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Full text of "Metaphysik des Altertums"

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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 
VON 

JULIUS  STENZEL 


Hans  Heinrich  Schaeder 
gewidmet 


I.  EINLEITUNG. 


1.  VORLÄUFIGE  BEGRENZUNG  DES  BEGRIFFS  METAPHYSIK. 

Metaphysik  ist  weder  ein  eindeutiger  noch  ein  ohne  weiteres  in  einer 
Definition  bestimmbarer  Begriff.  Die  übliche  Definition  ist:  Lehre  vom 
Sein,  also  Ontologie.  Die  Griechen  haben  sehr  früh  über  ov,  ovata  speku- 
liert. Man  könnte  also  die  Aufgabe  darauf  beschränken,  durch  möglichst 
genaue  Interpretation  festzustellen,  was  diejenigen  Griechen,  die  über 
ov  und  otiaCa  gesprochen  haben,  eigentlich  darunter  verstanden  haben. 
Die  moderne  Ontologie  hat  uns  aber  den  Blick  dafür  geschärft,  daß  die 
Frage  nach  dem  Sein  und  dem  Seienden  aufs  engste  verbunden  ist  mit 
der  Frage  nach  dem  Dasein  des  Fragenden  selber,  und  hat  uns  den  Zu- 
sammenhang von  Sein,  Welt-  und  Selbstbewußtsein  als  eigentliches 
Problem  jeder  Metaphysik  kennen  gelehrt.  Da  in  jeder  Epoche  der  Ge- 
schichte ein  Zusammenhang  zwischen  den  theoretischen  Lehren  über  das 
Sein  und  zwischen  dem  Weltdenken  und  unmittelbar  erlebten  Welt- 
fühlen besteht,  so  soll  hier  einmal  ausdrücklich  dieser  Zusammenhang 
von  vornherein  beim  Anfassen  der  Aufgabe  mitberücksichtigt  werden. 
Das  bedeutet,  daß  nicht  einfach  versucht  wird,  nur  die  bewußten  Lehren 
über  Sein  und  Seiendes  zu  deuten,  sondern  mit  dieser  Aufgabe  ausdrück- 
lich verbunden  wird  die  weitere:  zu  erkennen,  wie  die  Griechen  auch 
in  ihrer  vor-  und  außertheoretischen  Haltung  ihr  Dasein  in  der  Welt 
aufgefaßt  und  zum  Ausdruck  gebracht  haben.  Untersuchungen  über  den 
griechischen  Geist,  den  griechischen  Menschen,  die  griechische  Welt- 
anschauung sind  nicht  neu;  was  hier  versucht  wird,  ist,  diese  etwas 
verschwimmende  schwer  faßbare  Aufgabe  von  vornherein  im  ausdrück- 
lichen Hinblick  auf  die  bewußte  griechische  Seinslehre  hin  durchzuführen 
und  beides,  die  bewußt-philosophischen  Lehren  vom  Sein  und  die  Selbst- 
auffassung dieser  gesamten  Kultur  als  Entwicklung  einer  konkreten 
historischen  Gegebenheit  in  ihrer  zeitlichen  und  räumlichen  Entfaltung 
zu  begreifen. 

Diese  notwendige  Erweiterung  unserer  Darstellung  über  die  aus- 
drücklichen metaphysischen  oder  genauer  ontologischen  Erörterungen 
innerhalb  der  antiken  Philosophie  hinaus  auf  die  Art  und  Weise,  wie  das 
ganze  Dasein,  das  Orientiertsein  in  der  Welt,  sich  philosophisch  aus- 
drückt, soll  demnach  nur  dem  obersten  Zwecke  dienen,  die  eigentlichen 
Theorien  des  Seins  in  ihrem  geschichtlich  konkreten  geistigen  Leben 

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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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und  damit  in  ihrer  überzeitlichen  sachlichen  Bedeutung  klarer  werden 
zu  lassen.  Ober  die  klassischen  Darstellungen  der  theoretischen 
Ontologie  hinauszugehen  wird  sich  aber  auch  deshalb  als  notwendig 
erweisen,  weil  sonst  die  metaphysische  Bedeutung  weder  der  archaischen 
noch  der  hellenistischen  und  besonders  der  römischen  Philosophie  faßbar 
wird.  Denn  was  der  ersten  und  im  Grunde  an  Wucht  und  Kraft  unüber- 
botenen  Ontologie  der  Eleaten  vorhergeht  und  sie  vorbereitet,  ist  auch 
für  deren  Verständnis  grundwichtig,  ganz  abgesehen  von  dem  hohen 
Reiz,  den  dieses  fragmentarische  und  in  wenigen  Trümmern  uns  über- 
lieferte Denken  für  jeden  Betrachter  haben  muß.  Die  vorläufige  De- 
struktion der  eleatischen  Metaphysik  in  der  Sophistik  ist  wieder  alles 
andere  als  bewußte  Ontologie  und  doch  eine  metaphysische  Angelegen- 
heit allerersten  Ranges  und  höchster  Aktualität.  Was  andrerseits  nach 
der  klassischen  Fundierung  der  Metaphysik  durch  Piaton  und  Aristoteles 
an  Neuem  in  der  Geschichte  der  Metaphysik  hinzutritt,  ist  keine  neue 
Gedankenbildung  im  eigentlichen  Sinne,  sind  keine  neuen  theoretischen 
Begriffe,  sondern  ist  der  Einsatz  des  reichen  metaphysisch-ontologischen 
Gedankengutes  der  Vorzeit  zum  Ausdruck  eines  sich  im  Tiefsten  ver- 
ändernden Selbst-  und  Wirklichkeitsbewußtseins.  Dies  gilt  nicht  nur  für 
die  Metaphysik  des  Hellenismus,  sondern  auch  für  die  letzte  große  geistige 
Leistung  der  antiken  Philosophie,  für  Plotin  und  den  sogenannten  Neu- 
platonismus;  in  ihm  sucht  eine  ganz  allmählich  sich  vollziehende  Ver- 
änderung des  geistigen  Seins  ihren  letzten,  zusammenfassenden  Ausdruck, 
und  zwar  wird  in  bewußtem  Zurückgreifen  auf  die  ältere  Philosophie 
deren  gedankliche  Fülle  nun  zum  letzten  Male  innerhalb  der  Antike 
neu  erfaßt  und  gedeutet. 

2.  METHODE  UND  ÄUSSERE  BESCHRÄNKUNG  DER  DURCH- 
FÜHRUNG. 

Die  Durchführung  unserer  Aufgabe  kann  hier  nur  in  einer  zusammen- 
fassenden Darstellung  geschehen,  und  die  eindringende  Einzelinterpre- 
tation wird  auf  die  wenigen  Höhepunkte  der  bewußten  Seinsspekulation 
beschränkt  werden  müssen.  Die  Fühlung  mit  der  konkreten  historischen 
Substanz,  auf  die  natürlich  alles  ankommt,  muß  für  die  übrigen  Gebiete 
der  zu  behandelnden  Aufgabe  auf  andere  Weise  gesichert  werden ;  es  muß 
zunächst  der  Nachweis  geführt  werden,  daß  der  Seinsbegriff  in  diesem 
doppelten  Sinne,  einmal  gerichtet  auf  Sache  und  objektives  Sein,  zum 
andern  gerichtet  auf  das  Subjekt,  das  dieses  Sein  denkt,  kurz  der  Zu- 
sammenhang von  Erkenntnis  und  Persönlichkeit  in  anderer  Form 
seit  langem  das  treibende  Problem  der  Altertumswissenschaft  ist,  und 
daß  die  Energien  dieser  dem  Altertum  spezifisch  zugewandten  Wissen- 
schaft der  philosophischen  Bearbeitung  dieser  Aufgabe  zugeführt  werden 
können.  Die  verfeinerten  Mittel  der  Philologie  sollen  im  folgenden  auf 
ihre  Verwendbarkeit  für  unsere  Aufgabe  geprüft  werden. 


D     METHODE  U.  ÄUSSERE  BESCHRÄNKUNG  D.  DURCHFÜHRUNG  5 


Man  hat  in  neuerer  Zeit  in  der  Altertumswissenschaft  für  die  Verände- 
rungen eines  gedanklich  identischen  Motivs,  gleichviel  ob  künstlerischer 
oder  wissenschaftlicher  Art,  den  Begriff  des  Formwandels  eingeführt. 
Form  ist  hier  die  aus  dem  Wesen  einer  individuellen  Situation  entsprin- 
gende Abwandlung,  in  der  „dieselben  Gedanken44,  „dasselbe44  plastische, 
malerische  oder  literarische  Motiv,  „dasselbe44  stilistische,  wissenschaft- 
liche oder  religiöse  Prinzip  in  einer  andern  geistigen  Umwelt  sich  dar- 
stellen. Durch  diesen  Formbegriff  erhält  diese  allgemein  erstrebte  „geistes- 
geschichtliche44 Methode  ein  bestimmtes  Ziel.  Sie  läßt  sich  auf  die  Philo- 
sophiegeschichte ausdehnen.  Die  Totalität  des  geistigen  Lebens  in  seiner 
jeweiligen  geschichtlichen  konkreten  Individualität  ausdrücklich  zum 
Gegenstande  der  Betrachtung  zu  machen,  die  Einheit  zu  zeigen,  aus  der 
sich  die  besondern  religiösen,  ästhetischen,  literarischen  Züge  verstehen 
lassen,  dieses  Ziel  darf  auch  in  einer  Geschichte  der  Metaphysik  nicht 
fehlen.  Hier  liegt  das  Gebiet  jener  nicht  über  das  Sein  reflektierenden, 
sondern  den  Sinn  des  Seins  unmittelbar  darstellenden  metaphysischen 
Haltung,  von  der  wir  gesprochen  haben.  Was  Form  hier  dem  Ganzen  des 
Seins  gegenüber  bedeutet,  das  bedarf  freilich  einer  näheren  Bestimmung. 
Die  Erweiterung  und  Verwicklung  unserer  Aufgabe  durch  die  Einbe- 
ziehung auch  der  Nicht-Philosophen  würde  nicht  gerechtfertigt  sein, 
wenn  nicht  in  der  heutigen  systematischen  Behandlung  der  Metaphysik 
eine  Einbeziehung  des  geistigen  Daseins  geschichtlicher  Individualität 
selbst  neu  begründet  worden  wäre.  Mit  immer  größerer  Klarheit  ist 
neuerdings  die  innere  Verbindung  der  metaphysischen  Seinsfrage  mit 
der  nach  dem  Dasein  des  Menschen  in  der  Geschichte  begriffen  worden. 
Zwar  darf  man  ohne  Zweifel  Metaphysik  der  Natur  definieren  als  „Wirk- 
lichkeitslehre44 (Driesch,  dieses  Handbuch  S.  3,  4),  als  Lehre  vom  Wirk- 
lichen an  sich,  als  von  dem,  was  nicht  nur  für  mich,  nicht  nur  „Er- 
scheinung44 ist;  aber  die  Geschichte  der  Metaphysik  zeigt  als  deren 
wichtigste,  immer  wieder  bestätigte  Wahrheit  ein  eigentümliches  Um- 
biegen dieser  Gedankenrichtung.  Das  metaphysisch  forschende  Subjekt, 
das  sich  bemüht,  absolutes  Sein  zu  erfassen,  findet  sich  an  entscheiden- 
der Stelle  zurückgeworfen  auf  sich  selbst,  auf  einen  inneren  Kern  und 
Grundbestand  seines  eigenen  geistigen  Daseins,  mit  dem  das  Sein  und 
Wesen  der  sogenannten  äußeren  Wirklichkeit  in  enger  Wechselbeziehung 
verbunden  bleibt.  Auch  hier  taucht  zur  Bezeichnung  dieses  Wechselver- 
hältnisses zwischen  Innen  und  Außen,  zwischen  Ich  und  Gegenständlich- 
keit, zwischen  Begriff  und  Gegebenheit  immer  wieder  das  Wort  „Form44 
und  „Formung44  auf,  um  den  Anteil  des  Subjektes  an  der  Gestaltung 
und  Erfassung  der  objektiven  Wirklichkeit  zu  bezeichnen.  Wie  in  den 
verschiedenen  geschichtlichen  Stufen  die  Anordnung  und  Gestaltung 
einzelner  geistiger  Gehalte  aus  einer  konkreten  personalen  Einheit  als 
Formung  bezeichnet  werden  konnte,  so  erscheint  hier  analog  der 
tätige  Anteil  des  Subjektes,  das  das  Ganze  der  Wirklichkeit  begreift 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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und  ihre  Mannigfaltigkeit  denkend  vereinheitlicht,  ebenfalls  als  ein 
Formungsprozeß  allgemeiner  Art.  Wie  verschieden  auch  die  Gesichts- 
punkte sind,  unter  denen  im  einzelnen  Falle  die  Formung  einer  „Ge- 
gebenheit^ vollzogen  wird  und  wie  abgestuft  die  Einheitsvorstellungen, 
die  als  Träger  dieser  Formkraft  unterschieden  werden  können  und  müssen, 
BO  wichtig  ist  die  Tatsache,  daß  es  immer  ein  konkreter  wirklicher  Mensch 
ist.  der  jene  Formung  vollzieht  und  damit  sein  subjektiv  erlebtes  Dasein 
mit  objektivem  verknüpft.  Es  ist  wesentlicher  Inhalt  und  entscheidende 
Aufgabe  der  Metaphysik  als  philosophischer  Wissenschaft,  die  Be- 
ziehungen zwischen  demjenigen  geschichtlichen  Menschen  aufzudecken,  10 
der  sein  konkretes  individuelles  Dasein  in  der  Formung  seines  Welt- 
bildes an  einer  bestimmten  Zeitstelle  zum  Ausdruck  bringt,  und  jenem 
Subjekt,  das  in  metaphysischer  Besinnung  forschend  die  Wirklichkeit 
sich  gegenüberstellt,  sie  von  sich  „ablöst",  sie  also  absolut  denken  will 
und  grade  dadurch  sie  unter  die  jeweilige  „Form"  seines  erkennenden 
Bewußtseins  stellt. 

3.  WANDLUNGEN  DER  GESCHICHTE  DER  ANTIKEN  PHILO- 
SOPHIE VOM  19.  ZUM  20.  JAHRHUNDERT  IN  PHILOSOPHIE  UND 
ALTERTUMSWISSENSCHAFT. 
Der  hier  angedeutete  Begriff  der  Metaphysik  scheint  zu  der  herr- 
schenden Auffassung  von  der  Geschichte  der  antiken  Philosophie  nicht 
zu  passen.  Tritt  doch  in  der  antiken  Seinslehre,  der  oiwtcc- Spekulation, 
die  Gegenständlichkeit  durchaus  in  den  Vordergrund,  ja,  scheint  doch  20 
die  Schranke  antiken  Denkens  grade  auf  metaphysischem  Gebiete  zu 
sein,  daß  alles  dasjenige,  was  mit  dem  vieldeutigen  Worte  des  Subjek- 
tiven, Ich-Zugewandten  zusammengefaßt  werden  kann,  zurücktritt  und 
gleichsam  abgeblendet  wird.  Die  Geschichte  der  Philosophie  meinte 
stets  als  die  eigentümliche  und  wichtige  Leistung  des  Griechentums  die 
Schöpfung  der  objektiven  Wissenschaft  herausarbeiten  zu  müssen, 
und  zwar  zunächst  die  der  rationalen  Naturwissenschaft,  deren  Anfänge 
sie  bereits  bei  Thaies  und  den  andern  Vors okr atikern  in  abgestufter 
Reinheit  und  Sicherheit  feststellen  zu  können  glaubt.  Diese  Tendenz 
gipfelt  dann  in  der  sogenannten  Marburger  Philosophiegeschichte,  für  30 
die  Piaton  zum  Vorläufer  Kants  wird,  und  zwar  eines  bereits  einseitig 
umgedeuteten  Kant,  für  den  die  Erkenntnistheorie  der  Naturwissen- 
schaft zum  Zentrum  des  Philosophierens  geworden  ist.  Die  philosophische 
Energie,  mit  der  diese  Auffassung  für  weite  Gebiete  der  griechischen  Philo- 
sophie durchgeführt  wurde,  bestimmt  noch  mehr  als  es  bei  der  grundsätz- 
lichen Preisgabe  dieses  Programms  möglich  scheinen  könnte,  die  heutige 
Auffassung  im  einzelnen.  Denn  hier  ist  der  Zeitcharakter  des  19.  Jahr- 
hunderts der  Nährboden  einer  geschichtlichen  Einstellung  gewesen: 
wenn  die  Wirkungen  der  Naturwissenschaften  so  stark  das  gesamte 
Leben  bestimmen,  so  scheint  kein  Verdienst  der  Väter  und  gestaltenden  40 


D    WANDLUNGEN  DER  GESCHICHTE  DER  ANTIKEN  PHILOSOPHIE  7 


Urheber  unserer  europäischen  Kultur  größer  und  der  Hervorhebung 
würdiger  als  eben  jenes,  auch  zu  einer  rationalen  Durchforschung  und 
Bewältigung  der  Natur  die  entscheidenden  Schritte  getan  und  der  ge- 
samten Folgezeit  die  Wege  gewiesen  zu  haben. 

Inzwischen  hatte  die  klassische  Philologie  und  die  allgemeine  Geistes  - 
geschichte  der  Antike  ihr  Bemühen  an  die  Aufgabe  gesetzt,  in  der  grie- 
chischen Geschichte  und  Dichtung  die  selbstbewußte,  von  individuel- 
lem Leben  erfüllte  Persönlichkeit  in  ihrer  Entwicklung  vom  7.  bis  zum 
5.  Jahrhundert  zu  erfassen  und  die  weitere  Fortbildung  des  „Menschen" 
in  den  späteren  Jahrhunderten  und  im  Römertum  zu  verfolgen.  Die  For- 
scher dieser  Richtung  sehen  hierin  dasjenige  Gut,  das  die  europäische 
Geistesentwicklung  den  Griechen  und  der  Antike  überhaupt  zu  danken 
hat.  Den  „Charakterkopf44,  den  lebendigen  Menschen  dort  zu  entdecken, 
wo  die  klassizistische  Altertumswissenschaft  objektivierte  idealisch 
blasse  Typen  gesehen  hatte,  ist  das  Ziel  der  geschichtlich  orientier- 
ten Altertumswissenschaft  am  Ende  des  19.  Jahrhundert  geworden, 
ein  Ziel,  das  ganz  dem  „geschichtlichen44,  nach  „Realität"  auch  in  der 
Region  nicht  naturhaften  Daseins  verlangenden  Jahrhundert  entsprach. 
Die  methodischen  Veränderungen  aller  einzelnen  Wissenschaften  und 
der  Philosophie  und  die  Wandlungen  in  der  Auffassung  ihres  kulturellen 
Sinnes  im  ersten  Viertel  des  20.  Jahrhunderts,  deren  ganzes  Ausmaß 
spätere  Geschlechter  besser  als  wir  langsam  Mitlebenden  überschauen 
werden,  haben  natürlich  auch  jenen  Gegensatz  zwischen  einer  aufs 
Individuell-Menschliche  gerichteten  Gechichte  des  Altertums  und  einer 
die  Wissenschaftstendenz  der  alten  Philosophie  unterstreichenden  Philo- 
sophiegeschichte mannigfach  verändert  und  ausgeglichen.  Aus  den 
philosophischen  und  philologischen  Bestrebungen,  deren  Ziel  eine  neue 
Stellung  zum  Griechentum  geworden  ist,  sollen  hier  nur  diejenigen 
herausgegriffen  werden,  die  unmittelbar  die  antike  Metaphysik  angehen. 
Zuerst  ist  die  geschichtliche  Individualitätsforschung,  das  Suchen  der 
charakteristischen  Persönlichkeit,  einfach  psychologistisch  auf  die  Philo- 
sophen übertragen  worden.  Zwar  hat  die  philologisch-geschichtlich  ver- 
tiefte Bearbeitung  der  alten  Philosophen  die  zu  erforschenden  Grund- 
lagen, das  gegebene  Material  gesichert  und  erweitert,  und  die  lebendige 
Erfassung  der  Einzelheiten  stellte  viele  ganz  neue  Aufgaben.  Aber  die 
eigentliche  philosophische  Durchdringung  des  Stoffes  wurde  durch  die 
äußere  KompJizierung  der  Fragen  mehr  gelähmt  als  gefördert,  die  be- 
queme Bereitstellung  des  Quellenmaterials,  z.T.  sogar  mit  deutscher  Uber- 
setzung, erzeugte  eine  Vielgeschäftigkeit,  und  nach  derselben  Richtung  der 
äußeren  Komplizierung  und  Vereinzelung  wirkte  das,  was  an  die  Stelle 
jener  wissenschafts-  und  erkenntnistheoretischen  Auffassung  der  griechi- 
schen Philosophie  zu  treten  begann,  als  man  Zivilisation,  Technik  und 
Kultur  besser  zu  scheiden  lernte  und  nach  andern  als  bloß  naturwissen- 
schaftlichen Motiven  im  Denken  der  alten  Philosophen  suchte.  So  hat 


8  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 

merkwürdigerweise  eine  im  einzelnen  vertiefte  geschichtliche  Forschung 
den  Sinn,  den  die  eigentliche  Philosophie  aus  der  Betrachtung  ihrer 
(»t  schiohte  gewinnen  konnte,  mehr  verdunkelt  als  erhellt. 

Es  ist  nun  zu  untersuchen,  in  welcher  Richtung  der  allgemeine 
gi "isti^e  \\  andel  des  2Q>.  Jahrhunderts  die  These  der  philosophiegeschicht- 
lichen  \  ulgata  modifizierte,  daß  die  Wissenschaft,  und  zwar  die  ratio- 
nale mathematisch-physikalische  Bewältigung  der  Natur,  die  große 
Errungenschaft  des  griechischen  Geistes  gewesen  sei.  Hier  ist  nun  zu- 
nächst festzustellen,  daß  in  der  Kulturkrise  des  20.  Jahrhunderts  diese 
These  vielfach  nicht  modifiziert,  sondern  das  rational  wissenschaft- 
liehe Motiv  in  der  griechischen  Philosophie  radikal  vernachlässigt 
und  in  seiner  großen  Bedeutung  für  das  Gesamtbild  des  griechischen 
Geistes  geleugnet  worden  ist.  Um  das  Überpersönlich- Sachliche  als 
..Irrationales"  aus  dem  Bestände  der  griechischen  Philosophie  heraus- 
zuholen, ließ  man  sie  in  dem  vieldeutigen  Begriff  des  Mythos  gipfeln, 
hinter  dem  alles  andere  zurückzutreten  hätte. 

Zwei  Motive  laufen  in  der  modernen  Mythosforschung  oft  unklar  durcheinander. 
Einmal  wird  der  Mythos  als  geheimnisvolles  Produkt  überindividueller  Kräfte,  als 
Werk  des  Volksgeistes  aufgefaßt,  zum  zweiten  wird  die  Wurzel  des  Mythos  in  gewisse 
Regionen  der  individuellen  Seele  verlegt  und  der  Mythos  zum  Ausdruck  der  irrationalen 
Vermögen  des  Menschen  gemacht,  die  neben  und  über  den  rationalen  Kräften  sein 
Wesen  konstituieren.  Wichtige  philosophisch-metaphysische  Möglichkeiten  sind  sicht- 
lich in  diesem  Mythosbegriff  latent;  aber  daneben  Möglichkeiten  höchst  gefährlicher, 
den  Sinn  der  Antike  zerstörender  Modernisierungen.  Wenn  sogar  das  philosophische 
Denken  lediglich  zum  bunten  Spiel  dichterischer  Phantasie  wird,  kann  seine  Einheit 
nur  in  der  irrationalen  „mythischen  Tiefe"  der  einzelnen  Seele  gesehen  werden.  Individu- 
ellen Absonderlichkeiten  nachzuspüren,  diese  im  Physiologisch-Pathologischen  zu  ver- 
ankern, entspricht  der  modernen  Individualitätsforschung.  So  petzen  ^ich  Psychoanalyse 
und  Tiefenpsychologie,  um  die  letzten  Ausstrahlungen  dieser  Betrachtungsweise  zu  nen- 
nen, in  die  engste  Beziehung  zum  Mythos;  zur  „Vertiefung"  des  Seelenproblems  durch 
erotische  Komplexe  bietet  ja  der  Mythos  aller  Völker  gewisse  Vorwände.  Aber  auch 
wenn  von  diesen  extremen  Formen  der  Mythospsychologie  abgesehen  wird,  bleibt  es 
ihre  allgemeine  Tendenz,  von  dem  objektiven  Gehalte,  »m  derentwillen  sich  die 
Philosophie  um  die  Antike  zu  kümmern  hätte,  nicht  eben  viel  übrig  zu  lassen. 

Auch  die  Mythosphilosophie  dieser  Art  —  E.  Cassirers  Philosophie 
des  Mythos  wird  von  dieser  Kritik  nicht  getroffen  —  treibt  letzten  Endes 
darauf  hin,  das  Gedankliche  auf  die  charakteristische  individualpsycho- 
logische Konstitution  zurückzuführen.  Hierin  läuft  sie  weithin  zusammen 
mit  der  vorher  geschilderten  Richtung  auf  charakteristische  Indivi- 
dualität schlechthin,  deren  Gefahr  die  Vereinfachung  und  unbewußte 
Anglei chung  an  den  modernen  geistigen  Typus  war.  Andrerseits  aber  hat 
diese  moderne  Mythosphilosophie  und  -philologie  die  Ehrfurcht  vor  den 
ganz  andern,  uns  entschwundenen  Lebensmächten  archaischer  Zeiten, 
das  Gefühl  der  Distanz  zu  ihnen  zweifellos  gestärkt;  hierin  liegen  wichtige 
Fingerzeige  für  die  heutigen  Aufgaben  der  Metaphysik;  aber  die  Gefahr 
ist  oft  nicht  vermieden  worden,  in  ein  recht  unantikes  Raffinement  zu 
geraten,  für  sehr  moderne  pseudoreligiöse  oder  ästhetisierende  Sehnsüchte 


D    WANDLUNGEN  DER  GESCHICHTE  DER  ANTIKEN  PHILOSOPHIE  9 


einen  Eideshelfer  in  der  Antike  zu  suchen  und  sie  im  Sinne  eines  ver- 
feinerten Bildungs-  und  Menschenideals  umzudeuten.  Die  starken  An- 
triebe zur  wirklich  sachgemäßen  Verfeinerung  der  Methoden  der  Altertums- 
wissenschaft überhaupt  und  der  antiken  Philosophiegeschichte  im  beson- 
dern, die  von  diesen  Bestrebungen  ausgingen,  in  die  auch  die  Anregungen 
des  Stefan  George-Kreises  einzuordnen  sind,  sollen  nicht  verkannt  werden. 
Wenn  modernste  Geistigkeit  in  der  Antike  Züge  zu  sehen  glaubt,  die  ihr 
zum  Aufbau  einer  Persönlichkeitskultur  geeignet  zu  sein  scheinen,  so  ist 
auch  dies  noch  ein  guter  Beweis,  daß  hinter  der  gewaltigen  sachlichen 
Leistung  des  Griechentums  und  der  Antike  überhaupt  Form-  und  Bil- 
dungskräfte besonderer  Art  wirksam  sind  und  ein  allgemeineres  Mensch- 
liches in  ihr  lebendig  sein  muß.  Diese  Bestrebungen  tragen  ein  neues 
Interesse  auch  an  der  griechischen  Philosophie  weit  über  die  von  Berufs 
wegen  der  Antike  zugewandten  Kreise  hinaus. 

Zu  den  Fragen,  die  in  diesen  philosophischen  und  außerphilosophi- 
schen Bewegungen  neu  gesehen  erschienen,  mußte  wiederum  die  eigent- 
liche strengere  Altertumswissenschaft  Stellung  nehmen.  Soweit  sie 
für  die  mit  ihrem  Wesen  geforderte  humanistische  Problematik  gar  kein 
besonderes  Interesse  aufbringt  und  sich  als  historische  oder  philologische 
Spezialwissenschaft  fühlt,  hat  sie  diese  in  der  Tat  zum  Teil  mehr  lite- 
ratenhaft  sich  äußernden  Bestrebungen  kaum  einer  erheblichen  Beach- 
tung gewürdigt.  Ein  zweiter  Teil  der  Forscher  hat  sich  offen,  auch  im 
Stil  und  literarischen  Gehaben,  dieser  neuen  Richtung  hingegeben  und 
versucht,  auf  diese  Weise  die  neuen  Probleme  in  die  eigene  Forschung 
einzubeziehen.  Bei  weitem  am  wichtigsten  und  fruchtbarsten  ist  aber 
die  von  W.  Jaeger  ausgehende  neueste  Humanisierung  der  Altertums- 
wissenschaft, die  mit  dem  mehrdeutigen  Worte  der  Paideia-Forschung 
zunächst  bezeichnet  sei.  Insofern  in  ihr  latent  eine  bestimmte  ge- 
schichtsphilosophische  Stellung  zum  Ausdruck  drängt,  führt  sie  an 
die  Schwelle  unserer  metaphysischen  Problemstellung  unmittelbar 
heran.  Diese  Geschichtsphilosophie  sucht  die  historische  Haltung  des 
19.  Jahrhunderts  unter  Vermeidung  ihrer  bedenklichen  Konsequenzen 
beizubehalten:  nicht  lediglich  die  tatsächlichen  Leistungen  der  griechi- 
schen Kultur  als  die  eines  Volkes  neben  andern  gilt  es  zu  erfor- 
schen, sondern  die  besonderen  Momente  und  Motive,  die  diese  Leistung 
zur  Fortwirkung  befähigen,  sie  „renaissancefähig"  machen.  Nicht  die 
bloßen  Tatsachen  der  historischen  Kontinuität  vom  Altertum  zur  Ge- 
genwart auf  allen  Kulturgebieten,  in  deren  oft  äußerlicher  Sammlung 
sich  der  Humanismus  leicht  zu  verzetteln  droht,  sondern  das  Prinzip 
dieser  Kontinuität  selbst  wird  in  den  Mittel-  und  Blickpunkt  gerückt. 
Beide  Ziele  sind  in  eine  Betrachtung  zusammenzufassen,  in  die  Betrach- 
tung der  die  europäische  Geschichte  von  allen  andern  abhebenden  Kul- 
turidee, die  in  der  Paideia,  der  bewußten  Selbstformung  des  griechischen 
Volkes  ihr  Prinzip  hat,  ihre  äq^'l  m  dem  doppelten  griechischen  Sinne, 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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der  sowohl  den  zeitlichen  Anfang  wie  die  sich  aus  dessen  Kraftentfaltung 
ergebende  Gesetzmäßigkeit  bezeichnet. 

In  Jaegers  Vortragsreihe  ,, Piatos  Stellung  im  Aufbau  der  griechi- 
schen Bildung"  S.  29 ff.  =  Antike  IV94  wird  die  innere  Beziehung  dieser 
auf  dein  Boden  der  Altertumswissenschaft  erwachsenen  Idee  vom  ge- 
schichtlichen  Wesen  des  europäischen  Menschen  zur  Sache  der  Philo- 
sophie zum  ersten  Male  deutlicher  greifbar.  Zwar  ist  von  Piatondeutung 
die  Rede,  aber  diese  hängt  nun  einmal  mit  der  gesamten  griechischen 
Philosophie  und  schließlich  mit  der  Philosophie  überhaupt  aufs  engste 
zusammen.  Jaeger  setzt  S.  29  „eine  moderne  Fachphilosophie"  voraus, 
für  die  „die  Gleichung  des  Logischen  mit  dem  Wesen  und  eigentlichen 
Kern  der  Philosophie"  „naheliegend  und  selbstverständlich"  ist,  wobei 
dann  das  Logische  wieder  in  dem  spezifisch  modernen  Sinne  genommen 
wurde,  daß  man  erst  die  ontologische  Seite  und  die  Einheit  mit  dem 
Ethischen  abzog,  um  das  „Rein"-Logische  zu  erhalten. 

Daß  dies  für  die  Marburger  Philosophen,  als  sie  ihre  Piatonwerke 
schrieben,  zutraf,  und  daß  die  von  diesem  Zentrum  ausgehende  Gesamt- 
auffassung der  griechischen  Philosophie  weithin  herrschend  ist,  wurde 
oben  zugegeben.  In  der  Tat  hat  die  heutige  Philosophie  eben  erst  be- 
gonnen, die  methodisch  und  sachlich  von  einer  ganzen  Schule  getragene 
Marburger  Piatondeutung  zu  überwinden  und  durch  ein  neues  aus  ihrer 
eigenen  philosophischen  Problematik  erzeugtes,  philosophisch  ebenso 
tief  gegründetes,  aber  mit  reinerem  historischem  Gewissen  empfangenes 
Piatonbild  zu  ersetzen.  Doch  die  systematische  Entwicklung  ist  über 
die  ursprüngliche  Marburger  Lehre  längst  hinweggeschritten,  und  hier 
muß  die  These  Jaegers  weitgehend  eingeschränkt  werden.  Das  beweist 
schlagend  das  gegenwärtige  Philosophieren  der  beiden  originalsten 
aus  der  Marburger  Schule  hervorgegangenen  Forscher,  Ernst  Cassirer 
und  Nicolai  Hartmann.  Die  „Logik",  auf  die  Jaegers  Charakteristik 
zutrifft,  ist  nicht  mehr  selbstverständlicher  Ausgangspunkt,  sondern 
ein  heiß  umstrittenes  Problem  der  gegenwärtigen  Philosophie.  Was  er 
dagegen  einer  philosophischen  Behandlung  der  griechischen  Philosophie 
neben-  oder  überordnet  (S.  30),  ihre  Einfügung  in  die  geistige  Substanz 
der  gesamten  antiken  Kultur,  entspricht  dem  Ziel  einer  metaphysi- 
schen Betrachtung,  wie  sie  sich  genau  und  streng  aus  der  heutigen 
Lage  der  Fachphilosophie  ergibt.  Es  ist  eben  kein  Zufall,  daß  gerade 
in  dieser  heutigen  Situation  der  Philosophie  die  Idee  jenes  humanisti- 
schen Menschenbegriffs  und  eines  humanistischen  Logos  als  Forderung 
der  Altertumswissenschaft  auftrat. 

4.  ZIELSETZUNG  DER  DARSTELLUNG. 
Die  Aufgaben  einer  Darstellung  der  griechischen  Metaphysik  sind  da- 
mit einigermaßen  abgesteckt.  Auf  drei  Punkte  müßte  eine  umfassendere 
Darstellung  das  Schwergewicht  gleichmäßig  zu  verteilen  suchen:  ein- 


D 


ZIELSETZUNG  DER  DARSTELLUNG 


11 


mal  müßte  das  charakteristische  menschliche  Dasein  der  Philosophen 
aus  dem  Ganzen  ihrer  geschichtlichen  Lage  verständlich  werden.  Zweitens 
müßte  in  ihrer  philosophischen  Selbsterkenntnis  das  Bewußtwerden  ihres 
einmaligen  geschichtlichen  Daseins  aufgesucht  und  in  ihm  die  syste- 
matische Einheit  der  Lehren  gewonnen  werden.  Das  Dritte  und  Letzte 
ist  das  Wichtigste:  an  und  mit  dem  Begreifen  dieses  sich  selbst  ver- 
stehenden philosophischen  Daseins,  wie  es  die  Geschichte  der  Philosophie 
uns  aufgibt,  muß  die  von  den  Griechen  herreichende  und  uns  mit  um- 
fassende Entwicklung  des  menschlichen  Geistes  als  menschliches  Sein, 
so  wie  es  wirklich  war  und  ist,  als  inneres  Schicksal  unseres  eigenen 
denkenden  Bewußtseins  hervortreten.  Nicht  indem  wir  unser  heutiges 
Denken  hineindeuten  in  die  Vergangenheit,  erheben  wir  uns  selbständig 
über  sie,  sondern  indem  wir  unsere  geschichtlich  gewordene  Existenz 
bewußt  anerkennen,  das  früher  wahr  Gewesene  in  seinem  eigenen  Sinne 
durchschauen,  indem  wir  dadurch  durchschauen  und  durchstoßen  bis 
zum  menschlichen,  d.  h.  geschichtlichen  Sein  schlechthin,  bis  zu  dem- 
jenigen Grunde,  in  dem  die  Einheit  des  früheren  und  des  heutigen 
Daseins  sich  als  sachliches  Wesen  des  Menschen  erfüllt  und  den  über- 
greifenden Zusammenhang  von  Einst  und  Jetzt  herstellt.  Dann  werden 
die  in  dem  verengten  Blick  der  bloßen  Gegenwart  uns  entschwun- 
denen, durch  allerlei  Zufälle  verschütteten  Probleme  der  Metaphysik 
wieder  lebendig  werden  und  diese  wird  sich  zur  umfassenden  Seinslehre 
erweitern. 

Diese  allgemeine,  durch  die  Sache  geforderte  Zielsetzung  muß  auch 
trotz  der  gebotenen  Einschränkung  dieses  Abrisses  in  der  Methode 
der  Betrachtung  festgehalten  werden.  Dem  Plan  dieses  Handbuches 
entsprechend  darf  bei  der  Auswahl  des  Stoffes  die  bescheidenere  Ziel- 
setzung eintreten,  „das,  was  bei  der  eigenen  philosophischen  Arbeit 
aus  dem  Früheren  lebendig  und  bedeutsam  geworden  ist",  für  die  aktuelle 
systematische  Frage  nach  einer  Metaphysik  des  Menschen  fruchtbar 
zu  machen. 

5.  LITERATUR. 

Die  hier  zugrunde  gelegte  Auffassung  von  Metaphysik  wäre  wesenlos,  wenn  sie 
in  einer  programmatischen  Angabe  geklärt  und  bezeichnet  werden  könnte;  kommt  doch 
alles  darauf  an,  den  Sinngehalt  der  zur  vorläufigen  Umschreibung  benutzten,  völlig 
vagen  Begriffe,  wie  menschliches  Dasein,  rationale  und  wissenschaftliche  Haltung  usw. 
anders  zu  bestimmen  und  zu  erfüllen,  als  sie  dem  modernen  Bewußtsein  zunächst  vor- 
zuschweben pflegen.  Danach  kann  die  vorstehende  Einleitung  zunächst  lediglich  dazu 
dienen,  gegenüber  den  verwandten  Teilen  des  Handbuches  die  Richtung  der  Unter- 
suchung ungefähr  anzudeuten,  also  gegenüber  der  Metaphysik  der  Natur  von  Driesch 
(II  B),  der  Erkenntnistheorie  von  Kuntze  (I  B),  der  Philosophischen  Anthropologie  von 
Groethuysen  (IV  A),  der  Metaphysik  der  Seele  von  Seifert,  der  Ethik  des  Altertums  von 
Howald  (III  F,  B).  Die  immanente  Stellungnahme  zu  diesen  Arbeiten  ist  keine  Kritik, 
sondern  Ergänzung;  das  dort  nicht  Behandelte,  diejenigen  Seiten  des  doch  schließlich 
einheitlichen  Gegenstandes  der  Antike,  die  nach  dem  Blickpunkt  jener  Verfasser  zurück- 
treten durften  und  mußten,  sind  hier  bewußt  herausgearbeitet.  Soweit  ist  die  durch 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Thema  und  Raum  geforderte  Auswahl,  die  Akzentuierung  der  stofflichen  Gebiete  von  jenen 
Arbeiten  in  gewissem  Sinne  abhängig.  Daraus  ergibt  sich  für  den  Leser  die  Notwendig- 
keit, die  andern  genannten  Teile  immer  im  Auge  zu  behalten.  Um  demjenigen,  was  sich 
mir  beim  Durchdenken  der  alten  Philosophie  unter  der  besonderen  Aufgabe  dieses 
Sandbuchs  an  neuen  Einsichten  ergeben  hat,  Raum  zu  schaffen,  muß  von  dem  Recht  des 
\  erweisens  auf  fremde  und  eigene  Arbeiten  Gebrauch  gemacht  werden.  Die  allgemeine 
Auffassung  der  Metaphysik  als  der  verstehenden  Analyse  des  menschlichen  Daseins  in 
seiner  geschichtlichen  Entwicklung  liegt  meinen  Arbeiten  seit  meiner  Habilitations- 
schrift „Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte'*  Kantstud.  1921,  zugrunde;  eine 
allgemeinere  Erörterung  des  Seinsbegriffs  bietet  ({er  Aufsatz:  Das  Problem  der  Willens-  10 
freiheit  im  Piatonismus,  Antike  IV.  Die  besonderen  Anwendungen  auf  die  Philosophie 
der  Griechen  werden  von  Fall  zu  Fall  erwähnt  werden. 

Die  Hinwendung  der  Metaphysik  zu  einer  Ontologie  geistig-seelischen  Daseins  ent- 
spricht so  sehr  dem  allgemeinen  Trieb  der  gegenwärtigen  Philosophie,  daß  die  Auswahl 
zufällig  bleiben  muß.  Diltheys  Ringen  um  die  „Kritik  der  historischen  Vernunft",  seine 
Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie  im  zweiten  Teile  der  Einleitung  in  die  Geistes- 
wissenschaften mit  ihrer  Entgegenstellung  von  Metaphysik  und  „ihrem  Schatten,  dem 
Skeptizismus"  ist  mir  zuerst  wichtig  geworden.  Seine  Forderung  einer  neuen,  den  geistes- 
wissenschaftlichen Aufgaben  gewachsenen  Psychologie  ist  auf  verschiedene  Weise  in  der 
Denkspychologie  und  in  der  Phänomenologie  erfüllt  worden.  Die  Denkpsychologie  hat  20 
in  der  philosophisch  vertieften  Form,  die  ihr  R.  Hönigswald  gegeben  hat,  für  meine 
Auffassung  der  metaphysischen  Probleme  eine  große  Bedeutung  gewonnen.  Indem 
jede  objektive  Gegenständlichkeit  ihre  Beziehung  zum  „Prinzip  und  zur  Tatsache  des 
—  hic  et  nunc  erlebenden  —  Ich"  erhält,  entsteht  für  die  Erkenntnistheorie  die  Mög- 
lichkeit einer  metaphysischen  Begründung  im  Dasein  der  Person,  der  geistigen  Monade; 
indem  deren  Erkenntniserlebnisse  mit  denen  der  andern  Monaden  im  „Verständnis- 
prozesse" innerlich  verknüpft  werden,  wird  der  Hönigswaldsche  Begriffsapparat  gerade 
besonders  fruchtbar  für  die  Erschließung  des  antiken  Menschenbegriffes,  in  dem  die  Ver- 
einzelung des  denkenden  Ichs,  diese  crux  metaphysica  des  modernen  Denkens,  immer 
wieder,  wo  sie  auftrat,  erkenntnistheoretisch  sofort  überwunden  wurde  (z.  B.  die  So-  30 
phistik  in  Sokrates).  Wesentliche  Aufschlüsse  über  das  Gesamtsein  der  Antike  im  Gegen- 
satze zum  Christentum  sind  immer  noch  bei  Hegel  zu  gewinnen;  weniger  aus  den  aus- 
drücklich diesen  Dingen  zugewandten  Vorlesungen  als  aus  den  Werken,  in  denen  die 
systematische  Kraft  des  Denkens  auch  seinen  historischen  Blick  schärft,  also  vor  allem 
in  der  Phänomenologie;  auch  die  theologischen  Jugendschriften  waren  mir  sehr  wichtig. 
Die  moderne  Phänomenologie  bleibt  historisch  und  sachlich  mit  der  Ontologie  der  anti- 
ken Philosophie  verbunden;  auch  Heideggers  neueste  Wendung  des  Ganzen  knüpft 
an  die  Seinslehre  des  platonischen  Sophistes  und  der  aristotelischen  Metaphysik  an. 
Von  Heidegger  ist  die  metaphysische  Frage  des  „Menschen  und  seines  Daseins"  am  um- 
fassendsten gestellt  und  über  ihre  antike  Form  hinausgeführt  worden,  indem  mensch-  40 
liches  Dasein  nicht  nur  in  seiner  menschlichen  Umwelt,  in  seiner  monadischen  Existenz 
gleichsam  flächenmäßig,  sondern  zugleich  in  seiner  geschichtlichen  Tiefe,  in  seiner  Zeit- 
lichkeit aufgewiesen  worden  ist.  Da  in  dem  Verhältnis  der  Phänomenologie  Husserls 
zu  der  Schelers  und  Heideggers  sich  eine  parallele  Dialektik  abspielt  wie  in  der  antiken 
Philosophie  im  Übergange  von  Sokrates-Platon  zu  Aristoteles,  soll  später  darauf  noch 
einmal  zurückgegriffen  werden.  Soviel  zur  allgemeinen  systematischen  Orientierung. 

Die  notwendige  und  fruchtbare  Tendenz  zum  „Charakteristischen"  ift  wie  mir  scheint 
am  schärfsten  formuliert  bei  Ed.  Schwartz,  Charakterköpfe  aus  der  antiken  Literatur  I 
(Lpz.  1906),  S.  1,  bes.  S.  2:  „Den  Idealtypus  soll  der  Charakterkopf  ersetzen,  die  klassi- 
schen Gespenster  sich  verdichten  zu  Individuen  leibhaftigen  Wesens".  Höchst  wichtig  50 
die  sofort  folgende  Einschränkung:  „Auch  einer  solchen  Betrachtung  schieben  sich  nur 
zu  leicht  Phantome  vor  die  echten  Bilder.  Das  in  der  Übertreibung  falsche  Prinzip,  in 
jedem  Literaturwerk  ein  persönliches  Bekenntnis  zu  sehen,  und  die  nie  aussterbende 
Neigung  der  Menge,  in  den  Großen  des  Geistes  die  eigene  Kleinheit  wiederzufinden, 


D 


LITERATUR 


13 


nähren  immer  von  neuem  die  Meinung,  es  käme  nur  darauf  an,  die  Neigungen  und  Leiden- 
schaften, die  individuellen  Fehler  und  die  Zufälligkeiten  des  einzelnen  Menschendaseins, 
oder  gar,  um  den  greulichen  Ausdruck  zu  gebrauchen,  das  sog.  Milieu  möglichst  genau 
herauszupräparieren  und  vor  Augen  zu  stellen,  als  sei  damit  das  volle  Verständnis  einer 
geistigen  Persönlichkit  und  ihres  Werkes  gesichert."  Dieser  Kritik  Schwanz'  verfällt 
ein  großer  Teil  der  Philosophiegeschichte.  Darin  ist  das  philosophisch  Unzureichende 
der  Darstellung  etwa  in  Th.  Gomperz  „Griechischen  Denkern"  begründet.  Versuche, 
moderne  Psychologie  auf  die  Antike  zu  übertragen:  Heinrich  Gomperz,  Psychologische 
Beobachtungen  an  griechischen  Philosophen  (Internat,  psychoanal.  Verl.  1924);  Ho- 

10  wald,  Die  Anfange  der  europäischen  Philosophie  (München  1925);  die  Einleitung  in- 
teressant durch  den  Versuch,  dem  archaischen  Denken  durch  eine  „Reihenpsycho- 
logie" —  „Ersatz  für  Individualpsychologie"  —  beizukommen,  ohne  die  modernen 
Kategorien  aufzugeben. 

Der  „Formbegriff"  in  der  obigen  Bedeutung  ist  vor  allem  von  Werner  Jaeger  und 
Karl  Reinhardt  angewandt  worden,  von  Jaeger  in  der  Einleitung  seines  Aristoteles 
(Berlin  1923).  Jaeger  gewann  ihn  sichtlich  an  der  Gegenüberstellung  des  platonischen 
und  aristotelischen  Philosophierens,  Reinhardt  an  der  Erfassung  des  Poseidonios. 

Die  beiden  großen  Bücher  von  Reinhardt:  „Poseidonios"  (München  1921)  und 
„Kosmos  und  Sympathie"  (München  1926)  s.  Poseidonios  S.  1  „Das  für  wahr  Ge- 

20  haltene  wird  nun  abhängig  von  einer  inneren  Form,  und  diese  wird  für  uns  das  Tönende, 
Vertrautere,  auch  wo  die  Inhalte  anfangen,  uns  zu  befremden.  Diese  Form  ist  etwas 
anderes  als  die  Persönlichkeit,  der  Mensch  als  Gegenüber  seines  Werks,  was  doch  nur 
wieder  ein  anderer,  ebenso  oberflächenhafter  Inhalt  wäre,  äußerlich  lebendiger  viel- 
leicht für  Schaulustige  anzusehen,  doch  starr  wie  das  Modell  eines  verschwundenen 
Tieres,  das  man  nach  seinen  Knochen  konstruiert:  die  innere  Form  ist  für  uns  das,  was 
im  Erstarrten  und  für  wahr  Gehaltenen  selber  für  uns  nicht  erstarrt".  —  Der  von  Jaeger 
neuentdeckte  Begriff  der  Paideia:  Humanismus  und  Jugendbildung,  Berlin,  Weidmann 
1921  und  in  der  genannten  Abhandlung  Antike  IV,  auch  als  Sonderdruck. 

Die  Fragmente  der  Vorsokratiker  werden  nach  Diels'  Sammlung  zitiert.  Von  allge- 

30  meineren  Werken  seien  hier  ein  für  allemal  genannt:  Zellers  Philosophie  der  Griechen, 
Praechters  Darstellung  in  Überweg-Heinzes  Grundriß  und  Burnets  Anfänge  der 
griechischen  Philosophie.  In  Burnets  gediegener  und  anregender  Behandlung  ist  die  in 
vielem  von  der  deutschen  Forschung  abweichende  Aufassung,  die  in  England  über 
wesentliche  Fragen  der  griechischen  Philosophie  besteht,  zusammengefaßt.  Hönigs- 
walds  Philosophie  des  Altertums  ist  energisch  problemgeschichtlich  orientiert,  vgl. 
Gnomon  II  1.  Wichtig  wurde  mir  immer  die  Auseinandersetzung  mit  Ernst  Cassirers 
klaren  und  weitschauenden  Darstellungen,  die  er  an  verschiedenen  Stellen  gegeben 
hat,  zuletzt  in  Dessoirs  Lehrbuch  der  Philosophie. 

Zu  der  Schlußbemerkung  des  Absatzes  hier  nur  soviel:  die  oft,  meistens  von  mathe- 

40  matisch-naturwissenschaftlich  orientierten  Philosophen  wiederholte,  gegen  den  Sinn  der 
Philosophiegeschichte  ausgespielte  Bemerkung  Kants,  die  Gegenüberstellung  von 
„Gelehrten,  denen  die  Geschichte  der  Philosophie  (der  alten  sowohl  als  neuen)  selbst  ihre 
Philosophie  ist"  und  denjenigen,  „die  aus  den  Quellen  der  Vernunft  selbst  schöpfen",  hat 
ihren  guten  Sinn.  Es  gibt  eine  —  m.  E.  durchaus  notwendige  —  Behandlungsweise  der 
Philosophiegeschichte,  die  nur  das  „Tatsächliche"  feststellen  will  und  die  eigene  philo- 
sophische Bewegung  und  Stellungnahme  ausschaltet  bzw.  gar  nicht  erst  in  Gang  bringt 
(wie  weit  dies  möglich,  wie  weit  dieser  Versuch  oft  auf  Selbsttäuschung  beruht,  darüber 
vgl.  die  oben  genannte  Abhandlung  „Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte").  Ferner 
gibt  es  eine  Art  systematischen  Philosophierens,  das  die  Probleme  aktiv  angreift,  aber  doch 

50  die  Geschichte  als  Stütze,  zur  gelegentlichen  mehr  beispielsweisen  Illustration  nicht  ent- 
behren will.  Beiden  Arten  der  Philosophiegeschichte  steht  diejenige  gegenüber,  die  hier 
versucht  wird.  Sie  beruht  auf  der  Überzeugung  von  der  Geschichtlichkeit  unseres  philo- 
sophischen Denkens.  Um  Wahrheit  haben  sich  auch  die  „historischen"  Philosophen  be- 
müht und  oft  genug,  was  ich  hier  zu  zeigen  hoffe,  aus  einer  für  den  Ansatz  und  die  Auf- 


/  / 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


bdlung  gewisser,  besonders  metaphysischer  Problemstellungen  sehr  viel  günstigeren 
geistigen  Umwelt  heraus  als  es  unsere  Gegenwart  ist.  Andrerseits  sind  wir  „Gegen- 
warf*. ^  ir  mögen  uns  stellen  wie  wir  wollen,  wir  können  in  die  geistige  Haut  früherer 
Geschlechter  nicht  mehr  hineinschlüpfen,  nicht  einmal  in  die  der  vorigen  Generation;  wir 
Bind  genötigt,  alles  frühere  zu  „deuten"  und  auszulegen.  Je  lebhafter  wir  die  Organe 
dieser  Deutung  zur  treuen  Aufnahme  des  früheren  Wahrheitsstrebens  ausbilden  und 
üben,  je  mehr  wir  das  Geschichtliche  der  Vergangenheit  in  seiner  wahren  philosophischen 
Substantialität  in  Bewegung  setzen,  desto  tiefere  Regionen  der  „Sache"  decken  wir  auf. 
Ob  es  eine  solche  Philosophiegeschichte  gibt  und  ein  solches  Philosophieren,  und  wie 
weit  wir  heute  dazu  schon  fähig  sind,  kann  nur  die  Erprobung  lehren. 

II.  VORTHEORETISCHE  METAPHYSIK. 

1.  DER  ANFANG  METAPHYSISCHEN  DENKENS. 

Um  gegenüber  einem  so  mannigfaltig  in  sich  selbst  sich  gliedernden 
Gebilde  wie  der  vorsokratischen  Philosophie  aus  den  Trümmern  der  Zeug- 
nisse den  richtigen  Ansatz  zu  finden,  verwerten  wir  das  bisher  Erörterte. 
Wir  schlössen  oben  mit  der  allgemeinen  metaphysischen  Behauptung, 
es  sei  möglich,  hin  durch  zusehen  durch  die  Erscheinungen  der  Ge- 
schichte auf  ein  Tieferes,  auf  Etwas,  das  sich  in  den  abwandelnden  Er- 
scheinungsformen selbst  dauernd  darstellt.  Auf  dieser  Möglichkeit  beruht 
jede  philosophische  Auswertung  früherer  Philosophie,  die  Deutung  ihrer 
zunächst  in  „natürlicher44  geschichtlicher  Einstellung  aufzusuchenden 
Zeugnisse  aus  einem  sachlichen  Ganzen,  über  dessen  Existenzform 
hiermit  zunächst  noch  nichts  Genaueres  gesagt  sein  soll.  Dieses  Prinzip, 
aus  seiner  Verengerung  befreit  und  von  der  Deutung  der  Philosophie- 
geschichte erweitert  zur  Deutung  jedes  Wirklichen  und  schließlich  aller 
Wirklichkeit,  ist  zugleich  das  erste  und,  so  wie  es  bisher  ausgesprochen 
ist,  noch  rohe  Prinzip  der  Metaphysik  selbst:  nämlich  fortzuschreiten  von 
der  schlichten  Hinnahme  der  Wirklichkeit,  von  dem  einfachen  Dasein 
in  der  Welt  zu  einem  andern  Sein,  zu  dessen  Charakteristik  zunächst 
bloß  die  unentschiedene  und  bedenkliche  Bezeichnung  des  „Tieferen44, 
Eigentlichen  wiederholt  sei.  Diesen  Ubergang  von  der  „natürlichen44  Ein- 
stellung zu  einer  andern  hat  G.  Misch  als  den  „Weg  in  die  Philosophie44 
dargestellt,  denn  ihm  schien  das,  was  hier  „metaphysisch44  genannt 
wurde,  den  allgemeinen  Titel  des  Philosophischen  überhaupt  zu  ver- 
dienen. Uberraschend  ähnlich  klingt  zunächst  in  der  Tat  die  Schilderung 
dieses  Uberganges  von  der  einen  Haltung  zur  andern  in  den  Worten 
Goethes,  Diltheys,  Husserls,  Dschuangtses,  Buddhas,  Spinozas,  Piatons. 

Ich  wähle  die  Problemstellung  Mischs  zum  Ausgangspunkte  und  empfehle  nicht  nur 
die  von  ihm  gebotenen  Texte,  sondern  auch  die  einleitenden  und  verknüpfenden  Be- 
trachtungen Mischs  der  sorgfältigsten  Beachtung.  Gerade  daß  kein  Versuch  gemacht 
wird,  geschichtliche  Beziehungen  zwischen  der  östlichen  und  westlichen  Philosophie  zu 
stiften,  sondern  die  parallelen  Formen  des  gleichen  Motivs  rein  nebeneinander  gestellt 
sind,  bietet  den  großen,  bis  jetzt  so  viel  ich  weiß  an  keiner  andern  Stelle  gebotenen 


D 


DER  ANFANG  METAPHYSISCHEN  DENKENS 


15 


Vorteil,  die  besondere  Struktur  jeder  einzelnen  Form  durch  den  Gegensatz  klarer  zu 
erfassen.  Gerade  durch  Verzicht  auf  die  historische  Ableitung  kommt  so  ein  treffliches 
Hilfsmittel  zustande,  die  konkrete  geschichtliche  Gegebenheit  zu  erfassen.  Es  verdient 
hervorgehoben  zu  werden,  daß  Misch  grade  die  iranischen  Lehren,  denen  nach  An- 
sicht mancher  anderer  Forscher,  besonders  Reitzensteins,  auch  für  die  griechische 
Frühzeit  Bedeutung  zukommt,  zu  seiner  Parallelisierung  nicht  verwendet  hat. 

Zu  der  gesamten  Frage  hier  nur  ein  grundsätzliches  Wort.  Ich  glaube,  daß  die  Mög- 
lichkeit orientalischen  Einflusses  auf  die  griechische  Philosophie  der  Frühzeit  durchaus 
zugegeben  werden  kann.  Man  kann  eine  Behauptung  wie  die,  daß  übereinstimmende 
Erscheinungen  hier  und  dort  spontan  entstanden  sind,  nicht  beweisen  und  nicht  wider- 
legen. Wichtiger  scheint  es  mir,  aus  der  typischen  Reaktion,  mit  der  etwa  in  der  alten 
Akademie  oder  in  der  Stoa  und  im  Neuplatonismus  notorische  Einflüsse  orientalischer 
Anschauungen  beantwortet  werden,  für  die  Frühzeit  Schlüsse  zu  ziehen.  Diese  könnten 
nur  so  lauten:  wie  später  die  griechische  Philosophie  alles  Orientalische,  das  sie  auf- 
nahm, in  einer  ganz  bestimmten  Weise  umgestaltete  und  es  in  griechische  Form  goß 
und  eine  Reihe  von  Gedanken  stets  bewußt  von  sich  fern  hielt,  so  wird  es  auch 
mutatis  mutandis  früher  gewesen  sein.  Die  spezifischen  Kräfte  des  griechischen  Denkens 
könnten  gerade  durch  die  Entgegensetzung  gesteigert  und  zur  Wirkung  gebracht  worden 
sein.  Beweisbar  und  zugleich  geschichtlich  wie  historisch  wichtig  ist  lediglich  die  tiefe 
Abwandlung  der  ganzen  Gedankenbildung;  das  charakteristisch  Griechische  hervorzu- 
heben wird  in  der  ganzen  folgenden  Erörterung  das  Hauptbestreben  bleiben.  Und 
dieses  Ziel  empfahl  die  Anknüpfung  an  die  Mischsche  Fibel. 

