Skip to main content

Full text of "Mechanismus und Vitalismus"

See other formats


-\f- 


,r  H 


■^      ;v^-     ,^      .^'f  ■, 


s 


r 


^Y>Hr.'  2 


>' 


VSC  ^ 


\ 


>.  ■  M 


M 

) 


1?. 


CD» 

Sj 


f> 

□ 
D 

a 

□ 
m 
□ 


\ 


•  !)rS.FH!KS») 


n.  ♦ 


MECHANISMUS 


UND 


VITALISMUS 


VON 


O.   BUTSCHLI 

PROFESSOR    DER    ZOOLOGIE    ZU    HEIDELBERG 


LEIPZIG 

VERLAG    VON   WILHELM   ENGELMANN 

1901. 


Alle  Rechte,  besonders  das  der  Uebersetzung,  vorbehalten. 


Druck  der  Kgl.   Universitäts-Druckerei  von  H.  Stürtz,  Würzburg. 


Vorbemerkung. 


Die  kritische  Studie  über  ein  in  neuerer  Zeit  vielfach 
behandeltes  Thema,  welche  ich  hiermit  der  Oeffentlichkeit 
übergebe,  entsprang  der  ehrenden  Aufforderung,  welche  der 
geschäftsleitende  Ausschuss  des  internationalen  Zoologen- 
Congresses  an  mich  richtete.  Das  Thema  habe  ich  selbst  ge- 
wählt; es  lag  mir  insofern  nahe,  als  mich  meine  Arbeiten  viel- 
fach anregten,  über  das  Problem  nachzudenken.  Die  Kürze  der 
gegebenen  Zeit  machte  es  nöthig,  bei  dem  mündlichen  Vor- 
trag vieles  wegzulassen,  was  in  den  Druck  aufgenommen  wurde. 
Manches,  was  bei  einer  anderen  Darstellung  füglich  im  Text 
besprochen  worden  wäre,  musste  in  Anmerkungen  verwiesen 
werden.  Ich  fühle  selbst,  dass  dem  vorliegenden  Versuch  zahl- 
reiche Mängel  anhaften.  Da  jedoch  die  fortschreitende  Einsicht 
an  die  Zusammenarbeit  Vieler  gebunden  ist,  so  wird  man  viel- 
leicht auch  aus  dieser  Studie  einiges  zu  entnehmen  vermögen, 
was  zur  Förderung  und  Klärung  des  Problems  beitragen  kann. 

Heidelberg,  3.  Juni  1901. 


JYlan  wird  darüber  streiten  können,  ob  das  für  meinen  Vortrag 
gewählte  Thema  sich  zur  Besprechung  auf  unserem  Kongress  eignet, 
ganz  abgesehen  davon,  ob  es  mir  gelingen  mag,  seine  gewiss  nicht 
geringen  Schwierigkeiten  einigermassen  zu  bewältigen.  Auch  ge- 
statten es  diese  Schwierigkeiten  nicht,  den  Vortrag  rhetorisch  zu 
beleben  oder  zu  verschönen ;  trockene  Klarheit  kann  allein  das 
wünschenswerte  Ziel  sein1). 

Keiner  Frage  dagegen  unterliegt  es,  dass  die  alten  Gegensätze 
Mechanismu  s  und  Vitalismus  neuerdings  wieder  schärfer 
hervortreten,  nachdem  sie  insofern  ausgeglichen  schienen,  als  die 
Möglichkeit  des  ausreichenden  Begreifens  der  Lebenserscheinungen 
auf   mechanistischer   Grundlage    recht  allgemein    zugegeben  wurde. 

Wenn  die  Denker  und  Forscher,  die  in  neuerer  Zeit  für  den 
Vitalismus  eintraten,  auch  häufig  als  Neo-Vitalisten  bezeichnet 
werden,  so  scheint  mir  doch  der  Gegensatz  zwischen  dem  älteren 
Vitalismus  und  dem  sog.  Neo-Vitalismus  kein  eigentlich  prinzipieller 
zu  sein.  Im  alten  w7ie  im  neuen  Vitalismus  spricht  sich  gleicher- 
weise die  fundamentale  Ueberzeuguns-f  aus,  dass  Lebewesen  und 
Lebensvorgänge  nicht,  oder  doch  nicht  vollständig,  begriffen  werden 
könnten,  ohne  das  Zugeständniss  einer  nur  in  der  Organismenwelt 
bestehenden,  dem  Nichtlebenden  mangelnden  Geschehensgesetzlich- 
keit, eines  besonderen  Prinzips  oder  einer  besonderen  Kraft,  wie 
man  dies  eigenthümliche  Etwas,  je  nach  der  bevorzugten  Ausdrucks- 
weise, bezeichnen  mag.  Mehr  als  der  ältere  Vitalismus  gesteht  der 
Neo- Vitalismus  zu,  dass  die  rein  kausal-mechanistische  Betrachtung 
der  Lebenserscheinungen  ebenso  berechtigt  ist  als  die  teleologische, 
dass  beide  nebeneinander  herzugehen  hätten.  Doch  bildet  auch 
dies  eigentlich  keinen  Gegensatz  zum  älteren  Vitalismus  ;   derselbe 

ßütschli,   Mechanismus  und  Vitaiismus.  1 


2 

konstruirte  ebenfalls  kausal.  Die  von  ihm  postulirte  Lebenskraft 
wurde  als  Ursache  der  Lebenserscheinungen  in  das  kausale  Schema 
eingefügt.  Fraglich  blieb  nur,  ob  die  Voraussetzung  solch'  einer 
hypothetischen  Ursache  berechtigt  war,  und  ob  das  Leben  damit 
wirklich  begriffen  werden  konnte. 

Eine  Untersuchung  über  die  Natur  und  Berechtigung  der  beiden 
gegensätzlichen  Beurtheilungsweisen  des  Lebens  führt  naturgemäss 
bald  auf  sehr  allgemeine  philosophische  Probleme,  deren  Erörterung 
man  bei  derartigen  Betrachtungen  nicht  wohl  völlig  umgehen  kann. 
Andererseits  erscheint  es  aber  auch  unmöglich,  dieser  Besprechung 
eine  ausführliche  kritische  Begründung  des  erkenntniss-theoretischen 
Standpunktes  vorauszuschicken ,  auf  welchen  mich  zu  stellen  ich 
bei  dieser  Besprechung  für  richtig  erachte.  Umgehen  kann  ich  es 
aber  nicht,  wenigstens  zu  skizzieren,  auf  welchem  Boden  ich  mich 
zu  bewegen  gedenke  ;  obgleich  ich  nicht  versuchen  kann,  die  Be- 
rechtigung hiezu  ausreichend  zu  erweisen. 

Am  Beginn  jeder  wissenschaftlichen  Wahrnehmung,  jeder  Er- 
kenntniss,  finden  wir  den  Gegensatz  zwischen  dem  Ich,  dem  Subjekt, 
welches  wahrnimmt  und  erkennt,  und  dem  Objekt,  das  von  dem 
Ich  erkannt  wird.  Diesen  Gegensatz  erfahrungsgemäss  zu  über- 
winden, oder  auf  etwas  Gemeinsames,  Höheres  oder  Allgemeineres 
zurückführen  und  damit  begreifen  zu  wollen,  ist  unmöglich.  Gehen 
wir  von  dem  Ich  und  seinen  Bewusstseinselementen,  als  dem  uns 
allein  direkt  Gegebenen  aus,  so  gelingt  es  auf  keine  Art,  nach- 
zuweisen, dass  eine  Objektenwelt  gesondert  von  diesem  Ich  wirklich 
besteht,  und  dass  nicht  alles,  was  das  einzelne  naive  Ich  als  Objekte 
wahrnimmt,  nur  und  ausschliesslich  sein  Bewusstseinselement  ist. 
Wie  gesagt,  scheint  eine  Widerlegung  dieses  zwar  eigentlich  nie 
praktisch  gewordenen  Standpunktes,  des  sog.  theoretischen 
Egoismus  oder  Solipsismus,  unmöglich.  Wenn  er  praktisch 
stets  verworfen  wurde,  so  geschah  dies  nur  wegen  der  geradezu 
ungeheuerlichen  und  höchst  beunruhigenden  Konsequenzen,  zu 
denen  er  nothwendig  führt. 

Der  umgekehrte  Standpunkt,  die  Objektenwelt  als  das  anzu- 
sehen,   von    dem    ausgehend    das    Ich    zu    begreifen    sei,    scheitert 


ebenso  an  der  Unmöglichkeit,  das  Subjekt  und  seine  Bewusstseins- 
elemente  auf  diesem  Wege  zu  begreifen.  Unter  diesen  Umständen 
gewährt  es  die  meiste  Befriedigung,  die  von  dem  naiven  Menschen- 
verstand stets  gemachte,  obgleich,  wie  die  genauere  Untersuchung 
ergibt,  hypothetische  Annahme:  dass  der  Gegensatz  zwischen 
Subjekt  und  Objekt,  zwischen  Empfindendem  und  Empfundenem, 
wirklich  besteht,  zum  Ausgangspunkt  der  weiteren  Betrachtung 
zu  machen.  Hiernach  stehen  sich  also  Ich  und  Objekt  gegen- 
über ,  doch  nicht  ohne  Zusammenhang ;  denn  die  Objektenwelt 
bedingt  Vorgänge  in  dem  Ich  (Empfindungen  und  Empfindungs- 
komplexe), welche  eben  die  Wahrnehmungen  sind,  die  das  Ich  von 
der  Objektenwelt  hat.  Da  nun  nur  das  eigene  Ich  Bewusstsein 
und  Bewusstseinselemente  direkt  erlebt,  so  vermag  es  auch  nur, 
auf  einen  mehr  oder  weniger  gesicherten  Analogieschluss  gestützt, 
anzunehmen,  dass  auch  gewisse  Bestandtheile  der  Objektenwelt 
analoge  bewusste  und  empfindende  Ich  sind. 

Auf  dem  Boden  der  hypothetischen  Annahme  des  Gegensatzes 
zwischen  dem  empfindenden  Ich  und  der  empfundenen  Objekten- 
welt wird  das  Ich,  ausgerüstet  mit  den  verschiedenen  Bedingungs- 
beziehungen seiner  Sinnesorgane  zu  der  Objektenwelt,  auch  dazu 
gelangen  müssen,  zu  erfahren,  dass  zwischen  den  Objekten  Ab- 
hängigkeiten bestehen,  dass  diese' sich  bedingen;  es  wird  empirisch 
zu  der  Erkenntniss  einer  kausalen  Abhängigkeit  gelangen,  die  wir 
daher  nicht  für  aprioristisch  gegeben  erachten.  Ferner  wird  das 
Ich  dazu  gelangen,  die  Objektenwelt  in  eine  Aussenwelt  und  seinen 
Körper  oder  das  Ich-Objekt  zu  scheiden ;  auf  einem  Wege,  dessen 
Möglichkeit  schon  häufig  zu  zeigen  versucht  wurde.  Mit  dieser 
Scheidung  vollzieht  sich  auch  eine  weitere  wichtige  Sonderung  in 
dem  Empfundenen,  indem  das  Ich  bemerkt,  dass  es  nicht  nur  die 
Objekte  der  Aussenwelt  und  seinen  Körper  empfindet,  sondern  noch 
eine  besondere  Reihe  von  Empfindungen  erlebt,  deren  Beziehungen 
zur  Aussenwelt  keine  unmittelbaren,  sondern  entferntere  sind.  Da 
das  Ich  nun  für  die  Aussenwelt  überzeugt  ist,  dass  es  nicht  nur 
empfindet,  sondern  Etwas  empfindet,  so  konstruirt  es  auch  für 
diese  Reihe  von  Empfindungen  das  Empfundene,  die  Seele. 


—     4     — 

Mit  Hilfe  der  durch  die  verschiedenen  Sinnesorgane  vermittelten 
gleichzeitigen,  jedoch  verschiedenen  Empfindungen,  die  durch  ein 
Objekt  bedingt  werden,  wird  das  Ich  ferner  erfahren,  dass  Empfind- 
ungen durch  ein  Objekt  dann  bedingt  werden ,  wenn  dieses  eine 
Veränderung  erfährt.  Das  heisst  also :  gewisse  von  dem  Objekt 
abhängige  Empfindungen  werden  bedingt  von  Aenderungen  anderer, 
von  diesem  Objekt  abhängiger  Empfindungen.  Dass  aber  Ver- 
änderungen der  von  dem  Objekt  abhängenden  Empfindungen  von 
Veränderungen  des  Objektes  begleitet  sein  müssen,  ist  für  unseren 
Standpunkt  selbstverständlich,  da  ja  dem  Ich  die  Objekte  ver- 
schieden sind,  die  es  verschieden  empfindet.  Auf  diese  Weise  tritt 
allmählich  hervor,  dass  von  Zustandsänderungen  der  Objekte  zu- 
nächst Zustandsänderungen  in  dem  Ich-Objekt  (dem  Körper  des 
Ichs)  abhängen,  und  dass  diesen  gleichzeitig  Bewusstseinselemente 
oder  Empfindungen  parallel  gehen  oder  koordinirt  sind,  welche  das 
Ich  erlebt. 

Wir  gelangen  also  schliesslich  zur  Ueberzeugung,  dass  den  Zu- 
standsänderungen in  der  Objektenwelt  Empfindungen  des  Ich  parallel 
gehen.  Da  nun  das  Ich  von  dem  Objekt  nur  durch  solche  parallel 
gehende  Empfindungen  etwas  erfährt,  ein  Objekt  eben  als  nichts 
weiter  erkannt  werden  kann  als  ein  Komplex  von  Empfindungen, 
so  erscheinen  alle  Spekulationen  darüber,  was  das  Objekt  unab- 
hängig von  diesem  Empfindungskomplex  sein  könnte,  nichtig.  Das 
Objekt  oder  Ding  an  sich  wäre  eigenschaftslos,  das  reine  Objekt 
als  Abstraktum  im  Gegensatz  zum  Subjekt  gedacht,  ein  Nichts. 

Nun  finden  wir  jedoch  die  Körper,  mit  denen  ein  Ich,  ein 
bewusstes  Empfinden  verbunden  ist,  zeitlich  beschränkt ;  sie  ent- 
stehen und  vergehen.  Unmöglich  aber  scheint  es  uns  zu  begreifen, 
wie  ein  solcher  Parallelverlauf  zwischen  Zustandsänderungen  der 
Objektenwelt  und  dem  entstehenden  und  wieder  vergehenden 
Körper  und  seinem  Ich  entsteht  und  wieder  vergeht.  Den  Zu- 
sammenhang zweier  derartig  gegensätzlicher  und  doch  koordinirter 
Verläufe  können  wir  nicht  weiter  begreifen,  sondern  nur  als  solchen, 
als  eine  Unbegreiflichkeit  hinnehmen.  Zu  denken  nun,  dass  der 
Eintritt  dieser  Unbegreiflichkeit  sich  bei  dem  Entstehen  jedes  Ichs 


5 


wiederhole  und  ebenso  wieder  aufhöre,  wäre  eine  Häufung  solcher 
Unbegreiflichkeiten,  welche  wir  nur  durch  die  Erweiterungshypothese 
zu  umgehen  vermögen,  dass  wir  diese  Unbegreiflichkeit  nur  einmal, 
an  den  Beginn  unseres  Denkens  setzen  ;  indem  wir  annehmen,  dass 
alle  Zustandsänderungen,  wie  wir  sie  in  der  Objektenwelt  erfahren, 
stets  von  parallel  gehenden  psychischen  Vorgängen,  Empfindungen 
mit  Gefühlsbetonung,  begleitet  sind ;  dass  daher  dieser  Parallelismus, 
welchen  wir  zwischen  den  Empfindungen  des  Ichs  und  den  Zustands- 
änderungen des  Ich-Objekts,  des  Körpers,  erfahren,  etwas  Allge- 
meines sei  und  nicht  etwas,  was  mit  dem  Ich-Objekt  entsteht  und 
vergeht  2). 

Wenn  wir  diesen  Standpunkt  einnehmen,  so  nähern  wir  uns 
in  mancher  Hinsicht  den  Anschauungen  Mach 's,  der  als  die 
Elemente  der  Welt  Empfindungskomplexe  ansieht,  die  mit  dem 
Ich  bald  in  Beziehung  (ins  Bewusstsein)  treten,  bald  nicht.  Denn 
da  wir  Zustandsänderungen  der  Objekte  wahrnehmen  oder  empfinden, 
und  nach  unserer  Annahme  diesen  stets  Empfindungen  koordinirt 
sind,  so  Hesse  sich  ja  auch  ebensowohl  sagen,  dass  wir  diese 
Empfindungen  der  Objekte  wahrnehmen.  Immerhin  unterscheidet 
sich  unsere  Auffassung  doch  wesentlich  von  der  Mach 's  darin, 
dass  dieser  die  Objekte  selbst  für  Empfindungskomplexe  erklärt, 
demnach  als  dauernd  empfindend.  Unsere  Auffassung  dagegen 
würde  dazu  führen,  zu  sagen  :  Objekt  ist  nicht  ein  Empfindungs- 
komplex, sondern  etwas,  was  empfinden  kann,  aber  nicht  stets 
empfindet.  Damit  wäre  jedoch  eigentlich  auch  der  scharfe  Gegen- 
satz zwischen  Subjekt  und  Objekt  aufgehoben,  insofern,  als  beide 
etwas  sind,  was  empfinden  kanna). 

Der  Gegensatz  bleibt  aber  doch  bestehen,  indem  das  Ich  be- 
wusst,  das  Objekt  dagegen  unbewusst  empfindet.  Ob  mit  diesen 
Worten  zwar  der  Gegensatz  richtig  bezeichnet  ist,  scheint  zweifel- 
haft. Empfindung  als  primäres  Bewusstseinselement  erscheint  uns, 
wie  gesagt,  am  rationellsten  als  eine  den  Zustandsänderungen  in 
der  Objektenwelt  koordinirte  Erscheinung.  Bewusste  Empfindung 
dagegen  ist  nach  aller  Erfahrung  etwas,  was  von  dem  Vorhan- 
densein   eines    besonderen    körperlichen    Systems    des    Ich-Objekts 


—     6     — 

bedingt  ist,  dem  Nervensystem.  Wir  vermögen  auch  eine  besondere 
Leistung  des  Ichs  zu  nennen,  welche  an  dieses  System  gebunden 
ist,  und  ohne  welche  Bewusstsein  nicht  denkbar  erscheint,  das 
Gedächtniss. 

So  sind  wir  denn  der  Meinung,  dass  zwar  Empfindungen  die 
Vorgänge  der  ganzen  Welt  begleiten,  dass  dagegen  das  Bewusst- 
sein oder  die  bewusste  Empfindung  geworden  sei  durch  die  Kon- 
struktion des  Nervensystems  und  damit  des  Gedächtnisses,  welches 
die  Grundlage  und  der  Eckpfeiler  des  bewussten  Objekts  oder  des 
Ichs  ist4). 


Nachdem  wir  so  über  die  philosophisch-erkenntniss-theoretische 
Stellung,  von  der  aus  wir  unser  Thema  zu  betrachten  gedenken, 
Rechenschaft  gaben,  ist  noch  eine  zweite  Vorfrage  kurz  zu  er- 
ledigen, nämlich  die  Frage  nach  dem  Verhältniss  der  sogenannten 
exakten  Naturwissenschaften  zu  den  beschreibenden. 

Die  ersteren  suchen  die  kausalen  Abhängigkeiten  der  Stoffe 
und  der  Erscheinungen  an  den  Stoffen  festzustellen.  Sie  unter- 
suchen dabei  nicht  die  gegebenen  Naturobjekte  in  ihrer  natürlichen 
Umgebung,  sondern  bringen  die  Dinge  oder  Stoffe  unter  bekannte, 
genau  kontrollirbare  Bedingungen,  in  eine  genau  bekannte  Um- 
gebung. Indem  sie  so  von  festdefinirten  und  möglichst  vereinfachten 
Bedingungen  ausgehen,  vermögen  sie  scharf  bestimmte,  exakte  Ab- 
hängigkeiten festzustellen,  welche  jedoch  nur  so  lange  gelten,  als 
die  künstlich  hergestellten  und  genau  bestimmten  Ausgangsbeding- 
ungen bestehen.  Da  aber  in  der  gegebenen  Natur  einfache  und 
genau  feststellbare  Bedingungen  nicht  angetroffen  werden,  so  führen 
auch  die  von  den  exakten  Naturwissenschaften  ermittelten  gesetz- 
mässigen  Abhängigkeiten  nur  zu  mehr  oder  weniger  weitgehenden 
Annäherungen  an  das  natürliche  Geschehen.  Der  Versuch,  die 
Ergebnisse  der  exakten  Naturwissenschaften  für  die  Erklärung  der 
Bildung  und  Entstehung  natürlicher  Objekte  in  der  Astrophysik, 
Geologie  und  Meteorologie  zu  verwenden,  führt  fast  nie  zu  scharf 
bestimmten,    eindeutigen    Ergebnissen,    sondern    in    der    Regel    nur 


zur  Ueberzeugung,  dass  unter  gewissen  physiko- chemischen  Be- 
dingungen das  Entstehen  dieser  Bildungen  begreiflich,  nicht  aber 
zur  exakten  Feststellung,  dass  der  Vorgang  dabei  genau  dieser  oder 
jener  gewesen  sei  5). 

Die  Objekte  der  sogenannten  beschreibenden  Naturwissen- 
schaften sind  nun  stets  natürlich  gegebene,  von  zweifellos  hoch- 
gradiger innerer  Bedingungskomplikation.  Erklärungsversuche  der- 
selben werden  sich  daher  schwerlich  höher  zu  erheben  vermögen, 
als  jene  der  anorganischen  Naturdinge,  d.  h.  zu  der  Ueberzeugung 
ihrer  Begreiflichkeit  oder  der  Möglichkeit  ihres  Entstehens,  auf  Grund 
gewisser  Komplexe  bedingender  und  wirksamer  Ursachen.  Dies 
gilt  für  die  lebenden  Naturdinge  noch  in  viel  höherem  Grade  als 
für  die  nichtlebenden,  da  der  Bedingungskomplex  der  Organismen 
wesentlich  ein  innerer  ist,  der  sich  experimentell  wenig,  und  wegen 
seiner  Komplizirtheit,  hinsichtlich  des  „Wie",  kaum  scharf  be- 
stimmbar abändern  lässt. 


Am  Beginn  unserer  Erörterungen  steht  natürlich  die  Frage : 
was  unter  Mechanismus  und  V i t a  1  i s m u s  zu  verstehen  ist ; 
worin  der  Gegensatz  zwischen  diesen  beiden  Beurtheilungsweisen 
der  Organismen  besteht.  Der  Begriff  des  Mechanismus  hängt  nur 
in  entfernterem  Sinne  mit  Mechanik,  der  Lehre  von  den  Bewegungs- 
und Gleichgewichtserscheinungen  körperlicher  Gebilde  zusammen. 
Nicht  um  das  Begreifen  der  Lebenserscheinungen  auf  mechanische 
Weise  handelt  es  sich  für  den  Mechanismus,  sondern  um  die  Be- 
greiflichkeit oder  Erklärbarkeit  des  Organismus  auf  Grund  der 
gesetzmässigen  Geschehensweisen,  welche  wir  auf  anorganischem 
Gebiet  erfahren.  Rein  mechanische  Auffassung  ist  ja  selbst  in  der 
anorganischen  Welt  undurchführbar.  Selbst  wenn  sie  hier  als  eine 
zukünftig  mögliche  erschiene,  was  ja  von  erfahrener  Seite  geleugnet 
wird,  so  berührt  dies  die  mechanistische  Auffassung  der  Lebens- 
erscheinungen erst  in  zweiter  Linie.  Für  sie  genügt  die  Rück- 
führung auf  die  Geschehensweisen  der  anorganischen  Natur ;  wo- 
gegen sie  es  den  physiko-chemischen  Wissenschaften  überlassen  kann, 


—     8     — 

sich  darüber  zu  entscheiden,  in  wie  weit  und  in  wie  fern  an  die 
Ableitung  dieser  gesetzmässigen  Geschehensweisen -von  mechanischen 
Grundvorstellungen  gedacht  werden  kann.  Eine  Laplace'sche 
Weltformel  gehört  ins  Gebiet  der  Mythe  und  kann  auch  überhaupt 
nichts  anderes  ausdrücken  wollen,  als  die  Möglichkeit  der  Erklärung 
und  Begreiflichkeit  aller  physischen  Vorgänge  auf  Grund  kausaler 
Abhängigkeitsverhältnisse  von  einem  gegebenen  Anfangszustand  aus. 

Dagegen  muss  sich  die  mechanistische  Beurtheilungswei.se  ver- 
wahren gegen  die  Verwechslung  mit  einer  materialistischen,  insofern 
letztere  die  Ansicht  vertritt,  auch  die  psychischen  Erscheinungen 
als  kausale  Folgen  physischer  Vorgänge  begreifen  oder  erklären 
zu  können.  Die  mechanistische  Auffassung  ist  nicht  der  Meinung, 
dass  Psychisches  aus  Physischem  begriffen  werden  könne;  ihr  er- 
scheinen diese  beiden  Gebiete  gesondert,  obgleich  nicht  ohne 
Zusammenhang.  Jedem  physischen  Zustand  entspricht  ein  psy- 
chischer, es  besteht  ein  Koordinationsverhältniss  beider,  dagegen 
keine  Kausalbeziehung  des  Psychischen  zu  einem  zeitlich  vorher- 
gehenden Physischen  im  Sinne  von  Wirkung  und  Ursache  '"'). 

Der  Mechanismus  erachtet  es  also  für  möglich,  wenn  auch  zur 
Zeit  nur  in  beschränktestem  Maasse  durchführbar,  die  Lebensformen 
und  Lebenserscheinungen  auf  Grund  komplizirter  physiko-chemischer 
Bedingungen  zu  begreifen.  Im  Gegensatz  hierzu  leugnet  der  Vita- 
lismus diese  Möglichkeit.  Er  ist  überzeugt,  dass  das  physiko- 
chemische Geschehen  der  anorganischen  Natur  für  die  Be- 
greiflichkeit der  Organismen  nicht  ausreiche;  dass  vielmehr  ein 
ganz  besonderes  Geschehen,  wie  wir  es  in  der  anorganischen  Natur 
nicht  erfahren,  in  der  Organismenwelt  bestehen  müsse.  In  früheren 
Zeiten  dachte  man  sich  dies  besondere  Geschehen  im  Organismus 
unter  dem  Bilde  einer  psychischen  Kraft,  einer  Art  das  Physische 
gestaltenden  und  funktionirenlassenden  Anima,  von  der  schliesslich 
die  spätere  Lebenskraft  nicht  wesentlich  verschieden  war,  obgleich 
sie  gewöhnlich  unter  dem  Bilde  einer  einfachen  Ursache  gedacht 
wurde,  ähnlich  den  als  einfache  Ursachen  gesetzlichen  Geschehens 
auf  anorganischem  Gebiet  angenommenen  Kräften.  Denn  wenn 
die,  als  einfache  Ursache  zwar  gedachte  Lebenskraft  so  Komplizirtes 


-     9 

und  Zweckmässiges  hervorbringen,  dirigiren  und  leiten  sollte,  so 
konnte  sie  nur  unter  dem  Bilde  eines  zwar  unbewussten,  aber 
nichts  destoweniger  nach  Art  eines  intelligenten  Bewusstseins  wirken- 
den Prinzips  vorgestellt  werden.  Anderenfalls  wäre  sie  ganz  nichts- 
bedeutend gewesen,  d.  h.  hätte  eben  nicht  mehr  besagt,  als  dass 
die  Lebensformen  und  -Erscheinungen  eine  besondere,  ihnen  eigen- 
thümliche  Ursache  haben  müssten.  Im  Grunde  genommen,  erwies 
sich  diese  Lebenskraft  eben  nur  als  eine  Umschreibungshypothese, 
welche  das  zu  erklärende  komplizirte  Sein  und  Geschehen  als  be- 
sondere Wirkungsweise  auf  eine  hypothetische  Kraft  oder  Ursache 
übertrug,  und  welche  desshalb  ebenso  wenig  zum  Begreifen  des 
Lebens  und  seiner  Erscheinungen  führen  konnte,  als  entsprechende 
Umschreibungshypothesen  auf  anorganischem  Gebiet7).  In  beiden 
Fällen  verleiten  solche  Hypothesen  leicht,  zu  übersehen,  dass  jedes 
Geschehen  die  Folge  des  Zusammentreffens  mehrerer  oder  zahl- 
reicher Bedingungen  ist,  dass  daher  von  einer  einfachen  Ursache 
zu  reden,   wirklichem  Geschehen  nie  entspricht. 

Ganz  dieselben  Betrachtungen  gelten  für  die  Annahme  mehrerer 
verschiedener  hypothetischer  Unterkräfte,  wie  sie  der  ältere  Vitalis- 
mus ebenfalls  machte,  so  der  Sensibilität,  Irritabilität,  Motilität, 
welche  auch  nur  Umschreibungshypothesen  einzelner  allgemeiner 
Lebenserscheinungen  sind  8). 

Eine  wesentliche  Wandlung  hat  der  Vitalismus  erfahren  seit 
das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Kraft  oder  der  Energie  zur  Aner- 
kennung gelangte ;  was  ja  ursprünglich  gerade  mit  Rücksicht  auf 
die  Vorgänge  im  Organismus  geschah.  Auch  der  Vitalist  kann 
sich  heute  nicht  der  Einsicht  verschliessen,  dass  die  energetischen 
Leistungen  des  Organismus  in  letzter  Instanz  und  allein,  auch 
quantitativ,  von  den  energetischen  Leistungen  der  nichtlebenden 
Welt  abhängen.  Dieser  Anerkenntniss  hat  sich  denn  auch  der 
sogenannte  Neo-Vitalismus  nicht  entzogen ;  daher  bleibt  ihm  nur 
die  Eventualität  offen,  anzunehmen  oder  zu  erweisen,  dass  im 
Organismus  ein  besonderes  eigengeartetes  gesetzliches  Geschehen 
eintrete,  welches  zwar  energetisch  derselben  Abhängigkeit  unter- 
worfen sei,   wie  das  der  anorganischen  Welt,    dagegen    in    letzterer 


—     10 

sich  in  solcher  Weise  nicht  finde.  In  letzter  Instanz  müsste  der 
Neo- Vitalismus  auch  anerkennen,  dass  dies  eigenartige  Geschehen 
bedingt  werde  durch  besondere  physiko-chemische  Kombinationen, 
wie  sie  den  Organismen  eigenthümlich  sind.  Dass  dies  vitale  Ge- 
schehen eine  besondere  Energieform  sei,  eine  vitale  Energie,  wird 
wenigstens  von  mancher  Seite  geleugnet ;  doch  vermag  ich  nicht 
wohl  einzusehen,  in  welch'  anderer  Weise  man  sich  davon  eine 
Vorstellung  machen  soll 9). 

Im  Allgemeinen  ist  auch  der  Neo-Vitalismus  geneigt,  zuzu- 
geben, dass  eine  kausal-mechanistische  Beurtheilung  der  Organismen 
berechtigt  ist ;  jedoch  nur  insofern,  als  die  kausale  Betrachtung 
eine  dem  menschlichen  Intellekt  a  priori  eigenthümliche  Anschauungs- 
form sei,  welcher  eine  zweite,  ebenso  berechtigte  und  gleichfalls 
aprioristische  Anschauungsform  gegenüberstehe,  die  teleologische. 
Oder  er  argumentirt  auch  so :  die  Kausalität  ist  zwar  allgemein- 
giltig,  jedoch  nicht  alleingiltig;  im  Organismus  besteht  noch  eine 
andere  Abhängigkeitsform,  eine  teleologische  Kausalität,  welche  der 
nichtlebenden  Welt  fehlt. 

Indem  der  Neo-Vitalismus  die  kausal-mechanistische  Betrachtung 
des  Lebens  als  eine  berechtigte,  ja  in  ihrer  Durchführung  not- 
wendige Forderung  anerkennt,  so  können  wir  auch  nicht  die  kausale 
Betrachtung  als  solche,  als  den  Charakter  des  Mechanismus  im 
Gegensatz  zu  dem  Vitalismus  ansehen,  wie  es  gelegentlich  geschah. 
Vielmehr  wäre  als  der  wesentliche  Unterschied  festzuhalten,  dass 
die  Geschehensweisen  der  nichtlebenden  Natur  für  das  Begreifen 
des  Lebens  nicht  ausreichen ;  sowie  die,  wenigstens  von  einem  Theil 
der  Neo-Vitalisten  betonte  Ueberzeugung,  dass  volles  Begreifen  des 
Lebens  in  kausal-mechanistischer  Denkweise  überhaupt  unmöglich 
sei  und  seine  Ergänzung  durch  die  teleologische  Betrachtung,  die 
Berücksichtigung  der  Endursachen,  der  Causae  finales,  finden  müsse. 


Da  der  Mechanismus  die  Möglichkeit  festhält,  dass  das  kausale 
Geschehen    der    anorganischen    Welt    für    die    Begreifbarkeit    der 


—   11    — 

Organismen  ausreiche,  so  scheint  es  nöthig,  näher  zu  erörtern, 
was  man  unter  kausaler  Abhängigkeit  versteht. 

Wenn  wir  in  der  anorganischen  Welt  ein  Ding  A  sich  ver- 
ändern sehen,  z.  B.  aus  dem  Ruhezustand  in  Bewegung  kommen, 
so  finden  wir,  dass  eine  Anzahl  Bedingungen  bestehen  müssen, 
wonach  diese  Veränderung  folgt.  Das  Ding  A  muss  an  einem  be- 
stimmten Ort  und  seine  Umgebung  derart  sein,  dass  es  in  Be- 
wegung gerathen  kann ;  das  stossende  Ding  B  muss  in  einer 
bestimmt  gerichteten  Bewegung  sein,  damit  A  getroffen  wird.  Es 
müssen  also  eine  ganze  Anzahl  Bedingungen  zusammentreffen,  damit 
A  sich  verändert.  Diese  Bedingungen  sind  alle  gleichwerthig; 
mangelt  eine,  so  verändert  sich  A  nicht.  Zunächst  scheinen  daher 
alle  diese  Bedingungen  von  derselben  Bedeutung  und  keine  das 
Anrecht  zu  besitzen,  vor  den  anderen  etwa  als  Ursache  besonders 
betont  zu  werden.  Dennoch  zeichnet  sich  eine  dieser  Bedingungen 
vor  den  anderen  aus,  indem  sie  selbst  eine  Veränderung,  eine  Be- 
wegung ist,  nämlich  die  des  stossenden  Dings  B,  während  die  übrigen 
Bedingungen  nicht  in  Veränderung  sind.  Gleichzeitig  ergibt  sich, 
unter  der  Voraussetzung  vollkommener  Elastizität  der  beiden  Dinge, 
dass  das  Maass  der  Veränderung,  welche  A  erfährt,  gleich  dem 
Maass  der  Veränderung  ist,  welche  B  verliert;  dass  also  die 
Quantität  der  Veränderung  A's  direkt  diejenige  ist,  welche  B  ver- 
liert. B  als  Ding  verändert  sich  dabei  nicht,  ebenso  wenig  A ; 
dagegen  der  Zustand  beider  Dinge.  B  geht  aus  dem  Bewegungs- 
zustand in  den  der  Ruhe  über,  umgekehrt  A.  Demgemäss  zeichnet 
sich  das  Ding  B  vor  den  übrigen  Bedingungen  dadurch  aus,  dass 
es  in  einem  Veränderungszustand  befindlich  ist  (dass  es  freie  Energie 
hat,  wie  man  auch  sagt),  welcher  seinerseits  den  Veränderungs- 
zustand von  A  bedingt.  Man  hat  nun  häufig  diesen  bedingenden 
Veränderungszustand  von  B  als  die  wirkende  Ursache  bezeichnet, 
im  Gegensatz  zu  den  übrigen  Bedingungen,  welche  keine  solche  Ver- 
änderung zeigen,  und  man  kann  diese  letzteren  auch  die  bedingenden 
Ursachen  oder  kürzer,  die  Bedingungen  des  kausalen  Vorgangs  nennen. 

In  dem  besprochenen  Fall  finden  wir,  dass  die  wirkende  Ur- 
sache von  B  ihrer  Quantität   nach   in  dem  bewirkten  Zustand  von 


—     12     — 

A  sich  wiederfindet.  Es  gibt  jedoch  eine  zweite  Form  kausaler 
Abhängigkeit,  bei  welcher  kein  solches  Verhältniss  zwischen  wirken- 
der Ursache  und  Wirkung  besteht ;  eine  kausale  Abhängigkeit,  die 
man  in  der  Regel  als  Auslösung  bezeichnet  und  welche  gerade 
in  der  Organismenwelt  allgemein  vorkommt.  Um  diese  kausale 
Abhängigkeit  mit  der  ersterwähnten  zu  vergleichen,  stellen  wir  uns 
Folgendes  vor.  Ein  Gewicht  werde  gehoben  und  dadurch  in  einen 
veränderten  Zustand  versetzt,  der  als  wirkende  Ursache  unter  ge- 
eigneten Bedingungen  seine  Bewegung  oder  den  Fall  zur  Unterlage 
bedingt.  Das  Gewicht  werde  auf  das  eine  Ende  eines  Waage- 
balkens gesetzt  und  bedinge  durch  seinen  Veränderungszustand  das 
Herabsinken  desselben.  Nun  werde  aber  gleichzeitig  auf  jedes 
Ende  des  Waagebalkens  ein  gleiches  solches  Gewicht  gesetzt,  dann 
bedingen  die  Zustände  beider  Gewichte  keine  Bewegung  des  Balkens, 
sondern  die  Veränderungszustände  beider  Gewichte  paralysiren  sich, 
halten  sich  gegenseitig  das  Gleichgewicht.  Eine  der  Quantität  nach 
äusserst  geringfügige  wirkende  Ursache,  welche  das  eine  Gewicht 
von  dem  einen  Waagebalken  herabwirft,  bedingt  nun,  dass  das 
andere  Ende  des  Balkens  mit  dem  darauf  befindlichen  Gewicht 
sinkt  und  dabei  eine  Quantität  Veränderung  bewirkt,  welche  die- 
jenige vielmals  übertreffen  kann,  welche  das  erste  Gewicht  ent- 
fernte. In  der  Regel  bezeichnet  man  nun  die  das  eine  Gewicht 
entfernende  wirkende  Ursache  als  die  Auslösungsursache,  deren 
Wirkung  die  damit  in  auffallendem  quantitativem  Missverhältniss 
stehende  Senkung  des  entgegenstehenden  Waagebalkens  sei.  Bei 
näherer  Überlegung  des  geschilderten  Falles  ergibt  sich  jedoch 
leicht,  dass  es  sich  dabei  nicht  um  eine  einfache  Kausalabhängigkeit 
handelt,  wie  in  dem  erstdargelegten  Fall,  sondern  um  eine  wieder- 
holte, oder  eine  sogenannte  Kausalkette.  Zunächst  haben  wir  die 
wirkenden  Ursachen,  welche  in  der  Hebung  der  beiden  Gewichte 
gegeben  waren  und  deren  Wirkung  ein  veränderter  Zustand  der 
beiden  Gewichte  ist ,  der  nun  seinerseits  wieder  als  wirkende 
Ursache  eine  Wirkung  bedingen  kann.  Diese  Wirkung  erfolgte 
jedoch  nicht ,  da  unter  den  gegebenen  Bedingungen  die  beiden 
Gewichte  sich  gegenseitig  hemmen.  Wird  nun  durch  eine  sogenannte 


13 

Auslösungsursache  die  hemmende  Bedingung  beseitigt,  so  folgt  unter 
den  geänderten  Bedingungen  die  Senkung  des  verbliebenen  Ge- 
wichts, d.  h.  die,  wegen  der  vorhandenen  Hemmung  nicht  realisirte 
Wirkung  der  früheren  wirkenden  Ursache,  der  ehemaligen  Hebung 
des  Gewichts,  tritt  nun,  nach  Beseitigung  der  Hemmung  durch  die 
Auslösungsursache,   verspätet  auf. 

Die  erwähnte  Kausalkette  wäre  demnach:  1.  Hebung  der 
Gewichte  (Gleichgewichtszustand,  Hemmung  oder  Nichteintritt  der 
Wirkung) ;  2.  Entfernung  des  einen  Gewichts  (neuer  Bedingungs- 
zustand); 3.  die  Wirkung  der  Hebung  des  verbliebenen  Gewichts 
tritt  nun  als  Senkung  hervor.  Eine  solche,  durch  die  gegebenen 
Bedingungen  in  ihrer  Wirkung  gehemmte,  d.  h.  durch  einen  ein- 
getretenen Gleichgewichtszustand  nicht  zur  Wirkung  gelangte,  wirk- 
ende Ursache  wird  bekanntlich  auch  als  potentielle  Energie  bezeichnet. 

Betrachten  wir  noch  einen  zwreiten  Fall.  Nehmen  wir  einen 
Glasfaden,  den  wir  ringförmig  zusammenbiegen,  so  ist  die  Folge 
dieser  Biegung  eine  Zustandsänderung  des  Fadens,  die  unter  geeig- 
neten Bedingungen  die  Rückbewegung  des  Fadens  in  die  ursprüng- 
liche Form,  und  den  ursprünglichen  Zustand  bewirkt.  Wenn  ich 
nun  die  beiden  sich  berührenden  Enden  des  ringförmig  gebogenen 
Fadens  zusammenschmelze,  so  kehrt  der  Faden  nicht  mehr  zur 
ursprünglichen  Form  zurück,  er  verharrt  in  der  Ringform.  Durch 
die  Herstellung  der  Kontinuität  der  beiden  vereinigten  Enden  wurde 
eine  Hemmung  herbeigeführt,  die  einen  Gleichgewichtszustand  be- 
dingt, aber  einen  Gleichgewichtszustand,  der  sich  von  dem  ursprüng- 
lichen Zustand  durch  erhöhten  Gehalt  an  potentieller  Energie 
unterscheidet.  Durch  eine  Auslösungsursache,  welche  die  Kon- 
tinuität der  verlötheten  Fadenenden  aufhebt,  werden  die  Beding- 
ungen so  verändert,  dass  nun  die  Wirkung  der  früheren  Biegungs- 
ursache eintritt.  Die  Kausalkette  ist  hier  wieder:  1.  Wirksame 
Ursache  der  Fadenbiegung  -  -  Eintritt  der  Hemmung  (Gleichgewichts- 
zustand). 2.  Aufhebung  der  Hemmung  (Auslösungsursache).  3.  Die 
Wirkung    der  ehemaligen  Biegung    tritt  nun   als  Streckung  hervor. 

Als  Ergebniss  unserer  Betrachtung  dürfen  wir  also  hervor- 
heben :    dass  das    kausale  Abhängigkeitsverhältniss,    wie  es  bei  der 


14 

sog.  Auslösung  vorliegt,  als  eine  Kausalkette  sich  darstellt,  bei 
welcher  die  Wirkung  einer  früheren  wirkenden  Ursache,  welche 
wegen  besonderer  Bedingungen  nicht  erscheinen  konnte,  infolge  der 
Aenderung  dieser  Bedingungen  durch  eine  Auslösungsursache,  nun 
in  Erscheinung  tritt  oder  ausgelöst  wirdlu). 


Mechanismus  und  Vitalismus  bemühen  sich,  die  Lebewesen  zu 
begreifen  oder  zu  erklären,  Bezeichnungen,  welche  ich  ihrem  Wesen 
nach  für  identische  halte.  Beide  Richtungen  differiren  nur  hin- 
sichtlich der  Grundlage,  auf  der  ihnen  ein  solches  Begreifen  oder 
Erklären  möglich  erscheint.  Gerade  bei  manchen  Neo  -Vitalisten 
ist  jedoch  die  Meinung  verbreitet,  dass  man,  nach  Kirch  ho  ff 's 
Vorgang,  von  „Erklären"  der  Naturerscheinungen  gar  nicht  reden, 
sondern  sich  auf  das  von  ihm  geforderte  „einfachste  und  vollstän- 
dige Beschreiben"  beschränken  solle.  Einige  Kritiker  haben  schon 
richtig  erkannt,  dass  Kirchhoff  zu  seiner  Forderung  gelangte,  auf 
Grund  einer  von  der  üblichen  abweichenden  Definition  des  Begriffes 
„Beschreiben".  Es  kann  doch  wohl  nicht  zweifelhaft  sein,  dass 
Beschreiben  im  gewöhnlichen  Sinne  bedeutet :  einmal  das  Aufzählen 
der  im  Räume  gleichzeitig  nebeneinander  bestehenden  Mannig- 
faltigkeiten und  zweitens  der  in  der  Zeit  aufeinanderfolgenden  succe- 
direnden  Mannigfaltigkeiten.  Dass  dieses  die  ursprüngliche  und 
eigentliche  Bedeutung  des  Beschreibens  ist,  erweist  ja  gerade  die 
Benennung  der  „beschreibenden  Naturwissenschaften",  im  Gegen- 
satz zu  den  sogenannten  exakten. 

Nebeneinandersein  im  Raum  oder  Folge  in  der  Zeit  ist 
jedoch  kein  Beweis  kausaler  Abhängigkeit,  des  gesetzmässig  be- 
dingten Nebeneinanderseins  oder  Aufeinanderfolgens.  Einer  solchen 
Aufzählung  des  Nebeneinander  oder  Nacheinander  nicht  genauer 
analysirter  Komplexe,  selbst  wenn  sie  sich  noch  so  oft  und  so  regel- 
mässig wiederholen,  fehlt  daher  diejenige  Einsicht  der  nothwendigen 
Bedingtheit,  welche  wir  mit  der  kausalen  Succession  verbinden. 
Eine  Aufzählung  von  Aufeinanderfolgen,   die  sich  kausal  bedingen, 


15 

von  welchen  jede  spätere  kausal-nothwendig  auf  die  vorhergehende 
folgt,  ist  natürlich  auch  eine  aufzählende  Beschreibung,  aber  eine 
solche,  in  der  jedes  folgende  Glied  logisch  und  empirisch  durch  die 
vorhergehenden  nothwendig  bedingt  erscheint ;  nothwendig  in  dem 
Sinne,  dass  jede  andere  Folge  logisch  wie  erfahrungsgemäss  ein  Wider- 
spruch sein  würde.  Eine  derartige  kausal-noth wendige  Beschreibung 
ist  jedoch  das,  was  man  eine  Erklärung  genannt  hat.  Nur  dann 
aber  wird  eine  solche  kausale  Beschreibung  eine  wirkliche  Nöthig- 
ung  in  sich  schliessen,  wenn  das  Ausgangsglied  nicht  mit  Bedingungen 
oder  Eigenschaften  ausgestattet  wurde,  aus  denen  zwar  die  folgen- 
den Glieder  logisch  nothwendig  folgen,  welche  Eigenschaften  aber 
dem  Ausgangsglied  nicht  erfahrungsgemäss  und  nothwendig  zu- 
kommen, sondern  ihm  willkürlich  beigelegt  sind.  Denn  wie  ich  und 
Andere  schon  bemerkten,  ist  das  Kennzeichen  einer  befriedigen- 
den Erklärung  die  Rückführung  oder  Unterordnung  einer  unbe- 
griffenen Erscheinung  unter  eine  allgemeinere ,  erfahrungsmässig 
bekannte  Erscheinung. 

Beispielsweise  mag  darauf  hingewiesen  werden,  dass  Kepler 
eine  genaue  Beschreibung  der  Planetenbewegung  gegeben  hat,  da- 
gegen keine,  von  gewissen  erfahrungsgemässen  Voraussetzungen  in 
kausaler  Folge  succedirende  Beschreibung  oder  Erklärung.  Diese 
entwickelte  später  Newton,  ausgehend  von  der  Voraussetzung  der 
Gültigkeit  des  Gravitationsgesetzes  durch  den  Himmelsraum  und 
der  Translationsbewegung.  Natürlich  ist  solch'  eine  widerspruchs- 
lose kausale  Beschreibung  auch  die  einfachste,  vollständigste  oder 
ökonomischste,  wie  man  ihren  Charakter  in  neuerer  Zeit  nicht 
unbezeichnend  auch  nannte.11) 


Es  wird  unsere  Aufgabe  sein,  die  Einwände  zu  erörtern,  welche 
der  sogenannte  Neo- Vitalismus  gegen  die  Möglichkeit  eines  physiko- 
chemischen Begreifens  oder  Erklärens  der  Lebenserscheinungen 
erhob.  Dabei  mag  unbeachtet  bleiben,  in  wie  fern  diese  Ein- 
wände von  allen  Vertretern  gleichmässig  anerkannt,  oder  stets 
festgehalten  wurden.     Es  handelt  sich  hier  um  die  Einwände  an  sich. 


16     — 

Am  häufigsten  und  allgemeinsten  wird  der  mechanistischen 
Richtung  vorgeworfen,  dass  sie  bis  jetzt  keine,  oder  doch  nur  sehr 
wenige  der  Lebenserscheinungen  wirklich  auf  ihre  Weise  erklärt 
habe;  dass  im  Gegentheil  die  meisten  physiko- chemischen  Er- 
klärungsversuche gewisser  Theilerscheinungen  der  Lebensvorgänge 
sich  nachträglich  als  unzutreffend  erwiesen.  So  hart  dies  Urtheil 
klingt,  so  ist  es  doch  nicht  ganz  unrichtig.  Gleichwohl  scheint  es 
mir  sehr  ungerecht,  wenn  wir  bedenken,  wie  sich  unsere  Kenntnisse 
von  den  physiko-chemischen  Vorgängen  in  den  Lebewesen  zu  dem 
verhalten,  was  man  etwa  vor  100  Jahren  davon  w7usste.  Denn 
diese  Vertiefung  unseres  Wissens  ist  erzielt  worden  auf  dem 
Boden  der  Voraussetzung,  dass,  wenn  auch  nicht  der  Organismus 
in  seiner  Gesammtheit  physiko-chemisch  begreiflich  sei,  doch 
die  in  ihm  sich  abspielenden  Vorgänge  physiko-chemisch  begreiflich 
sein  müssten. 

Zurückweisen  muss  ich  aber  die  zuweilen  von  neo-vitalistischer 
Seite  aufgestellte  Behauptung,  dass  alle  jene  Theilerscheinungen 
der  Lebensvorgänge,  welche  sich  physiko-chemisch  begreifen  Hessen, 
aus  der  Reihe  der  eigentlichen  Lebenserscheinungen  zu  eliminiren 
wären ;  dass  sie  ebensowenig  wirkliche  Lebenserscheinungen  seien, 
als  die  vom  Wind  bewirkten  Bewegungen  der  Blätter  zum  Leben 
des  Baumes  gehörten  (Bunge).  Wer  sich  auf  diesen  Standpunkt 
stellt,  für  den  gibt  es  natürlich  keine  mechanistische  Erklärung  der 
eigentlichen  Lebensvorgänge.  Aber  dieser  Standpunkt  basirt  auf 
einer  Petitio  principii,  nämlich  der:  es  sei  eben  der  Charakter 
der  wahren  Lebenserscheinungen,  dass  sie  physiko-chemisch 
nicht  erklärbar  sind.  Dagegen  lautet  das  zu  lösende  Problem 
doch:  sind  die  Lebenserscheinungen  physiko-chemisch  erklärbar 
oder  nicht?1-)  Ihren  eigenthümlichsten  Ausdruck  scheint  mir  diese 
Denkart  bei  einem  der  modernen  Neo-Vitalisten  (Cossmann)  er- 
langt zu  haben,  wTelcher  meint,  dass  ein  künstlich  erzeugter  Körper, 
aus  denselben  Stoffen  wie  eine  Pflanze  und  von  denselben  Struk- 
turen,   eben  doch    kein  Organismus  sei*).     Ein  Körper  aber,    der 


*)   Cossmann    1S99,   p.   41. 


17 

stofflich  und  strukturell  ebenso  gebildet  ist  wie  eine  bestimmte 
Pflanze,  kann  sich  unter  geeigneten  äusseren  Bedingungen  nicht 
anders  verhalten  als  jene  Pflanze,  d.  h.  er  wird  leben  wie  sie.  Es 
wäre  eine  Willkür,  dieses  Kunstprodukt  wegen  seiner  abweichenden 
Entstehung  von  dem  Begriff  des  Organismus  auszuschliessen.  Mit 
demselben  Recht  könnte  man  den  im  Laboratorium  dargestellten 
Sauerstoff  als  begrifflich  von  dem  der  Luft  verschieden  erachten  wollen. 

