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MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
=)
Herausgegeben vom
INSTITUT FÜR MEERESKUNDE
ZU BERLIN
UNTER SCHRIFTLEITUNG VON WALTER STAHLBERG
Fünfter Jahrgang
Mit zahlreichen Abbildungen und Karten
o()o
Berlin ıg91ı
Ernst Siegfried Mittler und Sohn
Königliche Hofbuchhandlung
Kochstraße 68-71
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Alle Rechte aus dem Gesetze vom 19. Juni 1901 ‘
sowie das Übersetzungsrecht sind vorbehalten. 2
Heft ı:
Heft 2:
Heft
Heft 4:
Heft
Heft 6:
Heft 7:
Heft S:
Heit 9:
Heft ı0:
Heft ır:
Heft ı2:
(#7?)
[97]
INHALT:
Behrmann, Walter, Dr, Der Deichschutz an Deutsch-
lands Küsten.
Koch, P., Geh. Admiralitätsrat, Kriegsrüstung und
Wirtschaftsleben.
Mecking, Ludwig, Dr., Der Golfstrom in seiner histo-
rischen, nautischen und klimatischen Bedeutung.
Hochstetter, Franz, Dr., Die Abschaffung desbritischen
Sklavenhandels im Jahre 1806,07, ein Kapitel aus der
britischen Schiffahrtspolitik.
Michelsen, Fregattenkapitän, Unterseebootsunfälle
unter besonderer Berücksichtigung des Unfalls auf
uU"S3.
Lütgens, Rudolf, Dr, Valparaiso und die Salpeterküste.
Maurer, H., Professor Dr., Der Kreisel als Kompaß-
ersatz auf eisernen Schiffen.
Wittmer, R., Kapitän zur See a. D, Die Zusammen-
setzung und Taktik der Schlachtflotten in Vergangen-
heit und Gegenwart.
Krebs, Norbert, Dr., Die Häfen der Adria.
Kroß, G. W., Die Fahrten eines deutschen See-
mannes um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
Ebeling, A., Dr, Ferngespräche über See.
Penck, Albrecht, Professor Dr., Tsingtau.
an
Berichtigung: In der Unterschrift des Schlußbildes von Heft 10
muß es heißen: Altonaer Bark „Neuhof“ statt Altonaer Bark „Lotse‘“.
U)
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG ERSTES HEFT
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten.
Von Dr. Walter Behrmann.
ahren wir hinaus zum Besuch der Nordseebäder
und haben wir die unfruchtbaren und armen Ge-
biete der Gest durcheilt, haben wir die toten, un-
endlich weiten Moore aufatmend hinter uns gelassen,
so begrüßt uns eine prächtige grüne Ebene, durchzogen
von weiten Was-
serstraßen, aut
denen dahinzie-
hende Schiffe die
Nähe des Meeres
künden. Auf ihr
tummelnsichedle
Rosse oder liegen
in tiefer Beschau-
lichkeit wieder-
käuende, fette
Rinder, ein Bild
der Freiheit im Abbild. ı. Marsch bei Blankenburg (Oldenburg).
Tierleben, das
den Mitteldeutschen seltsam berührt. Und hinter einzelnen,
vom Sturm schräggewehten, aber kräftigen Bäumen ge-
schützt, liegt in reicher Behäbigkeit das Wohnhaus des
Menschen mit seinen bergenden Scheunen und stroh-
Meereskunde, Vorträge. V. Heft z. I
Meereskunde.
169)
bedeckten weiten Stallungen. Reichtum und Ordnung zeigt
die ganze Landschaft. Wohlgepflegte Landstraßen durch-
ziehen sie geradlinig, alles an ihr ist gewollt, alles geschaffen,
nichts zufällig oder unangetastete Natur. Dann nähern wir
uns dem Meere und spähen aus, um, wie die Griechen, mit
Freude die unendliche Weite zu begrüßen. Aber ver-
geblich. Zwar schmecken wir an der salzigen Luft die
Nähe, zwar scheinen uns alle Gegenstände in duftiges
Abbild. 2. Das Watt des Jadebusens
vom Arngaster Leuchtturm gesehen, im Vordergrund der Wilhelms-
havener Leitdamm.
Blau gehüllt, infolge der dicken Atmosphäre. zwar hören
wir vielleicht auch die Damptpfeifen der Schiffe. Die
Aussicht sperrt aber ein kleiner, unscheinbarer Wall, der
sich, soweit das Auge reicht, hinzieht. Das Vieh aut
seiner Höhe hebt sich groß gegen den Horizont ab.
Einzelne Zäune laufen quer über ihn hin, sonst unterbricht
nichts die einförmige Linie. Es ist der Seedeich. Mit
einer gewissen Geringachtung betrachtet man ihn. Man
hat sich ihn imponierender vorgestellt.
Erst wenn die Bahn ihn erklommen und plötzlich das
Meer vor uns auftaucht, dann ahnt man die Bedeutung dieses
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten.
ws
Grenzwalles. Denn ist es Ebbe, so dehnt sich trostlos vor
uns aus die tote Fläche des Watts, hinter uns die Gefilde
des Wohlstandes, die Sphäre menschlicher Arbeit und
Kraft, vor uns aber das Feld der mitleidloser: Naturkräfte.
So scheidet dieser grüne Wall zwei Welten. Ist es aber
Flut, kommen die Wellen, vom Sturm gejagt, gegen
das Land gestürmt, so sieht man, wie das Wasser
höher steht als die Wohnungen der Menschen, wie ohne
den Deich die schäumende Wildnis über das ganze frucht-
bare Land sich ergießen würde. Man erkennt, wie in dem
unscheinbaren Erdwall ein festes Bollwerk dem Ansturm
entgegengesetzt ist. Man bekommt Achtung vor dem
Menschenwerk und sieht ein, wie richtig das alte Friesen-
wort für dies Land geprägt ist: »kein Land ohne Deich«.
Die geschilderten Bilder aber genießt man nur bei
Annäherung an die Nordseeküste, die Ostseeküste verhält
sich in diesem Punkte völlig anders. Fragen wir uns, was
bedingt denn gleichzeitig die Ungunst der Natur, daß wir
uns schützen müssen gegen sie, und die Gunst der Natur,
daß sie uns Wertvolles zu schützen schenkte? Wodurch ent-
standen die fruchtbaren Marschen an der Nordsee, warum
muß ein Deich sie uns verteidigen?
Um die Bedingungen für die Entstehung der Marschen
uns zu vergegenwärtigen, wollen wir einen Blick auf die
weitere Umgebung der deutschen Nordseeküste werfen.
Fast unmerklich flacht sich der Boden Deutschlands von
den Mittelgebirgen bis zur Küste ab, von welcher Seite
man sich auch der Küste nähert, nirgends wird durch
einen Abfall die Annäherung merklich. Ja, die Ab-
flachung des Landes hört nicht auf mit dem Meeresrande,
Sie, setzt. sich fort "bis weit ‘ins Meer: hinein. "Besteht
doch die ganze Nordsee aus einem gleichförmig seichten
Meere, das im Mittel nur die geringe Tiefe von 89 Metern
erreicht. Die Nordsee stellt eben nur eine Transgression
r?
4 Meereskunde.
des Meeres über einen Teil des Kontinentes dar, dessen
Grenze nicht an der Meeresküste, sondern westlich der
Hebriden und Shetlands-Inseln zu suchen ist. So steht
also unsere Küste als Flachküste im großen Gegensatz
zu den Steilküsten vieler anderer Länder. Gerade die
Flachheit des Vertikalprofils ist das Charakteristische an
ihr, durch sie ist der ganze Aufbau des Küstenstreifens
bedingt. Es ist nämlich von vornherein klar, daß bei
einer flachen Überspülung des Meeres über das Land in-
folge einer geringen Bodenschwankung, wie sie ja so oft
beobachtet wird, viel leichter Veränderungen in der
Form der Küste eintreten können, als bei einem Steil-
absturz des Landes in ansehnliche Meerestiefen. Dort
nämlich würde selbst eine stärkere Hebung oder Senkung
des Landes nur eine kaum merkliche Änderung im Aus-
sehen der Küste hervorrufen. Hier dagegen wird eine
noch so kleine Schwankung des Bodens oder des Meeres
ansehnliche Partien des Meeresbodens freilegen oder weite
Flächen Landes unter Wasser setzen.
Aber auch die Wirkung der Meereswellen ist bei
einer Flachküste und einer Steilküste wesentlich ver-
schieden. Dort peitscht die Welle gegen die Felsen und
nagt an ihnen, wird aber in dem meist festen Material nur
Höhlungen oder Felsterrassen erzeugen können. Hier
dagegen läuft sie auf das flache Ufer auf, die Kreis-
bewegung der Wasserteilchen kann bei dem flachen
Strande nicht vollendet werden, die Welle schlägt über.
Eine Brandungszone, die je nach der Größe der Wellen
bald näher, bald ferner dem Ufer liegt, zeigt dies Gebiet
an, der Boden des Meeres wird aufgewühlt und als
Strandwall zur Küste geschoben. Hier kann er aus-
trocknen und ein Spiel der Winde werden. So begleiten
fast regelmäßig Dünenketten die Flachküsten der Erde.
Und auch an der Nordsee finden wir eine lange Kette
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten.
tyı
von Dünen, die bei der Rheinmündung beginnt, bis zum
Eingang der Zuider See die Küste begleitet, dann auf die
Friesischen Inseln überspringt, um endlich wieder in Jütland
ohne Unterbrechung aufzutreten. Auch die Ostsee ist
auf weite Strecken von derartigen Dünen begleitet.
Doch welch einen Gegensatz bieten beide Küsten!
In der Ostsee laufen die vom Winde getriebenen Wellen
schräg auf das Land, jede spült etwas fort und trägt es
ein kleines Stückchen weiter, die Arbeit wird von der
nächsten Welle fortgesetzt. Aus dieser sich immer
wiederholenden Arbeit resultieren achtunggebietende
Wirkungen. Wir sehen hier, wie an jede Biegung der
Küste sich ein Haken oder eine Nehrung anschmiegt.
Die Flüsse lassen ihre mitgeführten Schlammteilchen
sinken und suchen die Buchten, in die sie mit weitem
Delta münden, zuzuschütten. Reiche Vegetation nimmt
sofort von dem durchfeuchteten Boden Besitz und fängt
ihrerseits wieder die Alluvionen der Flüsse. So arbeitet
hier alles an dem Ausgleich der unregelmäßigen Küste
und sucht eine gleichförmige Küstenlinie zu schaffen.
An der Nordsee kennen wir keine langen Küsten-
haken und Nehrungen, kennen wir keine abgeschnürten
Strandseen, wie an der Ostsee, kennen wir keine Sumpf-
waldungen, vielmehr dehnen sich hinter einem zer-
stückelten Inselkranz weite Watten und Marschen, die der
Ostseertehlen.
Der Gegensatz der Küsten ist natürlich durch den
Gegensatz der Meere bedingt, er gibt uns den Schlüssel
zum Verständnis. In der Ostsee haben wir ein ab-
geschnürtes Meer vor uns mit nur schmalen Eingängen
zur Nordsee, in der Nordsee dagegen ein an zwei Stellen
mit dem offenen Ozean in weiter Verbindung stehendes
Meer, am Kanal sowohl wie bei den Shetlands-Inseln.
Die Nordsee hat daher wie der Ozean zweimal am Tage
Ö Meereskunde.
Abbild. 3. Die Marsch bei Elsfleth in Oldenburg.
Ebbe und Flut, die der Ostsee ıtast ganz ıehlen, sie
hat einen starken Salzgehalt, der der Ostsee auch fast
völlig mangelt.
Unter Ebbe und Flut verstehen wir bekanntlich das
Anschwellen des Meerwassers, wie es durch die Anziehungs-
kraft des Mondes und der Sonne bedingt wird. Wirken
beide in der gleichen oder entgegengesetzten Richtung,
so erhalten wir die sogenannte Springflut, wirken beide
rechtwinklig zueinander, so ergibt sich die niedrige Nippflut.
Der Meeresspiegel der Nordsee schwankt also nicht nur im
Laufe des Tages zweimal auf und nieder, sondern schwillt
auch zweimal im Monat zu bedeutenderer Höhe an. Nun
hatten wir eingangs gesehen, daß bei einer Flachküste
bei jeder Meeresschwankung größere Teile des Meeres
trocken laufen müssen. Dies geschieht also an der Nord-
see zweimal an jedem Tage. In der Ebbezeit besonders
wird der Strandwall aufgeweht zur Dünenkette. Bei der
Flut muß sich das Wasser hindurchdrängen und benutzt
natürlich die Vertiefungen des Dünenwalls. Große
Wassermassen müssen in kurzer Zeit eine enge Pforte
ein- und auspassieren, daher finden wir bald tiefe Löcher
an diesen Stellen ausgekolkt. Von allen Seiten führen
tiefe Rinnen, sogenannte Priele, zu diesen Durchlässen,
die vornehmlich durch das ausströmende Ebbewasser aus-
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 7
=
gegraben werden. An den von allen Seiten zu diesen
Punkten konvergierenden tiefen Prielen kann man die
Saugwirkung der Ebbezeit gut beobachten. Wenn zur
Flutzeit das Wasser die Dünen umspült, wirkt die Strand-
versetzung wie an der Ostsee und sucht die Inseln nach
Osten zu verlängern. Die Ebbe aber hält das Loch
zwischen den Inseln offen. So wandern diese zwar als
Inseln langsam in den Jahrhunderten nach Osten weiter,
können aber nie eine zusammenhängende Nehrung bilden.
Und sollten sie einmal zu ausgedehnt werden, so wird
eine größere Flut sich in ihnen eine tiefere Stelle zum
Durchdringen aussuchen und die im Werden begriffene
Nehrung verstückeln. Dies erklärt uns den Kranz der Inseln.
Tief in die Mündungen der Ströme dringt die Flut-
welle und staut sie auf; diese können daher nur alle
sechs Stunden in das Meer münden. Zweimal am Tage
also tritt an den Mündungen ein völliger Stillstand des
Wassers ein. Alles von der Strömung mitgeführte
Material fällt bei dem Aufhören der Strömung zu Boden.
Da sich aber Salzwasser und Süßwasser mischt, so sterben
an dieser Stelle alle mitgeführten kleinen und kleinsten
Tierchen, die nur in dem ihren Lebensbedingungen ent-
sprechenden Wasser leben können. Einem unaufhörlichen
Regen vergleichbar schlagen sich mit den Schlammteilchen
die Leichen und Schalenreste der kleinen Lebewesen im
Brakwasser nieder und düngen so den fetten Marschboden.
Dieser ist also an die Flüsse gebunden: hier buchtet sich
die Marsch weit hinein in das Land. An der Außen-
küste kann die Aufschlickung nur durch Transport vor
sich gehen. Ein völliges Zuschlicken der Flüsse wird
aber durch den kräftigen Flut- und Ebbestrom verhindert,
der die Mündung weit offen hält.
Bei Annäherung an die Küste vom Meere aus betreten
wir zuerst das Watt, welches, baumlos und kahl, nur eine
8 Meereskunde.
kleine Riffelung durch die Wellen zeigt. Schlick und Sand
wechseln ab, höhere Vegetation wird durch das Salzwasser
verhindert. Jedoch siedeln sich bei genügender Höhe
des Wattes zuerst Salzwasserpflanzen an, wie der Krück-
fuß, die mit ihren Wurzeln den Boden befestigen und
halten. Bei dem langsamen Höherwerden steilen sich
Gräser ein, und besonders Rohrarten, die nur gedeihen,
solange das Wasser sie in regelmäßiger Wiederholung
überspült. Endlich bilden sich einzelne Polster von Gras,
zwischen denen noch immer das kahle Watt durchlugt.
Ganz nahe der Küste wird die Grasnarbe zusammenhän-
gender und kann jetzt als Viehweide schon ausgenutzt
werden. Durch geeignet gezogene Entwässerungsgräben
wird jetzt vom Menschen dem Ebbestrom der Weg ge-
wiesen. Das Land erhebt sich über Mittelwasser, nur
noch größere Fluten gehen über dasselbe hin und können
aufbauend wirken. So entstand nicht nur in historischer
Zeit die Marsch, nein, unter unseren Augen sehen wir
ihre Bildung vor sich gehen. Erst in den letzten Jahren
hat. sich am Hohen Weg in dieser Weise eine Insel
gebildet, die alte Mel’um, zwischen der Weser- und der
Jademündung, etwa 17 km von der Küste entfernt. Hier
hatte im fünfzehnten Jahrhundert schon einmal eine Burg
gestanden, die die Oldenburger Grafen zum Eintreiben
des Weserzolls angelegt hatten, die später aber wieder
ein Raub der Wellen wurde. Fine zweite Insel ist
östlich von Wangerooge im Entstehen begriffen, an
der Stelle des alten Minsener Olden Oog. Dort wird
zum Schutze des Wilhelmshavener Fahrwassers ein aus-
gedehnter Damm gezogen, er bildet die Veranlassung zu
einem reichlicheren Absatz von Schlick.
Autbauen und Zerstören wird beides ohne Wahl
vom Meere besorgt, je nach der Gunst der augenblick-
lichen Lage der Watten und Priele.e Da das Aufbauen
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. (6)
Abbild. 4. Zerstörende Wirkung der Meeresbrandung an der Marsch
des Oberahneschen Feldes, Jadebusen.
menlanserı Zeit. "geschieht, das Zerstoren, aber, sehnell
und katastrophenartig vor sich geht, so würde wohl
wenig von unseren Marschen erha:ten sein, hätten wir
nicht den natürlichen Schutzwall der Düneninseln und
den künstlichen Wall der Deiche. Dieser muß also den
Marschboden schützen, der eine fast unerschöpfliche
Fruchtbarkeit in sich zu bergen scheint. So wird das
Land an manchen Stellen zum Anbau von Getreide.
hauptsächlich Gerste benutzt, an anderen dient es fast
ausschließlich den Viehweiden, die sich ausgedehnt über
die ganze, weite Fläche hinziehen.
Es ist klar, daß die Stärke der in dieser Weise ent-
standenen Marschschichten, der Klei, wie man sagt, nicht
sehr beträchtlich werden kann. Ihrem Anwachsen ist eine
Grenze gesetzt nach unten durch die Flachheit des Meeres,
nach oben durch die Höhe der Flut. Finden wir aber
=
Meereskunde, Vorträge. V. Heft r. 2
de) Meereskunde.
heute Marsch in einer Mächtigkeit von über 20 m, so
müssen wir zu einer anderen Erklärung greifen. Diese kann
<
nur in einer früheren Senkung d esamten Bodens ange-
es ©
urS)
nommen werden. Auch andere Momente erlauben uns, eine
Senkung in prähistorischer Zeit anzusetzen. Finden wir
doch heute unter Mittelwasser oder tief im Meer sehr
ausgedehnte Moorlager, die aus Pflanzen entstanden sind,
Abbild. 5. Torflager am OberahneschenFeld (Westküste) im Jadebusen,
von der Brandung zerstört.
welche nur über Wasser gewachsen sein können. Kleinere
Lager finden wir häufig an der Küste ausstreichen, sie
werden heute vom Ebbestrom wieder zerstört. Endlich
hat aber auch die Küste als Ganzes eine äußere Umriß-
form, wie sie nur ein langsam ins Meer sich senkendes
Land haben kann. Ansolchen Stellendringt jadasMeerinalle,
auch noch so kleinen Unebenheiten desLandes ein und schafft
so eine buchtenreiche Küste. Jedenfalls kann sich an
einer aufwärts steigenden Küste kein ausgedehntes
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. II
Marschland bilden, weil immer neue Teile des Meeres-
bodens emportauchen und zur Marschbildung die Zeit fehlt.
Es ist also das Marschland mit seiner ganzen
Fruchtbarkeit ein Geschenk des Meeres, und
Zwarsist, seine» Entstehune nur‘ möslıch "ansich
senkenden Küsten bei einem salzreichen Meere
mılzeroben. Gezeiten.
Abbild.6. Torflager am Oberahneschen Feld (Ostküste) unter Mittel-
wasser. Der Torf zieht sich unter den Marschschichten der ganzen
Insel hindurch. (Vgl. Abbild. 5.)
Um das Land, von dem der Mensch einmal Besitz
ergriffen, vor dem Meeresandrang zu schützen, erbauen
wir die Deiche. Man muß sofort einen Unterschied machen
zwischen demSeedeich undden Deichen entlang denFlüssen.
Der Flußdeich muß geeignet sein, lange Zeit hindurch das
angestaute Wasser, wie es bei Flut oder bei Hochwasser
und Schneeschmelze eintritt, auszuhalten. Wir finden
hier Deiche von einer Breite, daß sich zwei Wagen
bequem auf seiner Krone begegnen können. Der See-
I
12 Meereskunde.
deich dagegen wird nur selten längere Zeit hindurch an-
gegriffen werden. Vielmehr sinkt nach einer Sturmflut
meist das Wasser sehr schnell. Er muß aber den heftig-
sten Wellenschlag aushalten können, er muß höher sein
Abbild. 7. Der Seedeich aur Neuwerk
mit steiler Innen- und flacher Außenböschung.
W.Stahlberg phot.
als jede bis jetzt bekannte Sturmflut. Die höchste Sturm-
flut, von der wir genaue Maße berichtet erhalten haben,
war an der deutschen Küste am 4.—5. Februar 1825: sie
betrug stellenweise 4 m über Mittelwasser; ihr stand die
vom 12.—13. März 1906 mit 31/, m und mehr nur wenig
nach. Es’ werden. daher die » Deiche "je nachr Ahr
Exposition 3—7 m über Maifeld aufgeführt, d. h. über
dem Boden, auf dem der Deich steht.
Um die Wirkung der Wellen abzuschwächen, wird die
äubere Böschung des Deiches sehr viel flacher gemachtals die
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. N
u
innere. Der Deich geht mit einer kleinen Abstufung, der so-
genannten Bärme, ins Vorland über. Dieses ist fast noch
wichtiger als der Deich selbst zum Schutze des Hinter-
landes. Denn auf einem langsam ansteigenden Vorland
überschlägt sich die Welle und läuft sich tot, erreicht
den Deich nur kraftlos. Das Vorland wird häufig über-
flutet. Hier also setzen sich stets neue Alluvionen
nieder, während das Hinterland durch die Entwässerung
zusammensackt. Wir haben daher an der ganzen Marsch-
küste die merkwürdige Erscheinung, daß das dem Meere
am nächsten liegende Land, das Vorland des Deiches,
Abbild. 8. Der Deich bei Brake an der Unterweser.
höher liegt als das eingedeichte, bewohnte Gebiet. Die
Innenseite des Deiches ist steiler, hier ist häufig auf der
Innenbärme ein Weg angebracht, der bei stürmischem
Wetter Windschutz bietet. Der Deich muß die ganze
IA Meereskunde.
Küste umschließen und darf nur dort enden, wo er sich
an höhere Gest anlehnen kann, die durch ihre Höhenlage
schon an sich vor Überflutung sicheren Schutz gewährt.
Nur an zwei Stellen der Nordsee, bei Duhnen in der
Nähe von Cuxhaven und bei Dangast am Jadebusen
stößt die Gest unmittelbar an das Meer, so daß hier die
Abbild. 9. Die Weser bei Brake
Weiden schützen das Vorland des Deiches.
natürliche Küste die künstliche ablöst. An einer zweiten
Stelle im Jadebusen bei Kleihörne tritt Moor an die See,
die bei jeder Flut unter das Moor dringt und es aufhebt.
Die Gewinnung von Vorland ist, wie wir sahen, eine
der wichtigsten Aufgaben, nicht nur, um später einzu-
poldernde Marschstrecken zu erhalten, sondern vornehm-
lich zum Schutze der Deiche selbst. Verhältnismäßig
leicht ist dies am Fluß zu erzielen. Angepflanzte
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 15
Weiden sangen hier das schwebende Material aut und
sorgen für die Aufhöhung des Landes. Wo dagegen das
Salzwasser jede höhere Vegetation ertötet, muß man zu
anderen Mitteln greifen. Es werden daher mit ungeheuren
Kosten große Schlengenwerke ins Meer gebaut. Diese
bestehen aus einzelnen Pflöcken, die in den Boden ge-
schlagen werden und um die Buschwerk geflochten wird.
Solche Werke erreichen große Ausdehnung. So ist
z. B. die Hallig Ohland mit Langeneß und der Küste
verbunden. Wo das Buschwerk dem Wellenschlag nicht
standhält, muß man es mit großen Steinblöcken zu be-
festigen suchen. Die Wirkung einer derartigen Buhne
ist eine doppelte. Erstens werden die Wellen an ihr ge-
brochen und abgelenkt, so daß sie nur mit verringerter Kraft
auf den Deichstoßen, zweitens wird imSchutze derBuhneviel
leichter Material angehäuft, so daß sich die so wichtige
Aufschlickung des Bodens gerade an diese Werke knüpft.
Irotzdem läßt sich nicht überall ein genügendes Vor-
audzersıelen. Der’ dann, zsefährdete Deich, ein Schar-
deich, muß künstlich befestigt werden. Fine dichte Gras-
narbe, die sonst völlig genügt, reicht hier nicht aus.
Man muß den Deich mit Stroh beflechten oder besser ihn
ganz aus (Juadersteinen, erratischen Blöcken oder Back-
steinen erbauen, eine meist kostspielige und langdauernde
Arbeit. So ist Neuwerk mit einem solchen Deich geschützt.
Die vom Meere neu gewonnenen Gebiete umwallt
man zuerst, wenn sie noch nicht genügende Höhe haben,
mit einem kleinen Sommerdeich. Über diesen gehen die
Winterfluten hinweg und höhen das Land hinter ihm aut.
Ist das Gebiet genügend angewachsen, so verstärkt man
ihn. Er wird zum Seedeich und man hat ein frisches
Stück Marsch gewonnen, einen Groden, wie man im Olden-
burgischen sagt, einen Polder oder Koog, wie man in den
übrigen Gebieten zu sagen pflegt. Der alte Deich wird
16 Meereskunde.
zum Schlafdeich, weil er so lange ruhen kann, wie der
Seedeich standhält. Fast an der ganzen Küste entlang finden
wir mehrere Systeme von Schlafdeichen, Poldern und
Außengroden, die ein Bild des allmählichen Eroberns
unseres Gebietes gewähren.
Wie wir sahen, liegt das »Binnendieks«, das Land
innerhalb des Deiches, meist tiefer als das »Butendieks«,
das Vorland. Die Entwässerung unseres Marschdistriktes
wird also zur schwierigen Frage. Und doch sehen wir
an den vielen geradlinigen Gräben und Kanälen, die die
Marsch durchziehen, und die sich alle in einem größeren
Mittelkanal sammeln, dem ‚Wetter oder Fleht‘“, wie un-
geheuer wichtig es für dies dem Wasser entstammende Land
ist, entwässert zu werden. Es ist, als ob vom Ursprung
Abbild. 10. Das Käseburger Siel an der Unterweser.
dem Lande noch etwas anhafte. Alle 6 Stunden ist Flut
und das Meer höher wie das Land, dies ist außerdem
noch mit einem Wall umgeben, und doch muß das über-
schüssige Wasser entfernt werden. Denn bei un-
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. N
SI
genügender Entwässerung nimmt die Mückenp!age über-
hand und mit ihr die gefürchtete Malaria, das Wechsel-
fieber. Die Entwässerung haben wir zuerst von den
Ho.ländern gelernt, als der Deichbau schon weit fort-
Abbild. ı1. Siel bei Iprump an der Hunte.
seschritten war. Der Ausfluß eines solchen Kanals geht
durch den Deich hindurch, dieser setzt sich oft ohne Unter-
brechung über ihn fort; die Kanäle münden in sogenannte
Sielen. Diese Abzugsröhren mit teilweise ansehn.ichen
Durchmessern werden mit Schleusentüren versehen, die
sich selbsttätig öftnen, sowie zur Ebbezeit der Innendruck
größer ist als der Außendruck, sich aber schließen, sowie
das Flutwasser von außen gegen sie drückt. Jeder Kanal
und Graben muß mit einem Siel versehen sein, wenn es
auch zuweilen nur aus ganz einfachen Falltüren besteht.
Innerhalb des Deiches muß das Wasser im Kulturland seinen
angewiesenengeradlinigenLaufziehen, außerhalb des Deiches
dagegen, in der freien Natur, ist es sich selbst überlassen
IS \eereskunde.
und pendelt hin und her. Der Fluß oder Bach schlängelt
sich als freier Mäander auf der Oberfläche des Vor-
landes, bei jeder Ebbe aber wird plötzlich die Erosions-
basis tiefer gelegt. Es resultiert ein stärkeres Gefälle,
der Mäander vertielt sich, und wir erhalten die schönsten
Beispiele für Zwangsmäander mit steilen Wänden. Bis
weit hinaus ins Watt kann man an Prielen diese steilen
Wände beobachten.
Abbild. ı2. Priele im Deichvorland mit eingesenkten Mäandern.
\W, Stahlberg phot
Die größeren Siele haben große Bedeutung. Nicht
nur ist die Anlage und Wahl des Ortes eines solchen Sieles
schwierig, so daß man in einem kunstvollen Abschlußstein den
Erbauer desselben ehrt oder dem Siel den Namen von Fürst-
lichkeiten gibt, sie sind oft Übergangspunkte des Verkehrs.
Die Schiffahrt auf dem Kanal oder dem Fluß wird durch
das Siel von der auf dem Meere getrennt, wir haben hier
Umladepunkte, sie bilden häufig den Anlaß zu einer
Siedelung. Viele Namen der Gegend beweisen es, wie
Hooksiel, Horumersiel, Karolinensiel usw.
„©
"I9s3MI9}uf) I9p ue [as Jadıngasey seq I "PIIAAV
20 Meereskunde.
Nicht nur zur Entwässerung, sondern auch zur Be-
wässerung dienen die Siele.e Denn ist ein Gebiet zu früh
eingedeicht worden, liest es weit vom Meere ent-
fernt an Flüssen, so läßt man regelmäßig jeden Winter
das Wasser das Land überschwemmen, indem man zur
Fiutzeit die Siele öffnet. Durch die fruchtbringenden
Sinkstofte wird der Boden gedüngt. Herrliche Schlitt-
schuhbahnen bieten diese kilometerweiten Flächen, über
Abbild. 14. Ein Deichschart, d. h. Wegdurchlaß bei Hammelwarden
in Oldenburg.
die man, vom Winde getrieben, mit großer Eile dahin-
gleitet. Es gibt aber auch weite Distrikte der Marsch,
ich erinnere nur an Holland und an Partien der unteren
E.be, die ständig tiefer liegen als das Mittelwasser der
Flüsse oder des Meeres. Hier kann das atmosphärische
Wasser nicht abfließen, künstlich muß es durch Wind
oder Dampfkraft über die Kappe des Deiches gehoben
werden. Die in langer Reihe auf dem Deiche aufmar-
schierten Windmühlen geben der Landschaft einen eigenen
Reiz.
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 2]
Die Höhe des Deiches darf an keinem Punkt unter-
brochen werden. Jeder Weg muß über ihn hinweg.
Glaubt man an weniger gefährdeten Punkten einen Durch-
stich wagen zu können, so müssen schwere Türen,
die zur Gefahrzeit geschlossen werden, die Stelle des
Erdwalles übernehmen. Man nennt derartige Durchlässe
ein Schart. Ja, als man eine Aufhöhung des Deiches
für nötig erachtete, — jeder Deich sackt, wenn er neu
ist, etwas in sich zusammen, — hat man an vielen
Punkten, z. B. amı Weserdeich, sogar die Mauern der
Häuser und Gartenumzäunungen mit in den Deichschutz
hineingezogen. Bei jedem Garteneingang, bei jeder
Haustür liegen dicke eichene Bohlen, die im Augenblicke
der Gefahr sofort vor die Eingänge geschoben werden
und so die gleichmäßige Höhe des Deiches garantieren.
Wie oben kurz erwähnt, ist man wohl überall auf
den gleichen Gedanken, sich mit einem Erdwall gegen
das andrängende Wasser zu schützen, selbsttätig ge-
kommen. In welcher Zeit aber dies gewesen ist, läßt
sich nicht feststellen. Vielmehr weiß man aus Schi!de-
rungen der Römer, daß zu der Zeit, als sie in Deutsch-
land eindrangen, es an der Küste noch keine Deiche gab.
Die Anlage eines Deiches erfordert einen großen Ge-
meinsinn im Volke, also schon eine ziemlich hohe
Kulturstufe. Die erste und älteste Anlage ist daher noch
nicht gleich der zusammenhängende Deich, sondern ein-
fach ein Erdhügel, auf dem das Wohnhaus gebaut wird.
Noch heute sehen wir in den ältesten Teilen unserer
Marsch die Wohnstätten aur sogenannten \Warften oder
Wurften liegen. Ja, in den Halligen ist dies jetzt noch
die gebräuchlichste, weil billigste Art, sich zu schützen.
Zu Zeiten der Sturmflut ist in diesen Gebieten das ganze
Land überschwemmt, einsam nur ragen die Häuser vom
Sturm umbraust aus der schäumenden Flut empor. All-
Meereskunde.
18)
[89)
mählich wurden die Hügel erweitert und erhöht, so dab
ganze Gebäudekomplexe, ja ganze Dörfer darauf Platz
hatten. Viele Ortschaften, wie Fedderwarden, Hammel-
warden, Eckwarden usw. haben danach ihren Namen. Ja,
ein ganzer Distrikt, das Land Wursten östlich der Weser,
ist nach ihnen benannt. So geben uns diese Erdhügel
bei geschichtlichen Studien ein gutes Mittel an die Hand,
die ältesten Partien unseres Gebietes festzustellen.
Erst als geordnetere Verhältnisse Platz griffen, ging
man daran, durch einen Wall auch seine Besitzungen zu
schützen, seine Viehweiden und Äcker. So reihte sich
umdeichte Besitzung an Besitzung, bis man einsah, daß,
wenn man gemeinsam die Außenseite erhöhte und ver-
teidigte, die Sicherheit des einzelnen gesteigert würde.
Es schlossen sich die Bauern zu ‚„‚Ländern‘‘ zusammen, die
in sich stark abgeschlossen waren. Sie besaßen ein enges
Zusammengehörigkeitsgefühl, hing doch Land und Besitz
vom gemeinsamen Deich ab. Noch heute sind die
Grenzen der vielen kleinen Länder, wie Dittmarschen, .
Vierlanden, Stadtland, Butjadingen usw. deutlich im Volks-
bewußtsein ausgeprägt. In dieser Zeit der relativen Un-
sicherheit entstanden nicht, wie in der ersten Siedelungs-
epoche, die Häuser zerstreut auf Wurften über die ganze
Fläche hin, die Wohnplätze schlossen sich vielmehr an
den Deich an. In der ersten Zeit wurden sämtliche
Häuser hart ander Deichkappe gebaut; noch heute kann man
stundenlang durch derartige an einer Seite der Straße
nur bebaute Dörfer, den Fadendörfern, auf der Höhe
des Deiches wandern. Später wurden die Wohnhäuser
unten am inneren Deichfuß gebaut. Am Rande der
Marsch, auf der sicheren Gest, wohnten die Menschen
schon seit den ältesten Zeiten an der Grenze des kost-
baren, fruchtbaren und unfruchtbaren Landes in lang-
gestreckten Dörfern.
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten.
iv
0)
Die Deichgenossen schlossen sich zu einem Deich-
verband zusammen, der unter einem Deichgrafen (Deich-
gräfen) stand. Strenge Gesetze einer rauhen Zeit schützen
damals den Deich, dieLebensader des Gemeinwesens. Jeder,
Seirer. Llerr, briester oder Knecht, ja, Frawvoder Kind,
ist zur Gefahrzeit zum Deichschutz verpflichtet. »De
nich will dieken, de möt wieken«. Wer die Lasten der
Deichunterhaltung nicht tragen kann, muß auf Grund und
Boden verzichten, indem er einen Spaten in den Deich
sticht. Die nächsten Verwandten haben das Vorrecht,
ihn herauszuziehen, um durch diese symbolische Handlung
mit der Pflicht der Deicherhaltung den Besitz an Grund
und Boden zu übernehmen. Können sie es nicht, so
darf jeder, der mag, den Spaten ziehen. Schwer müssen
die Deichlasten gewesen sein, denn bedenkt man, dab
kilometerweit der 3—7 m hohe Wall gezogen werden
muß, daß jede Lage des schweren Bodens, den man
aus dem Vorland gewinnt, einzeln festgestampft, daß
alles sorgsam ausgeglichen und mit Gras bekleidet
werden muß, so ist einem die Schwere der Gesetze, die
das Kunstwerk schützen, begreiflich. So wurde der,
welcher die Bäume des Vorlandes beschädigt, durch Ab-
hacken der Hand bestraft. Wer vorsätzlich den Deich
beschädigt, so daß ein Deichbruch entstand, wurde durch
lebendiges Begrabenwerden in diesem Loche bestraft.
Erst in neuester Zeit sind die Gesetze abgeändert worden.
Weitgreifende Vertügungen der Regierung, verbunden
mit genauen Beobachtungen aller Verhältnisse, haben die
Gefahr eines Deichbruches verringert, die Bevölkerung
bekommt mehr und mehr Zutrauen zu ihren Deichen
und siedelt sich jetzt wieder zerstreut, aber ohne Wurften,
über die ganzen Flächen hin an.
Es ist eine lange Leidensgeschichte, die mein tapferes
Friesenvolk gerungen hat gegen den Ansturm des Meeres.
24 Meereskunde.
Unermüdlich erkämpfte es von neuem den Boden und
die Heimat, bis dann eine einzige gewaltige Sturmnacht
alles wieder zunichte machte. In wenigen Stunden oft
wurde vom Meere verschlungen, was jahrelange Arbeit
gekostet. Eine lange Trauerliste ist die Geschichte der
Sturmfluten an der Nordsee. Denn die Zahl der Toten,
die in den Fluten umkamen, ist, auch wenn man eine
eingehende Kritik an die Überlieferungen legt, eine un-
geheuer große; und doch wieder ist es die Geschichte
eines Heldenvolkes, das frei auf selbst erobertem Boden
lebt, das sich nicht unter fremde Fürsten zwingen läßt,
sondern nur eigenen Häuptlingen gehorcht. Diese Frei-
heitsliebe zeigt uns auf das herrlichste das Volk der
Stedinger, die mit dem Rufe »lieber tot als Sklave
gegen die Übermacht neidischer Pfaffen in einem un-
gerechten Kreuzzug erlagen.
Werfen wir zum Schluß noch einen kurzen Blick auf
die Geschichte des Bodens und versuchen wir, aus der großen
Anzahl der überlieferten Katastrophen, die nur zu häufig
vom Chronisten übertrieben werden, einige sichere heraus-
zugreifen. Die Geschichte der Einzelkatastrophe ähnelt
sich ständig. Zur Zeit der Springflut muß ein tiefes baro-
metrisches Minimum aut der Zugstraße III (von van Bebber)
über die Nordsee ziehen, d. h. mit anderen Worten, es
muß ein starker Wind aus dem Kanal Wassermassen in
die Nordsee treiben. Bei Ebbe hält der Windstau an,
so dab kein Wasser abfließt. Dann tritt eine neue Flut
ein, der Wind muß sich inzwischen nach Norden gedreht
haben. Das Wasser, welches nicht abgelaufen war, steigt
von neuem bei der Flut und wird außerdem noch gegen
die Deiche geweht, die dann auch noch diesem ungünstigen
Zusammentreffen verschiedenartigster Umstände standhalten
sollen. Es kommt daher aber, daß, wenn in Ostfriesland
Sturmfluten sind, Nordfriesland meist verschont bleibt und
umgekehrt.
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. >
yi
Die ergreifenden Schilderungen in Storms »Schim-
melreiter« sind genugsam bekannt, sie malen uns den
ganzen Schrecken einer Sturmnacht aus. Meist treten
die Sturmfluten des Nachts und in der kalten Jahres-
zeit ein. Die Wirkung des Wassers wird durch das
herandrängende Eis verstärkt. Alles muß aufgeboten
werden, um das Überspülen des Deiches zu verhindern
denn ist erst das kleinste Loch entstanden, so stürzt das
Abbild. ı5. Eine Brake bei Blankenburg in Oldenburg.
Wasser hinab in das viel tiefer liegende Marschland und
kolkt hier ein tiefes Loch aus. Was das durchstürzende
Wasser am Deich nicht zerstörte, das besorgt der heraus-
drängende Ebbestrom. Denn gerade bei diesem schmalen
Loch wird alles Wasser zusammengedrängt und seine zerstö-
rende Wirkung verstärkt. Nur mit ungeheurer Mühe kann
mandiese Deichbrüche zuschlagen, teilweise nur durch große
Umgehungen der schadhaften Stellen. So zeigen heute
auffällige Biegungen in der Linienführung des Deiches
meist derartige Bruchstellen an. Wandern wir am Deich
26 Meereskunde.
und sehen wir kleine tiefe Weiher, sogenannte Braken,
im Marschlande, die lieblich die Landschaft verschönen,
so erinnern sie uns daran, daß hier vor Jahren in einer
Schreckensnacht der Deich gebrochen ist und viel Gut
und Leben vernichtet wurde.
Es scheint, sehen wir von den unsicheren Über-
lieferungen ältester Zeiten ab, sowohl in Nord- wie in Öst-
1 MER ST. ;
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Abbild. 16. Karte von Nordfriesland
aus Waghenaer „Spiegel der Zeevaert“ 1585. Osten nach oben.
friesland, in der Zeit bis zum 13. Jahrhundert etwa, ein
großes Anwachsen des Landes erfolgt zu sein. In dieser
Zeit wurden wohl die Friesen zur Anlage der Deiche er-
mutigt. Die heutigen Halligen waren große Inseln, deren
südlichste, Nordstrand, besonders durch ihre Größe auf-
tällt. Im Süden ergoß sich die Weser in mäßigem
Mündungstrichter bei dem heutigen Jadebusen ins Meer,
an dessen Stelle blühende Ortschaften lagen. Auch der
Dollart war Land. Die Stadt Torum lag auf seiner
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 27
Fläche. Die alten Chronisten wissen von dem Reichtum
der untergegangenen Ortschaften zu berichten. Fast
überall soll Lasterwesen eingerissen sein, zuweilen
heißt es, wurde die unglaublichste Verschwendung ge-
trieben, dann wieder wurden die Priester des Herrn ver-
lästertt. So suchen die Chronisten die furchtbaren
Katastrophen des 13..bis 16. Jahrhunderts als Strafgericht
Barksobunader Er Suftenvon Oft Frieälandy/auch aller one fen nd öskfenderjelbtien
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Abbild. ı7. Karte von Ostfriesland
aus Waghenaer „Spiegel der Zeevaert‘‘ 1585. Süden nach oben.
(zottes hinzustellen, um ein so ungeheures Unglück ver-
ständlich zu machen.
Zumeist wird in der Überliererung eine ganze Reihe
von Ereignissen in eine Flut zusammengedrängt, die dann
dem Leser um so unheilvoller erscheint, während es
in Wahrheit eine sich oft wiederholende Schreckenszeit
war, die gerade durch die Wiederholung um so auf-
reibender für die Kämpfenden wirkte. Bei der Betrach-
tung einer alten Karte der nordfriesischen Inseln, z. B.
28 Meereskunde.
der von Waghenaer im „Spiegel der Zeevaert“ vom
Jahre 1585, fallen uns, auch wenn wir von der primitiven
Darstellung absehen, große Veränderungen im Land-
schaftsbild gegen heute auf. Die heutigen kleinen Inseln
der Halligen erscheinen hier noch in größerer Aus-
dehnung, und doch stellen auch sie nur die Überreste
größerer Landstrecken dar, die in den Sturmfluten der
Jahre 1300, 1354 und 1362 zugrunde gingen. Aber immer-
hin ist Nordstrand noch eine große Insel. Die Ditt-
marschen dagegen ‚sind schon um diese Zeit fast völlig
zerstört. Helgoland erscheint noch als große Insel mit
seiner Düne zusammenhängend. Heute dagegen sind die
Halligen nur noch kleine einsame Marschfetzen, mitten
im Watt, wie sie übriggeblieben sind nach der großen
Sturmflut von 1643. Und doch stellen auch sie schon
wieder einen Zustand dar, wie er erst durch erneute
Zurückeroberung geschaffen ist. Es ist Nordstrand in
dieser Flut zerrissen, die Osthälfte der hufeisenförmigen
Insel, die heutige Insel Nordstrand, war fast gänzlich
verschwunden und ist erst mühsam durch Heranziehung
neuer Ansiedler wieder gewonnen. Großartig aber sind
die neuesten Anstrengungen: lange Schlengen führen
jetzt vom Festland zu den Inseln, und mit Freude hören
wir, daß nach neuesten Feststellungen die Küste hier
jährlich im Mittel 10 m weiter ins Meer sich verschiebt.
Durch friedliche Arbeit vergrößert sich hier ständig unser
Vaterland. Deutlich erkennt man auch das Vordringen
des Menschen an dem heut gen Zustand der Dittmarschen.
Ein langes Horn streckt sich nach Nordwesten vor, wo
die Sturmfluten des ı7. Jahrhunderts weite Gefilde ver-
nichteten.
Studieren wir den Zustand Östfrieslands wieder nach
den ältesten Karten, so erkennen wir, wie der Jade-
busen, überstreut mit vielen Inseln, den Überbleibseln
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 29
des zerstörten Landes, nach Westen zerlappt erscheint.
An der Harle befindet sich ein weiter Busen, ebenso ist
ein tiefer Ley-Busen eingerissen, und deutlich und furcht-
bar spricht aus dem Bilde die Zerstörung des Dollarts.
Im Jadebusen begann die Vernichtung im Anfang des
13. Jahrhunderts und wurde vollendet in der Antoniflut
im Jahre ı5ı1. Damals wurde auch das Weserdelta er-
weitert, so daß ein weitverzweigtes Netz von Wasser-
armen das Land durchzog. Man hat heute die Lage der
einzelnen Mündungen genau festlegen können, einmal
durch archivalische Studien, dann aber auch durch geo-
logische Bohrungen, da in dem jung zugemarschten
Gebiete der Boden durch Regenwasser noch nicht so
weit entsalzt ist wie in dem alten Lande. So entsandte
die Weser zwei große Arme und mehrere Seitenäste zum
Jadebusen. Dieser selbst dehnte sich weit nach Westen
aus. Dort stieß bei Ellens ein unter den Nachbargrafen
strittiges Landstück an den Jadebusen. Da es keiner
dem anderen gönnte, sorgte natürlich niemand für die
Deiche. Furchtbar rächte sich die Vernachlässigung, da
alle Nachbarn große Stücke Landes einbüßten. Heute
sind von den alten blühenden Dörfern keine mehr vor-
handen. Ja, selbst das einzige, kleine Bruchstück be-
wachsenen Landes, das noch vorhanden ist, dasOberahnesche
Feld, istvon Prielen durchzogen und der Vernichtunganheim-
gefallen. Die Wogen der Flut reißen Stücke des Landes
fort, das sie selbst geschaffen haben, eine Aufbau- und Ver-
nichtungsarbeit des Meeres an dem gleichen Punkte.
Seitdem aber das nahe Wilhelmshaven die Insel als
Sprengplatz benutzt und so noch künstlich an der Ver-
nichtung mithilft, sind ihre Stunden gezählt. Heute liegt
zur Ebbezeit das Watt tot und öde da, wo einst blühende
Städte, Klöster und Dörfer prangten. Die Stätte von
Arngast ist eine nackte Sanddüne. Der Plan, den Meer-
30 Meereskunde.
Abbild. ı8. Das Oberahnesche Feld im Jadebusen,zerteiltvon einer Priele.
busen wieder einzupoldern, ist alt und war schon in An-
griff genommen worden, mußte aber wieder aufgegeben
werden, weil unser Kriegshafen, um eine gute Fahrrinne
offen zu halten, des Sammelbeckens des weiten Busens
bedarf. Der Ebbestrom spült jetzt mit ungeheuren Wasser-
massen, die die Flut in die weite, hintere Fläche des
3usens geschafft hat und die außerdem noch durch einen
langen Deich geleitet werden, die Fahrrinne aus und erhält
sie tief. Die Arbeit des Einpolderns, die man am Jadebusen
nicht ausführen darf, ist vollendet am Harlebusen und fast
beendet am Ley-Busen. Es liegen jetzt tief im Lande
Ortschaften mit Namen, die auf Siel oder Deich enden
und die uns deutlich gemahnen, daß in Schreckenstagen
hier die Grenze des nimmersatten Meeres gewesen ist.
Auch am Dollart sind seit den Sturmfluten des Mittelalters
ausgedehnte Eindeichungen vorgenommen. Emden z. B.,
früher am Busen gelegen, liegt jetzt weit zurück und hat
auf den neuen Poldern Platz für ausgedehnte Hafenanlagen
gewonnen.
Auch der Dünenkranz der Inseln vor der Küste ist
großen Veränderungen ausgesetzt gewesen. Fast alle
Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. 31
sind sie einmal zerrissen, einige sind ganz verschwunden,
andere wieder haben großen Anwachs bekommen. Auf
der östlichsten Insel Wangerooge gemahnt uns das alte
ehrwürdige Seezeichen des Westturms, daß hier nur die
Kirche eines zerstörten Dorfes dem Wogenandrang zu
trotzen vermochte.
So sahen wir, wie das Meer in unerschöpflicher
Freigebigkeit die fruchtbarsten Länder dem Menschen
schenkt, wie es aber launisch und neidvoll in bösen
Stunden das Geschenk, wenn es schlecht bewahrt, zu
entreißen sucht. Wenn auch seit dem 17. Jahrhundert
der Mensch es vermocht hat, dem Meere standzubieten,
so lehrt uns die Geschichte, dab Nachlässigkeit im Deich-
dienst und Vertrauensseligkeit gleichbedeutend mit dem
Ruin des Landes ist. Wir sahen, daß wir an einer Küste
Abbild. 19. Blick aur die Stätte des alten Arngast vom Arngaster
Leuchtturm. Jadebusen bei Ebbe.
32 Meereskunde.
leben, die sich ins Meer gesenkt haben muß. Die große
Periode der Katastrophen im Mittelalter mag, außer in
der schlechten Verfassung der Deiche, vielleicht in einer
erneuten Senkung ihren Grund haben. Heute scheint
allerdings die Senkung zur Ruhe gekommen zu sein,
wenn auch einzelne Sackungen sicher erwiesen sind.
Jedenfalls muß unser Friesenvolk auf der Hut sein. Es
muß seine Deiche schützen und pflegen. Verdankt es
doch dem Deich Heimat und Reichtum, ja, seinen freien,
stolzen Charakter, da es sich bewußt ist, auf einem Boden
zu leben, den die Väter erobert, den sie seibst verteidigt
haben, und der in unerschöpflicher Fruchtbarkeit noch
die Enkel ernähren wird. Genießen sie doch ständig den
höchsten Augenblick«, genießen sie doch ein Glück, das
Goethe seinen Faust als das höchste und erstrebens-
werteste hat erkennen lassen.
Literatur (außer Spezialliteratur).
Ahrens, Friedr., Physische Geschichte der Nordseeküste. 1833.
Almers, Herrmann, Marschenbuch. 2. Aufl. 1875.
Arkenau, H., Das Oldenburger Spatenrecht. Old. Jahrbuch XVII.
1909.
Haas, Hippolyt, Nordseeküste, Friesische Inseln und Helgoland.
Land und Leute. 1900.
Hansen, Verschiedene Aufsätze in Petermanns Mitteilungen 1891,
1893, 1902.
Linde, R., Die Niederelbe. 1909.
Salfeld, Die Hochmoore auf dem früheren Weserdelta. Zeitschr.
d. Ges. f. Erdkunde. 1881.
Sello, G., Der Jadebusen. und: Studien zur Geschichte von Öst-
ringen und Rüstringen.
Solger, Friedr., Die Deutsche Seeküste in ihrem Werden und Ver-
gehen. Meereskunde Heft 8. 1907.
Tenge, Der Jeversche Deichband, und: Die Deiche und Uferwerke
im 2. Bezirk des zweiten Oldenburger Deichbandes. 1878.
Wichmann, Die Elbmarschen. Zeitschr. d. Ges. f. Erdkunde. 1885.
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler & Sohn
Berlin SW 68, Kochstraße 68—71.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG ZWEITES HEFT
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben.
Von P. Koch.
or vierten Bande der von Dietrich Schäfer heraus-
a
a gegebenen „Abhandlungen zur Verkehrs- und See-
geschichte‘ weist Dr. Alfred Püschel auf einen
höchst eigenartigen und wenig beachteten Tatbestand hin.
Alle die deutschen Städte, die in der Zeit der großen,
ostwärts gerichteten Kolonisationsbewegung inmitten
slawischer Umgebung gegründet wurden, und ebenso die
älteren Wohnplätze, die in jener ersten, an die Karolinger
und Ottonen sich anschließende Glanzzeit sich füllten und
erweiterten, so an der Küste Lübeck, Rostock und Stral-
sund, im Binnenland Breslau und Braunschweig, Magde-
burg, Frankfurt und Nürnberg und endlich die alten
Römerstädte wie Regensburg, Augsburg und Köln a. Rh.,
zeigen eine stolze Blüte im zwölften und dreizehnten
Jahrhundert und stehen dann still, bis endlich nach den
Befreiungskriegen eine Periode jahrhundertelanger innerer
Kämpfe, in der Deutschland jede machtvolle Zentral-
gewalt entbehren mußte, ihr Ende fand. Noch nach 1800
ist keine dieser Städte über ihr mittelalterliches, enges
Weichbild hinausgewachsen, aber auch dann noch ist
ihnen kein wirkliches kraftvolles Emporblühen beschieden,
und dieses tritt erst ein, nachdem IS70 auf den Schlacht-
feldern Frankreichs mit Blut und Eisen des Reiches Ein-
Meereskunde, Vorträge. \. Heft =. ı
Meereskunde.
155)
heit geschmiedet worden und um die starke Säule des
Kaisertums ein neuer Bau emporwuchs, unter dessen
weitem Dache, gegen Sturm und Unbill von außen ge-
schützt, deutscher Gewerbefleiß sich friedlich betätigen,
und ein früher nie gekannter Wohlstand des Volkes in
seiner Gesamtheit sich entwickeln konnte. Betrachtet
man diesen Tatbestand im Zusammenhang der deutschen
Gesamtgeschichte, so findet man, daß dieses Stehenbleiben
sich anschließt an den Verfall der mittelalterlichen plan-
mäßigen Heeresrüstung in der Lehnsgewalt und an das
Hinsinken des Kaisertums, das durch das Erstarken der
Landesherrlichkeit, der fürstlichen Bistümer und der freien
Städte nicht ausgeglichen werden konnte.
An die Stelle der Lehnsgefolgschaft traten bald die
Söldnerheere, es entwickelte sich das Landsknechttum,
bei dem nach den Worten eines sehr berufenen Militär-
schriftstellers ‚Soldat, Räuber und Mordbrenner“ fast sich
deckende Begriffe darstellten. Auch die Landesdefen-
sionen der Städte und Ämter, in denen nach der
ursprünglichen Absicht die landsässigen Leute sich um
die Fahne scharen sollten, füllten sich mit geworbenem
Volk, und was die Werbetrommel für Kriegszwecke zu-
sammenführte, sprengte der Friede größtenteils aus-
einander.
Dabei war kein geordnetes Staatswesen mit seinen
Finanzen für den Heerbann verantwortlich, der Platz,
wo die Truppen sich zusammenfanden, mußte auch für
ihren Unterhalt sorgen, und Bedrückungen aller Art und
Plünderung waren an der Tagesordnung.
Erst wo mit der Bildung einer Staatsgewalt im
heutigen Sinne auch das stehende Heer in die Staats-
ordnung eingefügt wurde, wo geordnete Finanzen die
Gewährung fester Traktamente und damit die Durch-
führung strenger Mannszucht zuließen, begann auch
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 3
vaterländische Gesinnung in den Heerhaufen Platz zu
greifen, dies um so mehr, wo, wie in Brandenburg zur
Zeit des Großen Kurfürsten, der Ersatz auf die Einwohner-
schaft basiert und ein der allgemeinen Wehrpflicht
ähnliches Aufgebot zur Durchführung gebracht wurde.
Aber auch die Heere Friedrichs des Großen ruhten noch
nicht fest auf volkstümlicher Grundlage, unter seinem
schwachen Nachfolger beschränkte sich die Armee den
größten Teil des Jahres über auf das Vorhandensein
ihrer Kaders, und die eingeschalteten Übungen und Be-
sichtigungen vermochten nicht den Grad von Kriegs-
bereitschaft zu erreichen, den bald darauf Napoleons
Heere auf ungezählten Schlachtfeldern errangen, und vor
dem die alte Armee bei Jena zersplitterte, um dann in
regellosem Rückzug allen Zusammenhang zu verlieren.
Der an die Volkserhebung von 1813 bis 1815 sich
anschließende lange Friede kann leider „ein Friede in
Ehren“ nicht wohl genannt werden. Innere Erbärmlich-
keit schickte einen Fritz Reuter und andere Unglück-
liche in dreißigjährige Festungshaft wegen hochverräte-
rischer Teilnahme an burschenschaftlichen Verbindungen,
Handel und Wandel kamen nicht vorwärts, der deutsche
Bund war ein politisches Zerrbild. Aber freilich, man
ließ auch die in den Befreiungskriegen geschaffene Waffe
der allgemeinen Wehrpflicht verrosten, nur ein geringer
Teil der waffenfähigen Jugend ward zur Erfüllung seiner
Pflicht herangezogen, wieder ließ man das Offizierkorps
überaltern, und nur die tiefe Erschöpfung nach fast Jahr-
hunderte währenden Kriegen läßt es erklärlich erscheinen,
wenn dem begeisterten Aufflammen des Volkstums im
Beginn des neunzehnten Jahrhunderts dreißigjähriger
Marasmus folgte.
So traf uns das Jahr 1848 fast unvorbereitet. Die
notwendige Kriegführung zu Lande, durch politisches
1*
4 Meereskunde.
Zwischenspiel hingehalten, entbehrte des Nachdrucks, die
von der Opferfreudigkeit des Volkes geschaffene Flotte
mußte einem beklagenswerten und schmählichen Schicksal
anheimfallen.
Wie wenig man es begriffen hatte, daß ohne wehr-
haftes Rüstzeug keine politische Macht nach außen und
keine Wohlfahrt nach innen möglich sind, zeigte sich,
als König Wilhelm in seiner Heeresorganisation ledig-
lich die Konsequenzen der allgemeinen Wehrpflicht zu
ziehen gedachte.
„Näherliegend und wichtiger“ schien den Abgeord-
neten ihr Budgetrecht, und ‚dieser Regierung“, die es
gewagt hatte, die Grundrechte des Volkes anzutasten, be-
willigte man, nach dem damals schon gültigen Schlag-
wort: „keinen Mann und keinen Groschen‘“. Heute, wo
Düppel, Königgrätz und Sedan dem greisen König und
seinen Beratern recht gegeben, wird niemand mehr für
jenen Parteigeist, der damals Opposition machte, eine
Lanze brechen wollen. Das deutsche Heer schuf das
Deutsche Reich, und dieses Heer und die endlich als
gleichberechtigt anerkannte Marine haben uns nun 40 Jahre
lang den Frieden gewahrt, aber nicht eine Zeit trägen
Stillstandes unter einer ihre Aufgabe verkennenden Re-
gierung, sondern eine Zeit glänzendsten Fortschrittes auf
allen Gebieten, eine Zeit des Aufschwunges und Vor-
wärtsschreitens, die noch kein Geschlecht vor uns ge-
sehen hat, eine Zeit, die die sichere Gewähr bietet, dab
wir trotz der schweren Last unseres Rüstzeuges und trotz
mancher Zweifelsfragen unserer inneren Politik noch eine
lange Periode des Gedeihens vor uns haben, die ein ge-
sunder Volkskörper und ein Reichtum der Nation, den
sie früher nie besessen, auf breiten, starken Schultern
trägt.
Es ist nicht möglich, an dieser Stelle mit langen
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben.
wı
Zahlenreihen Tatsachen zu beweisen. so mag ein Rück-
blick auf eine Entwicklung, die uns allen vor Augen
steht, diese Zahlen ersetzen. Was war Berlin im Beginn
der siebziger Jahre? Die Stadt hatte damals wenig über
700000 — 1817 allerdings nur 155 000 — Einwohner.
Im Westen reichte die Stadt nicht über den Lützowplatz,
im Norden wenig über das Oranienburger Tor, wo die
Borsigsche Fabrik gewissermaßen den Abschluß bildete.
Darüber hinaus begann die Vorstadt. Eine Pferdebahn-
linie mit ihren schwerfälligen Decksitzwagen vermittelte
den Verkehr mit Charlottenburg. Nach den Vororten,
die aber noch kein Mensch so nannte, ging vielleicht
alle Stunde ein Eisenbahnzug über die Gleise der Haupt-
bahn. Vom Ostbahnhof nach dem Potsdamer gelangte
man in etwa einer Stunde mit der klappernden Droschke,
die man später II. Güte nannte. Sodann, man male sich
das aus, wo heute zu jeder Zweizimmerwohnung ein Bad
gehört, gab es noch keine Kanalisation. In der träge
dahin schleichenden Spree zeugten Schlamm aufwirbelnde
Eruptionen von Schwefelwasserstoffgas von der grenzen-
losen Verunreinigung des Flußlaufes, und doch wurde noch
Wasser der Oberspree als Trinkwasser den städtischen
Leitungen zugeführt.
Was ist bis heute in der 40jährigen Friedenszeit aus
der Reichshauptstadt geworden? Mit ihr wuchsen Breslau,
Nürnberg und zahllose andere Städte über ihr mittelalter-
liches Weichbild hinaus, sprengten Magdeburg, Köln,
Danzig und Posen ihre Festungswälle. Freilich mit
einiger Wehmut klagt Johannes Trojan um das Ver-
schwinden des grünen Gürtels der Wälle, die einst seine
schöne Vaterstadt umkleideten, und völlig verblüfft steht,
wer Posen zuletzt mit dem „Berliner Tor‘ gesehen hat und
nun an seiner Stelle das stolze Kaiserschloß emporragen
sieht.
6 Meereskunde.
Einige wenige Zahlen seien hier eingeflochten: Es
betrug die Einwohnerzahl in:
1817 1870 1905
Maedeburen . 12271000 80 000 241 000
Köln erg. 112%50008 125 000 409 000
Danzegere. 1... 20274000 90 000 159 000
Posen 2:5 aa R2ELOTR 53 000 130 000
Nürnberg: .. 2, 30000 78 000 340 000
Breslauer -,"ı 27178262090 170 000 454 000
Für die vermehrte Menschenzahl und den ständig
wachsenden Verkehr vervollständigte und verdichtete sich
das Eisenbahnnetz und wurde völlig neu aufgebaut in
Brücken und Bahnhofsanlagen, allenthalben ragen die
Fabrikschornsteine in die Luft, überall durchziehen die
Fernleitungen elektrischer Kraftübertragung das platte
Land. Die Arbeitszeit verkürzte sich, die Löhne stiegen,
und selbst der bescheidene Hausstand ist heut kaum noch
mit der Ernährung zufrieden, die vor 40 und 50 Jahren
dem Wohlhabenden reichlich erschien. Eines ist bei
alledem freilich klar, daß Deutschland und vor allem
seine großen Städte heute nur wenig Plätze von stiller
Beschaulichkeit bieten. Überall regt sich die emsigste
Arbeit; wer in Berlin auf 30 Jahre zurückblicken kann,
hat manches Haus schon zum zweiten Male neuaufbauen
sehen. Das ist keine nervöse Veränderungssucht, sondern
die Folge der allenthalben Platz greifenden enormen Wert-
steigerung, die vor dem alten ehrwürdig Hergebrachten
nicht halt machen kann.
Liegt das alles so sehr auf der Hand, daß es müßig
erscheinen könnte, darauf hinzuweisen, so ist doch die
Frage noch immer nicht ganz überflüssig, welchen Nutzen
uns die jüngere Schwester des Heeres, unsere Flotten-
rüstung gebracht hat, deren Heranwachsen wir die
Kriegesrüstung und Wirtschaftsleben. 7
fo} to} /
unbequemen Spannungen gegenüber England verdanken,
und die man noch vor Iı2 Jahren mit dem Hinweis auf
die „uferlosen Flottenpläne‘‘ im Reichstag abzutun ge-
dachte.
Im Jahre 1867, als die Wahlen zum Norddeutschen
Bunde bevorstanden, verfaßte ein hamburgischer Schrift-
steller eine Abhandlung,!) in der er seine Landsleute
nachdrücklich davor warnte, für die damals im Reichstage
zu erwartenden Flottenpläne einzutreten. Das Pochen
auf ihre Seemacht möge man den Engländern überlassen,
für den Deutschen im Ausland zieme es sich, als Kosmo-
polit sich in des Landes Sitte zu schicken und sich dessen
bewußt zu sein, daß man draußen nur Gastfreundschaft
genieße und sich jeder Einmischung in die politischen
Verhältnisse zu enthalten habe. ‚Wir Deutschen — so
schloß er sein Buch — sind eine große Nation. Ich
fürchte, wir werden auch eine mächtige sein wollen.
Möchten wir davor doch bewahrt bleiben.“
Wir sind zum Glück im Besitz eines Zeugnisses
dafür, daß man in Hamburg nicht allgemein so dachte,
dennetin die. ‚eleiche Periode schreibt das), Export-
Handbuch der hamburgischen Börsenhalle“: „Mit welcher
Geringschätzung wurden früher die Deutschen im Aus-
land behandelt, als noch keine starke Macht hinter den
deutschen Konsuln stand. \Wer das miterlebt, selbst mit
durchgemacht hat, hat es gewiß mit Freuden begrüßt, als
18567 die deutschen Schiffe endlich unter eine einheitliche
Flagge gebracht und die verschiedenen Flaggen der
deutschen Küstenstaaten beseitigt wurden. Und als dann
auch die deutsche Kriegsflagge stolz an der Gaffel
deutscher Kriegsschiffe wehte, da schlug man im Ausland
!) N. D. Wichmann: Der deutsche Handel und die beab-
sichtigte deutsche Kriegsflotte.
3 Meereskunde.
den Deutschen gegenüber einen anderen Ton an; man
hatte Respekt vor Deutschland bekommen.“
Es gibt noch andere Beweise dafür, daß die Auslands-
deutschen von dem von jenem Hamburger empfohlenen
Kosmopolitismus nichts mehr wissen wollen. Noch als
wir in den Jahren 1897 und 1898 um das erste Flotten-
gesetz mit dem Reichstag rangen, kam von Valparaiso
her der Ruf, man möge in Deutschland einen Mittelpunkt
schaffen, um den die im Ausland entstandenen deutschen
Flottenvereine sich scharen könnten. Der Verein in Val-
paraiso hatte nach dem Muster der deutschen Flotten-
vereine des Jahres 1848 die freiwillige Selbstbesteuerung
zum Zwecke der Schaffung maritimer Streitmittel auf seine
Flagge geschrieben. Dieser Losung entsprechend entstand
in Berlin die von Valparaiso geforderte Sammelstelle, der
„Hauptverband deutscher Flottenvereine im Ausland‘, der,
zeitlich älter als der deutsche Flottenverein, in der Heimat
jetzt auf eine mehr als zwölfjährige Arbeit zurückblickt.
Als Ergebnisse seiner Arbeit oder vielmehr als Erträg-
nisse der freiwilligen Selbstbesteuerung unserer Lands-
leute draußen kann er das Flußkanonenboot ‚Vaterland‘
auf dem Yangtsze und die Wetterwarte in Tsingtau
nennen. Zu ihm gehören nach seinem letzten Jahres-
berichte 146 Vereine und Zweigvereine in allen Teilen
der Erde und, wichtiger noch, eine in stetem Anwachsen
begriffene Zahl von gegenwärtig fast 1000 Einzelmitgliedern
an solchen Plätzen, wo die geringe Zahl der deutschen
Landsleute oder, wie leider in Rußland, Frankreich und
selbst in Österreich, politische oder polizeiliche Schwierig-
keiten der Bildung von Vereinen im Wege stehen. Alle
diese Vereine und Einzelmitglieder zahlen aber nicht nur
Beiträge für die Förderung der Flotte, sie betonen laut
und nachdrücklich innerhalb ihrer fremden und oft nicht
wohlgesinnten Umgebung: wir sind Deutsche, wir wollen
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 9
Deutsche sein und sind stolz auf unser Vaterland, unter
dessen sicherem Schutz wir uns wissen.
In einer Richtung hat unsere vermehrte Flotten-
rüstung allerdings unerwünschte Folgen gezeitigt, in
der argen Verstimmung Englands, wo man trotz aller
Belehrung immer wieder behauptet, daß unsere Schiffe
nur dazu bestimmt seien, mit der britischen Flotte um
ediewsklerrsehait aut: dent Meere zu kampien! Die Eng:
länder nennen die hierin sich ausdrückenden Stimmungen
und Verhältnisse selbst charakteristisch genug Scare, d.h.
Vogelscheuche. In Wahrheit kommen bei diesem Eulen-
geschrei Bedrängnisse ganz anderer Art zum Ausdruck.
Wir wissen, - wie in jahrhundertelang verfolgter
kluger und weitblickender Politik das stolze Inselvolk
sich nach und nach seiner Widersacher und Wettbewerber
auf der See — der Spanier und Portugiesen, der Fran-
zosen und Niederländer — entledigt und ihre Flotten von
der See vertrieben hatte. Deutschland konnte es dabei
ruhig sich selber überlassen, wir verbrauchten unsere
wirtschaftlichen und politischen Kräfte in dauernden
inneren Kämpfen, und das geschäftskundige Albion war
klug genug, sogar noch durch Subsidiengelder und poli-
tische Schachzüge nachzuhelfen, ‚wenn den Kämpen auf
dem europäischen Kontinent der Atem ausging und da-
durch die Gefahr entstand, daß Kräfte frei wurden, die
Englands Bestrebungen unbequem werden konnten.
Für England war dabei überall nicht der militärische
Gewinn die Hauptsache; es wollte nur die Hände frei
haben, um durch die Beherrschung des gesamten See-
verkehrs den Völkern der Welt auch wirtschaftliche Ge-
setze vorzuschreiben. Es ging allen voran in seiner ge-
werblichen Entwicklung, so brauchte es die Rohstoff-
gebiete der ganzen Erde, und so war es in der Lage,
mit den Erzeugnissen seines Gewerbefleißes die ganze
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 2. 2
Io Meereskunde.
Kulturwelt zu versorgen. Dazu brauchte es die Flotten-
stationen am Kap der Guten Hoffnung und im Mittel-
meer, dazu die weiten Gebiete Indiens mit ihrem Reich-
tum und ihren Söldnerscharen, den Handelsplatz in Hong-
kong und die Beziehungen zu Nordamerika, das auch
nach Erlangung politischer Unabhängigkeit doch als wirt-
schaftlicher Wettbewerber noch lange nicht in Frage kam.
Wie England dabei seine Heimatsinteressen vernach-
lässigte, wie seine Landwirtschaft in vollkommenen Ver-
fall geriet, und wie es in seiner Lebensmittelzufuhr völlig
<
vom Ausland abhängig wurde, mag hier nur nebenbei
erwähnt werden.
In seiner Weltherrschaft ist England gewiß unerwartet
ein gefährlicher Gegner entstanden, als wir unsere inneren
Streitigkeiten 1866 zu endgültigem Abschluß gebracht
und 1870 auch dem alten Erbfeind eine Lehre gegeben
hatten, die bis heute und hoffentlich noch für lange un-
vergessen geblieben ist. Von da ab begann unser ge-
werblicher Aufschwung, von da ab entstand unser Wett-
bewerb mit England, wuchs unser Seeverkehr, den wir
nicht ohne Schutz lassen konnten, und von da ab über-
nahmen wir in gewisser Beziehung und wenigstens zum
Teil die Stellung im Weltverkehr mit, die England für alle
Zeiten für sich allein gesichert zu haben glaubte. Viele
Zeichen sprechen dafür, daB England seine Rolle end-
gültig‘ "ausgespielt. "hat, ‘und daß‘ "es sie’ rauch me
keinem two power-Standard, am allerwerigsten aber mit
der so oft von englischen Heißspornen geforderten Ver-
nichtung der deutschen Seemacht wiedergewinnen wird.
Diese Fragen sind hier für uns nicht zu verfolgen,
wir dürfen hier heute und an dieser Stelle auf das Fazit
dieses neuerstandenen Wettbewerbes hinweisen. Es
kommt am deutlichsten wohl darin zum Ausdruck, dab
Bremen jetzt seit 1870 zum dritten Male am Werke ist,
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. DT
seine Hafenanlagen an der Wesermündung in immer
größeren Maßstäben zu erweitern, während in Hamburg
auf dem Westufer der Elbe eine neue Dockstrecke sich
an die andere reiht. Seit 1883 hat Hamburg in dieser
Weise für die Erweiterung seiner Hafenanlagen 238 Mil-
lionen' Mark aufgewandt, seine neuesten Pläne umfassen
ein Geldobjekt von 45 Millionen Mark. Ähnliche Aus-
bauten erfuhren die Häfen von Emden, Lübeck, Stettin
und Danzig, während zugleich die Verbesserung der Ver-
bindungen mit dem Hinterland und die Steigerung des
Verkehrs auf unseren Strömen und Kanälen für die
immer stärkere Verknüpfung unseres Gewerbefleißes mit
dem Seeverkehr und für unsere immer größere Abhängig-
keit von der freien Beherrschung der Meereswege Zeugnis
ablegen.
Alle diese Errungenschaften haben wir zu verzeichnen,
weil wir 40 Jahre lang Frieden hatten; zugleich aber lehrt
uns jeder Tag und lehren uns vielleicht am augenfälligsten
die mehrfachen Friedenskonferenzen, daß der Friede nichts
Selbstverständliches ist, sondern, daß es fortgesetzter
schwerer Bemühungen bedarf, ihn zu erhalten, und daß
er hauptsächlich deshalb nicht gestört wird, weil die
Kriegsrüstungen aller Kulturstaaten derart scharf und
schneidig und zu sofortigem Gebrauch bereit sind, daß
ein Friedensbruch heute ein Unternehmen von einer Ge-
fährlichkeit darstellt, gegen das die ununterbrochenen
Kriegsläufte ‘früherer Jahrhunderte an Bedeutung voll-
kommen zurücktreten.
Hiernach bleibt für unseren Gegenstand die Frage
zu untersuchen, ob unsere Kriegsrüstung wirklich in dem
vorhandenen Umfange nötig ist, ob durch sie nicht dem
freien Umlauf der Güter im Volk zu viele und zu wert-
volle Bestandteile entzogen werden, und ob und in
welcher Weise gewissermaßen eine Verzinsung dieser
2
2 Meereskunde.
Aufwendungen, ein Zurückfließen in das Nationalvermögen
und eine nützliche Wiederverwendung der in der Rüstung
festgelegten Kapitalien stattfindet.
Für unser Heer beantwortet sich die Frage gewisser-
maßen von selbst, es kann auf seine lange ruhmreiche
Geschichte und darauf verweisen, daß zwischen seinem
gesetzmäßigen Bestande und der Bevölkerungszahl eine
feste Beziehung obwaltet, die eine wirtschaftliche Über-
lastung ausgeschlossen erscheinen läßt. Für die Marine
können wir nur auf die Geschichte fremder Völker ver-
weisen, doch liegt auch für uns wohl das eine klar, dab
ein Krieg wie der von 1864 überhaupt nicht möglich
gewesen wäre, wenn wir nur irgendwelche nennens-
werten Streitkräfte hätten auf das Meer hinausschicken
können. Wohl dieser mangelnden eigenen. Erfahrung ist
es zuzuschreiben, daß die öffentliche Meinung so schnell
für die scheinbar mögliche Entlastung — vor 30 Jahren
durch die Torpedoboote und heute durch das Untersee-
boot — sich erwärmte. Es ist an dieser Stelle nicht an-
gängig, dieser Frage in ihren Einzelheiten nachzugehen,
tolle}
es mag genügen, daß Ischusima durch die Kanonen ent-
schieden wurde. Daß wir, durch das Flottengesetz nur
in der Schiffszahl beschränkt, den von England an-
gezettelten Dreadnought-Wettlauf mitmachen müssen, ist,
wirtschaftlich betrachtet, gewiß kein Segen, doch kann
man —. vielleicht nicht ohne Schadenfreude — feststellen,
daß England selbst längst erkannt hat, wie sehr es durch
das Ausspielen dieses hohen Trumpfes die eigenen Karten
im Wettkampf nicht nur gegenüber Deutschland ver-
schlechtert hat.
Wir wenden uns nach dieser kurzen Betrachtung zur
Verzinsungsfrage, die von selbst in eine personelle und
in eine sachliche Seite zerfällt.
In der langen Friedensperiode seit 1870 ist unsere
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 13
Bevölkerungsziffer von 40000000 auf mehr als 60 000 000
Köpfe gestiegen. An dieser Bevölkerungszunahme ist
Beben, der - in ‚neuester Zeit leider "auch ber uns
weichenden — Geburtenziffer vor allem der ganz augen-
fällige Rückgang der Sterbezifter beteiligt. Diesen Rückgang
erklärt Professor Zahn in einer kürzlich erschienenen
Betrachtung!) der wirtschaftlichen Entwicklung Deutsch-
lands nächst den Fortschritten der medizinischen Wissen-
schaft mit der Steigerung des Wohlstandes, mit der
Steigerung des nationalen Machtbewußtseins und dem
Aufschwung im Staatsleben, und er fügt hinzu: ‚davon
profitiert auch die Wehrkraft“‘. — Wir möchten die Er-
füllung der Wehrpflicht ganz wesentlich mit zu den Ur-
sachen der längeren Lebenswahrscheinlichkeit rechnen,
nicht so sehr wegen der körperlichen Übung, zu der der
Soldat während seiner Dienstzeit genötigt ist, als wegen
der moralischen Errungenschaften. Wir lernten in unserer
Soldatenzeit vor allem das Müssen, das Voranstellen
eines höheren Interesses vor unser persönliches Wünschen
und Wollen, das Einfügen und Einpassen in ein großes
Ganzes, in dem der Einzelne einen unbedingt notwendigen
Bestandteil bildet, aber doch zugleich völlig als Einzelner
außer Betracht bleibt. Die hierin liegende Selbstverständ-
lichkeit selbstlosester Pflichterfüllung ist sicherlich nicht
ohne Bedeutung für die spätere Lebensführung, und daß
der größte Teil unseres Volkes diese Pflichterfüllung,
diese Bereitwilligkeit, sich dem großen Ganzen anzupassen,
als vollkommen selbstverständlich erachtet, ist ohne
/weifel das Ergebnis der nunmehr ein Jahrhundert
währenden Volkserziehung und eine Errungenschaft der
!) Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung unter besondrer
Berücksichtigung der Volkszählung 1905 sowie der Berufs- und
Betriebszählung 1907. Von Ministerialrat Dr. Friedrich Zahn in
München. Annalen des Deutschen Reiches 1910, Heft 6ff.
14 Meereskunde.
allgemeinen Wehrpflicht, die nicht gering einzuschätzen
ist, und deren volle Ernte wir noch nicht unter Dach
gebracht haben.
In der Kehrseite der Medaille trägt die allgemeine
Wehrpflicht mit die Schuld an der „veränderten Sied-
lungsweise‘“, wie Professor Zahn sich ausdrückt, oder, in
der gebräuchlicheren Redewendung, an dem Zuge nach
dem Westen und an der Landflucht unserer acker-
bauenden Bevölkerung. Das ist unerfreulich für die
Landwirtschaft und, wegen des Zustroms geringwertiger
Elemente über unsere östlichen Grenzen, für unser Volks-
tum im ganzen. Ob auch die körperliche Beschaffenheit
des Volkes darunter leidet, oder ob, wie man die Frage
wohl stellt, die Stadt oder das Land einen größeren An-
teil brauchbaren Ersatzes liefert, bildete den Gegenstand
mannigfacher Untersuchungen,!) die zumeist zu dem Er-
gebnisse kamen, daß die Wagschale sich zugunsten der
Landbevölkerung neige. Es möchte demgegenüber darauf
hinzuweisen sein, daß die Beobachtungsreihe doch noch
nicht lang genug ist, und daß die Anpassung der städ-
tischen Bevölkerung an die Methode des modernen Groß-
betriebes sich noch nicht in hinreichendem Maße voll-
zogen hat. In bezug auf ihre Ernährung wie auf ihre
Unterkunft ist die städtische Bevölkerung jedenfalls nicht
schlechter daran, als die ländliche, und für die Hygiene
des Arbeitsraums geschieht mindestens in den großen
Fabriken so viel, daß auch hier die Verhältnisse nicht
schlechter sind, als für die ländlichen Arbeiter, die allen
Unbilden der Witterung ausgesetzt und meist nur sehr
unzureichend in der Lage sind, sich dagegen zu schützen.
Betrachtet man freilich die gegenwärtigen Ergebnisse des
) Vgl. u. A.: Dr. Erich Wellmann, Abstammung, Beruf und
Heeresersatz in ihren gesetzlichen Zusammenhängen. Leipzig 1907
bei Duncker und Humblot.
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 15
geschättes, im einzelnen, so, ist nicht ab-
<
Ergänzungs
zuleugnen, daß die industriereichen Bezirke verhältnis-
mäßig ungünstig abschneiden, während der Gesamtdurch-
schnitt nach dem letzten dem Reichstag mitgeteilten Er-
gebnis des Heeresergänzungsgeschäftes keine allzugroben
Unterschiede erkennen läßt. Gerade von der Arbeiter-
bevölkerung der großen Industriestädte aber wohnen ver-
hältnismäßig nicht mehr allzu viele in der Stadt selbst.
Hier vollzieht sich immer mehr die Citybildung und in
den langen Häuserreihen, die immer weiter und weiter
in die bis dahin noch grüne Umgebung hinausreichen,
finden die Arbeiter die hygienisch vollständig einwand-
freie Zweizimmerwohnung, die sie bezahlen können, und
für ihre Kinder Licht und Luft genug, während die
Laubengärten ringsherum ihnen gestatten, nach Feier-
abend und Sonntags ihren Kohl zu bauen. Es wird die
Ansicht gestattet sein, daß man zunächst noch einen
längeren Verlauf der zurzeit noch sehr jungen Ent-
wicklung der modernen Großindustrie, der modernen
Verkehrsverhältnisse und der Wohltaten unserer sozialen
Gesetzgebung für das heranwachsende Geschlecht ab-
zuwarten hat, ehe in bezug auf die Güte des Ersatzes
aus Stadt und Land das letzte Wort gesprochen werden
kann. Schon jetzt ist der statistisch feststehende Rück-
gang der Volkskrankheiten und die Zunahme der Körper-
größe ein Beweis dafür, daß die moderne Entwicklung
sich nicht im Sinne einer Verschlechterung des Volks-
tums in seiner Gesamtheit bewegt.
Von dem innerhalb des Heereskörpers sich voll-
ziehenden Geldumsatz wird man die Löhnung der Mann-
schaften nicht gut als eine Rückeinnahme in Anspruch
nehmen können; denn wenn auch dieses Geld in vollem
Umfange im Lande bleibt, und den kleinen Kaufleuten
in der Nähe der Kasernen zufließt, so ist doch auf der
16 Meereskunde.
anderen Seite in Betracht zu ziehen, daß die Leute, so-
lange sie dienen, der nationalen Arbeit entzogen sind,
und keinen Lohn erwerben. Anders steht die Sache mit
den Gehaltsempfängern, die als Offiziere, Deckoffiziere,
lang dienende Unteroffiziere und Beamte den Heeres-
dienst als ihre Lebensaufgabe betrachten. Diese unter-
halten mit ihrem Diensteinkommen ihre Familien, sie er-
ziehen damit ihre Kinder zu nützlichen Staatsbürgern
und vielfach zu besonders brauchbarem Nachwuchs des
eigenen Berufes, so daß hier eine vollkommene Ein-
fügung in den Kreislauf stattfindet, indem einer nütz-
lichen Arbeit ein Gelderwerb gegenübersteht, der im Lande
bleibend in seinem vollen Betrag dem Volksvermögen
wieder zugute kommt.
In bezug auf die sächlichen Ausgaben macht sich
ein Unterschied zwischen Armee und Marine insofern
geltend, als in der Armee die Menschen, in der Marine
das Schiffsmaterial mit seinen Häfen und Werften den
Hauptaufwand an Geld hervorrufen. Ist eine Kaserne
einmal fertig, so kostet sie von da ab nur noch die
Unterhaltung. Die Neubewaffnung der Armee, wenn sie
nötig wird, ist gewiß kostspielig, aber diese Notwendig-
keit tritt nur in längeren Zwischenräumen ein, während
jedes Schiff seine eigenen Geschütze haben muß, und die
alten Geschütze zumeist auch das Schicksal des alten
Schiffes teilen. Demgemäß stehen bei der Armee die
persönlichen Aufwendungen zu den sächlichen ziemlich
genau in dem Verhältnis von 2 zu I, während bei der
Marine diese Verhältniszahlen sich wie I zu 4 stellen.
Dabei tritt bei der Armee noch der weitere Umstand
zutage, daß auch die sächlichen Ausgaben in sehr wesent-
lichen Beziehungen gewissermaßen an die Scholle ge-
bunden sind. Zwar die Bekleidungsämter sind an ge-
wisse Zentralstellen verlegt. Die von ihnen verarbeiteten
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 17
Rohstoffe an Wolle, Baumwolle und Häuten sind, wie
das gesamte Material der Bekleidungsindustrie, in der
Hauptsache über See gekommen, für ihre Verarbeitung
aber kommt ausschließlich die heimische Industrie in Be-
tracht, und die gezahlten Löhne kommen heimischen
Arbeitern zugute. Die Garnisonbauten sind in der Haupt-
sache das Ergebnis örtlichen Gewerbefleißes, die haupt-
sächlichsten Rückeinnahmen aber fließen der Land- und
Forstwirtschaft durch die Lieferung von Fleisch, Feld-
früchten, Furage und Stroh, sowie durch das Holz zu.
Nicht unerwähnt bleiben darf ferner die Förderung der
Pferdezucht, die der Bedarf der Truppe an leistungs-
fähigen Pferden hervorruft. Endlich läuft gerade den
mittleren Orten durch den Bedarf ihrer Garnison das
Geld aus so vielen im einzelnen hier nicht zu ver-
folgenden Quellen zu, daß wir gewissermaßen noch lange
nicht Militär genug haben, wenn man allen Wünschen
derartiger Orte nach Überweisung von Garnisonen gerecht
werden wollte.
Bei der Marine findet diese örtliche Rückeinnahme
nicht in gleicher Weise statt, hier sind nur wenige Stand-
orte beteiligt. Wenn man freilich bedenkt, daß beispiels-
weise Kiel beim Übergang an Preußen nur etwa 20 000,
1550 etwa 40000 und jetzt weit über 150 000 Einwohner
zählt, so wird man dieses Anwachsen doch auch zu einem
sehr wesentlichen Teil aus dem Rückfluß von Geld aus
dem Marineetat an die Bewohner des Reichskriegshafens
zu erklären haben. Wilhelmshaven, jetzt mit den Vor-
orten ein Platz von wenigstens 60 000 Einwohnern, ist
ganz und gar eine Schöpfung der Marine.
Um eine Vorstellung zu gewinnen von den in der
Marine sich vollziehenden Rückeinnahmen, sei eine einem
englischen Fachblatt!) entnommene Zahl genannt. Dieses
1) Naval and Military Record. London 1908. 12. Nov.
IS Meereskunde.
berechnete, dab von dem Geldaufwand für ein Linien-
schiff 80 v.H. sich in Arbeitslöhne auflösen, daß also,
wenn man die Kosten eines solchen Schiffes auf etwa
45 Millionen ansetzt, 36 Millionen als Löhne den Arbeitern
zufließen, während nur 9 Millionen für den Rohwert des
Materials, für Kapitalzinsen, für Amortisation der Anlagen
und zuletzt als Unternehmergewinn übrig bleiben. Diese
Summe von 36 Millionen ist sicherlich nicht zu hoch
gegriffen, wenn man in die Eisengruben und Kohlenberg-
werke, in die Hütten- und Walzwerke zurückgeht, und
dann weiter berechnet, daß von der Kiellegung bis zur
Einreihung eines solchen Schiffes in die Flotte auch heute
noch 36 bis 40 Monate vergehen. Das englische Blatt
berechnete weiter, daß durch die Arbeiten für ein solches
Schiff im Durchschnitt eine Armee von 10000 Mann für
zwei Jahre in Anspruch genommen werde, das ergäbe
eine Durchschnittseinnahme von 1800 Mark für den ein-
zelnen Lohnempfänger, was sogar knapp erscheint, da
hier die Gehälter der Ingenieure und die Löhne der
Zeichner, Schreiber und des Rechnungspersonals doch
jedenfalls mit einbegriffen werden müssen. Setzt man
nun weiter an, daß diese IO000 Mann nur im Durch-
schnitt zwei Kinder ernähren, so ergibt sich, daß die
scheinbar unproduktive Ausgabe für das Kriegsschiff im
ganzen 40000 Essern zugute kommt, die gleichzeitig
Unterkunft, Bekleidung und was sonst noch für sich be-
anspruchen. Mit Recht spricht das englische Blatt hier
von einem „circulate the money“, indem allerdings dieser
Geldaufwand durch die verschiedensten Kanäle läuft und
ganz und gar in das Volksvermögen wieder zurückfließt.
Dafür, daß bei diesem Kreislauf die Arbeitermassen nicht
zur „Verelendung‘“ neigen, gibt Professor Zahn in der
oben angeführten Abhandlung interessante Ziffern. Von
unserer Arbeiterschaft sind zurzeit verheiratet nahezu
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 160)
43 vH., 1895 und 1882 waren es nach den damals vor-
liegenden Zählungsergebnissen nur 35 bzw. 34vH.!) Das ist
wohl der beste Beweis, daß sich unsere Arbeiterbevölkerung
steigenden Wohlstandes und steigender Sicherheit in
allen ihren Lebensvoraussetzungen erfreut, eine Tatsache
im übrigen, die auch für die Volksgesundheit nicht ohne
Bedeutung ist.
Die deutsche Schiffbauindustrie in ihrer gegen-
wärtigen Gestalt verdankt bekanntlich ihre Entwicklung
vollkommen der Kriegsmarine. Bis zu Stosch gingen
die wenigen Aufträge für Eisenschiffe nach England und
Frankreich; nur für den Holzschiffbau war eine größere
Anzahl von kleineren Werften an der Ostsee tätig; auch
die Maschinen unserer älteren Kriegsschiffe wurden samt
und sonders in England bestellt. Nennen wir nun hier
nur die großen Schiffbauanstalten von Schichau, den
Vulcan, die Germania- und die Howaldwerke, Blohm &
Voß und die Weser in Bremen, so müssen wir zugestehen,
daß hier, durch die Initiative der Kriegsmarine hervor-
gerufen, ganz gewaltige Kapitalien festgelegt und ganz
gewaltige Kräfte in Bewegung gesetzt sind. Müssen wir
zugestehen, daß der Geschäftsgang all dieser Werften
trotz der Aufträge der Kriegsmarine zurzeit kein sehr
glänzender ist, so teilen sie dieses Schicksal leider mit
dem Schiffbau der ganzen übrigen Kulturwelt, der die
Handelskrise der letzten Jahre noch nicht überwunden
hat und an ihren Folgen aller Voraussicht nach noch
geraume Zeit zu tragen haben wird. Trotzdem wird die
Gesamtzahl des allein auf den deutschen Werften be-
schäftigten Personals, allerdings einschließlich der Tech-
niker und der kaufmännischen Angestellten, auf ungefähr
55 000 Köpfe zu berechnen sein, doch sind hier die
ı) Vgl. Hirths Annalen des Deutschen Reichs ıg10, Heft 7,
S. 497.
20 Meereskunde.
zahllosen Hilfsindustrien, abgesehen von den Arbeitern in
den Bergwerken, Hütten- und Walzwerken nicht mit ein-
begriffen.
An einem modernen Schiff sind beinahe alle in-
dustriellen Betriebe neben Kunst und Wissenschaft be-
schäftigt. Sehen wir ab von den prächtigen Malereien
und sonstiger Dekoration der Schnelldampfer, so zeigt
doch auch das Kriegsschifft in den Wohn- und Wirt-
schaftsräumen alle in Betracht kommenden Gebrauchs-
gegenstände in höchster technischer Vollendung; Tele-
graphen, Fernsprecher, Beleuchtungseinrichtungen für
Gebrauch und Signalzwecke, Kompasse und sonstige In-
strumente neben allen Apparaten und Einrichtungen des
aufs höchste vervollkommneten Maschinenwesens sind in
einem Kriegsschiff vereinigt; nicht zu gedenken der Er-
zeugnisse der Optik in Fernrohren und Entfernungsmeß-
apparaten, des Schlingerkreisels und anderer Erzeugnisse
einer hochentwickelten Feintechnik mehr. Das amtliche
Lieferantenverzeichnis der deutschen Marineverwaltung
ist ein Buch von mehr als Fingerstärke. Die darin auf-
geführten Firmen sind über das ganze Reich verbreitet.
Erwähnen müssen wir in diesem Zusammenhang die
Fortschritte des Kesselbaues bis zu den kompliziertesten
Wasserrohrkesseln und die Turbinen, die die Kriegs-
marine für ihre besonderen Zwecke braucht, und die der
Handelsschiffbau sich im weitesten Umfang zunutze
machte. Gleiche Wege wird aus diesem Anlaß die In-
dustrie der Motoren gehen.
So ist ein Kriegsschiff, wenn es in einem Auslands-
hafen erscheint, abgesehen von der sinnbildlichen Dar-
stellung unserer Seemacht zugleich ein schwimmendes
Zeugnis für den Hochstand unseres Gewerbefleißes, und
es darf eine Äußerung des französischen Marineministers
hier verzeichnet werden, der zu der Jahrhundertfeier nach
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 21
Buenos Aires eine Flottille der modernsten Kreuzer ent-
sandte, in der sicheren Erwartung, daß diese Vorführung
französischen Könnens für die französischen Werften nicht
ohne Rückwirkung bleiben werde.