Zunächst  ergeben  sich  im  Anschluß  an  die  von  Misch  gegebenen  Pa- 
rallelen eine  Reihe  von  Fragen.  Misch  hebt  drei  große  Typen  des  Durch- 
bruchs durch  die  natürliche  Einstellung  hervor,  je  nach  dem  Ansatz  beim 
Ich,  bei  der  Gemeinschaft  und  bei  der  Welt.  Der  Durchbruch  wiederholt 
sich  auch  innerhalb  einer  und  derselben  Kultur  auf  verschiedenen  Ent- 
wicklungsstufen. Auf  jeder  Stufe  der  Entwicklung  kann  ein  „Verfallen" 
(Heidegger),  ein  Einschlafen  des  metaphysischen  Bewußtseins  eintreten 
und  je  nachdem  völlig  verschiedene  neue  Reaktionen  nötig  machen. 
Zum  Zwecke  weiterer  Differenzierungen  seien  zunächst  einige  Probleme 
ganz  schematisch  formuliert  —  sie  zu  verfeinern  wird  gerade  die  Ge- 
schichte der  griechischen  Metaphysik  sofort  Veranlassung  geben: 

1.  Ist  die  sogenannte  natürliche  Einstellung,  der  Tat-  und  Geschehens- 
zusammenhang, in  dem  sich  das  Bewußtsein  vorfindet,  überall  die- 
selbe ? 

2.  Wie  weit  läßt  sich  für  eine  metaphysische  Betrachtung  die  unter  be- 
stimmten anderen  Gesichtspunkten  durchaus  notwendige  Unter- 
scheidung einer  theoretischen  und  praktischen  Vernunft  —  von 
anderen  Verhaltungsweisen  zunächst  abgesehen  —  durchführen,  wie 
weit  lassen  sich  Entsprechungen  dieser  Scheidung  im  vorphilo- 
sophischen Denken  der  natürlichen  Einstellung  nachweisen  ? 

3.  Angenommen,  diese  und  vielleicht  noch  andere  Verhaltungsweisen 
ließen  sich  scheiden:  welche  Typen  des  „Durchbruchs  zum  wahren 
Sein"  lassen  sich  überhaupt  aufstellen  ?  Wir  versuchen  eine  vor- 
vorläufige Gruppierung. 


16 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


a)  Der  unbewußt  tätige  Mensch  der  natürlichen  Einstellung  geht 
vom  Tun  zum  Denken  über,  er  gibt  sich  Rechenschaft  irgend- 
welcher Art  über  sein  Tun,  tritt  also  aus  der  natürlichen  Bahn 
heraus  in  eine  Theoria,  die  der  Wissenschaft  mannigfach  sich 
annähern  kann. 

b)  Ein  ursprünglich  zur  Reflexion  geneigter  und  äußerlich  und 
innerlich  dazu  befähigter  Mensch  glaubt  handeln  zu  müssen; 
der  Übergang  ist  auf  Tätigkeit  schlechthin  gerichtet. 

c)  Übergang  von  einem  Tätigkeitstypus  zum  andern,  z.  B.  von  der 
Vielgeschäftigkeit  zur  verinnerlichten  Tätigkeit;  der  Wert- 
gesichtspunkt ist  entscheidend:  es  soll  „gut",  besser  als  bisher 
gehandelt  werden. 

4.  Wie  steht  jener  Vorgang,  den  wir  bisher  metaphysisch  orientierten, 
zur  ,, Erweckung"  ?  Wo  liegen  die  Ähnlichkeiten,  wo  die  Verschieden- 
heiten ?  Wir  unterscheiden  wieder  einige  typische  Möglichkeiten : 

a)  Den  Fall  der  „Berufung" :  aus  gleichgültigem  Zustand  Intensi- 
vierung, Glauben. 

b)  Durch  „Aufklärung"  tritt  in  einer  religiösen  Haltung  Zweifel 
ein ;  im  Zweifel  lassen  sich  eine  Reihe  von  Stufen  unterscheiden. 

c)  Die  „Aufklärung"  kann  aber  auch  umgekehrt  als  Bestätigung  des 
Glaubens  wirken,  sie  kann  sich  an  seine  Stelle  setzen,  „dieselben" 
Wirkungen  hervorrufen  —  der  an  sich  unwahrscheinlichste, 
aber  für  die  griechische  Metaphysik  wichtigste  Fall. 

5.  Welche  Bedeutung  hat  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Überganges 
von  natürlicher  zu  philosophischer  Haltung  das  ästhetische  Ver- 
halten ?  Gibt  es  etwa  auch  in  der  natürlichen  Einstellung  ästhetische 
Verhaltungsmöglichkeiten  ?  Ist  umgekehrt  die  philosophische  Theo- 
ria ablösbar  durch  die  ästhetische  ?  (auch  diese  Frage  gerade  für 
die  Antike  zu  erwägen). 

Misch  hat  die  Unterschiede  zunächst  einmal  hinter  dem  Grundphäno- 
men jenes  „Durchbruchs"  zurücktreten  lassen;  in  der  Tat  könnte  man 
formal  in  allen  möglichen  Fällen  eine  Änderung  des  Seins-  und  des  Da- 
seinserlebnisses anerkennen,  die  als  Übergang  zum  besseren,  wertvolleren, 
wahreren  Sein  und  Dasein  empfunden  wird.  Gerade  wenn  man  dies  fest- 
hält, tritt  die  unendlich  reiche  Fülle  der  Möglichkeiten  hervor,  in  denen 
dieser  Vorgang  sich  darstellen  kann,  die  Verschiedenheiten  der  Richtung 
und  die  Wirkung  des  Ausgangs-  und  Zielpunktes,  die  oben  angedeutet 
wurden.  Angesichts  dieser  verschiedenen  Möglichkeiten  muß  es  unsere 
erste  Aufgabe  sein,  den  Anfang  der  europäischen  Geistesgeschichte,  d.  h. 
die  geistige  Lage  der  Griechen,  in  der  die  Geschichte  ihrer  Metaphysik 
und  Philosophie  anhebt,  richtig  zu  fassen. 


D 


DER  MENSCH  IN  SEINER  WELT  BEI  HOMER  UND  HESIOD 


17 


2.  DER  MENSCH  IN  SEINER  WELT  BEI  HOMER  UND  HESIOD. 

Als  umfänglichere  Zeugnisse  aus  älterer  Zeit,  aus  denen  eine  be- 
stimmte Gesamthaltung  dem  Dasein  gegenüber  mit  einiger  Sicherheit 
erschlossen  werden  kann,  kommen  nur  die  Homerischen  und  Hesiodischen 
Gedichte  in  Frage. 

Hinter  diese  Zeit  zurückzugehen  ist  nur  insofern  möglich,  als  aus  dem  höchst  kom- 
plexen, in  sich  uneinheitlichen  Bilde,  das  Homer  und  Hesiod  bieten,  auf  eine  räumlich- 
zeitliche Gliederung  dessen,  was  als  „die  Griechen"  notwendig  zusammengefaßt  werden 
muß,  und  damit  auf  die  vorhergehende  Entwicklung  zurückgeschlossen  werden  kann 
und  muß.  Die  griechische  Welt  ist  in  dem  Augenblicke,  in  dem  sie  für  uns  sichtbar  in  die 
10  Geistesgeschichte  eintritt,  nicht  nur  nach  Stämmen  verschiedener  Eigenart  gegliedert, 
sondern  diese  Stämme  haben  noch  jeder  eine  verschiedene  Entwicklung  hinter  sich,  und 
ihre  kulturell-geistige  Entwicklungsstufe  ist  sehr  verschieden;  beide  Momente  durch- 
dringen und  überschneiden  sich  natürlich  mannigfaltig.  Der  ionische  Stamm  in  Kleinasien 
ist  „weiter",  weil  er  eine  andere  Geschichte  gehabt  hat,  weil  er  andern  Einflüssen 
unterlegen  ist  als  die  festländischen  Griechen  des  Mutterlandes;  zugleich  ist  er  an  sich 
anders,  hat  für  diese  Einflüsse  eine  andere  Empfänglichkeit;  es  ist  hier  nicht  unsere 
Sache,  über  die  Feststellung  dieser  zusammengehörigen,  in  Wechselwirkung  stehenden 
Züge  hinauszugehen  und  weitere  geschichtliche  Fragen  zu  stellen. 

Es  gilt  heut  als  sicher,  daß  die  Homerischen  Gedichte  ihre  entschei- 
20    dende  Formung  dem  ionischen  Geiste  verdanken.  Hesiod,  dessen  Vater 
zwar  aus  Kleinasien  eingewandert  ist,  gilt  als  Vertreter  mutterländischen 
Empfindens. 

Die  „Bauerngesinnung"  der  „Erga",  das  Rechtsgefühl,  besser  die  Rechtssehnsucht, 
die  Schwere  des  Geistes,  wird  nicht  nur  individuelle  zufällige  Eigenheit  des  Menschen 
Hesiod  und  seines  persönlichen  Schicksals,  des  vom  Bruder  erfahrenen  Unrechts  sein.  Es 
greifen  mindestens  starke  Unterschiede  des  sozialen  Hintergrundes  ein.  Hesiod  verfolgt 
die  „Geschenkefressenden"  Richterkönige  mit  seinem  Haß,  die  homerische  Welt  aber  ist 
die  der  feudalen  Rittergesellschaft  Ioniens,  für  deren  Höfe  die  homerischen  Sänger 
da  waren. 

3Ü  Desto  wichtiger  sind  für  uns  gewisse  gemeinsame  Züge  der  allge- 
meinen Stellung  zum  Dasein.  Ihre  Beziehung  zu  grundlegenden  Proble- 
men der  griechischen  Metaphysik  wird  sofort  hervortreten,  auch  wenn 
wir  diese  Züge  zunächst  wieder  ganz  schematisch  zusammenstellen. 

Wir  wollen  uns  aber  vorher  kurz  die  Frage  vorlegen,  welche  Stellung- 
nahme zum  Dasein  der  extreme  Klassizismus  Homer  und  den  Griechen 
überhaupt  zuschrieb.  Sorgloses,  unproblematisches  Hinnehmen  des  eige- 
nen Seins  und  des  Seins  der  Welt,  „Ungebrochenheit"  der  geistig-sinn- 
lichen Natur,  „Naivität"  bezeichnen  dieses  Wunschbild  des  Daseins, 
das  man  auch  in  den  Homerischen  Gedichten  zu  finden  glaubte,  nachdem 

40  man  es  aus  ganz  andern  Regionen  —  von  Theokrit  und  der  hellenistischen 
Bukolik  überhaupt  —  empfangen  hatte.  Dagegen  stellte  Nietzsche  den 
Pessimismus  der  Griechen,  den  Silensspruch  vom  wertlosen  Dasein,  vom 
Wunsche  nach  dem  Nichts.  Gemildert  und  vielfach  eingeschränkt  liegt 
der  Pessimismus  den  Hesiodischen  Gedichten  zugrunde.  Doch  mit 
einem  so  einfachen  Schlagworte  ist  keine  Stellungnahme  zu  bezeichnen. 

Handb.  d.  Phil.  I.    D  2 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 

Ein  eigentümlich  verkleideter  Rest  klassizistischer  Auffassung  hat  sich 
aber  hartnäckig  in  der Vulgata  der  Philosophiegeschichte  gehalten.  Der 
Selbstauffassung  des  griechischen  Denkens  wurde  dieselbe  ungeschicht- 
liche \  erabsolutierung  des  Seins  zugeschrieben,  in  der  der  Klassizismus  in 
rückwärts  gewendeter  Betrachtung  das  Griechentum  sah.  So  entstand 
die  Meinung  von  der  „Ungeschichtlichkeit"  des  griechischen  Geistes,  der 
rationalistisch"  das  „Werden"  verleugnet  hätte  und  stets  dem  „zeitlos 
Seienden"  auf  der  Spur  gewesen  sei.  Hier  liegt  ein  ernstes  metaphysisches 
Problem.  Daß  erst  dem  19.  Jahrhundert  das  eigentliche  Bewußtsein  ge- 
schichtlichen  Werdens  aufgegangen  ist,  daß  die  „Geschichtlichkeit"  des 
Daseins  erst  in  der  neuesten  metaphysischen  Forschung  aufgehellt  worden 
ist,  muß  zugegeben  werden  (vgl.  Antike  IV,  42  Die  Gefahren  modernen 
Denkens  und  der  Humanismus);  aber  die  Wichtigkeit  dieser  Entdeckung 
kann  in  unserer  Auffassung  nur  steigen,  wenn  es  sich  herausstellen 
sollte,  daß  trotzdem  kein  früheres  Bewußtsein  ohne  eine  Form  des 
Wissens  um  seine  Geschichtlichkeit  existiert  hat.  In  welcher  Form  lebt 
dieses  Wissen  in  der  alten  Epik  ?  Das  ist  die  erste  Frage. 

1.  Eine  Evolution,  ein  Fortschreiten  zum  Besseren  als  Gesamtsinn 
geschichtlicher  Entwicklung  gibt  es  im  Umkreis  dieses  griechischen 
Denkens  nicht:  Presbytaton,  das  Alteste  zugleich  als  das  Ehrwürdig- 
ste, bleibt  eine  Grundkategorie  griechischer  Seinsvorstellung.  Es  be- 
stimmt also  die  Form  des  Abstiegs,  der  Verschlechterung,  wie  sie  in 
der  Fabel  der  Weltalter  bei  Hesiod  ausdrücklich  beschrieben  wird,  das 
Welt-  und  Ichverständnis.  Genau  die  gleiche  Auffassung  herrscht  im 
homerischen  Epos,  nur  anders  gewendet.  (Nestor  ist  ihr  typischer  Ver- 
treter.) 

2.  Liegt  nun  der  Glaube  vor,  daß  der  Mensch  einer  dauernden  Ver- 
schlechterung verfallen  sei  ?  Dies  ist  nicht  der  Fall,  und  damit  tritt  die 
erste  Antinomie  auf:  über  die  Vorstellung  des  dauernden  Abstiegs 
schiebt  sich  eine  andere,  die  kurz  und  schematisch  so  bezeichnet  werden 
kann:  Der  Abstieg  hat  eine  Grenze,  er  kann  aufgehalten  werden;  eine 
Soteria,  Rettung,  Bewahrung  ist  möglich;  auch  dies  ist  eine  griechische 
Grundkategorie.  Und  schon  in  der  ältesten  Zeit  gewinnt  diese  Vorstellung 
den  Sinn:  es  ist  gut,  daß  der  Abstieg  gerade  an  dieser,  dem  gegenwär- 
tigen Sein  entsprechenden  Stelle  der  großen  Entwicklung  aufhört;  wenn 
auch  das  Leben  schwer  ist,  so  müssen  wir  doch  wünschen,  daß  dieser 
„wirkliche"  Zustand  innerhalb  seiner  spezifischen  Seinsmöglichkeiten  sich 
entwickelt  und  brauchen  dann  nicht  auf  eine  Wiederkehr  des  „goldenen 
Zeitalters",  d.  h.  auf  eine  grundsätzlich  andersartige  Seinsart  zu  rechnen. 

Bei  Hesiod  ist  die  gesamte  Theogonie  und  Anthropogonie  darauf  angelegt,  die  Herr- 
schaft des  Zeus  genetisch  zu  erklären  als  den  Zielpunkt  einer  Entwicklung;  Zeus  hat 
„mit  Recht"  seinen  Vater  besiegt,  und  deshalb  hat  seine  Herrschaft  ein  Anrecht  auf 
Bestand.  Wenn  das  mit  ihm  in  die  Welt  eintretende  Prinzip  der  Difee,  der  Gerechtigkeit, 
dem  er  seine  Herrschaft  verdankt,  auch  bei  den  Menschen  durchgeführt  wird,  dann  wird 


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DER  MENSCH  IN  SEINER  WELT  BEI  HOMER  UND  HESIOD 


19 


sein  Zeitalter  auch  für  die  Menschen  nach  ihrer  Natur  der  wünschenswerteste  Zustand 
sein.  Genau  dieselbe  Vorstellung  bei  Homer,  nur  daß  da  die  Herrschaft  des  Zeus  bereits 
völlig  konsolidiert  ist.  Diese  Tatsache  ist  desto  wichtiger,  weil  oft  genug  die  Spuren  der 
theogonischen  Idee  sich  vorfinden,  deutliche  Hinweise,  daß  den  Dichtern  die  kämpfe- 
reiche Vorgeschichte  der  Zeusherrschaft  durchaus  bekannt  ist  und  sie  darauf  Rücksicht 
nehmen.  Als  im  1.  Buche  der  Ilias  die  feste  Ordnung  des  Götterkreises  gestört  zu  werden 
droht,  erinnert  Zeus  an  die  Zeit,  in  der  er  wider  alle  Götter  stand.  Im  Ton  und  Gehalt 
veränderte  Motive  theogonischer  Spekulation  klingen  in  die  merkwürdige  Szene  von  der 
Überlistung  des  Zeus  durch  Hera  hinein. 

!0  Zusammengefaßt  und  als  metaphysische  Haltung  betrachtet  kann 
also  die  Stellung  beider  Gedichte  als  der  Entschluß  zur  Bejahung  dieser 
erlebten  wirklichen  Welt  bezeichnet  werden.  Aus  dem  lebhaft  empfunde- 
nen —  gleichviel  aus  welchen  Quellen  empfangenen  —  Glauben  vom 
Verfallen  des  Gesamtdaseins  menschlich-göttlicher  Entwicklung  und 
dem  stärksten  Erlebnis  der  Schwere  dieses  Daseins  für  alle  an  ihm  be- 
teiligten Wesen  wächst  der  in  äußerster  Spannung  zu  diesem  Glauben 
stehende  Optimismus  hervor,  der  seine  Wünsche  und  Hoffnungen  in 
diesem  Dasein  beschlossen  sein  läßt.  Dieser  dem  Diesseits  zugekehrte 
Wirklichkeitssinn  bestätigt  sich  in  dem  folgenden  dritten  Gedanken- 

20  gange. 

3.  Genau  so  wie  in  der  mythisch  sich  symbolisierenden  Wertgliederung 
der  zeitlichen  Abfolge  möglicher,  an  sich  erwünschter  und  dem  religiösen 
Glauben  zugänglicher  Daseinsweisen  die  volle  Kraft  metaphysischer  Be- 
jahung auf  diesen  Ablauf,  auf  die  Zeusepoche  fällt,  und  alle  Tatbereit- 
schaft dem  Zwecke  gilt,  dieses  Leben  in  seinem  wesensmäßigen  Bestände 
zu  verwirklichen  und  zu  bewahren,  so  wird  auch  in  der  gleichsam  räum- 
lich vertikalen  Gliederung  gleichzeitig  bestehender  Seinsweisen  der  Götter, 
der  Menschen,  der  abgeschiedenen  Seelen  dieses  menschliche  Leben  in 
mehrfachem  Sinne  zum  mittleren  zwischen  extremen  Seinsformen,  und 

30  zwar  wird  in  ihm  der  Mittel-  und  Zielpunkt  erfaßt,  nach  dem  alle 
andern  Seinsarten  vorgestellt  werden.  Wir  betrachten  erst  die  Spiege- 
lung des  menschlichen  Daseins  in  der  Götterwelt  und  dann  die  in  dem 
Totenreiche,  in  dem  die  Seelen  als  kraftlose  „Abbilder"  der  volleiblichen 
Existenz  ein  „Schattendasein44  führen. 

In  unserem  ersten  und  zweiten  Gedankengange  hatten  wir  das  meta- 
physische Bewußtsein  eines  mythischen  Abstiegs  einfach  neben  das  des 
„ontischen44  Übergewichts  dieser  erlebten  Seinsordnung  stellen  müssen, 
um  zunächst  einmal  den  Tatbestand  zu  beschreiben,  wie  er  sich  aus  den 
Quellen  ergibt.  Wir  müssen  nun  fragen :  wie  stellt  sich  einem  Bewußtsein, 

40  das  an  ein  Ende  des  Abstiegs,  an  sein  Einmünden  in  eine  bestehende 
und  zwar  zu  „Recht44  bestehende  Ordnung  glaubt,  jener  dem  Abstieg 
vorhergehende  höhere  Zustand  dar  ?  Man  könnte  meinen,  daß  von  einem 
solchen  Bewußtsein  der  Diesseitigkeit  aus  jenes  Presbyteron,  die  ehr- 
würdige Ahnenzeit  besserer  Zeitalter,  und  die  sie  erfüllenden  göttlichen 
Wesen  einfach  verblassen  und  damit  eine  „realistische44  Weltauflassung 

D  2* 


20 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


sieh  auf  den  Umkreis  der  unmittelbar  erfahrenen  Wirklichkeit  be- 
schränkt und  verengt.  Dies  nicht  zu  tun,  nichts  Früheres  aufzu- 
gehen, sondern  dem  neuen  Zustande  des  Geistes  unwillkürlich  anzu- 
passen, darin  spricht  sich  eine  noch  lange  wirksame  Eigentümlichkeit 
des  griechischen  Geistes  aus.  Gegenüber  dem  starren  Konservativismus 
anderer  großer  archaischer  Kulturen  einerseits  und  dem  selbstbewußten 
Pochen  auf  Fortschritt  und  Höherentwicklung  andrerseits,  in  dem  wir 
Späteren  leben,  lebt  die  griechische  Antike  in  einer  beispiellosen  und 
darum  ewig  vorbildlichen  Kraft  der  Metamorphose;  nachdem  einmal  die 
Soteria,  die  Bewahrung  des  Vorhandenen  als  metaphysisches  Grundmotiv  10 
wirksam  ist,  weitet  sich  ihr  Anwendungsbereich  auf  alles  Frühere  aus, 
indem  auch  für  die  schöneren  und  besseren  Daseinsformen  in  einer  an- 
dern Dimension  eine  Fortdauer  gesucht  und  in  dem  Leben  der  olympi- 
schen Götter  gefunden  wird.  (Bereits  das  bedeutet  einen  ersten  Schritt 
zu  jener  merkwürdigen  Freiheit  dem  Zeitbegriff  gegenüber,  die  für  das 
griechische  metaphysische  Denken  immer  charakteristisch  bleiben  wird; 
die  ägxtfi  ursprünglich  das  Frühere  vor  dem  Sein,  wird  zum  „Prinzip", 
zu  einem  wesentlichen  Bestandstück  des  einheitlich  Seienden.) 

Wir  sahen,  daß  die  theogonische  Spekulation  einen  mythischen  Vor- 
gang zunächst  einfach  so  beschreibt :  Zeus  siegt  im  Kampfe  mit  früheren  20 
Göttergeschlechtern  auf  Grund  seines  Rechtes;  Wahrer  des  Rechtes, 
der  Dike  bleibt  er  in  der  mutterländischen  Dichtung,  bei  Hesiod,  bei 
Solon,  im  ganzen  noch  bei  den  älteren  Tragikern.  In  den  Homerischen 
Gedichten  ist  die  Einbeziehung  des  göttlichen  Daseins  in  die  Sphäre 
der  diesseitigen  Wirklichkeit  vollendet.  Dem  ungemeinen  Reichtum  des 
homerischen  Weltbildes  gegenüber  bleibt  hier  für  uns  nur  die  ganz  sche- 
matische Zusammenstellung  einzelner  Züge  möglich. 

a)  Die  Götter  bleiben  von  einem  merkwürdigen  Glanz  umgeben,  der 
im  letzten  Grunde  auf  ihrer  Unabhängigkeit  von  der  Zeit,  vom  Alter 
und  Tod,  von  allen  menschlichen  Tributen  an  die  Zeitlichkeit  beruht ;  sie  30 
sind  die  ewig  Währenden. 

b)  Diesen  Eindruck  zu  wahren,  erfordert  die  größte  Meisterschaft 
des  Dichters,  denn  nichts  Menschliches  ist  ihnen  fremd.  Sie  werden  so- 
gar verwundet,  aber  ihre  Wunden  heilen  schnell;  auch  ihre  Ehre,  mensch- 
lich gesprochen,  kann  vorübergehend  gefährdet  werden,  aber  wie  feudale 
Herren  überstehen  sie  auch  peinliche  Situationen  rasch,  und  bald  ist 
alles  wie's  war;  es  ändert  sich  nichts,  es  tritt  kein  neuer  Gott  in  den 
Olympos  ein,  das  göttliche  Reich  ist  konsolidiert.  Anthropomorphismus 
und  Anthropopathismus  gilt  gemeinhin  für  bloße  Unfähigkeit,  einen 
reinen  Gottesbegriff  zu  bilden ;  hier  ist  aber  sichtlich  geradezu  das  Motiv  40 
wirksam,  Götter  soviel  als  möglich  den  Menschen  anzunähern,  damit 

sie  ihre  eigentliche  Funktion  erfüllen. 

c)  Diese  besteht  in  der  handgreiflichen  Regelung  des  menschlichen 
Daseins.  Dadurch  allein  kommt  die  göttliche  Macht  zum  Ausdruck; 


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DER  MENSCH  IN  SEINER  WELT  BEI  HOMER  UND  HESIOD 


21 


mit  Fleiß  haben  diese  Dichter  für  das  Dasein  und  Leben  der  Götter 
eigentlich  nichts  übrig  gelassen,  wenn  man  ihre  Sorge  um  ihre  Schütz- 
linge, ihr  Eingreifen  in  deren  Leben  abzieht;  hierfür  aber  müssen  sie 
„anthropomorph"  sein,  wie  wir  in  den  Gedichten  deutlich  sehen;  sie 
nehmen  ja  nur  zum  Zwecke  ihres  Eingreifens  Gestalt  an,  diese  oder 
jene;  daß  sie  das  tun  können,  das  ist  ein  wesentlicher  Teil  ihrer  Gött- 
lichkeit. Wie  sie  sonst  aussehen,  was  sie  „an  sich"  sind,  darüber  erhalten 
wir  keine  eindeutige  Antwort :  denn  Menschen  dürfen  sie  s  o  nicht  sehen^ 
etwa  Athene  mit  der  Aegis  —  daß  man  sie  sehen  könnte,  wenn  man  die 

10    ungünstigen  Folgen  auf  sich  nimmt,  ist  wohl  keine  Frage. 

d)  Aus  dieser  wesensmäßigen  Aufgabe  entspringt  auch  notgedrungen 
der  Anthropopathismus :  da  die  Menschen  widerstreitende  Ziele  haben, 
alle  aber  der  göttlichen  Allmacht  unterstehen,  so  müssen  eben  die  Götter 
unter  sich  uneins  sein  —  darin  liegt  eine  Folgerichtigkeit  der  griechischen 
Anschauung,  über  die  sich  keine  Zeit  überlegen  dünken  möge.  Also  müssen 
die  Götter  sich  streiten,  sich  betrügen;  selbst  Zeus  erliegt  vorübergehend 
dem  Trug  der  Hera,  obwohl  er  mit  jener  Macht  am  nächsten  verbunden 
ist,  die  über  Göttern  und  Menschen  gleichermaßen  waltet,  dem  Schick- 
sal, der  gewaltigen  Moira.  Eine  einheitliche  Kraft  muß  natürlich  für 

20  den  Ausgleich  aller  himmlisch-irdischen  Kompetenzkonflikte  so  "gen. 
Aber  die  Götter  unterstehen  dem  Schicksal  nur  insofern,  als  sie  sich 
auf  die  widerspruchsvolle  Aufgabe  einlassen,  das  Menschenleben  zu  ord- 
nen. Ihr  eigentliches  Sein  wird  vom  Schicksal  nicht  berührt,  aber  es 
ist  ja  die  Frage,  wie  weit  von  einem  absoluten  Sein  der  Götter  über- 
haupt gesprochen  werden  kann. 

Daß  die  homerischen  Götter  keinen  ethischen  Vorrang  vor  den  Menschen  haben,  ist 
klar,  und  an  diesem  Punkte  setzte  bekanntlich  die  philosophische  Kritik  zuerst  ein. 
Auch  die  Dike,  die  mit  Zeus  in  die  Welt  kommt,  ist  bei  Hesiod  noch  kein  Prinzip  der 
Sittlichkeit  im  strengen  Sinne.  Gerade  die  Unklarheiten  und  Widersprüche  beweisen 

30  das  eine:  der  damalige  Mensch,  der  diese  Gestalten  entwarf  oder  ihre  Züge  sammelte 
oder  schließlich  sie  als  Grundlage  der  Erziehung  gelten  ließ,  ist  entschlossen,  die  Ge- 
gebenheit dieser  Welt  mit  ihrer  bunten  Fülle  von  Gewalt  und  Leiden,  von  Ungleichheit 
und  Unerklärlichkeit  des  Schicksals  gelten  zu  lassen  so  wie  sie  ist,  und  als  oberstes  Prin- 
zip, aus  dem  Tun  und  Leiden  begriffen  werden  soll,  nur  ein  eigentümliches  Gesetz  des 
Ausgleichs  festzusetzen.  In  diesem  Gesetz  ist  der  Charakter  einfach  gesetzmäßigen  Na- 
turgeschehens ebenso  beschlossen  wie  der  des  Ablaufs  des  menschlichen  Lebens.  Wenn 
Zeus  in  der  Ilias  den  Entscheidungskampf  zwischen  den  beiden  Haupthelden  durch  die 
Schicksalswage  entscheidet,  so  liegt  darin  bereits  ein  einfaches  Symbol  einer  statisch 
objektiven  Maßethik,  für  die  erst  spätere  Zeiten  des  Griechentums  Gründe  und  ver- 

40  Btehbare  Ausdrucksmöglichkeiten  suchten  und  fanden.  Jedenfalls  wird  damit  den 
Göttern  ebenso  wie  die  höhere  Sittlichkeit  auch  eine  höhere  Freiheit  entzogen,  etwa  nach 
Gutdünken,  nach  Liebe  und  Haß  das  Leben  der  Menschen  letztlich  zu  gestalten.  W  ie  in 
den  eigentlichen  Kerngedichten  der  homerische  Held  in  den  Betätigungen  seiner  Kraft 
innerhalb  der  dynamischen  Möglichkeiten  wirklichen  Daseins  bleibt,  so  waltet  auch  im 
wunderbaren  Göttertum  der  homerischen  Welt,  verglichen  mit  orientalischem  Wunder- 
glauben und  Wundersehnsucht,  eine  eigentümliche  Zurückhaltung.  Die  Seinsweisen 
der  Götter  und  Menschen  bleiben  durch  Mittelglieder  verbunden;  nirgends  hat  die 
religiöse  Urvorstellung  der  Gotteskindschaft  eine  so  naive  Form  gewonnen  wie  bei  den 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Griechen.  Zeus  und  die  andern  Götter  sind  Stammväter  der  Heldengeschlechter;  wenn 
der  Bestand  der  Götterfamilien  in  sich  auch  streng  gewahrt  wird,  so  wird  doch  der 
göttliche  Same  über  das  Menschengeschlecht  verstreut,  um  in  diesem  die  Möglichkeiten 
menschlichen  Daseins  vorbildlich  im  Melden  und  König  zur  Erfüllung  zu  bringen.  Wer 
immer  an  die  Theogonie  Hesiods  die  Frauenkataloge  angefügt  haben  mag,  in  denen  alle 
die  Verbindungen  von  Göttern  und  Menschen  registriert  sind,  er  hat  hier  die  griechische 
Auflassung  vom  Sinne  göttlichen  Daseins  als  dauerndem  schöpferischen  Hineinwirken 
göttlicher  Kraft  in  das  menschliche  Sein  ganz  charakteristisch  und  spezifisch  griechisch 
zum  Ausdruck  gebracht.  (Ein  merkwürdiger  Vers  der  hesiodischen  Erga  faßt  dies  alles 
schlicht  zusammen  (108):  Von  gleicher  Herkunft  sind  Götter  und  Menschen1). 

4.  Wie  alles  Sinnen  über  Götter  und  Schicksal  letzten  Endes  immer 
wieder  auf  dieses  menschliche  Dasein  zurückführt  und  seine  Kraft  und 
Würde  befestigt,  so  tragen  auch  alle  Vorstellungen  über  den  Tod  und 
die  vom  Leibe  getrennte  Seele  nur  dazu  bei,  das  volle  leiblich-geistige 
Leben  in  dieser  Welt  als  das  Sein  kaf  exoehen  auszuzeichnen.  Wie  das 
Verhältnis  dieser  Welt  zu  der  göttlichen  Region  sich  am  sinnfälligsten 
in  dem  vertraulichen  Umgangstone  zwischen  Menschen  und  Göttern 
ausdrückt,  so  ist  das  Lebensgefühl  dieser  Menschen  am  eindringlichsten 
in  dem  für  jeden  der  ihn  kennt  unvergeßlichen  Ausbruch  des  Achilles 
zu  fühlen,  als  er,  in  der  Unterwelt  von  Odysseus  gefragt,  dieses  und  jenes 
Leben  vergleicht.  Dabei  ist  das  Dasein  der  Seele  nach  dem  Tode  durchaus 
ein  Leben,  nur  ein  Leben  von  abgeleiteter,  sekundärer  Seinsart,  ein 
schwacher  kraftloser  Abglanz  dieses  Lebens,  ein  Dämmerzustand,  kein 
traumloser  Schlaf,  wie  ihn  Sokrates  später  als  höchstes  Glück  der  müden 
Seele  an  einer  merkwürdigen  Stelle  der  platonischen  Apologie  ausmalt, 
sondern  ein  halber  Wachzustand,  der  die  trostlose  Schwäche  deutlich 
zu  erleben  zwingt.  Kein  Zug  dieses  qualvoll  ewigen  Lebens  zeichnet  es 
positiv  gegenüber  der  menschlichen  Seinsweise  aus,  alles  ist  nur  ent- 
kräftete Menschlichkeit.  Kein  belohnendes  Glück,  keine  rächende  Strafe 
ist  diesem  Leben  nach  dem  Tode  in  der  eigentlich  homerischen  Fassung 
eigentümlich;  die  gestraften  Sünder  der  Nekyia  gehören  anderer  Speku- 
lation an  —  ob  späterer  oder  früherer,  bleibe  dahingestellt,  wenn  auch 
die  Fassung  dieser  Stelle  sicher  später  ist. 

Älter  sind  sicher  die  Überreste  des  Seelenkultes  beim  Totenopfer  des  Achilleus  und 
bei  der  Totenbeschwörung  des  Odysseus. 

Wie  wir  es  bei  den  theogonischen  Mythen  sahen,  so  ist  auch  hier  die 
homerische  Welt  in  sich  selbst  von  deutlich  faßbarer  Einheit,  sie  zeigt 
die  Züge  fremden  Denkens  und  Fühlens  nur  am  Horizonte;  ihr  Umkreis 
ist  umstellt  mit  fremden  Riten,  Gebärden  und  Gefühlen,  die  aber  in 
ihrer  eigentümlichen  Bedeutung  völlig  umgestaltet  sind. 

2)  Ob  dieser  Vers  in  der  Tat  den  Sinn  der  Weltalterlehre  vorausnehmend  bezeichnen 
soll  —  an  dieser  Stelle  steht  er  —  ist  schwer  zu  sagen.  Er  müßte  dann  so  verstanden 
werden,  daß  insofern  auch  die  Götter  geworden  sind,  sie  derselben  Seinsweise  wie  die 
Menschen  angehören.  Deren  absteigende  Entwicklung  läßt  immerhin  einen  höheren  Ur- 
sprung noch  über  das  erste  Zeitalter  hinaus  vermuten.  Vgl.  jetzt  v.  Wilamowitz  zur  Stelle. 


D      DER  MENSCH  IN  SEINER  WELT  BEI  HOMER  UND  HESIOD 


23 


Wenn  Achilleus  dem  toten  Freunde  die  trojanischen  Jünglinge  opfert,  so  wirkt  dies 
auf  keinen  unbefangenen  Leser  als  eine  Beschwichtigung  der  Rache  des  Toten;  jeder 
Gedanke  daran  würde  die  „Form"  dieser  Stelle  zerstören;  denn  nur  die  ungemeine 
Größe  der  Freundschaft  und  der  Rache  —  also  im  Grunde  unveränderliche  menschliche 
Gefühle  —  sollen  durch  die  archaische  Geste  dieses  Opfers  ausgedrückt  werden.  Wenn 
Odysseus  den  Toten  das  Blut  der  Opfer  fließen  läßt,  so  hat  sich  auch  der  Sinn  dieses 
Opfers  wesentlich  geändert;  nicht  die  übermenschliche  Kraft  der  Schatten  soll  versöhnt 
werden,  sondern  im  Gegenteil  sollen  sie  durch  den  Trank  des  Blutes  für  kurze  Zeit  die 
Kraft  ihres  menschlich-irdischen  Daseins  wiedererhalten  und  aus  dem  Dämmerzustand 
in  die  Verständigungsgemeinschaft  mit  wirklichen  Menschen  vorübergehend  erhoben 
werden. 

Es  wird  also  wieder  altes  religiöses  Gut  umgeschmolzen  in  eine  andere 
Form;  nicht  etwa  wird  das  Fortleben  der  Seele  nach  dem  Tode  verneint 
oder  diese  Frage  gleichgültig  gar  nicht  gestellt:  wie  überhaupt  die  Vor- 
stellungen eines  völligen  Vergehens  oder  Entstehens  aus  dem  Nichts 
schwer  Raum  im  griechischen  Denken  finden.  Die  unzerstörbare  Existenz 
der  Seele  wird  einfach  vorausgesetzt,  aber  in  einer  Form,  für  die  wie  kaum 
für  eine  andere  Religion  das  Goethesche  Wort  gilt,  daß  sie  ,,den  Men- 
schen ins  Leben  zurückdrängt  und  ihn  handeln  lehrt". 

5.  Die  unter  3  und  4  behandelten  Gesichtspunkte  sind  deshalb  so 
wichtig,  weil  sie  zeigen,  daß  die  „Diesseitigkeit'4  des  griechischen  Seins- 
erlebnisses nicht  bloße  Beschränktheit  auf  diese  Welt  ist.  Sondern  die 
Griechen  behalten  die  andern  über-  und  unterweltlichen  Regionen  durch- 
aus im  Blick,  lassen  sich  aber  weder  durch  himmlischen  Glanz  noch  durch 
mythische  Abgründigkeit  geblendet  von  der  bunten  Fülle  dieser  Welt 
abwenden,  sondern  stellen  sich  frei  und  selbständig  auf  den  Standpunkt 
ihres  menschlichen  Daseins  und  bejahen  es  als  höchste  Realität  vor  allen 
andern  Seinsweisen.  Denn  das  ist  die  zur  Genüge  bekannte  Eigentüm- 
lichkeit des  griechischen  Welterlebnisses  von  Anfang  an,  die  Scharfsinnig- 
keit in  dem  eigentlichen  und  in  dem  uns  vertrauteren  übertragenen 
Sinne,  die  Gegenstandsnähe  des  erkennenden  Blicks,  die  ungemeine 
Kraft  der  Wahrnehmung,  die  Bereitschaft,  mit  allen  Organen  die  Gliede- 
rung und  Ordnung  der  sinnenmäßig  gegebenen  Welt  in  sich  aufzunehmen. 
Nicht  etwa  nur  die  vielberedete  Visualität,  die  die  Griechen  zum  Eidos 
und  zur  Idea  führt,  sondern  die  viel  umfassendere  Aufgeschlossenheit, 
die  eigentlich  gerade  dadurch  charakterisiert  wird,  daß  sie  beim  einzel- 
nen sinnlichen  Eindruck  nicht  stehen  bleibt,  sich  nicht  in  ihm  verliert, 
wie  das  orientalische  Märchen  sich  in  einen  wunderbaren  Goldglanz,  in 
einen  zauberhaft  süßen  Klang  gleichsam  einspinnt;  bei  aller  Schärfe 
der  Beobachtung,  die  in  den  homerischen  Gleichnissen  immer  wieder 
erstaunen  läßt,  ist  es  doch  eben  gar  nicht  das  Einzelne,  das  eigentlich 
gemeint  wird,  sondern  die  im  Denken  erfaßte  Beziehung  zu  anderem,  die 
Verknüpfung;  und  wenn  das  Gleichnis  sich  auch  gerne  in  Einzelheiten 
ergeht,  die  vom  kühl  intellektuellen  Standpunkt  aus  nicht  zur  Sache 
gehören,  so  ist  doch  diese  Beschreibungsfreude  entbunden  und  ent- 


24 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


schuldigt  durch  jenes  andere  Bedürfnis  des  Zusammenhangs;  zudem 
greift  das  Gleichnis  meist  hinter  den  sinnlichen  Eindruck,  es  schildert 
innere,  nicht  äußere,  dynamische,  nicht  anschauliche  Vorgänge.  Indem 
das  Gleichnis  den  großartigeren,  heroischen  Actus  in  Parallele  setzt 
mit  dem  einfachen  Vorgang  des  Tierlebens,  des  handwerklichen  Tuns, 
jedenfalls  der  schlichten  Wirklichkeit  des  Alltags,  trägt  es  so  zu  dem  Ab- 
blenden aller  verstiegenen  Phantastik  bei,  zu  der  großartigen  Ernüchte- 
rung, in  der  die  gesamte  Wirklichkeit  als  ein  einheitlicher  Zusammen- 
hang erscheint,  innerhalb  dessen  sich  das  von  den  Gottheiten  geleitete 
Tun  und  Lassen  der  Menschen  abspielt,  ohne  Einbrüche  einer  Wunder-  10 
weit,  die  zur  völligen  Aufgabe  des  einheitlich  verstehbaren  Naturzu- 
sammenhangs  zwänge. 

6.  Nach  derselben  Richtung  treibt  auch  ein  anderes  Motiv,  das  wie 
alle  bisher  geschilderten  noch  weiter  konstitutiv  für  alle  griechische 
Wirklichkeitsauffassung  bleibt.  Alles  Wirkliche  wird  immer  unter  dem 
Gesichtspunkt  des  politisch-ethischen  Lebens,  also  des  eigentlichen 
menschlichen  Daseins  betrachtet.  Wo  ein  rein  theoretisches  Interesse 
an  der  ,, Natur"  als  solcher  in  unserem  Sinne  vorzuliegen  scheint,  ist 
dies  meist  nur  unsere  Perspektive,  die  für  das  damalige  Denken  Selbst- 
verständliches wegläßt  und  uns  heute  Selbstverständliches  ohne  weiteres  20 
ergänzend  hinzufügt. 

Zu  jedem  einzelnen  der  bisher  behandelten  Punkte  müßte  eigentlich  von  hier  aus 
noch  eine  Ergänzung  hinzutreten.  Der  Zusammenhang  zwischen  Göttern  und  Menseben, 
wie  er  den  Frauenkatalogen  zugrunde  liegt,  hat  auch  eine  dynastische  Bedeutung;  der 
König  will  sich  und  sein  Geschlecht  legitimieren,  ihm  eine  unzweifelhafte  Begnadung  zu- 
schreiben. Das  Weltbild  der  homerischen  Gedichte  entspricht,  wie  man  oft  gesagt  hat, 
einem  feudalen  Herrenstand,  für  den  der  Sänger  zunächst  singt.  Aber  der  Sänger  hat  eine 
unverkennbare,  im  einzelnen  schwer  zu  fassende  Überlegenheit  über  diese  ständische 
Gliederung:  nicht  alle  Könige  sind  mit  dem  Glänze  umgeben,  der  ihrer  göttlichen  Geburt 
entspräche;  aus  rein  menschlichem  Geschlecht  entstammende  Männer  und  Frauen  30 
erhalten  ein  wirklich  menschliches  Ethos,  das  hinter  dem  aller  jener  Göttersöhne  und 
-enkel  durchaus  nicht  zurücksteht.  Der  Gegensatz  der  hesiodischen  Gedichte,  in  denen 
die  große  Bewegung  zur  Demokratie,  die  Kritik  der  bestechlichen  Richterkönige  offen 
hervorbricht,  zur  geistigen  Haltung  der  homerischen  Dichter  ist  im  Grunde  nicht  allzu 
groß.  Die  Thersitesreden  im  Zusammenhang  der  immerhin  merkwürdigen  „Peira",  der 
Versuchung  des  Heerkönigs  im  2.  Buche  der  Ibas  (v.  Wilam.  Ilias,  260  ff.)  werden  zwar 
mit  der  ganzen  Person  des  sehr  freimütigen  Redners  der  Verachtung  preisgegeben. 
Aber  wenn  man  den  Ton  berücksichtigt,  in  dem  von  Göttern  und  Helden  gelegentlich 
gesprochen  wird,  und  wenn  man  daneben  den  Inhalt  der  Thersitesreden  hält,  wird  man 
im  Zweifel  sein  dürfen,  was  ursprünglicher  ist:  die  eigentümliche  Überlegenheit,  mit  der  40 
hier  die  Helden  und  deren  Schwächen,  oder  die  Gelassenheit,  mit  der  dort  die  Beziehungen 
zwischen  den  Helden  und  den  Göttern  behandelt  werden,  denn  beides  hängt  eng  genug 
miteinander  zusammen.  Wenn  andrerseits  die  Wirkung  des  guten  Königs  sich  nach  der 
bekannten  Stelle  der  Odyssee  XIX  108  bis  auf  die  Fruchtbarkeit  von  Acker  und  Vieh  er- 
streckt, so  kann  eine  religiös  mystische  Verehrung  des  „Zeusgenährten"  Fürsten  und 
seiner  Funktion  kaum  einfacher  und  stärker  ausgesprochen  werden  als  es  hier  geschieht. 
Gewiß  kann  man  hier  „Widersprüche"  innerhalb  der  epischen  Dichtung  sehen,  und  es 
werden  wohl  diese  verschiedenen  Ansichten  durch  verschiedene  Menschen  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  ihre  Prägung  erhalten  haben  (vgl.  Piaton  Gesetze  IV  c.  9). 


D 


DIKE  UND  SCHULDBEGRIFF 


25 


Die  kritische  Tätigkeit  der  Philologie,  die  festzustellen  sucht,  welche 
Stücke  der  homerischen  Gedichte  verschiedener  Herkunft  sein  mögen, 
zeigt  uns  die  gewissermaßen  natürlichen  Ursachen  des  ungemeinen 
Reichtums  der  epischen  Dichtung.  Aber  die  —  nicht  ästhetische,  sondern 
pädagogische  —  Einheit  dieser  Dichtung,  die  als  Grundlage  der  Bildung 
und  Erziehung  auf  die  geistige  Entwicklung  der  Griechen  einwirkte,  das 
freie,  um  die  „ästhetische"  Einheit  unbekümmerte  Hinnehmen  alles  dessen, 
was  sich  schließlich  zum  Werke  „Homers"  oder  „Hesiods"  zusammen- 
schloß wie  die  Teile  einer  kristallisierenden  Flüssigkeit,  hat  mit  dazu 
beigetragen,  die  Weite  des  griechischen  Geistes  zu  erhalten  und  ihm  die 
geschichtliche  Tiefe  zu  geben,  die  räumlich  verschiedene  Stämme  und 
zeitlich  das  Lebensgefühl  sehr  verschiedener  Zeitalter  und  Generationen 
zusammenfaßt.  Vgl.  Handb.  d.  Pädag.  herausg.  v.  Nohl  u.  Pallat  I.  Bd., 
Abschnitt  2.  Schon  daraus  ergibt  sich  ein  ganz  besonderes  Verhältnis 
der  griechischen  Denker  zur  Geschichte  und  zur  Geschichtlichkeit  des 
Daseins;  an  dieser  Stelle  wird  sich  immer  deutlicher  die  wesentliche 
Grundlage  der  griechischen  Metaphysik  und  damit  die  wichtige  Ab- 
weichung von  aller  Modernität  zeigen. 

3.  DIKE  UND  SCHULDBEGRIFF. 

Es  war  bereits  mehrfach  der  Begriff  der  Dike,  des  „Rechtes", 
wie  man  ihn  übersetzen  mag,  erwähnt  worden,  ein  Begriff,  der  näher 
bestimmt  werden  muß,  um  für  diese  Zeiten  griechischer  Kultur  zu  passen. 
Eine  Reihe  von  Zügen  der  oben  geschilderten  Grundhaltung  dem  Sein 
gegenüber  sind  der  Ausbildung  eines  sittlichen  Rechts,  d.  h.  eines  Verant- 
wortungsbewußtseins, einer  klaren  Vorstellung  von  sittlicher  Schuld  und 
entsprechender  Sühne  hinderlich.  Die  großartige  Gelassenheit,  mit  der 
grade  das  Wollen  und  Handeln  der  Menschen  unter  den  Einfluß  der 
Götter  gestellt  wird,  die  selbstverständliche  Ergebenheit,  mit  der  Erfolg 
oder  Mißerfolg,  Sieg  oder  Untergang,  langes  Leben  oder  früher  Tod  als 
unvermeidliches  Schicksal  und  göttliche  Fügung  hingenommen  wird, 
andrerseits  die  Kraft,  die  aus  dieser  Einsicht  für  die  unbeirrbare  Durch- 
führung der  schicksalsgemäßen  Mission  (Achilles)  gewonnen  wird  — 
alles  dies  ist  einem  sittlich  und  rechtlich  den  Anteil  freier  Selbstbestim- 
mung am  Tun  und  Lassen  abwägenden  Verantwortungsgefühl  nicht 
eben  förderlich,  jedenfalls  nicht  einer  Verantwortlichkeit  der  einzelnen, 
zu  sich  selber  sich  wendenden  Person,  und  an  diese  müssen  wir  doch  un- 
serem Begriff  der  Schuld  entsprechend  letzten  Endes  immer  denken. 

Aber  das  eigentliche  Welt-  und  Selbstbewußtsein  ist  eben  hier  noch 
nicht  zu  derjenigen  individuellen  Reflexion  entwickelt,  die  sich  und  das 
eigene  Tun  zum  Gegenstande  hat  oder  gar  ausdrücklich  sich,  das  Ich, 
als  den  entscheidenden  Ausgangspunkt  des  Geschehens  begreifen  will. 
Sondern  der  Mensch  fühlt  sich  im  letzten  Grunde  Gegebenheiten  mannig- 
facher Art  gegenüber  leidend.  Nichts  bezeichnet  besser  den  Gesamt- 


26 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


charaktrr  der  antiken  Metaphysik  als  dieses  „Haben"  von  Gegebenem, 
dieses  Verhaftetsein  an  Seiendes.  Diese  Haltung  ist  nicht  bloß  theoretisch, 
sondern  sie  schließt  auch  Wollen  und  Fühlen  in  sich,  und  selbst  in  ihren 
höchsten  theoretischen  Sublimierungen  reichen  die  Wurzeln  der  griechi- 
schen Metaphysik  bis  in  die  mythische  Sphäre  hinab. 

Desto  auffälliger  sind  die  Spuren,  die  auf  den  Durchbruch  eines 
anderen  Schuldbewußtseins  durch  die  Schicht  dieser  eben  bezeichneten 
Gedankenwelt  schließen  lassen.  Zeus  setzt  am  Anfang  der  Odyssee  in 
der  Götterversammlung  den  Anteil  der  Menschen  an  ihrem  Glück  und 
Unglück  auseinander  (I,  32).  Zum  ersten  Male  in  der  griechischen  Litera- 
tur wird  die  Wahrheit  ausgesprochen,  in  der  Piaton  seinen  Staats- 
mythos gipfeln  läßt:  Gott  ist  unschuldig,  die  Schuld  ist  des  das  Gute 
oder  Schlechte  wählenden  Menschen: 

„öJ  Ttönov  oiov  Ö7j  vv  &£ovq  ßgorol  ahidovrat. 

i£  7]fi£(ov  yccg  (padl  xax*  tfifievai '      6ä  xal  ccütoC 

ocpfjaiv  draG&aXtrjüiv  ütiSq  {iöqov  ^Xye  i'^ovaiv. 

wg  xal  vvv  AlyioOog  tin&Q  fiögov  ^Argetdao 

ytßi  älo%ov  fiPTjdr^v  rbv  fttxiave  voorrjGavTa, 

eldwg  alrcvv  oXe&vov,  Insl  ttqö  ol  eYrco^sv  f^islg 

cEQ^t€fav  n£[i\pavT€q  Ivaxonov  dgyei'cpövTTjv 

lir[%  avrbv  XTtiveiv  pjjre  iiväaa&ai  äxoiziv  ' 

Ix  yäq  ^OgtGrao  iiGig  iGGerai  "ATQeldao, 

brniÖT  äv  fjßjjarj  xe  xal  fjg  Xiieigeiai  atyg. 

oig  tcpa&*  'Eofietccg,  dW  od  nqivccg  Aiyi'aOoio 

nelxf  äya&a  yoovtwv  '  vTiv  d'ä&oöa  navx*  dnifiiaev!' 

Alles  Böse  kommt  von  den  Göttern,  so  sagen  die  Menschen.  „Böses", 
das  für  die  Menschen  Schlechte,  das  „Übel",  wird  auf  die  Bosheit,  die 
böse  Absicht  der  Götter  zurückgeführt.  Zu  unrecht.  Durch  ihre  eigene 
„Torheit",  ihre  Verblendung  haben  die  Menschen  Leid  über  den  ihnen 
vom  Schicksal  bestimmten  Anteil  hinaus.  So  überschritt  Aigisthos 
seinen  „Anteil",  sein  ihm  zugeordnetes  Schicksal.  Moira,  die  in  imäg  {iöqov, 
„über  den  Anteil  hinaus",  liegende  Grundvorstellung,  bezeichnet  also 
den  Anteil  des  Menschen  an  der  Gesamtmenge  von  innerem  und  äußerem 
Geschehen,  von  Schmerzen,  Lust  und  Freude,  Tun  und  Leiden,  Aufgaben 
und  Leistungen,  Erfolg  und  Unglück,  alles  zusammengenommen  ohne 
klare  Trennung  dieser  Bestandteile;  tini-Q  [io'qov  scheint  also  etwas 
Doppeltes  zu  bezeichnen:  Schmerzen  mehr  als  die  Menschen  zu  erleiden 
brauchten  nach  dem  Schicksal;  zweitens  bezeichnet  es  ein  Handeln, 
das  über  die  Grenze  dessen,  wozu  ein  Mensch  berechtigt  ist,  hinausgeht; 
in  Wirklichkeit  wird  der  Dichter  dieser  Stelle  das  Wort  in  den  beiden 
aufeinanderfolgenden  Zeilen  in  derselben  umfassenderen  Bedeutung  ge- 
meint haben,  die  sich  aus  dem  über  die  Moira  Gesagten  ergibt  (vgl.  zu 
diesem  Begriff  auch  Stenzel,  Piaton  der  Erzieher  S.  18 ff.). 


D 


DIE  ALLMÄHLICHE  RATIONALISIERUNG  DER  DIKE 


27 


Dabei  wußte  Aigisthos,  was  ihm  bevorsteht;  denn  wir  ließen  es  ihm 
durch  den  Götterboten  Hermes,  den  Warner  sagen;  er  wußte,  daß 
Büßung,  Strafe  (rCaic)  eintreten  wird.  Nun  hat  er  —  nach  langer  Zeit 
des  ungestraften  Genusses  —  alles  zusammen  abgebüßt:  Gottes  und 
des  Schicksals  Mühlen  mahlen  langsam,  dip£  Üewv  äliovav  fivXai. 

Jaeger  hat  diese  Worte  eines  jungen  Dichters,  eines  Problematikers, 
der  bereits  in  das  Zeitalter  des  werdenden  „ionischen  Rationalismus 
gehört"  (Stzb.  d.  preuß.  Akad.  d.  Wiss.  Phil.  hist.  Klasse  1926,  72)  in  den 
Zusammenhang  des  griechischen  Denkens  eingeordnet  und  an  einem 
Musterbeispiel  gezeigt,  wie  ein  bestimmtes  Motiv,  das  des  Warners,  in 
verschiedener  geistiger  Formung  und  Erfüllung  durch  die  Dichtung  hin- 
durchgeht. Er  zeigt,  wie  bei  Aschylos  am  Schlüsse  des  „Prometheus44  ge- 
nau dasselbe  Motiv  des  Warners  auftritt,  vor  allem,  wie  es  bei  Solon 
einen  ganz  neuen  Sinn  gewinnt,  der  unmittelbar  auf  die  Anfänge  der 
Philosophie  bei  Anaximander  hinweist. 

4.  DIE  ALLMÄHLICHE  RATIONALISIERUNG  DES  BEGRIFFES 
DER  DIKE  VON  HOMER  BIS  SOLON. 

Das  Neue,  das  in  dem  Denken  Solons  auftritt,  des  ältesten  attischen, 
durch  die  ionische  Aufklärung  beeinflußten  Weisen,  ist  die  Ausschaltung 
der  spontanen  Akte  göttlicher  Strafe  und  göttlicher  Warnung.  An  ihre 
Stelle  tritt  der  unaufhebbare  Zusammenhang  der  Ereignisse,  den  der 
Geist  des  klugen  und  weisen  Menschen  erkennen  kann;  so  kann  der  ein- 
sichtige Geist  des  Führers  zum  Warner  werden,  wie  in  dem  Eunomie- 
gedicht  (Nr.  3,  30  Diehl)  des  Solon:  mein  Sinn  (&vfi6g)  heißt  mich  die 
Athener  belehren  (didd'£ai).  Der  Form  nach  ist  diese  Lehre  die  alte 
Warnung:  Zeus  und  die  Dike  werden  die  gute  Verfassung  der  Bürger 
segnen,  die  schlechte  verderben  und  bestrafen;  dem  Inhalte  nach  — 
das  hat  Jaeger  mit  vollem  Rechte  herausgearbeitet  —  ist  es  eine  ganz 
andere  Einsicht:  aus  immanenten  Gesetzen  der  sich  entwickelnden 
Wirklichkeit,  nach  dem  Rechte  der  Zeit  (so  frg.  24,  3  Diehl)  verfällt 
das  Schlechte  und  das  Gute  gedeiht  und  setzt  sich  durch;  und  zwar  so 
sicher  wie  aus  der  Wolke  Schnee  oder  Hagel  kommt,  wie  auf  den  Blitz- 
strahl der  Donner  folgt  (fr.  10),  so  folgt  „naturnotwendig44  auf  soziales 
und  politisches  Unrecht  die  Strafe.  Soziales  Unrecht  ist  eine  Wunde  am 
Organismus  der  Gemeinschaft,  die  geheilt  werden  muß,  oder  zum  Tode 
führt.  Und  wie  die  Heilung  der  physischen  Wunden  immer  rationaler 
wird,  immer  weniger  rein  magischen  Gewalten  überantwortet  wird,  so 
tritt  auch  im  sozialen  und  politischen  Leben  die  „Rationalisierung44  ein. 

