Skip to main content

Full text of "Meereskunde"

See other formats


a en 


ER a EEE 
EEE 2 ERBETEN 


+ 
5 
Be 
=: 
EZ 
a4 
=: 
= 
=; 
en 


is 


a Y ii 
3 


Rt, 
DAYS 
A 


Hp 
Bang 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 


ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 


MEER UND SEEWESEN 


=) 


Herausgegeben vom 


INSTITUT FÜR MEERESKUNDE 
ZU BERLIN 


UNTER SCHRIFTLEITUNG VON WALTER STAHLBERG 


Fünfter Jahrgang 
Mit zahlreichen Abbildungen und Karten 


o()o 


Berlin ıg91ı 
Ernst Siegfried Mittler und Sohn 


Königliche Hofbuchhandlung 
Kochstraße 68-71 


Br era MISSSE 
aan EI A der 


en Re 
re e 
FR z 
“ E>) 25 
13 
\ " 
\ r 
z e 
ve 
\ 


Alle Rechte aus dem Gesetze vom 19. Juni 1901 ‘ 
sowie das Übersetzungsrecht sind vorbehalten. 2 


Heft ı: 


Heft 2: 


Heft 


Heft 4: 


Heft 


Heft 6: 
Heft 7: 


Heft S: 


Heit 9: 


Heft ı0: 


Heft ır: 
Heft ı2: 


(#7?) 


[97] 


INHALT: 


Behrmann, Walter, Dr, Der Deichschutz an Deutsch- 
lands Küsten. 

Koch, P., Geh. Admiralitätsrat, Kriegsrüstung und 
Wirtschaftsleben. 

Mecking, Ludwig, Dr., Der Golfstrom in seiner histo- 
rischen, nautischen und klimatischen Bedeutung. 
Hochstetter, Franz, Dr., Die Abschaffung desbritischen 
Sklavenhandels im Jahre 1806,07, ein Kapitel aus der 
britischen Schiffahrtspolitik. 

Michelsen, Fregattenkapitän, Unterseebootsunfälle 
unter besonderer Berücksichtigung des Unfalls auf 
uU"S3. 


Lütgens, Rudolf, Dr, Valparaiso und die Salpeterküste. 
Maurer, H., Professor Dr., Der Kreisel als Kompaß- 
ersatz auf eisernen Schiffen. 


Wittmer, R., Kapitän zur See a. D, Die Zusammen- 
setzung und Taktik der Schlachtflotten in Vergangen- 
heit und Gegenwart. 


Krebs, Norbert, Dr., Die Häfen der Adria. 


Kroß, G. W., Die Fahrten eines deutschen See- 
mannes um die Mitte des 19. Jahrhunderts. 


Ebeling, A., Dr, Ferngespräche über See. 
Penck, Albrecht, Professor Dr., Tsingtau. 


an 


Berichtigung: In der Unterschrift des Schlußbildes von Heft 10 
muß es heißen: Altonaer Bark „Neuhof“ statt Altonaer Bark „Lotse‘“. 


U) 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 
MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG ERSTES HEFT 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 
Von Dr. Walter Behrmann. 


ahren wir hinaus zum Besuch der Nordseebäder 

und haben wir die unfruchtbaren und armen Ge- 

biete der Gest durcheilt, haben wir die toten, un- 
endlich weiten Moore aufatmend hinter uns gelassen, 
so begrüßt uns eine prächtige grüne Ebene, durchzogen 
von weiten Was- 
serstraßen, aut 
denen dahinzie- 
hende Schiffe die 
Nähe des Meeres 
künden. Auf ihr 
tummelnsichedle 
Rosse oder liegen 
in tiefer Beschau- 
lichkeit wieder- 
käuende, fette 
Rinder, ein Bild 
der Freiheit im Abbild. ı. Marsch bei Blankenburg (Oldenburg). 
Tierleben, das 
den Mitteldeutschen seltsam berührt. Und hinter einzelnen, 
vom Sturm schräggewehten, aber kräftigen Bäumen ge- 
schützt, liegt in reicher Behäbigkeit das Wohnhaus des 


Menschen mit seinen bergenden Scheunen und stroh- 
Meereskunde, Vorträge. V. Heft z. I 


Meereskunde. 


169) 


bedeckten weiten Stallungen. Reichtum und Ordnung zeigt 
die ganze Landschaft. Wohlgepflegte Landstraßen durch- 
ziehen sie geradlinig, alles an ihr ist gewollt, alles geschaffen, 
nichts zufällig oder unangetastete Natur. Dann nähern wir 
uns dem Meere und spähen aus, um, wie die Griechen, mit 
Freude die unendliche Weite zu begrüßen. Aber ver- 
geblich. Zwar schmecken wir an der salzigen Luft die 
Nähe, zwar scheinen uns alle Gegenstände in duftiges 


Abbild. 2. Das Watt des Jadebusens 
vom Arngaster Leuchtturm gesehen, im Vordergrund der Wilhelms- 


havener Leitdamm. 


Blau gehüllt, infolge der dicken Atmosphäre. zwar hören 
wir vielleicht auch die Damptpfeifen der Schiffe. Die 
Aussicht sperrt aber ein kleiner, unscheinbarer Wall, der 
sich, soweit das Auge reicht, hinzieht. Das Vieh aut 
seiner Höhe hebt sich groß gegen den Horizont ab. 
Einzelne Zäune laufen quer über ihn hin, sonst unterbricht 
nichts die einförmige Linie. Es ist der Seedeich. Mit 
einer gewissen Geringachtung betrachtet man ihn. Man 
hat sich ihn imponierender vorgestellt. 

Erst wenn die Bahn ihn erklommen und plötzlich das 
Meer vor uns auftaucht, dann ahnt man die Bedeutung dieses 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 


ws 


Grenzwalles. Denn ist es Ebbe, so dehnt sich trostlos vor 
uns aus die tote Fläche des Watts, hinter uns die Gefilde 
des Wohlstandes, die Sphäre menschlicher Arbeit und 
Kraft, vor uns aber das Feld der mitleidloser: Naturkräfte. 
So scheidet dieser grüne Wall zwei Welten. Ist es aber 
Flut, kommen die Wellen, vom Sturm gejagt, gegen 
das Land gestürmt, so sieht man, wie das Wasser 
höher steht als die Wohnungen der Menschen, wie ohne 
den Deich die schäumende Wildnis über das ganze frucht- 
bare Land sich ergießen würde. Man erkennt, wie in dem 
unscheinbaren Erdwall ein festes Bollwerk dem Ansturm 
entgegengesetzt ist. Man bekommt Achtung vor dem 
Menschenwerk und sieht ein, wie richtig das alte Friesen- 
wort für dies Land geprägt ist: »kein Land ohne Deich«. 

Die geschilderten Bilder aber genießt man nur bei 
Annäherung an die Nordseeküste, die Ostseeküste verhält 
sich in diesem Punkte völlig anders. Fragen wir uns, was 
bedingt denn gleichzeitig die Ungunst der Natur, daß wir 
uns schützen müssen gegen sie, und die Gunst der Natur, 
daß sie uns Wertvolles zu schützen schenkte? Wodurch ent- 
standen die fruchtbaren Marschen an der Nordsee, warum 
muß ein Deich sie uns verteidigen? 

Um die Bedingungen für die Entstehung der Marschen 
uns zu vergegenwärtigen, wollen wir einen Blick auf die 
weitere Umgebung der deutschen Nordseeküste werfen. 
Fast unmerklich flacht sich der Boden Deutschlands von 
den Mittelgebirgen bis zur Küste ab, von welcher Seite 
man sich auch der Küste nähert, nirgends wird durch 
einen Abfall die Annäherung merklich. Ja, die Ab- 
flachung des Landes hört nicht auf mit dem Meeresrande, 
Sie, setzt. sich fort "bis weit ‘ins Meer: hinein. "Besteht 
doch die ganze Nordsee aus einem gleichförmig seichten 
Meere, das im Mittel nur die geringe Tiefe von 89 Metern 
erreicht. Die Nordsee stellt eben nur eine Transgression 


r? 


4 Meereskunde. 


des Meeres über einen Teil des Kontinentes dar, dessen 
Grenze nicht an der Meeresküste, sondern westlich der 
Hebriden und Shetlands-Inseln zu suchen ist. So steht 
also unsere Küste als Flachküste im großen Gegensatz 
zu den Steilküsten vieler anderer Länder. Gerade die 
Flachheit des Vertikalprofils ist das Charakteristische an 
ihr, durch sie ist der ganze Aufbau des Küstenstreifens 
bedingt. Es ist nämlich von vornherein klar, daß bei 
einer flachen Überspülung des Meeres über das Land in- 
folge einer geringen Bodenschwankung, wie sie ja so oft 
beobachtet wird, viel leichter Veränderungen in der 
Form der Küste eintreten können, als bei einem Steil- 
absturz des Landes in ansehnliche Meerestiefen. Dort 
nämlich würde selbst eine stärkere Hebung oder Senkung 
des Landes nur eine kaum merkliche Änderung im Aus- 
sehen der Küste hervorrufen. Hier dagegen wird eine 
noch so kleine Schwankung des Bodens oder des Meeres 
ansehnliche Partien des Meeresbodens freilegen oder weite 
Flächen Landes unter Wasser setzen. 

Aber auch die Wirkung der Meereswellen ist bei 
einer Flachküste und einer Steilküste wesentlich ver- 
schieden. Dort peitscht die Welle gegen die Felsen und 
nagt an ihnen, wird aber in dem meist festen Material nur 
Höhlungen oder Felsterrassen erzeugen können. Hier 
dagegen läuft sie auf das flache Ufer auf, die Kreis- 
bewegung der Wasserteilchen kann bei dem flachen 
Strande nicht vollendet werden, die Welle schlägt über. 
Eine Brandungszone, die je nach der Größe der Wellen 
bald näher, bald ferner dem Ufer liegt, zeigt dies Gebiet 
an, der Boden des Meeres wird aufgewühlt und als 
Strandwall zur Küste geschoben. Hier kann er aus- 
trocknen und ein Spiel der Winde werden. So begleiten 
fast regelmäßig Dünenketten die Flachküsten der Erde. 
Und auch an der Nordsee finden wir eine lange Kette 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 


tyı 


von Dünen, die bei der Rheinmündung beginnt, bis zum 
Eingang der Zuider See die Küste begleitet, dann auf die 
Friesischen Inseln überspringt, um endlich wieder in Jütland 
ohne Unterbrechung aufzutreten. Auch die Ostsee ist 
auf weite Strecken von derartigen Dünen begleitet. 

Doch welch einen Gegensatz bieten beide Küsten! 
In der Ostsee laufen die vom Winde getriebenen Wellen 
schräg auf das Land, jede spült etwas fort und trägt es 
ein kleines Stückchen weiter, die Arbeit wird von der 
nächsten Welle fortgesetzt. Aus dieser sich immer 
wiederholenden Arbeit resultieren achtunggebietende 
Wirkungen. Wir sehen hier, wie an jede Biegung der 
Küste sich ein Haken oder eine Nehrung anschmiegt. 
Die Flüsse lassen ihre mitgeführten Schlammteilchen 
sinken und suchen die Buchten, in die sie mit weitem 
Delta münden, zuzuschütten. Reiche Vegetation nimmt 
sofort von dem durchfeuchteten Boden Besitz und fängt 
ihrerseits wieder die Alluvionen der Flüsse. So arbeitet 
hier alles an dem Ausgleich der unregelmäßigen Küste 
und sucht eine gleichförmige Küstenlinie zu schaffen. 

An der Nordsee kennen wir keine langen Küsten- 
haken und Nehrungen, kennen wir keine abgeschnürten 
Strandseen, wie an der Ostsee, kennen wir keine Sumpf- 
waldungen, vielmehr dehnen sich hinter einem zer- 
stückelten Inselkranz weite Watten und Marschen, die der 
Ostseertehlen. 

Der Gegensatz der Küsten ist natürlich durch den 
Gegensatz der Meere bedingt, er gibt uns den Schlüssel 
zum Verständnis. In der Ostsee haben wir ein ab- 
geschnürtes Meer vor uns mit nur schmalen Eingängen 
zur Nordsee, in der Nordsee dagegen ein an zwei Stellen 
mit dem offenen Ozean in weiter Verbindung stehendes 
Meer, am Kanal sowohl wie bei den Shetlands-Inseln. 
Die Nordsee hat daher wie der Ozean zweimal am Tage 


Ö Meereskunde. 


Abbild. 3. Die Marsch bei Elsfleth in Oldenburg. 


Ebbe und Flut, die der Ostsee ıtast ganz ıehlen, sie 
hat einen starken Salzgehalt, der der Ostsee auch fast 
völlig mangelt. 

Unter Ebbe und Flut verstehen wir bekanntlich das 
Anschwellen des Meerwassers, wie es durch die Anziehungs- 
kraft des Mondes und der Sonne bedingt wird. Wirken 
beide in der gleichen oder entgegengesetzten Richtung, 
so erhalten wir die sogenannte Springflut, wirken beide 
rechtwinklig zueinander, so ergibt sich die niedrige Nippflut. 
Der Meeresspiegel der Nordsee schwankt also nicht nur im 
Laufe des Tages zweimal auf und nieder, sondern schwillt 
auch zweimal im Monat zu bedeutenderer Höhe an. Nun 
hatten wir eingangs gesehen, daß bei einer Flachküste 
bei jeder Meeresschwankung größere Teile des Meeres 
trocken laufen müssen. Dies geschieht also an der Nord- 
see zweimal an jedem Tage. In der Ebbezeit besonders 
wird der Strandwall aufgeweht zur Dünenkette. Bei der 
Flut muß sich das Wasser hindurchdrängen und benutzt 
natürlich die Vertiefungen des Dünenwalls. Große 
Wassermassen müssen in kurzer Zeit eine enge Pforte 
ein- und auspassieren, daher finden wir bald tiefe Löcher 
an diesen Stellen ausgekolkt. Von allen Seiten führen 
tiefe Rinnen, sogenannte Priele, zu diesen Durchlässen, 
die vornehmlich durch das ausströmende Ebbewasser aus- 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 7 


= 


gegraben werden. An den von allen Seiten zu diesen 
Punkten konvergierenden tiefen Prielen kann man die 
Saugwirkung der Ebbezeit gut beobachten. Wenn zur 
Flutzeit das Wasser die Dünen umspült, wirkt die Strand- 
versetzung wie an der Ostsee und sucht die Inseln nach 
Osten zu verlängern. Die Ebbe aber hält das Loch 
zwischen den Inseln offen. So wandern diese zwar als 
Inseln langsam in den Jahrhunderten nach Osten weiter, 
können aber nie eine zusammenhängende Nehrung bilden. 
Und sollten sie einmal zu ausgedehnt werden, so wird 
eine größere Flut sich in ihnen eine tiefere Stelle zum 
Durchdringen aussuchen und die im Werden begriffene 
Nehrung verstückeln. Dies erklärt uns den Kranz der Inseln. 

Tief in die Mündungen der Ströme dringt die Flut- 
welle und staut sie auf; diese können daher nur alle 
sechs Stunden in das Meer münden. Zweimal am Tage 
also tritt an den Mündungen ein völliger Stillstand des 
Wassers ein. Alles von der Strömung mitgeführte 
Material fällt bei dem Aufhören der Strömung zu Boden. 
Da sich aber Salzwasser und Süßwasser mischt, so sterben 
an dieser Stelle alle mitgeführten kleinen und kleinsten 
Tierchen, die nur in dem ihren Lebensbedingungen ent- 
sprechenden Wasser leben können. Einem unaufhörlichen 
Regen vergleichbar schlagen sich mit den Schlammteilchen 
die Leichen und Schalenreste der kleinen Lebewesen im 
Brakwasser nieder und düngen so den fetten Marschboden. 
Dieser ist also an die Flüsse gebunden: hier buchtet sich 
die Marsch weit hinein in das Land. An der Außen- 
küste kann die Aufschlickung nur durch Transport vor 
sich gehen. Ein völliges Zuschlicken der Flüsse wird 
aber durch den kräftigen Flut- und Ebbestrom verhindert, 
der die Mündung weit offen hält. 

Bei Annäherung an die Küste vom Meere aus betreten 
wir zuerst das Watt, welches, baumlos und kahl, nur eine 


8 Meereskunde. 


kleine Riffelung durch die Wellen zeigt. Schlick und Sand 
wechseln ab, höhere Vegetation wird durch das Salzwasser 
verhindert. Jedoch siedeln sich bei genügender Höhe 
des Wattes zuerst Salzwasserpflanzen an, wie der Krück- 
fuß, die mit ihren Wurzeln den Boden befestigen und 
halten. Bei dem langsamen Höherwerden steilen sich 
Gräser ein, und besonders Rohrarten, die nur gedeihen, 
solange das Wasser sie in regelmäßiger Wiederholung 
überspült. Endlich bilden sich einzelne Polster von Gras, 
zwischen denen noch immer das kahle Watt durchlugt. 
Ganz nahe der Küste wird die Grasnarbe zusammenhän- 
gender und kann jetzt als Viehweide schon ausgenutzt 
werden. Durch geeignet gezogene Entwässerungsgräben 
wird jetzt vom Menschen dem Ebbestrom der Weg ge- 
wiesen. Das Land erhebt sich über Mittelwasser, nur 
noch größere Fluten gehen über dasselbe hin und können 
aufbauend wirken. So entstand nicht nur in historischer 
Zeit die Marsch, nein, unter unseren Augen sehen wir 
ihre Bildung vor sich gehen. Erst in den letzten Jahren 
hat. sich am Hohen Weg in dieser Weise eine Insel 
gebildet, die alte Mel’um, zwischen der Weser- und der 
Jademündung, etwa 17 km von der Küste entfernt. Hier 
hatte im fünfzehnten Jahrhundert schon einmal eine Burg 
gestanden, die die Oldenburger Grafen zum Eintreiben 
des Weserzolls angelegt hatten, die später aber wieder 
ein Raub der Wellen wurde. Fine zweite Insel ist 
östlich von Wangerooge im Entstehen begriffen, an 
der Stelle des alten Minsener Olden Oog. Dort wird 
zum Schutze des Wilhelmshavener Fahrwassers ein aus- 
gedehnter Damm gezogen, er bildet die Veranlassung zu 
einem reichlicheren Absatz von Schlick. 

Autbauen und Zerstören wird beides ohne Wahl 
vom Meere besorgt, je nach der Gunst der augenblick- 
lichen Lage der Watten und Priele.e Da das Aufbauen 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. (6) 


Abbild. 4. Zerstörende Wirkung der Meeresbrandung an der Marsch 
des Oberahneschen Feldes, Jadebusen. 


menlanserı Zeit. "geschieht, das Zerstoren, aber, sehnell 
und katastrophenartig vor sich geht, so würde wohl 
wenig von unseren Marschen erha:ten sein, hätten wir 
nicht den natürlichen Schutzwall der Düneninseln und 
den künstlichen Wall der Deiche. Dieser muß also den 
Marschboden schützen, der eine fast unerschöpfliche 
Fruchtbarkeit in sich zu bergen scheint. So wird das 
Land an manchen Stellen zum Anbau von Getreide. 
hauptsächlich Gerste benutzt, an anderen dient es fast 
ausschließlich den Viehweiden, die sich ausgedehnt über 
die ganze, weite Fläche hinziehen. 

Es ist klar, daß die Stärke der in dieser Weise ent- 
standenen Marschschichten, der Klei, wie man sagt, nicht 
sehr beträchtlich werden kann. Ihrem Anwachsen ist eine 
Grenze gesetzt nach unten durch die Flachheit des Meeres, 
nach oben durch die Höhe der Flut. Finden wir aber 


= 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft r. 2 


de) Meereskunde. 


heute Marsch in einer Mächtigkeit von über 20 m, so 
müssen wir zu einer anderen Erklärung greifen. Diese kann 


< 


nur in einer früheren Senkung d esamten Bodens ange- 


es © 
urS) 
nommen werden. Auch andere Momente erlauben uns, eine 
Senkung in prähistorischer Zeit anzusetzen. Finden wir 
doch heute unter Mittelwasser oder tief im Meer sehr 


ausgedehnte Moorlager, die aus Pflanzen entstanden sind, 


Abbild. 5. Torflager am OberahneschenFeld (Westküste) im Jadebusen, 
von der Brandung zerstört. 


welche nur über Wasser gewachsen sein können. Kleinere 
Lager finden wir häufig an der Küste ausstreichen, sie 
werden heute vom Ebbestrom wieder zerstört. Endlich 
hat aber auch die Küste als Ganzes eine äußere Umriß- 
form, wie sie nur ein langsam ins Meer sich senkendes 
Land haben kann. Ansolchen Stellendringt jadasMeerinalle, 
auch noch so kleinen Unebenheiten desLandes ein und schafft 
so eine buchtenreiche Küste. Jedenfalls kann sich an 
einer aufwärts steigenden Küste kein ausgedehntes 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. II 


Marschland bilden, weil immer neue Teile des Meeres- 
bodens emportauchen und zur Marschbildung die Zeit fehlt. 

Es ist also das Marschland mit seiner ganzen 
Fruchtbarkeit ein Geschenk des Meeres, und 
Zwarsist, seine» Entstehune nur‘ möslıch "ansich 


senkenden Küsten bei einem salzreichen Meere 
mılzeroben. Gezeiten. 


Abbild.6. Torflager am Oberahneschen Feld (Ostküste) unter Mittel- 
wasser. Der Torf zieht sich unter den Marschschichten der ganzen 
Insel hindurch. (Vgl. Abbild. 5.) 


Um das Land, von dem der Mensch einmal Besitz 
ergriffen, vor dem Meeresandrang zu schützen, erbauen 
wir die Deiche. Man muß sofort einen Unterschied machen 
zwischen demSeedeich undden Deichen entlang denFlüssen. 
Der Flußdeich muß geeignet sein, lange Zeit hindurch das 
angestaute Wasser, wie es bei Flut oder bei Hochwasser 
und Schneeschmelze eintritt, auszuhalten. Wir finden 
hier Deiche von einer Breite, daß sich zwei Wagen 
bequem auf seiner Krone begegnen können. Der See- 


I 


12 Meereskunde. 


deich dagegen wird nur selten längere Zeit hindurch an- 
gegriffen werden. Vielmehr sinkt nach einer Sturmflut 
meist das Wasser sehr schnell. Er muß aber den heftig- 
sten Wellenschlag aushalten können, er muß höher sein 


Abbild. 7. Der Seedeich aur Neuwerk 


mit steiler Innen- und flacher Außenböschung. 
W.Stahlberg phot. 


als jede bis jetzt bekannte Sturmflut. Die höchste Sturm- 
flut, von der wir genaue Maße berichtet erhalten haben, 
war an der deutschen Küste am 4.—5. Februar 1825: sie 
betrug stellenweise 4 m über Mittelwasser; ihr stand die 
vom 12.—13. März 1906 mit 31/, m und mehr nur wenig 
nach. Es’ werden. daher die » Deiche "je nachr Ahr 
Exposition 3—7 m über Maifeld aufgeführt, d. h. über 
dem Boden, auf dem der Deich steht. 

Um die Wirkung der Wellen abzuschwächen, wird die 
äubere Böschung des Deiches sehr viel flacher gemachtals die 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. N 


u 


innere. Der Deich geht mit einer kleinen Abstufung, der so- 
genannten Bärme, ins Vorland über. Dieses ist fast noch 
wichtiger als der Deich selbst zum Schutze des Hinter- 
landes. Denn auf einem langsam ansteigenden Vorland 
überschlägt sich die Welle und läuft sich tot, erreicht 
den Deich nur kraftlos. Das Vorland wird häufig über- 
flutet. Hier also setzen sich stets neue Alluvionen 
nieder, während das Hinterland durch die Entwässerung 
zusammensackt. Wir haben daher an der ganzen Marsch- 
küste die merkwürdige Erscheinung, daß das dem Meere 
am nächsten liegende Land, das Vorland des Deiches, 


Abbild. 8. Der Deich bei Brake an der Unterweser. 


höher liegt als das eingedeichte, bewohnte Gebiet. Die 
Innenseite des Deiches ist steiler, hier ist häufig auf der 
Innenbärme ein Weg angebracht, der bei stürmischem 
Wetter Windschutz bietet. Der Deich muß die ganze 


IA Meereskunde. 


Küste umschließen und darf nur dort enden, wo er sich 
an höhere Gest anlehnen kann, die durch ihre Höhenlage 
schon an sich vor Überflutung sicheren Schutz gewährt. 
Nur an zwei Stellen der Nordsee, bei Duhnen in der 
Nähe von Cuxhaven und bei Dangast am Jadebusen 
stößt die Gest unmittelbar an das Meer, so daß hier die 


Abbild. 9. Die Weser bei Brake 
Weiden schützen das Vorland des Deiches. 


natürliche Küste die künstliche ablöst. An einer zweiten 
Stelle im Jadebusen bei Kleihörne tritt Moor an die See, 
die bei jeder Flut unter das Moor dringt und es aufhebt. 

Die Gewinnung von Vorland ist, wie wir sahen, eine 
der wichtigsten Aufgaben, nicht nur, um später einzu- 
poldernde Marschstrecken zu erhalten, sondern vornehm- 
lich zum Schutze der Deiche selbst. Verhältnismäßig 
leicht ist dies am Fluß zu erzielen. Angepflanzte 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 15 


Weiden sangen hier das schwebende Material aut und 
sorgen für die Aufhöhung des Landes. Wo dagegen das 
Salzwasser jede höhere Vegetation ertötet, muß man zu 
anderen Mitteln greifen. Es werden daher mit ungeheuren 
Kosten große Schlengenwerke ins Meer gebaut. Diese 
bestehen aus einzelnen Pflöcken, die in den Boden ge- 
schlagen werden und um die Buschwerk geflochten wird. 
Solche Werke erreichen große Ausdehnung. So ist 
z. B. die Hallig Ohland mit Langeneß und der Küste 
verbunden. Wo das Buschwerk dem Wellenschlag nicht 
standhält, muß man es mit großen Steinblöcken zu be- 
festigen suchen. Die Wirkung einer derartigen Buhne 
ist eine doppelte. Erstens werden die Wellen an ihr ge- 
brochen und abgelenkt, so daß sie nur mit verringerter Kraft 
auf den Deichstoßen, zweitens wird imSchutze derBuhneviel 
leichter Material angehäuft, so daß sich die so wichtige 
Aufschlickung des Bodens gerade an diese Werke knüpft. 
Irotzdem läßt sich nicht überall ein genügendes Vor- 
audzersıelen. Der’ dann, zsefährdete Deich, ein Schar- 
deich, muß künstlich befestigt werden. Fine dichte Gras- 
narbe, die sonst völlig genügt, reicht hier nicht aus. 
Man muß den Deich mit Stroh beflechten oder besser ihn 
ganz aus (Juadersteinen, erratischen Blöcken oder Back- 
steinen erbauen, eine meist kostspielige und langdauernde 
Arbeit. So ist Neuwerk mit einem solchen Deich geschützt. 

Die vom Meere neu gewonnenen Gebiete umwallt 
man zuerst, wenn sie noch nicht genügende Höhe haben, 
mit einem kleinen Sommerdeich. Über diesen gehen die 
Winterfluten hinweg und höhen das Land hinter ihm aut. 
Ist das Gebiet genügend angewachsen, so verstärkt man 
ihn. Er wird zum Seedeich und man hat ein frisches 
Stück Marsch gewonnen, einen Groden, wie man im Olden- 
burgischen sagt, einen Polder oder Koog, wie man in den 
übrigen Gebieten zu sagen pflegt. Der alte Deich wird 


16 Meereskunde. 


zum Schlafdeich, weil er so lange ruhen kann, wie der 
Seedeich standhält. Fast an der ganzen Küste entlang finden 
wir mehrere Systeme von Schlafdeichen, Poldern und 
Außengroden, die ein Bild des allmählichen Eroberns 
unseres Gebietes gewähren. 

Wie wir sahen, liegt das »Binnendieks«, das Land 
innerhalb des Deiches, meist tiefer als das »Butendieks«, 
das Vorland. Die Entwässerung unseres Marschdistriktes 
wird also zur schwierigen Frage. Und doch sehen wir 
an den vielen geradlinigen Gräben und Kanälen, die die 
Marsch durchziehen, und die sich alle in einem größeren 
Mittelkanal sammeln, dem ‚Wetter oder Fleht‘“, wie un- 
geheuer wichtig es für dies dem Wasser entstammende Land 
ist, entwässert zu werden. Es ist, als ob vom Ursprung 


Abbild. 10. Das Käseburger Siel an der Unterweser. 


dem Lande noch etwas anhafte. Alle 6 Stunden ist Flut 
und das Meer höher wie das Land, dies ist außerdem 
noch mit einem Wall umgeben, und doch muß das über- 
schüssige Wasser entfernt werden. Denn bei un- 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. N 


SI 


genügender Entwässerung nimmt die Mückenp!age über- 
hand und mit ihr die gefürchtete Malaria, das Wechsel- 
fieber. Die Entwässerung haben wir zuerst von den 
Ho.ländern gelernt, als der Deichbau schon weit fort- 


Abbild. ı1. Siel bei Iprump an der Hunte. 


seschritten war. Der Ausfluß eines solchen Kanals geht 
durch den Deich hindurch, dieser setzt sich oft ohne Unter- 
brechung über ihn fort; die Kanäle münden in sogenannte 
Sielen. Diese Abzugsröhren mit teilweise ansehn.ichen 
Durchmessern werden mit Schleusentüren versehen, die 
sich selbsttätig öftnen, sowie zur Ebbezeit der Innendruck 
größer ist als der Außendruck, sich aber schließen, sowie 
das Flutwasser von außen gegen sie drückt. Jeder Kanal 
und Graben muß mit einem Siel versehen sein, wenn es 
auch zuweilen nur aus ganz einfachen Falltüren besteht. 
Innerhalb des Deiches muß das Wasser im Kulturland seinen 
angewiesenengeradlinigenLaufziehen, außerhalb des Deiches 
dagegen, in der freien Natur, ist es sich selbst überlassen 


IS \eereskunde. 


und pendelt hin und her. Der Fluß oder Bach schlängelt 
sich als freier Mäander auf der Oberfläche des Vor- 
landes, bei jeder Ebbe aber wird plötzlich die Erosions- 
basis tiefer gelegt. Es resultiert ein stärkeres Gefälle, 
der Mäander vertielt sich, und wir erhalten die schönsten 
Beispiele für Zwangsmäander mit steilen Wänden. Bis 
weit hinaus ins Watt kann man an Prielen diese steilen 
Wände beobachten. 


Abbild. ı2. Priele im Deichvorland mit eingesenkten Mäandern. 


\W, Stahlberg phot 


Die größeren Siele haben große Bedeutung. Nicht 
nur ist die Anlage und Wahl des Ortes eines solchen Sieles 
schwierig, so daß man in einem kunstvollen Abschlußstein den 
Erbauer desselben ehrt oder dem Siel den Namen von Fürst- 
lichkeiten gibt, sie sind oft Übergangspunkte des Verkehrs. 
Die Schiffahrt auf dem Kanal oder dem Fluß wird durch 
das Siel von der auf dem Meere getrennt, wir haben hier 
Umladepunkte, sie bilden häufig den Anlaß zu einer 
Siedelung. Viele Namen der Gegend beweisen es, wie 
Hooksiel, Horumersiel, Karolinensiel usw. 


„© 


"I9s3MI9}uf) I9p ue [as Jadıngasey seq I "PIIAAV 


20 Meereskunde. 


Nicht nur zur Entwässerung, sondern auch zur Be- 
wässerung dienen die Siele.e Denn ist ein Gebiet zu früh 
eingedeicht worden, liest es weit vom Meere ent- 
fernt an Flüssen, so läßt man regelmäßig jeden Winter 
das Wasser das Land überschwemmen, indem man zur 
Fiutzeit die Siele öffnet. Durch die fruchtbringenden 
Sinkstofte wird der Boden gedüngt. Herrliche Schlitt- 
schuhbahnen bieten diese kilometerweiten Flächen, über 


Abbild. 14. Ein Deichschart, d. h. Wegdurchlaß bei Hammelwarden 
in Oldenburg. 


die man, vom Winde getrieben, mit großer Eile dahin- 
gleitet. Es gibt aber auch weite Distrikte der Marsch, 
ich erinnere nur an Holland und an Partien der unteren 
E.be, die ständig tiefer liegen als das Mittelwasser der 
Flüsse oder des Meeres. Hier kann das atmosphärische 
Wasser nicht abfließen, künstlich muß es durch Wind 
oder Dampfkraft über die Kappe des Deiches gehoben 
werden. Die in langer Reihe auf dem Deiche aufmar- 
schierten Windmühlen geben der Landschaft einen eigenen 
Reiz. 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 2] 


Die Höhe des Deiches darf an keinem Punkt unter- 
brochen werden. Jeder Weg muß über ihn hinweg. 
Glaubt man an weniger gefährdeten Punkten einen Durch- 
stich wagen zu können, so müssen schwere Türen, 
die zur Gefahrzeit geschlossen werden, die Stelle des 
Erdwalles übernehmen. Man nennt derartige Durchlässe 
ein Schart. Ja, als man eine Aufhöhung des Deiches 
für nötig erachtete, — jeder Deich sackt, wenn er neu 
ist, etwas in sich zusammen, — hat man an vielen 
Punkten, z. B. amı Weserdeich, sogar die Mauern der 
Häuser und Gartenumzäunungen mit in den Deichschutz 
hineingezogen. Bei jedem Garteneingang, bei jeder 
Haustür liegen dicke eichene Bohlen, die im Augenblicke 
der Gefahr sofort vor die Eingänge geschoben werden 
und so die gleichmäßige Höhe des Deiches garantieren. 

Wie oben kurz erwähnt, ist man wohl überall auf 
den gleichen Gedanken, sich mit einem Erdwall gegen 
das andrängende Wasser zu schützen, selbsttätig ge- 
kommen. In welcher Zeit aber dies gewesen ist, läßt 
sich nicht feststellen. Vielmehr weiß man aus Schi!de- 
rungen der Römer, daß zu der Zeit, als sie in Deutsch- 
land eindrangen, es an der Küste noch keine Deiche gab. 
Die Anlage eines Deiches erfordert einen großen Ge- 
meinsinn im Volke, also schon eine ziemlich hohe 
Kulturstufe. Die erste und älteste Anlage ist daher noch 
nicht gleich der zusammenhängende Deich, sondern ein- 
fach ein Erdhügel, auf dem das Wohnhaus gebaut wird. 
Noch heute sehen wir in den ältesten Teilen unserer 
Marsch die Wohnstätten aur sogenannten \Warften oder 
Wurften liegen. Ja, in den Halligen ist dies jetzt noch 
die gebräuchlichste, weil billigste Art, sich zu schützen. 
Zu Zeiten der Sturmflut ist in diesen Gebieten das ganze 
Land überschwemmt, einsam nur ragen die Häuser vom 
Sturm umbraust aus der schäumenden Flut empor. All- 


Meereskunde. 


18) 
[89) 


mählich wurden die Hügel erweitert und erhöht, so dab 
ganze Gebäudekomplexe, ja ganze Dörfer darauf Platz 
hatten. Viele Ortschaften, wie Fedderwarden, Hammel- 
warden, Eckwarden usw. haben danach ihren Namen. Ja, 
ein ganzer Distrikt, das Land Wursten östlich der Weser, 
ist nach ihnen benannt. So geben uns diese Erdhügel 
bei geschichtlichen Studien ein gutes Mittel an die Hand, 
die ältesten Partien unseres Gebietes festzustellen. 

Erst als geordnetere Verhältnisse Platz griffen, ging 
man daran, durch einen Wall auch seine Besitzungen zu 
schützen, seine Viehweiden und Äcker. So reihte sich 
umdeichte Besitzung an Besitzung, bis man einsah, daß, 
wenn man gemeinsam die Außenseite erhöhte und ver- 
teidigte, die Sicherheit des einzelnen gesteigert würde. 
Es schlossen sich die Bauern zu ‚„‚Ländern‘‘ zusammen, die 
in sich stark abgeschlossen waren. Sie besaßen ein enges 
Zusammengehörigkeitsgefühl, hing doch Land und Besitz 
vom gemeinsamen Deich ab. Noch heute sind die 
Grenzen der vielen kleinen Länder, wie Dittmarschen, . 
Vierlanden, Stadtland, Butjadingen usw. deutlich im Volks- 
bewußtsein ausgeprägt. In dieser Zeit der relativen Un- 
sicherheit entstanden nicht, wie in der ersten Siedelungs- 
epoche, die Häuser zerstreut auf Wurften über die ganze 
Fläche hin, die Wohnplätze schlossen sich vielmehr an 
den Deich an. In der ersten Zeit wurden sämtliche 
Häuser hart ander Deichkappe gebaut; noch heute kann man 
stundenlang durch derartige an einer Seite der Straße 
nur bebaute Dörfer, den Fadendörfern, auf der Höhe 
des Deiches wandern. Später wurden die Wohnhäuser 
unten am inneren Deichfuß gebaut. Am Rande der 
Marsch, auf der sicheren Gest, wohnten die Menschen 
schon seit den ältesten Zeiten an der Grenze des kost- 
baren, fruchtbaren und unfruchtbaren Landes in lang- 
gestreckten Dörfern. 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 


iv 
0) 


Die Deichgenossen schlossen sich zu einem Deich- 
verband zusammen, der unter einem Deichgrafen (Deich- 
gräfen) stand. Strenge Gesetze einer rauhen Zeit schützen 
damals den Deich, dieLebensader des Gemeinwesens. Jeder, 
Seirer. Llerr, briester oder Knecht, ja, Frawvoder Kind, 
ist zur Gefahrzeit zum Deichschutz verpflichtet. »De 
nich will dieken, de möt wieken«. Wer die Lasten der 
Deichunterhaltung nicht tragen kann, muß auf Grund und 
Boden verzichten, indem er einen Spaten in den Deich 
sticht. Die nächsten Verwandten haben das Vorrecht, 
ihn herauszuziehen, um durch diese symbolische Handlung 
mit der Pflicht der Deicherhaltung den Besitz an Grund 
und Boden zu übernehmen. Können sie es nicht, so 
darf jeder, der mag, den Spaten ziehen. Schwer müssen 
die Deichlasten gewesen sein, denn bedenkt man, dab 
kilometerweit der 3—7 m hohe Wall gezogen werden 
muß, daß jede Lage des schweren Bodens, den man 
aus dem Vorland gewinnt, einzeln festgestampft, daß 
alles sorgsam ausgeglichen und mit Gras bekleidet 
werden muß, so ist einem die Schwere der Gesetze, die 
das Kunstwerk schützen, begreiflich. So wurde der, 
welcher die Bäume des Vorlandes beschädigt, durch Ab- 
hacken der Hand bestraft. Wer vorsätzlich den Deich 
beschädigt, so daß ein Deichbruch entstand, wurde durch 
lebendiges Begrabenwerden in diesem Loche bestraft. 
Erst in neuester Zeit sind die Gesetze abgeändert worden. 
Weitgreifende Vertügungen der Regierung, verbunden 
mit genauen Beobachtungen aller Verhältnisse, haben die 
Gefahr eines Deichbruches verringert, die Bevölkerung 
bekommt mehr und mehr Zutrauen zu ihren Deichen 
und siedelt sich jetzt wieder zerstreut, aber ohne Wurften, 
über die ganzen Flächen hin an. 

Es ist eine lange Leidensgeschichte, die mein tapferes 
Friesenvolk gerungen hat gegen den Ansturm des Meeres. 


24 Meereskunde. 


Unermüdlich erkämpfte es von neuem den Boden und 
die Heimat, bis dann eine einzige gewaltige Sturmnacht 
alles wieder zunichte machte. In wenigen Stunden oft 
wurde vom Meere verschlungen, was jahrelange Arbeit 
gekostet. Eine lange Trauerliste ist die Geschichte der 
Sturmfluten an der Nordsee. Denn die Zahl der Toten, 
die in den Fluten umkamen, ist, auch wenn man eine 
eingehende Kritik an die Überlieferungen legt, eine un- 
geheuer große; und doch wieder ist es die Geschichte 
eines Heldenvolkes, das frei auf selbst erobertem Boden 
lebt, das sich nicht unter fremde Fürsten zwingen läßt, 
sondern nur eigenen Häuptlingen gehorcht. Diese Frei- 
heitsliebe zeigt uns auf das herrlichste das Volk der 
Stedinger, die mit dem Rufe »lieber tot als Sklave 
gegen die Übermacht neidischer Pfaffen in einem un- 
gerechten Kreuzzug erlagen. 

Werfen wir zum Schluß noch einen kurzen Blick auf 
die Geschichte des Bodens und versuchen wir, aus der großen 
Anzahl der überlieferten Katastrophen, die nur zu häufig 
vom Chronisten übertrieben werden, einige sichere heraus- 
zugreifen. Die Geschichte der Einzelkatastrophe ähnelt 
sich ständig. Zur Zeit der Springflut muß ein tiefes baro- 
metrisches Minimum aut der Zugstraße III (von van Bebber) 
über die Nordsee ziehen, d. h. mit anderen Worten, es 
muß ein starker Wind aus dem Kanal Wassermassen in 
die Nordsee treiben. Bei Ebbe hält der Windstau an, 
so dab kein Wasser abfließt. Dann tritt eine neue Flut 
ein, der Wind muß sich inzwischen nach Norden gedreht 
haben. Das Wasser, welches nicht abgelaufen war, steigt 
von neuem bei der Flut und wird außerdem noch gegen 
die Deiche geweht, die dann auch noch diesem ungünstigen 
Zusammentreffen verschiedenartigster Umstände standhalten 
sollen. Es kommt daher aber, daß, wenn in Ostfriesland 
Sturmfluten sind, Nordfriesland meist verschont bleibt und 


umgekehrt. 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. > 


yi 


Die ergreifenden Schilderungen in Storms »Schim- 
melreiter« sind genugsam bekannt, sie malen uns den 
ganzen Schrecken einer Sturmnacht aus. Meist treten 
die Sturmfluten des Nachts und in der kalten Jahres- 
zeit ein. Die Wirkung des Wassers wird durch das 
herandrängende Eis verstärkt. Alles muß aufgeboten 
werden, um das Überspülen des Deiches zu verhindern 
denn ist erst das kleinste Loch entstanden, so stürzt das 


Abbild. ı5. Eine Brake bei Blankenburg in Oldenburg. 


Wasser hinab in das viel tiefer liegende Marschland und 
kolkt hier ein tiefes Loch aus. Was das durchstürzende 
Wasser am Deich nicht zerstörte, das besorgt der heraus- 
drängende Ebbestrom. Denn gerade bei diesem schmalen 
Loch wird alles Wasser zusammengedrängt und seine zerstö- 
rende Wirkung verstärkt. Nur mit ungeheurer Mühe kann 
mandiese Deichbrüche zuschlagen, teilweise nur durch große 
Umgehungen der schadhaften Stellen. So zeigen heute 
auffällige Biegungen in der Linienführung des Deiches 
meist derartige Bruchstellen an. Wandern wir am Deich 


26 Meereskunde. 


und sehen wir kleine tiefe Weiher, sogenannte Braken, 
im Marschlande, die lieblich die Landschaft verschönen, 
so erinnern sie uns daran, daß hier vor Jahren in einer 
Schreckensnacht der Deich gebrochen ist und viel Gut 
und Leben vernichtet wurde. 

Es scheint, sehen wir von den unsicheren Über- 
lieferungen ältester Zeiten ab, sowohl in Nord- wie in Öst- 


1 MER ST. ; 


ER LRIIEN KH 
3 oruınleichn.n 
ER 1777 IE z > 


EA] _ BD, ON 


Abbild. 16. Karte von Nordfriesland 
aus Waghenaer „Spiegel der Zeevaert“ 1585. Osten nach oben. 


friesland, in der Zeit bis zum 13. Jahrhundert etwa, ein 
großes Anwachsen des Landes erfolgt zu sein. In dieser 
Zeit wurden wohl die Friesen zur Anlage der Deiche er- 
mutigt. Die heutigen Halligen waren große Inseln, deren 
südlichste, Nordstrand, besonders durch ihre Größe auf- 
tällt. Im Süden ergoß sich die Weser in mäßigem 
Mündungstrichter bei dem heutigen Jadebusen ins Meer, 
an dessen Stelle blühende Ortschaften lagen. Auch der 
Dollart war Land. Die Stadt Torum lag auf seiner 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 27 
Fläche. Die alten Chronisten wissen von dem Reichtum 
der untergegangenen Ortschaften zu berichten. Fast 
überall soll Lasterwesen eingerissen sein, zuweilen 
heißt es, wurde die unglaublichste Verschwendung ge- 
trieben, dann wieder wurden die Priester des Herrn ver- 
lästertt. So suchen die Chronisten die furchtbaren 
Katastrophen des 13..bis 16. Jahrhunderts als Strafgericht 


Barksobunader Er Suftenvon Oft Frieälandy/auch aller one fen nd öskfenderjelbtien 
u Er KerU rer ran ann 
r v 


en ee ee 


SEE ee er nn en 


a Gedaente nun de under Mhrum Eye dk m wo ers on vr lagben 


Infukz son [ehem a, faca, am vu mir tar pain an 


Abbild. ı7. Karte von Ostfriesland 
aus Waghenaer „Spiegel der Zeevaert‘‘ 1585. Süden nach oben. 


(zottes hinzustellen, um ein so ungeheures Unglück ver- 
ständlich zu machen. 

Zumeist wird in der Überliererung eine ganze Reihe 
von Ereignissen in eine Flut zusammengedrängt, die dann 
dem Leser um so unheilvoller erscheint, während es 
in Wahrheit eine sich oft wiederholende Schreckenszeit 
war, die gerade durch die Wiederholung um so auf- 
reibender für die Kämpfenden wirkte. Bei der Betrach- 
tung einer alten Karte der nordfriesischen Inseln, z. B. 


28 Meereskunde. 


der von Waghenaer im „Spiegel der Zeevaert“ vom 
Jahre 1585, fallen uns, auch wenn wir von der primitiven 
Darstellung absehen, große Veränderungen im Land- 
schaftsbild gegen heute auf. Die heutigen kleinen Inseln 
der Halligen erscheinen hier noch in größerer Aus- 
dehnung, und doch stellen auch sie nur die Überreste 
größerer Landstrecken dar, die in den Sturmfluten der 
Jahre 1300, 1354 und 1362 zugrunde gingen. Aber immer- 
hin ist Nordstrand noch eine große Insel. Die Ditt- 
marschen dagegen ‚sind schon um diese Zeit fast völlig 
zerstört. Helgoland erscheint noch als große Insel mit 
seiner Düne zusammenhängend. Heute dagegen sind die 
Halligen nur noch kleine einsame Marschfetzen, mitten 
im Watt, wie sie übriggeblieben sind nach der großen 
Sturmflut von 1643. Und doch stellen auch sie schon 
wieder einen Zustand dar, wie er erst durch erneute 
Zurückeroberung geschaffen ist. Es ist Nordstrand in 
dieser Flut zerrissen, die Osthälfte der hufeisenförmigen 
Insel, die heutige Insel Nordstrand, war fast gänzlich 
verschwunden und ist erst mühsam durch Heranziehung 
neuer Ansiedler wieder gewonnen. Großartig aber sind 
die neuesten Anstrengungen: lange Schlengen führen 
jetzt vom Festland zu den Inseln, und mit Freude hören 
wir, daß nach neuesten Feststellungen die Küste hier 
jährlich im Mittel 10 m weiter ins Meer sich verschiebt. 
Durch friedliche Arbeit vergrößert sich hier ständig unser 
Vaterland. Deutlich erkennt man auch das Vordringen 
des Menschen an dem heut gen Zustand der Dittmarschen. 
Ein langes Horn streckt sich nach Nordwesten vor, wo 
die Sturmfluten des ı7. Jahrhunderts weite Gefilde ver- 
nichteten. 

Studieren wir den Zustand Östfrieslands wieder nach 
den ältesten Karten, so erkennen wir, wie der Jade- 
busen, überstreut mit vielen Inseln, den Überbleibseln 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 29 
des zerstörten Landes, nach Westen zerlappt erscheint. 
An der Harle befindet sich ein weiter Busen, ebenso ist 
ein tiefer Ley-Busen eingerissen, und deutlich und furcht- 
bar spricht aus dem Bilde die Zerstörung des Dollarts. 
Im Jadebusen begann die Vernichtung im Anfang des 
13. Jahrhunderts und wurde vollendet in der Antoniflut 
im Jahre ı5ı1. Damals wurde auch das Weserdelta er- 
weitert, so daß ein weitverzweigtes Netz von Wasser- 
armen das Land durchzog. Man hat heute die Lage der 
einzelnen Mündungen genau festlegen können, einmal 
durch archivalische Studien, dann aber auch durch geo- 
logische Bohrungen, da in dem jung zugemarschten 
Gebiete der Boden durch Regenwasser noch nicht so 
weit entsalzt ist wie in dem alten Lande. So entsandte 
die Weser zwei große Arme und mehrere Seitenäste zum 
Jadebusen. Dieser selbst dehnte sich weit nach Westen 
aus. Dort stieß bei Ellens ein unter den Nachbargrafen 
strittiges Landstück an den Jadebusen. Da es keiner 
dem anderen gönnte, sorgte natürlich niemand für die 
Deiche. Furchtbar rächte sich die Vernachlässigung, da 
alle Nachbarn große Stücke Landes einbüßten. Heute 
sind von den alten blühenden Dörfern keine mehr vor- 
handen. Ja, selbst das einzige, kleine Bruchstück be- 
wachsenen Landes, das noch vorhanden ist, dasOberahnesche 
Feld, istvon Prielen durchzogen und der Vernichtunganheim- 
gefallen. Die Wogen der Flut reißen Stücke des Landes 
fort, das sie selbst geschaffen haben, eine Aufbau- und Ver- 
nichtungsarbeit des Meeres an dem gleichen Punkte. 
Seitdem aber das nahe Wilhelmshaven die Insel als 
Sprengplatz benutzt und so noch künstlich an der Ver- 
nichtung mithilft, sind ihre Stunden gezählt. Heute liegt 
zur Ebbezeit das Watt tot und öde da, wo einst blühende 
Städte, Klöster und Dörfer prangten. Die Stätte von 
Arngast ist eine nackte Sanddüne. Der Plan, den Meer- 


30 Meereskunde. 


Abbild. ı8. Das Oberahnesche Feld im Jadebusen,zerteiltvon einer Priele. 


busen wieder einzupoldern, ist alt und war schon in An- 
griff genommen worden, mußte aber wieder aufgegeben 
werden, weil unser Kriegshafen, um eine gute Fahrrinne 
offen zu halten, des Sammelbeckens des weiten Busens 
bedarf. Der Ebbestrom spült jetzt mit ungeheuren Wasser- 
massen, die die Flut in die weite, hintere Fläche des 
3usens geschafft hat und die außerdem noch durch einen 
langen Deich geleitet werden, die Fahrrinne aus und erhält 
sie tief. Die Arbeit des Einpolderns, die man am Jadebusen 
nicht ausführen darf, ist vollendet am Harlebusen und fast 
beendet am Ley-Busen. Es liegen jetzt tief im Lande 
Ortschaften mit Namen, die auf Siel oder Deich enden 
und die uns deutlich gemahnen, daß in Schreckenstagen 
hier die Grenze des nimmersatten Meeres gewesen ist. 
Auch am Dollart sind seit den Sturmfluten des Mittelalters 
ausgedehnte Eindeichungen vorgenommen. Emden z. B., 
früher am Busen gelegen, liegt jetzt weit zurück und hat 
auf den neuen Poldern Platz für ausgedehnte Hafenanlagen 
gewonnen. 

Auch der Dünenkranz der Inseln vor der Küste ist 
großen Veränderungen ausgesetzt gewesen. Fast alle 


Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 31 


sind sie einmal zerrissen, einige sind ganz verschwunden, 
andere wieder haben großen Anwachs bekommen. Auf 
der östlichsten Insel Wangerooge gemahnt uns das alte 
ehrwürdige Seezeichen des Westturms, daß hier nur die 
Kirche eines zerstörten Dorfes dem Wogenandrang zu 
trotzen vermochte. 

So sahen wir, wie das Meer in unerschöpflicher 
Freigebigkeit die fruchtbarsten Länder dem Menschen 
schenkt, wie es aber launisch und neidvoll in bösen 
Stunden das Geschenk, wenn es schlecht bewahrt, zu 
entreißen sucht. Wenn auch seit dem 17. Jahrhundert 
der Mensch es vermocht hat, dem Meere standzubieten, 
so lehrt uns die Geschichte, dab Nachlässigkeit im Deich- 
dienst und Vertrauensseligkeit gleichbedeutend mit dem 
Ruin des Landes ist. Wir sahen, daß wir an einer Küste 


Abbild. 19. Blick aur die Stätte des alten Arngast vom Arngaster 
Leuchtturm. Jadebusen bei Ebbe. 


32 Meereskunde. 
leben, die sich ins Meer gesenkt haben muß. Die große 
Periode der Katastrophen im Mittelalter mag, außer in 
der schlechten Verfassung der Deiche, vielleicht in einer 
erneuten Senkung ihren Grund haben. Heute scheint 
allerdings die Senkung zur Ruhe gekommen zu sein, 
wenn auch einzelne Sackungen sicher erwiesen sind. 
Jedenfalls muß unser Friesenvolk auf der Hut sein. Es 
muß seine Deiche schützen und pflegen. Verdankt es 
doch dem Deich Heimat und Reichtum, ja, seinen freien, 
stolzen Charakter, da es sich bewußt ist, auf einem Boden 
zu leben, den die Väter erobert, den sie seibst verteidigt 
haben, und der in unerschöpflicher Fruchtbarkeit noch 
die Enkel ernähren wird. Genießen sie doch ständig den 
höchsten Augenblick«, genießen sie doch ein Glück, das 
Goethe seinen Faust als das höchste und erstrebens- 
werteste hat erkennen lassen. 


Literatur (außer Spezialliteratur). 


Ahrens, Friedr., Physische Geschichte der Nordseeküste. 1833. 

Almers, Herrmann, Marschenbuch. 2. Aufl. 1875. 

Arkenau, H., Das Oldenburger Spatenrecht. Old. Jahrbuch XVII. 
1909. 

Haas, Hippolyt, Nordseeküste, Friesische Inseln und Helgoland. 
Land und Leute. 1900. 

Hansen, Verschiedene Aufsätze in Petermanns Mitteilungen 1891, 
1893, 1902. 

Linde, R., Die Niederelbe. 1909. 

Salfeld, Die Hochmoore auf dem früheren Weserdelta. Zeitschr. 
d. Ges. f. Erdkunde. 1881. 

Sello, G., Der Jadebusen. und: Studien zur Geschichte von Öst- 
ringen und Rüstringen. 

Solger, Friedr., Die Deutsche Seeküste in ihrem Werden und Ver- 
gehen. Meereskunde Heft 8. 1907. 

Tenge, Der Jeversche Deichband, und: Die Deiche und Uferwerke 
im 2. Bezirk des zweiten Oldenburger Deichbandes. 1878. 

Wichmann, Die Elbmarschen. Zeitschr. d. Ges. f. Erdkunde. 1885. 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler & Sohn 
Berlin SW 68, Kochstraße 68—71. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 


ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 
MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG ZWEITES HEFT 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 
Von P. Koch. 


or vierten Bande der von Dietrich Schäfer heraus- 
a 


a gegebenen „Abhandlungen zur Verkehrs- und See- 

geschichte‘ weist Dr. Alfred Püschel auf einen 
höchst eigenartigen und wenig beachteten Tatbestand hin. 

Alle die deutschen Städte, die in der Zeit der großen, 
ostwärts gerichteten Kolonisationsbewegung inmitten 
slawischer Umgebung gegründet wurden, und ebenso die 
älteren Wohnplätze, die in jener ersten, an die Karolinger 
und Ottonen sich anschließende Glanzzeit sich füllten und 
erweiterten, so an der Küste Lübeck, Rostock und Stral- 
sund, im Binnenland Breslau und Braunschweig, Magde- 
burg, Frankfurt und Nürnberg und endlich die alten 
Römerstädte wie Regensburg, Augsburg und Köln a. Rh., 
zeigen eine stolze Blüte im zwölften und dreizehnten 
Jahrhundert und stehen dann still, bis endlich nach den 
Befreiungskriegen eine Periode jahrhundertelanger innerer 
Kämpfe, in der Deutschland jede machtvolle Zentral- 
gewalt entbehren mußte, ihr Ende fand. Noch nach 1800 
ist keine dieser Städte über ihr mittelalterliches, enges 
Weichbild hinausgewachsen, aber auch dann noch ist 
ihnen kein wirkliches kraftvolles Emporblühen beschieden, 
und dieses tritt erst ein, nachdem IS70 auf den Schlacht- 
feldern Frankreichs mit Blut und Eisen des Reiches Ein- 


Meereskunde, Vorträge. \. Heft =. ı 


Meereskunde. 


155) 


heit geschmiedet worden und um die starke Säule des 
Kaisertums ein neuer Bau emporwuchs, unter dessen 
weitem Dache, gegen Sturm und Unbill von außen ge- 
schützt, deutscher Gewerbefleiß sich friedlich betätigen, 
und ein früher nie gekannter Wohlstand des Volkes in 
seiner Gesamtheit sich entwickeln konnte. Betrachtet 
man diesen Tatbestand im Zusammenhang der deutschen 
Gesamtgeschichte, so findet man, daß dieses Stehenbleiben 
sich anschließt an den Verfall der mittelalterlichen plan- 
mäßigen Heeresrüstung in der Lehnsgewalt und an das 
Hinsinken des Kaisertums, das durch das Erstarken der 
Landesherrlichkeit, der fürstlichen Bistümer und der freien 
Städte nicht ausgeglichen werden konnte. 

An die Stelle der Lehnsgefolgschaft traten bald die 
Söldnerheere, es entwickelte sich das Landsknechttum, 
bei dem nach den Worten eines sehr berufenen Militär- 
schriftstellers ‚Soldat, Räuber und Mordbrenner“ fast sich 
deckende Begriffe darstellten. Auch die Landesdefen- 
sionen der Städte und Ämter, in denen nach der 
ursprünglichen Absicht die landsässigen Leute sich um 
die Fahne scharen sollten, füllten sich mit geworbenem 
Volk, und was die Werbetrommel für Kriegszwecke zu- 
sammenführte, sprengte der Friede größtenteils aus- 
einander. 

Dabei war kein geordnetes Staatswesen mit seinen 
Finanzen für den Heerbann verantwortlich, der Platz, 
wo die Truppen sich zusammenfanden, mußte auch für 
ihren Unterhalt sorgen, und Bedrückungen aller Art und 
Plünderung waren an der Tagesordnung. 

Erst wo mit der Bildung einer Staatsgewalt im 
heutigen Sinne auch das stehende Heer in die Staats- 
ordnung eingefügt wurde, wo geordnete Finanzen die 
Gewährung fester Traktamente und damit die Durch- 
führung strenger Mannszucht zuließen, begann auch 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 3 
vaterländische Gesinnung in den Heerhaufen Platz zu 
greifen, dies um so mehr, wo, wie in Brandenburg zur 
Zeit des Großen Kurfürsten, der Ersatz auf die Einwohner- 
schaft basiert und ein der allgemeinen Wehrpflicht 
ähnliches Aufgebot zur Durchführung gebracht wurde. 
Aber auch die Heere Friedrichs des Großen ruhten noch 
nicht fest auf volkstümlicher Grundlage, unter seinem 
schwachen Nachfolger beschränkte sich die Armee den 
größten Teil des Jahres über auf das Vorhandensein 
ihrer Kaders, und die eingeschalteten Übungen und Be- 
sichtigungen vermochten nicht den Grad von Kriegs- 
bereitschaft zu erreichen, den bald darauf Napoleons 
Heere auf ungezählten Schlachtfeldern errangen, und vor 
dem die alte Armee bei Jena zersplitterte, um dann in 
regellosem Rückzug allen Zusammenhang zu verlieren. 

Der an die Volkserhebung von 1813 bis 1815 sich 
anschließende lange Friede kann leider „ein Friede in 
Ehren“ nicht wohl genannt werden. Innere Erbärmlich- 
keit schickte einen Fritz Reuter und andere Unglück- 
liche in dreißigjährige Festungshaft wegen hochverräte- 
rischer Teilnahme an burschenschaftlichen Verbindungen, 
Handel und Wandel kamen nicht vorwärts, der deutsche 
Bund war ein politisches Zerrbild. Aber freilich, man 
ließ auch die in den Befreiungskriegen geschaffene Waffe 
der allgemeinen Wehrpflicht verrosten, nur ein geringer 
Teil der waffenfähigen Jugend ward zur Erfüllung seiner 
Pflicht herangezogen, wieder ließ man das Offizierkorps 
überaltern, und nur die tiefe Erschöpfung nach fast Jahr- 
hunderte währenden Kriegen läßt es erklärlich erscheinen, 
wenn dem begeisterten Aufflammen des Volkstums im 
Beginn des neunzehnten Jahrhunderts dreißigjähriger 
Marasmus folgte. 

So traf uns das Jahr 1848 fast unvorbereitet. Die 
notwendige Kriegführung zu Lande, durch politisches 


1* 


4 Meereskunde. 


Zwischenspiel hingehalten, entbehrte des Nachdrucks, die 
von der Opferfreudigkeit des Volkes geschaffene Flotte 
mußte einem beklagenswerten und schmählichen Schicksal 
anheimfallen. 

Wie wenig man es begriffen hatte, daß ohne wehr- 
haftes Rüstzeug keine politische Macht nach außen und 
keine Wohlfahrt nach innen möglich sind, zeigte sich, 
als König Wilhelm in seiner Heeresorganisation ledig- 
lich die Konsequenzen der allgemeinen Wehrpflicht zu 
ziehen gedachte. 

„Näherliegend und wichtiger“ schien den Abgeord- 
neten ihr Budgetrecht, und ‚dieser Regierung“, die es 
gewagt hatte, die Grundrechte des Volkes anzutasten, be- 
willigte man, nach dem damals schon gültigen Schlag- 
wort: „keinen Mann und keinen Groschen‘“. Heute, wo 
Düppel, Königgrätz und Sedan dem greisen König und 
seinen Beratern recht gegeben, wird niemand mehr für 
jenen Parteigeist, der damals Opposition machte, eine 
Lanze brechen wollen. Das deutsche Heer schuf das 
Deutsche Reich, und dieses Heer und die endlich als 
gleichberechtigt anerkannte Marine haben uns nun 40 Jahre 
lang den Frieden gewahrt, aber nicht eine Zeit trägen 
Stillstandes unter einer ihre Aufgabe verkennenden Re- 
gierung, sondern eine Zeit glänzendsten Fortschrittes auf 
allen Gebieten, eine Zeit des Aufschwunges und Vor- 
wärtsschreitens, die noch kein Geschlecht vor uns ge- 
sehen hat, eine Zeit, die die sichere Gewähr bietet, dab 
wir trotz der schweren Last unseres Rüstzeuges und trotz 
mancher Zweifelsfragen unserer inneren Politik noch eine 
lange Periode des Gedeihens vor uns haben, die ein ge- 
sunder Volkskörper und ein Reichtum der Nation, den 
sie früher nie besessen, auf breiten, starken Schultern 
trägt. 

Es ist nicht möglich, an dieser Stelle mit langen 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 


wı 


Zahlenreihen Tatsachen zu beweisen. so mag ein Rück- 
blick auf eine Entwicklung, die uns allen vor Augen 
steht, diese Zahlen ersetzen. Was war Berlin im Beginn 
der siebziger Jahre? Die Stadt hatte damals wenig über 
700000 — 1817 allerdings nur 155 000 — Einwohner. 
Im Westen reichte die Stadt nicht über den Lützowplatz, 
im Norden wenig über das Oranienburger Tor, wo die 
Borsigsche Fabrik gewissermaßen den Abschluß bildete. 
Darüber hinaus begann die Vorstadt. Eine Pferdebahn- 
linie mit ihren schwerfälligen Decksitzwagen vermittelte 
den Verkehr mit Charlottenburg. Nach den Vororten, 
die aber noch kein Mensch so nannte, ging vielleicht 
alle Stunde ein Eisenbahnzug über die Gleise der Haupt- 
bahn. Vom Ostbahnhof nach dem Potsdamer gelangte 
man in etwa einer Stunde mit der klappernden Droschke, 
die man später II. Güte nannte. Sodann, man male sich 
das aus, wo heute zu jeder Zweizimmerwohnung ein Bad 
gehört, gab es noch keine Kanalisation. In der träge 
dahin schleichenden Spree zeugten Schlamm aufwirbelnde 
Eruptionen von Schwefelwasserstoffgas von der grenzen- 
losen Verunreinigung des Flußlaufes, und doch wurde noch 
Wasser der Oberspree als Trinkwasser den städtischen 
Leitungen zugeführt. 

Was ist bis heute in der 40jährigen Friedenszeit aus 
der Reichshauptstadt geworden? Mit ihr wuchsen Breslau, 
Nürnberg und zahllose andere Städte über ihr mittelalter- 
liches Weichbild hinaus, sprengten Magdeburg, Köln, 
Danzig und Posen ihre Festungswälle. Freilich mit 
einiger Wehmut klagt Johannes Trojan um das Ver- 
schwinden des grünen Gürtels der Wälle, die einst seine 
schöne Vaterstadt umkleideten, und völlig verblüfft steht, 
wer Posen zuletzt mit dem „Berliner Tor‘ gesehen hat und 
nun an seiner Stelle das stolze Kaiserschloß emporragen 
sieht. 


6 Meereskunde. 


Einige wenige Zahlen seien hier eingeflochten: Es 
betrug die Einwohnerzahl in: 


1817 1870 1905 
Maedeburen . 12271000 80 000 241 000 
Köln erg. 112%50008 125 000 409 000 
Danzegere. 1... 20274000 90 000 159 000 
Posen 2:5 aa R2ELOTR 53 000 130 000 
Nürnberg: .. 2, 30000 78 000 340 000 
Breslauer -,"ı 27178262090 170 000 454 000 


Für die vermehrte Menschenzahl und den ständig 
wachsenden Verkehr vervollständigte und verdichtete sich 
das Eisenbahnnetz und wurde völlig neu aufgebaut in 
Brücken und Bahnhofsanlagen, allenthalben ragen die 
Fabrikschornsteine in die Luft, überall durchziehen die 
Fernleitungen elektrischer Kraftübertragung das platte 
Land. Die Arbeitszeit verkürzte sich, die Löhne stiegen, 
und selbst der bescheidene Hausstand ist heut kaum noch 
mit der Ernährung zufrieden, die vor 40 und 50 Jahren 
dem Wohlhabenden reichlich erschien. Eines ist bei 
alledem freilich klar, daß Deutschland und vor allem 
seine großen Städte heute nur wenig Plätze von stiller 
Beschaulichkeit bieten. Überall regt sich die emsigste 
Arbeit; wer in Berlin auf 30 Jahre zurückblicken kann, 
hat manches Haus schon zum zweiten Male neuaufbauen 
sehen. Das ist keine nervöse Veränderungssucht, sondern 
die Folge der allenthalben Platz greifenden enormen Wert- 
steigerung, die vor dem alten ehrwürdig Hergebrachten 
nicht halt machen kann. 

Liegt das alles so sehr auf der Hand, daß es müßig 
erscheinen könnte, darauf hinzuweisen, so ist doch die 
Frage noch immer nicht ganz überflüssig, welchen Nutzen 
uns die jüngere Schwester des Heeres, unsere Flotten- 
rüstung gebracht hat, deren Heranwachsen wir die 


Kriegesrüstung und Wirtschaftsleben. 7 
fo} to} / 


unbequemen Spannungen gegenüber England verdanken, 
und die man noch vor Iı2 Jahren mit dem Hinweis auf 
die „uferlosen Flottenpläne‘‘ im Reichstag abzutun ge- 
dachte. 

Im Jahre 1867, als die Wahlen zum Norddeutschen 
Bunde bevorstanden, verfaßte ein hamburgischer Schrift- 
steller eine Abhandlung,!) in der er seine Landsleute 
nachdrücklich davor warnte, für die damals im Reichstage 
zu erwartenden Flottenpläne einzutreten. Das Pochen 
auf ihre Seemacht möge man den Engländern überlassen, 
für den Deutschen im Ausland zieme es sich, als Kosmo- 
polit sich in des Landes Sitte zu schicken und sich dessen 
bewußt zu sein, daß man draußen nur Gastfreundschaft 
genieße und sich jeder Einmischung in die politischen 
Verhältnisse zu enthalten habe. ‚Wir Deutschen — so 
schloß er sein Buch — sind eine große Nation. Ich 
fürchte, wir werden auch eine mächtige sein wollen. 
Möchten wir davor doch bewahrt bleiben.“ 

Wir sind zum Glück im Besitz eines Zeugnisses 
dafür, daß man in Hamburg nicht allgemein so dachte, 
dennetin die. ‚eleiche Periode schreibt das), Export- 
Handbuch der hamburgischen Börsenhalle“: „Mit welcher 
Geringschätzung wurden früher die Deutschen im Aus- 
land behandelt, als noch keine starke Macht hinter den 
deutschen Konsuln stand. \Wer das miterlebt, selbst mit 
durchgemacht hat, hat es gewiß mit Freuden begrüßt, als 
18567 die deutschen Schiffe endlich unter eine einheitliche 
Flagge gebracht und die verschiedenen Flaggen der 
deutschen Küstenstaaten beseitigt wurden. Und als dann 
auch die deutsche Kriegsflagge stolz an der Gaffel 
deutscher Kriegsschiffe wehte, da schlug man im Ausland 


!) N. D. Wichmann: Der deutsche Handel und die beab- 
sichtigte deutsche Kriegsflotte. 


3 Meereskunde. 


den Deutschen gegenüber einen anderen Ton an; man 
hatte Respekt vor Deutschland bekommen.“ 

Es gibt noch andere Beweise dafür, daß die Auslands- 
deutschen von dem von jenem Hamburger empfohlenen 
Kosmopolitismus nichts mehr wissen wollen. Noch als 
wir in den Jahren 1897 und 1898 um das erste Flotten- 
gesetz mit dem Reichstag rangen, kam von Valparaiso 
her der Ruf, man möge in Deutschland einen Mittelpunkt 
schaffen, um den die im Ausland entstandenen deutschen 
Flottenvereine sich scharen könnten. Der Verein in Val- 
paraiso hatte nach dem Muster der deutschen Flotten- 
vereine des Jahres 1848 die freiwillige Selbstbesteuerung 
zum Zwecke der Schaffung maritimer Streitmittel auf seine 
Flagge geschrieben. Dieser Losung entsprechend entstand 
in Berlin die von Valparaiso geforderte Sammelstelle, der 
„Hauptverband deutscher Flottenvereine im Ausland‘, der, 
zeitlich älter als der deutsche Flottenverein, in der Heimat 
jetzt auf eine mehr als zwölfjährige Arbeit zurückblickt. 
Als Ergebnisse seiner Arbeit oder vielmehr als Erträg- 
nisse der freiwilligen Selbstbesteuerung unserer Lands- 
leute draußen kann er das Flußkanonenboot ‚Vaterland‘ 
auf dem Yangtsze und die Wetterwarte in Tsingtau 
nennen. Zu ihm gehören nach seinem letzten Jahres- 
berichte 146 Vereine und Zweigvereine in allen Teilen 
der Erde und, wichtiger noch, eine in stetem Anwachsen 
begriffene Zahl von gegenwärtig fast 1000 Einzelmitgliedern 
an solchen Plätzen, wo die geringe Zahl der deutschen 
Landsleute oder, wie leider in Rußland, Frankreich und 
selbst in Österreich, politische oder polizeiliche Schwierig- 
keiten der Bildung von Vereinen im Wege stehen. Alle 
diese Vereine und Einzelmitglieder zahlen aber nicht nur 
Beiträge für die Förderung der Flotte, sie betonen laut 
und nachdrücklich innerhalb ihrer fremden und oft nicht 
wohlgesinnten Umgebung: wir sind Deutsche, wir wollen 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 9 


Deutsche sein und sind stolz auf unser Vaterland, unter 
dessen sicherem Schutz wir uns wissen. 

In einer Richtung hat unsere vermehrte Flotten- 
rüstung allerdings unerwünschte Folgen gezeitigt, in 
der argen Verstimmung Englands, wo man trotz aller 
Belehrung immer wieder behauptet, daß unsere Schiffe 
nur dazu bestimmt seien, mit der britischen Flotte um 
ediewsklerrsehait aut: dent Meere zu kampien! Die Eng: 
länder nennen die hierin sich ausdrückenden Stimmungen 
und Verhältnisse selbst charakteristisch genug Scare, d.h. 
Vogelscheuche. In Wahrheit kommen bei diesem Eulen- 
geschrei Bedrängnisse ganz anderer Art zum Ausdruck. 

Wir wissen, - wie in jahrhundertelang verfolgter 
kluger und weitblickender Politik das stolze Inselvolk 
sich nach und nach seiner Widersacher und Wettbewerber 
auf der See — der Spanier und Portugiesen, der Fran- 
zosen und Niederländer — entledigt und ihre Flotten von 
der See vertrieben hatte. Deutschland konnte es dabei 
ruhig sich selber überlassen, wir verbrauchten unsere 
wirtschaftlichen und politischen Kräfte in dauernden 
inneren Kämpfen, und das geschäftskundige Albion war 
klug genug, sogar noch durch Subsidiengelder und poli- 
tische Schachzüge nachzuhelfen, ‚wenn den Kämpen auf 
dem europäischen Kontinent der Atem ausging und da- 
durch die Gefahr entstand, daß Kräfte frei wurden, die 
Englands Bestrebungen unbequem werden konnten. 

Für England war dabei überall nicht der militärische 
Gewinn die Hauptsache; es wollte nur die Hände frei 
haben, um durch die Beherrschung des gesamten See- 
verkehrs den Völkern der Welt auch wirtschaftliche Ge- 
setze vorzuschreiben. Es ging allen voran in seiner ge- 
werblichen Entwicklung, so brauchte es die Rohstoff- 
gebiete der ganzen Erde, und so war es in der Lage, 


mit den Erzeugnissen seines Gewerbefleißes die ganze 
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 2. 2 


Io Meereskunde. 


Kulturwelt zu versorgen. Dazu brauchte es die Flotten- 
stationen am Kap der Guten Hoffnung und im Mittel- 
meer, dazu die weiten Gebiete Indiens mit ihrem Reich- 
tum und ihren Söldnerscharen, den Handelsplatz in Hong- 
kong und die Beziehungen zu Nordamerika, das auch 
nach Erlangung politischer Unabhängigkeit doch als wirt- 
schaftlicher Wettbewerber noch lange nicht in Frage kam. 
Wie England dabei seine Heimatsinteressen vernach- 
lässigte, wie seine Landwirtschaft in vollkommenen Ver- 
fall geriet, und wie es in seiner Lebensmittelzufuhr völlig 


< 


vom Ausland abhängig wurde, mag hier nur nebenbei 
erwähnt werden. 

In seiner Weltherrschaft ist England gewiß unerwartet 
ein gefährlicher Gegner entstanden, als wir unsere inneren 
Streitigkeiten 1866 zu endgültigem Abschluß gebracht 
und 1870 auch dem alten Erbfeind eine Lehre gegeben 
hatten, die bis heute und hoffentlich noch für lange un- 
vergessen geblieben ist. Von da ab begann unser ge- 
werblicher Aufschwung, von da ab entstand unser Wett- 
bewerb mit England, wuchs unser Seeverkehr, den wir 
nicht ohne Schutz lassen konnten, und von da ab über- 
nahmen wir in gewisser Beziehung und wenigstens zum 
Teil die Stellung im Weltverkehr mit, die England für alle 
Zeiten für sich allein gesichert zu haben glaubte. Viele 
Zeichen sprechen dafür, daB England seine Rolle end- 
gültig‘ "ausgespielt. "hat, ‘und daß‘ "es sie’ rauch me 
keinem two power-Standard, am allerwerigsten aber mit 
der so oft von englischen Heißspornen geforderten Ver- 
nichtung der deutschen Seemacht wiedergewinnen wird. 

Diese Fragen sind hier für uns nicht zu verfolgen, 
wir dürfen hier heute und an dieser Stelle auf das Fazit 
dieses neuerstandenen Wettbewerbes hinweisen. Es 
kommt am deutlichsten wohl darin zum Ausdruck, dab 
Bremen jetzt seit 1870 zum dritten Male am Werke ist, 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. DT 


seine Hafenanlagen an der Wesermündung in immer 
größeren Maßstäben zu erweitern, während in Hamburg 
auf dem Westufer der Elbe eine neue Dockstrecke sich 
an die andere reiht. Seit 1883 hat Hamburg in dieser 
Weise für die Erweiterung seiner Hafenanlagen 238 Mil- 
lionen' Mark aufgewandt, seine neuesten Pläne umfassen 
ein Geldobjekt von 45 Millionen Mark. Ähnliche Aus- 
bauten erfuhren die Häfen von Emden, Lübeck, Stettin 
und Danzig, während zugleich die Verbesserung der Ver- 
bindungen mit dem Hinterland und die Steigerung des 
Verkehrs auf unseren Strömen und Kanälen für die 
immer stärkere Verknüpfung unseres Gewerbefleißes mit 
dem Seeverkehr und für unsere immer größere Abhängig- 
keit von der freien Beherrschung der Meereswege Zeugnis 
ablegen. 

Alle diese Errungenschaften haben wir zu verzeichnen, 
weil wir 40 Jahre lang Frieden hatten; zugleich aber lehrt 
uns jeder Tag und lehren uns vielleicht am augenfälligsten 
die mehrfachen Friedenskonferenzen, daß der Friede nichts 
Selbstverständliches ist, sondern, daß es fortgesetzter 
schwerer Bemühungen bedarf, ihn zu erhalten, und daß 
er hauptsächlich deshalb nicht gestört wird, weil die 
Kriegsrüstungen aller Kulturstaaten derart scharf und 
schneidig und zu sofortigem Gebrauch bereit sind, daß 
ein Friedensbruch heute ein Unternehmen von einer Ge- 
fährlichkeit darstellt, gegen das die ununterbrochenen 
Kriegsläufte ‘früherer Jahrhunderte an Bedeutung voll- 
kommen zurücktreten. 

Hiernach bleibt für unseren Gegenstand die Frage 
zu untersuchen, ob unsere Kriegsrüstung wirklich in dem 
vorhandenen Umfange nötig ist, ob durch sie nicht dem 
freien Umlauf der Güter im Volk zu viele und zu wert- 
volle Bestandteile entzogen werden, und ob und in 
welcher Weise gewissermaßen eine Verzinsung dieser 


2 


2 Meereskunde. 
Aufwendungen, ein Zurückfließen in das Nationalvermögen 
und eine nützliche Wiederverwendung der in der Rüstung 
festgelegten Kapitalien stattfindet. 

Für unser Heer beantwortet sich die Frage gewisser- 
maßen von selbst, es kann auf seine lange ruhmreiche 
Geschichte und darauf verweisen, daß zwischen seinem 
gesetzmäßigen Bestande und der Bevölkerungszahl eine 
feste Beziehung obwaltet, die eine wirtschaftliche Über- 
lastung ausgeschlossen erscheinen läßt. Für die Marine 
können wir nur auf die Geschichte fremder Völker ver- 
weisen, doch liegt auch für uns wohl das eine klar, dab 
ein Krieg wie der von 1864 überhaupt nicht möglich 
gewesen wäre, wenn wir nur irgendwelche nennens- 
werten Streitkräfte hätten auf das Meer hinausschicken 
können. Wohl dieser mangelnden eigenen. Erfahrung ist 
es zuzuschreiben, daß die öffentliche Meinung so schnell 


für die scheinbar mögliche Entlastung — vor 30 Jahren 
durch die Torpedoboote und heute durch das Untersee- 
boot — sich erwärmte. Es ist an dieser Stelle nicht an- 


gängig, dieser Frage in ihren Einzelheiten nachzugehen, 


tolle} 
es mag genügen, daß Ischusima durch die Kanonen ent- 
schieden wurde. Daß wir, durch das Flottengesetz nur 
in der Schiffszahl beschränkt, den von England an- 
gezettelten Dreadnought-Wettlauf mitmachen müssen, ist, 
wirtschaftlich betrachtet, gewiß kein Segen, doch kann 
man —. vielleicht nicht ohne Schadenfreude — feststellen, 
daß England selbst längst erkannt hat, wie sehr es durch 
das Ausspielen dieses hohen Trumpfes die eigenen Karten 
im Wettkampf nicht nur gegenüber Deutschland ver- 
schlechtert hat. 

Wir wenden uns nach dieser kurzen Betrachtung zur 
Verzinsungsfrage, die von selbst in eine personelle und 
in eine sachliche Seite zerfällt. 

In der langen Friedensperiode seit 1870 ist unsere 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 13 
Bevölkerungsziffer von 40000000 auf mehr als 60 000 000 
Köpfe gestiegen. An dieser Bevölkerungszunahme ist 
Beben, der - in ‚neuester Zeit leider "auch ber uns 
weichenden — Geburtenziffer vor allem der ganz augen- 
fällige Rückgang der Sterbezifter beteiligt. Diesen Rückgang 
erklärt Professor Zahn in einer kürzlich erschienenen 
Betrachtung!) der wirtschaftlichen Entwicklung Deutsch- 
lands nächst den Fortschritten der medizinischen Wissen- 
schaft mit der Steigerung des Wohlstandes, mit der 
Steigerung des nationalen Machtbewußtseins und dem 
Aufschwung im Staatsleben, und er fügt hinzu: ‚davon 
profitiert auch die Wehrkraft“‘. — Wir möchten die Er- 
füllung der Wehrpflicht ganz wesentlich mit zu den Ur- 
sachen der längeren Lebenswahrscheinlichkeit rechnen, 
nicht so sehr wegen der körperlichen Übung, zu der der 
Soldat während seiner Dienstzeit genötigt ist, als wegen 
der moralischen Errungenschaften. Wir lernten in unserer 
Soldatenzeit vor allem das Müssen, das Voranstellen 
eines höheren Interesses vor unser persönliches Wünschen 
und Wollen, das Einfügen und Einpassen in ein großes 
Ganzes, in dem der Einzelne einen unbedingt notwendigen 
Bestandteil bildet, aber doch zugleich völlig als Einzelner 
außer Betracht bleibt. Die hierin liegende Selbstverständ- 
lichkeit selbstlosester Pflichterfüllung ist sicherlich nicht 
ohne Bedeutung für die spätere Lebensführung, und daß 
der größte Teil unseres Volkes diese Pflichterfüllung, 
diese Bereitwilligkeit, sich dem großen Ganzen anzupassen, 
als vollkommen selbstverständlich erachtet, ist ohne 
/weifel das Ergebnis der nunmehr ein Jahrhundert 
währenden Volkserziehung und eine Errungenschaft der 


!) Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung unter besondrer 
Berücksichtigung der Volkszählung 1905 sowie der Berufs- und 
Betriebszählung 1907. Von Ministerialrat Dr. Friedrich Zahn in 
München. Annalen des Deutschen Reiches 1910, Heft 6ff. 


14 Meereskunde. 


allgemeinen Wehrpflicht, die nicht gering einzuschätzen 
ist, und deren volle Ernte wir noch nicht unter Dach 
gebracht haben. 

In der Kehrseite der Medaille trägt die allgemeine 
Wehrpflicht mit die Schuld an der „veränderten Sied- 
lungsweise‘“, wie Professor Zahn sich ausdrückt, oder, in 
der gebräuchlicheren Redewendung, an dem Zuge nach 
dem Westen und an der Landflucht unserer acker- 
bauenden Bevölkerung. Das ist unerfreulich für die 
Landwirtschaft und, wegen des Zustroms geringwertiger 
Elemente über unsere östlichen Grenzen, für unser Volks- 
tum im ganzen. Ob auch die körperliche Beschaffenheit 
des Volkes darunter leidet, oder ob, wie man die Frage 
wohl stellt, die Stadt oder das Land einen größeren An- 
teil brauchbaren Ersatzes liefert, bildete den Gegenstand 
mannigfacher Untersuchungen,!) die zumeist zu dem Er- 
gebnisse kamen, daß die Wagschale sich zugunsten der 
Landbevölkerung neige. Es möchte demgegenüber darauf 
hinzuweisen sein, daß die Beobachtungsreihe doch noch 
nicht lang genug ist, und daß die Anpassung der städ- 
tischen Bevölkerung an die Methode des modernen Groß- 
betriebes sich noch nicht in hinreichendem Maße voll- 
zogen hat. In bezug auf ihre Ernährung wie auf ihre 
Unterkunft ist die städtische Bevölkerung jedenfalls nicht 
schlechter daran, als die ländliche, und für die Hygiene 
des Arbeitsraums geschieht mindestens in den großen 
Fabriken so viel, daß auch hier die Verhältnisse nicht 
schlechter sind, als für die ländlichen Arbeiter, die allen 
Unbilden der Witterung ausgesetzt und meist nur sehr 
unzureichend in der Lage sind, sich dagegen zu schützen. 
Betrachtet man freilich die gegenwärtigen Ergebnisse des 


) Vgl. u. A.: Dr. Erich Wellmann, Abstammung, Beruf und 
Heeresersatz in ihren gesetzlichen Zusammenhängen. Leipzig 1907 
bei Duncker und Humblot. 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 15 


geschättes, im einzelnen, so, ist nicht ab- 


< 


Ergänzungs 
zuleugnen, daß die industriereichen Bezirke verhältnis- 
mäßig ungünstig abschneiden, während der Gesamtdurch- 
schnitt nach dem letzten dem Reichstag mitgeteilten Er- 
gebnis des Heeresergänzungsgeschäftes keine allzugroben 
Unterschiede erkennen läßt. Gerade von der Arbeiter- 
bevölkerung der großen Industriestädte aber wohnen ver- 
hältnismäßig nicht mehr allzu viele in der Stadt selbst. 
Hier vollzieht sich immer mehr die Citybildung und in 
den langen Häuserreihen, die immer weiter und weiter 
in die bis dahin noch grüne Umgebung hinausreichen, 
finden die Arbeiter die hygienisch vollständig einwand- 
freie Zweizimmerwohnung, die sie bezahlen können, und 
für ihre Kinder Licht und Luft genug, während die 
Laubengärten ringsherum ihnen gestatten, nach Feier- 
abend und Sonntags ihren Kohl zu bauen. Es wird die 
Ansicht gestattet sein, daß man zunächst noch einen 
längeren Verlauf der zurzeit noch sehr jungen Ent- 
wicklung der modernen Großindustrie, der modernen 
Verkehrsverhältnisse und der Wohltaten unserer sozialen 
Gesetzgebung für das heranwachsende Geschlecht ab- 
zuwarten hat, ehe in bezug auf die Güte des Ersatzes 
aus Stadt und Land das letzte Wort gesprochen werden 
kann. Schon jetzt ist der statistisch feststehende Rück- 
gang der Volkskrankheiten und die Zunahme der Körper- 
größe ein Beweis dafür, daß die moderne Entwicklung 
sich nicht im Sinne einer Verschlechterung des Volks- 
tums in seiner Gesamtheit bewegt. 

Von dem innerhalb des Heereskörpers sich voll- 
ziehenden Geldumsatz wird man die Löhnung der Mann- 
schaften nicht gut als eine Rückeinnahme in Anspruch 
nehmen können; denn wenn auch dieses Geld in vollem 
Umfange im Lande bleibt, und den kleinen Kaufleuten 
in der Nähe der Kasernen zufließt, so ist doch auf der 


16 Meereskunde. 


anderen Seite in Betracht zu ziehen, daß die Leute, so- 
lange sie dienen, der nationalen Arbeit entzogen sind, 
und keinen Lohn erwerben. Anders steht die Sache mit 
den Gehaltsempfängern, die als Offiziere, Deckoffiziere, 
lang dienende Unteroffiziere und Beamte den Heeres- 
dienst als ihre Lebensaufgabe betrachten. Diese unter- 
halten mit ihrem Diensteinkommen ihre Familien, sie er- 
ziehen damit ihre Kinder zu nützlichen Staatsbürgern 
und vielfach zu besonders brauchbarem Nachwuchs des 
eigenen Berufes, so daß hier eine vollkommene Ein- 
fügung in den Kreislauf stattfindet, indem einer nütz- 
lichen Arbeit ein Gelderwerb gegenübersteht, der im Lande 
bleibend in seinem vollen Betrag dem Volksvermögen 
wieder zugute kommt. 

In bezug auf die sächlichen Ausgaben macht sich 
ein Unterschied zwischen Armee und Marine insofern 
geltend, als in der Armee die Menschen, in der Marine 
das Schiffsmaterial mit seinen Häfen und Werften den 
Hauptaufwand an Geld hervorrufen. Ist eine Kaserne 
einmal fertig, so kostet sie von da ab nur noch die 
Unterhaltung. Die Neubewaffnung der Armee, wenn sie 
nötig wird, ist gewiß kostspielig, aber diese Notwendig- 
keit tritt nur in längeren Zwischenräumen ein, während 
jedes Schiff seine eigenen Geschütze haben muß, und die 
alten Geschütze zumeist auch das Schicksal des alten 
Schiffes teilen. Demgemäß stehen bei der Armee die 
persönlichen Aufwendungen zu den sächlichen ziemlich 
genau in dem Verhältnis von 2 zu I, während bei der 
Marine diese Verhältniszahlen sich wie I zu 4 stellen. 

Dabei tritt bei der Armee noch der weitere Umstand 
zutage, daß auch die sächlichen Ausgaben in sehr wesent- 
lichen Beziehungen gewissermaßen an die Scholle ge- 
bunden sind. Zwar die Bekleidungsämter sind an ge- 
wisse Zentralstellen verlegt. Die von ihnen verarbeiteten 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 17 


Rohstoffe an Wolle, Baumwolle und Häuten sind, wie 
das gesamte Material der Bekleidungsindustrie, in der 
Hauptsache über See gekommen, für ihre Verarbeitung 
aber kommt ausschließlich die heimische Industrie in Be- 
tracht, und die gezahlten Löhne kommen heimischen 
Arbeitern zugute. Die Garnisonbauten sind in der Haupt- 
sache das Ergebnis örtlichen Gewerbefleißes, die haupt- 
sächlichsten Rückeinnahmen aber fließen der Land- und 
Forstwirtschaft durch die Lieferung von Fleisch, Feld- 
früchten, Furage und Stroh, sowie durch das Holz zu. 
Nicht unerwähnt bleiben darf ferner die Förderung der 
Pferdezucht, die der Bedarf der Truppe an leistungs- 
fähigen Pferden hervorruft. Endlich läuft gerade den 
mittleren Orten durch den Bedarf ihrer Garnison das 
Geld aus so vielen im einzelnen hier nicht zu ver- 
folgenden Quellen zu, daß wir gewissermaßen noch lange 
nicht Militär genug haben, wenn man allen Wünschen 
derartiger Orte nach Überweisung von Garnisonen gerecht 
werden wollte. 

Bei der Marine findet diese örtliche Rückeinnahme 
nicht in gleicher Weise statt, hier sind nur wenige Stand- 
orte beteiligt. Wenn man freilich bedenkt, daß beispiels- 
weise Kiel beim Übergang an Preußen nur etwa 20 000, 
1550 etwa 40000 und jetzt weit über 150 000 Einwohner 
zählt, so wird man dieses Anwachsen doch auch zu einem 
sehr wesentlichen Teil aus dem Rückfluß von Geld aus 
dem Marineetat an die Bewohner des Reichskriegshafens 
zu erklären haben. Wilhelmshaven, jetzt mit den Vor- 
orten ein Platz von wenigstens 60 000 Einwohnern, ist 
ganz und gar eine Schöpfung der Marine. 

Um eine Vorstellung zu gewinnen von den in der 
Marine sich vollziehenden Rückeinnahmen, sei eine einem 
englischen Fachblatt!) entnommene Zahl genannt. Dieses 


1) Naval and Military Record. London 1908. 12. Nov. 


IS Meereskunde. 


berechnete, dab von dem Geldaufwand für ein Linien- 
schiff 80 v.H. sich in Arbeitslöhne auflösen, daß also, 
wenn man die Kosten eines solchen Schiffes auf etwa 
45 Millionen ansetzt, 36 Millionen als Löhne den Arbeitern 
zufließen, während nur 9 Millionen für den Rohwert des 
Materials, für Kapitalzinsen, für Amortisation der Anlagen 
und zuletzt als Unternehmergewinn übrig bleiben. Diese 
Summe von 36 Millionen ist sicherlich nicht zu hoch 
gegriffen, wenn man in die Eisengruben und Kohlenberg- 
werke, in die Hütten- und Walzwerke zurückgeht, und 
dann weiter berechnet, daß von der Kiellegung bis zur 
Einreihung eines solchen Schiffes in die Flotte auch heute 
noch 36 bis 40 Monate vergehen. Das englische Blatt 
berechnete weiter, daß durch die Arbeiten für ein solches 
Schiff im Durchschnitt eine Armee von 10000 Mann für 
zwei Jahre in Anspruch genommen werde, das ergäbe 
eine Durchschnittseinnahme von 1800 Mark für den ein- 
zelnen Lohnempfänger, was sogar knapp erscheint, da 
hier die Gehälter der Ingenieure und die Löhne der 
Zeichner, Schreiber und des Rechnungspersonals doch 
jedenfalls mit einbegriffen werden müssen. Setzt man 
nun weiter an, daß diese IO000 Mann nur im Durch- 
schnitt zwei Kinder ernähren, so ergibt sich, daß die 
scheinbar unproduktive Ausgabe für das Kriegsschiff im 
ganzen 40000 Essern zugute kommt, die gleichzeitig 
Unterkunft, Bekleidung und was sonst noch für sich be- 
anspruchen. Mit Recht spricht das englische Blatt hier 
von einem „circulate the money“, indem allerdings dieser 
Geldaufwand durch die verschiedensten Kanäle läuft und 
ganz und gar in das Volksvermögen wieder zurückfließt. 
Dafür, daß bei diesem Kreislauf die Arbeitermassen nicht 
zur „Verelendung‘“ neigen, gibt Professor Zahn in der 
oben angeführten Abhandlung interessante Ziffern. Von 
unserer Arbeiterschaft sind zurzeit verheiratet nahezu 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 160) 


43 vH., 1895 und 1882 waren es nach den damals vor- 
liegenden Zählungsergebnissen nur 35 bzw. 34vH.!) Das ist 
wohl der beste Beweis, daß sich unsere Arbeiterbevölkerung 
steigenden Wohlstandes und steigender Sicherheit in 
allen ihren Lebensvoraussetzungen erfreut, eine Tatsache 
im übrigen, die auch für die Volksgesundheit nicht ohne 
Bedeutung ist. 

Die deutsche Schiffbauindustrie in ihrer gegen- 
wärtigen Gestalt verdankt bekanntlich ihre Entwicklung 
vollkommen der Kriegsmarine. Bis zu Stosch gingen 
die wenigen Aufträge für Eisenschiffe nach England und 
Frankreich; nur für den Holzschiffbau war eine größere 
Anzahl von kleineren Werften an der Ostsee tätig; auch 
die Maschinen unserer älteren Kriegsschiffe wurden samt 
und sonders in England bestellt. Nennen wir nun hier 
nur die großen Schiffbauanstalten von Schichau, den 
Vulcan, die Germania- und die Howaldwerke, Blohm & 
Voß und die Weser in Bremen, so müssen wir zugestehen, 
daß hier, durch die Initiative der Kriegsmarine hervor- 
gerufen, ganz gewaltige Kapitalien festgelegt und ganz 
gewaltige Kräfte in Bewegung gesetzt sind. Müssen wir 
zugestehen, daß der Geschäftsgang all dieser Werften 
trotz der Aufträge der Kriegsmarine zurzeit kein sehr 
glänzender ist, so teilen sie dieses Schicksal leider mit 
dem Schiffbau der ganzen übrigen Kulturwelt, der die 
Handelskrise der letzten Jahre noch nicht überwunden 
hat und an ihren Folgen aller Voraussicht nach noch 
geraume Zeit zu tragen haben wird. Trotzdem wird die 
Gesamtzahl des allein auf den deutschen Werften be- 
schäftigten Personals, allerdings einschließlich der Tech- 
niker und der kaufmännischen Angestellten, auf ungefähr 
55 000 Köpfe zu berechnen sein, doch sind hier die 


ı) Vgl. Hirths Annalen des Deutschen Reichs ıg10, Heft 7, 
S. 497. 


20 Meereskunde. 


zahllosen Hilfsindustrien, abgesehen von den Arbeitern in 
den Bergwerken, Hütten- und Walzwerken nicht mit ein- 
begriffen. 

An einem modernen Schiff sind beinahe alle in- 
dustriellen Betriebe neben Kunst und Wissenschaft be- 
schäftigt. Sehen wir ab von den prächtigen Malereien 
und sonstiger Dekoration der Schnelldampfer, so zeigt 
doch auch das Kriegsschifft in den Wohn- und Wirt- 
schaftsräumen alle in Betracht kommenden Gebrauchs- 
gegenstände in höchster technischer Vollendung; Tele- 
graphen, Fernsprecher, Beleuchtungseinrichtungen für 
Gebrauch und Signalzwecke, Kompasse und sonstige In- 
strumente neben allen Apparaten und Einrichtungen des 
aufs höchste vervollkommneten Maschinenwesens sind in 
einem Kriegsschiff vereinigt; nicht zu gedenken der Er- 
zeugnisse der Optik in Fernrohren und Entfernungsmeß- 
apparaten, des Schlingerkreisels und anderer Erzeugnisse 
einer hochentwickelten Feintechnik mehr. Das amtliche 
Lieferantenverzeichnis der deutschen Marineverwaltung 
ist ein Buch von mehr als Fingerstärke. Die darin auf- 
geführten Firmen sind über das ganze Reich verbreitet. 

Erwähnen müssen wir in diesem Zusammenhang die 
Fortschritte des Kesselbaues bis zu den kompliziertesten 
Wasserrohrkesseln und die Turbinen, die die Kriegs- 
marine für ihre besonderen Zwecke braucht, und die der 
Handelsschiffbau sich im weitesten Umfang zunutze 
machte. Gleiche Wege wird aus diesem Anlaß die In- 
dustrie der Motoren gehen. 

So ist ein Kriegsschiff, wenn es in einem Auslands- 
hafen erscheint, abgesehen von der sinnbildlichen Dar- 
stellung unserer Seemacht zugleich ein schwimmendes 
Zeugnis für den Hochstand unseres Gewerbefleißes, und 
es darf eine Äußerung des französischen Marineministers 
hier verzeichnet werden, der zu der Jahrhundertfeier nach 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 21 
Buenos Aires eine Flottille der modernsten Kreuzer ent- 
sandte, in der sicheren Erwartung, daß diese Vorführung 
französischen Könnens für die französischen Werften nicht 
ohne Rückwirkung bleiben werde. 