Niemand  wird  bestreiten,  dass  auch  dem  einfachsten  Organismus 
ein  äusserst  verwickelter  Bedingungskomplex  zu  Grunde  liegen  muss, 
und  dass  desshalb  der  physiko-chemischen  Erklärung  der  Lebens- 
vorgänge -  -  ihre  Möglichkeit  zugegeben  -  einstweilen  nur  Weniges, 
einzelne  Theilerscheinungen  zugänglich  sein  können ;  und  auch 
das  nur  im  Sinne  der  allgemeinen  Wahrscheinlichkeit  ihrer  Ab- 
leitung aus  gewissen  physiko-chemischen  Bedingungen.  Beachten 
wir  ferner  die  bekannte  Thatsache,  dass  für  Physik  und  Chemie 
gerade  diejenigen  Stoffe,  welche  die  Lebensformen  aufbauen,  noch 
ungelöste  Räthsel  sind;  dass  wir  chemisch  von  dem  Protoplasma 
nur  die  Zerfallsprodukte  kennen  und  auch  diese  nur  wenig  genau, 
so  ist  nicht  sehr  erstaunlich,  dass  physiko-chemisch  einstweilen  nur 
wenig  erklärbar  sein  kann.  Ich  halte  es  sogar  für  wahrscheinlich, 
dass  selbst  die  experimentelle  Erforschung  der  Lebensvorgänge 
einfachster  Organismen  nicht  sehr  erheblich  zur  Lösung  dieser 
Probleme  beizutragen  vermag.  Wenn  man  die  wahrscheinliche 
Komplikation  der  Bedingungen,  auch  der  einfachsten  Lebensvorgänge, 
berücksichtigt,  und  ferner,  dass  es  sich  in  der  Hauptsache  um 
innere  Bedingungen  handelt,  deren  Modificirung  in  sicher  feststell- 
barer, eindeutiger  Weise  kaum  möglich  erscheint,  so  wird  man 
sich  schwerlich  der  Ueberzeugung  verschliessen  können,  dass  die  Er- 
mittelung der  ursächlichen  Abhängigkeiten  der  fundamentalen  ein- 
fachsten Lebenserscheinungen,  wie  Assimilation  und  Dissimilation, 
Wachsthum,  Selbstbewegung  und  Selbsttheilung,  auf  dem  experi- 
mentellen Wege ,  der  bei  den  exakten  Naturwissenschaften  so 
Glänzendes  ergeben  hat,  kaum  zu  erreichen  sein  dürfte. 

Mir  scheint  sogar  ein  anderer  Weg  gangbarer,  nämlich  der- 
jenige,  den  ich  in  einigen  meiner  Arbeiten  einzuschlagen  versuchte. 

Bütschli,  Mechanismus  und  Vitalismus.  2 


—    18    — 

Das  heisst,  die  physiko- chemische  Natur  derjenigen  Stoffe,  von 
denen  wir  wissen  oder  annehmen  dürfen,  dass  sie  die  stoffliche 
Grundlage  der  einfachsten  Lebewesen  bilden,  möglichst  genau  zu 
erforschen,  und  dabei  auch  die  in  vieler  Hinsicht  recht  wenig  be- 
kannten feineren  Struktur-  und  Formerscheinungen  auf  rein  an- 
organischem Gebiet  sorgfältig  zu  berücksichtigen.  In  zweiter  Linie 
aber  Vorgänge  aufzusuchen,  welche  sich  unter  bekannten  Beding- 
ungen an  unbelebtem,  seiner  Natur  nach  bekanntem  Material  ab- 
spielen, und  die  mit  jenen  an  den  einfachsten  Organismen  beobach- 
teten mehr  oder  weniger  übereinstimmen. 

Natürlich  folgt  aus  der  allgemeinen  Aehnlichkeit  solcher 
Vorgänge  und  Formbildungen  an  nichtlebendem  Material  mit 
solchen  am  lebenden  Organismus  nicht  direkt  reale  Identität  der 
ursächlichen  Bedingungen  in  den  verglichenen  Fällen.  Eine 
solche  Uebereinstimmung  kann  unter  den  gegebenen  LTmständen 
nur  auf  dem  Wege  der  Ausschliessung  ergründet  werden ;  indem 
nämlich  einmal  gezeigt  wird,  dass  thatsächlich  bei  der  zu  er- 
klärenden Lebenserscheinung  dieselben  allgemeinen  Bedingungen 
bestehen  oder  doch  bestehen  können,  wie  bei  der  damit  ver- 
glichenen, unter  bekannten  Bedingungen  verlaufenden ;  und  ferner 
durch  den  Nachweis,  dass  unter  anderen  möglichen  und  wahr- 
scheinlichen Bedingungen  die  Erscheinung  im  Organismus  nicht 
eintreten  kann.  Es  ist  begreiflich,  dass  es  meist  sehr  schwierig 
sein  wird,  diese  Nachweise  mit  aller  Schärfe  zu  erbringen.  Selbst 
wenn  sie  erbracht  sind,  wird  das  Ergebniss  nur  sein,  dass 
festgestellt  ist,  zu  welcher  Kategorie  von  Kräfte-  oder  Energie- 
äusserungen  die  betreffende  Lebenserscheinung  zu  rechnen  ist. 
Die  speziellen  Bedingungen  in  den  Einzelfällen  entziehen  sich  da- 
gegen der  Feststellung;  ebenso  wie  dies  auch  bei  anorganischen 
gegebenen  Naturobjekten  und  -Erscheinungen  in  der  Regel  der 
Fall  ist13). 

Man  erkennt,  dass  dieser  Forschungsweg  ein  wesentlich  deduk- 
tiver ist,  wie  er  bei  sehr  verwickelten  Naturerscheinungen  meist 
allein  gegeben  scheint.  Es  ist  nöthig,  zunächst  eine  Ansicht  über 
die  physiko-chemischen  Geschehensweisen  zu  gewinnen,    unter    die 


19     — 

eine  Lebenserscheinung  möglicherweise  untergeordnet  werden  könne; 
und  dann  sowohl  durch  Beobachtung  als  Experiment  nachzuweisen, 
dass  diese  Voraussetzung  weder  mit  den  im  Organismus  thatsäch- 
lich  gegebenen  Bedingungen,  noch  den  aus  der  Voraussetzung 
folgenden  Konsequenzen  in  Widerspruch  geräth. 

Eine  besonders  schwerwiegende  Bedeutung  schreibt  die  neo- 
vitalistische  Betrachtung  der  Formbildung  der  Organismen  zu ; 
nicht  etwa  nur  der  äusseren  Form,  sondern  im  weiteren  Sinne 
dem  äusseren  und  inneren  organisatorischen  Aufbau  u).  Selbst  sehr 
überzeugte  Anhänger  der  Ansicht,  dass  alles  Geschehen  im  Orga- 
nismus physiko- chemisch  verlaufe,  waren  dennoch  ebenso  über- 
zeugt, dass  die  gegebene  Form,  an  und  in  welcher  sich  dieses 
Geschehen  abspielt,  nicht  selbst  physiko-chemisch  begriffen  werden 
könne.  Die  Unbegreiflichkeit  der  Form  auf  mechanistischer  Grund- 
lage wurde  denn  auch  von  neueren  Vitalisten  vielfach  hervor- 
gehoben, mit  der  weiteren  Betonung,  dass  nur  eine  teleologische 
Beurtheilung  zu  dem  Verständniss  der  Form  führen  könne. 

Nun  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  die  Formen,  welche  in  der 
Organismenwelt  eine  so  ausserordentlich  komplizirte  und  das  Ganze  be- 
dingende Ausgestaltung  erlangen,  etwas  Eigenartiges  haben.  Formen, 
in  dem  Sinne,  wie  es  die  organisirten  Individuen  sind,  d.  h.  deren 
Beschaffenheit  durch  den  inneren  Bedingungskomplex  bestimmt 
wird,  finden  sich  in  der  unorganischen  Natur  in  geringer  Aus- 
bildung. Es  lassen  sich  hierher  nur  rechnen  die  Gieichgewichts- 
figuren  flüssiger  Körper  und  die  Krystalle.  Derartige  Formen  sind 
Ruhezustände.  Ruhe-  oder  Gleichgewichtszustände  sind  eigentlich 
kausal  nur  dadurch  charakterisirt,  dass  keine  wirkenden  Ursachen 
ihrer  Veränderung  vorhanden  sind  und  dass  dieses  Nichtbestehen 
von  Veränderungsursachen  von  gewissen  formalen  Bedingungen 
abhängt.  Bei  den  Flüssigkeiten  davon,  dass  die  Summe  der  beiden 
auf  einander  senkrechten  Krümmungsradien  jedes  Punktes  der 
Oberfläche  überall  dieselbe  ist.  Auch  bei  den  Krystallen  müssen 
es  zweifellos  derartige  formale  Gleichgewichtsbedingungen  sein, 
welche  wenigstens  im  Moment  der  Entstehung  die  Form  bestimmen. 
Wird  ein    solcher  Gleichgewichtszustand    gestört,    so    bedingt    dies 

2* 


-     20     — 

das  Auftreten  von  Kräften  oder  Energien,  in  diesem  Fall  der  Ober- 
flächenenergie, welche,  wenn  die  übrigen  Bedingungen  zureichen, 
den  ursprünglichen  Zustand  wieder  herstellen. 

Hieraus  folgt,  dass  man  bei  derartigen  Formzuständen  nicht 
eigentlich  von  formbildenden  Kräften  oder  Energien,  sondern  nur 
von  formalbedingenden  reden  kann. 

Als  eine  zweite  Art  von  Formzuständen  auf  anorganischem 
Gebiet  erkennen  wir  diejenigen,  welche  nicht  ruhende,  sondern  Be- 
wegungszustände  sind,  deren  beharrende  Form  von  einem  gleich- 
massig  beharrenden  Bewegungszustand  wechselnden  Stoffes  bedingt 
wird.  Beispiele  solch'  „dynamischer  Gleichgewichtszustände"  sind 
der  Wasserfall,  der  Fluss,  der  Springbrunnen,  die  Flamme ;  lauter 
Formzustände,  welche  man  denen  der  Organismen  häufig  verglich. 
Bei  derartigen  Zuständen  handelt  es  sich  um  stetig  wechselnden, 
in  Bewegung  begriffenen  Stoff,  welcher  unter  gleichmässig  bleiben- 
den Bedingungen  dauernde  gleichmässige  Bahnen  durchläuft,  und 
so  eine  dauernde  dynamische  Gleichgewichtsform  besitzt.  In 
diesen  Fällen  ist  es  also  eine  unter  gleichbleibenden  Bedingungen 
fortdauernde  freie  Energie ,  welche  der  Formerscheinung  zu 
Grunde  liegt. 

Man  hat  die  Formzustände  der  Organismen  wegen  des  Stoff- 
wechsels häufig  mit  dynamischen  Gleichgewichtszuständen  ver- 
glichen. Mir  scheint  dies  nicht  zutreffend,  denn  ein  solch'  rascher 
und  andauernder  Stoffwechsel,  wie  er  derartige  Zustände  bedingt, 
liegt  doch  im  Organismus  sicherlich  nicht  vor.  Dies  trifft  um  so 
weniger  zu,  als  wir  den  Stoffwechsel  des  Organismus  unter  gewissen 
Bedingungen  häufig  auf  ein  Minimum  reduzirt  finden,  ja  wohl  auf 
Null,  ohne  dass  dies  seine  Form  alterirt.  Unter  solchen  Umständen 
können  wir  die  organisirte  Form  auch  nicht  den  dynamischen 
Gleichgewichtszuständen  unterordnen,  sondern  müssen  sie  im  Prinzip 
den  ruhenden  zugesellen.  Dies  schliesst  keineswegs  den  Wechsel 
des  Stoffes  aus.  Ein  Flüssigkeitstropfen  kann  eine  Wandlung  oder 
einen  Stoffwechsel  wohl  erfahren,  ohne  seine  Gleichgewichtsform 
zu  ändern ;  ja  selbst  ein  Krystall  ist  in  dieser  Lage,  wie  jede  Pseudo- 
morphose  erweist. 


21     - 

Mir  erscheint  es  daher  als  das  Richtigste,  die  organisirten 
Formen  den  ruhenden  Gleichgewichtsformen  der  anorganischen  Natur 
anzureihen;  mit  der  Einschränkung,  dass  die  aufbauenden  Stoffe 
einem  allmählichen  Wechsel,  d.h.  unter  geeigneten  Bedingungen  einer 
allmählichen  Zersetzung  und  Neubildung  fähig  sind.  Doch  nicht 
in  der  Weise,  dass  etwa  der  gesammte  Stoff  fortdauernd  in  einem 
solchen  Wechsel  begriffen  ist. 

Die  komplizirte  organisirte  Form  entsteht  in  einer  Weise,  die 
auf  anorganischem  Gebiet  ohne  Analogie  ist,  d.  h.  sie  entwickelt 
sich.  Sie  durchläuft,  von  einer  einfachsten  Gleichgewichtsform  aus- 
gehend, eine  Reihe  successiver,  sich  komplizirender  Formzustände, 
welche  jedoch  bei  fortdauernden  hinreichenden  Bedingungen  labiler 
Natur  sind,  in  andere  übergehen,  bis  schliesslich  eine  unter  normalen 
äusseren  Bedingungen  dauernde  Gleichgewichtsform  erreicht  wird. 
Wie  gesagt,  vermögen  wir  bei  der  Entstehung  anorganischer 
Formen  nichts  aufzufinden,  was  einer  Entwickelung  vergleichbar 
wäre.  Ueberraschen  kann  dies  eigentlich  nicht ;  denn  auch  bei  den 
organisirten  Formen  hat  sich  die  Entwickelung  erst  mit  der  höheren 
Komplikation  allmählich  eingestellt.  Ich  vermag  wenigstens  nicht 
einzusehen,  dass  man  von  der  Entwickelung  eines  Micrococcus 
reden  kann.  Seine  Vermehrung  durch  Theilung  scheint  mir  nicht 
mehr  von  Entwickelung  einzuschliessen,  als  etwa  die  unter  geeigneten 
Bedingungen  eintretende  Selbsttheilung  eines  Flüssigkeitstropfens15). 

Betrachten  wir  die  Formen  einfachster  Lebewesen,  so  muss 
ich  gestehen,  dass  sie  mir  dem  Verständniss  weniger  Schwierigkeit 
darzubieten  scheinen  als  die  unorganisirten  Krystalle,  für  welche 
ja  ein  eigentliches  Verständniss  bis  jetzt  nur  insofern  erreicht  ist, 
als  gezeigt  wurde,  dass,  unter  gewissen  Voraussetzungen  über  die 
Anordnung  ihrer  Theilchen,  einzusehen  ist,  dass  gerade  die  sich 
findenden  Krystallsysteme  möglich  sind16).  Die  einfachsten  leben- 
den Formen  dagegen  sind  kugelige  Gebilde.  Auch  isolirte  Zellen, 
so  zahlreiche  Eizellen,  wiederholen  häufig  genug  diese  einfachste 
Gleichgewichtsform  flüssiger  Körper.  Eine  solche  Form  bietet  dem 
Verständniss  weniger  Schwierigkeit  als  die  einfachste  Krystallform, 
wenn  wir  voraussetzen,  dass  sie  als  Gleichgewichtsform  eines  flüssigen 


22     — 

Zustands  der   lebenden  Substanz    entstanden  sei.  Die  von    der 

Kugelgestalt  abweichenden  einfachsten  Formen,  wie  ellipsoidische, 
cylindrische  etc.,  lassen  sich  begreifen  unter  der  meist  direkt  nach- 
weisbaren Voraussetzung,  dass  eine  äussere,  festgewordene  Membran, 
oder  doch  Schicht,  vorhanden  ist,  deren  auf  ungleichmässiger  Struktur 
oder  sonstiger  Beschaffenheit  beruhenden  besonderen  Dehnungs- 
verhältnisse beim  Wachsthum  zu  Gleichgewichtsformen  führen,  die 
von  der  Kugelgestalt -abweichen.  Ich  erachte  es  daher  nicht  für 
unmöglich,  wenn  auch  nur  in  den  allereinfachsten  Fällen  wirklich 
erreichbar,  die  organisirten  Formen  als  Gleichgewichtsformen  zu 
begreifen  17). 


Wenn  man  dem  Mechanismus  nun  auch  zugeben  wollte,  dass 
das  Entstehen  eines  allereinfachsten  Organismus  nach  Form  und 
Inhalt,  auf  Grund  besonderer  physiko-chemischer  Bedingungen,  nicht 
unbegreiflich  und  unmöglich  sei,  so  erhebt  sich  doch  die  Frage : 
lässt  sich  eine  solche  Annahme  auch  für  den  hochkomplizirten 
Organismus  rechtfertigen,  führt  sie  für  diesen  nicht  zu  unlösbaren 
Schwierigkeiten  ? 

Vor  dieser  Entscheidung  angelangt,  begegnen  wir  selbst  bei 
Denjenigen,  welche  wie  Lotze  das  Geschehen  im  gegebenen 
fertigen  Organismus  nicht  anders  als  ein  physiko-chemisches,  auf 
der  Grundlage  äusserst  verwickelter  formaler  und  stofflicher  Be- 
dingungen,  begreiflich  erachten,  doch  der  Ueberzeugung,  dass  der 
wunderbare  Bau  dieser  organisirten  und  so  fein  harmonisirten  Maschine 
unmöglich  das  Ergebniss  eines  zufälligen  örtlichen  Zusammen- 
treffens physiko  -  chemischer  Bedingungen  sein  könnte.  Zwar 
schränkte  Lotze  diese  Anschauung  insofern  etwas  ein,  als  er 
zuzugeben  geneigt  war,  dass  ein  solch'  zufälliges  Entstehen  ein- 
fachster Organismen  wohl  denkbar  und  möglich  sei;  dagegen 
könne  der  komplizirte  harmonische  Bau  eines  höheren  Organismus 
unmöglich  als  Zufallsprodukt  gedacht  werden  18). 

Es  wird  sich  ja  auch  kaum  Jemand  finden,  der  geneigt  wäre, 
sich  das  Entstehen  eines  komplizirten  Organismus  unter  dem  Bilde 


—     23     — 

eines  plötzlichen  zufälligen  Zusammentreffens  verwickelter  physiko- 
chemischer Bedingungen  zu  denken. 

Wie  ersichtlich  hat  für  solche  Betrachtungen  der  Begriff"  des 
„Zufälligen",  des  „Zufalls",  eine  wichtige,  ja  entscheidende 
Bedeutung.  Dieser  Begriff  wurde  jedoch  häufig  nicht  genauer 
präcisirt,  andererseits  auch  recht  verschieden  definirt.  Die  Ueber- 
legung  ergibt  ja  einmal,  dass  zufälliges  Geschehen  oder  zufälliges 
zeitliches  oder  örtliches  Zusammentreffen  (denn  für  diese  beiden 
Modalitäten  wird  der  Zufallsbegriff  gleichmässig  verwendet)  nicht 
ein  bedingungsloses  oder  kausal  unabhängiges  Geschehen  oder  Zu- 
sammentreffen bedeutet.  Ein  solches  Geschehen  oder  Zusammen- 
treffen wäre  ein  „Wunder".  „Zufällig"  nennen  wir  dagegen  ein 
Geschehen  oder  ein  Zusammentreffen,  das  trotz  kausaler  Bedingt- 
heit, von  der  wir  bestimmt  überzeugt  sind,  wegen  der  komplexen 
und  unbekannten,  sowie  in  den  sich  wiederholenden  ähnlichen  Fällen 
wechselnden  Bedingungen  ganz  unberechenbar  und  deshalb  un- 
möglich vorauszusagen  ist ;  wie  z.  B.  der  Ort,  an  dem  eine  auf  die 
Erde  geworfene  Kugel  zur  Ruhe  gelangt,  oder  das  Vorkommniss, 
dass  die  für  das  grosse  Loos  gezogene  Nummer  mit  der  von 
einer  gewissen  Person  gekauften  Loosnummer  zusammentrifft. 

Eine  Einschränkung  machen  wir  bei  dem  Zufallsbegriff  insofern, 
als  wir  nicht  alles  unberechenbare  Zusammentreffen  als  Zufall  be- 
zeichnen ;  nämlich  dann  nicht,  wenn  es  sich  regel-  oder  gesetz- 
mässig  wiederholt.  So  nennt  man  das  sich  regelmässig  wieder- 
holende Zusammentreffen  eines  bestimmten  Eigenschaftskomplexes 
der  chemischen  Elemente  und  ihrer  Verbindungen  nicht  zufällig; 
obgleich  gerade  diese  Kombinationen  von  Eigenschaften  im  All- 
gemeinen unberechenbar  und  daher  wenigstens  heutzutage  noch 
von  einem  zufälligen  Charakter  erscheinen. 

Ueberschauen  wir  jedoch  die  wirkliche,  nichtlebende  Welt,  so 
ist  darin  mehr  Zufall  als  Nichtzufall.  Abgesehen  von  periodischen, 
auf  Grund  einfacher  Gesetzmässigkeiten  sich  wiederholender  astro- 
nomischer und  meteorologischer  Erscheinungen,  deren  Eintreffen  wir 
voraussagen  können,  besitzt  alles  natürliche  Geschehen  und  Zu- 
sammentreffen   mehr    oder    minder    zufälligen    Charakter,    wiewohl 


—     24     - 

es  nach  unserer  Ueberzeugung  kausal  bedingt  ist;  doch  ver- 
laufen die  verschiedenen ,  zeitlich  oder  örtlich  zusammentreffen- 
den Kausalketten  unabhängig  neben  einander,  oder  ihre  Abhängig- 
keit  liegt  doch  zeitlich  soweit  zurück,  dass  sie  sich  der  Er- 
kenntniss  entzieht.  Schon  die  Konfiguration  unserer  Erdoberfläche, 
die  Vertheilung  von  Land  und  Wasser,  die  Gestaltung  und  Oert- 
lichkeit  der  Gebirge  und  Flüsse,  Wolkenbildungen  u.  s.  f.  erscheinen 
uns  als  Zufallsprodukte.  Das  Gleiche  gilt  auch  für  die  mensch- 
liche Geschichte,  deren  erschütternde  Ereignisse,  deren  weltbe- 
wegende Personen  ebenso  als  Zufallsprodukte  uns  entgegentreten, 
wenn  auch  wohl  in  etwas  eingeschränktem  Sinne.  Das  heisst  beispiels- 
weise etwa  so,  dass  zwar  Bewölkung  und  heiterer  Himmel  in  ihrem 
Wechsel  nicht  mehr  unter  dem  Bilde  des  Zufalls  erscheinen,  da- 
gegen die  örtliche  Wolkenbildung  und  ihre  besondere  Konfiguration; 
oder  so,  dass  der  Tod  als  Abschluss  des  Lebens  nicht  als  Zufall 
erscheint,  dagegen  wohl  Zeit,   Ort  und   Art  dieses  Todes. 

Gerade  im  Hinblick  auf  den  Organismus  wurde  gelegentlich  be- 
tont, dass  wir  darin  den  wesentlichen  Unterschied  eines  zufälligen 
und  eines  zweckmässigen  Geschehens  fänden,  dass  das  erstere  sich 
nur  einmal  oder  nur  gelegentlich,  das  letztere  dagegen  sich  häufig 
oder  immer  mit  demselben  typischen  Effekt  wiederhole.  Nun  ist 
ja  richtig,  dass  wir  ein  sich  regelmässig  wiederholendes  Geschehen 
oder  Zusammentreffen,  auch  wenn  es  unberechenbar  oder  unbegreif- 
lich, nicht  unter  den  Zufall  rechnen.  Wenn  jedoch  in  der  an- 
gegebenen Weise  ein  Gegensatz  zwischen  zufälligem  und  zweck- 
mässigem Geschehen  begründet  werden  soll,  so  scheint  dies  nicht 
gerechtfertigt ;  denn  ein  zufälliges  Geschehen  wird  auch  durch 
häufige  Wiederholung  nicht  zweckmässig,  wenn  es  den  Charakter 
des  Zweckmässigen  nicht  schon  im  Einzelfalle  besass.  Der  Gegen- 
satz von  zweckmässig  ist  unzweckmässig,  aber  nicht  „zufällig"; 
eine  Handlung,  die  nur  einmal  geschieht,  kann  dennoch  höchst 
zweckmässig  sein.10) 

Da  es  aber  eine  der  wesentlichsten  Eigenschaften  der  lebenden 
Naturkörper  ist ,  sich  fortzupflanzen  oder  zu  vermehren ,  so  er- 
scheinen die  Organismen  in  dieser  Betrachtungsweise  überhaupt  in 


-     25 

besonderem  Lichte.  Denn  es  wird  kaum  Jemand  meinen,  dass  eine 
dauernde  Bevölkerung  unserer  Erde  mit  Organismen  wahrschein- 
lich gewesen  sei,  wenn  sie  nicht  Fortpflanzungsfähigkeit  erlangt 
hätten.  Zweifellos  hätten  aber  die  vermehrungsfähigen  diejenigen 
bald  verdrängt,  denen  dieses  Vermögen  mangelte.  Wenn  nun 
Fortpflanzung,  Vermehrung  des  Individuums,  zu  den  bezeichnen- 
den Eigenthümlichkeiten  des  Organismus  gehört ,  so  folgt ,  dass 
eben  der  Organismus,  welcher  mit  dieser  Fähigkeit,  auch  durch 
zufälliges  Zusammentreffen  physiko-chemischer  Bedingungen,  ent- 
stand, sich  wesentlich  anders  verhalten  musste,  als  die  Zufalls- 
produkte auf  unorganischem  Gebiet.  Denn  der  so  entstandene 
Organismus  war  befähigt ,  sich  selbst  zu  wiederholen ;  nicht  in 
dem  Sinne ,  dass  er  dies  zufällige  Zusammentreffen  der  Beding- 
ungen wiederholt  hätte  obgleich  in  dem  fundamentalen  Vor- 
gang der  assimilatorischen  Vermehrung  der  lebendigen  Substanz 
etwas  derartiges  versteckt  sein  muss  —  sondern  im  Sinne  der 
Wiederholung  des  Produktes  jenes  zufälligen  Ereignisses,  der  Zer- 
legung des  Individuums  in  mehrere  neue. 

Die  zufällige  Entstehung  eines  fortpflanzungsfähigen  Organis- 
mus erhebt  demnach  das  zufällige  Produkt  zu  etwas  Dauerndem, 
sich  regelmässig  Wiederholendem,  wodurch  ihm  in  seiner  dauernden 
regelmässigen  Succession  der  Charakter  des  Zufälligen  entzogen 
wird;  nicht  aber  nothwendig  auch  im  Hinblick  auf  sein  erstes  Ent- 
stehen,  das  recht  wohl  die  Bezeichnung  zufällig  verdienen  kann. 

Wie  aber,  wenn  die  Organismen  eine  andere  Entstehung  als 
die  hier  zunächst  erörterte  genommen  hätten  ?  Dann  könnten  sie 
einmal  ewig,  d.  h.  so  lange  als  wir  irgend  zurückzudenken  ver- 
mögen, gewesen  sein.  Nimmt  man  an,  dass  es  Organismen  von 
ähnlicher  stofflicher  Natur  wie  die  heutigen  gewesen  seien,  die 
seit  Ewigkeit  bestanden,  so  konnten  sie  auf  unserer  Erde  nur  von 
einem  gewissen  Zeitpunkt  an  existiren,  und  ihre  Uebertragung  auf 
die  Erde    kann    uns    nur    als    zufällig    erscheinen.  Nimmt    man 

dagegen  an,  dass  Organismen  ganz  anderer  stofflicher  Natur 
ursprünglich  existirten,  so  behauptet  man  eigentlich  nicht  die 
Ewigkeit     der    Organismen,    sondern    die    ewige    Möglichkeit    von 


26 

Bedingungskombinationen  verschiedenster  Art,  deren  Verhalten  in 
der  umgebenden  Welt  dem  entspricht,  was  wir  Lebenserscheinungen 
nennen.  Die  Organismen  von  der  stofflichen  Natur,  die  wir 
allein  kennen,  müssen  aber  dann  ebenfalls  einer  besonderen  Be- 
dingungskombination von  zufälligem  Charakter  entsprungen  sein.  - 
Erscheinen  uns  die  Lebewesen  irgendwie  mit  einem  besonderen 
gesetzlichen  Geschehen  verknüpft,  wie  es  in  gleicher  Weise  in  der 
nichtlebenden  Welt  fehlt,  so  muss  dieses  vitale  Geschehen  doch 
unter  gewissen  physiko-chemischen  Bedingungen  eintreten  und  diese 
Bedingungen  können  wir  uns  nur  durch  Zufall  realisirt  denken.  - 
Lassen  wir  endlich  die  Organismen  durch  einen  Schöpfungsakt, 
also  ausserhalb  des  Kreises  kausalbedingten  natürlichen  Geschehens 
entstehen,  nach  Art  eines  Wunders,  so  nimmt  ihre  Entstehung 
erst  recht  den  Charakter  des  Zufalls  an ;  denn  ein  solcher 
Schöpfungsakt  ist  unberechenbar,  die  Gedanken  eines  Schöpfers 
nachzudenken  unmöglich. 

Es  scheint  demnach,  dass  wir  auf  den  verschiedenen  mög- 
lichen Wegen  über  die  zufällige  Entstehung  der  Lebewesen  auf 
unserer  Erde    nicht  hinaus  kommen. 

Man  hat  nun  aber  nicht  mit  Unrecht  betont,  dass  das  zufällige 
Entstehen  eines  komplizirten,  erstaunlich  zweckmässig  gebauten 
und  arbeitenden  Organismus  undenkbar,  ja  absurd  sei.  Ebenso- 
wenig als  geologische  Ereignisse  in  zufälligem  Zusammenspiel  das 
Parthenon  hätten  hervorbringen  können,  ebensowenig  sei  auch 
das  zufällige  Entstehen  eines  höheren  Organismus  denkbar.  So 
wenig  die  Erfindung  der  Dampfmaschine  als  ein  kindliches  Zufalls- 
spiel zu  denken  sei,  so  wenig  gelte  dies  auch  für  einen  solchen 
Organismus.  Gerade  das  letzte  Beispiel  kann  zuerst  etwas  stutzig 
machen.  Es  fragt  sich  eben:  wie  viel  oder  wie  wenig  Zufall  steckt 
in  einem  menschlichen  Kunstwerk  oder  in  der  Konstruktion  einer 
Maschine.     Wohl  mehr  als  man  gemeinhin  denkt. 

Im  Allgemeinen  lässt  sich  eine  Maschine  wohl  nur  als  ein 
menschliches  Werkzeug  einfacherer  oder  komplizirterer  Art  be- 
zeichnen, dazu  bestimmt,  Bewegungen  des  Menschen  selbst  oder 
anderer  Naturkörper  auf  wieder  andere  zu  übertragen,  die  Bewegung 


27 

in    gewisser   Weise    zu    ändern    und    damit    gewisse    beabsichtigte 
Wirkungen  hervorzurufen.     Es  ist  behauptet  worden,  dass  wir  die 
Maschine  ebensowenig  kausal  oder  logisch  zu  begreifen  vermöchten 
als  die  Form  des  Organismus.     Beide  bieten  denn  auch  viel  Ana- 
logien hinsichtlich  ihrer  Begreiflichkeit,    wenn  wir    ihr   wahrschein- 
liches Entstehen  beachten.    Die  einfachsten  Maschinen,  Werkzeuge 
und  Geräthe,  wie  z.  B.   den  Hebel,   die  Walze,   den  Keil,   das  Beil, 
den  Topf,  Tisch  und  Stuhl,   lernte  der  Mensch  in  zufälligen  Natur- 
produkten    kennen,    deren    Wirkungen    vonv  ihm    ebenso    zufällig 
beobachtet     oder     erfahren ,    dann    auch    vorausgesagt     und    daher 
zweckmässig  angewendet  werden  konnten.    Komplizirtere  Maschinen 
entstanden    durch    zufällige    associative  Kombination    verschiedener 
einfacher  ;  so  die  Verbindung  der  einfachen  Schleife,  die  zur  Beförder- 
ung von  Gegenständen  diente,  mit  der  Walze  ;  darauf  folgte  Probiren 
dieser  Kombination,   was  ihre  Zweckmässigkeit  ergab.     In  gleicher 
Weise    kann    man    durch    ähnliche    Vorgänge    die    Erfindung    der 
Räder  wohl  ableiten.         Auch  die  Dampfmaschine  entsprang  nicht 
einer  fertigen  Idee,  sondern  aus  zufälligen  Beobachtungen  über  die 
hebende  Wirkung  des  Dampfdrucks  und  aus  fortgesetztem  langdauern- 
dem Probiren  neuer,  zufälliger,  verbessernder  und  vervollkommnender 
kleiner  Kombinationen,   deren  Zweckmässigkeit  erst<  die  Probe  oder 
das  Experiment  ergab.  Alle  unzweckmässigen  Kombinationen  wurden 
baldigst  ausgemerzt  und  gingen   unter ;  die  zweckmässigen  dagegen 
erhielten    sich.     Jede   Maschine   hat    sich    demnach    allmählich    ent- 
wickelt,   ausgehend  von    zufälligen  Erfahrungen,    durch   associative, 
intuitive,  d.  h.  unberechenbare  zufällige  Kombinationen,   von  denen 
bei  der  Verwirklichung  die    zweckmässigen    sich  erhielten,    die  un- 
zweckmässigen nicht.     Wir  finden  daher,   dass  zweifelsohne  bei  der 
Erfindung   der  Maschinen    der  Zufall    ein    sehr  wesentlicher  Faktor 
ist,    und    dass  der  Gang  der  Maschinenentwickelung    grosse  Aehn- 
lichkeit  mit  der  allmählichen  Umbildung  der  Organismen  hat,    wie 
sie    Darwin 's  Lehre    für    wahrscheinlich    hält.      Natürlich    werden 
auch    auf    dem    Gebiete    der    Maschinenerfindung    die    möglichen 
Kombinationen  und  Konstruktionen  um  so  ausgedehnter,  je  umfang- 
reicher die  überlieferten  Erfahrungen    sind    und   je  ausgiebiger  der 


—     28     — 

zufällige  Erfinder  sie  verwerthet.  Dieses  Wissen  aber  ist  das 
Produkt  langer  zufälliger  Erfahrungen,  Kombinationen  und  der  Er- 
haltung des  Zweckmässigen. 

Nun  noch  ein  Wort  über  den  oder  die  Erbauer  des  Parthenon! 
Dieser  Erbauer  selbst  ist  eine  zufällige,  in  keiner  Weise  berechen- 
bare oder  sich  wiederholende  Erscheinung  gewesen.  Sein  Werk 
aber  war  bedingt  durch  die  vorhergegangene  lange  Entwickelungs- 
epoche  griechischer  Baukunst,  die  ihrerseits  wieder  auf  älteren 
Vorläufern  ruhte.  Alles,  was  der  Zufall  durch  geniale  Baumeister, 
mit  ihren  ebenso  zufälligen  Ideen,  als  Zweckdienliches  und  Zweck- 
schönes hervorgebracht  und  überliefert  hatte,  war  es,  worauf  der  Er- 
bauer des  Parthenon  fusste,  und  auf  Grund  dessen  er,  als  eine, 
wie  gesagt,  zufällige  Erscheinung  (auch  in  dem  Sinne  gesteigerten 
Gefühls  für  das  Zweckdienliche  und  Zweckschöne)  seine  Weiter- 
führung bethätigte.  Von  einem  Ausschluss  des  Zufalls  kann  demnach 
auch  hier  keine  Rede  sein. 

Weder  auf  dem  Gebiet  der  Technik,  noch  auf  dem  der  Kunst 
und  der  Wissenschaft  vermag  daher  ein  Zufall  etwas  Komplizirtes 
hervorzubringen ;  dagegen  spielt  die  im  Laufe  einer  langen  Ent- 
wicklungsepoche fortdauernde  Häufung  zufälliger  Kombinationen, 
die  sich  als  zweckdienlich  oder  zweckschön  erhielten,  eine  wich- 
tige Rolle.20) 

Dass  nun  ein  zufällig  auftretender,  erhaltungs-  und  fortpflanz- 
ungsfähiger einfachster  Organismus  durch  Häufung  zufälliger  neuer 
Kombinationen,  welche  sich  erhielten,  insofern  sie  unter  den  ge- 
gebenen allgemeinen  Bedingungen  zweckmässig  waren,  zu  höherer 
Komplikation  von  zweck-  oder  erhaltungsmässiger  Funktionirung 
fortschreiten  konnte,  halte  ich,  trotz  der  vielen  erhobenen  Ein- 
wände, für  wahrscheinlich.  Nicht  ein  Zufall  wäre  in  diesem  Sinne 
das  Entstehen  eines  höheren  Organismus,  sondern  eine  Häufung 
zahlreicher  Einzelzufälle  unter  Fortdauer  des  Zweck- oder  Erhaltungs- 
mässigen. 

Dem  alten  wie  dem  neuen  Vitalismus  gilt  vor  Allem  die  weit- 
gehende, häufig  geradezu  als  unbeschränkt  bezeichnete  wunderbare 
Zweckmässigkeit    des    Organismus    als    die    schärfste    Angriffswaffe 


—     29     — 

gegen  den  Mechanismus.  Selbst  so  überzeugte  Vertheidiger  des 
rein  physiko-chemischen  Geschehens  im  Organismus,  wie  Lotze 
und  Claude -Bernard,  sahen  sich  doch  zur  Annahme  gezwungen, 
dass  der  gesammte  Bedingungskomplex,  welcher  dem  harmonisch 
funktionirenden  Organismus  zu  Grunde  liegt,  durch  ein  höheres, 
ein  metaphysisches  oder  teleologisches  Prinzip  hervorgebracht  und 
geregelt  werde.  Wie  schon  bemerkt,  konnte  nach  Lotze  der 
höhere  Organismus  nicht  dem  Zufall,  sondern  nur  einem  Schöpfer 
sein  Entstehen  verdanken;  und  Claude-Bernard  meint:  Ein  meta- 
physisches Prinzip,  eine  ,,force  vitale",  die  zwar  nichts  ausführt, 
da  alles  im  Organismus  physiko-chemisch  bedingt  ist,  muss  diese 
Bedingungen  so  geregelt  und  harmonisirt  haben ;  denn  von  einem 
Zufall  konnte  dies  unmöglich  abhängen.  ,,La  force  vitale  .  .  .  ne 
serait  qu'une  force  legislative  mais  nullement  executive." 

Aehnliche  Anschauungen,  welche  im  Grunde  auf  die  Voraus- 
setzung eines  entsprechenden  Prinzips  hinauslaufen,  möge  es  nun 
als  ,, Zielstrebigkeit ",  „Lebenskraft",  ,,Organisatrix", 
„Bildungstrieb",  oder  sonst  wie  bezeichnet  werden,  haben  auch 
Neo-Vitalisten  vielfach  geäussert.  Zur  Beurtheilung  solcher  Meinungen 
wird  es  zunächst  nöthig  sein,  den  allgemeinen  Begriff  der  „Zweck- 
mässigkeit" genau  zu  präzisiren  und  weiterhin  zu  untersuchen, 
in  welchem  Maasse  Zweckmässiges  in  der  Organismenwelt  an- 
getroffen wird. 

Niemand  wird  leugnen,  dass  der  Begriff  der  Zweckmässigkeit 
ursprünglich  von  menschlichem  Thun  abgeleitet  wurde  und  zwar 
von  bewusst  psychischem  Thun.  Zweck  ist  die  Vorstellung  eines 
Gewollten,  oder,  wie  man  auch  gesagt  hat,  das  Motiv,  der  psychische 
Grund  einer  menschlichen  Handlung,  welche  die  Wahl  geeigneter 
oder  ungeeigneter  Mittel  zur  Ausführung  der  Handlung  bedingt. 
Die  Handlung  erscheint  uns  insofern  zweckmässig,  als  der  vor- 
gestellte Zweck  durch  sie  wirklich  realisirt  wird.  Wie  bemerkt, 
erscheint  daher  der  Zweck  als  das  Motiv,  der  psychische  Grund  der 
zweckmässigen  Handlung. 

Hieraus  folgt  jedoch,  dass  zweckmässiges  Geschehen  oder 
Handeln  im  strengeren  Sinne  ein  Bewusstsein  voraussetzt,  welches 


30     — 

Erfahrungen  enthält;  denn  nur  auf  dieser  Grundlage  kann  von  dem 
Eintreten  einer  Zweckvorstellung  und  der  Wahl  geeigneter  Mittel 
zur  Ausführung  die  Rede  sein.  Ins  Physische  übersetzt  würde 
diese  Betrachtung  lauten:  Eine  zweckmässige  Handlung  Jcann  nur 
da  geschehen,  wo  die  physische  Grundlage  in  Form  eines  hoch- 
entwickelten Nervensystems  vorliegt,  dem  die  Möglichkeit  eines 
Erfahrungsschatzes  koordinirt  ist. 

Für  die  Beurtheilung  eines  Geschehens  als  zweckmässig  oder 
nicht,  erscheint  daher  zuerst  erforderlich  das  Erkennen  eines 
Zwecks  desselben  und  weiterhin,  ob  dieser  Zweck  durch  jenes 
Geschehen,  d.  h.,  die  dabei  in  Thätigkeit  gesetzten  Mittel,  wirk- 
lich erreicht  wird.  —  In  der  anorganischen  Natur  ist  nun  die  An- 
gabe von  Zwecken  etwas  ganz  unbestimmtes,  willkürliches ;  man 
könnte  schliesslich  nur  sagen,  dass  hier  der  Zweck  des  Geschehens 
ist,  dass  es  geschieht.  In  der  Organismenwelt  scheint  mir,  wenn 
wir  den  Gesämmtorganismus  und  sein  Lebensgeschehen  betrachten, 
auch  keine  sehr  präcise  Zweckangabe  möglich.  Denn  der  Gesammt- 
zweck  dieses  Geschehens  kann  doch  auch  nur  sein,  dass  der  frag- 
liche Organismus  besteht,  existirt,  sich  erhält.  Dies  ist  aber  etwa 
dasselbe,  als  wenn  ich  sage,  der  Zweck  der  Planetenbewegungen 
ist  der,  dass  sie  bestehen,  sich  erhalten,  und  dass  so  das  gesammte 
Planetensystem  sich  erhält,  wie  es  ist.  Dazu  kommt,  dass  man 
auch  das  Paradoxon  wagen  könnte :  es  sei  das  Sterben  der  Zweck, 
des  Lebenden,  indem  ja  jeder  Organismus  sein  Endziel  im  Tode 
findet. 

Deutlicher  wird  der  Zweck  erst,  wenn  wir  die  einzelnen  Organe 
und  ihre  Leistungen  für  den  Gesämmtorganismus  ins  Auge  fassen. 
Obgleich  wir  zwar  über  den  eigentlichen  Zweck  jedes  Organs  nichts 
anderes  angeben  können,  als  die  Leistung,  welche  es  in  der  That 
ausführt,  so  vermögen  wir  doch  das  Verhalten  dieser  Leistung  zu 
dem  Gesammtzweck  des  Organismus  als  zweckmässig  oder  unzweck- 
mässig zu  beurtheilen.  Vergessen  sollten  wir  dabei  jedoch  nicht, 
dass  ein  solches  Urtheil  über  die  Zweckmässigkeit  einer  Einrichtung 
oder  einer  Leistung  des  Organismus  ein  Schluss  aus  der  Analogie  mit 
zweckmässigen  menschlichen  Erzeugnissen  oder  Handlungen  ist ;  d.  h. 


-     31     — 

in  dem  Sinne,  dass  diese  Einrichtungen  und  Leistungen  des  Organis- 
mus solche  seien,  welche  den  Anschein  hervorrufen,  als  liege  ihnen 
ein  ähnliches  Geschehen  zu  Grunde  wie  dem  bewussten  zweck- 
mässigen Handeln  des  Menschen-1). 

Kann  jedoch  eine  solche  Beurtheilung  des  Organismus  dazu 
berechtigen,  auch  die  Abhängigkeitsverhältnisse  im  Organismus  in 
ähnlicher  Weise  zu  denken,  wie  wir  menschliche  Zwecke  und  Hand- 
lungen, sowie  ihr  Ergebniss,  in  Abhängigkeit  denken?  D.  h.,  dürfen 
wir  annehmen,  dass  der  Zweck  eines  Organs  das  Motiv  seines 
Entstehens  und  seiner  zweckmässigen  Thätigkeit  ist?  Solch'  eine 
teleologische  Beurtheilung  des  Organismus  nach  Zweckursachen  oder 
Causae  finales  ist  ja  eine  uralte  und  auch  im  Neo- Vitalismus  in 
etwas  veränderter  Form  wieder  hervorgetreten.  Eine  solche  Be- 
urtheilung verstösst  jedoch  gegen  den  eigentlichen  Begriff  des 
Zwecks,  der  eben  die  Vorstellung  einer  bewussten  und  erfahrenen 
Intelligenz  ist,  deren  Koordination  mit  den  hochkomplizirten  Ein- 
richtungen eines  Nervensystems  wir  erfahrungsgemäss  kennen,  und 
die  wir  daher  auch  nur  da  zuzugeben  berechtigt  sind,  wo  wir 
solche  organisatorischen  Einrichtungen  antreffen. 

Die  Annahme  einer  unbewussten  Intelligenz,  die  zweckmässiges 
Geschehen  bedinge,  oder  einer  entsprechenden,  den  Organismen 
eisenthümlichen  Geschehensform  ist  daher  meiner  Ansicht  nach 
eine  nichtberechtigte  Umschreibungshypothese ;  weil  Zweckhandlung 
oder  Zweckgeschehen  und  Bewusstsein  nicht  willkürlich  von  einander 
trennbare  Erscheinungen  sind.  Wenn  ich  ein  hypothetisches,  zweck- 
handelndes, jedoch  unbewusstes  Geschehen  voraussetze,  so  nehme 
ich  nicht  eine  empirisch  bekannte  Geschehensform  als  Erklärungs- 
grund an,  sondern  eine  willkürlich  konstruirte,  welche  das  schon 
enthält,  was  erklärt  werden  soll,  nämlich  die  zweckmässige  Ein- 
richtung und  Funktion  des  Organismus.  Nur  dann  wäre  ein  solches 
Geschehen  zuzugeben,  wenn  die  Erfahrung  zeigte,  dass  die  zweck- 
mässige Reaktion  thatsächlich  die  stete  Geschehensform  des  Orga- 
nismus ist.  22) 

Wir  warfen  vorhin  die  Frage  auf,  ob  denn  die  Zweckmässig- 
keit der  Organismen  so    unbeschränkt  sei ,    wie  vielfach    behauptet 


-     32 

wird;  weshalb  sogar  schon  die  zweckmässige  Reaktion  auf  äussere 
Einwirkungen  als  das  eigentliche  Charakteristikum  des  Organis- 
mus bezeichnet  wurde. 23)  Mir  erscheint  diese  Zweckmässigkeit 
keineswegs  so  umfassend,  als  die  Vertreter  der  teleologischen 
Anschauungen  gewöhnlich  behaupten.  Es  ist  hier  nicht  möglich, 
das  Dysteleologische,  Unzweckmässige,  und  das  Zwecklose  in  der 
Organismen  weit  eingehender  zu  erörtern.  Nur  auf  Weniges  sei 
hingewiesen.  Die  zweckmässigen  Reaktionen  auf  äussere  Einwirk- 
ungen erfolgen  in  der  Regel  nur  innerhalb  gewisser  Grenzen  der 
Reizintensitäten,  d.  h.  innerhalb  der  Grenzen,  in  welchen  diese 
Einwirkungen  in  der  natürlichen  Umgebung  gewöhnlich  auftreten. 
Dagegen  geschieht  häufig,  ja  meist,  Unzweckmässiges,  wenn  die 
Einwirkungen  die  üblichen  Grenzen  überschreiten.  Ein  solches 
Verhalten  steht  mit  einem  immanenten  zweckmässigen  Reagiren 
in  Widerspruch,  ist  dagegen  wohl  vereinbar  mit  der  Ansicht, 
dass  die  zweckmässige  Reaktion  ein  Produkt  allmählicher  Entwick- 
lung unter  dem  regulirenden  Einfluss  der  äusseren  Einwirkungen 
ist.  Denn  dies  liesse  verstehen,  dass  abnorme  Reize,  wie  sie  in 
der  natürlichen  Umgebung  nur  selten  und  vereinzelt  auftreten, 
keine  bleibenden  regulatorischen  und  zweckmässigen  Reaktionen 
zu  bedingen  im  Stande  waren. 

Hinweisen  möchte  ich  ferner  auf  die  unleugbare  Thatsache, 
dass  im  Laufe  der  Erdgeschichte  eine  Menge  Lebensformen  aus- 
gestorben sind;  ausgestorben  eben  doch  nur  deshalb,  weil  sie 
ausser  Stande  waren,  sich  für  die  gegebenen  Bedingungen  zweck- 
und  erhaltungsmässig  zu  modificiren  und  in  solcher  Weise  auf  ver- 
änderte Verhältnisse  zu  reagiren.  Diese  Thatsache  scheint  mir 
unvereinbar  mit  der  Annahme,  dass  dem  Organismus  an  und  für 
sich  ein  zweck-  und  erhaltungsgemässes  Reagiren  zukomme.  Will- 
kürliche Beschränkungen  der  zweckmässigen  Reaktion  anzunehmen, 
scheint  mir  aber  ein  Widerspruch  gegen  das  Prinzip. 

Endlich  möge  hier  ein  dritter  Punkt  kurz  erörtert  werden. 
Die  Vertheidiger  eines  unbewusst  zweckmässig  wirkenden  Prinzips 
im  Organismus  sind  Gegner  der  Darwin'  sehen  Lehre,  der  sie 
vorwerfen,     dass     sie     die    weitgehende    Zweckmässigkeit     in     der 


—     33     — 

Organismenwelt  nicht  hinreichend  zu  erkären  vermöge.  Dennoch 
wurde  gerade  von  dieser  Seite  häufig  gegen  den  Darwinismus  ein- 
gewendet, dass  die  Lebewesen  zahlreiche  Einrichtungen  besitzen, 
für  welche  zweckmässige  Leistungen  gar  nicht  nachzuweisen 
sind.  Schon  Schopenhauer*),  einem  konsequenten  Vertreter 
teleologischer  Erklärung,  fiel  dies  wohl  auf  und  bestimmte  ihn, 
gewissermassen  eine  Grenze  anzunehmen ,  über  die  hinaus  das 
teleologische  Prinzip  unwirksam  sei.  Man  wirft  also  dem  Dar- 
winismus vor,  er  sei  unfähig,  das  Entstehen  vieler  organisatorischer 
Einrichtungen  zu  begreifen ,  weil  ein  Zweck  derselben  nicht  auf- 
zufinden ist ;  und  dies  geschieht  meist  gerade  von  Denjenigen, 
welche  andererseits  betonen,  dass  die  zweckmässige  Reaktion  eine 
allgemeine  Eigenschaft  des  Lebenden  bilde.  Ich  meine  jedoch, 
der  Darwinismus  vermag  sich  sehr  wohl  mit  der  Thatsache  abzu- 
finden, dass  viel  Zweckloses  im  Organismus  vorkommt;  voraus- 
gesetzt nur,  dass  es  nicht  schädlich  ist.  Dagegen  sehe  ich  nicht 
ein,  wie  die  Ansicht,  dass  eine  immanente  zweckmässige  Reaktion 
das  Wesen  des  Organismus  sei,  sich  mit  der  offenbaren  Zweck- 
losigkeit  zahlreicher  Einrichtungen  vereinbaren  lässt. 

