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n. ♦
MECHANISMUS
UND
VITALISMUS
VON
O. BUTSCHLI
PROFESSOR DER ZOOLOGIE ZU HEIDELBERG
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1901.
Alle Rechte, besonders das der Uebersetzung, vorbehalten.
Druck der Kgl. Universitäts-Druckerei von H. Stürtz, Würzburg.
Vorbemerkung.
Die kritische Studie über ein in neuerer Zeit vielfach
behandeltes Thema, welche ich hiermit der Oeffentlichkeit
übergebe, entsprang der ehrenden Aufforderung, welche der
geschäftsleitende Ausschuss des internationalen Zoologen-
Congresses an mich richtete. Das Thema habe ich selbst ge-
wählt; es lag mir insofern nahe, als mich meine Arbeiten viel-
fach anregten, über das Problem nachzudenken. Die Kürze der
gegebenen Zeit machte es nöthig, bei dem mündlichen Vor-
trag vieles wegzulassen, was in den Druck aufgenommen wurde.
Manches, was bei einer anderen Darstellung füglich im Text
besprochen worden wäre, musste in Anmerkungen verwiesen
werden. Ich fühle selbst, dass dem vorliegenden Versuch zahl-
reiche Mängel anhaften. Da jedoch die fortschreitende Einsicht
an die Zusammenarbeit Vieler gebunden ist, so wird man viel-
leicht auch aus dieser Studie einiges zu entnehmen vermögen,
was zur Förderung und Klärung des Problems beitragen kann.
Heidelberg, 3. Juni 1901.
JYlan wird darüber streiten können, ob das für meinen Vortrag
gewählte Thema sich zur Besprechung auf unserem Kongress eignet,
ganz abgesehen davon, ob es mir gelingen mag, seine gewiss nicht
geringen Schwierigkeiten einigermassen zu bewältigen. Auch ge-
statten es diese Schwierigkeiten nicht, den Vortrag rhetorisch zu
beleben oder zu verschönen ; trockene Klarheit kann allein das
wünschenswerte Ziel sein1).
Keiner Frage dagegen unterliegt es, dass die alten Gegensätze
Mechanismu s und Vitalismus neuerdings wieder schärfer
hervortreten, nachdem sie insofern ausgeglichen schienen, als die
Möglichkeit des ausreichenden Begreifens der Lebenserscheinungen
auf mechanistischer Grundlage recht allgemein zugegeben wurde.
Wenn die Denker und Forscher, die in neuerer Zeit für den
Vitalismus eintraten, auch häufig als Neo-Vitalisten bezeichnet
werden, so scheint mir doch der Gegensatz zwischen dem älteren
Vitalismus und dem sog. Neo-Vitalismus kein eigentlich prinzipieller
zu sein. Im alten w7ie im neuen Vitalismus spricht sich gleicher-
weise die fundamentale Ueberzeuguns-f aus, dass Lebewesen und
Lebensvorgänge nicht, oder doch nicht vollständig, begriffen werden
könnten, ohne das Zugeständniss einer nur in der Organismenwelt
bestehenden, dem Nichtlebenden mangelnden Geschehensgesetzlich-
keit, eines besonderen Prinzips oder einer besonderen Kraft, wie
man dies eigenthümliche Etwas, je nach der bevorzugten Ausdrucks-
weise, bezeichnen mag. Mehr als der ältere Vitalismus gesteht der
Neo- Vitalismus zu, dass die rein kausal-mechanistische Betrachtung
der Lebenserscheinungen ebenso berechtigt ist als die teleologische,
dass beide nebeneinander herzugehen hätten. Doch bildet auch
dies eigentlich keinen Gegensatz zum älteren Vitalismus ; derselbe
ßütschli, Mechanismus und Vitaiismus. 1
2
konstruirte ebenfalls kausal. Die von ihm postulirte Lebenskraft
wurde als Ursache der Lebenserscheinungen in das kausale Schema
eingefügt. Fraglich blieb nur, ob die Voraussetzung solch' einer
hypothetischen Ursache berechtigt war, und ob das Leben damit
wirklich begriffen werden konnte.
Eine Untersuchung über die Natur und Berechtigung der beiden
gegensätzlichen Beurtheilungsweisen des Lebens führt naturgemäss
bald auf sehr allgemeine philosophische Probleme, deren Erörterung
man bei derartigen Betrachtungen nicht wohl völlig umgehen kann.
Andererseits erscheint es aber auch unmöglich, dieser Besprechung
eine ausführliche kritische Begründung des erkenntniss-theoretischen
Standpunktes vorauszuschicken , auf welchen mich zu stellen ich
bei dieser Besprechung für richtig erachte. Umgehen kann ich es
aber nicht, wenigstens zu skizzieren, auf welchem Boden ich mich
zu bewegen gedenke ; obgleich ich nicht versuchen kann, die Be-
rechtigung hiezu ausreichend zu erweisen.
Am Beginn jeder wissenschaftlichen Wahrnehmung, jeder Er-
kenntniss, finden wir den Gegensatz zwischen dem Ich, dem Subjekt,
welches wahrnimmt und erkennt, und dem Objekt, das von dem
Ich erkannt wird. Diesen Gegensatz erfahrungsgemäss zu über-
winden, oder auf etwas Gemeinsames, Höheres oder Allgemeineres
zurückführen und damit begreifen zu wollen, ist unmöglich. Gehen
wir von dem Ich und seinen Bewusstseinselementen, als dem uns
allein direkt Gegebenen aus, so gelingt es auf keine Art, nach-
zuweisen, dass eine Objektenwelt gesondert von diesem Ich wirklich
besteht, und dass nicht alles, was das einzelne naive Ich als Objekte
wahrnimmt, nur und ausschliesslich sein Bewusstseinselement ist.
Wie gesagt, scheint eine Widerlegung dieses zwar eigentlich nie
praktisch gewordenen Standpunktes, des sog. theoretischen
Egoismus oder Solipsismus, unmöglich. Wenn er praktisch
stets verworfen wurde, so geschah dies nur wegen der geradezu
ungeheuerlichen und höchst beunruhigenden Konsequenzen, zu
denen er nothwendig führt.
Der umgekehrte Standpunkt, die Objektenwelt als das anzu-
sehen, von dem ausgehend das Ich zu begreifen sei, scheitert
ebenso an der Unmöglichkeit, das Subjekt und seine Bewusstseins-
elemente auf diesem Wege zu begreifen. Unter diesen Umständen
gewährt es die meiste Befriedigung, die von dem naiven Menschen-
verstand stets gemachte, obgleich, wie die genauere Untersuchung
ergibt, hypothetische Annahme: dass der Gegensatz zwischen
Subjekt und Objekt, zwischen Empfindendem und Empfundenem,
wirklich besteht, zum Ausgangspunkt der weiteren Betrachtung
zu machen. Hiernach stehen sich also Ich und Objekt gegen-
über , doch nicht ohne Zusammenhang ; denn die Objektenwelt
bedingt Vorgänge in dem Ich (Empfindungen und Empfindungs-
komplexe), welche eben die Wahrnehmungen sind, die das Ich von
der Objektenwelt hat. Da nun nur das eigene Ich Bewusstsein
und Bewusstseinselemente direkt erlebt, so vermag es auch nur,
auf einen mehr oder weniger gesicherten Analogieschluss gestützt,
anzunehmen, dass auch gewisse Bestandtheile der Objektenwelt
analoge bewusste und empfindende Ich sind.
Auf dem Boden der hypothetischen Annahme des Gegensatzes
zwischen dem empfindenden Ich und der empfundenen Objekten-
welt wird das Ich, ausgerüstet mit den verschiedenen Bedingungs-
beziehungen seiner Sinnesorgane zu der Objektenwelt, auch dazu
gelangen müssen, zu erfahren, dass zwischen den Objekten Ab-
hängigkeiten bestehen, dass diese' sich bedingen; es wird empirisch
zu der Erkenntniss einer kausalen Abhängigkeit gelangen, die wir
daher nicht für aprioristisch gegeben erachten. Ferner wird das
Ich dazu gelangen, die Objektenwelt in eine Aussenwelt und seinen
Körper oder das Ich-Objekt zu scheiden ; auf einem Wege, dessen
Möglichkeit schon häufig zu zeigen versucht wurde. Mit dieser
Scheidung vollzieht sich auch eine weitere wichtige Sonderung in
dem Empfundenen, indem das Ich bemerkt, dass es nicht nur die
Objekte der Aussenwelt und seinen Körper empfindet, sondern noch
eine besondere Reihe von Empfindungen erlebt, deren Beziehungen
zur Aussenwelt keine unmittelbaren, sondern entferntere sind. Da
das Ich nun für die Aussenwelt überzeugt ist, dass es nicht nur
empfindet, sondern Etwas empfindet, so konstruirt es auch für
diese Reihe von Empfindungen das Empfundene, die Seele.
— 4 —
Mit Hilfe der durch die verschiedenen Sinnesorgane vermittelten
gleichzeitigen, jedoch verschiedenen Empfindungen, die durch ein
Objekt bedingt werden, wird das Ich ferner erfahren, dass Empfind-
ungen durch ein Objekt dann bedingt werden , wenn dieses eine
Veränderung erfährt. Das heisst also : gewisse von dem Objekt
abhängige Empfindungen werden bedingt von Aenderungen anderer,
von diesem Objekt abhängiger Empfindungen. Dass aber Ver-
änderungen der von dem Objekt abhängenden Empfindungen von
Veränderungen des Objektes begleitet sein müssen, ist für unseren
Standpunkt selbstverständlich, da ja dem Ich die Objekte ver-
schieden sind, die es verschieden empfindet. Auf diese Weise tritt
allmählich hervor, dass von Zustandsänderungen der Objekte zu-
nächst Zustandsänderungen in dem Ich-Objekt (dem Körper des
Ichs) abhängen, und dass diesen gleichzeitig Bewusstseinselemente
oder Empfindungen parallel gehen oder koordinirt sind, welche das
Ich erlebt.
Wir gelangen also schliesslich zur Ueberzeugung, dass den Zu-
standsänderungen in der Objektenwelt Empfindungen des Ich parallel
gehen. Da nun das Ich von dem Objekt nur durch solche parallel
gehende Empfindungen etwas erfährt, ein Objekt eben als nichts
weiter erkannt werden kann als ein Komplex von Empfindungen,
so erscheinen alle Spekulationen darüber, was das Objekt unab-
hängig von diesem Empfindungskomplex sein könnte, nichtig. Das
Objekt oder Ding an sich wäre eigenschaftslos, das reine Objekt
als Abstraktum im Gegensatz zum Subjekt gedacht, ein Nichts.
Nun finden wir jedoch die Körper, mit denen ein Ich, ein
bewusstes Empfinden verbunden ist, zeitlich beschränkt ; sie ent-
stehen und vergehen. Unmöglich aber scheint es uns zu begreifen,
wie ein solcher Parallelverlauf zwischen Zustandsänderungen der
Objektenwelt und dem entstehenden und wieder vergehenden
Körper und seinem Ich entsteht und wieder vergeht. Den Zu-
sammenhang zweier derartig gegensätzlicher und doch koordinirter
Verläufe können wir nicht weiter begreifen, sondern nur als solchen,
als eine Unbegreiflichkeit hinnehmen. Zu denken nun, dass der
Eintritt dieser Unbegreiflichkeit sich bei dem Entstehen jedes Ichs
5
wiederhole und ebenso wieder aufhöre, wäre eine Häufung solcher
Unbegreiflichkeiten, welche wir nur durch die Erweiterungshypothese
zu umgehen vermögen, dass wir diese Unbegreiflichkeit nur einmal,
an den Beginn unseres Denkens setzen ; indem wir annehmen, dass
alle Zustandsänderungen, wie wir sie in der Objektenwelt erfahren,
stets von parallel gehenden psychischen Vorgängen, Empfindungen
mit Gefühlsbetonung, begleitet sind ; dass daher dieser Parallelismus,
welchen wir zwischen den Empfindungen des Ichs und den Zustands-
änderungen des Ich-Objekts, des Körpers, erfahren, etwas Allge-
meines sei und nicht etwas, was mit dem Ich-Objekt entsteht und
vergeht 2).
Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, so nähern wir uns
in mancher Hinsicht den Anschauungen Mach 's, der als die
Elemente der Welt Empfindungskomplexe ansieht, die mit dem
Ich bald in Beziehung (ins Bewusstsein) treten, bald nicht. Denn
da wir Zustandsänderungen der Objekte wahrnehmen oder empfinden,
und nach unserer Annahme diesen stets Empfindungen koordinirt
sind, so Hesse sich ja auch ebensowohl sagen, dass wir diese
Empfindungen der Objekte wahrnehmen. Immerhin unterscheidet
sich unsere Auffassung doch wesentlich von der Mach 's darin,
dass dieser die Objekte selbst für Empfindungskomplexe erklärt,
demnach als dauernd empfindend. Unsere Auffassung dagegen
würde dazu führen, zu sagen : Objekt ist nicht ein Empfindungs-
komplex, sondern etwas, was empfinden kann, aber nicht stets
empfindet. Damit wäre jedoch eigentlich auch der scharfe Gegen-
satz zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben, insofern, als beide
etwas sind, was empfinden kanna).
Der Gegensatz bleibt aber doch bestehen, indem das Ich be-
wusst, das Objekt dagegen unbewusst empfindet. Ob mit diesen
Worten zwar der Gegensatz richtig bezeichnet ist, scheint zweifel-
haft. Empfindung als primäres Bewusstseinselement erscheint uns,
wie gesagt, am rationellsten als eine den Zustandsänderungen in
der Objektenwelt koordinirte Erscheinung. Bewusste Empfindung
dagegen ist nach aller Erfahrung etwas, was von dem Vorhan-
densein eines besonderen körperlichen Systems des Ich-Objekts
— 6 —
bedingt ist, dem Nervensystem. Wir vermögen auch eine besondere
Leistung des Ichs zu nennen, welche an dieses System gebunden
ist, und ohne welche Bewusstsein nicht denkbar erscheint, das
Gedächtniss.
So sind wir denn der Meinung, dass zwar Empfindungen die
Vorgänge der ganzen Welt begleiten, dass dagegen das Bewusst-
sein oder die bewusste Empfindung geworden sei durch die Kon-
struktion des Nervensystems und damit des Gedächtnisses, welches
die Grundlage und der Eckpfeiler des bewussten Objekts oder des
Ichs ist4).
Nachdem wir so über die philosophisch-erkenntniss-theoretische
Stellung, von der aus wir unser Thema zu betrachten gedenken,
Rechenschaft gaben, ist noch eine zweite Vorfrage kurz zu er-
ledigen, nämlich die Frage nach dem Verhältniss der sogenannten
exakten Naturwissenschaften zu den beschreibenden.
Die ersteren suchen die kausalen Abhängigkeiten der Stoffe
und der Erscheinungen an den Stoffen festzustellen. Sie unter-
suchen dabei nicht die gegebenen Naturobjekte in ihrer natürlichen
Umgebung, sondern bringen die Dinge oder Stoffe unter bekannte,
genau kontrollirbare Bedingungen, in eine genau bekannte Um-
gebung. Indem sie so von festdefinirten und möglichst vereinfachten
Bedingungen ausgehen, vermögen sie scharf bestimmte, exakte Ab-
hängigkeiten festzustellen, welche jedoch nur so lange gelten, als
die künstlich hergestellten und genau bestimmten Ausgangsbeding-
ungen bestehen. Da aber in der gegebenen Natur einfache und
genau feststellbare Bedingungen nicht angetroffen werden, so führen
auch die von den exakten Naturwissenschaften ermittelten gesetz-
mässigen Abhängigkeiten nur zu mehr oder weniger weitgehenden
Annäherungen an das natürliche Geschehen. Der Versuch, die
Ergebnisse der exakten Naturwissenschaften für die Erklärung der
Bildung und Entstehung natürlicher Objekte in der Astrophysik,
Geologie und Meteorologie zu verwenden, führt fast nie zu scharf
bestimmten, eindeutigen Ergebnissen, sondern in der Regel nur
zur Ueberzeugung, dass unter gewissen physiko- chemischen Be-
dingungen das Entstehen dieser Bildungen begreiflich, nicht aber
zur exakten Feststellung, dass der Vorgang dabei genau dieser oder
jener gewesen sei 5).
Die Objekte der sogenannten beschreibenden Naturwissen-
schaften sind nun stets natürlich gegebene, von zweifellos hoch-
gradiger innerer Bedingungskomplikation. Erklärungsversuche der-
selben werden sich daher schwerlich höher zu erheben vermögen,
als jene der anorganischen Naturdinge, d. h. zu der Ueberzeugung
ihrer Begreiflichkeit oder der Möglichkeit ihres Entstehens, auf Grund
gewisser Komplexe bedingender und wirksamer Ursachen. Dies
gilt für die lebenden Naturdinge noch in viel höherem Grade als
für die nichtlebenden, da der Bedingungskomplex der Organismen
wesentlich ein innerer ist, der sich experimentell wenig, und wegen
seiner Komplizirtheit, hinsichtlich des „Wie", kaum scharf be-
stimmbar abändern lässt.
Am Beginn unserer Erörterungen steht natürlich die Frage :
was unter Mechanismus und V i t a 1 i s m u s zu verstehen ist ;
worin der Gegensatz zwischen diesen beiden Beurtheilungsweisen
der Organismen besteht. Der Begriff des Mechanismus hängt nur
in entfernterem Sinne mit Mechanik, der Lehre von den Bewegungs-
und Gleichgewichtserscheinungen körperlicher Gebilde zusammen.
Nicht um das Begreifen der Lebenserscheinungen auf mechanische
Weise handelt es sich für den Mechanismus, sondern um die Be-
greiflichkeit oder Erklärbarkeit des Organismus auf Grund der
gesetzmässigen Geschehensweisen, welche wir auf anorganischem
Gebiet erfahren. Rein mechanische Auffassung ist ja selbst in der
anorganischen Welt undurchführbar. Selbst wenn sie hier als eine
zukünftig mögliche erschiene, was ja von erfahrener Seite geleugnet
wird, so berührt dies die mechanistische Auffassung der Lebens-
erscheinungen erst in zweiter Linie. Für sie genügt die Rück-
führung auf die Geschehensweisen der anorganischen Natur ; wo-
gegen sie es den physiko-chemischen Wissenschaften überlassen kann,
— 8 —
sich darüber zu entscheiden, in wie weit und in wie fern an die
Ableitung dieser gesetzmässigen Geschehensweisen -von mechanischen
Grundvorstellungen gedacht werden kann. Eine Laplace'sche
Weltformel gehört ins Gebiet der Mythe und kann auch überhaupt
nichts anderes ausdrücken wollen, als die Möglichkeit der Erklärung
und Begreiflichkeit aller physischen Vorgänge auf Grund kausaler
Abhängigkeitsverhältnisse von einem gegebenen Anfangszustand aus.
Dagegen muss sich die mechanistische Beurtheilungswei.se ver-
wahren gegen die Verwechslung mit einer materialistischen, insofern
letztere die Ansicht vertritt, auch die psychischen Erscheinungen
als kausale Folgen physischer Vorgänge begreifen oder erklären
zu können. Die mechanistische Auffassung ist nicht der Meinung,
dass Psychisches aus Physischem begriffen werden könne; ihr er-
scheinen diese beiden Gebiete gesondert, obgleich nicht ohne
Zusammenhang. Jedem physischen Zustand entspricht ein psy-
chischer, es besteht ein Koordinationsverhältniss beider, dagegen
keine Kausalbeziehung des Psychischen zu einem zeitlich vorher-
gehenden Physischen im Sinne von Wirkung und Ursache '"').
Der Mechanismus erachtet es also für möglich, wenn auch zur
Zeit nur in beschränktestem Maasse durchführbar, die Lebensformen
und Lebenserscheinungen auf Grund komplizirter physiko-chemischer
Bedingungen zu begreifen. Im Gegensatz hierzu leugnet der Vita-
lismus diese Möglichkeit. Er ist überzeugt, dass das physiko-
chemische Geschehen der anorganischen Natur für die Be-
greiflichkeit der Organismen nicht ausreiche; dass vielmehr ein
ganz besonderes Geschehen, wie wir es in der anorganischen Natur
nicht erfahren, in der Organismenwelt bestehen müsse. In früheren
Zeiten dachte man sich dies besondere Geschehen im Organismus
unter dem Bilde einer psychischen Kraft, einer Art das Physische
gestaltenden und funktionirenlassenden Anima, von der schliesslich
die spätere Lebenskraft nicht wesentlich verschieden war, obgleich
sie gewöhnlich unter dem Bilde einer einfachen Ursache gedacht
wurde, ähnlich den als einfache Ursachen gesetzlichen Geschehens
auf anorganischem Gebiet angenommenen Kräften. Denn wenn
die, als einfache Ursache zwar gedachte Lebenskraft so Komplizirtes
- 9
und Zweckmässiges hervorbringen, dirigiren und leiten sollte, so
konnte sie nur unter dem Bilde eines zwar unbewussten, aber
nichts destoweniger nach Art eines intelligenten Bewusstseins wirken-
den Prinzips vorgestellt werden. Anderenfalls wäre sie ganz nichts-
bedeutend gewesen, d. h. hätte eben nicht mehr besagt, als dass
die Lebensformen und -Erscheinungen eine besondere, ihnen eigen-
thümliche Ursache haben müssten. Im Grunde genommen, erwies
sich diese Lebenskraft eben nur als eine Umschreibungshypothese,
welche das zu erklärende komplizirte Sein und Geschehen als be-
sondere Wirkungsweise auf eine hypothetische Kraft oder Ursache
übertrug, und welche desshalb ebenso wenig zum Begreifen des
Lebens und seiner Erscheinungen führen konnte, als entsprechende
Umschreibungshypothesen auf anorganischem Gebiet7). In beiden
Fällen verleiten solche Hypothesen leicht, zu übersehen, dass jedes
Geschehen die Folge des Zusammentreffens mehrerer oder zahl-
reicher Bedingungen ist, dass daher von einer einfachen Ursache
zu reden, wirklichem Geschehen nie entspricht.
Ganz dieselben Betrachtungen gelten für die Annahme mehrerer
verschiedener hypothetischer Unterkräfte, wie sie der ältere Vitalis-
mus ebenfalls machte, so der Sensibilität, Irritabilität, Motilität,
welche auch nur Umschreibungshypothesen einzelner allgemeiner
Lebenserscheinungen sind 8).
Eine wesentliche Wandlung hat der Vitalismus erfahren seit
das Prinzip der Erhaltung der Kraft oder der Energie zur Aner-
kennung gelangte ; was ja ursprünglich gerade mit Rücksicht auf
die Vorgänge im Organismus geschah. Auch der Vitalist kann
sich heute nicht der Einsicht verschliessen, dass die energetischen
Leistungen des Organismus in letzter Instanz und allein, auch
quantitativ, von den energetischen Leistungen der nichtlebenden
Welt abhängen. Dieser Anerkenntniss hat sich denn auch der
sogenannte Neo-Vitalismus nicht entzogen ; daher bleibt ihm nur
die Eventualität offen, anzunehmen oder zu erweisen, dass im
Organismus ein besonderes eigengeartetes gesetzliches Geschehen
eintrete, welches zwar energetisch derselben Abhängigkeit unter-
worfen sei, wie das der anorganischen Welt, dagegen in letzterer
— 10
sich in solcher Weise nicht finde. In letzter Instanz müsste der
Neo- Vitalismus auch anerkennen, dass dies eigenartige Geschehen
bedingt werde durch besondere physiko-chemische Kombinationen,
wie sie den Organismen eigenthümlich sind. Dass dies vitale Ge-
schehen eine besondere Energieform sei, eine vitale Energie, wird
wenigstens von mancher Seite geleugnet ; doch vermag ich nicht
wohl einzusehen, in welch' anderer Weise man sich davon eine
Vorstellung machen soll 9).
Im Allgemeinen ist auch der Neo-Vitalismus geneigt, zuzu-
geben, dass eine kausal-mechanistische Beurtheilung der Organismen
berechtigt ist ; jedoch nur insofern, als die kausale Betrachtung
eine dem menschlichen Intellekt a priori eigenthümliche Anschauungs-
form sei, welcher eine zweite, ebenso berechtigte und gleichfalls
aprioristische Anschauungsform gegenüberstehe, die teleologische.
Oder er argumentirt auch so : die Kausalität ist zwar allgemein-
giltig, jedoch nicht alleingiltig; im Organismus besteht noch eine
andere Abhängigkeitsform, eine teleologische Kausalität, welche der
nichtlebenden Welt fehlt.
Indem der Neo-Vitalismus die kausal-mechanistische Betrachtung
des Lebens als eine berechtigte, ja in ihrer Durchführung not-
wendige Forderung anerkennt, so können wir auch nicht die kausale
Betrachtung als solche, als den Charakter des Mechanismus im
Gegensatz zu dem Vitalismus ansehen, wie es gelegentlich geschah.
Vielmehr wäre als der wesentliche Unterschied festzuhalten, dass
die Geschehensweisen der nichtlebenden Natur für das Begreifen
des Lebens nicht ausreichen ; sowie die, wenigstens von einem Theil
der Neo-Vitalisten betonte Ueberzeugung, dass volles Begreifen des
Lebens in kausal-mechanistischer Denkweise überhaupt unmöglich
sei und seine Ergänzung durch die teleologische Betrachtung, die
Berücksichtigung der Endursachen, der Causae finales, finden müsse.
Da der Mechanismus die Möglichkeit festhält, dass das kausale
Geschehen der anorganischen Welt für die Begreifbarkeit der
— 11 —
Organismen ausreiche, so scheint es nöthig, näher zu erörtern,
was man unter kausaler Abhängigkeit versteht.
Wenn wir in der anorganischen Welt ein Ding A sich ver-
ändern sehen, z. B. aus dem Ruhezustand in Bewegung kommen,
so finden wir, dass eine Anzahl Bedingungen bestehen müssen,
wonach diese Veränderung folgt. Das Ding A muss an einem be-
stimmten Ort und seine Umgebung derart sein, dass es in Be-
wegung gerathen kann ; das stossende Ding B muss in einer
bestimmt gerichteten Bewegung sein, damit A getroffen wird. Es
müssen also eine ganze Anzahl Bedingungen zusammentreffen, damit
A sich verändert. Diese Bedingungen sind alle gleichwerthig;
mangelt eine, so verändert sich A nicht. Zunächst scheinen daher
alle diese Bedingungen von derselben Bedeutung und keine das
Anrecht zu besitzen, vor den anderen etwa als Ursache besonders
betont zu werden. Dennoch zeichnet sich eine dieser Bedingungen
vor den anderen aus, indem sie selbst eine Veränderung, eine Be-
wegung ist, nämlich die des stossenden Dings B, während die übrigen
Bedingungen nicht in Veränderung sind. Gleichzeitig ergibt sich,
unter der Voraussetzung vollkommener Elastizität der beiden Dinge,
dass das Maass der Veränderung, welche A erfährt, gleich dem
Maass der Veränderung ist, welche B verliert; dass also die
Quantität der Veränderung A's direkt diejenige ist, welche B ver-
liert. B als Ding verändert sich dabei nicht, ebenso wenig A ;
dagegen der Zustand beider Dinge. B geht aus dem Bewegungs-
zustand in den der Ruhe über, umgekehrt A. Demgemäss zeichnet
sich das Ding B vor den übrigen Bedingungen dadurch aus, dass
es in einem Veränderungszustand befindlich ist (dass es freie Energie
hat, wie man auch sagt), welcher seinerseits den Veränderungs-
zustand von A bedingt. Man hat nun häufig diesen bedingenden
Veränderungszustand von B als die wirkende Ursache bezeichnet,
im Gegensatz zu den übrigen Bedingungen, welche keine solche Ver-
änderung zeigen, und man kann diese letzteren auch die bedingenden
Ursachen oder kürzer, die Bedingungen des kausalen Vorgangs nennen.
In dem besprochenen Fall finden wir, dass die wirkende Ur-
sache von B ihrer Quantität nach in dem bewirkten Zustand von
— 12 —
A sich wiederfindet. Es gibt jedoch eine zweite Form kausaler
Abhängigkeit, bei welcher kein solches Verhältniss zwischen wirken-
der Ursache und Wirkung besteht ; eine kausale Abhängigkeit, die
man in der Regel als Auslösung bezeichnet und welche gerade
in der Organismenwelt allgemein vorkommt. Um diese kausale
Abhängigkeit mit der ersterwähnten zu vergleichen, stellen wir uns
Folgendes vor. Ein Gewicht werde gehoben und dadurch in einen
veränderten Zustand versetzt, der als wirkende Ursache unter ge-
eigneten Bedingungen seine Bewegung oder den Fall zur Unterlage
bedingt. Das Gewicht werde auf das eine Ende eines Waage-
balkens gesetzt und bedinge durch seinen Veränderungszustand das
Herabsinken desselben. Nun werde aber gleichzeitig auf jedes
Ende des Waagebalkens ein gleiches solches Gewicht gesetzt, dann
bedingen die Zustände beider Gewichte keine Bewegung des Balkens,
sondern die Veränderungszustände beider Gewichte paralysiren sich,
halten sich gegenseitig das Gleichgewicht. Eine der Quantität nach
äusserst geringfügige wirkende Ursache, welche das eine Gewicht
von dem einen Waagebalken herabwirft, bedingt nun, dass das
andere Ende des Balkens mit dem darauf befindlichen Gewicht
sinkt und dabei eine Quantität Veränderung bewirkt, welche die-
jenige vielmals übertreffen kann, welche das erste Gewicht ent-
fernte. In der Regel bezeichnet man nun die das eine Gewicht
entfernende wirkende Ursache als die Auslösungsursache, deren
Wirkung die damit in auffallendem quantitativem Missverhältniss
stehende Senkung des entgegenstehenden Waagebalkens sei. Bei
näherer Überlegung des geschilderten Falles ergibt sich jedoch
leicht, dass es sich dabei nicht um eine einfache Kausalabhängigkeit
handelt, wie in dem erstdargelegten Fall, sondern um eine wieder-
holte, oder eine sogenannte Kausalkette. Zunächst haben wir die
wirkenden Ursachen, welche in der Hebung der beiden Gewichte
gegeben waren und deren Wirkung ein veränderter Zustand der
beiden Gewichte ist , der nun seinerseits wieder als wirkende
Ursache eine Wirkung bedingen kann. Diese Wirkung erfolgte
jedoch nicht , da unter den gegebenen Bedingungen die beiden
Gewichte sich gegenseitig hemmen. Wird nun durch eine sogenannte
13
Auslösungsursache die hemmende Bedingung beseitigt, so folgt unter
den geänderten Bedingungen die Senkung des verbliebenen Ge-
wichts, d. h. die, wegen der vorhandenen Hemmung nicht realisirte
Wirkung der früheren wirkenden Ursache, der ehemaligen Hebung
des Gewichts, tritt nun, nach Beseitigung der Hemmung durch die
Auslösungsursache, verspätet auf.
Die erwähnte Kausalkette wäre demnach: 1. Hebung der
Gewichte (Gleichgewichtszustand, Hemmung oder Nichteintritt der
Wirkung) ; 2. Entfernung des einen Gewichts (neuer Bedingungs-
zustand); 3. die Wirkung der Hebung des verbliebenen Gewichts
tritt nun als Senkung hervor. Eine solche, durch die gegebenen
Bedingungen in ihrer Wirkung gehemmte, d. h. durch einen ein-
getretenen Gleichgewichtszustand nicht zur Wirkung gelangte, wirk-
ende Ursache wird bekanntlich auch als potentielle Energie bezeichnet.
Betrachten wir noch einen zwreiten Fall. Nehmen wir einen
Glasfaden, den wir ringförmig zusammenbiegen, so ist die Folge
dieser Biegung eine Zustandsänderung des Fadens, die unter geeig-
neten Bedingungen die Rückbewegung des Fadens in die ursprüng-
liche Form, und den ursprünglichen Zustand bewirkt. Wenn ich
nun die beiden sich berührenden Enden des ringförmig gebogenen
Fadens zusammenschmelze, so kehrt der Faden nicht mehr zur
ursprünglichen Form zurück, er verharrt in der Ringform. Durch
die Herstellung der Kontinuität der beiden vereinigten Enden wurde
eine Hemmung herbeigeführt, die einen Gleichgewichtszustand be-
dingt, aber einen Gleichgewichtszustand, der sich von dem ursprüng-
lichen Zustand durch erhöhten Gehalt an potentieller Energie
unterscheidet. Durch eine Auslösungsursache, welche die Kon-
tinuität der verlötheten Fadenenden aufhebt, werden die Beding-
ungen so verändert, dass nun die Wirkung der früheren Biegungs-
ursache eintritt. Die Kausalkette ist hier wieder: 1. Wirksame
Ursache der Fadenbiegung - - Eintritt der Hemmung (Gleichgewichts-
zustand). 2. Aufhebung der Hemmung (Auslösungsursache). 3. Die
Wirkung der ehemaligen Biegung tritt nun als Streckung hervor.
Als Ergebniss unserer Betrachtung dürfen wir also hervor-
heben : dass das kausale Abhängigkeitsverhältniss, wie es bei der
14
sog. Auslösung vorliegt, als eine Kausalkette sich darstellt, bei
welcher die Wirkung einer früheren wirkenden Ursache, welche
wegen besonderer Bedingungen nicht erscheinen konnte, infolge der
Aenderung dieser Bedingungen durch eine Auslösungsursache, nun
in Erscheinung tritt oder ausgelöst wirdlu).
Mechanismus und Vitalismus bemühen sich, die Lebewesen zu
begreifen oder zu erklären, Bezeichnungen, welche ich ihrem Wesen
nach für identische halte. Beide Richtungen differiren nur hin-
sichtlich der Grundlage, auf der ihnen ein solches Begreifen oder
Erklären möglich erscheint. Gerade bei manchen Neo -Vitalisten
ist jedoch die Meinung verbreitet, dass man, nach Kirch ho ff 's
Vorgang, von „Erklären" der Naturerscheinungen gar nicht reden,
sondern sich auf das von ihm geforderte „einfachste und vollstän-
dige Beschreiben" beschränken solle. Einige Kritiker haben schon
richtig erkannt, dass Kirchhoff zu seiner Forderung gelangte, auf
Grund einer von der üblichen abweichenden Definition des Begriffes
„Beschreiben". Es kann doch wohl nicht zweifelhaft sein, dass
Beschreiben im gewöhnlichen Sinne bedeutet : einmal das Aufzählen
der im Räume gleichzeitig nebeneinander bestehenden Mannig-
faltigkeiten und zweitens der in der Zeit aufeinanderfolgenden succe-
direnden Mannigfaltigkeiten. Dass dieses die ursprüngliche und
eigentliche Bedeutung des Beschreibens ist, erweist ja gerade die
Benennung der „beschreibenden Naturwissenschaften", im Gegen-
satz zu den sogenannten exakten.
Nebeneinandersein im Raum oder Folge in der Zeit ist
jedoch kein Beweis kausaler Abhängigkeit, des gesetzmässig be-
dingten Nebeneinanderseins oder Aufeinanderfolgens. Einer solchen
Aufzählung des Nebeneinander oder Nacheinander nicht genauer
analysirter Komplexe, selbst wenn sie sich noch so oft und so regel-
mässig wiederholen, fehlt daher diejenige Einsicht der nothwendigen
Bedingtheit, welche wir mit der kausalen Succession verbinden.
Eine Aufzählung von Aufeinanderfolgen, die sich kausal bedingen,
15
von welchen jede spätere kausal-nothwendig auf die vorhergehende
folgt, ist natürlich auch eine aufzählende Beschreibung, aber eine
solche, in der jedes folgende Glied logisch und empirisch durch die
vorhergehenden nothwendig bedingt erscheint ; nothwendig in dem
Sinne, dass jede andere Folge logisch wie erfahrungsgemäss ein Wider-
spruch sein würde. Eine derartige kausal-noth wendige Beschreibung
ist jedoch das, was man eine Erklärung genannt hat. Nur dann
aber wird eine solche kausale Beschreibung eine wirkliche Nöthig-
ung in sich schliessen, wenn das Ausgangsglied nicht mit Bedingungen
oder Eigenschaften ausgestattet wurde, aus denen zwar die folgen-
den Glieder logisch nothwendig folgen, welche Eigenschaften aber
dem Ausgangsglied nicht erfahrungsgemäss und nothwendig zu-
kommen, sondern ihm willkürlich beigelegt sind. Denn wie ich und
Andere schon bemerkten, ist das Kennzeichen einer befriedigen-
den Erklärung die Rückführung oder Unterordnung einer unbe-
griffenen Erscheinung unter eine allgemeinere , erfahrungsmässig
bekannte Erscheinung.
Beispielsweise mag darauf hingewiesen werden, dass Kepler
eine genaue Beschreibung der Planetenbewegung gegeben hat, da-
gegen keine, von gewissen erfahrungsgemässen Voraussetzungen in
kausaler Folge succedirende Beschreibung oder Erklärung. Diese
entwickelte später Newton, ausgehend von der Voraussetzung der
Gültigkeit des Gravitationsgesetzes durch den Himmelsraum und
der Translationsbewegung. Natürlich ist solch' eine widerspruchs-
lose kausale Beschreibung auch die einfachste, vollständigste oder
ökonomischste, wie man ihren Charakter in neuerer Zeit nicht
unbezeichnend auch nannte.11)
Es wird unsere Aufgabe sein, die Einwände zu erörtern, welche
der sogenannte Neo- Vitalismus gegen die Möglichkeit eines physiko-
chemischen Begreifens oder Erklärens der Lebenserscheinungen
erhob. Dabei mag unbeachtet bleiben, in wie fern diese Ein-
wände von allen Vertretern gleichmässig anerkannt, oder stets
festgehalten wurden. Es handelt sich hier um die Einwände an sich.
16 —
Am häufigsten und allgemeinsten wird der mechanistischen
Richtung vorgeworfen, dass sie bis jetzt keine, oder doch nur sehr
wenige der Lebenserscheinungen wirklich auf ihre Weise erklärt
habe; dass im Gegentheil die meisten physiko- chemischen Er-
klärungsversuche gewisser Theilerscheinungen der Lebensvorgänge
sich nachträglich als unzutreffend erwiesen. So hart dies Urtheil
klingt, so ist es doch nicht ganz unrichtig. Gleichwohl scheint es
mir sehr ungerecht, wenn wir bedenken, wie sich unsere Kenntnisse
von den physiko-chemischen Vorgängen in den Lebewesen zu dem
verhalten, was man etwa vor 100 Jahren davon w7usste. Denn
diese Vertiefung unseres Wissens ist erzielt worden auf dem
Boden der Voraussetzung, dass, wenn auch nicht der Organismus
in seiner Gesammtheit physiko-chemisch begreiflich sei, doch
die in ihm sich abspielenden Vorgänge physiko-chemisch begreiflich
sein müssten.
Zurückweisen muss ich aber die zuweilen von neo-vitalistischer
Seite aufgestellte Behauptung, dass alle jene Theilerscheinungen
der Lebensvorgänge, welche sich physiko-chemisch begreifen Hessen,
aus der Reihe der eigentlichen Lebenserscheinungen zu eliminiren
wären ; dass sie ebensowenig wirkliche Lebenserscheinungen seien,
als die vom Wind bewirkten Bewegungen der Blätter zum Leben
des Baumes gehörten (Bunge). Wer sich auf diesen Standpunkt
stellt, für den gibt es natürlich keine mechanistische Erklärung der
eigentlichen Lebensvorgänge. Aber dieser Standpunkt basirt auf
einer Petitio principii, nämlich der: es sei eben der Charakter
der wahren Lebenserscheinungen, dass sie physiko-chemisch
nicht erklärbar sind. Dagegen lautet das zu lösende Problem
doch: sind die Lebenserscheinungen physiko-chemisch erklärbar
oder nicht?1-) Ihren eigenthümlichsten Ausdruck scheint mir diese
Denkart bei einem der modernen Neo-Vitalisten (Cossmann) er-
langt zu haben, wTelcher meint, dass ein künstlich erzeugter Körper,
aus denselben Stoffen wie eine Pflanze und von denselben Struk-
turen, eben doch kein Organismus sei*). Ein Körper aber, der
*) Cossmann 1S99, p. 41.