Erforderlich erscheint es, an dieser Stelle der Firma 
Krupp zu gedenken. Ob es richtig gewesen wäre, daß 
die Marine, als sie durch das Flottengesetz sich auf 
eine größere Leistung vorbereitete, auch der Geschütz- 
fabrikation in eigener Regie ihre Aufmerksamkeit zuge- 
wendet hätte, sei dahingestellt. Anderseits bleibt es 
immer ein Ruhmesblatt für die Firma, daß sie den so 
erheblich gesteigerten Anforderungen der Flotte gerecht 
geworden ist, und daß sie die Armierungen unserer 
neuen großen Schiffe, so wie es von ihr verlangt wurde, 
geliefert hat. Zurzeit ist es angesichts der ungeheuren 
Kapitalsansammlungen in den Kruppschen Werken und 
bei dem fortschreitenden Zusammenschluß der bezüglichen 
industriellen Unternehmungen nicht sehr wahrscheinlich, 
daß ein privater oder staatlicher Wettbewerb dagegen 
Blatzesreitt, ‚und es ist, an. dieser stelle nicht näher zu 
erörtern, ob er wirtschaftlich angebracht sein würde. 

Die Firma muß, seit sie sich in eine Aktiengesell- 
schaft umwandelte, durch ihre Bilanzen einen Einblick in 
ihre Vermögensverwaltung der Öffentlichkeit!) zugänglich 
machen. Wir können aus der letzten solchen Auf- 
machung ersehen, daß die Firma bei einem Gesamt- 
vermögen von 475 Millionen Mark über einen Grund- 
besitz von 196 Millionen verfügt, während der Wert der 
in der Herstellung begriffenen Fabrikate auf 120 Millionen 
beziffert wurde. Hier finden wir eine vollständige Her- 
stellung der Fabrikate von der Erz- und Kohlengrube an, 


!) Nach dem Vortrag ist eine neue Bilanz veröffentlicht, die 
hier außer Betracht bleiben mußte. 


22 Meereskunde. 


durch die Hütten- und Walzwerke bis zur fertigen Mon- 
tage im Schiff, es ist daher begreiflich, wenn die Firma 
bei einem Personenbestande von rund 64 000 Menschen, 
von denen rund 33000 in Essen beschäftigt werden, 
einen Lohnaufwand von schätzungsweise 90 000 000 Mark 
zu verzeichnen hat. Die Firma stellt nicht ausschließlich 
Kriegsmaterial her, sondern neben den Geschützen und 
Panzerplatten hauptsächlich Eisenbahnräder, Achsen, 
Wellen für Schiffsschrauben und sonstige für Schiffbau- 
zwecke bestimmte Materialien, wie ja denn auch eine 
Schiffswerit in Kiel ihrem Betriebe angegliedert ist. 
Bezieht man diese mit ein, so ist die Schätzung gestattet, 
daß etwa 40 vH. ihres Gesamtumsatzes der Marine ge- 
widmet sind, daß also rund 36 Millionen Mark auch auf 
diesem Wege in Form von Arbeitslöhnen aus dem 
Marineetat rückwärts in das Volkseinkommen fließen. 
Sehr erheblich sind freilich, in den absoluten Ziffern 
betrachtet, die von der Firma erzielten Gewinne, und es 
ist nichts Seltenes, daß daran von abgeneigten Politikern 
sehr mißliebige Kritik geübt wird. Gleichwohl sind sie, 
auf den tatsächlichen Umsatz bezogen, nicht höher als 
solche in ähnlichen industriellen Unternehmungen ge- 
wonnen werden; es ist sogar die Bemerkung zulässig, 
daß die Herstellung von Kriegsmaterial im Hinblick auf 
das Vorwärtsdrängen der Technik keinesfalls einen so 
rationellen Betrieb gestattet, wie die Fabrikation irgend- 
welcher Handelsware, und daß in der notwendigen Prä- 
zision ein nicht unerhebliches Risiko enthalten ist. Bei- 
spielsweise nimmt das Einschneiden der Züge in ein 
langes schweres Geschützrohr allein 14 Tage in Anspruch, 
An der hierzu erforderlichen höchst komplizierten Ma- 
schine kann nur ein Mann stehen, der mit aufgelegter 
Hand den ruhigen, richtigen Gang des Schneidewerkes 
im Innern des Rohres beobachtet. Eine geringe Unaut- 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 2 


(095) 


merksamkeit dieses Arbeiters oder der unrichtige Fall 
eine Metallsplitters von den Schneideflächen kann ver- 
schulden, daß an den Zügen ein Stück ausbricht. Damit 
ist das ganze Rohr, das Ergebnis monatelanger Arbeit 
für seinen Zweck unverwendbar, denn Waren zweiter 
Qualität, die unseren Warenhäusern so vortreffliche Ge- 
legenheit zur Gewährung von Ausnahmepreisen bieten, 
lassen sich auf dem Gebiete der Kriegsrüstung leider 
nicht verwenden. In flauen Zeiten auf Vorrat zu arbeiten, 
ist für eine Geschützfabrik ausgeschlossen. Sie kann nur 
auf Bestellung liefern; denn was in die Front eingestellt 
wird, muß immer den allerneuesten Anforderungen in 
militärischer und technischer Hinsicht entsprechen. 

Erwähnen wir zum Schlusse noch, daß die Marine 
in ihren eigenen Betrieben rund 22000 Arbeiter, mit 
einem Lohnaufwand von 33000000 Mark und etwa 
2 000 000 Mark für soziale Fürsorge, beschäftigt, so werden 
auch hierdurch die Ziffern des Marineetats einen nicht 
unerheblichen Teil ihrer Unerfreulichkeit für sparsame 
Gemüter verlieren, abgesehen davon, daß sich der Lohn- 
anteil für die übrigen Bedarfszwecke, Kohlen und Schmier- 
material, Bekleidung und ganz besonders für die umfang- 
reichen Landbauten, nicht nachrechnen läßt. 

Die Marine unterscheidet sich von der Armee da- 
durch, daß ein nicht unerheblicher Teil ihres Geldauf- 
wandes in das Ausland geht, doch kann man sich damit 
trösten, daß es gerade dieser Teil ihrer Ausgaben ist, 
der die» höchste Verzinsung gewährt. Schon in den 
ersten Tagen ihres Bestehens hielt es die preußische 
Marine für ihre Pflicht, mit einem kleinen Geschwader 
jenseits des Ozeans ihre Flagge zu zeigen, schon damals 
berichtete dankend der preußische Geschäftsträger, welche 
grobe Stütze im Verkehr mit den überseeischen Gebieten 
ihm nunmehr der Hinweis auf den Schutz der Flagge 


24 Meereskunde. 


pP 


gewähre, und wie der Handelsstand in seinem Vertrauen 
auf die Fürsorge der Heimat gestärkt und gefördert 
werde. Den Handelsvertrag mit Japan, der uns den 
fernen Osten zugänglich machte, hätte der preußische 
Gesandte Graf Eulenburg ganz sicher nicht erreicht, 
wenn nicht zwei für damalige Verhältnisse höchst statt- 
liche Fregatten mit ihrem Landungskorps den japanischen 
Machthabern den Ernst der preußisch-deutschen Absichten 
vor Augen geführt hätten. Oft und an zahlreichen 
Stellen sind seitdem deutsche Kriegsschiffe mit größerem 
und geringerem Nachdruck für unsere überseeischen 
Interessen eingetreten. Für unsere sämtlichen kolonialen 
Erwerbungen haben sie die Wege eröffnen und vielfach, 
so in Kamerun, im Buschiri-Aufstand und ganz besonders 
vor den Samoainseln, schwere und blutige Opfer für die 
deutsche Ehre und die deutsche Wohlfahrt bringen 
müssen. Den letzten und volleültigssten Beweis ihrer 
Notwendigkeit erbrachte die deutsche Marine, als unser 
„Itis“ im Verein mit dem Landungskorps vom Kreuzer- 
geschwader die Takuforts niederkämpfte, und als gleich 
darauf eine Division von Linienschiffen mit Kreuzern und 
Torpedobooten hinausgesandt werden konnte, um den 
gelben Zopfträgern klar zu machen, daß Deutschland 
nicht willens war, sich aus seinen mühsamen Errungen- 
schaften im fernen Osten verdrängen zu lassen. Daß 
wir mit dem Geldaufwand für die Marine rationell ge- 
wirtschaftet haben, dafür stehen uns sowohl englische 
wie französische Stimmen zur Verfügung, die. überein- 
stimmend hervorheben, daß wir mit einem um 50 vH. 
geringeren Geldaufwand unsere Flotte auf die dritte 
Stelle gehoben haben, während Frankreich in der gleichen 
Zeit auf die fünfte Stelle zurückgegangen ist. 

Wenn mit allen angeführten Tatsachen, die jeder Ein- 
blick in die Ziffern der deutschen Statistik ergänzen 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 25 


kann, der Beweis erbracht sein dürfte, daß für uns eine 
Kriegsrüstung nötig, und daß der Aufwand für sie kein 
totes Kapital vorstellt, sondern im vollen Umfang dem 
deutschen Volksvermögen wieder zugute kommt, so hat 
damit nicht gesagt werden sollen, daß der gegenwärtige 
Zustand eines mit so schweren Opfern aufrechterhaltenen 
Friedens an sich wünschenswert wäre, und für alle Zeiten 
das Ideal des in der Kulturwelt geeinten Menschentums 
darstellt. Deutschland hat seit 40 Jahren Frieden, gegen 
die von Ost und West drohenden Gewitter hat sich 
unsere Rüstung in dieser langen Zeit als eine aus- 
reichende und feindliches Begehren abschreckende Schutz- 
wehr erwiesen. Blicken wir aber in der Welt umher, so 
finden wir, daß gerade in dieser Periode an den ver- 
schiedensten Plätzen die Kriegsfackel entbrannte, daß sie 
schnell wieder erlosch, wo eine ausreichende und kriegs- 
tüchtige Wehr zum Schutz der angegriffenen Interessen 
zur Verfügung stand, und daß sie furchtbare Opfer 
forderte, wo dies nicht der Fall war. Es sei allein an 
den Jammer von Tschusima und an die fortgesetzten 
Niederlagen der in Führung und Verwaltung traurig im 
Stiche gelassenen russischen Landtruppen erinnert. 

Nur die eine Frage sei zum Schluß noch kurz er- 
örtert, ob, wie man vielfach behaupten hört, unsere 
Waffenrüstung zu schwer ist und dem ,„Moloch des 
Militarismus‘“‘ unerschwingliche Opfer gebracht werden. 

Wäre unsere Rüstung zu schwer, so müßte an irgend 
einer Stelle eine Erschöpfung in die Erscheinung: treten. 
Die vorstehend geschilderten Tatsachen möchten dafür 
wohl kaum einen Anhalt bieten. Wer eine Vorstellung 
gewinnen will von einem Zeitalter, wo das Volk auf dem 
Altar des Vaterlandes sein letztes hingab, um Ehre und 
Freiheit sich zu wahren, der werfe einen Blick in die 
jetzt so vielfach im Buchhandel erschienenen Erinnerungen 


26 Meereskunde. 


an die Zeit der schweren Not zwischen 1806 und 1813. 
Damals waren der Opfer fast zu viele, aber das Volk 
verzagte nicht und verlor auch unter diesem schweren 
Druck nicht seinen Lebensmut und seine Lebensfreude. 

Bei uns ist Gott sei Dank Geld für alles da; noch die 
letzte Zeit brachte trotz Militär- und Marineetat unserem 
Beamtentum die erheblichen Verbesserungen im Gehalt 
und in der Altersversorgung. In frischester Erinnerung 
ist das Millionenprojekt der Gemeinde Tempelhof, das 
den--alten Exerzierplatz der Berliner Garnison ‘der ‚Be 
bauung erschließen soll; im Handumdrehen war das Geld 
für den Ersatzbau gesammelt, als Graf Zeppelin bei 
Echterdingen sein Luftschiff verloren hatte, und fast auf- 
dringlich zeigen uns täglich und stündlich die immer 
zahlreicheren Automobile, daß Zeit Geld, und daß zu 
ihrer Ausnutzung Geld genug vorhanden ist. Stein- 
mann-Buchert) berechnet das deutsche Nationalvermögen 
bekanntlich auf 350 Milliarden Mark; wieviel davon die 
„kleinen Leute“ in bar ihr eigen nennen, mögen die 
13 889 Millionen Sparkassenanlagen zeigen, die 1907 
nachgewiesen wurden, gegen nur 1869 Millionen im 
Jahre 1875. 

Nicht zu leugnen ist freilich, daß wir eine reichlich 
schwere Steuerlast zu tragen haben. Inwieweit diese 
Last als ein wirtschaftlicher Druck empfunden wird, läßt 
sich nicht mit den sogenannten Kopfberechnungen des 
Reichshaushaltsetats ermessen, mit denen auch gewisse 
sonst dankenswerte Denkschriften zur Zeit der Flottengesetz- 
kampagne arbeiteten. Um den Anteil zu berechnen, den 
der einzelne Haushalt an direkter und indirekter Steuer 
und steuerähnlichen Auflagen, wie z. B. an Schulgeld, 


1) Arnold Steinmann-Bucher: 350 Milliarden Deutsches 


Volksvermögen. Berlin, bei Otto Elsner 1909. 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 29 


zu tragen hat, ist ein Einblick in die einzelnen Haus- 
haltsbücher notwendig. Material für diesen Zweck ist 
jetzt endlich vorhanden in der Veröffentlichung unseres 
statistischen Amtes: „Erhebung von Wirtschaftsrechnungen 
minder bemittelter Familien im Deutschen Reich‘; es wäre 
sehr erwünscht, daß dieses Material bald in dem ange- 
deuteten Sinne bearbeitet würde. Versuche, die in dieser 
Richtung gemacht wurden, ergaben, daß, prozentual be- 
trachtet, der Mittelstand am stärksten beansprucht wird; 
im großen und ganzen bezahlt die besitzende Klasse die 
direkten Steuern, die große Masse des Volkes nur ihren 
Anteil an den indirekten Auflagen. Daß sie auf diese 
Weise zu den Lasten des Staatshaushaltes beisteuern, 
wird man nur als recht und billig zu bezeichnen haben, 
denn sie sind der Wohltaten der Staatseinrichtungen ın 
gleicher Weise, in sehr vielen Beziehungen sogar in 
überwiegendem Maße teilhaftig. Gerade die letzte mit 
so großer Mühe zustande gebrachte Finanzreform hat, 
wie behauptet wird, eine weitgehende Verdrossenheit 
hervorgerufen. In Wirklichkeit sind die von ihr ge- 
forderten Lasten durch so zahlreiche weitverzweigte und 
schwer zu verfelgende Kanäle auseinander geflossen, daß 
im Haushalt des einzelnen kaum noch etwas davon zu 
merken ist. Auch der biedere Bürger, der sich zu seinem 
Abendschoppen die Zigarre anzündet, trinkt darum kein 
Glas weniger, weil das Bier eine höhere Steuer trägt. 
Wieviel Geld am Tabak noch immer verdient wird, dafür 
sind die gerundhäßlichen Zigarettenreklamen an allen 
unseren Eisenbahnen entlang ein reichlich unerfreulicher 
Beweis. 

Bemerkenswert ist, daß in den Jahresberichten der 
großen industriellen Unternehmungen von der vermehrten 
Steuerlast überhaupt nirgends mehr die Rede ist, man 
hat sich damit abgefunden, obwohl gewiß erhebliche Be- 


28 Meereskunde. 


träge sich nicht abwälzen ließen und auf dem Unkosten- 
konto zu Buche stehen. Worüber diese Berichte klagen, 
das sind die Lasten der Sozialpolitik, die im internatio- 
nalen Wettbewerb mit den Völkern, die diese Wohltaten 
für ihre Arbeiter nicht kennen, infolge des ungleichen 
Druckes sehr schwer empfunden werden. Man wird diese 
Tatsache bei dem weiteren Ausbau der sozialen Gesetz- 
gebung wohl nicht ganz außer acht lassen dürfen. 

Lauter als sonst sind jetzt die Rufe, die eine, 7: 
sammenfassung der Kulturwelt in einem Staatenbunde 
fordern, dessen einzelne Glieder sich gegenseitig den 
Frieden garantieren und die entstehenden Reibungen im 
Wege friedlichen Ausgleichs zu beseitigen willens sind. 
Eine kürzlich in einem Berliner Verlage erschienene 
Schrift!) führt an der Hand von Reden und sonstigen 
Äußerungen unseres Kaisers den Nachweis, daß Seine 
Majestät selbst ein eifriger Förderer dieses Gedankens 
und in seiner langen Regierungszeit nicht müde geworden 
ist, ihn der Verwirklichung näher zu bringen. Leider 
muß der Verfasser dieses sonst höchst lesenswerten 
Buches zugestehen, daß einem solchen Staatenbunde 
ebenso wie allen Friedensverträgen die Exekutive gegen- 
über abgeneigten Mitgliedern fehlen würde. Er be- 
zeichnet ‘es als eine der ersten Errungenschaften. der 
Friedensbewegung und als den Fingerzeig für die Zukunft, 
daß zur Zeit der Chinawirren ein deutscher General an der 
Spitze von Deutschen, Engländern, Russen, Japanern und 
anderen Truppen mehr dem Reich der Mitte die Bedin- 
gungen der Kulturwelt vorschrieb. 

Ist dies der Gang der Entwicklung, so geht daraus 
hervor, daß auch ein Europa umfassender Friedensbund 


I) Alfred H. Fried: Der Kaiser und der Weltfrieden. 
Berlin 1910. Verlag Maritima. 


Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 29 


der Waffenrüstung nicht würde entraten können. Wie 
weit wir aber auch von seiner Verwirklichung noch ent- 
fernt sind, zeigt uns jeden Tag ein Blick in die Zeitungen 
und muß uns nach allen Richtungen hin die tägliche Er- 
fahrung lehren. Den ewigen Frieden mag die Mensch- 
heit als Ideal im Busen tragen, ihre Natur bedingt den 
Widerstreit der Interessen, und je größer die Interessen- 
gemeinschaften werden, desto größer und schwieriger 
werden die Reibungsflächen. So werden auch noch die 
kommenden Geschlechter und die Staaten der Zukunft 
ihre Rüstung tragen, und ihr Trost mag sein, daß sie 
damit ihre äußeren Interessen wahren, und daß sie dem 
Volksvermögen eine reichliche Verzinsung zuführen. 


AT 
wert 
y 

m 
# 
, 

’ 
. 


In 


a 
f 
, 
ni m 
x F. 
ur . ( 
r 
x * 
N 
f 
- Y 
4% ' 
. 
I 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. & 
_ Berlin SW68, Kochstr. 68—71. 


ie 
a‘ de 
N Per r 
N nn ’ # 
a. ” 


# ” 
D 
% 
* 
’ 
3 
% . 
j 
= N 
% 
u 
. 
EI, 
s 
4 
” ’ 
P « 
u, 71 
s 4 
u 
rk 
. 
' 
1% 
’ % 
„ 
N 
R f 
ö 5 
h 
p> rı 
Li 
1 4 u 
En 7) 
POReN L N 


E ’ 
« 
% 
1 
s 
“ 
- 


\ 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 


MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG DRITTES HEFT 


Der Golistrom 
in seiner historischen, nautischen und klimatischen Bedeutung. 


Von Dr. Ludwig Meckine. 


{>} 


enn wir das Meer befahren und kein Lüftchen 
seine Fläche kräuselt, oder wenn wir am 


MED Strande den glatten Spiegel überschauen, so 
haben wir den Eindruck vollendeter Ruhe. Nichts offen- 
bart uns, daß in diesem Wasserkörper dennoch eine Be- 
wegung pulsieren kann. Zu anderen Zeiten aber auch 
können wir beobachten, wie seine Wogen draußen hoch 
aufschäumen oder am Ufer branden: eine erste Art von 
Bewegung. Wenn wir etwa stundenlang an der Küste 
verweilen, gewahren wie eine zweite, eine Hebung und 
Senkung des Spiegels in periodischem Wechsel oder, falls 
der Strand sehr flach ist, ein weites Zurückweichen und 
Vordringen des ganzen Wassers: die Gezeiten. Aber die 
immer noch größere Bewegung, die in allen Tiefen und 
Weiten vorhanden ist, wird überhaupt nicht sinnfällig, 
es .ist die Strombewegung. Doch kann man sie mit 
Instrumenten direkt feststellen oder auch an ihren mannig- 
fachen Wirkungen erkennen; so läßt sich z.B. am Transport 
der Wärme, die das Thermometer kundgibt, oder am 
verschiedenen Salz- und Gasgehalt und selbst am Tier- 
leben, besonders den kleinen schwebenden Organismen 
des Planktons, oder auch schließlich an Erscheinungen 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 3. I 


Meereskunde. 


166) 


des treibenden Eises, des Klimas und dergleichen die 
Herkunft des Wassers verfolgen. Nur sehen wir eben 
nicht den Strom geradezu im Meere dahinwirbeln wie 
einen Fluß, wie dies wohl früher eine geläufige Vor- 
stellung war und auch heute noch durch unsere schema- 
tischen Karten unabsichtlich nahe gelegt werden mag. 
Die Erkenntnis der Strömungen hat infolge jener 
Schwierigkeiten auch eine ziemlich wechselvolle Geschichte. 
In deren Zentrum stand 
Nordpol von je der Golfstrom, bis 
heute ist er der populärste 
Meeresstrom geblieben 
und mit Recht; denn er 


ist die großartigste und 
Kreislauf 


eine vielfältig  folgen- 
schwere Erscheinung des 
Meeres. 

Ein Geograph des 
17. Jahrhunderts Bern- 
hard Varenius hatschon 


äquatornaher 
Kreislauf 


——  — 


Aquator den Ausspruch getan: »si 
Abb. ı. Schema der Meeresströmungen bat oc anumloy EZ 
ImeNerdatiantschen Ozean! oceanus movetur.« In der 
Tat "ist auch den Gol- 
strom eine Teilerscheinung, nicht nur in der Gesamt- 
zirkulation des Meeres, sondern zunächst in einem 
größeren Strömungssystem des Nordatlantischen Ozeans. 
Schematisch stimmt dieses mit dem in jedem Meere vor- 
handenen überein und hat, wie es die beistehende Skizze 
veranschaulicht, folgende einfache Gestalt (vgl. Abb. ı): 
etwa in 40 bis 50° N.-Br. geht eine Wasserbewegung von 
Westen nach Osten, die teilt sich vor der entgegen- 
stehenden Landmasse der Alten Welt, und es entwickelt 
sich je ein Kreislauf polwärts und äquatorwärts. Ähnlich 
auf der Südhalbkugel und ähnlich im Stillen Ozean. 


Der Golfstrom. 


ir 


Jeder dieser Kreisläufe setzt sich aus einem warmen 
und einem kalten Ast und zwei Verbindungsstücken zu- 
sammen. Warm nennt man nämlich einen Strom, der 
polwärts zieht, weil er das in niederen Breiten unter 
stärkerer Sonnenstrahlung erwärmte Wasser nach höheren 
Breiten, wo an sich kälteres liegen sollte, führt. Ein 
Strom der umgekehrten Richtung heißt kalt. Beide Be- 
griffe sind also relativ zu fassen. Warm ist demnach im 
äquatornahen Stromkreis des Nordatlantischen Ozeans das 
amerikanische (1), im polnahen das europäische Teilstück (3). 
Sie zusammen mit dem sie verbindenden westöstlichen 
Strömungsabschnitt (2) 


bilden unsern Golfstrom. 

Trotz der Überein- 
stimmung im Wesen be- 
steht aber ein Unterschied 
des Grades zwischen denı 


Nordatlantischen und Pa- 


zifischen Stromsystem: 1 : 180.000.000. 
jenes ist bei weitem Abb. 2. Stromteilung bei Kap 
S. Roque. 


kräftiger entwickelt. Der 
Grund dafür liegt in mehrfacher Hinsicht in der Verteilung 
von Wasser und Land. 

Der Küstenverlauf, nämlich der im Kap San Roque 
weit ostwärts vorspringende Kontinent von Süd-Amerika, 
bedingt es erstlich (vgl. Abb. 2), daß ein Teil der Süd- 
äquatorialströmung, die eigentlich ganz in den Südatlan- 
tischen Ozean gehört, über den Äquator gedrängt wird 
und mit ihrem warmen Wasser der Nordhalbkugel zugute 
kommt, was auch für den klimatischen Unterschied beider 
Hemisphären von Belang wird. 

Diese Wassermasse, vereint mit der der Nordäqua- 
torialströmung, zieht dann durch das Karibische Meer und 
z. I. in den Golf von Mexiko. Da tritt uns ein zweites 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 3. 2 


A Meereskunde. 


Moment der Küstenumrisse entgegen, das zur stärkeren 
Entwicklung des Stromsystems beiträgt: der fast rings 
umschlossene Golf nämlich wird zum riesigen Sammel- 
becken für diese erwärmten Wasser, die zum einen Ein- 
gang hineinziehen und als kompakte Masse aus einer 
zweiten, sehr engen Pforte hervorschießen. Abbildung 3 
läßt erkennen, wie in der Tat das ganze Querprofil 
der Straße von Florida von warmem Wasser eingenommen 
ist (nur daß es etwas mehr nach dem rechten Hang hin- 
drängt infolge der Erdrotation). Nichts entsprechendes 


Anp Klorida L* Cun Aeybt 
228° 278° 278° 286 289°} 


300 


200 


Abb. 3. Temperaturschichtung in der Floridastraße. 


(Nach Al. Agassiz und O. Krümmel.) 


bietet sich in einem andern Ozean, ein Grund wieder 
für die stärkere Ausbildung gerade des nordatlantischen 
Systems. In diesem Reservoir liegt die eine Wurzel des 
Golfstroms sowie der Ursprung seines Namens. Infolge der 
Enge des Ausfallstores ist auch die Geschwindigkeit so 
eroß wie an keinem zweiten Punkt des Weltmeeres. Sie 
beläuft sich im Mittel auf 70 Seemeilen pro Tag, häufig 
aber auf über 100 bis 120, d. h. bis zu 21), minder 
Sekunde, eine Geschwindigkeit, wie sie der Rhein im 
Unterlauf bei Hochwasser entwickelt. »Und drängt mit 
Ungestüm in den Kanal von Bahama«, sagt A. v. Hum- 
boldt in seiner trefflichen Beschreibung, die er auf seiner 


Der Golfstrom. 4 


Reise nach der Neuen Welt von dem Phänomen gibt, und 
er vergleicht ihn da »einem reißenden Strome 

So finden wir denn in diesem ersten Teil des Golt- 
stroms eine große Masse erwärmten Wassers infolge des 
Vorsprungs bei San Roque, begabt mit einem großen 
Bewegungsmoment infolge des Golfs und der Enge. Diese 
Masse zieht nordwärts, vereint mit dem außerhalb des 


1:120.000.000 


ee 20km 


Abb. 4. Meeresströmungen im Nordatlantischen Ozean. 


Kariben-Meeres die Antillen- und Bahama-Inseln entlang 
geflossenen Wasser des Nordäquatorialstroms, wird mit 
der Annäherung an die Bank von Neufundland unter 
dem Einfluß der westlichen Winde aus ihrer Richtung 
nach Osten abgebogen, unterstützt durch den Küsten- 
verlauf sowie den kalten Strom, der von Norden die 
Küste Labradors entlangkommend dem Golfstrom in 
die Flanke fällt. Unmittelbar hinter dieser Beuge beginnt 
dann das Golfstromwasser sich fächerartig über den Ozean 


4% 
“ 


6 Meereskunde. 


hinzubreiten. Zwei Strahlen des Fächers aber ragen weitaus 
hervor, einer der über Madeira und die Kanarischen Inseln 
Afrikas Küste hinab südwärts zur Schließung des Kreis- 
laufs sich wendet, und ein zweiter, der an Irland und 
Norwegen hin in den polnahen Kreislauf eintretend dem 
Norden zustrebt (vgl. Abb. 4). 

In diesem letzteren, dem dritten Hauptstück unseres 
Golfstroms, macht sich abermals der Küstenzug fördernd 
bemerkbar. Während der Nordpazifische Ozean schon in 
niederer Breite fast ganz gegen Norden abgeschnürt ist, 
steht hier der Atlantische durch eine breite Pforte in 
Verbindung mit dem Eismeer, dieses wird zu seinem An- 
hängsel und nimmt teil an seiner Zirkulation; das Kreis- 
system des Wassers (ebenso wie das der Luft) wird in 
einer meridional gestreckten Ellipse hoch hinaufgezogen 
in die Region des Pols, wohingegen das pazifische Ab- 
bild förmlich verkrüppelt ist. 

So läßt sich denn der Golfstrom von den Tropen 
bis ins Eismeer in drei großen Teilstrecken verfolgen, 
die alle eine hervorragend starke Entfaltung zeigen. 

Entsprechend kräftig ist aber im polnahen Kreislauf 
auch die kalte Seite in den Polarströmen von Ostgrön- 
land und Labrador entwickelt. Und so entrollt sich von 
Neufundland bis hinauf nach Spitzbergen und Nowaja 
Semlja ein Kampf der wie mit Riesenarmen gegeneinander 
strebenden warmen und kalten Wasser. Der Hauptkampft- 
platz ist das Nordmeer. Dabei bleibt aber vor allem das 
große Hauptsystem bestehen, indem die europäische Seite 
das Reich des Golfstroms, die amerikanische das der po- 
laren Wasser abgibt. 

Indes ist hier im Nordmeer für den Detailverlauf der 
Ströme außer dem Küstenzug ein weiteres Moment be- 
stimmend, das Bodenrelief des Meeres; selbst aus Tiefen 
von mehreren Hundert Metern wirkt es auf den 
Stromverlauf an der Oberfläche — eine auffallende Er- 


Der Golfstrom. 


Sn 


scheinung, die erst durch die Meeresforschung der 
letzten Jahre, besonders unter Nansens praktischer und 
theoretischer Betätigung im Nordmeer, klar hervorge- 


treten ist. 
Von einschneidender Bedeutung wird fürs erste schon 


DEREN EZ 
WEN), 0) WE 
WET N, KA N : 
8% AEX 


1 


I: 14.500.000. 
Abb. 5. Zyklonisches Stromsystem zwischen Island, Schottland 


und Norwegen in 100 m Tiefe. 
(Nach Helland-Hansen und Nansen.) 


ein untermeerischer Rücken, der von Schottland über 
Färöer und Island nach Grönland hinüberzieht, im Durch- 
schnitt 400 bis 600 m Tiefe hat und das Nordmeer vom 
Hauptkörper des Atlantischen Ozeans scheidet. Er wirkt 
wie ein Wall, über dem sich das atlantische und das po- 
lare Wasser gegenseitig aufstauen. Die Abbildung 5, in 


> 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 3. 3 


8 Meereskunde. 


welcher die stark schraffierte Fläche Wasser von hohen 
Salzgehalt, d. h. Golfstromwasser, die hellere hingegen 
salzärmeres, also polares Wasser darstellt, läßt erkennen, 
wie der atlantische Strom, im Süden des Walls zur Seite 
gedrängt, erst zwischen Färöer und Schottland freien 
Abzug nach Norden erringen kann, wie er aber seiner- 
seits auch wenigstens standhält gegen das Polarwasser und 
den Atlantischen Ozean davor bewahrt, daß schon zwischen 
Island und Britannien eiskaltes Wasser seine Ober- 
fläche bildet. Der Wall bat demnach auch klimatisch 
eine höchst wichtige Funktion. Dem polaren Wasser . 
bleibt nun als Abzugsstraßbe aus dem Nordmeer nur die 
zwischen Island und Grönland, wo es seine Packeismassen 
herunterschleppt, gebettet hauptsächlich in einen schmalen 
Kanal. Ebenso benutzt der atlantische Strom. im wesent- 
lichen eine enge, tiefe Rinne zum Eintritt ins Nordmeer, 
den sogenannten Färöer-Shetland-Kanal mit steilen Wänden 
und einem ebenen Boden von 1100 m Tiefe. Seine Haupt- 
masse hält sich hart an den rechten Hang dieser Furche, 
desgleichen weiterhin an den norwegischen Kontinental- 
abfall gedrängt, der in einiger Entfernung von der Küste 
in dicht aufeinander folgenden Tiefenlinien sich markiert. 
Auf etwa 66— 68° N.-Br. zeigt sich nun aber ein Vorsprung 
des Kontinentalsockels sowie des tieferen Reliefs; der 
zwingt auch den Strom zum Teil wenigstens abzubiegen. 
Anderseits wirkt die untermeerische Platte, auf der Island 
ruht, ablenkend auf einen Teil des Polarstroms, der dann 
an dem Wall entlangfließt und mit jenem abgeschwenkten 
warmen Zweig zusammen einen Teilkreislauf bildet, der 
sich sogar noch in zwei Einzelzyklonen weiterteilt. 
Ähnlich erkennt man im nördlicheren Teile des 
Nordmeers innerhalb des größeren Systems die Tendenz 
zur Ausbildung einzelner Teilsysteme, alle mit der 
Drehung ' entgegen dem Sinne des’ UÜhrzeigers, 2m 


Der Golfstrom. 9 


sogen. zyklonalen Sinn. Der Hauptstromstrich aber findet 
auch hier seinen Weg wieder hart an den Steilhang des 
Spitzbergensockels angelehnt als Westspitzbergen -Golt- 
strom, der erst im Polarbecken endlich unter dessen kaltes 
\Vasser untertaucht (vgl. Abb. 6). 


au 


Y: 


2 D DR, 


S « 2 F GE N 
SHIRG> SL 
ST (Hi \\ 
IN EAWINVGK U 
® NEED GG 
I! 14.500.000. 

Abb. 6. Zyklonisches Stromsystem zwischen Grönland, Spitzbergen 
und Norwegen in 100 m Tiefe. 
(Nach Helland-Hansen und Nansen.) 


Vorher hat sich von ihm der Nordkapstrom abgetrennt, 
der nun seinerseits im seichten Barentsmeere sich ver- 
zweigt über einem nur 200 bis 400 m tiefen Boden, dessen 
Relief aber sehr kompliziert ist und so eine starke Zer- 
splitterung des Stromes, abermals mit der Tendenz zur 


y 
&) 


Io Meereskunde. 


Zyklonenbildung, erzeugt. Die Hauptmasse trifft den 
Landwall von Nowaja Semlja, wird nordwärts gebogen, 
in der Bewegung geschwächt und schließlich überwältigt 
von der geschlossenen polaren Wasserfläche im Norden 
des Insellandes. Immerhin ist es also hier wie bei Spitz- 
bergen dem wärmeren Wasser gelungen, bis zungkese 
des eisigen Gegners selber vorzudringen, zum Glück für 
die nördlichen Länder Europas. »Wenn Nowaja Semlja 
nicht existierte,« so sprach es vor etwa IOO Jahren der 
russische Naturforscher Ernst v. Baer aus, »dann würde 
das sibirische Eis in den westlichen Ozean hereinbrechen, 
zu den Küsten Norwegens herangetragen werden, und 
dieses Land, das jetzt unter dem Einfluß des warmen 
Golfstroms grünt und blüht, würde von öden Tundras 
ebenso bedeckt erscheinen wie das nördliche Sibirien. « 

So schaltet sich zwischen dem nördlichen Becken 
mit seiner geschlossenen Fläche echt polaren Wassers und 
dem Atlantischen Ozean südlich der isländischen Schwelle 
mit seinem reinen (Golfstromwasser das Nordmeer als 
Haupttreffplatz der beiden so verschieden gearteten und 
bewegten Wasser ein. 

Im Nordmeer ist aber die Bewegung des Golfstroms, 
selbst im Hauptstrich, schon ganz bedeutend geschwächt, 
infolge der Ausbreitung, der Hemmnisse und Kompli- 
kationen auf seinem Weg. Die 70 Seemeilen, mit denen 
der eben geborene aus den Engen von Florida hervor- 
stürzte, sind reduziert auf IO etwa in der Breite von 
Bergen, gar auf 5.in der der. Lofoten, so’ dal ferähier 
nautisch schon kaum mehr bemerkbar wird. 

Zweifellos ist der Golfstrom in diesem Bilde, wie er 
nach unserer heutigen Kenntnis dasteht, eine auffallende 
Erscheinung des Meeres; trotzdem ist er erst spät in der 
Geschichte, nämlich zu Beginn des Entdeckungszeitalters, 
hervorgetreten. Wie kommt das? — Von den Methoden 
zur Strombeobachtung, die uns jetzt zu Gebote stehen, 


Der Golfstrom. LI 


konnten in früheren Jahrhunderten nur zwei Gruppen in 
Frage kommen. Einmal hätte man auf seine Eigenschaft 
als Wärmeträger aufmerksam werden können, mit dem 
Temperaturgefühl. Dazu mußte man ihn aber erst durch- 
kreuzen, mußte andere Wasser zum Vergleiche kennen 
lernen. Gerade an den Kulturgestaden ist er jedoch so 
breit und zersplittert, daß er nicht gekreuzt wurde, außer 
auf den frühen Fahrten der Normannen und Wikinger, 
von denen sich aber historisch ja wenig erhalten hat. 
Ein zweites Mittel hätte sich auf seine Eigenschaft der 
Bewegung gründen können. Doch wieder an Europas 
Küsten ist diese so gering, daß sie durch Ablenkung von 
Schiffen aus dem Kurs sich kaum bemerkbar machte, so- 
lange man nicht den Ozean querte bis zur Wurzel des 
Stromes, wo die Geschwindigkeit so groß ist. Außer der 
Abtrift von Schiffen gibt es allerdings ein zweites Mittel 
zur Erkennung der Bewegung: Treibkörper. Heute wird 
dies künstlich z. B. verwendet, indem von Schiffen Flaschen 
über Bord geworfen werden, die einen Zettel mit Angabe 
der Auswurfsstelle enthalten. Irgendwo an den Strand 
geworfen und aufgegriffen, wird der Zettel nach Eintragung 
der Fundstelle an eine Zentrale maritimer Forschung 
gesandt. Auswurfs- und Fundstelle ergeben roh verbunden 
den Triftweg, und eine hinreichende Menge solcher Triften 
gibt, wenn man sie in die Karte cinträgt, in ihrer Gesamt- 
heit ein übersichtliches Bild von den Meeresströmungen. 
In gleicher Weise verfrachtet das Meer alles Material, das 
sich ihm bietet!). So fand sich eine westindische Bohne auf 
Spitzbergen, eine Mahagoniplanke in Westgrönland. So 
sind ferner Eskimos selbst bis an die Küsten Europas 
verschlagen worden, wenigstens sind drei Fälle aus dem 
17. Jahrhundert festgestellt und frühere wahrscheinlich 


!) Vgl. Meereskunde II, Heft 7: Krümmel, Flaschenposten, 
treibende Wracks und andere Triftkörper in ihrer Bedeutung für 
die Enthüllung der Meeresströmungen. 


12 Meereskunde. 
gemacht. Doch wurden alle solche Vorkommnisse von 
unfreiwilligen Triften zu vereinzelt bekannt, als daß jemand 
sie früh zusammengefaßt hätte zu einem klaren Beweis- 
stück für einen herrschenden Strom. So eben scheint 
es erklärlich, daß man auf ihn erst spät überhaupt auf- 
merksam wurde. 

Trotzdem hat der Strom, auch bevor man den Ozean 
kreuzte, eine Mission in der Geschichte erfüllt. Treib- 
körper auf den Azoren nämlich lernte Kolumbus kennen, 
zwei Leichname von unbekanntem Menschenstamm und 
Stücke von Bambusrohr, und sie wurden mit ein Haupt- 
motiv zu seiner Fahrt, indem ihre Fremdartigkeit ihn 
auf unbekannte Küsten im Westen schließen ließ. Noch 
konnte er nicht ahnen, auf welchem Wege, mit welcher 
Kraft die Fracht gekommen; aber in der Tat kann sie 
nur diese konstante Bewegung des Golfstroms befördert 
haben, und so hat dieser seinen Anteil an der größten 
geographischen Entdeckungsfahrt. 


Jetzt ward der Ozean durchfahren, und da ward auch 
bald der Strom gefunden und beobachtet. Die allmäh- 
liche Erkenntnis desselben nimmt sodann ihren Weg von 
der Wurzel, also den eben erst entdeckten Regionen, den 
Strom entlang herüber nach Europa, und erst zuletzt, vor 
kaum mehr als einem Jahrhundert, wird auch die Strecke 
längs der alten Kulturgestade erschlossen und angefügt — 
eine auffällige Umkehrung dessen, was man von vorn- 
herein erwarten sollte, doch erklärbar eben aus dem 
Wesen und den Eigenschaften des Stromes, seiner Kom- 
paktheit und Kraft dort, seiner Zersplitterung, Ver- 
schwommenheit und Schwäche hier. 


n 


Nachdem nun Kolumbus schon auf seiner dritten 
Fahrt eine Strombewegung auf dem offenen Meere fest- 
gestellt, kam unter den folgenden Entdeckern im Jahre 
1513 Ponce de Leon, begleitet von dem später berühmt 


Der Golistrom. I 


KR} 


gewordenen Seefahrer Antonio de Alaminos, auf der 
Suche nach der »Quelle der Jugend« in die Engen 
zwischen Bahama und Florida und traf einen Strom, gegen 
den seine drei Schiffe überhaupt nicht mehr ankommen 
konnten, trotzdem sie den Wind mit sich hatten. Mit 
Recht datiert A. v. Humboldt von da an »die Kenntnis 
des großen Seestroms, des Golistroms 

Sie hatte auch bedeutsame Konsequenzen. Cortes 
hatte nämlich gerade in Vera Cruz festen Fuß gefaßt und 
wollte seine guten Nachrichten der Heimat übermitteln. 
Bisher hatte sich aller Verkehr mit dem spanischen 
Mutterland durch die Straßen der Antillen vollzogen. Da 
saßen aber die Antillen-Gouverneure, seine Rivalen und 
Feinde. Ihnen wollte er entgehen. Zum Glück hörte er 
durch Alaminos von den ungemein starken Strömungen 
in den Engen, nahm sein schnellstes Schiff und vertraute 
sich mit diesem Seemann dem rätselhaften Strome an, 
kam wie gehofft in freies Meer und binnen zwei Monaten 
nach Spanien. Das war eine Entdeckung, eine neue See- 
straße, offenbar der kürzeste Rückweg. Planmäßig gingen 
von jetzt an die ausreisenden Schiffe zwar nach wie vor 
über die Kanaren und dann im AÄquatorialstrom durch 
das Karibische Meer, die heimkehrenden aber durch die 
Engen von Florida nordwärts. Und am Südufer der- 
selben erwuchs in der Folge Havanna zum Sammelplatz 
der heimfahrenden westindischen Flotten, es verdankt 
somit sein Aufblühen direkt dieser Lage am Strom. 

Nachdem die Spanier nun eine Weile allein geschaltet 
hatten, wurden gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Eng- 
länder auf ihre Erfolge aufmerksam und traten als Rivalen 
auf. Zu den unmittelbar an die spanische Herrschaft 
grenzenden Gestaden fuhren sie dann nach dem alten 
spanischen Kreissystem, aber für die nördlicheren Uter- 
staaten, die von Neu-England, entdeckte im Jahre 1602 
ein Engländer Gosnold, daß man doch schneller zum Ziele 


14 Meereskunde. 


kam, wenn man zwischen etwa 40 und 45° B. direkt 
hinüber fuhr. Diese Erkenntnis brachte also abermals 
ein neues Beschiffungssystem, nämlich das direkte für 
die englischen Nordstaaten, während für die Südstaaten 
das bisherige Kreissystem erhalten blieb. 

Eine weitere Folge davon war die, daß in der Mitte 
ein Küstenstück übrig blieb, das erst zuletzt zur Ent- 
deckung und Entwicklung gelangte, es war die Breite 
von etwa 40°, die Stelle des heutigen Newyork. Da 
tauchte erst 1609 ein ın holländischen Diensten stehender 
Seemann auf, der kühne Polarfahrer Hudson, der die 
Passage nach China und Indien über den Norden suchen 
wollte. Er stieß hier auf die nach ihm benannte Flub- 
mündung und veranlaßte die Holländer zur Gründung 
der Kolonie New Nederland, des heutigen New-York. Und 
die Holländer benutzten im Verkehr mit dieser Kolonie 
die spanische Kreisroute. So kommt es, dab nunmehr 
Nachbarorte von nur einem Breitengrad Entfernung an- 
gesegelt wurden auf Routen, die um 30 Grade auseinander 
gingen. 

Wir sehen also von Kolumbus an eine ganze Kette 
der Wechselwirkung zwischen dem Golfstrom und seiner 
fortschreitenden Erkenntnis einerseits und der Aufklärung, 
Kolonisierung und Beschiffungsweise der Küsten andrerseits. 

Über die Strömung im Mittelstück wußte man bis 
dahin noch so gut wie nichts. In den nautischen Schriften 
und Karten wurde allgemein zwar dem Strom von Florida 
Aufmerksamkeit geschenkt, aber nicht der Fortsetzung. 
Schon bei Kap Hatteras kann man die Grenze der da- 
maligen Bekanntschaft mit ihm ansetzen. Die englischen 
Postschiffe fuhren zwischen den nördlichen Kolonien und 
dem Mutterland ruhig aut demselben Striche hin und her, 
hatten zwar in der einen Richtung oft Verspätungen von 
14 Tagen, kümmerten sich aber nicht weiter um die 


Der Golfstrom. 15 
Ursache, ähnlich die zwischen Boston und Charleston 
verkehrenden. Dagegen hatte sich allmählich eine unter- 
nehmende und erfahrene Fischerbevölkerung längs der 
Küste ausgebildet, die auch einen großartigen Walfang 
betrieb und ihr Wild bis zu den Bahamabänken und den 
Azoren verfolgte. Sie entdeckten dabei, daß der Wal 
oft nördlich einer gewissen Linie blieb, und schlossen 
daraus, daß südlich derselben sich das dem Tier nicht 


go Suhler. GT BANK 
Er of Ne wEounklang 


Nontn UaroLtxa 


ran Au 
nN Er 
£8 cnanr 


3 of The ” 
it Zah RE. 4 DS 


Abb. 7. Benjamin Franklins Karte des Golfstroms. 


zuträgliche warme Wasser des Floridastromes fortsetzen 
müsse. So wurden sie durch ihr Gewerbe zur ständigen 
gründlichen Verfolgung der Kante des warmen Wassers 
angeleitet und bauten darauf einen neuen Handelsweg; 
zum Mutterland fuhren sie möglichst im Hauptstrich des 
Golfstroms, zurück nach Neu-England hingegen mehr 
außerhalb, im Norden, selbst über die Bänke von Neu- 
tundland hin. Damit gewannen sie oft zwei Wochen gegen- 
über den Postschiffen. Dies blieb ihr Geheimnis bis 1769, 
als Benjamin Franklin, der (Generalpostmeister aller 


16 NMeereskunde. 


englisch-amerikanischen Kolonien dahinter kam. Er war 
erstaunt, daß ein solches »Wunder des Ozeans« nicht zum 
Vorteil der Schiffahrt ausgenutzt würde, beriet sich mit 
einem alten Kapitän und zeichnete mit diesem zusammen 
die berühmt gewordene Karte, auf der zum ersten Male 
der Golfstrom als Strom signiert und bis über seine Beuge 
bei Neufundland hinaus fortgeführt, sogar mit Geschwindig- 
keitszahlen auf den verschiedenen Strecken versehen war. 
Rechts unten auf dieser Karte (vgl. Abb. 7) steht Franklin 
selbst, wie er sich mit Neptun über den Golfstrom unter- 
hält. Diese Zeichnung ließ er in seinem Generalpostamt 
stechen und verbreiten, auch nach England hinüber- 
senden zur Verteilung an die dortigen Schiffskommandeure. 
In der Folge nahm er selbst das größte, auch aktive 
Forscherinteresse am Golfstrom und faßte die Idee, daß 
man ihn auch am 'Ihermometer verfolgen könne. Er tat 
dies auf seinen Reisen und erprobte damit zum ersten 
Mal ein Instrument, das heute eines der wichtigsten für 
die physische Meeresforschung an der Oberfläche wie in 
den größten Tiefen ist. Auf einer seiner Fahrten erkannte 
er noch, dab der Strom wenigstens zu Zeiten bis an die 
Küsten Frankreichs heranrücke. 

Wie also 2!/, Jahrhunderte vorher das Schiffahrts- 
system der Spanier reformiert worden war durch die Ent- 
deckung des Alaminos in den Engen von Florida, so 
war. jetzt unter KEranklin durch” die Verfoleunesdes 
Stromes über den Ozean hinüber eine weitere Verbesse- 
rung der Schiffahrtsverhältnisse erzielt worden. Jene hatte 
außerdem eine Reihe entdeckungs- und kolonisations- 
geschichtlicher Tatsachen nach sich gezogen; so folgen- 
schwer ist der neue Fortschritt schon nicht mehr geworden, 
er blieb aufsich selbst, auf die nautische Reform beschränkt. 

In seinem dritten Abschnitt endlich hat der Strom 
eine Umwälzung auf dem Gebiet der Nautik überhaupt 


Der Golfstrom. 17 


Es 


nicht mehr hervorgebracht. Auf ihn ist man nicht im 
Zusammenhang mit der ständigen Schiffahrt aufmerksam 
geworden, als Bewegung ist er cben zu unbedeutend; 
vielmehr offenbarte er sich durch die Wärme des 
Wassers (vgl. Abb. 8). An ihr und ihrer Einwirkung auf 
das Klima der europäischen Küstenländer im Vergleich zu 
den amerikanischen Gegengestaden ist die Warmwasser- 


N 


N \ 


N 


1: 80.000.000 


2000 
wo, km 


Abb. 8. Isothermen der Oberfläche des Nordatlantischen Ozeans 
im Jahresmittel. 
bewegung hauptsächlich erkannt undals Fortsetzung des Golt- 
stromsgedeutetworden, und zwar erstvoreinem Jahrhundert, 
zu den Zeiten eines Ernst v. Baer, Alexander v. Humboldt 
und Leopold v. Buch. Humboldt stellt in ‚der 1849 er- 
schienenen dritten Auflage seiner »Änsichten der Natur« 
auch tabellarisch die Wärmeverhältnisse von Europas West- 
küste und die von Amerikas Ostküste einander gegenüber!). 


!) Anmerkung ıS zum Aufsatz »Über die Steppen und Wüsten«. 


IS Meereskunde. 


Und doch hat auch dieser Teil des Stromes nicht 
wenig den Gang der Entdeckungsgeschichte beeinflußt, 
nicht wie jene ersten durch seine Bewegung, sondern durch 
seine Funktion als Wärmeträger. Er schafft eine Zugangs- 
pforte hoch. hinauf indie Feste‘ des polaren zEises 
während an der amerikanischen Seite schon weit südlich 


1:55.000.000 eg 39km 


Abb. g. Eisgrenze im Nordatlantischen Ozean im April (1896 — 1907). 
Nach Mossman, 


des Polarkreises die Küsten mıt Packeismassen verbarri- 
kadiert sind. Abb. 9 und IO zeigen deutlich, wie die Eis- 
grenze im Nordatlantischen Ozean durch die weit vor- 
gereckten Hauptarme des Golfstroms bestimmt ist. Damit 
aber hat er ohne weiteres eingegriffen inden Ablauf der Polar- 
torschung und zwar folgendermaßen. Als die iberischen 
Völker um die Wende des 15. Jahrhunderts ihre neuen 
Seewege nach Indien entdeckt hatten, faßten die nordischen 


Seevölker, die Holländer und Engländer, den Plan, ihren 


Der Golfstrom. K6) 


Rivalen die neuen Handelsvorteile wieder zu entreiben, 
und zwar dadurch, daß sie Sceewege um die Nordenden 
der Kontinente nach den gleichen Zielen, nach Indien 
und China entdeckten. So kam die Losung der Nordwest- 
und Nordost-Passage auf, welche dann den. Fahrten von 


1497 bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zugrunde liegt 


1: 55.000.000 or — in 


Abb. 10. Eisgrenze im Nordatlantischen Ozean im Juli (1896-1907). 


Nach Mossman. 


und nur von sekundären Triebkräften wie Walfang u. a. 
noch begleitet wird. Bei diesen Fahrten gelangt man 
nun im Nordosten schon 1596 zur Entdeckung von Spitz- 
bergen und Nowaja Semlja, alsbald auch darüber hinaus 
in das Karische Meer; in den warmen Fluten des Golf- 
stroms dringen hier die Entdecker vor, ohne auf Eis- 
hindernisse zu stoßen. Auf dem Feld der Nordwest- 
Passage hingegen bedarf es vieler Fahrten von großen engli- 


schen Entdeckern, um nur die nächsten Küstenumrisse in 


20 Meereskunde. 


niederer Breite, die von Labrador, Hudsonstrabe, Hudson- 
bai, Baffenbai zu entschleiern und dort schließlich 78° der 
Breite als Rekord für zwei Jahrhunderte zu erreichen 
(Baffın 1616), während bei Spitzbergen schon vorher 
mühelos der 80. Breitenkreis überschritten war. 

Im kleinen läßt auch die grönländische Westküste 
den Einfluß auf den Gang der Entdeckungsfahrten er- 
kennen. An ihr zieht nämlich, wie an allen Westküsten 
der nordatlantischen Länder, ein Zweig etwas wärmeren 
Wassers, vom Golfstrom abgesplittert, hinauf. Darum 
schoben sich die Schiffe meist an der grönländischen 
Seite weit polwärts vor und drangen erst dann seitlich 
über das Eis des Labradorstroms in das Straßengewirre 
ein. Dem entsprechend ist die Westküste Grönlands be- 
deutend früher und reichlicher erforscht worden als die 
Ostküste. Auch gehen an der Westküste die Testen 
Eskimoniederlassungen bis zur Breite von 74° hinauf, 
während an der Ostküste nur eine bei 66° liegt. Und 
doch findet der regelmäßige Dampferverkehr des Sommers 
an den Hafenorten der Westküste selten größere Schwierig- 
keiten, wogegen an der Ostküste das Regierungsschiff bei 
seiner jährlich einmaligen Fahrt zuweilen wochenlang vor 
dem vereisten Hafen Agmaksalik kreuzen muß und 1907 
unverrichteter Sache umkehrte. 

Bei Neufundland gelangt das Eis des Labradorstroms 
manchmal selbst in das Golfstromwasser hinein und zwingt 
den hier besonders regen Schiffsverkehr, von seinen nor- 
malen Routen südwärts auszubiegen: Mancher Dampfer 
hat hier auch schon Schaden gelitten oder den Unter- 
gang gefunden. Dagegen können bei Spitzbergen all- 
jährlich sogar Touristenschiffte ohne Gefahr die Fjorde 
besuchen und die Wunder der Polarwelt genießen. In 
manchem Jahre dringen sie bis nördlich von Spitzbergen 
vor. In noch helleres Licht rückt diese Begünstigung, wenn 


Der Golfstrom. DAT 


man sich ausmalt, wie im gegenüberliegenden Ostgrönland- 
strom im Jahre 1869 das Schiff Hansa der zweiten deutschen 
Nordpolexpedition im Packeis zerschellte und ihre Mann- 
schaft auf einer Eisscholle acht Monate hindurch den Un- 
bilden der Polarnatur preisgab, oder wie etwas nördlich 
davon vor fünf Jahren der Führer der Danmarck-Expe- 


ar] 


Abb. ıı. Hammerfest. 
(Ad. Miethe phot.) 


dition Mylius-Erichsen den Hungertod starb. Dieser 
Forscher hat die Aufgabe gelöst, das letzte Küstenstück 
Grönlands von Kap Bismarck (77° N.-Br.) bis zu der von 
Peary bereitsvorher festgelegten Nordküstenoch aufzuklären. 
So ergibt sich der seltsame Kontrast, daß dieses Küsten- 
stück, welches als eines der schwierigsten bis vor fünf 
Jahren in Dunkel gehüllt war, und die schon seit drei 
Jahrhunderten bekannte und heute von Vergnügungs- 


189) 
169) 


Meereskunde. 


fahrern besuchte Golfstromküste Spitzbergens einander 
gegenüber aut der gleichen Breite liegen. 

Diese nautischen und entdeckungsgeschichtlichen 
(segensätze lassen auch schon den klimatischen ahnen, 
den das warme Wasser vor Nordwesteuropa im Ver- 
hältnis zu Amerika bedingen wird. Die isländische 
Luftdruckdepression erzeugt an den europäischen Küsten 
vorherrschende Südwest-, auf der amerikanischen Seite 
über Labrador, Baffın-Bai und Grönland aber Nord- 
und Nordwest-Winde. Jene südwestlichen bringen uns 
die Wärme des Goltstromwassers ins Land, besonders im 
Winter. Sie bringen sie in erster Linie natürlich den 
Küstenregionen, und auf der skandinavischen Halbinsel 
z. B. ist der so begünstigte Strich wegen des hohen 
Küstengebirges sehr schmal und besteht ein großer Unter- 
schied schon zwischen Norwegen und Schweden. Aber 
im ganzen wird doch durch die Zugstraßen der einzelnen 
Depressionen, die vom Ozean her Europa durchqueren, 
noch ein weites Gebiet selbst über den Jenissei hinaus 
indirekt der Einwirkung der Golfstromluft ausgesetzt. Und 
wie wesentlich auch selbst für unsere niedrigeren Breiten der 
hochnördliche Vorstoß desGolfstroms ist, kann ein Vergleich 
mit Amerika lehren. Am stärksten sind bei uns die Tem- 
peraturstürze, wenn ein südlicher oder südwestlicher Wind 
in nördlichen oder nordöstlichen umschlägt. Diese letz- 
teren werden aber doch niemals so kalt, als wenn Europa 
im Norden schon ganz in Eis gegürtet wäre, wie es in 
Amerika wenigstens zum Teil durch die Hudson-Bai der 
Fall ist. Da liegt die breite Niederung des Mississippi 
zwischen zwei Meeren, von denen das eine (Golf von 
Mexiko) ein wahres Wärmereservoir, das andere (Hudson- 
Bai) ein Eiskeller ist. Wenn da die Luftdruckdepressionen 
über den Kontinent hinziehen und infolgedessen südliche 
Winde in nördliche umschlagen, können sich Verwand- 


Der Golfstrom. 


156) 
5) 


lungsszenen wie die folgende ereignen: An einem Januar- 
abend des Jahres 1853 zeigt in Golcanda am Ohio das 
Thermometer bei Südwind + 750, alsormehrsalsedie 
mittlere Julitemperatur von München, und am anderen 
Morgen — 18,7°, gerade den extremsten Wert, den im 
allgemeinen ein Münchener Winter einmal aufweist. Vor 


Abb. ı2. Hafen von Hammerfest. 
(Ad. Miethe phot.) 


solchem Umschlag vom Abend zum Morgen sind wir 
bewahrt dadurch, daß der Golfstrom uns auch im hohen 
Norden noch umfängt. Ganz Europa kennt infolgedessen 
noch nichts von Polarnatur, seine nördlichste StadtHammer- 
fest trägt das Gepräge eines bedeutenden Hafens, der von 
Schwierigkeiten des Eises frei und stets zugänglich bleibt wie 
jeder südlichere Hafen Europas (vgl. Abb. ıı und ı2). Wie 
ganz anders ist der Abschluß Nordamerikas, auch wenn wir 


24 Meereskunde. 


die günstigste Stelle nehmen! Da liegt im Nordwesten, 
fast 15 Breitengrade südlicher als Europas Nordspitze, die 
Halbinsel Alaska, an deren Nordstrand schon das Walroß 
eine Heimat hat! 

Während so Europa im allgemeinen die Golfstrom- 
wärme erhält, bringen in entsprechenden Breiten der 
östlichen Küstenländer Amerikas vorherrschende Nordwinde 
die Kälte ihrer polaren Heimat. Über Labrador mag 
der Wind vom Labradorstrom oder von der Hudson-Bai, 
über Ostgrönland mag er vom eisigen Innern oder vom 
eisbedeckten Meere wehen, er kann niemals mild sein. 
Die letztere Küste ist deshalb stark benachteiligt schon 
gegenüber dem ganz nahe gelegenen Island, das wieder 
von einem warmen Zweig des Golfstroms getroffen 
wird. Während auf gleicher Breite von Norwegen bis 
nach Island die Wintertemperatur nur um 1,3° abnimmt, 
sinkt sie auf der kurzen Strecke von da bis Grönland um 
volle 8°. Noch großartiger ist der Unterschied der Fest- 
landsküsten, wie nur Edinburg (Schottland) und Hoffental 
(Labrador), die beide unter etwa 55° N.-Br. liegen, bezeugen 
mögen; sie differieren in der Jahrestemperatur um 12°, 
in der Januartemperatur sogar um 23° — wie dies in 
Nordsüdrichtung etwa zwischen Berlin und Kamerun der 
Fall ist! Deutlich reden endlich folgende Erscheinungen. 
Die Nordsee, der verkehrsreichste Meeresteil um Europa, 
und die Hudson-Bai, in der Polarexpeditionen zugrunde 
gingen, haben ungefähr gleiche Breitenlage, desgleichen 
Kulturzentren wie Berlin und London einerseits und ander- 
seits die Missionsdörfer und zerstreuten Eskimohütten der 
Labradorküste. In Drontheim stehen noch Kirschenhaine, 
während an der Küste Labradors schon jeder Baumwuchs 
fehlt, und im nördlichen Norwegen wogen Gerstenfelder in 
der Breite, die auf Boothia Felix das Grab der Franklin- 
expedition bezeichnet. 


Der Golfstrom. 


186) 
wı 


Der Golfstrom weist aber auch Schwankungen in 
seinen Wärmeverhältnissen auf; in manchen Jahren hat 
er höheren, in anderen niedrigeren Wärmegehalt. Auch 
das überträgt sich auf die anliegenden Länder (vgl. Abb. 13). 
Besonders scheinen die Lufttemperaturen im Mai, Juni 
und Juli über ganz Norwegen den Wassertemperaturen 
des Mai in den einzelnen Jahren zu entsprechen. Dies 
wird weiter wichtig für wirtschaftliche Verhältnisse; die 
Ernteerträge von Hülsenfrüchten, Halmfrüchten, Kar- 


5 1901 1902 1903 190% 7905 
Z 
1. 
DIA 
0" 5 
1% 
7. # r300 
v7 V 
a 3 6009 
200 +500 


400 


Abb. 13. Beziehungen zwischen Golfstrom und norwegischen 
Temperatur- und Ernteverhältnissen. 


I. Mittlere Temperatur des atlantischen Öberflächenwassers im Maj. II. Mittlere 

Anomalie der Lufttemperatur Norwegens im Mai und Juni. III—-VI. Gesamtertrag 

der norwegischen Ernte desselben Jahres an: Ill. Hülsenfrüchten, IV. Cerealien, 
V. Kartoffeln und VI. Heu. 


toffeln, Heu zeigen damit einen überraschenden Pa- 
rallelismus. Endlich sind fischereiwirtschaftliche Er- 
scheinungen gleichfalls eine Funktion der physikalischen 
Eigenschaften des Stromes und schwanken mit diesen, 
so der Zeitpunkt des besten Dorschfangs bei den Lofoten, 
die relative Stärke der Dorschleber u. dgl. Vermittelt 
wird dies offenbar durch das Plankton, das sehr fein auf 
Veränderung der Wassereigenschaften reagiert und seiner- 
seits wiederum die Urnahrung des marinen Tierlebens 
darstellt. Solcherlei Zusammenhänge sind erst kürzlich 


26 Meereskunde. 


durch die norwegischen Forscher Björn Helland- 
Hansen und Fridtjof Nansen klargelegt worden!). — 
Schon früher aber haben ein schwedischer Gelehrter, Otto 
Pettersson, und eingehender ein deutscher, Wilhelm 
Meıinardus, gezeigt, daß auch Schwankungen der Luft- 
temperatur über Mitteleuropa denen der Meerestemperatur 
vor der norwegischen Küste folgen, in dem Sinne, dab 


Abb. ı4. Sammelgrab von Smeerenburg auf Spitzbergen. 
(Max Reich phot.) 


einer hohen (niedrigen) Temperatur des Golfstroms im 
Vorwinter gewöhnlich eine hohe (niedrige) Lufttemperatur 
Mitteleuropas, z. B. Berlins, im Nachwinter entspricht. 
Auch hat Meinardus damals bereits den Einfluß dieser 
Verhältnisse auf die Ernteerträge Mitteleuropas nach- 
gewiesen. 


!) Björn Helland-Hansen und Fridtjof Nansen, The Norwegian 
Sea. Kristiania 1909; diesem Buch sind die Abbildungen 5, 6 und 13 
entnommen. 


Der Golfstrom. 27 

So übt der Golfstrom auch im kleinen und einzelnen 
seine Herrschaft über die Länder aus. Im großen hat er, 
wie die ersten Abschnitte dieses Vortrags uns zeigten, 
in nachhaltigster Weise auf Besiedlung und Verkehr der 
Welt, auf den Fortschritt der Menschheit gewirkt. Ent- 
legene Länder rückten mit seiner Hilfe näher. Verkehrs- 
und Handelsstraßen hat er vorgeschrieben, und er tut es, 
wenn auch in abgeschwächtem Maß, noch heute. Er hat 
unmerklich gleichsam den Gang der arktischen Forschung 
gelenkt. Er hat wirtschaftliche Interessen in der Polar- 
welt erschlossen; denn in seinen Fluten zogen auch einst 
die holländischen, englischen und deutschen Walfänger 
nach Spitzbergen, und an seiner Kante erwuchs hier zur 
Blütezeit dieses Fangbetriebs eine förmliche Walfängerstadt, 
die Smeerenburg, auf 80° N.-Br., die oft 15 000 Mann bei- 
sammen sah. Heute ist der Fang dort fast bedeutungs- 
los; an Smeerenburg erinnern nur noch Gräber (vgl. 
ADD 274.) 

So hat uns der Golfstrom von tropischer Glut bis hin 
zu den vereisten Bergen unter der Mitternachtssonne ge- 
führt, durch mannigfaltige Erscheinungsgruppen und ver- 
schiedenartige Betrachtungsmethoden, historische, phy- 
sikalische, biologische. Sie vereinten sich zur geogra- 
phischen Betrachtung eines Phänomens der Erdoberfläche, 
des Golfstroms mit all den Erscheinungen der Luft, des 
Wassers und Landes, die mit ihm in ursächlichem Zu- 
sammenhang stehen. Im Zentrum bleibt die Bewegung. 
Sie ist vorhanden in allen seinen Teilen, in seinem 
doppelten Kreissystem, im ganzen Weltmeer — in jeder 
Tiefe, in allen Weiten, und sie leitet unsern Blick zu 
fernen Horizonten von Raum und Zeit: Jedes Tröpfchen 
Wasser, das im Golf von Mexiko schwebt, wird auch 
einmal das Polarmeer erreichen und zu Eis erstarren, und 
jedes Körnchen, das vielleicht jahrelang tief in einem 


28 Meereskunde. 


Eiskoloß in der Arktis ruhte, kommt unfehlbar einmal 
wieder ans Sonnenlicht und wird Wasser; jeder Wasser- 
tropfen der Oberfläche mag einmal wieder am Boden des 
Weltmeeres hinkriechen oder als Dampf in die Luft 
wandern über die Länder hin im Winde, um entweder 
als Regen irgendeinen Wildbach zu speisen und so zum 
Meere zurückzukehren oder als Schneeflocke auf Polar- 
länder niederzusinken zu langjähriger Erstarrung. Da ist 
er Wasser, dort Dampf oder Eis, einmal spielen die 
Winde mit ihm, dann wieder gehört er dem Wildbach, 
Gletscher oder Meeresstrom: alles Bewegung, alles Wechsel 
und Werden, Leben und Weben, zavra oc — 


2 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn, 


Berlin SW., Kochstraße 68—71. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 


ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 
MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG VIERTES HEFT 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels 
im Jahre 1806/07. 
Ein Kapitel aus der britischen Schiffahrtspolitik. 
Von Dr. Franz Hochstetter. 


ie Abolition, d. i. die Abschaffung des britischen 
Sklavenhandels, ist merkwürdigerweise bisher noch 


Au selten vom wirtschaftspolitischen Standpunkt aus 
betrachtet worden. Die vorhandenen Untersuchungen 
gehen alle mehr oder weniger von kulturgeschichtlichen, 
aber nicht von ökonomisch-materiellen Gesichtspunkten 
aus. Mit besonderer Vorliebe wurde bisher die moralisch- 
ethische Seite dieser Angelegenheit gepflegt und ist oft 
m einseitiger Übertreibung als das einzige tür die 
Abolition in Betracht kommende Motiv hingestellt wor- 
den., Wie oft ist nicht auf Englands „Großmut‘ hin- 
gewiesen worden, das sich zu Anfang des ıIg. Jahr- 
hunderts ohne Aufhebens, ganz im stillen von dem 
scheußlichen Menschenhandel zurückgezogen, das kein 
Opfer gescheut hätte, um das Los seiner unglücklichen 
Kolonialsklaven zu verbessern! 

Unsere heutige, realistischer denkende Wissenschaft 
begnügt sich indessen nicht mehr mit solchen Erklä- 
rungen. Sie erkennt zwar willig an, daß überzeugungs- 
treue Idealisten, Männer wie Wilberforce, Clarkson, 
Ramsay u. a., an deren Ehrenhaftigkeit keinen Augen- 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 4. I 


Meereskunde., 


186) 


blick zu zweifeln ist, die Abolitionsbewegung entfacht, 
geschürt und zum Siege geführt haben. Doch verlangt 
sie auch eine Untersuchung der materiellen Seite dieses 
Vorgangs. Man glaubt heute nicht mehr, daß ein Staat 
wie Großbritannien, der jederzeit als das Muster von 
Klugheit und nüchterner Geschäftspolitik galt, seinen 
einträglichen, Jahrhunderte hindurch eifrigst geförder- 
ten Sklavenhandel plötzlich einer philanthropischen Dok- 
trin zuliebe hätte‘ verbieten können. Es müssen sich 
noch andere, egoistische Motive dahinter verbergen, da 
dasselbe England wenige Jahrzehnte später, in dem 
Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten der 
Nordamerikanischen Union, offen mit den Sklavenstaaten 
sympathisierte. 


Umfang und Bedeutung des britischen Sklavenhandels. 


Der Untersuchung über die wirtschaftlichen und poli- 
tischen Motive, die zur Abolition geführt haben, sei eine 
kurze Schilderung über den Umfang und die Bedeutung 
des Sklavenhandels für die damalige britische Welt- 
wirtschaft vorausgeschickt. Wir verfolgen ıhn zu diesem 
Zweck in seinen verschiedenen Stadien von Anfang bis 
zu ende: 

Liverpool, London und Bristol waren die Haupt- 
sitze des Sklavenhandels in Europa. Als Beispiel für 
seinen Umfang diene, daß 1787 insgesamt 137 Schiffe 
mit einem Tonnengehalt von 22263 und mit einer Be- 
satzung von rund 5000 Mann von großbritannischen 
Häfen zum Sklavenfang nach der afrikanischen Küste 
ausliefen. Die mitgeführten Artikel — in der Hauptsache 
Messer, Flinten, Schießpulver, Tücher, Woll- und Leinen- 
waren — hatten einen Wert von ungefähr 700 000 Pfund 
Sterling und wurden nach Ankunft an der afrikanischen 
Küste teils an die dortigen 14 britischen Faktoreien, 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 3 


teils direkt an private schwarze Händler gegen Neger 
eingetauscht. Für einen erwachsenen männlichen Skla- 
ven von durchschnittlicher Güte gab man Waren im 
Werte von mindestens ı5 Pfund Sterling hin. Interessant 
ist zu erfahren, was für eine Kollektion von Artikeln zum 
Eintausch für einen Negersklaven damals etwa erftorder- 
lich war: 

Ss Rlinten, 

80. Pfund Pulver, 

ı Anker Branntwein, 


[6] 


Stangen Eisen, 
4 Dutzend kleine Messer, 
T Stuck Kattun zu 24 Ellen, 


[06} 


Becken von Zinn, 

verschiedene ostindische Tücher, 

venetianische Perlen, 

ı Becken von Messing, 

3 Stangen Kupfer, 

2 Stangen Blei, 

ı Taler an die Wachtposten, sowie namhafte 
Extrageschenke an die schwarzen Häuptlinge und Vor- 
nehmen, die ihre Untertanen in die Sklaverei verkauften. 

In dieser Weise erstanden die Engländer im ganzen 
etwa 45 000 Neger, wozu noch 50 000 bis 60 000 Sklaven 
von den übrigen europäischen Nationen, namentlich von 
den Franzosen, Spaniern und Nordamerikanern hinzu- 
kamen. Mit ihnen traten die Schiffe die berüchtigte 
„middle passage‘“, die etwa acht Wochen dauernde See- 
fahrt nach Westindien an. Infolge der furchtbaren Stra- 
pazen an Bord erreichten es vielleicht nur 75 Prozent der 
verschifften Neger lebendig. Der Rest ging an Krank- 
heit, Kummer und Gram und an Selbstmord unterwegs 
zugrunde. Auch unter den angekommenen Sklaven be- 
fand sich noch ein hoher Prozentsatz von Kranken und 


in 


4 Meereskunde. 


Halbtoten, dıe keinen Käufer fanden und hilflos ihrem 
Schicksal überlassen wurden. 

Der durchschnittliche Verkaufspreis eines Sklaven 
in Westindien betrug etwa 35 Pfund Sterling. Von allen 
importierten Sklaven verblieben auf den britischen Inseln 
damals nur etwa 12000 bis 13000. Der stark überwie- 
gende Rest verteilte sich auf die Zuckerplantagen der 
französischen, spanischen und portugiesischen Kolonien. 

Die Hauptbedeutung des Sklavenhandels für England 
lag natürlich in Westindien. Zur richtigen Beurteilung 
halte man sich das Wesen der merkantilistischen Ko- 
lonıalpolitik vor Augen. Kolonien waren damals nicht 
das, was man. heute darunter versteht, namlich Schutz- 
oder Ansıiedlungsgebiete für die überschüssige Bevölke- 
rung des Mutterlandes, sondern bloße Ausbeutungs- 
objekte für die Kapitalisten des Mutterlandes. Wie er- 
zielt man möglichst schnell die höchsten Reinerträge von 
Grund und Boden? Das war die Hauptfrage, deren 
Lösung mit brutaler Rücksichtslosigkeit versucht wurde. 
Ohne die Arbeit Tausender von Negersklaven hätten die 
reichen Bodenschätze Westindiens keinen Pfennig abge- 
worfen. Ohne sie wäre die Produktion der kostbaren 
Kolonialwaren damals ebenso unmöglich gewesen, wie 
heutzutage etwa ein Fabrikbetrieb ohne Dampfmaschinen 
oder Kohlen. Neger waren die „schwarzen Diamanten“. 
Der westindische Boden und die ihn befruchtende 
Sklavenarbeit waren die beiden Zaubermittel, waren 
Vater und Mutter aller Schätze, welche die Antillen her- 
vorbrachten. Diesen Zustand zu erhalten, den vorhan- 
denen Sklavenbestand zu mehren und die absterbenden 
Elemente durch frische Zufuhren zu ergänzen, war der 
Zweck des Sklavenhandels. 

Die Sklavenarbeit bedeutete den Anfang einer langen 
Kette von wirtschaftlichen und politischen Folgeerschei- 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 5 


nungen. Der Sklave selbst erzeugte zwar zunächst nur 
Zucker und einige andere Kolonialprodukte. Diese bil- 
deten aber den Massenexport der Kolonisten, verschafften 
ihnen Reichtum und Kaufkraft für die Fabrikate des 
Mutterlandes, unterhielten eine Handelsflotte von nahezu 
700 englischen Schiffen und gaben dadurch Zehntausenden 
von Kaufleuten, Matrosen und Arbeitern Lohn und 
Brot. Die westindisch-europäische Schiffahrt bildete im 
17. Jahrhundert die Wiege, dann eine Hauptstütze und seit 
1783 für längere Zeit die einzige Stütze der britischen 
Seemacht. Großbritanniens Glück, Reichtum und poli- 
tische Bedeutung hingen ein Jahrhundert lang mit dem 
Zuckerhandel und dadurch indirekt mit dem Sklaven- 
handel zusammen. 

Auch die nordamerikanisch-westindischen Handels- 
beziehungen standen mit dem Sklavenhandel in einem 
innigen Zusammenhang. Die wirtschaftlichen Be- 
ziehungen Westindiens zu Nordamerika waren von 
altersher überaus eng. Ihre beiderseitige Lage am Meer 
sowie ıhre politische Zugehörigkeit zu ein und demselben 
Mutterland begünstigten von jeher einen regen Aus- 
tauschhandel zwischen den Produkten der beiden (Ge- 
schwisterkolonien. Die westindischen Pflanzer produ- 
zierten Kolonialwaren, doch so gut wie gar keine Le- 
bensmittel; diese bezogen sie von den amerikanischen 
Farmern des Nordens. Letztere hatten Überfluß an Ge- 
treide, Vieh und Holz. Die seefahrenden Neuengland- 
staaten spielten den Vermittler, den Frachtführer für 
beide Teile. Sie deckten fast den gesamten Bedarf der 
britischen Zuckerinseln an Lebensmitteln, an (Getreide, 
Mehl, Erbsen, Bohnen und sonstigem Gemüse, an 
Schlachtvieh, Pferden und Mauleseln, ferner an Holz zum 
Häuser- und Mühlenbau sowie zur Herstellung der 
Zucker- und Rumfässer, an Reis, Tabak sowie an Un- 


\eereskunde, Vorträge. V. Heft 4. 2 


6 Meereskunde. 


mengen von getrockneten und gesalzenen Fischen aus 
der Neufundland-Fischerei, die in ganz Westindien als 
die billigste Negernahrung stark begehrt waren. Was 
das spätere Britisch Nordamerika (Kanada usw.) an 
diesen Produkten lieferte, war fast gleich Null zu setzen 
im “Vergleich zu” den Lieserungen aus den Vereimiexen 
Staaten. Die britischen Zuckerpflanzer waren also in 
ihrer Ernährung vollständig auf die Neuenglandstaaten 
angewiesen. 

Die Westindier bezahlten die Nordamerikaner mit 
ihrem Zucker. Letzterer wurde in Neuengland (Rhode- 
Island, Massachusetts, Boston) zu Rum gebrannt und 
von den geschäftigen Yankees in gewaltigen Mengen 
und unter außerordentlichem Gewinn an die neufund- 
und neuschottländischen Fischer gegen getrocknete 
Fische, an die Indianer des Hinterlandes gegen Pelze 
und an, die Händler der afrikanischen Küste gegen 
Sklaven vertrieben. Letztere wurden sodann — abermals 
aufamerikanischen Schiffen — in die französischen 
und spanischen westindischen Inseln geführt, wo sie wie- 
derum zum Hauptvorteil der Amerikaner Kolonialwaren 
produzierten. Der Handel bildete einen vollkommenen 
Kreislauf. Es hieß damals, daß der Stand der Rum- 
destillationen in Neuengland dessen Beteiligung am 
Sklavenhandel und die Geschäftskonjunkturen in Ame- 
rika überhaupt anzeigten. Der Handel zwischen Britisch- 
Westindien und Britisch-Nordamerika beschäftigte bis 
kurz vor dem Ausbruch der nordamerikanischen Revo- 
lution durchschnittlich 800 Schiffe mit über 57 000 
Tonnen und 5000 Matrosen — fast gänzlich amerika- 
nischer Herkunft! Die Neuengländer hatten somit einen 
höchst wichtigen Zweig des westindischen Außenhandels 
ım Besitz. 

Soweit dieser Handel sich auf britische Untertanen 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 7 


beschränkte, wurde er vom Mutterlande, obschon mit 
scheelen Augen, geduldet. Die Amerikaner pflogen aber, 
wie erwähnt, einen noch viel stärkeren Verkehr mit den 
nichtbritischen Zuckerinseln, weil deren Produkte billiger 
waren als die britischen. Der bei weitem größte Teil des 
von den Amerikanern vertriebenen Rums stammte nicht 
von britischen, sondern von französischen und spanischen 
Kolonisten. Es kam den nordamerikanischen Zwischen- 
händlern auch gar nicht darauf an, die ausländischen 
Pflanzer mit Bargeld zu bezahlen — bekanntlich das 
Schlimmste, was sıe sich in der merkantilistischen Zeit 
zuschulden kommen lassen konnten. Diese Zustände 
waren England ein Dorn im Auge. Es unterließ nichts, 
um den Verkehr zu stören, doch machte der damals ın 
hoher Blüte stehende Schmuggelhandel alle Anschläge 
zunichte. Die Freundschaft zwischen dem Mutterland 
und den Kolonien wurde dadurch sehr getrübt. Nach dem 
Siebenjährigen Kriege z. B. erneuerte England im Jahre 
1764 die alten Differentialzölle in Nordamerika auf nicht- 
britischen Zucker und verbot sogar die Ausfuhr von Holz 
ın die fremden Kolonien. Das war für den Handel Neu- 
englands ein schwerer Schlag, der seinen Wohlstand 
mehr bedrohte als die bekannte Stempelakte, die zum 
Abfall der Vereinigten Staaten führte. Es war eine be- 
kannte Tatsache, daß diese Zuckerakte von 1764 der 
Hauptgrund der Unzufriedenheit der nordamerikanischen 
Kolonisten gewesen ist. 

Von diesen Verstimmungen abgesehen mußte ıin- 
dessen im großen und ganzen der nordamerikanisch-west- 
indische Handel, solange ganz Nordamerika britisch war 
und England ıhn lenken konnte, als äußerst vorteilhaft 
für das Mutterland bezeichnet werden. Denn letzteres 
zog schließlich, wie man den Handel auch ansah, den 
Hauptnutzen daraus. Großbritannien hatte zwar eine pas- 


y%* 


S Meereskunde. 


sive Handelsbilanz mit Westindien, d. h. es exportierte 
dorthin mehr Edelmetall als Landesprodukte, Westindien 
hatte wieder eine solche passive Handelsbilanz mit Nord- 
amerika, und Nordamerika endlich eine solche mit Eng- 
land. Was also Großbritannien nicht durch den direkten 
Handel mit den Sklaveninseln gewinnen konnte, holte es 
sich auf dem Umweg über Nordamerika. 

Dier Abfall’ der Vereinieten Seas 
von Nordamerika. — In den geschilderten Zu- 
sammenhang zwischen dem Sklavenhandel einerseits 
und dem Zuckerhandel anderseits traten Iinszden 


1770er und 8oer Jahren Veränderungen ein, die das 
kunstvolle Kolonialsystem Englands zugrunde rich- 
teten und dem britischen Sklavenhandel den tödlichen 
Streich versetzten, von dem er sich nie wieder erholen 
sollte: Der Abfall der nordamerikanischen Kolonien von 
ihrem Mutterlande am 4. Juli 1776! Schon lange vorher 
waren die Beziehungen zwischen den 13 Neuengland- 
staaten und der alten Heimat recht gespannt. Wirtschafts- 
politische Eifersüchteleien bildeten die Ursache dieser 
Verstimmung. Gerade auch wegen ihrer Handelsbeziehun- 
gen mit den französischen und spanischen Zuckerinseln 
waren die Neuengländer mit dem Mutterland aneinander- 
geraten, bis sie sich schließlich von England losrissen 
und jeden Verkehr mit ıhm und den ihm treu gebliebenen 
Kolonien abbrachen. 

Was dieser Schlag für England zu besagen hatte, 
wie heftig dadurch die britische Volkswirtschaft in ıhren 
Grundfesten erschüttert wurde, ist heute nicht mehr leicht 
vorzustellen. Die auf Burkes Antrag im Jahre 1783 vom 
Parlament verfügte Aufhebung des Kolonialamtes und des 
Staatssekretariats sagt genug! England stand damals vor 
dem Ruin seiner zweihundert Jahre alten Kolonialpolitik. 
Wenn die Folgen dieser bitteren Tatsache in ihrer Trag- 
weite niemals vollständig in die Erscheinung getreten 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 9 


sind, so hat dies England nur den bald darauf folgenden 
französischen Revolutionskriegen zu verdanken, die ihm 
Gelegenheit gaben, die erlittenen Verluste wieder aus- 
zugleichen. Gewisse soziale und wirtschaftliche Insti- 
tutionen hat es aber nicht mit hinüberzuretten vermocht. 
Dazu gehört der Sklavenhandel. 


Für die nachstehende Schilderung der zur Abolition 
führenden Ereignisse müssen drei Perioden unterschieden 
werden, die für die ganze damalige Zeit, nicht nur für 
den Sklavenhandel, von entscheidender Bedeutung ge- 
worden sind: 

Die: Zeit von 1783 bis 1793,.d. hiydie: Zeit vom 
Friedensschluß zwischen England und den unabhängigen 
Vereinigten Staaten von Nordamerika bis zum Ausbruch 
des Krieges mit der ersten französischen Republik, ge- 
kennzeichnet durch den Niedergang der britischen Plan- 
tagenwirtschaft in Westindien verbunden mit raschen 
Fortschritten der Abolitionsbewegung. 

2 Der Kries’ von.1793 bis; 1802,, welcher? dem 
britischen Kolonialhandel vorübergehend zu einer Mono- 
polstellung und dadurch dem britischen Sklavenhandel zu 
seinem letztmaligen glänzenden Aufschwung verhalf. 

3. Die Zeit der Abolitionsgesetzgebung von 1802 bis 
1807, in welcher der britische Kolonialhandel durch die 
Verschiebung der politischen Konstellation in Europa 
wieder ins Hintertreffen geriet und durch Verbot des 
Sklavenhandels sein früheres Monopol wiederherzustellen 
sich bemühte. 


I. Die Zeit von 1783 bis 1793, 


Wir haben zunächst die Folgen zu untersuchen, die 
sich für die britische Plantagenwirtschaft durch den Ab- 
fall Nordamerikas ergaben. Sie waren vernichtend in 
jeder Beziehung. England möchte seine Wirtschafts- 


IO Meereskunde., 


politik in Amerika einrichten, wie es wollte, immer 
waren die rebellischen Neuenglandstaaten der gewin- 
nende Teil. Die britischen Inseln glitten von ihrer stolzen 
Höhe, die sie vor dem Unabhängigkeitskriege gegenüber 
den rivalisierenden Zuckerinseln Frankreichs und Spa- 
niens eingenommen hatten, herab; die Vorteile des 
Sklavenhandels kamen weniger England als dem Aus- 
land zugute, und deshalb mußte er gemäß dem merkan- 
tilistischen Grundsatz: „Fremder Gewinn, eigener Ver- 
lust“ fallen. 

Der Niedergang der britischen Inseln vollzog sich 
unter einer eigenartigen Verknüpfung mit der Schift- 
fahrtspolitik, die England seit dem Jahre 1772 gegen die 
Union einzuschlagen sich entschied. Wie erwähnt, waren 
die Handelsbeziehungen zwischen Britisch Westindien 
und Nordamerika aus Gründen der Politik und der geo- 
graphischen Lage von jeher überaus eng. England hatte 
deshalb von seinem strengen Kolonialsystem hier eine 
Ausnahme gestatten dürfen, indem es zwischen beiden 
Kolonien einen direkten Verkehr in amerikanischen 
Schiffen erlaubte, dem die britischen Inseln allein ihre 
schnelle Entwicklung und ihren Vorsprung vor den 
französischen und spanischen Sklaveninseln verdankten. 
Den Vorteil hieraus schätzte England so.hoch, daß 
es sich im Frieden von Paris, 1763, als es zwischen Fran- 
zösisch Kanada oder Französisch Westindien zu wählen 
hatte, auf Lord Chattams Rat für das erstere entschied 
in der richtigen Erwägung, daß der Besitz des Festlandes 
zugleich die wirtschaftliche Herrschaft über die Inseln 
garantierte. 

Diese Herrschaft war nun dem Mutterland durch den 
Abfall der Tochterstaaten entrissen. Nichts zeigte so 
drastisch die Hilflosigkeit der englischen Politik gegen- 
über diesen Veränderungen, wie die Anwendung der alten 
Cromwellschen Navigationsakte auf die abgefallenen 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 11 


Kolonien, eine Maßregel, durch welche der Schiffsverkehr 
zwischen den britischen Inseln und Nordamerika nur auf 
britische Fahrzeuge beschränkt wurde. 

Bereits zu Anfang des Krieges sah sich die britische 
Regierung hierzu genötigt, um die Rebellen durch wirt- 
schaftliche Kampfmittel zur Nachgiebigkeit zu zwingen. 
Die Assembly of Jamaica petitionierte vergeblich im 
jabrez1773 beim Könige undverklärte, daß „the most 
dreadful calamities and the inevitable destruction of the 
small sugar-colonies must follow the present unnatural 
contest with the Americans“. Es half nichts; den amert- 
kanıschen Schiffen blieb der Zutritt zu den britischen 
Häfen in Westindien während der Dauer des Krieges 
streng verboten. 

Als die Vereinigten Staaten 1783 endgültig aus dem 
britischen Staatsverbande ausgetreten waren, stand Eng- 
land abermals vor der wichtigen Entscheidung, wie es 
in Zukunft seine Schiffahrtsgesetzgebung in \Westindien 
einzurichten hätte. Zwei Parteien standen sich schroff 
gegenüber. Die freihändlerisch-westindische, an deren 
Spitze der jüngere Pitt und andere von Adam Smith 
beeintlußte Wirtschaftspolitiker standen, erklärte die 
wirtschaftliche Trennung Westindiens von Nordamerika 
iesandurehtuhrbar.. Die andere Partei vereiterte, sich 
für die Anwendung der Navigationsakte auf die jetzt als 
Ausland zu behandelnden Vereinigten Staaten. Das Par- 
lament überließ die vorläufige Entscheidung dem Könige, 
und Georg III. erließ am 2. Juli 1783 eine Ordre,' wo- 
durch die Ein- und Ausfuhr der britischen Zuckerinseln 
ausschließlich britischen Fahrzeugen vorbehalten 
wurde. 

Die Folgen des Ausschlusses der nordamerikanischen 
Schiffe waren überaus traurige für die britischen Pflan- 
zer. Sie gerieten in die bitterste Not an den unentbehr- 
lichen Produktionsmitteln wie Holz, Vieh, Lebensmitteln 


12 Meereskunde. 


usw. Die Einzelstaaten der Union vergalten nämlich 
die egoistische Schiffahrtspolitik Englands mit gleichem. 
Manche verboten den Zutritt englischer Schiffe über- 
haupt, andere legten höhere Einfuhrzölle auf britische 
Kolonialprodukte. Infolgedessen stiegen auf den bri- 
tischen Inseln die Preise für die aus dem Norden impor- 
tierten Güter um durchschnittlich 50 Prozent. Eine all- 
gemeine Teuerung und schließlich richtige Hungersnöte 
brachen aus, die in wenigen Jahren allein auf Jamaika 
den Tod von 15 000 Negern zur Folge hatten. Um der 
Not zu steuern, mußten die Gouverneure wiederholt das 
Einfuhrverbot für amerikanische Schiffe überhaupt zu- 
rücknehmen. 

Umgekehrt kamen durch ebendieselben - Zwistig- 
keiten die Pflanzer der französischen und spanischen 
Sklaveninseln ihren britischen Konkurrenten gegen- 
über immer mehr in Vorteil. Die aus den britischen 
Häfen vertriebenen Yankees wandten sich nämlich in stei- 
gendem Maße den nichtbritischen Teilen Westindiens zu, 
versorgten sie billigst mit Lebens- und Produktions- 
mitteln, so daß die französischen und spanischen Pflanzer 
in den Stand gesetzt wurden, billiger zu produzieren als 
ihre britischen Genossen. Dadurch traten auch schließ- 
lich zum ersten Male in der Geschichte die Folgen der 
erößeren Fruchtbarkeit der nichtbritischen Inseln in die 
Erscheinung. Die britischen Pflanzer hatten ihre ausländi- 
schen Konkurrenten früher nur dadurch unterbieten kön- 
nen, daß ihnen die nordamerikanischen Farmer alles, was 
sie brauchten, zu Vorzugspreisen lieferten. Dieser Vor- 
teil el nun fort, die Preisunterschiede zwischen briti- 
schem und nichtbritischem Zucker stiegen ständig zu- 
ungunsten der britischen Pflanzer. 

Schon damals wagten sich Meinungen hervor, 
welche erkannten, daß der Wettstreit zwischen den 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 13 


britischen und fremdländischen Sklaveninseln auf andere 
Weise als durch die Fortsetzung der Sklavenimporte ge- 
führt werden müßte, wenn nicht die britischen Pflanzer 
immer mehr ins Hintertreffen geraten sollten. In der Tat 
hatten die geschilderten Veränderungen dem Zweck und 
Sinn des Sklavenhandels, namentlich des in die fremd- 
ländischen Kolonien geführten Teils, eine geradezu um- 
gekehrte Bedeutung gegeben. Bisher hatte jeder englische 
Wirtschaftspolitiker im Sklavenhandel einen nationalen 
Gewinn erblickt, denn der Handel beschäftigte eine 
gewisse Anzahl Schiffe und Matrosen, führte dem Mutter- 
lande für die verkauften Neger eine entsprechende Menge 
Edelmetall zu und stärkte dessen aktive Handelsbilanz. 
Wennschon die eingeführten Sklaven den Produktions- 
ertrag der ausländischen Kolonien erhöhten, so kam 
ihr wachsender Wohlstand bis 1783 den Nordamerika- 
nern und dadurch schließlich auf einem Umweg Großb- 
britannien wieder zugute. Durch den Abfall der Union aber 
hatte sich dieses Verhältnis gewandt. Je mehr Sklaven 
England an die französischen und spanischen Pfllanzer ver- 
kaufte, um so besser wurden jene in den Stand gesetzt, den 
britischen Zuckerproduzenten die Spitze zu bieten. Jeder 
in die ausländischen Kolonien gehandelte Neger stärkte 
deren produktive Kraft und verschlimmerte die an sich 
schon mißliche Lage der englischen Kolonialwirtschatt. 
Der Einwand, daß England aus dem steigenden Wohlstand 
der fremden Pflanzer durch ihren Handel mit den Nord- 
amerikanern einen Gewinnanteil zöge, galt nicht mehr, 
denn Nordamerika war selbständig. Höchstens ın privat- 
wirtschaftlicher Hinsicht konnten die Sklavenlieferungen 
noch vorteilhaft genannt werden, vom volkswirtschaft- 
lichen Standpunkt aus aber nicht. 
Diesintbehrlichkeit der Neserimporte — 
Immerhin hätte die englische Regierung sich wohl noch 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 4. el 


I4 Meereskunde. 


nicht ohne weiteres zur Abolition entschlossen, wenn nicht 
verschiedene andere Umstände ihrer Auffassung zu Hilfe 
gekommen wären, vor allem die Einsicht, daß die Neger- 
importe für die britischen Inseln im Laufe des 18. Jahr- 
hunderts entbehrlich geworden waren, daß man auch 
ohne Zufuhr die Sklavenbevölkerung auf natürliche 
Weise durch den Überschuß der Geburten über die Todes- 
fälle aufrecht erhalten konnte. Bisher war das leider 
nicht möglich gewesen, aber nur deshalb nicht, weil 
die. Neger von den zeichen Plantagenbesitzernegzu 
schlecht behandelt wurden. Die auf den Pflanzungen 
verübten Grausamkeiten dezimierten die Bevölkerung. 
Sogenannte Sklavenschutzgesetze gab es bis 1787 kaum 
im dürftigsten Maße und rein zum Hohn gegen ihre 
übliche Anwendung und Auslegung. So.-war zwar 
beispielsweise seit jeher ärztliche Behandlung für die 
erkrankten Sklaven vorgeschrieben; doch standen manch- 
mal 4000 bis 5000 Neger unter einem einzigen Arzt! 
Erst die sogenannte „Consolidated Act“ vom Jahre 1787, 
welche unter dem Druck der. Öffentlichen Meinung 
in Europa für Jamaika zustande gekommen war, ver- 
stand sich zu notdürftigen Verbesserungen. Wie lax 
aber die bestehenden Bestimmungen trotzdem noch an- 
gewandt wurden, bekunden die Zeugnisse aller Schrift- 
steller aus dieser Zeit. Den Geist der Gesetze kenn. 
zeichnet am besten die Tatsache, daß bis 1802 die will- 
kürliche Ermordung eines Sklaven nur mit ı8 Pfund 
Sterling, auf Barbadoes sogar nur mit 15 Pfund Sterling 
Geldstrafe gesühnt wurde. Ein Mr. Roß z. B. betont aus- 
drücklich, daß jeder Herr das Recht habe, seine Sklaven 
auf beliebige Weise zu bestrafen! 

Unter der Einwirkung des nordamerikanischen Un- 
abhängigkeitskrieges, welcher eine Zeitlang die Sklaven- 
zufuhren fast gänzlich unterbrochen und die Pflanzer zu 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 15 


erößerer Rücksichtnahme auf ihre Sklaven gezwungen 
hatte, hatte sich indessen die Behandlung der Neger gegen 
früher wesentlich verbessert, so daß sich der Überschuß 
der Verstorbenen über die Geburtsfälle beständig ver- 
mindern konnte. Die Geburtsziffer stand 1791 auf den 
meisten englischen Zuckerinseln mit der Sterbeziffer 
ziemlich gleich; es war daher die Hoffnung begründet, 
daß sie letztere in allernächster Zukunft übertreffen 
würde, namentlich da die Hälfte aller Todesfälle solche 
Sklaven betraf, welche an den während der „middle pas- 
sage“ zugezogenen Krankheiten gestorben waren. Die 
Sterbeziffer unter den in Westindien geborenen Sklaven, 
die sich längst akklimatisiert hatten, war durchaus nor- 
mal. Hörte der Sklavenhandel auf, so mußte auch der 
Überschuß der Gestorbenen verschwinden. 

Britisch Westindien hatte nach dem Urteil un- 
parteiischer Beobachter nicht nur genug, sondern eher 
zuviel Sklaven. Die fortdauernden Sklavenimporte konn- 
ten geradezu als das Grundübel des Notstandes bezeichnet 
werden, der die britischen Pflanzer betroffen hatte. Die 
Leichtigkeit der Importe drückte nämlich die Sklaven- 
preise und verleitete dadurch die Pflanzer zu unüberlegten 
Erweiterungen und Neuanlagen von Zuckerplantagen; diese 
Überproduktion führte wieder zu Preisdruck, zu Absatz- 
schwierigkeiten, zu Zahlungsstockungen, kurz zu der all- 
gemeinen Krisis der 1780er Jahre. 

Die französischen und spanischen Zuckerpflanzer 
waren dagegen noch auf Generationen hinaus auf die 
Sklavenzufuhr angewiesen. Ihr unvergleichlich größerer 
Gebietsumfang, ihre dünnere Bevölkerung und größere 
Fruchtbarkeit wären allein schon Gründe genug hierfür 
gewesen. Während z. B. in Britisch Westindien auf 
einen Weißen 7 Sklaven entfielen, standen auf Kuba, das 
die meisten Sklaven von allen spanischen Besitzungen 


IS 
3 


16 Meereskunde. 


enthielt, 274 000 Weißen nur 210 000 Sklaven gegenüber. 
Abgesehen hiervon hatten die blutigen Negeraufstände 
auf Domingo und Guadeloupe seit 1789 die französischen 
Pfllanzer mehr denn je auf den Negerhandel angewiesen. 
Den Verlust an Sklaven schätzte man auf die Hälfte der 
früheren Bevölkerung. Alle nichtbritischen Plantagen 
hatten ein starkes Bedürfnis nach Auffrischung ihrer 
Sklavenbestände, um die durch die Aufstände gerissenen 
Lücken wieder auszufüllen. Für die ausländischen Ko- 
lonien war der Sklavenhandel eine absolute Notwendig- 
keit, eine Lebensfrage; für Großbritannien dagegen nicht. 