Den  Angelpunkt  der  Frage  nach  der  Bedeutung  des  Zweck- 
mässigen im  Organismus  für  die  mechanistische  und  vitalistische 
Auffassung  bildet  die  Möglichkeit  oder  Unmöglichkeit,  das  Entstehen 
des  Zweckmässigen  auf  mechanistischer  Grundlage  zu  begreifen. 
Der  einzige  Versuch  hierzu  ist  der  Darwinsche,  sammt  den 
Modifikationen,  welche  im  Laufe  der  Zeit  berechtigter  oder  unbe- 
rechtigter Weise  dazu  gefügt  wurden.  Für  unsere  Stellung  gegen- 
über dem  Mechanismus  muss  daher  die  Anerkennung  oder  Ablehn- 
ung der  Darwinschen  oder  einer  anderen,  Aehnliches  anstreben- 
den Lehre  fundamentale  Bedeutung  haben.  Unmöglich  erscheint  es 
jedoch,  hier  eine  kritische  Untersuchung  des  Darwinismus  anzu- 
stellen. Ich  vermag  nur  meiner  eigenen  Ueberzeugung  Ausdruck 
zu  geben,  welche,  trotz  der  in  den  letzten  Jahren  erhobenen,  an- 
geblich   vernichtenden    Einwände    gegen    Darwin's    Lehre,    dahin 


*)   Vergl.   hauptsächlich:    Zur  Teleologie   Bd.   3   p.   377   ff,  jedoch  auch:    Kritik 
d.  Kant.  Philosophie  Bd.   2,  p.   630  ff. 


Bütschli,    Mechanismus  und  Vitaiipmus. 


—     34     — 

geht,  dass  ich  diese  Lehre,  in  Verbindung  mit  der  Voraussetzung 
von  Keimesvariationen,  welche  allein  vererblich  sind  (wie  ich  selbst 
dies  schon  1876  angedeutet  habe),  für  eine  sehr  mögliche,  und 
unter  den  sonstigen  Erklärungsversuchen  für  den  wahrschein- 
lichsten halte24). 

Jede  teleologische  Beurtheilung  des  Organismus  und  seines 
Werdens  muss  zu  dem  Ergebniss  führen,  dass  das  zu  erreichende 
Endziel,  oder  der  Zweck  der  werdenden  Bildung,  eine  ähnliche 
Rolle  spielt  wie  der  Zweck  oder  das  Zweckmotiv  bei  der  zweck- 
mässigen Handlung.  So  bemerkte  denn  auch  der  überzeugte  Vi- 
talist Schopenhauer:  „Wir  müssen  es  kühn  heraussagen:  Die 
Endursache  ist  das  Motiv,  welches  auf  ein  Wesen  wirkt ,  von 
welchem  es  nicht  erkannt  wird.  Die  Termitennester  sind  das 
Motiv,  das  die  lange  Zunge  des  Ameisenbären  hervorgebracht  hat." 
„Die  Endursache  und  die  causa  efficiens,  die  wirkende  Ursache, 
fallen  eben  bei  dem  Zweckmotiv  in  eine  zusammen25)". 

Betrachten  wir  diesen  Fall  auch  von  mechanistischem  Stand- 
punkt ,  unter  den  Voraussetzungen ,  welche  die  Darwin  'sehe 
Lehre  für  seine  Begreiflichkeit  macht.  Nach  ihr  wären  es  Va- 
riationen ,  die  von  nicht  genauer  bekannten  veränderten  Be- 
dingungen abhängen ,  welche  die  Zunge  bei  den  Vorfahren  des 
Ameisenbären  verlängert  hätten.  Hiervon  allein  hing  es  jedoch 
nicht  ab,  dass  die  heutigen  Ameisenbären  so  stark  verlängerte 
Zungen  besitzen ;  es  musste  die  weitere  Bedingung  hinzu  treten,  dass 
Termitennester  vorhanden  waren,  welche  diese  Zunge  erst  nützlich 
machten.  Letztere  Bedingung  erscheint  daher  für  das  Bestehen 
der  verlängerten  Zunge  der  heutigen  Ameisenbären  ebenso  wesentlich 
als  die  der  Variationen.  Also  auch  nach  Darwin 's  Auffassung  sind 
die  Termitennester  eine  wesentliche  bedingende  Ursache  für  die 
Existenz  der  verlängerten  Zunge ;  zwar  haben  sie  nicht  die  Be- 
deutung einer  wirkenden  Ursache,  die  Termitennester  liefern  nicht 
etwa  die  Energie  für  das  Auswachsen  der  Zunge ;  sie  spielen  auch 
nicht  die  Rolle  einer  auslösenden  Ursache  oder  eines  Reizes.  Sie 
sind  aber  eine  unerlässliche  Bedingung  für  die  Erhaltung  der 
langen  Zunge.  In  diesem  Sinne  geht  also  das  Schopenhauer'sche 


35     - 

Motiv  als  wesentlicher  Bestandtheil  in  den  Bedingungskomplex  ein. 
Nur  können  wir  dieses  Geschehen,  ebensowenig  wie  irgend  welches, 
von  einer  einzigen  Bedingung  abhängig  finden,  sondern  von  einem 
Komplex  zusammentreffender,   von  gleicher  Unerlässlichkeit. 

Schon  im  Vorhergehenden  wurde  mehrfach  angedeutet ,  dass 
einige  Biologen  nachzuweisen  suchten :  im  Organismus  bestehe  eine 
besondere  Art  kausalen  Geschehens  oder  der  kausalen  Abhängigkeit, 
worin  sich  ein  fundamentaler  Unterschied  des  Lebenden  und 
Nichtlebenden  offenbare.-  So  versuchte  Pflüger  (1877)  zu  zeigen, 
dass  im  Organismus  ein  eigenartiges  „teleologisches  Kausal- 
gesetz" herrsche,  dessen  Abhängigkeitsbeziehungen  sich  in  folgen- 
dem Schema  aussprächen :  „Die  Ursache  jeden  Bedürfnisses 
eines  lebendigenWesens  ist  zugleich  die  Ursache  der 
Befriedigung  des  Bedür f nisses"  (p.  76).  Erläutert  wird  dies 
teleologische  Kausalgesetz  hauptsächlich  an  der  bekannten  Er- 
scheinung, dass  ein  intensiver,  das  Auge  treffender  Lichtreiz, 
welcher  einerseits  ein  gestörtes  Funktioniren  des  Auges  zur  Folge 
hat,  andererseits  eine  Verengerung  der  Pupille  bedingt,  die  das 
Funktioniren  des  Organs  verbessert  oder  korrigirt.  Wenn  Pflüger 
hierbei  von  einem  „Bedürfniss"  und  dessen  „Befriedigung"  spricht, 
so  führt  er  in  den  Vorgang  etwas  ein ,  was  er  nicht  enthält. 
Thatsächlich  ist  die  Folge  des  intensiven  Lichtreizes  nur  eine  un- 
angenehme Empfindung  im  Auge  und  unkorrektes  Sehen;  dass 
die  Folge  dagegen  ein  Bedürfniss  nach  Korrektur  oder  Regulation 
dieser  Erscheinungen  sei,  ist  ein  Urtheil  über  das,  was  wir  für 
ein  so  funktionirendes  Auge  als  wünschenswerth  erachten.  Dass 
die  Pupillenverengerung  eine  Befriedigung  sei,  ist  ebenfalls  ein 
Urtheil  auf  Grund  des  vorherigen  über  ein  bestehendes  Bedürfniss. 
Dieselbe  Argumentation  lässt  sich  für  jede  Regulationseinrichtung 
an  einer  Maschine  anstellen.  Zu  hoher  Dampfdruck  in  der  Dampf- 
maschine bewirkt  zu  raschen  Gang  der  Maschine,  was  wir  als  ein 
Bedürfniss  nach  Korrektur,  nach  Verminderung  der  Schnelligkeit 
beurtheilen.  Gleichzeitig  wird  jedoch  auch  der  Regulator  geöffnet 
und  der  Dampfdruck  vermindert,  was  wir  als  Befriedigung  beur- 
theilen.    In    diesen  Fällen    handelt   es    sich    um    eine  Ursache    (die 


-     36     — 

Veränderung  einer  der  Gesammtbedingungen) ,  welcher  zwei  ver- 
schiedene Wirkungen  folgen,  von  denen  eine  die  Bedingungen  so 
ändert,  dass  die  andere  Wirkung  regulirt  wird.  Ein  solcher 
Doppelerfolg  ist  nur  auf  Grund  eines,  in  besonderer  Weise  ein- 
gerichteten Bedingungssystemes  möglich,  wie  es  uns  ja  die  Dampf- 
maschine mit  ihrem  Regulator  vorführt.  Pflüger  denkt  sich  denn 
auch  dies  teleologische  Kausalgesetz  als  etwas  ,, mechanisch"  Ent- 
standenes. Er  sagt:  „Wie  diese  teleologische  Mechanik  entstanden, 
bleibt  eines  der  höchsten  und  dunkelsten  Probleme."  Andererseits 
scheint  er  jedoch  anzunehmen  ,  dass  sie  von  Anfang  an  als  eine 
besondere  Fähigkeit  oder  Gesetzlichkeit  mit  der  ersten  lebenden 
Materie  entstand,  so  dass  also  zweckmässige  Reaktion  das 
stete  und  regelmässige  Geschehen  der  lebenden  Materie  bilde.  Da 
ich  ein  solch'  gesetzliches  zweckmässiges  Reagiren  des  Organismus 
nicht  für  begründet  und  nachweisbar  erachte,  wie  schon  erörtert 
wurde,  so  halte  ich  auch  Pflüger 's  teleologische  Kausalität  für 
nicht  begründet.  Von  meinem,  und  dem  mechanistischen  Stand- 
punkt überhaupt,  würde  die  Beurtheilung  folgendermassen  lauten : 
Unter  den  Reaktionsmöglichkeiten  der  lebenden  Materie  auf  äussere 
Einwirkungen  fanden  sich  auch  solche ,  die  zweckmässig  wraren, 
und  diese  wurden,  als  die  auf  die  Dauer  allein  existenzfähigen, 
erhalten. 

An  Pflüg  er 's  Gesetz  erinnert  in  mancher  Hinsicht  Coss- 
mann's  Ansicht  über  ein  besonders  „biologisches  Geschehen"  in 
den  Organismen,  im  Gegensatz  zu  kausalem  Geschehen.  Coss- 
mann,  dem  die  Kausalität  als  eine  aprioristische  Anschauungsform 
gilt,  findet  in  der  Lebewelt  ein  besonderes  teleologisches  Naturgesetz 
von  folgender  Formel:  „Auf  eine  Erscheinung  (c),  die  ver- 
änderlich, folgt  eine  Erscheinung  (d),  die  gleichfalls 
veränderlich  ist,  und  auf  diese  eine  Erscheinung  (e), 
die  zu  verschiedenen  Zeiten,  an  verschiedenen  Indi- 
viduen die  gleiche  ist."  Dies  dreigliedrige  Geschehen  sei 
charakteristisch  für  die  Organismen ;  und  das  eigentlich  teleologische 
desselben  äussere  sich  darin ,  dass  das  Mittelglied  (d)  oder  das 
Medium    gleicherweise    abhängig,     oder    eine    Funktion    sei    von 


—     37     — 

dem  vorangehenden.  Glied  (c),  dem  An  t  ecedens,  und  dem  nach- 
folgenden Glied  (e),  dem  Su ecedens.  Hiermit  wäre  natürlich 
das  Gegentheil  kausalen  Geschehens  gegeben.  Denn  dass  das 
Succedens,  als  das  Nachfolgende,  das  Medium  oder  das  Vorher- 
gehende beeinflusst,  also  die  Ursache  von  der  Wirkung  abhängt, 
dies  ist  das  gerade  Gegentheil  kausaler  Abhängigkeit,  und  steht 
eigentlich  auch  mit  der  wahren  teleologischen  Abhängigkeit  im 
Widerspruch. 

Betrachten  wir  jedoch  zunächst  dies  dreigliedrige  teleologische 
Geschehen  an  einem  der  gegebenen  Beispiele  näher,  da  erst  dann 
ganz  klar  werden  wird,  wie  sich  Cossmann  diesen  Vorgang 
denkt.  Wir  wählen  dazu  das  auch  schon  von  Pflüger  erörterte 
Beispiel  der  Pupillenverengerung  auf  intensiven  Lichtreiz.  Nach 
Cossmann  würde  sich  das  dreigliedrige  Schema  folgendermassen 
darstellen : 

c  (Antecedens)  d  (Medium)  e  (Succedens) 

Lichtreiz  Reflex  Schutz 

und  1  (variabel)  (variabel)  (konstant). 

Organismus 
Was  hier  eigentlich  unter  dem  Medium  oder  dem  Reflex  verstanden 
wird,  scheint  mir  unklar;  ob  der  innere  Nervenprozess ,  der  zur 
Verengerung  der  Pupille  führt,  oder  letzterer  Vorgang  selbst,  oder 
die  Gesammtheit  dieser  Vorgänge.  Eines  dagegen  ist  klar,  dass 
nämlich  dasjenige,  was  thatsächlich  von  dem  Lichtreiz  bedingt 
wird  oder  auf  ihn  folgt,  nur  die  Pupillenverengerung  ist ;  dass  hin- 
gegen dasjenige,  was  Cossmann  als  Succedens  oder  drittes  Glied 
einführt,  nämlich  der  „Schutz",  ein  abstrakter  Begriff  ist,  der  in  dem 
wirklichen  Vorgang  sich  natürlich  nicht  findet.  Denn  dieser  Schutz 
ist  ja  nur  unser  Urtheil  über  den  Werth  oder  den  Zweck,  welchen 
die  Pupillenverengerung  für  den  Organismus  besitzt.  Indem  Coss- 
mann so  einen  abstrakten  Begriff  als  Succedens  in  das  drei- 
gliedrige Schema  einführt,  kommt  er  zu  dem  Ergebniss,  dass  das 
Succedens  konstant  sei;  denn  ein  Begriff  ist  natürlich  konstant; 
wogegen  das,  was  der  Lichtreiz  eigentlich  bedingt ,  die  Pupillen- 
verengerung ,    direkt  mit  dem  Lichtreiz    zu-    und    abnimmt.     Wie 


—     38     — 

soll     aber     das     Medium      abhängen     von     einem     Begriff,     dem 
Succedens  ? 

Wenn  wir  ähnlich  argumentiren,  so  finden  wir  in  jedem  Auslös- 
ungsgeschehen und  in  jedem  Regulationsgeschehen  an  einer  Maschine 
das  charakteristische  dreigliedrige  Schema  wieder,  wie  folgende 
Beispiele  zeigen.  Betrachten  wir  ein  aufruhendes  Gewicht,  das  auf 
Anstoss  aus  einer  gewissen  Höhe  herabfällt,  so  haben  wir: 

Antecedens.  Medium     Succedens 

Schwerezustand 
des  Gewichts, 


Auslösungsursache 
(Anstoss) 
Gewicht 


(variabel) 

v  Mangel  der 


/      •  ,    i,         Fall 
(variabel) 

(konstant). 


Hemmung 
oder  bei  der  Dampfmaschine : 

Antecedens.  Medium  Succedens. 

Dampfdruck  I  Hebung  des  j  Schutz,  Sicherung 

Ventil       j   (variabel)        Ventils      j   <™iabel>  (konstant) 

Schon  E.  Albrecht  erkannte  richtig,  dass  jedes  Auslösungs- 
geschehen sich  in  Form  einer  dreigliedrigen  Kette  vollziehe,  und 
wir  erörterten  dies  ja  oben  gleichfalls  26). 

Die  Pupillenverengerung  bei  intensivem  Lichtreiz  beurtheilen  wir 
als  nützlich  für  den  Organismus.  Wohl  bemerkt  ist  dies  ein 
Urtheil  über  den  Werth  dieses  Vorgangs  für  den  Organismus. 
Thatsächlich  hat  ja  die  Pupillenverengerung  oder  -Erweiterung  in 
ihrer  Abhängigkeit  von  der  Intensität  des  Lichtreizes  zur  Folge,  dass 
der  Organismus  auch  bei  Lichtintensitäten,  die  in  gewissen  Grenzen 
schwanken,  annähernd  gleich  gut  sehen  kann.  Insofern  nun  die 
äusseren  Bedingungen  so  waren,  dass  eine  solche  Einrichtung  die 
Erhaltung  der  mit  ihr  ausgestatteten  Individuen,  im  Gegensatz  zu 
den    übrigen ,    bedingte  also   eine    Einrichtung    erhalten    wurde, 

die  wir    als    eine    schützende    beurtheilen  insofern   könnte    man 

davon  reden,  dass  die  gegebenen  Bedingungen  einen  solchen 
Schutz  erforderten  und  dieser  daher  nach  unserer  Beurtheilung  als 
eine  Bedingungsursache  beim  Entstehen  der  Pupillenreflexe  auf- 
getreten sei;  naturgemäss  aber  nicht  rückwirkend,  sondern  nach 
Art   jeder    bedingenden    Ursache    vor    der    Wirkung.      Ebenso    wie 


—     39 

wir  für  die  Konstruktion  des  Ventils  der  Dampfmaschine  das 
Urtheil  über  die  Notwendigkeit  eines  Schutzes  als  bedingendes 
Motiv  für  die  Handlungen  des  Erfinders  erachten;  wobei  jedoch 
dies  Urtheil  gleichfalls  nicht  rückwirkte,  sondern  nach  Art  jedes 
kausalen  Vorgangs  das  Folgende  bedingte. 

Cossmann  ist  sich  bewusst,  dass  sein  teleologisches  Natur- 
gesetz gar  nicht  eigentliches  teleologisches  Geschehen  ist ;  denn 
bei  diesem  tritt  der  Zweck  oder  das  Ziel  des  Gewollten  oder  Ge- 
wünschten als  Motiv  der  Handlung,  als  zeitlich  vorhergehen- 
der Grund,  auf.  Aber  gerade  von  diesem  wesentlichen  Charakter, 
der  ein  anthropomorphistischer  sei,  sucht  Cossmann  die  Teleo- 
logie  zu  reinigen.  Aus  dem  Begriffe  der  Teleologie  sei  das  ,, Wollen" 
zu  entfernen,  wie  aus  dem  der  Kausalität  das  „Müssen".  Dieser 
Vergleich  zwischen  Kausalität  und  Teleologie  trifft  jedoch  nicht  zu. 
Der  Begriff  der  Kausalität  enthält  gar  nichts  von  dem  aus  dem  psychi- 
schen Gebiete  entnommenen  Müssen.  Die  Kausalität  braucht  daher 
auch  gar  nicht  von  dem  Müssen  gereinigt  zu  werden.  Der  Begriff  der 
Kausalität  enthält  nicht  mehr  als  unsere  Erfahrung  über  die  gesetz- 
mässige  Abhängigkeit  der  Erscheinungen ;  von  einem  Müssen,  in 
dem  Sinne  einer  psychischen  Unfreiheit,  ist  darin  nichts  enthalten. 

Mit  dem  teleologischen  Geschehen  verhält  es  sich  anders. 
Dass  die  teleologische  Denkweise  keine  aprioristische  Anschauungs- 
form ist,  welche  gleich  nothwendig  und  berechtigt  neben  der 
kausalen  steht,  geht  für  mich,  abgesehen  von  anderem,  schon 
daraus  hervor,  dass  auch  die  Vorkämpfer  der  Teleologie  sie  für 
die  Vorgänge  in  der  nichtlebenden  Welt  einfach  ignoriren ;  während 
doch,  wenn  es  sich  um  zwei,  unserem  Intellekt  a  priori  gegebene, 
gleichberechtigte  Anschauungsformen  handelte,  nicht  einzusehen 
wäre,  warum  die  teleologische  Betrachtungsweise  in  der  anorganischen 
Welt  plötzlich  aufhört.  Auch  Cossmann  ist  ja  der  Meinung, 
dass  sein  teleologisches  Naturgesetz  nur  für  die  lebende  Welt  gelte. 

Indem  er  jedoch  den  Zweck  als  Motiv  des  Geschehens  ent- 
fernt, hebt  er,  wie  bemerkt,  den  teleologischen  Charakter  seines 
besonderen  biologischen  Geschehens  auf  und  macht  daraus  ein  für 
die    Erklärung    der    Lebenserscheinungen     besonders     konstruirtes 


—     40     — 

Geschehen,  das  nicht  psychisch-teleologisch  bedingt  ist  und  mit 
der  Kausalität  im  Widerspruch  steht.  Dies  teleologische  Natur- 
gesetz hat  daher  den  Charakter  einer  Umschreibungshypothese, 
welche  die  zweckmässige  Reaktion  des  Organismus  voraussetzt, 
also  nicht  begreiflich  macht. 

Nun  könnte  man  ja  sagen,  die  kausale  Abhängigkeit  sei  ebenso 
unbegreiflich,  als  die  sogenannte  teleologische;  und  mit  vollem 
Recht.  Wir  begreifen  ja  die  kausale  Abhängigkeit  nicht,  wir 
wissen  nur,  dass  sie  besteht.  Verhält  es  sich  nun  mit  dieser 
teleologischen  Abhängigkeit  etwa  ebenso?  Das  wäre  der  Fall, 
wenn  wir  im  Organismus  ein  zweckmässiges  Reagiren  als  aus- 
nahmsloses Geschehen  anträfen,  wie  es  nimmer  der  Fall  ist. 
Neben  zweckmässiger  Reaktion  findet  sich  auch  die  unzweck- 
mässige. 

Oder  spricht  es  etwa  für  ein  solch'  allgemeines  Gesetz  zweck- 
mässiger Reaktion,  dass  bei  dem  Triton  für  die  herausgenommene 
Linse  eine  funktionsfähige  neue  gebildet  wird,  während  bei  dem 
nahe  verwandten  Frosch  ein  ganz  funktionsunfähiges  Gebilde 
regenerirt ;  oder  dass  der  zerschnittene  Regenwurm  mit  Leichtig- 
keit regenerirt,  der  zerschnittene  Nematode  dagegen  hierzu  ganz 
unfähig  ist?  Regeneration  verloren  gegangener  Theile  wäre  für 
jeden  Organismus  sicherlich  sehr  zweckmässig;  und  da  sie  in  vielen 
Fällen  in  weitgehender  Weise  realisirt  werden  konnte,  so  ist  nicht 
einzusehen,  weshalb,  wenn  zweckmässige  Reaktion  das  gesetzliche 
Geschehen  des  Organismus  ist,  sie  ebenso  oft  unterbleibt.  Will 
man  aber  etwa  sagen,  der  Organismus  sei  zwar  stets  bestrebt, 
zweckmässig  zu  reagiren,  soweit  als  es  die  entgegenstehenden 
Hindernisse  gestatten,  so  gelangt  man  im  Wesentlichen  zu  der 
Anschauung,  die  auch  wir  festhalten,  wenn  wir  meinen,  dass  der 
Organismus  eben  unter  den  gegebenen  Bedingungen  das  leistet,  was 
er  leisten  kann  ;  und  dass  es  von  dieser  seiner  Leistungsfähigkeit  ab- 
hängt, ob  er  unter  den  veränderten  Bedingungen  zu  existiren  ver- 
mag. Denn  eine  gewisse  Summe  zweckmässiger  Reaktionen  ist 
eben  unerlässliche  Bedingung  für  die  dauernde  Erhaltung  einer  Art. 


—     41     — 

Betrachtungen  über  ontogenetische  und  reparative  Vorgänge 
führten  auch  Driesch  (1899)  zur  Anerkennung  einer  besonderen 
,,eigenthümlichen  Geschehensgesetzlichkeit,  eines  vitalistischen  Ge- 
schehens, einer  vitalistischen  Kausalität",  welche  an  Cossmann's 
teleologisches  Naturgesetz  etwas  erinnert.  Es  muss  jedoch  hervor- 
gehoben werden,  dass  Driesch's  Erörterungen  sich  von  den 
Mängeln  der  Cossmann'schen,  die  auch  Driesch  erkannte,  frei 
halten.  In  dem  Nachweis  eines  solch'  charakteristischen  vitalisti- 
schen Geschehens,  „welches  den  kausalen  Verknüpfungsformen  des 
Anorganischen  nicht  subordinirt,  sondern  koordinirt  sei",  erblickt 
Driesch  ein  von  ihm  längst  erstrebtes  Ziel,  und  beurtheilt  dem- 
gemäss  seine  frühere  Anerkennung  der  sog.  „Maschinentheorie" 
des  Organismus  als  eine  dogmatische  Verirrung. 

Den  Ausgangspunkt  seiner  Betrachtung  bildet  das  sogenannte 
„Lokalisationsproblem"  harmonisch-aequipotentieller  Systeme, 
d.  h.  solcher  entwicklungsfähiger  Systeme,  welche  bei  experimen- 
teller Prüfung,  durch  operative  Entfernung  von  Theilen,  zeigen,  dass 
die  Leistungsfähigkeit  oder  die  Entwicklungsmöglichkeit  jedes  unter- 
geordneten Theils  die  gleiche  ist,  wie  die  des  Ganzen;  oder,  wie 
sich  Driesch  auch  ausdrückt,  bei  denen  jeder  Theil  die  gleiche 
„prospektive  Potenz"  besitzt.  Zu  derartigen  Systemen  gehören  z.B. 
die  Darmanlage  der  Echinidenlarve  und  der  Stamm  der 
Tu  bular  ia.  Bei  der  Weiterentwicklung  gliedert  sich  jene  Darm- 
anlage durch  zwei  ringförmige,  an  bestimmten  Stellen  auftretende 
Einschnürungen  in  drei  Abschnitte.  Der  Tubulariastamm  da- 
gegen kann  an  jedem,  frei  in  das  umgebende  Medium  ragenden 
künstlichen  Querschnitt  einen  neuen  Polypen  repariren.  Dabei  er- 
gibt sich  ferner,  dass  die  beiden  Einschnürungen  des  Echiniden- 
darmes  stets  in  ordnungsgemässer  richtiger  Lage  (Lokalisation)  an 
der  Darmanlage  auftreten,  mögen  deren  Grössenverhältnisse  auch 
sehr  verschiedene  sein.  Besonders  trifft  dies  auch  dann  zu,  wenn 
durch  operative  Eingriffe  eine  künstliche  Verkleinerung  der  Darm- 
anlage herbeigeführt  wurde.  Das  Gleiche  gilt  im  Allgemeinen  auch 
bei  der  Reparation  des  Stammendes  der  Tubularien  für  die  ord- 
nungsgemässe Vertheilung  der  Organanlagen,  namentlich  in  solchen 


—     42     — 

Fällen,    wo  die  regenerirenden  Stammstücke  sehr    kurz,   ja    kürzer 
als  die  in  normaler  Weise  reparirten  Polypen  sind. 

Dieses  ordnungsgemässe  Anpassen  der  entstehenden  Theile, 
oder  diese  ordnungsgemässe  Lokalisation  der  Neubildungen,  in 
richtigen  Lagebeziehungen  zu  den  normalen  Verhältnissen  des  ent- 
stehenden späteren  Ganzen,  bildet  nun  Driesch's  Lokalisations- 
problem.  Seine  Ansicht  ist,  dass  ein  derartiges  Geschehen  in 
keiner  Art  von  Wirkungsweisen  abhängen  könne,  wie  sie  die 
anorganische  Natur  aufzeigt,  welche  zur  Ableitung  solcher  Vor- 
gänge nicht  ausreichten.  Ein  Geschehen,  wie  es  im  Lokalisations- 
problem  auftrete,  finde  sich  in  der  anorganischen  Natur  überhaupt 
nicht  und  sei  deshalb  ein  den  Lebewesen  eigentümliches  vitalisti- 
sches.  Die  besondere  Art  dieses  Geschehens  dokumentire  sich  darin, 
dass  dasselbe  nicht  allein  von  der  zeitlich  vorgehenden  Ursache,  als 
welche  im  Fall  der  Tubularia  die  Operation  gesetzt  wird  (in  ihrer 
Spezifität  nach  Art  und  Quantum),  abhänge,  sondern  auch  von  dem 
zeitlich  nachfolgenden  Endergebniss,  dem  Endzustand,  welchem 
die  von  der  Ursache  (der  Operation)  eingeleitete  Entwicklung  zu- 
strebt. Eine  derartige  Verkettungsart  von  Abhängigkeiten  wird  „An- 
passungsgeschehen" oder  „Antwortsgeschehen"  genannt 
und  auch  folgendermassen  erläutert:  „Jeder  (der  Quantität  nach) 
spezifischen  Ursache  (Operation)  korrespondirt  eine 
(der  Lokalisat ion  nach)  typische  Wirkung,  die  endliche 
Erreichung  eines  gegebenen  Zieles  ermöglichend"  (p.  85). 

Wäre  eine  solche  Geschehensart  nun  wirklich  ohne  jede  Ana- 
logie in  der  anorganischen  Natur,  so  liesse  sich  nicht  wohl  be- 
streiten, dass  sie  einen  strikten  Gegensatz  der  Organismenwelt  zu 
den  Anorganismen  erweise.  Mir  scheint  aber  dieser  Gegensatz 
geringer,  als  Driesch  meint.  Betrachten  wir  zunächst  die  ein- 
fache Auslösungsursache,  welche  Driesch  bei  seiner  vergleichenden 
Erörterung  kausaler  Abhängigkeiten  der  Anorganismen  eigenthüm- 
licher  Weise  nicht  spezieller  erörtert,  so  zeigt  sich  auch  schon, 
dass  es  sich  bei  der  Auslösung  ebenfalls  „nicht  um  ein  ganzes 
oder  theilweises  Wiederauftreten  der  Ursache  handelt",  wie  Driesch 


—     43     — 

für  anorganische  kausale  Abhängigkeiten  annimmt,  sondern  um 
eine  „typische  Wirkung,  die  endliche  Erreichung  eines  gegebenen 
Zieles  ermöglichend".  Dies  gegebene  Ziel  ist  der  unter  den  ver- 
änderten Bedingungen,  welche  die  Wirkung  der  Auslösungsursache 
sind,  mögliche  neue  Gleichgewichtszustand.  Ist  unter  diesen  neuen 
Bedingungen  nur  ein  bestimmter  Gleichgewichtszustand  möglich, 
so    kann  eben  auch  nur  dieser  regelmässig    eintreten.  Dagegen 

vermissen  wir  bei  der  Auslösungsursache  im  allgemeinen  Sinne  die 
der  „Lokalisation  nach  typische  Wirkung",  als  abhängig  von  der 
Auslösungsursache.  Doch  dürften  sich  auch  hiefür  auf  anorga- 
nischem Gebiet  Analogien  bieten. 

Organisirte  Formen  sind  formale  Gleichgewichtszustände ;  Ana- 
logien mit  ihnen  müssen  wir  daher  auch  bei  anorganischen  for- 
malen Gleichgewichtszuständen  suchen.  Die  kugelige  Tropfenform 
als  Gleichgewichtsgestalt  flüssiger  Körper  können  wir  durch  Weg- 
nahme eines  Theils  der  Kugel  operiren,  worauf  der  Rest  sich 
wieder  reparirt  zu  einer  neuen  Kugel.  Wenn  wir  die  Wegnahme 
eines  Theils  auch  hier  nach  Driesch's  Vorgang  als  Ursache  be- 
zeichnen, so  können  wir  meiner  Ansicht  nach  auch  für  diesen 
Vorgang  sagen:  „jeder  (der  Quantität  nach)  spezifischen  Ursache 
korrespondirt  eine  (der  Lokalisation  nach)  typische  Wirkung,  die 
endliche  Erreichung  eines  gegebenen  Ziels  ermöglichend."  Das  ge- 
gebene Ziel  ist  hier  die  normale  Gleichgewichtsform  der  Flüssig- 
keiten ,  die  Kugel ;  die  der  Lokalisation  nach  typische  Wirkung 
korrespondirt  mit  der  der  Quantität  nach  spezifischen  Ursache ; 
denn  der  Grösse  des  entfernten  Kugelabschnitts  muss  der  restirende 
Theil  seine  unformenden  Bewegungen  anpassen,  um  das  gegebene 
Endziel  zu  erreichen.  Der  Charakter  des  dabei  stattfindende)! 
Geschehens  ist  Auslösungsgeschehen.  Der  weggenommene  Theil  des 
kugeligen  Tropfens  vertrat  gegenüber  dem  verbleibenden  Rest  die 
Hemmung  an  der  gespannten  Feder ;  nehme  ich  diesen  Theil  des 
Tropfens  weg,  so  geht  der  nicht  mehr  im  Gleichgewicht  befindliche 
Theil  in  einen  neuen  Gleichgewichtszustand  über ,  indem  Energie 
frei  wird,  d.  h.,  indem  eine  frühere,  im  System  potentielle  wirkende 
Ursache  nun  zur  Wirkung  gelangt. 


44     — 

Noch  deutlicher  tritt  in  dem  folgenden  Fall  die  Analogie  mit 
dem  sogen.  Anpassungsgeschehen  hervor.  Wird  ein  Flüssigkeits- 
tropfen unter  geeigneten  Bedingungen  zu  einem  Faden  ausgezogen, 
so  nimmt  er  zunächst  cylindrische  Form  an,  um  dann,  wenn  seine 
Länge,  dividirt  durch  den  Durchmesser,  gleich  oder  grösser  als  n 
wird,  in  eine  neue  Gleichgewichtsform  überzugehen.  Er  zerfällt 
nämlich  in  eine  gewisse  Zahl  gleichgrosser,  in  gleichen  Entfern- 
ungen hintereinander  gereihter  Kugeln ;  indem  je  ein  Cylinderstück, 
dessen  Länge  gleich  dem  Durchmesser  des  Cylinders  ist,  sich 
zu  einer  Kugel  umformt*).  Die  Zahl  der  Kugeln  hängt  daher  von 
dem  Verhältniss  des  Durchmessers  zur  Länge  des  zerfallenden 
Cylinders  ab.  Wenn  wir  nun  zwei  verschieden  grosse,  jedoch  in 
Bezug  auf  Länge  und  Durchmesser  ähnliche  Cylinder  derselben 
Flüssigkeit  haben,  und  sie  in  gleichem  Verhältniss  dehnen,  so 
werden  sie  auch  in  dieselbe  Zahl  gleich  geordneter  oder  lokalisirter 
Kugeln  zerfallen,  wobei  die  Quantität  der  dehnenden  Ursache  in 
beiden  Fällen  spezifisch  verschieden  ist.  Dieser  Fall  verläuft  daher 
analog  der  Dreigliederung  des  Echinidendarms  oder  der  ordnungs- 
gemäss lokalisirten  Anlage  der  Organe  der  reparirenden  Tubu- 
laria  bei  verschiedener  Grösse  des  Ausgangsobjektes.  Auch  hier 
finden  wir  „eine  der  Quantität  nach  spezifisch  verschiedene  Ursache, 
wrelcher  eine,  der  Lokalisation  nach,  typische  Wirkung  korrespon- 
dirt,  die  endliche  Erreichung  eines  gegebenen  Zieles  ermöglichend". 

Formale  Gleichgewichtszustände  der  Anorganismen  sind  auch 
die  Krystalle.  Bekanntlich  können  diese  unter  geeigneten 
äusseren  Bedingungen  (und  solche  sind  ja  unter  allen  Umständen 
auch  für  den  reparirenden  Organismus  erforderlich)  Reparations- 
erscheinungen zeigen.  Ein  wesentlicher  Unterschied  gegen  den 
Organismus  besteht  insofern ,  als  der  letztere,  auch  ohne  Zufuhr 
neuer  Substanz,  aus  der  schon  vorhandenen  zu  repariren  vermag, 
ähnlich  wie  der  Flüssigkeitstropfen,  während  bei  dem  Krystall  stets 
die  Zufuhr  neuer  Substanz  Bedingung  ist.    Der  Krystall  kann  sich 


*)  Es  kann  hier  ausser  Betracht  bleiben ,  dass  zwischen  je  zwei  der  grossen 
kugeligen  Tropfen  sich  regelmässig  einige  sehr  kleine  bilden.  (Vergl.  z.  B.  Violle, 
Lehrb.   d.   Physik.   Bd.  I,   pag.    592). 


45 

nur  wachsend  repariren.  Dies  hängt  jedenfalls  damit  zusammen, 
dass  die  Gleichgewichtsform  des  Krystalls  bedingt  ist  von  dem 
flüssigen  Zustand  der  Substanz  vor  dem  Festwerden.  Ist  letzteres 
eingetreten,  so  besteht,  wie  bei  jedem  festen  Körper,  Gleichgewicht 
unabhängig  von  der   Form. 

Aus  jedem  beliebigen  Partikel  eines  Krystalls  kann  sich  unter 
geeigneten  Bedingungen  ein  neuer  Krystall  mit  typisch  geordneten 
Flächen,  Winkeln,  Kanten  und  Ecken  bilden.  In  dieser  Hinsicht 
können  wir  daher  auch  den  Krystall  ein  harmonisch-aequipotentielles 
System  nennen.  Nehmen  wir  ein  kleines  Partikelchen ,  so  bildet 
sich  ein  kleines  Kryställchen  mit  ordnungsgemäss  gelagerten  Flächen, 
Kanten  und  Ecken ;  nehmen  wir  einen  grossen  Partikel,  so  bildet  sich 
ein  entsprechend  grosser  Krystall  mit  derselben  ordnungsgemässen 
Lagerung  der  Flächen  in  vergrössertem  Massstab.  Brechen  wir 
an,  einem  Krystall  ein  Stück  ab,  so  wird  unter  geeigneten  Be- 
dingungen das  entfernte  Stück  reparirt,  und  zwar  in  grösserem 
oder  kleinerem  Umfang,  je  nach  der  Grösse  des  Defektes,  so  dass 
die  Normalgestalt  wieder  hergestellt  wird.  Auch  in  dem  Krystall 
haben  wir  daher  einen  formalen  Gleichgewichtszustand ,  der  sich, 
nach  Störung  durch  eingetretene  Defekte,  unter  geeigneten  Be- 
dingungen wieder  herstellt  ;  und  bei  dem  ,,die  typische  Wirkung", 
welche  zur  Herbeiführung  der  neuen  Gleichgewichtsform  geleistet 
wird,  von  der  Grösse  des  Defektes  abhängt,  während  die  Form 
selbst  von  dem  inneren  Bedingungskomplex  des  Ausgangssystems 
bestimmt  wird,  der  eben  diesen  und  nur  diesen  Gleichgewichts- 
zustand unter  den  gegebenen  Umständen  gestattet. 

Das  Lokalisationsproblem  des  sich  entwickelnden  Organismus 
kann  meiner  Meinung  nach  entsprechend  beurtheilt  werden  27). 
Doch  ist  hier  die  Komplikation  viel  grösser,  da  es  sich  um  ent- 
wicklungsfähige Systeme  handelt,  wie  sie  in  ähnlicher  Art  in  der 
anorganischen  Natur  fehlen.  Bei  solcher  Beurtheilung  erscheint 
uns  der  Vorgang  der  Tubulär  i  a -Reparation  z.  B.  in  etwas 
anderem  Licht.  Die  Operation,  durch  welche  ein  Theil  der 
T  u  b  u  1  a  r  i  a  entfernt  wird ,  kann  ich  nur  als  Auslösungsursache 
ansehen,    durch  welche  das  Gleichgewicht  des  entwicklungsfähigen 


—     46 

Systems  gestört  wird.  Das,  was  nun  geschieht,  kann  daher  mit 
dieser  Auslösungsursache  in  keiner  direkten  Beziehung  stehen,  wie 
dies  ja  bei  jeder  Auslösungsursache  der  Fall  ist;  d.  h.  die  Operation 
setzt  neue  Bedingungen,  ist  dagegen  nicht  eine  wirkende  Ursache. 
Die  Operation  ist  die  Entfernung  einer  Hemmung,  welche  nun  den 
in  dem  System  potentiell  enthaltenen  wirkenden  Ursachen  ge- 
stattet, in  Wirkung  zu  treten  und  den  dem  System  gemässen 
neuen  Gleichgewichtszustand  zu  entwickeln.  Was  bei  dem  Ueber- 
gang  des  gestörten  Systems  in  den  neuen  Gleichgewichtszustand 
geschieht ,  wird  abhängen :  von  den  in  dem  System  gegebenen 
Bedingungen,  welche  diesen  Gleichgewichtszustand  als  möglichen 
ergeben,  und  von  dem  Umfang  und  der  Art  des  Defektes ,  d.  h. 
also  von  der  Gesammtheit  der  Bedingungen,  die  nach  der  Operation 
vorliegen. 

Vor  allem  vermag  ich  jedoch  in  diesen  Vorgängen  nichts  ,zu 
erkennen,  was  zur  Anerkennung  eines  an  Endursachen  (causae  finales) 
erinnernden  Zweckmässigkeitsgeschehens  nöthigte,  eines  Geschehens, 
welches,  im  Gegensatz  zu  kausaler  Abhängigkeit,  von  einem  zu- 
künftig zu  erreichenden  Ziel  abhinge.  Denn  meiner  Meinung  nach 
sind  es  die  besonderen  gegebenen  Bedingungen  des  entwicklungs- 
fähigen Systems,  von  welchen  einerseits  sowohl  dieses  und  gerade 
dieses  Ziel  abhängt,  als  andererseits  die  typische  Wirkung,  in 
welcher  dieses  Ziel  nach  Störungen  erreicht  werden  kann ,  aber 
nicht  stets  erreicht  werden  muss.  Von  dem  Geschehen  auf  an- 
organischem Gebiet  scheint  mir  aber,  wie  erörtert  wurde,  das  in 
dem  Lokalisationsproblem  gegebene  Geschehen  nicht  prinzipiell 
und  fundamental  verschieden  28). 


Wir  sind  am  Ende  unserer  Erörterungen  angelangt  und  müssen 
uns  fragen,  was  dürfen  wir  als  deren  Ergebniss  bezeichnen?  Die 
Möglichkeit ,  die  Lebenserscheinungen  physiko-chemisch ,  mecha- 
nistisch, begreifen  zu  können,  wird  so  lange  bestritten  werden,  so 
lange  nicht  für  alle  Einzelheiten  ein  solcher  Weg  als  gangbar  auf- 
gezeigt ist.     Selbst    die   Herstellung    eines   lebendigen    Organismus 


—     47     — 

unter  gewissen  physiko-chemischen  Bedingungen  dürfte  wohl  von 
manchen  Neo- Vitalisten  nicht  als  genügender  Beweis  der  Berechtigung 
des  Mechanismus  erachtet  werden.  Wie  wir  von  vornherein  be- 
tonten, konnte  es  sich  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  für  uns 
nur  darum  handeln,  zu  zeigen ,  dass  die  von  vitalistischer  Seite 
gegen  den  Mechanismus  und  seine  Befähigung,  das  Leben  aus- 
reichend zu  begreifen,  erhobenen  Einwände,  eine  solche  Unmöglich- 
keit nicht  erweisen.  Den  thatsächlichen  Beweis,  dass  der  Mechanismus 
das  zu  leisten  vermag,  was  er  beansprucht,  könnte  nur  der  Erfolg 
selbst  führen.  Dieser  wird  es  allein  sein,  welcher  schliesslich  die 
Entscheidung  nach  der  einen  oder  der  anderen  Seite  zu  lenken 
vermag.  Alter  wie  neuer  Vitalismus  betonen  schliesslich  immer 
wieder  die  vorhandenen  ungelösten  Räthsel  und  bezweifeln  ihre 
Lösung  auf  mechanistischem  Boden.  Begreifen  lehren  sie  uns  den 
Organismus  nicht.  Denn  die  Voraussetzung  vitalistischen  Geschehens 
schliesst  eben  die  Anerkenntniss  ein ,  dass  es  sich  hier  um  ein 
letztes ,  gesetzliches ,  an  und  für  sich  unbegreifliches  Geschehen 
handle,  das  wir  nicht  unter  allgemeinere  Gesetzlichkeiten  einzu- 
ordnen vermögen. 

Daher  dürfen  wir  wohl  sagen :  Begreifen  können  wir  von  den 
Lebenserscheinungen  nur  das,  was  sich  physiko-chemisch  erklären 
lässt.  Schliesslich  wird  es  aber  von  dem  Vitalismus  und  Mecha- 

nismus auch  heissen :  An  ihren  Früchten  sollt  ihr  sie  er- 
kennen! 


ANMERKUNGEN. 


1)  (zu  pag.  1.)  Es  bedarf  vielleicht  kaum  besonderen  Hinweises,  dass  ich 
weder  mit  diesem  Vortrag,  noch  mit  den  ihm  beigegebenen  Anmerkungen 
beabsichtige,  das  behandelte  Problem  in  voller  Ausdehnung,  historisch  und 
kritisch  zu  besprechen.  Ich  betone  dies  namentlich  deshalb,  weil  ich  weiss, 
dass  ich  nur  eine  beschränkte  Auswahl  der  Aeusserungen  über  das  Problem 
und  seine  Unterfragen  näher  erörterte  und  erörtern  konnte,  viele  andere 
dagegen  ganz  unberührt  liess;  und  namentlich  auch  in  keiner  Weise  an  eine 
vollständige  Aufzählung  der  Autoren  und  ihrer  Stellung  zu  den  besprochenen 
Fragen  denken  konnte.  Ich  habe  nur  da  angeknüpft,  wo  es  mir  schien,  dass 
ich  etwas  zur  Klärung  beizutragen  vermochte.  Ob  mir  dies  wirklich  gelungen 
ist,  nicht  nur  so  geschienen  hat,  wird  die  Zukunft  ergeben. 

2)  (zu  pag.  5.)  Der  von  mir  vertretene  Standpunkt,  welcher  die  Zustands- 
änderungen,  also  das  Auftreten  und  Schwinden  von  Energie,  von  Empfindungen 
begleitet  sein  lässt  (wobei  man  eventuell  noch  an  die  Erweiterung  denken 
könnte,  dass  beim  Freiwerden  von  Energie  die  Empfindung  lustbetont,  bei 
dem  Schwinden  freier  Energie  dagegen  unlustbetont  sei),  schliesst  sich  in 
gewissem  Grade  den  von  Häckel  und  Nägeli  aufgestellten  Hypothesen 
an.  Im  Gegensatz  zu  beiden  letzteren  Hypothesen  steht  jedoch,  dass  meine 
Anschauung  in  keiner  Weise  mit  Atom-  oder  Molekülhypothesen  zusammen- 
hängt, wie  jene.  Häckel's  und  Nägeli's  Meinung  hat  Albrecht  (1899 
p.  40  ff.)  scharf  kritisirt.  Dass  er  die  Anschauungen  Crato's  verwirft,  gegen 
die  auch  ich  schon  gesprochen  habe  (s.  Zoolog.  Centralbl.  IV  p.  46),  finde 
ich  ganz  gerechtfertigt.  Alb  recht  geht  bei  seiner  Kritik  Nägeli's  von 
der  richtigen  Ansicht  aus,  dass  es  nicht  gerechtfertigt  sei,  zur  Erklärung 
komplexer  Erscheinungen  diese  Erscheinungen  auf  die  Theilchen  zu  über- 
tragen. Es  ist  dies  ja  dasselbe,  was  ich  gegen  die  Umschreibungshypothesen 
gesagt  habe.  Nun  vermag  ich  jedoch  nicht  zuzugeben,  dass  die  Empfindung 
eine  komplexe  Erscheinung  sei;  vielmehr  ist  sie  die  einfache  Elementar- 
erscheinung des  psychischen  Gebietes  und  steht  hier  ebenso  da,  wie  jene 
letzten  allgemeinen  Eigenschaften  auf  physischem  Gebiete,  welche  wir 
ebensowenig  weiter  zu  begreifen  im  Stande  sind,  wie  Masse,  Raumerfüllung, 

Rutsch  li,   Mechanismus  und  Vitalismus.  i 

Anmerkung  No.    1 — 2. 


—     50     — 

Form,  Bewegung.  Da  nun  das  erstmalige  Entstehen  einer  Empfindung  für 
uns  absolut  unbegreiflich  ist,  ebenso  wie  das  jener  letzten  Eigenschaften 
auf  physischem  Gebiet,  indem  auf  psychischem  die  Empfindung  ganz  ebenso 
den  Charakter  des  elementar  Gegebenen  besitzt,  so  bietet  sich  als  einzige 
Möglichkeit  begrifflicher  Vereinigung  nur  die  Erweiterungshypothese :  die 
elementare  Empfindung  als  einen  allgemeinen  Vorgang  aufzufassen,  welcher 
den  Zustandsänderungen  in  der  physischen  Welt  koordinirt  ist,  so  wie  Zu- 
standsänderungen  unseres  physischen  Ichs  mit  Empfindungen  koordinirt  sind. 

3)  (zu  pag.  5.)  Mach's  erkenntniss-kritischer  Standpunkt  hat  zwar  einiges 
gemein  mit  dem  von  mir  in  dieser  Schrift  vertretenen,  dennoch  vermag  ich  den- 
selben nicht  zu  theilen.  Mir  scheint,  dass  Mach's  Anschauung  derjenigen 
Berkeley 's  sehr  nahe  kommt,  welche  alle  sinnlichen  Wahrnehmungen 
für  Ideen  (notions)  des  göttlichen  Geistes  erklärt,  die  dem  menschlichen 
Geist  von  Gott  „eingeprägt"  werden.  Während  daher  für  Berkeley  die 
Dinge  Ideen  des  göttlichen  Geistes  sind,  sind  sie  nach  Mach  „Empfindungs- 
komplexe", die  als  solche  die  Bestandtheile  der  Welt  bilden,  und  die  mit 
dem  Ich  in  Beziehung  treten  können;  d.  h.  dann  wahrgenommen  werden. 
Der  gemeinsame  Charakter  beider  Anschauungen  ist,  dass  die  Welt  nur  aus 
Empfindendem  bestehe,  dass  dagegen  nichts  Empfundenes  vorhanden  sei.  Da 
nun  nur  das  eigene  Ich  Kenntniss  von  Empfindungen  hat,  und  Mach  selbst 
zugibt,  dass  das  Erkennen  anderer  Ichs  ein  „Analogieschluss"  sei,  d.h.  eine 
Annahme,  so  ergibt  sich  auch  weiter,  dass  die  Existenz  von  Empfindungs- 
komplexen ausserhalb  des  eigenen  Ichs  nur  eine  Annahme  ist,  eine  Erweiter- 
ungshypothese ,  um  unbefriedigenden  Konsequenzen,  der  „Monstrosität  des 
Solipsismus",  zu  entgehen.  Berkeley  entging  dieser  eigentlich  natürlichen 
Konsequenz  durch  die  stillschweigende  Voraussetzung  anderer  Geister  neben 
dem  eigenen  Geist. 

Geben  wir  nun  Mach's  Hypothese  zu,  d.  h.,  dass  ausserhalb  des  Ichs 
Empfindungskomplexe  existiren,  die,  mit  ihm  in  Beziehung  tretend,  seine 
Empfindungen  sind.  Ist  dann,  wie  Mach  meint,  der  Gegensatz  zwischen 
Physischem  und  Psychischem,  der  Dualismus  zwischen  dem  wahrgenomme- 
nen Objekt  und  dem  wahrnehmenden  Subjekt,  zu  Gunsten  einer  monistischen 
Auffassung  wirklich  beseitigt?  Ich  bin  dieser  Meinung  nicht.  Das  Ich  ist 
nach  Mach  ein  Empfindungskomplex,  der  von  den  übrigen  Empfindungs- 
komplexen nicht  scharf  getrennt  ist,  ein  Komplex  von  festerem  beständi- 
gerem Zusammenhang,  mit  Kontinuität  und  langsamerer  Aenderung  begabt. 
Dies  aber  weist  doch  daraufhin,  dass  das  Ich,  sei  es  auch  nicht  ganz  scharf 
begrenzt,  nicht  nur  „eine  praktische  Einheit  für  eine  vorläufige  orientirende 
Betrachtung"  (p.  20)  ist.  Die  besonderen  Qualitäten,  die  ihm  Mach  selbst 
zuertheilt,  bezeichnen  doch  deutlich  seinen  Gegensatz  gegen  die  von  dem 
Ich  wahrgenommenen  Empfindungskomplexe. 

Nun  belehren  mich  die  Aussagen  meiner  Neben-Ich,  welche  ich  ja  auf 
Grund  des  „Analogieschlusses"  als  ebenfalls  empfindend  anerkenne  oder  vor- 
stelle, darüber,  dass  sie,  gleichzeitig  mit  mir,  mit  gewissen  Empfindungs- 
komplexen in  Beziehung  treten  können,  das  sind  eben  jene  der  Aussenwelt 

Anmerkung  No.   3. 