Doch  hier  ist  ein  uns  Modernen  sehr  naheliegendes  Mißverständnis 
fernzuhalten.  Diese  „Rationalisierung44  schließt  nicht  etwa  eine  religiöse 
Haltung  zur  Wirklichkeit  aus,  sondern  vertieft  sie  im  Gegenteil:  gerade 
die  verstehbare,  als  notwendig  erkannte  Ordnung  der  Wirklichkeit 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


in  ihrem  zeitlichen  Verlauf  ist  göttlich;  in  ihr  spricht  sich  die  göttliche 
Kraft  deutlicher  aus  als  in  irgendwelchen  Wundern,  in  irrationalen 
Akten  göttlichen  Eingreifens  (Jaeger,  Solons  Eunomie  S.  80  und  81, 
Stenzel,  Platon  d.  Erzieher  15  ff;  zur  Sache  s.  oben  S.  16,  4  c). 

Dieser  Sachverhalt  muß  als  die  Grundvoraussetzung  der  griechischen 
Metaphysik  angesehen  werden;  der  Vernunft-  und  denkgemäße  Logos 
wird  zu  einer  metaphysischen  Angelegenheit,  das  Metaphysische 
wird  einbezogen  in  eine  verstehbare  Ordnung,  ohne  in  die- 
ser Rationalität  seinen  metaphysischen  Charakter  zu  ver- 
lieren, ig 

Jaeger  sucht  seinem  besonderen  Zwecke  gemäß  grade  die  charakte- 
ristische Wandlung  des  Warner-  und  Difte-Motivs  herauszustellen,  er 
ist  auf  die  Unterschiede  gerichtet.  Hier  kommt  es  darauf  an,  gegenüber 
moderner  Einfühlung  das  Gemeinsame  dieser  archaischen  griechischen 
Stellung  zu  Leben  und  Welt,  zu  Gott  und  Schuld  und  Sühne  herauszu- 
heben. Die  Metamorphose  des  Warnermotivs  vollzog  sich  deshalb  so 
leicht,  weil  auch  hinter  dem  naiven  Göttermythos  des  1.  Buches  der 
Odyssee  ein  Dichter  steht,  dem  sich  bereits  die  Vorstellung  vom  indivi- 
duellen Götterwillen  mit  der  eines  allgemeinen  Schicksals  ausgeglichen 
hatte.  Man  muß  als  Gegensatz  sich  das  Pathos  eines  alttestamentlichen  20 
Propheten  vorstellen,  um  das  Gemeinsame,  das  bereits  den  Dichter 
der  Odyssee  und  Solon  umgreift,  zu  erkennen. 

Die  Gelassenheit  und  Leidenschaftslosigkeit  in  den  Beziehungen  zwischen  Göt- 
tern und  Menschen  trat  uns  in  der  Odyssee  in  der  Sphäre  des  Wollens  schuldhaften 
Handelns  von  einer  neuen  Seite  entgegen.  Gottvater  Zeus  schiebt  die  Schuld  den 
Menschen  zu,  er  lehnt  die  Verantwortung  ab.  Er  sagt:  ich  kann  nicht  dafür,  sie  selbst 
haben  es  sich  zuzuschreiben.  Denn  ich  habe  ihnen  mitgeteilt,  was  ihr  Schicksal  sein 
wird.  Nicht  ich,  Zeus,  verhänge  die  Strafe,  sondern  diese  ergibt  sich  aus  der  Ordnung 
der  Dinge,  dem  Gesetze  der  Vergeltung:  wer  mehr,  über  sein  Teil  hinaus  tut,  der  hat 
mehr  (beidemal  das  Wort  vneQ  juSpor)  zu  leiden.  Daß  Zeus  als  persönlicher  Gott  strafen  30 
will,  davon  steht  nichts  da.  Alle  Worte  sind  so  gewählt,  als  ob  Zeus  nunmehr  durch  das 
Tun  der  Menschen  eine  Gesetzmäßigkeit  ablaufen  läßt,  nicht  eigentlich  eine  solche 
schafft.  Gewiß  bleibt  der  mythologische  Apparat  des  warnenden  und  strafenden  Gottes 
als  ein  gewichtiger  Unterschied  bestehen,  aber  nichts  weist  darauf  hin,  daß  diese  war- 
nende Botschaft  den  Menschen  etwas  grundsätzlich  Neues  sagt,  sondern  es  ist  eigentlich 
nur  das,  was  alle  Menschen  als  Gesetz  anerkennen,  über  das  nur  der  eine  oder  andere  der 
Großen  sich  hinwegsetzen  zu  können  glaubt.  Gemeinsam  ist  ferner  dem  homerischen 
und  dem  attischen  Dichter  die  Bewertung  der  Zeit;  die  Buße  tritt  nicht  sofort  ein;  Gott 
läßt  die  Schuld  anstehen,  schließlich  büßt  der  Schuldige  alles  auf  einmal  oder  wie  Solon 
ausdrücklich  (1,  31)  sagt:  er  oder  seine  Nachkommen  und  sein  ganzes  Geschlecht.  40 

Auch  hier  bei  Homer  wie  so  oft  anderwärts  erscheinen  die  Götter  nur  als  Voll- 
strecker eines  Gesetzes,  das  menschlicher  Erkenntnis  zugänglich  ist,  an  das  die  Götter 
eigentlich  nur  erinnern,  von  dem  sie  wohlwollend  zu  überzeugen  versuchen,  und  das 
vom  Willen  der  Götter  unabhängig  ist.  Wenn  die  Menschen  darauf  nicht  hören, 
so  ist  dies  Unverstand,  Torheit,  Verblendung;  charakteristischerweise  wird  die  Deutlich- 
keit der  intellektuellen  Komponente  in  den  Ausdrücken  für  diese  „Verblendung"  von 
Homer  über  Solon  bis  zu  Äschylus  immer  stärker.  Aber  auch  schon  bei  Homer  erscheint 
die  Schuld  als  Unklarheit  des  Denkens,  die  Ate  als  eine  „Verqualmung"  des  Gemütes 


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GRUNDZÜGE  DER  ARCHAISCHEN  METAPHYSIK 


29 


durch  Zorn,  als  ein  individuelles  oder  gemeinschaftspsychologisches  Phänomen,  das  die 
klare  Einsicht  in  den  Zusammenhang  der  Dinge  trübt. 

Wenn  dies  auch  auf  eine  gemeinsame  Grundlage  hinweist,  so  darf 
doch  der  wesentliche  Schritt,  den  Jaeger  vom  homerischen  Dichter  zu 
Solon  herausarbeitet,  nicht  einen  Augenblick  verkannt  werden.  Es 
bleiben  doch  nun  einmal  einzelne  Facta,  Sendung  des  Hermes,  Gehor- 
sam oder  Ungehorsam  des  Aigisthos,  die  der  homerische  Dichter  schil- 
dert und  von  denen  er  den  Ablauf  der  Ereignisse  bestimmen  läßt.  Er 
selbst  tritt  mit  seinem  eigentlichen  Glauben  zurück,  wir  wissen  nicht, 
wie  er  selber  sein  eignes  Tun  beurteilen  würde. 

Darum  ist  diejenige  metaphysische  Stellung  zum  Dasein,  die  wir  der 
solonischen  als  Kontrast  entgegenstellen,  deutlicher  dort  zu  sehen,  wo, 
wie  bei  Hesiod  oder  Tyrtäus,  der  unbedingte  Glaube  an  ein  einmaliges 
göttliches  Geschehen  in  der  Zeit,  das  Recht  und  Unrecht  geschieden 
und  das  eine  Verfassung  begründet  hat,  sich  mit  der  Uberzeugung  ver- 
bindet, daß  die  Wahrung  des  Rechtes,  die  Erstattung  der  Schuld  an  spon- 
tane Akte  göttlicher  Dike  gebunden  sind.  Erst  durch  diesen  Gegensatz 
wird  die  metaphysische  Bedeutung  der  solonischen  Konzeption  klar:  wenn 
der  Ausgleich  von  Recht  und  Gedeihen,  von  Unrecht  und  Unglück  nach 
ehernen  ewigen  Gesetzen  erfolgt,  so  taucht  eine  ganz  neue  Seinsregion 
auf,  eben  die  jener  „zeitlosen"  ewigen  Gesetzmäßigkeiten,  die  hinter 
allem  Wandel  des  Geschehens  als  wahre  Gesetze  erkannt  werden 
können. 

5.  GRUNDZÜGE  DER  ARCHAISCHEN  METAPHYSIK. 

Wir  heben  nun  an  diesem  paradeigmatischen  „Urphänomen"  der 
griechischen  Metaphysik  kurz  einige  für  alles  Folgende  wichtige  Züge 
zusammenfassend  hervor. 

1.  Der  Ubergang  von  einer  religiösen  Haltung  zu  einer  rationalen 
ist  keine  Entgötterung  des  Daseins.  Es  geht  das  wesentlich  Religiöse 
nicht  verloren. 

2.  Die  entscheidenden  Wandlungen  des  Weltdenkens  und  -fühlens 
sind  nicht  „theoretisch",  sondern  umspannen  das  Ganze  des  tätigen 
handelnden  Lebens;  die  soziale  und  politische  Wirklichkeit  wird  der 
„Natur"  nicht  gegenübergestellt.  „Sein"  behält  immer  die  doppelte  Be- 
deutung, die  über  der  Scheidung  von  Subjekt  und  Objekt  liegt;  es  be- 
deutet zugleich  die  dem  Bewußtsein  entgegenstehende  gegenständliche 
Wirklichkeit  und  das,  was  dieses  Bewußtsein  selbst  metaphysisch  trägt, 
das  Sein  des  Menschen  als  Menschen,  d.  h.  als  Gliedes  von  Staat  und  Ge- 
meinschaft, als  auch  geistig  lebender,  sich  mit  anderen  verständigender 
Person.  Das,  was  wir  heut  eine  kosmische  Auffassung  des  Menschen 
nennen  würden,  ist  der  griechischen  Metaphysik  selbstverständliche 
Voraussetzung  —  so  selbstverständlich,  daß  sie  oft  gar  nicht  ausgesprochen 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


wird,  sondern  uns  erst  entgegenspringt,  wenn  wir  den  Zusammenhang 
der  Gedanken  verstehen. 

3.  Dieser  umfassende  Seinsbegriff  treibt  frühzeitig  Denk-,  Darstel- 
lung- und  Ausdrucksmittel  hervor,  die  uns  in  der  Philosophie  fremd 
geworden  sind.  Man  kann  mit  Recht  schwanken,  ob  in  den  homerischen 
Gedichten,  in  Solons  Elegien  (vgl.  Jaeger  S.81  Anm.  1)  die  Parallele  zwi- 
schen einem  naturhaften  Vorgang  (Fallen  der  Blätter  im  Herbst,  Ausbruch 
des  Gewitters  aus  der  Wolke)  und  einem  menschlichen  Seinsvorgang 
(Zeitlichkeit  und  Vergänglichkeit,  überraschender  Eintritt  der  Strafe  des 
Frevlers)  nur  als  ein  Bild,  ein  Gleichnis  vorliegt  oder  ob  eine  tiefere  10 
Wesensgleichheit  beider  Vorgänge  bezeichnet,  also  das  Eintreten  der 
Strafe  aus  den  tieferen  Gründen  einer  naturhaften  Gesetzlichkeit  be- 
griffen und  ausgedrückt  wird.  Das  Gleichnis,  die  Analogie,  ist 
eine  spezifische  Form  griechischen  Denkens,  die  sich  in  der 
platonischen  Spätphilosophie  zu  einer  exakten  Theorie  verdichtet.  All- 
gemeiner gefaßt  bezeichnet  dieses  analogische  „symbolische"  Denken 
den  Punkt,  wo  das  Dichterische  zur  Ausdeutung  des  eigentlichen  philo- 
sophischen Denkens  eingesetzt  wird  und  ihm  Bereiche  erschließt,  die 
nicht  nur  den  Standort  griechischer  Theorie,  sondern  letzten  Endes  den 
jeder  intellektuellen  Philosophie  übersteigen.  20 

So  grenzt  Logos  an  Mythos,  da  eine  nie  ganz  entschwindende  Bedeutungskom- 
ponente des  Wortes  Logos,  nämlich  die  der  „Beziehung  zwischen",  neben  der  exakt 
mathematischen  zugleich  die  des  poetischen  Vergleiches  und  Gleichnisses,  also  letzten 
Endes  des  Mythos,  in  sich  trägt. 

4.  Der  durch  das  (unter  Nr.  3  geschilderte)  Mittel  des  Gleichnisses 
bezeichnete  metaphysische  Sachverhalt  jenes  doppelseitigen  Seins  einer 
„kosmischen"  Auffassung  des  Menschen  geht  in  Wechselwirkung  zu- 
sammen mit  einer  Abdämpfung  des  individuellen  Selbstbewußtseins, 
indem  der  Einzelne  nicht  auf  sich  zu  —  reflektierend  —  sondern  von  sich 
weg  ins  Gegenständliche  hinein  seinen  Blick  richtet.  Das  bedingt  nun  30 
wieder  weiter  ein  Gebundensein  und  Getragenwerden  des  Einzelnen 
durch  die  Gemeinschaft.  Der  Einzelne  sieht  sich  und  sein  tätiges  Dasein 

an  seinesgleichen  geknüpft,  und  diese  Verbundenheit  ist  der  primäre 
Gegenstand  seines  Nachdenkens.  Weil  sich  die  sozialen  und  politischen 
Vorgänge  aber  nur  zum  kleinsten  Teil  durch  den  Einzelwillen  bestimmen 
lassen  und  das  Denken  in  ihnen  einen  sehr  starken  Widerstand  vorfindet, 
so  erlebt  das  Ich  hier  sehr  empfindlich  eine  reale  Gegenständlichkeit. 
Sobald  also  sein  Denken  erwacht,  wendet  es  sich  auch  in  der  Reflexion 
über  Tun  und  Lassen  nach  außen,  sucht  eine  Ordnung  zu  entdecken 
und  denkt  diese  nach  Analogie  der  sein  eigenes  konkretes  Sein  beherr-  40 
sehenden  naturhaften  Vorgänge.  Daher  der  Vergleich  von  Aufruhr  mit 
Krankheit,  von  staatlicher  Ordnung  mit  physischer  Gesundheit;  die 
naturhafte  Auffassung  des  eigenen  leiblichen  Seins  wird  also  auf  den  ge- 
samten Bestand  des  Ichs  „in  der  Welt"  ausgedehnt. 


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GRUNDZÜGE  DER  ARCHAISCHEN  METAPHYSIK 


31 


5.  Daraus  ergibt  sich  weiter  ein  die  gesamte  griechische  Metaphysik 
beherrschender  Begriffskomplex,  der  mit  den  Ausdrücken  des  Nutzens, 
des  Erhaltenden,  Fördernden,  Gedeihlichen,  Gesunden  nur  unzuläng- 
lich wiedergegeben  werden  kann  und  in  dem  Grundbegriff  des  „Guten44 
der  Interpretation  die  schwersten  Aufgaben  stellt.  Wenn  Solon  vom  Guten 
und  den  Guten  spricht,  so  liegt  hierin  gewiß  eine  sittliche  Bedeutung; 
aber  hinzu  tritt  der  Gedanke,  daß  das  Gute  zugleich  das  Realste,  das 
Seiendste  und  Wirklichste  ist,  dasjenige,  das  allem  vereinzelten  Sein 
Bestand  und  Erfolg,  Gedeihen  und  Glück  gibt.  Kurz  es  tritt  in  den 

10  Begriff  des  Sittlich- Guten  von  vornherein  das  hinein,  was  spätere  Speku- 
lation aus  außer-  und  überethischen,  religiösen  und  metaphysischen 
Regionen  zu  ihm  als  etwas  ihm  zunächst  Fremdes  hinzufügen  wollte: 
die  mit  der  Moralität  verbundene  proportionierte  Glückseligkeit  (Kant 
Kr.  d.  r.  Vernunft  837).  Bewiesen  zu  haben,  „daß  der  gute  Mensch 
zugleich  glückselig  ist44,  darin  hat  Aristoteles  die  Leistung  Piatons  zu- 
sammengefaßt. Sachlich  ist  diese  metaphysische  Uberzeugung  dem 
Denken  Solons  ebenso  selbstverständlich  wie  dem  der  homerisch3n  Ge- 
dichte: oi>x  ägera  xaxä  1'qyct,  nicht  gedeihen  schlechte  Taten  (Odyssee 
XVIII  329);  in  dem  Worte  ägeräv  ist  der  Ursinn  dessen,  was  ägezt^ 

|-0  d.  h.  sittliche  Tüchtigkeit,  immer  mit  bedeutet,  klar  zu  sehen:  Gedeihen, 
Bestanderhaltung  dessen,  was  diese  ägerfi  betätigt  hat  und  betätigt,  aus 
geistigen  Kräften  heraus. 

III.  DIE  VORSOKRATISCHE  METAPHYSIK. 

1.  THALES.  ANAXIMANDER.  ANAXIMENES. 

Die  Wichtigkeit  dieser  im  ersten  Abschnitt  entwickelten  Grundtat- 
sachen des  griechischen  Weltdenkens  und  damit  die  Berechtigung  ihrer 
ausführlichen  Darstellung  erweist  sich  sofort,  sobald  wir  nun  zu  den  ersten 
eigentlichen  Philosophen,  den  Naturphilosophen  Thaies,  Anaximander 
und  Anaximenes  übergehen. 

W.  Jaeger  hat  an  der  oben  S.  9  zitierten  Stelle  eine  wichtige  Parallele 
zwischen  den  beiden  Zeitgenossen  Solon  und  Anaximander  gezogen. 
10    Das  vielbehandelte  einzige  im  Wortlaut  annähernd  überlieferte  Frag- 
ment Anaximanders  (Diels  2  A  9)  faßt  den  Weltlauf  als  Buße  und  Strafe 
auf,  die  auch  die  Dinge  für  ihre  Ungerechtigkeit  erleiden  müssen. 

ttQX^v  1V)V  ovTiüv  to  äntioov  '  i£  o>v  de  yhveaig  «<m  ToTg  ovai.  xai  rtjy  (p&ofjccv  elg  ravicc 
yivi-c>>')cti  xaid  to  %ostav  '  ihdövav  ydo  ccvra  dixt]v  xai  uaiv  dkkrjkotg  lijg  ddixiag  xaxd  rtjv 
rov xqovov  -iv.'iiv.  Anfang  der  Dinge  ist  das  Unendliche.  Woraus  aber  ihnen  die  Geburt 
ist,  dahin  geht  auch  ihr  Sterben  nach  der  Notwendigkeit.  Denn  sie  zahlen  einander 
Strafe  und  Buße  für  ihre  Widerrechtlichkeit  nach  der  Zeit  Ordnung. 

Nichts  wäre  falscher,  als  eine  sentimentale  Auffassung,  einen  Anthro- 
popathismus  hineinzulegen,  indem  man  die  ethischen  entwickelten  Vor- 


;>2 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Stellungen  von  Schuld  und  Sühne  hineinfühlt.  Vielmehr  liegt  diesem 
\  ergleich  —  dies  Prinzip  in  dem  oben  angedeuteten  Sinne  gefaßt  — 
von  vornherein  diejenige  Auffassung  menschlicher  sozialer  und  politischer 
Verhältnisse  zugrunde,  die  wir  bei  Solon  antrafen:  menschliches  Tun 
Steht  unter  einer  objektiven,  übergreifenden,  auch  das  göttliche  Walten 
bestimmenden  Gesetzmäßigkeit  der  Zeit,  die  alle  Ungleichheit,  jedes 
Zuviel  und  Zuwenig  ausgleicht.  In  diesem  erfüllten  Zeitbegriff  gehen 
Schicksal  und  Naturgesetz  ineinander  über.  Dadurch  wird  ein  Welt- 
und  Naturbegriff,  der  schlechtweg  über  allem,  über  dem  Ganzen  und 
seinem  zeitlichen  Verlauf  steht  und  alles  Seiende  gleichmäßig  umspannt,  10 
die  Grundlage  der  griechischen  Metaphysik,  die  Zug  um  Zug  ins  theore- 
tische Bewußtsein  hinübertritt. 

Es  wäre  verfrüht,  schon  hier  das  Streben,  die  quantitativen  Vorgänge  als  Prototyp 
alles  Ausgleichs  aufzufassen,  als  bewußte  Erkenntnistendenz  anzusetzen  —  vorbereitet 
ist  es  ohne  Zweifel  schon  hier. 

Die  Stufe  dieser  Entwicklung,  auf  der  die  ionischen  Philosophen 
von  Thaies  bis  Anaximenes  stehen,  ist  nach  dem  Gesagten  nun  leicht 
zu  bestimmen.  Bekanntlich  haben  sie  alle  eines  der  später  sogenannten 
vier  Elemente  als  Wesenheit,  yvcfic,  oder  wie  die  spätere  Terminologie 
sagte,  als  äQ%S ,  als  „Anfang"  oder  „Prinzip"  allem  Sein  zugrunde  gelegt,  20 
und  man  kann  in  diesen  Thesen:  alles  ist  —  im  Grunde  —  Wasser  oder 
Feuer  oder  Luft,  besonders  wenn  man  die  mannigfachen  naturwissen- 
schaftlichen Entdeckungen  dieser  Männer  entsprechend  in  Betracht 
zieht,  mit  einem  gewissen  Recht  den  Übergang  von  einer  mythischen 
zu  einer  naturwissenschaftlichen  Weltauffassung  deutlich  bezeichnet 
sehen.  Auf  Grund  der  genauen  Fassung  der  metaphysischen  Voraus- 
setzungen läßt  sich  bestimmter  der  Sinn  jener  Thesen  angeben,  die  als 
allgemeine  naturwissenschaftliche  Theorien  sehr  sonderbar  anmuten. 
Jenes  Weltbild,  in  dem  grundsätzlich  die  Grenze  zwischen  naturhaftem 
und  menschlich  persönlichem  Sein  überbrückt  ist,  bleibt  bestehen,  aber  30 
der  Schwerpunkt  rückt  nach  der  Naturseite  hinüber,  der  Blick  des  Den- 
kers sucht  Vorgänge  einer  einfachen  Gesetzmäßigkeit,  die  sowohl  mensch- 
lich kulturelles  wie  naturhaftes  Sein  umfaßt,  und  findet  sie  in  den  Le- 
bensvorgängen schlechthin.  Denn  dies  ist  das  erste,  was  bei  diesen 
sogenannten  Naturwissenschaftlern  festgehalten  werden  muß:  Lebens- 
vorgänge, nicht  etwa  physikalische  Tatsachen  bestimmen  ihr  Weltbild, 
und  diese  werden  nach  jenen,  nicht  umgekehrt,  gemodelt: 

Im  Magneten  ist  eine  Seele  wirksam  (Diels  1.  Diog.  I  24  nach  Aristoteles).  Wasser 
trägt  nach  Thaies  die  Erde  als  schwimmende  Scheibe,  Wasser  verdunstet  und  gefriert  und 
zeigt  damit  seine  Wandlungsfähigkeit,  Wasser  ist  eine  Voraussetzung  organischen  Le-  4 
bens,  der  Same  ist  feucht,  aus  dem  alles  Leben  entsteht,  im  Wasser  regt  sich  „unend- 
liche Lebendigkeit",  aus  dem  Nilschlamm  entsteht  vegetatives  Leben  (Thaies  kannte 
Ägypten),  die  Flüsse  schwemmen  an  ihren  Mündungen  Land  an  usw.  Schließlich  wird  der 
Milesier  auch  die  kulturelle  Bedeutung  des  Meeres  mit  in  seine  plastisch-anschauliche 


D 


GRUNDZÜGE  DER  ARCHAISCHEN  METAPHYSIK  33 


Theorie  aufgenommen  haben,  wie  sie  Goethe  in  der  klassischen  Walpurgisnacht  intuitiv- 
gezeichnet  hat. 

Daß  entsprechende  Motive  bei  der  Theorie  des  Anaximenes  mitge- 
sprochen haben,  der  die  Luft  zum  Prinzip  alles  lebendigen  Seins  erhob,  be- 
darf keines  weiteren  Wortes.  Uber  Heraklits  scheinbar  entgegengesetzte 
Theorie,  die  das  Prinzip  der  ^ärme  und  des  Lichtes  ausdrücklich  als  Feuer 
einführte  —  Anaximenes  begnügte  sich,  die  Verdünnungsform  der  Luft 
den  cci&tfQ,  als  Feuer  aufzufassen  (Diels  A  7, 3),  —  sei  hier  nur  so  viel 
gesagt,  daß  sie  natürlich  sehr  viel  reicher  an  Motiven  ist,  aber  mit  einem 
ihrer  Grundzüge  sich  doch  sehr  gut  an  diese  Milesier  anschließen  läßt. 

Die  Frage,  warum  keiner  der  Philosophen  die  Erde,  die  „Mutter  Erde" 
zum  Prinzip  erhoben  hat,  was  Aristoteles  met.  A  8  989  a  5  ausdrücklich 
feststellt,  führt  uns  auf  den  zweiten  Grundzug  des  gesamten  Weltbildes 
dieser  Philosophen,  der  den  ersten,  den  Blick  auf  das  Lebendige,  in 
seiner  ganzen  Fülle  näher  bestimmt.  Die  Erde  ist  dasjenige  Element, 
das  den  anderen  gegenüber  für  ein  ursprüngliches  Anschauen  durch  zwei 
Züge  charakterisiert  ist,  durch  starre  Beharrung  und  harte  Geformtheit. 
Offenbar  geht  aber  die  Spekulation  dieser  Philosophen  auf  ein  entgegen- 
gesetztes Prinzip  hin:  auf  einen  Träger  dauernder  Bewegung,  auf  ein 
Lebendiges,  das  allem  Geformten  und  Bestimmten  zugrunde  liegt  und  das 
infolgedessen  nicht  bloß  die  relative  Beharrung  der  festen,  aber  vergäng- 
lichen Gegenstände  haben  darf.  So  stark  ist  sichtlich  das  metaphysische 
Bewußtsein  der  Vergänglichkeit  auch  in  diesen  Philosophen  —  wie  bei 
den  ionischen  Dichtem  des  Epos  — ,  daß  sie  zwar  ein  Gegenstück  gegen 
diesen  Wechsel  suchen,  in  dieses  „Beharrende"  aber  die  Bewegung  als 
Prinzip  mit  hineinnehmen  wollen.  Wasser  und  Luft  und  Feuer  können 
einem  sich  eben  erst  besinnenden  Denken  sehr  gut  als  Inbegriffe  und  Ur- 
sprünge, also  als  uQ%a(  lebendiger  Bewegung  erscheinen,  die  die  cpvaig,  das 
ewige  Werden  und  Sich-Erzeugen  der  Wirklichkeit  bedingen,  zugleich 
aber  auch  als  das  im  letzten  Sinne  Bleibende,  Erste  und  Letzte  in  einem, 
in  das  alle  die  einzelnen  Gestaltungen  wieder  zurückkehren.  Zu  wessen 
Wesen  die  Veränderung,  das  Fließen  und  Werden  gehört,  das  ruht  zu- 
gleich in  diesem  seinem  So- Sein,  es  selbst  ist  dem  entrückt,  was  es  allen 
andern  verleiht:  Bewegung,  Unruhe,  Zeitlichkeit,  Entstehen  und  Ver- 
gehen. Man  unterschätze  nicht  die  Antriebe,  zu  einem  andern,  tieferen 
Seinsbegriffe  zu  streben,  die  in  der  archaischen  Paradoxie  einer  so  ge- 
faßten u.oyri  wirksam  sind,  aber  man  überschreite  nicht  die  symbolische 
Sphäre,  in  der  ein  solches  Prinzip  zugleich  noch  Gleichnis  ist:  so  wie 
Wasser  und  Luft  sich  in  Wechsel  und  Bewegung  darstellt,  so  wird  analog 
auch  die  letzte  Wirklichkeit,  das  eigentliche  Seiende  gedacht. 

Damit  ist  also  das  metaphysische  Denken  auf  ein  Ungestaltetes,  aber 
alle  Gestaltung  Bedingendes  und  Beginnendes  gerichtet;  in  dieser  Para- 
doxie liegt  ein  nicht  weiter  zurückführbares  philosophisches  Problem, 
dasselbe,  das  letzten  Endes  noch  im  Ideenbegriff  Kants  wirksam  und 

Handb.  d.  Phil.  I.    I)  3 


34 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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treibend  ist:  was  die  Kausalitätsreihe  „ermöglicht",  ihr  Zusammenhalt 
und  Bestimmtheit  gibt,  ist  ein  grundsätzlich  Entgegengesetztes,  Nicht- 
Kausales;  was  alle  Endlichkeit  umgibt,  ist  etwas,  dem  die  entgegenge- 
setzten Eigenschaften  zukommen  wie  dem  Sein  innerhalb  dieser  Endlich- 
keit. Auf  dieser  Stufe  der  Philosophie  bleibt  aber  das  Denken  bei  dem 
eben  entdeckten  Formlosen,  Unbegrenzten  stehen  und  sieht  in  ihm  das 
entscheidende  „ursächliche,  begründende  Sein  der  äQ%ij.  Es  ist  zunächst 
höchst  merkwürdig,  daß  die  antike  Überlieferung  diejenige  Fassung  der 
uoy  i ,  die  die  relative  Bestimmtheit  der  Luft,  des  Wassers  radikal  auf- 
gibt und  in  der  Richtung  jener  Spekulation  zum  „Unbegrenzten46  bzw. 
„Unbestimmten",  dem  äjieiqov  des  Anaximander  fortschreitet,  nicht  als 
etwas  wesentlich  anderes  den  ä^ai  des  Thaies  und  Anaximenes  ent- 
gegengestellt, sondern  ganz  unzweideutig  bei  Anaximander  nur  die 
schärfere  Fassung  desselben  Motivs  gesehen  hat,  das  auch  dort  vorliegt. 
Es  wird  auch  ausdrücklich  für  Anaximenes  überliefert  (Diels  A  10), 
daß  die  Unbestimmtheit  der  Luft  für  ihn  der  Grund  war,  hier  die  äqyj] 
zu  sehen,  und  für  Thaies  ist  hinsichtlich  des  Wassers  dasselbe  anzu- 
nehmen. Darum  darf  der  scheinbar  so  große  Unterschied  zwischen  dem 
„abstrakten"  änei^ov  des  Anaximander  und  den  andern  äQ%aC  nicht 
so  betont  werden.  Wenn  Anaximander  dasjenige,  was  an  der  Luft, 
an  dem  Wasser,  diese  „Elemente"  zum  Urstoff  befähigte,  ausdrücklich 
aussprach,  so  ist  damit  noch  nicht  gesagt,  daß  er  sich  dieses  „äjtsiqov" 
seinsmäßig  anders  dachte  als  jene  bestimmten  Symbole  des  äitsiQov. 
Sondern  seine  Theorie  lehrt  nur,  was  bei  den  andern  mitzudenken  ist. 
Wenn  die  einen  das  Allgemeine  des  Unbegrenzten  am  Konkreten 
sich  vorstellten,  dieser  in  das  Allgemeine  noch  die  Seinsweise  des  bestimm- 
teren „Urstoffes"  hineinnahm,  so  treffen  wir  an  dieser  Repräsentation 
des  Allgemeinen  im  Besonderen  zum  ersten  Male  eine  Denkweise  an, 
die  als  nie  verlorene  Grundlage  oder  doch  als  immer  wieder  neu  betrach- 
tetes Problem  die  griechische  Metaphysik  charakterisiert.  Die  Wider- 
sprüche, die  für  unsere  heutige  Betrachtungsweise  hier  liegen,  kommen 
erst  durch  unsere  Begriffe  von  Materie,  vom  Abstrakten,  Konkreten, 
Endlichen  und  Unendlichen  hinein,  besonders,  wenn  wir  alle  diese  Be- 
griffe mit  der  dogmatischen  Sicherheit  des  „gesunden  Menschenver- 
standes" betrachten.  Aber  grade  die  genauere  philosophische  Analyse 
und  die  Kenntnis  der  späteren  griechischen  Diskussion  lehrt  uns  den 
synthetischen  Blick  dieser  alten  Philosophen  verstehen  und  die  Wider- 
sprüche in  tieferer  Einheit  aufheben. 

Bisher  wurde  das  uneiqov  als  Gegensatz  zu  der  qualitativen  Be- 
stimmtheit des  Wassers,  der  Luft  als  das  qualitativ  Unbegrenzte  und 
Unbestimmte  interpretiert.  Tatsächlich  ist  mit  dieser  Bedeutung  die 
andere  des  „Unendlichen"  als  des  alle  Größe  Übersteigenden  eng  genug 
verknüpft.  Zwar  wurde  auch  die  Luft,  das  Wasser  als  unendlicher 
Grundstoff  aufgefaßt,  und  ohne  Zweifel  war  die  anschauliche  Unendlich- 


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GRUNDZÜGE  DER  ARCHAISCHEN  METAPHYSIK  35 


keit  des  Wassers  im  Meere,  im  Himmel,  auf  der  Erde,  und  noch  mehr  die 
Grenzenlosigkeit  des  Luftreiches  für  dieses  archaische  Denken  der  Aus- 
gangspunkt, von  dem  aus  es  zu  einer  mehr  begrifflichen  Unendlichkeit 
fortschritt.  Das  zeigt  sehr  schön  eine  Argumentation  (Aristot.  Phys.  V 
204  b  28),  die  vielleicht  die  spätere  Schärfung  eines  sicherlich  archaischen 
Motivs  ist :  Wenn  eine  qualitativ  bestimmte  Wesenheit,  wie  Wasser  oder 
Luft,  „unendlich44  wäre,  und  dieser  Gedanke  streng  durchgedacht  würde, 
dann  müßte  sich  dieses  „Unendliche44  auf  Kosten  aller  anderen  Bestimmt- 
heiten ausbreiten,  also  die  Luft  etwa  Wasser,  Feuer  und  Erde  vernichten 
und  damit  alle  wechselnde  Mannigfaltigkeit  unmöglich  machen.  Also 
müßte  ein  „Unendliches44  auch  unbestimmt  sein,  und  es  stellt  sich  diese 
doppelte  Bedeutung  des  äjveoQov  als  ein  Sachverhalt  dar,  zu  dessen  Er- 
kenntnis vielerlei  Erwägungen  beigetragen  haben  können,  in  denen  An- 
schauliches und  Begriffliches  sich  merkwürdig  mischen.  So  entstand  also 
die  Vorstellung  einer  qualitätsfreien  unendlichen  Grundsubstanz,  deren 
beide  Bestimmungen  der  Eigenschaftslosigkeit  und  Unendlichkeit  ein- 
ander fördern.  Wir  sahen,  daß  das  Unendliche  eigenschaftslos  sein  muß. 
Aber  umgekehrt:  wie  soll  dem,  das  eigenschaftslos  existiert,  eine  Grenze 
auferlegt  sein  ?  Wie  sollte  diese  aussehen  ?  Wir  werden  sehen,  daß  die 
eleatische  Philosophie  genau  an  dieser  Stelle  zu  neuen  metaphysischen 
Entdeckungen  auf  Grund  eines  bestimmten  metaphysischen  Weltdenkens 
ausholt.  Bei  Anaximander  und  Anaximenes  treffen  wir  zum  ersten  Male 
den  Gedanken,  daß  dieses  ursprünglich  Seiende  die  Seinsgrundlage  her- 
gebe zu  einer  unendlichen  Anzahl  von  Welten  hinter-  und  nebeneinander. 
Jene  ersten  Unendlichkeitsphilosophen  würden  auf  die  Frage,  ob  sie 
eine  unendliche  Reihe  von  zeitlich  aufeinanderfolgenden  Weltzuständen 
oder  eine  Menge  gleichzeitig  nebeneinander  existierender,  vom  Unend- 
lichen umschlossener  Welten  gemeint  haben,  schwerlich  eine  genaue  Ant- 
wort gegeben  haben.  Die  meisten  Zeugnisse  stellen  das  Nebeneinander 
der  Welten  sicher  —  wird  doch  sogar  von  einem  Abstand  gesprochen. 
Der  Schritt  von  diesem  kühnen  Gedanken  zu  dem  Gestaltwandel  der 
immer  neu  sich  erzeugenden  Welt  liegt  schon  deshalb  nahe,  weil  er  ledig- 
lich dasjenige  Urphänomen,  das  innerhalb  der  Erfahrungswelt  den  An- 
stoß zu  der  ganzen  Physisspekulation  gegeben  hatte,  den  ewigen  Ge- 
staltwandel, auf  die  ganze  Welt  ausdehnt. 

Entscheidend  wichtig  ist  aber  an  dieser  Stelle,  daß  das  Unendliche 
hier  als  eine  metaphysische  Realität  vorgestellt  wird,  daß  ein  auf  Er- 
kenntnis der  Welt  gerichtetes  Denken  dem  Unendlichen  die  Bedeutung 
eines  Prinzips,  eines  Weltgrundes  gibt.  Bei  der  eigenartigen  Spannung, 
die  zwischen  den  Begriffen  Welt  und  Unendlichkeit  besteht,  einer 
Spannung,  die  die  Triebfeder  der  griechischen  Spekulation  bleiben  und 
zu  Versuchen  der  Überwindung  und  Bewältigung  des  Unendlichen 
führen  wird,  ist  die  naive  Bejahung  des  Unendlichen  bei  diesen  Philoso- 
phen sehr  merkwürdig  und  genauerer  Beachtung  wert. 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 

Eine  naturwissenschaftliche  Betrachtung  dieser  Philosophen  würde 
ihnen  kein  metaphysisches  Erlebnis  des  Unendlichen  zuweisen,  son- 
dern eine  mehr  intellektuelle  Feststellung  etwa  des  Sinnes,  daß  die 
Annahme  einer  unendlichen  „Substanz"  sich  in  gewissen  Gedanken- 
gängen als  „denknotwendig"  erweist.  Eine  solche  Betrachtung  muß 
naturgemäß  eine  Angabe  wie  die  von  Thaies  überlieferte,  daß  „alles 
von  Göttern  erfüllt"  sei,  in  ihrer  Bedeutung  herabsetzen  oder  sie  ihm 
mehr  als  „einem  der  sieben  Weisen  als  als  Gründer  der  milesischen  Schule" 
zuweisen  (Burnet-Schenkl,  S.  40,  der  sonst  die  archaischen  Züge  sehr 
wohl  berücksichtigt).  Gewiß  konnte  jeder  gläubige  Hellene  eine  solche  10 
Behauptung  in  dem  ihm  naheliegenden  polytheistischen  Sinne  verstehen 
(vgl.  v.  Wilamowitz,  Antigonos  von  Karystos  275/6).  Wollten  wir  diese 
Ansicht,  die  uns  grade  von  Thaies  überliefert,  aber  sicher  auch  den  andern 
Milesiern  gemäß  ist,  mit  jener  naturwissenschaftlichen  Gesamtdeutung 
der  milesischen  Philosophie  vereinen,  so  müßten  wir  sie  so  interpretieren: 
auf  den  Urstoff,  der  allem  Wandel  zugrunde  liegt,  wirken  dauernde  Form- 
kräfte ein,  die  ihm  Leben  und  Gestalt  verleihen,  und  diese  Kräfte  sind 
Götter.  Die  andere,  richtigere  Auffassung  verlegt  diese  Kräfte  der  For- 
mung in  den  unendlichen  Urstoff  selbst,  der  aus  sich  heraus  alle  die  Ge- 
stalten treibt  und  sie  wieder  in  sich  aufnimmt.  Man  hat  diese  Anschauung  20 
mit  dem  Ausdruck  „Hylozoismus"  bezeichnen  wollen;  dadurch  aber 
wird  das  Mißverständnis,  das  leider  jede  analytische  Beschreibung  mit 
späteren  Begriffen  hervorrufen  kann,  besonders  nahe  gelegt.  Es  sieht 
so  aus,  als  ob  eine  tote  Materie  nun  von  einer  andern  Kraft  belebt  würde, 
während  die  Abstraktion  einer  solchen  Materie  noch  gar  nicht  vollzogen 
ist,  sondern  das  Lebendige  noch  Grundkategorie  alles  Seins  ist.  Immer- 
hin wird  die  Entformung,  die  den  Urstoff  zu  einem  aneiQov  macht, 
auch  auf  die  in  ihm  wirkenden  Kräfte  ausgedehnt,  und  so  werden  die 
Götter,  von  denen  ja  jenes  Wort  des  Thaies  wörtlich  spricht,  nur  ein 
Ausdruck  für  „das  Göttliche"  sein,  von  dem  ja  die  Griechen  nun  zu  30 
reden  beginnen,  die  allgemeine  einheitliche  göttliche  Kraft,  deren  ein- 
zelne Manifestationen  dem  Auge  als  Wirkungen  von  besonderen  Göttern 
erscheinen,  während  die  Erkenntnis  eine  tiefere  Gesetzlichkeit  in  allem 
sieht. 

Auch  hier  wird  es  nach  den  in  mannigfacher  Brechung,  in  mittel- 
baren Zitaten  überlieferten  Fragmenten  dieser  Philosophen  nicht  mög- 
lich sein,  die  Entscheidung  mit  voller  Sicherheit  zu  treffen.  Eins  aber  kann 
gesagt  werden  und  ist  wichtig  genug:  Die  Tendenz  zu  jener  pantheisti- 
schen  Entformung  der  einzelnen  Götter,  zur  Gleichsetzung  von  Welt 
und  Gott  (Anaximander,  Diels,  Vors.  2  A 15  =  Ar.  Phys.  T4, 203  b  13)  liegt  4( 
ohne  Zweifel  vor  und  damit  eine  wesentliche  Veränderung  der  meta- 
physischen Grundhaltung.  Es  ist  nicht  unwichtig,  daß  Anaximander 
als  erster  den  Gedanken  einer  Entwicklung  auch  des  Menschen  aus  nie- 
deren Lebensformen  zu  denken  gewagt  hat  (Diels  A  10,  vgl.  Konrad 


D 


XENOPHANES  VON  KOLOPHON 


37 


Ziegler,  Menschen-  und  Weltenwerden.  Neue  Jahrb.  f.  d.  kl.  Altert. 
Lpzg.,  1913  I  36). 

Aber  jene  Tendenz  zur  Entformung  nach  der  einen  Richtung  trägt 
ein  neues,  höchst  folgenreiches  auf  die  Einheit  alles  Wirklichen  gerichtetes 
Formstreben  in  sich.  Der  stärkste  Beweis  hierfür  ist  die  Philosophie 
des  Xenophanes,  in  der  die  Einheit  der  Welt  und  die  Einheit  des  gött- 
lichen Wesens  unzweideutig  ausgesprochen  und  dem  polytheistischen 
Weltbilde  Homers  entgegengesetzt  wird. 

2.  XENOPHANES  VON  KOLOPHON. 
So  dürfen  wir  trotz  chronologischer  Bedenken,  getragen  von  dem 
iio    sachlichen  Zusammenhang,  die  Betrachtung  des  Xenophanes  von  Kolo- 
phon  an  die  der  milesischen  Philosophen  anschließen;  an  ihm  können 
eine  Reihe  charakteristischer  Züge  des  griechischen  Denkens  in  beson- 
derer Deutlichkeit  aufgewiesen  werden. 

1.  Zum  ersten  Male  wendet  sich  das  philosophische  Denken  ausdrück- 
lich gegen  die  „Erzieher  Griechenlands",  gegen  Homer  und  Hesiod,  d.  h. 
gegen  die  Ganzheit  des  epischen  Weltbildes.  ,,Da  alle  Menschen  nach 
Homer  gelernt  haben"  (fr.  10  Diels),  so  müssen  seine  religiösen  An- 
schauungen geprüft  werden.  Die  Auseinandersetzung  mit  Homer  bleibt 
ein  Motiv  der  griechischen  Philosophie  bis  zu  ihrem  Ende.  Xenophanes 

to  schlägt  bereits  das  Motiv  an,  das  für  Piatons  Dichterkritik  entscheidend 
ist:  die  homerischen  und  hesiodischen  Götter  handeln  so  unsittlich  wie 
die  Menschen.  Xenophanes  geht  bis  zur  radikalen  Bekämpfung  des  poly- 
theistischen Anthropomorphismus  weiter.  Es  gibt  keine  Theogonie,  denn 
es  ist  Wahn,  daß  die  Götter  erzeugt  würden,  Kleider  trügen  und  Stimme 
und  Gestalt  hätten  wie  die  Menschen;  jeder  Stamm  bildet  sich  die 
Götter  nach  dem  eigenen  körperlichen  Ideal,  und  wenn  die  Tiere  sich 
Götter  vorstellten,  und  sie  bilden  könnten,  so  würden  sie  sie  als  Stiere, 
Pferde  und  Löwen  darstellen;  vielleicht  denkt  Xenophanes  hier  zugleich 
an  die  tiergestaltigen  Götter  der  Ägypter.  Uber  die  Gottesvorstellung, 

o  die  Xenophanes  den  Göttern  der  griechischen  Religion  entgegensetzt, 
werden  wir  später  reden,  denn  die  folgenden  Gesichtspunkte  sind  für 
ihre  Erfassung  wesentlich. 

2.  Der  zweite  für  alles  griechische  Philosophieren  charakteristische 
Zug  ist  ein  produktiver  Eklektizismus,  oder  um  mit  einem  anderen 
Schlagwort  dasselbe  anzudeuten,  die  synthetische  Art  des  Gedanken- 
aufbaus. Die  griechischen  Denker  haben  ein  geringes  Interesse  daran, 
ihre  Lehren  im  Gegensatz  zu  anderen  auszubilden,  sie  nehmen  viel- 
mehr weithin  die  Lehren  der  Früheren  in  ihren  eigenen  Gedankenbau 
auf,  oft  ohne  ganz  streng  die  dadurch  sich  bildenden  Widersprüche  zu 

0  vermeiden.  Das  schließt  Polemik,  ja  Spott  nicht  aus,  aber  nach  einem 
allgemeinen  griechischen  Stilprinzip  hindert  diese  laute  Ablehnung  ein- 
zelner Züge  durchaus  nicht  stillschweigendes  Aufnehmen  anderer  Ge- 


SS 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


danken  desselben  „Gegners".  Die  sehr  unbefangene  Anwendung  dieses 
—  übrigens  zu  keiner  Zeit  ganz  fehlenden  —  Stilprinzips  ist  einer  der 
Gründe  für  den  plastischen  Reichtum  der  griechischen  Philosophie, 
freilich  auch  für  die  Schwierigkeit  der  Interpretation.  Natürlich  ist  die 
unbefangene  Aufgeschlossenheit  den  Lehren  anderer  gegenüber  hier 
ein  besonderer  Fall  der  oben  beschriebenen  Haltung  des  griechischen 
Geistes,  nichts  Vergangenes  verloren  gehen  zu  lassen,  sondern  „das  alte 
Gute  anzufassen"  und  zum  Aufbau  des  eignen  Seins  kräftig  zu  verwerten. 

3.  Dieses  synthetische  Verarbeiten  sogar  einzelner  widersprechender  10 
Züge  geht  zusammen  mit  einer  gleichsam  dichterischen  Hingabe  des 
Denkers  an  fremde  Gedanken.  Gerade  in  den  Regionen,  in  denen  das 
archaische  Denken  sich  bewegt,  ist  es  vielfach  unmöglich,  sichere  Ent- 
scheidungen zu  treffen,  die  der  einen  Seite  eines  Paralogismus  oder  einer 
Antinomie  den  Vorzug  geben.  Wir  werden  sehen,  wie  früh,  wenn  auch 
noch  nicht  bei  Xenophanes,  das  griechische  Denken  sich  bewußt,  dialek- 
tisch in  Antinomien  bewegt.  Zunächst  aber  folgt  der  Dichterphilosoph  je 
nach  seiner  geistigen  Lage,  zu  deren  Kenntnis  uns  heute  meist  der  Zu- 
gang genommen  ist,  in  solchen  Fällen  diesem  oder  jenem  Vorgänger ;  er  er- 
probt gleichsam  die  Denkbarkeit  einer  These,  indem  er  sie  aufgreift,  ohne  20 
zu  einer  letzten  Rechenschaft  befähigt  oder  überhaupt  geneigt  zu  sein. 
Daraus  ergibt  sich  unmittelbar 

4.  eine  früh  auftretende  Skepsis,  ein  sehr  frühreifes  Bewußtsein  der 
Grenzen  der  Erkenntnis,  und  damit  die  Bereitschaft,  religiöse  und  dich- 
terische Motive  zur  Uberbauung  der  Erkenntnis  aufzunehmen.  So  greift 
Xenophanes  unbekümmert  sowohl  Lehren  des  Thaies  und  Anaximander 
(HA  33,  5  Diels)  wie  populäre  Vorstellungen  von  der  Mutter  Erde  auf: 
„Erde  und  Wasser  ist  alles,  was  da  wird  und  wächst"  (fr.  29  Diels).  Aus 
der  Erde  stammt  alles  und  zur  Erde  geht  wieder  alles.  Seine  Kosmologie 
ist  höchst  widerspruchsvoll,  er  scheint  den  Augenschein,  der  die  Gestirne  30 
untergehen  läßt,  durch  eine  merkwürdige  Theorie  vom  Verlöschen  und 
Wiederaufflammen  der  Gestirne  gestützt  zu  haben.  Es  scheint  in  der 
Tat,  daß  Xenophanes  bei  allen  seinen  Aufstellungen  in  erster  Linie 
an  seine  Hauptabsicht  denkt,  irgendeinen  der  Volksgötter,  sei  es  nun 
Helios  oder  wer  sonst,  als  vergänglich  und  ungöttlich  zu  erweisen  — 
„es  gibt  viele  vergängliche  Sonnen"  — ,  und  erst  in  zweiter  Linie  sich  um 
die  Einheit  und  Widerspruchslosigkeit  seines  Weltbildes  gekümmert  hat. 
Immerhin  kann  er  als  der  erste  Vertreter  einer  Einheit  s  lehre,  als  den 
Piaton  ihn  nennt,  angesprochen  werden. 

Damit  kommen  wir  zu  der  Gottesvorstellung  des  Xenophanes.  Sie 
ist  nach  dem  Wortlaut  des  Fragmentes  23  Diels  einfach  die  Negation  des 
von  ihm  bekämpften  homerischen  Anthropomorphismus.  fr.  23: 

elg  &€Ög  ev  T€  üeoXgi  xcct  äv&Q(*)7TOl(fl  [liyiGlOQ, 

ovti  dfyag  &vr\TolGiv  Sfioüog  oddi  v6t][na, 
ein  einziger  Gott,  unter  Göttern  und  Menschen  der  größte,  weder  an 


D 


XENOPHANES  VON  KOLOPHON 


39 


Gestalt  den  Sterblichen  ähnlich  noch  an  Gedanken.  Fragm.  26  fügt  noch 
das  Moment  der  Unbeweglichkeit  hinzu: 

aiei  d'iv  rairwi  fiffivei  xivotifisvoc  odd£v, 

Stets  am  selben  Ort  verharrt  er  sich  nirgends  bewegend,  und  es  ziemt 
ihm  nicht  bald  hierhin  bald  dorthin  zu  wandern  (fr.  26).  Die  positiven 
Aussagen  sind  schwer  zu  interpretieren :  Die  Gottheit  ist  ganz  Auge,  ganz 
Geist,  ganz  Ohr  (fr.  24).  Doch  sonder  Müh  erschüttert  er  das  All  mit  des 
Geistes  Denkkraft  (fr.  25).  Zunächst  geht  auch  aus  diesen  Äußerungen 
hervor,  daß  Xenophanes  die  einzelnen  Götter  nicht  „geleugnet",  sondern 
nur  über  ihnen  eine  höchste,  allgemeinste  Gottheit  angenommen  hat. 
Die  Tendenz  der  Volksreligion,  auch  bei  den  Göttern  durch  Über-  und 
Unterordnung  Einheit  zu  schaffen,  geht  hier  weiter,  aber  auch  dem 
höchsten  Gotte  verbleiben  die  persönlich  geistigen  Züge,  die  das  Lebendig- 
Sein  ausmachen.  Einige  allgemeine  Erwägungen  werden  dies  verdeutlichen. 

Die  Frage,  ob  Xenophanes  Polytheist  oder  Monotheist  war,  ist  falsch 
gestellt;  daß  aus  der  polaren  Ausdrucksweise  (Burnet)  nicht  gefolgert 
werden  darf,  daß  er  die  Einzelgötter  einfach  neben  seinen  Allgott  stellte, 
ist  ebenso  klar  wie  daß  er  natürlich  innerhalb  des  Alls  einzelne  Manife- 
stationen göttlicher  Kraft  annahm.  Eine  ähnliche  Weitherzigkeit  haben 
wir  bereits  bei  Thaies  angetroffen  und  werden  sie  später  immer  wieder 
antreffen  (vgl.  auch  hierzu  die  sehr  belehrenden  Äußerungen  bei  Burnet- 
Schenkl  112). 

Die  oft  rücksichtslose  problemgeschichtliche  Methode  der  alten  Phi- 
losophiegeschichte scheint  schon  zu  Piatons  Zeiten  den  Xenophanes  zum 
Pantheisten  gemacht  und  seinen  Gott  der  Welt  gleichgesetzt  zu  haben. 
Daß  seine  Lehre  nach  dieser  Richtung  ging,  ist  sicher,  aber  für  die  Wir- 
kung, die  Xenophanes  auf  seine  Zeit  ausgeübt  hat,  ist  nicht  die  Imma- 
nenz des  Göttlichen  in  der  Welt  das  eigentlich  Neue,  denn  das  sah  der 
Volksglaube  im  Grunde  genau  so,  sondern  die  Einheit  dieses  Göttlichen. 
Andrerseits  ist  die  Einheit  der  göttlichen  Welt  für  Xenophanes  nicht  nur 
mit  den  oben  angedeuteten  polytheistischen  Rudimenten,  sondern  auch 
mit  der  „Unendlichkeit"  der  Welt  verträglich;  denn  die  Deutung  des 
Aristoteles  (Met.  A  5,  986  b  27),  daß  Xenophanes  über  die  Endlichkeit 
oder  Unendlichkeit  der  Welt  nichts  klar  ausgesagt  habe,  trifft  sicher 
mehr  zu  als  die  entgegengesetzte  Ansicht  Theophrasts,  der  wohl  Xeno- 
phanes an  Parmenides  angleicht  und  ihn  die  Welt  wie  diesen  als  be- 
grenzt auffassen  läßt.  „Die  Erde  reicht  ins  änsigov  hinab,  die  Luft 
unermeßlich  nach  oben"  fr.  28  —  also  das  Unendliche  der  Welt  wird 
stark  empfunden,  auch  hierin  setzt  Xenophanes  die  Anschauung  der 
Milesier  geradlinig  fort.  Hinzu  tritt  nur  die  ausdrückliche  Betonung 
der  Einheit  des  göttlichen  Wesens,  das  nun  „als  Ganzes"  hört,  als 
Ganzes  sieht  und  denkt  und  Bewegungsquell  ist,  selbst  ruhend. 


10 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Die  Frage,  wie  das  lebendige  Weltall  selbst  Lebewesen  sei,  hat  die 
griechische  Philosophie  bis  ans  Ende  beschäftigt.  Eine  Urvorstellung  der 
.Menschheit,  die  Mensch  und  Welt  als  parallele  Kosmoi  auffaßt,  die 
Welt  als  ungeheures  organisches  Wesen,  den  Menschen  als  Abbild  dieses 
W  csens,  ist  der  griechischen  Philosophie  nie  ganz  verloren  gegangen. 
Hier  tritt  sie  zum  ersten  Male  befreit  von  mythologisch  derber  Primitivi- 
tät als  kosmologisches  Problem  uns  aus  den  kümmerlichen  Fetzen  der 
V  erse  desjenigen  Philosophen  entgegen,  der  den  Kampf  gegen  den  An- 
thropomorphismus  der  einzelnen  Götter  so  beredt  zu  führen  wußte. 
Der  Himmel  sieht,  weil  er  uns  sehen  macht,  die  Luft  läßt  uns  hören, 
der  Sinn  der  Welt  läßt  uns  sie  begreifen  und  erweckt  in  uns  das  Denken. 
Aber  dies  alles  ist  Einwirkung  von  außen,  nicht  wir  sind  letzten  Endes 
aktiv,  sondern  ein  höheres  Etwas  erzeugt  auch  unsere  sinnlich  geistigen 
Fähigkeiten,  und  so  müssen  diese  außer  uns  vorgestellt  werden  —  das 
ist  ein  Grundmotiv  der  griechischen  Metaphysik.  So  wie  wir  in  der  Welt 
und  doch  nicht  „die  Welt"  sind,  sondern  ihr  gegenüberstehen,  indem  sie 
für  uns  Gegenstand  wird,  so  steht  auch  jene  andere  Seh-  und  Hör-  und 
Denkkraft  der  Welt  gegenüber,  obwohl  sie  die  Welt  sein  läßt,  was  sie  ist 
—  diese  metaphysische  Grundeinstellung  tritt  genährt  von  den  Motiven 
der  früheren  Philosophen  und  vielleicht  aus  uns  unbekannten  religiösen 
Reminiszenzen  bei  Xenophanes  zum  ersten  Male  ans  Licht  (vgl.  auch 
Warburg,  Zwei  Fragen  zum  Kratylos,  Neue  Philolog.  Untersuchungen, 
Heft  5,  Weidmann  1929).  Das  rationale  Rechenschaftsbedürfnis,  das  fragt: 
ist  die  Welt  dem  göttlichen  Wesen  „gleich",  ist  sie  dasselbe,  ist  bei  ihm 
noch  schwach  entwickelt  —  Paradoxien  des  Unendlichen  kümmern  ihn 
nicht.  Aber  der  Zweifel  an  der  gleichmäßigen  Geltung  aller  der  Meinun- 
gen über  Götter  und  Welt,  der  eigenen  und  fremden,  tritt  leise  hervor, 
fr.  34  Diels : 

xal  To  jüiv  of)v  Gayec,  o^tlc  äv^Q  yiveT  o\)6i  Tic  e'öTai 
eidwc  äfjifpl  Itswv  T€  xal  äaaa  X£yw  neql  tt&vtwv. 
ei  yäq  xal  tcc  ^laXidTa  Tti%ot  T£TeXe(f[i£vov  eiti&v, 
cxütös  b'ficog  otix  olöe  '  ööxog  ö^lnl  näöi  t€tvxtcci. 