Die „Unrentabilsitäar Tdeszes es 
handels. Durch den unglücklichen Krieg mit der ame- 
rikanischen Union hatte England nicht nur seine Macht- 
stellung in Amerika, sondern auch in Afrika verloren. Da- 
durch begann der Sklavenhandel, welcher bisher zu den 
einträglichen Geschäftszweigen gerechnet hatte, unren- 
tabel zu werden. 

England hatte es nämlich im 18. Jahrhundert ver- 
standen, sich in Afrika die für den Sklavenhandel 
wichtigsten Gebietsteile anzueignen. Die besten Küsten- 
striche mit den bevölkertsten Hinterländern, den kräftig- 
sten, fügsamsten und brauchbarsten Negerstämmen ge- 
hörten ihm. Sie sicherten ihrem Besitzer eine große Über- 
legenheit gegenüber allen übrigen mit Sklaven handelnden 
Nationen; denn letztere besassen nur einen kümmerlichen 
Anteil an passenden Küstenstrichen des schwarzen Erdteils. 

Seit 1783 aber wurde es anders. Bereits im Friedens- 
schluß zu Pardoe am 24. März. 1778 wurden anzdıe 
Spanier die Inseln Annabon und Fernando del Po ab- 
getreten, und zwar mit der Berechtigung, an den gegen- 
überliegenden Küsten Neger einzuhandeln. Im Friedens- 
schluß zu Versailles 1783 wurden auch den französischen 
Besitzungen an der afrikanischen Küste beträchtliche Er- 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 17 


weiterungen zugestanden. Frankreich bekam neu hinzu 
die bisher britischen Stationen St. Louis und Goree, das 
Fort Senegal, ferner Rufisque, Joal, Portudal, Albreda, 
die Iles-Idoles bei Sierra Leone und vor allem Anteil am 
Handel von Altkalabar, Neukalabar und in Bonny an der 
Mündung des Niger. Letztere beiden Plätze hatten bei 
weitem den größten Umsatz an der ganzen Küste; denn 
sie lieferten jährlich 15 000 bis 20000 Sklaven von ins- 
gesamt etwa 100000. An diesen sowie an denjenigen 
Stationen, die sie von früher her besaß, hob die fran- 
zösische Regierung alle Handelsbeschränkungen auf und 
erklärte für ihre eigenen Untertanen den Freihandel. 
Letzterer entfaltete sich ungemein. Benin, Wydah und 
Lago (an der Windwardküste), wo früher gar kein oder 
nur ein unbedeutender Negerhandel getrieben war, stei- 
gerten ihren Export dermaßen, daß die englischen Kauf- 
leute mit Neid auf die französischen Erfolge blickten. Aus 
dem Handel bei Angola hatten die Franzosen seit dem 
Friedensschluß die Engländer fast ganz vertrieben; bei 
Bonny hatten sie einen ebenso großen Handel wie jene, 
und am Gambia herrschte starker Wettbewerb zwischen 
beiden Nationen. Somit waren die Franzosen und 
Spanier allmählich unabhängig von den britischen 
Sklavenlieferungen geworden und konnten daran denken, 
ihren alten Wunsch nach einem eigenen Negerhandel zu 
verwirklichen. 

Die Erweiterung ihrer afrikanischen Grebiete hatte 
nicht nur zur Folge, daß der britische Sklavenhandel 
zurückging, sie brachte als weitere Unannehmlichkeit 
noch mit sich, daß mit der steigenden Nachfrage die 
Einkaufspreise für Neger an der Küste sich hoben. Mit 
dem vermehrten Angebot europäischer Artikel stiegen die 
Forderungen der schwarzen Händler. Je mehr Europäer 
an die Küste kamen, desto wählerischer und habgieriger 


18 Meereskunde. 


wurden die Häuptlinge, die als Unterhändler dienten. 
Die Tage, wo man für wenige Kannen Branntwein, für 
einige Ellen groben Tuches oder für ein paar eiserne 
Nägel mit Messingköpfen einen ausgewachsenen Sklaven 
erstehen konnte, waren längst dahın. Fine Nation 
überbot die andere, so daß wenig im Handel zu 
verdienen war. Eine der größten Schwierigkeiten soll 
die gewesen sein, daß ein Sklavenschiff die allerverschie- 
densten Artikel mitbringen mußte, da man nie wissen 
konnte, ob nicht kurz vorher ein anderes Schiff dieselben 
Artikel feilgeboten hatte. Daraus erwuchs erheblicher 
Schaden, weil die Güter bald hoch, bald niedrig im Wert 
standen, je nachdem die Eingeborenen sie gerade begehr- 
ten oder nicht. Nur ausnahmsweise sollen die Schiffe 
noch gute Geschäfte gemacht haben, in der Regel ver- 
darb die Konkurrenz das Geschäft. 

In gleicher Weise war die Rentabilität in West- 
indien zurückgegangen. Englands politische Niederlage 
ermutigte die anderen Kolonialmächte, eine energischere 
eigene Wirtschaftspolitik zu führen und sich von den bri- 
tischen Sklavenimporten unabhängig zu machen. Frank- 
reich, Spanien und Holland begünstigten ihren eige- 
nen Sklavenhandel nach allen Regeln des merkantilisti- 
schen Systems durch Exportprämien und Tonnengelder 
und bemühten sich, die Engländer durch Differential- 
zölle oder offene Verbote auszuschließen. Für die eng- 
lischen Reederinteressen war dies ein harter Schlag; gin- 
gen doch rund zwei Drittel ihrer Negertransporte ins 
Ausland! Die unmittelbaren Wirkungen dieser ungünsti- 
gen Behandlung waren Absatzstockungen und Überfüllung 
der englischen Sklavenmärkte in Westindien, niedrige 
Preise und zunehmende Verschlechterung des Sklaven- 
geschäftes. Die übrigen Kolonialstaaten zeigten sich 
England gegenüber nicht weniger zurückhaltend. Die 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806,07. 19 


Vereinigten Staaten hatten durch die Non-Importation- 
Akte von 1774 englische Sklavenlieferungen in der Haupt- 
sache untersagt. Portugal entnahm keinen einzigen 
Sklaven aus englischen Häfen, sondern führte seinen um- 
fangreichen brasilianischen Handel — jährlich gegen 
20000 Stück — entweder selbst oder durch die Nord- 
amerikaner. Ebenso energisch verschloß Holland seine 
Kolonien. 

Die Rassengegensätzezwischen Wei- 
Ben und Schwarzen. — Die Furcht vor Sklaven- 
aufständen, überhaupt die Rassengegensätze, bildeten eins 
der wirksamsten Motive für die Einstellung der Neger- 
importe. Bis 1789 war die Gefahr von dieser Seite nicht 
besonders drohend gewesen. Sklavenerhebungen waren 
wohl im ganzen 18. Jahrhundert immerfort vorgekommen, 
hatten aber nie solchen Umfang erreicht, daß man des- 
wegen auf die Importe verzichtet hätte. Der Nutzen der 
Importe war im ganzen viel größer als der durch sie ge- 
legentlich angerichtete Schaden. 

Indessen lag es auf der Hand, daß frisch importierte 
Sklaven, die womöglich noch vor wenigen Wochen in 
ihrer afrikanischen Heimat als freie, unabhängige 
Krieger, dıe \Waien geführt, hatten, viel? eher‘ zum 
Aufruhr und zur Widersetzlichkeit neigen mußten als 
solche Neger, die von Geburt an das Joch der Sklaverei 
gewöhnt waren. Letztere waren im Kriegsfalle, wenn 
ein europäischer Feind das Land bedrohte, viel fried- 
licher und ihrer neuen Heimat ergebener als erstere. 
Ihre Zuverlässigkeit hing zum großen Teil von ihrer Be- 
handlung ab. 

Seit der französischen Revolution, seit der Verkün- 
dung der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ unter 
den Schwarzen Französisch Westindiens und den sich 
anschließenden Negererhebungen auf Domingo und 


20 Meereskunde. 


Guadeloupe waren die Zustände für die europäischen 
Pflanzer geradezu lebensgefährlich geworden. Überall 
gärte es in jener politisch so sturmbewegten Zeit. Die 
Frage der Abolition konnte nicht mehr erörtert werden, 
ohne die Neger zur Empörung zu reizen. Den Handel 
fortzuführen hätte sicher den Untergang aller Weißen be- 
deutet. Jede neue Schiffsladung, der geringfügigste 
Anlaß konnte die Gefahr zum Ausbruch bringen, zumal 
unter den Neuimportierten sich stets die Hauptanstifter 
der Rebellion befanden. 

Je höher der Kulturzustand einer Insel, desto größer 
war die Gefahr; denn um so ungünstiger war das Zahlen- 
verhältnis der Weißen zu der farbigen Bevölkerung. In 
den britischen Gebietsteilen entfielen durchschnittlich 
im Jahre 1791 auf je ı Weißen 7 Neger. Auf manchen 
Inseln war das Verhältnis vıel ungünstiger, 7 Bazaıı 
Antigua I : ı5, auf Grenada gar I :24, während das fran 
zösische Domingo kurz vor der Revolution das Verhältnis 
1:16 aufwies. Die Steigerung der Produktion konnte nur 
auf Kosten der Sicherheit der Europäer erkauft werden. 
Ihre geringe Zahl hätte schon in friedlichen Zeiten kaum 
ausgereicht, die Sklaven im Zaum zu halten; wieviel 
weniger in einem Kriege, wo noch auswärtige europäische 
Feinde abzuwehren waren! Die Kolonien hingen gerade- 
zu von der Gnade ihrer Sklaven ab. Die Einstellung der 
Importe war das einzige, was Rettung bringen und das 
Verhängnis abwenden konnte. 

Wer über die Gefahr noch Zweifel hegte, dem mußte 
das grausige Schicksal, das Domingo, Guadeloupe und 
Surinam befallen hatte, die Augen öffnen. Nach jahre- 
langen Aufständen und Verwüstungen hatte sich seit 
1796 auf Domingo ein unabhängiger starker Neger- und 
Mulattenstaat herausgebildet. Unter der energischen, 
intelligenten Leitung eines ehrgeizigen Diktators wie 
Toussaint, der im Innern Zucht und Ordnung und nach 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 21 


Außen Einheit und Macht aufrecht erhielt, war diese Insel 
für alle benachbarten europäischen Kolonien eine stän- 
dige furchtbare Bedrohung. Sie bildete einen Herd des 
Aufruhrs und einen Zufluchtsort für alle Nüchtigen wider- 
spenstigen Sklaven. 

Gleiche Vernichtung bedrohte die britischen Pflanzer. 
Die Unruhen hatten auf das englische Gebiet über- 
sesrilten. Im März 1795 brachen auf St. Vincent und 
Grenada ernste Erhebungen der Eingeborenen aus, deren 
Unterdrückung nur mit Mühe gelang. Ende 1796 revol- 
tierten auf Jamaika, während von draußen her ein französi- 
sches Geschwader Angriffe unternahm, die unabhängigen, 
im Innern wohnenden „Maroonen‘, d.h. verwilderte Neger- 
sklaven. Gegen sie mußte ein regelrechter Feldzug geführt 
werden, der 500000 Pfund Sterling kostete. Die Engländer 
schreckten nicht vor den barbarischsten Mitteln zurück. 
Nach alter spanischer Art wurden Bluthunde aus Kuba 
besorgt und auf die Aufständischen gehetzt. Der Ernst 
der Lage ließ keine Wahl in den Mitteln. Man fürchtete 
für Jamaika das Schicksal Domingos. 

Erhöhte Bedeutung kam solchen Aufständen deshalb 
zu, weil sie von feindlichen europäischen Mächten ın jeder 
Weise unterstützt wurden. Es war in allen europäischen 
Kriegen eine beliebte Praxis gewesen, dab eine Kolonie der 
benachbarten feindlichen durch Aufwiegelung der Sklaven 
den Untergang zu bereiten suchte. Auf Domingo versah 
England die Aufständigen mit Pulver und Blei; Frank- 
reich rächte sich auf dieselbe Art in Jamaika. Diese 
Zustände mußten die engherzigsten Freunde des Sklaven- 
handels von seiner Gefährlichkeit überzeugen. 

Dre bsollweronsihresc hinsbav om 2 April 
1792.— Das Ergebnis dieser Sachlage kam in dem Beschluß 
des englischen Unterhauses vom 2. April 1792 zum Aus- 
druck, nach welchem mit ı5ı Stimmen gegen 132 das 
sofortige Verbot des in die ausländischen Kolonien ge- 


Meereskunde. 


[56) 
189) 


führten britischen Sklavenhandels und die allmähliche 
Abschaffung der in die eigenen Kolonien geleiteten Neger- 
importe vom I. Januar 1796 ab beschlossen wurde. Da- 
mit war die Abolition zum ersten Male vom englischen 
Parlament befürwortet. Doch hatte es damit leider für 
längere Zeit auch sein Bewenden. Der Beschluß des Unter- 
hauses wurde nicht Gesetz, denn das Oberhaus nahm ihn 
nicht an. Die Gründe für die Ablehnung dieses und der 
späteren Abolitionsbeschlüsse des Unterhauses lagen 
einmal in der schwer zu lösenden Entschädigungs- 
frage der durch die Abolition beeinträchtigten Groß- 
handelsinteressen, sodann in dem Widerstand der 
im Oberhaus vertretenen westindischen Plantagenbe- 
sitzer, welche sich nicht entschließen konnten, ihre 
privaten Interessen dem (Gemeinwohl unterzuordnen, 
und drittens in der Sorge, daß die übrigen Kolonialmächte 
dem englischen Beispiel keinesfalls freiwillig folgen 
würden. Dieser letzte Punkt bot vielleicht die größten 
Schwierigkeiten; denn hätte England allein seinen Handel 
aufgegeben, so hätten die anderen Staaten den ihrigen 
nur um diesen Teil vermehrt. Der Sache der Mensch- 
lichkeit wäre damit nicht nur nicht gedient, sondern ge- 
schadet worden; denn den englischen Schiffen waren ge- 
wisse Schutzbestimmungen zugunsten der transportierten 
Neger vorgeschrieben, den fremden dagegen nicht. Nur 
internationale Verhandlungen und Verträge hätten über 
diese Schwierigkeit hinweghelfen können. Dazu zeigten 
sich aber die anderen Mächte aus begreiflichen Gründen 
nicht geneigt. So wäre die Abolition praktisch auf den 
toten Punkt geraten, wenn nicht im Jahre 1793 der Krieg 
zwischen England und Frankreich ausgebrochen wäre. 
Was langwierige parlamentarische und internationale 
Verhandlungen nicht erreichen konnten, das schuf der 
Krieg mit Gewalt. 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806 07. 2 


[@) 


Die Kriegszeit von 1793 bis 1802. 


Zum Verständnis der nun folgenden historischen 
Ereignisse, welche die politische Lage in der ganzen Welt 
vollständig neu gestalteten, muß hier in wenigen Sätzen 
auf die inneren Motive dieses gewaltigen Krieges ein- 
gegangen werden, welcher 22 Jahre lang dauerte und die 
Welt bis ı81ı5 in Spannung hielt. 

Es kann heute nicht mehr bestritten werden, daß 
dieser Entscheidungskampf zwischen Frankreich und 
England in wirtschaftspolitischen Gegensätzen seine 
stärkste Wurzel hatte. Nicht etwa die Entrüstung über 
die „unmoralische‘“, französische Revolution, auch nicht 
die Absicht, das entthronte französische Königtum wieder 
einzusetzen, trieben England in den Krieg, sondern in 
Wahrheit vor allen Dingen die Furcht, seinen Welthandel 
zu verlieren, der durch die Unabhängigkeit der Vereinig- 
ten Staaten von Nordamerika an der empfindlichsten 
Stelle verwundet war. 

Die französische Revolution bedeutete vom wirt- 
schaftspolitischen Standpunkt aus den Sieg der Interessen 
des französischen Gewerbe- und Kaufmannsstandes über 
den feudalen Grundadel und die Geistlichkeit. Frank- 
reich hatte 1789 die Grenzen eines vorwiegenden Agrar- 
staates überschritten und war wie England in die Bah- 
nen eines Welthandelsstaates eingetreten. Dieser Schritt 
mubte notwendigerweise Todfeindschaft zwischen beiden 
Ländern nach sich ziehen. Die französische Kriegserklä- 
rung gab Großbritannien die längst ersehnte Gelegenheit, 
über seinen Rivalen herzufallen und die seit dem Abfall 
Nordamerikas bestehende Gefahr, daß die britische Ko- 
lonıalmacht überflügelt würde, abzuwenden. Allein die 
Tatsache, daß der Zuckerhandel Französisch Domingos 
1781 fast zwei Drittel des ganzen auswärtigen britischen 


24 Meereskunde. 


Handels betragen hatte, könnte ausreichen, diesen Krieg 
zu erklären. 

Die nächste, allerdings schnell vorübergehende Folge 
des Krieges war für die britischen Pflanzer eine weitere 
Benachteiligung gegenüber ihren ausländischen Konkur- 
renten. Ihre gesamte Ein- und Ausfuhr spielte sich, 
wie schon erwähnt worden ist, wegen der Anwendung 
der Navigationsakte ausschließlich in britischen Schiffen 
ab. Ließ sich dies törichte Gebot schon im Frieden nur 
mit Mühe und mit schweren Opfern für die Pflanzer auf- 
recht erhalten, so erwies es sich jetzt im Seekrieg als 
völlig unhaltbar. Französische Kreuzer kaperten und 
belästigten die britischen Schiffe bei jeder Gelegenheit 
und stellten den Außenhandel der englischen Zucker- 
inseln oft in Frage. Wäre er wie früher in amerikani- 
schen, d. h. in neutralen Fahrzeugen geführt worden, so 
hätten die Franzosen sich nicht an ihm vergreifen können. 
Für die französischen Inseln traf diese Voraussetzung 
zu. Ihr Außenhandel wurde von den neutralen amerika- 
nischen Schiffen bedient und war dadurch gegen englische 
Handstreiche geschützt. Der französische Pflanzer er- 
freute. sich derselben Sicherheit wie im Frieden, während 
der englische allen Wechselfällen des Krieges ausgesetzt 
war. Infolgedessen stiegen die britischen Frachtkosten 
für die nach Europa gesandten Kolonialwaren und ver- 
teuerten die ohnehin schon viel zu hohen Produktions- 
kosten für den britischen Zucker dermaßen, daß er in 
Europa kaum noch Absatz fand. 

Das Einzige, was den britischen Pflanzern helfen 
konnte, geschah. Die wenige Jahre vorher erlassene 
Navigationsakte wurde von den westindischen Gouver- 
neuren während des Krieges ausnahmsweise, jedoch mit 
ziemlicher Regelmäßigkeit, außer Kraft gesetzt und die 
amerikanischen Schiffe zugelassen. Das bedeutete faktisch 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 25 


den Bruch mit diesem fast 150 Jahre alten Schiffahrts- 
gesetz; doch war er für die Ernährung Westindiens un- 
vermeidlich. 

Dann strebte die englische Kriegsführung mit rück- 
sichtsloseren Mitteln danach, ihre frühere Seegeltung 
wiederzugewinnen. Den elastischen Begriff ‚„Konter- 
bande‘ dehnte sıe auf alle Güter aus, mit denen die fran- 
zösischen Pflanzer ihre Plantagenwirtschaft betreiben 
konnten. Den Grundsatz „Frei Schiff, frei Gut‘ erkannte 
England nicht an; es kaperte jedes neutrale amerikani- 
sche Schiff, welches mit den französischen Inseln ver- 
kehrte, und drohte sogar, amerikanische Matrosen, 
welche auf einem französischen Kauffahrteifahrer dien- 
ten, als „Seeräuber“ zu behandeln und aufzuhängen, da 
sie, falls vor 1783 geboren, doch noch als britische Unter- 
tanen betrachtet werden müßten! 

Die Unionsstaaten, machtlos und uneinig, wie sie 
waren, wiesen die englischen Übergriffe nicht mit der 
wünschenswerten Energie zurück. Empört über ihre 
Feigheit und Willenschwäche beging die französische 
Regierung die Unklugheit, die neutralen amerikanischen 
Schiffe genau so zu behandeln, wie jene es sich von den 
Engländern gefallen ließen. Amerikanische Schiffe wur- 
den also fortan von den französischen Kreuzern ebenso 
mißhandelt wie von den englischen. Auf diese Weise 
geriet Frankreich, da die Vereinigten Staaten ihm 
gegenüber Vergeltung wagten, seit 1796 in einen tat- 
sächlichen, wenn auch unerklärten Kriegszustand mit 
Nordamerika, in welchem es natürlich den kürzeren zog. 

Durch diese und eigene glänzende Waffentaten hatte 
Großbritannien seit 1795 die unbestrittene Herrschaft auf 
dem Atlantischen Ozean wiedererrungen. Weit und breit 
hatte es keinen Rivalen zu fürchten. Die französischen 
Kolonien, soweit sie nicht unter farbigen Diktatoren selh- 


Meereskunde. 


N 
O\ 


ständig waren, hatte es erobert, im Jahre 1794 vernichtete 
es bei Brest eine französische Flotte, 1796 besetzte es die 
holländischen Guyanakolonien, später das spanische 
Trinidad, das holländische Surinam und schlug die 
spanische Flotte bei St. Vincent und die holländische bei 
Camperdown. Nach Nelsons Sieg bei Abukir (1799) 
war wirklich die Zeit gekommen, wo es leichter war, eine 
Bohne auf einem Heuschober als ein englandfeindliches 
Kriegsschifft auf dem Ozean zu finden. England besaß 
ein Seemachts- und Kolonialmonopol, wie es vor ıhm kein 
Staat besessen hatte. 

Für den britischen Sklavenhandel hatten diese Er- 
eignisse einen vorübergehenden letztmaligen glänzenden 
Aufschwung zur Folge. Seit vielen Jahren übertraf end- 
lich einmal wieder die Nachfrage nach Zucker das An- 
gebot. Die Preise waren infolge des Krieges auf das 
Doppelte und Dreifache gestiegen. Die französischen und 
spanischen Pflanzer konnten wegen der Negeraufstände 
und der Verwüstung ihrer Plantagen sowie wegen der 
Belästigung ihres Seehandels nicht mehr nach Europa 
liefern. Das reizte den britischen Geschäfts- und Unter- 
nehmungsgeist mächtig an. Der Zuckerbau auf den 
britischen Inseln wurde wieder lohnend und der Sklaven- 
handel schwoll an wie nie zuvor. 

Die Zunahme des Sklavenhandels erfolgte nıcht ohne 
die heftigsten Proteste von seiten der Abolitionspartei in 
England. Doch was vermochten ihre Einwände gegen 
die jäah erwachte Spekulation! Es war Englands offen- 
barer Vorteil, die günstigen Konjunkturen, welche der 
Krieg geschaffen hatte, nach Möglichkeit auszunutzen. 
Die Anträge auf Abolition wurden im Unterhaus zwar 
mit pünktlicher Regelmäßigkeit wiederholt, aber jedes- 
mal glatt abgelehnt. Wohl niemals deutlicher als an 
diesem Beispiel sprach sich die Unzulänglichkeit philan- 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 27 


thropischer Doktrinen aus, die nicht von materiellen In- 
teressen unterstützt, vielmehr dem praktischen Vorteil 
entgegengerichtet sind. 


Die Zeit der Abolitionsgesetzgebung von 1802 bis 1807. 


Wie ein erlöschendes Licht war der Sklavenhandel 
vor seinem Ende noch einmal hell aufgeflackert, und 
Großbritannien hätte mit der Abolition vielleicht niemals 
ernst gemacht, wenn es ihm gelungen wäre, sein Ko- 
lonıalmonopol dauernd zu behaupten. Doch hierin kam 
essamders: In der Zeit von 1802 bis’1807 verschlechterte 
sich seine politische Lage in Europa, es kam die Zeit der 
Ungewißheit, in welcher niemand den Ausgang des Ent- 
scheidungskampfes voraussehen konnte. 

Die französischen und spanischen Kolonien erholten 
sich zusehends von ihrem Niedergang aus Ursachen, die 
in einer Reihe wirtschaftlicher und politischer Verände- 
rungen begründet sind und sich letzten Endes in einer 
Person, in Napoleon I., konzentrierten, der seit 1799 
in Frankreich die Zügel der Regierung ergriffen hatte. 

Seine Siege in Italien und am Rhein retteten. für 
Frankreich die Lage in Westindien. Seit seinem Antritt 
des Konsulates machte sich ein strafferer Zug in der fran- 
zösischen Kolonialpolitik bemerkbar. Die törıchte Po- 
litik des Nationalkonvents und des Direktorıums hatte 
die französischen Inseln in den Krieg mit den Vereinig- 
ten Staaten gestürzt und an den Bettelstab gebracht. 
Napoleons Scharfblick erkannte sofort die Achillesferse 
der britischen Weltmacht und den wunden Punkt des 
niedergeworfenen französischen Kolonialhandels — die 
Vereinigten Staaten! Wie er England in einen Krieg 
mit der Union zu treiben sich bemühte, so sorgfältig 
war er andrerseits auf ein gutes Einvernehmen zwischen 
Frankreich und Nordamerika bedacht. Friede mit 


28 Meereskunde. 


den Vereinigten Staaten war Lebensbedingung für 
seine Kolonialpolitik. Darum beendete er in einem Ab- 
kommen vom Oktober 1800 den Kaperkrieg, der die fran- 
zösischen Pflanzer jahrelang von allem Verkehr abge- 
schnitten hatte. Dem Grundsatz, daß neutrale Flagge 
feindliches Gut deckte, daß also englische Kriegsschiffe 
französische Kolonialwaren auf amerikanischen Schiffen 
nicht kapern durften, wußte er durch Kräftigung des 
nordamerikanischen Selbstgefühls gegenüber England 
wieder Anerkennung zu verschaffen. Die Ein- und Aus- 
fuhr der wichtigen Produktionsmittel in amerikanischen 
Fahrzeugen wurde den französischen Pflanzern wieder 
unter ähnlichen Bedingungen wie zur Königszeit sicher- 
gestellt und damit die Grundlage zur Wiederaufnahme 
des durch die Negeraufstände verwüsteten Plantagen- 
betriebes gegeben. 

Außerordentlich viel hat auch die Wiedereinführung 
der Sklaverei am 20. Mai 1802 dazu beigetragen. Napo- 
leon traf auch hierin das Richtige. "Seine geserzgebe 
rischen Maßnahmen bestätigten nur den tatsächlichen 
Zustand der Dinge. Abgesehen von Domingo und Gua- 
deloupe, wo die Neger die Oberhand behalten hatten, war 
das übereilte französische Gesetz vom 4. Februar 1794, 
welches den Sklaven die Freiheit geschenkt hatte, 
nirgends ausgeführt worden. Die Wiedereinführung der 
Sklaverei verursachte mithin keine Schwierigkeiten, der 
Plantagenbau konnte ohne weiteres in alter Weise und 
mit dem gewohnten Erfolg wieder aufgenommen 
werden. Napoleon war aber klug genug, den Verhält- 
nissen da, wo sie anders lagen, Rechnung zu tragen und 
die mit vieler Mühe wiederhergestellte Ordnung durch 
die Wiedereinführung der Sklaverei nicht von neuem 
aufs Spiel zu setzen. Auf Domingo schloß er sich den 
von dem Negergeneral Toussaint getroffenen Reformen 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 29 


an. Letzterer hatte nach den langen Jahren des Aufruhrs 
seit 1795 die Herrschaft an sich gerissen und durch sein 
straffes Regiment der schwergeprüften Insel endlich die 
Ruhe und den Frieden wiedergegeben. Die geflüchteten 
weißen Pflanzer rief er zurück, befreite sie von den alten 
Schulden und gab ihnen vor allem ihre früheren Arbeits- 
kräfte wieder. Den Negern wurde zwar nominell die 
Freiheit geschenkt; sie wurden aber zunächst auf fünf 
Jahre einem Arbeitszwangssystem, das auf militärischer 
Grundlage beruhte, unterworfen. Diese Arbeitsverfas- 
sung ließ Napoleon, da sie sich gut bewährt hatte, unan- 
getastet. Da zugleich mit den Nordamerikanern wich- 
tige Handelserleichterungen vereinbart wurden, erholten 
sich die französischen Inseln sichtlich von den durch die 
Revolution geschlagenen Wunden. 

Die durch Napoleons Schutz neu erstarkte nordameri- 
kanische Handelsmacht gereichte auch den mit Frankreich 
verbündeten Kolonien zum Vorteil. Nordamerikanisches 
Kapital und nordamerikanische Schiffe wandten sich auf 
Grund des erwähnten Abkommens seit 1800 wieder in 
steigendem Maße den holländischen und spanischen Be- 
sitzungen zu. Die reichen Bodenschätze von Kuba, 
Spanisch Domingo, Mittel- und Südamerika boten dem 
amerikanischen Unternehmungsgeist ein weites Feld zur 
Betätigung. Gebietsteile, die bisher kein einziges Stück 
Zucker exportiert hatten, unterhielten seit I8oo einen 
blühenden Exporthandel, namentlich Mexiko und Kuba, 
welche ihre Zuckerproduktion ın wenigen Jahren beinahe 
verdreifacht hatten. 

Dazu gesellte sich das Angebot von Kolonialwaren 
aus ÖOstindien, dessen Konkurrenz sich damals zum 
erstenmal fühlbar zu machen begann. In Bengalen, 
Birma, Südchina, Peddapore, Zemindar produzierte 
man auf ertragreicherem Boden und mit freien Arbeitern 


30 Meereskunde. 


viel billiger als auf den britischen Antillen. Die Furcht 
vor der ostasiatischen Konkurrenz war damals unter den 
britischen Zuckerpflanzern nicht gering, wie die seit 1805 
in England eingeführten Differentialzölle auf ostindischen 
Zucker beweisen. 

Noch von einer anderen Seite wurde dem britischen 
Kolonialhandel schwerer Schaden zugefügt, durch die 
Kontimentalsperre.) Die Kontinentalspere sur: 
nicht etwa erst im Jahre 1806 das Licht der Welt erblickt, 
als Napoleon am 21. November das berühmte Berliner Edikt 
erließ, sondern schon viel früher. Schon im Jahre 1796 
verordnete der französische Nationalkonvent das Verbot 
und die Konfiskation aller englischen Waren auf dem 
französischen Markt. Im Jahre 1801 traten im Frieden 
von Luneville auch Holland, Spanien, Österreich, Italien 
und Westdeutschland diesem Verbote bei; mit den übri- 
gen europäischen Ländern stand Napoleon deswegen in 
Unterhandlungen. Spanien schloß sich 1805 an. Jeden- 
falls waren bereits Anfang des 19. Jahrhunderts eng- 
lische Schiffe und Waren in wichtigen Teilen Europas 
in Verruf gesteckt und boykottiert. Nur noch heimlich, 
mit Hilfe des Schmuggelhandels, fanden sie Ankerplätze, 
wo sıe gelöscht werden konnten. 

Unter dem Schutze Napoleons machte auch der 
Zwischenhandel der neutralen Seemächte, der Vereinigten 
Staaten, Dänemarks, Preußens und der Hansastädte, glän- 
zende Fortschritte. Ihr Zwischenhandel vollzog sich in 
der Weise, daß die französischen, spanischen und hollän- 
dischen Kolonialwaren entweder direkt ın neutralen 
Fahrzeugen oder indirekt über Nordamerika den Konsu- 
menten in Europa zugeführt wurden. , In’ der um- 


1) Vgl. Hoeniger, Die Kontinentalsperre. — Meereskunde, 
Jahrg. I, Heft 5. (Anm. d. Herausgebers.) 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 31 


gekehrten Richtung führten die Yankees die Fabrikate 
der unter der Kontinentalsperre erstarkenden europä- 
ischen Industrie nach Mittelamerika. Schritt für Schritt 
wurde in den auswärtigen Hafenplätzen der britische 
Einfluß zurückgedrängt. Englands Kolonial- und Han- 
delsmonopol, das es ın den 1790er Jahren besessen hatte, 
war durchbrochen. 

Die Verschlechterung der wirtschaftlichen und mili- 
tärıschen Konstellation machte sich auf den britischen 
Zuckerinseln abermals in einer schweren Krisis bemerk- 
bar Sie /tuhrte sür- die britische Plantagenwirtschaft 
wieder ähnliche Verhältnisse herbei, wie sie während des 
nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges und nach- 
dem bestanden und das Unterhaus zu dem Abolitions- 
beschluß vom 2. April 1792 veranlaßt hatten. Der ge- 
samte britische Außenhandel wurde von dieser Krisis in 
Mitleidenschaft gezogen. Überproduktion, Absatz- 
stockungen, Preisdruck, Verschuldung und Bankerotte 
waren an der Tagesordnung und gaben dem Verlangen 
nach Abolition immer neue Nahrung. Die Kaufleute 
wußten nicht wohin mit ihrer überschüssigen Ware. Wo 
bisher der englische Kaufmann als einziger oder haupt- 
sächlicher Lieferant geherrscht hatte, stieß er seit 1799 
in steigendem Maße mit fremden Konkurrenten zusam- 
men. In den englischen Häfen lagerten damals 150 000 
Hogshead Zucker (das sind je ı2 bis 16 englische 
Zentner) ohne Bestimmung! Wie konnte dem Zucker- 
markt Erleichterung geschaffen werden? Das war die 
große Frage, welche die britischen Wirtschaftspolitiker 
beschäftigte. Zur Wiederbelebung der Ausfuhr schlug 
man die Erhöhung der Rückfuhrzölle, außerdem Zu- 
schlagszölle auf Rumsurrogate, auf fremden Sprit und 
Branntwein vor. Auch sollte zur Hebung des Konsums 
den englischen Brauereien ausnahmsweise der Verbrauch 


32 Meereskunde. 


24 


von Zucker und Melasse gestattet werden, was sonst 
verboten war. Doch über den Hauptgrund der Krisis, 
die viel zu zahlreichen Negerimporte und die dädurch 
verschuldete leichtsinnige Überproduktion von Zucker 
war zunächst noch keine Einigkeit zu erzielen, obwohl 
es eine allgemein anerkannte Tatsache war, daß der 
Wettbewerb der ausländischen Pflanzer sich nur dadurch 
so gefährlich hatte gestalten können. 

Um das Unglück zu vervollständigen, mußte Eng- 
land, aller Bundesgenossen auf dem europäischen Fest- 
land beraubt, im Jahre 1802 in dem unglücklichen Frie- 
den von Amiens an Frankreich und seine Verbündeten 
alle westindischen Eroberungen, die es seit dem Kriege 
gemacht hatte, bis auf Trinidad wieder zurückgeben. Das 
blühende, vom Krieg verschont gebliebene Martinique, 
ferner Tabago, St. Lucie, Curagao und die drei hollän- 
dischen Guyanakolonien mit Surinam mußten wieder ab- 
getreten werden. Auf ihnen hatte der Aufschwung des bri- 
tischen Kolonialhandels seit 1792 vornehmlich beruht. Jetzt 
stürzte diese Grundlage. Da Frankreich 1802 außerdem 
noch Domingo, Guadeloupe sowie das riesige Louisiana- 
gebiet wieder besetzte und auch Spanien und Holland ihre 
ehemalige Herrschaft in Mittelamerika befestigten, 
sah sich England mit einem Schlage seiner Vormachts- 
stellung beraubt und auf den Rang einer Kolonialmacht 
zweiten Grades zurückgeworfen. 

England verlor durch den Friedensschluß noch viel 
mehr. Mit den abzutretenden Gebietsteilen mubreses 
sämtliche Kapitalien an Sklaven, Gebäuden, Gerät- 
schaften, Vieh, Meliorationen usw., die es während der 
Okkupation dort angelegt hatte, aufgeben und den feind- 
lichen Konkurrenten überlassen. Das verbesserte, von 
Urwäldern und Sümpfen befreite, mit Produktions- 
mitteln wohl ausgestattete Land bot den feindlichen 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 33 


Pflanzern die bequemste Handhabe, die Konkurrenz 
gegen die notleidenden britischen Pflanzer augenblicklich 
wieder aufzunehmen. 

Ebenso drohte der britischen Reederei durch den mit 
den Gebietsabtretungen verbundenen Verlust der Frach- 
een eins sewaltiger "Schaden, Dazu kam! die "Ent 
täuschung, daß Napoleon sich hartnäckig weigerte, einen 
Handelsvertrag mit England abzuschließen. Der eng- 
lische Export, welcher um die Jahrhundertwende die 
seltene Höhe von über 46 Millionen Pfund Sterling er- 
reicht hatte, fiel 1803 plötzlich auf 311, Millionen Pfund 
Sterling. Von der Aufrechterhaltung seines kom- 
merziellen Übergewichts hing jedoch für England alles 
ab; denn der Schwerpunkt seiner Finanzen ruhte, . seit- 
dem infolge der Einstellung der Einlösbarkeit der Bank- 
noten (Februar 1797) der Staatsbankerott faktisch ein- 
getreten war, auf den Erträgnissen des auswärtigen 
Handels. Die Erneuerung des Krieges bot den einzigen 
Ausweg aus der verfahrenen Lage. „Wir müssen Krieg 
haben,“ hieß es im Unterhaus, „denn nur der Krieg gibt 
uns die Kolonien wieder, und nur diese setzen uns in den 
Stand, den jährlichen ungeheueren Staatsaufwand und 
die Zinsen unserer Schulden zu bestreiten. Sind wir nur 
eine Stunde ehrlich, so sind wir für eine Ewigkeit ver- 
loren!“ 

Der Krieg brach im Sommer 1803 von neuem los und 
führte in schneller Aufeinanderfolge zur abermaligen Er- 
oberung mehrerer französicher und holländischer Ko- 
lonıen. Nach den Erfahrungen des letzten Krieges mußte 
man auf eine Wiederholung der früheren Ereignisse ge- 
faßt sein, nämlich auf eine starke Einwanderung bri- 
tischen Kapitals, namentlich von Negersklaven, in 
(Gebiete, von denen man nicht wissen konnte, ob sie nicht 
bei einem späteren Friedensschluß wiederum abgetreten 


34 Meereskunde. 


werden und dann den britischen Handel in dieselbe 
Krisis stürzen mußten wie 1802. Die Erlebnisse der 
letzten Jahre hatten die Schädlichkeit des in die fremden 
Kolonien geführten Sklavenhandels zu eindringlich ge- 
predigt. Man war sich zu sicher bewußt, daß die Über- 
fülluing des englischen Zuckermarktes in erster Linie 
durch die eroberten Kolonien und indirekt durch den 
Sklavenhandel verschuldet war. Die neuesten Eroberun- 
gen brachten den Plan, wenigstens den in die nicht- 
britischen Inseln eingeführten Sklavenhandel zu ver- 
bieten, zur Reife. 

Wesentlich erleichtert wurde der englischen Regie- 
rung dieser Entschluß durch das Aufhören des dänischen 
Sklavenhandels am ı. Januar 1803. Dänemark hatte 
nämlich als der erste Staat durch das Königliche Edikt 
vom 16. März 1792 seinem Sklavenhandel vom ır. Januar 
1803 ab ein Ende gesetzt. Die zehnjährige Übergangs- 
frist sollte nur dazu dienen, den dänischen Kolonien 
St. Thomas, St. John und St. Croix Zeit zu lassensssieh 
genügend mit Arbeitskräften zu versehen. Dieses Gesetz 
hat, beiläufig bemerkt, der dänischen Plantagenwirtschaft 
in Westindien keinen Abbruch tun können, da sie viel zu 
unbedeutend, zu wenig entwicklungsfähig und für ihren 
geringen Bedarf reichlich mit Negern versehen war. In- 
folgedessen konnte die dänische Regierung den humanen 
Forderungen frommer christlicher Gesellschaften, welche 
von Kopenhagen aus die Abolition betrieben, unbesorgt 
Gehör schenken. Nur die englischen Zwischenhändler 
wurden geschädigt, welche die dänischen Freihäfen in 
Westindien dazu mißbraucht hatten, einen ziemlich um- 
fangreichen Schleichhandel zu den benachbarten franzö- 
sischen und spanischen Kolonien zu führen. Etwa 6000 
bis 8Sooo Neger sollen damals durch die Engländer hier 
verkauft worden sein. Vielleicht hätte jedoch England 
diesen Schlag nicht so ruhig hingenommen, wenn es sich 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 35 


nicht selbst kurz vorher, 1802, durch die mehrere Monate 
dauernde Besitzergreifung der dänischen Inseln dieser 
Absatzmöglichkeit beraubt hätte. 


Gesetzgeberische Maßregeln in England. 


Die geschilderten Verhältnisse hatten in England 
jedenfalls den Glauben an die Nützlichkeit weiterer 
Sklavenlieferungen an die fremden Kolonien gründlich 
erschüttert und der Abolitionspartei, welche im Jahre 
ı801 durch die Stimmen der mittlerweile in das Unter- 
haus eingezogenen Iren verstärkt wurde, die Oberhand 
gegeben. Schon im März 1798 wies die britische Re- 
gierung ihre in Westindien kreuzenden Kriegsschiffe 
an, keine Sklavenimporte nach Spanisch Amerika zu 
dulden. Im Jahre 1802, noch vor dem Frieden von 
Amiens, versprach der Premierminister Pitt, nachdem er 
von dem Unterstaatssekretär Mr. Canning interpelliert 
worden war, den Negerhandel in das eroberte, beim 
Friedensschluß vielleicht wieder abzutretende Trinidad 
zu beschränken. Am 15. August 1804 erging endlich die 
Königliche Kabinettsordre, welche schlechthin den 
Sklavenhandel in die während des Krieges eroberten Ko- 
lonıen untersagte. Diese Maßregel hatte natürlich ebenso 
wie die des Jahres 1802 ihren Ursprung in dem Kon- 
kurrenzneid der älteren britischen Sklaveninseln. Man 
fürchtete, daß bei der Freiheit des Negerhandels die neu- 
eroberten Kolonien wegen ihrer größeren Fruchtbarkeit 
billiger produzieren und die Produktion an sich reißen 
könnten. 

Damit war die Abschaffung des in die ausländischen 
Gebietsteile geführten britischen Sklavenhandels besie- 
gell denne in den von England. noch nicht "eroberten 
Kolonien durfte sich wegen des Krieges seit Jahren kein 
britisches Schiff sehen lassen. 


36 Meereskunde. 


Es erübrigt nur noch ein Wort über die unmittelbare 
praktische Bedeutung dieses Verbots. Sie war recht gering. 
In normalen friedlichen Zeiten wären allerdings ungefähr 
2% des ganzen britischen Sklavenhandels davon betroffen 
worden. Jetzt aber, nach einem elfjährigen Krieg, wurde 
durch die Abolition kaum ein britischer Sklavenhändler 
ernstlich geschädigt. Vor allem erledigte sich dadurch 
die Entschädigungsfrage, die früher ein Haupthemmnis 
für die Abolition gewesen war. 

Die britischen Inseln durften den Handel noch 
weiterführen; aber auch ihre Stunde hatte bald geschla- 
gen. Der letzte Rest des ehemals so stolzen Sklaven- 
handels fiel einem Interessenkonflikt zum Opfer, der 
zwischen den Pflanzern der älteren britischen Zucker- 
inseln und denen der eroberten Inseln zum Ausbruch 
kam. Zu den älteren Besitzungen waren, wie erwähnt, 
seit 1802 durch den Frieden von Amiens das ehemals 
spanische Trinidad und 1804 die holländischen Guyana- 
kolonien hinzugetreten. Laut Friedensvertrag gehörte 
Trinidad mit denselben Rechten wie die älteren Besitzun- 
een zu dem Verband der britischen Zuckerkolonien. Bei 
der Übergabe waren nur über die innere Verwaltung und 
Rechtsprechung gewisse Vereinbarungen getroffen wor- 
den; die Sklaveneinfuhr war frei geblieben. Diese Frei- 
heit stand in scharfem Gegensatz zu den Lebensinteressen 
der übrigen britischen Pflanzer, denn Trinidad hätte unter 
britischer Verwaltung und unter sonst gleichen Erwerbs- 
bedingungen wegen seiner größeren Ertragsfähigkeit 
binnen kurzem sämtliche älteren Kolonien im Konkur- 
renzkampf geschlagen und ihrer ohnehin auf schwachen 
Füßen ruhenden Plantagenwirtschaft den Rest gegeben. 
Wegen seiner Fruchtbarkeit hätte es den Hauptstrom des 
britischen Kapitalzuflusses und der Negerimporte an sich 
gerissen. Dieselbe Gefahr drohte von seiten der blühen- 
den, zukunftsreichen holländischen Guyanakolonien, die 


Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806,07. 37 


sich 1804 freiwillig unter britischen Schutz gestellt 
hatten. 

Im Jahre 1802 kam es deswegen im englischen Par- 
lament zu Diskussionen. Der Unterstaatssekretär 
Canning berechnete, daß zur Kultivierung Trinidads 
gegen 250 000 Sklaven notwendig wären, und schilderte 
die Gefahren, die mit der uneingeschränkten Einfuhr der- 
selben verbunden wären. Eine Fülle von Vorschlägen 
drängte sich jetzt hervor, um die Negerimporte auf irgend 
eine Weise zu hintertreiben. Die Abolitionspartei ver- 
langte Einfuhrverbote aus allgemeinen menschlichen 
Gründen, die Vertreter der älteren Inseln forderten sie aus 
Konkurrenzneid. Allgemein für unausführbar galt der 
Vorschlag, die noch unbesiedelten Gebiete durch ‚freie‘ 
Neser bewirtsehaften zu” lassen. x -Die. Pflanzer der 
älteren Inseln gingen noch weiter. Sie verlangten Auf- 
rechterhaltung des Sklavenhandels für ıhre Inseln und 
ein. Teilverbot für die neuen Kolonien, indem sie zu- 
gaben, daß der Sklavenhandel für Trinidad unmoralısch, 
sei, aber erklärten, für ihre Inseln wäre er durch jahr- 
hundertalte Tradition gerechtfertigt. 

Dieser Logik konnte sich die britische Regierung 
unmöglich anbequemen, ohne sich dem Vorwurf der Un- 
gerechtigkeit auszusetzen. Trinidad und Guyana waren 
gleichberechtigte Glieder des britischen Kolonialreiches 
in Westindien, und England mußte deshalb alles tun, um 
die Sympathien seiner neuen Untertanen zu gewinnen, 
umsomehr, als auf Trinidad starke Neigungen hervor- 
traten, die Insel den Spaniern wieder in die Hände zu 
spielen. Auch deshalb mußte England den Vorwurf der 
Ungerechtigkeit zu vermeiden suchen, weil der winkende 
Vorteil zu gering gewesen wäre im Vergleich zu dem 
Nachteil, daß England dann das Recht verwirkt hätte, 
sich bei künftigen internationalen Abolitionsverhandlun- 
gen als Schützer der Moral und Humanität aufzuspielen. 


38 Meereskunde. 


Eine internationale Abolition hatte es aber von Anfang 
an ins Auge gefaßt, wie die Verhandlungen Pitts mit 
Frankreich, der Union und Portugal im Jahre 1806 und 
1808 bezeugen. Überdies wäre es wegen der geographi- 
schen Beschaffenheit des westindischen Archipels auch 
technisch unmöglich gewesen, den Sklavenhandel auf der 
einen Insel zu erlauben, auf der anderen zu verbieten. 

Die Regierung zog daher zwischen den sich wider- 
streitenden Interessen nur die mittlere Linie, indem sie 
tabula rasa machte und den Sklavenhandel am 25. März 
1807 gänzlich verbot. Auf diese Weise behielten die 
Inseln älteren Datums immer noch einen erheblichen 
Vorsprung vor den jüngeren; denn ihre Plantagen waren 
mit Negern voll besetzt, letztere nicht. Die Konkurrenz 
war also den schwach besiedelten neuen Kolonien we- 
sentlich erschwert. 


Die wichtigsten Gründe für die Abolition dürften 
hiermit erschöpft sein. Es ergibt sich nur noch die Be- 
merkung, daß es falsch ist, zu behaupten, England hätte 
den Sklavenhandel hauptsächlich aus sittlichen Motiven 
aufgegeben. Ebenso falsch wäre es, England als einen 
der ersten Abolitionsstaaten zu bezeichnen. In Wirklich- 
keit ist es einer der letzten gewesen. England hat seinen 
Anteil am Menschenhandel erst aufgegeben, nachdem 
die übrigen Länder den ıhrigen — sei es aus freiem Ent- 
schluß wıe Dänemark, oder durch die Not des Krieges 
wie Frankreich und Spanien — verloren hatten. Nur in- 
dem Frankreich, Holland und Spanien versäumten, ihrer 
tatsächlichen Abolition durch ein Gesetz die formelle Be- 
stätigung zu geben, konnte der Schein entstehen, als sei 
ihnen Groß-Britannien in edler Absicht zuvorgekommen. 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn 
Berlin SW 68, Kochstraße 68—7r. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 


MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG FÜNFTES HEFT 


Unterseeboots-Unfälle 
unter besonderer Berücksichtigung des Unfalls auf „U 3“. 


Von Fregattenkapitän Michelsen, Kiel. 


or nicht allzulanger Zeit erschien in der amerika- 


a 
W/ 
a 
FEIN tikel aus der Feder des amerikanischen Untersee- 


nischen Wochenschrift „Harpers weekly‘“ ein Ar- 


boots-Konstrukteurs Herrn Lawrence Spear, der sich zum 
Teil wieder auf Ausführungen des englischen Captain Bacon, 
weiland Chef des englischen U-Bootswesens stützt. Dieser 
Aufsatz — überschrieben ‚The dangers of the submarine‘“, 
also die Gefahren des Unterseebootes — findet sich auch 
in dem Buche Domville-Fifes über die Unterseeboote 
aller Staaten vor und gibt die Ansichten zweier fremd- 
ländischer Autoritäten auf dem Gebiete des U-Boots- 
wesens über dieses Thema wieder. Beide Sachverstän- 
dige kommen im wesentlichen zu dem Schluß, daß ein 
erößeres Maß an Gefahren als bei anderen Schiffsklassen 
der Kriegsmarinen auf dem Gebiete des Unterseeboots- 
wesens nicht vorhanden sei, da die vorgekommenen Un- 
fälle mit der Wesensart des Unterseeboots nicht zu- 
sammenhingen oder doch nicht untrennbar mit ıhr ver- 
bunden seien. Sie teilen die Gefahren ein in eingebildete 
und wirkliche und kommen zu dem weiteren Schluß, dab 
die eingebildeten, die durch das Publikum in dieses Gebiet 
gewissermaßen hineingetragen würden und geeignet 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 5. I 


[88) 


Meereskunde. 


seien, der Entwicklung und dem Geist der neuen Waffe 
zu schaden, zahlreicher seien als die wirklichen Gefahren. 
Von diesen, so erklärt Herr Spear, bestehe tatsächlich 
nur die des Wassereinbruchs, wenn man die Gefahr der 
Gasbildung, die allen Schiffsklassen anhafte, beiseite 
lasse. Die früher vorhandenen Gefahren unvollkommener 
Einrichtungen seien völlig beseitigt und beständen in 
Wirklichkeit nicht mehr. 

Einen Teil dieser Ausführungen kann man ruhig 


unterschreiben. Die meisten Gefahren bestehen tatsäch- 


lich in der Phantasie des Laien, dem das Unterwasser- 
Fahren immer noch als etwas Dramatisches, ja an sich 
Gefährliches erscheinen will. Ein menschlich ganz erklär- 
liches Gefühl, das aber bei Vertrautheit, ja meistens 
schon bei der ersten Bekanntschaft mit der Sache völlig 
verschwindet. Weniger treffend will mir die Behauptung 
erscheinen, daß die Gasbildung und die aus ihr entsprin- 
genden Gefahren nicht mit der Wesensart des U-Bootes 
verbunden seien, und daß es Gefahren, die in den beson- 
deren Einrichtungen des U-Bootes lägen, nicht mehr 
gebe. Ich hoffe, daß Sie am Schlusse meines Vortrages 
darüber, wie weit den genannten Autoritäten zuzu- 
stimmen ist, selbst ein völlig klares Urteil haben werden. 
Auch nach meiner Ansicht werden sich alle Untersee- 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U3“. 3 


boots-Unfälle unter die drei ın dem-genannten Aufsatz 
gegebenen Gesichtspunkte: Wassereinbruch, Gasgefahr 
und Gefahren, die aus den Einrichtungen der Boote ent- 
stehen können, einordnen lassen, eine Einteilung, die 
nicht nur alle gewesenen, sondern auch alle heute noch 
möglichen U-Boots-Unfälle in sich begreift. 

Gleichwohl möchte ich diese Einteilung meinen 
heutigen Ausführungen nicht zugrunde legen, weil sie 
keinen Hinweis auf die Entstehungsart der Havarien ent- 
hält: und das ist meines Erachtens das Wesentliche. Bei 
allen Unfällen heißt es der Entstehungsart nachgehen, und 
die hierbei erzielten Ermittlungen geben die besten Ge- 
sichtspunkte für die Gruppierung des vorliegenden Ma- 
terıals. 

Ich möchte daher unterscheiden: 

Unfälle seemännischer Natur und 
Unfälle technischer Natur. 

Um Irrtümer auszuschließen, betone ich ausdrück- 
lich, daß die Unfälle hiermit nicht etwa nach der Schuld- 
frage gruppiert werden sollen. Diese werde ich, wo sie 
nicht klar zutage liegt, nicht erörtern. Vielmehr sollen 
unter den Unfällen seemännischer Natur die verstanden 
sein, deren Ursache in der Verwendung des ganzen 
Bootes, unter denen technischer Natur die, deren Ursache 
ın dem Versagen einzelner Einrichtungen und Apparate 
— einerlei ob mit oder ohne Verschulden der Besatzung, 
des Konstrukteurs oder der Bauausführung — zu suchen 
sind. Bei jeder einzelnen Gruppe der Unfälle soll dann 
untersucht werden, ob diese durch die Wesensart des 
U-Bootes bedingt sind oder nicht. 


Unfälle seemännischer Natur. 
Die Unfälle seemännischer Natur gliedern sich 
wieder in drei Gruppen: Kollisionen über Wasser, Kolli- 


I 7 


4 Meereskunde. 


sionen unter Wasser und Vollaufen der Boote aus an- 
deren Ursachen gelegentlich ihrer Verwendung. 
Zusammenstoße+ruber Wasser "Ess 
scheinen, als ob Zusammenstöße dieser Art von U- 
Booten untereinander und mit anderen Fahrzeugen 
recht eigentlich mit der Wesensart der U-Boote zu- 
sammenhingen, denn die allgemeine Ansicht geht wohl 
ııoch dahin, daß die U-Boote, weil, auch bei der Über- 


Abb. 2. Englisches Unterwasserboot „H 3“. 


wasser-Fahrt, nur wenig aus dem Wasser hervorsehend, 
keinen genügenden Überblick bieten, um die Gefahr des 
Zusammenstoßes rechtzeitig erkennen und ıhr begegnen 
zu können. Diese Ansicht ist aber nur in geringem Maße 
zutreffend; sie mag eine gewisse Geltung behalten für 
reine Unterwasserboote, die niedrig im Wasser liegen, und 
besonders für Unterwasser-Boote ohne Turm, von dessen 
Decke aus navigiert werden könnte; für Tauchboote gilt 
sie gewiß nicht. Ich möchte hier gleich einem recht ver- 
breiteten Irrtum entgegentreten: Unterseeboote fahren 
nämlich im allgemeinen nicht unter Wasser, sondern über 
Wasser wie alle anderen Schiffsklassen. Sie tauchen nur, 
wenn es ıhre Aufgaben erfordern. Zum Verständnis des 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf.,U 3“. 


na 


Gesagten muß ferner kurz der Unterschied zwischen 
einem reinen Unterwasserboot und einem Tauchboot aus- 
einandergesetzt werden. 

Das reine Unterwasserboot (französisch sousmarin) 
unterscheidet sich vom Tauchboot (französisch submer- 
sible) dadurch, daß es alle Teile in seinem ım Querschnitt 
zylindrischen Druckkörper 


aufnimmt, während das 
Tauchboot mehrere wesent- 
liche Teile, so besonders die 
Tauchtanks und die Brenn- 
stofftanks an der Außenseite 


des Druckkörpers trägt. Sie 

sind zwischen diesem und 
der Aubenhaut unterge- 

bracht, und diese Außenhaut 


N ne ei 


ist zu schiffsähnlichen For- 
men ausgestaltet. Hierdurch 
ist auch derLaie in denStand 
gesetzt, in jedem Einzelfalle 
mit Sicherheit erkennen zu 
können, ob es sich um ein 
zeimes U Boot oder’ ein T-" "Abn. 3. Amerikanisches Unter- 
Boot, um ein Unterwasser- wasserboot „Salmon‘. 


boot im engern Sinne, oder 

ein, Rauehboot. handelt. "Sehen Sie7z./'B. das’ Bild des 
amerikanischen Unterseeboots „Salmon‘“ an (Abb. 3), 
so werden Sie sofort erkennen, daß der kreisförmige 
Druckkörper auch die Außenhaut des Bootes bildet, 
daß dieses also ein reines Unterwasserboot ist. Ver- 
gleichen Sie, bitte, hiermit das Bild des norwegischen 
Unterseebootes „Kobben‘ (Abb. 4), so werden Sie an den 
ganz schiffsähnlichen Formen ohne weiteres erkennen, 
dab Sie es mit einem Tauchboot zu tun haben. Die grund- 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 5. 3 


6 Meereskunde. 


verschiedene Wesensart der beiden Fahrzeugstypen wird 
nun natürlich besser als durch das äußere Aussehen durch 
ihre völlig verschiedene innere Konstruktion und ihre ver- 
schiedenen Eigenschaften charakterisiert. Die verfügbare 
Zeit erlaubt es mir hier nur, auf die Unterschiede ein- 
zugehen, die zum Verständnisse meiner Ausführungen 


„ a iB > 
“ auf Stapel. 


dr 


Abb. 4. 


Norwegisches Tauchboot ‚„Kobben 
Aus „Überall“, XII. Jhrg., 5. Heft. 


nötig sind, und das ist in diesem Zusammenhange der 
geringere Freibord, die geringere Austauchung und das 
geringere Ausblasevermögen, das den Unterwasserbooten 
vor den Tauchbooten eigen ist und sein muß. Denn die 
Größe der Tauchtanks, die man innerhalb des Druck- 
körpers unterbringen kann, ist natürlich gering gegenüber 
denen, die sich außen anbringen lassen, d. h. also, das 
Tauchboot kann viel mehr Ballast einnehmen und aus- 


blasen als das reine Unterwasserboot, es liegt also auch 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf ,„U3“. 7 


im aufgetauchten Zustand wesentlich höher aus dem 
Wasser als dieses. 

In beiden Eigenschaften liegen starke Garantien für 
die größere Sicherheit des T-Bootes. Versieht man ein 
solches T-Boot noch mit einem Turm, der auch bei 
schlechterem Wetter der Führung gestattet, an Deck zu 
bleiben, so ist in der Tat nicht 
einzusehen, warum die Kolli- 
sionsgefahr bei der Über- 
wasser-Fahrt auf U-Booten 
größer sein soll als auf an- 
dernSchiffstypen. Aber auch 
aufUUnterwasserbooten kann, 
wenn sie in dieser Hinsicht 
richtig konstruiert sind, von 
Gefahren, die aus einer man- 
gelnden Übersicht hervor- 
sehen, bei der Überwasser- 
fahrt eigentlich nicht die 
Rede sein. Betrachten wir 
z. B. die Brücke, d. h. den 
Aufstellungsort der Schiffs- 


leitung auf dem Unterwasser- 
boot „Salmon‘ (Abb. 5), so 
sehen wir, daß die Höhe Abb.5. Brücke des „Salmon“. 
dieses Ortes über Wasser Das Boot ist gerade auf längerer Über- 
ganz bedeutend ist. Noch ee 


erheblich "srößer ist’ die 


her das Sonnensegel über der Brücke, 


Augeshöhe auf unseren U-Booten — diese sind sämtlich 
Tauchboote, wie das hier im Museum für Meereskunde 
aufgestellte Mittelstück eines Germania-lauchbootes in 
natürlicher Größe recht deutlich erkennen läßt. 

Müssen wir es also von der Hand weisen, daß richtig 
konstruierte U-Boote für Überwasser-Kollisionen sozu- 


4% 


83 Meereskunde. 


sagen prädestiniert seien, so kommen wir bei 
näherer Betrachtung der Frage sogar zu der 
Ansicht, daß sie sich in solchen Situationen 
ihren Geenern, d. h. den anderen Sehlue 
typen gegenüber in einer geradezu gesicherten 
Lage befinden. Diese können ihnen verhält- 
nismäßig wenig anhaben, weil die Druck- 
körper der U-Boote ungeheuer stark gebaut 
sein müssen — sie müssen nämlich auf 


30 bis 60 m Wassertiefe 
| } 


druckfest sein —, während 
ohne schwere Folgen für die U-Boote, 


die U-Boote selbst infolge 
dieser Bauart sehr gefähr- 
liche Gegner für jeden 
anderen Schiffstyp bei 
einer Überwasser-Kolli- 
sion sind. Gegen den 


Rammstoß eines anderen 
Schiffes sind in besonders 
hohem Maße die Tauch- 
boote geschützt, weil bei 
ihnen der Gegner erst die 
Außenhaut durchdringen 
muß, ehe er überhaupt an 
den starken Druckkörper 
herankommt (Abb. 6). So 
sehen wir denn auch, 
daß die Überwasser-Kolli- 


Ein Tauchboot im Längsschnitt und Querschnitt. 


Abb. 6. 


sionen im allgemeinen 


meistens aber zum erheblichen Nachteil des 
Gegners verlaufen. Aus der umfangreichen 


Statistik sind mir folgende Fälle zur Kennt- 
nis gekommen: 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U3“. 9 


I. der französische „Narwhal‘ gegen einen Schlep- 
per 1903; der Schlepper sank; 

Br dassenslische „As, mit. dem Dampter „Brince ‘or 
Wales 7.1903 #dieser mußte au "den "StrandY gesetzt 
werden; 

Se der trauzesische „ Kriton“ mit.der „Silure> 190%, 
also zwei U-Boote untereinander; beide wurden nur un- 
erheblich beschädigt; 


4. die französische „Cigogne‘“ mit einer Segelbrigg 
1909; die Brigg erhielt ein schweres Leck, das U-Boot 
hatte nur geringe Beschädigungen; 

5..die amerikanische -,Bonita® mit dem "Tender 
R@astıne 1910; ,‚Castine müßte schleunigst auf Strand 
gesetzt werden; 

6. der französische „Monge‘“ gegen einen Schlepper 
1910 das, Bootziuhr 22m tier in den Schlepper hinein, 
nahm ihn auf die Nase und setzte ıhn auf den Strand; es 
blieb dabei ganz unbeschädigt; 

7. der französische „Germinal” gegen einen Hoch- 
seefischer 1910; er schnitt ıhn glatt durch, blieb selbst 
völlig heil; 

8. der französische „Francais“ gegen ein Torpedo- 
boot im Januar 1911; dieses wurde nur mit Mühe ins 
Dock gebracht; das U-Boot blieb ganz unbeschädigt. 

Nicht hineinstimmen will in dieses günstige Bild der 
beklagenswerte Unfall des englischen U-Bootes „C Ir“, 
das am 14. Juli 1909 vor der Humber-Mündung von dem 
Dampfer ‚„Eddystone“ überlaufen und zum Sinken ge- 
bracht wurde, wobei ı3 Mann ums Leben kamen. Hiermit 
kommen wir zu der einzigen, aber nicht unbeträchtlichen 
Gefahr, die für die U-Boote bei Überwasser-Kollisionen 
vorliegen kann. Es ist nämlich möglich, daß der Gegen- 
segler, besonders wenn er einen nach hinten sich abrun- 
denden Bug hat, wie das bei Handelsschiffen in der Regel 


Io Meereskunde. 


der Fall ist, sich bei der Kollision auf den kreisförmigen 
Druckkörper hinaufschiebt und das U-Boot unter Wasser 
drückt. Sind dann die Luken offen, wie das bei „C ı1“ der 
Fall war, so stürzt durch diese Wasser in das Boot und 
kann das Boot zum Sinken bringen. Diese Gefahr besteht 
wieder in höherem Maße bei Unterwasser-Booten, die 
nur verhältnismäßig geringen Auftrieb haben, und bei 
denen der kreisförmige Druckkörper offen zutage liegt. 
Für T-Boote, die höher aus dem Wasser liegen, in der 
Überwasser-Fahrt vermöge ihres größeren Auftriebs auch 
einen entsprechend größeren Wassereinbruch vertragen 
können, und bei denen außerdem der Außenkörper dieses 
Heraufschieben des anderen Schiffes erschwert, ist die 
Gefahr nicht so groß. Den Beweis dafür liefert der Zu- 
sammenstoß des deutschen U-Bootes „U 4° mit dem 
Dampfer „Capella“ im Februar vorigen Jahres, der sich 
unter genau denselben Bedingungen wie der „C ı1“-Fall 
ereignete. Der Zusammenstoß war ein überaus heftiger, 
da beide Fahrzeuge äußerste Kraft liefen. Der Dampfer 
durchschnitt den Außenkörper des Bootes, schob sich 
etwa bis zur Schiffsmitte auf das U-Boot herauf und 
drückte es unter Wasser, so daß ein starker Wasserein- 
bruch durch das offene Vorluk erfolgte. Dank seiner 
großen Schwimmfähigkeit kam jedoch das Tauchboot, 
sobald die Schiffe voneinander freı waren, hoch, und der 
ganze, allerdings ziffernmäßig nicht unbedeutende Scha- 
den bestand, abgesehen von der gerissenen Außenhaut, in 
der Zerstörung oder Beschädigung einer Reihe von 
Akkumulatoren-Zellen durch das eingedrungene See- 
wasser. In die Gruppe der Überwasser-Kollisionen ge- 
hört eigentlich auch der Untergang des russischen U- 
Bootes „Kambala“ im Sommer 1909, das vom Spitzen- 
schiff der Schwarze Meer-Flotte überlaufen wurde. Der 
in seinen Folgen sehr beklagenswerte Unfall — die ganze 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, ,U 3“. 1 I 


Besatzung mit Ausnahme des Kommandanten kam um — 
gibt aber für die sachliche Betrachtung gar kein Material, 
da er durch eine sich als schwere Fahrlässigkeit charak- 
terisierende falsche Handhabung des Bootes herbei- 
geführt wurde. Mit der Wesensart der U-Boote hat er 


gar nichts zu tun. 
Die Unterwasser-Kollisionen. — Wir 
wenden uns jetzt zu den Unterwasser-Kollisionen. 


boot „A 12“. 


m. 


Englisches Unterwasser 


Abb. 7. 


Diese sind im Gegensatz zu den Überwasser-Kollisionen 
Sanz entschieden mit der Wesensart des  Untersee- 
bootes verbunden. Denn es liegt in der Natur der 
Sache, daß dann der Gegensegler vom U-Boot gar nichts 
sieht, während in dieser Lage das Sehvermögen des 
U-Bootes beschränkt oder gar aufgehoben ist; beschränkt, 
wenn es die Sehrohre (die Ihnen bisher wahrscheinlich 
unter dem Fremdwort Periskope vertrauter sind) dauernd 
zeigt, aufgehoben, wenn es aus irgendwelchen Gründen, 
z. B. Manöverrücksichten, diese nicht oder doch nur von 
Dei zusZeiten zeigen kann, (sr Abb: 8). Hiermit soll 


12 Meereskunde. 
nichts gegen die Sehrohre gesagt werden, die besonders 
in unserer Marine mit einer ganz vorzüglichen Optik ver- 
sehen sind und sehr gute Sehweiten erreichen, es liegt 
aber in der Natur der Sache, daß das Sehvermögen durch 
ein Sehrohr nicht so gut sein kann wie das von hohem 
Standpunkt aus bei freiem Rundblick und direktem Sehen. 
Allerdings kommt auch bei der Unterwasser-Kollision dem 
U-Boot seine feste Bauart, dem Tauchboot noch dazu 
seine doppelte Haut zugute, deren Zwischenraum jetzt, 
da er nicht mehr leer, sondern mit Wasser oder Öl 


Abb. 8. Deutsches Tauchboot in Unterwasserfahrt gegen die See. 


(Aufnahme aus etwa 30m Abstand querab.) 


gefüllt ıst, als. Puffer. dient. - Aber ies ist Klargsdan 
der feindliche Stoß das Boot jetzt nicht nur in hal- 
ber Höhe oder in den unteren Teilen, sondern auch 
oben treiten kann, je’mach ‘der Tiere, insrdersserch 
das Boot gerade befindet. Werden die Aufbauten 
oder das Oberdeck des Bootes getroffen und erheblich 
verletzt, gerät das Boot also unter das andere Schiff, so 
ist eine Katastrophe meistens unvermeidlich. Um das zu 
verstehen, müssen wir uns mit dem Vorgang des 
TFauchens kurz bekannt machen. 

Nachdem alle Luken und Außenbords-\Verschlüsse 
geschlossen sind, läßt man zunächst die äußeren Tanks, 
die Tauchtanks, vollaufen. Das geschieht durch Öffnen 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf ,U 3“. ı 


(9%) 


der Flutventile und -schieber dieser Tanks vom inneren 
Boot aus und durch Entlüftung dieser Tanks (vgl. 
Abb. 6). Das kann bei den meisten Nationen in etwa 
4 Minuten geschehen sein; bei reinen Unterwasser- 
booten, die nur wenige innere Tanks zu füllen haben, 
geht das Fluten noch schneller. Bei T'auchbooten, und 
auf diese als die nach unserer Ansicht allein modernen 
Boote wollen wir uns von jetzt an beschränken, ist mit 


Abb. 9. Deutsches Tauchboot, tauchbereit in Ruhelage. 


dem Füllen der äußeren Tanks nur die grobe Klutarbeit 
geschehen. Das Boot hat nun noch mehrere Tonnen Auf- 
trieb, der noch bis auf einen geringen Rest, den Restauf- 
trieb (etwa ı t) vernichtet werden muß, damit das Boot 
tauchbereit ist. Dazu werden nun weitere druckfeste 
Innentanks gefüllt, bis der gewünschte Restauftrieb vor- 
handen ist; dann wird das Boot durch Trimmen, d. h. 
durch Bewegen von Wasserballast von vorn nach achtern 
oder umgekehrt auf ebenen Kiel gelegt. Jetzt ist das Boot, 
von dem nur der Oberteil des Turms aus dem Wasser 
sieht, tauchbereit (vgl. Abb. 9). Betrachten wir uns 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft. 3 


I4 Meereskunde. 


den Zustand des Bootes näher, so finden wir einmal, dab 
es zwar noch schwimmt, aber nur mit dem geringen Auf- 
trieb von ı t. Dringt also mehr als ı t Wasser ins Boot, 
so versinkt dieses, wenn es ihm nicht gelingt, das Wasser 
sofort wieder zu entfernen. Jeder wird einsehen, dab 
hierin ein Gefahrmoment liegt. Ein zweites liegt aber in 
dem empfindlichen Gleichgewichtszustand des Bootes, 
seiner überaus geringen Längsstabilität. Diese — hervor- 


gerufen durch die fast völlige Eintauchung des Bootes, 


Abb. 10, Deutsches Tauchboot, Umsch 


fe 


au haltend. 


also den Verlust jeglicher Formstabilität — erlaubt es 
dem Boot ja zwar in Verbindung mit dem minimalen Auf- 
trieb, jeder Bewegung der Tiefenruder prompt und auf der 
Stelle zu folgen, aber sie — die geringe Längsstabilität — 
ist auch gefährlich, da ein Wassereinbruch vorn oder 
achtern sofort die Gleichgewichtslage des Bootes stört 
und bestrebt ist, das Boot auf und nieder zu stellen. Das 
wird auch geschehen, wenn es nicht durch die zu geringe 
Wassertiefe oder durch sofortiges Entfernen des einge- 
drungenen Wassers daran verhindert wird. In dieser ge- 
fährlichen Lage z. B. befand sich gerade „U 3“, als der 
Wassereinbruch, der unbemerkt eine Größe von etwa 20t 
annahm, erfolgte, und in dieser kritischen Lage befindet 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, „U 3“. ı 5 


sich jedes U-Boot während der Unterwasser-Fahrt. 
Wassereinbrüche sind dann höchst gefährlich, besonders 
wenn sie an den Schiffsenden und wenn sie von oben her 
erfolgen. Nur ein momentanes Auftauchen, das die Ein- 
bruchstelle über Wasser bringt, und ein sofortiges Lenzen 
mittels kräftiger, sofort wirkender Mittel kann ım Verein 
mit dem Schlippen der Sicherheitsgewichte — wo diese 
vorhanden sind — in diesem Falle vielleicht helfen. Sehen 


Abb. ı1. Englisches Unterwasserboot „B 4“. 


wir uns die vorgekommenen Unfälle dieser Art an, so 
werden wir feststellen können, daß alle die Fälle, bei 
denen infolge von Kollision einbedeutender Wasser- 
einbruch unter Wasser erfolgte, bisher zur Katastrophe 
geführt haben; kamen die Boote heil davon, so hat sie 
ihre überaus feste Konstruktion eben vor der drohenden 
Gefahr des größeren Wassereinbruchs bewahrt. Die 
bekannten Fälle sind folgende: 

 Diesiranzesische , Bonite mitzdenm Panzerschitt 
„Süulisen 1906; „Sullten‘ erhielt ein l\eck, „Bonite “blieb 
dicht und kam hoch. 


‘ 


16 Meereskunde. 


2. Dieselbe ,Bonite” mit ,Sotileur , alsoszye 
U-Boote untereinander. ‚Souffleur“ blieb dicht, auf 
„Bonite‘ wurde zwar ein Luk undicht, aber in nur ganz 
geringem Maße. Beide Boote kamen hoch. 

3. Das englische ‚A 8% mit Dampier ‚‚Coath 71007 
„A 8° wurde leck, kam aber, angeblich durch Schlippen 
der Sicherheitsgewichte, die inzwischen ın England auf- 
gegeben zu sein scheinen, hoch. Stimmt die Darstellung, 
so ıst das Leck nur unbedeutend gewesen, da nicht mehr 
Wasser eindrang, bis das Boot die Wasseroberfläche er- 
reichte, als das Gewicht der Sicherheitsgewichte (meist 
ı bis 2% des Deplacements) betrug. 

4. Das englische „A I“ mit dem Dampfer „‚Berwick- 
Castle‘ beim Nab-Feuerschiff 1904. Das Boot wollte einen 
englischen Kreuzer angreifen und fuhr dazu völlig ge- 
taucht — ohne die Sehrohre zu zeigen —; der Komman- 
dant hatte anscheinend übersehen, daß ein rückwärts von 
ihm stehender, also zunächst ungefährlicher Dampfer 
— die „Berwick-Castle‘ — nach dem Passieren des 
KFeuerschiffes Kurs ändern und ıhm in den Weg laufen 
könne. Der Dampfer änderte aber beim Feuerschiff seinen 
Kurs, kreuzte den des Bootes und traf es am Turm; das 
l.eck war nicht sehr bedeutend, aber das U-Boot konnte, 
weil es unter den Dampfer geriet, nicht sofort auftauchen, 
was aus den vorher genannten Gründen Bedingung für 
seine Rettung war. Außerdem muß man annehmen, dab 
der Kommandant im Turm durch die Kollision verwundet 
oder betäubt war und die Leute von ihren Posten weg- 
geschleudert waren. Das Boot kam also nicht hoch, die 
ganze Besatzung kam um. Als Konstruktionsfehler — in 
heutigem Sinne — ergab sich das Fehlen eines wasser- 
dichten Abschlusses zwischen Turm und Druckkörper. 

5. Nicht weniger schmerzlich und noch frischer in 
der Erinnerung ist der Untergang der ‚„Pluviöse‘‘ 19Io in- 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U3“. 17 


folge Unterwasser-Kollision mit dem Dampfer „Pas de 
Calais‘‘, wobei ebenfalls die ganze Besatzung umkam. 
Der Vorfall ist für uns nicht ganz aufgeklärt, besonders 
ist nicht klar, warum der Kommandant vor der Hafen- 


einfahrt eine Tauchfahrt machte, ohne sein Sehrohr zu 
benutzen. Das ist natürlich nicht ratsam und heute in 
den meisten Marinen — allerdıngs wahrscheinlich erst 


Bonn 02 EN EZ 
Pe 


in i IECEI Ba ine 
Abb. ı2. Französisches Tauchboot ‚Pluviöse‘“. 


auf Grund schmerzlicher Erfahrungen — verboten. Jeden- 
falls wurde das Boot von dem Dampfer überlaufen und 
erhielt ein schweres Leck oben im Achterschiff. Es sank 
sofort mit dem Heck auf den Grund, der Bug war noch 
einige Zeit sichtbar, verschwand dann aber auch, nach- 
dem die noch im Boot befindliche Luft durch das Vorluk 
entwichen war. Dieses wurde halb offen vorgefunden; die 
Besatzung hatte offenbar, von dem Qualm der Brände, 
den die kurzgeschlossenen Akkumulatoren verursachten, 
gezwungen, versucht, durch das Luk zu entkommen, war 


18 Meereskunde. 


aber durch das von achtern nachdringende Wasser er- 
trankt worden. 

6. Die mehrerwähnte französische „Bonite“ mit der 
„Alose‘“, also wıeder zwei U-Boote untereinander, Ok- 
tober 1910. Beide Boote liefen infolge eines Mißverständ- 
nisses gleichzeitig, aber aus verschiedenen Stellungen 
zum Torpedoschuß an. Sie faßten sich recht heftig, er- 
litten aber nur geringe Beschädigungen und kamen beide 
glatt an die Oberfläche. 

Ich denke, daß diese Statistik unser anfängliches 
Urteil im wesentlichen bestätigt; denn wenn auch einzelne 
der genannten Unterwasser-Kollisionen vermeidbar er- 
scheinen, so wird man doch zugeben müssen, daß die 
Mehrzahl durch die Eigenart des U-Bootsdienstes verur- 
sacht wurde. 

Das-Vollautfen von U-Bootenr ats 
deren’UÜrsachen selegentbich” ih rerzyce 
wendung. — In den Jahren, als sich die U-Bootswaffe 
in ihren Anfangsstadien befand, sind eine ganze Reihe von 
Unfällen dieser Art infolge falscher Handhabung und Be- 
dienung vorgekommen, die wir unter die Unfälle see- 
männischer Natur rechnen wollen, die man aber auch, da 
sie zum großen Teil auf mangelhaftes \Vertrautsein des 
Personals mit der U-Bootstechnik oder auf Mängel 
dieser Technik selbst zurückzuführen sind, ebenso gut 
unter die Unfälle technischer Natur rechnen könnte. 
Ich möchte die weiter zurückliegenden dieser Unfälle 
hier übergehen, es ist aber doch gut, sich die Tat- 
sache, daß solche Unfälle in erheblicher Zahl früher 
bei den anderen Nationen vorgekommen sind, zu ver- 
gegenwärtigen; denn in mancher Hinsicht befinden 
wir uns jetzt in dem entsprechenden Stadium der 
Entwicklung. Da müssen die ım Ausland gemachten 
Erfahrungen natürlich dazu dienen, uns gewitzt und 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf „U 3“. 19 


vorsichtig zu machen, sie sollen aber auch unser 
Selbstgefühl stärken, wenn uns einmal etwas Ähnliches 
passiert. Denn mit Erfahrungen ist es eine eigene 
Sache; wenn man sagt: Erfahrung macht klug, so meint 
man damit mit Recht besonders die am eigenen Leibe 
gemachten, nicht die Erfahrungen anderer. \on den 
größeren Havarien dieser Art, also Wassereinbrüchen, 


Abb. ı3. Deutsches Tauchboot nach der Unterwasserfahrt. 


Die Ventilationsmasten werden wieder aufgerichtet. 


die in der Hauptsache auf falsche Verwendung zurück- 
zuführen sind, müssen erwähnt werden: 

ı. Der Untergang des russischen U-Bootes „Del- 
phin“ in Petersburg 04, wo bei einer Tauchübung am Kai 
22 Mann ertranken. Um den Mannschaften das Tauchen 
vorzumachen, wurden immer 33 Mann in das U-Boot 
hineingesteckt, dann wurde das Boot geflutet und ver- 
senkt, dann wurde aufgetaucht, neue 33 Mann wurden 
eingeschifft usw. Um die langweilige Übung aber etwas 
abzukürzen, wurde immer schon geflutet, während die 
Leute beim Einsteigen waren. Nun, einmal wurde etwas 
zu schnell geflutet, das Boot versank schon, als der letzte 


20 Meereskunde. 


Mann noch im Luk war; dieser wurde zwischen Luk- 
deckel und Luksüll festgeklemmt, das Boot lief durch das 
halb offene Luk voll und 22 Menschen kamen um. 

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß dieser Unfall 
mit der Wesensart des U-Bootes gar nichts zu tun hat, 
sondern lediglich auf Fahrlässigkeit, die nur durch die 
damals noch minimale Erfahrung etwas gemildert er- 


scheint, zurückzuführen ist. 


Abb. 14. Englisches Unterwasserboot ‚,C 22‘. 


2. Das englische U-Boot „A 8° ging\ım jahre 
1905 mit offenen Luken fahrend dadurch unter, daß der 
Kommandant bei halbgetlutetem Zustand des Bootes das 
Vertikal-Ruder hart legte. Das Boot legte sich stark 
über, das innere  Horızontalruder -tauchte 2195 
Wasser, wirkte natürlich auf Tauchen, und das mit nur 
geringem Auftrieb versehene U-Boot tauchte sozusagen 
mit offenen Luken. Der Kommandant wurde, noch ehe 
er die Ruder den anderen Weg legen lassen konnte, weg- 
gespült, das Boot ging mit 15 Personen unter, die sämt- 
lich umkamen. In erster Linie liegt hier falsche Hand- 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf,, U 3“. 21 


habung vor, da in dem stark gefluteten Zustand des 
Bootes die Luken ohne Zweifel hätten geschlossen sein 
müssen; aber in diesem Falle steht der Mangel an Er- 
fahrung — und zwar in erheblichem Maße — dem Kom- 
mandanten zur Seite. 

3. Der bekannteste Fall aus dieser Gruppe ist wohl 
der Untergang des französischen „Farfadet beı Bizerta 
1905 mit seiner ganzen Besatzung, der dadurch erfolgte, 
daß man versuchte, in geflutetem Zustand des Bootes 
einen nicht ganz dicht schließenden Lukdeckel nochmals 
zu lüften und dann völlig zu schließen. Da sich das Boot 
schon ın Fahrt befand, faßte der Fahrtstrom den nach 
achtern schlagenden Deckel, rıb ıhn völlıg auf, das Boot 
lief zum Teil voll Wasser und versackte. Zwar schloß 
sich nun der Lukdeckel durch den Wasserdruck wieder, 
es war aber mehr Wasser eingedrungen, als durch Aus- 
blasen entfernt werden konnte, das Boot blieb also auf 
dem Grunde liegen, und die Besatzung erstickte. Es ist 
klar, daß auch dieser Unfall mit der Wesensart des 
U-Bootes nicht unbedingt zusammenhängt; denn erstens 
war das nochmalige Öffnen des Luks unter den vorliegen- 
den Umständen offenbar ein Bedienungsfehler, zweitens 
war das nach hinten schlagende Luk natürlich ein Kon- 
struktionsfehler, der aber damals erst als solcher erkannt 
wurde. 

Der „Rartadet Ball’ hat) übrigens viel> von” sich 
reden gemacht, weil er ein Musterfall für die Notwendig- 
keit eines Bergungsschiffes war und ist. Das Boot, dessen 
Insassen nachweislich noch über zwei Tage gelebt haben, 
lag in tiefem Wasser auf dem Grunde. Ein Schiff wie der 
„Vulkan“ oder eigens zu diesem Zweck gebaute Hebe- 
kräne hätten es unter günstigen Umständen in 
— schätzungsweise — sechs Stunden ans Tageslicht 
befördert, damals gelang die mit primitiven Mitteln be- 


Meereskunde. 


[667 
185) 


triebene Bergung erst am dritten Tage, als die Mann- 
schaft von ihren Leiden erlöst war. Aber auch sie ist 
nicht umsonst gestorben, da ıhr tragisches Geschick das 
U-Boots-Bergungswesen mächtig gefördert, ja es eigent- 
lich ins Leben gerufen hat. 

Unser Urteil über die Unfälle, wie sie soeben ge 
schildert sind, können wir dahin zusammenfassen, daß sie 
damals, als sie entstanden, mit der Wesensart des Unter- 


Aus „Überall“, XII. Jhrg., 5. Heft. 


seebootes — unvollkommen und von wenig erfahrenen 
Menschen gehandhabt, wie es damals war — wohl in 


gewissem Zusammenhang standen, aber nur ın geringem 
Maße. Für die Jetztzeit ist das aber überhaupt. nicht 
mehr zutreffend. Sie scheiden also aus der Reihe der- 
jenigen Fälle, die mit der Wesensart des U-Bootsdienstes 


heute verbunden sind, aus. 


Unfälle technischer Natur. 
\Vır kommen nun zu den Unfällen technischer Natur; 
wie schon gesagt, verstehen wir darunter Unglücks- 
fälle, die dem Versagen einzelner Einrichtungen oder 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U3“. 23 


eines Apparates zuzuschreiben sind, wobei wir einen 
grundsätzlichen Unterschied zwischen Bedienungs-, Kon- 
struktions- und Bauausführungsfehlern weder machen 
wollen noch dürfen. Die Besatzung der U-Boote, die 
Konstrukteure, die Bauleiter und ihre Unterorgane, sie 
sind alle Menschen und, sich gelegentlich zu irren, ist 
ein allen Menschen gemeinsamer Fehler, aber auch ein 
allen gemeinsames Recht. Ein Recht zum Irren besteht 


Abb. 16. Englisches Unterwasserboot „D 1“. 


natürlich nur, wenn man neuen, noch unerprobten oder 
nicht genügend erprobten Dingen gegenüber steht. Nun 
wohl, zugegeben, daß die Apparate und Einrichtungen 
neu waren, die seinerzeit die Unfälle verursachten, von 
denen wir nachher hören werden, gibt es heute keine 
neuen Sachen mehr auf U-Booten? Ich meine doch, auch 
hier oder gerade hier heißt es: semperaliquid novi. So 
sicher, wie man nicht berechtigt ist zu sagen, daß die 
Konstruktion der U-Boote abgeschlossen sei, so sicher ist 
es, daß der Unfall technischer Natur noch nicht ver- 
schwunden sein kann. Auch indiesem Punkte möchte 
ich mich in einen Gegensatz zu den eingangs erwähnten 
Autoren stellen, obwohl ich ihrer Erfahrung gewiß nicht 


24 Meereskunde. 


gewachsen bin. Ich meine, eine Waffe, ein Schiffstyp, 
der, wie die U-Boote, in rapider Entwicklung begriffen 
ist, bei dem kaum ein Boot dem andern gleicht, weil jeder 
Neubau wieder neue Einrichtungen und Erfindungen ver- 
körpert, birgt auch heute noch die Möglichkeit, ja 
auf die Dauer die Gewißheit technischer Unfälle in 
sich. Daß das richtig ist, wird auch die folgende Betrach- 
tung lehren. 

Zu den technischen Unfällen rechnet in erster Linie 
die Gruppe der Explosionen, die wieder einzuteilen ist in 
Ölexplosionen und Knallgas-Explosionen. 

Die Ölexplosionen. — Die Ölexplosionen 
sind sehr häufig gewesen und kommen trotz aller 
Gegenmaßregeln auch heute noch vor, wo leichte 
Öle (Benzin, Benzol, Gasolin) zum Betriebe der Mo- 
toren verwendet werden. Dieses geschah und ge- 
schieht noch wegen der höheren Leistung, die diese 
Motoren im Vergleich zu den Schwerölmotoren haben, 
und weil man die einmal für leichte Öle konstruierten 
Motoren nicht einfach für Schweröl, d. h. Petroleum oder 
auch Rohöl oder Treiböl, umändern kann; es kann aber 
nur unter Aufgabe der Betriebssicherheit geschehen. 
Auch die bekannten weißen Mäuse und patentierte Appa- 
rate, die das Vorhandensein explosibler Gemische an- 
zeigen sollen, können da nicht immer helfen. Denn geringe 
Leckagen der Rohrleitungen usw. sind unvermeidlich und 
bilden eine stete Gefahr, die oft nicht mehr abzuwenden 
ist, wenn sie bemerkt wird. Die genannten leichten Öle 
vergasen nämlich an der Luft schon bei niedrigen, im 
U-Boot immer vorhandenen Temperaturen in dem 
Maße, daß sie mit der Luft ein explosibles Gemisch bilden, 
das z. B. durch einen elektrischen Funken zur Explosion 
gebracht werden kann. Und der elektrische Funke wird 
auf U-Booten bei der Fülle der elektrisch betriebenen 
Apparate wohl selten fehlen! Z. B. Benzol! Ein Luft- 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, ,U3“. 2 


nn 


und Benzol-Gemisch muß 2,6—6,5 Volumprozent Benzol 
enthalten, um explosibel zu sein, die Luft nımmt aber 
bei 0° schon 3,4 Volumprozent Benzol auf, also ist bereits 
bei 0° die Explosionsgefahr da, gar nicht zu reden von 
höheren Temperaturen. Diese große Gefahr, die der 
Leichtölmotor ın das U-Boot hineinträgt, ist es in erster 


Linie gewesen, die uns, d. h. also das Reichs-Marine-Amt, 


verhindert hat, früher an den U-Bootsbau heranzugehen. 


Damals gab es keinen brauchbaren Schweröl-Motor für 
Schiffszwecke; er war auch nirgendswo zu bekommen; 
und erst der bekannten Firma Körting ın Körtingsdorf 
bei Hannover gelang die Konstruktion. Dank dem um- 
sichtigen Vorgehen des Reichs-Marine-Amts ist denn 
auch unsere Marine von Ölexplosionen völlig verschont 
geblieben. Die schwersten Unfälle dieser Art in den an- 
dern Marinen sind folgende: 

san demzengelischenz, A. (1905),2,Offiziere und 
4 Mann wurden getötet, 9 Mann verletzt; 


2m Brühjahr‘ 1909 aut der> italienischen ‚Foca” 


26 Meereskunde. 


in Neapel. Beim Übernehmen des Benzols hatte sich das 
explosible Gemisch infolge von Leckagen zwischen dem 
Druckkörper und dem Oberdeck angesammelt und wurde 
hier, wahrscheinlich durch eine fortgeworfene Zigarette, 
entzündet. Das Oberdeck wurde durch die Explosion ab- 
gesprengt; 13 Personen wurden getötet, 7 schwer ver- 
wundet; 

3. Im Sommer I909 auf einem russischen U-Boot 
beim Probieren der Motoren; ı Toter, 13 Verletzte; 

4. Juni 1909 auf dem englischen ‚„C 26“, also einem 
neuern Boot; 3 Schwerverletzte; 

5. noch kürzlich, nämlich im August 1910, auf dem 
englischen „A ı“, wobei 2 Offiziere und 5 Mann schwer 
verletzt wurden. 

Zahlreiche weitere Fälle geringen Umfangs mögen 
unerwähnt bleiben. 

Die Kmallgasexplosionen — Weit wente 
ger verhängnisvoll, aber immerhin gefährlich waren und 
sind die Knallgas-Explosionen, die besonders beim Laden 
der Akkumulatoren vorkommen können, indem die sich 
dabei bildenden Gase, ım besonderen der Wasserstoff 
nicht völlig aufgenommen wird, sondern mit dem Sauer- 
stoff der Luft Knallgas bildet. Geschieht das, so ist Ge- 
fahr vorhanden — denn der zur Entzündung nötige elek- 
trische Funke fehlt, wie gesagt, auf einem U-Boot nie —, 
falls das explosible Gas nicht durch Ventilation sofort be- 
seitigt wird. Natürlich haben alle modernen Akkumula- 
torenanlagen der U-Boote eine besondere Ventilationsan- 
lage, die die Gefahr beseitigen soll; aber auch diese Anla- 
gen hatten und haben stellenweise ihre Unvollkommen- 
heiten, sie können auch einmal versagen oder nicht rich- 
tig bedient werden. Tatsache ist jedenfalls, daß bis ın 
die letzte Zeit solche Explosionen vorgekommen sind, 
durch die zwar Verletzungen von Personen nur in weni- 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf.,U3“. 27 


gen Fällen verschuldet wurden, die aber zum Teil ganz 
erhebliche Materialschäden verursacht haben. 

Der Vollständigkeit halber seien hier auch die be- 
kannten Chlorknallgas-Explosionen erwähnt, die sich auf 
gesunkenen und wieder gehobenen U-Booten ereig- 
net haben. Chlorknallgas bildet sich bisweilen in ge- 
sunkenen U-Booten, wenn die unter Strom stehenden 
Elemente mit Seewasser in Berührung kommen. Dieses 
Gas ist außerordentlich gefährlih, da es schon ım 
Sonnenlicht explosibel ist; diese Explosionen können aber 
als gewissermaßen sekundärer Natur aus der Betrachtung 
ausscheiden, da uns hier die Gefahren des Betriebes auf 
dem fahrenden, noch intakten Boot interessieren. 

Im ganzen läßt sich das Urteil über die Explosionen 
doch wohl nur dahin zusammenfassen, dab sie mit der 
Wesensart der U-Boote eng verbunden sınd; ich möchte 
auch die Ölexplosionen hierbei nicht ausnehmen, denn der 
Leichtölmotor war eine Zeitlang auf U-Booten eine con- 
ditio sine qua non, während die übrige Schiffahrt sich 
ohne ihn behelfen konnte. 

Bias Netsa sem sernzelner Mechanis- 
m en. — Die zweite Gruppe der Unfälle technischer Na- 
tur setzt sich zusammen aus den Fällen, in denen das Ver- 
sagen einzelner, zu den Flut- und Lenzeinrichtungen der 
Boote gehörender Mechanismen zur Katastrophe geführt 
hat. Von der Komplikation dieser Mechanismen gibt 
das kürzlich auch im Überall erschienene Bild vom Innern 
des norwegischen U-Bootes „Kobben“ eine, wenn auch 
nur allgemeine Vorstellung (vgl. Abb. 18). 

Die Fälle sind folgende: 

I. Der Untergang des französischen „Lutin“ im 
Jahre 1904. Das Außenbordsventil des achtern Trimm- 
tanks ließ sich nicht schließen, als das Boot in tauch- 
bereitem Zustand war, also nur ganz geringe Längs- 


28 Meereskunde. 


stabilität und fast keinen Auftrieb hatte. Infolge des 
\Versagers strömte achtern zu viel Wasser ın den Tank, 
das Boot wurde achterlastig, verlor seinen Restauftrieb 
und sank in stark schräger Lage, wodurch natürlich 
Gegenmaßregeln sehr erschwert wurden. Auf größerer 
Tiefe sprengte dann der wachsende hydrostatische Druck 
die Tankdecke, das Wasser brach in das Boot ein, und 
die ganze Besatzung kam um. Ein Stein soll sich zwi- 
schen den Ventilteller und den Ventilsitz geklemmt haben. 
Wie kam der dahin? Durch Fahrlässigkeit der Besatzung 
oder der Bauausführung? Oder war etwa das Ventil 
falsch konstruiert, sodaß sich Fremdkörper von außen, 
z. B. wenn das Boot auf dem Grunde lag, einschleichen 
konnten? Wir lassen das dahingestellt, da es hier nicht 
unsere Aufgabe sein kann, die Schuldfrage zu entschei- 
den; wichtiger ist uns die Frage, ob ein solcher oder ein 
ähnlicher Versager heute auf Unterseebooten unmög- 
lich ist. Die Antwort lautet: wahrscheinlichäist 
er nicht, unmöglich aber auch keinesfalls. Denke 
man sich nur an Stelle des Steins eine Schraubenmutter 
oder einen Bolzen oder gar einen Nietkopf. Dieser kann 
z. B. durch die Bootserschütterungen infolge des 
Motorengangs abgesprengt sein, eine Fahrlässigkeit 
braucht garnicht vorzuliegen. 

2. Der zweite Fall ıst der Untergang des japani- 
schen U-Bootes Nr. 6 ım April 1910 angeblich dadurch, 
daß die Verbindung eines Antriebsrades mit dem Ventila- 
tionsschieber, der gerade geschlossen werden sollte, riß. 
Da das Ventil selbst nıcht ohne weiteres zugänglich war, 
sank das Boot, in das nun das Wasser ungehindert weiter 
einströmen konnte, auf den Grund, unglücklicherweise 
auf 60 m. Wasser. Obwohl es nachher gelang, den 
Schieber zu schließen, war doch schon mehr Wasser ein- 
gedrungen, als ausgeblasen werden konnte; außerdem 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U 3“. 29 


Abb. 18. Motorraum des Norwegischen Tauchbootes ‚Kobben‘. 
Aus „Überall“, XII, Jhrg., 5: Heft. 


wurde, da der Druckkörper auf eine Tiefe von 60 m nicht 
konstruiert war, das Boot durch den Wasserdruck erheb- 
lich leck, und die Akkumulatoren kamen unter Wasser. 


Dadurch wurden diese kurzgeschlossen, das Licht ging 


30 Meereskunde., 


aus, und es entwickelten sich erstickende Dämpfe, durch 
die die Besatzung, der es nicht gelang, das Wasser mit 
den Handpumpen zu entfernen, erstickte. In diesem 
Falle, der“ dem ,„,U3’-Fallin’ semen "Ursachen undasa 
seinem Verlauf ganz außerordentlich ähnlich ist, soll nach 
japanischer Quelle der Kettenbruch auf unvorsichtige, 
zu heftige Bedienung des Antriebs zurückzuführen sein. 
Ich möchte einwenden, daß eine solche Kette so stark 


(Versuchsboot). 5 


sein muß, daß sie aus solcher Ursache nicht brechen 
kann. Es ist aber für uns nicht nötig, die Frage nach 
dieser Richtung hin zu klären. Uns interessiert nur 
die Frage, ob der Unfall mit der Wesensart der U-Boote 
in Zusammenhang steht, und diese Frage müssen wir 
doch wohl bejahen. Solange Menschenwerk besteht, und 
solange Menschen die Herstellung und Wartung so zahl- 
reicher neuartiger Mechanismen, wie sie auf U-Booten 
vorhanden sind, zu versehen haben, wird es wohl hin und 
wieder vorkommen, daß durch ein Zusammentreffen 
mehrerer unglücklicher Umstände eine solche Kette oder 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf „U 3“. 31 


ein Gestänge oder dergleichen bricht oder versagt, wahr- 
scheinlich allerdings nur sehr selten und hoffentlich nicht 
wieder in einer so kritischen Lage wie die war, in der 
sich das japanische U-Boot befand. 

