauer- 
stoffatome, die  in  geringen  Abständen  von  einander  schweben  und 
gleiche  Schwingungsbewegungen  ausführen,  also  in  allen  Beziehungen 
sich  gleich  verhalten,  durch  gegenseitige  Einwirkung  einen  merklichen 
Theil  ihrer  neutralen  Elektricität  zerlegen  und  dadurch  ungleich  elek- 
trisch werden  sollten,  ist  wohl  ganz  undenkbar.  Vielmehr  führt  die 
Thatsache,  dass  gleichartige  Atome  einander  anziehen,  direct  zu  der 
Schlussfolgerung ,  dass  sich  in  ihnen  Kräfte  befinden  mit  dem  ent- 
gegengesetzten Charakter  der  Elektricität,  so  dass  die  gleichnamigen 
sich  anziehen.  Die  chemischen  und  Adhäsionskräfte  sind  offenbar 
nicht  einfacher  Natur,  sondern  durch  das  Zusammenwirken  der  ver- 
schiedenen Elementarkräfte,  namentlich  der  Elektricität  und  Isagität 


11.  Isagität.  809 

hervorgebracht,  in  der  Weise,  dass  bald  die  eine  Ijuld  die  andere 
dieser  beiden  Kräfte  einen  grössern  und  selbst  den  ausschliesslichen 
Antheil  am  Effect  hat. 

Man  darf  gegen  die  Isagität  nicht  den  Einwurf  erheben,  dass, 
wenn  sie  vorhanden  wäre,  sie  auch  durch  Erfahrung  bekannt  sein 
müsste.  j\Ian  kennt  sie  allerdings,  aber  nur  im  Verein  mit  anderen 
Elementarkräften  als  Molecularkraft,  und  von  den  Molecularkräften 
sagt  man  ja  ohnehin,  dass  sie  nur  auf  kleinste  Entfernungen  wirken 
und  sich  somit  unserer  directen  Beobachtung  entziehen.  Dies  darf 
natürlich  nicht  so  verstanden  werden,  dass  ihre  Wirkung  rascher, 
d.  h.  nach  einer  höheren  Potenz  der  Entfernung  abnehme,  als  bei 
anderen  Kräften,  deren  Wirkung  auf  messbare  Entfernungen  bemerkbar 
ist.  Sondern  es  rührt  die  scheinbare  Ausnahme  der  Molecularkräfte 
nur  daher,  weil  immer  benachbarte  Kräfte  vorhanden  sind,  die  in 
entgegengesetztem  Sinne  wirken,  so  dass  nur  in  der  nächsten  Nähe 
die  eine  oder  andere  ein  bemerkenswerthes  Uebergewicht  erlangt. 
Zwei  Atome,  deren  fortschrittsbew^egliche  Attractionskräfte  an  die 
zugekehrten  Seiten  gewandert  sind ,  ziehen  sich  auf  ganz  geringe 
Entfernungen  sehr  stark  an,  während  die  Anziehung  auf  grössere 
Entfernungen  durch  die  Abstossung  beinahe  compensirt  wird,  und 
nur  ein  winziger  Ueberschuss  als  Schwerkraft  üln-ig  bleibt.  Da  nun 
die  Isagität  ihrer  Natur  nach  bloss  als  Molecularanziehung  wirkt,  so  ist 
es  begreiflich,  dass  wir  diese  Kraft  erfahrungsgemäss  nicht  in  ihrer  speci- 
fischen  Verschiedenheit  von  den  anderen  Elementarkräften  erkennen. 

Ungegründet  wäre  ebenfalls  der  Ein\\Tirf,  dass  die  Isagität,  wenn 
sie  existirte,  bei  ihrer  grossen  Analogie  mit  der  Elektricität  in  ähn- 
licher Weise  w'ie  diese  zum  ^"^ erschein  kommen  sollte.  Denn,  wenn 
auch  die  Isagität  und  die  Elektricität  darin  übereinstimmen ,  dass 
beide  in  positiver  und  negativer  Modification  auftreten,  so  werden 
sie  doch  durch  die  unterscheidenden  Eigenschaften  in  ganz  ungleichem 
Maasse  befähigt,  sich  l)emerkbar  zu  machen.  Die  Elektricität  ist 
hiezu  von  Natur  sehr  geeignet.  Da  die  ungleichnamigen  Elektrici- 
täten  sich  anziehen,  so  entstehen  elektrisch  neutrale  Amergruppen, 
deren  Lage  im  ponderabeln  Aether  bloss  durch  die  andern  Elementar- 
kräfte (Dominanten  und  Isagitäten)  bedingt  wird.  Werden  diese 
Amergruppen  durch  äussere  Ursachen  zerlegt,  so  übt  die  frei  werdende 
Elektricität  eine  Wirkung  nach  aussen  aus ,  die  frülier  nicht  vor- 
handen war,  und  die  Amere,  an  welche  die  freie  Elektricität  gebimden 


810  Kräfte  nnd  Ge8taltiinp:en  iin   niolernlaren  TTebiet. 

ist,  können  wegen  der  Abstossung,  die  sie  auf  einander  ausüben, 
durch  den  ponderabeln  Aether  weit  fort  wandern  und  auch  an  andern 
Orten  eine  Wirkung  nach  aussen  vollbringen.  Die  beiden  Isagitäten 
dagegen  liilden ,  da  sie  einander  al)stossen ,  keine  neutralen  Amer- 
gruppen;  vielmehr  treten  sie  überall,  wo  sie  vorhanden  sind,  mit 
den  ihnen  eigenthümlichen  Anziehungen  auf  und  sind  durch  die- 
selben festgebunden.  Es  kann  daher  ein  Körper  nicht  in  analoger 
Weise  isagisch  gemacht  werden,  wie  man  ihn  elektrisch  machen 
kaim;  es  wird  auch  nicht  leicht  ein  Mittel  geben,  wodurch  einem 
Körper  in  erheblichem  Maasse  Isagität  zugeführt  oder  entzogen 
werden  kann.  Die  Veränderung  des  isagischen  Charakters  muss 
sich  wohl  auf  die  Regionen  innerhalb  der  Atome  und  Moleküle  be- 
schränken ,  wo  sie  durch  Wanderimg  der  isagischen  Amere  ver- 
ursacht wird. 