„Und  das  Genaue  nun  hat  nie  ein  Mensch  erblickt,  so  wie  es  auch  nie 
einen  geben  wird,  der  es  kennt  hinsichtlich  der  Götter  und  sämtlicher 
Dinge,  die  ich  irgend  (in  diesem  Werke)  behaupte,  denn  selbst  wenn 
es  jemandem  vor  allen  andern  (durchaus)  gelingen  sollte,  das  wirklich 
Vorhandene  auszusprechen,  so  hat  er  doch  kein  Wissen,  sondern  über 
alles  ist  Schein  gebreitet"1).  Sicher  liegt  in  diesem  Fragment  eine  begin- 
nende Reflexion  über  verschiedene  Grade  der  Wahrheit  und  Sicherheit 
der  Erkenntnis:  vom  Scheine  ist  die  Rede,  der  über  alles  gebreitet  ist. 
Diese  Haltung  ist  sicher  keine  allgemeine  Skepsis,  wie  die  antike  Problem- 

Ich  schließe  mich  bis  auf  die  zu  bewußt  empirische  Deutung  des  „Wissens'* 
Herrn.  Frankel,  Hermes  1925,  189  an. 


D 


PYTHAGOREISMUS 


41 


geschichte  (Sotion,  vgl.  Pauly-Wissowa-Krolls  Realenzyklopädie  XIII 
1237),  sie  später  faßte,  sondern  sie  erfolgte  natürlich  aus  jenem  Auf- 
greifen verschiedener,  in  einer  Hinsicht  einleuchtender  Ansichten,  aus 
jenem  „produktiven  Eklektizismus"  des  Xenophanes.  Produktiv  bleibt 
er  auch  an  dieser  Stelle. 

Xenophanes'  Hauptgedanke  von  der  göttlichen  All-Einheit  beruht 
auf  einer  unangreifbaren  metaphysischen  Grundhaltung.  Aber  an  diesem 
einfachen  Setzen  eines  unbeweisbaren  und  des  Beweises  nicht  bedürftigen 
„wahreren",  besseren,  dem  eigenen  Lebensgefühl  gemäßeren  Seins  tritt 
hier  das  neue  Motiv  heraus,  daß  dieses  Sein  auch  richtiger  gewußt  und 
bewiesen  werden  müßte,  und  das  Bewußtsein,  daß  dies  zur  Zeit  jedenfalls 
nicht  möglich  sei.  Zur  Metaphysik  tritt  ein  Anfang  der  Erkenntnis- 
theorie. 

Aber  aus  der  metaphysischen  Haltung  des  Xenophanes  konnte  ein 
weiterer  Schritt  kaum  erfolgen,  so  wenig  wie  aus  der  Lehre  der  Milesier. 
Die  Antriebe  zu  einer  geschärften  Logik,  zu  einem  stärkeren  Heraustreten 
begrifflicher  Züge  in  diesem  synthetischen  Welterfassen,  das  Fühlen, 
Anschauen  und  Denken  noch  als  eine  Kraft  betätigte,  kommen  von 
einer  andern  Seite  her.  Es  schien  notwendig  zu  sein,  daß  die  Klärung 
eines  so  erfüllten  archaischen  Weltdenkens  zunächst  aus  derjenigen 
Wissenschaft  entsprang,  die  in  sich  selbst  Anschauung  und  Denken 
vereinigt,  von  der  Mathematik.  Genauer:  innerhalb  dieses  synthetischen 
Denkens  entwickeln  sich  Züge,  die  nach  mannigfachen  Krisen  und 
Wandlungen  schließlich  zu  dem  führten,  was  wir  heute  Mathematik 
nennen. 

3.  PYTHAGOREISMUS. 

Ursprünglich  war  das,  was  uns  im  älteren  Pythagoreismus  von  Zügen 
der  oben  charakterisierten  Richtung  faßbar  wird,  eine  naiv  metaphysische 
Denkweise.  In  einer  seiner  Elegien  berichtet  Xenophanes,  wie  Pythago- 
ras  im  kläglichen  Winseln  eines  gemißhandelten  Hündchens  die  Stimme 
eines  Freundes  wiedererkannte  und  um  dessen  Schonung  gebeten  haben 
soll.  Ob  Xenophanes  die  Pythagoreer  verspotten  will  oder  ob  er  lediglich 
eine  merkwürdige  Ansicht  berichtet,  ist  kaum  zu  entscheiden.  Jedenfalls 
enthält  das  älteste  Zeugnis  über  Pythagoras  einen  Hinweis  auf  eine 
metaphysische  Theorie,  die  Seelenwanderung.  Diese  Theorie  be- 
gleitet die  griechische  Metaphysik  sehr  lange;  sie  ist  in  ihrer  Herkunft 
und  ihrer  Wirkung  auf  das  metaphysische  Denken  nun  zu  analysieren, 
ehe  wir  die  mathematische  Seite  des  Pythagoreismus  unter  denselben 
Gesichtspunkten,  nach  Herkunft  und  Wirkung,  erörtern. 

Die  Voraussetzung  der  Seelenwanderungslehre  ist  die  Wiederbelebung 
religiöser  Antriebe  im  7.  und  6.  Jahrhundert,  und  zwar  älterer  Trieb- 
kräfte, die  vor  der  im  homerischen  Epos  erreichten  Entwicklungsstufe 
liegen  und  in  diese  als  Rudimente  hineinklingen. 


42 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Die  Furcht  vor  der  Macht  der  abgeschiedenen  Seele,  die  damit  als  ein 
mächtigeres  Wesen  vorgestellt  wird,  ist  die  Grundanschauung  dieser 
animistischen  Religiosität;  ihre  Form  ist  im  alten  Epos  Seelen-  und 
Totenkult :  Menschenopfer  am  Grabe  des  Patroklos,  Totenopfer  des 
Odysseus,  alles  der  stärkste  Gegensatz  zu  der  sonstigen  homerischen 
Auffassung  der  Seelen  als  flatternder  kraftloser  Schatten  und  Abbilder 
des  Leibes.  Die  neue  religiöse  Welle  hebt  die  alten  Vorstellungen,  daß 
die  Seele  ein  mächtiges  Dasein  nach  dem  Tode  habe,  wieder  stark  empor, 
gibt  dieser  Tatsache  aber  eine  ganz  neue,  der  erreichten  geistigen  Stufe 
angemessene  Bedeutung.  Während  früher  der  Gläubige  kaum  an  die 
in  einem  lebendigen  Leibe  wohnende  Seele  dachte,  sondern  ihm  nur 
angesichts  des  „Toten"  die  Tatsache  des  Abscheidens  der  Seele  bewußt 
wurde,  wendet  sich  nun  die  Reflexion  zum  eigenen  Ich  zurück  und  richtet 
sich  auf  die  Seele,  die  dem  lebendigen  Leibe  innewohnt.  Aus  dieser  Auf- 
fassung des  eigenen  Daseins  als  Seele  werden  dann  theoretische  und  prak- 
tische Folgerungen  gezogen. 

Allerdings  wird  dieser  Gedanke  noch  nicht  bis  zu  denjenigen  Konse- 
quenzen entfaltet,  die  bei  der  eben  angedeuteten  Beziehung  zwischen  Ich 
und  Seele  naheliegen:  das  Ich  wird  in  der  Seele  noch  nicht  gesucht, 
sondern  das  selbstbewußte  Ich  bleibt  im  Hintergrunde  und  wird  auch 
in  dieser  Phase  noch  einmal  zurückgedrängt,  das  Licht  des  reflexiven 
Selbstbewußtseins  noch  einmal  abgeblendet:  die  Einzigkeit  des  Ich,  das 
Charakteristische  aller  modernen  Subjektivität,  wird  nicht  empfunden, 
sondern  es  wird  der  Seele  eine  Beziehung  zu  vielen  Ichzuständen  zuge- 
wiesen, d.  h.  also  die  Seele  wandert  von  Ichzustand  zu  Ichzustand,  oder 
was  dasselbe  ist,  von  Leib  zu  Leib;  denn  die  Einsicht,  daß  zum  Ich  der 
Leib  gehört,  war  dem  philosophischen  Instinkt  der  Griechen  immer  selbst- 
verständlich. 

Die  Seelenwanderungslehre  kann  der  Ausdruck  mannigfaltiger  meta- 
physischer Tendenzen  sein,  wobei  zunächst  dahingestellt  bleibe,  ob  diese 
Tendenzen  sie  herausbilden  helfen  oder  ob  ein  metaphysisches  Grund- 
erlebnis sich  der  Seelenwanderungsvorstellung  als  eines  Ausdrucks- 
mittels bedient.  Erstens  ist  sie  ein  Versuch,  das  Selbstbewußtsein  zu 
objektivieren,  etwas  über  das  dem  Denken  zugrunde  liegende  meta- 
physische Sein  auszusagen,  ohne  sich  auf  das  Ich  reflexiv  zurückzu- 
wenden. 

Das  bedeutet  zweitens  faktisch  eine  Entformung  des  Ichs,  wenn  man 
dessen  bewußt  reflexive  individuelle,  uns  gemäße  Form  zum  Maßstabe 
nimmt.  Auch  hier  schreitet  das  theoretische  Denken  von  dem  indivi- 
duellen einzelnen  Ich  sofort  zu  einer  Allgemeinvorstellung  weiter.  Wie 
das  objektive  Seiende  der  ionischen  Naturphilosophen  das  bestimmte 
Einzelne  zu  überschreiten,  „unendlich"  und  unbestimmt  zu  werden 
strebte,  so  wird  auch  nach  der  subjektiven  Seite  die  letzte  Gegebenheit 
alles  Daseins,  das  Ich,  seiner  Individualität  entkleidet  und  als  eine 


D 


PYTHA  GOREISMUS 


43 


Kraft  aufgefaßt,  die  in  allen  möglichen  Formen  sich  lebendig  darstellen 
kann  und  doch  im  Grunde  etwas  anderes  ist  als  dieses  oder  jenes  ein- 
zelne Ich. 

Drittens  kann  dieses  Hinauswollen  über  das  einzelne  Ich  der  Ausdruck 
sein  für  tiefe  Unzufriedenheit  mit  dem  jeweiligen  Zustande,  ein  sich 
Hinwünschen  in  einen  anderen  besseren  Zustand  als  den  der  einzelnen 
leiblichen  ichhaften  Existenz.  Aber  dieses  Streben  zum  Transzendenten 
ist  —  etwa  verglichen  mit  einem  späteren  Dualismus  —  wieder  gemil- 
dert, indem  die  vollständige  Loslösung  der  Seele  vom  Leiblichen  nur 

10  unter  besonderen  Umständen  und  höchstens  nach  mehreren  Einkörpe- 
rungen  erfolgen  kann.  Denn  es  gehört  zum  Wesen  der  Seele,  sich  um  alles 
Unbeseelte  zu  kümmern  (Piaton  Phaidros  246b);  m.  a.W.  die  Seele  bleibt 
die  äqyi]  a^es  Lebendigen. 

Aus  diesem  gemilderten  Dualismus  ergeben  sich  für  die  metaphysische 
Spekulation  eine  Reihe  von  Fragen.  Wie  ist  das  Sein  der  das  Leibliche 
transzendierenden  Seele  ?  Was  tut  sie  ?  Welche  Bedeutung  hat  ihr  Ver- 
halten in  diesem  Zustande  für  ihr  leibliches  Sein  und  umgekehrt  dieses 
für  jenes  ?  Was  für  Forderungen  an  den  Menschen  ergeben  sich  daraus  ? 
Diese  Andeutungen  sollten  zeigen,  inwiefern  die  Lehre  von  der  Seelen- 

to  Wanderung  durchaus  der  bestimmten  geistigen  Form  jener  Zeit  entspricht, 
und  so  die  an  sich  befremdliche  Tatsache  erklären,  daß  die  griechische 
Metaphysik  sehr  zähe  an  dieser  Lehre  eines  gemilderten  Dualismus 
festgehalten  hat. 

Über  die  Quellen  jener  neuen  Bewegung  sei  hier  nur  so  viel  bemerkt,  daß  sie  im 
Mutterlande  und  nicht  in  Ionien  zu  liegen  scheinen.  Die  „thrakische"  Dionysosreligion, 
die  Lehren  um  Orpheus  haben  sehr  wesentlich  zur  Verbreitung  dieser  Vorstellungen  von 
einem  erhöhten  göttlichen  Sein  der  Seele  beigetragen,  indem  der  Tod  als  Befreiung  aus 
der  Haft  der.  Körpers  und  der  ekstatische  Rauschzustand  als  eine  Vorwegnahme  dieser 
Erlösung  angesehen  wurde.  Diese  religiöse  Haltung  reicht  wahrscheinlich  in  die  vor- 

30  griechische  Zeit  zurück  und  nimmt  nun  neue  Formen  an;  schon  Hesiod,  der  von  diesen 
„orphischen"  Vorstellungen  noch  frei  ist,  hat  eine  gegenüber  der  ionischen  eher  diesen 
späteren  mutterländischen  Formen  verwandte  Religiosität.  Jedenfalls  tritt  zu  dem 
homerischen  Denken  und  dem  der  ionischen  Naturphilosophen  etwas  Neues  hinzu; 
wahrscheinlich  sind  diese  letzteren  nicht  unberührt  davon.  Aber  die  endgültige  und 
schöpferische  Aufnahme  dieser  religiösen  Ideen  vollzog  sich  bei  den  Pythagoreern  und 
den  auf  sie  folgenden  Philosophen.  Pythagoras  wandert  aus  Samos  aus,  geht  wie  Xeno- 
phanes  nach  dem  Westen;  Unteritalien  wird  nun  eine  Zeitlang  der  Herd  philosophischer 
Spekulationen.  Wie  weit  hinter  den  orphischen  Vorstellungen  Orientalisches  sich  ver- 
birgt, ist  zurzeit  nicht  zu  entscheiden.  Vgl.  Reitzenstein,  Vortrag  Warburg,  1924/25. 

40  Die  Analyse  des  für  das  Griechische  Charakteristischen  in  dem  hier  versuchten  Sinne 
als  reine  Deskription  der  Motive  muß  zunächst  unabhängig  von  solchen  Überlegungen 
durchgeführt  werden.  Vgl.  Rohdes  Psyche,  Burnet,  Zeller. 

Naturgemäß  entwickelte  sich  dieser  neue  Seelen-  und  Unsterblich- 
keitsgedanke  erst  allmählich  zu  eigentlich  metaphysischen  Spekulationen 
und  blieb  zuerst  in  rein  kultischen  Formen,  denen  z.  T.  sicher  primitive 
Vorstellungen  von  der  Verwandtschaft  aller  Lebewesen  —  daher  kein 
Fleischgenuß  —  und  ebensolche  vom  Dasein  der  Seele  im  Jenseits  ent- 


44 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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sprachen.  Die  Pythagoreer  legten  großen  Wert  auf  Riten,  Speisegesetze, 
und  die  Sublimierung  aller  dieser  Dinge  vollzog  sich  mehr  im  praktischen 
als  theoretischen  Bereiche. 

Lebensführung  des  Einzelnen,  richtige  Ordnung  des  Staates  sind  die- 
jenigen Züge,  die  in  der  Uberlieferung  am  Pythagoreismus  hervortreten. 
Aber  unmittelbar  aus  der  Lebenspraxis  der  alten  Pythagoreer  erwuchs 
ein  neues  Motiv,  das  uns  endlich  zu  den  Anfängen  der  ionischen  Wissen- 
schaft, zur  taroQi'ij,  zurückführt. 

So  dunkel  die  Uberlieferung  ist,  so  undurchdringlich  der  problemge- 
schichtliche Nebel  scheint,  den  die  Sucht  der  griechischen  Tradition, 
alles  Wahre  auf  die  wissenschaftlichen  Ahnen  zurückzuführen  und  diese 
nach  dem  eigenen  Bilde  zu  modeln,  über  die  Anfänge  des  Pythagoreismus 
gebreitet  hat,  eins  ist  sicher :  in  den  Riten,  mit  denen  die  Pythagoreer  die 
Reinigung  der  Seele  vorgenommen  haben,  spielt  die  Musik  eine  Rolle, 
und  Pythagoras  hat  von  der  Musik  einen  Zugang  zur  Mathematik  an- 
gebahnt. Dieser  Typus  des  Philosophierens  scheint  in  allem  durch,  was 
sich  früher  oder  später  als  pythagoreisch  kundgibt.  Hier  ist  nun  ein  be- 
stimmtes Urphänomen  der  griechischen  Metaphysik  herauszuarbeiten. 
Wie  auf  allen  griechischen  Lebensgebieten  vollziehen  sich  auch  hier  die 
Entwicklungen  fließend  und  leise.  Nichts  verdirbt  mehr  die  Einsicht  in 
das  Wesentliche,  als  wenn  man  dem  geschichtlichen  Bewußtsein  der 
Griechen  zuwider  plötzliche  schlagartig  auftretende  Entdeckungen  an- 
setzt, auf  die  ein  Einzelner  Anspruch  erhebt  und  auf  deren  Neuheit  er 
Wert  legt.  Im  Gegenteil,  alles  Wichtige  und  Wesentliche  wird  durch 
sein  Alter,  durch  sein  längst  bestehendes  Dasein  legitimiert.  Wir  haben 
diese  Stellung  zum  Sein  schon  früher  hervorgehoben  und  dürfen  sie  nicht 
vergessen,  wenn  wir  nun  in  eine  Epoche  eintreten,  in  der  eine  dichte 
Reihe  für  unsern  Blick  erstaunlicher  Entdeckungen  auf  allen  Gebieten 
des  Wissens  uns  entgegentritt. 

Alle  Geschehnisse  der  Welt  nach  einem  bestimmten  Gesetze  geordnet 
vorzustellen  ist  uraltes  griechisches  Streben,  das  in  dem  Denken  der 
Milesier  bereits  wissenschaftliche  Form  anzunehmen  begann.  Die  Er- 
scheinungen des  Himmels,  nicht  nur  den  regelmäßigen  Zyklus  von  Sonne, 
Mond  und  Sternen,  sondern  auch  scheinbare  Ausnahmen  wie  Sonnen- 
finsternisse auf  ihre  Regelmäßigkeit  zu  prüfen,  war  eine  wesentliche 
Seite  dieses  Bestrebens,  und  wenn  Thaies  babylonische  Beobachtungen 
verwertete,  so  konnte  er  die  Bestätigung  einer  Ordnung  auch  dort  sehen, 
wo  der  Unerfahrene  den  sichtbarsten  Ausdruck  übernatürlicher  Willkür 
annahm.  Daß  mathematische  Überlegungen  gelegentlich  bei  den  Mi- 
lesiern  angestellt  wurden,  wird  sicher  bezeugt;  man  kannte  mathemati- 
sche Probleme,  man  erfuhr  genug  von  Babyloniern  und  Ägyptern  — 
kann  man  doch  nach  den  neuesten  Forschungen  (O.  Neugebauer,  Nachr. 
d.  Gött.  G.  d.  W.  Math.  Phys.  Klasse  1928,  p.  4)  „an  der  Möglichkeit 
eines  babylonischen  Ursprungs  des  pythagoreischen  Lehrsatzes  nicht  mehr 


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PYTHA  GOREISMUS 


45 


vorübergehen".  Daß  im  geregelten  Tanz  und  Gesang  zahlenmäßig 
festlegbare  Maße,  Metra,  die  Richtigkeit  und  Ordnung  eines  mit 
vielen  Gemüts-  und  Gefühlswerten  erfüllten  Tuns  bezeichneten,  muß  in 
Griechenland  früh  bemerkt  worden  sein;  ob  der  dorische  Stamm  hierin 
stärker  als  andere  das  Gemessene  empfand,  ist  nicht  beweisbar,  obwohl 
nicht  unwahrscheinlich.  Früh  treten  für  geregeltes  Leben  und  Denken 
und  für  geregelte  Kunstbetätigung  dieselben  Wortwurzeln  auf:  (iizXoq 
mit  allen  Ableitungen,  i/ipekijs  bei  Aristophanes,  TtXijfiiisfo'jc  Sophokles, 
[i£tqov,  -loq  Hesiod,  Tragiker,  av^fiezQog  Tragiker,  qv&iii6<;  Archilochos). 

Alles  dies  wird  aber  unterbaut  und  zusammengefaßt  von  dem  Grund- 
phänomen der  Harmonik  und  Akustik:  der  Zahlenmäßigkeit,  d.  h.  des 
zahlenmäßig  einfachen  Verhältnisses  konsonanter  Saitenlängen,  überhaupt 
der  zahlenmäßig  faßbaren  Ordnung  der  Töne  im  Gegensatz  zur  Unbe- 
stimmbarkeit  der  Geräusche.  Gerade  die  Homophonie  der  griechischen 
Musik,  in  der  nicht  der  gleichzeitige  Zusammenklang,  sondern  das  ge- 
ordnete Weitergehen  der  Melodie  das  Grundphänomen  ist,  schuf  die 
Möglichkeit,  die  harmonische  Bewegung  als  Typus  eines  gerichteten 
Geschehens  überhaupt  aufzufassen,  ein  Sachverhalt,  der  bei  der  moder- 
nen Auffassung  des  Zusammenklangs  verdunkelt  wird.  Diese  Zurück- 
führung  der  qualitativen  Empfindung  des  harmonischen  Intervall- 
schrittes auf  die  quantitativen  Verhältnisse  der  Saitenlängen  war  da- 
her für  das  unbewußt  „rationale"  Bestreben  der  beginnenden  Natur- 
wissenschaft ein  methodisches  Muster  und  eröffnete  unbegrenzte  Aus- 
blicke auf  weitere  Bewältigung  der  Wirklichkeit  durch  analoge  quanti- 
tierende  Gesetze.  Und  was  für  die  griechische  Phase  der  abendländischen 
Naturwissenschaft  nicht  vergessen  sei:  das  Eingebettetsein  dieses  Phä- 
nomens in  die  Ordnungen  des  Gesanges  und  Tanzes  und  damit  des  ästhe- 
tisch Erziehlichen  erweitert  den  Bereich  rationaler  Gestaltung  unmittel- 
bar auf  das  ganze  tätig-sittliche  Leben,  das  ja  —  wir  sahen  es  bei  Solon 
und  Anaximander  —  für  die  Griechen  von  vornherein  unter  eine  gleiche 
alles  umfassende  Gesetzlichkeit  gestellt  war. 

Indem  hier  der  bereits  erwachte  intellektuelle  Instinkt  auf  rationale 
Bewältigung  des  Daseins  von  dem  Gang  der  Gestirne  an  über  das  ge- 
fühlte Lustvolle  in  Tönen  und  Rhythmen  bis  zum  geordneten  Leben  über- 
haupt sich  weithin  bestätigt  und  zu  größter  Kraftanspannung  berech- 
tigt und  verpflichtet  fühlte,  kräftigte  und  reinigte  sich  zugleich  eine  be- 
sondere Erscheinungsform  dieses  Instinktes,  die  ihn  —  allerdings  nur 
für  unser  heutiges  Urteil  —  vom  Wege  der  nüchternen  Rationalität  ab- 
zudrängen scheint.  Wir  sahen,  daß  von  den  homerischen  Gedichten 
an  dieser  Instinkt  sich  der  Gleichnisse,  der  Vergleiche,  der  Analogien 
bediente,  um  den  Blick  auf  Sachverhalte  zu  lenken,  die  sich  auf  andere 
Weise  kaum  erfassen  oder  gar  mitteilen  ließen.  Eine  scharfsinnige 
Analyse  der  Anfänge  griechischer  Zahlenspekulation  (Helmut  Hasse 
und  Heinrich  Scholz,  Die  Grundlagenkrisis  der  griechischen  Mathematik, 


4t; 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Kant  Studien  Bd.  XXXIII  1928)  hat  das  pythagoreische  Urphänomen 
auf  die  Form  gebracht:  alles,  was  sich  wie  Zahl  verhält,  ist  Zahl.  Wir 
fügen  hinzu:  deshalb  konnten  die  Pythagoreer  —  ob  schon  Pythagoras, 
bleibe  dahingestellt  —  sagen:  alles  ist  Zahl,  weil  ihnen  jenes  gleichnis- 
hat 'te  Denken  im  Blute  lag;  zeigt  doch  auch  die  griechische  Sprache  in 
ftioioq  die  Bedeutungen  „ähnlich"  und  „gleich"  verbunden.  Sie  durften 
es  mit  demselben  Rechte  sagen,  mit  dem  der  Mathematiker  heut  zwischen 
dem  Verhältnis  zweier  kommensurabler  Strecken  und  dessen  zahlen- 
mäßigem Ausdruck  das  Gleichheitszeichen  setzt. 

Die  Seinsansicht,  die  hinter  solchem  Denken  steht,  ist  metaphysisch 
von  größter  Tragweite.  Das  Verstehbare  im  Sein,  seinen  Sinn  als  das 
Eigentliche  in  ihm  aufzufassen,  diese  Urabsicht  aller  Onto-logie  tritt 
hier  mit  archaischer  Einfachheit  ans  Licht.  Wie  weit  die  Kraft  solcher 
Anschauungen  bereits  in  der  Zeit,  von  der  wir  sprechen,  aus  der  allge- 
meineren metaphysischen  Sphäre,  in  der  die  Zahl  zum  Seinsgrund 
schlechthin  erhoben  worden  war,  in  den  Bereich  exakt  mathematischer 
Erkenntnis  geleitet  wurde,  wird  hoffentlich  die  zukünftige  Forschung 
immer  deutlicher  beurteilen  lehren.  Die  oben  genannte  Abhandlung 
hat  in  der  Darstellung  Zenons  geschichtliche  Aporien  aufgewiesen,  deren 
einfachste  Lösung  die  Annahme  recht  weit  zurückreichender  zahlen- 
metaphysischer Spekulationen  wäre,  gegen  die  Zenon  sich  polemisch 
richtet. 

Die  Beziehung  von  Zenon  auf  die  Pythagoreer  ist  bereits  ausgesprochen  bei  Tannery, 
Pour  l'histoire  de  la  science  Hellene,  249  ff.;  Bäumker,  Das  Problem  d.  Materie  i.  d.  gr. 
Philosophie,  60  ff. ;  Cassirer,  Philos.  d.  Gr.,  46.  Diese  Annahme,  die  der  Errechnung 
eines  unentdeckten  Planeten  auf  Grund  seiner  Fernwirkungen  auf  die  Bahn  anderer 
vergleichbar  ist,  steht  vorläufig  zu  der  Meinung  eines  Teiles  der  Mathematiker,  Historiker 
und  Philologen  in  Widerspruch,  die  alles  Pythagoreische  am  liebsten  bis  ins  4.  Jahr- 
hundert herabrücken  möchten. 

4.  PARMENIDES  VON  ELEA. 

Mit  Zenons  Erwähnung  übergingen  wir  denjenigen  Philosophen,  auf 
dessen  Werk  das  Zenonische  sich  unmittelbar  bezieht,  und  das,  wenn 
jene  Annahme  der  Polemik  gegen  die  Pythagoreer  richtig  ist,  notwendig 
selbst  mit  dieser  Polemik  in  Beziehung  stehen  muß.  Da  die  eleatische 
Philosophie  die  erste  Etappe  auf  dem  Wege  griechischer  Ontologie  ist 
und  uns  außerdem  viel  sicherer  als  alles  Pythagoreische  überliefert  ist, 
so  können  wir  erst  von  ihr  aus  zusammenfassend  auf  den  Pythagoreismus 
und  die  in  ihm  beschlossene  Metaphysik  zurückblicken. 

Die  Kontinuität,  die  wir  an  dem  griechischen  Philosophieren  wahr- 
nehmen, zeigt  sich  dem  Betrachter  einmal  als  überraschendes  Vorgreifen 
älterer  Philosophen  in  die  Zukunft :  alles  Neue  ist  längst  vorbereitet  und 
verstärkt  nur  diesen  oder  jenen  Zug,  der  früher  noch  nicht  so  deutlich 
war.  Zweitens  zeigt  sich  die  Kontinuität  in  der  Hartnäckigkeit,  mit  der 
sich  Gedankenbildungen,  die  die  Entwicklung  scheinbar  bereits  überholt 


D 


PARMENIDES  VON  ELEA 


47 


hat,  neben  dem  Neuen  behaupten,  ohne  daß  etwa  der  Weiterbestand  einer 
Schultradition  als  Erklärungsgrund  hinreichte.  Wir  werden  gut  tun, 
den  Typus  der  milesischen  Naturphilosophen  und  das  über  die  Grund- 
form des  Pythagoreismus  Gesagte  bei  der  Betrachtung  des  Eleatismus 
immer  festzuhalten,  desto  mehr,  je  größer  der  Formunterschied  ist. 
Parmenides  ist  der  erste  Philosoph,  der  für  sein  Lehrwerk  jt€qI  yvGewc,  die 
alte  epische  Form  des  Hexameters  aufgreift  —  Xenophanes  ist  ja  Dichter 
und  Rhapsode,  und  ob  er  ein  ausdrückliches  Lehrgedicht  geschrieben 
hat,  ist  zweifelhaft.  Und  doch  ist  dasjenige  philosophische  Motiv,  das 
10  nach  allgemeinem  Eindruck  bei  Parmenides  zum  ersten  Male  in  reiner 
Form  zum  Ausdruck  kommt,  die  Logik. 

Keiner  hat  dies  stärker  ausgesprochen  als  der  um  das  Verständnis  des  Parmenides 
hochverdiente  C.  Reinhardt,  Parmenides  256:  „Parmenides,  der  keinen  Wunsch  kennt 
als  Erkenntnis,  keine  Fessel  fühlt  als  seine  Logik,  den  Gott  und  Gefühl  gleichgültig 
lassen."  Über  die  Ausgleichsversuche,  die  auch  in  dem  in  hoher  dichterischer  Sprache  ge- 
schriebenen Proömium  eher  „verstandesmäßige  Konstruktion  als  dichterisches  Erlebnis" 
(übrigens  ein  für  die  Antike  nicht  eindeutiger  Begriff)  sehen  wollen,  vgl.  Kranz,  Sitz.ber. 
d.  Pr.  Ak.  d.  Wiss.  1916,  1162,  und  die  allgemeine  Literatur.  Zum  Hauptproblem  der 
Interpretation,  dem  Zusammenhang  der  zwei  Teile  des  Gedichtes,  vgl.  Reinhardt  1.  c. 
20  und  die  Darstellungen  bei  Zeller,  Burnet,  Cassirer  und  Praechter.  Die  folgende  Betrach- 
tung beschränkt  sich  darauf,  die  metaphysische  Grundhaltung  herauszuarbeiten  und 
muß  auf  jede  Einzelauseinandersetzung  verzichten;  vorbereitet  ist  diese  Darstellung 
Antike  I  244—71. 

Im  letzten  Grunde  beruhen  beide  Tendenzen,  die  zur  „Logik41  und 
die  zur  dichterischen  Gestaltung,  auf  dem  Bedürfnis,  den  Trieb  zur 
Entformung,  den  wir  als  tiefere  verborgene  Richtung  in  der  ionischen 
Denkweise  angetroffen  haben,  in  letzter  Steigerung  sich  selbst  über- 
winden zu  lassen.  Nun  hatte  der  Pythagoreismus  —  wenn  er  die  ihm 
oben  zugeschriebene  Leistung  bereits  in  seinem  ersten  Stadium  zu  hin- 
50  länglicher  Klarheit  entwickelt  hatte  —  bereits  in  der  Zahl  als  weltbeherr- 
schender äo%/],  in  dem  Logos,  der  Proportion  und  Symmetria  ein  neues 
Formprinzip  gefunden,  das  wie  alles  Mathematische  stärkste  logische 
Motive  in  sich  schloß.  Man  müßte  daher  annehmen,  daß  Parmenides 
an  die  Pythagoreer  anknüpfte,  selbst  wenn  es  nicht  ausdrücklich  über- 
liefert wäre:  tatsächlich  erscheint  Parmenides  als  Schüler  des  Pytha- 
goreers  Ameinias  in  der  unverächtlichen  Tradition  des  Sotion  (vgl. 
Pauly-Wiss.-Kroll  III  A  1237). 

Diese  Tradition  darf  desto  mehr  Beachtung  beanspruchen,  weil  die  spätere  antike 
und  die  neuere  Philosophiegeschichte  sachlich  mit  diesem  Zusammenhange  nicht  viel 
0  anzufangen  wußte  und  die  Abhängigkeit  des  Parmenides  von  den  Pythagoreern  auf  die 
Lebensauffassung  (Zeller)  und  die  Kosmologie  des  zweiten  Teiles  seines  Gedichtes  be- 
schränkt, wo  der  Zusammenhang  unleugbar  ist  (Burnet),  während  ihr  der  Zusammen- 
hang zwischen  dem  tv  des  Parmenides  und  dem  Gotte  des  Xenophanes  auf  der  Hand 
zu  liegen  schien.  Deshalb  wird  die  Auffassung  des  Sotion  kaum  nachträglich  kon- 
struiert sein,  wie  so  vieles  über  die  Abhängigkeitsverhältnisse  der  alten  Philosophen.  Im 
folgenden  soll  der  Zusammenhang  der  eleatischen  mit  der  pythagoreischen  Ontologie 
ernst  genommen  werden. 


IS  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 


Zwei  metaphysische  Motive  müssen  nun  im  Hinblick  auf  die  Ontologie 
des  einen  zusammenhängenden  Seins  des  Parmenides  hervorgehoben 
werden.  Wer  der  Zahl  eine  besondere  metaphysische  Realität  zuweist 
und  auch  nur  den  ersten  Blick  auf  das  Wesen  der  Zahl  gerichtet  hat, 
inu (3  bemerken,  daß  er  damit  die  Wirklichkeit  in  eine  Anzahl  —  endliche 
oder  unendliche,  das  bleibe  dahingestellt  —  diskreter  Teile  auflöst,  die 
nunmehr  dem  Gesetz  der  Zahl  als  der  Gesetzmäßigkeit  des  Diskreten 
unterworfen  werden  können.  Mögen  die  Pythagoreer  ursprünglich  den  ge- 
stirnten Himmel,  auf  dem  die  leuchtenden  Lichter  durch  das  leere 
Dunkel  des  Himmels,  des  „Dunstes"  der  Luft  getrennt  werden,  als  10 
Sinnbild  (in  der  vollen  Bedeutung  des  Bildes  für  einen  gemeinten  Sinn) 
von  Peras  und  Apeiron,  von  Grenze  und  Unbegrenztsein,  angesehen 
haben,  bei  der  ersten  Reflexion  über  das  Wesen  der  Zahl  muß  als  das 
Gemeinsame  an  Sinn  und  Bild  die  Tatsache  der  diskreten  Menge,  der 
Mannigfaltigkeit,  der  Reihe,  in  das  philosophische  Denken  eingetreten 
sein.  Es  wäre  leicht,  für  diese  arithmetische  Bewußtheit  aus  späteren 
Zeugnissen  Belege  anzuführen  —  aber  worauf  es  bei  dem  Stande  der 
Forschung,  bei  der  weitgehenden  Skepsis  den  alten  Pythagoreern  gegen- 
über einzig  und  allein  ankommt,  das  ist  die  polemische  Haltung  der 
eleatischen  Kontinuumslehre,  die  schlechterdings  unverständlich  ist, 
wenn  sie  nicht  irgendwo  einen  Zielpunkt  hat:  Parmenides  Fragment  2: 
Denn  er  wird  ja  das  Seiende  nicht  aus  dem  Zusammenhange  des  20 
Seienden  schneiden,  weder  so,  daß  es  sich  in  seinem  Gefüge  überall 
gänzlich  auflockere,  noch  so,  daß  es  sich  zusammenballe.  B  8,  22  bis  25: 

ovde  öiaiQsröv  iaviv,  enel  nav  eavvv  öfiolov 

oi>ö£  ti  %£iq6t€Qov,  näv  fft'iinXtöv  eanv  eövrog, 
t&i  %vvs%k<;  Ttäv  Igtiv  '  ebv  yäq  16vtv  7ieXaL,ei. 

„Auch  teilbar  ist  es  nicht,  weil  es  ganz  gleichartig  ist.  Und  es  gibt 
nirgend  ein  stärkeres  Sein,  das  seinen  Zusammenhang  hindern  könnte, 
noch  ein  geringeres;  es  ist  vielmehr  ganz  von  Seiendem  erfüllt.  Darum  30 
ist  es  ganz  zusammenhängend;  denn  ein  Seiendes  stößt  dicht  an  das 
andere."  Wer  wie  Parmenides  von  vornherein  den  Weg  der  Wahrheit 
von  einem  entgegengesetzten  Irrweg  abhebt,  der  meint  an  diesen  Stellen : 
es  gibt  Leute,  die  das  Seiende  durch  Zwischenräume  aufgelockert  denken, 
die  es  für  teilbar  halten  und  ihm  seinen  Kontinuumscharakter  nehmen. 
Und  wenn  man  selbst  die  Nachricht  des  Favorinus  bezweifeln  sollte,  daß 
Parmenides  die  Schluß-  und  Denkweise  seines  Schülers  Zenon  bereits 
selbst  gehabt  und  den  Achilleus-Trugschluß  als  Problem  aufgeworfen 
habe,  es  ist  doch  nun  einmal  der  unmittelbare  Schüler  den  Paradoxien 
der  unendlichen  Teilung  eines  Kontinuums  so  sichtlich  auf  der  Spur,  40 
daß  man  sich  schwer  entschließen  wird,  zwischen  den  Gedanken  des 
Schülers  und  des  Meisters  eine  große  Kluft  anzunehmen. 


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PARMENIDES  VON  ELEA 


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Reinhardt  p.  108  bezeichnet  gut  die  Problemlage.  Er  findet  „fast  wie  zufällig44 
bei  Parmenides  den  Begriff  des  o^oiov  und  des  &muqst6v.  „Welche  dialektischen  Kräfte 
in  diesem  Begriffe  schlummern,  ist  so  wenig  noch  erkannt,  daß  er  zu  weiter  nichts 
als  einer  rein  intuitiven  Begründung  der  Unteilbarkeit  verwandt  wird.'4  Die 
von  mir  gesperrten  Worte  bezeichnen  scharf  die  dnooia.  Ich  glaube,  das  Paradoxon 
einer  intuitiven  Begründung,  zu  dem  R.  sich  genötigt  sieht,  empfiehlt  eine 
andere  Auflösung  der  Aporie. 

Ist  demnach  der  allgemeine  Hintergrund  einer  „pluralistischen",  ino- 
nadologischen  Metaphysik,  auf  die  sich  Parmenides  polemisch  bezieht, 
zutage  getreten,  so  wäre  es  voreilig,  dieser  „Monadologie"  eine  bewußt 
theoretische  Ausbildung  zuzusprechen.  Vielmehr  wird  man  sich  die  An- 
fänge der  pythagoreischen  Metaphysik  recht  naiv  denken  können.  So 
könnte  man  eine  sonst  sehr  merkwürdige  Notiz  bei  Aristoteles  de  anima 
A  2  404  a  16  (Biels  45  B  40),  daß  die  Pythagoreer  die  tanzenden  Sonnen- 
stäubchen bzw.  die  sie  bewegenden  Kräfte  für  Seelen  hielten,  auf  eine 
naive  Monadologie  beziehen.  Wie  im  Sonnenstrahle  sich  das  für  den 
groben  Blick  Leere  erfüllt  und  gegliedert  zeigt  von  einer  Reihe  unfaßbar 
kleiner,  sich  selbst  bewegender  Teilchen,  so  mag  man  sich  analog  dazu 
auch  in  anderen  Seinsregionen  eine  ähnliche  Struktur  ausgemalt  haben: 
kleinste  Teile,  getrennt  durch  Zwischenräume.  Daß  die  Pythagoreer 
diese  luftigen  und  leuchtenden  Teile  als  Seelen  ansahen,  ist  ein  philoso- 
phiegeschichtlich höchst  merkwürdiges  Zeugnis  dafür,  daß  die  physischen 
und  die  psychischen  „Monaden44  schon  bei  der  ersten  Entstehung  dieser 
Denkform  nicht  durch  eine  scharfe  Grenze  getrennt  erschienen. 

Je  unbefangener  wir  für  diese  unbekannten  Vorläufer  des  Atomismus 
eine  panpsychistische,  mythisch  verpuppte  Denkform  annehmen,  desto 
berechtigter  erscheint  uns  der  mit  gewaltigem  Denkerpathos  unter- 
nommene Gegenstoß  des  Parmenides.  Man  hat  seinen  Grundgedanken: 
das  Seiende  ist,  tautologisch-trivial  gefunden,  oder  mit  kritizistisch- 
idealistischen  Verbrämungen  ihn  zu  retten  versucht.  Man  hat  infolge- 
dessen durch  falsches  Fragen  widerspruchsvolle  Antworten  erhalten 
und  ihn  so  entweder  als  den  Vater  des  Idealismus  (Cohen)  oder  des 
Materialismus  (Burnet)  begrüßt.  Aber  auf  dem  Hintergrunde  des  pythago- 
reischen Pluralismus  ist  Ansatz  und  Durchführung  dieses  Vorstoßes  klar. 
Daß  der  Bimsstein,  der  Schwamm,  zwischen  seinen  Teilen  Leeres  enthält, 
weiß  Parmenides;  daß  analog  die  Dichtigkeit  aller  sinnlich  wahrnehm- 
baren Dinge  nur  relativ  ist,  also  Verdichtung  und  Verdünnung  —  Ge- 
frieren und  Verdunsten  des  Flüssigen  —  sehr  wohl  kosmologisch  frucht- 
bare Hypothesen  sind,  auch  diese  Einsicht  wird  man  Parmenides  gut 
zutrauen  dürfen.  Daß  aber  auch  jenes  Leere  nur  relativ  ist,  daß  ein 
grundsätzlich  zusammenhängendes  Etwas,  der  Raum  oder  wie  sonst  dies 
Etwas  gedacht  sei,  allem  Seienden  zugrunde  liegt,  das  will  Parmenides 
beweisen,  und  zwar  neu  beweisen.  Diese  Beweisart  ist  das  eigentlich 
Neue,  das  mit  Parmenides  in  ein  helleres  philosophisches  Bewußtsein 
tritt,  nicht  die  Annahme  eines  qualitätslosen,  allem  Qualitativen  zu- 

Handb.  d.  Phil.  I.  D  i 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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gründe  liegenden  Urstoffes  —  den  hatte  schon  Anaximander  in  seinem 
änetQOV  begriffen. 

Doch  wie  ist  dieses  neue  Beweisverfahren,  diese  neue  Logik  zu  charak- 
terisieren? Zunächst  erscheint  die  Widerlegung  des  Nichtseienden  ein- 
fach in  dieser  Form :  Nichtseiendes  kann  nicht  sein,  weil  es  nicht  gedacht 
werden  kann.  Es  kann  nicht  gedacht  werden,  weil  jedes  Denken  sich 
auf  etwas  richtet;  „Denken  und  Sein  ist  dasselbe61  (Fragm.  5),  oder  nach 
Burnets  möglicher  Ubersetzung:  es  ist  dasselbe,  was  gedacht  werden 
kann  und  was  sein  kann.  Für  unsern  Zweck  kommt  beides  auf  dasselbe 
heraus  und  wird  bestätigt  durch  Fragment  8,  34:  Dasselbe  ist  Denken  io 
und  um  wessen  willen  der  Gedanke  ist,  Gedanke  und  des  Gedankens 
Ziel  (Intention)  ist  dasselbe.  Man  gebe  diesem  Satze  nicht  sofort  eine 
allzu  modern  erkenntnis-theoretische  Deutung.  Auf  dem  Hintergrunde 
der  bekämpften  Lehre  soll  dies  einfach  besagen :  Denke  dir  immer  Feine- 
res zwischen  den  Teilen  der  Dinge  —  du  kommst  an  kein  Ende;  auch 
das,  was  du  Leeres  nennst,  ist  ein  Etwas,  dem  du  dadurch  ein  Sein  zu- 
weist, indem  du  es  „zwischen"  anderem  „sein"  läßt.  Gewiß  nichts 
„Sichtbares",  Wahrnehmbares  dazwischen,  sondern  ein  Denkbares;  aber 
dieses  „nur  Denkbare"  wird  nun  ein  letztes  Sein,  es  wird  die  doxy,  die 
von  allen  gesucht,  aber  immer  nur  in  der  Sinnenwelt  vermutet  wurde;  20 
diese  letzte  äqyjl  *st  gerade  dadurch  &oyJ\  und  dadurch  erwiesen,  daß  sie 
lediglich  das  Etwas  ist,  das  in  jedem  Gedanken  notwendig  gesetzt  ist. 

Nach  einem  ehernen  Gesetze  der  Logik  haftet  damit  für  Parmenides 
dieses  Seiende  am  Denken,  es  gehört  zu  ihm,  und  gegenständlich,  wie 
auch  dieser  erste  scheinbar  ins  Formale  hinausweisende  griechische 
Denker  bleibt,  wird  für  ihn  nun  „Denken"  einfach  das  Wesen  dieses  letz- 
ten äqyJi -haften  Seins.  Wir  müssen  bei  Parmenides  die  Identifikation 
von  Sein  und  Denken,  von  Seiendem  und  letztem  intentionalem  Etwas 
ganz  ernst  nehmen. 

Was  ist  über  dieses  letzte  Sein  nun  noch  auszusagen  ?  Parmenides  30 
hatte  in  dem  bisher  Entwickelten  den  Gedanken  des  Apeiron  im  Sinne 
des  qualitativ  Unbestimmten  zu  höherer  Klarheit  weitergedacht;  aber 
er  konnte  dies  nur,  indem  er  aufs  strengste  von  diesem  Apeiron  das 
andere  schied,  das  quantitativ  Unbegrenzte ;  wie  bekannt  der  eleatischen 
Schule  dieser  milesische  Begriff  des  Apeiron  war,  zeigt  die  frappierende 
Tatsache,  daß  der  Samier  Melissos,  obwohl  Eleate,  ihn  unbedenklich 
in  seiner  ganzen  Bedeutung  wiedereinsetzte  und  mit  dem  Eleatismus 
verschmolz.  Parmenides  hingegen  holt  aus  dem  Begriff  dieses  allgemein- 
sten „gleichmäßig"  Seienden,  wie  wir  es  bisher  schilderten,  nun  seine 
quantitative  Endlichkeit  heraus,  und  so  steht  seine  äo%i)  grundsätzlich  40 
über  dem  Gegensatz  von  Peras  und  Apeiron  —  der  der  Sache  nach  zu 
dem  ältesten  Bestände  des  Pythagoreismus  gehört. 

Das  Seiende  ist  nicht  teilbar,  es  ist  aber  auch  nicht  zusammenzu- 
setzen; man  kann  nicht,  wenn  man  sich  ans  „Ende  der  Welt"  versetzt 


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PARMENIDES  VON  ELEA 


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denkt,  neue  Welten  hinzufügen.  Parmenides  entdeckt  den  Einheits-  und 
Ganzheitscharakter  der  „Welt",  genauer  des  Seins  (fragm.  8,  26 —  34). 

afiräg  äxivrjTov  fieyccXcov  iv  ntCqaai  deafiwv 
Eötiv  ävaq%ov  änavarov  Ittel  yiveöig  xai  oXe&gog 
TrjXe  iiäUt  tnX&i&riaav ,  äjt&ae  d£  ixiGTig  äXq&rjg. 
radröp  %'ev  twöt&i  tc  ybfvov  xaif  iavrö  te  xsicai 

%O1)TC0g   tflTtsÖoV  avdi  flfVEl  '  XQCCTEQ?}   yCCQ  IdväyXT] 

TiECqaTog  iv  deöfioiaiv  £%ei,  tö  fiiv  äftcplg  iiqyei  ' 
ofivEXEV  ovx  äTeXevTijTov  to  ibv  &£/Lu,g  eivai 
eoti  yäg  otix  irndev^g.  '  ibv  ö^äv  navTog  iÖElTo. 

Zeile  42 :  ai)TctQ  inst  iTElqag  ttv/ucctov  teteXeG[i£vov  iöTC 
tt&vto&ev,  eüxvxXov  a  ^aCqrjg  ivaXCyxvov  oyxwi 
li£<sa6&Ev  taojraXeg  tx&vtiii  '  to  yäg  oVte  tv  fiel^ov 
oi)T€  ti  ßaiÖT€oov  neXivai  xgsov  itti  Tfji  r]  tt\i. 
o$t€  yäg  ov  T€ov  £(Jti,  tö  xev  Tcuvoi  fiiv  Ixvela&ai 
dg  öfiöv,  ovt  ibv  I'gtiv  üttmq  el'rj  xev  iövTog 
tt\i  fiäXXov  ttJi  d'fjaaov,  inel  näv  ioTiv  äavXov  ' 
ol  yäg  TtävTo&ev  laov,  öfi&g  iv  neigatii  xvgei. 

Jedes  anschauende  Hinausgehen  über  die  Grenze  zeigt,  daß  diese 
„Grenze"  noch  nicht  Grenze  ist;  was  wirklich  Grenze,  Peras,  ist,  kann 
nicht  „zwischen"  zwei  andern  Dingen  sein,  sondern  muß  ein  für  allemal 
ein  Ende  setzen;  der  Wahn,  hinter  der  Grenze  sei  immer  wieder  Nicht- 
Seiendes, setzt  einen  unvollendbaren  Prozeß  (odx  ävvGTÖv)  voraus; 
diese  Vorstellung  eines  unendlichen  Fortganges  entspringt  aber  nur  dem 
anschaulichen  Moment  im  Denken;  folglich  muß  der  Gedanke  selbst 
die  Grenze  sein,  das  Denken  der  Welt  muß  sich  selbst  beschränken  und 
die  Grenze  fordern;  wie  das  letzte  Sein  im  qualitativen  Sinne  schließ- 
lich ein  Apeiron  ohne  anschauliche  Bestimmtheit,  pures  „Etwas",  also 
„Gedanke"  wurde,  so  wird  auch  hier  das  letzte  quantitative  Etwas, 
das  alles  Seiende  umschließt,  geforderter  Gedanke  (vgl.  hierzu  Antike 
I,  244). 

Zum  ersten  Male  entfaltet  sich  hier  das  Urproblem  der  Erkenntnis, 
der  Zusammenstoß  oder  das  Zusammenwirken  von  Denken  und  anschau- 
lichem Vorstellen.  Ganz  unverhüllt  drängt  sich  ein  anschaulicher  Zug 
grade  in  die  vom  Verstände  geforderte  Idee  der  die  Welt  umschließen- 
den Grenze,  des  Peras.  Wir  sahen,  daß  Parmenides  auf  die  Fülle,  die 
Dichtigkeit  seines  gedanklich  postulierten  Seins  entscheidenden  Wert  legt. 
Nun  gehört  zu  dieser  Vorstellung  notwendig,  für  Parmenides  gedanklich 
zwingend,  auf  dem  X6yio  xglvai  fr.  1,  36  beruhend,  ein  Etwas,  das  ein  Aus- 
einandertreten, ein  Zerfließen  oder  Zerfallen  dieses  Dichten  verhütet, 
eine  gestaltende  Grenze  (vgl.  Piaton  Menon  75  e  die  Beziehung  von 
itXtvTi),  rtigag,  %<S%ctrov  und  oytj/iu).  Diese  Grenze  ist  „der  Kugelfläche 
vergleichbar",   weil  schlechterdings  nicht  einzusehen  ist,  warum  das 

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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Seiende  weiter  nach  irgendeiner  Richtung  als  nach  einer  andern  reichen, 
warum  es  irgendeine  Unregelmäßigkeit  der  Form  haben  sollte,  das 
Seiende,  das  in  seiner  Substanz  gleichmäßig  ist,  keine  Verdichtung  und 
Verdünnung  kennt  (fr.  8,  45—49).  So  erwächst  die  mathematische  Ge- 
staltung aus  logischen  Erwägungen  und  nimmt  zugleich  eine  dynamische 
Kraft,  die  des  Zusammenhaltes,  in  sich  auf  —  eine  für  die  spätere  Meta- 
physik des  Geist-  und  iVusbegriffes  höchst  folgenreiche  Trias. 

Wie  in  dem  pythagoreischen  „Gleichnis"  der  Zahlen  eine  mathe- 
matisierende  Auffassung  des  „Logos"  das  Bildhafte  bereits  in  einer 
tieferen,  erkenntnistheoretischen  Schicht  überwand,  so  ist  auch  in  den  10 
eleatischen  Seinsbegriff  die  Ähnlichkeit  mit  der  Kugelgestalt  (eüxvxlov 
(Ufuio^z  h'etXi'yy.ioc  oyxco  8;  43)  mit  aufgenommen:  schon  bei  der  Ein- 
führung des  Seinsbegriffes  wird  ja  von  der  „Wahrheit  wohlgeründetem 
Herzen"  gesprochen  (1,  29).  Angesichts  der  konkreten  geschichtlichen 
Situation  dieses  Denkens  versagen  die  gewöhnlichen  Termini,  mit  denen 
man  seinen  erkenntnistheoretischen  und  metaphysischen  Gehalt  zu  er- 
fassen gesucht  hat.  Gewiß  ist  das  Seiende  des  Parmenides  die  Fortführung 
des  äoyjj- Gedankens  und  insofern  auch  „Materie",  Substanz  der  physi- 
schen Realität.  Aber  im  Apeiron  des  Anaximander  war  diese  Materiali- 
tät bereits  wesentlich  modifiziert;  freilich  blieb  dort  die  ausdrückliche  20 
Bestimmung  dieser  neuen  äoyr\  durchaus  negativ;  denn  damit,  daß  das 
Apeiron  von  aller  sinnlichen  Bestimmung  frei  gedacht  wurde,  war  die 
Einsicht  noch  nicht  gegeben  oder  jedenfalls  noch  nicht  klar  ausgedrückt, 
daß  das  Gedachtwerden  selbst  das  konstitutive  Prinzip  der  zugrunde 
liegenden  letzten  aQ%7j  des  eigentlich  Seienden  wird.  Dieser  große  Schritt 
wird  von  Parmenides  mit  archaischer  Gewaltsamkeit  bewußt  getan: 
„Sein",  im  Sinne  letzter  Gegebenheit,  und  Denken  wird  als  „dasselbe" 
angesprochen,  und  diese  neue  einzigartige  Bestimmtheit  des  Seins  wird 
als  Peras  dem  Apeiron  aufgezwungen. 

Es  kann  sehr  wohl  die  Frage  gestellt  werden,  und  um  die  metaphysi-  30 
sehe  Haltung  des  Parmenides  geschichtlich  scharf  zu  erfassen,  muß  sie 
sogar  ausdrücklich  gestellt  werden,  ob  in  dieser  Gleichung  zwischen 
Sein  und  Denken  —  unsere  Begriffe  vorausgesetzt  —  das  erstere  mehr 
dem  zweiten  oder  dieses  jenem  angeglichen  ist,  ob  Parmenides  dem  ge- 
genständlichen Etwas  der  Welt,  ihrem  Wirklichkeitskern,  wie  er  ihn 
objektiv  fühlte  und  dachte,  das  Wesen  des  „Denkens"  gegeben  hat  — 
es  bleibt  hier  im  Ausdruck  bei  ihm  so  vieles  dunkel  —  oder  ob  das  Denken, 
das  voelvx  für  ihn  die  primäre  Gegebenheit  war,  von  der  aus  er  einen 
völlig  neuen  Seinsbegriff  konstituierte.  Diese  Frage  stellen  heißt  eine 
einfache  Entscheidung  für  diese  oder  jene  Antwort  als  unmöglich  be-  40 
greifen.  Vielmehr  ist  der  bestimmende  Zug  des  parmenideischen  Seienden 
jener  Doppelcharakter:  die  naiv-mythische  Vorstellung  der  Beseeltheit 
der  Welt,  und  zwar  des  Weltleibes  (wie  vielleicht  besser  als  Körper 
oder  Materie  gesagt  sei)  wandelt  sich  zu  der  Annahme,  daß  dem  letzten 


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PARMENIDES  VON  ELEA 


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und  umfassenden  Seienden  eine  Affinität  zum  Denken,  zur  Denkbarkeit 
und  Denknotwendigkeit  wesensmäßig  anhaftet. 

Demnach  darf  der  Eleatismus  ebensowenig  als  „Materialismus"  (mit  Burnet)  wie 
umgekehrt  als  „Idealismus"  bezeichnet  werden,  man  müßte  denn  diesen  Begriff  bereits 
auf  einen  dem  Eleatismus  in  seinem  systematischen  Sinn  angenäherten  Realismus 
gründen,  eine  Synthese,  die  auch  in  neuerer  Zeit  wiederholt  versucht  worden  ist.  Denn 
in  der  Tat  ist  der  klassische  Eleatismus  des  Parmenides  die  erste  großartige  Überwin- 
dung des  Gegensatzes  von  Inhalt  und  Form,  von  Objekt  und  Subjekt  —  eine  Über- 
windung, die  freilich  noch  diesseits  derjenigen  Zuspitzung  beider  Gegensatzpaare  liegt, 

10  die  die  geistesgeschichtliche  Grundlage  und  die  stete  Gefahr  der  neueren  Philosophie 
bildet.  Für  Parmenides  war  so  wenig  wie  für  irgendeinen  seiner  Vorgänger  das  Subjektiv- 
Geistige  und  Seelische  bereits  eine  Macht,  die  für  sich  gedacht  und  die  infolgedessen 
erst  dem  Gegenständlichen  gegenübergestellt  werden  mußte,  sondern  „Denken  und  des 
Gedankens  Ziel  ist  dasselbe".  Dies  so  auszusprechen  wie  es  Parmenides  tat,  setzt  freilich 
eine  gewisse  Bewußtheit  voraus,  ein  Verlassen  des  unmittelbar  gegenständlichen 
Denkens,  aber  noch  wird  in  diesem  Übergange  die  Einheit  mit  rücksichtsloser  Denk- 
energie behauptet.  Denken  wird  auf  Wirklichkeit  und  Wirklichkeit  auf  Denken  fest 
gegründet  und  im  Geist,  dem  Nus,  die  letzte  einheitliche,  alles  umspannende  Wirklich- 
keit und  Fülle  begriffen.  So  ist  die  Lehre  des  Parmenides  ein  Wendepunkt,  ein  Übergang, 

20     der  Früheres  und  Späteres  übergreifend  verbindet. 

Die  Starrheit  und  Unbeweglichkeit  dieses  Seienden,  die  „Leerheit44 
dieses  Inbegriffs  des  „Vollen44,  in  der  der  Ganzheitsbegriff  sich  zunächst 
darstellt,  erfordert  die  Erwägung,  wie  der  den  ersten  sichtlich  ergänzende 
zweite,  der  Doxateil  des  Gedichtes,  der  der  bunten  Mannigfaltigkeit  der 
sinnlichen  Wirklichkeit  zugewandt  ist,  eigentlich  gemeint  sei. 