3. Am 17. Januar ı91ı — hiermit kommen wir zu 
dem uns am meisten interessierenden Fall — sank das 
deutsche U-Boot „U 3‘ in der Heikendorfer Bucht da- 
durch, daß der Schieber des achtern \entilationsmastes 
nicht völlig ge- 
schlossen war, 
ohne daß es je- 
mand bemerkte, 
und als man es 
bemerkte, auch 

nicht ge- 
schlossen wer- 
den konnte; das 
Boot befand 
sich in tauchbe- 


reitem Zustand. 


Das Gestänge - — 
: . Abb. 20. Abschlußschieber des achteren Ven- 
ließ sich weder 


tilationsmastes auf „U 3‘ in der Stellung, in der 
vor- noch rück- er die Havarie des Bootes verursachte. 


wärts bewegen, 

da es sich festgefressen hatte. Der Schieber saß in nahezu 
geschlossener Stellung — es fehlten 28 mm — fest. (S. den 
sichelförmigen Spalt hinter der Schieberstange in Abb. 20; 
vgl. auch Abb. 13.) Durch die schmale Öffnung floß 
Wasser, während dasBoot — einSchulboot — die erste schul- 
mäßige Flutübung des betreffenden Kursus vornahm, ın 


eines der sich vom \entilationsmast abzweigenden \enti- 
lationsrohre, das unten in der Maschinen-Raumbilge 
mündet. Da niemand die Rohrmündung sehen konnte, 
auch das Geräusch des einströmenden Wassers nicht 


Meereskunde. 


95) 
159) 


leicht zu hören war, weil die Rohrmündung sich der 
Rundung der Bilge anschließt, so wurde der Weasser- 
einbruch zunächst nicht bemerkt. Erst das Spritzen eines 
andern geschlossenen Schiebers belehrte die Besatzung 
darüber, daß Wasser in der Rohrleitung sei. Der herbei- 
geeilte Ingenieur des Bootes fand die Maschinenraum- 
bilge schon annähernd voll: sie faßte etwa 22t Wasser! 
Die Lage war äußerst kritisch, das war dem Komman- 
danten sofort klar, und die nötigen Befehle zum Lenzen 
der Tanks, zum Schließen der Schotten und zum Schlip- 
pen der Sicherheitsgewichte wurden prompt, in einem 
Atem gegeben. Ihre sichere und schnelle Ausführung 
konnte aber das Unheil nicht mehr wenden, es war schon 
zuviel Wasser eingedrungen, als die Gefahr bemerkt und 
erkannt wurde. Das in tauchbereitem Zustand befind- 
liche Boot konnte natürlich auf die große achterliche Be- 
lastung nur in der Weise reagieren, daß es mit dem Heck 
voran auf den Grund sank. Bei der vorhandenen Wasser- 
tiefe von 12 m stieß das Boot bald mit dem Heck auf den 
Grund und stellte sich, da vorn Auftrieb vorhanden war, 
schräg zur Horizontalen. Infolge der schrägen Lage des 
Bootes strömte nun das eingedrungene Wasser achtern 
zusammen, überflutete die Schaltungen und führte den 
Kurzschluß der elektrischen Batterien herbei. Die Stark- 
stromentladung verursachte durch  Erhitzung der 
Klementverbindungen den Brand der vorderen Batterie, 
indem diese glühenden Eisenteile ihrerseits Gummiteile 
in ‘Brand  versetzten ‘und die "Saure erhitzten. Die 
erstickenden Dämpfe dieses Brandes zwangen den Kom- 
mandanten, die Besatzung vor das vordere druckfeste 
Schott zu schicken, während er selbst in den Turm zu- 
rückkehrte, um von hier aus, unterstützt vom Wach- 
offizier und Rudergast, das Ausblasen der Tanks fortzu- 
setzen. Es gelang ihm auf diese Weise das Vorsekhin: 


Unterseeboöts-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf „U 3“. 33 
bis in die Wasserlinie zu heben, das Achterschiff konnte 
er, da infolge des vermehrten hydrostatischen Druckes 
achtern inzwischen zuviel Wasser eingedrungen war, 
nicht mehr hoch bringen. Bezüglich der Bergung des 
Bootes, mit ıhrem glücklichen Anfang und ıhrem tragı- 
schen Ende, verweise ich auf das Märzheft der Marine- 
Rundschau, das dıe genaue Beschreibung dieser \or- 
gänge vor einigen Tagen gebracht hat. Ich möchte hier 
nur kurz feststellen, daß bis auf den Schieber alle Eın- 
richtungen des Bootes intakt waren und tadellos funk- 
tionierten, einschließlich der Hauptlenzpumpe, die ein- 
wandfrei arbeitete, bis die Saughöhe für sie zu groß 
wurde. Daß die Havarıe den Umfang annehmen konnte, 
lag ın allererster Linie daran, daß sıe sehr spät bemerkt 
wurde. Die vorgeschrittene Abendstunde gestattet leider 
nicht an dieser Stelle auf diese Dinge näher einzugehen. 
Die Frage nach der Ursache dieser Havarie können wir 
dahın beantworten, daß auch hier eine Kombination, eın 
Zusammenwirken mehrerer unglücklicher Umstände vor- 
gelegen hat; nur diesem Zusammenwirken verschiedener 
ungünstiger Faktoren ıst die Havarıe und ihr tragischer 
Ausgang zuzuschreiben. Alle Lehren, die aus dem trau- 
rigen Ereignis gezogen werden können, werden selbstver- 
ständlich auf das Gewissenhafteste verwertet und werden 
dazu beitragen, eine ähnliche Havarie in Zukunft auszu- 
schließen, soweit dieses eben menschenmöglich ist. 

Wie steht aber nach der Betrachtung der letzten drei 
Unfälle unser Urteil über die Möglichkeit technischer Ha- 
varıien auf U-Booten? Ich meine, wir bleiben bei unserer 
Ansicht. Sie sind vorgekommen, sie können auch ferner- 
hin vorkommen, solange eine Neuerung die andere auf 
den U-Booten, so zu sagen, jagt. Hoffen wir, daß es 
angestrengtester Aufmerksamkeit an allen Stellen ge- 
linge, sie von unserer Marine in Zukunft fernzuhalten. 


Meereskunde. 


(95) 
IS 


Unser Gresamturteil über die U-Boots-Unfälle können 
wir dahın zusammenfassen, daß erstens ihre Häufigkeit 
und die Gefahr, die in ihnen liegt, einer wesentlichen Über- 
schätzung ausgesetzt ist. Diese Ansicht wird auch durch 
die Statistik unterstützt, die ermittelt hat, daß von 1903 
bis 1910 einschließlich, also innerhalb von acht Jahren, 
in allen in Betracht kommenden Marinen auf und in 
U-Booten 208 Personen ums Leben gekommen sind, d.h. 
also 26 Personen jährlich. Bedenkt man, daß an dieser 


Abb. 21. Amerikanisches Unterwasserboot ‚Narwhal‘. 


(Quote sechs größere und mehrere kleine Marinen Anteil 
haben, und daß ım Mittel etwa 130 Boote mit etwa 2600 
Mann an dieser Ziffer beteiligt waren, so ergibt sich eine 
Sterblichkeit auf U-Booten infolge von Unfällen von 
ı % im Jahr. Also eine keineswegs erschreckende Ziffer, 
deren Bedeutung noch weiter dadurch schwindet, daß 
man eine prozentuale Abnahme der Unfälle anzunehmen 
berechtigt ist. Denn wir haben zweitens feststellen kön- 
nen, daß die große Mehrzahl der Unfälle mit der Wesens- 
art des U-Bootes an sich nicht untrennbar verbunden war 
— so die Überwasser-Kollisionen, die Explosionen und 


ein Teil der technischen Unfälle —, sondern infolge man- 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, „U 3“. 35 


gelnder Sachkenntnis und Erfahrung in seemännischer 
und technischer Hinsicht eingetreten ist. Niemand wird 
leugnen wollen, daß, da auf seemännischem wie techni- 
schem Gebiete die Erfahrung in hohem Maße gestiegen 
ist, logischerweise auch eine Abnahme der Unfälle ein- 
treten muß. Einem Optimismus allerdings, der schon 


Abb.22. Englisches Unterwasserboot „‚D ı“ mit funkentelegraphischer 
Einrichtung, mit dem Kreuzer Drake in See gehend. 


das völlige Verschwinden der U-Boots-Unfälle voraus- 
sagt, können wir uns nicht anschließen. Besonders in 
der Verwendung der U-Boote werden die Anforde- 
rungen immer mehr gesteigert werden. Dadurch wird 
das geschulte Personal wieder vor neue Anforderungen 
gestellt, die auch wieder neue (Gsefahren mit sich bringen. 
Und schließlich, wo gehobelt wird, da fallen Späne; das 
ist nun einmal so, und es ist gut, sich das klar. zu 
machen. Ein Altersheim oder eine Bewahranstalt ist die 
Seefahrt in ihren verschiedenen Berufszweigen überhaupt 


6 Meereskunde. 


(O8) 


nicht, also mit Unfällen in geringer Zahl wird auch bei 
der U-Waffe zu rechnen sein. Auch hier heißt es navi- 


gare necesse est, vivere non. 


Sicherungen gegen U-Boots-Unfälle. 


Hiermit werden wir unwillkürlich auf die Frage nach 
den Einrichtungen hingelenkt, die dazu erfunden und 
konstruiert sind, Unfällen auf U-Booten vorzubeugen 
oder sie in ihren Folgen zu bekämpfen. Wir betreten 
hiermit ein neues, außerordentlich großes Gebiet, von dem 
ich Ihnen heute Abend nur noch eine Einteilung geben 
kann. Es handelt sich im allgemeinen um 

t. Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen, dıe dazu 
dienen sollen, das Entstehen einer Havarie überhaupt zu 
verhüten. 

2. Rettungseinrichtungen der Boote und der Mutter- 
schiffe, die darauf abzielen, das Leben der Besatzungen 
havarierter U-Boote zu erhalten oder diese aus dem ge- 
sunkenen Boote zu retten. 

3. Bergungseinrichtungen, die die Hebung der ge- 
sunkenen Boote mit ihrer Besatzung zum Zweck haben. 

Zur ersten Gruppe gehören die Flut- und Lenz- 
einrichtungen im Boot sowie alle Apparate, die die 
Kontrolle dieser Einrichtungen sicherstellen sollen, ferner 
die sämtlichen Kommando-Elemente, die Warnapparate 
vor giftigen Gasen und die außerhalb der Boote zu ihrer 
Sicherheit getroffenen Maßnahmen, d. h. die Begleit- 
schiffe, deren Warnsignale, Sicherheitsbestimmungen usw. 

Die zweite Gruppe, die Rettungseinrichtungen, 
muß man wieder in zwei Unterabteilungen teilen, nämlich 
in solche, die auf die Erhaltung der Menschenleben im 
Boot, und solche, die auf die Rettung der einzelnen Per- 
sonen aus dem Boot hinzielen. Die verschiedenen 
Nationen verfolgen bezüglich der Rettungs-Einrichtungen 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U 3“. 37 


nicht alle den gleichen Weg, die meisten — unter diesen 
auch wir — verfolgen aber beide Wege, d. h., wir geben 
den Booten zunächst die Mittel, die ihnen eine Rettung 
der Besatzung im Boot ermöglichen, für den Notfall 
werden die Boote aber auch mit solchen Mitteln versehen 


werden, die auf die Rettung der einzelnen Person unter 


Abb. 23. Dänisches Tauchboot ‚„Dykeren‘“, 


Vor der Küste von Spezia, wo es auf der Laurentischen Werft gebaut wurde. 


Verlassen des Bootes berechnet sind. Ich sage für den 
Notfall, denn zu diesen Mitteln darf meiner Ansicht nach 
nur gegriffen werden, wenn eine Rettung ım und mit dem 
Boot nach der Sachlage ausgeschlossen ist. In diesem 
Punkte liegen die Verhältnisse ganz ähnlich wie bei der 
Überwasser-Seefahrt: gar mancher Schiffbrüchige hat 
schon das’ Sehiff zu früh. verlassen und: ıst infolge - 
dessen umgekommen; und bei der Unterwasser-See- 
fahrt warten auf den, der sich von seinem Unterseeboot 
trennt, noch besondere Schrecken. Andrerseits muß ja 


38 Meereskunde. 
aber auch zugegeben werden, dab unter Umständen kein 
anderes Mittel übrig bleibt. 

Zur ersten Untergruppe der Rettungseinrichtun- 
gen gehören: die Schotteinteilung, die Sicherheits- 
gewichte, die Telephonbojen, die Lufterneuerungsanlage 
und die Luftzuführungsanlage mit ihren zugehörigen Ein- 
richtungen; die zweite wird vertreten durch die verschie- 
denen Konstruktionen der Rettungshelme, mit ihren zu- 


Abb. 24. Deutsches Tauchboot, auftauchend. 


gehörigen Einrichtungen, neuerdings auch durch loslös- 
bare Bootsteile (ein französischer Versuch). 

Die dritte Gruppe, die der Bergungseinrichtungen, 
umfaßt Bergungsprähme, Bergungsschiffe, Hebedocks 
und Bergungskräne. 

Alle größeren Nationen sind im Laufe der Zeit zu der 
Erkenntnis gelangt, daß besondere U-Boots-Bergungs- 
mittel geschaffen werden müssen. Wir haben auf diesem 
Gebiet mit unserm „Vulkan“ den Weg gezeigt, und alle 
großen Marinen folgen nach. Hebeschiffe sind jetzt fast 
überall im Bau. Die erste Anforderung, die an moderne 


Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, ,U3“. 39 


Bergungsmittel für U-Boote gestellt werden muß, ist die, 
daß sie große Gewichte schnell heben, damit die Hoff- 
nung, die Besatzung lebend zu bergen, erhalten bleibt. 
Sie müssen also die großen Gewichte schnell aufheißen 
können. Unser „Vulkan“ hebt 500 t in einer Stunde 


25 m hoch, eine Leistung, die unter den besonderen Um- 


: ® | 


Abb. 25. Deutsch Tauchboot, im Dockschiff „Vulkan“ hängend. 


ar” 


ständen recht respektabel ist und noch von keinem Ber- 
gungsfahrzeug der Welt erreicht wird. Die Bergungs- 
mittel müssen ferner bis zu den Wassertiefen, auf denen 
ein U-Boot liegen kann, ohne durch den hydrostatischen 
Druck zerquetscht zu werden, d. h. bis zu 50 m, wirksam 
sein, und sie müssen womöglich die Hebung von dieser 
Tiefe in einem Zuge bewerkstelligen können, also 
die beträchtliche Hebehöhe von mindestens 50 m haben. 
Da Hebedocks ihrer Art nach eine solche Hebehöhe nicht 
haben können, bleiben nur Hebeprähme, Hebeschiffe und 


40 Meereskunde. 


Hebekräne übrig. Auch die beiden ersten Arten können 
wir noch zusammenfassen, da von beiden das Hebeschiff 
— gewissermaßen der automobile Hebeprahm — heuti- 
gen Tages nur noch allein existenzberechtigt ist. Bleiben 
also als wirklich moderne Mittel Hebeschiffe und Hebe- 
kräne. Welches von beiden ist zu wählen? Meiner An- 
sicht nach beide! In der Fat'ist der „U 3 _Unfallfhrerise 
geradezu ein Musterbeispiel.e. Im ersten Abschnitt der 
Bergung war der „Vulkan“ wegen der Schräglage des 
Bootes, das mit dem Bug die Wasseroberfläche berührte, 
bei dem starken seitlichen Wind zur Untätigkeit ver- 
dammt. Er hätte nur helfen können, wenn er das ganze 
schwierige Manöver ın höchstens fünf Stunden ausführen 
konnte, woran bei der schwierigen Sachlage nicht zu 
denken war. Es mußte daher zur Rettung der 28 vorn 
im Boot zunächst ein Hebekran genommen werden. 
Später, als die Kräne versagten, kam der „Vulkan zur 
Geltung. Er hob das inzwischen ganz vollgelaufene Boot 
ın acht Stunden, einschließlich des schwierigen zur Nacht- 
zeit auszuführenden Manövers, eine nach Lage der Dinge 
durchaus befriedigende Leistung, die aber leider die 
Rettung jener drei im Turm nicht in sich schließen 
konnte. 

Selbstverständlich hätte die Bergung, nachdem sie 
einmal mit Kränen begonnen war, ebensogut mit Kränen 
zu Ende geführt werden können. Aber Schwimmkräne 
von solcher Hebekraft, Hebehöhe, Hebegeschwindigkeit 
und genügender Seefähigkeit gibt es noch nicht. Viel- 
leicht wird auch hierin noch einmal ein Wandel ein- 
treten. 


Een) 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn, 
Berlin SW., Kochstraße 68— 71. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 
MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG SECHSTES HEFT 


Valparaiso und die Salpeterküste. 


Von Rudolf Lütgens. 


yenn der Binnenländer ganz allgemein von der 
„Westküste“ reden hört, so kann er sich 
darunter vieles oder auch nichts vorstellen. 
Für den Seemann hat die Bezeichnung aber nur eine 
Bedeutung. Für ihn gibt es nur eine Westküste, und das 
ist die Südamerikas, und zwar speziell die Küste von 
Chile und Peru. An dieser viele tausend Kilometer langen 
Küste liegen nun viele Häfen, unter denen sich jedoch 
einige besonders herausheben, und von den Zeiten der 
Entwicklung der modernen Seefahrt in der Mitte des 
19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart eine wichtige und 
interessante Rolle spielen. Einmal ist es Valparaiso, der 
Haupthafen der eigentlichen Westküste, und ferner sind 
es die Salpeterhäfen, die in ihrer Eigenart und Bedeutung 
gleichfalls eine nähere Betrachtung verdienen. 


Valparaiso wie auch sämtliche Häfen der Salpeter- 
küste gehören politisch zu Chile, und wir müssen des- 
halb einen kurzen Überblick über dieses Land gewinnen. 
Es gibt wenige Länder auf der Erde, deren einzelne Teile 
ein so verschiedenes Bild zeigen, wie Chile. Der Haupt- 
grund für diese Erscheinung läßt sich aus der Betrachtung 
der Gestalt ableiten. Chile ist, von einem schmalen 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 6. I 


7 Meereskunde. 


Küstenstrich abgesehen, nur die pazifische Abdachung 
der Anden von etwa 18° Süd bis 56° Süd. Das ist 
eine Strecke von 38 Breitengraden, gleich rund 4200 km, 
eine Erstreckung, die, in europäische Verhältnisse über- 
tragen, der Entfernung von Kopenhagen bis in den zen- 
tralen Sudan gleich käme. Dabei ist die größte Breite 
nur 350 km, meist viel weniger, so daß trotz der gewaltigen 
Nord-Süd-Erstreckung das Areal nur 750000 (Juadrat- 
kilometer gleich‘ rund ı1!/, mal dem Deutschlands ist, 
während die Einwohnerzahl mit höchstens 3'/, Millionen 
weit hinter den 65 Millionen Deutschlands zurückbleibt. 

Seiner Bedenerhebung nach ist Chile mrdıeı 
parallele Zonen zu teilen, die allerdings nicht überall 
in gleicher Weise zum Ausdruck kommen. Wir haben 
zunächst das gewissermaßen das Rückgrat Chiles bildende 
gewaltige Kettengebirge der Kordilleren oder Anden. An 
der Küste als Gegenstück die sogenannte Cordillera de 
Costa und dazwischen, besonders im mittleren Teile scharf 
ausgeprägt, die große von veıschiedenen Querriegeln 
unterbrochene Längssenke. 

Haben wir so in ost-westlicher Richtung eine zonale 
Anordnung, die sich erst im magellanischen Inselgewirr 
verliert, so muß gleichfalls von Norden nach Süden Chile 
in drei Teile zerlegt werden. Bis etwa 32° Süd senken 
sich die Anden in hochgelegenen Stufenländern, die auch 
an ihren tiefsten Punkten 500 und mehr Meter über dem 
Meere liegen und dann nach einem Aufstieg zum Küsten- 
gebirge in diesem steil und oft unmittelbar über IO00 m 
zum Meer abbrechen. Das ist Nordchile. 

Mittelchile geht bis über 40° Süd, wo das Küsten- 
gebirge anfängt unterzutauchen. Hier findet sich statt der 
Stufenländer, ein tiefes zentrales Längstal, das Herz Chiles. 

Im Süden erreichen auch die Anden das Meer; das 
Längstal beginnt unterzutauchen, und nachdem das Küsten- 


Valparaiso und die Salpeterküste. 3 


gebirge nur noch als Klippen erkenntlich, tritt unter Ver- 
flachung auch die Auflösung der Anden ein. Neben 
den drei parallelen Zonen, Anden, Längssenke, Küsten- 
gebirge haben wir also auch die drei verschiedenen Teile 
Nord-, Mittel- und Südchile. 

Den Schlüssel zum völligen Verständnis der ver- 
schiedenen Teile Chiles liefert nun aber erst die Be- 
trachtung des Klimas, vornehmlich der Unterschiede in 
der jahreszeitlichen und quantitativen Verteilung der 
Niederschläge. Infolge der großen Längserstreckung haben 
verschiedene Windgebiete Anteil an dem Lande. Auf 
der Erde findet in den Äquatorgegenden, verursacht durch 
die starke ständige Erwärmung, eine Auflockerung und ein 
Aufsteigen der unteren Luftmassen statt, die in der Höhe 
nord- und südwärts abfließen und dadurch in etwa 30° Breite 
eine Luftvermehrung hervorrufen. Ersatz wird dafür an 
der Erdoberfläche von Norden und Süden aus dem so 
geschaffenen Luftdruckmaximum zum Äquator herbei- 
geführt, und zwar geschieht das durch die Passate, die 
durch die Erddrehung allerdings statt als Nord- und Süd- 
wind, als Nordost- und Südostpassat auftreten. Von der 
Nordgrenze bis etwa zum 29. Breitengrad liegt Chile im Süd- 
ostpassat, d. h. die allgemeine Bewegungstendenz der 
Luft ist südnördlich, sie führt aus kälteren in wärmere 
Gebiete. Dadurch wird die Aufnahmefähigkeit der Luft 
für Wasserdampf noch gesteigert, auf keinen Fall aber 
Wasser als Niederschlag ausgeschieden. Wenngleich 
direkt an der Küste Land- und Seewinde herrschen und 
auch Nebel sich über der an der Küste nordwärtsziehenden 
kalten Meeresströmung bilden, so kommt es doch aus be- 
sagtemGrunde inNordchile fast nie zur Regenbildung, 
und selbst wenn die Luft über dem Meere nahezu gesättigt 
wäre, würde doch ihre relative Feuchtigkeit über dem Lande 
infolge der Erwärmung stark sinken. In Iquique sind zu- 

= 


A Meereskunde. 


letzt im Oktober 1899 ein paar Regentropfen gefallen. 
In der Hochkordillere gibt es allerdings, besonders bei 
stärkeren Gewittern, gelegentlich Niederschläge, aber die 
Wassermassen sickern bald ein, und nur an ganz wenigen 


Stellen erreichen — und das nicht ständig — salzhaltige 
Bäche das Meer. WVöllige Regenlosigkeit, fast völliger 


Abb. ı. Salpeterwüste bei Toco. 


Wassermangel herrscht also in dem weiten Gebiet von 
18 bis 29° S-Br., von den Anden bis zum Meer. 

Das auf das wüstenhafte Nordchile folgende Mittel- 
chile ist klimatisch am besten als Gebiet des Winter- 
regens zu” bezeichnen. Es erstreckt. sich von 28257 
36° SBr. Mit dem jährlichen Gang der Sonne verschiebt 
sich das Gebiet stärkster Erwärmung am Äquator, damit 
auch das Passatgebiet und die Südgrenze der Passate. 
Mittelchile gehört im südlichen Sommer zum Passatgebiet, 
also gewissermaßen zu Nordchile, es regnet dann nicht. 
Im südlichen Winter liegt es dagegen außerhalb der 
Passatströmung, und es herrschen veränderliche Winde, 


Valparaiso und die Salpeterküste. 


Sı 


die Regen bringen. Im Sommer leidet Mittelchile an 
Dürre. Das Land nimmt Wüstensteppencharakter an, wo 
keine künstliche Bewässerung vorhanden ist. Nach dem Ein- 
setzen der Regen im April, Mai, schießt dagegen eine 
üppige Vegetation in die Höhe und rechtfertigt das 
Urteil, daß Mittelchile 
nach Californien das 
an Früchten reichste 
Land der Welt ist, da 
neben allen subtropi- 
schen, auch viele Ge- 


wächse der Iropen 
gedeihen. Dann ist 
Mittelchile wirklich 
ein Paradies. Über 
Südchile genügt es 
zu sagen, daßesim Be- 
reich veränderlicher 
Winde liegt, unter 
denen aber die vom 
Meere stammenden 
Westwinde vorherr- App. >. Mittelchilenische Landschaft bei 


schen, und daß es Quillota. Am Gebäude Erdbebenrisse; im 
deshalbinallen Jahres- Hintergrund derGlockenbergvon Quillota, 


zeiten Regen erhält. 
Infolgedessen finden wir in den nicht von der Kultur 


beeinflußten Gebieten meist nur Urwälder. 


Als Herz Chiles ist schon das große Längstal, be- 
sonders in Mittelchile bezeichnet. Es wurde zuerst be- 
siedelt, hier ist der Kern der Bevölkerung, und hier ent- 
stand Santiago, die natürliche Hauptstadt des Landes. 
Von Santiago drang dann auch 1536 der spanische Offizier 
Juan de Saavedra zur Küste vor und gründete an der 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 6. 2 


6 Meereskunde. 

Bucht südlich der Mündung des Flusses Aconcagua Val- 
paraiso als Hafen von Santiago. Der Name ‚Tal des 
Paradieses“ ist übrigens nicht der Örtlichkeit wegen ge- 
geben, sondern bezieht sich auf ein Landgut des Gründers 
bei Cuenca in Spanien. Die kleine Siedlung, die nur aus 


Abb. 3. Santiago de Chile vom Cerro St. Lucia gegen die 
Kordillere. 


wenigen Häusern bestand, blieb lange ohne Bedeutung 
und konnte sich überhaupt nur schwer halten. Franeis 
Drake zerstörte sie 1578, und dasselbe Schicksal erlitt sie 
später wiederholt durch englische und holländische See- 
räuber. Als schließlich die Spanier, im Unabhängigkeits- 
krieg besiegt, vor nunmehr 100 Jahren das Land verlassen 
mußten, steckten sie zu guterletzt Valparaiso, das sich zu 
einem Städtchen von einigen Tausend Einwohnern empor- 
gearbeitet hatte, in Brand. Dann kam die Zeit schnellen 
Aufblühens, die aber auch mehrfach unterbrochen wurde 


Valparaiso und die Salpeterküste. 7 


Abb. 4. Das obere Aconcagua-Tal; andine Bahn (links). 


durch Erdbeben und die Beschießung durch die spanische 
Flotte im Jahre 1866. Zuletzt legte das große Erdbeben 
vom 18. August 1906 einen großen Teil der Stadt in 
Trümmer und richtete ungeheuren Schaden an. Aber 
seither ist Valparaiso neu erstanden, wenngleich man die 
Spuren der Katastrophe noch vielfach findet. Die Ein- 
wohnerzahl beträgt jetzt etwa 165 000, darunter sind 1500 


2“ 


S Meereskunde. 


in Deutschland geborene, so daß sich, bei Hinzurechnung 
der in Chile geborenen, aber ihr Deutschtum bewahrenden 
Einwohner Valparaisos, rund 2000 deutsche Stammes- 
verwandte in dem größten Hafen Chiles aufhalten, meistens 
in angesehenen Stellungen. 

Für die Entwicklung zum Haupthafen Chiles war die 
Lage Valparaisos ganz günstig. Chile brauchte einen 
Hafen für sein zentrales Gebiet, und da konnte nur die 
Bucht Valparaisos in Betracht kommen, weil sie trotz aller 
Ungunst der örtlichen Verhältnisse doch noch bedeutend 
besser ist, als andere Stellen an dem Küstenstrich in der 
Breite Santiagos. Santiago liegt in der Luftlinie 90 km 
vom Meer entfernt, und die Luftentfernung nach Val- 
paraiso beträgt nur ı0 km mehr. Vor der Anlage 
der Bahn führte der Weg von Santiago ziemlich 
direkt über Curacavi nach Valparaiso, während jetzt die 
Bahn einen ganz bedeutenden Umweg macht. Sie sucht 
zunächst das Tal des Rio Aconcagua zu erreichen und 
folgt diesem bis Llai-Llai, wo die Trennung in die südlich 
über einen 800 m hohen (uerriegel nach Santiago 
führende Linie — 187 km von Valparaiso — und die 
östlich den Anden zustrebende Strecke nach Santa Rosa 
de los Andes erfolgt. Für diese Bahn, die im letzten 
Jahre vollendet wurde, ist Valparaiso der natürliche End- 
punkt. Die tietste Einsenkung der gewaltigen Gebirgs- 
mauer der Anden auf viele hundert Kilometer liegt gerade 
in der Breite von Valparaiso, zu dem das Flußtal des 
Aconcagua einen Zugang bietet. Deshalb wurde auch dieser 
Übergang über die 3900 m hohe Cumbre schon früher viel 
benutzt, und seine Verwertung zu einer Bahnverbindung 
mit Argentinien war selbstverständlich in dem Augen- 
blick, wo die Grenzstreitigkeiten der beiden Nachbarländer 
einen befriedigenden Abschluß gefunden hatten. Die fast 
1500 km lange Bahn verbindet in annähernd gerader 


Valparaiso und die Salpeterküste. 6) 
Linie Buenos Aires und Valparaiso, Atlantischen und 
Stillen Ozean. Bis Los Andes, das schon 800 m hoch 
liegt, gelangt man in 4 bis 5 Stunden. Dort beginnt die 
Gebirgsbahn von I m Spurweite, die in kühner Anlage, 
teils mit Zahnbetrieb, bis Portillo über 3000 m hoch 
hinautklimmt. Von hier mußte man bis Anfang 1910 


Abb. 5. Die Bucht von Valparaiso. 


in Gebirgswagen oder auf Maultieren über den Paß nach 
Los Cuevas, ein Pfad, der nur im südlichen Sommer 
gangbar war. Jetzt durchfährt man die Gebirgsscheide 
in einem 5000 m langen Tunnel, worauf der Abstieg nach 
Mendoza folgt. Hier ist das Ende der Gebirgsbahn, mit 
der man rund 12 Stunden gefahren ist. 20 Stunden 
später ist Buenos Aires erreicht, so daß die Gesamtfahrt 
etwa Il/, Tage dauert. Die Folgen des Baues dieser Bahn, 
die zunächst im großen nur für den Personen- und Post- 
verkehr in Betracht kommt, lassen sich für Valparaiso 


Io Meereskunde. 


kaum übersehen. Eine 10 bis ı2tägige zum Teil gefähr- 
liche Seefahrt durch die Magellanstraße war bisher nötig, 
um von Buenos Aires nach Valparaiso zu gelangen; jetzt 
ist Valparaiso eng mit dem Atlantischen Ozean verknüpft, 
so daß es nun das Einfallstor für die ganze Westküste 
bilden kann. Von Hamburg ist Valparaiso auf diesem 
Wege im günstigsten Falle in 19 Tagen. erreichbar. 
ı!/, Tage bis Genua, 16 bis Buenos Aires, ıl/, bis Val- 
paraiso, zusammen IQ Tage Reisedauer. Wenn erst die 
Strecke zur Vollbahn ausgebaut wird, kann auch der 
Güterverkehr im großen davon Nutzen ziehen und mit 
ihm Valparaiso. Eine in Aussicht genommene Linie von 
Salta, der nordöstlichen Provinz Argentiniens, nach Anto- 
fagasta-Mejillones wird wegen ihrer bedeutend größeren 
Länge als Überlandverbindung der ersten andinen Bahn 
niemals ernsthaft Konkurrenz machen können. 

Während die Verkehrslage Valparaisos als Hafen 
Mittelchiles und Endpunkt der transkontinentalen Bahn 
nicht besser sein könnte, kann gleiches von den örtlichen 
Verhältnissen nicht behauptet werden. Die Bucht von 
Valparaiso bildet ungefähr einen Halbkreis von rund 4 km 
Durchmesser, der nach Norden offen ist, und nach Süden 
von 100 bis 400 m hohen Hügeln abgeschlossen wird. 
Im Osten sieht man vom Meere an klaren Tagen höhere 
Berge, wie den 1800 m erreichenden Cerro Campana- de 
(Juillota und ganz in der Ferne den eisgepanzerten Acon- 
cagua, den höchsten Berg Südamerikas, mit seinen Tra- 
banten. Von den Ausläufern der Buchthügel, den Cerros, 
zieht sich die Stadt auf die schmale vorgelagerte Küsten- 
ebene, die teilweise durch künstliche Aufschüttung ver- 
breitert werden mußte, in den inneren Teil der Bucht 
herab, während an den Flanken die Felsen das Meer er- 
reichen, so daß der Ausgang für die Bahn nach der 
Sumpfniederung bei Vina del Mar verschiedentlich durch 


eNIA ydeu Jyong A9p Sne Sueäsny syuıp yoeu pun.ısasgumg 
sseM Sep ur Jg9Ip up ur „onong I“ IPNPEIS 19p pun syoanıqsSunpur]Liorsesse | 


uw "uos[9J UOPU2J2M 19 
SUP 2IP SYUDOY 'SY20A UOHIEM ap am ap ur ‘oyonıqıloz Ip punisiopio\ wI "ostreredfe '9 "OAV 


m 


12 Meereskunde. 


Sprengungen und Aufschüttungen erst gewonnen werden 
mußte. Der Meeresgrund, der nur direkt an der Küste 
aus Sand besteht, sonst dagegen schlammig ist, senkt sich 
sehr schnell auf 40 und weiter auf 60 und 70 m Tiefe. 
Diese große Tiefe hat bisher ausgedehnte Hafenanlagen 
nicht entstehen lassen. Die Schiffe, die von See kommen, 
müssen auf offener Reede !/, bis 1 km vom Lande entfernt, 
auf 55 bis 65 m Wassertiefe, vor Anker gehen. Dabei 
werden Kriegsschiffe, Handelsdampfer und Segler meistens 
verteilt. Im westlichen Teil der Innenreede sind ver- 
schiedene Reihen von Tonnen ausgelegt, an denen die 
Schiffe so festmachen, daß sie vorn vor einem Anker 
liegen und achtern an der Tonne. Hier erhalten die 
Kriegsschiffe die Plätze dichter am Land, die Handels- 
dampfer weiter ab. Im östlichen Teil der Reede, wo 
gleichfalls Tonnen liegen, ankern die Segelschiffe, und 
zwar lagen sie früher im südlichen Winter mit dem Bug 
nach Norden, im südlichen Sommer nach Süden, eine 
Maßregel, die, wiewir später sehen werden, sehr nützlich war. 

Die ganzen Hafenanlagen bestehen in einer ein- 
zigen Güterlandungsbrücke an der Westseite der Bucht 
beim Zollhaus, der Muelle Fiscal, einer Passagierlandungs- 
brücke, Muelle de Pasajeros, und der steinernen Bucht- 
einfassungsmauer, dem Malecon. Die Zollandungsbrücke 
besitzt einen Hauptarm von 233 m und einen Querarm 
von 66 m Länge. Zwei bis drei Schiffe können im Not- 
fall daran liegen, alles andere muß auf der Reede löschen 
und laden, und im letzteren Falle alle zollpflichtigen Waren 
in Leichtern, Lanchas, zur Zollbrücke, von wo aus es in 
die Zollschuppen geht, befördern. Die Langwierigkeit 
der Abfertigung in Valparaiso versteht sich aus diesen 
für einen solchen Hafen absolut ungenügenden Anlagen 
von selbst. Die Segler liegen oft wochenlang, bis sie 
ihreLadung fertig gelöscht haben. Etwas hängt allerdings die 


Valparaiso und die Salpeterküste. 13 
Zeit von der Art der Güter ab, denn zollfreie Waren, 
wie Kohlen, Holz, Petroleum, Eisenbahnschienen, können 
in Leichter gebracht und dann am Malecon, wo Hand- 
kräne von 2 bis 6 Tonnen Hebekraft zahlreich vorhanden 
sind, an Land geschafft werden. Freilich häufen sich 
dann auch hier gelegentlich die Güter derartig an, daß 
der Platz auf der Kaimauer nicht mehr ausreicht. Die 
in den Hafenanlagen sich ansammelnden großen Güter- 
mengen begünstigen nun wieder bei mangelnder Aufsicht 
und Ehrlichkeit sehr den Diebstahl, der nach Unter- 
suchungen von Versicherungsleuten, die in den letzten Jahren 
die Westküste studierten, an der ganzen Küste weit jedes 
normale Maß überschreitet. Zu erwähnen sind dann noch 
die nur bescheidenen Ansprüchen genügenden Docks. 
Die beiden vorhandenen Docks, die dicht vor der Passagier- 
landungsbrücke liegen, sind aus Holz gebaut, und können 
nur Schiffe von 2500 und 4500 Tonnen Wasserverdrängung 
und höchstens 80 und 90 m Länge aufnehmen. 

Trotz dieser, oder gerade wegen dieser primitiven 
Hatenverhältnisse sind die Hafenunkosten verhältnis- 
mäßig hoch. Zunächst hat jedes Schiff, das irgendeinen 
chilenischen Hafen anläuft, eine Leuchtfeuer- und Hospital- 
abgabe zu zahlen; allerdings nur einmal in jedem Jahr 
und in dem zuerst angelaufenen Hafen. Die erstere Ab- 
gabe beträgt für Dampfer 60 cts. Gold, das ist 2,40 M, 
und iür. Segler 40 ets. — 1,60 #0 für jdie Reg.-Ionne. 
Danach hat ein Dampfer von 5000 t 12,000 M, ein 
Segler von 3000 t 4800 M zu zahlen, wozu 40 cts. f. d. Reg.- 
Tonne Hospitalgebühr, also auch 1000 bis 2000 ‚MH für 
mittelgroße Schiffe hinzukommen. Dabei sei bemerkt, 
dab die ganze lange chilenische Küste kaum zwei Dutzend 
Feuer hat, und daß ausländische Hospitale meist vor- 
gezogen werden. Es sind weiter Abgaben zu entrichten 


für die Benutzung der Zollhausbrücke, der Kräne und 
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 6. 3 


I4 Meereskunde. 


bisher an deutschen Abgaben die Konsulatsgebühren, die 
gleichfalls sehr hoch waren, und deren Ermäßigung, da 
sie eine sehr große Beschwerung der deutschen Schiff- 
fahrt bildeten, seit langem angestrebt, am I. Januar 1911 
erreicht ist. Schließlich sind noch die aus den leidigen 
Hafenverhältnissen entstehenden Schlepp-, Festmach- und 
Verholungskosten zu erwähnen, die für Segler natur- 
gemäß höher sind, als für Dampfer, so daß es interessant 
ist, eine solche Rechnung für einen Viermaster von 
2681 Reg.-Ionnen wiederzugeben: 


Schleppen von See nach dem Anker- 
rund. 2.2 0 0 ana a Ta 
Schleppen vom Ankergrund nach der 


Innenreede. "Harn He KR 7 5510 
Sehiff vertauen! „mr wa. v2 RA. Is 
Schiff losmachen. \.- 2... 2 m. ZA 
Miete für 2 Anker und Ketten. ". ....20:,,: Gasse 
Lotanker auslegen und einnehmen . 6,8 ee 
Schleppen’in See "ae 22:78 en De 

Zusammen 146 £ — sh IO d 


Es sind also fast 3000 #X zu zahlen, die an eine der 
beiden Schleppdampfergesellschaften gehen. Diese haben 
sich dahin geeinigt, immer nur einen Monat abwechselnd 
zu arbeiten, so daß sie sich keine Konkurrenz machen. 
Alles in allem dürfte ein Schiff mittlerer "Grebesaa 
10000 A Unkosten und Abgaben zu zahlen haben. 


Die klimatischen Verhältnisse können im allge- 
meinen in Valparaiso als sehr gut bezeichnet werden. Die 
mittlere Jahrestemperatur in Valparaiso ist 14,3° (Berlin rund 
8,5°), der wärmste Monat hat 17,3, der kälteste I1,4° und es 
fallen 41 mm Regen im Jahr, zur Hauptsache im Winter. 
Dagegen sind die Windverhältnisse, besonders für die 
Schiffahrt, nicht günstig. Im Sommer, ungefähr von 


Valparaiso und die Salpeterküste. us 


September bis Dezember, herrschen die normalen Süd- 
winde vor, die im eigentlichen Sommer, November bis 
Januar oft stürmisch werden. Was dann ein richtiger 
„Süder‘‘ bedeutet, konnte ich am Weihnachtstage 1908 
erleben. Schon vorher war die auffällige Klarheit der 
Luft ungewöhnlich, aber sonst frischte ohne vorherige An- 
zeichen am Morgen des 24. der Wind auf, um bald stürmisch 


TE 
* ELLE 


Yu 


ren 


Abb. 7. Norder in Valparaiso. 


zu werden. Brausend fuhr der Sturm an den Hängen der 
Cerros herab, dichte Staubwolken mitführend und in der 
Stadt manchen Schaden anrichtend. Im Hafen herrschte 
schon in wenigen Hundert Meter Abstand vom Ufer hoher 
Seegang, der die Schiffe von jedem Verkehr mit der Um- 
welt abschnitt. Gischt spritzte an Deck, feinster Staub 
drang überall in die Räume, und schließlich gerieten eine 
Auzahleschitfe vor den Ankern ins Treiben. 2 Einige 
Leichter rissen sich ganz los und trieben in die See hin- 
aus, unser Viermaster wich um etwa eine Schiffslänge, 
während ein großer Kosmosdampfer mit der Festmachboje 


3= 


16 Meereskunde, 


einige Hundert Meter weiter rutschte. Erst spät abends 
legte sich der Sturm, so daß man an Land konnte. 

Bietet schon beim Süder der Hafen wenig Sicherheit, 
so sind die Schiffe im südlichen Winter dem ‚‚Norder“ 
ganz schutzlos ausgesetzt. Der Norder, der sich meist 
durch ein Sinken des Barometers und Steigen der Tem- 
peratur ankündigt, übertrifft den Süder noch an Stärke 
und Dauer, und stellt eine wirklich große Gefahr für die 
Sicherheit der Schiffe vor. Manches schöne Schiff hat, 
vom Norder losgerissen, an der Hafeneinfassungsmauer 
in der haushohen Brandung sein Ende gefunden. (Abb. 7.) 
Deshalb mußten auch früher die Segler mit dem Bug 
nach Norden ankern, jetzt bieten die Bojen mehr Halt. 
Auf den Norder folgt häufig starker Regen, der nun in 
der Stadt selbst große Verheerungen anrichtet. Die Ab- 
hänge sind nirgends von Wald bedeckt, und das Wasser kann 
ungehindert in die Schluchten hinabstürzen, wobei es neben 
großen Mengen Sand, Erde, Steine, Bretter und selbst Bäume 
in die Stadt hinunterschlämmt und alles vermurt. (Abb. 8.) 

Die leidigen Hafenverhältnisse harren dringend der 
Abhilfe, und seit langem spielt, besonders vor den Wahlen, 
die Verbesserung des Hafens eine Rolle. Ausschreibungen 
sind erlassen und Pläne ausgearbeitet, aber eine wirklich 
großzügige Anlage kostet eben sehr viel Geld. Wahr- 
scheinlich werden wohl zunächst an der Ostseite der Bucht 
zwischen Valparaiso und Vina del Mar die ersten Hafenpro- 
jekte ausgeführt werden, die wenigstens dem dringendsten 
Bedürfnis abhelfen. Der Kongreß hat eine Vorlage, die vor- 
läufig 3 Millionen Dollar verlangt, kürzlich angenommen. 

Der Schiffsverkehr hat auch ohne Hafenanlagen 
sich in den letzten Jahren dank der günstigen Lage Val- 
paraisos stark entwickelt. Allein von 1900 bis 1909 stieg 
er von 2,7 auf über 4,7 Millionen Tonnen. Dabei ist, wie 
eine Übersicht für 1909 zeigt, die deutsche Schiffahrt her- 
vorragend beteiligt. 


Valparaiso und die Salpeterküste. 17 


Gesamtverkehr 1909. 


Englische Schiffe 2 212 000 t 
Deutsche ER De a 2 107,7. 000 
Chilenische ‚, MRSRERE . 5° 1:05,3:000, .t 
ÜbLISeD Re em a AI 300009. 

Gesamt 4738000 t 


CAFEmUUBO LSAln En - 
; BERET r ar ene % 


% 


Abb. S. Straße in Valparaiso nach starken Regengüssen. 


Von Linienreedereien lassen die Kosmoslinie in 
Hamburg gemeinsam mit der Hamburg-Amerika Linie 
ihre schönen Postdampfer und die Rolandlinie in Bremen 
ihre Frachtdampfer Valparaiso anlaufen. Eine feste Ver- 
bindung mit großen Segelschiffen unterhält die Firma 
F. Laeisz von Hamburg und Antwerpen aus. Von anderen 
Reedereien sind zu erwähnen die englische Pacific Steam 
Navigation Co. und weiter die heimische Compafia Sud- 
Americana. 


IS Meereskunde, 


Der Eindruck, den die Stadt Valparaıso-selbsr 
macht, ist sehr gut. Vom Meer aus präsentiert sie sich 
malerisch durch die Lage an den Hügelhängen der weiten 
Bucht. Man landet unter Benutzung eines der vielen 
kleinen Ruderboote an der Muelle de Pasajeros am Bahn- 
hof. Hier reichen die Hügel, besonders der Cerro Allegre, 
so dicht an das Meer, daß nur für 3 bis 4 Straßenzüge 


Abb. 9. Deutsche Schule (links) und Halle des Deutschen 
Turnvereins (rechts) in Valparaiso. 


Raum bleibt. Es sind das aber die Hauptstraßen, an 
denen die Geschäftshäuser der großen Firmen, Regie- 
rungs- und Klubgebäude liegen und so diesen Stadtteil 
El Puerto, den Hafen, zum wichtigsten machen. Im öst- 
lich sich anschließenden Teil El Almendral wird die 
Küstenebene breiter, so daß hier mehr Platz zur Anlage 
der neueren Stadt mit breiten Straßen wie die Gran Ave- 
nida vorhanden war. Hier wohnt ein großer Teil der 
chilenischen Bevölkerung, während ein weiterer Teil in 
dem sich nordöstlich anschließenden El Baron wohnt, wo 
sich auch industrielle Anlagen befinden. An solchen ist 


Valparaiso und die Salpeterküste. 19 


Valparaiso für Chile verhältnismäßig reich. Erwähnens- 
wert sind als größere Unternehmungen besonders die von 
Deutschen ins Leben gerufene blühende Bierbrauindustrie 
und das Eisenwerk. Als vierten Stadtteil müssen wir 
dann die Hügelbezirke auffassen, die man durch Aufzüge 
für ein Paar Pfennige erreicht. Von ihnen aus bietet 
sich der schöne Rundblick über die ganze Bucht. Hier 
wohnen auch viele auswärtige Kaufleute, besonders Eng- 


Abb. ıo. Salpeterwüste bei Toco; im Vordergrund durch 
Insolation gesprengte Steine. 


länder, in villenartigen Häusern. Die sehr gut besuchte 
deutsche Schule. die seit Jahren unter Leitung Dr. Stoppen- 
brinks steht, die mit ihr verbundene große Turnhalle des 
deutschen Turnvereins, die Kirche der deutsch-evange- 
lischen Gemeinde und das an der ganzen Westküste in 
hohem Ansehen stehende deutsche Hospital liegen gleich- 
falls hier hoch über der Stadt (Abb. 9). An den Hügelhängen 
und in den Schluchten zwischen ihnen, den (Juebradas, 
hausen in oft sehr kärglichen Wohnungen zwischen chile- 
nischen Arbeitern viel fremde Einwohner, meist roma- 
nischer Abkunft, und das mag jetzt auch viele besser 


20 Meereskunde. 


Abb. ıı. Tocopilla von Nordwesten. 


Gestellte bewegen, aus dem Hügelviertel nach der Villen- 
vorstadt Vina del Mar zu ziehen, um so mehr, als die 
Verbindung dorthin mit Eisenbahn und elektrischer 
Straßenbahn sehr gut ist. Vina, das schon außerhalb der 
Bucht in einem weiten, ursprünglich sumpfigen Küsten- 
strich gelegen ist, hat sich infolgedessen in den letzten 
Jahren schnell entwickelt, und im Sommer kommen auch 
Besucher aus Santiago hierher an das Meer. In Vina 
wohnen sehr viele Deutsche, und es besteht dort schon 
eine deutsche Gemeindeschule. ° Der sanze Orbszde: 
26 000 Einwohner zählt, macht durch die vielen Gärten 
und Anlagen einen frischen und freundlichen Eindruck. 
Durch das große Erdbeben 1906 hatte das auf lockerem 
Aufschüttungsboden gelegene Vina ebenso wie die unteren 
Stadtteile Valparaisos, für die dasselbe gilt, sehr gelitten, 
während überall die auf Fels stehenden Wohnungen, also 
z. B. die Cerroviertel fast ganz verschont blieben; doch 
ist Vina schnell wieder aufgebaut. 


Wenn wir uns nun von Valparaiso nach den nörd- 
lichen Häfen begeben wollen, so ist der einzige Weg 


Valparaiso und die Salpeterküste. 21 


der Wasserwege. Mit Dampfern in 2 bis 4, vielleicht 
auch mit einem Segler, die viel von Valparaiso nach 
einem Salpeterhafen gehen, in 5 bis 8 Tagen, ist Nord- 
chile zu erreichen. Der Gegensatz zwischen den Frucht- 
gärten bei Valparaiso, der fast tropisch üppigen Vege- 
tation in der Nähe des Aconcagua-Tales und Nordchile 
ist groß. Kahl und steil, sonnendurchglüht ragen die 
Küstengebirge empor; keine Pflanze erfreut das Auge des 
Menschen, und völlig Wüste ist das Innere. Und doch 
ist dieses Gebiet wegen seiner Regenlosigkeit zur Zeit 
noch das wichtigste Chiles, denn nur so konnte hier der 
Salpeter erhalten bleiben, der das Hauptausfuhrprodukt 
Chiles bildet. Die Bedeutung der Salpeterhäfen ergibt 
sich aus der Tatsache, daß rund 50 v. H. des chilenischen 
Gesamtauslandshandels auf diese Häfen, 30 v. H. auf Val- 
paraiso und nur 20 v.H. auf alle übrigen fallen. Nord- 
chile ist freilich auch reich an Metallen, besonders an 
Kupfer, aber dem Wert und Umfang nach steht doch 
der Salpeter bisher an erster Stelle. Außerdem erhebt 


Abb. ı2. Fördern der salpeterhaltigen Erde (caliche). 


Meereskunde. 


169) 
[697 


Chile etwa 2!/, Mark pro Zentner Ausfuhrzoll auf Sal- 
peter und erzielt so rund den dritten Teil seiner Gesamt- 
staatseinnahme. Die Frage der Erschöpfung des Sal- 
peters oder seine Verdrängung durch den Luftstickstoff 
ist deshalb für Chile eine Lebensfrage. 

Der Salpeter findet sich nicht an der Küste selbst, 
sondern in dem westlichen Teil der Pampa genannten 


Abb. ı3. Verdunstungsbassins für die Salpetergewinnung. 


Hochsenke zwischen Kordillere und Küstengebirge, und 
wir müssen uns, um die Salpetergewinnung kennen zu 
lernen, von einem der Häfen, — nehmen wir an, wir 
seien in Tocopilla gelandet —, in die Pampa begeben. Das 
ist in Tocopilla gar nicht so einfach, obwohl eine Eisen- 
bahn zur Verfügung steht, denn ohne weiteres kann man 
keinen Fahrschein lösen. Da alles Wüste ist, in der nur 
Salpeterfabriken die Oasen bilden, so muß man zu den 
Salpeterfirmen in irgendeinem Verhältnis, sei es als An- 
gestellter oder als Gast stehen, um gegen Vorweis eines 


186) 
(9) 


Valparaiso und die Salpeterküste. 


Erlaubnisscheines einen Fahrschein zu erhalten. In den 
Salpeteroffizinen wird man dann wohl immer auf das 
liebenswürdigste aufgenommen, schon weil ein Gast etwas 
Abwechslung in das an und für sich eintönige Leben 
bringt. Überhaupt läßt sich die Gastfreundschaft in ganz 
Chile und besonders unter den dortigen deutschen Stammes- 
brüdern nur rühmend erwähnen. 

Die bedeutendsten und besteingerichteten Fabriken 
der Tocopampa gehören der deutschen Sloman-Gesell- 


Abb. 14. Sperrmauer im Rio Loa-Tal für das Elektrizitätswerk 
der Slomanoffizinen in der Toco-Pampa. 


schaft und sind in einer halbtägigen Bahnfahrt zu er- 
reichen, wobei erst das steile Küstengebirge überwunden 
werden muß. Der Salpeter liegt in ı bis 5m Tiefe unter 
einer meist sehr harten Schicht, die ‚„costra“ heißt. Diese 
wird durchbohrt und gesprengt. Nun kann die stark mit 
Chloriden, Sulfaten, Jodaten, Erde und Sand gemengte 
salpeterhaltige Masse, ‚„caliche‘“‘, in Blöcken gewonnen 
werden. Die Stärke dieser Calicheschicht wechselt 
zwischen 1), und 2 m, der Durchschnittsgehalt an Sal- 
peter zwischen 20 und 80 v. H. In Wagen oder auf 


24 Meereskunde. 


einer Feldbahn kommt der Caliche zur Ofizina, wo er 
zunächst in Brechmaschinen zermahlen wird, um dann 
mit alter Mutterlauge und Wasser in großen Eisen- 
wannen, die Dampfröhren enthalten, ausgelaugt zu 
werden. Die heiße Brühe läuft in ein Klärbassin, wo 
besonders das Kochsalz ausfällt, und weiter in die Ver- 


Abb. ı5. Stauwerk der Slomanoffizinen in der Toco-Pampa. 


dunstungskästen „bateas“, in denen der Salpeter aus- 
kristallisiert. Nebenbei kann Jod gewonnen werden. 
Die Salpetergewinnung erfordert große Maschinenanlagen, 
und hat bei den Slomanoffizinen zu Schöpfungen ge- 
führt, die mitten in der Wüste, wo kein Strauch, kein 
Tropfen Süßwasser sich befindet, einen gewaltigen Ein- 
druck machen. Der aus den Kordilleren stammende 
Loafluß hat einen geringen Teil seines Wassers, das aber 
salzhaltig geworden ist, gerettet. Trübselig schleichterdurch 
das. viel zu breite und tiefe Tal dem Meere zu. "Dies 


Valparaiso und die Salpeterküste. 25 
Tal ist nun durch einen 32 m hohen Staudamm abge- 
sperrt worden, und dadurch istein fast 5 km langer Stausce 
geschaffen, dessen Wasserkraft in Elektrizität umgesetzt 
wird. 20000 Volt werden dann über 20 km weiter ge- 
leitet, um den Slomanwerken Arbeitskraft zu liefern. 


REPÜBLICA 27°; 


CHILE: 


Abb. 16. Karte der Salpeterprovinzen. 


Sind so die äußeren Umstände, unter denen im Sal- 
petergebiet gearbeitet wird, ziemlich eigenartig, so gilt 
dasselbe auch von den wirtschaftlichen Verhält- 
nissen der Salpeterindustrie. Die Anfänge der Sal- 
peterausfuhr liegen etwa 80 Jahre zurück. Darwin, der 
1835 Iquique besuchte, gibt an, daß seit 1830 Salpeter 
zur Ausfuhr gewonnen wird. Damals war das Gebiet 


26 Meereskunde. 


noch peruanisch, da es erst 1883 als Kriegsbeute an 
Chile fiel. Schon vorher haben aber die Zahlen der 
Ausfuhr eine gewaltige Steigerung erfahren. Um 1850 
wurde ı Million Quintal gleich etwa ı Million Zentner 
erreicht. 1890 waren es 23 Millionen. Bis 1900 hielt 
sich die Zahl unter 30, um dann aber 1909 auf fast 
50 Millionen zu schnellen. Allein die Zunahme gegen 
das Vorjahr betrug hier 2 Millionen, wodurch natürlich 
das stetige Fallen der Salpeterpreise weiter begünstigt 
wurde. Durchschnittlich war in den Jahren 7 sh für den 
Salpeter zu erzielen, ein Preis, bei dem viele Werke nicht 
ohne Unterschuß arbeiten können. Eine schwere Krisis 
mußte die Folge sein. Vor Jahren war es schon einmal 
soweit. Damals hatten dann aber sämtliche Salpeterwerke 
sich zu einem Ring zusammengeschlossen, der ,„Com- 
binacion“, die festsetzte, wie viel jede Gesellschaft jährlich 
gewinnen durfte. War z. B. die Gesamtproduktionsfähig- 
keit aller Werke ıco Millionen und wurde der Welt- 
bedarf für das nächste Jahr auf 45 Millionen geschätzt, 
so durfte jede Gesellschaft nur 45 v.H. von der Menge, 
auf deren Gewinnung sie eingerichtet war, erzeugen. 
Auf die Dauer ist ein solcher Zustand nicht haltbar, da 
nun wie Unkraut Werke aus dem Boden schießen. 
Firmen, die schon drei Werke besaßen, bauten un- 
mittelbar daneben neue große im Werte von vielen 
Millionen Mark, die sie aber gar nicht in Betrieb nahmen. 
Denn diese Werke sollten nur ihren Anteil an der Pro- 
duktion erhöhen, die Menge selbst konnte schon mit den 
alten Offizinen erzielt werden. So entstanden in der 
schauerlichen Einöde Werke fertig bis zur letzten Niete, 
um eventuell wieder zu verrosten. 

Eine Anzahl der größeren Gesellschaften, vornehm- 
lich die deutschen und englischen, die rationell durch 
Verwendung der neuesten Einrichtungen arbeiteten und 


Valparaiso und die Salpeterküste. 27 


billig große Mengen liefern konnten, verhinderten deshalb 
Armor. April 1909 die Erneuerung "des: Ringes. Jetzt 
können sie ihr Erzeugnis ganz auf den Markt bringen 
und kommen durch den großen Umsatz auch bei niedrigem 
Preise auf ihre Kosten, während die schlechter gestellten 
Werke, hauptsächlich sind es chilenische und spanische, 
eins nach dem anderen den Betrieb einstellen müssen. 


Abb. ı7. Hafen von Iquique. 


Diese Eigenart des Salpetergebiets und seine Ent- 
wicklung beeinflussen natürlich auch die Häfen. Wo in 
der Pampa Werke entstehen, werden an der Küste Häfen 
notwendig, wo Werke vergehen, ist der Hafen überflüssig, 
falls nicht noch andere Faktoren sein Vorhandensein be- 
dingen. Das wird uns eine Betrachtung der wichtigsten 
Häfen zeigen. Die Salpeterküste gehört politisch zu zwei 
Provinzen, von denen Tarapaca die nördliche, Antofagasta 
die südliche ist. Iquique ist die Hauptstadt von Tara- 
paca und die wichtigste Stadt Nordchiles überhaupt, 
übertrifft auch schon durch seine Einwohnerzahl von über 


28 Meereskunde. 


40000 alle anderen Orte. Wenn man sich der Küste 
von Iquique nähert, so ist zunächst wenig zu er- 
kennen. Grau in grau, eintönig und trostlos, im Vorder- 
grunde eine Sandfläche mit vorgelagerten Klippen, an denen 
die Wogen branden, und dahinter hoch und steil, mauer- 
gleich das Küsten- 
gebirge. Dann, und 
das ist bezeichnend, 
unterscheidet man zu- 
erst eine Anzahl grell- 
gestrichener Wasser- 
tanks an den Berg- 
hängen und schließ- 
lich in der Küsten- 
ebene die Stadt. Eine 
wenige Hundert Meter 
lange und breite Insel, 
etwa einen halben 
Kilometer vomStrand 
entfernt, bildet zu- 
sammen mit einem 


stumpfen Vorsprung, 
Abb. ı8. Einnahme von Salpeter aus auf dem die "Stadt 
Lanchen. liegt, den Schutz der 

sonst offenen Reede 

nach Süden. Nach Norden, von wo im Winter ge- 
egentlich hohe Dünung kommt, ist kein Schutz vor- 
handen. Doch kommen Stürme an der ganzen Sal- 
peterküste kaum vor, so daß Windschutz auch entbehrt 
werden kann. Hafenanlagen für Seeschiffe fehlen ganz, 
Man ist auf den Verkehr mit Booten und Leichtern, die 
eine Anzahl Brücken zum Laden und Löschen haben, 
angewiesen. Dadurch werden alle Arbeiten sehr verzögert 
und verteuert. Man will deshalb an der Südseite der 


Valparaiso und die Salpeterküste. 29 


Insel ein 709 m langes Brechwasser errichten, in dessen 
Schutz etwa 1300 m Kai gebaut werden kann. Eventuell 
soll auch Iquique Freihafen werden. Doch brauchen solche 
Projekte in Südamerika zur Ausführung sehr viel Zeit. 
Im Hafen von Iquique selbst fällt meist die große 
Anzahl Segelschiffe auf. Damit kommen wir zur Be- 


Abb. ıg9. Strand mit Wrack südlich Iquique. 


deutung des Salpeters für die Segler, einem Punkt, der 
für die Schiffahrt von größter Wichtigkeit ist. Die Zeiten, 
in denen dem Segler das Weltmeer gehörte, sind lange 
entschwunden. Er mußte überall dem Dampfer weichen 
und hielt sich schließlich auf großer Fahrt nur noch für 
einige Massengüter, wie Kohle, Getreide, Salpeter, Reis, 
Petroleum, Holz. Reis kommt jetzt fast nur noch mit 
Dampfern, Petroleum wird in Tankschiffen billiger be- 
tördert, und auch für die anderen Güter haben sich in den 
letzten Jahren wirtschaftlichen Tiefstandes Trampdampfer 
für jede annehmbare Frachtrate angeboten. Geblieben ist 


30 Meereskunde. 


den Seglern fast nur noch Getreide von Australien, Holz 
und gleichfalls Getreide von den Westhäfen Nordamerikas 
und in ersterLinie Salpeter von der Westküste. Daraus ergibt 
sich für die Ausreise nach jenen Gegenden die Mitnahme 
von Stückgütern und besonders von Kohle und Koks, 
die auch in den Salpeteroffizinen und den Minenwerken 


Abb. 20. Reede von Caleta Buena. 


Nordchiles in großen Mengen gebraucht werden. Es hat 
sich aus diesem Bedürfnis heraus die rege Fahrt mit 
Kohle zwischen Australien und der Westküste, die mit 
Seglern betrieben wird, entwickelt. Die Fahrt mit der 
Westküste ganz Amerikas und besonders die Salpeterfahrt 
hält also fast allein noch die Segelschiffahrt. Welche 
Folge das Ende der Salpeterindustrie, das in absehbarer 
Zeit erfolgen muß, und ebenso die Vollendung des Pa- 
namakanals für die reine Segelschiffahrt haben wird, ist 
deshalb leider klar. Vielleicht verhindert die Einführung 


Valparaiso und die Salpeterküste. 31] 


von Motoren den weiteren Niedergang, vielleicht hält sie 
ihn nur auf. Noch aber herrscht in allen Salpeterhäfen 
der Segler vor und verleiht ihnen damit ein besonderes 
Gepräge. Laas gibt z. B. an, daß er 1904 in Iquique 
unter 33 Frachtschiffen nur einen Dampfer sah. 

Die Stadt Iquique bietet, mit anderen Salpeterplätzen 
verglichen, ein sehr freundliches Bild. Saubere Häuser, 
die vielfach Holztäfelung 
besitzen, rahmen die sich 
rechtwinklig schneidenden 
Straßen ein. Die vielen 
Veranden nach der Straße 
zu zeigen europäischen Ein- 
fluß. In der Nähe der Lan- 
dungsbrücken befindet sich 
der Pratplatz — Aaturo 
Eratopierte sich: in der 
Seeschlacht bei Iquique 
1879, ohne dadurch etwas 
zu erreichen, und ist jetzt 
der Nationalheld der Chi- 
lenen —, der durch das Abb. 2ı. Aufzüge in Caleta Buena. 
frische Grün der mit vieler 


Mühe geschaffenen und erhaltenen Pflanzenanlagen ein 
einzigartiges Bild an der ganzen Küste bietet. Die 
Erde mußte auf Schiffen hergebracht werden, wie über- 
haupt alles, was sonst der Mensch braucht, eingeführt 
werden mub. Auber Salpeter, Salz, Borax- und Erzen 
wird nichts gewonnen, und höchstens kann man 
Wasser durch Destillation von Seewasser an Ort und 
Stelle herstellen. Eine Straßenbahn ist vorhanden und 
vermittelt am Strand entlang den Verkehr mit dem 
eine halbe Stunde südlich von Iquique gelegenen Cavancha. 
Dort befindet sich ein großes Hüttenwerk, doch lernt 


Meereskunde. 


05} 
15) 


man Cavancha meistens nur als Vergnügungort mit 
seinen Anlagen für Seebäder und seinen Restaurants 
kennen. Auf die Wüste oberhalb Iquique, die hier 
Pampa de Tamarugal heißt, führt die Eisenbahn. Dieser 
Teil des Salpetergebietes ist mit zuerst erschlossen und 
enthält viele große Werke. Von deutschen Firmen hat 
das Haus Gildemeister aus Bremen bei Iquique Offizinen; 
die meisten Offizinen sind aber hier wohl in englischen 
Händen. 

Nördlich von Iquique liegen die Salpeterhäfen Pisa- 
eua, Junin und Caleta Buena. Alle drei habenzar 
schluß an das Bahnnetz der Iquique pampa, aber für 
Pisagua und Junin sind die Glanzzeiten vorüber, und hier 
wird wohl auch das Ende der Salpeterherrlichkeit am 
trühesten eintreten. 

Pisagua hat auch unter wiederholtem Auftreten 
elementarer Ereignisse zu leiden gehabt. 1868 wurde es 
durch ein großes Erdbeben fast vernichtet, 1879 zerstörten 
es chilenische Granaten, dann folgten Brände und schlieb- 
lich vor einigen Jahren Blattern und Pest. Infolgedessen 
dürfte die Einwohnerzahl 5000 nicht übersteigen. 

Anders steht es mit Caleta Buena, dessen Ent- 
wicklung neueren Datums ist. Allerdings bedurfte es 
hier der Überwindung ganz bedeutender Schwierigkeiten, 
um überhaupt einen Verschiffungsplatz zu schaffen. Un- 
mittelbar senkt sich bei Caleta Buena — rund 30 km 
nördlich von Iquique — . das Küstengebirge zum Meer, 
Platz für eine Ansiedlung überhaupt nicht lassend. Und 
doch hat der Mensch sich zu helfen gewußt. Die Häuser 
kleben am Abhang und sind teilweise sogar auf Pfählen 
in das Meer hinausgebaut. Den Verkehr mit der Außen- 
welt vermittelt nur das Meer sowie ein Aufzug, der zu 
der Eisenbahnstation am Abfall der Küstenkordillere 
hinaufführt. In schwindelnder Fahrt unter einem Winkel 


Valparaiso und die Salpeterküste. 22 


von 30 bis 45°, bei 600 m Höhenunterschied, werden auf 
einem Schienengeleise die unten ausgeschifften Waren in 
offenen Eisenbahnkarren nach oben, der Salpeter nach unten 
befördert. Wenn man mitfahren will, und es steht gerade 
kein Personenwagen zur Verfügung, so legt man sich auf 


nennen mai 


nl ne rn 
Pen > 


——— 


Abb. 22. Tocopilla; auf den Klippen Möven. 


die Kohlensäcke, klammert sich fest und gelangt so auf 
die Höhe. Die Ortschaft ist unsagbar trostlos, und die 
Bewohner sind in allem auf den Bezug von Iquique an- 
gewiesen. Nur die Toten werden in der Nähe beerdigt, 
doch muß man, um zum Friedhof zu gelangen, auf 
schmalen und steilen Bergpfaden aufwärtsklimmen. Dort 
kann man auf dem ungepflesten und mit Mühe dem 
steinigen Berghang abgewonnenen Friedhof auch Gräber 
deutscher Seeleute finden. 


4 Meereskunde. 


[> 


Tocopilla ist der nördlichste Hafen der Provinz 
Antofagasta, der in dem letzten Jahrzehnt einen großen 
Aufschwung genommen hat. Er verdankt ihn im wesent- 
lichen den großen Slomanoffizinen der Tocopampa. Die 
Stadt, von einigen Tausend Seelen, liegt auf einer Sand- 
ebene am Ausgang einer tief in das Küstengebirge ein- 
gerissenen Schlucht, die der Bahn die Möglichkeit zum 
Aufstieg gewährt. Klippen, weiß überzogen von den 
Exkrementen der Seevögel, bilden die südliche Begren- 
zung der ganz flachen Bucht und geben, soweit sie den 
Strand selbst bilden, Gelegenheit zum Aufbau von 
Landungsbrücken. Deshalb geht hier die Abfertigung 
der Schiffe verhältnismäßig schnell von statten, falls nicht 
zuviel auf einmal auf der Reede ankern, um Lebensmittel, 
Kohlen und Maschinen zu löschen und Salpeter zu laden. 
Daneben wird auch noch Kupfer mitgenommen, das in 
der am Ausgang der Schlucht gelegenen Schmelze ge- 
wonnen wird. Es stammt aus dem Küstengebirge, in 
dem man auf Schritt und Tritt Kupfererze findet. So 
erklären sich auch die kleinen Siedlungen Gatico und 
Cobija südlich von Tocopilla, in denen zwar kein Salpeter, 
wohl aber Kupfer und Kupfererze verschifft werden. 


Abb. 23. Küste beim Morro Moreno. 


Valparaiso und die Salpeterküste. 35 


Abb. 24. Mejillones gegen den Morro Mejillones. 


Gerade dort ragt das Gebirge sehr schroft und steil 
empor. 

Die übrigen wichtigen Salpeterhäfen der Provinz 
Antofagasta sind dann noch Mejillones, Antofogasta und 
Taltal.e Über Taltal, den südlichsten Hafen ist nicht 
viel zu sagen. Er stellt schon den Übergang zum mittel- 
chilenischen Gebiet vor. Hin und wieder findet sich 
eine Quelle mit etwas Gebüsch, und sogar eine kleine 
Oase mit Obstbäumen und Blumen liegt in der Nähe von 
Taltal.e Auch tritt bei der Ausfuhr Gold, Silber und 
Kupfer neben dem Salpeter stark hervor. In der Pampa 
von Taltal liegen wieder manche deutsche Offizinen. 

Antofagasta und Mejillones nehmen dagegen eine 
Sonderstellung unter den Salpeterhäfen ein. In der Breite 
des südlichen Wendekreises schiebt sich eine breite, 
stumpfe Halbinsel in den Ozean hinaus, die als Kern den 
1300 m hohen Morro Moreno mit seinem nördlichen Aus- 
läufer, dem Morro Mejillones, hat. Eine breite Sandfläche 
bildet die Verbindung mit dem Festland. Diese Halb- 


36 Meereskunde. 


insel hat im Norden und Süden je eine tiefe Bucht, die 
nun die einzigen wirklichen Häfen der ganzen Salpeter- 
küste vorstellen. In der Südbucht liegt Antofagasta, in 
der nördlichen Mejillones. Im Hinterland von Antofagasta 
waren schon früh besonders in der Nähe von Caracoles 
reiche Minen entdeckt, und so entstand als Hafen für 
dieses Gebiet Antofagasta an der öden Küste. Der 
Hafen bot den Schiffen der damaligen Zeit guten Schutz, 
Im peruanisch - bolivianisch - chilenischen Krieg bildete 
Antofagasta ein wertvolles Kampfobjekt, das, im Krieg 
erobert, im Frieden an Chile fiel. Trotzdem war 
Bolivien, das nun ganz vom Meer abgeschnitten war, auf 
Antofagasta als Hafen angewiesen und aus dieser Not- 
wendigkeit- entstand die Bahn, die die Minenbezirke des 
südlichen Boliviens mit der Außenwelt verbindet. Durch 
die Atacama, die einsamen Schuttäler der Hochkordillere 
und die Salzsimpfe der zentralen Hochebene dringt der 
Schienenweg fast 4000 m hoch bis Oruro, und seine Fort- 
setzung nach La Paz ist geplant. Als dann weiter die 
Salpeterschätze der Atacama in Abbau genommen wurden, 
wuchs Antofagasta schnell, so daß die Einwohnerzahl 
1907 32 500 Seelen betrug. Wenn nun auch das Ende 
des Salpeters dank der Verbindung mit Bolivien nicht 
das Ende Antofagastas bedeutet, wie es bei anderen Sal- 
peterhäfen der Fall sein wird, so kann doch nicht ver- 
schwiegen werden, daß Antofagasta seinen Höhepunkt 
bereits erreicht hat. Der Hafen, der früher genügte, 
wird mit der Zunahme der Schiffsgröße immer weniger 
benutzbar, da seine Tiefe zu gering ist. Um ihn allen 
Schiffen zugänglich zu machen, müßten 5 bis 6 m Fels- 
boden fortgesprengt werden oder aber an etwas anderer 
Stelle große Bauten, die viele Jahre Arbeit erfordern und 
gleichfalls viele Millionen kosten, ausgeführt werden. 

Es muß nun Mejillones in die Bresche treten, das sich 


Valparaiso und die Salpeterküste. 37 


dazu vortrefflich eignet, denn die weite und geräumige 
Bucht bietet ganzen Flotten einen sicheren Hafen, und 
der Verkehr mit dem Hinterland ist durch die Bahn, die 
Mejillones mit der Antofagasta—Orurobahn verbindet, ge- 
sichert. In dieser Bucht stand schon zur bolivianischen 
Zeit ein kleines Hafenstädtchen, das Guano und Metalle 
ausführte. Aber Antofagasta erdrückte es, so daß es 


ee 


ME £ Hi - 


a er 
s Fe 


Abb. 25. Straße in Mejillones. 


ganz aufgegeben wurde. Erst vor einigen Jahren wurde 
es neu besiedelt. Infolgedessen ist in Mejillones noch 
alles äußerst primitiv. Am Strand befinden sich lediglich ein 
Paar einfache hölzerne Bootsbrücken. Die Eisenbahngesell- 
schaft hat aber große Summen zum Ausbau einerMole ausge- 
worfen, und damit dürfte zunächst dem allerdringendsten 
Bedürfnis im Hafen Genüge geleistet sein. Viel mehr ist 
in der „Stadt‘‘ zu leisten. Sand, Staub, Bretter, Well- 
blech und darüber am Tage die glühende Sonne ist wohl 
alles, womit Mejillones aufwarten kann. Der Ort bietet 
so unendlich wenig und ist so verzweifelt stumpfsinnig, 


38 Meereskunde. 

daß man selbst nach langer Seefahrt den weiteren Auf- 
enthalt an Bord einem Besuch des Landes vorzieht. In 
gesundheitlicher Beziehung läßt Mejillones gleichfalls viel 
zu wünschen übrig, und ferner hat es noch die allgemeine 
Unsicherheit mit Antofagasta gemein. Im Hafen der 
letzteren Stadt wurde noch 1908 von bewaffneten Ban- 
diten der Versuch gemacht, einen Dampfer der Ham- 
burg-Amerika Linie nachts zu berauben, und in Mejillones 
wurden 1909, um ähnliches zu verhüten, die Nachtwachen 
auf Schiffen mit Waffen versehen. Beraubung der Güter 
endlich steht stets auf der Tagesordnung. Doch das sind 
Zustände, deren die Behörden mit dem nötigen guten 
Willen schon Herr werden können, und sie treten auch 
ganz zurück gegenüber den günstigen Verhältnissen, 
denen Mejillones sein Aufblühen verdanken wird. Denn 
die Tatsache steht fest, daß die Zukunft unter den Häfen 
der Salpeterküste Mejillones gehört. 

Literatur. 


Bürger, ©. Acht Lehr- und Wanderjahre in Chile, Leipzig 1909. 

Espinoza, E. Jeografiä descriptiva de la Repüblica de Chile, 
Santiago de Chile 1903. 

Kaerger, K. Landwirtschaft und Kolonisation im Spanischen 
Amerika, Bd. II, Leipzig 1901. 

Laas, W. Die Segelschiffahrt der Neuzeit; Meereskunde 3. Jahrg., 
3. Heft. Berlin 1909. 

Martin, C. Landeskunde von Chile, Hamburg 1909. 

Plagemann, A. Der Chilesalpeter, Berlin 1903. 

Steffen, H. Das Erdbeben in Mittelchile vom 16. August 1906, 
Ztschr. Ges. f. Erdk. Berlin 1906. 

Der Pilote, Beiträge zur Küstenkunde, Hamburg. 
Die Abbildungen 6 und 8 sind nach Aufnahmen von Herrn 

P. Tietz in Valparaiso, die Abbildung 7 nach Photographie von 

Herrn Maschinist Wolf, Postdampfer Rhakotis. Die übrigen Auf- 

nahmen sind vom Verfasser. 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler &Sohn, 
Berlin SW, Kochstraße 68—71. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 


ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 
MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG SIEBENTES HEFT 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen 
Schiffen. 


Von Professor Dr. H. Maurer. 


m auf der allseitig unterschiedslos sich ausdehnen- 
2) den Meeresfläche ein Schiff in gewollte Richtun- 
gen bringen, d. h. navigieren zu können, und es in 
einer solchen erhalten, d. h. steuern zu können, bedarf de 
Seemann eines Richtungsanzeigers, der auf der Erde feste 
Richtungen (Azimute) unabhängig von Lage und Be- 
wegung des Schiffes angibt. Irdische Objekte von be- 
kannter Himmelsrichtung fehlen im allgemeinen, und die 
himmlischen, die Sonne und die Sterne, ändern fort- 
während ihr Azimut, so daß es astronomischer Beob- 
achtung und Rechnung bedarf, um nach ihnen den Kurs 
des Schiffes zu finden; außerdem fallen diese Hilfsmittel 
bei Wolkenbedeckung und unsichtiger Luft aus. Der 
Versuch aber, etwa von einer astronomischen Bestim- 
mung bis zur nächsten den Kurs des Schiffes beibehalten 
zu wollen, indem man das Steuerruder mittschiffs hält, 
würde ebenso erfolglos sein wie der eines Menschen, mit 
verbundenen Augen längere Zeit geradeaus gehen zu 
wollen. 
Das Instrument, das seit mehr als einem halben Jahr- 
tausend als alleiniger Richtungsanzeiger dieser Art in Be- 
tracht kam, istder Magnetkompaß. Seine Verwend- 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 7. I 


Meereskunde. 


[89) 


barkeit beruht darauf, daß ein um eine senkrechte Achse 
drehbarer Magnet unterm Einfluß des Erdmagnetismus 
sich überall in den magnetischen Meridian einstellt, 
der vom astronomischen um einen an verschiedenen 
Orten zwar verschiedenen, aber bekannten Winkel, die 
Mißweisung, abweicht. Somit kann nach der mit einem 
solchen drehbaren Magneten fest verbundenen Kompab- 
rose, wenn sie durch das Schiff nicht beeinflußt wird, 
überall gesteuert und navigiert werden; man muß nur 
wissen, wo man ist, und aus einer Weltkarte der Miß- 
weisung entnehmen, um welchen Winkel hier die mag- 
netischen Richtungen von den astronomischen abweichen, 
Zur Zeit der hölzernen Schiffe war in der Tat sonst 
nichts nötig; aber längst sind die Zeiten dahin, wo das 
Schiffsbaumaterial im Walde wuchs. Heute wird fast 
das ganze Schiff und ein großer Teil seiner Einrichtungen 
aus Eisen und Stahl erbaut; und diese Eisenteile rufen 
Ablenkungen‘des- Kompassessaus dessen 
Erdmagnetismus geforderten Lage hervor. Und zwar 
zeigt das Schiffseisen nicht nur gleichbleibenden Mag- 
netismus, sondern der Erdmagnetismus induziert im 
Schiff auch wechselnde Magnetpole je nach dem Kurs, 
der Seitenneigung des Fahrzeugs und nach dem Ort auf 
der Erde. Und auch der sogenannte feste Magnetismus 
ändert sich im Laufe der Zeit je nach der Beschaffenheit 
des Eisens und seiner Behandlung. Eine eigene Wissen- 
schaft mußte entwickelt werden, um in der bunten 
Mannigfaltigkeit der Kompaßablenkungen auf eisernen 
Schiffen Gesetze zu erkennen und die Kompasse von 
diesen Fehlern zu befreien, indem man sie mit Magneten 
und Weicheisenkörpern in geeigneter Anordnung umgab 
und in der nächsten Kompaßumgebung das Schiffseisen 
durch unmagnetisierbares Material ersetzte. Mußte da- 
bei aber Stahlfestigkeit des Materials gewahrt bleiben, so 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 3 


war der teure hochprozentige Nickelstahl erforderlich, 
der zum vierten Teile aus Nickel besteht. Wie genau 
immerhin sich diese Kompaßfehler auch auf eisernen 
Schiffen beseitigen lassen, zeigt die Präzision, mit der 
z. B. die transatlantischen Dampfer ihren Weg auf dem 
Weltmeer einhalten, wo man geradezu von einer ozea- 
nischen Chaussee sprechen kann. Freilich kommt hier 
die große Einzelerfahrung hinzu, die die fortwährende 
Wiederholung desselben Weges liefert, und die Möglich- 
keit, auf den Handelsdampfern die Umgebung der Kom- 
passe genügend eisenfrei zu halten. 

Viel schwieriger gestalten sich die Verhältnisse auf 
den Kriegsschiffen, wo die Aufgaben des Angriffs 
und der Verteidigung in weitergehendem Maß Eisen und 
Stahl auch ın der nächsten Umgebung des Kompasses 
fordern. An dem Platz, von dem im Ernstfall der Kom- 
mandant das Kriegsschiff leitet, im Kommandoturm, 
umgeben in geringstem Abstand dicke Stahlwände den 
Kompaßb, der hier unmöglich entbehrt werden kann; und 
vor ihm drehen sich die gepanzerten Geschütztürme mit 
ihren bis ı5 m langen Stahlrohren, die sich einzeln heben 
und senken lassen. Hier gelingt es nur ın beschränktem 
Maß, den Magnetkompaß verwendbar zu erhalten, zumal 
da die Eisenmassen durch die Magnetinduktion seitens 
des Erdmagnetismus diesen abschwächen. In engen 
Türmen kann die magnetische Richtkraft dadurch bis 
auf Y, ihres ungestörten Wertes sinken, und auch in den 
magnetisch günstigsten pflegt sie nicht viel über 1, des 
natürlichen Wertes zu behalten. 

In einer Schlacht gar ändert sich schon durch die 
starken Erschütterungen der eigenen Schüsse und noch 
mehr durch feindliche Treffer der Schiffsmagnetismus 
derartig, daß die Kompaßfehler völlig unbekannt werden. 
Neben den Eisenteilen wirken auf die Kompasse die elek- 


I % 


4 Meereskunde. 


trischen Anlagen wie Scheinwerfer, Dynamomaschinen, 
Elektromotoren und die starken, oft in mehrfacher Lage 
die Wände bedeckenden Kabel, die von Hunderten von 
Amperes durchflossen werden und dadurch die Kom- 
passe ablenken. 

Diese Schwierigkeiten haben die Kaiserliche Marine 
vor die Frage gestellt, ob sich nicht ein vom Erd 
magnetismus ganz. unabhaneıeer Roche 
tungsanzeiser finden ließe. Auch auf denzUnter 
seebooten führte die Aufgabe, für ihre allseitig von Eisen 
umschlossenen Räume Richtungsanzeiger zu beschaffen, 
zu der gleichen Forderung. Und von dieser Seite her ist 
denn auch Herr Dr- Anschütz-Kaempie dı 
die Welt die erste brauchbare Lösung dieser Frage ver- 
dankt, ausgegangen. Er hatte den Plan, eine Nordpolar- 
expedition im Unterseeboot zu unternehmen, und suchte 
sich dazu einen unmagnetischen Richtungsweiser zu 
konstruieren. 

Der wunderbare Apparat, der die Lösung ermög- 
lichte, ist ein Kreisel. Dr. Anschütz benutzte die 
Tatsache, daß ein rotierender Kreisel, wie man ın oft 
mißverstandener Fassung zu sagen pflegt, die Richtung 
seiner Achse zu erhalten strebt. Genauer gesagt: kom- 
binieren sich die einem laufenden Kreisel von auben 
mitgeteilten Bewegungsantriebe oder Beschleunigungen 
mit der vorhandenen Rotationsbewegung. Und daß das 
Ergebnis meist nur eine kleine Winkelbewegung der 
Kreiselachse werden kann, liegt einmal daran, daß die 
Kreiselteilchen schon sehr hohe Geschwindigkeiten haben, 
im Verhältnis zu denen die von außen hinzugefügten 
nur kleine Zusätze darstellen, und andrerseits daran, dab 
die Aufhängung und die Rotation des Kreisels die Über- 
tragung von äußeren Bewegungsantrieben auf die Kreisel- 
teilchen sehr erschwert. Unter Kreisel ist hier sters 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 5 


ein nach allen Seiten drehbarer Rotationskörper zu 
denken, der um seine Symmetrieachse rotiert. 

Was die hohen Eigengeschwindigkeiten der Kreisel- 
teilchen anlangt, so sei bemerkt, daß die Kreisel der 
Anschützschen Kreiselkompasse in jeder Minute 
20 000 Umläufe machen; das ergibt, da die Kreiselscheibe 
ı5 cm Durchmesser hat, für die Teilchen am Umfang 
eine Weggeschwindigkeit von 150 Metern in der Sekunde, 
mit der man die Reise um die Erde an ihrem Äquator 
in 3 Tagen machen würde, und die das Fünffache der 
neuesten Rekordgeschwindigkeiten unserer Rennauto- 
mobile und Aeroplane in weiter Fahrt darstellt. Schon 
einer in gerader Bahn mit solcher Geschwindigkeit dahin- 
sausenden Masse würde man durch eine Beschleunigung 
nach der Seite nur eine kleine Winkelabweichung erteilen 
können. Es kommt aber hinzu, daß die Kreiselteilchen 
nicht in gerader Bahn sondern in engen Kreisen laufen. 
\Vie dies wirkt, möge Abbildung ı veranschaulichen. 

Suchen wir durch Drucke auf die Kreiselachse in 
Rachtüns der "Pieile D (Abbildung Tr) dem’ Kreisel zu 
kippen, so erteilen wir der Stelle O die größte Be- 
Sehleumisuns auf uns zü, der Stelle U’die größte "von 
Hnsewees Der micht rotierende "Kreisel würde sich 
also um den Durchmesser LR drehen, so daß OU der 
am stärksten gekippte Durchmesser wird. Beim laufen- 
den Kreisel aber kombinieren sich die eben erwähnten 
Beschleunigungen mit den schon vorhandenen Ge- 
schwindigkeiten rechts herum (Pfeil r); und der am 
stärksten gekippte Durchmesser wird infolgedessen 
recht maehr.dıe Kace <OUThaben, wie beim ruhenden 
Kereisels sondern "segen OU im Sinner der? Kreisel- 
torfasion verdreht sein. Betrachten wir in der Tat ein 
einzelnes laufendes Teilchen, so erhält es zwar ın O eine 
Beschleunigung auf uns zu; aber nur in geringstem Maße 


6 Meereskunde. 


kann es ihr folgen; denn schon nach einem halben Um- 
lauf — d. i. bei dn Anschütz-Kreiseln noch !/sss 
Sekunde — erhält dasselbe Teilchen in U die gleiche 
Beschleunigung von uns weg. Überhaupt sind die Be- 
schleunigungen auf den \Viertelkreisen OR und RU ein- 
ander symmetrisch entgegengesetzt gleich und heben sich 
in ihrer Wirkung fast völlig auf. Ebenso ergeht es auf 
dem Wege ULO. Die Punkte U und O bleiben also 


nahezu unverschoben. Dagegen erhält das Teilchen 


m) während seines Wegs 
Vasp über den oberen Halb- 


® kreis LOR überall Be- 


D schleunigungen aufuns 

zu, auf dem Halbkreis 

D RUL überall von uns 
weg. An den Enden 

Doz dieser Halbkreise ist 


Ir also die stärkste Ver- 

Abbildung ı. Winkelbewegung der schiebung erreicht, im 
Kreiselachse. Punkt .Rı auf uns 

inL von uns weg; und 

zwar hängt der Betrag der Drehung von dem Verhältnis der 
von außen einwirkenden Beschleunigung zur Umfangsge- 
schwindigkeit des Kreisels ab. Dem Druck in der Rich- 
tung D also, dem der ruhende Kreisel durch Drehung 
um den wagerechten Durchmesser LR folgen würde, 
weicht die Achse des schnell rotierenden Kreisels nach 
der Richtung p aus, als wäre der Druck um 90° im Sinne 
der Kreiselrotation verdreht. Und zwar ist diese Winkel- 
bewegung der Kreiselachse um so langsamer, je schneller 
der Kreisel um seine Achse rotiert. Durch ein passendes 
Gewicht am Achsenende kann man so einer wagerechten 
Kreiselachse jede horizontale Winkelbewegung erteilen. 
Umgekehrt kann man die Kreiselachse drehenden 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 7 


Einflüssen, insbesondere auch denjenigen des Kreisel- 
gewichtes, durch die Art dr Aufhängung entziehen, 
indem man den Kreisel um seinen Schwerpunkt allseitig 
drehbar macht, wie dies Abbildung 2 zeigt. 

Der Kreisel g (Abbildung 2), der um seine Achse n 
rotiert, laßt sichrum die Achse q neigen und um die 
Achse | im Azımut drehen. Diese drei Achsen schneiden 
sich im Kreiselschwerpunkt. Alle vom Kreiselgestell r 
übertragenen Stöße treffen einen so aufgehängten Kreisel 
genau im Schwerpunkt, der mit dem Drehpunkt zu- 
sammenfällt, und vermögen deshalb ebensowenig wie die 
eigene Schwere den Kreisel zu drehen. Ein solcher voll- 
kommen frei drehbarer Kreisel wird daher, wenn nur 
die Reibungen in den Achsenlagern verschwindend klein 
sind, unbeirrt von allen Bewegungen seines Gestells r 
sich selbst parallel bleiben. Auch die Erdrotation wird 
ihn aus seiner Richtung im Weltraum nicht heraus- 
bringen; seine Achse wird immer auf denselben Fixstern 
zeigen, auf den sie antänglich eingestellt war. Eine 
vesrekaveauur der Erde wird die Achsevemes 
vollkommen frei drehbaren Kreisels also nur dann be- 
halten, wenn sie zur Erdachse parallel gestellt ist, da 
nur diese einzige auf der Erde feste Richtung während der 
Erddrehung zugleich im Weltraum unverändert bleibt. 
Wollen wir aber erreichen, daß die Achse eines solchen 
Kreisels, statt sich im Raum parallel zu bleiben, irgendwo 
auf der Erde horizontal eine feste Azimutrichtung behält, 
so müssen wir durch ein Zusatzgewicht am einen Achsen- 
ende künstlich der Achse eine horizontale Winkelbe- 
wegung erteilen, die sie im Weltraum dieselben Lagen 
durcheilen läßt wie die betreffende irdische Azımutgerade. 

Derartige Azimut-Kreisel hat die Firma 
Hartmannu. Braun in Frankfurt a. M. nach An- 
regungen von Herrn Professor Ach gebaut. Sie sind 


Meereskunde. 


(0,2) 


lz 
S 94 zum Tochterkompas 


IMZAAL I 
SI ZZ/ITISSSS 


Abbildung 2. Schema des Azimutkreisels von Hartmann und Braun. 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen, 6) 


noch nicht in die Kaiserliche Marine eingeführt, aber an 
Bord erprobt worden, und zwar mit dem Erfolge, dab 
weitere Erprobung lohnend erscheint. Ein schematisches 
Bild ihrer Einrichtung gibt Abbildung 2. Der Kreisel g 
ist der Kurzschlußanker eines mehrphasigen Wechsel- 
strommotors und wird durch den elektrischen Strom in 
rasche Rotation versetzt. Sein Rahmen z trägt am obe- 
ren Ende die Kompaßrose. Durch eine besondere Ein- 
richtung wird das Kreiselgestell r, falls es mit dem Schiff 
gegen die Azimut haltende Kreiselachse n verdreht wird, 
immer wieder in die gleiche Stellung gegen sie zurück- 
gedreht. Bei Verdrehung verschiebt nämlich ein sonst 
durch die Schirme s, und s, abgeblendeter Luftstrahl eines 
Gebläses d, und d, zwei Kupferplatten m, und m,, die 
zwischen einem Wechselstrommagneten e und einer 
Aluminium-Kreisscheibe a stehen, in unsymmetrische 
Lage. Infolgedessen dreht die Scheibe a in dem nunmehr 
unsymmetrischen Kraftfeld sich und durch das Zahnrad v 
das ganze Kreiselgestell r so lange, bis wieder Symmetrie 
eingetreten ist, d. h. bis das Kreiselgestell ebenso wie 
der Kreisel trotz der Schiffsdrehung seine unveränderte 
Azimutstellung eingenommen hat. Eine elektrische 
Übertragung mit Hilfe eines Wechselstromtransformators 
i, i, dreht die Rose eines als Tochterkompaß ausgebil- 
deten Phasenmessers an einer anderen Stelle des Schiffes 
stets um dieselben Winkel, um die sich das Kreiselgestell 
des Gebers gegen das Schiff dreht, so daß auch nach 
dem Tochterkompaß, der besonders wenig Raum bean- 
sprucht, gesteuert werden kann. Die Abbildung 3 
zeigt den montierten Mutter- und Tochterapparat, die 
etwa II2 cm hoch sind. 

Der Vorteil dieser Konstruktion liegt darin, daß der 
um den Schwerpunkt drehbare Kreisel gegen alle Schifts- 
bewegungen und Stöße äußerst wenig empfindlich. ist. 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 7. 2 


10 Meereskunde. 


Der Nachteil ist aber der, daß der Kreisel, einmal aus 
seiner Richtung gekommen, keinerlei Bestreben hat, in 
die verlassene Richtung zurückzukehren, vielmehr nur 
die jeweilig erreichte festzuhalten sucht, und daß man 
aus anderer Quelle wissen muß, in welchem Azimut die 


Mutter Tochter 
Abbildung 3. Mutter und Tochter des Azimut-Kreisels 
von Hartmann und Braun. 


Achse steht. Von diesem Richtungsanzeiger kann also 
nichts weiter gefordert werden, als daß seine Fehler 
innerhalb einer gewissen Zeit unter einer vorgeschrie- 
benen Grenze bleiben. Er ist nach dem Grundgedanken 
seiner Konstruktion ein Steuerkompaß; als Navi- 
gatıionskompaß kann er nur für beschränkte Zeit dienen. 

Im = Gegensatz. hierzu stellt der Merıidsame 
kreıserloder Birma Anschutz.&2 Co, seinessehee 
selbsttätig in die astronomische Nordrichtung ein; er 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. TI 


will also ein absoluter Richtungsanzeiger sein, der kein 
Kontrollinstrument bedarf, und dessen Fehlerweisungen 
nicht abhängig von der Laufzeit sind. Allerdings mußte 
diese Eigenschaft, die erst tatsächlich den Kreiselkompaß 
dem Magnetkompaß vergleichbar macht, dadurch er- 
kauft werden, daß der Schwerpunkt dieser Kreisel tiefer 
als ıhr Aufhängepunkt gelegt wurde. Infolgedessen 
geben alle Beschleunigungen, die dem Kreiselhaus erteilt 
werden, weil Schwerpunkt und Aufhängepunkt nicht zu- 
sammenfallen, zu Ausschlägen der Kreiselachse Veran- 
lassung; aber sie schwingt immer wieder in die Nord- 
richtung ein. 

Wie kommt dies zustande? Welche geheimnisvollen 
Kräfte zeigen der Kreiselachse, wo die astronomische 
Nordrichtung ist? Wir werden sehen, daß die vereinigte 
Wirkung der Erdrotation und der Schwere die Kreisel- 
achse in die Nordrichtung zwingt. Daß eine solche 
Wirkung eintreten müsse, hat theoretisch bereits der 
französische Physiker Foucault gefolgert, derselbe, der 
den ersten experimentellen Beweis für die Achsendrehung 
der, Prde erbrachte, als er 1851 im Pantheon ın Paris 
ein langes Pendel schwingen ließ, gegen dessen Schwin- 
gungsebene sich der im Saal aufgezeichnete Meridian- 
strich mit der Erde immer mehr verdrehte. Die Richtig- 
keit seines Schlusses, der Kreisel könne infolge der 
Erdrotation als Kompaß dienen, konnte experimentell 
aber erst bewiesen werden, nachdem die Elektrotechnik 
beliebig lang laufende Kreisel von hoher Umlaufzahl 
ermöglicht hatte. Um den Kreisel der Erdschwere zu 
unterwerfen, wird er so aufgehängt, daß sein Schwer- 
punkt unter den Drehpunkt fällt. Er kann sich dann 
sowohl um die Senkrechte, also im Azımut drehen, als 
auch jede Neigung annehmen; nur setzt sich dieser 
letzteren Drehung das Kreiselgewicht entgegen, das den 


o* 


12 Meereskunde. 
Schwerpunkt stets senkrecht unter den Aufhängepunkt 
zu legen und damit die Kreiselachse wagerecht zu stellen 
sucht. 

Wir “denken "uns einen” solchen Kreiseti zn 
Äquator aufgehängt und seine Achse wagerecht ost- 
westlich gerichtet (Abbildung 4). Er sei um den Auf 
hängepunkt A allseitig drehbar. Während der Erd- 
drehung von I nach 2 ver- 
sucht die Kreiselachse durch 

ihr Beharrungsvermögen 
sich selbst im Weltraum 
parallel zu bleiben, also in 
2 die gezeichnete Lage ein- 
zunehmen, in der das nach 
Osten zeigende Achsenende 
n über die Horizontalebene 
in ihrer neuen Lage=in®2 
(Hor. 2) gehoben erscheint. 