17
stofflich und strukturell ebenso gebildet ist wie eine bestimmte
Pflanze, kann sich unter geeigneten äusseren Bedingungen nicht
anders verhalten als jene Pflanze, d. h. er wird leben wie sie. Es
wäre eine Willkür, dieses Kunstprodukt wegen seiner abweichenden
Entstehung von dem Begriff des Organismus auszuschliessen. Mit
demselben Recht könnte man den im Laboratorium dargestellten
Sauerstoff als begrifflich von dem der Luft verschieden erachten wollen.
Niemand wird bestreiten, dass auch dem einfachsten Organismus
ein äusserst verwickelter Bedingungskomplex zu Grunde liegen muss,
und dass desshalb der physiko-chemischen Erklärung der Lebens-
vorgänge - - ihre Möglichkeit zugegeben - einstweilen nur Weniges,
einzelne Theilerscheinungen zugänglich sein können ; und auch
das nur im Sinne der allgemeinen Wahrscheinlichkeit ihrer Ab-
leitung aus gewissen physiko-chemischen Bedingungen. Beachten
wir ferner die bekannte Thatsache, dass für Physik und Chemie
gerade diejenigen Stoffe, welche die Lebensformen aufbauen, noch
ungelöste Räthsel sind; dass wir chemisch von dem Protoplasma
nur die Zerfallsprodukte kennen und auch diese nur wenig genau,
so ist nicht sehr erstaunlich, dass physiko-chemisch einstweilen nur
wenig erklärbar sein kann. Ich halte es sogar für wahrscheinlich,
dass selbst die experimentelle Erforschung der Lebensvorgänge
einfachster Organismen nicht sehr erheblich zur Lösung dieser
Probleme beizutragen vermag. Wenn man die wahrscheinliche
Komplikation der Bedingungen, auch der einfachsten Lebensvorgänge,
berücksichtigt, und ferner, dass es sich in der Hauptsache um
innere Bedingungen handelt, deren Modificirung in sicher feststell-
barer, eindeutiger Weise kaum möglich erscheint, so wird man
sich schwerlich der Ueberzeugung verschliessen können, dass die Er-
mittelung der ursächlichen Abhängigkeiten der fundamentalen ein-
fachsten Lebenserscheinungen, wie Assimilation und Dissimilation,
Wachsthum, Selbstbewegung und Selbsttheilung, auf dem experi-
mentellen Wege , der bei den exakten Naturwissenschaften so
Glänzendes ergeben hat, kaum zu erreichen sein dürfte.
Mir scheint sogar ein anderer Weg gangbarer, nämlich der-
jenige, den ich in einigen meiner Arbeiten einzuschlagen versuchte.
Bütschli, Mechanismus und Vitalismus. 2
— 18 —
Das heisst, die physiko- chemische Natur derjenigen Stoffe, von
denen wir wissen oder annehmen dürfen, dass sie die stoffliche
Grundlage der einfachsten Lebewesen bilden, möglichst genau zu
erforschen, und dabei auch die in vieler Hinsicht recht wenig be-
kannten feineren Struktur- und Formerscheinungen auf rein an-
organischem Gebiet sorgfältig zu berücksichtigen. In zweiter Linie
aber Vorgänge aufzusuchen, welche sich unter bekannten Beding-
ungen an unbelebtem, seiner Natur nach bekanntem Material ab-
spielen, und die mit jenen an den einfachsten Organismen beobach-
teten mehr oder weniger übereinstimmen.
Natürlich folgt aus der allgemeinen Aehnlichkeit solcher
Vorgänge und Formbildungen an nichtlebendem Material mit
solchen am lebenden Organismus nicht direkt reale Identität der
ursächlichen Bedingungen in den verglichenen Fällen. Eine
solche Uebereinstimmung kann unter den gegebenen LTmständen
nur auf dem Wege der Ausschliessung ergründet werden ; indem
nämlich einmal gezeigt wird, dass thatsächlich bei der zu er-
klärenden Lebenserscheinung dieselben allgemeinen Bedingungen
bestehen oder doch bestehen können, wie bei der damit ver-
glichenen, unter bekannten Bedingungen verlaufenden ; und ferner
durch den Nachweis, dass unter anderen möglichen und wahr-
scheinlichen Bedingungen die Erscheinung im Organismus nicht
eintreten kann. Es ist begreiflich, dass es meist sehr schwierig
sein wird, diese Nachweise mit aller Schärfe zu erbringen. Selbst
wenn sie erbracht sind, wird das Ergebniss nur sein, dass
festgestellt ist, zu welcher Kategorie von Kräfte- oder Energie-
äusserungen die betreffende Lebenserscheinung zu rechnen ist.
Die speziellen Bedingungen in den Einzelfällen entziehen sich da-
gegen der Feststellung; ebenso wie dies auch bei anorganischen
gegebenen Naturobjekten und -Erscheinungen in der Regel der
Fall ist13).
Man erkennt, dass dieser Forschungsweg ein wesentlich deduk-
tiver ist, wie er bei sehr verwickelten Naturerscheinungen meist
allein gegeben scheint. Es ist nöthig, zunächst eine Ansicht über
die physiko-chemischen Geschehensweisen zu gewinnen, unter die
19 —
eine Lebenserscheinung möglicherweise untergeordnet werden könne;
und dann sowohl durch Beobachtung als Experiment nachzuweisen,
dass diese Voraussetzung weder mit den im Organismus thatsäch-
lich gegebenen Bedingungen, noch den aus der Voraussetzung
folgenden Konsequenzen in Widerspruch geräth.
Eine besonders schwerwiegende Bedeutung schreibt die neo-
vitalistische Betrachtung der Formbildung der Organismen zu ;
nicht etwa nur der äusseren Form, sondern im weiteren Sinne
dem äusseren und inneren organisatorischen Aufbau u). Selbst sehr
überzeugte Anhänger der Ansicht, dass alles Geschehen im Orga-
nismus physiko- chemisch verlaufe, waren dennoch ebenso über-
zeugt, dass die gegebene Form, an und in welcher sich dieses
Geschehen abspielt, nicht selbst physiko-chemisch begriffen werden
könne. Die Unbegreiflichkeit der Form auf mechanistischer Grund-
lage wurde denn auch von neueren Vitalisten vielfach hervor-
gehoben, mit der weiteren Betonung, dass nur eine teleologische
Beurtheilung zu dem Verständniss der Form führen könne.
Nun ist nicht zu leugnen, dass die Formen, welche in der
Organismenwelt eine so ausserordentlich komplizirte und das Ganze be-
dingende Ausgestaltung erlangen, etwas Eigenartiges haben. Formen,
in dem Sinne, wie es die organisirten Individuen sind, d. h. deren
Beschaffenheit durch den inneren Bedingungskomplex bestimmt
wird, finden sich in der unorganischen Natur in geringer Aus-
bildung. Es lassen sich hierher nur rechnen die Gieichgewichts-
figuren flüssiger Körper und die Krystalle. Derartige Formen sind
Ruhezustände. Ruhe- oder Gleichgewichtszustände sind eigentlich
kausal nur dadurch charakterisirt, dass keine wirkenden Ursachen
ihrer Veränderung vorhanden sind und dass dieses Nichtbestehen
von Veränderungsursachen von gewissen formalen Bedingungen
abhängt. Bei den Flüssigkeiten davon, dass die Summe der beiden
auf einander senkrechten Krümmungsradien jedes Punktes der
Oberfläche überall dieselbe ist. Auch bei den Krystallen müssen
es zweifellos derartige formale Gleichgewichtsbedingungen sein,
welche wenigstens im Moment der Entstehung die Form bestimmen.
Wird ein solcher Gleichgewichtszustand gestört, so bedingt dies
2*
- 20 —
das Auftreten von Kräften oder Energien, in diesem Fall der Ober-
flächenenergie, welche, wenn die übrigen Bedingungen zureichen,
den ursprünglichen Zustand wieder herstellen.
Hieraus folgt, dass man bei derartigen Formzuständen nicht
eigentlich von formbildenden Kräften oder Energien, sondern nur
von formalbedingenden reden kann.
Als eine zweite Art von Formzuständen auf anorganischem
Gebiet erkennen wir diejenigen, welche nicht ruhende, sondern Be-
wegungszustände sind, deren beharrende Form von einem gleich-
massig beharrenden Bewegungszustand wechselnden Stoffes bedingt
wird. Beispiele solch' „dynamischer Gleichgewichtszustände" sind
der Wasserfall, der Fluss, der Springbrunnen, die Flamme ; lauter
Formzustände, welche man denen der Organismen häufig verglich.
Bei derartigen Zuständen handelt es sich um stetig wechselnden,
in Bewegung begriffenen Stoff, welcher unter gleichmässig bleiben-
den Bedingungen dauernde gleichmässige Bahnen durchläuft, und
so eine dauernde dynamische Gleichgewichtsform besitzt. In
diesen Fällen ist es also eine unter gleichbleibenden Bedingungen
fortdauernde freie Energie , welche der Formerscheinung zu
Grunde liegt.
Man hat die Formzustände der Organismen wegen des Stoff-
wechsels häufig mit dynamischen Gleichgewichtszuständen ver-
glichen. Mir scheint dies nicht zutreffend, denn ein solch' rascher
und andauernder Stoffwechsel, wie er derartige Zustände bedingt,
liegt doch im Organismus sicherlich nicht vor. Dies trifft um so
weniger zu, als wir den Stoffwechsel des Organismus unter gewissen
Bedingungen häufig auf ein Minimum reduzirt finden, ja wohl auf
Null, ohne dass dies seine Form alterirt. Unter solchen Umständen
können wir die organisirte Form auch nicht den dynamischen
Gleichgewichtszuständen unterordnen, sondern müssen sie im Prinzip
den ruhenden zugesellen. Dies schliesst keineswegs den Wechsel
des Stoffes aus. Ein Flüssigkeitstropfen kann eine Wandlung oder
einen Stoffwechsel wohl erfahren, ohne seine Gleichgewichtsform
zu ändern ; ja selbst ein Krystall ist in dieser Lage, wie jede Pseudo-
morphose erweist.
21 -
Mir erscheint es daher als das Richtigste, die organisirten
Formen den ruhenden Gleichgewichtsformen der anorganischen Natur
anzureihen; mit der Einschränkung, dass die aufbauenden Stoffe
einem allmählichen Wechsel, d.h. unter geeigneten Bedingungen einer
allmählichen Zersetzung und Neubildung fähig sind. Doch nicht
in der Weise, dass etwa der gesammte Stoff fortdauernd in einem
solchen Wechsel begriffen ist.
Die komplizirte organisirte Form entsteht in einer Weise, die
auf anorganischem Gebiet ohne Analogie ist, d. h. sie entwickelt
sich. Sie durchläuft, von einer einfachsten Gleichgewichtsform aus-
gehend, eine Reihe successiver, sich komplizirender Formzustände,
welche jedoch bei fortdauernden hinreichenden Bedingungen labiler
Natur sind, in andere übergehen, bis schliesslich eine unter normalen
äusseren Bedingungen dauernde Gleichgewichtsform erreicht wird.
Wie gesagt, vermögen wir bei der Entstehung anorganischer
Formen nichts aufzufinden, was einer Entwickelung vergleichbar
wäre. Ueberraschen kann dies eigentlich nicht ; denn auch bei den
organisirten Formen hat sich die Entwickelung erst mit der höheren
Komplikation allmählich eingestellt. Ich vermag wenigstens nicht
einzusehen, dass man von der Entwickelung eines Micrococcus
reden kann. Seine Vermehrung durch Theilung scheint mir nicht
mehr von Entwickelung einzuschliessen, als etwa die unter geeigneten
Bedingungen eintretende Selbsttheilung eines Flüssigkeitstropfens15).
Betrachten wir die Formen einfachster Lebewesen, so muss
ich gestehen, dass sie mir dem Verständniss weniger Schwierigkeit
darzubieten scheinen als die unorganisirten Krystalle, für welche
ja ein eigentliches Verständniss bis jetzt nur insofern erreicht ist,
als gezeigt wurde, dass, unter gewissen Voraussetzungen über die
Anordnung ihrer Theilchen, einzusehen ist, dass gerade die sich
findenden Krystallsysteme möglich sind16). Die einfachsten leben-
den Formen dagegen sind kugelige Gebilde. Auch isolirte Zellen,
so zahlreiche Eizellen, wiederholen häufig genug diese einfachste
Gleichgewichtsform flüssiger Körper. Eine solche Form bietet dem
Verständniss weniger Schwierigkeit als die einfachste Krystallform,
wenn wir voraussetzen, dass sie als Gleichgewichtsform eines flüssigen
22 —
Zustands der lebenden Substanz entstanden sei. Die von der
Kugelgestalt abweichenden einfachsten Formen, wie ellipsoidische,
cylindrische etc., lassen sich begreifen unter der meist direkt nach-
weisbaren Voraussetzung, dass eine äussere, festgewordene Membran,
oder doch Schicht, vorhanden ist, deren auf ungleichmässiger Struktur
oder sonstiger Beschaffenheit beruhenden besonderen Dehnungs-
verhältnisse beim Wachsthum zu Gleichgewichtsformen führen, die
von der Kugelgestalt -abweichen. Ich erachte es daher nicht für
unmöglich, wenn auch nur in den allereinfachsten Fällen wirklich
erreichbar, die organisirten Formen als Gleichgewichtsformen zu
begreifen 17).
Wenn man dem Mechanismus nun auch zugeben wollte, dass
das Entstehen eines allereinfachsten Organismus nach Form und
Inhalt, auf Grund besonderer physiko-chemischer Bedingungen, nicht
unbegreiflich und unmöglich sei, so erhebt sich doch die Frage :
lässt sich eine solche Annahme auch für den hochkomplizirten
Organismus rechtfertigen, führt sie für diesen nicht zu unlösbaren
Schwierigkeiten ?
Vor dieser Entscheidung angelangt, begegnen wir selbst bei
Denjenigen, welche wie Lotze das Geschehen im gegebenen
fertigen Organismus nicht anders als ein physiko-chemisches, auf
der Grundlage äusserst verwickelter formaler und stofflicher Be-
dingungen, begreiflich erachten, doch der Ueberzeugung, dass der
wunderbare Bau dieser organisirten und so fein harmonisirten Maschine
unmöglich das Ergebniss eines zufälligen örtlichen Zusammen-
treffens physiko - chemischer Bedingungen sein könnte. Zwar
schränkte Lotze diese Anschauung insofern etwas ein, als er
zuzugeben geneigt war, dass ein solch' zufälliges Entstehen ein-
fachster Organismen wohl denkbar und möglich sei; dagegen
könne der komplizirte harmonische Bau eines höheren Organismus
unmöglich als Zufallsprodukt gedacht werden 18).
Es wird sich ja auch kaum Jemand finden, der geneigt wäre,
sich das Entstehen eines komplizirten Organismus unter dem Bilde
— 23 —
eines plötzlichen zufälligen Zusammentreffens verwickelter physiko-
chemischer Bedingungen zu denken.
Wie ersichtlich hat für solche Betrachtungen der Begriff" des
„Zufälligen", des „Zufalls", eine wichtige, ja entscheidende
Bedeutung. Dieser Begriff wurde jedoch häufig nicht genauer
präcisirt, andererseits auch recht verschieden definirt. Die Ueber-
legung ergibt ja einmal, dass zufälliges Geschehen oder zufälliges
zeitliches oder örtliches Zusammentreffen (denn für diese beiden
Modalitäten wird der Zufallsbegriff gleichmässig verwendet) nicht
ein bedingungsloses oder kausal unabhängiges Geschehen oder Zu-
sammentreffen bedeutet. Ein solches Geschehen oder Zusammen-
treffen wäre ein „Wunder". „Zufällig" nennen wir dagegen ein
Geschehen oder ein Zusammentreffen, das trotz kausaler Bedingt-
heit, von der wir bestimmt überzeugt sind, wegen der komplexen
und unbekannten, sowie in den sich wiederholenden ähnlichen Fällen
wechselnden Bedingungen ganz unberechenbar und deshalb un-
möglich vorauszusagen ist ; wie z. B. der Ort, an dem eine auf die
Erde geworfene Kugel zur Ruhe gelangt, oder das Vorkommniss,
dass die für das grosse Loos gezogene Nummer mit der von
einer gewissen Person gekauften Loosnummer zusammentrifft.
Eine Einschränkung machen wir bei dem Zufallsbegriff insofern,
als wir nicht alles unberechenbare Zusammentreffen als Zufall be-
zeichnen ; nämlich dann nicht, wenn es sich regel- oder gesetz-
mässig wiederholt. So nennt man das sich regelmässig wieder-
holende Zusammentreffen eines bestimmten Eigenschaftskomplexes
der chemischen Elemente und ihrer Verbindungen nicht zufällig;
obgleich gerade diese Kombinationen von Eigenschaften im All-
gemeinen unberechenbar und daher wenigstens heutzutage noch
von einem zufälligen Charakter erscheinen.
Ueberschauen wir jedoch die wirkliche, nichtlebende Welt, so
ist darin mehr Zufall als Nichtzufall. Abgesehen von periodischen,
auf Grund einfacher Gesetzmässigkeiten sich wiederholender astro-
nomischer und meteorologischer Erscheinungen, deren Eintreffen wir
voraussagen können, besitzt alles natürliche Geschehen und Zu-
sammentreffen mehr oder minder zufälligen Charakter, wiewohl
— 24 -
es nach unserer Ueberzeugung kausal bedingt ist; doch ver-
laufen die verschiedenen , zeitlich oder örtlich zusammentreffen-
den Kausalketten unabhängig neben einander, oder ihre Abhängig-
keit liegt doch zeitlich soweit zurück, dass sie sich der Er-
kenntniss entzieht. Schon die Konfiguration unserer Erdoberfläche,
die Vertheilung von Land und Wasser, die Gestaltung und Oert-
lichkeit der Gebirge und Flüsse, Wolkenbildungen u. s. f. erscheinen
uns als Zufallsprodukte. Das Gleiche gilt auch für die mensch-
liche Geschichte, deren erschütternde Ereignisse, deren weltbe-
wegende Personen ebenso als Zufallsprodukte uns entgegentreten,
wenn auch wohl in etwas eingeschränktem Sinne. Das heisst beispiels-
weise etwa so, dass zwar Bewölkung und heiterer Himmel in ihrem
Wechsel nicht mehr unter dem Bilde des Zufalls erscheinen, da-
gegen die örtliche Wolkenbildung und ihre besondere Konfiguration;
oder so, dass der Tod als Abschluss des Lebens nicht als Zufall
erscheint, dagegen wohl Zeit, Ort und Art dieses Todes.
Gerade im Hinblick auf den Organismus wurde gelegentlich be-
tont, dass wir darin den wesentlichen Unterschied eines zufälligen
und eines zweckmässigen Geschehens fänden, dass das erstere sich
nur einmal oder nur gelegentlich, das letztere dagegen sich häufig
oder immer mit demselben typischen Effekt wiederhole. Nun ist
ja richtig, dass wir ein sich regelmässig wiederholendes Geschehen
oder Zusammentreffen, auch wenn es unberechenbar oder unbegreif-
lich, nicht unter den Zufall rechnen. Wenn jedoch in der an-
gegebenen Weise ein Gegensatz zwischen zufälligem und zweck-
mässigem Geschehen begründet werden soll, so scheint dies nicht
gerechtfertigt ; denn ein zufälliges Geschehen wird auch durch
häufige Wiederholung nicht zweckmässig, wenn es den Charakter
des Zweckmässigen nicht schon im Einzelfalle besass. Der Gegen-
satz von zweckmässig ist unzweckmässig, aber nicht „zufällig";
eine Handlung, die nur einmal geschieht, kann dennoch höchst
zweckmässig sein.10)
Da es aber eine der wesentlichsten Eigenschaften der lebenden
Naturkörper ist , sich fortzupflanzen oder zu vermehren , so er-
scheinen die Organismen in dieser Betrachtungsweise überhaupt in
- 25
besonderem Lichte. Denn es wird kaum Jemand meinen, dass eine
dauernde Bevölkerung unserer Erde mit Organismen wahrschein-
lich gewesen sei, wenn sie nicht Fortpflanzungsfähigkeit erlangt
hätten. Zweifellos hätten aber die vermehrungsfähigen diejenigen
bald verdrängt, denen dieses Vermögen mangelte. Wenn nun
Fortpflanzung, Vermehrung des Individuums, zu den bezeichnen-
den Eigenthümlichkeiten des Organismus gehört , so folgt , dass
eben der Organismus, welcher mit dieser Fähigkeit, auch durch
zufälliges Zusammentreffen physiko-chemischer Bedingungen, ent-
stand, sich wesentlich anders verhalten musste, als die Zufalls-
produkte auf unorganischem Gebiet. Denn der so entstandene
Organismus war befähigt , sich selbst zu wiederholen ; nicht in
dem Sinne , dass er dies zufällige Zusammentreffen der Beding-
ungen wiederholt hätte obgleich in dem fundamentalen Vor-
gang der assimilatorischen Vermehrung der lebendigen Substanz
etwas derartiges versteckt sein muss — sondern im Sinne der
Wiederholung des Produktes jenes zufälligen Ereignisses, der Zer-
legung des Individuums in mehrere neue.
Die zufällige Entstehung eines fortpflanzungsfähigen Organis-
mus erhebt demnach das zufällige Produkt zu etwas Dauerndem,
sich regelmässig Wiederholendem, wodurch ihm in seiner dauernden
regelmässigen Succession der Charakter des Zufälligen entzogen
wird; nicht aber nothwendig auch im Hinblick auf sein erstes Ent-
stehen, das recht wohl die Bezeichnung zufällig verdienen kann.
Wie aber, wenn die Organismen eine andere Entstehung als
die hier zunächst erörterte genommen hätten ? Dann könnten sie
einmal ewig, d. h. so lange als wir irgend zurückzudenken ver-
mögen, gewesen sein. Nimmt man an, dass es Organismen von
ähnlicher stofflicher Natur wie die heutigen gewesen seien, die
seit Ewigkeit bestanden, so konnten sie auf unserer Erde nur von
einem gewissen Zeitpunkt an existiren, und ihre Uebertragung auf
die Erde kann uns nur als zufällig erscheinen. Nimmt man
dagegen an, dass Organismen ganz anderer stofflicher Natur
ursprünglich existirten, so behauptet man eigentlich nicht die
Ewigkeit der Organismen, sondern die ewige Möglichkeit von
26
Bedingungskombinationen verschiedenster Art, deren Verhalten in
der umgebenden Welt dem entspricht, was wir Lebenserscheinungen
nennen. Die Organismen von der stofflichen Natur, die wir
allein kennen, müssen aber dann ebenfalls einer besonderen Be-
dingungskombination von zufälligem Charakter entsprungen sein. -
Erscheinen uns die Lebewesen irgendwie mit einem besonderen
gesetzlichen Geschehen verknüpft, wie es in gleicher Weise in der
nichtlebenden Welt fehlt, so muss dieses vitale Geschehen doch
unter gewissen physiko-chemischen Bedingungen eintreten und diese
Bedingungen können wir uns nur durch Zufall realisirt denken. -
Lassen wir endlich die Organismen durch einen Schöpfungsakt,
also ausserhalb des Kreises kausalbedingten natürlichen Geschehens
entstehen, nach Art eines Wunders, so nimmt ihre Entstehung
erst recht den Charakter des Zufalls an ; denn ein solcher
Schöpfungsakt ist unberechenbar, die Gedanken eines Schöpfers
nachzudenken unmöglich.
Es scheint demnach, dass wir auf den verschiedenen mög-
lichen Wegen über die zufällige Entstehung der Lebewesen auf
unserer Erde nicht hinaus kommen.
Man hat nun aber nicht mit Unrecht betont, dass das zufällige
Entstehen eines komplizirten, erstaunlich zweckmässig gebauten
und arbeitenden Organismus undenkbar, ja absurd sei. Ebenso-
wenig als geologische Ereignisse in zufälligem Zusammenspiel das
Parthenon hätten hervorbringen können, ebensowenig sei auch
das zufällige Entstehen eines höheren Organismus denkbar. So
wenig die Erfindung der Dampfmaschine als ein kindliches Zufalls-
spiel zu denken sei, so wenig gelte dies auch für einen solchen
Organismus. Gerade das letzte Beispiel kann zuerst etwas stutzig
machen. Es fragt sich eben: wie viel oder wie wenig Zufall steckt
in einem menschlichen Kunstwerk oder in der Konstruktion einer
Maschine. Wohl mehr als man gemeinhin denkt.
Im Allgemeinen lässt sich eine Maschine wohl nur als ein
menschliches Werkzeug einfacherer oder komplizirterer Art be-
zeichnen, dazu bestimmt, Bewegungen des Menschen selbst oder
anderer Naturkörper auf wieder andere zu übertragen, die Bewegung
27
in gewisser Weise zu ändern und damit gewisse beabsichtigte
Wirkungen hervorzurufen. Es ist behauptet worden, dass wir die
Maschine ebensowenig kausal oder logisch zu begreifen vermöchten
als die Form des Organismus. Beide bieten denn auch viel Ana-
logien hinsichtlich ihrer Begreiflichkeit, wenn wir ihr wahrschein-
liches Entstehen beachten. Die einfachsten Maschinen, Werkzeuge
und Geräthe, wie z. B. den Hebel, die Walze, den Keil, das Beil,
den Topf, Tisch und Stuhl, lernte der Mensch in zufälligen Natur-
produkten kennen, deren Wirkungen vonv ihm ebenso zufällig
beobachtet oder erfahren , dann auch vorausgesagt und daher
zweckmässig angewendet werden konnten. Komplizirtere Maschinen
entstanden durch zufällige associative Kombination verschiedener
einfacher ; so die Verbindung der einfachen Schleife, die zur Beförder-
ung von Gegenständen diente, mit der Walze ; darauf folgte Probiren
dieser Kombination, was ihre Zweckmässigkeit ergab. In gleicher
Weise kann man durch ähnliche Vorgänge die Erfindung der
Räder wohl ableiten. Auch die Dampfmaschine entsprang nicht
einer fertigen Idee, sondern aus zufälligen Beobachtungen über die
hebende Wirkung des Dampfdrucks und aus fortgesetztem langdauern-
dem Probiren neuer, zufälliger, verbessernder und vervollkommnender
kleiner Kombinationen, deren Zweckmässigkeit erst< die Probe oder
das Experiment ergab. Alle unzweckmässigen Kombinationen wurden
baldigst ausgemerzt und gingen unter ; die zweckmässigen dagegen
erhielten sich. Jede Maschine hat sich demnach allmählich ent-
wickelt, ausgehend von zufälligen Erfahrungen, durch associative,
intuitive, d. h. unberechenbare zufällige Kombinationen, von denen
bei der Verwirklichung die zweckmässigen sich erhielten, die un-
zweckmässigen nicht. Wir finden daher, dass zweifelsohne bei der
Erfindung der Maschinen der Zufall ein sehr wesentlicher Faktor
ist, und dass der Gang der Maschinenentwickelung grosse Aehn-
lichkeit mit der allmählichen Umbildung der Organismen hat, wie
sie Darwin 's Lehre für wahrscheinlich hält. Natürlich werden
auch auf dem Gebiete der Maschinenerfindung die möglichen
Kombinationen und Konstruktionen um so ausgedehnter, je umfang-
reicher die überlieferten Erfahrungen sind und je ausgiebiger der
— 28 —
zufällige Erfinder sie verwerthet. Dieses Wissen aber ist das
Produkt langer zufälliger Erfahrungen, Kombinationen und der Er-
haltung des Zweckmässigen.
Nun noch ein Wort über den oder die Erbauer des Parthenon!
Dieser Erbauer selbst ist eine zufällige, in keiner Weise berechen-
bare oder sich wiederholende Erscheinung gewesen. Sein Werk
aber war bedingt durch die vorhergegangene lange Entwickelungs-
epoche griechischer Baukunst, die ihrerseits wieder auf älteren
Vorläufern ruhte. Alles, was der Zufall durch geniale Baumeister,
mit ihren ebenso zufälligen Ideen, als Zweckdienliches und Zweck-
schönes hervorgebracht und überliefert hatte, war es, worauf der Er-
bauer des Parthenon fusste, und auf Grund dessen er, als eine,
wie gesagt, zufällige Erscheinung (auch in dem Sinne gesteigerten
Gefühls für das Zweckdienliche und Zweckschöne) seine Weiter-
führung bethätigte. Von einem Ausschluss des Zufalls kann demnach
auch hier keine Rede sein.
Weder auf dem Gebiet der Technik, noch auf dem der Kunst
und der Wissenschaft vermag daher ein Zufall etwas Komplizirtes
hervorzubringen ; dagegen spielt die im Laufe einer langen Ent-
wicklungsepoche fortdauernde Häufung zufälliger Kombinationen,
die sich als zweckdienlich oder zweckschön erhielten, eine wich-
tige Rolle.20)
Dass nun ein zufällig auftretender, erhaltungs- und fortpflanz-
ungsfähiger einfachster Organismus durch Häufung zufälliger neuer
Kombinationen, welche sich erhielten, insofern sie unter den ge-
gebenen allgemeinen Bedingungen zweckmässig waren, zu höherer
Komplikation von zweck- oder erhaltungsmässiger Funktionirung
fortschreiten konnte, halte ich, trotz der vielen erhobenen Ein-
wände, für wahrscheinlich. Nicht ein Zufall wäre in diesem Sinne
das Entstehen eines höheren Organismus, sondern eine Häufung
zahlreicher Einzelzufälle unter Fortdauer des Zweck- oder Erhaltungs-
mässigen.
Dem alten wie dem neuen Vitalismus gilt vor Allem die weit-
gehende, häufig geradezu als unbeschränkt bezeichnete wunderbare
Zweckmässigkeit des Organismus als die schärfste Angriffswaffe
— 29 —
gegen den Mechanismus. Selbst so überzeugte Vertheidiger des
rein physiko-chemischen Geschehens im Organismus, wie Lotze
und Claude -Bernard, sahen sich doch zur Annahme gezwungen,
dass der gesammte Bedingungskomplex, welcher dem harmonisch
funktionirenden Organismus zu Grunde liegt, durch ein höheres,
ein metaphysisches oder teleologisches Prinzip hervorgebracht und
geregelt werde. Wie schon bemerkt, konnte nach Lotze der
höhere Organismus nicht dem Zufall, sondern nur einem Schöpfer
sein Entstehen verdanken; und Claude-Bernard meint: Ein meta-
physisches Prinzip, eine ,,force vitale", die zwar nichts ausführt,
da alles im Organismus physiko-chemisch bedingt ist, muss diese
Bedingungen so geregelt und harmonisirt haben ; denn von einem
Zufall konnte dies unmöglich abhängen. ,,La force vitale . . . ne
serait qu'une force legislative mais nullement executive."
Aehnliche Anschauungen, welche im Grunde auf die Voraus-
setzung eines entsprechenden Prinzips hinauslaufen, möge es nun
als ,, Zielstrebigkeit ", „Lebenskraft", ,,Organisatrix",
„Bildungstrieb", oder sonst wie bezeichnet werden, haben auch
Neo-Vitalisten vielfach geäussert. Zur Beurtheilung solcher Meinungen
wird es zunächst nöthig sein, den allgemeinen Begriff der „Zweck-
mässigkeit" genau zu präzisiren und weiterhin zu untersuchen,
in welchem Maasse Zweckmässiges in der Organismenwelt an-
getroffen wird.
Niemand wird leugnen, dass der Begriff der Zweckmässigkeit
ursprünglich von menschlichem Thun abgeleitet wurde und zwar
von bewusst psychischem Thun. Zweck ist die Vorstellung eines
Gewollten, oder, wie man auch gesagt hat, das Motiv, der psychische
Grund einer menschlichen Handlung, welche die Wahl geeigneter
oder ungeeigneter Mittel zur Ausführung der Handlung bedingt.
Die Handlung erscheint uns insofern zweckmässig, als der vor-
gestellte Zweck durch sie wirklich realisirt wird. Wie bemerkt,
erscheint daher der Zweck als das Motiv, der psychische Grund der
zweckmässigen Handlung.
Hieraus folgt jedoch, dass zweckmässiges Geschehen oder
Handeln im strengeren Sinne ein Bewusstsein voraussetzt, welches
30 —
Erfahrungen enthält; denn nur auf dieser Grundlage kann von dem
Eintreten einer Zweckvorstellung und der Wahl geeigneter Mittel
zur Ausführung die Rede sein. Ins Physische übersetzt würde
diese Betrachtung lauten: Eine zweckmässige Handlung Jcann nur
da geschehen, wo die physische Grundlage in Form eines hoch-
entwickelten Nervensystems vorliegt, dem die Möglichkeit eines
Erfahrungsschatzes koordinirt ist.
Für die Beurtheilung eines Geschehens als zweckmässig oder
nicht, erscheint daher zuerst erforderlich das Erkennen eines
Zwecks desselben und weiterhin, ob dieser Zweck durch jenes
Geschehen, d. h., die dabei in Thätigkeit gesetzten Mittel, wirk-
lich erreicht wird. — In der anorganischen Natur ist nun die An-
gabe von Zwecken etwas ganz unbestimmtes, willkürliches ; man
könnte schliesslich nur sagen, dass hier der Zweck des Geschehens
ist, dass es geschieht. In der Organismenwelt scheint mir, wenn
wir den Gesämmtorganismus und sein Lebensgeschehen betrachten,
auch keine sehr präcise Zweckangabe möglich. Denn der Gesammt-
zweck dieses Geschehens kann doch auch nur sein, dass der frag-
liche Organismus besteht, existirt, sich erhält. Dies ist aber etwa
dasselbe, als wenn ich sage, der Zweck der Planetenbewegungen
ist der, dass sie bestehen, sich erhalten, und dass so das gesammte
Planetensystem sich erhält, wie es ist. Dazu kommt, dass man
auch das Paradoxon wagen könnte : es sei das Sterben der Zweck,
des Lebenden, indem ja jeder Organismus sein Endziel im Tode
findet.
Deutlicher wird der Zweck erst, wenn wir die einzelnen Organe
und ihre Leistungen für den Gesämmtorganismus ins Auge fassen.
Obgleich wir zwar über den eigentlichen Zweck jedes Organs nichts
anderes angeben können, als die Leistung, welche es in der That
ausführt, so vermögen wir doch das Verhalten dieser Leistung zu
dem Gesammtzweck des Organismus als zweckmässig oder unzweck-
mässig zu beurtheilen. Vergessen sollten wir dabei jedoch nicht,
dass ein solches Urtheil über die Zweckmässigkeit einer Einrichtung
oder einer Leistung des Organismus ein Schluss aus der Analogie mit
zweckmässigen menschlichen Erzeugnissen oder Handlungen ist ; d. h.
- 31 —
in dem Sinne, dass diese Einrichtungen und Leistungen des Organis-
mus solche seien, welche den Anschein hervorrufen, als liege ihnen
ein ähnliches Geschehen zu Grunde wie dem bewussten zweck-
mässigen Handeln des Menschen-1).
Kann jedoch eine solche Beurtheilung des Organismus dazu
berechtigen, auch die Abhängigkeitsverhältnisse im Organismus in
ähnlicher Weise zu denken, wie wir menschliche Zwecke und Hand-
lungen, sowie ihr Ergebniss, in Abhängigkeit denken? D. h., dürfen
wir annehmen, dass der Zweck eines Organs das Motiv seines
Entstehens und seiner zweckmässigen Thätigkeit ist? Solch' eine
teleologische Beurtheilung des Organismus nach Zweckursachen oder
Causae finales ist ja eine uralte und auch im Neo- Vitalismus in
etwas veränderter Form wieder hervorgetreten. Eine solche Be-
urtheilung verstösst jedoch gegen den eigentlichen Begriff des
Zwecks, der eben die Vorstellung einer bewussten und erfahrenen
Intelligenz ist, deren Koordination mit den hochkomplizirten Ein-
richtungen eines Nervensystems wir erfahrungsgemäss kennen, und
die wir daher auch nur da zuzugeben berechtigt sind, wo wir
solche organisatorischen Einrichtungen antreffen.
Die Annahme einer unbewussten Intelligenz, die zweckmässiges
Geschehen bedinge, oder einer entsprechenden, den Organismen
eisenthümlichen Geschehensform ist daher meiner Ansicht nach
eine nichtberechtigte Umschreibungshypothese ; weil Zweckhandlung
oder Zweckgeschehen und Bewusstsein nicht willkürlich von einander
trennbare Erscheinungen sind. Wenn ich ein hypothetisches, zweck-
handelndes, jedoch unbewusstes Geschehen voraussetze, so nehme
ich nicht eine empirisch bekannte Geschehensform als Erklärungs-
grund an, sondern eine willkürlich konstruirte, welche das schon
enthält, was erklärt werden soll, nämlich die zweckmässige Ein-
richtung und Funktion des Organismus. Nur dann wäre ein solches
Geschehen zuzugeben, wenn die Erfahrung zeigte, dass die zweck-
mässige Reaktion thatsächlich die stete Geschehensform des Orga-
nismus ist. 22)
Wir warfen vorhin die Frage auf, ob denn die Zweckmässig-
keit der Organismen so unbeschränkt sei , wie vielfach behauptet
- 32
wird; weshalb sogar schon die zweckmässige Reaktion auf äussere
Einwirkungen als das eigentliche Charakteristikum des Organis-
mus bezeichnet wurde. 23) Mir erscheint diese Zweckmässigkeit
keineswegs so umfassend, als die Vertreter der teleologischen
Anschauungen gewöhnlich behaupten. Es ist hier nicht möglich,
das Dysteleologische, Unzweckmässige, und das Zwecklose in der
Organismen weit eingehender zu erörtern. Nur auf Weniges sei
hingewiesen. Die zweckmässigen Reaktionen auf äussere Einwirk-
ungen erfolgen in der Regel nur innerhalb gewisser Grenzen der
Reizintensitäten, d. h. innerhalb der Grenzen, in welchen diese
Einwirkungen in der natürlichen Umgebung gewöhnlich auftreten.
Dagegen geschieht häufig, ja meist, Unzweckmässiges, wenn die
Einwirkungen die üblichen Grenzen überschreiten. Ein solches
Verhalten steht mit einem immanenten zweckmässigen Reagiren
in Widerspruch, ist dagegen wohl vereinbar mit der Ansicht,
dass die zweckmässige Reaktion ein Produkt allmählicher Entwick-
lung unter dem regulirenden Einfluss der äusseren Einwirkungen
ist. Denn dies liesse verstehen, dass abnorme Reize, wie sie in
der natürlichen Umgebung nur selten und vereinzelt auftreten,
keine bleibenden regulatorischen und zweckmässigen Reaktionen
zu bedingen im Stande waren.