Erforderlich erscheint es, an dieser Stelle der Firma
Krupp zu gedenken. Ob es richtig gewesen wäre, daß
die Marine, als sie durch das Flottengesetz sich auf
eine größere Leistung vorbereitete, auch der Geschütz-
fabrikation in eigener Regie ihre Aufmerksamkeit zuge-
wendet hätte, sei dahingestellt. Anderseits bleibt es
immer ein Ruhmesblatt für die Firma, daß sie den so
erheblich gesteigerten Anforderungen der Flotte gerecht
geworden ist, und daß sie die Armierungen unserer
neuen großen Schiffe, so wie es von ihr verlangt wurde,
geliefert hat. Zurzeit ist es angesichts der ungeheuren
Kapitalsansammlungen in den Kruppschen Werken und
bei dem fortschreitenden Zusammenschluß der bezüglichen
industriellen Unternehmungen nicht sehr wahrscheinlich,
daß ein privater oder staatlicher Wettbewerb dagegen
Blatzesreitt, ‚und es ist, an. dieser stelle nicht näher zu
erörtern, ob er wirtschaftlich angebracht sein würde.
Die Firma muß, seit sie sich in eine Aktiengesell-
schaft umwandelte, durch ihre Bilanzen einen Einblick in
ihre Vermögensverwaltung der Öffentlichkeit!) zugänglich
machen. Wir können aus der letzten solchen Auf-
machung ersehen, daß die Firma bei einem Gesamt-
vermögen von 475 Millionen Mark über einen Grund-
besitz von 196 Millionen verfügt, während der Wert der
in der Herstellung begriffenen Fabrikate auf 120 Millionen
beziffert wurde. Hier finden wir eine vollständige Her-
stellung der Fabrikate von der Erz- und Kohlengrube an,
!) Nach dem Vortrag ist eine neue Bilanz veröffentlicht, die
hier außer Betracht bleiben mußte.
22 Meereskunde.
durch die Hütten- und Walzwerke bis zur fertigen Mon-
tage im Schiff, es ist daher begreiflich, wenn die Firma
bei einem Personenbestande von rund 64 000 Menschen,
von denen rund 33000 in Essen beschäftigt werden,
einen Lohnaufwand von schätzungsweise 90 000 000 Mark
zu verzeichnen hat. Die Firma stellt nicht ausschließlich
Kriegsmaterial her, sondern neben den Geschützen und
Panzerplatten hauptsächlich Eisenbahnräder, Achsen,
Wellen für Schiffsschrauben und sonstige für Schiffbau-
zwecke bestimmte Materialien, wie ja denn auch eine
Schiffswerit in Kiel ihrem Betriebe angegliedert ist.
Bezieht man diese mit ein, so ist die Schätzung gestattet,
daß etwa 40 vH. ihres Gesamtumsatzes der Marine ge-
widmet sind, daß also rund 36 Millionen Mark auch auf
diesem Wege in Form von Arbeitslöhnen aus dem
Marineetat rückwärts in das Volkseinkommen fließen.
Sehr erheblich sind freilich, in den absoluten Ziffern
betrachtet, die von der Firma erzielten Gewinne, und es
ist nichts Seltenes, daß daran von abgeneigten Politikern
sehr mißliebige Kritik geübt wird. Gleichwohl sind sie,
auf den tatsächlichen Umsatz bezogen, nicht höher als
solche in ähnlichen industriellen Unternehmungen ge-
wonnen werden; es ist sogar die Bemerkung zulässig,
daß die Herstellung von Kriegsmaterial im Hinblick auf
das Vorwärtsdrängen der Technik keinesfalls einen so
rationellen Betrieb gestattet, wie die Fabrikation irgend-
welcher Handelsware, und daß in der notwendigen Prä-
zision ein nicht unerhebliches Risiko enthalten ist. Bei-
spielsweise nimmt das Einschneiden der Züge in ein
langes schweres Geschützrohr allein 14 Tage in Anspruch,
An der hierzu erforderlichen höchst komplizierten Ma-
schine kann nur ein Mann stehen, der mit aufgelegter
Hand den ruhigen, richtigen Gang des Schneidewerkes
im Innern des Rohres beobachtet. Eine geringe Unaut-
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 2
(095)
merksamkeit dieses Arbeiters oder der unrichtige Fall
eine Metallsplitters von den Schneideflächen kann ver-
schulden, daß an den Zügen ein Stück ausbricht. Damit
ist das ganze Rohr, das Ergebnis monatelanger Arbeit
für seinen Zweck unverwendbar, denn Waren zweiter
Qualität, die unseren Warenhäusern so vortreffliche Ge-
legenheit zur Gewährung von Ausnahmepreisen bieten,
lassen sich auf dem Gebiete der Kriegsrüstung leider
nicht verwenden. In flauen Zeiten auf Vorrat zu arbeiten,
ist für eine Geschützfabrik ausgeschlossen. Sie kann nur
auf Bestellung liefern; denn was in die Front eingestellt
wird, muß immer den allerneuesten Anforderungen in
militärischer und technischer Hinsicht entsprechen.
Erwähnen wir zum Schlusse noch, daß die Marine
in ihren eigenen Betrieben rund 22000 Arbeiter, mit
einem Lohnaufwand von 33000000 Mark und etwa
2 000 000 Mark für soziale Fürsorge, beschäftigt, so werden
auch hierdurch die Ziffern des Marineetats einen nicht
unerheblichen Teil ihrer Unerfreulichkeit für sparsame
Gemüter verlieren, abgesehen davon, daß sich der Lohn-
anteil für die übrigen Bedarfszwecke, Kohlen und Schmier-
material, Bekleidung und ganz besonders für die umfang-
reichen Landbauten, nicht nachrechnen läßt.
Die Marine unterscheidet sich von der Armee da-
durch, daß ein nicht unerheblicher Teil ihres Geldauf-
wandes in das Ausland geht, doch kann man sich damit
trösten, daß es gerade dieser Teil ihrer Ausgaben ist,
der die» höchste Verzinsung gewährt. Schon in den
ersten Tagen ihres Bestehens hielt es die preußische
Marine für ihre Pflicht, mit einem kleinen Geschwader
jenseits des Ozeans ihre Flagge zu zeigen, schon damals
berichtete dankend der preußische Geschäftsträger, welche
grobe Stütze im Verkehr mit den überseeischen Gebieten
ihm nunmehr der Hinweis auf den Schutz der Flagge
24 Meereskunde.
pP
gewähre, und wie der Handelsstand in seinem Vertrauen
auf die Fürsorge der Heimat gestärkt und gefördert
werde. Den Handelsvertrag mit Japan, der uns den
fernen Osten zugänglich machte, hätte der preußische
Gesandte Graf Eulenburg ganz sicher nicht erreicht,
wenn nicht zwei für damalige Verhältnisse höchst statt-
liche Fregatten mit ihrem Landungskorps den japanischen
Machthabern den Ernst der preußisch-deutschen Absichten
vor Augen geführt hätten. Oft und an zahlreichen
Stellen sind seitdem deutsche Kriegsschiffe mit größerem
und geringerem Nachdruck für unsere überseeischen
Interessen eingetreten. Für unsere sämtlichen kolonialen
Erwerbungen haben sie die Wege eröffnen und vielfach,
so in Kamerun, im Buschiri-Aufstand und ganz besonders
vor den Samoainseln, schwere und blutige Opfer für die
deutsche Ehre und die deutsche Wohlfahrt bringen
müssen. Den letzten und volleültigssten Beweis ihrer
Notwendigkeit erbrachte die deutsche Marine, als unser
„Itis“ im Verein mit dem Landungskorps vom Kreuzer-
geschwader die Takuforts niederkämpfte, und als gleich
darauf eine Division von Linienschiffen mit Kreuzern und
Torpedobooten hinausgesandt werden konnte, um den
gelben Zopfträgern klar zu machen, daß Deutschland
nicht willens war, sich aus seinen mühsamen Errungen-
schaften im fernen Osten verdrängen zu lassen. Daß
wir mit dem Geldaufwand für die Marine rationell ge-
wirtschaftet haben, dafür stehen uns sowohl englische
wie französische Stimmen zur Verfügung, die. überein-
stimmend hervorheben, daß wir mit einem um 50 vH.
geringeren Geldaufwand unsere Flotte auf die dritte
Stelle gehoben haben, während Frankreich in der gleichen
Zeit auf die fünfte Stelle zurückgegangen ist.
Wenn mit allen angeführten Tatsachen, die jeder Ein-
blick in die Ziffern der deutschen Statistik ergänzen
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 25
kann, der Beweis erbracht sein dürfte, daß für uns eine
Kriegsrüstung nötig, und daß der Aufwand für sie kein
totes Kapital vorstellt, sondern im vollen Umfang dem
deutschen Volksvermögen wieder zugute kommt, so hat
damit nicht gesagt werden sollen, daß der gegenwärtige
Zustand eines mit so schweren Opfern aufrechterhaltenen
Friedens an sich wünschenswert wäre, und für alle Zeiten
das Ideal des in der Kulturwelt geeinten Menschentums
darstellt. Deutschland hat seit 40 Jahren Frieden, gegen
die von Ost und West drohenden Gewitter hat sich
unsere Rüstung in dieser langen Zeit als eine aus-
reichende und feindliches Begehren abschreckende Schutz-
wehr erwiesen. Blicken wir aber in der Welt umher, so
finden wir, daß gerade in dieser Periode an den ver-
schiedensten Plätzen die Kriegsfackel entbrannte, daß sie
schnell wieder erlosch, wo eine ausreichende und kriegs-
tüchtige Wehr zum Schutz der angegriffenen Interessen
zur Verfügung stand, und daß sie furchtbare Opfer
forderte, wo dies nicht der Fall war. Es sei allein an
den Jammer von Tschusima und an die fortgesetzten
Niederlagen der in Führung und Verwaltung traurig im
Stiche gelassenen russischen Landtruppen erinnert.
Nur die eine Frage sei zum Schluß noch kurz er-
örtert, ob, wie man vielfach behaupten hört, unsere
Waffenrüstung zu schwer ist und dem ,„Moloch des
Militarismus‘“‘ unerschwingliche Opfer gebracht werden.
Wäre unsere Rüstung zu schwer, so müßte an irgend
einer Stelle eine Erschöpfung in die Erscheinung: treten.
Die vorstehend geschilderten Tatsachen möchten dafür
wohl kaum einen Anhalt bieten. Wer eine Vorstellung
gewinnen will von einem Zeitalter, wo das Volk auf dem
Altar des Vaterlandes sein letztes hingab, um Ehre und
Freiheit sich zu wahren, der werfe einen Blick in die
jetzt so vielfach im Buchhandel erschienenen Erinnerungen
26 Meereskunde.
an die Zeit der schweren Not zwischen 1806 und 1813.
Damals waren der Opfer fast zu viele, aber das Volk
verzagte nicht und verlor auch unter diesem schweren
Druck nicht seinen Lebensmut und seine Lebensfreude.
Bei uns ist Gott sei Dank Geld für alles da; noch die
letzte Zeit brachte trotz Militär- und Marineetat unserem
Beamtentum die erheblichen Verbesserungen im Gehalt
und in der Altersversorgung. In frischester Erinnerung
ist das Millionenprojekt der Gemeinde Tempelhof, das
den--alten Exerzierplatz der Berliner Garnison ‘der ‚Be
bauung erschließen soll; im Handumdrehen war das Geld
für den Ersatzbau gesammelt, als Graf Zeppelin bei
Echterdingen sein Luftschiff verloren hatte, und fast auf-
dringlich zeigen uns täglich und stündlich die immer
zahlreicheren Automobile, daß Zeit Geld, und daß zu
ihrer Ausnutzung Geld genug vorhanden ist. Stein-
mann-Buchert) berechnet das deutsche Nationalvermögen
bekanntlich auf 350 Milliarden Mark; wieviel davon die
„kleinen Leute“ in bar ihr eigen nennen, mögen die
13 889 Millionen Sparkassenanlagen zeigen, die 1907
nachgewiesen wurden, gegen nur 1869 Millionen im
Jahre 1875.
Nicht zu leugnen ist freilich, daß wir eine reichlich
schwere Steuerlast zu tragen haben. Inwieweit diese
Last als ein wirtschaftlicher Druck empfunden wird, läßt
sich nicht mit den sogenannten Kopfberechnungen des
Reichshaushaltsetats ermessen, mit denen auch gewisse
sonst dankenswerte Denkschriften zur Zeit der Flottengesetz-
kampagne arbeiteten. Um den Anteil zu berechnen, den
der einzelne Haushalt an direkter und indirekter Steuer
und steuerähnlichen Auflagen, wie z. B. an Schulgeld,
1) Arnold Steinmann-Bucher: 350 Milliarden Deutsches
Volksvermögen. Berlin, bei Otto Elsner 1909.
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 29
zu tragen hat, ist ein Einblick in die einzelnen Haus-
haltsbücher notwendig. Material für diesen Zweck ist
jetzt endlich vorhanden in der Veröffentlichung unseres
statistischen Amtes: „Erhebung von Wirtschaftsrechnungen
minder bemittelter Familien im Deutschen Reich‘; es wäre
sehr erwünscht, daß dieses Material bald in dem ange-
deuteten Sinne bearbeitet würde. Versuche, die in dieser
Richtung gemacht wurden, ergaben, daß, prozentual be-
trachtet, der Mittelstand am stärksten beansprucht wird;
im großen und ganzen bezahlt die besitzende Klasse die
direkten Steuern, die große Masse des Volkes nur ihren
Anteil an den indirekten Auflagen. Daß sie auf diese
Weise zu den Lasten des Staatshaushaltes beisteuern,
wird man nur als recht und billig zu bezeichnen haben,
denn sie sind der Wohltaten der Staatseinrichtungen ın
gleicher Weise, in sehr vielen Beziehungen sogar in
überwiegendem Maße teilhaftig. Gerade die letzte mit
so großer Mühe zustande gebrachte Finanzreform hat,
wie behauptet wird, eine weitgehende Verdrossenheit
hervorgerufen. In Wirklichkeit sind die von ihr ge-
forderten Lasten durch so zahlreiche weitverzweigte und
schwer zu verfelgende Kanäle auseinander geflossen, daß
im Haushalt des einzelnen kaum noch etwas davon zu
merken ist. Auch der biedere Bürger, der sich zu seinem
Abendschoppen die Zigarre anzündet, trinkt darum kein
Glas weniger, weil das Bier eine höhere Steuer trägt.
Wieviel Geld am Tabak noch immer verdient wird, dafür
sind die gerundhäßlichen Zigarettenreklamen an allen
unseren Eisenbahnen entlang ein reichlich unerfreulicher
Beweis.
Bemerkenswert ist, daß in den Jahresberichten der
großen industriellen Unternehmungen von der vermehrten
Steuerlast überhaupt nirgends mehr die Rede ist, man
hat sich damit abgefunden, obwohl gewiß erhebliche Be-
28 Meereskunde.
träge sich nicht abwälzen ließen und auf dem Unkosten-
konto zu Buche stehen. Worüber diese Berichte klagen,
das sind die Lasten der Sozialpolitik, die im internatio-
nalen Wettbewerb mit den Völkern, die diese Wohltaten
für ihre Arbeiter nicht kennen, infolge des ungleichen
Druckes sehr schwer empfunden werden. Man wird diese
Tatsache bei dem weiteren Ausbau der sozialen Gesetz-
gebung wohl nicht ganz außer acht lassen dürfen.
Lauter als sonst sind jetzt die Rufe, die eine, 7:
sammenfassung der Kulturwelt in einem Staatenbunde
fordern, dessen einzelne Glieder sich gegenseitig den
Frieden garantieren und die entstehenden Reibungen im
Wege friedlichen Ausgleichs zu beseitigen willens sind.
Eine kürzlich in einem Berliner Verlage erschienene
Schrift!) führt an der Hand von Reden und sonstigen
Äußerungen unseres Kaisers den Nachweis, daß Seine
Majestät selbst ein eifriger Förderer dieses Gedankens
und in seiner langen Regierungszeit nicht müde geworden
ist, ihn der Verwirklichung näher zu bringen. Leider
muß der Verfasser dieses sonst höchst lesenswerten
Buches zugestehen, daß einem solchen Staatenbunde
ebenso wie allen Friedensverträgen die Exekutive gegen-
über abgeneigten Mitgliedern fehlen würde. Er be-
zeichnet ‘es als eine der ersten Errungenschaften. der
Friedensbewegung und als den Fingerzeig für die Zukunft,
daß zur Zeit der Chinawirren ein deutscher General an der
Spitze von Deutschen, Engländern, Russen, Japanern und
anderen Truppen mehr dem Reich der Mitte die Bedin-
gungen der Kulturwelt vorschrieb.
Ist dies der Gang der Entwicklung, so geht daraus
hervor, daß auch ein Europa umfassender Friedensbund
I) Alfred H. Fried: Der Kaiser und der Weltfrieden.
Berlin 1910. Verlag Maritima.
Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. 29
der Waffenrüstung nicht würde entraten können. Wie
weit wir aber auch von seiner Verwirklichung noch ent-
fernt sind, zeigt uns jeden Tag ein Blick in die Zeitungen
und muß uns nach allen Richtungen hin die tägliche Er-
fahrung lehren. Den ewigen Frieden mag die Mensch-
heit als Ideal im Busen tragen, ihre Natur bedingt den
Widerstreit der Interessen, und je größer die Interessen-
gemeinschaften werden, desto größer und schwieriger
werden die Reibungsflächen. So werden auch noch die
kommenden Geschlechter und die Staaten der Zukunft
ihre Rüstung tragen, und ihr Trost mag sein, daß sie
damit ihre äußeren Interessen wahren, und daß sie dem
Volksvermögen eine reichliche Verzinsung zuführen.
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Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. &
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MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG DRITTES HEFT
Der Golistrom
in seiner historischen, nautischen und klimatischen Bedeutung.
Von Dr. Ludwig Meckine.
{>}
enn wir das Meer befahren und kein Lüftchen
seine Fläche kräuselt, oder wenn wir am
MED Strande den glatten Spiegel überschauen, so
haben wir den Eindruck vollendeter Ruhe. Nichts offen-
bart uns, daß in diesem Wasserkörper dennoch eine Be-
wegung pulsieren kann. Zu anderen Zeiten aber auch
können wir beobachten, wie seine Wogen draußen hoch
aufschäumen oder am Ufer branden: eine erste Art von
Bewegung. Wenn wir etwa stundenlang an der Küste
verweilen, gewahren wie eine zweite, eine Hebung und
Senkung des Spiegels in periodischem Wechsel oder, falls
der Strand sehr flach ist, ein weites Zurückweichen und
Vordringen des ganzen Wassers: die Gezeiten. Aber die
immer noch größere Bewegung, die in allen Tiefen und
Weiten vorhanden ist, wird überhaupt nicht sinnfällig,
es .ist die Strombewegung. Doch kann man sie mit
Instrumenten direkt feststellen oder auch an ihren mannig-
fachen Wirkungen erkennen; so läßt sich z.B. am Transport
der Wärme, die das Thermometer kundgibt, oder am
verschiedenen Salz- und Gasgehalt und selbst am Tier-
leben, besonders den kleinen schwebenden Organismen
des Planktons, oder auch schließlich an Erscheinungen
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 3. I
Meereskunde.
166)
des treibenden Eises, des Klimas und dergleichen die
Herkunft des Wassers verfolgen. Nur sehen wir eben
nicht den Strom geradezu im Meere dahinwirbeln wie
einen Fluß, wie dies wohl früher eine geläufige Vor-
stellung war und auch heute noch durch unsere schema-
tischen Karten unabsichtlich nahe gelegt werden mag.
Die Erkenntnis der Strömungen hat infolge jener
Schwierigkeiten auch eine ziemlich wechselvolle Geschichte.
In deren Zentrum stand
Nordpol von je der Golfstrom, bis
heute ist er der populärste
Meeresstrom geblieben
und mit Recht; denn er
ist die großartigste und
Kreislauf
eine vielfältig folgen-
schwere Erscheinung des
Meeres.
Ein Geograph des
17. Jahrhunderts Bern-
hard Varenius hatschon
äquatornaher
Kreislauf
—— —
Aquator den Ausspruch getan: »si
Abb. ı. Schema der Meeresströmungen bat oc anumloy EZ
ImeNerdatiantschen Ozean! oceanus movetur.« In der
Tat "ist auch den Gol-
strom eine Teilerscheinung, nicht nur in der Gesamt-
zirkulation des Meeres, sondern zunächst in einem
größeren Strömungssystem des Nordatlantischen Ozeans.
Schematisch stimmt dieses mit dem in jedem Meere vor-
handenen überein und hat, wie es die beistehende Skizze
veranschaulicht, folgende einfache Gestalt (vgl. Abb. ı):
etwa in 40 bis 50° N.-Br. geht eine Wasserbewegung von
Westen nach Osten, die teilt sich vor der entgegen-
stehenden Landmasse der Alten Welt, und es entwickelt
sich je ein Kreislauf polwärts und äquatorwärts. Ähnlich
auf der Südhalbkugel und ähnlich im Stillen Ozean.
Der Golfstrom.
ir
Jeder dieser Kreisläufe setzt sich aus einem warmen
und einem kalten Ast und zwei Verbindungsstücken zu-
sammen. Warm nennt man nämlich einen Strom, der
polwärts zieht, weil er das in niederen Breiten unter
stärkerer Sonnenstrahlung erwärmte Wasser nach höheren
Breiten, wo an sich kälteres liegen sollte, führt. Ein
Strom der umgekehrten Richtung heißt kalt. Beide Be-
griffe sind also relativ zu fassen. Warm ist demnach im
äquatornahen Stromkreis des Nordatlantischen Ozeans das
amerikanische (1), im polnahen das europäische Teilstück (3).
Sie zusammen mit dem sie verbindenden westöstlichen
Strömungsabschnitt (2)
bilden unsern Golfstrom.
Trotz der Überein-
stimmung im Wesen be-
steht aber ein Unterschied
des Grades zwischen denı
Nordatlantischen und Pa-
zifischen Stromsystem: 1 : 180.000.000.
jenes ist bei weitem Abb. 2. Stromteilung bei Kap
S. Roque.
kräftiger entwickelt. Der
Grund dafür liegt in mehrfacher Hinsicht in der Verteilung
von Wasser und Land.
Der Küstenverlauf, nämlich der im Kap San Roque
weit ostwärts vorspringende Kontinent von Süd-Amerika,
bedingt es erstlich (vgl. Abb. 2), daß ein Teil der Süd-
äquatorialströmung, die eigentlich ganz in den Südatlan-
tischen Ozean gehört, über den Äquator gedrängt wird
und mit ihrem warmen Wasser der Nordhalbkugel zugute
kommt, was auch für den klimatischen Unterschied beider
Hemisphären von Belang wird.
Diese Wassermasse, vereint mit der der Nordäqua-
torialströmung, zieht dann durch das Karibische Meer und
z. I. in den Golf von Mexiko. Da tritt uns ein zweites
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 3. 2
A Meereskunde.
Moment der Küstenumrisse entgegen, das zur stärkeren
Entwicklung des Stromsystems beiträgt: der fast rings
umschlossene Golf nämlich wird zum riesigen Sammel-
becken für diese erwärmten Wasser, die zum einen Ein-
gang hineinziehen und als kompakte Masse aus einer
zweiten, sehr engen Pforte hervorschießen. Abbildung 3
läßt erkennen, wie in der Tat das ganze Querprofil
der Straße von Florida von warmem Wasser eingenommen
ist (nur daß es etwas mehr nach dem rechten Hang hin-
drängt infolge der Erdrotation). Nichts entsprechendes
Anp Klorida L* Cun Aeybt
228° 278° 278° 286 289°}
300
200
Abb. 3. Temperaturschichtung in der Floridastraße.
(Nach Al. Agassiz und O. Krümmel.)
bietet sich in einem andern Ozean, ein Grund wieder
für die stärkere Ausbildung gerade des nordatlantischen
Systems. In diesem Reservoir liegt die eine Wurzel des
Golfstroms sowie der Ursprung seines Namens. Infolge der
Enge des Ausfallstores ist auch die Geschwindigkeit so
eroß wie an keinem zweiten Punkt des Weltmeeres. Sie
beläuft sich im Mittel auf 70 Seemeilen pro Tag, häufig
aber auf über 100 bis 120, d. h. bis zu 21), minder
Sekunde, eine Geschwindigkeit, wie sie der Rhein im
Unterlauf bei Hochwasser entwickelt. »Und drängt mit
Ungestüm in den Kanal von Bahama«, sagt A. v. Hum-
boldt in seiner trefflichen Beschreibung, die er auf seiner
Der Golfstrom. 4
Reise nach der Neuen Welt von dem Phänomen gibt, und
er vergleicht ihn da »einem reißenden Strome
So finden wir denn in diesem ersten Teil des Golt-
stroms eine große Masse erwärmten Wassers infolge des
Vorsprungs bei San Roque, begabt mit einem großen
Bewegungsmoment infolge des Golfs und der Enge. Diese
Masse zieht nordwärts, vereint mit dem außerhalb des
1:120.000.000
ee 20km
Abb. 4. Meeresströmungen im Nordatlantischen Ozean.
Kariben-Meeres die Antillen- und Bahama-Inseln entlang
geflossenen Wasser des Nordäquatorialstroms, wird mit
der Annäherung an die Bank von Neufundland unter
dem Einfluß der westlichen Winde aus ihrer Richtung
nach Osten abgebogen, unterstützt durch den Küsten-
verlauf sowie den kalten Strom, der von Norden die
Küste Labradors entlangkommend dem Golfstrom in
die Flanke fällt. Unmittelbar hinter dieser Beuge beginnt
dann das Golfstromwasser sich fächerartig über den Ozean
4%
“
6 Meereskunde.
hinzubreiten. Zwei Strahlen des Fächers aber ragen weitaus
hervor, einer der über Madeira und die Kanarischen Inseln
Afrikas Küste hinab südwärts zur Schließung des Kreis-
laufs sich wendet, und ein zweiter, der an Irland und
Norwegen hin in den polnahen Kreislauf eintretend dem
Norden zustrebt (vgl. Abb. 4).
In diesem letzteren, dem dritten Hauptstück unseres
Golfstroms, macht sich abermals der Küstenzug fördernd
bemerkbar. Während der Nordpazifische Ozean schon in
niederer Breite fast ganz gegen Norden abgeschnürt ist,
steht hier der Atlantische durch eine breite Pforte in
Verbindung mit dem Eismeer, dieses wird zu seinem An-
hängsel und nimmt teil an seiner Zirkulation; das Kreis-
system des Wassers (ebenso wie das der Luft) wird in
einer meridional gestreckten Ellipse hoch hinaufgezogen
in die Region des Pols, wohingegen das pazifische Ab-
bild förmlich verkrüppelt ist.
So läßt sich denn der Golfstrom von den Tropen
bis ins Eismeer in drei großen Teilstrecken verfolgen,
die alle eine hervorragend starke Entfaltung zeigen.
Entsprechend kräftig ist aber im polnahen Kreislauf
auch die kalte Seite in den Polarströmen von Ostgrön-
land und Labrador entwickelt. Und so entrollt sich von
Neufundland bis hinauf nach Spitzbergen und Nowaja
Semlja ein Kampf der wie mit Riesenarmen gegeneinander
strebenden warmen und kalten Wasser. Der Hauptkampft-
platz ist das Nordmeer. Dabei bleibt aber vor allem das
große Hauptsystem bestehen, indem die europäische Seite
das Reich des Golfstroms, die amerikanische das der po-
laren Wasser abgibt.
Indes ist hier im Nordmeer für den Detailverlauf der
Ströme außer dem Küstenzug ein weiteres Moment be-
stimmend, das Bodenrelief des Meeres; selbst aus Tiefen
von mehreren Hundert Metern wirkt es auf den
Stromverlauf an der Oberfläche — eine auffallende Er-
Der Golfstrom.
Sn
scheinung, die erst durch die Meeresforschung der
letzten Jahre, besonders unter Nansens praktischer und
theoretischer Betätigung im Nordmeer, klar hervorge-
treten ist.
Von einschneidender Bedeutung wird fürs erste schon
DEREN EZ
WEN), 0) WE
WET N, KA N :
8% AEX
1
I: 14.500.000.
Abb. 5. Zyklonisches Stromsystem zwischen Island, Schottland
und Norwegen in 100 m Tiefe.
(Nach Helland-Hansen und Nansen.)
ein untermeerischer Rücken, der von Schottland über
Färöer und Island nach Grönland hinüberzieht, im Durch-
schnitt 400 bis 600 m Tiefe hat und das Nordmeer vom
Hauptkörper des Atlantischen Ozeans scheidet. Er wirkt
wie ein Wall, über dem sich das atlantische und das po-
lare Wasser gegenseitig aufstauen. Die Abbildung 5, in
>
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 3. 3
8 Meereskunde.
welcher die stark schraffierte Fläche Wasser von hohen
Salzgehalt, d. h. Golfstromwasser, die hellere hingegen
salzärmeres, also polares Wasser darstellt, läßt erkennen,
wie der atlantische Strom, im Süden des Walls zur Seite
gedrängt, erst zwischen Färöer und Schottland freien
Abzug nach Norden erringen kann, wie er aber seiner-
seits auch wenigstens standhält gegen das Polarwasser und
den Atlantischen Ozean davor bewahrt, daß schon zwischen
Island und Britannien eiskaltes Wasser seine Ober-
fläche bildet. Der Wall bat demnach auch klimatisch
eine höchst wichtige Funktion. Dem polaren Wasser .
bleibt nun als Abzugsstraßbe aus dem Nordmeer nur die
zwischen Island und Grönland, wo es seine Packeismassen
herunterschleppt, gebettet hauptsächlich in einen schmalen
Kanal. Ebenso benutzt der atlantische Strom. im wesent-
lichen eine enge, tiefe Rinne zum Eintritt ins Nordmeer,
den sogenannten Färöer-Shetland-Kanal mit steilen Wänden
und einem ebenen Boden von 1100 m Tiefe. Seine Haupt-
masse hält sich hart an den rechten Hang dieser Furche,
desgleichen weiterhin an den norwegischen Kontinental-
abfall gedrängt, der in einiger Entfernung von der Küste
in dicht aufeinander folgenden Tiefenlinien sich markiert.
Auf etwa 66— 68° N.-Br. zeigt sich nun aber ein Vorsprung
des Kontinentalsockels sowie des tieferen Reliefs; der
zwingt auch den Strom zum Teil wenigstens abzubiegen.
Anderseits wirkt die untermeerische Platte, auf der Island
ruht, ablenkend auf einen Teil des Polarstroms, der dann
an dem Wall entlangfließt und mit jenem abgeschwenkten
warmen Zweig zusammen einen Teilkreislauf bildet, der
sich sogar noch in zwei Einzelzyklonen weiterteilt.
Ähnlich erkennt man im nördlicheren Teile des
Nordmeers innerhalb des größeren Systems die Tendenz
zur Ausbildung einzelner Teilsysteme, alle mit der
Drehung ' entgegen dem Sinne des’ UÜhrzeigers, 2m
Der Golfstrom. 9
sogen. zyklonalen Sinn. Der Hauptstromstrich aber findet
auch hier seinen Weg wieder hart an den Steilhang des
Spitzbergensockels angelehnt als Westspitzbergen -Golt-
strom, der erst im Polarbecken endlich unter dessen kaltes
\Vasser untertaucht (vgl. Abb. 6).
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I! 14.500.000.
Abb. 6. Zyklonisches Stromsystem zwischen Grönland, Spitzbergen
und Norwegen in 100 m Tiefe.
(Nach Helland-Hansen und Nansen.)
Vorher hat sich von ihm der Nordkapstrom abgetrennt,
der nun seinerseits im seichten Barentsmeere sich ver-
zweigt über einem nur 200 bis 400 m tiefen Boden, dessen
Relief aber sehr kompliziert ist und so eine starke Zer-
splitterung des Stromes, abermals mit der Tendenz zur
y
&)
Io Meereskunde.
Zyklonenbildung, erzeugt. Die Hauptmasse trifft den
Landwall von Nowaja Semlja, wird nordwärts gebogen,
in der Bewegung geschwächt und schließlich überwältigt
von der geschlossenen polaren Wasserfläche im Norden
des Insellandes. Immerhin ist es also hier wie bei Spitz-
bergen dem wärmeren Wasser gelungen, bis zungkese
des eisigen Gegners selber vorzudringen, zum Glück für
die nördlichen Länder Europas. »Wenn Nowaja Semlja
nicht existierte,« so sprach es vor etwa IOO Jahren der
russische Naturforscher Ernst v. Baer aus, »dann würde
das sibirische Eis in den westlichen Ozean hereinbrechen,
zu den Küsten Norwegens herangetragen werden, und
dieses Land, das jetzt unter dem Einfluß des warmen
Golfstroms grünt und blüht, würde von öden Tundras
ebenso bedeckt erscheinen wie das nördliche Sibirien. «
So schaltet sich zwischen dem nördlichen Becken
mit seiner geschlossenen Fläche echt polaren Wassers und
dem Atlantischen Ozean südlich der isländischen Schwelle
mit seinem reinen (Golfstromwasser das Nordmeer als
Haupttreffplatz der beiden so verschieden gearteten und
bewegten Wasser ein.
Im Nordmeer ist aber die Bewegung des Golfstroms,
selbst im Hauptstrich, schon ganz bedeutend geschwächt,
infolge der Ausbreitung, der Hemmnisse und Kompli-
kationen auf seinem Weg. Die 70 Seemeilen, mit denen
der eben geborene aus den Engen von Florida hervor-
stürzte, sind reduziert auf IO etwa in der Breite von
Bergen, gar auf 5.in der der. Lofoten, so’ dal ferähier
nautisch schon kaum mehr bemerkbar wird.
Zweifellos ist der Golfstrom in diesem Bilde, wie er
nach unserer heutigen Kenntnis dasteht, eine auffallende
Erscheinung des Meeres; trotzdem ist er erst spät in der
Geschichte, nämlich zu Beginn des Entdeckungszeitalters,
hervorgetreten. Wie kommt das? — Von den Methoden
zur Strombeobachtung, die uns jetzt zu Gebote stehen,
Der Golfstrom. LI
konnten in früheren Jahrhunderten nur zwei Gruppen in
Frage kommen. Einmal hätte man auf seine Eigenschaft
als Wärmeträger aufmerksam werden können, mit dem
Temperaturgefühl. Dazu mußte man ihn aber erst durch-
kreuzen, mußte andere Wasser zum Vergleiche kennen
lernen. Gerade an den Kulturgestaden ist er jedoch so
breit und zersplittert, daß er nicht gekreuzt wurde, außer
auf den frühen Fahrten der Normannen und Wikinger,
von denen sich aber historisch ja wenig erhalten hat.
Ein zweites Mittel hätte sich auf seine Eigenschaft der
Bewegung gründen können. Doch wieder an Europas
Küsten ist diese so gering, daß sie durch Ablenkung von
Schiffen aus dem Kurs sich kaum bemerkbar machte, so-
lange man nicht den Ozean querte bis zur Wurzel des
Stromes, wo die Geschwindigkeit so groß ist. Außer der
Abtrift von Schiffen gibt es allerdings ein zweites Mittel
zur Erkennung der Bewegung: Treibkörper. Heute wird
dies künstlich z. B. verwendet, indem von Schiffen Flaschen
über Bord geworfen werden, die einen Zettel mit Angabe
der Auswurfsstelle enthalten. Irgendwo an den Strand
geworfen und aufgegriffen, wird der Zettel nach Eintragung
der Fundstelle an eine Zentrale maritimer Forschung
gesandt. Auswurfs- und Fundstelle ergeben roh verbunden
den Triftweg, und eine hinreichende Menge solcher Triften
gibt, wenn man sie in die Karte cinträgt, in ihrer Gesamt-
heit ein übersichtliches Bild von den Meeresströmungen.
In gleicher Weise verfrachtet das Meer alles Material, das
sich ihm bietet!). So fand sich eine westindische Bohne auf
Spitzbergen, eine Mahagoniplanke in Westgrönland. So
sind ferner Eskimos selbst bis an die Küsten Europas
verschlagen worden, wenigstens sind drei Fälle aus dem
17. Jahrhundert festgestellt und frühere wahrscheinlich
!) Vgl. Meereskunde II, Heft 7: Krümmel, Flaschenposten,
treibende Wracks und andere Triftkörper in ihrer Bedeutung für
die Enthüllung der Meeresströmungen.
12 Meereskunde.
gemacht. Doch wurden alle solche Vorkommnisse von
unfreiwilligen Triften zu vereinzelt bekannt, als daß jemand
sie früh zusammengefaßt hätte zu einem klaren Beweis-
stück für einen herrschenden Strom. So eben scheint
es erklärlich, daß man auf ihn erst spät überhaupt auf-
merksam wurde.
Trotzdem hat der Strom, auch bevor man den Ozean
kreuzte, eine Mission in der Geschichte erfüllt. Treib-
körper auf den Azoren nämlich lernte Kolumbus kennen,
zwei Leichname von unbekanntem Menschenstamm und
Stücke von Bambusrohr, und sie wurden mit ein Haupt-
motiv zu seiner Fahrt, indem ihre Fremdartigkeit ihn
auf unbekannte Küsten im Westen schließen ließ. Noch
konnte er nicht ahnen, auf welchem Wege, mit welcher
Kraft die Fracht gekommen; aber in der Tat kann sie
nur diese konstante Bewegung des Golfstroms befördert
haben, und so hat dieser seinen Anteil an der größten
geographischen Entdeckungsfahrt.
Jetzt ward der Ozean durchfahren, und da ward auch
bald der Strom gefunden und beobachtet. Die allmäh-
liche Erkenntnis desselben nimmt sodann ihren Weg von
der Wurzel, also den eben erst entdeckten Regionen, den
Strom entlang herüber nach Europa, und erst zuletzt, vor
kaum mehr als einem Jahrhundert, wird auch die Strecke
längs der alten Kulturgestade erschlossen und angefügt —
eine auffällige Umkehrung dessen, was man von vorn-
herein erwarten sollte, doch erklärbar eben aus dem
Wesen und den Eigenschaften des Stromes, seiner Kom-
paktheit und Kraft dort, seiner Zersplitterung, Ver-
schwommenheit und Schwäche hier.
n
Nachdem nun Kolumbus schon auf seiner dritten
Fahrt eine Strombewegung auf dem offenen Meere fest-
gestellt, kam unter den folgenden Entdeckern im Jahre
1513 Ponce de Leon, begleitet von dem später berühmt
Der Golistrom. I
KR}
gewordenen Seefahrer Antonio de Alaminos, auf der
Suche nach der »Quelle der Jugend« in die Engen
zwischen Bahama und Florida und traf einen Strom, gegen
den seine drei Schiffe überhaupt nicht mehr ankommen
konnten, trotzdem sie den Wind mit sich hatten. Mit
Recht datiert A. v. Humboldt von da an »die Kenntnis
des großen Seestroms, des Golistroms
Sie hatte auch bedeutsame Konsequenzen. Cortes
hatte nämlich gerade in Vera Cruz festen Fuß gefaßt und
wollte seine guten Nachrichten der Heimat übermitteln.
Bisher hatte sich aller Verkehr mit dem spanischen
Mutterland durch die Straßen der Antillen vollzogen. Da
saßen aber die Antillen-Gouverneure, seine Rivalen und
Feinde. Ihnen wollte er entgehen. Zum Glück hörte er
durch Alaminos von den ungemein starken Strömungen
in den Engen, nahm sein schnellstes Schiff und vertraute
sich mit diesem Seemann dem rätselhaften Strome an,
kam wie gehofft in freies Meer und binnen zwei Monaten
nach Spanien. Das war eine Entdeckung, eine neue See-
straße, offenbar der kürzeste Rückweg. Planmäßig gingen
von jetzt an die ausreisenden Schiffe zwar nach wie vor
über die Kanaren und dann im AÄquatorialstrom durch
das Karibische Meer, die heimkehrenden aber durch die
Engen von Florida nordwärts. Und am Südufer der-
selben erwuchs in der Folge Havanna zum Sammelplatz
der heimfahrenden westindischen Flotten, es verdankt
somit sein Aufblühen direkt dieser Lage am Strom.
Nachdem die Spanier nun eine Weile allein geschaltet
hatten, wurden gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Eng-
länder auf ihre Erfolge aufmerksam und traten als Rivalen
auf. Zu den unmittelbar an die spanische Herrschaft
grenzenden Gestaden fuhren sie dann nach dem alten
spanischen Kreissystem, aber für die nördlicheren Uter-
staaten, die von Neu-England, entdeckte im Jahre 1602
ein Engländer Gosnold, daß man doch schneller zum Ziele
14 Meereskunde.
kam, wenn man zwischen etwa 40 und 45° B. direkt
hinüber fuhr. Diese Erkenntnis brachte also abermals
ein neues Beschiffungssystem, nämlich das direkte für
die englischen Nordstaaten, während für die Südstaaten
das bisherige Kreissystem erhalten blieb.
Eine weitere Folge davon war die, daß in der Mitte
ein Küstenstück übrig blieb, das erst zuletzt zur Ent-
deckung und Entwicklung gelangte, es war die Breite
von etwa 40°, die Stelle des heutigen Newyork. Da
tauchte erst 1609 ein ın holländischen Diensten stehender
Seemann auf, der kühne Polarfahrer Hudson, der die
Passage nach China und Indien über den Norden suchen
wollte. Er stieß hier auf die nach ihm benannte Flub-
mündung und veranlaßte die Holländer zur Gründung
der Kolonie New Nederland, des heutigen New-York. Und
die Holländer benutzten im Verkehr mit dieser Kolonie
die spanische Kreisroute. So kommt es, dab nunmehr
Nachbarorte von nur einem Breitengrad Entfernung an-
gesegelt wurden auf Routen, die um 30 Grade auseinander
gingen.
Wir sehen also von Kolumbus an eine ganze Kette
der Wechselwirkung zwischen dem Golfstrom und seiner
fortschreitenden Erkenntnis einerseits und der Aufklärung,
Kolonisierung und Beschiffungsweise der Küsten andrerseits.
Über die Strömung im Mittelstück wußte man bis
dahin noch so gut wie nichts. In den nautischen Schriften
und Karten wurde allgemein zwar dem Strom von Florida
Aufmerksamkeit geschenkt, aber nicht der Fortsetzung.
Schon bei Kap Hatteras kann man die Grenze der da-
maligen Bekanntschaft mit ihm ansetzen. Die englischen
Postschiffe fuhren zwischen den nördlichen Kolonien und
dem Mutterland ruhig aut demselben Striche hin und her,
hatten zwar in der einen Richtung oft Verspätungen von
14 Tagen, kümmerten sich aber nicht weiter um die
Der Golfstrom. 15
Ursache, ähnlich die zwischen Boston und Charleston
verkehrenden. Dagegen hatte sich allmählich eine unter-
nehmende und erfahrene Fischerbevölkerung längs der
Küste ausgebildet, die auch einen großartigen Walfang
betrieb und ihr Wild bis zu den Bahamabänken und den
Azoren verfolgte. Sie entdeckten dabei, daß der Wal
oft nördlich einer gewissen Linie blieb, und schlossen
daraus, daß südlich derselben sich das dem Tier nicht
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Abb. 7. Benjamin Franklins Karte des Golfstroms.
zuträgliche warme Wasser des Floridastromes fortsetzen
müsse. So wurden sie durch ihr Gewerbe zur ständigen
gründlichen Verfolgung der Kante des warmen Wassers
angeleitet und bauten darauf einen neuen Handelsweg;
zum Mutterland fuhren sie möglichst im Hauptstrich des
Golfstroms, zurück nach Neu-England hingegen mehr
außerhalb, im Norden, selbst über die Bänke von Neu-
tundland hin. Damit gewannen sie oft zwei Wochen gegen-
über den Postschiffen. Dies blieb ihr Geheimnis bis 1769,
als Benjamin Franklin, der (Generalpostmeister aller
16 NMeereskunde.
englisch-amerikanischen Kolonien dahinter kam. Er war
erstaunt, daß ein solches »Wunder des Ozeans« nicht zum
Vorteil der Schiffahrt ausgenutzt würde, beriet sich mit
einem alten Kapitän und zeichnete mit diesem zusammen
die berühmt gewordene Karte, auf der zum ersten Male
der Golfstrom als Strom signiert und bis über seine Beuge
bei Neufundland hinaus fortgeführt, sogar mit Geschwindig-
keitszahlen auf den verschiedenen Strecken versehen war.
Rechts unten auf dieser Karte (vgl. Abb. 7) steht Franklin
selbst, wie er sich mit Neptun über den Golfstrom unter-
hält. Diese Zeichnung ließ er in seinem Generalpostamt
stechen und verbreiten, auch nach England hinüber-
senden zur Verteilung an die dortigen Schiffskommandeure.
In der Folge nahm er selbst das größte, auch aktive
Forscherinteresse am Golfstrom und faßte die Idee, daß
man ihn auch am 'Ihermometer verfolgen könne. Er tat
dies auf seinen Reisen und erprobte damit zum ersten
Mal ein Instrument, das heute eines der wichtigsten für
die physische Meeresforschung an der Oberfläche wie in
den größten Tiefen ist. Auf einer seiner Fahrten erkannte
er noch, dab der Strom wenigstens zu Zeiten bis an die
Küsten Frankreichs heranrücke.
Wie also 2!/, Jahrhunderte vorher das Schiffahrts-
system der Spanier reformiert worden war durch die Ent-
deckung des Alaminos in den Engen von Florida, so
war. jetzt unter KEranklin durch” die Verfoleunesdes
Stromes über den Ozean hinüber eine weitere Verbesse-
rung der Schiffahrtsverhältnisse erzielt worden. Jene hatte
außerdem eine Reihe entdeckungs- und kolonisations-
geschichtlicher Tatsachen nach sich gezogen; so folgen-
schwer ist der neue Fortschritt schon nicht mehr geworden,
er blieb aufsich selbst, auf die nautische Reform beschränkt.
In seinem dritten Abschnitt endlich hat der Strom
eine Umwälzung auf dem Gebiet der Nautik überhaupt
Der Golfstrom. 17
Es
nicht mehr hervorgebracht. Auf ihn ist man nicht im
Zusammenhang mit der ständigen Schiffahrt aufmerksam
geworden, als Bewegung ist er cben zu unbedeutend;
vielmehr offenbarte er sich durch die Wärme des
Wassers (vgl. Abb. 8). An ihr und ihrer Einwirkung auf
das Klima der europäischen Küstenländer im Vergleich zu
den amerikanischen Gegengestaden ist die Warmwasser-
N
N \
N
1: 80.000.000
2000
wo, km
Abb. 8. Isothermen der Oberfläche des Nordatlantischen Ozeans
im Jahresmittel.
bewegung hauptsächlich erkannt undals Fortsetzung des Golt-
stromsgedeutetworden, und zwar erstvoreinem Jahrhundert,
zu den Zeiten eines Ernst v. Baer, Alexander v. Humboldt
und Leopold v. Buch. Humboldt stellt in ‚der 1849 er-
schienenen dritten Auflage seiner »Änsichten der Natur«
auch tabellarisch die Wärmeverhältnisse von Europas West-
küste und die von Amerikas Ostküste einander gegenüber!).
!) Anmerkung ıS zum Aufsatz »Über die Steppen und Wüsten«.
IS Meereskunde.
Und doch hat auch dieser Teil des Stromes nicht
wenig den Gang der Entdeckungsgeschichte beeinflußt,
nicht wie jene ersten durch seine Bewegung, sondern durch
seine Funktion als Wärmeträger. Er schafft eine Zugangs-
pforte hoch. hinauf indie Feste‘ des polaren zEises
während an der amerikanischen Seite schon weit südlich
1:55.000.000 eg 39km
Abb. g. Eisgrenze im Nordatlantischen Ozean im April (1896 — 1907).
Nach Mossman,
des Polarkreises die Küsten mıt Packeismassen verbarri-
kadiert sind. Abb. 9 und IO zeigen deutlich, wie die Eis-
grenze im Nordatlantischen Ozean durch die weit vor-
gereckten Hauptarme des Golfstroms bestimmt ist. Damit
aber hat er ohne weiteres eingegriffen inden Ablauf der Polar-
torschung und zwar folgendermaßen. Als die iberischen
Völker um die Wende des 15. Jahrhunderts ihre neuen
Seewege nach Indien entdeckt hatten, faßten die nordischen
Seevölker, die Holländer und Engländer, den Plan, ihren
Der Golfstrom. K6)
Rivalen die neuen Handelsvorteile wieder zu entreiben,
und zwar dadurch, daß sie Sceewege um die Nordenden
der Kontinente nach den gleichen Zielen, nach Indien
und China entdeckten. So kam die Losung der Nordwest-
und Nordost-Passage auf, welche dann den. Fahrten von
1497 bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zugrunde liegt
1: 55.000.000 or — in
Abb. 10. Eisgrenze im Nordatlantischen Ozean im Juli (1896-1907).
Nach Mossman.
und nur von sekundären Triebkräften wie Walfang u. a.
noch begleitet wird. Bei diesen Fahrten gelangt man
nun im Nordosten schon 1596 zur Entdeckung von Spitz-
bergen und Nowaja Semlja, alsbald auch darüber hinaus
in das Karische Meer; in den warmen Fluten des Golf-
stroms dringen hier die Entdecker vor, ohne auf Eis-
hindernisse zu stoßen. Auf dem Feld der Nordwest-
Passage hingegen bedarf es vieler Fahrten von großen engli-
schen Entdeckern, um nur die nächsten Küstenumrisse in
20 Meereskunde.
niederer Breite, die von Labrador, Hudsonstrabe, Hudson-
bai, Baffenbai zu entschleiern und dort schließlich 78° der
Breite als Rekord für zwei Jahrhunderte zu erreichen
(Baffın 1616), während bei Spitzbergen schon vorher
mühelos der 80. Breitenkreis überschritten war.
Im kleinen läßt auch die grönländische Westküste
den Einfluß auf den Gang der Entdeckungsfahrten er-
kennen. An ihr zieht nämlich, wie an allen Westküsten
der nordatlantischen Länder, ein Zweig etwas wärmeren
Wassers, vom Golfstrom abgesplittert, hinauf. Darum
schoben sich die Schiffe meist an der grönländischen
Seite weit polwärts vor und drangen erst dann seitlich
über das Eis des Labradorstroms in das Straßengewirre
ein. Dem entsprechend ist die Westküste Grönlands be-
deutend früher und reichlicher erforscht worden als die
Ostküste. Auch gehen an der Westküste die Testen
Eskimoniederlassungen bis zur Breite von 74° hinauf,
während an der Ostküste nur eine bei 66° liegt. Und
doch findet der regelmäßige Dampferverkehr des Sommers
an den Hafenorten der Westküste selten größere Schwierig-
keiten, wogegen an der Ostküste das Regierungsschiff bei
seiner jährlich einmaligen Fahrt zuweilen wochenlang vor
dem vereisten Hafen Agmaksalik kreuzen muß und 1907
unverrichteter Sache umkehrte.
Bei Neufundland gelangt das Eis des Labradorstroms
manchmal selbst in das Golfstromwasser hinein und zwingt
den hier besonders regen Schiffsverkehr, von seinen nor-
malen Routen südwärts auszubiegen: Mancher Dampfer
hat hier auch schon Schaden gelitten oder den Unter-
gang gefunden. Dagegen können bei Spitzbergen all-
jährlich sogar Touristenschiffte ohne Gefahr die Fjorde
besuchen und die Wunder der Polarwelt genießen. In
manchem Jahre dringen sie bis nördlich von Spitzbergen
vor. In noch helleres Licht rückt diese Begünstigung, wenn
Der Golfstrom. DAT
man sich ausmalt, wie im gegenüberliegenden Ostgrönland-
strom im Jahre 1869 das Schiff Hansa der zweiten deutschen
Nordpolexpedition im Packeis zerschellte und ihre Mann-
schaft auf einer Eisscholle acht Monate hindurch den Un-
bilden der Polarnatur preisgab, oder wie etwas nördlich
davon vor fünf Jahren der Führer der Danmarck-Expe-
ar]
Abb. ıı. Hammerfest.
(Ad. Miethe phot.)
dition Mylius-Erichsen den Hungertod starb. Dieser
Forscher hat die Aufgabe gelöst, das letzte Küstenstück
Grönlands von Kap Bismarck (77° N.-Br.) bis zu der von
Peary bereitsvorher festgelegten Nordküstenoch aufzuklären.
So ergibt sich der seltsame Kontrast, daß dieses Küsten-
stück, welches als eines der schwierigsten bis vor fünf
Jahren in Dunkel gehüllt war, und die schon seit drei
Jahrhunderten bekannte und heute von Vergnügungs-
189)
169)
Meereskunde.
fahrern besuchte Golfstromküste Spitzbergens einander
gegenüber aut der gleichen Breite liegen.
Diese nautischen und entdeckungsgeschichtlichen
(segensätze lassen auch schon den klimatischen ahnen,
den das warme Wasser vor Nordwesteuropa im Ver-
hältnis zu Amerika bedingen wird. Die isländische
Luftdruckdepression erzeugt an den europäischen Küsten
vorherrschende Südwest-, auf der amerikanischen Seite
über Labrador, Baffın-Bai und Grönland aber Nord-
und Nordwest-Winde. Jene südwestlichen bringen uns
die Wärme des Goltstromwassers ins Land, besonders im
Winter. Sie bringen sie in erster Linie natürlich den
Küstenregionen, und auf der skandinavischen Halbinsel
z. B. ist der so begünstigte Strich wegen des hohen
Küstengebirges sehr schmal und besteht ein großer Unter-
schied schon zwischen Norwegen und Schweden. Aber
im ganzen wird doch durch die Zugstraßen der einzelnen
Depressionen, die vom Ozean her Europa durchqueren,
noch ein weites Gebiet selbst über den Jenissei hinaus
indirekt der Einwirkung der Golfstromluft ausgesetzt. Und
wie wesentlich auch selbst für unsere niedrigeren Breiten der
hochnördliche Vorstoß desGolfstroms ist, kann ein Vergleich
mit Amerika lehren. Am stärksten sind bei uns die Tem-
peraturstürze, wenn ein südlicher oder südwestlicher Wind
in nördlichen oder nordöstlichen umschlägt. Diese letz-
teren werden aber doch niemals so kalt, als wenn Europa
im Norden schon ganz in Eis gegürtet wäre, wie es in
Amerika wenigstens zum Teil durch die Hudson-Bai der
Fall ist. Da liegt die breite Niederung des Mississippi
zwischen zwei Meeren, von denen das eine (Golf von
Mexiko) ein wahres Wärmereservoir, das andere (Hudson-
Bai) ein Eiskeller ist. Wenn da die Luftdruckdepressionen
über den Kontinent hinziehen und infolgedessen südliche
Winde in nördliche umschlagen, können sich Verwand-
Der Golfstrom.
156)
5)
lungsszenen wie die folgende ereignen: An einem Januar-
abend des Jahres 1853 zeigt in Golcanda am Ohio das
Thermometer bei Südwind + 750, alsormehrsalsedie
mittlere Julitemperatur von München, und am anderen
Morgen — 18,7°, gerade den extremsten Wert, den im
allgemeinen ein Münchener Winter einmal aufweist. Vor
Abb. ı2. Hafen von Hammerfest.
(Ad. Miethe phot.)
solchem Umschlag vom Abend zum Morgen sind wir
bewahrt dadurch, daß der Golfstrom uns auch im hohen
Norden noch umfängt. Ganz Europa kennt infolgedessen
noch nichts von Polarnatur, seine nördlichste StadtHammer-
fest trägt das Gepräge eines bedeutenden Hafens, der von
Schwierigkeiten des Eises frei und stets zugänglich bleibt wie
jeder südlichere Hafen Europas (vgl. Abb. ıı und ı2). Wie
ganz anders ist der Abschluß Nordamerikas, auch wenn wir
24 Meereskunde.
die günstigste Stelle nehmen! Da liegt im Nordwesten,
fast 15 Breitengrade südlicher als Europas Nordspitze, die
Halbinsel Alaska, an deren Nordstrand schon das Walroß
eine Heimat hat!
Während so Europa im allgemeinen die Golfstrom-
wärme erhält, bringen in entsprechenden Breiten der
östlichen Küstenländer Amerikas vorherrschende Nordwinde
die Kälte ihrer polaren Heimat. Über Labrador mag
der Wind vom Labradorstrom oder von der Hudson-Bai,
über Ostgrönland mag er vom eisigen Innern oder vom
eisbedeckten Meere wehen, er kann niemals mild sein.
Die letztere Küste ist deshalb stark benachteiligt schon
gegenüber dem ganz nahe gelegenen Island, das wieder
von einem warmen Zweig des Golfstroms getroffen
wird. Während auf gleicher Breite von Norwegen bis
nach Island die Wintertemperatur nur um 1,3° abnimmt,
sinkt sie auf der kurzen Strecke von da bis Grönland um
volle 8°. Noch großartiger ist der Unterschied der Fest-
landsküsten, wie nur Edinburg (Schottland) und Hoffental
(Labrador), die beide unter etwa 55° N.-Br. liegen, bezeugen
mögen; sie differieren in der Jahrestemperatur um 12°,
in der Januartemperatur sogar um 23° — wie dies in
Nordsüdrichtung etwa zwischen Berlin und Kamerun der
Fall ist! Deutlich reden endlich folgende Erscheinungen.
Die Nordsee, der verkehrsreichste Meeresteil um Europa,
und die Hudson-Bai, in der Polarexpeditionen zugrunde
gingen, haben ungefähr gleiche Breitenlage, desgleichen
Kulturzentren wie Berlin und London einerseits und ander-
seits die Missionsdörfer und zerstreuten Eskimohütten der
Labradorküste. In Drontheim stehen noch Kirschenhaine,
während an der Küste Labradors schon jeder Baumwuchs
fehlt, und im nördlichen Norwegen wogen Gerstenfelder in
der Breite, die auf Boothia Felix das Grab der Franklin-
expedition bezeichnet.
Der Golfstrom.
186)
wı
Der Golfstrom weist aber auch Schwankungen in
seinen Wärmeverhältnissen auf; in manchen Jahren hat
er höheren, in anderen niedrigeren Wärmegehalt. Auch
das überträgt sich auf die anliegenden Länder (vgl. Abb. 13).
Besonders scheinen die Lufttemperaturen im Mai, Juni
und Juli über ganz Norwegen den Wassertemperaturen
des Mai in den einzelnen Jahren zu entsprechen. Dies
wird weiter wichtig für wirtschaftliche Verhältnisse; die
Ernteerträge von Hülsenfrüchten, Halmfrüchten, Kar-
5 1901 1902 1903 190% 7905
Z
1.
DIA
0" 5
1%
7. # r300
v7 V
a 3 6009
200 +500
400
Abb. 13. Beziehungen zwischen Golfstrom und norwegischen
Temperatur- und Ernteverhältnissen.
I. Mittlere Temperatur des atlantischen Öberflächenwassers im Maj. II. Mittlere
Anomalie der Lufttemperatur Norwegens im Mai und Juni. III—-VI. Gesamtertrag
der norwegischen Ernte desselben Jahres an: Ill. Hülsenfrüchten, IV. Cerealien,
V. Kartoffeln und VI. Heu.
toffeln, Heu zeigen damit einen überraschenden Pa-
rallelismus. Endlich sind fischereiwirtschaftliche Er-
scheinungen gleichfalls eine Funktion der physikalischen
Eigenschaften des Stromes und schwanken mit diesen,
so der Zeitpunkt des besten Dorschfangs bei den Lofoten,
die relative Stärke der Dorschleber u. dgl. Vermittelt
wird dies offenbar durch das Plankton, das sehr fein auf
Veränderung der Wassereigenschaften reagiert und seiner-
seits wiederum die Urnahrung des marinen Tierlebens
darstellt. Solcherlei Zusammenhänge sind erst kürzlich
26 Meereskunde.
durch die norwegischen Forscher Björn Helland-
Hansen und Fridtjof Nansen klargelegt worden!). —
Schon früher aber haben ein schwedischer Gelehrter, Otto
Pettersson, und eingehender ein deutscher, Wilhelm
Meıinardus, gezeigt, daß auch Schwankungen der Luft-
temperatur über Mitteleuropa denen der Meerestemperatur
vor der norwegischen Küste folgen, in dem Sinne, dab
Abb. ı4. Sammelgrab von Smeerenburg auf Spitzbergen.
(Max Reich phot.)
einer hohen (niedrigen) Temperatur des Golfstroms im
Vorwinter gewöhnlich eine hohe (niedrige) Lufttemperatur
Mitteleuropas, z. B. Berlins, im Nachwinter entspricht.
Auch hat Meinardus damals bereits den Einfluß dieser
Verhältnisse auf die Ernteerträge Mitteleuropas nach-
gewiesen.
!) Björn Helland-Hansen und Fridtjof Nansen, The Norwegian
Sea. Kristiania 1909; diesem Buch sind die Abbildungen 5, 6 und 13
entnommen.
Der Golfstrom. 27
So übt der Golfstrom auch im kleinen und einzelnen
seine Herrschaft über die Länder aus. Im großen hat er,
wie die ersten Abschnitte dieses Vortrags uns zeigten,
in nachhaltigster Weise auf Besiedlung und Verkehr der
Welt, auf den Fortschritt der Menschheit gewirkt. Ent-
legene Länder rückten mit seiner Hilfe näher. Verkehrs-
und Handelsstraßen hat er vorgeschrieben, und er tut es,
wenn auch in abgeschwächtem Maß, noch heute. Er hat
unmerklich gleichsam den Gang der arktischen Forschung
gelenkt. Er hat wirtschaftliche Interessen in der Polar-
welt erschlossen; denn in seinen Fluten zogen auch einst
die holländischen, englischen und deutschen Walfänger
nach Spitzbergen, und an seiner Kante erwuchs hier zur
Blütezeit dieses Fangbetriebs eine förmliche Walfängerstadt,
die Smeerenburg, auf 80° N.-Br., die oft 15 000 Mann bei-
sammen sah. Heute ist der Fang dort fast bedeutungs-
los; an Smeerenburg erinnern nur noch Gräber (vgl.
ADD 274.)
So hat uns der Golfstrom von tropischer Glut bis hin
zu den vereisten Bergen unter der Mitternachtssonne ge-
führt, durch mannigfaltige Erscheinungsgruppen und ver-
schiedenartige Betrachtungsmethoden, historische, phy-
sikalische, biologische. Sie vereinten sich zur geogra-
phischen Betrachtung eines Phänomens der Erdoberfläche,
des Golfstroms mit all den Erscheinungen der Luft, des
Wassers und Landes, die mit ihm in ursächlichem Zu-
sammenhang stehen. Im Zentrum bleibt die Bewegung.
Sie ist vorhanden in allen seinen Teilen, in seinem
doppelten Kreissystem, im ganzen Weltmeer — in jeder
Tiefe, in allen Weiten, und sie leitet unsern Blick zu
fernen Horizonten von Raum und Zeit: Jedes Tröpfchen
Wasser, das im Golf von Mexiko schwebt, wird auch
einmal das Polarmeer erreichen und zu Eis erstarren, und
jedes Körnchen, das vielleicht jahrelang tief in einem
28 Meereskunde.
Eiskoloß in der Arktis ruhte, kommt unfehlbar einmal
wieder ans Sonnenlicht und wird Wasser; jeder Wasser-
tropfen der Oberfläche mag einmal wieder am Boden des
Weltmeeres hinkriechen oder als Dampf in die Luft
wandern über die Länder hin im Winde, um entweder
als Regen irgendeinen Wildbach zu speisen und so zum
Meere zurückzukehren oder als Schneeflocke auf Polar-
länder niederzusinken zu langjähriger Erstarrung. Da ist
er Wasser, dort Dampf oder Eis, einmal spielen die
Winde mit ihm, dann wieder gehört er dem Wildbach,
Gletscher oder Meeresstrom: alles Bewegung, alles Wechsel
und Werden, Leben und Weben, zavra oc —
2
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn,
Berlin SW., Kochstraße 68—71.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG VIERTES HEFT
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels
im Jahre 1806/07.
Ein Kapitel aus der britischen Schiffahrtspolitik.
Von Dr. Franz Hochstetter.
ie Abolition, d. i. die Abschaffung des britischen
Sklavenhandels, ist merkwürdigerweise bisher noch
Au selten vom wirtschaftspolitischen Standpunkt aus
betrachtet worden. Die vorhandenen Untersuchungen
gehen alle mehr oder weniger von kulturgeschichtlichen,
aber nicht von ökonomisch-materiellen Gesichtspunkten
aus. Mit besonderer Vorliebe wurde bisher die moralisch-
ethische Seite dieser Angelegenheit gepflegt und ist oft
m einseitiger Übertreibung als das einzige tür die
Abolition in Betracht kommende Motiv hingestellt wor-
den., Wie oft ist nicht auf Englands „Großmut‘ hin-
gewiesen worden, das sich zu Anfang des ıIg. Jahr-
hunderts ohne Aufhebens, ganz im stillen von dem
scheußlichen Menschenhandel zurückgezogen, das kein
Opfer gescheut hätte, um das Los seiner unglücklichen
Kolonialsklaven zu verbessern!
Unsere heutige, realistischer denkende Wissenschaft
begnügt sich indessen nicht mehr mit solchen Erklä-
rungen. Sie erkennt zwar willig an, daß überzeugungs-
treue Idealisten, Männer wie Wilberforce, Clarkson,
Ramsay u. a., an deren Ehrenhaftigkeit keinen Augen-
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 4. I
Meereskunde.,
186)
blick zu zweifeln ist, die Abolitionsbewegung entfacht,
geschürt und zum Siege geführt haben. Doch verlangt
sie auch eine Untersuchung der materiellen Seite dieses
Vorgangs. Man glaubt heute nicht mehr, daß ein Staat
wie Großbritannien, der jederzeit als das Muster von
Klugheit und nüchterner Geschäftspolitik galt, seinen
einträglichen, Jahrhunderte hindurch eifrigst geförder-
ten Sklavenhandel plötzlich einer philanthropischen Dok-
trin zuliebe hätte‘ verbieten können. Es müssen sich
noch andere, egoistische Motive dahinter verbergen, da
dasselbe England wenige Jahrzehnte später, in dem
Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten der
Nordamerikanischen Union, offen mit den Sklavenstaaten
sympathisierte.
Umfang und Bedeutung des britischen Sklavenhandels.
Der Untersuchung über die wirtschaftlichen und poli-
tischen Motive, die zur Abolition geführt haben, sei eine
kurze Schilderung über den Umfang und die Bedeutung
des Sklavenhandels für die damalige britische Welt-
wirtschaft vorausgeschickt. Wir verfolgen ıhn zu diesem
Zweck in seinen verschiedenen Stadien von Anfang bis
zu ende:
Liverpool, London und Bristol waren die Haupt-
sitze des Sklavenhandels in Europa. Als Beispiel für
seinen Umfang diene, daß 1787 insgesamt 137 Schiffe
mit einem Tonnengehalt von 22263 und mit einer Be-
satzung von rund 5000 Mann von großbritannischen
Häfen zum Sklavenfang nach der afrikanischen Küste
ausliefen. Die mitgeführten Artikel — in der Hauptsache
Messer, Flinten, Schießpulver, Tücher, Woll- und Leinen-
waren — hatten einen Wert von ungefähr 700 000 Pfund
Sterling und wurden nach Ankunft an der afrikanischen
Küste teils an die dortigen 14 britischen Faktoreien,
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 3
teils direkt an private schwarze Händler gegen Neger
eingetauscht. Für einen erwachsenen männlichen Skla-
ven von durchschnittlicher Güte gab man Waren im
Werte von mindestens ı5 Pfund Sterling hin. Interessant
ist zu erfahren, was für eine Kollektion von Artikeln zum
Eintausch für einen Negersklaven damals etwa erftorder-
lich war:
Ss Rlinten,
80. Pfund Pulver,
ı Anker Branntwein,
[6]
Stangen Eisen,
4 Dutzend kleine Messer,
T Stuck Kattun zu 24 Ellen,
[06}
Becken von Zinn,
verschiedene ostindische Tücher,
venetianische Perlen,
ı Becken von Messing,
3 Stangen Kupfer,
2 Stangen Blei,
ı Taler an die Wachtposten, sowie namhafte
Extrageschenke an die schwarzen Häuptlinge und Vor-
nehmen, die ihre Untertanen in die Sklaverei verkauften.
In dieser Weise erstanden die Engländer im ganzen
etwa 45 000 Neger, wozu noch 50 000 bis 60 000 Sklaven
von den übrigen europäischen Nationen, namentlich von
den Franzosen, Spaniern und Nordamerikanern hinzu-
kamen. Mit ihnen traten die Schiffe die berüchtigte
„middle passage‘“, die etwa acht Wochen dauernde See-
fahrt nach Westindien an. Infolge der furchtbaren Stra-
pazen an Bord erreichten es vielleicht nur 75 Prozent der
verschifften Neger lebendig. Der Rest ging an Krank-
heit, Kummer und Gram und an Selbstmord unterwegs
zugrunde. Auch unter den angekommenen Sklaven be-
fand sich noch ein hoher Prozentsatz von Kranken und
in
4 Meereskunde.
Halbtoten, dıe keinen Käufer fanden und hilflos ihrem
Schicksal überlassen wurden.
Der durchschnittliche Verkaufspreis eines Sklaven
in Westindien betrug etwa 35 Pfund Sterling. Von allen
importierten Sklaven verblieben auf den britischen Inseln
damals nur etwa 12000 bis 13000. Der stark überwie-
gende Rest verteilte sich auf die Zuckerplantagen der
französischen, spanischen und portugiesischen Kolonien.
Die Hauptbedeutung des Sklavenhandels für England
lag natürlich in Westindien. Zur richtigen Beurteilung
halte man sich das Wesen der merkantilistischen Ko-
lonıalpolitik vor Augen. Kolonien waren damals nicht
das, was man. heute darunter versteht, namlich Schutz-
oder Ansıiedlungsgebiete für die überschüssige Bevölke-
rung des Mutterlandes, sondern bloße Ausbeutungs-
objekte für die Kapitalisten des Mutterlandes. Wie er-
zielt man möglichst schnell die höchsten Reinerträge von
Grund und Boden? Das war die Hauptfrage, deren
Lösung mit brutaler Rücksichtslosigkeit versucht wurde.
Ohne die Arbeit Tausender von Negersklaven hätten die
reichen Bodenschätze Westindiens keinen Pfennig abge-
worfen. Ohne sie wäre die Produktion der kostbaren
Kolonialwaren damals ebenso unmöglich gewesen, wie
heutzutage etwa ein Fabrikbetrieb ohne Dampfmaschinen
oder Kohlen. Neger waren die „schwarzen Diamanten“.
Der westindische Boden und die ihn befruchtende
Sklavenarbeit waren die beiden Zaubermittel, waren
Vater und Mutter aller Schätze, welche die Antillen her-
vorbrachten. Diesen Zustand zu erhalten, den vorhan-
denen Sklavenbestand zu mehren und die absterbenden
Elemente durch frische Zufuhren zu ergänzen, war der
Zweck des Sklavenhandels.
Die Sklavenarbeit bedeutete den Anfang einer langen
Kette von wirtschaftlichen und politischen Folgeerschei-
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 5
nungen. Der Sklave selbst erzeugte zwar zunächst nur
Zucker und einige andere Kolonialprodukte. Diese bil-
deten aber den Massenexport der Kolonisten, verschafften
ihnen Reichtum und Kaufkraft für die Fabrikate des
Mutterlandes, unterhielten eine Handelsflotte von nahezu
700 englischen Schiffen und gaben dadurch Zehntausenden
von Kaufleuten, Matrosen und Arbeitern Lohn und
Brot. Die westindisch-europäische Schiffahrt bildete im
17. Jahrhundert die Wiege, dann eine Hauptstütze und seit
1783 für längere Zeit die einzige Stütze der britischen
Seemacht. Großbritanniens Glück, Reichtum und poli-
tische Bedeutung hingen ein Jahrhundert lang mit dem
Zuckerhandel und dadurch indirekt mit dem Sklaven-
handel zusammen.
Auch die nordamerikanisch-westindischen Handels-
beziehungen standen mit dem Sklavenhandel in einem
innigen Zusammenhang. Die wirtschaftlichen Be-
ziehungen Westindiens zu Nordamerika waren von
altersher überaus eng. Ihre beiderseitige Lage am Meer
sowie ıhre politische Zugehörigkeit zu ein und demselben
Mutterland begünstigten von jeher einen regen Aus-
tauschhandel zwischen den Produkten der beiden (Ge-
schwisterkolonien. Die westindischen Pflanzer produ-
zierten Kolonialwaren, doch so gut wie gar keine Le-
bensmittel; diese bezogen sie von den amerikanischen
Farmern des Nordens. Letztere hatten Überfluß an Ge-
treide, Vieh und Holz. Die seefahrenden Neuengland-
staaten spielten den Vermittler, den Frachtführer für
beide Teile. Sie deckten fast den gesamten Bedarf der
britischen Zuckerinseln an Lebensmitteln, an (Getreide,
Mehl, Erbsen, Bohnen und sonstigem Gemüse, an
Schlachtvieh, Pferden und Mauleseln, ferner an Holz zum
Häuser- und Mühlenbau sowie zur Herstellung der
Zucker- und Rumfässer, an Reis, Tabak sowie an Un-
\eereskunde, Vorträge. V. Heft 4. 2
6 Meereskunde.
mengen von getrockneten und gesalzenen Fischen aus
der Neufundland-Fischerei, die in ganz Westindien als
die billigste Negernahrung stark begehrt waren. Was
das spätere Britisch Nordamerika (Kanada usw.) an
diesen Produkten lieferte, war fast gleich Null zu setzen
im “Vergleich zu” den Lieserungen aus den Vereimiexen
Staaten. Die britischen Zuckerpflanzer waren also in
ihrer Ernährung vollständig auf die Neuenglandstaaten
angewiesen.
Die Westindier bezahlten die Nordamerikaner mit
ihrem Zucker. Letzterer wurde in Neuengland (Rhode-
Island, Massachusetts, Boston) zu Rum gebrannt und
von den geschäftigen Yankees in gewaltigen Mengen
und unter außerordentlichem Gewinn an die neufund-
und neuschottländischen Fischer gegen getrocknete
Fische, an die Indianer des Hinterlandes gegen Pelze
und an, die Händler der afrikanischen Küste gegen
Sklaven vertrieben. Letztere wurden sodann — abermals
aufamerikanischen Schiffen — in die französischen
und spanischen westindischen Inseln geführt, wo sie wie-
derum zum Hauptvorteil der Amerikaner Kolonialwaren
produzierten. Der Handel bildete einen vollkommenen
Kreislauf. Es hieß damals, daß der Stand der Rum-
destillationen in Neuengland dessen Beteiligung am
Sklavenhandel und die Geschäftskonjunkturen in Ame-
rika überhaupt anzeigten. Der Handel zwischen Britisch-
Westindien und Britisch-Nordamerika beschäftigte bis
kurz vor dem Ausbruch der nordamerikanischen Revo-
lution durchschnittlich 800 Schiffe mit über 57 000
Tonnen und 5000 Matrosen — fast gänzlich amerika-
nischer Herkunft! Die Neuengländer hatten somit einen
höchst wichtigen Zweig des westindischen Außenhandels
ım Besitz.
Soweit dieser Handel sich auf britische Untertanen
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 7
beschränkte, wurde er vom Mutterlande, obschon mit
scheelen Augen, geduldet. Die Amerikaner pflogen aber,
wie erwähnt, einen noch viel stärkeren Verkehr mit den
nichtbritischen Zuckerinseln, weil deren Produkte billiger
waren als die britischen. Der bei weitem größte Teil des
von den Amerikanern vertriebenen Rums stammte nicht
von britischen, sondern von französischen und spanischen
Kolonisten. Es kam den nordamerikanischen Zwischen-
händlern auch gar nicht darauf an, die ausländischen
Pflanzer mit Bargeld zu bezahlen — bekanntlich das
Schlimmste, was sıe sich in der merkantilistischen Zeit
zuschulden kommen lassen konnten. Diese Zustände
waren England ein Dorn im Auge. Es unterließ nichts,
um den Verkehr zu stören, doch machte der damals ın
hoher Blüte stehende Schmuggelhandel alle Anschläge
zunichte. Die Freundschaft zwischen dem Mutterland
und den Kolonien wurde dadurch sehr getrübt. Nach dem
Siebenjährigen Kriege z. B. erneuerte England im Jahre
1764 die alten Differentialzölle in Nordamerika auf nicht-
britischen Zucker und verbot sogar die Ausfuhr von Holz
ın die fremden Kolonien. Das war für den Handel Neu-
englands ein schwerer Schlag, der seinen Wohlstand
mehr bedrohte als die bekannte Stempelakte, die zum
Abfall der Vereinigten Staaten führte. Es war eine be-
kannte Tatsache, daß diese Zuckerakte von 1764 der
Hauptgrund der Unzufriedenheit der nordamerikanischen
Kolonisten gewesen ist.
Von diesen Verstimmungen abgesehen mußte ıin-
dessen im großen und ganzen der nordamerikanisch-west-
indische Handel, solange ganz Nordamerika britisch war
und England ıhn lenken konnte, als äußerst vorteilhaft
für das Mutterland bezeichnet werden. Denn letzteres
zog schließlich, wie man den Handel auch ansah, den
Hauptnutzen daraus. Großbritannien hatte zwar eine pas-
y%*
S Meereskunde.
sive Handelsbilanz mit Westindien, d. h. es exportierte
dorthin mehr Edelmetall als Landesprodukte, Westindien
hatte wieder eine solche passive Handelsbilanz mit Nord-
amerika, und Nordamerika endlich eine solche mit Eng-
land. Was also Großbritannien nicht durch den direkten
Handel mit den Sklaveninseln gewinnen konnte, holte es
sich auf dem Umweg über Nordamerika.
Dier Abfall’ der Vereinieten Seas
von Nordamerika. — In den geschilderten Zu-
sammenhang zwischen dem Sklavenhandel einerseits
und dem Zuckerhandel anderseits traten Iinszden
1770er und 8oer Jahren Veränderungen ein, die das
kunstvolle Kolonialsystem Englands zugrunde rich-
teten und dem britischen Sklavenhandel den tödlichen
Streich versetzten, von dem er sich nie wieder erholen
sollte: Der Abfall der nordamerikanischen Kolonien von
ihrem Mutterlande am 4. Juli 1776! Schon lange vorher
waren die Beziehungen zwischen den 13 Neuengland-
staaten und der alten Heimat recht gespannt. Wirtschafts-
politische Eifersüchteleien bildeten die Ursache dieser
Verstimmung. Gerade auch wegen ihrer Handelsbeziehun-
gen mit den französischen und spanischen Zuckerinseln
waren die Neuengländer mit dem Mutterland aneinander-
geraten, bis sie sich schließlich von England losrissen
und jeden Verkehr mit ıhm und den ihm treu gebliebenen
Kolonien abbrachen.
Was dieser Schlag für England zu besagen hatte,
wie heftig dadurch die britische Volkswirtschaft in ıhren
Grundfesten erschüttert wurde, ist heute nicht mehr leicht
vorzustellen. Die auf Burkes Antrag im Jahre 1783 vom
Parlament verfügte Aufhebung des Kolonialamtes und des
Staatssekretariats sagt genug! England stand damals vor
dem Ruin seiner zweihundert Jahre alten Kolonialpolitik.
Wenn die Folgen dieser bitteren Tatsache in ihrer Trag-
weite niemals vollständig in die Erscheinung getreten
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 9
sind, so hat dies England nur den bald darauf folgenden
französischen Revolutionskriegen zu verdanken, die ihm
Gelegenheit gaben, die erlittenen Verluste wieder aus-
zugleichen. Gewisse soziale und wirtschaftliche Insti-
tutionen hat es aber nicht mit hinüberzuretten vermocht.
Dazu gehört der Sklavenhandel.
Für die nachstehende Schilderung der zur Abolition
führenden Ereignisse müssen drei Perioden unterschieden
werden, die für die ganze damalige Zeit, nicht nur für
den Sklavenhandel, von entscheidender Bedeutung ge-
worden sind:
Die: Zeit von 1783 bis 1793,.d. hiydie: Zeit vom
Friedensschluß zwischen England und den unabhängigen
Vereinigten Staaten von Nordamerika bis zum Ausbruch
des Krieges mit der ersten französischen Republik, ge-
kennzeichnet durch den Niedergang der britischen Plan-
tagenwirtschaft in Westindien verbunden mit raschen
Fortschritten der Abolitionsbewegung.
2 Der Kries’ von.1793 bis; 1802,, welcher? dem
britischen Kolonialhandel vorübergehend zu einer Mono-
polstellung und dadurch dem britischen Sklavenhandel zu
seinem letztmaligen glänzenden Aufschwung verhalf.
3. Die Zeit der Abolitionsgesetzgebung von 1802 bis
1807, in welcher der britische Kolonialhandel durch die
Verschiebung der politischen Konstellation in Europa
wieder ins Hintertreffen geriet und durch Verbot des
Sklavenhandels sein früheres Monopol wiederherzustellen
sich bemühte.
I. Die Zeit von 1783 bis 1793,
Wir haben zunächst die Folgen zu untersuchen, die
sich für die britische Plantagenwirtschaft durch den Ab-
fall Nordamerikas ergaben. Sie waren vernichtend in
jeder Beziehung. England möchte seine Wirtschafts-
IO Meereskunde.,
politik in Amerika einrichten, wie es wollte, immer
waren die rebellischen Neuenglandstaaten der gewin-
nende Teil. Die britischen Inseln glitten von ihrer stolzen
Höhe, die sie vor dem Unabhängigkeitskriege gegenüber
den rivalisierenden Zuckerinseln Frankreichs und Spa-
niens eingenommen hatten, herab; die Vorteile des
Sklavenhandels kamen weniger England als dem Aus-
land zugute, und deshalb mußte er gemäß dem merkan-
tilistischen Grundsatz: „Fremder Gewinn, eigener Ver-
lust“ fallen.
Der Niedergang der britischen Inseln vollzog sich
unter einer eigenartigen Verknüpfung mit der Schift-
fahrtspolitik, die England seit dem Jahre 1772 gegen die
Union einzuschlagen sich entschied. Wie erwähnt, waren
die Handelsbeziehungen zwischen Britisch Westindien
und Nordamerika aus Gründen der Politik und der geo-
graphischen Lage von jeher überaus eng. England hatte
deshalb von seinem strengen Kolonialsystem hier eine
Ausnahme gestatten dürfen, indem es zwischen beiden
Kolonien einen direkten Verkehr in amerikanischen
Schiffen erlaubte, dem die britischen Inseln allein ihre
schnelle Entwicklung und ihren Vorsprung vor den
französischen und spanischen Sklaveninseln verdankten.
Den Vorteil hieraus schätzte England so.hoch, daß
es sich im Frieden von Paris, 1763, als es zwischen Fran-
zösisch Kanada oder Französisch Westindien zu wählen
hatte, auf Lord Chattams Rat für das erstere entschied
in der richtigen Erwägung, daß der Besitz des Festlandes
zugleich die wirtschaftliche Herrschaft über die Inseln
garantierte.
Diese Herrschaft war nun dem Mutterland durch den
Abfall der Tochterstaaten entrissen. Nichts zeigte so
drastisch die Hilflosigkeit der englischen Politik gegen-
über diesen Veränderungen, wie die Anwendung der alten
Cromwellschen Navigationsakte auf die abgefallenen
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 11
Kolonien, eine Maßregel, durch welche der Schiffsverkehr
zwischen den britischen Inseln und Nordamerika nur auf
britische Fahrzeuge beschränkt wurde.
Bereits zu Anfang des Krieges sah sich die britische
Regierung hierzu genötigt, um die Rebellen durch wirt-
schaftliche Kampfmittel zur Nachgiebigkeit zu zwingen.
Die Assembly of Jamaica petitionierte vergeblich im
jabrez1773 beim Könige undverklärte, daß „the most
dreadful calamities and the inevitable destruction of the
small sugar-colonies must follow the present unnatural
contest with the Americans“. Es half nichts; den amert-
kanıschen Schiffen blieb der Zutritt zu den britischen
Häfen in Westindien während der Dauer des Krieges
streng verboten.
Als die Vereinigten Staaten 1783 endgültig aus dem
britischen Staatsverbande ausgetreten waren, stand Eng-
land abermals vor der wichtigen Entscheidung, wie es
in Zukunft seine Schiffahrtsgesetzgebung in \Westindien
einzurichten hätte. Zwei Parteien standen sich schroff
gegenüber. Die freihändlerisch-westindische, an deren
Spitze der jüngere Pitt und andere von Adam Smith
beeintlußte Wirtschaftspolitiker standen, erklärte die
wirtschaftliche Trennung Westindiens von Nordamerika
iesandurehtuhrbar.. Die andere Partei vereiterte, sich
für die Anwendung der Navigationsakte auf die jetzt als
Ausland zu behandelnden Vereinigten Staaten. Das Par-
lament überließ die vorläufige Entscheidung dem Könige,
und Georg III. erließ am 2. Juli 1783 eine Ordre,' wo-
durch die Ein- und Ausfuhr der britischen Zuckerinseln
ausschließlich britischen Fahrzeugen vorbehalten
wurde.
Die Folgen des Ausschlusses der nordamerikanischen
Schiffe waren überaus traurige für die britischen Pflan-
zer. Sie gerieten in die bitterste Not an den unentbehr-
lichen Produktionsmitteln wie Holz, Vieh, Lebensmitteln
12 Meereskunde.
usw. Die Einzelstaaten der Union vergalten nämlich
die egoistische Schiffahrtspolitik Englands mit gleichem.
Manche verboten den Zutritt englischer Schiffe über-
haupt, andere legten höhere Einfuhrzölle auf britische
Kolonialprodukte. Infolgedessen stiegen auf den bri-
tischen Inseln die Preise für die aus dem Norden impor-
tierten Güter um durchschnittlich 50 Prozent. Eine all-
gemeine Teuerung und schließlich richtige Hungersnöte
brachen aus, die in wenigen Jahren allein auf Jamaika
den Tod von 15 000 Negern zur Folge hatten. Um der
Not zu steuern, mußten die Gouverneure wiederholt das
Einfuhrverbot für amerikanische Schiffe überhaupt zu-
rücknehmen.
Umgekehrt kamen durch ebendieselben - Zwistig-
keiten die Pflanzer der französischen und spanischen
Sklaveninseln ihren britischen Konkurrenten gegen-
über immer mehr in Vorteil. Die aus den britischen
Häfen vertriebenen Yankees wandten sich nämlich in stei-
gendem Maße den nichtbritischen Teilen Westindiens zu,
versorgten sie billigst mit Lebens- und Produktions-
mitteln, so daß die französischen und spanischen Pflanzer
in den Stand gesetzt wurden, billiger zu produzieren als
ihre britischen Genossen. Dadurch traten auch schließ-
lich zum ersten Male in der Geschichte die Folgen der
erößeren Fruchtbarkeit der nichtbritischen Inseln in die
Erscheinung. Die britischen Pflanzer hatten ihre ausländi-
schen Konkurrenten früher nur dadurch unterbieten kön-
nen, daß ihnen die nordamerikanischen Farmer alles, was
sie brauchten, zu Vorzugspreisen lieferten. Dieser Vor-
teil el nun fort, die Preisunterschiede zwischen briti-
schem und nichtbritischem Zucker stiegen ständig zu-
ungunsten der britischen Pflanzer.
Schon damals wagten sich Meinungen hervor,
welche erkannten, daß der Wettstreit zwischen den
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 13
britischen und fremdländischen Sklaveninseln auf andere
Weise als durch die Fortsetzung der Sklavenimporte ge-
führt werden müßte, wenn nicht die britischen Pflanzer
immer mehr ins Hintertreffen geraten sollten. In der Tat
hatten die geschilderten Veränderungen dem Zweck und
Sinn des Sklavenhandels, namentlich des in die fremd-
ländischen Kolonien geführten Teils, eine geradezu um-
gekehrte Bedeutung gegeben. Bisher hatte jeder englische
Wirtschaftspolitiker im Sklavenhandel einen nationalen
Gewinn erblickt, denn der Handel beschäftigte eine
gewisse Anzahl Schiffe und Matrosen, führte dem Mutter-
lande für die verkauften Neger eine entsprechende Menge
Edelmetall zu und stärkte dessen aktive Handelsbilanz.
Wennschon die eingeführten Sklaven den Produktions-
ertrag der ausländischen Kolonien erhöhten, so kam
ihr wachsender Wohlstand bis 1783 den Nordamerika-
nern und dadurch schließlich auf einem Umweg Großb-
britannien wieder zugute. Durch den Abfall der Union aber
hatte sich dieses Verhältnis gewandt. Je mehr Sklaven
England an die französischen und spanischen Pfllanzer ver-
kaufte, um so besser wurden jene in den Stand gesetzt, den
britischen Zuckerproduzenten die Spitze zu bieten. Jeder
in die ausländischen Kolonien gehandelte Neger stärkte
deren produktive Kraft und verschlimmerte die an sich
schon mißliche Lage der englischen Kolonialwirtschatt.
Der Einwand, daß England aus dem steigenden Wohlstand
der fremden Pflanzer durch ihren Handel mit den Nord-
amerikanern einen Gewinnanteil zöge, galt nicht mehr,
denn Nordamerika war selbständig. Höchstens ın privat-
wirtschaftlicher Hinsicht konnten die Sklavenlieferungen
noch vorteilhaft genannt werden, vom volkswirtschaft-
lichen Standpunkt aus aber nicht.
Diesintbehrlichkeit der Neserimporte —
Immerhin hätte die englische Regierung sich wohl noch
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 4. el
I4 Meereskunde.
nicht ohne weiteres zur Abolition entschlossen, wenn nicht
verschiedene andere Umstände ihrer Auffassung zu Hilfe
gekommen wären, vor allem die Einsicht, daß die Neger-
importe für die britischen Inseln im Laufe des 18. Jahr-
hunderts entbehrlich geworden waren, daß man auch
ohne Zufuhr die Sklavenbevölkerung auf natürliche
Weise durch den Überschuß der Geburten über die Todes-
fälle aufrecht erhalten konnte. Bisher war das leider
nicht möglich gewesen, aber nur deshalb nicht, weil
die. Neger von den zeichen Plantagenbesitzernegzu
schlecht behandelt wurden. Die auf den Pflanzungen
verübten Grausamkeiten dezimierten die Bevölkerung.
Sogenannte Sklavenschutzgesetze gab es bis 1787 kaum
im dürftigsten Maße und rein zum Hohn gegen ihre
übliche Anwendung und Auslegung. So.-war zwar
beispielsweise seit jeher ärztliche Behandlung für die
erkrankten Sklaven vorgeschrieben; doch standen manch-
mal 4000 bis 5000 Neger unter einem einzigen Arzt!
Erst die sogenannte „Consolidated Act“ vom Jahre 1787,
welche unter dem Druck der. Öffentlichen Meinung
in Europa für Jamaika zustande gekommen war, ver-
stand sich zu notdürftigen Verbesserungen. Wie lax
aber die bestehenden Bestimmungen trotzdem noch an-
gewandt wurden, bekunden die Zeugnisse aller Schrift-
steller aus dieser Zeit. Den Geist der Gesetze kenn.
zeichnet am besten die Tatsache, daß bis 1802 die will-
kürliche Ermordung eines Sklaven nur mit ı8 Pfund
Sterling, auf Barbadoes sogar nur mit 15 Pfund Sterling
Geldstrafe gesühnt wurde. Ein Mr. Roß z. B. betont aus-
drücklich, daß jeder Herr das Recht habe, seine Sklaven
auf beliebige Weise zu bestrafen!
Unter der Einwirkung des nordamerikanischen Un-
abhängigkeitskrieges, welcher eine Zeitlang die Sklaven-
zufuhren fast gänzlich unterbrochen und die Pflanzer zu
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 15
erößerer Rücksichtnahme auf ihre Sklaven gezwungen
hatte, hatte sich indessen die Behandlung der Neger gegen
früher wesentlich verbessert, so daß sich der Überschuß
der Verstorbenen über die Geburtsfälle beständig ver-
mindern konnte. Die Geburtsziffer stand 1791 auf den
meisten englischen Zuckerinseln mit der Sterbeziffer
ziemlich gleich; es war daher die Hoffnung begründet,
daß sie letztere in allernächster Zukunft übertreffen
würde, namentlich da die Hälfte aller Todesfälle solche
Sklaven betraf, welche an den während der „middle pas-
sage“ zugezogenen Krankheiten gestorben waren. Die
Sterbeziffer unter den in Westindien geborenen Sklaven,
die sich längst akklimatisiert hatten, war durchaus nor-
mal. Hörte der Sklavenhandel auf, so mußte auch der
Überschuß der Gestorbenen verschwinden.
Britisch Westindien hatte nach dem Urteil un-
parteiischer Beobachter nicht nur genug, sondern eher
zuviel Sklaven. Die fortdauernden Sklavenimporte konn-
ten geradezu als das Grundübel des Notstandes bezeichnet
werden, der die britischen Pflanzer betroffen hatte. Die
Leichtigkeit der Importe drückte nämlich die Sklaven-
preise und verleitete dadurch die Pflanzer zu unüberlegten
Erweiterungen und Neuanlagen von Zuckerplantagen; diese
Überproduktion führte wieder zu Preisdruck, zu Absatz-
schwierigkeiten, zu Zahlungsstockungen, kurz zu der all-
gemeinen Krisis der 1780er Jahre.
Die französischen und spanischen Zuckerpflanzer
waren dagegen noch auf Generationen hinaus auf die
Sklavenzufuhr angewiesen. Ihr unvergleichlich größerer
Gebietsumfang, ihre dünnere Bevölkerung und größere
Fruchtbarkeit wären allein schon Gründe genug hierfür
gewesen. Während z. B. in Britisch Westindien auf
einen Weißen 7 Sklaven entfielen, standen auf Kuba, das
die meisten Sklaven von allen spanischen Besitzungen
IS
3
16 Meereskunde.
enthielt, 274 000 Weißen nur 210 000 Sklaven gegenüber.
Abgesehen hiervon hatten die blutigen Negeraufstände
auf Domingo und Guadeloupe seit 1789 die französischen
Pfllanzer mehr denn je auf den Negerhandel angewiesen.
Den Verlust an Sklaven schätzte man auf die Hälfte der
früheren Bevölkerung. Alle nichtbritischen Plantagen
hatten ein starkes Bedürfnis nach Auffrischung ihrer
Sklavenbestände, um die durch die Aufstände gerissenen
Lücken wieder auszufüllen. Für die ausländischen Ko-
lonien war der Sklavenhandel eine absolute Notwendig-
keit, eine Lebensfrage; für Großbritannien dagegen nicht.