51     - 

angehörigen  Empfindungskomplexe;  während  diese  Neben-Ichs  dagegen  mit 
einer  gewissen  Kategorie  von  Empfindungskomplexen  niemals  in  direkte 
Beziehung  treten,  d.  h.  mit  allen  jenen,  welche  als  Erinnerungsbilder,  Vor- 
stellungen etc.  mein  eigenstes  Ich  ausmachen.  Ebensowenig,  wie  ich  mit 
jenen,  welche  ich  in  ihren  Ichs  voraussetze.  Hieraus  ergibt  sich,  dass  die 
Empfindungskomplexe  in  zwei  ganz  verschiedene  Kategorien  zerfallen,  in 
diejenigen,  welche  gleichzeitig  mit  vielen  Ichs  in  Beziehung  treten,  und  die- 
jenigen, die  nur  mit  einem  Ich  dies  thun.  Ein  Begreifen  dieser  Verschieden- 
heit auf  der  Mach'schen  Grundlage  scheint  unmöglich;  wogegen  die  sog. 
naive  Ansicht,  welche  nicht  einfach  die  Empfindung  mit  dem  Empfundenen 
identifizirt,  keine  besondere  Schwierigkeit  in  dieser  Hinsicht  findet. 

Die  Schwierigkeit,  welche  darin  liegt,  dass  ein  Empfindungskomplex 
gleichzeitig  mit  zahlreichen  Ichs  in  Beziehung  tritt,  scheint  mir  nicht  uner- 
heblich zu  sein.  Denn  sie  erforderte  gewisseftnassen  die  Vorstellung,  dass 
alle  Empfindungskomplexe  eine  einheitliche  Masse  bilden,  eine  Einheit. 

Die  Erfahrung  lehrt  ferner,  dass  meine  Neben-Ichs  auch  Zustände 
(Tod ,  Ohnmacht)  zeigen  können ,  in  welchen  ich  ihnen  auf  Grund  des 
gleichen  „Analogieschlusses"  keine  Beziehung  zu  den  Empfindungskom- 
plexen der  Aussenwelt  mehr  zuschreibe ;  und  dass  ich  mittels  des  um- 
gekehrten Analogieschlusses  denken  muss,  dass  auch  mein  Ich  einstmals 
diesen  Zustand  zeigen  wird,  wo  sein  Körperkomplex  zwar  noch  besteht, 
dagegen  seine  Beziehungen  zu  den  beiden  Kategorien  der  Empfindungs- 
komplexe aufgehört  haben.  Auch  diese  Schwierigkeit  scheint  mir  auf  Grund 
der  Mach'  sehen  Identifizirung  der  Empfindung  mit  dem  Empfundenen 
nicht  begreiflich,  während  sie  für  die  gegentheilige  Auffassung  keine  unüber- 
windliche ist. 

4)  (zu  pag.  6)  Gedächtnis s.  Ein  solcher  Parallelismus,  ein  solches 
Zugeordnetsein,  wie  ich  es  hier  für  die  physischen  und  psychischen  Vor- 
gänge annehme,  hat  auch  schon  E.  Hering  (1870)  vorausgesetzt;  wenn  auch, 
soweit  ich  sehe,  nicht  über  das  Gebiet  des  Lebenden  ausgedehnt.  Im  Gegen- 
satz zu  meiner  Auffassung  folgert  Hering  aber  daraus,  dass  das  Ge- 
dächtniss  oder  die  Erinnerung  eine  ganz  allgemeine  Eigenschaft  der 
lebenden  oder  „organisirten  Materie"  sei,  indem  ja,  wie  natürlich,  auch  die 
Gedächtnissempfindungen  von  einem  physischen  Vorgang  begleitet  sein 
müssen.  Es  scheint  mir  jedoch  zweifelhaft,  ob  wir  annehmen  dürfen,  dass 
in  einem  einfachen  Elementarorganismus,  einer  einfachen  Zelle,  die  Beding- 
ungen gegeben  sein  können  zu  einer  Art  dauernder  Aufspeicherung  und 
gelegentlicher  Wiederholung  der  durch  äussere  Reize  häufiger  bedingten 
inneren  Zustandsänderungen  in  einer  modifizirten  und  abgeschwächten  Form, 
wie  wir  sie  eben,  als  die  Gedächtnissempfindungen  begleitend,  voraussetzen 
müssen.  Mir  will  es  nicht  recht  gelingen,  einzusehen,  dass  dergleichen  in 
einem  einfachen  Elementarorganismus,  in  der  lebendigen  Substanz,  ohne 
weitere  besondere  Einrichtungen,  möglich  sein  sollte.  Die  Schwierigkeit 
dieses  Problems  liegt  ja  darin,  dass  wir  uns  einstweilen  keinerlei  genügende, 
wenn    auch     nur    bildliche    Vorstellung    davon    machen    können,     wie    eine 

Anmerkung  No.  3—4.  4* 


52 

physische  Zustandsänderung  sich  gewissermassen  aufspeichern  können  soll, 
um  dann  in  gewissem  Sinne  spontan,  oder  als  Folge  von  damit  häufig  verknüpft 
gewesenen  Zustandsänderungen,  in  modifizirter  Form  von  Neuem  einzutreten. 
Alle  etwa  möglichen  physischen  Bilder,  wie  das  Mitschwingen  von  Saiten 
und  Aehnliches,  das  Hinterbleiben  dauernder  Aenderungen  wie  bei  photo- 
graphischen Vorgängen,  die  andauernde  schwache  Lichtentwicklung  gewisser 
Körper  nach  Belichtung,  scheinen  mir  keine  Möglichkeit  eines  einigermassen 
adäquaten  Verstehens  eines  solchen  Vorgangs  zu  eröffnen.  Wie  gesagt,  halte 
ich  es  daher  für  zweifelhaft,  ob  wir  berechtigt  sind,  der  lebendigen  Substanz 
an  sich  eine  solche  Fähigkeit  zuzuschreiben,  und  nicht  vielmehr  dieselbe  erst 
von  einem  komplizirter  entwickelten  Nervenapparat  bedingt  erachten  müssen. 

Das  Gedächtniss  oder  Erinnerungsvermögen,  welches  Hering  der 
organisirten  Substanz  als  allgemeine  Eigenschaft  zuschreibt,  wird  natürlich  als 
ein  „unbewusstes"  betrachtet';  worin  ja  ein  Widerspruch  liegt,  da  eigentliche 
Gedächtnisserscheinungen  nur  im  Bewusstsein  sind  und  das  Gedächtniss  als 
die  Bedingung  des  Bewusstseins  oder  des  Ichs  erscheint.  Die  Begründung 
der  Annahme  eines  solch'  unbewussten  Gedächtnisses,  die  Hering  ent- 
wickelt, scheint  mir  auch  eine  andere  Auffassung  zuzulassen.  Er  geht  dabei 
von  der  Erfahrung  aus,  dass  Fertigkeiten,  die  ursprünglich  mit  Hilfe  bewusster 
Gedächtnissoperationen  erlangt  wurden,  durch  anhaltende  Uebung  allmählich 
so  vollzogen  werden,  dass  die  einzelnen  Gedächtnissakte  dabei  nicht  mehr 
ins  Bewusstsein  treten;  und  dass  in  gleicher  Weise  Urtheile,  welche  ur- 
sprünglich eine  Anzahl  getrennter  psychischer  Operationen  erfordern,  sich 
schliesslich  unbewusst  vollziehen.  Hieraus  folge,  dass  Gedächtnisserschein- 
ungen auch  unbewusst  verlaufen  können,  dass  ein  unbewusstes  Gedächtniss 
bestehe.  Ich  halte  dagegen  eine  andere  Auffassung  dieser  Erscheinung  für 
wahrscheinlicher.  Eine  Empfindung  erfordert,  um  als  besondere,  isolirte 
Erscheinung  ins  Bewusstsein  zu  treten,  eine  gewisse  Zeit;  zu  rasch  auf 
einander  folgende  Empfindungen  werden  nicht  mehr  gesondert  wahrge- 
nommen. Ein  komplizirter,  ursprünglich  aus  einer  ganzen  Anzahl  einzelner 
Gedächtnissakte  zusammengesetzter  Vorgang  wird  um  so  schneller  ver- 
laufen, je  besser  er  eingeübt  wurde.  Wenn  nun  der  Ablauf  der  einzelnen, 
ihn  ursprünglich  zusammensetzenden  Gedächtnissakte  so  rasch  ist,  dass  sie 
nicht  mehr  gesondert  empfunden  werden  können,  so  wird  der  Verlauf  des 
Aktes  den  Charakter  des  Unbewussten  annehmen,  indem  seine  einzelnen 
Glieder  nicht  mehr  getrennt  bewusst  werden. 

Wie  gesagt,  scheinen  mir  daher  diese  Vorgänge  nicht  nothwenig  zur 
Annahme  eines  unbewussten  Gedächtnisses  zu  führen;  wenigstens  nicht  in 
dem  Sinne,  dass  sie  uns  berechtigen,  solch'  unbewusste  Gedächtnissvorgänge 
auch  da  voraussetzen  zu  dürfen,  wo  wir  ein  Bewusstsein  als  solches  nicht 
annehmen  können.  Die  Erfahrung,  dass  Organe  durch  Uebung  und  Ge- 
brauch kräftiger  werden  (dass  sie  bei  Uebung  ihre  Leistung  auch  direkt 
leichter  oder  schneller  vollziehen,  wie  Hering  annimmt,  ohne  dass  hierbei 
Innervationsverhältnisse  eingreifen,  scheint  mir  zweifelhaft),  kann  ich  nicht 
als   einen    weiteren  Beleg  für    eine   unbewusste    Gedächtnissbefähigung   der 

Anmerkung  No.  4. 


53 

organisirten  Substanz  erachten,  da  es  mir  unwahrscheinlich  ist,  dass  diese 
Erscheinung  überhaupt  mit  einem  dem  Gedächtniss  analogen  Vorgang  in 
Verbindung  gebracht  werden  könne. 

5)  (zu  pag.  7).  Eine  Erörterung  A.  v.  Humboldt's,  auf  die  ich 
durch  ein  Citat  von  C.  Hauptmann  aufmerksam  wurde,  möchte  ich  an 
dieser  Stelle  wiederholen  (siehe  Cosmos,  Ausg.  in  5  Bd.,  Bd.  I,  pag.  32): 
„Einzelheiten  der  Wirklichkeit,  sei  es  in  der  Gestaltung  oder  der  Aneinander- 
reihung der  Naturgebilde,  sei  es  in  dem  Kampfe  des  Menschen  gegen  die 
Naturmächte  oder  der  Völker  gegen  die  Völker,  alles,  was  dem  Felde  der 
Veränderlichkeit  und  realer  Zufälligkeit  angehört,  kann  nicht  aus  Begriffen 
abgeleitet  (konstruirt)  werden.  Weltgeschichte  und  Weltbeschreibung  stehen 
daher  auf  derselben  Stufe  der  Empirie"  ....  Diese  Betrachtung  scheint 
mir  dasjenige,  was  ich  gleichfalls  zum  Ausdruck  bringen  wollte,  schon 
recht  treffend  darzulegen. 

Es  mag  vielleicht  nicht  ungerechtfertigt  erscheinen,  an  diesen  Gegen- 
satz zwischen  beschreibenden  und  exakten  Wissenschaften  noch  einige  Be- 
merkungen zu  knüpfen.  Richtiger  bezeichnet  würde  dieser  Gegensatz 
eigentlich  wohl  als  der  jener  Wissenschaften,  welche  die  gesetzmässigen  Ab- 
hängigkeitsverhältnisse der  Veränderungen  der  Dinge  auf  experimentellem 
Wege  festzustellen  suchen,  und  derjenigen  Wissenschaften,  welche  die  ge- 
gebenen Regelmässigkeiten  in  der  gegenwärtigen  Natur  und  ihren  historischen 
Wandel  im  Laufe  der  Zeit  zu  ermitteln  suchen.  Im  weiteren  Sinne  Hessen 
sich  die  letzteren  auch  als  die  Wissenschaften  des  historischen  Werdens  und 
Seins  der  Natur  bezeichnen.  In  einseitiger  Weise  wurde  nun  gelegentlich 
über  die  geringe  Bedeutung  dieser  historischen  Wissenschaften  geurtheilt. 
„Es  kann  uns  durchaus  gleichgültig  sein"  sagt  Driesch  (1893  p.  27)  „dass 
nun  gerade  die  und  die  Formen"  (von  Organismen)  „auf  unserer  Erde 
realisirt  sind  und  so  aufeinander  folgten,  durchaus  gleichgültig  im 
Sinne  der  theoretischen  allgemeinen  Naturforschung,  welcher  der  sich  an 
bestimmte  Orte  und  Zeiten  knüpfende  Begriff  der  Geschichte  fremd  ist." 
Es  wird  dies  speziell  bemerkt  im  Hinblick  auf  den  Darwinismus  und  die 
Bestrebungen,  die  historische  Aufeinanderfolge,  die  phyletische  Entwick- 
lung der  Organismengruppen  zu  ermitteln.  Ganz  abgesehen  davon,  dass 
wir  die  Natur  nicht  nur  desshalb  studiren,  um  das  gesetzliche  Geschehen 
in  ihr  kennen  zu  lernen,  sondern  auch,  um  überhaupt  zu  wissen,  worin 
wir  denn  leben  und  von  was  wir  umgeben  sind,  auch  in  der  gewiss 
nicht  zu  verachtenden  praktischen  Rücksicht,  unser  Verhalten  demgemäss 
einzurichten ,  so  lässt  sich  doch  auch  fragen ,  was  interessiren  uns  denn 
eigentlich  jene  gesetzlichen  Geschehensweisen ,  welche  meist  als  an  sich 
wenig  interessante  mathematische  Gleichungen  erscheinen?  Warum  sind 
uns  diese  nicht  gleichgültig?  An  und  für  sich  bietet  es  doch  keinen  er- 
heblichen geistigen  Genuss  zu  wissen,  dass  die  Gravitationsbeschleunigung 
proportional  der  Masse  und  umgekehrt  proportional  dem  Quadrate  der  Ent- 
fernung ist.  Was  uns  diese  Gesetzlichkeiten  nicht  gleichgültig  erscheinen 
lässt,    ist  doch  eben  gerade  das,  was  wir    aus    ihnen    zu  folgern  vermögen, 

Anmerkung  No.   5. 


—     54     — 

sei  es  für  unsere  praktischen  Zwecke  oder  für  das  Verständniss  der  gegen- 
wärtig in  der  Natur  verlaufenden  und  der  ehemals  verlaufenen  historischen 
Vorgänge.  Ganz  dasselbe  würde  auch  für  die  experimentell  eventuell  fest- 
zustellenden Gesetzlichkeiten  in  der  Entwicklungsphysiologie  gelten;  sie 
wären  uns  nur  soweit  nicht  gleichgültig,  sondern  von  höchstem  Interesse, 
als  sie  uns  das  Begreifen  der  historisch  gewordenen  Organismenformen 
ermöglichten.  Hierzu  ist  aber  doch  vor  allen  Dingen  die  genaue  Kenntniss 
dieser  Formen  sowohl,  als  ihrer,  wenn  auch  nur  wahrscheinlichen  historischen 
Aufeinanderfolge  nothwendig.  Vermag  denn  die  Geologie  etwas  mit  den 
physikalischen  und  chemischen  Gesetzlichkeiten  zu  erklären,  bevor  sie  die 
jetzige  Beschaffenheit  und  den  wahrscheinlichen  historischen  Verlauf  einer 
geologischen  Erscheinung  genau  festgestellt  hat.  Wenn  uns  die  existirenden 
Formen  der  Organismen  gleichgültig  sein  sollten,  warum  dann  nicht  auch  die 
existirenden  chemischen  Elemente? 

Eine  gute  Kritik  des  ablehnenden  Verhaltens  mancher  Entwickelungs- 
mechaniker  gegen  jegliche,  auch  die  vorsichtigste  phylogenetische  Folgerung 
siehe  bei  Eisig  (1898  pag.  255  ff.). 

Da  ich  mich  schon  1876  (s.  Einleitung  pag.  1)  dahin  aussprach,  dass 
„auch  jede  einzelne  organische  Gestalt  aus  den  gegebenen  Grundlagen  und 
Bedingungen  ihres  Hervorgehens  sich  erklären  lassen  müsste",  d.  h.  also, 
ganz  abgesehen  von  phylogenetischen  Erwägungen,  auf  entwickelungs- 
mechanischem  Wege  aus  dem  gegebenen  Bedingungskomplex  des  befruch- 
teten Eies,  in  solcher  Weise,  wie  es  später  die  Entwickelungsmechanik 
als  ihr  Forschungsziel  aufstellte ,  so  möchte  ich  hier  noch  Folgendes 
zufügen.  Zugegeben,  dass  solch  eine  entwickelungsmechanische  Erklärung 
irgend  einer  thierischen  Form  möglich  sei,  so  geschieht  dies,  ohne  jede 
phylogenetische  Rücksichtnahme,  von  einem  gegebenen  Anfangssubstrat  aus, 
dem  befruchteten  Ei  und  seinem  besonderen  Bedingungskomplex.  Wie  aber 
erklärt  sich  gerade  dieser  Bedingungskomplex  des  Ausgangssubstrates 
der  Entwicklung,  des  befruchteten  Eies?  Hier  hört  die  rein  entwickelungs- 
mechanische Erklärung  definitiv  auf.  Denn  dieses  Ei  und  sein  besonderer 
Bedingungskomplex  ist  etwas  historisch  gewordenes  und  daher  in  seiner 
Besonderheit  auch  nur  mit  Berücksichtigung  des  historischen  Werdegangs 
der  Organismen  zu  verstehen ,  welche  im  Laufe  der  Erdgeschichte  an 
seiner  Hervorbringung  mitgearbeitet  haben.  In  diesem  Sinne  also  ist  die 
phylogenetische  Forschung  für  das  Verständniss  des  Organismus  unent- 
behrlich. 

6)  (zu  pag.  8).  Einem  solchen  Zusammenwerfen  von  Mechanismus 
mit  Materialismus  begegnen  wir  bei  Bunge,  der  bemerkt  (pag.  13): 
„Den  umgekehrten  und  verkehrten  Weg  schlägt  der  Mechanismus  ein,  der 
nichts  anderes  ist  als  der  Materialismus  -  -  er  geht  von  dem  Unbekannten 
aus,  von  der  Aussen  weit,  um  das  Bekannte  zu  erklären,   die  Innenwelt". 

7)  (zu  pag.  9.)  Ich  habe  1896  in  einer  kleinen  Abhandlung  zwischen 
„Umschreibungs- und  Erweiterungshypothesen"  unterschieden,  im  besonderen 
Hinblick  auf  die    in    neuerer  Zeit  in  der  Biologie    aufgestellten  Hypothesen. 

Anmerkung  No.   5 — 7. 


5o 


Die  erste  Art  der  Hypothesen  suchte  ich  als  eine  blosse  Umschreibung  der 
Probleme,  als  nichts  erklärend,  zurückzuweisen;  die  zweite  Art  erkannte 
ich  dagegen  als  eine  Erweiterung  unseres  Verständnisses,  unseres  Begreifen s 
der  Erscheinungen,  als  erklärend  an.  Erst  später  fand  ich,  dass  Driesch 
schon  1894  (pag.  151 — 157)  die  Umschreibungshypothesen  kritisirte,  in  ganz 
ähnlicher  Weise  als  eine  „Photographie  der  Probleme"  zutreffend 
bezeichnete,  auch  das  Wort  „umschreiben"  gebrauchte  und,  ebenso  wie  ich, 
auf  das  charakteristische  alte  Beispiel  M  o  1  i  e  r  e  's  über  die  „schlafmachende 
Kraft"  des  Opiums  hingewiesen  hat.  1893  dagegen  schien  ihm  Wiesner 's 
Plasomtheorie  noch  als  ebenso  berechtigt  wie  die  optische  Theorie  des 
Lichts  oder  die  kinetische  Gastheorie,  und  auch  die  Weis  man n'sche 
Theorie  berechtigt,  „indem  sie  sich  damit  befasse,  zu  erläutern,  wie,  d.  h. 
durch  welche  Art  der  Energie  diese  (d.  h.  die  spezifische  Formgestaltung) 
in  die  Erscheinung  treten  könnte"  (p.  46). 

Hinsichtlich  der  sog.  Umschreibungshypothesen  besteht  daher  eine 
erfreuliche  Uebereinstimmung  zwischen  Driesch 's  und  meiner  Auffassung. 
Nicht  so  völlig  gilt  dies  für  die  Hypothesen,  welche  ich  „Erweiterungs- 
hypothesen" genannt  habe.  Driesch 's  Meinung,  dass  Theorien,  wie  die 
kinetische  Gastheorie,  die  Undulationstheorie  des  Lichts,  die  Atomtheorie 
der  Chemie,  das  betreffende  Gebiet  oder  die  betreffenden  Probleme  nur 
„veranschaulichten  und  leichter  fassbar  machten",  theile  ich  nicht.  Ich  bin 
der  Meinung,  dass  durch  diese  Theorien  und  die  ihnen  zu  Grunde  liegenden 
Hypothesen  thatsächlich  Einsicht  gewonnen  wird,  d.  h.,  dass  Vorgänge, 
welche  vorher  unbegreiflich  waren,  unter  der  gemachten,  und  aus  dem 
empirischen  Bestand  der  sonst  bekannten  Naturvorgänge  übertragenen 
Voraussetzung,  nun  als  von  dieser  bedingt  und  nothwendig  erscheinen. 
Driesch  erblickt  in  Erkenntniss  nur  Analyse;  dies  scheint  mir  aber  für 
die  korrekte  und  zulässige  Erweiterungshypothese  nicht  zutreffend.  Diese 
geht  wie  jede  Hypothese  über  Analyse  hinaus,  indem  sie  eben  als  Aus- 
gangspunkt unserer  Erkenntniss  des  Problemes  eine  Erfahrung  setzt,  welche 
nicht  durch  die  Analyse  dieser  Erscheinung  gewonnen  ist,  von  welcher 
letztere  sich  jedoch  hypothetisch,  unter  gerechtfertigten  Bedingungen,  wider- 
spruchslos ableiten  lässt. 

8)  (zu  pag.  9.)  Für  das  Verständniss  des  älteren  Vitalismus  scheint 
es  angezeigt,  hier  wenigstens  die  Anschauungen  eines  seiner  hervorragend- 
sten Vertreter  wiederzugeben.  Ich  citire  daher  einige  der  bezeichnendsten 
Ausführungen  über  Lebenserscheinungen  und  die  Lebenskraft  aus  Joh. 
Müll  er 's  „Handbuch  der  Physiologie  der  Menschen"  (1833). 

(pag.  23):  „Allein  diese  Harmonie  der  zum  Ganzen  nothwendigen 
Glieder"  (des  Organismus)  „besteht  doch  nicht  ohne  den  Einfluss  einer 
Kraft,  die  auch  durch  das  Ganze  hindurch  wirkt,  und  nicht  von  einzelnen 
Theilen  abhängt,  und  diese  Kraft  besteht  früher  als  die  harmonischen  Glieder 
des  Ganzen  vorhanden  sind,  sie  werden  bei  der  Entwicklung  des  Embryo 
von  der  Kraft  des  Keimes  erst  geschaffen".  „Diese  vernünftige  Schöpfungs- 
kraft äussert  sich  in  jedem  Thiere  nach  strengem  Gesetz". 

Anmerkung  No.   7 —  8. 


-     56     — 

(pag.  24):  „Stahl's  Seele  ist  die  nach  vernünftigem  Gesetz  sich 
äussernde  Kraft  der  Organisation  selbst".  Die  Organisationskraft  äussere 
sich  „zweckmässig  aber  nach  blinder  Nothwendigkeit".  „Die  bewusstlos 
wirkende  zweckmässige  Thätigkeit". 

(p.  25):  „Man  darf  ihre  blinde  nothwendige  Thätigkeit  mit  keinem  Be- 
griffbilden vergleichen."  „Die  organische  Kraft  dagegen,  die  Endursache 
des  organischen  Wesens,  ist  eine  die  Materie  zweckmässig  verändernde 
Schöpfungskraft". 

Bei  der  Besprechung  von  Reil  's  Ansichten  scheint  es  Joh.  Müller 
doch  auch  möglich,  dass  diese  Kraft  eine  imponderable  Materie  sei  (p.  26 — 27), 
jedoch  nicht  identisch  mit  einem  der  Imponderabilien  der  unorganischen 
Welt:  „Das  Leben  .  .  .  beginnt  sich  zu  äussern  mit  einer  in  der  Materie 
des  Keimes  wirkenden  Kraft  oder  imponderablen  Materie"  (p.  28). 

(pag.  29.):  „Die  organische  Kraft,  welche  in  dem  organischen  Körper 
den  zum  Leben  nothwendigen  Mechanismus  erschafft,  ist  doch  keiner  Acte 
ohne  diesen  äusseren  Impuls  und  ohne  beständige  materielle  Umwandlungen 
mit  Hilfe  der  äusseren  sogenannten  Lebensreize  fähig". 

(pag.  36.):  „Es  lässt  sich  viel  angemessener  annehmen,  dass  das  von 
einem  organisirten  Körper  organisirte  in  dem  Mass  zugleich  theilhaftig  wird 
der  organisirenden  Kraft,  als  es  organisirt  wird". 

(pag.  38.) :  „Nun  wird  die  organische  Kraft  bei  dem  Wachsthum  und 
der  Fortpflanzung  der  organischen  Körper  multiplizirt  ....  während  auf 
der  anderen  Seite  die  organische  Kraft  des  sterbenden  Körpers  zu  Grunde 
zu  gehen  scheint". 

(pag.  39.):  „So  viel  scheint  aber  gewiss,  dass  bei  dem  Sterben  der 
organischen  Körper  die  organische  Kraft  wieder  in  ihre  allgemeinen 
natürlichen  Ursachen  aufgelöst  wird".  Müller  ist  daher  der 
Ansicht,  dass  die  organische  Kraft  aus  „unbekannten  Quellen  der 
Aussenwelt  in  den  einmal  vorhandenen  organischen  Körpern"  vermehrt 
wird,  da  man  sonst  nicht  begreifen  könne,  dass  sie  bei  der  Fortpflanzung 
in  ihrer  Intensität  nicht  geschwächt  werde. 

Diese  Aussprüche,  welche  leicht  durch  zahlreiche  ähnliche  vermehrt 
werden  könnten,  scheinen  doch  recht  deutlich  zu  zeigen,  dass  Müller's 
Anschauungen,  abgesehen  von  der  Unsicherheit,  welche  das  mangelnde 
Verständniss  des  Prinzips  der  Energieerhaltung  bedingen  musste,  im  Grunde 
ganz  dieselben  sind,  wie  sie  von  dem  Neo- Vitalismus  geäussert  werden. 
Ob  das  Prinzip  Lebenskraft  oder  organische  Kraft  oder  besonderes  gesetz- 
liches Geschehen,  biologisch-vitalistisches  Geschehen  u.  s.  f.  genannt  wird, 
darauf  kommt  wenig  an.  Man  könnte  aus  Müller's  Darstellung  mit 
Recht  ableiten,  dass  er  sich  die  Lebenskraft  als  eine  besondere  vitale 
Energieform  gedacht  habe. 

Gleichzeitig  dürfte  jedoch  aus  obigen  Nachweisen  auch  hervorgehen, 
dass  die  Darstellung,  welche  E.  D  ubois-Rey  mon  d  (1894)  von  J.  Müller's 
Anschauungen  über  die  Lebenskraft  gab,   sehr  wenig  korrekt  ist. 

Anmerkung  No.   8. 


-     57     - 

9)  (zu  pag.  10.)  Driesch  (1899  pag.  99)  bezeichnet  den  Vitalismus 
als  „diejenige  Auflassung,  welche  in  Lebensgeschehnissen  Vorgänge  mit 
ihnen  eigenthümlicher  Elementargesetzlichkeit  erblickt.".  Er  verwahrt  sich 
aber  dagegen,  dass  jene  „eigenthümliche  Elementargesetzlichkeit"  als  eine 
besondere  Energieart  anzusehen  sei;  das,  was  der  Vitalismus  „einführt,  als 
Agens,  ist  etwas  ganz  wesentlich  Anderes"  (1899  pag.  109). 

Die  gelegentlich  geäusserte  Ansicht,  dass  die  Besonderheit  der 
Lebewesen  von  einer  eigenthümlichen  Energieform  abhängen  könnte, 
welche  nur  unter  den  besonderen,  im  Organismus  bestehenden  Beding- 
ungen erscheine  —  deren  erstes  Auftreten  also  mit  den  Bedingungen 
gegeben  war,  unter  denen  ein  erster  Organismus  sich  bildete  —  scheint 
mir  unhaltbar.  Einmal  desshalb,  weil  in  der  Organismen  weit  von  einer 
solchen  Energieform  bis  jetzt  nichts  beobachtet  wurde.  Zur  Annahme,  dass 
die  besonderen  stofflichen  Verhältnisse  des  Organismus  von  einer  besonderen 
Energieform  abhingen,  welche  von  der  chemischen  Energie  verschieden 
wäre,  scheint  kein  Grund  vorzuliegen.  Die  äusseren  und  inneren  Form- 
verhältnisse des  Organismus  von  einer  besonderen  Energieform  abhängen 
zu  lassen,  scheint  ebenfalls  nicht  gerechtfertigt.  Mit  keiner  der  bekannten 
Energieformen  stehen  komplizirte  Bau-  und  Strukturverhältnisse,  wie  sie 
der  Organismus  zeigt,  in  einfacher  Abhängigkeit.  Komplizirte  Formver- 
hältnisse, welche  Gleichgewichtszustände  sind,  können  nur  von  komplizirten 
gehäuften  Bedingungen  abhängen,  überhaupt  nicht  einfach  bedingte  Gleich- 
gewichtszustände sein,  möge  die  Energieform,  von  der  sie  abhängen,  auch 
eine  andere  sein,  als  die  bekannten.  Gegen  die  Annahme  einer  besonderen 
vitalen  Energieform  hat  sich  auch  Albrecht  (1899  pag.  19)  ausgesprochen. 
Ebenso  ist  Driesch,  wie  vorhin  bemerkt,  kein  Anhänger  dieser  Meinung. 

Auf  etwas  eigenthümliche  Weise  versuchte  H.  Buchner  (1898)  nachzu- 
weisen, dass  eine  besondere  vitale  Energieform  im  Bereich  der  Lebewelt 
bestehe.  Nachdem  er,  in  nicht  sehr  klarer  Weise  sich  auf  Schopenh  au  er 
stützend,  die  sog.  Naturkräfte  (jetzt  Energieformen)  als  Ursachen  verworfen 
hat,  kommt  er  doch  zur  Anerkennung  sog.  „energetischer  causae"  oder 
„causae  physicales",  die  nichts  anderes  sind  als  jene  zuerst  verworfenen  Natur- 
kräfte oder  Energieformen.  Neben  diesen  causae  physicales  und  den  causae 
occasionales  (Auslösungsursachen),  welche  nach  Buchner  den  Vorgang 
kausal-energetisch  feststellen,  erhebt  sich  jedoch  nach  ihm  noch  die  Frage 
nach  dem  Grund,  d.  h.  warum  nun  gerade  ein  solcher  Vorgang,  wie  z.  B. 
die  Verbindung  von  Wasserstoff  und  Sauerstoff  zu  Wasser,  geschieht.  Dieser 
Grund  ist  nach  Buchner  die  „chemische  Affinität"  ;  sie  bildet  nach  ihm  den 
„logischen  Erkenntnissgrund"  oder  die  „ratio"  dieser  Erscheinung;  und 
diese  ratio  muss  von  der  causa  streng  gesondert  werden;  „der Erkenntniss- 
grund bleibt  ganz  ausserhalb  der  analytisch-kausalen  Betrachtung." 

Die  Erscheinung,  dass  sich  H  und  O  zu  H20  zu  verbinden  vermögen, 
ist,  wie  man  sagt,  eine  Eigenschaft  dieser  beiden  Naturkörper  und,  da  sie 
keiner  weiteren  Erklärung  zugänglich  ist,  eine  sog.  qualitas  occulta.  Quali- 
tates    occultae    derselben   Art,    d.    h.    von  grosser   Aehnlichkeit,    zeigen  uns 

Anmerkung  No.  9. 


—     58     — 

jedoch  sämmtliche  elementare  Naturkörper,  weshalb  wir  für  diese  überein- 
stimmenden Eigenschaften  aller  Elemente  und  auch  ihrer  Verbindungen  den 
Sammelnamen  oder  den  Begriff  der  chemischen  Affinität  gebildet  haben. 
Wenn  ich  daher  sage,  der  Grund,  warum  sich  Wasserstoff  und  Sauerstoff 
verbinden,  ist  die  chemische  Affinität  dieser  Körper,  so  sagt  dies  nur,  die 
Erscheinung  der  Verbindung  von  Sauerstoff  und  Wasserstoff  gehört  zu  den- 
jenigen Erscheinungen,  welche  wir  unter  dem  Begriffe  der  chemischen 
Affinitätserscheinungen  zusammenfassen.  Dagegen  ist  die  Annahme  einer 
chemischen  Affinität  als  wirkende  Ursache  oder  Kraft  ungerechtfertigt  und 
nichts  erklärend,  wie  dies  für  diesen  und  andere  Fälle  schon  häufig  hervor- 
gehoben wurde.  Buchner  nennt  denn  auch  ganz  richtig  die  chemische 
Affinität  den  „logischen  Erkenntnissgrund",  d.h.,  der  Vorgang  gehört  zu  dem 
empirischen  Begriff  der  chemischen  Affinität,  etwa  so,  wie  ein  Mensch  zu 
dem  Begriff  Organismus  gehört;  und  ich  muss,  wenn  ich  über  den  Einzel- 
vorgang gar  nichts  Näheres  weiss,  durch  diese  Zurechnung  schon  die  all- 
gemeine Art  des  Vorgangs  kennen  lernen,  wenn  mir  der  Begriff  bekannt  ist. 
Diese  Eigenschaft  der  Körper  H  und  O,  die  wir  als  chemische  Affinität 
bezeichnen,  kann  jedoch  bei  der  Beurtheilung  des  Vorgangs  ihrer  Vereinigung 
zu  Wasser  nicht  unberücksichtigt  gelassen  werden,  denn  sie  muss  eben 
doch  vorhanden  sein,  wenn  die  Verbindung  eintreten  soll.  Bei  dem  kau- 
salen Vorgang,  welcher  zur  Bildung  von  H2O  aus  H  und  O  führt,  tritt 
diese  Eigenschaft  als  Bedingung  oder  als  bedingende  Ursache  auf,  ebenso 
wie  ja  bei  dem  einfachen  Stossproblem  der  Ort  des  gestossenen  Körpers 
und  die  Bewegungsrichtung  des  stossenden  nothwendige  Bedingungen  sind, 
wenn  ein  Effekt  eintreten  soll,  obwohl  davon  in  die  Energiegleichung  nichts 
eingeht.  —  Die  Eigenschaft  der  chemischen  Affinität  von  H  und  O  geht, 
wie  gesagt,  als  Bedingung  in  das  Kausalproblem  ein;  und  dies  zeigt  wiederum, 
dass  es  nicht  richtig  ist,  diese  Eigenschaft  als  wirkende  Ursache  einführen 
zu  wollen.  Dagegen  dürfen  wir  uns  diese  Eigenschaft  von  einem  be- 
sonderen Gleichgewichtszustand  wirkender  Ursachen  in  den  Stoffen  H  und 
O  bedingt  vorstellen;  und  da  Gleichgewichtszustände  überhaupt  nicht  kausal 
abhängig  erscheinen,  sondern  irgendwie  formal  oder  quantitativ  formal  be- 
dingt sind,  so  kommen  wir  schliesslich  auf  strukturelle  Bedingungen,  von 
welchen  diese  Eigenschaft  abhängen  kann. 

Buchner  ist  nun  der  Meinung,  dass,  ebenso  wie  die  chemische  Affinität, 
die  Gravitation  etc.,  Erkenntnissgrund  oder  ratio  der  betreffenden  Vorgänge 
seien,  auch  für  die  Organismenbildung  ein  solcher  Erkenntnissgrund,  eine  solche 
ratio  vorhanden  sein  müsse.  Dies  wird  in  einer  meiner  Meinung  nach  un- 
zulässigen Weise  aus  der  Entstehung  der  Stärkekörner  abzuleiten  gesucht, 
welche  B.  nach  Nägel i  als  organisirte  Substanzen  auffasst.  Ihre  Natur 
lässt  sich  jedoch  meiner  Ansicht  nach  auf  die  der  gewöhnlichen  Sphäro- 
krystalle  zurückführen,  und  ihre  Eigenschaften  daher  als  zur  Kategorie  dieser 
gehörig  betrachten.  Danach  wäre  daher  auch  kein  besonderer  Erkennt- 
nissgrund für  sie  nothwendig,  ein  „Wachsthums-  oder  Bildungs- 
trieb", wie  ihn  Buchner  für  sie  und  die  Organismen  überhaupt  annehmen 

Anmerkung  No.  9. 


—     59 

will;  es  genügte  die  „Krystallanziehung",  die  B.  als  Erkenntnissgrund  der 
Krystallbildung  bezeichnet.  Demnach  gelangt  Buchner  also  zu  der  Ansicht, 
dass  die  besondere  Konstellation  der  Bedingungen  in  den  Organismen  eine 
besondere,  den  Anorganismen  fehlende  Gesetzlichkeitsform  oder  Energie- 
form bedinge,  die  er  den  „Bildungstrieb"  nennt;  ähnlich,  wie  er  sich  die 
Krystallbildung  von  einer  besonderen  Krystallanziehung  bedingt  denkt.  Nun 
ist  es  schon  nicht  üblich,  sich  die  Krystallbildung  in  dieser  Weise  von  einer 
besonderen  Energieform  bedingt  zu  denken,  aus  dem  Grunde,  weil  die  Er- 
fahrung nicht  ergeben  hat,  dass  mit  der  Krystallbildung  in  gesetzmässiger 
Weise  freie  Energie  besonderer  oder  bekannter  Art  verknüpft  ist.  Das- 
selbe gilt  jedoch  auch  von  den  organisirten  Individuen;  auch  sie  sind  for- 
male Gleichgewichtszustände  wie  die  Krystalle,  doch  auch  mit  ihnen  lässt 
sich  in  keiner  Weise  eine  besondere  Energieform  in  Verbindung  bringen. 
Die  mögliche  Bildung  komplizirter  Gleichgewichtsformen  erfordert  jedoch 
auch  keineswegs  neue  besondere  Energien,  wie  ja  die  Maschinen  ver- 
schiedenster Art  erweisen;  sie  erfordert  nur  das  Zusammentreffen  günstiger 
Bedingungen  unter  den  aus  der  Anorganismenwelt  bekannten  energetischen 
Gesetzmässigkeiten  und  einer  successiven  Steigerung  der  Komplikation  im 
Zusammenhang  mit  den  äusseren  wechselnden  Verhältnissen. 

Dieser  Versuch,  einen  besonderen  sog.  Erkenntnissgrund  (Naturkraft, 
Energieform)  als  „Erklärungsgrund"  der  Organismen  einzuführen,  gibt 
Veranlassung,  der  Frage  nach  den  sog.  Energien  selbst  etwas  näher  zu 
treten.     Zunächst  finden  wir  das,  was  wir    freie  (aktuelle)  Energie  nennen: 

1)  mechanische  Energie  oder  Bewegung  von  Dingen  und  Formveränderungen, 

2)  freie  Wärme  und  3)  freie  strahlende  Energien  (Licht,  Elektrizität,  Mag- 
netismus). 

Freie  Energien  treten  stets  auf  bei  gewissen  Zustandsänderungen  von 
Dingen,  wenn  das  Ding  aus  einem  ruhenden  Gleichgewichtszustand  in 
einen  anderen  übergeht. 

Potentielle  oder  latente  Energien  nennt  man  dagegen  die  Eigenschaft, 
das  Vermögen  der  Dinge,  bei  solchen  Zustandsänderungen  freie  Energien 
obengenannter  Art  zu  geben.  Andererseits  finden  wir,  dass  bei  Zustandsänder- 
ungen der  Dinge  freie  Energien  verschwinden  können,  d.  h.  dass  sich  andere 
Ruhe-  oder  Gleichgewichtszustände  bilden,  welche  jene  freie  Energie  potien- 
tiell,  d.  h.  gewissermassen  im  Gleichgewicht  sich  paralysirend,  enthalten. 
Aus  diesem  geht  hervor,  dass  Energie  identisch  ist  mit  dem,  was  wir  auch 
als  wirkende  Ursachen  bezeichneten.  Der  Uebergang  potentieller  Energie 
in  freie  und  ebenso  umgekehrt  geschieht  nach  gewissen  Gesetzmässigkeiten, 
welche  mit  den  sonstigen  Bedingungen  der  kausalen  Prozesse  zusammen- 
hängen. Hiernach  unterscheidet  man  gewisse  potientielle  Energieformen, 
welche  bei  dem  Uebergang  in  freie  Energie  in  der  Form  von  mechanischer 
Energie  auftreten,  so  Distanzenergie  (Lageenergie,  Gravitation),  Formenergie 
und  Volumenergie  (Elasticität),  Oberflächenenergie;  hier  handelt  es  sich 
demnach  um  Energieformen,  welche  nur  in  dem  potentiellen  Zustand  und 
der  Art  ihrer  gesetzlichen  Bedingungen  Besonderheit  zeigen,   dagegen  sich 

Anmerkung  No.  9. 


—     60     — 

frei  nur  als  mechanische  Bewegung  äussern,  und  welche  daher  auch  in 
ihrem  potentiellen  Zustand  nicht  wohl  anders  als  mechanisch  bedingte  Gleich- 
gewichtszustände beurtheilt  werden  können.  Das,  was  man  chemische 
Energie  nennt,  äussert  sich  frei  in  verschiedener  Form  als  Wärme,  Licht, 
Elektrizität,  mechanische  Energie,  aber  doch  nur  in  Form  anderer  Energien; 
eine  chemische  Energie  existirt  daher  auch  nur  in  potentieller  Form 
als  in  besonderer  Weise  gesetzlich  bedingter  Gleichgewichtszustand;  als 
wirkende  Ursache  dagegen,  wie  mechanische  Bewegung,  Wärme  und 
sonstige  freie  Energien,  begegnen  wir  ihr  nicht.  Die  übrigen  Energien 
scheinen  dagegen  eine  Art  Mittelstufe  einzunehmen,  da  sie  latent  oder 
potentiell  und  frei  auftreten  können.  Auf  diesen  Erwägungen  und  der 
allgemeinen  Betrachtung,  dass  die  Zustände  potentieller  Energie  sich  nicht 
wohl  mit  etwas  anderem,  als  mit  Gleichgewichtszuständen  vergleichen 
lassen,  wie  sie  in  Bezug  auf  mechanische  Energie  die  Mechanik  in  formaler 
Weise  kennen  lehrt,  scheint  mir  wesentlich  das  Streben  zu  beruhen,  die 
Gesammtheit  der  Energien  auf  mechanische  zurückzuführen,  was  natürlich 
nur  auf  der  Grundlage  eines  formal  strukturellen  atomistischen  Aufbaues 
der  Stoße  möglich  erscheint. 

10)  (zu  pag.  14.).  Wenn  ich  den  kausalen  Vorgang  bei  dem  einfachen 
Stoss  zweier  elastischer  Körper  aufeinander,  im  Gegensatz  zu  den  eigent- 
lichen Auslösungsprozessen,  als  eine  einfache  Kausalkette  betrachtet  habe, 
bei  welcher  auf  die  wirkende  Ursache  des  Körpers  B  die  Aenderung  des 
Körpers  A,  d.  h.  dessen  Bewegungszustand,  einfach  folge,  so  ist  dies  eine 
Vereinfachung  der  Betrachtung,  welche  nach  unseren  Erfahrungen  dem  wirk- 
lichen Geschehen  nicht  genau  entspricht.  Der  eigentliche  Vorgang  bei  dem 
Stoss  elastischer  Körper  kann  vielmehr  nur  so  aufgefasst  werden,  dass  bei 
dem  Zusammentreffen  des  sich  bewegenden  Körpers  B  und  des  ruhenden 
A  zunächst  eine  innere  Zustandsänderung  (elastische  Aenderung)  der  beiden 
Körper  eintritt,  deren  Folge  erst  die  Bewegung  des  Körpers  A  ist.  Man 
erkennt  jedoch  leicht,  dass  wenn  schon  der  einfache  Stoss  sich  als  eine 
Kausalkette  ergibt,  ein  kausaler  Auslösungsvorgang  stets  eine  noch  kom- 
plizirtere  Kausalkette  ist;  denn  wenn  die  Auslösungsursache  ein  Stoss 
ist,  der  eine  Hemmung  beseitigt,  so  erscheint  ja  schon  sie  in  der  Form  einer 
solchen  einfachen  Kausalkette  wie  der  elastische  Stoss.  Die  Kausalverket- 
tung bei  einem  Auslösungsvorgang  wird  daher  stets  komplizirter  sein  als 
die,  welche  wir  bei  einem  einfachen  Kausalvorgang  antreffen. 

Bei  Erörterung  des  Kausalitätsbegriffes  ging  man  in  neuerer  Zeit  viel- 
fach auf  Schopenhauer  zurück,  der  ja  auch  in  mancher  Hinsicht  recht 
klar  ist.  Im  Allgemeinen  besagt  seine  Definition :  Ursache  ist  eine  Verän- 
derung, auf  welche  eine  andere  , Regelmässig,  d.  h.  allemal,  so  oft  die  erstere 
da  ist,  folgt".  (Siehe  besonders  in  „Vierfache  Wurzel  des  Satzes  vom  zu- 
reichenden Grund".  Ges.  Werke  :  Bd.  I  p.  34  ff.)  Statt  Veränderung  gebraucht 
er  auch  den  Begriff  „Zustand";  doch  würde  ich  den  ersteren,  oder  noch  besser 
„Zustandsänderung"  vorziehen,  weil  er  eben  dasjenige  klar  hervorhebt,  was 
die    wirkende    Ursache,    oder    die    Ursache    im    engeren    Sinne,    von     den 

Anmerkung  No.  9 — 10. 


—     61     — 

Bedingungsursachen  unterscheidet.  Bei  genauerern  Zusehen  ergibt  sich  jedoch, 
dass  Schopenhauer  eigentlich  nur  Auslösungsursachen  kennt,  dagegen 
die  einfachen  Ursachen  gar  nicht  aufführt.  Dies  erweisen  die  von  ihm  an- 
geführten Beispiele.  Hierauf  beruht  es  denn  auch,  dass  er  sich  auf  das  ent- 
schiedenste dagegen  verwahrt,  dass  die  Naturkräfte,  also  Schwere,  Elasti- 
zität, Wärme  etc.,  d.  h.  das,  was  wir  heute  Energieformen  nennen,  Ursachen 
seien;  sie  sind  es,  nach  ihm,  „was  den  Ursachen  die  Kausalität,  d.  i.  die 
Fähigkeit  zu  wirken,  allererst  ertheilt,  von  welchen  sie  also  diese  zu  Lehn 
haben"  (pag.  45).  Die  Naturkräfte  sind  ihm  eben  die  Erscheinungsformen 
des  Willens,  welcher  durch  die  Ursachen  zur  Aeusserung  veranlasst  wird. 
Mit  der  Unkenntniss  des  Gesetzes  von  der  Erhaltung  der  Energie  fehlt 
in  der  Erörterung  der  Kausalität  bei  Schopenhauer  ganz  die  Kenntniss, 
dass  die  in  Folge  der  Auslösungsursache  auftretenden  sogenannten  Naturkräfte 
oder  Energien  Folgen  früher  aufgetretener,  jedoch  nicht  zur  Wirkung  ge- 
kommener, sondern  in  einem  Gleichgewichtszustand  verharrender  Ursachen 
sind,  dass  jedes  Auftreten  einer  solchen  Naturkraft  der  Uebergang  aus 
einem  Gleichgewichtszustand  in  einen  anderen  ist,  in  welchem  die  im 
Gleichgewicht  befindlichen  (potentiellen)  Ursachen  quantitativ  geringer  sind. 
Sehr  richtig  hat  dagegen  Schopenhauer  schon  hervorgehoben,  dass 
regelmässige  Succession  allein  keine  Kausalität  ist  (Bd.  I  pag.  87 — 88.)  Er 
lässt  jedoch  die  Frage  ganz  offen,  worin  wirkliche  Kausalität  von  regel- 
mässiger Succession  sich  unterscheide.  Diese  Untersuchung  würde  zur  Ueber- 
zeugung  geführt  haben,  dass  jene  Erkenntniss  nur  durch  das  Experiment, 
die  willkürliche  Veränderung  der  Bedingungen,  herbeizuführen  ist. 

Lotze  (1842)  betonte  sehr  richtig  die  stete  Vielheit  der  Ursachen 
(Bedingungen)  bei  jedem  Kausalvorgang;  dagegen  tritt  bei  ihm  das  kenn- 
zeichnende Moment  der  wirkenden  Ursache,  die  Zustandsänderung,  nicht 
genügend  hervor,  so  dass  er  nicht  diese,  sondern  die  Dinge  selbst,  als  die 
Ursachen  bezeichnet.  Neben  diesen  steht  daher  bei  ihm  die  Kraft,  das  hypo- 
thetisch in  den  Dingen  wirkend  Gedachte,  als  der  „Grund"  des  Wirkens 
der  beiden  Ursachen,  die  Naturkraft  Sc  hop  enh  auer's. 

Eine  scharfe  Unterscheidung  zwischen  wirkender  Ursache  und  bedingen- 
den Ursachen  (Bedingungen,  Umstände)  vermisst  man  in  den  Erörterungen 
über  kausale  Vorgänge  vielfach;  ebenso  fehlen  häufig  klare  Anschauungen  der 
Beziehungen  zwischen  einfachen  Ursachen  und  Auslösungsursachen  (Ver- 
anlassungen Bunge 's).  Beispielsweise  finde  ich  eine  Erörterung  über  den 
Kausalvorgang  bei  der  Bildung  von  Wasser  durch  die  Vereinigung  von 
Wasserstoff  und  Sauerstoff,  in  welcher  die  Zufuhr  von  Wasserstoff  zum 
Sauerstoff  (bei  genügender  Temperatur)  als  Ursache,  das  gebildete  Wasser 
dagegen  als  Wirkung  bezeichnet  wird.  Nun  ist  dieser  Vorgang  überhaupt 
kein  einfacher  Kausalvorgang  im  Sinne  des  Stosses  etwa ,  sondern  ein 
Auslösungsvorgang.  Sauerstoff  und  Wasserstoff  sind  zwei  chemisch-energe- 
tische Gleichgewichtszustände,  die  bei  Steigerung  der  Temperatur  auf  eine 
gewisse  Höhe  in  einen  neuen  Gleichgewichtszustand  übergehen,  den  des 
Wassers.     Bedingungsursachen    sind    einmal    die    beiden    Systeme  H  u.  O, 

Anmerkung  No.    10. 


—     62     - 

in  welchen  frühere  wirkende  Ursachen  im  Gleichgewicht  sich  finden,  wie 
in  dem  gehobenen  und  auf  einer  Unterlage  im  Gleichgewicht  ruhenden 
Gewicht.  Die  Steigerung  der  Temperatur  oder  der  Zusammentritt  (Be- 
wegung) ist  Auslösungsursache,  wie  der  seitliche  Stoss  auf  das  Gewicht. 
Folge  ist  Aufhebung  des  Gleichgewichtszustandes,  so  dass  die  im  Gleich- 
gewicht gewesenen  wirkenden  Ursachen  der  beiden  Systeme  ihre  Wirkung 
äussern  (Fall  des  Gewichts)  und  Folge  davon  neuer  Gleichgewichtszustand 
(neue  Ruhelage  des  gefallenen  Gewichts),  das  Sj-stem  Wasser. 