Parmenides  hat  in  der  Rede  seiner  Göttin  (fr.  1,  26 — 32)  beide  Wege  geschildert: 
„Für  dich  ist  es  notwendig  alles  zu  erfahren,  sowohl  der  Wahrheit  wohlgeründetes 
Herz  als  auch  die  Scheinmeinungen  der  Sterblichen,  denen  verläßliche  Wahrheit  nicht 
innewohnt.  Aber  du  wirst  auch  das  erfahren,  wie  der  Schein  verläßlich  werden  sollte, 

30  indem  er  durch  alles  hindurchdrang."  Auch  hier  sind  die  messt  herangezogenen  Vorstel- 
lungen zu  grob  und  dem  synthetischen  Charakter  des  Überganges  nicht  gewachsen. 
Dieser  Übergangscharakter  darf  zunächst  nicht  so  verstanden  werden,  daß  Parmenides 
im  zweiten  Teil  die  Meinungen  der  früheren  Philosophen  doxographisch  als  Ausdruck 
gewöhnlicher  menschlicher  Anschauungen  berichtet  und  diese  fremden  Meinungen  als 
falsch  der  eigenen  richtigen  Meinung  gegenüberstellt.  Ein  quasi  historisches  Interesse, 
den  Wunsch,  frühere  Meinungen  aufzubewahren,  dürfte  man  diesem  Denker  wohl  kaum 
zuschreiben.  Andrerseits  darf  man  nicht  einfach  sagen:  der  erste  Teil  ist  dem  Denken  der 
Gottheit  entsprechend,  der  zweite  ist  die  Form,  in  der  auch  Parmenides  als  sterblicher 
Mensch  in  dieser  zeitlichen  Welt  diese  sehen  mußte,  von  der  ersten  Art  der  Betrach- 

40  tung  als  Mensch  ausgeschlossen.  Es  ist  für  die  metaphysische  Haltung  des  Parmenides 
charakteristisch,  daß  er  seine  neue  Erkenntnis  des  Logisch-Zwingenden,  der  begriff- 
lichen Urdyxq  in  einer  ekstatischen  Form  ausspricht;  die  Hinwendung  zum  geistigen 
Sein  der  Wirklichkeit  ist  als  Austritt  aus  der  sinnlichen  Welt  und  als  Überschreiten  der 
sinnlichen  Erkenntnis  in  die  Form  der  Inspiration,  der  Berufung  durch  eine  Gottheit 
gekleidet.  Zwar  ist  auch  in  der  Art,  in  der  dieses  religiöse  und  wohl  bereits  vor  Parmeni- 
des angewandte  literarische  Motiv  im  Proömium  ausgeführt  wird,  der  oben  bezeichnete 
Peras  charakter  des  in  dieser  Berufung  dem  Denker  sich  erschließenden  Seins  deutlich 
festgehalten:  eine  Umfahrt  der  Welt  auf  den  Pfaden  des  Himmels  entspricht  dem  ge- 
danklich begrifflichen  Umgreifen  des  Weltganzen,  als  das  sich  uns  das  voeTv  des  Parmeni- 

j>0  des  darstellte.  Eine  derartige  ekstatische  Erkenntnishaltung  schließt  notwendig  eine 
Abwertung  der  ihr  gegenüberstehenden  „normalen"  Erkenntnishaltung,  der  natürlichen 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Einstellung  in  sich.  Gegenüber  der  in  göttlicher  Berufung  sich  erschließenden  Erkenntnis 
des  Kinen,  Seienden  sind  die  Meinungen  der  Sterblichen  über  das  Viele  trügerisch;  denn 
sie  beziehen  sich  auf  ewig  wechselnde,  in  Gegensätzen  befindliche  und  damit  vergäng- 
liche  Dinge.  Es  ist  daher  natürlich,  daß  die  Reflexion  über  die  etwa  in  diesem  Wechsel 
wieder  auftretenden  und  erkennbaren  Gesetzmäßigkeiten  zunächst  zurücktritt  gegen- 
über der  klaren  Abhebung  beider  Seinsregionen  und  der  ihnen  zugeordneten  Erkenntnis- 
regionen gegeneinander,  daß  die  Welt  der  mannigfachen  Wirklichkeit  „eingeklammert" 
wird  gegenüber  dem  im  Denken  erfaßten  Sein. 

Dennoch  fehlt  die  Einsicht,  daß  auch  im  Gebiete  der  sinnlichen  Erscheinung  Er- 
kennt nismöglichkeiten  bestehen,  bei  Parmenides  durchaus  nicht,  und  es  ist  wohl  das  10 
größte  Verdienst  Reinhardts,  grade  auf  diesen  bereits  hier  wirksamen  echt  griechischen 
Glauben  an  die  Überbrückbarkeit  der  beiden  Reiche  und  damit  auf  den  Zusammenhang 
der  beiden  Teile  des  Gedichtes  nachdrücklich  hingewiesen  zu  haben,  gegenüber  einer 
vereinfachten  Ausdeutung,  die  auf  der  Seite  der  Doxa  „Trug",  Wahn  oder  gar  Nichtsein 
annahm. 

Wenn  Parmenides  auch  das  von  ihm  neugefundene  Denkprinzip  allen 
früheren  Erklärungen  gegenübergestellt  hat,  so  konnte  und  wollte  er 
sich  doch  nicht  losmachen  von  den  kosmologischen  Erklärungen  der 
früheren,  besonders  der  pythagoreischen  Denker,  und  wir  hatten  schon 
oben  auf  die  allgemeine  Rezeptivität  der  griechischen  Philosophen  als  20 
den  Grund  des  Reichtums  der  Entwicklung  hingewiesen;  auch  der  dem 
Einen  zugewandte  Denker  sucht  die  in  den  früheren  Leistungen  enthal- 
tene Wahrheit  festzuhalten  und  einzubauen.  Dieser  „Einbau"  in  das  Eine 
ist  zunächst  ganz  wortwörtlich  zu  verstehen:  da  das  „Eine"  die  Grenze, 
das  Peras  aller  Wirklichkeit  ist,  ist  diese  in  ihm  „enthalten",  und  das 
„dichte",  „volle"  Sein,  das  in  diesem  „Einen"  eingeschlossen  ist,  ist 
ja  die  äg%7j  auch  alles  dessen,  was  in  diesem  Ganzen  geschieht,  sich  ver- 
ändert, entsteht,  vergeht. 

Damit  kommt  das  zweite  Motiv  zur  Geltung,  das  zur  Uberbrückung 
der  beiden  Reiche  bzw.  der  beiden  Gedichtsteile  anzusetzen  ist:  das  30 
starre,  feste,  allem  zugrunde  liegende  Sein  erhält  seinen  Sinn  erst  durch 
die  Gegenüberstellung  eines  in  ihm,  durch  es  hindurch  sich  Entwickeln- 
den. Man  kann  nach  manchen  Wendungen  des  Gedichtes  wohl  annehmen, 
daß  der  Hauptinhalt  des  zweiten  Teiles  eine  Kosmogonie,  die  Welt- 
entstehung war  (besonders  fr.  10,  5.  6.  fr.  11,  19;  weniger  deutlich  1,  32, 
wo  elpai,  nicht  yCyvea&cu  steht).  Dann  läge  bei  Parmenides  bereits  eine 
Vorform  des  spezifisch  griechischen  Weltschöpfungsgedankens  zugrunde, 
den  wir  später  in  Piatons  Timaios  ausführlicher  behandelt  sehen,  ein 
Schöpfungsgedanke,  in  dem  das  „Im  Werden  Sein"  als  theoretisches 
Problem  durchaus  das  des  eigentlich  zeitlichen  Anstoßes  überwiegt.  Dem  4 
wesensmäßig  im  Werden  Verhaftetsein,  für  das  Parmenides  (fr.  8,  60) 
wie  Piaton  den  Ausdruck  der  „Scheinbaren  Welt"  hat,  des  eoixwc 
didxotifiog,  stellt  er  das  im  „Jetzt"  stehende  Sein  ausdrücklich  gegenüber 
(8,  5).  Nirgends  ist  der  Geistcharakter  des  nie  vergangenen  und  nie 
zukünftigen  und  doch  Vergangenheit  und  Zukunft  in  sich  tragenden 
Seins  stärker  zum  Ausdruck  gebracht  als  hier. 


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P ARM  EN  IDES  VON  ELEA 


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Wir  werden  später  sehen,  wie  Piaton,  auf  den  Eleatismus  zurück- 
greifend, diesen  Zeitbegriff  entfaltet;  der  eleatische  Grundgedanke  ist 
der  dankbarste  Vorwurf  für  eine  Darstellung  des  Formwandels  eines 
philosophischen  Motivs,  das  sich  in  mannigfaltigen  Ausdrucksformen 
identisch  erhält.  Die  Ausdrucksform  des  Gleichnishaften,  das  Sinnbild 
—  ich  erinnere  an  die  Proportion,  den  Logos  bei  den  Pythagoreern  — 
hat  auch  Parmenides  durchaus  noch  nicht  überwunden.  In  welchem 
Sinne  das  Bild  der  Kugel  mehr  ist  als  ein  Gleichnis,  haben  wir  gesehen. 
Die  Verleiblichung  jenes  ursprünglich  abstrakten  Seins  geht  nun  in  dem 
2.  Teile  des  Gedichtes  —  das  hat  Reinhardt  erkannt  —  weiter;  Licht 
und  Finsternis  werden  zum  Ausdruck  des  Seins  und  Nichtseins,  ohne 
etwa  mit  ihnen  gleich  gesetzt  zu  werden:  es  sind  zwei  „Formen",  auf 
die  die  Sterblichen  alles  gebracht  haben. 

Die  Schilderung  der  Verse  fr.  8,  53  ff.  zeigt  den  oben  angedeuteten  Ausgangs- 
punkt der  pythagoreischen  Peras-  und  ^peironlehre  ganz  deutlich:  den  von  „Zeichen'*, 
cr^ara,  geteilten  „begrenzten  *  Nachthimmel. 

Das  Licht  als  Ausdruck  des  entfalteten,  belebten,  erfüllten,  erlebten 
und  gegenständlichen  Raumes  wird  in  der  griechischen  Metaphysik 
bis  Plotin  festgehalten.  Parmenides  erkennt  das  sichtbare  Sinnbild  des 
Seins,  den  gestirnten  Himmel,  als  unzulänglich;  denn  auch  zwischen  den 
leuchtenden  Sternen  ist  der  Weltenratim  nicht  „leer",  sondern  das  gei- 
stige Auge  „sieht"  auch  ihn  erfüllt,  auch  das  für  das  sinnliche  Auge 
dunkle  erhellt  sich  dem  Blick  des  Verstandes,  und  „so  hätten  die  Sterb- 
lichen diese  zweite  Form  des  Dunkels  nicht  benennen",  d.  h.  als  seiend 
auffassen  sollen.  Denn  dies  ist  der  letzte  Grund,  weshalb  Parmenides 
auf  die  symbolische  Darstellung  des  Seienden  durch  Licht  und  Kugel 
geraten  mußte:  er  hatte  als  erster  den  metaphysischen  Zusammenhang 
begriffen,  in  den  die  Sprache  als  Ausdrucksmittel  des  Seienden  gehört: 
Freilich  hatte  er  die  in  der  Sprache  liegende  metaphysische  Paradoxie 
noch  nicht  bewältigt. 

Diese  Paradoxie  liegt  zuerst  in  der  Zufälligkeit  des  einzelnen  Ausdrucks 
gegenüber  der  Notwendigkeit  derjenigen  geistigen  Grundkraft,  aus  der 
jede  wirkliche  Sinngebung  entspringt  und  auf  die  sie  zurückweist.  Par- 
menides sieht  die  Zufälligkeit  der  verschiedenen  dv6(uara,  die  die  Men- 
schen als  Namensstempel  den  einzelnen  Dingen  aufgedrückt  haben, 
sehr  deutlich  im  Gegensatz  zu  der  Notwendigkeit,  die  er  seinem  Begriff 
des  Seienden  durchaus  geben  will.  Aber  ihm  ist  die  metaphysische  Be- 
wegung eines  Geistes,  den  das  Seiende  mit  dem  Sinn,  der  in  ihm  liegt, 
anspricht,  und  der  diesem  Ansprechen  antwortet,  aufgegangen.  Fr.  8, 
36:  Deshalb  muß  alles  bloßer  Name  sein,  was  die  Sterblichen  festgelegt 
haben,  überzeugt,  es  sei  wahr. 

Hier  ist  der  theoretisch  höchste  Punkt  erreicht,  zu  dem  das  meta- 
physische Bewußtsein  damals  fortschritt ;  es  ist  in  der  Tat  nur  ein  Schritt 
bis  zu  dem  Logos  des  Heraklit,  der  „sich  selbst  sucht",  wenn  er  den 


56  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 

Sinn  der  Welt  finden  will.  Zwar  hat  erst  700  Jahre  später  die  griechische 
Philosophie  das  Ich  (rdv  tyth,  Plotin)  als  philosophisches  Prinzip  bezeich- 
ne t  ;  aber  in  der  Leistung  des  Parmenides  konnte  die  gesamte  spätere 
Philosophie  den  Umkreis  und  das  Ganze  der  Metaphysik  durchmessen 
st  lien  und  immer  wieder  in  dieses  in  aller  Paradoxie  reine  und  weite 
Gefäß  den  mannigfaltigsten  Inhalt  ergießen. 

Die  letzten  Ausführungen  haben  die  beiden  Aufgaben,  die  die  Philosophie  des  Par- 
inenides  den  Nachfolgern  überließ,  deutlich  bezeichnet:  Einmal  die  rationale  Bewälti- 
gung des  in  dein  Ganzen  enthaltenen,  ihm  gegenüberstehenden  Einzelnen.  Das  bedeutet 
anders  gewendet  die  Fortführung  der  im  Pythagoreismus  gegebenen  monadologischen 
und  atomistischen  Ansätze  zu  bewußter  Theorie  durch  den  Begriffsapparat  der  eleati- 
schen  Seinslehre.  Deshalb  soll  die  Linie  von  Parmenides'  Nachfolgern  Melissos  —  Zenon 
zu  Leukippos  —  Demokritos  später  im  Zusammenhang  verfolgt  werden. 

5.  HERAKLIT. 

Der  zweite  Punkt,  an  dem  die  eleatische  Philosophie  über  sich  hinaus- 
wies, ist  durch  die  Verbindung  mit  Heraklit  oben  bereits  bezeichnet 
worden;  durch  diesen  Denker  erfährt  die  subjektive  Seite  des  eleatischen 
Seins-  und  Geistbegriffs  eine  wesentliche  Verstärkung  und  damit  der 
Gesamtcharakter  der  bisherigen  Metaphysik  eine  grundlegende  Ver- 
änderung. 

Diese  Veränderung  geht  das  Ganze  des  Gedankenzusammenhanges  an,  nicht  die  20 
einzelnen  Gedankenmotive.  In  ihnen  bestätigt  sich  vielmehr  die  strenge  Kontinuität 
der  Gedanken,  wie  sie  überall  sich  gezeigt  hatte,  und  zwar  in  einem  Maße,  das  die  sichere 
Entscheidung  bestimmter  Beziehungen  des  Heraklit  zu  anderen  Philosophen  sehr 
erschwert.  Polemisch  genannt  wird  fr.  40  Hesiod,  Pythagoras,  Xenophanes,  Hekatäus; 
als  weisester  der  Griechen  wird  Homer  gerühmt.  Immerhin  halte  ich  die  Beziehung  des 
Heraklit  auf  Parmenides  —  nicht  umgekehrt  —  für  gesichert  (Reinhardt  1.  c,  bes.  200  ff.) 
In  Einzelheiten  finden  wir  bei  ihm  wahllose  Benutzung  früherer  Motive,  z.  B.  A  1,  57  : 
9  :  narrt*  nkijorj  #etth>;  die  des  Anaximander  als  Hüterin  kosmischer  Ordnung,  noch 
verstärkt  durch  die  Erinyen  fr.  94:  Denn  die  Sonne  wird  ihre  Maße  nicht  überschreiten; 
sonst  werden  die  Erinyen,  der  Dike  Schergen,  sie  ausfindig  machen,  (rjfoog  yuQ  ov%  30 

l7lEQßrjGf:Tt'.l  [XbTQCC    (I    Ö~S  /LH],  'EoiVVEg  fXIV  JlXTjg  iniXOVQOl,  &-EVQT1GOVGIV.) 

Alles  tritt  zurück  gegenüber  der  Bedeutung  des  parmenideischen 
Eleatismus.  Heraklit  hält  den  Grundgedanken  der  Einheitslehre  durch- 
aus fest  (B  10  am  Schluß:  xal  ix  irärrcov  £p  aal  ivög  ndvia).  Er  greift 
aber  das  damit  neu  gestellte  Problem  der  Vielheit  mit  radikaler  Kraft 
auf:  für  ihn  ist  das  sv  die  Gesamtheit  aller  Dinge;  deren  Existenz  ist 
auch  für  ihn  abgeleitet,  sekundär  gegenüber  dem  Einen,  aber  das  Eine 
ist  ebenso  wesensmäßig  auf  die  ihm  gegenüberstehende  Vielheit  ange- 
wiesen, es  ist  das  Ganze,  das  notwendig  Teile  braucht,  es  ist  die  Einheit 
des  Mannigfaltigen.  Diese  Funktion  der  Einheit  erscheint  bei  Heraklit  40 
zunächst  scheinbar  eingeschränkt,  in  der  Tat  ist  sie  aber  intensiviert  als 
Einheit  desjenigen  Mannigfaltigen,  das  sich  —  scheinbar  —  der  Einheit 
am  stärksten  entzieht,  ihr  wesensmäßig  zu  widerstreben  scheint,  der 
Einheit  des  Gegensätzlichen.  Wenn  Heraklit  die  Einheit  der  Ge- 


D 


HERAKLIT 


57 


gensätze  nachweist,  glaubt  er  die  umfassende  —  eleatische  —  Wahrheit 
mitbewiesen  zu  haben,  daß  „alles  eins"  ist. 

Hier  wirkt  in  Heraklit  sich  einfach  die  alte  (*QX*1  Bedeutung  aus:  alles  ist  das  eine 
Wasser,  Luft  usw.,  die  ja  bei  ihm  in  der  These:  alles  ist  Feuer  unmittelbar  nachklingt, 
und  zweitens  wohl  die  pythagoreische  Gegensatzlehre,  deren  Tafel  Heraklit  einfach 
aufgreift. 

Damit  ist  aber  in  dem  komplexen  Begriff  des  eleatischen  eV  eine 
wichtige  Umlagerung  des  Akzentes  eingetreten.  Das  logische  Motiv,  ge- 
wiß in  der  eleatischen  Deduktion  unverkennbar,  befreit  sich  aus  der 
engen  Verbindung  mit  dem  mathematisch-quantitativen  Anschaulichen. 
Die  logische  Einsicht,  daß  Gegensätze  einander  zugeordnet  sind,  ver- 
bundener sind  als  disparate  Begriffe,  ist  ein  Gesetz  qualitativer  Bedeu- 
tungen. Der  Bedeutungscharakter  des  §V,  die  von  einem  Bewußtsein 
gemeinte  Einheit,  die  als  mit  sich  identisch  in  den  verschiedenen  Fällen 
wiedererkannt,  auf  Mannigfaltiges  angewandt  werden  kann,  treibt  aus 
diesem  gV  notwendig  zwei  Seiten  stärker  hervor,  das  xoivov  als  das  im 
Verschiedenen  Gemeinsame  —  bei  Parmenides  war  koivov  das  Räumlich- 
Anschaulich-Zusammenhängende !  —  und  schließlich  dasjenige,  worin 
der  eleatische  Begriff  des  ev  übergeht,  den  Logos.  Reinhardt  219  betont, 
daß  Logos  „nicht  Weltgesetz  noch  Weltvernunft  noch  überhaupt  gött- 
liches Prinzip"  ist,  sondern  „die  Denknotwendigkeit,  das  logische  Ge- 
setz, die  philosophische  Einstellung",  wie  bei  Parmenides  vom  loyco 
xglvcci  die  Rede  war.  Im  Zuge  der  hier  gegebenen  Entwicklung  wird  der 
richtige  Kern  dieser  zunächst  modernisierenden  These  klar.  Die  subjektive 
Seite  des  Einheitsdenkens  tritt  bei  Heraklit  viel  stärker  hervor  —  ohne 
freilich  die  Beziehung  auf  das  „Kosmische"  zu  verlieren.  Philosophisch 
gesehen  liegt  die  Bedeutung  dieser  Denker  ja  gerade  in  der  zunehmenden 
Erkenntnis,  daß  dem  Denken  eine  objektive  Ordnung  der  Wirklichkeit 
korrespondiert,  daß  die  Frage  des  Subjekts  und  die  Antwort  der  Welt, 
oder  ebenso  richtig :  die  Frage,  die  das  Wesen  der  Wirklichkeit  dem  Den- 
ken aufgibt,  und  die  Antwort,  die  Rede,  der  Logos,  den  das  Denken 
der  Frage  entgegenstellt,  zusammenstimmen. 

Wem  die  Einheit  des  Seins  zum  Einheits denken  geworden,  die  par- 
menideische  Grundsynthese  von  Sein  und  Denken  sich  mit  dem  Heraus- 
treiben des  Einheits  begriff  es  verdichtet  hat,  der  muß  notwendig  die 
Seele  als  Trägerin  dieses  Denkens,  als  philosophisches  Problem  erfassen. 
Heraklit  erkennt  ihren  „tiefen  Sinn",  ßaftvv  Xoyov,  fr.  45.  Er  betont 
dessen  „Unermeßlichkeit";  der  Gedanke  des  Apeiron,  dessen  „TttQara 
man  nicht  finden  kann",  wird  hier  zum  Erlebnis  des  inneren  Sinnes. 
Mit  einem  Schlage  werden  eine  Reihe  von  Problemen  sichtbar,  die  in  den 
früheren  Phasen  des  griechischen  Denkens  latent  geblieben  waren  oder 
wenigstens  in  der  Überlieferung  keine  greifbaren  Spuren  hinterlassen 
haben.  Heraklit  „sucht  sich  selbst",  fr.  101 ;  er  befragt  reflexiv  sein 
eigenes  Dasein.  Der  Stolz  dieses  Philosophen,  der  niemandes  Schüler  ist 


58 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


(fr.  108)  (auch  der  erste  Teil  des  Fragmentes  1  geht  auf  die  vorher- 
gehenden Denker)  —  zeigt  die  Bewußtheit  seines  individuellen  Selbst- 
und  W  eltgefühls  (vgl.  H.  Gomperz,  Festschr.  f.  Schlosser,  Amalthea- 
Verlag,  S.  11). 

Und  so  gerät  er  auf  die  Problematik  der  Seele  in  ihrem  Verhältnis 
zu  andern  Seelen.  „Alle  Menschen  könnten  sich  selbst  erkennen  und  rich- 
tig denken"  (fr.  116),  aber  wenige  tun  es,  deshalb  stehen  neben  diesem 
Spruch,  der  einer  jeden  Seele  den  Logos  als  Möglichkeit  zuerkennt, 
die  bekannten  „aristokratischen"  Zeugnisse  der  Menschenverachtung, 
die  auch  auf  die  philosophischen  Vorgänger  und  Zeitgenossen  übergreift. 
Wenn  Heraklit  sich  selbst  befragt,  so  will  er  gewiß  alles  andere  damit 
sagen,  als  daß  er  seine  idia  tpQÖvqaig  erforschen  wolle,  sondern  in  dieser 
Hinwendung  zum  „tiefen  Logos  der  Seele"  soll  dasjenige,  was  allen 
Seelen  als  denknotwendig  erscheinen  würde,  wenn  sie  sich  darauf  rich- 
teten, der  xoivbc  Xdyoc,  sich  erheben  als  Sinn  des  menschlichen  Daseins 
und  Sinn  des  Seins  der  Welt.  In  dem  Bilde  von  der  gemeinsamen  Welt 
der  Wachenden  und  der  eigenen  Welt  der  Schlafenden  tritt  das,  was 
Heraklit  sich  als  den  Weltgehalt  des  zu  höherer  erkennender  Wachheit 
und  Einsicht  sich  mehrenden  Logos  denkt,  ganz  deutlich  hervor.  Um 
dieses  Bild  voll  zu  verstehen,  muß  man  fr.  75  hinzunehmen,  in  dem  Hera- 
klit die  Schläfer  „Arbeiter  und  Mithelfer  an  dem  im  Kosmos  Geschehen- 
den" nennt.  Wie  dieselbe  Weltordnung  über  den  Schlafenden  und  über 
den  Wachenden  steht  und  deren  Dasein  in  ihr  Sein  aufgenommen  hat, 
ohne  daß  sie  es  wissen,  ohne  daß  für  sie  die  Möglichkeit  besteht  ihr  zu 
widerstreben  und  ihren  Ablauf  zu  stören  —  deshalb  sind  sie  als  Mithelfer 
bezeichnet  — ,  so  steht  über  allen  Wachenden,  ob  sie  es  nun  erkennen 
oder  nicht,  die  allen  gemeinsame  Weltordnung;  der  Unverständige  er- 
kennt sie  nicht,  „tut,  als  ob  er  eine  eigene  Einsicht  hätte"  (fr.  2) ;  er  lockt 
gegen  den  Stachel  Gottes,  durch  dessen  Schlag  alles  zur  Weide  getrieben 
wird  (fr.  11),  und  muß  doch  das  Weltgesetz  vollziehen  wie  der  Schlafende 
oder  wie  der  Weise,  der  den  Sinn  des  Weltgeschehens  weiß  und  das  Gesetz 
nun  wissend  vollzieht. 

Aus  dem  symbolischen  Sinn  dieses  Gleichnisses,  das  den  Weisen  dem 
von  keinen  individuellen  Träumen  isolierten  Schlafenden  als  dessen 
höhere  Entsprechung  zuordnet,  ergibt  sich  auch  eine  Erklärung  für  die 
eigentümliche  Todesmetaphysik  des  Heraklit.  Das  Gleichnis  besagt:  der 
Sinn  des  Lebens  ist  der  Tod  als  der  Übergang  in  die  Einheit  der  Welt 
und  in  einen  Zustand,  in  dem  keine  individuelle  Strebung  mehr  der 
Weltordnung  widerstreben  kann.  Um  die  durchaus  positive  Bedeutung 
dieser  Auffassung  des  „Seins  zum  Tode",  des  Philosophierens  als  Ster- 
bensbereitschaft zu  erfassen,  braucht  man  sich  nur  an  den  platonischen 
Phaidon  zu  erinnern,  und  nicht  zuletzt  an  die  merkwürdige  Stelle  am 
Schlüsse  der  platonischen  Apologie  40  c  d,  die  als  Nachklang  herakli- 
tischer  Gedanken  am  ehesten  verständlich  ist.    Was  soll  es  sonst  be- 


D 


HERAKLIT 


59 


deuten,  daß  —  nach  Sokrates' Ansicht  —  kein  Mensch,  auch  der  Großkönig 
nicht,  ein  höheres  Glück  kenne  als  einen  traumlosen  Schlaf,  und  wenn 
dies  der  Tod  wäre,  so  würde  es  gewiß  das  Törichteste  von  der  Welt  sein, 
den  Tod  zu  fürchten,  in  dem  nun  „die  ganze  Zeit  wäre  wie  eine  Nacht44. 

Heraklit  hat  die  Verknüpfung  von  Tod,  Schlaf  und  wachem  Leben 
auch  im  Fragment  26  so  dargestellt,  daß  der  Tod  dem  wachen  Leben  zwar 
entgegengesetzt  ist,  aber  zugleich  auch  den  Sinn  des  Seins  im  Letzten 
erfüllt.  Man  darf  vermuten,  daß  in  dieser  höchsten  und  letzten  Einheit 
der  Gegensätze  die  Grundthese  des  Heraklit  sich  immer  wieder  mit  leben- 
diger metaphysischer  Gewißheit  erfüllen  müßte,  wenn  sie  nicht  überhaupt 
von  dieser  Paradoxie  des  Seinserlebnisses  ihren  Ausgang  genommen  hat. 

Der  Mensch  zündet  sich  in  der  Nacht  ein  Licht  an,  wann  er  gestorben 
ist  und  doch  lebt.  Er  berührt  den  Toten  im  Schlummer,  wann  sein  Augen- 
licht erloschen;  im  Wachen  berührt  er  den  Schlummernden. 

Obwohl  bei  Heraklit,  dem  Erben  reifer  ionischer  Geistesentwicklung, 
das  Selbstbewußtsein  diesen  hohen  Grad  von  Verinnerlichung  und  meta- 
physischer Tiefe  erlangt  hat,  war  es  doch  für  jene  Zeitepoche  natürlich, 
daß  er  die  volle  Problematik  der  Zeitlichkeit  des  Daseins  philosophisch 
noch  nicht  klar  faßbar  machen  konnte,  sondern  gerade  an  diesen  Stellen 
seiner  Lehre  zu  den  Hilfsmitteln  einer  religiös  dichterischen  Bilder-  und 
Gleichnissprache  seine  Zuflucht  nahm.  Aber  ein  Gedanke,  der  die  ganze 
spätere  Metaphysik  beherrscht,  ist  auch  dem  dunklen  Gleichnis  der  drei- 
fachen Beziehung  zwischen  Schlaf,  wachem  Leben  und  Tod  deutlich 
zu  entnehmen:  die  Erkenntniskraft  des  Menschen  umspannt  zwar  das 
ganze  Sein  der  Welt,  aber  die  Erfüllung  des  Erkennens  mit  der  Welt 
und  ihrem  Gehalt  bedeutet  ein  Zurückdrängen  und  „Abtöten44  der  in- 
dividuellen seelischen  Kräfte,  sofern  sie  nicht  auf  das  „Eine44  und  Ganze 
gerichtet  sind,  ein  Eingehen  der  individuellen  Denkbewegung  in  die  große 
kosmische  Bewegungseinheit  der  Welt,  ein  Nichtwiderstreben  gegenüber 
der  alles  Sein  und  Geschehen  tragenden  göttlichen  Kraft ;  folgerecht  kann 
das  Aufhören  der  seelischen  Einzelexistenz  mit  ihren  unendlichen  Möglich- 
keiten des  Irrens,  also  der  Tod,  das  „Eingehen44  in  die  Kräfte  des  „Einen44, 
als  Erfüllung  grade  des  erkennenden,  denkenden  Lebens  erscheinen. 

Hält  man  sich  diese  metaphysische  Grundhaltung  der  heraklitischen 
Lehre  gegenwärtig,  so  ergibt  sich  sofort  eine  sichere  Entscheidung  der 
die  Forschung  beunruhigenden  Frage,  ob  Heraklit  den  Erkenntniswert 
der  sinnlichen  Anschauung  bestritten  oder  wie  er  ihn  eingeschränkt  habe. 
Da  der  eigentliche  Zweck  der  Erkenntnis  die  Einbeziehung  der  Welt  in 
das  Denken  und  Leben  der  Seele  ist,  so  kann  natürlich  nicht  etwa  die 
abstrakte  Einsicht,  daß  alle  Gegensätze  eins  sind,  der  einzige  Gehalt  des 
Erkennens  überhaupt  sein.  Vielmehr  gehört  zum  Begriff  der  Welt  ihre 
anschauliche  Fülle,  wie  die  Sinne  sie  darbieten,  notwendig  hinzu.  Dieser 
Gedanke  taucht  in  dem  grade  erhaltenen  Fragment  55  deutlich  empor, 
freilich  eingeschränkt  und  näher  bestimmt  durch  Fragment  107:  Schlimme 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Zeugen  sind  Augen  und  Ohren  den  Menschen,  sofern  sie  Barbarenseelen 
haben  (fiowv  oif'ic,  uzot]  fiuv'hjatQ,  radza  tyco  7TQOTif.i£wy  aber  xccxoi  (jb&QTVoeg, 
dp i'f otö  loiair  dfp&aÄfiol  xccl  (ora  ßaoßäQovQ  xpv^äq  £%6vtcov). 

Aber  „wovon  es  ein  Sehen,  Hören,  Lernen  gibt,  das  ziehe  ich  vor". 
Wem  ?  fragt  Reinhardt  Parmenides  S.  213  und  ergänzt:  der  „abstrakten 
Logik  des  Parmenides,  die  die  Sinnenwelt  als  ,falsch'  erwies".  Die 
Richtung  des  Gedankens  wird  ohne  Zweifel  hierdurch  bezeichnet.  Fr.  107 
zeigt,  daß  es  auf  die  richtige  Deutung  der  sinnlichen  Eindrücke  an- 
kommt; der  Logos  muß  mit  ihrem  Zeugnis  etwas  anzufangen  wissen, 
das  heißt,  er  muß  aus  ihnen  die  Bestätigung  für  den  Zusammenfall  der 
Gegensätze  und  für  den  dauernden  Wechsel  entnehmen.  Da  der  Logos 
allgegenwärtig  ist,  so  muß  er  „in  der  Welt"  sein;  in  der  Tat  kann  man 
die  Tendenz  der  heraklitischen  Lehre  als  Versöhnung  der  ala^rjasic  mit 
dem  Logos  bezeichnen  (Reinhardt  213).  Wir  sahen,  daß  auch  von  Par- 
menides der  Bereich  der  Doxa  in  den  des  Logos  im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes  hineingenommen  wurde.  Hier  nun  wird  umgekehrt  der  Logos 
aus  seiner  anschaulichen  Peras-Funktion,  die  sich  im  All-umfassenden 
Seienden  entfaltet,  ausdrücklich  als  Gliederungsprinzip  in  die  bunte 
Mannigfaltigkeit  der  Wirklichkeit  hineingenommen  als  ein  Mittel,  diese 
Weltgliederung  logisch  zu  verstehen  und  für  ihre  Gegensätzlichkeit  eine 
neue  Formel  zu  finden. 

Immer  deutlicher  entfaltet  sich  das  für  den  Weltbegriff  der  grie- 
chischen Metaphysik  typische  Motiv:  ein  Prinzip,  das  scheinbar  von  der 
anschaulichen  Fülle  der  Wirklichkeit  hinwegzuführen  droht,  wird 
gerade  zum  Organ  des  Weltdenkens.  Der  Rhythmus  der  philosophi- 
schen Entwicklung  der  Griechen  wird  uns  immer  wieder  an  die  Grenze 
führen,  an  der  Logos  und  Aisthesis,  Denken  und  Anschauen  sich  ent- 
zweien und  die  „Gigantomachie"  zu  liefern  beginnen.  Aber  sofort  wird 
der  metaphysische  Instinkt  sich  dagegen  wehren  und  den  vollen,  beide 
Gegensätze  umspannenden  Weltbegriff  wieder  herstellen;  das  scheinbar 
entgegenstehende  „Logische"  oder  wie  immer  man  diese  an  sich  nie  ge- 
gebene Region  benennen  mag,  wird  über  kurz  oder  lang  in  seiner  Ange- 
wiesenheit auf  das  Andere,  „Anschauliche"  erkannt ;  je  weiter  die  „Ab- 
straktion" vorgetrieben  wird,  desto  reicher  und  sinnerfüllter  wird  der 
Weltbegriff  sich  wieder  herstellen.  Manchmal  wird  der  Rhythmus  in  dem 
Werkeines  und  desselben  Philosophen  nach  beiden  Richtungen  schwingen, 
öfter  aber  wird  erst  in  verschiedenen  Philosophen  sich  diese  „widerstre- 
bende Harmonie"  herstellen. 

6.    DIE    ENTWICKLUNG    DER    VORSOKRATISCHEN  META- 
PHYSIK BIS  ZUR  SOPHISTIK. 

Die  Darstellung  dieses  Absatzes  muß  sich  ganz  besonders  gegen  den  Anspruch 
verwahren,  als  eine  „Philosophiegeschichte"  betrachtet  zu  werden.  Sie  strebt  mit 
Macht  dem  zweiten  großen  Höhepunkt  der  eigentlichen  griechischen  Metaphysik,  der 


D 


DIE  ENTWICKLUNG  BIS  ZUR  SOPHISTIK 


Gl 


platonischen  Philosophie,  zu.  Wie  im  vorhergehenden  der  Metaphysik  der  Eleaten  alles 
andere  zu-  und  untergeordnet  wurde,  bezweckt  die  nächste  summarische  Darstellung 
lediglich,  die  Metamorphose  des  Eleatismus  im  Piatonismus  aus  den  inzwischen 
erfolgten  geistigen  Umlagerungen  und  Bereicherungen  verständlich  zu  machen. 

Die  Triebfeder  aller  Metaphysik  ist  in  der  eleatischen  Problemstellung, 
alle  späteren  Zeiten  orientierend,  sichtbar  geworden:  Sein  auf  Denken 
und  Denken  auf  Sein  so  eng  wie  möglich  zu  beziehen,  das  Seinsverständ- 
nis, die  Ontologie,  zu  begründen  auf  denkendes  Seiendes  und  seiendes 
Gedachtes.  Damit  ist  nicht  behauptet,  daß  diese  doppelte  Seite  der 
Ontologie  dem  nach  Piaton  Theätet  182  e  „ganz  ehrwürdigen44  Urheber 
dieser  Metaphysik  schon  klar  zu  Bewußtsein  gekommen  wäre.  Aber 
deutlich  ist  mit  jener  Gleichsetzung  von  Sein  und  Denken  der  späteren 
Philosophie  die  Aufgabe  gestellt,  als  seiend  nur  das  anzuerkennen,  was 
sich  dem  Denken  zugänglich  erweist,  was  „rational44  aufgefaßt  werden 
kann.  Die  Gegenüberstellung  von  Heraklit  und  Parmenides  zeigt  nun, 
daß  der  eigentliche  Eleatismus  des  Parmenides  für  das  qualitativ- 
Bestimmte  der  Empfindungen  noch  keine  adäquate  Denkform  gefunden 
hatte,  sondern  für  die  Wahrheit,  die  älfföeia,  sich  an  die  „mathemati- 
sierende  Ideation44  (mit  Jaegers  glücklichem  Terminus  zu  reden,  D.  L.  Z. 
1924,  S.  2053) hielt,  an  die  erfüllte  Räumlichkeit  des  zusammenhängenden 
Seins;  Heraklit  hingegen  sucht  die  „umfallenden44  {jigtclttitcteiv ^  fr.  88) 
Gegensätze  der  sinnlichen  Empfindungsqualitäten  in  einem  Logos,  in 
einer  rationalen  Formel  einzufangen,  wobei  er  diese  Formel  als  allge- 
meinstes Seinsgesetz  auf  alle  Gegensätze  schlechthin,  etwa  auch  auf  die 
von  gut  und  schlecht  übertrug  (fr.  58,  fr.  67)  und  in  dem  empfindlich- 
sten Gegensatz  des  Seins,  dem  von  Leben  und  Tod,  sichtlich  gipfeln  läßt. 
Daß  er  damit  in  eine  Sphäre  vorstieß,  in  der  in  einer  ganz  anderen  wirk- 
lich metaphysischen  Betrachtung  Sein  und  Denken  sich  als  dasselbe  er- 
weist, und  daß  hier  möglicherweise  die  ägxtf  seines  Denkens,  seine  be- 
sondere unvergängliche  Leistung  für  die  metaphysische  Verknüpfung 
von  Sein  und  Dasein  liegt,  deuteten  wir  oben,  S.  59,  an.  Wir  müssen  aber 
die  —  gemessen  an  dieser  Daseinsmetaphysik,  für  die  Gott  das  Substrat 
aller  Gegensätze  wird  (fr.  67)  —  triviale  Frage  wieder  aufnehmen,  welche 
Bedeutung  das  Quantitative  in  dem  rationalen  Denken  des  Heraklit 
hat.  Da  scheint  es  in  der  Tat,  daß  zwar  das  Quantitative  wie  bei  allen 
griechischen  Metaphysikern  als  die  mehr  oder  weniger  vage  Idee  von  der 
quantitativ  unwandelbaren  Weltsubstanz  dem  Wechsel  der  Erschei- 
nungsformen zugrunde  liegt,  sonst  aber  keine  Rolle  spielt  und  jedenfalls 
für  die  Erklärung  des  Werdens  der  Gegensätze  in  keiner  Weise  herange- 
zogen wird. 

Wir  müssen  diesen  Punkt  genau  beachten,  wenn  wir  das  bereits  oben 
S.  56  entwickelte  pluralistische  Problem  verstehen  wollen.  Wir  wissen 
ja,  daß  im  Pythagoreismus  das  Quantitative  im  Sinne  des  Vielen,  der 
bestimmten  Menge,  in  eine  klare  Beziehung  gesetzt  war  zu  den  sinn- 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


lieh  wahrnehmbaren  Gegensätzen  des  hohen  und  tiefen  Tones,  des 
Schönen  und  Häßlichen,  und  wie  alle  die  Gegensätze  heißen,  die  in  den 
Gegensatztafeln  der  Pythagoreer  und  in  der  Gegensatzlehre  des  Heraklit 
auf  treten.  Und  nun  sehen  wir  zu  unserer  Überraschung,  daß  Zenon  auch 
auf  den  quantitativen  Gegensatz  des  Großen  und  Kleinen  die  heraklitische 
Formel  von  dem  Zusammenfall  der  Gegensätze  anwendet  und  aus  diesem 
Sachverhalt  seine  Schlüsse  zieht. 

Zenon  fr.  1,  Diels:  Z.  zeigt  zuerst,  daß  wenn  das  Seiende  keine  Größe  besitze, 
es  auch  nicht  vorhanden  sei.  Dann  fährt  er  fort:  Ist  es  aber  vorhanden,  so  muß  ein 
jeder  seiner  einzelnen  Teile  eine  gewisse  Größe  und  Dicke  und  Abstand  vom  anderen  10 
haben.  Und  dasselbe  läßt  sich  von  dem  vor  jenem  liegenden  Teile  behaupten.  Auch  dieser 
wird  natürlich  Größe  haben,  und  es  wird  ein  anderer  vor  ihm  liegen.  Das  gleiche  gilt 
also  ein  für  allemal.  Denn  kein  derartiger  Teil  desselben  (des  Ganzen)  wird  die  äußerste 
Grenze  bilden,  und  nie  wird  der  eine  ohne  Beziehung  zum  andern  sein.  Wenn  es  also 
viele  Dinge  gibt,  so  müssen  sie  notwendig  zugleich  klein  und  groß  sein:  klein  bis  zur 
Nichtigkeit,  groß  bis  zur  Unendlichkeit. 

Ei  utj  fyot,  [xeye&og  to  ov3  ovd3  av  ety.  et  de  I'gtiv,  dvdyxt]  exaawv  [xeye&og  rt  e/eir 
xal  nd/og  xal  dne/eiv  avrov  rd  ereQov  dnu  rov  iregov.  xal  negl  rov  nqov%ovrog  6  avrog 
koyog.  xal  yaQ  exe~vo  jueyexlog  xal  nQoe^ei  avrov  rt.  ofxoiov  dt]  rovro  ana'%  re  eineTv 
xal  del  keyeiv  •  ovdsv  yaQ  avrov  roiovrov  eo^arov  eorai  ovre  ereQov  nQog  ereQov  ovx  £o~rai.  20 
ovTwg  (i  nokkd  ionv,  dvdyxrj  avrd  juixgd  ts  zlvat,  xal  /nsydka  •  fxix.Qa  pev  wgts  futj  fyeiv 
fiäye&og,  /ueydka  di  wäre  dnsiga  elrai. 

Fr.  3:  Wenn  es  Vieles  gibt,  so  muß  es  notwendig  gerade  so  viel  Dinge  geben,  als 
wirklich  vorhanden  sind,  nicht  mehr,  nicht  minder.  Gibt  es  aber  so  viel  Dinge,  als  es 
eben  gibt,  so  sind  sie  (der  Zahl  nach)  begrenzt.  —  Wenn  es  Vieles  gibt,  so  ist  das  Seiende 
(der  Zahl  nach)  unbegrenzt.  Denn  zwischen  den  einzelnen  Dingen  liegen  stets  andere 
und  zwischen  jenen  wieder  andere.  Und  somit  ist  das  Seiende  unbegrenzt. 

fl  nokkd  Igjiv,  dvdyxt]  roaavTa  slvai  oaa  sotI  xal  ovts  nksiova  avrwv  ovre  ekdiTOva. 
€i  de  Toaavrd  ianv  oaa  ecri,  neneQaofxeva  dv  etij.  —      nokkd  iariv,  dneiQa  rd  övra  Igtiv- 
del  yaQ  erepa  [ieTa't;v  twv  ovtojv  Ioti,  xal  ndkiv  ixeivior  ereQa  [xera'^v.  xal  ovrwg  dneiga  30 
rd  bvra  eaiC. 

Man  könnte  dies  einfach  als  Kommentar  zu  den  Zeilen  des  Parmenides,  fr.  8,  22 ff., 
auffassen  (vgl.  oben,  S.  48):  aus  der  Gleichheit  =  Homogeneität  und  der  Dichtigkeit  des 
Seins  wird  die  Unmöglichkeit  —  nicht  der  Teilung,  sondern  einer  Teilbarkeit  in  end- 
lichen Schritten  aufgewiesen.  Damit  fallen  nicht  nur  die  Gegensätze  von  Groß  und 
Klein,  sondern  auch  die  pythagoreischen  Grundgegensätze  von  Peras  und  Apeiron  als 
Prädikate  bestimmter  Gegenstände  zusammen.  Allerdings  nur  bei  der  Voraussetzung 
der  Dichtigkeit  des  Seins;  das  Leere  ist  demnach  das  Problem,  das  weitertreibt,  denn 
mit  dem  Leeren  hängt  sichtlich  auch  die  Bewegung  zusammen.  Beides,  Leeres  und  Be- 
wegung, wird  von  Zenon  geleugnet,  d.  h.  in  rationalen  Beweisgängen  als  zu  Wider-  40 
Sprüchen  führend  erwiesen. 

Wichtig  ist  in  dem  oben  skizzierten  Zusammenhange,  daß  Zenon  auch 
die  akustischen  Phänomene  in  seine  die  quantitative  Gliederung  der 
Wirklichkeit  leugnende  Betrachtung  einbezogen  hat.  Zenon  stellt  das 
Verhältnis  auf  zwischen  dem  Scheffel  Hirse  und  dem  Korn  bzw.  sogar 
dem  Tausendstel  des  Kornes  zum  ganzen  Scheffel.  Von  einem  analogen 
Verhältnis  der  Geräusche,  die  diese  drei  Körper  ergeben,  ist  keine  Rede; 
das  fallende  Korn  schon  ist  unhörbar.  Das  akustische  Problem  der 
Pythagoreer,  die  Entstehung  des  Tones  aus  einer  Komposition  einzelner  50 


D 


DIE  ENTWICKLUNG  BIS  ZUR  SOPHISTIK 


63 


Stöße  (nlriyai),  beschäftigt  noch  die  Akademie  (Xenokrates,  fr.  9, 
Heinze).  Bei  Zenon  liegt  zunächst  einfach  ein  Einwand  gegen  die  Be- 
ziehung sinnlicher  Eindrücke  auf  quantitative  Elemente  vor,  also  gegen 
das  Prinzip  pythagoreischer  Welterklärung.  Schon  aus  diesen  Beispielen 
geht  die  polemisch-dialektische  Absicht  der  zenonischen  Lehre  hervor. 
Ihre  allgemein  angenommene  Deutung  hat  Piaton  zuerst  im  Parmenides 
ausgesprochen  (128  d):  Zenon  will  allen  denen,  die  die  Einheitslehre  des 
Parmenides  als  paradox  empfanden  und  die  „Vielheit"  als  ein  völlig 
gleichwertiges  Prinzip  auffaßten,  zeigen,  in  welche  Widersprüche  sich 
die  pluralistischen  Theorien  verwickeln.  Hierbei  bleibt  aber  die  meta- 
physische Position  des  Zenon  noch  unbestimmt.  In  welchem  Sinne  hat 
er  die  Vielheit  „geleugnet"  ?  Hat  er  die  Sinnenwelt  verachtet  ?  Hat 
er  eine  mystische  Kontemplation  des  AU-Einen  als  Versenkung  in  die 
innerlich  erlebte  Einheit  des  Ich  —  diesen  äußersten  Zusammenfall  des 
denkenden  und  des  gedachten  Seienden  —  durch  seine  scharfsinnige  Argu- 
mentation befördern  wollen  ?  Diese  Möglichkeiten  heben  sich  selbst  auf, 
wenn  man  sie  sich  deutlich  genug  vorstellt.  Vielmehr  gehört  Zenon  bereits 
ebenso  in  die  Geschichte  der  inzwischen  immer  selbständiger  gewordenen 
mathematischen  Logik  wie  in  die  der  Metaphysik.  Tatsächlich  hat  die 
Fragestellung  des  Zenon  die  mathematische  Diskussion  in  Atem  gehalten 
mindestens  bis  zur  Tätigkeit  des  Eudoxos  in  der  platonischen  Akademie. 
Ob  dies  ursprünglich  Zenons  Hauptabsicht  war,  Paradoxien  des  Unend- 
lichen aufzustellen  und  zu  ihrer  Lösung  durch  die  Aporien  beizutragen, 
kann  zweifelhaft  sein;  sicher  ist,  daß  der  metaphysische  Gefühlsimpuls, 
den  Parmenides  aus  der  pythagoreischen  Problematik  empfangen,  aufs 
höchste  gesteigert  und  doch  in  unmittelbarer  Nähe  der  logisch-erkennt- 
nistheoretischen Fragestellung  zu  halten  gewußt  hatte,  sich  nun  ent- 
spannt und  ernüchtert.  Es  ist  übertrieben,  wenn  Prantl  (Gesch.  der 
Logik  9)  hier  bereits  den  rabulistischen  Zug  des  griechischen  Geistes 
wirksam  sieht ;  denn  das  Interesse  Zenons  an  schwierigen  Denkaufgaben, 
deren  Lösung  dem  pluralistischen  Gegner  zugeschoben  wird,  ist  immer 
noch  ein  echtes  logisches  Interesse  an  dem  Wesen  der  Vernunft,  an  der 
Frage,  wie  die  sich  entbindenden  logischen  Kräfte  zum  Wirklich- 
Seienden  stehen.  Noch  ist  alles  andere  eher  beabsichtigt,  als  die  Vernunft 
selbst  durch  diese  Dialektik  zu  diskreditieren;  wenn  diese  Absicht  ein- 
tritt, stehen  wir  an  der  Schwelle  der  Sophistik.  Es  ist  wichtig,  sich  klar 
zu  machen,  daß  nicht  eine  neue  sachliche  Problematik,  sondern  ein  ver- 
ändertes metaphysisches  Ethos  die  Grenze  bezeichnet,  und  daß  die  sach- 
liche Problematik  der  Sophisten  gerade  aus  dem  Gebiete  sich  speist,  in 
dem  die  logischen  Errungenschaften  des  Heraklit  und  des  Parmenides 
sich  durchkreuzen,  aus  der  zenonischen  Dialektik. 

Wir  werden  die  mathematischen  Sachverhalte  näher  kennen  lernen 
müssen,  wenn  wir  beim  späten  Piaton  noch  einmal  der  metaphysischen 
Neubelebung  aller  dieser  jetzt  bereits  dem  Verfall  sich  zuneigenden 


64 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Motive  begegnen  werden.  Dies  gilt  auch  von  dem  Motiv  der  Zeit,  das 
von  Zenon  in  seinen  Beweisen  gegen  die  Bewegung  in  seiner  ganzen 
Schwierigkeit  von  einer  neuen  Seite  beleuchtet  wird.  Wir  haben  das  Zeit- 
problem bisher  in  dem  „mythischen"  Bewußtsein  von  der  Zeitlichkeit 
und  Vergänglichkeit  des  Daseins  angetroffen  und  in  ihm  den  Trieb  zu 
einer  ..Bewahrung",  crwrtjQi'a,  des  Jetzigen  als  für  die  griechische  An- 
schauung charakteristisch  hervorgehoben.  Oft  ist  das  mythische  Be- 
wußtsein, dem  dichterischen  vergleichbar,  reicher  und  zugleich  einfacher, 
faßlicher,  weil  es  der  Wirklichkeit  —  dies  Wort  in  vollem,  alle  erkenn- 
baren Sachverhalte  umfassendem  Sinne  genommen  —  innerlich  näher 
bleibt  als  das  theoretische  Philosophieren,  das  seiner  Aufgabe  nie  voll 
gewachsen  ist,  gewaltsam  Züge  der  Wirklichkeit  nicht  mit  einbezieht 
oder  ausscheidet.  Aber  ein  archaisches  Philosophieren  wie  das  der  Vor- 
sokratiker  öffnet  sich  immer  wieder  der  Wirklichkeit,  oft  auf  Kosten 
der  Einheitlichkeit  des  gedanklichen  Gerüstes  der  Lehre,  oft  —  schein- 
bar oder  wirklich  —  in  der  Form  der  Synthese  früherer,  für  sich  ge- 
nommen einseitiger  Lehren.  Diese  zusammenfassende  Verschmelzung 
des  Eigenen  und  Fremden  entspringt  einer  Haltung,  die  auf  anderen 
Gebieten  antiken  Lebens  —  Literatur,  Kunst  —  längst  erkannt  ist  und 
auch  beim  Verstehen  der  philosophischen  Entwicklung  immer  wieder 
hervorgehoben  zu  werden  verdient.  Dies  alles  ist  auch  bei  der  Erör- 
terung der  mit  dem  Zeitproblem  zusammenhängenden  metaphysischen 
Fragen  festzuhalten. 

Die  Einsicht,  daß  Denken  und  Sein,  weiter  daß  Denken  und  Zeit, 
damit  Sein  und  Zeit  in  einem  freilich  schwer  zu  analysierenden  Zusammen- 
hange stehen,  daß  die  Ganzheit  des  %i>  nur  deshalb  im  Denken  er- 
faßt werden  kann,  weil  im  Denken  ein  „Jetzt"  zugleich  mit  der  ganzen 
Erstreckung  der  Zeit  verkoppelt  ist,  erscheint  überraschend  für  einen 
Augenblick  bei  Parmenides  an  einer  Stelle,  die  wir  gleich  besprechen 
werden.  Sobald  die  Zeit  als  Problem  auch  nur  von  ferne  gesehen  wird, 
tritt  zunächst  eine  Art  Abhärtung  gegen  logische  Paradoxien  auf;  denn 
der  Widerspruch  zwischen  der  Einschnitthaftigkeit  des  Jetzt  und  seinem 
„Streckenwert",  seine  Erfülltheit  mit  Vorher  und  Nachher  drängen  sich 
sofort  quälend  auf.  Denn  die  Zeit  ist  nun  einmal  die  Form  des  inneren 
Sinnes,  und  an  keiner  Stelle  rückt  die  Paradoxie  dem  eigenen  Selbst 
näher,  trifft  sie  es  härter  als  in  der  instinktiv  immer  als  metaphysisch 
fundamental  empfundenen  Zeitfrage.  Entweder  wird,  wie  wir  bei  Hera- 
klit  sahen,  die  Zeitlichkeit,  das  Wissen  um  die  Vergänglichkeit  des  eige- 
nen Daseins  zur  allumfassenden  paradoxen  Theorie  vom  Zusammenfallen 
der  Gegensätze  ausgebildet,  die  Koexistenz  und  Koinzidenz  unklar  ver- 
mengt. 

Heraklits  AionbegTÜi  (stehende,  ruhende  Zeit?)  ist  aus  dem  dunklen  Fragment  52 
nicht  zulänglich  zu  erschließen;  sachliche  und  historische  Vermutungen  liegen  allzu 
nahe;  es  lohnt  sich  nicht,  sie  im  einzelnen  zu  betrachten. 


D 


DIE  ENTWICKLUNG  BIS  ZUR  SOPHISTIK 


65 


Oder  es  wird  der  Ausweg  in  der  Richtung  der  Zeitlosigkeit  über- 
haupt gesucht;  man  will  diesem  unheimlichen  Etwas  dadurch  entrinnen, 
daß  man  der  Zeit  das  Sein  zu  entwinden  sucht.  Aus  dem  Bewahrungs- 
(tfwr//£//'«)Motiv  wird  das  der  Vergegenwärtigung4',  die  Vergangenheit 
und  Zukunft  einfach  abzuschneiden  sucht,  die  das  Jetzt  und  die  Bewe- 
gung der  Zeit  in  schärfsten  Gegensatz  bringt  und  die  Bewegung  als  dem 
seienden  Jetzt  widersprechend  dem  Scheine  überantwortet. 

Parmenides  fr.  8,  3 ff. :   oidt  nor'  tjv  ovd"  eorai,  intl  vvv  i'cnv  ojuov  nav, 
evy  avv£%sg. 

10  ...  es  war  nie  und  wird  nicht  sein,  weil  es  j  etzt  zugleich  ist  als  Ganzes  =  Einheit- 

liches, Zusammenhängendes. —  Vergangenheit  und  Zukunft,  also  die  zeitliche  Bewegung 
gerät  unter  die  widerspruchsvollen  Prädikate  des  Seins.  Auch  hier  bestätigt  Zenon  die 
allgemeine  Theorie  des  Lehrers  durch  eine  polemische  Behandlung  der  einzelnen  wirk- 
lichen Bewegung;  wer  sich  auf  deren  Tatsächlichkeit  beruft,  soll  erst  ihre  „Möglich- 
keit" beweisen,  d.  h.  sie  widerspruchslos  erklären.  Zenon  analysiert  den  einzelnen 
Bewegungsvorgang  in  der  Natur;  der  begrenzte  Zeitabschnitt,  in  dem  er  verläuft,  und 
die  räumliche  Erstreckung  werden  eingeteilt,  um  nachzuweisen,  daß  die  Fortführung 
der  Teilung  ins  Unendliche  einerseits  gefordert,  andierseits  unmöglich  ist.  Dies  ist  eine 
wesentliche  Vorarbeit  innerhalb  der  eleatischen  Schule  für  die  kommende  Atomistik. 

20  In  dieser  Negativität  konnte  die  eleatische  These  nicht  stehen  bleiben. 
Wir  werden  sehen,  daß  Zug  um  Zug  diese  negative  Strenge  sich  auf 
der  ganzen  Linie  lockert  und  schließlich  etwas  ganz  Verändertes  heraus- 
kommt. 

Es  ist  wichtig,  daß  bei  Zenons  Nachfolger  Melissos  diese  Entwick- 
lung gerade  am  Zeitproblem  einsetzt,  aber  sofort  von  diesem  Punkte  aus 
weitere  Kreise  zieht. 