Bei  der  Beurtheilung  der  Frage,  warum  die  Isagität  als  solche 
noch  nicht  durch  Erfahrung  bekannt  ist,  muss  namentlich  auch  an 
die  wichtige  Thatsache,  die  ich  festgestellt  habe,  erinnert  werden, 
dass  die  Elementarkräfte,  deren  Wirkung  wir  gewahr  werden,  nur 
einen  fast  verschwindend  kleinen  Theil  derjenigen  Kraftmengen  aus- 
machen, welche  in  der  Natur  vorhanden  sind  und  sich  so  das  Gleich- 
gewicht halten,  als  ob  sie  nicht  da  wären  (S.  728).  Wenn  sogar  die 
so  auffallend  hervortretende  Schwerkraft  bloss  einen  winzigen  Bruch - 
theil  der  Gravitationskräfte  ausmacht,  so  begreifen  wir,  dass  die  für 
die  Wahrnehmung  viel  ungünstiger  angelegte  Isagität  unserer  Be- 
obachtung entgeht. 


Nachschrift.  —  Die  vorstehende  Abhandlung  war  geschrieben, 
als  ich  an  sehr  sensibeln  niedern  Pflanzen  ein  Gebiet  von  Erschei- 
nungen kennen  lernte,  welches  meiner  Ansicht  nach  nur  durch  die 
Annahme  einer  neuen  Elementarkraft  erklärt  werden  kann,  und 
zwar  einer  Kraft,  welche  die  der  Isagität  zugeschriebenen  Eigen- 
schaften besitzt.  Die  bezüglichen  Thatsachen  hoffe  ich  nächstens 
in  einer  besonderen  Schrift  darzulegen. 


12.  Znsammenfassung.  811 

12.  Zusammenfassung   der  Lehre   von  den  Kräften  und  Gestaltungen  im 
molecularen  Gebiet  nach  der  Amertheorie. 

1.  Elementarkräfte. 

Von  Elementarkräften,  welche  in  geradliniger  Richtung  als  An- 
ziehung oder  Abstossung  wirken,  gibt  es  drei  Paare: 

die  Elektrici täten ,  von  denen  die  gleiclmamigen  sich  al">- 
stossen,  die  ungleichnamigen  sich  anziehen; 

die  I sag i täten,  von  denen  die  gleichnamigen  sich  anziehen, 
die  ungleichnamigen  sich  abstossen; 

die  Dominan  tenkräf  te,  .von  denen  die  Gravitation  auf 
sich  selber  anziehend  und  die  Aet  her  abstossung  auf  sich  selber 
abstossend  wirkt,  während  die  erste  und  zweite  sich  indifferent  zu 
einander  verhalten. 

Zwischen  den  Kräften  der  verschiedenen  Paare  finden  keine 
dynamischen  Beziehungen  statt.  Alle  gegenseitigen  P^inwirkungen 
zweier  Kräfte  sind  gleich  dem  Product  aus  den  beiden  Kraftmengen, 
getheilt  durch  das  Quadrat  der  Entfernung. 

2.    \'erth eilung   der  Elementarkräf te  auf    die    kleinsten 

T  h  e  i  1  c  h  e  n. 
Die  sechs  Elementarkräfte  (positive  und  negative  Elektrici  tat, 
positive  und  negative  Isagität,  Gravitation  und  Aetherabstossung) 
sind,  als  untrennbare  Eigenschaften  der  Substanz,  alle  in  jedem  denk- 
baren kleinsten  Theilchen  vereint,  aber  in  jedem  in  ungleicher 
Menge  enthalten ,  so  dass  jedes  Theilchen  einen  anderen  dynami- 
schen Charakter  besitzt.  Da  anzunehmen  ist,  dass  die  zwei  Kräfte 
eines  Paares  im  Weltall  in  gleichen  Mengen  vorhanden  sind,  so 
ist,  wenn  die  kleinsten  Theilchen  von  gleicher  Grösse  gedacht 
werden,  wegen  ihrer  unendlichen  Menge  eine  Hälfte  der  Theilchen 
mit  überwiegender  positiver  Elektricität,  die  andere  mit  überwiegender 
negativer  Elektricität  begabt,  ferner  eine  Hälfte  vorzugsweise  positiv 
isagisch,  die  andere  vorzugsweise  negativ  isagisch,  endlich  eine  Hälfte 
mit  mehr  Gravitationsanziehung  (ponderable  Theilchen),  die  andere 
mit  mehr  Aetherabstossung  ausgerüstet  (imponderable  oder  Aether- 
theilchen).  Und  wenn  angenommen  werden  darf ,  dass  alle  sechs 
Elementarkräfte  gleiche  Summen  im  Weltall  bilden,  so  ist  in  jedem 
Sechstel  aller  Theilchen  eine  andere  Kraft  in  absolut  grösster  Menge 
vorhanden. 