Hinweisen möchte ich ferner auf die unleugbare Thatsache,
dass im Laufe der Erdgeschichte eine Menge Lebensformen aus-
gestorben sind; ausgestorben eben doch nur deshalb, weil sie
ausser Stande waren, sich für die gegebenen Bedingungen zweck-
und erhaltungsmässig zu modificiren und in solcher Weise auf ver-
änderte Verhältnisse zu reagiren. Diese Thatsache scheint mir
unvereinbar mit der Annahme, dass dem Organismus an und für
sich ein zweck- und erhaltungsgemässes Reagiren zukomme. Will-
kürliche Beschränkungen der zweckmässigen Reaktion anzunehmen,
scheint mir aber ein Widerspruch gegen das Prinzip.
Endlich möge hier ein dritter Punkt kurz erörtert werden.
Die Vertheidiger eines unbewusst zweckmässig wirkenden Prinzips
im Organismus sind Gegner der Darwin' sehen Lehre, der sie
vorwerfen, dass sie die weitgehende Zweckmässigkeit in der
— 33 —
Organismenwelt nicht hinreichend zu erkären vermöge. Dennoch
wurde gerade von dieser Seite häufig gegen den Darwinismus ein-
gewendet, dass die Lebewesen zahlreiche Einrichtungen besitzen,
für welche zweckmässige Leistungen gar nicht nachzuweisen
sind. Schon Schopenhauer*), einem konsequenten Vertreter
teleologischer Erklärung, fiel dies wohl auf und bestimmte ihn,
gewissermassen eine Grenze anzunehmen , über die hinaus das
teleologische Prinzip unwirksam sei. Man wirft also dem Dar-
winismus vor, er sei unfähig, das Entstehen vieler organisatorischer
Einrichtungen zu begreifen , weil ein Zweck derselben nicht auf-
zufinden ist ; und dies geschieht meist gerade von Denjenigen,
welche andererseits betonen, dass die zweckmässige Reaktion eine
allgemeine Eigenschaft des Lebenden bilde. Ich meine jedoch,
der Darwinismus vermag sich sehr wohl mit der Thatsache abzu-
finden, dass viel Zweckloses im Organismus vorkommt; voraus-
gesetzt nur, dass es nicht schädlich ist. Dagegen sehe ich nicht
ein, wie die Ansicht, dass eine immanente zweckmässige Reaktion
das Wesen des Organismus sei, sich mit der offenbaren Zweck-
losigkeit zahlreicher Einrichtungen vereinbaren lässt.
Den Angelpunkt der Frage nach der Bedeutung des Zweck-
mässigen im Organismus für die mechanistische und vitalistische
Auffassung bildet die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, das Entstehen
des Zweckmässigen auf mechanistischer Grundlage zu begreifen.
Der einzige Versuch hierzu ist der Darwinsche, sammt den
Modifikationen, welche im Laufe der Zeit berechtigter oder unbe-
rechtigter Weise dazu gefügt wurden. Für unsere Stellung gegen-
über dem Mechanismus muss daher die Anerkennung oder Ablehn-
ung der Darwinschen oder einer anderen, Aehnliches anstreben-
den Lehre fundamentale Bedeutung haben. Unmöglich erscheint es
jedoch, hier eine kritische Untersuchung des Darwinismus anzu-
stellen. Ich vermag nur meiner eigenen Ueberzeugung Ausdruck
zu geben, welche, trotz der in den letzten Jahren erhobenen, an-
geblich vernichtenden Einwände gegen Darwin's Lehre, dahin
*) Vergl. hauptsächlich: Zur Teleologie Bd. 3 p. 377 ff, jedoch auch: Kritik
d. Kant. Philosophie Bd. 2, p. 630 ff.
Bütschli, Mechanismus und Vitaiipmus.
— 34 —
geht, dass ich diese Lehre, in Verbindung mit der Voraussetzung
von Keimesvariationen, welche allein vererblich sind (wie ich selbst
dies schon 1876 angedeutet habe), für eine sehr mögliche, und
unter den sonstigen Erklärungsversuchen für den wahrschein-
lichsten halte24).
Jede teleologische Beurtheilung des Organismus und seines
Werdens muss zu dem Ergebniss führen, dass das zu erreichende
Endziel, oder der Zweck der werdenden Bildung, eine ähnliche
Rolle spielt wie der Zweck oder das Zweckmotiv bei der zweck-
mässigen Handlung. So bemerkte denn auch der überzeugte Vi-
talist Schopenhauer: „Wir müssen es kühn heraussagen: Die
Endursache ist das Motiv, welches auf ein Wesen wirkt , von
welchem es nicht erkannt wird. Die Termitennester sind das
Motiv, das die lange Zunge des Ameisenbären hervorgebracht hat."
„Die Endursache und die causa efficiens, die wirkende Ursache,
fallen eben bei dem Zweckmotiv in eine zusammen25)".
Betrachten wir diesen Fall auch von mechanistischem Stand-
punkt , unter den Voraussetzungen , welche die Darwin 'sehe
Lehre für seine Begreiflichkeit macht. Nach ihr wären es Va-
riationen , die von nicht genauer bekannten veränderten Be-
dingungen abhängen , welche die Zunge bei den Vorfahren des
Ameisenbären verlängert hätten. Hiervon allein hing es jedoch
nicht ab, dass die heutigen Ameisenbären so stark verlängerte
Zungen besitzen ; es musste die weitere Bedingung hinzu treten, dass
Termitennester vorhanden waren, welche diese Zunge erst nützlich
machten. Letztere Bedingung erscheint daher für das Bestehen
der verlängerten Zunge der heutigen Ameisenbären ebenso wesentlich
als die der Variationen. Also auch nach Darwin 's Auffassung sind
die Termitennester eine wesentliche bedingende Ursache für die
Existenz der verlängerten Zunge ; zwar haben sie nicht die Be-
deutung einer wirkenden Ursache, die Termitennester liefern nicht
etwa die Energie für das Auswachsen der Zunge ; sie spielen auch
nicht die Rolle einer auslösenden Ursache oder eines Reizes. Sie
sind aber eine unerlässliche Bedingung für die Erhaltung der
langen Zunge. In diesem Sinne geht also das Schopenhauer'sche
35 -
Motiv als wesentlicher Bestandtheil in den Bedingungskomplex ein.
Nur können wir dieses Geschehen, ebensowenig wie irgend welches,
von einer einzigen Bedingung abhängig finden, sondern von einem
Komplex zusammentreffender, von gleicher Unerlässlichkeit.
Schon im Vorhergehenden wurde mehrfach angedeutet , dass
einige Biologen nachzuweisen suchten : im Organismus bestehe eine
besondere Art kausalen Geschehens oder der kausalen Abhängigkeit,
worin sich ein fundamentaler Unterschied des Lebenden und
Nichtlebenden offenbare.- So versuchte Pflüger (1877) zu zeigen,
dass im Organismus ein eigenartiges „teleologisches Kausal-
gesetz" herrsche, dessen Abhängigkeitsbeziehungen sich in folgen-
dem Schema aussprächen : „Die Ursache jeden Bedürfnisses
eines lebendigenWesens ist zugleich die Ursache der
Befriedigung des Bedür f nisses" (p. 76). Erläutert wird dies
teleologische Kausalgesetz hauptsächlich an der bekannten Er-
scheinung, dass ein intensiver, das Auge treffender Lichtreiz,
welcher einerseits ein gestörtes Funktioniren des Auges zur Folge
hat, andererseits eine Verengerung der Pupille bedingt, die das
Funktioniren des Organs verbessert oder korrigirt. Wenn Pflüger
hierbei von einem „Bedürfniss" und dessen „Befriedigung" spricht,
so führt er in den Vorgang etwas ein , was er nicht enthält.
Thatsächlich ist die Folge des intensiven Lichtreizes nur eine un-
angenehme Empfindung im Auge und unkorrektes Sehen; dass
die Folge dagegen ein Bedürfniss nach Korrektur oder Regulation
dieser Erscheinungen sei, ist ein Urtheil über das, was wir für
ein so funktionirendes Auge als wünschenswerth erachten. Dass
die Pupillenverengerung eine Befriedigung sei, ist ebenfalls ein
Urtheil auf Grund des vorherigen über ein bestehendes Bedürfniss.
Dieselbe Argumentation lässt sich für jede Regulationseinrichtung
an einer Maschine anstellen. Zu hoher Dampfdruck in der Dampf-
maschine bewirkt zu raschen Gang der Maschine, was wir als ein
Bedürfniss nach Korrektur, nach Verminderung der Schnelligkeit
beurtheilen. Gleichzeitig wird jedoch auch der Regulator geöffnet
und der Dampfdruck vermindert, was wir als Befriedigung beur-
theilen. In diesen Fällen handelt es sich um eine Ursache (die
- 36 —
Veränderung einer der Gesammtbedingungen) , welcher zwei ver-
schiedene Wirkungen folgen, von denen eine die Bedingungen so
ändert, dass die andere Wirkung regulirt wird. Ein solcher
Doppelerfolg ist nur auf Grund eines, in besonderer Weise ein-
gerichteten Bedingungssystemes möglich, wie es uns ja die Dampf-
maschine mit ihrem Regulator vorführt. Pflüger denkt sich denn
auch dies teleologische Kausalgesetz als etwas ,, mechanisch" Ent-
standenes. Er sagt: „Wie diese teleologische Mechanik entstanden,
bleibt eines der höchsten und dunkelsten Probleme." Andererseits
scheint er jedoch anzunehmen , dass sie von Anfang an als eine
besondere Fähigkeit oder Gesetzlichkeit mit der ersten lebenden
Materie entstand, so dass also zweckmässige Reaktion das
stete und regelmässige Geschehen der lebenden Materie bilde. Da
ich ein solch' gesetzliches zweckmässiges Reagiren des Organismus
nicht für begründet und nachweisbar erachte, wie schon erörtert
wurde, so halte ich auch Pflüger 's teleologische Kausalität für
nicht begründet. Von meinem, und dem mechanistischen Stand-
punkt überhaupt, würde die Beurtheilung folgendermassen lauten :
Unter den Reaktionsmöglichkeiten der lebenden Materie auf äussere
Einwirkungen fanden sich auch solche , die zweckmässig wraren,
und diese wurden, als die auf die Dauer allein existenzfähigen,
erhalten.
An Pflüg er 's Gesetz erinnert in mancher Hinsicht Coss-
mann's Ansicht über ein besonders „biologisches Geschehen" in
den Organismen, im Gegensatz zu kausalem Geschehen. Coss-
mann, dem die Kausalität als eine aprioristische Anschauungsform
gilt, findet in der Lebewelt ein besonderes teleologisches Naturgesetz
von folgender Formel: „Auf eine Erscheinung (c), die ver-
änderlich, folgt eine Erscheinung (d), die gleichfalls
veränderlich ist, und auf diese eine Erscheinung (e),
die zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Indi-
viduen die gleiche ist." Dies dreigliedrige Geschehen sei
charakteristisch für die Organismen ; und das eigentlich teleologische
desselben äussere sich darin , dass das Mittelglied (d) oder das
Medium gleicherweise abhängig, oder eine Funktion sei von
— 37 —
dem vorangehenden. Glied (c), dem An t ecedens, und dem nach-
folgenden Glied (e), dem Su ecedens. Hiermit wäre natürlich
das Gegentheil kausalen Geschehens gegeben. Denn dass das
Succedens, als das Nachfolgende, das Medium oder das Vorher-
gehende beeinflusst, also die Ursache von der Wirkung abhängt,
dies ist das gerade Gegentheil kausaler Abhängigkeit, und steht
eigentlich auch mit der wahren teleologischen Abhängigkeit im
Widerspruch.
Betrachten wir jedoch zunächst dies dreigliedrige teleologische
Geschehen an einem der gegebenen Beispiele näher, da erst dann
ganz klar werden wird, wie sich Cossmann diesen Vorgang
denkt. Wir wählen dazu das auch schon von Pflüger erörterte
Beispiel der Pupillenverengerung auf intensiven Lichtreiz. Nach
Cossmann würde sich das dreigliedrige Schema folgendermassen
darstellen :
c (Antecedens) d (Medium) e (Succedens)
Lichtreiz Reflex Schutz
und 1 (variabel) (variabel) (konstant).
Organismus
Was hier eigentlich unter dem Medium oder dem Reflex verstanden
wird, scheint mir unklar; ob der innere Nervenprozess , der zur
Verengerung der Pupille führt, oder letzterer Vorgang selbst, oder
die Gesammtheit dieser Vorgänge. Eines dagegen ist klar, dass
nämlich dasjenige, was thatsächlich von dem Lichtreiz bedingt
wird oder auf ihn folgt, nur die Pupillenverengerung ist ; dass hin-
gegen dasjenige, was Cossmann als Succedens oder drittes Glied
einführt, nämlich der „Schutz", ein abstrakter Begriff ist, der in dem
wirklichen Vorgang sich natürlich nicht findet. Denn dieser Schutz
ist ja nur unser Urtheil über den Werth oder den Zweck, welchen
die Pupillenverengerung für den Organismus besitzt. Indem Coss-
mann so einen abstrakten Begriff als Succedens in das drei-
gliedrige Schema einführt, kommt er zu dem Ergebniss, dass das
Succedens konstant sei; denn ein Begriff ist natürlich konstant;
wogegen das, was der Lichtreiz eigentlich bedingt , die Pupillen-
verengerung , direkt mit dem Lichtreiz zu- und abnimmt. Wie
— 38 —
soll aber das Medium abhängen von einem Begriff, dem
Succedens ?
Wenn wir ähnlich argumentiren, so finden wir in jedem Auslös-
ungsgeschehen und in jedem Regulationsgeschehen an einer Maschine
das charakteristische dreigliedrige Schema wieder, wie folgende
Beispiele zeigen. Betrachten wir ein aufruhendes Gewicht, das auf
Anstoss aus einer gewissen Höhe herabfällt, so haben wir:
Antecedens. Medium Succedens
Schwerezustand
des Gewichts,
Auslösungsursache
(Anstoss)
Gewicht
(variabel)
v Mangel der
/ • , i, Fall
(variabel)
(konstant).
Hemmung
oder bei der Dampfmaschine :
Antecedens. Medium Succedens.
Dampfdruck I Hebung des j Schutz, Sicherung
Ventil j (variabel) Ventils j <™iabel> (konstant)
Schon E. Albrecht erkannte richtig, dass jedes Auslösungs-
geschehen sich in Form einer dreigliedrigen Kette vollziehe, und
wir erörterten dies ja oben gleichfalls 26).
Die Pupillenverengerung bei intensivem Lichtreiz beurtheilen wir
als nützlich für den Organismus. Wohl bemerkt ist dies ein
Urtheil über den Werth dieses Vorgangs für den Organismus.
Thatsächlich hat ja die Pupillenverengerung oder -Erweiterung in
ihrer Abhängigkeit von der Intensität des Lichtreizes zur Folge, dass
der Organismus auch bei Lichtintensitäten, die in gewissen Grenzen
schwanken, annähernd gleich gut sehen kann. Insofern nun die
äusseren Bedingungen so waren, dass eine solche Einrichtung die
Erhaltung der mit ihr ausgestatteten Individuen, im Gegensatz zu
den übrigen , bedingte also eine Einrichtung erhalten wurde,
die wir als eine schützende beurtheilen insofern könnte man
davon reden, dass die gegebenen Bedingungen einen solchen
Schutz erforderten und dieser daher nach unserer Beurtheilung als
eine Bedingungsursache beim Entstehen der Pupillenreflexe auf-
getreten sei; naturgemäss aber nicht rückwirkend, sondern nach
Art jeder bedingenden Ursache vor der Wirkung. Ebenso wie
— 39
wir für die Konstruktion des Ventils der Dampfmaschine das
Urtheil über die Notwendigkeit eines Schutzes als bedingendes
Motiv für die Handlungen des Erfinders erachten; wobei jedoch
dies Urtheil gleichfalls nicht rückwirkte, sondern nach Art jedes
kausalen Vorgangs das Folgende bedingte.
Cossmann ist sich bewusst, dass sein teleologisches Natur-
gesetz gar nicht eigentliches teleologisches Geschehen ist ; denn
bei diesem tritt der Zweck oder das Ziel des Gewollten oder Ge-
wünschten als Motiv der Handlung, als zeitlich vorhergehen-
der Grund, auf. Aber gerade von diesem wesentlichen Charakter,
der ein anthropomorphistischer sei, sucht Cossmann die Teleo-
logie zu reinigen. Aus dem Begriffe der Teleologie sei das ,, Wollen"
zu entfernen, wie aus dem der Kausalität das „Müssen". Dieser
Vergleich zwischen Kausalität und Teleologie trifft jedoch nicht zu.
Der Begriff der Kausalität enthält gar nichts von dem aus dem psychi-
schen Gebiete entnommenen Müssen. Die Kausalität braucht daher
auch gar nicht von dem Müssen gereinigt zu werden. Der Begriff der
Kausalität enthält nicht mehr als unsere Erfahrung über die gesetz-
mässige Abhängigkeit der Erscheinungen ; von einem Müssen, in
dem Sinne einer psychischen Unfreiheit, ist darin nichts enthalten.
Mit dem teleologischen Geschehen verhält es sich anders.
Dass die teleologische Denkweise keine aprioristische Anschauungs-
form ist, welche gleich nothwendig und berechtigt neben der
kausalen steht, geht für mich, abgesehen von anderem, schon
daraus hervor, dass auch die Vorkämpfer der Teleologie sie für
die Vorgänge in der nichtlebenden Welt einfach ignoriren ; während
doch, wenn es sich um zwei, unserem Intellekt a priori gegebene,
gleichberechtigte Anschauungsformen handelte, nicht einzusehen
wäre, warum die teleologische Betrachtungsweise in der anorganischen
Welt plötzlich aufhört. Auch Cossmann ist ja der Meinung,
dass sein teleologisches Naturgesetz nur für die lebende Welt gelte.
Indem er jedoch den Zweck als Motiv des Geschehens ent-
fernt, hebt er, wie bemerkt, den teleologischen Charakter seines
besonderen biologischen Geschehens auf und macht daraus ein für
die Erklärung der Lebenserscheinungen besonders konstruirtes
— 40 —
Geschehen, das nicht psychisch-teleologisch bedingt ist und mit
der Kausalität im Widerspruch steht. Dies teleologische Natur-
gesetz hat daher den Charakter einer Umschreibungshypothese,
welche die zweckmässige Reaktion des Organismus voraussetzt,
also nicht begreiflich macht.
Nun könnte man ja sagen, die kausale Abhängigkeit sei ebenso
unbegreiflich, als die sogenannte teleologische; und mit vollem
Recht. Wir begreifen ja die kausale Abhängigkeit nicht, wir
wissen nur, dass sie besteht. Verhält es sich nun mit dieser
teleologischen Abhängigkeit etwa ebenso? Das wäre der Fall,
wenn wir im Organismus ein zweckmässiges Reagiren als aus-
nahmsloses Geschehen anträfen, wie es nimmer der Fall ist.
Neben zweckmässiger Reaktion findet sich auch die unzweck-
mässige.
Oder spricht es etwa für ein solch' allgemeines Gesetz zweck-
mässiger Reaktion, dass bei dem Triton für die herausgenommene
Linse eine funktionsfähige neue gebildet wird, während bei dem
nahe verwandten Frosch ein ganz funktionsunfähiges Gebilde
regenerirt ; oder dass der zerschnittene Regenwurm mit Leichtig-
keit regenerirt, der zerschnittene Nematode dagegen hierzu ganz
unfähig ist? Regeneration verloren gegangener Theile wäre für
jeden Organismus sicherlich sehr zweckmässig; und da sie in vielen
Fällen in weitgehender Weise realisirt werden konnte, so ist nicht
einzusehen, weshalb, wenn zweckmässige Reaktion das gesetzliche
Geschehen des Organismus ist, sie ebenso oft unterbleibt. Will
man aber etwa sagen, der Organismus sei zwar stets bestrebt,
zweckmässig zu reagiren, soweit als es die entgegenstehenden
Hindernisse gestatten, so gelangt man im Wesentlichen zu der
Anschauung, die auch wir festhalten, wenn wir meinen, dass der
Organismus eben unter den gegebenen Bedingungen das leistet, was
er leisten kann ; und dass es von dieser seiner Leistungsfähigkeit ab-
hängt, ob er unter den veränderten Bedingungen zu existiren ver-
mag. Denn eine gewisse Summe zweckmässiger Reaktionen ist
eben unerlässliche Bedingung für die dauernde Erhaltung einer Art.
— 41 —
Betrachtungen über ontogenetische und reparative Vorgänge
führten auch Driesch (1899) zur Anerkennung einer besonderen
,,eigenthümlichen Geschehensgesetzlichkeit, eines vitalistischen Ge-
schehens, einer vitalistischen Kausalität", welche an Cossmann's
teleologisches Naturgesetz etwas erinnert. Es muss jedoch hervor-
gehoben werden, dass Driesch's Erörterungen sich von den
Mängeln der Cossmann'schen, die auch Driesch erkannte, frei
halten. In dem Nachweis eines solch' charakteristischen vitalisti-
schen Geschehens, „welches den kausalen Verknüpfungsformen des
Anorganischen nicht subordinirt, sondern koordinirt sei", erblickt
Driesch ein von ihm längst erstrebtes Ziel, und beurtheilt dem-
gemäss seine frühere Anerkennung der sog. „Maschinentheorie"
des Organismus als eine dogmatische Verirrung.
Den Ausgangspunkt seiner Betrachtung bildet das sogenannte
„Lokalisationsproblem" harmonisch-aequipotentieller Systeme,
d. h. solcher entwicklungsfähiger Systeme, welche bei experimen-
teller Prüfung, durch operative Entfernung von Theilen, zeigen, dass
die Leistungsfähigkeit oder die Entwicklungsmöglichkeit jedes unter-
geordneten Theils die gleiche ist, wie die des Ganzen; oder, wie
sich Driesch auch ausdrückt, bei denen jeder Theil die gleiche
„prospektive Potenz" besitzt. Zu derartigen Systemen gehören z.B.
die Darmanlage der Echinidenlarve und der Stamm der
Tu bular ia. Bei der Weiterentwicklung gliedert sich jene Darm-
anlage durch zwei ringförmige, an bestimmten Stellen auftretende
Einschnürungen in drei Abschnitte. Der Tubulariastamm da-
gegen kann an jedem, frei in das umgebende Medium ragenden
künstlichen Querschnitt einen neuen Polypen repariren. Dabei er-
gibt sich ferner, dass die beiden Einschnürungen des Echiniden-
darmes stets in ordnungsgemässer richtiger Lage (Lokalisation) an
der Darmanlage auftreten, mögen deren Grössenverhältnisse auch
sehr verschiedene sein. Besonders trifft dies auch dann zu, wenn
durch operative Eingriffe eine künstliche Verkleinerung der Darm-
anlage herbeigeführt wurde. Das Gleiche gilt im Allgemeinen auch
bei der Reparation des Stammendes der Tubularien für die ord-
nungsgemässe Vertheilung der Organanlagen, namentlich in solchen
— 42 —
Fällen, wo die regenerirenden Stammstücke sehr kurz, ja kürzer
als die in normaler Weise reparirten Polypen sind.
Dieses ordnungsgemässe Anpassen der entstehenden Theile,
oder diese ordnungsgemässe Lokalisation der Neubildungen, in
richtigen Lagebeziehungen zu den normalen Verhältnissen des ent-
stehenden späteren Ganzen, bildet nun Driesch's Lokalisations-
problem. Seine Ansicht ist, dass ein derartiges Geschehen in
keiner Art von Wirkungsweisen abhängen könne, wie sie die
anorganische Natur aufzeigt, welche zur Ableitung solcher Vor-
gänge nicht ausreichten. Ein Geschehen, wie es im Lokalisations-
problem auftrete, finde sich in der anorganischen Natur überhaupt
nicht und sei deshalb ein den Lebewesen eigentümliches vitalisti-
sches. Die besondere Art dieses Geschehens dokumentire sich darin,
dass dasselbe nicht allein von der zeitlich vorgehenden Ursache, als
welche im Fall der Tubularia die Operation gesetzt wird (in ihrer
Spezifität nach Art und Quantum), abhänge, sondern auch von dem
zeitlich nachfolgenden Endergebniss, dem Endzustand, welchem
die von der Ursache (der Operation) eingeleitete Entwicklung zu-
strebt. Eine derartige Verkettungsart von Abhängigkeiten wird „An-
passungsgeschehen" oder „Antwortsgeschehen" genannt
und auch folgendermassen erläutert: „Jeder (der Quantität nach)
spezifischen Ursache (Operation) korrespondirt eine
(der Lokalisat ion nach) typische Wirkung, die endliche
Erreichung eines gegebenen Zieles ermöglichend" (p. 85).
Wäre eine solche Geschehensart nun wirklich ohne jede Ana-
logie in der anorganischen Natur, so liesse sich nicht wohl be-
streiten, dass sie einen strikten Gegensatz der Organismenwelt zu
den Anorganismen erweise. Mir scheint aber dieser Gegensatz
geringer, als Driesch meint. Betrachten wir zunächst die ein-
fache Auslösungsursache, welche Driesch bei seiner vergleichenden
Erörterung kausaler Abhängigkeiten der Anorganismen eigenthüm-
licher Weise nicht spezieller erörtert, so zeigt sich auch schon,
dass es sich bei der Auslösung ebenfalls „nicht um ein ganzes
oder theilweises Wiederauftreten der Ursache handelt", wie Driesch
— 43 —
für anorganische kausale Abhängigkeiten annimmt, sondern um
eine „typische Wirkung, die endliche Erreichung eines gegebenen
Zieles ermöglichend". Dies gegebene Ziel ist der unter den ver-
änderten Bedingungen, welche die Wirkung der Auslösungsursache
sind, mögliche neue Gleichgewichtszustand. Ist unter diesen neuen
Bedingungen nur ein bestimmter Gleichgewichtszustand möglich,
so kann eben auch nur dieser regelmässig eintreten. Dagegen
vermissen wir bei der Auslösungsursache im allgemeinen Sinne die
der „Lokalisation nach typische Wirkung", als abhängig von der
Auslösungsursache. Doch dürften sich auch hiefür auf anorga-
nischem Gebiet Analogien bieten.
Organisirte Formen sind formale Gleichgewichtszustände ; Ana-
logien mit ihnen müssen wir daher auch bei anorganischen for-
malen Gleichgewichtszuständen suchen. Die kugelige Tropfenform
als Gleichgewichtsgestalt flüssiger Körper können wir durch Weg-
nahme eines Theils der Kugel operiren, worauf der Rest sich
wieder reparirt zu einer neuen Kugel. Wenn wir die Wegnahme
eines Theils auch hier nach Driesch's Vorgang als Ursache be-
zeichnen, so können wir meiner Ansicht nach auch für diesen
Vorgang sagen: „jeder (der Quantität nach) spezifischen Ursache
korrespondirt eine (der Lokalisation nach) typische Wirkung, die
endliche Erreichung eines gegebenen Ziels ermöglichend." Das ge-
gebene Ziel ist hier die normale Gleichgewichtsform der Flüssig-
keiten , die Kugel ; die der Lokalisation nach typische Wirkung
korrespondirt mit der der Quantität nach spezifischen Ursache ;
denn der Grösse des entfernten Kugelabschnitts muss der restirende
Theil seine unformenden Bewegungen anpassen, um das gegebene
Endziel zu erreichen. Der Charakter des dabei stattfindende)!
Geschehens ist Auslösungsgeschehen. Der weggenommene Theil des
kugeligen Tropfens vertrat gegenüber dem verbleibenden Rest die
Hemmung an der gespannten Feder ; nehme ich diesen Theil des
Tropfens weg, so geht der nicht mehr im Gleichgewicht befindliche
Theil in einen neuen Gleichgewichtszustand über , indem Energie
frei wird, d. h., indem eine frühere, im System potentielle wirkende
Ursache nun zur Wirkung gelangt.
44 —
Noch deutlicher tritt in dem folgenden Fall die Analogie mit
dem sogen. Anpassungsgeschehen hervor. Wird ein Flüssigkeits-
tropfen unter geeigneten Bedingungen zu einem Faden ausgezogen,
so nimmt er zunächst cylindrische Form an, um dann, wenn seine
Länge, dividirt durch den Durchmesser, gleich oder grösser als n
wird, in eine neue Gleichgewichtsform überzugehen. Er zerfällt
nämlich in eine gewisse Zahl gleichgrosser, in gleichen Entfern-
ungen hintereinander gereihter Kugeln ; indem je ein Cylinderstück,
dessen Länge gleich dem Durchmesser des Cylinders ist, sich
zu einer Kugel umformt*). Die Zahl der Kugeln hängt daher von
dem Verhältniss des Durchmessers zur Länge des zerfallenden
Cylinders ab. Wenn wir nun zwei verschieden grosse, jedoch in
Bezug auf Länge und Durchmesser ähnliche Cylinder derselben
Flüssigkeit haben, und sie in gleichem Verhältniss dehnen, so
werden sie auch in dieselbe Zahl gleich geordneter oder lokalisirter
Kugeln zerfallen, wobei die Quantität der dehnenden Ursache in
beiden Fällen spezifisch verschieden ist. Dieser Fall verläuft daher
analog der Dreigliederung des Echinidendarms oder der ordnungs-
gemäss lokalisirten Anlage der Organe der reparirenden Tubu-
laria bei verschiedener Grösse des Ausgangsobjektes. Auch hier
finden wir „eine der Quantität nach spezifisch verschiedene Ursache,
wrelcher eine, der Lokalisation nach, typische Wirkung korrespon-
dirt, die endliche Erreichung eines gegebenen Zieles ermöglichend".
Formale Gleichgewichtszustände der Anorganismen sind auch
die Krystalle. Bekanntlich können diese unter geeigneten
äusseren Bedingungen (und solche sind ja unter allen Umständen
auch für den reparirenden Organismus erforderlich) Reparations-
erscheinungen zeigen. Ein wesentlicher Unterschied gegen den
Organismus besteht insofern , als der letztere, auch ohne Zufuhr
neuer Substanz, aus der schon vorhandenen zu repariren vermag,
ähnlich wie der Flüssigkeitstropfen, während bei dem Krystall stets
die Zufuhr neuer Substanz Bedingung ist. Der Krystall kann sich
*) Es kann hier ausser Betracht bleiben , dass zwischen je zwei der grossen
kugeligen Tropfen sich regelmässig einige sehr kleine bilden. (Vergl. z. B. Violle,
Lehrb. d. Physik. Bd. I, pag. 592).
45
nur wachsend repariren. Dies hängt jedenfalls damit zusammen,
dass die Gleichgewichtsform des Krystalls bedingt ist von dem
flüssigen Zustand der Substanz vor dem Festwerden. Ist letzteres
eingetreten, so besteht, wie bei jedem festen Körper, Gleichgewicht
unabhängig von der Form.
Aus jedem beliebigen Partikel eines Krystalls kann sich unter
geeigneten Bedingungen ein neuer Krystall mit typisch geordneten
Flächen, Winkeln, Kanten und Ecken bilden. In dieser Hinsicht
können wir daher auch den Krystall ein harmonisch-aequipotentielles
System nennen. Nehmen wir ein kleines Partikelchen , so bildet
sich ein kleines Kryställchen mit ordnungsgemäss gelagerten Flächen,
Kanten und Ecken ; nehmen wir einen grossen Partikel, so bildet sich
ein entsprechend grosser Krystall mit derselben ordnungsgemässen
Lagerung der Flächen in vergrössertem Massstab. Brechen wir
an, einem Krystall ein Stück ab, so wird unter geeigneten Be-
dingungen das entfernte Stück reparirt, und zwar in grösserem
oder kleinerem Umfang, je nach der Grösse des Defektes, so dass
die Normalgestalt wieder hergestellt wird. Auch in dem Krystall
haben wir daher einen formalen Gleichgewichtszustand , der sich,
nach Störung durch eingetretene Defekte, unter geeigneten Be-
dingungen wieder herstellt ; und bei dem ,,die typische Wirkung",
welche zur Herbeiführung der neuen Gleichgewichtsform geleistet
wird, von der Grösse des Defektes abhängt, während die Form
selbst von dem inneren Bedingungskomplex des Ausgangssystems
bestimmt wird, der eben diesen und nur diesen Gleichgewichts-
zustand unter den gegebenen Umständen gestattet.
Das Lokalisationsproblem des sich entwickelnden Organismus
kann meiner Meinung nach entsprechend beurtheilt werden 27).
Doch ist hier die Komplikation viel grösser, da es sich um ent-
wicklungsfähige Systeme handelt, wie sie in ähnlicher Art in der
anorganischen Natur fehlen. Bei solcher Beurtheilung erscheint
uns der Vorgang der Tubulär i a -Reparation z. B. in etwas
anderem Licht. Die Operation, durch welche ein Theil der
T u b u 1 a r i a entfernt wird , kann ich nur als Auslösungsursache
ansehen, durch welche das Gleichgewicht des entwicklungsfähigen
— 46
Systems gestört wird. Das, was nun geschieht, kann daher mit
dieser Auslösungsursache in keiner direkten Beziehung stehen, wie
dies ja bei jeder Auslösungsursache der Fall ist; d. h. die Operation
setzt neue Bedingungen, ist dagegen nicht eine wirkende Ursache.
Die Operation ist die Entfernung einer Hemmung, welche nun den
in dem System potentiell enthaltenen wirkenden Ursachen ge-
stattet, in Wirkung zu treten und den dem System gemässen
neuen Gleichgewichtszustand zu entwickeln. Was bei dem Ueber-
gang des gestörten Systems in den neuen Gleichgewichtszustand
geschieht , wird abhängen : von den in dem System gegebenen
Bedingungen, welche diesen Gleichgewichtszustand als möglichen
ergeben, und von dem Umfang und der Art des Defektes , d. h.
also von der Gesammtheit der Bedingungen, die nach der Operation
vorliegen.
Vor allem vermag ich jedoch in diesen Vorgängen nichts ,zu
erkennen, was zur Anerkennung eines an Endursachen (causae finales)
erinnernden Zweckmässigkeitsgeschehens nöthigte, eines Geschehens,
welches, im Gegensatz zu kausaler Abhängigkeit, von einem zu-
künftig zu erreichenden Ziel abhinge. Denn meiner Meinung nach
sind es die besonderen gegebenen Bedingungen des entwicklungs-
fähigen Systems, von welchen einerseits sowohl dieses und gerade
dieses Ziel abhängt, als andererseits die typische Wirkung, in
welcher dieses Ziel nach Störungen erreicht werden kann , aber
nicht stets erreicht werden muss. Von dem Geschehen auf an-
organischem Gebiet scheint mir aber, wie erörtert wurde, das in
dem Lokalisationsproblem gegebene Geschehen nicht prinzipiell
und fundamental verschieden 28).
Wir sind am Ende unserer Erörterungen angelangt und müssen
uns fragen, was dürfen wir als deren Ergebniss bezeichnen? Die
Möglichkeit , die Lebenserscheinungen physiko-chemisch , mecha-
nistisch, begreifen zu können, wird so lange bestritten werden, so
lange nicht für alle Einzelheiten ein solcher Weg als gangbar auf-
gezeigt ist. Selbst die Herstellung eines lebendigen Organismus
— 47 —
unter gewissen physiko-chemischen Bedingungen dürfte wohl von
manchen Neo- Vitalisten nicht als genügender Beweis der Berechtigung
des Mechanismus erachtet werden. Wie wir von vornherein be-
tonten, konnte es sich unter den gegebenen Verhältnissen für uns
nur darum handeln, zu zeigen , dass die von vitalistischer Seite
gegen den Mechanismus und seine Befähigung, das Leben aus-
reichend zu begreifen, erhobenen Einwände, eine solche Unmöglich-
keit nicht erweisen. Den thatsächlichen Beweis, dass der Mechanismus
das zu leisten vermag, was er beansprucht, könnte nur der Erfolg
selbst führen. Dieser wird es allein sein, welcher schliesslich die
Entscheidung nach der einen oder der anderen Seite zu lenken
vermag. Alter wie neuer Vitalismus betonen schliesslich immer
wieder die vorhandenen ungelösten Räthsel und bezweifeln ihre
Lösung auf mechanistischem Boden. Begreifen lehren sie uns den
Organismus nicht. Denn die Voraussetzung vitalistischen Geschehens
schliesst eben die Anerkenntniss ein , dass es sich hier um ein
letztes , gesetzliches , an und für sich unbegreifliches Geschehen
handle, das wir nicht unter allgemeinere Gesetzlichkeiten einzu-
ordnen vermögen.
Daher dürfen wir wohl sagen : Begreifen können wir von den
Lebenserscheinungen nur das, was sich physiko-chemisch erklären
lässt. Schliesslich wird es aber von dem Vitalismus und Mecha-
nismus auch heissen : An ihren Früchten sollt ihr sie er-
kennen!
ANMERKUNGEN.
1) (zu pag. 1.) Es bedarf vielleicht kaum besonderen Hinweises, dass ich
weder mit diesem Vortrag, noch mit den ihm beigegebenen Anmerkungen
beabsichtige, das behandelte Problem in voller Ausdehnung, historisch und
kritisch zu besprechen. Ich betone dies namentlich deshalb, weil ich weiss,
dass ich nur eine beschränkte Auswahl der Aeusserungen über das Problem
und seine Unterfragen näher erörterte und erörtern konnte, viele andere
dagegen ganz unberührt liess; und namentlich auch in keiner Weise an eine
vollständige Aufzählung der Autoren und ihrer Stellung zu den besprochenen
Fragen denken konnte. Ich habe nur da angeknüpft, wo es mir schien, dass
ich etwas zur Klärung beizutragen vermochte. Ob mir dies wirklich gelungen
ist, nicht nur so geschienen hat, wird die Zukunft ergeben.
2) (zu pag. 5.) Der von mir vertretene Standpunkt, welcher die Zustands-
änderungen, also das Auftreten und Schwinden von Energie, von Empfindungen
begleitet sein lässt (wobei man eventuell noch an die Erweiterung denken
könnte, dass beim Freiwerden von Energie die Empfindung lustbetont, bei
dem Schwinden freier Energie dagegen unlustbetont sei), schliesst sich in
gewissem Grade den von Häckel und Nägeli aufgestellten Hypothesen
an. Im Gegensatz zu beiden letzteren Hypothesen steht jedoch, dass meine
Anschauung in keiner Weise mit Atom- oder Molekülhypothesen zusammen-
hängt, wie jene. Häckel's und Nägeli's Meinung hat Albrecht (1899
p. 40 ff.) scharf kritisirt. Dass er die Anschauungen Crato's verwirft, gegen
die auch ich schon gesprochen habe (s. Zoolog. Centralbl. IV p. 46), finde
ich ganz gerechtfertigt. Alb recht geht bei seiner Kritik Nägeli's von
der richtigen Ansicht aus, dass es nicht gerechtfertigt sei, zur Erklärung
komplexer Erscheinungen diese Erscheinungen auf die Theilchen zu über-
tragen. Es ist dies ja dasselbe, was ich gegen die Umschreibungshypothesen
gesagt habe. Nun vermag ich jedoch nicht zuzugeben, dass die Empfindung
eine komplexe Erscheinung sei; vielmehr ist sie die einfache Elementar-
erscheinung des psychischen Gebietes und steht hier ebenso da, wie jene
letzten allgemeinen Eigenschaften auf physischem Gebiete, welche wir
ebensowenig weiter zu begreifen im Stande sind, wie Masse, Raumerfüllung,
Rutsch li, Mechanismus und Vitalismus. i
Anmerkung No. 1 — 2.
— 50 —
Form, Bewegung. Da nun das erstmalige Entstehen einer Empfindung für
uns absolut unbegreiflich ist, ebenso wie das jener letzten Eigenschaften
auf physischem Gebiet, indem auf psychischem die Empfindung ganz ebenso
den Charakter des elementar Gegebenen besitzt, so bietet sich als einzige
Möglichkeit begrifflicher Vereinigung nur die Erweiterungshypothese : die
elementare Empfindung als einen allgemeinen Vorgang aufzufassen, welcher
den Zustandsänderungen in der physischen Welt koordinirt ist, so wie Zu-
standsänderungen unseres physischen Ichs mit Empfindungen koordinirt sind.