Er  beginnt  nach  Simplicius  (fr.  1  Diels)  seine  Schrift  so :  „Immerdar  war,  was  da 
war,  und  immerdar  wird  es  sein;  denn  wäre  es  entstanden,  so  müßte  es  notwendiger- 
weise vor  dem  Entstehen  nichts  sein.  Wenn  es  nun  also  nichts  war,  so  könnte  unter 

30  keiner  Bedingung  etwas  aus  nichts  entstehen*4.  Man  vergleiche  den  Gedanken  des  Par- 
menides: aus  dem  „Jetzt",  das  Vergangenheit  und  Zukunft  ausschloß,  ist  nun  die 
„Ewigkeit"  geworden,  die  lediglich  den  Anfang  und  das  Ende  des  Seins  ausschließt. 
Der  tiefsinnig  vorausgeahnte  Zusammenhang  von  Denken  und  Zeit  im  Sinne  des 
präsentiellen  Jetzt  scheint  aufgegeben,  verloren.  Tatsächlich  aber  stellt  sich  in  des 
Melissos  Auffassung  der  eigentliche  Zeitcharakter  erst  wieder  her,  der  auch  das  Jetzt, 
das  vvv  in  seiner  präsentiellen  Bedeutung  erst  möglich  macht.  Parmenides  hatte  ein 
von  der  Anschauung  freies  Denken  erzwingen  wollen  und  hatte  in  seiner  archaischen 
Kühnheit  ganz  folgerichtig  die  Anschauung  aus  seinem  „Seienden"  herauszupressen 
gesucht.  So  gewiß  seine  Absicht  auf  den  Ausschluß  jeder  Anschauung  ging,  so  hatte 

40  er  gemäß  der  Gegenständlichkeit  seines  echt  griechischen  Denkens  sich  zunächst  der 
Anschauung  des  inneren  Sinnes  zu  entledigen  versucht;  die  Zeit  als  verlaufendes  Etwas 
wurde  auf  die  Seite  des  Scheines,  der  Doxa,  gedrängt,  als  der  Denkweise  des  end- 
lichen menschlichen  „sterblichen"  Daseins  zugehörig.  Dieser  Denkweise  hatte  er  als 
etwas  ganz  andere  s  seinen  Seinsbegriff  entgegengestellt.  Wir  sahen  aber,  wie  er  zur  Be- 
schreibung, zum  Ausdruck  des  eigentlichen  Seienden  nicht  nur  dauernd  negativ  ab- 
hebend auf  die  „Welt"  der  Doxa,  den  Kosmos,  zurückgreifen,  sondern  sogar  eine  dem 
eigentlichen  Sein  eigentümliche  räumliche  Form  notgedrungen  zulassen  mußte;  d.  h. 
als  letzte  und  einzige  Vorstellungs-  und  Denkmöglichkeit  erschien  ihm  die  Kugel,  ein 
Gleichnis,  Bild,  „Schema"  und  („Gestalt")  der  Ganzheit  und  Einheit.  Deren 

ILndb.  d.  Phil.  I.    D  5 


66 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Denknotwendigkeit  drückt  er  absichtlich  negativ  aus:  warum  sollte  das  Sein  irgendeine 
l  aebenheit,  eine  Ungleichheit,  eine  Dimensionsverschiedenheit  haben?  (fr.  8,43  ff.). 
Indem  er  dem  Anschaulichen,  dem  Reiche  der  Doxa,  ein  im  Denken  begründetes 
Perus  gab.  verfiel  er  der  Endlichkeit  aller  Anschauung  gerade  dort,  wo  er  sie  am  stärk- 
sten EU  überwinden  glaubte.  Melissos  gibt  nun  dem  Raum  das,  was  des  Raumes  ist, 
genau  so  zurück,  wie  er  die  Zeit  in  ihrem  spezifischen  Charakter  wieder  herzustellen 
begann.  Wie  er  das  Jetzt,  das  t'ir,  in  die  verlaufende  Zeit  sich  entfalten  läßt,  so  sucht 
er  eine  sachgemäßere  Vereinigung  auch  von  räumlicher  Anschauung  und  Denken,  gibt 
aber  damit  unbedenklich  die  in  ihrer  Kühnheit  tiefsinnigste  Vorstellung  des  Parmenides 
preis:  für  Melissos  ist  eine  Kugel  eo  ipso  ein  endlicher,  vom  unendlichen  „Leeren4'  be-  10 
grenzter  Körper,  und  durch  diese  einfache  Argumentation  wird  die  kühne  Paradoxie 
des  Parmenides,  Anschauung  und  Denken  sich  gegenseitig  begrenzen  und  aufheben  zu 
lassen,  beseitigt,  damit  freilich  auch  die  im  Anschauungscharakter  begründete  Unend- 
lichkeit des  Raumes  wiederhergestellt:  nach  Zeit  und  Raum  unendlich  breitet  und  weitet 
sich  das  Seiende  (fr.  3;  dazu  Burnet,  S.  292),  end-  und  anfangslos  (fr.  4)  —  wie  das 
ipeiron  des  Anaximander. 

Dies  ist  ein  erster  Punkt,  an  dem  sich  die  Entwicklung  als  ein  Hineinnehmen 
früherer  Lehren  darstellt.  Vom  Standpunkt  der  eleatischen  Philosophie  aus  gesehen  ist 
des  Melissos  Lehre  ein  erster  Ausgleich  der  beiden  Reiche  des  Denkens  und  Anschauens, 
des  Seins  und  Werdens:  mit  der  räumlichen  Unendlichkeit  ist  die  „Zeitlichkeit"  im  20 
Sinne  der  zeitlichen  Dauer  in  das  Sein  hineingenommen  worden.  Aber  die  eleatische 
Grundrichtung  auch  dieses  Denkens  bleibt  noch  so  stark,  daß  Melissos  die  nun  mit  dem 
Sein  verknüpften  Anschauungsformen  des  Raumes  und  der  Zeit  charakteristischen 
Sicherungs-  und  Reinigungsmaßnahmen  unterwirft,  um  die  Reinheit  des  Seins  zu  be- 
wahren. Sofort  nämlich  wendet,  was  die  Zeit  anbetrifft,  der  Denker  sich  gegen  die 
auch  ihm  als  Einwand  naheliegende  Vorstellung,  das  Sein  könnte  in  seiner  Zeitlichkeit 
„verfallen",  könnte  „krank  werden",  Schmerzen  und  Unruhe  erfahren.  Wir  kennen  diese 
Motive  von  der  mythischen  Periode  her,  und  wir  begegnen  hier  der  ausdrücklichen  Ab- 
wehr dieser  Gedanken.  Da  das  Seiende  anfangs-  und  endlos  ist,  kann  es  sich  nicht  „ver- 
ändern", aber  diese  bekannte  eleatische  Grundthese  erfährt  hier  die  merkwürdige  Aus-  30 
führung  (fr.  7,  §  1—6): 

So  ist  es  denn  ewig  und  unendlich  und  eins  und  vollständig  gleichmäßig.  Und 
es  könnte  nicht  irgend  einmal  untergehen  oder  sich  vergrößern  oder  umgestalten,  noch 
empfindet  es  Schmerz  oder  Leid.  Denn  empfände  es  dergleichen,  so  wäre  es  nicht  mehr 
eines.  Wird  es  nämlich  anders,  so  muß  notwendigerweise  das,  was  ist,  nicht  mehr  gleich- 
mäßig vorhanden  sein,  sondern  es  muß  das,  was  vorher  vorhanden  war,  untergehen 
und  das,  was  nicht  vorhanden  war,  entstehen.  Wenn  es  nun  also  in  zehntausend  Jahren 
auch  nur  um  ein  Haar  anders  würde,  so  muß  es  in  der  Ewigkeit  vollständig  zugrunde 
gehen.  Aber  auch  eine  Umgestaltung  ist  unmöglich.  Denn  die  frühere  Gestaltung  geht 
nicht  unter  und  die  nicht  vorhandene  entsteht  nicht.  Da  aber  nichts  dazukommt  40 
und  nichts  verloren  geht  oder  anders  wird,  wie  sollte  es  nach  der  Umgestaltung  noch  zu 
dem  Seienden  zählen?  Denn  würde  etwas  anders,  so  wäre  es  ja  bereits  umgestaltet; 
auch  empfindet  es  keinen  Schmerz.  Denn  es  könnte  nicht  vollständig  im  Sein  aufgehen, 
wenn  es  ihn  empfände;  denn  ein  Schmerz  empfindendes  Ding  könnte  nicht  ewig  sein 
und  besitzt  auch  nicht  dieselbe  Kraft  wie  ein  gesundes.  Auch  wär*  es  nicht  gleichmäßig 
vorhanden,  wenn  es  Schmerz  empfände.  Denn  es  empfände  ihn  doch  über  Zu-  und 
Abgang  irgendeines  Dinges,  und  es  wäre  so  nicht  mehr  gleichmäßig  vorhanden.  Auch 
könnte  das  Gesunde  nicht  wohl  Schmerz  empfinden.  Denn  dann  ginge  ja  das  Gesunde 
und  das  Vorhandene  zugrunde,  und  das  Nichtvorhandene  entstünde.  Und  für  die  Leid- 
empfindung gilt  der  Beweis  ebenso.  50 

So  schützt  die  Theorie  des  Melissos  das  von  ihm  eigentlich  erst  zeit- 
lich gemachte  Sein  vor  allen  Wirkungen  der  Zeitlichkeit,  die  seinen 
Bestand  verletzen  könnten;   wir  werden  sehen,   wie  stark  diese  Ge- 


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DIE  ENTWICKLUNG  BIS  ZUR  SOPHISTIK 


67 


dankengänge  weiterwirken  werden.  Melissos  muß  nun  auch  den  von  ihm 
in  seiner  eigentlichen  Anschauungsnatur  hergestellten  Raum  mit  den 
eleatischen  Grundforderungen  in  Übereinstimmung  setzen.  Er  tut  dies, 
indem  er  ausdrücklich  die  Unkörperlichkeit  des  im  unendlichen  Räume 
sich  breitenden  Seienden  unterstreicht  (fr.  9). 

Wenn  es  also  überhaupt  vorhanden  ist,  so  muß  es  eins  sein.  Ist  es  aber  eines,  so  darf 
es  keinen  Körper  besitzen.  Besäße  es  Dicke,  so  besäße  es  auch  Teile  und  wäre  dann 
nicht  mehr  eines. 

Melissos  gibt  damit  den  Grund  an,  der  ihn  zur  Aufhebung  der  Kugel 
10  als  Seins- Peras  getrieben  hatte.  Diese  Grenze  machte  ihm  das  Seiende 
zum  Körper,  sie  muß  fallen,  damit  die  reine  Räumlichkeit  erst  mög- 
lich und  zugleich  die  Denkhaftigkeit,  die  Unanschaulichkeit  des  Seienden 
im  geometrisch-plastischen  Sinne  neu  begründet  werde.  Stark  unterstreicht 
er  noch  einmal  die  diesem  Seienden  trotz  seiner  Grenzenlosigkeit  an- 
haftende Dichte  in  neuen  Beweisgängen  gegen  das  Leere,  gegen  die 
Möglichkeit  des  Vielen,  der  noXXd.  Das  Motiv  der  Zeitlichkeit  war  von 
Melissos,  wie  wir  sahen,  in  Verbindung  gesetzt  worden  mit  dem  der 
qualitativen,  ja  der  organisch  -  psychischen  Veränderung.  Der  Be- 
stand des  Seienden  mußte  gegen  jede  Möglichkeit  qualitativer,  natürlich 
20  auch  quantitativer  Veränderung  geschützt  werden.  Während  bei  Zenon 
noch  die  Abwehr  der  quantitativen  Mannigfaltigkeit  im  Vordergrunde 
stand,  rückt  nun  für  Melissos  und  noch  mehr  für  die  folgenden  Philo- 
sophen das  Qualitative  vor.  Die  beobachteten  Übergänge  von  Hart  zu 
Weich,  Kalt  zu  Warm,  Lebendigem  zu  Totem  können  im  Bereich  des 
eigentlichen  Seins  keinen  Raum  beanspruchen.  Gäbe  es  viele  ewige 
Dinge,  wie  man  sagt,  die  bestimmte  Gestalten  und  Festigkeit  hätten, 
so  müßten  sie  genau  dieselben  Eigenschaften  wie  das  Eine  besitzen. 

(Fr.  8,  §  4  und  6):  ov  loivvv  ravrcc  dkktjkoig  ouokoyet.  (pa^ivoig  yaQ  elvai  nokkd  xccl 
dtdia  xccl  eidrj  re  xccl  io%vv  I'/ovtcc,  ndvTcc  ixegoiobod-cci  rj^uv  doxel  xal  ueiccnimeiv  ix  tov 
30     £xdßTOT€  oQw/ntvov.  .  .  .  rjv  de  /xerccneaqi,  to  per  eov  dnwkeTO,  to  de  ovx  iot>  yeyovev.  oincag 
ovv  ei  nokkd  eirj,  toiccvtcc  %qt]  elvcci  oiöv  ne$  to  ev. 

„Das  stimmt  also  nicht  miteinander.  Denn  obgleich  man  behauptet,  es  gäbe  viele 
ewige  Dinge,  die  bestimmte  Gestalten  und  Festigkeit  besäßen,  lehrt  uns  der  Augen- 
schein auf  Grund  der  einzelnen  Wahrnehmung,  daß  alles  sich  ändert  und  umschlägt  .  .  . 
Schlägt  aber  etwas  um,  so  geht  das  Vorhandene  zugrunde  und  das  Nichtvorhandene 
ist  entstanden.  So  ergibt  sich  also:  gäb'  es  eine  Vielheit  von  Dingen,  so  müßten  sie 
genau  dieselben  Eigenschaften  besitzen  wie  das  Eins.44 

Ob  die  Fassung  der  letzten  Worte  auf  Theorien  geht,  die  diesem  unserem  Glauben 
an  die  „efdy*  bestimmter  mannigfaltiger  Dinge  Ausdruck  geben,  ist  kaum  zu  ent- 
40  scheiden.  Wenn  Simplicius  wörtlich  zitiert,  könnte  auch  diese  Stelle  den  besonders  von 
den  Engländern  vertretenen  Standpunkt  bestätigen,  dem  Terminus  Eidos  eine  längere 
vorplatonische  Geschichte  zuzuweisen,  cf.  Burnet- Schenkl  280  ff.,  Taylor  Varia  So- 
cratica,  Oxford  1911  S.  478. 

Hier  ist  der  Weg  zu  neuen  Lösungen  merkwürdig  deutlich  bezeichnet. 
Die  fortschreitende  Erkenntnis  verwandelt  einfach  diese  Probleme  in 
Postulate,  und  zwar  in  der  doppelten  Richtung,  die  sich  aus  der  Mehr- 

D  5* 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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deutigkeit  des  „Vielen"  bei  Melissos,  aus  der  ganzen  vorsokratischen 
Gedankenordnung  ergibt.  Dort,  wo  das  Quantitative  ausdrücklich  im 
Blickpunkt  steht,  wie  bei  den  Pythagoreern,  erklärt  es  zugleich  die 
sinnlich  wahrnehmbare,  qualitative  Mannigfaltigkeit  mit,  die  auf 
quantitative  Gliederung  der  Saiten  zurückgeführten  „hohen",  tiefen, 
schönen,  häßlichen,  stimmenden,  nichtstimmenden,  „maßhaften",  maß- 
losen Töne.  Dieser  Zusammenhang  wird  aber  nicht  immer  gesucht;  es 
kann  die  sinnliche  Mannigfaltigkeit  unmittelbar  angeschaut  und  als  quali- 
tative  zum  Gegenstand  philosophischer  Überlegungen  gemacht  werden, 
ohne  daß  sie  ausdrücklich  auf  Quantitatives  bezogen  oder  daraus  abge- 
leitet würde. 

Die  Bewältigung  des  qualitativ  und  quantitativ  Mannigfaltigen 
(rcc  noXXa)  ist  die  eine  Aufgabe,  die  die  nun  zu  betrachtenden  Philo- 
sophen aufgreifen.  Sie  bleibt  eng  verbunden  mit  der  anderen  Frage, 
von  der  aus  wir  zu  ihr  gelangten:  wie  das  in  der  eleatischen  Philosophie 
zum  ersten  Male  sich  isolierende  Denken  sich  zur  Anschauung  von  Raum 
und  Zeit  verhalte,  oder  gegenständlich  ausgedrückt,  wie  das  Seiende 
im  Raum  und  in  der  Zeit  steht,  wie  der  „Geist",  der  denkt,  sich  zu  all 
diesem  anderen  verhält,  das  ihm  „entgegensteht"  und  das  doch  zu  ihm 
gehört  und  ihn  möglich  und  wirklich  macht.  Immer  näher  rücken  alle 
diese  Probleme  einerseits  an  das  der  Schöpfung  heran,  anderseits  an 
das  des  Menschen,  als  des  Geist  in  sich  tragenden  d.  h.  Welt  erkennen- 
den Wesens. 

Die  synthetische  Einbeziehung  ionischen  Philosophierens  in  die 
eleatische  Grundhaltung  greift  bei  Empedokles  von  Akragas  bereits 
viel  weiter  als  bei  Melissos.  Sämtliche  Archai  der  ionischen  Denker: 
Feuer,  Wasser,  Luft,  werden,  ergänzt  durch  die  Erde,  als  „Wurzeln" 
aller  Dinge  anerkannt,  als  Urqualitäten  des  Seienden,  von  denen  keine 
einen  Seinsvorrang  beanspruchen  kann  (fr.  6).  Durch  ihre  Mischung  und 
Trennung  entstehen  alle  Dinge  und  vergehen  sie ;  es  gibt  also  kein  Ent- 
stehen und  Vergehen  im  eigentlichen  Sinne,  sondern  Geburt  und  Tod 
sind  nur  Namen,  deren  man  sich  als  Mensch  bedienen  muß  (fr.  9).  Tor- 
heit ist  es,  an  ein  Entstehen  aus  dem  Nichts  zu  glauben  (fr.  11).  Wenn 
diese  vier  qualitativ  bestimmten  Urstoffe  zum  Gegenstand  des  Denkens, 
des  voelv  werden,  so  kann  dieses  der  sinnlichen  Empfindung  nicht  mehr 
gegenübergestellt  werden : 

Fr.  4,  Z.  9 — 14:  u.)X  äy'  cc&Q€i  ndayi  nakcc^irji,)  nrji,  drjhov  'dxaßTov, 

/U1$T€  TW  OXplV  l/COV  TlCOTfl   TlksOV  T}  XCCT  (XXOVTjV 

rj  d/.ovTjv  BQidovTiov  vtisq  TQ<xvi6{ictTcc  ykiöoorjg, 

£Lt]T(-  Tl  1(hv  äkkiiiV,    07l6GT]l  TlOQOg  tOTL  VOT]G(U, 

yvioiv  niGTiv  fQv/.e,   rosi  d°  rji  dykov  k'xaoTov. 
Betrachte  jedes  Einzelne  mit  jedem  Sinne  genau,  inwiefern  es  klar  liegt,  und  halte 
nicht  etwa  den  Blick  in  weiterem  Umfang  für  vertrauenswürdig  als  das  im  Vergleich 
zum  Gehör  zulässig  ist,  oder  schätze  das  brausende  Gehör  höher  als  deutliche  Wahr- 
nehmungen des  Gaumens,  und  stelle  nicht  etwa  um  dieser  willen  die  Glaubwürdigkeit 


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DIE  ENTWICKLUNG  BIS  ZUR  SOPHISTIK 


69 


der  übrigen  Organe  zurück,  soweit  es  einen  Pfad  der  Erkenntnis  gibt,  sondern  erkenne 
jedes  Einzelne  in  der  Weise,  in  der  es  klar  ist. 

Wenn  Aristoteles  de  anima  r  3,  427  a  21  (vgl.  Diels  fr.  106,  auch  107) 
deshalb  dem  Empedokles  die  volle  Gleichsetzung  von  Denken  und 
Empfinden  (cpooveiv  und  alc&ävea?* ai)  zuschreibt,  so  ist  dies  freilich 
insofern  nicht  ganz  zutreffend,  als  Empedokles  durch  die  Forderung,  die 
Grenzen  der  einzelnen  Sinne  zu  erkennen,  das  Ganze  und  Eine,  d.  h.  den 
Zusammenhang  der  Dinge  in  ihrem  gegenseitigen  Verhältnis  zu  erfassen, 
dem  eleatischen  Erkenntnisbegriff  durchaus  Rechnung  trägt.  Freilich 
ist  mit  dem  im  Denken  erfaßten  Einen  und  Ganzen  eine  bemerkenswerte 
Verwandlung  vorgegangen. 

Piaton  hat  im  Sophistes  242  d  den  entscheidenden  Punkt  mit  größter 
Schärfe  bezeichnet.  Er  stellt  der  „strengeren"  Richtung,  die  wie 
Herakleitos  eine  dauernde  Einheit  der  Gegensätze  im  mannigfachen 
Wechsel  des  Werdens  behauptete,  die  „schlaffere"  Ansicht  entgegen, 
nach  der  „abwechselnd",  tv  uiQet  (wörtlich  so  Empedokl.  fr.  26,  1) 
das  Eine  oder  die  vielen  Dinge  der  Mannigfaltigkeit  die  Oberhand  haben 
und  das  Seiende  darstellen.  Das  „Eine",  um  dessen  Sinn  Empedokles 
sich  lebhaft  bemüht,  wird  nun  zu  einem  Zustand  der  Welt  in  einer  be- 
stimmten Zeit,  auf  den  im  Fortschreiten  der  Zeit  ein  anderer,  unserer 
menschlichen  Welt  entsprechender  folgt.  Unbeschwert  von  den  logischen 
Aporien,  zu  denen  der  Eleatismus  bereits  gelangt  war,  glaubt  Empe- 
dokles auch  die  Kugelgestalt  des  Seienden  beibehalten  zu  können.  Der 
kugelige  Sphairos  (fr.  26 ff.)  ist  für  Empedokles  zunächst  derjenige 
Übergangszustand  der  Weltentwicklung,  in  dem  die  Liebe  ((pilörrjg) 
allein  herrscht  und  das  Seiende  in  ihrer  Harmonia  festhält  und  in  dem 
der  Streit,  das  andere  kosmische  Prinzip,  das  zur  Entzweiung  und 
Mannigfaltigkeit  drängt,  noch  nicht  sein  Spiel  begonnen  hat.  Dieser 
Sphairos  ist  ein  Gott  (fr.  31),  ein  heiliger  Geist  ((poqv  leotj,  fr.  134):  man 
sieht,  wie  hier  Motive  des  Xenophanes  wiedererscheinen  und  mit  genialer 
Naivität  die  „pantheistischen"  und  „panpsychistischen"  Hintergründe 
des  vorsokratischen  Denkens  deutlich  ausgesprochen  werden.  Jenem 
Weltwesen  werden  zwar  mit  großer  Drastik  die  anthropomorphen  Glieder 
abgesprochen  (fr.  29),  aber  es  „freut  sich  der  ringsum  herrschenden 
Einsamkeit".  Wie  das  parmenideische  Prädikat  „von  allen  Seiten 
gleich,  verwahrt  in  dem  festen  Verließ  der  Harmonia"  sich  mit  dem 
melissischen  „ganz  und  gar  endlos"  verträgt  und  beide  Prädikate  mit 
der  Leugnung  des  Leeren  (fr.  13/14),  das  kümmert  Empedokles  nicht. 
In  keinem  Metaphysiker  der  Frühzeit  ist  der  sorgfältige  Arzt  und  auf- 
geschlossene Beobachter  organischen  Lebens  so  unmittelbar  zu  Worte 
gekommen  wie  in  Empedokles,  der  das  „starre"  eleatische  Sein  in  den 
Lebensvorgang  des  Makro-  und  Mikrokosmos  gleichermaßen  hineinge- 
zogen hat.  In  keinem  Denker  hat  unbefangener  eine  im  letzten  Grunde 
mythisch-magische  Denkweise  sich  mit  schärfster  Beobachtung  der  Wirk- 


TO 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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lichkeit  und  offenem  Bliek  für  die  Aufgaben  der  Wissenschaft  vertragen 
als  in  diesem  Diehterphilosophen,  der  an  der  Grenze  zweier  Zeitalter 
und  zweier  großer  Reiche  griechischen  Geistes,  ionischer  Naturforschung 
und  westlicher  unteritalischer  Mystik  sich  zu  einem  wirklichen  „Cha- 
rakterkopf44 entwickelte,  dessen  Züge  auch  uns  noch  leidlich  faßbar  sind. 

Nach  dem  Umrisse  der  Gedanken  sieht  es  so  aus,  als  ob  das  parme- 
nideisehe  Eins  nun  zum  Mythos  geworden  wäre,  zum  Symbol  einer 
höchsten  Einheit,  die  einmal  an  einer  bestimmten  Zeitstelle  der  Ver- 
gangenheit bestanden  hat. 

In  der  Tat  haben  Empedokles  die  Fragen  des  goldenen  Zeitalters  wieder  bewegt, 
und  die  innere  Zerrissenheit  seiner  Gegenwart  scheint  in  ihm  bereits  das  Idealbild  einer 
letzten  göttlichen  „Einheit  mit  sich  selbst",  diesen  Grundgedanken  aller  Mystik, 
erzeugt  zu  haben  (fr.  128).  Aber  sofort  schieben  sich  die  zeitlich  auseinandergezogenen 
Zustände  im  Denken  des  Philosophen  wieder  übereinander,  und  ein  neuer  Zeit-  und 
Vergangenheitsbegriff,  eine  echt  metaphysische  Mythosauffassung  bereitet  sich  vor, 
in  deren  Ausbildung  die  Metaphysik  der  Wiedererinnerung,  der  Anamnesis,  bald  ihre 
eigentliche  Aufgabe  erkennen  wird. 

Indem  Empedokles  jenen  Ausweg  aus  dem  quälenden  Gegensatze  der 
eleatischen  äXrj&eia  und  d6£a  sucht  und  findet,  ist  er  weit  davon  ent- 
fernt, die  Bedeutung  des  Eins  für  die  Phasen  der  zur  Mannigfaltigkeit 
sich  entzweienden  Welt  zu  bestreiten.  Vielmehr  kommt  bei  ihm  der 
Form-  und  Ganzheitssinn  des  Eins  erst  voll  zur  Geltung;  der  Sphairos 
bleibt  in  gewissem  Sinne  auch  für  die  Welt  der  Vielheit  die  Form,  die  das 
Ganze  zusammenhält,  die  „Idee"  der  Welt,  die  der  erkennende  Mensch 
im  Auge  haben  muß,  um  nicht  dem  Truge  der  Sinne  zu  verfallen. 
Dem  Trug  der  Sinne  erliegen  heißt  für  Empedokles  den  Teil  für  das 
Ganze  halten,  die  Endlichkeit,  Stückhaftigkeit  alles  menschlichen  Er- 
kennens nicht  verstehen. 

Fr.  2:  GTtivamol  y,hv  yccQ  nakdfXKi  xcctcc  yv7a  xtyvvTai  ■ 

nokkd  d£  dtik*  ffxnaia,  tcc  j  dfxßkvvovot  fjLSQCfivag. 

navqov  de  C,iofjg  idi'ov  /ufiQog  dd-Q^am'ieg 

wzv/uoQot  xanvoio  dixi]v  dq&ivitg  äntnrccv 

CCVTO  fXOPOV  miG&tVTSS  OTIOI  7lQOG£XVQG£V  SXCCGTOg 

nävToo'1  ikavrojufpoi,  to  dy  okov  nccg  €v/€tcci  €vq£?v  ' 

ovToug  ovr  imd^Qxrd  rdd'  cird^doiv  ovt  enaxovGTcc 

ovt€  vbixii  nsQikijnrd.  gv  d'  ovv,  inu  wd'  ekiaG&rjg, 

Tifvotat  ov  nkiov  rjf  ßQOTftrj  ^utjrig  oqwq£v. 
Denn  engbezirkt  sind  die  Sinneswerkzeuge,  die  über  die  Glieder  der  Menschen 
gebreitet  sind.  Viel  Armseliges  dringt  auf  sie  ein,  das  ihr  Nachdenken  abstumpft.  Kaum 
haben  sie  einen  kleinen  Teil  des  eigenen  Lebens  überschaut,  so  fliegen  sie  davon,  vom 
raschen  Geschick  wie  Rauch  in  die  Höhe  entführt.  So  glaubt  jeder  nur  an  das,  worauf 
er  gerade  bei  seinen  mannigfachen  Irrfahrten  gestoßen,  und  doch  rühmt  sich  jeder,  das 
Ganze  gefunden  zu  haben.  So  wenig  läßt  sich  dies  für  die  Menschen  sehen  oder  hören 
oder  mit  dem  Geiste  erfassen.  Du  wenigstens  sollst  es  aber  doch,  da  du  nun  einmal 
abseits  von  der  Straße  hierher  gekommen  bist,  erfahren,  freilich  nicht  mehr  als  sich 
menschliche  Einsicht  zu  erheben  vermag. 

Indem  Empedokles  dies  erfaßt,  kann  er  die  Erkenntnisaufgabe  des 
Menschen  klar  bezeichnen:  den  Ausschnitt  der  Welt,  der  dem  kurzen 


D 


DIE  ENTWICKLUNG  BIS  ZUR  SOPHISTIK 


71 


Leben  des  Einzelnen  gegeben  ist,  möglichst  zu  weiten  und  von  dem 
Sinn,  der  auch  in  der  entzweiten  Welt  ist,  möglichst  viel  in  sich  hinein- 
zuziehen. 

Fr.  110,  1 — 5:  sl  yccg  xiv  Gq>'  ädivijiair  vno  nQanideGGw  tQsiGag 
€vfA£v£u)g  xa&ccQTjioiv  l7io7iT€VGT]i?  ^.sk&rrjiGiv , 
rccvm  te  Got  fxdka  ndvja  di>'  ctlwvog  TiaQiaovTai,, 
cckka  T€  7iokk'  and  Tcovd"  £xryo€cci>  '  avrd  yaQ  av%€t 
tccvt'  fig  ij&og  exctorov,  onrji  (pvGig  bgtIv  ixccarwi. 
Wenn  du  nämlich  auf  deinen  festen  Geist  gestützt  wohlgesinnt  mit  reinem  Be- 
10     mühen  sie  (die  Lehren  des  Meister?)  betrachtest,  so  werden  dir  nicht  nur  diese  alle- 
samt auf  Lebenszeit  zu  Gebote  stehen,  sondern  du  wirst  noch  viel  anderes  daraus 
gewinnen.   Denn  es  wächst  von  selbst  dieser  Schatz  in  deinen  inneren  Kern  hinein, 
wie  eines  jeden  Natur  ist. 

Den  Erkenntnisvorgang  faßt  Empedokles  als  eine  Vereinigung  des  im 
Menschengeiste  vorhandenen  Denkens  mit  derjenigen  Phronesis,  dem- 
jenigen vÖTjjna,  von  dem  alle  Dinge  erfüllt  sind. 

Fr.  110,  10:  ndvra  ydq  ig&i,  yporyatv  fyeiv  xai  vwfxctTog  cciaccr. 

Den  Grundsatz  der  ö^oioTid&sicc  von  Makro-  und  Mikrokosmos  spricht 
fr.  109  deutlich  aus: 

IQ  yai'rji  fxkv  yccQ  ycuav  ÖTKanctfisv,  vdari  cf'  vdwQ, 

cti&tQi  ef  al&iQcc  d7ov,  cctkq  tivqI  tivq  didrjkov, 
aroQyrjv  ds  OTOQyiji,  v&xog  de  t€  vefxe'i  kvygdii. 
Denn  mit  unserem  Erdstoff  erblicken  wir  die  Erde,  mit  unserem  Wasser  das  Wasser, 
mit  unserer  Luft  die  göttliche  Luft,  mit  unserem  Feuer  endlich  das  vernichtende  Feuer; 
mit  unserer  Liebe  ferner  die  Liebe  und  ihren  Haß  mit  unserem  traurigen  Haß. 

Dies  muß  ergänzt  werden  durch  den  wesentlichen  Gedanken,  daß 
auch  zwischen  der  Phronesis  draußen  und  drinnen  dieselbe  Beziehung 
besteht  und  daß  der  Mensch  durch  das  Denken,  das  voelv,  sich  dem 
Ganzen  der  Welt  nähert,  wie  wir  es  oben  von  einer  anderen  Seite  her 
o    aus  dem  eleatischen  Zusammenhang  schon  dargestellt  haben. 

Die  Ausweitung  der  menschlichen  Individualität,  des  jj&og  —  man 
denke  an  Heraklits  Spruch  fr.  119:  fj'loc,  äv&QWTZm  datfitov  —  zum 
metaphysisch  unterbauten  Personenbegriff  geht  nach  Empedokles  in 
bevorzugten  Individuen  über  die  kurze  Spanne  eines  individuellen 
Seelenlebens  hinaus  —  hier  münden  die  Gedanken  des  Empedokles  in 
die  orphischen  Seelenwanderungslehren  ein.  Im  Fragment  129  spricht 
er  von  einem  Mann  von  übermenschlichem  Wissen,  dessen  Erinnerungs- 
kraft bei  genügender  Anspannung  über  zwanzig  Menschenleben  zurück- 
reicht : 

»0  de  rig  iv  xeivoiGiv  dvt]Q  mgiwoicc  eldwg, 

ijg  dr)  juyxicrov  noctmdiov  ixirjoaro  nkoviov 
nciVTotiav  T€  /udkiGTCc  Gocpiov  imrjQavog  tQycov  ' 

67l7l()T€  ycCQ  Tldctjuni'  6qÜ;CUTO  7lQCCmd(GGlt>, 

o  ye  jüiv  ovküv  Jidvriov  kevGGecxev  Bxaffrov 
xai  re  dex'  dv&Q<o7l(OV  xai  j  ti'xoGiv  altaveaaw 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Der  Ausdruck  rtavra  lä  tfvra  und  exaarov  ist  für  die  pluralistische 
auf  die  Fülle  der  Erscheinungen  gerichtete  Wendung  bezeichnend.  Ob 
Empedokles  hier  an  Pythagoras  dachte  oder  ob  er  eine  solche  Steigerungs- 
möglichkeit  allgemeiner  bezeichnen  wollte,  ist  nicht  zu  entscheiden; 
jedenfalls  nahm  er  in  dem  Sühnelied'4  auch  für  sich  selbst  göttliche 
Kraft  in  Anspruch. 

Fr.  112,  4:  iyta  (J1'  vfiiv  ütog  cc^ißpoToc,  ovxin  d-vrjTos  moktvfAeu  .  .  . 

Ich  aber  wandle  jetzt  als  unsterblicher  Gott,  nicht  mehr  als  Sterblicher  vor  Euch. 

Diese  Steigerung  des  individuellen  Selbstbewußtseins  bis  zur  Apo- 
theose, nicht  des  eigentlichen  Seelenkernes,  sondern  dessen  indivi-  10 
dueller  Verkörperung  ist  in  dieser  Deutlichkeit  unerhört  im  gesamten 
Verlaufe  der  griechischen  Metaphysik  und  bezeichnet  den  Anbruch 
einer  individualistischen  Epoche,  zu  deren  Uberwindung  ganz  neue 
philosophische  Kräfte  angesetzt  werden  mußten.  Zwar  ist  der  Hinter- 
grund der  empedokleischen  Haltung,  die  orphische  Seelenmetaphysik, 
stets  gegenwärtig  zu  halten,  und  es  ist  zu  berücksichtigen,  was  oben  S.42 
über  die  allgemeinen  Voraussetzungen  und  Folgen  der  Seelenwanderungs- 
lehre gesagt  wurde.  Aber  das  Bewußtsein,  aus  Glück,  Glanz  und  Fülle 
der  Erkenntnis,  aus  der  Einheit  und  All  Verbundenheit  einer  hyperphy- 
sischen Existenz  zu  stammen  und  einen  göttlichen  Seelenkern  in  das  20 
menschliche  beschränkte  Dasein  hineinzutragen  (fr.  119),  also  die  all- 
gemeine Göttlichkeit  des  Seelenkernes,  kann  höchstens  als  eine  gewisse 
Milderung  jenes  individuellen  Anspruchs  auf  Göttlichkeit  angesehen 
werden;  die  Selbstverkündigung  des  Wunderarztes  und  Sühneprie- 
sters übertönt  hier  sowohl  das  Schuldbewußtsein  der  menschlichen 
Seele  als  auch  den  für  die  Folgezeit  wichtigsten  Gedanken,  daß  nur  der 
angespannte  Erkenntnis wille  und  die  Erkenntnisarbeit  den  Seelenkern, 
das  Göttliche  in  der  Seele  in  einer  reineren  Welterkenntnis  objektivieren 
können.  So  wichtig  der  Zusammenhang  des  Empedokles  mit  dem  Elea- 
tismus  bleibt,  gerade  die  Abwandlung  des  in  diesem  angelegten  reinen  30 
Erkenntnis-,  ja  Logikprinzips,  die  Verquickung  mit  großzügiger  Empirie 
auf  der  einen,  aber  auch  mit  magischer  Naturbeherrschung  auf  der 
anderen  Seite  ist  ein  Symptom  für  das  Auslaufen  und  die  Zersetzung 
eines  Zeitalters.  Diese  Art  der  „Religiosität"  mußte  rasch  dem  Skepti- 
zismus verfallen,  und  es  mußte  lediglich  das  gesteigerte  Selbstgefühl  des 
erkennenden  Geistes  übrigbleiben,  wie  es  in  der  Sophistik  des  Gorgias 
und  Protagoras  als  Verfallsform  eleatischer  Dialektik  sich  uns  zeigen 
wird.  Die  Verbindung  des  Empedokles  mit  der  Rhetorik,  die  Aristoteles 
im  „Sophistes",  fr.  65,  feststellt,  trifft  für  die  innere  Haltung  vielleicht 
noch  mehr  zu  als  für  die  Form  der  Gedankenfügung  (z.  B.  Vergleiche  « 
usw.,  woran  Aristoteles  zunächst  gedacht  haben  mag). 

Bei  Empedokles  konnte  es  Aristoteles  so  scheinen,  als  ob  Denken 
und  Wahrnehmen,  voelv  und  aiad äveaÜai,  völlig  gleichgesetzt,  also 
das  sinnliche  Dasein  des  Menschen  innerhalb  der  qualitativen  Mannig- 


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DIE  ENTWICKLUNG  BIS  ZUR  SOPHISTIK 


faltigkeit  mit  seinem  geistigen  Dasein  in  der  Erkenntnis  schlechthin 
identifiziert  werde.  Deshalb  soll  ihm  derjenige  Philosoph  angereiht 
werden,  dem  die  Begründung  eines  reinen  iVwsbegriffes  und  damit  die 
des  Dualismus  von  Geist  und  Natur  zugeschrieben  zu  werden  pflegt, 
Anaxagor  as. 

Zur  Ergänzung  des  Folgenden,  sei  auf  die  in  der  Antike  I,  244ff.,  gegebene  „Ent- 
wicklung des  Geistbegriffs"  verwiesen  und  besonders  auf  den  III.  Abschnitt,  der 
Anaxagoras  und  Sokrates  im  Anschluß  an  die  Kritik  des  Anaxagoras  im  platonischen 
Phaidon  in  einen  größeren  Zusammenhang  einordnet. 

Anaxagoras  stimmt  mit  Empedokles  überein  in  der  Lehre  von  der 
Mischung  und  Sonderung,  in  dem  ausdrücklichen  Interesse  für  die 
qualitative  Mannigfaltigkeit,  freilich  unter  stärkerer  Wahrung  des 
eleatischen  Einheitsgedankens.  Es  fehlt  ihm  jeder  Einschuß  orphisch- 
pythagoreischer  Mystik,  während  er  unmittelbar  an  Zenons  Probleme 
anknüpfend  die  mathematische  Seite  des  pythagoreischen  „Pluralismus44 
kennt  und  würdigt ;  er  ist  auch  Mathematiker,  eine  Seite,  die  bei  Empe- 
dokles zurücktritt.  Anaxagoras  ist  Ionier.  Nicht  zufällig  hat  er  die  engste 
Beziehung  unter  allen  bisher  behandelten  Philosophen  zu  Attika,  zu 
Athen;  er  ist  der  Freund  des  Perikles. 

Während  Zenon  aus  der  unendlichen  Teilbarkeit  der  quantitativen 
Mannigfaltigkeit,  der  nollä,  die  negative  Folgerung  zog,  daß  sie  zugleich 
groß  und  klein  sei,  also  einen  logischen  Widerspruch  enthalte  und  daher 
gegenüber  dem  einen  Seienden  nicht  wirklich  wäre,  benützt  Anaxagoras 
diesen  Gedankengang  gerade  zur  Erklärung  der  qualitativen  Mannig- 
faltigkeit. 

Über  des  Anaxagoras  Stellung  zu  den  quantitativen,  d.  h.  hier  mathematischen 
Sachverhalten,  die  Zenon  mit  seiner  These  angeschnitten  hat,  wage  ich  noch  nicht  zu 
urteilen.  Fr.  3  kann  m.  E.  weder  mit  tofxi,  noch  mit  10  ohne  weitere  Änderung  ge- 
lesen werden.  Daß  Anaxagoras  auch  dem  Begriff  des  quantitativen  Kontinuums  nahe 
war,  scheint  mir  wahrscheinlich;  die  eigentliche  Energie  der  Denkbewegung  des  Anaxa- 
goras in  den  uns  erhaltenen  und  bis  jetzt  faßbaren  Fragmenten  aber  geht  nach  der 
Richtung  des  Qualitativen. 

Anaxagoras  überträgt  die  eleatische  Grundüberzeugung,  daß  nichts 
aus  nichts  entsteht  und  Seiendes  in  jedem  Sinne  „schon  da  ist44,  auf  die 
qualitativ  bestimmten  Dinge. 

Fr.  10:  7iw?  yaQ  &v  tx       TQi/og  ytvono  #(?t|  xal  cd^  ix  ur}  GaQxog; 
Denn  wie  sollte  Haar  aus  Nicht-Haar  und  Fleisch  aus  Nicht-Fleisch  entstehen 
können  ? 

Die  unendliche  Teilbarkeit  gibt  ihm  nun  eine  Lösung  an  die  Hand. 

Fr.  4,  1 :  lovnov  de  ovrwg  i/ovrojv  /in]  doxeTv  svsTvcu  nokkä  rs  xal  navxoia  iv  näoi  rotg 
avyy.Qivoutvoig  xal  oneQjuara  ndrreoy  /(j^/j-cckov  y.al  Miag  navroiag  tyovra  xal  xQoidg  xal  rjdo- 
väg. 

Wenn  sich  dies  so  verhält,  so  muß  man  annehmen,  daß  in  allem,  was  sich  vereinigt, 
Vieles  und  Mannigfaltiges  enthalten  ist  und  Keime  von  allen  Dingen,  die  mannigfache 
Gestalten,  Farben  und  Geschmäcke  haben. 


74 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Fr.  6:  X«i  0T€  df  uicci  {AoTqccI  eiai  tov  ts  iieydkov  xal  tov  a/uixpov  nkij&og,  xccl  ovriog  av 
ti>;       u:)  il  tun«  ■  ovdi  fouv  tlvcti,  dkkd  ndvTa  naviog  [xo~Qav  [ifrfyei.  ots  Tovkd/KJrov 

u>-  ümv  f-h  ui,  ovx  av  &vvcutq  XMQiad-rjvcti,  otd"  dv  i(p'  iccvTov  yeviad-ai,  cckk'  omoansQ  ccq^tjv 
elvat  y.cl  vin>  lavm  öuov.  iv  näoi  de  nokkd  ivsajt,  xccl  twv  dnoxQivo/usvwv  toa  nkij&og  iv 
mTs  ufiCoci  m-  x(xi  ikdcooGi. 

Und  da  vom  Großen  und  vom  Kleinen  gleich  viel  Teilchen  vorhanden  sind,  so  ist 
auch  nach  dieser  Auffassung  alles  in  allem  enthalten.  Auch  kann  es  kein  Sonderdasein 
geben,  sondern  alles  hat  an  allem  teil.  Da  es  kein  Kleinstes  geben  kann,  so  kann  es  sich 
niemals  absondern  und  für  sich  leben,  sondern  alles  muß  wie  anfangs  so  auch  jetzt 
zusammen  sein.  In  allem  aber  ist  vieles  enthalten,  und  zwar  ebenso  viel  in  den  größeren  10 
wie  in  den  kleineren  der  sich  ausscheidenden  Dinge. 

Wie  Empedokles  nimmt  also  auch  Anaxagoras  einen  Zustand  des 
ofiov  nana  an,  der  sowohl  als  zeitlicher  Ursprung  des  Alls  wie  als  Prinzip 
jedes  einzelnen  gegenwärtigen  Dinges  gedacht  wird.  Die  Forderung 
des  Melissos,  daß  jedes  einzelne  Seiende,  wenn  es  viele  solche  Seiende 
gäbe,  so  wie  das  eine  ganze  Seiende  gedacht  werden  müsste,  beginnt  sich 
nun  zu  erfüllen :  in  jedem  Einzelnen  ist  alles  enthalten,  das  Eine  ist  der 
Möglichkeit  nach  nicht  nur  vieles,  sondern  alles!  Vor  allem  enthält 
es  auch  alle  qualitativen  Gegensätze,  die  nicht  „mit  dem  Beil  abgehauen 
sind"  (fr.  8),  sondern  ineinander  übergehen.  20 

Der  Begriff  des  Atomon  fehlt  bei  dem  Philosophen  des  Kontinuums  offenbar  auch 
im  Qualitativen;  die  Ideen  (Gestalten,  Farben,  Geschmäcke),  von  denen  fr.  4  spricht, 
sind  also  nur  Momente  fließender  Übergänge;  es  ist  interessant,  diese  Meinung  wieder 
unter  dem  von  Piaton  aufgestellten  Gesichtspunkt  zu  betrachten,  wie  weit  eine  Locke- 
rung der  „strengeren"  heraklitischen  Gegensatzlehre  hier  vorliegt;  die  Lockerung  liegt 
in  einer  anderen  Dimension  als  bei  Empedokles. 

Die  Sonderung  des  ursprünglichen  Zusammenseins  aller  Dinge  wird 
durch  zwei  an  sich  unverträgliche  Prinzipien  erklärt,  durch  den  Geist 
und  durch  die  Wucht  einer  schnellen  Wirbelbewegung  (TTeoix&Q'qatc), 
fr.  9.  Der  Geist  leitet  die  Bewegung  ein,  fr.  13,  es  bleibt  aber  ungewiß,  3( 
ob  die  Bewegung  nun  nach  ihrer  eigenen  „natürlichen"  Gesetzmäßig- 
keit, etwa  der  Trägheit,  weiterwirkt;  nach  Eudemus'  (bei  Simpl.  z. 
Phys.  327,  26)  guter  Formulierung  „automatisiert"  Anaxagoras  den 
Weltprozeß : 

xal  IdvaZayöoag  tov  vovv  iäaag .  .  xal  at)ToixarCt.Mv  rä  rtoXXä  avvforqai. 
Gegen  diese  Unklarheit  der  iVwslehre  richteten  sich  die  Vorwürfe  des 
Altertums  und  der  späteren  Zeit,  am  schärfsten  —  nach  dem  Vorgange 
Piatons  im  Phädon  97  b  3  —  Aristoteles  Metaphysik  A4  985  a  18: 

A.  T€  ydq  /u^avrji  xqtjtcu  tmi  voji  UQog  Ttjv  xoo/uonoitav,  xccl  orccr  dnoQtjOrji  did  «V  ahiav 
dvayxijg  eGTCj  totc  naQtkxei  avrov,  iv  di  ro7g  dkkoig  ndvia  juäkkov  ahiärat  twv  yiyvo^ieviov  4' 

T}  vovv. 

„Denn  Anaxagoras  gebraucht  bei  seiner  Weltbildung  den  Nus  als 
Maschinengott,  und  wenn  er  in  Verlegenheit  kommt,  aus  welcher  Ur- 
sache denn  etwas  notwendig  sein  soll,  dann  zieht  er  ihn  herbei;  im  übrigen 
aber  sucht  er  die  Ursache  für  das  Werdende  in  allem  anderen  eher  als  im 
Nus"  In  der  Tat  ist  die  Formulierung,  die  Anaxagoras  seinem  Nusbe- 


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DIE  ENTWICKLUNG  BIS  ZUR  SOPHISTIK 


75 


griff  zu  geben  weiß,  noch  unentschieden,  aber  für  die  metaphysische 
Haltung  dieser  Zeit  deshalb  besonders  aufschlußreich. 

Fr.  12:  tcc  fxev  äkka  navTog  /uoTqccv  /ueTe/ei,  vovg  de  egtiv  aneiQov  xai  avToxoarig  xcd 
jue/ueixTat  ovdevi  xQy/uccTi,  dkkd  fxovog  avTog  eq>'  eavTov  ionv.  ei  fxtj  yccQ  ecp'  iavTov  qv,  dkkd 
T€ü)t  e/ue/uetx.TO  äkkwi,  /uereT/ev  dv  dndvnwv  /oTjficcTtüv,  ei  e/ue/uecx.TO  Tecot  •  ev  navtl  ydg  navTog 
[ao7q(x.  eveGTiv,  <x>G7i6Q  ev  Tolg  nQocO-ev  fxoi  kekexrai  •  xcci  dv  exwkvev  avTov  tcc  Gvfxfxefxeiyfxeva, 
wäre  [xydevog  xQrjfxarog  XQ<xxe7v  6/uoi'wg  wg  xai  /uovov  eovTa  ecp'  eavTov.  icri  yciQ  kemoTaTov  re 
navTwv  xQT]fAaT(t)v  xai  xa&ctQWTCCTov,  xai  yvMfxrjv  ye  ne^i  navTog  ndcav  ic/et  xai 
io/vei  [xiyiGTov.  xai  oca  ye  xpvxtjv  i%et  xai  fieiXo)  xai  ekaGGO),  ndvrojv  vovg  XQarel.  xai  irjg 
0  7i€Qi/a)Q)]Giog  rijg  GVfxnaGijg  vovg  exQanjGev,  wgt€  neQi/wQijGai  rrjv  ccq^v  ....  xai  tcc  GVfxuiG- 
yojxevd  Ts  xai  dnoxQivofxeva  xai  diaxQivb{Aeva  ndvia  fyvoj  vovg  ....  navTanaci  de  ovder 
dnoxqiveTat,  ovde  diaxqiveTai  e\eoov  and  tov  heQov  nkrjv  vov.  vovg  de  nag  ojnoiog  e  ö~t t> 
xai  6  [leC^iov  xai  6  ekdniav.  eregov  de  ovdev  iüTiv  ofxoiov  ovdevi,  dkk'  otiov  nkeiOTcc 
evi,  ravTa  evdrjkoTara  e'v  exaGTov  eoTt  xai  tjv. 

Das  übrige  hat  Anteil  an  jedem,  der  Geist  aber  ist  unendlich  und  selbstherrlich 
und  mit  keinem  Dinge  vermischt,  sondern  allein,  selbständig,  für  sich.  Denn  wenn  er 
nicht  für  sich,  sondern  mit  irgendetwas  anderem  vermischt  wäre,  so  hätte  er  an  allen 
Dingen  teil,  vorausgesetzt  nämlich,  er  wäre  mit  irgendetwas  vermischt.  Denn  in  jedem 
ist  ein  Teil  von  jedem  enthalten,  wie  ich  im  vorigen  gesagt  habe;  und  dann  würden  ihn 
die  beigemischten  Stoffe  hindern,  so  daß  er  nicht  ebensogut  die  Herrschaft  über  jeg- 

3  liches  Ding  ausüben  könnte  wie  allein  für  sich.  Denn  er  ist  das  dünnste  aller  Dinge 
und  das  reinste,  und  er  besitzt  jegliche  Einsicht  über  jegliches  Ding  und  die 
größte  Kraft.  Und  über  alles,  was  nur  eine  Seele  hat,  Großes  wie  Kleines, 
hat  der  Geist  die  Herrschaft.  So  hat  er  auch  die  Herrschaft  über  die  gesamte 
Wirbelbewegung,  so  daß  er  dieser  Bewegung  den  Anstoß  gibt  .  .  .  Und  alles,  was  sich 
da  mischte  und  absonderte  und  voneinander  schied,  kannte  der  Geist.  Vollständig 
aber  scheidet  sich  nichts  vom  andern  ab  oder  auseinander,  abgesehen  vom  Geiste. 
Jeder  Geist  aber  ist  von  gleicher  Art,  der  größere  wie  der  kleinere. 
Sonst  aber  ist  nichts  dem  andern  gleichartig,  sondern  wovon  am  meisten 
in  einem  Dinge  vorhanden  ist,  dies  bildet  und  bildete  als  das  deutlichst  Erkennbare 

)     das  einheitliche  Einzelding. 

Fr.  13:  xai  enei  rjQ'^aro  6  vovg  xiveTv,  and  tov  xivovjuevov  natnog  dnexotveTo,  xcd  oaov 
exivrjGev  6  vovg,  näv  tovto  diexQi&t]  '  xivovfievtav  de  xai  diccxQivofxevoxv  *)  neQt^iüorjGig  nokkun 
[xäkkov  enoi'et  diaxQiveo&at. 

Und  als  der  Geist  die  Bewegung  eingeleitet  hatte,  sonderte  er  sich  von  allem, 
was  nun  in  Bewegung  geriet;  und  so  viel  der  Geist  in  Bewegung  gesetzt  hatte,  das 
wurde  alles  voneinander  geschieden.  Während  der  Bewegung  und  Scheidung  aber  be- 
wirkte der  Wirbel  eine  noch  viel  stärkere  Scheidung  der  Dinge  voneinander. 

Fr.  14:  6  de  vovg,  og  dei  ecm,  to  xccQTa  xai  vvv  ionv  Tva  xai  tcc  dkka  ndvTa,  ev  Toit 
nokkojt  neQifyovTi  xai  ev  ToTg  nQoaxQi&eJoi,  xai  ev  ToTg  dnoxexoi  uevoig. 

Der  Geist,  der  ewig  ist,  ist  doch  fürwahr  auch  jetzt  da,  wo  alles  andere  ist,  in  der 
)    umgebenden  Masse  und  in  dem,  was  sich  daran  ansetzte  und  in  dem  Ausgeschiedenen. 

Für  diese  Formulierungen  ist  charakteristisch : 
1.  Das  Bestreben,  den  Geist  allem  Stofflichen  entgegenzusetzen,  ihm 
Einsicht,  Denken,  Voraussicht,  kurz  die  psychologischen  Prädi- 
kate des  Geistigen  beizulegen,  die  noetische  Seite  im  eleatischen 
Sein  abzusondern.  Seele  ist  der  eigentliche  Machtbereich  des 
Geistes.  Geist  ist  stets  von  gleicher  Art,  er  ist  nicht  meßbar  (fr.  12, 
Ende). 


76 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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2.  Trotzdem  ist  der  Geist  das  „dünnste  und  feinste  aller  Dinge";  er 
bleibl  also  doch  in  derjenigen  gegenständlichen  Sphäre,  der  er 
gegenübergestellt  werden  soll!    Dabei  ist  andrerseits 

<\.  die  kosmogonische  und  die  psychologische  Leistung  immer  wieder 
zusammengenommen:  fr.  14. 

Das  parmenideische  „Jetzt44,  jw,  und  das  melissische  „Immer44, 
(ui\  sind  in  eins  gesetzt;  also  überall  auch  jetzt  noch,  wo  immer  Be- 
wegung ist,  ist  der  Geist  wirksam;  andrerseits  heißt  es,  daß  nachdem  der 
Geist  die  Bewegung  eingeleitet  hatte,  die  Umdrehung  (rc6()i%(bo7j(ric) 
selbst  noch  „viel  mehr44  die  Scheidung  bewirkt.  Wir  sehen,  wie  erstens  10 
das  unbewältigte  Problem  der  Schöpfung,  also  das  der  Zeit,  ihrer  Ent- 
stehung und  ihrer  Dauer  im  denkenden  Geiste,  den  Philosophen  treibt, 
ohne  daß  er  es  beherrschte.  Zweitens  aber  das  Problem  der  Bewegung. 
Bewegung  braucht  sowohl  Antrieb  als  auch  Masse;  gerade  weil  die 
griechische  Philosophie  sich  gegen  den  Mechanismus  einer  trägen  Be- 
wegung immer  wieder  sperrt,  selbst  wenn  diese  im  Prinzip  entdeckt  ist, 
macht  sich  immer  wieder  auch  bei  der  geistigen  Bewegung  das  Bedürfnis 
geltend,  ihr  sozusagen  einen  Auslauf,  ein  Ausschwingen  zu  ermöglichen, 
einen  Ablauf,  der  den  geistigen  Bewegungsimpuls  in  sich  aufnimmt, 
ohne  ihn  dauernd  als  Anstoß  zu  brauchen.  Immer  wieder  zeigt  es  sich,  20 
daß  das  Prototypen  von  Bewegung  für  alle  diese  Philosophen  der  auf 
einem  Zeugungsakte  beruhende  Lebensvorgang  in  seiner  ganzen  Fülle  ist. 

Die  geschichtliche  Belastung  der  vorsokratischen  Philosophie  mit 
dem  mythisch-pantheistischen  Begriff  der  belebten  Welt  tritt  noch 
einmal  in  die  Erscheinung.  Bei  Diogenes  von  Apollonia  ganz  un- 
verhüllt; scheinbar  greift  er  mit  seinem  Urstoffe,  der  Luft,  einfach  auf 
Anaximenes  zurück.  Aber  der  Formwandel,  von  dem  wir  eingangs  spra- 
chen, drückt  sich  in  einer  größeren  Ausführlichkeit  der  Begründung  aus ; 
es  ist  inzwischen  viel  beobachtet  und  geschrieben  worden,  und  es  spricht 
sich  in  allem  eine  größere  Bewußtheit  aus,  die  sich  bis  zu  methodischen  30 
Erwägungen  der  Darstellungsform  steigert  (Diog.  fr.  1).  Diogenes  be- 
schreibt die  Bedeutung  der  Luft  für  das  organische  Leben  in  der  Haltung 
des  Arztes  und  Naturforschers;  das  Thema  des  2.  Buches  der  Schrift 
(cf.  Diels  vor  B  1)  über  die  menschliche  Natur,  neol  äp&gcoTiov  <p?'o>a>c, 
ist  sichtlich  medizinisch  gemeint.  Alles,  was  vielleicht  bei  dem  früheren 
Denker  mitgesprochen  hat,  wird  hier  deutlich  gesagt. 

Fr.  1 :  Bei  Beginn  jeder  Darlegung  muß  meines  Bedünkens  der  Anfang  (das  Prinzip), 
den  man  darbietet,  unbestreitbar  und  die  Sprache  einfach  und  würdig  sein.  Fr.  2: 
Meines  Bedünkens  sind,  um  das  Ganze  zusammenzufassen,  alle  vorhandenen  Dinge 
Abänderungen  desselben  Urstoffes  und  ein  und  dasselbe.  Und  das  liegt  auf  der  Hand.  40 
Denn  wenn  der  Inhalt  dieser  jetzigen  Weltordnung,  Erde,  Wasser,  Luft  und  Feuer  und 
was  sonst  in  dieser  Weltordnung  in  die  Erscheinung  tritt,  wenn  davon  irgendetwas 
anders  wäre  als  das  andere,  d.  h.  anders  in  seinem  eigentlichen  Wesen,  und  wenn  es  nicht 
bei  seinen  vielfachen  Umschlägen  und  Abänderungen  dasselbe  bliebe,  dann  könnte  es 
sich  auf  keine  Weise  miteinander  vermischen  noch  eins  dem  andern  zum  Nutzen 


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DIE  ENTWICKLUNG  BTS  ZUR  SOPHTSTIK 


77 


(cocpskrjaig)  oder  Schaden  (ßkdßt])  gereichen  noch  auch  etwa  eine  Pflanze  aus  der  Erde 
sprießen  oder  ein  Tier  oder  sonst  etwas  entstehen,  wenn  es  nicht  so  beschaffen  wäre, 
daß  es  ein  und  dasselbe  ist.  Vielmehr  ändern  sich  alle  diese  Dinge  aus  demselben  Ur- 
stoff  ab,  nehmen  bald  diese,  bald  jene  Gestalt  an  und  kehren  dann  wieder  in  denselben 
Urstoff  zurück.  Fr.  3:  Denn  ohne  Geisteskraft  (avev  rotjGiog)  wäre  eine  solche  Ver- 
teilung (des  Urstoffes)  unmöglich,  daß  er  mit  allen  Dingen  ein  bestimmtes  Maß  einhielte, 
mit  Sommer  und  Winter,  Nacht  und  Tag,  Regen,  Wind  und  Sonnenschein.  Auch  das 
Übrige  kann  man,  wenn  man  nur  nachdenken  will,  so  geordnet  finden,  wie  es  nur  am 
besten  ausführbar  ist. 