AN Die Schwere wird gegen 
RS diese Hebung angehen und 


ie Achse horizontal zu 
Abbildung 4. Meridiankreisel am die Achse horizo 


Aguator stellen suchen. Auf diesen 


durch den Pfeil D ange- 
deuteten Druck auf das Achsenende n antwortet der Kreisel 
durch ein Ausweichen rechtwinklig dazu, und zwar geht das 
Ende n nicht nach unten, wie der Druck gerichtet ist, 
sondern um 90° verdreht im Sinn der Kreiselrotation, 
d. i. nach Norden, da der Kreisel nach Anzeige des Pfeils 
auf dem vorderen Kreiselrand von West gesehen wie 
die Uhrzeiger rotiert. Die gleichartige Einwirkung 
bringen das Beharrungsvermögen der Kreiselachse und 
die Schwere während der Erddrehung hervor, so lange 
noch das Ende n östlich vom Meridian steht. Der 
Kreisel versucht sich also in eine Lage zu drehen, in der 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 13 
er und die Erde gleichsinnig rotieren: von Süden gesehen 
wie die Uhrzeiger. 

Unter der gemeinsamen Wirkung der Erdrotation 
und der Schwere schwingt also das vorher östlich 
stehende Kreiselachsenende n, das wir als Nordende be- 
zeichnen wollen, nach Norden hin, wobei es sıch zugleich 
über den Horizont erhebt. Im Meridian angelangt er- 
reicht es seine größte Erhebung; denn während es, auf 
den Schweredruck reagierend, über den Meridian hinaus 
nach Westen schwingt, wird das nun auf die Östseite 
übergetretene Südende s infolge des Beharrungsver- 
mögens der Achse bei der Erddrehung gehoben. Die 
Erhebung des Nordendes laßt also nach; bei einem 
weiteren Ausschlag nach Westen ist die Kreiselachse 
wieder wagerecht geworden; jetzt kehrt sich die Wir- 
kung um, weıl nun das Südende s bei weiterer Drehung 
über die Horizontebene tritt. und die Schwere auf es 
von oben drückt; das Nordende schwingt nun nach 
Osten zurück, sinkt zugleich, passiert den Meridian 
auf dem Rückweg in tiefster Lage und steigt dann, 
auf. die Ostseite übergetreten, wieder, bis die Achse 
bei 90° Ausschlag nach Ost wieder wagerecht steht und 
das Spiel von neuem beginnt. Die Kreiselachse schwingt 
also, ähnlich wie eine Magnetnadel um den magnetischen 
Meridian, ihrerseits um den astronomischen hin und her, 
nur daß damit auch schwache Hebungen und Senkungen 
verbunden sind. 

Steht aber die Kreiselachse an einem Punkt des 
Erdäquators schon von Anfang an horizontal im Me- 
Eidian, 350 bleibt sier ruhle - in. dieser "ihrer Gleich- 
gewichtslage; denn in ihr bleibt die Kreiselachse bei 
der Erddrehung sowohl sich selbst parallel, wie es ihr 
Beharrungsvermögen fordert, als auch horizontal, wie 
eszdier schwere verlanet. In Abbildine 5° sind die 


I4 Meereskunde. 


Geraden rA und 2A einander parallel und senkrecht zu 
den örtlichen Lotlinien Mı und M2. In nördlicher 
Breite aber sind aufeinander folgende Lagen einer 
Horizontalen im Meridian, wie sie die Schwere verlangt, 
nicht einander parallel (Abbildung 5, Geraden IB und 
IIB), und Parallelen zur Erdachse, die dem Kreiseipe- 
harrungsvermögen entsprechen würden, wären hier nicht 
horizontal. Die Natur bequemt sich zu einem Kompro- 
miß. Die Kreiselachse kann hier 
nur im Meridian bleiben, indem 
sie, räumlich betrachtet, von 
oben gesehen, sich fortwährend 
gegen die Uhrzeiger dreht, wie 
in der Abbildung aus der Rich- 
tung IB in die Richtung UB. 
Sie wird dies unter dem Einfluß 
des Kreiselgewichts tun, wenn 
das Achsennordende um einen 
passenden Winkel gehoben liegt; 


denn dann wird das Nordende 


Abbildung 5. Meridianlagen 
im Raum. der Kreiselachse rechtwinklig zu 


diesem vonoben wirkenden Druck 
räumlich gedacht nach Westen hin ausweichen, wie dies 
auch die Meridiangraden tuen; und unter einer bestimm- 
ten Neigung wird die Achse dauernd im Meridian in Ruhe 
bleiben. Von jeder anderen Lage aus würde sie um die 
genannte Gleichgewichtslage einen flachen elliptischen 
Kegel beschreiben, indem ganz analoge Wirkungen durch 
Schwere und Erddrehung auch hier zustande kommen, 
wie sie für einen Ort am Äquator abgeleitet wurden. 
Die Gesetze dieser Schwingungen hat 
Herr Dr. Martienssen, Direktor in der Kreisel- 
kompaß-Fabrik von Anschütz, mathematisch abgeleitet 
und an einem Modellapparat studiert, mit dem sich schon 
Werner von Siemens beschäftigt hatte. Martienssen 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 15 
findet die Richtkraft, die die Kreiselachse nach dem 
Meridian treibt, proportional zu zwei Faktoren. Der eine 
rührt von der Erde her; das ist die Winkelgeschwindig- 
keit, mit der sich die örtliche Lotlinie dreht. Sie ist am 
Äquator am größten: 360° in 24 Stunden, und nimmt 
nach dem Pol hin ab, wie Abbildung 5 zeigt. Bei gleicher 
Meridiandrehung ist der Winkel zwischen den Lotlinien 
Mı und M2 am Äquator größer als der zwischen den 
Lotlinien MI und MII in nördlicher Breite; und die Lot- 
linie MN des Nordpols dreht sich überhaupt nicht. Am 
Pol hat daher dieser Kreisel nicht mehr das Bestreben, 
sich in einen bestimmten Erdmeridian einzustellen. 
Seine Richtkraft ist dort verschwunden. Der andere 
Faktor hängt vom Kreisel ab und mibßt den Energieauf- 
wand, den der rotierende Kreisel besitzt. Dieser Faktor 
ist bei der sehr hohen Umdrehungszahl sehr grob. 

Ganz ähnlich liegt es beim Magnetkompaß; auch 
seine Richtkraft ist zu zwei Faktoren proportional. Der 
eine rührt von der Erde her; das ist die horizontale Kraft 
des Erdmagnetismus, und der andere rührt vom Kompaß 
her, das ist die Stärke der Rosenmagnete. Beim An- 
schützschen Kreiselkompaß ist die Richtkraft etwa zehn- 
mal so groß wie die des Magnetkompasses der Kaiser- 
lichen Marine. Dies ist ein Vorzug des Kreisels vorm 
Magnetkompaß; dagegen steht der Kreisel diesem nach, 
weil seine Schwingungsdauer, d. h. die Zeit, die er zu 
einem Hin- und Hergang braucht, viel größer als bei der 
Magnetrose ist. 

Die Schwingungsdauer wird beim Magnet- 
kompaß umso kürzer, je größer die beiden Faktoren seiner 
Richtkraft werden, d. h. je stärker der Erdmagnetismus 
ist (am magnetischen Äquator ist die Richtkraft am 
größten und an den magnetischen Erdpolen ist sie gleich 
Null), und je stärker der Rosenmagnetismus ist, voraus- 
gesetzt, daß beim Einsetzen stärkerer Magnete nicht die 


16 Meereskunde. 


im Kreise herumzuschleppende Last (das sogenannte 
Trägheitsmoment) stärker zunimmt als der Rosen- 
magnetismus. Das läßt sich aber beim Magnetkompaß 
meist vermeiden; man kann bei ihm stärkere Magnete 
einsetzen, ohne das Trägheitsmoment im gleichen Maße 
oder gar stärker als den Rosenmagnetismus zu steigern. 
So läßt sich beim Magnetkompaß durch Steigerung der 
Richtkraft die Schwingungsdauer verkürzen. Auch beim 
Kreisel gilt dies für den von der Erde herrührenden 
Richtkraftfaktor; am Äquator schwingt die Kreiselrose 
am schnellsten. Der vom Kreisel selbst herstammende 
Richtkraftfaktor aber, die in ihn gesteckte Energie, die 
proportional zu seiner Umlaufzahl ist, erhöht zwar auch 
die Richtkraft; in viel stärkerm Maße aber steigert sie 
sein scheinbares Trägheitsmoment um die Vertikalachse, 
weil eben der rotierende Kreisel infolge des Beharrungs- 
vermögens jeder Drehung der Rotationsachse hohen 
Widerstand entgegensetzt. So kommen wir hier zu dem 
Ergebnis: Durch Erhöhung der Umlaufzahl erreichen 
wir zwar eine ausreichend hohe Richtkraft, müssen aber 
auch eine außerordentlich lange Schwingungsdauer in 
Kauf nehmen. Unsere Magnetkompaßrose braucht zu 
einem Hin- und Hergang, obwohl die Rose stark ge- 
dämpft in einer Flüssigkeit schwingt, nur 28 Sekunden, 
die Kreiselrose aber ıy, Stunde. Es ist also ausge- 
schlossen, während einer Kreiselschwingung auf fahren- 
dem Schiff erkennen zu können, wo die Ruhelage, der 
Meridian, liegt. Nur wenn die Kreiselachse nicht 
schwingt, sondern in ihrer Gleichgewichtslage in Ruhe 
ist, kann der Kompaß gebraucht werden. Ob die Achse 
ruhig horizontal steht, kann an einer auf der Kompaßrose 
parallel zur Achse montierten Libelle erkannt werden. 
Bleibt deren Blase dauernd in der Mitte, so haben die 
Kreiselschwingungen aufgehört. Um diesen Zustand 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 17 


Sehmeller seintreten zur lassen, ist ene Dämptung 
nötig, die die Schwingungen abnehmen und nach wenigen 
Hin- und Hergängen den Kreisel im Meridian zur Ruhe 
kommen läßt. 

Ehe wir diese geniale Konstruktion von Anschütz 
kennen lernen, müssen wir uns mit dem Bau des 
Kreiselkompasses selbst näher bekannt machen. 
Das Kreiselkompaßhaus (Abbildung 6) trägt ın kardani- 
schen Ringen r, deren äuberster 
zur Stoßabschwächung an den 
Federn f hängt, einen mit (Jueck- 


I 

,. | 

silber gefüllten, kreisrinnenför- IR 
MM 
migen Kessel K. In dem Queck- Ast 
silber schwimmt ein ebenfalls L 
G 


ringförmiger Schwimmer S, mit 
dem die Kompasrose R fest 
verbunden ist. Unter ihrer Mitte 


geht eine Säule nach unten, die Abpildunse Schema des me 
das Kreiselgehäuse G mit den ridiankreisels von Anschütz. 
Lagern für die horizontale 
Kreiselachse A trägt. Der Schwerpunkt des ganzen schwim- 
menden Systems, das in der Abbildung gestrichelt ist, liegt 
etwas unter dem Auftriebszentrum, das als Authängepunkt 
des Kreisels anzusehen ist. Das schwimmende System kann 
sich also sowohl um seine senkrechte Achse drehen als auch 
beliebig neigen; nur sucht das Kreiselgewicht das geneigte 
System immer wieder aufzurichten, genau wie die 
Schwere auf ein schwimmendes Schiff wirkt. Die Ab- 
bildung 7 zeigt den Kreiselkompaß mit seinem Haus: die 
an Federn hängenden kardanischen Ringe, am besten am 
rechten Kesselrand sichtbar; die Rose mit der nord- 
südlich gerichteten Libelle links von der Rosenmitte; den 
Steuerstrich zur Kursablesung, von links nach rechts über 
die Rose laufend. Abbildung 8 und das Titelblatt lassen 


IS Meereskunde. 


die einzelnen Teile, von verschiedenen Seiten gesehen, 
erkennen, und Abbildung 10 den ganzen Apparat, der in 
dem äußeren kardanischen Ring hängt. Der Kreisel 
selbst (k in Abbildung 8) ist der Kurzschlußanker eines 
Drehstrommotors, der 
20000 Mal pro Minute 
herumgejagt wird. Er be- 
steht aus Nickelstahl mit 
Kupfereinlage, in der 
Sätze von Eisenblech- 
streifen eingebettet lie- 
gen. Die die ungeheuere 
Schwungkraft aushaltende 
dicke Nickelstahlkappe ist 
mit der feinen Kreisel- 
achse aus einem Stück 
hergestellt. Diese läuft 
in Stahlkugellagern, und 
von ‘der: Exaktheite der 
Arbeit wie von der Güte 


des Materials zeugt die 
Tatsache, daß nach mo: 
natelangem Lauf keine 


Spur von Abnutzung 

Abbildung 7. Meridiankreisel im weder an der Achse noch 

aus: an ihren Lagern festge- 
stellt werden kann, wo 
doch der Kreisel in jeder Stunde 1,2 Millionen und in wenig 
mehr als einem Monat ı Millarde Umläufe macht. An das 
Konstruktionsprinzip eines solchen Drehstrommotors 
möge die Abbildung 9 kufz erinnern. Durch die drei 
Leitungen I, 2, 3 fließen periodisch rasch wechselnde 
Ströme, so daß in einem Moment der Strom durch I zu-, 
durch 2 und 3 abfließt, im nächsten durch ı und 2 zu, 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 19 


durch 3 allein ab, im dritten durch 2 allein zu, durch 3 
und ı ab usf. Diese Ströme magnetisieren die ruhenden 
Elektromagnete I, II, III wechselnd so, daß ein mag- 
netisches Kraftfeld entsteht, dessen Richtung sehr rasch 
im Kreise herum läuft. Dies Kraftfeld erzeugt im Kurz- 
schlußanker K Ströme, die diesen senkrecht zum vor- 


handenen Kraftfeld magnetisieren, und er läuft dem ihm 


Abbildung 8. Hauptteile des Anschützschen Kreiselkompasses. 


K Quecksilberkessel in kardanischen Ringen. S Schwimmendes System mit 
Schwimmer, Rose und Kreiselgehäuse. k Kreiselkörper. D Glasdeckel mit 
Steuerstrich und Zentrierhülse, auf den Kopf gestellt. 


immer vorauseilenden magnetischen Kraftfeld nach ohne 
es je erreichen zu können, da der Anker immer senkrecht 
zu derjenigen Magnetkraftrichtung magnetisiert wird, in 
die er sich einstellen möchte. Um durch einen scherzhaften 
Vergleich den eigenartigen Konstruktionsgedanken zu 
erläutern: die Idee erinnert an jene Hundewettrennen, 
wo jeder Hund vor einen Karren gespannt wird, an 
dessen Deichsel, für den Hund unerreichbar, eine Wurst 
gebunden ist. Der Hund läuft dann nach der Wurst, ob- 
wohl die Konstruktion selbst es völlig unmöglich macht, 


20 Meereskunde. 


daß der Hund die Wurst erreicht. Der Anschützsche 
Drehstrommotor verbraucht etwa ı5o Watt — 1 Pferde- 
kraft, und zwar wesentlich zur Überwindung der Luft- 
reibung; die Lagerreibungen sind minimal. 

Die Dämpfungseinrichtung erläutert die Abbil- 
dung 10. Der Kreisel rotiert von Süden gesehen mit den Uhr- 
zeigern in seinem Blechgehäuse p, aus dem er durch eine 
unten angebrachte Düse ce nach Westen hin, im Bild nach 
demBeschauer, die angesaugte und mitgerissene Luft hinaus- 

schleudert. Der Luft- 
1 2 
strahl trifft auf ein vor 


der Öffnung hängendes 
Pendel d, an dem er 
symmetrisch geteilt 
vorbei geht, solange 
die Kreiselachse rf ho- 
rızontal steht. Der 
Rückstoß der Luft übt 
also keinerlei Drehmo- 


3 ment um die vertikale 
Abbildung 9. Schema eines Drehstrom- 


Achse aus. Denken 
motors. 


wir uns aber den 
Kreisel in einer Schwingung begriffen, beispielsweise das 
Nordende r von Ost nach West schwingend, so ist dabei, 
wie früher abgeleitet, dieses Ende über die Horizontale 
gehoben. Dann .ist ‚also, weil das. "Pendel senkrecht 
hängt, die Düsenöffnung bei a weiter offen als die bei b; 
der Luftstrom tritt bei a kräftiger aus, und sein Rückstoß 
drückt die Nordhälfte des Kreiselgehäuses nach Osten, 
wirkt also der Schwingungsbewegung entgegen. Zu- 
gleich senkt sich auf diesen nach Osten gerichteten An- 
trieb das Nordende der Achse, da ein nach Osten wir- 
kender Antrieb im Sinne der Kreiselrotation um 90’ 
verdreht von oben nach unten wirken würde. Das Nord- 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 


) 
ii 


ende passiert deshalb den Meridian in geringerer Er- 
hebung als ohne Dämpfung und kehrt nach kleinerem 
Westausschlag zurück. Bei der Rückschwingung dreht 
auch die Dämpfungswirkung ihren Sinn um, da nun das 
Südende gehoben und die Düsenöffnung b die weitere ist. 


Abbildung ıo. Dämpfungseinrichtung. 


So nehmen die Schwingungsbogen rasch ab; bei der An- 
schützschen Konstruktion ist jeder folgende Bogen nur 
etwa 13 des vorhergehenden, und die Achse ist nach 
wenig Schwingungen praktisch in der Gleichgewichts- 
lage angelangt. 

Bin®Bild’soleker gedamptrten Schwingung, 
wie sie an einem für S.M.S. „v.d. Tann‘ bestimmten 
Kreisel beobachtet wurde, zeigt Abbildung ıı. 6 Mi- 
nuten nach Beginn des Versuchs stand die Kreiselachse 


22 Meereskunde. 


62° östlich vom Meridian; sie passierte den Meridian zu 
den Minuten 32, 72, III. Ihre volle Schwingungsdauer 
ist also Ir — 32=79 Minuten, und die aufeinander- 
folgenden Maximalausschläge betrugen: 62° nach Ost, 
22° nach. West, 8° mach :Ost, 4° nach Weste Nach 


0 20 %0 60 80 0 120 140mıin. 


ZWAR II 


8 
BE ZEmEIEeE 
ZEWREaE 


DRSa See 
> BEER er BZARereee 
RISIEATREREREE 
BrEFBRRARHRENEER 


0 20 mw 60 80 00 1720 140mün. 


Abbildung ır. Gedämpfte Kreiselschwingung. 


140 Minuten kommt keine größere Abweichung als 2° 
vom Meridian mehr vor. 

Am Äquator ist de Gleichgewichtslage 
für den ungedämpften Kreisel die Horizontale im Meri- 
dian; da bei dieser Lage keine Dämpfungswirkung ein- 
tritt, so hat dort auch der gedämpfte Kreisel genau die- 
selbe Gleichgewichtslage. Auf Nordbreite dagegen ist 
das Nordende der Achse des ungedämpften Kreisels bei 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 2 


einer gewissen Erhebung über den Horizont im Gleich- 
gewicht. Bei dieser Neigung übt aber die Dämpfungs- 
einrichtung ein Drehmoment nach Osten aus, infolge- 
dessen der gedämpfte Kreisel seine Gleichgewichtslage 
etwas östlich vom Meridian findet, wo das diesem 
Ausschlagswinkel entsprechende westwärts treibende 
Drehmoment, das durch Erdschwere und Erddrehung 
veranlaßt wird, dem ostwärts gerichteten Dämpfungs- 
drehmoment das Gleichgewicht hält. Dieser Kreisel- 
fehler, der am Äquator — o, auf Nordbreite östlich, auf 
Südbreite westlich ist, heißt.der Breitenfehler. Er 
hängt von der Intensität der Dämpfung und von der 
geographischen Breite ab, und beträgt bei den ÄAnschütz- 
kreiseln am Äquator 0°, auf 60° Breite 2,2°, auf 75° 
Breite 4,8°. Durch ein kleines Gewichtchen auf der Nord- 
hälfte des Kreisels (t in Abbildung ı0o) kann man den 
Fehler für eine bestimmte Breite, z. B. für diejenige von 
Kiel beseitigen; dann wird er südlich von Kiel negativ 
und wächst besonders auf der Südhalbkugel zu höheren 
Beträgen an. 

Ein anderer berechenbarer Kreiselfehler entsteht, 
wenn der Kreisel seinen Ort auf der Erde verändert, also 
auf fahrendem Schiff. Fährt das Schiff einen geraden 
Kurs mit gleichmäßiger Fahrt, so umkreist es im Raume 
die Erdachse nicht wie ein auf der Erde fester Punkt 
längs eines Breitenkreises, sondern längs einer Bahn, die 
sich aus Erdbewegung und Schiffsbewegung zusammen- 
setzt. Fährt das Schiff z. B. auf 60° Nordbreite nord- 
wärts mit 20 sm Fahrt, so versetzt die Erde es im Raume 
pro Stunde um 450 Seemeilen nach Osten, die eigene Fahrt 
dazu um 20 Seemeilen nach Nord. Die resultierende Bahn 
ist dann um 2,5° von Ost nach Nord verdreht, und die 
Kreiselachse, die sich senkrecht zu dieser Bahn stellt, 
weicht also von Nord 2,5° nach West ab. 


24 Meereskunde. 


Dies ist. „der Fahrttehler. Er ist vondes 
Kreiselkonstruktion ganz unabhängig. Auf Ost- und 
Westkurs verschwindet er, da dann die resultierende 
Bahn vom Breitenkreis nicht abweicht; auf Kursen des 
nördlichen Halbkreises ist er westlich, auf solchen des 
südlichen Halbkreises östlich, und kann aus einer Tabelle 
in. seiner \ Abhängigkeit von Kurs, Fahrt und geo® 
graphischer Breite entnommen und berücksichtigt werden. 

Viel ungünstiger sind die sogenannten ballisti- 
schen Fehler, die durch Änderungen m Hal 
oder Kurs des Schiffes entstehen. Denken wir uns z. B. das 
Schiff rasch gleichmäßig nach Norden fahrend und dann 
plötzlich stoppend, so wird die Kreiselaufhängung festge- 
halten, der unter ihr hängende Kreisel aber wird infolge 
seiner Trägheit noch weiter nach vorn schießen. Wir er- 


halten eine Wirkung, wie wenn wir das Hinterende, das 


Do) 
Südende, der Kreiselachse nach unten drücken, wodurch 
nach den Kreiselgesetzen das Südende nach Westen das 
Nordende nach Osten ausschwingt, solange eben die 
Fahrtverzögerung als solche anhält. Ebenso wie jede Ver- 
minderung der nördlichen Komponente der Fahrt erzeugt 
jede Steigerung der Südkonıponente der Fahrt einen 
Achsenausschlag nach Osten, ihr Gegenteil einen solchen 
nach Westen. Ist nach einer solchen Fahrtänderung die 
neue Fahrtstufe gleichmäßig aufgenommen, so entspricht 
ihr unter Berücksichtigung des Fahrtfehlers eine be- 
stimmte Gleichgewichtslage, nach der hin die Achse von 
ihrem ballistischen Ausschlag aus einschwingt. Da hierzu 
Zeit nötig ist, so decken sich bei rascher Fahrt und 
Kursänderungen diese Fehler teilweise übereinander, und 
können zu nicht mehr berechenbaren, mitunter auch 
größeren Kreiselfehlern führen, die erst nach dem Auf- 
nehmen einer geraden und gleichmäßigen Fahrt allmäh- 
lich verschwinden. 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 2 


nn 


Die Ursache der schlimmsten Fehler, die vereinzelt 
hauptsächlich bei starkem Seegang Abweichungen über 
45° hervorgerufen haben, hat die Firma Anschütz erst 
in den letzten Monaten aufgedeckt, und glücklicherweise 
scheint sie ein Mittel gefunden zu haben, durch eine 
Neukonstruktion unter Verwendung mehrerer Kreisel 
dieser Schwierigkeiten Herr zu werden. Diese Fehler 
entstehen durch rhythmische Schiffsbewe- 
gungen, Schlingern, Stampfen, Maschinenerschütte- 
rungen und Deckvibra- 


tionen. Ihr Grund liegt A 

darin, daß der laufende 

Kreisel insofern eine sehr 

große Unsymmetrie be- I - 


sitzt, als er Neigungen a 7B; D, 


3 


seiner Achse einen sehr c D 02- ke 
großen, Neigungen um AGPB 
Seitenansicht. Draufsicht. 


seine Achse aber einen 
sehr kleinen Widerstand 
entgegensetzt. Dies be- 


Abbildung ı2. Pendelungen eines 
Eisenstabes. 


wirkt, daß derKreisel durch von außen herantretendeSchwin- 
gungen, die in einer Vertikalebene erfolgen, nur dann nicht 
in Azimut-Drehungen gerät, wenn die Ebene dieser Schwin- 
gungen entweder durch die Kreiselachse geht oder zu ihr 
senkrecht ist. Als erlauterndes; Beispiel fur die Art 
solcher Einwirkungen auf einen unsymmetrischen Körper 
können Pendelschwingungen eines wagerechten Eisen- 
zylinders dienen, der an einen Faden aufgehängt ist, wie 
es Abbildung ı2 zeigt. Läßt man den Stab, nachdem er 
parallel zu sich selbst verschoben ist, pendeln in deı 
BbhensenBDzetkase CB D3) feder an der durch AB 
sehenden? >bene senkreeht zu ABD ae €, B;D,), 50 
bleibt der Stab während der Pendelschwingungen der 
Ehezrer BD parallel= "Bendelt der Baden AB aber in 


26 Meereskunde. 


einer Vertikalebene, dıe mit der Ebene ABD einen Winkel 
von 45 bildet (Lage C,B,D,), so macht der Stab kräftige 
Ausschläge im Azımut. 

Jedenfalls zeigen diese verschiedenartigen Kreisel- 
ablenkungen, die durch Schiffsbewegungen hervorgerufen 
werden, daß der Aufstellungsort des Kreisels an Bord 
für sein gutes Arbeiten nicht gleichgültig ist. Der 
Apparat wird vielmehr an dem mechanisch ruhigsten 
Ort am besten arbeiten. Da man aber die Kompasse an 
bestimmten Schiffsorten braucht, und nicht ohne weiteres 
die Navigationsstellen des Schiffes an die mechanisch 
günstigsten Plätze legen kann, mußte auch bei diesen 
Kreiselkompassen für eine Fernübertragung ge 
sorgt werden, wobei der Mutterkreisel an einem von 
den Schiffsbewegungen und Erschütterungen möglichst 
wenig beeinflußten Platz aufgestellt wird und seine An- 
gaben an Tochterapparaten auf den Steuerstellen des 
Schiffes ablesbar gemacht werden. Die Firma Anschütz 
hat dies Problem in der folgenden Weise gelöst: Zunächst 
wurde ähnlich wie bei der Konstruktion von Hartmann 
und Braun bewirkt, daß sich der drehbar gemachte 
Kreiselkessel bei Schiffsdrehungen selbsttätig immer in 
die gleiche Lage zur Kreiselachse einstellt. (Abbil- 
dung 13.) Sobald sich namlich” der Kessel mir dem 
Schiff gegen die Azimut haltende Kompaßrose (die tiefer 
gelegene Rose in Abbildung 13) verdreht, legt sich ein 
an dieser befestigter federnder Kontakt an einen von 
zwei im Kessel festen Metallhalbringen an und schließt 
dadurch den Stromkreis eines Wendemotors, der den 
Kessel durch einen Trieb solange rechts oder links 
herumdreht, bis der Kontakt wieder losläßt, d. h. bis der 
Kreiselkessel wieder die alte Azimutlage eingenommen 
hat. Motor M und Trieb T sind unter dem Kompaßhaus 
in Abbildung 13 sichtbar. Eine zweite (obere) Rose auf 


Mutterkreisel der Übertragung. 


Abbildung 13. 


ae 
”) a 
bi 7 


2108 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 29 


dem Kessel dient zur Kursablesung an einem im Schiff 
festen Steuerstrich (am Nordstrich der Rose sichtbar). 
Auf der Achse des Wendemotors sitzt ein Kommutator, 
der bei jeder Umdrehung nacheinander 3 Stromkreise 
schließt, die im Tochterapparat 
3 je um 120° gegeneinander ver- 
drehte Elektromagnete nachein- 
ander betätigt, so daß sich ein 
Magnet zwischen diesen genau 
ebensooft herumdreht wie die 
Wendemotorachse. Durch Zahn- 
radübersetzung wird diese Ma- 
gnetdrehung so auf eine geteilte 
Rose übertragen, daß diese sich 


gegen das Schiff genau um die 
gleichen Winkel wie die Mutter- 
rose dreht, womit die Fernüber- 
tragung bewerkstelligt ist. Abbil- 
dung 14 zeigt den auf einer Säule 
montierten Tochterkompaß und 
Abbildung 15 seine Rose. 

Durch eine weitere Zahnrad- 


übertragung wird außer der in Abbildung 14. Tochterkom- 
360° geteilten Tochterrose eine paß der Übertragung. 
zu ihr konzentrische 36 mal so 

schnell umgedreht, so daß bei ihr ein ganzer Umlauf 
10° Winkel bedeutet, und auf ihr der Kurs leicht bis 
auf Zehntel Grade genau abgelesen werden kann. Nun 
kann man allerdings ein Schiff nicht bis auf Zehntel-Grade 
genau im Kurs halten, da aber an dieser empfindlichen 
Rose jede kleine Drehung des Schiffes sofort erkannt 
wird, kann der Steurer schneller die richtigen Ruder- 
drehungen einleiten und wesentlich besser steuern. 
Die Methode erlaubt mehrere Tochterrosen gleichzeitig 


30 Meereskunde. 


anzuschließen, die sich alle momentan ebenso einstellen 
wie die große Rose des Mutterkompasses; und da 
der Wendemotor schneller dreht als ein Schiff drehen 
kann, so ist der richtige Kurs stets sofort ablesbar. Die 
Mutterkompasse sind insofern den gewöhnlichen Kreisel- 
kompassen überlegen, als sich ihre Schwimmer bei 
Drehungen nicht durch das Quecksilber des Kessels hin- 
durchdrehen müssen, weil der Kessel stets dieselbe Lage 
zur Rose behält. Einen Nachteil hat die Übertragungs- 
methode; sie verbürgt nur gleiches Ausmaß der relativen 
Drehungen am Mutter- und Tochterkompaß; die Über- 
einstimmung in den Ausgangsstellungen der beiden muß 
durch Anfangseinstellung erzielt werden. 

Die Erfahrungen der Kaiserlichen Marine mit den 
Anschützschen Kreiselkompassen, die auf mehreren 
Linienschiffen, großen Kreuzern und Unterseebooten 
dauernd eingebaut sind, sind wechselnder Natur ge- 
wesen, wie es bei einem in der Entwicklung begriffenen 
Apparat leicht verständlich ist. Es haben sich sowohl 
Schwierigkeiten im elektrischen Teil gezeigt, als auch 
ganz besonders haben die Schiffsbewegungen starke 
Kreiselablenkungen hervorgebracht. Es sind so heftige 
rhythmische Schwingungen des Kessels vorgekommen, 
daß größere Mengen Quecksilber herausspritzten, so dab 
der Kreiselträger anstieß, was starke Versager verur- 
sachte. Aber ein starker Fortschritt in der Brauchbar- 
keit dieser neuesten Kompaßart, die den Erdmagnetismus 
völlig ausschaltet, ist zweifellos feststellbar. In frucht- 
barer Wechselwirkung haben die Erfahrungen der 
Kaiserlichen Marine und die steigenden Anforderungen, 
die sie an den Apparat gestelit hat, auf der einen Seite, 
und die Bereitwilligkeit, das mathematische und das 
konstruktive Geschick, womit die Firma andrerseits die 
Erfahrungen auszunutzen und durch sinnreiche Neu- 


Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 31 
konstruktionen die gefundenen Mängel zu überwinden 
gewußt hat, den Apparat auf eine Höhe gebracht, die 
noch vor wenigen Jahren-auch von Fachleuten für theo- 
retisch unerreichbar angesehen wurde. Gewibß ist diese 


Abbildung ı5. Tochterkompaß, von oben gesehen. 


Entwicklung noch nicht abgeschlossen; und gerade der 
neueste Plan der Firma Anschütz, durch Kombination 
von mehreren Kreiseln die Wirkungen rhythmischer 
Schwingungen abzuschwächen, verspricht einen Fort- 
schritt von ähnlicher Bedeutung zu bringen, wie es die 
Einführung der automatischen Dämpfung gewesen ist. 

Wenn nach den bisherigen Berichten der Flotte der 
Kreiselkompaß nur als ein brauchbarer Steuerkompaß 


32 Meereskunde. 

bezeichnet werden konnte, der bei ausreichender Kon- 
trolle durch den Magnetkompaß und durch astronomische 
und terrestrische Richtungsbestimmungen wegen der 
größeren Ruhe der Kreiselrose beim Steuern dem ma- 
genetischen Konkurrenten vorgezogen wurde, so kann es 
heute nicht mehr als vollständig ausgeschlossen gelten, 
daß er bei weiterer Vervollkommnung auch noch sein 
eigentliches Ziel erreicht, Navigationskompaß zu werden. 
Ist er dies doch nach dem Gedanken seiner Konstruktion, 
die seiner Achse ihre Gleichgewichtslage im Meridian 
anweist und Kontrollinstrumente überflüssig macht. 
Möge der Kreiselkompaß diesem Ideal immer näher 
kommen zum Nutzen der Schiffahrt und zur Ehre deut- 
schen Erfindergeistes und deutscher Erfinderzähigkeit! 


Literatur über den Kreiselkompaß. 


O. Martienssen: Die Verwendbarkeit des Rotationskompasses als 
Ersatz des magnetischen Kompasses. Physikalische Zeitschrift 
1906 S. 535. 

Dr. Anschütz-Kaempfe: Der Kreisel als Richtungsweiser auf der 
Erde. Jahrbuch der Schiffbautechnischen Gesellschaft 1909 
Nr. XV, S. 352 und 

M. Schuler: Mathematischer Anhang zum vorgenannten Aufsatz. 
Ebenda Nr. XXII, S. 561. 

Lauffer: Das Gyroskop. Mitteilungen aus dem Gebiet des See- 
wesens 1909 S. 646. 

Anschütz & Co.: Der Kreiselkompaß. Kiel ıgro. Im Selbstverlag 
der Firma. (Referat darüber in Zeitschrift für Instrumenten- 
kunde ıgrr.) 


Für die Überlassung der Figuren 2 und 3 darf ich der Firma 
Hartmann & Braun, für diejenige der Figuren 7, 8, 10, 13, 14 
und ı5 der Firma Anschütz & Co. meinen verbindlichen Dank aus- 
sprechen. 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler & Sohn 
Berlin SW 68, Kochstraße 68—71. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 


MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG ACHTES HEFT 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlacht- 


flotten in Vergangenheit und Gegenwart. 
Von R. Wittmer. 


ie Schiffsarten, aus denen sich die modernen 

N Schlachtflotten zusammensetzen, sowie ihre Be- 

satzungen sind in früheren Vorträgen“) geschildert 

worden. Es bleiben die Gesichtspunkte zu betrachten, 

nach welchen die Schiffe zusammengestellt und taktisch 
verwendet werden. 


Die Taktık (von rdoosım — in Schlachtordnung auf- 
stellen) bezeichnet ‚der werstorbene Kapiıtan? zur See 
Stenzel sehr treffend als die Lehre von der Anordnung 
und Verwendung der Streitkräfte fürs Gefecht und im 
Gefecht im Gegensatz zur Strategie, unter welcher er die 
Lehre der Verwendung der Streitkräfte zur Erreichung 
des Kriegszwecks, zur Niederwerfung des Feindes ver- 
standen wissen will. Die Taktik liefert mithin der Stra- 
tegie das Mittel, um ihre Zwecke zu erreichen. 

Die Taktik der modernen Schlachtflotten baut sich 
auf auf den Lehren der Seekriegsgeschichte; sie ist ver- 
schieden in der Zeit der Ruderschiffe, der Segelschiffe 
und der Dampfschiffe. 


*) Große und Kleine Kreuzer. Meereskunde, Jahrgang 2. Heft 8. 
Die Torpedowaffe. Meereskunde, Jahrgang 3. Heft 3. 
Kriegsschiffsbesatzungen in Vergangenheit und Gegenwart. 

Meereskunde, Jahrgang 4. Heft 6. 
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 3. I 


Meereskunde. 


[65 


Die Taktık der Ruderschiffe läßt sich zurückver- 
folgen bis etwa 500 v. Chr. ' Die letzte große Schlacht 
zwischen zwei Ruderflotten ist 1580 n. Chr. geschlagen 
worden. Ruderschiffe sind zwar auch noch später als 
Kriegsfahrzeuge verwendet worden — so fanden noch 
im 17. Jahrhundert Seetreffen zwischen Galeerenflotten 
im Mittelmeer statt — ihre Bedeutung war aber schon 
sehr herabgesunken; die Segelschiffe wurden damals 
schon als Schlachtschiffe entschieden bevorzugt. 

Der Gebrauch der Segel-Kriegsschiffe beginnt etwa 
5o n. Chr., die Segel erlangten aber im Mittelmeer bis 
zum jahre 1580 ın der Schlacht keine Verwendung, 
während sie im Norden Europas schon frühzeitiger, etwa 
vom 13. Jahrhundert an, auch ın der Schlacht benutzt 
wurden. Große Seeschlachten zwischen Segelflotten fallen 
erst in das Jahr 1588, und dieses ist daher als das Greburts- 
jahr für die Taktık der Segelflotten anzusehen. 

Von 1840 ab tritt das Dampfkriegsschiff in den Vor- 
dergrund und 1866 wird die erste größere Seeschlacht 
zwischen zwei Dampferflotten geschlagen. Hiermit be- 
ginnt der dritte Abschnitt, die Taktik der Dampfschiffe. 

In der Taktik der Dampferflotten finden wir Be- 
rührungspunkte sowohl mit der Taktik der Segelflotten als 
mit der der Ruderflotten, mit dieser fast mehr als mit 
jener, da die Dampfschiffe mit den Ruderschiffen die 
Beweglichkeit nach allen Richtungen hin gemeinsam 
haben, während die Segelschiffe, gänzlich vom Winde ab- 
hängig, in der Bewegungsrichtung beschränkt waren. 

Die Taktik zur See hat sich aus den Erwägungen 
und Maßnahmen hervorragender Flottenführer heraus- 
gebildet und ist von seemännisch hochstehenden Völkern 
aufgenommen und weiter entwickelt worden. Diese 
drückten der Taktik ihrer Zeit den Stempel auf und gaben 
ihr Mannigfaltigkeit, namentlich dann, wenn sich zwei 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 3 


ebenbürtige Gegner gegenüberstanden, die ihre Flotten der 
eigenen Eigenart und der Eigenart des Gegners ent- 
sprechend zu verwenden wußten. So sprechen wir von 
einer Taktik der Griechen, der Karthager und Römer im 
Altertum, der Venetianer und Türken, auch wohl der 
(Genuesen im Mittelalter und der Niederländer, Franzosen 
gad Engländer in der neueren Zeit: In der neuesten Zeit 
bilden zunächst die Seeschlachten von Lissa 1866 und 
Tsuschima 1905 zwei wichtige Etappenpunkte. 

Die Zusammensetzung einer Flotte bestimmt ihre 
Taktık, und die Taktık hinwiederum übt entscheidenden 
Einfluß auf die Zusammensetzung aus. Man kann daher 
die eine nicht betrachten, ohne auf die andere einzugehen. 
Seefähigkeit, Gefechtskraft, Manövrierfähigkeit und Ge- 
schwindigkeit sind die Hauptanforderungen, welche die 
Taktık zu allen Zeiten an die Kriegsschiffe gestellt hat. 
Die Gefechtskraft wird bedingt durch die Größe der 
Schiffe, die Stärke ihrer Besatzungen und ihrer Waffen. 
Sie wurde fast immer nur auf Kosten der Schnelligkeit 
erzielt bzw. rerhoht.- Da man dieser. nicht entbehren 
wollte und konnte, anderseits eine Erhöhung der Gefechts- 
kraft jederzeit angestrebt wurde, so bildeten sich schon 
frühzeitig verschiedene Schiffstypen heraus, die entweder 
die Getechtskraft oder die Schnelligkeit bevorzugten oder 
ein Kompromib zwischen beiden darstellten. 

Das formvollendetste und beste Kriegsschiff des 
Altertums muß nach den Überlieferungen die attische 
Triere (Abbildung I) gewesen sein. Bei ihr wurde neben 
genügender Gefechtskraft besonderes Gewicht auf 
Schnelligkeit und Manövrierfähigkeit gelegt. Sie war 
schlank gebaut, ihre Waffe war der Sporn. Gefechts- 
kräftiger, aber langsamer und unbeholfener war die zu 
ungefähr gleicher Zeit von den Karthagern bevorzugte 
Pentere, die ein Gewicht von 300 Tonnen und eine Be- 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 8. 2 


4 Meereskunde. 


satzung von 375 Köpfen hatte. Auch ıhre Waffe war der 
Sporn. Wie die Ruderer hier in 5 Reihen untergebracht 
waren, ist vorläufig noch Gegenstand der Forschung; 
noch unklarer erscheint uns die Anordnung auf den später 
zu erwähnenden Okteren und Dekateren. 

Sahen Griechen und Karthager in dem Sporn die 
Hauptwaffe ihrer Schiffe und bauten daraufhin ihre 
Rammtaktik auf, so verpflanzten die Römer, die anfangs 
unerfahren zur See, kriegstechnisch aber hochveranlagt 


Abbildung ı. Attische 

Triere um 480 v. Chr. 

(Aus: Rittmeyer, Seekriege, 
Teils) 

Länge 4o m, Breite 4,4 m, 

ı,r m, (rewicht 200 t. 


Tiefgang 


S 


224 Mann, davon 174 Ruderer 


für 174 Riemen. 


waren, ihre Kampfkraft vom Lande, ihre Legionäre, auf 
die Schiffe und sahen in diesen ihre Hauptwaffe. Ihre 
Schiffe, von ungeübten Händen den Karthagern nachge- 
ahmt, konnten sich in Beweglichkeit und Geschwindigkeit 
mit jenen nicht messen, also auch ihnen gegenüber ihren 
Sporn nicht zur Geltung bringen. Sie erstrebten daher 
sofort den Enterkampf an und konstruierten Fallbrücken 
(corvi) auf ihren Schiffen, die sie beim Herannahen der 
feindlichen Schiffe auf diese niederfallen ließen und über 
die hinweg dann die Legionäre auf die feindlichen Schiffe 
drangen, so daß sie ihre Überlegenheit im Nahkampf zur 
Geltung bringen konnten. Hatten die Karthager nur 20 
Bewaffnete an Bord, so besetzten die Römer ihre Penteren 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 5 


mit je 120 Legionären. Um sich nach Möglichkeit gegen 
den Rammstoß des Feindes zu schützen, bauten sıe die 
Schiffsseiten stärker und panzerten sie sogar schon. Nach 
und nach machten sie ihre Schiffe auch hochbordiger, um 
dem Feinde das Entern zu erschweren, und führten zum 
Schutze der Kämpfer und Wurfmaschinen Brustwehren 
an. den? Seiten und Nurme an den Schiffsenden auf. Als 
Wurfmaschinen wurden Katapulte und Balliısten verwen- 
det, Vorrichtungen, die in Bogenform Pfeile, Lanzen und 
Balken schossen oder mit Hebelkraft schwere Gewichte 
wie Steine usw. warfen. Hierdurch wurde die Beweglich- 
keit und Manövrierfähigkeit der Schiffe mehr und mehr 
herabgesetzt, sie wurden zu schwimmenden Festungen. 
Schließlich bestanden die Römerflötten aus Okteren und 
Dekateren, deren Schwerfälligkeit dann einen kräftigen 
Schritt zurück zur Schnelligkeit und Beweglichkeit ım 
Kriegsschiffbau herbeiführte. 

Von besonderer Bedeutung ist dieser Umschwung für 
unsere Betrachtungen insofern, als gerade der Flotten- 
führer ıhn herbeiführte, der bis dahin mit den schweren 
Okteren und Dekateren in mehreren großen Seeschlachten 
über leichtere und schnellere Schiffe des Gegners den Sieg 
davongetragen hatte. Welche Erwägungen ıhn hierbei 
geleitet haben, ıst nicht historisch festgelegt, sicherlich 
aber hatte Agrippa den Vorzug der Schnelligkeit und 
Beweglichkeit an den Schiffen des besiegten Pompejus 
klar erkannt und schuf nun in der Ruhezeit sich eine 
Flotte nach ganz neuen Gesichtspunkten. Ein flinkes 
Seeräuberschiff, ein Schiff der Liburner in Illyrien, diente 
ihm als Muster für seine neuen Schiffe, denen er den 
Namen „Liburnen‘ gab. (Abbildung 2.) 

Mit diesen Schiffen, die noch leichter und schneller 
waren als die ds Pompejus, führte Agrippa gegen 
Antonius zunächst einen Kreuzerkrieg, schnitt ihm 


2* 


6 Meereskunde. 


die Zufuhr zur See ab, beunruhigte und schädigte die 
feindlichen Küsten, eroberte feste Plätze in Feindesland 
und brachte hierdurch den Feind allmählich ın eine solche 
Zwangslage, dab er sich unter ungünstigen Verhältnissen 
mit ihm schlagen mußte. In der nun folgenden Schlacht 


Abbildung 2. Römische Liburne um 50 n. Chr., nach Arenhold. 


Länge 30 m, Breite 4 bis 5 m, Tiefgang 1,25 m, Gewicht 80 t. ızo Mann, darunter 


84 Ruderer auf 14 Ruderbänken, 42 Riemen jederseits, je 3 Riemen von ı Bank aus 
zu bewegen, ı grobes Segel und ı kleines Segel nur für den Marsch. 
(Original im Museum für Meereskunde.) 


bestand seine erfolgreiche Taktik darin, daß er mit seinen 
leichten schnellen Schiffen die schwerfälligen Schiffe des 
Feindes umschwärmte, Töpfe mit brennendem Pech und 
ungelöschtem Kalk mittelst Wurfmaschinen aus der Ferne 
und brennende Wurfspieße, Pfeile und Fackeln aus der 
Nähe mit der Hand auf sie schleudern ließ, ohne doch 
Gelegenheit zum Entern und Rammen zu geben. 

Die große Kriegführung zur See des Altertums er- 
reichte mit dieser Seeschlacht bei Aktium, 31 v. Chr., ihr 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 7 


Ende. Die römischen Flotten setzten sich von da ab nur 
noch aus Liburnen und einer kleinen Anzahl Trieren zu- 
sammen. Das Ruderschiff, zum Segeln eingerichtet, 
blieb das Kriegsschiff des Mittelmeeres bis zum Verfall 
der Römerherrschaft und wurde von dem später auf- 
blühenden Venedig in der Galeere (Abbildung 3) über- 


Abbildung 3. Venetianische Galeere, XVI. Jahrh. 


(Aus: Rittmeyer, Seekriege, Teil 1.) 


Länge 47 m, Breite 6 m, Tiefgang 1,25 m, Gewicht 200 t. 230 Mann, davon ı5o Ruderer, 
3 für jeden Riemen, jederseits 25 Riemen, 
nommen. Diese unterschied sich von den Schiffen des 
Altertums in auffälliger Weise dadurch, daß sie statt des 
Sporns in oder unter der Wasserlinie einen solchen über 
Wasser schnabelartig, 6 bis 7 m vorstehend, führte, mit 
zwei großen Segeln für den Marsch ausgerüstet war und 
ebenso wie die Liburnen von nur einer Reihe Riemen 
an jeder Seite im Kampfe vorwärts bewegt wurde. Die 
Ruderbänke standen schräg zur Rielrichtung, so daß von 
jeder Bank drei Riemen von je einem Ruderer bedient 
werden konnten, oder beinahe senkrecht, so daß nur ein 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft. 3 


8 Meereskunde. 


langer Riemen von drei nebeneinander sitzenden Rude- 
rern bedient wurde. Vorn und hinten befanden sich 
Plattformen für die Kämpfer und Wurfmaschinen, später 
auch für die Kanonen. 

Die Armierung mit Kanonen, die seit 1333 n.Chr. 
auftritt, führte dann wieder zum Bau von größeren 
Schiffen, den Galeassen, die länger, breiter und hoch- 
bordiger als die Galeeren waren, drei große Segel und 
etwa 800 bis 1000  l’onnen Gewicht hatten. 

Die empfindlichsten Teile der Ruderschiffe waren 
die Schiffsseiten, weil hier die zur Fortbewegung die- 
nenden Riemen herausragten und deren Bedienung die 
Aufstellung von Kämpfern und Geschützen nicht ge- 
stattete. Ihre Offensivkraft lag im Bug, zur Verteidi- 
gung wurde die Heckarmierung mitbenutzt. Der Bug 
wurde daher von den Vielreihern sowohl wıe von den 
Galeeren dem Feinde zugekehrt. Während aber die 
Trierenflotten ihre Taktik auf dem Rammstoß aufbauten, 
suchten die Galeerenflotten zunächst den Feind im Fern- 
kampf durch Wurfgeschosse zu erschüttern und dann 
über die auf oder in das feindliche Schiff geschobenen 
Schiffsschnäbel hinweg zu entern. Die Schiffsschnäbel 
ersetzten also die Enterbrücken der Römer. 

Für die Segel-Kriegsschiffe, die im Norden Europas 
schon zur Zeit der Galeerenflotten des Mittelmeeres ver- 
wendet wurden, war anfangs die Enterung der Kampf- 
zweck, ihre Gefechtskraft lag vornehmlich in der starken 
3esatzung von Gewappneten, die nır im Kampf Mann 
gegen Mann zur Geltung kommen konnte. Die Schiffe 
(Abbildung 4) waren zum Widerstand gegen die rauhe 
nordische See hochbordiger, kürzer und breiter als die 
Galeeren, ihre Takelung war als Hauptbeförderungsmit- 
tel schwerer, aber lange Zeit hindurch zu unvollkommen, 
um mit ihr allein die Schiffe überall manövrieren zu 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 9 


können. Eine kleine Anzahl Riemen wurde daher auch 
für sie noch längere Zeit als zur Aushilfe notwendig er- 
achtet. Hieraus geht ihre anfängliche Unbeholfenheit 
hervor, die eine taktische Verwendung unmöglich machte 
und schon das Zusammensegeln ohne Formation und das 


Abbildung 4. Hansekogge um 1480 n. Chr., nach Arenhold. 


Länge 29 m, Breite 8m, Tiefgang 5,3 m, Gewicht 240 t. ı38o Mann, 238 Kanonen, 
5 9 sans 5,3 11, 4 
(Original im Museum für Meereskunde.) 


Heranbringen an den Feind sehr schwierig gestaltete. 
Daher ist auch in den berühmten Seekämpfen der Hanse 
von einer eigentlichen Taktik nichts zu erkennen. Die 
Flotten segelten in Gruppen, die Schiffe legten sich breit- 
seit an den Feind und kamen dann ins Handgemenge. 

Durch diese Kämpfe wurde aber das Bedürfnis nach 
größerer Beweglichkeit hervorgerufen und die allmähliche 
Vervollkommnung der Takelage herbeigeführt, so daß 
die Riemen von den Schiffen gänzlich verschwanden und 
in den Breitseiten dafür Geschütze aufgestellt werden 


2% 
fo) 


Io Meereskunde. 


konnten. Diese waren anfangs in den Kastellen vorn 
und hinten untergebracht, mit der Erfindung der Ge- 
schützpforten, etwa 1500 n. Chr., wurden sie über das 
ganze Schiff verteilt und auch in den Schiffsdecks über- 
einander gestellt. Die Gefechtskraft wuchs dadurch er- 
heblich, die verbesserte Takelage gab den Schiffen grö- 
bere Manövrierfähig- 
keit und Geschwindig- 
keit, sie waren nun- 
mehr in Schlachtord- 
nung zu bringen und 
zu halten, und es ent- 
wickelte sich nunauch 
die Segelschiffstaktik. 

Wurden die Ruder- 
flotten in breiter For- 
mation, Schiff neben 
Schiff, in Dwarslinie 


oder in Keilform in 


Abbildung 5. „De Zeven Provincien‘, die Schlacht geführt, 
holländisches Linienschiff von 1566. so daß jedes Schiff 
(Aus: R. Werner, Bilder aus der deutschen See- seine Stärke, denBug, 
kriegsgeschichte.) 
Länge 5sı m, Breite 13,5; m, Tiefgang 5 m. Gewicht dem Feinde zukehrte, 
On so bildete sich bei den 
Segelschiffen allmählich die Kiellinie, also Schiff hinter 
Schiff als Hauptgefechtsformation heraus, um die Breit- 
seitgeschütze nach beiden Seiten auf den Feind zur Wir- 
kung bringen zu können. Von der Rammtaktik wurde 
gänzlich abgesehen, da die Schiffe zum besseren Segeln 
keinen Sporn führten und die über den Bug vorstehen- 
den Teile der Takelage den Rammstoß verboten. Auf 
Niederkämpfen des Gegners durch Geschützfeuer und 
nachfolgendes Entern lief die Segelschiffstaktik hinaus. 
Die gefechtskräftigsten Schiffe wurden in die Linie 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. TI 


gestellt, daneben dienten leichtere, schnellere, bewe- 
gungsfähigere außerhalb der Linie zum Signaldienst, zur 
Aufklärung, zur Unterstützung der eigenen oder zur 
Wegnahme der feindlichen havarierten Schiffe, sowie 
zum Kreuzerkrieg. Auch Branderschiffe, die, mit Pech, 


Abbildung 6. „Commerce de Marseille“, französischer Dreidecker 1790. 


Länge 63,4 m, Breite ı7 m, Tiefgang 8 m, Gewicht 2747 t. 1098 Mann, r20 Kanonen. 
(Original im Museum für Meereskunde.) 


Teer, Öl und Holz gefüllt, sich Bord an Bord von feind- 
lichen havarierten Schiffen legten und sich dann selbst 
in Brand setzten, um den Feind zu vernichten, wurden 
zeitweise in den Schlachten verwendet. Es waren dies 
kleinere Fahrzeuge mit 20 bis 30 Mann Besatzung. Diese 
mußte sich rechtzeitig in Booten zu retten suchen. 

Je nach der Größe und Gefechtskraft wurden die 
Segelschiffe in Klassen eingeteilt und nach der Anzahl 
der Kanonen, die sie führten, und der Anzahl der Decks, 


irn denen diese aufgestellt waren, benannt. Man unter- 


12 Meereskunde. 


schied Schiffe-I. bis VIII. Klasse, Schiffe von ıo bis 
130 Kanonen, Vierdecker, Dreidecker, Zweidecker, Fre 
gatten, Korvetten und Briggs. Die in die Linie einge- 
stellten Zwei-, Drei- und Vierdecker wurden kurzweg 
Linienschiffe genannt. Die Entwicklung*) führte ge- 
rade so wie bei den Ruderschiffen, zu immer gefechts- 
stärkeren, massiveren, aber auch unbeholfeneren Schiffen, 
die mit Geschützen gespickt und mit Menschen bis zur 
äußersten Grenze . der Lebensfähigkeit vollgepfropft 
waren. So hatte ein spanischer Vierdecker 130 Kanonen 
und 1100 Mann Besatzung. Das bevorzugteste Linien- 
schiff blieb aber trotzdem der Zweidecker von 64 bis 
74. Kanonen. ° Schiffe dieser Art bildeten2. B> 1790=:..1: 
Sechstel der gesamten englischen Schlachtflotte. Die 
nicht in die Linie eingereihten Schiffe waren Fregatten 
von 30 bis 40 Kanonen, Korvetten von 10 bis 20 Kano- 
nen und Briggs mit weniger Geschützen. Der damalige 
große Kreuzer, die Fregatte, entwickelte sich aus dem 
Linienschiff und gewann durch Schnelligkeit und Be- 
weglichkeit neben guter Gefechtskraft mehr und mehr 
an Bedeutung, so daß sie mit der Einführung der Dampf- 
maschine und des Schiffspanzers in der Übergangspe- 
riode vom Segel- zum Dampfschiff der Hauptschlacht- 
schiffstyp (Abb. 7) wurde. Das bewegliche, schnelle und 
schwächer armierte Schiff erhielt auch hier wieder 
schließlich den Vorzug, genau wie früher die Trieren vor 
den Penteren und später die Liburnen vor den Vielreihern. 

Die Taktik der Dampferflotten konnte sich die Tak- 
tik der Ruder- und Segelflötten zu Nutzen machen, und 
so sehen wir denn in dem neuen, dritten Zeitabschnitt 
alsbald den Sporn als vernichtendste Waffe wieder ın 


*) Das Linienschiff einst und jetzt. Heft 2 der Sammlung 
„Meereskunde in gemeinverständlichen Vorträgen und Aufsätzen“. 
Berlin 1903. E.S. Mittler & Sohn. 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 13 


die Erscheinung treten und daneben die Breitseitarmie- 
rung mit Rücksicht auf die noch notgedrungen beibe- 
haltene Takelage weiter verwendet. Die gepanzerten, 
vollgetakelten Fregatten wurden, wie gesagt, der Haupt- 
schlachtschiffstyp, ungepanzerte Dampf-Fregatten und 


Abbildung 7. Preußische Panzerfregatte ‚Friedrich Carl‘ 1867. 


Länge 88 m, Breite 16,6 m, Tiefgang 7,3 m, Gewicht 5971 t. 522 Mann, 16 schwere, 
6 leichte Kanonen. (Nach einer Zeichnung im Museum für Meereskunde.) 


Korvetten übernahmen den Kreuzerdienst, kleine, schnelle 
und ungepanzerte Avisos den Signal- und Depeschendienst. 

Unaufhaltsam aber drängte die nun auf technisch- 
wissenschaftliche Grundlage gestellte  Schiffbau-In- 
dustrie und Maschinentechnik vorwärts, der Torpedo 
wurde als Unterwasserwaffe eingeführt und rief einen 
neuen Kriegsschiffstyp, das Torpedoboot, hervor, die Ta- 
kelage verschwand von den Schlachtschiffen, die Artil- 
lerie wurde immer leistungsfähiger und fernwirkender, 
ihre Aufstellung in drehbaren Türmen ermöglichte ihren 


IA Meereskunde. 


Gebrauch nach allen Richtungen, die Geschwindigkeit 
und Manövrierfähigkeit der Schiffe nahm ununterbrochen 
zu. Die kaum wieder zu Ehren gelangte Rammtaktik 
mußte infolge dieser Fortschritte wieder der Linientaktik 
weichen, die schon verschwundene Bezeichnung „Linien- 
schiff“ tauchte wieder auf, die Schlachtflotten wurden 


Abbildung 8. Deutscher Panzerkreuzer „von der Tann‘. 1910. 


Länge ı7ı m, Breite 26,3 ın, Tiefgang 8,2 m, Gewicht 19000 t. 957 Mann, 
8 28 cm-Sk., 10 ıs cm-Sk., 16 8,8 cm-Sk. (Aus: Nauticus, 1910.) 


wie heute in Linienschiffe, Panzerkreuzer, geschützte 
Kreuzer und Torpedoboote eingeteilt. Mehr und mehr 
entwickelt sich jetzt der Panzerkreuzer (Abb. 8) zu einem 
schnellen Linienschiff und scheint bestimmt zu sein, einen 
entscheidenden Einfluß in der Schlacht auszuüben. So 
ringt sich immer wieder in den taktischen Erwägungen 
der Jahrtausende die Schnelligkeit als mit ausschlaggeben- 
des Moment in der Seeschlacht durch, sobald ein genügen- 
der Ausgleich zwischen Schutz- und Trutzwaffen der 
schnellen Schiffe gefunden worden ist. 

Nach diesem kurzen historischen Überblick seien 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. I 


nn 


nun zur Erläuterung des Gesagten einige Seeschlachten 
geschildert, die Taktık und Zusammensetzung der 
Schlachttlotten verschiedener Zeiten gut erkennen lassen. 
Die berühmteste Seeschlacht des Altertums, zu- 
gleich die erste, die hervorragende Taktık erkennen läßt, 
ist die Seeschlacht bei Salamıs. Die Flotte der Griechen 
zählte 347 Trieren und 7 Pentekonteren; letztere waren 
kleinere Schiffe mit 50 Riemen, wie sie bis dahin die 
Phönizier gebaut hatten. Die Zahl der persischen Schiffe 
wird auf 12067, meistens Trieren, also auf mehr als das 
Dreifache der griechischen angegeben, dabei waren die 
Schiffe hochbordiger und kampfkräftiger, aber weniger 
schnell und manövrierfähig. Bei einer Durchschnittsbe- 
satzung von 200 Köpfen pro Triere waren also 241 400 
Mann auf der Flotte der Perser und 69 400 Mann auf der 
Flotte der Griechen eingeschifft. Daß trotzdem die 
Griechen den Sieg davontrugen, war der hervorragenden 
Führung und Schulung und der genialen Auswahl des 
Kampfplatzes durch Themistokles zu verdanken. 
Dieser hatte seme Stellune? (wel- Abb-r9) so, ge 
wählt, daß der rechte Flügel sich an Land anlehnte, so 
daß hier eine Umfassung durch den Feind nicht möglich 
war; der linke Flügel, im stumpfen Winkel vorgezogen, 
reichte bis an die Untiefen des Giorgio-Kanals, konnte 
also auch nicht umfaßt werden; wohl aber vermochte er 
selbst den feindlichen rechten Flügel zu umfassen, der 
nicht in den Kanal hineinfahren konnte. Die griechische 
Front hatte eine Länge von 1,4 Seemeilen — 2,6 km und 
gestattete, alle 354 Schiffe in zwei Treffen hintereinan- 
der ohne Lücken, aber mit genügender Bewegungsfähig- 
keit zu ordnen. Die persische Flotte konnte sich nur ın 
gerader Front und bei engster Aufstellung in drei Tref- 
fen nur mit höchstens 800 Schiffen entwickeln. Sie nahmen 
die Aufstellung in der Nacht vor, während die Griechen, 
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 8. 4 


16 Meereskunde. 


ausgeruht, erst am Morgen die Schlachtordnung bil- 
deten. 

Kaum hatten die Griechen ıhre Aufstellung beendet, 
so drängten die Athener auf dem linken Flügel auch 
schon gegen die rechten Flügelschiffe der Perser vor 
und hatten das Glück, das persische Führerschift in den 
Grund zu bohren und den Führer selbst, einen Bruder 


II Serse, 
ib nm 
Sn 


tar 
(RER 
Sa UmMVS 


N = X 
Shane T, 
a elartanıe 
ae 15 


2 
20 (Tropneten Bisps,- 5 
29 om 


2 


Abbildung 9. Seeschlacht bei Salamis, 28. September 480 v. Chr. 


(Nach Stenzel, Seekriegsgeschichte, Teil II.) 


des Xerxes, zu töten. Hierdurch kam Unordnung in die 
persichen Reihen; sie wurde noch erhöht, als die hin- 
teren beiden Treffen vorwärtsdrängten, um sich unter 
den Augen des Xerxes, der am Fuße des Aigaleus die 
Schlacht beobachtete, auszuzeichnen. Die Perser nah- 
men sich so gegenseitig die nötige Bewegungsfreiheit 
und boten den anstürmenden attischen Trieren Gelegen- 
heit zum Rammen. Panik und Flucht war nach verhält- 
nismäßig kurzem Kampfe die Folge, ın die auch allmäh- 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 1W7 


lich die persische Mitte mit hineingezogen wurde. Zur 
Erhöhung des persischen Mißgeschicks kam auch noch 
westlicher Wind auf, der die Schiffe nach der Mitte zu- 
sammentrieb und sie noch mehr in Unordnung brachte. 

Die griechische Mitte und ihr von den Spartanern 
besetzter rechter Flügel hatten zunächst einen schweren 
Stand. Sie mußten sich ın der Defensive verhalten, um 
die Anlehnung an Land nicht zu verlieren. Die hier in 
vorteilhafterer Stellung befindlichen Perser drängten un- 
gestüm vor, und nur mit Mühe konnten sıch die Griechen 
behaupten, bis sıch der Druck ıhres linken Flügels auch 
auf die persische Mitte bemerkbar machte und diese auf 
den persischen linken Flügel schob. Nun konnte auch 
die griechische Mitte und schließlich der rechte Flügel 
offensiv vorgehen und so gegen Abend die allgemeine 
Flucht der Perser herbeiführen. Xerxes Verlust soll 
200 Schiffe und 40 000 Mann betragen haben, während 
die Griechen nur 40 Schiffe verloren hatten, deren Be- 
satzung sich zum Teil durch Schwimmen an Land rettete. 
Der Sıeg des bedeutend schwächeren der beiden Gegner 
war ein grober, hervorgerufen durch den äußerst günstig 
gewählten Kampfplatz und das taktisch richtige Verhal- 
ten der Griechen auf der ganzen Linie. Aber auch sie 
waren so erschöpft, daß sie auf eine Verfolgung des 
fliehenden Feindes verzichteten. 

An demselben Tage kämpften zwei andere bedeu- 
tende Seemächte des Mittelmeeres miteinander — Syra- 
kus und Karthago. Auch hier siegten die Griechen über 
das weit mächtigere Karthago, ohne ihm jedoch die See- 
herrschaft zu entreißen und den Besitz des übrigen Sicı- 
lıens streitig zu machen. Erst als die Römer auf ihrem 
Eroberungszuge durch Italien auch Sizilien begehrten, 
sahen sich die Karthager dem Feinde gegenübergestellt, 
der sie vernichten sollte. Aus den langwierigen Kämpfen, 


4 * 


18 Meereskunde. 


in denen die Karthager zunächst von der schon erwähn- 
ten Entertaktik der Römer völlıg überrascht wurden, sei 
hier nur die besonders lehrreiche Seeschlacht von Ekno- 
mos (Abb. 10) behandelt. Als im Jahre 256 v. Chr. die 
römischen Konsuln, des unfruchtbaren Kampfes zur See 
müde, Karthago selbst anzugreifen beschlossen und mit 
einer Flotte von 
330Penteren, einer 
großen Zahl von 
Transportschiffen 
und einem einge- 
schifften Heer von 
40000 Mann sich 
in Marsch setzten, 


Abbildung 10. See- 
schlacht bei Eknomos. 


I—]IV römische Geschwader. 
ı—4 karthagische 


(Nach Stenzel, Seekriegs- 
geschichte, Teil 11.) 


stellten sich ihnen die Karthager mit 350 Penteren an der Süd- 
küste Siziliens entgegen, wurden aber fast völlig vernichtet. 

Die Römer fuhren dem Feinde mit ihrer T[ransport- 
Notte entgegen, statt diese während des bevorstehenden 
Kampfes unter dem Schutz des nahen Landes zu lassen. 
Ihr offensiver Geist drängte sie jedenfalls rücksichtslos 
vorwärts; nur so kann man dieses taktisch unrichtige 
Vorgehen erklären. Möglich auch, daß sie die Taktık 
ihrer Gegner gering einschätzten. Jedenfalls wurden sie 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 19 


durch den Troß behindert, wie sich auch aus ıhrer For- 
mation ergiebt. Sie hatten ebenso wie die Karthager 
ihre Flotte in vier Geschwader geteilt und diese in spitzer 
Keilform derart aufgestellt, daß das erste und zweite Ge- 
schwader die Seiten, das dritte mit den Transportschiften 
in Schlepp den Rücken bildete und das vierte zum Schutz 
der letzteren sich in breiter Form anschloß. Die Seiten- 
seschwader mußten in Staffel marschieren und sich nach 
dem dritten Geschwader richten, waren also ın ihrer Be- 
wegungsfreiheit sehr behindert, boten aber dem Feinde in 
dieser Aufstellung keine Gelegenheit zum Rammangriff. 
Dies erkannte der karthagische Admiral Hamilkar, 
der die feindliche Mitte kommandierte, und suchte 
deshalb die Römer durch Belästigungen zu reizen und 
durch plötzlich markierte Flucht seiner beiden Mittelge- 
schwader aus ihrer Formation herauszulocken. Diese 
List gelang. Die an der Spitze des ersten und zweiten 
römischen Geschwaders befindlichen Konsuln nahmen 
die Verfolgung auf und trennten sich von den beiden 
anderen Geschwadern. Nun mußten die Transportschiftfe 
eiligst unter Land Nlüchten, um das dritte und vierte 
römische Geschwader gegen die Angriffe des dritten und 
vierten feindlichen Geschwaders frei zu machen. Aber 
statt daß die karthagischen Geschwader sich nun zu- 
nächst vereint auf die beiden weit vorgelockten römi- 
schen Geschwader stürzten und diese bei ihrer größeren 
Schnelligkeit und Beweglichkeit umzingelten und er- 
drückten, suchte jedes Geschwader sich seinen eigenen 
Gegner. So kam es, daß bei annähernd gleicher Schiffs- 
zahl die von den Konsuln befehligten beiden Geschwader 
mit Hilfe ihrer Fallbrücken und Legionäre wie in frühe- 
ren Schlachten bald über die feindliche Mitte die Ober- 
hand gewannen, die meisten Schiffe besetzten und dann 
ihren mit weniger Erfolg kämpfenden beiden anderen 


20 Meereskunde. 


Geschwadern zu Hilfe eilten und nun ihrerseits das dritte 
und vierte feindliche Geschwader mit Übermacht be- 
kämpften. Die Karthager hatten die Gunst der Verhält- 
nisse nicht ausgenutzt; nun mußten sıe ihren taktischen 
Fehler mit einem schweren Verlust von 100 Schiffen und 
40 000 Mann büben und den Römern den Weg nach Kar- 
thago freigeben! Diese sollen nur 24 Schiffe und etwa 
10000 Mann ın der Schlacht verloren haben. 

200. Jahre später, 31 v. Chr., machte sich der’ szobe 
römische Flottenführer Agrıppa in der Schlacht bei Actıum 
die Beweglichkeit und Schnelligkeit seiner Schiffe besser 
zu Nutzen. Beide Flotten waren in’ drei Geschwader 
eingeteilt, Agrıppa befehligte speziell die Mitte, Anto- 
nius den rechten Flügel der drei in breiter Front aufge- 
stellten Geschwader. Die Flotte des Agrıppa zählte 
260 Liburnen mit etwa 40000 Mann Besatzung, die des 
Antonius soll aus 170 OÖkteren und Dekateren mit 
100000 Mann Besatzung bestanden haben. Dem weit 
schnelleren und beweglicheren Feinde gegenüber hatte 
er mit seinen schwerfälligen Schiffen in schmalerem 
Fahrwasser eine Aufstellung gewählt, die dem Feinde 
eine Umflügelung nicht gestattete, dafür aber auch auf die 
Offensive verzichtete. Seiner in zwei Treffen aufgestellten 
Dwarslinie gegenüber (Abbildung ı1) stellte Agrippa sein 
Mittelgeschwader parallel, die beiden Seitengeschwader 
aber zur Umfassung des Gegners unter stumpfem Winkel 
vorgezogen, ebenfalls in zwei Treffen auf. Zum Umfassen 
mußte Antonius aber zunächst mehr nach See zu gelockt 
werden, und hierbei kam Agrippa der den Schiffen des 
Antonius in den Rücken wehende Wind zu Hilfe. Die 
Schiffe trieben langsam auf Agrippa zu, und dieser ließ 
nun wie Hamilkar bei Eknomos den Feind durch seine 
schnelleren Schiffe zum Angriff reizen. Auch hier ge- 


lang die List. Die Flügelgeschwader des Antonius stießen 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. DAT 


vor, und nun wurden die kleinen schnellen Liburnen 
richtig verwendet, um die schwerfälligen Gegner zu um- 
schwärmen und ın Brand zu schießen. Sie griffen immer 
zu 3 oder 4 einen Gegner an, ohne ihm Gelegenheit zum 
Entern zu geben. Verwirrung und Mutlosigkeit entstand 
dadurch in den Reihen des Feindes. Als Kleopatra, die 
mit einem Geschwa- 
der von 60 Schiffen 
zur Unterstützung 
des Antonius bereit 
ass sa, daßr der 
Kampf für ihn un- 
günstig wurde, se- 
gelte sie in einem 
geeigneten Moment 
von dannen. An- 
tonius raste, sich, 
seine Flotte und sein 


- 8 2 = Zeichenerklärung. 
Heer vergessend, f Ü abe Alotte des Antonius 1. Moment 
> z s “ aubıcı £2 & “ < . 
auf einem seiner äh ©. Berges 
a .r |rst ” desAgrpa 7. 
schnellsten Schiffe Ins vrae 


hinterdrein und ent- 


Abbildung ır. Seeschlacht bei Actium. 


schied damit den (Nach Stenzel, Seekriegsgeschichte, Teil II.) 
Ausgang des 

Kampfes. Es soll zwar noch 3 bis 4 Stunden weiter ge- 
kämpft worden sein, aber das Ende war, daß beinahe 
die ganze Flotte des Antonius verbrannt oder genommen 
war und nur wenige Schiffe entkamen. Der Erfolg der 
Schlacht war die nun festbegründete Weltherrschaft 
Roms unter Octavianus Augustus. 

Von den Kämpfen der Galeerenflotten, deren bedeu- 
tendste die Schlacht bei Lepanto 1571 war, sind taktisch 
neue Gesichtspunkte nicht zu berichten. Die Galeeren- 
flotten behielten die breite Aufstellung mit vorgezogenen 


Meereskunde. 


[00) 
185) 


Flügeln bei, ihr Bestreben ging dahin, mit dem Bug an 
den Feind heranzukommen und den Schnabel zum Entern 
über ihn herüberzuschieben. Die Feuerwaffen waren 
noch zu wenig leistungsfähig, um auf sie eine neue Tak- 
tik zu gründen. Abbildung ı2 gibt einen Überblick über 


Abbildung ı2. Venetianische Flotte unter Pietro Barbarigo 1618. 


(Aus: Marine-Rundschau, 13. Jahrg., Heft rı.) 


die Schlachtordnung einer Graleerenflotte und zeigt gleich- 
zeitig eine kombinierte Schlachtordnung aus Ruder- und 
Segelschiffen im 17. Jahrhundert. Diese Aufstellung 
konnten die Ruderflotten nach jeder Himmelsrichtung 
hin einnehmen, vorausgesetzt, daß Windstärke und See- 
gang die menschlichen Kräfte nicht überstieg. Die 
Segelflotten waren dagegen in ihrer Bewegungsfreiheit 
begrenzter, sie konnten nicht in den ihnen als Trieb- 
kraft dienenden Wind hineinsegeln. Recht gut ist die 
Abhängigkeit des Segelschiffs vom Wind auf Abbil- 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 23 
dung 13 zu erkennen, die einem der ältesten bekannten 
Werke über Seetaktik entnommen ist. 

Der Strahlenkranz ist die Windrose, jeder Strahl 
bedeutet einen Kompaßstrich, deren 32 in Abständen von 
11,25 gezählt werden. Die Windrichtung ist bei V 


Abbildung 13. Lage des Segelschiffs zum Winde. 


(Aus: P. Paul Lloste, L’art des arm&es navales usw.) 


durch den Mundhauch angegeben. Das in C befindliche 
Schiff kann sich nach allen Richtungen hin bewegen, nur 
nicht nach den Richtungen zwischen H, A und H. Es 
hat also Bewegungsfreiheit über 20 Strich der Windrose 
— 225, 12 Strich —= 135° sind für es auf direktem Wege 
ungangbar. Auf den Strichen H liegt es „beim Winde“, 
und zwar rechts von A über „Steuerbord (St. B)- Bug“, 
links von A über „Backbord (B. B)- Bug“. Seine „Luv- 
seite“ ist die Seite, von welcher der Wind kommt, seine 
„Leeseite“ die, nach welcher der Wind weht. Segelt 


24 Meereskunde. 


das Schiff nach B, so segelt es „vor dem Wind“, nach F 
mit „raumem Wind“, nach G mit „‚halbem Wind“. Auf 
den strichen II liegt es ‚hoher am Wind” als aurzden 
Strichen G und geht es von H nach G oder F oder B, 
so „hält es ab“. Um von: einem Strich rechts vom A 
auf einen solchen links von A zu gelangen, muß es ent- 
weder durch den Wind gehen, ‚wenden‘, oder „abhalten“ 
und wieder ‚„anluven“, d. h. „halsen“. 

In Abbildung 14 segeln zwei Flotten in Linie beim 
Wind über B.B.-Bug. Die Flotte CD ist die Luv-, AB 
die Leeflotte. AB kann nicht auf direktem Wege an CD 
heran, sie muß 'sich zu ihr! „aufkreuzen , CD-kannde 
gegen direkt auf AB ‚abhalten‘. Die Luvflotte kann also 
angreifen, die Leeflotte den Angriff nur abwehren oder 
ıhm ausweichen. Die leichten Schiffe beider Flotten be- 
finden sich im „Feuerlee“ geschützt durch die eigene 
Linie. Die vom Wind geblähten Segel drücken die Lee- 
seiten ins Wasser und heben die Luvseiten, die Leeflotte 
kann also mit den Geschützen der Luvseite besser wir- 
ken als die Luvflotte mit den Geschützen der Leeseite. 
Hält dıe Luvflotte zum Angriff ab, so kann sie während 
dieser Zeit ihre Geschütze nicht gebrauchen, während sie 
von der Leeflotte dauernd beschossen werden kann. 
Havarierte Schiffe der Luvflotte treiben auf den Feind 
zu, solche der Leeflotte von ihm ab. Dagegen können 
Brander der Luvflotte leichter an beschädigte Schiffe der 
Leeflotte heran als umgekehrt. Die Luvposition hatte 
also ebenso wie die Leeposition Vorteile und Nachteile, 
die auf die Taktik der Admirale bestimmend einwirkten. 

Die Linientaktik wurde zum ersten Male in der 
Schlacht bei Lowestoft zwischen Holländern und Eng- 
ländern am 13. Juni 1665 angewendet, artete jedoch in 
dieser wieder zu dem bisher üblichen Gruppenkampf aus. 
In der berühmten Viertageschlacht vom Iı. bis 14. Juni 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 25 


1666 hielten schon beide Gegner mehr an ıhr fest. Auf 
holländischer Seite kommandierte der nächst Nelson be- 
deutendste Flottenführer aller Zeiten „de Ruyter‘, auf 
englischer Seite der Herzog von Albemarle, genannt 
Monk. Die Flotten waren einander ebenbürtig, die Hol- 


Abbildung ı4. Zwei Segelschiffsflotten in Linie im Kampf auf 
parallelem Kurs beim Wind. 


(Aus: P. Paul Hoste, L’art des arm&es navales usw.) 


länder an Schiffszahl überlegen, dagegen .waren ihre 
Schiffe im Durchschnitt kleiner, mit leichteren Ge- 
schützen armiert, mit weniger gut geschultem Personal 
besetzt und schlechtere Segler als die englischen. Auf 
beiden Seiten waren die Schiffe von 38 Kanonen auf- 
wärts in die Linie eingestellt, nur kleine Schiffe standen 
im Feuerlee. Die holländischen Schiffe führten insge- 
samt 4615 Kanonen und 21909 Mann Besatzung, die 
englischen 4460 Kanonen und 21085 Mann Besatzung. 
In der Linie standen auf holländischer Seite 84, auf eng- 


26 Meereskunde., 


lıscher 80 Schiffe; die Zahl der kleinen englischen Schiffe 
und Brander ist nicht bekannt, auf holländischer Seite 
wurden 18 angegeben. Beide Flotten waren in drei Ge- 
schwader, Vorhut, Mitte und Nachhut, jedes Geschwader 
wieder ın drei oder zwei Divisionen und Unterabteilun- 
gen geteilt. Die Oberbefehlshaber kommandierten die 
Mitte der an 8000 m langen Linien. In viertägigem heißen 
Ringen gelang es dem Genie de Ruyters und seinem stets 
richtigen und energischen Eingreifen, den Sieg über den 
vorzüglich geschulten Gegner davonzutragen, nicht aber, 
ihn zu vernichten. Dazu hätte er besserer Unterstützung 
durch seine Unterführer bedurft. Diese handelten wie- 
derholt auf eigene Faust und brachten dadurch die hol- 
ländısche Linie in Unordnung und mehrfach sogar der 
fast stets wohlgeordneten englischen Linie gegenüber in 
gefahrvolle Situationen. 

Ohne de Ruyter hätte die sichere taktische Schulung 
und die Disziplin der Engländer die Oberhand gewon- 
nen. Ihre Linientaktik hatte sich glänzend bewährt und 
wurde von nun ab die Grundlage der taktischen Ausbil- 
dung in allen Flotten. Geankert und marschiert wurde 
in mehreren Kolonnen nebeneinander, die jederzeit eine 
möglichst schnelle Entwicklung zur Linie gestatteten. 
Die Linie mußte eng geschlossen sein, Vorhut, Mitte, 
Nachhut waren die taktischen Einheiten, die auch ge- 
trennt kämpfen konnten, aber stets auf Vereinigung in 
der Linie ihr Bestreben richten mußten. Die Gefechte 
entwickelten sich infolgedessen mehr und mehr zu lau- 
fenden oder Passiergefechten, bei denen keine durch- 
schlagenden Erfolge erzielt wurden. Namentlich in den 
Kämpfen zwischen Engländern und Franzosen im 18. 
Jahrhundert machte sich dies für die Engländer unan- 
genehm fühlbar, indem die Franzosen meistens die Lee- 
stellung wählten und dem Kampf möglichst auswichen. 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 27: 


Dies veranlaßte den englischen Admiral Rodney 
in der Schlacht von Dominica 1782 mit der bisherigen 
Taktik zu brechen und zu der später durch Nelson 
zur höchsten Vollkommenheit geführten Durchbruchs- 
taktik überzugehen. Er durchbrach mit seinem Flagg- 


Abbildung ı5. Seeschlacht bei Dominica, ı2. April 1782. 
(Aus: John Clerk, An Essay on Naval Tactics.) 


schiff die französische Linie in einer sich ihm darbieten- 
den Lücke und zwang den hinteren Teil der französischen 
Linie zum Ausbiegen (vgl. Abbildung ı5). Dadurch 
wurde die französische Flotte nicht nur getrennt, son- 
dern die vordersten abgetrennten Schiffe wurden auch 
stark beschädigt und ein Teil der zersprengten Schiffe 
wurde im weiteren Verlauf der Schlacht genommen. 
Rodney benutzte den Durchbruch noch nicht, um den 


28 Meereskunde. 


abgetrennten feindlichen Teil nun durch Herangehen von 
Schiff an Schiff mit Übermacht zu vernichten. Dieser 
Gedanke hatte sich damals noch nicht durchgesetzt, er 
ist aber durch Rodneys Tat in der englischen Marine 
angeregt und von Nelson dann mit Kühnheit zur Aus- 
führung gebracht worden. 

Bei Trafalgar am 21.0 


[) R, . 
b tober 1805 führte Nelson 
L} [) s 2 £ De 
s N seine Flotte in zwei Kolonnen 
Be N 6 w& 
- - N mit raumem Wind und allen 
= es = > L = 5 1 1 N 
Er Bag Seseln auf die beim Wind 
nt Kimdad oO 
= De ee a 
ga RN a iegende französisch-spanische 
5% % : Flotte los und setzte sich ruhig 
- - ."” . . . 
ee N » ihren Breitseiten aus, ohne 
>” % . . .. 
I 0, selbst mit seinen Geschützen 
d B 5 en 
B, im ÄAnmarsch wirken zu können. 
N Abbildune 16. Er kannte 
w Britisches chi 0° bo) 
Tanzssischwdchiffs ER S 5 B r 
et one seine Gegner genau und wußte, 
ae was er ihnen bieten konnte. 
u 


Er vertraute aber auch felsen- 
Abbildung 16. Seeschlacht bei fest 


seiner eigenen "Rlore 
Trafalgar, 21. Oktober 1805. 


ee seinen Admiralen und Kom- 
Navy Volya) : mandanten, die seine Befehle 

vor der Schlacht begeistert in 

Empfang genommen hatten. Ohne viele Signale führte er sie 
an den Feind, er selbst an der Spitze der linken Kolonne von 
12 Schiffen mit 6 Fregatten an der Seite, sein Freund 
Collingwood 1800 m entfernt an der Spitze der 
rechten Kolonne von 15 Linienschiffen. Die Fregatten 
hatten Stärke und Stellung des Feindes, der mit 33 Linien- 
schiffen in einer 7 km langen, schlecht geordneten Linie 
in Lee von ihm stand, vorher genau erkundet, jetzt galt 
es, von den feindlichen Führerschiffen an, die in der Mitte 
standen, Schiff hinter Schiff durchzustoßen, sich längs- 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 29 


seit der feindlichen Schiffe der Mitte und Nachhut zu 
legen und diese zunächst zu vernichten. Nicht einen 
kleinen Teil, sondern die ganze feindliche Flotte hoffte 
Nelson zu vernichten, mindestens 20 Schiffe davon in 
seine Gewalt zu bekommen. ı8 Schiffe fielen wirklich 
in der Schlacht, 4 auf der Verfolgung den Engländern in 


Abbildung ı7. Szene aus der Schlacht bei Trafalgar. 


Der englische Dreidecker „Tem£raire“, stark beschädigt und bewegungslos, erobert 
zwei steuerlose an ihn herangetriebene französische Zweidecker. Englische Fregatten 


eilen hilfsbereit herbei. (Aus: Wm. Laird Clowes, The royal Navy, Vol. V.) 


die Hände. Eın glänzendes Resultat! Man sollte meinen, 
die Führerschiffe der Engländer wären zusammenge- 
schossen worden, ehe sıe an die feindliche Linie heran- 
kamen. Dies ist aber nicht der. Fall und zeigt, wie ge- 
ring die Fernwirkung der damaligen Geschütze war. 
Allerdings wurde Nelsons Flaggschiff von den feind- 
lichen Kugeln hart mitgenommen, er selbst tödlich ver- 
letzt, aber die ‚Victory‘ war bis zuletzt mit der Admi- 
ralsflagge im Kampfgewühl. 

Trafalgar war die letzte große Schlacht von Segel- 


30 Meereskunde. 


flotten und der Höhepunkt der Segelschiffstaktik. Die 
nächste taktisch bedeutsame Schlacht wird schon von 
Dampferflotten geschlagen. In ihr siegte wieder die 
Rammtaktik über die Linientaktik der Segelflotten. 


So n 
‘2 Aw. 
43 ALL 


43a Itala Gaggzckif) 


rn ; 
ne, I, Italiener 


= , Lchellung) 


> S 
Die Gr 
[%) 


2000 000 6000 mM 
I ——‚/ 


Abbildung 18. Seeschlacht bei Lissa, 20. Juli 1866. 


(Aus: Edward Kirk Rawson, Twenty Famous Naval Battles, Vol. II.) 


Die Flotten selbst, die sich bei Lissa am 20. Juli 
1866 gegenüberstanden, können noch keinen Anspruch 
auf Vollkommenheit erheben. Alles, was die beiden 
(regner an Dampfschiffen auftreiben konnten und was 
noch einigermaßer kampffähig war, hatten sie zur Flotte 
vereinigt. 7 Panzerschiffe, ı Holzlinienschiff, 5 Holz- 
fregatten, ı Holzkorvette, 7 Kanonenboote, 3 Rad- 
dampfer, 2 Auxiliardampfer zählten die Österreicher, 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 3] 


ıı Panzerschiffe, 4 Holzfregatten, ı Holzkorvette, 4 Avi- 
sos, 5 Kanonenboote, 2 Raddampfer, ı Hilfsdampfer die 
Italiener. Die österreichischen Panzerschiffe waren 
durchweg schwächer gepanzert, schwächer armiert und 


langsamer als die italienischen. Die Gefechtskraft beider 


ae, ©; 


Abbildung 19. Szene aus der Schlacht bei Lissa. 


Untergang der gerammten „Re d'Italia“. 


(Aus: Edward Kirk Rawson, Twenty Famous Naval Battles, Vol. II.) 


Flotten lag nur in den Panzerschiffen, die Italiener waren 
hierin erheblich überlegen, trotzdem war der Wille zur 
Schlacht bei dem österreichischen Admiral stärker als 
bei dem italienischen. Dieser belagerte mit seiner Flotte 
die Insel Lissa, jener wollte die Insel entsetzen. 

Als der Anmarsch der Österreicher morgens gegen 
6 Uhr gemeldet wurde, war der italienische Admiral 
Persano unruhig, gab keine klaren Befehle zum Sam- 
meln der zur Belagerung auseinandergezogenen Schiffe 
und ließ den Mannschaften nicht einmal Zeit zum Früh- 


32 Meereskunde. 


stücken. Die Österreicher unter Tegetthoff kamen 
gegen den starken Wind nur langsam vorwärts (Abbil- 
dung ı8, I), so daß Persano noch Zeit erhielt, seine 
Panzerschiffe ın Linie, wenn auch auseinandergezogen, 
dem Feind gegenüberzustellen, um von seiner überle- 
genen Artillerie Gebrauch zu machen. Seine Linie teilte 
er in Vorhut — Admiral Vacca, Mitte — Admıral 
Faa di Bruno und Nachhut — Admiral Ribotti. 
Den Holzschiffen unter Admiral Albıni befahl er, sich 
außerhalb Schußweite bereit zu halten. Der Admiral zog 
es vor, überhaupt nicht in die Schlacht einzugreifen. 

Tegetthoff hatte seine Flotte in drei Divisionen 
geteilt und die Divisionen in stumpfer Keilform hinter- 
einander aufgestellt. Vorn die Panzerschiffe unter seiner 
Führung, dann die Fregatten und Korvetten unter Kom- 
modore Petz, dann die Kanonenboote Dazwischen 
die Raddampfer als Signalwiederholer. Der Verlauf der 
Schlacht ist aus der Abbildung ersichtlih, Tegett- 
hoff auf dem Panzer „Ferdinand Max‘ gab durch Sig- 
nal den Befehl: „Panzerschiffe den Feind anrennen und 
zum Sinken bringen!“ Er drang in die feindliche Linie 
ein, es entstand das melee, in welchem „Ferdinand Max“ 
das. feindliche‘ Führerschiff „Re UItalia”” in den 2Gruaa 
bohrte, ohne selbst Schaden zu leiden, und der italienische 
Panzer „Palestre“ ın-die Luit log Ber s amoshare 
sich vor Beginn der Schlacht von der „Re d’Italia” auf 
den „Affondatore‘“ (6) eingeschifft und suchte von hier- 
aus hinter der Front seine Linie zu leiten, aber niemand 
achtete auf ihn, da man ihn auf „Re d'Italia“ wähnte. 
Die einheitliche Leitung fehlte infolgedessen auf italieni- 
scher Seite — ein Beweis, wie notwendig es ist, daß der 
Führer seinen Platz in der Linie nur im äußersten Not- 
fall oder nach bestimmten Vereinbarungen verläßt. 

Die österreichische Division Petz kam mit der Pan- 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 33 
zerdivision Rıbotti in Berührung und wurde übel zuge- 
richtet. Ihr Führerschiff, das Holzlinienschiff „Kaiser“ 
rammte den Panzer „Re dı Portogallo“, um von diesem 
nicht gerammt zu werden; es wurde hierbei schwer, der 
Panzer nur leicht beschädigt — ein drastisches Beispiel 
für die Überlegenheit des Panzerschiffs. Gegen 11, Uhr 
war die Schlacht beendet, die Österreicher entsetzten 
Lissa, die Italiener räumten den Kampfplatz mit Verlust 
von 2 Panzern, 620 Toten und 161 Verwundeten. Die 
Österreicher hatten nur 38 Tote und 138 Verwundete. 
Die Rammtaktik wurde von nun ab wieder die 
Grundlage der Friedensübungen in den Marinen, sie er- 
zielte auch in Einzelschiffskämpfen noch Erfolge, die 
Einführung der Torpedowaffe und die stetige Verbesse- 
rung der Artillerie bereitete ihr aber schon bald ein Ende. 
In der großen Seeschlacht bei Tsushima am 27. Mai 
1905 und in den vorhergehenden Kämpfen kam auf bei- 
den Seiten die Linientaktik allein wieder zur Geltung. 
Tsuschima tritt wie Trafalgar durch die Wucht des 
Sieges ganz besonders in die Erscheinung. Hier wie dort 
war die Schlacht für die Existenz eines Inselvolkes ent- 
scheidend. Signalisierte Nelson vor Beginn der 
Schlacht: „England erwartet, daß jedermann seine Pflicht 
tut‘, so ließ Togo durch Funkenspruch verkünden: 
„Das Aufblühen oder der Fall des Reiches hängt von dem 
Ergebnis des jetzt beginnenden Kampfes ab. Drum tue 
jedermann bis zum äußersten seine Pflicht“. Bei 
Tsuschima wie bei Trafalgar war auf der einen Seite der 
energische Wille zu siegen und den Gegner zu ver- 
nichten, auf der anderen Seite der Zwang zur Schlacht 
nach Weisungen aus der Heimat gegen die bessere Über- 
zeugung der Führer und das Gefühl der Minderwertigkeit 
vorhanden. Nirgends mehr als in diesen beiden Schlachten 
tritt der moralische Einfluß auf den Ausgang der Schlacht 


34 Meereskunde. 


in die Erscheinung, hervorgerufen durch Vaterlands- 
begeisterung, eiserne Disziplin und Schulung des Per- 
sonals auf der einen, durch Mißerfolge, Mangel an Dis- 
ziplin und an Schulung auf der anderen Seite. Man 
kann beinahe sagen, die Schlachten waren schon ent- 
schieden, ehe sie geschlagen waren. Für Rojest- 
wensky lagen aber doch die Verhältnisse ungleich 
ungünstiger als für Villeneuve. Dieser hatte seinen 
Stützpunkt wenige Meilen hinter sich, keinen Feind 
dazwischen, die russische Flotte war dagegen auf einem 
monatelangen, mit großer Umsicht durchgeführten Marsch 
fern von der Heimat begriffen, sie war ohne‘ jeden 
Stützpunkt und gezwungen, sich aus Begleitdampfern 
zu verproviantieren. Hatte der Admiral die Dampfer 
auch zum großen Teil schon entlassen, so führte er doch 
noch einen Troß von 8 Schiffen mit sich, deren Sicherung 
seine Kreuzer lahmlegte und seiner Flotte die Bewegungs- 
freiheit nahm, ähnlich wie es den Römern bei Eknomos 
ergangen war. 

Der Anmarsch der russischen Flotte erfolgte in der 
Ordnung, die Abbildung 20 angibt. Zum Gefecht ent- 
wickelten sich die Schlachtschiffe in Linie, im Feuerlee 
verteilt die Kreuzer, Torpedoboote und Transportschifte. 
Die Linie zählte 8 Linienschiffe, 3 Küstenpanzer und 
ı Panzerkreuzer, eingeteilt in 3 Divisionen zu 4 Schiffen, 
9 Torpedoboote waren auf die Divisionen als Depeschen- 
boote verteilt, 2 Panzerkreuzer, 6 geschützte Kreuzer, 
ı Hilfskreuzer schützten die Begleitschiffe. Linienschifte 
und Kreuzer führten 53 schwere Geschütze von 30,5 und 
20,3 cm Kaliber und. 163 Geschütze von 12 uadarszen 
Kaliber. Diesen 156 Geschützen stellten die Japaner 47 
schwere und 160 15 cm-Geschütze, also 207 entgegen auf 
4 Linienschiffen, 8 Panzerkreuzern, 14 geschützten und 
2 ungeschützten Kreuzern. Die russische Flotte war also 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 


an Linienschiffen und 
schweren Geschützen, 
die japanische anKreu- 
zern und mittleren Ge- 
schützen, außerdem 
aber auch bedeutend 
an lorpedobooten 
überlegen. Sie verfügte 
über 21 Torpedoboots- 
zerstörer in 5 Flottillen 
und über 16 Torpedo- 
boote in 4 Divisionen, 
die zunächst unter 
Land bereit gehalten 
wurden. Die japani- 
schen Geschütze waren 
durchweg neuerer 
Konstruktion und von 
größerer Durchschlags- 
kraft und Fernwirkung 
als die russischen, die 
japanische Linie aus 
4 Linienschiffen und 
8 Panzerkreuzern ho- 
mogener zusammenge- 
setzt und an Geschwin- 
digkeit um 4—5 See- 
meilen überlegen. Von 
keinem Troß behindert, 


Zum # 


Keiholaily 
Apaxin 
Sengam ind 


Nochakore b 


dig Fb 
Amnora #6 
Domzhoi 6 


MamnomachäEd 


8 srlänterumg: 


ezonlle 
anser-Hreuzer 


” 


Elfsschiffe 
Terpedobocke 
Sorpitalschiffe 


35 
Höomtschug 


be) e. Suwormeo 
& helexanderit 


bRorodins 


hal 


nad Vöntatja 
Oreyach Bspiszei 
OXamtzchat l Iamarinı 
KHorca ENachimom 
dRup 

Oswir 

Fiwjätlana 
+Alımas 


dArat 


Dome bazet 


Abbildung 20. 


Seeschlacht bei Tsu- 
schima. 


Marschformation der russischen Flotte, 


(Aus: 


Nauticus 1906.) 


mit dem Kampfplatz genau vertraut, ja auf demselben 
einexerziert, die Stützpunkte in der Nähe, von Begeiste- 


rung zum Siege erfüllt, 


nach jeder Richtung hin im Vorteil. 


war somit die japanische Flotte 


Ihre Linie gliederte 


sich in 2Divisionen zu je 6 Panzerschiffen, an deren Spitze 


36 Meereskunde. 

der Klottenchef führte, ihre Kreuzer "wurden nacheder 

Aufklärung in 4 Divisionen zu je 4 Schiffen zusammen- 

gezogen. Die von den japanischen Kreuzern durch 

Funkspruch herbeigerufene Linie erschien in vorteil- 
hafter Position in dem Mo- 


ee ment auf dem Kampfplatz, 

\ als die zur Vertreibung der 

EN feindlichen Kreuzer abge- 

Ontjabje FÜ Smumarol® 4iemtehug schwenkte vorderste russi- 


Sivsor d Mexandeıdıd 8 


sche Division ihren Platz 


Iomarınd Borodino 4 


Seinen $ Or an der Spitze noch nicht 
Teikolail.l Haumind wieder eingenommen hatte. 
a 8 (Abbildung 21.) Sie kreuzte 
he nn von B.B. nach St.B. den 
0 zn Kurs der russischen Flotte 
EI EN (Abbildung 22) und eröffnete 
Somskoi # Kanzporter Ey r 

EEE RL auf 6000 m das Feuer auf 
! die vordersten russischen 
5 Schiffe der I. und 2. Divi- 
+ Kreurer-Abt. schein sion, das Führerschiff „‚Ssu- 
ı worow‘“ und das Flaggschiff 

Kostroma | bAzjot „Ossljabja‘‘. Letzteres 


Abbildung 21. Seeschlacht bei Wurde, da zunächst dem 
Tsuschima. Feinde, innerhalb ıo Mi- 

Übergang der russischen Flotte in Gefechts- nuten derart schwer beschä- 
en digt, daß es aus der Linie 

nach Feuerlee ausscheiden 

mußte und nach 50 Minuten kenterte. Das Feuer der 
Japaner war, trotzdem die Russen es heftig erwiderten, 
derart überwältigend, daß die allmählich hergestellte 


(Aus: Nauticus 1906.) 


russische Linie mehr und mehr nach St. B. abgedrängt 
wurde und um den nach 40 Minuten ebenfalls zum Aus- 


‘ 


scheiden gezwungenen „Ssuworow“ einen Kreis beschrieb. 
Das Führerschiff kenterte 5 Stunden später, nachdem 


es noch mehrfach beschossen und der schwer verwundete 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 37 


Admiral auf ein Torpedoboot überführt worden war. 
Die japanische Linie war vermöge ihrer überlegenen Ge- 
schwindigkeit auf dem äußeren Kreisbogen voraus- 
geblieben, machte nach halbem Kreislauf kehrt und er- 
zwang durch Querstellung vor der russischen Linie nach 
deren Kreislauf von neuem ein Abdrehen der Russen nach 


ussm ___ alas 


ER ; 
Beichen -borkläarım et 
chyam 
w22.Qron sry0" 
- „ Kreuzer 
ans tanapacker Min 0 0 0 0 hm 
--—_ Jap. zo» m 
nr Itsurer 


Abbildung 22. Seeschlacht bei Tsuschima, Skizze des ersten Teils 
der Schlacht ıh 45m bis 5 p. m. 