O.  Hertwig's  (1897)  Stellung  zu  dem  Kausalitätsproblem  scheint  mir 
einiger  Erörterungen  zu  bedürfen,  angesichts  der  hervorragenden  Bedeutung 
dieses  Biologen  und  des  Umstandes,  dass  er  mehrfach  das  vitalistisch- 
mechanistische  Problem  behandelte.  Hertwig  vertritt  die  Meinung,  dass 
eine  genaue  deskriptive  Beschreibung  der  Entwickelungsstadien  und  der 
formalen  Entwickelungsvorgänge  eines  Organismus  eine  kausale  Darstellung 
sei.  Ich  und  andere  versuchten  demgegenüber  schon  darzulegen,  dass  regel- 
mässige Aufeinanderfolge  als  solche  nicht  nothwendig  kausale  Abhängigkeit 
ist,  sondern  wie  Tag  und  Nacht,  der  Wechsel  der  Jahreszeiten  u.  s.  f.  von 
einem  dritten  kausal  bedingt  sein  kann.  Der  alte  Grundsatz,  dass  post  hoc 
nicht  propter  hoc  bedeutet,  ist  eben  bei  kausalen  Betrachtungen  vor  allem 
zu  beherzigen.  Dieselbe  Ansicht  vertritt  auch  H.  Buchner  (1898  pag.  4  ff.) 
Nach  ihm  (pag.  11)  „enthält  eine  genaue  Beschreibung  der  Succession  ja 
ohnehin  den  Kausalzusammenhang."  Die  von  ihm  angeführten  Beispiele, 
welche  diese  Anschauung  erweisen  sollen,  halte  ich  nicht  für  massgebend, 
sondern  gerade  für  solche,  z.  B.  das  Zusammentreffen  der  Häufigkeit  der 
Typhusvorkommnisse  mit  gewissen  Bewegungen  der  Grundwasserkurve, 
welche  kausal  von  einem  dritten  bedingt  sein  können,  ohne  jedoch  selbst  in 
kausaler  Abhängigkeit  zu  stehen. 

Hertwig  wirft  Roux  Unklarheit  vor,  weil  er  Ursache  gleich  Kraft 
setze.  Nun  ist  ja  richtig,  dass  sich  Roux  häufig  des  Kraftbegriffes  bedient, 
den  man  besser  ganz  eliminirt.  Dagegen  geht  doch  aus  R  o  u  x's  Darlegungen 
klar  hervor,  dass  ihm  Kraft  als  eine  Bezeichnung  für  ein  gewisses  gesetz- 
liches Geschehen,  eine  Wirkungsweise,  gilt,  und  dass  daher  die  Bezeichnung 
Kraft  bei  ihm  nichts  Unklares  und  Mystisches  hat.  Wenn  Hertwig  sich  auf 
Schopenhauer  und  Lotze  beruft,  indem  er  die  Gleichsetzung  von  Ursache 
und  Kraft  bei  Roux  tadelt,  so  übersieht  er,  dass  eben  für  Schoppen hauer 
gerade  die  Naturkräfte  das  sind,  was  den  Ursachen  erst  ihre  Wirksamkeit 
verleihe  (s.  oben),  und  dass  auch  bei  Lotze  die  Kraft  als  der  „Grund"  der  be- 
sonderen Wirkungsweise  der  Ursachen  figurirt.  Wie  gesagt,  vertrete  ich  ja  die 
Meinung,  dass  der  überflüssige  Begriff  der  Kraft  am  besten  ganz  ver- 
mieden würde.  Wenn  aber  etwas  geschieht,  so  muss  es  in  einer  gewissen 
gesetzlichen  Weise  geschehen,  und  da  jedes  Geschehen  durch  vorhergehen- 
des Geschehen  bedingt  wird,  so  ist  für  die  vollständige  kausale  Erkenntniss 
eines  Geschehens  dasjenige  Geschehen,  von  welchem  es  abhängt,  von  be- 
sonderer Bedeutung;  die  bedingenden  Ursachen,  d.  h.  die  sonstigen  Be- 
dingungen   allein    geben    keine    vollständige   Darstellung    der  Abhängigkeit. 

Anmerkung  No.    10. 


—     63 

Auf  die  Ermittelung  dieses  Geschehens  (Wirkungsweise),  von  welchem  das 
einzelne  Entwickelungsgeschehen,  resp.  auch  die  einzelnen  Entwickelungs- 
stadien  als  formale  Gleichgewichtszustände  abhängen,  ist  jedoch  Roux's 
Bestreben  gerichtet.  Wenn  er  von  „gestaltenden  Kräften"  im  Entwicklungs- 
leben spricht,  gegen  die  sich  H  e  r  t  w  i  g  besonders  lebhaft  wendet,  so  ist 
nicht  zu  verkennen,  dass  Roux's  Darstellung  leicht  zu  Missdeutungen  Ver- 
anlassung gibt ;  da  mit  dieser  Bezeichnung  die  Vorstellung  verbunden  wer- 
den kann,  als  beabsichtige  R.  nach  Analogie  der  alten  Lebenskraft  einfache 
hypothetische  Ursachen  einzuführen  für  die  Erklärung  der  Gestaltbildung 
im  Entwickelungsleben  Da  er  jedoch  bestimmt  erklärt,  dass  diese  „ge- 
staltenden Kräfte"  als  komplexe  Komponenten  zu  betrachten  seien,  d.h.  als 
die  Gesammtheit  der  Bedingungen  und  Ursachen,  von  welchen  die  Bildung 
einer  gewissen  Form  oder  des  Theils  einer  gewissen  Form  abhängt,  so  lässt 
sich  gegen  eine  solche  Auffassung  nichts  Entscheidendes  einwenden;  wenn 
ich  auch  zweifle,    ob  damit  etwas  Wesentliches  gewonnen  wird. 

O.  HertwTig's  Anschauungen  über  kausale  Abhängigkeit  scheinen 
noch  in  anderer  Hinsicht  angreifbar.  So  bemerkt  er  pag.  36:  „Ist  nicht 
kausal  die  Erkenntniss,  dass  die  Eier  und  Samenfäden  einfache  Elementar- 
organismen oder  Zellen  sind?"  Nein,  diese  Erkenntniss  ist  nicht  kausal, 
sondern  besagt,  dass  jene  Körper  denjenigen,  welche  man  unter  dem 
Begriffe  der  Elementarorganismen  oder  Zellen  zusammenfasst,  so  ähnlich 
sind,  dass  sie  diesem  Begriff  untergeordnet  zu  werden  verdienen.  Man 
kann  hier  von  einem  logischen  Grund  oder  einer  logischen  Nothwendigkeit 
reden,  welche  zu  dieser  Erkenntniss  führen ;  kausale  Abhängigkeit  dagegen 
liegt  ebensowenig  vor,  als  wenn  ich  urtheile:  diese  geometrische  Figur  ist 
ein  Dreieck ! 

Nicht  wesentlich  anders  liegt  Hertwig's  zweite  Frage:  ob  es  nicht 
kausal  sei,  dass  der  Entwickelungsprozess  auf  fortgesetzter  Zelltheilung  be- 
ruhe? Auch  hier  zielt  schon  die  Fragestellung  nicht  auf  kausale  Abhängig- 
keit hin.  Die  Eizelle  zerfällt  successiv  in  mehrere  Zellen;  diese  von  anderen 
Zellen  bekannte  Erscheinung  fasse  ich  unter  dem  Begriff  der  Zelltheilung 
zusammen,  und  in  derselben  Weise  wie  vorhin  urtheile  ich  daher,  dass  auch 
der  Zerfall  der  Eizelle  unter  den  Begriff  der  Zelltheilung  gehöre.  Diese 
Erkenntniss  ist  eine  wichtige  und  vereinfachende  Umgestaltung  meines 
Wissens,  aber  nur  insofern  etwa  auf  Kausalität  hinweisend,  d.  h.  auf  Ab- 
hängigkeit von  vorhergehenden  Veränderungen,  als  ich  nun  auch  behaupten 
darf,  dass  die  kausalen  Bedingungen  der  Zelltheilung  auch  für  die  Theilungen 
der  Eizelle  gelten  werden.  Kenntniss  der  kausalen  Abhängigkeit  erlange 
ich  jedoch  erst  dann,  wenn  ich  nachweise,  von  welchen  wirkenden  Ur- 
sachen und  von  welchen  Bedingungen  die  Zelltheilung  überhaupt  abhängt. 
Ein  wesentliches  Moment  kausaler  Abhängigkeiten  ist  stets  die  Succession 
in  der  Zeit,  ein  Moment,  das  den  beiden  von  H  e  r  t  w  i  g  angeführten  Beispielen 
mangelt;    schon  aus  diesem  Grund  sind  sie   keine  Beispiele  von  Kausalität. 

Man  kann  nun  aber  sagen,  die  Theilungen  der  Eizellen  folgen  ja  in 
der  Zeit  aufeinander    und   jedes  Stadium    ist  Ursache  des    folgenden.     Das 

Anmerkung  No.   10. 


64 

erste  ist  richtig,  das  zweite  dagegen  nicht.  —  Richtig  ist  nur,  dass  jedes 
vorhergehende  Stadium  sammt  den  umgebenden  Bedingungen  die  sämmt- 
lichen  Bedingungen  und  Ursachen  für  das  folgende  Stadium  enthalten 
muss.  Habe  ich  einen  Stab,  der  durch  irgend  welche  äussere  Einwirkung 
successive  in  2,  4  u.  s.  f.  Stücke  zerbrochen  wird,  so  kann  ich  nicht  sagen: 
der  ungetheilte  Stab  ist  die  Ursache  der  beiden  Stücke  u.  s.  f.  Der  Stab 
bildet  einen  Theil  der  Bedingungen  und  wirkenden  Ursachen,  seine  Um- 
gebung den  übrigen  Theil,  und  das  Ergebniss  ist  der  neue  Zustand,  in  dem 
der  Stab  nun  zweigetheilt  ist.  Die  vornehmste  wirkende  Ursache,  welche 
in  diesen  Bedingungungskomplex  eintritt,  gehört  hier  örtlich  nicht  dem 
Stab,  sondern  der  Umgebung  an  (z.  B.  Stoss  eines  Körpers  der  Umgebung 
auf  den  Stab).  Bei  der  Theilung  der  Eizelle  ist  dies  insofern  anders,  als 
hier  diese  vornehmste  wirkende  Ursache  dem  Bedingungskomplex  der  Zelle 
örtlich  zugehört.  Im  Uebrigen  lassen  sich  die  beiden  Fälle  wohl  vergleichen 
und  dabei  erkennen,  dass  ich  nicht  kausales  Verständniss  erziele,  wenn  ich  den 
Stab  als  die  Ursache  der  beiden  Theilstücke  bezeichne  oder  die  Eizelle  als 
die  Ursache  ihrer  beiden  Theilzellen,  sondern  erst  dann,  wenn  ich  den  ge- 
sammten  Komplex  der  bedingenden  und  wirkenden  Ursachen  nachweise; 
oder,  da  dies  schwerlich  jemals  vollständig  zu  erreichen  ist,  wenigstens  die 
vornehmste  wirkende  Ursache  (analog  dem  Stoss,  der  den  Stab  zerbricht) 
aufzuweisen  im  Stande  bin.  Denn  die  Gesammtheit  der  Bedingungen  zu  er- 
mitteln ist  bei  natürlichen  Vorgängen  wohl  niemals  zu  erreichen.  Auch  Roux 
(1897  pag.  33)  bemerkt  bei  Besprechung  der  Hert w ig' sehen  Einwände 
einmal,  dass  die  Aufeinanderfolge  der  Stadien  „bereits  kausale  Erkenntniss 
darstellt,  da  jedes  frühere  Stadium  die  Ursache  der  folgenden  ist.  Das  be- 
streitet wohl  Niemand."  Dieser  Ausspruch  kann  nach  den  sonstigen  Dar- 
legungen Roux's  nicht  als  korrekt  bezeichnet,  sondern  nur  in  dem  Sinne 
aufgefasst  werden,  dass  die  eigentlich  wirkenden  Ursachen,  welche  die 
Veränderung  zum  nächsten  Stadium  bedingen,  in  dem  Bedingungskomplex 
des  vorgehenden  gegeben  sind. 

Kurze  Erwähnung  verdienen  hier  noch  die  Form  und  Differenzirung, 
welche  ja  biologisch  eine  so  grosse  Rolle  spielen,  da  z.  B.  Hertwig 
Form  und  Differenzirung  des  Eies  unter  die  Ursachen  rechnet  (pag.  178). 
Form  und  Differenzirung  als  Gleichgewichtszustände  können  naturgemäss 
nie  wirkende  Ursachen  sein;  sie  treten  als  bedingende  Ursachen  in  die 
kausale  Abhängigkeit  ein.  In  dem  formal  ungemein  komplizirten  Organis- 
mus sind  daher  auch  die  Bedingungsursachen,  gegenüber  dem  Einzel- 
geschehen in  der  anorganischen  Welt,  ungemein  komplizirt,  während  die 
wirkenden  Ursachen   verhältnissmässig  einfacher  Natur  sein  können. 

11)  (zu  pag.  15).  Meine  Auffassung  des  „Erklären"  habe  ich  schon 
1896  auf  Grund  dessen,  was  man  von  jeher  als  befriedigende  naturwissen- 
schaftliche Erklärungen  betrachtete,  dargelegt.  Eine  Erscheinung  erklären, 
ist  ihre  Ableitung,  Rückführung  oder  ihre  Unterordnung  unter  eine  empirisch 
bekannte  allgemeinere  Erscheinung  oder  Gesetzlichkeit.  In  dieser  Auf- 
fassung   begegne    ich     mich,    wie    ich    nachträglich    sehe,    mit    verwandten 

Anmerkung  No.   10 — 11. 


65     — 

Anschauungen.  So  sagt  z.B.  schon  S  ig  wart:  Erklärung  ist  „die  Ableitung 
eines  thatsächlich  feststehenden,  durch  unmittelbare  Wahrnehmung  ge- 
wonnenen Satzes  aus  einem  allgemein  gültigen  Obersatz";  hieraus  folge 
denn  auch,  dass  alle  Erklärung  ihrem  Wesen  nach  Deduktion  sei.  Auch 
Cornelius  verwirft  den  Begriff  des  Erklärens  nicht,  der  nach  ihm  die 
Einordnung  einer  Wahrnehmung  unter  einen  Begriff  nach  dem  sogenannten 
Oekonomieprinzip  von  Avenarius  und  Mach  bedeutet.  Im  Grunde  ist 
das  ganz  dasselbe,  was  ich  als  Erklärung  bezeichnete,  nämlich  die  Einord- 
nung einer  Wahrnehmung  (Erfahrung),  ebenso  jedoch  auch  eines  empirischen 
Begriffs  unter  einen  anderen  umfassenderen.  Dieser  Begriff,  unter  welchen 
das  zu  Erklärende  eingeordnet  wird,  darf  jedoch,  wenn  damit  wirklich  eine 
ökonomische  Vereinfachung  unseres  Wissens,  ein  Erklären  oder  Begreifen, 
erreicht  werden  soll,  kein  willkürlich  definirter  oder  erfundener  sein,  nicht 
ein  Begriff,  welchem  das  zu  Erklärende  oder  Begreifende  willkürlich  als 
Definition  zugeschrieben  wird ,  sondern  ein  erfahrungsgemässer  oder  em- 
pirisch gegebener  Begriff.  Denn  zu  begreifen  vermag  ich  nur,  wenn  die 
Ableitung  des  zu  Begreifenden  aus  dem  Oberbegriff  nicht  nur  eine  willkürlich 
herbeigeführte  logische  Nothwendigkeit  ist ,  sondern  eine  empirisch  ge- 
gebene, insofern  eben  dieser  Oberbegriff  ein  empirisch  gegebener  und  als 
solcher  sich  zwingend  aufdrängender,  nicht  zu  umgehender  und  nicht 
willkürlich  konstruirter  ist.  Aus  dem  Dargelegten  folgt  auch,  dass  ich 
Denjenigen  nicht  zuzustimmen  vermag,  welche  den  Begriff  „Erklären" 
wegen  „seiner  Dunkelheit"  möglichst  vermeiden  wollen,  wie  z.  B.  P.  Du- 
bois-Reymond  (1890),  der  jedoch  schon  richtig  erkannte,  dass 
Kirchhoff  den  Begriff  „Beschreiben"  in  einer  von  der  üblichen  wesentlich 
verschiedenen  Weise  definirte  und  so  zu  seiner  bekannten  Forderung  ge- 
langte. Dagegen  kann  ich  nicht  einsehen,  dass  das,  was  Dubois  an  Stelle 
des  Kir  chh  of  f'schen  „Beschreibens"  setzen  will,  nämlich:  „die  Synthese 
oder  die  Konstruktion  des  Erscheinungsgebietes  aus  einfachsten  Mechanismen", 
sich  empfehle.  Hierin  liegt  doch  schon  die  keineswegs  gerechtfertigte 
Voraussetzung,  dass  eine  solche  Konstruktion  aus  einfachsten  Mechanismen 
allgemein  möglich  sei,  oder  selbst,  wenn  möglich,  zum  Begreifen  des  Er- 
scheinungsgebietes wesentlich  beitrage,  was  keineswegs  der  Fall  ist.  De- 
duktion aus  allgemeinsten  oder  allgemeineren  Erfahrungen  besagt  ganz  das 
Gleiche  und  ist  eben  das,  was  man  als  Begreifen  oder  Erklären  bezeichnete; 
abgesehen  natürlich  von  sog.  Scheinerklärungen  mit  Hilfe  von  Umschreibungs- 
hypothesen oder  Umschreibungsbegriffen,  die  nichts  erklären.  Auch  Driesch 
(1894)  will  den  Begriff  „Erklären"  vermeiden,  obgleich  er  mit  Dubois 
die  besondere  Natur  des  Kirchhoff'schen  Beschreibens  richtig  bemerkte. 
Ebenso  erörterte  Roux  (1897  p.  46)  das  Kirchhoff'sche  Beschreiben  in 
seiner  Abweichung  von  dem  gewöhnlichen  Begriff  des  Beschreibens  richtig 
und  fügt  treffend  zu:  „Herr  K.  hat  wohl  nicht  geahnt,  was  sein  Ausspruch 
über  die  ,vollständige  und  möglichst  einfache  Beschreibung'  ....  für  Ver- 
wirrung anrichten  würde".  Er  bemerkte  dies  namentlich  im  Hinblick  auf  O. 
Hertwig,  welcher  aus  der  Kirchhoff'schen  Forderung  abzuleiten  suchte, 

Bütschli,    Mechanismus  und  Vitalismus.  5 

Anmerkung  No.    11. 


—     66     — 

dass  eine  vollständige  und  einfachste  Beschreibung  der  thatsächlich  zu  be- 
obachtenden, successiven  Entwickelungsstadien  eine  kausale  Beschreibung 
sei  im  Sinne  Kirchhoff 's.  Dass  eine  solche  Ansicht  nicht  zutrifft, 
führten  auch  Roux  und  Driesch  aus.  Schon  in  der  Anmerkung 
No.  8  p.  61  wurde  zu  zeigen  versucht,  dass  diese  Ansicht  Hertwig's 
unhaltbar  ist.  Wenn  H  e  r  t  w  i  g  meint,  dass  bei  der  Planetenbewegung 
jeder  vorhergehende  Zustand  des  Planetensystems  die  Ursache  des  folgen- 
den sei,  dass  daher  für  die  vollständige  und  einfachste  Beschreibung  der 
Planetenbewegung  die  Kenntniss  der  Kepler 'sehen  Gesetze  genüge,  so 
übersieht  er,  dass  dies  zwar  richtig,  insofern  ich  eben  die  von  Newton 
aufgestellten  beiden  wirkenden  Ursachen  der  Planetenbewegung,  die  trans- 
latorische und  die  Gravitations  -  Bewegung,  als  die  in  jedem  Moment 
wirkenden  ausser  den  übrigen  Bedingungen  kenne;  dass  dies  jedoch 
nicht  zutrifft,  wenn  ich  nur  die  formalen  Veränderungen  kenne,  die  von 
Moment  zu  Moment  statthaben,  wie  sie  die  Kepler'schen  Gesetze  angeben. 
Die  beschreibende  Entwickelungsgeschichte  liefert  eben  eine  Darstellung 
der  formalen  Aenderungen,  gibt  dagegen  keinen  Aufschluss  über  die  wirken- 
den Ursachen  oder  Bedingungen,  von  welchen  diese  Aenderungen  ab- 
hängen; sie  vermag  desshalb  auch  eine  eigentlich  kausale  Beschreibung, 
wie  sie  Kirchhof  im  Sinne  hatte,  nicht  zu  geben. 

Wenn  ich  bei  dieser  Gelegenheit  mir  erlauben  darf,  über  die  Kirch- 
hoff'sehe  Forderung,  welche  sich  zunächst  auf  mechanische  Bewegungen 
bezog,  etwas  zu  bemerken,  so  wäre  es  Folgendes.  Kirchhoff  hatte  sehr 
wohl  gefühlt,  dass  der  Begriff  der  ,, Kraft"  als  Ursache  der  Bewegung  un- 
klar oder  eigentlich  nichts  erklärend  ist;  unrichtig  ist  es  jedoch,  wenn  er 
meint:  „dass  der  Begriff  der  Ursache  und  des  Strebens  sich  von  solchen 
Unklarheiten  nicht  befreien  Hesse".  Für  die  realen  oder  empirischen  Ur- 
sachen gilt  dies  nicht.  Desshalb  fordert  K.,  dass  die  Mechanik,  „die  in  der 
Natur  vor  sich  gehenden  Bewegungen  beschreiben  und  zwar  vollständig 
und  auf  die  einfachste  Weise  beschreiben  solle".  In  dieser  Forderung 
scheinen  mir  jedoch  selbst  zwei  Dunkelheiten  enthalten  zu  sein,  nämlich 
dass  die  Beschreibung  „vollständig  und  auf  die  einfachste  Weise"  geschehen 
soll.  Beides  scheint  mir  nicht  klar  definirbar  zu  sein,  und  besonders  unter 
dem  vollständig  verbirgt  sich  meiner  Meinung  nach  die  Forderung  der 
kausalen  Beschreibung,  d.  h.  die  Forderung,  dass  die  einzelnen  successiven 
Glieder  der  Beschreibung  nothwendig  auseinander  folgen.  Die  Forderung 
der  Einfachheit  dagegen  wäre  die  alte  Newton'sche,  dass  nicht  mehr  An- 
nahmen gemacht  werden  sollen,  als  durchaus  nothwendig.  Kirch  ho  ff 
fordert  einfache  Beschreibung  und  geht  dann  sofort  zur  Betrachtung  der 
Bewegung  des  „unendlich  kleinen  Körpers",  des  „materiellen  Punktes",  über. 
Ob  man  jedoch  eine  solche  Betrachtung  überhaupt  das  Recht  hat,  eine  Be- 
schreibung zu  nennen,  scheint  mir  doch  sehr  zweifelhaft. 

Ich  finde  nachträglich,  dass  auch  schon  der  Physiker  O.  Wiener 
(1900,  pag.  42—43)  sich  in  ganz  ähnlicher  Weise,  wie  ich  und  Andere,  gegen 
Kirchhoff's    Anwendung     des     Begriffes    „Beschreiben"     aussprach.      Ich 

Anmerkung  No.    11. 


67     — 

entnehme  seiner  Bemerkung  ferner,  dass  auch  O.  Holder  („Anschauung  und 
Denken  in  der  Geometrie",  Leipzig  1899  pag.  71)  Entsprechendes  äusserte. 
Auch  Mac  h's  (1900)  Standpunkt  in  der  Beschreibungsangelegenheit  scheint 
mir  nicht  zutreffend.  Er  sagt  pag.  210:  „Unbefangene  Ueberlegung  lehrt  aber, 
dass  jedes  praktische  und  intellektuelle  Bedürfniss  befriedigt  ist,  sobald  unsere 
Gedanken  die  sinnlichen  Thatsachen  vollständig  nachzubilden  vermögen." 
Er  führt  dies  an  dem  Beispiel  des  Erdbebens  näher  aus,  über  das  wir 
vollständig  unterrichtet  wären,  wenn  wir  die  dabei  auftretenden  sinnlichen 
Erscheinungen  in  Gedanken  uns  vorführen  könnten.  Diese  Argumentation 
halte  ich,  wie  gesagt,  nicht  für  zutreffend,  indem  dabei  das  Warum  oder  die 
kausale  Beschreibung  ganz  mangelt.  Wir  sind  über  das  Erdbeben  erst  dann 
vollständig  unterrichtet,  wenn  wir  wissen,  mit  welchen  Erscheinungen  der 
Erde  es  in  gesetzlicher  Abhängigkeit  steht;  wenn  wir  uns  nicht  nur  die  sinn- 
lichen Erscheinungen  des  Erdbeben  in  Gedanken  vorführen  können,  sondern 
auch  diejenigen  sinnlichen  Erscheinungen,  von  denen  das  Erdbeben  als  Folge- 
erscheinung abhängt,  und  wenn  wir  überhaupt  alle  bei  dem  Erdbeben  auf- 
tretenden sinnlichen  Erscheinungen  als  Glieder  mit  vorausgehenden  Gliedern 
in  Abhängigkeit  bringen  können. 

In  seiner  Wärmelehre  (1896)  spricht  sich  Mach  schon  ähnlich  aus.  Da 
er  sich  hauptsächlich  gegen  solche  Erklärungen  Avendet,  die  Umschreibungs- 
hypothesen zur  Grundlage  haben,  wie  Wärmestoff,  Elektrizitäts- 
stoff etc.,  so  fällt  es  ihm  leicht  zu  zeigen,  dass  derartige  Erklärungen 
nicht  mehr  enthalten  wie  die  Thatsachen.  Der  Unterschied  zwischen  Be- 
schreibung im  gewöhnlichen  Sinne  und  kausaler  Beschreibung  (Erklärung) 
tritt  auch  an  diesem  Ort  nicht  hervor.  Die  einfache  Beschreibung  gilt 
Mach  als  „klar",  während  ich  meine,  dass  Widerspruchslosigkeit  das  Kri- 
terrium  von  „klar"  ist.  Auch  wendet  er  sich  gegen  die  Meinung,  dass  bei 
der  gewöhnlichen  Beschreibung  die  Glieder  nicht  nothwendig  auseinander 
folgten,  während  dies  bei  der  Erklärung  oder  kausalen  Beschreibung  der 
Fall  sei.  Er  sucht  zu  zeigen,  dass  es  keine  physikalische  Notwendigkeit 
gebe,  sondern  nur  eine  logische.  Mir  scheint  dies  nicht  zutreffend.  Jeder 
Schluss  aus  gewissen  Praemissen  ist  natürlich  ein  logisch  notwendiger, 
wenn  er  den  logischen  Regeln  nicht  widerspricht.  Was  zwingt  mich  jedoch 
die  Praemissen  so  zu  nehmen,  dass  mit  logischer  Nothwendigkeit  daraus  ein 
richtiger,  d.  h.ein  der  Erfahrung  nicht  widersprechender  Schluss  folgt  (vor- 
ausgesetzt natürlich,  dass  ich  diese  Praemissen  nicht  einfach  logisch  und 
willkürlich  so  annehme,  dass  der  gewünschte  Schluss  resultiren  muss)?  Die 
Wahl  der  richtigen  Praemissen  ist  keine  logische  Nothwendigkeit,  sondern 
Erfahrung  oder  physikalische  Nothwendigkeit.  Die  kausale  Beschreibung 
deducirt  mit  logischer  Nothwendigkeit  aus  physikalischer. 

Mit  dem  vorstehend  über  den  Begriff  der  Erklärung  Bemerkten  ist 
jedoch  der  Gegenstand  noch  nicht  erschöpft.  Häufig  kann  nämlich  der  Fall 
auch  so  liegen,  dass  es  sich  bei  dem  zu  Erklärenden  nicht  um  die  Erkenn- 
ung der  wirkenden  Ursachen  eines  Vorganges  handelt,  sondern  um  die  der 
Bedingungen,   deren  genaue  Präzision  fehlt.     Es  kann  ja  der  Fall  so  liegen 

Anmerkung  No.   11.  -5* 


68     — 

und  liegt  häufig  genug  so,  dass  mir  die  wirkende  Ursache  eines  Vorganges 
bekannt  ist,  die  Bedingungen  dagegen  nicht.  Betrachten  wir  einen  einfachen 
Fall;  ich  stosse  gegen  einen  Gegenstand  und  sehe,  dass  derselbe  in  zwei 
Theile  auseinanderfällt.  Die  genauere  Untersuchung  zeigt  mir  dann,  dass 
der  Gegenstand  einen  Sprung  besass  oder  dass  er  überhaupt  aus  zwei  ge- 
trennten Theilen  zusammengefügt  war.  Hier  handelt  es  sich  also  um  die 
Aufklärung  einer  Bedingung  für  die  kausale  Beschreibung  oder  Erklärung 
des  Vorganges,  eines  Bedingenden,  nicht  dagegen  einer  wirkenden  Ursache. 
Wie  in  dem  vorausgesetzten  Falle  wird  die  Bedingung  meist  formaler  Natur  sein, 
im  weiteren  Sinne  sich  als  eine  Form-  oder  Struktureigenthümlichkeit  ergeben. 
Gerade  derartige  Erklärungen  müssen  jedoch  in  der  Organismenwelt,  wo 
Form  und  Struktur  so  hochgradig  gesteigert  sind,  eine  besondere  Rolle 
spielen.  Aber  auch  auf  dem  anorganischen  Gebiet  haben  solche  Erklärungen 
weiteste  Bedeutung.  Fragen  wir  z.  B.,  warum  ein  Krystall  in  bestimmten 
Richtungen  spaltet,  so  kann  es  sich  bei  der  Erklärung  auch  nur  um  die  Fest- 
stellung einer  solchen,  im  weiteren  Sinne  strukturellen  Bedingung  handeln. 
Fragen  wir,  warum  ein  gedehnter  Kautschukstreif  sich  bei  Erhöhung  der 
Temperatur  zusammenzieht,  so  gilt  auch  hier  wieder  dasselbe.  Fragen  wir, 
warum  eine  emulsive  Flüssigkeit  trübe  und  undurchsichtig  erscheint,  so  finden 
wir  strukturelle  Verhältnisse  als  bedingende  Ursache.  Eine  sehr  grosse 
Zahl  von  Eigenschaften  finden,  oder  werden  ihre  Erklärung  in  solchen  struk- 
turellen formalen  Bedingungen  finden,  wie  bei  der  Erwähnung  der  Struk- 
turen (s.  pag.  73)  noch  genauer  auszuführen  sein  wird. 

Eine  mit  der  meinigen  übereinstimmende  Auffassung  des  Begriffes 
„Erklären"  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiet  gab  vor  Kurzem  auch 
J.  Classen  mit  folgenden  Worten  (1901  pag.  6):  „Nun  kann  aber,  einen 
Vorgang  erklären,  niemals  etwas  anderes  heissen ,  als  ihn  zurückführen 
auf  einen  anderen,  einfacheren,  den  wir  schon  kennen,  oder  als  bekannt 
voraussetzen  (?  B.)  oder  den  wir  schon  erklärt  haben,  oder  dessen  weitere  Er- 
klärung wir  in  einen  anderen  Zweig  der  Wissenschaft  verweisen." 

12)  (zu  pag.  16).  Vergleiche  über  diese  Frage  auch  die  treffende, 
besonders  gegen  Baur  (1898),  der  ähnliche  Anschauungen  vertrat,  gerichtete 
Kritik  Albrech t's  (1899  pag.  73-76). 

13)  (zu  pag.  18).  Ueber  die  Bedeutung  des  Experiments  für  die  kausal- 
biologische Forschung  wurde  in  letzterer  Zeit  viel  gestritten.  So  schrieb 
O.  Hertwig  im  Gegensatz  zu  Roux  dem  Experiment  auf  dem  Gebiete 
der  Entwickelungsgeschichte  eine  sehr  geringe  Bedeutung,  wenn  überhaupt 
eine,  zu.  Er  würdigte  dabei  jedoch  das  Experiment  nur  von  der  Seite  des 
zufälligen  Probirens,  der  Bewirkung  zufälliger  neuer  Bedingungskombinationen, 
dagegen  nicht  von  der  Seite  des  planvollen  Ermitteins  der  noth wendigen 
Bedingungen  und  Abhängigkeiten  einer  Erscheinung.  Die  Experimente 
lassen  sich  in  zwei  Kategorien  sondern,  von  welchen  die  erste  diejenigen 
umfasst,  welche  man  als  Zufallsexperim  ente  bezeichnen  kann,  nämlich 
die  Herbeiführung,  resp.  Entdeckung  irgend  welcher,  seither  unbekannter  That- 
sachen  durch  probirendes  (d.  h.  ohne  bewusste  Voraussicht  des  Ergebnisses 

Anmerkung  No.   11 — 13. 


—     69     — 

geschehendes)  Kombiniren  von  Bedingungen.  Hierher  gehörte  z.  B.  die  Ent- 
deckung des  Phosphors  u.  s.  f.  Die  zweite  Kategorie  liesse  sich  als  die  der 
Eliminationsexperimente  bezeichnen.  Bei  diesen  handelt  es  sich  darum, 
durch  planvolles  Experimentiren  zu  ermitteln,  von  welchen  der  mehrfachen 
Bedingungen  eine  Erscheinung  wirklich  abhängt,  und  welche  dieser  Beding- 
ungen weiterhin  die  wirkende  Ursache  ist.  Diese  Ermittelung  geschieht  ent- 
weder durch  Ausschaltung  der  einzelnen  manigfaltigen  Bedingungen  aus 
dem  Komplex,  oder  durch  Intensitätsvariirung  einzelner  derselben  und  der 
Beobachtung  ihres  Einflusses  auf  die  zu  erforschende  Erscheinung.  Beispiel 
wäre  also  etwa  die  Feststellung,  dass  das  Nichtherabfallen  des  Quecksilbers 
in  der  Barometerröhre  direkt  abhängt  von  dem  Druck  der  Atmosphäre. 
Nur  als  eine  Unterabtheilung  des  Eliminationsexperiments  wäre  der  Versuch 
anzusehen,  den  man  als  das  Verifikationsexperiment  bezeichnen 
kann,  d.  h.  ein  Experiment,  bei  welchem  der  Experimentator  von  einer  be- 
stimmten hypothetischen  Vorstellung  über  die  direkte  Abhängigkeit  einer 
Erscheinung  von  einer  anderen  ausgeht,  und  hieraus  auf  Ergebnisse  schliesst, 
welche  unter  bestimmten  Bedingungen  eintreten  müssen,  wenn  die  gemachte 
Voraussetzung  richtig  ist.  Der  Ausfall  des  Experiments,  resp.  der  Experi- 
mente, entscheidet  daher  für  oder  gegen  die  Voraussetzung.  Beispiel  hiefür 
wäre  das  Experiment,  auf  Grund  gewisser  hypothetischer  Vorstellungen 
eine  chemische  Verbindung  synthetisch  darzustellen  u.  s.  f. 

Obgleich  ich  schon  früher  (1896,  1897)  die  von  Roux,  Driesch  und 
Anderen  so  hoch  gewerthete  Bedeutung  des  biologischen,  insbesondere  des 
ontogenetischen  Experiments,  anerkannte,  blieb  ich  doch  immer  etwas  im 
Zweifel,  ob  es  möglich  ist,  damit  die  wirkenden  Ursachen  oder  Energien  fest- 
zustellen, welche  die  Entwickelung  bedingen;  was  doch  nach  Roux  die 
Aufgabe  der  Entwickelungsmechanik  ist.  Roux  unterscheidet  (1897  pag.  278) 
zwischen  dem  „kausal-analytischen  morphologischen"  Experiment  und  dem 
„formal-analytischen".  „Das  Wesen  des  kausal-analytischen  morphologischen 
Versuchs  besteht  darin",  sagt  er,  „dass  eine  einfache  oder  komplexe  ursäch- 
liche Komponente  (oder  auch  eine  eng  verknüpfte  ganze  Gruppe  solcher 
Komponenten)  des  organischen  Gestaltungsgeschehens  verändert  wird,  und 
dass  wir  einerseits  sowohl  die  dadurch  bewirkte  Abänderung  des  normalen 
Gestaltungsgeschehens  vollständig  beobachten,  wie  andererseits  auch  die 
von  uns  abgeänderten  ursächlichen  Komponenten  wenigstens  soweit  ermitteln, 
um  die  Aenderung  der  Gestaltung  auf  diese  Ursachen  beziehen  zu  können."  Zu 
diesen  „kausal-analytischen  morphologischen"  Experimenten  rechnet  Roux 
vor  allem  die  Versuche  über  die  Wegnahme  oder  Tödtung  einzelner 
Blastomeren  des  sich  entwickelnden  Eies. 

Das  formal-analytische  Experiment  dagegen  ist  nach  Roux  der 
Versuch,  welcher  nur  die  finale  Reaktion  auf  gewisse  experimentelle 
Einwirkungen  festzustellen  sucht,  ohne  Frage  nach  den  Ursachen.  Hierher 
werden  z.  B.  die  Regenerationsversuche  an  erwachsenen  Organismen  gestellt. 

Nun  scheint  mir,  dass  der  Gegensatz  dieser  beiden  Arten  von  Experi- 
menten kein  prinzipieller  ist.     Wenn  ich  eine  oder    einige  Blastomeren    des 

Anmerkung  No.    13. 


—     70     — 

sich  entwickelnden  Eies  wegnehme,  so  führe  ich  prinzipiell  dasselbe  aus, 
als  wenn  ich  von  dem  entwickelten  Organismus  einen  Theil  wegnehme. 
Im  ersteren  Fall  studire  ich  die  mögliche  ontogenetische  Regeneration,  im 
zweiten  die  des  entwickelten  Organismus.  Wenn  ich  im  Zweizellenstadium 
die  eine  Blastomere  entferne  und  es  tritt  hierauf,  unter  sonst  gleichen  Be- 
dingungen, einmal  Entwickelung  zu  einem  ganzen  Embryo,  bei  einer  anderen 
Form  solche  zu  einem  halben,  und  bei  einer  dritten  Form  gar  keine  Ent- 
wickelung  ein,  so  lehrt  dies,  dass  bei  der  ersten  Form  die  Gegenwart 
der  weggenommenen  Blastomere  eine  Bedingung  für  die  Entwickelung  der 
anderen  zu  einem  halben  Embryo  war,  und  dass  ferner  die  isolirte  zweite 
Furchungskugel  das  Vermögen  besitzt,  sich  so  umzugestalten,  dass  in  ihr 
(abgesehen  von  dem  Volum)  wieder  die  Bedingungen  des  ungefurchten  Eies 
eintreten  (beziehungsweise  kann  diese  Umgestaltung  zu  einer  normalen 
Entwicklungsstufe  auch  erst  später  eintreten).  Bei  der  zweiten  Form  finden 
wir,  dass  die  zweite  Blastomere  keine  Bedingung  für  die  Entwickelung  der 
anderen  zu  einem  halben  Embryo  bildet,  und  dass  sie  das  Vermögen  der 
sog.  Reparation  (Driesch)  nicht  besitzt.  Bei  der  dritten  Form  endlich 
würde  die  zweite  Blastomere  überhaupt  nothwendige  Bedingung  für  die 
Weiterentwickelung  sein. 

Schneide  ich  einem  Triton  ein  Bein  ab,  so  erscheint  mir  im  Prinzip 
die  Betrachtung  ganz  dieselbe,  wie  in  dem  eben  erörterten  Fall.  Wir  er- 
fahren aus  dem  Ergebniss,  dass  das  Bein  Bedingung  dafür  war,  dass  keine 
weiteren  Entwickelungsprozesse  an  dem  übrigen  Körper  stattfanden  und 
ferner,  dass  dieser  nach  Wegnahme  des  Beins  das  Vermögen  besitzt,  sich 
so  umzugestalten,  dass  wieder  ähnliche  Bedingungen  eintreten,  wie  sie  vor 
Entwickelung  des  Beins  bestanden,  und  demgemäss  ein  neuer  Entwickelungs- 
prozess  anhebt. 

Noch  klarer  werden  uns  diese  Verhältnisse,  wenn  wir  uns  erinnern, 
dass  jede  Form,  die  ausgebildete  sowohl  als  jedes  Entwickelungsstadium, 
ein  Gleichgewichtszustand  ist  und  dass  die  Wegnahme  eines  Theils  einer 
solchen  Form  stets  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  Störung  dieses  Gleich- 
gewichts aufzufassen  ist.  Daraus  folgt  auch,  dass  die  Wegnahme  nie  als 
eine  wirkende  Ursache  aufgefasst  werden  kann,  sondern  nur  als  eine 
veränderte  Bedingung.  Von  den  nun  gegebenen  Gesammtbedingungen  des 
restirenden  Systems  wird  es  abhängen,  ob  es  im  Gleichgewicht  ver- 
harren kann,  etwa  wie  ein  fester  Körper,  von  dem  ein  Theil  entfernt 
wurde,  oder  ob  das  Gleichgewicht  gestört  ist  und  ein  Entwickelungsprozess 
beginnt,  der  zur  Wiederherstellung  des  Gleichgewichts,  unter  Ergänzung  der 
verloren  gegangenen  Theile,  führt;  etwa  wie  ein  Wassertropfen  sich  bei 
Wegnahme  eines  Theils  immer  wieder  zur  früheren  Gestalt  ergänzt,  den 
Gleichgewichtszustand  wieder  annimmt. 

Aus  obigen  Darlegungen  scheint  mir  hervorzugehen,  dass  derartige 
Experimente  nur  Bedingungsursachen,  dagegen  nicht  wirkende  Ursachen 
oder  Kräfte  des  Entwickelungsgeschehens  feststellen  können.  Das  Ent- 
wickelungsgeschehen  führt  in    letzter  Instanz    auf  die  Leistungen    oder   das 

Anmerkung   No.   13. 


—     71     — 

Leben  der  Zellen  zurück;  daher  werden  die  wirkenden  Ursachen  auf  dem 
Gebiete  des  Zellgeschehens  zu  ermitteln  sein.  Nun  sind  aber,  wie  Roux 
sehr  richtig  betont,  alle  Leistungen  der  Zellen  sog.  Selbstleistungen,  d.  h. 
solche,  zu  welchen  sich  die  äusseren  Einwirkungen  nur  wie  Reize 
oder  Auslösungsursachen  verhalten.  In  einem  solchen  Falle  leistet  nun  aber 
auch  das  Eliminationsexperiment  sehr  wenig  für  die  Feststellung  der  wirk- 
samen Kräfte.  Nehmen  wir  z.  B.  den  Fall,  es  handle  sich  darum,  festzu- 
stellen, welche  wirksamen  Kräfte  es  bedingen,  dass  eine  Rhizopoden- 
zelle,  oder  eine  nichtumhüllte  Zelle  überhaupt,  in  der  Ruhe  die  Kugel- 
gestalt annimmt,  unter  Einziehung  von  Pseudopodien;  ob  die  elastischen 
oder  sonstigen  Kräfte  kontraktiler  Fasern  des  Protoplasmas,  oder  ob  die 
Oberflächenenergie  flüssiger  Körper  dies  bedinge?  In  letzterem  Falle 
handelt  es  sich  um  eine  allgemeine  Eigenschaft  der  Flüssigkeiten,  deren 
Bestehen  im  Allgemeinen  ein  Beweis  der  flüssigen  Natur  ist.  Alles,  was 
sich  nun  in  diesem  Fall  experimentell  prüfen  lässt,  ist,  ob  sich  das  Proto- 
plasma wie  eine  Flüssigkeit  verhält ;  denn  ist  dies  der  Fall,  so  sind  wir  an- 
zunehmen berechtigt,  dass  auch  für  es  die  gesetzmässigen  Eigenschaften 
der  Flüssigkeiten  gelten.  Dazu  müsste  ferner  der  Nachweis  kommen,  dass 
sich  kontraktile  Fasern  der  Art,  wie  sie  die  andere  Ansicht  voraussetzt, 
nicht  finden,  und  dass  der  Vorgang  der  Abrundung  etc.  anders  geschieht, 
als  er  bei  der  Annahme  solcher  Fasern  verlaufen  müsste. 

Nehmen  wir  weiterhin  den  Fall :  es  solle  entschieden  werden,  ob  die 
Strahlungen  im  Plasma  um  die  Centrosomen  etc.  von  Zugwirkungen  be- 
dingt werden,  die  auf  einer  Art  Schrumpfung  im  Centrum  der  Strahlung 
beruhten.  Das  einzige  Experiment,  welches  in  diesem  Falle  helfen  könnte, 
wäre  der  Versuch,  etwas  in  das  Protoplasma  einzuführen,  was  schrumpft, 
und  zu  sehen,  ob  die  vorausgesetzte  Strahlung  um  dasselbe  wirklich  eintritt. 
Immerhin  gäbe  dieser  Versuch  auch  noch  keine  Gewissheit,  indem  die 
Strahlung  um  die  Centrosomen  doch  noch  etwas  anderes  sein  könnte.  Ich 
müsste  daher  ergänzend  nachweisen,  dass  die  Strahlungen  in  jeder  Be- 
ziehung mit  den  durch  Zugwirkungen  hervorgerufenen  übereinstimmen, 
und  dass  keine  anderen  Einrichtungen  oder  Bedingungen  vorhanden  sein 
können,  welche  sie  hervorzubringen  vermögen.  —  Die  Anwendung  des  Eli- 
minationsexperiments, nach  Art  der  einfacheren  Sachlage  der  anorgan- 
ischen Experimente,  findet  in  der  Komplizirtheit  der  Bedingungen  und  in 
der  Unmöglichkeit  dieselben  wirklich  selbstthätig  zu  schaffen,  was  ja 
bei  dem  anorg.  Experiment  der  Fall  ist,  ihre  ziemlich  engen  Grenzen. 
Denn  das  eigentlich  massgebende,  die  lebende  Zelle,  ist  ja  das  grosse  X, 
dessen  inneren  Bedingungen  zum  geringsten  Theile  bekannt  sind;  wobei 
ferner  zu  beachten  ist,  dass  es  eben  in  der  Regel  unmöglich  ist,  die  inneren 
Bedingungen  der  lebenden  Zelle  in  scharf  bestimmter  eindeutiger  Weise 
zu  ändern.  —  Unter  diesen  Umständen  scheint  mir  der  gangbarere  Weg,  um 
die  bei  den  Lebenserscheinungen  der  Zelle  wirkenden  Ursachen  zu  er- 
mitteln, der  zu  sein,  dass  wir  Erscheinungen  aufsuchen,  welche  mit  den 
Lebenserscheinungen    möglichst    übereinstimmen,    und    welche     wir    ihrer 

Anmerkung  No.   13. 


—     72     — 

ursächlichen  Bedingtheit  nach  kennen ;  und  dass  wir  ferner  zeigen,  dass  die 
Bedingungen  für  das  Entstehen  analoger  Erscheinungen  in  der  lebenden 
Zelle  gegeben  sind,  andere  Bedingungen  dagegen,  welche  Aehnliches  hervor- 
bringen könnten,  fehlen.  Roux  selbst  hat  ja  schon  ganz  richtig  hervorge- 
hoben (1897  p.  251—254),  dass  dieser  Weg  ein  sehr  mühsamer  ist,  da  ihm, 
wie  bemerkt,  schiesslich  die  Last  zufällt,  zu  erweisen,  dass  eben  nur  diese 
und  keine  andere  Erklärung  der  betreffenden  Lebenserscheinung  unter  den 
gegebenen  Bedingungen  möglich  ist,  d.  h.  nicht  zu  Widersprüchen  führt. 
Schliesslich  wird  aber  dies  die  Aufgabe  jeder  Erklärung  sein,  auch  derjenigen, 
welche  sich  auf  das  kausal- analytische  morphologische  Experiment  stützt. 

Vergl.  über  diese  Fragen  auch  Albrecht  1899,  p.  49 — 50  und  sonstige 
dort  citirte  Autoren. 

14)  (zu  pag.  19).  Organisation  ist,  wie  ich  schon  mehrfach  betonte, 
ursprünglich  ein  Begriff,  der  von  dem  komplizirten  höheren  Organismus 
abstrahirt  ist  und  dessen  Zusammensetzung  aus  untergeordneten  Theilen 
oder  Organen  bedeutet;  wozu  sich  jedoch  noch  gesellt,  dass  diese  Theile 
so  beschaffen  sind  und  arbeiten,  dass  aus  ihnen  die  Gesammtleistung  des 
Organismus  resultirt,  welche  wir  als  korrekt  beurtheilen.  Eine  richtig 
gebaute  und  arbeitende  Maschine  könnten  wir  daher  in  gewissem  Sinne, 
d.  h.  abgesehen  von  ihrer  Leistung,  die  von  der  des  Organismus  ganz  ver- 
schieden ist,  ebenfalls  organisirt  nennen.  Einen  Sandhaufen  dagegen  oder  einen 
Granitblock,  die  ja  auch  aus  untergeordneten  Theilen  bestehen,  würde  Nie- 
mand als  organisirt  bezeichnen.  So  klar  nun  auch  ist,  was  man  im  höheren 
Organismus  unter  Organisation  versteht,  so  verschwommen  wird  dagegen 
die  Anwendung  dieses  Begriffes  auf  die  einfachsten  Lebewesen.  Was  bleibt 
bei  einem  Micrococcus  von  Organisation  übrig?  Wenn  ich  zwar  schon 
die  natürliche  Anordnung  spezifisch  verschieden  schwerer  Substanzen  in 
der  Eizelle,  oder  eine  typische  polar  oder  bipolar  gerichtete  Anordnung  der 
Theilchen  des  Plasmas  eine  Organisation  nenne,  so  schwindet  jede  Grenze 
dieses  Begriffes  gegen  das  anorganische  Gebiet,  denn  derartige  Organi- 
sationen sind  auch  im  Anorganischen  anzutreffen.  Wir  gelangen  dann  zu 
Vorstellungen,  wie  sie  Nägeli  (1884)  äusserte,  wonach  schliesslich 
alles  in  der  Welt  organisirt  ist,  in  verschiedengradiger  Abstufung.  Dann  hat 
aber  auch  der  Begriff  der  Organisation  für  die  Lebewesen  jede  besondere 
Bedeutung  eingebüsst. 

Es  ist  nun  eine  sehr  verbreitete  Ansicht:  das  Geheimniss  der  letzten 
Bestandteile  lebender  Organismen,  des  Plasmas,  des  Kernes  etc.  wieder  in 
einer  versteckten  Organisation  zu  suchen.  Dies  kann  nur  bedeuten  in  einer 
Zusammensetzung  aus  verschiedenartig  beschaffenen  und  harmonisch  zu- 
sammenarbeitenden untergeordneten  Theilen,  wie  sie  der  komplizirte  Orga- 
nismus aufweist.  Der  Schwerpunkt  dieser  Vorstellung  liegt  aber  in  diesem 
maschinellen  Zusammenarbeiten  verschiedener  Theile,  was  natürlich  auch 
eine  besondere  Formzusammenfügung  bedingt;  wesshalb  diese  Ansicht  auch 
die  Forderung  nach  einer  sehr  komplizirten,  wenn  auch  bis  jetzt  noch  nicht 
aufgefundenen  Struktur  jener  letzten  Bestandtheile  erhebt.     Im  Allgemeinen 

Anmerkung  No.    13  —  14. 


—     73     — 

ist  diese  Anschauung  also  eine  Erweiterungshypothese,  welche  die  Erfahr- 
ungen über  die  gröbere  Organisation  des  komplizirten  Organismus  auch  auf 
dessen  letzte  Bestandtheile  überträgt. 

Dieser  Hypothese  von  der  maschinellen  Organisation  der  letzten  be- 
kannten Bestandtheile  der  Organismen  steht  eine  andere  gegenüber,  welche 
man  die  der  chemischen  Organisation  jener  Bestandtheile  nennen  kann; 
d.  h.  die  Ansicht,  welche  meint,  dass  die  letzten  Bestandtheile  bezüglich 
ihrer  Struktur  keine  Besonderheiten  zeigen,  welche  nicht  auch  ausserhalb 
der  Organismenwelt  angetroffen  werden,  dass  daher  ihre  strukturelle  Orga- 
nisation nicht  das  für  die  Lebenserscheinungen  Ausschlaggebende  sein  kann, 
wenn  sie  auch  mitbedingend  sein  muss.  Nach  dieser  Ansicht  ist  dagegen  die 
chemische  Organisation  dieser  Bestandtheile  —  sowohl  im  Hinblick 
auf  die  besondere  Art  und  Komplikation  der  vorhandenen  chemischen  Ver- 
bindungen, als  auch  auf  ihre  Mischungsverhältnisse  mit  einander  —  der  funda- 
mentale und  unterscheidende  Charakter  des  Lebenden  von  dem  Nicht- 
lebenden. Diese  zweite  Hypothese  stützt  sich  vor  Allem  darauf,  dass  die 
Leistungen  des  Organismus  in  letzter  Instanz  auf  chemischer  Energie  be- 
ruhen ;  dass  der  Organismus  im  Gegensatz  zu  den  physikalischen  Maschinen 
der  Technik  eine  chemische  Maschine  ist,  eine  Maschine,  welcher  die  Trieb- 
kraft, die  durch  chemische  Energie  gewonnen  wird,  nicht  zugeleitet  wird, 
sondern  in  welcher  die  Substanz  der  Maschine  selbst  die  chemische  Energie 
hervorbringt,  welche  bei  dem  Betrieb  verbraucht  wird. 