Die „Unrentabilsitäar Tdeszes es
handels. Durch den unglücklichen Krieg mit der ame-
rikanischen Union hatte England nicht nur seine Macht-
stellung in Amerika, sondern auch in Afrika verloren. Da-
durch begann der Sklavenhandel, welcher bisher zu den
einträglichen Geschäftszweigen gerechnet hatte, unren-
tabel zu werden.
England hatte es nämlich im 18. Jahrhundert ver-
standen, sich in Afrika die für den Sklavenhandel
wichtigsten Gebietsteile anzueignen. Die besten Küsten-
striche mit den bevölkertsten Hinterländern, den kräftig-
sten, fügsamsten und brauchbarsten Negerstämmen ge-
hörten ihm. Sie sicherten ihrem Besitzer eine große Über-
legenheit gegenüber allen übrigen mit Sklaven handelnden
Nationen; denn letztere besassen nur einen kümmerlichen
Anteil an passenden Küstenstrichen des schwarzen Erdteils.
Seit 1783 aber wurde es anders. Bereits im Friedens-
schluß zu Pardoe am 24. März. 1778 wurden anzdıe
Spanier die Inseln Annabon und Fernando del Po ab-
getreten, und zwar mit der Berechtigung, an den gegen-
überliegenden Küsten Neger einzuhandeln. Im Friedens-
schluß zu Versailles 1783 wurden auch den französischen
Besitzungen an der afrikanischen Küste beträchtliche Er-
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 17
weiterungen zugestanden. Frankreich bekam neu hinzu
die bisher britischen Stationen St. Louis und Goree, das
Fort Senegal, ferner Rufisque, Joal, Portudal, Albreda,
die Iles-Idoles bei Sierra Leone und vor allem Anteil am
Handel von Altkalabar, Neukalabar und in Bonny an der
Mündung des Niger. Letztere beiden Plätze hatten bei
weitem den größten Umsatz an der ganzen Küste; denn
sie lieferten jährlich 15 000 bis 20000 Sklaven von ins-
gesamt etwa 100000. An diesen sowie an denjenigen
Stationen, die sie von früher her besaß, hob die fran-
zösische Regierung alle Handelsbeschränkungen auf und
erklärte für ihre eigenen Untertanen den Freihandel.
Letzterer entfaltete sich ungemein. Benin, Wydah und
Lago (an der Windwardküste), wo früher gar kein oder
nur ein unbedeutender Negerhandel getrieben war, stei-
gerten ihren Export dermaßen, daß die englischen Kauf-
leute mit Neid auf die französischen Erfolge blickten. Aus
dem Handel bei Angola hatten die Franzosen seit dem
Friedensschluß die Engländer fast ganz vertrieben; bei
Bonny hatten sie einen ebenso großen Handel wie jene,
und am Gambia herrschte starker Wettbewerb zwischen
beiden Nationen. Somit waren die Franzosen und
Spanier allmählich unabhängig von den britischen
Sklavenlieferungen geworden und konnten daran denken,
ihren alten Wunsch nach einem eigenen Negerhandel zu
verwirklichen.
Die Erweiterung ihrer afrikanischen Grebiete hatte
nicht nur zur Folge, daß der britische Sklavenhandel
zurückging, sie brachte als weitere Unannehmlichkeit
noch mit sich, daß mit der steigenden Nachfrage die
Einkaufspreise für Neger an der Küste sich hoben. Mit
dem vermehrten Angebot europäischer Artikel stiegen die
Forderungen der schwarzen Händler. Je mehr Europäer
an die Küste kamen, desto wählerischer und habgieriger
18 Meereskunde.
wurden die Häuptlinge, die als Unterhändler dienten.
Die Tage, wo man für wenige Kannen Branntwein, für
einige Ellen groben Tuches oder für ein paar eiserne
Nägel mit Messingköpfen einen ausgewachsenen Sklaven
erstehen konnte, waren längst dahın. Fine Nation
überbot die andere, so daß wenig im Handel zu
verdienen war. Eine der größten Schwierigkeiten soll
die gewesen sein, daß ein Sklavenschiff die allerverschie-
densten Artikel mitbringen mußte, da man nie wissen
konnte, ob nicht kurz vorher ein anderes Schiff dieselben
Artikel feilgeboten hatte. Daraus erwuchs erheblicher
Schaden, weil die Güter bald hoch, bald niedrig im Wert
standen, je nachdem die Eingeborenen sie gerade begehr-
ten oder nicht. Nur ausnahmsweise sollen die Schiffe
noch gute Geschäfte gemacht haben, in der Regel ver-
darb die Konkurrenz das Geschäft.
In gleicher Weise war die Rentabilität in West-
indien zurückgegangen. Englands politische Niederlage
ermutigte die anderen Kolonialmächte, eine energischere
eigene Wirtschaftspolitik zu führen und sich von den bri-
tischen Sklavenimporten unabhängig zu machen. Frank-
reich, Spanien und Holland begünstigten ihren eige-
nen Sklavenhandel nach allen Regeln des merkantilisti-
schen Systems durch Exportprämien und Tonnengelder
und bemühten sich, die Engländer durch Differential-
zölle oder offene Verbote auszuschließen. Für die eng-
lischen Reederinteressen war dies ein harter Schlag; gin-
gen doch rund zwei Drittel ihrer Negertransporte ins
Ausland! Die unmittelbaren Wirkungen dieser ungünsti-
gen Behandlung waren Absatzstockungen und Überfüllung
der englischen Sklavenmärkte in Westindien, niedrige
Preise und zunehmende Verschlechterung des Sklaven-
geschäftes. Die übrigen Kolonialstaaten zeigten sich
England gegenüber nicht weniger zurückhaltend. Die
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806,07. 19
Vereinigten Staaten hatten durch die Non-Importation-
Akte von 1774 englische Sklavenlieferungen in der Haupt-
sache untersagt. Portugal entnahm keinen einzigen
Sklaven aus englischen Häfen, sondern führte seinen um-
fangreichen brasilianischen Handel — jährlich gegen
20000 Stück — entweder selbst oder durch die Nord-
amerikaner. Ebenso energisch verschloß Holland seine
Kolonien.
Die Rassengegensätzezwischen Wei-
Ben und Schwarzen. — Die Furcht vor Sklaven-
aufständen, überhaupt die Rassengegensätze, bildeten eins
der wirksamsten Motive für die Einstellung der Neger-
importe. Bis 1789 war die Gefahr von dieser Seite nicht
besonders drohend gewesen. Sklavenerhebungen waren
wohl im ganzen 18. Jahrhundert immerfort vorgekommen,
hatten aber nie solchen Umfang erreicht, daß man des-
wegen auf die Importe verzichtet hätte. Der Nutzen der
Importe war im ganzen viel größer als der durch sie ge-
legentlich angerichtete Schaden.
Indessen lag es auf der Hand, daß frisch importierte
Sklaven, die womöglich noch vor wenigen Wochen in
ihrer afrikanischen Heimat als freie, unabhängige
Krieger, dıe \Waien geführt, hatten, viel? eher‘ zum
Aufruhr und zur Widersetzlichkeit neigen mußten als
solche Neger, die von Geburt an das Joch der Sklaverei
gewöhnt waren. Letztere waren im Kriegsfalle, wenn
ein europäischer Feind das Land bedrohte, viel fried-
licher und ihrer neuen Heimat ergebener als erstere.
Ihre Zuverlässigkeit hing zum großen Teil von ihrer Be-
handlung ab.
Seit der französischen Revolution, seit der Verkün-
dung der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ unter
den Schwarzen Französisch Westindiens und den sich
anschließenden Negererhebungen auf Domingo und
20 Meereskunde.
Guadeloupe waren die Zustände für die europäischen
Pflanzer geradezu lebensgefährlich geworden. Überall
gärte es in jener politisch so sturmbewegten Zeit. Die
Frage der Abolition konnte nicht mehr erörtert werden,
ohne die Neger zur Empörung zu reizen. Den Handel
fortzuführen hätte sicher den Untergang aller Weißen be-
deutet. Jede neue Schiffsladung, der geringfügigste
Anlaß konnte die Gefahr zum Ausbruch bringen, zumal
unter den Neuimportierten sich stets die Hauptanstifter
der Rebellion befanden.
Je höher der Kulturzustand einer Insel, desto größer
war die Gefahr; denn um so ungünstiger war das Zahlen-
verhältnis der Weißen zu der farbigen Bevölkerung. In
den britischen Gebietsteilen entfielen durchschnittlich
im Jahre 1791 auf je ı Weißen 7 Neger. Auf manchen
Inseln war das Verhältnis vıel ungünstiger, 7 Bazaıı
Antigua I : ı5, auf Grenada gar I :24, während das fran
zösische Domingo kurz vor der Revolution das Verhältnis
1:16 aufwies. Die Steigerung der Produktion konnte nur
auf Kosten der Sicherheit der Europäer erkauft werden.
Ihre geringe Zahl hätte schon in friedlichen Zeiten kaum
ausgereicht, die Sklaven im Zaum zu halten; wieviel
weniger in einem Kriege, wo noch auswärtige europäische
Feinde abzuwehren waren! Die Kolonien hingen gerade-
zu von der Gnade ihrer Sklaven ab. Die Einstellung der
Importe war das einzige, was Rettung bringen und das
Verhängnis abwenden konnte.
Wer über die Gefahr noch Zweifel hegte, dem mußte
das grausige Schicksal, das Domingo, Guadeloupe und
Surinam befallen hatte, die Augen öffnen. Nach jahre-
langen Aufständen und Verwüstungen hatte sich seit
1796 auf Domingo ein unabhängiger starker Neger- und
Mulattenstaat herausgebildet. Unter der energischen,
intelligenten Leitung eines ehrgeizigen Diktators wie
Toussaint, der im Innern Zucht und Ordnung und nach
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 21
Außen Einheit und Macht aufrecht erhielt, war diese Insel
für alle benachbarten europäischen Kolonien eine stän-
dige furchtbare Bedrohung. Sie bildete einen Herd des
Aufruhrs und einen Zufluchtsort für alle Nüchtigen wider-
spenstigen Sklaven.
Gleiche Vernichtung bedrohte die britischen Pflanzer.
Die Unruhen hatten auf das englische Gebiet über-
sesrilten. Im März 1795 brachen auf St. Vincent und
Grenada ernste Erhebungen der Eingeborenen aus, deren
Unterdrückung nur mit Mühe gelang. Ende 1796 revol-
tierten auf Jamaika, während von draußen her ein französi-
sches Geschwader Angriffe unternahm, die unabhängigen,
im Innern wohnenden „Maroonen‘, d.h. verwilderte Neger-
sklaven. Gegen sie mußte ein regelrechter Feldzug geführt
werden, der 500000 Pfund Sterling kostete. Die Engländer
schreckten nicht vor den barbarischsten Mitteln zurück.
Nach alter spanischer Art wurden Bluthunde aus Kuba
besorgt und auf die Aufständischen gehetzt. Der Ernst
der Lage ließ keine Wahl in den Mitteln. Man fürchtete
für Jamaika das Schicksal Domingos.
Erhöhte Bedeutung kam solchen Aufständen deshalb
zu, weil sie von feindlichen europäischen Mächten ın jeder
Weise unterstützt wurden. Es war in allen europäischen
Kriegen eine beliebte Praxis gewesen, dab eine Kolonie der
benachbarten feindlichen durch Aufwiegelung der Sklaven
den Untergang zu bereiten suchte. Auf Domingo versah
England die Aufständigen mit Pulver und Blei; Frank-
reich rächte sich auf dieselbe Art in Jamaika. Diese
Zustände mußten die engherzigsten Freunde des Sklaven-
handels von seiner Gefährlichkeit überzeugen.
Dre bsollweronsihresc hinsbav om 2 April
1792.— Das Ergebnis dieser Sachlage kam in dem Beschluß
des englischen Unterhauses vom 2. April 1792 zum Aus-
druck, nach welchem mit ı5ı Stimmen gegen 132 das
sofortige Verbot des in die ausländischen Kolonien ge-
Meereskunde.
[56)
189)
führten britischen Sklavenhandels und die allmähliche
Abschaffung der in die eigenen Kolonien geleiteten Neger-
importe vom I. Januar 1796 ab beschlossen wurde. Da-
mit war die Abolition zum ersten Male vom englischen
Parlament befürwortet. Doch hatte es damit leider für
längere Zeit auch sein Bewenden. Der Beschluß des Unter-
hauses wurde nicht Gesetz, denn das Oberhaus nahm ihn
nicht an. Die Gründe für die Ablehnung dieses und der
späteren Abolitionsbeschlüsse des Unterhauses lagen
einmal in der schwer zu lösenden Entschädigungs-
frage der durch die Abolition beeinträchtigten Groß-
handelsinteressen, sodann in dem Widerstand der
im Oberhaus vertretenen westindischen Plantagenbe-
sitzer, welche sich nicht entschließen konnten, ihre
privaten Interessen dem (Gemeinwohl unterzuordnen,
und drittens in der Sorge, daß die übrigen Kolonialmächte
dem englischen Beispiel keinesfalls freiwillig folgen
würden. Dieser letzte Punkt bot vielleicht die größten
Schwierigkeiten; denn hätte England allein seinen Handel
aufgegeben, so hätten die anderen Staaten den ihrigen
nur um diesen Teil vermehrt. Der Sache der Mensch-
lichkeit wäre damit nicht nur nicht gedient, sondern ge-
schadet worden; denn den englischen Schiffen waren ge-
wisse Schutzbestimmungen zugunsten der transportierten
Neger vorgeschrieben, den fremden dagegen nicht. Nur
internationale Verhandlungen und Verträge hätten über
diese Schwierigkeit hinweghelfen können. Dazu zeigten
sich aber die anderen Mächte aus begreiflichen Gründen
nicht geneigt. So wäre die Abolition praktisch auf den
toten Punkt geraten, wenn nicht im Jahre 1793 der Krieg
zwischen England und Frankreich ausgebrochen wäre.
Was langwierige parlamentarische und internationale
Verhandlungen nicht erreichen konnten, das schuf der
Krieg mit Gewalt.
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806 07. 2
[@)
Die Kriegszeit von 1793 bis 1802.
Zum Verständnis der nun folgenden historischen
Ereignisse, welche die politische Lage in der ganzen Welt
vollständig neu gestalteten, muß hier in wenigen Sätzen
auf die inneren Motive dieses gewaltigen Krieges ein-
gegangen werden, welcher 22 Jahre lang dauerte und die
Welt bis ı81ı5 in Spannung hielt.
Es kann heute nicht mehr bestritten werden, daß
dieser Entscheidungskampf zwischen Frankreich und
England in wirtschaftspolitischen Gegensätzen seine
stärkste Wurzel hatte. Nicht etwa die Entrüstung über
die „unmoralische‘“, französische Revolution, auch nicht
die Absicht, das entthronte französische Königtum wieder
einzusetzen, trieben England in den Krieg, sondern in
Wahrheit vor allen Dingen die Furcht, seinen Welthandel
zu verlieren, der durch die Unabhängigkeit der Vereinig-
ten Staaten von Nordamerika an der empfindlichsten
Stelle verwundet war.
Die französische Revolution bedeutete vom wirt-
schaftspolitischen Standpunkt aus den Sieg der Interessen
des französischen Gewerbe- und Kaufmannsstandes über
den feudalen Grundadel und die Geistlichkeit. Frank-
reich hatte 1789 die Grenzen eines vorwiegenden Agrar-
staates überschritten und war wie England in die Bah-
nen eines Welthandelsstaates eingetreten. Dieser Schritt
mubte notwendigerweise Todfeindschaft zwischen beiden
Ländern nach sich ziehen. Die französische Kriegserklä-
rung gab Großbritannien die längst ersehnte Gelegenheit,
über seinen Rivalen herzufallen und die seit dem Abfall
Nordamerikas bestehende Gefahr, daß die britische Ko-
lonıalmacht überflügelt würde, abzuwenden. Allein die
Tatsache, daß der Zuckerhandel Französisch Domingos
1781 fast zwei Drittel des ganzen auswärtigen britischen
24 Meereskunde.
Handels betragen hatte, könnte ausreichen, diesen Krieg
zu erklären.
Die nächste, allerdings schnell vorübergehende Folge
des Krieges war für die britischen Pflanzer eine weitere
Benachteiligung gegenüber ihren ausländischen Konkur-
renten. Ihre gesamte Ein- und Ausfuhr spielte sich,
wie schon erwähnt worden ist, wegen der Anwendung
der Navigationsakte ausschließlich in britischen Schiffen
ab. Ließ sich dies törichte Gebot schon im Frieden nur
mit Mühe und mit schweren Opfern für die Pflanzer auf-
recht erhalten, so erwies es sich jetzt im Seekrieg als
völlig unhaltbar. Französische Kreuzer kaperten und
belästigten die britischen Schiffe bei jeder Gelegenheit
und stellten den Außenhandel der englischen Zucker-
inseln oft in Frage. Wäre er wie früher in amerikani-
schen, d. h. in neutralen Fahrzeugen geführt worden, so
hätten die Franzosen sich nicht an ihm vergreifen können.
Für die französischen Inseln traf diese Voraussetzung
zu. Ihr Außenhandel wurde von den neutralen amerika-
nischen Schiffen bedient und war dadurch gegen englische
Handstreiche geschützt. Der französische Pflanzer er-
freute. sich derselben Sicherheit wie im Frieden, während
der englische allen Wechselfällen des Krieges ausgesetzt
war. Infolgedessen stiegen die britischen Frachtkosten
für die nach Europa gesandten Kolonialwaren und ver-
teuerten die ohnehin schon viel zu hohen Produktions-
kosten für den britischen Zucker dermaßen, daß er in
Europa kaum noch Absatz fand.
Das Einzige, was den britischen Pflanzern helfen
konnte, geschah. Die wenige Jahre vorher erlassene
Navigationsakte wurde von den westindischen Gouver-
neuren während des Krieges ausnahmsweise, jedoch mit
ziemlicher Regelmäßigkeit, außer Kraft gesetzt und die
amerikanischen Schiffe zugelassen. Das bedeutete faktisch
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 25
den Bruch mit diesem fast 150 Jahre alten Schiffahrts-
gesetz; doch war er für die Ernährung Westindiens un-
vermeidlich.
Dann strebte die englische Kriegsführung mit rück-
sichtsloseren Mitteln danach, ihre frühere Seegeltung
wiederzugewinnen. Den elastischen Begriff ‚„Konter-
bande‘ dehnte sıe auf alle Güter aus, mit denen die fran-
zösischen Pflanzer ihre Plantagenwirtschaft betreiben
konnten. Den Grundsatz „Frei Schiff, frei Gut‘ erkannte
England nicht an; es kaperte jedes neutrale amerikani-
sche Schiff, welches mit den französischen Inseln ver-
kehrte, und drohte sogar, amerikanische Matrosen,
welche auf einem französischen Kauffahrteifahrer dien-
ten, als „Seeräuber“ zu behandeln und aufzuhängen, da
sie, falls vor 1783 geboren, doch noch als britische Unter-
tanen betrachtet werden müßten!
Die Unionsstaaten, machtlos und uneinig, wie sie
waren, wiesen die englischen Übergriffe nicht mit der
wünschenswerten Energie zurück. Empört über ihre
Feigheit und Willenschwäche beging die französische
Regierung die Unklugheit, die neutralen amerikanischen
Schiffe genau so zu behandeln, wie jene es sich von den
Engländern gefallen ließen. Amerikanische Schiffe wur-
den also fortan von den französischen Kreuzern ebenso
mißhandelt wie von den englischen. Auf diese Weise
geriet Frankreich, da die Vereinigten Staaten ihm
gegenüber Vergeltung wagten, seit 1796 in einen tat-
sächlichen, wenn auch unerklärten Kriegszustand mit
Nordamerika, in welchem es natürlich den kürzeren zog.
Durch diese und eigene glänzende Waffentaten hatte
Großbritannien seit 1795 die unbestrittene Herrschaft auf
dem Atlantischen Ozean wiedererrungen. Weit und breit
hatte es keinen Rivalen zu fürchten. Die französischen
Kolonien, soweit sie nicht unter farbigen Diktatoren selh-
Meereskunde.
N
O\
ständig waren, hatte es erobert, im Jahre 1794 vernichtete
es bei Brest eine französische Flotte, 1796 besetzte es die
holländischen Guyanakolonien, später das spanische
Trinidad, das holländische Surinam und schlug die
spanische Flotte bei St. Vincent und die holländische bei
Camperdown. Nach Nelsons Sieg bei Abukir (1799)
war wirklich die Zeit gekommen, wo es leichter war, eine
Bohne auf einem Heuschober als ein englandfeindliches
Kriegsschifft auf dem Ozean zu finden. England besaß
ein Seemachts- und Kolonialmonopol, wie es vor ıhm kein
Staat besessen hatte.
Für den britischen Sklavenhandel hatten diese Er-
eignisse einen vorübergehenden letztmaligen glänzenden
Aufschwung zur Folge. Seit vielen Jahren übertraf end-
lich einmal wieder die Nachfrage nach Zucker das An-
gebot. Die Preise waren infolge des Krieges auf das
Doppelte und Dreifache gestiegen. Die französischen und
spanischen Pflanzer konnten wegen der Negeraufstände
und der Verwüstung ihrer Plantagen sowie wegen der
Belästigung ihres Seehandels nicht mehr nach Europa
liefern. Das reizte den britischen Geschäfts- und Unter-
nehmungsgeist mächtig an. Der Zuckerbau auf den
britischen Inseln wurde wieder lohnend und der Sklaven-
handel schwoll an wie nie zuvor.
Die Zunahme des Sklavenhandels erfolgte nıcht ohne
die heftigsten Proteste von seiten der Abolitionspartei in
England. Doch was vermochten ihre Einwände gegen
die jäah erwachte Spekulation! Es war Englands offen-
barer Vorteil, die günstigen Konjunkturen, welche der
Krieg geschaffen hatte, nach Möglichkeit auszunutzen.
Die Anträge auf Abolition wurden im Unterhaus zwar
mit pünktlicher Regelmäßigkeit wiederholt, aber jedes-
mal glatt abgelehnt. Wohl niemals deutlicher als an
diesem Beispiel sprach sich die Unzulänglichkeit philan-
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 27
thropischer Doktrinen aus, die nicht von materiellen In-
teressen unterstützt, vielmehr dem praktischen Vorteil
entgegengerichtet sind.
Die Zeit der Abolitionsgesetzgebung von 1802 bis 1807.
Wie ein erlöschendes Licht war der Sklavenhandel
vor seinem Ende noch einmal hell aufgeflackert, und
Großbritannien hätte mit der Abolition vielleicht niemals
ernst gemacht, wenn es ihm gelungen wäre, sein Ko-
lonıalmonopol dauernd zu behaupten. Doch hierin kam
essamders: In der Zeit von 1802 bis’1807 verschlechterte
sich seine politische Lage in Europa, es kam die Zeit der
Ungewißheit, in welcher niemand den Ausgang des Ent-
scheidungskampfes voraussehen konnte.
Die französischen und spanischen Kolonien erholten
sich zusehends von ihrem Niedergang aus Ursachen, die
in einer Reihe wirtschaftlicher und politischer Verände-
rungen begründet sind und sich letzten Endes in einer
Person, in Napoleon I., konzentrierten, der seit 1799
in Frankreich die Zügel der Regierung ergriffen hatte.
Seine Siege in Italien und am Rhein retteten. für
Frankreich die Lage in Westindien. Seit seinem Antritt
des Konsulates machte sich ein strafferer Zug in der fran-
zösischen Kolonialpolitik bemerkbar. Die törıchte Po-
litik des Nationalkonvents und des Direktorıums hatte
die französischen Inseln in den Krieg mit den Vereinig-
ten Staaten gestürzt und an den Bettelstab gebracht.
Napoleons Scharfblick erkannte sofort die Achillesferse
der britischen Weltmacht und den wunden Punkt des
niedergeworfenen französischen Kolonialhandels — die
Vereinigten Staaten! Wie er England in einen Krieg
mit der Union zu treiben sich bemühte, so sorgfältig
war er andrerseits auf ein gutes Einvernehmen zwischen
Frankreich und Nordamerika bedacht. Friede mit
28 Meereskunde.
den Vereinigten Staaten war Lebensbedingung für
seine Kolonialpolitik. Darum beendete er in einem Ab-
kommen vom Oktober 1800 den Kaperkrieg, der die fran-
zösischen Pflanzer jahrelang von allem Verkehr abge-
schnitten hatte. Dem Grundsatz, daß neutrale Flagge
feindliches Gut deckte, daß also englische Kriegsschiffe
französische Kolonialwaren auf amerikanischen Schiffen
nicht kapern durften, wußte er durch Kräftigung des
nordamerikanischen Selbstgefühls gegenüber England
wieder Anerkennung zu verschaffen. Die Ein- und Aus-
fuhr der wichtigen Produktionsmittel in amerikanischen
Fahrzeugen wurde den französischen Pflanzern wieder
unter ähnlichen Bedingungen wie zur Königszeit sicher-
gestellt und damit die Grundlage zur Wiederaufnahme
des durch die Negeraufstände verwüsteten Plantagen-
betriebes gegeben.
Außerordentlich viel hat auch die Wiedereinführung
der Sklaverei am 20. Mai 1802 dazu beigetragen. Napo-
leon traf auch hierin das Richtige. "Seine geserzgebe
rischen Maßnahmen bestätigten nur den tatsächlichen
Zustand der Dinge. Abgesehen von Domingo und Gua-
deloupe, wo die Neger die Oberhand behalten hatten, war
das übereilte französische Gesetz vom 4. Februar 1794,
welches den Sklaven die Freiheit geschenkt hatte,
nirgends ausgeführt worden. Die Wiedereinführung der
Sklaverei verursachte mithin keine Schwierigkeiten, der
Plantagenbau konnte ohne weiteres in alter Weise und
mit dem gewohnten Erfolg wieder aufgenommen
werden. Napoleon war aber klug genug, den Verhält-
nissen da, wo sie anders lagen, Rechnung zu tragen und
die mit vieler Mühe wiederhergestellte Ordnung durch
die Wiedereinführung der Sklaverei nicht von neuem
aufs Spiel zu setzen. Auf Domingo schloß er sich den
von dem Negergeneral Toussaint getroffenen Reformen
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 29
an. Letzterer hatte nach den langen Jahren des Aufruhrs
seit 1795 die Herrschaft an sich gerissen und durch sein
straffes Regiment der schwergeprüften Insel endlich die
Ruhe und den Frieden wiedergegeben. Die geflüchteten
weißen Pflanzer rief er zurück, befreite sie von den alten
Schulden und gab ihnen vor allem ihre früheren Arbeits-
kräfte wieder. Den Negern wurde zwar nominell die
Freiheit geschenkt; sie wurden aber zunächst auf fünf
Jahre einem Arbeitszwangssystem, das auf militärischer
Grundlage beruhte, unterworfen. Diese Arbeitsverfas-
sung ließ Napoleon, da sie sich gut bewährt hatte, unan-
getastet. Da zugleich mit den Nordamerikanern wich-
tige Handelserleichterungen vereinbart wurden, erholten
sich die französischen Inseln sichtlich von den durch die
Revolution geschlagenen Wunden.
Die durch Napoleons Schutz neu erstarkte nordameri-
kanische Handelsmacht gereichte auch den mit Frankreich
verbündeten Kolonien zum Vorteil. Nordamerikanisches
Kapital und nordamerikanische Schiffe wandten sich auf
Grund des erwähnten Abkommens seit 1800 wieder in
steigendem Maße den holländischen und spanischen Be-
sitzungen zu. Die reichen Bodenschätze von Kuba,
Spanisch Domingo, Mittel- und Südamerika boten dem
amerikanischen Unternehmungsgeist ein weites Feld zur
Betätigung. Gebietsteile, die bisher kein einziges Stück
Zucker exportiert hatten, unterhielten seit I8oo einen
blühenden Exporthandel, namentlich Mexiko und Kuba,
welche ihre Zuckerproduktion ın wenigen Jahren beinahe
verdreifacht hatten.
Dazu gesellte sich das Angebot von Kolonialwaren
aus ÖOstindien, dessen Konkurrenz sich damals zum
erstenmal fühlbar zu machen begann. In Bengalen,
Birma, Südchina, Peddapore, Zemindar produzierte
man auf ertragreicherem Boden und mit freien Arbeitern
30 Meereskunde.
viel billiger als auf den britischen Antillen. Die Furcht
vor der ostasiatischen Konkurrenz war damals unter den
britischen Zuckerpflanzern nicht gering, wie die seit 1805
in England eingeführten Differentialzölle auf ostindischen
Zucker beweisen.
Noch von einer anderen Seite wurde dem britischen
Kolonialhandel schwerer Schaden zugefügt, durch die
Kontimentalsperre.) Die Kontinentalspere sur:
nicht etwa erst im Jahre 1806 das Licht der Welt erblickt,
als Napoleon am 21. November das berühmte Berliner Edikt
erließ, sondern schon viel früher. Schon im Jahre 1796
verordnete der französische Nationalkonvent das Verbot
und die Konfiskation aller englischen Waren auf dem
französischen Markt. Im Jahre 1801 traten im Frieden
von Luneville auch Holland, Spanien, Österreich, Italien
und Westdeutschland diesem Verbote bei; mit den übri-
gen europäischen Ländern stand Napoleon deswegen in
Unterhandlungen. Spanien schloß sich 1805 an. Jeden-
falls waren bereits Anfang des 19. Jahrhunderts eng-
lische Schiffe und Waren in wichtigen Teilen Europas
in Verruf gesteckt und boykottiert. Nur noch heimlich,
mit Hilfe des Schmuggelhandels, fanden sie Ankerplätze,
wo sıe gelöscht werden konnten.
Unter dem Schutze Napoleons machte auch der
Zwischenhandel der neutralen Seemächte, der Vereinigten
Staaten, Dänemarks, Preußens und der Hansastädte, glän-
zende Fortschritte. Ihr Zwischenhandel vollzog sich in
der Weise, daß die französischen, spanischen und hollän-
dischen Kolonialwaren entweder direkt ın neutralen
Fahrzeugen oder indirekt über Nordamerika den Konsu-
menten in Europa zugeführt wurden. , In’ der um-
1) Vgl. Hoeniger, Die Kontinentalsperre. — Meereskunde,
Jahrg. I, Heft 5. (Anm. d. Herausgebers.)
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 31
gekehrten Richtung führten die Yankees die Fabrikate
der unter der Kontinentalsperre erstarkenden europä-
ischen Industrie nach Mittelamerika. Schritt für Schritt
wurde in den auswärtigen Hafenplätzen der britische
Einfluß zurückgedrängt. Englands Kolonial- und Han-
delsmonopol, das es ın den 1790er Jahren besessen hatte,
war durchbrochen.
Die Verschlechterung der wirtschaftlichen und mili-
tärıschen Konstellation machte sich auf den britischen
Zuckerinseln abermals in einer schweren Krisis bemerk-
bar Sie /tuhrte sür- die britische Plantagenwirtschaft
wieder ähnliche Verhältnisse herbei, wie sie während des
nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges und nach-
dem bestanden und das Unterhaus zu dem Abolitions-
beschluß vom 2. April 1792 veranlaßt hatten. Der ge-
samte britische Außenhandel wurde von dieser Krisis in
Mitleidenschaft gezogen. Überproduktion, Absatz-
stockungen, Preisdruck, Verschuldung und Bankerotte
waren an der Tagesordnung und gaben dem Verlangen
nach Abolition immer neue Nahrung. Die Kaufleute
wußten nicht wohin mit ihrer überschüssigen Ware. Wo
bisher der englische Kaufmann als einziger oder haupt-
sächlicher Lieferant geherrscht hatte, stieß er seit 1799
in steigendem Maße mit fremden Konkurrenten zusam-
men. In den englischen Häfen lagerten damals 150 000
Hogshead Zucker (das sind je ı2 bis 16 englische
Zentner) ohne Bestimmung! Wie konnte dem Zucker-
markt Erleichterung geschaffen werden? Das war die
große Frage, welche die britischen Wirtschaftspolitiker
beschäftigte. Zur Wiederbelebung der Ausfuhr schlug
man die Erhöhung der Rückfuhrzölle, außerdem Zu-
schlagszölle auf Rumsurrogate, auf fremden Sprit und
Branntwein vor. Auch sollte zur Hebung des Konsums
den englischen Brauereien ausnahmsweise der Verbrauch
32 Meereskunde.
24
von Zucker und Melasse gestattet werden, was sonst
verboten war. Doch über den Hauptgrund der Krisis,
die viel zu zahlreichen Negerimporte und die dädurch
verschuldete leichtsinnige Überproduktion von Zucker
war zunächst noch keine Einigkeit zu erzielen, obwohl
es eine allgemein anerkannte Tatsache war, daß der
Wettbewerb der ausländischen Pflanzer sich nur dadurch
so gefährlich hatte gestalten können.
Um das Unglück zu vervollständigen, mußte Eng-
land, aller Bundesgenossen auf dem europäischen Fest-
land beraubt, im Jahre 1802 in dem unglücklichen Frie-
den von Amiens an Frankreich und seine Verbündeten
alle westindischen Eroberungen, die es seit dem Kriege
gemacht hatte, bis auf Trinidad wieder zurückgeben. Das
blühende, vom Krieg verschont gebliebene Martinique,
ferner Tabago, St. Lucie, Curagao und die drei hollän-
dischen Guyanakolonien mit Surinam mußten wieder ab-
getreten werden. Auf ihnen hatte der Aufschwung des bri-
tischen Kolonialhandels seit 1792 vornehmlich beruht. Jetzt
stürzte diese Grundlage. Da Frankreich 1802 außerdem
noch Domingo, Guadeloupe sowie das riesige Louisiana-
gebiet wieder besetzte und auch Spanien und Holland ihre
ehemalige Herrschaft in Mittelamerika befestigten,
sah sich England mit einem Schlage seiner Vormachts-
stellung beraubt und auf den Rang einer Kolonialmacht
zweiten Grades zurückgeworfen.
England verlor durch den Friedensschluß noch viel
mehr. Mit den abzutretenden Gebietsteilen mubreses
sämtliche Kapitalien an Sklaven, Gebäuden, Gerät-
schaften, Vieh, Meliorationen usw., die es während der
Okkupation dort angelegt hatte, aufgeben und den feind-
lichen Konkurrenten überlassen. Das verbesserte, von
Urwäldern und Sümpfen befreite, mit Produktions-
mitteln wohl ausgestattete Land bot den feindlichen
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 33
Pflanzern die bequemste Handhabe, die Konkurrenz
gegen die notleidenden britischen Pflanzer augenblicklich
wieder aufzunehmen.
Ebenso drohte der britischen Reederei durch den mit
den Gebietsabtretungen verbundenen Verlust der Frach-
een eins sewaltiger "Schaden, Dazu kam! die "Ent
täuschung, daß Napoleon sich hartnäckig weigerte, einen
Handelsvertrag mit England abzuschließen. Der eng-
lische Export, welcher um die Jahrhundertwende die
seltene Höhe von über 46 Millionen Pfund Sterling er-
reicht hatte, fiel 1803 plötzlich auf 311, Millionen Pfund
Sterling. Von der Aufrechterhaltung seines kom-
merziellen Übergewichts hing jedoch für England alles
ab; denn der Schwerpunkt seiner Finanzen ruhte, . seit-
dem infolge der Einstellung der Einlösbarkeit der Bank-
noten (Februar 1797) der Staatsbankerott faktisch ein-
getreten war, auf den Erträgnissen des auswärtigen
Handels. Die Erneuerung des Krieges bot den einzigen
Ausweg aus der verfahrenen Lage. „Wir müssen Krieg
haben,“ hieß es im Unterhaus, „denn nur der Krieg gibt
uns die Kolonien wieder, und nur diese setzen uns in den
Stand, den jährlichen ungeheueren Staatsaufwand und
die Zinsen unserer Schulden zu bestreiten. Sind wir nur
eine Stunde ehrlich, so sind wir für eine Ewigkeit ver-
loren!“
Der Krieg brach im Sommer 1803 von neuem los und
führte in schneller Aufeinanderfolge zur abermaligen Er-
oberung mehrerer französicher und holländischer Ko-
lonıen. Nach den Erfahrungen des letzten Krieges mußte
man auf eine Wiederholung der früheren Ereignisse ge-
faßt sein, nämlich auf eine starke Einwanderung bri-
tischen Kapitals, namentlich von Negersklaven, in
(Gebiete, von denen man nicht wissen konnte, ob sie nicht
bei einem späteren Friedensschluß wiederum abgetreten
34 Meereskunde.
werden und dann den britischen Handel in dieselbe
Krisis stürzen mußten wie 1802. Die Erlebnisse der
letzten Jahre hatten die Schädlichkeit des in die fremden
Kolonien geführten Sklavenhandels zu eindringlich ge-
predigt. Man war sich zu sicher bewußt, daß die Über-
fülluing des englischen Zuckermarktes in erster Linie
durch die eroberten Kolonien und indirekt durch den
Sklavenhandel verschuldet war. Die neuesten Eroberun-
gen brachten den Plan, wenigstens den in die nicht-
britischen Inseln eingeführten Sklavenhandel zu ver-
bieten, zur Reife.
Wesentlich erleichtert wurde der englischen Regie-
rung dieser Entschluß durch das Aufhören des dänischen
Sklavenhandels am ı. Januar 1803. Dänemark hatte
nämlich als der erste Staat durch das Königliche Edikt
vom 16. März 1792 seinem Sklavenhandel vom ır. Januar
1803 ab ein Ende gesetzt. Die zehnjährige Übergangs-
frist sollte nur dazu dienen, den dänischen Kolonien
St. Thomas, St. John und St. Croix Zeit zu lassensssieh
genügend mit Arbeitskräften zu versehen. Dieses Gesetz
hat, beiläufig bemerkt, der dänischen Plantagenwirtschaft
in Westindien keinen Abbruch tun können, da sie viel zu
unbedeutend, zu wenig entwicklungsfähig und für ihren
geringen Bedarf reichlich mit Negern versehen war. In-
folgedessen konnte die dänische Regierung den humanen
Forderungen frommer christlicher Gesellschaften, welche
von Kopenhagen aus die Abolition betrieben, unbesorgt
Gehör schenken. Nur die englischen Zwischenhändler
wurden geschädigt, welche die dänischen Freihäfen in
Westindien dazu mißbraucht hatten, einen ziemlich um-
fangreichen Schleichhandel zu den benachbarten franzö-
sischen und spanischen Kolonien zu führen. Etwa 6000
bis 8Sooo Neger sollen damals durch die Engländer hier
verkauft worden sein. Vielleicht hätte jedoch England
diesen Schlag nicht so ruhig hingenommen, wenn es sich
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. 35
nicht selbst kurz vorher, 1802, durch die mehrere Monate
dauernde Besitzergreifung der dänischen Inseln dieser
Absatzmöglichkeit beraubt hätte.
Gesetzgeberische Maßregeln in England.
Die geschilderten Verhältnisse hatten in England
jedenfalls den Glauben an die Nützlichkeit weiterer
Sklavenlieferungen an die fremden Kolonien gründlich
erschüttert und der Abolitionspartei, welche im Jahre
ı801 durch die Stimmen der mittlerweile in das Unter-
haus eingezogenen Iren verstärkt wurde, die Oberhand
gegeben. Schon im März 1798 wies die britische Re-
gierung ihre in Westindien kreuzenden Kriegsschiffe
an, keine Sklavenimporte nach Spanisch Amerika zu
dulden. Im Jahre 1802, noch vor dem Frieden von
Amiens, versprach der Premierminister Pitt, nachdem er
von dem Unterstaatssekretär Mr. Canning interpelliert
worden war, den Negerhandel in das eroberte, beim
Friedensschluß vielleicht wieder abzutretende Trinidad
zu beschränken. Am 15. August 1804 erging endlich die
Königliche Kabinettsordre, welche schlechthin den
Sklavenhandel in die während des Krieges eroberten Ko-
lonıen untersagte. Diese Maßregel hatte natürlich ebenso
wie die des Jahres 1802 ihren Ursprung in dem Kon-
kurrenzneid der älteren britischen Sklaveninseln. Man
fürchtete, daß bei der Freiheit des Negerhandels die neu-
eroberten Kolonien wegen ihrer größeren Fruchtbarkeit
billiger produzieren und die Produktion an sich reißen
könnten.
Damit war die Abschaffung des in die ausländischen
Gebietsteile geführten britischen Sklavenhandels besie-
gell denne in den von England. noch nicht "eroberten
Kolonien durfte sich wegen des Krieges seit Jahren kein
britisches Schiff sehen lassen.
36 Meereskunde.
Es erübrigt nur noch ein Wort über die unmittelbare
praktische Bedeutung dieses Verbots. Sie war recht gering.
In normalen friedlichen Zeiten wären allerdings ungefähr
2% des ganzen britischen Sklavenhandels davon betroffen
worden. Jetzt aber, nach einem elfjährigen Krieg, wurde
durch die Abolition kaum ein britischer Sklavenhändler
ernstlich geschädigt. Vor allem erledigte sich dadurch
die Entschädigungsfrage, die früher ein Haupthemmnis
für die Abolition gewesen war.
Die britischen Inseln durften den Handel noch
weiterführen; aber auch ihre Stunde hatte bald geschla-
gen. Der letzte Rest des ehemals so stolzen Sklaven-
handels fiel einem Interessenkonflikt zum Opfer, der
zwischen den Pflanzern der älteren britischen Zucker-
inseln und denen der eroberten Inseln zum Ausbruch
kam. Zu den älteren Besitzungen waren, wie erwähnt,
seit 1802 durch den Frieden von Amiens das ehemals
spanische Trinidad und 1804 die holländischen Guyana-
kolonien hinzugetreten. Laut Friedensvertrag gehörte
Trinidad mit denselben Rechten wie die älteren Besitzun-
een zu dem Verband der britischen Zuckerkolonien. Bei
der Übergabe waren nur über die innere Verwaltung und
Rechtsprechung gewisse Vereinbarungen getroffen wor-
den; die Sklaveneinfuhr war frei geblieben. Diese Frei-
heit stand in scharfem Gegensatz zu den Lebensinteressen
der übrigen britischen Pflanzer, denn Trinidad hätte unter
britischer Verwaltung und unter sonst gleichen Erwerbs-
bedingungen wegen seiner größeren Ertragsfähigkeit
binnen kurzem sämtliche älteren Kolonien im Konkur-
renzkampf geschlagen und ihrer ohnehin auf schwachen
Füßen ruhenden Plantagenwirtschaft den Rest gegeben.
Wegen seiner Fruchtbarkeit hätte es den Hauptstrom des
britischen Kapitalzuflusses und der Negerimporte an sich
gerissen. Dieselbe Gefahr drohte von seiten der blühen-
den, zukunftsreichen holländischen Guyanakolonien, die
Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806,07. 37
sich 1804 freiwillig unter britischen Schutz gestellt
hatten.
Im Jahre 1802 kam es deswegen im englischen Par-
lament zu Diskussionen. Der Unterstaatssekretär
Canning berechnete, daß zur Kultivierung Trinidads
gegen 250 000 Sklaven notwendig wären, und schilderte
die Gefahren, die mit der uneingeschränkten Einfuhr der-
selben verbunden wären. Eine Fülle von Vorschlägen
drängte sich jetzt hervor, um die Negerimporte auf irgend
eine Weise zu hintertreiben. Die Abolitionspartei ver-
langte Einfuhrverbote aus allgemeinen menschlichen
Gründen, die Vertreter der älteren Inseln forderten sie aus
Konkurrenzneid. Allgemein für unausführbar galt der
Vorschlag, die noch unbesiedelten Gebiete durch ‚freie‘
Neser bewirtsehaften zu” lassen. x -Die. Pflanzer der
älteren Inseln gingen noch weiter. Sie verlangten Auf-
rechterhaltung des Sklavenhandels für ıhre Inseln und
ein. Teilverbot für die neuen Kolonien, indem sie zu-
gaben, daß der Sklavenhandel für Trinidad unmoralısch,
sei, aber erklärten, für ihre Inseln wäre er durch jahr-
hundertalte Tradition gerechtfertigt.
Dieser Logik konnte sich die britische Regierung
unmöglich anbequemen, ohne sich dem Vorwurf der Un-
gerechtigkeit auszusetzen. Trinidad und Guyana waren
gleichberechtigte Glieder des britischen Kolonialreiches
in Westindien, und England mußte deshalb alles tun, um
die Sympathien seiner neuen Untertanen zu gewinnen,
umsomehr, als auf Trinidad starke Neigungen hervor-
traten, die Insel den Spaniern wieder in die Hände zu
spielen. Auch deshalb mußte England den Vorwurf der
Ungerechtigkeit zu vermeiden suchen, weil der winkende
Vorteil zu gering gewesen wäre im Vergleich zu dem
Nachteil, daß England dann das Recht verwirkt hätte,
sich bei künftigen internationalen Abolitionsverhandlun-
gen als Schützer der Moral und Humanität aufzuspielen.
38 Meereskunde.
Eine internationale Abolition hatte es aber von Anfang
an ins Auge gefaßt, wie die Verhandlungen Pitts mit
Frankreich, der Union und Portugal im Jahre 1806 und
1808 bezeugen. Überdies wäre es wegen der geographi-
schen Beschaffenheit des westindischen Archipels auch
technisch unmöglich gewesen, den Sklavenhandel auf der
einen Insel zu erlauben, auf der anderen zu verbieten.
Die Regierung zog daher zwischen den sich wider-
streitenden Interessen nur die mittlere Linie, indem sie
tabula rasa machte und den Sklavenhandel am 25. März
1807 gänzlich verbot. Auf diese Weise behielten die
Inseln älteren Datums immer noch einen erheblichen
Vorsprung vor den jüngeren; denn ihre Plantagen waren
mit Negern voll besetzt, letztere nicht. Die Konkurrenz
war also den schwach besiedelten neuen Kolonien we-
sentlich erschwert.
Die wichtigsten Gründe für die Abolition dürften
hiermit erschöpft sein. Es ergibt sich nur noch die Be-
merkung, daß es falsch ist, zu behaupten, England hätte
den Sklavenhandel hauptsächlich aus sittlichen Motiven
aufgegeben. Ebenso falsch wäre es, England als einen
der ersten Abolitionsstaaten zu bezeichnen. In Wirklich-
keit ist es einer der letzten gewesen. England hat seinen
Anteil am Menschenhandel erst aufgegeben, nachdem
die übrigen Länder den ıhrigen — sei es aus freiem Ent-
schluß wıe Dänemark, oder durch die Not des Krieges
wie Frankreich und Spanien — verloren hatten. Nur in-
dem Frankreich, Holland und Spanien versäumten, ihrer
tatsächlichen Abolition durch ein Gesetz die formelle Be-
stätigung zu geben, konnte der Schein entstehen, als sei
ihnen Groß-Britannien in edler Absicht zuvorgekommen.
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn
Berlin SW 68, Kochstraße 68—7r.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG FÜNFTES HEFT
Unterseeboots-Unfälle
unter besonderer Berücksichtigung des Unfalls auf „U 3“.
Von Fregattenkapitän Michelsen, Kiel.
or nicht allzulanger Zeit erschien in der amerika-
a
W/
a
FEIN tikel aus der Feder des amerikanischen Untersee-
nischen Wochenschrift „Harpers weekly‘“ ein Ar-
boots-Konstrukteurs Herrn Lawrence Spear, der sich zum
Teil wieder auf Ausführungen des englischen Captain Bacon,
weiland Chef des englischen U-Bootswesens stützt. Dieser
Aufsatz — überschrieben ‚The dangers of the submarine‘“,
also die Gefahren des Unterseebootes — findet sich auch
in dem Buche Domville-Fifes über die Unterseeboote
aller Staaten vor und gibt die Ansichten zweier fremd-
ländischer Autoritäten auf dem Gebiete des U-Boots-
wesens über dieses Thema wieder. Beide Sachverstän-
dige kommen im wesentlichen zu dem Schluß, daß ein
erößeres Maß an Gefahren als bei anderen Schiffsklassen
der Kriegsmarinen auf dem Gebiete des Unterseeboots-
wesens nicht vorhanden sei, da die vorgekommenen Un-
fälle mit der Wesensart des Unterseeboots nicht zu-
sammenhingen oder doch nicht untrennbar mit ıhr ver-
bunden seien. Sie teilen die Gefahren ein in eingebildete
und wirkliche und kommen zu dem weiteren Schluß, dab
die eingebildeten, die durch das Publikum in dieses Gebiet
gewissermaßen hineingetragen würden und geeignet
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 5. I
[88)
Meereskunde.
seien, der Entwicklung und dem Geist der neuen Waffe
zu schaden, zahlreicher seien als die wirklichen Gefahren.
Von diesen, so erklärt Herr Spear, bestehe tatsächlich
nur die des Wassereinbruchs, wenn man die Gefahr der
Gasbildung, die allen Schiffsklassen anhafte, beiseite
lasse. Die früher vorhandenen Gefahren unvollkommener
Einrichtungen seien völlig beseitigt und beständen in
Wirklichkeit nicht mehr.
Einen Teil dieser Ausführungen kann man ruhig
unterschreiben. Die meisten Gefahren bestehen tatsäch-
lich in der Phantasie des Laien, dem das Unterwasser-
Fahren immer noch als etwas Dramatisches, ja an sich
Gefährliches erscheinen will. Ein menschlich ganz erklär-
liches Gefühl, das aber bei Vertrautheit, ja meistens
schon bei der ersten Bekanntschaft mit der Sache völlig
verschwindet. Weniger treffend will mir die Behauptung
erscheinen, daß die Gasbildung und die aus ihr entsprin-
genden Gefahren nicht mit der Wesensart des U-Bootes
verbunden seien, und daß es Gefahren, die in den beson-
deren Einrichtungen des U-Bootes lägen, nicht mehr
gebe. Ich hoffe, daß Sie am Schlusse meines Vortrages
darüber, wie weit den genannten Autoritäten zuzu-
stimmen ist, selbst ein völlig klares Urteil haben werden.
Auch nach meiner Ansicht werden sich alle Untersee-
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U3“. 3
boots-Unfälle unter die drei ın dem-genannten Aufsatz
gegebenen Gesichtspunkte: Wassereinbruch, Gasgefahr
und Gefahren, die aus den Einrichtungen der Boote ent-
stehen können, einordnen lassen, eine Einteilung, die
nicht nur alle gewesenen, sondern auch alle heute noch
möglichen U-Boots-Unfälle in sich begreift.
Gleichwohl möchte ich diese Einteilung meinen
heutigen Ausführungen nicht zugrunde legen, weil sie
keinen Hinweis auf die Entstehungsart der Havarien ent-
hält: und das ist meines Erachtens das Wesentliche. Bei
allen Unfällen heißt es der Entstehungsart nachgehen, und
die hierbei erzielten Ermittlungen geben die besten Ge-
sichtspunkte für die Gruppierung des vorliegenden Ma-
terıals.
Ich möchte daher unterscheiden:
Unfälle seemännischer Natur und
Unfälle technischer Natur.
Um Irrtümer auszuschließen, betone ich ausdrück-
lich, daß die Unfälle hiermit nicht etwa nach der Schuld-
frage gruppiert werden sollen. Diese werde ich, wo sie
nicht klar zutage liegt, nicht erörtern. Vielmehr sollen
unter den Unfällen seemännischer Natur die verstanden
sein, deren Ursache in der Verwendung des ganzen
Bootes, unter denen technischer Natur die, deren Ursache
ın dem Versagen einzelner Einrichtungen und Apparate
— einerlei ob mit oder ohne Verschulden der Besatzung,
des Konstrukteurs oder der Bauausführung — zu suchen
sind. Bei jeder einzelnen Gruppe der Unfälle soll dann
untersucht werden, ob diese durch die Wesensart des
U-Bootes bedingt sind oder nicht.
Unfälle seemännischer Natur.
Die Unfälle seemännischer Natur gliedern sich
wieder in drei Gruppen: Kollisionen über Wasser, Kolli-
I 7
4 Meereskunde.
sionen unter Wasser und Vollaufen der Boote aus an-
deren Ursachen gelegentlich ihrer Verwendung.
Zusammenstoße+ruber Wasser "Ess
scheinen, als ob Zusammenstöße dieser Art von U-
Booten untereinander und mit anderen Fahrzeugen
recht eigentlich mit der Wesensart der U-Boote zu-
sammenhingen, denn die allgemeine Ansicht geht wohl
ııoch dahin, daß die U-Boote, weil, auch bei der Über-
Abb. 2. Englisches Unterwasserboot „H 3“.
wasser-Fahrt, nur wenig aus dem Wasser hervorsehend,
keinen genügenden Überblick bieten, um die Gefahr des
Zusammenstoßes rechtzeitig erkennen und ıhr begegnen
zu können. Diese Ansicht ist aber nur in geringem Maße
zutreffend; sie mag eine gewisse Geltung behalten für
reine Unterwasserboote, die niedrig im Wasser liegen, und
besonders für Unterwasser-Boote ohne Turm, von dessen
Decke aus navigiert werden könnte; für Tauchboote gilt
sie gewiß nicht. Ich möchte hier gleich einem recht ver-
breiteten Irrtum entgegentreten: Unterseeboote fahren
nämlich im allgemeinen nicht unter Wasser, sondern über
Wasser wie alle anderen Schiffsklassen. Sie tauchen nur,
wenn es ıhre Aufgaben erfordern. Zum Verständnis des
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf.,U 3“.
na
Gesagten muß ferner kurz der Unterschied zwischen
einem reinen Unterwasserboot und einem Tauchboot aus-
einandergesetzt werden.
Das reine Unterwasserboot (französisch sousmarin)
unterscheidet sich vom Tauchboot (französisch submer-
sible) dadurch, daß es alle Teile in seinem ım Querschnitt
zylindrischen Druckkörper
aufnimmt, während das
Tauchboot mehrere wesent-
liche Teile, so besonders die
Tauchtanks und die Brenn-
stofftanks an der Außenseite
des Druckkörpers trägt. Sie
sind zwischen diesem und
der Aubenhaut unterge-
bracht, und diese Außenhaut
N ne ei
ist zu schiffsähnlichen For-
men ausgestaltet. Hierdurch
ist auch derLaie in denStand
gesetzt, in jedem Einzelfalle
mit Sicherheit erkennen zu
können, ob es sich um ein
zeimes U Boot oder’ ein T-" "Abn. 3. Amerikanisches Unter-
Boot, um ein Unterwasser- wasserboot „Salmon‘.
boot im engern Sinne, oder
ein, Rauehboot. handelt. "Sehen Sie7z./'B. das’ Bild des
amerikanischen Unterseeboots „Salmon‘“ an (Abb. 3),
so werden Sie sofort erkennen, daß der kreisförmige
Druckkörper auch die Außenhaut des Bootes bildet,
daß dieses also ein reines Unterwasserboot ist. Ver-
gleichen Sie, bitte, hiermit das Bild des norwegischen
Unterseebootes „Kobben‘ (Abb. 4), so werden Sie an den
ganz schiffsähnlichen Formen ohne weiteres erkennen,
dab Sie es mit einem Tauchboot zu tun haben. Die grund-
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 5. 3
6 Meereskunde.
verschiedene Wesensart der beiden Fahrzeugstypen wird
nun natürlich besser als durch das äußere Aussehen durch
ihre völlig verschiedene innere Konstruktion und ihre ver-
schiedenen Eigenschaften charakterisiert. Die verfügbare
Zeit erlaubt es mir hier nur, auf die Unterschiede ein-
zugehen, die zum Verständnisse meiner Ausführungen
„ a iB >
“ auf Stapel.
dr
Abb. 4.
Norwegisches Tauchboot ‚„Kobben
Aus „Überall“, XII. Jhrg., 5. Heft.
nötig sind, und das ist in diesem Zusammenhange der
geringere Freibord, die geringere Austauchung und das
geringere Ausblasevermögen, das den Unterwasserbooten
vor den Tauchbooten eigen ist und sein muß. Denn die
Größe der Tauchtanks, die man innerhalb des Druck-
körpers unterbringen kann, ist natürlich gering gegenüber
denen, die sich außen anbringen lassen, d. h. also, das
Tauchboot kann viel mehr Ballast einnehmen und aus-
blasen als das reine Unterwasserboot, es liegt also auch
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf ,„U3“. 7
im aufgetauchten Zustand wesentlich höher aus dem
Wasser als dieses.
In beiden Eigenschaften liegen starke Garantien für
die größere Sicherheit des T-Bootes. Versieht man ein
solches T-Boot noch mit einem Turm, der auch bei
schlechterem Wetter der Führung gestattet, an Deck zu
bleiben, so ist in der Tat nicht
einzusehen, warum die Kolli-
sionsgefahr bei der Über-
wasser-Fahrt auf U-Booten
größer sein soll als auf an-
dernSchiffstypen. Aber auch
aufUUnterwasserbooten kann,
wenn sie in dieser Hinsicht
richtig konstruiert sind, von
Gefahren, die aus einer man-
gelnden Übersicht hervor-
sehen, bei der Überwasser-
fahrt eigentlich nicht die
Rede sein. Betrachten wir
z. B. die Brücke, d. h. den
Aufstellungsort der Schiffs-
leitung auf dem Unterwasser-
boot „Salmon‘ (Abb. 5), so
sehen wir, daß die Höhe Abb.5. Brücke des „Salmon“.
dieses Ortes über Wasser Das Boot ist gerade auf längerer Über-
ganz bedeutend ist. Noch ee
erheblich "srößer ist’ die
her das Sonnensegel über der Brücke,
Augeshöhe auf unseren U-Booten — diese sind sämtlich
Tauchboote, wie das hier im Museum für Meereskunde
aufgestellte Mittelstück eines Germania-lauchbootes in
natürlicher Größe recht deutlich erkennen läßt.
Müssen wir es also von der Hand weisen, daß richtig
konstruierte U-Boote für Überwasser-Kollisionen sozu-
4%
83 Meereskunde.
sagen prädestiniert seien, so kommen wir bei
näherer Betrachtung der Frage sogar zu der
Ansicht, daß sie sich in solchen Situationen
ihren Geenern, d. h. den anderen Sehlue
typen gegenüber in einer geradezu gesicherten
Lage befinden. Diese können ihnen verhält-
nismäßig wenig anhaben, weil die Druck-
körper der U-Boote ungeheuer stark gebaut
sein müssen — sie müssen nämlich auf
30 bis 60 m Wassertiefe
| }
druckfest sein —, während
ohne schwere Folgen für die U-Boote,
die U-Boote selbst infolge
dieser Bauart sehr gefähr-
liche Gegner für jeden
anderen Schiffstyp bei
einer Überwasser-Kolli-
sion sind. Gegen den
Rammstoß eines anderen
Schiffes sind in besonders
hohem Maße die Tauch-
boote geschützt, weil bei
ihnen der Gegner erst die
Außenhaut durchdringen
muß, ehe er überhaupt an
den starken Druckkörper
herankommt (Abb. 6). So
sehen wir denn auch,
daß die Überwasser-Kolli-
Ein Tauchboot im Längsschnitt und Querschnitt.
Abb. 6.
sionen im allgemeinen
meistens aber zum erheblichen Nachteil des
Gegners verlaufen. Aus der umfangreichen
Statistik sind mir folgende Fälle zur Kennt-
nis gekommen:
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U3“. 9
I. der französische „Narwhal‘ gegen einen Schlep-
per 1903; der Schlepper sank;
Br dassenslische „As, mit. dem Dampter „Brince ‘or
Wales 7.1903 #dieser mußte au "den "StrandY gesetzt
werden;
Se der trauzesische „ Kriton“ mit.der „Silure> 190%,
also zwei U-Boote untereinander; beide wurden nur un-
erheblich beschädigt;
4. die französische „Cigogne‘“ mit einer Segelbrigg
1909; die Brigg erhielt ein schweres Leck, das U-Boot
hatte nur geringe Beschädigungen;
5..die amerikanische -,Bonita® mit dem "Tender
R@astıne 1910; ,‚Castine müßte schleunigst auf Strand
gesetzt werden;
6. der französische „Monge‘“ gegen einen Schlepper
1910 das, Bootziuhr 22m tier in den Schlepper hinein,
nahm ihn auf die Nase und setzte ıhn auf den Strand; es
blieb dabei ganz unbeschädigt;
7. der französische „Germinal” gegen einen Hoch-
seefischer 1910; er schnitt ıhn glatt durch, blieb selbst
völlig heil;
8. der französische „Francais“ gegen ein Torpedo-
boot im Januar 1911; dieses wurde nur mit Mühe ins
Dock gebracht; das U-Boot blieb ganz unbeschädigt.
Nicht hineinstimmen will in dieses günstige Bild der
beklagenswerte Unfall des englischen U-Bootes „C Ir“,
das am 14. Juli 1909 vor der Humber-Mündung von dem
Dampfer ‚„Eddystone“ überlaufen und zum Sinken ge-
bracht wurde, wobei ı3 Mann ums Leben kamen. Hiermit
kommen wir zu der einzigen, aber nicht unbeträchtlichen
Gefahr, die für die U-Boote bei Überwasser-Kollisionen
vorliegen kann. Es ist nämlich möglich, daß der Gegen-
segler, besonders wenn er einen nach hinten sich abrun-
denden Bug hat, wie das bei Handelsschiffen in der Regel
Io Meereskunde.
der Fall ist, sich bei der Kollision auf den kreisförmigen
Druckkörper hinaufschiebt und das U-Boot unter Wasser
drückt. Sind dann die Luken offen, wie das bei „C ı1“ der
Fall war, so stürzt durch diese Wasser in das Boot und
kann das Boot zum Sinken bringen. Diese Gefahr besteht
wieder in höherem Maße bei Unterwasser-Booten, die
nur verhältnismäßig geringen Auftrieb haben, und bei
denen der kreisförmige Druckkörper offen zutage liegt.
Für T-Boote, die höher aus dem Wasser liegen, in der
Überwasser-Fahrt vermöge ihres größeren Auftriebs auch
einen entsprechend größeren Wassereinbruch vertragen
können, und bei denen außerdem der Außenkörper dieses
Heraufschieben des anderen Schiffes erschwert, ist die
Gefahr nicht so groß. Den Beweis dafür liefert der Zu-
sammenstoß des deutschen U-Bootes „U 4° mit dem
Dampfer „Capella“ im Februar vorigen Jahres, der sich
unter genau denselben Bedingungen wie der „C ı1“-Fall
ereignete. Der Zusammenstoß war ein überaus heftiger,
da beide Fahrzeuge äußerste Kraft liefen. Der Dampfer
durchschnitt den Außenkörper des Bootes, schob sich
etwa bis zur Schiffsmitte auf das U-Boot herauf und
drückte es unter Wasser, so daß ein starker Wasserein-
bruch durch das offene Vorluk erfolgte. Dank seiner
großen Schwimmfähigkeit kam jedoch das Tauchboot,
sobald die Schiffe voneinander freı waren, hoch, und der
ganze, allerdings ziffernmäßig nicht unbedeutende Scha-
den bestand, abgesehen von der gerissenen Außenhaut, in
der Zerstörung oder Beschädigung einer Reihe von
Akkumulatoren-Zellen durch das eingedrungene See-
wasser. In die Gruppe der Überwasser-Kollisionen ge-
hört eigentlich auch der Untergang des russischen U-
Bootes „Kambala“ im Sommer 1909, das vom Spitzen-
schiff der Schwarze Meer-Flotte überlaufen wurde. Der
in seinen Folgen sehr beklagenswerte Unfall — die ganze
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, ,U 3“. 1 I
Besatzung mit Ausnahme des Kommandanten kam um —
gibt aber für die sachliche Betrachtung gar kein Material,
da er durch eine sich als schwere Fahrlässigkeit charak-
terisierende falsche Handhabung des Bootes herbei-
geführt wurde. Mit der Wesensart der U-Boote hat er
gar nichts zu tun.
Die Unterwasser-Kollisionen. — Wir
wenden uns jetzt zu den Unterwasser-Kollisionen.
boot „A 12“.
m.
Englisches Unterwasser
Abb. 7.
Diese sind im Gegensatz zu den Überwasser-Kollisionen
Sanz entschieden mit der Wesensart des Untersee-
bootes verbunden. Denn es liegt in der Natur der
Sache, daß dann der Gegensegler vom U-Boot gar nichts
sieht, während in dieser Lage das Sehvermögen des
U-Bootes beschränkt oder gar aufgehoben ist; beschränkt,
wenn es die Sehrohre (die Ihnen bisher wahrscheinlich
unter dem Fremdwort Periskope vertrauter sind) dauernd
zeigt, aufgehoben, wenn es aus irgendwelchen Gründen,
z. B. Manöverrücksichten, diese nicht oder doch nur von
Dei zusZeiten zeigen kann, (sr Abb: 8). Hiermit soll
12 Meereskunde.
nichts gegen die Sehrohre gesagt werden, die besonders
in unserer Marine mit einer ganz vorzüglichen Optik ver-
sehen sind und sehr gute Sehweiten erreichen, es liegt
aber in der Natur der Sache, daß das Sehvermögen durch
ein Sehrohr nicht so gut sein kann wie das von hohem
Standpunkt aus bei freiem Rundblick und direktem Sehen.
Allerdings kommt auch bei der Unterwasser-Kollision dem
U-Boot seine feste Bauart, dem Tauchboot noch dazu
seine doppelte Haut zugute, deren Zwischenraum jetzt,
da er nicht mehr leer, sondern mit Wasser oder Öl
Abb. 8. Deutsches Tauchboot in Unterwasserfahrt gegen die See.
(Aufnahme aus etwa 30m Abstand querab.)
gefüllt ıst, als. Puffer. dient. - Aber ies ist Klargsdan
der feindliche Stoß das Boot jetzt nicht nur in hal-
ber Höhe oder in den unteren Teilen, sondern auch
oben treiten kann, je’mach ‘der Tiere, insrdersserch
das Boot gerade befindet. Werden die Aufbauten
oder das Oberdeck des Bootes getroffen und erheblich
verletzt, gerät das Boot also unter das andere Schiff, so
ist eine Katastrophe meistens unvermeidlich. Um das zu
verstehen, müssen wir uns mit dem Vorgang des
TFauchens kurz bekannt machen.
Nachdem alle Luken und Außenbords-\Verschlüsse
geschlossen sind, läßt man zunächst die äußeren Tanks,
die Tauchtanks, vollaufen. Das geschieht durch Öffnen
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf ,U 3“. ı
(9%)
der Flutventile und -schieber dieser Tanks vom inneren
Boot aus und durch Entlüftung dieser Tanks (vgl.
Abb. 6). Das kann bei den meisten Nationen in etwa
4 Minuten geschehen sein; bei reinen Unterwasser-
booten, die nur wenige innere Tanks zu füllen haben,
geht das Fluten noch schneller. Bei T'auchbooten, und
auf diese als die nach unserer Ansicht allein modernen
Boote wollen wir uns von jetzt an beschränken, ist mit
Abb. 9. Deutsches Tauchboot, tauchbereit in Ruhelage.
dem Füllen der äußeren Tanks nur die grobe Klutarbeit
geschehen. Das Boot hat nun noch mehrere Tonnen Auf-
trieb, der noch bis auf einen geringen Rest, den Restauf-
trieb (etwa ı t) vernichtet werden muß, damit das Boot
tauchbereit ist. Dazu werden nun weitere druckfeste
Innentanks gefüllt, bis der gewünschte Restauftrieb vor-
handen ist; dann wird das Boot durch Trimmen, d. h.
durch Bewegen von Wasserballast von vorn nach achtern
oder umgekehrt auf ebenen Kiel gelegt. Jetzt ist das Boot,
von dem nur der Oberteil des Turms aus dem Wasser
sieht, tauchbereit (vgl. Abb. 9). Betrachten wir uns
Meereskunde, Vorträge. V. Heft. 3
I4 Meereskunde.
den Zustand des Bootes näher, so finden wir einmal, dab
es zwar noch schwimmt, aber nur mit dem geringen Auf-
trieb von ı t. Dringt also mehr als ı t Wasser ins Boot,
so versinkt dieses, wenn es ihm nicht gelingt, das Wasser
sofort wieder zu entfernen. Jeder wird einsehen, dab
hierin ein Gefahrmoment liegt. Ein zweites liegt aber in
dem empfindlichen Gleichgewichtszustand des Bootes,
seiner überaus geringen Längsstabilität. Diese — hervor-
gerufen durch die fast völlige Eintauchung des Bootes,
Abb. 10, Deutsches Tauchboot, Umsch
fe
au haltend.
also den Verlust jeglicher Formstabilität — erlaubt es
dem Boot ja zwar in Verbindung mit dem minimalen Auf-
trieb, jeder Bewegung der Tiefenruder prompt und auf der
Stelle zu folgen, aber sie — die geringe Längsstabilität —
ist auch gefährlich, da ein Wassereinbruch vorn oder
achtern sofort die Gleichgewichtslage des Bootes stört
und bestrebt ist, das Boot auf und nieder zu stellen. Das
wird auch geschehen, wenn es nicht durch die zu geringe
Wassertiefe oder durch sofortiges Entfernen des einge-
drungenen Wassers daran verhindert wird. In dieser ge-
fährlichen Lage z. B. befand sich gerade „U 3“, als der
Wassereinbruch, der unbemerkt eine Größe von etwa 20t
annahm, erfolgte, und in dieser kritischen Lage befindet
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, „U 3“. ı 5
sich jedes U-Boot während der Unterwasser-Fahrt.
Wassereinbrüche sind dann höchst gefährlich, besonders
wenn sie an den Schiffsenden und wenn sie von oben her
erfolgen. Nur ein momentanes Auftauchen, das die Ein-
bruchstelle über Wasser bringt, und ein sofortiges Lenzen
mittels kräftiger, sofort wirkender Mittel kann ım Verein
mit dem Schlippen der Sicherheitsgewichte — wo diese
vorhanden sind — in diesem Falle vielleicht helfen. Sehen
Abb. ı1. Englisches Unterwasserboot „B 4“.
wir uns die vorgekommenen Unfälle dieser Art an, so
werden wir feststellen können, daß alle die Fälle, bei
denen infolge von Kollision einbedeutender Wasser-
einbruch unter Wasser erfolgte, bisher zur Katastrophe
geführt haben; kamen die Boote heil davon, so hat sie
ihre überaus feste Konstruktion eben vor der drohenden
Gefahr des größeren Wassereinbruchs bewahrt. Die
bekannten Fälle sind folgende:
Diesiranzesische , Bonite mitzdenm Panzerschitt
„Süulisen 1906; „Sullten‘ erhielt ein l\eck, „Bonite “blieb
dicht und kam hoch.
‘
16 Meereskunde.
2. Dieselbe ,Bonite” mit ,Sotileur , alsoszye
U-Boote untereinander. ‚Souffleur“ blieb dicht, auf
„Bonite‘ wurde zwar ein Luk undicht, aber in nur ganz
geringem Maße. Beide Boote kamen hoch.
3. Das englische ‚A 8% mit Dampier ‚‚Coath 71007
„A 8° wurde leck, kam aber, angeblich durch Schlippen
der Sicherheitsgewichte, die inzwischen ın England auf-
gegeben zu sein scheinen, hoch. Stimmt die Darstellung,
so ıst das Leck nur unbedeutend gewesen, da nicht mehr
Wasser eindrang, bis das Boot die Wasseroberfläche er-
reichte, als das Gewicht der Sicherheitsgewichte (meist
ı bis 2% des Deplacements) betrug.
4. Das englische „A I“ mit dem Dampfer „‚Berwick-
Castle‘ beim Nab-Feuerschiff 1904. Das Boot wollte einen
englischen Kreuzer angreifen und fuhr dazu völlig ge-
taucht — ohne die Sehrohre zu zeigen —; der Komman-
dant hatte anscheinend übersehen, daß ein rückwärts von
ihm stehender, also zunächst ungefährlicher Dampfer
— die „Berwick-Castle‘ — nach dem Passieren des
KFeuerschiffes Kurs ändern und ıhm in den Weg laufen
könne. Der Dampfer änderte aber beim Feuerschiff seinen
Kurs, kreuzte den des Bootes und traf es am Turm; das
l.eck war nicht sehr bedeutend, aber das U-Boot konnte,
weil es unter den Dampfer geriet, nicht sofort auftauchen,
was aus den vorher genannten Gründen Bedingung für
seine Rettung war. Außerdem muß man annehmen, dab
der Kommandant im Turm durch die Kollision verwundet
oder betäubt war und die Leute von ihren Posten weg-
geschleudert waren. Das Boot kam also nicht hoch, die
ganze Besatzung kam um. Als Konstruktionsfehler — in
heutigem Sinne — ergab sich das Fehlen eines wasser-
dichten Abschlusses zwischen Turm und Druckkörper.
5. Nicht weniger schmerzlich und noch frischer in
der Erinnerung ist der Untergang der ‚„Pluviöse‘‘ 19Io in-
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U3“. 17
folge Unterwasser-Kollision mit dem Dampfer „Pas de
Calais‘‘, wobei ebenfalls die ganze Besatzung umkam.
Der Vorfall ist für uns nicht ganz aufgeklärt, besonders
ist nicht klar, warum der Kommandant vor der Hafen-
einfahrt eine Tauchfahrt machte, ohne sein Sehrohr zu
benutzen. Das ist natürlich nicht ratsam und heute in
den meisten Marinen — allerdıngs wahrscheinlich erst
Bonn 02 EN EZ
Pe
in i IECEI Ba ine
Abb. ı2. Französisches Tauchboot ‚Pluviöse‘“.
auf Grund schmerzlicher Erfahrungen — verboten. Jeden-
falls wurde das Boot von dem Dampfer überlaufen und
erhielt ein schweres Leck oben im Achterschiff. Es sank
sofort mit dem Heck auf den Grund, der Bug war noch
einige Zeit sichtbar, verschwand dann aber auch, nach-
dem die noch im Boot befindliche Luft durch das Vorluk
entwichen war. Dieses wurde halb offen vorgefunden; die
Besatzung hatte offenbar, von dem Qualm der Brände,
den die kurzgeschlossenen Akkumulatoren verursachten,
gezwungen, versucht, durch das Luk zu entkommen, war
18 Meereskunde.
aber durch das von achtern nachdringende Wasser er-
trankt worden.
6. Die mehrerwähnte französische „Bonite“ mit der
„Alose‘“, also wıeder zwei U-Boote untereinander, Ok-
tober 1910. Beide Boote liefen infolge eines Mißverständ-
nisses gleichzeitig, aber aus verschiedenen Stellungen
zum Torpedoschuß an. Sie faßten sich recht heftig, er-
litten aber nur geringe Beschädigungen und kamen beide
glatt an die Oberfläche.
Ich denke, daß diese Statistik unser anfängliches
Urteil im wesentlichen bestätigt; denn wenn auch einzelne
der genannten Unterwasser-Kollisionen vermeidbar er-
scheinen, so wird man doch zugeben müssen, daß die
Mehrzahl durch die Eigenart des U-Bootsdienstes verur-
sacht wurde.
Das-Vollautfen von U-Bootenr ats
deren’UÜrsachen selegentbich” ih rerzyce
wendung. — In den Jahren, als sich die U-Bootswaffe
in ihren Anfangsstadien befand, sind eine ganze Reihe von
Unfällen dieser Art infolge falscher Handhabung und Be-
dienung vorgekommen, die wir unter die Unfälle see-
männischer Natur rechnen wollen, die man aber auch, da
sie zum großen Teil auf mangelhaftes \Vertrautsein des
Personals mit der U-Bootstechnik oder auf Mängel
dieser Technik selbst zurückzuführen sind, ebenso gut
unter die Unfälle technischer Natur rechnen könnte.
Ich möchte die weiter zurückliegenden dieser Unfälle
hier übergehen, es ist aber doch gut, sich die Tat-
sache, daß solche Unfälle in erheblicher Zahl früher
bei den anderen Nationen vorgekommen sind, zu ver-
gegenwärtigen; denn in mancher Hinsicht befinden
wir uns jetzt in dem entsprechenden Stadium der
Entwicklung. Da müssen die ım Ausland gemachten
Erfahrungen natürlich dazu dienen, uns gewitzt und
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf „U 3“. 19
vorsichtig zu machen, sie sollen aber auch unser
Selbstgefühl stärken, wenn uns einmal etwas Ähnliches
passiert. Denn mit Erfahrungen ist es eine eigene
Sache; wenn man sagt: Erfahrung macht klug, so meint
man damit mit Recht besonders die am eigenen Leibe
gemachten, nicht die Erfahrungen anderer. \on den
größeren Havarien dieser Art, also Wassereinbrüchen,
Abb. ı3. Deutsches Tauchboot nach der Unterwasserfahrt.
Die Ventilationsmasten werden wieder aufgerichtet.
die in der Hauptsache auf falsche Verwendung zurück-
zuführen sind, müssen erwähnt werden:
ı. Der Untergang des russischen U-Bootes „Del-
phin“ in Petersburg 04, wo bei einer Tauchübung am Kai
22 Mann ertranken. Um den Mannschaften das Tauchen
vorzumachen, wurden immer 33 Mann in das U-Boot
hineingesteckt, dann wurde das Boot geflutet und ver-
senkt, dann wurde aufgetaucht, neue 33 Mann wurden
eingeschifft usw. Um die langweilige Übung aber etwas
abzukürzen, wurde immer schon geflutet, während die
Leute beim Einsteigen waren. Nun, einmal wurde etwas
zu schnell geflutet, das Boot versank schon, als der letzte
20 Meereskunde.
Mann noch im Luk war; dieser wurde zwischen Luk-
deckel und Luksüll festgeklemmt, das Boot lief durch das
halb offene Luk voll und 22 Menschen kamen um.
Es bedarf kaum der Erwähnung, daß dieser Unfall
mit der Wesensart des U-Bootes gar nichts zu tun hat,
sondern lediglich auf Fahrlässigkeit, die nur durch die
damals noch minimale Erfahrung etwas gemildert er-
scheint, zurückzuführen ist.
Abb. 14. Englisches Unterwasserboot ‚,C 22‘.
2. Das englische U-Boot „A 8° ging\ım jahre
1905 mit offenen Luken fahrend dadurch unter, daß der
Kommandant bei halbgetlutetem Zustand des Bootes das
Vertikal-Ruder hart legte. Das Boot legte sich stark
über, das innere Horızontalruder -tauchte 2195
Wasser, wirkte natürlich auf Tauchen, und das mit nur
geringem Auftrieb versehene U-Boot tauchte sozusagen
mit offenen Luken. Der Kommandant wurde, noch ehe
er die Ruder den anderen Weg legen lassen konnte, weg-
gespült, das Boot ging mit 15 Personen unter, die sämt-
lich umkamen. In erster Linie liegt hier falsche Hand-
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf,, U 3“. 21
habung vor, da in dem stark gefluteten Zustand des
Bootes die Luken ohne Zweifel hätten geschlossen sein
müssen; aber in diesem Falle steht der Mangel an Er-
fahrung — und zwar in erheblichem Maße — dem Kom-
mandanten zur Seite.
3. Der bekannteste Fall aus dieser Gruppe ist wohl
der Untergang des französischen „Farfadet beı Bizerta
1905 mit seiner ganzen Besatzung, der dadurch erfolgte,
daß man versuchte, in geflutetem Zustand des Bootes
einen nicht ganz dicht schließenden Lukdeckel nochmals
zu lüften und dann völlig zu schließen. Da sich das Boot
schon ın Fahrt befand, faßte der Fahrtstrom den nach
achtern schlagenden Deckel, rıb ıhn völlıg auf, das Boot
lief zum Teil voll Wasser und versackte. Zwar schloß
sich nun der Lukdeckel durch den Wasserdruck wieder,
es war aber mehr Wasser eingedrungen, als durch Aus-
blasen entfernt werden konnte, das Boot blieb also auf
dem Grunde liegen, und die Besatzung erstickte. Es ist
klar, daß auch dieser Unfall mit der Wesensart des
U-Bootes nicht unbedingt zusammenhängt; denn erstens
war das nochmalige Öffnen des Luks unter den vorliegen-
den Umständen offenbar ein Bedienungsfehler, zweitens
war das nach hinten schlagende Luk natürlich ein Kon-
struktionsfehler, der aber damals erst als solcher erkannt
wurde.
Der „Rartadet Ball’ hat) übrigens viel> von” sich
reden gemacht, weil er ein Musterfall für die Notwendig-
keit eines Bergungsschiffes war und ist. Das Boot, dessen
Insassen nachweislich noch über zwei Tage gelebt haben,
lag in tiefem Wasser auf dem Grunde. Ein Schiff wie der
„Vulkan“ oder eigens zu diesem Zweck gebaute Hebe-
kräne hätten es unter günstigen Umständen in
— schätzungsweise — sechs Stunden ans Tageslicht
befördert, damals gelang die mit primitiven Mitteln be-
Meereskunde.
[667
185)
triebene Bergung erst am dritten Tage, als die Mann-
schaft von ihren Leiden erlöst war. Aber auch sie ist
nicht umsonst gestorben, da ıhr tragisches Geschick das
U-Boots-Bergungswesen mächtig gefördert, ja es eigent-
lich ins Leben gerufen hat.
Unser Urteil über die Unfälle, wie sie soeben ge
schildert sind, können wir dahin zusammenfassen, daß sie
damals, als sie entstanden, mit der Wesensart des Unter-
Aus „Überall“, XII. Jhrg., 5. Heft.
seebootes — unvollkommen und von wenig erfahrenen
Menschen gehandhabt, wie es damals war — wohl in
gewissem Zusammenhang standen, aber nur ın geringem
Maße. Für die Jetztzeit ist das aber überhaupt. nicht
mehr zutreffend. Sie scheiden also aus der Reihe der-
jenigen Fälle, die mit der Wesensart des U-Bootsdienstes
heute verbunden sind, aus.
Unfälle technischer Natur.
\Vır kommen nun zu den Unfällen technischer Natur;
wie schon gesagt, verstehen wir darunter Unglücks-
fälle, die dem Versagen einzelner Einrichtungen oder
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U3“. 23
eines Apparates zuzuschreiben sind, wobei wir einen
grundsätzlichen Unterschied zwischen Bedienungs-, Kon-
struktions- und Bauausführungsfehlern weder machen
wollen noch dürfen. Die Besatzung der U-Boote, die
Konstrukteure, die Bauleiter und ihre Unterorgane, sie
sind alle Menschen und, sich gelegentlich zu irren, ist
ein allen Menschen gemeinsamer Fehler, aber auch ein
allen gemeinsames Recht. Ein Recht zum Irren besteht
Abb. 16. Englisches Unterwasserboot „D 1“.
natürlich nur, wenn man neuen, noch unerprobten oder
nicht genügend erprobten Dingen gegenüber steht. Nun
wohl, zugegeben, daß die Apparate und Einrichtungen
neu waren, die seinerzeit die Unfälle verursachten, von
denen wir nachher hören werden, gibt es heute keine
neuen Sachen mehr auf U-Booten? Ich meine doch, auch
hier oder gerade hier heißt es: semperaliquid novi. So
sicher, wie man nicht berechtigt ist zu sagen, daß die
Konstruktion der U-Boote abgeschlossen sei, so sicher ist
es, daß der Unfall technischer Natur noch nicht ver-
schwunden sein kann. Auch indiesem Punkte möchte
ich mich in einen Gegensatz zu den eingangs erwähnten
Autoren stellen, obwohl ich ihrer Erfahrung gewiß nicht
24 Meereskunde.
gewachsen bin. Ich meine, eine Waffe, ein Schiffstyp,
der, wie die U-Boote, in rapider Entwicklung begriffen
ist, bei dem kaum ein Boot dem andern gleicht, weil jeder
Neubau wieder neue Einrichtungen und Erfindungen ver-
körpert, birgt auch heute noch die Möglichkeit, ja
auf die Dauer die Gewißheit technischer Unfälle in
sich. Daß das richtig ist, wird auch die folgende Betrach-
tung lehren.
Zu den technischen Unfällen rechnet in erster Linie
die Gruppe der Explosionen, die wieder einzuteilen ist in
Ölexplosionen und Knallgas-Explosionen.
Die Ölexplosionen. — Die Ölexplosionen
sind sehr häufig gewesen und kommen trotz aller
Gegenmaßregeln auch heute noch vor, wo leichte
Öle (Benzin, Benzol, Gasolin) zum Betriebe der Mo-
toren verwendet werden. Dieses geschah und ge-
schieht noch wegen der höheren Leistung, die diese
Motoren im Vergleich zu den Schwerölmotoren haben,
und weil man die einmal für leichte Öle konstruierten
Motoren nicht einfach für Schweröl, d. h. Petroleum oder
auch Rohöl oder Treiböl, umändern kann; es kann aber
nur unter Aufgabe der Betriebssicherheit geschehen.
Auch die bekannten weißen Mäuse und patentierte Appa-
rate, die das Vorhandensein explosibler Gemische an-
zeigen sollen, können da nicht immer helfen. Denn geringe
Leckagen der Rohrleitungen usw. sind unvermeidlich und
bilden eine stete Gefahr, die oft nicht mehr abzuwenden
ist, wenn sie bemerkt wird. Die genannten leichten Öle
vergasen nämlich an der Luft schon bei niedrigen, im
U-Boot immer vorhandenen Temperaturen in dem
Maße, daß sie mit der Luft ein explosibles Gemisch bilden,
das z. B. durch einen elektrischen Funken zur Explosion
gebracht werden kann. Und der elektrische Funke wird
auf U-Booten bei der Fülle der elektrisch betriebenen
Apparate wohl selten fehlen! Z. B. Benzol! Ein Luft-
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, ,U3“. 2
nn
und Benzol-Gemisch muß 2,6—6,5 Volumprozent Benzol
enthalten, um explosibel zu sein, die Luft nımmt aber
bei 0° schon 3,4 Volumprozent Benzol auf, also ist bereits
bei 0° die Explosionsgefahr da, gar nicht zu reden von
höheren Temperaturen. Diese große Gefahr, die der
Leichtölmotor ın das U-Boot hineinträgt, ist es in erster
Linie gewesen, die uns, d. h. also das Reichs-Marine-Amt,
verhindert hat, früher an den U-Bootsbau heranzugehen.
Damals gab es keinen brauchbaren Schweröl-Motor für
Schiffszwecke; er war auch nirgendswo zu bekommen;
und erst der bekannten Firma Körting ın Körtingsdorf
bei Hannover gelang die Konstruktion. Dank dem um-
sichtigen Vorgehen des Reichs-Marine-Amts ist denn
auch unsere Marine von Ölexplosionen völlig verschont
geblieben. Die schwersten Unfälle dieser Art in den an-
dern Marinen sind folgende:
san demzengelischenz, A. (1905),2,Offiziere und
4 Mann wurden getötet, 9 Mann verletzt;
2m Brühjahr‘ 1909 aut der> italienischen ‚Foca”
26 Meereskunde.
in Neapel. Beim Übernehmen des Benzols hatte sich das
explosible Gemisch infolge von Leckagen zwischen dem
Druckkörper und dem Oberdeck angesammelt und wurde
hier, wahrscheinlich durch eine fortgeworfene Zigarette,
entzündet. Das Oberdeck wurde durch die Explosion ab-
gesprengt; 13 Personen wurden getötet, 7 schwer ver-
wundet;
3. Im Sommer I909 auf einem russischen U-Boot
beim Probieren der Motoren; ı Toter, 13 Verletzte;
4. Juni 1909 auf dem englischen ‚„C 26“, also einem
neuern Boot; 3 Schwerverletzte;
5. noch kürzlich, nämlich im August 1910, auf dem
englischen „A ı“, wobei 2 Offiziere und 5 Mann schwer
verletzt wurden.
Zahlreiche weitere Fälle geringen Umfangs mögen
unerwähnt bleiben.
Die Kmallgasexplosionen — Weit wente
ger verhängnisvoll, aber immerhin gefährlich waren und
sind die Knallgas-Explosionen, die besonders beim Laden
der Akkumulatoren vorkommen können, indem die sich
dabei bildenden Gase, ım besonderen der Wasserstoff
nicht völlig aufgenommen wird, sondern mit dem Sauer-
stoff der Luft Knallgas bildet. Geschieht das, so ist Ge-
fahr vorhanden — denn der zur Entzündung nötige elek-
trische Funke fehlt, wie gesagt, auf einem U-Boot nie —,
falls das explosible Gas nicht durch Ventilation sofort be-
seitigt wird. Natürlich haben alle modernen Akkumula-
torenanlagen der U-Boote eine besondere Ventilationsan-
lage, die die Gefahr beseitigen soll; aber auch diese Anla-
gen hatten und haben stellenweise ihre Unvollkommen-
heiten, sie können auch einmal versagen oder nicht rich-
tig bedient werden. Tatsache ist jedenfalls, daß bis ın
die letzte Zeit solche Explosionen vorgekommen sind,
durch die zwar Verletzungen von Personen nur in weni-
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf.,U3“. 27
gen Fällen verschuldet wurden, die aber zum Teil ganz
erhebliche Materialschäden verursacht haben.
Der Vollständigkeit halber seien hier auch die be-
kannten Chlorknallgas-Explosionen erwähnt, die sich auf
gesunkenen und wieder gehobenen U-Booten ereig-
net haben. Chlorknallgas bildet sich bisweilen in ge-
sunkenen U-Booten, wenn die unter Strom stehenden
Elemente mit Seewasser in Berührung kommen. Dieses
Gas ist außerordentlich gefährlih, da es schon ım
Sonnenlicht explosibel ist; diese Explosionen können aber
als gewissermaßen sekundärer Natur aus der Betrachtung
ausscheiden, da uns hier die Gefahren des Betriebes auf
dem fahrenden, noch intakten Boot interessieren.
Im ganzen läßt sich das Urteil über die Explosionen
doch wohl nur dahin zusammenfassen, dab sie mit der
Wesensart der U-Boote eng verbunden sınd; ich möchte
auch die Ölexplosionen hierbei nicht ausnehmen, denn der
Leichtölmotor war eine Zeitlang auf U-Booten eine con-
ditio sine qua non, während die übrige Schiffahrt sich
ohne ihn behelfen konnte.
Bias Netsa sem sernzelner Mechanis-
m en. — Die zweite Gruppe der Unfälle technischer Na-
tur setzt sich zusammen aus den Fällen, in denen das Ver-
sagen einzelner, zu den Flut- und Lenzeinrichtungen der
Boote gehörender Mechanismen zur Katastrophe geführt
hat. Von der Komplikation dieser Mechanismen gibt
das kürzlich auch im Überall erschienene Bild vom Innern
des norwegischen U-Bootes „Kobben“ eine, wenn auch
nur allgemeine Vorstellung (vgl. Abb. 18).
Die Fälle sind folgende:
I. Der Untergang des französischen „Lutin“ im
Jahre 1904. Das Außenbordsventil des achtern Trimm-
tanks ließ sich nicht schließen, als das Boot in tauch-
bereitem Zustand war, also nur ganz geringe Längs-
28 Meereskunde.
stabilität und fast keinen Auftrieb hatte. Infolge des
\Versagers strömte achtern zu viel Wasser ın den Tank,
das Boot wurde achterlastig, verlor seinen Restauftrieb
und sank in stark schräger Lage, wodurch natürlich
Gegenmaßregeln sehr erschwert wurden. Auf größerer
Tiefe sprengte dann der wachsende hydrostatische Druck
die Tankdecke, das Wasser brach in das Boot ein, und
die ganze Besatzung kam um. Ein Stein soll sich zwi-
schen den Ventilteller und den Ventilsitz geklemmt haben.
Wie kam der dahin? Durch Fahrlässigkeit der Besatzung
oder der Bauausführung? Oder war etwa das Ventil
falsch konstruiert, sodaß sich Fremdkörper von außen,
z. B. wenn das Boot auf dem Grunde lag, einschleichen
konnten? Wir lassen das dahingestellt, da es hier nicht
unsere Aufgabe sein kann, die Schuldfrage zu entschei-
den; wichtiger ist uns die Frage, ob ein solcher oder ein
ähnlicher Versager heute auf Unterseebooten unmög-
lich ist. Die Antwort lautet: wahrscheinlichäist
er nicht, unmöglich aber auch keinesfalls. Denke
man sich nur an Stelle des Steins eine Schraubenmutter
oder einen Bolzen oder gar einen Nietkopf. Dieser kann
z. B. durch die Bootserschütterungen infolge des
Motorengangs abgesprengt sein, eine Fahrlässigkeit
braucht garnicht vorzuliegen.
2. Der zweite Fall ıst der Untergang des japani-
schen U-Bootes Nr. 6 ım April 1910 angeblich dadurch,
daß die Verbindung eines Antriebsrades mit dem Ventila-
tionsschieber, der gerade geschlossen werden sollte, riß.
Da das Ventil selbst nıcht ohne weiteres zugänglich war,
sank das Boot, in das nun das Wasser ungehindert weiter
einströmen konnte, auf den Grund, unglücklicherweise
auf 60 m. Wasser. Obwohl es nachher gelang, den
Schieber zu schließen, war doch schon mehr Wasser ein-
gedrungen, als ausgeblasen werden konnte; außerdem
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U 3“. 29
Abb. 18. Motorraum des Norwegischen Tauchbootes ‚Kobben‘.
Aus „Überall“, XII, Jhrg., 5: Heft.
wurde, da der Druckkörper auf eine Tiefe von 60 m nicht
konstruiert war, das Boot durch den Wasserdruck erheb-
lich leck, und die Akkumulatoren kamen unter Wasser.
Dadurch wurden diese kurzgeschlossen, das Licht ging
30 Meereskunde.,
aus, und es entwickelten sich erstickende Dämpfe, durch
die die Besatzung, der es nicht gelang, das Wasser mit
den Handpumpen zu entfernen, erstickte. In diesem
Falle, der“ dem ,„,U3’-Fallin’ semen "Ursachen undasa
seinem Verlauf ganz außerordentlich ähnlich ist, soll nach
japanischer Quelle der Kettenbruch auf unvorsichtige,
zu heftige Bedienung des Antriebs zurückzuführen sein.
Ich möchte einwenden, daß eine solche Kette so stark
(Versuchsboot). 5
sein muß, daß sie aus solcher Ursache nicht brechen
kann. Es ist aber für uns nicht nötig, die Frage nach
dieser Richtung hin zu klären. Uns interessiert nur
die Frage, ob der Unfall mit der Wesensart der U-Boote
in Zusammenhang steht, und diese Frage müssen wir
doch wohl bejahen. Solange Menschenwerk besteht, und
solange Menschen die Herstellung und Wartung so zahl-
reicher neuartiger Mechanismen, wie sie auf U-Booten
vorhanden sind, zu versehen haben, wird es wohl hin und
wieder vorkommen, daß durch ein Zusammentreffen
mehrerer unglücklicher Umstände eine solche Kette oder
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf „U 3“. 31
ein Gestänge oder dergleichen bricht oder versagt, wahr-
scheinlich allerdings nur sehr selten und hoffentlich nicht
wieder in einer so kritischen Lage wie die war, in der
sich das japanische U-Boot befand.