(Aus: Nauticus 1906.) 


St.B. Auch die vordersten japanischen Schiffe hatten 
inzwischen unter dem wirksameren russischen Feuer bei 
Annäherung bis auf etwa 3000 m Beschädigungen er- 
halten, aber kein Schiff der Linie war zum Ausscheeren 
gezwungen. Weniger glücklich kämpften bis dahin die 
japanischen Kreuzerdivisionen. Diese hatten sich hinter 
der russischen Linie herumgezogen und die russischen 
Kreuzer mit dem Troß angegriffen. Sie brachten auch 
einen russischen Hilfskreuzer zum Sinken und zwangen 
dies aıssischen Kreuzer zum Kreisgetecht nach B.B,, 
kamen hierbei aber in den Feuerbereich der russischen 


38 Meereskunde. 


Linie und wurden arg mitgenommen. Eine ihrer Divi- 
sionen wurde versprengt, zwei ıhrer Flaggschiffe mußten 
aus dem Gefecht geschleppt und unter Land auf Grund 
gesetzt werden. 

Mittlerweile war es 5 Uhr geworden, der bei dem 
nebeligen Wetter fest auf dem Wasser lagernde Pulver- 
rauch begrenzte das Gesichtsfeld; die Kämpfenden verloren 
sich zeitweise aus Sicht; es gelang den Russen, sich zu 
sammeln und nördlichen Kurs einzuschlagen. (Abbildung 
23.) Nunmehr wurden aber die japanischen Torpedoboote 
zum Angriff angesetzt und es gelang ihnen, 4 russische 
Panzer zum Sinken zu bringen und die russischen Schiffe 
von neuem auseinander zu sprengen. In der Tages- 
schlacht selbst scheinen weder japanısche noch russische 
Torpedoboote Angriffe auf feindliche Schiffe ausgeführt 
zu haben. Auch haben die Schiffe von ihrer Torpedowaffe 
keinen Gebrauch gemacht. Am anderen Morgen steuerte 
die russische 3. Division und ı Kreuzer nordwärts, erstere 
wurde zur Übergabe gezwungen, der Kreuzer entkam 
nach Wladiwostok. Von den 38 russischen Schiffen 
waren am 28. Mai 20 gesunken oder von ihren tapferen 
Besatzungen versenkt worden, 6 vom Feinde genommen 
und ı2 nach Wladiwostok oder nach Manila und 
Schanghai entkommen. 6142 Gefangene fielen allein den 
Japanern in die Hände, während diese selbst ihre Ver- 
luste auf 116 Tote und 579 Verwundete angeben. 

Die Seeschlacht von Tsushima entschied einen lang- 
wierigen blutigen Krieg, ebenso wie Trafalgar, Actium 
und Salamis. In den dazwischen liegenden Jahrtausenden 
hat sich also an der Tatsache nichts geändert, daß grobe 
Landmächte gezwungen werden können, die Entscheidung 
eines großen Krieges auf dem Wasser herbeizuführen und 
daß die größte Landmacht zu einem ihr nachteiligen 
Frieden gezwungen werden kann, wenn sie ihrer Marine 
im Frieden nicht die nötige Sorgfalt gewidmet hat. 


sh Abendo 


& 
4 9, 
/ & A Kımare 
! \ 
Imrhoit ec = 
Marwmacık app 530 KIoholaiL E5 
Sojärlama 4 ar) b9:.L 2 Yajimıa 
Almıazd las 
el, ' Jaumrud+ Uoenfewin 
S EEE, bRrchafıon 
! 4 demiohugg 
x N Ders 72 = HIoawarın 
= ' ia) ibachi 5 
7 N + Ir suachumgm 
SZ %/ Ss Wet. 
% 
Iamrahuge 
Anna ar 
Hy, . 
e / 
' | 
\ 
\ N 
\ N 
= S 
x \ 
6-Thagm Idacfım. N > 
N N 
N N \ 
DE \ 
| 
Iaumundd Ir Tinge. n 
Kamarind j 
[\ N Irma Weil 0? 
/ d 
i # eg Div. 
a v en es 
o 4 % A Jonmenunkega 
Bra, ad n Arsch? 
on GE 
Donshoit Alache, howf \ Hdlermmıhtnge, 
Nonsmachrzk cchmans 
. Swjürlana d Abbildung 23. 
9 
an ET, Seeschlacht bei 
Svir 9 Tsuschima. 
n Skizzen aus dem 
j zweiten Teil der 
oh Schlacht nach- 
Dir. mittagsu.abends. 


E Die Winkel- 
Yan Kr / 2 zeichen bedeuten 
a a je einejapanische 
Torpedoboots- 


Ne ÄAfınd Adi A Fulda division. 


ne f s!N: ICUS 1906 
De (Aus: Nauticus 1906,) 


40 Meereskunde. 


In taktıscher Hinsicht hat Tsuschima die Annahmen 
bestätigt, welche die großen Seemächte schon vor dem 
Kriege bei dem Ausbau ihrer Flotten geleitet hatten. 
Die Artillerie wurde dem heutigen Stand der Waffen- 
technik entsprechend als die Hauptwaffe von neuem an- 
erkannt, die Linie als einfachste und günstigste Gefechts- 
formation beibehalten, das stark gepanzerte, schwer 
armierte Linienschiff als eigentlicher Träger der Haupt- 
waffe und Kern der Schlachtflotte weiter ausgebildet. 
Die verheerende Wirkung der japanischen Mittelartillerie 
neben der schweren Artillerie führte zur Aufgabe der 
Idee, die Linienschiffe nur mit schweren Geschützen 
zu armieren, wenn auch die hervorragende Leistung 
der neuen schwersten Geschütze ın Treffwahrschein- 
lichkeit, Fernwirkung und schneller Bedienung die Ver- 
mehrung derselben auf den Linienschiffen geboten er- 
scheinen ließ. Auch die durch die überlegene Ge- 
schwindigkeit der japanischen Linie errungenen Vor- 
teile im Kampfe ließen es ratsam erscheinen, die Schnellig- 
keit der Linienschiffe auf annähernd gleicher Höhe mit 
der der Linienschiffe der anderen Nationen zu halten und 
die Linie aus möglichst gleich schnellen Schiffen zu 
bilden, da für die Linie die Geschwindigkeit des lang- 
samsten Schiffes maßgebend ist. 

So entstanden die heutigen „Dreadnoughts“, armiert 
mit ıo bis 12 Geschützen schwersten Kalibers, die zu je 
zweien in drehbaren Panzertürmen stehen, ferner mit IO 
bis 20 Geschützen kleineren Kalibers von Io und I5 cm 
in gepanzerten Breitseitkasematten und einer größeren 
Anzahl ganz leichter 7,5 oder 8,8 cm-Geschütze, die auf 
Oberdeck und Batteriedeck verteilt sind, geschützt mit 
einem starken Gürtelpanzer rings um das Schiff über und 
unter der Wasserlinie. Sie sind rund 20000 Tonnen 
schwer und haben eine Geschwindigkeit von etwa 20 
Knoten. Die Besatzungsstärke beträgt nahe an 1000 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 41 


Köpfe. Die Bordhöhe wird so niedrig als möglich ge- 
halten, um eine möglichst geringe Zielscheibe abzugeben, 
ihre noch weiter angestrebte Vergrößerung wird nur in 
Länge und Breite ohne Vermehrung des Tiefganges an- 
gestrebt, damit sie ın den Küstengewässern die nötige 
3jewegungsfreiheit behalten. 

Über die Torpedoarmierung habe ich mich in den 
schon angezogenen Vorträgen geäubert, ebenso über die 
Verwendung und den Bau von Torpedobooten, Panzer- 
kreuzern und geschützten Kreuzern in den einzelnen 
Schlachtflotten. Meine Ausführungen über die Kreuzer 
mub ıch jetzt noch dahin ergänzen, daß Deutschland und 
England sich inzwischen, anscheinend definitiv, neuer- 
dings auch Japan, von dem bis dahın allgemein gebauten 
Panzerkreuzertyp mit schwacher Armierung und nicht 
genügender Geschwindigkeit abgewendet und einen neuen 
Typ eingeführt haben, der mit 8 Geschützen schwersten 
Kalibers ın Panzerdoppeltürmen und ı0 bis 20 10- und 
15 cm-Geschützen in gepanzerten Breitseitkasematten ar- 
miert und mit Gürtelpanzer wie die Linienschiffe ge- 
Sehikezi iss Der Panzer ist leichter als der-der Linien- 
schiffe, und diese Gewichtserleichterung im Verein mit 
der der schweren Artillerie hat es ermöglicht, ihnen eine 6 
bis 7 Seemeilen höhere Geschwindigkeit als den Linien- 
schiffen zu geben. Angesichts dieser Verbesserungen in 
Geschwindigkeit und Armierung muß ich jetzt den 
Panzerkreuzer als einen wertvollen Teil der Schlacht- 
flotte bezeichnen, der geeignet ist, mit seinen schweren 
Geschützen das Feuer der Linienschiffe zu vervoll- 
ständigen. England hat sich auch inzwischen dem Bau 
von Kreuzern, dıe unseren kleinen Kreuzern ähnlich sind, 
zugewendet und eine größere Anzahl auf Stapel gelegt, 
Frankreich, Amerika und Japan schenken diesem Typ 
auch mehr Beachtung als bisher, haben aber den Bau ım 
Vergleich mit uns immer noch eingeschränkt. 


42 Meereskunde. 


Besondere Aufmerksamkeit wird in den genannten 
Marinen den Unterseebooten geschenkt, die sich allmählich 
zu einer kriegsbrauchbaren Waffe entwickelt haben, vor- 
laufig jedoch nur zur Küstenverteidigung, nicht in der 
Hochseeflötte verwendet zu werden scheinen. Sie werden 
wie die Torpedoboote in Flottillen oder Divisionen geteilt 
und dementsprechend, vornehmlich am Tage, taktisch ver- 
wendet. In unseren Betrachtungen finden sie vorläufig 
nur insofern Raum, als sie einen Teil der modernen 
Schlachtflötte im Küstenkrieg bilden werden. Ähnlich 
verhält es sich mit den zum Legen von unterseeischen 
Minen ın den Marinen vorgesehenen Spezialschiffen, die 
zeitweise den Hochseeflotten zu diesen Zwecken zugeteilt 
werden, dıe aber deren Taktık nicht weiter beeinflussen, 
ausgenommen beı Blokaden und ähnlichen Operationen. 

Die eigentlichen Schlachtflotten setzen sich heute aus 
lLinienschiffen, Panzerkreuzern, geschützten Kreuzern 
und Torpedobooten zusammen. Die Linienschiffe werden 
ın Geschwader und Divisionen, die Kreuzer in Divisionen 
oder Gruppen, die Torpedoboote ın Flottillen zusammen- 
gefaßt. Deutschland hat die Gliederung seiner Flotte 
durch Gesetz festgelegt, seinem Beispiel ist neuerdings 
Frankreich gefolgt, England, Amerika und Japan setzen 
ihre Schlachtflotten den jeweiligen Bedürfnissen ent- 
sprechend zusammen. Große Unterschiede sind nicht be- 
merkbar, höchstens, daß Deutschland und England Linien- 
schiffsgeschwader von 8 Schiffen als taktische Einheit, Ame- 
rika und Japan Divisionen von 4, zuweilen auch 5 Schiffen. 
Frankreich Divisionen von 3 Schiffen als solche betrachten. 

Das Rückgrat der Schlachtflötten bilden ın den ge- 
nannten Marinen die aktiven Friedensverbände, denen 
stets die jeweilig neuesten Schiffe zugeteilt werden, 
während eine entsprechende Anzahl älterer zu den Re- 
serveformationen übertreten. Je schlagfertiger die Re- 
serveflotten in Personal und Material gehalten werden, 


Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 43 


umsomehr können die aktiven Flotten auf ihre Hilfe bei 
Ausbruch des Krieges rechnen. Das ist strategisch sehr 
wichtig und beeinflußt auch die Taktik, indem neue Ver- 
bände in die aktive Flotte eingereiht werden können. 

Wichtig ist für die Taktik, wie viele taktische Ein- 
heiten in der Schlacht geleitet werden können. In den 
vorjährigen englischen Flottenmanövern waren auf einer 
Seite 3 Linienschiffsgeschwader zu 8 und 2 Panzerkreuzer- 
divisionen zu je 4 Schiffen in der Linie vereinigt. Rechnen 
wir unter Berücksichtigung der heutigen Schiffslängen 
von I50—200 m den Abstand von Schiffsmitte zu Schiffs- 
mitte auf 400 m, so ergibt dies eine Linie von rund ı3 km 
oder 7 Seemeilen. Ich glaube, daß hiermit die Grenze 
für die einheitliche Leitung schon erreicht, wenn nicht 
überschritten worden ist. In der Schlacht bei Tsuschima 
wurde die Sichtigkeit z. B. auf nur 5 Sm geschätzt. 

Für den Oberbefehlshaber, der an einen bestimmten 
Platz in der Linie gebunden ist, wird mit der Länge der 
Linie die Wahl des Platzes immer schwieriger. Die sieg- 
reichen Admirale in den Schlachten von Tsushima, Lissa, 
Trafalgar, Eknomos befanden sich an der Spitze ihrer 
Flotten und wirkten durch ihr Beispiel ermutigend. Dies 
wird künftighin ın großen Schlachten kaum noch möglich 
sein. Die Oberbefehlshaber werden sich in der Mitte der 
Linie halten müssen, um nach Möglichkeit den Kampf 
übersehen und die je nach der Gefechtslage nötigen Ent- 
schlüsse fassen zu können. 

Die Artilleriewirkung beginnt jetzt schon auf 1o km; 
die gegnerischen Flotten werden bestrebt sein, schon auf 
dieser Anfangsentfernung in so günstige Position zum 
Feinde zu gelangen, daß sie mit überlegener Geschützzahl 
auf einen Teil der feindlichen Linie das Feuer konzen- 
trieren und diesen so erschüttern können, daß Unordnung 
in der feindlichen Linie entsteht. Dann ist der Moment 


TE 


44 Meereskunde. 


gekommen, den Feind auf wirksameren, näheren Ent- 
fernungen weiter zu bekämpfen und auch auf den Ge- 
brauch der Torpedowaffe zu manövrieren. Die Gefahr- 
zone, von feindlichen Torpedos getroffen zu werden, 
beginnt nach dem heutigen Stand der Waffe schon 
zwischen 3000 und 4000 Metern. Innerhalb 6000 m übt die 
schwere Artillerie auch gegen den vorhandenen schwersten 
Panzer schon eine vernichtende Wirkung aus. Infolge- 
dessen werden nur Linienschiffe auf diese Entfernung ein- 
ander bekämpfen. Die schwächer geschützten schnellen 
Panzerkreuzer, welche mit Erfolg bei Gewinnung der 
Anfangsstellung und auf den weiteren Entfernungen über 
6000 m Verwendung gefunden haben können, werden nun- 
mehr zurückgehalten und zur Deckung der havarierten 
Linienschiffe der eigenen Linie oder zum Angriff auf 
feindliche havarierte Schiffe oder zur Gewinnung neuer 
günstiger Stellungen kraft ihrer Schnelligkeit verwendet 
werden. Die kleinen Kreuzer und Torpedoboote, welche 
sich bei Beginn der Schlacht im Feuerlee gesammelt 
haben, werden je nach der Gefechtslage von dem Ober- 
befehlshaber zum Eingreifen befohlen werden. 
Bestimmte Regeln für das Zusammenwirken der 
verschiedenen Schiffsgattungen in der Schlacht werden 
kaum existieren. Das richtige Erfassen des Augenblicks 
seitens aller Führer, das Vertrautsein mit den Ideen des 
Flottenchefs, die Fähigkeit, aus seinen kurzen Signalen 
seine Absichten sofort zu erkennen, und das feste Zusam- 
menhalten der einzelnen Verbände sind die maßgebenden 
Gesichtspunkte. Daraufhin zielende Schulung im Frieden 
ist unerläßlich, in gleicher Weise wie die Ausbildung des 
Personals und das Einexerzieren der einzelnen Verbände 
die Vorbedingung für ein gedeihliches Zusammenwirken 


Berlin SW., Kochstraße 68—71. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 
MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG NEUNTES HEFT 


Die Häfen der Adria. 


Von Norbert Krebs. 


ie keilförmige Gestalt Europas bedingt, daß es an 
zwei Seiten vom Meer umflossen ist. Im Nord- 


westen begrenzt es der Atlantische Ozean und 
die Nordsee, im Süden das Mittelländische Meer. Dort 
greift nur die Ostsee tiefer in den Rumpf des Erdteiles 
aber auch sie wendet sich bald parallel zum Außensaum 
gegen Nordosten —, da erschließen der Golf du Lion, 
das Ligurische Meer, die Adria, die Aegeis und das 
Schwarze Meer den Südrand Europas in vorzüglicher 
Weise. Die Nordwestküste verläuft auf weite Strecken 
geradlinig; eine flache Kreislinie herrscht von der Seine- 
mündung bis über Königsberg hinaus, nur unterbrochen 
durch die Jütische Halbinsel und seichte Buchten wie die 
Zuider See. Hinter Dünen und Watten birgt sich die 
Norddeutsche Ebene, und nur die Mündung großer Ströme 
bietet bequeme Wege vom Land zum Meer. Hier liegen 
die wenigen, aber um so bedeutsameren Hafenstädte. Das 
flache Hinterland und die schiffbaren Flüsse ermöglichen 
eine leichte Verbindung mit dem Inneren, und dem- 
entsprechend ist der Einfluß dieser Seestädte Hunderte 
von Kilometern weit zu spüren. 
Ganz anders liegen die Verhältnisse im Süden. Hier 
ist alles gegliedert. Bucht reiht sich an Bucht. Die Ost- 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 9. I 


Meereskunde. 


[887 


küste der Adria und Griechenland sind von zahlreichen 
Inseln und Halbinseln umsäumt. Die Schwemmlandküste 
fehlt nicht, aber sie ist seltener und herrscht nie lange. 
Kaum irgendwo gibt es so viele Häfen, wenn auch ver- 
schiedener Güte. Dazu gesellt sich ein heiterer Himmel, 
ein ruhiges Meer und ein Reichtum an Landmarken, die 
dem Seefahrer die Orientierung erleichtern. Frühzeitig 
entfaltete sich hier die völkerverbindende Kraft des Meeres, 
das viel bequemere Wege bot als das bergige Land. Denn 
darin liegt nun der Nachteil des südländischen Gestades, 
daß sich sehr häufig unmittelbar hinter der Küste steile 
Ketten erheben, die das tiefere Eindringen hemmen. Es 
fehlt auch an den großen Flüssen, die Wege landeinwärts 
weisen, und, wo sie vorhanden sind, bauen sie ein unzu- 
gängliches Delta. 

Aber das weite Eingreifen von Teilen des Mittel- 
meeres ermöglicht doch das Vordringen in den euro- 
päischen Kontinent, der mehrfach eine ganz beträchtliche 
Einschnürung erfährt. Die erste Verengerung liegt in 
Frankreich, das Vidal de la Blache mit Recht als das 
»Land zwischen den zwei Meeren« bezeichnet. Das uralte 
Marseille beherrscht die Straße, die am Westsaum der Alpen 
aus Südeuropa nach West- und Mitteleuropa führt. Es ist 
der Weg, den die abendländische Kultur seit dem Ende 
des Römerreiches genommen hat. Nicht so auffällig ist 
die Gunst der Lage von Genua, das auch erst später Be- 
deutung erlangte. Doch ist gerade hier der Apennin sehr 
niedrig, die westliche Poebene faßt eine Reihe wichtiger 
Alpenstraßen zusammen, und das Rheintal bietet einen 
bequemen Weg gegen Norden. Es ist aber von einem 
Meer zum anderen weiter als in Frankreich, sogar weiter 
als bei der dritten Einschnürung zwischen Triest und 
Stettin (850 km). Die Hälfte dieses Weges, den der 
Bernsteinhandel genommen hat, konnte auf dem be- 


Die Häfen der Adria. 


ww 


quemeren Seeweg zurückgelegt werden. Die Straße um- 
ging die Alpen im Osten und die Karpaten im Westen; 
die größte Schwierigkeit bot die Überschreitung des Karstes. 
Gut geöffnet ist das Donauland gegen Saloniki, aber dieses 
liegt viel weiter südlich, und eine Fortsetzung des Weges 
gegen Norden erschweren die Karpaten. Die letzte Ein- 
schnürung auf russischem Boden findet wohl am Terrain 
keine Hemmnisse, aber es sind von Odessa bis Riga 
1200 km; beide Meere sind stark geschlossen; der Ver- 
kehr bevorzugt hier andere Richtungen. 

Dieser Überblick läßt uns die Bedeutung der Adria 
erkennen. An ihrem Ende liegt — vom Schwarzen Meere 
abgesehen — der nördlichste Punkt des Mittelmeergebietes. 
Ihre Längserstreckung von NW nach SO weist vom mitt- 
leren Europa nach den ältesten Kulturländern: Griechen- 
land, Syrien und Ägypten. Die gleiche Richtung herrscht 
im Roten Meere, und damit eröffnet sich auch der Weg 
nach Süd- und Ostasien, Australien und Ostafrika. Darin 
liegt aber auch eine gewisse Beschränkung. Denn der 
Weg nach Algier und Tunis, nach Spanien und durch die 
Straße von Gibraltar nach den beiden Amerika ist im 
westlichen Mittelmeerbecken freier. Genua und Marseille 
beherrschen sowohl die Richtung nach SW wie jene 
nach SO, Triest und Venedig vornehmlich nur die süd- 
östliche. Diese war aber in alten Zeiten die wichtigere, 
und ihre Bedeutung stieg wieder mit der Eröffnung des 
Suezkanals. (Vgl. Abbild. 1.) 

Dem Longitudinalverkehr auf der Adria steht die Wahl 
frei, seinen Ausgangspunkt am flachen Strande Venetiens 
oder an der gut gegliederten Küste Istriens zu suchen. 
Trotz der Länge des Weges ist er bedeutsamer als der 
Querverkehr, den die dem Meere parallel streichenden 
Gebirgssysteme des Apennin und der Dinariden be- 
hindern. Beide Gebirge drängen sich nahe an die Adria 


I * 


A Meereskunde., 


heran, beide kehren mit ihren freundlicheren Seiten dem 
Meere den Rücken. Italien gravitierte stets gegen das 
Tyrrhenische Meer, in dessen Bereich die größeren Städte 


12 14 


3 Antivari 


Duteign® a. 


Termoli” 


Durazzo% 


Entworfen v. N. Krebs o 150 300 km 


Abbild. 1. Die wichtigsten Schiffahrtslinien der Adria. 


liegen, und Bosnien ist von Ungarn aus leichter zugäng- 
lich. Vom Apennin kommen nur kurze Talschluchten, 
im Karst bedingt die Wasserarmut eine noch viel geringere 
Gliederung des Gebirges. So gibt es nichts, was im nörd- 
lichen Teil der Adria einen lebhafteren (Querverkehr zu 
nähren vermöchte, und. die zeitweilige Erwerbung der 


Die Häfen der Adria. = 


Gegenküste durch Rom und Venedig geschah nicht ihrer 
selbst willen, sondern zur Sicherung des Längsweges. 
Erst im Süden werden die Verhältnisse etwas günstiger. 
Da tritt der Apennin vom Ostsaum der Halbinsel zurück 
und läßt der Apulischen Platte Raum und auf der anderen 
Seite begleitet vom Scutarisee südwärts eine Schwemm- 
landküste die stark erniedrigten und gegen das Meer 
heraustretenden Ketten der Albanesischen Gebirge. Hier 
querte, wenigstens in alten Zeiten, ein wichtiger Weg die 
Adria. Die Via Appia führte von Rom über Campanien 
und quer durch den zerbrochenen Südapennin nach 
Brundisium (Brindisi), und jenseits des Meeres begann 
in Durazzo die Via Egnatia, die quer durchs mazedonische 
Bruchschollenland zum Golf von Saloniki und nach 
Konstantinopel geleitete. In den Kreuzzügen wurde der 
Weg noch vielfach benutzt; gegenwärtig hat er infolge 
der Unbotmäßigkeit der Albanesen und der schwachen 
Regierung der Türkei alle Bedeutung verloren. Apulien 
ist jetzt wichtiger als Landungsbrücke für den Seeverkehr 
um Griechenland herum, besonders aber für den Schnell- 
verkehr in den fernen Orient. Der Reichtum an Wein 
und ÖL fördert wohl auch eine lebhafte Ausfuhr, aber 
auch diese wählt die Längsrichtung gegen Triest und Fiume. 
Die ungünstige Verbindung mit dem Hinterland stellt 
alle Hafenstädte Albaniens, Dalmatiens und des östlichen 
Mittelitalien weit zurück hinter die Häfen am Nordende 
der Adria. Diese aber sind wie jene in ihrer örtlichen 
Lage, Dichte und Ausstattung von der speziellen Küsten- 
gestaltung abhängig. Ihre Verschiedenheit erklärt sich 
aus der Entstehungsgeschichte des Meeres, die wir natür- 
lich in ausführlicherer Weise hier nicht erörtern können. 
Es genüge, darauf hinzuweisen, daß die Adria wie ihre 
verschüttete Fortsetzung, die Po-Ebene, eine große Längs- 
mulde, eine Geosynklinale zwischen den beiden sie be- 


2 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft 9. 


6 Meereskunde. 


gleitenden Gebirgen ist. Wie viele andere Geosynklinalen 
ist sie im Lauf der Zeiten gewandert, lag früher näher 
dem italienischen Land und rückt nunmehr der Balkan- 
halbinsel auf den Leib. Miozäne und pliozäne, also sehr 
jugendliche Schichten, umsäumen den Apennin an seiner 
Ostseite; sie sind noch schwach gefaltet, mindestens aber 
beträchtiich gehoben worden. An der Ostseite fehlt es 
bis zum Scutarisee an solchen Ablagerungen. Hier breitet 
sich das Meer infolge einer erst seit ‘der Eiszeit, ein 
getretenen Küstensenkung über Teile des einstigen Fest- 
landes aus, greift in den Unterlauf der Täler buchten- 
förmig ein und läßt nur die Kämme als Inseln und Halb- 
inseln frei. Dem Zurückweichen des Meeres von der 
italienischen Seite entspricht ein Eingreifen des Meeres 
auf dalmatinischem Boden. Die Küstensenkung geht noch 
bis in historische Zeiten weiter. Erst vom 42° N-Br. an 
kehren sich die Dinge um. Das Jungtertiär findet sich 
als schmaler Saum an der albanesischen Küste, die Flüsse 
haben Raum zur Aufschüttung und bauen Deltaländer, 
während auf der Apulischen Tafel das Pliozän zwar vor- 
handen ist, aber nur als zerrissene Decke einem Kreide- 
kalksockel aufruht, der wenigstens auf der Salentinischen 
Halbinsel wieder Senkungserscheinungen aufweist. Hier 
ist die italienische Küste zugänglicher. Berücksichtigen 
wir dann noch den jungen Schwemmlandgürtel, mit dem 
die Po-Ebene ans Meer grenzt, so erkennen wir etwa fünf 
verschiedene Küstentypen, die der Annäherung der Schiffe, 
der Anlage von Hafenplätzen und Städten und der Be- 
ziehung zum Hinterland verschiedene Möglichkeiten bieten. 
Wir unterscheiden: 

I. die istrisch-dalmatinische Steilküste von Monfal- 

cone bis zum Scutarisee, 


169) 


die albanesische Schwemmlandküste von da bis 
zum akrokeraunischen Vorgebirge, 


Die Häfen der Adria. 3 


J 


3. die apulische Küste vom Kap Leuca bis über 
den Monte Gargano, 

4. die schmale apenninische Flachküste bis Rimini, 

endlich 

5. die Lagunenküste Venetiens bis zur Mündung des 

Isonzo. 

Ein Rundgang, den wir aus praktischen Gründen am 
Gestade des Velebit beginnen, wird uns mit den Ver- 
kehrsmöglichkeiten und den wichtigeren Hafenplätzen be- 
kannt machen. An der dalmatinischen Küste gibt es zahl- 
reiche kleine und so manche große Häfen, fast überall 
aber fehlt es an Raum, und die Verbindung mit dem 
Hinterland ist außerordentlich schwierig. Gleich die ge- 
waltige Mauer des Velebit, die fast ohne Gliederung 
1700 m hoch aus dem Meere emporsteigt, zeigt, wie wenig 
cine ausgesprochene Längsküste dem Verkehre günstig 
ist. In 700 bis I4Co m Höhe liegen die Sättel, die nach 
Hochkroatien führen. Die Straßen leiten in steilen Win- 
dungen hinab, und über das kahle Gehänge saust die 
Bora mit solcher Wucht, daß sie noch weithin das Meer 
aufwühlt und die Zufahrt zu den kleinen Häfen erschwert. 
Zengg und Carlopago sind als Schlupfwinkel berüch- 
tigter Seeräuber — auch noch im Uskokenkrieg — be- 
kannter gewesen a!s als Marktplätze des ganz anders ge- 
stalteten kroatischen Hinterlandes. 

Ähnlich unwegsam ist auch wieder die Küste südlich 
von Spalato, wo Mosor- und Biokovo planina mit 
steilen Rändern das Meer begleiten. Almissa an der 
Cetinamündung und Macarsca drängen sich auf engem 
Raum zwischen Fels und Meer. Wo ein schmaler Sand- 
steinstreifen die Küste begleitet, findet sich etwas frucht- 
bares Land, aber die Häfen sind ungeschützt, und die 
Verbindung mit dem Hinterland ist schwierig. Auch die 
Längsseiten der zahlreichen Inseln sind nicht zugänglich, 
* 


4 


Ss Meereskunde. 


um so mehr, als die flacheren Teile des einstigen Berg- 
fußes unter das Meer geraten sind und nur die steilen, 
schuttarmen Gehänge die Uferlinie bilden. 

Günstiger liegen die Verhältnisse, wo die Küste quer 
zum Streichen verläuft, oder wo das Meer in Längs- 


HAFEN und RHEDE 


VODICE und ZLARIN 


Aufgenommen im Iufre ME3 
unter der Direchan den kk Linien-Schils-Kapıtana / 


Abbild. 2. Der Hafen von Sebenico. 


(Nach der österreichischen Seekarte.) 


und Querbuchten eindringt. So liegt Lussin piccolo 
auf einer der quarnerischen Inseln amphitheatralisch 
ansteigend am Rand einer Längsbucht, die durch eine 
engere Ausfahrt mit dem offenen Meer in Verbindung 
steht. Ganz ähnlich ist die Lage von Cherso und 
Buccari sowie die von Sebenico am unteren, schon 
meerartig erweiterten Lauf der Kerka. Der Hafen (Abbild. 2) 
ist durch eine gewundene Einfahrt vorzüglich geschützt und 
für die größten Kriegsschiffe tief genug. Auf schmalen 


Die Häfen der Adria. J) 


Halbinseln vor Längsbuchten liegen Zara und Ragusa 
vecchia, auf halb mit dem Land verbundener Insel Trau. 
Im ganzen nördlichen Dalmatien ist auch die Verbindung 
mit dem nächsten Hinterland, einer sanft ansteigenden 
200 bis 300 m hohen KRarstplatte, günstiger; doch ist diese 
so steinig, daß sie keinen lebhafteren Hafenverkehr her- 
vorzurufen vermag, und weiter nach rückwärts sperrt 
wieder der Velebit den Weg. Zara liest in. ziemlich 
öder und ungesunder Umgebung und ist erst zu einiger 
Bedeutung gelangt, als es Venedigs und später Österreichs 
Statthalter aufnahm. Es eignete sich zum Zentrum der 
politischen Gewalt nur wegen seiner gegen Norden vor- 
geschobenen Lage; eigentliche Hauptstadt ist es nie ge- 
wesen. 

Der einzige bedeutende Hafen in Mitteldalmatien, 
der nicht nur Schutz zu bieten, sondern auch einen Ver- 
kehr zu unterhalten vermag, ist der von Spalato (25 000 
Einwohner). Er ist allerdings nur eine gegen Süden offene 
Reede, die durch einen großen Wellenbrecher geschützt 
werden mußte; aber die Umgebung ist sehr fruchtbar, und 
nördlich vom Mosorkamm ist im Gebirgswall eine Scharte, 
die ins obere Cetinagebiet und darüber hinaus nach West- 
bosnien weist. Eine durchlaufende Bahn ist hier seit einer 
Reihe von Jahren geplant, aber noch nicht gebaut. Sie 
würde stark unter den Eigentümlichkeiten der Karstland- 
schaft zu leiden haben. Auf den rauhen Hochflächen 
ginge es über nacktes, steiniges Gelände, in den rings 
umschlossenen Poljen mehrfach durch überschwemmten 
Boden. Ein wiederholtes Hinauf- und Hinabsteigen wäre 
unvermeidlich. Nicht viel besser wird es einer zweiten 
Trasse ergehen, die nordwärts durch Hochkroatien gegen 
Ogulin und Rudolfswert führen wird, wo sich der An- 
schluß ans ungarische und österreichische Bahnnetz voll- 
zieht. Diese Strecke kann einen direkten Schienenweg 


10 Meereskunde. 


aus dem Herzen des österreichischen Staates schaffen und 
für den Personenverkehr Bedeutung erlangen, die Frachten 
werden aber nach wie vor den kürzeren Weg nach Triest 
und Fiume bevorzugen. 

Die Schwierigkeiten der kroatischen und west- 
bosnischen Wege lassen die Mündung des einzigen großen 


Abbild. 3. Ragusa vom Weg nach Brgat. 


(Nach einer Photographie von A. Forster.) 


Flusses, der Narenta, um so bedeutsamer erscheinen, 
als aus ihrem Flußgebiet mit Überwindung eines einzigen 
Sattels (Ivan 967 m) die danubische Abdachung erreicht 
werden kann. Mit Recht bezeichnet darum A. Supan 
den Ivansattel als den Brenner der Karstländer. Aber der 
Hafen von Metkovid liegt 20 km oberhalb der Mündung, 
in ungesunder Gegend zwischen Sümpfen, und ist als 
schmaler Flußhafen räumlich beschränkt. Die Schlamm- 
führung der Narenta erschwert die Ausfahrt, und wenn 
man das offene Meer erreicht hat, versperrt die lang- 


(par 


[[9S uoreg uoA 9ıyde 


[d 19uT9 UDeN) 
'U9U9S9S UIPION UOA esoneIn uoA Jyong °F 'pIrgqYy 


12 Meereskunde. 


gestreckte, schmale Halbinsel von Sabbioncello den 
Weg gegen Südwest und Süden.!) Sie würde auch den 
Aufschwung eines Hafenplatzes an der sonst trefflichen 
Bucht von Neum-Klek behindern. Dieser Schwierig- 
keiten halber hat gegenwärtig wieder das alte Ragusa 
einen großen Teil des bosnisch-herzegovinischen Verkehrs 
an sich gezogen. 

Die alte Handelsstadt, die sich bis zu den Napoleonischen 
Zeiten von Türken und Venetianern unabhängig zu erhalten 
wußte, liegt malerisch am felsigen Gestade, umrahmt noch 
von den alten Mauern. (Abbild. 3.) Sie erscheint aber 
auf den ersten Blick gar nicht so sehr begünstigt. Der 
fruchtbare Landstrich ist sehr schmal, das Hinterland eine 
rauhe, wenig gegliederte Hochfläche, die allmählich bis 
über 1000 m ansteigt, aber schon im Rücken der Stadt 
400 m Höhe hat; der Hafen ist für größere Schiffe zu 
klein und zu seicht. Glücklicherweise liegt, kaum 3 km 
entfernt, die vorzügliche Bucht von Gravosa, die durch 
die HalbinselLapad geschützt ist. (Abbild.4.) Sie ist so tief, 
daß man nur Quaimauern, keine Moii zu errichten brauchte. 
Von hier ist die Ausfahrt nach allen Seiten frei, .das 
Narentatal zwar nur über das Plateau zugänglich, aber 
doch noch leidlich nahe. Gravosa ist heute der wichtigste 
Endpunkt der bosnischen Staatsbahn, die Ausfuhr an Holz 
und Erzen ist nicht unbedeutend. Es bestehen direkte 
Verbindungen mit Apulien. Der mittelalterliche Handels- 
weg ging übrigens nicht durch die Engen der Narenta- 
schlucht, sondern über die steinigen, aber leicht über- 
sehbaren Hochflächen unmittelbar ins Drinagebiet. So 
mühselig der Pfad war, war er doch bequemer als die 
Wege weiter südwärts, wo das Gebirge höher anschwillt. 


1) Für eine Durchstechung der Halbinsel hat sich Erzherzog 
Ludwig Salvator eingesetzt. (Durchstich der Landenge von Stagno, 
Prag 1906.) 


Die Häfen der Adria. 13 


Abbild. 5. Bocche di Cattaro. 


(Nach der österreichischen Seekarte.) 


Ragusa trieb Handel mit Serbien und Bulgarien. Es 
stünde heute, wo die bosnischen Bahnlinien auch gegen 
Osten ausgebaut sind, nichts entgegen, diesen alten Ver- 


kehr wieder aufleben zu lassen. Doch scheint man bei 
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 9. 3 


I4 Meereskunde. 


den Projekten einer »Donau— Adriabahn« österreichisches 
Gebiet meiden zu wollen. 

Aber es gibt weiter südwärts keine ähnlich guten Be- 
dingungen. Die Bocche di Cattaro (Abbild. 5) ist aller- 
dings mit ihren Verzweigungen und engen Ausfahrten eine 
vorzügliche Bucht, ein prächtiges Beispiel eines unter den 
Meeresspiegel geratenen Tlalsystems, in dem die Tiefen 
gegen außen mit großer Regelmäßigkeit zunehmen. Aber an 
ihren innersten Winke!n (Abbild. 6) ist sie durch eine 1000 
bis 1200 m hohe Kalkmauer abgeschlossen, die jäh abfällt 
und ein rauhes Hochland vom Meere scheidet. Der Blick 
von der Kunststraße nach Cetinje, die 960 m hoch 
emporsteigt, gehört zum landschaftlich Schönsten an der 
eanzen Adria und erinnert an die Bilder, die unsere ver- 
zweigten Alpenseen von oben gewähren. Für den Ver- 
kehr aber ist dieser steile Abfall sehr hinderlich. Nur so 
ist es ja verständlich, daß der schmale Küstenstrich Dal- 
matiens, den die Venetianer und Ragusaner inne hatten, 
seine eigene Geschichte besitzt, und daß bis 1878 auf der 
ganzen Linie, hier im Süden heute noch zwei verschiedene 
Staaten hintereinander liegen. Wohl waren die Küsten- 
striche vor den Einfällen nomadisierender Stämme im 
Hinterland nie sicher, und die Griechen legten darum 
ihre ersten Kolonien (Tragurium, Pharus, Issa, Cor- 
cyranigra, Epidaurus usw.) auf geschützten Halbinseln 
und Inseln an, aber schon die Seeräuber dieser Küste 
mögen sich von den binnenländischen Volksstämmen 
unterschieden haben, so wie heute wenig Beziehungen 
zwischen den seefahrenden Bocchesen und dem Hirten- 
volk der Montenegriner bestehen, obwohl sie beide eines 
Stammes sind. 

Aber selbst Montenegro, das aus der Zusammen- 
fassung von allerlei unzugänglichen Landesteilen ent- 
standen ist, drängt es in der Gegenwart zum Meer. Schon 


Die Häfen der Adria. 15 
von den Venetianern waren seiner Bevölkerung manche 
Vorrechte in Cattaro eingeräumt worden, das 1813 für 
kurze Zeit montenegrinische Hauptstadt wurde. Später 
setzten die Montenegriner ihre Hoffnungen auf Spizza 
und als auch dieses österreichisch wurde. machten sie 


Abbild. 6. Hafen von Cattaro. 


(Nach einer Photographie.) 


Antivari zu ihrem Hafen und eroberten 1880 trotz 
tapferer Gegenwehr der Albanesen Dulcigno. Beide 
Häfen sind schlecht. Antivari verfügt nur über eine 
seichte Bucht, die gerade zur Not vor dem Scirocco ge- 
schützt ist; es erfreut sich in den jüngsten Tagen einigen 
Aufschwunges und ist sogar der Endpunkt einer kleinen 
Bahn geworden, ist aber vom Scutarisee her nur über 
einen hohen Paß erreichbar. Die alte halb verfallene 
Stadt liegt auf der Anhöhe über der Bucht. 


[9>) 


16 Meereskunde. 


Dulcigno zeigt schon den Charakter der albanesischen 
Häfen. Hier gibt es bessere Zugänge, aber schlechtere 
Landungsplätze. Es liegt wie das ein wenig südlichere 
und noch unbedeutendere S. Giovanni di Medua an 
einem Felssporn knapp neben der Flachküste, die durch 
Dünenwälle und Strandsümpfe doppelt unzugänglich ist. 
Es ist der Hafen für Scutari und für das ganze Drin- 
gebiet, also der wichtigste Platz des nördlichen Albanien, 
den die Türken für keinen Fall hätten preisgeben dürfen. 
Einst führte den Drin aufwärts eine wichtige Römerstraße 
gegen Usküb, die nicht über 915 m anzusteigen hatte. 
Dieser Weg ist heute für den Kaufmann ganz ungangbar, 
kann aber vielleicht in nicht allzu ferner Zeit wieder Be- 
deutung erlangen, sobald die Albanesen erkennen, daß 
damit auch ‘ein Vorteil für. sie verbunden "ist, Doch 
werden große und schwierige Hafenbauten notwendig sein, 
um dem Platz seine kommerzielle Bedeutung zu sichern. 

Die ganze Küste Albaniens leidet unter der Hafen- 
armut. In beträchtlichen Abständen treten einige Ketten 
kulissenförmig gegen Nordwesten vor; dadurch entstehen 
seichte Buchten, die vor dem Scirocco sicher sind, aber 
alle unter“ Fieber. leiden. Etwas Fischerei undesız 
gewinnung sind die Haupterwerbszweige. Der wichtigste 
Hafen ist die alte Griechenkolonie Epidamnos, die als 
Dyrrhachium in Römerzeit, als Durazzo im Mittelalter 
Berühmtheit erlangte. Durazzo (Abbild. 7) liegt auf einer 
felsigen Insel, die durch eine niedrige Nehrung mit dem 
Festland verbunden ist, verfügt aber bloß über eine gegen 
Süden geöffneteReede. DieStraße landeinwärts(ViaEgnatia) 
folgt nach Überschreitung des Küstensumpfes noch ein 
Stück lang dem Gestade, bis sie ins Tal des Skumbi 
einlenkt, um dann über den ÖOchrida- und Presbasee 
Monastir und damit den Anschluß ans mazedonische Bahn- 
netz zu erreichen. Hier entscheidet eben die günstigere 


Die Häfen der Adria. 12 


3 as u 
Baj,a” ad „Düsrfazz,o 


1:240.000. 
2 63 ” 


E23 “ ” km 


Abbild. 7. Hafen von Durazzo. 


(Nach der österreichischen Seekarte.) 


Landungsstelle, während im buchtenreichen Dalmatien nur 
jene Häfen Bedeutung erlangen, die auch eine bessere 
Landverbindung haben. Auch dieser Weg kann jederzeit 
wieder Bedeutung erlangen; die Pässe sind zwar etwas 
höher als am Drin, die Täler aber sind breiter, die ganze 
Landschaft ist offener. 

Während im Norden der gewaltige Gebirgsabfall die 
Trennung der Küste vom Hinterland verschuldete, hat 


18 Meereskunde. 


bier in ähnlichem Sinne der Küstensumpf gewirkt. Da- 
raus erklärt sich die wechselvolle Geschichte Durazzos, 
das oft als Stützpunkt einer westlichen Macht erscheint. 
Schon viel umstritten in römischer Zeit, war es dann im 
Mittelalter bald in den Händen der Byzantiner, bald der 
Neapolitaner, zeitweise auch im Besitz der Venetianer, bis 
es 1502 von den Türken erobert und befestigt wurde. 
Seine Bedeutung a!s Brückenkopf Griechenlands hat es 
damit verloren. 

Wir überschreiten nun die 73 km breite Straße von 
Otranto und wenden uns dem anderen Brückenkopfe, 
Apulien, zu. Das Land erhebt sich als sanft ansteigende 
Tafel aus dem Meere, landschaftliche Reize fehlen, aber 
das Gestade ist dicht besiede:it und fruchtbar und die 
Zugänglichkeit von der Landseite ist größer als in allen 
bisher besprochenen Gebieten. Hier gibt es weder 
eine kulturelle, noch eine politische Scheidung zwischen 
Küste und Hinterland. Die Küste ist aber nicht ganz 
gleichartig gestaltet. Im Süden herrscht ein ziemlich 
glattes Steilufer, das nur in den untergetauchten Tälern 
von Brindisi und Tarent Zugang gewährt. Die Stadt 
Lecce hat, obwohl sie der Mittelpunkt der schmalen 
salentinischen Halbinsel ist und nur IO km von der Küste 
entfernt liegt, gar keine Beziehungen zum Meer. Weiter 
nordwärts folgt eine Reihe sehr kleiner Buchten, die unter 
der Versandung leiden und meist nur den hier noch stark 
verbreiteten Seglern oder Küstendampfern genügen. End- 
lich folgt zu beiden Seiten des Monte Gargano, nur durch 
ihn unterbrochen, ein Schwemmlandstreifen mit Dünen 
und Strandseen. Der einzige Hafen dieses Teiles ist 
Manfredonia an der Grenze des Schwemmlandes gegen 
das Steilufer, im Schutze des Monte Gargano, aber nur 
im Besitz einer offenen Reede. Es ist der Ausfuhrhafen 
für Nordapulien, während Bari den Export aus dem 


Die Häfen der Adria, Ko) 


reichen Wein- und Ölgebiet leitet. Bari ist mit 80 000 
Einwohnern die größte Stadt Apuliens, neu und regel- 
mäßig gestaltet und in bedeutendem Aufschwung. Auch 
der Hafen ist durch Kunstbauten sehr verbessert; der 
Schiffsverkehr ist mit fast 3000 Fahrzeugen größer als in 
Brindisi, das keinen so regen Warenhandel besitzt. Dieses 
liegt wieder in einsamerer Umgebung, verfügt aber von 
Natur aus über einen zwar etwas engräumigen, aber 
doppeltgeteilten Hafen. Der wieder gegabelte Innenhafen 
zeiet- dentich- die Kormen- des ertrunkenen Tales, der 
größere Außenhafen wird jetzt durch Einbauten etwas 
besser vor Stürmen geschützt und dient auch der Kriegs- 
flotte. In erster Linie ist Brindisi aber Personenhafen. 
Wenn die indische Post verschifft oder ausgeladen wird, 
geht es für einige Stunden recht lebhaft zu; aber bald 
herrscht wieder Stille. Die Stadt hat viel von ihrem 
alten Ruhm verloren. Unter den Bourbonen arg ver- 
nachlässigt, erfreute sie sich seit der Eröffnung des Suez- 
kanales wohl einigen Aufschwunges.. Wenn aber der 
Querverkehr durch Südalbanien nicht wieder auflebt, 
wird sie kaum je führende Bedeutung erlangen können. 
Denn auch der Schnellverkehr in den fernen Orient wird 
andere Wege nehmen, sobald die Bagdadbahn vol!endet 
sein wird. — Das etwas südlichere Otranto hat sich nur 
als Feste, nie als Warenplatz bemerkbar gemacht. 

Sehr einförmig ist der nächste Abschnitt, die Küste 
des Apennin vom Monte Gargano bis Rimini. Die Ver- 
bindung mit dem Hinterland ist durch den steil abfallen- 
den Apennin erschwert und auf einige wenige Täler wie 
die der Pescara und des Esino beschränkt. Aber auch 
von der Seeseite her ist das Gestade schlecht zugänglich 
und durch Stürme gefährdet. Streckenweise herrscht wie 
bei Pesaro und Pescara Steilküste, gewöhnlich legt sich 
aber ein schmaler Dünenstrand vor, gebildet aus dem 


20 Meereskunde. 


verschwemmten Material der Apenninenflüsse, von denen 
keiner stark genug ist, ein Delta vorzuschieben. IO m 
Tiefe findet sich erst in einer Entfernung von 5 bis 6 km, 
verschiedene Städtchen sind im Sommer besuchte Bade- 
orte. Die zur Küste abfallende Landschaft ist fruchtbar; 
Obst und Gemüse, auch Ziegel gehen auf kleinen Seglern 
nach dem anderen Ufer der Adria, wofür als Rückfracht 
Bausteine und Holz mitgenommen werden. Aber nur 
diesem bescheidenen Verkehr genügen die kleinen Flub- 
häfen: von Rimini, 'Sinigaglia,  Besaro, Besess 
usw. 

Größere Dampfer nimmt nur Ancona (60 000 Ein- 
wohner) auf, die »Ellbogenstadt«, wie der griechische 
Name besagt, weil sie sich in scharfem Bogen hinter 
dem Monte Conero ausdehnt, der ihren Strand schützt. 
Schon von Kaiser Trajan mit Kunstbauten versehen, war 
die Stadt auch in den Zeiten des Kirchenstaates der 
Sammelpunkt der über den römischen Apennin ziebenden 
Straßen und ist jetzt der Ausgangspunkt der wichtigsten 
(Juerbahn Mittelitaliens, die freilich so wie die anderen 
enge Durchbruchstäler zu durchmessen und starke Stei- 
gungen zu überwinden hat. Der Schnellzug Ancona— 
Rom braucht 7!/, bis 8 Stunden. Es spricht nur. für die 
ungünstigen Verhältnisse an dieser Küste, daß Ancona 
zum Kriegshafen ausersehen wurde, obwohl die offene Bucht 
dazu gar nicht geeignet ist. (Abbild. 8.) Daß es dann auch 
die Endstation eines Querverkehrs mit Fiume wurde, war 
ein Werk Ungarns, das sich damit einen selbständigen 
und billigen Weg sichern wollte. Aber die Route hat 
nur im Personenverkehr einige Bedeutung und ist so sehr 
den ungarischen Interessen angepaßt, daß es sich schon 
von Triest aus nicht mehr empfiehlt, diesen Weg zu 
nehmen. Der Warenverkehr ist geringfügig, weil eben 
kein leicht erreichbares Hinterland besteht. 


Die Häfen der Adria. 21 

Nördlich von Rimini tritt der Apennin zurück und 

die Poebene gewährt eine freie Verbindung zwischen 
Land und Meer, die umso wertvoller ist, weil im ober- 


1:600 000. 
E a Er 


0 
N = Et 


B2 


Abbild. 8. Die Küste bei Ancona. 


(Nach der österreichischen Generalkarte.) 


italischen Tiefland eine Fülle von Alpenstraßen zusammen- 
laufen. "Die, Ebene beherrscht die- Wege nach NW 
(Splügen, Reschen-Scheideck), Norden (Etschtal und 
Strada d’Allemagna zum Brenner, Plöckenpaß und 
Tauern) und Nordosten (Pontebba, Predil, Karst). 
In dieser Hinsicht ist die Nordwestküste günstiger ge- 


Meereskunde. 


155) 
W 


staltet als die nordöstliche von Monfalcone bis Fiume, 
hinter der sich der Karst in weiten Plateauflächen zu 
600 bis 900 m Höhe erhebt und wohin doch vornehm- 
lich nur Wege aus Nordost gelenkt werden können. 
Beide Teile haben aber gemeinsam, daß sie info!ge ihrer 
Lage am Nordende der Adria berufen sind, den Längs- 
verkehr aufzunehmen und weiterzuleiten. Im einzelnen 
aber bestehen bemerkenswerte Gegensätze. 

Im westlichen Istrien verläuft die Küste quer zum 
Schichtstreichen. Sie besitzt besonders dort, wo der Flysch 
ans Meer herantritt, breite Buchten, hinter denen frucht- 
bares und freundliches Gelände ansteigt. Nur die inner- 
sten Winkel der Buchten sind versumpft. Weiter im 
Süden neigt sich die istrische Kalkplatte, die viele Ähn- 
lichkeiten mit Apulien hat, sanft gegen das Meer. Auf 
Vorsprüngen zwischen kleinen Buchten, die noch durch 
Inseln geschützt sind, liegen die Hafenstädte wie Parenzo 
und Rovigno. Aber jede von ihnen hat nur ein kleines 
Hinterland, denn eine Reihe tiefeingeschnittener, un- 
gesunder und unbewohnter Täler zeriegt die westliche 
Hälfte der Halbinsel in gut voneinander geschiedene 
(Juadrate. Nahe der Südspitze ist die Verbindung mit 
dem Innern freier, das Land steigt sanft an und das 
Meer dringt in mehrfach verzweigte Buchten ein. Die 
eine davon birgt den Kriegshafen von Pola, die andere 
den Hafen von Medolino, der zur Entlastung Polas den 
Handelsverkehr an sich ziehen soll, so daß Pola (60 000 
Einwohner) nur seine strategische Stellung behaupten wird. 
Der Hafen von Medolino ist etwas klippenreicher und 
die Ausfahrt stürmischer, der von Pola ist aber zweifel- 
los der beste in der Adria. Durch Inseln und Halb- 
inseln zerfällt er samt der Straße von Fasana in drei hinter- 
einander gelegene Teile, die durch die auf mäßig steilen An- 
höhen gelegenen Befes{igungen vorzüglich geschützt sind. 


Die Häfen der Adria. 


19 
(n 


Der Südspitze Istriens kommt auch für den Personen- 
verkehr nach Dalmatien eine gewisse Bedeutung zu, so 
lange keine direkte Bahnlinie dahin besteht. An der 
steilen Ostküste ist dazu kein anderer Ort geeignet und 
der mehrfach erwähnte Plan einer Inselbahn (über Cherso 
und Pago) hat trotz der wertvollen Vorbilder in der 
Ostsee kaum Aussicht auf Erfolg. Denn der Bau und 
der Betrieb wären hier im felsigen Gestade und auf dem 
stürmischen Meer ungleich kostspieliger, der Verkehr 
aber viel geringer. Von einigen leicht verderblichen 
Waren abgesehen, würde alles den billigeren Seeweg 
nehmen. Selbst Pola kann für den Warenverkehr keine 
Bedeutung erlangen, weil es am Ende einer schmalen 
Halbinsel liegt. Wenn auch der Aufstieg auf den Karst 
allmählicher vor sich geht als von Triest und Fiume aus, 
so ist eben der Weg um etwa So km länger. Nur diesen 
beiden Endpunkten strömt der ganze Handelsverkehr zu. 
Auf sie werden wir noch zu sprechen kommen. 

Dem Vorspringen der istrischen Halbinsel, das den 
Wert sonst ausgezeichneter, von beiden Seiten leicht zu- 
gänglicher Häfen herabdrückt, steht an der venetianischen 
Küste ein sanftes Einbiegen des Küstenverlaufes gegen- 
über. Das bewirkt, daß kein Ort geradezu benachteiligt 
ist, wenn auch die nördlich des Po günstiger liegen. 
Aber die Häfen sind hier selten und schwer zugänglich. 
Der sumpfige Landstrich vor den Lagunen ist unbewohnt 
und unwegsam. Die Lagunen sind bis auf einige tiefe 
Rinnen, — wahrscheinlich alte F,ußläufe, die vom Ge- 
zeitenstrom wieder ausgewirbelt wurden — sehr seicht, 
ein amphibisches Gelände, das je nach Ebbe und Flut 
ganz verschieden aussieht. Davor liegen langgestreckte 
Dünenwälle, die nur durch wenige, schmale Öffnungen 
unterbrochen sind. Wo ein Gebirgsfluß einmündet, schiebt 
er ein mächtiges Delta vor, an dessen Spitze sich neue 


24 Meereskunde. 


Dünenwälle ansetzen, die wieder einen Teil des freien 
Meeres absperren. Der am Gestade entlang wandernde 
Sand schließt die schmalen Öffnungen, die frische Lagune 
verwandelt sich in eine tote und infolge der Auffüllung 
seitens der Flüsse in einen seichten Strandsee und 
endlich in einen Sumpf. Man hat berechnet, daß der 
Po allein sein Delta in 1200 Jahren um 20 km vorge- 
schoben hat. (Abbild. 9.) 

Länger erhalten sich die Lagunen dort, wo keine 
Flüsse oder geschiebearme Grundwasserströme (»Fiumi 
di risorgiva«) einmünden, aber auch sie unterliegen dem 
Schicksal, von der freien Bewegung der Ebbe und Flut 
abgesperrt und infolge der sich dann einstellenden Fieber 
und der erschwerten oder unmöglich gemachten Zufahrt 
von jedem Verkehr gemieden zu werden. Dieses Schicksal 
traf nach einander eine Reihe von Hafenstädten, die die 
Gunst der Verkehrslage alle in der Lagune zwischen 
Sumpf und Düne entstehen ließ. Von zwei Seiten, von 
den Flüssen und der südwärts ziehenden Küstenströmung 
verschüttet, verwandelte sich die Lagune in Land, und 
dieser Prozeß wäre vielleicht noch rascher vor sich ge- 
gangen, wenn nicht eine Küstensenkung der Verlandung 
langsam entgegenarbeiten würde. 

Die ältesten Häfen, von denen uns die Geschichte 
berichtet, Spina und Adria, lagen besonders ungünstig 
im Mündungsgebiet von Po und Etsch, wo die Ver- 
landung sehr schnell vor sich geht. Von dem vorrömischen 
Spina wissen wir nichts Näheres, Adria aber, dessen Blüte 
in den Beginn unserer Zeitrechnung fällt, war eine regel- 
rechte Lagunenstadt, obwohl sie heute — stark herab- 
gekommen — 22 km vom Meere entfernt ist. Aquileja 
lag wahrscheinlich nicht in der Lagune, aber an einer 
Lagune. Es war aber jedenfalls viel besser mit dem 
offenen Meere verbunden als jetzt und der Abstand dürfte 


Die Häfen der Adria. 


189) 
nn 


nicht wie gegenwärtig IO km betragen haben. Sonst 
wäre es unmöglich, daß Aquileja römische Flottenstation 
gewesen ist. Entscheidender aber für die Größe und 
Bedeutung der Stadt war die Gunst der Lage am nörd- 
lichsten Punkt der Adria 
bei freier Zugänglichkeit 


a 1: 2.000.000 ___Adreriso 
von beiden Seiten. Hier |t-— "km ee | 


liefen die Straßen aus Ily- [u 
rien, Pannonien und Nori- 
cum zusammen: die Volks- 
zahl soll zeitweise die von 
Rom erreicht haben. 
Doch war die Stadt 
infolge der freienLage eines 
der ersten Opfer der Völ- 


kerwanderung. Gewitzigt 
durch die Erfahrungen, die ER: > 

I"; 
man gemacht hatte, er- ZN, 

En s h Sn pmacchıo 
wählte man gleichsam zu | ei 
ihrer Nachfolgerin das feste | II 
Ravenna. Ursprünglich : 
auf einer Insel im Padusa 


Haft gelegen, mit Häusern 
auf Pfahlrosten wie Vene- 


dig, war Ravenna der natür- - 
liche Stützpunkt eines see- Abbild. 9. Das Po-Delta. 
fahrenden Volkes zu einer 

Zeit, da die Landmacht in Brüche ging. Die Detfensiv- 
stellung der Stadt ermöglichte es, daß sie noch Jahr- 
hunderte lang im Besitz der Byzantiner blieb, als das 
Festland von den Langobarden besetzt wurde. Für 
den Handelsverkehr hatte aber diese Stadt, die von der 
Landseite schwerer zugänglich war und den Alpenstraßen 
ferner lag, viel geringere Bedeutung. Und endlich erlag 


Meereskunde. 


N 
®; 


auch sie dem Schicksal der Verlandung; sie liegt heute 
5 km vom Meere entfernt. Die herrlichen Bauwerke früh- 
christlicher Zeit blicken auf einen sehr bescheidenen Schiffs- 
verkehr, der gerade noch zur Not durch einen seichten 
Kanal aufrecht erhalten wird. 

Was für die folgenden Jahrhunderte, die immer noch 
sehr kriegerisch waren, notwendig gewesen ist, war ein 
Ort, sicher vor Piraten und streifenden Völkerscharen, 
aber doch so günstig gelegen, daß er Land und Meer zu 
verbinden vermochte. Das aufstrebende Deutschland be- 
durfte vieler Produkte aus dem nahen Orient, dem byzan- 
tinischen und arabischen Kulturkreis. Eine Stadt am 
Nordende der Adria, nahe den damals bedeutsamsten 
Alpenstraßen Splügen und Brenner, konnte dies vermitteln. 
Und das war der Vorteil für Venedig. Die Stadt liest an 
einer Stelle, wo der Sumpfgürtel schmal ist, aber nicht in 
diesem, sondern auf flachen Inseln im Haff, das einige tiefe 
Wasserrinnen durchziehen. (Abbild. 9.) Ursprünglich wohl 
eine Fischersiedlung wie Chioggia, Comacchio und 
Grado, hat es wahrscheinlich durch flüchtige Kaufleute eine 
Verstärkung erfahren, und diese dürften die günstigen Ver- 
hältnisse erkannt und die Bedeutung der Stadt gehoben 
haben. Unbekümmert um die Wirren auf dem benach- 
barten Festland, konnte Venedig das gesteckte Ziel leicht 
erreichen, und schon frühzeitig beginnt, wie seine herr- 
lichen Bauwerke verraten, der Handel mit dem Orient. 
Vom vierten Kreuzzug bis zu den Fahrten Marco Polos 
reicht die Glanzzeit Venedigs, das sich damals eine 
Kolonialmacht im ganzen östlichen Mittelmeergebiet ge- 
schaffen und Handelswege bis nach Asien hinein ge- 
sichert hatte. 

Es ist merkwürdig, zu sehen, wie der Ort mit dem 
Ziel, das er sich steckte, weit über die Anfänge hinaus 
wuchs und zur wirtschaftlichen Macht auch politische dazu 


Die Häfen der Adria. 27 


gewann, weil sich sonst jene nicht hätte behaupten lassen. 
Die istrisch-dalmatinischen Seeräuber, die den Adriaverkehr 
von der Seite her bedrängten, mußten bezwungen werden, 
und das führte zur Eroberung der Gegenküste, die auch 
Flottenmannschaft, Holz und Bausteine lieferte. Die 
venetianischen Paläste sind aus istrischem Marmor auf- 
geführt. Ein zweiter Konflikt entstand mit Padua um 
das Verfügungsrecht über den Brentafluß. Die Brenta 
drohte mit ihrem Schutt die Lagune zu verschlammen 
und sollte deshalb abgeleitet werden. Paduas Interesse 
aber war es, der Überschwemmungen halber den Fluß 
auf dem nächsten Weg ins Meer zu leiten. Padua ward 
bezwungen, und man schritt an die Errichtung eines 
Hauptsammelkana!s, in dem die Brenta und einige kleinere 
Gewässer in großem Bogen um die Lagune herumgeführt 
wurden. Zum dritten bewirkte die Konkurrenz mit Genua 
die Ausdehnung der Landmacht. Diese Stadt, die sich in 
Byzanz und im Schwarzen Meere eine führende Stellung 
zu sichern gewußt hatte, lag den westlichen Alpenpässen 
näher. Es galt nun, den venetianischen Besitz in der 
Ebene soweit wie möglich auszudehnen, um die östlichen 
und mittleren Alpenstraßen tunlichst in eigener Hand zu 
halten. So reicht die Terra ferma zeitweise bis zum 
Comersee, und nach langwierigem Streit mit den Patri- 
archen von Aquileja wird auch Friaul einbezogen. Da- 
durch sind die Straßen vom Splügen bis nach Kärnten 
Venedig gesichert. Durch das Monopol des Salzhandels, 
die frühzeitig erblühende Kunstindustrie und manches 
andere macht sich Venedig für Mitteleuropa unentbehr- 
lich. Der Fondaco dei Tedeschi und der Fondaco dei 
Turchi, die zwei berühmten Warenhäuser am Rialto, 
zeugen für die Anziehungskraft der Signoria. 

Aber mit Recht schätzt der unserer Wissenschaft zu 
früh entrissene Theobald Fischer höher a!s alle politischen 


28 Meereskunde. 


Erfolge und alle Werke der Kunst jene Taten, mit denen 
die Venetianer den Kampf gegen das Meer und die Flüsse 
durchführten. Von der Ableitung der Brenta war eben 
die Rede; der damals geschaffene Sammelkanal ist im 
Lauf der Jahrhunderte verlängert worden, seine endliche 
Ausmündung wurde immer weiter nach Süden vorgeschoben, 
um auch die Venedig benachbarten Orte zu schützen und 
die südlichen Zufahrten offen zu halten. Es mag aus- 
drücklich betont werden, daß die Ausbuchtung des Meeres 
an dieser Stelle durchaus ein Werk der Menschen ist. 
Derselbe Dünenwall, der östlich von Venedig die lang- 
gestreckte Insel des Lido aufbaut, zieht weiter im 
Süden beträchtlich ins Podelta hinein und zeigt so an, 
um wie viel hier die Zuschüttung größer gewesen ist. 
Später erst erkannte man, daß auch die Einfahrten ge- 
schützt werden müssen. Seit 1724 war die der Stadt am 
nächsten gelegene Einfahrt am Lido zu seicht geworden, 
und man mußte den viel längeren und gewundenen Weg 
durch das Tief von Malamocco nehmen. Dieses wurde 
1840 durch zwei weit vorspringende Dämme vor der Ver- 
sandung geschützt und nimmt heute noch alle größeren 
Fahrzeuge, vornehmlich die Kriegsschiffe auf. Um dem 
Übelstand einer einzigen und noch dazu unbequemen 
Einfahrt zu steuern, ward 1882 auch die Ausfahrt nörd- 
lich vom Lido wieder ausgebaggert und auch ihrerseits 
durch Dämme geschützt. Schiffe bis 6m Tiefgang können 
sie passieren. 

Das geschah zu einer Zeit, wo Venedig seine alte 
Macht längst verloren hatte. Die Gründe dafür sind all- 
gemein bekannt; es war aber nicht nur die Entdeckung 
der neuen Seewege und die Ausbreitung der Türken- 
herrschaft, es war auch die erschlaffende Spannkraft der 
Bevölkerung, das Erlahmen des Handelsgeistes, was Venedig 
um die führende Stellung gebracht und nicht nur die 


24 


Die Häfen der Adria. 29 


westeuropäischen Häfen, sondern auch Genua, Marseille 
und Triest zu relativ höherer Bedeutung emporkommen 
ließ. Wenn man aber so häufig liest, Venedig habe seine 
Rolle vollkommen ausgespielt, so trifft dies doch nicht 
ganz zu. Der Zahl der ein- und auslaufenden Schiffe 
(7500) nach steht Venedig, das über 150000 Einwohner 
zählt, in Italien immer noch an dritter Stelle, und im 
Warenverkehr rangiert es dank der bedeutenden Einfuhr 
(88 v.H.) gleich hinter Genua. Er bewertete sich in den 
letzten Jahren auf 2!/, Mill. Tonnen gegenüber 61/, Mill. 
Tonnen in Genua und etwas über 2 Mill. Tonnen in Neapel. 
Es ist wahr, daß die Einrichtungen unmodern sind, die 
Stazione marittima unpraktisch angelegt und unzulänglich 
ist, daß infolge des besonders schwer ins Gewicht fallenden 
Raummangels ein großer Teil der Waren nicht unmittel- 
bar vom Schiff auf den Quai gebracht werden kann. Aber 
gerade in den letzten Jahren sind größere Arbeiten im Zug, 
neue Docks im Entstehen, und die kostspieligen Bagge- 
rungen gehen fort. Der Warenverkehr hat sich in den 
letzten 15, Jahren! verdoppelt.” Wir’ sehen, wie die .in 
Piemont und der Lombardei so mächtig entwickelte In- 
dustrie, die zum Aufschwung Genuas wesentlich bei- 
getragen hat, sich allmählich nach Venetien ausdehnt. 
Über kurz oder lang mag auch das oberitalienische Kanal- 
netz, von dem man sich viel verspricht, ausgestaltet sein 
und damit Venedigs Handel neue Belebung erfahren. Vor 
allem festigen alle neuen Bahnen in Tirol, Südbayern und 
der Ostschweiz die Position Venedigs, dessen natürliche 
Einflußsphäre nördlich vom Brenner und Reschen-Scheideck 
liegt. (Vgl. Abbild. 10.) Nordtirol und Südbayern können 
nur aus nationalen Gründen und teilweise mit Ausnahme- 
tarifen an Triest gefesselt werden. Die im heurigen Sommer 
(N9TO) eröffnete Sehlußstrecke der. Val, Suganalinie 
(Bassano-Tezze), die projektierte Mittenwald- und Fern- 


30 Meereskunde. 


Dresden” \ 


\ Ostseeh fen 
Hamburg‘. | 


\ 


Eniworfen v N Krebs 


Abbild. 10. Die Einflußsphäre der wichtigsten mitteleuropäischen 
Häfen. 


(Teilweise nach A. Birk.) 


bahn, vielleicht auch noch die ostschweizerische Trans- 
versalbahn werden sicher die Attraktionssphäre Venedigs 
vergrößern, und es wird sich nur fragen, ob es den ver- 
stärkten Verkehr zu bewältigen vermag. Wenn die Raum- 
frage befriedigend gelöst werden kann, ‘und wenn der ent- 
schwundene Handelsgeist wieder erwacht, dann — aber nur 
dann ist es möglich, daß Venedig noch eine Blütezeit erlebt. 

Aber die führende Stellung in der Adria hat es wohl 
endgültig an Triest abgegeben. Die Triester haben richtig 


Die Häfen der Adria. 


(8%) 
- 


gerechnet, als sie sich 1382 entschlossen, Österreichs 
Herrscher als dem Besitzer des Hinterlandes zu huldigen. 
Venedig, das damals seine Hand nach den letzten Frei- 
städten in Istrien ausstreckte, hätte die unbequeme Rivalin 
wirtschaftlich zugrunde gerichtet, die Habsburger mußten 
die Stadt als ihren einzigen Hafen schützen. Freilich war 
für die nächsten Jahrhunderte von einem Aufschwung 
nicht viel zu spüren. Die intensivere Wirtschaftsweise in 
Deutschland, die Venedigs Handel förderte, verpflanzte 
sich erst allmählich donauabwärts in Gebiete, die gegen 
Triest gravitieren, und der Aufschwung war in diesen 
Ländern durch das Vordringen der Türken bedeutend ge- 
hemmt worden. Auch nutzten die Venetianer ihre See- 
herrschaft in so rücksichtsloser Weise aus, daß trotz 
allerlei Begünstigungen wie Wegzwang und Zollerleichte- 
rungen Triest sich nicht entfalten konnte. Alle Schiffe 
mußten erst im venetianischen Capodistria anlegen, um 
eine Fahrterlaubnis zu erlangen und hohe Abgaben zu 
entrichten, andernfalls wurden die Waren sequestriert und 
das Schiff verbrannt. 

Dasfänderte-sich#erstr unter Kane VI «Br hat 1717 
die freie Schiffahrt in der Adria durchgesetzt und 1719 
Triest zum Freihafen erklärt. Handelsstraßen wurden ge- 
baut und zur Hebung des kaufmännischen Geistes Griechen 
berufen. Maria Theresia hat dann im Sinne ihres Vaters 
das Werk fortgesetzt. So ist Triest spät erst und nicht 
ganz aus sich selbst heraus zu führender Bedeutung ge- 
kommen. Von da an aber entwickelte es sich um so 
rascher, je mehr Venedig seinem Verderben entgegenging. 
Seine Einflußsphäre war gegeben durch den Weg der 
heutigen Südbahnlinie (Triest— Laibach— Marburg — 
Graz— Wien), die Loiblstraße und die Predilstraße, 
deren Fortsetzung ein schlechter, aber viel begangener 
Saumweg über den Mallnitzer Tauern in der Richtung 


32 Meereskunde. 


auf Salzburg war. Das ist ungefähr derselbe Weg, dem 
seit zwei Jahren die Tauernbahn folgt. Von der Südbahn- 
strecke zweigten auch die Straßen nach Ungarn ab, dessen 
Handel seither Fiume an sich gezogen hat. Jenseits der 
Drauquellen und von Salzburg westwärts war stets die Kon- 
kurrenz Venedigs zu groß, so wie dieses wieder die 
Gotthardstraße Genua überlassen mußte. Als 1857 die 
Südbahnlinie als erste über die Alpen geführt wurde, er- 
weiterte sich für einige Jahre das Attraktionsgebiet ge- 
waltig, aber der Bau anderer Alpenbahnen hat bald wieder 
die alten Zustände hergestellt. Ja vor der Erbauung der 
Tauernbahn waren selbst Oberkärnten, Salzburg und 
Oberösterreich, die doch seit Jahrhunderten mit Triest 
Handel trieben, strittiges Gebiet. Die wichtigste Erwer- 
bung der neu eröffneten Tauernbahn war Südbayern, das 
vielleicht durch die Val Sugana- und Mittenwaldbahn 
wieder teilweise verloren geht, weil schon vor ihrer 
Vollendung Triest und Venedig gleich weit von München 
entfernt sind. Ein Hauptziel der 1906 eröffneten Kara- 
wanken- und Pyhrnbahn, größere Teile Böhmens für 
Triest zu erobern, schlug ziemlich fehl, weil Hamburgs 
Einfluß hier nach wie vor unerschütterlich ist. (Vgl. 
Abbild. 10.) 

Damit berühren wir schon jene Nachteile, die trotz 
aller Anstrengungen seitens der österreichischen Regierung 
und der Triester Kaufmannschaft eine Konkurrenz mit 
den norddeutschen Häfen erschwert. Unmittelbar hinter 
der Stadt Triest erhebt sich der Karst zu 300 bis 500 m 
Höhe; alle drei Bahnen, die landeinwärts führen, müssen 
Steigungen von 20 bis 300/,, überwinden und in Umwegen 
das Plateau erklimmen. Das nächste Hinterland ist rauh 
und arm, der maritime Einfluß ist in Laibach und Agram 
jenseits des Karstwalles kaum mehr zu spüren. Die öst- 
lichen Alpenländer und Südwestungarn sind wenig in- 


Die Häfen der Adria. 33 
dustriell und nicht sehr dicht bewohnt; die einen liefern 
Holz, die anderen Getreide, beide brauchen aber nur 
wenig überseeische Massengüter. Wo die Industriegebiete 
Österreichs ausgedehnter werden, da sind wir 300 km in 
der Luftlinie, über 500 km der Bahnstrecke von Triest 
entfernt. Die reichsten Gebiete, Nordböhmen, Nord- 
mähren und Schlesien gravitieren über die Zollgrenze 
nach Deutschland, mit dem sie auch auf billigen Wasser- 
wegen verbunden sind. Besonders die Elbeschiffahrt macht 
alle Ausnahmstarife zugunsten Triests illusorisch. 

Übrigens macht sich die Konkurrenz der Nordsee- 
häfen auch Venedig und Genua, selbst Marseille gegen- 
über bemerkbar, obwohl diese ein reicheres Hinterland 
und gewiß nicht schwierigere Verbindungen haben. Sie 
erklärt sich aus der größeren Vielseitigkeit im Verkehr 
der nordatlantischen Häfen, die alle auch im Export sehr 
Bedeutendes leisten. Daß die Mittelmeerhäfen überwiegend 
Importhäfen sind, bewirkt eine überflüssig lange Wartezeit 
der Schiffe in der Heimat, die Spärlichkeit der Rückfracht 
und eine dadurch bedingte Verteuerung des Betriebes. 
Die höheren Tarife und die selteneren Verschiffungs- 
gelegenheiten schrecken aber den Exporteur ab. 

Auch die Hafenanl:gen (Abbild. ı 1) sind bescheidener 
als an der Nordsee. Doch hat Triest den besten und größten 
Hafen in der Adria und ist auf dem Wege, auchGenua wieder 
zu überflügeln, das trotz seiner gewaltigen Anstrengungen, 
den führenden Platz zu behaupten, bald am Raummangel die 
Grenzen seiner Entwicklung finden dürfte. Die Natur hat 
allerdings wenig dazu beigetragen, den Hafen auszugestalten, 
und es gibt sehr viele bessere Naturhäfen in der Adria, 
als es Triest und Fiume sind. Ursprünglich bestand nur 
eine offene Reede, und da, wo sich heute die Neustadt 
erhebt, gab es Salzgärten. Unter Karl VI. und Maria 
Theresia entstand der bescheidene Stadthafen, der vor 


34 Meereskunde. 


Abbild. ıı. Der Hafen von Triest. 


(Nach der österreichischen Seekarte.) 


dem Scirocco durchs Vorgebirge von S. Andrea ge- 
schützt war. Er genügte bis zur Eröffnung der ersten 
Bahnlinie 1857. Leider versäumte man damals, weil auch 
Venedig Österreichisch war, an eine Erweiterung des Hafens 
zu schreiten. Als man mit dem Bau des Freihafens im 
Norden der Stadt 1867 begann, war es’ zu spät. Der 
Hafen war bei der Eröffnung des Suezkanals nicht 
fertig, wohl aber entstanden nacheinander eine Reihe 


Die Häfen der Adria. 


(05) 
In 


von Alpenbahnen, die anderen Orten einen Vorsprung 
sicherten. 

Dennoch wuchs der Verkehr, und a!s 1885 der Frei- 
hafen mit einem Kostenaufwand von 30 Mill. Kronen 
endlich fertig war, genügte er nicht mehr ganz den Be- 
dürfnissen. Auch zeigte es sich, daß er bei heftiger Bora 
den Landungsakt erschwerte. Man rastete indessen nicht. 
Die Verstaatlichung der Lagerhäuser (1894), Schiffahrts- 
subventionen und bescheidene Hafenerweiterungen zeigten 
vorteilhafte Wirkungen; seit 1887 nimmt der Schiffsverkehr 
beständig zu. Er wuchs von 1887 bis 1905 um 1,6 Mill. 
Tonnen, während er in den 84 Jahren von 1803 bis 1887 - 
nur um 1,4 Mill. Tonnen zunahm. (Vgl. dazu die Ent- 
wicklung des Warenverkehrs, Abbild. 12.) Mehr als in den 
meisten großen Hafenstädten der Erde hat die Regierung 
zum Aufschwung ihres Handelsplatzes beigetragen, und 
während Hamburg auf seine eigenen Kosten den ganzen 
Betrieb und Sicherheitsdienst auf der unteren Elbe be- 
streitet, hat die Stadt Triest relativ sehr wenig zum Aus- 
bau ihres Hafens beigetragen. 

Im letzten Jahrzehnt entstand auch die seit langem 
erstrebte zweite Bahnverbindung mit dem Norden. Ein 
gemeinsamer Strang führt über Görz und Assling bis 
zum Nordfuß der Karawanken; dann erfolgt eine Ver- 
zweigung. Der eine Ast führt über Villach und Gastein 
nach Salzburg zum Anschluß an Bayern, der andere 
nordwärts über den Neumarkter Sattel nach Oberöster- 
reich und Böhmen. Leider ist die Bahnlinie der vielen tech- 
nischen Schwierigkeiten halber nur eingeleisiv. Zum Teil 
schon eröffnet, zum Teil noch im Bau ist die zweite Frei- 
hafenanlage im Süden der Stadt bei S. Andrea. Dieser 
Hafen kostet go Mill. Kronen, umfaßt außer langen Quai- 
mauern drei breite Moli und ist besser vor der Bora ge- 
schützt. Zum Schutz vor dem Scirocco wird nicht ein 


36 Meereskunde. 


langer Wellenbrecher gebaut wie beim alten Freihafen, 
sondern es sind drei kürzere geplant, die staffelförmig 
hintereinander stehen. Von ihnen ist erst einer (auf dem 
Plan voll ausgezogen) vollendet. Im Südosten der Stadt 
erwuchsen in den letzten 20 Jahren neben älteren Werften 
— erst relativ spät — größere Fabriksanlagen, wie Öl- 
und Petroleumraffinerien, Reisschälfabriken, Dampfmühlen 
und ein Hochofen, auf dem unter anderem griechische und 
spanische Erze geröstet werden. Als Heizmaterial dient 
größtenteils englische Kohle. Die Stadt zählt jetzt 220000 
Einwohner. 

Der Aufschwung Triests ist um so bemerkenswerter, 
als seit 1867 die Ungarn alles daran setzten, ihren nationalen 
Hafen Fiume (40000 Einwohner) auszugestalten. Auch 
dieser Hafen nahm seine Anfänge in den Tagen Karls VI.; 
aber er blieb lange nichts als ein Flußhafen sehr be- 
scheidenen Umfanges an der Stelle, wo heute kleine Segler 
Holz einladen. Die hier völlig glatt verlaufende Küste ist 
ganz ungeschützt; ungehindert prallen die Wogen bei 
Scirocco an, und die Bora pfeift mit aller Wucht durch 
die Gassen. Es gäbe in der Nähe bessere Häfen, das von 
Napoleon geförderte Porto Re und Buccari, aber die 
beiden Orte liegen in Kroatien, und die Ungarn mochten 
wohl befürchten, daß sie darüber nicht so frei verfügen 
können. Ihnen selbst gehörte nur das kleine Fleckchen 
Landes, kaum 4 km Küste, seitdem ihnen Fiume und 
Gebiet 1779 von Maria Theresia geschenkt worden war. 

Zu den Übelständen gehört noch, daß der Ort von 
Österreichisch Istrien besser zugänglich ist als von Ungarn 
her. Aber die Ungarn haben mit zäher Energie und 
großen Kosten alle Schwierigkeiten besiegt. Seit 1872 
entstand der 1700 m lange Wellenbrecher; 6 große Moli, 
davon 4 im Freigebiete, wurden geschaffen; früher als in 
Triest wurden die Grundlagen zu einer recht bedeutenden 


„Wert in Wert in 
tillionen Kronen. Millionen Kronen. 
1850 


1800 


1750 


1700 


1650 
1600 


Fer 
7 
EZ 


Darer nass e 


Das — EINFUHR, en AUSIEDIRR? GESAMT-WARENVERKEHR. 


Abbild. 12. Entwicklung des Warenverkehrs im Hafen von Triest 
1857 bis 1905. 
(Nach M. v. Engel.) 


[a 


Meereskunde. 


O2) 


Industrie (Torpedofabrik, Schiffswerfte, Reisschälfabriken, 
Papier-, Kakao-, Schokoladefabrik, Petroleumraffinerie usw.) 
gelegt. 1873 war die Südbahnstrecke St. Peter—Fiume 
fertiggestellt worden, schon 1874 wurde die ungarische 
Staatsbahnstrecke Budapest 


Agram — Karlstadt — Fiume 
beendet, die in großen Windungen angesichts des Meeres 
500 m hoch emporsteigen muß. Auch hier gibt es keinen 
Stillstand; schon spricht man von dem Bau einer zweiten 
Bahnlinie über den kroatischen Karst, und von sehr 
entfernten Wasserwerken soll elektrische Kraft bezogen 
werden.!) Das ungarische Litorale ist so ziemlich voll- 
ständig verbaut, es muß nun doch kroatisches Gestade 
herangezogen werden. 

Fiumes Aufschwung war innerhalb einiger Jahrzehnte 
ganz enorm. Es hat aber heute sein Attraktionsgebiet in 
streng nationalem Sinne abgegrenzt und kann den Triester 
Handel nicht mehr stark beeinflussen. Eher wird es selbst 
auf der Balkanhalbinsel einige Einbuße erleiden, wenn 
die geplante Donau—Adriabahn zustande kommt. Übrigens 
sind Fiume und Triest nicht in dem Maße Konkurrenten, 
als es scheinen mag. Ungarn, das selbst eine östliche 
Macht ist, gravitiert, wie R. Sieger hervorgehoben hat, in 
seinen Handelsbestrebungen gegen Westen. Die größte 
ungarische Schiffahrtsgesellschaft »Adria« läßt vornehmlich 
italienische, französische und spanische Häfen anlaufen, 
während der österreichische Lloyd nach wie vor im nahen 
und fernen Orient Geltung zu erhalten sucht. Auch den 
Auswandererverkehr nach Amerika hat Fiume früher an 
sich gezogen als Triest. 

Diese Verschiedenheiten ergeben sich aus der anders 
gestalteten Handelstendenz der beiden Staaten. Fiume, 
dessen Gesamthandel sich heute auf etwa 650 Mill. Kronen 


!) Die für Triest und Fiume in Erwägung gezogenen Kanal- 
projekte lassen wir, weil zunächst nicht realisierbar, außer Betracht. 


Die Häfen der Adria. 9 


(095) 


beläuft, hat in vollem Gegensatz zu den meisten Mittel- 
meerhäfen mehr Ausfuhr als Einfuhr. In beiden Zweigen 
der Handelsbewegung stehen Rohprodukte oder Halb- 
fabrikate voran, in der Einfuhr früher Wein, jetzt Rohreis, 
Kohle, Jute usw., in der Ausfuhr Holz (Schnittholz, Faß- 
dauben), Zucker und Mehl. Mehl stand früher voran. 
In Triest, dessen Handelsbewegung immer noch dreimal 
so groß ist (1908 1958 Mill. Kronen), überwiegt wie in 
Genua, Marseille und Venedig die Einfuhr kolonialer Roh- 
produkte (Baumwolle, Häute, Kaffee, Reis, Öl usw.) die 
der industriellen Exportartikel, unter denen Textilwaren, 
Zucker, Glas und Papier genannt seien. 

Es ist hier nicht unsere Absicht, in rein kommerzielle 
Fragen tiefer einzudringen und umiangreichere statistische 
Belege zu bieten. Fassen wir vielmehr zusammen. Für 
Mitteleuropa erlangen nur Triest, Venedig und Fiume 
Bedeutung. Venedig wird, so lange nicht wesentliche 
Neubauten erstehen, keine führende Rolle erlangen können; 
Fiumes Machtgebiet liegt, wie wir gesehen haben, in 
Ungarn; Triests Einflußsphäre dehnt sich weit aus vom 
Iler und von der Altmühl bis ins Quellgebiet der 
Oder, doch vermag es Hamburg gegenüber keine wesent- 
lichen Vorteile zu erringen. Das mag in des Deutschen 
Reiches Hauptstadt mit Befriedigung vernommen werden. 
Aber nicht nur Süddeutschlands halber, das noch in die 
Sphäre der Adria fällt, darf den Bewohnern des Deutschen 
Reiches das Schicksal Triests nicht gleichgültig sein. Die 
deutschen Kaufleute, die dort heute schon eine große 
Zahl der ersten Handelshäuser leiten, gehen bewußt jene 
Bahnen, die unsere Nation zu höherem Glanz zu führen 
vermag. Sie sichern ihr, die sich die Nordsee und den 
Ozean gewonnen hat, auch das Mittelländische Meer und 
den Orient, unabhängig von der in fremdem Besitz be- 
findlichen Zugangsstraße von Gibraltar. Damit gelingt 


40 Meereskunde. 


den Deutschen das, was die Franzosen als den Vorzug 
ihres Landes betrachten, die Beherrschung zweier Meere, 
und wie in der Diplomatie ergibt sich auch im Handels- 
verkehr ein inniges Zusammengehen zwischen Österreich 
und Deutschland. Die Nordseehäfen und Triest sind 
nicht Gegner, sie ergänzen sich in dem Sinne, daß der 
Deutsche an beiden Ufern Europas herrsche, vom Meer 
zum Meere! 


Literatur. 

R. Sieger, Die Adria und ihre geographischen Beziehungen. Vortr, 
d. Ver. z. Verbr. naturw. Kenntnisse. 4I. Jg. 1901. 

A. Dorn, Die Seehäfen des Weltverkehres. 2 Bde. Wien 18g1ı. 

Th. Fischer, La penisola Italiana. Torino 1902. 

‚ Die nordadriatische Haffküste. Mittelmeerbilder, Neue Folge, 

Leipzig 1908. 

A. Supan, Österreich-Ungarn. Kirchhoffs Länderkunde v. Europa Il/r. 
Wien 1889. 

N. Krebs, Die Halbinsel Istrien. Geogr. Abhandl. IX/2, Leipzig 1907. 

Pr. Lanzoni, Il porto di Venezia. Verona 1895. 

M.v. Engel, Die Freihafengebiete in Österreich-Ungarn. Wien 1906. 

W. Bardas, Triest, sein Hafen und Verkehr. Österr. Rundschau I. 
1905. 

A. Neumann, Handelsmaritime und statistische Streifzüge. Österr. 
Rundschau VIII. 1906. 

M. Angelini, Nel Porto di Trieste, Ascoli 1908. 

B. Gonda, Der ungar. Seehandel und der Verkehr im Hafen von 
Fiume (mag.). Budapest 1906. 


SS) 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler & Sohn, 
Berlin SW, Kochstraße 68—71. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 


MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG ZEHNTES HEFT 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns 
um die Mitte des 19. Jahrhunderts. 


Aufzeichnungen des Segelschiffs-Kapitäns Georg Wilhelm Kroß. 
som 19. Juni 1910 verstarb zu Burg auf Fehmarn 

der frühere Schiffskapitän Georg Wilhelm 

Kre 2 1m7922 Eehensjahres Er hat dier Ruhe 
seines Alters dazu benutzt, einen kurzen Bericht über 
seine Seereisen zu geben, die ihn von seiner Jugend bis 
Alm lahrer 1868 aurn fast aller Meere den Rrde?seführt 
haben. Dieser Bericht bietet in seiner schlichten Sach- 
lichkeit eine solche Fülle von Tatsachen, die für das Ver- 
ständnis und die Beurteilung der Segelschiffahrt um die 
Mitte des vorigen Jahrhunderts dauernden Wert haben, 
daß ıhm gern ein Heft dieser Sammlung eingeräumt wor- 
den ist. Er wird dazu beitragen, die Achtung vor den 
Leistungen der alten Schiffergeneration zu erhalten, die 
noch ohne die Vermehrung und Verbesserung der tech- 
nischen und nautischen Hilfsmittel unserer Zeit ıhre 
Fahrten über den Ozean machte. 

Die Herren Kapitän Joachim Johannsen und Dr. Otto 
Johannsen, Sohn und Enkel von Kapitän Krob’ Schwester 
Katharina Johannsen, haben mit Erlaubnis von Frau 
Witwe Agnes Margareta Kroß in dankenswerter Weise 
die Herausgabe der Aufzeichnungen übernommen, wobei 
sie sich auf einige rein stilistische Abänderungen und auf 
Verbesserung kleiner Ungenauigkeiten beschränkt haben. 


Meereskunde, Vorträge. V. Ileft ro, I 


Meereskunde. 


5) 


Die Wasserwogen im Meer sind groß 
und brausen greulich; der Herr aber ist 
noch größer in der IHöhe. 

Psalm 93,4. 


ch bin am 9. August des Jahres 1818 zu Lemken- 
hafen auf Fehmarn geboren als der drittjüngste 


a unter den sieben Söhnen und drei Töchtern des 
Schiffers und Bootführers Joachim Kroß und seiner 
Ehefrau Anna Gertrude geb.’ Schau. Täglich die See 
vor den Augen, lernten wir schon in unserer Kindheit uns 
mit derselben zu befassen. Auch unsere drei Schwestern 
wurden alle an Seeschiffer verheiratet. 

In meinem dreizehnten Lebensjahr machte ich schon 
mit meinem Vater verschiedene Reisen nach Lübeck, und 
zwar auf einem kleinen Fahrzeug, das höchstens 60 Sack 
Weizen trug. Mitunter vertrat mich mein jüngerer 
Bruder August. Wenn ich zurückgeblieben war, mußte 
ich häufig mit einem Boot nach Heiligenhafen fahren. 
In Lemkenhafen wohnte nämlich damals ein Händler, 
welcher für Heiligenhafener Kaufleute Weizen aufkaufte. 
Die anderen Bootführer dorten waren alte Leute, die 
nicht gern nach Heiligenhafen fuhren. Natürlich be- 
geleitete mich der Kaufmann gewöhnlich auf dieser Fahrt, 
doch mitunter war ich auch allein. Wenn ich dann des 
Abends in der Dunkelheit zurückkam, stellte meine 
Mutter ein Licht vor das Fenster. Das war mein Weg- 
weiser, nach dem ich in Lemkenhafen einsegelte, denn 
Leuchtfeuer kannten wir damals auf Fehmarn nicht. 


Nach meiner Konfirmation im Jahre 1834 machte ich 
meine erste größere Reise mit meinem Bruder Heinrich, 
Kapitän des Wismaraner Schiffes „Germania“. Wir 
segelten im März vom Heimatshafen mit einer Ladung 
Getreide nach Rotterdam, von dorten in Ballast nach 
Archangel, zurück nach Amsterdam und dann in Ballast 
nach Wismar, 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 3 


Hier verließ ich die „Germania“ und ging auf die 
Wismaraner Brigg ‚Ceres“, Kapitän Malchin. Wir 
segelten im Oktober mit einer Getreideladung nach 
Oporto ab. In der Nordsee trafen wir stürmisches 
Wetter. Das Schiff begann Wasser zu ziehen, und die 
Ladung ging über. Wir liefen Harwich als Nothafen 
an. Die Ladung wurde neu verstaut und das Schiff 
nachgesehen, worauf wir die Reise fortsetzten. Bei Kap 
Finisterre sprang das Schiff bei gutem Wetter plötzlich 
leck. Wir mußten es in der Nacht vom 29. auf den 
30. November in den Booten verlassen. Mit lagesan- 
bruch war das Schiff verschwunden. Wir ruderten see- 
wärts. Die Küste war zwar in Sicht, aber überall stand 
Brandung. Unsere Bekleidung war dürftig, denn ein 
Sack mit Kleidungsstücken war in der Eile verloren ge- 
gangen. Unser Proviant bestand nur aus einem Sack 
Prot und einem kleinen Gebinde Branntwein. Doch wo die 
Not am größten ist, ist der liebe Gott am nächsten: des 
Nachmittags etwa 5 Uhr wurden wir von einem gleich- 
falls nach Oporto bestimmten englischen Schiffe aufge- 
nommen, wo wir liebevolle Pflege fanden. Am nächsten 
Tage trafen wir ein anderes englisches Schiff. Da unser 
Wasservorrat knapp war, übernahm dieses 5 Mann von 
uns, die dort ebenso freundlich aufgenommen wurden. 
Nach mehreren Tagen landeten wir alle glücklich in 
Oporto und erhielten durch das mecklenburgische Kon- 
sulat Logis am Lande. Im Frühjahr fuhr unser Kapitän, 
ein Mann und ich mit einem Wismaraner Schiffe als 
Passagiere nach Hamburg. Der Rest der Mannschaft 
hatte Beschäftigung gefunden. In Hamburg ange- 
kommen, empfand ich Sehnsucht nach den Eltern und 
reiste nach Haus, wo ich ohne Geld und Kleidung ankam. 
Dort erhielt ich die T’rauernachricht, daß ungefähr zu 
derselben Zeit, als wir Schiffbruch erlitten, mein dritt- 


1* 


4 Meereskunde. 


ältester Bruder zusammen mit der ganzen übrigen Mann- 
schaft des Lemkenhafener Schiffes „Fehmarn“, Kapitän 
H. Maaß, auf See geblieben war. 

Nach einiger Zeit reiste ich nach Lübeck und ließ 
mich auf der dort beheimateten Brigg ‚„Hebe“, Kapitän 
N. Heitmann, anmustern. Das Schiff fuhr zwischen 
lübeck und Petersburg, doch machten wir von Anfang 
Mai bis zum November 1835 nur zwei Reisen, da das 
Schiff im Sommer wegen Reparatur aufgelegt wurde. Im 
Winter weilte ich zu Hause. 

Im Frühjahr 1836 nahm ich Heuer auf dem Neu- 
städter Schiffe „Fortuna“, Kapitän Bernitt, mit dem 
ich Reisen in der Ost- und Nordsee machte. Gegen Weih- 
nachten wurde das Schiff in Neustadt aufgelegt, und ich 
reiste nach Haus, wo ich bis zum Frühjahr Navigations- 
unterricht nahm. Dann machte ich einige Reisen nach 
Bergen mit meinem Schwager, Kapitän M. Meislahn, 
bis dieser im September 1837 reparaturenhalber in Kiel 
sein Schiff auflegte. 

Ich reiste nach Hamburg, um endlich meine groben 
(iedanken auszuführen, die ich schon lange mit mir 
herumgetragen hatte, nämlich Reisen in andere Weltteile 
zu machen. So ging ich denn mit dem Hamburger Schiff 
„Johanna“, Kapitän Meyer, auf eine Reise nach Buenos 
Aires in See. Die Ladung bestand im Unterraum aus 
Steinkohlen und Futterage für 200 Schafe, für die im 
Zwischendeck Ställe eingerichtet waren. Von Buenos 
Aires segelten wir mit einer Ladung getrockneter Häute 
nach Rotterdam zurück. Hier mußte ich das Schiff krank- 
heitshalber verlassen. 

Nach meiner Genesung holte ich mir meine Sachen 
beim Hamburger Konsul ab und beschloß, einmal eine 
Reise mit einem holländischen Schiffe zu machen. Ich 
ließ mich auf der „Princess der Nederlanden“, Kapitän 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 5 


Overweg,anmustern und fuhr mit diesem Schiff nach 
Batavia. Dort erhielten wir -Order, in Padang an der 
Sumatraküste Ladung einzunehmen, mit der wir nach 
Rotterdam zurücksegelten. \on Rotterdam fuhr ich mit 
einem kleinen Schiffe wieder nach Hamburg, wo ich ım 
August 1839 ankam. 

Darauf machte ich mit der Hamburger Brigg „Os- 
mond“, Kapıtän Maiwing, eine Reise nach Lissabon 
und von dort mit einer Salzladung nach Rıo de Janeiro. 
— Nach Hamburg zurückgekehrt, ging ich auf das ameri- 
kanische Schiff „saltwedel“, Kapıtän Clark, um.die 
englische Sprache zu erlernen. Wir segelten in Ballast 
nach den Kap Verdischen Inseln, von dort mit einer Salz- 
ladung nach Montevideo, von Montevideo mit einer La- 
dung getrockneten Fleisches nach Bahia und Marahü und 
von dort mit einer Zuckerladung nach Hamburg zurück. 