3) (zu pag. 5.) Mach's erkenntniss-kritischer Standpunkt hat zwar einiges
gemein mit dem von mir in dieser Schrift vertretenen, dennoch vermag ich den-
selben nicht zu theilen. Mir scheint, dass Mach's Anschauung derjenigen
Berkeley 's sehr nahe kommt, welche alle sinnlichen Wahrnehmungen
für Ideen (notions) des göttlichen Geistes erklärt, die dem menschlichen
Geist von Gott „eingeprägt" werden. Während daher für Berkeley die
Dinge Ideen des göttlichen Geistes sind, sind sie nach Mach „Empfindungs-
komplexe", die als solche die Bestandtheile der Welt bilden, und die mit
dem Ich in Beziehung treten können; d. h. dann wahrgenommen werden.
Der gemeinsame Charakter beider Anschauungen ist, dass die Welt nur aus
Empfindendem bestehe, dass dagegen nichts Empfundenes vorhanden sei. Da
nun nur das eigene Ich Kenntniss von Empfindungen hat, und Mach selbst
zugibt, dass das Erkennen anderer Ichs ein „Analogieschluss" sei, d.h. eine
Annahme, so ergibt sich auch weiter, dass die Existenz von Empfindungs-
komplexen ausserhalb des eigenen Ichs nur eine Annahme ist, eine Erweiter-
ungshypothese , um unbefriedigenden Konsequenzen, der „Monstrosität des
Solipsismus", zu entgehen. Berkeley entging dieser eigentlich natürlichen
Konsequenz durch die stillschweigende Voraussetzung anderer Geister neben
dem eigenen Geist.
Geben wir nun Mach's Hypothese zu, d. h., dass ausserhalb des Ichs
Empfindungskomplexe existiren, die, mit ihm in Beziehung tretend, seine
Empfindungen sind. Ist dann, wie Mach meint, der Gegensatz zwischen
Physischem und Psychischem, der Dualismus zwischen dem wahrgenomme-
nen Objekt und dem wahrnehmenden Subjekt, zu Gunsten einer monistischen
Auffassung wirklich beseitigt? Ich bin dieser Meinung nicht. Das Ich ist
nach Mach ein Empfindungskomplex, der von den übrigen Empfindungs-
komplexen nicht scharf getrennt ist, ein Komplex von festerem beständi-
gerem Zusammenhang, mit Kontinuität und langsamerer Aenderung begabt.
Dies aber weist doch daraufhin, dass das Ich, sei es auch nicht ganz scharf
begrenzt, nicht nur „eine praktische Einheit für eine vorläufige orientirende
Betrachtung" (p. 20) ist. Die besonderen Qualitäten, die ihm Mach selbst
zuertheilt, bezeichnen doch deutlich seinen Gegensatz gegen die von dem
Ich wahrgenommenen Empfindungskomplexe.
Nun belehren mich die Aussagen meiner Neben-Ich, welche ich ja auf
Grund des „Analogieschlusses" als ebenfalls empfindend anerkenne oder vor-
stelle, darüber, dass sie, gleichzeitig mit mir, mit gewissen Empfindungs-
komplexen in Beziehung treten können, das sind eben jene der Aussenwelt
Anmerkung No. 3.
51 -
angehörigen Empfindungskomplexe; während diese Neben-Ichs dagegen mit
einer gewissen Kategorie von Empfindungskomplexen niemals in direkte
Beziehung treten, d. h. mit allen jenen, welche als Erinnerungsbilder, Vor-
stellungen etc. mein eigenstes Ich ausmachen. Ebensowenig, wie ich mit
jenen, welche ich in ihren Ichs voraussetze. Hieraus ergibt sich, dass die
Empfindungskomplexe in zwei ganz verschiedene Kategorien zerfallen, in
diejenigen, welche gleichzeitig mit vielen Ichs in Beziehung treten, und die-
jenigen, die nur mit einem Ich dies thun. Ein Begreifen dieser Verschieden-
heit auf der Mach'schen Grundlage scheint unmöglich; wogegen die sog.
naive Ansicht, welche nicht einfach die Empfindung mit dem Empfundenen
identifizirt, keine besondere Schwierigkeit in dieser Hinsicht findet.
Die Schwierigkeit, welche darin liegt, dass ein Empfindungskomplex
gleichzeitig mit zahlreichen Ichs in Beziehung tritt, scheint mir nicht uner-
heblich zu sein. Denn sie erforderte gewisseftnassen die Vorstellung, dass
alle Empfindungskomplexe eine einheitliche Masse bilden, eine Einheit.
Die Erfahrung lehrt ferner, dass meine Neben-Ichs auch Zustände
(Tod , Ohnmacht) zeigen können , in welchen ich ihnen auf Grund des
gleichen „Analogieschlusses" keine Beziehung zu den Empfindungskom-
plexen der Aussenwelt mehr zuschreibe ; und dass ich mittels des um-
gekehrten Analogieschlusses denken muss, dass auch mein Ich einstmals
diesen Zustand zeigen wird, wo sein Körperkomplex zwar noch besteht,
dagegen seine Beziehungen zu den beiden Kategorien der Empfindungs-
komplexe aufgehört haben. Auch diese Schwierigkeit scheint mir auf Grund
der Mach' sehen Identifizirung der Empfindung mit dem Empfundenen
nicht begreiflich, während sie für die gegentheilige Auffassung keine unüber-
windliche ist.
4) (zu pag. 6) Gedächtnis s. Ein solcher Parallelismus, ein solches
Zugeordnetsein, wie ich es hier für die physischen und psychischen Vor-
gänge annehme, hat auch schon E. Hering (1870) vorausgesetzt; wenn auch,
soweit ich sehe, nicht über das Gebiet des Lebenden ausgedehnt. Im Gegen-
satz zu meiner Auffassung folgert Hering aber daraus, dass das Ge-
dächtniss oder die Erinnerung eine ganz allgemeine Eigenschaft der
lebenden oder „organisirten Materie" sei, indem ja, wie natürlich, auch die
Gedächtnissempfindungen von einem physischen Vorgang begleitet sein
müssen. Es scheint mir jedoch zweifelhaft, ob wir annehmen dürfen, dass
in einem einfachen Elementarorganismus, einer einfachen Zelle, die Beding-
ungen gegeben sein können zu einer Art dauernder Aufspeicherung und
gelegentlicher Wiederholung der durch äussere Reize häufiger bedingten
inneren Zustandsänderungen in einer modifizirten und abgeschwächten Form,
wie wir sie eben, als die Gedächtnissempfindungen begleitend, voraussetzen
müssen. Mir will es nicht recht gelingen, einzusehen, dass dergleichen in
einem einfachen Elementarorganismus, in der lebendigen Substanz, ohne
weitere besondere Einrichtungen, möglich sein sollte. Die Schwierigkeit
dieses Problems liegt ja darin, dass wir uns einstweilen keinerlei genügende,
wenn auch nur bildliche Vorstellung davon machen können, wie eine
Anmerkung No. 3—4. 4*
52
physische Zustandsänderung sich gewissermassen aufspeichern können soll,
um dann in gewissem Sinne spontan, oder als Folge von damit häufig verknüpft
gewesenen Zustandsänderungen, in modifizirter Form von Neuem einzutreten.
Alle etwa möglichen physischen Bilder, wie das Mitschwingen von Saiten
und Aehnliches, das Hinterbleiben dauernder Aenderungen wie bei photo-
graphischen Vorgängen, die andauernde schwache Lichtentwicklung gewisser
Körper nach Belichtung, scheinen mir keine Möglichkeit eines einigermassen
adäquaten Verstehens eines solchen Vorgangs zu eröffnen. Wie gesagt, halte
ich es daher für zweifelhaft, ob wir berechtigt sind, der lebendigen Substanz
an sich eine solche Fähigkeit zuzuschreiben, und nicht vielmehr dieselbe erst
von einem komplizirter entwickelten Nervenapparat bedingt erachten müssen.
Das Gedächtniss oder Erinnerungsvermögen, welches Hering der
organisirten Substanz als allgemeine Eigenschaft zuschreibt, wird natürlich als
ein „unbewusstes" betrachtet'; worin ja ein Widerspruch liegt, da eigentliche
Gedächtnisserscheinungen nur im Bewusstsein sind und das Gedächtniss als
die Bedingung des Bewusstseins oder des Ichs erscheint. Die Begründung
der Annahme eines solch' unbewussten Gedächtnisses, die Hering ent-
wickelt, scheint mir auch eine andere Auffassung zuzulassen. Er geht dabei
von der Erfahrung aus, dass Fertigkeiten, die ursprünglich mit Hilfe bewusster
Gedächtnissoperationen erlangt wurden, durch anhaltende Uebung allmählich
so vollzogen werden, dass die einzelnen Gedächtnissakte dabei nicht mehr
ins Bewusstsein treten; und dass in gleicher Weise Urtheile, welche ur-
sprünglich eine Anzahl getrennter psychischer Operationen erfordern, sich
schliesslich unbewusst vollziehen. Hieraus folge, dass Gedächtnisserschein-
ungen auch unbewusst verlaufen können, dass ein unbewusstes Gedächtniss
bestehe. Ich halte dagegen eine andere Auffassung dieser Erscheinung für
wahrscheinlicher. Eine Empfindung erfordert, um als besondere, isolirte
Erscheinung ins Bewusstsein zu treten, eine gewisse Zeit; zu rasch auf
einander folgende Empfindungen werden nicht mehr gesondert wahrge-
nommen. Ein komplizirter, ursprünglich aus einer ganzen Anzahl einzelner
Gedächtnissakte zusammengesetzter Vorgang wird um so schneller ver-
laufen, je besser er eingeübt wurde. Wenn nun der Ablauf der einzelnen,
ihn ursprünglich zusammensetzenden Gedächtnissakte so rasch ist, dass sie
nicht mehr gesondert empfunden werden können, so wird der Verlauf des
Aktes den Charakter des Unbewussten annehmen, indem seine einzelnen
Glieder nicht mehr getrennt bewusst werden.
Wie gesagt, scheinen mir daher diese Vorgänge nicht nothwenig zur
Annahme eines unbewussten Gedächtnisses zu führen; wenigstens nicht in
dem Sinne, dass sie uns berechtigen, solch' unbewusste Gedächtnissvorgänge
auch da voraussetzen zu dürfen, wo wir ein Bewusstsein als solches nicht
annehmen können. Die Erfahrung, dass Organe durch Uebung und Ge-
brauch kräftiger werden (dass sie bei Uebung ihre Leistung auch direkt
leichter oder schneller vollziehen, wie Hering annimmt, ohne dass hierbei
Innervationsverhältnisse eingreifen, scheint mir zweifelhaft), kann ich nicht
als einen weiteren Beleg für eine unbewusste Gedächtnissbefähigung der
Anmerkung No. 4.
53
organisirten Substanz erachten, da es mir unwahrscheinlich ist, dass diese
Erscheinung überhaupt mit einem dem Gedächtniss analogen Vorgang in
Verbindung gebracht werden könne.
5) (zu pag. 7). Eine Erörterung A. v. Humboldt's, auf die ich
durch ein Citat von C. Hauptmann aufmerksam wurde, möchte ich an
dieser Stelle wiederholen (siehe Cosmos, Ausg. in 5 Bd., Bd. I, pag. 32):
„Einzelheiten der Wirklichkeit, sei es in der Gestaltung oder der Aneinander-
reihung der Naturgebilde, sei es in dem Kampfe des Menschen gegen die
Naturmächte oder der Völker gegen die Völker, alles, was dem Felde der
Veränderlichkeit und realer Zufälligkeit angehört, kann nicht aus Begriffen
abgeleitet (konstruirt) werden. Weltgeschichte und Weltbeschreibung stehen
daher auf derselben Stufe der Empirie" .... Diese Betrachtung scheint
mir dasjenige, was ich gleichfalls zum Ausdruck bringen wollte, schon
recht treffend darzulegen.
Es mag vielleicht nicht ungerechtfertigt erscheinen, an diesen Gegen-
satz zwischen beschreibenden und exakten Wissenschaften noch einige Be-
merkungen zu knüpfen. Richtiger bezeichnet würde dieser Gegensatz
eigentlich wohl als der jener Wissenschaften, welche die gesetzmässigen Ab-
hängigkeitsverhältnisse der Veränderungen der Dinge auf experimentellem
Wege festzustellen suchen, und derjenigen Wissenschaften, welche die ge-
gebenen Regelmässigkeiten in der gegenwärtigen Natur und ihren historischen
Wandel im Laufe der Zeit zu ermitteln suchen. Im weiteren Sinne Hessen
sich die letzteren auch als die Wissenschaften des historischen Werdens und
Seins der Natur bezeichnen. In einseitiger Weise wurde nun gelegentlich
über die geringe Bedeutung dieser historischen Wissenschaften geurtheilt.
„Es kann uns durchaus gleichgültig sein" sagt Driesch (1893 p. 27) „dass
nun gerade die und die Formen" (von Organismen) „auf unserer Erde
realisirt sind und so aufeinander folgten, durchaus gleichgültig im
Sinne der theoretischen allgemeinen Naturforschung, welcher der sich an
bestimmte Orte und Zeiten knüpfende Begriff der Geschichte fremd ist."
Es wird dies speziell bemerkt im Hinblick auf den Darwinismus und die
Bestrebungen, die historische Aufeinanderfolge, die phyletische Entwick-
lung der Organismengruppen zu ermitteln. Ganz abgesehen davon, dass
wir die Natur nicht nur desshalb studiren, um das gesetzliche Geschehen
in ihr kennen zu lernen, sondern auch, um überhaupt zu wissen, worin
wir denn leben und von was wir umgeben sind, auch in der gewiss
nicht zu verachtenden praktischen Rücksicht, unser Verhalten demgemäss
einzurichten , so lässt sich doch auch fragen , was interessiren uns denn
eigentlich jene gesetzlichen Geschehensweisen , welche meist als an sich
wenig interessante mathematische Gleichungen erscheinen? Warum sind
uns diese nicht gleichgültig? An und für sich bietet es doch keinen er-
heblichen geistigen Genuss zu wissen, dass die Gravitationsbeschleunigung
proportional der Masse und umgekehrt proportional dem Quadrate der Ent-
fernung ist. Was uns diese Gesetzlichkeiten nicht gleichgültig erscheinen
lässt, ist doch eben gerade das, was wir aus ihnen zu folgern vermögen,
Anmerkung No. 5.
— 54 —
sei es für unsere praktischen Zwecke oder für das Verständniss der gegen-
wärtig in der Natur verlaufenden und der ehemals verlaufenen historischen
Vorgänge. Ganz dasselbe würde auch für die experimentell eventuell fest-
zustellenden Gesetzlichkeiten in der Entwicklungsphysiologie gelten; sie
wären uns nur soweit nicht gleichgültig, sondern von höchstem Interesse,
als sie uns das Begreifen der historisch gewordenen Organismenformen
ermöglichten. Hierzu ist aber doch vor allen Dingen die genaue Kenntniss
dieser Formen sowohl, als ihrer, wenn auch nur wahrscheinlichen historischen
Aufeinanderfolge nothwendig. Vermag denn die Geologie etwas mit den
physikalischen und chemischen Gesetzlichkeiten zu erklären, bevor sie die
jetzige Beschaffenheit und den wahrscheinlichen historischen Verlauf einer
geologischen Erscheinung genau festgestellt hat. Wenn uns die existirenden
Formen der Organismen gleichgültig sein sollten, warum dann nicht auch die
existirenden chemischen Elemente?
Eine gute Kritik des ablehnenden Verhaltens mancher Entwickelungs-
mechaniker gegen jegliche, auch die vorsichtigste phylogenetische Folgerung
siehe bei Eisig (1898 pag. 255 ff.).
Da ich mich schon 1876 (s. Einleitung pag. 1) dahin aussprach, dass
„auch jede einzelne organische Gestalt aus den gegebenen Grundlagen und
Bedingungen ihres Hervorgehens sich erklären lassen müsste", d. h. also,
ganz abgesehen von phylogenetischen Erwägungen, auf entwickelungs-
mechanischem Wege aus dem gegebenen Bedingungskomplex des befruch-
teten Eies, in solcher Weise, wie es später die Entwickelungsmechanik
als ihr Forschungsziel aufstellte , so möchte ich hier noch Folgendes
zufügen. Zugegeben, dass solch eine entwickelungsmechanische Erklärung
irgend einer thierischen Form möglich sei, so geschieht dies, ohne jede
phylogenetische Rücksichtnahme, von einem gegebenen Anfangssubstrat aus,
dem befruchteten Ei und seinem besonderen Bedingungskomplex. Wie aber
erklärt sich gerade dieser Bedingungskomplex des Ausgangssubstrates
der Entwicklung, des befruchteten Eies? Hier hört die rein entwickelungs-
mechanische Erklärung definitiv auf. Denn dieses Ei und sein besonderer
Bedingungskomplex ist etwas historisch gewordenes und daher in seiner
Besonderheit auch nur mit Berücksichtigung des historischen Werdegangs
der Organismen zu verstehen , welche im Laufe der Erdgeschichte an
seiner Hervorbringung mitgearbeitet haben. In diesem Sinne also ist die
phylogenetische Forschung für das Verständniss des Organismus unent-
behrlich.
6) (zu pag. 8). Einem solchen Zusammenwerfen von Mechanismus
mit Materialismus begegnen wir bei Bunge, der bemerkt (pag. 13):
„Den umgekehrten und verkehrten Weg schlägt der Mechanismus ein, der
nichts anderes ist als der Materialismus - - er geht von dem Unbekannten
aus, von der Aussen weit, um das Bekannte zu erklären, die Innenwelt".
7) (zu pag. 9.) Ich habe 1896 in einer kleinen Abhandlung zwischen
„Umschreibungs- und Erweiterungshypothesen" unterschieden, im besonderen
Hinblick auf die in neuerer Zeit in der Biologie aufgestellten Hypothesen.
Anmerkung No. 5 — 7.
5o
Die erste Art der Hypothesen suchte ich als eine blosse Umschreibung der
Probleme, als nichts erklärend, zurückzuweisen; die zweite Art erkannte
ich dagegen als eine Erweiterung unseres Verständnisses, unseres Begreifen s
der Erscheinungen, als erklärend an. Erst später fand ich, dass Driesch
schon 1894 (pag. 151 — 157) die Umschreibungshypothesen kritisirte, in ganz
ähnlicher Weise als eine „Photographie der Probleme" zutreffend
bezeichnete, auch das Wort „umschreiben" gebrauchte und, ebenso wie ich,
auf das charakteristische alte Beispiel M o 1 i e r e 's über die „schlafmachende
Kraft" des Opiums hingewiesen hat. 1893 dagegen schien ihm Wiesner 's
Plasomtheorie noch als ebenso berechtigt wie die optische Theorie des
Lichts oder die kinetische Gastheorie, und auch die Weis man n'sche
Theorie berechtigt, „indem sie sich damit befasse, zu erläutern, wie, d. h.
durch welche Art der Energie diese (d. h. die spezifische Formgestaltung)
in die Erscheinung treten könnte" (p. 46).
Hinsichtlich der sog. Umschreibungshypothesen besteht daher eine
erfreuliche Uebereinstimmung zwischen Driesch 's und meiner Auffassung.
Nicht so völlig gilt dies für die Hypothesen, welche ich „Erweiterungs-
hypothesen" genannt habe. Driesch 's Meinung, dass Theorien, wie die
kinetische Gastheorie, die Undulationstheorie des Lichts, die Atomtheorie
der Chemie, das betreffende Gebiet oder die betreffenden Probleme nur
„veranschaulichten und leichter fassbar machten", theile ich nicht. Ich bin
der Meinung, dass durch diese Theorien und die ihnen zu Grunde liegenden
Hypothesen thatsächlich Einsicht gewonnen wird, d. h., dass Vorgänge,
welche vorher unbegreiflich waren, unter der gemachten, und aus dem
empirischen Bestand der sonst bekannten Naturvorgänge übertragenen
Voraussetzung, nun als von dieser bedingt und nothwendig erscheinen.
Driesch erblickt in Erkenntniss nur Analyse; dies scheint mir aber für
die korrekte und zulässige Erweiterungshypothese nicht zutreffend. Diese
geht wie jede Hypothese über Analyse hinaus, indem sie eben als Aus-
gangspunkt unserer Erkenntniss des Problemes eine Erfahrung setzt, welche
nicht durch die Analyse dieser Erscheinung gewonnen ist, von welcher
letztere sich jedoch hypothetisch, unter gerechtfertigten Bedingungen, wider-
spruchslos ableiten lässt.
8) (zu pag. 9.) Für das Verständniss des älteren Vitalismus scheint
es angezeigt, hier wenigstens die Anschauungen eines seiner hervorragend-
sten Vertreter wiederzugeben. Ich citire daher einige der bezeichnendsten
Ausführungen über Lebenserscheinungen und die Lebenskraft aus Joh.
Müll er 's „Handbuch der Physiologie der Menschen" (1833).
(pag. 23): „Allein diese Harmonie der zum Ganzen nothwendigen
Glieder" (des Organismus) „besteht doch nicht ohne den Einfluss einer
Kraft, die auch durch das Ganze hindurch wirkt, und nicht von einzelnen
Theilen abhängt, und diese Kraft besteht früher als die harmonischen Glieder
des Ganzen vorhanden sind, sie werden bei der Entwicklung des Embryo
von der Kraft des Keimes erst geschaffen". „Diese vernünftige Schöpfungs-
kraft äussert sich in jedem Thiere nach strengem Gesetz".
Anmerkung No. 7 — 8.
- 56 —
(pag. 24): „Stahl's Seele ist die nach vernünftigem Gesetz sich
äussernde Kraft der Organisation selbst". Die Organisationskraft äussere
sich „zweckmässig aber nach blinder Nothwendigkeit". „Die bewusstlos
wirkende zweckmässige Thätigkeit".
(p. 25): „Man darf ihre blinde nothwendige Thätigkeit mit keinem Be-
griffbilden vergleichen." „Die organische Kraft dagegen, die Endursache
des organischen Wesens, ist eine die Materie zweckmässig verändernde
Schöpfungskraft".
Bei der Besprechung von Reil 's Ansichten scheint es Joh. Müller
doch auch möglich, dass diese Kraft eine imponderable Materie sei (p. 26 — 27),
jedoch nicht identisch mit einem der Imponderabilien der unorganischen
Welt: „Das Leben . . . beginnt sich zu äussern mit einer in der Materie
des Keimes wirkenden Kraft oder imponderablen Materie" (p. 28).
(pag. 29.): „Die organische Kraft, welche in dem organischen Körper
den zum Leben nothwendigen Mechanismus erschafft, ist doch keiner Acte
ohne diesen äusseren Impuls und ohne beständige materielle Umwandlungen
mit Hilfe der äusseren sogenannten Lebensreize fähig".
(pag. 36.): „Es lässt sich viel angemessener annehmen, dass das von
einem organisirten Körper organisirte in dem Mass zugleich theilhaftig wird
der organisirenden Kraft, als es organisirt wird".
(pag. 38.) : „Nun wird die organische Kraft bei dem Wachsthum und
der Fortpflanzung der organischen Körper multiplizirt .... während auf
der anderen Seite die organische Kraft des sterbenden Körpers zu Grunde
zu gehen scheint".
(pag. 39.): „So viel scheint aber gewiss, dass bei dem Sterben der
organischen Körper die organische Kraft wieder in ihre allgemeinen
natürlichen Ursachen aufgelöst wird". Müller ist daher der
Ansicht, dass die organische Kraft aus „unbekannten Quellen der
Aussenwelt in den einmal vorhandenen organischen Körpern" vermehrt
wird, da man sonst nicht begreifen könne, dass sie bei der Fortpflanzung
in ihrer Intensität nicht geschwächt werde.
Diese Aussprüche, welche leicht durch zahlreiche ähnliche vermehrt
werden könnten, scheinen doch recht deutlich zu zeigen, dass Müller's
Anschauungen, abgesehen von der Unsicherheit, welche das mangelnde
Verständniss des Prinzips der Energieerhaltung bedingen musste, im Grunde
ganz dieselben sind, wie sie von dem Neo- Vitalismus geäussert werden.
Ob das Prinzip Lebenskraft oder organische Kraft oder besonderes gesetz-
liches Geschehen, biologisch-vitalistisches Geschehen u. s. f. genannt wird,
darauf kommt wenig an. Man könnte aus Müller's Darstellung mit
Recht ableiten, dass er sich die Lebenskraft als eine besondere vitale
Energieform gedacht habe.
Gleichzeitig dürfte jedoch aus obigen Nachweisen auch hervorgehen,
dass die Darstellung, welche E. D ubois-Rey mon d (1894) von J. Müller's
Anschauungen über die Lebenskraft gab, sehr wenig korrekt ist.
Anmerkung No. 8.
- 57 -
9) (zu pag. 10.) Driesch (1899 pag. 99) bezeichnet den Vitalismus
als „diejenige Auflassung, welche in Lebensgeschehnissen Vorgänge mit
ihnen eigenthümlicher Elementargesetzlichkeit erblickt.". Er verwahrt sich
aber dagegen, dass jene „eigenthümliche Elementargesetzlichkeit" als eine
besondere Energieart anzusehen sei; das, was der Vitalismus „einführt, als
Agens, ist etwas ganz wesentlich Anderes" (1899 pag. 109).
Die gelegentlich geäusserte Ansicht, dass die Besonderheit der
Lebewesen von einer eigenthümlichen Energieform abhängen könnte,
welche nur unter den besonderen, im Organismus bestehenden Beding-
ungen erscheine — deren erstes Auftreten also mit den Bedingungen
gegeben war, unter denen ein erster Organismus sich bildete — scheint
mir unhaltbar. Einmal desshalb, weil in der Organismen weit von einer
solchen Energieform bis jetzt nichts beobachtet wurde. Zur Annahme, dass
die besonderen stofflichen Verhältnisse des Organismus von einer besonderen
Energieform abhingen, welche von der chemischen Energie verschieden
wäre, scheint kein Grund vorzuliegen. Die äusseren und inneren Form-
verhältnisse des Organismus von einer besonderen Energieform abhängen
zu lassen, scheint ebenfalls nicht gerechtfertigt. Mit keiner der bekannten
Energieformen stehen komplizirte Bau- und Strukturverhältnisse, wie sie
der Organismus zeigt, in einfacher Abhängigkeit. Komplizirte Formver-
hältnisse, welche Gleichgewichtszustände sind, können nur von komplizirten
gehäuften Bedingungen abhängen, überhaupt nicht einfach bedingte Gleich-
gewichtszustände sein, möge die Energieform, von der sie abhängen, auch
eine andere sein, als die bekannten. Gegen die Annahme einer besonderen
vitalen Energieform hat sich auch Albrecht (1899 pag. 19) ausgesprochen.
Ebenso ist Driesch, wie vorhin bemerkt, kein Anhänger dieser Meinung.
Auf etwas eigenthümliche Weise versuchte H. Buchner (1898) nachzu-
weisen, dass eine besondere vitale Energieform im Bereich der Lebewelt
bestehe. Nachdem er, in nicht sehr klarer Weise sich auf Schopenh au er
stützend, die sog. Naturkräfte (jetzt Energieformen) als Ursachen verworfen
hat, kommt er doch zur Anerkennung sog. „energetischer causae" oder
„causae physicales", die nichts anderes sind als jene zuerst verworfenen Natur-
kräfte oder Energieformen. Neben diesen causae physicales und den causae
occasionales (Auslösungsursachen), welche nach Buchner den Vorgang
kausal-energetisch feststellen, erhebt sich jedoch nach ihm noch die Frage
nach dem Grund, d. h. warum nun gerade ein solcher Vorgang, wie z. B.
die Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser, geschieht. Dieser
Grund ist nach Buchner die „chemische Affinität" ; sie bildet nach ihm den
„logischen Erkenntnissgrund" oder die „ratio" dieser Erscheinung; und
diese ratio muss von der causa streng gesondert werden; „der Erkenntniss-
grund bleibt ganz ausserhalb der analytisch-kausalen Betrachtung."
Die Erscheinung, dass sich H und O zu H20 zu verbinden vermögen,
ist, wie man sagt, eine Eigenschaft dieser beiden Naturkörper und, da sie
keiner weiteren Erklärung zugänglich ist, eine sog. qualitas occulta. Quali-
tates occultae derselben Art, d. h. von grosser Aehnlichkeit, zeigen uns
Anmerkung No. 9.
— 58 —
jedoch sämmtliche elementare Naturkörper, weshalb wir für diese überein-
stimmenden Eigenschaften aller Elemente und auch ihrer Verbindungen den
Sammelnamen oder den Begriff der chemischen Affinität gebildet haben.
Wenn ich daher sage, der Grund, warum sich Wasserstoff und Sauerstoff
verbinden, ist die chemische Affinität dieser Körper, so sagt dies nur, die
Erscheinung der Verbindung von Sauerstoff und Wasserstoff gehört zu den-
jenigen Erscheinungen, welche wir unter dem Begriffe der chemischen
Affinitätserscheinungen zusammenfassen. Dagegen ist die Annahme einer
chemischen Affinität als wirkende Ursache oder Kraft ungerechtfertigt und
nichts erklärend, wie dies für diesen und andere Fälle schon häufig hervor-
gehoben wurde. Buchner nennt denn auch ganz richtig die chemische
Affinität den „logischen Erkenntnissgrund", d.h., der Vorgang gehört zu dem
empirischen Begriff der chemischen Affinität, etwa so, wie ein Mensch zu
dem Begriff Organismus gehört; und ich muss, wenn ich über den Einzel-
vorgang gar nichts Näheres weiss, durch diese Zurechnung schon die all-
gemeine Art des Vorgangs kennen lernen, wenn mir der Begriff bekannt ist.
Diese Eigenschaft der Körper H und O, die wir als chemische Affinität
bezeichnen, kann jedoch bei der Beurtheilung des Vorgangs ihrer Vereinigung
zu Wasser nicht unberücksichtigt gelassen werden, denn sie muss eben
doch vorhanden sein, wenn die Verbindung eintreten soll. Bei dem kau-
salen Vorgang, welcher zur Bildung von H2O aus H und O führt, tritt
diese Eigenschaft als Bedingung oder als bedingende Ursache auf, ebenso
wie ja bei dem einfachen Stossproblem der Ort des gestossenen Körpers
und die Bewegungsrichtung des stossenden nothwendige Bedingungen sind,
wenn ein Effekt eintreten soll, obwohl davon in die Energiegleichung nichts
eingeht. — Die Eigenschaft der chemischen Affinität von H und O geht,
wie gesagt, als Bedingung in das Kausalproblem ein; und dies zeigt wiederum,
dass es nicht richtig ist, diese Eigenschaft als wirkende Ursache einführen
zu wollen. Dagegen dürfen wir uns diese Eigenschaft von einem be-
sonderen Gleichgewichtszustand wirkender Ursachen in den Stoffen H und
O bedingt vorstellen; und da Gleichgewichtszustände überhaupt nicht kausal
abhängig erscheinen, sondern irgendwie formal oder quantitativ formal be-
dingt sind, so kommen wir schliesslich auf strukturelle Bedingungen, von
welchen diese Eigenschaft abhängen kann.
Buchner ist nun der Meinung, dass, ebenso wie die chemische Affinität,
die Gravitation etc., Erkenntnissgrund oder ratio der betreffenden Vorgänge
seien, auch für die Organismenbildung ein solcher Erkenntnissgrund, eine solche
ratio vorhanden sein müsse. Dies wird in einer meiner Meinung nach un-
zulässigen Weise aus der Entstehung der Stärkekörner abzuleiten gesucht,
welche B. nach Nägel i als organisirte Substanzen auffasst. Ihre Natur
lässt sich jedoch meiner Ansicht nach auf die der gewöhnlichen Sphäro-
krystalle zurückführen, und ihre Eigenschaften daher als zur Kategorie dieser
gehörig betrachten. Danach wäre daher auch kein besonderer Erkennt-
nissgrund für sie nothwendig, ein „Wachsthums- oder Bildungs-
trieb", wie ihn Buchner für sie und die Organismen überhaupt annehmen
Anmerkung No. 9.
— 59
will; es genügte die „Krystallanziehung", die B. als Erkenntnissgrund der
Krystallbildung bezeichnet. Demnach gelangt Buchner also zu der Ansicht,
dass die besondere Konstellation der Bedingungen in den Organismen eine
besondere, den Anorganismen fehlende Gesetzlichkeitsform oder Energie-
form bedinge, die er den „Bildungstrieb" nennt; ähnlich, wie er sich die
Krystallbildung von einer besonderen Krystallanziehung bedingt denkt. Nun
ist es schon nicht üblich, sich die Krystallbildung in dieser Weise von einer
besonderen Energieform bedingt zu denken, aus dem Grunde, weil die Er-
fahrung nicht ergeben hat, dass mit der Krystallbildung in gesetzmässiger
Weise freie Energie besonderer oder bekannter Art verknüpft ist. Das-
selbe gilt jedoch auch von den organisirten Individuen; auch sie sind for-
male Gleichgewichtszustände wie die Krystalle, doch auch mit ihnen lässt
sich in keiner Weise eine besondere Energieform in Verbindung bringen.
Die mögliche Bildung komplizirter Gleichgewichtsformen erfordert jedoch
auch keineswegs neue besondere Energien, wie ja die Maschinen ver-
schiedenster Art erweisen; sie erfordert nur das Zusammentreffen günstiger
Bedingungen unter den aus der Anorganismenwelt bekannten energetischen
Gesetzmässigkeiten und einer successiven Steigerung der Komplikation im
Zusammenhang mit den äusseren wechselnden Verhältnissen.
Dieser Versuch, einen besonderen sog. Erkenntnissgrund (Naturkraft,
Energieform) als „Erklärungsgrund" der Organismen einzuführen, gibt
Veranlassung, der Frage nach den sog. Energien selbst etwas näher zu
treten. Zunächst finden wir das, was wir freie (aktuelle) Energie nennen:
1) mechanische Energie oder Bewegung von Dingen und Formveränderungen,
2) freie Wärme und 3) freie strahlende Energien (Licht, Elektrizität, Mag-
netismus).
Freie Energien treten stets auf bei gewissen Zustandsänderungen von
Dingen, wenn das Ding aus einem ruhenden Gleichgewichtszustand in
einen anderen übergeht.
Potentielle oder latente Energien nennt man dagegen die Eigenschaft,
das Vermögen der Dinge, bei solchen Zustandsänderungen freie Energien
obengenannter Art zu geben. Andererseits finden wir, dass bei Zustandsänder-
ungen der Dinge freie Energien verschwinden können, d. h. dass sich andere
Ruhe- oder Gleichgewichtszustände bilden, welche jene freie Energie potien-
tiell, d. h. gewissermassen im Gleichgewicht sich paralysirend, enthalten.
Aus diesem geht hervor, dass Energie identisch ist mit dem, was wir auch
als wirkende Ursachen bezeichneten. Der Uebergang potentieller Energie
in freie und ebenso umgekehrt geschieht nach gewissen Gesetzmässigkeiten,
welche mit den sonstigen Bedingungen der kausalen Prozesse zusammen-
hängen. Hiernach unterscheidet man gewisse potientielle Energieformen,
welche bei dem Uebergang in freie Energie in der Form von mechanischer
Energie auftreten, so Distanzenergie (Lageenergie, Gravitation), Formenergie
und Volumenergie (Elasticität), Oberflächenenergie; hier handelt es sich
demnach um Energieformen, welche nur in dem potentiellen Zustand und
der Art ihrer gesetzlichen Bedingungen Besonderheit zeigen, dagegen sich
Anmerkung No. 9.
— 60 —
frei nur als mechanische Bewegung äussern, und welche daher auch in
ihrem potentiellen Zustand nicht wohl anders als mechanisch bedingte Gleich-
gewichtszustände beurtheilt werden können. Das, was man chemische
Energie nennt, äussert sich frei in verschiedener Form als Wärme, Licht,
Elektrizität, mechanische Energie, aber doch nur in Form anderer Energien;
eine chemische Energie existirt daher auch nur in potentieller Form
als in besonderer Weise gesetzlich bedingter Gleichgewichtszustand; als
wirkende Ursache dagegen, wie mechanische Bewegung, Wärme und
sonstige freie Energien, begegnen wir ihr nicht. Die übrigen Energien
scheinen dagegen eine Art Mittelstufe einzunehmen, da sie latent oder
potentiell und frei auftreten können. Auf diesen Erwägungen und der
allgemeinen Betrachtung, dass die Zustände potentieller Energie sich nicht
wohl mit etwas anderem, als mit Gleichgewichtszuständen vergleichen
lassen, wie sie in Bezug auf mechanische Energie die Mechanik in formaler
Weise kennen lehrt, scheint mir wesentlich das Streben zu beruhen, die
Gesammtheit der Energien auf mechanische zurückzuführen, was natürlich
nur auf der Grundlage eines formal strukturellen atomistischen Aufbaues
der Stoße möglich erscheint.
10) (zu pag. 14.). Wenn ich den kausalen Vorgang bei dem einfachen
Stoss zweier elastischer Körper aufeinander, im Gegensatz zu den eigent-
lichen Auslösungsprozessen, als eine einfache Kausalkette betrachtet habe,
bei welcher auf die wirkende Ursache des Körpers B die Aenderung des
Körpers A, d. h. dessen Bewegungszustand, einfach folge, so ist dies eine
Vereinfachung der Betrachtung, welche nach unseren Erfahrungen dem wirk-
lichen Geschehen nicht genau entspricht. Der eigentliche Vorgang bei dem
Stoss elastischer Körper kann vielmehr nur so aufgefasst werden, dass bei
dem Zusammentreffen des sich bewegenden Körpers B und des ruhenden
A zunächst eine innere Zustandsänderung (elastische Aenderung) der beiden
Körper eintritt, deren Folge erst die Bewegung des Körpers A ist. Man
erkennt jedoch leicht, dass wenn schon der einfache Stoss sich als eine
Kausalkette ergibt, ein kausaler Auslösungsvorgang stets eine noch kom-
plizirtere Kausalkette ist; denn wenn die Auslösungsursache ein Stoss
ist, der eine Hemmung beseitigt, so erscheint ja schon sie in der Form einer
solchen einfachen Kausalkette wie der elastische Stoss. Die Kausalverket-
tung bei einem Auslösungsvorgang wird daher stets komplizirter sein als
die, welche wir bei einem einfachen Kausalvorgang antreffen.
Bei Erörterung des Kausalitätsbegriffes ging man in neuerer Zeit viel-
fach auf Schopenhauer zurück, der ja auch in mancher Hinsicht recht
klar ist. Im Allgemeinen besagt seine Definition : Ursache ist eine Verän-
derung, auf welche eine andere , Regelmässig, d. h. allemal, so oft die erstere
da ist, folgt". (Siehe besonders in „Vierfache Wurzel des Satzes vom zu-
reichenden Grund". Ges. Werke : Bd. I p. 34 ff.) Statt Veränderung gebraucht
er auch den Begriff „Zustand"; doch würde ich den ersteren, oder noch besser
„Zustandsänderung" vorziehen, weil er eben dasjenige klar hervorhebt, was
die wirkende Ursache, oder die Ursache im engeren Sinne, von den
Anmerkung No. 9 — 10.