3. Am 17. Januar ı91ı — hiermit kommen wir zu
dem uns am meisten interessierenden Fall — sank das
deutsche U-Boot „U 3‘ in der Heikendorfer Bucht da-
durch, daß der Schieber des achtern \entilationsmastes
nicht völlig ge-
schlossen war,
ohne daß es je-
mand bemerkte,
und als man es
bemerkte, auch
nicht ge-
schlossen wer-
den konnte; das
Boot befand
sich in tauchbe-
reitem Zustand.
Das Gestänge - —
: . Abb. 20. Abschlußschieber des achteren Ven-
ließ sich weder
tilationsmastes auf „U 3‘ in der Stellung, in der
vor- noch rück- er die Havarie des Bootes verursachte.
wärts bewegen,
da es sich festgefressen hatte. Der Schieber saß in nahezu
geschlossener Stellung — es fehlten 28 mm — fest. (S. den
sichelförmigen Spalt hinter der Schieberstange in Abb. 20;
vgl. auch Abb. 13.) Durch die schmale Öffnung floß
Wasser, während dasBoot — einSchulboot — die erste schul-
mäßige Flutübung des betreffenden Kursus vornahm, ın
eines der sich vom \entilationsmast abzweigenden \enti-
lationsrohre, das unten in der Maschinen-Raumbilge
mündet. Da niemand die Rohrmündung sehen konnte,
auch das Geräusch des einströmenden Wassers nicht
Meereskunde.
95)
159)
leicht zu hören war, weil die Rohrmündung sich der
Rundung der Bilge anschließt, so wurde der Weasser-
einbruch zunächst nicht bemerkt. Erst das Spritzen eines
andern geschlossenen Schiebers belehrte die Besatzung
darüber, daß Wasser in der Rohrleitung sei. Der herbei-
geeilte Ingenieur des Bootes fand die Maschinenraum-
bilge schon annähernd voll: sie faßte etwa 22t Wasser!
Die Lage war äußerst kritisch, das war dem Komman-
danten sofort klar, und die nötigen Befehle zum Lenzen
der Tanks, zum Schließen der Schotten und zum Schlip-
pen der Sicherheitsgewichte wurden prompt, in einem
Atem gegeben. Ihre sichere und schnelle Ausführung
konnte aber das Unheil nicht mehr wenden, es war schon
zuviel Wasser eingedrungen, als die Gefahr bemerkt und
erkannt wurde. Das in tauchbereitem Zustand befind-
liche Boot konnte natürlich auf die große achterliche Be-
lastung nur in der Weise reagieren, daß es mit dem Heck
voran auf den Grund sank. Bei der vorhandenen Wasser-
tiefe von 12 m stieß das Boot bald mit dem Heck auf den
Grund und stellte sich, da vorn Auftrieb vorhanden war,
schräg zur Horizontalen. Infolge der schrägen Lage des
Bootes strömte nun das eingedrungene Wasser achtern
zusammen, überflutete die Schaltungen und führte den
Kurzschluß der elektrischen Batterien herbei. Die Stark-
stromentladung verursachte durch Erhitzung der
Klementverbindungen den Brand der vorderen Batterie,
indem diese glühenden Eisenteile ihrerseits Gummiteile
in ‘Brand versetzten ‘und die "Saure erhitzten. Die
erstickenden Dämpfe dieses Brandes zwangen den Kom-
mandanten, die Besatzung vor das vordere druckfeste
Schott zu schicken, während er selbst in den Turm zu-
rückkehrte, um von hier aus, unterstützt vom Wach-
offizier und Rudergast, das Ausblasen der Tanks fortzu-
setzen. Es gelang ihm auf diese Weise das Vorsekhin:
Unterseeboöts-Unfälle unter Berücksichtigung des Unfalls auf „U 3“. 33
bis in die Wasserlinie zu heben, das Achterschiff konnte
er, da infolge des vermehrten hydrostatischen Druckes
achtern inzwischen zuviel Wasser eingedrungen war,
nicht mehr hoch bringen. Bezüglich der Bergung des
Bootes, mit ıhrem glücklichen Anfang und ıhrem tragı-
schen Ende, verweise ich auf das Märzheft der Marine-
Rundschau, das dıe genaue Beschreibung dieser \or-
gänge vor einigen Tagen gebracht hat. Ich möchte hier
nur kurz feststellen, daß bis auf den Schieber alle Eın-
richtungen des Bootes intakt waren und tadellos funk-
tionierten, einschließlich der Hauptlenzpumpe, die ein-
wandfrei arbeitete, bis die Saughöhe für sie zu groß
wurde. Daß die Havarıe den Umfang annehmen konnte,
lag ın allererster Linie daran, daß sıe sehr spät bemerkt
wurde. Die vorgeschrittene Abendstunde gestattet leider
nicht an dieser Stelle auf diese Dinge näher einzugehen.
Die Frage nach der Ursache dieser Havarie können wir
dahın beantworten, daß auch hier eine Kombination, eın
Zusammenwirken mehrerer unglücklicher Umstände vor-
gelegen hat; nur diesem Zusammenwirken verschiedener
ungünstiger Faktoren ıst die Havarıe und ihr tragischer
Ausgang zuzuschreiben. Alle Lehren, die aus dem trau-
rigen Ereignis gezogen werden können, werden selbstver-
ständlich auf das Gewissenhafteste verwertet und werden
dazu beitragen, eine ähnliche Havarie in Zukunft auszu-
schließen, soweit dieses eben menschenmöglich ist.
Wie steht aber nach der Betrachtung der letzten drei
Unfälle unser Urteil über die Möglichkeit technischer Ha-
varıien auf U-Booten? Ich meine, wir bleiben bei unserer
Ansicht. Sie sind vorgekommen, sie können auch ferner-
hin vorkommen, solange eine Neuerung die andere auf
den U-Booten, so zu sagen, jagt. Hoffen wir, daß es
angestrengtester Aufmerksamkeit an allen Stellen ge-
linge, sie von unserer Marine in Zukunft fernzuhalten.
Meereskunde.
(95)
IS
Unser Gresamturteil über die U-Boots-Unfälle können
wir dahın zusammenfassen, daß erstens ihre Häufigkeit
und die Gefahr, die in ihnen liegt, einer wesentlichen Über-
schätzung ausgesetzt ist. Diese Ansicht wird auch durch
die Statistik unterstützt, die ermittelt hat, daß von 1903
bis 1910 einschließlich, also innerhalb von acht Jahren,
in allen in Betracht kommenden Marinen auf und in
U-Booten 208 Personen ums Leben gekommen sind, d.h.
also 26 Personen jährlich. Bedenkt man, daß an dieser
Abb. 21. Amerikanisches Unterwasserboot ‚Narwhal‘.
(Quote sechs größere und mehrere kleine Marinen Anteil
haben, und daß ım Mittel etwa 130 Boote mit etwa 2600
Mann an dieser Ziffer beteiligt waren, so ergibt sich eine
Sterblichkeit auf U-Booten infolge von Unfällen von
ı % im Jahr. Also eine keineswegs erschreckende Ziffer,
deren Bedeutung noch weiter dadurch schwindet, daß
man eine prozentuale Abnahme der Unfälle anzunehmen
berechtigt ist. Denn wir haben zweitens feststellen kön-
nen, daß die große Mehrzahl der Unfälle mit der Wesens-
art des U-Bootes an sich nicht untrennbar verbunden war
— so die Überwasser-Kollisionen, die Explosionen und
ein Teil der technischen Unfälle —, sondern infolge man-
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, „U 3“. 35
gelnder Sachkenntnis und Erfahrung in seemännischer
und technischer Hinsicht eingetreten ist. Niemand wird
leugnen wollen, daß, da auf seemännischem wie techni-
schem Gebiete die Erfahrung in hohem Maße gestiegen
ist, logischerweise auch eine Abnahme der Unfälle ein-
treten muß. Einem Optimismus allerdings, der schon
Abb.22. Englisches Unterwasserboot „‚D ı“ mit funkentelegraphischer
Einrichtung, mit dem Kreuzer Drake in See gehend.
das völlige Verschwinden der U-Boots-Unfälle voraus-
sagt, können wir uns nicht anschließen. Besonders in
der Verwendung der U-Boote werden die Anforde-
rungen immer mehr gesteigert werden. Dadurch wird
das geschulte Personal wieder vor neue Anforderungen
gestellt, die auch wieder neue (Gsefahren mit sich bringen.
Und schließlich, wo gehobelt wird, da fallen Späne; das
ist nun einmal so, und es ist gut, sich das klar. zu
machen. Ein Altersheim oder eine Bewahranstalt ist die
Seefahrt in ihren verschiedenen Berufszweigen überhaupt
6 Meereskunde.
(O8)
nicht, also mit Unfällen in geringer Zahl wird auch bei
der U-Waffe zu rechnen sein. Auch hier heißt es navi-
gare necesse est, vivere non.
Sicherungen gegen U-Boots-Unfälle.
Hiermit werden wir unwillkürlich auf die Frage nach
den Einrichtungen hingelenkt, die dazu erfunden und
konstruiert sind, Unfällen auf U-Booten vorzubeugen
oder sie in ihren Folgen zu bekämpfen. Wir betreten
hiermit ein neues, außerordentlich großes Gebiet, von dem
ich Ihnen heute Abend nur noch eine Einteilung geben
kann. Es handelt sich im allgemeinen um
t. Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen, dıe dazu
dienen sollen, das Entstehen einer Havarie überhaupt zu
verhüten.
2. Rettungseinrichtungen der Boote und der Mutter-
schiffe, die darauf abzielen, das Leben der Besatzungen
havarierter U-Boote zu erhalten oder diese aus dem ge-
sunkenen Boote zu retten.
3. Bergungseinrichtungen, die die Hebung der ge-
sunkenen Boote mit ihrer Besatzung zum Zweck haben.
Zur ersten Gruppe gehören die Flut- und Lenz-
einrichtungen im Boot sowie alle Apparate, die die
Kontrolle dieser Einrichtungen sicherstellen sollen, ferner
die sämtlichen Kommando-Elemente, die Warnapparate
vor giftigen Gasen und die außerhalb der Boote zu ihrer
Sicherheit getroffenen Maßnahmen, d. h. die Begleit-
schiffe, deren Warnsignale, Sicherheitsbestimmungen usw.
Die zweite Gruppe, die Rettungseinrichtungen,
muß man wieder in zwei Unterabteilungen teilen, nämlich
in solche, die auf die Erhaltung der Menschenleben im
Boot, und solche, die auf die Rettung der einzelnen Per-
sonen aus dem Boot hinzielen. Die verschiedenen
Nationen verfolgen bezüglich der Rettungs-Einrichtungen
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf „U 3“. 37
nicht alle den gleichen Weg, die meisten — unter diesen
auch wir — verfolgen aber beide Wege, d. h., wir geben
den Booten zunächst die Mittel, die ihnen eine Rettung
der Besatzung im Boot ermöglichen, für den Notfall
werden die Boote aber auch mit solchen Mitteln versehen
werden, die auf die Rettung der einzelnen Person unter
Abb. 23. Dänisches Tauchboot ‚„Dykeren‘“,
Vor der Küste von Spezia, wo es auf der Laurentischen Werft gebaut wurde.
Verlassen des Bootes berechnet sind. Ich sage für den
Notfall, denn zu diesen Mitteln darf meiner Ansicht nach
nur gegriffen werden, wenn eine Rettung ım und mit dem
Boot nach der Sachlage ausgeschlossen ist. In diesem
Punkte liegen die Verhältnisse ganz ähnlich wie bei der
Überwasser-Seefahrt: gar mancher Schiffbrüchige hat
schon das’ Sehiff zu früh. verlassen und: ıst infolge -
dessen umgekommen; und bei der Unterwasser-See-
fahrt warten auf den, der sich von seinem Unterseeboot
trennt, noch besondere Schrecken. Andrerseits muß ja
38 Meereskunde.
aber auch zugegeben werden, dab unter Umständen kein
anderes Mittel übrig bleibt.
Zur ersten Untergruppe der Rettungseinrichtun-
gen gehören: die Schotteinteilung, die Sicherheits-
gewichte, die Telephonbojen, die Lufterneuerungsanlage
und die Luftzuführungsanlage mit ihren zugehörigen Ein-
richtungen; die zweite wird vertreten durch die verschie-
denen Konstruktionen der Rettungshelme, mit ihren zu-
Abb. 24. Deutsches Tauchboot, auftauchend.
gehörigen Einrichtungen, neuerdings auch durch loslös-
bare Bootsteile (ein französischer Versuch).
Die dritte Gruppe, die der Bergungseinrichtungen,
umfaßt Bergungsprähme, Bergungsschiffe, Hebedocks
und Bergungskräne.
Alle größeren Nationen sind im Laufe der Zeit zu der
Erkenntnis gelangt, daß besondere U-Boots-Bergungs-
mittel geschaffen werden müssen. Wir haben auf diesem
Gebiet mit unserm „Vulkan“ den Weg gezeigt, und alle
großen Marinen folgen nach. Hebeschiffe sind jetzt fast
überall im Bau. Die erste Anforderung, die an moderne
Unterseeboots-Unfälle unter Berücksichtigung desUnfalls auf, ,U3“. 39
Bergungsmittel für U-Boote gestellt werden muß, ist die,
daß sie große Gewichte schnell heben, damit die Hoff-
nung, die Besatzung lebend zu bergen, erhalten bleibt.
Sie müssen also die großen Gewichte schnell aufheißen
können. Unser „Vulkan“ hebt 500 t in einer Stunde
25 m hoch, eine Leistung, die unter den besonderen Um-
: ® |
Abb. 25. Deutsch Tauchboot, im Dockschiff „Vulkan“ hängend.
ar”
ständen recht respektabel ist und noch von keinem Ber-
gungsfahrzeug der Welt erreicht wird. Die Bergungs-
mittel müssen ferner bis zu den Wassertiefen, auf denen
ein U-Boot liegen kann, ohne durch den hydrostatischen
Druck zerquetscht zu werden, d. h. bis zu 50 m, wirksam
sein, und sie müssen womöglich die Hebung von dieser
Tiefe in einem Zuge bewerkstelligen können, also
die beträchtliche Hebehöhe von mindestens 50 m haben.
Da Hebedocks ihrer Art nach eine solche Hebehöhe nicht
haben können, bleiben nur Hebeprähme, Hebeschiffe und
40 Meereskunde.
Hebekräne übrig. Auch die beiden ersten Arten können
wir noch zusammenfassen, da von beiden das Hebeschiff
— gewissermaßen der automobile Hebeprahm — heuti-
gen Tages nur noch allein existenzberechtigt ist. Bleiben
also als wirklich moderne Mittel Hebeschiffe und Hebe-
kräne. Welches von beiden ist zu wählen? Meiner An-
sicht nach beide! In der Fat'ist der „U 3 _Unfallfhrerise
geradezu ein Musterbeispiel.e. Im ersten Abschnitt der
Bergung war der „Vulkan“ wegen der Schräglage des
Bootes, das mit dem Bug die Wasseroberfläche berührte,
bei dem starken seitlichen Wind zur Untätigkeit ver-
dammt. Er hätte nur helfen können, wenn er das ganze
schwierige Manöver ın höchstens fünf Stunden ausführen
konnte, woran bei der schwierigen Sachlage nicht zu
denken war. Es mußte daher zur Rettung der 28 vorn
im Boot zunächst ein Hebekran genommen werden.
Später, als die Kräne versagten, kam der „Vulkan zur
Geltung. Er hob das inzwischen ganz vollgelaufene Boot
ın acht Stunden, einschließlich des schwierigen zur Nacht-
zeit auszuführenden Manövers, eine nach Lage der Dinge
durchaus befriedigende Leistung, die aber leider die
Rettung jener drei im Turm nicht in sich schließen
konnte.
Selbstverständlich hätte die Bergung, nachdem sie
einmal mit Kränen begonnen war, ebensogut mit Kränen
zu Ende geführt werden können. Aber Schwimmkräne
von solcher Hebekraft, Hebehöhe, Hebegeschwindigkeit
und genügender Seefähigkeit gibt es noch nicht. Viel-
leicht wird auch hierin noch einmal ein Wandel ein-
treten.
Een)
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn,
Berlin SW., Kochstraße 68— 71.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG SECHSTES HEFT
Valparaiso und die Salpeterküste.
Von Rudolf Lütgens.
yenn der Binnenländer ganz allgemein von der
„Westküste“ reden hört, so kann er sich
darunter vieles oder auch nichts vorstellen.
Für den Seemann hat die Bezeichnung aber nur eine
Bedeutung. Für ihn gibt es nur eine Westküste, und das
ist die Südamerikas, und zwar speziell die Küste von
Chile und Peru. An dieser viele tausend Kilometer langen
Küste liegen nun viele Häfen, unter denen sich jedoch
einige besonders herausheben, und von den Zeiten der
Entwicklung der modernen Seefahrt in der Mitte des
19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart eine wichtige und
interessante Rolle spielen. Einmal ist es Valparaiso, der
Haupthafen der eigentlichen Westküste, und ferner sind
es die Salpeterhäfen, die in ihrer Eigenart und Bedeutung
gleichfalls eine nähere Betrachtung verdienen.
Valparaiso wie auch sämtliche Häfen der Salpeter-
küste gehören politisch zu Chile, und wir müssen des-
halb einen kurzen Überblick über dieses Land gewinnen.
Es gibt wenige Länder auf der Erde, deren einzelne Teile
ein so verschiedenes Bild zeigen, wie Chile. Der Haupt-
grund für diese Erscheinung läßt sich aus der Betrachtung
der Gestalt ableiten. Chile ist, von einem schmalen
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 6. I
7 Meereskunde.
Küstenstrich abgesehen, nur die pazifische Abdachung
der Anden von etwa 18° Süd bis 56° Süd. Das ist
eine Strecke von 38 Breitengraden, gleich rund 4200 km,
eine Erstreckung, die, in europäische Verhältnisse über-
tragen, der Entfernung von Kopenhagen bis in den zen-
tralen Sudan gleich käme. Dabei ist die größte Breite
nur 350 km, meist viel weniger, so daß trotz der gewaltigen
Nord-Süd-Erstreckung das Areal nur 750000 (Juadrat-
kilometer gleich‘ rund ı1!/, mal dem Deutschlands ist,
während die Einwohnerzahl mit höchstens 3'/, Millionen
weit hinter den 65 Millionen Deutschlands zurückbleibt.
Seiner Bedenerhebung nach ist Chile mrdıeı
parallele Zonen zu teilen, die allerdings nicht überall
in gleicher Weise zum Ausdruck kommen. Wir haben
zunächst das gewissermaßen das Rückgrat Chiles bildende
gewaltige Kettengebirge der Kordilleren oder Anden. An
der Küste als Gegenstück die sogenannte Cordillera de
Costa und dazwischen, besonders im mittleren Teile scharf
ausgeprägt, die große von veıschiedenen Querriegeln
unterbrochene Längssenke.
Haben wir so in ost-westlicher Richtung eine zonale
Anordnung, die sich erst im magellanischen Inselgewirr
verliert, so muß gleichfalls von Norden nach Süden Chile
in drei Teile zerlegt werden. Bis etwa 32° Süd senken
sich die Anden in hochgelegenen Stufenländern, die auch
an ihren tiefsten Punkten 500 und mehr Meter über dem
Meere liegen und dann nach einem Aufstieg zum Küsten-
gebirge in diesem steil und oft unmittelbar über IO00 m
zum Meer abbrechen. Das ist Nordchile.
Mittelchile geht bis über 40° Süd, wo das Küsten-
gebirge anfängt unterzutauchen. Hier findet sich statt der
Stufenländer, ein tiefes zentrales Längstal, das Herz Chiles.
Im Süden erreichen auch die Anden das Meer; das
Längstal beginnt unterzutauchen, und nachdem das Küsten-
Valparaiso und die Salpeterküste. 3
gebirge nur noch als Klippen erkenntlich, tritt unter Ver-
flachung auch die Auflösung der Anden ein. Neben
den drei parallelen Zonen, Anden, Längssenke, Küsten-
gebirge haben wir also auch die drei verschiedenen Teile
Nord-, Mittel- und Südchile.
Den Schlüssel zum völligen Verständnis der ver-
schiedenen Teile Chiles liefert nun aber erst die Be-
trachtung des Klimas, vornehmlich der Unterschiede in
der jahreszeitlichen und quantitativen Verteilung der
Niederschläge. Infolge der großen Längserstreckung haben
verschiedene Windgebiete Anteil an dem Lande. Auf
der Erde findet in den Äquatorgegenden, verursacht durch
die starke ständige Erwärmung, eine Auflockerung und ein
Aufsteigen der unteren Luftmassen statt, die in der Höhe
nord- und südwärts abfließen und dadurch in etwa 30° Breite
eine Luftvermehrung hervorrufen. Ersatz wird dafür an
der Erdoberfläche von Norden und Süden aus dem so
geschaffenen Luftdruckmaximum zum Äquator herbei-
geführt, und zwar geschieht das durch die Passate, die
durch die Erddrehung allerdings statt als Nord- und Süd-
wind, als Nordost- und Südostpassat auftreten. Von der
Nordgrenze bis etwa zum 29. Breitengrad liegt Chile im Süd-
ostpassat, d. h. die allgemeine Bewegungstendenz der
Luft ist südnördlich, sie führt aus kälteren in wärmere
Gebiete. Dadurch wird die Aufnahmefähigkeit der Luft
für Wasserdampf noch gesteigert, auf keinen Fall aber
Wasser als Niederschlag ausgeschieden. Wenngleich
direkt an der Küste Land- und Seewinde herrschen und
auch Nebel sich über der an der Küste nordwärtsziehenden
kalten Meeresströmung bilden, so kommt es doch aus be-
sagtemGrunde inNordchile fast nie zur Regenbildung,
und selbst wenn die Luft über dem Meere nahezu gesättigt
wäre, würde doch ihre relative Feuchtigkeit über dem Lande
infolge der Erwärmung stark sinken. In Iquique sind zu-
=
A Meereskunde.
letzt im Oktober 1899 ein paar Regentropfen gefallen.
In der Hochkordillere gibt es allerdings, besonders bei
stärkeren Gewittern, gelegentlich Niederschläge, aber die
Wassermassen sickern bald ein, und nur an ganz wenigen
Stellen erreichen — und das nicht ständig — salzhaltige
Bäche das Meer. WVöllige Regenlosigkeit, fast völliger
Abb. ı. Salpeterwüste bei Toco.
Wassermangel herrscht also in dem weiten Gebiet von
18 bis 29° S-Br., von den Anden bis zum Meer.
Das auf das wüstenhafte Nordchile folgende Mittel-
chile ist klimatisch am besten als Gebiet des Winter-
regens zu” bezeichnen. Es erstreckt. sich von 28257
36° SBr. Mit dem jährlichen Gang der Sonne verschiebt
sich das Gebiet stärkster Erwärmung am Äquator, damit
auch das Passatgebiet und die Südgrenze der Passate.
Mittelchile gehört im südlichen Sommer zum Passatgebiet,
also gewissermaßen zu Nordchile, es regnet dann nicht.
Im südlichen Winter liegt es dagegen außerhalb der
Passatströmung, und es herrschen veränderliche Winde,
Valparaiso und die Salpeterküste.
Sı
die Regen bringen. Im Sommer leidet Mittelchile an
Dürre. Das Land nimmt Wüstensteppencharakter an, wo
keine künstliche Bewässerung vorhanden ist. Nach dem Ein-
setzen der Regen im April, Mai, schießt dagegen eine
üppige Vegetation in die Höhe und rechtfertigt das
Urteil, daß Mittelchile
nach Californien das
an Früchten reichste
Land der Welt ist, da
neben allen subtropi-
schen, auch viele Ge-
wächse der Iropen
gedeihen. Dann ist
Mittelchile wirklich
ein Paradies. Über
Südchile genügt es
zu sagen, daßesim Be-
reich veränderlicher
Winde liegt, unter
denen aber die vom
Meere stammenden
Westwinde vorherr- App. >. Mittelchilenische Landschaft bei
schen, und daß es Quillota. Am Gebäude Erdbebenrisse; im
deshalbinallen Jahres- Hintergrund derGlockenbergvon Quillota,
zeiten Regen erhält.
Infolgedessen finden wir in den nicht von der Kultur
beeinflußten Gebieten meist nur Urwälder.
Als Herz Chiles ist schon das große Längstal, be-
sonders in Mittelchile bezeichnet. Es wurde zuerst be-
siedelt, hier ist der Kern der Bevölkerung, und hier ent-
stand Santiago, die natürliche Hauptstadt des Landes.
Von Santiago drang dann auch 1536 der spanische Offizier
Juan de Saavedra zur Küste vor und gründete an der
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 6. 2
6 Meereskunde.
Bucht südlich der Mündung des Flusses Aconcagua Val-
paraiso als Hafen von Santiago. Der Name ‚Tal des
Paradieses“ ist übrigens nicht der Örtlichkeit wegen ge-
geben, sondern bezieht sich auf ein Landgut des Gründers
bei Cuenca in Spanien. Die kleine Siedlung, die nur aus
Abb. 3. Santiago de Chile vom Cerro St. Lucia gegen die
Kordillere.
wenigen Häusern bestand, blieb lange ohne Bedeutung
und konnte sich überhaupt nur schwer halten. Franeis
Drake zerstörte sie 1578, und dasselbe Schicksal erlitt sie
später wiederholt durch englische und holländische See-
räuber. Als schließlich die Spanier, im Unabhängigkeits-
krieg besiegt, vor nunmehr 100 Jahren das Land verlassen
mußten, steckten sie zu guterletzt Valparaiso, das sich zu
einem Städtchen von einigen Tausend Einwohnern empor-
gearbeitet hatte, in Brand. Dann kam die Zeit schnellen
Aufblühens, die aber auch mehrfach unterbrochen wurde
Valparaiso und die Salpeterküste. 7
Abb. 4. Das obere Aconcagua-Tal; andine Bahn (links).
durch Erdbeben und die Beschießung durch die spanische
Flotte im Jahre 1866. Zuletzt legte das große Erdbeben
vom 18. August 1906 einen großen Teil der Stadt in
Trümmer und richtete ungeheuren Schaden an. Aber
seither ist Valparaiso neu erstanden, wenngleich man die
Spuren der Katastrophe noch vielfach findet. Die Ein-
wohnerzahl beträgt jetzt etwa 165 000, darunter sind 1500
2“
S Meereskunde.
in Deutschland geborene, so daß sich, bei Hinzurechnung
der in Chile geborenen, aber ihr Deutschtum bewahrenden
Einwohner Valparaisos, rund 2000 deutsche Stammes-
verwandte in dem größten Hafen Chiles aufhalten, meistens
in angesehenen Stellungen.
Für die Entwicklung zum Haupthafen Chiles war die
Lage Valparaisos ganz günstig. Chile brauchte einen
Hafen für sein zentrales Gebiet, und da konnte nur die
Bucht Valparaisos in Betracht kommen, weil sie trotz aller
Ungunst der örtlichen Verhältnisse doch noch bedeutend
besser ist, als andere Stellen an dem Küstenstrich in der
Breite Santiagos. Santiago liegt in der Luftlinie 90 km
vom Meer entfernt, und die Luftentfernung nach Val-
paraiso beträgt nur ı0 km mehr. Vor der Anlage
der Bahn führte der Weg von Santiago ziemlich
direkt über Curacavi nach Valparaiso, während jetzt die
Bahn einen ganz bedeutenden Umweg macht. Sie sucht
zunächst das Tal des Rio Aconcagua zu erreichen und
folgt diesem bis Llai-Llai, wo die Trennung in die südlich
über einen 800 m hohen (uerriegel nach Santiago
führende Linie — 187 km von Valparaiso — und die
östlich den Anden zustrebende Strecke nach Santa Rosa
de los Andes erfolgt. Für diese Bahn, die im letzten
Jahre vollendet wurde, ist Valparaiso der natürliche End-
punkt. Die tietste Einsenkung der gewaltigen Gebirgs-
mauer der Anden auf viele hundert Kilometer liegt gerade
in der Breite von Valparaiso, zu dem das Flußtal des
Aconcagua einen Zugang bietet. Deshalb wurde auch dieser
Übergang über die 3900 m hohe Cumbre schon früher viel
benutzt, und seine Verwertung zu einer Bahnverbindung
mit Argentinien war selbstverständlich in dem Augen-
blick, wo die Grenzstreitigkeiten der beiden Nachbarländer
einen befriedigenden Abschluß gefunden hatten. Die fast
1500 km lange Bahn verbindet in annähernd gerader
Valparaiso und die Salpeterküste. 6)
Linie Buenos Aires und Valparaiso, Atlantischen und
Stillen Ozean. Bis Los Andes, das schon 800 m hoch
liegt, gelangt man in 4 bis 5 Stunden. Dort beginnt die
Gebirgsbahn von I m Spurweite, die in kühner Anlage,
teils mit Zahnbetrieb, bis Portillo über 3000 m hoch
hinautklimmt. Von hier mußte man bis Anfang 1910
Abb. 5. Die Bucht von Valparaiso.
in Gebirgswagen oder auf Maultieren über den Paß nach
Los Cuevas, ein Pfad, der nur im südlichen Sommer
gangbar war. Jetzt durchfährt man die Gebirgsscheide
in einem 5000 m langen Tunnel, worauf der Abstieg nach
Mendoza folgt. Hier ist das Ende der Gebirgsbahn, mit
der man rund 12 Stunden gefahren ist. 20 Stunden
später ist Buenos Aires erreicht, so daß die Gesamtfahrt
etwa Il/, Tage dauert. Die Folgen des Baues dieser Bahn,
die zunächst im großen nur für den Personen- und Post-
verkehr in Betracht kommt, lassen sich für Valparaiso
Io Meereskunde.
kaum übersehen. Eine 10 bis ı2tägige zum Teil gefähr-
liche Seefahrt durch die Magellanstraße war bisher nötig,
um von Buenos Aires nach Valparaiso zu gelangen; jetzt
ist Valparaiso eng mit dem Atlantischen Ozean verknüpft,
so daß es nun das Einfallstor für die ganze Westküste
bilden kann. Von Hamburg ist Valparaiso auf diesem
Wege im günstigsten Falle in 19 Tagen. erreichbar.
ı!/, Tage bis Genua, 16 bis Buenos Aires, ıl/, bis Val-
paraiso, zusammen IQ Tage Reisedauer. Wenn erst die
Strecke zur Vollbahn ausgebaut wird, kann auch der
Güterverkehr im großen davon Nutzen ziehen und mit
ihm Valparaiso. Eine in Aussicht genommene Linie von
Salta, der nordöstlichen Provinz Argentiniens, nach Anto-
fagasta-Mejillones wird wegen ihrer bedeutend größeren
Länge als Überlandverbindung der ersten andinen Bahn
niemals ernsthaft Konkurrenz machen können.
Während die Verkehrslage Valparaisos als Hafen
Mittelchiles und Endpunkt der transkontinentalen Bahn
nicht besser sein könnte, kann gleiches von den örtlichen
Verhältnissen nicht behauptet werden. Die Bucht von
Valparaiso bildet ungefähr einen Halbkreis von rund 4 km
Durchmesser, der nach Norden offen ist, und nach Süden
von 100 bis 400 m hohen Hügeln abgeschlossen wird.
Im Osten sieht man vom Meere an klaren Tagen höhere
Berge, wie den 1800 m erreichenden Cerro Campana- de
(Juillota und ganz in der Ferne den eisgepanzerten Acon-
cagua, den höchsten Berg Südamerikas, mit seinen Tra-
banten. Von den Ausläufern der Buchthügel, den Cerros,
zieht sich die Stadt auf die schmale vorgelagerte Küsten-
ebene, die teilweise durch künstliche Aufschüttung ver-
breitert werden mußte, in den inneren Teil der Bucht
herab, während an den Flanken die Felsen das Meer er-
reichen, so daß der Ausgang für die Bahn nach der
Sumpfniederung bei Vina del Mar verschiedentlich durch
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m
12 Meereskunde.
Sprengungen und Aufschüttungen erst gewonnen werden
mußte. Der Meeresgrund, der nur direkt an der Küste
aus Sand besteht, sonst dagegen schlammig ist, senkt sich
sehr schnell auf 40 und weiter auf 60 und 70 m Tiefe.
Diese große Tiefe hat bisher ausgedehnte Hafenanlagen
nicht entstehen lassen. Die Schiffe, die von See kommen,
müssen auf offener Reede !/, bis 1 km vom Lande entfernt,
auf 55 bis 65 m Wassertiefe, vor Anker gehen. Dabei
werden Kriegsschiffe, Handelsdampfer und Segler meistens
verteilt. Im westlichen Teil der Innenreede sind ver-
schiedene Reihen von Tonnen ausgelegt, an denen die
Schiffe so festmachen, daß sie vorn vor einem Anker
liegen und achtern an der Tonne. Hier erhalten die
Kriegsschiffe die Plätze dichter am Land, die Handels-
dampfer weiter ab. Im östlichen Teil der Reede, wo
gleichfalls Tonnen liegen, ankern die Segelschiffe, und
zwar lagen sie früher im südlichen Winter mit dem Bug
nach Norden, im südlichen Sommer nach Süden, eine
Maßregel, die, wiewir später sehen werden, sehr nützlich war.
Die ganzen Hafenanlagen bestehen in einer ein-
zigen Güterlandungsbrücke an der Westseite der Bucht
beim Zollhaus, der Muelle Fiscal, einer Passagierlandungs-
brücke, Muelle de Pasajeros, und der steinernen Bucht-
einfassungsmauer, dem Malecon. Die Zollandungsbrücke
besitzt einen Hauptarm von 233 m und einen Querarm
von 66 m Länge. Zwei bis drei Schiffe können im Not-
fall daran liegen, alles andere muß auf der Reede löschen
und laden, und im letzteren Falle alle zollpflichtigen Waren
in Leichtern, Lanchas, zur Zollbrücke, von wo aus es in
die Zollschuppen geht, befördern. Die Langwierigkeit
der Abfertigung in Valparaiso versteht sich aus diesen
für einen solchen Hafen absolut ungenügenden Anlagen
von selbst. Die Segler liegen oft wochenlang, bis sie
ihreLadung fertig gelöscht haben. Etwas hängt allerdings die
Valparaiso und die Salpeterküste. 13
Zeit von der Art der Güter ab, denn zollfreie Waren,
wie Kohlen, Holz, Petroleum, Eisenbahnschienen, können
in Leichter gebracht und dann am Malecon, wo Hand-
kräne von 2 bis 6 Tonnen Hebekraft zahlreich vorhanden
sind, an Land geschafft werden. Freilich häufen sich
dann auch hier gelegentlich die Güter derartig an, daß
der Platz auf der Kaimauer nicht mehr ausreicht. Die
in den Hafenanlagen sich ansammelnden großen Güter-
mengen begünstigen nun wieder bei mangelnder Aufsicht
und Ehrlichkeit sehr den Diebstahl, der nach Unter-
suchungen von Versicherungsleuten, die in den letzten Jahren
die Westküste studierten, an der ganzen Küste weit jedes
normale Maß überschreitet. Zu erwähnen sind dann noch
die nur bescheidenen Ansprüchen genügenden Docks.
Die beiden vorhandenen Docks, die dicht vor der Passagier-
landungsbrücke liegen, sind aus Holz gebaut, und können
nur Schiffe von 2500 und 4500 Tonnen Wasserverdrängung
und höchstens 80 und 90 m Länge aufnehmen.
Trotz dieser, oder gerade wegen dieser primitiven
Hatenverhältnisse sind die Hafenunkosten verhältnis-
mäßig hoch. Zunächst hat jedes Schiff, das irgendeinen
chilenischen Hafen anläuft, eine Leuchtfeuer- und Hospital-
abgabe zu zahlen; allerdings nur einmal in jedem Jahr
und in dem zuerst angelaufenen Hafen. Die erstere Ab-
gabe beträgt für Dampfer 60 cts. Gold, das ist 2,40 M,
und iür. Segler 40 ets. — 1,60 #0 für jdie Reg.-Ionne.
Danach hat ein Dampfer von 5000 t 12,000 M, ein
Segler von 3000 t 4800 M zu zahlen, wozu 40 cts. f. d. Reg.-
Tonne Hospitalgebühr, also auch 1000 bis 2000 ‚MH für
mittelgroße Schiffe hinzukommen. Dabei sei bemerkt,
dab die ganze lange chilenische Küste kaum zwei Dutzend
Feuer hat, und daß ausländische Hospitale meist vor-
gezogen werden. Es sind weiter Abgaben zu entrichten
für die Benutzung der Zollhausbrücke, der Kräne und
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 6. 3
I4 Meereskunde.
bisher an deutschen Abgaben die Konsulatsgebühren, die
gleichfalls sehr hoch waren, und deren Ermäßigung, da
sie eine sehr große Beschwerung der deutschen Schiff-
fahrt bildeten, seit langem angestrebt, am I. Januar 1911
erreicht ist. Schließlich sind noch die aus den leidigen
Hafenverhältnissen entstehenden Schlepp-, Festmach- und
Verholungskosten zu erwähnen, die für Segler natur-
gemäß höher sind, als für Dampfer, so daß es interessant
ist, eine solche Rechnung für einen Viermaster von
2681 Reg.-Ionnen wiederzugeben:
Schleppen von See nach dem Anker-
rund. 2.2 0 0 ana a Ta
Schleppen vom Ankergrund nach der
Innenreede. "Harn He KR 7 5510
Sehiff vertauen! „mr wa. v2 RA. Is
Schiff losmachen. \.- 2... 2 m. ZA
Miete für 2 Anker und Ketten. ". ....20:,,: Gasse
Lotanker auslegen und einnehmen . 6,8 ee
Schleppen’in See "ae 22:78 en De
Zusammen 146 £ — sh IO d
Es sind also fast 3000 #X zu zahlen, die an eine der
beiden Schleppdampfergesellschaften gehen. Diese haben
sich dahin geeinigt, immer nur einen Monat abwechselnd
zu arbeiten, so daß sie sich keine Konkurrenz machen.
Alles in allem dürfte ein Schiff mittlerer "Grebesaa
10000 A Unkosten und Abgaben zu zahlen haben.
Die klimatischen Verhältnisse können im allge-
meinen in Valparaiso als sehr gut bezeichnet werden. Die
mittlere Jahrestemperatur in Valparaiso ist 14,3° (Berlin rund
8,5°), der wärmste Monat hat 17,3, der kälteste I1,4° und es
fallen 41 mm Regen im Jahr, zur Hauptsache im Winter.
Dagegen sind die Windverhältnisse, besonders für die
Schiffahrt, nicht günstig. Im Sommer, ungefähr von
Valparaiso und die Salpeterküste. us
September bis Dezember, herrschen die normalen Süd-
winde vor, die im eigentlichen Sommer, November bis
Januar oft stürmisch werden. Was dann ein richtiger
„Süder‘‘ bedeutet, konnte ich am Weihnachtstage 1908
erleben. Schon vorher war die auffällige Klarheit der
Luft ungewöhnlich, aber sonst frischte ohne vorherige An-
zeichen am Morgen des 24. der Wind auf, um bald stürmisch
TE
* ELLE
Yu
ren
Abb. 7. Norder in Valparaiso.
zu werden. Brausend fuhr der Sturm an den Hängen der
Cerros herab, dichte Staubwolken mitführend und in der
Stadt manchen Schaden anrichtend. Im Hafen herrschte
schon in wenigen Hundert Meter Abstand vom Ufer hoher
Seegang, der die Schiffe von jedem Verkehr mit der Um-
welt abschnitt. Gischt spritzte an Deck, feinster Staub
drang überall in die Räume, und schließlich gerieten eine
Auzahleschitfe vor den Ankern ins Treiben. 2 Einige
Leichter rissen sich ganz los und trieben in die See hin-
aus, unser Viermaster wich um etwa eine Schiffslänge,
während ein großer Kosmosdampfer mit der Festmachboje
3=
16 Meereskunde,
einige Hundert Meter weiter rutschte. Erst spät abends
legte sich der Sturm, so daß man an Land konnte.
Bietet schon beim Süder der Hafen wenig Sicherheit,
so sind die Schiffe im südlichen Winter dem ‚‚Norder“
ganz schutzlos ausgesetzt. Der Norder, der sich meist
durch ein Sinken des Barometers und Steigen der Tem-
peratur ankündigt, übertrifft den Süder noch an Stärke
und Dauer, und stellt eine wirklich große Gefahr für die
Sicherheit der Schiffe vor. Manches schöne Schiff hat,
vom Norder losgerissen, an der Hafeneinfassungsmauer
in der haushohen Brandung sein Ende gefunden. (Abb. 7.)
Deshalb mußten auch früher die Segler mit dem Bug
nach Norden ankern, jetzt bieten die Bojen mehr Halt.
Auf den Norder folgt häufig starker Regen, der nun in
der Stadt selbst große Verheerungen anrichtet. Die Ab-
hänge sind nirgends von Wald bedeckt, und das Wasser kann
ungehindert in die Schluchten hinabstürzen, wobei es neben
großen Mengen Sand, Erde, Steine, Bretter und selbst Bäume
in die Stadt hinunterschlämmt und alles vermurt. (Abb. 8.)
Die leidigen Hafenverhältnisse harren dringend der
Abhilfe, und seit langem spielt, besonders vor den Wahlen,
die Verbesserung des Hafens eine Rolle. Ausschreibungen
sind erlassen und Pläne ausgearbeitet, aber eine wirklich
großzügige Anlage kostet eben sehr viel Geld. Wahr-
scheinlich werden wohl zunächst an der Ostseite der Bucht
zwischen Valparaiso und Vina del Mar die ersten Hafenpro-
jekte ausgeführt werden, die wenigstens dem dringendsten
Bedürfnis abhelfen. Der Kongreß hat eine Vorlage, die vor-
läufig 3 Millionen Dollar verlangt, kürzlich angenommen.
Der Schiffsverkehr hat auch ohne Hafenanlagen
sich in den letzten Jahren dank der günstigen Lage Val-
paraisos stark entwickelt. Allein von 1900 bis 1909 stieg
er von 2,7 auf über 4,7 Millionen Tonnen. Dabei ist, wie
eine Übersicht für 1909 zeigt, die deutsche Schiffahrt her-
vorragend beteiligt.
Valparaiso und die Salpeterküste. 17
Gesamtverkehr 1909.
Englische Schiffe 2 212 000 t
Deutsche ER De a 2 107,7. 000
Chilenische ‚, MRSRERE . 5° 1:05,3:000, .t
ÜbLISeD Re em a AI 300009.
Gesamt 4738000 t
CAFEmUUBO LSAln En -
; BERET r ar ene %
%
Abb. S. Straße in Valparaiso nach starken Regengüssen.
Von Linienreedereien lassen die Kosmoslinie in
Hamburg gemeinsam mit der Hamburg-Amerika Linie
ihre schönen Postdampfer und die Rolandlinie in Bremen
ihre Frachtdampfer Valparaiso anlaufen. Eine feste Ver-
bindung mit großen Segelschiffen unterhält die Firma
F. Laeisz von Hamburg und Antwerpen aus. Von anderen
Reedereien sind zu erwähnen die englische Pacific Steam
Navigation Co. und weiter die heimische Compafia Sud-
Americana.
IS Meereskunde,
Der Eindruck, den die Stadt Valparaıso-selbsr
macht, ist sehr gut. Vom Meer aus präsentiert sie sich
malerisch durch die Lage an den Hügelhängen der weiten
Bucht. Man landet unter Benutzung eines der vielen
kleinen Ruderboote an der Muelle de Pasajeros am Bahn-
hof. Hier reichen die Hügel, besonders der Cerro Allegre,
so dicht an das Meer, daß nur für 3 bis 4 Straßenzüge
Abb. 9. Deutsche Schule (links) und Halle des Deutschen
Turnvereins (rechts) in Valparaiso.
Raum bleibt. Es sind das aber die Hauptstraßen, an
denen die Geschäftshäuser der großen Firmen, Regie-
rungs- und Klubgebäude liegen und so diesen Stadtteil
El Puerto, den Hafen, zum wichtigsten machen. Im öst-
lich sich anschließenden Teil El Almendral wird die
Küstenebene breiter, so daß hier mehr Platz zur Anlage
der neueren Stadt mit breiten Straßen wie die Gran Ave-
nida vorhanden war. Hier wohnt ein großer Teil der
chilenischen Bevölkerung, während ein weiterer Teil in
dem sich nordöstlich anschließenden El Baron wohnt, wo
sich auch industrielle Anlagen befinden. An solchen ist
Valparaiso und die Salpeterküste. 19
Valparaiso für Chile verhältnismäßig reich. Erwähnens-
wert sind als größere Unternehmungen besonders die von
Deutschen ins Leben gerufene blühende Bierbrauindustrie
und das Eisenwerk. Als vierten Stadtteil müssen wir
dann die Hügelbezirke auffassen, die man durch Aufzüge
für ein Paar Pfennige erreicht. Von ihnen aus bietet
sich der schöne Rundblick über die ganze Bucht. Hier
wohnen auch viele auswärtige Kaufleute, besonders Eng-
Abb. ıo. Salpeterwüste bei Toco; im Vordergrund durch
Insolation gesprengte Steine.
länder, in villenartigen Häusern. Die sehr gut besuchte
deutsche Schule. die seit Jahren unter Leitung Dr. Stoppen-
brinks steht, die mit ihr verbundene große Turnhalle des
deutschen Turnvereins, die Kirche der deutsch-evange-
lischen Gemeinde und das an der ganzen Westküste in
hohem Ansehen stehende deutsche Hospital liegen gleich-
falls hier hoch über der Stadt (Abb. 9). An den Hügelhängen
und in den Schluchten zwischen ihnen, den (Juebradas,
hausen in oft sehr kärglichen Wohnungen zwischen chile-
nischen Arbeitern viel fremde Einwohner, meist roma-
nischer Abkunft, und das mag jetzt auch viele besser
20 Meereskunde.
Abb. ıı. Tocopilla von Nordwesten.
Gestellte bewegen, aus dem Hügelviertel nach der Villen-
vorstadt Vina del Mar zu ziehen, um so mehr, als die
Verbindung dorthin mit Eisenbahn und elektrischer
Straßenbahn sehr gut ist. Vina, das schon außerhalb der
Bucht in einem weiten, ursprünglich sumpfigen Küsten-
strich gelegen ist, hat sich infolgedessen in den letzten
Jahren schnell entwickelt, und im Sommer kommen auch
Besucher aus Santiago hierher an das Meer. In Vina
wohnen sehr viele Deutsche, und es besteht dort schon
eine deutsche Gemeindeschule. ° Der sanze Orbszde:
26 000 Einwohner zählt, macht durch die vielen Gärten
und Anlagen einen frischen und freundlichen Eindruck.
Durch das große Erdbeben 1906 hatte das auf lockerem
Aufschüttungsboden gelegene Vina ebenso wie die unteren
Stadtteile Valparaisos, für die dasselbe gilt, sehr gelitten,
während überall die auf Fels stehenden Wohnungen, also
z. B. die Cerroviertel fast ganz verschont blieben; doch
ist Vina schnell wieder aufgebaut.
Wenn wir uns nun von Valparaiso nach den nörd-
lichen Häfen begeben wollen, so ist der einzige Weg
Valparaiso und die Salpeterküste. 21
der Wasserwege. Mit Dampfern in 2 bis 4, vielleicht
auch mit einem Segler, die viel von Valparaiso nach
einem Salpeterhafen gehen, in 5 bis 8 Tagen, ist Nord-
chile zu erreichen. Der Gegensatz zwischen den Frucht-
gärten bei Valparaiso, der fast tropisch üppigen Vege-
tation in der Nähe des Aconcagua-Tales und Nordchile
ist groß. Kahl und steil, sonnendurchglüht ragen die
Küstengebirge empor; keine Pflanze erfreut das Auge des
Menschen, und völlig Wüste ist das Innere. Und doch
ist dieses Gebiet wegen seiner Regenlosigkeit zur Zeit
noch das wichtigste Chiles, denn nur so konnte hier der
Salpeter erhalten bleiben, der das Hauptausfuhrprodukt
Chiles bildet. Die Bedeutung der Salpeterhäfen ergibt
sich aus der Tatsache, daß rund 50 v. H. des chilenischen
Gesamtauslandshandels auf diese Häfen, 30 v. H. auf Val-
paraiso und nur 20 v.H. auf alle übrigen fallen. Nord-
chile ist freilich auch reich an Metallen, besonders an
Kupfer, aber dem Wert und Umfang nach steht doch
der Salpeter bisher an erster Stelle. Außerdem erhebt
Abb. ı2. Fördern der salpeterhaltigen Erde (caliche).
Meereskunde.
169)
[697
Chile etwa 2!/, Mark pro Zentner Ausfuhrzoll auf Sal-
peter und erzielt so rund den dritten Teil seiner Gesamt-
staatseinnahme. Die Frage der Erschöpfung des Sal-
peters oder seine Verdrängung durch den Luftstickstoff
ist deshalb für Chile eine Lebensfrage.
Der Salpeter findet sich nicht an der Küste selbst,
sondern in dem westlichen Teil der Pampa genannten
Abb. ı3. Verdunstungsbassins für die Salpetergewinnung.
Hochsenke zwischen Kordillere und Küstengebirge, und
wir müssen uns, um die Salpetergewinnung kennen zu
lernen, von einem der Häfen, — nehmen wir an, wir
seien in Tocopilla gelandet —, in die Pampa begeben. Das
ist in Tocopilla gar nicht so einfach, obwohl eine Eisen-
bahn zur Verfügung steht, denn ohne weiteres kann man
keinen Fahrschein lösen. Da alles Wüste ist, in der nur
Salpeterfabriken die Oasen bilden, so muß man zu den
Salpeterfirmen in irgendeinem Verhältnis, sei es als An-
gestellter oder als Gast stehen, um gegen Vorweis eines
186)
(9)
Valparaiso und die Salpeterküste.
Erlaubnisscheines einen Fahrschein zu erhalten. In den
Salpeteroffizinen wird man dann wohl immer auf das
liebenswürdigste aufgenommen, schon weil ein Gast etwas
Abwechslung in das an und für sich eintönige Leben
bringt. Überhaupt läßt sich die Gastfreundschaft in ganz
Chile und besonders unter den dortigen deutschen Stammes-
brüdern nur rühmend erwähnen.
Die bedeutendsten und besteingerichteten Fabriken
der Tocopampa gehören der deutschen Sloman-Gesell-
Abb. 14. Sperrmauer im Rio Loa-Tal für das Elektrizitätswerk
der Slomanoffizinen in der Toco-Pampa.
schaft und sind in einer halbtägigen Bahnfahrt zu er-
reichen, wobei erst das steile Küstengebirge überwunden
werden muß. Der Salpeter liegt in ı bis 5m Tiefe unter
einer meist sehr harten Schicht, die ‚„costra“ heißt. Diese
wird durchbohrt und gesprengt. Nun kann die stark mit
Chloriden, Sulfaten, Jodaten, Erde und Sand gemengte
salpeterhaltige Masse, ‚„caliche‘“‘, in Blöcken gewonnen
werden. Die Stärke dieser Calicheschicht wechselt
zwischen 1), und 2 m, der Durchschnittsgehalt an Sal-
peter zwischen 20 und 80 v. H. In Wagen oder auf
24 Meereskunde.
einer Feldbahn kommt der Caliche zur Ofizina, wo er
zunächst in Brechmaschinen zermahlen wird, um dann
mit alter Mutterlauge und Wasser in großen Eisen-
wannen, die Dampfröhren enthalten, ausgelaugt zu
werden. Die heiße Brühe läuft in ein Klärbassin, wo
besonders das Kochsalz ausfällt, und weiter in die Ver-
Abb. ı5. Stauwerk der Slomanoffizinen in der Toco-Pampa.
dunstungskästen „bateas“, in denen der Salpeter aus-
kristallisiert. Nebenbei kann Jod gewonnen werden.
Die Salpetergewinnung erfordert große Maschinenanlagen,
und hat bei den Slomanoffizinen zu Schöpfungen ge-
führt, die mitten in der Wüste, wo kein Strauch, kein
Tropfen Süßwasser sich befindet, einen gewaltigen Ein-
druck machen. Der aus den Kordilleren stammende
Loafluß hat einen geringen Teil seines Wassers, das aber
salzhaltig geworden ist, gerettet. Trübselig schleichterdurch
das. viel zu breite und tiefe Tal dem Meere zu. "Dies
Valparaiso und die Salpeterküste. 25
Tal ist nun durch einen 32 m hohen Staudamm abge-
sperrt worden, und dadurch istein fast 5 km langer Stausce
geschaffen, dessen Wasserkraft in Elektrizität umgesetzt
wird. 20000 Volt werden dann über 20 km weiter ge-
leitet, um den Slomanwerken Arbeitskraft zu liefern.
REPÜBLICA 27°;
CHILE:
Abb. 16. Karte der Salpeterprovinzen.
Sind so die äußeren Umstände, unter denen im Sal-
petergebiet gearbeitet wird, ziemlich eigenartig, so gilt
dasselbe auch von den wirtschaftlichen Verhält-
nissen der Salpeterindustrie. Die Anfänge der Sal-
peterausfuhr liegen etwa 80 Jahre zurück. Darwin, der
1835 Iquique besuchte, gibt an, daß seit 1830 Salpeter
zur Ausfuhr gewonnen wird. Damals war das Gebiet
26 Meereskunde.
noch peruanisch, da es erst 1883 als Kriegsbeute an
Chile fiel. Schon vorher haben aber die Zahlen der
Ausfuhr eine gewaltige Steigerung erfahren. Um 1850
wurde ı Million Quintal gleich etwa ı Million Zentner
erreicht. 1890 waren es 23 Millionen. Bis 1900 hielt
sich die Zahl unter 30, um dann aber 1909 auf fast
50 Millionen zu schnellen. Allein die Zunahme gegen
das Vorjahr betrug hier 2 Millionen, wodurch natürlich
das stetige Fallen der Salpeterpreise weiter begünstigt
wurde. Durchschnittlich war in den Jahren 7 sh für den
Salpeter zu erzielen, ein Preis, bei dem viele Werke nicht
ohne Unterschuß arbeiten können. Eine schwere Krisis
mußte die Folge sein. Vor Jahren war es schon einmal
soweit. Damals hatten dann aber sämtliche Salpeterwerke
sich zu einem Ring zusammengeschlossen, der ,„Com-
binacion“, die festsetzte, wie viel jede Gesellschaft jährlich
gewinnen durfte. War z. B. die Gesamtproduktionsfähig-
keit aller Werke ıco Millionen und wurde der Welt-
bedarf für das nächste Jahr auf 45 Millionen geschätzt,
so durfte jede Gesellschaft nur 45 v.H. von der Menge,
auf deren Gewinnung sie eingerichtet war, erzeugen.
Auf die Dauer ist ein solcher Zustand nicht haltbar, da
nun wie Unkraut Werke aus dem Boden schießen.
Firmen, die schon drei Werke besaßen, bauten un-
mittelbar daneben neue große im Werte von vielen
Millionen Mark, die sie aber gar nicht in Betrieb nahmen.
Denn diese Werke sollten nur ihren Anteil an der Pro-
duktion erhöhen, die Menge selbst konnte schon mit den
alten Offizinen erzielt werden. So entstanden in der
schauerlichen Einöde Werke fertig bis zur letzten Niete,
um eventuell wieder zu verrosten.
Eine Anzahl der größeren Gesellschaften, vornehm-
lich die deutschen und englischen, die rationell durch
Verwendung der neuesten Einrichtungen arbeiteten und
Valparaiso und die Salpeterküste. 27
billig große Mengen liefern konnten, verhinderten deshalb
Armor. April 1909 die Erneuerung "des: Ringes. Jetzt
können sie ihr Erzeugnis ganz auf den Markt bringen
und kommen durch den großen Umsatz auch bei niedrigem
Preise auf ihre Kosten, während die schlechter gestellten
Werke, hauptsächlich sind es chilenische und spanische,
eins nach dem anderen den Betrieb einstellen müssen.
Abb. ı7. Hafen von Iquique.
Diese Eigenart des Salpetergebiets und seine Ent-
wicklung beeinflussen natürlich auch die Häfen. Wo in
der Pampa Werke entstehen, werden an der Küste Häfen
notwendig, wo Werke vergehen, ist der Hafen überflüssig,
falls nicht noch andere Faktoren sein Vorhandensein be-
dingen. Das wird uns eine Betrachtung der wichtigsten
Häfen zeigen. Die Salpeterküste gehört politisch zu zwei
Provinzen, von denen Tarapaca die nördliche, Antofagasta
die südliche ist. Iquique ist die Hauptstadt von Tara-
paca und die wichtigste Stadt Nordchiles überhaupt,
übertrifft auch schon durch seine Einwohnerzahl von über
28 Meereskunde.
40000 alle anderen Orte. Wenn man sich der Küste
von Iquique nähert, so ist zunächst wenig zu er-
kennen. Grau in grau, eintönig und trostlos, im Vorder-
grunde eine Sandfläche mit vorgelagerten Klippen, an denen
die Wogen branden, und dahinter hoch und steil, mauer-
gleich das Küsten-
gebirge. Dann, und
das ist bezeichnend,
unterscheidet man zu-
erst eine Anzahl grell-
gestrichener Wasser-
tanks an den Berg-
hängen und schließ-
lich in der Küsten-
ebene die Stadt. Eine
wenige Hundert Meter
lange und breite Insel,
etwa einen halben
Kilometer vomStrand
entfernt, bildet zu-
sammen mit einem
stumpfen Vorsprung,
Abb. ı8. Einnahme von Salpeter aus auf dem die "Stadt
Lanchen. liegt, den Schutz der
sonst offenen Reede
nach Süden. Nach Norden, von wo im Winter ge-
egentlich hohe Dünung kommt, ist kein Schutz vor-
handen. Doch kommen Stürme an der ganzen Sal-
peterküste kaum vor, so daß Windschutz auch entbehrt
werden kann. Hafenanlagen für Seeschiffe fehlen ganz,
Man ist auf den Verkehr mit Booten und Leichtern, die
eine Anzahl Brücken zum Laden und Löschen haben,
angewiesen. Dadurch werden alle Arbeiten sehr verzögert
und verteuert. Man will deshalb an der Südseite der
Valparaiso und die Salpeterküste. 29
Insel ein 709 m langes Brechwasser errichten, in dessen
Schutz etwa 1300 m Kai gebaut werden kann. Eventuell
soll auch Iquique Freihafen werden. Doch brauchen solche
Projekte in Südamerika zur Ausführung sehr viel Zeit.
Im Hafen von Iquique selbst fällt meist die große
Anzahl Segelschiffe auf. Damit kommen wir zur Be-
Abb. ıg9. Strand mit Wrack südlich Iquique.
deutung des Salpeters für die Segler, einem Punkt, der
für die Schiffahrt von größter Wichtigkeit ist. Die Zeiten,
in denen dem Segler das Weltmeer gehörte, sind lange
entschwunden. Er mußte überall dem Dampfer weichen
und hielt sich schließlich auf großer Fahrt nur noch für
einige Massengüter, wie Kohle, Getreide, Salpeter, Reis,
Petroleum, Holz. Reis kommt jetzt fast nur noch mit
Dampfern, Petroleum wird in Tankschiffen billiger be-
tördert, und auch für die anderen Güter haben sich in den
letzten Jahren wirtschaftlichen Tiefstandes Trampdampfer
für jede annehmbare Frachtrate angeboten. Geblieben ist
30 Meereskunde.
den Seglern fast nur noch Getreide von Australien, Holz
und gleichfalls Getreide von den Westhäfen Nordamerikas
und in ersterLinie Salpeter von der Westküste. Daraus ergibt
sich für die Ausreise nach jenen Gegenden die Mitnahme
von Stückgütern und besonders von Kohle und Koks,
die auch in den Salpeteroffizinen und den Minenwerken
Abb. 20. Reede von Caleta Buena.
Nordchiles in großen Mengen gebraucht werden. Es hat
sich aus diesem Bedürfnis heraus die rege Fahrt mit
Kohle zwischen Australien und der Westküste, die mit
Seglern betrieben wird, entwickelt. Die Fahrt mit der
Westküste ganz Amerikas und besonders die Salpeterfahrt
hält also fast allein noch die Segelschiffahrt. Welche
Folge das Ende der Salpeterindustrie, das in absehbarer
Zeit erfolgen muß, und ebenso die Vollendung des Pa-
namakanals für die reine Segelschiffahrt haben wird, ist
deshalb leider klar. Vielleicht verhindert die Einführung
Valparaiso und die Salpeterküste. 31]
von Motoren den weiteren Niedergang, vielleicht hält sie
ihn nur auf. Noch aber herrscht in allen Salpeterhäfen
der Segler vor und verleiht ihnen damit ein besonderes
Gepräge. Laas gibt z. B. an, daß er 1904 in Iquique
unter 33 Frachtschiffen nur einen Dampfer sah.
Die Stadt Iquique bietet, mit anderen Salpeterplätzen
verglichen, ein sehr freundliches Bild. Saubere Häuser,
die vielfach Holztäfelung
besitzen, rahmen die sich
rechtwinklig schneidenden
Straßen ein. Die vielen
Veranden nach der Straße
zu zeigen europäischen Ein-
fluß. In der Nähe der Lan-
dungsbrücken befindet sich
der Pratplatz — Aaturo
Eratopierte sich: in der
Seeschlacht bei Iquique
1879, ohne dadurch etwas
zu erreichen, und ist jetzt
der Nationalheld der Chi-
lenen —, der durch das Abb. 2ı. Aufzüge in Caleta Buena.
frische Grün der mit vieler
Mühe geschaffenen und erhaltenen Pflanzenanlagen ein
einzigartiges Bild an der ganzen Küste bietet. Die
Erde mußte auf Schiffen hergebracht werden, wie über-
haupt alles, was sonst der Mensch braucht, eingeführt
werden mub. Auber Salpeter, Salz, Borax- und Erzen
wird nichts gewonnen, und höchstens kann man
Wasser durch Destillation von Seewasser an Ort und
Stelle herstellen. Eine Straßenbahn ist vorhanden und
vermittelt am Strand entlang den Verkehr mit dem
eine halbe Stunde südlich von Iquique gelegenen Cavancha.
Dort befindet sich ein großes Hüttenwerk, doch lernt
Meereskunde.
05}
15)
man Cavancha meistens nur als Vergnügungort mit
seinen Anlagen für Seebäder und seinen Restaurants
kennen. Auf die Wüste oberhalb Iquique, die hier
Pampa de Tamarugal heißt, führt die Eisenbahn. Dieser
Teil des Salpetergebietes ist mit zuerst erschlossen und
enthält viele große Werke. Von deutschen Firmen hat
das Haus Gildemeister aus Bremen bei Iquique Offizinen;
die meisten Offizinen sind aber hier wohl in englischen
Händen.
Nördlich von Iquique liegen die Salpeterhäfen Pisa-
eua, Junin und Caleta Buena. Alle drei habenzar
schluß an das Bahnnetz der Iquique pampa, aber für
Pisagua und Junin sind die Glanzzeiten vorüber, und hier
wird wohl auch das Ende der Salpeterherrlichkeit am
trühesten eintreten.
Pisagua hat auch unter wiederholtem Auftreten
elementarer Ereignisse zu leiden gehabt. 1868 wurde es
durch ein großes Erdbeben fast vernichtet, 1879 zerstörten
es chilenische Granaten, dann folgten Brände und schlieb-
lich vor einigen Jahren Blattern und Pest. Infolgedessen
dürfte die Einwohnerzahl 5000 nicht übersteigen.
Anders steht es mit Caleta Buena, dessen Ent-
wicklung neueren Datums ist. Allerdings bedurfte es
hier der Überwindung ganz bedeutender Schwierigkeiten,
um überhaupt einen Verschiffungsplatz zu schaffen. Un-
mittelbar senkt sich bei Caleta Buena — rund 30 km
nördlich von Iquique — . das Küstengebirge zum Meer,
Platz für eine Ansiedlung überhaupt nicht lassend. Und
doch hat der Mensch sich zu helfen gewußt. Die Häuser
kleben am Abhang und sind teilweise sogar auf Pfählen
in das Meer hinausgebaut. Den Verkehr mit der Außen-
welt vermittelt nur das Meer sowie ein Aufzug, der zu
der Eisenbahnstation am Abfall der Küstenkordillere
hinaufführt. In schwindelnder Fahrt unter einem Winkel
Valparaiso und die Salpeterküste. 22
von 30 bis 45°, bei 600 m Höhenunterschied, werden auf
einem Schienengeleise die unten ausgeschifften Waren in
offenen Eisenbahnkarren nach oben, der Salpeter nach unten
befördert. Wenn man mitfahren will, und es steht gerade
kein Personenwagen zur Verfügung, so legt man sich auf
nennen mai
nl ne rn
Pen >
———
Abb. 22. Tocopilla; auf den Klippen Möven.
die Kohlensäcke, klammert sich fest und gelangt so auf
die Höhe. Die Ortschaft ist unsagbar trostlos, und die
Bewohner sind in allem auf den Bezug von Iquique an-
gewiesen. Nur die Toten werden in der Nähe beerdigt,
doch muß man, um zum Friedhof zu gelangen, auf
schmalen und steilen Bergpfaden aufwärtsklimmen. Dort
kann man auf dem ungepflesten und mit Mühe dem
steinigen Berghang abgewonnenen Friedhof auch Gräber
deutscher Seeleute finden.
4 Meereskunde.
[>
Tocopilla ist der nördlichste Hafen der Provinz
Antofagasta, der in dem letzten Jahrzehnt einen großen
Aufschwung genommen hat. Er verdankt ihn im wesent-
lichen den großen Slomanoffizinen der Tocopampa. Die
Stadt, von einigen Tausend Seelen, liegt auf einer Sand-
ebene am Ausgang einer tief in das Küstengebirge ein-
gerissenen Schlucht, die der Bahn die Möglichkeit zum
Aufstieg gewährt. Klippen, weiß überzogen von den
Exkrementen der Seevögel, bilden die südliche Begren-
zung der ganz flachen Bucht und geben, soweit sie den
Strand selbst bilden, Gelegenheit zum Aufbau von
Landungsbrücken. Deshalb geht hier die Abfertigung
der Schiffe verhältnismäßig schnell von statten, falls nicht
zuviel auf einmal auf der Reede ankern, um Lebensmittel,
Kohlen und Maschinen zu löschen und Salpeter zu laden.
Daneben wird auch noch Kupfer mitgenommen, das in
der am Ausgang der Schlucht gelegenen Schmelze ge-
wonnen wird. Es stammt aus dem Küstengebirge, in
dem man auf Schritt und Tritt Kupfererze findet. So
erklären sich auch die kleinen Siedlungen Gatico und
Cobija südlich von Tocopilla, in denen zwar kein Salpeter,
wohl aber Kupfer und Kupfererze verschifft werden.
Abb. 23. Küste beim Morro Moreno.
Valparaiso und die Salpeterküste. 35
Abb. 24. Mejillones gegen den Morro Mejillones.
Gerade dort ragt das Gebirge sehr schroft und steil
empor.
Die übrigen wichtigen Salpeterhäfen der Provinz
Antofagasta sind dann noch Mejillones, Antofogasta und
Taltal.e Über Taltal, den südlichsten Hafen ist nicht
viel zu sagen. Er stellt schon den Übergang zum mittel-
chilenischen Gebiet vor. Hin und wieder findet sich
eine Quelle mit etwas Gebüsch, und sogar eine kleine
Oase mit Obstbäumen und Blumen liegt in der Nähe von
Taltal.e Auch tritt bei der Ausfuhr Gold, Silber und
Kupfer neben dem Salpeter stark hervor. In der Pampa
von Taltal liegen wieder manche deutsche Offizinen.
Antofagasta und Mejillones nehmen dagegen eine
Sonderstellung unter den Salpeterhäfen ein. In der Breite
des südlichen Wendekreises schiebt sich eine breite,
stumpfe Halbinsel in den Ozean hinaus, die als Kern den
1300 m hohen Morro Moreno mit seinem nördlichen Aus-
läufer, dem Morro Mejillones, hat. Eine breite Sandfläche
bildet die Verbindung mit dem Festland. Diese Halb-
36 Meereskunde.
insel hat im Norden und Süden je eine tiefe Bucht, die
nun die einzigen wirklichen Häfen der ganzen Salpeter-
küste vorstellen. In der Südbucht liegt Antofagasta, in
der nördlichen Mejillones. Im Hinterland von Antofagasta
waren schon früh besonders in der Nähe von Caracoles
reiche Minen entdeckt, und so entstand als Hafen für
dieses Gebiet Antofagasta an der öden Küste. Der
Hafen bot den Schiffen der damaligen Zeit guten Schutz,
Im peruanisch - bolivianisch - chilenischen Krieg bildete
Antofagasta ein wertvolles Kampfobjekt, das, im Krieg
erobert, im Frieden an Chile fiel. Trotzdem war
Bolivien, das nun ganz vom Meer abgeschnitten war, auf
Antofagasta als Hafen angewiesen und aus dieser Not-
wendigkeit- entstand die Bahn, die die Minenbezirke des
südlichen Boliviens mit der Außenwelt verbindet. Durch
die Atacama, die einsamen Schuttäler der Hochkordillere
und die Salzsimpfe der zentralen Hochebene dringt der
Schienenweg fast 4000 m hoch bis Oruro, und seine Fort-
setzung nach La Paz ist geplant. Als dann weiter die
Salpeterschätze der Atacama in Abbau genommen wurden,
wuchs Antofagasta schnell, so daß die Einwohnerzahl
1907 32 500 Seelen betrug. Wenn nun auch das Ende
des Salpeters dank der Verbindung mit Bolivien nicht
das Ende Antofagastas bedeutet, wie es bei anderen Sal-
peterhäfen der Fall sein wird, so kann doch nicht ver-
schwiegen werden, daß Antofagasta seinen Höhepunkt
bereits erreicht hat. Der Hafen, der früher genügte,
wird mit der Zunahme der Schiffsgröße immer weniger
benutzbar, da seine Tiefe zu gering ist. Um ihn allen
Schiffen zugänglich zu machen, müßten 5 bis 6 m Fels-
boden fortgesprengt werden oder aber an etwas anderer
Stelle große Bauten, die viele Jahre Arbeit erfordern und
gleichfalls viele Millionen kosten, ausgeführt werden.
Es muß nun Mejillones in die Bresche treten, das sich
Valparaiso und die Salpeterküste. 37
dazu vortrefflich eignet, denn die weite und geräumige
Bucht bietet ganzen Flotten einen sicheren Hafen, und
der Verkehr mit dem Hinterland ist durch die Bahn, die
Mejillones mit der Antofagasta—Orurobahn verbindet, ge-
sichert. In dieser Bucht stand schon zur bolivianischen
Zeit ein kleines Hafenstädtchen, das Guano und Metalle
ausführte. Aber Antofagasta erdrückte es, so daß es
ee
ME £ Hi -
a er
s Fe
Abb. 25. Straße in Mejillones.
ganz aufgegeben wurde. Erst vor einigen Jahren wurde
es neu besiedelt. Infolgedessen ist in Mejillones noch
alles äußerst primitiv. Am Strand befinden sich lediglich ein
Paar einfache hölzerne Bootsbrücken. Die Eisenbahngesell-
schaft hat aber große Summen zum Ausbau einerMole ausge-
worfen, und damit dürfte zunächst dem allerdringendsten
Bedürfnis im Hafen Genüge geleistet sein. Viel mehr ist
in der „Stadt‘‘ zu leisten. Sand, Staub, Bretter, Well-
blech und darüber am Tage die glühende Sonne ist wohl
alles, womit Mejillones aufwarten kann. Der Ort bietet
so unendlich wenig und ist so verzweifelt stumpfsinnig,
38 Meereskunde.
daß man selbst nach langer Seefahrt den weiteren Auf-
enthalt an Bord einem Besuch des Landes vorzieht. In
gesundheitlicher Beziehung läßt Mejillones gleichfalls viel
zu wünschen übrig, und ferner hat es noch die allgemeine
Unsicherheit mit Antofagasta gemein. Im Hafen der
letzteren Stadt wurde noch 1908 von bewaffneten Ban-
diten der Versuch gemacht, einen Dampfer der Ham-
burg-Amerika Linie nachts zu berauben, und in Mejillones
wurden 1909, um ähnliches zu verhüten, die Nachtwachen
auf Schiffen mit Waffen versehen. Beraubung der Güter
endlich steht stets auf der Tagesordnung. Doch das sind
Zustände, deren die Behörden mit dem nötigen guten
Willen schon Herr werden können, und sie treten auch
ganz zurück gegenüber den günstigen Verhältnissen,
denen Mejillones sein Aufblühen verdanken wird. Denn
die Tatsache steht fest, daß die Zukunft unter den Häfen
der Salpeterküste Mejillones gehört.
Literatur.
Bürger, ©. Acht Lehr- und Wanderjahre in Chile, Leipzig 1909.
Espinoza, E. Jeografiä descriptiva de la Repüblica de Chile,
Santiago de Chile 1903.
Kaerger, K. Landwirtschaft und Kolonisation im Spanischen
Amerika, Bd. II, Leipzig 1901.
Laas, W. Die Segelschiffahrt der Neuzeit; Meereskunde 3. Jahrg.,
3. Heft. Berlin 1909.
Martin, C. Landeskunde von Chile, Hamburg 1909.
Plagemann, A. Der Chilesalpeter, Berlin 1903.
Steffen, H. Das Erdbeben in Mittelchile vom 16. August 1906,
Ztschr. Ges. f. Erdk. Berlin 1906.
Der Pilote, Beiträge zur Küstenkunde, Hamburg.
Die Abbildungen 6 und 8 sind nach Aufnahmen von Herrn
P. Tietz in Valparaiso, die Abbildung 7 nach Photographie von
Herrn Maschinist Wolf, Postdampfer Rhakotis. Die übrigen Auf-
nahmen sind vom Verfasser.
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler &Sohn,
Berlin SW, Kochstraße 68—71.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG SIEBENTES HEFT
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen
Schiffen.
Von Professor Dr. H. Maurer.
m auf der allseitig unterschiedslos sich ausdehnen-
2) den Meeresfläche ein Schiff in gewollte Richtun-
gen bringen, d. h. navigieren zu können, und es in
einer solchen erhalten, d. h. steuern zu können, bedarf de
Seemann eines Richtungsanzeigers, der auf der Erde feste
Richtungen (Azimute) unabhängig von Lage und Be-
wegung des Schiffes angibt. Irdische Objekte von be-
kannter Himmelsrichtung fehlen im allgemeinen, und die
himmlischen, die Sonne und die Sterne, ändern fort-
während ihr Azimut, so daß es astronomischer Beob-
achtung und Rechnung bedarf, um nach ihnen den Kurs
des Schiffes zu finden; außerdem fallen diese Hilfsmittel
bei Wolkenbedeckung und unsichtiger Luft aus. Der
Versuch aber, etwa von einer astronomischen Bestim-
mung bis zur nächsten den Kurs des Schiffes beibehalten
zu wollen, indem man das Steuerruder mittschiffs hält,
würde ebenso erfolglos sein wie der eines Menschen, mit
verbundenen Augen längere Zeit geradeaus gehen zu
wollen.
Das Instrument, das seit mehr als einem halben Jahr-
tausend als alleiniger Richtungsanzeiger dieser Art in Be-
tracht kam, istder Magnetkompaß. Seine Verwend-
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 7. I
Meereskunde.
[89)
barkeit beruht darauf, daß ein um eine senkrechte Achse
drehbarer Magnet unterm Einfluß des Erdmagnetismus
sich überall in den magnetischen Meridian einstellt,
der vom astronomischen um einen an verschiedenen
Orten zwar verschiedenen, aber bekannten Winkel, die
Mißweisung, abweicht. Somit kann nach der mit einem
solchen drehbaren Magneten fest verbundenen Kompab-
rose, wenn sie durch das Schiff nicht beeinflußt wird,
überall gesteuert und navigiert werden; man muß nur
wissen, wo man ist, und aus einer Weltkarte der Miß-
weisung entnehmen, um welchen Winkel hier die mag-
netischen Richtungen von den astronomischen abweichen,
Zur Zeit der hölzernen Schiffe war in der Tat sonst
nichts nötig; aber längst sind die Zeiten dahin, wo das
Schiffsbaumaterial im Walde wuchs. Heute wird fast
das ganze Schiff und ein großer Teil seiner Einrichtungen
aus Eisen und Stahl erbaut; und diese Eisenteile rufen
Ablenkungen‘des- Kompassessaus dessen
Erdmagnetismus geforderten Lage hervor. Und zwar
zeigt das Schiffseisen nicht nur gleichbleibenden Mag-
netismus, sondern der Erdmagnetismus induziert im
Schiff auch wechselnde Magnetpole je nach dem Kurs,
der Seitenneigung des Fahrzeugs und nach dem Ort auf
der Erde. Und auch der sogenannte feste Magnetismus
ändert sich im Laufe der Zeit je nach der Beschaffenheit
des Eisens und seiner Behandlung. Eine eigene Wissen-
schaft mußte entwickelt werden, um in der bunten
Mannigfaltigkeit der Kompaßablenkungen auf eisernen
Schiffen Gesetze zu erkennen und die Kompasse von
diesen Fehlern zu befreien, indem man sie mit Magneten
und Weicheisenkörpern in geeigneter Anordnung umgab
und in der nächsten Kompaßumgebung das Schiffseisen
durch unmagnetisierbares Material ersetzte. Mußte da-
bei aber Stahlfestigkeit des Materials gewahrt bleiben, so
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 3
war der teure hochprozentige Nickelstahl erforderlich,
der zum vierten Teile aus Nickel besteht. Wie genau
immerhin sich diese Kompaßfehler auch auf eisernen
Schiffen beseitigen lassen, zeigt die Präzision, mit der
z. B. die transatlantischen Dampfer ihren Weg auf dem
Weltmeer einhalten, wo man geradezu von einer ozea-
nischen Chaussee sprechen kann. Freilich kommt hier
die große Einzelerfahrung hinzu, die die fortwährende
Wiederholung desselben Weges liefert, und die Möglich-
keit, auf den Handelsdampfern die Umgebung der Kom-
passe genügend eisenfrei zu halten.
Viel schwieriger gestalten sich die Verhältnisse auf
den Kriegsschiffen, wo die Aufgaben des Angriffs
und der Verteidigung in weitergehendem Maß Eisen und
Stahl auch ın der nächsten Umgebung des Kompasses
fordern. An dem Platz, von dem im Ernstfall der Kom-
mandant das Kriegsschiff leitet, im Kommandoturm,
umgeben in geringstem Abstand dicke Stahlwände den
Kompaßb, der hier unmöglich entbehrt werden kann; und
vor ihm drehen sich die gepanzerten Geschütztürme mit
ihren bis ı5 m langen Stahlrohren, die sich einzeln heben
und senken lassen. Hier gelingt es nur ın beschränktem
Maß, den Magnetkompaß verwendbar zu erhalten, zumal
da die Eisenmassen durch die Magnetinduktion seitens
des Erdmagnetismus diesen abschwächen. In engen
Türmen kann die magnetische Richtkraft dadurch bis
auf Y, ihres ungestörten Wertes sinken, und auch in den
magnetisch günstigsten pflegt sie nicht viel über 1, des
natürlichen Wertes zu behalten.
In einer Schlacht gar ändert sich schon durch die
starken Erschütterungen der eigenen Schüsse und noch
mehr durch feindliche Treffer der Schiffsmagnetismus
derartig, daß die Kompaßfehler völlig unbekannt werden.
Neben den Eisenteilen wirken auf die Kompasse die elek-
I %
4 Meereskunde.
trischen Anlagen wie Scheinwerfer, Dynamomaschinen,
Elektromotoren und die starken, oft in mehrfacher Lage
die Wände bedeckenden Kabel, die von Hunderten von
Amperes durchflossen werden und dadurch die Kom-
passe ablenken.
Diese Schwierigkeiten haben die Kaiserliche Marine
vor die Frage gestellt, ob sich nicht ein vom Erd
magnetismus ganz. unabhaneıeer Roche
tungsanzeiser finden ließe. Auch auf denzUnter
seebooten führte die Aufgabe, für ihre allseitig von Eisen
umschlossenen Räume Richtungsanzeiger zu beschaffen,
zu der gleichen Forderung. Und von dieser Seite her ist
denn auch Herr Dr- Anschütz-Kaempie dı
die Welt die erste brauchbare Lösung dieser Frage ver-
dankt, ausgegangen. Er hatte den Plan, eine Nordpolar-
expedition im Unterseeboot zu unternehmen, und suchte
sich dazu einen unmagnetischen Richtungsweiser zu
konstruieren.
Der wunderbare Apparat, der die Lösung ermög-
lichte, ist ein Kreisel. Dr. Anschütz benutzte die
Tatsache, daß ein rotierender Kreisel, wie man ın oft
mißverstandener Fassung zu sagen pflegt, die Richtung
seiner Achse zu erhalten strebt. Genauer gesagt: kom-
binieren sich die einem laufenden Kreisel von auben
mitgeteilten Bewegungsantriebe oder Beschleunigungen
mit der vorhandenen Rotationsbewegung. Und daß das
Ergebnis meist nur eine kleine Winkelbewegung der
Kreiselachse werden kann, liegt einmal daran, daß die
Kreiselteilchen schon sehr hohe Geschwindigkeiten haben,
im Verhältnis zu denen die von außen hinzugefügten
nur kleine Zusätze darstellen, und andrerseits daran, dab
die Aufhängung und die Rotation des Kreisels die Über-
tragung von äußeren Bewegungsantrieben auf die Kreisel-
teilchen sehr erschwert. Unter Kreisel ist hier sters
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 5
ein nach allen Seiten drehbarer Rotationskörper zu
denken, der um seine Symmetrieachse rotiert.
Was die hohen Eigengeschwindigkeiten der Kreisel-
teilchen anlangt, so sei bemerkt, daß die Kreisel der
Anschützschen Kreiselkompasse in jeder Minute
20 000 Umläufe machen; das ergibt, da die Kreiselscheibe
ı5 cm Durchmesser hat, für die Teilchen am Umfang
eine Weggeschwindigkeit von 150 Metern in der Sekunde,
mit der man die Reise um die Erde an ihrem Äquator
in 3 Tagen machen würde, und die das Fünffache der
neuesten Rekordgeschwindigkeiten unserer Rennauto-
mobile und Aeroplane in weiter Fahrt darstellt. Schon
einer in gerader Bahn mit solcher Geschwindigkeit dahin-
sausenden Masse würde man durch eine Beschleunigung
nach der Seite nur eine kleine Winkelabweichung erteilen
können. Es kommt aber hinzu, daß die Kreiselteilchen
nicht in gerader Bahn sondern in engen Kreisen laufen.
\Vie dies wirkt, möge Abbildung ı veranschaulichen.
Suchen wir durch Drucke auf die Kreiselachse in
Rachtüns der "Pieile D (Abbildung Tr) dem’ Kreisel zu
kippen, so erteilen wir der Stelle O die größte Be-
Sehleumisuns auf uns zü, der Stelle U’die größte "von
Hnsewees Der micht rotierende "Kreisel würde sich
also um den Durchmesser LR drehen, so daß OU der
am stärksten gekippte Durchmesser wird. Beim laufen-
den Kreisel aber kombinieren sich die eben erwähnten
Beschleunigungen mit den schon vorhandenen Ge-
schwindigkeiten rechts herum (Pfeil r); und der am
stärksten gekippte Durchmesser wird infolgedessen
recht maehr.dıe Kace <OUThaben, wie beim ruhenden
Kereisels sondern "segen OU im Sinner der? Kreisel-
torfasion verdreht sein. Betrachten wir in der Tat ein
einzelnes laufendes Teilchen, so erhält es zwar ın O eine
Beschleunigung auf uns zu; aber nur in geringstem Maße
6 Meereskunde.
kann es ihr folgen; denn schon nach einem halben Um-
lauf — d. i. bei dn Anschütz-Kreiseln noch !/sss
Sekunde — erhält dasselbe Teilchen in U die gleiche
Beschleunigung von uns weg. Überhaupt sind die Be-
schleunigungen auf den \Viertelkreisen OR und RU ein-
ander symmetrisch entgegengesetzt gleich und heben sich
in ihrer Wirkung fast völlig auf. Ebenso ergeht es auf
dem Wege ULO. Die Punkte U und O bleiben also
nahezu unverschoben. Dagegen erhält das Teilchen
m) während seines Wegs
Vasp über den oberen Halb-
® kreis LOR überall Be-
D schleunigungen aufuns
zu, auf dem Halbkreis
D RUL überall von uns
weg. An den Enden
Doz dieser Halbkreise ist
Ir also die stärkste Ver-
Abbildung ı. Winkelbewegung der schiebung erreicht, im
Kreiselachse. Punkt .Rı auf uns
inL von uns weg; und
zwar hängt der Betrag der Drehung von dem Verhältnis der
von außen einwirkenden Beschleunigung zur Umfangsge-
schwindigkeit des Kreisels ab. Dem Druck in der Rich-
tung D also, dem der ruhende Kreisel durch Drehung
um den wagerechten Durchmesser LR folgen würde,
weicht die Achse des schnell rotierenden Kreisels nach
der Richtung p aus, als wäre der Druck um 90° im Sinne
der Kreiselrotation verdreht. Und zwar ist diese Winkel-
bewegung der Kreiselachse um so langsamer, je schneller
der Kreisel um seine Achse rotiert. Durch ein passendes
Gewicht am Achsenende kann man so einer wagerechten
Kreiselachse jede horizontale Winkelbewegung erteilen.
Umgekehrt kann man die Kreiselachse drehenden
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 7
Einflüssen, insbesondere auch denjenigen des Kreisel-
gewichtes, durch die Art dr Aufhängung entziehen,
indem man den Kreisel um seinen Schwerpunkt allseitig
drehbar macht, wie dies Abbildung 2 zeigt.
Der Kreisel g (Abbildung 2), der um seine Achse n
rotiert, laßt sichrum die Achse q neigen und um die
Achse | im Azımut drehen. Diese drei Achsen schneiden
sich im Kreiselschwerpunkt. Alle vom Kreiselgestell r
übertragenen Stöße treffen einen so aufgehängten Kreisel
genau im Schwerpunkt, der mit dem Drehpunkt zu-
sammenfällt, und vermögen deshalb ebensowenig wie die
eigene Schwere den Kreisel zu drehen. Ein solcher voll-
kommen frei drehbarer Kreisel wird daher, wenn nur
die Reibungen in den Achsenlagern verschwindend klein
sind, unbeirrt von allen Bewegungen seines Gestells r
sich selbst parallel bleiben. Auch die Erdrotation wird
ihn aus seiner Richtung im Weltraum nicht heraus-
bringen; seine Achse wird immer auf denselben Fixstern
zeigen, auf den sie antänglich eingestellt war. Eine
vesrekaveauur der Erde wird die Achsevemes
vollkommen frei drehbaren Kreisels also nur dann be-
halten, wenn sie zur Erdachse parallel gestellt ist, da
nur diese einzige auf der Erde feste Richtung während der
Erddrehung zugleich im Weltraum unverändert bleibt.
Wollen wir aber erreichen, daß die Achse eines solchen
Kreisels, statt sich im Raum parallel zu bleiben, irgendwo
auf der Erde horizontal eine feste Azimutrichtung behält,
so müssen wir durch ein Zusatzgewicht am einen Achsen-
ende künstlich der Achse eine horizontale Winkelbe-
wegung erteilen, die sie im Weltraum dieselben Lagen
durcheilen läßt wie die betreffende irdische Azımutgerade.
Derartige Azimut-Kreisel hat die Firma
Hartmannu. Braun in Frankfurt a. M. nach An-
regungen von Herrn Professor Ach gebaut. Sie sind
Meereskunde.
(0,2)
lz
S 94 zum Tochterkompas
IMZAAL I
SI ZZ/ITISSSS
Abbildung 2. Schema des Azimutkreisels von Hartmann und Braun.
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen, 6)
noch nicht in die Kaiserliche Marine eingeführt, aber an
Bord erprobt worden, und zwar mit dem Erfolge, dab
weitere Erprobung lohnend erscheint. Ein schematisches
Bild ihrer Einrichtung gibt Abbildung 2. Der Kreisel g
ist der Kurzschlußanker eines mehrphasigen Wechsel-
strommotors und wird durch den elektrischen Strom in
rasche Rotation versetzt. Sein Rahmen z trägt am obe-
ren Ende die Kompaßrose. Durch eine besondere Ein-
richtung wird das Kreiselgestell r, falls es mit dem Schiff
gegen die Azimut haltende Kreiselachse n verdreht wird,
immer wieder in die gleiche Stellung gegen sie zurück-
gedreht. Bei Verdrehung verschiebt nämlich ein sonst
durch die Schirme s, und s, abgeblendeter Luftstrahl eines
Gebläses d, und d, zwei Kupferplatten m, und m,, die
zwischen einem Wechselstrommagneten e und einer
Aluminium-Kreisscheibe a stehen, in unsymmetrische
Lage. Infolgedessen dreht die Scheibe a in dem nunmehr
unsymmetrischen Kraftfeld sich und durch das Zahnrad v
das ganze Kreiselgestell r so lange, bis wieder Symmetrie
eingetreten ist, d. h. bis das Kreiselgestell ebenso wie
der Kreisel trotz der Schiffsdrehung seine unveränderte
Azimutstellung eingenommen hat. Eine elektrische
Übertragung mit Hilfe eines Wechselstromtransformators
i, i, dreht die Rose eines als Tochterkompaß ausgebil-
deten Phasenmessers an einer anderen Stelle des Schiffes
stets um dieselben Winkel, um die sich das Kreiselgestell
des Gebers gegen das Schiff dreht, so daß auch nach
dem Tochterkompaß, der besonders wenig Raum bean-
sprucht, gesteuert werden kann. Die Abbildung 3
zeigt den montierten Mutter- und Tochterapparat, die
etwa II2 cm hoch sind.
Der Vorteil dieser Konstruktion liegt darin, daß der
um den Schwerpunkt drehbare Kreisel gegen alle Schifts-
bewegungen und Stöße äußerst wenig empfindlich. ist.
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 7. 2
10 Meereskunde.
Der Nachteil ist aber der, daß der Kreisel, einmal aus
seiner Richtung gekommen, keinerlei Bestreben hat, in
die verlassene Richtung zurückzukehren, vielmehr nur
die jeweilig erreichte festzuhalten sucht, und daß man
aus anderer Quelle wissen muß, in welchem Azimut die
Mutter Tochter
Abbildung 3. Mutter und Tochter des Azimut-Kreisels
von Hartmann und Braun.
Achse steht. Von diesem Richtungsanzeiger kann also
nichts weiter gefordert werden, als daß seine Fehler
innerhalb einer gewissen Zeit unter einer vorgeschrie-
benen Grenze bleiben. Er ist nach dem Grundgedanken
seiner Konstruktion ein Steuerkompaß; als Navi-
gatıionskompaß kann er nur für beschränkte Zeit dienen.
Im = Gegensatz. hierzu stellt der Merıidsame
kreıserloder Birma Anschutz.&2 Co, seinessehee
selbsttätig in die astronomische Nordrichtung ein; er
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. TI
will also ein absoluter Richtungsanzeiger sein, der kein
Kontrollinstrument bedarf, und dessen Fehlerweisungen
nicht abhängig von der Laufzeit sind. Allerdings mußte
diese Eigenschaft, die erst tatsächlich den Kreiselkompaß
dem Magnetkompaß vergleichbar macht, dadurch er-
kauft werden, daß der Schwerpunkt dieser Kreisel tiefer
als ıhr Aufhängepunkt gelegt wurde. Infolgedessen
geben alle Beschleunigungen, die dem Kreiselhaus erteilt
werden, weil Schwerpunkt und Aufhängepunkt nicht zu-
sammenfallen, zu Ausschlägen der Kreiselachse Veran-
lassung; aber sie schwingt immer wieder in die Nord-
richtung ein.
Wie kommt dies zustande? Welche geheimnisvollen
Kräfte zeigen der Kreiselachse, wo die astronomische
Nordrichtung ist? Wir werden sehen, daß die vereinigte
Wirkung der Erdrotation und der Schwere die Kreisel-
achse in die Nordrichtung zwingt. Daß eine solche
Wirkung eintreten müsse, hat theoretisch bereits der
französische Physiker Foucault gefolgert, derselbe, der
den ersten experimentellen Beweis für die Achsendrehung
der, Prde erbrachte, als er 1851 im Pantheon ın Paris
ein langes Pendel schwingen ließ, gegen dessen Schwin-
gungsebene sich der im Saal aufgezeichnete Meridian-
strich mit der Erde immer mehr verdrehte. Die Richtig-
keit seines Schlusses, der Kreisel könne infolge der
Erdrotation als Kompaß dienen, konnte experimentell
aber erst bewiesen werden, nachdem die Elektrotechnik
beliebig lang laufende Kreisel von hoher Umlaufzahl
ermöglicht hatte. Um den Kreisel der Erdschwere zu
unterwerfen, wird er so aufgehängt, daß sein Schwer-
punkt unter den Drehpunkt fällt. Er kann sich dann
sowohl um die Senkrechte, also im Azımut drehen, als
auch jede Neigung annehmen; nur setzt sich dieser
letzteren Drehung das Kreiselgewicht entgegen, das den
o*
12 Meereskunde.
Schwerpunkt stets senkrecht unter den Aufhängepunkt
zu legen und damit die Kreiselachse wagerecht zu stellen
sucht.
Wir “denken "uns einen” solchen Kreiseti zn
Äquator aufgehängt und seine Achse wagerecht ost-
westlich gerichtet (Abbildung 4). Er sei um den Auf
hängepunkt A allseitig drehbar. Während der Erd-
drehung von I nach 2 ver-
sucht die Kreiselachse durch
ihr Beharrungsvermögen
sich selbst im Weltraum
parallel zu bleiben, also in
2 die gezeichnete Lage ein-
zunehmen, in der das nach
Osten zeigende Achsenende
n über die Horizontalebene
in ihrer neuen Lage=in®2
(Hor. 2) gehoben erscheint.