812  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet 

3.  Agglomeration  und  Dispersi  on  durch  die  Elementar- 
kräfte. 

Die  kleinsten  aus  Erfahrung  bekannten  Theilchen  sind  die 
Aethertheilchen ;  es  ist  anzunehmen,  dass  auch  die  wägbaren  Stoffe 
aus  Theilchen  von  gleicher  Grösse  zusammengesetzt  sind.  Die 
Theilchen  dieser  kleinsten  Grössenordnung  können  als  Araere  be- 
zeichnet werden.  Die  Amere  w^aren  anfänglich  vereinzelt,  in  gas- 
ähnlicher Zerstreuung,  aus  welcher  sie  sich  theil weise  durch  die 
Anziehung  der  ungleichnamigen  Elektricitäten ,  der  gleichnamigen 
Isagitäten  und  der  Gravitation  zunächst  zu  Gruppen  vereinigten. 
Entscheidend  für  den  Erfolg  im  grossen  und  ganzen  war  die  Wir- 
kung der  Dominantenkräfte ,  da  diese  nicht  auf  einander  wirken ; 
die  Gravitationsanziehung  ballte  die  eine  Hälfte  der  Amere  (die 
ponderabeln  Amere)  zu  wägbaren  Stoffen  zusammen,  während  die 
Aetherabstossung  die  andere  Hälfte  der  Amere  (die  imponderabeln 
oder  Aetheramere)  in  der  ursprünglichen  Zerstreuung  erhielt  und 
den  Weltäther  constituirte.  Elektricität  und  Isagität,  von  denen 
jede  zugleich  Anziehung  und  Abstossung  ausübt,  sind  bei  der 
Agglomeration  und  Dispersion  der  Materie  nur  in  untergeordneter 
Weise  betheiligt,  insofern  als  sie  das  Bestreben  haben,  sowohl  inner- 
halb der  Agglomerations-  als  der  Dispersionsmassen  elektrisch  un- 
gleichnamige und  isagisch  gleichnamige  Amere  mit  einander  zu 
vereinigen. 

4.  Elasticität  und  Bewegung  der  Amere.     Weltäther. 

Maassgebend  für  den  Zustand  der  Agglomeration  imd  der 
Dispersion  ist  die  vollkommen  elastische  Beschaffenheit  der  Amere 
und  ihre  Bewegung.  Was  die  Elasticität  betrifft,  so  kann  ihre  Ur- 
sache ,  wie  die  Ursache  der  Elasticität  der  Atome ,  nur  darauf  be- 
ruhen, dass  die  Attractions-  und  Repulsionskräfte  in  nahezu  gleichen 
Mengen  in  jedem  Amer  vorhanden  und  durch  sein  Inneres  vertheilt 
sind.  Was  die  Bewegungen  betrifft,  so  müssen  dieselben,  in  ähn- 
licher Weise  wie  diejenigen  der  Gasmoleküle ,  fortschreitende  und 
drehende  sein,  und  ihre  Geschwindigkeit  muss  die  Geschwindigkeit 
der  Gasmoleküle  in  analogem  Maasse  tibertreffen,  wie  die  auf  Aether- 
schwingungen  beruhende  Fortpflanzung  der  Licht-  und  Wärme- 
strahlen  und   die  Bewegung  der  Elektricität   die  Fortpflanzung   des 


12.  Zusammenfassung.  313 

von  Schwingungen  der  Luft  getragenen  Schalles  und  die  fliegenden 
Bewegungen  der  Gasmoleküle  übertreffen. 

Dem  entsprechend  besteht  der  Weltäther  theils  aus  vereinzelten 
Ameren  mit  der  ursprünglichen  fortschrittlichen  Geschwindigkeit, 
theils  aus  kleinen  Gruppen  von  solchen  Ameren,  welche  durch  die 
isagischen  und  elektrischen  Kräfte  zusammengehalten  werden  und 
sich  in  scliwingender  Bewegung  Vjefinden.  Die  Amergruppen  haben, 
da  die  ursprüngliche  lebendige  Kraft  ihrer  Amere  zum  Tlieil  in 
interne  Bewegung  übergegangen  ist,  eine  entsprechend  geringere 
Geschwindigkeit ;  sie  werden  leicht  durch  den  Stoss  zertrümmert. 

5.    Entstehung   der   Atome. 

Bei  der  Agglomeration  ballten  sich  die  ponderabeln  Amere  je 
aus  einem  bestimmten  Volumen  der  durch  den  Himmelsraum  aus- 
gebreiteten Substanz,  dessen  Grösse  durch  die  Wirkung  der  Gravi- 
tationsanziehung und  die  Bewegung  der  Amere  bestimmt  war,  zu 
einer  Masse  zusammen,  die  ein  chemisches  Atom  darstellt.  Bei 
diesem  Vorgang  vereinigten  sich  zuerst  die  Amere  mit  stärkerer 
Anziehung  zu  kleineren  und  diese  zu  grösseren  Gruppen,  deren  fort- 
schreitende Bewegung  mit  zunehmender  Grösse  sich  verminderte, 
und  bildeten  schliesslich  den  aus  dichterer  und  weniger  beweglicher 
Substanz  bestehenden  Atomkörper.  Um  denselben  legien  sich  dann 
die  Amere  mit  schwächerer  Anziehung  an  und  stellten  eine  Atmo- 
sphäre dar,  die  von  innen  nach  aussen  an  Dichtigkeit  ab-  und  an 
Beweglichkeit  zunimmt.  In  einem  bestimmten  Weltenraum  und  in 
einer  bestimmten  Zeitperiode  entstanden  die  Atome  eines  bestimmten 
chemischen  Elements.  Die  verschiedenen  Elemente  bildeten  sich 
unter  verschiedenen  Verhältnissen,  die  in  verschiedenen  A\'elträumen 
oder  in  verschiedenen  Zeitperioden  gegeben  waren,  —  im  allgemeinen 
zuerst  diejenigen  mit  grösserem  Atomgewicht  aus  den  Ameren  mit 
stärkster  Gravitationsanziehung,  zuletzt  wohl,  als  der  Raum  an  pon- 
derabeln Ameren  schon  fast  erschöpft  war,  das  leichteste  Element, 
der  Wasserstoff. 

6.    Atom  kör  per,    Aet  herhülle    und    Z  wi  schenhülläther. 

Der  Atomkörper  besteht  aus  Ameren  und  Amergruppen,  die 
sich  in  schwingenden ,  theilweise  auch  in  fortschreitenden  und 
drehenden  Bewegungen  befinden;  die  Summe  der  lebendigen  Kräfte 


814  Kräfte  un.i  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

dieser  Bewegungen  ist  gleich  der  Summe  der  lebendigen  Kräfte, 
welche  die  Amere  im  ursprünglichen  Zustande  der  Zerstreuung  be- 
sassen.  Die  Amere  des  Atomkörpers  gehören  im  allgemeinen  dauernd 
demselben  an,  und  verhältnissrnässig  nur  wenige  mögen  ihn  jeweilen 
verlassen  und    durch    andere  von  aussen  eintretende  ersetzt  werden. 