Was  Piaton  am  Nus  des  Anaxagoras  vermißte,  die  Rücksicht  auf 
das  Gute  —  Diogenes  scheint  es  von  dem  pythagoreischen  Harmonie- 
und  dem  allgemein  griechischen  Maßgedanken  aus,  für  Sokrates-Platon 
unzulänglich,  erwogen  zu  haben  (fr.  3). 

Der  Hinweis  auf  die  Lebensfunktion  als  breite  Variation  der  Anaximenesthese 
fr.  4:  Ferner  kommen  dazu  noch  folgende  wichtige  Beweise.  Die  Menschen  und  die 
übrigen  Lebewesen  leben  durch  Einatmen  der  Luft.  Und  dies  ist  ihnen  Seele  und  Geistes- 
kraft (l  orjcng),  wie  in  dieser  Schrift  noch  klar  dargelegt  werden  wird,  und  wenn  sie  sich 
lostrennt,  dann  sterben  sie  und  die  Geisteskraft  erlischt. 

Die  merkwürdig  naive  Gleichsetzung  von  Luft  und  Geist  fr.  5:  xal  iioi  doxst  to 
■njr  votjoiv  €/ov  tivai  b  ctrjQ  xakovfxevog  vno  twv  avd-Qwnoiv,  xal  vno  tovtov  ndvTag  xal 
xvßeoräo&ai  xal  nävTOJV  xqaTziv  •  amb  yäo  /uot  tovto  &tog  doxsT  elvcu  xal  hü  näv  dcfJ^^at 
xal  nävra  diaTi&evai  xal  iv  navil  sveivai.   xal  touv  ovde  st>  o  ti  juij  ixiitysi  tovtov. 

Und  dieses  mit  Geisteskraft  Ausgestattete  ist  meines  Bedünkens  das,  was  von  den 
Leuten  die  Luft  genannt  wird,  und  es  lenkt  alle  und  beherrscht  alle.  Denn  gerade  dieses, 
dünkt  mich,  ist  Gott,  ist  allgegenwärtig  und  alles  verwaltend  und  in  allem  vorhanden. 
Und  es  gibt  auch  nicht  das  Geringste,  das  nicht  an  seinem  Wesen  teilhätte. 

Wir  können  der  Überlieferung  dankbar  sein,  daß  sie  uns  die  Quint- 
essenz vorsokratischer  Metaphysik,  soweit  sie  nicht  der  Eleatismus 
innerlich  begriffen  und  in  sich  aufgenommen  hat,  noch  einmal  zusammen- 
gefaßt aufbewahrt  hat.  Es  bestätigt  sich,was  der  ganze  Verlauf  gezeigt  hatte : 
die  „Entseelung64  der  Natur,  die  dem  modernen  Menschen  selbstverständ- 
lich ist,  die  ästhetisch,  religiös  wieder  aufzuheben  gelegentlich  sein 
Bemühen  ist,  sie  ist  eine  ungeheure  Abstraktionsleistung.  Der  Begriff 
einer  Materie,  einer  mechanischen,  auf  Schwere,  Trägheit  oder  ähnlich 
„entseelten"  Vorgängen  beruhenden  Bewegung  mußte  erst  in  ungemein 
schwierigen  Gedankengängen  entdeckt  werden,  und  gegen  die  Anfänge 
dieses  Prozesses  innerhalb  des  griechischen  Denkens  setzte  in  der 
attischen  Philosophie  sofort  ein  gewaltiger  Gegenstoß  ein. 

Die  genannte  Abstraktion  ist  am  weitesten  in  der  letzten  Ausstrah- 
lung der  eleatischen  Schule,  in  der  Atomistik,  durch  Leukippos  und 
Demokritos  vollzogen  worden.  Hier  vollendet  sich  die  im  Eleatismus 
angelegte  Umwandlung  des  Problems  in  ein  Postulat :  die  Charakteristika 
des  Einen  und  Ganzen  werden  auf  die  unzähligen  „Atome",  d.  h.  nicht 
weiter  auflösbaren  Einheiten  des  Vielen,  der  ttoXXcc,  restlos  übertragen. 

Arist.  de  gen.  corr.  A  8,  324b  35 ff.  —  Diels  Vors.  54  A  7;  dazu  Burnet- Schenkl 
303  ff.  Das  Leere  als  Voraussetzung  der  Bewegung  angenommen,  Demokr.  fr.  156: 
fxr]  fläkkov  to  d£v       TO  /urjOt-v  ftre.i. 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Echt  eleatisch  wird  die  Erkenntnis  dieser  Einheiten  die  echte,  die 
sinnliche  dagegen  die  unechte  genannt  (Dem.  fr.  11),  wobei  freilich 
wieder  typisch  griechisch  die  echte  nur  die  Fortführung  der  sinnlichen 
bleibt : 

orav  >)  oxoxty  utjxeit  dvi'tjrcu  jmjTe  bqrjv  in'  i-kariov  [xtjrs  axovfiv  [x^rs  odfxäa&ai  jutjrf 
}'fif(h'hci  ui'jif-  ir  jiji  ipavosi  cclo&txvGG&cu,  dkk'  im  ke7uöj£Qov  (det]i  ^tjtsJv,  tots  imyivsjai 
i\  ;  i  ',0V;  an  ogyccrop  fyovocc  tov  riöocct  kemoTsgor)  (ergänzt  v.  Diels). 

„Wenn  die  unechte  nicht  mehr  ins  Kleinere  sehen  oder  hören  oder 
riechen  oder  schmecken  oder  tasten  kann,  sondern  die  Untersuchung  ins 
Feinere  geführt  werden  muß,  dann  tritt  an  ihre  Stelle  die  echte,  die  ein 
feineres  Denkorgan  besitzt".  Der  Wirbel,  die  Bewegung  der  Atome 
(Dem.  fr.  167/168),  erfolgt  ohne  besonderen  Anstoß,  ohne  die  Liebe  und 
den  Haß  des  Empedokles,  ohne  den  Geist  des  Anaxagoras.  Aber  auch  nicht 
etwa  durch  Zufall,  Leukipp,  fr.  2 : 

ovdiv  XQ^iUa  yfrBTCU,  eckka  ndvTa.  ix  koyov  rs  xai  in'  dvdyxrjg. 

Kein  Ding  entsteht  ohne  Ursache,  sondern  alles  aus  bestimmtem  Grunde  und  unter 
dem  Drucke  der  Notwendigkeit. 

Daß  auch  hier  von  keiner  Schwere  oder  Trägheit  im  physikalischen 
Sinne  die  Rede  ist,  halte  ich  durch  die  kurze  Geschichte  der  Vorstellung 
von  Schwere  bei  Burnet- Schenkl,  S.  311,  für  erwiesen,  so  sicher  die  Ab- 
sicht, auf  die  ich  oben  die  Unklarheiten  des  Anaxagoreischen  Nus- 
begriffes  zurückführte,  hier  noch  deutlicher  ist.  Um  diese  Absicht  zu 
verstehen,  muß  man  sich  die  Bedeutung  von  löyog  und  äväyy.ri  im 
Zusammenhange  dieses  Leukippfragmentes  überlegen.  Alles  Erkennen 
sucht  Gesetzmäßigkeiten  zu  erfassen;  je  ausnahmsloser,  „unfreier", 
zwangsläufiger,  der  äväyy.rj  entsprechend  die  Gesetzmäßigkeit  ist,  desto 
mehr  ist  dem  Logosbedürfnis  entsprochen.  Deshalb  konnten  die  Ato- 
misten  hier  einen  neuen  und  eigentlichen  Geistbegriff  postulieren  — 
das  zitierte  Wort  des  Leukipp  steht  in  einer  Schrift  tisql  vovl  Wir 
müssen  uns  nun  immer  gegenwärtig  halten,  daß  die  antike  Metaphysik 
so  weit  wie  möglich  die  Scheidung  einer  Kultur-  und  Natursphäre  ver- 
mied. Dies  ermöglichte  einerseits  das  Festhalten  an  dem  Begriffe  des 
Lebens  in  seiner  diese  Scheidung  überbrückenden  Allgemeinheit,  be- 
wirkte aber  gleichzeitig,  daß  die  der  Natursphäre  angemessene  Art  der 
Gesetzmäßigkeit  auch  auf  die  Kultursphäre  übergreift.  Auch  das  Men- 
schenleben steht  für  Demokrit  unter  einer  aus  sich  wirkenden  Gesetz- 
mäßigkeit, die  nicht  zu  stören  die  Hauptpflicht  des  Menschen  wird.  Die 
übergreifende  Einheit  der  Welt,  um  die  sich  Anaximander  und  Solon 
bemühten,  bleibt  auch  hier  das  Ziel. 

Burnet  hat  S.  314  m.  E.  mit  vollem  Rechte  auf  zwei  Umstände  hingewiesen,  die 
diesen  scharfen  Beobachter  und  Denker  gehindert  haben,  die  Schwere,  besonders  in 
der  Form  der  kosmischen  Fliehkraft,  und  damit  die  der  physikalischen  Natur  für  sich 
angemessene  Gesetzlichkeit  zu  erkennen.  Einmal  die  bei  der  geozentrischen  Auffassung 
natürliche  Meinung,  daß  die  Erde  als  das  Schwerste  gerade  im  Mittelpunkt  bleibt  — ■ 


D 


DIE  ENTWICKLUNG  BIS  ZUR  SOPHISTIK 


79 


hier  haben  die  Wirbeltheorien  sich  redlich  abgequält,  eine  Erklärung  zu  finden.  Zweitens 
die  nach  Arist.  de  anima  2,  403b  28  von  Demokrit  angegriffene  pythagoreische  Theorie 
von  den  „schwerelosen"  Sonnenstäubchen,  über  die  oben  S.  49  einiges  gesagt  wurde, 
das  ebenso  für  die  „Monadologie"  der  Atomisten  gilt. 

Was  immer  wieder  beobachtet  werden  kann,  daß  der  Glaube  an  eine 
feststehende,  unverbrüchliche  Gesetzmäßigkeit  die  Tatkraft  nicht  nur 
nicht  ausschaltet,  sondern  befördert,  bestätigt  sich  auch  hier.  Derjenige 
Denker,  der  den  Satz  des  Leukipp  von  Xöyoc  und  ävdyxrj  sich  sicher- 
lich voll  angeeignet  hat,  prägt  das  Wort:  Gut  ist  noch  nicht  Nicht- 

0  Freveln,  sondern  Nicht-einmal-freveln-wollen  (Dem.  fr.  62 ;  vgl.  68,  89). 
Fragment  119  beweist,  wie  einheitlich  die  naturhafte  und  menschliche 
Gesetzmäßigkeit  gemeint  ist:  Die  Menschen  haben  sich  ein  Idol  des  Zu- 
falls gebildet  zur  Beschönigung  ihrer  eigenen  Ratlosigkeit.  Denn  nur  in 
seltenen  Fällen  wirkt  der  Zufall  der  Klugheit  entgegen:  das  meiste  im 
Leben  weiß  ein  wohlverständiger  Scharfblick  ins  Gerade  zu  richten. 
Dazu  das  schöne  Wort  fr.  176:  Der  Zufall  ist  freigebig,  aber  unzuver- 
lässig, die  Natur  dagegen  ruht  auf  sich  selbst  (cpvöig  de  adräQxijc).  Und 
darum  trägt  sie  mit  ihren  geringeren,  aber  zuverlässigen  Mitteln  doch 
den  Sieg  davon  über  die  größeren  Verheißungen  der  Hoffnung. 

0  Natur  und  Erziehung  werden  verglichen  als  zwei  aufeinander  bezogene 
parallele  Mächte,  fr.  33:  „Die  Natur  und  die  Erziehung  sind  ähnlich. 
Denn  die  Erziehung  formt  den  Menschen  um,  aber  durch  diese  Um- 
formung schafft  sie  Natur."  An  Solons  Verhältnis  zu  dem  Dichter  der 
Götterversammlung  im  Anfang  der  Odyssee  (s.  o.  S.  28)  werden  wir 
erinnert,  wenn  wir  hören:  Die  Götter  gewähren  den  Menschen  alles  Gute, 
jetzt  und  ehedem.  Nur  alles,  was  schlimm,  schädlich  und  unnütz  ist, 
das  schenken  die  Götter  weder  jetzt  noch  ehedem  den  Menschen,  sondern 
sie  selbst  tappen  hinein  infolge  ihrer  Sinnesverblendung  und  Torheit 
(fr.  175). 

o  Daß  die  Götter  hier  nichts  anderes  sind  als  die  Garanten  der  in  sich 
ruhenden  (pvoig  adrccQy.rjc  (fr.  176),  geht  aus  der  „atheistischen"  Haltung 
der  Atomisten  hervor  (vgl.  etwa  fr.  30,  das  sich  gegen  Diogenes  richten 
könnte :  Einige  der  gelehrten  Männer  erheben  die  Hände  zu  dem  Orte, 
wo  wir  Hellenen  sagen,  daß  die  Luft  sich  befinde,  und  sprechen  dabei: 
alles  beredet  Zeus  mit  sich  ...  ). 

Lucrez  zeigt,  daß  bei  dem  größten  Temperamentsunterschied  die 
atheistische  Struktur  der  atomistischen  Weltanschauung  noch  nach 
Jahrhunderten  dieselbe  bleibt.  Wenn  Lucrez  im  ersten  Buch  einen  Hym- 
nus auf  Empedokles  einlegt  in  aller  Form  religiöser  Apotheose  - 
|o  so  ergibt  sich  aus  dem  Vergleich  eine  bei  allen  Atomisten  anzutreffende 
neue  geistige  Haltung.  Bei  Empedokles  sahen  wir  die  Apotheose  des 
Menschen  in  der  oben  S.  72  beschriebenen  Form,  der  Lucrezens  Hymnus 
gut  entspricht.  Bei  Demokrit  ist  äußerlich  der  Anblick  ganz  anders. 
Gelassen  und  frei  von  jedem  übermenschlichen  Anspruch  findet  auch  er 


80 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


das  Göttliche  zunächst  im  bedeutenden  Menschen  —  von  ihm  stammt 
die  erste  Theorie  des  Genies,  fr.  18  —  schließlich  in  jedem  Menschen, 
der  den  störenden  Überschwang  der  Individualität  zu  dämpfen  versteht: 
die  Seele  wird  das  Haus  eines  Dämons  (fr.  171).  Die  Seele  des  sich  be- 
herrschenden, zu  Maß  und  Stille  bestimmenden  Menschen  wird  die  Quelle 
derjenigen  Güter,  die  die  Menschen  sonst  auf  die  Götter  zurückführen, 
fr.  170:  eddctifiovty  lpv%fjg  xal  xaxodaifiovii]  Seligkeit  und  Unseligkeit 
ruht  in  der  Seele. 

Einsicht  und  Wissen,  ativetfig  und  imartfiut]  gehören  zu  diesem  Tugend- 
begriff (fr.  181),  und  so  weist  auch  diese  Haltung  auf  die  sich  gleich- 
zeitig entwickelnde  attische  Philosophie  hin. 

Es  ist  merkwürdig,  wie  vielfältig  und  in  ihrem  einheitlichen  Ursprung 
oft  schwer  erkennbar  alle  diejenigen  Lehren  und  Haltungen  sind,  die 
entweder  sachlich  aus  dem  Eleatismus  entsprangen  (wie  die  Atomistik) 
oder  die  zur  Bestätigung  eigener  Lehren  auf  diese  erste  und  größte 
logische  Metaphysik  oder  metaphysische  Logik  zurückgegriffen  haben. 

Dies  gilt  von  der  negativen  Metaphysik  der  Sophisten,  negativ, 
insofern  bei  gleichbleibender  Argumentation  die  unausgesprochenen 
geistigen  Grundlagen  sich  schließlich  ins  Gegenteil  verkehren,  der  Nus 
zum  subjektiven  Einzelbewußtsein  wird.  Je  länger  man  die  Entwicklung 
des  griechischen  Denkens  in  der  angegebenen  Weise  verfolgt,  desto 
fließender  wird  der  Ubergang,  der  von  Zenon  zu  Protagoras  und  Gorgias 
führt;  jedenfalls  gehört  Demokrit  schon  völlig  in  diese  Bewegung  hinein, 
genau  so  wie  sich  das  Weltbild  des  Thukydides  mit  den  eben  skizzierten 
Tendenzen  nach  einer  allmächtigen,  aber  dem  Menschen  kein  Wollen  und 
Tun  ersparenden  Gesetzmäßigkeit  leicht  in  Zusammenhang  bringen  läßt. 

Die  Tendenzen,  die  wir  bisher  festgestellt  haben,  kulminieren  in 
folgender  Weise,  überspitzen  sich,  isolieren  sich  voneinander  und  rufen 
Neues  auf  den  Plan: 

1.  Die  „atheistische"  Tendenz  wird  wirklich  zur  Gottesleugnung ;  nicht 
zur  Aufnahme  des  Göttlichen  aus  dem  Makrokosmos  in  den  Mikrokosmos, 
sondern  zu  einem  Bestreiten  des  Göttlichen  in  jeder  Form,  als  allge- 
meiner, aufreizender,  vor  allem  unverbindlicher  Zweifel:  Protagoras 
fr.  4:  „Von  den  Göttern  vermag  ich  nicht  zu  erkennen,  ob  sie  sind 
oder  ob  sie  nicht  sind,  noch  welcher  Art  ihre  Gestalt  sei.  Vielfältig  ist 
nämlich  das,  was  eine  Erkenntnis  von  ihnen  hindert,  einerseits  ihre 
Unerforschbarkeit,  andrerseits  ist  das  menschliche  Leben  zu  kurz". 
Oder  verdächtigende  kulturphilosophische  Ableitung  des  Götterglaubens 
von  Bosheit  und  Dummheit  (Kritias,  fr.  25).  Charakteristisch  ist  die 
säkulare  Stimmung  bei  Thrasymachos  (fr.  1  der  politischen  Musterrede), 
verbunden  mit  einer  bewußten,  das  TiQeaßvTaxov  ableugnenden  „Jugend- 
bewegung44 :  „Ich  wünschte  wohl,  Athener,  ich  hätte  in  jener  alten  Zeit 
gelebt,  als  die  Jüngeren  schweigen  durften,  da  die  Verhältnisse  sie  nicht 
zwangen,  öffentlich  zu  reden,  und  die  Älteren  den  Staat  richtig  verwal- 


D      DIE  ENTWICKLUNG  DER  VORSOKRATISCHEN  METAPHYSIK  81 


teten.  Da  uns  aber  das  Geschick  in  eine  solche  Zeit  gestellt  hat,  wo  wir 
zwar  auf  andere,  die  den  Staat  beherrschen,  hören,  das  Unheil  aber  selbst 
tragen  müssen,  das  —  und  das  ist  das  Schlimmste  —  nicht  Werk  der 
Götter  oder  des  Zufalls,  sondern  der  jeweils  Verantwortlichen  ist,  so 
ist  es  notwendig,  zu  sprechen." 

2.  Die  Wichtigkeit  der  einzelnen  Individualität  übersteigert  sich  :  (Pro- 
tag, fr.  1,  TtavTtav  xQ7ifl^T(,)V  pfToov  earlv  äv&Qwnoq.  Der  Mensch  ist 
das  Maß  aller  Dinge),  wobei  die  verpflichtende  Berufung  auf  die  im 
Seelenkern  ruhenden  und  wachzurufenden  göttlichen  Kräfte  zurücktritt, 
also  vom  „Menschen"  nichts  übrig  bleibt  als  leere  Subjektivität. 

3.  Der  Erkenntnis-  und  Lernbegriff  verflacht;  die  Einheits-  und 
Ganzheitstendenz  des  voelv  geht  verloren.  Dem  theoretischen  Sensua- 
lismus entspricht  ein  lediglich  enzyklopädisches  Bereitstellen  und 
Aneignen  von  fertigem,  handgerechtem  Wissen,  jene  natürliche  Folge 
einer  gesteigerten  Produktion  echter  einzelwissenschaftlicher  Erkennt- 
nisse, die  wir  allenthalben  sich  ankündigen  sahen. 

4.  Aus  dem  zweiten  ergibt  sich  die  Notwendigkeit,  dem  aus  seinen 
Bindungen  befreiten  Ich  eine  neue  Form  überpersönlicher  Inhalte  im 
Politischen  zu  schaffen  (Demokratie).  Allenthalben  erwacht  das  Interesse 
am  Staate,  an  der  Polis,  an  der  Geschichte,  an  der  Kulturkritik,  d.  h.  an 
Theorien  über  die  Bürgertugend,  äqex^  7iofoux?j,  vor  allem  aber  an 
dem  Mittel  der  Beeinflussung  der  anderen:  Rhetorik,  als  Kunst  über- 
zeugender Rede  (Gorgias  in  Piatons  gleichnamigem  Dialoge  453  a; 
Diels  76  A,  29;  27).  Aus  dem  dritten  folgt,  daß  das  an  sich  haltlose  und 
ungegründete  Wissen  von  Tatsachen  zur  Neugliederung  der  Gesellschaft, 
zur  sozialen  Differenzierung  eingesetzt  wird.  Daher  die  doppelte  Absicht 
aller  Sophisten :  Vermittlung  fertigen  Wissens,  „Bildung",  und  zugleich 
der  Anspruch,  politische  Tüchtigkeit  und  Einfluß  in  der  Polis  ver- 
schaffen zu  können. 

Wir  nannten  die  Sophistik  negative  Metaphysik;  sie  könnte  auch 
defiziente  Anthropologie  heißen.  Sie  macht  alle  positiven  Aufgaben  der 
Metaphysik  und  Anthropologie  besonders  deutlich. 

In  Attika  hatte  sich  ein  —  im  Gegensatz  zur  Sophistik  —  boden- 
ständiges Denken  auf  allen  den  bisher  genannten  Gebieten  gerade  so 
weit  entwickelt,  daß  nun  der  Rückschlag  gegen  die  Sophistik,  der  Vor- 
stoß zu  einer  neuen  Metaphysik,  erfolgen  konnte.  Wir  hatten  bisher  den 
Anschein  nicht  gemieden,  als  ob  die  Entwicklung  der  griechischen  Meta- 
physik vorwiegend  eine  problemgeschichtlich  zu  betrachtende  Eigen- 
bewegung des  „objektiven  Geistes"  sei,  in  der  die  einzelnen  Individuen 
weniger  als  Individualitäten  denn  als  Ausdruck  einer  höheren  Gesetz- 
lichkeit zu  betrachten  sind.  In  Sokrates,  Piaton  und  Aristoteles  stehen 
nun  drei  Größen  vor  uns,  die  aus  X6yog  und  ärdyxrj  nicht  zu  erklären  sind. 

Daß  Sokrates  in  die  Geschichte  der  Metaphysik  gehört,  ist  erst  zu 
beweisen.  Auch  hier  liegt  eine  „negative"  Metaphysik  vor  —  aber  in 

Handb.  d.  Phil.  I.    D  6 


82 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


anderem  Sinne  als  bei  den  Sophisten.  Dort  ein  Aufgeben  und  Fallen- 
lassen mächtiger  Aufgaben,  die  vorher  schon  alle  gestellt  und  ange- 
faßt waren,  oder  —  noch  gefährlicher  —  ihre  Scheinlösung.  Hier  bei 
Sokrates  das  übermächtige  Bewußtsein  der  Verantwortung  jeder  ein- 
zelnen Aufgabe  gegenüber,  und  daher  ein  ebenso  großer  Zweifel,  die 
Aufgabe  theoretisch  lösen  zu  können,  wie  der  unerschütterliche  Glaube, 
trotzdem  im  Sinne  der  Aufgabe  leben  zu  sollen.  War  die  Sophistik 
ungenügende  Lehre  vom  Menschen,  so  ist  Sokrates  das  Paradeigma  des 
Menschen,  das  für  den  geeigneten  Betrachter  den  Logos  des  Menschen 
neu  zu  finden  ermöglicht.  Es  hat  nie  ein  bedeutenderer  Mensch  größere 
Biographen  gehabt  als  Sokrates  in  seinen  Schülern  —  und  das  heißt  für 
uns :  in  Piaton.  Mit  Sokrates  beginnt  sich  die  griechische  „Metaphysik" 
auf  ihre  eigenste  und  engste  Aufgabe,  den  Menschen,  zu  konzentrieren, 
und  Piaton  tritt  den  Nachweis  an,  daß  diese  zugleich  ihre  größte  und 
reichste  werden  und  daß  in  dieses  Gefäß  der  gesamte  Inhalt  der  bisherigen 
Metaphysik  aufgenommen  werden  kann.  Der  Ansatzpunkt  ist  der  denk- 
bar einfachste,  wenn  man  auf  Piatons  Kritik  des  Anaxagoras  im  Phaidon 
immer  wieder  hinblickt :  es  ist  der  Vorrang  der  Frage :  was  soll  ich  tun  ? 
vor  der  Frage :  was  ist  ?  Die  durch  Kant  gekennzeichnete  Lösung  des 
metaphysischen  Problems  ist  hier  genau  vorgezeichnet  —  vielleicht  auch 
die  Richtung  ihrer  tieferliegenden  Überwindung,  d.  h.  der  Vereinigung 
des  Sollens  und  Seins  im  Menschenbegriffe.  Kant  selbst  stellte  über  die 
drei  Fragen :  was  kann  ich  wissen,  was  soll  ich  tun,  was  darf  ich  hoffen  ? 
die  vierte :  was  ist  der  Mensch  ? 

IV.  DIE  NEUBEGRÜNDUNG  DER  METAPHYSIK  IN  DER 
ATTISCHEN  PHILOSOPHIE. 

1.  ATTISCHES  DRAMA.  SOKRATES. 
Um  die  Leistung  des  Sokrates  zu  kennzeichnen,  wird  seit  dem  Alter- 
tum gern  die  Wendung  gebraucht,  er  habe  die  Philosophie  vom  Himmel 
herabgerufen  und  unter  den  Menschen  des  Marktes  usw.  angesiedelt. 
(Cicero,  Tusc.  V  ivio.)  Die  gesamte  bisherige  Darlegung  der  griechischen 
Metaphysik  muß  gezeigt  haben,  in  welchem  durchaus  eingeschränkten 
Sinne  dies  richtig  ist,  wie  weit  dieses  „Herabführen"  denn  überhaupt  nötig 
war.  Man  könnte  eher  die  in  der  Sophistik  zum  Durchbruch  kommende 
Entwicklung  dadurch  kennzeichnen,  daß  sie  erst  die  Voraussetzungen  ge- 
schaffen hat,  von  denen  aus  ein  Gegensatz  zwischen  den  Dingen  am  Himmel 
und  den  Angelegenheiten  der  Menschen  so  erlebt  wird,  wie  er  in  jenen 
Worten  bei  Cicero  zum  Ausdruck  kommt.  Denn  die  vorsophistische  Meta- 
physik philosophierte  instinktiv  und  grundsätzlich  aus  einer  Haltung 
heraus,  für  die  der  Logos  das  „ganze  Sein"  —  die  Welt  im  weitesten  Sinne 
und  das  menschliche  Tun  in  ihr  im  engsten  Sinne  konkreten  Handelns  — 


D 


ATTISCHES  DRAMA.  SOKRATES 


83 


gleichmäßig  umspannte,  und  erst  seit  der  Sophistik  gab  es  für  beide 
Seiten  besondere  Wissenschaften.  Von  der  Wissenschaft  der  „Meteora", 
der  Dinge  am  Himmel,  und  auch  der  „unter  der  Erde  ruhenden  Geheim- 
nisse der  Natur",  konnte  der  Sokrates  der  platonischen  Apologie,  dem  die 
Parodie  philosophischer  „Exaktheit"  in  den  Wolken  des  Aristophanes 
vorschwebte,  mit  Recht  erklären,  er  betriebe  sie  nicht.  Ein  halbes  Jahr- 
hundert später  kann  Piaton  im  Theaitetos  (173  e)  mit  Berufung  auf  Tha- 
ies, also  auf  das  vorsokratische  Bild  des  Philosophen,  dem  Sokrates  Worte 
in  den  Mund  legen,  die  wie  eine  ausdrückliche  Zurücknahme  des  in  der 

10  Apologie  (17b)  Gesagten  klingen;  denn  hier  ist  es  Pflicht  und  Vorrecht 
des  Weisen,  sich  um  die  „Dinge  am  Himmel"  und  die  „unter  der  Erde" 
zu  kümmern,  mag  er  auch  dadurch  den  Ränken  des  Marktes  und  des 
Gerichtes  hilflos  unterliegen.  Das  klingt  immer  noch  echt  im  Munde  des 
Sokrates  für  den,  der  sich  seinen  Tod  Jahrzehnte  später  in  seiner  inneren 
Notwendigkeit  vorzustellen  sucht,  und  Piaton  hat  den  Lehrer  nie  etwas 
sagen  lassen,  das  aus  dem  Idealbilde  herausgefallen  und  mit  seinem  tief- 
sten Wesen  unvereinbar  gewesen  wäre.  So  bezeichnen  diese  beiden  Stellen 
der  Apologie  und  des  Theaitetos  die  Pole,  zwischen  denen  sich  die  Theorie 
einer  metaphysischen  Anthropologie  notwendig  bewegen  muß,  wenn  sie 

20  auf  die  Frage  Kants  „was  ist  der  Mensch"  eine  dem  vollen  Sinn  dieser 
Frage  entsprechende  Antwort  sucht.  Diese  Antwort  kann  dem  einen  oder 
dem  anderen  Pole  bald  näher,  bald  ferner  bleiben;  bald  sucht  dieseWissen- 
6chaft  sich  der  auch  alles  menschliche  Tun  umspannenden  Gesetzmäßig- 
keit kontemplativ  zu  bemächtigen  —  „was  kann  ich  wissen  ?"  — ,  bald 
wendet  sie  sich  zu  den  Pflichten  des  Menschen  in  seiner  irdischen  Welt 
und  stellt  ihm  die  Frage  der  Freiheit  vor  Augen :  „was  soll  ich  als  Mensch 
und  Bürger  dieser  Welt  tun  ?",  bald  sucht  sie  in  der  dritten  Frage,  „was 
darf  ich  hoffen",  religiös  sich  des  Zusammenhanges  der  beiden  ersten 
Fragen  zu  versichern. 

30  Nachdem  wir  jene  ciceronische  Charakterisierung  in  ihrer  Berechti- 
gung eingeschränkt  haben,  dürfen  wir  zugeben,  daß  in  ihr  ein  richtiger 
Kern  ist;  die  griechische  Metaphysik  gewinnt  in  der  attischen  Philosophie 
eine  bestimmtere  neue  Bodenständigkeit  „in  diesem  Leben",  die  Entwick- 
lungslinie, die  wir  durch  die  Stufen  Hesiod  und  Solon  bezeichnet 
haben,  setzt  sich  fort,  und  zwar  unmittelbarer  als  die  übliche  Anordnung 
Sophistik- Sokrates  zeigt.  Man  darf  nicht  vergessen,  daß  Sokrates  geboren 
wurde,  als  die  Generation  der  Marathon-  und  Salamiskämpfer  noch  lebte 
und  dem  jungen  Menschen  noch  das  Bild  einer  in  sich  ruhenden,  von 
einem  fast  übermenschlichen  kriegerischen  und  nationalen  Erfolge  getra- 

40  genen  Stadtgemeinschaft  einpflanzen  konnte.  Hiermit  hängt  die  philo- 
sophische Haltung  des  Sokrates  eng  zusammen.  Es  kann  ein  Denker,  wie 
die  Sophisten,  von  Stadt  zu  Stadt  wandern  und  über  die  Dinge  des 
Staates  verallgemeinernd  und  abstrahierend  reflektieren;  oder  er  kann 
aus  der  Heimat  auswandernd  die  Fassung  der  väterlichen  Gesetze  freier 

D  6* 


84  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 


gestaltend  für  eine  Kolonie  sich  die  geeignetste  Staatsform  aussinnen  — 
ein  unter  den  Griechen  recht  häufiger  Typus  staatsphilosophischer  Be- 
tätigung — ;  er  kann  wie  Sokrates  in  seiner  Vaterstadt  wurzelnd  sie  auch 
in  eigener  Not  und  von  ihr  verkannt  festhalten  (Kriton  50  c  ff.)  und  aus 
einer  schlechthin  unüberbietbaren  tätig-leidenden  Verbundenheit  heraus 
an  ihr  in  ,,ideierender  Anschauung"  das  Wesen  der  Stadt  und  der  mensch- 
lichen Gemeinschaft  überhaupt  denkend  erfassen  und  sie  in  tätigem  vor- 
bildlichem Leben  und  Sterben  in  höchster  Leibhaftigkeit  und  Anschau- 
lichkeit darstellen. 

Bei  dieser  Verwurzelung  des  Sokrates  in  der  heimischen  Erde  —  von 
Bauerngesinnung  hat  man  mit  Recht  bei  diesem  attischen  Ackerbürger 
sprechen  können  —  muß  hier  ein  Wort  über  das  attische  Drama  gesagt 
werden.  Wie  für  die  Darstellung  der  ersten  Periode  des  metaphysischen 
Denkens  das  Epos  berücksichtigt  werden  mußte,  so  hier  bei  der  zweiten 
diejenige  Kunstgattung,  in  der  attisches  Gestalten  und  Denken  aus  man- 
nigfaltigen äußeren  Anstößen  und  Anregungen  sich  eine  charakteristische 
Form  geschaffen  hat,  die  für  den  platonischen  Dialog  Vorbild  wurde. 

„Piaton  will  der  diccdo/og  der  großen  attischen  Kunst  sein,  in  ihm  sind  der  ideale 
Tragiker  und  Komiker  des  Symposion  zu  einer  höheren  Einheit  aufgehoben"  (Jaeger, 
Studien  zur  Entstehungsgeschichte  der  Metaphysik  des  Aristoteles,  1912,  140).  Wir 
dürfen  uns  hier  wesentlich  kürzer  fassen,  weil  das  auf  alles  Spätere  in  seiner  Wirkung 
übergreifende  homerische  Epos  ausführlich  entwickelt  ist,  vor  allem  aber,  weil  wir  nun 
neben  dem  dichterisch  geformten  Gesamtbilde  der  Welt  in  der  attischen  Philosophie 
eine  viel  vollständigere  Darstellung  des  metaphysischen  Denkens  haben  als  in  der 
ersten  fragmentarisch  überlieferten  Epoche  —  abgesehen  von  Sokrates! 

Die  Beziehung  des  Solon  zu  dem  homerischen  Warnermotiv  (s.  o. 
S.  25  ff.)  hat  eine  große  Parallele  in  den  „Eumeniden"  des  Aeschylus, 
die  uns  in  den  Mittelpunkt  desjenigen  metaphysischen  Weltfühlens  und 
-denkens  versetzen,  das  wir  als  den  Untergrund  der  attischen  Philosophie 
verstehen  müssen.  Es  ist  hier  wie  in  der  Odyssee  die  Freveltat  des 
Aigisthos  und  der  Klytaimnestra,  die  bei  ihrem  Weiterwirken,  dem 
Muttermord  des  Orestes  und  dessen  Entsühnung,  in  der  Gestaltung 
durch  Mythos  und  Tragödie  mit  der  Geschichte  Athens  und  der  Idee, 
die  für  jene  Generationen  sich  in  ihr  verkörperte,  verknüpft  wird. 

Aeschylus  fand  folgende  Überlieferung  vor,  deren  zum  Teil  widersprechende,  zum 
Teil  vielleicht  auch  bereits  für  ihn  unbestimmte  Züge  sich  ihm  zum  unmittelbaren 
Ausdruck  dieser  Idee  gestalteten.  Apollo,  der  den  Muttermord  des  Orestes  an  Kly- 
taimnestra nach  dem  Gesetz  der  Blutrache  forderte,  hilft  ihm  auch  gegen  die  zürnende 
Seele  der  Mutter  und  die  mit  ihr  verbündeten  Gottheiten  der  mütterlichen  Erdtiefe, 
indem  er  diese  mit  Gewalt  vertreibt  und  durch  ein  je  nach  Zeit  und  Glauben  verschieden 
gestimmtes  Sühnritual  den  Mörder  vom  Mutterblute  reinigt  und  so  endgültig  entsühnt. 
Aus  einer  ganz  neuen  Schicht  von  Anschauungen  stammt  die  andere  Nachricht,  daß 
Orestes  wie  manche  anderen  Blutverbrecher  vor  dem  Blutgerichtshof  in  Athen  auf 
dem  Areopag  erschienen  und  dort  freigesprochen  worden  sei,  wobei  allerdings  der 
Muttermord  nicht  das  Entscheidende,  sondern  der  Mord  an  Aigisthos  mindestens 
ebenso  wichtig  war  (vgl.  v.  Wilamowitz,  Einl.  in  die  Übersetzung  der  Eumeniden). 
Aeschylus  vereinigt  beide  Hauptschichten  der  Überlieferung  so,  daß  er  im  ersten  Akte 


D 


ATTISCHES  DRAMA 


85 


Apollo  die  Erynnien  aus  seinem  Tempel  verjagen,  sie  aber  den  Orestes  nach  Athen  ver- 
folgen läßt,  wo  dieser  auf  Apollos  Rat  Entsühnung  sucht,  und  er  betont  das  Ätio- 
logische des  Mythos,  in  dem  zu  einer  bestehenden  Einrichtung  der  mythische  Anlaß, 
die  Ursache  ihrer  Einsetzung,  gesucht  wird. 

Obwohl  die  beiden  streitenden  Mächte,  die  Erynnien  und  Apollo, 
bereit  sind,  sich  dem  Spruch  der  Athene  zu  unterwerfen,  lehnt  diese  es 
ab,  diesen  besonderen  Rechtsfall  zu  entscheiden  und  setzt  den  Areopag  ein. 
Zum  ersten  Male  also  werden  Menschen,  Bürger  der  Stadt  Athen,  zu  diesem 
Richteramt  berufen.  Alle  göttlichen  Mächte  unterwerfen  sich  dem  mensch- 
lichen, freilich  von  Athene  sichtbar  eingesetzten  Gerichtshofe.  Sie  selbst 
stimmt  als  letzte  ab,  und  offen  gibt  sie  ihre  Stimme  dem  Freispruch,  der 
mit  Stimmengleichheit  erfolgt,  nach  dem  alten  Rechtsgrundsatz,  daß  im 
Zweifelsfalle  für  den  Angeklagten  entschieden  wird.  Die  alten  Gottheiten 
der  Erdtiefe  begehren  auf,  aber  Athene  versöhnt  sie,  indem  sie  den  Kult 
der  Eumeniden  in  Athen  einrichtet  und  die  erste  Prozession  anführt,  die 
die  versöhnten  Erinnyen,  nun  wirklich  „Eumeniden",  zu  ihren  Wohn- 
sitzen am  Fuße  der  Burg  geleitet. 

Das  Zurückgreifen  auf  die  kultische  Urbedeutung  der  Tragödie,  indem 
sich  alle  Darsteller,  ein  ansehnlicher  Teil  des  Volkes,  am  Schluß  in  jubeln- 
dem Festzuge  vereinigen,  die  ätiologische  Einsetzung  eines  höheren  Ge- 
richtshofes, dessen  Kompetenzbeschränkung  auf  die  im  Einsetzungs- 
mythos vorgegebene  Blutgerichtsbarkeit  im  geschichtlichen  Augenblick 
der  Dichtung  eine  hohe  innerpolitische  Bedeutung  hatte,  die  Aktualität 
des  Bündnisses  zwischen  Athen  und  Argos,  als  dessen  König  Orestes  auf- 
tritt, die  Rezeption  der  möglicherweise  argivischen  Bezeichnung  Eume- 
niden zusammen  mit  der  Befriedung  jener  aus  früherer  Religiosität  stam- 
menden unheimlichen  Gottheiten,  die  Lokalisierung  ihres  Kultes  in  Athen 
—  alles  das  gibt  der  über  dem  Ganzen  stehenden  ungeheuerlichen  Idee, 
göttliche  Mächte  unter  ein  schlichtes,  wenn  man  will  ratloses,  jedenfalls 
zu  keiner  eigentlichen  Entscheidung  gelangendes  menschliches  Gericht 
zu  stellen  und  dadurch  diesem  Gerichte  und  der  ganzen  Stadt  sinnfällig 
göttliche  Legitimierung  und  göttliche  Kraft  zu  verleihen,  jene  Boden- 
ständigkeit in  der  Konkretion  dieser  in  Athen  am  Dionysosfeste  des 
Jahres  458  aufgeführten  Tragödie.  Dieses  Ineinander  von  Idee  und  un- 
mittelbarer substantieller  Existenz  zu  erfassen,  als  Ausdruck  einer  ganz 
bestimmten  metaphysischen  Haltung  zu  würdigen,  ist  unsere  eigentliche 
Aufgabe  an  dieser  Stelle  unserer  Erörterungen.  Die  Chöre  der  versöhnten 
Eumeniden,  die  nun  statt  des  Unglücks  alles  Glück,  das  mütterliche  Erd- 
gottheiten spenden  können,  der  Stadt  in  Aussicht  stellen,  klingen  an  die 
Gedanken  der  solonischen  Eunomia  (s.  S.  27)  deutlich  an  (V.  976 — 987): 

Und  er,  nimmer  satt  des  Unheils,  nie  soll  durch  diese  Stadt, 

ich  wünsche  es  ihr,  der  Bürgerkrieg  dröhnen;    nie  möge 

der  Staub,  trank  er  schwarzes  Blut  der  Stadtgenossen, 

im  Heimzahl-Eifer  neuen  Unheils  mörderisch 

Entgelt  heischen  in  der  Stadt.  Freudenzoll  sollen  sie 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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tauschen,  den  Sinn  dem  Ganzen  zugetan, 
Und  eines  Herzens  sei  ihr  Haß. 

Das  ist,  unter  Menschen,  vieler  Dinge  Heilung.  R.  Härder. 

Die  Stellen  Piaton  Timaios  40b  und  Aeschylus  Choephoren  127  „die 
Erde,  unsere  Nährerin,  die  alles  erzeugt  und  nährt",  wiederholen  Ge- 
danken, wie  wir  sie  oben  (S.  27)  aus  den  homerischen  Gedichten  belegen 
konnten;  die  sinnfällige  Einheit  der  Entwicklung  bei  allem  Wandel  der 
Erscheinungsformen  ist  der  zweite  für  die  Geschichte  der  griechischen 
Metaphysik  wichtige  Zug. 

Wird  aber  nicht  in  den  „Eumeniden"  die  Herrschaft  den  Göttern  10 
aus  der  Hand  genommen  und  der  menschlichen  Gemeinschaft  übergeben  ? 
Klingt  das  nicht  auch  an  die  Rede  des  Thrasymachos  an,  die  wir  S.  80 
anführten?  Dieser  Vergleich  ist  der  wichtigste;  denn  wir  sehen  doch  so- 
fort die  große  Verschiedenheit:  die  Zeit  der  Götter  ist  nicht  vorüber, 
aber  ihr  Sein  wird  anders  aufgefaßt.  Wenn  irgendwo  Schillers  Wort  sich 
mit  Anschauung  füllt,  dann  hier;  nimm  die  Gottheit  auf  in  deinen  Willen, 
und  sie  steigt  von  ihrem  Herrscherthron.  Die  entscheidende  Entwicklung 
zur  Immanenz  des  Übersinnlichen  im  Sinnlichen,  die  die  Philosophie  erst 
in  langem  schwerem  Ringen  sich  begrifflich  klar  machte,  ist  von  der 
dichterischen  Gestaltung  vorweggenommen  worden.  20 

Wilamowitz  hat  dies  in  schlichter  Deutlichkeit  so  ausgedrückt  (a.  a.  O.  246):  „Die 
geordnete  menschliche  Gesellschaft,  deren  Ordnung  der  Staat  ist,  deren  Organe  die 
Beamten  und  Gerichte,  übernimmt  die  Pflicht,  für  die  sittliche  Gesundheit  der  Gesell- 
schaft zu  sorgen:  dann  werden  solche  Taten,  die  den  Rächerinnen  verfielen,  gar  nicht 
geschehen;  kommt  es  aber  doch  dazu,  so  kann  die  mündig  gewordene  Gesellschaft  selbst 
die  Ahndung  übernehmen.  Die  Menschheit  ist  in  ein  neues  Stadium  der  Entwicklung 
übergetreten,  wo  sie  sich  ohne  das  materielle  Eingreifen  der  göttlichen  Personen  er- 
halten kann:  sie  kann  es  freilich  nur,  indem  sie  den  ewigen  Mächten,  die  bisher  von 
außen  gewaltsam  eingriffen,  in  sich  eine  bleibende  Stätte  bereitet.  Der  Mensch  ist 
frei  geworden;  seine  Freiheit  benutzt  er  dazu,  durch  den  gemeinsamen  Willen  zum  30 
Guten  seine  Gesellschaftsordnung  zu  schaffen,  der  sich  der  Einzelne  unbeschadet  seiner 
Freiheit  unterwirft.  Diese  Ordnung  ist  der  Staat;  er  genügt,  aber  genügt  nur,  weil  und 
so  lange  er  ein  Organ  der  Sittlichkeit  und  der  Freiheit  zugleich  ist." 

Diese  Freiheit  des  Handelns  wird  nun  das  wichtige,  die  metaphysische  Problem- 
stellung bestimmende  Motiv,  die  auch  in  der  Verbrecherin  Klytaimnestra  wirksame 
gottbewußte  Freiheit,  aus  welcher  alle  Kraft  und  Freudigkeit  zum  Besten  und  Edel- 
sten fließt"  (Welker,  Götterlehre  I  249)  bei  Wilamowitz  S.  47,  der  so  fortfährt:  „von 
der  ahnt  der  Orient,  einerlei  ob  arisch,  semitisch  oder  ägyptisch,  nichts.  Ob  Aischylos 
größer  ist,  wenn  er  durch  die  vollen  Töne  der  Hingabe  an  die  Gottheit  unser  Herz 
erbaut,  oder  wenn  er  es  durch  die  furchtbaren  Taten  und  Leiden  der  menschlichen  40 
Willensfreiheit  erschüttert,  bemesse  ein  jeglicher  nach  der  eigenen,  vermutlich  wechseln- 
den Erfahrung." 

Die  innere  Freiheit,  deren  Anbruch  Aeschylus  dem  Zeus  als  Verdienst 
zuschreibt  (Agamemnon  176) : 

JOV  <fiQOV£7v  ßQoxovg  öduj 
■d-tvra  xvQi'ojg  t/tw, 


Der  zur  Einsicht  führt  die  Menschen 
Und  den  Satz  „durch  Leiden  lernen1,4 
Hingestellt  hat  als  Gesetz.  F.Jacoby. 


D 


ATTISCHES  DRAMA 


87 


auch  hierin  das  hesiodeische  Dike-Motiv  aufgreifend,  steht  mit  dem 
unübersetzbaren,  den  Kern  aller  griechischen  Metaphysik  berühren- 
den Worte  der  Phronesis  in  enger  Verbindung.  Diese  Besinnungskraft,  die 
zur  Besonnenheit  aco-cpQoavvT]  bei  Solon  führte,  beruht  auf  dem  Glauben 
an  eine  einheitliche  verstehbare  Weltordnung,  in  der  ein  Ausgleich  von 
Frevel  und  Übermut,  von  allem  Übermäßigen,  Maßlosen  zu  erwarten  ist, 
in  der  es  demnach  möglich  ist,  sein  Tun  zu  regeln  nach  dem  bestimmten, 
erkennbaren  Verhältnis  von  Schuld  und  Strafe,  also  Einsicht  zu  lernen 
durch  die  Paradeigmata  großen  Leides   in  mythischer  Vorzeit  oder 

10  eigenes  Erfahren  der  Wirkungen  (nd&si  fiä&oc).  Eine  solche  Maßlosigkeit  ist 
der  immer  weiterlaufende  Vergeltungsgedanke  der  Blutrache,  der  Selbst- 
hilfe der  sich  gegenseitig  zerfleischenden  Sippen.  Die  höhere  Ordnung, 
die  zunächst  einfach  einmal  Schluß  macht,  sühnt  und  befreit,  ist  hier 
nun  so  sichtlich  wie  nur  möglich  die  Polis  und  der  in  ihr  verkörperte 
Staatsgedanke.  Der  Staat  als  richtende  Instanz  sagt:  die  Rache  ist  mein; 
er  mäßigt  die  Rache  zur  Strafe,  wo  Blut  vergossen  ist,  aber,  was  noch 
wichtiger  ist,  er  verhindert  solche  Taten,  er  „erzieht"  zum  Besseren  in 
dem  entscheidenden  griechischen  Sinne,  der  gestattet,  Bürger  einer  wohl- 
regierten Stadt  „Erzeugnisse  und  Zöglinge44,  yevvijfjiaTa  und  Ttccidev/uaTa 

io  der  Götter  zu  nennen  —  so  heißen  die  Bürger  der  uralten  Athenestadt 
bei  Piaton  Timaios  24  d.  Wir  können  das  alles  in  breitester  Ausführung 
im  Kriton  Piatons  als  die  feste  Überzeugung  des  Sokrates  lesen. 

Die  attische  Philosophie  brauchte,  um  aus  dem  Gedankengut,  das  in 
einer  Tragödie  wie  den  „Eumeniden"  als  ein  weithin  sichtbares  Paradeigma 
gestaltet  war,  die  echte  vollwertige  Münze  theoretischer  Erkenntnis  zu 
schlagen,  eine  lange  Zeit  und  mannigfache  Vorbereitung.  Die  Tragödie 
von  Aeschylus  bis  Euripides  vollzog  langsam  aber  unverkennbar  eine  An- 
näherung an  die  eigentliche  Sprache  des  Logos.  Sophokles  betont  aller- 
dings, wo  ihm  allgemeinere  Erwägungen  anzustellen  gut  scheint,  inner- 

*o  halb  der  geschilderten  Gesamtauffassung  von  göttlichem  und  mensch- 
lichem Wesen  stärker  die  grundsätzliche  Verschiedenheit  von  Gott  und 
Mensch,  die  unbedingte  Überlegenheit  Gottes;  Goethes  Worte:  „sie  halten 
die  Herrschaft  in  ewigen  Händen  und  können  sie  brauchen,  wie's  ihnen 
gefällt"  bezeichnen  seinen  Standpunkt,  den  alt  -  griechischen  Ge- 
danken des  Erkenne  Dich  selbst,  d.  h.  erkenne  dich  in  deinen  mensch- 
lichen Grenzen1).  Euripides  dagegen  ist  vielleicht  in  keinem  Punkte 
Sokrates  verwandter  als  dort,  wo  auch  er  der  archaischem  Denken  un- 
faßbaren Einsicht  auf  der  Spur  ist,  daß  Göttliches  und  Menschliches 
nirgends  tiefer  ineinander  übergehen  als  im  innersten  sich  auf  sich  selbst 

»0    stellenden  denkenden  Menschengeiste. 


*)  Vgl.  v.  Wilamowitz,  Reden  und  Vorträge  S.  171,  sowie  Regenbogen:  Die  Ge- 
schichte von  Solon  und  Kroisos,  Hum.  Gymn.  1930,  I,  1,  R.  Härder,  Uber  Ciceros 
Somnium  Scipionis  1929,  6,  bes.  Anm.  5. 


88 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Auch  Sokrates  könnte  wie  Euripides  fragen:  wer  immer  du  bist,  Zeus,  du  schwer 
erkennbarer,  Gesetz  der  Natur  oder  Geist  der  Sterblichen 

oötk  (nor)  el  av  dvaronctCTOs  eiai&etv, 
Zeig,  Sit  dvayxtj  yvoeog  ehe  vov  g  ßgoruiv, 

Vgl.  dazu  die  wichtigen  Betrachtungen  von  K.  Reinhardt  über  Seele  und  Gott  (Kosmos 
und  Sympathie,  S.  276  ff.). 

Wir  sehen  an  dieser  Stelle,  wie  der  Subjektivierungsprozeß,  den  mit 
immer  neuen  Retardierungen  die  Geschichte  der  Metaphysik  darstellt, 
auch  auf  die  Tragödie  übergreift  und  sie  damit  aufzulösen  beginnt.  Die 
Vermenschlichung  des  Göttlichen  schreitet  in  breiter  Front  in  verschie- 
denen Formen  immer  weiter  vor;  aber  wie  in  aller  geistigen  Entwicklung 
tritt  zugleich  ein  Ausgleich  ein,  in  dem  das  Menschliche  durch  eben  diesen 
Vorgang  erhoben  und  zur  Freiheit  entbunden  wird  und  den  archaischen 
Bindungen  entwächst.  Euripides,  der  an  der  obigen  Stelle  so  merkwürdig 
allgemein  theoretisch  diesen  Vermenschlichungsprozeß  der  obersten  Po- 
tenz erwägt,  geht  in  der  Einordnung  der  heroischen  Gestalten  in  die 
Formen  menschlichen  Lebens  am  weitesten  und  gleicht  so  den  Unter- 
schied zwischen  der  Tragödie  und  ihrem  Spiegelbild,  der  Komödie,  aus. 
In  ihr  werden  die  göttlichen  Gestalten  zum  Spiel  der  freien  Gestaltungs- 
kraft und  höchsten  inneren  Freiheit.  Wo  die  Komödie  menschliches  Leben 
behandelt,  da  schlägt  sie  den  entgegengesetzten  Weg  wie  die  alte  Tragödie 
ein.  Während  diese  die  konkrete  Gegenwart  —  die  Stadt  und  ihre  Ein- 
richtungen —  auf  deren  göttliche  Ursprünglichkeit  und  Würde  zurück- 
führt, verlängert  die  Komödie  den  Gang  der  Entwicklung  nach  der  andern 
Zeitdimension,  der  Zukunft;  sie  steigert  den  Verfallsprozeß  zu  den  gro- 
tesken Phantasiebildern  höchster  Entartung,  erfindet  utopische  Folgen 
derjenigen  Tendenzen  und  Antriebe,  von  denen  sie  die  Zeit  beherrscht 
glaubt,  und  erfüllt  so,  selbst  in  „interesselosem  Spiel44  den  eigenen  Er- 
ziehungswillen verbergend,  dieselbe  Aufgabe  wie  die  Tragödie,  den  mün- 
dig gewordenen  individuellen  Geist  auf  die  Kräfte  seiner  entbundenen 
Subjektivität,  aber  auch  auf  die  ihm  drohenden  Gefahren,  auf  die  größte 
des  allgemeinen  hemmungslosen  Un-Ernstes  aufmerksam  zu  machen. 
Spiel  und  Ernst,  naidid  und  artovS^  wird  ein  tiefes  Problem  der  platoni- 
schen Weltanschauung  und  im  „ernsten44,  aus  allzu  großer  Gelöstheit 
sich  anspannenden  Menschen,  im  arcovdaioc,  sieht  spätere  Philosophie 
das  Kriterium  der  Sittlichkeit.  Darum  haben  Sokrates  und  Piaton  die 
innere  Beziehung  zur  Komödie,  beide  in  sehr  verschiedener  Weise.  Denn 
die  Grundfrage  aller  Metaphysik,  wieweit  Freiheit  und  Subjektivierung 
der  Individualität  zum  Wesen  des  Menschen  gehört  und  für  ihn  der  un- 
vermeidliche Zugang  zum  Absoluten  ist,  wieweit  andererseits  diese  Sub- 
jektivierung andere  Schichten  des  personalen  Daseins  auflöst  und  zer- 
setzt —  diese  Urfrage  aller  Metaphysik  bewegt  Sokrates  und  muß  ihn 
bewegen,  weil  er  die  Veränderung  der  geistigen  Substanz  seiner  Um- 
welt, die  Entgegensetzung  und  Entgegenwirkung  ionischer  und  attischer, 


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ATTISCHES  DRAMA 


89 


staatsgelöster  und  stadtgebundener  Geistigkeit  mit  offenen  Augen  mit- 
leidslos und  klar  verfolgt  und  aus  dem  Entwicklungsgesetz  seiner  Zeit 
die  Folgerungen  zu  ziehen  den  Mut  und  die  Kraft  hat. 

Als  Aeschylus  seine  Orestie  dichtete,  gab  es  wohl  Schwierigkeiten  der 
äußeren  und  inneren  Politik  für  Athen,  aber  „in  keinem  Augenblicke  ist 
die  Einigung  von  Hellas  unter  der  Herrschaft  Athens  der  Verwirklichung 
so  nahe  gewesen,  hat  die  Volkskraft  Athens  auf  allen  Gebieten  mensch- 
lichen Strebens  sich  so  frisch  und  stark  fühlen  dürfen,  hat  die  Barke 
des  athenischen  Glückes  so  vollen  Wind  zur  geradesten  Fahrt  in  den 

10  Segeln  gehabt"  (v.  Wilamowitz  1.  c.  308).  Aus  solchem  Dasein  heraus 
erhielt  die  staatlich-nationale  Gemeinschaft  die  Kraft,  die  gesamte  Wirk- 
lichkeit unmittelbar  zu  beeinflussen.  Auch  in  das  eigentliche  Selbst- 
bewußtsein des  Menschen,  in  sein  Wissen  um  seine  Individualität  ging 
das  Wissen  um  die  Zusammengehörigkeit  mit  der  Stadt  und  ihren  Bür- 
gern unreflektiert,  ungebrochen  ein,  und  zwar  mit  einer  Selbstverständ- 
lichkeit, die  aus  theoretischer  Reflexion  auf  die  Gehalte  eines  derartigen 
Gemeinschaftsbewußtseins  wieder  zu  erzeugen  für  spätere  Zeiten  eine 
besondere  Aufgabe  werden  muß.  Dieses  Gemeinschaftsbewußtsein  darf 
dann  als  ein  religiöses  bezeichnet  werden,  wenn  es  sich  nicht  in  dem 

20  schlichten  Haben  der  Realität  der  eigenen  Person  im  Kreise  der  Gemein- 
schaft erschöpft,  sondern  sich  in  eine  Seins-  und  Sinnesschicht  hinein- 
steigert, die  dieser  gesamten  Existenz  als  ein  tieferes,  eigentliches  bei- 
steht und  innewohnt  —  der  Ausdruck  „gegenübersteht44  sei  absichtlich 
vermieden. 