AN Die Schwere wird gegen
RS diese Hebung angehen und
ie Achse horizontal zu
Abbildung 4. Meridiankreisel am die Achse horizo
Aguator stellen suchen. Auf diesen
durch den Pfeil D ange-
deuteten Druck auf das Achsenende n antwortet der Kreisel
durch ein Ausweichen rechtwinklig dazu, und zwar geht das
Ende n nicht nach unten, wie der Druck gerichtet ist,
sondern um 90° verdreht im Sinn der Kreiselrotation,
d. i. nach Norden, da der Kreisel nach Anzeige des Pfeils
auf dem vorderen Kreiselrand von West gesehen wie
die Uhrzeiger rotiert. Die gleichartige Einwirkung
bringen das Beharrungsvermögen der Kreiselachse und
die Schwere während der Erddrehung hervor, so lange
noch das Ende n östlich vom Meridian steht. Der
Kreisel versucht sich also in eine Lage zu drehen, in der
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 13
er und die Erde gleichsinnig rotieren: von Süden gesehen
wie die Uhrzeiger.
Unter der gemeinsamen Wirkung der Erdrotation
und der Schwere schwingt also das vorher östlich
stehende Kreiselachsenende n, das wir als Nordende be-
zeichnen wollen, nach Norden hin, wobei es sıch zugleich
über den Horizont erhebt. Im Meridian angelangt er-
reicht es seine größte Erhebung; denn während es, auf
den Schweredruck reagierend, über den Meridian hinaus
nach Westen schwingt, wird das nun auf die Östseite
übergetretene Südende s infolge des Beharrungsver-
mögens der Achse bei der Erddrehung gehoben. Die
Erhebung des Nordendes laßt also nach; bei einem
weiteren Ausschlag nach Westen ist die Kreiselachse
wieder wagerecht geworden; jetzt kehrt sich die Wir-
kung um, weıl nun das Südende s bei weiterer Drehung
über die Horizontebene tritt. und die Schwere auf es
von oben drückt; das Nordende schwingt nun nach
Osten zurück, sinkt zugleich, passiert den Meridian
auf dem Rückweg in tiefster Lage und steigt dann,
auf. die Ostseite übergetreten, wieder, bis die Achse
bei 90° Ausschlag nach Ost wieder wagerecht steht und
das Spiel von neuem beginnt. Die Kreiselachse schwingt
also, ähnlich wie eine Magnetnadel um den magnetischen
Meridian, ihrerseits um den astronomischen hin und her,
nur daß damit auch schwache Hebungen und Senkungen
verbunden sind.
Steht aber die Kreiselachse an einem Punkt des
Erdäquators schon von Anfang an horizontal im Me-
Eidian, 350 bleibt sier ruhle - in. dieser "ihrer Gleich-
gewichtslage; denn in ihr bleibt die Kreiselachse bei
der Erddrehung sowohl sich selbst parallel, wie es ihr
Beharrungsvermögen fordert, als auch horizontal, wie
eszdier schwere verlanet. In Abbildine 5° sind die
I4 Meereskunde.
Geraden rA und 2A einander parallel und senkrecht zu
den örtlichen Lotlinien Mı und M2. In nördlicher
Breite aber sind aufeinander folgende Lagen einer
Horizontalen im Meridian, wie sie die Schwere verlangt,
nicht einander parallel (Abbildung 5, Geraden IB und
IIB), und Parallelen zur Erdachse, die dem Kreiseipe-
harrungsvermögen entsprechen würden, wären hier nicht
horizontal. Die Natur bequemt sich zu einem Kompro-
miß. Die Kreiselachse kann hier
nur im Meridian bleiben, indem
sie, räumlich betrachtet, von
oben gesehen, sich fortwährend
gegen die Uhrzeiger dreht, wie
in der Abbildung aus der Rich-
tung IB in die Richtung UB.
Sie wird dies unter dem Einfluß
des Kreiselgewichts tun, wenn
das Achsennordende um einen
passenden Winkel gehoben liegt;
denn dann wird das Nordende
Abbildung 5. Meridianlagen
im Raum. der Kreiselachse rechtwinklig zu
diesem vonoben wirkenden Druck
räumlich gedacht nach Westen hin ausweichen, wie dies
auch die Meridiangraden tuen; und unter einer bestimm-
ten Neigung wird die Achse dauernd im Meridian in Ruhe
bleiben. Von jeder anderen Lage aus würde sie um die
genannte Gleichgewichtslage einen flachen elliptischen
Kegel beschreiben, indem ganz analoge Wirkungen durch
Schwere und Erddrehung auch hier zustande kommen,
wie sie für einen Ort am Äquator abgeleitet wurden.
Die Gesetze dieser Schwingungen hat
Herr Dr. Martienssen, Direktor in der Kreisel-
kompaß-Fabrik von Anschütz, mathematisch abgeleitet
und an einem Modellapparat studiert, mit dem sich schon
Werner von Siemens beschäftigt hatte. Martienssen
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 15
findet die Richtkraft, die die Kreiselachse nach dem
Meridian treibt, proportional zu zwei Faktoren. Der eine
rührt von der Erde her; das ist die Winkelgeschwindig-
keit, mit der sich die örtliche Lotlinie dreht. Sie ist am
Äquator am größten: 360° in 24 Stunden, und nimmt
nach dem Pol hin ab, wie Abbildung 5 zeigt. Bei gleicher
Meridiandrehung ist der Winkel zwischen den Lotlinien
Mı und M2 am Äquator größer als der zwischen den
Lotlinien MI und MII in nördlicher Breite; und die Lot-
linie MN des Nordpols dreht sich überhaupt nicht. Am
Pol hat daher dieser Kreisel nicht mehr das Bestreben,
sich in einen bestimmten Erdmeridian einzustellen.
Seine Richtkraft ist dort verschwunden. Der andere
Faktor hängt vom Kreisel ab und mibßt den Energieauf-
wand, den der rotierende Kreisel besitzt. Dieser Faktor
ist bei der sehr hohen Umdrehungszahl sehr grob.
Ganz ähnlich liegt es beim Magnetkompaß; auch
seine Richtkraft ist zu zwei Faktoren proportional. Der
eine rührt von der Erde her; das ist die horizontale Kraft
des Erdmagnetismus, und der andere rührt vom Kompaß
her, das ist die Stärke der Rosenmagnete. Beim An-
schützschen Kreiselkompaß ist die Richtkraft etwa zehn-
mal so groß wie die des Magnetkompasses der Kaiser-
lichen Marine. Dies ist ein Vorzug des Kreisels vorm
Magnetkompaß; dagegen steht der Kreisel diesem nach,
weil seine Schwingungsdauer, d. h. die Zeit, die er zu
einem Hin- und Hergang braucht, viel größer als bei der
Magnetrose ist.
Die Schwingungsdauer wird beim Magnet-
kompaß umso kürzer, je größer die beiden Faktoren seiner
Richtkraft werden, d. h. je stärker der Erdmagnetismus
ist (am magnetischen Äquator ist die Richtkraft am
größten und an den magnetischen Erdpolen ist sie gleich
Null), und je stärker der Rosenmagnetismus ist, voraus-
gesetzt, daß beim Einsetzen stärkerer Magnete nicht die
16 Meereskunde.
im Kreise herumzuschleppende Last (das sogenannte
Trägheitsmoment) stärker zunimmt als der Rosen-
magnetismus. Das läßt sich aber beim Magnetkompaß
meist vermeiden; man kann bei ihm stärkere Magnete
einsetzen, ohne das Trägheitsmoment im gleichen Maße
oder gar stärker als den Rosenmagnetismus zu steigern.
So läßt sich beim Magnetkompaß durch Steigerung der
Richtkraft die Schwingungsdauer verkürzen. Auch beim
Kreisel gilt dies für den von der Erde herrührenden
Richtkraftfaktor; am Äquator schwingt die Kreiselrose
am schnellsten. Der vom Kreisel selbst herstammende
Richtkraftfaktor aber, die in ihn gesteckte Energie, die
proportional zu seiner Umlaufzahl ist, erhöht zwar auch
die Richtkraft; in viel stärkerm Maße aber steigert sie
sein scheinbares Trägheitsmoment um die Vertikalachse,
weil eben der rotierende Kreisel infolge des Beharrungs-
vermögens jeder Drehung der Rotationsachse hohen
Widerstand entgegensetzt. So kommen wir hier zu dem
Ergebnis: Durch Erhöhung der Umlaufzahl erreichen
wir zwar eine ausreichend hohe Richtkraft, müssen aber
auch eine außerordentlich lange Schwingungsdauer in
Kauf nehmen. Unsere Magnetkompaßrose braucht zu
einem Hin- und Hergang, obwohl die Rose stark ge-
dämpft in einer Flüssigkeit schwingt, nur 28 Sekunden,
die Kreiselrose aber ıy, Stunde. Es ist also ausge-
schlossen, während einer Kreiselschwingung auf fahren-
dem Schiff erkennen zu können, wo die Ruhelage, der
Meridian, liegt. Nur wenn die Kreiselachse nicht
schwingt, sondern in ihrer Gleichgewichtslage in Ruhe
ist, kann der Kompaß gebraucht werden. Ob die Achse
ruhig horizontal steht, kann an einer auf der Kompaßrose
parallel zur Achse montierten Libelle erkannt werden.
Bleibt deren Blase dauernd in der Mitte, so haben die
Kreiselschwingungen aufgehört. Um diesen Zustand
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 17
Sehmeller seintreten zur lassen, ist ene Dämptung
nötig, die die Schwingungen abnehmen und nach wenigen
Hin- und Hergängen den Kreisel im Meridian zur Ruhe
kommen läßt.
Ehe wir diese geniale Konstruktion von Anschütz
kennen lernen, müssen wir uns mit dem Bau des
Kreiselkompasses selbst näher bekannt machen.
Das Kreiselkompaßhaus (Abbildung 6) trägt ın kardani-
schen Ringen r, deren äuberster
zur Stoßabschwächung an den
Federn f hängt, einen mit (Jueck-
I
,. |
silber gefüllten, kreisrinnenför- IR
MM
migen Kessel K. In dem Queck- Ast
silber schwimmt ein ebenfalls L
G
ringförmiger Schwimmer S, mit
dem die Kompasrose R fest
verbunden ist. Unter ihrer Mitte
geht eine Säule nach unten, die Abpildunse Schema des me
das Kreiselgehäuse G mit den ridiankreisels von Anschütz.
Lagern für die horizontale
Kreiselachse A trägt. Der Schwerpunkt des ganzen schwim-
menden Systems, das in der Abbildung gestrichelt ist, liegt
etwas unter dem Auftriebszentrum, das als Authängepunkt
des Kreisels anzusehen ist. Das schwimmende System kann
sich also sowohl um seine senkrechte Achse drehen als auch
beliebig neigen; nur sucht das Kreiselgewicht das geneigte
System immer wieder aufzurichten, genau wie die
Schwere auf ein schwimmendes Schiff wirkt. Die Ab-
bildung 7 zeigt den Kreiselkompaß mit seinem Haus: die
an Federn hängenden kardanischen Ringe, am besten am
rechten Kesselrand sichtbar; die Rose mit der nord-
südlich gerichteten Libelle links von der Rosenmitte; den
Steuerstrich zur Kursablesung, von links nach rechts über
die Rose laufend. Abbildung 8 und das Titelblatt lassen
IS Meereskunde.
die einzelnen Teile, von verschiedenen Seiten gesehen,
erkennen, und Abbildung 10 den ganzen Apparat, der in
dem äußeren kardanischen Ring hängt. Der Kreisel
selbst (k in Abbildung 8) ist der Kurzschlußanker eines
Drehstrommotors, der
20000 Mal pro Minute
herumgejagt wird. Er be-
steht aus Nickelstahl mit
Kupfereinlage, in der
Sätze von Eisenblech-
streifen eingebettet lie-
gen. Die die ungeheuere
Schwungkraft aushaltende
dicke Nickelstahlkappe ist
mit der feinen Kreisel-
achse aus einem Stück
hergestellt. Diese läuft
in Stahlkugellagern, und
von ‘der: Exaktheite der
Arbeit wie von der Güte
des Materials zeugt die
Tatsache, daß nach mo:
natelangem Lauf keine
Spur von Abnutzung
Abbildung 7. Meridiankreisel im weder an der Achse noch
aus: an ihren Lagern festge-
stellt werden kann, wo
doch der Kreisel in jeder Stunde 1,2 Millionen und in wenig
mehr als einem Monat ı Millarde Umläufe macht. An das
Konstruktionsprinzip eines solchen Drehstrommotors
möge die Abbildung 9 kufz erinnern. Durch die drei
Leitungen I, 2, 3 fließen periodisch rasch wechselnde
Ströme, so daß in einem Moment der Strom durch I zu-,
durch 2 und 3 abfließt, im nächsten durch ı und 2 zu,
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 19
durch 3 allein ab, im dritten durch 2 allein zu, durch 3
und ı ab usf. Diese Ströme magnetisieren die ruhenden
Elektromagnete I, II, III wechselnd so, daß ein mag-
netisches Kraftfeld entsteht, dessen Richtung sehr rasch
im Kreise herum läuft. Dies Kraftfeld erzeugt im Kurz-
schlußanker K Ströme, die diesen senkrecht zum vor-
handenen Kraftfeld magnetisieren, und er läuft dem ihm
Abbildung 8. Hauptteile des Anschützschen Kreiselkompasses.
K Quecksilberkessel in kardanischen Ringen. S Schwimmendes System mit
Schwimmer, Rose und Kreiselgehäuse. k Kreiselkörper. D Glasdeckel mit
Steuerstrich und Zentrierhülse, auf den Kopf gestellt.
immer vorauseilenden magnetischen Kraftfeld nach ohne
es je erreichen zu können, da der Anker immer senkrecht
zu derjenigen Magnetkraftrichtung magnetisiert wird, in
die er sich einstellen möchte. Um durch einen scherzhaften
Vergleich den eigenartigen Konstruktionsgedanken zu
erläutern: die Idee erinnert an jene Hundewettrennen,
wo jeder Hund vor einen Karren gespannt wird, an
dessen Deichsel, für den Hund unerreichbar, eine Wurst
gebunden ist. Der Hund läuft dann nach der Wurst, ob-
wohl die Konstruktion selbst es völlig unmöglich macht,
20 Meereskunde.
daß der Hund die Wurst erreicht. Der Anschützsche
Drehstrommotor verbraucht etwa ı5o Watt — 1 Pferde-
kraft, und zwar wesentlich zur Überwindung der Luft-
reibung; die Lagerreibungen sind minimal.
Die Dämpfungseinrichtung erläutert die Abbil-
dung 10. Der Kreisel rotiert von Süden gesehen mit den Uhr-
zeigern in seinem Blechgehäuse p, aus dem er durch eine
unten angebrachte Düse ce nach Westen hin, im Bild nach
demBeschauer, die angesaugte und mitgerissene Luft hinaus-
schleudert. Der Luft-
1 2
strahl trifft auf ein vor
der Öffnung hängendes
Pendel d, an dem er
symmetrisch geteilt
vorbei geht, solange
die Kreiselachse rf ho-
rızontal steht. Der
Rückstoß der Luft übt
also keinerlei Drehmo-
3 ment um die vertikale
Abbildung 9. Schema eines Drehstrom-
Achse aus. Denken
motors.
wir uns aber den
Kreisel in einer Schwingung begriffen, beispielsweise das
Nordende r von Ost nach West schwingend, so ist dabei,
wie früher abgeleitet, dieses Ende über die Horizontale
gehoben. Dann .ist ‚also, weil das. "Pendel senkrecht
hängt, die Düsenöffnung bei a weiter offen als die bei b;
der Luftstrom tritt bei a kräftiger aus, und sein Rückstoß
drückt die Nordhälfte des Kreiselgehäuses nach Osten,
wirkt also der Schwingungsbewegung entgegen. Zu-
gleich senkt sich auf diesen nach Osten gerichteten An-
trieb das Nordende der Achse, da ein nach Osten wir-
kender Antrieb im Sinne der Kreiselrotation um 90’
verdreht von oben nach unten wirken würde. Das Nord-
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen.
)
ii
ende passiert deshalb den Meridian in geringerer Er-
hebung als ohne Dämpfung und kehrt nach kleinerem
Westausschlag zurück. Bei der Rückschwingung dreht
auch die Dämpfungswirkung ihren Sinn um, da nun das
Südende gehoben und die Düsenöffnung b die weitere ist.
Abbildung ıo. Dämpfungseinrichtung.
So nehmen die Schwingungsbogen rasch ab; bei der An-
schützschen Konstruktion ist jeder folgende Bogen nur
etwa 13 des vorhergehenden, und die Achse ist nach
wenig Schwingungen praktisch in der Gleichgewichts-
lage angelangt.
Bin®Bild’soleker gedamptrten Schwingung,
wie sie an einem für S.M.S. „v.d. Tann‘ bestimmten
Kreisel beobachtet wurde, zeigt Abbildung ıı. 6 Mi-
nuten nach Beginn des Versuchs stand die Kreiselachse
22 Meereskunde.
62° östlich vom Meridian; sie passierte den Meridian zu
den Minuten 32, 72, III. Ihre volle Schwingungsdauer
ist also Ir — 32=79 Minuten, und die aufeinander-
folgenden Maximalausschläge betrugen: 62° nach Ost,
22° nach. West, 8° mach :Ost, 4° nach Weste Nach
0 20 %0 60 80 0 120 140mıin.
ZWAR II
8
BE ZEmEIEeE
ZEWREaE
DRSa See
> BEER er BZARereee
RISIEATREREREE
BrEFBRRARHRENEER
0 20 mw 60 80 00 1720 140mün.
Abbildung ır. Gedämpfte Kreiselschwingung.
140 Minuten kommt keine größere Abweichung als 2°
vom Meridian mehr vor.
Am Äquator ist de Gleichgewichtslage
für den ungedämpften Kreisel die Horizontale im Meri-
dian; da bei dieser Lage keine Dämpfungswirkung ein-
tritt, so hat dort auch der gedämpfte Kreisel genau die-
selbe Gleichgewichtslage. Auf Nordbreite dagegen ist
das Nordende der Achse des ungedämpften Kreisels bei
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 2
einer gewissen Erhebung über den Horizont im Gleich-
gewicht. Bei dieser Neigung übt aber die Dämpfungs-
einrichtung ein Drehmoment nach Osten aus, infolge-
dessen der gedämpfte Kreisel seine Gleichgewichtslage
etwas östlich vom Meridian findet, wo das diesem
Ausschlagswinkel entsprechende westwärts treibende
Drehmoment, das durch Erdschwere und Erddrehung
veranlaßt wird, dem ostwärts gerichteten Dämpfungs-
drehmoment das Gleichgewicht hält. Dieser Kreisel-
fehler, der am Äquator — o, auf Nordbreite östlich, auf
Südbreite westlich ist, heißt.der Breitenfehler. Er
hängt von der Intensität der Dämpfung und von der
geographischen Breite ab, und beträgt bei den ÄAnschütz-
kreiseln am Äquator 0°, auf 60° Breite 2,2°, auf 75°
Breite 4,8°. Durch ein kleines Gewichtchen auf der Nord-
hälfte des Kreisels (t in Abbildung ı0o) kann man den
Fehler für eine bestimmte Breite, z. B. für diejenige von
Kiel beseitigen; dann wird er südlich von Kiel negativ
und wächst besonders auf der Südhalbkugel zu höheren
Beträgen an.
Ein anderer berechenbarer Kreiselfehler entsteht,
wenn der Kreisel seinen Ort auf der Erde verändert, also
auf fahrendem Schiff. Fährt das Schiff einen geraden
Kurs mit gleichmäßiger Fahrt, so umkreist es im Raume
die Erdachse nicht wie ein auf der Erde fester Punkt
längs eines Breitenkreises, sondern längs einer Bahn, die
sich aus Erdbewegung und Schiffsbewegung zusammen-
setzt. Fährt das Schiff z. B. auf 60° Nordbreite nord-
wärts mit 20 sm Fahrt, so versetzt die Erde es im Raume
pro Stunde um 450 Seemeilen nach Osten, die eigene Fahrt
dazu um 20 Seemeilen nach Nord. Die resultierende Bahn
ist dann um 2,5° von Ost nach Nord verdreht, und die
Kreiselachse, die sich senkrecht zu dieser Bahn stellt,
weicht also von Nord 2,5° nach West ab.
24 Meereskunde.
Dies ist. „der Fahrttehler. Er ist vondes
Kreiselkonstruktion ganz unabhängig. Auf Ost- und
Westkurs verschwindet er, da dann die resultierende
Bahn vom Breitenkreis nicht abweicht; auf Kursen des
nördlichen Halbkreises ist er westlich, auf solchen des
südlichen Halbkreises östlich, und kann aus einer Tabelle
in. seiner \ Abhängigkeit von Kurs, Fahrt und geo®
graphischer Breite entnommen und berücksichtigt werden.
Viel ungünstiger sind die sogenannten ballisti-
schen Fehler, die durch Änderungen m Hal
oder Kurs des Schiffes entstehen. Denken wir uns z. B. das
Schiff rasch gleichmäßig nach Norden fahrend und dann
plötzlich stoppend, so wird die Kreiselaufhängung festge-
halten, der unter ihr hängende Kreisel aber wird infolge
seiner Trägheit noch weiter nach vorn schießen. Wir er-
halten eine Wirkung, wie wenn wir das Hinterende, das
Do)
Südende, der Kreiselachse nach unten drücken, wodurch
nach den Kreiselgesetzen das Südende nach Westen das
Nordende nach Osten ausschwingt, solange eben die
Fahrtverzögerung als solche anhält. Ebenso wie jede Ver-
minderung der nördlichen Komponente der Fahrt erzeugt
jede Steigerung der Südkonıponente der Fahrt einen
Achsenausschlag nach Osten, ihr Gegenteil einen solchen
nach Westen. Ist nach einer solchen Fahrtänderung die
neue Fahrtstufe gleichmäßig aufgenommen, so entspricht
ihr unter Berücksichtigung des Fahrtfehlers eine be-
stimmte Gleichgewichtslage, nach der hin die Achse von
ihrem ballistischen Ausschlag aus einschwingt. Da hierzu
Zeit nötig ist, so decken sich bei rascher Fahrt und
Kursänderungen diese Fehler teilweise übereinander, und
können zu nicht mehr berechenbaren, mitunter auch
größeren Kreiselfehlern führen, die erst nach dem Auf-
nehmen einer geraden und gleichmäßigen Fahrt allmäh-
lich verschwinden.
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 2
nn
Die Ursache der schlimmsten Fehler, die vereinzelt
hauptsächlich bei starkem Seegang Abweichungen über
45° hervorgerufen haben, hat die Firma Anschütz erst
in den letzten Monaten aufgedeckt, und glücklicherweise
scheint sie ein Mittel gefunden zu haben, durch eine
Neukonstruktion unter Verwendung mehrerer Kreisel
dieser Schwierigkeiten Herr zu werden. Diese Fehler
entstehen durch rhythmische Schiffsbewe-
gungen, Schlingern, Stampfen, Maschinenerschütte-
rungen und Deckvibra-
tionen. Ihr Grund liegt A
darin, daß der laufende
Kreisel insofern eine sehr
große Unsymmetrie be- I -
sitzt, als er Neigungen a 7B; D,
3
seiner Achse einen sehr c D 02- ke
großen, Neigungen um AGPB
Seitenansicht. Draufsicht.
seine Achse aber einen
sehr kleinen Widerstand
entgegensetzt. Dies be-
Abbildung ı2. Pendelungen eines
Eisenstabes.
wirkt, daß derKreisel durch von außen herantretendeSchwin-
gungen, die in einer Vertikalebene erfolgen, nur dann nicht
in Azimut-Drehungen gerät, wenn die Ebene dieser Schwin-
gungen entweder durch die Kreiselachse geht oder zu ihr
senkrecht ist. Als erlauterndes; Beispiel fur die Art
solcher Einwirkungen auf einen unsymmetrischen Körper
können Pendelschwingungen eines wagerechten Eisen-
zylinders dienen, der an einen Faden aufgehängt ist, wie
es Abbildung ı2 zeigt. Läßt man den Stab, nachdem er
parallel zu sich selbst verschoben ist, pendeln in deı
BbhensenBDzetkase CB D3) feder an der durch AB
sehenden? >bene senkreeht zu ABD ae €, B;D,), 50
bleibt der Stab während der Pendelschwingungen der
Ehezrer BD parallel= "Bendelt der Baden AB aber in
26 Meereskunde.
einer Vertikalebene, dıe mit der Ebene ABD einen Winkel
von 45 bildet (Lage C,B,D,), so macht der Stab kräftige
Ausschläge im Azımut.
Jedenfalls zeigen diese verschiedenartigen Kreisel-
ablenkungen, die durch Schiffsbewegungen hervorgerufen
werden, daß der Aufstellungsort des Kreisels an Bord
für sein gutes Arbeiten nicht gleichgültig ist. Der
Apparat wird vielmehr an dem mechanisch ruhigsten
Ort am besten arbeiten. Da man aber die Kompasse an
bestimmten Schiffsorten braucht, und nicht ohne weiteres
die Navigationsstellen des Schiffes an die mechanisch
günstigsten Plätze legen kann, mußte auch bei diesen
Kreiselkompassen für eine Fernübertragung ge
sorgt werden, wobei der Mutterkreisel an einem von
den Schiffsbewegungen und Erschütterungen möglichst
wenig beeinflußten Platz aufgestellt wird und seine An-
gaben an Tochterapparaten auf den Steuerstellen des
Schiffes ablesbar gemacht werden. Die Firma Anschütz
hat dies Problem in der folgenden Weise gelöst: Zunächst
wurde ähnlich wie bei der Konstruktion von Hartmann
und Braun bewirkt, daß sich der drehbar gemachte
Kreiselkessel bei Schiffsdrehungen selbsttätig immer in
die gleiche Lage zur Kreiselachse einstellt. (Abbil-
dung 13.) Sobald sich namlich” der Kessel mir dem
Schiff gegen die Azimut haltende Kompaßrose (die tiefer
gelegene Rose in Abbildung 13) verdreht, legt sich ein
an dieser befestigter federnder Kontakt an einen von
zwei im Kessel festen Metallhalbringen an und schließt
dadurch den Stromkreis eines Wendemotors, der den
Kessel durch einen Trieb solange rechts oder links
herumdreht, bis der Kontakt wieder losläßt, d. h. bis der
Kreiselkessel wieder die alte Azimutlage eingenommen
hat. Motor M und Trieb T sind unter dem Kompaßhaus
in Abbildung 13 sichtbar. Eine zweite (obere) Rose auf
Mutterkreisel der Übertragung.
Abbildung 13.
ae
”) a
bi 7
2108
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 29
dem Kessel dient zur Kursablesung an einem im Schiff
festen Steuerstrich (am Nordstrich der Rose sichtbar).
Auf der Achse des Wendemotors sitzt ein Kommutator,
der bei jeder Umdrehung nacheinander 3 Stromkreise
schließt, die im Tochterapparat
3 je um 120° gegeneinander ver-
drehte Elektromagnete nachein-
ander betätigt, so daß sich ein
Magnet zwischen diesen genau
ebensooft herumdreht wie die
Wendemotorachse. Durch Zahn-
radübersetzung wird diese Ma-
gnetdrehung so auf eine geteilte
Rose übertragen, daß diese sich
gegen das Schiff genau um die
gleichen Winkel wie die Mutter-
rose dreht, womit die Fernüber-
tragung bewerkstelligt ist. Abbil-
dung 14 zeigt den auf einer Säule
montierten Tochterkompaß und
Abbildung 15 seine Rose.
Durch eine weitere Zahnrad-
übertragung wird außer der in Abbildung 14. Tochterkom-
360° geteilten Tochterrose eine paß der Übertragung.
zu ihr konzentrische 36 mal so
schnell umgedreht, so daß bei ihr ein ganzer Umlauf
10° Winkel bedeutet, und auf ihr der Kurs leicht bis
auf Zehntel Grade genau abgelesen werden kann. Nun
kann man allerdings ein Schiff nicht bis auf Zehntel-Grade
genau im Kurs halten, da aber an dieser empfindlichen
Rose jede kleine Drehung des Schiffes sofort erkannt
wird, kann der Steurer schneller die richtigen Ruder-
drehungen einleiten und wesentlich besser steuern.
Die Methode erlaubt mehrere Tochterrosen gleichzeitig
30 Meereskunde.
anzuschließen, die sich alle momentan ebenso einstellen
wie die große Rose des Mutterkompasses; und da
der Wendemotor schneller dreht als ein Schiff drehen
kann, so ist der richtige Kurs stets sofort ablesbar. Die
Mutterkompasse sind insofern den gewöhnlichen Kreisel-
kompassen überlegen, als sich ihre Schwimmer bei
Drehungen nicht durch das Quecksilber des Kessels hin-
durchdrehen müssen, weil der Kessel stets dieselbe Lage
zur Rose behält. Einen Nachteil hat die Übertragungs-
methode; sie verbürgt nur gleiches Ausmaß der relativen
Drehungen am Mutter- und Tochterkompaß; die Über-
einstimmung in den Ausgangsstellungen der beiden muß
durch Anfangseinstellung erzielt werden.
Die Erfahrungen der Kaiserlichen Marine mit den
Anschützschen Kreiselkompassen, die auf mehreren
Linienschiffen, großen Kreuzern und Unterseebooten
dauernd eingebaut sind, sind wechselnder Natur ge-
wesen, wie es bei einem in der Entwicklung begriffenen
Apparat leicht verständlich ist. Es haben sich sowohl
Schwierigkeiten im elektrischen Teil gezeigt, als auch
ganz besonders haben die Schiffsbewegungen starke
Kreiselablenkungen hervorgebracht. Es sind so heftige
rhythmische Schwingungen des Kessels vorgekommen,
daß größere Mengen Quecksilber herausspritzten, so dab
der Kreiselträger anstieß, was starke Versager verur-
sachte. Aber ein starker Fortschritt in der Brauchbar-
keit dieser neuesten Kompaßart, die den Erdmagnetismus
völlig ausschaltet, ist zweifellos feststellbar. In frucht-
barer Wechselwirkung haben die Erfahrungen der
Kaiserlichen Marine und die steigenden Anforderungen,
die sie an den Apparat gestelit hat, auf der einen Seite,
und die Bereitwilligkeit, das mathematische und das
konstruktive Geschick, womit die Firma andrerseits die
Erfahrungen auszunutzen und durch sinnreiche Neu-
Der Kreisel als Kompaßersatz auf eisernen Schiffen. 31
konstruktionen die gefundenen Mängel zu überwinden
gewußt hat, den Apparat auf eine Höhe gebracht, die
noch vor wenigen Jahren-auch von Fachleuten für theo-
retisch unerreichbar angesehen wurde. Gewibß ist diese
Abbildung ı5. Tochterkompaß, von oben gesehen.
Entwicklung noch nicht abgeschlossen; und gerade der
neueste Plan der Firma Anschütz, durch Kombination
von mehreren Kreiseln die Wirkungen rhythmischer
Schwingungen abzuschwächen, verspricht einen Fort-
schritt von ähnlicher Bedeutung zu bringen, wie es die
Einführung der automatischen Dämpfung gewesen ist.
Wenn nach den bisherigen Berichten der Flotte der
Kreiselkompaß nur als ein brauchbarer Steuerkompaß
32 Meereskunde.
bezeichnet werden konnte, der bei ausreichender Kon-
trolle durch den Magnetkompaß und durch astronomische
und terrestrische Richtungsbestimmungen wegen der
größeren Ruhe der Kreiselrose beim Steuern dem ma-
genetischen Konkurrenten vorgezogen wurde, so kann es
heute nicht mehr als vollständig ausgeschlossen gelten,
daß er bei weiterer Vervollkommnung auch noch sein
eigentliches Ziel erreicht, Navigationskompaß zu werden.
Ist er dies doch nach dem Gedanken seiner Konstruktion,
die seiner Achse ihre Gleichgewichtslage im Meridian
anweist und Kontrollinstrumente überflüssig macht.
Möge der Kreiselkompaß diesem Ideal immer näher
kommen zum Nutzen der Schiffahrt und zur Ehre deut-
schen Erfindergeistes und deutscher Erfinderzähigkeit!
Literatur über den Kreiselkompaß.
O. Martienssen: Die Verwendbarkeit des Rotationskompasses als
Ersatz des magnetischen Kompasses. Physikalische Zeitschrift
1906 S. 535.
Dr. Anschütz-Kaempfe: Der Kreisel als Richtungsweiser auf der
Erde. Jahrbuch der Schiffbautechnischen Gesellschaft 1909
Nr. XV, S. 352 und
M. Schuler: Mathematischer Anhang zum vorgenannten Aufsatz.
Ebenda Nr. XXII, S. 561.
Lauffer: Das Gyroskop. Mitteilungen aus dem Gebiet des See-
wesens 1909 S. 646.
Anschütz & Co.: Der Kreiselkompaß. Kiel ıgro. Im Selbstverlag
der Firma. (Referat darüber in Zeitschrift für Instrumenten-
kunde ıgrr.)
Für die Überlassung der Figuren 2 und 3 darf ich der Firma
Hartmann & Braun, für diejenige der Figuren 7, 8, 10, 13, 14
und ı5 der Firma Anschütz & Co. meinen verbindlichen Dank aus-
sprechen.
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler & Sohn
Berlin SW 68, Kochstraße 68—71.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG ACHTES HEFT
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlacht-
flotten in Vergangenheit und Gegenwart.
Von R. Wittmer.
ie Schiffsarten, aus denen sich die modernen
N Schlachtflotten zusammensetzen, sowie ihre Be-
satzungen sind in früheren Vorträgen“) geschildert
worden. Es bleiben die Gesichtspunkte zu betrachten,
nach welchen die Schiffe zusammengestellt und taktisch
verwendet werden.
Die Taktık (von rdoosım — in Schlachtordnung auf-
stellen) bezeichnet ‚der werstorbene Kapiıtan? zur See
Stenzel sehr treffend als die Lehre von der Anordnung
und Verwendung der Streitkräfte fürs Gefecht und im
Gefecht im Gegensatz zur Strategie, unter welcher er die
Lehre der Verwendung der Streitkräfte zur Erreichung
des Kriegszwecks, zur Niederwerfung des Feindes ver-
standen wissen will. Die Taktik liefert mithin der Stra-
tegie das Mittel, um ihre Zwecke zu erreichen.
Die Taktik der modernen Schlachtflotten baut sich
auf auf den Lehren der Seekriegsgeschichte; sie ist ver-
schieden in der Zeit der Ruderschiffe, der Segelschiffe
und der Dampfschiffe.
*) Große und Kleine Kreuzer. Meereskunde, Jahrgang 2. Heft 8.
Die Torpedowaffe. Meereskunde, Jahrgang 3. Heft 3.
Kriegsschiffsbesatzungen in Vergangenheit und Gegenwart.
Meereskunde, Jahrgang 4. Heft 6.
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 3. I
Meereskunde.
[65
Die Taktık der Ruderschiffe läßt sich zurückver-
folgen bis etwa 500 v. Chr. ' Die letzte große Schlacht
zwischen zwei Ruderflotten ist 1580 n. Chr. geschlagen
worden. Ruderschiffe sind zwar auch noch später als
Kriegsfahrzeuge verwendet worden — so fanden noch
im 17. Jahrhundert Seetreffen zwischen Galeerenflotten
im Mittelmeer statt — ihre Bedeutung war aber schon
sehr herabgesunken; die Segelschiffe wurden damals
schon als Schlachtschiffe entschieden bevorzugt.
Der Gebrauch der Segel-Kriegsschiffe beginnt etwa
5o n. Chr., die Segel erlangten aber im Mittelmeer bis
zum jahre 1580 ın der Schlacht keine Verwendung,
während sie im Norden Europas schon frühzeitiger, etwa
vom 13. Jahrhundert an, auch ın der Schlacht benutzt
wurden. Große Seeschlachten zwischen Segelflotten fallen
erst in das Jahr 1588, und dieses ist daher als das Greburts-
jahr für die Taktık der Segelflotten anzusehen.
Von 1840 ab tritt das Dampfkriegsschiff in den Vor-
dergrund und 1866 wird die erste größere Seeschlacht
zwischen zwei Dampferflotten geschlagen. Hiermit be-
ginnt der dritte Abschnitt, die Taktik der Dampfschiffe.
In der Taktik der Dampferflotten finden wir Be-
rührungspunkte sowohl mit der Taktik der Segelflotten als
mit der der Ruderflotten, mit dieser fast mehr als mit
jener, da die Dampfschiffe mit den Ruderschiffen die
Beweglichkeit nach allen Richtungen hin gemeinsam
haben, während die Segelschiffe, gänzlich vom Winde ab-
hängig, in der Bewegungsrichtung beschränkt waren.
Die Taktik zur See hat sich aus den Erwägungen
und Maßnahmen hervorragender Flottenführer heraus-
gebildet und ist von seemännisch hochstehenden Völkern
aufgenommen und weiter entwickelt worden. Diese
drückten der Taktik ihrer Zeit den Stempel auf und gaben
ihr Mannigfaltigkeit, namentlich dann, wenn sich zwei
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 3
ebenbürtige Gegner gegenüberstanden, die ihre Flotten der
eigenen Eigenart und der Eigenart des Gegners ent-
sprechend zu verwenden wußten. So sprechen wir von
einer Taktik der Griechen, der Karthager und Römer im
Altertum, der Venetianer und Türken, auch wohl der
(Genuesen im Mittelalter und der Niederländer, Franzosen
gad Engländer in der neueren Zeit: In der neuesten Zeit
bilden zunächst die Seeschlachten von Lissa 1866 und
Tsuschima 1905 zwei wichtige Etappenpunkte.
Die Zusammensetzung einer Flotte bestimmt ihre
Taktık, und die Taktık hinwiederum übt entscheidenden
Einfluß auf die Zusammensetzung aus. Man kann daher
die eine nicht betrachten, ohne auf die andere einzugehen.
Seefähigkeit, Gefechtskraft, Manövrierfähigkeit und Ge-
schwindigkeit sind die Hauptanforderungen, welche die
Taktık zu allen Zeiten an die Kriegsschiffe gestellt hat.
Die Gefechtskraft wird bedingt durch die Größe der
Schiffe, die Stärke ihrer Besatzungen und ihrer Waffen.
Sie wurde fast immer nur auf Kosten der Schnelligkeit
erzielt bzw. rerhoht.- Da man dieser. nicht entbehren
wollte und konnte, anderseits eine Erhöhung der Gefechts-
kraft jederzeit angestrebt wurde, so bildeten sich schon
frühzeitig verschiedene Schiffstypen heraus, die entweder
die Getechtskraft oder die Schnelligkeit bevorzugten oder
ein Kompromib zwischen beiden darstellten.
Das formvollendetste und beste Kriegsschiff des
Altertums muß nach den Überlieferungen die attische
Triere (Abbildung I) gewesen sein. Bei ihr wurde neben
genügender Gefechtskraft besonderes Gewicht auf
Schnelligkeit und Manövrierfähigkeit gelegt. Sie war
schlank gebaut, ihre Waffe war der Sporn. Gefechts-
kräftiger, aber langsamer und unbeholfener war die zu
ungefähr gleicher Zeit von den Karthagern bevorzugte
Pentere, die ein Gewicht von 300 Tonnen und eine Be-
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 8. 2
4 Meereskunde.
satzung von 375 Köpfen hatte. Auch ıhre Waffe war der
Sporn. Wie die Ruderer hier in 5 Reihen untergebracht
waren, ist vorläufig noch Gegenstand der Forschung;
noch unklarer erscheint uns die Anordnung auf den später
zu erwähnenden Okteren und Dekateren.
Sahen Griechen und Karthager in dem Sporn die
Hauptwaffe ihrer Schiffe und bauten daraufhin ihre
Rammtaktik auf, so verpflanzten die Römer, die anfangs
unerfahren zur See, kriegstechnisch aber hochveranlagt
Abbildung ı. Attische
Triere um 480 v. Chr.
(Aus: Rittmeyer, Seekriege,
Teils)
Länge 4o m, Breite 4,4 m,
ı,r m, (rewicht 200 t.
Tiefgang
S
224 Mann, davon 174 Ruderer
für 174 Riemen.
waren, ihre Kampfkraft vom Lande, ihre Legionäre, auf
die Schiffe und sahen in diesen ihre Hauptwaffe. Ihre
Schiffe, von ungeübten Händen den Karthagern nachge-
ahmt, konnten sich in Beweglichkeit und Geschwindigkeit
mit jenen nicht messen, also auch ihnen gegenüber ihren
Sporn nicht zur Geltung bringen. Sie erstrebten daher
sofort den Enterkampf an und konstruierten Fallbrücken
(corvi) auf ihren Schiffen, die sie beim Herannahen der
feindlichen Schiffe auf diese niederfallen ließen und über
die hinweg dann die Legionäre auf die feindlichen Schiffe
drangen, so daß sie ihre Überlegenheit im Nahkampf zur
Geltung bringen konnten. Hatten die Karthager nur 20
Bewaffnete an Bord, so besetzten die Römer ihre Penteren
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 5
mit je 120 Legionären. Um sich nach Möglichkeit gegen
den Rammstoß des Feindes zu schützen, bauten sıe die
Schiffsseiten stärker und panzerten sie sogar schon. Nach
und nach machten sie ihre Schiffe auch hochbordiger, um
dem Feinde das Entern zu erschweren, und führten zum
Schutze der Kämpfer und Wurfmaschinen Brustwehren
an. den? Seiten und Nurme an den Schiffsenden auf. Als
Wurfmaschinen wurden Katapulte und Balliısten verwen-
det, Vorrichtungen, die in Bogenform Pfeile, Lanzen und
Balken schossen oder mit Hebelkraft schwere Gewichte
wie Steine usw. warfen. Hierdurch wurde die Beweglich-
keit und Manövrierfähigkeit der Schiffe mehr und mehr
herabgesetzt, sie wurden zu schwimmenden Festungen.
Schließlich bestanden die Römerflötten aus Okteren und
Dekateren, deren Schwerfälligkeit dann einen kräftigen
Schritt zurück zur Schnelligkeit und Beweglichkeit ım
Kriegsschiffbau herbeiführte.
Von besonderer Bedeutung ist dieser Umschwung für
unsere Betrachtungen insofern, als gerade der Flotten-
führer ıhn herbeiführte, der bis dahin mit den schweren
Okteren und Dekateren in mehreren großen Seeschlachten
über leichtere und schnellere Schiffe des Gegners den Sieg
davongetragen hatte. Welche Erwägungen ıhn hierbei
geleitet haben, ıst nicht historisch festgelegt, sicherlich
aber hatte Agrippa den Vorzug der Schnelligkeit und
Beweglichkeit an den Schiffen des besiegten Pompejus
klar erkannt und schuf nun in der Ruhezeit sich eine
Flotte nach ganz neuen Gesichtspunkten. Ein flinkes
Seeräuberschiff, ein Schiff der Liburner in Illyrien, diente
ihm als Muster für seine neuen Schiffe, denen er den
Namen „Liburnen‘ gab. (Abbildung 2.)
Mit diesen Schiffen, die noch leichter und schneller
waren als die ds Pompejus, führte Agrippa gegen
Antonius zunächst einen Kreuzerkrieg, schnitt ihm
2*
6 Meereskunde.
die Zufuhr zur See ab, beunruhigte und schädigte die
feindlichen Küsten, eroberte feste Plätze in Feindesland
und brachte hierdurch den Feind allmählich ın eine solche
Zwangslage, dab er sich unter ungünstigen Verhältnissen
mit ihm schlagen mußte. In der nun folgenden Schlacht
Abbildung 2. Römische Liburne um 50 n. Chr., nach Arenhold.
Länge 30 m, Breite 4 bis 5 m, Tiefgang 1,25 m, Gewicht 80 t. ızo Mann, darunter
84 Ruderer auf 14 Ruderbänken, 42 Riemen jederseits, je 3 Riemen von ı Bank aus
zu bewegen, ı grobes Segel und ı kleines Segel nur für den Marsch.
(Original im Museum für Meereskunde.)
bestand seine erfolgreiche Taktik darin, daß er mit seinen
leichten schnellen Schiffen die schwerfälligen Schiffe des
Feindes umschwärmte, Töpfe mit brennendem Pech und
ungelöschtem Kalk mittelst Wurfmaschinen aus der Ferne
und brennende Wurfspieße, Pfeile und Fackeln aus der
Nähe mit der Hand auf sie schleudern ließ, ohne doch
Gelegenheit zum Entern und Rammen zu geben.
Die große Kriegführung zur See des Altertums er-
reichte mit dieser Seeschlacht bei Aktium, 31 v. Chr., ihr
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 7
Ende. Die römischen Flotten setzten sich von da ab nur
noch aus Liburnen und einer kleinen Anzahl Trieren zu-
sammen. Das Ruderschiff, zum Segeln eingerichtet,
blieb das Kriegsschiff des Mittelmeeres bis zum Verfall
der Römerherrschaft und wurde von dem später auf-
blühenden Venedig in der Galeere (Abbildung 3) über-
Abbildung 3. Venetianische Galeere, XVI. Jahrh.
(Aus: Rittmeyer, Seekriege, Teil 1.)
Länge 47 m, Breite 6 m, Tiefgang 1,25 m, Gewicht 200 t. 230 Mann, davon ı5o Ruderer,
3 für jeden Riemen, jederseits 25 Riemen,
nommen. Diese unterschied sich von den Schiffen des
Altertums in auffälliger Weise dadurch, daß sie statt des
Sporns in oder unter der Wasserlinie einen solchen über
Wasser schnabelartig, 6 bis 7 m vorstehend, führte, mit
zwei großen Segeln für den Marsch ausgerüstet war und
ebenso wie die Liburnen von nur einer Reihe Riemen
an jeder Seite im Kampfe vorwärts bewegt wurde. Die
Ruderbänke standen schräg zur Rielrichtung, so daß von
jeder Bank drei Riemen von je einem Ruderer bedient
werden konnten, oder beinahe senkrecht, so daß nur ein
Meereskunde, Vorträge. V. Heft. 3
8 Meereskunde.
langer Riemen von drei nebeneinander sitzenden Rude-
rern bedient wurde. Vorn und hinten befanden sich
Plattformen für die Kämpfer und Wurfmaschinen, später
auch für die Kanonen.
Die Armierung mit Kanonen, die seit 1333 n.Chr.
auftritt, führte dann wieder zum Bau von größeren
Schiffen, den Galeassen, die länger, breiter und hoch-
bordiger als die Galeeren waren, drei große Segel und
etwa 800 bis 1000 l’onnen Gewicht hatten.
Die empfindlichsten Teile der Ruderschiffe waren
die Schiffsseiten, weil hier die zur Fortbewegung die-
nenden Riemen herausragten und deren Bedienung die
Aufstellung von Kämpfern und Geschützen nicht ge-
stattete. Ihre Offensivkraft lag im Bug, zur Verteidi-
gung wurde die Heckarmierung mitbenutzt. Der Bug
wurde daher von den Vielreihern sowohl wıe von den
Galeeren dem Feinde zugekehrt. Während aber die
Trierenflotten ihre Taktik auf dem Rammstoß aufbauten,
suchten die Galeerenflotten zunächst den Feind im Fern-
kampf durch Wurfgeschosse zu erschüttern und dann
über die auf oder in das feindliche Schiff geschobenen
Schiffsschnäbel hinweg zu entern. Die Schiffsschnäbel
ersetzten also die Enterbrücken der Römer.
Für die Segel-Kriegsschiffe, die im Norden Europas
schon zur Zeit der Galeerenflotten des Mittelmeeres ver-
wendet wurden, war anfangs die Enterung der Kampf-
zweck, ihre Gefechtskraft lag vornehmlich in der starken
3esatzung von Gewappneten, die nır im Kampf Mann
gegen Mann zur Geltung kommen konnte. Die Schiffe
(Abbildung 4) waren zum Widerstand gegen die rauhe
nordische See hochbordiger, kürzer und breiter als die
Galeeren, ihre Takelung war als Hauptbeförderungsmit-
tel schwerer, aber lange Zeit hindurch zu unvollkommen,
um mit ihr allein die Schiffe überall manövrieren zu
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 9
können. Eine kleine Anzahl Riemen wurde daher auch
für sie noch längere Zeit als zur Aushilfe notwendig er-
achtet. Hieraus geht ihre anfängliche Unbeholfenheit
hervor, die eine taktische Verwendung unmöglich machte
und schon das Zusammensegeln ohne Formation und das
Abbildung 4. Hansekogge um 1480 n. Chr., nach Arenhold.
Länge 29 m, Breite 8m, Tiefgang 5,3 m, Gewicht 240 t. ı38o Mann, 238 Kanonen,
5 9 sans 5,3 11, 4
(Original im Museum für Meereskunde.)
Heranbringen an den Feind sehr schwierig gestaltete.
Daher ist auch in den berühmten Seekämpfen der Hanse
von einer eigentlichen Taktik nichts zu erkennen. Die
Flotten segelten in Gruppen, die Schiffe legten sich breit-
seit an den Feind und kamen dann ins Handgemenge.
Durch diese Kämpfe wurde aber das Bedürfnis nach
größerer Beweglichkeit hervorgerufen und die allmähliche
Vervollkommnung der Takelage herbeigeführt, so daß
die Riemen von den Schiffen gänzlich verschwanden und
in den Breitseiten dafür Geschütze aufgestellt werden
2%
fo)
Io Meereskunde.
konnten. Diese waren anfangs in den Kastellen vorn
und hinten untergebracht, mit der Erfindung der Ge-
schützpforten, etwa 1500 n. Chr., wurden sie über das
ganze Schiff verteilt und auch in den Schiffsdecks über-
einander gestellt. Die Gefechtskraft wuchs dadurch er-
heblich, die verbesserte Takelage gab den Schiffen grö-
bere Manövrierfähig-
keit und Geschwindig-
keit, sie waren nun-
mehr in Schlachtord-
nung zu bringen und
zu halten, und es ent-
wickelte sich nunauch
die Segelschiffstaktik.
Wurden die Ruder-
flotten in breiter For-
mation, Schiff neben
Schiff, in Dwarslinie
oder in Keilform in
Abbildung 5. „De Zeven Provincien‘, die Schlacht geführt,
holländisches Linienschiff von 1566. so daß jedes Schiff
(Aus: R. Werner, Bilder aus der deutschen See- seine Stärke, denBug,
kriegsgeschichte.)
Länge 5sı m, Breite 13,5; m, Tiefgang 5 m. Gewicht dem Feinde zukehrte,
On so bildete sich bei den
Segelschiffen allmählich die Kiellinie, also Schiff hinter
Schiff als Hauptgefechtsformation heraus, um die Breit-
seitgeschütze nach beiden Seiten auf den Feind zur Wir-
kung bringen zu können. Von der Rammtaktik wurde
gänzlich abgesehen, da die Schiffe zum besseren Segeln
keinen Sporn führten und die über den Bug vorstehen-
den Teile der Takelage den Rammstoß verboten. Auf
Niederkämpfen des Gegners durch Geschützfeuer und
nachfolgendes Entern lief die Segelschiffstaktik hinaus.
Die gefechtskräftigsten Schiffe wurden in die Linie
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. TI
gestellt, daneben dienten leichtere, schnellere, bewe-
gungsfähigere außerhalb der Linie zum Signaldienst, zur
Aufklärung, zur Unterstützung der eigenen oder zur
Wegnahme der feindlichen havarierten Schiffe, sowie
zum Kreuzerkrieg. Auch Branderschiffe, die, mit Pech,
Abbildung 6. „Commerce de Marseille“, französischer Dreidecker 1790.
Länge 63,4 m, Breite ı7 m, Tiefgang 8 m, Gewicht 2747 t. 1098 Mann, r20 Kanonen.
(Original im Museum für Meereskunde.)
Teer, Öl und Holz gefüllt, sich Bord an Bord von feind-
lichen havarierten Schiffen legten und sich dann selbst
in Brand setzten, um den Feind zu vernichten, wurden
zeitweise in den Schlachten verwendet. Es waren dies
kleinere Fahrzeuge mit 20 bis 30 Mann Besatzung. Diese
mußte sich rechtzeitig in Booten zu retten suchen.
Je nach der Größe und Gefechtskraft wurden die
Segelschiffe in Klassen eingeteilt und nach der Anzahl
der Kanonen, die sie führten, und der Anzahl der Decks,
irn denen diese aufgestellt waren, benannt. Man unter-
12 Meereskunde.
schied Schiffe-I. bis VIII. Klasse, Schiffe von ıo bis
130 Kanonen, Vierdecker, Dreidecker, Zweidecker, Fre
gatten, Korvetten und Briggs. Die in die Linie einge-
stellten Zwei-, Drei- und Vierdecker wurden kurzweg
Linienschiffe genannt. Die Entwicklung*) führte ge-
rade so wie bei den Ruderschiffen, zu immer gefechts-
stärkeren, massiveren, aber auch unbeholfeneren Schiffen,
die mit Geschützen gespickt und mit Menschen bis zur
äußersten Grenze . der Lebensfähigkeit vollgepfropft
waren. So hatte ein spanischer Vierdecker 130 Kanonen
und 1100 Mann Besatzung. Das bevorzugteste Linien-
schiff blieb aber trotzdem der Zweidecker von 64 bis
74. Kanonen. ° Schiffe dieser Art bildeten2. B> 1790=:..1:
Sechstel der gesamten englischen Schlachtflotte. Die
nicht in die Linie eingereihten Schiffe waren Fregatten
von 30 bis 40 Kanonen, Korvetten von 10 bis 20 Kano-
nen und Briggs mit weniger Geschützen. Der damalige
große Kreuzer, die Fregatte, entwickelte sich aus dem
Linienschiff und gewann durch Schnelligkeit und Be-
weglichkeit neben guter Gefechtskraft mehr und mehr
an Bedeutung, so daß sie mit der Einführung der Dampf-
maschine und des Schiffspanzers in der Übergangspe-
riode vom Segel- zum Dampfschiff der Hauptschlacht-
schiffstyp (Abb. 7) wurde. Das bewegliche, schnelle und
schwächer armierte Schiff erhielt auch hier wieder
schließlich den Vorzug, genau wie früher die Trieren vor
den Penteren und später die Liburnen vor den Vielreihern.
Die Taktik der Dampferflotten konnte sich die Tak-
tik der Ruder- und Segelflötten zu Nutzen machen, und
so sehen wir denn in dem neuen, dritten Zeitabschnitt
alsbald den Sporn als vernichtendste Waffe wieder ın
*) Das Linienschiff einst und jetzt. Heft 2 der Sammlung
„Meereskunde in gemeinverständlichen Vorträgen und Aufsätzen“.
Berlin 1903. E.S. Mittler & Sohn.
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 13
die Erscheinung treten und daneben die Breitseitarmie-
rung mit Rücksicht auf die noch notgedrungen beibe-
haltene Takelage weiter verwendet. Die gepanzerten,
vollgetakelten Fregatten wurden, wie gesagt, der Haupt-
schlachtschiffstyp, ungepanzerte Dampf-Fregatten und
Abbildung 7. Preußische Panzerfregatte ‚Friedrich Carl‘ 1867.
Länge 88 m, Breite 16,6 m, Tiefgang 7,3 m, Gewicht 5971 t. 522 Mann, 16 schwere,
6 leichte Kanonen. (Nach einer Zeichnung im Museum für Meereskunde.)
Korvetten übernahmen den Kreuzerdienst, kleine, schnelle
und ungepanzerte Avisos den Signal- und Depeschendienst.
Unaufhaltsam aber drängte die nun auf technisch-
wissenschaftliche Grundlage gestellte Schiffbau-In-
dustrie und Maschinentechnik vorwärts, der Torpedo
wurde als Unterwasserwaffe eingeführt und rief einen
neuen Kriegsschiffstyp, das Torpedoboot, hervor, die Ta-
kelage verschwand von den Schlachtschiffen, die Artil-
lerie wurde immer leistungsfähiger und fernwirkender,
ihre Aufstellung in drehbaren Türmen ermöglichte ihren
IA Meereskunde.
Gebrauch nach allen Richtungen, die Geschwindigkeit
und Manövrierfähigkeit der Schiffe nahm ununterbrochen
zu. Die kaum wieder zu Ehren gelangte Rammtaktik
mußte infolge dieser Fortschritte wieder der Linientaktik
weichen, die schon verschwundene Bezeichnung „Linien-
schiff“ tauchte wieder auf, die Schlachtflotten wurden
Abbildung 8. Deutscher Panzerkreuzer „von der Tann‘. 1910.
Länge ı7ı m, Breite 26,3 ın, Tiefgang 8,2 m, Gewicht 19000 t. 957 Mann,
8 28 cm-Sk., 10 ıs cm-Sk., 16 8,8 cm-Sk. (Aus: Nauticus, 1910.)
wie heute in Linienschiffe, Panzerkreuzer, geschützte
Kreuzer und Torpedoboote eingeteilt. Mehr und mehr
entwickelt sich jetzt der Panzerkreuzer (Abb. 8) zu einem
schnellen Linienschiff und scheint bestimmt zu sein, einen
entscheidenden Einfluß in der Schlacht auszuüben. So
ringt sich immer wieder in den taktischen Erwägungen
der Jahrtausende die Schnelligkeit als mit ausschlaggeben-
des Moment in der Seeschlacht durch, sobald ein genügen-
der Ausgleich zwischen Schutz- und Trutzwaffen der
schnellen Schiffe gefunden worden ist.
Nach diesem kurzen historischen Überblick seien
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. I
nn
nun zur Erläuterung des Gesagten einige Seeschlachten
geschildert, die Taktık und Zusammensetzung der
Schlachttlotten verschiedener Zeiten gut erkennen lassen.
Die berühmteste Seeschlacht des Altertums, zu-
gleich die erste, die hervorragende Taktık erkennen läßt,
ist die Seeschlacht bei Salamıs. Die Flotte der Griechen
zählte 347 Trieren und 7 Pentekonteren; letztere waren
kleinere Schiffe mit 50 Riemen, wie sie bis dahin die
Phönizier gebaut hatten. Die Zahl der persischen Schiffe
wird auf 12067, meistens Trieren, also auf mehr als das
Dreifache der griechischen angegeben, dabei waren die
Schiffe hochbordiger und kampfkräftiger, aber weniger
schnell und manövrierfähig. Bei einer Durchschnittsbe-
satzung von 200 Köpfen pro Triere waren also 241 400
Mann auf der Flotte der Perser und 69 400 Mann auf der
Flotte der Griechen eingeschifft. Daß trotzdem die
Griechen den Sieg davontrugen, war der hervorragenden
Führung und Schulung und der genialen Auswahl des
Kampfplatzes durch Themistokles zu verdanken.
Dieser hatte seme Stellune? (wel- Abb-r9) so, ge
wählt, daß der rechte Flügel sich an Land anlehnte, so
daß hier eine Umfassung durch den Feind nicht möglich
war; der linke Flügel, im stumpfen Winkel vorgezogen,
reichte bis an die Untiefen des Giorgio-Kanals, konnte
also auch nicht umfaßt werden; wohl aber vermochte er
selbst den feindlichen rechten Flügel zu umfassen, der
nicht in den Kanal hineinfahren konnte. Die griechische
Front hatte eine Länge von 1,4 Seemeilen — 2,6 km und
gestattete, alle 354 Schiffe in zwei Treffen hintereinan-
der ohne Lücken, aber mit genügender Bewegungsfähig-
keit zu ordnen. Die persische Flotte konnte sich nur ın
gerader Front und bei engster Aufstellung in drei Tref-
fen nur mit höchstens 800 Schiffen entwickeln. Sie nahmen
die Aufstellung in der Nacht vor, während die Griechen,
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 8. 4
16 Meereskunde.
ausgeruht, erst am Morgen die Schlachtordnung bil-
deten.
Kaum hatten die Griechen ıhre Aufstellung beendet,
so drängten die Athener auf dem linken Flügel auch
schon gegen die rechten Flügelschiffe der Perser vor
und hatten das Glück, das persische Führerschift in den
Grund zu bohren und den Führer selbst, einen Bruder
II Serse,
ib nm
Sn
tar
(RER
Sa UmMVS
N = X
Shane T,
a elartanıe
ae 15
2
20 (Tropneten Bisps,- 5
29 om
2
Abbildung 9. Seeschlacht bei Salamis, 28. September 480 v. Chr.
(Nach Stenzel, Seekriegsgeschichte, Teil II.)
des Xerxes, zu töten. Hierdurch kam Unordnung in die
persichen Reihen; sie wurde noch erhöht, als die hin-
teren beiden Treffen vorwärtsdrängten, um sich unter
den Augen des Xerxes, der am Fuße des Aigaleus die
Schlacht beobachtete, auszuzeichnen. Die Perser nah-
men sich so gegenseitig die nötige Bewegungsfreiheit
und boten den anstürmenden attischen Trieren Gelegen-
heit zum Rammen. Panik und Flucht war nach verhält-
nismäßig kurzem Kampfe die Folge, ın die auch allmäh-
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 1W7
lich die persische Mitte mit hineingezogen wurde. Zur
Erhöhung des persischen Mißgeschicks kam auch noch
westlicher Wind auf, der die Schiffe nach der Mitte zu-
sammentrieb und sie noch mehr in Unordnung brachte.
Die griechische Mitte und ihr von den Spartanern
besetzter rechter Flügel hatten zunächst einen schweren
Stand. Sie mußten sich ın der Defensive verhalten, um
die Anlehnung an Land nicht zu verlieren. Die hier in
vorteilhafterer Stellung befindlichen Perser drängten un-
gestüm vor, und nur mit Mühe konnten sıch die Griechen
behaupten, bis sıch der Druck ıhres linken Flügels auch
auf die persische Mitte bemerkbar machte und diese auf
den persischen linken Flügel schob. Nun konnte auch
die griechische Mitte und schließlich der rechte Flügel
offensiv vorgehen und so gegen Abend die allgemeine
Flucht der Perser herbeiführen. Xerxes Verlust soll
200 Schiffe und 40 000 Mann betragen haben, während
die Griechen nur 40 Schiffe verloren hatten, deren Be-
satzung sich zum Teil durch Schwimmen an Land rettete.
Der Sıeg des bedeutend schwächeren der beiden Gegner
war ein grober, hervorgerufen durch den äußerst günstig
gewählten Kampfplatz und das taktisch richtige Verhal-
ten der Griechen auf der ganzen Linie. Aber auch sie
waren so erschöpft, daß sie auf eine Verfolgung des
fliehenden Feindes verzichteten.
An demselben Tage kämpften zwei andere bedeu-
tende Seemächte des Mittelmeeres miteinander — Syra-
kus und Karthago. Auch hier siegten die Griechen über
das weit mächtigere Karthago, ohne ihm jedoch die See-
herrschaft zu entreißen und den Besitz des übrigen Sicı-
lıens streitig zu machen. Erst als die Römer auf ihrem
Eroberungszuge durch Italien auch Sizilien begehrten,
sahen sich die Karthager dem Feinde gegenübergestellt,
der sie vernichten sollte. Aus den langwierigen Kämpfen,
4 *
18 Meereskunde.
in denen die Karthager zunächst von der schon erwähn-
ten Entertaktik der Römer völlıg überrascht wurden, sei
hier nur die besonders lehrreiche Seeschlacht von Ekno-
mos (Abb. 10) behandelt. Als im Jahre 256 v. Chr. die
römischen Konsuln, des unfruchtbaren Kampfes zur See
müde, Karthago selbst anzugreifen beschlossen und mit
einer Flotte von
330Penteren, einer
großen Zahl von
Transportschiffen
und einem einge-
schifften Heer von
40000 Mann sich
in Marsch setzten,
Abbildung 10. See-
schlacht bei Eknomos.
I—]IV römische Geschwader.
ı—4 karthagische
(Nach Stenzel, Seekriegs-
geschichte, Teil 11.)
stellten sich ihnen die Karthager mit 350 Penteren an der Süd-
küste Siziliens entgegen, wurden aber fast völlig vernichtet.
Die Römer fuhren dem Feinde mit ihrer T[ransport-
Notte entgegen, statt diese während des bevorstehenden
Kampfes unter dem Schutz des nahen Landes zu lassen.
Ihr offensiver Geist drängte sie jedenfalls rücksichtslos
vorwärts; nur so kann man dieses taktisch unrichtige
Vorgehen erklären. Möglich auch, daß sie die Taktık
ihrer Gegner gering einschätzten. Jedenfalls wurden sie
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 19
durch den Troß behindert, wie sich auch aus ıhrer For-
mation ergiebt. Sie hatten ebenso wie die Karthager
ihre Flotte in vier Geschwader geteilt und diese in spitzer
Keilform derart aufgestellt, daß das erste und zweite Ge-
schwader die Seiten, das dritte mit den Transportschiften
in Schlepp den Rücken bildete und das vierte zum Schutz
der letzteren sich in breiter Form anschloß. Die Seiten-
seschwader mußten in Staffel marschieren und sich nach
dem dritten Geschwader richten, waren also ın ihrer Be-
wegungsfreiheit sehr behindert, boten aber dem Feinde in
dieser Aufstellung keine Gelegenheit zum Rammangriff.
Dies erkannte der karthagische Admiral Hamilkar,
der die feindliche Mitte kommandierte, und suchte
deshalb die Römer durch Belästigungen zu reizen und
durch plötzlich markierte Flucht seiner beiden Mittelge-
schwader aus ihrer Formation herauszulocken. Diese
List gelang. Die an der Spitze des ersten und zweiten
römischen Geschwaders befindlichen Konsuln nahmen
die Verfolgung auf und trennten sich von den beiden
anderen Geschwadern. Nun mußten die Transportschiftfe
eiligst unter Land Nlüchten, um das dritte und vierte
römische Geschwader gegen die Angriffe des dritten und
vierten feindlichen Geschwaders frei zu machen. Aber
statt daß die karthagischen Geschwader sich nun zu-
nächst vereint auf die beiden weit vorgelockten römi-
schen Geschwader stürzten und diese bei ihrer größeren
Schnelligkeit und Beweglichkeit umzingelten und er-
drückten, suchte jedes Geschwader sich seinen eigenen
Gegner. So kam es, daß bei annähernd gleicher Schiffs-
zahl die von den Konsuln befehligten beiden Geschwader
mit Hilfe ihrer Fallbrücken und Legionäre wie in frühe-
ren Schlachten bald über die feindliche Mitte die Ober-
hand gewannen, die meisten Schiffe besetzten und dann
ihren mit weniger Erfolg kämpfenden beiden anderen
20 Meereskunde.
Geschwadern zu Hilfe eilten und nun ihrerseits das dritte
und vierte feindliche Geschwader mit Übermacht be-
kämpften. Die Karthager hatten die Gunst der Verhält-
nisse nicht ausgenutzt; nun mußten sıe ihren taktischen
Fehler mit einem schweren Verlust von 100 Schiffen und
40 000 Mann büben und den Römern den Weg nach Kar-
thago freigeben! Diese sollen nur 24 Schiffe und etwa
10000 Mann ın der Schlacht verloren haben.
200. Jahre später, 31 v. Chr., machte sich der’ szobe
römische Flottenführer Agrıppa in der Schlacht bei Actıum
die Beweglichkeit und Schnelligkeit seiner Schiffe besser
zu Nutzen. Beide Flotten waren in’ drei Geschwader
eingeteilt, Agrıppa befehligte speziell die Mitte, Anto-
nius den rechten Flügel der drei in breiter Front aufge-
stellten Geschwader. Die Flotte des Agrıppa zählte
260 Liburnen mit etwa 40000 Mann Besatzung, die des
Antonius soll aus 170 OÖkteren und Dekateren mit
100000 Mann Besatzung bestanden haben. Dem weit
schnelleren und beweglicheren Feinde gegenüber hatte
er mit seinen schwerfälligen Schiffen in schmalerem
Fahrwasser eine Aufstellung gewählt, die dem Feinde
eine Umflügelung nicht gestattete, dafür aber auch auf die
Offensive verzichtete. Seiner in zwei Treffen aufgestellten
Dwarslinie gegenüber (Abbildung ı1) stellte Agrippa sein
Mittelgeschwader parallel, die beiden Seitengeschwader
aber zur Umfassung des Gegners unter stumpfem Winkel
vorgezogen, ebenfalls in zwei Treffen auf. Zum Umfassen
mußte Antonius aber zunächst mehr nach See zu gelockt
werden, und hierbei kam Agrippa der den Schiffen des
Antonius in den Rücken wehende Wind zu Hilfe. Die
Schiffe trieben langsam auf Agrippa zu, und dieser ließ
nun wie Hamilkar bei Eknomos den Feind durch seine
schnelleren Schiffe zum Angriff reizen. Auch hier ge-
lang die List. Die Flügelgeschwader des Antonius stießen
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. DAT
vor, und nun wurden die kleinen schnellen Liburnen
richtig verwendet, um die schwerfälligen Gegner zu um-
schwärmen und ın Brand zu schießen. Sie griffen immer
zu 3 oder 4 einen Gegner an, ohne ihm Gelegenheit zum
Entern zu geben. Verwirrung und Mutlosigkeit entstand
dadurch in den Reihen des Feindes. Als Kleopatra, die
mit einem Geschwa-
der von 60 Schiffen
zur Unterstützung
des Antonius bereit
ass sa, daßr der
Kampf für ihn un-
günstig wurde, se-
gelte sie in einem
geeigneten Moment
von dannen. An-
tonius raste, sich,
seine Flotte und sein
- 8 2 = Zeichenerklärung.
Heer vergessend, f Ü abe Alotte des Antonius 1. Moment
> z s “ aubıcı £2 & “ < .
auf einem seiner äh ©. Berges
a .r |rst ” desAgrpa 7.
schnellsten Schiffe Ins vrae
hinterdrein und ent-
Abbildung ır. Seeschlacht bei Actium.
schied damit den (Nach Stenzel, Seekriegsgeschichte, Teil II.)
Ausgang des
Kampfes. Es soll zwar noch 3 bis 4 Stunden weiter ge-
kämpft worden sein, aber das Ende war, daß beinahe
die ganze Flotte des Antonius verbrannt oder genommen
war und nur wenige Schiffe entkamen. Der Erfolg der
Schlacht war die nun festbegründete Weltherrschaft
Roms unter Octavianus Augustus.
Von den Kämpfen der Galeerenflotten, deren bedeu-
tendste die Schlacht bei Lepanto 1571 war, sind taktisch
neue Gesichtspunkte nicht zu berichten. Die Galeeren-
flotten behielten die breite Aufstellung mit vorgezogenen
Meereskunde.
[00)
185)
Flügeln bei, ihr Bestreben ging dahin, mit dem Bug an
den Feind heranzukommen und den Schnabel zum Entern
über ihn herüberzuschieben. Die Feuerwaffen waren
noch zu wenig leistungsfähig, um auf sie eine neue Tak-
tik zu gründen. Abbildung ı2 gibt einen Überblick über
Abbildung ı2. Venetianische Flotte unter Pietro Barbarigo 1618.
(Aus: Marine-Rundschau, 13. Jahrg., Heft rı.)
die Schlachtordnung einer Graleerenflotte und zeigt gleich-
zeitig eine kombinierte Schlachtordnung aus Ruder- und
Segelschiffen im 17. Jahrhundert. Diese Aufstellung
konnten die Ruderflotten nach jeder Himmelsrichtung
hin einnehmen, vorausgesetzt, daß Windstärke und See-
gang die menschlichen Kräfte nicht überstieg. Die
Segelflotten waren dagegen in ihrer Bewegungsfreiheit
begrenzter, sie konnten nicht in den ihnen als Trieb-
kraft dienenden Wind hineinsegeln. Recht gut ist die
Abhängigkeit des Segelschiffs vom Wind auf Abbil-
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 23
dung 13 zu erkennen, die einem der ältesten bekannten
Werke über Seetaktik entnommen ist.
Der Strahlenkranz ist die Windrose, jeder Strahl
bedeutet einen Kompaßstrich, deren 32 in Abständen von
11,25 gezählt werden. Die Windrichtung ist bei V
Abbildung 13. Lage des Segelschiffs zum Winde.
(Aus: P. Paul Lloste, L’art des arm&es navales usw.)
durch den Mundhauch angegeben. Das in C befindliche
Schiff kann sich nach allen Richtungen hin bewegen, nur
nicht nach den Richtungen zwischen H, A und H. Es
hat also Bewegungsfreiheit über 20 Strich der Windrose
— 225, 12 Strich —= 135° sind für es auf direktem Wege
ungangbar. Auf den Strichen H liegt es „beim Winde“,
und zwar rechts von A über „Steuerbord (St. B)- Bug“,
links von A über „Backbord (B. B)- Bug“. Seine „Luv-
seite“ ist die Seite, von welcher der Wind kommt, seine
„Leeseite“ die, nach welcher der Wind weht. Segelt
24 Meereskunde.
das Schiff nach B, so segelt es „vor dem Wind“, nach F
mit „raumem Wind“, nach G mit „‚halbem Wind“. Auf
den strichen II liegt es ‚hoher am Wind” als aurzden
Strichen G und geht es von H nach G oder F oder B,
so „hält es ab“. Um von: einem Strich rechts vom A
auf einen solchen links von A zu gelangen, muß es ent-
weder durch den Wind gehen, ‚wenden‘, oder „abhalten“
und wieder ‚„anluven“, d. h. „halsen“.
In Abbildung 14 segeln zwei Flotten in Linie beim
Wind über B.B.-Bug. Die Flotte CD ist die Luv-, AB
die Leeflotte. AB kann nicht auf direktem Wege an CD
heran, sie muß 'sich zu ihr! „aufkreuzen , CD-kannde
gegen direkt auf AB ‚abhalten‘. Die Luvflotte kann also
angreifen, die Leeflotte den Angriff nur abwehren oder
ıhm ausweichen. Die leichten Schiffe beider Flotten be-
finden sich im „Feuerlee“ geschützt durch die eigene
Linie. Die vom Wind geblähten Segel drücken die Lee-
seiten ins Wasser und heben die Luvseiten, die Leeflotte
kann also mit den Geschützen der Luvseite besser wir-
ken als die Luvflotte mit den Geschützen der Leeseite.
Hält dıe Luvflotte zum Angriff ab, so kann sie während
dieser Zeit ihre Geschütze nicht gebrauchen, während sie
von der Leeflotte dauernd beschossen werden kann.
Havarierte Schiffe der Luvflotte treiben auf den Feind
zu, solche der Leeflotte von ihm ab. Dagegen können
Brander der Luvflotte leichter an beschädigte Schiffe der
Leeflotte heran als umgekehrt. Die Luvposition hatte
also ebenso wie die Leeposition Vorteile und Nachteile,
die auf die Taktik der Admirale bestimmend einwirkten.
Die Linientaktik wurde zum ersten Male in der
Schlacht bei Lowestoft zwischen Holländern und Eng-
ländern am 13. Juni 1665 angewendet, artete jedoch in
dieser wieder zu dem bisher üblichen Gruppenkampf aus.
In der berühmten Viertageschlacht vom Iı. bis 14. Juni
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 25
1666 hielten schon beide Gegner mehr an ıhr fest. Auf
holländischer Seite kommandierte der nächst Nelson be-
deutendste Flottenführer aller Zeiten „de Ruyter‘, auf
englischer Seite der Herzog von Albemarle, genannt
Monk. Die Flotten waren einander ebenbürtig, die Hol-
Abbildung ı4. Zwei Segelschiffsflotten in Linie im Kampf auf
parallelem Kurs beim Wind.
(Aus: P. Paul Hoste, L’art des arm&es navales usw.)
länder an Schiffszahl überlegen, dagegen .waren ihre
Schiffe im Durchschnitt kleiner, mit leichteren Ge-
schützen armiert, mit weniger gut geschultem Personal
besetzt und schlechtere Segler als die englischen. Auf
beiden Seiten waren die Schiffe von 38 Kanonen auf-
wärts in die Linie eingestellt, nur kleine Schiffe standen
im Feuerlee. Die holländischen Schiffe führten insge-
samt 4615 Kanonen und 21909 Mann Besatzung, die
englischen 4460 Kanonen und 21085 Mann Besatzung.
In der Linie standen auf holländischer Seite 84, auf eng-
26 Meereskunde.,
lıscher 80 Schiffe; die Zahl der kleinen englischen Schiffe
und Brander ist nicht bekannt, auf holländischer Seite
wurden 18 angegeben. Beide Flotten waren in drei Ge-
schwader, Vorhut, Mitte und Nachhut, jedes Geschwader
wieder ın drei oder zwei Divisionen und Unterabteilun-
gen geteilt. Die Oberbefehlshaber kommandierten die
Mitte der an 8000 m langen Linien. In viertägigem heißen
Ringen gelang es dem Genie de Ruyters und seinem stets
richtigen und energischen Eingreifen, den Sieg über den
vorzüglich geschulten Gegner davonzutragen, nicht aber,
ihn zu vernichten. Dazu hätte er besserer Unterstützung
durch seine Unterführer bedurft. Diese handelten wie-
derholt auf eigene Faust und brachten dadurch die hol-
ländısche Linie in Unordnung und mehrfach sogar der
fast stets wohlgeordneten englischen Linie gegenüber in
gefahrvolle Situationen.
Ohne de Ruyter hätte die sichere taktische Schulung
und die Disziplin der Engländer die Oberhand gewon-
nen. Ihre Linientaktik hatte sich glänzend bewährt und
wurde von nun ab die Grundlage der taktischen Ausbil-
dung in allen Flotten. Geankert und marschiert wurde
in mehreren Kolonnen nebeneinander, die jederzeit eine
möglichst schnelle Entwicklung zur Linie gestatteten.
Die Linie mußte eng geschlossen sein, Vorhut, Mitte,
Nachhut waren die taktischen Einheiten, die auch ge-
trennt kämpfen konnten, aber stets auf Vereinigung in
der Linie ihr Bestreben richten mußten. Die Gefechte
entwickelten sich infolgedessen mehr und mehr zu lau-
fenden oder Passiergefechten, bei denen keine durch-
schlagenden Erfolge erzielt wurden. Namentlich in den
Kämpfen zwischen Engländern und Franzosen im 18.
Jahrhundert machte sich dies für die Engländer unan-
genehm fühlbar, indem die Franzosen meistens die Lee-
stellung wählten und dem Kampf möglichst auswichen.
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 27:
Dies veranlaßte den englischen Admiral Rodney
in der Schlacht von Dominica 1782 mit der bisherigen
Taktik zu brechen und zu der später durch Nelson
zur höchsten Vollkommenheit geführten Durchbruchs-
taktik überzugehen. Er durchbrach mit seinem Flagg-
Abbildung ı5. Seeschlacht bei Dominica, ı2. April 1782.
(Aus: John Clerk, An Essay on Naval Tactics.)
schiff die französische Linie in einer sich ihm darbieten-
den Lücke und zwang den hinteren Teil der französischen
Linie zum Ausbiegen (vgl. Abbildung ı5). Dadurch
wurde die französische Flotte nicht nur getrennt, son-
dern die vordersten abgetrennten Schiffe wurden auch
stark beschädigt und ein Teil der zersprengten Schiffe
wurde im weiteren Verlauf der Schlacht genommen.
Rodney benutzte den Durchbruch noch nicht, um den
28 Meereskunde.
abgetrennten feindlichen Teil nun durch Herangehen von
Schiff an Schiff mit Übermacht zu vernichten. Dieser
Gedanke hatte sich damals noch nicht durchgesetzt, er
ist aber durch Rodneys Tat in der englischen Marine
angeregt und von Nelson dann mit Kühnheit zur Aus-
führung gebracht worden.
Bei Trafalgar am 21.0
[) R, .
b tober 1805 führte Nelson
L} [) s 2 £ De
s N seine Flotte in zwei Kolonnen
Be N 6 w&
- - N mit raumem Wind und allen
= es = > L = 5 1 1 N
Er Bag Seseln auf die beim Wind
nt Kimdad oO
= De ee a
ga RN a iegende französisch-spanische
5% % : Flotte los und setzte sich ruhig
- - ."” . . .
ee N » ihren Breitseiten aus, ohne
>” % . . ..
I 0, selbst mit seinen Geschützen
d B 5 en
B, im ÄAnmarsch wirken zu können.
N Abbildune 16. Er kannte
w Britisches chi 0° bo)
Tanzssischwdchiffs ER S 5 B r
et one seine Gegner genau und wußte,
ae was er ihnen bieten konnte.
u
Er vertraute aber auch felsen-
Abbildung 16. Seeschlacht bei fest
seiner eigenen "Rlore
Trafalgar, 21. Oktober 1805.
ee seinen Admiralen und Kom-
Navy Volya) : mandanten, die seine Befehle
vor der Schlacht begeistert in
Empfang genommen hatten. Ohne viele Signale führte er sie
an den Feind, er selbst an der Spitze der linken Kolonne von
12 Schiffen mit 6 Fregatten an der Seite, sein Freund
Collingwood 1800 m entfernt an der Spitze der
rechten Kolonne von 15 Linienschiffen. Die Fregatten
hatten Stärke und Stellung des Feindes, der mit 33 Linien-
schiffen in einer 7 km langen, schlecht geordneten Linie
in Lee von ihm stand, vorher genau erkundet, jetzt galt
es, von den feindlichen Führerschiffen an, die in der Mitte
standen, Schiff hinter Schiff durchzustoßen, sich längs-
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 29
seit der feindlichen Schiffe der Mitte und Nachhut zu
legen und diese zunächst zu vernichten. Nicht einen
kleinen Teil, sondern die ganze feindliche Flotte hoffte
Nelson zu vernichten, mindestens 20 Schiffe davon in
seine Gewalt zu bekommen. ı8 Schiffe fielen wirklich
in der Schlacht, 4 auf der Verfolgung den Engländern in
Abbildung ı7. Szene aus der Schlacht bei Trafalgar.
Der englische Dreidecker „Tem£raire“, stark beschädigt und bewegungslos, erobert
zwei steuerlose an ihn herangetriebene französische Zweidecker. Englische Fregatten
eilen hilfsbereit herbei. (Aus: Wm. Laird Clowes, The royal Navy, Vol. V.)
die Hände. Eın glänzendes Resultat! Man sollte meinen,
die Führerschiffe der Engländer wären zusammenge-
schossen worden, ehe sıe an die feindliche Linie heran-
kamen. Dies ist aber nicht der. Fall und zeigt, wie ge-
ring die Fernwirkung der damaligen Geschütze war.
Allerdings wurde Nelsons Flaggschiff von den feind-
lichen Kugeln hart mitgenommen, er selbst tödlich ver-
letzt, aber die ‚Victory‘ war bis zuletzt mit der Admi-
ralsflagge im Kampfgewühl.
Trafalgar war die letzte große Schlacht von Segel-
30 Meereskunde.
flotten und der Höhepunkt der Segelschiffstaktik. Die
nächste taktisch bedeutsame Schlacht wird schon von
Dampferflotten geschlagen. In ihr siegte wieder die
Rammtaktik über die Linientaktik der Segelflotten.
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‘2 Aw.
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Abbildung 18. Seeschlacht bei Lissa, 20. Juli 1866.
(Aus: Edward Kirk Rawson, Twenty Famous Naval Battles, Vol. II.)
Die Flotten selbst, die sich bei Lissa am 20. Juli
1866 gegenüberstanden, können noch keinen Anspruch
auf Vollkommenheit erheben. Alles, was die beiden
(regner an Dampfschiffen auftreiben konnten und was
noch einigermaßer kampffähig war, hatten sie zur Flotte
vereinigt. 7 Panzerschiffe, ı Holzlinienschiff, 5 Holz-
fregatten, ı Holzkorvette, 7 Kanonenboote, 3 Rad-
dampfer, 2 Auxiliardampfer zählten die Österreicher,
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 3]
ıı Panzerschiffe, 4 Holzfregatten, ı Holzkorvette, 4 Avi-
sos, 5 Kanonenboote, 2 Raddampfer, ı Hilfsdampfer die
Italiener. Die österreichischen Panzerschiffe waren
durchweg schwächer gepanzert, schwächer armiert und
langsamer als die italienischen. Die Gefechtskraft beider
ae, ©;
Abbildung 19. Szene aus der Schlacht bei Lissa.
Untergang der gerammten „Re d'Italia“.
(Aus: Edward Kirk Rawson, Twenty Famous Naval Battles, Vol. II.)
Flotten lag nur in den Panzerschiffen, die Italiener waren
hierin erheblich überlegen, trotzdem war der Wille zur
Schlacht bei dem österreichischen Admiral stärker als
bei dem italienischen. Dieser belagerte mit seiner Flotte
die Insel Lissa, jener wollte die Insel entsetzen.
Als der Anmarsch der Österreicher morgens gegen
6 Uhr gemeldet wurde, war der italienische Admiral
Persano unruhig, gab keine klaren Befehle zum Sam-
meln der zur Belagerung auseinandergezogenen Schiffe
und ließ den Mannschaften nicht einmal Zeit zum Früh-
32 Meereskunde.
stücken. Die Österreicher unter Tegetthoff kamen
gegen den starken Wind nur langsam vorwärts (Abbil-
dung ı8, I), so daß Persano noch Zeit erhielt, seine
Panzerschiffe ın Linie, wenn auch auseinandergezogen,
dem Feind gegenüberzustellen, um von seiner überle-
genen Artillerie Gebrauch zu machen. Seine Linie teilte
er in Vorhut — Admiral Vacca, Mitte — Admıral
Faa di Bruno und Nachhut — Admiral Ribotti.
Den Holzschiffen unter Admiral Albıni befahl er, sich
außerhalb Schußweite bereit zu halten. Der Admiral zog
es vor, überhaupt nicht in die Schlacht einzugreifen.
Tegetthoff hatte seine Flotte in drei Divisionen
geteilt und die Divisionen in stumpfer Keilform hinter-
einander aufgestellt. Vorn die Panzerschiffe unter seiner
Führung, dann die Fregatten und Korvetten unter Kom-
modore Petz, dann die Kanonenboote Dazwischen
die Raddampfer als Signalwiederholer. Der Verlauf der
Schlacht ist aus der Abbildung ersichtlih, Tegett-
hoff auf dem Panzer „Ferdinand Max‘ gab durch Sig-
nal den Befehl: „Panzerschiffe den Feind anrennen und
zum Sinken bringen!“ Er drang in die feindliche Linie
ein, es entstand das melee, in welchem „Ferdinand Max“
das. feindliche‘ Führerschiff „Re UItalia”” in den 2Gruaa
bohrte, ohne selbst Schaden zu leiden, und der italienische
Panzer „Palestre“ ın-die Luit log Ber s amoshare
sich vor Beginn der Schlacht von der „Re d’Italia” auf
den „Affondatore‘“ (6) eingeschifft und suchte von hier-
aus hinter der Front seine Linie zu leiten, aber niemand
achtete auf ihn, da man ihn auf „Re d'Italia“ wähnte.
Die einheitliche Leitung fehlte infolgedessen auf italieni-
scher Seite — ein Beweis, wie notwendig es ist, daß der
Führer seinen Platz in der Linie nur im äußersten Not-
fall oder nach bestimmten Vereinbarungen verläßt.
Die österreichische Division Petz kam mit der Pan-
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 33
zerdivision Rıbotti in Berührung und wurde übel zuge-
richtet. Ihr Führerschiff, das Holzlinienschiff „Kaiser“
rammte den Panzer „Re dı Portogallo“, um von diesem
nicht gerammt zu werden; es wurde hierbei schwer, der
Panzer nur leicht beschädigt — ein drastisches Beispiel
für die Überlegenheit des Panzerschiffs. Gegen 11, Uhr
war die Schlacht beendet, die Österreicher entsetzten
Lissa, die Italiener räumten den Kampfplatz mit Verlust
von 2 Panzern, 620 Toten und 161 Verwundeten. Die
Österreicher hatten nur 38 Tote und 138 Verwundete.
Die Rammtaktik wurde von nun ab wieder die
Grundlage der Friedensübungen in den Marinen, sie er-
zielte auch in Einzelschiffskämpfen noch Erfolge, die
Einführung der Torpedowaffe und die stetige Verbesse-
rung der Artillerie bereitete ihr aber schon bald ein Ende.
In der großen Seeschlacht bei Tsushima am 27. Mai
1905 und in den vorhergehenden Kämpfen kam auf bei-
den Seiten die Linientaktik allein wieder zur Geltung.
Tsuschima tritt wie Trafalgar durch die Wucht des
Sieges ganz besonders in die Erscheinung. Hier wie dort
war die Schlacht für die Existenz eines Inselvolkes ent-
scheidend. Signalisierte Nelson vor Beginn der
Schlacht: „England erwartet, daß jedermann seine Pflicht
tut‘, so ließ Togo durch Funkenspruch verkünden:
„Das Aufblühen oder der Fall des Reiches hängt von dem
Ergebnis des jetzt beginnenden Kampfes ab. Drum tue
jedermann bis zum äußersten seine Pflicht“. Bei
Tsuschima wie bei Trafalgar war auf der einen Seite der
energische Wille zu siegen und den Gegner zu ver-
nichten, auf der anderen Seite der Zwang zur Schlacht
nach Weisungen aus der Heimat gegen die bessere Über-
zeugung der Führer und das Gefühl der Minderwertigkeit
vorhanden. Nirgends mehr als in diesen beiden Schlachten
tritt der moralische Einfluß auf den Ausgang der Schlacht
34 Meereskunde.
in die Erscheinung, hervorgerufen durch Vaterlands-
begeisterung, eiserne Disziplin und Schulung des Per-
sonals auf der einen, durch Mißerfolge, Mangel an Dis-
ziplin und an Schulung auf der anderen Seite. Man
kann beinahe sagen, die Schlachten waren schon ent-
schieden, ehe sie geschlagen waren. Für Rojest-
wensky lagen aber doch die Verhältnisse ungleich
ungünstiger als für Villeneuve. Dieser hatte seinen
Stützpunkt wenige Meilen hinter sich, keinen Feind
dazwischen, die russische Flotte war dagegen auf einem
monatelangen, mit großer Umsicht durchgeführten Marsch
fern von der Heimat begriffen, sie war ohne‘ jeden
Stützpunkt und gezwungen, sich aus Begleitdampfern
zu verproviantieren. Hatte der Admiral die Dampfer
auch zum großen Teil schon entlassen, so führte er doch
noch einen Troß von 8 Schiffen mit sich, deren Sicherung
seine Kreuzer lahmlegte und seiner Flotte die Bewegungs-
freiheit nahm, ähnlich wie es den Römern bei Eknomos
ergangen war.
Der Anmarsch der russischen Flotte erfolgte in der
Ordnung, die Abbildung 20 angibt. Zum Gefecht ent-
wickelten sich die Schlachtschiffe in Linie, im Feuerlee
verteilt die Kreuzer, Torpedoboote und Transportschifte.
Die Linie zählte 8 Linienschiffe, 3 Küstenpanzer und
ı Panzerkreuzer, eingeteilt in 3 Divisionen zu 4 Schiffen,
9 Torpedoboote waren auf die Divisionen als Depeschen-
boote verteilt, 2 Panzerkreuzer, 6 geschützte Kreuzer,
ı Hilfskreuzer schützten die Begleitschiffe. Linienschifte
und Kreuzer führten 53 schwere Geschütze von 30,5 und
20,3 cm Kaliber und. 163 Geschütze von 12 uadarszen
Kaliber. Diesen 156 Geschützen stellten die Japaner 47
schwere und 160 15 cm-Geschütze, also 207 entgegen auf
4 Linienschiffen, 8 Panzerkreuzern, 14 geschützten und
2 ungeschützten Kreuzern. Die russische Flotte war also
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten.
an Linienschiffen und
schweren Geschützen,
die japanische anKreu-
zern und mittleren Ge-
schützen, außerdem
aber auch bedeutend
an lorpedobooten
überlegen. Sie verfügte
über 21 Torpedoboots-
zerstörer in 5 Flottillen
und über 16 Torpedo-
boote in 4 Divisionen,
die zunächst unter
Land bereit gehalten
wurden. Die japani-
schen Geschütze waren
durchweg neuerer
Konstruktion und von
größerer Durchschlags-
kraft und Fernwirkung
als die russischen, die
japanische Linie aus
4 Linienschiffen und
8 Panzerkreuzern ho-
mogener zusammenge-
setzt und an Geschwin-
digkeit um 4—5 See-
meilen überlegen. Von
keinem Troß behindert,
Zum #
Keiholaily
Apaxin
Sengam ind
Nochakore b
dig Fb
Amnora #6
Domzhoi 6
MamnomachäEd
8 srlänterumg:
ezonlle
anser-Hreuzer
”
Elfsschiffe
Terpedobocke
Sorpitalschiffe
35
Höomtschug
be) e. Suwormeo
& helexanderit
bRorodins
hal
nad Vöntatja
Oreyach Bspiszei
OXamtzchat l Iamarinı
KHorca ENachimom
dRup
Oswir
Fiwjätlana
+Alımas
dArat
Dome bazet
Abbildung 20.
Seeschlacht bei Tsu-
schima.
Marschformation der russischen Flotte,
(Aus:
Nauticus 1906.)
mit dem Kampfplatz genau vertraut, ja auf demselben
einexerziert, die Stützpunkte in der Nähe, von Begeiste-
rung zum Siege erfüllt,
nach jeder Richtung hin im Vorteil.
war somit die japanische Flotte
Ihre Linie gliederte
sich in 2Divisionen zu je 6 Panzerschiffen, an deren Spitze
36 Meereskunde.
der Klottenchef führte, ihre Kreuzer "wurden nacheder
Aufklärung in 4 Divisionen zu je 4 Schiffen zusammen-
gezogen. Die von den japanischen Kreuzern durch
Funkspruch herbeigerufene Linie erschien in vorteil-
hafter Position in dem Mo-
ee ment auf dem Kampfplatz,
\ als die zur Vertreibung der
EN feindlichen Kreuzer abge-
Ontjabje FÜ Smumarol® 4iemtehug schwenkte vorderste russi-
Sivsor d Mexandeıdıd 8
sche Division ihren Platz
Iomarınd Borodino 4
Seinen $ Or an der Spitze noch nicht
Teikolail.l Haumind wieder eingenommen hatte.
a 8 (Abbildung 21.) Sie kreuzte
he nn von B.B. nach St.B. den
0 zn Kurs der russischen Flotte
EI EN (Abbildung 22) und eröffnete
Somskoi # Kanzporter Ey r
EEE RL auf 6000 m das Feuer auf
! die vordersten russischen
5 Schiffe der I. und 2. Divi-
+ Kreurer-Abt. schein sion, das Führerschiff „‚Ssu-
ı worow‘“ und das Flaggschiff
Kostroma | bAzjot „Ossljabja‘‘. Letzteres
Abbildung 21. Seeschlacht bei Wurde, da zunächst dem
Tsuschima. Feinde, innerhalb ıo Mi-
Übergang der russischen Flotte in Gefechts- nuten derart schwer beschä-
en digt, daß es aus der Linie
nach Feuerlee ausscheiden
mußte und nach 50 Minuten kenterte. Das Feuer der
Japaner war, trotzdem die Russen es heftig erwiderten,
derart überwältigend, daß die allmählich hergestellte
(Aus: Nauticus 1906.)
russische Linie mehr und mehr nach St. B. abgedrängt
wurde und um den nach 40 Minuten ebenfalls zum Aus-
‘
scheiden gezwungenen „Ssuworow“ einen Kreis beschrieb.