Die  Atmosphäre  um  den  Atomkörper  besteht  aus  ponderabeln 
Ameren  und  Amergruppen ,  die  zwar  alle  ihren  Platz  verlassen 
können,  von  denen  aber  die  der  innersten  Schichten,  durch  stärkere 
Anziehung  gebunden ,  mehr  schiwingende  Bewegungen  ausführen, 
während  die  der  äusseren  Schichten  mehr  und  mehr  bloss  fort- 
schreitende Bewegungen  zeigen.  Diese  Atmosphäre  hat  grosse  Aehn- 
lichkeit  mit  dem  Aether,  in  den  sie  auch  an  der  Oberfläche  all- 
mählich übergeht,  und  kann  als  ponderabler  oder  Schweräther  von 
dem  eigentlichen  Leicht-  oder  Weltäther  miterschieden  werden. 

Wenn  sich  die  Atome  zu  Molekülen  und  die  Moleküle  zu  festen 
und  flüssigen  Massen  vereinigen,  so  wird  ein  Theil  der  Schweräther- 
atmosphäre zwischen  denselben  verdrängt.  An  dem  interatomaleu 
Aether  dieser  Massen  lassen  sich  nun  bestimmter  zwei  Partien  unter- 
scheiden. Diejenige ,  welche  die  Atomkörper  zunächst  umgibt  und 
aus  einer  dichteren,  weniger  beweglichen  Substanz  besteht,  kann  als 
Aetherhülle,  die  übrige  weniger  dichte,  aber  beweglichere  Partie  als 
Zwischenhülläther  bezeichnet  werden.  Die  Aetherhülle  verhindert 
die  vollständige  Annäherung  der  Atomkörper  und  nimmt  an  dem 
Zustandekommen  der  Elasticität  Theil.  Der  Raum,  in  welchem  die 
Atome  mit  ihren  Hüllen  hin  und  her  schwingen,  im  flüssigen  Zu- 
stande auch  fortschreiten  und  sich  drehen,  ist  mit  Zwischenhüll- 
äther gefüllt. 

7.  Dynamische  Einwirkungen  der  Körper  auf  einander. 

Schwere. 

Da  in  jedem  Amer  alle  sechs  Elementarkräfte  enthalten  sind, 
so  besteht  die  Einwirkung  zweier  Amere  auf  einander  in  der  Summe 
aller  Anziehungen  weniger  die  Summe  aller  Abstossungen.  Sie  ist 
also  gleich 

ÄA,  —  BB,  +  («  —  /^)  K  —  ß.)  +  («  —  ^  [h.  —  «■) 

wenn  A  und  A^  die  Gravitationsanziehung,  B  und  B^  die  Aether- 
abstossung,    «  und  a,  die  positive,   ß  und  ß^    die  negative  Isagität, 


12.  Zusammenfassung.  815 

a  und  (I,  die  positive,  h  und  b,  die  negative  Elektricität  der  beiden 
Amere  bezeichnen.  Für  die  gegenseitige  Einwirkung  zweier  Körper, 
die  sich  in  grösserer  Entfernung  von  einander  l)efinden ,  gilt  obige 
Formel  ebenfalls,  wenn  die  Buchstaben  die  Summen  der  gleich- 
namigen Kräfte  in  allen  Anieren  bedeuten,  weil  die  Entfernung  der 
beiden  Mittelpunkte  nun  olme  merklichen  Fehler  für  die  genannten 
Summen  in  Rechnung  gebracht  werden  kann.  Bestehen  die  Körper 
aus  einer  grossen  Zahl  von  verschiedenen  chemischen  Elementen, 
so  können  die  beiden  aus  den  isagischen  und  elektrischen  Kräften 
sich  ergebenden  Ausdrücke  vernachlässigt  werden,  weil  die  positiven 
und  negativen  Glieder  dieser  Kräfte  in  gleichen  Mengen  vorhanden 
sind.  Die  Wirkung  zweier  solcher  Körper  wird  also  bloss  durch 
die  beiden  Ausdrücke  AA^  —  BB^  bestimmt;  diese  Differenz  stellt, 
wenn  es  sich  um  ponderable  Massen  handelt,  die  Schwereanziehung 
derselben  dar.  Das  Gesetz  der  Schwere  beweist,  dass  in  den  Himmels- 
körpern unseres  Sonnensystems  die  Smnmen  der  Gravitationskräfte 
und  der  Aetherabstossungskräfte  im  gleichen  Verhältniss  zu  einander 
stehen  (A  JB  ^=  Ai  :  B^).  Die  zwischen  zwei  Körpern  bestehende 
Anziehung  durch  die  Schwerkraft  ist  nur  ein  winziger  Theil  der 
durch  alle  ihre  Gravitationskräfte  bewirkten  Anziehung,  und  die 
gesammte  Aetherabstossmig  ist  nur  um  einen  unbedeutenden  Bruch- 
theil  kleiner  als  die  gesammte  Gravitationsanziehung.  Nach  dieser 
Auffassung  erklärt  sich  der  scheinbare  Gegensatz  zwischen  der 
Schwerkraft  und  den  Molecularkräften,  indem  jene  aus  der  Differenz 
der  letzteren  zu  Stande  kommt. 