— 61 —
Bedingungsursachen unterscheidet. Bei genauerern Zusehen ergibt sich jedoch,
dass Schopenhauer eigentlich nur Auslösungsursachen kennt, dagegen
die einfachen Ursachen gar nicht aufführt. Dies erweisen die von ihm an-
geführten Beispiele. Hierauf beruht es denn auch, dass er sich auf das ent-
schiedenste dagegen verwahrt, dass die Naturkräfte, also Schwere, Elasti-
zität, Wärme etc., d. h. das, was wir heute Energieformen nennen, Ursachen
seien; sie sind es, nach ihm, „was den Ursachen die Kausalität, d. i. die
Fähigkeit zu wirken, allererst ertheilt, von welchen sie also diese zu Lehn
haben" (pag. 45). Die Naturkräfte sind ihm eben die Erscheinungsformen
des Willens, welcher durch die Ursachen zur Aeusserung veranlasst wird.
Mit der Unkenntniss des Gesetzes von der Erhaltung der Energie fehlt
in der Erörterung der Kausalität bei Schopenhauer ganz die Kenntniss,
dass die in Folge der Auslösungsursache auftretenden sogenannten Naturkräfte
oder Energien Folgen früher aufgetretener, jedoch nicht zur Wirkung ge-
kommener, sondern in einem Gleichgewichtszustand verharrender Ursachen
sind, dass jedes Auftreten einer solchen Naturkraft der Uebergang aus
einem Gleichgewichtszustand in einen anderen ist, in welchem die im
Gleichgewicht befindlichen (potentiellen) Ursachen quantitativ geringer sind.
Sehr richtig hat dagegen Schopenhauer schon hervorgehoben, dass
regelmässige Succession allein keine Kausalität ist (Bd. I pag. 87 — 88.) Er
lässt jedoch die Frage ganz offen, worin wirkliche Kausalität von regel-
mässiger Succession sich unterscheide. Diese Untersuchung würde zur Ueber-
zeugung geführt haben, dass jene Erkenntniss nur durch das Experiment,
die willkürliche Veränderung der Bedingungen, herbeizuführen ist.
Lotze (1842) betonte sehr richtig die stete Vielheit der Ursachen
(Bedingungen) bei jedem Kausalvorgang; dagegen tritt bei ihm das kenn-
zeichnende Moment der wirkenden Ursache, die Zustandsänderung, nicht
genügend hervor, so dass er nicht diese, sondern die Dinge selbst, als die
Ursachen bezeichnet. Neben diesen steht daher bei ihm die Kraft, das hypo-
thetisch in den Dingen wirkend Gedachte, als der „Grund" des Wirkens
der beiden Ursachen, die Naturkraft Sc hop enh auer's.
Eine scharfe Unterscheidung zwischen wirkender Ursache und bedingen-
den Ursachen (Bedingungen, Umstände) vermisst man in den Erörterungen
über kausale Vorgänge vielfach; ebenso fehlen häufig klare Anschauungen der
Beziehungen zwischen einfachen Ursachen und Auslösungsursachen (Ver-
anlassungen Bunge 's). Beispielsweise finde ich eine Erörterung über den
Kausalvorgang bei der Bildung von Wasser durch die Vereinigung von
Wasserstoff und Sauerstoff, in welcher die Zufuhr von Wasserstoff zum
Sauerstoff (bei genügender Temperatur) als Ursache, das gebildete Wasser
dagegen als Wirkung bezeichnet wird. Nun ist dieser Vorgang überhaupt
kein einfacher Kausalvorgang im Sinne des Stosses etwa , sondern ein
Auslösungsvorgang. Sauerstoff und Wasserstoff sind zwei chemisch-energe-
tische Gleichgewichtszustände, die bei Steigerung der Temperatur auf eine
gewisse Höhe in einen neuen Gleichgewichtszustand übergehen, den des
Wassers. Bedingungsursachen sind einmal die beiden Systeme H u. O,
Anmerkung No. 10.
— 62 -
in welchen frühere wirkende Ursachen im Gleichgewicht sich finden, wie
in dem gehobenen und auf einer Unterlage im Gleichgewicht ruhenden
Gewicht. Die Steigerung der Temperatur oder der Zusammentritt (Be-
wegung) ist Auslösungsursache, wie der seitliche Stoss auf das Gewicht.
Folge ist Aufhebung des Gleichgewichtszustandes, so dass die im Gleich-
gewicht gewesenen wirkenden Ursachen der beiden Systeme ihre Wirkung
äussern (Fall des Gewichts) und Folge davon neuer Gleichgewichtszustand
(neue Ruhelage des gefallenen Gewichts), das Sj-stem Wasser.
O. Hertwig's (1897) Stellung zu dem Kausalitätsproblem scheint mir
einiger Erörterungen zu bedürfen, angesichts der hervorragenden Bedeutung
dieses Biologen und des Umstandes, dass er mehrfach das vitalistisch-
mechanistische Problem behandelte. Hertwig vertritt die Meinung, dass
eine genaue deskriptive Beschreibung der Entwickelungsstadien und der
formalen Entwickelungsvorgänge eines Organismus eine kausale Darstellung
sei. Ich und andere versuchten demgegenüber schon darzulegen, dass regel-
mässige Aufeinanderfolge als solche nicht nothwendig kausale Abhängigkeit
ist, sondern wie Tag und Nacht, der Wechsel der Jahreszeiten u. s. f. von
einem dritten kausal bedingt sein kann. Der alte Grundsatz, dass post hoc
nicht propter hoc bedeutet, ist eben bei kausalen Betrachtungen vor allem
zu beherzigen. Dieselbe Ansicht vertritt auch H. Buchner (1898 pag. 4 ff.)
Nach ihm (pag. 11) „enthält eine genaue Beschreibung der Succession ja
ohnehin den Kausalzusammenhang." Die von ihm angeführten Beispiele,
welche diese Anschauung erweisen sollen, halte ich nicht für massgebend,
sondern gerade für solche, z. B. das Zusammentreffen der Häufigkeit der
Typhusvorkommnisse mit gewissen Bewegungen der Grundwasserkurve,
welche kausal von einem dritten bedingt sein können, ohne jedoch selbst in
kausaler Abhängigkeit zu stehen.
Hertwig wirft Roux Unklarheit vor, weil er Ursache gleich Kraft
setze. Nun ist ja richtig, dass sich Roux häufig des Kraftbegriffes bedient,
den man besser ganz eliminirt. Dagegen geht doch aus R o u x's Darlegungen
klar hervor, dass ihm Kraft als eine Bezeichnung für ein gewisses gesetz-
liches Geschehen, eine Wirkungsweise, gilt, und dass daher die Bezeichnung
Kraft bei ihm nichts Unklares und Mystisches hat. Wenn Hertwig sich auf
Schopenhauer und Lotze beruft, indem er die Gleichsetzung von Ursache
und Kraft bei Roux tadelt, so übersieht er, dass eben für Schoppen hauer
gerade die Naturkräfte das sind, was den Ursachen erst ihre Wirksamkeit
verleihe (s. oben), und dass auch bei Lotze die Kraft als der „Grund" der be-
sonderen Wirkungsweise der Ursachen figurirt. Wie gesagt, vertrete ich ja die
Meinung, dass der überflüssige Begriff der Kraft am besten ganz ver-
mieden würde. Wenn aber etwas geschieht, so muss es in einer gewissen
gesetzlichen Weise geschehen, und da jedes Geschehen durch vorhergehen-
des Geschehen bedingt wird, so ist für die vollständige kausale Erkenntniss
eines Geschehens dasjenige Geschehen, von welchem es abhängt, von be-
sonderer Bedeutung; die bedingenden Ursachen, d. h. die sonstigen Be-
dingungen allein geben keine vollständige Darstellung der Abhängigkeit.
Anmerkung No. 10.
— 63
Auf die Ermittelung dieses Geschehens (Wirkungsweise), von welchem das
einzelne Entwickelungsgeschehen, resp. auch die einzelnen Entwickelungs-
stadien als formale Gleichgewichtszustände abhängen, ist jedoch Roux's
Bestreben gerichtet. Wenn er von „gestaltenden Kräften" im Entwicklungs-
leben spricht, gegen die sich H e r t w i g besonders lebhaft wendet, so ist
nicht zu verkennen, dass Roux's Darstellung leicht zu Missdeutungen Ver-
anlassung gibt ; da mit dieser Bezeichnung die Vorstellung verbunden wer-
den kann, als beabsichtige R. nach Analogie der alten Lebenskraft einfache
hypothetische Ursachen einzuführen für die Erklärung der Gestaltbildung
im Entwickelungsleben Da er jedoch bestimmt erklärt, dass diese „ge-
staltenden Kräfte" als komplexe Komponenten zu betrachten seien, d.h. als
die Gesammtheit der Bedingungen und Ursachen, von welchen die Bildung
einer gewissen Form oder des Theils einer gewissen Form abhängt, so lässt
sich gegen eine solche Auffassung nichts Entscheidendes einwenden; wenn
ich auch zweifle, ob damit etwas Wesentliches gewonnen wird.
O. HertwTig's Anschauungen über kausale Abhängigkeit scheinen
noch in anderer Hinsicht angreifbar. So bemerkt er pag. 36: „Ist nicht
kausal die Erkenntniss, dass die Eier und Samenfäden einfache Elementar-
organismen oder Zellen sind?" Nein, diese Erkenntniss ist nicht kausal,
sondern besagt, dass jene Körper denjenigen, welche man unter dem
Begriffe der Elementarorganismen oder Zellen zusammenfasst, so ähnlich
sind, dass sie diesem Begriff untergeordnet zu werden verdienen. Man
kann hier von einem logischen Grund oder einer logischen Nothwendigkeit
reden, welche zu dieser Erkenntniss führen ; kausale Abhängigkeit dagegen
liegt ebensowenig vor, als wenn ich urtheile: diese geometrische Figur ist
ein Dreieck !
Nicht wesentlich anders liegt Hertwig's zweite Frage: ob es nicht
kausal sei, dass der Entwickelungsprozess auf fortgesetzter Zelltheilung be-
ruhe? Auch hier zielt schon die Fragestellung nicht auf kausale Abhängig-
keit hin. Die Eizelle zerfällt successiv in mehrere Zellen; diese von anderen
Zellen bekannte Erscheinung fasse ich unter dem Begriff der Zelltheilung
zusammen, und in derselben Weise wie vorhin urtheile ich daher, dass auch
der Zerfall der Eizelle unter den Begriff der Zelltheilung gehöre. Diese
Erkenntniss ist eine wichtige und vereinfachende Umgestaltung meines
Wissens, aber nur insofern etwa auf Kausalität hinweisend, d. h. auf Ab-
hängigkeit von vorhergehenden Veränderungen, als ich nun auch behaupten
darf, dass die kausalen Bedingungen der Zelltheilung auch für die Theilungen
der Eizelle gelten werden. Kenntniss der kausalen Abhängigkeit erlange
ich jedoch erst dann, wenn ich nachweise, von welchen wirkenden Ur-
sachen und von welchen Bedingungen die Zelltheilung überhaupt abhängt.
Ein wesentliches Moment kausaler Abhängigkeiten ist stets die Succession
in der Zeit, ein Moment, das den beiden von H e r t w i g angeführten Beispielen
mangelt; schon aus diesem Grund sind sie keine Beispiele von Kausalität.
Man kann nun aber sagen, die Theilungen der Eizellen folgen ja in
der Zeit aufeinander und jedes Stadium ist Ursache des folgenden. Das
Anmerkung No. 10.
64
erste ist richtig, das zweite dagegen nicht. — Richtig ist nur, dass jedes
vorhergehende Stadium sammt den umgebenden Bedingungen die sämmt-
lichen Bedingungen und Ursachen für das folgende Stadium enthalten
muss. Habe ich einen Stab, der durch irgend welche äussere Einwirkung
successive in 2, 4 u. s. f. Stücke zerbrochen wird, so kann ich nicht sagen:
der ungetheilte Stab ist die Ursache der beiden Stücke u. s. f. Der Stab
bildet einen Theil der Bedingungen und wirkenden Ursachen, seine Um-
gebung den übrigen Theil, und das Ergebniss ist der neue Zustand, in dem
der Stab nun zweigetheilt ist. Die vornehmste wirkende Ursache, welche
in diesen Bedingungungskomplex eintritt, gehört hier örtlich nicht dem
Stab, sondern der Umgebung an (z. B. Stoss eines Körpers der Umgebung
auf den Stab). Bei der Theilung der Eizelle ist dies insofern anders, als
hier diese vornehmste wirkende Ursache dem Bedingungskomplex der Zelle
örtlich zugehört. Im Uebrigen lassen sich die beiden Fälle wohl vergleichen
und dabei erkennen, dass ich nicht kausales Verständniss erziele, wenn ich den
Stab als die Ursache der beiden Theilstücke bezeichne oder die Eizelle als
die Ursache ihrer beiden Theilzellen, sondern erst dann, wenn ich den ge-
sammten Komplex der bedingenden und wirkenden Ursachen nachweise;
oder, da dies schwerlich jemals vollständig zu erreichen ist, wenigstens die
vornehmste wirkende Ursache (analog dem Stoss, der den Stab zerbricht)
aufzuweisen im Stande bin. Denn die Gesammtheit der Bedingungen zu er-
mitteln ist bei natürlichen Vorgängen wohl niemals zu erreichen. Auch Roux
(1897 pag. 33) bemerkt bei Besprechung der Hert w ig' sehen Einwände
einmal, dass die Aufeinanderfolge der Stadien „bereits kausale Erkenntniss
darstellt, da jedes frühere Stadium die Ursache der folgenden ist. Das be-
streitet wohl Niemand." Dieser Ausspruch kann nach den sonstigen Dar-
legungen Roux's nicht als korrekt bezeichnet, sondern nur in dem Sinne
aufgefasst werden, dass die eigentlich wirkenden Ursachen, welche die
Veränderung zum nächsten Stadium bedingen, in dem Bedingungskomplex
des vorgehenden gegeben sind.
Kurze Erwähnung verdienen hier noch die Form und Differenzirung,
welche ja biologisch eine so grosse Rolle spielen, da z. B. Hertwig
Form und Differenzirung des Eies unter die Ursachen rechnet (pag. 178).
Form und Differenzirung als Gleichgewichtszustände können naturgemäss
nie wirkende Ursachen sein; sie treten als bedingende Ursachen in die
kausale Abhängigkeit ein. In dem formal ungemein komplizirten Organis-
mus sind daher auch die Bedingungsursachen, gegenüber dem Einzel-
geschehen in der anorganischen Welt, ungemein komplizirt, während die
wirkenden Ursachen verhältnissmässig einfacher Natur sein können.
11) (zu pag. 15). Meine Auffassung des „Erklären" habe ich schon
1896 auf Grund dessen, was man von jeher als befriedigende naturwissen-
schaftliche Erklärungen betrachtete, dargelegt. Eine Erscheinung erklären,
ist ihre Ableitung, Rückführung oder ihre Unterordnung unter eine empirisch
bekannte allgemeinere Erscheinung oder Gesetzlichkeit. In dieser Auf-
fassung begegne ich mich, wie ich nachträglich sehe, mit verwandten
Anmerkung No. 10 — 11.
65 —
Anschauungen. So sagt z.B. schon S ig wart: Erklärung ist „die Ableitung
eines thatsächlich feststehenden, durch unmittelbare Wahrnehmung ge-
wonnenen Satzes aus einem allgemein gültigen Obersatz"; hieraus folge
denn auch, dass alle Erklärung ihrem Wesen nach Deduktion sei. Auch
Cornelius verwirft den Begriff des Erklärens nicht, der nach ihm die
Einordnung einer Wahrnehmung unter einen Begriff nach dem sogenannten
Oekonomieprinzip von Avenarius und Mach bedeutet. Im Grunde ist
das ganz dasselbe, was ich als Erklärung bezeichnete, nämlich die Einord-
nung einer Wahrnehmung (Erfahrung), ebenso jedoch auch eines empirischen
Begriffs unter einen anderen umfassenderen. Dieser Begriff, unter welchen
das zu Erklärende eingeordnet wird, darf jedoch, wenn damit wirklich eine
ökonomische Vereinfachung unseres Wissens, ein Erklären oder Begreifen,
erreicht werden soll, kein willkürlich definirter oder erfundener sein, nicht
ein Begriff, welchem das zu Erklärende oder Begreifende willkürlich als
Definition zugeschrieben wird , sondern ein erfahrungsgemässer oder em-
pirisch gegebener Begriff. Denn zu begreifen vermag ich nur, wenn die
Ableitung des zu Begreifenden aus dem Oberbegriff nicht nur eine willkürlich
herbeigeführte logische Nothwendigkeit ist , sondern eine empirisch ge-
gebene, insofern eben dieser Oberbegriff ein empirisch gegebener und als
solcher sich zwingend aufdrängender, nicht zu umgehender und nicht
willkürlich konstruirter ist. Aus dem Dargelegten folgt auch, dass ich
Denjenigen nicht zuzustimmen vermag, welche den Begriff „Erklären"
wegen „seiner Dunkelheit" möglichst vermeiden wollen, wie z. B. P. Du-
bois-Reymond (1890), der jedoch schon richtig erkannte, dass
Kirchhoff den Begriff „Beschreiben" in einer von der üblichen wesentlich
verschiedenen Weise definirte und so zu seiner bekannten Forderung ge-
langte. Dagegen kann ich nicht einsehen, dass das, was Dubois an Stelle
des Kir chh of f'schen „Beschreibens" setzen will, nämlich: „die Synthese
oder die Konstruktion des Erscheinungsgebietes aus einfachsten Mechanismen",
sich empfehle. Hierin liegt doch schon die keineswegs gerechtfertigte
Voraussetzung, dass eine solche Konstruktion aus einfachsten Mechanismen
allgemein möglich sei, oder selbst, wenn möglich, zum Begreifen des Er-
scheinungsgebietes wesentlich beitrage, was keineswegs der Fall ist. De-
duktion aus allgemeinsten oder allgemeineren Erfahrungen besagt ganz das
Gleiche und ist eben das, was man als Begreifen oder Erklären bezeichnete;
abgesehen natürlich von sog. Scheinerklärungen mit Hilfe von Umschreibungs-
hypothesen oder Umschreibungsbegriffen, die nichts erklären. Auch Driesch
(1894) will den Begriff „Erklären" vermeiden, obgleich er mit Dubois
die besondere Natur des Kirchhoff'schen Beschreibens richtig bemerkte.
Ebenso erörterte Roux (1897 p. 46) das Kirchhoff'sche Beschreiben in
seiner Abweichung von dem gewöhnlichen Begriff des Beschreibens richtig
und fügt treffend zu: „Herr K. hat wohl nicht geahnt, was sein Ausspruch
über die ,vollständige und möglichst einfache Beschreibung' .... für Ver-
wirrung anrichten würde". Er bemerkte dies namentlich im Hinblick auf O.
Hertwig, welcher aus der Kirchhoff'schen Forderung abzuleiten suchte,
Bütschli, Mechanismus und Vitalismus. 5
Anmerkung No. 11.
— 66 —
dass eine vollständige und einfachste Beschreibung der thatsächlich zu be-
obachtenden, successiven Entwickelungsstadien eine kausale Beschreibung
sei im Sinne Kirchhoff 's. Dass eine solche Ansicht nicht zutrifft,
führten auch Roux und Driesch aus. Schon in der Anmerkung
No. 8 p. 61 wurde zu zeigen versucht, dass diese Ansicht Hertwig's
unhaltbar ist. Wenn H e r t w i g meint, dass bei der Planetenbewegung
jeder vorhergehende Zustand des Planetensystems die Ursache des folgen-
den sei, dass daher für die vollständige und einfachste Beschreibung der
Planetenbewegung die Kenntniss der Kepler 'sehen Gesetze genüge, so
übersieht er, dass dies zwar richtig, insofern ich eben die von Newton
aufgestellten beiden wirkenden Ursachen der Planetenbewegung, die trans-
latorische und die Gravitations - Bewegung, als die in jedem Moment
wirkenden ausser den übrigen Bedingungen kenne; dass dies jedoch
nicht zutrifft, wenn ich nur die formalen Veränderungen kenne, die von
Moment zu Moment statthaben, wie sie die Kepler'schen Gesetze angeben.
Die beschreibende Entwickelungsgeschichte liefert eben eine Darstellung
der formalen Aenderungen, gibt dagegen keinen Aufschluss über die wirken-
den Ursachen oder Bedingungen, von welchen diese Aenderungen ab-
hängen; sie vermag desshalb auch eine eigentlich kausale Beschreibung,
wie sie Kirchhof im Sinne hatte, nicht zu geben.
Wenn ich bei dieser Gelegenheit mir erlauben darf, über die Kirch-
hoff'sehe Forderung, welche sich zunächst auf mechanische Bewegungen
bezog, etwas zu bemerken, so wäre es Folgendes. Kirchhoff hatte sehr
wohl gefühlt, dass der Begriff der ,, Kraft" als Ursache der Bewegung un-
klar oder eigentlich nichts erklärend ist; unrichtig ist es jedoch, wenn er
meint: „dass der Begriff der Ursache und des Strebens sich von solchen
Unklarheiten nicht befreien Hesse". Für die realen oder empirischen Ur-
sachen gilt dies nicht. Desshalb fordert K., dass die Mechanik, „die in der
Natur vor sich gehenden Bewegungen beschreiben und zwar vollständig
und auf die einfachste Weise beschreiben solle". In dieser Forderung
scheinen mir jedoch selbst zwei Dunkelheiten enthalten zu sein, nämlich
dass die Beschreibung „vollständig und auf die einfachste Weise" geschehen
soll. Beides scheint mir nicht klar definirbar zu sein, und besonders unter
dem vollständig verbirgt sich meiner Meinung nach die Forderung der
kausalen Beschreibung, d. h. die Forderung, dass die einzelnen successiven
Glieder der Beschreibung nothwendig auseinander folgen. Die Forderung
der Einfachheit dagegen wäre die alte Newton'sche, dass nicht mehr An-
nahmen gemacht werden sollen, als durchaus nothwendig. Kirch ho ff
fordert einfache Beschreibung und geht dann sofort zur Betrachtung der
Bewegung des „unendlich kleinen Körpers", des „materiellen Punktes", über.
Ob man jedoch eine solche Betrachtung überhaupt das Recht hat, eine Be-
schreibung zu nennen, scheint mir doch sehr zweifelhaft.
Ich finde nachträglich, dass auch schon der Physiker O. Wiener
(1900, pag. 42—43) sich in ganz ähnlicher Weise, wie ich und Andere, gegen
Kirchhoff's Anwendung des Begriffes „Beschreiben" aussprach. Ich
Anmerkung No. 11.
67 —
entnehme seiner Bemerkung ferner, dass auch O. Holder („Anschauung und
Denken in der Geometrie", Leipzig 1899 pag. 71) Entsprechendes äusserte.
Auch Mac h's (1900) Standpunkt in der Beschreibungsangelegenheit scheint
mir nicht zutreffend. Er sagt pag. 210: „Unbefangene Ueberlegung lehrt aber,
dass jedes praktische und intellektuelle Bedürfniss befriedigt ist, sobald unsere
Gedanken die sinnlichen Thatsachen vollständig nachzubilden vermögen."
Er führt dies an dem Beispiel des Erdbebens näher aus, über das wir
vollständig unterrichtet wären, wenn wir die dabei auftretenden sinnlichen
Erscheinungen in Gedanken uns vorführen könnten. Diese Argumentation
halte ich, wie gesagt, nicht für zutreffend, indem dabei das Warum oder die
kausale Beschreibung ganz mangelt. Wir sind über das Erdbeben erst dann
vollständig unterrichtet, wenn wir wissen, mit welchen Erscheinungen der
Erde es in gesetzlicher Abhängigkeit steht; wenn wir uns nicht nur die sinn-
lichen Erscheinungen des Erdbeben in Gedanken vorführen können, sondern
auch diejenigen sinnlichen Erscheinungen, von denen das Erdbeben als Folge-
erscheinung abhängt, und wenn wir überhaupt alle bei dem Erdbeben auf-
tretenden sinnlichen Erscheinungen als Glieder mit vorausgehenden Gliedern
in Abhängigkeit bringen können.
In seiner Wärmelehre (1896) spricht sich Mach schon ähnlich aus. Da
er sich hauptsächlich gegen solche Erklärungen Avendet, die Umschreibungs-
hypothesen zur Grundlage haben, wie Wärmestoff, Elektrizitäts-
stoff etc., so fällt es ihm leicht zu zeigen, dass derartige Erklärungen
nicht mehr enthalten wie die Thatsachen. Der Unterschied zwischen Be-
schreibung im gewöhnlichen Sinne und kausaler Beschreibung (Erklärung)
tritt auch an diesem Ort nicht hervor. Die einfache Beschreibung gilt
Mach als „klar", während ich meine, dass Widerspruchslosigkeit das Kri-
terrium von „klar" ist. Auch wendet er sich gegen die Meinung, dass bei
der gewöhnlichen Beschreibung die Glieder nicht nothwendig auseinander
folgten, während dies bei der Erklärung oder kausalen Beschreibung der
Fall sei. Er sucht zu zeigen, dass es keine physikalische Notwendigkeit
gebe, sondern nur eine logische. Mir scheint dies nicht zutreffend. Jeder
Schluss aus gewissen Praemissen ist natürlich ein logisch notwendiger,
wenn er den logischen Regeln nicht widerspricht. Was zwingt mich jedoch
die Praemissen so zu nehmen, dass mit logischer Nothwendigkeit daraus ein
richtiger, d. h.ein der Erfahrung nicht widersprechender Schluss folgt (vor-
ausgesetzt natürlich, dass ich diese Praemissen nicht einfach logisch und
willkürlich so annehme, dass der gewünschte Schluss resultiren muss)? Die
Wahl der richtigen Praemissen ist keine logische Nothwendigkeit, sondern
Erfahrung oder physikalische Nothwendigkeit. Die kausale Beschreibung
deducirt mit logischer Nothwendigkeit aus physikalischer.
Mit dem vorstehend über den Begriff der Erklärung Bemerkten ist
jedoch der Gegenstand noch nicht erschöpft. Häufig kann nämlich der Fall
auch so liegen, dass es sich bei dem zu Erklärenden nicht um die Erkenn-
ung der wirkenden Ursachen eines Vorganges handelt, sondern um die der
Bedingungen, deren genaue Präzision fehlt. Es kann ja der Fall so liegen
Anmerkung No. 11. -5*
68 —
und liegt häufig genug so, dass mir die wirkende Ursache eines Vorganges
bekannt ist, die Bedingungen dagegen nicht. Betrachten wir einen einfachen
Fall; ich stosse gegen einen Gegenstand und sehe, dass derselbe in zwei
Theile auseinanderfällt. Die genauere Untersuchung zeigt mir dann, dass
der Gegenstand einen Sprung besass oder dass er überhaupt aus zwei ge-
trennten Theilen zusammengefügt war. Hier handelt es sich also um die
Aufklärung einer Bedingung für die kausale Beschreibung oder Erklärung
des Vorganges, eines Bedingenden, nicht dagegen einer wirkenden Ursache.
Wie in dem vorausgesetzten Falle wird die Bedingung meist formaler Natur sein,
im weiteren Sinne sich als eine Form- oder Struktureigenthümlichkeit ergeben.
Gerade derartige Erklärungen müssen jedoch in der Organismenwelt, wo
Form und Struktur so hochgradig gesteigert sind, eine besondere Rolle
spielen. Aber auch auf dem anorganischen Gebiet haben solche Erklärungen
weiteste Bedeutung. Fragen wir z. B., warum ein Krystall in bestimmten
Richtungen spaltet, so kann es sich bei der Erklärung auch nur um die Fest-
stellung einer solchen, im weiteren Sinne strukturellen Bedingung handeln.
Fragen wir, warum ein gedehnter Kautschukstreif sich bei Erhöhung der
Temperatur zusammenzieht, so gilt auch hier wieder dasselbe. Fragen wir,
warum eine emulsive Flüssigkeit trübe und undurchsichtig erscheint, so finden
wir strukturelle Verhältnisse als bedingende Ursache. Eine sehr grosse
Zahl von Eigenschaften finden, oder werden ihre Erklärung in solchen struk-
turellen formalen Bedingungen finden, wie bei der Erwähnung der Struk-
turen (s. pag. 73) noch genauer auszuführen sein wird.
Eine mit der meinigen übereinstimmende Auffassung des Begriffes
„Erklären" auf naturwissenschaftlichem Gebiet gab vor Kurzem auch
J. Classen mit folgenden Worten (1901 pag. 6): „Nun kann aber, einen
Vorgang erklären, niemals etwas anderes heissen , als ihn zurückführen
auf einen anderen, einfacheren, den wir schon kennen, oder als bekannt
voraussetzen (? B.) oder den wir schon erklärt haben, oder dessen weitere Er-
klärung wir in einen anderen Zweig der Wissenschaft verweisen."
12) (zu pag. 16). Vergleiche über diese Frage auch die treffende,
besonders gegen Baur (1898), der ähnliche Anschauungen vertrat, gerichtete
Kritik Albrech t's (1899 pag. 73-76).
13) (zu pag. 18). Ueber die Bedeutung des Experiments für die kausal-
biologische Forschung wurde in letzterer Zeit viel gestritten. So schrieb
O. Hertwig im Gegensatz zu Roux dem Experiment auf dem Gebiete
der Entwickelungsgeschichte eine sehr geringe Bedeutung, wenn überhaupt
eine, zu. Er würdigte dabei jedoch das Experiment nur von der Seite des
zufälligen Probirens, der Bewirkung zufälliger neuer Bedingungskombinationen,
dagegen nicht von der Seite des planvollen Ermitteins der noth wendigen
Bedingungen und Abhängigkeiten einer Erscheinung. Die Experimente
lassen sich in zwei Kategorien sondern, von welchen die erste diejenigen
umfasst, welche man als Zufallsexperim ente bezeichnen kann, nämlich
die Herbeiführung, resp. Entdeckung irgend welcher, seither unbekannter That-
sachen durch probirendes (d. h. ohne bewusste Voraussicht des Ergebnisses
Anmerkung No. 11 — 13.
— 69 —
geschehendes) Kombiniren von Bedingungen. Hierher gehörte z. B. die Ent-
deckung des Phosphors u. s. f. Die zweite Kategorie liesse sich als die der
Eliminationsexperimente bezeichnen. Bei diesen handelt es sich darum,
durch planvolles Experimentiren zu ermitteln, von welchen der mehrfachen
Bedingungen eine Erscheinung wirklich abhängt, und welche dieser Beding-
ungen weiterhin die wirkende Ursache ist. Diese Ermittelung geschieht ent-
weder durch Ausschaltung der einzelnen manigfaltigen Bedingungen aus
dem Komplex, oder durch Intensitätsvariirung einzelner derselben und der
Beobachtung ihres Einflusses auf die zu erforschende Erscheinung. Beispiel
wäre also etwa die Feststellung, dass das Nichtherabfallen des Quecksilbers
in der Barometerröhre direkt abhängt von dem Druck der Atmosphäre.
Nur als eine Unterabtheilung des Eliminationsexperiments wäre der Versuch
anzusehen, den man als das Verifikationsexperiment bezeichnen
kann, d. h. ein Experiment, bei welchem der Experimentator von einer be-
stimmten hypothetischen Vorstellung über die direkte Abhängigkeit einer
Erscheinung von einer anderen ausgeht, und hieraus auf Ergebnisse schliesst,
welche unter bestimmten Bedingungen eintreten müssen, wenn die gemachte
Voraussetzung richtig ist. Der Ausfall des Experiments, resp. der Experi-
mente, entscheidet daher für oder gegen die Voraussetzung. Beispiel hiefür
wäre das Experiment, auf Grund gewisser hypothetischer Vorstellungen
eine chemische Verbindung synthetisch darzustellen u. s. f.
Obgleich ich schon früher (1896, 1897) die von Roux, Driesch und
Anderen so hoch gewerthete Bedeutung des biologischen, insbesondere des
ontogenetischen Experiments, anerkannte, blieb ich doch immer etwas im
Zweifel, ob es möglich ist, damit die wirkenden Ursachen oder Energien fest-
zustellen, welche die Entwickelung bedingen; was doch nach Roux die
Aufgabe der Entwickelungsmechanik ist. Roux unterscheidet (1897 pag. 278)
zwischen dem „kausal-analytischen morphologischen" Experiment und dem
„formal-analytischen". „Das Wesen des kausal-analytischen morphologischen
Versuchs besteht darin", sagt er, „dass eine einfache oder komplexe ursäch-
liche Komponente (oder auch eine eng verknüpfte ganze Gruppe solcher
Komponenten) des organischen Gestaltungsgeschehens verändert wird, und
dass wir einerseits sowohl die dadurch bewirkte Abänderung des normalen
Gestaltungsgeschehens vollständig beobachten, wie andererseits auch die
von uns abgeänderten ursächlichen Komponenten wenigstens soweit ermitteln,
um die Aenderung der Gestaltung auf diese Ursachen beziehen zu können." Zu
diesen „kausal-analytischen morphologischen" Experimenten rechnet Roux
vor allem die Versuche über die Wegnahme oder Tödtung einzelner
Blastomeren des sich entwickelnden Eies.
Das formal-analytische Experiment dagegen ist nach Roux der
Versuch, welcher nur die finale Reaktion auf gewisse experimentelle
Einwirkungen festzustellen sucht, ohne Frage nach den Ursachen. Hierher
werden z. B. die Regenerationsversuche an erwachsenen Organismen gestellt.
Nun scheint mir, dass der Gegensatz dieser beiden Arten von Experi-
menten kein prinzipieller ist. Wenn ich eine oder einige Blastomeren des
Anmerkung No. 13.
— 70 —
sich entwickelnden Eies wegnehme, so führe ich prinzipiell dasselbe aus,
als wenn ich von dem entwickelten Organismus einen Theil wegnehme.
Im ersteren Fall studire ich die mögliche ontogenetische Regeneration, im
zweiten die des entwickelten Organismus. Wenn ich im Zweizellenstadium
die eine Blastomere entferne und es tritt hierauf, unter sonst gleichen Be-
dingungen, einmal Entwickelung zu einem ganzen Embryo, bei einer anderen
Form solche zu einem halben, und bei einer dritten Form gar keine Ent-
wickelung ein, so lehrt dies, dass bei der ersten Form die Gegenwart
der weggenommenen Blastomere eine Bedingung für die Entwickelung der
anderen zu einem halben Embryo war, und dass ferner die isolirte zweite
Furchungskugel das Vermögen besitzt, sich so umzugestalten, dass in ihr
(abgesehen von dem Volum) wieder die Bedingungen des ungefurchten Eies
eintreten (beziehungsweise kann diese Umgestaltung zu einer normalen
Entwicklungsstufe auch erst später eintreten). Bei der zweiten Form finden
wir, dass die zweite Blastomere keine Bedingung für die Entwickelung der
anderen zu einem halben Embryo bildet, und dass sie das Vermögen der
sog. Reparation (Driesch) nicht besitzt. Bei der dritten Form endlich
würde die zweite Blastomere überhaupt nothwendige Bedingung für die
Weiterentwickelung sein.
Schneide ich einem Triton ein Bein ab, so erscheint mir im Prinzip
die Betrachtung ganz dieselbe, wie in dem eben erörterten Fall. Wir er-
fahren aus dem Ergebniss, dass das Bein Bedingung dafür war, dass keine
weiteren Entwickelungsprozesse an dem übrigen Körper stattfanden und
ferner, dass dieser nach Wegnahme des Beins das Vermögen besitzt, sich
so umzugestalten, dass wieder ähnliche Bedingungen eintreten, wie sie vor
Entwickelung des Beins bestanden, und demgemäss ein neuer Entwickelungs-
prozess anhebt.
Noch klarer werden uns diese Verhältnisse, wenn wir uns erinnern,
dass jede Form, die ausgebildete sowohl als jedes Entwickelungsstadium,
ein Gleichgewichtszustand ist und dass die Wegnahme eines Theils einer
solchen Form stets unter dem Gesichtspunkt einer Störung dieses Gleich-
gewichts aufzufassen ist. Daraus folgt auch, dass die Wegnahme nie als
eine wirkende Ursache aufgefasst werden kann, sondern nur als eine
veränderte Bedingung. Von den nun gegebenen Gesammtbedingungen des
restirenden Systems wird es abhängen, ob es im Gleichgewicht ver-
harren kann, etwa wie ein fester Körper, von dem ein Theil entfernt
wurde, oder ob das Gleichgewicht gestört ist und ein Entwickelungsprozess
beginnt, der zur Wiederherstellung des Gleichgewichts, unter Ergänzung der
verloren gegangenen Theile, führt; etwa wie ein Wassertropfen sich bei
Wegnahme eines Theils immer wieder zur früheren Gestalt ergänzt, den
Gleichgewichtszustand wieder annimmt.
Aus obigen Darlegungen scheint mir hervorzugehen, dass derartige
Experimente nur Bedingungsursachen, dagegen nicht wirkende Ursachen
oder Kräfte des Entwickelungsgeschehens feststellen können. Das Ent-
wickelungsgeschehen führt in letzter Instanz auf die Leistungen oder das
Anmerkung No. 13.
— 71 —
Leben der Zellen zurück; daher werden die wirkenden Ursachen auf dem
Gebiete des Zellgeschehens zu ermitteln sein. Nun sind aber, wie Roux
sehr richtig betont, alle Leistungen der Zellen sog. Selbstleistungen, d. h.
solche, zu welchen sich die äusseren Einwirkungen nur wie Reize
oder Auslösungsursachen verhalten. In einem solchen Falle leistet nun aber
auch das Eliminationsexperiment sehr wenig für die Feststellung der wirk-
samen Kräfte. Nehmen wir z. B. den Fall, es handle sich darum, festzu-
stellen, welche wirksamen Kräfte es bedingen, dass eine Rhizopoden-
zelle, oder eine nichtumhüllte Zelle überhaupt, in der Ruhe die Kugel-
gestalt annimmt, unter Einziehung von Pseudopodien; ob die elastischen
oder sonstigen Kräfte kontraktiler Fasern des Protoplasmas, oder ob die
Oberflächenenergie flüssiger Körper dies bedinge? In letzterem Falle
handelt es sich um eine allgemeine Eigenschaft der Flüssigkeiten, deren
Bestehen im Allgemeinen ein Beweis der flüssigen Natur ist. Alles, was
sich nun in diesem Fall experimentell prüfen lässt, ist, ob sich das Proto-
plasma wie eine Flüssigkeit verhält ; denn ist dies der Fall, so sind wir an-
zunehmen berechtigt, dass auch für es die gesetzmässigen Eigenschaften
der Flüssigkeiten gelten. Dazu müsste ferner der Nachweis kommen, dass
sich kontraktile Fasern der Art, wie sie die andere Ansicht voraussetzt,
nicht finden, und dass der Vorgang der Abrundung etc. anders geschieht,
als er bei der Annahme solcher Fasern verlaufen müsste.
Nehmen wir weiterhin den Fall : es solle entschieden werden, ob die
Strahlungen im Plasma um die Centrosomen etc. von Zugwirkungen be-
dingt werden, die auf einer Art Schrumpfung im Centrum der Strahlung
beruhten. Das einzige Experiment, welches in diesem Falle helfen könnte,
wäre der Versuch, etwas in das Protoplasma einzuführen, was schrumpft,
und zu sehen, ob die vorausgesetzte Strahlung um dasselbe wirklich eintritt.