Wenn  soeben  betont  wurde,  dass  ich  die  Besonderheit  der  Lebewesen 
nicht  in  einer  ganz  eigenthümlich  gearteten  maschinellen  Struktur  ihrer 
letzten  Bestandtheile  suchen  kann,  so  brauche  doch  gerade  ich  kaum  zu 
versichern,  dass  ich  den  formalen  Strukturverhältnissen  trotzdem  eine  hervor- 
ragende Bedeutung  für  die  eigenthümlichen  Leistungen  des  Organismus  zu- 
schreibe. Ich  meine  nur,  dass  diese  bedingenden  Strukturverhältnisse 
keinen  trennenden  und  unbedingten  Gegensatz  zwischen  Organismus  und 
Anorganismus  bilden,  dass  vielmehr  solche  Strukturen  auch  bei  Anorganis- 
men  schon  in  prinzipiell  übereinstimmender  Weise  sich  finden  und  im  Orga- 
nismus nur  einerseits  weitergebildet  und  komplizirter,  andererseits  durch 
die  besondere  chemische  Natur  der  konstituirenden  Substanzen  zu  besonderen 
Leistungen  befähigt  werden.  Vielleicht  wird  es  nicht  nutzlos  sein,  von 
solchen  Strukturen  und  den  Eigenschaften,  welche,  soweit  wir  zu  urtheilen 
vermögen,  von  ihnen  bedingt  sein  können,  eine  allgemeine  Uebersicht  zu 
geben. 

Struktur  im  weitesten  Sinne  können  wir  jede  innere  Inhomogenität  eines 
Körpers  nennen.  Demnach  Hessen  sich  wieder  unterscheiden:  1.  Rein 
physikalische  Strukturen,  d.  h.  solche,  bei  welchen  diese  Inhomogenität  nur 
auf  physikalischen  Differenzen  der  konstituirenden  Theilpartieen  beruht,  also 
z.  B.  auf  verschiedener  Dichte  und  Lichtbrechung,  verschiedenen  optischen 
Spannungszuständen  in  verschiedener  Richtung,  (z.  B.  mikrokrystallinische 
Struktur)  u.  s.  f.  2.  Chemisch-physikalische  Strukturen,  bei  welchen  die 
konstituirenden  Theilpartieen  nicht  nur  physikalisch,  sondern  auch  chemisch 

Anmerkung  No.   14. 


—     74     — 

verschieden  sind.  Hierher  gehören  z.  B.  die  Strukturen  der  aus  ver- 
schiedenen Mineralien  zusammengesetzten  Gesteine,  die  Schaumstrukturen, 
bei  welchen  der  Inhalt  der  Schaumwaben  chemisch  von  dem  Schaumgerüst 
unterschieden  ist  (natürlich  ebenso  auch  Emulsionen;  und  wo  ist  deren  Grenze 
gegen  die  wahre  Lösung?).  Dagegen  nehmen  die  schaumartigen  Mikro- 
strukturen, bei  welchen  die  freien  Hohlräumchen  leer,  d.  h.  nur  vom  Dampf 
der  Gerüstsubstanz  erfüllt  sind,  eine  eigenthümliche  Stellung  ein,  indem  sie 
eigentlich  zu  den  physikalischen  Strukturen  gerechnet  werden  müssen,  inso- 
fern man  nicht  in  den  Vordergrund  stellt,  dass  etwa  der  Dampfzustand  eine 
besondere  Modifikation  der  Substanz  ist,  und  damit  eine  Annäherung  an 
chemisch-physikalische  Strukturen  versucht. 

Eine  grosse  Zahl  besonderer  Eigenschaften  können  von  solchen  Struk- 
turen bedingt  sein,  oder  doch  sehr  wahrscheinlich  bedingt  werden.  Im 
Einzelnen  haben  darüber  vielfach  erst  noch  eingehendere  Untersuchungen 
zu  entscheiden. 

Von  physikalischen  oder  auch  physikalisch-chemischen  derartigen  Struk- 
turen können  bedingt  sein: 

Hinsichtlich  der  Oberflächenbeschaffenheit :  Glätte,  Rauhigkeit, 
Glanz,  Spiegelung  oder  Trübe.  Farbenerscheinungen :  Interferenzfarben, 
Strukturfarben. 

In  Bezug  auf  das  Innere:  Durchsichtigkeit  oder  Undurchsichtigkeit 
und  weisse  Farbe  in  auffallendem  Licht ;  oder  unter  besonderen  sonstigen 
Bedingungen  auch  anderweitige  Farben  in  durchfallendem  und  auflallendem 
Licht.  Farben  trüber  Medien.  Polarisirung  des  Lichts  durch  derartige 
Strukturen. 

Möglicher-  oder  wahrscheinlicher  Weise  durch  solche  Mikrostrukturen 
bedingt  scheint  mir  ferner  die  Spaltbarkeit  der  Krystalle,  eventuell 
auch  Verschiedenheiten  der  Elastizität  in  verschiedenen  Richtungen  und  ver- 
schiedene Ausdehnung  durch  Wärme.  Nicht  ganz  ausgeschlossen  erscheint 
mir,  wie  ich  schon  1898  (pag.  147)  andeutete,  die  Möglichkeit,  dass  die  Doppel- 
brechung fester  Körper  überhaupt  von  solchen  Mikrostrukturen  bedingt  ist, 
während  ich  die  Doppelbrechung  gedehnter  und  gepresster  wabig  struk- 
turirter  Körper  wohl  für  sicher  von  besonderen  Strukturverhältnissen  bedingt 
erachte. 

Bedingt  durch  Mikrostrukturverhältnisse  sind  ferner  die  Imbibition 
und  ebenso  die  sie  begleitenden  sonstigen  physikalischen  Erscheinungen, 
Wärmeentwickelung  u.  dgl.  Bedingt  sind  durch  derartige  Strukturen, 
in  Verbindung  mit  sonstigen  Eigenschaften,  die  Quellungserscheinungen 
und  die  besonderen  weiteren  Eigenthümlichkeiten,  die  mit  diesem  im  Orga- 
nismus ungemein  bedeutsamen  Vorgang  zusammenhängen.  Verschieden- 
gradige  Quellung  in  verschiedenen  Richtungen;  eventuell  auch  Kontraktion 
in  gewisser  Richtung  u.  s.  f. 

Besondere    Dehnungsfähigkeit  gewisser  Körper. 

Die  besonderen  Eigenschaften  der  Sphärokrystalle.  Die  rela- 
tive    Festigkeit    schäum  artig    strukturirter     flüssiger     Körper. 

Anmerkung  No.   14. 


—     75     — 

Von  chemisch-physikalischen  Strukturen  bedingt  erscheinen  die  von  mir  ge- 
schilderten Bewegungserscheinungen  der  Oelseifenschäume  und 
vermuthlich  die  analogen  Bewegungserscheinungen  des  Protoplasmas. 

Endlich  besteht  auch  die  Möglichkeit,  dass  die  Kontraktions- 
erscheinungen der  Muskel fib  rillen  und  Muskelfasern  von  ähn- 
lichen strukturellen  Verhältnissen  abhängen,  wie  sie  bei  quellbaren  Körpern 
unter  bestimmten  Strukturbedingungen  zu  Verkürzungen  oder  Kontraktionen 
führen. 

Obgleich  eine  genauere  Durchsicht  des  Bekannten  gewiss  noch  viele 
Eigenschaften  aufzeigen  wird,  welche  von  Mikrostrukturen  direkt  abhängen 
(um  so  mehr,  als  sich  bei  eingehender  mikroskopischer  Analyse  das  Ver- 
breitungsgebiet solcher  Strukturen  fortgesetzt  erweitert),  so  wird  doch  diese 
unvollständige  Uebersicht  schon  einigermaassen  darüber  orientiren. 

Die  Ansicht,  dass  das  eigentlich  Bedingende  der  besonderen  Eigen- 
schaften lebender  Körper  eine  eigenartige,  den  Anorganismen  mangelnde 
maschinelle  Struktur  sei,  ist  eigentlich  die  verbreitetste,  von  den  hervor- 
ragendsten Biologen  der  neueren  Zeit  vertretene.  Sie  wird  gewöhnlich  in 
der  Weise  gedacht,  dass  eine  Zusammensetzung  der  letzten  sichtbaren  Be- 
standtheile  der  Zelle  aus  unsichtbaren  elementaren  Organen  (Elelementar- 
organismen,  Plasome  [Wiesner],  Biophoren  [Weismann],  Pangene  [Darwin, 
de  Vries])  als  eine  unerlässliche  Hypothese  für  das  Verständniss  des  Lebenden 
gefordert  wird. 

Ich  führte  schon  1892  (pag.  11  d.  S.  A.)  in  meinen  Bemerkungen  gegen 
Wiesner's  Lehre  und  eingehender  1896  aus,  dass  ich  in  solchen  Um- 
schreibungshypothesen eine  Vertiefung  unseres  Verständnisses  der  Lebens- 
erscheinungen nicht  finden  kann.  Wie  schon  oben  bemerkt,  erachte  ich  die 
einfache  Annahme  einer  maschinellen  Struktur  für  eine  Erweiterungshypo- 
these und  daher  an  sich  nicht  verwerflich ;  dagegen  wird  sie  dies,  wenn 
eine  willkürlich  erfundene  Struktur,  welche  das  zu  Erklärende  schon  ent- 
hält, zu  Grunde  gelegt  wird. 

Wie  angegeben,  wird  die  Ansicht  von  der  maschinellen  Struktur  als 
letztes  Bedingendes  der  Lebenserscheinungen  von  den  hervorragendsten  Bio- 
logen vertreten,  unter  denen  ich  hier  nur  W.  Pfeffer,  O.  Hertwig  und  W. 
Roux  anführen  will.  Pfeffer  (1897)  erklärt  sich  in  seiner  „Pflanzenphysiologie" 
sehr  bestimmt  für  die  maschinelle  Struktur  und  für  einen  komplizirten  Aufbau 
des  Protoplasmas  aus  „Organen  und  Strukturelementen",  die  nur  zum  Theil 
optisch  wahrnehmbar  seien,  aus  „kleinen  und  kleinsten  Lebenseinheiten",  so- 
genannten P  ang  enen  (p.  3,  p.41).  In  jedem  Protoplasten  sei  wahrscheinlich 
„eine  grosse,  ja  vielleicht  eine  gewaltige  Zahl  verschiedener  einfachster,  d.  h. 
nicht  weiter  in  physiologische  Einheiten  zergliederbarer  Pangene  vereinigt". 
Das  Pangen  sei  „kein  einfaches  Micell,  sondern  ein  Verband  von  Micellen  oder 
Molekülen  mit  spezifischer  Organisation".  Also  das  Pangen  selbst  ist  wieder 
maschinell  strukturirt.  Der  Begriff  der  Organisation  wird  dabei  nicht  näher 
erörtert.  „Aber  selbst,  wenn  dem  bewaffneten  Auge,"  sagt  Pfeffer  (p.  3), 
„eine    direkte  Wahrnehmung    von  Organen  versagt   bliebe,   so    müsste  man 

Anmerkung  No.   14. 


—     76     — 

doch  einen  Aufbau  der  Protoplasten  aus  distinkten  Elementen  (Bioplasten) 
fordern,  die,  wenn  sie  auch  im  kleinen  Räume  unter  die  Grenzen  des  Sicht- 
baren sinken,  doch  desshalb  nicht  minder  bedeutungsvoll  sind.  Denn  anders 
als  durch  das  Zusammenwirken  verschiedenartiger  Organe  und  Organele- 
mente ist  ein  regulatorisches  Lebensgetriebe  ebensowenig  zu  verstehen, 
wie  der  gesetzmässige  Gang  einer  Uhr  oder  einer  Spieldose,  die,  so  lange 
die  Betriebskräfte  nicht  verlöschen,  in  bestimmter  Reihenfolge  und  Wieder- 
holung eine  Harmonie  von  Tönen  erklingen  lässt."  „Die  beste  chemische 
Kenntniss  der  im  Protoplasma  vorkommenden  Körper  kann  für  sich  allein 
ebensowenig  zur  Erklärung  und  zum  Verständniss  der  vitalen  Vorgänge  aus- 
reichen, wie  die  vollendetste  chemische  Kenntniss  von  Kohle  und  Eisen  zum 
Verständniss  einer  Dampfmaschine  und  der  mit  derselben  verbundenen 
Buchdruckerpresse." 

Die  im  Ganzen  ähnlichen  Anschauungen  O.  Hertwig's  über  die 
Organisation  des  Protoplasmas  habe  ich  schon  vor  einiger  Zeit  (1901, 
pag.  539—546)  von  meinem  Standpunkt  aus  einer  kritischen  Besprechung 
unterzogen.  Aus  dem  dort  Gesagten  geht  auch  meine  eigene  Stellungnahme 
hervor.  Um  eventuellen  Missverständnissen  vorzubeugen,  bemerke  ich  nur 
noch,  dass  ich  eine  maschinelle  Struktur  der  Zelle,  insofern  diese  sich  aus 
verschiedenen  Organen  (Kern,  Centrosom,  Plasma  und  dessen  eventuellen 
Differenzirungsprodukten)  zusammensetzt,  nicht  leugne;  für  den  höheren 
Organismus  dagegen  erst  recht  nicht.  Meine  Ansicht  geht  nur  dahin,  dass 
die  Substanz  dieser  Zellorgane,  insofern  sie  nicht  als  zusammengesetzt  er- 
kennbar ist,  eine  solche  Hypothese  über  ihre  maschinelle  Struktur  nicht 
erfordert. 

Sehr  entschiedener  Anhänger  einer  ganz  eigenartigen  maschinellen 
Struktur  der  letzten  Bestandteile  der  Zelle  ist  auch  W.  Roux,  der  sich 
hierüber  an  verschiedenen  Stellen  seiner  zahlreichen  Schriften  (s.  Ges.-Ab- 
handl.)  ausspricht:  „Ich  halte  daher  alle  rein  chemischen  Definitionen  des 
Lebens  für  vollkommen  unzureichend  (Bd.  I,  pag.  406,  Anm. ;  ebenso 
Bd.  II,  pag.  142) :  „Das  Leben  ist  seinem  Wesen  nach  Prozess  und 
kann  daher  nicht  statisch  definirt  werden"  (aber  die  Chemie  handelt  auch 
von  Prozessen).  „Es  muss  aus  den  komplizirten  Verrichtungen  des  schein- 
bar homogenen  organischen  Substrats  mit  Sicherheit  eine  komplizirte  Struktur 
gefolgert  werden."  (II.  p.  142.)  Im  Allgemeinen  kommt  seine  Ansicht  der 
Pfeffer 's  und  Hertwig's  sehr  nahe,  und  er  bezeichnet  jene  unsichtbaren 
Strukturen,  welche  die  Lebenserscheinungen  bedingen,  als  „Metastrukturen." 
Roux  versucht  sogar  (II.  pag.  83  ff.),  die  „kleinsten  lebensthätigen  Bestand- 
theile"  (Bionten),  welche  jene  Metastrukturen  aufbauen,  nach  ihren  muth- 
masslichen  Leistungen  zu  klassifiziren :  1.  „Automerizonten"  können 
assimiliren,  ausscheiden,  sich  bewegen  und  sichtheilen.  2.  Idioplassonten 
sind  Automerizonten,  die  „gestaltende  Wirkungen  in  sich  selber  und  auf 
die  anderen  Bionten  auszuüben  vermögen".  3.  Au  tokin  e  ont  en  sind  Nr.  1, 
denen  die  Theilungsfähigkeit  fehlt.  4.  Isoplassonten  zeigen  Assi- 
milation, Ausscheidung  und  Wachsthum.     5.    Fragliche    Auxonten,  durch 

Anmerkung  No.   14. 


-     77 

Mangel  des  Wachsthumsvermögens  von  Nr.  4  verschieden.  Die  niederen 
Kategorien  dieser  Bionten  (3 — 5)  sollen  „in  oder  neben"  den  höheren  vor- 
kommen, sie  also  zusammensetzen  können.  Isoplasson  (also  aus  Iso- 
plassonten,  die  der  Selbstausscheidung  und  Selbstassimilation  fähig  sind, 
zusammengesetzt),  „komme  als  Flamme,  wie  auch  mannigfach  als  bei  ge- 
wöhnlicher Temperatur  verlaufender  chemisch-physikalischer  Assimilations- 
prozess  im  Anorganischen  in  einfachster  Weise  vor".  Demnach  wären  also 
die  Moleküle  einer  brennenden  Wasserstoffflamme  Isoplassonten  und 
ihre  Verbrennung  ein  Assimilationsprozess,  die  Bildung  von  Wasser 
dagegen  eine  Ausscheidung.  Mir  scheint  dies  eine  ungewöhnliche  Ver- 
wendung des  Begriffes  der  Assimilation.  Ein  einfacher  chemischer  Prozess, 
wie  ihn  die  Verbrennung  von  H  in  O  darstellt,  entbehrt  doch  des  eigent- 
lichen Charakters  der  Assimilation.  Die  Aufstellung  Roux's  scheint  mir 
durch  den  von  ihm  viel  gebrauchten,  meiner  Ansicht  nach  nicht  zutreffenden 
Vergleich  des  „dynamischen  Gleichgewichtszustandes"  der  Flamme  und 
des  Organismus  bedingt.  Der  Flamme  liegt  kein  besonderer,  von  ihr 
assimilirter  Flammenstoff  zu  Grunde;  die  Grundlage  des  Organismus  da- 
gegen bilden  besondere,  eigenthümliche  Stoffe,  die  er  chemisch  aus  anderen 
Stoffen  aufzubauen,  zu  assimiliren  vermag.  Das  Eigenthümliche  der  Assi- 
milation scheint  nun  darin  zu  bestehen,  dass  ihr  Stattfinden  von  der  Gegen- 
wart solcher  Stoffe,  wie  sie  durch  die  Assimilation  entstehen,  bedingt  wird, 
dass  sie  ohne  diese  nicht  geschieht.  Schon  Kassowitz  (Bd.  I,  pag.  193  —  194) 
hat  dies  richtig  erkannt  und  auch  nachzuweisen  gesucht,  dass  ein  solcher 
Vorgang  nicht  ganz  ohne  Analogie  auf  rein  chemischem  Gebiet  ist;  indem 
sich  wenigstens  einige  chemische  Prozesse  nachweisen  lassen,  wo  die  Gegen- 
wart der  zu  bildenden  Verbindung  deren  Entstehungsprozess  einleitet  oder 
befördert.  Obgleich  ich  mir  hier  kein  Urtheil  darüber  erlaube,  ob  diese 
Prozesse  thatsächlich  richtig  interpretirt  sind,  betone  ich  nur,  dass  auch  ich 
selbständig  zu  der  Ueberzeugung  gelangte,  dass  bei  der  Assimilation  im 
Organismus  ein  solcher  Vorgang  stattfinden  muss. 

Man  wird  vielleicht  gegen  eine  solche  Auffassung  der  Assimilation 
einwenden,  dass  gerade  der  einfachste  sog.  Assimilationsprozess  auf  pflanz- 
lichem Gebiet,  die  Bildung  des  Amylum,  nicht  an  schon  vorhandenes 
Amylum  gebunden  sei.  Dies  ist  richtig;  fraglich  dagegen,  ob  es  zutreffend 
ist,  wie  es  zuweilen  geschieht,  den  Bildungsprozess  der  Stärke  als 
einen  einfachen  Assimilationsvorgang  anzusehen,  und  ob  es  nicht  wahrschein- 
licher ist,  die  Bildung  der  Stärke  auf  die  Zerlegung  komplicirterer,  bei  der 
Assimilation  entstehender  Verbindungen  zurückzuführen.  Für  die  dem 
Amylum  nahe  verwandte  Cellulose  sind  die  Botaniker  fast  einstimmig 
der  Ansicht,  dass  sie  aus  dem  hochkomplizirten  Protoplasma  hervorgehe; 
dies  spricht  doch  auch  gegen  die  Meinung,  dass  die  Stärke  direkt  aus 
CO-2  und  H2O  gebildet  werden  könne. 

Als  beweisend  für  die  Existenz  besonderer  sogen.  Metastruk- 
turen führt  Roux  (I.  pag.  187—188  Anm.)  das  Verhalten  der  Sehnen  bei 
Ouellung,    Schrumpfung    und  Lösung  an.     Es    handelt   sich    dabei    um   sehr 

Anmerkung  No.   14. 


—     78     — 

verschiedengradiges  Quellen  und  Schrumpfen  in  der  Längs-  und  Querdimen- 
sion. Da  ich  ausführlicher  zeigte,  dass  solche  Erscheinungen  an  nicht  organi- 
sirten,  quellbaren  Körpern  unter  gewissen  Bedingungen  ebenfalls  auftreten  und 
durch  besondere  Strukturverhältnisse  bedingt  sind  (1896  und  1898),  so  geht 
daraus  wenigstens  soviel  hervor,  dass  solche  Erscheinungen  auch  auf  Grund 
struktureller  Verhältnisse,  wie  sie  beim  Nichtlebenden  vorkommen,  zu  ver- 
stehen sind.  Womit  ich  natürlich  nicht  sagen  will,  dass  die  Vorgänge 
an  den  Sehnen  sich  schon  jetzt  mit  Hilfe  dieser  Erfahrungen  ausreichend 
erklären  Hessen. 

Ein  sehr  überzeugter  Anhänger  der  „Maschinenstruktur"  der  lebenden 
Substanz  ist  auch  J.  Reinke  (1899  pag.  85).  Da  er  die  Gründe  seiner 
Annahme  etwas  genauer  darlegt,  so  mögen  sie  hier  besprochen  werden. 
Sein  Beweis  ist  insofern  ein  indirekter,  als  er  zu  zeigen  sucht,  dass  eine 
chemische  Organisation  das  Wesen  der  lebenden  Substanz  nicht  sein  könne ; 
demnach  könne  es  nur  in  einer  Maschinenstruktur  gesucht  werden.  Der 
Beweis  ist  in  folgendem  Passus  enthalten :  „Ich  habe  durch  Versuche  die 
Ueberzeugung  gewonnen,  dass  ein  im  lebenden  Zustand  im  Mörser  zerriebenes 
Plasmodium  ebensowenig  Protoplasma  ist,  wie  eine  zu  feinem  Pulver  zer- 
stossene  Taschenuhr  noch  eine  Taschenuhr  sein  würde"*). 

Ich  bestreite  die  Richtigkeit  der  angeführten  Thatsachen  keineswegs; 
dagegen  sehr,  dass  hieraus  die  Berechtigung  folge,  das  Protoplasma  mit 
einer  Taschenuhr  zu  vergleichen.  Denn  die  Behauptung,  worauf  Reinke 
diesen  Vergleich  stützt,  dass  nämlich  „im  zerriebenen  Plasmodium 
doch  die  chemischen  B  estand  theile  des  Protoplasmas  noch 
sämmtlich  vorhanden  sind"  (pag.  85),  erachte  ich  nicht  nur  für 
unbewiesen,  sondern  sogar  für  sehr  unwahrscheinlich.  Reinke  scheint 
zu  meinen,  dass  das  lebende  Protoplasma  des  Plasmodiums  thatsächlich  aus 
denjenigen  Proteinen  bestehe,  die  er  und  Rodewald  daraus  gewonnen 
haben.  Dies  ist  jedoch  sehr  unwahrscheinlich,  da  es  von  vornherein  nicht 
wohl  denkbar  ist,  dass  diese  Proteinstoffe,  selbst  bei  der  Voraussetzung 
irgendwelcher  maschinellen  Struktur,  diejenigen  chemischen  Stoffwechselvor- 
gänge leisten  könnten,  welche  im  Plasma  thatsächlich  stattfinden;  um  so 
weniger,  als  eine  maschinelle  Struktur  überhaupt  nicht  die  Bedingung 
chemischer  Vorgänge  sein  kann.  Zudem  wissen  wir,  dass  Druckwirkungen 
Vorgänge  im  Plasma  hervorrufen,  Vakuolisation,  schliesslich  Auflösung,  Zer- 
fall, ja  häufig  auch  Gerinnung,  welche  es  wahrscheinlich  machen,  dass  schon 
mechanischer  Druck  genügt,  um  chemische  Zersetzungsprozesse  im  lebenden 
Protoplasma  zu  veranlassen.  Dies  ist  ja  eine  nicht  sehr  geläufige  Vorstellung, 
welche  ich  dennoch  für  recht  wahrscheinlich  halte.  Wir  wissen ,  dass  es 
genug  chemische  Stoffe  gibt,  welche  durch  mechanische  Einwirkungen  sich 
zersetzen,  und  wissen  andererseits,  dass  es  sich  im  lebenden  Protoplasma 
um  eine  oder  mehrere  sehr  leicht  zerfallende  Verbindungen  handeln  muss, 
da  ja  sonst  ein  solcher  Stoffwechsel,    wie  er  thatsächlich  besteht,   gar   nicht 

*)  J.  Reinke  u.  H.  Rodewald,  Studien  über  Protoplasma.  Berlin  1881. 
Vorwort  p.   VII. 

Anmerkung  No.   14. 


—     79     — 

möglich  wäre.  Schon  Pflüger  (1875)  stellte  sich  vor,  dass  in  der  lebenden 
Substanz  fortgesetzt  explosive  Prozesse  stattfänden.  Wie  gesagt,  erscheint 
mir  daher  Reinke's  angeblicher  Beweis  für  die  „Maschinenstruktur" 
des  Protoplasmas  in  keiner  Weise  zwingend;  um  so  weniger,  als  alle 
Energie,  welche  diese  Maschinenstruktur  in  Thätigkeit  setzt,  ja  doch  von 
chemischen  Prozessen  geliefert  würde,  und  schliesslich  mit  der  Maschinen- 
struktur nichts  weiter  erklärt  oder  verstanden  wird. 

15)  (zu  pag.  21).  Die  Entwickelungserscheinungen  sind  in 
ihrer  Eigenart  den  Organismen  durchaus  eigentümlich ;  speziell  die 
Entwickelungserscheinungen  der  vielzelligen  Organismen,  wo  die  Zell- 
theilung  die  Grundlage  der  Entwickelungsprozesse  bildet.  Bei  den  Ein- 
zelligen dagegen  haben  die  Entwickelungserscheinungen  den  Charakter  von 
Differenzirungen,  die  ja  auch  bei  der  Entwickelung  der  Vielzelligen,  sowohl 
für  die  Einzelzelle  als  für  Zellkomplexe,  eine  wichtige  Rolle  spielen. 
Nur  für  Differenzirungsvorgänge  kann  man  in  der  nichtlebenden  Natur  ent- 
fernte Analogien  finden;  für  Vorgänge  also,  deren  Wesen  darin  besteht, 
dass  ein  einheitlich  gebauter  Körper  unter  Bedingungen,  die  wesentlich  in 
seiner  eigenen  Natur  (System)  gegeben  sind,  von  den  Bedingungen  der 
Umgebung  nur  mittelbar  abhängen  (d.  h.  nur  hinsichtlich  des  Eintritts  oder 
Nichteintritts  der  Prozesse),  zu  einem  System  mannigfaltig  gestalteter,  ver- 
schiedenartiger Theile  wird.  Wie  gesagt,  kann  man  für  solche  Vorgänge 
in  der  anorganischen  Natur  entfernte  Analogien  finden;  z.  B.  dann,  wenn 
ein  homogenes  heissflüssiges  Magma  unter  langsamer  Abkühlung  zu  einem  aus 
verschiedenen  Mineralien  bestehenden  krystallinischen  Gestein  erstarrt,  oder 
wenn  ein  Oeltropfen,  in  dem  Seife  aufgelöst  ist,  unter  Aufnahme  von 
Wasser  allmählich  zu  einem  Schaumtropfen  wird ,  der  sogar  in  formaler 
Hinsicht  gewisse  gesetzmässige  Bildungen  zeigt,  wie  den  Alveolarsaum  der 
Oberfläche.  Langsam  verlaufende  chemische  Prozesse  lassen  sich  dagegen 
nicht  mit  formaler  Differenzirung  und  Entwickelung  vergleichen.  Einfaches 
Wachsthum  hat  weder  etwas  mit  Differenzirung  noch  Entwickelung  gemein, 
wenn  auch  Entwickelung  aufs  innigste  mit  Wachsthumsvorgängen  zusammen- 
hängt. Man  redet  zwar  von  der  Entwickelung  der  Krystalle,  doch  hat 
dies  höchstens  insofern  einen  Sinn ,  als  man  die  Lösung  sammt  den  sich 
darin  bildenden  Krystallen  gleichzeitig  ins  Auge  fasst.  Die  Zelltheilung,  welche 
ja  das  eigentliche  Fundament  der  Entwickelung  vielzelliger  Wesen  bildet, 
muss  in  letzter  Instanz  von  der  Wirkung  zweier  besonders  gearteter  Centren 
in  der  Zelle  bedingt  sein;  denn  ohne  die  besondere  Natur  und  Wirkung 
zweier  Centren  (oder  auch  Pole  eines  Centralkörpers) ,  deren  Aktion  man 
sich  nun  so  oder  anders  denken  mag ,  wird  die  Selbsttheilung  einer  Masse 
in  zwei  nicht  begreiflich  sein.  Etwas  in  der  Zelle ,  sei  es  Centrosom  oder 
Kern,  muss  daher  polar  gebildet  sein,  etwa  vergleichbar  einem  quadratischen 
oder  hexagonalen  Krystall  mit  seinen  beiden  Polen. 

16)  (zu  pag.  21)  Krystalle.  Der  nicht  selten  ausgeführte  Vergleich 
zwischen  dem  lebenden  Individuum  und  dem  Krystall  wird  zwar  häufig  an- 
gezweifelt; ob  mit  Recht  scheint  mir  sehr  fraglich.     Jedenfalls    gibt   es    auf 

Anmerkung  No.   15  —  16. 


80     — 

anorganischem  Gebiet,  abgesehen  von  dem  Flüssigkeitstropfen,  überhaupt 
nichts  anderes  als  das  Krystallindividuum,  was  wenigstens  in  einzelnen  Be- 
ziehungen mit  dem  lebenden  Individuum  vergleichbar  wäre.  Beide  haben 
eben  die  charakteristische  Eigenthümlichkeit  gemein,  dass  sowohl  ihre 
äussere  Gestalt  als  ihre  innere  Struktur  wesentlich  durch  innere  Beding- 
ungen  bestimmt  werden;  die  äusseren  Bedingungen  beeinflussen  wenigstens 
nicht  direkt  und  unmittelbar,  sondern  nur  indirekt  Form  und  Struktur.  Einwände 
wie  der  O.  Lehmann's  (1900),  welcher  den  Begriff  des  Individuums  dess- 
halb  für  Krystalle  nicht  anwendbar  hält,  weil  letztere  „keine  untheilbaren 
Wesen  —  Individuen"  -  -  seien,  sind  natürlich  ohne  Bedeutung,  da  sie  von 
der  irrigen  Meinung  ausgehen,  dass  zum  Charakter  des  lebenden  Individuums 
die  Untheilbarkeit  gehöre.  Warum  eigentlich  Albrecht  (1899  pag.  65  Anm.) 
neuerdings  wieder  scharf  gegen  jeden  Vergleich  von  Krystall  und  Organis- 
mus auftritt,  da  „der  Begriff  des  Individuums  für  den  Krystall  unzulässig 
erscheint,  wie  er  denn  noch  weniger  als  anorganisches  Individuum 
dem  organischen  entgegengesetzt  werden  darf,  vermag  ich  nicht  einzu- 
sehen. —  Die  von  den  Krystallographen  in  neuerer  Zeit  gegebenen  Defini- 
tionen von  Krystall  beziehen  sich  eigentlich  nur  auf  die  innere  sog.  Struktur, 
d.  h.  die  krystallinische  Beschaffenheit  der  Substanz,  lassen  dagegen  die  für 
den  Krystall  als  Individuum  (im  Gegensatz  zu  der  Umgebung)  doch 
charakteristische  äussere  Begrenzung,  die  Form,  ganz  ausser  acht,  und 
kommen  so  zu  dem  Schluss,  dass  die  äussere  Form  in  der  Definition  der 
Krystalle  ganz  zu  vernachlässigen  sei.  So  z.  B.  Groth  (1895  pag.  245 
cit.  nach  Lehmann):  „Ein  Krystall  ist  ein  homogener  anisotroper  fester 
Körper";  wogegen  Lehmann  einerseits  die  Homogenität  als  nicht  charakte- 
ristisch streicht,  andererseits  das  geordnete  Wachsthum  für  charakteristisch 
erklärt,,  indem  sich  die  neu  angefügten  Theilchen  parallel  den  schon  vor- 
handenen anordneten,  und  dies  Wachsthum  auf  eine  molekulare  Richtkraft 
zurückzuführen  sucht.  Auf  diese  Weise  gelangt  er  zu  der  Definition,  dass 
ein  Krystall  „ein  anisotroper,  mit  molekularer  Richtkraft  begabter  Körper" 
sei  (p.  696). 

Beide  Definitionen  beziehen  sich,  wie  gesagt,  auf  krystallinische  Sub- 
stanz, jedoch  nicht  auf  ein  Krystallindividuum,  da  sich  aus  ihnen  ja  auch 
in  keiner  Weise  ergibt,  dass  ein  Krystallindividuum  von  ebenen,  unter  ge- 
wissen gesetzmässigen  Winkeln  sich  schneidenden  Flächen  begrenzt  wird ; 
was  auch  nicht  als  nothwendige  Folge  der  Definitionen  einzusehen  ist. 
Die  Groth'sche  Definition  gilt  ferner  auch  für  gedehnte  und  gepresste  sog. 
amorphe  Körper.  Die  Leh  man  n' sehe,  welche  diese  Unsicherheit  ver- 
meidet, da  sie  das  geordnete  Wachsthum  als  etwas  charakteristisches  zufügt, 
muss  doch  gerade  desshalb  den  eigentlichen  Charakter  der  krystallinischen 
Substanz  in  die  Natur  jener  Theilchen  verlegen,  die  sich  in  paralleler  Rich- 
tung anordnen  sollen  und  daher  irgendwie  schon  ungleichmässig  gebaut  sein 
müssen;  was  ja  auch  in  ihrer  „molekularen  Richtkraft"  sich  ausspricht. 

Für  die  eventuellen  Beziehungen  zwischen  Krystall  und  organisirtem 
Individuum  dürften  die  sog.  flüssigen  Krystalle  Lehmann's  von  besonderer 

Anmerkung  No.    16. 


—     81 

Bedeutung  sein,  da  sie  die  äussere  Form  des  flüssigen  Gleichgewichts- 
zustandes, der  ja  auch  bei  den  einfachsten  Organismen  die  Grundform 
zu  sein  scheint,  mit  krystallinischen  Eigenschaften  der  Substanz  vereinigen. 
Obgleich  ich  die  Natur  dieser  flüssigen  Krystalle  nicht  für  genügend  auf- 
geklärt erachte,  halte  ich  sie,  wie  gesagt,  doch  für  sehr  bedeutungsvoll  für 
die  Beurtheilung  organisirter  Gebilde. 

Sehr  beachtenswerth  für  die  Erscheinungen  des  Organismus  sind  auch 
die  Uebersättigungs-  und  Ueberschmelzungsphänomene  und  deren  Uebergang 
in  stabile  Zustände  (Phasen)  durch  Zufügung  kleinster  Mengen  (Keime, 
Ostwald)  des  stabilen  Zustandes.  Obgleich  ja  ein  solcher  Uebergang 
zuweilen  ganz  zufällig,  unter  unaufgeklärten  Bedingungen,  wie  eine  Art 
Urzeugung,  eintreten  kann,  worauf  Errera  (1899)  für  das  Glycerin  hin- 
gewiesen hat,  so  ist  er  doch  in  keiner  Weise  vergleichbar  mit  dem  Ent- 
stehen eines  Organismus.  Trotzdem  aber  haben  diese  Vorgänge  ihre  grosse 
Bedeutung  für  die  Lebenserscheinungen. 

Haeckel  hat  gewisse  im  Plasma  entstehende  Produkte  Biokrystalle 
genannt,  so  die  Kiesel-  und  Kalknadeln  der  Spongien  und  dergleichen. 
Wenn  damit  ausgedrückt  werden  soll,  dass  solche  Bildungen  eine  Art 
Mittelding  zwischen  wirklichen  Krystallen  und  lebenden  Bildungen  seien, 
so  scheint  mir  dies  unzutreffend.  Das  Verhalten  jener  Gebilde  spricht 
keineswegs  für  eine  solche  Auffassung.  Sie  sind  theils  amorphe,  theils 
krystallinische  Substanz  von  anorganischer  Natur  und  haben  nichts  an  sich, 
was  die  Annahme  einer  solchen  Mittelstufe   rechtfertigte. 

17)  (zu  pag.  22).  Form.  Neuerdings  erörterte  auch  J.  C lassen 
die  Möglichkeit  der  „mechanischen"  Erklärung  des  Lebens  und  der 
Organismen.  Er  gelangt  zu  dem  Ergebniss,  dass  das  Geheimniss  des  Lebens 
in  der  besonderen  Form  des  Organischen  enthalten  sein  müsse.  Was  das 
Allgemeine  der  Frage  angeht,  so  muss  ich  betonen,  dass  C lassen  in 
seiner  Schrift  stets  von  einer  Rückführung  auf  „Mechanik"  und  auf  die 
„Prinzipien  der  mathematischen  Mechanik"  spricht,  obgleich  er  selbst  meint, 
dass  diese  nicht  einmal  für  das  Begreifen  der  Vorgänge  in  der  anorganischen 
Welt  ausreichten.  Ich  hob  in  dieser  Schrift  mehrfach  hervor,  dass  ich  nicht 
von  einer  mechanischen  Erklärbarkeit  der  Lebenserscheinungen  rede,  sondern 
von  einer  mechanistischen,  und  dass  diese  die  Frage  nach  der  Mechanik 
ruhig  den  betreffenden  Disciplinen  der  anorganischen  Welt  überlassen  kann; 
soviel  oder  so  wenig  mechanisch  Erklärbares  diese  enthalten,  so  viel  oder 
so  wenig  wird  davon  auch  auf  die  mechanistische  Deutung  der  Lebens- 
prozesse übergehen. 

C lassen  erörtert  an  dem  Beispiel  des  in  einem  Loch  einer  Membran 
aufgehängten  Wassertropfens  recht  treffend,  dass  ein  solcher  Tropfen,  unter 
geeigneten  Bedingungen  und  unter  Bewahrung  seiner  Form,  wachsen  oder 
sich  verkleinern  kann;  dass  er  ferner  einem  Wechsel  seiner  Substanz  unter- 
liegen kann,  sowie  unter  Beibehaltung  seiner  Gestalt  sich  bei  hinreichendem 
Anwachsen  durch  Abschnürung  eines  Tropfens  sogar  zu  theilen  vermag;  also 
unter  Stoffwechsel  und  Wachsen  seine  Form  erhält  und  sich  sogar  theilt.  Hieraus 

Bütschli,  Mechanismus  und  Vitalismus.  6 

Anmerkung  No.   16 — 17. 


—     82     — 

schliesst  er,  dass  diese  Erscheinungen  „noch  nicht  den  Begriff  des  Lebens 
bilden,  denn  Niemand  wird  diesen  Tropfen  lebendig  nennen  wollen"  (pag.  13). 
Anschliessend  hieran  bemerkt  er:  „Ich  glaube  nicht  zuviel  zusagen,  wenn 
ich  behaupte,  dass  wir  den  Tropfen  eben  desshalb  nicht  lebendig  nennen, 
weil  wir  bei  all'  den  genannten  Vorgängen  gerade  noch  übersehen 
können,  dass  sie  einfach  mechanischer  Natur  sind.  So  scheint  es  also 
direkt  im  Begriffe  des  Lebens,  wie  wir  denselben  zu  verwenden  gewöhnt 
sind,  zu  liegen,  dass  dasselbe  eben  über  jedes  mechanische  Verstehen 
hinausgeht." 

Hier  liegt  nun  ein  offenbarer  Trugschluss  vor.  Nicht  desshalb  scheint 
mir  der  Tropfen  nicht  lebendig,  weil  ich  sein  Wachsen,  seinen  Stoffwechsel, 
sein  Theilen  mechanisch  verstehe;  sondern  weil  ich  bestimmt  weiss,  dass 
zwar  dieser  Stoffwechsel,  dieses  Wachsen  und  Theilen  des  Tropfens  eine 
allgemeine  Analogie  in  seinem  Endergebniss  mit  Erscheinungen  am  ein- 
fachsten Organismus  hat ,  dass  aber  diese  Erscheinungen  in  dem  Organis- 
mus ganz  andere  sein  müssen,  einen  anderen  eigenartigen  Verlauf  nehmen 
müssen,  welcher  auf  viel  verwickeiteren  Bedingungen  beruhen  muss,  als 
dies  bei  dem  Wassertropfen  der  Fall  ist.  Wenn  jedoch  der  Wassertropfen 
auf  mechanistisch  verständliche  Weise  Erscheinungen  zeigt,  die  in  ihrem 
Endergebniss  Aehnlichkeit  mit  gewissen  des  lebenden  Organismus  haben, 
so  vermag  gerade  dies  die  Ueberzeugung  zu  befestigen,  dass  auch  jene 
Erscheinungen  der  wirklich  lebendigen  Körper  dem  mechanistischen  Ver- 
ständniss  zugänglich  sein  dürften.  Wer  solche  Schlussfolgerung  zieht,  wie 
Classen,  gehört  zu  jenen  Eliminationsvitalisten,  die  alles,  was  sich  mecha- 
nistisch erklären  lässt,  als  nicht  zu  der  eigentlichen  Lebensthätigkeit  gehörig 
erachten.  Wie  gesagt,  gelangt  Classen  schliesslich  zu  dem  Ergebniss, 
dass  in  der  „Form  etwas  Besonderes  stecken  müsse"  (pag.  14), 
und  dass  sie  gerade  das  Besondere  des  Lebenden,  das  Unterscheidende 
von  dem  Nichtlebenden  sei.  An  einem  etwas  eigentümlichen  Beispiel  wird 
darauf  zu  zeigen  versucht,  „dass  für  das  Zustandekommen  einer 
Form  ausser  dem  Gesetz  (das  hier  soviel  heissen  soll,  wie  Energie, 
Kräfte)  noch  eine  besondere  Prädisposition  bestehen  muss"; 
und  ferner  angedeutet,  dass  diese  Prädisposition  in  einer  Art  besonderer  Struktur 
der  lebenden  Substanz  („Verhältnisse  der  elementarsten  Theile  im  Körper") 
zu  suchen  sei.  Im  Allgemeinen  dürfen  wir  sagen,  diese  Prädisposition, 
welche  Classen  verlangt,  ist  nichts  anderes,  als  derjenige  innere  Beding- 
ungskomplex, der  ja  auch  unserer  Meinung  nach  vorhanden  sein  muss, 
wenn  eine  Form  bestehen  oder  sich  bilden  soll.  Wie  ein  solcher  Beding- 
ungskomplex entstehen  konnte,  das  ist  ja  das  grosse  Geheimniss;  und  die 
Frage,  ob  er  sich  auf  natürlichem  Wege  bilden  konnte,  oder  ob  etwas,  der 
nichtlebenden  Natur  Mangelndes  hinzukommen  musste,  ist  der  eigentliche 
Angelpunkt  des  Streits  zwischen  Mechanismus  und  Vitalismus. 

Auf  Grund  dieser  Ansichten  über  die  besondere  „Prädisposition"  der  Form 
kommt  dann  Classen  zu  folgender  Definition  des  Lebendigen  (p.  16):  „Ein 
Körper  ist  leb  endig,  wenn  er  unter  beständigem  Wechsel  des 

Anmerkung  No.   17. 


—     83     — 

Stoffes  immer  wieder  dieselbe  Form  erzeugt.  Welches  die 
typische  Form  ist,  ist  in  jedem  Fall  zu  bezeichnen,  dass  sie 
immer  neu  entsteht,  ist  zu  beobachten,  der  Stoffwechsel  ist 
nachzuweisen."  Ich  frage:  ist  denn  die  Form  etwas,  was  in  der  an- 
organischen Welt  so  ganz  fehlt;  muss  denn  bei  dem  von  Classen  an- 
geführten Wassertropfen,  der  'stets  seine  Form  beibehält,  nicht  auch  eine 
Prädisposition  für  diese  Form  vorhanden  sein,  und  nicht  ebenso  bei  jeder 
bestimmten  chemischen  Substanz,  die  stets  wieder  in  derselben  Krystallform 
krystallisirt?  Ich  frage  ferner,  ist  denn  etwa  der  Stoffwechsel  des  Organis- 
mus so  zu  verstehen,  dass  Stoff  und  Form  von  einander  unabhängig  wären, 
oder  wechselt  nicht  der  Stoff  im  Organismus  so,  dass  trotzdem  auch  das 
Stoffliche  sich  immer  wesentlich  gleich  bleibt  ?  Hat  denn  die  Form  für  das 
Erkennen  des  Lebendigen  die  Bedeutung,  welche  ihr  Classen  in  obiger 
Definition  zuschreibt?  Ist  es  wirklich  nothig,  dass  ich  beobachte,  „dass 
dieForm  immer  neu  entsteht",  um  zu  wissen,  ob  ein  Körper  lebendig 
ist  oder  nicht?  Um  letzteres  zu  entscheiden,  bedarf  es  doch  in  den  meisten 
Fällen  keiner  Beobachtung  des  Entstehens  neuer  Formen;  und  wie  viel  sterile 
lebende  Wesen  existiren,  welche  nie  eine  neue  Form  zu  erzeugen  vermögen, 
obgleich  Niemand  in  Verlegenheit  sein  wird,  zu  entscheiden,  ob  sie  leben 
oder  nicht.  In  diesem  Sinne  lässt  sich  daher  die  Form  nicht  in  die  Defi- 
nition des  Lebenden  einführen.  Und  wenn  heute  ein  Wesen  existirte,  das 
nie  im  Stande  wäre,  seine  typische  Form  neu  zu  erzeugen,  sondern  fort- 
gesetzt atypische,  abweichende  hervorbrächte,  es  würde  ihm  Niemand  den 
Charakter  des  Lebendigen  absprechen,  wenn  es  nur  im  übrigen  lebte. 

Nein  darin  liegt  das  Geheimniss  des  Lebens  nicht.  Man  könnte  viel- 
mehr mit  Bunge  in  gewissem  Sinne  sagen:  „Das  Geheimniss  des 
Lebens  liegt  in  der  Aktivität";  zwar  nicht,  in  dem  Bunge 'sehen  Sinne, 
in  einer  metaphysischen  Aktivität,  sondern  in  einer  auf  inneren  Bedingungen 
beruhenden,  von  gewissen  äusseren  abhängenden  Aktivität  des  lebenden 
Körpers,  die  sich  im  Wachsen,  Bewegen,  Vermehren  und  anderen  Thätig- 
keiten  äussert  oder  doch  äussern  kann,  und  wozu  die  Substanzen  und  Ener- 
gien durch  im  Innern  des  Lebenden  stattfindende  Prozesse,  auf  Grund  eines 
ganz  besonders  gearteten  Chemismus,  geliefert  werden. 

Hieraus  folgt  dann  als  letztes,  dass  eigentlich  der  eigenartige,  von  ganz 
besonderen  chemischen  Einrichtungen  bedingte  Stoffwechsel  des  Organis- 
mus dasjenige  ist,  was  ihn  in  letzter  Instanz  charakterisirt;  weil  er  es  ist, 
von  dem  jene  Aktivitätserscheinungen  abhängen.  So  sagt  denn  auch  z.  B. 
Hering  (1889  pag.  35)  sehr  treffend:  „Das  wesentliche  Merkmal,  durch 
welches  sich  für  die  physiologische  Betrachtung  die  lebendige  Substanz  von 
der  todten  unterscheidet,  ist  ihr  Stoffwechsel."  Die  Form  dagegen  hängt  als 
Gleichgewichtszustand  von  der  Erfüllung  formaler  physikalischer  Bedingungen 
ab;  sie  hat  für  den  einfachsten  Organismus,  der  ja  eigentlich  formlos  sein 
kann,  nur  eine  sehr  geringfügige  Bedeutung.  Im  komplizirten  Lebewesen  da- 
gegen erlangt  sie  allmälig  eine  immer  mehr  steigende  Bedeutung,  da  sie  es 
ist,  welche  das  Maschinelle  im  höheren  Organismus  darstellt.   Dieses  bewirkt, 

Anmerkung  No.   17.  6* 


—     84     — 

dass  die  Aktivität  der  lebendigen  Substanz  Erhaltungs-  oder  Zweckgemässes 
leistet,  wie  es  die  allmählich  sich  steigernden  Anforderungen  bedingen. 

Das  Verhältniss  der  Form  zu  der  Energie  bedarf  noch  einiger  Be- 
merkungen. Die  moderne  Energetik  nimmt  scheinbar  keine  Rücksicht  auf 
die  Form.  Da  jedoch  in  das  Mass  der  mechanischen  Energie,  '/'2  rnv2,  welches 
grundlegendes  Vergleichsmaass  für  Energie  überhaupt  ist,  die  Masse  ein- 
geht, und  Massenvergleichung  verschiedener  Substanzen  nur  auf  Grundlage 
gleichen  Volums,  also  einer  gewissen  Form  möglich  ist,  so  erscheint  auch 
der  Energiebegriff  nicht  unabhängig  von  der  Form,  sondern  setzt  sie  vor- 
aus. Ein  Begreifen  der  Formen  kann  daher  auch  wohl  nicht  durch  energe- 
tische Betrachtungen  ermöglicht  werden;  eher  kann  man  ja  umgekehrt  argu- 
mentiren,  insofern  die  Oberflächenenergie  und  Volumenergie  von  der  Form 
abhängen  und  die  Schwere  von  Lagebeziehungen,  also  formaler  Anordnung 
der  Dinge.  Indem  die  energetischen  Betrachtungen  von  den  formalen  Ver- 
hältnissen der  Dinge  möglichst  abstrahiren,  beschränken  sie  sich  auf  das 
Begreifen  des  allgemeinen  Verlaufs  der  Prozesse,  der  Zustandsänderungen, 
sind  dagegen  ausser  Stand  die  wirkliche  Welt,  in  welcher  Form  und  Anordnung 
die  Grundlage  bilden,  zu  begreifen.  Eine  Andeutung  dieses  Gedankens  finde 
ich  bei  O.  Wiener,  wenn  er  betont  (pag.  38),  dass  der  Energiebegriff  zur 
Darstellung  vieler  und  gerade  der  einfachsten  physikalischen  Erscheinungen, 
z.  B.  der  Bewegungserscheinungen,  nicht  umfassend  genug  sei;  denn  „es 
kommt  ihr"  (der  Energie)  „keine  Richtung  zu".  Hiermit  ist  eben  das 
Formale  betont,  welches  neben  der  Energie  als  bedingender  Faktor  in  alle 
Vorgänge  eingeht. 

18)  (zu  pag.  22)  Generatio  aequivoca.  Lotze's  Stellung  zur 
Frage  nach  der  Generatio  aequivoca  ergibt  sich  aus  seinem  Aus- 
spruch 1842  pag.  45.  „Sie  (die  Physiologie)  kann  als  ersten  Grund  dieser 
durch  den  Prozess  der  Gattung  kontinuirlich  fortlaufenden  Reihe  von  Ent- 
wickelungen  nur  eine  über  das  Gebiet  der  Naturwissenschaft  hinausliegende 
Schöpfung,  nicht  aber  eine  selbst  nach  mechanischen  Prinzipien  folgende 
zufällige  Entstehung  annehmen".  Im  Nachfolgenden  wird  dieser  Ausspruch 
jedoch  modifizirt,  da  er  ihn  nur  für  das  Entstehen  der  höheren  Organismen 
festhalten  will,  deren  komplizirter  Bau  die  direkte  Entstehung  unmöglich 
mache;  wogegen  die  Generatio  aequivoca  für  die  einfachsten  denkbar  sei; 
für  letztere  könne  hierüber  nur  die  Erfahrung  entscheiden.  (Vergl.  auch 
1856  pag.  92). 