8.  Wärme  und  Licht. 

Der  Welt-  oder  Leichtäther  zeigt  in  analoger  Weise  wie  die 
Luft,  ausser  den  Einzelbewegungen  der  Aethertheilchen  und  den 
fortschreitenden  Massenbewegungen,  auch  schwingende  Massenbewe- 
gungen, bei  denen  eine  grosse  Menge  von  Theilchen  sich  gleich- 
zeitig hin  und  her  bewegt.  Von  den  verschiedenen  Aetherbewe- 
gungen  sind  es  diese  Massenschwingungen ,  welche  das  Licht  und 
die  Aetherwärme  darstellen.  Als  Wärme  setzen  sie  sich  mit  den 
(schwingenden,  fortschreitenden  und  drehenden)  Bewegungen  der 
Moleküle  und  Atome  ins  Gleichgewicht,  indem  sie  je  nach  Um- 
ständen denselben  eine  Beschleunigung  ertheilen  oder  durch  die- 
selben eine  Beschleunigung  erfahren,  wobei  Aetherwärme  latent  und 


816  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

in  Atombewegung  übergeführt  wird ,  und  umgekehrt.  —  A^on  der 
ponderabeln  Aetheratmosphäre,  welche  die  Atomkörper  umgibt,  wird 
der  Zwischenhülläther  infolge  seiner  grösseren  Beweglichkeit  durch 
die  Schwingungen  des  Leichtäthers  in  analoge  Massenscliwingungen 
versetzt.  Bildet  der  Zwischenhülläther  breitere  und  zusammen- 
hängende Bahnen  zwischen  den  Molekülen,  so  findet  die  Durch- 
strahlung der  Masse  ohne  merklichen  A^erlust  der  Aetherschwingungen 
statt  und  die  Körper  sind  vollkonnnen  diatherman  und  durchsichtig. 
Sind  aber  die  Bahnen  des  ZwischenhüUäthers  infolge  der  Anord- 
nung der  Atome  enge  und  unvollständig  -  zusammenhängend ,  so 
setzen  sich  die  Aetherschwingungen  in  x4.tombewegungen  um  und 
die  Körper  sind  mehr  oder  weniger  adiatherman  und  undurchsichtig. 

9.  Erregung  und  Verbreitung  der  Elektricität. 

Jedes  Amer  ist,  je  nachdem  die  eine  oder  andere  Elektricität 
überwiegt,  dauernd  positiv  oder  negativ  elektrisch,  da  die  Elektricität 
eine  Eigenschaft  seiner  Substanz  ist  und  es  daher  nicht  verlassen 
kann.  Die  positiven  und  negativen  Amere  sind  im  allgemeinen  zu 
neutralen  Gruppen  vereinigt.  Durch  Zerlegung  dieser  Gruppen  und 
Ansammlung  der  elektrisch  gleichnamigen  Amere  wird  freie  Elek- 
tricität erzeugt.  Dies  erfolgt,  wenn  ein  elektrischer  Körper  sich 
einem  neutralen  Körper  nähert,  durch  dynamische  Einwirkung,  oder 
auch  wenn  durch  irgend  welche  Eingriffe  von  aussen  das  bisher  be- 
standene Gleichgewicht  in  einem  neutralen  Körper  gestört  und  dabei 
infolge  anderweitiger  Anziehungen  und  Abstossungen  elektrisch 
neutrale  Amergruppen  gespalten  werden. 

Die  in  den  Atomkörpern  schon  vorhandene  oder  durch  eine 
äussere  Ursache  frei  werdende  Elektricität  beibt  in  denselben  ein- 
geschlossen, da  die  Amere  im  allgemeinen  nicht  heraus  treten 
können.  Dagegen  sind  die  elektrischen  Theilchen  der  Aetherhüllen 
und  besonders  des  ZwischenhüUäthers  fortschrittsbeweglich ,  und 
die  freie  Elektricität,  die  an  den  Körpern  zeitweise  oder  stellenweise 
wahrgenommen  wird,  stammt  stets  aus  dem  Schweräther  derselben.  — 
Die  Amere  der  freien  Elektricität  stossen  sich  gegenseitig  ab  und 
haben  das  Bestreben,  sich  von  einander  zu  entfernen.  Wenn  sie 
dem  Leichtäther  angehörten  und  somit  auch  noch  die  Aether- 
abstossung  wirksam  wäre,  so  müssten  sie  stets  die  festen  und  flüssigen 
Körper    verlassen.      Da    sie    aber    mit    ausreichender    Gravitations- 


12.  Zusammenfassung.  317 

anziehung  und  iiainentlicli  mit  isagisclier  Anziehung  begabt  sind, 
so  werden  sie  von  den  Körpern  festgehalten,  breiten  sich  aber  wegen 
ihrer  gegenseitigen  Abstossung  in  den  oberflächht-hsten  Schichten 
derselben  ans. 

10.  Leitung  der  Elektricität. 
Da  die  Theilchen  des  Schweräthers  in  den  festen  und  tlü.s.sigcn 
Körpern  durch  ihre  gegenseitigen  dynamischen  Einwirkungen  und 
Bewegungen  einen  bestimmten  Spannungszustand  darstellen,  welcher 
der  Spannung  des  äusseren  Aethers  das  Gleichgewicht  hält,  so  kann 
ohne  Spannungsänderung  ein  elektrisches  Theilchen  seinen  Platz 
nur  verlassen,  wenn  es  an  die  Stelle  eines  andern  Theilchens  des 
Schweräthers  tritt  und  wenn  ebenso  seine  Stelle  von  einem  anderen 
Theilchen  eingenommen  wird.  Die  Wanderung  der  einander  ab- 
stossenden  elektrischen  Amere ,  welche  den  geringsten  Widerstand 
zu  überwinden  hat,  findet  daher  naturgemäss  so  statt,  dass  elektrisch 
neutrale  Theilchen  (Amergruppen)  oder,  wie  dies  beim  galvanischen 
Strom  der  Fall  ist,  Amere  mit  entgegengesetzter  Elektricität  sich 
in  der  umgekehrten  Richtung  bewegen.  So  kann  der  elektrische 
Strom  durch  einen  Körper  oder  eine  beliebig  lange  Reihe  von  Körpern 
gehen,  wenn  sich  auf  diesem  Wege  ununterbrochene  Reihen  von 
neutralen  Amergruppen  befinden,  und  es  kann  eine  beliebäg  grosse 
Menge  von  Elektricität  strömen,  wenn  der  Weg  in  einen  Körper 
von  hinreichend  grosser  Ausdehnung  (z.  B.  in  die  Erde)  endigt. 
Die  Leitung  geschieht  um  so  leichter,  je  näher  die  neutralen  Amer- 
gruppen der  Strombahn  beisanmien  liegen,  also  je  dichter  der  pon- 
derable  Aether  ist.  Sie  ist  unmöglich  durch  die  Atomkörper  hindurch, 
weil  diese  den  Ein-  und  Austritt  von  Ameren  nur  spärlich  gestatten. 
Andrerseits  wird  sie  von  dem  Zwischenhülläther  nur  sehr  unvoll- 
kommen oder  gar  nicht  ausgeführt,  weil  dessen  Theilchen  zu  weit 
von  einander  abstehen  und  wegen  ihrer  grösseren  Beweglichkeit 
keine  constanten  Reihen  bilden.  Dagegen  eignen  sich  die  Aether- 
hüllen  infolge  ihrer  grösseren  Dichtigkeit  und  der  geringeren  Be- 
weglichkeit ihrer  Theilchen  vorzüglich  zur  Leitung  der  Elektricität, 
und  als  die  besten  Leiter  sind  diejenigen  festen  Körper  zu  betrachten, 
deren  Aetherhüllen  in  ununterbrochener  Verbindung  unter  einander 
stehen.  Damit  stimmt  überein,  dass  z\^^schen  der  Leitungsfähigkeit 
der  Elektricität  und  andrerseits  des  Lichtes  und  der  Wärme  ein  ge- 
wisser Gegensatz  besteht. 