Immerhin gäbe dieser Versuch auch noch keine Gewissheit, indem die
Strahlung um die Centrosomen doch noch etwas anderes sein könnte. Ich
müsste daher ergänzend nachweisen, dass die Strahlungen in jeder Be-
ziehung mit den durch Zugwirkungen hervorgerufenen übereinstimmen,
und dass keine anderen Einrichtungen oder Bedingungen vorhanden sein
können, welche sie hervorzubringen vermögen. — Die Anwendung des Eli-
minationsexperiments, nach Art der einfacheren Sachlage der anorgan-
ischen Experimente, findet in der Komplizirtheit der Bedingungen und in
der Unmöglichkeit dieselben wirklich selbstthätig zu schaffen, was ja
bei dem anorg. Experiment der Fall ist, ihre ziemlich engen Grenzen.
Denn das eigentlich massgebende, die lebende Zelle, ist ja das grosse X,
dessen inneren Bedingungen zum geringsten Theile bekannt sind; wobei
ferner zu beachten ist, dass es eben in der Regel unmöglich ist, die inneren
Bedingungen der lebenden Zelle in scharf bestimmter eindeutiger Weise
zu ändern. — Unter diesen Umständen scheint mir der gangbarere Weg, um
die bei den Lebenserscheinungen der Zelle wirkenden Ursachen zu er-
mitteln, der zu sein, dass wir Erscheinungen aufsuchen, welche mit den
Lebenserscheinungen möglichst übereinstimmen, und welche wir ihrer
Anmerkung No. 13.
— 72 —
ursächlichen Bedingtheit nach kennen ; und dass wir ferner zeigen, dass die
Bedingungen für das Entstehen analoger Erscheinungen in der lebenden
Zelle gegeben sind, andere Bedingungen dagegen, welche Aehnliches hervor-
bringen könnten, fehlen. Roux selbst hat ja schon ganz richtig hervorge-
hoben (1897 p. 251—254), dass dieser Weg ein sehr mühsamer ist, da ihm,
wie bemerkt, schiesslich die Last zufällt, zu erweisen, dass eben nur diese
und keine andere Erklärung der betreffenden Lebenserscheinung unter den
gegebenen Bedingungen möglich ist, d. h. nicht zu Widersprüchen führt.
Schliesslich wird aber dies die Aufgabe jeder Erklärung sein, auch derjenigen,
welche sich auf das kausal- analytische morphologische Experiment stützt.
Vergl. über diese Fragen auch Albrecht 1899, p. 49 — 50 und sonstige
dort citirte Autoren.
14) (zu pag. 19). Organisation ist, wie ich schon mehrfach betonte,
ursprünglich ein Begriff, der von dem komplizirten höheren Organismus
abstrahirt ist und dessen Zusammensetzung aus untergeordneten Theilen
oder Organen bedeutet; wozu sich jedoch noch gesellt, dass diese Theile
so beschaffen sind und arbeiten, dass aus ihnen die Gesammtleistung des
Organismus resultirt, welche wir als korrekt beurtheilen. Eine richtig
gebaute und arbeitende Maschine könnten wir daher in gewissem Sinne,
d. h. abgesehen von ihrer Leistung, die von der des Organismus ganz ver-
schieden ist, ebenfalls organisirt nennen. Einen Sandhaufen dagegen oder einen
Granitblock, die ja auch aus untergeordneten Theilen bestehen, würde Nie-
mand als organisirt bezeichnen. So klar nun auch ist, was man im höheren
Organismus unter Organisation versteht, so verschwommen wird dagegen
die Anwendung dieses Begriffes auf die einfachsten Lebewesen. Was bleibt
bei einem Micrococcus von Organisation übrig? Wenn ich zwar schon
die natürliche Anordnung spezifisch verschieden schwerer Substanzen in
der Eizelle, oder eine typische polar oder bipolar gerichtete Anordnung der
Theilchen des Plasmas eine Organisation nenne, so schwindet jede Grenze
dieses Begriffes gegen das anorganische Gebiet, denn derartige Organi-
sationen sind auch im Anorganischen anzutreffen. Wir gelangen dann zu
Vorstellungen, wie sie Nägeli (1884) äusserte, wonach schliesslich
alles in der Welt organisirt ist, in verschiedengradiger Abstufung. Dann hat
aber auch der Begriff der Organisation für die Lebewesen jede besondere
Bedeutung eingebüsst.
Es ist nun eine sehr verbreitete Ansicht: das Geheimniss der letzten
Bestandteile lebender Organismen, des Plasmas, des Kernes etc. wieder in
einer versteckten Organisation zu suchen. Dies kann nur bedeuten in einer
Zusammensetzung aus verschiedenartig beschaffenen und harmonisch zu-
sammenarbeitenden untergeordneten Theilen, wie sie der komplizirte Orga-
nismus aufweist. Der Schwerpunkt dieser Vorstellung liegt aber in diesem
maschinellen Zusammenarbeiten verschiedener Theile, was natürlich auch
eine besondere Formzusammenfügung bedingt; wesshalb diese Ansicht auch
die Forderung nach einer sehr komplizirten, wenn auch bis jetzt noch nicht
aufgefundenen Struktur jener letzten Bestandtheile erhebt. Im Allgemeinen
Anmerkung No. 13 — 14.
— 73 —
ist diese Anschauung also eine Erweiterungshypothese, welche die Erfahr-
ungen über die gröbere Organisation des komplizirten Organismus auch auf
dessen letzte Bestandtheile überträgt.
Dieser Hypothese von der maschinellen Organisation der letzten be-
kannten Bestandtheile der Organismen steht eine andere gegenüber, welche
man die der chemischen Organisation jener Bestandtheile nennen kann;
d. h. die Ansicht, welche meint, dass die letzten Bestandtheile bezüglich
ihrer Struktur keine Besonderheiten zeigen, welche nicht auch ausserhalb
der Organismenwelt angetroffen werden, dass daher ihre strukturelle Orga-
nisation nicht das für die Lebenserscheinungen Ausschlaggebende sein kann,
wenn sie auch mitbedingend sein muss. Nach dieser Ansicht ist dagegen die
chemische Organisation dieser Bestandtheile — sowohl im Hinblick
auf die besondere Art und Komplikation der vorhandenen chemischen Ver-
bindungen, als auch auf ihre Mischungsverhältnisse mit einander — der funda-
mentale und unterscheidende Charakter des Lebenden von dem Nicht-
lebenden. Diese zweite Hypothese stützt sich vor Allem darauf, dass die
Leistungen des Organismus in letzter Instanz auf chemischer Energie be-
ruhen ; dass der Organismus im Gegensatz zu den physikalischen Maschinen
der Technik eine chemische Maschine ist, eine Maschine, welcher die Trieb-
kraft, die durch chemische Energie gewonnen wird, nicht zugeleitet wird,
sondern in welcher die Substanz der Maschine selbst die chemische Energie
hervorbringt, welche bei dem Betrieb verbraucht wird.
Wenn soeben betont wurde, dass ich die Besonderheit der Lebewesen
nicht in einer ganz eigenthümlich gearteten maschinellen Struktur ihrer
letzten Bestandtheile suchen kann, so brauche doch gerade ich kaum zu
versichern, dass ich den formalen Strukturverhältnissen trotzdem eine hervor-
ragende Bedeutung für die eigenthümlichen Leistungen des Organismus zu-
schreibe. Ich meine nur, dass diese bedingenden Strukturverhältnisse
keinen trennenden und unbedingten Gegensatz zwischen Organismus und
Anorganismus bilden, dass vielmehr solche Strukturen auch bei Anorganis-
men schon in prinzipiell übereinstimmender Weise sich finden und im Orga-
nismus nur einerseits weitergebildet und komplizirter, andererseits durch
die besondere chemische Natur der konstituirenden Substanzen zu besonderen
Leistungen befähigt werden. Vielleicht wird es nicht nutzlos sein, von
solchen Strukturen und den Eigenschaften, welche, soweit wir zu urtheilen
vermögen, von ihnen bedingt sein können, eine allgemeine Uebersicht zu
geben.
Struktur im weitesten Sinne können wir jede innere Inhomogenität eines
Körpers nennen. Demnach Hessen sich wieder unterscheiden: 1. Rein
physikalische Strukturen, d. h. solche, bei welchen diese Inhomogenität nur
auf physikalischen Differenzen der konstituirenden Theilpartieen beruht, also
z. B. auf verschiedener Dichte und Lichtbrechung, verschiedenen optischen
Spannungszuständen in verschiedener Richtung, (z. B. mikrokrystallinische
Struktur) u. s. f. 2. Chemisch-physikalische Strukturen, bei welchen die
konstituirenden Theilpartieen nicht nur physikalisch, sondern auch chemisch
Anmerkung No. 14.
— 74 —
verschieden sind. Hierher gehören z. B. die Strukturen der aus ver-
schiedenen Mineralien zusammengesetzten Gesteine, die Schaumstrukturen,
bei welchen der Inhalt der Schaumwaben chemisch von dem Schaumgerüst
unterschieden ist (natürlich ebenso auch Emulsionen; und wo ist deren Grenze
gegen die wahre Lösung?). Dagegen nehmen die schaumartigen Mikro-
strukturen, bei welchen die freien Hohlräumchen leer, d. h. nur vom Dampf
der Gerüstsubstanz erfüllt sind, eine eigenthümliche Stellung ein, indem sie
eigentlich zu den physikalischen Strukturen gerechnet werden müssen, inso-
fern man nicht in den Vordergrund stellt, dass etwa der Dampfzustand eine
besondere Modifikation der Substanz ist, und damit eine Annäherung an
chemisch-physikalische Strukturen versucht.
Eine grosse Zahl besonderer Eigenschaften können von solchen Struk-
turen bedingt sein, oder doch sehr wahrscheinlich bedingt werden. Im
Einzelnen haben darüber vielfach erst noch eingehendere Untersuchungen
zu entscheiden.
Von physikalischen oder auch physikalisch-chemischen derartigen Struk-
turen können bedingt sein:
Hinsichtlich der Oberflächenbeschaffenheit : Glätte, Rauhigkeit,
Glanz, Spiegelung oder Trübe. Farbenerscheinungen : Interferenzfarben,
Strukturfarben.
In Bezug auf das Innere: Durchsichtigkeit oder Undurchsichtigkeit
und weisse Farbe in auffallendem Licht ; oder unter besonderen sonstigen
Bedingungen auch anderweitige Farben in durchfallendem und auflallendem
Licht. Farben trüber Medien. Polarisirung des Lichts durch derartige
Strukturen.
Möglicher- oder wahrscheinlicher Weise durch solche Mikrostrukturen
bedingt scheint mir ferner die Spaltbarkeit der Krystalle, eventuell
auch Verschiedenheiten der Elastizität in verschiedenen Richtungen und ver-
schiedene Ausdehnung durch Wärme. Nicht ganz ausgeschlossen erscheint
mir, wie ich schon 1898 (pag. 147) andeutete, die Möglichkeit, dass die Doppel-
brechung fester Körper überhaupt von solchen Mikrostrukturen bedingt ist,
während ich die Doppelbrechung gedehnter und gepresster wabig struk-
turirter Körper wohl für sicher von besonderen Strukturverhältnissen bedingt
erachte.
Bedingt durch Mikrostrukturverhältnisse sind ferner die Imbibition
und ebenso die sie begleitenden sonstigen physikalischen Erscheinungen,
Wärmeentwickelung u. dgl. Bedingt sind durch derartige Strukturen,
in Verbindung mit sonstigen Eigenschaften, die Quellungserscheinungen
und die besonderen weiteren Eigenthümlichkeiten, die mit diesem im Orga-
nismus ungemein bedeutsamen Vorgang zusammenhängen. Verschieden-
gradige Quellung in verschiedenen Richtungen; eventuell auch Kontraktion
in gewisser Richtung u. s. f.
Besondere Dehnungsfähigkeit gewisser Körper.
Die besonderen Eigenschaften der Sphärokrystalle. Die rela-
tive Festigkeit schäum artig strukturirter flüssiger Körper.
Anmerkung No. 14.
— 75 —
Von chemisch-physikalischen Strukturen bedingt erscheinen die von mir ge-
schilderten Bewegungserscheinungen der Oelseifenschäume und
vermuthlich die analogen Bewegungserscheinungen des Protoplasmas.
Endlich besteht auch die Möglichkeit, dass die Kontraktions-
erscheinungen der Muskel fib rillen und Muskelfasern von ähn-
lichen strukturellen Verhältnissen abhängen, wie sie bei quellbaren Körpern
unter bestimmten Strukturbedingungen zu Verkürzungen oder Kontraktionen
führen.
Obgleich eine genauere Durchsicht des Bekannten gewiss noch viele
Eigenschaften aufzeigen wird, welche von Mikrostrukturen direkt abhängen
(um so mehr, als sich bei eingehender mikroskopischer Analyse das Ver-
breitungsgebiet solcher Strukturen fortgesetzt erweitert), so wird doch diese
unvollständige Uebersicht schon einigermaassen darüber orientiren.
Die Ansicht, dass das eigentlich Bedingende der besonderen Eigen-
schaften lebender Körper eine eigenartige, den Anorganismen mangelnde
maschinelle Struktur sei, ist eigentlich die verbreitetste, von den hervor-
ragendsten Biologen der neueren Zeit vertretene. Sie wird gewöhnlich in
der Weise gedacht, dass eine Zusammensetzung der letzten sichtbaren Be-
standtheile der Zelle aus unsichtbaren elementaren Organen (Elelementar-
organismen, Plasome [Wiesner], Biophoren [Weismann], Pangene [Darwin,
de Vries]) als eine unerlässliche Hypothese für das Verständniss des Lebenden
gefordert wird.
Ich führte schon 1892 (pag. 11 d. S. A.) in meinen Bemerkungen gegen
Wiesner's Lehre und eingehender 1896 aus, dass ich in solchen Um-
schreibungshypothesen eine Vertiefung unseres Verständnisses der Lebens-
erscheinungen nicht finden kann. Wie schon oben bemerkt, erachte ich die
einfache Annahme einer maschinellen Struktur für eine Erweiterungshypo-
these und daher an sich nicht verwerflich ; dagegen wird sie dies, wenn
eine willkürlich erfundene Struktur, welche das zu Erklärende schon ent-
hält, zu Grunde gelegt wird.
Wie angegeben, wird die Ansicht von der maschinellen Struktur als
letztes Bedingendes der Lebenserscheinungen von den hervorragendsten Bio-
logen vertreten, unter denen ich hier nur W. Pfeffer, O. Hertwig und W.
Roux anführen will. Pfeffer (1897) erklärt sich in seiner „Pflanzenphysiologie"
sehr bestimmt für die maschinelle Struktur und für einen komplizirten Aufbau
des Protoplasmas aus „Organen und Strukturelementen", die nur zum Theil
optisch wahrnehmbar seien, aus „kleinen und kleinsten Lebenseinheiten", so-
genannten P ang enen (p. 3, p.41). In jedem Protoplasten sei wahrscheinlich
„eine grosse, ja vielleicht eine gewaltige Zahl verschiedener einfachster, d. h.
nicht weiter in physiologische Einheiten zergliederbarer Pangene vereinigt".
Das Pangen sei „kein einfaches Micell, sondern ein Verband von Micellen oder
Molekülen mit spezifischer Organisation". Also das Pangen selbst ist wieder
maschinell strukturirt. Der Begriff der Organisation wird dabei nicht näher
erörtert. „Aber selbst, wenn dem bewaffneten Auge," sagt Pfeffer (p. 3),
„eine direkte Wahrnehmung von Organen versagt bliebe, so müsste man
Anmerkung No. 14.
— 76 —
doch einen Aufbau der Protoplasten aus distinkten Elementen (Bioplasten)
fordern, die, wenn sie auch im kleinen Räume unter die Grenzen des Sicht-
baren sinken, doch desshalb nicht minder bedeutungsvoll sind. Denn anders
als durch das Zusammenwirken verschiedenartiger Organe und Organele-
mente ist ein regulatorisches Lebensgetriebe ebensowenig zu verstehen,
wie der gesetzmässige Gang einer Uhr oder einer Spieldose, die, so lange
die Betriebskräfte nicht verlöschen, in bestimmter Reihenfolge und Wieder-
holung eine Harmonie von Tönen erklingen lässt." „Die beste chemische
Kenntniss der im Protoplasma vorkommenden Körper kann für sich allein
ebensowenig zur Erklärung und zum Verständniss der vitalen Vorgänge aus-
reichen, wie die vollendetste chemische Kenntniss von Kohle und Eisen zum
Verständniss einer Dampfmaschine und der mit derselben verbundenen
Buchdruckerpresse."
Die im Ganzen ähnlichen Anschauungen O. Hertwig's über die
Organisation des Protoplasmas habe ich schon vor einiger Zeit (1901,
pag. 539—546) von meinem Standpunkt aus einer kritischen Besprechung
unterzogen. Aus dem dort Gesagten geht auch meine eigene Stellungnahme
hervor. Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, bemerke ich nur
noch, dass ich eine maschinelle Struktur der Zelle, insofern diese sich aus
verschiedenen Organen (Kern, Centrosom, Plasma und dessen eventuellen
Differenzirungsprodukten) zusammensetzt, nicht leugne; für den höheren
Organismus dagegen erst recht nicht. Meine Ansicht geht nur dahin, dass
die Substanz dieser Zellorgane, insofern sie nicht als zusammengesetzt er-
kennbar ist, eine solche Hypothese über ihre maschinelle Struktur nicht
erfordert.
Sehr entschiedener Anhänger einer ganz eigenartigen maschinellen
Struktur der letzten Bestandteile der Zelle ist auch W. Roux, der sich
hierüber an verschiedenen Stellen seiner zahlreichen Schriften (s. Ges.-Ab-
handl.) ausspricht: „Ich halte daher alle rein chemischen Definitionen des
Lebens für vollkommen unzureichend (Bd. I, pag. 406, Anm. ; ebenso
Bd. II, pag. 142) : „Das Leben ist seinem Wesen nach Prozess und
kann daher nicht statisch definirt werden" (aber die Chemie handelt auch
von Prozessen). „Es muss aus den komplizirten Verrichtungen des schein-
bar homogenen organischen Substrats mit Sicherheit eine komplizirte Struktur
gefolgert werden." (II. p. 142.) Im Allgemeinen kommt seine Ansicht der
Pfeffer 's und Hertwig's sehr nahe, und er bezeichnet jene unsichtbaren
Strukturen, welche die Lebenserscheinungen bedingen, als „Metastrukturen."
Roux versucht sogar (II. pag. 83 ff.), die „kleinsten lebensthätigen Bestand-
theile" (Bionten), welche jene Metastrukturen aufbauen, nach ihren muth-
masslichen Leistungen zu klassifiziren : 1. „Automerizonten" können
assimiliren, ausscheiden, sich bewegen und sichtheilen. 2. Idioplassonten
sind Automerizonten, die „gestaltende Wirkungen in sich selber und auf
die anderen Bionten auszuüben vermögen". 3. Au tokin e ont en sind Nr. 1,
denen die Theilungsfähigkeit fehlt. 4. Isoplassonten zeigen Assi-
milation, Ausscheidung und Wachsthum. 5. Fragliche Auxonten, durch
Anmerkung No. 14.
- 77
Mangel des Wachsthumsvermögens von Nr. 4 verschieden. Die niederen
Kategorien dieser Bionten (3 — 5) sollen „in oder neben" den höheren vor-
kommen, sie also zusammensetzen können. Isoplasson (also aus Iso-
plassonten, die der Selbstausscheidung und Selbstassimilation fähig sind,
zusammengesetzt), „komme als Flamme, wie auch mannigfach als bei ge-
wöhnlicher Temperatur verlaufender chemisch-physikalischer Assimilations-
prozess im Anorganischen in einfachster Weise vor". Demnach wären also
die Moleküle einer brennenden Wasserstoffflamme Isoplassonten und
ihre Verbrennung ein Assimilationsprozess, die Bildung von Wasser
dagegen eine Ausscheidung. Mir scheint dies eine ungewöhnliche Ver-
wendung des Begriffes der Assimilation. Ein einfacher chemischer Prozess,
wie ihn die Verbrennung von H in O darstellt, entbehrt doch des eigent-
lichen Charakters der Assimilation. Die Aufstellung Roux's scheint mir
durch den von ihm viel gebrauchten, meiner Ansicht nach nicht zutreffenden
Vergleich des „dynamischen Gleichgewichtszustandes" der Flamme und
des Organismus bedingt. Der Flamme liegt kein besonderer, von ihr
assimilirter Flammenstoff zu Grunde; die Grundlage des Organismus da-
gegen bilden besondere, eigenthümliche Stoffe, die er chemisch aus anderen
Stoffen aufzubauen, zu assimiliren vermag. Das Eigenthümliche der Assi-
milation scheint nun darin zu bestehen, dass ihr Stattfinden von der Gegen-
wart solcher Stoffe, wie sie durch die Assimilation entstehen, bedingt wird,
dass sie ohne diese nicht geschieht. Schon Kassowitz (Bd. I, pag. 193 — 194)
hat dies richtig erkannt und auch nachzuweisen gesucht, dass ein solcher
Vorgang nicht ganz ohne Analogie auf rein chemischem Gebiet ist; indem
sich wenigstens einige chemische Prozesse nachweisen lassen, wo die Gegen-
wart der zu bildenden Verbindung deren Entstehungsprozess einleitet oder
befördert. Obgleich ich mir hier kein Urtheil darüber erlaube, ob diese
Prozesse thatsächlich richtig interpretirt sind, betone ich nur, dass auch ich
selbständig zu der Ueberzeugung gelangte, dass bei der Assimilation im
Organismus ein solcher Vorgang stattfinden muss.
Man wird vielleicht gegen eine solche Auffassung der Assimilation
einwenden, dass gerade der einfachste sog. Assimilationsprozess auf pflanz-
lichem Gebiet, die Bildung des Amylum, nicht an schon vorhandenes
Amylum gebunden sei. Dies ist richtig; fraglich dagegen, ob es zutreffend
ist, wie es zuweilen geschieht, den Bildungsprozess der Stärke als
einen einfachen Assimilationsvorgang anzusehen, und ob es nicht wahrschein-
licher ist, die Bildung der Stärke auf die Zerlegung komplicirterer, bei der
Assimilation entstehender Verbindungen zurückzuführen. Für die dem
Amylum nahe verwandte Cellulose sind die Botaniker fast einstimmig
der Ansicht, dass sie aus dem hochkomplizirten Protoplasma hervorgehe;
dies spricht doch auch gegen die Meinung, dass die Stärke direkt aus
CO-2 und H2O gebildet werden könne.
Als beweisend für die Existenz besonderer sogen. Metastruk-
turen führt Roux (I. pag. 187—188 Anm.) das Verhalten der Sehnen bei
Ouellung, Schrumpfung und Lösung an. Es handelt sich dabei um sehr
Anmerkung No. 14.
— 78 —
verschiedengradiges Quellen und Schrumpfen in der Längs- und Querdimen-
sion. Da ich ausführlicher zeigte, dass solche Erscheinungen an nicht organi-
sirten, quellbaren Körpern unter gewissen Bedingungen ebenfalls auftreten und
durch besondere Strukturverhältnisse bedingt sind (1896 und 1898), so geht
daraus wenigstens soviel hervor, dass solche Erscheinungen auch auf Grund
struktureller Verhältnisse, wie sie beim Nichtlebenden vorkommen, zu ver-
stehen sind. Womit ich natürlich nicht sagen will, dass die Vorgänge
an den Sehnen sich schon jetzt mit Hilfe dieser Erfahrungen ausreichend
erklären Hessen.
Ein sehr überzeugter Anhänger der „Maschinenstruktur" der lebenden
Substanz ist auch J. Reinke (1899 pag. 85). Da er die Gründe seiner
Annahme etwas genauer darlegt, so mögen sie hier besprochen werden.
Sein Beweis ist insofern ein indirekter, als er zu zeigen sucht, dass eine
chemische Organisation das Wesen der lebenden Substanz nicht sein könne ;
demnach könne es nur in einer Maschinenstruktur gesucht werden. Der
Beweis ist in folgendem Passus enthalten : „Ich habe durch Versuche die
Ueberzeugung gewonnen, dass ein im lebenden Zustand im Mörser zerriebenes
Plasmodium ebensowenig Protoplasma ist, wie eine zu feinem Pulver zer-
stossene Taschenuhr noch eine Taschenuhr sein würde"*).
Ich bestreite die Richtigkeit der angeführten Thatsachen keineswegs;
dagegen sehr, dass hieraus die Berechtigung folge, das Protoplasma mit
einer Taschenuhr zu vergleichen. Denn die Behauptung, worauf Reinke
diesen Vergleich stützt, dass nämlich „im zerriebenen Plasmodium
doch die chemischen B estand theile des Protoplasmas noch
sämmtlich vorhanden sind" (pag. 85), erachte ich nicht nur für
unbewiesen, sondern sogar für sehr unwahrscheinlich. Reinke scheint
zu meinen, dass das lebende Protoplasma des Plasmodiums thatsächlich aus
denjenigen Proteinen bestehe, die er und Rodewald daraus gewonnen
haben. Dies ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da es von vornherein nicht
wohl denkbar ist, dass diese Proteinstoffe, selbst bei der Voraussetzung
irgendwelcher maschinellen Struktur, diejenigen chemischen Stoffwechselvor-
gänge leisten könnten, welche im Plasma thatsächlich stattfinden; um so
weniger, als eine maschinelle Struktur überhaupt nicht die Bedingung
chemischer Vorgänge sein kann. Zudem wissen wir, dass Druckwirkungen
Vorgänge im Plasma hervorrufen, Vakuolisation, schliesslich Auflösung, Zer-
fall, ja häufig auch Gerinnung, welche es wahrscheinlich machen, dass schon
mechanischer Druck genügt, um chemische Zersetzungsprozesse im lebenden
Protoplasma zu veranlassen. Dies ist ja eine nicht sehr geläufige Vorstellung,
welche ich dennoch für recht wahrscheinlich halte. Wir wissen , dass es
genug chemische Stoffe gibt, welche durch mechanische Einwirkungen sich
zersetzen, und wissen andererseits, dass es sich im lebenden Protoplasma
um eine oder mehrere sehr leicht zerfallende Verbindungen handeln muss,
da ja sonst ein solcher Stoffwechsel, wie er thatsächlich besteht, gar nicht
*) J. Reinke u. H. Rodewald, Studien über Protoplasma. Berlin 1881.
Vorwort p. VII.
Anmerkung No. 14.
— 79 —
möglich wäre. Schon Pflüger (1875) stellte sich vor, dass in der lebenden
Substanz fortgesetzt explosive Prozesse stattfänden. Wie gesagt, erscheint
mir daher Reinke's angeblicher Beweis für die „Maschinenstruktur"
des Protoplasmas in keiner Weise zwingend; um so weniger, als alle
Energie, welche diese Maschinenstruktur in Thätigkeit setzt, ja doch von
chemischen Prozessen geliefert würde, und schliesslich mit der Maschinen-
struktur nichts weiter erklärt oder verstanden wird.
15) (zu pag. 21). Die Entwickelungserscheinungen sind in
ihrer Eigenart den Organismen durchaus eigentümlich ; speziell die
Entwickelungserscheinungen der vielzelligen Organismen, wo die Zell-
theilung die Grundlage der Entwickelungsprozesse bildet. Bei den Ein-
zelligen dagegen haben die Entwickelungserscheinungen den Charakter von
Differenzirungen, die ja auch bei der Entwickelung der Vielzelligen, sowohl
für die Einzelzelle als für Zellkomplexe, eine wichtige Rolle spielen.
Nur für Differenzirungsvorgänge kann man in der nichtlebenden Natur ent-
fernte Analogien finden; für Vorgänge also, deren Wesen darin besteht,
dass ein einheitlich gebauter Körper unter Bedingungen, die wesentlich in
seiner eigenen Natur (System) gegeben sind, von den Bedingungen der
Umgebung nur mittelbar abhängen (d. h. nur hinsichtlich des Eintritts oder
Nichteintritts der Prozesse), zu einem System mannigfaltig gestalteter, ver-
schiedenartiger Theile wird. Wie gesagt, kann man für solche Vorgänge
in der anorganischen Natur entfernte Analogien finden; z. B. dann, wenn
ein homogenes heissflüssiges Magma unter langsamer Abkühlung zu einem aus
verschiedenen Mineralien bestehenden krystallinischen Gestein erstarrt, oder
wenn ein Oeltropfen, in dem Seife aufgelöst ist, unter Aufnahme von
Wasser allmählich zu einem Schaumtropfen wird , der sogar in formaler
Hinsicht gewisse gesetzmässige Bildungen zeigt, wie den Alveolarsaum der
Oberfläche. Langsam verlaufende chemische Prozesse lassen sich dagegen
nicht mit formaler Differenzirung und Entwickelung vergleichen. Einfaches
Wachsthum hat weder etwas mit Differenzirung noch Entwickelung gemein,
wenn auch Entwickelung aufs innigste mit Wachsthumsvorgängen zusammen-
hängt. Man redet zwar von der Entwickelung der Krystalle, doch hat
dies höchstens insofern einen Sinn , als man die Lösung sammt den sich
darin bildenden Krystallen gleichzeitig ins Auge fasst. Die Zelltheilung, welche
ja das eigentliche Fundament der Entwickelung vielzelliger Wesen bildet,
muss in letzter Instanz von der Wirkung zweier besonders gearteter Centren
in der Zelle bedingt sein; denn ohne die besondere Natur und Wirkung
zweier Centren (oder auch Pole eines Centralkörpers) , deren Aktion man
sich nun so oder anders denken mag , wird die Selbsttheilung einer Masse
in zwei nicht begreiflich sein. Etwas in der Zelle , sei es Centrosom oder
Kern, muss daher polar gebildet sein, etwa vergleichbar einem quadratischen
oder hexagonalen Krystall mit seinen beiden Polen.
16) (zu pag. 21) Krystalle. Der nicht selten ausgeführte Vergleich
zwischen dem lebenden Individuum und dem Krystall wird zwar häufig an-
gezweifelt; ob mit Recht scheint mir sehr fraglich. Jedenfalls gibt es auf
Anmerkung No. 15 — 16.
80 —
anorganischem Gebiet, abgesehen von dem Flüssigkeitstropfen, überhaupt
nichts anderes als das Krystallindividuum, was wenigstens in einzelnen Be-
ziehungen mit dem lebenden Individuum vergleichbar wäre. Beide haben
eben die charakteristische Eigenthümlichkeit gemein, dass sowohl ihre
äussere Gestalt als ihre innere Struktur wesentlich durch innere Beding-
ungen bestimmt werden; die äusseren Bedingungen beeinflussen wenigstens
nicht direkt und unmittelbar, sondern nur indirekt Form und Struktur. Einwände
wie der O. Lehmann's (1900), welcher den Begriff des Individuums dess-
halb für Krystalle nicht anwendbar hält, weil letztere „keine untheilbaren
Wesen — Individuen" - - seien, sind natürlich ohne Bedeutung, da sie von
der irrigen Meinung ausgehen, dass zum Charakter des lebenden Individuums
die Untheilbarkeit gehöre. Warum eigentlich Albrecht (1899 pag. 65 Anm.)
neuerdings wieder scharf gegen jeden Vergleich von Krystall und Organis-
mus auftritt, da „der Begriff des Individuums für den Krystall unzulässig
erscheint, wie er denn noch weniger als anorganisches Individuum
dem organischen entgegengesetzt werden darf, vermag ich nicht einzu-
sehen. — Die von den Krystallographen in neuerer Zeit gegebenen Defini-
tionen von Krystall beziehen sich eigentlich nur auf die innere sog. Struktur,
d. h. die krystallinische Beschaffenheit der Substanz, lassen dagegen die für
den Krystall als Individuum (im Gegensatz zu der Umgebung) doch
charakteristische äussere Begrenzung, die Form, ganz ausser acht, und
kommen so zu dem Schluss, dass die äussere Form in der Definition der
Krystalle ganz zu vernachlässigen sei. So z. B. Groth (1895 pag. 245
cit. nach Lehmann): „Ein Krystall ist ein homogener anisotroper fester
Körper"; wogegen Lehmann einerseits die Homogenität als nicht charakte-
ristisch streicht, andererseits das geordnete Wachsthum für charakteristisch
erklärt,, indem sich die neu angefügten Theilchen parallel den schon vor-
handenen anordneten, und dies Wachsthum auf eine molekulare Richtkraft
zurückzuführen sucht. Auf diese Weise gelangt er zu der Definition, dass
ein Krystall „ein anisotroper, mit molekularer Richtkraft begabter Körper"
sei (p. 696).
Beide Definitionen beziehen sich, wie gesagt, auf krystallinische Sub-
stanz, jedoch nicht auf ein Krystallindividuum, da sich aus ihnen ja auch
in keiner Weise ergibt, dass ein Krystallindividuum von ebenen, unter ge-
wissen gesetzmässigen Winkeln sich schneidenden Flächen begrenzt wird ;
was auch nicht als nothwendige Folge der Definitionen einzusehen ist.
Die Groth'sche Definition gilt ferner auch für gedehnte und gepresste sog.
amorphe Körper. Die Leh man n' sehe, welche diese Unsicherheit ver-
meidet, da sie das geordnete Wachsthum als etwas charakteristisches zufügt,
muss doch gerade desshalb den eigentlichen Charakter der krystallinischen
Substanz in die Natur jener Theilchen verlegen, die sich in paralleler Rich-
tung anordnen sollen und daher irgendwie schon ungleichmässig gebaut sein
müssen; was ja auch in ihrer „molekularen Richtkraft" sich ausspricht.
Für die eventuellen Beziehungen zwischen Krystall und organisirtem
Individuum dürften die sog. flüssigen Krystalle Lehmann's von besonderer
Anmerkung No. 16.
— 81
Bedeutung sein, da sie die äussere Form des flüssigen Gleichgewichts-
zustandes, der ja auch bei den einfachsten Organismen die Grundform
zu sein scheint, mit krystallinischen Eigenschaften der Substanz vereinigen.
Obgleich ich die Natur dieser flüssigen Krystalle nicht für genügend auf-
geklärt erachte, halte ich sie, wie gesagt, doch für sehr bedeutungsvoll für
die Beurtheilung organisirter Gebilde.
Sehr beachtenswerth für die Erscheinungen des Organismus sind auch
die Uebersättigungs- und Ueberschmelzungsphänomene und deren Uebergang
in stabile Zustände (Phasen) durch Zufügung kleinster Mengen (Keime,
Ostwald) des stabilen Zustandes. Obgleich ja ein solcher Uebergang
zuweilen ganz zufällig, unter unaufgeklärten Bedingungen, wie eine Art
Urzeugung, eintreten kann, worauf Errera (1899) für das Glycerin hin-
gewiesen hat, so ist er doch in keiner Weise vergleichbar mit dem Ent-
stehen eines Organismus. Trotzdem aber haben diese Vorgänge ihre grosse
Bedeutung für die Lebenserscheinungen.
Haeckel hat gewisse im Plasma entstehende Produkte Biokrystalle
genannt, so die Kiesel- und Kalknadeln der Spongien und dergleichen.
Wenn damit ausgedrückt werden soll, dass solche Bildungen eine Art
Mittelding zwischen wirklichen Krystallen und lebenden Bildungen seien,
so scheint mir dies unzutreffend. Das Verhalten jener Gebilde spricht
keineswegs für eine solche Auffassung. Sie sind theils amorphe, theils
krystallinische Substanz von anorganischer Natur und haben nichts an sich,
was die Annahme einer solchen Mittelstufe rechtfertigte.
17) (zu pag. 22). Form. Neuerdings erörterte auch J. C lassen
die Möglichkeit der „mechanischen" Erklärung des Lebens und der
Organismen. Er gelangt zu dem Ergebniss, dass das Geheimniss des Lebens
in der besonderen Form des Organischen enthalten sein müsse. Was das
Allgemeine der Frage angeht, so muss ich betonen, dass C lassen in
seiner Schrift stets von einer Rückführung auf „Mechanik" und auf die
„Prinzipien der mathematischen Mechanik" spricht, obgleich er selbst meint,
dass diese nicht einmal für das Begreifen der Vorgänge in der anorganischen
Welt ausreichten. Ich hob in dieser Schrift mehrfach hervor, dass ich nicht
von einer mechanischen Erklärbarkeit der Lebenserscheinungen rede, sondern
von einer mechanistischen, und dass diese die Frage nach der Mechanik
ruhig den betreffenden Disciplinen der anorganischen Welt überlassen kann;
soviel oder so wenig mechanisch Erklärbares diese enthalten, so viel oder
so wenig wird davon auch auf die mechanistische Deutung der Lebens-
prozesse übergehen.
C lassen erörtert an dem Beispiel des in einem Loch einer Membran
aufgehängten Wassertropfens recht treffend, dass ein solcher Tropfen, unter
geeigneten Bedingungen und unter Bewahrung seiner Form, wachsen oder
sich verkleinern kann; dass er ferner einem Wechsel seiner Substanz unter-
liegen kann, sowie unter Beibehaltung seiner Gestalt sich bei hinreichendem
Anwachsen durch Abschnürung eines Tropfens sogar zu theilen vermag; also
unter Stoffwechsel und Wachsen seine Form erhält und sich sogar theilt. Hieraus
Bütschli, Mechanismus und Vitalismus. 6
Anmerkung No. 16 — 17.
— 82 —
schliesst er, dass diese Erscheinungen „noch nicht den Begriff des Lebens
bilden, denn Niemand wird diesen Tropfen lebendig nennen wollen" (pag. 13).
Anschliessend hieran bemerkt er: „Ich glaube nicht zuviel zusagen, wenn
ich behaupte, dass wir den Tropfen eben desshalb nicht lebendig nennen,
weil wir bei all' den genannten Vorgängen gerade noch übersehen
können, dass sie einfach mechanischer Natur sind. So scheint es also
direkt im Begriffe des Lebens, wie wir denselben zu verwenden gewöhnt
sind, zu liegen, dass dasselbe eben über jedes mechanische Verstehen
hinausgeht."
Hier liegt nun ein offenbarer Trugschluss vor. Nicht desshalb scheint
mir der Tropfen nicht lebendig, weil ich sein Wachsen, seinen Stoffwechsel,
sein Theilen mechanisch verstehe; sondern weil ich bestimmt weiss, dass
zwar dieser Stoffwechsel, dieses Wachsen und Theilen des Tropfens eine
allgemeine Analogie in seinem Endergebniss mit Erscheinungen am ein-
fachsten Organismus hat , dass aber diese Erscheinungen in dem Organis-
mus ganz andere sein müssen, einen anderen eigenartigen Verlauf nehmen
müssen, welcher auf viel verwickeiteren Bedingungen beruhen muss, als
dies bei dem Wassertropfen der Fall ist. Wenn jedoch der Wassertropfen
auf mechanistisch verständliche Weise Erscheinungen zeigt, die in ihrem
Endergebniss Aehnlichkeit mit gewissen des lebenden Organismus haben,
so vermag gerade dies die Ueberzeugung zu befestigen, dass auch jene
Erscheinungen der wirklich lebendigen Körper dem mechanistischen Ver-
ständniss zugänglich sein dürften. Wer solche Schlussfolgerung zieht, wie
Classen, gehört zu jenen Eliminationsvitalisten, die alles, was sich mecha-
nistisch erklären lässt, als nicht zu der eigentlichen Lebensthätigkeit gehörig
erachten. Wie gesagt, gelangt Classen schliesslich zu dem Ergebniss,
dass in der „Form etwas Besonderes stecken müsse" (pag. 14),
und dass sie gerade das Besondere des Lebenden, das Unterscheidende
von dem Nichtlebenden sei. An einem etwas eigentümlichen Beispiel wird
darauf zu zeigen versucht, „dass für das Zustandekommen einer
Form ausser dem Gesetz (das hier soviel heissen soll, wie Energie,
Kräfte) noch eine besondere Prädisposition bestehen muss";
und ferner angedeutet, dass diese Prädisposition in einer Art besonderer Struktur
der lebenden Substanz („Verhältnisse der elementarsten Theile im Körper")
zu suchen sei. Im Allgemeinen dürfen wir sagen, diese Prädisposition,
welche Classen verlangt, ist nichts anderes, als derjenige innere Beding-
ungskomplex, der ja auch unserer Meinung nach vorhanden sein muss,
wenn eine Form bestehen oder sich bilden soll. Wie ein solcher Beding-
ungskomplex entstehen konnte, das ist ja das grosse Geheimniss; und die
Frage, ob er sich auf natürlichem Wege bilden konnte, oder ob etwas, der
nichtlebenden Natur Mangelndes hinzukommen musste, ist der eigentliche
Angelpunkt des Streits zwischen Mechanismus und Vitalismus.