Es  verdient  vielleicht  daran  erinnert  zu  werden,  dass  ein  so  enragirter 
Vitalist  wie  Schopenhauer  doch  keinerlei  Bedenken  gegen  die  Urzeug- 
ung hatte;  wie  ja  die  älteren  Vitalisten  diese  Meinung  fast  allgemein  ver- 
traten,    (s.  Parerga,  Philosophie  der  Natur,  pag.  162). 

Roux  (s.  Ges.-Abh.  I.  pag.  409 ff.)  hat  meiner  Ansicht  nach  das  Problem 
der  Urzeugung  insofern  nicht  unwesentlich  vertieft,  als  er  erläuterte,  dass 
auch  die  einfachsten  jetzt  lebenden  Organismen  (er  spricht  von  Moneren) 
schon  als  Produkte  phylogenetischerFortbildung  und  Entwickelung  anzusehen 
seien,    denen    eine  Epoche    allmählicher  Entwickelung   lebendiger  Substanz 

Anmerkung  No.   17—18. 


—     85     — 

vorausgegangen  sein  müsse.  Auch  ich  erachte  es  für  wahrscheinlich,  dass 
einfachste  Organismen  von  der  Form  und  den  Leistungen,  wie  wir  sie  heute 
kennen,  nicht  durch  einen  zufällig  zusammengetretenen  Bedingungskomplex 
entstanden ;  sondern  dass  zunächst  assimilationsfähige  organische  Substanz 
sich  bildete,  von  der  ausgehend  weitere  Entwickelung  statthatte.  Immer- 
hin sind  die  Leistungen  der  einfachsten  Organismen,  der  primitivsten  Bak- 
terien, doch  so  einfacher  Art,  dass  die  Möglichkeit  ihres  direkten  Entstehens, 
—  die  Existenz  hochkomplizirter  organischer  Stoffe  vorausgesetzt  —  unter 
gewissen  Bedingungen  nicht  ganz  undenkbar  scheint. 

19)  (zu  pag.  24).  Ueber  Zufall  und  Zweck  vergl.  auch  die,  sich  mit 
meinen  Anschauungen  vielfach  berührenden  Erörterungen  von  Albrecht 
(1399  pag.  52—56,  sowie  die  gute  Kritik  1900). 

20)  (zu  pag.  28)  Zufall.  Schon  Mach  (1896  pag.  438 ff.)  würdigte  die 
Bedeutung  des  Zufalls  für  die  Entwickelung  der  Technik  und  Wissenschaft 
richtig.  Als  Beispiele  für  die  zufälligen  Fortschritte  der  Wissenschalt  führt 
er  an:  die  Galvani'sche  Entdeckung,  die  Beobachtung  der  Lichtpolarisation 
durch  Malus,  des  Sehpurpurs  durch  Boll  und  der  sog.  X-strahlen  durch 
Röntgen.  „Analoge  Prozesse  laufen  im  technischen  Leben  ab,  und  können 
durch  die  Erfindung  des  Fernrohres,  der  Dampfmaschine,  der  Lithographie, 
der  Daguerrotypie  u.  s.  w.  erläutert  werden".  Auch  für  die  Entwickelung 
der  ersten  Kultur  scheint  ihm  der  Zufall  massgebend. 

Charakteristisch  für  Mach  ist,  dass  er  auch  den  gesammten  Ent- 
wickelungsgang  menschlichen  Wissens  für  einen  mit  der  Darwinschen 
Ansicht  über  die  Entwickelung  der  Organismen  vergleichbaren  hält.  Er 
spricht  daher  von  „Umbildung  und  Anpassung  im  naturwissen- 
schaftlichen Denken".  Aehnliche  Anschauungen  wurden  nach  seiner 
Angabe  auch  schon  von  Spencer  entwickelt.  Ich  bin  der  Meinung,  dass 
Mach  auch  in  diesem  Punkt  wesentlich  recht  hat;  indem  er  annimmt,  dass 
sich  das  Denken  durch  Associationen  den  beobachteten  Vorgängen  „an- 
passt",  und  dass  bei  auftretenden  neuen  Erscheinungen,  welche  mit  dem 
seitherigen  Denken  kontrastiren  (Problemen),  eine  entsprechende  Umwand- 
lung der  Denkgewohnheit,  eine  neue  Anpassung  statthaben  müsse.  Zufügen 
möchte  ich  noch,  dass  diese  Umbildung  des  Denkens  bei  Eintritt  einer  neuen 
Erscheinung  (Thatsache)  zu  sehr  verschiedenen  Ergebnissen  (Variationen) 
führen  kann,  von  denen  jedoch  nur  dasjenige  sich  erhalten  wird  ,  welches 
zweckmässig  (ökonomisch  nach  Mach)  ist,  d.  h.  nicht  zu  Erfahrungswider- 
sprüchen führt;  und  welches  von  Erfahrungen  ausgeht,  nicht  von  willkür- 
lichen Erfindungen,  da  letztere  eine  Komplikation,  nicht  eine  Vereinfachung 
oder  Oekonomie  des  Wissens  herbeiführen  würden. 

Dass  auch  die  entgegengesetzte  Meinung  über  das  Verhältniss  von  Zu- 
fall und  physikalischen  Entdeckungen  vertreten  wird,  beweist  folgendes 
Citat  aus  O.  Lehmann's  Schrift  „Physik  und  Politik  (Karlsruhe,  G. 
Braun,  1901  pag.  54).  ,,Nie  ist  eine  physikalische  Entdeckung 
durch  Zufall  gemacht  worden".  Diese  fast  paradox  klingende  Be- 
hauptung, welche  ja,  so  zu  sagen,    a  priori  unmöglich  erscheint,  da  für  die 

Anmerkung  No.    19  —  20. 


—     86     — 

Mehrzahl  der  grundlegenden  Entdeckungen  gar  kein  anderer  Weg  als 
der  zufällige  denkbar  ist  —  denn  wie  anders  sollte  z.  B.  entdeckt  wor- 
den sein,  dass  der  Magnetstein  Eisen  anzieht?  klärt  sich  jedoch  bei 
genauerem  Zusehen  auf.  Lehmann  fährt  nämlich  fort:  „Stets  ist  sie 
(die  physikalische  Entdeckung)  herangereift  durch  die  rastlosen  Be- 
mühungen und  das  unablässige  Forschen  sehr  Vieler  und  nicht  eines  Ein- 
zelnen .  .  .  ."  Hieraus  folgt,  dass  Lehmann  hier  unter  Entdeckung  eigent- 
lich den  weiteren  Ausbau  einer  ursprünglichen  Entdeckung  zu  ihrer  späteren 
vollendeten  Gestalt  versteht,  welcher  natürlich  nicht  das  Ergebniss  eines 
Zufalls  ist,  wohl  aber  unter  dem  Einfluss  zahlreicher  zufälliger  Gedanken- 
kombinationen vieler  Forscher  zu  Stande  kam,  wie  ich  dies  schon  darzulegen 
suchte.  Ich  kann  daher  nur  wiederholen,  dass  der  Zufall  auch  für  die 
Entwickelung  der  Physik,  wie  die  jeder  Wissenschaft,  eine  wesentliche 
Bedeutung  hat. 

21)  (zu  pag.  31).  Wenn  es  erlaubt  ist,  sich  über  die  Dunkelheit  eines 
Begriffes  zu  beklagen,  so  gilt  dies  gewiss  für  den  des  Zwecks.  Zwar 
was  der  Zweckbegriff  besagt,  das  ist  klar;  dagegen  welcher  Zweck  bei 
irgend  einem  besonderen  Geschehen  vorliegt,  das  weiss  ich  doch  zunächst 
nur  für  meine  eigenen  Handlungen  sicher,  für  die  der  Mitmenschen  in  der 
Regel  nur  durch  ihre  Aussagen;  sehr  häutig  bleibt  mir  aber  schon  hier  der 
Zweck  höchst  dunkel.  Stets  aber  wird  die  Feststellung  des  Zweckes  der 
Handlung  eines  Anderen  (insofern  er  ihn  nicht  selbst  angibt)  ein  mehr  oder 
minder  sicheres  Urtheil  sein,  zu  dem  ich  auf  Grund  derjenigen  Erfahrungen 
gelange,  welche  ich  über  mein  eigenes  zweckmässiges  Handeln  besitze; 
d.  h.  ich  werde  analysiren  müssen,  welche  Wunschvorstellung  suchte  der 
Betreffende  durch  seine  Handlung  zu  erreichen.  —  Eine  andere  Art  der  Be- 
urtheilung  der  Zweckmässigkeit  einer  Handlung  wäre  dagegen  die,  dass 
ich  jene  Handlung  im  Hinblick  auf  ein  Urtheil,  welches  ich  mir  über  das 
wünschenswerthe  Verhalten  des  Betreffenden  gebildet  habe,  als  dessen 
Zweck  beurtheile.  Dabei  darf  jedoch  nicht  vergessen  werden,  dass  ich  die 
Handlung  dann  nicht  hinsichtlich  ihres  immanenten  Zwecks  beurtheile, 
sondern  mittelst  eines  von  mir  angelegten  Zweckmässigkeits- Massstabes. 
Wenn  sich  ein  Mensch  todtschiessen  will  und  dies  richtig  erreicht,  so  war 
diese  Handlung  durchaus  zweckmässig,  insofern  er  den  Wunsch  hatte, 
sich  zu  ermorden  und  hierzu  die  richtigen  Mittel  wählte ;  dagegen  kann  mir 
diese  Handlung  im  höchsten  Masse  unzweckmässig  erscheinen,  im  Hinblick 
auf  die  Familie  des  Selbstmörders,  welche  dadurch  in  Noth  und  Elend  ge- 
räth.  —  Im  Hinblick  auf  das  Geschehen  in  der  Natur,  für  welches  ich  Motive 
oder  Zwecke  nie  wirklich  kenne,  wird  daher  die  Beurtheilung  stets  von 
der  zweiten  Art  sein;  ich  muss  mich  stets  zuerst  schlüssig  machen,  zu  ur- 
theilen,  was  ich  denn  eigentlich  erwarte,  dass  geschehen  sollte.  Für  die 
unorganische  Natur  wird  nun  allgemein  zugegeben,  dass  unter  bestimmten 
Bedingungen  nur  eines  geschehen  kann;  daher  entzieht  sie  sich  einer 
Zweckbetrachtung  in  ihrem  Einzelgeschehen  durchaus.  In  der  lebenden 
Welt  dagegen  variirt  das  Geschehen  im  Organismus  unter  wechselnden  und 

Anmerkung  No.  20 — 21. 


—     87     — 

nicht  scharf  präcisirbaren  Bedingungen  so  sehr,  dass  sich  ein  Urtheil  über 
das,  was  die  einzelnen  Theile  eigentlich  sollten,  was  ihr  Zweck  oder  Ziel 
sei,  aufdrängt.  Dabei  ist  jedoch  nie  zu  vergessen,  dass  dies  eben  ein 
Urtheil  ist,  welches  nur  die  bekannte  Normalleistung  der  Theile  mit  dem 
Charakter  des  Sollen  ausstattet.  Sobald  wir  den  Gesammtorganismus  in 
seiner  Umgebung  betrachten,  wird  dies  Zweckurtheil  meist  höchst  unbe- 
stimmt und  willkürlich.  Was  soll  er  hier?  Er  tritt  wie  ein  anorganisches, 
regelmässiges  Geschehen  in  das  Gesammtgetriebe  ein.  Bei  dergleichen  all- 
gemeinen Erscheinungen  in  der  Natur  tritt  eben  die  Willkürlichkeit  und 
Bedeutungslosigkeit  der  ganzen  Zweckbeurtheilung  hervor.  —  Nehmen  wir 
die  häufig  erörterte  Angelegenheit  der  massenhaften  Ueberproduktion  wieder 
zu  Grunde  gehender  Keime  in  der  Lebewelt,  die  vielfach  als  unzweck- 
mässig, als  Verschwendung  bezeichnet  und  gegen  die  Ansicht  von  der  Zweck- 
mässigkeit aller  biologischen  Vorgänge  eingewendet  wurde.  C.  E.  v.  Bär 
setzte  diesem  Vorwurf  die  schönen  Worte  entgegen:  „Die  Sparsamkeit 
aber,  die  eine  Nothwendigkeit  für  den  Armen,  ein  Vortheil  für  den  Wohl- 
habenden, eine  Zierde  für  den  Reichen,  wird  wenigstens  ganz  überflüssig  und 
zwecklos  bei  dem  unendlich  Reichen."  —  Will  ich  dieses  Problem  vom  Stand- 
punkte der  Zweckmässigkeit  wirklich  behandeln,  so  muss  ich  doch  zunächst 
ein  Urtheil  darüber  gewinnen,  welchen  Zweck  denn  die  Natur  bei  dieser 
Erscheinung  verfolge.  Gerade  dies  aber  geschieht  in  dem,  was  Bär  sagt, 
nicht;  vielmehr  wird  darin  nur  ausgesprochen,  dass  Sparsamkeit  dieser 
Zweck  nicht  sein  könne,  indem  diese  für  die  Natur  „zwecklos"  wäre. 
Demnach  bliebe  eben  auch  hier  wieder  als  Zweck  nur  das  übrig,  was  eben 
gescnieht,  und  was,  natürlich  ebenso  unberechtigt,  da  gleichfalls  von  anthro- 
pomorph-teleologischer  Beurtheilung  diktirt,  als  Verschwendung  bezeichnet 
wurde.  Die  teleologische  Beurtheilung  fördert  eben  hier  nicht  im  geringsten. 
Dagegen  können  wir  auf  Grund  der  Entwicklungslehre  diese  Erscheinung 
zwar  nicht  als  eine  zweckmässige  verstehen,  aber  doch  als  einen  Faktor, 
ohne  dessen  Bestehen  die  Organismenwelt  sich  nicht  in  der  Weise  hätte 
entwickeln  können,  wie  wir  sie  heute  vorfinden. 

22)  (zu  pag.  31).  C.  E.  v.  Bär,  welcher  die  sog.  „Zielstrebigkeit" 
als  teleologisches  und  eingestandenermassen  metaphysisches  Prinzip  für  das 
Begreifen  des  Lebenden  nothwendig  erachtete,  war  doch,  im  Gegensatz  zu 
neueren  Vitalisten,  darüber  klar,  dass  zweckmässiges  Geschehen  als  Er- 
klärungsprinzip, ohne  Voraussetzung  eines  vernünftigen,  zwecksetzenden 
Bewusstseins,  eine  willkürliche  Hypothese  sei.  Er  sagt  hierüber  ganz  treffend  : 
,, Einen  Zweck  können  wir  uns  nicht  anders  denken  als  von  einem  Wollen 
und  Bewusstsein  ausgehend  In  einem  solchen  wird  denn  auch  das  Ziel- 
strebige seine  tiefste  Wurzel  haben,  wenn  es  uns  als  ebenso  vernünftig  wie 
nothwendig  erscheint"  (74/75  Reden  II  pag.  473  citirt  nach  S  t  ö  1  z  1  e).  „Es 
sind  Gedanken  oder  Aufgaben,  welche  die  Naturgesetze  bei  der  Erzeugung 
der  Thiere  verfolgt  haben,  darum  findet  man  die  einzelnen  Theile  immer 
in  Harmonie".  Dies  vernünftige  metaphysische  Prinzip  erscheint  bei  Bär 
schliesslich  als  „geistiger  Weltgrund",  als  „Schöpfer". 

Anmerkung  No.  21 — 22. 


—     88     — 

Wenn  wir  uns  hier  gegen  ein  teleologisch-vitalistisches  Erklärungs- 
prinzip  der  Organismen  verwahren,  so  haben  wir  dabei  nur  das  Eingreifen 
eines  solchen  Prinzips  in  die  kausale  Abhängigkeit  des  Geschehens  inner- 
halb der  bestehenden  Welt  im  Auge.  Sobald  wir  dagegen  in  das  Meta- 
physische fortschreiten,  d.  h.  nach  dem  fragen,  was  hinter  oder  vor  dem 
liegt,  von  dem,  als  gegeben  ausgehend,  wir  zu  begreifen  vermögen ;  wenn 
wir  nach  letzten  Gründen  fragen,  oder  auch  nur  bedenken,  dass  in  der  nicht 
künstlich  von  uns  geregelten  Welt  das  meiste  Geschehen  für  uns  ein  zu- 
fälliges ist,  obgleich  alles  Einzelne  kausal  bedingt  erscheint,  so  können  wir 
mit  Niemanden  rechten,  der  an  den  Anfang  ein  teleologisch-metaphysisches 
Prinzip  stellt,  welches  den  Gang  des  Ganzen  so  vorausgesehen  und  ge- 
ordnet habe,  dass  er  in  der  gewünschten  und  als  zweckmässig  erachteten 
Weise  verlief. 

23)  (zu  pag.  32).  So  sagt  z.  B.  G.  Wolff  (1894,  3.  Abh.) :  „Die  zweck- 
mässige Anpassung  ist  das,  was  den  Organismus  zum  Organismus  macht, 
was  sich  uns  als  das  eigentliche  Wesen  des  Lebendigen  darstellt.  Wir 
können  uns  keinen  Organismus  denken  (!)  ohne  dieses  Charakteristikum". 
Hierauf  könnte  man  fragen:  Ist  eine  nur  wenige  Stunden  oder  Tage 
lebensfähige,  also  gewiss  sehr  unzweckmässige  Missgeburt  kein  Organismus? 

24)  (zu  pag.  34)  Darwinismus.  Wie  aus  dem  Gesagten  hervorgeht, 
erscheint  mir  die  Stellungnahme  zur  Darwinschen  Lehre  oder  irgend 
einer  möglichen  Lehre,  welche,  unter  Voraussetzung  der  prinzipiellen  Iden- 
tität des  Geschehens  in  der  Welt  der  Anorganismen  und  der  Organismen, 
die  Entstehungsmöglichkeit  erhaltungs-  oder  zweckmässig  organisirter,  sowie 
innerhalb  gewisser  Grenzen  entsprechend  reagirender  Lebewesen  begreiflich 
macht,  als  der  eigentlich  springende  Punkt  in  dem  Problem  des  Mecha- 
nismus und  Vitalismus.  Ich  muss  mich  jedoch  hier  damit  begnügen, 
diese  Meinung  hervorzuheben,  indem  es  unmöglich  ist,  diese  Darstell- 
ung durch  eine  eingehende  kritische  Untersuchung  über  die  Grundlagen 
des  Darwinismus  und  der  sonstigen  Versuche  zur  Erklärung  der  Zweck- 
mässigkeit ins  Ungemessene  zu  erweitern.  —  Betonen  muss  ich  jedoch, 
dass  mich  das  Studium  der  neueren  Kritiker  der  Darwinschen 
Lehre  nicht  davon  überzeugte,  dass  sie  „ein  Kuriosum  unseres  Jahr- 
hunderts wie  die  Hegel 'sehe  Philosophie  sei";  obgleich  ich  dies  Urtheil 
hinsichtlich  der  letzteren  theile.  Im  Gegentheil  scheint  mir  die  Meinung 
Nägeli's,  eines  Kritikers  des  speziellen  Darwinismus,  sehr  zutreffend 
(1884  pag.  507):  „Der  geniale  Gedanke  Darwin's,  dass  in  der  orga- 
nischen Natur  nur  solche  Einrichtungen  zur  Ausbildung  gekommen  sind, 
welche  dem  individuellen  Träger  Nutzen  gewähren,  ist  so  einfach,  so 
naturgemäss  und  so  sehr  in  Uebereinstimmung  mit  aller  Erfahrung,  dass 
die  hier  allein  kompetente  Physiologie  unbedingt  zustimmt  und  sich 
höchstens  verwundert,  dass  nicht  schon  langst  ein  Columbus  dieses  physio- 
logische Ei  festgestellt  hat".  Inwiefern  der  Darwinismus,  der  historisch 
Gewordenes  zu  erklären  versucht,  dies  erreichen  kann,  wurde  schon  im 
Text  pag.  6—7,   im  Hinblick  auf  die  Natur  alles  historisch  Entstandenen,  zu 

Anmerkung  No.  22 — 24. 


—     89     — 

erläutern  versucht.  Ich  bin  auch  nicht  der  Meinung,  das  die  ursprüngliche 
Darwinsche  Lehre  schon  die  mögliche  allgemeine  Lösung  des  Problems 
enthielt;  wenn  ich  auch  den  Kritikern  nicht  zustimme,  welche  der  Lehre 
einen  Hauptvorwurf  daraus  machen,  dass  sie  ja  die  Bildung  und  Ent- 
stehung der  Form,  d.  h.  die  Variation,  nicht  erkläre,  sondern  als  gegebene 
Thatsache  zu  Grunde  lege.  Es  war  gar  nicht  Darwin 's  Bestreben,  die 
Form  und  ihr  Hervorgehen  aus  physiko-chemischen  oder  sonstigen  Beding- 
ungen erklären  zu  wollen ,  obgleich  seine  Nachfolger  häufig  genug  ver- 
kannten, dass  dies  Problem  als  ein  besonderes  neben  dem  Darwinismus 
stehe,  es  vielmehr  durch  ihn  gelöst  wähnten.  Darwin  war  nicht  ohne 
Schuld  an  der  Verbreitung  solch'  irriger  Meinungen.  Indem  er  in  seiner 
Lehre  der  Uebertragung  erworbener  Charaktere  eine  wichtige  Stelle  anwies 
und  andererseits  das  Entstehen  solch'  erworbener  Charaktere  auf  äussere 
Einwirkungen  zurückzuführen  suchte,  erweckte  er  selbst  die  Vorstellung, 
dass  auf  diesem  Wege  eine  mechanistische  Lösung  des  Problems  der 
Formbildung  möglich  sei. 

Auf  solche  Weise  wurde  er  denn  auch  zu  jener  willkürlichen  Um- 
schreibungshypothese, der  Pangenesis,  geführt,  welche  zuerst  dazu  beitrug, 
durch  ihre  Konsequenzen  seinen  unhaltbaren  Standpunkt  in  der  Variations- 
frage zu  durchschauen. 

Mit  der  Ansicht,  dass  die  vererblichen  Variationen  Keimvariationen  sind, 
welche  ich  schon  1876  vertrat,  wurde  die  Lehre  von  diesen  mechanistischen 
ungerechtfertigten  Ansprüchen  befreit  und  auf  ihren  naturgemässen  Boden 
zurückgeführt,  d.  h.  den  historischen  Sie  sucht  die  Möglichkeit  zu  erweisen, 
dass  unter  den  erfahrungsgemäss  vorhandenen  Bedingungen  das  gegebene 
oder  entstehende  Zweckmässige  sich  erhalte,  das  Unzweckmässige  dagegen 
ausgemerzt  werde,  und  dass  auf  solche  Weise,  mit  Rücksicht  auf  die  un- 
zweifelhafte Veränderung  der  äusseren  Bedingungen  im  Laufe  der  erd- 
geschichtlichen Zeiträume,  eine  Umgestaltung  der  Organismenwelt,  unter 
steter  Wahrung  zeitlicher  und  örtlicher  Zweck-  und  Erhaltungsmässigkeit, 
eine  logisch  nothwendige  Folge  aus  den  gegebenen  Prämissen  sei.  Dass 
diese  Lehre  die  Nöthigung  enthalte,  es  müsse  die  Umbildung  oder  Variation 
in  Inkrementen  oder  Differentialen  fortschreiten,  kann  ich  nicht  zugeben, 
indem  dies  sogar  für  viele  Keimvariationen,  wie  Vermehrung  der  Segmente 
und  Radienzahl,  Vermehrung  von  Organen  überhaupt,  ausgeschlossen  er- 
scheint. Dagegen  ist  auch  bei  Differentialvariation  die  Auslese  eines  ge- 
wissen Durchschnittes  durchaus  nichts  Unmögliches. 

Ebensowenig  erblicke  ich  darin,  dass  zweckmässige  Variationen  angeb- 
lich nur  in  geringer  Zahl  auftreten  sollen,  eine  besondere  Schwierigkeit.  Denn 
wenn  es  sich  um  Keimvariationen  handelt,  so  müssen  diese  irgendwie  bedingt 
sein.  Unter  diesen  Umständen  liegt  es  doch  am  nächsten,  die  Aenderung  der 
äusseren  Verhältnisse,  welche  auch  allein  die  Bedingungen  für  die  Ver- 
änderung der  Organismen  enthalten  müssen,  als  diejenigen  zu  betrachten, 
welche  den  Bedingungskomplex  der  Propagationszellen  so  änderten,  dass 
ein  abweichendes  Entwicklungsprodukt  hervorging.     Wenn  es  sich  aber  um 

Anmerkung  No.  24. 


—     90     — 

allgemeine  Aenderung  der  äusseren  Bedingungungen  handelt,  welche  auf 
die  Mehrzahl  der  vorhandenen  Individuen  in  gleicher  Weise  wirkten,  so  ist 
auch  die  Wahrscheinlichkeit  sehr  gross,  dass  die  Variation  in  derselben 
Weise  bei  zahlreichen  Individuen  auftritt.  Es  wird  sich  dann  darum 
handeln,  ob  unter  den  gegebenen  Bedingungungen  ein  mehr  oder  weniger 
zweckmässiges  Variiren  möglich  ist  oder  nicht.  Im  letzteren  Falle  wird 
die  Art  aussterben. 

25)  (zu  pag.  34).  Die  Schopenhauer'sche  Argumentation  halte  ich 
jedoch  auch  vom  teleologischen  Standpunkt  aus  nicht  für  ganz  richtig.  Die 
„Termitennester"  als  solche  bilden  nicht  das  Zweckmotiv,  wenn  der  Vorgang 
nach  Analogie  einer  bewussten  zweckmässigen  Handlung  gedacht  wird;  denn 
die  Zweckvorstellung  wäre  doch  nicht  das  Termitennest,  sondern  das 
Aus  fressen  des  Termitennestes  mit  einer  dazu  geeigneten 
langen  Zunge.  Die  Termitennester  bedingten  daher  nur  das  Eintreten 
des  eigentlichen  Zweckmotivs,  ebenso  wie  sie  nach  der  Darwinschen 
oder  einer  ähnlichen,  nicht  teleologischen  Lehre  als  eine  der  Bedingungen 
für   die  jetzige  Existenz   der   langen  Zunge    des  Ameisenbären   erscheinen. 

26)  (zu  pag.  38).     Vergl.  Alb  recht  1900. 

27)  (zu  pag.  45).  Gegen  Driesch's  Folgerung  eines  spezifisch  vita- 
listischen  Geschehens  aus  dem  sog.  „Lokalisationsproble  m"  sprachen 
sich  vor  einiger  Zeit  schon  Morgan  (1900  pag.  108)  und  Doflein  (1900 
pag.  141  ff.)  aus;  beide  versuchten  jedoch  keine  speziellere  Begründung 
ihrer  Ansicht,  sondern  bezweifelten  nur,  dass  ein  solch'  vitalistischer 
Schluss  aus  den  beobachteten  Thatsachen  zwingend  folge. 

Ich  habe  das  sog.  Gesetz  vitalistischen  Geschehens,  wie  es  Driesch 
besonders  auf  Grund  der  Beobachtungen  über  die  Reparationsvorgänge  der 
Tubularia  entwickelt,  bei  den  obigen  Erörterungen  als  zu  Recht  bestehend 
vorausgesetzt.  Dass  dies  jedoch  streng  zutrifft,  scheint  mir  aus  den  vorliegen- 
den Ergebnissen  nicht  zu  folgen.  Sicher  steht  doch,  dass  die  Reparation 
eines  vollständigen  Hydranthen  nur  von  Stammstücken  geschieht,  welche 
eine  gewisse  Länge  haben.  Stücke,  die  unter  dieser  Länge  bleiben,  bilden 
in  der  Regel  unvollständige  Polypen  ohne  Stiel,  oder  nur  ein  der  Rüssel- 
region entsprechendes  Gebilde,  oder  eine  Doppelbildung  dieser  Art,  häufig 
nur  den  oralen  Tentakelkranz ;  auch  sind  ihre  Tentakel  an  Zahl  häufig  ver- 
ringert. Ganz  kurze  Stücke  endlich  (von  V<  mm  und  kürzer)  vermögen 
nie  mehr  zu  regeneriren*).  Hieraus  geht  doch  hervor,  dass  es  für  solch' 
kleine  Stücke  überhaupt  kein  typisches  „Endziel  gibt,  welches  erreicht 
werden  soll",  sondern  dass  dies  Endziel  in  den  verschiedenen  Fällen  selbst 
sehr  verschieden  ist  und  jedenfalls  abhängig  von  der  Quantität  der  Operation, 
der  sog.  Ursache.  Es  unterliegt  daher  keiner  Frage,  dass  die  Gesammtheit 
der  durch  die  Operation  geschaffenen  neuen  Bedingungen  das  Endziel 
hervorgehen   lässt  und    dass  nur    unter  nicht   zu    stark   alterirten   gewissen 


*)    Siehe  hierüber  ausser  bei    Driesch    auch    Morgan:    „Reparation  in  Tu- 
bularia".    Arch.   f.  Entwickl.  Median.  XI.   (1901)  pag.  346—381. 

Anmerkung  No.  25—27. 


—     91     — 

Bedingungen  dieses  Endziel  das  gewöhnliche  typische  ist,  während  bei  zu 
starker  Abweichung  der  neugeschaffenen  Bedingungen  die  normale  Gleich- 
gewichtsform nicht  mehr  erreicht  werden  kann.  Bei  typischen  sog.  He tero- 
morphosen  tritt  diese  Abweichung  des  Endziels  von  dem  normalen  Zu- 
stand noch  deutlicher  hervor.  Das  ganze  System  steuert  hier  unter  Umständen 
einem  Endziel  zu,  wie  es  normaler  Weise  in  der  Natur  nirgend  vertreten 
ist.  Ebenso  ist  es  bei  der  sog.  Lithiumlarve  der  Seeigel,  die  Herbst  ent- 
deckte. Wie  sollen  wir  uns  unter  diesen  Umständen  die  Abhängigkeit  des 
Entwicklungsganges  von  dem  zu  erreichenden  Endziel  denken  ?  Wir  wissen 
experimentell,  dass  der  Zusatz  von  Lithiumsalzen  zum  Meerwasser  Bedingung 
der  Entwickelung  dieser  abweichenden  Larven  ist;  soll  man  sich  etwa  vor- 
stellen, dass  das  Lithium  auf  das  zu  erreichende  Endziel  verändernd  wirkt 
und  dass  dieses  nun  rückwirkend  den  Gang  der  Entwickelung  modifizirt? 
Mir  scheint  in  diesen  Fällen   die   kausale  Betrachtung   die    einzig   zulässige. 

28)  (zu  pag.  46).  Bunge's  (1899)  Vitalismus  ist  nicht  ganz  leicht  zu 
erfassen.  Er  gründet  sich  hauptsächlich  auf  die  Behauptung,  dass  der 
Mechanismus  oder  der  Materialismus,  welch'  beide  er  für  identisch  erachtet, 
nichts  zu  erklären  vermöge ,  und  dass  alles  mechanistisch  Erklärbare 
nicht  zu  den  Lebenserscheinungen  gehöre.  „Das  Wesen  des  Vitalismus 
besteht  darin,  dass  wrir  den  allein  richtigen  Weg  der  Erkenntniss  ein- 
schlagen, dass  wir  ausgehen  von  dem  Bekannten,  von  der  Innenwelt,  um 
das  Unbekannte  zu  erklären,  die  Aussenwelt."  „In  der  Aktivität,  da  steckt 
das  Geheimniss  des  Organismus",  d.  h.  in  der  Aktivität,  wrelche  wir  durch 
den  „inneren  Sinn"  erfahren.  Unter  dieser  Aktivität  lässt  sich  jedoch 
schwerlich  etwas  anderes  denken,  als  das,  was  Wille  genannt  wird;  so 
gelangten  wir  ungefähr  zu  der  Scho  penh  a  uer' sehen  Metaphysik,  welche 
den  Willen  für  den  letzten  Grund  der  Erscheinungen  erachtet.  Dass  diese 
Auffassung  eine  metaphysische  ist,  ist  klar,  da  ja  die  Koordination  zwischen 
Physischem  und  Psychischem  uns  zweifellos,  dagegen  eine  kausale  Ab- 
hängigkeit des  Physischen  vom  Psychischen  und  umgekehrt  unbegreiflich  ist. 
Wir  können  das  Physische  kausal  nur  aus  physischen,  das  Psychische  nur 
aus  psychischen  Ursachen  begreifen.  Dazu  gesellt  sich  ferner,  was  in 
neuerer  Zeit  deutlicher  erkannt  wurde  (mir  persönlich  schon  in  der  Mitte 
der  siebziger  Jahre,  als  ich  Schopenhauer  zuerst  studirte,  auffiel), 
dass  der  sog.  Wille  gar  nicht  in  dem  Sinne  von  etwas  Aktivem  bei  der 
Willenshandlung  sich  geltend  macht,  sondern  nur  als  eine  Vorstellung  der 
Willenshandlung.  Ich  persönlich  wenigstens  vermag  in  mir  bei  Ausführung 
einer  Handlung  nichts  wahrzunehmen,  was  ich  als  einen  aktiven  Willen 
bezeichnen  könnte.  Seltsam  wird  jedoch  diese  an  Schopenhauer  sich 
lehnende  Auffassung  Bunge's  dadurch,  dass  er  diese  Aktivität  nicht  wie 
ersterer  sämmtliehen  Erscheinungen  zu  Grunde  legt,  sondern  sie  ausschliess- 
lich auf  die  Organismenwelt  beschränken  will.  Aus  dem  dritten  Kapitel 
geht  dies  klar  hervor,  wo  Bunge  sich  für  die  anorganische  Welt  als  über- 
zeugten Mechanisten,  ja  Mechaniker  erklärt,  der  alle  Verursachungen  in 
Bewegungsvorgängen,    theils   sichtbaren,    theils    unsichtbaren    (molekularen) 

Anmerkung  No.  27 — 28. 


—     92     — 

erblickt.  Demnach  geschieht  nach  ihm  auch  im  Organismus 
alles  mechanisch;  nur  vor  dem  Psychischen  stockt  er  und 
sagt:  „Ob  der  letzte  Bewegungsvorgang,  der  als  unmittelbare  Folge  des 
Reizes  im  Centrum  anlangt,  in  die  Empfindung  sich  umsetzt  (!),  oder  ob 
er  nur  den  Anstoss  gibt  zur  Entstehung  der  Empfindungen  -  etwa  aus 
chemischen  Spannkräften  (!!)  oder  ob  hier  eine  ganz  besondere  Art  des 
Kausalzusammenhangs  statthat  —  das  können  wir  nicht  entscheiden".  Ja 
Bunge  wirft  sogar  die  Frage  auf :  „ob  die  Seelenerscheinungen  umgesetztes 
Sonnenlicht  sind?"  Wie  ein  Vitalismus,  welcher  das  Geheimniss  des  Lebens 
in  der  „Aktivität"  sucht,  gleichzeitig  die  Möglichkeit  vertreten  kann,  die 
Seelenerscheinungen  aus  materiellen  Bewegungserscheinungen  zu  begreifen, 
vermag  ich  nicht  einzusehen. 

Der  Gesichtspunkt,  dass  die  vitalistische  Auffassung  neben  der  mecha- 
nistischen als  gleichberechtigt  anzuerkennen  sei,  weil  „die  mechanisti- 
sche Betrachtung  zur  Zeit  so  wenig  erklärt  habe",  ist  auch  der 
Borodin's  (1898).  Es  ist  dies  ein  Standpunkt,  der  zwischen  zwei  Gegen- 
sätzen zu  vermitteln  sucht,  die  sich  gegenseitig  ausschliessen,  die  man 
nicht  etwa  zu  einem  mittleren  Durchschnitt  verschmelzen  kann.  Es  ist 
ein  Standpunkt,  wie  er  bezeichnender  Weise  gelegentlich  von  Manchen 
in  dem  Determinationsproblem,  der  Frage  nach  der  Freiheit  oder  der 
Determination  des  Willens,  eingenommen  wurde,  mit  der  Behauptung:  Der 
Wille  sei  eigentlich  weder  frei  noch  unfrei,  sondern  etwas  mittleres;  während 
doch  frei  und  unfrei  Gegensätze  sind,  von  denen  einer  den  andern  aus- 
schliesst.  So  ist  es  auch  mit  Mechanismus  und  Vitalismus;  eine  Vereinigung 
beider  zu  etwas  mittlerem  ist  nicht  denkbar;  und  erst  recht  nicht,  wenn  ich 
die  sog.  Lebenskraft,  „deren  Vorhandensein  in  lebenden  Körpern  zwar  un- 
bewiesen sei",  mit  Borodin  ganz  in  der  Weise  der  alten  Vitalisten  auf- 
fasse, als  eine  „schöpferische  Kraft",  „die  bewusst  oder  unbewusst,  aber 
sicher  in  vernünftiger  Weise  (!)  den  Stoff  und  die  Kräfte  der  todten  Natur 
gebraucht,  indem  sie  dieselben  einem  bestimmten  Ziele,  der  Erbauung  und 
Erhaltung  des  Organismus,  zulenkt."  Im  Grunde  genommen  ist  dies  der 
alte  Animismus,  die  alte  Anschauung  von  der  bewussten  oder  unbewussten 
Lebensseele. 

Die  Verachtung,  mit  der  Borodin  auf  die  seitherigen  Ergebnisse 
biologischer  Forschung  blickt,  erleichtert  ihm  diese  Stellungnahme.  Nach 
ihm  ist:  „das  Protoplasma  gegenwärtig  nichts  anderes,  als  ein  Lagerhof  für 
unser  Unwissen;"  etwas,  das  „auch  heute  noch  ein  völliges  X  darstellt."  Gar 
keine  Bedeutung  haben  nach  ihm  die  Versuche  an  „künstlichen  Amöben";  sie 
stehen  auf  einer  Stufe  mit  den  Uhrwerksautomaten  vonVaucanson  und 
den  beiden  Droz;  „das  Wesentliche  bleibt  in  beiden  Fällen  die  künstliche 
Hervorbringung  der  äusseren  Erscheinung  des  Lebens  aus  einem  Mate- 
rial, das  sicher  tod  ist."  Es  dürfte  Borodin  schwer  fallen,  zu  sagen, 
was  denn  ein  Material  ist,  das  sicher  nicht  tod  ist,  oder  lebendes  Material  zu 
definiren.  Die  Grenze  zwischen  tod  und  lebendig  zu  ziehen,  und  damit  das 

Anmerkung  No.  28. 


—     93     — 

Leben  zu  definiren,  ist  ein  Unternehmen,  das  bis  jetzt  stets  scheiterte.  Ist 
ein  von  einer  Zelle  abgelöster  Plasmatropfen,  der  sich  einige  Zeit  amöboid 
bewegt,  lebend  oder  tod  ?  Ist  ein  Samenkorn,  das  jahrelang  ohne  jede 
Lebensäusserung  ruht,  jedoch  unter  geeigneten  Bedingungen  seine  Ent- 
wickelung  und  seine  Lebensthätigkeiten  beginnen  kann,  tod  oder  lebendig? 
Sollen  wir  einen  Körper,  der  zwar  eine  oder  einige  Lebenserscheinungen 
zeigt,  andere  nicht,  tod  oder  lebendig  nennen?  Wer  behauptet,  dass  alle 
Erscheinungen  an  sog.  todtem  Material  ohne  jegliche  Analogie  und  ohne 
jeden  Erklärungswerth  für  die  Lebenserscheinungen  seien,  der  begeht  eben 
von  vornherein  eine  petitio  principii,  welche  ja  auch  in  der  Betonung  des 
„lebenden  Materials"  enthalten  ist;  er  dekretirt  nämlich,  dass  von  vorn- 
herein nichts  vergleichbar  oder  analog  mit  Lebenserscheinungen  ist,  als  die 
Lebenserscheinungen  selbst.  Dieser  Standpunkt  deckt  sich  mit  demjenigen, 
der  allem  physiko-chemisch  Begreifbaren  die  Natur  der  Lebenserscheinung 
abspricht. 

Der  von  Borodin  angestellte  Vergleich  der  sog.  künstlichen  Amöbe 
mit  den  Automaten  des  Vaucanson  und  der  Droz  ist  ganz  ungerecht- 
fertigt und  unüberlegt.  Bei  jenen  Automaten  handelte  es  sich  um  die  äusser- 
liche  Nachahmung  der  Form  von  Bewegungserscheinungen  eines  Organis- 
mus auf  Grund  mechanischer  Vorrichtungen,  deren  Existenz  im  Organismus 
von  vornherein  als  unmöglich  einzusehen  war.  Bei  der  sogen,  „künstlichen 
Amöbe"  ')  dagegen  handelt  es  sich  ganz  und  gar  nicht  um  eine  beabsichtigte 
äusserliche  Nachahmung  von  Bewegungserscheinungen  einfachster  Orga- 
nismen, sondern  um  die  Beobachtung  von  Bewegungsvorgängen  (an  Material 
von  bekannter  Beschaffenheit),  welche  in  vieler  Hinsicht  weitgehende  Ueber- 
einstimmung  mit  jenen  einfachster  Organismen  zeigen,  und  die  gleichzeitig 
auch  auf  Grund  der  Struktur  und  Natur  des  Materials  den  wahrscheinlichen 
Schluss  gestatteten,  dass  diese  beiderlei  Bewegungserscheinungen  ihrer 
Natur  nach  identisch  seien,  d.  h.  von  denselben  energetischen  Prozessen 
bedingt  werden. 

Wie  steht  es  denn  aber  mit  den  zahlreichen  Errungenschaften  der 
Physiologie  über  die  Verdauungs-  und  Stoff  Wechselvorgänge  im  Organismus? 
Sind  diese  etwa  an  lebendem  oder  todtem  Material  gewonnen;  oder  ge- 
hören sie  nicht  zu  den  Lebenserscheinungen  im  Organismus? 

Wenn  es  nun  aber  wirklich  gelänge,  eine  lebende  Amöbe  aus  leben- 
dem Material  künstlich  darzustellen,'   wären   dann    etwa    deren  Bewegungs- 


*)  Gemeint  sind  jedenfalls  die  von  mir  eingehend  geschilderten  künstlichen 
Amöben  (obgleich  ich  selbst  n  i  e  diese  Bezeichnung  gebrauchte),  wenn  ihre  Dar- 
stellung aus  „Oel  und  Potasche"  von  dem  Uebersetzer  auch  Professor  Quincke 
zugeschrieben  wird.  Die  Art,  wie  Borodin  über  diese  Untersuchungen  spricht, 
lässt  mich  vermuthen,  dass  er  nur  eine  sehr  flüchtige,  aus  zweiter  Hand  geschöpfte 
Kenntniss  derselben  hat.  Das  Gleiche  dürfte  wohl  für  viele  ähnliche  absprechende 
Urcheile   gelten. 

Anmerkung  No.  28. 


—     94     — 

erscheinungen  erklärt?  Zunächst  hätten  wir  eine  Amöbe  mehr,  deren  Be- 
wegungserscheinungen ebenso  problematisch  blieben,  wie  die  der  natür- 
lichen. 

Von  gewissen  Neo-Vitalisten,  so  Ri  ndfleisch,  wird  die  Begründung 
des  Neo -Vitalismus  auf  R.  Virchow  (1856)  zurückgeführt;  mit  welchem 
Recht,  wollen  wir  ein  wenig  untersuchen.  In  der  citirten  Abhandlung  (v. 
1856)  tritt  V.  mit  voller  Bestimmtheit,  und  als  ausgesprochener  Anhänger 
des  Mechanismus,  gegen  den  Vitalismus  auf.  Er  verwirft  die  alte  Auf- 
fassung der  Lebenskraft  ,,als  einheitlichen  Erklärungsgrund  der  Lebens- 
äusserungen und  des  Lebendigen"  und  bezeichnet  sie  sogar  als  „Aber- 
glaube". Sehr  richtig  bemerkt  er  (pag.  9):  ,,Eine  Kraft  mit  solcher 
Mannigfaltigkeit  der  Strebungen,  Triebe  und  Zwecke,  die  sich  nicht  bloss 
die  Wege,  sondern  auch  die  Mittel  zur  Erreichung  ihrer  Ziele  aufsucht,  die 
nicht  bloss  nach  einem  prästabjlirten  Plan,  sondern,  je  nach  Umständen,  auch 
nach  freier,  aber  stets  zweckmässiger  Wahl  die  Stoffe  gestaltet,  das  ist 
nicht  mehr  eine  Kraft,  sondern  es  ist  ein  Wesen,  ein  lebendiger  Organismus''. 
Der  Charakter  der  Lebenskraft  als  „Umschreibungshypothese"  wird  hier 
von  V.  recht  gut  gekennzeichnet.  Im  Weiteren  gelangt  er  jedoch  zu  folgen- 
dem Schluss:  „Aber  trotzdem  können  wir  nicht  erkennen  (!),  dass  die 
Erscheinungen  des  Lebens  sich  einfach  als  eine  Manifesta- 
tion der  den  Stoffen  inhärirenden  Molekularkräfte  be  greifen 
lassen"  (p.  20).  Dies  ist  das  bekannte  Argument  des  Vitalismus,  dass 
der  Mechanismus  einstweilen  nichts  oder  doch  nichts  genügend  erkläre.  Ist 
Virchow  mit  diesem  Ausspruch  aber  auf  die  vitalistische  Seite  getreten? 
Gewiss  nicht !  Denn  er  ist  gleichzeitig  überzeugter  Anhänger  der  Möglich- 
keit des  Entstehens  der  Organismen  durch  Urzeugung.  So  sagt  er  (pag. '22): 
„Wir  können  uns  nur  vorstellen,  dass  zu  gewissen  Zeiten  der  Entwickelung 
der  Erde  ungewöhnliche  Bedingungen  eintraten,  unter  denen  die  zu  neuen  Ver- 
bindungen zurückkehrenden  (!)  Elemente  im  Statu  nascente  die  vitale  Be- 
wegung (!)  erlangten,  wo  demnach  die  gewöhnlichen  mechanischen  Be- 
wegungen in  vitale  umschlugen".  So  wenig  klar  dieser  Ausspruch  auch 
ist,  so  geht  daraus  doch  hervor,  dass  V.  meint :  Unter  gewissen  ungewöhn- 
lichen Bedingungen,  welche  doch  nur  die  Manifestation  einer  besonderen 
Kombination  der  „Stoffe  und  der  ihnen  inhärirenden  Molekularkräfte"  sein 
könnten,  sei  das  Lebendige  entstanden.  Damit  ist  aber  der  zuerst  citirte 
Satz  über  die  Nichtbegreifbarkeit  des  Lebens  aus  den  den  Stoffen  inhäriren- 
den Molekularkräften  wieder  aufgehoben.  Denn  selbst  zugegeben,  dass  das, 
was  sich  unter  diesen  Bedingungen  ereigne,  etwas  sei,  was  an  und  für  sich 
ebenso  unbegreiflich  erscheine,  als  das  Auftreten  von  Wärme  oder  Elek- 
trizität unter  gewissen  Bedingungen,  so  wäre  dies  eben  doch  ein  Vorgang 
gesetzlichen  Naturgeschehens  derselben  Art  wie  in  der  anorganischen 
Natur,  und  daher  ebenso  viel  oder  wenig  begreiflich  als  die  Vorgänge  der 
nichtbelebten  Welt.  Etwas  derartiges  ist  es  ja,  was  sich  Virchow  eigent- 
lich  beim    Entstehen   eines   ersten  Organismus   als    das  Wesentliche    denkt, 

Anmerkung  No.  28. 


-     95     — 

und  was  er  ungefähr  folgendennassen  ausspricht :  ,,Wenn  der  Naturforscher 
von  Lebenskraft  redet,  so  kann  er  darunter  also  nur  dasjenige  Bewegungs- 
gesetz (!)  verstehen,  dessen  sinnlich  wahrnehmbares  Resultat  Zellenbildung 
ist"  (pag.  11).  „Dieses  Gesetz  ist  ein  ewiges"  (das  soll  heissen  wie  jedes 
Naturgesetz,  es  gilt  immer,  wenn  die  betreffenden  Bedingungen  eintreten). 
Was  sich  Virchow  unter  einem  solchen  „Bewegungsgesetz"  vorstellt, 
dem  eigentlich  Charakteristischen  des  Organismus,  ist  natürlich  wenig  klar. 
Er  bemerkt  hierüber  auch :  „Vielmehr  glaube  ich  immer  noch ,  als  den 
wesentlichen  Grund  des  Lebens  eine  mitge  th  eilte,  abgeleitete  Kraft 
neben  den  Molekularkräften  unterscheiden  zu  müssen"  (p.  20).  „Abgeleitete 
oder  mitgetheilte"  Kräfte  sind  nach  V.  jedoch  „die  Kräfte  wie  Stoss  etc.",  im 
Gegensatz  zu  den  „immanenten  Kräften  der  Materie"  (Gravitation  etc.). 
Demnach  wäre  die  Lebenskraft  nach  V.  eine  nach  einem  besonderen  Be- 
wegungsgesetz übertragene  mechanische  Bewegung  oder  „vitale  Be- 
wegung", wie  er  selbst  sagt;  was  man,  streng  genommen  (da  er  ja  selbst 
die  sog.  immanenten  Kräfte  ausschliesst),  nicht  einmal  eine  besondere 
Energieform  in  modernem  Sinne  nennen  könnte;  vielmehr  wäre  diese 
Virchow'sche  Ansicht  etwa  ein  Vorläufer  der  späteren  Elsb  er  g'schen 
und  Haeckel'schen  Hypothesen  von  einer  besonderen  vitalen  Bewegungs- 
form der  kleinsten  Theilchen  oder  Plastidule  der  lebendigen  Substanz. 
Daneben  jedoch  erachtet  V.  noch  die  besondere  „Stoffkombination", 
welche  in  dem  einzelnen  Organismus  (Elementarorganismus)  vorliegt,  für  den 
„Grund  der  besonderen  Richtung,  in  welcher  die  Bewegung  (die  vitale  Be- 
wegung) stattfindet".  Ein  sehr  seltsamer  Gedanke  —  eine  „mechanische 
Kraft",  deren  Richtung  durch  die  Natur  des  Stoffes  bestimmt  oder  modifi- 
zirt  wird. 

Jedenfalls  geht  aus  diesen  Erörterungen  hervor,  dass  Virchow  (1856), 
wie  gesagt,  überzeugter  Mechanist,  ja  eigentlich  „Mechaniker"  ist,  der  eine 
eigenthümliche  „mechanische"  Bewegungsart  (vitale  Bewegung)  für  den 
Grund  der  Lebenserscheinungen  hält;  also,  wenn  man  will,  eine  besondere 
Energieform,  obgleich  dies  nicht  recht  zutrifft.  Bedeutung  hätte  eine  solche 
Anschauung,  ebenso  wie  spätere  ähnliche,  erst  erlangen  können,  wenn  V. 
in  der  Lage  gewesen  wäre,  über  das  grundlegende  „Bewegungsgesetz" 
etwas  Positives  mitzutheilen  und  damit  eine  oder  die  andere  Lebens- 
erscheinung zu  erklären  oder  zu  begreifen.  So,  wie  dieses  Gesetz  aufgestellt 
wird,  ist  es  nichts  anderes  als  die  Anerkennung,  dass  eine  unbekannte 
Gesetzlichkeit  den  Lebenserscheinungen  zu  Grunde  liegt;  mit  der  jedenfalls 
ungerechtfertigten  Annahme,  dass  diese  Gesetzlichkeit  das  Wesen  einer 
sog.  „abgeleiteten  mechanischen  Kraft"  habe. 

Rindfleisch  (1888)  glaubt  eigentümlicher  Weise  auf  demselben  neo- 
vitalistischen  Standpunkt  z-u  stehen,  wie  Virchow.  Seine  Meinung  bewegt 
sich  jedoch  in  unlöslichen  Widersprüchen.  Einerseits  soll  nach  ihm  (pag.  20) 
jedes  Geschehen  „Mechanismus"  sein;  andererseits  dagegen  ist  er  überzeugt, 
dass  in  der  Zelle  ein  „Ze  llen  will  e"  bestehe,  „allerdings  geregelt  und 
eingeschränkt    durch    das    Bedürfniss    des    Gesammtorganismus;    immerhin 

Anmerkung  No.  28. 