V.  Nägeli,  Abstammungslehre.  52 


818  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

11.  Magnetismus. 

In  den  Atomkörpern  der  chemischen  Elemente  ist  die  eine  oder 
andere  Elektricität  in  verschieden  grossem  Ueberschuss  enthalten ; 
derselbe  bedingt  die  Stellung  der  Elemente  in  der  elektrischen  Span- 
nungsreihe. Er  wirkt  auch  in  entsprechendem  Maasse  vertheilend 
auf  die  Aetherhülle,  von  welcher  daher  namentlich  die  innern  (den 
Atomkörper  zunächst  umgebenden)  Schichten  neben  den  neutralen 
Amergruppen  auch  elektrische  Amere  enthalten,  deren  Elektricität 
mit  der  des  Atomkörpers  ungleichnamig  ist.  Da  die  Theilchen  der 
Aetherhülle  zum  Theil  in  fortschreitenden  Bewegungen  begriffen 
sind,  so  bilden  sich,  wegen  der  Anwesenheit  der  elektrischen  Amere, 
leicht  elektrische  Strömchen,  welche,  wegen  der  Anziehung  dieser 
Amere  durch  den  Atomkörper,  die  Neigung  haben,  in  tangentialer 
Richtung  zu  verlaufen  und  kreisförmig  zu  werden.  Viele  solcher 
gleichgerichteter  kreisförmiger  Elementarströmchen  bilden  zusammen 
den  »Molecularstrom«,  welcher  das  Atom  zum  »Molecularmagneten« 
macht. 

Die  Molecularströme  können  schon  von  Natur  vorhanden  sein, 
wobei  ihre  Richtung  von  Atom  zu  Atom  wechselt ;  dann  werden  sie 
durch  einen  benachbarten  Strom  inducirt  d.  h.  ganz  oder  theilweise 
in  die  gegenläufige  Richtung  übergeführt.  Beharren  sie  in  dieser 
Richtung,  so  bedingen  sie  den  Diamagnetismus  der  festen  Körper. 
Geht  die  Wirkung  des  inducirenden  Stromes  noch  weiter,  so  dreht 
er  die  Molecularströme  in  die  gleichläufige  Richtung  (Magnetismus). 
Sind  dagegen  die  Molecularströme  nicht  schon  ursprünglich  vor- 
handen, so  werden  sie  durch  den  inducirenden  Strom  zuerst  in  gegen- 
läufiger Richtung  erzeugt  (Diamagnetismus) ,  und  nachher  in  die 
gleichläufige  Richtung  umgeändert  (Magnetismus).  Findet  das  eine 
oder  andere  statt,  so  erfahren  stets  nur  die  den  ISIolecularstrom  zu- 
sammensetzenden Elementarströmchen  eine  Richtungsänderung,  indess 
die  Atomkörper  ihre  Stellung  unverändert  behalten.  —  Bei  den 
Gasen  kommt  es  wegen  der  von  Natur  ihren  Molekülen  eigenthüm- 
lichen  fortschreitenden  und  drehenden  Bewegungen  in  der  Regel 
bloss  zur  diamagnetischen  Wirkung,  während  in  den  mit  viel  lang- 
sameren Molecularbewegungen  ausgestatteten  Flüssigkeiten  bald  bloss 
diamagnetische,  1)ald  magnetische  Molecularströme  hervorgebracht 
werden. 