Auf Grund dieser Ansichten über die besondere „Prädisposition" der Form
kommt dann Classen zu folgender Definition des Lebendigen (p. 16): „Ein
Körper ist leb endig, wenn er unter beständigem Wechsel des
Anmerkung No. 17.
— 83 —
Stoffes immer wieder dieselbe Form erzeugt. Welches die
typische Form ist, ist in jedem Fall zu bezeichnen, dass sie
immer neu entsteht, ist zu beobachten, der Stoffwechsel ist
nachzuweisen." Ich frage: ist denn die Form etwas, was in der an-
organischen Welt so ganz fehlt; muss denn bei dem von Classen an-
geführten Wassertropfen, der 'stets seine Form beibehält, nicht auch eine
Prädisposition für diese Form vorhanden sein, und nicht ebenso bei jeder
bestimmten chemischen Substanz, die stets wieder in derselben Krystallform
krystallisirt? Ich frage ferner, ist denn etwa der Stoffwechsel des Organis-
mus so zu verstehen, dass Stoff und Form von einander unabhängig wären,
oder wechselt nicht der Stoff im Organismus so, dass trotzdem auch das
Stoffliche sich immer wesentlich gleich bleibt ? Hat denn die Form für das
Erkennen des Lebendigen die Bedeutung, welche ihr Classen in obiger
Definition zuschreibt? Ist es wirklich nothig, dass ich beobachte, „dass
dieForm immer neu entsteht", um zu wissen, ob ein Körper lebendig
ist oder nicht? Um letzteres zu entscheiden, bedarf es doch in den meisten
Fällen keiner Beobachtung des Entstehens neuer Formen; und wie viel sterile
lebende Wesen existiren, welche nie eine neue Form zu erzeugen vermögen,
obgleich Niemand in Verlegenheit sein wird, zu entscheiden, ob sie leben
oder nicht. In diesem Sinne lässt sich daher die Form nicht in die Defi-
nition des Lebenden einführen. Und wenn heute ein Wesen existirte, das
nie im Stande wäre, seine typische Form neu zu erzeugen, sondern fort-
gesetzt atypische, abweichende hervorbrächte, es würde ihm Niemand den
Charakter des Lebendigen absprechen, wenn es nur im übrigen lebte.
Nein darin liegt das Geheimniss des Lebens nicht. Man könnte viel-
mehr mit Bunge in gewissem Sinne sagen: „Das Geheimniss des
Lebens liegt in der Aktivität"; zwar nicht, in dem Bunge 'sehen Sinne,
in einer metaphysischen Aktivität, sondern in einer auf inneren Bedingungen
beruhenden, von gewissen äusseren abhängenden Aktivität des lebenden
Körpers, die sich im Wachsen, Bewegen, Vermehren und anderen Thätig-
keiten äussert oder doch äussern kann, und wozu die Substanzen und Ener-
gien durch im Innern des Lebenden stattfindende Prozesse, auf Grund eines
ganz besonders gearteten Chemismus, geliefert werden.
Hieraus folgt dann als letztes, dass eigentlich der eigenartige, von ganz
besonderen chemischen Einrichtungen bedingte Stoffwechsel des Organis-
mus dasjenige ist, was ihn in letzter Instanz charakterisirt; weil er es ist,
von dem jene Aktivitätserscheinungen abhängen. So sagt denn auch z. B.
Hering (1889 pag. 35) sehr treffend: „Das wesentliche Merkmal, durch
welches sich für die physiologische Betrachtung die lebendige Substanz von
der todten unterscheidet, ist ihr Stoffwechsel." Die Form dagegen hängt als
Gleichgewichtszustand von der Erfüllung formaler physikalischer Bedingungen
ab; sie hat für den einfachsten Organismus, der ja eigentlich formlos sein
kann, nur eine sehr geringfügige Bedeutung. Im komplizirten Lebewesen da-
gegen erlangt sie allmälig eine immer mehr steigende Bedeutung, da sie es
ist, welche das Maschinelle im höheren Organismus darstellt. Dieses bewirkt,
Anmerkung No. 17. 6*
— 84 —
dass die Aktivität der lebendigen Substanz Erhaltungs- oder Zweckgemässes
leistet, wie es die allmählich sich steigernden Anforderungen bedingen.
Das Verhältniss der Form zu der Energie bedarf noch einiger Be-
merkungen. Die moderne Energetik nimmt scheinbar keine Rücksicht auf
die Form. Da jedoch in das Mass der mechanischen Energie, '/'2 rnv2, welches
grundlegendes Vergleichsmaass für Energie überhaupt ist, die Masse ein-
geht, und Massenvergleichung verschiedener Substanzen nur auf Grundlage
gleichen Volums, also einer gewissen Form möglich ist, so erscheint auch
der Energiebegriff nicht unabhängig von der Form, sondern setzt sie vor-
aus. Ein Begreifen der Formen kann daher auch wohl nicht durch energe-
tische Betrachtungen ermöglicht werden; eher kann man ja umgekehrt argu-
mentiren, insofern die Oberflächenenergie und Volumenergie von der Form
abhängen und die Schwere von Lagebeziehungen, also formaler Anordnung
der Dinge. Indem die energetischen Betrachtungen von den formalen Ver-
hältnissen der Dinge möglichst abstrahiren, beschränken sie sich auf das
Begreifen des allgemeinen Verlaufs der Prozesse, der Zustandsänderungen,
sind dagegen ausser Stand die wirkliche Welt, in welcher Form und Anordnung
die Grundlage bilden, zu begreifen. Eine Andeutung dieses Gedankens finde
ich bei O. Wiener, wenn er betont (pag. 38), dass der Energiebegriff zur
Darstellung vieler und gerade der einfachsten physikalischen Erscheinungen,
z. B. der Bewegungserscheinungen, nicht umfassend genug sei; denn „es
kommt ihr" (der Energie) „keine Richtung zu". Hiermit ist eben das
Formale betont, welches neben der Energie als bedingender Faktor in alle
Vorgänge eingeht.
18) (zu pag. 22) Generatio aequivoca. Lotze's Stellung zur
Frage nach der Generatio aequivoca ergibt sich aus seinem Aus-
spruch 1842 pag. 45. „Sie (die Physiologie) kann als ersten Grund dieser
durch den Prozess der Gattung kontinuirlich fortlaufenden Reihe von Ent-
wickelungen nur eine über das Gebiet der Naturwissenschaft hinausliegende
Schöpfung, nicht aber eine selbst nach mechanischen Prinzipien folgende
zufällige Entstehung annehmen". Im Nachfolgenden wird dieser Ausspruch
jedoch modifizirt, da er ihn nur für das Entstehen der höheren Organismen
festhalten will, deren komplizirter Bau die direkte Entstehung unmöglich
mache; wogegen die Generatio aequivoca für die einfachsten denkbar sei;
für letztere könne hierüber nur die Erfahrung entscheiden. (Vergl. auch
1856 pag. 92).
Es verdient vielleicht daran erinnert zu werden, dass ein so enragirter
Vitalist wie Schopenhauer doch keinerlei Bedenken gegen die Urzeug-
ung hatte; wie ja die älteren Vitalisten diese Meinung fast allgemein ver-
traten, (s. Parerga, Philosophie der Natur, pag. 162).
Roux (s. Ges.-Abh. I. pag. 409 ff.) hat meiner Ansicht nach das Problem
der Urzeugung insofern nicht unwesentlich vertieft, als er erläuterte, dass
auch die einfachsten jetzt lebenden Organismen (er spricht von Moneren)
schon als Produkte phylogenetischerFortbildung und Entwickelung anzusehen
seien, denen eine Epoche allmählicher Entwickelung lebendiger Substanz
Anmerkung No. 17—18.
— 85 —
vorausgegangen sein müsse. Auch ich erachte es für wahrscheinlich, dass
einfachste Organismen von der Form und den Leistungen, wie wir sie heute
kennen, nicht durch einen zufällig zusammengetretenen Bedingungskomplex
entstanden ; sondern dass zunächst assimilationsfähige organische Substanz
sich bildete, von der ausgehend weitere Entwickelung statthatte. Immer-
hin sind die Leistungen der einfachsten Organismen, der primitivsten Bak-
terien, doch so einfacher Art, dass die Möglichkeit ihres direkten Entstehens,
— die Existenz hochkomplizirter organischer Stoffe vorausgesetzt — unter
gewissen Bedingungen nicht ganz undenkbar scheint.
19) (zu pag. 24). Ueber Zufall und Zweck vergl. auch die, sich mit
meinen Anschauungen vielfach berührenden Erörterungen von Albrecht
(1399 pag. 52—56, sowie die gute Kritik 1900).
20) (zu pag. 28) Zufall. Schon Mach (1896 pag. 438 ff.) würdigte die
Bedeutung des Zufalls für die Entwickelung der Technik und Wissenschaft
richtig. Als Beispiele für die zufälligen Fortschritte der Wissenschalt führt
er an: die Galvani'sche Entdeckung, die Beobachtung der Lichtpolarisation
durch Malus, des Sehpurpurs durch Boll und der sog. X-strahlen durch
Röntgen. „Analoge Prozesse laufen im technischen Leben ab, und können
durch die Erfindung des Fernrohres, der Dampfmaschine, der Lithographie,
der Daguerrotypie u. s. w. erläutert werden". Auch für die Entwickelung
der ersten Kultur scheint ihm der Zufall massgebend.
Charakteristisch für Mach ist, dass er auch den gesammten Ent-
wickelungsgang menschlichen Wissens für einen mit der Darwinschen
Ansicht über die Entwickelung der Organismen vergleichbaren hält. Er
spricht daher von „Umbildung und Anpassung im naturwissen-
schaftlichen Denken". Aehnliche Anschauungen wurden nach seiner
Angabe auch schon von Spencer entwickelt. Ich bin der Meinung, dass
Mach auch in diesem Punkt wesentlich recht hat; indem er annimmt, dass
sich das Denken durch Associationen den beobachteten Vorgängen „an-
passt", und dass bei auftretenden neuen Erscheinungen, welche mit dem
seitherigen Denken kontrastiren (Problemen), eine entsprechende Umwand-
lung der Denkgewohnheit, eine neue Anpassung statthaben müsse. Zufügen
möchte ich noch, dass diese Umbildung des Denkens bei Eintritt einer neuen
Erscheinung (Thatsache) zu sehr verschiedenen Ergebnissen (Variationen)
führen kann, von denen jedoch nur dasjenige sich erhalten wird , welches
zweckmässig (ökonomisch nach Mach) ist, d. h. nicht zu Erfahrungswider-
sprüchen führt; und welches von Erfahrungen ausgeht, nicht von willkür-
lichen Erfindungen, da letztere eine Komplikation, nicht eine Vereinfachung
oder Oekonomie des Wissens herbeiführen würden.
Dass auch die entgegengesetzte Meinung über das Verhältniss von Zu-
fall und physikalischen Entdeckungen vertreten wird, beweist folgendes
Citat aus O. Lehmann's Schrift „Physik und Politik (Karlsruhe, G.
Braun, 1901 pag. 54). ,,Nie ist eine physikalische Entdeckung
durch Zufall gemacht worden". Diese fast paradox klingende Be-
hauptung, welche ja, so zu sagen, a priori unmöglich erscheint, da für die
Anmerkung No. 19 — 20.
— 86 —
Mehrzahl der grundlegenden Entdeckungen gar kein anderer Weg als
der zufällige denkbar ist — denn wie anders sollte z. B. entdeckt wor-
den sein, dass der Magnetstein Eisen anzieht? klärt sich jedoch bei
genauerem Zusehen auf. Lehmann fährt nämlich fort: „Stets ist sie
(die physikalische Entdeckung) herangereift durch die rastlosen Be-
mühungen und das unablässige Forschen sehr Vieler und nicht eines Ein-
zelnen . . . ." Hieraus folgt, dass Lehmann hier unter Entdeckung eigent-
lich den weiteren Ausbau einer ursprünglichen Entdeckung zu ihrer späteren
vollendeten Gestalt versteht, welcher natürlich nicht das Ergebniss eines
Zufalls ist, wohl aber unter dem Einfluss zahlreicher zufälliger Gedanken-
kombinationen vieler Forscher zu Stande kam, wie ich dies schon darzulegen
suchte. Ich kann daher nur wiederholen, dass der Zufall auch für die
Entwickelung der Physik, wie die jeder Wissenschaft, eine wesentliche
Bedeutung hat.
21) (zu pag. 31). Wenn es erlaubt ist, sich über die Dunkelheit eines
Begriffes zu beklagen, so gilt dies gewiss für den des Zwecks. Zwar
was der Zweckbegriff besagt, das ist klar; dagegen welcher Zweck bei
irgend einem besonderen Geschehen vorliegt, das weiss ich doch zunächst
nur für meine eigenen Handlungen sicher, für die der Mitmenschen in der
Regel nur durch ihre Aussagen; sehr häutig bleibt mir aber schon hier der
Zweck höchst dunkel. Stets aber wird die Feststellung des Zweckes der
Handlung eines Anderen (insofern er ihn nicht selbst angibt) ein mehr oder
minder sicheres Urtheil sein, zu dem ich auf Grund derjenigen Erfahrungen
gelange, welche ich über mein eigenes zweckmässiges Handeln besitze;
d. h. ich werde analysiren müssen, welche Wunschvorstellung suchte der
Betreffende durch seine Handlung zu erreichen. — Eine andere Art der Be-
urtheilung der Zweckmässigkeit einer Handlung wäre dagegen die, dass
ich jene Handlung im Hinblick auf ein Urtheil, welches ich mir über das
wünschenswerthe Verhalten des Betreffenden gebildet habe, als dessen
Zweck beurtheile. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass ich die
Handlung dann nicht hinsichtlich ihres immanenten Zwecks beurtheile,
sondern mittelst eines von mir angelegten Zweckmässigkeits- Massstabes.
Wenn sich ein Mensch todtschiessen will und dies richtig erreicht, so war
diese Handlung durchaus zweckmässig, insofern er den Wunsch hatte,
sich zu ermorden und hierzu die richtigen Mittel wählte ; dagegen kann mir
diese Handlung im höchsten Masse unzweckmässig erscheinen, im Hinblick
auf die Familie des Selbstmörders, welche dadurch in Noth und Elend ge-
räth. — Im Hinblick auf das Geschehen in der Natur, für welches ich Motive
oder Zwecke nie wirklich kenne, wird daher die Beurtheilung stets von
der zweiten Art sein; ich muss mich stets zuerst schlüssig machen, zu ur-
theilen, was ich denn eigentlich erwarte, dass geschehen sollte. Für die
unorganische Natur wird nun allgemein zugegeben, dass unter bestimmten
Bedingungen nur eines geschehen kann; daher entzieht sie sich einer
Zweckbetrachtung in ihrem Einzelgeschehen durchaus. In der lebenden
Welt dagegen variirt das Geschehen im Organismus unter wechselnden und
Anmerkung No. 20 — 21.
— 87 —
nicht scharf präcisirbaren Bedingungen so sehr, dass sich ein Urtheil über
das, was die einzelnen Theile eigentlich sollten, was ihr Zweck oder Ziel
sei, aufdrängt. Dabei ist jedoch nie zu vergessen, dass dies eben ein
Urtheil ist, welches nur die bekannte Normalleistung der Theile mit dem
Charakter des Sollen ausstattet. Sobald wir den Gesammtorganismus in
seiner Umgebung betrachten, wird dies Zweckurtheil meist höchst unbe-
stimmt und willkürlich. Was soll er hier? Er tritt wie ein anorganisches,
regelmässiges Geschehen in das Gesammtgetriebe ein. Bei dergleichen all-
gemeinen Erscheinungen in der Natur tritt eben die Willkürlichkeit und
Bedeutungslosigkeit der ganzen Zweckbeurtheilung hervor. — Nehmen wir
die häufig erörterte Angelegenheit der massenhaften Ueberproduktion wieder
zu Grunde gehender Keime in der Lebewelt, die vielfach als unzweck-
mässig, als Verschwendung bezeichnet und gegen die Ansicht von der Zweck-
mässigkeit aller biologischen Vorgänge eingewendet wurde. C. E. v. Bär
setzte diesem Vorwurf die schönen Worte entgegen: „Die Sparsamkeit
aber, die eine Nothwendigkeit für den Armen, ein Vortheil für den Wohl-
habenden, eine Zierde für den Reichen, wird wenigstens ganz überflüssig und
zwecklos bei dem unendlich Reichen." — Will ich dieses Problem vom Stand-
punkte der Zweckmässigkeit wirklich behandeln, so muss ich doch zunächst
ein Urtheil darüber gewinnen, welchen Zweck denn die Natur bei dieser
Erscheinung verfolge. Gerade dies aber geschieht in dem, was Bär sagt,
nicht; vielmehr wird darin nur ausgesprochen, dass Sparsamkeit dieser
Zweck nicht sein könne, indem diese für die Natur „zwecklos" wäre.
Demnach bliebe eben auch hier wieder als Zweck nur das übrig, was eben
gescnieht, und was, natürlich ebenso unberechtigt, da gleichfalls von anthro-
pomorph-teleologischer Beurtheilung diktirt, als Verschwendung bezeichnet
wurde. Die teleologische Beurtheilung fördert eben hier nicht im geringsten.
Dagegen können wir auf Grund der Entwicklungslehre diese Erscheinung
zwar nicht als eine zweckmässige verstehen, aber doch als einen Faktor,
ohne dessen Bestehen die Organismenwelt sich nicht in der Weise hätte
entwickeln können, wie wir sie heute vorfinden.
22) (zu pag. 31). C. E. v. Bär, welcher die sog. „Zielstrebigkeit"
als teleologisches und eingestandenermassen metaphysisches Prinzip für das
Begreifen des Lebenden nothwendig erachtete, war doch, im Gegensatz zu
neueren Vitalisten, darüber klar, dass zweckmässiges Geschehen als Er-
klärungsprinzip, ohne Voraussetzung eines vernünftigen, zwecksetzenden
Bewusstseins, eine willkürliche Hypothese sei. Er sagt hierüber ganz treffend :
,, Einen Zweck können wir uns nicht anders denken als von einem Wollen
und Bewusstsein ausgehend In einem solchen wird denn auch das Ziel-
strebige seine tiefste Wurzel haben, wenn es uns als ebenso vernünftig wie
nothwendig erscheint" (74/75 Reden II pag. 473 citirt nach S t ö 1 z 1 e). „Es
sind Gedanken oder Aufgaben, welche die Naturgesetze bei der Erzeugung
der Thiere verfolgt haben, darum findet man die einzelnen Theile immer
in Harmonie". Dies vernünftige metaphysische Prinzip erscheint bei Bär
schliesslich als „geistiger Weltgrund", als „Schöpfer".
Anmerkung No. 21 — 22.
— 88 —
Wenn wir uns hier gegen ein teleologisch-vitalistisches Erklärungs-
prinzip der Organismen verwahren, so haben wir dabei nur das Eingreifen
eines solchen Prinzips in die kausale Abhängigkeit des Geschehens inner-
halb der bestehenden Welt im Auge. Sobald wir dagegen in das Meta-
physische fortschreiten, d. h. nach dem fragen, was hinter oder vor dem
liegt, von dem, als gegeben ausgehend, wir zu begreifen vermögen ; wenn
wir nach letzten Gründen fragen, oder auch nur bedenken, dass in der nicht
künstlich von uns geregelten Welt das meiste Geschehen für uns ein zu-
fälliges ist, obgleich alles Einzelne kausal bedingt erscheint, so können wir
mit Niemanden rechten, der an den Anfang ein teleologisch-metaphysisches
Prinzip stellt, welches den Gang des Ganzen so vorausgesehen und ge-
ordnet habe, dass er in der gewünschten und als zweckmässig erachteten
Weise verlief.
23) (zu pag. 32). So sagt z. B. G. Wolff (1894, 3. Abh.) : „Die zweck-
mässige Anpassung ist das, was den Organismus zum Organismus macht,
was sich uns als das eigentliche Wesen des Lebendigen darstellt. Wir
können uns keinen Organismus denken (!) ohne dieses Charakteristikum".
Hierauf könnte man fragen: Ist eine nur wenige Stunden oder Tage
lebensfähige, also gewiss sehr unzweckmässige Missgeburt kein Organismus?
24) (zu pag. 34) Darwinismus. Wie aus dem Gesagten hervorgeht,
erscheint mir die Stellungnahme zur Darwinschen Lehre oder irgend
einer möglichen Lehre, welche, unter Voraussetzung der prinzipiellen Iden-
tität des Geschehens in der Welt der Anorganismen und der Organismen,
die Entstehungsmöglichkeit erhaltungs- oder zweckmässig organisirter, sowie
innerhalb gewisser Grenzen entsprechend reagirender Lebewesen begreiflich
macht, als der eigentlich springende Punkt in dem Problem des Mecha-
nismus und Vitalismus. Ich muss mich jedoch hier damit begnügen,
diese Meinung hervorzuheben, indem es unmöglich ist, diese Darstell-
ung durch eine eingehende kritische Untersuchung über die Grundlagen
des Darwinismus und der sonstigen Versuche zur Erklärung der Zweck-
mässigkeit ins Ungemessene zu erweitern. — Betonen muss ich jedoch,
dass mich das Studium der neueren Kritiker der Darwinschen
Lehre nicht davon überzeugte, dass sie „ein Kuriosum unseres Jahr-
hunderts wie die Hegel 'sehe Philosophie sei"; obgleich ich dies Urtheil
hinsichtlich der letzteren theile. Im Gegentheil scheint mir die Meinung
Nägeli's, eines Kritikers des speziellen Darwinismus, sehr zutreffend
(1884 pag. 507): „Der geniale Gedanke Darwin's, dass in der orga-
nischen Natur nur solche Einrichtungen zur Ausbildung gekommen sind,
welche dem individuellen Träger Nutzen gewähren, ist so einfach, so
naturgemäss und so sehr in Uebereinstimmung mit aller Erfahrung, dass
die hier allein kompetente Physiologie unbedingt zustimmt und sich
höchstens verwundert, dass nicht schon langst ein Columbus dieses physio-
logische Ei festgestellt hat". Inwiefern der Darwinismus, der historisch
Gewordenes zu erklären versucht, dies erreichen kann, wurde schon im
Text pag. 6—7, im Hinblick auf die Natur alles historisch Entstandenen, zu
Anmerkung No. 22 — 24.
— 89 —
erläutern versucht. Ich bin auch nicht der Meinung, das die ursprüngliche
Darwinsche Lehre schon die mögliche allgemeine Lösung des Problems
enthielt; wenn ich auch den Kritikern nicht zustimme, welche der Lehre
einen Hauptvorwurf daraus machen, dass sie ja die Bildung und Ent-
stehung der Form, d. h. die Variation, nicht erkläre, sondern als gegebene
Thatsache zu Grunde lege. Es war gar nicht Darwin 's Bestreben, die
Form und ihr Hervorgehen aus physiko-chemischen oder sonstigen Beding-
ungen erklären zu wollen , obgleich seine Nachfolger häufig genug ver-
kannten, dass dies Problem als ein besonderes neben dem Darwinismus
stehe, es vielmehr durch ihn gelöst wähnten. Darwin war nicht ohne
Schuld an der Verbreitung solch' irriger Meinungen. Indem er in seiner
Lehre der Uebertragung erworbener Charaktere eine wichtige Stelle anwies
und andererseits das Entstehen solch' erworbener Charaktere auf äussere
Einwirkungen zurückzuführen suchte, erweckte er selbst die Vorstellung,
dass auf diesem Wege eine mechanistische Lösung des Problems der
Formbildung möglich sei.
Auf solche Weise wurde er denn auch zu jener willkürlichen Um-
schreibungshypothese, der Pangenesis, geführt, welche zuerst dazu beitrug,
durch ihre Konsequenzen seinen unhaltbaren Standpunkt in der Variations-
frage zu durchschauen.
Mit der Ansicht, dass die vererblichen Variationen Keimvariationen sind,
welche ich schon 1876 vertrat, wurde die Lehre von diesen mechanistischen
ungerechtfertigten Ansprüchen befreit und auf ihren naturgemässen Boden
zurückgeführt, d. h. den historischen Sie sucht die Möglichkeit zu erweisen,
dass unter den erfahrungsgemäss vorhandenen Bedingungen das gegebene
oder entstehende Zweckmässige sich erhalte, das Unzweckmässige dagegen
ausgemerzt werde, und dass auf solche Weise, mit Rücksicht auf die un-
zweifelhafte Veränderung der äusseren Bedingungen im Laufe der erd-
geschichtlichen Zeiträume, eine Umgestaltung der Organismenwelt, unter
steter Wahrung zeitlicher und örtlicher Zweck- und Erhaltungsmässigkeit,
eine logisch nothwendige Folge aus den gegebenen Prämissen sei. Dass
diese Lehre die Nöthigung enthalte, es müsse die Umbildung oder Variation
in Inkrementen oder Differentialen fortschreiten, kann ich nicht zugeben,
indem dies sogar für viele Keimvariationen, wie Vermehrung der Segmente
und Radienzahl, Vermehrung von Organen überhaupt, ausgeschlossen er-
scheint. Dagegen ist auch bei Differentialvariation die Auslese eines ge-
wissen Durchschnittes durchaus nichts Unmögliches.
Ebensowenig erblicke ich darin, dass zweckmässige Variationen angeb-
lich nur in geringer Zahl auftreten sollen, eine besondere Schwierigkeit. Denn
wenn es sich um Keimvariationen handelt, so müssen diese irgendwie bedingt
sein. Unter diesen Umständen liegt es doch am nächsten, die Aenderung der
äusseren Verhältnisse, welche auch allein die Bedingungen für die Ver-
änderung der Organismen enthalten müssen, als diejenigen zu betrachten,
welche den Bedingungskomplex der Propagationszellen so änderten, dass
ein abweichendes Entwicklungsprodukt hervorging. Wenn es sich aber um
Anmerkung No. 24.
— 90 —
allgemeine Aenderung der äusseren Bedingungungen handelt, welche auf
die Mehrzahl der vorhandenen Individuen in gleicher Weise wirkten, so ist
auch die Wahrscheinlichkeit sehr gross, dass die Variation in derselben
Weise bei zahlreichen Individuen auftritt. Es wird sich dann darum
handeln, ob unter den gegebenen Bedingungungen ein mehr oder weniger
zweckmässiges Variiren möglich ist oder nicht. Im letzteren Falle wird
die Art aussterben.
25) (zu pag. 34). Die Schopenhauer'sche Argumentation halte ich
jedoch auch vom teleologischen Standpunkt aus nicht für ganz richtig. Die
„Termitennester" als solche bilden nicht das Zweckmotiv, wenn der Vorgang
nach Analogie einer bewussten zweckmässigen Handlung gedacht wird; denn
die Zweckvorstellung wäre doch nicht das Termitennest, sondern das
Aus fressen des Termitennestes mit einer dazu geeigneten
langen Zunge. Die Termitennester bedingten daher nur das Eintreten
des eigentlichen Zweckmotivs, ebenso wie sie nach der Darwinschen
oder einer ähnlichen, nicht teleologischen Lehre als eine der Bedingungen
für die jetzige Existenz der langen Zunge des Ameisenbären erscheinen.
26) (zu pag. 38). Vergl. Alb recht 1900.
27) (zu pag. 45). Gegen Driesch's Folgerung eines spezifisch vita-
listischen Geschehens aus dem sog. „Lokalisationsproble m" sprachen
sich vor einiger Zeit schon Morgan (1900 pag. 108) und Doflein (1900
pag. 141 ff.) aus; beide versuchten jedoch keine speziellere Begründung
ihrer Ansicht, sondern bezweifelten nur, dass ein solch' vitalistischer
Schluss aus den beobachteten Thatsachen zwingend folge.
Ich habe das sog. Gesetz vitalistischen Geschehens, wie es Driesch
besonders auf Grund der Beobachtungen über die Reparationsvorgänge der
Tubularia entwickelt, bei den obigen Erörterungen als zu Recht bestehend
vorausgesetzt. Dass dies jedoch streng zutrifft, scheint mir aus den vorliegen-
den Ergebnissen nicht zu folgen. Sicher steht doch, dass die Reparation
eines vollständigen Hydranthen nur von Stammstücken geschieht, welche
eine gewisse Länge haben. Stücke, die unter dieser Länge bleiben, bilden
in der Regel unvollständige Polypen ohne Stiel, oder nur ein der Rüssel-
region entsprechendes Gebilde, oder eine Doppelbildung dieser Art, häufig
nur den oralen Tentakelkranz ; auch sind ihre Tentakel an Zahl häufig ver-
ringert. Ganz kurze Stücke endlich (von V< mm und kürzer) vermögen
nie mehr zu regeneriren*). Hieraus geht doch hervor, dass es für solch'
kleine Stücke überhaupt kein typisches „Endziel gibt, welches erreicht
werden soll", sondern dass dies Endziel in den verschiedenen Fällen selbst
sehr verschieden ist und jedenfalls abhängig von der Quantität der Operation,
der sog. Ursache. Es unterliegt daher keiner Frage, dass die Gesammtheit
der durch die Operation geschaffenen neuen Bedingungen das Endziel
hervorgehen lässt und dass nur unter nicht zu stark alterirten gewissen
*) Siehe hierüber ausser bei Driesch auch Morgan: „Reparation in Tu-
bularia". Arch. f. Entwickl. Median. XI. (1901) pag. 346—381.
Anmerkung No. 25—27.
— 91 —
Bedingungen dieses Endziel das gewöhnliche typische ist, während bei zu
starker Abweichung der neugeschaffenen Bedingungen die normale Gleich-
gewichtsform nicht mehr erreicht werden kann. Bei typischen sog. He tero-
morphosen tritt diese Abweichung des Endziels von dem normalen Zu-
stand noch deutlicher hervor. Das ganze System steuert hier unter Umständen
einem Endziel zu, wie es normaler Weise in der Natur nirgend vertreten
ist. Ebenso ist es bei der sog. Lithiumlarve der Seeigel, die Herbst ent-
deckte. Wie sollen wir uns unter diesen Umständen die Abhängigkeit des
Entwicklungsganges von dem zu erreichenden Endziel denken ? Wir wissen
experimentell, dass der Zusatz von Lithiumsalzen zum Meerwasser Bedingung
der Entwickelung dieser abweichenden Larven ist; soll man sich etwa vor-
stellen, dass das Lithium auf das zu erreichende Endziel verändernd wirkt
und dass dieses nun rückwirkend den Gang der Entwickelung modifizirt?
Mir scheint in diesen Fällen die kausale Betrachtung die einzig zulässige.
28) (zu pag. 46). Bunge's (1899) Vitalismus ist nicht ganz leicht zu
erfassen. Er gründet sich hauptsächlich auf die Behauptung, dass der
Mechanismus oder der Materialismus, welch' beide er für identisch erachtet,
nichts zu erklären vermöge , und dass alles mechanistisch Erklärbare
nicht zu den Lebenserscheinungen gehöre. „Das Wesen des Vitalismus
besteht darin, dass wrir den allein richtigen Weg der Erkenntniss ein-
schlagen, dass wir ausgehen von dem Bekannten, von der Innenwelt, um
das Unbekannte zu erklären, die Aussenwelt." „In der Aktivität, da steckt
das Geheimniss des Organismus", d. h. in der Aktivität, wrelche wir durch
den „inneren Sinn" erfahren. Unter dieser Aktivität lässt sich jedoch
schwerlich etwas anderes denken, als das, was Wille genannt wird; so
gelangten wir ungefähr zu der Scho penh a uer' sehen Metaphysik, welche
den Willen für den letzten Grund der Erscheinungen erachtet. Dass diese
Auffassung eine metaphysische ist, ist klar, da ja die Koordination zwischen
Physischem und Psychischem uns zweifellos, dagegen eine kausale Ab-
hängigkeit des Physischen vom Psychischen und umgekehrt unbegreiflich ist.
Wir können das Physische kausal nur aus physischen, das Psychische nur
aus psychischen Ursachen begreifen. Dazu gesellt sich ferner, was in
neuerer Zeit deutlicher erkannt wurde (mir persönlich schon in der Mitte
der siebziger Jahre, als ich Schopenhauer zuerst studirte, auffiel),
dass der sog. Wille gar nicht in dem Sinne von etwas Aktivem bei der
Willenshandlung sich geltend macht, sondern nur als eine Vorstellung der
Willenshandlung. Ich persönlich wenigstens vermag in mir bei Ausführung
einer Handlung nichts wahrzunehmen, was ich als einen aktiven Willen
bezeichnen könnte. Seltsam wird jedoch diese an Schopenhauer sich
lehnende Auffassung Bunge's dadurch, dass er diese Aktivität nicht wie
ersterer sämmtliehen Erscheinungen zu Grunde legt, sondern sie ausschliess-
lich auf die Organismenwelt beschränken will. Aus dem dritten Kapitel
geht dies klar hervor, wo Bunge sich für die anorganische Welt als über-
zeugten Mechanisten, ja Mechaniker erklärt, der alle Verursachungen in
Bewegungsvorgängen, theils sichtbaren, theils unsichtbaren (molekularen)
Anmerkung No. 27 — 28.
— 92 —
erblickt. Demnach geschieht nach ihm auch im Organismus
alles mechanisch; nur vor dem Psychischen stockt er und
sagt: „Ob der letzte Bewegungsvorgang, der als unmittelbare Folge des
Reizes im Centrum anlangt, in die Empfindung sich umsetzt (!), oder ob
er nur den Anstoss gibt zur Entstehung der Empfindungen - etwa aus
chemischen Spannkräften (!!) oder ob hier eine ganz besondere Art des
Kausalzusammenhangs statthat — das können wir nicht entscheiden". Ja
Bunge wirft sogar die Frage auf : „ob die Seelenerscheinungen umgesetztes
Sonnenlicht sind?" Wie ein Vitalismus, welcher das Geheimniss des Lebens
in der „Aktivität" sucht, gleichzeitig die Möglichkeit vertreten kann, die
Seelenerscheinungen aus materiellen Bewegungserscheinungen zu begreifen,
vermag ich nicht einzusehen.
Der Gesichtspunkt, dass die vitalistische Auffassung neben der mecha-
nistischen als gleichberechtigt anzuerkennen sei, weil „die mechanisti-
sche Betrachtung zur Zeit so wenig erklärt habe", ist auch der
Borodin's (1898). Es ist dies ein Standpunkt, der zwischen zwei Gegen-
sätzen zu vermitteln sucht, die sich gegenseitig ausschliessen, die man
nicht etwa zu einem mittleren Durchschnitt verschmelzen kann. Es ist
ein Standpunkt, wie er bezeichnender Weise gelegentlich von Manchen
in dem Determinationsproblem, der Frage nach der Freiheit oder der
Determination des Willens, eingenommen wurde, mit der Behauptung: Der
Wille sei eigentlich weder frei noch unfrei, sondern etwas mittleres; während
doch frei und unfrei Gegensätze sind, von denen einer den andern aus-
schliesst. So ist es auch mit Mechanismus und Vitalismus; eine Vereinigung
beider zu etwas mittlerem ist nicht denkbar; und erst recht nicht, wenn ich
die sog. Lebenskraft, „deren Vorhandensein in lebenden Körpern zwar un-
bewiesen sei", mit Borodin ganz in der Weise der alten Vitalisten auf-
fasse, als eine „schöpferische Kraft", „die bewusst oder unbewusst, aber
sicher in vernünftiger Weise (!) den Stoff und die Kräfte der todten Natur
gebraucht, indem sie dieselben einem bestimmten Ziele, der Erbauung und
Erhaltung des Organismus, zulenkt." Im Grunde genommen ist dies der
alte Animismus, die alte Anschauung von der bewussten oder unbewussten
Lebensseele.
Die Verachtung, mit der Borodin auf die seitherigen Ergebnisse
biologischer Forschung blickt, erleichtert ihm diese Stellungnahme. Nach
ihm ist: „das Protoplasma gegenwärtig nichts anderes, als ein Lagerhof für
unser Unwissen;" etwas, das „auch heute noch ein völliges X darstellt." Gar
keine Bedeutung haben nach ihm die Versuche an „künstlichen Amöben"; sie
stehen auf einer Stufe mit den Uhrwerksautomaten vonVaucanson und
den beiden Droz; „das Wesentliche bleibt in beiden Fällen die künstliche
Hervorbringung der äusseren Erscheinung des Lebens aus einem Mate-
rial, das sicher tod ist." Es dürfte Borodin schwer fallen, zu sagen,
was denn ein Material ist, das sicher nicht tod ist, oder lebendes Material zu
definiren. Die Grenze zwischen tod und lebendig zu ziehen, und damit das
Anmerkung No. 28.
— 93 —
Leben zu definiren, ist ein Unternehmen, das bis jetzt stets scheiterte. Ist
ein von einer Zelle abgelöster Plasmatropfen, der sich einige Zeit amöboid
bewegt, lebend oder tod ? Ist ein Samenkorn, das jahrelang ohne jede
Lebensäusserung ruht, jedoch unter geeigneten Bedingungen seine Ent-
wickelung und seine Lebensthätigkeiten beginnen kann, tod oder lebendig?
Sollen wir einen Körper, der zwar eine oder einige Lebenserscheinungen
zeigt, andere nicht, tod oder lebendig nennen? Wer behauptet, dass alle
Erscheinungen an sog. todtem Material ohne jegliche Analogie und ohne
jeden Erklärungswerth für die Lebenserscheinungen seien, der begeht eben
von vornherein eine petitio principii, welche ja auch in der Betonung des
„lebenden Materials" enthalten ist; er dekretirt nämlich, dass von vorn-
herein nichts vergleichbar oder analog mit Lebenserscheinungen ist, als die
Lebenserscheinungen selbst. Dieser Standpunkt deckt sich mit demjenigen,
der allem physiko-chemisch Begreifbaren die Natur der Lebenserscheinung
abspricht.
Der von Borodin angestellte Vergleich der sog. künstlichen Amöbe
mit den Automaten des Vaucanson und der Droz ist ganz ungerecht-
fertigt und unüberlegt. Bei jenen Automaten handelte es sich um die äusser-
liche Nachahmung der Form von Bewegungserscheinungen eines Organis-
mus auf Grund mechanischer Vorrichtungen, deren Existenz im Organismus
von vornherein als unmöglich einzusehen war. Bei der sogen, „künstlichen
Amöbe" ') dagegen handelt es sich ganz und gar nicht um eine beabsichtigte
äusserliche Nachahmung von Bewegungserscheinungen einfachster Orga-
nismen, sondern um die Beobachtung von Bewegungsvorgängen (an Material
von bekannter Beschaffenheit), welche in vieler Hinsicht weitgehende Ueber-
einstimmung mit jenen einfachster Organismen zeigen, und die gleichzeitig
auch auf Grund der Struktur und Natur des Materials den wahrscheinlichen
Schluss gestatteten, dass diese beiderlei Bewegungserscheinungen ihrer
Natur nach identisch seien, d. h. von denselben energetischen Prozessen
bedingt werden.