Die nächste Reise machte ich mit der Hamburger 
Bark . Adler‘, Kapıtan Göttschau, üund’zwar von 
Hamburg nach Valparaiso. Bei Kap Horn mußten wir 
schwere Stürme bestehen, doch ohne Schaden zu erleiden. 
\Wir löschten einen Teil der Ladung zuerst in Valparaiso, 
dann ın Arıca und den Rest in Callao. Darauf fuhren wir 
von Iquique mit Salpeter nach Hamburg zurück. Dies 
war im Jahre 1842, dem Jahre des großen Hamburger 
Brandes. Ich war damals vierundzwanzig Jahre alt. 

Ich begab mich nun nach Tönning auf die Navi- 
gationsschule, wo ich im November das Steuermanns- 
examen bestand. Dann reiste ich nach Hamburg zurück. 
Der Unterricht hatte meine Ersparnisse verschlungen, 
und ich wollte deshalb den Winter über nicht in Hamburg 
bleiben. So ließ ich mich als Matrose auf dem Hamburger 
Vollschiff „Sophie“, Kapitän Wilcken, ein Fehma- 
raner, anmustern. Wir segelten in Ballast nach Habana 
und von dort via Matanzas nach Hamburg zurück. Darauf 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft ro. 2 


6 Meereskunde. 


ernannte mich Kapitän Wilcken zum zweiten Steuer- 
mann. 

Kapitän Wilcken erhielt von seinen Reedern das 
Kommando des neuen Schiffes „Adolph“, und ich ging 
mit auf dieses Schiff über. Die Reise ging in Ballast 
nach Cadix, von dort mit Salz nach Buenos Aires, wo 
wir ın der Revolutionszeit eintrafen und langen Aufent- 
halt hatten, weiter mit Fleisch nach Habana und endlich 
nach Matanzas, heimwärts bestimmt. Als wir am 10. Ok- 
tober 1844 segelfertig waren, trieb uns ein Orkan auf den 
Strand. Wir mußten reichlich die halbe Ladung löschen, 
um wieder flott zu kommen. Endlich segelten wir nach 
Hamburg ab. Als wir bei Helgoland ankamen, sahen 
wir, daß wir eiseshalber die Elbe nicht erreichen konnten. 
Wir lagen dort, bis Proviant und Wasser knapp wurde, 
und liefen dann Hull als Nothafen an. In den ersten 
Tagen des Februar gingen wir dann wieder in See, trafen 
viel Eis und kamen erst am 7. April in Hamburg an. Dies 
war in dem strengen Winter 1844 auf 1845. 

Ich besuchte dann die Hamburger Navigationsschule 
und bestand mein Schifferexamen mit Glanz. Nun waren 
die Ersparnisse wieder verbraucht, und ich mußte mır 
einen Posten suchen. Die Schiffahrt war flau. Nach 
einiger Zeit fand ich eine Stellung auf dem in Bremer- 
haven liegenden Norweger „Tricolor“, Kapitän v.Over- 
gau, ein Deutscher. Das Schiff war seit Jahren nicht 
zu Hause gewesen. Die Besatzung war aus vielen Nati- 
onen zusammengewürfelt, doch habe ich nie eine tüch- 
tigere und nettere Mannschaft an Bord gehabt. Kom- 
mandiert wurde englisch. Wir segelten mit Auswanderern 
und mehreren Kajütspassagieren nach New York und von 
da mit Stückgut nach Amsterdam. Die Rückreise brachte 
mir viel Arbeit und Sorgen. Mein Kapitän war ein guter 
und tüchtiger Mann, aber dem Trunke ergeben. Er kam 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 7 
häufig mehrere Tage lang nicht an Deck, und die Führung 
des Schitfes war ganz meine Sache. Trotzdem ging alles 
Püt-  Wirsckamen mach einer, Reise von 26, Tagen in 
Amsterdam an. Nachdem die Ladung gelöscht war, 
wollte ich das Schiff verlassen, wozu ich kontraktlich 
berechtigt war, denn der Kapitän hatte Order, mit dem 
Schiff nach dem Heımatshafen Tönsberg zu kommen, 
doch ließ ich mich gegen eine besondere Vergütung be- 
wegen, bis Tönsberg zu bleiben, wo wir Dezember 1845 
glücklich ankamen. Der Kapitän reiste gleich zu seiner 
dort in der Nähe wohnenden Familie. Ich traf nach 


einiger Zeit Schifftsgelegenheit nach Horsens — es war ein 
sehr milder Winter — und kam so nach Fehmarn, wo ich 


am ı. Februar 1846 an einem Sonntagabend nach einer 
Abwesenheit von reichlich 842 Jahren ankam. Die Freude 
des Wiedersehens war grob. 

Als ich nur einen Tag zu Hause gewesen war, er- 
hielt ich aber schon einen Gestellungsbefehl zur Marine- 
aushebung. Die Dänen erlaubten sich nämlich dies seit 
einigen Jahren. Aus dieser Beklemmung erlöste mich 
unser Nachbar, der Inhaber der Firma Jürgen Rahlf & 
Sohm.deren,Schif ‚Hiortensia,. Kapıtan P. Rickert, 
in Kiel liegend, keinen Steuermann erhalten konnte, weil 
man allen die Papiere abgenommen hatte. Doch ich 
besaß meine Papiere noch und konnte anmustern. Wir 
segelten ın Ballast nach Wismar, brachten von dort eine 
Ladung Gerste nach Schiedam und gingen dann in Ballast 
frachtsuchend in See. Am ersten Reisetage, es war am 
Gründonnerstag 1846, sprang das Schiff plötzlich leck. 
Wir mußten es innerhalb einer halben Stunde verlassen, 
und zwar im kleinen Boot, das uns nur notdürftig tragen 
konnte, denn das Großboot konnten wir so schnell nicht 
ins Wasser bringen. Ein in unserer Nähe segelndes 
Heiligenhafener Schiff, Kapitän Andersen, nahm uns 


Y 
y* 


3 Meereskunde. 


auf und landete uns in Vlissingen. Ich hatte all mein 
Zeug verloren und nur mein nautisches Instrument ge- 
rettet. Ich reiste über Land nach Amsterdam und von 
dort per Dampfer nach Hamburg. Eigentlich beabsich- 
tigte ich nicht schon wieder nach Hause zu reisen. Ich 
empfing aber einen Brief von unserer Mutter, daß unser 
Vater schwer:krank sei. So reiste ich denn nach Feh- 
marn.. Bald darauf starb unser guter Vater. Nachdem 
wir ihn zu Grabe geleitet hatten, reisten wir Brüder unter 
traurigem Abschied von unserer alten Mutter ab, um 
wieder Beschäftigung zu suchen. 

In Hamburg mußte ich lange warten, denn die Schiff- 
fahrt war ın diesem Sommer flau. Endlich bekam ich 
einen Posten auf der Hamburger Brigg „Wilhelmine“, 
Kapitän C. Bähr. Die Reise ging mit Auswanderern 
und Kajütspassagieren nach New York. Nach anfangs 
gutem Wetter trafen wir bei den Neu Fundland-Bänken 
am 1o. Oktober gerade mittags ı2 Uhr einen harten 
Orkan. Und dabei hatten wir diese große Anzahl 
Menschen an Bord. Wir mußten den Leuten die Luken 
über den Köpfen schalken. Unsere Segel gingen größten- 
teils verloren. Abends fanden wir Zeit, uns um die ein- 
gesperrten Menschen zu bekümmern. Von hinten durch 
die Proviantkammer gelangten wir ins Zwischendeck. 
Dort: herrschte eine ‚Luft, ‘daß ein Licht kaum nach: 
brannte.. Eine alte Frau, die schon vorher krank war, 
war gestorben. Am anderen Tage war schönes Wetter. 
Wir besserten alle Schäden, so gut es möglich war, aus 
und kamen glücklich in New York an. Von dort gingen 
wir mit einer Ladung Roggen nach Amsterdam in See. 
In New York waren 5 Mann desertiert, und wir hatten 
nur Ersatz für drei bekommen. Die Gagen waren hoch 
und Leute knapp. Wir hatten eine sehr stürmische Reise, 
doch meist günstigen Wind. Vor dem englischen Kanal 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 9 


auf etwa 13 W. L. mußten wir das Schiff der hohen 
See halber an den Wind legen. Als wir beilagen, kam 
eine furchtbare Sturzsee. Die Ladung schoß über. Das 
Schiff lag auf der Seite und wollte sich nicht wieder 
heben. Endlich gelang es, das Schiff vor den Wind zu 
bringen. Die Ladung war nach Steuerbord übergegangen 
und die Lee-Reling lag im Wasser. Wir stießen die 
Verschanzung mit Spieren weg, damit hinter derselben 
kein Wasser stehen bleiben konnte, und liefen dann von 
abends 8 Uhr bis zum nächsten Morgen immer recht vor 
dem Winde weg. Kompaßhaus, Großboot, Kambüse, 
alles war weggeschlagen. Weasservorrat blieb uns nur 
für einige Tage. Es war dies eine der härtesten Nächte, 
welche ich in allen Jahren auf See erlebt habe. Eine 
Sturzsee schlug mich über Bord, doch blieb ich in Tau- 
werk, das über den Bug hing, verwickelt hängen und 
konnte so wieder an Deck klettern. Auf dem Hinterdeck 
angekommen, fragte mich der zweite Steuermann: „Wo 
sind Sie so lange gewesen?“ Ich sagte: „Über Bord bin 
ich gewesen und doch gerettet.“ Am andern Tag wurde 
es gutes Wetter. Wir hatten den Kopf des Nachts zwar 
ein paarmal unter Wasser gehabt, aber schließlich hatten 
wir ihn doch oben behalten. Die Schäden wurden so gut 
wie möglich ausgebessert. Am Nachmittage sichteten 
wir noch die englische Küste und am nächsten Tage 
kamen wir in Cowes an. Da strenger Frost herrschte, 
hatten wir hier Zeit, das Schiff gründlich nachzusehen. 
Erst im März konnten wir Amsterdam erreichen, wo die 
Ladung Roggen trotz der stürmischen Reise in bestem 
Zustande gelöscht wurde. 

Wir gingen dann mit einer Ladung Raffınade von 
Amsterdam nach Ancona in Italien und von dort fracht- 
suchend in Ballast nach Triest. Hier schlossen wir Kon- 
trakt, eine Ladung Getreide von Enos (europäische 


Io Meereskunde. 


Türkei) nach der Nordsee zu bringen, Deal für Order. 
Nach der Ankunft in Enos oder vielmehr auf der Reede 
vor Enos — denn die Schiffe liegen dort über eine deut- 
sche Meile vom Lande — warfen wir den Ballast über 
Bord und wurden dann schnell beladen. Nach einer 
schönen Reise in Deal angekommen, erhielten wir Auf- 
trag, in Amsterdam zu löschen. Damals — es war im 
Jahre 1847 — herrschte besonders in Frankreich Hungers- 
not, da die Ernte .total mißraten war. Wir erzielten 
dadurch eine Fracht von ı Pfund Sterling pro ı englischen 
Quarter (zu 480 Pfund englisch gerechnet). Von Amster- 
dam gingen wir in Ballast nach Hartlepool und von dort 
mit Kohlen nach Hamburg. 

In Hamburg wurde eine neue Mannschaft ange- 
mustert, während ich beim Schiffe blieb. Die Reise ging 
zuerst in Ballast nach den Kap Verdischen Inseln und 
von: dort! mit Salz nach Santos. Wen Santos, worsıch 
einen Schulkollegen Jürgen Maaß aus Sartjendorf, 
Steuermann eines Hamburger Schiffes, traf, gingen wir 
mit Kaffee nach Hamburg. Sowohl auf der Hinreise wie 
auf der Rückfahrt hatten wir schönes Wetter. Im eng- 
lischen Kanal setzte uns ein Lotse von dem Kriege 
zwischen Deutschland und Dänemark in Kenntnis. Wir 
liefen Cowes an, um nicht in Feindeshände zu fallen. 
Dies war im Monat Juni. Nach dem Abschluß des 
Waffenstillstandes segelten wir dann im September nach 
Hamburg. 

Wir gingen dann mit einer neuen Mannschaft nach 
Angostura (Mittelamerika). Als Ballast hatten wir 
Ziegelsteine geladen. Diese wurden in Angostura ge- 
löscht und dann eine Tabakladung für Bremen überge- 
nommen. Über die Reise ist nichts Besonderes zu be- 
merken. Von Bremen segelten wir dann in Ballast nach 
Hamburg. 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 1 


Hier verließ ich die „Wilhelmine“ und ging auf die 
Altonaer Brigg „Catharine“, Kapitän Petersen, ein 
Fehmaraner. Das Schiff hatte eine große Reparatur ge- 
habt und war 2ı Fuß verlängert worden. An einem 
Montag kam ich an Bord, als noch kein Mast ım Schiff 
war, und am folgenden Mittwoch segelten wir schon 
aus dem Hamburger Hafen. Schleppdampfer konnten wir 
nämlich damals trotz der hohen Frachten nicht bezahlen. 
Wir fuhren nach Bremerhafen, um Passagiere für New 
York an Bord zu nehmen. Das Schiff wurde eiligst für 
Passagiere eingerichtet und Proviant eingenommen. Nach 
einigen Tagen war alles fertig. Aber der Waffenstill- 
stand lief ab, ohne daß die Passagiere kamen. Die Be- 
frachter mußten dem Schiffe eine bedeutende Entschädi- 
gung zahlen. So lagen wir ın Bremerhaven, bis nochmals 
Waffenstillstand geschlossen wurde. Darauf segelten wir 
in Ballast nach den Kap Verdischen Inseln, um für 
Reeders Rechnung eine Ladung Salz einzunehmen. Mit 
dieser segelten wir nach Bahia, wo das Salz verkauft 
wurde. Damals — es war im Jahre 1850 — brach in allen 
brasilianischen Häfen das gelbe Fieber aus. Wiır lagen 
noch am Löschplatz, kamen aber ziemlich gelinde davon, 
denn wir verloren nur vier Mann. Auf der ‚„Gloriosa‘“, 
die zu unserer Reederei gehörte, waren von 13 Mann 
nur noch der Kapıtän Tosby und sein Koch übrig. 
Binsestoßes englisches: -Schitt,. das -in "unserer Nahe 
lag, verlor 16 Mann. In den Hospitälern starben ver- 
hältnismäßig noch mehr Kranke, als wenn die Leute an 
Bord geblieben waren. Als endlich die Krankheit etwas 
abgenommen hatte, konnten wir mit der Ladung (Zucker 
in Kisten) nach Hamburg in See gehen. Die Reise verlief 
sehr glücklich, obgleich wir nur 9 Mann an Bord waren. 

Von Hamburg segelten wir mit einer Stückgutladung 
nebst zehn Kajütenpassagieren wieder nach Bahia, wo 


12 Meereskunde. 


wir nach einer schnellen Reise von 43 Tagen ankamen 
und alles fieberfrei fanden. Von dort fuhren wir nach 
der Kap Verdischen Insel Maio, wo wır Salz für Rio.de 
Janeiro einnahmen. In Rio luden wir dann Kaffee für 
Boston. Von dort segelten wir mit Stückgut nach 
Buenos Aires, weiter in Ballast nach Bahia, und endlich 
von dort mit einer Zuckerladung für Reeders Rechnung 
nach Hamburg, wo der Zucker, wie ich hörte, sehr 
vorteilhaft verkauft wurde. Dies war im Jahre 1852. 

Ich verließ darauf die „Catharina“ und ging auf die 
„Gloriosa“, welche jetzt Kapitän Klahn führte, denn 
Kapıtän Tosby war nach unserer Abreise noch in Bahia 
dem Fieber erlegen, und ruht mit seinem im Jahre 1850 
verstorbenen Steuermann in einem Grabe. Die Reise ging 
von Hamburg in Ballast nach Hartlepool und von dort 
mit Kohlen nach St. Vincent. Dann nahmen wir auf 
Maio Salz’ tur: Buenos Aires Tein.. Weiter einozersen 
Ballast nach Bahia und von Bahia mit Zucker nach 
Hamburg, wo wir nach 45 Tagen Reise ankamen. An 
einem Sonnabend des Junimonats 1853 liefen wir ın den 
Hamburger Hafen ein. 

Am andern Morgen kam der Seniorchef der Reederei, 
Herr ]. €.D! Dire ver mit seinem Sohne zz mern 
Bord und ernannte mich zum Kapitän des Schoners 
„l.ootse“. Vor der Abreise fuhr ich nöch einmal auf 
einige Tage zum Besuch meiner Familie nach Fehmarn 
und ging dann im August mit fünf Kajütenpassagieren 
nach Buenos Aires in See, wo wir nach einer Reise von 
59 Tagen wohlbehalten ankamen, gingen dann in Ballast 
frachtsuchend nach Bahia, erhielten hier Ladung für 
Bremerhaven, mußten leider auf dieselbe etwas warten 
und erreichten dann die Weser nach einer schnellen Reise. 
Eiseshalber mußten wir noch einige Tage vor der Weser 


liegen bleiben. 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 13 


Chinafahrten. 


In Bremerhaven empfing ich von meiner Reederei die 
Nachricht, daß das Schiff auf mehrere Jahre nach China 
verchartert sei. Daraufhin ließ ich mich durch einen 
Schleppdampfer nach Altona bringen, um das Schiff für 
die lange Reise instand zu setzen. Später verholten wir 
dass Schi nach” dem Hamburser Hafen. "Die Deute 
wurden angemustert. Stevermann und Zimmermann 
gingen wieder mit. Als das Schiff zu zwei Dritteln be- 
laden war, segelten wir nach Neumühlen unterhalb Al- 
tona, um dort den Rest der Ladung einzunehmen, nämlich 
Schießpulver in kleinen Tonnen von 50 Pfund. In Ham- 
burg war es schon vorher bekannt geworden, daß ıch eine 
große Menge Pulver laden sollte, und es waren mir die 
angemusterten Leute mehrmals wieder vom Schiff gelau- 
fen. Vor der Abfahrt nach Neumühlen nahm ich von 
meinem alten Reedenr Herın Dreyer Abschied. Seine 
lefzten \Worter habe ich) noch behalten; er sagte: „Ihr 
Schiff ist, wie Sie mir selbst sagten, gut ausgerüstet und 
ein gutes Seeschiff. Der liebe Gott sei mit Ihnen.“ 


Am 25. Juni des Jahres 1854 liefen wir aus der Elbe 
aus. Die Reise ging gut vonstatten. Doch beim Kap 
der guten Hoffnung mußten wir an einem hellen Vor- 
mittag bei gutem Wetter einen Mann über Bord verlieren. 
Später, zwischen den Inseln St. Paul und Amsterdam, 
brach ein Junge, den eine Sturzsee gegen einen Gegen- 
stand schlug, ein Bein. Ohne einen Arzt, doch nach An- 
leitung eines guten Buches, wurde das Bein von mir und 
dem Steuermann geschient und verbunden, während 
draußen ein starker Sturm wütete. Der Bengel lief nach 
S Wochen wieder gesund umher. Nach einer Reise von 
ııı Tagen passierten wir die Allasstraße zwischen den 
Inseln östlich von Java. Nach Kapitän Horsburghs 


195} 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft zo. 


14 Meereskunde. 


Segelanweisung*) ist Anfang Oktober die Route durch die 
Makassarstraße zu wählen. Zuerst hatten wir auch guten 
Wind, später aber viel Flaute, wodurch die Reise sehr 
verlängert wurde. Wir trafen ein großes spanisches 
Schiff, das von Liverpool nach Manila wollte. Bei Kap 
Donda an der Nordspitze von Celebes waren wir 20 Tage 
zusammen. Eines Nachts kamen wir außer Sicht. In der 
Sulusee trafen wir uns wieder und blieben dann zu- 
sammen, bis wir den Pacific erreichten. Nach einer Reise 
von 183 Tagen liefen wir in Hongkong, unserem Be- 
stimmungshafen, ein. Es war am ersten Weihnachts- 
tage 1854. 

Am anderen Tage segelten wir laut Order des Be- 
frachters nach Whampoa, um dort zu löschen. Dann 
segelten wir nach Hongkong zurück und löschten den für 
dort bestimmten "Teil der Ladung. Das Schiff wurde hier 
wieder gefüllt, um nach Schanghai zu gehen. Das war 
die erste Probereise gegen den strengen NO-Monsun, 
denn guten Wind nach Norden gibt es in dieser Jahres- 
zeit nicht. Trotzdem erreichten wir Schanghai nach einer 
schnellen Reise ‘von .217 Tagen; "Wir, waren mnedeg 
Altonaer Brigg ‚Conrad Heinrich“ gleichzeitig in See 
gegangen und überholten diese bedeutend. In Schanghai 
trat ein Befrachtungskontrakt in Kraft, wonach ich 
36 Monat für die Firma Wm. Pustau & Co. ın Monats- 
fracht fahren sollte. Wir segelten zunächst ın Ballast 
nach Ningpo und von dort mit Ladung nach Hongkong. 
Wir fuhren dann das ganze Jahr 1855 zwischen Hong- 
kong, Schanghai und Zwischenhäfen, ohne besonders 
Nennenswertes zu erleben, abgesehen von einigen Tagen, 
an denen wir in Furcht vor Piraten waren. 

Im Jahre 1856 behielten wir diese Fahrten bei. Doch 
nun kam ein heiber Tag: 


*) „India Directory“ by James Horsburgh, Vol. Il. 31 edition. 
London 1827, p. 417. 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 15 


Am Sonnabend vor Pfingsten waren wir von Tsching- 
hai leicht beladen in See gegangen. Am Morgen des 
Pfingstsonntages begegneten wir dem Hamburger Scho- 
Berk Kaust,.. Der! Kapıtan, mein Freund Suhlbergr 
signalisierte mir: „Vorsicht, Piraten!“ Zwischen den 
Inseln, die vor uns lagen, war ich noch nie hindurchge- 
kommen. Der Wind flaute ab. Da sahen wir, daß kleine 
Fahrzeuge vom Lande abkamen. Wir feuerten zuerst 
einen losen Schuß ab, und als die Fahrzeuge trotzdem 
näher kamen, schossen wir scharf.*) Darauf lagen die- 
selben still. Inzwischen trieben wir dem Strande immer 
näher. Hier konnten wir mit dem Fernrohr viele Men- 
schen stehen sehen. Ungefähr vier Seemeilen entfernt 
war freie See und frische Brise, Ein Engländer segelte 
dere. Ich heidte Sienal®,,Schitt ın Not“. "Das’englische 
Schiff drehte bei und setzte eiligst ein mit sieben Mann 
besetztes Boot aus, während wir eine Bugsierleine klar 
machten. Als das Boot anzog, kamen wir vom Lande 
frei, und bald waren wir mitten in der frischen Brise. 
Den Namen des englischen Schiffes habe ich vergessen. 
Der Kapitän hieß Brown. Wir trafen uns in Hong- 
kong wieder, und die Mannschaft wurde für diese Hilfe 
von der Firma Wm. Pustau & Co. gut belohnt. So habe 
ich nicht ohne Grund eine solche große Vorliebe für die 
englische Nation und werde mein Leben lang ein Freund 
der Engländer bleiben! 

Wir fuhren dann bis zum Juni des Jahres 1857 immer 
zwischen Macao, Whampoa, Hongkong und Schanghai 
sowie Zwischenhäfen. Mitte Juni segelten wir von 


®) Nachtrag: In meinem Befrachtungskontrakt war angegeben, 
welches Geschütz ich an Bord haben mußte. Auch mußte ich meine 
Leute im Schießen ausbilden und üben lassen. Mein zweiter Steuer- 
mann Christiansen, der in der dänischen Marine gedient hatte, war 
ein tüchtiger Kanonier. Das hat er am Pfingstsonntag 1856 bewiesen. 


2% 


16 Meereskunde. 


Schanghai mit einer Teeladung nach Sydnev auf Austra- 
lien ab. Auf dieser Reise passierten wir die Marshall- 
Inseln,*) die jetzt zu Deutschland gehören. Die Inseln 
sind so flach, daß es fast den Anschein hat, als wenn die 
Bäume aus dem Wasser wüchsen. — Auf dieser Reise 
hatten wir großes Glück. Wir sichteten zuerst die Austra- 
lische Küste bei Sandy Kap. Durch ungünstige Winde 
kamen wir dann wieder ziemlich weit von der Küste ah. 
Da kam eines Morgens mit Tagesanbruch ein starker 
Ostwind auf. Diese Ostwinde können dort zur Winters- 
zeit sehr heftig werden. Wir liefen also recht vor dem 
Winde dem Lande zu. Die Sonne hatte ich in den letzten 
Tagen nicht gesehen, da wir immer dicke Luft hatten. 
Unser Besteck war deshalb’ nicht ganz’ sıchen 22 
Morgen, es war 81, Uhr, erhielt ich eine Sonnenhöhe 
und um 91% Uhr eine zweite. - Ich berechnete mir den 
Kurs für Sydney Heads zu NWzW14)W. Den Abstand 
habe ich vergessen. Wir steuerten dann diesen Kurs. 
Inzwischen artete der Wind aus zum Sturm. Ein großes 
Bremer Schiff kam in meine Nähe und sıgnalisierte: 
„Sind Sie hier bekannt?“ Ich hatte Australien nie ge- 
sehen und konnte nichts antworten. Dazu hatte ich auch 
keine Zeit. Beidrehen wäre bei der leichten Ladung 
gefährlich gewesen. Auch hatte ich meine alten defekten 
Segel gesetzt. Gegen I Uhr mittags sahen wir plötzlich 
die hohe Küste vor uns und liefen dann mit unserem 
Kurs gerade in die enge Einsegelung hinein, die höch- 
stens I Seemeile weit ist, ohne einen Lotsen zu be- 
kommen. Wir warfen dann vor Sydney Anker. Es 
wehte jetzt so stark, daß meine Leute kaum die gerefften 
Segel bergen konnten. Am anderen Morgen war das 
Wetter wieder gut. Als ich mich zum Ladungsempfänger 
an Land begab, hörte ich die Nachricht, daß ein großes 


*) Route nach Horsburgh II, 390 u. 593. 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 17 


englisches Schiff in der Nacht vor der Einsegelung ge- 
scheitert sei. Es war dies die „F. Dunbar‘,*) Kapitän 
Green, aus London, mit 60 Passagieren an Bord. Nur 
ein Matrose wurde gerettet. Wir löschten dann die 
ladung in bestem Zustande und holten das Schiff auf ein 
Patent Slip, um das Kupfer nachzusehen, welches schon 
über drei Jahre alt war. Die Arbeit dauerte nur einen 
Tag. Wir nahmen nun Ladung ein für Singapur und 
eingen in Begleitung des amerikanischen Schiffes ‚The 
Janky Rainer“,*) Kapıtäan Stamman, ein Bremer, in 
See. An Bord des Amerikaners befand sich auch die 
Frau des Kapitäns. Wir wählten den Weg durch die 
Torresstraße, welche damals ein sehr gefährliches 
Fahrwasser war. In der ersten Nacht kamen wir ein- 
ander außer Sicht. Erst im SO-Passat trafen wir uns 
wieder. Am 18. Tage sichteten wir die Raine Island-Bake, 
einen hölzernen Turm, welchen die Engländer auf einem 
der Barrier Reefs erbaut haben, und gingen am Nach- 
mittag hinter der Mittelbank vor Anker. — Die guten 
Ankerplätze sind auf der Karte angegeben. — Sonst aber 
war das Fahrwasser damals noch schlecht ausgelotet. 
Wenn die Sonne des Nachmittags im Westen steht und 
blendet, ist man oft gezwungen, vor Anker zu gehen, 
denn die Untiefen müssen durch scharfen Ausguck von 
‘oben gesichtet werden. Weiterhin zwischen Australien 
und Neu Guinea ist das Fahrwasser rein, aber hier muß 
man sich vor den Eingeborenen hüten, den sogenannten 
Menschenfressern. Glücklicherweise weht hier gewöhn- 
lich frische Brise, die wir denn auch antrafen. Hinter 
der Torresstraße trifft man Booby Island. Dort befindet 
sich eine natürliche Höhle von etwa 30 Quadratfuß Inhalt. 
Hierin hält die englische Regierung immer Proviant und 


*) Schiffsname in der Handschrift nicht sicher zu lesen. 


18 Meereskunde. 


Wasser für Schiffbrüchige vorrätig. Man findet dort 
fast alles, sogar Zündhölzer sind vorhanden. Auch liegt 
dort ein Notizbuch, in welches die Schiffe Namen und 
Route einzeichnen. Das Buch wird im Frühjahr von der 
Regierung abgeholt und ein neues ausgelegt. Die Ein- 
geborenen kennen diese Insel nicht. Fast jedes Schiff 
ankert unter Booby Island und gibt, wenn irgend möglich, 
noch etwas von seinem Proviant ab. Als Lohn dafür hat 
man Gelegenheit, Schildkröten zu fangen. So erbeuteten 
auch wir ein sehr großes Tier. — Hinter Booby Island 
trennten wir uns. Die ‚„Janky Rainer‘ war nach Sura- 
baja bestimmt. Sie kam ın der Allasstraße auf Grund und 
mußte noch einen Schleppdampfer von Java zu Hilfe 
haben. Ich kam ohne Unfall nach Singapur. Dort nahm 
ich, nachdem das Schiff entlöscht war, Ladung für 
Schanghai und Makassar ein. In Makassar löschten wir 
den für diesen Platz bestimmten Teil der Ladung und 
füllten das Schiff für Schanghai wieder auf. In dieser 
Jahreszeit muß nach der Vorschrift der Kurs durch die 
Banda See, Molukken und Djilolostraße*) gewählt 
werden, um in den Pacific zu kommen. In der Djilolo- 
Passage trafen wir mit der Hamburger Bark ‚„Martaban“, 
Kapitän Müller, zusammen, die uns Neuigkeiten aus 
der Heimat mitteilte. Wir waren während der häufigen 
Windstillen oft beieinander an Bord. Ohne weiter Be- 
merkenswertes zu erleben, kamen wir dann glücklich in 
Schanghai an. Der Charter hatte nun reichlich 37 Mo- 
nate gedauert, und ich wollte jetzt nicht mehr in dieser 
Befrachtung fahren, sondern nun schnell noch mit dem 
günstigen Monsun aus dem chinesischen und indischen 
Ozean herauskommen. Wir luden eiligst für Hongkong 
und gingen von dort nach Macao, um für Europa zu 
laden. Mit Tee, Kaneel und dergl. segelten wir ab nach 


*) Horsburgh II, p. 456, während Dezember, Januar und Februar. 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 19 


Cowes für Order. Die Reise nahm einen guten Verlauf. 
\Vir passierten Kap der guten Hoffnung bei schönstem 
\Vetter, liefen St. Helena nur für drei Stunden an, um 
Wasser einzunehmen, und erreichten Cowes nach einer 
121 tägigen Reise. Eine englische Bark, die „Queen of 
Eve‘,*) trafen wir in der Bankastraße. Wir verloren uns 
in der ersten Nacht wieder aus den Augen. Dann waren 
wir zusammen bei St. Helena, verloren uns sofort wieder 
und trafen endlich zugleich in Cowes ein. Das englische 
Schiff steuerte schlecht. Es war ausgehend von China 
auf Grund gewesen. Sonst war es ein schönes Schiff. 
Wir erhielten beide Order, in Rotterdam zu löschen. Von 
dort ging ich in Ballast nach Altona. Traf auf der Reise 
noch meinen Freund Kapitän Encken, der mit mir 
zusammen an der chinesischen Küste gefahren hatte, 
wieder ausgehend nach China. Wir waren von der Elbe 
aus die ersten ostasiatischen Küstenfahrer. — In Altona 
wurde ich von meinen Herren fröhlich empfangen nach 
der 49 Monate langen Reise. Von der Mannschaft kehrten 
zurück die beiden Steuerleute und mein inzwischen zum 
Matrosen avancierter Kajütsjunge. Er kehrte mit einem 
stattlichen Vollbart geschmückt zurück. Sein Vater kam 
zu uns an Bord und fragte mich: „Mein Sohn hat doch 
noch von Rotterdam geschrieben und ist ja gar nicht 


unter den Leuten?“ Das hörte der junge Mann — er 
stand ganz in unserer Nähe — und sagte: „Vadder, Du 
kennst Din eegen Jung nich wedder!‘“ — Am andern 


Tage wurde die Mannschaft abgemustert. Damit war die 
Reise vollendet. Es war am 30. Juli 1858. Ich war da- 
mals nahe an 40 Jahre alt. — Solche Reisen sind schön, 
aber erst, wenn sie vollendet sind. 

Die „Lootse‘“ bedurfte nach dieser langen Reise einer 
Reparatur und wurde in Altona auf die Helling ge- 


*) Schiffsname in der Handschrift nicht sicher zu lesen. 


20 Meereskunde. 


nommen. Inzwischen reiste ich zum Besuch meiner alten 
Mutter und meiner Verwandten nach Fehmarn. Ich hatte 
oft vorgehabt, mir hier eine Frau zu suchen. Aber nun 
kamen mir wieder Bedenken: Lieber ledig bleiben, als 
auf einer so langen Reise von der Gattin getrennt zu 
sein. So reiste ich wieder ab. Doch meine Gedanken 
weilten noch oft auf Fehmarn, besonders bei einer 
jungen Dame. Was ich nicht hatte sagen können, brachte 
ich zu Papier und sprach von dort aus die junge Dame 
an. Aber auf eine Antwort mußte ich lange warten. In- 
zwischen teilten mir meine Reeder den Wunsch mit, daß 
ich mit dem Schiff wieder nach China solle. Ich zögerte 
aber, da ich ja auf Anwort von Fehmarn wartete. End- 
lich willigte ich in eine Befrachtung nach Sydney ein. 
Bald darauf erhielt ich das Jawort von meiner. Braut. 
Doch die Fracht war angenommen und die Reise mußte 
angetreten werden. Meine Braut besuchte mich noch 
einige Tage in Altona, und dann ging ich am ı5. No- 
vember aus der Elbe. Das Schiff war in bestem Zustande. 
Meine Reeder erlaubten mir, auf die lange Reise einen 
Mann Besatzung mehr an Bord zu nehmen, so daß wir 
mit mir 10 Mann waren. Außerdem hatten wir zwei 
Passagiere. Wir hatten in der Nordsee und im Kanal 
gutes Wetter. An der portugiesischen Küste verloren 
wir am 29. November in einem schweren Sturm einen 
Mann über Bord. Dieser war mein 17 jähriger 
Neffe Joachim Mackeprang, einziger Sohn meiner 
Schwester Anna und ihres Ehemannes, des Schiffers 
Jakob Mackeprang. An eine Rettung war bei dem 
hohen Seegang nicht zu denken. Wir erreichten dann 
Sydney nach einer Reise von ııı Tagen. Dort nahmen 
wir Steinkohlen als Ballast ein und gingen damit fracht- 
suchend zunächst nach Makassar in See. Die Jahreszeit 
war für die Torresstraße reichlich früh, denn dort ist nur 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 2 | 


vom 15. April bis zum 15. Oktober günstige Segelgelegen- 
heit. Wir erreichten die Barrier Reefs am ı0. April 1859, 
und waren, wie ich auf Booby Island im Notizbuch sah, 
das erst vor vierzehn Tagen dorthin gebracht worden 
war, die ersten in diesem Jahr. Ich wagte es mit meinem 
kleinen Schiff ohne Begleitung diese Reise zu machen, 
weil ich erstens das Fahrwasser kannte, und weil ich 
zweitens die größte Vorsicht anwandte. Nach einer Reise 
won, 21 Tagen lief ich Makassar auf Celebes' fracht- 
suchend an, verkaufte die Steinkohlen sehr gut und er- 
hielt eine hohe Fracht für Macao. Nach nur zehntägigem 
Aufenthalt gingen wir nach Macao in See und hatten mit 
günstigem Monsun eine schnelle Reise. Von Macao 
gingen wir mit einer Ladung Kaneel nach dem nahe- 
liegenden Hafen von Hongkong, wo die Ladung in ein 
großes amerikanisches Schiff übergeladen wurde. Ich 
benutzte den Aufenthalt in Hongkong, um das beschä- 
digte Bugspriet meines Schiffes durch ein neues zu er- 
setzen. Dann nahm ich Fracht ein nach Amoy via 
Swatou. Wir verließen Hongkong am 29. Juni und 
hatten am nächsten Tage von 8 Uhr morgens bis ı2 Uhr 
mittags einen heftigen Taifun zu bestehen. Nachmittags, 
als es sichtig geworden war, sah ich drei Schiffe, die mit 
mir zugleich in See gegangen waren, mit gekappten 
Masten treiben. Ich verlor natürlich einige Segel, sonst 
nichts. Am folgenden Tage traf ich in Swatou ein und 
ging von dort, nachdem die Ladung für Swatou gelöscht 
war, nach .Amoy weiter. Hier traf ich meinen Bruder 
Ernst, damals Kapitän der Hamburger Brigg „Adolph“, 
den ich in neun Jahren nicht gesehen hatte, meinen 
Jugendfreund Hans Rauert aus Gammendorf, Kapitän 
Andreas Marten und noch andere Bekannte. Die 
Schiffahrt war flau, was ich sonst gar nicht kannte. 


Doch ich erhielt Fracht nach Tansui auf Formosa 


Meereskunde. 


19) 
DW 


und ging zugleich mit meinem Freund Rauert, der 
nach Takou auf Formosa bestimmt war, in See. Am 
30. Juli hatten wir einen schweren Taifun zu bestehen. 
Bei mir an Bord ging alles gut, denn die Anker hielten. 
Aber nach Amoy zurückgekehrt, erfuhr ich leider, daß 
Rauert an den Strand getrieben und von den Ein- 
geborenen ermordet worden war. Darauf nahm ich 
Fracht nach Takou (Formosa) und ließ mir durch einen 
englischen Kapitän namens Ronv, der dort Opium- 
handel trieb, meines Freundes Grab zeigen. Men 
Zimmermann verfertigte ein (Gedenkzeichen und ein 
Steuermann der Brigg ‚Stade‘ machte die Inschrift 
darauf. Dieses Denkmal wurde an einem Sonntagmorgen 
feierlich auf das Grab gesetzt. Weiß gestrichen, dient es 
zugleich den Schiffen als Einsegelungsmarke, doch ist, 
wie ich höre, von der betreffenden Reederei später ein 
schöneres (srabmal gesetzt worden. 

Von dort segelte ich beladen nach Hongkong. Hier 
schloß ich mit einer englischen Firma einen Monatscharter 
ab. Die Reise ging zuerst nach Futschoufu. Dort lud ich 
für Ningpo.' Es war zur Herbstzeit, Ende September. 
Einen Tag 'auf"See, : setzte starker Sturm aus NOren 
Ich ging zusammen mit der Apenrader „Mathilde“ unter 
den Inseln White Dogs zu Anker. Dort lagen wir einen 
Tag lang. Die Luft sah drohend aus, und das Barometer 
stand sehr niedrig. Ein Häfen war nicht zu erreichen. 
Des Nachts gingen wir beide unter Segel, um nicht auf 
den Strand zu treiben, wenn der Wind plötzlich um- 
springen sollte. Am anderen Tage sah ich die „Mathilde“ 
gegen den NO-Sturm kämpfen. Das Barometer fiel 
immer mehr. Nach Mitternacht artete der Wind zum 
Taifun*) aus, gegen ı2 Uhr mittags trat für einige Mi- 


*) Einer der gefürchteten Herbstäquinoktialtaifune. 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 23 


nuten totale Windstille ein. Es wurde ein wenig sichtiger 
und da sah ich, daß wir nur etwa eine Seemeile von der 
Nordspitze von Formosa entfernt waren. Dann kam der 
Wind mit derselben Heftigkeit aus SW. Wir setzten 
ein kleines Segel, das uns noch geblieben war, bei, um 
das Schiff vor den Wind nach NO zu bringen. Hätte der 
Taifun eine Stunde länger aus NO angehalten, so wäre es 
schlecht um uns bestellt gewesen. Nachmittags um 4 Uhr 
wurde das Wetter gut, und wir konnten mehr Segel 
setzen. Nachts passierten wir bei hellem Mondschein 
ein siamesisches Schiff, Kapitän Adams, ein Deutscher. 
Meine diesem angebotene Hilfe wurde abgelehnt, da sich 
das Schiff dicht bei einem Hafen befand. Am folgenden 
Tage trafen wir die dänische Brigg „Danevirke“, dessen 
Kapitän Mortensen mir befreundet war, mit ge- 
kapptem Großmast, doch sonst wohl behalten. Ich hatte 
ihn einige Stunden im Schlepptau. Dann brach die 
Trosse, und er verlangte meine Hilfe nicht mehr. Wir 
kamen glücklich in Ningpo an. Doch die „Mathilde“ ist 
auf dieser Reise verschollen, und man hat nie mehr etwas 
vor ıhr erfahren. 

In Ningpo nahmen wir Ladung für Hongkong ein, 
wo wir nach einer schönen Reise ankamen. Damit war 
der Charter abgelaufen. Ich schloß dann eine Befrachtung 
ab von Hongkong via Futschoufu nach Adelaide. Wir 
hatten zuerst eine harte Reise gegen den strengen NO- 
Monsun im November, kamen aber trotzdem ziemlich 
früh in Futschoufu an, wo ich noch einmal meinen Bruder 
Ernst traf. Nachdem dort die Ladung komplettiert war, 
segelten wir ab, in der Meinung, nun China endgültig ver- 
lassen zu haben, denn ich hoffte in Adelaide eine Fracht 
Mehl für Kap der guten Hoffnung oder Brasilien finden 
zu können. Nach einer schönen Reise kamen wir im 
März, das ist dort die Herbstzeit, des Jahres 1860 in 


24 Meereskunde. 


Adelaide an. Aber Ladung nach Europas Nähe war nicht 
zu bekommen. Es blieb mir daher nichts anderes übrig, 
als hier zu bleiben und die Braut noch ein Jahr oder länger 
warten zu lassen. Inzwischen wurden reiche Goldminen 
in der Nähe der SO-Spitze von Australien entdeckt. 
Eiligst wurde das Schiff für Auswanderer eingerichtet, 
und wir segelten mit diesen nach Twofold Bay, Cape 
Howe, ab. Nach einer Reise von elf Tagen kamen wir auf 
eınen Sonnabendabend dort zu Anker. Eine große Ein- 
nahme war erzielt. Am Sonntagmorgen gingen wir nach 
Newcastle (Australien) in See, um dort auf Reeders 
Rechnung eine Ladung Steinkohlen für Indien einzu- 
nehmen. Leider waren mir in der letzten Nacht im Hafen 
von Adelaide zwei Mann entwichen. So war ich denn 
von dort mit sieben Mann, mich eingeschlossen, in See 
gegangen, doch unter den Passagieren waren verschiedene 
Seeleute und wir hatten deshalb bis Twofold Bay Mann- 
schaft genug. Aber von dort bis Newcastle waren wir 
wieder nur sieben Mann an Bord; dabei war mein zweiter 
Steuermann noch krank. In Newcastle wurde die Passa- 
giereinrichtung herausgenommen und nebst Zubehör 
versteigert. In Newcastle lagen viele Schiffe, die mit 
Kohlen nach Indien durch die Torresstraße wollten, doch 
keiner der Kapitäne hatte dieses Fahrwasser passiert, 
und alle warteten auf den „lLootsen‘“, der ihnen den Weg 
zeigen sollte. 

Auf einem Sonnabend Vormittag nahm ich den Rest 
der Ladung ein. Ich klarierte aus, mein Steuermann hatte 
die Großluke gedichtet und das Großboot aufgesetzt. 
Doch vorn auf Deck lagen noch eine Menge Kohlen und 
das Schiff lag vorn viel zu tief. Anstatt der 220 eng- 
lischen Tonnen, die ich gekauft und bezahlt hatte, waren 
mir wohl 20 bis 30 Tonnen zuviel gegeben worden. Sowie 
wir die Barre passiert hatten, war das erste, die Kohlen 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 25 
über Bord zu werfen, bis das Schiff vorn hoch kam. Eın 
starker Sturm aus NO setzte ein. Doch konnten wir 
uns von der Küste freisegeln. Gegen Abend lagen wir 
schon unter Sturmsegeln. Die Flotte bestand noch aus 
sechs Schiffen. Die ‚„Lootse‘, war sehr schwer beladen 
und begann Wasser zu ziehen. In der Nacht wehte ein 
orkanartiger Sturm. Am Sonntag morgen wurde das 
Wetter heller, doch konnte ich keines der anderen Schiife 
sehen. In der folgenden Nacht steuerten wir mit günsti- 
gem Winde NNW-Kurs. Am Montag morgen sichteten 
wir dann zwei Schiffe, die auf demselben Kurs lagen, und 
erkannten bald, daß es zwei von unseren Kameraden 
waren, nämlich die Rotterdamer ‚„Käte‘ und ‚„Smaale- 
wood“ von Batavia. Ich hörte später, dab die drei anderen 
Schiffe, ein Engländer, ein Holländer und ein Franzose, 
den sicheren, aber wohl 30 Tage längeren Weg um die 
Südküste von Australien genommen hatten. Dieses Mal 
wählte ich auf Empfehlung eines englischen Kapitäns die 
Route Bligh Entrance. Wir kamen gut durch die Torres- 
straße. Nur kostete mich der zweite, übrigens nicht von 
mir ausgesuchte Ankerplatz einen Anker. Hinter der 
Torresstraße steuerte dann jeder seinen eigenen Kurs. Ich 
lief Surabaya an, um die Ladung dort zu verkaufen, er- 
hielt aber nur niedrige Angebote. Darauf schrieb ich an 
die Herren Puttfarken & Rheiner in Singapur, daß ich mit 
den Kohlen nach dort käme, und bei meiner Ankunft 
war die Ladung schon zu einem sehr guten Preise ver- 
kauft. — Ich hatte meinen kranken Steuermann in Sura- 
baya in das Hospital bringen müssen, wo derselbe später 
gestorben ist. Und so waren wir denn mit 6 Mann an 
Bord in Singapur angekommen. In Singapur konnte ich 
endlich meine Mannschaft komplettieren. Wir liefen dann 
rasch nach Whampoa. Nachdem die Ladung gelöscht 
war, ging ich ins Trockendock; denn ich befürchtete, daß 


26 Meereskunde. 


die Verkupferung gelitten hatte, weil ich in der Torres- 
straße Grund berührt hatte. Diese Vermutung stellte sich 
als richtig heraus. Nachdem das Schiff aus dem Dock 
kam, schloß ıch Fracht ab für London vıa Port Elisabeth, 
Kapkolonie; also endlich einmal nach Europa! In Hong- 
kong wurde die Ladung aufgefüllt. Hier ließ ich mich 
noch darauf ein, unter Garantie für etwaigen Schaden, 
einen kranken Passagier an Bord zu nehmen, einen Herrn 
Ballier aus Vegesack. Die Postdampfer beförderten 
nämlich damals keine Kranken. 

Im November 1860 segelten wir von Hongkong ab 
und liefen mit günstigem Monsun schnell Chinasee her- 
unter. In der Sundastraße trafen wir viel Windstille und 
Regen. Nach einigen Tagen lagen mehrere meiner Leute 
krank am Malariafieber darnieder. Von der uns beglei- 
tenden Hamburger Bark „Hermann“, Kapitän Kreuz- 
feldt, erhielt ich glücklicherweise noch etwas Medizin. 
Es war eine traurige Reise. Eigentlich waren nur drei 
gesunde Leute an Bord. Trotzdem erreichten wir glück- 
lich unseren Bestimmungsort. An einem Sonntagnach- 
mittag, nahe Port Elisabeth, mußten wir das Schiff bei- 
legen, um nicht während der Nacht mit dem stark süd- 
laufenden Strom am Hafen vorbeizutreiben. Um dieses 
Segelmanöver ausführen zu können, mußten inzwischen 
zwei Kranke das Ruder anfassen. Während der Nacht 
loteten wir die Küste an und liefen dann am folgenden 
Morgen in die Bai von Port Elisabeth ein. Dann legten 
wir das Schiff wieder bei, um die Ketten an Deck zu 
holen, einzuschäkeln und die Anker abzusetzen. Als alles 
klar war, steuerten wir bei starkem, auf die Küste wehen- 
den SO-Wind auf die dort ankernden Schiffe zu. Am 
Abend kamen wir zu Anker. Am Dienstag morgen war 
der Wind nach West gesprungen und blies nun seewärts. 
Zoll- und Quarantäneboote kamen längsseit. Die Leute 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 27 
waren alle an Deck, konnten aber teilweise nicht gehen. 
“Trotzdem gelang es mir, nicht in Quarantäne zu kommen. 
Darauf ließ ich die Schwerkranken ins Hospital bringen 
und nahm Hilfe vom Lande an, um das Schiff an den 
l.öschplatz zu verholen. Die für dort bestimmte Ladung 
wurde gelöscht und dafür Wolle eingenommen. Mein 
Passagier logierte während dieser Zeit im Hotel. Nach 
vier Wochen waren wir segelfertig. Meine Leute kamen 
wieder an Bord. Meist waren sechs Mann gleichzeitig 
im Hospital gewesen und doch betrug die ganze Rechnung 
einschließlich Arzt und Apotheker nur 5 Pfund Sterling 
— 2500 Mark: - Und...dabei--sind wir. Deutsche. immer 
Gegner Englands! — Ich habe an diesem englischen 
Platz viele Freunde zurückgelassen. 

Auf See verschlechterte sich der Zustarid meines 
Passagiers. Als wir St. Helena passierten, glaubte dieser, 
es würde wohl besser werden. Zwei Tage später mußte 
ich Ascension anlaufen, wo ein englisches Kriegsschiff 
lası Der Arzt kam gleich zu mir ‚an Bord.’ Da auf der 
Insel kein Arzt wohnt, riet dieser mir, den Kranken an 
Bord zu behalten. Ein Hospital gab es dort nicht und 
bei den Einwohnern war kein Unterkommen zu finden. 
Nach einem Aufenthalt von sechs Stunden segelten wir 
weiter. Die Reise war prachtvoll. Das: Wetter blieb 
immer gut. Doch Herr Ballier wurde von Tag zu Tag 
schwächer und auch mein Steuermann hatte wieder 
Fieber. — Von den Downs telegraphierte ich an Herrn 
Balliers Vater. Am anderen Tage kamen wır in London 
an, wo Herr Ballier Aufnahme im Deutschen Hospital 
fand. Von hier holte ihn sein Vater nach Haus, wo der- 
selbe leider nach einem Monat verstorben ist. Nachdenı 
das Schiff entlöscht war, wurden die fremden Leute ab- 
gemustert und die noch von Hamburg her an Bord be- 
findlichen nach dort geschickt. Ein anderer Kapitän mit 


28 Meereskunde. 


einer neuen Mannschaft kam von Hamburg. Ich wollte 
das Schiff nicht mehr fahren. Meinem Steuermann, einem 
Flensburger namens Hemmersen, hätte ich es gern 
gegönnt, doch dieser mußte fieberkrank mit mir nach 
Hause reisen. Später aber konnte ich ihn für seine guten 
Dienste belohnen, denn er wurde, als wir nach einigen 
Jahren in China waren, durch meine Empfehlung Kapitän 
eines großen amerikanischen Schiffes. 

Von Altona reiste ich nach Fehmarn, wo am 20. Juni 
ı861 meine Hochzeit stattfand. Ich nahm dann mit 
meiner jungen Frau meinen Wohnsitz in Altona. Von 
verschiedenen Reedereien wurden mir Schiffe angeboten, 
doch wollte ich meine alte Reederei nicht gern verlassen, 
zumal diese mir eın anderes, wenn möglich sogar neues 
Schiff versprochen hatte. Überdies hatte ich Zeit, denn 
mir war nach der langen Reise eine kleine Erholung nötig. 
(Gerade an meinem Geburtstage kauften dann die Reede- 
reien ]..E. D! Dreyer &;Sohn-und!G Hr & 7er arane 
durch den jungen Herrn Dreyer ein Schiff im Bau. 
Das Schiff lief am ı5. September vom Stapel und erhielt 
den Namen „Neuhof“. Es kostete mit Ausrüstung 
96 000 Mark Banco*) und war für damalige Verhältnisse 
ein ziemlich großes Schiff, denn es lud 500 bis 600 Tons. 
Das Schiff wurde von der Reiherstiegwerft, wo es gebaut 
war, nach Hamburg verholt und für Indien und China 
beladen. In den ersten Novembertagen tauete uns eın 
Schlepper nach Glückstadt, von wo wir bis Cuxhaven 
segelten. Dort gingen wir vor Anker, um am andern 
Morgen in See zu gehen. Der Wind wehte aus SSW. 
Es war eine dunkle regnerische Nacht. Um 2 Uhr war 
ich zufällig noch an Deck und konnte jetzt das Feuer von 
Cuxhaven hell sehen. Das Schiff lag vor der Flut, die 


*) 153 600 Deutsche Reichsmark. 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19, Jahrh. 29 


eben begonnen hatte. Als wir am andern Morgen zwischen 
51% und 6 Uhr den Anker lichten wollten, war der Anker 
fort. Die Kette war gebrochen und das Schiff saß auf 
Grund. Als es Tag wurde, begab ich mich an Land und 
requirierte einen Schleppdampfer, um das Schiff bei der 
nächsten Flut abzuziehen. Am Nachmittag oder Abend 
lag die „Neuhof“ wieder im flotten Wasser zu Anker. 
Der verlorene Anker war inzwischen aufgefischt worden. 
Der Wind war morgens hoch W gesprungen und die Flut 
war hoch gewesen. Deshalb lagen auch die anderen 
Schiffe noch vor Cuxhaven. Die „Neuhof“ war bei der 
Havarie dicht geblieben, und so konnte ich denn, mit 
Einwilligung der Assekuradeure, in See gehen. 

Es war am Morgen des 12. oder 13. November, als ich 
in Begleitung vieler Schiffe mit SSW-Wind aus der Elbe 
segelte. Die „Neuhof“ erwies sich als guter Segler und 
überholte fast die ganze Flotte. Gegen Abend frischte 
der Wind auf. Nach Mitternacht wurde es stürmisch. 
Um 5 Uhr morgens lagen wir schon unter dichtgerefften 
Segeln... Da ich befürchtete, daß der Wind nach NW 
laufen würde und wir nahe der Südküste waren, steuerten 
wir NW-Kurs, um noch eiligst See zu gewinnen. Bei 
Tagesanbruch hatte ich ein russisches Schiff, das mit mir 
aus Cuxhaven gesegelt war, an der Luvseite und die preu- 
Bische Korvette „Amazone‘“ in Lee. Beide Schiffe waren 
ziemlich in meiner Nähe. Die Korvette kannte ich genau, 
denn sie hatte mir in Hamburg längsseit gelegen. Ich 
ließ die Nationalflagge hissen. Der Russe antwortete, 
aber auf der Korvette kam keine Flagge zum Vorschein. 
Mein Steuermann stieg noch in den Besanmast, um das 
Schiff besser sehen zu können, und meldete mir, als er 
wieder auf Deck war, das Schiff läge ganz unter Wasser. 
Wir führten zu der Zeit noch die beiden dichtgerefften 
Marssegel und drei Stagsegel, während die „Amazone“ 


30 Meereskunde. 


nur das dichtgereffte Großmarssegel allein gesetzt hatte. 
So liefen wir der „Amazone‘“ bald davon und verloren sie 
aus Sicht. Der Wind kam nun schon aus WNW und 
bisweilen sogar aus NW. Wir mußten das Schiff hart 
pressen, um von den Untiefen frei zu bleiben. Zeitweilig 
zog sich der Wind nach W zurück; dann kam die hohe 
See fast von vorn, das Schiff vergrub sich förmlich in 
den Wellen, aber es kam immer wieder hoch. Der Sturm 
wurde immer heftiger. Zuletzt mußten wir das Groß- 
stengstagsegel und das Vormarssegel auch bergen. Da- 
bei kam ein Mann zu Schaden. Er war mit dem Kopf 
gegen einen der Befestigungspoller am Heck geschlagen 
und mußte verbunden werden, während ich alle Gedanken 
dem Schiff zu widmen hatte, denn wir bekamen immer 
flacheres Wasser. Abends zwischen 6 und 7 Uhr konnten 
wir wieder das Vormarssegel setzen. Wir banden ein 
neues Vorstengstagsegel an das Großstengstag und 
setzten auch dieses bei. Das Schiff lag fast immer unter 
Wasser. Es fing auch an Wasser zu ziehen, und eine 
Pumpe mußte beständig in Gang gehalten werden, doch 
sonst machte es sich gut. Neues Schiff und neues Gut, 
das segelt sich fein! — Um Mitternacht wurde das Wetter 
besser. Am nächsten Vormittag lief der Wind nach NO 
und wir setzten unseren Kurs auf den Kanal. In China 
hörte ich dann, daß die „Amazone“ in diesem Sturm 
untergegangen sei. Viele Jahre später las ich noch in 
einem Verzeichnis der untergegangenen preußischen 
Kriegsschiffe: „Amazone‘“, in einem Orkan am 14. oder 
15. November 1861. Aber ein richtiger Orkan in West- 
indien oder bei Mauritius, oder ein Taifun in China, die 
sehen noch ganz anders aus, da freut man sich, wenn das 
Schiff nur die Masten schleppen kann. 

Am fünften Tage, nachdem wir die Elbe verlassen, 
ließ ich den Verletzten durch ein englisches Lotsenboot 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 31 


nach Portsmouth bringen. Dort lag der Mann fast ein 
halbes Jahr im Hospital, bis er glücklich genesen war. 
Die Sache kostete dem Schiffe viel Geld. Ich habe den 
Mann mehrere Jahre später in Saigon als Steuermann auf 
einem Hamburger Schiffe getroffen. Nachdem die Weiter- 
reise dann ohne Störung verlaufen war, verloren wir 
auf 6° N-Br. und 25° W-L. in einem Wirbelwind beide 
Marsstengen und die Besanstenge; auch der Großmast 
erhielt einen Bruch. Wir brachten das Schiff unter Not- 
takelage, um einen Hafen aufzusuchen. Nach einer Reise 
von 53 Tagen liefen wir in Bahia als Nothafen ein. Dort 
wurde das Schiff neu geriggt, aber die Leckage konnte 
nicht behoben werden, weil dort kein Trockendock war. 
Das Geld für die Reparatur wurde mir auf Bodmerei ge- 
liehen. Nach einem Aufenthalt von 43 Tagen gingen wir 
wieder in See und erreichten Singapur nach weiteren 
58 Tagen. Dort löschten wir die Ladung in bestem Zu- 
stande, obwohl mir die Herren Empfänger es schon zu 
verstehen gegeben hatten, daß sie nichts Gutes erwarteten, 
und nahmen dann das Schiff der Leckage halber ins 
Trockendock. Hier wurde die Kupferhaut abgehauen, 
das Schiff kalfatert und neu gekupfert. Wir luden hier 
tür Hongkong, was reichliche Hilfskräfte schnell be- 
sorgten, und gingen dann in See. Wir hatten im SW- 
Monsun eine schnelle Reise, aber die ‚Neuhof‘ war 
noch ımmer leck, wenn auch nicht so stark wie früher. 
Von Hongkong gingen wir mit einer Ladung Reis nach 
Schanghai, wohin wir eine schnelle Reise hatten, und 
fuhren dann ununterbrochen an der chinesischen Küste. 

Im folgenden Jahre 1863 kamen wir in der Nacht von 
Östersonntag auf Ostermontag mit der Hamburger Bark 
„Notus“ in Kollision und mußten Schanghai als Nothafen 
anlaufen. Dort musterte ich meinen ersten Steuermann, 
der die Havarie verschuldet hatte, ab und machte 


32 Meereskunde. 


meinen zweiten Steuermann H. Wendt zum ersten. Wir 
setzten dann unsere Reise nach Tschifu fort. Von dort 
gingen wir nach Swatou, luden hier für Tientsin, wo die 
Ladung außerhalb der Taku-Barre zu löschen war, gingen 
von dort nach Niutschwang und fuhren dann an der Küste 
weiter, ohne Bemerkenswertes zu erleben. 

Im Januar 1864 segelte ich in Ballast von Swatou 
nach Hongkong, um Fracht nach Europa zu suchen, da 
das Schiff schon ım dritten” Jahr auf Reise war ak 
Hongkong schloß ich eine Fracht ab nach New York. Die 
Ladung war in Amov einzunehmen und der Satz betrug 
5&£ pro Tons a 50 engl. Kubikfuß.*) In Hongkong nahm 
ich noch 40 Tonnen Ballast, um eine schnelle Reise zu er- 
zielen, da mir die „Neuhof“ gegen den Monsun zu rank 
war. Nach 8 Tagen lief ich in Amoy ein, während ein 
etwas früher nach dort abgegangener Bremer 27 Tage 
Reise hatte. Auf dieser Fahrt kam ich dicht unter die 
Küste von Formosa bei Takou. Durch das Fernglas 
konnte ich deutlich das Denkmal sehen, welches wir 
unserm Freund Rauert im August 1859 gesetzt hatten. 
Am letzten Tage im Hafen von Amoy erfuhr ich leider 
noch aus der „Hamburger Börsenhalle‘“ den Tod meines 
Bruders Ernst. Dieser war am 3. Dezember 1864 an der 
holländischen Nordküste in einem schweren Sturm mit 


‘ 


dem Hamburger Vollschiff ‚Wilhelmsburg‘ gestrandet, 
das mit Auswanderern nach Australien bestimmt war. 
Die ganze Besatzung und auch dıe Passagiere wurden ge- 
rettet, Kapitän und Arzt aber nicht. Vor meiner Abreise 
mit der „Neuhof“ nach China waren wir Brüder noch in 


Hamburg zusammen. 


*) So in der Handschrift. Gemeint ist wohl, daß 5 & für ı ton 
— 1016 kg gezahlt wurden, und daß ı ton der betreffenden Ladung 
den Raum von 50 engl. Kubikfuß einnahm. (1 engl. Raumtonne 
hat nämlich nicht 50, sondern 40 Kubikfuß.) 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 33 


Von Amoy bis St. Helena hatte ich bei vieler Wind- 
stille im Indischen Ozean 72 Tage Reise und von dort 
nach New York 32 Tage Reise, was immerhin noch ganz 
schnell ist. 

In New York schloß ich eine Fracht ab für Bristol. 
Die Beladung dauerte sehr lange und die Fracht war sehr 
niedrig. Auf der Reise, in der schönsten Sommerzeit des 
Jahres 1864, passierte nichts Bemerkenswertes. Von Bristol 
ließ ıch das Schift durch einen Schleppdampfer nach 
Cardiff verholen und nahm dann dort Eisenbahnschienen 
und Steinkohlen für Hamburg cin. Aber damals war der 
Krieg zwischen Deutschland und Dänemark, und wir 
konnten deshalb erst im September nach Abschluß des 
Waffenstillstandes absegeln. In Cuxhaven lag die öster- 
reichische Flotte, die wir unter einer weißen Flagge un- 
gehindert passierten. 

In Hamburg wurde die Besatzung abgemustert, doch 
blieb der erste Steuermann Wendt an Bord und ein Ma- 
trose mit Examen D. Brockmann wurde zweiter 
Steuermann. Wir holten das Schiff ins Trockendock, um 
es neu zu kupfern, und um die noch immer vorhandene 
Leckage zu suchen. Als die Reparaturen beendet waren, 
fragten meine Herren Reeder in Berlin an, ob das Schiff 
unter preußischer Flagge fahren dürfte. Auf die Ge- 
nehmigung des Gesuches brauchten wir nicht lange zu 
warten. Mein Korrespondentreeder,*) der alte Herr 
Drever, wurde daraufhin noch vom König von 
Preußen mit dem Titel Kommerzienrat beehrt. 

Wir legten dann das Schiff in Ladung für Melbourne, 
erhielten aber wenig Ladung. Deshalb kauften die Reede- 


*) Ein Korrespondentreeder ist der die Geschäfte führende 
Leiter einer Partenreederei, d. i. eines Reedereibetriebes, an dem 
mehrere Personen mit je einer oder mehreren Parten (Anteilen) 
beteiligt sind. 


34 Meereskunde. 


reien noch 40 Stück Schafböcke und 100 Mutterschafe, 
um das Schiff zu füllen. In der Kajüte hatte ich fünf 
Passagiere, außerdem noch einige hinten im Zwischen- 
deck, während vorn dıe Schafe untergebracht waren. Am 
10. Dezember verließen wir Cuxhaven und liefen mit 
ziemlich günstigem Winde durch die Nordsee und den 
Kanal. Am Weihnachtsabend passierten wir eben vor 
Dunkelheit Madeira. Mit 47 Tagen sichteten wir Tristan 
da Cunha. Wir sprachen zu der Zeit ein englisches Schiff 
an, das von Liverpool nach Aden bestimmt war und schon 
67 Tage Reise hinter sich hatte. Später aber trafen wir 
viele leichte Winde und erreichten Melbourne um die 
Mitte der achtziger Tage. Passagiere und Schafe wurden 
an Land gebracht, der Rest der Futterage und die übrige 
Ladung gelöscht und dann Ballast eingenommen. Aber 
wohin sollte ich segeln? Von allen Seiten kamen un- 
günstige Nachrichten. So legte ich denn das Schiff im 
Strom an Williamstown Seite vor Anker, damit mir 
keine Leute desertierten, was zu befürchten war. Hier 
erfuhr ich, daß ın China Schiffe schon sechs Monate still 
lägen, und beschloß darauf, nach Valparaiso zu segeln. 


Leider hatte die „Neuhof“ für diese Reise etwas zu 
wenig Ballast, aber ich mußte fort. In der zweiten Nacht 
kam eine heftige Bö; sie zeigte mir erst, wie leichtfüßig 
meine „Neuhof“ war. Am nächsten Morgen nahmen wir 
die Vorbramstenge und die Großroyalraa an Deck. Alles 
was an Deck irgendwie Gewicht hatte, wurde im Raum 
verstaut. Das für die Schafe gelegte Zwischendeck wurde 
aufgebrochen und die Bretter zum Verstauen des Ballastes 
benutzt. Nachdem alle Mann den ganzen Tag über ge- 
arbeitet hatten, war alles zur Sicherheit des Schiffes ge- 
tan, was nur möglich war. Nachdem wir zwischen 50° 
und 60° S-Br. viele Stürme bestanden hatten, kamen 
wir nach einer schnellen Reise in Valparaiso an. Dort 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 35 


schloß ich eine Fracht ab, von den Chincha-Inseln Guano 
nach Hongkong zu bringen, mit der Bedingung, daß ich das 
Schiff vorher für Callao beladen dürfte. Meinen Ballast 
im Schiffe belassend, wurde ich schnell expediert. Von 
Callao segelte ich dann nach den Chincha-Inseln. Trotz 
des leicht geballasteten Schiffes hatte ich gegen den 
strengen Passat eine schnelle Reise. Ich überholte den 
Amerikaner ‚St. James“ und das Hamburger Schiff 
„Roman“ um mehrere Tage. Glücklich angekommen, ver- 
taueten wir das Schiff hinter Middle Island, warfen den 
Ballast, wie dort üblich, über Bord und begannen zu 
laden. Alles ging nach Wunsch, aber bald kam es anders. 
Es herrschte Revolution im Lande. Die Rebellen ge- 
langten in den Besitz der Inseln. Die Guanolager ge- 
hörten-nun der Regierung. Meine Befrachter in Lima 
hatten eine große Forderung an die Regierung und sollten 
dafür Guano erhalten. Nicht ich allein, nein, mehrere 
Schiffe waren von diesen Herren befrachtet. Als ich 
ungefähr 200 t übergenommen hatte, wurde mein Schiff 
gestoppt. Die anderen Schiffe hatten noch nichts an 
Bord, denn darum bemühten sich die Herren nicht. Der 
Gouverneur sagte mir eines Tages an, man würde mir das 
Ruder meines Schiffes aushaken, doch soweit kam es 
nicht. Als die Liegetage ungefähr zu Ende waren, begab 
ich mich nach Lima, um mit den Herren Befrachtern zu 
sprechen. Diese gaben mir eine Bescheinigung, sie 
würden ein Liegegeld, etwa Io Pfund Sterling für den 
Tag, an meine Agenten Lempke & Co. zahlen, bis das Schiff 
beladen sei. Auf Wunsch der Herren reiste ich noch 
einmal nach der fünf deutsche Meilen von den Inseln ent- 
fernten Stadt Pisco, um den Gouverneur zu bitten, die 
Beladung meines Schiffes zu ‚gestatten. Er antwortete, 
er hätte nichts gegen die preußische Flagge oder gegen 
mich, aber die Herren in Lima sollten die Ladung erst 


36 Meereskunde. 


bezahlen. Wenn nicht bald Zahlung für die schon über- 
nommenen 200 t käme, würden diese wieder gelöscht 
werden. Ich ließ ihm durch meinen Dolmetscher, einem 
Kopenhagener, antworten, das Schiff könne nicht leer 
stehen. Na, dann wollten sie die 200 t denn im Schiffe 
iassen. Zum Abschied bekamen wir noch ein schönes 
Glas Wein und zogen dann wieder an Bord. Als ich 
gerade 100 Tage an den Inseln gelegen hatte, bekam ich 
Order zu laden. Hilfe kam von allen Seiten, und mit 
103 Tagen war die „Neuhof“ beladen. Wie die Sache 
arrangiert worden ist, habe ich nie erfahren. An den 
Inseln lag ich 45 Tage ohne und 58 Tage mit Liegegeld, 
das mir mit 50 Dollars chilenischem Geld pro Tag be- 
zahlt wurde. Die Summe war leicht, aber langweilig 
verdient. Wir segelten dann ab für Callao, um auszu- 
klarieren und um Proviant und Wasser für die Reise zu 
ergänzen. An einem Sonnabend morgen um die Mitte des 
November 1865 gingen wir in der Bai von Callao vor 
Anker. Am Abend war alles klar, und Sonntags morgens 
um 6 Uhr segelten wir ab. Selbigen Tages wurde die 
Stadt Callao von den Rebellen genommen. 

Auf freier See wurden die Anker verstaut, wie auf 
langer Reise üblich, und die Ketten ausgeschäkelt und 
herabgelassen. Dann wurden alle Leesegel beigesetzt. 
Wir hatten stets leichte Winde. Dieser Ozean hat mit 
Recht von seinen spanischen Entdeckern den Namen das 
„Stille Meer‘ erhalten. Die Route läuft zwischen 16° 
und ı8° N-Br. Dort ist es ziemlich rein von Untiefen 
und unbekannten Inseln. So fuhren wir 60 Tage, bis wir 
Formosa sichteten. In dieser Zeit wurde kein Segel weg- 
genommen und die Brassen wurden kaum gerührt. Drei 
Tage später ankerten wir vor Hongkong. Dort erhielt 
ich dann Order, in Whampoa zu löschen. 


Von Whampoa segelte ich frachtsuchend nach Hong- 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 37 


kong. In China war das Geschäft flau. So bekam ich 
in Hongkong zwar Fracht nach Saigon hin und zurück, 
aber nur eine halbe Ladung. In Saigon ließ ich mir diesen 
Ausfall durch Erhöhung der Fracht um ein Drittel be- 
zahlen. Die Reise nach Saigon und wieder zurück betrug 
nur 6 Wochen. In Hongkong schloß ich dann für Monat 
Mai eine Fracht nach Callao ab zu 1500 Pfund Sterling, 
Ramsch-Charter, Ballast und Stauer frei. Vorher machte 
ich noch eiligst eine Reise nach Saigon und ging dann nach 
Whampoa, um dort für Callao zu laden. Der Rest der 
Ladung wurde in Hongkong eingenommen. Außerdem 
hatte ich drei Kajütspassagiere, einen Italiener und zwei 
Peruaner. Für diese Reise gibt es keine Aussichten auf 
schnelle Fahrt, denn man hat fortwährend gegen kon- 
trären Wind zu kämpfen. Das Wetter war im ganzen 
schön. Nach einer 103 tägigen Reise kamen wir wohl- 
behalten in Callao an. Dort hatte ich kontraktlich 
28 Tage Liegezeit, die auch voll benutzt wurden. 
Darauf schloß ich eine Fracht von Iquique nach Eng- 
land ab. Ich nahm gut Ballast ein und segelte dann ab nach 
Iquique. Trotz des widrigen Passatwindes hatten wir 
eme schnelles Reise. „In! Iquique: muß jedes” Schiff zdie 
l.adung mit eigenen Booten vom Lande abholen und an 
Bord bringen. Als wir diese Arbeit erledigt hatten, setzten 
wir unsere Reise fort. Es war um die Weihnachtszeit des 
Jahres 1866. Wir hatten sehr schöne Gelegenheit und 
erreichten Falmouth in 81 Tagen.”) Bei den Azoren 


we) 


sprachen wir die Hamburger Bark „Coquette an, als 


sie der „Neuhof“ in leichtem Winde vorbeilief. Das Schiff 


*) Zur Beurteilung dieser und der anderen Fahrzeiten vgl. man 
das „Segelhandbuch für den Stillen Ozean, herausgegeben von der 
Direktion der Deutschen Seewarte“, Hamburg 1897. 

**) Ein Modell dieses Schiffs befindet sich im Museum für 
Meereskunde. 


38 Meereskunde. 


war auch nach Falmouth bestimmt, aber nachher über- 
holten wir sie über eine Woche. In Falmouth erhielten 
wir Order nach London. Nach zwei Tagen gingen wir 
dorthin ab. Es war eine harte Reise, denn wir hatten 
immer gegen Ostwind zu kämpfen. Amo. Tage erhielten 
wir einen Themselotsen und am 10. liefen wir mit Hilfe 
eines Schleppdampfers in London ein, wo meine Frau 
schon einige Tage auf mich gewartet hatte. 

In London wurde die Salpeterladung gelöscht, und 
dann holten wir das Schiff ins Trockendock, um das 
Kupfer nachzusehen. Die Mannschaft wurde gleich ab- 
gemustert. Steuermann Wendt wollte weiter mit dem 
Schiff fahren, reiste aber inzwischen zu seiner Familie 
nach Altona. An Bord blieb nur ein Matrose. Während- 
dessen wurde die „Neuhof“ für Hobarttown, Vandiemens- 
land, beladen. Als das Schiff ungefähr fertig war, kehrte 
Wendt zurück, und eine neue Mannschaft kam von 
Altona bzw. wurde von mir in London angemustert. Die 
„Neuhof“ hatte eine schwere Ladung bekommen, nam- 
lich etwa 220 Tons Eisenbahnschienen, eine Menge Muni- 
tion und zum Schiuß unter der Großluke 3 Kanonen von 
je 8 Tons. An Passagieren hatten wir einen deutschen 
Herrn in der ersten Kajüte und 7 englische Frauen in 
der zweiten. Im Ganzen waren 23 Menschen an Bord. 

Im Kanal bei konträrem Winde gegen die hohe See 
arbeitend wurde das Schiff schon schwer leck. Sonst 
ging die Reise gut vonstatten, aber die Leckage wurde 
immer etwas stärker. Als wir auf etwa 40° S-Br. von 
der brasilianischen Küste mit hoher See ostwärts liefen, 
fanden wir so viel Wasser bei den Pumpen, daß wir Segel 
mindern mußten. Dadurch bekamen wir dann auch die 
Pumpen lenz. Als wir auf der Höhe von Simonstown 
am Kap waren, besprach ich die Sache noch einmal ernst- 
lich mit dem ersten Steuermann. Da aber unsere Leute 
ohne Murren pumpten, so glaubten wir beide, daß wir 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 39 


den Bestimmungshafen erreichen könnten. Wir be- 
schlossen den Kurs nicht zu weit nach Süden zu nehmen, 
um den Passat aufsuchen zu können, wenn die Leckage 
zu stark würde und wir uns unsern drei Booten anver- 
trauen müßten, die übrigens recht gut waren. Wir er- 
reichten dann glücklich Hobarttown ohne Unfall, aber 
meine Leute haben gepumpt! Als die „Neuhof“ am Pier 
lag, zog sie in 12 Stunden etwa 20 Zoll Wasser. Als die 
für Hobarttown bestimmte Ladung gelöscht war, nahmen 
wir ungefähr die Hälfte der Eisenbahnschienen, die nach 
Newcastle sollten, an Land und holten das Schiff auf ein 
Patent Slip. Als die „Neuhof“ trocken stand, sahen wir, 
daß das Schiff viel Kupfer verloren hatte. Das Werg 
hing an verschiedenen Stellen aus den Nähten. Das Schiff 
mußte gründlich repariert werden. Es wurde zum Teil 
neu verbolzt, erhielt neue Holznägel, wurde neu kalfatert 
und dann neu gekupfert. Der Baumeister, ein Engländer 
namens Roß, sagte zu mir: „Wenn das Schiff in vier 
Wochen, nachdem es mein Slip verlassen hat, noch leckt, 
so ist mein Name nicht Roß!“ Und das wurde Wahr- 
heit. — Dann nahmen wir die gelöschten Eisenbahn- 
schienen wieder ein. Ich ordnete meine Havariepapiere. 
Die Kosten, reichlich 700 £, konnte ich mit meiner 
Fracht decken. Weder Agenten der Hamburger Asse- 
kuradeure noch ein preußisches Konsulat war dort, 
doch der Agent des englischen Lloyd, ein alter Kapitän, 
stand mir sehr zur Seite und fertigte mir meine Papiere 
so aus, daß wir später eine sehr hohe Vergütung von den 
Hamburger Assekuradeuren bekamen. — In Newcastle 
NSW., löschten wir die Ladung und nahmen dann Stein- 
kohlen ein für Hongkong. Als wir tief beladen den Hafen 
verlassen wollten, konnte ich Herrn RoB mitteilen, 
daß die „Neuhof“ dicht sei. So hatte ich denn endlich ein 
dichtes, gut gekupfertes Schiff, und zwar für wenig Geld. 

Die Reise nach Hongkong verlief ohne Zwischenfall, 


40 Meereskunde. 


Dort schloß ich dann eine Fracht von Bangkok nach 
Falmouth für Order ab. Wir nahmen Ballast ein, er- 
hielten noch zwei Passagiere, einen Missionar mit seiner 
Frau, und kamen dann nach einer schnellen Reise vor 
Bangkok an. Außerhalb der Barre gingen wir vor Anker, 
denn laut Befrachtungskontrakt sollte die Ladung, Reis, 
hier längsseit geliefert werden. Ich begab mich mit den 
sogenannten Mietsbooten zur Stadt, die einige Meilen 
aufwärts liegt, klarierte das Schiff ein und meldete es 
ladefertig. Mein Gesundheitszustand war seit längerer 
Zeit schon recht schlecht. Ich blieb deshalb in Bangkok 
in ärztlicher Behandlung, während mein Steuermann den 
Ballast löschte. Nach einigen Tagen fühlte ich mich 
besser und begab mich wieder an Bord. Da aber das 
laden nur sehr langsam ging, weil viele Schiffe dort 
lagen, so kehrte ich, meiner Krankheit halber, nach Bang- 
kok zurück. Hier traf ich meine beiden Neffen Joachim 
und Heinrich Kroß, ersterer Kapitän eines groben sia- 
mesischen, letzterer Steuermann eines dortigen Schiffes. 

Als mir mein Steuermann Nachricht brachte, daß 
die „Neuhof“ belader sei, klarierte ich das Schiff aus un« 
begab mich dann an Bord. Leider war ich noch immer 
krank. Es handelte sich um ein leichtes Malariafieber. — 
Wir liefen Anjer auf Java an, um Proviant und Wasser 
zu ergänzen. In den indischen Gewässern trafen wir viel 
Windstille und schon ungünstigen Monsun. Sonst ver- 
lief die Reise glücklich und schnell. Nach 116 Tagen 
erreichten wir Falmouth, wo wir Order erhielten, in Liver- 
pool zu löschen. 

Von Falmouth schrieb ich an meine Herren Reeder, 
das Schiff bedürfe einiger leichten Reparaturen und deshalb 
möchten sie eine Fracht nach Hamburg abschließen. In 
Liverpool fand ich schon Order vor, die Reparaturen dort 
ausführen zu lassen. Auch war meine Frau schon auf 
deren Anraten nach Liverpool abgereist, denn das Schiff 


Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 41 


sollte gleich von Liverpool auf eine neue Reise ausgehen, 
nämlich in Ballast nach Cadıx segeln, von dort mit Salz 
nach Montevideo gehen, weiter nach Rangun und von 
Rangun mit Reis zurück nach Europa. Mein Gesund- 
heitszustand war noch immer schlecht. Ich bat deshalb 
die Herren, meinem Steuermann die Führung des Schiffes 
anzuvertrauen, damit ich meine Gesundheit pflegen könne, 
worin sie auch einwilligten. Am 20. September 1868 
übergab ich dann meinem langjährigen Steuermann 
H. Wendt das Kommando. Am 23. war das Schiff 
segeklfertie. Die Fuft!sahrdrohend aus, und’ich wollte 
nicht, daß Wendt absegelte. Da aber mehrere Schiffe 
in See gehen wollten, darunter ein Hamburger ‚Kap 
klorn , Kapitan Matsen, und Wendt durchaus nıcht 
zurückbleiben wollte, gab ich meine Einwilligung. Ich 
konnte das Schiff nicht eher verlassen, als bis der Schlepp- 
dampfer angehen wollte und schied dann mit betrübtem 
Herzen von der „Neuhof“, mit dem Wunsche, daß sie 
meinen Nachfolger auch glücklich über den Ozean bringen 
möchte. In der Nacht wehte ein heftiger Sturm. Am 
andern Morgen war ich schon mit Tagesanbruch an den 
Docks, um etwas. Neues, zu hosen; Bott traf ich ‘den 
l.otsen; er brachte mir noch einige Zeilen von meinem 
heben Wendt, und\sagte mir zu meiner. Freude, daß 
dieser seiner Ansicht nach sehr tüchtig sei, und daß er 
die „Neuhof“ sehr befriedigt verlassen habe. 

Ich ordnete dann meine Sachen und fuhr mit meiner 
Frau via Hull per Steamer nach Hamburg, wo ich bald 
einen Brief von Kapitän Wendt erhielt, daß die „Neu- 
hof“ nach einer neuntägigen Reise glücklich in Cadix an- 
gekommen sei. 

Hiermit waren meine Seefahrten zu Ende. 

Der Grund, welcher Kapitän Kroß zum Aufgeben 
der Seefahrt veranlaßte, war, wie oben gesagt, sein 


42 Meereskunde. 
schlechter Gesundheitszustand. Er litt einerseits an den 
Folgen der Malaria und anderseits an einer eigentüm- 
lichen Erkrankung, welche nach Ansicht namhafter Ärzte 
die Symptome der Bleivergiftung zeigte. Vermutlich war 
diese durch den Genuß von Regenwasser hervorgerufen, 
das, wie auf langen Reisen damals üblich, auf mit Blei- 
farben gestrichenen Flächen aufgefangen war. Das Vor- 
liegen einer Intoxikation wird dadurch wahrscheinlich, 
daß Kapitän Kroß nach Jahren von selbst gesund ge- 
worden ist und so in voller Frische ein selten hohes Alter 
erreicht hat. 

Mit 85 Jahren schrieb er noch an seinen Lebenser- 
innerungen, die im wesentlichen schon 1879 bearbeitet 
worden sind. Nun schläft er auf dem alten, hochgelegenen 
Burger Kirchhof, und die Seewinde, die so oft über sein 
Schiff dahingebraust sind, brausen jetzt über sein Grab. 


Altonaer Bark „Lootse‘‘ mit der dänischen Flagge, 
nach einem für Kapitän G.W.Kroß gemalten Bilde. 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn, 
Berlin SW., Kochstraße 68 —71. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 


MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG ELFTES HEFT 


Ferngespräche über See. 
Von Dr. A. Ebeling. 


eit langer Zeit ist es bekanntlich möglich, auf die 

weitesten Entfernungen hin telegraphische Nach- 

richten zu senden. Die Telegraphenlinien laufen 
teils über Land, teils über See. Über Land sind die Leitungen 
entweder als blanke Drähte auf Isolatoren an den Gestängen 
ausgespannt, die man z. B. längs der Eisenbahnen verfolgt, 
oder in Kabeln in die Erde verlegt; über See werden die 
telegraphischen Nachrichten, wenigstens dann, wenn es 
sich um größere Entfernungen handelt, durch Gutta- 
perchakabel vermittelt. Neuerdings hat auch die draht- 
lose Telegraphie umfangreiche Verwendung gefunden, bei 
ihr werden die telegraphischen Zeichen ohne Drahtver- 
mittlung durch die Luft übertragen. Die wichtigste An- 
wendung findet die drahtlose Telegraphie da, wo die ge- 
bende oder empfangende Station, oder auch beide, ihren 
Ort verändern, also z. B. für die Schiffahrt. Sind es auch 
bei der drahtlosen Telegraphie bereits heutzutage einige 
Tausende von Kilometern, also verhältnismäßig große 
Entfernungen, über die man sich telegraphisch verständi- 
gen kann, wenn man die erforderliche Energie zur Ver- 
fügung hat, so kann man für die drahtbenutzende Tele- 
graphie die Entfernungen, auf welche telegraphische 
Zeichen übertragen werden können, für unsere Erde als 
unbegrenzt bezeichnen. 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft ırz. I 


Meereskunde. 


[80) 


Anders liegt die Sache hinsichtlich der Entfernung 
der Sprachübertragung bei der Telephonie. Man konnte 
vor etwa Io Jahren, also am Ende des vorigen Jahrhun- 
derts, zwar über Land auf Freileitungen, d. h. auf blanken 
an Isolatoren ausgespannten Drähten, über etwa 1000 km 
telephonieren; aber von einem Fernsprechen über See 
konnte eigentlich kaum die Rede sein, weil Kabel eine 
telephonische Verständigung nicht über mehr als etwa 
50 km zuließen. Neuerdings ist es gelungen, auch draht- 
los eine telephonische Verständigung zu erzielen; doch 
sind die bisher gewonnenen Resultate mehr wissenschaft- 
lich interessant als praktisch verwendbar, so dab wir ver- 
zichten können, hier darauf einzugehen; es sei nur er- 
wähnt, daß die Einrichtungen, die für die drahtlose Tele- 
phonie erforderlich sind, zunächst noch so kompliziert 
sind, daß das drahtlose Telegraphieren einfacher ist. Wir 
beschränken uns deshalb im nachfolgenden auf das Fern- 
sprechen mit Draht. Auch so bietet unser Thema „Fern- 
gespräche über See‘ noch Stoff genug für unsere Be- 
trachtungen. Es wird sich zeigen, dab das neue Jahr- 
hundert die Entfernungen, über die man über See 
fernsprechen kann, nicht unbedeutend erweitert hat, dab 
man aber von so großen Entfernungen wie bei der Tele- 
graphie auch heute noch nicht reden kann. 

Welches ist nun der Grund, daß man auf sehr große 
Eintfernungen über See telegraphieren kann, und daß man 
noch vor kurzer Zeit nur durch verhältnismäßig sehr 
kurze Kabel telephonieren konnte? Die Antwort lautet: 
In der Telegraphie gibt und empfängt man einfache 
Zeichen objektiv mit Apparaten, in der Telephonie gibt 
und empfängt man subjektiv mit der Stimme und dem 
Ohr außerordentlich komplizierte Zeichen. In der Tele- 
geraphie kann man die Energiequelle, die Empfindlichkeit 
der Apparate und die Art der Zeichen weitgehend ver- 


Ferngespräche über See. 


nn 


ändern. In der Telephonie benutzt man zwar auch Appa- 
rate, die die Sprache in elektrische Schwingungen um- 
setzen und in akustische Schwingungen zurückformen: 
man kann also auch hier die Energiequellen und die 
Empfindlichkeit der Apparate ın gewissen (Grenzen ver- 
ändern, aber man ıst an die Art der Zeichen gebunden und 
muß mit der Geschicklichkeit des Menschen, zu sprechen 
und zu hören, rechnen. Beim Telegraphieren wird im all- 
gemeinen einfach die Spannung einer Batterie mit ge- 
wissen Unterbrechungen an die Leitung gelegt, und zwar 
ın den einfachen Fällen immer nur der eine Pol dieser 
Batterie, sonst je nach den Zeichen in verschiedenen Kombi- 
nationen nach- 
einander der 
positive und ne- 
gative Pol der 
Batterie. Daß 
beim Tele- 


phonieren sehr 
komplizierte Abb. 1. Morsezeichen. 

Zeichen fortzu- 

pflanzen sind, kann nicht wunderbar erscheinen, wenn 
man die Vielseitigkeit der menschlichen Sprache be- 
trachtet. Die ersten Abbildungen zeigen den starken 
Unterschied zwischen telegraphischen und telephonischen 
Zeichen, Die Zeichen “sind mit dem Siemens- 
schen Oscillographen aufgenommen, das ist ein Ap- 
parat, welcher seiner großen Empfindlichkeit wegen au- 
genblicklich den Änderungen der elektrischen Ströme 
folgt und gestattet, in einem durch diese Ströme elektro- 
magnetisch schnell bewegten Spiegel die Änderungen 
sichtbar zu machen und zu photographieren. Abbildung ı 
stellt ein Zeichen dar, wie es mit dem einfachen Tele- 
graphenapparat, dem Morseapparat, gewonnen wird. Der 


IF 


A Meereskunde. 


\nstieg der Kurve zeigt den Moment, wo die Batterie 
> > 


angelegt wird, dann sieht man, wie der Strom einge- 


Abb. 2. Vokal a. 


Abb. 3. Vokal e. 


Abb. 4. Vokal i. 


töne. Man sieht, daß schon 


bereits recht kompliziert sind. 


schaltet bleibt, 
und der Abfall 
der Kurve zeigt 
den Zeitpunkt, 
wo der Strom 
wieder geöffnet, 
also die Batterie 
von derLinie ab- 
genommen wird. 
Die nächsten 
Abbildungen, 2 
bis 76,22 zeisen 
einige einfache 
Zeichen der 
menschlichen 
Sprache, näm- 
lich die Vokale 
a,e,1,0,u, diean- 
genähert in der 
gleichen” "Ten: 
lage der Stimme 
gegeben sun? 
DerVokali zeigt 
die komplizier- 
teste Form, die 
spitzesten Zei- 
chen: das heißt, 
er enthält die 


meisten Ober- 


diese einfachsten Kurven 


Nun hat der Mathematiker Fourier gelehrt, daß 


Ferngespräche über See. 5 


auch die komplizierteste Schwingung aus einer Reihe ein- 
facher, sogenannter sinusförmiger Schwingungen zusam- 
mengesetzt ist, bzw. in solche zerlegt gedacht werden 
kann. Eine sol- 
che einfache 
Schwingung 
zeigt Abbild. 7. 
Jedermann weiß 
von dem Spiel 
zusammenge- 


setzter Schwin- 
gungen bei den Abb. 5. Vokal o. 
Wasserwellen 
her, daß, wenn 


auf See’ eine 
Reihe verschie- | 
dener Wellen 
über die Ober- 
flächelaufen und 
mehrere kleine 


Wellen : iner 
x ae a > Abb. 6. Vokal u. 
Stelle mit ihren 


Kämmen zu- 

sammentreffen, 

sie eine große 

Welle bilden. 

Jeder kennt das 

prächtige Bild 

der Wasser- Abb. 7. Sinusschwingung. 
wellenaufeinem 

ruhigen See; wenn ein Stein in das Wasser geworfen 
wird, so laufen die Wellen in einfachen Kreisen um 
die Erregungsstelle, wie Abbildung 8 zeigt, werden da- 


gegen zwei Steine in einiger Entfernung voneinander 


6 \eereskunde. 


in das Wasser geworfen (Abbildung 9), so laufen um 
jede Erregungsstelle die einfachen Kreise, aber da, wo 
die Kreise sich treffen, ent- 
stehen zusammengesetzte For- 
men. Dasselbe gilt von den 
elektrischen in «die ketune 
gesandten Schwingungen beim 
Fernsprechen. "Die einfachen 
Schwingungen entsprechen den 
einfachen Tönen, wie man sie 
etwa mit Stimmgabeln von 
verschiedener Tonhöhe hervor- 

rufen kann. 
Je höher der Ton ist, den 
Abb. 8. Einfaches Wellen- eine Stimmgabel gibt, um so 
system. erößer ist die Anzahl der 
Schwingungen ihrer Zinken 


in der Zeiteinheit, entsprechend groß auch die Anzahl der 
Stromwechsel, d. ı. der elektrischen Schwingungen in der 
Leitung, wenn 
einlonzeichen 
telephonisch 
weiter gege- 

ben wird. 
Einen kompli- 
zierten Klang 
können wiruns 

herstellen, 
wenn wir meh- 
Abb. 9. Doppeltes Wellensystem. rere „ 'Stimm- 
gabeln gleich- 


zeitig anschlagen. Bei einer Übertragung im Fernsprecher 
würden gleichzeitig die verschiedenen einfachen Schwin- 
gungen mit den ihnen eigentümlichen Schwingungszahlen 


erzeugt werden müssen. 


Ferngespräche über See. 7 


Nunchat kreimholtz festgestellt, dan alle-Ladte 
der menschlichen Stimme aus einer mehr oder weniger 
großen Zahl einfacher Schallschwingungen verschiedener 
Tonhöhe bestehen. Im allgemeinen liegen die in ‘der 
menschlichen Stimme maßgebenden Schwingungen unter- 
halb 1500 in der Sekunde und die Zahl 800 kann als mitt- 
lere Schwingungszahl betrachtet werden. Diese Schwin- 
gungen müssen nun beim Telephonieren ın Form von 
\Wechselströmen verschiedener Perioden über die Leitung 
fortgepflanzt werden, und zwar müssen alle möglichst 
gleichartig fortgepflanzt werden, damit die Sprache un- 
verändert bleibt. 

Um auf möglichst einfache Weise ein Urteil über die 
Schwierigkeiten zu gewinnen, die bei der Fortpflanzung 
der Telephonströme in Seekabeln entstehen, greifen wir 
wieder zu dem Beispiel von den Wasserwellen. Wenn 
‚wir einen Stein in den ruhigen See werfen, so sehen wir 
das Wasser dicht um die Erregungsstelle in lebhafter Be- 
wegung; mit zunehmender Entfernung, d. h., je größer die 
Kreise werden, um so niedriger werden die Wellen und 
schließlich vermag unser Auge keine \Wellenbewegung 
mehr wahrzunehmen. Das zeigt die Kurve in Abbil- 
dung 8. Wir nennen das Abnahme oder Dämpfung der 
Wellenbewegung. Eine solche Abnahme der Höhe der 
Wellen erscheint selbstverständlich: denn naturgemäß 
mub eine gewisse Arbeit geleistet werden, um die Wasser- 
teilchen in Bewegung zu setzen; die einzige geleistete 
Arbeit ist aber die durch den Stein hervorgerufene Be- 
wegung. Der Widerstand dagegen, daß die einmal her- 
vorgerufene Bewegung sich unverändert fortsetzt, liegt 
in der inneren Reibung der Flüssigkeitsteilchen. Diese 
Reibung ist bei verschiedenen Flüssigkeiten verschieden; 
bei Syrup ist diese beispielsweise so groß, daß eine 
Wellenbewegung überhaupt nicht auftritt, das heißt, die 


8 Meereskunde. 


Abnahme der Wellen und mithin die Dämpfung sehr groß 
ist. Verschieden starke konzentrierte Zuckerlösungen 
würden zwischen den beiden Grenzfällen Syrup und 
Wasser liegen, also die Wellen verschieden stark 
dämpfen. Hieraus erkennt man, daß das Material eine 
Rolle spielt, daß man also das Mittel an der Hand hat, 
durch Veränderung des Materials, hier durch Verdünnung 
der Zuckerlösung, die Dämpfung zu verringern, so dab 
die Wellen leichter sich fortpflanzen. 

Ähnlich sind nun die Umstände bei einem Kabel. 
Die Stärke des Leiters spielt zwar für die Fortpflanzung 
der elektrischen Wellen eine Rolle, insofern der Wider- 
stand gegen die Fortpflanzung um so größer ist, je dün- 
ner der Leiter ist, aber wesentlicher ist die isolierende 
Hülle für die mehr oder weniger leichte Fortpflanzung 
der Wellen bzw. für ihre Dämpfung. Die diesbezügliche 
Eigenschaft der Hülle, die bei Fernsprechkabeln Gutta- 
percha oder Papier ist, bezeichnet man als die Ladungs- 
kapazität, das heißt, als die Aufnahmefähigkeit für die 
Elektrizität. Wenn man eine elektrische Schwingung 
beispielsweise von 800 Perioden hat, was, wie wir sahen, 
als eine mittlere Periodenzahl der von der menschlichen 
Stimme herrührenden Schwingungen anzusehen ist, so 
muß die ısolierende Hülle in einer Sekunde 800 mal ab- 
wechselnd mit positiver und negativer Elektrizität ge- 
laden und entladen werden, und dadurch werden die 
Schwingungen entsprechend stark geschwächt, gedämptt. 
Man wird auch verstehen, daß diese Dämpfung für ver- 
schiedene Perioden verschieden ist; je größer die Perio- 
denzahl ist, um so stärker ist die Abschwächung. 
| Auch bei den Kabeln haben verschiedene Materialien 
verschiedene Ladefähigkeit. Von den beiden Materialien, 
die zur Isolation der Leiter bei Fernsprechkabeln haupt- 
sächlich benutzt werden, Papier und Guttapercha, ist 


Ferngespräche über See. 9 


Guttapercha sehr viel ungünstiger als Papier; anderseits 
ist Guttapercha wegen ihrer mechanischen Eigenschaften 
gerade zur Verwendung bei Seekabeln besonders ge- 
eignet. Nun hat man zwar die Möglichkeit, die Ladungs- 
kapazität dadurch zu verringern, daß man die Dicke der 
Guttaperchaschicht oder Papierschicht um den Leiter 
vergrößert, aber das kostet erstens Geld, und dann kann 
man viel dadurch auch nicht gewinnen. 

Da, wo man also aus mechanischen Gründen Gutta- 
perchakabel als Seekabel verlegen mußte, war man bald 
mit seinem Latein zu Ende; es waren nur schmale 
Meeresarme, die man mit Guttaperchakabeln für Fern- 
gespräche überbrücken konnte. Es zeigte sich aber auch, 
daß papierisolierte Kabel nicht viel besser waren, obwohl 
sie doch hinsichtlich der Ladungskapazität viel günstiger 
sind; man fand nämlich, daß die Sprache schlecht, dumpf 
und undeutlich wurde, sobald die Länge des Kabels nicht 
sehr gering war, und zwar deshalb, weil die Schwin- 
gungen verschiedener Periodenzahlen verschieden stark 
gedämpft werden. Die Erkenntnis der Gründe hat man 
jedoch erst neuerdings gewonnen. 

Nun hat man aber ein Mittel, ähnlich der vorher- 
erwähnten Verdünnung einer stark konzentrierten 
Zuckerlösung, auch bei den Leitungen in der Selbstinduk- 
tion des Leiters. Der Sachverhalt ist am leichtesten zu 
übersehen an Hand einer kleinen mathematischen Dar- 
stellung. Es ist nämlich die Dämpfung einer Leitung 
2W=sEC 
zu 
wo W den Widerstand, C die Kapazität und S die Selbst- 
induktion bedeuten. In Wirklichkeit ist der Ausdruck 
nicht ganz so einfach; man kann das aber annehmen. 