Das Führerschiff kenterte 5 Stunden später, nachdem
es noch mehrfach beschossen und der schwer verwundete
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 37
Admiral auf ein Torpedoboot überführt worden war.
Die japanische Linie war vermöge ihrer überlegenen Ge-
schwindigkeit auf dem äußeren Kreisbogen voraus-
geblieben, machte nach halbem Kreislauf kehrt und er-
zwang durch Querstellung vor der russischen Linie nach
deren Kreislauf von neuem ein Abdrehen der Russen nach
ussm ___ alas
ER ;
Beichen -borkläarım et
chyam
w22.Qron sry0"
- „ Kreuzer
ans tanapacker Min 0 0 0 0 hm
--—_ Jap. zo» m
nr Itsurer
Abbildung 22. Seeschlacht bei Tsuschima, Skizze des ersten Teils
der Schlacht ıh 45m bis 5 p. m.
(Aus: Nauticus 1906.)
St.B. Auch die vordersten japanischen Schiffe hatten
inzwischen unter dem wirksameren russischen Feuer bei
Annäherung bis auf etwa 3000 m Beschädigungen er-
halten, aber kein Schiff der Linie war zum Ausscheeren
gezwungen. Weniger glücklich kämpften bis dahin die
japanischen Kreuzerdivisionen. Diese hatten sich hinter
der russischen Linie herumgezogen und die russischen
Kreuzer mit dem Troß angegriffen. Sie brachten auch
einen russischen Hilfskreuzer zum Sinken und zwangen
dies aıssischen Kreuzer zum Kreisgetecht nach B.B,,
kamen hierbei aber in den Feuerbereich der russischen
38 Meereskunde.
Linie und wurden arg mitgenommen. Eine ihrer Divi-
sionen wurde versprengt, zwei ıhrer Flaggschiffe mußten
aus dem Gefecht geschleppt und unter Land auf Grund
gesetzt werden.
Mittlerweile war es 5 Uhr geworden, der bei dem
nebeligen Wetter fest auf dem Wasser lagernde Pulver-
rauch begrenzte das Gesichtsfeld; die Kämpfenden verloren
sich zeitweise aus Sicht; es gelang den Russen, sich zu
sammeln und nördlichen Kurs einzuschlagen. (Abbildung
23.) Nunmehr wurden aber die japanischen Torpedoboote
zum Angriff angesetzt und es gelang ihnen, 4 russische
Panzer zum Sinken zu bringen und die russischen Schiffe
von neuem auseinander zu sprengen. In der Tages-
schlacht selbst scheinen weder japanısche noch russische
Torpedoboote Angriffe auf feindliche Schiffe ausgeführt
zu haben. Auch haben die Schiffe von ihrer Torpedowaffe
keinen Gebrauch gemacht. Am anderen Morgen steuerte
die russische 3. Division und ı Kreuzer nordwärts, erstere
wurde zur Übergabe gezwungen, der Kreuzer entkam
nach Wladiwostok. Von den 38 russischen Schiffen
waren am 28. Mai 20 gesunken oder von ihren tapferen
Besatzungen versenkt worden, 6 vom Feinde genommen
und ı2 nach Wladiwostok oder nach Manila und
Schanghai entkommen. 6142 Gefangene fielen allein den
Japanern in die Hände, während diese selbst ihre Ver-
luste auf 116 Tote und 579 Verwundete angeben.
Die Seeschlacht von Tsushima entschied einen lang-
wierigen blutigen Krieg, ebenso wie Trafalgar, Actium
und Salamis. In den dazwischen liegenden Jahrtausenden
hat sich also an der Tatsache nichts geändert, daß grobe
Landmächte gezwungen werden können, die Entscheidung
eines großen Krieges auf dem Wasser herbeizuführen und
daß die größte Landmacht zu einem ihr nachteiligen
Frieden gezwungen werden kann, wenn sie ihrer Marine
im Frieden nicht die nötige Sorgfalt gewidmet hat.
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. Swjürlana d Abbildung 23.
9
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Svir 9 Tsuschima.
n Skizzen aus dem
j zweiten Teil der
oh Schlacht nach-
Dir. mittagsu.abends.
E Die Winkel-
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a a je einejapanische
Torpedoboots-
Ne ÄAfınd Adi A Fulda division.
ne f s!N: ICUS 1906
De (Aus: Nauticus 1906,)
40 Meereskunde.
In taktıscher Hinsicht hat Tsuschima die Annahmen
bestätigt, welche die großen Seemächte schon vor dem
Kriege bei dem Ausbau ihrer Flotten geleitet hatten.
Die Artillerie wurde dem heutigen Stand der Waffen-
technik entsprechend als die Hauptwaffe von neuem an-
erkannt, die Linie als einfachste und günstigste Gefechts-
formation beibehalten, das stark gepanzerte, schwer
armierte Linienschiff als eigentlicher Träger der Haupt-
waffe und Kern der Schlachtflotte weiter ausgebildet.
Die verheerende Wirkung der japanischen Mittelartillerie
neben der schweren Artillerie führte zur Aufgabe der
Idee, die Linienschiffe nur mit schweren Geschützen
zu armieren, wenn auch die hervorragende Leistung
der neuen schwersten Geschütze ın Treffwahrschein-
lichkeit, Fernwirkung und schneller Bedienung die Ver-
mehrung derselben auf den Linienschiffen geboten er-
scheinen ließ. Auch die durch die überlegene Ge-
schwindigkeit der japanischen Linie errungenen Vor-
teile im Kampfe ließen es ratsam erscheinen, die Schnellig-
keit der Linienschiffe auf annähernd gleicher Höhe mit
der der Linienschiffe der anderen Nationen zu halten und
die Linie aus möglichst gleich schnellen Schiffen zu
bilden, da für die Linie die Geschwindigkeit des lang-
samsten Schiffes maßgebend ist.
So entstanden die heutigen „Dreadnoughts“, armiert
mit ıo bis 12 Geschützen schwersten Kalibers, die zu je
zweien in drehbaren Panzertürmen stehen, ferner mit IO
bis 20 Geschützen kleineren Kalibers von Io und I5 cm
in gepanzerten Breitseitkasematten und einer größeren
Anzahl ganz leichter 7,5 oder 8,8 cm-Geschütze, die auf
Oberdeck und Batteriedeck verteilt sind, geschützt mit
einem starken Gürtelpanzer rings um das Schiff über und
unter der Wasserlinie. Sie sind rund 20000 Tonnen
schwer und haben eine Geschwindigkeit von etwa 20
Knoten. Die Besatzungsstärke beträgt nahe an 1000
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 41
Köpfe. Die Bordhöhe wird so niedrig als möglich ge-
halten, um eine möglichst geringe Zielscheibe abzugeben,
ihre noch weiter angestrebte Vergrößerung wird nur in
Länge und Breite ohne Vermehrung des Tiefganges an-
gestrebt, damit sie ın den Küstengewässern die nötige
3jewegungsfreiheit behalten.
Über die Torpedoarmierung habe ich mich in den
schon angezogenen Vorträgen geäubert, ebenso über die
Verwendung und den Bau von Torpedobooten, Panzer-
kreuzern und geschützten Kreuzern in den einzelnen
Schlachtflotten. Meine Ausführungen über die Kreuzer
mub ıch jetzt noch dahin ergänzen, daß Deutschland und
England sich inzwischen, anscheinend definitiv, neuer-
dings auch Japan, von dem bis dahın allgemein gebauten
Panzerkreuzertyp mit schwacher Armierung und nicht
genügender Geschwindigkeit abgewendet und einen neuen
Typ eingeführt haben, der mit 8 Geschützen schwersten
Kalibers ın Panzerdoppeltürmen und ı0 bis 20 10- und
15 cm-Geschützen in gepanzerten Breitseitkasematten ar-
miert und mit Gürtelpanzer wie die Linienschiffe ge-
Sehikezi iss Der Panzer ist leichter als der-der Linien-
schiffe, und diese Gewichtserleichterung im Verein mit
der der schweren Artillerie hat es ermöglicht, ihnen eine 6
bis 7 Seemeilen höhere Geschwindigkeit als den Linien-
schiffen zu geben. Angesichts dieser Verbesserungen in
Geschwindigkeit und Armierung muß ich jetzt den
Panzerkreuzer als einen wertvollen Teil der Schlacht-
flotte bezeichnen, der geeignet ist, mit seinen schweren
Geschützen das Feuer der Linienschiffe zu vervoll-
ständigen. England hat sich auch inzwischen dem Bau
von Kreuzern, dıe unseren kleinen Kreuzern ähnlich sind,
zugewendet und eine größere Anzahl auf Stapel gelegt,
Frankreich, Amerika und Japan schenken diesem Typ
auch mehr Beachtung als bisher, haben aber den Bau ım
Vergleich mit uns immer noch eingeschränkt.
42 Meereskunde.
Besondere Aufmerksamkeit wird in den genannten
Marinen den Unterseebooten geschenkt, die sich allmählich
zu einer kriegsbrauchbaren Waffe entwickelt haben, vor-
laufig jedoch nur zur Küstenverteidigung, nicht in der
Hochseeflötte verwendet zu werden scheinen. Sie werden
wie die Torpedoboote in Flottillen oder Divisionen geteilt
und dementsprechend, vornehmlich am Tage, taktisch ver-
wendet. In unseren Betrachtungen finden sie vorläufig
nur insofern Raum, als sie einen Teil der modernen
Schlachtflötte im Küstenkrieg bilden werden. Ähnlich
verhält es sich mit den zum Legen von unterseeischen
Minen ın den Marinen vorgesehenen Spezialschiffen, die
zeitweise den Hochseeflotten zu diesen Zwecken zugeteilt
werden, dıe aber deren Taktık nicht weiter beeinflussen,
ausgenommen beı Blokaden und ähnlichen Operationen.
Die eigentlichen Schlachtflotten setzen sich heute aus
lLinienschiffen, Panzerkreuzern, geschützten Kreuzern
und Torpedobooten zusammen. Die Linienschiffe werden
ın Geschwader und Divisionen, die Kreuzer in Divisionen
oder Gruppen, die Torpedoboote ın Flottillen zusammen-
gefaßt. Deutschland hat die Gliederung seiner Flotte
durch Gesetz festgelegt, seinem Beispiel ist neuerdings
Frankreich gefolgt, England, Amerika und Japan setzen
ihre Schlachtflotten den jeweiligen Bedürfnissen ent-
sprechend zusammen. Große Unterschiede sind nicht be-
merkbar, höchstens, daß Deutschland und England Linien-
schiffsgeschwader von 8 Schiffen als taktische Einheit, Ame-
rika und Japan Divisionen von 4, zuweilen auch 5 Schiffen.
Frankreich Divisionen von 3 Schiffen als solche betrachten.
Das Rückgrat der Schlachtflötten bilden ın den ge-
nannten Marinen die aktiven Friedensverbände, denen
stets die jeweilig neuesten Schiffe zugeteilt werden,
während eine entsprechende Anzahl älterer zu den Re-
serveformationen übertreten. Je schlagfertiger die Re-
serveflotten in Personal und Material gehalten werden,
Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. 43
umsomehr können die aktiven Flotten auf ihre Hilfe bei
Ausbruch des Krieges rechnen. Das ist strategisch sehr
wichtig und beeinflußt auch die Taktik, indem neue Ver-
bände in die aktive Flotte eingereiht werden können.
Wichtig ist für die Taktik, wie viele taktische Ein-
heiten in der Schlacht geleitet werden können. In den
vorjährigen englischen Flottenmanövern waren auf einer
Seite 3 Linienschiffsgeschwader zu 8 und 2 Panzerkreuzer-
divisionen zu je 4 Schiffen in der Linie vereinigt. Rechnen
wir unter Berücksichtigung der heutigen Schiffslängen
von I50—200 m den Abstand von Schiffsmitte zu Schiffs-
mitte auf 400 m, so ergibt dies eine Linie von rund ı3 km
oder 7 Seemeilen. Ich glaube, daß hiermit die Grenze
für die einheitliche Leitung schon erreicht, wenn nicht
überschritten worden ist. In der Schlacht bei Tsuschima
wurde die Sichtigkeit z. B. auf nur 5 Sm geschätzt.
Für den Oberbefehlshaber, der an einen bestimmten
Platz in der Linie gebunden ist, wird mit der Länge der
Linie die Wahl des Platzes immer schwieriger. Die sieg-
reichen Admirale in den Schlachten von Tsushima, Lissa,
Trafalgar, Eknomos befanden sich an der Spitze ihrer
Flotten und wirkten durch ihr Beispiel ermutigend. Dies
wird künftighin ın großen Schlachten kaum noch möglich
sein. Die Oberbefehlshaber werden sich in der Mitte der
Linie halten müssen, um nach Möglichkeit den Kampf
übersehen und die je nach der Gefechtslage nötigen Ent-
schlüsse fassen zu können.
Die Artilleriewirkung beginnt jetzt schon auf 1o km;
die gegnerischen Flotten werden bestrebt sein, schon auf
dieser Anfangsentfernung in so günstige Position zum
Feinde zu gelangen, daß sie mit überlegener Geschützzahl
auf einen Teil der feindlichen Linie das Feuer konzen-
trieren und diesen so erschüttern können, daß Unordnung
in der feindlichen Linie entsteht. Dann ist der Moment
TE
44 Meereskunde.
gekommen, den Feind auf wirksameren, näheren Ent-
fernungen weiter zu bekämpfen und auch auf den Ge-
brauch der Torpedowaffe zu manövrieren. Die Gefahr-
zone, von feindlichen Torpedos getroffen zu werden,
beginnt nach dem heutigen Stand der Waffe schon
zwischen 3000 und 4000 Metern. Innerhalb 6000 m übt die
schwere Artillerie auch gegen den vorhandenen schwersten
Panzer schon eine vernichtende Wirkung aus. Infolge-
dessen werden nur Linienschiffe auf diese Entfernung ein-
ander bekämpfen. Die schwächer geschützten schnellen
Panzerkreuzer, welche mit Erfolg bei Gewinnung der
Anfangsstellung und auf den weiteren Entfernungen über
6000 m Verwendung gefunden haben können, werden nun-
mehr zurückgehalten und zur Deckung der havarierten
Linienschiffe der eigenen Linie oder zum Angriff auf
feindliche havarierte Schiffe oder zur Gewinnung neuer
günstiger Stellungen kraft ihrer Schnelligkeit verwendet
werden. Die kleinen Kreuzer und Torpedoboote, welche
sich bei Beginn der Schlacht im Feuerlee gesammelt
haben, werden je nach der Gefechtslage von dem Ober-
befehlshaber zum Eingreifen befohlen werden.
Bestimmte Regeln für das Zusammenwirken der
verschiedenen Schiffsgattungen in der Schlacht werden
kaum existieren. Das richtige Erfassen des Augenblicks
seitens aller Führer, das Vertrautsein mit den Ideen des
Flottenchefs, die Fähigkeit, aus seinen kurzen Signalen
seine Absichten sofort zu erkennen, und das feste Zusam-
menhalten der einzelnen Verbände sind die maßgebenden
Gesichtspunkte. Daraufhin zielende Schulung im Frieden
ist unerläßlich, in gleicher Weise wie die Ausbildung des
Personals und das Einexerzieren der einzelnen Verbände
die Vorbedingung für ein gedeihliches Zusammenwirken
Berlin SW., Kochstraße 68—71.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG NEUNTES HEFT
Die Häfen der Adria.
Von Norbert Krebs.
ie keilförmige Gestalt Europas bedingt, daß es an
zwei Seiten vom Meer umflossen ist. Im Nord-
westen begrenzt es der Atlantische Ozean und
die Nordsee, im Süden das Mittelländische Meer. Dort
greift nur die Ostsee tiefer in den Rumpf des Erdteiles
aber auch sie wendet sich bald parallel zum Außensaum
gegen Nordosten —, da erschließen der Golf du Lion,
das Ligurische Meer, die Adria, die Aegeis und das
Schwarze Meer den Südrand Europas in vorzüglicher
Weise. Die Nordwestküste verläuft auf weite Strecken
geradlinig; eine flache Kreislinie herrscht von der Seine-
mündung bis über Königsberg hinaus, nur unterbrochen
durch die Jütische Halbinsel und seichte Buchten wie die
Zuider See. Hinter Dünen und Watten birgt sich die
Norddeutsche Ebene, und nur die Mündung großer Ströme
bietet bequeme Wege vom Land zum Meer. Hier liegen
die wenigen, aber um so bedeutsameren Hafenstädte. Das
flache Hinterland und die schiffbaren Flüsse ermöglichen
eine leichte Verbindung mit dem Inneren, und dem-
entsprechend ist der Einfluß dieser Seestädte Hunderte
von Kilometern weit zu spüren.
Ganz anders liegen die Verhältnisse im Süden. Hier
ist alles gegliedert. Bucht reiht sich an Bucht. Die Ost-
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 9. I
Meereskunde.
[887
küste der Adria und Griechenland sind von zahlreichen
Inseln und Halbinseln umsäumt. Die Schwemmlandküste
fehlt nicht, aber sie ist seltener und herrscht nie lange.
Kaum irgendwo gibt es so viele Häfen, wenn auch ver-
schiedener Güte. Dazu gesellt sich ein heiterer Himmel,
ein ruhiges Meer und ein Reichtum an Landmarken, die
dem Seefahrer die Orientierung erleichtern. Frühzeitig
entfaltete sich hier die völkerverbindende Kraft des Meeres,
das viel bequemere Wege bot als das bergige Land. Denn
darin liegt nun der Nachteil des südländischen Gestades,
daß sich sehr häufig unmittelbar hinter der Küste steile
Ketten erheben, die das tiefere Eindringen hemmen. Es
fehlt auch an den großen Flüssen, die Wege landeinwärts
weisen, und, wo sie vorhanden sind, bauen sie ein unzu-
gängliches Delta.
Aber das weite Eingreifen von Teilen des Mittel-
meeres ermöglicht doch das Vordringen in den euro-
päischen Kontinent, der mehrfach eine ganz beträchtliche
Einschnürung erfährt. Die erste Verengerung liegt in
Frankreich, das Vidal de la Blache mit Recht als das
»Land zwischen den zwei Meeren« bezeichnet. Das uralte
Marseille beherrscht die Straße, die am Westsaum der Alpen
aus Südeuropa nach West- und Mitteleuropa führt. Es ist
der Weg, den die abendländische Kultur seit dem Ende
des Römerreiches genommen hat. Nicht so auffällig ist
die Gunst der Lage von Genua, das auch erst später Be-
deutung erlangte. Doch ist gerade hier der Apennin sehr
niedrig, die westliche Poebene faßt eine Reihe wichtiger
Alpenstraßen zusammen, und das Rheintal bietet einen
bequemen Weg gegen Norden. Es ist aber von einem
Meer zum anderen weiter als in Frankreich, sogar weiter
als bei der dritten Einschnürung zwischen Triest und
Stettin (850 km). Die Hälfte dieses Weges, den der
Bernsteinhandel genommen hat, konnte auf dem be-
Die Häfen der Adria.
ww
quemeren Seeweg zurückgelegt werden. Die Straße um-
ging die Alpen im Osten und die Karpaten im Westen;
die größte Schwierigkeit bot die Überschreitung des Karstes.
Gut geöffnet ist das Donauland gegen Saloniki, aber dieses
liegt viel weiter südlich, und eine Fortsetzung des Weges
gegen Norden erschweren die Karpaten. Die letzte Ein-
schnürung auf russischem Boden findet wohl am Terrain
keine Hemmnisse, aber es sind von Odessa bis Riga
1200 km; beide Meere sind stark geschlossen; der Ver-
kehr bevorzugt hier andere Richtungen.
Dieser Überblick läßt uns die Bedeutung der Adria
erkennen. An ihrem Ende liegt — vom Schwarzen Meere
abgesehen — der nördlichste Punkt des Mittelmeergebietes.
Ihre Längserstreckung von NW nach SO weist vom mitt-
leren Europa nach den ältesten Kulturländern: Griechen-
land, Syrien und Ägypten. Die gleiche Richtung herrscht
im Roten Meere, und damit eröffnet sich auch der Weg
nach Süd- und Ostasien, Australien und Ostafrika. Darin
liegt aber auch eine gewisse Beschränkung. Denn der
Weg nach Algier und Tunis, nach Spanien und durch die
Straße von Gibraltar nach den beiden Amerika ist im
westlichen Mittelmeerbecken freier. Genua und Marseille
beherrschen sowohl die Richtung nach SW wie jene
nach SO, Triest und Venedig vornehmlich nur die süd-
östliche. Diese war aber in alten Zeiten die wichtigere,
und ihre Bedeutung stieg wieder mit der Eröffnung des
Suezkanals. (Vgl. Abbild. 1.)
Dem Longitudinalverkehr auf der Adria steht die Wahl
frei, seinen Ausgangspunkt am flachen Strande Venetiens
oder an der gut gegliederten Küste Istriens zu suchen.
Trotz der Länge des Weges ist er bedeutsamer als der
Querverkehr, den die dem Meere parallel streichenden
Gebirgssysteme des Apennin und der Dinariden be-
hindern. Beide Gebirge drängen sich nahe an die Adria
I *
A Meereskunde.,
heran, beide kehren mit ihren freundlicheren Seiten dem
Meere den Rücken. Italien gravitierte stets gegen das
Tyrrhenische Meer, in dessen Bereich die größeren Städte
12 14
3 Antivari
Duteign® a.
Termoli”
Durazzo%
Entworfen v. N. Krebs o 150 300 km
Abbild. 1. Die wichtigsten Schiffahrtslinien der Adria.
liegen, und Bosnien ist von Ungarn aus leichter zugäng-
lich. Vom Apennin kommen nur kurze Talschluchten,
im Karst bedingt die Wasserarmut eine noch viel geringere
Gliederung des Gebirges. So gibt es nichts, was im nörd-
lichen Teil der Adria einen lebhafteren (Querverkehr zu
nähren vermöchte, und. die zeitweilige Erwerbung der
Die Häfen der Adria. =
Gegenküste durch Rom und Venedig geschah nicht ihrer
selbst willen, sondern zur Sicherung des Längsweges.
Erst im Süden werden die Verhältnisse etwas günstiger.
Da tritt der Apennin vom Ostsaum der Halbinsel zurück
und läßt der Apulischen Platte Raum und auf der anderen
Seite begleitet vom Scutarisee südwärts eine Schwemm-
landküste die stark erniedrigten und gegen das Meer
heraustretenden Ketten der Albanesischen Gebirge. Hier
querte, wenigstens in alten Zeiten, ein wichtiger Weg die
Adria. Die Via Appia führte von Rom über Campanien
und quer durch den zerbrochenen Südapennin nach
Brundisium (Brindisi), und jenseits des Meeres begann
in Durazzo die Via Egnatia, die quer durchs mazedonische
Bruchschollenland zum Golf von Saloniki und nach
Konstantinopel geleitete. In den Kreuzzügen wurde der
Weg noch vielfach benutzt; gegenwärtig hat er infolge
der Unbotmäßigkeit der Albanesen und der schwachen
Regierung der Türkei alle Bedeutung verloren. Apulien
ist jetzt wichtiger als Landungsbrücke für den Seeverkehr
um Griechenland herum, besonders aber für den Schnell-
verkehr in den fernen Orient. Der Reichtum an Wein
und ÖL fördert wohl auch eine lebhafte Ausfuhr, aber
auch diese wählt die Längsrichtung gegen Triest und Fiume.
Die ungünstige Verbindung mit dem Hinterland stellt
alle Hafenstädte Albaniens, Dalmatiens und des östlichen
Mittelitalien weit zurück hinter die Häfen am Nordende
der Adria. Diese aber sind wie jene in ihrer örtlichen
Lage, Dichte und Ausstattung von der speziellen Küsten-
gestaltung abhängig. Ihre Verschiedenheit erklärt sich
aus der Entstehungsgeschichte des Meeres, die wir natür-
lich in ausführlicherer Weise hier nicht erörtern können.
Es genüge, darauf hinzuweisen, daß die Adria wie ihre
verschüttete Fortsetzung, die Po-Ebene, eine große Längs-
mulde, eine Geosynklinale zwischen den beiden sie be-
2
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 9.
6 Meereskunde.
gleitenden Gebirgen ist. Wie viele andere Geosynklinalen
ist sie im Lauf der Zeiten gewandert, lag früher näher
dem italienischen Land und rückt nunmehr der Balkan-
halbinsel auf den Leib. Miozäne und pliozäne, also sehr
jugendliche Schichten, umsäumen den Apennin an seiner
Ostseite; sie sind noch schwach gefaltet, mindestens aber
beträchtiich gehoben worden. An der Ostseite fehlt es
bis zum Scutarisee an solchen Ablagerungen. Hier breitet
sich das Meer infolge einer erst seit ‘der Eiszeit, ein
getretenen Küstensenkung über Teile des einstigen Fest-
landes aus, greift in den Unterlauf der Täler buchten-
förmig ein und läßt nur die Kämme als Inseln und Halb-
inseln frei. Dem Zurückweichen des Meeres von der
italienischen Seite entspricht ein Eingreifen des Meeres
auf dalmatinischem Boden. Die Küstensenkung geht noch
bis in historische Zeiten weiter. Erst vom 42° N-Br. an
kehren sich die Dinge um. Das Jungtertiär findet sich
als schmaler Saum an der albanesischen Küste, die Flüsse
haben Raum zur Aufschüttung und bauen Deltaländer,
während auf der Apulischen Tafel das Pliozän zwar vor-
handen ist, aber nur als zerrissene Decke einem Kreide-
kalksockel aufruht, der wenigstens auf der Salentinischen
Halbinsel wieder Senkungserscheinungen aufweist. Hier
ist die italienische Küste zugänglicher. Berücksichtigen
wir dann noch den jungen Schwemmlandgürtel, mit dem
die Po-Ebene ans Meer grenzt, so erkennen wir etwa fünf
verschiedene Küstentypen, die der Annäherung der Schiffe,
der Anlage von Hafenplätzen und Städten und der Be-
ziehung zum Hinterland verschiedene Möglichkeiten bieten.
Wir unterscheiden:
I. die istrisch-dalmatinische Steilküste von Monfal-
cone bis zum Scutarisee,
169)
die albanesische Schwemmlandküste von da bis
zum akrokeraunischen Vorgebirge,
Die Häfen der Adria. 3
J
3. die apulische Küste vom Kap Leuca bis über
den Monte Gargano,
4. die schmale apenninische Flachküste bis Rimini,
endlich
5. die Lagunenküste Venetiens bis zur Mündung des
Isonzo.
Ein Rundgang, den wir aus praktischen Gründen am
Gestade des Velebit beginnen, wird uns mit den Ver-
kehrsmöglichkeiten und den wichtigeren Hafenplätzen be-
kannt machen. An der dalmatinischen Küste gibt es zahl-
reiche kleine und so manche große Häfen, fast überall
aber fehlt es an Raum, und die Verbindung mit dem
Hinterland ist außerordentlich schwierig. Gleich die ge-
waltige Mauer des Velebit, die fast ohne Gliederung
1700 m hoch aus dem Meere emporsteigt, zeigt, wie wenig
cine ausgesprochene Längsküste dem Verkehre günstig
ist. In 700 bis I4Co m Höhe liegen die Sättel, die nach
Hochkroatien führen. Die Straßen leiten in steilen Win-
dungen hinab, und über das kahle Gehänge saust die
Bora mit solcher Wucht, daß sie noch weithin das Meer
aufwühlt und die Zufahrt zu den kleinen Häfen erschwert.
Zengg und Carlopago sind als Schlupfwinkel berüch-
tigter Seeräuber — auch noch im Uskokenkrieg — be-
kannter gewesen a!s als Marktplätze des ganz anders ge-
stalteten kroatischen Hinterlandes.
Ähnlich unwegsam ist auch wieder die Küste südlich
von Spalato, wo Mosor- und Biokovo planina mit
steilen Rändern das Meer begleiten. Almissa an der
Cetinamündung und Macarsca drängen sich auf engem
Raum zwischen Fels und Meer. Wo ein schmaler Sand-
steinstreifen die Küste begleitet, findet sich etwas frucht-
bares Land, aber die Häfen sind ungeschützt, und die
Verbindung mit dem Hinterland ist schwierig. Auch die
Längsseiten der zahlreichen Inseln sind nicht zugänglich,
*
4
Ss Meereskunde.
um so mehr, als die flacheren Teile des einstigen Berg-
fußes unter das Meer geraten sind und nur die steilen,
schuttarmen Gehänge die Uferlinie bilden.
Günstiger liegen die Verhältnisse, wo die Küste quer
zum Streichen verläuft, oder wo das Meer in Längs-
HAFEN und RHEDE
VODICE und ZLARIN
Aufgenommen im Iufre ME3
unter der Direchan den kk Linien-Schils-Kapıtana /
Abbild. 2. Der Hafen von Sebenico.
(Nach der österreichischen Seekarte.)
und Querbuchten eindringt. So liegt Lussin piccolo
auf einer der quarnerischen Inseln amphitheatralisch
ansteigend am Rand einer Längsbucht, die durch eine
engere Ausfahrt mit dem offenen Meer in Verbindung
steht. Ganz ähnlich ist die Lage von Cherso und
Buccari sowie die von Sebenico am unteren, schon
meerartig erweiterten Lauf der Kerka. Der Hafen (Abbild. 2)
ist durch eine gewundene Einfahrt vorzüglich geschützt und
für die größten Kriegsschiffe tief genug. Auf schmalen
Die Häfen der Adria. J)
Halbinseln vor Längsbuchten liegen Zara und Ragusa
vecchia, auf halb mit dem Land verbundener Insel Trau.
Im ganzen nördlichen Dalmatien ist auch die Verbindung
mit dem nächsten Hinterland, einer sanft ansteigenden
200 bis 300 m hohen KRarstplatte, günstiger; doch ist diese
so steinig, daß sie keinen lebhafteren Hafenverkehr her-
vorzurufen vermag, und weiter nach rückwärts sperrt
wieder der Velebit den Weg. Zara liest in. ziemlich
öder und ungesunder Umgebung und ist erst zu einiger
Bedeutung gelangt, als es Venedigs und später Österreichs
Statthalter aufnahm. Es eignete sich zum Zentrum der
politischen Gewalt nur wegen seiner gegen Norden vor-
geschobenen Lage; eigentliche Hauptstadt ist es nie ge-
wesen.
Der einzige bedeutende Hafen in Mitteldalmatien,
der nicht nur Schutz zu bieten, sondern auch einen Ver-
kehr zu unterhalten vermag, ist der von Spalato (25 000
Einwohner). Er ist allerdings nur eine gegen Süden offene
Reede, die durch einen großen Wellenbrecher geschützt
werden mußte; aber die Umgebung ist sehr fruchtbar, und
nördlich vom Mosorkamm ist im Gebirgswall eine Scharte,
die ins obere Cetinagebiet und darüber hinaus nach West-
bosnien weist. Eine durchlaufende Bahn ist hier seit einer
Reihe von Jahren geplant, aber noch nicht gebaut. Sie
würde stark unter den Eigentümlichkeiten der Karstland-
schaft zu leiden haben. Auf den rauhen Hochflächen
ginge es über nacktes, steiniges Gelände, in den rings
umschlossenen Poljen mehrfach durch überschwemmten
Boden. Ein wiederholtes Hinauf- und Hinabsteigen wäre
unvermeidlich. Nicht viel besser wird es einer zweiten
Trasse ergehen, die nordwärts durch Hochkroatien gegen
Ogulin und Rudolfswert führen wird, wo sich der An-
schluß ans ungarische und österreichische Bahnnetz voll-
zieht. Diese Strecke kann einen direkten Schienenweg
10 Meereskunde.
aus dem Herzen des österreichischen Staates schaffen und
für den Personenverkehr Bedeutung erlangen, die Frachten
werden aber nach wie vor den kürzeren Weg nach Triest
und Fiume bevorzugen.
Die Schwierigkeiten der kroatischen und west-
bosnischen Wege lassen die Mündung des einzigen großen
Abbild. 3. Ragusa vom Weg nach Brgat.
(Nach einer Photographie von A. Forster.)
Flusses, der Narenta, um so bedeutsamer erscheinen,
als aus ihrem Flußgebiet mit Überwindung eines einzigen
Sattels (Ivan 967 m) die danubische Abdachung erreicht
werden kann. Mit Recht bezeichnet darum A. Supan
den Ivansattel als den Brenner der Karstländer. Aber der
Hafen von Metkovid liegt 20 km oberhalb der Mündung,
in ungesunder Gegend zwischen Sümpfen, und ist als
schmaler Flußhafen räumlich beschränkt. Die Schlamm-
führung der Narenta erschwert die Ausfahrt, und wenn
man das offene Meer erreicht hat, versperrt die lang-
(par
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12 Meereskunde.
gestreckte, schmale Halbinsel von Sabbioncello den
Weg gegen Südwest und Süden.!) Sie würde auch den
Aufschwung eines Hafenplatzes an der sonst trefflichen
Bucht von Neum-Klek behindern. Dieser Schwierig-
keiten halber hat gegenwärtig wieder das alte Ragusa
einen großen Teil des bosnisch-herzegovinischen Verkehrs
an sich gezogen.
Die alte Handelsstadt, die sich bis zu den Napoleonischen
Zeiten von Türken und Venetianern unabhängig zu erhalten
wußte, liegt malerisch am felsigen Gestade, umrahmt noch
von den alten Mauern. (Abbild. 3.) Sie erscheint aber
auf den ersten Blick gar nicht so sehr begünstigt. Der
fruchtbare Landstrich ist sehr schmal, das Hinterland eine
rauhe, wenig gegliederte Hochfläche, die allmählich bis
über 1000 m ansteigt, aber schon im Rücken der Stadt
400 m Höhe hat; der Hafen ist für größere Schiffe zu
klein und zu seicht. Glücklicherweise liegt, kaum 3 km
entfernt, die vorzügliche Bucht von Gravosa, die durch
die HalbinselLapad geschützt ist. (Abbild.4.) Sie ist so tief,
daß man nur Quaimauern, keine Moii zu errichten brauchte.
Von hier ist die Ausfahrt nach allen Seiten frei, .das
Narentatal zwar nur über das Plateau zugänglich, aber
doch noch leidlich nahe. Gravosa ist heute der wichtigste
Endpunkt der bosnischen Staatsbahn, die Ausfuhr an Holz
und Erzen ist nicht unbedeutend. Es bestehen direkte
Verbindungen mit Apulien. Der mittelalterliche Handels-
weg ging übrigens nicht durch die Engen der Narenta-
schlucht, sondern über die steinigen, aber leicht über-
sehbaren Hochflächen unmittelbar ins Drinagebiet. So
mühselig der Pfad war, war er doch bequemer als die
Wege weiter südwärts, wo das Gebirge höher anschwillt.
1) Für eine Durchstechung der Halbinsel hat sich Erzherzog
Ludwig Salvator eingesetzt. (Durchstich der Landenge von Stagno,
Prag 1906.)
Die Häfen der Adria. 13
Abbild. 5. Bocche di Cattaro.
(Nach der österreichischen Seekarte.)
Ragusa trieb Handel mit Serbien und Bulgarien. Es
stünde heute, wo die bosnischen Bahnlinien auch gegen
Osten ausgebaut sind, nichts entgegen, diesen alten Ver-
kehr wieder aufleben zu lassen. Doch scheint man bei
Meereskunde, Vorträge. V. Heft 9. 3
I4 Meereskunde.
den Projekten einer »Donau— Adriabahn« österreichisches
Gebiet meiden zu wollen.
Aber es gibt weiter südwärts keine ähnlich guten Be-
dingungen. Die Bocche di Cattaro (Abbild. 5) ist aller-
dings mit ihren Verzweigungen und engen Ausfahrten eine
vorzügliche Bucht, ein prächtiges Beispiel eines unter den
Meeresspiegel geratenen Tlalsystems, in dem die Tiefen
gegen außen mit großer Regelmäßigkeit zunehmen. Aber an
ihren innersten Winke!n (Abbild. 6) ist sie durch eine 1000
bis 1200 m hohe Kalkmauer abgeschlossen, die jäh abfällt
und ein rauhes Hochland vom Meere scheidet. Der Blick
von der Kunststraße nach Cetinje, die 960 m hoch
emporsteigt, gehört zum landschaftlich Schönsten an der
eanzen Adria und erinnert an die Bilder, die unsere ver-
zweigten Alpenseen von oben gewähren. Für den Ver-
kehr aber ist dieser steile Abfall sehr hinderlich. Nur so
ist es ja verständlich, daß der schmale Küstenstrich Dal-
matiens, den die Venetianer und Ragusaner inne hatten,
seine eigene Geschichte besitzt, und daß bis 1878 auf der
ganzen Linie, hier im Süden heute noch zwei verschiedene
Staaten hintereinander liegen. Wohl waren die Küsten-
striche vor den Einfällen nomadisierender Stämme im
Hinterland nie sicher, und die Griechen legten darum
ihre ersten Kolonien (Tragurium, Pharus, Issa, Cor-
cyranigra, Epidaurus usw.) auf geschützten Halbinseln
und Inseln an, aber schon die Seeräuber dieser Küste
mögen sich von den binnenländischen Volksstämmen
unterschieden haben, so wie heute wenig Beziehungen
zwischen den seefahrenden Bocchesen und dem Hirten-
volk der Montenegriner bestehen, obwohl sie beide eines
Stammes sind.
Aber selbst Montenegro, das aus der Zusammen-
fassung von allerlei unzugänglichen Landesteilen ent-
standen ist, drängt es in der Gegenwart zum Meer. Schon
Die Häfen der Adria. 15
von den Venetianern waren seiner Bevölkerung manche
Vorrechte in Cattaro eingeräumt worden, das 1813 für
kurze Zeit montenegrinische Hauptstadt wurde. Später
setzten die Montenegriner ihre Hoffnungen auf Spizza
und als auch dieses österreichisch wurde. machten sie
Abbild. 6. Hafen von Cattaro.
(Nach einer Photographie.)
Antivari zu ihrem Hafen und eroberten 1880 trotz
tapferer Gegenwehr der Albanesen Dulcigno. Beide
Häfen sind schlecht. Antivari verfügt nur über eine
seichte Bucht, die gerade zur Not vor dem Scirocco ge-
schützt ist; es erfreut sich in den jüngsten Tagen einigen
Aufschwunges und ist sogar der Endpunkt einer kleinen
Bahn geworden, ist aber vom Scutarisee her nur über
einen hohen Paß erreichbar. Die alte halb verfallene
Stadt liegt auf der Anhöhe über der Bucht.
[9>)
16 Meereskunde.
Dulcigno zeigt schon den Charakter der albanesischen
Häfen. Hier gibt es bessere Zugänge, aber schlechtere
Landungsplätze. Es liegt wie das ein wenig südlichere
und noch unbedeutendere S. Giovanni di Medua an
einem Felssporn knapp neben der Flachküste, die durch
Dünenwälle und Strandsümpfe doppelt unzugänglich ist.
Es ist der Hafen für Scutari und für das ganze Drin-
gebiet, also der wichtigste Platz des nördlichen Albanien,
den die Türken für keinen Fall hätten preisgeben dürfen.
Einst führte den Drin aufwärts eine wichtige Römerstraße
gegen Usküb, die nicht über 915 m anzusteigen hatte.
Dieser Weg ist heute für den Kaufmann ganz ungangbar,
kann aber vielleicht in nicht allzu ferner Zeit wieder Be-
deutung erlangen, sobald die Albanesen erkennen, daß
damit auch ‘ein Vorteil für. sie verbunden "ist, Doch
werden große und schwierige Hafenbauten notwendig sein,
um dem Platz seine kommerzielle Bedeutung zu sichern.
Die ganze Küste Albaniens leidet unter der Hafen-
armut. In beträchtlichen Abständen treten einige Ketten
kulissenförmig gegen Nordwesten vor; dadurch entstehen
seichte Buchten, die vor dem Scirocco sicher sind, aber
alle unter“ Fieber. leiden. Etwas Fischerei undesız
gewinnung sind die Haupterwerbszweige. Der wichtigste
Hafen ist die alte Griechenkolonie Epidamnos, die als
Dyrrhachium in Römerzeit, als Durazzo im Mittelalter
Berühmtheit erlangte. Durazzo (Abbild. 7) liegt auf einer
felsigen Insel, die durch eine niedrige Nehrung mit dem
Festland verbunden ist, verfügt aber bloß über eine gegen
Süden geöffneteReede. DieStraße landeinwärts(ViaEgnatia)
folgt nach Überschreitung des Küstensumpfes noch ein
Stück lang dem Gestade, bis sie ins Tal des Skumbi
einlenkt, um dann über den ÖOchrida- und Presbasee
Monastir und damit den Anschluß ans mazedonische Bahn-
netz zu erreichen. Hier entscheidet eben die günstigere
Die Häfen der Adria. 12
3 as u
Baj,a” ad „Düsrfazz,o
1:240.000.
2 63 ”
E23 “ ” km
Abbild. 7. Hafen von Durazzo.
(Nach der österreichischen Seekarte.)
Landungsstelle, während im buchtenreichen Dalmatien nur
jene Häfen Bedeutung erlangen, die auch eine bessere
Landverbindung haben. Auch dieser Weg kann jederzeit
wieder Bedeutung erlangen; die Pässe sind zwar etwas
höher als am Drin, die Täler aber sind breiter, die ganze
Landschaft ist offener.
Während im Norden der gewaltige Gebirgsabfall die
Trennung der Küste vom Hinterland verschuldete, hat
18 Meereskunde.
bier in ähnlichem Sinne der Küstensumpf gewirkt. Da-
raus erklärt sich die wechselvolle Geschichte Durazzos,
das oft als Stützpunkt einer westlichen Macht erscheint.
Schon viel umstritten in römischer Zeit, war es dann im
Mittelalter bald in den Händen der Byzantiner, bald der
Neapolitaner, zeitweise auch im Besitz der Venetianer, bis
es 1502 von den Türken erobert und befestigt wurde.
Seine Bedeutung a!s Brückenkopf Griechenlands hat es
damit verloren.
Wir überschreiten nun die 73 km breite Straße von
Otranto und wenden uns dem anderen Brückenkopfe,
Apulien, zu. Das Land erhebt sich als sanft ansteigende
Tafel aus dem Meere, landschaftliche Reize fehlen, aber
das Gestade ist dicht besiede:it und fruchtbar und die
Zugänglichkeit von der Landseite ist größer als in allen
bisher besprochenen Gebieten. Hier gibt es weder
eine kulturelle, noch eine politische Scheidung zwischen
Küste und Hinterland. Die Küste ist aber nicht ganz
gleichartig gestaltet. Im Süden herrscht ein ziemlich
glattes Steilufer, das nur in den untergetauchten Tälern
von Brindisi und Tarent Zugang gewährt. Die Stadt
Lecce hat, obwohl sie der Mittelpunkt der schmalen
salentinischen Halbinsel ist und nur IO km von der Küste
entfernt liegt, gar keine Beziehungen zum Meer. Weiter
nordwärts folgt eine Reihe sehr kleiner Buchten, die unter
der Versandung leiden und meist nur den hier noch stark
verbreiteten Seglern oder Küstendampfern genügen. End-
lich folgt zu beiden Seiten des Monte Gargano, nur durch
ihn unterbrochen, ein Schwemmlandstreifen mit Dünen
und Strandseen. Der einzige Hafen dieses Teiles ist
Manfredonia an der Grenze des Schwemmlandes gegen
das Steilufer, im Schutze des Monte Gargano, aber nur
im Besitz einer offenen Reede. Es ist der Ausfuhrhafen
für Nordapulien, während Bari den Export aus dem
Die Häfen der Adria, Ko)
reichen Wein- und Ölgebiet leitet. Bari ist mit 80 000
Einwohnern die größte Stadt Apuliens, neu und regel-
mäßig gestaltet und in bedeutendem Aufschwung. Auch
der Hafen ist durch Kunstbauten sehr verbessert; der
Schiffsverkehr ist mit fast 3000 Fahrzeugen größer als in
Brindisi, das keinen so regen Warenhandel besitzt. Dieses
liegt wieder in einsamerer Umgebung, verfügt aber von
Natur aus über einen zwar etwas engräumigen, aber
doppeltgeteilten Hafen. Der wieder gegabelte Innenhafen
zeiet- dentich- die Kormen- des ertrunkenen Tales, der
größere Außenhafen wird jetzt durch Einbauten etwas
besser vor Stürmen geschützt und dient auch der Kriegs-
flotte. In erster Linie ist Brindisi aber Personenhafen.
Wenn die indische Post verschifft oder ausgeladen wird,
geht es für einige Stunden recht lebhaft zu; aber bald
herrscht wieder Stille. Die Stadt hat viel von ihrem
alten Ruhm verloren. Unter den Bourbonen arg ver-
nachlässigt, erfreute sie sich seit der Eröffnung des Suez-
kanales wohl einigen Aufschwunges.. Wenn aber der
Querverkehr durch Südalbanien nicht wieder auflebt,
wird sie kaum je führende Bedeutung erlangen können.
Denn auch der Schnellverkehr in den fernen Orient wird
andere Wege nehmen, sobald die Bagdadbahn vol!endet
sein wird. — Das etwas südlichere Otranto hat sich nur
als Feste, nie als Warenplatz bemerkbar gemacht.
Sehr einförmig ist der nächste Abschnitt, die Küste
des Apennin vom Monte Gargano bis Rimini. Die Ver-
bindung mit dem Hinterland ist durch den steil abfallen-
den Apennin erschwert und auf einige wenige Täler wie
die der Pescara und des Esino beschränkt. Aber auch
von der Seeseite her ist das Gestade schlecht zugänglich
und durch Stürme gefährdet. Streckenweise herrscht wie
bei Pesaro und Pescara Steilküste, gewöhnlich legt sich
aber ein schmaler Dünenstrand vor, gebildet aus dem
20 Meereskunde.
verschwemmten Material der Apenninenflüsse, von denen
keiner stark genug ist, ein Delta vorzuschieben. IO m
Tiefe findet sich erst in einer Entfernung von 5 bis 6 km,
verschiedene Städtchen sind im Sommer besuchte Bade-
orte. Die zur Küste abfallende Landschaft ist fruchtbar;
Obst und Gemüse, auch Ziegel gehen auf kleinen Seglern
nach dem anderen Ufer der Adria, wofür als Rückfracht
Bausteine und Holz mitgenommen werden. Aber nur
diesem bescheidenen Verkehr genügen die kleinen Flub-
häfen: von Rimini, 'Sinigaglia, Besaro, Besess
usw.
Größere Dampfer nimmt nur Ancona (60 000 Ein-
wohner) auf, die »Ellbogenstadt«, wie der griechische
Name besagt, weil sie sich in scharfem Bogen hinter
dem Monte Conero ausdehnt, der ihren Strand schützt.
Schon von Kaiser Trajan mit Kunstbauten versehen, war
die Stadt auch in den Zeiten des Kirchenstaates der
Sammelpunkt der über den römischen Apennin ziebenden
Straßen und ist jetzt der Ausgangspunkt der wichtigsten
(Juerbahn Mittelitaliens, die freilich so wie die anderen
enge Durchbruchstäler zu durchmessen und starke Stei-
gungen zu überwinden hat. Der Schnellzug Ancona—
Rom braucht 7!/, bis 8 Stunden. Es spricht nur. für die
ungünstigen Verhältnisse an dieser Küste, daß Ancona
zum Kriegshafen ausersehen wurde, obwohl die offene Bucht
dazu gar nicht geeignet ist. (Abbild. 8.) Daß es dann auch
die Endstation eines Querverkehrs mit Fiume wurde, war
ein Werk Ungarns, das sich damit einen selbständigen
und billigen Weg sichern wollte. Aber die Route hat
nur im Personenverkehr einige Bedeutung und ist so sehr
den ungarischen Interessen angepaßt, daß es sich schon
von Triest aus nicht mehr empfiehlt, diesen Weg zu
nehmen. Der Warenverkehr ist geringfügig, weil eben
kein leicht erreichbares Hinterland besteht.
Die Häfen der Adria. 21
Nördlich von Rimini tritt der Apennin zurück und
die Poebene gewährt eine freie Verbindung zwischen
Land und Meer, die umso wertvoller ist, weil im ober-
1:600 000.
E a Er
0
N = Et
B2
Abbild. 8. Die Küste bei Ancona.
(Nach der österreichischen Generalkarte.)
italischen Tiefland eine Fülle von Alpenstraßen zusammen-
laufen. "Die, Ebene beherrscht die- Wege nach NW
(Splügen, Reschen-Scheideck), Norden (Etschtal und
Strada d’Allemagna zum Brenner, Plöckenpaß und
Tauern) und Nordosten (Pontebba, Predil, Karst).
In dieser Hinsicht ist die Nordwestküste günstiger ge-
Meereskunde.
155)
W
staltet als die nordöstliche von Monfalcone bis Fiume,
hinter der sich der Karst in weiten Plateauflächen zu
600 bis 900 m Höhe erhebt und wohin doch vornehm-
lich nur Wege aus Nordost gelenkt werden können.
Beide Teile haben aber gemeinsam, daß sie info!ge ihrer
Lage am Nordende der Adria berufen sind, den Längs-
verkehr aufzunehmen und weiterzuleiten. Im einzelnen
aber bestehen bemerkenswerte Gegensätze.
Im westlichen Istrien verläuft die Küste quer zum
Schichtstreichen. Sie besitzt besonders dort, wo der Flysch
ans Meer herantritt, breite Buchten, hinter denen frucht-
bares und freundliches Gelände ansteigt. Nur die inner-
sten Winkel der Buchten sind versumpft. Weiter im
Süden neigt sich die istrische Kalkplatte, die viele Ähn-
lichkeiten mit Apulien hat, sanft gegen das Meer. Auf
Vorsprüngen zwischen kleinen Buchten, die noch durch
Inseln geschützt sind, liegen die Hafenstädte wie Parenzo
und Rovigno. Aber jede von ihnen hat nur ein kleines
Hinterland, denn eine Reihe tiefeingeschnittener, un-
gesunder und unbewohnter Täler zeriegt die westliche
Hälfte der Halbinsel in gut voneinander geschiedene
(Juadrate. Nahe der Südspitze ist die Verbindung mit
dem Innern freier, das Land steigt sanft an und das
Meer dringt in mehrfach verzweigte Buchten ein. Die
eine davon birgt den Kriegshafen von Pola, die andere
den Hafen von Medolino, der zur Entlastung Polas den
Handelsverkehr an sich ziehen soll, so daß Pola (60 000
Einwohner) nur seine strategische Stellung behaupten wird.
Der Hafen von Medolino ist etwas klippenreicher und
die Ausfahrt stürmischer, der von Pola ist aber zweifel-
los der beste in der Adria. Durch Inseln und Halb-
inseln zerfällt er samt der Straße von Fasana in drei hinter-
einander gelegene Teile, die durch die auf mäßig steilen An-
höhen gelegenen Befes{igungen vorzüglich geschützt sind.
Die Häfen der Adria.
19
(n
Der Südspitze Istriens kommt auch für den Personen-
verkehr nach Dalmatien eine gewisse Bedeutung zu, so
lange keine direkte Bahnlinie dahin besteht. An der
steilen Ostküste ist dazu kein anderer Ort geeignet und
der mehrfach erwähnte Plan einer Inselbahn (über Cherso
und Pago) hat trotz der wertvollen Vorbilder in der
Ostsee kaum Aussicht auf Erfolg. Denn der Bau und
der Betrieb wären hier im felsigen Gestade und auf dem
stürmischen Meer ungleich kostspieliger, der Verkehr
aber viel geringer. Von einigen leicht verderblichen
Waren abgesehen, würde alles den billigeren Seeweg
nehmen. Selbst Pola kann für den Warenverkehr keine
Bedeutung erlangen, weil es am Ende einer schmalen
Halbinsel liegt. Wenn auch der Aufstieg auf den Karst
allmählicher vor sich geht als von Triest und Fiume aus,
so ist eben der Weg um etwa So km länger. Nur diesen
beiden Endpunkten strömt der ganze Handelsverkehr zu.
Auf sie werden wir noch zu sprechen kommen.
Dem Vorspringen der istrischen Halbinsel, das den
Wert sonst ausgezeichneter, von beiden Seiten leicht zu-
gänglicher Häfen herabdrückt, steht an der venetianischen
Küste ein sanftes Einbiegen des Küstenverlaufes gegen-
über. Das bewirkt, daß kein Ort geradezu benachteiligt
ist, wenn auch die nördlich des Po günstiger liegen.
Aber die Häfen sind hier selten und schwer zugänglich.
Der sumpfige Landstrich vor den Lagunen ist unbewohnt
und unwegsam. Die Lagunen sind bis auf einige tiefe
Rinnen, — wahrscheinlich alte F,ußläufe, die vom Ge-
zeitenstrom wieder ausgewirbelt wurden — sehr seicht,
ein amphibisches Gelände, das je nach Ebbe und Flut
ganz verschieden aussieht. Davor liegen langgestreckte
Dünenwälle, die nur durch wenige, schmale Öffnungen
unterbrochen sind. Wo ein Gebirgsfluß einmündet, schiebt
er ein mächtiges Delta vor, an dessen Spitze sich neue
24 Meereskunde.
Dünenwälle ansetzen, die wieder einen Teil des freien
Meeres absperren. Der am Gestade entlang wandernde
Sand schließt die schmalen Öffnungen, die frische Lagune
verwandelt sich in eine tote und infolge der Auffüllung
seitens der Flüsse in einen seichten Strandsee und
endlich in einen Sumpf. Man hat berechnet, daß der
Po allein sein Delta in 1200 Jahren um 20 km vorge-
schoben hat. (Abbild. 9.)
Länger erhalten sich die Lagunen dort, wo keine
Flüsse oder geschiebearme Grundwasserströme (»Fiumi
di risorgiva«) einmünden, aber auch sie unterliegen dem
Schicksal, von der freien Bewegung der Ebbe und Flut
abgesperrt und infolge der sich dann einstellenden Fieber
und der erschwerten oder unmöglich gemachten Zufahrt
von jedem Verkehr gemieden zu werden. Dieses Schicksal
traf nach einander eine Reihe von Hafenstädten, die die
Gunst der Verkehrslage alle in der Lagune zwischen
Sumpf und Düne entstehen ließ. Von zwei Seiten, von
den Flüssen und der südwärts ziehenden Küstenströmung
verschüttet, verwandelte sich die Lagune in Land, und
dieser Prozeß wäre vielleicht noch rascher vor sich ge-
gangen, wenn nicht eine Küstensenkung der Verlandung
langsam entgegenarbeiten würde.
Die ältesten Häfen, von denen uns die Geschichte
berichtet, Spina und Adria, lagen besonders ungünstig
im Mündungsgebiet von Po und Etsch, wo die Ver-
landung sehr schnell vor sich geht. Von dem vorrömischen
Spina wissen wir nichts Näheres, Adria aber, dessen Blüte
in den Beginn unserer Zeitrechnung fällt, war eine regel-
rechte Lagunenstadt, obwohl sie heute — stark herab-
gekommen — 22 km vom Meere entfernt ist. Aquileja
lag wahrscheinlich nicht in der Lagune, aber an einer
Lagune. Es war aber jedenfalls viel besser mit dem
offenen Meere verbunden als jetzt und der Abstand dürfte
Die Häfen der Adria.
189)
nn
nicht wie gegenwärtig IO km betragen haben. Sonst
wäre es unmöglich, daß Aquileja römische Flottenstation
gewesen ist. Entscheidender aber für die Größe und
Bedeutung der Stadt war die Gunst der Lage am nörd-
lichsten Punkt der Adria
bei freier Zugänglichkeit
a 1: 2.000.000 ___Adreriso
von beiden Seiten. Hier |t-— "km ee |
liefen die Straßen aus Ily- [u
rien, Pannonien und Nori-
cum zusammen: die Volks-
zahl soll zeitweise die von
Rom erreicht haben.
Doch war die Stadt
infolge der freienLage eines
der ersten Opfer der Völ-
kerwanderung. Gewitzigt
durch die Erfahrungen, die ER: >
I";
man gemacht hatte, er- ZN,
En s h Sn pmacchıo
wählte man gleichsam zu | ei
ihrer Nachfolgerin das feste | II
Ravenna. Ursprünglich :
auf einer Insel im Padusa
Haft gelegen, mit Häusern
auf Pfahlrosten wie Vene-
dig, war Ravenna der natür- -
liche Stützpunkt eines see- Abbild. 9. Das Po-Delta.
fahrenden Volkes zu einer
Zeit, da die Landmacht in Brüche ging. Die Detfensiv-
stellung der Stadt ermöglichte es, daß sie noch Jahr-
hunderte lang im Besitz der Byzantiner blieb, als das
Festland von den Langobarden besetzt wurde. Für
den Handelsverkehr hatte aber diese Stadt, die von der
Landseite schwerer zugänglich war und den Alpenstraßen
ferner lag, viel geringere Bedeutung. Und endlich erlag
Meereskunde.
N
®;
auch sie dem Schicksal der Verlandung; sie liegt heute
5 km vom Meere entfernt. Die herrlichen Bauwerke früh-
christlicher Zeit blicken auf einen sehr bescheidenen Schiffs-
verkehr, der gerade noch zur Not durch einen seichten
Kanal aufrecht erhalten wird.
Was für die folgenden Jahrhunderte, die immer noch
sehr kriegerisch waren, notwendig gewesen ist, war ein
Ort, sicher vor Piraten und streifenden Völkerscharen,
aber doch so günstig gelegen, daß er Land und Meer zu
verbinden vermochte. Das aufstrebende Deutschland be-
durfte vieler Produkte aus dem nahen Orient, dem byzan-
tinischen und arabischen Kulturkreis. Eine Stadt am
Nordende der Adria, nahe den damals bedeutsamsten
Alpenstraßen Splügen und Brenner, konnte dies vermitteln.
Und das war der Vorteil für Venedig. Die Stadt liest an
einer Stelle, wo der Sumpfgürtel schmal ist, aber nicht in
diesem, sondern auf flachen Inseln im Haff, das einige tiefe
Wasserrinnen durchziehen. (Abbild. 9.) Ursprünglich wohl
eine Fischersiedlung wie Chioggia, Comacchio und
Grado, hat es wahrscheinlich durch flüchtige Kaufleute eine
Verstärkung erfahren, und diese dürften die günstigen Ver-
hältnisse erkannt und die Bedeutung der Stadt gehoben
haben. Unbekümmert um die Wirren auf dem benach-
barten Festland, konnte Venedig das gesteckte Ziel leicht
erreichen, und schon frühzeitig beginnt, wie seine herr-
lichen Bauwerke verraten, der Handel mit dem Orient.
Vom vierten Kreuzzug bis zu den Fahrten Marco Polos
reicht die Glanzzeit Venedigs, das sich damals eine
Kolonialmacht im ganzen östlichen Mittelmeergebiet ge-
schaffen und Handelswege bis nach Asien hinein ge-
sichert hatte.
Es ist merkwürdig, zu sehen, wie der Ort mit dem
Ziel, das er sich steckte, weit über die Anfänge hinaus
wuchs und zur wirtschaftlichen Macht auch politische dazu
Die Häfen der Adria. 27
gewann, weil sich sonst jene nicht hätte behaupten lassen.
Die istrisch-dalmatinischen Seeräuber, die den Adriaverkehr
von der Seite her bedrängten, mußten bezwungen werden,
und das führte zur Eroberung der Gegenküste, die auch
Flottenmannschaft, Holz und Bausteine lieferte. Die
venetianischen Paläste sind aus istrischem Marmor auf-
geführt. Ein zweiter Konflikt entstand mit Padua um
das Verfügungsrecht über den Brentafluß. Die Brenta
drohte mit ihrem Schutt die Lagune zu verschlammen
und sollte deshalb abgeleitet werden. Paduas Interesse
aber war es, der Überschwemmungen halber den Fluß
auf dem nächsten Weg ins Meer zu leiten. Padua ward
bezwungen, und man schritt an die Errichtung eines
Hauptsammelkana!s, in dem die Brenta und einige kleinere
Gewässer in großem Bogen um die Lagune herumgeführt
wurden. Zum dritten bewirkte die Konkurrenz mit Genua
die Ausdehnung der Landmacht. Diese Stadt, die sich in
Byzanz und im Schwarzen Meere eine führende Stellung
zu sichern gewußt hatte, lag den westlichen Alpenpässen
näher. Es galt nun, den venetianischen Besitz in der
Ebene soweit wie möglich auszudehnen, um die östlichen
und mittleren Alpenstraßen tunlichst in eigener Hand zu
halten. So reicht die Terra ferma zeitweise bis zum
Comersee, und nach langwierigem Streit mit den Patri-
archen von Aquileja wird auch Friaul einbezogen. Da-
durch sind die Straßen vom Splügen bis nach Kärnten
Venedig gesichert. Durch das Monopol des Salzhandels,
die frühzeitig erblühende Kunstindustrie und manches
andere macht sich Venedig für Mitteleuropa unentbehr-
lich. Der Fondaco dei Tedeschi und der Fondaco dei
Turchi, die zwei berühmten Warenhäuser am Rialto,
zeugen für die Anziehungskraft der Signoria.
Aber mit Recht schätzt der unserer Wissenschaft zu
früh entrissene Theobald Fischer höher a!s alle politischen
28 Meereskunde.
Erfolge und alle Werke der Kunst jene Taten, mit denen
die Venetianer den Kampf gegen das Meer und die Flüsse
durchführten. Von der Ableitung der Brenta war eben
die Rede; der damals geschaffene Sammelkanal ist im
Lauf der Jahrhunderte verlängert worden, seine endliche
Ausmündung wurde immer weiter nach Süden vorgeschoben,
um auch die Venedig benachbarten Orte zu schützen und
die südlichen Zufahrten offen zu halten. Es mag aus-
drücklich betont werden, daß die Ausbuchtung des Meeres
an dieser Stelle durchaus ein Werk der Menschen ist.
Derselbe Dünenwall, der östlich von Venedig die lang-
gestreckte Insel des Lido aufbaut, zieht weiter im
Süden beträchtlich ins Podelta hinein und zeigt so an,
um wie viel hier die Zuschüttung größer gewesen ist.
Später erst erkannte man, daß auch die Einfahrten ge-
schützt werden müssen. Seit 1724 war die der Stadt am
nächsten gelegene Einfahrt am Lido zu seicht geworden,
und man mußte den viel längeren und gewundenen Weg
durch das Tief von Malamocco nehmen. Dieses wurde
1840 durch zwei weit vorspringende Dämme vor der Ver-
sandung geschützt und nimmt heute noch alle größeren
Fahrzeuge, vornehmlich die Kriegsschiffe auf. Um dem
Übelstand einer einzigen und noch dazu unbequemen
Einfahrt zu steuern, ward 1882 auch die Ausfahrt nörd-
lich vom Lido wieder ausgebaggert und auch ihrerseits
durch Dämme geschützt. Schiffe bis 6m Tiefgang können
sie passieren.
Das geschah zu einer Zeit, wo Venedig seine alte
Macht längst verloren hatte. Die Gründe dafür sind all-
gemein bekannt; es war aber nicht nur die Entdeckung
der neuen Seewege und die Ausbreitung der Türken-
herrschaft, es war auch die erschlaffende Spannkraft der
Bevölkerung, das Erlahmen des Handelsgeistes, was Venedig
um die führende Stellung gebracht und nicht nur die
24
Die Häfen der Adria. 29
westeuropäischen Häfen, sondern auch Genua, Marseille
und Triest zu relativ höherer Bedeutung emporkommen
ließ. Wenn man aber so häufig liest, Venedig habe seine
Rolle vollkommen ausgespielt, so trifft dies doch nicht
ganz zu. Der Zahl der ein- und auslaufenden Schiffe
(7500) nach steht Venedig, das über 150000 Einwohner
zählt, in Italien immer noch an dritter Stelle, und im
Warenverkehr rangiert es dank der bedeutenden Einfuhr
(88 v.H.) gleich hinter Genua. Er bewertete sich in den
letzten Jahren auf 2!/, Mill. Tonnen gegenüber 61/, Mill.
Tonnen in Genua und etwas über 2 Mill. Tonnen in Neapel.
Es ist wahr, daß die Einrichtungen unmodern sind, die
Stazione marittima unpraktisch angelegt und unzulänglich
ist, daß infolge des besonders schwer ins Gewicht fallenden
Raummangels ein großer Teil der Waren nicht unmittel-
bar vom Schiff auf den Quai gebracht werden kann. Aber
gerade in den letzten Jahren sind größere Arbeiten im Zug,
neue Docks im Entstehen, und die kostspieligen Bagge-
rungen gehen fort. Der Warenverkehr hat sich in den
letzten 15, Jahren! verdoppelt.” Wir’ sehen, wie die .in
Piemont und der Lombardei so mächtig entwickelte In-
dustrie, die zum Aufschwung Genuas wesentlich bei-
getragen hat, sich allmählich nach Venetien ausdehnt.
Über kurz oder lang mag auch das oberitalienische Kanal-
netz, von dem man sich viel verspricht, ausgestaltet sein
und damit Venedigs Handel neue Belebung erfahren. Vor
allem festigen alle neuen Bahnen in Tirol, Südbayern und
der Ostschweiz die Position Venedigs, dessen natürliche
Einflußsphäre nördlich vom Brenner und Reschen-Scheideck
liegt. (Vgl. Abbild. 10.) Nordtirol und Südbayern können
nur aus nationalen Gründen und teilweise mit Ausnahme-
tarifen an Triest gefesselt werden. Die im heurigen Sommer
(N9TO) eröffnete Sehlußstrecke der. Val, Suganalinie
(Bassano-Tezze), die projektierte Mittenwald- und Fern-
30 Meereskunde.
Dresden” \
\ Ostseeh fen
Hamburg‘. |
\
Eniworfen v N Krebs
Abbild. 10. Die Einflußsphäre der wichtigsten mitteleuropäischen
Häfen.
(Teilweise nach A. Birk.)
bahn, vielleicht auch noch die ostschweizerische Trans-
versalbahn werden sicher die Attraktionssphäre Venedigs
vergrößern, und es wird sich nur fragen, ob es den ver-
stärkten Verkehr zu bewältigen vermag. Wenn die Raum-
frage befriedigend gelöst werden kann, ‘und wenn der ent-
schwundene Handelsgeist wieder erwacht, dann — aber nur
dann ist es möglich, daß Venedig noch eine Blütezeit erlebt.
Aber die führende Stellung in der Adria hat es wohl
endgültig an Triest abgegeben. Die Triester haben richtig
Die Häfen der Adria.
(8%)
-
gerechnet, als sie sich 1382 entschlossen, Österreichs
Herrscher als dem Besitzer des Hinterlandes zu huldigen.
Venedig, das damals seine Hand nach den letzten Frei-
städten in Istrien ausstreckte, hätte die unbequeme Rivalin
wirtschaftlich zugrunde gerichtet, die Habsburger mußten
die Stadt als ihren einzigen Hafen schützen. Freilich war
für die nächsten Jahrhunderte von einem Aufschwung
nicht viel zu spüren. Die intensivere Wirtschaftsweise in
Deutschland, die Venedigs Handel förderte, verpflanzte
sich erst allmählich donauabwärts in Gebiete, die gegen
Triest gravitieren, und der Aufschwung war in diesen
Ländern durch das Vordringen der Türken bedeutend ge-
hemmt worden. Auch nutzten die Venetianer ihre See-
herrschaft in so rücksichtsloser Weise aus, daß trotz
allerlei Begünstigungen wie Wegzwang und Zollerleichte-
rungen Triest sich nicht entfalten konnte. Alle Schiffe
mußten erst im venetianischen Capodistria anlegen, um
eine Fahrterlaubnis zu erlangen und hohe Abgaben zu
entrichten, andernfalls wurden die Waren sequestriert und
das Schiff verbrannt.
Dasfänderte-sich#erstr unter Kane VI «Br hat 1717
die freie Schiffahrt in der Adria durchgesetzt und 1719
Triest zum Freihafen erklärt. Handelsstraßen wurden ge-
baut und zur Hebung des kaufmännischen Geistes Griechen
berufen. Maria Theresia hat dann im Sinne ihres Vaters
das Werk fortgesetzt. So ist Triest spät erst und nicht
ganz aus sich selbst heraus zu führender Bedeutung ge-
kommen. Von da an aber entwickelte es sich um so
rascher, je mehr Venedig seinem Verderben entgegenging.
Seine Einflußsphäre war gegeben durch den Weg der
heutigen Südbahnlinie (Triest— Laibach— Marburg —
Graz— Wien), die Loiblstraße und die Predilstraße,
deren Fortsetzung ein schlechter, aber viel begangener
Saumweg über den Mallnitzer Tauern in der Richtung
32 Meereskunde.
auf Salzburg war. Das ist ungefähr derselbe Weg, dem
seit zwei Jahren die Tauernbahn folgt. Von der Südbahn-
strecke zweigten auch die Straßen nach Ungarn ab, dessen
Handel seither Fiume an sich gezogen hat. Jenseits der
Drauquellen und von Salzburg westwärts war stets die Kon-
kurrenz Venedigs zu groß, so wie dieses wieder die
Gotthardstraße Genua überlassen mußte. Als 1857 die
Südbahnlinie als erste über die Alpen geführt wurde, er-
weiterte sich für einige Jahre das Attraktionsgebiet ge-
waltig, aber der Bau anderer Alpenbahnen hat bald wieder
die alten Zustände hergestellt. Ja vor der Erbauung der
Tauernbahn waren selbst Oberkärnten, Salzburg und
Oberösterreich, die doch seit Jahrhunderten mit Triest
Handel trieben, strittiges Gebiet. Die wichtigste Erwer-
bung der neu eröffneten Tauernbahn war Südbayern, das
vielleicht durch die Val Sugana- und Mittenwaldbahn
wieder teilweise verloren geht, weil schon vor ihrer
Vollendung Triest und Venedig gleich weit von München
entfernt sind. Ein Hauptziel der 1906 eröffneten Kara-
wanken- und Pyhrnbahn, größere Teile Böhmens für
Triest zu erobern, schlug ziemlich fehl, weil Hamburgs
Einfluß hier nach wie vor unerschütterlich ist. (Vgl.
Abbild. 10.)
Damit berühren wir schon jene Nachteile, die trotz
aller Anstrengungen seitens der österreichischen Regierung
und der Triester Kaufmannschaft eine Konkurrenz mit
den norddeutschen Häfen erschwert. Unmittelbar hinter
der Stadt Triest erhebt sich der Karst zu 300 bis 500 m
Höhe; alle drei Bahnen, die landeinwärts führen, müssen
Steigungen von 20 bis 300/,, überwinden und in Umwegen
das Plateau erklimmen. Das nächste Hinterland ist rauh
und arm, der maritime Einfluß ist in Laibach und Agram
jenseits des Karstwalles kaum mehr zu spüren. Die öst-
lichen Alpenländer und Südwestungarn sind wenig in-
Die Häfen der Adria. 33
dustriell und nicht sehr dicht bewohnt; die einen liefern
Holz, die anderen Getreide, beide brauchen aber nur
wenig überseeische Massengüter. Wo die Industriegebiete
Österreichs ausgedehnter werden, da sind wir 300 km in
der Luftlinie, über 500 km der Bahnstrecke von Triest
entfernt. Die reichsten Gebiete, Nordböhmen, Nord-
mähren und Schlesien gravitieren über die Zollgrenze
nach Deutschland, mit dem sie auch auf billigen Wasser-
wegen verbunden sind. Besonders die Elbeschiffahrt macht
alle Ausnahmstarife zugunsten Triests illusorisch.
Übrigens macht sich die Konkurrenz der Nordsee-
häfen auch Venedig und Genua, selbst Marseille gegen-
über bemerkbar, obwohl diese ein reicheres Hinterland
und gewiß nicht schwierigere Verbindungen haben. Sie
erklärt sich aus der größeren Vielseitigkeit im Verkehr
der nordatlantischen Häfen, die alle auch im Export sehr
Bedeutendes leisten. Daß die Mittelmeerhäfen überwiegend
Importhäfen sind, bewirkt eine überflüssig lange Wartezeit
der Schiffe in der Heimat, die Spärlichkeit der Rückfracht
und eine dadurch bedingte Verteuerung des Betriebes.
Die höheren Tarife und die selteneren Verschiffungs-
gelegenheiten schrecken aber den Exporteur ab.
Auch die Hafenanl:gen (Abbild. ı 1) sind bescheidener
als an der Nordsee. Doch hat Triest den besten und größten
Hafen in der Adria und ist auf dem Wege, auchGenua wieder
zu überflügeln, das trotz seiner gewaltigen Anstrengungen,
den führenden Platz zu behaupten, bald am Raummangel die
Grenzen seiner Entwicklung finden dürfte. Die Natur hat
allerdings wenig dazu beigetragen, den Hafen auszugestalten,
und es gibt sehr viele bessere Naturhäfen in der Adria,
als es Triest und Fiume sind. Ursprünglich bestand nur
eine offene Reede, und da, wo sich heute die Neustadt
erhebt, gab es Salzgärten. Unter Karl VI. und Maria
Theresia entstand der bescheidene Stadthafen, der vor
34 Meereskunde.
Abbild. ıı. Der Hafen von Triest.
(Nach der österreichischen Seekarte.)
dem Scirocco durchs Vorgebirge von S. Andrea ge-
schützt war. Er genügte bis zur Eröffnung der ersten
Bahnlinie 1857. Leider versäumte man damals, weil auch
Venedig Österreichisch war, an eine Erweiterung des Hafens
zu schreiten. Als man mit dem Bau des Freihafens im
Norden der Stadt 1867 begann, war es’ zu spät. Der
Hafen war bei der Eröffnung des Suezkanals nicht
fertig, wohl aber entstanden nacheinander eine Reihe
Die Häfen der Adria.
(05)
In
von Alpenbahnen, die anderen Orten einen Vorsprung
sicherten.
Dennoch wuchs der Verkehr, und a!s 1885 der Frei-
hafen mit einem Kostenaufwand von 30 Mill. Kronen
endlich fertig war, genügte er nicht mehr ganz den Be-
dürfnissen. Auch zeigte es sich, daß er bei heftiger Bora
den Landungsakt erschwerte. Man rastete indessen nicht.
Die Verstaatlichung der Lagerhäuser (1894), Schiffahrts-
subventionen und bescheidene Hafenerweiterungen zeigten
vorteilhafte Wirkungen; seit 1887 nimmt der Schiffsverkehr
beständig zu. Er wuchs von 1887 bis 1905 um 1,6 Mill.
Tonnen, während er in den 84 Jahren von 1803 bis 1887 -
nur um 1,4 Mill. Tonnen zunahm. (Vgl. dazu die Ent-
wicklung des Warenverkehrs, Abbild. 12.) Mehr als in den
meisten großen Hafenstädten der Erde hat die Regierung
zum Aufschwung ihres Handelsplatzes beigetragen, und
während Hamburg auf seine eigenen Kosten den ganzen
Betrieb und Sicherheitsdienst auf der unteren Elbe be-
streitet, hat die Stadt Triest relativ sehr wenig zum Aus-
bau ihres Hafens beigetragen.
Im letzten Jahrzehnt entstand auch die seit langem
erstrebte zweite Bahnverbindung mit dem Norden. Ein
gemeinsamer Strang führt über Görz und Assling bis
zum Nordfuß der Karawanken; dann erfolgt eine Ver-
zweigung. Der eine Ast führt über Villach und Gastein
nach Salzburg zum Anschluß an Bayern, der andere
nordwärts über den Neumarkter Sattel nach Oberöster-
reich und Böhmen. Leider ist die Bahnlinie der vielen tech-
nischen Schwierigkeiten halber nur eingeleisiv. Zum Teil
schon eröffnet, zum Teil noch im Bau ist die zweite Frei-
hafenanlage im Süden der Stadt bei S. Andrea. Dieser
Hafen kostet go Mill. Kronen, umfaßt außer langen Quai-
mauern drei breite Moli und ist besser vor der Bora ge-
schützt. Zum Schutz vor dem Scirocco wird nicht ein
36 Meereskunde.
langer Wellenbrecher gebaut wie beim alten Freihafen,
sondern es sind drei kürzere geplant, die staffelförmig
hintereinander stehen. Von ihnen ist erst einer (auf dem
Plan voll ausgezogen) vollendet. Im Südosten der Stadt
erwuchsen in den letzten 20 Jahren neben älteren Werften
— erst relativ spät — größere Fabriksanlagen, wie Öl-
und Petroleumraffinerien, Reisschälfabriken, Dampfmühlen
und ein Hochofen, auf dem unter anderem griechische und
spanische Erze geröstet werden. Als Heizmaterial dient
größtenteils englische Kohle. Die Stadt zählt jetzt 220000
Einwohner.
Der Aufschwung Triests ist um so bemerkenswerter,
als seit 1867 die Ungarn alles daran setzten, ihren nationalen
Hafen Fiume (40000 Einwohner) auszugestalten. Auch
dieser Hafen nahm seine Anfänge in den Tagen Karls VI.;
aber er blieb lange nichts als ein Flußhafen sehr be-
scheidenen Umfanges an der Stelle, wo heute kleine Segler
Holz einladen. Die hier völlig glatt verlaufende Küste ist
ganz ungeschützt; ungehindert prallen die Wogen bei
Scirocco an, und die Bora pfeift mit aller Wucht durch
die Gassen. Es gäbe in der Nähe bessere Häfen, das von
Napoleon geförderte Porto Re und Buccari, aber die
beiden Orte liegen in Kroatien, und die Ungarn mochten
wohl befürchten, daß sie darüber nicht so frei verfügen
können. Ihnen selbst gehörte nur das kleine Fleckchen
Landes, kaum 4 km Küste, seitdem ihnen Fiume und
Gebiet 1779 von Maria Theresia geschenkt worden war.
Zu den Übelständen gehört noch, daß der Ort von
Österreichisch Istrien besser zugänglich ist als von Ungarn
her. Aber die Ungarn haben mit zäher Energie und
großen Kosten alle Schwierigkeiten besiegt. Seit 1872
entstand der 1700 m lange Wellenbrecher; 6 große Moli,
davon 4 im Freigebiete, wurden geschaffen; früher als in
Triest wurden die Grundlagen zu einer recht bedeutenden
„Wert in Wert in
tillionen Kronen. Millionen Kronen.
1850
1800
1750
1700
1650
1600
Fer
7
EZ
Darer nass e
Das — EINFUHR, en AUSIEDIRR? GESAMT-WARENVERKEHR.
Abbild. 12. Entwicklung des Warenverkehrs im Hafen von Triest
1857 bis 1905.
(Nach M. v. Engel.)
[a
Meereskunde.
O2)
Industrie (Torpedofabrik, Schiffswerfte, Reisschälfabriken,
Papier-, Kakao-, Schokoladefabrik, Petroleumraffinerie usw.)
gelegt. 1873 war die Südbahnstrecke St. Peter—Fiume
fertiggestellt worden, schon 1874 wurde die ungarische
Staatsbahnstrecke Budapest
Agram — Karlstadt — Fiume
beendet, die in großen Windungen angesichts des Meeres
500 m hoch emporsteigen muß. Auch hier gibt es keinen
Stillstand; schon spricht man von dem Bau einer zweiten
Bahnlinie über den kroatischen Karst, und von sehr
entfernten Wasserwerken soll elektrische Kraft bezogen
werden.!) Das ungarische Litorale ist so ziemlich voll-
ständig verbaut, es muß nun doch kroatisches Gestade
herangezogen werden.
Fiumes Aufschwung war innerhalb einiger Jahrzehnte
ganz enorm. Es hat aber heute sein Attraktionsgebiet in
streng nationalem Sinne abgegrenzt und kann den Triester
Handel nicht mehr stark beeinflussen. Eher wird es selbst
auf der Balkanhalbinsel einige Einbuße erleiden, wenn
die geplante Donau—Adriabahn zustande kommt. Übrigens
sind Fiume und Triest nicht in dem Maße Konkurrenten,
als es scheinen mag. Ungarn, das selbst eine östliche
Macht ist, gravitiert, wie R. Sieger hervorgehoben hat, in
seinen Handelsbestrebungen gegen Westen. Die größte
ungarische Schiffahrtsgesellschaft »Adria« läßt vornehmlich
italienische, französische und spanische Häfen anlaufen,
während der österreichische Lloyd nach wie vor im nahen
und fernen Orient Geltung zu erhalten sucht. Auch den
Auswandererverkehr nach Amerika hat Fiume früher an
sich gezogen als Triest.
Diese Verschiedenheiten ergeben sich aus der anders
gestalteten Handelstendenz der beiden Staaten. Fiume,
dessen Gesamthandel sich heute auf etwa 650 Mill. Kronen
!) Die für Triest und Fiume in Erwägung gezogenen Kanal-
projekte lassen wir, weil zunächst nicht realisierbar, außer Betracht.
Die Häfen der Adria. 9
(095)
beläuft, hat in vollem Gegensatz zu den meisten Mittel-
meerhäfen mehr Ausfuhr als Einfuhr. In beiden Zweigen
der Handelsbewegung stehen Rohprodukte oder Halb-
fabrikate voran, in der Einfuhr früher Wein, jetzt Rohreis,
Kohle, Jute usw., in der Ausfuhr Holz (Schnittholz, Faß-
dauben), Zucker und Mehl. Mehl stand früher voran.
In Triest, dessen Handelsbewegung immer noch dreimal
so groß ist (1908 1958 Mill. Kronen), überwiegt wie in
Genua, Marseille und Venedig die Einfuhr kolonialer Roh-
produkte (Baumwolle, Häute, Kaffee, Reis, Öl usw.) die
der industriellen Exportartikel, unter denen Textilwaren,
Zucker, Glas und Papier genannt seien.
Es ist hier nicht unsere Absicht, in rein kommerzielle
Fragen tiefer einzudringen und umiangreichere statistische
Belege zu bieten. Fassen wir vielmehr zusammen. Für
Mitteleuropa erlangen nur Triest, Venedig und Fiume
Bedeutung. Venedig wird, so lange nicht wesentliche
Neubauten erstehen, keine führende Rolle erlangen können;
Fiumes Machtgebiet liegt, wie wir gesehen haben, in
Ungarn; Triests Einflußsphäre dehnt sich weit aus vom
Iler und von der Altmühl bis ins Quellgebiet der
Oder, doch vermag es Hamburg gegenüber keine wesent-
lichen Vorteile zu erringen. Das mag in des Deutschen
Reiches Hauptstadt mit Befriedigung vernommen werden.
Aber nicht nur Süddeutschlands halber, das noch in die
Sphäre der Adria fällt, darf den Bewohnern des Deutschen
Reiches das Schicksal Triests nicht gleichgültig sein. Die
deutschen Kaufleute, die dort heute schon eine große
Zahl der ersten Handelshäuser leiten, gehen bewußt jene
Bahnen, die unsere Nation zu höherem Glanz zu führen
vermag. Sie sichern ihr, die sich die Nordsee und den
Ozean gewonnen hat, auch das Mittelländische Meer und
den Orient, unabhängig von der in fremdem Besitz be-
findlichen Zugangsstraße von Gibraltar. Damit gelingt
40 Meereskunde.
den Deutschen das, was die Franzosen als den Vorzug
ihres Landes betrachten, die Beherrschung zweier Meere,
und wie in der Diplomatie ergibt sich auch im Handels-
verkehr ein inniges Zusammengehen zwischen Österreich
und Deutschland. Die Nordseehäfen und Triest sind
nicht Gegner, sie ergänzen sich in dem Sinne, daß der
Deutsche an beiden Ufern Europas herrsche, vom Meer
zum Meere!
Literatur.
R. Sieger, Die Adria und ihre geographischen Beziehungen. Vortr,
d. Ver. z. Verbr. naturw. Kenntnisse. 4I. Jg. 1901.
A. Dorn, Die Seehäfen des Weltverkehres. 2 Bde. Wien 18g1ı.
Th. Fischer, La penisola Italiana. Torino 1902.
‚ Die nordadriatische Haffküste. Mittelmeerbilder, Neue Folge,
Leipzig 1908.
A. Supan, Österreich-Ungarn. Kirchhoffs Länderkunde v. Europa Il/r.
Wien 1889.
N. Krebs, Die Halbinsel Istrien. Geogr. Abhandl. IX/2, Leipzig 1907.
Pr. Lanzoni, Il porto di Venezia. Verona 1895.
M.v. Engel, Die Freihafengebiete in Österreich-Ungarn. Wien 1906.
W. Bardas, Triest, sein Hafen und Verkehr. Österr. Rundschau I.
1905.
A. Neumann, Handelsmaritime und statistische Streifzüge. Österr.
Rundschau VIII. 1906.
M. Angelini, Nel Porto di Trieste, Ascoli 1908.
B. Gonda, Der ungar. Seehandel und der Verkehr im Hafen von
Fiume (mag.). Budapest 1906.
SS)
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler & Sohn,
Berlin SW, Kochstraße 68—71.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG ZEHNTES HEFT
Die Fahrten eines deutschen Seemanns
um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
Aufzeichnungen des Segelschiffs-Kapitäns Georg Wilhelm Kroß.
som 19. Juni 1910 verstarb zu Burg auf Fehmarn
der frühere Schiffskapitän Georg Wilhelm
Kre 2 1m7922 Eehensjahres Er hat dier Ruhe
seines Alters dazu benutzt, einen kurzen Bericht über
seine Seereisen zu geben, die ihn von seiner Jugend bis
Alm lahrer 1868 aurn fast aller Meere den Rrde?seführt
haben. Dieser Bericht bietet in seiner schlichten Sach-
lichkeit eine solche Fülle von Tatsachen, die für das Ver-
ständnis und die Beurteilung der Segelschiffahrt um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts dauernden Wert haben,
daß ıhm gern ein Heft dieser Sammlung eingeräumt wor-
den ist. Er wird dazu beitragen, die Achtung vor den
Leistungen der alten Schiffergeneration zu erhalten, die
noch ohne die Vermehrung und Verbesserung der tech-
nischen und nautischen Hilfsmittel unserer Zeit ıhre
Fahrten über den Ozean machte.
Die Herren Kapitän Joachim Johannsen und Dr. Otto
Johannsen, Sohn und Enkel von Kapitän Krob’ Schwester
Katharina Johannsen, haben mit Erlaubnis von Frau
Witwe Agnes Margareta Kroß in dankenswerter Weise
die Herausgabe der Aufzeichnungen übernommen, wobei
sie sich auf einige rein stilistische Abänderungen und auf
Verbesserung kleiner Ungenauigkeiten beschränkt haben.
Meereskunde, Vorträge. V. Ileft ro, I
Meereskunde.
5)
Die Wasserwogen im Meer sind groß
und brausen greulich; der Herr aber ist
noch größer in der IHöhe.
Psalm 93,4.
ch bin am 9. August des Jahres 1818 zu Lemken-
hafen auf Fehmarn geboren als der drittjüngste
a unter den sieben Söhnen und drei Töchtern des
Schiffers und Bootführers Joachim Kroß und seiner
Ehefrau Anna Gertrude geb.’ Schau. Täglich die See
vor den Augen, lernten wir schon in unserer Kindheit uns
mit derselben zu befassen. Auch unsere drei Schwestern
wurden alle an Seeschiffer verheiratet.
In meinem dreizehnten Lebensjahr machte ich schon
mit meinem Vater verschiedene Reisen nach Lübeck, und
zwar auf einem kleinen Fahrzeug, das höchstens 60 Sack
Weizen trug. Mitunter vertrat mich mein jüngerer
Bruder August. Wenn ich zurückgeblieben war, mußte
ich häufig mit einem Boot nach Heiligenhafen fahren.
In Lemkenhafen wohnte nämlich damals ein Händler,
welcher für Heiligenhafener Kaufleute Weizen aufkaufte.
Die anderen Bootführer dorten waren alte Leute, die
nicht gern nach Heiligenhafen fuhren. Natürlich be-
geleitete mich der Kaufmann gewöhnlich auf dieser Fahrt,
doch mitunter war ich auch allein. Wenn ich dann des
Abends in der Dunkelheit zurückkam, stellte meine
Mutter ein Licht vor das Fenster. Das war mein Weg-
weiser, nach dem ich in Lemkenhafen einsegelte, denn
Leuchtfeuer kannten wir damals auf Fehmarn nicht.
Nach meiner Konfirmation im Jahre 1834 machte ich
meine erste größere Reise mit meinem Bruder Heinrich,
Kapitän des Wismaraner Schiffes „Germania“. Wir
segelten im März vom Heimatshafen mit einer Ladung
Getreide nach Rotterdam, von dorten in Ballast nach
Archangel, zurück nach Amsterdam und dann in Ballast
nach Wismar,
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 3
Hier verließ ich die „Germania“ und ging auf die
Wismaraner Brigg ‚Ceres“, Kapitän Malchin. Wir
segelten im Oktober mit einer Getreideladung nach
Oporto ab. In der Nordsee trafen wir stürmisches
Wetter. Das Schiff begann Wasser zu ziehen, und die
Ladung ging über. Wir liefen Harwich als Nothafen
an. Die Ladung wurde neu verstaut und das Schiff
nachgesehen, worauf wir die Reise fortsetzten. Bei Kap
Finisterre sprang das Schiff bei gutem Wetter plötzlich
leck. Wir mußten es in der Nacht vom 29. auf den
30. November in den Booten verlassen. Mit lagesan-
bruch war das Schiff verschwunden. Wir ruderten see-
wärts. Die Küste war zwar in Sicht, aber überall stand
Brandung. Unsere Bekleidung war dürftig, denn ein
Sack mit Kleidungsstücken war in der Eile verloren ge-
gangen. Unser Proviant bestand nur aus einem Sack
Prot und einem kleinen Gebinde Branntwein. Doch wo die
Not am größten ist, ist der liebe Gott am nächsten: des
Nachmittags etwa 5 Uhr wurden wir von einem gleich-
falls nach Oporto bestimmten englischen Schiffe aufge-
nommen, wo wir liebevolle Pflege fanden. Am nächsten
Tage trafen wir ein anderes englisches Schiff. Da unser
Wasservorrat knapp war, übernahm dieses 5 Mann von
uns, die dort ebenso freundlich aufgenommen wurden.
Nach mehreren Tagen landeten wir alle glücklich in
Oporto und erhielten durch das mecklenburgische Kon-
sulat Logis am Lande. Im Frühjahr fuhr unser Kapitän,
ein Mann und ich mit einem Wismaraner Schiffe als
Passagiere nach Hamburg. Der Rest der Mannschaft
hatte Beschäftigung gefunden. In Hamburg ange-
kommen, empfand ich Sehnsucht nach den Eltern und
reiste nach Haus, wo ich ohne Geld und Kleidung ankam.
Dort erhielt ich die T’rauernachricht, daß ungefähr zu
derselben Zeit, als wir Schiffbruch erlitten, mein dritt-
1*
4 Meereskunde.
ältester Bruder zusammen mit der ganzen übrigen Mann-
schaft des Lemkenhafener Schiffes „Fehmarn“, Kapitän
H. Maaß, auf See geblieben war.
Nach einiger Zeit reiste ich nach Lübeck und ließ
mich auf der dort beheimateten Brigg ‚„Hebe“, Kapitän
N. Heitmann, anmustern. Das Schiff fuhr zwischen
lübeck und Petersburg, doch machten wir von Anfang
Mai bis zum November 1835 nur zwei Reisen, da das
Schiff im Sommer wegen Reparatur aufgelegt wurde. Im
Winter weilte ich zu Hause.
Im Frühjahr 1836 nahm ich Heuer auf dem Neu-
städter Schiffe „Fortuna“, Kapitän Bernitt, mit dem
ich Reisen in der Ost- und Nordsee machte. Gegen Weih-
nachten wurde das Schiff in Neustadt aufgelegt, und ich
reiste nach Haus, wo ich bis zum Frühjahr Navigations-
unterricht nahm. Dann machte ich einige Reisen nach
Bergen mit meinem Schwager, Kapitän M. Meislahn,
bis dieser im September 1837 reparaturenhalber in Kiel
sein Schiff auflegte.
Ich reiste nach Hamburg, um endlich meine groben
(iedanken auszuführen, die ich schon lange mit mir
herumgetragen hatte, nämlich Reisen in andere Weltteile
zu machen. So ging ich denn mit dem Hamburger Schiff
„Johanna“, Kapitän Meyer, auf eine Reise nach Buenos
Aires in See. Die Ladung bestand im Unterraum aus
Steinkohlen und Futterage für 200 Schafe, für die im
Zwischendeck Ställe eingerichtet waren. Von Buenos
Aires segelten wir mit einer Ladung getrockneter Häute
nach Rotterdam zurück. Hier mußte ich das Schiff krank-
heitshalber verlassen.
Nach meiner Genesung holte ich mir meine Sachen
beim Hamburger Konsul ab und beschloß, einmal eine
Reise mit einem holländischen Schiffe zu machen. Ich
ließ mich auf der „Princess der Nederlanden“, Kapitän
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 5
Overweg,anmustern und fuhr mit diesem Schiff nach
Batavia. Dort erhielten wir -Order, in Padang an der
Sumatraküste Ladung einzunehmen, mit der wir nach
Rotterdam zurücksegelten. \on Rotterdam fuhr ich mit
einem kleinen Schiffe wieder nach Hamburg, wo ich ım
August 1839 ankam.
Darauf machte ich mit der Hamburger Brigg „Os-
mond“, Kapıtän Maiwing, eine Reise nach Lissabon
und von dort mit einer Salzladung nach Rıo de Janeiro.
— Nach Hamburg zurückgekehrt, ging ich auf das ameri-
kanische Schiff „saltwedel“, Kapıtän Clark, um.die
englische Sprache zu erlernen. Wir segelten in Ballast
nach den Kap Verdischen Inseln, von dort mit einer Salz-
ladung nach Montevideo, von Montevideo mit einer La-
dung getrockneten Fleisches nach Bahia und Marahü und
von dort mit einer Zuckerladung nach Hamburg zurück.
Die nächste Reise machte ich mit der Hamburger
Bark . Adler‘, Kapıtan Göttschau, üund’zwar von
Hamburg nach Valparaiso. Bei Kap Horn mußten wir
schwere Stürme bestehen, doch ohne Schaden zu erleiden.
\Wir löschten einen Teil der Ladung zuerst in Valparaiso,
dann ın Arıca und den Rest in Callao. Darauf fuhren wir
von Iquique mit Salpeter nach Hamburg zurück. Dies
war im Jahre 1842, dem Jahre des großen Hamburger
Brandes. Ich war damals vierundzwanzig Jahre alt.