12.  Zusammenfassung.  819 

12.    Gestalt,    Grösse   und    Zusammensetzung  der  Atome. 

Hierüber  gibt  das  Atomgewicht  keinen  Aufschluss.  Aus  der 
vollkommenen  und  unvollkommenen  Sättigung,  sowie  aus  der  wech- 
selnden Valenz,  welche  an  mehrwerthigen  Atomen  beobachtet  wird, 
geht  hervor,  dass  die  Atome  aus  Particellen  zusammengesetzt  sind, 
von  denen  jedes  einer  Werthigkeit  entspricht  und  die  bis  auf  einen 
bestimmten  Grad  selbständig  sind.  Da  die  Particelle  eines  Atoms 
so  gelagert  sein  müssen ,  dass  sie  in  den  bekainiten  chemischen 
A^'erbindungen  sich  den  andern  Atomen  stets  so  sehr  zu  nähern 
vermögen,  als  es  dem  hier  erlangten  Grad  der  Anziehung  entspricht, 
so  ist  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  anzunehmen,  dass  sie  in  einer 
Ebene  um  einen  Mittelpunkt  liegen  und  somit  tafelförmige  mehr- 
werthige  Atome  bilden.  Aus  der  Festigkeit  der  Körper,  der  Fort- 
pilanzung  von  Licht  und  Wärme  durch  dieselben,  der  Leitung  der 
Elektricität  und  aus  der  chemischen  Anziehung  ergibt  sich,  dass  die 
Atomkörper  eine  verhältnissmässig  beträchtliche  Grösse  besitzen  und 
dass  ihr  Durchmesser  in  festen  Körpern  meistens  fast  die  Hälfte  des 
Abstandes  der  Mittelpunkte  erreicht.  Die  ^'erhältnisse  der  chemi- 
schen Verbindungen  machen  es  wahrscheinlich,  dass  ein  einwerthiger 
Atomkörper  grösser  ist  als  das  Farticell  eines  mehrwerthigen,  und 
dass  im  allgemeinen  der  mehrwerthige  Atomkörper  an  Grösse  den 
minderwerthigen  ül^ertrifft. 

13.    Chemische  Verwandtschaft.     Adhäsion. 

Die  chemische  Anziehung  zweier  Atome  besteht  in  der  Summe 
aller  Anziehungen  weniger  die  Summe  aller  Abstossungen.  Bei  dieser 
Summenbildung  sind  die  Dominantenkräfte  in  geringem  Maasse,  die 
durch  sie  bestimmte  Schwerkraft  gar  nicht  iDetheiligt,  während  die  Elek- 
tricität bei  denVerbindungen  zwischen  Elementen,  die  in  der  elektriscben 
Spannungsreihe  weiter  von  einander  entfernt  sind,  und  die  Isagität 
bei  den  Verbindungen  der  Atome  des  nämlichen  Elements  die  Haupt- 
rolle spielen.  Bei  der  Annäherung  zweier  Atome  bewirken  ihre  auf 
einander  wirkenden  Attractions-  und  Repulsionskräfte  eine  Wanderung 
der  fortschrittsbeweglichen  Theilchen  in  diejenigen  Stellungen,  welche 
den  grössten  Ueberschuss  der  gesammten  Anziehungen  über  die 
gesammten  Abstossungen  ergeben.  Indem  somit  im  allgemeinen  die 
Amere  mit  der  grössten  Anziehung  sich  an  die  zugekehrten  Seiten, 
diejenigen   mit  der  grössten  Abstossung   an  die  abgekehrten  Seiten 


S20  Kräfte  und  Gestaltungen  im  molecularen  Gebiet. 

der  Atomkörper  begeben,  bildet  sich  eine  ungleichseitige  Anordnung 
der  Kräfte  aus,  worauf  die  chemische  Sättigung  beruht,  weil  sie  eine 
zweite  analoge  Verbindung  nicht  gestattet,  so  lange  nicht  die  erste 
Verbindung   gelöst   ist  und  die  Kräfte   sich  neu   orientiren  können. 

Wenn  mehrwerthige  Atome  zu  einem  Molekül  zusammentreten, 
ist  zwar  die  dynamische  Einwirkung  zwischen  zwei  einander  gegen- 
überstehenden und  sich  »bindenden«  Particellen  am  grössten;  aber 
dadurch  w^rd  ihre  Einwirkung  auf  alle  anderen  Particelle  nicht  auf- 
gehoben, sondern  bloss  nach  dem  Quadrat  der  Entfernung  ver- 
mindert. Die  Orientirung  der  Kräfte  in  jedem  Particell  ist  mit 
Rücksicht  auf  alle  im  Molekül  wirksamen  Kräfte  durchgeführt  und 
die  Festigkeit  eines  Moleküls  beruht  auf  der  Summe  der  über- 
schüssigen Anziehungen  aller  Particelle  auf  alle  übrigen  Particelle. 
Bei  unvollständiger  Sättigung  eines  mehrwerthigen  Atoms  betheiligen 
sich  alle  Particelle  an  der  Verbindung  und  nehmen,  statt  der  oppo- 
nirten ,  diejenige  Stellung  zu  den  mit  ihnen  sich  verbindenden 
Atomen  an ,  welche  zwar  eine  geringere  Anziehung  der  einzelnen 
Particelle,  aber  die  grösste  Gesammtanziehung  bedingt. 

Bei  der  Annäherung  zweier  Moleküle  werden  nicht  einfach  die 
Kräfte,  Avie  sie  sich  in  jedem  derselben  zur  chemischen  Anziehung 
angeordnet  haben,  wirksam ;  sondern  es  findet  abermals  eine  Wan- 
derung der  fortschrittlichen  Theilchen  in  den  Atomen  statt,  um  die 
mit  der  chemischen  Anziehung  innerhalb  jedes  Moleküls  verträgliche 
möglichst  grosse  Anziehung  zwischen  den  beiden  Molekülen  herbei- 
zuführen. Diese  Adhäsion  der  Moleküle  an  einander  (=  Cohäsion 
der  Substanz)  gestattet  eine  Abstufung  von  dem  allerschwächsten 
bis  zu  dem  festesten,  der  chemischen  Anziehung  zwischen  den 
Atomen  gleichkommenden  Zusammenhang.  Die  Anziehung  zwischen 
verschiedenartigen  Molekülen  bewirkt  oft  bestimmte  Molekülver- 
einigungen (Pleone),  die  Anziehung  zwischen  gleichartigen  Molekülen 
oder  Pleonen  dagegen  die  Krystallisation.  —  Die  Imbibition  der  or- 
ganisirten  Substanzen  beruht  auf  der  Adhäsionsanziehung,  welche 
die  oberflächlichen  Moleküle  der  organischen  Micelle  auf  eine  oder 
einige  wenige  angrenzende  Schichten  von  Wassermolekülen  ausüben, 
so  dass  die  Anziehung  der  Micelloberfläche  zu  Wasser  grösser  wird 
als  die  Anziehung  der  Micelle  zu  einander,  während  andrerseits 
^ie  letztere  grösser  ist  als  die  Anziehung  der  ganzen  Micelle  zu 
Wasser. 