Wie steht es denn aber mit den zahlreichen Errungenschaften der
Physiologie über die Verdauungs- und Stoff Wechselvorgänge im Organismus?
Sind diese etwa an lebendem oder todtem Material gewonnen; oder ge-
hören sie nicht zu den Lebenserscheinungen im Organismus?
Wenn es nun aber wirklich gelänge, eine lebende Amöbe aus leben-
dem Material künstlich darzustellen,' wären dann etwa deren Bewegungs-
*) Gemeint sind jedenfalls die von mir eingehend geschilderten künstlichen
Amöben (obgleich ich selbst n i e diese Bezeichnung gebrauchte), wenn ihre Dar-
stellung aus „Oel und Potasche" von dem Uebersetzer auch Professor Quincke
zugeschrieben wird. Die Art, wie Borodin über diese Untersuchungen spricht,
lässt mich vermuthen, dass er nur eine sehr flüchtige, aus zweiter Hand geschöpfte
Kenntniss derselben hat. Das Gleiche dürfte wohl für viele ähnliche absprechende
Urcheile gelten.
Anmerkung No. 28.
— 94 —
erscheinungen erklärt? Zunächst hätten wir eine Amöbe mehr, deren Be-
wegungserscheinungen ebenso problematisch blieben, wie die der natür-
lichen.
Von gewissen Neo-Vitalisten, so Ri ndfleisch, wird die Begründung
des Neo -Vitalismus auf R. Virchow (1856) zurückgeführt; mit welchem
Recht, wollen wir ein wenig untersuchen. In der citirten Abhandlung (v.
1856) tritt V. mit voller Bestimmtheit, und als ausgesprochener Anhänger
des Mechanismus, gegen den Vitalismus auf. Er verwirft die alte Auf-
fassung der Lebenskraft ,,als einheitlichen Erklärungsgrund der Lebens-
äusserungen und des Lebendigen" und bezeichnet sie sogar als „Aber-
glaube". Sehr richtig bemerkt er (pag. 9): ,,Eine Kraft mit solcher
Mannigfaltigkeit der Strebungen, Triebe und Zwecke, die sich nicht bloss
die Wege, sondern auch die Mittel zur Erreichung ihrer Ziele aufsucht, die
nicht bloss nach einem prästabjlirten Plan, sondern, je nach Umständen, auch
nach freier, aber stets zweckmässiger Wahl die Stoffe gestaltet, das ist
nicht mehr eine Kraft, sondern es ist ein Wesen, ein lebendiger Organismus''.
Der Charakter der Lebenskraft als „Umschreibungshypothese" wird hier
von V. recht gut gekennzeichnet. Im Weiteren gelangt er jedoch zu folgen-
dem Schluss: „Aber trotzdem können wir nicht erkennen (!), dass die
Erscheinungen des Lebens sich einfach als eine Manifesta-
tion der den Stoffen inhärirenden Molekularkräfte be greifen
lassen" (p. 20). Dies ist das bekannte Argument des Vitalismus, dass
der Mechanismus einstweilen nichts oder doch nichts genügend erkläre. Ist
Virchow mit diesem Ausspruch aber auf die vitalistische Seite getreten?
Gewiss nicht ! Denn er ist gleichzeitig überzeugter Anhänger der Möglich-
keit des Entstehens der Organismen durch Urzeugung. So sagt er (pag. '22):
„Wir können uns nur vorstellen, dass zu gewissen Zeiten der Entwickelung
der Erde ungewöhnliche Bedingungen eintraten, unter denen die zu neuen Ver-
bindungen zurückkehrenden (!) Elemente im Statu nascente die vitale Be-
wegung (!) erlangten, wo demnach die gewöhnlichen mechanischen Be-
wegungen in vitale umschlugen". So wenig klar dieser Ausspruch auch
ist, so geht daraus doch hervor, dass V. meint : Unter gewissen ungewöhn-
lichen Bedingungen, welche doch nur die Manifestation einer besonderen
Kombination der „Stoffe und der ihnen inhärirenden Molekularkräfte" sein
könnten, sei das Lebendige entstanden. Damit ist aber der zuerst citirte
Satz über die Nichtbegreifbarkeit des Lebens aus den den Stoffen inhäriren-
den Molekularkräften wieder aufgehoben. Denn selbst zugegeben, dass das,
was sich unter diesen Bedingungen ereigne, etwas sei, was an und für sich
ebenso unbegreiflich erscheine, als das Auftreten von Wärme oder Elek-
trizität unter gewissen Bedingungen, so wäre dies eben doch ein Vorgang
gesetzlichen Naturgeschehens derselben Art wie in der anorganischen
Natur, und daher ebenso viel oder wenig begreiflich als die Vorgänge der
nichtbelebten Welt. Etwas derartiges ist es ja, was sich Virchow eigent-
lich beim Entstehen eines ersten Organismus als das Wesentliche denkt,
Anmerkung No. 28.
- 95 —
und was er ungefähr folgendennassen ausspricht : ,,Wenn der Naturforscher
von Lebenskraft redet, so kann er darunter also nur dasjenige Bewegungs-
gesetz (!) verstehen, dessen sinnlich wahrnehmbares Resultat Zellenbildung
ist" (pag. 11). „Dieses Gesetz ist ein ewiges" (das soll heissen wie jedes
Naturgesetz, es gilt immer, wenn die betreffenden Bedingungen eintreten).
Was sich Virchow unter einem solchen „Bewegungsgesetz" vorstellt,
dem eigentlich Charakteristischen des Organismus, ist natürlich wenig klar.
Er bemerkt hierüber auch : „Vielmehr glaube ich immer noch , als den
wesentlichen Grund des Lebens eine mitge th eilte, abgeleitete Kraft
neben den Molekularkräften unterscheiden zu müssen" (p. 20). „Abgeleitete
oder mitgetheilte" Kräfte sind nach V. jedoch „die Kräfte wie Stoss etc.", im
Gegensatz zu den „immanenten Kräften der Materie" (Gravitation etc.).
Demnach wäre die Lebenskraft nach V. eine nach einem besonderen Be-
wegungsgesetz übertragene mechanische Bewegung oder „vitale Be-
wegung", wie er selbst sagt; was man, streng genommen (da er ja selbst
die sog. immanenten Kräfte ausschliesst), nicht einmal eine besondere
Energieform in modernem Sinne nennen könnte; vielmehr wäre diese
Virchow'sche Ansicht etwa ein Vorläufer der späteren Elsb er g'schen
und Haeckel'schen Hypothesen von einer besonderen vitalen Bewegungs-
form der kleinsten Theilchen oder Plastidule der lebendigen Substanz.
Daneben jedoch erachtet V. noch die besondere „Stoffkombination",
welche in dem einzelnen Organismus (Elementarorganismus) vorliegt, für den
„Grund der besonderen Richtung, in welcher die Bewegung (die vitale Be-
wegung) stattfindet". Ein sehr seltsamer Gedanke — eine „mechanische
Kraft", deren Richtung durch die Natur des Stoffes bestimmt oder modifi-
zirt wird.
Jedenfalls geht aus diesen Erörterungen hervor, dass Virchow (1856),
wie gesagt, überzeugter Mechanist, ja eigentlich „Mechaniker" ist, der eine
eigenthümliche „mechanische" Bewegungsart (vitale Bewegung) für den
Grund der Lebenserscheinungen hält; also, wenn man will, eine besondere
Energieform, obgleich dies nicht recht zutrifft. Bedeutung hätte eine solche
Anschauung, ebenso wie spätere ähnliche, erst erlangen können, wenn V.
in der Lage gewesen wäre, über das grundlegende „Bewegungsgesetz"
etwas Positives mitzutheilen und damit eine oder die andere Lebens-
erscheinung zu erklären oder zu begreifen. So, wie dieses Gesetz aufgestellt
wird, ist es nichts anderes als die Anerkennung, dass eine unbekannte
Gesetzlichkeit den Lebenserscheinungen zu Grunde liegt; mit der jedenfalls
ungerechtfertigten Annahme, dass diese Gesetzlichkeit das Wesen einer
sog. „abgeleiteten mechanischen Kraft" habe.
Rindfleisch (1888) glaubt eigentümlicher Weise auf demselben neo-
vitalistischen Standpunkt z-u stehen, wie Virchow. Seine Meinung bewegt
sich jedoch in unlöslichen Widersprüchen. Einerseits soll nach ihm (pag. 20)
jedes Geschehen „Mechanismus" sein; andererseits dagegen ist er überzeugt,
dass in der Zelle ein „Ze llen will e" bestehe, „allerdings geregelt und
eingeschränkt durch das Bedürfniss des Gesammtorganismus; immerhin
Anmerkung No. 28.
— 96 —
schliesst er (dieser Wille) als letzte Konsequenz die persönliche Frei-
heit ein, welche der starre Materialismus nie zugeben kann". Hier wird
demnach Physisches und Psychisches in unzulässiger Weise durcheinander
gemengt. Obgleich alles Geschehen, auch das der Zelle, Mechanismus ist,
greift der ausserhalb des Mechanismus stehende Zellwille in diesen Me-
chanismus beliebig ein, und dazu noch ganz unnöthiger Weise; denn wenn
alles Mechanismus ist, so ist doch gar kein Platz mehr für ihn ; er läuft
neben dem Mechanismus hin, wie es ja auch unsere Meinung ist.
Noch eigenthümlichere Anschauungen trug Rindfleisch 1895 vor.
Das Problem der „Freiheit", d.h. der Selbstbewegung, der „ursachlosen
Bewegung", beschäftigt ihn auch hier. Im Organismus findet er eine An-
näherung an diese Selbstbewegung und Selbstbestimmung, ja glaubt sogar,
in der Häufung potentieller Energie im Organismus und in dessen Aufbau
aus Kolloiden einen Fingerzeig für das Verständniss dieser Eigenthümlich-
keit des Organismus zu finden. ,, Freiheit und Nächstenliebe! Das
sind die Merkmale des Lebens; Freiheit das Ziel und
Nächstenliebe das Mittel dazu! Das ist das Wort des Lebens"
(pag. 129). Nächstenliebe soll hier das zweckmässige harmonische Zusammen-
wirken der Theile und der Zellen im Organismus bedeuten. Nächstenliebe
als wirksames Prinzip im Organismus und der Organismenwelt erscheint
gewiss sehr seltsam in einer Welt lebender Wesen, wo der Grundsatz gilt :
„öte toi, que je m'y mette". Ueber die Freiheit dagegen wurde vorhin
schon einiges bemerkt.
Die Stellung, welche Oscar Hertwig zu den in dieser Schrift er-
örterten Problemen einnimmt, bedarf etwas genauerer Darlegung. In
seiner Streitschrift (1897) gegen Roux bekennt er pag. 19/20, dass er das
„Glaubensbekenntniss theile, dass in der Biologie alles in natürlicher, d. h.
philosophisch-mechanischer Weise hergeht" (womit etwa gesagt sein soll,
dass in der Biologie alles Geschehen ebenso ein kausalabhängiges ist wie
in der nichtlebenden WTelt; „natürlich" steht hier im Gegensatz zu
„Wunder"). Bei der Besprechung des Einflusses, den Lotze's Kampf
gegen die Lebenskraft ausgeübt hat, bemerkt Hertwig ferner gesperrt
(pag. 29—30): „Die mechanistische Auffassung von Lotze hat sich rasch
den Sieg in der biologischen Forschung errungen. Ohne auf Widerspruch
zu stossen, kann ich wohl behaupten, dass die gesammte Biologie seit
vielen Decennien auf dem Standpunkt von Lotze steht, dass das Orga-
nische nur eine höhere Form des Mechanischen ist." Der ganze Passus
und weiterhin auch das Folgende: „Es hiesse daher offene Thüren ein-
rennen, wollte man jetzt noch, wie es Lotze gethan hat, für eine mecha-
nistische Auffassung der Lebewelt zu Felde ziehen", scheint doch klar zu
zeigen, dass Hertwig ein Anhänger Lotze's ist.
Wenden wir uns dagegen zu demjenigen Theil seiner Schrift, in dem
er die sog. „gestaltenden Kräfte" Roux's bekämpft, von welchen die
besondere Form der sich in der Ontogenese bildenden Theile (Organe)
Anmerkung No. 28.
— 97 —
abhängen sollen, so verändert sich Hertwig's Stellung bedeutend. Unter
Roux's ja nicht übermässig klarem Begriff „gestaltender Kräfte" muss man
sich die Summe der bedingenden und wirkenden Ursachen (Kräfte) vor-
stellen, von welchen ein sich bildender Theil abhängt. In diesem bildlichen
Sinne verwendet Roux den Begriff. Bei der Kritik dieser Anschauungen
Roux's kommt Hertwig endlich zu folgender letzter Erwägung hinsicht-
lich jener „gestaltenden Kraft" (pag. 59—60): „Noch ein dritter Weg
bleibt zu versuchen, die gestaltende Kraft direkt in die Grundkräfte der
Physik zu zerlegen und die organischen Gestalten direkt aus komplexen
Komponenten von Schwerkraft, Cohäsionskraft, chemischen, elektrischen,
magnetischen Kräften zu erklären. Dass dieser Weg ebenfalls nicht der
rechte ist, braucht kaum einer näheren Darlegung. Zwar sind die Grund-
kräfte der Natur wie in den unorganischen Körpern auch in den Organismen
wirksam und können, wo sie sich in den Erscheinungen zeigen, untersucht
werden, aber wir können keine „gestaltende Kraft" durch Combination von
Schwerkraft, Cohäsionskraft, chemischer, elektrischer Kraft konstruiren oder
durch Vereinigung von ein bischen Schwerkraft, chemischer Kraft, Cohä-
sionskraft ä la Dreyer organische Gestalt produzieren". Diese Auslassung
steht jedoch in direktem Widerspruch mit Lotze's Meinung; denn dieser
ist gerade der Ansicht, dass nicht nur das Geschehen im fertigen Organis-
mus von den den Stoffen eigenthümlichen Kräften, unter besonderen kom-
plizirten Bedingungen, abhänge, sondern dass ebenso das Entwickelungs-
geschehen auf Grund derselben Geschehensweisen, welche auch in der
anorganischen Natur sich finden, unter besonderen Bedingungen sich ab-
spiele. Das eine, was Lotze, wenigstens für die höheren Organismen,
auf die gesetzlichen Geschehensweisen der anorganischen Natur nicht
zurückführen zu können glaubt, ist das Ausgangssubstrat der Entwickelung,
d. h. das Ausgangssubstrat, dessen Bedingungskomplex den ganzen Verlauf
der Entwickelung mechanistisch hervorruft; dessen Entstehen durch zufälliges
Zusammentreffen der Bedingungen scheint ihm unmöglich. In dem vorhin
citirten Ausspruch über die gestaltenden Kräfte befindet sich Hertwig also
in Widerspruch mit den mechanistischen Anschauungen Lotze's. — In
Hertwig's Erörterung vermisse ich aber auch den Nachweis für die auf-
gestellte Behauptung: dass die sog. Kräfte der anorganischen Natur auch
unter besonderen, komplexen Bedingungen nicht ausreichten, die Entwickel-
ung der lebenden Gestalten zu begreifen oder zu erklären (was ja nach
dem früher von ihm Bemerkten das Glaubensbekenntniss des überzeugten
Vitalisten ist). In dem citirten Ausspruch wird nur angegeben, dass diese
Annahme des Mechanismus „nicht die rechte ist, und dass dies kaum
einer näheren Darlegung bedürfe". Darauf folgt die Behauptung : es sei
eben unmöglich, die „gestaltende Kraft" aus den Kräften der anorganischen
Natur abzuleiten. Gründe dafür werden nicht mitgetheilt. Auch fehlt völlig
eine Andeutung darüber, welcher Art denn nun eigentlich das Geschehen
im Organismus ist, das durch „gestaltende Kraft", wenn auch nur bildlich
aufgefasst, bedingt wird. Von was wird denn dieses Geschehen bedingt,
Bütschli, Mechanismus und Vitalisnms. 7
Anmerkung No. 28.
— 98 —
wenn nicht von den sog. Kräften der anorganischen Natur; denn alles, was
im Organismus vorgeht, geschieht doch nach Hertwig „philosophisch-
mechanisch", muss daher von wirkenden und bedingenden Ursachen ab-
hängen. Da nun die anorganischen Kräfte keine organischen Gestalten be-
dingen können, so bliebe nur die Möglichkeit einer besonderen vitalen
wirkenden Ursache, einer vitalen Kraft oder Energie, und O. Hertwig
träte damit auch schon 1897 als erklärter Vitalist auf.
Entschiedener ist dies 1900 in seinem Vortrag über die Entwickel-
ung der Biologie im 19. Jahrhundert der Fall, wo der schon 1897 ange-
deutete Standpunkt genauer erläutert wird. Hier erhalten wir zunächst
von dem Leben im Allgemeinen die Definition (pag. 4) : Dass dasselbe
„auf einer besonderen eigenthümlichen Organisation des Stoffes beruhe",
mit der Verrichtungen (Funktionen) verknüpft seien, die sich in der leblosen
Natur nicht finden. In dieser Definition ist, wie dies häufig der Fall, das
Hypothetische an die Spitze gestellt (die Organisation des Stoffes), dagegen
das Thatsächliche, die besonderen Verrichtungen (Leistungen, Thätigkeiten
lebender Körper), hinten angefügt. Diese Definition ist so dunkel wie
jede, in welche der unsichere Begriff der „Organisation" eingeführt ist
(s. Anmerk. No. 14). Der Schwerpunkt liegt aber nicht in der Organisation
als solcher, sondern in der „besonderen" Organisation, und bevor nicht
angegeben werden kann, worin diese Besonderheit besteht, ist die ganze
Definition bedeutungslos; denn was lebend ist, können wir dann nur aus
den besonderen Verrichtungen des Lebenden erfahren.
Hertwig glaubt in diesem Vortrag eine Art Vermittelung zwischen
Vitalismus und Mechanismus anbahnen zu können. Er meint (pag. 24) :
,,dass ebenso wie der vitalistische auch der mechanistische Standpunkt in
der Biologie ein einseitiger sei". Wie ich schon hervorhob, kann ich mich
einer solchen Meinung nicht anschliessen, da Vitalismus und Mechanismus
Gegensätze sind, die sich nicht zu etwas Mittlerem vereinigen lassen.
Natürlich setze ich dabei voraus, dass man unter Vitalismus nicht etwas ganz
anderes verstehen will, als was gewöhnlich und richtiger Weise darunter
begriffen wird. Denn es ist ja klar, dass Lebewesen, als besondere Klassen
natürlicher Objekte, ihre eigenthümlichen sekundären Gesetzmässigkeiten be-
sitzen, wie sie etwa bestimmte Kategorien von Objekten auch auf physikali-
schem oder chemischem Gebiet darbieten (z. B. die quellbaren Körper u.s. f.);
womit jedoch natürlich nicht ausgesprochen ist, dass diese sekundären
Gesetzmässigkeiten nicht von den allgemeinen physiko-chemischen abhängen.
Ein Vitalismus in diesem Sinne steht nicht im Gegensatz zum Mechanismus,
hat aber auch nichts mit der Beurtheilungsweise zu thun, welche von jeher
als Vitalismus bezeichnet wurde.
Hertwig hat nun nirgends genauer erörtert, was er eigentlich
unter Vitalismus versteht; er verwirft den älteren Vitalismus als Irrthum,
dagegen fehlt eine Aufklärung darüber, was ihm an dem Vitalismus oder
Neo -Vitalismus berechtigt scheint. — Suchen wir daher selbst nach präciserer
Aufklärung über seine Ansicht, so erfahren wir (pag. 23), dass der „öde
Anmerkung No. 28.
— 99 —
Mechanismus glaubte, in der Erklärung des Lebens nur ein chemisch-phy-
sikalisches Problem erblicken zu dürfen". Hieraus geht also, wie aus der
Aeusserung von 1897, hervor, dass Hertwig Vitalist ist in dem Sinne, dass
die Lebenserscheinungen sich mit dem Geschehen der anorganischen Natur,
d. h. physiko-chemisch, nicht begreifen und auch niemals werden begreifen
lassen; der Mechanismus ist „öde", d. h. also wohl, er führt in die Oede,
in die Wüste, zu keinen Ergebnissen. In dieser Hinsicht schliesst sich H.
den Anschauungen anderer Neo -Vitalisten an.
Zwar fehlt auch hier wieder die Begründung; denn dass E. Dubois-
Reymond verschiedene Welträthsel anerkennt, hat doch mit der Frage
nichts zu thun. Es handelt sich um die Möglichkeit, ob auf Grund des
gesetzlichen Geschehens der anorganischen Natur das Geschehen im Or-
ganismus begreiflich sein kann; wobei es natürlich gleichgültig ist, inwiefern
die verschiedenen Geschehensweisen in der anorganischen Natur begreiflich
oder etwas Letztes, nicht weiter Rückführbares, d. h. Unbegreifliches sind.
Ebensowenig hat das Problem des Vitalismus und Mechanismus etwas mit
atomistischen Hypothesen, sowie den damit zusammenhängenden Vor-
stellungen über Materie und Kraft zu thun und wird davon in keiner Weise
berührt.
In weiterer Begründung seiner Ansicht macht nun Hertwig wieder
eine Einschränkung bezüglich der physiko-chemischen Begreiflichkeit der
Lebenserscheinungen, indem er sagt (p. 24) : „Ebenso unberechtigt, wie der
Vitalismus ist das mechanistische Dogma, dass das Leben mit allen seinen
komplizirten Erscheinungen nichts anderes sei als ein chemisch-physikalisches
Problem, unberechtigt, wenigstens so lange, als man unter Physik
und Chemie nicht ganz anders geartete Wissenschaften versteht, als sie uns
jetzt nach Inhalt und Umfang, auf Grund ihrer historischen Entwickelung
entgegentreten" *).
*) Hinsichtlich des Verhaltens der heutigen Physik (und ähnlich auch der
Chemie) zur Lösung biologischer Fragen theile ich etwa die Anschauung Mach 's,
der darüber sagt (1900 pag. 68j : „Beide (d. h. das physikalische und das bio-
logische Gebiet) enthalten wohl dieselben Grundthatsachen , manche Seiten äussern
sich aber nur in dem einen, manche nur in dem anderen merklich, so dass nicht nur
die Physik der Biologie , sondern auch die letztere der ersteren hilfreich und auf-
klärend zur Seite stehen kann. Den unbezweifelten Leistungen der Physik in der
Biologie stehen ebenso andere Fälle gegenüber, in welchen erst die Biologie neue
physikalische Thatsachen ans Licht gefördert hat (Galvanismus, PfefFer'sche Zelle
u. s. w.). Die Physik wird in der Biologie noch mehr leisten, wenn sie erst durch
die letztere gewachsen sein wird", pag. 72: „Die Physik wird also aus dem Studium
des Organischem an sich noch sehr viel neue Einsicht schöpfen müssen, bevor sie
auch das Organische bewältigen kann".
Gerade für die Physik gilt dies noch viel mehr als für die Chemie, welche der
Mannigfaltigkeit der chemischen Erzeugnisse des Organismus von jeher ihre Aufmerk-
samkeit zuwandte. In der Physik dagegen haben diejenigen Erscheinungen, welche
Anmerkung No. 28. ?*
— 100 —
Genau diese Worte hätte zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein Vitalist
Demjenigen zurufen können, welcher die kühne Behauptung gewagt hätte:
die Bildung des Harnstoffs im thierisehen Organismus sei ein chemisch-
physikalisches Problem und bedürfe zu seiner Begreiflichkeit keiner be-
sonderen vitalistischen Kraft. Hertwig hält die frühere vitalistische An-
sicht über den Harnstoff für eine „vitalistische Irrlehre" obgleich die ehe-
maligen Vertheidiger dieser Irrlehre sich darauf berufen konnten, dass die
damalige Physik und Chemie nicht vermögend seien, eine im Organismus
gebildete chemische Verbindung ausserhalb desselben darzustellen, dass also
die Physik und Chemie „ganz anders geartete Wissenschaften" sein müssten,
bevor man an das physiko-chemische Begreifen der Harnstoffentstehung
denken könne. Auch die weitere Argumentation Hertwig 's: „dass das
Lebensproblem überhaupt erst beginne, wo die Untersuchung des Chemikers
aufhört" (pag. 25), konnte der Harnstoffvitalist mit derselben Berechtigung
anführen; denn sobald er die Harnstoff bildung zu den charakteristischen
Lebenserscheinungen zählte, die chemischem Begreifen unzugänglich seien,
so ergab sich dies von selbst. Der Chemiker kann nach Hertwig
„streng genommen überhaupt nicht dem eigentlichen Lebensproblem näher
treten", „da sich über dem Bau des chemischen Moleküls der Bau der leben-
den Substanz als eine weitere, höhere Art von Organisation erhebt". Nun
denkt sich Hertwig, wie ich schon vor einiger Zeit näher darlegte (1901
pag. 539 ff.), diese höhere Organisation der lebenden Substanz als eine
maschinelle Organisation, welche natürlich der Chemiker nicht begreifen
kann. Wie gesagt, ist dies jedoch eine Hypothese, welche sich ebenso
wohl durch die der chemischen Organisation ersetzen lässt. Das Charak-
teristische in Hertwig's Anschauung ist, dass er die Entstehung dieser
höheren, über die physiko-chemische sich erhebenden Organisation für
physiko-chemisch unbegreiflich hält, ebenso wie die vielen Lebenserschein-
ungen („Wirkungsweisen"), die auf Grund dieser und immer höher ent-
wickelter Organisationen auftreten („Erhaltung der Art durch Wachsthum
und Zeugung, Stoffwechsel, die verschiedene Arten der Irritabilität" etc.).
Nun haben jedoch schon alle Mechanisten, voraus in besonders klarer Weise
Lotze, darauf hingewiesen, dass in allen diesen besonderen Wirkungs-
weisen des Organismus sich nichts äussere, was einer der gesetzlichen
Wirkungsweisen (Kräfte, Energieformen) der anorganischen Natur als
eine besondere— entgegengestellt werden könne, dass vielmehr diese
„Wirkungsweisen" des Organismus in letzter Instanz Kombinationen solcher
seien, die sich in der anorganischen Natur linden; ebenso wie in einer
Maschine nur die gesetzlichen Wirkungsweisen der leblosen Natur, jedoch
in der eigenthümlichen Kombination eines bestimmten Bedingungskomplexes
für das Verständniss des Organismus von besonderer Bedeutung sind, wenig Beacht-
ung gefunden. Sehr wenig berücksichtigt aber wurde in beiden anorganischen Dis-
ciplinen bis jetzt das Formproblem, welches für die lebende Welt eine so hervor-
ragende Bedeutung hat.
Anmerkung No. 28.
— 101
auftreten. Wenn es nun keine besonderen vitalistischen, den avitalisti-
schen gleichberechtigte gesetzliche Wirkungsweisen gibt, so muss eben
die sog. „höhere Organisation" der lebenden Substanz der besondere
Komplex der bedingenden und wirkenden Ursachen (nicht vitalistischer
Natur) sein , von welchen die besonderen Leistungen abhängen. Das Ent-
stehen dieses Bedingungskomplexes nun ist nicht eigentlich chemisch-physi-
kalisch zu begreifen, ebensowenig wie ich physiko-chemisch begreifen kann,
warum der amerikanische Kontinent seine eigenthümliche Form hat, oder
warum sich der Vesuv gerade an der Stelle bildete , wo er sich findet.
Denn dieses hängt von dem zeitlichen und örtlichen Zusammentreffen jener
physiko-chemischen Bedingungen ab, welches ich aber nicht selbst wieder
von einer letzten Bedingung abhängig finde, sondern das den Charakter des
Zufälligen hat. In letzter Instanz führt demnach auch der Hertwig'sche
vitalistische Standpunkt auf das Problem zurück : Ist es zulässig , das
Entstehen des eigenthümlichen Bedingungskomplexes , von welchen die
Lebenserscheinungen abhängen, sowie dessen Fortschreiten zu höherer Aus-
bildung, als ein im Laufe der Erdentwickelung (resp. auch Weltentwickelung)
zufällig eingetretenes zu beurtheilen oder nicht. Ich vertrete die Meinung,
dass dies zulässig; wer die entgegengesetzte hegt, muss natürlich ein be-
sonderes vitalistisches Prinzip annehmen, von welchem das Entstehen dieses
Bedingungskomplexes abhängt. Hertwig selbst geht auf dieses Problem
nicht ein ; er ist Anbänger der Descendenzlehre, dagegen nicht des Darwinis-
mus ; wie er sich zur Frage nach der möglichen Entstehung des Lebenden
aus Nichtlebendem verhält, bleibt unsicher.
Der erwähnte Vortrag Hertwig's wurde schon von E. Albrecht
(1901) einer Besprechung unterzogen, in welcher zwar mancherlei von den
Uebereinstimmungen zwischen den Anschauungen Hertwig's und Al-
brecht's die Rede ist, die aber im Allgemeinen, wie auch schon aus
Albrecht's früheren Schriften hervorgeht, eigentlich für die physiko-
chemische, mechanistische Beurtheilung der Lebenserscheinungen, im Gegen-
satz zu Hertwig, eintritt. Bezeichnet sich Albrecht doch selbst als
„hoffnungslustigen Mechanisten" (pag. 108). Albrecht erkennt die mecha-
nistische Betrachtungsweise als durchaus berechtigt an und hat in seinen
Schriften vielfach die vitalistischen und teleologischen Anschauungen sehr
treffend kritisirt. Dennoch gelangt er auf Grund seiner erkenntniss-theoretischen
Ueberzeugung zu dem Ergebniss: „Es besteht zwischen den Lebenser-
scheinungen und irgend welcher Aufstellung physikalischer oder chemischer
Mechanismen, welche sie produziren und ihr „Wesen" ausmachen sollen,
erkenntniss-theoretisch eine unüberbrückbare Kluft" (1899 pag. 33). Seiner
Meinung nach ist dies aber keine Besonderheit der Lebenserscheinungen,
sondern die gleiche Schwierigkeit „liege auch vor" oder gelte „von be-
obachteten Vorgängen der anorganischen Natur", „bezüglich ihrer Zurück-
führung auf deren physikalisches oder chemisches Wesen". Ich weiss nicht,
ob ich die Gedankengänge richtig verstehe, welche Albrecht zu diesen
Ergebnissen führen. Sein erkenntniss-theoretischer Standpunkt scheint der
Anmerkung No. 28.
— 102 —
von Mach und Avenarius zu sein, dass nämlich unsere Erkenntniss nur
Bewusstseinselemente enthält und deren Verknüpfung, dass diese Bewusst-
seinselemente das alleinexistirende sind, dass nichts besteht, was empfunden
wird, sondern nur das Empfinden. Auf dieser Grundlage, welche, wie wir
schon bei Mach sahen, in keiner Weise etwa hypothesenfrei ist, wird
dann geschlossen, dass die Verknüpfung jener unabhängigen Bewusstseins-
elemente eine sehr verschiedene sei, je nach dem Standpunkt der Betracht-
ung, welchen der Betrachter einnimmt. Es ergäben sich auf diese Weise
verschiedene „Betrachtungsweisen" bei verschiedenartiger Einstellung, für
welche die Identität nur behauptet werde. So also beispielsweise, wenn
ich einen Körper einmal makroskopisch betrachte und dann mikroskopisch.
(Wie steht es denn aber mit den verschiedenen Objektiven? Jedem der-
selben entspricht doch wohl eine besondere Betrachtungsweise bei beson-
derer Einstellung). Mir scheint diese Folgerung nicht einmal für den Stand-
punkt des „reinen Idealisten", welcher nur unabhängige Bewusstseinselemente
anerkennt, wirklich zutreffend; für den des Realisten, welcher etwas Em-
pfundenes voraussetzt, wenn er auch dessen „Wesen" nicht zu ermitteln ver-
mag, sondern nur die Koordination des Empfindens mit ihm, besteht diese
Schwierigkeit um so weniger. Zwei Punkte, welche ich auf dem Empfindungs-
komplex Papier mache, sind doch zwei unabhängige Bewusstseinselemente
bei bestimmter Verknüpfung der sonstigen Bewusstseinselemente. Entferne
ich mich bis zu gewisser Weite, so vereinigen sich die beiden Punkte zu
einem Bewusstseinselement , d. h., bei einer gewissen Aenderung der
sonstigen Bewusstseinselemente werden sie eines. Hieraus muss ich doch
schliessen, dass es die übrigen Bewusstseinselemente bedingen, ob die bei-
den Bewusstseinselemente, welche ich selbst gegeben habe, als solche er-
scheinen oder nicht; und der meiner Meinung nach hieraus folgende natür-
liche Schluss wäre der : die uns einfach erscheinenden Bewusstseinselemente
können auch gleichzeitig auftretende mehrfache sein, es hängt von den
übrigen Bewusstseinselementen ab, ob ich sie gesondert empfinde oder
nicht. Wie gesagt, auf dem erkenntniss-kritischen Boden, welchen ich in
diesen Betrachtungen einzunehmen für richtig erachtete, scheint mir die
Schwierigkeit der verschiedenen unabhängigen Betrachtungsweisen bei ver-
schiedenartiger Einstellung nicht zu existiren, und selbst auf dem des reinen
Idealisten bezweifle ich sie. So bin ich denn auch nicht der Meinung, dass
die chemische und physikalische Untersuchung der Stoffe zwei derartige
ganz unabhängige Betrachtungsweisen darstellen; um so weniger als ja
Chemie doch nur die gesetzmässigen und sprungweise eintretenden
Aenderungen der physikalischen Konstanten der Stoffe in ihren verschiedenen
chemischen Gleichgewichtszuständen untersucht. Ich kann mich daher auch
nicht der Meinung anschliessen, dass die Untersuchung der Lebens-
erscheinungen eine solche besondere Betrachtungsweise sei, welche ihrem
„Wesen" nach durch eine unüberbrückbare Kluft von chemisch-physikalischen
Vorgängen getrennt werde.
Anmerkung No. 28.
— 103 —
Eine eigenthümliche vitalistische Theorie entwickelte 1899 J. Reinke,
welche ich hier nach seiner kurzen Darlegung im biologischen Central-
blatt besprechen will. Reinke geht von der Ueberzeugung aus, dass
das „Wesen der Organisation" in einer „Maschinenstruktur" zu suchen
sei. (Vergl. Anm. No. 14). Er untersucht zunächst die von Menschen
künstlich hergestellten Maschinen und gelangt darüber zu eigenthüm-
lichen Anschauungen. „Die dynamischen Vorgänge, welche uns in der
Maschinenleistung entgegentreten", sagt er, „beruhen nicht bloss auf
Energien, sondern auch auf Kräften (!), welche die Energien lenken und sie
zwingen, bestimmte Richtungen und Bahnen einzuschlagen. Diese Kräfte
nenne ich Dominanten". Nun beruht in der Welt kein Vorgang nur auf
Energien (oder wirkenden Ursachen), sondern immer auch auf einer Summe
von Bedingungen ; genau so ist es auch bei jeder Maschine. Wir finden
hier ein System bestimmter Bedingungen und Energien, welche ein gewisses
Resultat ergeben. Was Reinke Dominanten nennt, sind also weiter
nichts als die besonderen Bedingungen des maschinellen Systems. Wenn
er diese nun „Kräfte" nennt, so findet er sich im Widerspruch mit dem,
was man von jeher unter Kraft verstanden hat. Zu dieser seltsamen Auf-
fassung der sog. Dominanten als Kräfte gelangt er durch folgende Argu-
mentation. Die Kräfte zerfallen nach ihm „in zwei Gruppen: in geistige
oder intelligente Kräfte und in materielle Kräfte oder Energien". Nun ge-
hörten die Dominanten nicht zu den Energien; „es bleibt daher nur übrig,
sie zu den intelligenten Kräften zu rechnen". In der That vollbringe auch
die Maschine eine „intelligente Arbeitsleistung" (pag. 87); die Dominanten
seien der Ausdruck einer, den Maschinen eingepflanzten Intelligenz" (pag. 90).
„Die Thatsachen weisen auf die Wirksamkeit intelligenter Kräfte neben
Energien in Maschinen und Organismen hin" (pag. 90). „Natürlich ist die
Intelligenz der Dominanten eine unbewusste" (pag. 91). So kommt denn
Reinke, von dem seltsamen Trugschluss ausgehend, dass die Beding-
ungen eines maschinellen Systems Kräfte seien und zwar, weil nicht Ener-
gien, nothwendig intelligente Kräfte, zu dem Resultat, dass in der Maschine
unbewusste intelligente Kräfte „auf die Energie einwirkten" (pag. 87). Der
eigentliche ursprüngliche Gedankengang war jedoch jedenfalls der : Da eine
Intelligenz die Bedingungen (Dominanten) der Maschine so geordnet und
geregelt hat, dass dieselbe ein bestimmtes und gewünschtes Ergebniss
liefert, so sind die Kräfte dieser Intelligenz auf die Maschine übergegangen
und befinden sich nun in ihr als unbewusste Intelligenz. Dies ergibt sich
klar aus dem folgenden Satz: „Bei der Herstellung einer Maschine ver-
wandelt sich bewusste Intelligenz in unbewusste" (pag. 113).
Ein einfacherer derartiger Fall würde daher etwa lauten: Wenn ich,
um mich gegen den Angriff eines Feindes zu wehren, demselben einen
Stein an den Kopf werfe, so besitzt dieser Stein nicht nur mechanische
Energie (Bewegung), sondern auch eine intelligente unbewusste Kraft,
welche ihn so lenkt, dass er den Kopf meines Gegners trifft. Diese Ueber-
tragung intelligenter Kraft auf den energetischen Vorgang erscheint fast wie
*
Anmerkung No. 28.
— 104 —
ein Gesetz der Erhaltung der Intelligenz („bei der Herstellung einer Ma-
schine verwandelt sich bewusste Intelligenz in unbewusste" pag. 113). Den-
noch ist Reinke gerade der entgegengesetzten Meinung: „Die intelli-
genten Kräfte sind zerstörbar, die Energie ist es nicht" (pag. 113), was ja
natürlich : die Bedingungen sind veränderlich, die Energien ihrer Quantität
nach dauernd.
Auf diesem trügerischen Boden ist es nun Reinke leicht, den
Organismus und seine Leistungen zu erklären. Ueberall, wo derselbe etwas
leistet, thut er dies eben unter Leitung der vorhandenen unbewussten in-
telligenten Dominanten; und für jede Art dieser Leistungen gibt es be-
sondere derartige Dominanten ; die ursprünglichen Dominanten entwickeln
neue u. s. f. Die Dominanten „arbeiten intelligent" „als unsichtbare Bau-
meister" (pag. 115) u. s. f. Auf diese Weise gelangen wir denn zu einer
neuen Dominanten-Umschreibungshypothese von bekanntestem Charakter.
Und das eigentliche Fundament der ganze Lehre ist „in nuce" die alte vita-
listische Argumentation: da die lebenden Wesen sich wie Maschinen ver-
halten, Maschinen jedoch nur von einer Intelligenz konstruirt sein können,
so müssen auch die Organismen von einer Intelligenz hervorgebracht
worden sein. Dabei berührt nur eigentümlich, dass R. sich als Anhänger
der Urzeugung erweist, ohne die Frage zu erörtern, von welcher intelli-
genten Kraft denn die zahlreichen Dominanten, die er schon in diesen ersten
Organismen voraussetzt, abstammen. Hier bleibt doch kein anderer Aus-
weg als die intelligente Schöpfungskraft.
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