D 


Was heißt das? Die Dämpfung ist um so größer, je 
größer der Widerstand oder die Kapazität ist, bzw. um 
Meereskunde, Vorträge. V. Heft ır. 2 


Io Meereskunde. 


so kleiner, je kleiner diese Werte sind. Dagegen wird die 
Dämpfung um so kleiner, je größer die Selbstinduktion 
ist; denn wenn man anstatt S setzt 2 S, so ist der Wert 
von D nur halb so groß; denn bei 
WON EI ANEE 
S: RE2S 2 San 
Daß man durch Verringerung des Widerstandes und der 


Ss 2Ssusi2l) — 


Kapazität die Dämpfung verringern konnte, das wußte 
man schon früher, aber wie bereits gesagt, man kam 
damit nicht weit. Daß man in der Vergrößerung der 
Selbstinduktion ein Mittel zur Verringerung der Dämp- 
fung hat, ist auch schon eine Erkenntnis des vorigen 
Jahrhunderts, man wußte nur nicht, wie ‚man dies aus- 
führen sollte. Der erste, der klar die Bedeutung der Ver- 
erößerung der Selbstinduktion für Seekabel, was uns hier 
besonders interessiert, ausgesprochen hat, ist Heavi- 
Sal (dere, 

Nun hat jede Kabelleitung, die bei Fernsprechkabeln 
immer aus zwei Drähten besteht, eine gewisse Selbst- 
induktion; doch ist diese sehr gering und deshalb ist eben 
die Dämpfung sehr groß. Diese Selbstinduktion rührt da- 
von her, daß die beiden Leiter des Kabels eine Schleife 
bilden. Mit der Größe dieser Schleife nimmt die Selbst- 
induktion zu; man könnte also dadurch, daß man die 
beiden Drähte voneinander entfernt, die Selbstinduktion 
vergrößern; das ist aber bei Seekabeln sehr begrenzt. 
Nun weiß man aber, daß, wenn man in eine Drahtschleife 
einen Eisenkern bringt, die Selbstinduktion der Schleife 
bedeutend steigt. Man kann also auch die Selbstinduktion 
der Kabelschleife dadurch erhöhen, daß man Eisen hin- 
einbringt. Ein weiteres Mittel hat man dadurch, daß man 
eine Anzahl von Elektromagneten, das sind Eisenkerne, 
um die man Drahtschleifen herumwickelt, in die Kabel- 
schleife einschaltet. Beide Arten haben ihre Anwendung 


Ferngespräche über See. 1 


gefunden und haben zu einer bedeutenden Entwicklung 
der Fernsprechseekabel geführt. Bei der ersten Methode 
ist man, wie leicht einzusehen, beschränkt in der Menge 
der Selbstinduktion, die man hinzufügen kann, da die 
beiden Adern des Sprechkreises nahe beieinander liegen. 
In dem zweiten Fall dagegen ist man gewissermaßen 
unbeschränkt, jedoch hatte man keine Ahnung, wie man 
die Selbstinduktion in Form von Elektromagneten oder 
Selbstinduktionsspulen, wie man sie auch nennt, einfügen 
sollte. Die Lösung hierfür hat nun Professor Pupin 
gegeben; seine Lösung ist eine ebenso bedeutende wissen- 
schaftliche Leistung wie technische Förderung. 

Die endgültige Ausführungsform der ersten Methode, 
um .die sich die Herren Krarup und Breisig Ver- 
dienste erworben haben, besteht darin, daß um den Kupfer- 
leiter dünne Eisendrähte gewickelt werden in einer oder ın 
mehreren Lagen; abgesehen hiervon ist die Herstellung 
der Kabel die normale. 

Bei der zweiten Methode werden ringförmige Selbst- 
induktionsspulen in möglichst gleichmäßigen Abständen, 
die etwa ı bis 2 km bei Seekabeln betragen, nach be- 
stimmten Gesetzen eingeschaltet, die von Professor 
Pupin festgestellt sind; für die Wahl der Werte der 
Selbstinduktion und des Spulenabstandes spielt die Länge 
der in der menschlichen Sprache maßgebenden über die 
Leitung fortzupflanzenden Wellen eine Rolle. Wenn man 
die Spulen unrichtig in der Linie verteilt, so kommt man 
gegebenenfalls zu so ungünstigen Resultaten, daß man 
an Stelle einer Verbesserung eine Verschlechterung der 
Sprache herbeiführt. Welche bedeutende Verbesserung 
durch das richtige Einschalten von Spulen zu erzielen 
ist, kann man durch einen einfachen Versuch zeigen. Um 
Platz zu sparen, wird ein Kabel, das 50 Doppelleitungen 
enthält, auf eine Trommel aufgewickelt, und die 50 Dop- 


2° 


12 Meereskunde. 


pelleitungen werden hintereinander geschaltet, wodurch 
man also mit einem 500 m langen Kabel schon eineLeitung 
von 25 km Länge erhält. Es ist ferner eine Vorrichtung 
getroffen, um die Spulen in Abständen von ı km abwech- 
selnd ein- und auszuschalten. Den entfernten Telephon- 
apparat bringt man in einem Nebenraum an, um nicht 
direkt zu hören, und läßt an dieser Station jemanden 
sprechen. Man hört dann im Telephon, je nachdem die 
Spulen eingeschaltet 
sind oder nicht, eine 
laute deutliche oder 
eine leise stark wen 
zerrte Sprache. Durch 
ein lautsprechendesTe- 
lephon kann der Effekt 
einem ganzen Audi- 
torium gezeigt werden, 
wobei sich anstatt der 
Sprache noch besser 
die Töne eines musi- 
kalischen Instrumentes, 


Abb. ıo. Guttapercha-Seekabel. z. B. einer Trompete, 
eignen. 


Hiermit ist nun die wissenschaftliche Grundlage ge- 
wonnen, um die praktische Entwicklung der Seekabel für 
Fernsprechzwecke verfolgen zu können. Wie oben be- 
reits erwähnt, unterscheidet man die beiden Haupttypen: 
Guttaperchakabel und Bleikabel mit Papierisolation. 

Abbildung 10 zeigt den Querschnitt eines vieradrigen 
Guttapercha-Seekabels. Jede der vier Adern hat einen 
Kupferleiter, der aus mehreren Einzeldrähten besteht, die 
miteinander verseilt sind; einen einfachen Draht nimmt 
man bei Seekabeln im allgemeinen nicht, damit bei 
mechanischer Beanspruchung, wenn beispielsweise der 


Ferngespräche über See. 13 
Anker eines Schiffes am Kabel zerrt, möglichst verhindert 
wird, daß der Leiter ganz und gar unterbrochen ist; denn 
natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, daß etwa 7 Drähte 
an derselben Stelle Fehler haben und daher gleichzeitig 
zerreißen, viel geringer als die, daß ein einzelner Draht 
zerreißt. Dieser Kupferleiter wird nun mit Guttapercha, 
die durch Waschen, Kneten und Erwärmen in den er- 
forderlichen plastischen Zustand gebracht ist, und zwar 
gewöhnlich in mehreren Lagen, umpreßt. Vier solcher 
Guttaperchaadern, wie der Kabeltechniker das nennt, 
werden miteinander verseilt zur Kabelseele. Diese stellt 
den wesentlichen Teil des Kabels dar; die weiteren Teile 
dienen zum Schutze der Kabelseele gegen mechanische 
Angriffe. Der wesentliche Bestandteil dieses Schutzes 
ist die Armatur, die aus Eisendrähten besteht. Die Stärke 
der Armaturdrähte richtet sich nach der Größe der Ge- 
fahren, denen das Kabel ausgesetzt ist; je größer die 
Wahrscheinlichkeit von Angriffen durch Anker, durch 
Strömungen und dergleichen ist, um so stärkere Drähte 
finden Verwendung. In der Nähe der Küste liegen des- 
halb gewöhnlich Kabel mit sehr starker Armatur oder 
auch mit einer doppelten Armatur, wie sie Abbildung 10 
auch zeigt. Dagegen ist die Armatur der in der tiefen See 
liegenden Kabel sehr dünn; sie braucht nur so kräftig zu 
sein, daß sie beim Verlegen des Kabels ins Meer das Gewicht 
des eigenen Kabels trägt. Gegen etwaige Beschädigungen 
durch die Armatur selbst ist über den Adern eine Jute- 
schicht als Polster angebracht; bei zwei Armaturen liegt 
ein solches auch zwischen den Armaturen. Nach auben 
hin ist die Armatur dann noch in ein asphaltiertes Jute- 
polster eingebettet. 

Ein zum Fernsprechen bestimmtes Seekabel mit Gutta- 
perchaadern hat entweder zwei Adern, das heißt, einen 
Sprechkreis, oder vier Adern, das heißt, zwei Sprech- 


I4 Meereskunde. 


kreise, da zu einem jeden Sprechkreis zwei Leiter ge. 
hören, der eine für die Hinleitung, der andere für die 
Rückleitung. In der Telegraphie arbeitet man mit der 
Erde als Rückleitung; das ist in der Telephonie nicht an- 
gängig, weil sonst die Erdströme in das Telephon ein- 
treten und die Verständigung stören würden. Bei den 
vieradrigen Kabeln bilden zwei gegenüberliegende Adern 
je einen Sprechkreis; würde man zwei benachbarte Adern 
zu einem Sprechkreis vereinigen, so würden die Sprech- 
ströme in dem einen Stromkreis Induktionsströme im an- 
deren hervorrufen, und man würde in jedem Sprechkreis 
hören, was in dem anderen gesprochen wird; wenn man 
die gegenüberliegenden Adern dagegen als Leiter eines 
Sprechkreises wählt, so induzieren die durch einen Kreis 
fließenden Sprechströme zwar auch Ströme in den beiden 
Leitern des anderen Sprechkreises, aber beide in ent- 
gegengesetzter Richtung, und somit heben sich die Ströme 
auf, das fremde Telephon bleibt ruhig. Man sagt, die An- 
ordnung ist induktionslos. 

Die vier Adern eines solchen Kabels müssen aber 
sehr gleichmäßig hergestellt und verseilt werden, damit 
keine Induktion, kein Übersprechen stattfindet. 

Derartige Guttaperchakabel mit vier Adern sind 
mehrere verlegt, so beispielsweise zwischen Dover und 
Calais, wo sie den telephonischen Verkehr zwischen Eng- 
land und Frankreich, oder vielmehr hauptsächlich zwi- 
schen London und Paris vermitteln. Dadurch, daß man 
die Stärke der Guttaperchaschicht möglichst dick genom- 
men hat, was freilich Geld kostet, konnte man die schäd- 
liche Wirkung der Ladungskapazität so weit herunter- 
drücken, daß die Verständigung über die etwa 40 km 
langen Kabel mit den angeschlossenen Freileitungen noch 
als recht gut zu bezeichnen ist. Bei einem solchen Gutta- 
perchakabel zwischen Belgien und England, das etwa 


Ferngespräche über See. 15 


So km lang, ist man allerdings schon an der Grenze der 
Verständigung angelangt. 

Man hat versucht, durch eine besondere Konstruk- 
tionsanordnung die Ladungskapazität herunterzudrücken; 
in der Erkenntnis, daß der mabßgebende Wert der La- 
dungskapazität eines Sprechkreises geringer wird, wenn 
nicht eine jede einzelne Ader vom Wasser umspült wird, 
sondern nur das System von zwei bzw. vier Adern, hat 
man eine Anordnung, wie sie Abbildung ıı zeigt, ge- 
wählt, bei welcher die Leiter in einer gemeinsamen Gutta- 


Abb. ı2. Bleikabel mit 
Abb. ıı. Luftraumkabel. einfacher Armatur. 


perchahülle liegen und in der Mitte sich ein Luftraum be- 
findet, der den Effekt unterstützt. Solche Kabel sind 
auch verlegt, aber mit geringem praktischen Erfolg, weil 
die Fabrikationsausführung sehr schwierig ist und weil 
die Verringerung der Ladungskapazität gleichwohl nicht 
ausreicht. 

Bei den Bleikabeln, der zweiten Sorte von Seekabeln, 
ist der Kupferleiter mit Papier besponnen, und die zur 
Seele verseilten Adern sind, wie es die Abbildungen ı2 und 
13 zeigen, mit einem Bleimantel umpreßt, der seinerseits 
unter Verwendung eines Zwischenpolsters mit einer Ar- 
matur geschützt ist, die wiederum von einem asphaltier- 
ten Jutepolster bedeckt wird. Auch diese Kabel sind mit 


16 Meereskunde. 


zwei oder vier Adern, das heißt, mit einem oder zwei 
Sprechkreisen hergestellt. Die Armatur wird auch bei 
diesen Kabeln den Angriffen entsprechend gewählt. Ab- 
bildung ı2 zeigt eine einfache Armatur, Abbildung 13 
eine doppelte Armatur. Bleikabel finden hauptsächlich 
in solchen Gewässern 
Verwendung, wo starke 
Strömungen nicht vor- 
handen sind und große 
Tiefen nicht in Frage 
kommen. Die Papier- 
Bleikabel zeigen zwar 
wesentlich geringere 
Werte der -Ladungs- 
kapazität als die Gutta- 
perchakabel, aber 
gleichwohl reicht auch 
ihreLeistung nicht weit. 


Abb. ı3. Bleikabel mit doppelter Armatur. Hier setzen nun 
die neueren Erkennt- 


nisse ein, durch Einfügen von künstlicher Selbstinduktion 
die Dämpfung der Sprache zu verringern, und zwar wurden 
die ersten derartigen Kabel mit stetiger Selbstinduktion, 
hauptsächlichvon der 
Eirmar Heltena 
Guilleaume nach 
den Angaben der 
Herren Krarup 
und Breisi’gcher 
gestellt. Beide Arten 
von Kabeln, sowohl 
Guttaperchakabel als 
auch Bleikabel, haben 
dabei Anwendung ge- 


Abb. 14. Kupferleiter mit Eisendraht- 
umspinnung. 


Ferngespräche über See. 7 
funden. Der Unterschied gegenüber den gewöhnlichen Ra- 
beln liegt einzig und allein darin, daß die Kupferleiter mit 
Eisendraht, und zwar mit dünnem Eisendraht in einer 
oder in mehreren Lagen besponnen sind. (Siehe Abbil- 
dung 14.) 

Irgendwelche wesentliche Schwierigkeiten in der 
Herstellung und Verlegung dieser Kabel sind nicht vor- 
handen. Die Verbesserung der Sprache und die Ver- 


16. Uferkabel. 


Abb. ı5 u. 16. Papier-Bleikabel mit stetiger Selbstinduktion 
zwischen Cuxhaven und Helgoland. 


größerung der Betriebslänge mit dieser neuen Kabelkon- 
struktion war nicht unwesentlich. Das längste derartige 
Guttaperchakabel liegt in einer Länge von etwa 40 km 
in der Ostsee zwischen Refsnes und Selvig und zeigt drei 
lagen Eisendraht von 0,2 mm über dem Kupferleiter. Das 
längste Papier-Bleikabel liegt in der Nordsee zwischen 
Cuxhaven und Helgoland und besitzt eine Länge von 
etwa 8o km; bei diesem Kabel ist der Kupferleiter mit 
einer einfachen Lage Eisendraht von 0,3 mm Durch- 
messer umsponnen (Abbildung ı5 und 16). Das Kabel 
besitzt, wie die Abbildungen zeigen, außer zwei Lei- 


18 Meereskunde. 


tungen, das heißt, einem Sprechkreis für den telephoni- 
schen Verkehr, noch zwei Leitungen für Telegraphier- 
zwecke. Abbildung 15 zeigt das Seekabel, Abbildung 16 
das Uferkabel. 

Der wesentliche Nachteil, den diese Konstruktion der 
Bespinnung des Kupferleiters mit Eisendraht besitzt, ist 
der, daß die Größe der Selbstinduktion in gewissen 
Grenzen beschränkt ist, und daß durch diese Bespinnung 
des Kupferleiters die Kapazität erhöht wird, also zur Er- 


Abb. ı7. Spulenkasten. 


zielung einer bestimmten niedrigen Kapazität die Dimen- 
sionen entsprechend vergrößert werden müssen, und das 
kostet Geld. Diese Unzuträglichkeiten können vermieden 
werden, wenn man die Selbstinduktion punktförmig ın 
Spulenform ın das Kabel einfügt. Nachdem Professor 
Pupin gezeigt hatte, wie die Selbstinduktionsspulen 
über den Leiter zu verteilen sind, war es ein leichtes, 
Erdkabel nach dem Pupinsystem zu verlegen; man 
bringt die Spulen in Kästen unter, wie es Abbildung 17 
zeigt, und verbindet die Enden der Wickelung der Spulen 
mit den Kabelleitungen. Abbildung ı8 zeigt solche in 


Ferngespräche über See. 19 


wirkliche Linien eingebaute Kästen. Bei Seekabeln da- 
gegen stand man vor einer sehr schwierigen Aufgabe, und 
verschiedene Praktiker erklärten es für unmöglich, See- 
kabel nach dem Pupinsystem zu verlegen. Die Lö- 


Abb. 18. Spulenkästen, eingebaut. 


sung der Aufgabe ist aber dem Hause Siemens sowohl 
für Bleikabel als auch für die Guttaperchakabel geglückt; 
das erste Pupin- Bleikabel ist vor mehr als vier Jahren 
von der Siemens & Halske A.G. im Bodensee ver- 
legt, und das erste Pupin- Guttaperchakabel durch den 
Kanal zwischen Dover und Calais im Mai vorigen Jahres 


20 Meereskunde. 


durch Srtemens Brothers & Co, Ed Dan cz 
Tat bedeutende Schwierigkeiten zu überwinden waren, so 
werden nähere Einzelheiten über die Verlegung dieser 
beiden Kabel interessieren. 

Das erste Pupin-Seekabel bot sehr große Schwie- 
rıgkeiten. Es handelte sich um ein Blei-Papierkabel, das 
zwischen Friedrichshafen und Romanshorn durch den 
Bodensee verlegt werden sollte und den telephonischen 
Verkehr zwischen der Schweiz und den Staaten Würt- 
temberg und Bayern vermitteln sollte. Wie bereits er- 
wähnt, haben Seekabel zumeist höchstens zwei Sprech- 
kreise besessen, hier sollten sieben vorgesehen werden. 
Bleikabel waren bisher in verhältnismäßig geringen Tiefen 
von etwa 20 bis 40 m ausgelegt; hier kamen zum ersten 
Male Tiefen bis zu 250 m in Frage, . Weiter konnte 
man mit einem eigentlichen Kabelschiff nicht zum Boden- 
see gelangen, man mußte also ein künstliches Kabelschiff 
herstellen; auch die Zuführung des Kabels zum Bodensee 
konnte nicht zu Wasser geschehen, sondern das Kabel 
mußte mit der Bahn transportiert werden. Alle diese Be- 
sonderheiten kamen zu der an sich schon bedeutenden 
Schwierigkeit hinzu, die Selbstinduktionsspulen im Kabel 
unterzubringen und ein solches Pupinkabel überhaupt 
zu verlegen. 

Zur Überwindung der Schwierigkeit der verhältnis- 
mäßig großen Tiefe von 250 Metern, die selbstredend 
gegenüber den größeren Meerestiefen von mehreren tau- 
send Metern unbedeutend ist, wurde auf Grund von Ver- 
suchen ein besonderes Kabel konstruiert; es zeigte sich 
namlich, dab ein gewöhnliches Kabel bei 25 Atmosphären 
Druck — das entspricht dem Druck in der Tiefe von 
250 m — nach längerer Zeit flachgedrückt wurde 
und daß dasselbe bei etwas höherem Druck, mit dem man 
das Kabel der Sicherheit halber naturgemäß prüfen mußte, 


Ferngespräche über See. 27 


sogar nach verhältnismäßig kurzer Zeit wie ein Taschen- 
messer flachgedrückt wurde. Die gewählte Konstruktion 
zeigt Abbildung 19; unter dem Bleimantel ist eine Stahl- 
drahtspirale über die Kabelseele gewickelt; diese hält den 
Bleimantel vollkommen rund und schützt die Seele gegen 


Abb. 19. Bodenseekabel. 


Pressungen. Das mittlere Kabel ist das eigentliche See- 
kabel mit der einfachen Armatur, das Muster mit der 
doppelten Armatur zeigt das an den beiden Ufern verlegte 
Kabel; weiter ist noch ein auf dem Lande verlegtes Kabel 
zu sehen, das die Spirale unter dem Bleimantel nicht ent- 
hält. Seekabel und Uferkabel zeigen durchgehend die 
Spirale; der Einfachheit wegen ist das ganze Seekabel ın 


Meereskunde. 


186) 
166) 


gleicher Weise ausgeführt; für die geringeren Tiefen wäre 
die Verwendung der Spirale nicht erforderlich gewesen. 

Die Pupinspulen mußten wie die Kabelseele unter 
den Bleimantel gebracht werden. Wenn auch eine mög- 
lichst längliche Form für die Spulen gewählt wurde, so 
blieben dieselben gleichwohl wesentlich dicker als die 


Abb. 20. Spulenstück unter Bleimantel. 


K.abelseele, man erhielt also an den Punkten, wo die 
Spulen sich befanden, verdickte Stellen; durch konische 
Teile wurde der Bleimantel der Spulenstücke mit dem 
Bleimantel des Kabels verbunden (Abbildung 20). Die 
Abbildung21 zeigt die AÄrmierung einer solchen Spulenstelle. 

Obwohl das ganze Kabel nur etwa ı2 km lang war, 
mußte dasselbe doch mit einer ordnungsmäßigen Ver- 
legungsmaschine verlegt werden, da das Gewicht des im 


Ferngespräche über See. 2 


195) 


Wasser hängenden Kabels an der tiefsten Stelle von 
2zo m unter normalen Verhältnissen bereits rund 
2000 kg betrug; der maximale Zug, den man während der 
Verlegung beobachtete, betrug etwa 8000 kg. In der 
Hauptsache besteht die Verlegungsmaschine aus einer 
Trommel, über welche das Kabel in mehreren Windungen 


Abb. 21. Armierung eines Spulenstücks. 


herumgelegt wird und mit welcher das Kabel aus dem 
Schiff in das Wasser abgewickelt wird. Über eine solche 
Trommel mußten natürlich auch die verdickten Stellen 
der Spulenstücke gebracht werden. Bei dem ersten Ver- 
legungsversuch im Jahre 1905 wurde eine Verlegungs- 
maschine mit einem Trommeldurchmesser von etwaI70 cm 
benutzt, wie sie für die gewöhnlichen Seekabelverlegungen 
Verwendung findet; es zeigte sich, daß die Unstetigkeits- 


24 Meereskunde. 
stellen, wo die Spulenstücke sich befanden, den starken 
Biegungen nicht gewachsen waren; die erste Verlegung 
mißglückte deshalb; bei der endgültigen Verlegung im 
Jahre 1906 wurde deshalb eine besonders hergestellte Ver- 
legungsmaschine mit größerem Trommeldurchmesser von 
240 cm verwendet und die konischen Teile der Spulen- 
stücke wurden verlängert. 


Abb. 22. Spulenstück bei der Verladung. 


Das gegen 110 000 kg wiegende Kabel wurde auf ver- 
schiedene Güterwagen verladen und das ganze Kabel mit 
einem besonderen Zuge von ıı Wagen nach Friedrichs- 
hafen befördert. In Abbildung 22 sieht man, wie gerade 
ein Spulenstück über dem Waggon schwebt. 

Wie bereits gesagt, mißglückte die erste Verlegung, 
deshalb mußte das Kabel an Land gebracht und in einem 
Schuppen überwintert werden; dann wurden die sämt- 
lichen Spulenstücke neu montiert, wozu ein besonderer 
Schuppen gebaut werden mußte. Die nachträgliche Ar- 


Ferngespräche über See. 


189) 
in 


mierung des Kabels an den Spulenstücken geschah mit 
einer besonders konstruierten Maschine, welche gestat- 
tete, die Drähte mit einem Zug von 2000 kg aufzulegen; 
das Führen und Abbinden der Drähte geschah von Hand. 
Auf dem Verlegungsschiff mußte ein Gerüst gebaut 
werden, das den in Kabelschiffen vorhandenen Tank er- 


Abb. 23. Gerüst zur Führung des Kabels. 


setzte; bei der schnellen Bewegung des Schiffes während 
der Verlegung wickelt sich nämlich das Kabel sehr rasch 
ab, und dazu ist eine leichte und zuverlässige Führung 
nötig. Ein weiteres Gerüst war zur Führung des Kabels 
aus diesem Kunsttank zur Verlegungsmaschine erforder- 
lich, wie es Abbildung 23 zeigt, auf der auch diese Ma- 
schine mit den Windungen des Kabels zu erkennen ist, 
sowie die Maschine, die den Zug mißt, unter dem das 


26 Meereskunde. 


Kabel verlegt wird, damit man nicht mehr Kabel verlegt 
als nötig ist. - (Mergleiche Stahlbierg, Aufrzemen 
Kabeldampfer bei einer Kabelreparatur in der Tiefsee. 
„Meereskunde hlert 678: 2.) 

Das Kabelschiff war ein Trajektschiff, auf dessen 
Deck die erforderlichen Bauten vorgenommen wurden. Da 
dieses Schiff nur ein Schleppschiff war, wurde ein Salon- 
dampfer breitseits mit jenem verbunden; der Dampfer 
wurde nicht einfach vorgespannt, damit jederzeit momen- 
tan gestoppt werden konnte. Abbildung 24 zeigt die Aus- 
legung des Kabels in See. Die eigentliche Verlegung des 
Seekabels dauerte etwa zwei Stunden, so daß mit einer 
dAurchschnittlichen Geschwindigkeit von fast genau 6 km 
in der Stunde verlegt. wurde. 

Da man annehmen konnte, daß ein Fehler, der auf- 
treten könnte, sehr bald nach der Verlegung zum Vor- 
schein kommen würde, wurde das eigentliche Seekabel 
zunächst in Romanshorn an Land genommen und 24 Stun- 
den lang dauernd beobachtet. Das Schiff fuhr nach 
Friedrichshafen zurück und nahm unterwegs die zur Be- 
zeichnung des Weges bei nebeligem \Vetter ausgesetzten 
Bojen auf. 

Von Romanshorn aus war das Uferkabel auf der 
Schweizerischen Seite mit einem kleineren Boot ausge- 
legt, indem es von der Trommel abgewickelt wurde. Dann 
wurde der Spleiß auf dem Kabelschift hergestellt und 
versenkt. 

Etwa einen Monat nach erfolgter Verlegung trat in 
einer der 14 Adern ein Fehler auf, und zwar an einer 
Stelle, welche dem höchsten Wasserdruck ausgesetzt ist 
und an einem Spulenstück; freilich enthält die betreffende 
Ader an dieser Stelle keine Spule; es sind nämlich ab- 
wechselnd für drei und dann für vier Sprechkreise Spulen 
eingeschaltet. Es ist anzunehmen, daß der Fehler einem 


JungapIsA I9p pussyem tz "dqV 


Ferngespräche über See. 29 


Montagefehler zuzuschreiben ist; unter den schwierigen 
Montageverhältnissen ist nicht zu verwundern, daß eın 
solcher vorkommen konnte. Abgesehen von diesem Fehler 
ist das Kabel nunmehr länger als vier Jahre in dauernd 
gutem Betrieb; im Dezember vorigen Jahres trat das 
Gerücht auf, daß das Kabel zerstört sei; in Wirklichkeit 
war ein altes Telegraphenkabel gebrochen. Hoffentlich 
sichert dieses falsche Gerücht dem Kabel eine recht lange 
l.ebensdauer. 


Nach dem Gelingen der schwierigen Verlegung des 


Bodenseekabels durfte man erwarten, daß die Frage der 


! III> - 
Gummi zroischenstück, Cutter chahanus  una 
CHI Ge Fan ” 


Auslegung eines Pupin- Guttaperchakabels durch die 
Vorarbeiten in der Fabrik geklärt werden konnte; da die 
bei der eigentlichen Verlegung zu erwartenden Schwierig- 
keiten bekannt waren, handelte es sich hauptsächlich um 
die Frage, ob die Pupinspulen in einer Guttapercha- 
hülle zuverläsig untergebracht und mit den Kupferleitern 
der Guttaperchaadern in Verbindung gebracht werden 
können. Diese Aufgabe wurde von dem Londoner Hause, 
yon Venmmens. Brothers, zelost, ! welche weit- 
gehende Erfahrungen auf dem Gebiet der Seekabelver- 
legung besitzen. Durch die glatte und elegante Verlegung 
des englisch-französischen Pupinkabels ist die Mög- 


lichkeit bewiesen, auch Guttaperchakabel, die nach dem 


30 Meereskunde. 


Pupinsystem gebaut sind, als _Seekabel zu "ver. 
legen. 

Das Kabel ist ein vieradriges Guttaperchakabel, das 
also zwei Sprechkreise besitzt. Die Spulen sind in Ab- 
ständen von etwa 1,8 km eingebaut; an diesen Punkten 
befinden sich verdickte Stellen, die eine Kammer mit den 
beiden Spulen enthalten, wie auf Abbildung 25 zu sehen 


3 un! 


Ill \ \ \\AlN NON F = 


Abb. 26. Kabeldampfer ‚Faraday‘. 


ist; der ganze übrige Raum ist mit Guttapercha ausge- 
füllt. Der zylindrische Teil der verdickten, armierten 
Stelle greift weit über das eigentliche Spulenstück hin- 
über, so daß die äußerlich konischen Teile des Kabels an 
solchen Stellen sitzen, wo gewöhnliche Adern vorhanden 
sind. Obwohl das Kabel nur 40 km lang ist, und somit 
ein kleiner Kabeldampfer ausreichend gewesen wäre, 
wurde die Verlegung mit dem bekannten Siemensschen 
Kabeldampfer „Faraday“ (Abbildung 26) ausgeführt. 


Ferngespräche über See. a7 


Abbildung 27 zeigt das erste in See laufende Spulenstück. 


Da der „Faraday‘ nicht nahe an die Küste fahren konnte, 


wurde das Kabel so weit 
in Dover zur. "Küste 
parallel gelegt, daß das 


Kabel zur Küste später 


zurückgenommen werden 
konnte, und das Ende an 
eine Boje gelegt; ebenso 
wurde an der franzö- 
sischen Küste das letzte 
Ende zunächst zur Küste 
parallel ausgelegt und 
das Ende mit einer Boje 
bezeichnet. Die beiden 


Enden sind dann später 


von einem Kabelschift 
der englischen Postoffice 
zur Küste umgelegt. Diese 
Gelegenheit wurde be- 
mut, um eines.der 
Spulenstücke zu heben; 


Abb. 27. Spulenstück bei der 
Verlegung. 


es sollte damit gezeigt wer- 


den, dab die Spulenstücke eine derartige Manipulation 


vertragen, wenn 
wirkliche Repara- 
turen auszuführen 
sind. Abbildung 28 
zeigt das an Deck 
genommene Spu- 
lenstück. Die mit 
dem Kabel ange- 
stellten Versuche 
haben ausgezeich- 
nete Resultate er- 


Abb. 28. Gehobenes Spulenstück. 


Meereskunde. 


(095) 
N 


geben. Sobald die anzuschließenden Freileitungen auf 
der französischen Seite fertiggestellt sind, wird das Kabel 
in Betrieb genommen werden. 

In vorstehendem ist versucht, in einfachen Zügen 
von der Entwicklung einer besonderen Art der Telephon- 
leitungen, nämlich derjenigen der Seekabel, ein Bild zu 
geben; die einleitenden Ausführungen weisen darauf hin, 
daß es sich um wichtige wissenschaftliche und technische 
Probleme handelt. Die Anregungen von Professor Pupin 
haben eine große Reihe von interessanten Arbeiten her- 
vorgerufen, durch die unser Wissen und unsere Erkennt- 
nis auf dem Gebiet der Telephonleitungen in hohem Maße 
gefördert sind. Von den wichtigsten Aufgaben und Lö- 
sungen des Pupinsystems sind hier einige der in der 
Hauptsache mechanischen Aufgaben in rohen Umrissen 
entwickelt. Man ist nunmehr ın der Lage, an größere 
Aufgaben heranzugehen, die unter Verwendung der 
genialen Erfindung des Professors Pupın lösbar sind. 
Es ist jetzt — um nur ein Beispiel zu nennen — nicht 
bloß mehr ein Problem, Deutschland und England durch 
ein leistungsfähiges Fernsprech-Seekabel zu verbinden, 
aas ungefähr 400 km lang ist und somit fast die zehnfache 
Länge eines Fernsprechkabels besitzt, das man vor etwa 
zehn Jahren verlegen konnte. Doch auch dieses Ziel wird 
sicher nur eine Etappe auf dem weiteren Wege tech- 
nischen Schaffens und Strebens sein, das wie alle frucht- 
bringende Arbeit dem Wohle der Menschheit dient. 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler & Sohn, 
Berlin SW 68, Kochstraße 68—71. 


MEERESKUNDE 


SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE 
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON 


MEER UND SEEWESEN 


FÜNFTER JAHRGANG ZWÖLFTES HEFT 


Tsingtau. 


Von Professor Dr. Albrecht Penck. 


ie Ostküste von Asien zeigt in den geographischen 


Breiten, in denen ein regelmäßiger, vom Eise 


nicht gehinderter Sceverkehr möglich ist, nur 
einen tieferen Eingrifi des Meeres. Das ist das Gelbe 
Meer, das Hoanshaı der Chinesen. Es spult an die 
weiten Ebenen von Nord-China. Aber der Seefahrer, der 
sich deren Küsten nähert, findet dieselben verschlossen; 
das Meer hat überall dort, wo es an die Ebene grenzt, 
eine Barre aufgeworfen, die selbst der große Fluß des 
l.andes, der Hoangho, nicht völlig zu durchbrechen 
vermag. Seine heutige Mündung ist durch sie halb ver- 
tiegelt, aber auch die Stelle, wo er vor 60 Jahren vier 
Grade weiter südlich das Meer erreichte, ist immer durch 
eine Barre verschlossen gewesen, und sie ist es heute noch. 
Nur an einer einzigen Stelle können Dampfer die Barre 
überwinden, das ist im Norden, wo der Paiho das Meer 
erreicht; aber nur ziemlich kleine Fahrzeuge vermögen 
dies zu tun und nach Tientsin vorzudringen. 

Bei solcher Hafenarmut der ebenen Küsten werden 
die beiden bergigen Halbinseln, welche sich in das Gelbe 
Meer erstrecken und dessen innere Teile, den Golf von 
Tschili, abgliedern, von besonderem Werte; denn ihnen 
fehlt es nicht an tiefen Buchten, wie sie an gesunkenen 
Küsten aufzutreten plegen. Namentlich die nördliche 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft ı2. I 


Meereskunde. 


15} 


der beiden Halbinseln ist reich an solchen. Prachtvoll 
ist der natürliche Hafen von Port Arthur, ausgezeichnet 
der von Dalny, dem heutigen Dairen. Aber beiden fehlt 
das Hinterland; die Halbinsel Liautung, an deren Spitze 
sie gelegen, wurzelt nicht im eigentlichen China, sondern 
ın der dünn bevölkerten Mandschurei. Ihre ausgezeich- 
neten Häfen kommen daher für den Handel mit China 
nicht in Betracht, wie beherrschend auch ihre Pace 
gerade an der engsten Stelle des Gelben Meeres, an der 
Straße von Tschili, ist. Ihre Bedeutung ist ın erster Linie 
eine militärische, und ın Würdigung der wichtigen Lage 
schufen die Chinesen in Port Arthur einen großen Kriegs- 
hafen, den erst Rußland pachtete, und den schließlich 
Japan eroberte, beide, um sich den Zugang zum Golfe 
von Tschili zu sichern. Anders auf der anderen Halb- 
insel, der von Schantung. HFrühzeitig öffnete China hier 
einen allerdings von Natur nur wenig guten Hafen, den 
von Tschifu, und gewährte damit Einlaß zu einem weiten 
Hinterlande. Ferner legte es unweit davon in einer 
sicheren, aber vom Lande aus schwer zugänglichen Bai 
den Kriegshafen von Weihaiwei an. Es verlor jedoch 
diese wichtige Stelle an der Südseite des Einganges in 
das Gelbe Meer sowie Port Arthur im Norden; Eng- 
land hält Weihaiwei besetzt, ohne den Ort augenblicklich 
militärisch weiter auszubeuten. Der große natürliche 
Hafen im Süden von Schantung hingegen, die geräumige 
Bucht von Kiautschou, blieb, als China seine Häfen dem 
Weltverkehre erschloß, zunächst unbenutzt. Ihre grobe 
Bedeutung wurde erst von Ferdinand v. Richthofen 
erkannt. Er wies darauf hin, daß, nach der englischen 
Admiralitätskarte zu urteilen, hier ein großer natürlicher 
Hafen vorliegt, welcher Tschifu an Sicherheit weit über- 
träfe, und führte weiter aus, daß diese Bucht über eine 
ungemein günstige Verbindung mit dem Hinterlande ver- 


Tsingtau. 


(5) 


fügt, so daß von ihr aus die reichen Kohlenfelder von 
Schantung bequem zugänglich werden: „In der Eröft- 
nung des Hafens von Kiautschou und in der Herstellung 
der genannten Verbindungen (in das Innere von Schan- 
tung) liegt die Zukunft der reichen Kohlenfelder von 
Schantung. Die in Tschifu angelegten Kapitalien wür- 
den dadurch allerdings großenteils verloren werden. 
Aber die Vorteile einer fremden Niederlassung in Kiau- 
tschou sind, wenn wir über die engen Grenzen der Gegen- 
wart hinwegsehen, so groß, daß dieser Nachteil im Ver- 
hältnis verschwindend klein ist. Ist auch die Hebung 
von China in materieller, intellektueller und industrieller 
Hinsicht den Interessen Europas, wie es scheint, direkt 
zuwiderlaufend, so wird sie sich doch mit zwingender 
Notwendigkeit vollziehen, und angesichts dessen haben 
sich die fremden Mächte die größtmöglichsten Vorteile 
bei dem bevorstehenden Aufschwung zu sichern.“ 

So schrieb der große Geograph 1882, und ı5 Jahre 
spater wurde die Kıiautschoubucht vom Deutschen Reiche 
besetzt. Der Besetzung folgte alsbald — am 6. März 
1898 — die formelle Pachtung der Bucht und des Landes 
beiderseits ihres Einganges durch das Deutsche Reich; 
dieses hat in den letztverflossenen 13 Jahren in großem 
Umfange das nachgeholt, was China in früheren Jahr- 
zehnten versäumt hat, und an der Nordseite vom Ein- 
gange der Bucht ist eine neue wichtige Hafenstadt er- 
wachsen: Tsingtau. Bereits ist die Prophezeiung 
Richthofens eingetroffen; Tsingtau hat als Hafenplatz 
Tschifu geschlagen, und sein Handelsumsatz verhält sich 
heute zu dem des letzteren wie 3 :2. 

Wer diese gewaltige Entwicklung voll verstehen 
will, muß nicht bloß die politischen Verhältnisse in Öst- 
asien im Auge haben, sondern vor allem die großen Züge 
der Natur erkennen; denn wie viele Millionen auch das 


Meereskunde, Vorträge. V. Heft ı2. 2 


4 Meereskunde. 


Deutsche Reich für Tsingtau ausgegeben hat, dessen 
Aufschwung wäre nicht erfolgt, wenn nicht die Stelle in 
verschiedener Hinsicht geographisch begünstigt wäre. 
Die Halbinsel Schantung, welche in das Gelbe Meer 
hinausspringt, ist viel weniger mit dem Gebirgsgerüste 
des festländischen Asiens verknüpft, als die ihr gegen- 
über befindliche von Liautung (Abbild. ı). Setzen sich 
dessen Berge in das östliche Grenzgebirge der Mandschu- 
rei hinein fort, so daß 


man von der Ostseite 
zurWestseite nurdurch 
Überschreitung von 
Pässen mit oft ansehn- 
licher Höhe gelangen 
kann, so stellt das Berg- 
land von Schantung 


oO 


Nagäsakt eine große Insel im ebe- 
nen China dar. Seine 
Isoliertheit wird schla- 
gend dadurch bezeugt, 
daß der Hoangho bis 
zum Jahre 1852 süd- 
lich und seither nördlich Schantung mündet, dieser neue 
Lauf ist aber vom Strom schon in früheren Jahrhunderten 
benutzt gewesen. Das also vom gelben Flusse bald im 
Norden, bald im Süden umflossene und weit in das Meer 
hinausspringende Bergland ist aber weder in bezug auf 
seine orographische Gliederung noch hinsichtlich seines 
geologischen Aufbaues eine Einheit, vielmehr sondert sich 
der in das Gelbe Meer einspringende Nordosten so scharf 
von dem aus den nordchinesischen Ebenen entsteigenden 
Westen, daß man beide am liebsten gänzlich voneinander 
getrennt halten möchte. Im Nordosten herrschen kurze 


1: 30 000 000 
100 20 20 0 SOokm 


E77] Berg- u. Hügelland 


Abbild. ı. Tsingtau als Pforte von 
Schantung. 


gedrungene Bergketten, welche inselartig aufsteigen und 


Tsingtau. 5 


größtenteils aus den ältesten Gesteinen, aus Gneis und 
Granit, bestehen. Im Westen walten alte Schichtgesteine 
mit flacher Lagerung vor und bilden ein zusammenhän- 
gendes Bergland. Ziemlich genau an der Grenze zwischen 
diesen beiden so verschiedenartigen Bergländern setzt im 


a ® 


fie en 


1 :: 2.000.000 ‘ Er 5’km 


[| Berg- und Hügelland u Watt 


Abbild. 2. Die Kiaulai-Senke in Schantung. 


Norden eine tiefe Einsenkung ein, welche quer durch 
Schantung hindurchläuft, anfänglich dessen beide ver- 
schiedenen Hälften scharf trennend, dann aber die nach 
Süden vorspringenden Ketten von Nordost - Schantung 
durchbrechend (Abbild. 2). 

Diese erreichen ihre größten Höhen hier unmittel- 
bar am Meere und begleiten die Südostküste der Halb- 
insel in größerem Zusammenhange als sie sonst haben. 
An einer Stelle werden sie tief unterbrochen: das ist 


y* 


6 Meereskunde. 


in der Bucht von Kiautschou, genau in der Fortsetzung 
der erwähnten FEinsenkung, welche Ferdinand 
von Richthofen als Kiaulai-Senke bezeichnet hat. 
Naht man sich der Bucht vom Meere aus, so hat 
man rechts und links ansehnliche Gebirge. Im Nord- 
osten erhebt sich das Lauschangebirge bis zu Brocken- 
höhe unmittelbar am Meere; es folgen der Kaiser- 
stuhl, dann in wesentlich geringerer Höhe von 300 bis 
400 m die Prinz Heinrichberge, schließlich die Gruppe 
der Iltisberge in der nächsten Nähe von Tsingtau. 
Nun öffnet sich die Bucht, auf der anderen Seite 
westlich vom Meere flankiert von den Bergen von Haihsi, 
die ungefähr dieselbe Höhe wie die Iltisberge haben. 
Weiter südwestwärts aber strebt der mächtige Tamo- 
schan bereits auf 800 m Höhe an. Wer vor der nur 
3 km breiten und beinahe 40 m tiefen Einfahrt zwischen 
dem Kap Tuantau und dem gegenüberliegenden Kap 
Jaeschke der Haihsiberge steht, wird leicht geneigt sein 
zu glauben, daß er sich an der Pforte einer weitverzweig- 
ten, tief in das Land dringenden Bucht befinde. Statt 
ihrer treffen wir eine breite Weitung mit vorwiegend 
ebenen Ufern. Sie hat ihren Namen von der Stadt in 
ihrem Westen erhalten, dıe auf das ehrwürdige Alter von 
2000 Jahren blickt und, wie es scheint, ın früheren Jahr- 
hunderten eine glanzvolle Zeit gehabt hat: sollen doch 
selbst die Araber bis nach Kıautschou gekommen 
sein. : Aber ‘heute ist diese Stadt, deren Name „Eemr- 
stadt“ bedeutet, ganz Binnenort geworden. Der von 
Norden kommende Takuho und der von Westen kom- 
mende Yangho haben die Ausläufer der Bucht weithin 
zugeschüttet und in seichtes Watt verwandelt, durch das 
man längst nicht mehr zu Schiff zur Stadt gelangen kann. 
Mühsam haben die Chinesen einen Umschlag zwischen 
den in der Rinne des Takuho ankernden Dschunken und 


IN 


Tsingtau. 


"EPIIGqV 


| Wwoznz 02 wor uemmuayoy 


wWys 1 ? ? BEN 
BIN 
000 002 : | Der 
ei i \ 
\E 
l N) 
i ze 
\ 


ee 


en 


NL se) 
le 
assoß) EM, 
; 


A 
“ 


vr) 


8 Meereskunde. 


der Stadt durch kleine Leichterboote aufrecht zu erhalten 
gesucht. Für den modernen Seeverkehr ist sie unerreich- 
bar. Dieser ist auf den Ankergrund beiderseits des Ein- 
ganges der Bucht angewiesen, welcher im Norden besser 
ist als im Süden, wo die Versandung und Verschlammung 
bereits größere Fortschritte gemacht hat. Im Norden ist 
denn auch Tsingtau erwachsen, dessen Lage aus 
unserem Kärtchen erhellt (Abbild. 3). 

Aber nicht nur die weite Bucht und die leichte Zu- 
gänglichkeit vom Hinterlande her machen die Wichtig- 
keit des Kiautschougebietes aus, sondern namentlich 
auch die klimatischen Verhältnisse. Wir sind an der 
Ostküste Asiens, wo ein regelmäßiger Windwechsel 
stattfindet; im Frühling und Sommer wehen Seewinde 
namentlich von Südosten her; sie sind besonders wah- 
rend des Hochsommers sehr feucht und spenden wäh- 
rend der Monate Juli und August ansehnlichen Nieder- 
schlag. Im Herbst und Winter kommen die Winde aus 
dem Nordwesten bis Norden her; sie bringen die winter- 
liche Kälte Nord-Asiens bis in das nördliche China. Am 
mandschurischen Gestade mißt man an der Mündung des 
Liauflusses im Januar durchschnittlich 8 bis 9 Grad 
Kälte. Kälter als in den kältesten Teilen Ostpreußens 
ist der Winter in Peking; Tientsin und Dalny haben im 
Januar noch — 4°. Erst an der Außenküste von Schan- 
tung wird der Winter milder. Der Januar in Tsingtau 
ist nicht strenger als der von Berlin (— 0,4°). Infolge- 
dessen bleibt die Kiautschoubucht eisfrei. Dies bezeichnet 
einen gewaltigen Vorteil vor den Häfen des Golfes von 
Tschili, welche während des Winters durch ihre Eisbe- 
deckung dem Weltverkehre entrückt sind, während letz- 
terer jahraus, jahrein in Tsingtau einen offenen Hafen findet. 

Wenn wir dieser klimatischen Begünstigung geden- 
ken, dürfen wir aber nicht vergessen, daß Tsingtau nur 


Tsingtau. 6) 


wenig weiter nördlich liegt als Malta. Daß es dabei im 
Januar so kalt ist, wie das 16° weiter nördlich gelegene 
Berlin, verrät, daß die klimatische Benachteiligung von 
ganz Ost-China während des Winters auch noch für 
Schantung gilt. Dabei hat aber der Sommer von Tsing- 
tau die Temperaturen, die dessen geographischer Breite 
entsprechen. Sein wärmster Monat, der August, ist genau 
so warm, wie der wärmste Monat, gleichfalls August, in 
Palermo (24,8°). Aber während sich dann über Italien 
eın wolkenloser Himmel wölbt, gibt es in Tsingtau reich- 


Abbild. 4. Tsingtau zur Zeit der deutschen Besetzung 1898. 


lich Regen, und während es in Palermo im Winter regnet, 
ist es in Tsingtau trocken. Aber auch dann fehlt der blaue 
Himmel; die aus dem Innern Asiens kommenden Winde 
sind staubgeschwängert, matt leuchtet die Sonne durch 
die rauchig trübe Luft. Es gibt in Europa keinen Ort, 
dessen Klima sich mit dem von Tsingtau vergleichen 
ließe. Der jährliche Gang der Temperatur entspricht zwar 
ungefähr dem von 'Philippopel, aber nirgends haben wir 
so feuchten Sommer und so trockenen Winter, wie 
in der Bucht von Kiautschou. 

Schon die Chinesen haben die Wichtigkeit der Nora- 
seite des Einganges der Bucht von Kiautschou als Hafen- 
ort erkannt. Dort, wo jene bei der kleinen grünen 
Insel einen einspringenden Winkel macht, wurde bereits 


Io Meereskunde. 


unter dem großen Kaiser Tschienlung eine Zweig- 
stelle des Zollamtes von Kiautschou errichtet, die den 
Namen der grünen Insel: Tsingtau erhielt. 1891 lieb 
Lihungtschang hier Befestigungen anlegen und 
in der Bucht eine kleine Landungsbrücke erbauen. Um 
den von ihm gewählten Ort (Abbild. 4) ist die heutige 
Stadt: Tsingtau erwachsen; ‘die kleine” Inselh,dıe sen 
sie ihren Namen verlor, heißt nunmehr Arkona. Der 
Hafen jedoch ist an einer anderen Stelle entstanden; 
denn die Tsingtaubucht ist offen gegen das Meer, 
und gewähren zwar die Höhen des Landes Schutz 
vor den Nordwestwinden des Winters, so ist sie doch den 
Südostwinden des Sommers preisgegeben. Dazu kommt, 
daß sie an der Seeseite gelegen, Angriffen leicht ausge- 
setzt ist, weswegen sie für eine Flottenstation nicht ge- 
eignet ist. Der Hafen ist aus allen diesen Ursachen in die 
Kiautschoubucht hineinverlegt, und zwar auf die Nord- 
seite der Berge von Tsingtau. Hier erstreckt sich seichter 
Meeresgrund. Bohrungen vergewisserten, daß er leicht 
bis 9,5 m Tiefe ausgebaggert werden konnte. Das also 
hergestellte vor den Nordwestwinden des Winters durch 
Anlage eines 4,5 km langen Schutzdammes geschützte 
Hafenbecken befindet sich beinahe 3 km von der alten 
Landungsbrücke Tsingtau entfernt; Stadt und Hafen 
sind voneinander getrennt. Doch hat sich dies bisher nicht 
als Nachteil geltend gemacht; die unmittelbare Nachbar- 
schaft des Hafens ist für Wohnviertel selten erwünscht. 
Dazu kommt, daß die Stadt Tsingtau den kalten Nord- 
westwinden des Winters weniger ausgesetzt ist als der 
Hafen; umgekehrt empfindet sie während des Sommers 
die Südostwinde der Regenzeit als angenehme Auf- 
frischung, während sich gleichzeitig in der Hafengegend 
große Schwüle geltend macht. Allerdings wird es dann 
in Tsingtau manchmal recht feucht, und oft liegen See- 


nebel über der Stadt, 
während das Hafen- 
becken schon Son- 
nenschein genießt. 

Das neue Tsing- 
tau breitet sich et- 
was westlich vom 
alten Tsingtau aus, 
andaslediglich noch 
der alte Yamen er- 
innert. (Abbild. 5.) 
Es erstreckt sich be- 
reits nahezu über 
die ganze Breite der 
Bucht der Grünen 
Insel. Das Kaiser- 
Wilhelm-Ufer hat 
sich bereits miteiner 
ziemlich zusammen- 
hängenden Häuser- 
front besetzt, hinter 
welcher die Stadt 
gegen den Gouver- 
nementshügel (70m) 
allmählich ansteigt. 
Am Abhang des 
Hügels erhebt sich 
in beherrschender 
Lage das stattliche 
Gouvernementsge- 
bäude (linke Ecke 
des Bildes). West- 
lich davon führt die 
Friedrichstraßenach 


Meereskunde, Vorträge. V. 


Tsingtau. 


Heft ı2. 


K 
ä 
3 
er 
u. 
> 


1: 
og] 


DE 


Das neue Tsingtau im Jahre 1907. 


Sie 


Abbild. 


12 Meereskunde. 


Norden in das Chinesenviertel, das aus dem alten Dorfe 
Tapautau hervorgegangen und bis an die Kiautschoubucht 
heranreicht. Tsingtau und Tapautau sind schon miteinander 
verwachsen und bilden eine einzige Wohnstätte, die sich vom 
Meere bis zur Bucht zieht, und hier entsteht in der Nach- 
barschaft des großen Hafens ein weitläufig angelegtes 
Hafenviertel. Der gegen Südwest nach Tuantau reichende 
Landvorsprung trägt einige Kasernen sowie das Schlacht- 
haus und Elektrizitätswerk. Auch befindet sich hier ein 
altes chinesisches Dorf Taihsitschen. Am Ende erhebt 
sich der Leuchtturm von Yunuisan wie ein Torwärter 
am Eingange der Bucht. Die militärischen Anlagen be- 
finden sich hauptsächlich an den Bergen östlich Tsingtau. 
Es sind dies einzelne Kuppen, zwischen denen ohne 
Schwierigkeiten zwei Straßen von Nord nach Süd ge- 
führt werden konnten. Hinter dem Gouvernementshügel 
strebt bis auf 80° m Höhe der Hügel des Wasserturms mit 
der meteorologischen Station an, von hier wie da Öffnet 
sich eine entzückende Aussicht auf das neue Tsingtau, 
das sich alle Jahre stattlicher darstellt. In dankenswerter 
Weise hat die alljährlich erscheinende Denkschrift be- 
treffend die Entwicklung des Kiautschou-Gebietes durch 
‘große Panoramen von diesen Stellen aus das rasche An- 
wachsen der Stadt veranschaulicht. 

Der zweite der Höhenrücken tritt mit dem 99 m 
hohen Diederichsberge an die Seeseite, während sich der 
Moltkeberg (83 m) unfern der Bucht erhebt. Der Diede- 
richsberg trägt die weithin sichtbare Signalstation. Der 
dritte Bergrücken gipfelt im 132 m hohen Bismarckberge; 
sein südlicher Ausläufer bildet die Ostbegrenzung der 
Bucht von Tsingtau und trägt die Salutbatterie. In der 
Weitung zwischen dem Gouvernementshügel und dem 
Diederichsberge befindet sich das Gouvernements-Laza- 
rett, zwischen Diederichsberg und Bismarckberg liegt 


Tsingtau. 13 


die Bismarckkaserne, östlich vom Moltkeberge die Moltke- 
baracke; das Artillerielager endlich erstreckt sich auf 
dem Rücken östlich der Bucht von Tsingtau, nahe der 
Salutbatterie. Eine tiefe Einsattelung trennt die Tsing- 
tauer Berge von den weiter östlich befindlichen Iltis- 


Abbild. 6. Forstgarten in Tsingtau 1909. 


bergen (160 m). Sie öffnet sich im Süden gegen die 
Auguste-Viktoria-Bucht. 

Die Berge von Tsingtau waren zur Zeit der Besitz- 
nahme nackt und kahl, wie es ım nördlichen China die 
Regel ist. Der Wunsch wurde sofort rege, sie begrünt 
zu haben. Es wurde seitens des Gouvernements eine 
Oberförsterei eingerichtet, und diese nahm ausgedehnte 
Aufforstungen vor, welche von bestem Erfolge gekrönt 
sind (Abbild. 6). Heute erstreckt sich über die Tsing- 


„: 


5) 


14 Meereskunde. 


tauer- und Iltisberge ein großer zusammenhängender 
Wald von jungen, aber rasch herangewachsenen Kiefern: 
Das ist der Tsingtauer Forst; und der Reisende, der sich 
dem Lande nähert, sieht freundliche deutsche Häuser, 
überragt von grünen Bergen, ein Bild, das heimatlich an- 
mutet. Tsingtau macht nun seinem Namen Ehre; es ist 
eine grüne Insel an der erdfarbenen Küste von China. 
Ungemein rasch ist Tsingtau herangewachsen. 1910 
wurden ım Stadtgebiete 1621 Europäer und Amerikaner 
(davon 1531 Deutsche) sowie 34 180 Chinesen, insge- 
samt also 35 801 Einwohner gezählt; dazu kommen noch 
2275 Soldaten. 1902 waren die entsprechenden Zahlen: 
1688 Europäer und 14905 Chinesen, zusammen also 
15 593. Bei Beginn der deutschen Besetzung 1898 waren 
aber in Tsingtau und Tapautau kaum 1000 Einwohner 
ansässig. Bis 1903 geht ein geradezu rapides Wachstum 
der Bevölkerung, seither geht deren Zunahme langsamer 
und ruhiger, sie beträgt aber immer noch 4 % im Jahre. 
Die Neuheit der Ansiediung offenbart sich in einem 
sichtlichen Vorwalten des männlichen Geschlechts; es 
bildete 1907 zwei Drittel der weißen und 85% der 
chinesischen Bevölkerung. Hierin spiegelt sich der 
Einfluß von Hafenbau und. Errichtung der Stadt; 
durch beides wurden in großen Scharen männliche Ar- 
beitskräfte herangezogen. Sie bleiben, solange sie Arbeit 
finden, und man könnte daher glauben, daß sich nach 
Abschluß der großen Bauten nunmehr ein Abfließen der 
Bevölkerung geltend mache. Aber neuen Verdienst bieten 
Hafen, Eisenbahn, deren Werkstätten sich unfern Tsing- 
tau bei Syfang erheben, sowie namentlich die große 
Kaäiserliche Werft; sie alle benötigen eine ständige Ar- 
beiterschaft, und dieser werden Familien folgen. Schon 
erhält man in Tapautau durchaus den Eindruck einer 
seßhaft gewordenen chinesischen Bevölkerung; zahlreiche 


Tsingtau. 15 


Abbild. 7. Der Hafen von Tsingtau aus der Vogelschau. 


Nach einem Relief im Museum für Meereskunde. 


Handwerker und vor allem auch Kaufleute haben sich 
hier niedergelassen. Dagegen wiegt im eigentlichen 
Tsingtau das deutsche Element vor, wenn man von den 
auch hier zahlreichen gelben Arbeitern, den Kulis, ab- 
sieht, und man hat auf den Straßen das Gefühl, in einer 


16 Meereskunde. 


kleinen deutschen Stadt zu sein. Die Trennung des euro- 
paischen Wohnviertels von dem chinesischen entsprang 
einer vorsichtigen Überlegung; die beiden Rassen sind 
zu verschiedenartig in bezug auf Lebensgewohnheiten 
und Lebensanschauungen, als daß ein Durcheinanderleben 
rätlich erscheinen möchte. Jedenfalls würde sich die 
Reinlichkeit des europäischen Viertels kaum aufrecht er- 
halten lassen, wenn hier zahlreiche Chinesen wohnen 
würden. Doch muß auch gesagt werden, daß Tapautau 
viel reinlicher ist als die benachbarten chinesischen Städte. 

Ist auch Tsingtau in erster Linie als Stützpunkt für 


dıe deutsche Flotte in Ostasien angelegt worden, so ist 
doch von vornherein ins Auge gefaßt, es zu einem Han- 
delshafen zu machen. Zu dem Zwecke galt es, die Gunst 
der natürlichen Umstände voll auszunützen, nämlich, 
einen ordentlichen Hafen anzulegen und einen Schienen- 
weg ins Innere von Schantung zu schaffen. 

Von der Lage des Hafens istschon die Rede gewesen. 
Hier soll uns seine Einrichtung beschäftigen, die klar aus 
der in Abbild. 7 gegebenen Ansicht aus der Vogelschau 
erhellt. An der Südseite des großen ausgebaggerten, von 
dem Schutzdamm umschlossenen Hafenbeckens ist eine 
Mole mit 720 m langer Kaimauer errichtet worden, 
die sich vom Lande in westnordwestlicher Richtung er- 
streckt. Ihr parallel wurde später eine zweite Mole er- 
baut, die sich 460 m weit erstreckt; zwischen beiden 
liegt ein ı5o m breites Hafenbecken, an dessen Längs- 
seiten die größten Schiffe unmittelbar an der Kaje an- 
legen können. Gleiches ist auch auf der Nordseite der 
zweiten Mole möglich, so daß gleichzeitig mindestens 
zehn große überseeische Dampfer nebeneinander zu laden 
vermögen. An den Kajen entlang sind Eisenbahngleise 
geführt worden, so daß vom Schiffe direkt in den Eisen- 
bahnwagen uüberladen werden kann. Auf den Molen 


Tsingtau. 17 
stehen die Schuppen der Hafenverwaltung, vier auf 
Mole I und zwei auf Mole II. Am Westende der Mole I 
befindet sich ferner das Kohlenlager der Schantung- 
Bergbau-Gesellschaft. Seit I9o8 wird der Betrieb der 
Hafenanlagen durch die Kajenverwaltung des Gouver- 


Abbild. 85. Der Kreuzer ‚Fürst Bismarck‘ vor dem 
großen Kran. 


nements geführt. Die Höhe der Gebühren für Laden und 
Löschen der Ladungen sowie für deren Lagerung in den 
Schuppen richtet sich nach der Beschaffenheit der Ware. 
Anfänglich stieß dieser Tarif auf Mißtrauen, doch haben 
sowohl die europäischen wie auch die chinesischen Kauf- 
leute sich bald von seiner Vorteilhaftigkeit überzeugt. 
Neben den Schuppen der Hafenverwaltung befinden sich 
mehrere große Privatschuppen einzelner hervorragender 
europäischer Häuser und auch einer chinesischen Firma. 


18 Meereskunde. 


In einiger Entfernung von beiden Molen wurde eine Pe- 
troleum-Mole errichtet, zu welcher Schiffe mit 7,5 m 
Tiefgang gelangen können. Von hier aus führen Röhren- 
leitungen in große Behältnisse auf dem Hügel von Sau- 
tschutan, in die das schiffsladungsweise ankommende Pe- 
troleum bequem gepumpt werden kann. Am Ende des 
Hafen-Umschließungsdammes endlich liegen die Kohlen- 
| schuppen, zu wel- 
chen vom Lande 
her auf dem 
DammeeinSchie- 
nenstrang führt. 
Auf dem aufge- 
schütteten Boden 
von rund 90 000 
qm befindet sich 
hieraußerdemdie 
TsingtauerWerft, 
deren große An- 


lagen nicht bloß 
Abbild. 9. Bahnhof Tsingtau, davor die Reihe dieReparatur von 
der chinesischen Einradkarren. Kriegsschiffen, 
sondern auch den 
Bau und die Reparatur von Handelsschiffen ermöglichen. 
Hier steht seit 1905 ein mächtiger ı50o Tonnen - Kran 
(Abbild. 8); hier ist das einzige Schwimmdock an der 
Ostküste von Asien, welches fleißig benutzt wird, so im 
Berichtsjahre 1908/09 an nicht weniger als 197 Tagen 
von 35 Schiffen. Neben der Werft erstreckt- sich der 
Ankerplatz der Kriegsschiffe. Doch sieht man meist nur 
deren wenige, und der Hafen von Tsingtau erhält sein 
Gepräge durch den Handelsverkehr. Er ist ein Frei- 
hafengebiet; außerhalb desselben befindet sich ein kleiner 
Bauhafen, und weiter südlich, an Tapautau angrenzend, 
der kleine Hafen für den Dschunkenverkehr. 


Tsingtau. 19 


Kaum hatte Deutschland im Kiautschou-Gebiet Fuß 
gefaßt, so erfolgte auch die Konzession einer Eisenbahn 
in das Hinterland, und wie mannigfaltig auch die Schwie- 
rigkeiten waren, die sich dem Bau teils durch außerge- 
wöhnliche Hochwasser, teils durch die politischen Wirren 
während des Boxeraufstandes entgegenstellten, so war 
die Bahn doch bis zum vereinbarten Termine vollendet. 
Am ı. Juni 1904, genau fünf 
Jahre nach der Konzessionser- 
teilung, wurde sie in ihrer ganzen 
Länge eröffnet. Abbild. 9 zeigt 
den Bahnhof Tsingtau. Die Bahn 
führt in weitem Bogen um die 
Kiautschoubucht herum, bis zur 
Stadt Kiautschou (Sr km), die 
ihr den Namen gab. Dann geht 
es durch das ebene Gelände der 
Kiaulai-Senke über die Kreisstadt 
Kaumi (107 km) zum Weiflusse, 
der auf mehrbogiger Eisenbrücke 


überschritten wird. Nun biegt Abbild. ı0. Tempel in 
die Bahn in flachwelligesLand, um Poschan. 


zum Kohlengebiet von Fangtse 

(183 km) zu gelangen, führt dann aber wieder zur Ebene bei 
der betriebsamen Handelsstadt Weihsien (196 km) herab. 
Am Fuße eines hügeligen Landes mit einzelnen Kuppen vul- 
kanischen Gesteins gelangt sie über Tschanglohsien bis nach 
Tsingtschoufu (255 km), einer durch ihre Seide altberühmten 
Stadt Schantungs. Hier tritt sie hart an den Abfall eines 
aus älteren Schichtgesteinen bestehenden Gebirges, der 
etwas nach Norden vorspringt, und gelangt dann in eine 
weite Bucht des Gebirges. Am Südende derselben liegt 
das Steinkohlengebiet von Poschan, das die Chinesen seit 
Jahrhunderten ausbeuten. Von T'schangtien aus (302 km) 


20 Meereskunde. 


entsendet sie dahin einen 43 km langen Seitenast zur 
gewerblleißigen Stadt Poschan, an deren Südende ein 
malerischer Tempel liegt (Abbild. 10). Bei Tsetschuan 
löst sich von diesem Äste ein weiterer ab; er führt nach 
dem Hungschan-Kohlengebiete, das von der Schantung- 
Bergbau - Gesellschaft aufgeschlossen worden ist. Bei 
Tschoutsun (320 km) verläßt die Hauptlinie den Gebirgs- 
fuß und steigt in mehreren großen Windungen zu einer 
breiten Einsattelung empor, welche den 850 m hohen 
Gebirgsstock des Tschangpeischan von dem benachbarten 
wenig niedrigeren Gebirge West-Schantungs trennt; sie 
folgt hier Ausbissen von Gesteinen, die stellenweise Koh- 
len führen, dann kehrt sie zum Fuße des Gebirges zuruck 
und erreicht Tsinanfu (412 km), die heute auf 300 000 
Einwohner geschätzte Hauptstadt von Schantung. Bis 
hierher trägt von Westen das Kamel Lasten, und in der 
Nähe strömt der Hoangho, auf dem sich ein lebhafter 
Verkehr mit ziemlich kleinen Fahrzeugen abspielt. Tsi- 
nanfu wird weiter von der Eisenbahn berührt, welche die 
chinesische Regierung von Tientsin nach Nanking baut, 
und die es bereits mit Tientsin verbindet. 

Die Linienführung der Schantungbahn ist durch die 
Natur vorgezeichnet. Sie gewinnt in der breiten Kiaulai- 
Senke alsbald den Nordrand von West-Schantung und ver- 
bindet hier die gewerblichen, Handel treibenden Städte 
miteinander und mit Tsingtau, diesem ein Gebiet zu- 
führend, das bisher im Osten Hinterland von Tschifu war 
und im Westen bereits in das Einflußbereich von Tientsin 
fiel. Im einzelnen aber hält sie sich möglichst dicht an 
das Auftreten der kohlenführenden Gesteine Nord-Schan- 
tungs, deren Ausbeute bis zu einer Entfernung bis zu 
30 Li, etwa 15 km, von der Bahn deren Konzessionären 
von der chinesischen Regierung eingeräumt worden ist. 
Diese hat allerdings mehr erlaubt als ihr zusteht, denn 


Tsingtau. Di 


in China galt — wenigstens bisher — der Grundeigen- 
tümer auch als der Besitzer der Bodenschätze seines 
Grundes. Es würde zu unaufhörlichen Mißhelligkeiten 
Veranlassung geben, wenn die Schantung - Bergbau - Ge- 
sellschaft von der ihr eingeräumten Begünstigung vollen 
(Gebrauch machen wollte; mit kluger Vorsicht hat sie sich 
daher darauf beschränkt, Bergbau in Tiefen zu betreiben, 
bis zu welchen die Chinesen nicht herabzugehen ver- 
mögen, und hat sowohl bei Fangtse als auch am Hungschan 
bedeutende Bergwerke errichtet. die der Bahn sowohl 


Abbild. ır. Anlage der Asiatischen Petroleumgesellschaft in Tsingtau. 


Feuerungsmaterial als auch reichliche Frachten ge- 
währen. In ihrer gesamten Anlage und äußerst soliden 
Ausführung, die ich bei einer ziemlich ausgedehnten 
Draisinenfahrt kennen lernte, stellt die Schantung-Kisen- 
bahn ein rühmenswertes Beispiel deutschen Unterneh- 
mungsgeistes und deutscher Arbeit dar. Ihr Baukapital 
von 54 Millionen Mark kam mehr als zur Hälfte an 
deutsche Firmen zurück, und ihre Rentabilität, die vom 
Tage ihrer Eröffnung einsetzt, bekundet ihre wirtschaft- 
liche Notwendigkeit; sie hat Tsingtau zu dem gemacht, 
was es schon heute ist, zu einem der wichtigeren Hafen- 
plätze an der. Ostküste von Asien. 

Im Handel von Tsingtau überwiegt die Einfuhr die 
Ausfuhr. Voran steht die Einfuhr von Baumwollwaren und 


Meereskunde. 


N 
W 


Baumwollgarn, welche insgesamt die Hälfte des Wertes 
der gesamten Einfuhr nichtchinesischen Ursprungs aus- 
machen und auch unter den chinesischen Waren mit 
einem Viertel von deren Wert eine große Rolle spielen. 
Weiter kommt als wichtiger Einfuhrgegenstand das Pe- 
troleum (vgl. Abbild. ıı); es bildet in mehreren Jahren 
eın Zwölftel des Wertes der Waren nichtchinesischen Ur- 
sprungs, und ein Zwanzigstel der letzteren sind Zünd- 
hölzer. In gleicher Höhe halten sich dem Werte nach die 
Anilinfarben einschließlich des Indigo sowie der Zucker. 
Unter den chinesischen Waren steht dem Werte nach 
das Papier mit rund einem Viertel des Wertes ganz 
wesentlich voran. Sehr bedeutend ıst auch die Einfuhr 
von KEisenbahnmaterial: früher für den Bau der Schan- 
tung-Bahn und nunmehr für den Bau der Eisenbahn von 
Tientsin nach Pukau gegenüber Nanking, welche bei 
Tsinanfu auf einer großen, von einer deutschen Fabrik 
errichteten Brücke den Hoangho überschreitet. Dieser 
wichtige Ausfuhrartikel sowie die 'Gesamteinfuhr für 
die Bergwerke gehen als Waren, die für öffentliche 
Zwecke benutzt werden, zollfrei ein. Ihr Wert war 1909 
bis 1910 etwa ı Prozent der zollpflichtigen nichtchinesi- 
schen Einfuhr. Seit dem Jahre 1906 erscheinen auch alle die 
Waren, die für den Gebrauch der Bevölkerung von Tsing- 
tau selbst bestimmt sind, in den Einfuhrlisten. Am 
ı. Januar 1906 wurde nämlich die Stadt Tsingtau, die 
bisher als Freihandelsplatz galt, in die chinesischen Zoll- 
grenzen eingezogen und das ganze Kiautschou-Gebiet 
zollpolitisch mit dem Hinterlande vereinigt; nur noch 
der Hafen als solcher ist, wie schon erwähnt, Freihafen 
geblieben; lediglich die in der Kaiserlichen Werft ge- 
brauchten Materialien gehen deswegen zollfrei ein. 

In der Ausfuhr spielt ein Erzeugnis des Gewerbe- 
fleißes von Schantung die leitende Rolle, namlich Stroh- 
borten, die zur Herstellung von Strohhüten benötigt sind; 


Tsingtau. 23 
sie machen dem Werte nach fast vier Zehntel des Exportes 
aus. Dann folgen Landesprodukte: Erdnüsse und Erd- 
nußöl mit zwei Zehntel, ferner Seide in etwas wechselnder 
Menge mit ungefähr einem Vierzehntel des Wertes der 
Ausfuhr. In steigender Menge werden Kohlen aus dem 
Innern von Schantung nach Tsingtau gebracht und von 
dort verschifft. Man kann den Wert der letzteren jetzt 
auf rund ein Vierzigstel des Gesamtwertes der verzeich- 
neten Ausfuhr veranschlagen. Die Kohlen Schantungs 
sind von verschiedener Art und Beschaffenheit; die des 
Weihsienfeldes sind für Feuerungen mit großer Heiz- 
fläche und schwachem Zuge gut geeignet und werden 
namentlich von den Chinesen selbst gebraucht. Sie ge- 
hören zu den jüngeren Kohlen Chinas, denen des Jura- 
Systems. Die Kohlen des Hungschanfeldes hingegen 
entstammen der Karbonperiode und haben ganz und gar 
die Qualitäten echter Steinkohle; sie sind als Feuerungs- 
material für Dampfer bereits erprobt worden. Erst seit 
dem Jahre 1907 kommen die Hungschankohlen nach 
Tsingtau und gegenwärtig bereits in fast gleich großer 
Menge wie die Kohlen des Weihsienfeldes, wo die Pro- 
duktion in jüngster Zeit etwas eingeschränkt worden ist, 
da die Kohlen nicht gleiche Verwendbarkeit wie die der 
Karbonformation aufweisen. Wir geben in folgender Ta- 
belle einen Überblick über die Kohlenausbeute in den 
deutschen Gruben der beiden großen Bergbaudistrikte 
von Schantung. Daneben findet noch eine lebhafte Aus- 
beutung namentlich in der Gegend von Poschan durch 
Chinesen statt. Unsere Tabelle gibt einen Einblick über 
die in Tsingtau zum Verkaufe gelangten und teilweise 


verschifftten Kohlenmengen, und das Tonnen 
nebenstehende Diagramm zeigt, wie die Zr 

A 
Kohlenausbeuten (A) und derKohlenver- er - 


kauf in Tsingtau (V) angewachsen sind. io . 


24 Meereskunde. 


24 


Kohlenausbeute (A) der deutschen Bergwerke in Schan- 
tung und der Kohlenverkauf in Tsingtau (V). 


Weihsien- Hungschan- Weihsien- Hungschan- 

feld: Aint feld: A int feld: Vint feld: Vint 
TIORn 3 250 E= TODE — = 
TOOSWRR Eee 38 262 == T9ORFEN re 3 360 — 
TIOA. 84 888 — LOCO ATER 9 780 = 
TOO ARE re 132 90I — ETGOSERE 40 640 - 
To 00 162 417 — | 19008. 65 505 — 
TOOH Re: 151552 27 TORE NETTE TE 39 442 1245 
1908 183 0IO 48 458 T9OS 49 613 5513 
TIOG re E 287 460 123701 TOO RE 93 613 33 012 
NOMS on a DAHER | Dt 0%) TOLOSEREF RE 69 467 69 209 


Auch Salz spielt in der Ausfuhr von Tsingtau eine 
wichtige Rolle. Es wird an verschiedenen Stellen der 
Kıiautschoubucht, namentlich auf der beinahe landfest ge- 
wordenen Insel Yintau, seit 1903 gewonnen, in Dschunken 
nach Tsingtau gebracht und geht von dort mit Dampfern 
nach dem Süden Chinas, namentlich in das Yangtse- 
gebiet, nach Hongkong sowie nach Norden nach Wladi- 
wostok. Endlich sei auch der Viehausfuhr von Tsingtau 
gedacht, die sich namentlich nach Wladiwostok richtet. 

Nach den Zusammenstellungen der chinesischen See- 
zollbehörde hat sich die Einfuhr der nichtchinesischen 
Waren innerhalb von acht Jahren versechsfacht, der chi- 
nesischen Waren hingegen vervierfacht. Aber noch be- 
trächtlicher ist das Anwachsen der Ausfuhr gewesen: sie 
hat sich in acht Jahren verelffacht, und während sie 1900 
bis 1902 lediglich die Höhe der Einfuhr chinesischer 
Waren erreichte, so hat sie sich nun bereits über die 
Höhe der Einfuhr der Waren nichtchinesischen Ursprungs 
gehoben. Letztere war in den letzten Jahren durchschnitt- 
lich zwei- bis dreimal so groß als die Einfuhr der chinesi- 
schen Waren. Während 1901 bis 1902 die Ausfuhr nur 
27 Prozent des Gesamthandels ausmachte, hat sie sich 
1909 bis I9IO auf 45 Prozent desselben gehoben. Die 


tv 
a 


Tsingtau. 


Bedeutung des Gesamthandels aber wird am besten da- 
durch charakterisiert,- daß Tsingtau bereits zehn 
Jahren deutscher Verwaltung an die siebente Stelle unter 
den chinesischen Seezollämtern rückte und bereits 1907 


nach 


nur von Schanghai, Kanton, Tientsin, Hankau, Swatau 
und Tschin-Kiang übertroffen wurde. 20 Prozent der 
Einnahmen des Seezollamtes Be 
werden an die Verwaltung des ren 
Kiautschou-Gebiets abgeführt. % 
Nebenstehende Zeichnung ver- an 
anschaulicht das Anwachsen 


des Handels von Tsingtau; die 
Werte, um die es sich handelt, 
gibt unsere Tabelle an. 


1901/2 


Handel von ee in Millionen Mark. 


1901/02 1902/03 | 1903/ v4 | 1904, 05) | 1905 06. 1906/07 | 1907, 08 | 1908/09 | 1909/10 
| l l 
Gesamteinfuhr von Waren | | | | 
nicht chinesischen Ur- | | 
sprungs (ausschl. Mate- £ | 
rialien für Eisenbahn- | 
und Bergbau)... ... 7,844,14,893 23 251132,515 48,324 61,560 37,965 45,579| 48,396 
Gesamteinfuhr von Waren | | | 
chinesischen Ursprungs | 4,672| 8,058 10,672 12,129 14.747| 20,810 17,413) 23,460 17,067 
Gesamtausfuhr....... 4,918| 7,973|14,305|19,882|22,535| 34,2 223 32,596 47,343 54,731 
Zusammen ... |17:434'30,924 48,228/64,526 85, 606 116, ‚593 187, 974 116,382 120,194 


Die offiziellen Angaben über Einfuhr 


und Ausfuhr werden in mexikanischen Dollars 


gemacht, deren Wert wie folgt schwankt: 


Wert des Dollars = Mark] 1,86 | 1,79 | 1,94 | 1,99 | 2,17 | 2,26 | 1,77 1.79 1,37 
Dem steigenden Handel entspricht ein ständiges 
Wachstum des Schiffsverkehrs ın Tsingtau, das aus 


0000 Tons 


unserer Zeichnung und Tabelle 
erhellt "Sieht den 


Dschunken ab, so hat dieser sich „,. ans 
Pr 1898 190 


binnen zwölf Jahren bis zur Höhe en 
‚00 Schiffe 


des Verkehrs von Emden oder 


man von 


26 Meereskunde. 


Schiffsverkehr von Tsingtau. 
Einlaufende Schiffe (nur solche europäischer Bauart, keine Dschunken). 


1.Oktoberbis 
30.September 


Insgesamt 


Segler 
Zahl | Netto-R.T. 


_ Dampfer 
Zahl 'Netto-R.T. 


Zahl Netto-R.T. 


1898,1899. .| 167 — 9 | — 176 — 

1899/Igoo.. ..| 182 210 796 *1K0) 15 356 192 102200152 
Igoo/Igo1..| 311 463 977 5 7979 316 | 471956 
I901/Igo2. .| 243 261 809 7 Io 058 250 271 867 
1902/1903... | 263 276 393 9 9 976 272 286 369 
1903/1904... | 330 | 381419 7 6 904 337 | 388 323 
1904/1905... .| 405 4Io 355 8 10 162 413 420 517 
1905/1906... . | 42 475 884 I 762 425 476 646 
1906/1907... | 498 | 544 786 I 2.057 499 | 546843 
1907/1908. .| 431 SI7TAA! I 1578 432 519 292 
1908/1909. . | 509 665 534 2 4551 5II 670 085 
1909/1910. .| 568 806 759 2 -- 568 806 759 


Lübeck unter den Häfen des Deutschen Reiches entwickelt 
(vgl. Tabelle); er steht in bezug auf die Tonnenzahl der ver- 
kehrenden Schiffe unter den deutschen Ostseehäfen 
nur Stettin, Rostock und Neufahrwasser nach und ist 
dem des letzteren neuerlich sehr nahe gekommen. Das 
gilt aber nur vom Tonnengehalt, nicht von der Zahl der 
verkehrenden Schiffe; denn letztere sınd fast ausschließ- 
lich Dampfer, und zwar solche regelmäßig verkehrender 
Linien. Die Hamburg-Amerika-Linie unterhält einen 
regelmäßigen Verkehr zwischen Tsingtau, Schanghai so- 
wie Tientsin durch drei Dampfer von rund 1000 Tonnen 
Gehalt, namlich „Admiral v. Tirpitz“, „Staatssekretär 
Kraetke“ und „Sikiang“. Wöchentlich zweimal fahren 
Dampfer nach Schanghai und zurück, einmal nach Tien- 
tsın und zurück. Außerdem fahren zwischen Tsingtau 
und Schanghai wöchentlich die Dampfer ‚„Taksang‘“ der 
India-China Steam Navigation Co. und „Singlee“ der 
Firma Siemssen & Co. Japanische Dampfer unterhalten 


-6061 saquısYdas 'E we JJ ajoy ne yoıg ZI 'PIIqqV 


Rn 20 gan na nme m 


28 Meereskunde. 


eine monatliche Verbindung nach Kobe in Japan. In 
letzter Zeit ist der Verkehr nach Wladiwostok ein ziem- 
lich lebhafter geworden: 1908 bis 1909 gingen nicht 
weniger als 43 Dampfer dorthin. Dagegen ist der direkte 
Verkehr mit Europa noch ein verhältnismäßig geringer. 
Erst im Jahre 1908/09 nahm er eine gewisse Regelmäßig- 
keit an, als die englische Peninsular and Oriental Steam 
Navigation Co. ihre großen Dampfer regelmäßig Tsing- 
tau anlaufen ließ. Dann folgten seit 1909 bis 19IO auch 
die Reichspostdampfer des Norddeutschen Lloyds, all- 
monatlich einmal bei der Ausreise und Heimreise. Auch 
die japanische Gesellschaft Nippon Yusen Kaisha betei- 
ligt sich neuerlich am direkten Verkehre nach Europa. 
Nicht unerheblich endlich ist der Verkehr von Petroleum- 
Schiffen, die, von Amerika oder Südasien kommend, etwa 
monatlich einmal nach Tsingtau gelangen. Letzteres 
spielt also im lokalen Verkehre an der chinesischen Ost- 
küste eine recht ansehnliche Rolle und wird seit kurzem 
auch in den großen Weltverkehr einbezogen, der von 
Europa nach Ostasien führt und dessen Endstation 
Yokohama ist. 

Zur ursprünglich geplanten Flottenstation Tsingtau 
hat sich aber nicht bloß ein lebhafter Handelshafen ge- 
sellt, sondern Tsingtau ist auch Seebad geworden: Die 
Auguste-Viktoria-Bucht östlich der Stadt bietet einen vor- 
zuglichen Badestrand (Abbild. 13), und hier entwickelt sich 
während der Sommermonate ein recht lebhaftes Bade- 
leben; es kommen alljährlich einige hundert Europäer 
oder Amerikaner aus den ostasiatischen Städten, um die 
Annehmlichkeiten eines nicht allzuwarmen Sommers zu 
genießen: sie finden in den Tsingtauer Bergen eine 
Menge anmutiger Spaziergänge zwischen dem rasch em- 
porwachsenden Nadelwalde. Aber auch weiterhin bietet 
die Umgebung von Tsingtau landschaftliche Reize. Dies 


Tsingtau. 29 
gilt insbesondere vom Lauschangebirge, ein Granit- 
gebirge, welches sich dicht am Meere bis zu Brockenhöhe 
erhebt. Man kann es unter den deutschen Gebirgen der 
Form nach am besten mit dem Riesengebirge vergleichen; 
es besteht aus mehreren parallel gerichteten Kämmen, 
auf deren bequem gangbaren Flächen sich ähnlich den 
Steinen des Riesengebirges oder den Klippen des Brockens 
einzelne Felsgestalten von 50 bis 60 m Höhe erheben. Sie 
scheinen nur ein Haufwerk lose übereinanderlagernder 


Abbild. ı3. Badestrand von Tsingtau an der Auguste-Viktoria-Bucht. 


mächtiger Granitblöcke zu sein, doch stellen sie in Wirk- 
lichkeit feste Aufragungen dar, die nur äußerlich durch 
die Verwitterung stark angegriffen sind. Sie bieten dem 
Bergsteiger prächtige Gelegenheit für Kletterpartien: da 
ist die schwer ersteigbare „Fünffingerspitze‘“ und der 
schwierig zugängliche „Dom“ (Abbild. 14 u. ı5). Der 
Gipfel des Lauschan selbst ist durch den Alpenverein in 
Tsingtau leicht gangbar gemacht worden; überdies hat 
der genannte Verein durch das ganze Gebirge ein Netz 
von bequemen Fußpfaden angelegt und einzelne Unter- 
kunftshäuser errichtet, von denen man ebenso leicht zu 
aussichtsreichen Gipfeln wie zu einzelnen malerischen 
Waldpartien oder zu Wasserfällen der dem Gebirge ent- 
strömenden Flüsse gelangen kann; ja, einzelne Deutsche 


30 Meereskunde. 


haben bereits sich Landhäuser im Gebirge errichtet. 
Mitten im Gebirge hat ferner die Deutsche Kolonial-Ge- 
sellschaft im Jahre 1904 ein Genesungsheim erbaut, das 
„Mecklenburghaus‘, das, auf einem Passe gelegen, den 
Erholungsbedürftigen der Garnison frische Luft und 
prächtige Umgebung darbietet. Ungemein reizvolle 
lLandschaftsbilder finden sich namentlich an der Süd- 


Abbild. 14. Fünffingerspitze im Lauschan. 


küste: da liegen in Winkeln versteckt kleine Dörfer, 
malerisch beschattet von Bäumen, während draußen das 
Meer an die Vorgebirge brandet. Neben dem Lauschan- 
gebirge bieten die bei weitem niedrigeren, aber gleich- 
falls mit steilen Gipfeln ausgestatteten Prinz Heinrich- 
Berge prächtige Ausflüge. 

Soweit es Land umfaßt, deckt das Kiautschou-Ge- 
biet 501 qkm und hatte nach einer Ermittlung des Jahres 
1898 eine Bevölkerung von rund 84 000 Seelen, die 1910 
(ohne Tsingtau) auf 127 000 gestiegen ist. Damals kamen 
also auf den Quadratkilometer 168, heute 254 Bewohner, 
und wenn man die 38 000 Einwohner von Tsingtau hinzu- 
nımmt, gar 330. Das sind Zahlen von einer Höhe, wie sie 


Tsingtau. 31 


in Europa nur dicht besiedelte Industriegebiete, wie z. B. 
das Königreich Sachsen, aufweisen, und sie sind um so 
überraschender, als nahezu die Hälfte des gesamten Ge- 
bietes Gebirge mit recht steinigem Boden ist. Aber der 
genügsame Chinese weiß hier immer noch ein Winkel- 
chen zu finden, wo er ein Feld anzulegen vermag, und 
kleine Dörfer sind über das ganze Lauschangebirge bis 
zu Höhen von 500 m verstreut; es finden sich selbst hier 
mehr als 100 Bewohner auf der Flächeneinheit. Viel stärker 


Abbild. ı5. Der Dom im Lauschan. 


sind natürlich die Ebenen besiedelt, die sich zwischen das 
Gebirge drängen, und die einzelne Zuflüsse des Litsuner 
Flusses und des Paischaho begleiten. Hier liegen stattliche 
Dörfer, deren erdfarbenen Häusern allerdings der freund- 
lich anheimelnde Zug unserer Dörfer fehlt, und es finden 
sich 300 bis 400 Menschen auf den Quadratkilometer. Das 
Dorf Litsun ist ein wichtiger Markt für die örtlichen Be- 
dürfnisse; der Markt selbst wird bezeichnenderweise im 
Flußbette abgehalten, welches den größten Teil des Jahres 
über trocken liegt und nur zur Regenzeit sich mit Wasser 
füllt. Die Ermittlung der Einwohnerzahl des Kiautschou- 
Gebietes gibt zum ersten Male die genauere Feststellung 
der Zahl der Menschen in China in einem rein landwirt- 
schafttreibenden Gebiete. Man kann nach ihrem Ergeb- 
nisse den Angaben chinesischer Quellen einiges Zutrauen 


32 Meereskunde. 


entgegenbringen, wonach auf der Halbinsel Schantung 
in der Provinz gleichen Namens auf 150 000 qkm 37 Milli- 
onen Menschen wohnen. Die Würdigung dieser Zahl 
aber ıst von größter Bedeutung für die Bewertung des 
gesamten Kiautschou-Gebietes. 

Es ist ein Bild von einer stattlichen geleisteten Ar- 
beit und stetigen rüstigen Fortschrittes, den der Blick 
auf [singtau entrollt. In raschem Fluge hat es sich unter 
die sieben ersten der 36 Vertragshäfen gestellt, welche 
China dem Verkehr mit der Fremde geöffnet haben, und 
zweifellos wird Tsingtau noch weiter fortschreiten in der 
erfolgreich eingeschlagenen Bahn und noch weiter in den 
\ ordergrund unter den chinesischen Vertragshäfen 
rücken. Nur darf man nicht erwarten, daß es die Stellung 
von Hongkong erlangen wird; denn dessen Lage ist eine 
unvergleichlich viel günstigere. Alle die Schiffe, die von 
Europa nach dem fernen Osten Asıens gelangen wollen, 
müssen eben Hongkong passieren, und ebenso alle Schiffe, 
die von Amerika nach dem Süden Asiens sich richten. 
Tsingtau liegt etwas abseits von diesen großen natür- 
lichen Verkehrslinien. Selbst die Schiffe, die von Schang- 
hai in den Golf von Tschili, nach Tschifu oder Dalny oder 
Tientsin steuern, müssen einen Umweg von rund 
121 Seemeilen machen, entsprechend zehn Stunden 
Dampferfahrt, wenn sie Tsingtau anlaufen wollen. In 
dem Umstand, dab sie es heut größtenteils tun, liegt der 
schlagende Beweis für die Anziehungskraft des deutschen 
Hafens. Der Weg zu ihm ist nicht unwesentlich abge- 
kürzt worden, als die Schiffe der Hamburg-Amerika- 
Linie es wagten, über die Bänke hinweg zu fahren, welche 
ältere Seekarten nördlich der Mündung des Yangtsekiang 
angeben. Sie haben festgestellt, daß hier durchweg die 
erforderlichen Tiefen vorhanden sind, und Vermessungen 
des Schiffes „Iltis“ haben dann klargelegt, daß die viel 


Tsingtau. 33 
gefürchteten Bänke eine ganz andere Lage besitzen, als 
auf den englischen Seekarten angegeben. Für die Dampfer 
aber, welche zwischen Schanghai und Japan verkehren, 
‚bedeutet der Besuch von Tsingtau einen Umweg von 
nicht weniger als 430 Seemeilen, also rund 36 Stunden 
Fahrt. Ein solcher Umweg kann nur dann gemacht 
werden, wenn ihn der 
Handel von Tsingtau 
bezahlt macht: Die 
Größe dieses Handels 
aber hängt von der 
Größe und dem Reich- 
tum des natürlichen 
Hinterlandes von 
Tsingtau ab. Nie wird 
er eine ähnliche Be- 
deutung erlangen kön- 
nen, wie der Handel 


& 


‘ 
Nagasa h. 


1:30 000000 


010 200 300 WO S00 km 


von Schanghai, wel- Abbild. 16. Eisenbahnen um Tsingtau. 


chem das ganze weite, 

große und fruchtbare Gebiet des Yangtsekiang offen- 
liegt, und es wird auch Tsingtau wohl nicht die 
Bedeutung von Kanton erhalten, dem das zweite Ge- 
biet des Sikiangstromes zufällt. Dagegen kann Tsing- 
tau wohl ein ernsthafter Rivale von Tientsin werden, 
denn wenn letzteres auch zwei der größten chinesischen 
Städte, Tientsin und Peking, zu versorgen hat, so ist doch 
sonst sein Hinterland verhältnismäßig dünn besiedelt. Es 
birgt innerhalb der großen Gaue in der Provinz Tschili 
nur halb so viel Einwohner, als das Hinterland von 
Tsingtau auf der Halbinsel von Schantung. Sehr viel 
weiter jedoch dürfte sich die Einflußsphäre von Tsingtau 
kaum jemals erstrecken, namentlich dürfte ihr nicht das 
weite Gebiet des Hoangho zufallen. Der Punkt nämlich, 


4 Meereskunde. 


nm 


wo der große Strom aus dem Gebirge unfern Kaiföng 
heraustritt, liegt etwa gleich weit von Tientsin, von 
Tschinkiang am Yangtsekiang und von Tsingtau entfernt, 
ist aber von beiden erstgenannten Häfen auf direkterem 
Wege zugänglich und fällt also eher in deren Einzugs- 
gebiet als in das des deutschen Hafens. Selbst das west- 
liche Schantung ist nicht dessen unbestrittenes Hinter- 
land; denn der Weg von Tsinanfu nach Tientsin ist etwas 
kürzer als der von dort nach Tsingtau, weswegen bei ent- 
sprechender Verwaltung die kürzlich eröffnete chinesi- 
sche Eisenbahnlinie von Tientsin nach Tsinanfu den Ver- 
kehr von Tsinanfu nach Tsingtau etwas schmälern kann, 
während anderseits sie auch der deutschen Eisenbahn- 
linie neuen Verkehr zuführen dürfte. Dazu gesellt sich 
eın weiterer Vorteil, nämlich den direktesten Weg vom 
offenen Meere nach der chinesischen Hauptstadt darzu- 
bieten, einen Weg, der in halb so viel Zeit zurück- 
gelegt werden kann, wie heute die Dampfer benötigen, 
und der unabhängig ist von dem winterlichen Eise, 
welches den Hafen von Tientsin alljährlich blockiert. 
Aber dieser Vorteil wird wieder teilweise verloren gehen, 
wenn die Fortsetzung der Tientsin— [sinanfu-Bahn nach 
Pukau am Yangtsekiang gegenüber von Nanking gelangt 
sein wird, von wo bereits eine Eisenbahn nach Shanghai 
führt. Dann wird Schanghai der Hafen werden, von dem 
der von der See kommende rasche Reisende nach Peking 
fährt, möge er von Japan oder vom Süden her kommen. 

Schantung selbst ist allerdings ein Einzugsgebiet, 
das einen stattlichen Hafen zu speisen vermag; ist es 
doch ein Land von wahrscheinlich 37 Millionen Bewoh- 
nern, also mit einer Seelenzahl von 34 Japan. Allerdings 
bietet die Landesnatur weder die malerischen Reize noch 
die klimatische Begünstigung von Japan dar. Auch ist 
der Kohlenreichtum von Schantung entschieden nicht so 
groß, wie bisweilen angenommen worden ist; selbst im 


Tsingtau. 


> 
Iı 


Hungschangebiete ist die Gesamtmächtigkeit der Kohle 
nur 2,7 m, und diese verteilt sich auf nicht weniger als 
fünf verschiedene Flötze. Aber es kann keinem Zweifel 
unterliegen, dab dann, wenn es gelingt, die großen Men- 


schenmassen von Schantung ım Sinne der modernen 


Abbild. 17. Das Grab des Konfutsius in Küfou-hsien. 


Weltwirtschaft zu beschäftigen, sie für industrielle Ar- 
beiten heranzuziehen, für welche der Boden von Schan- 
tung nicht bloß die erforderlichen Kohlen, sondern 
namentlich auch die nötigen FEisenschätze darbietet, 
sich die Bedeutung von Tsingtau mehr und mehr heben 
wird und der größerer japanischer Häfen nahezu gleich- 
kommen wird. Von diesem Augenblicke an aber werden 
sich die Wege des Weltverkehrs ebenso nach Tsingtau 


richten, wie heute nach Japan. 


36 Meereskunde. 


Es kommt also im wesentlichen darauf an, die Be- 
völkerung von Schantung wirtschaftlich zu heben. Die 
Marineverwaltung hat diese Notwendigkeit mit voller 
Nlarheit erkannt, und Tsingtau hat die Mittel und Wege 
erhalten, auf das geistige und wirtschaftliche Leben von 
Schantung einen maßgebenden Einfluß auszuüben. Es 
ist 1910 eine chinesische Hochschule errichtet worden, 
welche in Tsingtau jungen Chinesen die Möglichkeit 
darbietet, sich mit der abendländischen, speziell deutschen 
Kultur vertraut zu maehen.. Tsingtau wird in Zukunit 
nicht bloß ein Hafen sein, in welchem deutsche und chine- 
sısche Waren ein- und ausgeführt werden, sondern es 
wird auch die Stelle, wo deutsche Kultur mit der chine- 
sischen einen Berührungspunkt gewinnt. Dies ist aber 
um so höher zu schätzen, als Schantung im geistigen 
Leben Chinas von altersher eine hervorragende Rolle 
spielt: es ist das Geburtsland des großen chinesischen 
Sittenlehrers RK onfutsıus, won "Kunert 
dessen Nachkommen noch ım Lande leben. 


Literatur, 

Ferdinand Freiherr v. Richthofen. China. Ergebnisse eigener 

Reisen und darauf gegründeter Studien. II. Bd. Berlin 1882. 
Kiautschou. Seine Weltstellung und voraussichtliche Be- 

deutung. 26. Dezember 1897. Berlin. Georg Stilke.. — 
Schantung und seine Eingangsptorte Kiautschou. Berlin 1898. 

Fr. Behme und M. Krieger. Führer durch Tsingtau und Um- 
gebung. Wolfenbüttel. 4. Aufl. 1910. 

G. Wegener. Das Kiautschougebiet. In Hans Meyer. Das Deutsche 
Kolonialreich, II. S.499. Leipzig 1910. Bibliographisches Institut. 

Dr. Betz. Die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz Schantung 
seit der Eröffnung Tsingtaus (1898 bis 1910). Veröffentlicht 
von der Handelskammer in Tsingtau. Tsingtau ıgır. 

Denkschrift betreffend die Entwicklung des Kiautschou- Gebietes. 
Für die Jahre 1898/1899 bis einschließlich 1908/1909 alljährlich 
erschienen. 


Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn, 
Berlin SW., Kochstraße 68 —71. 


UNI 


5 WHSE 


ESTSSERLISTITERER ST LTERT 


EEE EN RENSETE = ee 
ER ENETE 


n EEE ET EM EEIELTECE N Tee CR 2 2 = a nut ehe . r> 
EN EEE TEE III DEE R 176 Fe re ven gene - 2. na ee en A Ir nee = = re ee 
een Sie tr Be z 058 co ET S 2 VEIRÄRTTTTTEH > RE 


ee ei 2 
le 


Kr 


EEE EEE 


ee RE 
nn rn rn nn a re 


re