Ich begab mich nun nach Tönning auf die Navi-
gationsschule, wo ich im November das Steuermanns-
examen bestand. Dann reiste ich nach Hamburg zurück.
Der Unterricht hatte meine Ersparnisse verschlungen,
und ich wollte deshalb den Winter über nicht in Hamburg
bleiben. So ließ ich mich als Matrose auf dem Hamburger
Vollschiff „Sophie“, Kapitän Wilcken, ein Fehma-
raner, anmustern. Wir segelten in Ballast nach Habana
und von dort via Matanzas nach Hamburg zurück. Darauf
Meereskunde, Vorträge. V. Heft ro. 2
6 Meereskunde.
ernannte mich Kapitän Wilcken zum zweiten Steuer-
mann.
Kapitän Wilcken erhielt von seinen Reedern das
Kommando des neuen Schiffes „Adolph“, und ich ging
mit auf dieses Schiff über. Die Reise ging in Ballast
nach Cadix, von dort mit Salz nach Buenos Aires, wo
wir ın der Revolutionszeit eintrafen und langen Aufent-
halt hatten, weiter mit Fleisch nach Habana und endlich
nach Matanzas, heimwärts bestimmt. Als wir am 10. Ok-
tober 1844 segelfertig waren, trieb uns ein Orkan auf den
Strand. Wir mußten reichlich die halbe Ladung löschen,
um wieder flott zu kommen. Endlich segelten wir nach
Hamburg ab. Als wir bei Helgoland ankamen, sahen
wir, daß wir eiseshalber die Elbe nicht erreichen konnten.
Wir lagen dort, bis Proviant und Wasser knapp wurde,
und liefen dann Hull als Nothafen an. In den ersten
Tagen des Februar gingen wir dann wieder in See, trafen
viel Eis und kamen erst am 7. April in Hamburg an. Dies
war in dem strengen Winter 1844 auf 1845.
Ich besuchte dann die Hamburger Navigationsschule
und bestand mein Schifferexamen mit Glanz. Nun waren
die Ersparnisse wieder verbraucht, und ich mußte mır
einen Posten suchen. Die Schiffahrt war flau. Nach
einiger Zeit fand ich eine Stellung auf dem in Bremer-
haven liegenden Norweger „Tricolor“, Kapitän v.Over-
gau, ein Deutscher. Das Schiff war seit Jahren nicht
zu Hause gewesen. Die Besatzung war aus vielen Nati-
onen zusammengewürfelt, doch habe ich nie eine tüch-
tigere und nettere Mannschaft an Bord gehabt. Kom-
mandiert wurde englisch. Wir segelten mit Auswanderern
und mehreren Kajütspassagieren nach New York und von
da mit Stückgut nach Amsterdam. Die Rückreise brachte
mir viel Arbeit und Sorgen. Mein Kapitän war ein guter
und tüchtiger Mann, aber dem Trunke ergeben. Er kam
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 7
häufig mehrere Tage lang nicht an Deck, und die Führung
des Schitfes war ganz meine Sache. Trotzdem ging alles
Püt- Wirsckamen mach einer, Reise von 26, Tagen in
Amsterdam an. Nachdem die Ladung gelöscht war,
wollte ich das Schiff verlassen, wozu ich kontraktlich
berechtigt war, denn der Kapitän hatte Order, mit dem
Schiff nach dem Heımatshafen Tönsberg zu kommen,
doch ließ ich mich gegen eine besondere Vergütung be-
wegen, bis Tönsberg zu bleiben, wo wir Dezember 1845
glücklich ankamen. Der Kapitän reiste gleich zu seiner
dort in der Nähe wohnenden Familie. Ich traf nach
einiger Zeit Schifftsgelegenheit nach Horsens — es war ein
sehr milder Winter — und kam so nach Fehmarn, wo ich
am ı. Februar 1846 an einem Sonntagabend nach einer
Abwesenheit von reichlich 842 Jahren ankam. Die Freude
des Wiedersehens war grob.
Als ich nur einen Tag zu Hause gewesen war, er-
hielt ich aber schon einen Gestellungsbefehl zur Marine-
aushebung. Die Dänen erlaubten sich nämlich dies seit
einigen Jahren. Aus dieser Beklemmung erlöste mich
unser Nachbar, der Inhaber der Firma Jürgen Rahlf &
Sohm.deren,Schif ‚Hiortensia,. Kapıtan P. Rickert,
in Kiel liegend, keinen Steuermann erhalten konnte, weil
man allen die Papiere abgenommen hatte. Doch ich
besaß meine Papiere noch und konnte anmustern. Wir
segelten ın Ballast nach Wismar, brachten von dort eine
Ladung Gerste nach Schiedam und gingen dann in Ballast
frachtsuchend in See. Am ersten Reisetage, es war am
Gründonnerstag 1846, sprang das Schiff plötzlich leck.
Wir mußten es innerhalb einer halben Stunde verlassen,
und zwar im kleinen Boot, das uns nur notdürftig tragen
konnte, denn das Großboot konnten wir so schnell nicht
ins Wasser bringen. Ein in unserer Nähe segelndes
Heiligenhafener Schiff, Kapitän Andersen, nahm uns
Y
y*
3 Meereskunde.
auf und landete uns in Vlissingen. Ich hatte all mein
Zeug verloren und nur mein nautisches Instrument ge-
rettet. Ich reiste über Land nach Amsterdam und von
dort per Dampfer nach Hamburg. Eigentlich beabsich-
tigte ich nicht schon wieder nach Hause zu reisen. Ich
empfing aber einen Brief von unserer Mutter, daß unser
Vater schwer:krank sei. So reiste ich denn nach Feh-
marn.. Bald darauf starb unser guter Vater. Nachdem
wir ihn zu Grabe geleitet hatten, reisten wir Brüder unter
traurigem Abschied von unserer alten Mutter ab, um
wieder Beschäftigung zu suchen.
In Hamburg mußte ich lange warten, denn die Schiff-
fahrt war ın diesem Sommer flau. Endlich bekam ich
einen Posten auf der Hamburger Brigg „Wilhelmine“,
Kapitän C. Bähr. Die Reise ging mit Auswanderern
und Kajütspassagieren nach New York. Nach anfangs
gutem Wetter trafen wir bei den Neu Fundland-Bänken
am 1o. Oktober gerade mittags ı2 Uhr einen harten
Orkan. Und dabei hatten wir diese große Anzahl
Menschen an Bord. Wir mußten den Leuten die Luken
über den Köpfen schalken. Unsere Segel gingen größten-
teils verloren. Abends fanden wir Zeit, uns um die ein-
gesperrten Menschen zu bekümmern. Von hinten durch
die Proviantkammer gelangten wir ins Zwischendeck.
Dort: herrschte eine ‚Luft, ‘daß ein Licht kaum nach:
brannte.. Eine alte Frau, die schon vorher krank war,
war gestorben. Am anderen Tage war schönes Wetter.
Wir besserten alle Schäden, so gut es möglich war, aus
und kamen glücklich in New York an. Von dort gingen
wir mit einer Ladung Roggen nach Amsterdam in See.
In New York waren 5 Mann desertiert, und wir hatten
nur Ersatz für drei bekommen. Die Gagen waren hoch
und Leute knapp. Wir hatten eine sehr stürmische Reise,
doch meist günstigen Wind. Vor dem englischen Kanal
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 9
auf etwa 13 W. L. mußten wir das Schiff der hohen
See halber an den Wind legen. Als wir beilagen, kam
eine furchtbare Sturzsee. Die Ladung schoß über. Das
Schiff lag auf der Seite und wollte sich nicht wieder
heben. Endlich gelang es, das Schiff vor den Wind zu
bringen. Die Ladung war nach Steuerbord übergegangen
und die Lee-Reling lag im Wasser. Wir stießen die
Verschanzung mit Spieren weg, damit hinter derselben
kein Wasser stehen bleiben konnte, und liefen dann von
abends 8 Uhr bis zum nächsten Morgen immer recht vor
dem Winde weg. Kompaßhaus, Großboot, Kambüse,
alles war weggeschlagen. Weasservorrat blieb uns nur
für einige Tage. Es war dies eine der härtesten Nächte,
welche ich in allen Jahren auf See erlebt habe. Eine
Sturzsee schlug mich über Bord, doch blieb ich in Tau-
werk, das über den Bug hing, verwickelt hängen und
konnte so wieder an Deck klettern. Auf dem Hinterdeck
angekommen, fragte mich der zweite Steuermann: „Wo
sind Sie so lange gewesen?“ Ich sagte: „Über Bord bin
ich gewesen und doch gerettet.“ Am andern Tag wurde
es gutes Wetter. Wir hatten den Kopf des Nachts zwar
ein paarmal unter Wasser gehabt, aber schließlich hatten
wir ihn doch oben behalten. Die Schäden wurden so gut
wie möglich ausgebessert. Am Nachmittage sichteten
wir noch die englische Küste und am nächsten Tage
kamen wir in Cowes an. Da strenger Frost herrschte,
hatten wir hier Zeit, das Schiff gründlich nachzusehen.
Erst im März konnten wir Amsterdam erreichen, wo die
Ladung Roggen trotz der stürmischen Reise in bestem
Zustande gelöscht wurde.
Wir gingen dann mit einer Ladung Raffınade von
Amsterdam nach Ancona in Italien und von dort fracht-
suchend in Ballast nach Triest. Hier schlossen wir Kon-
trakt, eine Ladung Getreide von Enos (europäische
Io Meereskunde.
Türkei) nach der Nordsee zu bringen, Deal für Order.
Nach der Ankunft in Enos oder vielmehr auf der Reede
vor Enos — denn die Schiffe liegen dort über eine deut-
sche Meile vom Lande — warfen wir den Ballast über
Bord und wurden dann schnell beladen. Nach einer
schönen Reise in Deal angekommen, erhielten wir Auf-
trag, in Amsterdam zu löschen. Damals — es war im
Jahre 1847 — herrschte besonders in Frankreich Hungers-
not, da die Ernte .total mißraten war. Wir erzielten
dadurch eine Fracht von ı Pfund Sterling pro ı englischen
Quarter (zu 480 Pfund englisch gerechnet). Von Amster-
dam gingen wir in Ballast nach Hartlepool und von dort
mit Kohlen nach Hamburg.
In Hamburg wurde eine neue Mannschaft ange-
mustert, während ich beim Schiffe blieb. Die Reise ging
zuerst in Ballast nach den Kap Verdischen Inseln und
von: dort! mit Salz nach Santos. Wen Santos, worsıch
einen Schulkollegen Jürgen Maaß aus Sartjendorf,
Steuermann eines Hamburger Schiffes, traf, gingen wir
mit Kaffee nach Hamburg. Sowohl auf der Hinreise wie
auf der Rückfahrt hatten wir schönes Wetter. Im eng-
lischen Kanal setzte uns ein Lotse von dem Kriege
zwischen Deutschland und Dänemark in Kenntnis. Wir
liefen Cowes an, um nicht in Feindeshände zu fallen.
Dies war im Monat Juni. Nach dem Abschluß des
Waffenstillstandes segelten wir dann im September nach
Hamburg.
Wir gingen dann mit einer neuen Mannschaft nach
Angostura (Mittelamerika). Als Ballast hatten wir
Ziegelsteine geladen. Diese wurden in Angostura ge-
löscht und dann eine Tabakladung für Bremen überge-
nommen. Über die Reise ist nichts Besonderes zu be-
merken. Von Bremen segelten wir dann in Ballast nach
Hamburg.
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 1
Hier verließ ich die „Wilhelmine“ und ging auf die
Altonaer Brigg „Catharine“, Kapitän Petersen, ein
Fehmaraner. Das Schiff hatte eine große Reparatur ge-
habt und war 2ı Fuß verlängert worden. An einem
Montag kam ich an Bord, als noch kein Mast ım Schiff
war, und am folgenden Mittwoch segelten wir schon
aus dem Hamburger Hafen. Schleppdampfer konnten wir
nämlich damals trotz der hohen Frachten nicht bezahlen.
Wir fuhren nach Bremerhafen, um Passagiere für New
York an Bord zu nehmen. Das Schiff wurde eiligst für
Passagiere eingerichtet und Proviant eingenommen. Nach
einigen Tagen war alles fertig. Aber der Waffenstill-
stand lief ab, ohne daß die Passagiere kamen. Die Be-
frachter mußten dem Schiffe eine bedeutende Entschädi-
gung zahlen. So lagen wir ın Bremerhaven, bis nochmals
Waffenstillstand geschlossen wurde. Darauf segelten wir
in Ballast nach den Kap Verdischen Inseln, um für
Reeders Rechnung eine Ladung Salz einzunehmen. Mit
dieser segelten wir nach Bahia, wo das Salz verkauft
wurde. Damals — es war im Jahre 1850 — brach in allen
brasilianischen Häfen das gelbe Fieber aus. Wiır lagen
noch am Löschplatz, kamen aber ziemlich gelinde davon,
denn wir verloren nur vier Mann. Auf der ‚„Gloriosa‘“,
die zu unserer Reederei gehörte, waren von 13 Mann
nur noch der Kapıtän Tosby und sein Koch übrig.
Binsestoßes englisches: -Schitt,. das -in "unserer Nahe
lag, verlor 16 Mann. In den Hospitälern starben ver-
hältnismäßig noch mehr Kranke, als wenn die Leute an
Bord geblieben waren. Als endlich die Krankheit etwas
abgenommen hatte, konnten wir mit der Ladung (Zucker
in Kisten) nach Hamburg in See gehen. Die Reise verlief
sehr glücklich, obgleich wir nur 9 Mann an Bord waren.
Von Hamburg segelten wir mit einer Stückgutladung
nebst zehn Kajütenpassagieren wieder nach Bahia, wo
12 Meereskunde.
wir nach einer schnellen Reise von 43 Tagen ankamen
und alles fieberfrei fanden. Von dort fuhren wir nach
der Kap Verdischen Insel Maio, wo wır Salz für Rio.de
Janeiro einnahmen. In Rio luden wir dann Kaffee für
Boston. Von dort segelten wir mit Stückgut nach
Buenos Aires, weiter in Ballast nach Bahia, und endlich
von dort mit einer Zuckerladung für Reeders Rechnung
nach Hamburg, wo der Zucker, wie ich hörte, sehr
vorteilhaft verkauft wurde. Dies war im Jahre 1852.
Ich verließ darauf die „Catharina“ und ging auf die
„Gloriosa“, welche jetzt Kapitän Klahn führte, denn
Kapıtän Tosby war nach unserer Abreise noch in Bahia
dem Fieber erlegen, und ruht mit seinem im Jahre 1850
verstorbenen Steuermann in einem Grabe. Die Reise ging
von Hamburg in Ballast nach Hartlepool und von dort
mit Kohlen nach St. Vincent. Dann nahmen wir auf
Maio Salz’ tur: Buenos Aires Tein.. Weiter einozersen
Ballast nach Bahia und von Bahia mit Zucker nach
Hamburg, wo wir nach 45 Tagen Reise ankamen. An
einem Sonnabend des Junimonats 1853 liefen wir ın den
Hamburger Hafen ein.
Am andern Morgen kam der Seniorchef der Reederei,
Herr ]. €.D! Dire ver mit seinem Sohne zz mern
Bord und ernannte mich zum Kapitän des Schoners
„l.ootse“. Vor der Abreise fuhr ich nöch einmal auf
einige Tage zum Besuch meiner Familie nach Fehmarn
und ging dann im August mit fünf Kajütenpassagieren
nach Buenos Aires in See, wo wir nach einer Reise von
59 Tagen wohlbehalten ankamen, gingen dann in Ballast
frachtsuchend nach Bahia, erhielten hier Ladung für
Bremerhaven, mußten leider auf dieselbe etwas warten
und erreichten dann die Weser nach einer schnellen Reise.
Eiseshalber mußten wir noch einige Tage vor der Weser
liegen bleiben.
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 13
Chinafahrten.
In Bremerhaven empfing ich von meiner Reederei die
Nachricht, daß das Schiff auf mehrere Jahre nach China
verchartert sei. Daraufhin ließ ich mich durch einen
Schleppdampfer nach Altona bringen, um das Schiff für
die lange Reise instand zu setzen. Später verholten wir
dass Schi nach” dem Hamburser Hafen. "Die Deute
wurden angemustert. Stevermann und Zimmermann
gingen wieder mit. Als das Schiff zu zwei Dritteln be-
laden war, segelten wir nach Neumühlen unterhalb Al-
tona, um dort den Rest der Ladung einzunehmen, nämlich
Schießpulver in kleinen Tonnen von 50 Pfund. In Ham-
burg war es schon vorher bekannt geworden, daß ıch eine
große Menge Pulver laden sollte, und es waren mir die
angemusterten Leute mehrmals wieder vom Schiff gelau-
fen. Vor der Abfahrt nach Neumühlen nahm ich von
meinem alten Reedenr Herın Dreyer Abschied. Seine
lefzten \Worter habe ich) noch behalten; er sagte: „Ihr
Schiff ist, wie Sie mir selbst sagten, gut ausgerüstet und
ein gutes Seeschiff. Der liebe Gott sei mit Ihnen.“
Am 25. Juni des Jahres 1854 liefen wir aus der Elbe
aus. Die Reise ging gut vonstatten. Doch beim Kap
der guten Hoffnung mußten wir an einem hellen Vor-
mittag bei gutem Wetter einen Mann über Bord verlieren.
Später, zwischen den Inseln St. Paul und Amsterdam,
brach ein Junge, den eine Sturzsee gegen einen Gegen-
stand schlug, ein Bein. Ohne einen Arzt, doch nach An-
leitung eines guten Buches, wurde das Bein von mir und
dem Steuermann geschient und verbunden, während
draußen ein starker Sturm wütete. Der Bengel lief nach
S Wochen wieder gesund umher. Nach einer Reise von
ııı Tagen passierten wir die Allasstraße zwischen den
Inseln östlich von Java. Nach Kapitän Horsburghs
195}
Meereskunde, Vorträge. V. Heft zo.
14 Meereskunde.
Segelanweisung*) ist Anfang Oktober die Route durch die
Makassarstraße zu wählen. Zuerst hatten wir auch guten
Wind, später aber viel Flaute, wodurch die Reise sehr
verlängert wurde. Wir trafen ein großes spanisches
Schiff, das von Liverpool nach Manila wollte. Bei Kap
Donda an der Nordspitze von Celebes waren wir 20 Tage
zusammen. Eines Nachts kamen wir außer Sicht. In der
Sulusee trafen wir uns wieder und blieben dann zu-
sammen, bis wir den Pacific erreichten. Nach einer Reise
von 183 Tagen liefen wir in Hongkong, unserem Be-
stimmungshafen, ein. Es war am ersten Weihnachts-
tage 1854.
Am anderen Tage segelten wir laut Order des Be-
frachters nach Whampoa, um dort zu löschen. Dann
segelten wir nach Hongkong zurück und löschten den für
dort bestimmten "Teil der Ladung. Das Schiff wurde hier
wieder gefüllt, um nach Schanghai zu gehen. Das war
die erste Probereise gegen den strengen NO-Monsun,
denn guten Wind nach Norden gibt es in dieser Jahres-
zeit nicht. Trotzdem erreichten wir Schanghai nach einer
schnellen Reise ‘von .217 Tagen; "Wir, waren mnedeg
Altonaer Brigg ‚Conrad Heinrich“ gleichzeitig in See
gegangen und überholten diese bedeutend. In Schanghai
trat ein Befrachtungskontrakt in Kraft, wonach ich
36 Monat für die Firma Wm. Pustau & Co. ın Monats-
fracht fahren sollte. Wir segelten zunächst ın Ballast
nach Ningpo und von dort mit Ladung nach Hongkong.
Wir fuhren dann das ganze Jahr 1855 zwischen Hong-
kong, Schanghai und Zwischenhäfen, ohne besonders
Nennenswertes zu erleben, abgesehen von einigen Tagen,
an denen wir in Furcht vor Piraten waren.
Im Jahre 1856 behielten wir diese Fahrten bei. Doch
nun kam ein heiber Tag:
*) „India Directory“ by James Horsburgh, Vol. Il. 31 edition.
London 1827, p. 417.
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 15
Am Sonnabend vor Pfingsten waren wir von Tsching-
hai leicht beladen in See gegangen. Am Morgen des
Pfingstsonntages begegneten wir dem Hamburger Scho-
Berk Kaust,.. Der! Kapıtan, mein Freund Suhlbergr
signalisierte mir: „Vorsicht, Piraten!“ Zwischen den
Inseln, die vor uns lagen, war ich noch nie hindurchge-
kommen. Der Wind flaute ab. Da sahen wir, daß kleine
Fahrzeuge vom Lande abkamen. Wir feuerten zuerst
einen losen Schuß ab, und als die Fahrzeuge trotzdem
näher kamen, schossen wir scharf.*) Darauf lagen die-
selben still. Inzwischen trieben wir dem Strande immer
näher. Hier konnten wir mit dem Fernrohr viele Men-
schen stehen sehen. Ungefähr vier Seemeilen entfernt
war freie See und frische Brise, Ein Engländer segelte
dere. Ich heidte Sienal®,,Schitt ın Not“. "Das’englische
Schiff drehte bei und setzte eiligst ein mit sieben Mann
besetztes Boot aus, während wir eine Bugsierleine klar
machten. Als das Boot anzog, kamen wir vom Lande
frei, und bald waren wir mitten in der frischen Brise.
Den Namen des englischen Schiffes habe ich vergessen.
Der Kapitän hieß Brown. Wir trafen uns in Hong-
kong wieder, und die Mannschaft wurde für diese Hilfe
von der Firma Wm. Pustau & Co. gut belohnt. So habe
ich nicht ohne Grund eine solche große Vorliebe für die
englische Nation und werde mein Leben lang ein Freund
der Engländer bleiben!
Wir fuhren dann bis zum Juni des Jahres 1857 immer
zwischen Macao, Whampoa, Hongkong und Schanghai
sowie Zwischenhäfen. Mitte Juni segelten wir von
®) Nachtrag: In meinem Befrachtungskontrakt war angegeben,
welches Geschütz ich an Bord haben mußte. Auch mußte ich meine
Leute im Schießen ausbilden und üben lassen. Mein zweiter Steuer-
mann Christiansen, der in der dänischen Marine gedient hatte, war
ein tüchtiger Kanonier. Das hat er am Pfingstsonntag 1856 bewiesen.
2%
16 Meereskunde.
Schanghai mit einer Teeladung nach Sydnev auf Austra-
lien ab. Auf dieser Reise passierten wir die Marshall-
Inseln,*) die jetzt zu Deutschland gehören. Die Inseln
sind so flach, daß es fast den Anschein hat, als wenn die
Bäume aus dem Wasser wüchsen. — Auf dieser Reise
hatten wir großes Glück. Wir sichteten zuerst die Austra-
lische Küste bei Sandy Kap. Durch ungünstige Winde
kamen wir dann wieder ziemlich weit von der Küste ah.
Da kam eines Morgens mit Tagesanbruch ein starker
Ostwind auf. Diese Ostwinde können dort zur Winters-
zeit sehr heftig werden. Wir liefen also recht vor dem
Winde dem Lande zu. Die Sonne hatte ich in den letzten
Tagen nicht gesehen, da wir immer dicke Luft hatten.
Unser Besteck war deshalb’ nicht ganz’ sıchen 22
Morgen, es war 81, Uhr, erhielt ich eine Sonnenhöhe
und um 91% Uhr eine zweite. - Ich berechnete mir den
Kurs für Sydney Heads zu NWzW14)W. Den Abstand
habe ich vergessen. Wir steuerten dann diesen Kurs.
Inzwischen artete der Wind aus zum Sturm. Ein großes
Bremer Schiff kam in meine Nähe und sıgnalisierte:
„Sind Sie hier bekannt?“ Ich hatte Australien nie ge-
sehen und konnte nichts antworten. Dazu hatte ich auch
keine Zeit. Beidrehen wäre bei der leichten Ladung
gefährlich gewesen. Auch hatte ich meine alten defekten
Segel gesetzt. Gegen I Uhr mittags sahen wir plötzlich
die hohe Küste vor uns und liefen dann mit unserem
Kurs gerade in die enge Einsegelung hinein, die höch-
stens I Seemeile weit ist, ohne einen Lotsen zu be-
kommen. Wir warfen dann vor Sydney Anker. Es
wehte jetzt so stark, daß meine Leute kaum die gerefften
Segel bergen konnten. Am anderen Morgen war das
Wetter wieder gut. Als ich mich zum Ladungsempfänger
an Land begab, hörte ich die Nachricht, daß ein großes
*) Route nach Horsburgh II, 390 u. 593.
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 17
englisches Schiff in der Nacht vor der Einsegelung ge-
scheitert sei. Es war dies die „F. Dunbar‘,*) Kapitän
Green, aus London, mit 60 Passagieren an Bord. Nur
ein Matrose wurde gerettet. Wir löschten dann die
ladung in bestem Zustande und holten das Schiff auf ein
Patent Slip, um das Kupfer nachzusehen, welches schon
über drei Jahre alt war. Die Arbeit dauerte nur einen
Tag. Wir nahmen nun Ladung ein für Singapur und
eingen in Begleitung des amerikanischen Schiffes ‚The
Janky Rainer“,*) Kapıtäan Stamman, ein Bremer, in
See. An Bord des Amerikaners befand sich auch die
Frau des Kapitäns. Wir wählten den Weg durch die
Torresstraße, welche damals ein sehr gefährliches
Fahrwasser war. In der ersten Nacht kamen wir ein-
ander außer Sicht. Erst im SO-Passat trafen wir uns
wieder. Am 18. Tage sichteten wir die Raine Island-Bake,
einen hölzernen Turm, welchen die Engländer auf einem
der Barrier Reefs erbaut haben, und gingen am Nach-
mittag hinter der Mittelbank vor Anker. — Die guten
Ankerplätze sind auf der Karte angegeben. — Sonst aber
war das Fahrwasser damals noch schlecht ausgelotet.
Wenn die Sonne des Nachmittags im Westen steht und
blendet, ist man oft gezwungen, vor Anker zu gehen,
denn die Untiefen müssen durch scharfen Ausguck von
‘oben gesichtet werden. Weiterhin zwischen Australien
und Neu Guinea ist das Fahrwasser rein, aber hier muß
man sich vor den Eingeborenen hüten, den sogenannten
Menschenfressern. Glücklicherweise weht hier gewöhn-
lich frische Brise, die wir denn auch antrafen. Hinter
der Torresstraße trifft man Booby Island. Dort befindet
sich eine natürliche Höhle von etwa 30 Quadratfuß Inhalt.
Hierin hält die englische Regierung immer Proviant und
*) Schiffsname in der Handschrift nicht sicher zu lesen.
18 Meereskunde.
Wasser für Schiffbrüchige vorrätig. Man findet dort
fast alles, sogar Zündhölzer sind vorhanden. Auch liegt
dort ein Notizbuch, in welches die Schiffe Namen und
Route einzeichnen. Das Buch wird im Frühjahr von der
Regierung abgeholt und ein neues ausgelegt. Die Ein-
geborenen kennen diese Insel nicht. Fast jedes Schiff
ankert unter Booby Island und gibt, wenn irgend möglich,
noch etwas von seinem Proviant ab. Als Lohn dafür hat
man Gelegenheit, Schildkröten zu fangen. So erbeuteten
auch wir ein sehr großes Tier. — Hinter Booby Island
trennten wir uns. Die ‚„Janky Rainer‘ war nach Sura-
baja bestimmt. Sie kam ın der Allasstraße auf Grund und
mußte noch einen Schleppdampfer von Java zu Hilfe
haben. Ich kam ohne Unfall nach Singapur. Dort nahm
ich, nachdem das Schiff entlöscht war, Ladung für
Schanghai und Makassar ein. In Makassar löschten wir
den für diesen Platz bestimmten Teil der Ladung und
füllten das Schiff für Schanghai wieder auf. In dieser
Jahreszeit muß nach der Vorschrift der Kurs durch die
Banda See, Molukken und Djilolostraße*) gewählt
werden, um in den Pacific zu kommen. In der Djilolo-
Passage trafen wir mit der Hamburger Bark ‚„Martaban“,
Kapitän Müller, zusammen, die uns Neuigkeiten aus
der Heimat mitteilte. Wir waren während der häufigen
Windstillen oft beieinander an Bord. Ohne weiter Be-
merkenswertes zu erleben, kamen wir dann glücklich in
Schanghai an. Der Charter hatte nun reichlich 37 Mo-
nate gedauert, und ich wollte jetzt nicht mehr in dieser
Befrachtung fahren, sondern nun schnell noch mit dem
günstigen Monsun aus dem chinesischen und indischen
Ozean herauskommen. Wir luden eiligst für Hongkong
und gingen von dort nach Macao, um für Europa zu
laden. Mit Tee, Kaneel und dergl. segelten wir ab nach
*) Horsburgh II, p. 456, während Dezember, Januar und Februar.
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 19
Cowes für Order. Die Reise nahm einen guten Verlauf.
\Vir passierten Kap der guten Hoffnung bei schönstem
\Vetter, liefen St. Helena nur für drei Stunden an, um
Wasser einzunehmen, und erreichten Cowes nach einer
121 tägigen Reise. Eine englische Bark, die „Queen of
Eve‘,*) trafen wir in der Bankastraße. Wir verloren uns
in der ersten Nacht wieder aus den Augen. Dann waren
wir zusammen bei St. Helena, verloren uns sofort wieder
und trafen endlich zugleich in Cowes ein. Das englische
Schiff steuerte schlecht. Es war ausgehend von China
auf Grund gewesen. Sonst war es ein schönes Schiff.
Wir erhielten beide Order, in Rotterdam zu löschen. Von
dort ging ich in Ballast nach Altona. Traf auf der Reise
noch meinen Freund Kapitän Encken, der mit mir
zusammen an der chinesischen Küste gefahren hatte,
wieder ausgehend nach China. Wir waren von der Elbe
aus die ersten ostasiatischen Küstenfahrer. — In Altona
wurde ich von meinen Herren fröhlich empfangen nach
der 49 Monate langen Reise. Von der Mannschaft kehrten
zurück die beiden Steuerleute und mein inzwischen zum
Matrosen avancierter Kajütsjunge. Er kehrte mit einem
stattlichen Vollbart geschmückt zurück. Sein Vater kam
zu uns an Bord und fragte mich: „Mein Sohn hat doch
noch von Rotterdam geschrieben und ist ja gar nicht
unter den Leuten?“ Das hörte der junge Mann — er
stand ganz in unserer Nähe — und sagte: „Vadder, Du
kennst Din eegen Jung nich wedder!‘“ — Am andern
Tage wurde die Mannschaft abgemustert. Damit war die
Reise vollendet. Es war am 30. Juli 1858. Ich war da-
mals nahe an 40 Jahre alt. — Solche Reisen sind schön,
aber erst, wenn sie vollendet sind.
Die „Lootse‘“ bedurfte nach dieser langen Reise einer
Reparatur und wurde in Altona auf die Helling ge-
*) Schiffsname in der Handschrift nicht sicher zu lesen.
20 Meereskunde.
nommen. Inzwischen reiste ich zum Besuch meiner alten
Mutter und meiner Verwandten nach Fehmarn. Ich hatte
oft vorgehabt, mir hier eine Frau zu suchen. Aber nun
kamen mir wieder Bedenken: Lieber ledig bleiben, als
auf einer so langen Reise von der Gattin getrennt zu
sein. So reiste ich wieder ab. Doch meine Gedanken
weilten noch oft auf Fehmarn, besonders bei einer
jungen Dame. Was ich nicht hatte sagen können, brachte
ich zu Papier und sprach von dort aus die junge Dame
an. Aber auf eine Antwort mußte ich lange warten. In-
zwischen teilten mir meine Reeder den Wunsch mit, daß
ich mit dem Schiff wieder nach China solle. Ich zögerte
aber, da ich ja auf Anwort von Fehmarn wartete. End-
lich willigte ich in eine Befrachtung nach Sydney ein.
Bald darauf erhielt ich das Jawort von meiner. Braut.
Doch die Fracht war angenommen und die Reise mußte
angetreten werden. Meine Braut besuchte mich noch
einige Tage in Altona, und dann ging ich am ı5. No-
vember aus der Elbe. Das Schiff war in bestem Zustande.
Meine Reeder erlaubten mir, auf die lange Reise einen
Mann Besatzung mehr an Bord zu nehmen, so daß wir
mit mir 10 Mann waren. Außerdem hatten wir zwei
Passagiere. Wir hatten in der Nordsee und im Kanal
gutes Wetter. An der portugiesischen Küste verloren
wir am 29. November in einem schweren Sturm einen
Mann über Bord. Dieser war mein 17 jähriger
Neffe Joachim Mackeprang, einziger Sohn meiner
Schwester Anna und ihres Ehemannes, des Schiffers
Jakob Mackeprang. An eine Rettung war bei dem
hohen Seegang nicht zu denken. Wir erreichten dann
Sydney nach einer Reise von ııı Tagen. Dort nahmen
wir Steinkohlen als Ballast ein und gingen damit fracht-
suchend zunächst nach Makassar in See. Die Jahreszeit
war für die Torresstraße reichlich früh, denn dort ist nur
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 2 |
vom 15. April bis zum 15. Oktober günstige Segelgelegen-
heit. Wir erreichten die Barrier Reefs am ı0. April 1859,
und waren, wie ich auf Booby Island im Notizbuch sah,
das erst vor vierzehn Tagen dorthin gebracht worden
war, die ersten in diesem Jahr. Ich wagte es mit meinem
kleinen Schiff ohne Begleitung diese Reise zu machen,
weil ich erstens das Fahrwasser kannte, und weil ich
zweitens die größte Vorsicht anwandte. Nach einer Reise
won, 21 Tagen lief ich Makassar auf Celebes' fracht-
suchend an, verkaufte die Steinkohlen sehr gut und er-
hielt eine hohe Fracht für Macao. Nach nur zehntägigem
Aufenthalt gingen wir nach Macao in See und hatten mit
günstigem Monsun eine schnelle Reise. Von Macao
gingen wir mit einer Ladung Kaneel nach dem nahe-
liegenden Hafen von Hongkong, wo die Ladung in ein
großes amerikanisches Schiff übergeladen wurde. Ich
benutzte den Aufenthalt in Hongkong, um das beschä-
digte Bugspriet meines Schiffes durch ein neues zu er-
setzen. Dann nahm ich Fracht ein nach Amoy via
Swatou. Wir verließen Hongkong am 29. Juni und
hatten am nächsten Tage von 8 Uhr morgens bis ı2 Uhr
mittags einen heftigen Taifun zu bestehen. Nachmittags,
als es sichtig geworden war, sah ich drei Schiffe, die mit
mir zugleich in See gegangen waren, mit gekappten
Masten treiben. Ich verlor natürlich einige Segel, sonst
nichts. Am folgenden Tage traf ich in Swatou ein und
ging von dort, nachdem die Ladung für Swatou gelöscht
war, nach .Amoy weiter. Hier traf ich meinen Bruder
Ernst, damals Kapitän der Hamburger Brigg „Adolph“,
den ich in neun Jahren nicht gesehen hatte, meinen
Jugendfreund Hans Rauert aus Gammendorf, Kapitän
Andreas Marten und noch andere Bekannte. Die
Schiffahrt war flau, was ich sonst gar nicht kannte.
Doch ich erhielt Fracht nach Tansui auf Formosa
Meereskunde.
19)
DW
und ging zugleich mit meinem Freund Rauert, der
nach Takou auf Formosa bestimmt war, in See. Am
30. Juli hatten wir einen schweren Taifun zu bestehen.
Bei mir an Bord ging alles gut, denn die Anker hielten.
Aber nach Amoy zurückgekehrt, erfuhr ich leider, daß
Rauert an den Strand getrieben und von den Ein-
geborenen ermordet worden war. Darauf nahm ich
Fracht nach Takou (Formosa) und ließ mir durch einen
englischen Kapitän namens Ronv, der dort Opium-
handel trieb, meines Freundes Grab zeigen. Men
Zimmermann verfertigte ein (Gedenkzeichen und ein
Steuermann der Brigg ‚Stade‘ machte die Inschrift
darauf. Dieses Denkmal wurde an einem Sonntagmorgen
feierlich auf das Grab gesetzt. Weiß gestrichen, dient es
zugleich den Schiffen als Einsegelungsmarke, doch ist,
wie ich höre, von der betreffenden Reederei später ein
schöneres (srabmal gesetzt worden.
Von dort segelte ich beladen nach Hongkong. Hier
schloß ich mit einer englischen Firma einen Monatscharter
ab. Die Reise ging zuerst nach Futschoufu. Dort lud ich
für Ningpo.' Es war zur Herbstzeit, Ende September.
Einen Tag 'auf"See, : setzte starker Sturm aus NOren
Ich ging zusammen mit der Apenrader „Mathilde“ unter
den Inseln White Dogs zu Anker. Dort lagen wir einen
Tag lang. Die Luft sah drohend aus, und das Barometer
stand sehr niedrig. Ein Häfen war nicht zu erreichen.
Des Nachts gingen wir beide unter Segel, um nicht auf
den Strand zu treiben, wenn der Wind plötzlich um-
springen sollte. Am anderen Tage sah ich die „Mathilde“
gegen den NO-Sturm kämpfen. Das Barometer fiel
immer mehr. Nach Mitternacht artete der Wind zum
Taifun*) aus, gegen ı2 Uhr mittags trat für einige Mi-
*) Einer der gefürchteten Herbstäquinoktialtaifune.
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 23
nuten totale Windstille ein. Es wurde ein wenig sichtiger
und da sah ich, daß wir nur etwa eine Seemeile von der
Nordspitze von Formosa entfernt waren. Dann kam der
Wind mit derselben Heftigkeit aus SW. Wir setzten
ein kleines Segel, das uns noch geblieben war, bei, um
das Schiff vor den Wind nach NO zu bringen. Hätte der
Taifun eine Stunde länger aus NO angehalten, so wäre es
schlecht um uns bestellt gewesen. Nachmittags um 4 Uhr
wurde das Wetter gut, und wir konnten mehr Segel
setzen. Nachts passierten wir bei hellem Mondschein
ein siamesisches Schiff, Kapitän Adams, ein Deutscher.
Meine diesem angebotene Hilfe wurde abgelehnt, da sich
das Schiff dicht bei einem Hafen befand. Am folgenden
Tage trafen wir die dänische Brigg „Danevirke“, dessen
Kapitän Mortensen mir befreundet war, mit ge-
kapptem Großmast, doch sonst wohl behalten. Ich hatte
ihn einige Stunden im Schlepptau. Dann brach die
Trosse, und er verlangte meine Hilfe nicht mehr. Wir
kamen glücklich in Ningpo an. Doch die „Mathilde“ ist
auf dieser Reise verschollen, und man hat nie mehr etwas
vor ıhr erfahren.
In Ningpo nahmen wir Ladung für Hongkong ein,
wo wir nach einer schönen Reise ankamen. Damit war
der Charter abgelaufen. Ich schloß dann eine Befrachtung
ab von Hongkong via Futschoufu nach Adelaide. Wir
hatten zuerst eine harte Reise gegen den strengen NO-
Monsun im November, kamen aber trotzdem ziemlich
früh in Futschoufu an, wo ich noch einmal meinen Bruder
Ernst traf. Nachdem dort die Ladung komplettiert war,
segelten wir ab, in der Meinung, nun China endgültig ver-
lassen zu haben, denn ich hoffte in Adelaide eine Fracht
Mehl für Kap der guten Hoffnung oder Brasilien finden
zu können. Nach einer schönen Reise kamen wir im
März, das ist dort die Herbstzeit, des Jahres 1860 in
24 Meereskunde.
Adelaide an. Aber Ladung nach Europas Nähe war nicht
zu bekommen. Es blieb mir daher nichts anderes übrig,
als hier zu bleiben und die Braut noch ein Jahr oder länger
warten zu lassen. Inzwischen wurden reiche Goldminen
in der Nähe der SO-Spitze von Australien entdeckt.
Eiligst wurde das Schiff für Auswanderer eingerichtet,
und wir segelten mit diesen nach Twofold Bay, Cape
Howe, ab. Nach einer Reise von elf Tagen kamen wir auf
eınen Sonnabendabend dort zu Anker. Eine große Ein-
nahme war erzielt. Am Sonntagmorgen gingen wir nach
Newcastle (Australien) in See, um dort auf Reeders
Rechnung eine Ladung Steinkohlen für Indien einzu-
nehmen. Leider waren mir in der letzten Nacht im Hafen
von Adelaide zwei Mann entwichen. So war ich denn
von dort mit sieben Mann, mich eingeschlossen, in See
gegangen, doch unter den Passagieren waren verschiedene
Seeleute und wir hatten deshalb bis Twofold Bay Mann-
schaft genug. Aber von dort bis Newcastle waren wir
wieder nur sieben Mann an Bord; dabei war mein zweiter
Steuermann noch krank. In Newcastle wurde die Passa-
giereinrichtung herausgenommen und nebst Zubehör
versteigert. In Newcastle lagen viele Schiffe, die mit
Kohlen nach Indien durch die Torresstraße wollten, doch
keiner der Kapitäne hatte dieses Fahrwasser passiert,
und alle warteten auf den „lLootsen‘“, der ihnen den Weg
zeigen sollte.
Auf einem Sonnabend Vormittag nahm ich den Rest
der Ladung ein. Ich klarierte aus, mein Steuermann hatte
die Großluke gedichtet und das Großboot aufgesetzt.
Doch vorn auf Deck lagen noch eine Menge Kohlen und
das Schiff lag vorn viel zu tief. Anstatt der 220 eng-
lischen Tonnen, die ich gekauft und bezahlt hatte, waren
mir wohl 20 bis 30 Tonnen zuviel gegeben worden. Sowie
wir die Barre passiert hatten, war das erste, die Kohlen
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 25
über Bord zu werfen, bis das Schiff vorn hoch kam. Eın
starker Sturm aus NO setzte ein. Doch konnten wir
uns von der Küste freisegeln. Gegen Abend lagen wir
schon unter Sturmsegeln. Die Flotte bestand noch aus
sechs Schiffen. Die ‚„Lootse‘, war sehr schwer beladen
und begann Wasser zu ziehen. In der Nacht wehte ein
orkanartiger Sturm. Am Sonntag morgen wurde das
Wetter heller, doch konnte ich keines der anderen Schiife
sehen. In der folgenden Nacht steuerten wir mit günsti-
gem Winde NNW-Kurs. Am Montag morgen sichteten
wir dann zwei Schiffe, die auf demselben Kurs lagen, und
erkannten bald, daß es zwei von unseren Kameraden
waren, nämlich die Rotterdamer ‚„Käte‘ und ‚„Smaale-
wood“ von Batavia. Ich hörte später, dab die drei anderen
Schiffe, ein Engländer, ein Holländer und ein Franzose,
den sicheren, aber wohl 30 Tage längeren Weg um die
Südküste von Australien genommen hatten. Dieses Mal
wählte ich auf Empfehlung eines englischen Kapitäns die
Route Bligh Entrance. Wir kamen gut durch die Torres-
straße. Nur kostete mich der zweite, übrigens nicht von
mir ausgesuchte Ankerplatz einen Anker. Hinter der
Torresstraße steuerte dann jeder seinen eigenen Kurs. Ich
lief Surabaya an, um die Ladung dort zu verkaufen, er-
hielt aber nur niedrige Angebote. Darauf schrieb ich an
die Herren Puttfarken & Rheiner in Singapur, daß ich mit
den Kohlen nach dort käme, und bei meiner Ankunft
war die Ladung schon zu einem sehr guten Preise ver-
kauft. — Ich hatte meinen kranken Steuermann in Sura-
baya in das Hospital bringen müssen, wo derselbe später
gestorben ist. Und so waren wir denn mit 6 Mann an
Bord in Singapur angekommen. In Singapur konnte ich
endlich meine Mannschaft komplettieren. Wir liefen dann
rasch nach Whampoa. Nachdem die Ladung gelöscht
war, ging ich ins Trockendock; denn ich befürchtete, daß
26 Meereskunde.
die Verkupferung gelitten hatte, weil ich in der Torres-
straße Grund berührt hatte. Diese Vermutung stellte sich
als richtig heraus. Nachdem das Schiff aus dem Dock
kam, schloß ıch Fracht ab für London vıa Port Elisabeth,
Kapkolonie; also endlich einmal nach Europa! In Hong-
kong wurde die Ladung aufgefüllt. Hier ließ ich mich
noch darauf ein, unter Garantie für etwaigen Schaden,
einen kranken Passagier an Bord zu nehmen, einen Herrn
Ballier aus Vegesack. Die Postdampfer beförderten
nämlich damals keine Kranken.
Im November 1860 segelten wir von Hongkong ab
und liefen mit günstigem Monsun schnell Chinasee her-
unter. In der Sundastraße trafen wir viel Windstille und
Regen. Nach einigen Tagen lagen mehrere meiner Leute
krank am Malariafieber darnieder. Von der uns beglei-
tenden Hamburger Bark „Hermann“, Kapitän Kreuz-
feldt, erhielt ich glücklicherweise noch etwas Medizin.
Es war eine traurige Reise. Eigentlich waren nur drei
gesunde Leute an Bord. Trotzdem erreichten wir glück-
lich unseren Bestimmungsort. An einem Sonntagnach-
mittag, nahe Port Elisabeth, mußten wir das Schiff bei-
legen, um nicht während der Nacht mit dem stark süd-
laufenden Strom am Hafen vorbeizutreiben. Um dieses
Segelmanöver ausführen zu können, mußten inzwischen
zwei Kranke das Ruder anfassen. Während der Nacht
loteten wir die Küste an und liefen dann am folgenden
Morgen in die Bai von Port Elisabeth ein. Dann legten
wir das Schiff wieder bei, um die Ketten an Deck zu
holen, einzuschäkeln und die Anker abzusetzen. Als alles
klar war, steuerten wir bei starkem, auf die Küste wehen-
den SO-Wind auf die dort ankernden Schiffe zu. Am
Abend kamen wir zu Anker. Am Dienstag morgen war
der Wind nach West gesprungen und blies nun seewärts.
Zoll- und Quarantäneboote kamen längsseit. Die Leute
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 27
waren alle an Deck, konnten aber teilweise nicht gehen.
“Trotzdem gelang es mir, nicht in Quarantäne zu kommen.
Darauf ließ ich die Schwerkranken ins Hospital bringen
und nahm Hilfe vom Lande an, um das Schiff an den
l.öschplatz zu verholen. Die für dort bestimmte Ladung
wurde gelöscht und dafür Wolle eingenommen. Mein
Passagier logierte während dieser Zeit im Hotel. Nach
vier Wochen waren wir segelfertig. Meine Leute kamen
wieder an Bord. Meist waren sechs Mann gleichzeitig
im Hospital gewesen und doch betrug die ganze Rechnung
einschließlich Arzt und Apotheker nur 5 Pfund Sterling
— 2500 Mark: - Und...dabei--sind wir. Deutsche. immer
Gegner Englands! — Ich habe an diesem englischen
Platz viele Freunde zurückgelassen.
Auf See verschlechterte sich der Zustarid meines
Passagiers. Als wir St. Helena passierten, glaubte dieser,
es würde wohl besser werden. Zwei Tage später mußte
ich Ascension anlaufen, wo ein englisches Kriegsschiff
lası Der Arzt kam gleich zu mir ‚an Bord.’ Da auf der
Insel kein Arzt wohnt, riet dieser mir, den Kranken an
Bord zu behalten. Ein Hospital gab es dort nicht und
bei den Einwohnern war kein Unterkommen zu finden.
Nach einem Aufenthalt von sechs Stunden segelten wir
weiter. Die Reise war prachtvoll. Das: Wetter blieb
immer gut. Doch Herr Ballier wurde von Tag zu Tag
schwächer und auch mein Steuermann hatte wieder
Fieber. — Von den Downs telegraphierte ich an Herrn
Balliers Vater. Am anderen Tage kamen wır in London
an, wo Herr Ballier Aufnahme im Deutschen Hospital
fand. Von hier holte ihn sein Vater nach Haus, wo der-
selbe leider nach einem Monat verstorben ist. Nachdenı
das Schiff entlöscht war, wurden die fremden Leute ab-
gemustert und die noch von Hamburg her an Bord be-
findlichen nach dort geschickt. Ein anderer Kapitän mit
28 Meereskunde.
einer neuen Mannschaft kam von Hamburg. Ich wollte
das Schiff nicht mehr fahren. Meinem Steuermann, einem
Flensburger namens Hemmersen, hätte ich es gern
gegönnt, doch dieser mußte fieberkrank mit mir nach
Hause reisen. Später aber konnte ich ihn für seine guten
Dienste belohnen, denn er wurde, als wir nach einigen
Jahren in China waren, durch meine Empfehlung Kapitän
eines großen amerikanischen Schiffes.
Von Altona reiste ich nach Fehmarn, wo am 20. Juni
ı861 meine Hochzeit stattfand. Ich nahm dann mit
meiner jungen Frau meinen Wohnsitz in Altona. Von
verschiedenen Reedereien wurden mir Schiffe angeboten,
doch wollte ich meine alte Reederei nicht gern verlassen,
zumal diese mir eın anderes, wenn möglich sogar neues
Schiff versprochen hatte. Überdies hatte ich Zeit, denn
mir war nach der langen Reise eine kleine Erholung nötig.
(Gerade an meinem Geburtstage kauften dann die Reede-
reien ]..E. D! Dreyer &;Sohn-und!G Hr & 7er arane
durch den jungen Herrn Dreyer ein Schiff im Bau.
Das Schiff lief am ı5. September vom Stapel und erhielt
den Namen „Neuhof“. Es kostete mit Ausrüstung
96 000 Mark Banco*) und war für damalige Verhältnisse
ein ziemlich großes Schiff, denn es lud 500 bis 600 Tons.
Das Schiff wurde von der Reiherstiegwerft, wo es gebaut
war, nach Hamburg verholt und für Indien und China
beladen. In den ersten Novembertagen tauete uns eın
Schlepper nach Glückstadt, von wo wir bis Cuxhaven
segelten. Dort gingen wir vor Anker, um am andern
Morgen in See zu gehen. Der Wind wehte aus SSW.
Es war eine dunkle regnerische Nacht. Um 2 Uhr war
ich zufällig noch an Deck und konnte jetzt das Feuer von
Cuxhaven hell sehen. Das Schiff lag vor der Flut, die
*) 153 600 Deutsche Reichsmark.
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19, Jahrh. 29
eben begonnen hatte. Als wir am andern Morgen zwischen
51% und 6 Uhr den Anker lichten wollten, war der Anker
fort. Die Kette war gebrochen und das Schiff saß auf
Grund. Als es Tag wurde, begab ich mich an Land und
requirierte einen Schleppdampfer, um das Schiff bei der
nächsten Flut abzuziehen. Am Nachmittag oder Abend
lag die „Neuhof“ wieder im flotten Wasser zu Anker.
Der verlorene Anker war inzwischen aufgefischt worden.
Der Wind war morgens hoch W gesprungen und die Flut
war hoch gewesen. Deshalb lagen auch die anderen
Schiffe noch vor Cuxhaven. Die „Neuhof“ war bei der
Havarie dicht geblieben, und so konnte ich denn, mit
Einwilligung der Assekuradeure, in See gehen.
Es war am Morgen des 12. oder 13. November, als ich
in Begleitung vieler Schiffe mit SSW-Wind aus der Elbe
segelte. Die „Neuhof“ erwies sich als guter Segler und
überholte fast die ganze Flotte. Gegen Abend frischte
der Wind auf. Nach Mitternacht wurde es stürmisch.
Um 5 Uhr morgens lagen wir schon unter dichtgerefften
Segeln... Da ich befürchtete, daß der Wind nach NW
laufen würde und wir nahe der Südküste waren, steuerten
wir NW-Kurs, um noch eiligst See zu gewinnen. Bei
Tagesanbruch hatte ich ein russisches Schiff, das mit mir
aus Cuxhaven gesegelt war, an der Luvseite und die preu-
Bische Korvette „Amazone‘“ in Lee. Beide Schiffe waren
ziemlich in meiner Nähe. Die Korvette kannte ich genau,
denn sie hatte mir in Hamburg längsseit gelegen. Ich
ließ die Nationalflagge hissen. Der Russe antwortete,
aber auf der Korvette kam keine Flagge zum Vorschein.
Mein Steuermann stieg noch in den Besanmast, um das
Schiff besser sehen zu können, und meldete mir, als er
wieder auf Deck war, das Schiff läge ganz unter Wasser.
Wir führten zu der Zeit noch die beiden dichtgerefften
Marssegel und drei Stagsegel, während die „Amazone“
30 Meereskunde.
nur das dichtgereffte Großmarssegel allein gesetzt hatte.
So liefen wir der „Amazone‘“ bald davon und verloren sie
aus Sicht. Der Wind kam nun schon aus WNW und
bisweilen sogar aus NW. Wir mußten das Schiff hart
pressen, um von den Untiefen frei zu bleiben. Zeitweilig
zog sich der Wind nach W zurück; dann kam die hohe
See fast von vorn, das Schiff vergrub sich förmlich in
den Wellen, aber es kam immer wieder hoch. Der Sturm
wurde immer heftiger. Zuletzt mußten wir das Groß-
stengstagsegel und das Vormarssegel auch bergen. Da-
bei kam ein Mann zu Schaden. Er war mit dem Kopf
gegen einen der Befestigungspoller am Heck geschlagen
und mußte verbunden werden, während ich alle Gedanken
dem Schiff zu widmen hatte, denn wir bekamen immer
flacheres Wasser. Abends zwischen 6 und 7 Uhr konnten
wir wieder das Vormarssegel setzen. Wir banden ein
neues Vorstengstagsegel an das Großstengstag und
setzten auch dieses bei. Das Schiff lag fast immer unter
Wasser. Es fing auch an Wasser zu ziehen, und eine
Pumpe mußte beständig in Gang gehalten werden, doch
sonst machte es sich gut. Neues Schiff und neues Gut,
das segelt sich fein! — Um Mitternacht wurde das Wetter
besser. Am nächsten Vormittag lief der Wind nach NO
und wir setzten unseren Kurs auf den Kanal. In China
hörte ich dann, daß die „Amazone“ in diesem Sturm
untergegangen sei. Viele Jahre später las ich noch in
einem Verzeichnis der untergegangenen preußischen
Kriegsschiffe: „Amazone‘“, in einem Orkan am 14. oder
15. November 1861. Aber ein richtiger Orkan in West-
indien oder bei Mauritius, oder ein Taifun in China, die
sehen noch ganz anders aus, da freut man sich, wenn das
Schiff nur die Masten schleppen kann.
Am fünften Tage, nachdem wir die Elbe verlassen,
ließ ich den Verletzten durch ein englisches Lotsenboot
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 31
nach Portsmouth bringen. Dort lag der Mann fast ein
halbes Jahr im Hospital, bis er glücklich genesen war.
Die Sache kostete dem Schiffe viel Geld. Ich habe den
Mann mehrere Jahre später in Saigon als Steuermann auf
einem Hamburger Schiffe getroffen. Nachdem die Weiter-
reise dann ohne Störung verlaufen war, verloren wir
auf 6° N-Br. und 25° W-L. in einem Wirbelwind beide
Marsstengen und die Besanstenge; auch der Großmast
erhielt einen Bruch. Wir brachten das Schiff unter Not-
takelage, um einen Hafen aufzusuchen. Nach einer Reise
von 53 Tagen liefen wir in Bahia als Nothafen ein. Dort
wurde das Schiff neu geriggt, aber die Leckage konnte
nicht behoben werden, weil dort kein Trockendock war.
Das Geld für die Reparatur wurde mir auf Bodmerei ge-
liehen. Nach einem Aufenthalt von 43 Tagen gingen wir
wieder in See und erreichten Singapur nach weiteren
58 Tagen. Dort löschten wir die Ladung in bestem Zu-
stande, obwohl mir die Herren Empfänger es schon zu
verstehen gegeben hatten, daß sie nichts Gutes erwarteten,
und nahmen dann das Schiff der Leckage halber ins
Trockendock. Hier wurde die Kupferhaut abgehauen,
das Schiff kalfatert und neu gekupfert. Wir luden hier
tür Hongkong, was reichliche Hilfskräfte schnell be-
sorgten, und gingen dann in See. Wir hatten im SW-
Monsun eine schnelle Reise, aber die ‚Neuhof‘ war
noch ımmer leck, wenn auch nicht so stark wie früher.
Von Hongkong gingen wir mit einer Ladung Reis nach
Schanghai, wohin wir eine schnelle Reise hatten, und
fuhren dann ununterbrochen an der chinesischen Küste.
Im folgenden Jahre 1863 kamen wir in der Nacht von
Östersonntag auf Ostermontag mit der Hamburger Bark
„Notus“ in Kollision und mußten Schanghai als Nothafen
anlaufen. Dort musterte ich meinen ersten Steuermann,
der die Havarie verschuldet hatte, ab und machte
32 Meereskunde.
meinen zweiten Steuermann H. Wendt zum ersten. Wir
setzten dann unsere Reise nach Tschifu fort. Von dort
gingen wir nach Swatou, luden hier für Tientsin, wo die
Ladung außerhalb der Taku-Barre zu löschen war, gingen
von dort nach Niutschwang und fuhren dann an der Küste
weiter, ohne Bemerkenswertes zu erleben.
Im Januar 1864 segelte ich in Ballast von Swatou
nach Hongkong, um Fracht nach Europa zu suchen, da
das Schiff schon ım dritten” Jahr auf Reise war ak
Hongkong schloß ich eine Fracht ab nach New York. Die
Ladung war in Amov einzunehmen und der Satz betrug
5&£ pro Tons a 50 engl. Kubikfuß.*) In Hongkong nahm
ich noch 40 Tonnen Ballast, um eine schnelle Reise zu er-
zielen, da mir die „Neuhof“ gegen den Monsun zu rank
war. Nach 8 Tagen lief ich in Amoy ein, während ein
etwas früher nach dort abgegangener Bremer 27 Tage
Reise hatte. Auf dieser Fahrt kam ich dicht unter die
Küste von Formosa bei Takou. Durch das Fernglas
konnte ich deutlich das Denkmal sehen, welches wir
unserm Freund Rauert im August 1859 gesetzt hatten.
Am letzten Tage im Hafen von Amoy erfuhr ich leider
noch aus der „Hamburger Börsenhalle‘“ den Tod meines
Bruders Ernst. Dieser war am 3. Dezember 1864 an der
holländischen Nordküste in einem schweren Sturm mit
‘
dem Hamburger Vollschiff ‚Wilhelmsburg‘ gestrandet,
das mit Auswanderern nach Australien bestimmt war.
Die ganze Besatzung und auch dıe Passagiere wurden ge-
rettet, Kapitän und Arzt aber nicht. Vor meiner Abreise
mit der „Neuhof“ nach China waren wir Brüder noch in
Hamburg zusammen.
*) So in der Handschrift. Gemeint ist wohl, daß 5 & für ı ton
— 1016 kg gezahlt wurden, und daß ı ton der betreffenden Ladung
den Raum von 50 engl. Kubikfuß einnahm. (1 engl. Raumtonne
hat nämlich nicht 50, sondern 40 Kubikfuß.)
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 33
Von Amoy bis St. Helena hatte ich bei vieler Wind-
stille im Indischen Ozean 72 Tage Reise und von dort
nach New York 32 Tage Reise, was immerhin noch ganz
schnell ist.
In New York schloß ich eine Fracht ab für Bristol.
Die Beladung dauerte sehr lange und die Fracht war sehr
niedrig. Auf der Reise, in der schönsten Sommerzeit des
Jahres 1864, passierte nichts Bemerkenswertes. Von Bristol
ließ ıch das Schift durch einen Schleppdampfer nach
Cardiff verholen und nahm dann dort Eisenbahnschienen
und Steinkohlen für Hamburg cin. Aber damals war der
Krieg zwischen Deutschland und Dänemark, und wir
konnten deshalb erst im September nach Abschluß des
Waffenstillstandes absegeln. In Cuxhaven lag die öster-
reichische Flotte, die wir unter einer weißen Flagge un-
gehindert passierten.
In Hamburg wurde die Besatzung abgemustert, doch
blieb der erste Steuermann Wendt an Bord und ein Ma-
trose mit Examen D. Brockmann wurde zweiter
Steuermann. Wir holten das Schiff ins Trockendock, um
es neu zu kupfern, und um die noch immer vorhandene
Leckage zu suchen. Als die Reparaturen beendet waren,
fragten meine Herren Reeder in Berlin an, ob das Schiff
unter preußischer Flagge fahren dürfte. Auf die Ge-
nehmigung des Gesuches brauchten wir nicht lange zu
warten. Mein Korrespondentreeder,*) der alte Herr
Drever, wurde daraufhin noch vom König von
Preußen mit dem Titel Kommerzienrat beehrt.
Wir legten dann das Schiff in Ladung für Melbourne,
erhielten aber wenig Ladung. Deshalb kauften die Reede-
*) Ein Korrespondentreeder ist der die Geschäfte führende
Leiter einer Partenreederei, d. i. eines Reedereibetriebes, an dem
mehrere Personen mit je einer oder mehreren Parten (Anteilen)
beteiligt sind.
34 Meereskunde.
reien noch 40 Stück Schafböcke und 100 Mutterschafe,
um das Schiff zu füllen. In der Kajüte hatte ich fünf
Passagiere, außerdem noch einige hinten im Zwischen-
deck, während vorn dıe Schafe untergebracht waren. Am
10. Dezember verließen wir Cuxhaven und liefen mit
ziemlich günstigem Winde durch die Nordsee und den
Kanal. Am Weihnachtsabend passierten wir eben vor
Dunkelheit Madeira. Mit 47 Tagen sichteten wir Tristan
da Cunha. Wir sprachen zu der Zeit ein englisches Schiff
an, das von Liverpool nach Aden bestimmt war und schon
67 Tage Reise hinter sich hatte. Später aber trafen wir
viele leichte Winde und erreichten Melbourne um die
Mitte der achtziger Tage. Passagiere und Schafe wurden
an Land gebracht, der Rest der Futterage und die übrige
Ladung gelöscht und dann Ballast eingenommen. Aber
wohin sollte ich segeln? Von allen Seiten kamen un-
günstige Nachrichten. So legte ich denn das Schiff im
Strom an Williamstown Seite vor Anker, damit mir
keine Leute desertierten, was zu befürchten war. Hier
erfuhr ich, daß ın China Schiffe schon sechs Monate still
lägen, und beschloß darauf, nach Valparaiso zu segeln.
Leider hatte die „Neuhof“ für diese Reise etwas zu
wenig Ballast, aber ich mußte fort. In der zweiten Nacht
kam eine heftige Bö; sie zeigte mir erst, wie leichtfüßig
meine „Neuhof“ war. Am nächsten Morgen nahmen wir
die Vorbramstenge und die Großroyalraa an Deck. Alles
was an Deck irgendwie Gewicht hatte, wurde im Raum
verstaut. Das für die Schafe gelegte Zwischendeck wurde
aufgebrochen und die Bretter zum Verstauen des Ballastes
benutzt. Nachdem alle Mann den ganzen Tag über ge-
arbeitet hatten, war alles zur Sicherheit des Schiffes ge-
tan, was nur möglich war. Nachdem wir zwischen 50°
und 60° S-Br. viele Stürme bestanden hatten, kamen
wir nach einer schnellen Reise in Valparaiso an. Dort
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 35
schloß ich eine Fracht ab, von den Chincha-Inseln Guano
nach Hongkong zu bringen, mit der Bedingung, daß ich das
Schiff vorher für Callao beladen dürfte. Meinen Ballast
im Schiffe belassend, wurde ich schnell expediert. Von
Callao segelte ich dann nach den Chincha-Inseln. Trotz
des leicht geballasteten Schiffes hatte ich gegen den
strengen Passat eine schnelle Reise. Ich überholte den
Amerikaner ‚St. James“ und das Hamburger Schiff
„Roman“ um mehrere Tage. Glücklich angekommen, ver-
taueten wir das Schiff hinter Middle Island, warfen den
Ballast, wie dort üblich, über Bord und begannen zu
laden. Alles ging nach Wunsch, aber bald kam es anders.
Es herrschte Revolution im Lande. Die Rebellen ge-
langten in den Besitz der Inseln. Die Guanolager ge-
hörten-nun der Regierung. Meine Befrachter in Lima
hatten eine große Forderung an die Regierung und sollten
dafür Guano erhalten. Nicht ich allein, nein, mehrere
Schiffe waren von diesen Herren befrachtet. Als ich
ungefähr 200 t übergenommen hatte, wurde mein Schiff
gestoppt. Die anderen Schiffe hatten noch nichts an
Bord, denn darum bemühten sich die Herren nicht. Der
Gouverneur sagte mir eines Tages an, man würde mir das
Ruder meines Schiffes aushaken, doch soweit kam es
nicht. Als die Liegetage ungefähr zu Ende waren, begab
ich mich nach Lima, um mit den Herren Befrachtern zu
sprechen. Diese gaben mir eine Bescheinigung, sie
würden ein Liegegeld, etwa Io Pfund Sterling für den
Tag, an meine Agenten Lempke & Co. zahlen, bis das Schiff
beladen sei. Auf Wunsch der Herren reiste ich noch
einmal nach der fünf deutsche Meilen von den Inseln ent-
fernten Stadt Pisco, um den Gouverneur zu bitten, die
Beladung meines Schiffes zu ‚gestatten. Er antwortete,
er hätte nichts gegen die preußische Flagge oder gegen
mich, aber die Herren in Lima sollten die Ladung erst
36 Meereskunde.
bezahlen. Wenn nicht bald Zahlung für die schon über-
nommenen 200 t käme, würden diese wieder gelöscht
werden. Ich ließ ihm durch meinen Dolmetscher, einem
Kopenhagener, antworten, das Schiff könne nicht leer
stehen. Na, dann wollten sie die 200 t denn im Schiffe
iassen. Zum Abschied bekamen wir noch ein schönes
Glas Wein und zogen dann wieder an Bord. Als ich
gerade 100 Tage an den Inseln gelegen hatte, bekam ich
Order zu laden. Hilfe kam von allen Seiten, und mit
103 Tagen war die „Neuhof“ beladen. Wie die Sache
arrangiert worden ist, habe ich nie erfahren. An den
Inseln lag ich 45 Tage ohne und 58 Tage mit Liegegeld,
das mir mit 50 Dollars chilenischem Geld pro Tag be-
zahlt wurde. Die Summe war leicht, aber langweilig
verdient. Wir segelten dann ab für Callao, um auszu-
klarieren und um Proviant und Wasser für die Reise zu
ergänzen. An einem Sonnabend morgen um die Mitte des
November 1865 gingen wir in der Bai von Callao vor
Anker. Am Abend war alles klar, und Sonntags morgens
um 6 Uhr segelten wir ab. Selbigen Tages wurde die
Stadt Callao von den Rebellen genommen.
Auf freier See wurden die Anker verstaut, wie auf
langer Reise üblich, und die Ketten ausgeschäkelt und
herabgelassen. Dann wurden alle Leesegel beigesetzt.
Wir hatten stets leichte Winde. Dieser Ozean hat mit
Recht von seinen spanischen Entdeckern den Namen das
„Stille Meer‘ erhalten. Die Route läuft zwischen 16°
und ı8° N-Br. Dort ist es ziemlich rein von Untiefen
und unbekannten Inseln. So fuhren wir 60 Tage, bis wir
Formosa sichteten. In dieser Zeit wurde kein Segel weg-
genommen und die Brassen wurden kaum gerührt. Drei
Tage später ankerten wir vor Hongkong. Dort erhielt
ich dann Order, in Whampoa zu löschen.
Von Whampoa segelte ich frachtsuchend nach Hong-
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 37
kong. In China war das Geschäft flau. So bekam ich
in Hongkong zwar Fracht nach Saigon hin und zurück,
aber nur eine halbe Ladung. In Saigon ließ ich mir diesen
Ausfall durch Erhöhung der Fracht um ein Drittel be-
zahlen. Die Reise nach Saigon und wieder zurück betrug
nur 6 Wochen. In Hongkong schloß ich dann für Monat
Mai eine Fracht nach Callao ab zu 1500 Pfund Sterling,
Ramsch-Charter, Ballast und Stauer frei. Vorher machte
ich noch eiligst eine Reise nach Saigon und ging dann nach
Whampoa, um dort für Callao zu laden. Der Rest der
Ladung wurde in Hongkong eingenommen. Außerdem
hatte ich drei Kajütspassagiere, einen Italiener und zwei
Peruaner. Für diese Reise gibt es keine Aussichten auf
schnelle Fahrt, denn man hat fortwährend gegen kon-
trären Wind zu kämpfen. Das Wetter war im ganzen
schön. Nach einer 103 tägigen Reise kamen wir wohl-
behalten in Callao an. Dort hatte ich kontraktlich
28 Tage Liegezeit, die auch voll benutzt wurden.
Darauf schloß ich eine Fracht von Iquique nach Eng-
land ab. Ich nahm gut Ballast ein und segelte dann ab nach
Iquique. Trotz des widrigen Passatwindes hatten wir
eme schnelles Reise. „In! Iquique: muß jedes” Schiff zdie
l.adung mit eigenen Booten vom Lande abholen und an
Bord bringen. Als wir diese Arbeit erledigt hatten, setzten
wir unsere Reise fort. Es war um die Weihnachtszeit des
Jahres 1866. Wir hatten sehr schöne Gelegenheit und
erreichten Falmouth in 81 Tagen.”) Bei den Azoren
we)
sprachen wir die Hamburger Bark „Coquette an, als
sie der „Neuhof“ in leichtem Winde vorbeilief. Das Schiff
*) Zur Beurteilung dieser und der anderen Fahrzeiten vgl. man
das „Segelhandbuch für den Stillen Ozean, herausgegeben von der
Direktion der Deutschen Seewarte“, Hamburg 1897.
**) Ein Modell dieses Schiffs befindet sich im Museum für
Meereskunde.
38 Meereskunde.
war auch nach Falmouth bestimmt, aber nachher über-
holten wir sie über eine Woche. In Falmouth erhielten
wir Order nach London. Nach zwei Tagen gingen wir
dorthin ab. Es war eine harte Reise, denn wir hatten
immer gegen Ostwind zu kämpfen. Amo. Tage erhielten
wir einen Themselotsen und am 10. liefen wir mit Hilfe
eines Schleppdampfers in London ein, wo meine Frau
schon einige Tage auf mich gewartet hatte.
In London wurde die Salpeterladung gelöscht, und
dann holten wir das Schiff ins Trockendock, um das
Kupfer nachzusehen. Die Mannschaft wurde gleich ab-
gemustert. Steuermann Wendt wollte weiter mit dem
Schiff fahren, reiste aber inzwischen zu seiner Familie
nach Altona. An Bord blieb nur ein Matrose. Während-
dessen wurde die „Neuhof“ für Hobarttown, Vandiemens-
land, beladen. Als das Schiff ungefähr fertig war, kehrte
Wendt zurück, und eine neue Mannschaft kam von
Altona bzw. wurde von mir in London angemustert. Die
„Neuhof“ hatte eine schwere Ladung bekommen, nam-
lich etwa 220 Tons Eisenbahnschienen, eine Menge Muni-
tion und zum Schiuß unter der Großluke 3 Kanonen von
je 8 Tons. An Passagieren hatten wir einen deutschen
Herrn in der ersten Kajüte und 7 englische Frauen in
der zweiten. Im Ganzen waren 23 Menschen an Bord.
Im Kanal bei konträrem Winde gegen die hohe See
arbeitend wurde das Schiff schon schwer leck. Sonst
ging die Reise gut vonstatten, aber die Leckage wurde
immer etwas stärker. Als wir auf etwa 40° S-Br. von
der brasilianischen Küste mit hoher See ostwärts liefen,
fanden wir so viel Wasser bei den Pumpen, daß wir Segel
mindern mußten. Dadurch bekamen wir dann auch die
Pumpen lenz. Als wir auf der Höhe von Simonstown
am Kap waren, besprach ich die Sache noch einmal ernst-
lich mit dem ersten Steuermann. Da aber unsere Leute
ohne Murren pumpten, so glaubten wir beide, daß wir
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 39
den Bestimmungshafen erreichen könnten. Wir be-
schlossen den Kurs nicht zu weit nach Süden zu nehmen,
um den Passat aufsuchen zu können, wenn die Leckage
zu stark würde und wir uns unsern drei Booten anver-
trauen müßten, die übrigens recht gut waren. Wir er-
reichten dann glücklich Hobarttown ohne Unfall, aber
meine Leute haben gepumpt! Als die „Neuhof“ am Pier
lag, zog sie in 12 Stunden etwa 20 Zoll Wasser. Als die
für Hobarttown bestimmte Ladung gelöscht war, nahmen
wir ungefähr die Hälfte der Eisenbahnschienen, die nach
Newcastle sollten, an Land und holten das Schiff auf ein
Patent Slip. Als die „Neuhof“ trocken stand, sahen wir,
daß das Schiff viel Kupfer verloren hatte. Das Werg
hing an verschiedenen Stellen aus den Nähten. Das Schiff
mußte gründlich repariert werden. Es wurde zum Teil
neu verbolzt, erhielt neue Holznägel, wurde neu kalfatert
und dann neu gekupfert. Der Baumeister, ein Engländer
namens Roß, sagte zu mir: „Wenn das Schiff in vier
Wochen, nachdem es mein Slip verlassen hat, noch leckt,
so ist mein Name nicht Roß!“ Und das wurde Wahr-
heit. — Dann nahmen wir die gelöschten Eisenbahn-
schienen wieder ein. Ich ordnete meine Havariepapiere.
Die Kosten, reichlich 700 £, konnte ich mit meiner
Fracht decken. Weder Agenten der Hamburger Asse-
kuradeure noch ein preußisches Konsulat war dort,
doch der Agent des englischen Lloyd, ein alter Kapitän,
stand mir sehr zur Seite und fertigte mir meine Papiere
so aus, daß wir später eine sehr hohe Vergütung von den
Hamburger Assekuradeuren bekamen. — In Newcastle
NSW., löschten wir die Ladung und nahmen dann Stein-
kohlen ein für Hongkong. Als wir tief beladen den Hafen
verlassen wollten, konnte ich Herrn RoB mitteilen,
daß die „Neuhof“ dicht sei. So hatte ich denn endlich ein
dichtes, gut gekupfertes Schiff, und zwar für wenig Geld.
Die Reise nach Hongkong verlief ohne Zwischenfall,
40 Meereskunde.
Dort schloß ich dann eine Fracht von Bangkok nach
Falmouth für Order ab. Wir nahmen Ballast ein, er-
hielten noch zwei Passagiere, einen Missionar mit seiner
Frau, und kamen dann nach einer schnellen Reise vor
Bangkok an. Außerhalb der Barre gingen wir vor Anker,
denn laut Befrachtungskontrakt sollte die Ladung, Reis,
hier längsseit geliefert werden. Ich begab mich mit den
sogenannten Mietsbooten zur Stadt, die einige Meilen
aufwärts liegt, klarierte das Schiff ein und meldete es
ladefertig. Mein Gesundheitszustand war seit längerer
Zeit schon recht schlecht. Ich blieb deshalb in Bangkok
in ärztlicher Behandlung, während mein Steuermann den
Ballast löschte. Nach einigen Tagen fühlte ich mich
besser und begab mich wieder an Bord. Da aber das
laden nur sehr langsam ging, weil viele Schiffe dort
lagen, so kehrte ich, meiner Krankheit halber, nach Bang-
kok zurück. Hier traf ich meine beiden Neffen Joachim
und Heinrich Kroß, ersterer Kapitän eines groben sia-
mesischen, letzterer Steuermann eines dortigen Schiffes.
Als mir mein Steuermann Nachricht brachte, daß
die „Neuhof“ belader sei, klarierte ich das Schiff aus un«
begab mich dann an Bord. Leider war ich noch immer
krank. Es handelte sich um ein leichtes Malariafieber. —
Wir liefen Anjer auf Java an, um Proviant und Wasser
zu ergänzen. In den indischen Gewässern trafen wir viel
Windstille und schon ungünstigen Monsun. Sonst ver-
lief die Reise glücklich und schnell. Nach 116 Tagen
erreichten wir Falmouth, wo wir Order erhielten, in Liver-
pool zu löschen.
Von Falmouth schrieb ich an meine Herren Reeder,
das Schiff bedürfe einiger leichten Reparaturen und deshalb
möchten sie eine Fracht nach Hamburg abschließen. In
Liverpool fand ich schon Order vor, die Reparaturen dort
ausführen zu lassen. Auch war meine Frau schon auf
deren Anraten nach Liverpool abgereist, denn das Schiff
Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahrh. 41
sollte gleich von Liverpool auf eine neue Reise ausgehen,
nämlich in Ballast nach Cadıx segeln, von dort mit Salz
nach Montevideo gehen, weiter nach Rangun und von
Rangun mit Reis zurück nach Europa. Mein Gesund-
heitszustand war noch immer schlecht. Ich bat deshalb
die Herren, meinem Steuermann die Führung des Schiffes
anzuvertrauen, damit ich meine Gesundheit pflegen könne,
worin sie auch einwilligten. Am 20. September 1868
übergab ich dann meinem langjährigen Steuermann
H. Wendt das Kommando. Am 23. war das Schiff
segeklfertie. Die Fuft!sahrdrohend aus, und’ich wollte
nicht, daß Wendt absegelte. Da aber mehrere Schiffe
in See gehen wollten, darunter ein Hamburger ‚Kap
klorn , Kapitan Matsen, und Wendt durchaus nıcht
zurückbleiben wollte, gab ich meine Einwilligung. Ich
konnte das Schiff nicht eher verlassen, als bis der Schlepp-
dampfer angehen wollte und schied dann mit betrübtem
Herzen von der „Neuhof“, mit dem Wunsche, daß sie
meinen Nachfolger auch glücklich über den Ozean bringen
möchte. In der Nacht wehte ein heftiger Sturm. Am
andern Morgen war ich schon mit Tagesanbruch an den
Docks, um etwas. Neues, zu hosen; Bott traf ich ‘den
l.otsen; er brachte mir noch einige Zeilen von meinem
heben Wendt, und\sagte mir zu meiner. Freude, daß
dieser seiner Ansicht nach sehr tüchtig sei, und daß er
die „Neuhof“ sehr befriedigt verlassen habe.
Ich ordnete dann meine Sachen und fuhr mit meiner
Frau via Hull per Steamer nach Hamburg, wo ich bald
einen Brief von Kapitän Wendt erhielt, daß die „Neu-
hof“ nach einer neuntägigen Reise glücklich in Cadix an-
gekommen sei.
Hiermit waren meine Seefahrten zu Ende.
Der Grund, welcher Kapitän Kroß zum Aufgeben
der Seefahrt veranlaßte, war, wie oben gesagt, sein
42 Meereskunde.
schlechter Gesundheitszustand. Er litt einerseits an den
Folgen der Malaria und anderseits an einer eigentüm-
lichen Erkrankung, welche nach Ansicht namhafter Ärzte
die Symptome der Bleivergiftung zeigte. Vermutlich war
diese durch den Genuß von Regenwasser hervorgerufen,
das, wie auf langen Reisen damals üblich, auf mit Blei-
farben gestrichenen Flächen aufgefangen war. Das Vor-
liegen einer Intoxikation wird dadurch wahrscheinlich,
daß Kapitän Kroß nach Jahren von selbst gesund ge-
worden ist und so in voller Frische ein selten hohes Alter
erreicht hat.
Mit 85 Jahren schrieb er noch an seinen Lebenser-
innerungen, die im wesentlichen schon 1879 bearbeitet
worden sind. Nun schläft er auf dem alten, hochgelegenen
Burger Kirchhof, und die Seewinde, die so oft über sein
Schiff dahingebraust sind, brausen jetzt über sein Grab.
Altonaer Bark „Lootse‘‘ mit der dänischen Flagge,
nach einem für Kapitän G.W.Kroß gemalten Bilde.
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn,
Berlin SW., Kochstraße 68 —71.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG ELFTES HEFT
Ferngespräche über See.
Von Dr. A. Ebeling.
eit langer Zeit ist es bekanntlich möglich, auf die
weitesten Entfernungen hin telegraphische Nach-
richten zu senden. Die Telegraphenlinien laufen
teils über Land, teils über See. Über Land sind die Leitungen
entweder als blanke Drähte auf Isolatoren an den Gestängen
ausgespannt, die man z. B. längs der Eisenbahnen verfolgt,
oder in Kabeln in die Erde verlegt; über See werden die
telegraphischen Nachrichten, wenigstens dann, wenn es
sich um größere Entfernungen handelt, durch Gutta-
perchakabel vermittelt. Neuerdings hat auch die draht-
lose Telegraphie umfangreiche Verwendung gefunden, bei
ihr werden die telegraphischen Zeichen ohne Drahtver-
mittlung durch die Luft übertragen. Die wichtigste An-
wendung findet die drahtlose Telegraphie da, wo die ge-
bende oder empfangende Station, oder auch beide, ihren
Ort verändern, also z. B. für die Schiffahrt. Sind es auch
bei der drahtlosen Telegraphie bereits heutzutage einige
Tausende von Kilometern, also verhältnismäßig große
Entfernungen, über die man sich telegraphisch verständi-
gen kann, wenn man die erforderliche Energie zur Ver-
fügung hat, so kann man für die drahtbenutzende Tele-
graphie die Entfernungen, auf welche telegraphische
Zeichen übertragen werden können, für unsere Erde als
unbegrenzt bezeichnen.
Meereskunde, Vorträge. V. Heft ırz. I
Meereskunde.
[80)
Anders liegt die Sache hinsichtlich der Entfernung
der Sprachübertragung bei der Telephonie. Man konnte
vor etwa Io Jahren, also am Ende des vorigen Jahrhun-
derts, zwar über Land auf Freileitungen, d. h. auf blanken
an Isolatoren ausgespannten Drähten, über etwa 1000 km
telephonieren; aber von einem Fernsprechen über See
konnte eigentlich kaum die Rede sein, weil Kabel eine
telephonische Verständigung nicht über mehr als etwa
50 km zuließen. Neuerdings ist es gelungen, auch draht-
los eine telephonische Verständigung zu erzielen; doch
sind die bisher gewonnenen Resultate mehr wissenschaft-
lich interessant als praktisch verwendbar, so dab wir ver-
zichten können, hier darauf einzugehen; es sei nur er-
wähnt, daß die Einrichtungen, die für die drahtlose Tele-
phonie erforderlich sind, zunächst noch so kompliziert
sind, daß das drahtlose Telegraphieren einfacher ist. Wir
beschränken uns deshalb im nachfolgenden auf das Fern-
sprechen mit Draht. Auch so bietet unser Thema „Fern-
gespräche über See‘ noch Stoff genug für unsere Be-
trachtungen. Es wird sich zeigen, dab das neue Jahr-
hundert die Entfernungen, über die man über See
fernsprechen kann, nicht unbedeutend erweitert hat, dab
man aber von so großen Entfernungen wie bei der Tele-
graphie auch heute noch nicht reden kann.
Welches ist nun der Grund, daß man auf sehr große
Eintfernungen über See telegraphieren kann, und daß man
noch vor kurzer Zeit nur durch verhältnismäßig sehr
kurze Kabel telephonieren konnte? Die Antwort lautet:
In der Telegraphie gibt und empfängt man einfache
Zeichen objektiv mit Apparaten, in der Telephonie gibt
und empfängt man subjektiv mit der Stimme und dem
Ohr außerordentlich komplizierte Zeichen. In der Tele-
geraphie kann man die Energiequelle, die Empfindlichkeit
der Apparate und die Art der Zeichen weitgehend ver-
Ferngespräche über See.
nn
ändern. In der Telephonie benutzt man zwar auch Appa-
rate, die die Sprache in elektrische Schwingungen um-
setzen und in akustische Schwingungen zurückformen:
man kann also auch hier die Energiequellen und die
Empfindlichkeit der Apparate ın gewissen (Grenzen ver-
ändern, aber man ıst an die Art der Zeichen gebunden und
muß mit der Geschicklichkeit des Menschen, zu sprechen
und zu hören, rechnen. Beim Telegraphieren wird im all-
gemeinen einfach die Spannung einer Batterie mit ge-
wissen Unterbrechungen an die Leitung gelegt, und zwar
ın den einfachen Fällen immer nur der eine Pol dieser
Batterie, sonst je nach den Zeichen in verschiedenen Kombi-
nationen nach-
einander der
positive und ne-
gative Pol der
Batterie. Daß
beim Tele-
phonieren sehr
komplizierte Abb. 1. Morsezeichen.
Zeichen fortzu-
pflanzen sind, kann nicht wunderbar erscheinen, wenn
man die Vielseitigkeit der menschlichen Sprache be-
trachtet. Die ersten Abbildungen zeigen den starken
Unterschied zwischen telegraphischen und telephonischen
Zeichen, Die Zeichen “sind mit dem Siemens-
schen Oscillographen aufgenommen, das ist ein Ap-
parat, welcher seiner großen Empfindlichkeit wegen au-
genblicklich den Änderungen der elektrischen Ströme
folgt und gestattet, in einem durch diese Ströme elektro-
magnetisch schnell bewegten Spiegel die Änderungen
sichtbar zu machen und zu photographieren. Abbildung ı
stellt ein Zeichen dar, wie es mit dem einfachen Tele-
graphenapparat, dem Morseapparat, gewonnen wird. Der
IF
A Meereskunde.
\nstieg der Kurve zeigt den Moment, wo die Batterie
> >
angelegt wird, dann sieht man, wie der Strom einge-
Abb. 2. Vokal a.
Abb. 3. Vokal e.
Abb. 4. Vokal i.
töne. Man sieht, daß schon
bereits recht kompliziert sind.
schaltet bleibt,
und der Abfall
der Kurve zeigt
den Zeitpunkt,
wo der Strom
wieder geöffnet,
also die Batterie
von derLinie ab-
genommen wird.
Die nächsten
Abbildungen, 2
bis 76,22 zeisen
einige einfache
Zeichen der
menschlichen
Sprache, näm-
lich die Vokale
a,e,1,0,u, diean-
genähert in der
gleichen” "Ten:
lage der Stimme
gegeben sun?
DerVokali zeigt
die komplizier-
teste Form, die
spitzesten Zei-
chen: das heißt,
er enthält die
meisten Ober-
diese einfachsten Kurven
Nun hat der Mathematiker Fourier gelehrt, daß
Ferngespräche über See. 5
auch die komplizierteste Schwingung aus einer Reihe ein-
facher, sogenannter sinusförmiger Schwingungen zusam-
mengesetzt ist, bzw. in solche zerlegt gedacht werden
kann. Eine sol-
che einfache
Schwingung
zeigt Abbild. 7.
Jedermann weiß
von dem Spiel
zusammenge-
setzter Schwin-
gungen bei den Abb. 5. Vokal o.
Wasserwellen
her, daß, wenn
auf See’ eine
Reihe verschie- |
dener Wellen
über die Ober-
flächelaufen und
mehrere kleine
Wellen : iner
x ae a > Abb. 6. Vokal u.
Stelle mit ihren
Kämmen zu-
sammentreffen,
sie eine große
Welle bilden.
Jeder kennt das
prächtige Bild
der Wasser- Abb. 7. Sinusschwingung.
wellenaufeinem
ruhigen See; wenn ein Stein in das Wasser geworfen
wird, so laufen die Wellen in einfachen Kreisen um
die Erregungsstelle, wie Abbildung 8 zeigt, werden da-
gegen zwei Steine in einiger Entfernung voneinander
6 \eereskunde.
in das Wasser geworfen (Abbildung 9), so laufen um
jede Erregungsstelle die einfachen Kreise, aber da, wo
die Kreise sich treffen, ent-
stehen zusammengesetzte For-
men. Dasselbe gilt von den
elektrischen in «die ketune
gesandten Schwingungen beim
Fernsprechen. "Die einfachen
Schwingungen entsprechen den
einfachen Tönen, wie man sie
etwa mit Stimmgabeln von
verschiedener Tonhöhe hervor-
rufen kann.
Je höher der Ton ist, den
Abb. 8. Einfaches Wellen- eine Stimmgabel gibt, um so
system. erößer ist die Anzahl der
Schwingungen ihrer Zinken
in der Zeiteinheit, entsprechend groß auch die Anzahl der
Stromwechsel, d. ı. der elektrischen Schwingungen in der
Leitung, wenn
einlonzeichen
telephonisch
weiter gege-
ben wird.
Einen kompli-
zierten Klang
können wiruns
herstellen,
wenn wir meh-
Abb. 9. Doppeltes Wellensystem. rere „ 'Stimm-
gabeln gleich-
zeitig anschlagen. Bei einer Übertragung im Fernsprecher
würden gleichzeitig die verschiedenen einfachen Schwin-
gungen mit den ihnen eigentümlichen Schwingungszahlen
erzeugt werden müssen.
Ferngespräche über See. 7
Nunchat kreimholtz festgestellt, dan alle-Ladte
der menschlichen Stimme aus einer mehr oder weniger
großen Zahl einfacher Schallschwingungen verschiedener
Tonhöhe bestehen. Im allgemeinen liegen die in ‘der
menschlichen Stimme maßgebenden Schwingungen unter-
halb 1500 in der Sekunde und die Zahl 800 kann als mitt-
lere Schwingungszahl betrachtet werden. Diese Schwin-
gungen müssen nun beim Telephonieren ın Form von
\Wechselströmen verschiedener Perioden über die Leitung
fortgepflanzt werden, und zwar müssen alle möglichst
gleichartig fortgepflanzt werden, damit die Sprache un-
verändert bleibt.
Um auf möglichst einfache Weise ein Urteil über die
Schwierigkeiten zu gewinnen, die bei der Fortpflanzung
der Telephonströme in Seekabeln entstehen, greifen wir
wieder zu dem Beispiel von den Wasserwellen. Wenn
‚wir einen Stein in den ruhigen See werfen, so sehen wir
das Wasser dicht um die Erregungsstelle in lebhafter Be-
wegung; mit zunehmender Entfernung, d. h., je größer die
Kreise werden, um so niedriger werden die Wellen und
schließlich vermag unser Auge keine \Wellenbewegung
mehr wahrzunehmen. Das zeigt die Kurve in Abbil-
dung 8. Wir nennen das Abnahme oder Dämpfung der
Wellenbewegung. Eine solche Abnahme der Höhe der
Wellen erscheint selbstverständlich: denn naturgemäß
mub eine gewisse Arbeit geleistet werden, um die Wasser-
teilchen in Bewegung zu setzen; die einzige geleistete
Arbeit ist aber die durch den Stein hervorgerufene Be-
wegung. Der Widerstand dagegen, daß die einmal her-
vorgerufene Bewegung sich unverändert fortsetzt, liegt
in der inneren Reibung der Flüssigkeitsteilchen. Diese
Reibung ist bei verschiedenen Flüssigkeiten verschieden;
bei Syrup ist diese beispielsweise so groß, daß eine
Wellenbewegung überhaupt nicht auftritt, das heißt, die
8 Meereskunde.
Abnahme der Wellen und mithin die Dämpfung sehr groß
ist. Verschieden starke konzentrierte Zuckerlösungen
würden zwischen den beiden Grenzfällen Syrup und
Wasser liegen, also die Wellen verschieden stark
dämpfen. Hieraus erkennt man, daß das Material eine
Rolle spielt, daß man also das Mittel an der Hand hat,
durch Veränderung des Materials, hier durch Verdünnung
der Zuckerlösung, die Dämpfung zu verringern, so dab
die Wellen leichter sich fortpflanzen.
Ähnlich sind nun die Umstände bei einem Kabel.
Die Stärke des Leiters spielt zwar für die Fortpflanzung
der elektrischen Wellen eine Rolle, insofern der Wider-
stand gegen die Fortpflanzung um so größer ist, je dün-
ner der Leiter ist, aber wesentlicher ist die isolierende
Hülle für die mehr oder weniger leichte Fortpflanzung
der Wellen bzw. für ihre Dämpfung. Die diesbezügliche
Eigenschaft der Hülle, die bei Fernsprechkabeln Gutta-
percha oder Papier ist, bezeichnet man als die Ladungs-
kapazität, das heißt, als die Aufnahmefähigkeit für die
Elektrizität. Wenn man eine elektrische Schwingung
beispielsweise von 800 Perioden hat, was, wie wir sahen,
als eine mittlere Periodenzahl der von der menschlichen
Stimme herrührenden Schwingungen anzusehen ist, so
muß die ısolierende Hülle in einer Sekunde 800 mal ab-
wechselnd mit positiver und negativer Elektrizität ge-
laden und entladen werden, und dadurch werden die
Schwingungen entsprechend stark geschwächt, gedämptt.
Man wird auch verstehen, daß diese Dämpfung für ver-
schiedene Perioden verschieden ist; je größer die Perio-
denzahl ist, um so stärker ist die Abschwächung.
| Auch bei den Kabeln haben verschiedene Materialien
verschiedene Ladefähigkeit. Von den beiden Materialien,
die zur Isolation der Leiter bei Fernsprechkabeln haupt-
sächlich benutzt werden, Papier und Guttapercha, ist
Ferngespräche über See. 9
Guttapercha sehr viel ungünstiger als Papier; anderseits
ist Guttapercha wegen ihrer mechanischen Eigenschaften
gerade zur Verwendung bei Seekabeln besonders ge-
eignet. Nun hat man zwar die Möglichkeit, die Ladungs-
kapazität dadurch zu verringern, daß man die Dicke der
Guttaperchaschicht oder Papierschicht um den Leiter
vergrößert, aber das kostet erstens Geld, und dann kann
man viel dadurch auch nicht gewinnen.
Da, wo man also aus mechanischen Gründen Gutta-
perchakabel als Seekabel verlegen mußte, war man bald
mit seinem Latein zu Ende; es waren nur schmale
Meeresarme, die man mit Guttaperchakabeln für Fern-
gespräche überbrücken konnte. Es zeigte sich aber auch,
daß papierisolierte Kabel nicht viel besser waren, obwohl
sie doch hinsichtlich der Ladungskapazität viel günstiger
sind; man fand nämlich, daß die Sprache schlecht, dumpf
und undeutlich wurde, sobald die Länge des Kabels nicht
sehr gering war, und zwar deshalb, weil die Schwin-
gungen verschiedener Periodenzahlen verschieden stark
gedämpft werden. Die Erkenntnis der Gründe hat man
jedoch erst neuerdings gewonnen.