12.  Zusammenfassung.  821 

Die  chemische  Verwandtschaft  und  die  Adhäsion  (Cohäsion), 
welche  die  sogenannten  Molecularkräfte  darstellen,  kommen  also 
dadurch  zu  Stande,  dass  die  Amere,  welche  die  Träger  der  an- 
ziehenden (Gravitations-,  elektrischen  und  isagischen)  und  der  ab- 
stossenden  (Aetherrepulsions-,  elektrischen  und  isagischen)  Kräfte 
sind,  zum  Theil  Ortsveränderungen  innerhalb  der  Atomkörper  aus- 
führen und  bei  der  Annäherung  solche  Stellungen  annehmen,  dass 
die  Anziehungen  zwischen  den  Atomen  und  Molekülen  auf  geringere 
Entfernungen  wirken  und  daher  einen  grösseren  Effect  ergeben,  als 
die  Abstossungen. 

Durch  die  theilweise  Wanderung  der  kraftbegabten  Amere  er- 
halten die  Atome  eine  innerhalb  gewisser  Grenzen  schwankende  Un- 
beständigkeit des  dynamischen  Charakters,  welche  allein  das  ver- 
schiedenartige Verhalten  des  nämlichen  Atoms  bezüglich  seiner 
mannigfaltigen  chemischen  und  Adhäsionsanziehungen  zu  erklären 
vermag. 

14.    Dauernde  Veränderung    der    Atome.      Positive    und 
negative   Entropie   des  Weltalls. 

Da  die  Atome  ponderable  Aethertheilchen  aufnehmen  und  ab- 
geben, ferner  ihre  Amere  theilweise  umlagern  können ,  so  sind  sie 
nicht  bloss  einer  vorübergehenden,  sondern  einer  dauernden  und 
sich  steigernden  Veränderung  ihrer  morphologischen  und  dynami- 
schen Beschaffenheit  fähig.  Dieselbe  wird  aber,  da  Atom  und  Amer 
verschiedenen  Grössenordnungen  angehören,  und  da  die  ein-  und 
austretenden  Amere  nur  höchst  geringe  Unterschiede  zeigen  können, 
äusserst  langsam  erfolgen  und  vielleicht  erst  dann  eine  bemerkbare 
Grösse  annehmen,  wenn  allenfalls  unser  Sonnensystem  in  andere 
Welträume  mit  etwas  andersartigem  Aether  gelangt.  Eine  solche 
Urustimmung  im  Atomkörper  hat  Einfluss  auf  die  Beschaffenheit 
und  Mächtigkeit  der  Aetherhülle,  von  welcher  wesentlich  die  Aggre- 
gatzustände abhängen.  So  kann  also  nach  langen  Zeiträumen  ein 
permanentes  Gas  zum  flüssigen  und  festen  Körper  und  ein  permanent 
fester  Körper  zur  Flüssigkeit  und  zum  Gas  sich  umbilden. 

Die  Veränderung  der  Atome  ist  aber  nocli  mehr  gesichert,  wenn 
wiv  die  theoretisch  nicht  abzuweisende  Annahme  machen,  dass  auch 
die  Amere  selber,  als  endliche  und  zusammengesetzte  Dinge,  eine 
innere  Veränderung  erfahren.      Ist   letztere   wirklich  vorhanden ,  so 


322  Kräfte  und  Gestaltungen  im  niolecularen  Gebiet. 

können  die  Atome  nicht  nur  leicht  in  der  angegebenen  Weise  sieh 
umbilden,  sondern  sie  werden  unter  Umständen  eine  weiter  gehende 
Veränderung,  einen  Zerfall  in  die  Partieelle,  in  kleinere  Stücke  und 
vielleicht  selbst  in  die  Amere  erleiden,  so  dass  die  Materie  ganz 
oder  theilweise  wieder  in  den  ursprünglichen  Zustand  der  äther- 
artigen Zerstreuung  zurückkehren  würde. 

In  der  ursprünglichen  Zerstreuung,  die  in  dem  bestimmten 
AVeltraum  einmal  bestand,  führten  die  Amere  bei  der  Temperatur 
des  absoluten  Nullpunktes  bloss  Einzelbewegungen  aus.  Die  Zu- 
sammenballung der  Amere  zu  Atomen  und  die  Vereinigung  der 
Atome  zu  INlolekülen,  weiterhin  zu  flüssigen  und  festen  Körpern 
hatten  Massenschwingungen  des  Aethers  und  damit  Licht  und 
Wärme  zur  Folge.  Ursprünglich  Avar  die  mechanische  Energie  bloss 
als  Einzelbewegungen  der  Amere  vorhanden.  Ein  Theil  derselben 
blieb  unverändert  in  den  Aetherth eilchen,  ein  anderer  Theil  ging  in 
Wärme  (mit  Licht)  und  in  die  mechanische  Energie  der  Agglomerations- 
körper über.  Die  letztere  verwandelte  sich  nach  und  nach  immer 
mehr  in  Massenschwingungen  des  Aethers  (in  Wärme).  Diese  ganze 
Entwicklungsgeschichte  stellt  die  Periode  der  positiven  Entropie, 
in  der'  wir  uns  befinden,  dar. 

Wenn  die  Atome  und  die  Amere  mit  der  Zeit  ihre  Beschaffenheit 
ändern,  wenn  die  festen  Massen  flüssig,  dann  gasförmig  werden  und 
die  Gase  vielleicht  schliesslich  in  die  Amerzerstreuung  zurückkehren, 
so  geht  die  Energie  der  Wärmeschwingungen  in  die  Energie  der 
schwingenden ,  drehenden  und  fortschrittlichen  Bewegungen  der 
Moleküle,  Atome,  zuletzt  der  Amere  über.  Dies  ist  die  Periode  der 
negativen  Entropie,  welche  mit  derjenigen  der  positiven  Entropie 
abwechselt.