—     96     — 

schliesst  er  (dieser  Wille)  als  letzte  Konsequenz  die  persönliche  Frei- 
heit ein,  welche  der  starre  Materialismus  nie  zugeben  kann".  Hier  wird 
demnach  Physisches  und  Psychisches  in  unzulässiger  Weise  durcheinander 
gemengt.  Obgleich  alles  Geschehen,  auch  das  der  Zelle,  Mechanismus  ist, 
greift  der  ausserhalb  des  Mechanismus  stehende  Zellwille  in  diesen  Me- 
chanismus beliebig  ein,  und  dazu  noch  ganz  unnöthiger Weise;  denn  wenn 
alles  Mechanismus  ist,  so  ist  doch  gar  kein  Platz  mehr  für  ihn ;  er  läuft 
neben  dem  Mechanismus  hin,  wie  es  ja  auch  unsere  Meinung  ist. 

Noch  eigenthümlichere  Anschauungen  trug  Rindfleisch  1895  vor. 
Das  Problem  der  „Freiheit",  d.h.  der  Selbstbewegung,  der  „ursachlosen 
Bewegung",  beschäftigt  ihn  auch  hier.  Im  Organismus  findet  er  eine  An- 
näherung an  diese  Selbstbewegung  und  Selbstbestimmung,  ja  glaubt  sogar, 
in  der  Häufung  potentieller  Energie  im  Organismus  und  in  dessen  Aufbau 
aus  Kolloiden  einen  Fingerzeig  für  das  Verständniss  dieser  Eigenthümlich- 
keit  des  Organismus  zu  finden.  ,, Freiheit  und  Nächstenliebe!  Das 
sind  die  Merkmale  des  Lebens;  Freiheit  das  Ziel  und 
Nächstenliebe  das  Mittel  dazu!  Das  ist  das  Wort  des  Lebens" 
(pag.  129).  Nächstenliebe  soll  hier  das  zweckmässige  harmonische  Zusammen- 
wirken der  Theile  und  der  Zellen  im  Organismus  bedeuten.  Nächstenliebe 
als  wirksames  Prinzip  im  Organismus  und  der  Organismenwelt  erscheint 
gewiss  sehr  seltsam  in  einer  Welt  lebender  Wesen,  wo  der  Grundsatz  gilt : 
„öte  toi,  que  je  m'y  mette".  Ueber  die  Freiheit  dagegen  wurde  vorhin 
schon  einiges  bemerkt. 

Die  Stellung,  welche  Oscar  Hertwig  zu  den  in  dieser  Schrift  er- 
örterten Problemen  einnimmt,  bedarf  etwas  genauerer  Darlegung.  In 
seiner  Streitschrift  (1897)  gegen  Roux  bekennt  er  pag.  19/20,  dass  er  das 
„Glaubensbekenntniss  theile,  dass  in  der  Biologie  alles  in  natürlicher,  d.  h. 
philosophisch-mechanischer  Weise  hergeht"  (womit  etwa  gesagt  sein  soll, 
dass  in  der  Biologie  alles  Geschehen  ebenso  ein  kausalabhängiges  ist  wie 
in  der  nichtlebenden  WTelt;  „natürlich"  steht  hier  im  Gegensatz  zu 
„Wunder").  Bei  der  Besprechung  des  Einflusses,  den  Lotze's  Kampf 
gegen  die  Lebenskraft  ausgeübt  hat,  bemerkt  Hertwig  ferner  gesperrt 
(pag.  29—30):  „Die  mechanistische  Auffassung  von  Lotze  hat  sich  rasch 
den  Sieg  in  der  biologischen  Forschung  errungen.  Ohne  auf  Widerspruch 
zu  stossen,  kann  ich  wohl  behaupten,  dass  die  gesammte  Biologie  seit 
vielen  Decennien  auf  dem  Standpunkt  von  Lotze  steht,  dass  das  Orga- 
nische nur  eine  höhere  Form  des  Mechanischen  ist."  Der  ganze  Passus 
und  weiterhin  auch  das  Folgende:  „Es  hiesse  daher  offene  Thüren  ein- 
rennen, wollte  man  jetzt  noch,  wie  es  Lotze  gethan  hat,  für  eine  mecha- 
nistische Auffassung  der  Lebewelt  zu  Felde  ziehen",  scheint  doch  klar  zu 
zeigen,  dass  Hertwig  ein  Anhänger  Lotze's  ist. 

Wenden  wir  uns  dagegen  zu  demjenigen  Theil  seiner  Schrift,  in  dem 
er  die  sog.  „gestaltenden  Kräfte"  Roux's  bekämpft,  von  welchen  die 
besondere    Form    der   sich    in    der   Ontogenese    bildenden    Theile    (Organe) 

Anmerkung  No.  28. 


—     97     — 

abhängen  sollen,   so  verändert  sich  Hertwig's  Stellung  bedeutend.    Unter 
Roux's  ja  nicht  übermässig  klarem  Begriff  „gestaltender  Kräfte"  muss  man 
sich   die   Summe    der   bedingenden    und    wirkenden  Ursachen   (Kräfte)   vor- 
stellen, von  welchen  ein  sich  bildender  Theil  abhängt.  In  diesem  bildlichen 
Sinne  verwendet  Roux  den  Begriff.     Bei    der  Kritik   dieser  Anschauungen 
Roux's  kommt  Hertwig   endlich   zu  folgender  letzter  Erwägung  hinsicht- 
lich jener   „gestaltenden   Kraft"  (pag.  59—60):     „Noch  ein  dritter  Weg 
bleibt  zu  versuchen,    die    gestaltende  Kraft    direkt   in   die    Grundkräfte   der 
Physik    zu    zerlegen   und   die   organischen    Gestalten   direkt   aus  komplexen 
Komponenten  von  Schwerkraft,    Cohäsionskraft,    chemischen,    elektrischen, 
magnetischen   Kräften   zu   erklären.     Dass   dieser  Weg   ebenfalls   nicht   der 
rechte  ist,  braucht  kaum  einer  näheren  Darlegung.     Zwar  sind   die   Grund- 
kräfte der  Natur  wie  in  den  unorganischen  Körpern  auch  in  den  Organismen 
wirksam  und  können,  wo  sie  sich  in  den  Erscheinungen  zeigen,   untersucht 
werden,  aber  wir  können  keine  „gestaltende  Kraft"  durch  Combination  von 
Schwerkraft,  Cohäsionskraft,  chemischer,  elektrischer  Kraft  konstruiren  oder 
durch  Vereinigung  von  ein    bischen  Schwerkraft,    chemischer  Kraft,    Cohä- 
sionskraft ä  la  Dreyer  organische  Gestalt  produzieren".   Diese  Auslassung 
steht  jedoch  in   direktem  Widerspruch  mit  Lotze's  Meinung;    denn    dieser 
ist  gerade  der  Ansicht,  dass  nicht  nur  das  Geschehen   im   fertigen  Organis- 
mus von  den  den  Stoffen  eigenthümlichen  Kräften,    unter  besonderen  kom- 
plizirten   Bedingungen,    abhänge,    sondern  dass  ebenso  das  Entwickelungs- 
geschehen   auf  Grund    derselben    Geschehensweisen,    welche    auch    in    der 
anorganischen  Natur   sich   finden,    unter  besonderen   Bedingungen  sich  ab- 
spiele.    Das  eine,   was    Lotze,    wenigstens  für   die  höheren  Organismen, 
auf    die    gesetzlichen    Geschehensweisen     der    anorganischen    Natur    nicht 
zurückführen  zu  können  glaubt,  ist  das  Ausgangssubstrat  der  Entwickelung, 
d.  h.  das  Ausgangssubstrat,  dessen  Bedingungskomplex  den  ganzen  Verlauf 
der  Entwickelung  mechanistisch  hervorruft;  dessen  Entstehen  durch  zufälliges 
Zusammentreffen  der  Bedingungen  scheint  ihm   unmöglich.     In   dem  vorhin 
citirten  Ausspruch  über  die  gestaltenden  Kräfte  befindet  sich  Hertwig  also 
in  Widerspruch     mit    den    mechanistischen  Anschauungen    Lotze's.    —    In 
Hertwig's  Erörterung  vermisse  ich  aber  auch  den  Nachweis  für   die   auf- 
gestellte Behauptung:    dass   die  sog.  Kräfte   der  anorganischen  Natur   auch 
unter  besonderen,  komplexen  Bedingungen  nicht  ausreichten,  die  Entwickel- 
ung  der  lebenden  Gestalten  zu  begreifen    oder   zu   erklären   (was  ja   nach 
dem    früher  von   ihm  Bemerkten  das  Glaubensbekenntniss   des   überzeugten 
Vitalisten  ist).     In  dem  citirten  Ausspruch  wird  nur  angegeben,   dass   diese 
Annahme   des   Mechanismus  „nicht   die   rechte  ist,   und    dass   dies    kaum 
einer  näheren  Darlegung  bedürfe".     Darauf  folgt   die    Behauptung :    es    sei 
eben  unmöglich,  die  „gestaltende  Kraft"  aus  den  Kräften  der  anorganischen 
Natur  abzuleiten.    Gründe  dafür  werden  nicht  mitgetheilt.    Auch  fehlt  völlig 
eine  Andeutung  darüber,  welcher  Art  denn   nun    eigentlich    das  Geschehen 
im  Organismus  ist,   das  durch  „gestaltende  Kraft",    wenn   auch  nur  bildlich 
aufgefasst,   bedingt  wird.     Von   was  wird  denn    dieses  Geschehen    bedingt, 

Bütschli,    Mechanismus  und  Vitalisnms.  7 

Anmerkung  No.  28. 


—     98     — 

wenn  nicht  von  den  sog.  Kräften  der  anorganischen  Natur;  denn  alles,  was 
im  Organismus  vorgeht,  geschieht  doch  nach  Hertwig  „philosophisch- 
mechanisch", muss  daher  von  wirkenden  und  bedingenden  Ursachen  ab- 
hängen. Da  nun  die  anorganischen  Kräfte  keine  organischen  Gestalten  be- 
dingen können,  so  bliebe  nur  die  Möglichkeit  einer  besonderen  vitalen 
wirkenden  Ursache,  einer  vitalen  Kraft  oder  Energie,  und  O.  Hertwig 
träte  damit  auch  schon  1897  als  erklärter  Vitalist  auf. 

Entschiedener  ist  dies  1900  in  seinem  Vortrag  über  die  Entwickel- 
ung  der  Biologie  im  19.  Jahrhundert  der  Fall,  wo  der  schon  1897  ange- 
deutete Standpunkt  genauer  erläutert  wird.  Hier  erhalten  wir  zunächst 
von  dem  Leben  im  Allgemeinen  die  Definition  (pag.  4) :  Dass  dasselbe 
„auf  einer  besonderen  eigenthümlichen  Organisation  des  Stoffes  beruhe", 
mit  der  Verrichtungen  (Funktionen)  verknüpft  seien,  die  sich  in  der  leblosen 
Natur  nicht  finden.  In  dieser  Definition  ist,  wie  dies  häufig  der  Fall,  das 
Hypothetische  an  die  Spitze  gestellt  (die  Organisation  des  Stoffes),  dagegen 
das  Thatsächliche,  die  besonderen  Verrichtungen  (Leistungen,  Thätigkeiten 
lebender  Körper),  hinten  angefügt.  Diese  Definition  ist  so  dunkel  wie 
jede,  in  welche  der  unsichere  Begriff  der  „Organisation"  eingeführt  ist 
(s.  Anmerk.  No.  14).  Der  Schwerpunkt  liegt  aber  nicht  in  der  Organisation 
als  solcher,  sondern  in  der  „besonderen"  Organisation,  und  bevor  nicht 
angegeben  werden  kann,  worin  diese  Besonderheit  besteht,  ist  die  ganze 
Definition  bedeutungslos;  denn  was  lebend  ist,  können  wir  dann  nur  aus 
den  besonderen  Verrichtungen  des  Lebenden  erfahren. 

Hertwig  glaubt  in  diesem  Vortrag  eine  Art  Vermittelung  zwischen 
Vitalismus  und  Mechanismus  anbahnen  zu  können.  Er  meint  (pag.  24) : 
,,dass  ebenso  wie  der  vitalistische  auch  der  mechanistische  Standpunkt  in 
der  Biologie  ein  einseitiger  sei".  Wie  ich  schon  hervorhob,  kann  ich  mich 
einer  solchen  Meinung  nicht  anschliessen,  da  Vitalismus  und  Mechanismus 
Gegensätze  sind,  die  sich  nicht  zu  etwas  Mittlerem  vereinigen  lassen. 
Natürlich  setze  ich  dabei  voraus,  dass  man  unter  Vitalismus  nicht  etwas  ganz 
anderes  verstehen  will,  als  was  gewöhnlich  und  richtiger  Weise  darunter 
begriffen  wird.  Denn  es  ist  ja  klar,  dass  Lebewesen,  als  besondere  Klassen 
natürlicher  Objekte,  ihre  eigenthümlichen  sekundären  Gesetzmässigkeiten  be- 
sitzen, wie  sie  etwa  bestimmte  Kategorien  von  Objekten  auch  auf  physikali- 
schem oder  chemischem  Gebiet  darbieten  (z.  B.  die  quellbaren  Körper  u.s.  f.); 
womit  jedoch  natürlich  nicht  ausgesprochen  ist,  dass  diese  sekundären 
Gesetzmässigkeiten  nicht  von  den  allgemeinen  physiko-chemischen  abhängen. 
Ein  Vitalismus  in  diesem  Sinne  steht  nicht  im  Gegensatz  zum  Mechanismus, 
hat  aber  auch  nichts  mit  der  Beurtheilungsweise  zu  thun,  welche  von  jeher 
als  Vitalismus  bezeichnet  wurde. 

Hertwig  hat  nun  nirgends  genauer  erörtert,  was  er  eigentlich 
unter  Vitalismus  versteht;  er  verwirft  den  älteren  Vitalismus  als  Irrthum, 
dagegen  fehlt  eine  Aufklärung  darüber,  was  ihm  an  dem  Vitalismus  oder 
Neo  -Vitalismus  berechtigt  scheint.  —  Suchen  wir  daher  selbst  nach  präciserer 
Aufklärung  über    seine  Ansicht,    so  erfahren  wir  (pag.  23),    dass    der  „öde 

Anmerkung  No.   28. 


—     99     — 

Mechanismus  glaubte,  in  der  Erklärung  des  Lebens  nur  ein  chemisch-phy- 
sikalisches Problem  erblicken  zu  dürfen".  Hieraus  geht  also,  wie  aus  der 
Aeusserung  von  1897,  hervor,  dass  Hertwig  Vitalist  ist  in  dem  Sinne,  dass 
die  Lebenserscheinungen  sich  mit  dem  Geschehen  der  anorganischen  Natur, 
d.  h.  physiko-chemisch,  nicht  begreifen  und  auch  niemals  werden  begreifen 
lassen;  der  Mechanismus  ist  „öde",  d.  h.  also  wohl,  er  führt  in  die  Oede, 
in  die  Wüste,  zu  keinen  Ergebnissen.  In  dieser  Hinsicht  schliesst  sich  H. 
den  Anschauungen  anderer  Neo -Vitalisten  an. 

Zwar  fehlt  auch  hier  wieder  die  Begründung;  denn  dass  E.  Dubois- 
Reymond  verschiedene  Welträthsel  anerkennt,  hat  doch  mit  der  Frage 
nichts  zu  thun.  Es  handelt  sich  um  die  Möglichkeit,  ob  auf  Grund  des 
gesetzlichen  Geschehens  der  anorganischen  Natur  das  Geschehen  im  Or- 
ganismus begreiflich  sein  kann;  wobei  es  natürlich  gleichgültig  ist,  inwiefern 
die  verschiedenen  Geschehensweisen  in  der  anorganischen  Natur  begreiflich 
oder  etwas  Letztes,  nicht  weiter  Rückführbares,  d.  h.  Unbegreifliches  sind. 
Ebensowenig  hat  das  Problem  des  Vitalismus  und  Mechanismus  etwas  mit 
atomistischen  Hypothesen,  sowie  den  damit  zusammenhängenden  Vor- 
stellungen über  Materie  und  Kraft  zu  thun  und  wird  davon  in  keiner  Weise 
berührt. 

In  weiterer  Begründung  seiner  Ansicht  macht  nun  Hertwig  wieder 
eine  Einschränkung  bezüglich  der  physiko-chemischen  Begreiflichkeit  der 
Lebenserscheinungen,  indem  er  sagt  (p.  24) :  „Ebenso  unberechtigt,  wie  der 
Vitalismus  ist  das  mechanistische  Dogma,  dass  das  Leben  mit  allen  seinen 
komplizirten  Erscheinungen  nichts  anderes  sei  als  ein  chemisch-physikalisches 
Problem,  unberechtigt,  wenigstens  so  lange,  als  man  unter  Physik 
und  Chemie  nicht  ganz  anders  geartete  Wissenschaften  versteht,  als  sie  uns 
jetzt  nach  Inhalt  und  Umfang,  auf  Grund  ihrer  historischen  Entwickelung 
entgegentreten"  *). 


*)  Hinsichtlich  des  Verhaltens  der  heutigen  Physik  (und  ähnlich  auch  der 
Chemie)  zur  Lösung  biologischer  Fragen  theile  ich  etwa  die  Anschauung  Mach 's, 
der  darüber  sagt  (1900  pag.  68j :  „Beide  (d.  h.  das  physikalische  und  das  bio- 
logische Gebiet)  enthalten  wohl  dieselben  Grundthatsachen ,  manche  Seiten  äussern 
sich  aber  nur  in  dem  einen,  manche  nur  in  dem  anderen  merklich,  so  dass  nicht  nur 
die  Physik  der  Biologie ,  sondern  auch  die  letztere  der  ersteren  hilfreich  und  auf- 
klärend zur  Seite  stehen  kann.  Den  unbezweifelten  Leistungen  der  Physik  in  der 
Biologie  stehen  ebenso  andere  Fälle  gegenüber,  in  welchen  erst  die  Biologie  neue 
physikalische  Thatsachen  ans  Licht  gefördert  hat  (Galvanismus,  PfefFer'sche  Zelle 
u.  s.  w.).  Die  Physik  wird  in  der  Biologie  noch  mehr  leisten,  wenn  sie  erst  durch 
die  letztere  gewachsen  sein  wird",  pag.  72:  „Die  Physik  wird  also  aus  dem  Studium 
des  Organischem  an  sich  noch  sehr  viel  neue  Einsicht  schöpfen  müssen,  bevor  sie 
auch  das  Organische  bewältigen  kann". 

Gerade  für  die  Physik  gilt  dies  noch  viel  mehr  als  für  die  Chemie,  welche  der 
Mannigfaltigkeit  der  chemischen  Erzeugnisse  des  Organismus  von  jeher  ihre  Aufmerk- 
samkeit zuwandte.      In  der  Physik    dagegen  haben    diejenigen  Erscheinungen,   welche 

Anmerkung  No.   28.  ?* 


—     100     — 

Genau  diese  Worte  hätte  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  ein  Vitalist 
Demjenigen  zurufen  können,  welcher  die  kühne  Behauptung  gewagt  hätte: 
die  Bildung  des  Harnstoffs  im  thierisehen  Organismus  sei  ein  chemisch- 
physikalisches  Problem  und  bedürfe  zu  seiner  Begreiflichkeit  keiner  be- 
sonderen vitalistischen  Kraft.  Hertwig  hält  die  frühere  vitalistische  An- 
sicht über  den  Harnstoff  für  eine  „vitalistische  Irrlehre"  obgleich  die  ehe- 
maligen Vertheidiger  dieser  Irrlehre  sich  darauf  berufen  konnten,  dass  die 
damalige  Physik  und  Chemie  nicht  vermögend  seien,  eine  im  Organismus 
gebildete  chemische  Verbindung  ausserhalb  desselben  darzustellen,  dass  also 
die  Physik  und  Chemie  „ganz  anders  geartete  Wissenschaften"  sein  müssten, 
bevor  man  an  das  physiko-chemische  Begreifen  der  Harnstoffentstehung 
denken  könne.  Auch  die  weitere  Argumentation  Hertwig 's:  „dass  das 
Lebensproblem  überhaupt  erst  beginne,  wo  die  Untersuchung  des  Chemikers 
aufhört"  (pag.  25),  konnte  der  Harnstoffvitalist  mit  derselben  Berechtigung 
anführen;  denn  sobald  er  die  Harnstoff bildung  zu  den  charakteristischen 
Lebenserscheinungen  zählte,  die  chemischem  Begreifen  unzugänglich  seien, 
so  ergab  sich  dies  von  selbst.  Der  Chemiker  kann  nach  Hertwig 
„streng  genommen  überhaupt  nicht  dem  eigentlichen  Lebensproblem  näher 
treten",  „da  sich  über  dem  Bau  des  chemischen  Moleküls  der  Bau  der  leben- 
den Substanz  als  eine  weitere,  höhere  Art  von  Organisation  erhebt".  Nun 
denkt  sich  Hertwig,  wie  ich  schon  vor  einiger  Zeit  näher  darlegte  (1901 
pag.  539  ff.),  diese  höhere  Organisation  der  lebenden  Substanz  als  eine 
maschinelle  Organisation,  welche  natürlich  der  Chemiker  nicht  begreifen 
kann.  Wie  gesagt,  ist  dies  jedoch  eine  Hypothese,  welche  sich  ebenso 
wohl  durch  die  der  chemischen  Organisation  ersetzen  lässt.  Das  Charak- 
teristische in  Hertwig's  Anschauung  ist,  dass  er  die  Entstehung  dieser 
höheren,  über  die  physiko-chemische  sich  erhebenden  Organisation  für 
physiko-chemisch  unbegreiflich  hält,  ebenso  wie  die  vielen  Lebenserschein- 
ungen („Wirkungsweisen"),  die  auf  Grund  dieser  und  immer  höher  ent- 
wickelter Organisationen  auftreten  („Erhaltung  der  Art  durch  Wachsthum 
und  Zeugung,  Stoffwechsel,  die  verschiedene  Arten  der  Irritabilität"  etc.). 
Nun  haben  jedoch  schon  alle  Mechanisten,  voraus  in  besonders  klarer  Weise 
Lotze,  darauf  hingewiesen,  dass  in  allen  diesen  besonderen  Wirkungs- 
weisen des  Organismus  sich  nichts  äussere,  was  einer  der  gesetzlichen 
Wirkungsweisen  (Kräfte,  Energieformen)  der  anorganischen  Natur  als 
eine  besondere— entgegengestellt  werden  könne,  dass  vielmehr  diese 
„Wirkungsweisen"  des  Organismus  in  letzter  Instanz  Kombinationen  solcher 
seien,  die  sich  in  der  anorganischen  Natur  linden;  ebenso  wie  in  einer 
Maschine  nur  die  gesetzlichen  Wirkungsweisen  der  leblosen  Natur,  jedoch 
in  der  eigenthümlichen  Kombination  eines  bestimmten  Bedingungskomplexes 


für  das  Verständniss  des  Organismus  von  besonderer  Bedeutung  sind,  wenig  Beacht- 
ung gefunden.  Sehr  wenig  berücksichtigt  aber  wurde  in  beiden  anorganischen  Dis- 
ciplinen  bis  jetzt  das  Formproblem,  welches  für  die  lebende  Welt  eine  so  hervor- 
ragende Bedeutung  hat. 

Anmerkung  No.   28. 


—     101 

auftreten.  Wenn  es  nun  keine  besonderen  vitalistischen,  den  avitalisti- 
schen  gleichberechtigte  gesetzliche  Wirkungsweisen  gibt,  so  muss  eben 
die  sog.  „höhere  Organisation"  der  lebenden  Substanz  der  besondere 
Komplex  der  bedingenden  und  wirkenden  Ursachen  (nicht  vitalistischer 
Natur)  sein ,  von  welchen  die  besonderen  Leistungen  abhängen.  Das  Ent- 
stehen dieses  Bedingungskomplexes  nun  ist  nicht  eigentlich  chemisch-physi- 
kalisch zu  begreifen,  ebensowenig  wie  ich  physiko-chemisch  begreifen  kann, 
warum  der  amerikanische  Kontinent  seine  eigenthümliche  Form  hat,  oder 
warum  sich  der  Vesuv  gerade  an  der  Stelle  bildete ,  wo  er  sich  findet. 
Denn  dieses  hängt  von  dem  zeitlichen  und  örtlichen  Zusammentreffen  jener 
physiko-chemischen  Bedingungen  ab,  welches  ich  aber  nicht  selbst  wieder 
von  einer  letzten  Bedingung  abhängig  finde,  sondern  das  den  Charakter  des 
Zufälligen  hat.  In  letzter  Instanz  führt  demnach  auch  der  Hertwig'sche 
vitalistische  Standpunkt  auf  das  Problem  zurück :  Ist  es  zulässig ,  das 
Entstehen  des  eigenthümlichen  Bedingungskomplexes ,  von  welchen  die 
Lebenserscheinungen  abhängen,  sowie  dessen  Fortschreiten  zu  höherer  Aus- 
bildung, als  ein  im  Laufe  der  Erdentwickelung  (resp.  auch  Weltentwickelung) 
zufällig  eingetretenes  zu  beurtheilen  oder  nicht.  Ich  vertrete  die  Meinung, 
dass  dies  zulässig;  wer  die  entgegengesetzte  hegt,  muss  natürlich  ein  be- 
sonderes vitalistisches  Prinzip  annehmen,  von  welchem  das  Entstehen  dieses 
Bedingungskomplexes  abhängt.  Hertwig  selbst  geht  auf  dieses  Problem 
nicht  ein ;  er  ist  Anbänger  der  Descendenzlehre,  dagegen  nicht  des  Darwinis- 
mus ;  wie  er  sich  zur  Frage  nach  der  möglichen  Entstehung  des  Lebenden 
aus  Nichtlebendem  verhält,  bleibt  unsicher. 

Der  erwähnte  Vortrag  Hertwig's  wurde  schon  von  E.  Albrecht 
(1901)  einer  Besprechung  unterzogen,  in  welcher  zwar  mancherlei  von  den 
Uebereinstimmungen  zwischen  den  Anschauungen  Hertwig's  und  Al- 
brecht's  die  Rede  ist,  die  aber  im  Allgemeinen,  wie  auch  schon  aus 
Albrecht's  früheren  Schriften  hervorgeht,  eigentlich  für  die  physiko- 
chemische, mechanistische  Beurtheilung  der  Lebenserscheinungen,  im  Gegen- 
satz zu  Hertwig,  eintritt.  Bezeichnet  sich  Albrecht  doch  selbst  als 
„hoffnungslustigen  Mechanisten"  (pag.  108).  Albrecht  erkennt  die  mecha- 
nistische Betrachtungsweise  als  durchaus  berechtigt  an  und  hat  in  seinen 
Schriften  vielfach  die  vitalistischen  und  teleologischen  Anschauungen  sehr 
treffend  kritisirt.  Dennoch  gelangt  er  auf  Grund  seiner  erkenntniss-theoretischen 
Ueberzeugung  zu  dem  Ergebniss:  „Es  besteht  zwischen  den  Lebenser- 
scheinungen und  irgend  welcher  Aufstellung  physikalischer  oder  chemischer 
Mechanismen,  welche  sie  produziren  und  ihr  „Wesen"  ausmachen  sollen, 
erkenntniss-theoretisch  eine  unüberbrückbare  Kluft"  (1899  pag.  33).  Seiner 
Meinung  nach  ist  dies  aber  keine  Besonderheit  der  Lebenserscheinungen, 
sondern  die  gleiche  Schwierigkeit  „liege  auch  vor"  oder  gelte  „von  be- 
obachteten Vorgängen  der  anorganischen  Natur",  „bezüglich  ihrer  Zurück- 
führung  auf  deren  physikalisches  oder  chemisches  Wesen".  Ich  weiss  nicht, 
ob  ich  die  Gedankengänge  richtig  verstehe,  welche  Albrecht  zu  diesen 
Ergebnissen  führen.     Sein    erkenntniss-theoretischer  Standpunkt  scheint  der 

Anmerkung  No.   28. 


—     102     — 

von  Mach  und  Avenarius  zu  sein,  dass  nämlich  unsere  Erkenntniss  nur 
Bewusstseinselemente  enthält  und  deren  Verknüpfung,  dass  diese  Bewusst- 
seinselemente  das  alleinexistirende  sind,  dass  nichts  besteht,  was  empfunden 
wird,  sondern  nur  das  Empfinden.  Auf  dieser  Grundlage,  welche,  wie  wir 
schon  bei  Mach  sahen,  in  keiner  Weise  etwa  hypothesenfrei  ist,  wird 
dann  geschlossen,  dass  die  Verknüpfung  jener  unabhängigen  Bewusstseins- 
elemente eine  sehr  verschiedene  sei,  je  nach  dem  Standpunkt  der  Betracht- 
ung, welchen  der  Betrachter  einnimmt.  Es  ergäben  sich  auf  diese  Weise 
verschiedene  „Betrachtungsweisen"  bei  verschiedenartiger  Einstellung,  für 
welche  die  Identität  nur  behauptet  werde.  So  also  beispielsweise,  wenn 
ich  einen  Körper  einmal  makroskopisch  betrachte  und  dann  mikroskopisch. 
(Wie  steht  es  denn  aber  mit  den  verschiedenen  Objektiven?  Jedem  der- 
selben entspricht  doch  wohl  eine  besondere  Betrachtungsweise  bei  beson- 
derer Einstellung).  Mir  scheint  diese  Folgerung  nicht  einmal  für  den  Stand- 
punkt des  „reinen  Idealisten",  welcher  nur  unabhängige  Bewusstseinselemente 
anerkennt,  wirklich  zutreffend;  für  den  des  Realisten,  welcher  etwas  Em- 
pfundenes voraussetzt,  wenn  er  auch  dessen  „Wesen"  nicht  zu  ermitteln  ver- 
mag, sondern  nur  die  Koordination  des  Empfindens  mit  ihm,  besteht  diese 
Schwierigkeit  um  so  weniger.  Zwei  Punkte,  welche  ich  auf  dem  Empfindungs- 
komplex Papier  mache,  sind  doch  zwei  unabhängige  Bewusstseinselemente 
bei  bestimmter  Verknüpfung  der  sonstigen  Bewusstseinselemente.  Entferne 
ich  mich  bis  zu  gewisser  Weite,  so  vereinigen  sich  die  beiden  Punkte  zu 
einem  Bewusstseinselement ,  d.  h.,  bei  einer  gewissen  Aenderung  der 
sonstigen  Bewusstseinselemente  werden  sie  eines.  Hieraus  muss  ich  doch 
schliessen,  dass  es  die  übrigen  Bewusstseinselemente  bedingen,  ob  die  bei- 
den Bewusstseinselemente,  welche  ich  selbst  gegeben  habe,  als  solche  er- 
scheinen oder  nicht;  und  der  meiner  Meinung  nach  hieraus  folgende  natür- 
liche Schluss  wäre  der :  die  uns  einfach  erscheinenden  Bewusstseinselemente 
können  auch  gleichzeitig  auftretende  mehrfache  sein,  es  hängt  von  den 
übrigen  Bewusstseinselementen  ab,  ob  ich  sie  gesondert  empfinde  oder 
nicht.  Wie  gesagt,  auf  dem  erkenntniss-kritischen  Boden,  welchen  ich  in 
diesen  Betrachtungen  einzunehmen  für  richtig  erachtete,  scheint  mir  die 
Schwierigkeit  der  verschiedenen  unabhängigen  Betrachtungsweisen  bei  ver- 
schiedenartiger Einstellung  nicht  zu  existiren,  und  selbst  auf  dem  des  reinen 
Idealisten  bezweifle  ich  sie.  So  bin  ich  denn  auch  nicht  der  Meinung,  dass 
die  chemische  und  physikalische  Untersuchung  der  Stoffe  zwei  derartige 
ganz  unabhängige  Betrachtungsweisen  darstellen;  um  so  weniger  als  ja 
Chemie  doch  nur  die  gesetzmässigen  und  sprungweise  eintretenden 
Aenderungen  der  physikalischen  Konstanten  der  Stoffe  in  ihren  verschiedenen 
chemischen  Gleichgewichtszuständen  untersucht.  Ich  kann  mich  daher  auch 
nicht  der  Meinung  anschliessen,  dass  die  Untersuchung  der  Lebens- 
erscheinungen eine  solche  besondere  Betrachtungsweise  sei,  welche  ihrem 
„Wesen"  nach  durch  eine  unüberbrückbare  Kluft  von  chemisch-physikalischen 
Vorgängen  getrennt  werde. 


Anmerkung  No.   28. 


—     103     — 

Eine  eigenthümliche  vitalistische Theorie  entwickelte  1899  J.  Reinke, 
welche  ich  hier  nach  seiner  kurzen  Darlegung  im  biologischen  Central- 
blatt  besprechen  will.  Reinke  geht  von  der  Ueberzeugung  aus,  dass 
das  „Wesen  der  Organisation"  in  einer  „Maschinenstruktur"  zu  suchen 
sei.  (Vergl.  Anm.  No.  14).  Er  untersucht  zunächst  die  von  Menschen 
künstlich  hergestellten  Maschinen  und  gelangt  darüber  zu  eigenthüm- 
lichen  Anschauungen.  „Die  dynamischen  Vorgänge,  welche  uns  in  der 
Maschinenleistung  entgegentreten",  sagt  er,  „beruhen  nicht  bloss  auf 
Energien,  sondern  auch  auf  Kräften  (!),  welche  die  Energien  lenken  und  sie 
zwingen,  bestimmte  Richtungen  und  Bahnen  einzuschlagen.  Diese  Kräfte 
nenne  ich  Dominanten".  Nun  beruht  in  der  Welt  kein  Vorgang  nur  auf 
Energien  (oder  wirkenden  Ursachen),  sondern  immer  auch  auf  einer  Summe 
von  Bedingungen ;  genau  so  ist  es  auch  bei  jeder  Maschine.  Wir  finden 
hier  ein  System  bestimmter  Bedingungen  und  Energien,  welche  ein  gewisses 
Resultat  ergeben.  Was  Reinke  Dominanten  nennt,  sind  also  weiter 
nichts  als  die  besonderen  Bedingungen  des  maschinellen  Systems.  Wenn 
er  diese  nun  „Kräfte"  nennt,  so  findet  er  sich  im  Widerspruch  mit  dem, 
was  man  von  jeher  unter  Kraft  verstanden  hat.  Zu  dieser  seltsamen  Auf- 
fassung der  sog.  Dominanten  als  Kräfte  gelangt  er  durch  folgende  Argu- 
mentation. Die  Kräfte  zerfallen  nach  ihm  „in  zwei  Gruppen:  in  geistige 
oder  intelligente  Kräfte  und  in  materielle  Kräfte  oder  Energien".  Nun  ge- 
hörten die  Dominanten  nicht  zu  den  Energien;  „es  bleibt  daher  nur  übrig, 
sie  zu  den  intelligenten  Kräften  zu  rechnen".  In  der  That  vollbringe  auch 
die  Maschine  eine  „intelligente  Arbeitsleistung"  (pag.  87);  die  Dominanten 
seien  der  Ausdruck  einer,  den  Maschinen  eingepflanzten  Intelligenz"  (pag.  90). 
„Die  Thatsachen  weisen  auf  die  Wirksamkeit  intelligenter  Kräfte  neben 
Energien  in  Maschinen  und  Organismen  hin"  (pag.  90).  „Natürlich  ist  die 
Intelligenz  der  Dominanten  eine  unbewusste"  (pag.  91).  So  kommt  denn 
Reinke,  von  dem  seltsamen  Trugschluss  ausgehend,  dass  die  Beding- 
ungen eines  maschinellen  Systems  Kräfte  seien  und  zwar,  weil  nicht  Ener- 
gien, nothwendig  intelligente  Kräfte,  zu  dem  Resultat,  dass  in  der  Maschine 
unbewusste  intelligente  Kräfte  „auf  die  Energie  einwirkten"  (pag.  87).  Der 
eigentliche  ursprüngliche  Gedankengang  war  jedoch  jedenfalls  der :  Da  eine 
Intelligenz  die  Bedingungen  (Dominanten)  der  Maschine  so  geordnet  und 
geregelt  hat,  dass  dieselbe  ein  bestimmtes  und  gewünschtes  Ergebniss 
liefert,  so  sind  die  Kräfte  dieser  Intelligenz  auf  die  Maschine  übergegangen 
und  befinden  sich  nun  in  ihr  als  unbewusste  Intelligenz.  Dies  ergibt  sich 
klar  aus  dem  folgenden  Satz:  „Bei  der  Herstellung  einer  Maschine  ver- 
wandelt sich    bewusste  Intelligenz    in    unbewusste"  (pag.  113). 

Ein  einfacherer  derartiger  Fall  würde  daher  etwa  lauten:  Wenn  ich, 
um  mich  gegen  den  Angriff  eines  Feindes  zu  wehren,  demselben  einen 
Stein  an  den  Kopf  werfe,  so  besitzt  dieser  Stein  nicht  nur  mechanische 
Energie  (Bewegung),  sondern  auch  eine  intelligente  unbewusste  Kraft, 
welche  ihn  so  lenkt,  dass  er  den  Kopf  meines  Gegners  trifft.  Diese  Ueber- 
tragung  intelligenter  Kraft  auf  den  energetischen  Vorgang  erscheint  fast  wie 

* 

Anmerkung  No.  28. 


—     104     — 

ein  Gesetz  der  Erhaltung  der  Intelligenz  („bei  der  Herstellung  einer  Ma- 
schine verwandelt  sich  bewusste  Intelligenz  in  unbewusste"  pag.  113).  Den- 
noch ist  Reinke  gerade  der  entgegengesetzten  Meinung:  „Die  intelli- 
genten Kräfte  sind  zerstörbar,  die  Energie  ist  es  nicht"  (pag.  113),  was  ja 
natürlich :  die  Bedingungen  sind  veränderlich,  die  Energien  ihrer  Quantität 
nach  dauernd. 

Auf  diesem  trügerischen  Boden  ist  es  nun  Reinke  leicht,  den 
Organismus  und  seine  Leistungen  zu  erklären.  Ueberall,  wo  derselbe  etwas 
leistet,  thut  er  dies  eben  unter  Leitung  der  vorhandenen  unbewussten  in- 
telligenten Dominanten;  und  für  jede  Art  dieser  Leistungen  gibt  es  be- 
sondere derartige  Dominanten ;  die  ursprünglichen  Dominanten  entwickeln 
neue  u.  s.  f.  Die  Dominanten  „arbeiten  intelligent"  „als  unsichtbare  Bau- 
meister" (pag.  115)  u.  s.  f.  Auf  diese  Weise  gelangen  wir  denn  zu  einer 
neuen  Dominanten-Umschreibungshypothese  von  bekanntestem  Charakter. 
Und  das  eigentliche  Fundament  der  ganze  Lehre  ist  „in  nuce"  die  alte  vita- 
listische  Argumentation:  da  die  lebenden  Wesen  sich  wie  Maschinen  ver- 
halten, Maschinen  jedoch  nur  von  einer  Intelligenz  konstruirt  sein  können, 
so  müssen  auch  die  Organismen  von  einer  Intelligenz  hervorgebracht 
worden  sein.  Dabei  berührt  nur  eigentümlich,  dass  R.  sich  als  Anhänger 
der  Urzeugung  erweist,  ohne  die  Frage  zu  erörtern,  von  welcher  intelli- 
genten Kraft  denn  die  zahlreichen  Dominanten,  die  er  schon  in  diesen  ersten 
Organismen  voraussetzt,  abstammen.  Hier  bleibt  doch  kein  anderer  Aus- 
weg als  die  intelligente  Schöpfungskraft. 


LITTERATUR 


1899.  Albrecht,  E.,  Vorfragen  der 
Biologie.     Wiesbaden. 

1900.  —  —  Gegen  die  Teleologie.  Bei- 
lage zur  Allgem.  Zeitung.  Nr.  293. 
Auch   separat. 

1901.  — ■  —  Die  Ueberwindung  des 
Mechanismus  in  der  Biologie.  Biolog. 
Centralbl.  Bd.  21,  p.  97—111. 

1898-  Baur,  E,  Zur  chemischen 
Theorie  der  lebenden  Substanz.  Bio- 
log. Centralbl.    Bd.  18.  p.  239—240. 

1878.  Bernard,  Cl.,  Lecons  s.  les 
phenomenes  de  la  vie.    Paris.  T.  I. 

1898.  Buch  n  er,  H.,  Naturwissen- 
schaft und  Materialismus.  Beilage  z. 
Allgem.   Zeitung.   Nr.    140  u.   141. 

1898-  Borodin,  J.  C. ,  Protoplasma 
und  Lebenskraft.  Beilage  zur  Allgem. 
Zeitung.  Nr.   166—167. 

1876.  Bütschli,  O.,  Ueber  die  Be- 
deutung der  Entwickelungsgeschichte 
lür  die  Stammesgeschichte  d.  Thiere. 
Bericht  d.  Senkenberg,  naturf.  Ge- 
sellschaft. 1875/76.  p.  61  —  74. 

1876.  —  —  Vorwort  zu  „Studien  über 
die  ersten  Entwicklungsvorgänge  der 
Eizelle,  die  Zelltheilung  und  die  Kon- 
jugation der  Infusorien.  Abh.  d. 
Senkenberg.  natf.  Gesellschaft.  Bd.  X. 

1892. Ueber  die  künstliche  Nach- 
ahmung der  karyokinetischen  Figur. 
Verhandl.  des  naturh.-med.  Vereins 
Heidelberg.  N.  F.  Bd.  V.  p.  28—41. 


1896.  Bütschli,  O,  Betrachtungen 
über  Hypothese  und  Beobachtung. 
Verh.  d.  deutsch,  zoolog.  Gesellsch. 
p.  7—16. 

1897.  —  —  Bemerkungen  über  die  An- 
wendbarkeit des  Experiments  in  der 
Entwickelungsmechanik.  Arch.  für 
Entw.-Mech.     Bd.  V.  p.  591-593. 

1901.  —  —  Meine  Ansicht  über  die 
Struktur  des  Protoplasmas  und  einige 
ihrer  Kritiker.  Arch.  f.  Entwickl.- 
Mechanik.  Bd.  XI.  p.  499—585. 
Tf.  20. 

1889.  Bunge,  G.,  Lehrbuch  d.  physio- 
logischen u.  pathologischen  Chemie. 
2.  Aufl. 

1901.  C  lassen,  Joh.,  Die  Anwend- 
ung der  Mechanik  auf  Vorgänge  des 
Lebens.  Jahrbuch  d.  Hamburgischen 
wissenschaftl.  Anstalten.  Bd.  18.  18.  p. 

1886.  Cohn,  F.,  Lebensfragen.  Tage- 
bl.  d.  59.  Vers.  d.  Naturforscher  u. 
Aerzte  zu  Berlin,  p.  243. 

1897.  Cornelius,  H.,  Psychologie 
als  Erfahrungswissenschaft.    Leipzig. 

1899.  Cossmann,  P.  N.,  Elemente 
der  empirischen  Teleologie.  Stuttgart. 

1900.  Doflein,  F.,  Ueber  die  Ver- 
erbung von  Zelleigenschaften.  Ver- 
handl. d.  deutsch,  zoolog.  Gesellschaft, 
p.  135-142. 

1893.    Driesch,   H.,   Die  Biologie  als 
selbstständige     Grundwissenschaft. 
Leipzig. 


106 


1894.      Driesch,      H.,       Analytische 

Theorie    der   organischen  Entwickel- 

ung.     Leipzig. 
1896.  —  —   Die  Maschinentheorie  des 

Lebens.  Biolog.  Centralblatt.  Bd.  16. 

p.  353. 
1896.   —  —  Ueber  einige  primäre  und 

sekundäre   Regulationen  in  der  Ent- 

wickelung    d.    Echinodermen.    Arch. 

f.  Entw.-Mech.    Bd.  IV.  p.  247. 
1897. Von  den  regulativen  Wachs- 

thums-  und  DifTerenzirungsfähigkeiten 

der  Tubularia.   Arch.   f.  Entw.-Mech. 

Bd.  V.  p.  389. 
1899.   —  —    Die  Lokalisation  morpho- 

genetischer  Vorgänge.     Ein    Beweis 

vitalistischen    Geschehens.     Arch.  f. 

Entw.-Mech.     Bd.  VIII.  p.  35. 

1899. Resultate    und    Probleme 

der  Entwickelungsphysiologie  der 
Thiere.  In  Ergebnisse  d.  Anat.  u, 
Entwickelungsgeschichte.    Bd.   VIII. 

1848.  Dubois-Reymond,  E.,  Ueber 
die  Lebenskraft.  Aus  der  Vorrede  zu 
den  „Untersuchungen  über  thier. 
Elektricität".    Reden.    2.  Folge. 

1872.  —  —  Ueber  die  Grenzen  des 
Naturerkennens.  Reden.  1.  Folge. 
1886.    P.  105—140. 

1880. Die    sieben  Welträthsel. 

Reden.  1.  Folge.  1886.  p.  381— 417. 

1894. Ueber  Neovitaiismus.    Sitz.- 

Ber.  der  Berliner  Akademie.  2.  Bd. 
p.  623-641. 

1890.  Dubois-Reymond,  P.,  Ueber 
die  Grundlagen  der  Erkenntniss  in  den 
exakten  Wissenschaften.     Tübingen. 

1899.  Errera,  B.,  A  propos  de  gene- 
ration  spontanee.  Essai  de  philosophie 
botanique  II.  Revue  de  l'Univers. 
de  Bruxelles. 

1895.  Groth,  P.,  Physikal.  Krystallo- 
graphie.    3.   Aufl.   Leipzig. 

1893.  Hauptmann,  C,  Die  Meta- 
physik in  der  modernen  Physiologie. 
2.  Aufl.    Dresden. 

1870.  Hering,  E.,  Ueber  das  Ge- 
dächtniss.  Almanach  d.  K.  K.  Ak.  W. 
Wien.    20.  Jahrg.  p.  253-278. 


1897.  Hertwig,  O.,  Mechanik  und 
Biologie.  Zeit-  und  Streitfragen  der 
Biologie.    Heft  2.   Jena. 

1899. Die  Lehre  vom  Organismus 

und  ihre  Beziehung  zur  Sozialwissen- 
schaft.    Jena. 

1900.  —  —  Die  Entwickelung  der  Bio- 
logie im   19.  Jahrhundert.    Jena. 

1893.  Hüppe,  F.,  Ueber  die  Ursachen 
der  Gährungen  und  Infektionskrank- 
heiten und  deren  Beziehungen  zum 
Kausal-Problem  und  zur  Energetik. 
Verhandl.  d.  Ges.  deutsch.  Natur- 
forscher u.   Aerzte   I.   Auch   separat. 

1900.  Lehmann,  O.,  Struktur,  System 
und  magnetisches  Verhalten  flüssiger 
Krystalle  und  deren  Mischbarkeit 
mit  festen.  Ann.  d.  Physik.  4.  F. 
Bd.  2.  P.  649-705.  2  Tf. 

1842.  Lotze,  R.  H.,  Leben.  Lebens- 
kraft. Wagner's  Handwörterbuch  d. 
Physiologie.    Bd.  I.    p.  IX— LVIII. 

1846.  —  —  Seele  und  Seelenleben. 
Wagner's  Handwörterbuch  d.  Physiol. 
Bd.  III.    p.  142-264. 

1848.  —  —  Allgemeine  Pathologie  u. 
Therapie.     Leipzig. 

1851. Allgemeine  Physiologie  des 

körperlichen  Lebens.     Leipzig. 

1856.  —  —  Mikrokosmus.  Ideen  zur 
Naturgeschichte  und  Geschichte  d. 
Menschheit.     2  Bde. 

1896.  Mach,  E.,  Die  Prinzipien  der 
Wärmelehre.    Leipzig. 

1900.  —  —  Die  Analyse  der  Empfind- 
ungen und  das  Verhältniss  des  Phy- 
sischen zum  Psychischen. Jena.  2.  Aufl. 

1900.  Morgan,  T.  H.,  Regeneration 
in  Planarians.  Arch.  f.  Entw.-Mech. 
X.  p.  58—119. 

1890.  Münsterberg,  H.,  Die 
Willenshandlung.  Ein  Beitrag  zur 
physiolog.   Psychologie.    Freiburg. 

1849.  Müller,  Joh.,  Handbuch  der 
Physiologie  des  Menschen.    Coblenz. 


107 


1877.  Nägeli,  C,  Die  Schranken  der 
naturwissenschaftlichen  Erkenntniss. 
Tagebl.  d.  Naturf.-Vers.  zu  München. 
Auch  in  „Mechanisch-physiologische 
Theorie  der  Abstammungslehre". 
1884.    p.  597. 

1884.  Nägeli,  C.,  Mechanisch-physio- 
logische Theorie  der  Abstammungs- 
lehre.   München  u.   Leipzig. 

1897.  Pfeffer,  W.,  Pflanzenphysio- 
logie.    2.  Aufl.  Bd.  I.  p.   1—72. 

1875.  Pflüger,  E.,  Ueber  die  physio- 
logische Verbrennung  in  den  leben- 
den Organismen.  Arch.  f.  d.  ges. 
Physiologie.  Bd.  10.  p.  251—376 
und  Nachtrag  ibid  p.  641  —  644. 

1877.  —  —  Die  teleologische  Mechanik 
der  lebendigen  Natur.  Arch.  f.  d.  ges. 
Physiologie.     Bd.   15.  p.  57—103. 

1899.  Reinke,  J.,  Gedanken  über  das 
Wesen  der  Organisation.  Biol.  Cen- 
tralblatt.  Bd.  19.  p.  81—94  u.  p. 
113 — 122.  Genauere  Ausführung: 
in  R  e  i  n  k  e '  s  Werk :  Die  Welt  als 
That.     Berlin. 

1888.  Rindfleisch,  G.  E.,  Aerzt- 
liche  Philosophie.  Festrede  z.  F.  d. 
306.  Stiftungstages  d.  Univ.  Würz- 
burg.   20  pp. 

1895. Neo- Vitalismus.  Verhandl. 

d.  67.  Vers,  deutscher  Naturforscher 
u.  Aerzte  zu  Lübeck,    p.   111  — 130. 

1893.  Roux,  W.,  Ziele  und  Wege  der 
Entwickelungsmechanik.  Ergebn.  der 
Anat.  u.  Entwickelungsgesch.  Bd.  II. 
p.  416—445. 


1895.  Roux,  W.,  Gesammelte  Abhand- 
lungen über  Entwickelungsmechanik 
der  Organismen.     2  Bde.    Leipzig. 

1896. Zu    H.   Driesch's  Analyt. 

„Theorie  d.  organischen  Entwickel- 
ung".  Arch.  f.  Entw.-Mech.  Bd.  IV. 
p.  466-501. 

1897.  —  —  Für  unser  Programm  und 
seine  Verwirklichung.  Arch.  f.  Entw.- 
Mech.  Bd.  V.  p.  1-80  u.p.  2 19  -342. 

1873.  Schopenhauer,  A.,  Sämmtl. 
Werke  in  6  Bänden.  Herausgegeben 
von  J.  Frauenstädt.     Leipzig. 

1879.  S  o  h  n  c  k  e,  L„  Entwicklung  einer 
Theorie  der  Krystallstruktur.  Leipzig. 

1878.  Sigwart,  Ch.,  Logik.  Freiburg 
und  Tübingen. 

1900.  Stölzle,  K.  E.  v.  Bär's  Stell- 
ung zum  Problem  der  Zweckmässig- 
keit.     Biolog.   Centralbl.   p.   34—45. 

1849.  Vir chow,  R.,  Die  naturwissen- 
schaftliche Methode  und  die  Stand- 
punkte in  der  Therapie.  Arch.  f. 
Pathologie.    Bd.  2.  p.  1  —  37. 

1856.  Virchow,  R.,  Alter  und  neuer 
Vitahsmus.  Arch.  f.  Pathologie. 
Bd.  9.  p.   1—55. 

1900.  Wiener,  O.,  Die  Erweiterung 
unserer  Sinne.  Akadem.  Antritts- 
vorlesung.   Leipzig.    J.  A.  Barth. 

1890—1894.  Wolff,  G.,  Beiträge  zur 
Kritik  der  Darwinschen  Lehre.  Bio- 
log. Centr.-Blatt.    Bd.  X,  XI,  XIV. 


<#-- 


C  yU      I 


f 


t  AJ 


^r 


*  £  * 


y  - 


r  \ 


■ 


-^