Nun hat man aber ein Mittel, ähnlich der vorher-
erwähnten Verdünnung einer stark konzentrierten
Zuckerlösung, auch bei den Leitungen in der Selbstinduk-
tion des Leiters. Der Sachverhalt ist am leichtesten zu
übersehen an Hand einer kleinen mathematischen Dar-
stellung. Es ist nämlich die Dämpfung einer Leitung
2W=sEC
zu
wo W den Widerstand, C die Kapazität und S die Selbst-
induktion bedeuten. In Wirklichkeit ist der Ausdruck
nicht ganz so einfach; man kann das aber annehmen.
D
Was heißt das? Die Dämpfung ist um so größer, je
größer der Widerstand oder die Kapazität ist, bzw. um
Meereskunde, Vorträge. V. Heft ır. 2
Io Meereskunde.
so kleiner, je kleiner diese Werte sind. Dagegen wird die
Dämpfung um so kleiner, je größer die Selbstinduktion
ist; denn wenn man anstatt S setzt 2 S, so ist der Wert
von D nur halb so groß; denn bei
WON EI ANEE
S: RE2S 2 San
Daß man durch Verringerung des Widerstandes und der
Ss 2Ssusi2l) —
Kapazität die Dämpfung verringern konnte, das wußte
man schon früher, aber wie bereits gesagt, man kam
damit nicht weit. Daß man in der Vergrößerung der
Selbstinduktion ein Mittel zur Verringerung der Dämp-
fung hat, ist auch schon eine Erkenntnis des vorigen
Jahrhunderts, man wußte nur nicht, wie ‚man dies aus-
führen sollte. Der erste, der klar die Bedeutung der Ver-
erößerung der Selbstinduktion für Seekabel, was uns hier
besonders interessiert, ausgesprochen hat, ist Heavi-
Sal (dere,
Nun hat jede Kabelleitung, die bei Fernsprechkabeln
immer aus zwei Drähten besteht, eine gewisse Selbst-
induktion; doch ist diese sehr gering und deshalb ist eben
die Dämpfung sehr groß. Diese Selbstinduktion rührt da-
von her, daß die beiden Leiter des Kabels eine Schleife
bilden. Mit der Größe dieser Schleife nimmt die Selbst-
induktion zu; man könnte also dadurch, daß man die
beiden Drähte voneinander entfernt, die Selbstinduktion
vergrößern; das ist aber bei Seekabeln sehr begrenzt.
Nun weiß man aber, daß, wenn man in eine Drahtschleife
einen Eisenkern bringt, die Selbstinduktion der Schleife
bedeutend steigt. Man kann also auch die Selbstinduktion
der Kabelschleife dadurch erhöhen, daß man Eisen hin-
einbringt. Ein weiteres Mittel hat man dadurch, daß man
eine Anzahl von Elektromagneten, das sind Eisenkerne,
um die man Drahtschleifen herumwickelt, in die Kabel-
schleife einschaltet. Beide Arten haben ihre Anwendung
Ferngespräche über See. 1
gefunden und haben zu einer bedeutenden Entwicklung
der Fernsprechseekabel geführt. Bei der ersten Methode
ist man, wie leicht einzusehen, beschränkt in der Menge
der Selbstinduktion, die man hinzufügen kann, da die
beiden Adern des Sprechkreises nahe beieinander liegen.
In dem zweiten Fall dagegen ist man gewissermaßen
unbeschränkt, jedoch hatte man keine Ahnung, wie man
die Selbstinduktion in Form von Elektromagneten oder
Selbstinduktionsspulen, wie man sie auch nennt, einfügen
sollte. Die Lösung hierfür hat nun Professor Pupin
gegeben; seine Lösung ist eine ebenso bedeutende wissen-
schaftliche Leistung wie technische Förderung.
Die endgültige Ausführungsform der ersten Methode,
um .die sich die Herren Krarup und Breisig Ver-
dienste erworben haben, besteht darin, daß um den Kupfer-
leiter dünne Eisendrähte gewickelt werden in einer oder ın
mehreren Lagen; abgesehen hiervon ist die Herstellung
der Kabel die normale.
Bei der zweiten Methode werden ringförmige Selbst-
induktionsspulen in möglichst gleichmäßigen Abständen,
die etwa ı bis 2 km bei Seekabeln betragen, nach be-
stimmten Gesetzen eingeschaltet, die von Professor
Pupin festgestellt sind; für die Wahl der Werte der
Selbstinduktion und des Spulenabstandes spielt die Länge
der in der menschlichen Sprache maßgebenden über die
Leitung fortzupflanzenden Wellen eine Rolle. Wenn man
die Spulen unrichtig in der Linie verteilt, so kommt man
gegebenenfalls zu so ungünstigen Resultaten, daß man
an Stelle einer Verbesserung eine Verschlechterung der
Sprache herbeiführt. Welche bedeutende Verbesserung
durch das richtige Einschalten von Spulen zu erzielen
ist, kann man durch einen einfachen Versuch zeigen. Um
Platz zu sparen, wird ein Kabel, das 50 Doppelleitungen
enthält, auf eine Trommel aufgewickelt, und die 50 Dop-
2°
12 Meereskunde.
pelleitungen werden hintereinander geschaltet, wodurch
man also mit einem 500 m langen Kabel schon eineLeitung
von 25 km Länge erhält. Es ist ferner eine Vorrichtung
getroffen, um die Spulen in Abständen von ı km abwech-
selnd ein- und auszuschalten. Den entfernten Telephon-
apparat bringt man in einem Nebenraum an, um nicht
direkt zu hören, und läßt an dieser Station jemanden
sprechen. Man hört dann im Telephon, je nachdem die
Spulen eingeschaltet
sind oder nicht, eine
laute deutliche oder
eine leise stark wen
zerrte Sprache. Durch
ein lautsprechendesTe-
lephon kann der Effekt
einem ganzen Audi-
torium gezeigt werden,
wobei sich anstatt der
Sprache noch besser
die Töne eines musi-
kalischen Instrumentes,
Abb. ıo. Guttapercha-Seekabel. z. B. einer Trompete,
eignen.
Hiermit ist nun die wissenschaftliche Grundlage ge-
wonnen, um die praktische Entwicklung der Seekabel für
Fernsprechzwecke verfolgen zu können. Wie oben be-
reits erwähnt, unterscheidet man die beiden Haupttypen:
Guttaperchakabel und Bleikabel mit Papierisolation.
Abbildung 10 zeigt den Querschnitt eines vieradrigen
Guttapercha-Seekabels. Jede der vier Adern hat einen
Kupferleiter, der aus mehreren Einzeldrähten besteht, die
miteinander verseilt sind; einen einfachen Draht nimmt
man bei Seekabeln im allgemeinen nicht, damit bei
mechanischer Beanspruchung, wenn beispielsweise der
Ferngespräche über See. 13
Anker eines Schiffes am Kabel zerrt, möglichst verhindert
wird, daß der Leiter ganz und gar unterbrochen ist; denn
natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, daß etwa 7 Drähte
an derselben Stelle Fehler haben und daher gleichzeitig
zerreißen, viel geringer als die, daß ein einzelner Draht
zerreißt. Dieser Kupferleiter wird nun mit Guttapercha,
die durch Waschen, Kneten und Erwärmen in den er-
forderlichen plastischen Zustand gebracht ist, und zwar
gewöhnlich in mehreren Lagen, umpreßt. Vier solcher
Guttaperchaadern, wie der Kabeltechniker das nennt,
werden miteinander verseilt zur Kabelseele. Diese stellt
den wesentlichen Teil des Kabels dar; die weiteren Teile
dienen zum Schutze der Kabelseele gegen mechanische
Angriffe. Der wesentliche Bestandteil dieses Schutzes
ist die Armatur, die aus Eisendrähten besteht. Die Stärke
der Armaturdrähte richtet sich nach der Größe der Ge-
fahren, denen das Kabel ausgesetzt ist; je größer die
Wahrscheinlichkeit von Angriffen durch Anker, durch
Strömungen und dergleichen ist, um so stärkere Drähte
finden Verwendung. In der Nähe der Küste liegen des-
halb gewöhnlich Kabel mit sehr starker Armatur oder
auch mit einer doppelten Armatur, wie sie Abbildung 10
auch zeigt. Dagegen ist die Armatur der in der tiefen See
liegenden Kabel sehr dünn; sie braucht nur so kräftig zu
sein, daß sie beim Verlegen des Kabels ins Meer das Gewicht
des eigenen Kabels trägt. Gegen etwaige Beschädigungen
durch die Armatur selbst ist über den Adern eine Jute-
schicht als Polster angebracht; bei zwei Armaturen liegt
ein solches auch zwischen den Armaturen. Nach auben
hin ist die Armatur dann noch in ein asphaltiertes Jute-
polster eingebettet.
Ein zum Fernsprechen bestimmtes Seekabel mit Gutta-
perchaadern hat entweder zwei Adern, das heißt, einen
Sprechkreis, oder vier Adern, das heißt, zwei Sprech-
I4 Meereskunde.
kreise, da zu einem jeden Sprechkreis zwei Leiter ge.
hören, der eine für die Hinleitung, der andere für die
Rückleitung. In der Telegraphie arbeitet man mit der
Erde als Rückleitung; das ist in der Telephonie nicht an-
gängig, weil sonst die Erdströme in das Telephon ein-
treten und die Verständigung stören würden. Bei den
vieradrigen Kabeln bilden zwei gegenüberliegende Adern
je einen Sprechkreis; würde man zwei benachbarte Adern
zu einem Sprechkreis vereinigen, so würden die Sprech-
ströme in dem einen Stromkreis Induktionsströme im an-
deren hervorrufen, und man würde in jedem Sprechkreis
hören, was in dem anderen gesprochen wird; wenn man
die gegenüberliegenden Adern dagegen als Leiter eines
Sprechkreises wählt, so induzieren die durch einen Kreis
fließenden Sprechströme zwar auch Ströme in den beiden
Leitern des anderen Sprechkreises, aber beide in ent-
gegengesetzter Richtung, und somit heben sich die Ströme
auf, das fremde Telephon bleibt ruhig. Man sagt, die An-
ordnung ist induktionslos.
Die vier Adern eines solchen Kabels müssen aber
sehr gleichmäßig hergestellt und verseilt werden, damit
keine Induktion, kein Übersprechen stattfindet.
Derartige Guttaperchakabel mit vier Adern sind
mehrere verlegt, so beispielsweise zwischen Dover und
Calais, wo sie den telephonischen Verkehr zwischen Eng-
land und Frankreich, oder vielmehr hauptsächlich zwi-
schen London und Paris vermitteln. Dadurch, daß man
die Stärke der Guttaperchaschicht möglichst dick genom-
men hat, was freilich Geld kostet, konnte man die schäd-
liche Wirkung der Ladungskapazität so weit herunter-
drücken, daß die Verständigung über die etwa 40 km
langen Kabel mit den angeschlossenen Freileitungen noch
als recht gut zu bezeichnen ist. Bei einem solchen Gutta-
perchakabel zwischen Belgien und England, das etwa
Ferngespräche über See. 15
So km lang, ist man allerdings schon an der Grenze der
Verständigung angelangt.
Man hat versucht, durch eine besondere Konstruk-
tionsanordnung die Ladungskapazität herunterzudrücken;
in der Erkenntnis, daß der mabßgebende Wert der La-
dungskapazität eines Sprechkreises geringer wird, wenn
nicht eine jede einzelne Ader vom Wasser umspült wird,
sondern nur das System von zwei bzw. vier Adern, hat
man eine Anordnung, wie sie Abbildung ıı zeigt, ge-
wählt, bei welcher die Leiter in einer gemeinsamen Gutta-
Abb. ı2. Bleikabel mit
Abb. ıı. Luftraumkabel. einfacher Armatur.
perchahülle liegen und in der Mitte sich ein Luftraum be-
findet, der den Effekt unterstützt. Solche Kabel sind
auch verlegt, aber mit geringem praktischen Erfolg, weil
die Fabrikationsausführung sehr schwierig ist und weil
die Verringerung der Ladungskapazität gleichwohl nicht
ausreicht.
Bei den Bleikabeln, der zweiten Sorte von Seekabeln,
ist der Kupferleiter mit Papier besponnen, und die zur
Seele verseilten Adern sind, wie es die Abbildungen ı2 und
13 zeigen, mit einem Bleimantel umpreßt, der seinerseits
unter Verwendung eines Zwischenpolsters mit einer Ar-
matur geschützt ist, die wiederum von einem asphaltier-
ten Jutepolster bedeckt wird. Auch diese Kabel sind mit
16 Meereskunde.
zwei oder vier Adern, das heißt, mit einem oder zwei
Sprechkreisen hergestellt. Die Armatur wird auch bei
diesen Kabeln den Angriffen entsprechend gewählt. Ab-
bildung ı2 zeigt eine einfache Armatur, Abbildung 13
eine doppelte Armatur. Bleikabel finden hauptsächlich
in solchen Gewässern
Verwendung, wo starke
Strömungen nicht vor-
handen sind und große
Tiefen nicht in Frage
kommen. Die Papier-
Bleikabel zeigen zwar
wesentlich geringere
Werte der -Ladungs-
kapazität als die Gutta-
perchakabel, aber
gleichwohl reicht auch
ihreLeistung nicht weit.
Abb. ı3. Bleikabel mit doppelter Armatur. Hier setzen nun
die neueren Erkennt-
nisse ein, durch Einfügen von künstlicher Selbstinduktion
die Dämpfung der Sprache zu verringern, und zwar wurden
die ersten derartigen Kabel mit stetiger Selbstinduktion,
hauptsächlichvon der
Eirmar Heltena
Guilleaume nach
den Angaben der
Herren Krarup
und Breisi’gcher
gestellt. Beide Arten
von Kabeln, sowohl
Guttaperchakabel als
auch Bleikabel, haben
dabei Anwendung ge-
Abb. 14. Kupferleiter mit Eisendraht-
umspinnung.
Ferngespräche über See. 7
funden. Der Unterschied gegenüber den gewöhnlichen Ra-
beln liegt einzig und allein darin, daß die Kupferleiter mit
Eisendraht, und zwar mit dünnem Eisendraht in einer
oder in mehreren Lagen besponnen sind. (Siehe Abbil-
dung 14.)
Irgendwelche wesentliche Schwierigkeiten in der
Herstellung und Verlegung dieser Kabel sind nicht vor-
handen. Die Verbesserung der Sprache und die Ver-
16. Uferkabel.
Abb. ı5 u. 16. Papier-Bleikabel mit stetiger Selbstinduktion
zwischen Cuxhaven und Helgoland.
größerung der Betriebslänge mit dieser neuen Kabelkon-
struktion war nicht unwesentlich. Das längste derartige
Guttaperchakabel liegt in einer Länge von etwa 40 km
in der Ostsee zwischen Refsnes und Selvig und zeigt drei
lagen Eisendraht von 0,2 mm über dem Kupferleiter. Das
längste Papier-Bleikabel liegt in der Nordsee zwischen
Cuxhaven und Helgoland und besitzt eine Länge von
etwa 8o km; bei diesem Kabel ist der Kupferleiter mit
einer einfachen Lage Eisendraht von 0,3 mm Durch-
messer umsponnen (Abbildung ı5 und 16). Das Kabel
besitzt, wie die Abbildungen zeigen, außer zwei Lei-
18 Meereskunde.
tungen, das heißt, einem Sprechkreis für den telephoni-
schen Verkehr, noch zwei Leitungen für Telegraphier-
zwecke. Abbildung 15 zeigt das Seekabel, Abbildung 16
das Uferkabel.
Der wesentliche Nachteil, den diese Konstruktion der
Bespinnung des Kupferleiters mit Eisendraht besitzt, ist
der, daß die Größe der Selbstinduktion in gewissen
Grenzen beschränkt ist, und daß durch diese Bespinnung
des Kupferleiters die Kapazität erhöht wird, also zur Er-
Abb. ı7. Spulenkasten.
zielung einer bestimmten niedrigen Kapazität die Dimen-
sionen entsprechend vergrößert werden müssen, und das
kostet Geld. Diese Unzuträglichkeiten können vermieden
werden, wenn man die Selbstinduktion punktförmig ın
Spulenform ın das Kabel einfügt. Nachdem Professor
Pupin gezeigt hatte, wie die Selbstinduktionsspulen
über den Leiter zu verteilen sind, war es ein leichtes,
Erdkabel nach dem Pupinsystem zu verlegen; man
bringt die Spulen in Kästen unter, wie es Abbildung 17
zeigt, und verbindet die Enden der Wickelung der Spulen
mit den Kabelleitungen. Abbildung ı8 zeigt solche in
Ferngespräche über See. 19
wirkliche Linien eingebaute Kästen. Bei Seekabeln da-
gegen stand man vor einer sehr schwierigen Aufgabe, und
verschiedene Praktiker erklärten es für unmöglich, See-
kabel nach dem Pupinsystem zu verlegen. Die Lö-
Abb. 18. Spulenkästen, eingebaut.
sung der Aufgabe ist aber dem Hause Siemens sowohl
für Bleikabel als auch für die Guttaperchakabel geglückt;
das erste Pupin- Bleikabel ist vor mehr als vier Jahren
von der Siemens & Halske A.G. im Bodensee ver-
legt, und das erste Pupin- Guttaperchakabel durch den
Kanal zwischen Dover und Calais im Mai vorigen Jahres
20 Meereskunde.
durch Srtemens Brothers & Co, Ed Dan cz
Tat bedeutende Schwierigkeiten zu überwinden waren, so
werden nähere Einzelheiten über die Verlegung dieser
beiden Kabel interessieren.
Das erste Pupin-Seekabel bot sehr große Schwie-
rıgkeiten. Es handelte sich um ein Blei-Papierkabel, das
zwischen Friedrichshafen und Romanshorn durch den
Bodensee verlegt werden sollte und den telephonischen
Verkehr zwischen der Schweiz und den Staaten Würt-
temberg und Bayern vermitteln sollte. Wie bereits er-
wähnt, haben Seekabel zumeist höchstens zwei Sprech-
kreise besessen, hier sollten sieben vorgesehen werden.
Bleikabel waren bisher in verhältnismäßig geringen Tiefen
von etwa 20 bis 40 m ausgelegt; hier kamen zum ersten
Male Tiefen bis zu 250 m in Frage, . Weiter konnte
man mit einem eigentlichen Kabelschiff nicht zum Boden-
see gelangen, man mußte also ein künstliches Kabelschiff
herstellen; auch die Zuführung des Kabels zum Bodensee
konnte nicht zu Wasser geschehen, sondern das Kabel
mußte mit der Bahn transportiert werden. Alle diese Be-
sonderheiten kamen zu der an sich schon bedeutenden
Schwierigkeit hinzu, die Selbstinduktionsspulen im Kabel
unterzubringen und ein solches Pupinkabel überhaupt
zu verlegen.
Zur Überwindung der Schwierigkeit der verhältnis-
mäßig großen Tiefe von 250 Metern, die selbstredend
gegenüber den größeren Meerestiefen von mehreren tau-
send Metern unbedeutend ist, wurde auf Grund von Ver-
suchen ein besonderes Kabel konstruiert; es zeigte sich
namlich, dab ein gewöhnliches Kabel bei 25 Atmosphären
Druck — das entspricht dem Druck in der Tiefe von
250 m — nach längerer Zeit flachgedrückt wurde
und daß dasselbe bei etwas höherem Druck, mit dem man
das Kabel der Sicherheit halber naturgemäß prüfen mußte,
Ferngespräche über See. 27
sogar nach verhältnismäßig kurzer Zeit wie ein Taschen-
messer flachgedrückt wurde. Die gewählte Konstruktion
zeigt Abbildung 19; unter dem Bleimantel ist eine Stahl-
drahtspirale über die Kabelseele gewickelt; diese hält den
Bleimantel vollkommen rund und schützt die Seele gegen
Abb. 19. Bodenseekabel.
Pressungen. Das mittlere Kabel ist das eigentliche See-
kabel mit der einfachen Armatur, das Muster mit der
doppelten Armatur zeigt das an den beiden Ufern verlegte
Kabel; weiter ist noch ein auf dem Lande verlegtes Kabel
zu sehen, das die Spirale unter dem Bleimantel nicht ent-
hält. Seekabel und Uferkabel zeigen durchgehend die
Spirale; der Einfachheit wegen ist das ganze Seekabel ın
Meereskunde.
186)
166)
gleicher Weise ausgeführt; für die geringeren Tiefen wäre
die Verwendung der Spirale nicht erforderlich gewesen.
Die Pupinspulen mußten wie die Kabelseele unter
den Bleimantel gebracht werden. Wenn auch eine mög-
lichst längliche Form für die Spulen gewählt wurde, so
blieben dieselben gleichwohl wesentlich dicker als die
Abb. 20. Spulenstück unter Bleimantel.
K.abelseele, man erhielt also an den Punkten, wo die
Spulen sich befanden, verdickte Stellen; durch konische
Teile wurde der Bleimantel der Spulenstücke mit dem
Bleimantel des Kabels verbunden (Abbildung 20). Die
Abbildung21 zeigt die AÄrmierung einer solchen Spulenstelle.
Obwohl das ganze Kabel nur etwa ı2 km lang war,
mußte dasselbe doch mit einer ordnungsmäßigen Ver-
legungsmaschine verlegt werden, da das Gewicht des im
Ferngespräche über See. 2
195)
Wasser hängenden Kabels an der tiefsten Stelle von
2zo m unter normalen Verhältnissen bereits rund
2000 kg betrug; der maximale Zug, den man während der
Verlegung beobachtete, betrug etwa 8000 kg. In der
Hauptsache besteht die Verlegungsmaschine aus einer
Trommel, über welche das Kabel in mehreren Windungen
Abb. 21. Armierung eines Spulenstücks.
herumgelegt wird und mit welcher das Kabel aus dem
Schiff in das Wasser abgewickelt wird. Über eine solche
Trommel mußten natürlich auch die verdickten Stellen
der Spulenstücke gebracht werden. Bei dem ersten Ver-
legungsversuch im Jahre 1905 wurde eine Verlegungs-
maschine mit einem Trommeldurchmesser von etwaI70 cm
benutzt, wie sie für die gewöhnlichen Seekabelverlegungen
Verwendung findet; es zeigte sich, daß die Unstetigkeits-
24 Meereskunde.
stellen, wo die Spulenstücke sich befanden, den starken
Biegungen nicht gewachsen waren; die erste Verlegung
mißglückte deshalb; bei der endgültigen Verlegung im
Jahre 1906 wurde deshalb eine besonders hergestellte Ver-
legungsmaschine mit größerem Trommeldurchmesser von
240 cm verwendet und die konischen Teile der Spulen-
stücke wurden verlängert.
Abb. 22. Spulenstück bei der Verladung.
Das gegen 110 000 kg wiegende Kabel wurde auf ver-
schiedene Güterwagen verladen und das ganze Kabel mit
einem besonderen Zuge von ıı Wagen nach Friedrichs-
hafen befördert. In Abbildung 22 sieht man, wie gerade
ein Spulenstück über dem Waggon schwebt.
Wie bereits gesagt, mißglückte die erste Verlegung,
deshalb mußte das Kabel an Land gebracht und in einem
Schuppen überwintert werden; dann wurden die sämt-
lichen Spulenstücke neu montiert, wozu ein besonderer
Schuppen gebaut werden mußte. Die nachträgliche Ar-
Ferngespräche über See.
189)
in
mierung des Kabels an den Spulenstücken geschah mit
einer besonders konstruierten Maschine, welche gestat-
tete, die Drähte mit einem Zug von 2000 kg aufzulegen;
das Führen und Abbinden der Drähte geschah von Hand.
Auf dem Verlegungsschiff mußte ein Gerüst gebaut
werden, das den in Kabelschiffen vorhandenen Tank er-
Abb. 23. Gerüst zur Führung des Kabels.
setzte; bei der schnellen Bewegung des Schiffes während
der Verlegung wickelt sich nämlich das Kabel sehr rasch
ab, und dazu ist eine leichte und zuverlässige Führung
nötig. Ein weiteres Gerüst war zur Führung des Kabels
aus diesem Kunsttank zur Verlegungsmaschine erforder-
lich, wie es Abbildung 23 zeigt, auf der auch diese Ma-
schine mit den Windungen des Kabels zu erkennen ist,
sowie die Maschine, die den Zug mißt, unter dem das
26 Meereskunde.
Kabel verlegt wird, damit man nicht mehr Kabel verlegt
als nötig ist. - (Mergleiche Stahlbierg, Aufrzemen
Kabeldampfer bei einer Kabelreparatur in der Tiefsee.
„Meereskunde hlert 678: 2.)
Das Kabelschiff war ein Trajektschiff, auf dessen
Deck die erforderlichen Bauten vorgenommen wurden. Da
dieses Schiff nur ein Schleppschiff war, wurde ein Salon-
dampfer breitseits mit jenem verbunden; der Dampfer
wurde nicht einfach vorgespannt, damit jederzeit momen-
tan gestoppt werden konnte. Abbildung 24 zeigt die Aus-
legung des Kabels in See. Die eigentliche Verlegung des
Seekabels dauerte etwa zwei Stunden, so daß mit einer
dAurchschnittlichen Geschwindigkeit von fast genau 6 km
in der Stunde verlegt. wurde.
Da man annehmen konnte, daß ein Fehler, der auf-
treten könnte, sehr bald nach der Verlegung zum Vor-
schein kommen würde, wurde das eigentliche Seekabel
zunächst in Romanshorn an Land genommen und 24 Stun-
den lang dauernd beobachtet. Das Schiff fuhr nach
Friedrichshafen zurück und nahm unterwegs die zur Be-
zeichnung des Weges bei nebeligem \Vetter ausgesetzten
Bojen auf.
Von Romanshorn aus war das Uferkabel auf der
Schweizerischen Seite mit einem kleineren Boot ausge-
legt, indem es von der Trommel abgewickelt wurde. Dann
wurde der Spleiß auf dem Kabelschift hergestellt und
versenkt.
Etwa einen Monat nach erfolgter Verlegung trat in
einer der 14 Adern ein Fehler auf, und zwar an einer
Stelle, welche dem höchsten Wasserdruck ausgesetzt ist
und an einem Spulenstück; freilich enthält die betreffende
Ader an dieser Stelle keine Spule; es sind nämlich ab-
wechselnd für drei und dann für vier Sprechkreise Spulen
eingeschaltet. Es ist anzunehmen, daß der Fehler einem
JungapIsA I9p pussyem tz "dqV
Ferngespräche über See. 29
Montagefehler zuzuschreiben ist; unter den schwierigen
Montageverhältnissen ist nicht zu verwundern, daß eın
solcher vorkommen konnte. Abgesehen von diesem Fehler
ist das Kabel nunmehr länger als vier Jahre in dauernd
gutem Betrieb; im Dezember vorigen Jahres trat das
Gerücht auf, daß das Kabel zerstört sei; in Wirklichkeit
war ein altes Telegraphenkabel gebrochen. Hoffentlich
sichert dieses falsche Gerücht dem Kabel eine recht lange
l.ebensdauer.
Nach dem Gelingen der schwierigen Verlegung des
Bodenseekabels durfte man erwarten, daß die Frage der
! III> -
Gummi zroischenstück, Cutter chahanus una
CHI Ge Fan ”
Auslegung eines Pupin- Guttaperchakabels durch die
Vorarbeiten in der Fabrik geklärt werden konnte; da die
bei der eigentlichen Verlegung zu erwartenden Schwierig-
keiten bekannt waren, handelte es sich hauptsächlich um
die Frage, ob die Pupinspulen in einer Guttapercha-
hülle zuverläsig untergebracht und mit den Kupferleitern
der Guttaperchaadern in Verbindung gebracht werden
können. Diese Aufgabe wurde von dem Londoner Hause,
yon Venmmens. Brothers, zelost, ! welche weit-
gehende Erfahrungen auf dem Gebiet der Seekabelver-
legung besitzen. Durch die glatte und elegante Verlegung
des englisch-französischen Pupinkabels ist die Mög-
lichkeit bewiesen, auch Guttaperchakabel, die nach dem
30 Meereskunde.
Pupinsystem gebaut sind, als _Seekabel zu "ver.
legen.
Das Kabel ist ein vieradriges Guttaperchakabel, das
also zwei Sprechkreise besitzt. Die Spulen sind in Ab-
ständen von etwa 1,8 km eingebaut; an diesen Punkten
befinden sich verdickte Stellen, die eine Kammer mit den
beiden Spulen enthalten, wie auf Abbildung 25 zu sehen
3 un!
Ill \ \ \\AlN NON F =
Abb. 26. Kabeldampfer ‚Faraday‘.
ist; der ganze übrige Raum ist mit Guttapercha ausge-
füllt. Der zylindrische Teil der verdickten, armierten
Stelle greift weit über das eigentliche Spulenstück hin-
über, so daß die äußerlich konischen Teile des Kabels an
solchen Stellen sitzen, wo gewöhnliche Adern vorhanden
sind. Obwohl das Kabel nur 40 km lang ist, und somit
ein kleiner Kabeldampfer ausreichend gewesen wäre,
wurde die Verlegung mit dem bekannten Siemensschen
Kabeldampfer „Faraday“ (Abbildung 26) ausgeführt.
Ferngespräche über See. a7
Abbildung 27 zeigt das erste in See laufende Spulenstück.
Da der „Faraday‘ nicht nahe an die Küste fahren konnte,
wurde das Kabel so weit
in Dover zur. "Küste
parallel gelegt, daß das
Kabel zur Küste später
zurückgenommen werden
konnte, und das Ende an
eine Boje gelegt; ebenso
wurde an der franzö-
sischen Küste das letzte
Ende zunächst zur Küste
parallel ausgelegt und
das Ende mit einer Boje
bezeichnet. Die beiden
Enden sind dann später
von einem Kabelschift
der englischen Postoffice
zur Küste umgelegt. Diese
Gelegenheit wurde be-
mut, um eines.der
Spulenstücke zu heben;
Abb. 27. Spulenstück bei der
Verlegung.
es sollte damit gezeigt wer-
den, dab die Spulenstücke eine derartige Manipulation
vertragen, wenn
wirkliche Repara-
turen auszuführen
sind. Abbildung 28
zeigt das an Deck
genommene Spu-
lenstück. Die mit
dem Kabel ange-
stellten Versuche
haben ausgezeich-
nete Resultate er-
Abb. 28. Gehobenes Spulenstück.
Meereskunde.
(095)
N
geben. Sobald die anzuschließenden Freileitungen auf
der französischen Seite fertiggestellt sind, wird das Kabel
in Betrieb genommen werden.
In vorstehendem ist versucht, in einfachen Zügen
von der Entwicklung einer besonderen Art der Telephon-
leitungen, nämlich derjenigen der Seekabel, ein Bild zu
geben; die einleitenden Ausführungen weisen darauf hin,
daß es sich um wichtige wissenschaftliche und technische
Probleme handelt. Die Anregungen von Professor Pupin
haben eine große Reihe von interessanten Arbeiten her-
vorgerufen, durch die unser Wissen und unsere Erkennt-
nis auf dem Gebiet der Telephonleitungen in hohem Maße
gefördert sind. Von den wichtigsten Aufgaben und Lö-
sungen des Pupinsystems sind hier einige der in der
Hauptsache mechanischen Aufgaben in rohen Umrissen
entwickelt. Man ist nunmehr ın der Lage, an größere
Aufgaben heranzugehen, die unter Verwendung der
genialen Erfindung des Professors Pupın lösbar sind.
Es ist jetzt — um nur ein Beispiel zu nennen — nicht
bloß mehr ein Problem, Deutschland und England durch
ein leistungsfähiges Fernsprech-Seekabel zu verbinden,
aas ungefähr 400 km lang ist und somit fast die zehnfache
Länge eines Fernsprechkabels besitzt, das man vor etwa
zehn Jahren verlegen konnte. Doch auch dieses Ziel wird
sicher nur eine Etappe auf dem weiteren Wege tech-
nischen Schaffens und Strebens sein, das wie alle frucht-
bringende Arbeit dem Wohle der Menschheit dient.
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E.S. Mittler & Sohn,
Berlin SW 68, Kochstraße 68—71.
MEERESKUNDE
SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE
ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON
MEER UND SEEWESEN
FÜNFTER JAHRGANG ZWÖLFTES HEFT
Tsingtau.
Von Professor Dr. Albrecht Penck.
ie Ostküste von Asien zeigt in den geographischen
Breiten, in denen ein regelmäßiger, vom Eise
nicht gehinderter Sceverkehr möglich ist, nur
einen tieferen Eingrifi des Meeres. Das ist das Gelbe
Meer, das Hoanshaı der Chinesen. Es spult an die
weiten Ebenen von Nord-China. Aber der Seefahrer, der
sich deren Küsten nähert, findet dieselben verschlossen;
das Meer hat überall dort, wo es an die Ebene grenzt,
eine Barre aufgeworfen, die selbst der große Fluß des
l.andes, der Hoangho, nicht völlig zu durchbrechen
vermag. Seine heutige Mündung ist durch sie halb ver-
tiegelt, aber auch die Stelle, wo er vor 60 Jahren vier
Grade weiter südlich das Meer erreichte, ist immer durch
eine Barre verschlossen gewesen, und sie ist es heute noch.
Nur an einer einzigen Stelle können Dampfer die Barre
überwinden, das ist im Norden, wo der Paiho das Meer
erreicht; aber nur ziemlich kleine Fahrzeuge vermögen
dies zu tun und nach Tientsin vorzudringen.
Bei solcher Hafenarmut der ebenen Küsten werden
die beiden bergigen Halbinseln, welche sich in das Gelbe
Meer erstrecken und dessen innere Teile, den Golf von
Tschili, abgliedern, von besonderem Werte; denn ihnen
fehlt es nicht an tiefen Buchten, wie sie an gesunkenen
Küsten aufzutreten plegen. Namentlich die nördliche
Meereskunde, Vorträge. V. Heft ı2. I
Meereskunde.
15}
der beiden Halbinseln ist reich an solchen. Prachtvoll
ist der natürliche Hafen von Port Arthur, ausgezeichnet
der von Dalny, dem heutigen Dairen. Aber beiden fehlt
das Hinterland; die Halbinsel Liautung, an deren Spitze
sie gelegen, wurzelt nicht im eigentlichen China, sondern
ın der dünn bevölkerten Mandschurei. Ihre ausgezeich-
neten Häfen kommen daher für den Handel mit China
nicht in Betracht, wie beherrschend auch ihre Pace
gerade an der engsten Stelle des Gelben Meeres, an der
Straße von Tschili, ist. Ihre Bedeutung ist ın erster Linie
eine militärische, und ın Würdigung der wichtigen Lage
schufen die Chinesen in Port Arthur einen großen Kriegs-
hafen, den erst Rußland pachtete, und den schließlich
Japan eroberte, beide, um sich den Zugang zum Golfe
von Tschili zu sichern. Anders auf der anderen Halb-
insel, der von Schantung. HFrühzeitig öffnete China hier
einen allerdings von Natur nur wenig guten Hafen, den
von Tschifu, und gewährte damit Einlaß zu einem weiten
Hinterlande. Ferner legte es unweit davon in einer
sicheren, aber vom Lande aus schwer zugänglichen Bai
den Kriegshafen von Weihaiwei an. Es verlor jedoch
diese wichtige Stelle an der Südseite des Einganges in
das Gelbe Meer sowie Port Arthur im Norden; Eng-
land hält Weihaiwei besetzt, ohne den Ort augenblicklich
militärisch weiter auszubeuten. Der große natürliche
Hafen im Süden von Schantung hingegen, die geräumige
Bucht von Kiautschou, blieb, als China seine Häfen dem
Weltverkehre erschloß, zunächst unbenutzt. Ihre grobe
Bedeutung wurde erst von Ferdinand v. Richthofen
erkannt. Er wies darauf hin, daß, nach der englischen
Admiralitätskarte zu urteilen, hier ein großer natürlicher
Hafen vorliegt, welcher Tschifu an Sicherheit weit über-
träfe, und führte weiter aus, daß diese Bucht über eine
ungemein günstige Verbindung mit dem Hinterlande ver-
Tsingtau.
(5)
fügt, so daß von ihr aus die reichen Kohlenfelder von
Schantung bequem zugänglich werden: „In der Eröft-
nung des Hafens von Kiautschou und in der Herstellung
der genannten Verbindungen (in das Innere von Schan-
tung) liegt die Zukunft der reichen Kohlenfelder von
Schantung. Die in Tschifu angelegten Kapitalien wür-
den dadurch allerdings großenteils verloren werden.
Aber die Vorteile einer fremden Niederlassung in Kiau-
tschou sind, wenn wir über die engen Grenzen der Gegen-
wart hinwegsehen, so groß, daß dieser Nachteil im Ver-
hältnis verschwindend klein ist. Ist auch die Hebung
von China in materieller, intellektueller und industrieller
Hinsicht den Interessen Europas, wie es scheint, direkt
zuwiderlaufend, so wird sie sich doch mit zwingender
Notwendigkeit vollziehen, und angesichts dessen haben
sich die fremden Mächte die größtmöglichsten Vorteile
bei dem bevorstehenden Aufschwung zu sichern.“
So schrieb der große Geograph 1882, und ı5 Jahre
spater wurde die Kıiautschoubucht vom Deutschen Reiche
besetzt. Der Besetzung folgte alsbald — am 6. März
1898 — die formelle Pachtung der Bucht und des Landes
beiderseits ihres Einganges durch das Deutsche Reich;
dieses hat in den letztverflossenen 13 Jahren in großem
Umfange das nachgeholt, was China in früheren Jahr-
zehnten versäumt hat, und an der Nordseite vom Ein-
gange der Bucht ist eine neue wichtige Hafenstadt er-
wachsen: Tsingtau. Bereits ist die Prophezeiung
Richthofens eingetroffen; Tsingtau hat als Hafenplatz
Tschifu geschlagen, und sein Handelsumsatz verhält sich
heute zu dem des letzteren wie 3 :2.
Wer diese gewaltige Entwicklung voll verstehen
will, muß nicht bloß die politischen Verhältnisse in Öst-
asien im Auge haben, sondern vor allem die großen Züge
der Natur erkennen; denn wie viele Millionen auch das
Meereskunde, Vorträge. V. Heft ı2. 2
4 Meereskunde.
Deutsche Reich für Tsingtau ausgegeben hat, dessen
Aufschwung wäre nicht erfolgt, wenn nicht die Stelle in
verschiedener Hinsicht geographisch begünstigt wäre.
Die Halbinsel Schantung, welche in das Gelbe Meer
hinausspringt, ist viel weniger mit dem Gebirgsgerüste
des festländischen Asiens verknüpft, als die ihr gegen-
über befindliche von Liautung (Abbild. ı). Setzen sich
dessen Berge in das östliche Grenzgebirge der Mandschu-
rei hinein fort, so daß
man von der Ostseite
zurWestseite nurdurch
Überschreitung von
Pässen mit oft ansehn-
licher Höhe gelangen
kann, so stellt das Berg-
land von Schantung
oO
Nagäsakt eine große Insel im ebe-
nen China dar. Seine
Isoliertheit wird schla-
gend dadurch bezeugt,
daß der Hoangho bis
zum Jahre 1852 süd-
lich und seither nördlich Schantung mündet, dieser neue
Lauf ist aber vom Strom schon in früheren Jahrhunderten
benutzt gewesen. Das also vom gelben Flusse bald im
Norden, bald im Süden umflossene und weit in das Meer
hinausspringende Bergland ist aber weder in bezug auf
seine orographische Gliederung noch hinsichtlich seines
geologischen Aufbaues eine Einheit, vielmehr sondert sich
der in das Gelbe Meer einspringende Nordosten so scharf
von dem aus den nordchinesischen Ebenen entsteigenden
Westen, daß man beide am liebsten gänzlich voneinander
getrennt halten möchte. Im Nordosten herrschen kurze
1: 30 000 000
100 20 20 0 SOokm
E77] Berg- u. Hügelland
Abbild. ı. Tsingtau als Pforte von
Schantung.
gedrungene Bergketten, welche inselartig aufsteigen und
Tsingtau. 5
größtenteils aus den ältesten Gesteinen, aus Gneis und
Granit, bestehen. Im Westen walten alte Schichtgesteine
mit flacher Lagerung vor und bilden ein zusammenhän-
gendes Bergland. Ziemlich genau an der Grenze zwischen
diesen beiden so verschiedenartigen Bergländern setzt im
a ®
fie en
1 :: 2.000.000 ‘ Er 5’km
[| Berg- und Hügelland u Watt
Abbild. 2. Die Kiaulai-Senke in Schantung.
Norden eine tiefe Einsenkung ein, welche quer durch
Schantung hindurchläuft, anfänglich dessen beide ver-
schiedenen Hälften scharf trennend, dann aber die nach
Süden vorspringenden Ketten von Nordost - Schantung
durchbrechend (Abbild. 2).
Diese erreichen ihre größten Höhen hier unmittel-
bar am Meere und begleiten die Südostküste der Halb-
insel in größerem Zusammenhange als sie sonst haben.
An einer Stelle werden sie tief unterbrochen: das ist
y*
6 Meereskunde.
in der Bucht von Kiautschou, genau in der Fortsetzung
der erwähnten FEinsenkung, welche Ferdinand
von Richthofen als Kiaulai-Senke bezeichnet hat.
Naht man sich der Bucht vom Meere aus, so hat
man rechts und links ansehnliche Gebirge. Im Nord-
osten erhebt sich das Lauschangebirge bis zu Brocken-
höhe unmittelbar am Meere; es folgen der Kaiser-
stuhl, dann in wesentlich geringerer Höhe von 300 bis
400 m die Prinz Heinrichberge, schließlich die Gruppe
der Iltisberge in der nächsten Nähe von Tsingtau.
Nun öffnet sich die Bucht, auf der anderen Seite
westlich vom Meere flankiert von den Bergen von Haihsi,
die ungefähr dieselbe Höhe wie die Iltisberge haben.
Weiter südwestwärts aber strebt der mächtige Tamo-
schan bereits auf 800 m Höhe an. Wer vor der nur
3 km breiten und beinahe 40 m tiefen Einfahrt zwischen
dem Kap Tuantau und dem gegenüberliegenden Kap
Jaeschke der Haihsiberge steht, wird leicht geneigt sein
zu glauben, daß er sich an der Pforte einer weitverzweig-
ten, tief in das Land dringenden Bucht befinde. Statt
ihrer treffen wir eine breite Weitung mit vorwiegend
ebenen Ufern. Sie hat ihren Namen von der Stadt in
ihrem Westen erhalten, dıe auf das ehrwürdige Alter von
2000 Jahren blickt und, wie es scheint, ın früheren Jahr-
hunderten eine glanzvolle Zeit gehabt hat: sollen doch
selbst die Araber bis nach Kıautschou gekommen
sein. : Aber ‘heute ist diese Stadt, deren Name „Eemr-
stadt“ bedeutet, ganz Binnenort geworden. Der von
Norden kommende Takuho und der von Westen kom-
mende Yangho haben die Ausläufer der Bucht weithin
zugeschüttet und in seichtes Watt verwandelt, durch das
man längst nicht mehr zu Schiff zur Stadt gelangen kann.
Mühsam haben die Chinesen einen Umschlag zwischen
den in der Rinne des Takuho ankernden Dschunken und
IN
Tsingtau.
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8 Meereskunde.
der Stadt durch kleine Leichterboote aufrecht zu erhalten
gesucht. Für den modernen Seeverkehr ist sie unerreich-
bar. Dieser ist auf den Ankergrund beiderseits des Ein-
ganges der Bucht angewiesen, welcher im Norden besser
ist als im Süden, wo die Versandung und Verschlammung
bereits größere Fortschritte gemacht hat. Im Norden ist
denn auch Tsingtau erwachsen, dessen Lage aus
unserem Kärtchen erhellt (Abbild. 3).
Aber nicht nur die weite Bucht und die leichte Zu-
gänglichkeit vom Hinterlande her machen die Wichtig-
keit des Kiautschougebietes aus, sondern namentlich
auch die klimatischen Verhältnisse. Wir sind an der
Ostküste Asiens, wo ein regelmäßiger Windwechsel
stattfindet; im Frühling und Sommer wehen Seewinde
namentlich von Südosten her; sie sind besonders wah-
rend des Hochsommers sehr feucht und spenden wäh-
rend der Monate Juli und August ansehnlichen Nieder-
schlag. Im Herbst und Winter kommen die Winde aus
dem Nordwesten bis Norden her; sie bringen die winter-
liche Kälte Nord-Asiens bis in das nördliche China. Am
mandschurischen Gestade mißt man an der Mündung des
Liauflusses im Januar durchschnittlich 8 bis 9 Grad
Kälte. Kälter als in den kältesten Teilen Ostpreußens
ist der Winter in Peking; Tientsin und Dalny haben im
Januar noch — 4°. Erst an der Außenküste von Schan-
tung wird der Winter milder. Der Januar in Tsingtau
ist nicht strenger als der von Berlin (— 0,4°). Infolge-
dessen bleibt die Kiautschoubucht eisfrei. Dies bezeichnet
einen gewaltigen Vorteil vor den Häfen des Golfes von
Tschili, welche während des Winters durch ihre Eisbe-
deckung dem Weltverkehre entrückt sind, während letz-
terer jahraus, jahrein in Tsingtau einen offenen Hafen findet.
Wenn wir dieser klimatischen Begünstigung geden-
ken, dürfen wir aber nicht vergessen, daß Tsingtau nur
Tsingtau. 6)
wenig weiter nördlich liegt als Malta. Daß es dabei im
Januar so kalt ist, wie das 16° weiter nördlich gelegene
Berlin, verrät, daß die klimatische Benachteiligung von
ganz Ost-China während des Winters auch noch für
Schantung gilt. Dabei hat aber der Sommer von Tsing-
tau die Temperaturen, die dessen geographischer Breite
entsprechen. Sein wärmster Monat, der August, ist genau
so warm, wie der wärmste Monat, gleichfalls August, in
Palermo (24,8°). Aber während sich dann über Italien
eın wolkenloser Himmel wölbt, gibt es in Tsingtau reich-
Abbild. 4. Tsingtau zur Zeit der deutschen Besetzung 1898.
lich Regen, und während es in Palermo im Winter regnet,
ist es in Tsingtau trocken. Aber auch dann fehlt der blaue
Himmel; die aus dem Innern Asiens kommenden Winde
sind staubgeschwängert, matt leuchtet die Sonne durch
die rauchig trübe Luft. Es gibt in Europa keinen Ort,
dessen Klima sich mit dem von Tsingtau vergleichen
ließe. Der jährliche Gang der Temperatur entspricht zwar
ungefähr dem von 'Philippopel, aber nirgends haben wir
so feuchten Sommer und so trockenen Winter, wie
in der Bucht von Kiautschou.
Schon die Chinesen haben die Wichtigkeit der Nora-
seite des Einganges der Bucht von Kiautschou als Hafen-
ort erkannt. Dort, wo jene bei der kleinen grünen
Insel einen einspringenden Winkel macht, wurde bereits
Io Meereskunde.
unter dem großen Kaiser Tschienlung eine Zweig-
stelle des Zollamtes von Kiautschou errichtet, die den
Namen der grünen Insel: Tsingtau erhielt. 1891 lieb
Lihungtschang hier Befestigungen anlegen und
in der Bucht eine kleine Landungsbrücke erbauen. Um
den von ihm gewählten Ort (Abbild. 4) ist die heutige
Stadt: Tsingtau erwachsen; ‘die kleine” Inselh,dıe sen
sie ihren Namen verlor, heißt nunmehr Arkona. Der
Hafen jedoch ist an einer anderen Stelle entstanden;
denn die Tsingtaubucht ist offen gegen das Meer,
und gewähren zwar die Höhen des Landes Schutz
vor den Nordwestwinden des Winters, so ist sie doch den
Südostwinden des Sommers preisgegeben. Dazu kommt,
daß sie an der Seeseite gelegen, Angriffen leicht ausge-
setzt ist, weswegen sie für eine Flottenstation nicht ge-
eignet ist. Der Hafen ist aus allen diesen Ursachen in die
Kiautschoubucht hineinverlegt, und zwar auf die Nord-
seite der Berge von Tsingtau. Hier erstreckt sich seichter
Meeresgrund. Bohrungen vergewisserten, daß er leicht
bis 9,5 m Tiefe ausgebaggert werden konnte. Das also
hergestellte vor den Nordwestwinden des Winters durch
Anlage eines 4,5 km langen Schutzdammes geschützte
Hafenbecken befindet sich beinahe 3 km von der alten
Landungsbrücke Tsingtau entfernt; Stadt und Hafen
sind voneinander getrennt. Doch hat sich dies bisher nicht
als Nachteil geltend gemacht; die unmittelbare Nachbar-
schaft des Hafens ist für Wohnviertel selten erwünscht.
Dazu kommt, daß die Stadt Tsingtau den kalten Nord-
westwinden des Winters weniger ausgesetzt ist als der
Hafen; umgekehrt empfindet sie während des Sommers
die Südostwinde der Regenzeit als angenehme Auf-
frischung, während sich gleichzeitig in der Hafengegend
große Schwüle geltend macht. Allerdings wird es dann
in Tsingtau manchmal recht feucht, und oft liegen See-
nebel über der Stadt,
während das Hafen-
becken schon Son-
nenschein genießt.
Das neue Tsing-
tau breitet sich et-
was westlich vom
alten Tsingtau aus,
andaslediglich noch
der alte Yamen er-
innert. (Abbild. 5.)
Es erstreckt sich be-
reits nahezu über
die ganze Breite der
Bucht der Grünen
Insel. Das Kaiser-
Wilhelm-Ufer hat
sich bereits miteiner
ziemlich zusammen-
hängenden Häuser-
front besetzt, hinter
welcher die Stadt
gegen den Gouver-
nementshügel (70m)
allmählich ansteigt.
Am Abhang des
Hügels erhebt sich
in beherrschender
Lage das stattliche
Gouvernementsge-
bäude (linke Ecke
des Bildes). West-
lich davon führt die
Friedrichstraßenach
Meereskunde, Vorträge. V.
Tsingtau.
Heft ı2.
K
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3
er
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1:
og]
DE
Das neue Tsingtau im Jahre 1907.
Sie
Abbild.
12 Meereskunde.
Norden in das Chinesenviertel, das aus dem alten Dorfe
Tapautau hervorgegangen und bis an die Kiautschoubucht
heranreicht. Tsingtau und Tapautau sind schon miteinander
verwachsen und bilden eine einzige Wohnstätte, die sich vom
Meere bis zur Bucht zieht, und hier entsteht in der Nach-
barschaft des großen Hafens ein weitläufig angelegtes
Hafenviertel. Der gegen Südwest nach Tuantau reichende
Landvorsprung trägt einige Kasernen sowie das Schlacht-
haus und Elektrizitätswerk. Auch befindet sich hier ein
altes chinesisches Dorf Taihsitschen. Am Ende erhebt
sich der Leuchtturm von Yunuisan wie ein Torwärter
am Eingange der Bucht. Die militärischen Anlagen be-
finden sich hauptsächlich an den Bergen östlich Tsingtau.
Es sind dies einzelne Kuppen, zwischen denen ohne
Schwierigkeiten zwei Straßen von Nord nach Süd ge-
führt werden konnten. Hinter dem Gouvernementshügel
strebt bis auf 80° m Höhe der Hügel des Wasserturms mit
der meteorologischen Station an, von hier wie da Öffnet
sich eine entzückende Aussicht auf das neue Tsingtau,
das sich alle Jahre stattlicher darstellt. In dankenswerter
Weise hat die alljährlich erscheinende Denkschrift be-
treffend die Entwicklung des Kiautschou-Gebietes durch
‘große Panoramen von diesen Stellen aus das rasche An-
wachsen der Stadt veranschaulicht.
Der zweite der Höhenrücken tritt mit dem 99 m
hohen Diederichsberge an die Seeseite, während sich der
Moltkeberg (83 m) unfern der Bucht erhebt. Der Diede-
richsberg trägt die weithin sichtbare Signalstation. Der
dritte Bergrücken gipfelt im 132 m hohen Bismarckberge;
sein südlicher Ausläufer bildet die Ostbegrenzung der
Bucht von Tsingtau und trägt die Salutbatterie. In der
Weitung zwischen dem Gouvernementshügel und dem
Diederichsberge befindet sich das Gouvernements-Laza-
rett, zwischen Diederichsberg und Bismarckberg liegt
Tsingtau. 13
die Bismarckkaserne, östlich vom Moltkeberge die Moltke-
baracke; das Artillerielager endlich erstreckt sich auf
dem Rücken östlich der Bucht von Tsingtau, nahe der
Salutbatterie. Eine tiefe Einsattelung trennt die Tsing-
tauer Berge von den weiter östlich befindlichen Iltis-
Abbild. 6. Forstgarten in Tsingtau 1909.
bergen (160 m). Sie öffnet sich im Süden gegen die
Auguste-Viktoria-Bucht.
Die Berge von Tsingtau waren zur Zeit der Besitz-
nahme nackt und kahl, wie es ım nördlichen China die
Regel ist. Der Wunsch wurde sofort rege, sie begrünt
zu haben. Es wurde seitens des Gouvernements eine
Oberförsterei eingerichtet, und diese nahm ausgedehnte
Aufforstungen vor, welche von bestem Erfolge gekrönt
sind (Abbild. 6). Heute erstreckt sich über die Tsing-
„:
5)
14 Meereskunde.
tauer- und Iltisberge ein großer zusammenhängender
Wald von jungen, aber rasch herangewachsenen Kiefern:
Das ist der Tsingtauer Forst; und der Reisende, der sich
dem Lande nähert, sieht freundliche deutsche Häuser,
überragt von grünen Bergen, ein Bild, das heimatlich an-
mutet. Tsingtau macht nun seinem Namen Ehre; es ist
eine grüne Insel an der erdfarbenen Küste von China.
Ungemein rasch ist Tsingtau herangewachsen. 1910
wurden ım Stadtgebiete 1621 Europäer und Amerikaner
(davon 1531 Deutsche) sowie 34 180 Chinesen, insge-
samt also 35 801 Einwohner gezählt; dazu kommen noch
2275 Soldaten. 1902 waren die entsprechenden Zahlen:
1688 Europäer und 14905 Chinesen, zusammen also
15 593. Bei Beginn der deutschen Besetzung 1898 waren
aber in Tsingtau und Tapautau kaum 1000 Einwohner
ansässig. Bis 1903 geht ein geradezu rapides Wachstum
der Bevölkerung, seither geht deren Zunahme langsamer
und ruhiger, sie beträgt aber immer noch 4 % im Jahre.
Die Neuheit der Ansiediung offenbart sich in einem
sichtlichen Vorwalten des männlichen Geschlechts; es
bildete 1907 zwei Drittel der weißen und 85% der
chinesischen Bevölkerung. Hierin spiegelt sich der
Einfluß von Hafenbau und. Errichtung der Stadt;
durch beides wurden in großen Scharen männliche Ar-
beitskräfte herangezogen. Sie bleiben, solange sie Arbeit
finden, und man könnte daher glauben, daß sich nach
Abschluß der großen Bauten nunmehr ein Abfließen der
Bevölkerung geltend mache. Aber neuen Verdienst bieten
Hafen, Eisenbahn, deren Werkstätten sich unfern Tsing-
tau bei Syfang erheben, sowie namentlich die große
Kaäiserliche Werft; sie alle benötigen eine ständige Ar-
beiterschaft, und dieser werden Familien folgen. Schon
erhält man in Tapautau durchaus den Eindruck einer
seßhaft gewordenen chinesischen Bevölkerung; zahlreiche
Tsingtau. 15
Abbild. 7. Der Hafen von Tsingtau aus der Vogelschau.
Nach einem Relief im Museum für Meereskunde.
Handwerker und vor allem auch Kaufleute haben sich
hier niedergelassen. Dagegen wiegt im eigentlichen
Tsingtau das deutsche Element vor, wenn man von den
auch hier zahlreichen gelben Arbeitern, den Kulis, ab-
sieht, und man hat auf den Straßen das Gefühl, in einer
16 Meereskunde.
kleinen deutschen Stadt zu sein. Die Trennung des euro-
paischen Wohnviertels von dem chinesischen entsprang
einer vorsichtigen Überlegung; die beiden Rassen sind
zu verschiedenartig in bezug auf Lebensgewohnheiten
und Lebensanschauungen, als daß ein Durcheinanderleben
rätlich erscheinen möchte. Jedenfalls würde sich die
Reinlichkeit des europäischen Viertels kaum aufrecht er-
halten lassen, wenn hier zahlreiche Chinesen wohnen
würden. Doch muß auch gesagt werden, daß Tapautau
viel reinlicher ist als die benachbarten chinesischen Städte.
Ist auch Tsingtau in erster Linie als Stützpunkt für
dıe deutsche Flotte in Ostasien angelegt worden, so ist
doch von vornherein ins Auge gefaßt, es zu einem Han-
delshafen zu machen. Zu dem Zwecke galt es, die Gunst
der natürlichen Umstände voll auszunützen, nämlich,
einen ordentlichen Hafen anzulegen und einen Schienen-
weg ins Innere von Schantung zu schaffen.
Von der Lage des Hafens istschon die Rede gewesen.
Hier soll uns seine Einrichtung beschäftigen, die klar aus
der in Abbild. 7 gegebenen Ansicht aus der Vogelschau
erhellt. An der Südseite des großen ausgebaggerten, von
dem Schutzdamm umschlossenen Hafenbeckens ist eine
Mole mit 720 m langer Kaimauer errichtet worden,
die sich vom Lande in westnordwestlicher Richtung er-
streckt. Ihr parallel wurde später eine zweite Mole er-
baut, die sich 460 m weit erstreckt; zwischen beiden
liegt ein ı5o m breites Hafenbecken, an dessen Längs-
seiten die größten Schiffe unmittelbar an der Kaje an-
legen können. Gleiches ist auch auf der Nordseite der
zweiten Mole möglich, so daß gleichzeitig mindestens
zehn große überseeische Dampfer nebeneinander zu laden
vermögen. An den Kajen entlang sind Eisenbahngleise
geführt worden, so daß vom Schiffe direkt in den Eisen-
bahnwagen uüberladen werden kann. Auf den Molen
Tsingtau. 17
stehen die Schuppen der Hafenverwaltung, vier auf
Mole I und zwei auf Mole II. Am Westende der Mole I
befindet sich ferner das Kohlenlager der Schantung-
Bergbau-Gesellschaft. Seit I9o8 wird der Betrieb der
Hafenanlagen durch die Kajenverwaltung des Gouver-
Abbild. 85. Der Kreuzer ‚Fürst Bismarck‘ vor dem
großen Kran.
nements geführt. Die Höhe der Gebühren für Laden und
Löschen der Ladungen sowie für deren Lagerung in den
Schuppen richtet sich nach der Beschaffenheit der Ware.
Anfänglich stieß dieser Tarif auf Mißtrauen, doch haben
sowohl die europäischen wie auch die chinesischen Kauf-
leute sich bald von seiner Vorteilhaftigkeit überzeugt.
Neben den Schuppen der Hafenverwaltung befinden sich
mehrere große Privatschuppen einzelner hervorragender
europäischer Häuser und auch einer chinesischen Firma.
18 Meereskunde.
In einiger Entfernung von beiden Molen wurde eine Pe-
troleum-Mole errichtet, zu welcher Schiffe mit 7,5 m
Tiefgang gelangen können. Von hier aus führen Röhren-
leitungen in große Behältnisse auf dem Hügel von Sau-
tschutan, in die das schiffsladungsweise ankommende Pe-
troleum bequem gepumpt werden kann. Am Ende des
Hafen-Umschließungsdammes endlich liegen die Kohlen-
| schuppen, zu wel-
chen vom Lande
her auf dem
DammeeinSchie-
nenstrang führt.
Auf dem aufge-
schütteten Boden
von rund 90 000
qm befindet sich
hieraußerdemdie
TsingtauerWerft,
deren große An-
lagen nicht bloß
Abbild. 9. Bahnhof Tsingtau, davor die Reihe dieReparatur von
der chinesischen Einradkarren. Kriegsschiffen,
sondern auch den
Bau und die Reparatur von Handelsschiffen ermöglichen.
Hier steht seit 1905 ein mächtiger ı50o Tonnen - Kran
(Abbild. 8); hier ist das einzige Schwimmdock an der
Ostküste von Asien, welches fleißig benutzt wird, so im
Berichtsjahre 1908/09 an nicht weniger als 197 Tagen
von 35 Schiffen. Neben der Werft erstreckt- sich der
Ankerplatz der Kriegsschiffe. Doch sieht man meist nur
deren wenige, und der Hafen von Tsingtau erhält sein
Gepräge durch den Handelsverkehr. Er ist ein Frei-
hafengebiet; außerhalb desselben befindet sich ein kleiner
Bauhafen, und weiter südlich, an Tapautau angrenzend,
der kleine Hafen für den Dschunkenverkehr.
Tsingtau. 19
Kaum hatte Deutschland im Kiautschou-Gebiet Fuß
gefaßt, so erfolgte auch die Konzession einer Eisenbahn
in das Hinterland, und wie mannigfaltig auch die Schwie-
rigkeiten waren, die sich dem Bau teils durch außerge-
wöhnliche Hochwasser, teils durch die politischen Wirren
während des Boxeraufstandes entgegenstellten, so war
die Bahn doch bis zum vereinbarten Termine vollendet.
Am ı. Juni 1904, genau fünf
Jahre nach der Konzessionser-
teilung, wurde sie in ihrer ganzen
Länge eröffnet. Abbild. 9 zeigt
den Bahnhof Tsingtau. Die Bahn
führt in weitem Bogen um die
Kiautschoubucht herum, bis zur
Stadt Kiautschou (Sr km), die
ihr den Namen gab. Dann geht
es durch das ebene Gelände der
Kiaulai-Senke über die Kreisstadt
Kaumi (107 km) zum Weiflusse,
der auf mehrbogiger Eisenbrücke
überschritten wird. Nun biegt Abbild. ı0. Tempel in
die Bahn in flachwelligesLand, um Poschan.
zum Kohlengebiet von Fangtse
(183 km) zu gelangen, führt dann aber wieder zur Ebene bei
der betriebsamen Handelsstadt Weihsien (196 km) herab.
Am Fuße eines hügeligen Landes mit einzelnen Kuppen vul-
kanischen Gesteins gelangt sie über Tschanglohsien bis nach
Tsingtschoufu (255 km), einer durch ihre Seide altberühmten
Stadt Schantungs. Hier tritt sie hart an den Abfall eines
aus älteren Schichtgesteinen bestehenden Gebirges, der
etwas nach Norden vorspringt, und gelangt dann in eine
weite Bucht des Gebirges. Am Südende derselben liegt
das Steinkohlengebiet von Poschan, das die Chinesen seit
Jahrhunderten ausbeuten. Von T'schangtien aus (302 km)
20 Meereskunde.
entsendet sie dahin einen 43 km langen Seitenast zur
gewerblleißigen Stadt Poschan, an deren Südende ein
malerischer Tempel liegt (Abbild. 10). Bei Tsetschuan
löst sich von diesem Äste ein weiterer ab; er führt nach
dem Hungschan-Kohlengebiete, das von der Schantung-
Bergbau - Gesellschaft aufgeschlossen worden ist. Bei
Tschoutsun (320 km) verläßt die Hauptlinie den Gebirgs-
fuß und steigt in mehreren großen Windungen zu einer
breiten Einsattelung empor, welche den 850 m hohen
Gebirgsstock des Tschangpeischan von dem benachbarten
wenig niedrigeren Gebirge West-Schantungs trennt; sie
folgt hier Ausbissen von Gesteinen, die stellenweise Koh-
len führen, dann kehrt sie zum Fuße des Gebirges zuruck
und erreicht Tsinanfu (412 km), die heute auf 300 000
Einwohner geschätzte Hauptstadt von Schantung. Bis
hierher trägt von Westen das Kamel Lasten, und in der
Nähe strömt der Hoangho, auf dem sich ein lebhafter
Verkehr mit ziemlich kleinen Fahrzeugen abspielt. Tsi-
nanfu wird weiter von der Eisenbahn berührt, welche die
chinesische Regierung von Tientsin nach Nanking baut,
und die es bereits mit Tientsin verbindet.
Die Linienführung der Schantungbahn ist durch die
Natur vorgezeichnet. Sie gewinnt in der breiten Kiaulai-
Senke alsbald den Nordrand von West-Schantung und ver-
bindet hier die gewerblichen, Handel treibenden Städte
miteinander und mit Tsingtau, diesem ein Gebiet zu-
führend, das bisher im Osten Hinterland von Tschifu war
und im Westen bereits in das Einflußbereich von Tientsin
fiel. Im einzelnen aber hält sie sich möglichst dicht an
das Auftreten der kohlenführenden Gesteine Nord-Schan-
tungs, deren Ausbeute bis zu einer Entfernung bis zu
30 Li, etwa 15 km, von der Bahn deren Konzessionären
von der chinesischen Regierung eingeräumt worden ist.
Diese hat allerdings mehr erlaubt als ihr zusteht, denn
Tsingtau. Di
in China galt — wenigstens bisher — der Grundeigen-
tümer auch als der Besitzer der Bodenschätze seines
Grundes. Es würde zu unaufhörlichen Mißhelligkeiten
Veranlassung geben, wenn die Schantung - Bergbau - Ge-
sellschaft von der ihr eingeräumten Begünstigung vollen
(Gebrauch machen wollte; mit kluger Vorsicht hat sie sich
daher darauf beschränkt, Bergbau in Tiefen zu betreiben,
bis zu welchen die Chinesen nicht herabzugehen ver-
mögen, und hat sowohl bei Fangtse als auch am Hungschan
bedeutende Bergwerke errichtet. die der Bahn sowohl
Abbild. ır. Anlage der Asiatischen Petroleumgesellschaft in Tsingtau.
Feuerungsmaterial als auch reichliche Frachten ge-
währen. In ihrer gesamten Anlage und äußerst soliden
Ausführung, die ich bei einer ziemlich ausgedehnten
Draisinenfahrt kennen lernte, stellt die Schantung-Kisen-
bahn ein rühmenswertes Beispiel deutschen Unterneh-
mungsgeistes und deutscher Arbeit dar. Ihr Baukapital
von 54 Millionen Mark kam mehr als zur Hälfte an
deutsche Firmen zurück, und ihre Rentabilität, die vom
Tage ihrer Eröffnung einsetzt, bekundet ihre wirtschaft-
liche Notwendigkeit; sie hat Tsingtau zu dem gemacht,
was es schon heute ist, zu einem der wichtigeren Hafen-
plätze an der. Ostküste von Asien.
Im Handel von Tsingtau überwiegt die Einfuhr die
Ausfuhr. Voran steht die Einfuhr von Baumwollwaren und
Meereskunde.
N
W
Baumwollgarn, welche insgesamt die Hälfte des Wertes
der gesamten Einfuhr nichtchinesischen Ursprungs aus-
machen und auch unter den chinesischen Waren mit
einem Viertel von deren Wert eine große Rolle spielen.
Weiter kommt als wichtiger Einfuhrgegenstand das Pe-
troleum (vgl. Abbild. ıı); es bildet in mehreren Jahren
eın Zwölftel des Wertes der Waren nichtchinesischen Ur-
sprungs, und ein Zwanzigstel der letzteren sind Zünd-
hölzer. In gleicher Höhe halten sich dem Werte nach die
Anilinfarben einschließlich des Indigo sowie der Zucker.
Unter den chinesischen Waren steht dem Werte nach
das Papier mit rund einem Viertel des Wertes ganz
wesentlich voran. Sehr bedeutend ıst auch die Einfuhr
von KEisenbahnmaterial: früher für den Bau der Schan-
tung-Bahn und nunmehr für den Bau der Eisenbahn von
Tientsin nach Pukau gegenüber Nanking, welche bei
Tsinanfu auf einer großen, von einer deutschen Fabrik
errichteten Brücke den Hoangho überschreitet. Dieser
wichtige Ausfuhrartikel sowie die 'Gesamteinfuhr für
die Bergwerke gehen als Waren, die für öffentliche
Zwecke benutzt werden, zollfrei ein. Ihr Wert war 1909
bis 1910 etwa ı Prozent der zollpflichtigen nichtchinesi-
schen Einfuhr. Seit dem Jahre 1906 erscheinen auch alle die
Waren, die für den Gebrauch der Bevölkerung von Tsing-
tau selbst bestimmt sind, in den Einfuhrlisten. Am
ı. Januar 1906 wurde nämlich die Stadt Tsingtau, die
bisher als Freihandelsplatz galt, in die chinesischen Zoll-
grenzen eingezogen und das ganze Kiautschou-Gebiet
zollpolitisch mit dem Hinterlande vereinigt; nur noch
der Hafen als solcher ist, wie schon erwähnt, Freihafen
geblieben; lediglich die in der Kaiserlichen Werft ge-
brauchten Materialien gehen deswegen zollfrei ein.
In der Ausfuhr spielt ein Erzeugnis des Gewerbe-
fleißes von Schantung die leitende Rolle, namlich Stroh-
borten, die zur Herstellung von Strohhüten benötigt sind;
Tsingtau. 23
sie machen dem Werte nach fast vier Zehntel des Exportes
aus. Dann folgen Landesprodukte: Erdnüsse und Erd-
nußöl mit zwei Zehntel, ferner Seide in etwas wechselnder
Menge mit ungefähr einem Vierzehntel des Wertes der
Ausfuhr. In steigender Menge werden Kohlen aus dem
Innern von Schantung nach Tsingtau gebracht und von
dort verschifft. Man kann den Wert der letzteren jetzt
auf rund ein Vierzigstel des Gesamtwertes der verzeich-
neten Ausfuhr veranschlagen. Die Kohlen Schantungs
sind von verschiedener Art und Beschaffenheit; die des
Weihsienfeldes sind für Feuerungen mit großer Heiz-
fläche und schwachem Zuge gut geeignet und werden
namentlich von den Chinesen selbst gebraucht. Sie ge-
hören zu den jüngeren Kohlen Chinas, denen des Jura-
Systems. Die Kohlen des Hungschanfeldes hingegen
entstammen der Karbonperiode und haben ganz und gar
die Qualitäten echter Steinkohle; sie sind als Feuerungs-
material für Dampfer bereits erprobt worden. Erst seit
dem Jahre 1907 kommen die Hungschankohlen nach
Tsingtau und gegenwärtig bereits in fast gleich großer
Menge wie die Kohlen des Weihsienfeldes, wo die Pro-
duktion in jüngster Zeit etwas eingeschränkt worden ist,
da die Kohlen nicht gleiche Verwendbarkeit wie die der
Karbonformation aufweisen. Wir geben in folgender Ta-
belle einen Überblick über die Kohlenausbeute in den
deutschen Gruben der beiden großen Bergbaudistrikte
von Schantung. Daneben findet noch eine lebhafte Aus-
beutung namentlich in der Gegend von Poschan durch
Chinesen statt. Unsere Tabelle gibt einen Einblick über
die in Tsingtau zum Verkaufe gelangten und teilweise
verschifftten Kohlenmengen, und das Tonnen
nebenstehende Diagramm zeigt, wie die Zr
A
Kohlenausbeuten (A) und derKohlenver- er -
kauf in Tsingtau (V) angewachsen sind. io .
24 Meereskunde.
24
Kohlenausbeute (A) der deutschen Bergwerke in Schan-
tung und der Kohlenverkauf in Tsingtau (V).
Weihsien- Hungschan- Weihsien- Hungschan-
feld: Aint feld: A int feld: Vint feld: Vint
TIORn 3 250 E= TODE — =
TOOSWRR Eee 38 262 == T9ORFEN re 3 360 —
TIOA. 84 888 — LOCO ATER 9 780 =
TOO ARE re 132 90I — ETGOSERE 40 640 -
To 00 162 417 — | 19008. 65 505 —
TOOH Re: 151552 27 TORE NETTE TE 39 442 1245
1908 183 0IO 48 458 T9OS 49 613 5513
TIOG re E 287 460 123701 TOO RE 93 613 33 012
NOMS on a DAHER | Dt 0%) TOLOSEREF RE 69 467 69 209
Auch Salz spielt in der Ausfuhr von Tsingtau eine
wichtige Rolle. Es wird an verschiedenen Stellen der
Kıiautschoubucht, namentlich auf der beinahe landfest ge-
wordenen Insel Yintau, seit 1903 gewonnen, in Dschunken
nach Tsingtau gebracht und geht von dort mit Dampfern
nach dem Süden Chinas, namentlich in das Yangtse-
gebiet, nach Hongkong sowie nach Norden nach Wladi-
wostok. Endlich sei auch der Viehausfuhr von Tsingtau
gedacht, die sich namentlich nach Wladiwostok richtet.
Nach den Zusammenstellungen der chinesischen See-
zollbehörde hat sich die Einfuhr der nichtchinesischen
Waren innerhalb von acht Jahren versechsfacht, der chi-
nesischen Waren hingegen vervierfacht. Aber noch be-
trächtlicher ist das Anwachsen der Ausfuhr gewesen: sie
hat sich in acht Jahren verelffacht, und während sie 1900
bis 1902 lediglich die Höhe der Einfuhr chinesischer
Waren erreichte, so hat sie sich nun bereits über die
Höhe der Einfuhr der Waren nichtchinesischen Ursprungs
gehoben. Letztere war in den letzten Jahren durchschnitt-
lich zwei- bis dreimal so groß als die Einfuhr der chinesi-
schen Waren. Während 1901 bis 1902 die Ausfuhr nur
27 Prozent des Gesamthandels ausmachte, hat sie sich
1909 bis I9IO auf 45 Prozent desselben gehoben. Die
tv
a
Tsingtau.
Bedeutung des Gesamthandels aber wird am besten da-
durch charakterisiert,- daß Tsingtau bereits zehn
Jahren deutscher Verwaltung an die siebente Stelle unter
den chinesischen Seezollämtern rückte und bereits 1907
nach
nur von Schanghai, Kanton, Tientsin, Hankau, Swatau
und Tschin-Kiang übertroffen wurde. 20 Prozent der
Einnahmen des Seezollamtes Be
werden an die Verwaltung des ren
Kiautschou-Gebiets abgeführt. %
Nebenstehende Zeichnung ver- an
anschaulicht das Anwachsen
des Handels von Tsingtau; die
Werte, um die es sich handelt,
gibt unsere Tabelle an.
1901/2
Handel von ee in Millionen Mark.
1901/02 1902/03 | 1903/ v4 | 1904, 05) | 1905 06. 1906/07 | 1907, 08 | 1908/09 | 1909/10
| l l
Gesamteinfuhr von Waren | | | |
nicht chinesischen Ur- | |
sprungs (ausschl. Mate- £ |
rialien für Eisenbahn- |
und Bergbau)... ... 7,844,14,893 23 251132,515 48,324 61,560 37,965 45,579| 48,396
Gesamteinfuhr von Waren | | |
chinesischen Ursprungs | 4,672| 8,058 10,672 12,129 14.747| 20,810 17,413) 23,460 17,067
Gesamtausfuhr....... 4,918| 7,973|14,305|19,882|22,535| 34,2 223 32,596 47,343 54,731
Zusammen ... |17:434'30,924 48,228/64,526 85, 606 116, ‚593 187, 974 116,382 120,194
Die offiziellen Angaben über Einfuhr
und Ausfuhr werden in mexikanischen Dollars
gemacht, deren Wert wie folgt schwankt:
Wert des Dollars = Mark] 1,86 | 1,79 | 1,94 | 1,99 | 2,17 | 2,26 | 1,77 1.79 1,37
Dem steigenden Handel entspricht ein ständiges
Wachstum des Schiffsverkehrs ın Tsingtau, das aus
0000 Tons
unserer Zeichnung und Tabelle
erhellt "Sieht den
Dschunken ab, so hat dieser sich „,. ans
Pr 1898 190
binnen zwölf Jahren bis zur Höhe en
‚00 Schiffe
des Verkehrs von Emden oder
man von
26 Meereskunde.
Schiffsverkehr von Tsingtau.
Einlaufende Schiffe (nur solche europäischer Bauart, keine Dschunken).
1.Oktoberbis
30.September
Insgesamt
Segler
Zahl | Netto-R.T.
_ Dampfer
Zahl 'Netto-R.T.
Zahl Netto-R.T.
1898,1899. .| 167 — 9 | — 176 —
1899/Igoo.. ..| 182 210 796 *1K0) 15 356 192 102200152
Igoo/Igo1..| 311 463 977 5 7979 316 | 471956
I901/Igo2. .| 243 261 809 7 Io 058 250 271 867
1902/1903... | 263 276 393 9 9 976 272 286 369
1903/1904... | 330 | 381419 7 6 904 337 | 388 323
1904/1905... .| 405 4Io 355 8 10 162 413 420 517
1905/1906... . | 42 475 884 I 762 425 476 646
1906/1907... | 498 | 544 786 I 2.057 499 | 546843
1907/1908. .| 431 SI7TAA! I 1578 432 519 292
1908/1909. . | 509 665 534 2 4551 5II 670 085
1909/1910. .| 568 806 759 2 -- 568 806 759
Lübeck unter den Häfen des Deutschen Reiches entwickelt
(vgl. Tabelle); er steht in bezug auf die Tonnenzahl der ver-
kehrenden Schiffe unter den deutschen Ostseehäfen
nur Stettin, Rostock und Neufahrwasser nach und ist
dem des letzteren neuerlich sehr nahe gekommen. Das
gilt aber nur vom Tonnengehalt, nicht von der Zahl der
verkehrenden Schiffe; denn letztere sınd fast ausschließ-
lich Dampfer, und zwar solche regelmäßig verkehrender
Linien. Die Hamburg-Amerika-Linie unterhält einen
regelmäßigen Verkehr zwischen Tsingtau, Schanghai so-
wie Tientsin durch drei Dampfer von rund 1000 Tonnen
Gehalt, namlich „Admiral v. Tirpitz“, „Staatssekretär
Kraetke“ und „Sikiang“. Wöchentlich zweimal fahren
Dampfer nach Schanghai und zurück, einmal nach Tien-
tsın und zurück. Außerdem fahren zwischen Tsingtau
und Schanghai wöchentlich die Dampfer ‚„Taksang‘“ der
India-China Steam Navigation Co. und „Singlee“ der
Firma Siemssen & Co. Japanische Dampfer unterhalten
-6061 saquısYdas 'E we JJ ajoy ne yoıg ZI 'PIIqqV
Rn 20 gan na nme m
28 Meereskunde.
eine monatliche Verbindung nach Kobe in Japan. In
letzter Zeit ist der Verkehr nach Wladiwostok ein ziem-
lich lebhafter geworden: 1908 bis 1909 gingen nicht
weniger als 43 Dampfer dorthin. Dagegen ist der direkte
Verkehr mit Europa noch ein verhältnismäßig geringer.
Erst im Jahre 1908/09 nahm er eine gewisse Regelmäßig-
keit an, als die englische Peninsular and Oriental Steam
Navigation Co. ihre großen Dampfer regelmäßig Tsing-
tau anlaufen ließ. Dann folgten seit 1909 bis 19IO auch
die Reichspostdampfer des Norddeutschen Lloyds, all-
monatlich einmal bei der Ausreise und Heimreise. Auch
die japanische Gesellschaft Nippon Yusen Kaisha betei-
ligt sich neuerlich am direkten Verkehre nach Europa.
Nicht unerheblich endlich ist der Verkehr von Petroleum-
Schiffen, die, von Amerika oder Südasien kommend, etwa
monatlich einmal nach Tsingtau gelangen. Letzteres
spielt also im lokalen Verkehre an der chinesischen Ost-
küste eine recht ansehnliche Rolle und wird seit kurzem
auch in den großen Weltverkehr einbezogen, der von
Europa nach Ostasien führt und dessen Endstation
Yokohama ist.
Zur ursprünglich geplanten Flottenstation Tsingtau
hat sich aber nicht bloß ein lebhafter Handelshafen ge-
sellt, sondern Tsingtau ist auch Seebad geworden: Die
Auguste-Viktoria-Bucht östlich der Stadt bietet einen vor-
zuglichen Badestrand (Abbild. 13), und hier entwickelt sich
während der Sommermonate ein recht lebhaftes Bade-
leben; es kommen alljährlich einige hundert Europäer
oder Amerikaner aus den ostasiatischen Städten, um die
Annehmlichkeiten eines nicht allzuwarmen Sommers zu
genießen: sie finden in den Tsingtauer Bergen eine
Menge anmutiger Spaziergänge zwischen dem rasch em-
porwachsenden Nadelwalde. Aber auch weiterhin bietet
die Umgebung von Tsingtau landschaftliche Reize. Dies
Tsingtau. 29
gilt insbesondere vom Lauschangebirge, ein Granit-
gebirge, welches sich dicht am Meere bis zu Brockenhöhe
erhebt. Man kann es unter den deutschen Gebirgen der
Form nach am besten mit dem Riesengebirge vergleichen;
es besteht aus mehreren parallel gerichteten Kämmen,
auf deren bequem gangbaren Flächen sich ähnlich den
Steinen des Riesengebirges oder den Klippen des Brockens
einzelne Felsgestalten von 50 bis 60 m Höhe erheben. Sie
scheinen nur ein Haufwerk lose übereinanderlagernder
Abbild. ı3. Badestrand von Tsingtau an der Auguste-Viktoria-Bucht.
mächtiger Granitblöcke zu sein, doch stellen sie in Wirk-
lichkeit feste Aufragungen dar, die nur äußerlich durch
die Verwitterung stark angegriffen sind. Sie bieten dem
Bergsteiger prächtige Gelegenheit für Kletterpartien: da
ist die schwer ersteigbare „Fünffingerspitze‘“ und der
schwierig zugängliche „Dom“ (Abbild. 14 u. ı5). Der
Gipfel des Lauschan selbst ist durch den Alpenverein in
Tsingtau leicht gangbar gemacht worden; überdies hat
der genannte Verein durch das ganze Gebirge ein Netz
von bequemen Fußpfaden angelegt und einzelne Unter-
kunftshäuser errichtet, von denen man ebenso leicht zu
aussichtsreichen Gipfeln wie zu einzelnen malerischen
Waldpartien oder zu Wasserfällen der dem Gebirge ent-
strömenden Flüsse gelangen kann; ja, einzelne Deutsche
30 Meereskunde.
haben bereits sich Landhäuser im Gebirge errichtet.
Mitten im Gebirge hat ferner die Deutsche Kolonial-Ge-
sellschaft im Jahre 1904 ein Genesungsheim erbaut, das
„Mecklenburghaus‘, das, auf einem Passe gelegen, den
Erholungsbedürftigen der Garnison frische Luft und
prächtige Umgebung darbietet. Ungemein reizvolle
lLandschaftsbilder finden sich namentlich an der Süd-
Abbild. 14. Fünffingerspitze im Lauschan.
küste: da liegen in Winkeln versteckt kleine Dörfer,
malerisch beschattet von Bäumen, während draußen das
Meer an die Vorgebirge brandet. Neben dem Lauschan-
gebirge bieten die bei weitem niedrigeren, aber gleich-
falls mit steilen Gipfeln ausgestatteten Prinz Heinrich-
Berge prächtige Ausflüge.
Soweit es Land umfaßt, deckt das Kiautschou-Ge-
biet 501 qkm und hatte nach einer Ermittlung des Jahres
1898 eine Bevölkerung von rund 84 000 Seelen, die 1910
(ohne Tsingtau) auf 127 000 gestiegen ist. Damals kamen
also auf den Quadratkilometer 168, heute 254 Bewohner,
und wenn man die 38 000 Einwohner von Tsingtau hinzu-
nımmt, gar 330. Das sind Zahlen von einer Höhe, wie sie
Tsingtau. 31
in Europa nur dicht besiedelte Industriegebiete, wie z. B.
das Königreich Sachsen, aufweisen, und sie sind um so
überraschender, als nahezu die Hälfte des gesamten Ge-
bietes Gebirge mit recht steinigem Boden ist. Aber der
genügsame Chinese weiß hier immer noch ein Winkel-
chen zu finden, wo er ein Feld anzulegen vermag, und
kleine Dörfer sind über das ganze Lauschangebirge bis
zu Höhen von 500 m verstreut; es finden sich selbst hier
mehr als 100 Bewohner auf der Flächeneinheit. Viel stärker
Abbild. ı5. Der Dom im Lauschan.
sind natürlich die Ebenen besiedelt, die sich zwischen das
Gebirge drängen, und die einzelne Zuflüsse des Litsuner
Flusses und des Paischaho begleiten. Hier liegen stattliche
Dörfer, deren erdfarbenen Häusern allerdings der freund-
lich anheimelnde Zug unserer Dörfer fehlt, und es finden
sich 300 bis 400 Menschen auf den Quadratkilometer. Das
Dorf Litsun ist ein wichtiger Markt für die örtlichen Be-
dürfnisse; der Markt selbst wird bezeichnenderweise im
Flußbette abgehalten, welches den größten Teil des Jahres
über trocken liegt und nur zur Regenzeit sich mit Wasser
füllt. Die Ermittlung der Einwohnerzahl des Kiautschou-
Gebietes gibt zum ersten Male die genauere Feststellung
der Zahl der Menschen in China in einem rein landwirt-
schafttreibenden Gebiete. Man kann nach ihrem Ergeb-
nisse den Angaben chinesischer Quellen einiges Zutrauen
32 Meereskunde.
entgegenbringen, wonach auf der Halbinsel Schantung
in der Provinz gleichen Namens auf 150 000 qkm 37 Milli-
onen Menschen wohnen. Die Würdigung dieser Zahl
aber ıst von größter Bedeutung für die Bewertung des
gesamten Kiautschou-Gebietes.
Es ist ein Bild von einer stattlichen geleisteten Ar-
beit und stetigen rüstigen Fortschrittes, den der Blick
auf [singtau entrollt. In raschem Fluge hat es sich unter
die sieben ersten der 36 Vertragshäfen gestellt, welche
China dem Verkehr mit der Fremde geöffnet haben, und
zweifellos wird Tsingtau noch weiter fortschreiten in der
erfolgreich eingeschlagenen Bahn und noch weiter in den
\ ordergrund unter den chinesischen Vertragshäfen
rücken. Nur darf man nicht erwarten, daß es die Stellung
von Hongkong erlangen wird; denn dessen Lage ist eine
unvergleichlich viel günstigere. Alle die Schiffe, die von
Europa nach dem fernen Osten Asıens gelangen wollen,
müssen eben Hongkong passieren, und ebenso alle Schiffe,
die von Amerika nach dem Süden Asiens sich richten.
Tsingtau liegt etwas abseits von diesen großen natür-
lichen Verkehrslinien. Selbst die Schiffe, die von Schang-
hai in den Golf von Tschili, nach Tschifu oder Dalny oder
Tientsin steuern, müssen einen Umweg von rund
121 Seemeilen machen, entsprechend zehn Stunden
Dampferfahrt, wenn sie Tsingtau anlaufen wollen. In
dem Umstand, dab sie es heut größtenteils tun, liegt der
schlagende Beweis für die Anziehungskraft des deutschen
Hafens. Der Weg zu ihm ist nicht unwesentlich abge-
kürzt worden, als die Schiffe der Hamburg-Amerika-
Linie es wagten, über die Bänke hinweg zu fahren, welche
ältere Seekarten nördlich der Mündung des Yangtsekiang
angeben. Sie haben festgestellt, daß hier durchweg die
erforderlichen Tiefen vorhanden sind, und Vermessungen
des Schiffes „Iltis“ haben dann klargelegt, daß die viel
Tsingtau. 33
gefürchteten Bänke eine ganz andere Lage besitzen, als
auf den englischen Seekarten angegeben. Für die Dampfer
aber, welche zwischen Schanghai und Japan verkehren,
‚bedeutet der Besuch von Tsingtau einen Umweg von
nicht weniger als 430 Seemeilen, also rund 36 Stunden
Fahrt. Ein solcher Umweg kann nur dann gemacht
werden, wenn ihn der
Handel von Tsingtau
bezahlt macht: Die
Größe dieses Handels
aber hängt von der
Größe und dem Reich-
tum des natürlichen
Hinterlandes von
Tsingtau ab. Nie wird
er eine ähnliche Be-
deutung erlangen kön-
nen, wie der Handel
&
‘
Nagasa h.
1:30 000000
010 200 300 WO S00 km
von Schanghai, wel- Abbild. 16. Eisenbahnen um Tsingtau.
chem das ganze weite,
große und fruchtbare Gebiet des Yangtsekiang offen-
liegt, und es wird auch Tsingtau wohl nicht die
Bedeutung von Kanton erhalten, dem das zweite Ge-
biet des Sikiangstromes zufällt. Dagegen kann Tsing-
tau wohl ein ernsthafter Rivale von Tientsin werden,
denn wenn letzteres auch zwei der größten chinesischen
Städte, Tientsin und Peking, zu versorgen hat, so ist doch
sonst sein Hinterland verhältnismäßig dünn besiedelt. Es
birgt innerhalb der großen Gaue in der Provinz Tschili
nur halb so viel Einwohner, als das Hinterland von
Tsingtau auf der Halbinsel von Schantung. Sehr viel
weiter jedoch dürfte sich die Einflußsphäre von Tsingtau
kaum jemals erstrecken, namentlich dürfte ihr nicht das
weite Gebiet des Hoangho zufallen. Der Punkt nämlich,
4 Meereskunde.
nm
wo der große Strom aus dem Gebirge unfern Kaiföng
heraustritt, liegt etwa gleich weit von Tientsin, von
Tschinkiang am Yangtsekiang und von Tsingtau entfernt,
ist aber von beiden erstgenannten Häfen auf direkterem
Wege zugänglich und fällt also eher in deren Einzugs-
gebiet als in das des deutschen Hafens. Selbst das west-
liche Schantung ist nicht dessen unbestrittenes Hinter-
land; denn der Weg von Tsinanfu nach Tientsin ist etwas
kürzer als der von dort nach Tsingtau, weswegen bei ent-
sprechender Verwaltung die kürzlich eröffnete chinesi-
sche Eisenbahnlinie von Tientsin nach Tsinanfu den Ver-
kehr von Tsinanfu nach Tsingtau etwas schmälern kann,
während anderseits sie auch der deutschen Eisenbahn-
linie neuen Verkehr zuführen dürfte. Dazu gesellt sich
eın weiterer Vorteil, nämlich den direktesten Weg vom
offenen Meere nach der chinesischen Hauptstadt darzu-
bieten, einen Weg, der in halb so viel Zeit zurück-
gelegt werden kann, wie heute die Dampfer benötigen,
und der unabhängig ist von dem winterlichen Eise,
welches den Hafen von Tientsin alljährlich blockiert.
Aber dieser Vorteil wird wieder teilweise verloren gehen,
wenn die Fortsetzung der Tientsin— [sinanfu-Bahn nach
Pukau am Yangtsekiang gegenüber von Nanking gelangt
sein wird, von wo bereits eine Eisenbahn nach Shanghai
führt. Dann wird Schanghai der Hafen werden, von dem
der von der See kommende rasche Reisende nach Peking
fährt, möge er von Japan oder vom Süden her kommen.
Schantung selbst ist allerdings ein Einzugsgebiet,
das einen stattlichen Hafen zu speisen vermag; ist es
doch ein Land von wahrscheinlich 37 Millionen Bewoh-
nern, also mit einer Seelenzahl von 34 Japan. Allerdings
bietet die Landesnatur weder die malerischen Reize noch
die klimatische Begünstigung von Japan dar. Auch ist
der Kohlenreichtum von Schantung entschieden nicht so
groß, wie bisweilen angenommen worden ist; selbst im
Tsingtau.
>
Iı
Hungschangebiete ist die Gesamtmächtigkeit der Kohle
nur 2,7 m, und diese verteilt sich auf nicht weniger als
fünf verschiedene Flötze. Aber es kann keinem Zweifel
unterliegen, dab dann, wenn es gelingt, die großen Men-
schenmassen von Schantung ım Sinne der modernen
Abbild. 17. Das Grab des Konfutsius in Küfou-hsien.
Weltwirtschaft zu beschäftigen, sie für industrielle Ar-
beiten heranzuziehen, für welche der Boden von Schan-
tung nicht bloß die erforderlichen Kohlen, sondern
namentlich auch die nötigen FEisenschätze darbietet,
sich die Bedeutung von Tsingtau mehr und mehr heben
wird und der größerer japanischer Häfen nahezu gleich-
kommen wird. Von diesem Augenblicke an aber werden
sich die Wege des Weltverkehrs ebenso nach Tsingtau
richten, wie heute nach Japan.
36 Meereskunde.
Es kommt also im wesentlichen darauf an, die Be-
völkerung von Schantung wirtschaftlich zu heben. Die
Marineverwaltung hat diese Notwendigkeit mit voller
Nlarheit erkannt, und Tsingtau hat die Mittel und Wege
erhalten, auf das geistige und wirtschaftliche Leben von
Schantung einen maßgebenden Einfluß auszuüben. Es
ist 1910 eine chinesische Hochschule errichtet worden,
welche in Tsingtau jungen Chinesen die Möglichkeit
darbietet, sich mit der abendländischen, speziell deutschen
Kultur vertraut zu maehen.. Tsingtau wird in Zukunit
nicht bloß ein Hafen sein, in welchem deutsche und chine-
sısche Waren ein- und ausgeführt werden, sondern es
wird auch die Stelle, wo deutsche Kultur mit der chine-
sischen einen Berührungspunkt gewinnt. Dies ist aber
um so höher zu schätzen, als Schantung im geistigen
Leben Chinas von altersher eine hervorragende Rolle
spielt: es ist das Geburtsland des großen chinesischen
Sittenlehrers RK onfutsıus, won "Kunert
dessen Nachkommen noch ım Lande leben.
Literatur,
Ferdinand Freiherr v. Richthofen. China. Ergebnisse eigener
Reisen und darauf gegründeter Studien. II. Bd. Berlin 1882.
Kiautschou. Seine Weltstellung und voraussichtliche Be-
deutung. 26. Dezember 1897. Berlin. Georg Stilke.. —
Schantung und seine Eingangsptorte Kiautschou. Berlin 1898.
Fr. Behme und M. Krieger. Führer durch Tsingtau und Um-
gebung. Wolfenbüttel. 4. Aufl. 1910.
G. Wegener. Das Kiautschougebiet. In Hans Meyer. Das Deutsche
Kolonialreich, II. S.499. Leipzig 1910. Bibliographisches Institut.
Dr. Betz. Die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz Schantung
seit der Eröffnung Tsingtaus (1898 bis 1910). Veröffentlicht
von der Handelskammer in Tsingtau. Tsingtau ıgır.
Denkschrift betreffend die Entwicklung des Kiautschou- Gebietes.
Für die Jahre 1898/1899 bis einschließlich 1908/1909 alljährlich
erschienen.
Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn,
Berlin SW., Kochstraße 68 —71.
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