Dieses  Bewußtsein  eines  anderen,  tieferen,  ist  in  einem  Dasein  von  der  geschilderten 
Art  immer  zunächst  ein  religiöses  Fühlen  göttlicher  Kräfte  und  ein  Schauen  göttlicher 
Gestalten.  Je  sicherer  das  einzelne  Ich  sich  mit  den  anderen  seinesgleichen  verbunden 
weiß,  desto  selbstverständlicher  und  reibungsloser  erträgt  es  die  Vielheit  göttlicher 
Gestalten  und  Kräfte,  und  es  sorgt  höchstens  für  die  Eintracht  in  dem  göttlichen 
30  Bezirk,  für  die  Versöhnung  etwa  widerstreitender  göttlicher  Ansprüche.  Der  Zusammen- 
hang der  beiden  eben  angedeuteten  Gedankenreihen,  d.  h.  die  Zugehörigkeit  einer 
bestimmten  staatlichen  Existenzweise  zu  einer  bestimmten  Religiosität  kann  nicht 
schlichter  und  sinnfälliger  ausgedrückt  werden  als  durch  das  Bild  der  „Eumeniden"; 
durch  einen  geschichtlichen  Akt  der  Stadtgemeinde,  durch  eine  zu  bestimmter  Zeit  zu 
denkende  Rezeption  von  Gottheiten,  durch  eine  befriedende  Einsetzung  eines  Kultes  und 
Ritus  wurde  hier  die  Einigkeit  zwischen  widerstreitenden  göttlichen  Kräften  hergestellt 
und  nun  wieder  aus  dieser  Einigung  die  Stärkung  und  Sicherung,  das  Gedeihen  und 
Erstarken  der  heimatlichen  Stadtgemeinde  hergeleitet.  Daß  aus  einem  gottgewollten, 
aber  faktisch  von  freien  Bürgern  vollzogenen  geschichtlichen  Akt  eine  Zurechtsetzung, 
40  eine  Schlichtung  göttlichen  Streites  und  daraus  ein  auf  die  Stadt  zurückquellender 
Segen  entsteht  —  dieses  schlicht  hingenommene  Wechselverhältnis  ist  für  die  religiöse 
Durchleuchtung  des  Daseins  charakteristisch. 

Wo  immer  ein  solcher  naiver  und  großer  Glaube  auch  in  veränderten 
Formen  auftritt,  da  ist  er  ein  Durchgang  durch  einen  Zenith,  dem  der 
allmähliche  Abstieg,  der  Übergang  in  andere  Formen  des  Bewußtseins 
folgen  muß,  unaufhaltsam,  aber  in  anderem  Sinne  wieder  Bereicherung 
und  neuen  Aufstieg  ermöglichend.  Im  Leben  des  Sokrates,  der  kein  Dichter 


90  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 


und  kein  „Schreiber"  („zusammenfassen"  Hegt  im  griechischen  Worte 
£ryyo(<(f  t-rc)  war,  der  selbst  also  die  Stufen  der  Entwicklung  nicht  im 
Hilde  festhielt,  sondern  die  dauernde  Bewegung  in  sich  als  Erkenntnis 
aufspeicherte  und  so  in  sein  persönliches  Handeln  aufnahm,  mußte 
dieses  griechische  religiöse  Bewußtsein  angesichts  der  immer  problemati- 
scher werdenden  Wirklichkeit  schließlich  auch  als  metaphysische  Hal- 
tung anders  werden.  Für  denjenigen,  der  wie  Sokrates  die  Störung  jenes 
Gleichgewichtes  von  göttlichem  Sinnbestande  des  Daseins  und  seiner 
äußeren  Form  empfand,  gab  es  viele  Möglichkeiten:  z.  B.  konnte  er,  wie 
es  ihrer  Heimat  entwurzelte  kluge  Zeitgenossen  taten,  auch  an  den  Göt-  10 
tern  zweifeln,  er  konnte  an  allem  zweifeln  und  damit  wie  Protagoras 
im  Menschen  und  seinem  Denken  ein  Maß  für  alle  Wirklichkeit  ent- 
decken; oder  er  konnte  als  Dichter  wie  Aristophanes  das  Bild  der  Auf- 
lösung gestalten  und  durch  Parodia  die  eigentliche  Weise  hören 
lassen,  oder  er  konnte  einfach  unter  den  veränderten  Verhältnissen 
weiterleben  und  sein  eigenes  Dasein  im  engeren  persönlichen  Kreise 
durchzuführen  suchen  —  wie  wohl  immer  die  meisten  tun;  schließlich 
konnte  er  auch  ohne  die  befreiende  Heiterkeit  des  Aristophanes  als 
klagender  Reaktionär  die  „gute  alte  Zeit"  herbeiwünschen,  ihr  Äußeres 
festzuhalten,  vielleicht  sogar  zu  übertreiben  und  aus  der  Absonderung  20 
von  der  Gegenwart  das  eigene  Dasein  aufzubauen  versuchen;  dies 
tun  zu  allen  solchen  Zeiten  viele,  ohne  sich  dadurch  allzusehr  von  der 
als  drittes  geschilderten  Klasse  zu  unterscheiden.  Prüfen  wir  alle  diese 
Haltungen  auf  ihre  metaphysische  Stellung  zum  Dasein,  so  ergeben  alle, 
so  verschieden  sie  sind,  ein  Gemeinsames:  alle  wenden  den  Menschen  auf 
sich  selbst,  sie  reizen  die  Kräfte  der  Subjektivität,  es  schwindet  die  Im- 
manenz des  Sinnes  im  Dasein;  was  eigentlich  ist  —  oder  sein  sollte  — 
stellt  sich  der  Wirklichkeit  entgegen  als  ein  Unwirkliches,  insofern  im 
Dasein  der  Sinn  vermißt  oder  gar  nicht  mehr  gesucht  wird,  als  spieleri- 
sches Gegenbild,  als  schwacher  Abklatsch  der  Erinnerung  und  Tradition  30 
—  man  erkennt  unschwer  allenthalben  eine  unkräftige  Nachwirkung  und 
Umformung  eleatischer  dualistischer  Motive. 

In  Sokrates  sind  merkwürdigerweise  alle  diese  Verhaltungsweisen 
anzutreffen,  aber  sie  sind  weitergedacht  und  vorgetrieben  bis  zu  einem 
Punkte  der  Vereinigung,  der  allem  ein  anderes  Gesicht  gibt,  der  in  der 
Zusammenfügung  aller  dieser  Züge  zu  einer  persönlich  sachlichen  Ein- 
heit das  Negative  jedes  einzelnen  Zuges  zum  Positiven  wendet  und  nun 
von  erhöhtem  Standpunkt  aus  den  Rückgriff  auf  das  gute  Alte  ge- 
stattet. 

Der  erste  Punkt  ist  der  wichtigste  und  bedarf  etwas  längerer  Erörte-  40 
rung.  Daß  Sokrates  die  geistigen  Voraussetzungen  zu  einem  alles  um- 
fassenden Zweifel  besaß,  daß  er  wie  sein  Zeitgenosse,  der  Sophist  Gorgias, 
den  Gedanken  fassen  konnte,  zur  Beurteilung  aller  Realität  erst  einmal 
außerhalb  dieser  Realität  im  Nicht- Seienden,  im  Nichts  Stellung  zu  neh- 


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men,  ist  sicher;  sicherer  noch,  daß  er  bewußter  und  klarer  als  alle  Sophi- 
sten durch  diesen  Schritt  gerade  zur  Erschaffung  einer  neuen  Wirklich- 
keit und  ihrer  Bewahrung  mit  Hilfe  der  Denkkraft  geführt  wurde. 

Doch  hier  ist  Vorsicht  geboten;  wir  dürfen  nicht  einen  Augenblick  die  Bewußtheit 
des  Sokrates  mit  der  eines  Descartes  verwechseln  —  wir  würden  sonst  den  entscheiden- 
den metaphysischen  Zug  an  Sokrates'  geistiger  Existenz  verkennen.  Vielmehr  müssen 
wir  uns  an  seine  Mittelstellung  in  der  Abfolge  der  Zeit  erinnern;  er  war  doch  noch  ein 
Mensch  des  5.  Jahrhunderts.  Man  vergesse  nicht,  wie  rasch  die  griechische  Philosophie 
immer  wieder  verstand,  dem  Nicht- Seienden  einen  positiven   Sinn  abzugewinnen 

0  (Parmenides  —  Atomistik,  Gorgias  —  Piaton  „Sophistes"  und  „Parmenides"),  und 
wie  eben  nur  in  den  Sophisten  —  merkwürdig  genug  —  der  Anfang  einer  radikalen 
Negation  im  eigentlichen  Sinne  anzuklingen  scheint.  Und  so  soll  dem  Sokrates  ein 
bewußt  theoretisch-metaphysischer  Einsatz  des  Nicht- Seienden  in  der  Weise  der 
neueren  Philosophie  seit  Descartes  durchaus  nicht  zugeschrieben  werden,  wohl  aber  eine 
praktische  Negation,  die  den  Sinn  des  Daseins  und  damit  des  menschlichen  Tuns 
in  Zweifel  zu  ziehen  wagt.  Die  merkwürdige  Stelle  am  Schlüsse  der  Apologie  40 cd, 
auf  die  wir  oben  S.  58  im  Zusammenhang  des  Heraklitischen  „Seins  zum  Tode"  bereits 
hinwiesen,  an  der  Sokrates  alle  bewußte  Fülle  des  Lebens  für  minderwertig  hält,  ver- 
glichen mit  dem  Glück  eines  traumlosen  Schlafes,  dem  wirklichen  (pQov&v  to  fxrj^ev 

0  ydiGTov  des  sophokleischen  Aias  —  diese  Stelle  soll  sicher  keine  Augenblicksstimmung 
des  zum  Tode  verurteilten  Angeklagten  bedeuten,  vielmehr  gehört  diese  Abwertung  des 
menschlichen  Lebens  in  den  Zusammenhang  delphischer  apollinischer  Weisheit,  des 
yvu')&i  ceccvTov,  von  dem  wir  schon  sprachen,  kurz,  in  die  religiöse  Sphäre.  Der  Grund- 
gedanke dieser  Religiosität  ist  der,  daß  alles  menschliche  Wesen  nichtig  ist  vor  dem 
göttlichen,  daß  eine  möglichst  kurze  Spanne  dieses  Lebens,  ja  gar  nicht  geboren  zu 
werden,  höchstes  Glück  ist  und  daß  alle  Erkenntnis,  vor  allem  die  Selbsterkenntnis, 
eben  diesen  Sinn  hätte,  dem  Menschen  seine  Nichtigkeit  klarzumachen  (der  Zu- 
sammenhang des  Sokrates  mit  Delphi  ist  bekannt,  vgl.  außer  dem  Regenbogenschen 
Aufsatz,  der  naturgemäß  vor  allem  vom  Sinn  der  delphischen  Religiosität  in  der  Solon- 

0  Kroisos- Geschichte,  weniger  von  dem  Späteren  spricht,  R.  Herzogs  Anhang  zu  E. 
Horneffer,  Der  junge  Piaton,  und  auch  für  das  Folgende  meine  Darstellung  des  Sokrates 
Pauly-Wissowa-Kroll  R.  E.  III  A  811— 890  und  Piaton  d.  Erz.,  53—80). 

Zunächst  ist  also  zu  beachten,  daß  hier  der  Grundzug  der  griechi- 
schen Philosophie  auch  an  Sokrates  hervortritt,  der  „Primat  der  prak- 
tischen Vernunft",  wenn  man  unter  ihm  im  weiteren  Sinn  den  Vorrang 
des  vom  wertenden  Bewußtsein  als  notwendig  Erkannten  vor  dem  in 
theoretischer  Anschauung  Erfaßten  versteht. 

Nebenbei  bemerkt  dürfte  die  Einheit  der  verschiedenen  platonischen,  vielleicht 
sogar  auch  der  andern  Sokratesbilder  untereinander  und  mit  dem  Urbilde  weit- 
0    gehend  auf  gleichen  Wertungen  beruhen,  bei  freier  Variation  der  Vorstellungen,  der 
theoretischen  Erkenntnisse  usw.,  mit  denen  die  in  ihrer  personalen  Einheitlichkeit 
festgehaltene  Wertung  ausgedrückt  ist. 

Sokrates'  scheinbar  so  pessimistische  Wertung  des  Daseins  erstreckt 
sich  aber  nur  auf  die  menschliche  Sphäre,  und  auf  diese  auch  nur,  soweit 
sie  sich  auf  das  vereinzelte  Individuum  gründet  oder  genauer  darauf  zu 
gründen  versucht.  Sokrates  konnte  den  Anspruch  des  einzelnen  indivi- 
duellen Menschen,  das  Maß  der  Dinge  sein  zu  wollen  —  eine  nur  als  prak- 
tische Werterkenntnis,  noch  nicht  mit  erkenntnistheoretischer  Moderni- 
sierung aufzufassende  These  —  deshalb  mit  solcher  Schärfe  zurückweisen, 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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weil  er  in  jener  oben  mit  den  äschyleischen  Farben  bezeichneten  Haltung 
lebte,  in  der  göttliches  und  menschliches  Dasein  noch  in  gegenseitiger 
Immanenz  zur  Einheit  gebunden  war,  und  diese  Einheit  wirkte  sich  für 
ihn  schlicht  in  der  Tatgemeinschaft  der  konkreten  lebendigen  Polis  aus; 
sie  war  einfach  die  richtig  von  ihren  Mitgliedern  gelebte  und  „getane" 
Gemeinschaft.  Piaton  bezeichnet  am  Ende  seines  Lebens  mit  deutlicher 
Anspielung  auf  Protagoras  Gott  als  das  Maß  aller  Dinge;  für  Sokrates 
stellt  die  als  erste  metaphysische  Realität  gesetzte  Stadt  mit  ihren,  den 
einzelnen  Menschen  als  solchen  erst  möglich  machenden,  „Gesetzen"  und 
Einrichtungen  das  Göttliche  dar.  Die  dämonische  Stimme  seines  Inneren  10 
ist  gewiß  zunächst  sein  individueller  Dämon,  aber  gerade  dieser  rät  ihm 
immer  ab,  gegen  den  Sinn  der  Polis  zu  handeln,  noch  in  der  letzten  Ent- 
scheidung beim  Plan,  aus  dem  Kerker  zu  fliehen.  Dieses  Daimonion 
„redet"  nicht,  es  empfiehlt  nichts  positiv,  es  wehrt  nur  ab;  der  Logos 
redet,  der  aus  dem  Ganzen  der  Wirklichkeit  heraus  erfaßt  und  als  Logos 
(ratio)  zum  innersten  Besitz  gemacht  und  zum  inneren  Beweger  des  Men- 
schen erhoben  wird.  So  ist  die  Lehre  vom  Daimonion,  die  scheinbar  das 
Individuellste  am  Geiste  mit  dem  Göttlichen  in  Beziehung  setzt,  in  Wirk- 
lichkeit ein  Beweis  für  die  von  Sokrates  klar  erstrebte  Objektivierung  des 
Geistes;  das  Daimonion  ist  der  jeweils  nicht  zur  rationalen  Objektivie-  2( 
rung  gelangte  Restbestand  von  Irrationalem  und  Subjektivem,  der  in 
jedem  Augenblick  sich  geltend  machen  kann.  Die  ironische  Frage  des 
Sokrates  wendet  sich  also  gegen  jedes  bequeme  Vertrauen  auf  den  indi- 
viduellen Dämon,  solange  noch  Rechenschaft  und  Logos  möglich  ist, 
also  gegen  jedes  Liebäugeln  mit  „irrationaler"  Subjektivität.  Der  Zweifel 
des  Sokrates  richtet  sich  daher  in  einer  höchst  bedeutsamen  Steigerung 
der  Reflexion  gegen  diejenige  Instanz,  die  sich  im  Satze:  äv&QWTioc 
fi&cqov  änüvrcov  als  Kriterium  der  Wirklichkeit  anzubieten  begann,  gegen 
die  Subjektivität  selbst. 

Durch  diese  Überlegungen  sind  wir  bereits  zu  dem  zweiten  der  oben  3i 
aufgezählten  Punkte  gelangt.  Denn  aus  dem  Zweifel  an  der  Subjektivität 
ergibt  sich  sofort  die  Ironie  des  Sokrates,  die  auch  dem  eigenen  Ich 
gegenüber  festgehaltene,  den  anderen  aufgezwungene  Einsicht  in  das 
Nicht- Wissen,  die  damit  aufs  höchste  gesteigerte  Fragestellung  und  -hal- 
tung,  d.  h.  die  Bereitschaft,  jeden  sich  bietenden,  das  eigene  Ich  erwei- 
ternden Sinn  aufzunehmen. 

Über  die  sokratische  Ironie  und  ihren  Zusammenhang  mit  Frage  und  Zweifel 
vgl.  Kierkegaards  sehr  wesentliche  Bemerkungen  im  2.  Teil  seiner  Magisterschrift, 
bes.  S.  211  f.  der  Übersetzung  von  H.  H.  Schaeder,  ferner  P.  Friedländers  diesem  Kapitel 
gewidmete  geistvolle  Bemerkungen  Piaton  I  S.  160  flf.  4 

Soweit  diese  Ironie  sich  in  der  Prüfung  und  Entlarvung  des  Nicht- 
wissens betätigt,  zeigt  sie  deutlich  ihre  Verwandtschaft  mit  der  Komödie, 
und  die  innere  Beziehung  zwischen  der  geistigen  Freiheit  hier  und  dort 
scheint  jedenfalls  Piaton  stark  gefühlt  zu  haben.    Die  Komödie  stellt 


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SOKRATES 


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die  Frage  und  den  Zweifel  anschaulich  dar,  während  die  Tragödie 
des  Aeschylus  ein  heroisches  Vorbild  gezeigt  hatte.  Sokrates  konnte 
den  Sinn  seines  Daseins  —  damit  kommen  wir  zum  dritten  Punkte 

—  nur  durch  die  Betätigung  in  der  Stadt  aufweisen:  er  lebte  weiter  in  der 
Stadt,  aber  nicht  in  bequemer  Anpassung,  sondern  in  dem  oben  charak- 
terisierten Bewußtsein,  daß  seine  Mitarbeit  an  den  wahren  Ideen  des 
Gemeinwesens  zu  allen  Zeiten  möglich  und  gerade  in  problematischen 
Zeiten  die  einzige  wirksame  und  sinnvolle  „Philosophie"  sei.  Piaton  hat 
im  echtesten  sokratischen  Geiste  den  Meister  am  Ende  des  9.  Buches 
seines  Staates  versichern  lassen:  wo  das  Idealbild  des  Staates  existiere, 
das  bleibe  dahingestellt;  er  könne  immer  nur  das  tun,  was  dem  Sinn  des 
wahren  Staates  entspräche.  Deshalb  gerät  Sokrates  viertens  in  gelegent- 
lichen Lebensäußerungen  durchaus  an  die  Seite  derer,  die  den  alten  Staat, 
die  Ti&TQiog  7ToXiz€i'a,  wieder  erstehen  lassen  wollen.  Nur  daß  er  konse- 
quent sich  auf  die  inneren  Bedingungen  des  alten  Guten  besinnt,  diese 
in  sich  zu  erfassen  und  in  seinen  konkreten  Handlungen  zu  betätigen  und 
so  den  Sinn  der  staatlichen  sittlichen  Gemeinschaft  zu  verwirklichen  sucht. 
Nicht  „Staatsmann"  zu  sein,  nicht  Theoretiker  des  Staates,  sondern 
„einer  der  tüchtigen  Athener"  (hg  äv  Tig  eis;  r&v  %Qt(aT&v  ^AÜ^vaiMv  (Ion 
bei  Athenaios  XIII  604  d  von  Sophokles),  ein  Athener  wie  Tellos,  den  So- 
Ion  für  den  glücklichsten  Menschen  hielt,  das  ist  Sokrates'  Philosophie  — 
wie  auch  auf  Aeschylus'  Grabstein  nur  stand,  daß  er  bei  Marathon  mit- 
gefochten  hatte. 

Von  diesen  Grundlagen  aus  ist  es  möglich,  die  Daseinshaltung  des 
Sokrates  geschichtlich  scharf  zu  erfassen  und  zugleich  den  bisher  noch 
nicht  geklärten  Schritt  aus  einer  religiösen  Haltung  —  dies  gilt  auch 
von  der  spezifisch  staatsethisch  fundierten  Religiosität  der  alten  Griechen 

—  zur  metaphysischen  zu  präzisieren.  Der  Sinnzusammenhang  der  Welt, 
der  von  dem  religiösen  Bewußtsein  als  Ganzes  mit  seinen  Teilgestaltungen 
hingenommen  wird,  wird  in  metaphysischer  Überlegung  in  die  Form  sach- 
lich zusammenhängender  gegenständlicher  Evidenzen  übergeführt;  ihre 
Notwendigkeit  soll  nicht  nur  religiös  geschaut  und  gefühlt,  sondern  eigent- 
lich erkannt  werden.  So  teilt  Metaphysik  den  Gegenstand  mit  der  reli- 
giösen Besinnung,  drängt  aber  ihrer  Methode  nach  zu  den  „Wissen- 
schaften" hin;  hieraus  ergibt  sich  ihre  Problematik  und  vor  allem  ihre 
langsame  Entwicklung,  die  sie  zwischen  Religion  und  Wissenschaft  sich 
ihren  Weg  suchen  läßt.  In  Sokrates  wagt  die  Religiosität  den  kühnen 
Schritt  zur  Wissenschaft;  so  kühn  ist  der  Schritt  noch,  soweit  die  zu 
überschreitende  Kluft,  daß  der  Zweifel  und  die  Unsicherheit  des  Sokrates 
ganz  verständlich  sind.  Denn  Sokrates  greift,  wie  es  scheint,  sofort  nach 
dem  elementaren  notwendigsten  Werkzeug  der  Wissenschaft,  dem  Be- 
griff, und  will  mit  ihm  gerade  die  innere  Natur  der  ethisch  politischen 
Sphäre  erschließen.  Nach  drei  Seiten  verknüpft  ihn  diese  Absicht  mit 
seiner  Zeit  und  der  griechischen  Gesamtentwicklung.  Erstens  nach  der 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Vergangenheit  hin;  es  gipfelt  in  ihm  die  Aufklärungs-  und  Lichtungsten- 
denz des  griechischen  Geistes;  der  urwüchsige,  die  gesamte  Vorsokratik 
tragende  Glaube:  jede,  auch  die  im  engeren  Sinne  wissenschaftliche  Er- 
hellung eines  Wirklichkeitsgebietes  trägt  zur  umfassenden  Aufhellung 
des  menschlichen  Daseins  als  solchen  bei,  und  echtes  Wissen  und  echte 
Erkenntnis  muß  einfach  zusammenfallen  mit  jener  gerade  das  tätige 
Leben  des  Menschen  bestimmenden  „Besinnung",  der  (poörrjoig,  die 
allein  Bestand  und  Ordnung  des  Wirklichen  und  Wirkenden  garantiert. 
Dieser  urwüchsige,  naive  Glaube  an  die  ratio,  den  Logos,  geht  bei 
Sokrates  durch  den  Zweifel  hindurch  über  in  die  bestimmte  Forde- 
rung an  die  zeitgenössische  Wissenschaft,  sich  in  ihrem  eigenen  Er- 
kenntnischarakter  so  zu  bestimmen  und  zu  gestalten,  daß  sie  dieser 
Forderung  genügt. 

Hieraus  ergibt  sich  zweitens  sofort  die  Wirkung  des  Sokrates  nach 
vorwärts  auf  die  folgende  Philosophie,  besonders  auf  Piaton,  der  dieses 
durch  Sokrates  und  sein  Verhalten  aufgegebene  Programm  genau  in 
dessen  Sinne  durchzuführen  unternimmt.  Dieser  zweite  Punkt  bedarf 
keiner  näheren  Begründung  —  würde  doch  wahrscheinlich  diese  Auffas- 
sung des  Sokrates  eher  als  eine  Umdeutung  auf  Piaton  hin  erscheinen  als 
ihre  geradlinige  Fortsetzung  durch  Piaton  bestritten  werden. 

Vielleicht  trägt  aber  zur  Bestätigung  dieser  Sokratesauffassung  bei, 
daß  drittens  in  der  Dimension  der  sokratisch-sophistischen  Gegenwart 
sich  das  positiv  kritische  Verhältnis  des  Sokrates  zur  Sophistik  von  ihr 
aus  scharf  bezeichnen  läßt.  Sokrates  billigt  den  Einsatz  der  „Wissen- 
schaften" in  die  cpQÖvTjatg  unbedingt,  hält  ihn  für  unumgänglich,  bedient 
sich  infolgedessen  der  wissenschaftlichen  Problemstellungen,  Ansatz- 
punkte und  Methoden  (Dialektik!)  seiner  Zeit  bis  zur  Verwechslungsmög- 
lichkeit —  in  alter  und  neuer  Zeit  erschien  Sokrates  als  Sophist,  trotz 
Piatons  Kritik.  Er  greift  die  sophistische  Hauptthese  auf  von  der  Lehr- 
barkeit  der  Tugend  und  der  Gleichsetzung  von  Tugend  und  Wissen,  er- 
kennt aber  für  den  augenblicklichen,  vorliegenden  Stand  dieser  Er- 
kenntnis in  keinem  Punkte  irgend  etwas  von  diesem  allen  an!  Da- 
durch wird  Sokrates  das  Ferment  einer  positiven  Wissenschaftskritik, 
wobei  noch  eine  Alternative  offen  bleiben  muß.  Einmal  kann  er,  so  wie 
Piaton  selbst  die  sachliche  Situation  auffaßte,  in  der  Tat  die  Möglichkeit 
einer  anderen  Wissenschafts-  und  Erkenntnisart  selbst  gesehen  und 
deren  konkrete  Verwirklichung  positiv  befördert  haben.  Andererseits 
kann  seine  Wissenschaftskritik  radikaler  gewesen  sein  und  trotz  der 
von  ihm  sicher  zugegebenen  Verbesserungs-  und  Erweiterungsmög- 
lichkeit des  sophistischen  Wissens  sich  auf  Wissenschaft  schlechthin  in 
dem  Sinne  bezogen  haben,  daß  Wissenschaft  immer  zur  Kunde,  zum 
bloßen  Wissensstoff  werden,  d.  h.  in  ihrem  eigenen  Bestände  als  Wissen- 
schaft und  in  ihrer  (pQÖvtjoic  -  Fähigkeit  verdorben  werden  müsse,  wenn 
nicht  zu  jeder  Zeit,  auf  jeder  Stufe  wissenschaftlicher  Erkenntnis  noch 


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SOKRATES 


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besondere  Möglichkeiten  einer  inneren  Aneignung  und  Einverleibung  des 
Erkannten  und  Gewußten  ins  Auge  gefaßt  und  verwirklicht  werden. 

Die  Entscheidung  zwischen  diesen  beiden  Auffassungen  der  sokrati- 
schen  Wissenschaftskritik  wird  leichter  sein,  wenn  der  sokratische  , be- 
griff", das  Mittel  seiner  Kritik  und  damit  das  Organ  jener  Einverleibung, 
das  Kriterium  der  sokratischen  Elenktik  und  der  hinter  ihr  stehenden 
und  durch  sie  wirkenden  sokratischen  Phronesis  betrachtet  ist.  Denn  es 
kommt  nun  alles  darauf  an,  wie  der  „Begriff"  verstanden  wird.  Diese 
Frage  ist  besonders  wichtig,  wenn  man  sich  daran  erinnert,  daß  die  sog. 
Tugendbegriffe,  das  Tapfere,  Besonnene,  Gerechte,  Gute  der  ursprüngliche 
Bereich  des  sokratischen  Fragens  nach  dem  eigentlichen  Sinn  und  Wesen 
aller  jener  gemeinten  Bedeutungen  waren.  Hieraus  ergibt  sich  sofort, 
daß  in  der  Grundabsicht  des  sokratischen  Fragens  etwas  anderes  als  etwa 
eine  bloß  formale  Begrifflichkeit  beschlossen  war,  vielmehr  nach  einer 
materialen  Ontologie  zunächst  jener  Tugendbegriffe  gesucht  wurde.  So- 
fort aber  drängt  sich  nach  allem,  was  über  die  Verwurzelung  der  Philo- 
sophie des  Sokrates  in  seiner  konkreten  religiös  erlebten  Existenz  gesagt 
wurde,  die  Vermutung  auf,  daß  das  fundamentale  Sein,  nach  dem  in 
dieser  Ontologie  gefragt  wird,  nicht  lediglich  in  der  Sphäre  des  theoreti- 
schen Begriffes  liegen  kann.  Statt  die  Frage  nach  dem  „Sein44  dieser 
sokratischen  Wesensbegriffe  sofort  theoretisch  zu  wenden,  muß  dem 
Quellgebiet  der  sokratischen  Ontologie  entsprechend  die  „praktische44 
Struktur  dieser  Tugendbegriffe  und  demnach  der  praktische  Sinn  jener 
Tieferlegung  und  Begründung  aller  Wissenschaft  erfaßt  werden. 

Der  Ausgangsgedanke  ist  von  charakteristischer  Einfachheit.  Was  ist 
z.  B.  Tapferkeit  ?  Wer  weiß,  was  sie  „eigentlich44  ist  ?  Nicht  der,  der  eine 
einsichtige  Definition  weiß,  obwohl  es  wichtig  und  notwendig  ist,  eine 
solche  zu  suchen;  sondern  der  Tapfere  selbst,  der  wirklich  tapfer  Han- 
delnde muß  im  eigentlichen  Besitze  dessen  sein,  was  Tapferkeit  an  sich 
ist.  Nur  dann  also,  wenn  dieses  Haben  der  Bedeutung  „Tapferkeit44  sich 
als  Tun  einsetzen  kann,  ist  die  Substantialität  der  Tapferkeit  erreicht. 
Aber  andererseits  braucht  nicht  jeder,  der  das  äußere  erfahrungsgemäß 
mit  dem  als  tapfer  bezeichneten  Verhalten  verbundene  Gehaben  zeigt, 
tapfer  zu  sein,  noch  weniger  der,  der  am  falschen  Orte  und  zu  falscher 
Zeit,  kurz  in  einer  nicht  entsprechenden  Situation  dieses  Gehaben  an- 
wendet. Also  gehört  einmal  das  richtige  innere  Verhältnis  —  modern  ge- 
wendet: die  richtige  Gesinnung  beim  Tun  — ,  ferner  die  Unterscheidungs- 
gabe der  Situationen  dazu,  die  Erkenntnisfähigkeit  für  diejenigen  Situa- 
tionen, in  denen  gleichsam  als  Antwort  auf  eine  Frage  die  Reaktion  der 
Tapferkeit  zu  erfolgen  hat.  Man  muß  wissen,  wann  und  wo  Tapferkeit 
möglich  und  danach  notwendig  ist,  also  umgekehrt,  wo  diese  fehl  am  Ort 
wäre  und  Vorsicht,  „Furcht44  am  Platze  ist.  Also  wird  der  wirklich  Tap- 
fere, d.  h.  der  Furchtlose  im  eigentlichen  Sinne  zugleich  derjenige  sein, 
der  sich  an  der  richtigen  Stelle  fürchtet,  d.  h.  auf  das  äußere  Gebaren 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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der  Tapferkeit  verzichtet.  Ist  aber  das,  worauf  man  dann  verzichtet,  noch 
Tapferkeit  ?  Oder  ist  es  gerade  das  Wesen  der  Tapferkeit,  zu  wissen,  was 
furchtbar,  was  zu  fürchten  und  was  nicht  zu  fürchten,  was  Mut  erfordernd 
ist  ?  —  wie  es  schlicht  der  Sokrates  des  platonischen  „Laches"  formuliert 
(S.  194e).  Umgekehrt,  darf  jene  Furcht  so  benannt  und  damit  in  einen 
Gegensatz  zur  Tapferkeit  gestellt  werden? 

Schon  bei  dieser  scheinbar  affekthaften  „Tugend"  tauchen  also  hohe 
Anforderungen  an  die  Erkenntniskraft  des  Menschen  auf,  in  deren  Er- 
füllung sich  erst  das  Wesen  der  Tapferkeit  vollenden  kann.  Andererseits 
ist  es  gerade  hier  klar,  daß  die  sophistisch-sokratische  Gleichung  von 
Tugend  und  Wissen  viel  mehr  umgreift  als  eine  „Definition",  eine  Er- 
fassung des  Wesens  der  Tapferkeit,  nämlich  zu  diesem  ersten  hinzu  noch 
eine  Erfassung  des  gesamten  Tat-  und  Wirklichkeitszusammenhanges, 
an  dessen  einen  Punkt  die  tugendverwirklichende  Tat  einzusetzen  hat  — 
Sokrates  glaubte  bekanntlich,  daß  bei  einer  klaren  Erfassung  aller  dieser 
Umstände  die  Tat  notwendig  einsetzt.  Denken  wir  nicht  an  die  Tapfer- 
keit, sondern  etwa  an  die  Gerechtigkeit,  so  nähert  sich  die  auch  hier 
geforderte  Erkenntnisleistung  gerade  im  praktischen,  konkreten  Einzel- 
falle der  Sachkenntnis  noch  sichtlicher;  man  muß  wissen,  was  das  Wesen 
dieser  oder  jener  handwerklichen  Leistung  ist,  was  ein  guter  brauchbarer 
Tisch,  eine  Kline,  eine  Spindel  ist,  wenn  etwa  eine  Streitigkeit  hierüber 
zwischen  dem  Verfertigenden  und  Gebrauchenden  richtig  und  gerecht 
entschieden  werden  soll,  sei  es  von  den  beteiligten  Parteien  oder  vom 
entscheidenden  Richter.  Andererseits  tritt  auch  hier  wieder  mit  großer 
Deutlichkeit  hervor,  daß  weder  das  Wissen  um  den  Sachverhalt,  noch 
um  das  abstrakte  Wesen  der  Gerechtigkeit,  etwa  der  Isonomie,  in  irgend- 
einem präzisierten  Sinne  (Gorgias)  ohne  den  ausdrücklichen  tätigen  Ein- 
satz des  das  Gerechte  verwirklichenden  Menschen  ausreicht,  um  den 
Sachverhalt  der  Gerechtigkeit  zu  realisieren.  Es  hieße  die  sokratisch- 
platonische  Ethik  und  die  griechische  Phronesis  gleichermaßen  triviali- 
sieren,  wollte  man  die  Einsicht  in  dieses  zweite  Motiv  der  Sache  nach  den 
beiden  Philosophen  absprechen,  sie  auf  die  eine  Seite  der  Einsicht  sich 
beschränken  lassen  und  sie  so  eines  platten  und  mit  einem  Schlage  zu 
widerlegenden  Intellektualismus  und  Rationalismus  beschuldigen.  Viel- 
mehr liegt  hier  das  entscheidende  metaphysische  Dilemma  vor,  das  zu 
allen  Zeiten  bestand  und  heute  auch  wieder  sichtbar  zu  werden  beginnt, 
nachdem  wir  Modernen  —  nicht  die  Griechen  —  lange  Zeit  uns  eines 
Intellektualismus  schuldig  gemacht  haben  und  noch  schuldig  machen. 
Dieses  metaphysische  Dilemma  tritt  in  der  sokratischen  Position  mit 
unüberbietbarer  Anschaulichkeit  heraus,  wenn  wir  die  geschilderte  Situa- 
tion des  Tapferen,  des  Gerechten  weiter  analysieren. 

Zunächst  versichern  wir  uns  der  unmittelbaren  Beziehung  der  Erörte- 
rung zu  dem  sokratischen  Paradoxon:  niemand  fehlt  wissend,  d.  h.  wer 
das  Wissen  um  Tapferkeit  im  oben  dargelegten  Sinne  hat,  ist  tapfer, 


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betätigt  dieses  Wissen.  Wissen  reicht  aus  —  der  sog.  sokratische  Intellek- 
tualismus ;  auf  der  anderen  Seite :  niemand,  auch  Sokrates  nicht,  hat  ein 
ausreichendes  Wissen,  trotzdem  muß  und  kann  man  tapfer  handeln,  und 
die  Forderung  bleibt  trotz  ihres  offensichtlichen  Gegensatzes  zur  ersten 
These  bestehen.  Dieses  sokratische  Paradoxon  als  metaphysisches  Di- 
lemma gefaßt,  besagt :  wendest  du  dich  lediglich  reflektierend  nach  innen, 
auf  dich  selbst  zurück,  so  löst  sich  dieses  Beginnen  in  Schein,  Trug  und 
Schwäche  auf;  es  gibt  keinen  Gegenstand  dieser  Selbsterkenntnis.  Viel- 
mehr hast  du  dich  nach  außen  zu  wenden,  zu  „erkennen",  zu  „wissen", 

10  dein  Dasein  in  der  Welt  zu  klären,  und  nicht  etwa  nur  in  allgemeiner 
Reflexion,  sondern  bis  zur  Aufhellung,  zum  Durchschauen  der  konkreten 
Tatsituation,  also :  Tugend  ist  Wissen.  Glaubst  du  aber  andererseits,  diese 
Blickwendung  nach  außen  genüge,  so  täuschst  du  dich  ebenfalls ;  du  bist 
in  dauernder  Gefahr,  dich  zu  verlieren  und  gerade  das  Wesentliche,  in 
des  Wortes  voller  Bedeutung  Entscheidende  zu  verfehlen.  Denn  du  hast 
kein  für  die  Entscheidung  ausreichendes  Wissen,  so  wenig  wie  irgendein 
anderer  Mensch,  so  wenig  wie  Sokrates;  du  sollst  wissen,  daß  du  nichts 
weißt,  und  daß  du  die  Entscheidung  aus  einer  Hinwendung  an  ein  an- 
deres inneres  Sein  zu  erwarten  hast. 

20  Das  metaphysische  Dilemma  treibt  zunächst  gebieterisch  zu  einer 
Uberwindung  des  Gegensatzes  von  innen  und  außen  —  und  alle  Denker, 
in  denen  etwas  vom  griechischen  Geiste  lebendig  geworden  ist,  haben 
bekanntlich  immer  an  dieser  Stelle  eingesetzt  und,  wie  Goethe,  die  nach 
innen  gewandte  „Selbsterkenntnis"  als  eine  zweideutige  Forderung  an- 
gesehen (Bd.  XXXIX  der  Jub.-Ausg.  S.  49:  „Der  Mensch  kennt  nur  sich 
selbst,  insofern  er  die  Welt  kennt,  die  er  nur  in  sich  und  sich  nur  in  ihr 
gewahr  wird.  Jeder  neue  Gegenstand,  wohl  beschaut,  schließt  ein  neues 
Organ  in  uns  auf"). 

Wir  haben  zur  Klärung  der  Begriffe  oben  nicht  den  Anklang  an  gewisse  Modernismen 
30  gescheut,  haben  von  der  „Entscheidung",  dem  Einsatz  des  Tuns  in  die  konkrete  Situa- 
tion gesprochen,  kurz  den  Anschein,  das  „Absolute"  im  Kern  des  einzelnen  Ich  zu  suchen, 
nicht  gemieden.  Wie  leicht  die  Angleichung  des  Sokrates  an  diese  Vorstellungen  weiter- 
getrieben werden  kann,  zeigt  die  ungemein  eindrucksvolle  Betrachtung  des  Sokrates 
bei  Kierkegaard  am  Anfang  der  „Philosophischen  Brocken".  Eine  gemilderte  und  säku- 
larisierte Form  dieser  religiösen  Auffassung  stellt  im  Grunde  auch  H.  Maiers  Sokrates- 
bild  dar,  dessen  emotionaler  Voluntarismus,  dessen  „definitorische  Frage"  —  nicht 
Definition  —  mir  seinerzeit  sehr  wichtig  wurde;  cf.  „Logik"  und  Sokr.  R.  E. 

Wir  müssen  und  können  von  diesem  sachlichen  Untergrunde  die  spezi- 
fische Wendung  der  sokratisch-platonischen  Philosophie  nun  kräftig  ab- 
40  heben.  Wir  können  gerade  hier  den  Gedanken  der  Überwindung  des 
Gegensatzes  von  innen  und  außen  benützen,  so  wenig  wir  diese  Unter- 
scheidung als  eine  prinzipielle  und  letzte  zugeben  dürfen.  Sokrates  nahm 
die  Überwindung  dieses  Gegensatzes  nicht  von  innen  her  nach  außen, 
sondern  umgekehrt  vor.  Während  der  moderne  Mensch,  sobald  er  auf 
solche  Gedanken  kommt,  wie  Kierkegaard,  das  Zentrum  der  Freiheit, 

Handb.  d.  Phil.  I.    D  7 


98 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Spontaneität  und  Erkenntnis  im  Innern  des  Menschen,  im  Ich,  annimmt 
und  von  ihm  aus  sich  nach  außen  wendet,  die  Welt  durchdringen  und 
tätig  erkennen  zu  können  vermeint,  denkt  sich  der  antike  Mensch  diese 
Üb  erwindung  umgekehrt:  er  glaubt,  gegenständlich  denkend,  daß  aus 
der  Welt  und  der  Wirklichkeit  auf  das  Innere  eine  unmittelbar  auch  das 
tätige  Verhalten  bestimmende  Kraft  ausgeht,  wenn  die  Welt  wirklich  in 
ihrem  eigentlichen  Sein,  ihrer  Ordnung  und  ihrem  Zusammenhange  rein 
und  treu  erfaßt  wird.  Hier  liegt  die  Bewährung  der  Evidenz  aller  Erkennt- 
nis; nur  wo  sie  das  Zentrum  des  Menschen  ist,  an  dem  Handeln  ent- 
springt, angreift  und  zur  Antwort  nötigt,  da  ist  die  wahre,  eigentliche 
Erkenntnis,  sonst  nur  „Meinung",  Selbsttäuschung  und  zugleich  Täu- 
schung über  das  Objektive.  Äußerlich  läßt  sich  die  hier  umrissene 
Situation  klar  bezeichnen  durch  die  Verschiebung  des  Zusatzes  „selbst", 
ccÜtöc,  von  der  ursprünglich  ihr  zukommenden  subjektiven  Seite  auf 
die  gegenständliche :  nicht  „Ich  selbst",  was  so  nahe  als  Bedeutung  von 
avioc  liegt,  sondern  das  Tapfere,  Gerechte,  Schöne  und  Gute  selbst  usw. 
ist  die  letzte  metaphysische  Gegebenheit,  ist  Ziel  und  Ursprung  der  in 
„Begriffen"  erfaßten  Gegenständlichkeit. 

Der  eben  beschriebene,  dem  sokratischen  Denken  zugrunde  liegende 
Sachverhalt  hat  nun  zwei  ganz  verschiedene  Seiten;  sie  beide  gleichmäßig 
auszugestalten  und  doch  ihren  Auseinanderfall  zu  verhüten  ist  das  be- 
wußte Ziel  Piatons,  das  er  mit  äußerster  philosophischer  und  künstleri- 
scher Gestaltungskraft  zu  erreichen  sucht.  Einmal  weist  jener  Sachverhalt 
einfach  auf  das  Faktum  objektiver  Wissenschaft,  und  zwar  begrifflich 
einsichtiger  Wissenschaft  hin.  Das  Denken  entdeckt  in  seinem  freien 
Fortgange  Widerstände,  Gegenstände  in  des  Wortes  eigentlicher  Bedeu- 
tung, Hindernisse  einer  schweifenden,  meinenden  Subjektivität,  Festes, 
Ruhendes,  Seiendes.  Es  ist  nicht  verwunderlich,  daß  zunächst  die  fei- 
neren Abstufungen  dieser  Sicherheit  und  Festigkeit,  die  Unterschiede  ver- 
stehenden Sinnerfassens  und  erklärenden  Naturerkennens,  zurücktreten 
vor  dem  elementaren  Erlebnis  dieses  festen  Seienden,  auf  das  das  Denken 
trifft,  das  es  erfaßt  und  „berührt",  und  daß  die  Evidenz  wissenschaft- 
licher Erkenntnis  schlechthin  noch  ungeschieden  in  einem  fundamentalen 
Erlebnis  erfahren  wird  und  die  apriorische  Sicherheit  der  Erkenntnis 
aus  reinen  Begriffen  als  Prototyp  der  Wissenschaft  überhaupt  erscheint. 
Daraus  folgt  zunächst  die  unterschiedslos  erhobene  Forderung,  allem 
Denken  die  an  charakteristischen  Sachverhalten  erfahrene  Einsichtigkeit 
zu  geben,  d.  h.  den  Bereich  wissenschaftlicher  Erkenntnis  überhaupt 
und  der  begrifflich-einsichtigen  im  besonderen  so  weit  wie  möglich  zu 
fassen.  Und  da  dieser  Erkenntnisdrang  auf  die  Totalität  alles  Seienden 
geht,  enthält  er  selbstverständlich  auch  die  „Gesetze"  des  eigenen  Lebens 
und  Tuns.  Die  weitere  Folge  dieser  Überspannung  ist,  daß  der  dem  ein- 
zelnen Individuum  zugängliche  Anteil  gering  angeschlagen  und  das  Nicht- 
wissen des  einzelnen  Subjektes  stark  erlebt  wird,  wie  wir  es  an  Sokrates 


D 


SOKRA  TES 


90 


sehen.  Zusammengefaßt:  jene  ungestüme  Steigerung  des  die  ganze  grie- 
chische Entwicklung  tragenden  Aufklärungsstrebens  hat  eine  durchaus 
rationale,  wissenschaftstheoretische  Seite,  den  Drang  zum  Begriff. 

Eine  ganz  andere  Seite  ergibt  sich  aus  jener  Überspannung  als  deren 
Ergänzung.  Weil  diese  totale  Begrifflichkeit  der  Welt  nur  Forderung  ist, 
eine  noch  unerfüllte  Aufgabe,  bleibt  lange  bis  in  diese  rationalistische 
Entwicklung  hinein  mit  gleicher  Mächtigkeit  der  archaische  Glaube  be- 
stehen, daß  die  jener  Begreif lichkeit  entsprechende  Ordnung  und  Sinn- 
haftigkeit  in  der  Wirklichkeit  vorgebildet  ist,  auch  wo  sie  noch  nicht  ex- 
plizit erkannt  ist;  dies  stellt  dem  Menschen  freilich  dauernd  die  Erkennt- 
nisaufgabe, aber  diese  wird  erfüllt  in  einer  tätigen  Hingabe  an  die  Welt, 
in  dem  Eingehen  in  die  dem  eigenen  denkenden  Dasein  zugrunde  liegen- 
den Lebensordnungen.  Da  von  den  Griechen  allenthalben  göttliche  Re- 
präsentanten einer  inneren  Sinnhaftigkeit  der  Wirklichkeit  angenommen 
wurden,  so  enthält  diese  scheinbar  bloß  rationale  Forderung  des  Welt- 
verständnisses ganz  von  selbst  einen  religiösen  Einschlag,  und  diese  beiden 
Seiten  erscheinen  nur  von  unserer  ganz  veränderten  geistigen  Lage  aus 
unverträglich;  im  Grunde  sind  sie  Ausdruck  ein  und  desselben  Sachver- 
haltes; und  gerade  wenn  man  diese  seine  doppelte  Seite  stets  im  Auge 
behält,  schließt  er  sich  mit  dem  unausgesprochenen,  weil  immer  voraus- 
gesetzten Glauben  an  die  den  Willen  bestimmende  Kraft  der  Erkenntnis 
zusammen.  Als  die  naive  Form  des  Glaubens  an  Götter  und  Heroen  ge- 
schwunden war,  erhielt  sich  die  religiöse  Energie  in  dieser  veränderten 
Form  weiter  und  erzeugte  den  spezifisch  griechischen,  metaphysisch  unter- 
bauten Erkenntnisbegriff.  Der  Ubergang  vollzog  sich  über  den  Begriff 
der  Gemeinschaft.  Wir  haben  gerade  die  „Eumeniden"  des  Aeschylus 
hervorgehoben,  um  diesen  Ubergang  und  damit  die  Fortwirkung  der 
vorsokratischen,  besonders  solonisch-attischen  Motive  zur  Anschauung 
zu  bringen.  Länger  als  der  alte  Glaube  an  die  einzelnen  Götter  und 
Heroen  hielt  sich  der  Glaube  an  den  religiösen  Sinn  alles  menschlichen 
Zusammenwirkens,  vor  allem  des  tätigen  Lebens  in  der  konkreten  poli- 
tischen Gemeinschaft.  Dieses  Zusammenleben  war,  weil  auf  der  religiösen 
Idee  der  Polis  beruhend,  auch  das  geeignete  Gefäß  zur  Aufnahme  jenes 
metaphysischen  Erkenntnisbegriffs.  Denn  mit  dem  Überschwang  der 
schöpferischen  anfangs  erlebten  Einsichtigkeit  des  Wissens  fühlte  der  ein- 
zelne sich  in  seinem  Denken  gebunden  an  die  „erkannte  Gegenständlich- 
keit" und  hielt  diese  zugleich  für  die  festeste  Grundlage  aller  Gemeinsam- 
keit zwischen  Menschen,  also  auch  der  staatlichen  Gemeinschaft.  Ver- 
ständigung gab  der  Eintracht,  ohne  ihr  von  ihren  gefühlsmäßigen 
Grundlagen  etwas  zu  nehmen,  ein  neues  festes  Band.  Bei  einem  so  un- 
gemein weit  gespannten  Begriff  der  Erkenntnis  darf  auch  dieser  Ver- 
ständigung sehr  wohl  eine  solche  Wirkung  zugetraut  werden. 

Damit  sind  wir  zu  dem  einfachen  Ausgangspunkt  des  sokratischen 
Logos  zurückgekehrt.  Er  ist  dialektische  Verständigung,  im  schlichten 

D  7* 


wo 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Sinne  des  ehrlich  geführten,  auf  Wahrheit  gerichteten  Gespräches  über 
die  Bedeutung  des  Guten,  Schönen,  schließlich  über  alles,  was  zum 
Dasein  des  Menschen  gehört.  Diese  Verständigung,  diese  Rechenschaft 
ist  für  Sokrates  selbstverständlich  begleitet  von  der  Bereitschaft,  jeder- 
zeit für  das  Gesagte  einzustehen;  umgekehrt  ist  das  lebendig  angeschaute 
Beispiel  derer,  die  den  Sinn  der  Po/isgemeinschaft  wirklich  dauernd  voll- 
ziehen, die  Grundlage  der  dialektischen  Aussprache  und  Verständigung. 
Aus  der  so  verstandenen  Gemeinschaft  erklärt  sich  allein  das  Vertrauen, 
auch  im  elenktischen  „ergebnislosen"  Gespräch  das  in  tieferen  Schichten 
ruhende  Wissen  mäeutisch  aufzuregen.  In  Wort  und  Tat  dialektischer,  10 
h'tyu)  mal  t^yto  dialsxTixcoTfgovc,  machte  Sokrates  seine  Freunde,  das 
ist  die  einfache  Formel,  mit  der  Xenophon  den  Sachverhalt  wiederholt 
bezeichnet.  Dialektischer,  das  deutet  er  mit  einem  Wortspiel,  das  sicher- 
lich in  der  sokratischen  Gedankenwelt  entstanden  ist,  als:  Gutes  und 
Schlechtes  sondern,  also  das  Bessere  auslesen.  Gerade  aus  der  Verwurze- 
lung der  sokratischen  Begriffstheorie  in  der  Praxis  des  tätigen  Lebens  er- 
gibt sich  die  Gleichsetzung  von  Erkennen  und  „das  Bessere  Auswählen" : 
wenn  ich  die  ganze  Lebensordnung  auf  ihren  Sinn,  auf  die  in  ihr  wirk- 
samen „Bedeutungen"  prüfe,  frage  ich  nicht,  was  gerade  noch  den  Sinn 
der  Spindel,  der  xkiv?],  der  Hirtenkunst,  der  Reitkunst  usw.  allenfalls  20 
erfüllt,  sondern  was  seine  eigentliche  Norm,  die  ideale  Höchstleistung 
ist,  die  dcQ€TTj,  die  jeweils  als  zu  verwirklichende  vorschwebt,  mag  sie 
kaum  je  erreicht  werden.  Also  das  Bessere  ist  das,  was  in  jedem  Falle 
erkannt  werden  soll;  und  was  so  erkannt  wird,  trägt  zur  Besserung,  zum 
„Nutzen"  bei  für  das  tätige  Leben  der  ganzen  Gemeinschaft. 

In  der  Apologie  36  c  faßt  Sokrates  seine  Tätigkeit,  die  Wohltat,  für 
die  er  die  Staatsrente  in  Form  der  Speisung  beantragt,  zusammen  als 
den  Rat  an  jedermann,  sich  eher  um  sich  selbst  zu  sorgen  als  um  irgend 
etwas,  das  zu  ihm  gehört,  um  die  Stadt  selbst  eher  als  um  die  Dinge  in 
der  Stadt,  die  der  übliche  Politiker  betreibt,  und  in  derselben  Weise  30 
weiter  bei  allem  andern;  das  heißt  also,  sich  um  das  Wesen  der  eigenen 
Seele  (29 e),  um  das  Wesen  der  Stadt,  schließlich  der  einzelnen  Wirklich- 
keiten zu  sorgen.  Schlichter  kann  alles  bisher  Gesagte  nicht  zusammen- 
gefaßt und  bestätigt  werden  als  in  diesen  Worten  der  Verteidigungs- 
schrift. 

2.  PLATON. 

a)  Allgemeines.  Stand  der  Forschung.  Sokratische  Periode. 

Die  Fülle  der  theoretischen  und  praktischen,  religiösen  und  wissen- 
schaftlich-logischen Ansätze,  die  in  dem  Denken  und  Sein  des  Sokrates 
aufgewiesen  wurden,  steht  in  einem  Gegensatz  zu  den  einfachen  sokra- 
tischen Formeln,  in  die  am  Schlüsse  des  letzten  Absatzes  dieser  reiche 
Inhalt  sich  zusammendrängen  ließ.  Dieser  Gegensatz  einer  lebendigen,  40 
noch  in  ihrer  Anschaulichkeit  gemeinten  Weltsicht  und  einiger  weniger 


D 


PLATON.  ALLGEMEINES 


101 


scheinbar  enger  Formeln  und  „Prinzipien"  wird  sich  am  Schlüsse  der 
Betrachtung  der  platonischen  Metaphysik  mit  gesteigerter  Stärke  wieder 
aufdrängen;  wir  haben  in  ihm  ein  Grundphänomen  griechischer  Philo- 
sophie anzuerkennen,  das  auf  einen  Wesenszug  des  griechischen  Geistes 
überhaupt  zurückweist.  Nüchternes  Streben  nach  letzter  begrifflicher 
Einfachheit  und  Klarheit  und  uneingeschränkte  Fühlung  mit  der  an- 
schaulich gegebenen  Wirklichkeit,  auf  die  jene  Formeln  hinzielen,  schienen 
dem  griechischen  Denken  nicht  unvereinbar  zu  sein,  sondern  vielmehr 
einander  gegenseitig  zu  fordern.  Der  schlichte  Ausdruck  dieser  coinci- 
dentia  oppositorum  ist  das  Eidos.  Es  entbehrt  nicht  der  Bestimmtheit, 
die  nur  je  dem  wissenschaftlichen  Begriff  zugesprochen  werden  kann;  es 
ist  andererseits  Ergebnis  und  Organ  einer  „Intuition",  in  der  nicht  ein 
Zug  der  konkreten  Wirklichkeit  durch  Abstraktion  verkümmert  oder 
verzerrt  ist.  Diese  Synthese  zur  theoretischen  Bewußtheit  und  Ausdrucks- 
fähigkeit zu  erheben,  dazu  bedurfte  es  der  langen  reichen  Entwicklung 
des  platonischen  Denkens  und  Werkes. 

Der  angedeutete  Gegensatz  und  damit  der  Sinn  des  Eidos  tritt  an  den 
beiden  Prinzipien  des  sokratischen  Denkens,  der  „Seele  selbst"  und  der 
„Stadt  selbst",  deutlich  in  die  Erscheinung.  Sokrates  scheint  die  Definition 
der  einzelnen  Teilbestände,  der  Tugenden,  die  die  „Seele"  in  der  Stadt 
entfaltet,  zu  suchen,  aber  in  Wahrheit  sucht  er  das,  was  in  der  Definition 
gemeint  ist,  und  das,  was  jeder  Definition  als  Ziel  vorschwebt  und  im 
Suchen  bereits  vorgestellt  ist,  wenn  anders  dieses  Suchen  in  seinen  ein- 
zelnen Schritten  gerichtet  ist  und  Kriterien  in  sich  trägt  für  das  Passen 
oder  Nichtpassen  der  Definitionselemente  in  ihrer  Zusammenfügung. 
Wie  das  eleatische  Denken  am  umfassendsten  „Begriff",  dem  des  Einen 
und  Ganzen,  seine  Beziehung  zur  Anschauung  erprobte,  so  gerät  auch 
hier  das  griechische  Denken,  nachdem  der  ethisch-politische  Gehalt  im 
gesamten  Wirklichkeitserlebnis  stärker  herausgetreten  war,  an  die  kom- 
pliziertesten letzten  „Begriffe":  an  den  Begriff  des  Menschen  als  seeli- 
scher Einheit  und  an  den  Begriff  des  Feldes,  mit  dem  damals  der  Umkreis 
menschlicher  Betätigung  umgrenzt  schien,  der  politischen  Einheit,  der 
Stadtgemeinde.  Der  Fülle  seiner  Anschauungskraft  vertrauend,  versuchte 
das  griechische  Denken,  auch  an  diesen  „allgemeinsten"  Begriffen  An- 
schaulichkeit und  logische  Bestimmtheit  zusammen  zu  erfassen. 

Sokrates  sprach  den  Gehalt  seiner  Tugendbegriffe  nicht  in  Worten 
aus,  sondern  zeigte  ihn  in  tätiger  Auseinandersetzung,  Xoyco  xai  t'oya) 
diaXexTixög.  Und  doch  drängte  er  mit  aller  Macht  auf  begrifflich  wissen- 
schaftliche Bestimmung  aller  Realität  hin.  Piaton  wurde  von  eigener 
politischer  Betätigung  an  einer  seinem  Stande  entsprechenden  Stelle 
durch  mancherlei  Umstände  abgehalten  (vgl.  VII.  Brief  und  meine  Inter- 
pretation Plat.  als  Erz.  S.  81  ff.).  Dieser  äußere  Zwang  wirkte  sichtlich 
mit  Fähigkeiten  seines  Geistes  und  der  Entwicklung  seines  Zeitalters  zu- 
sammen, um  ihn  der  „Theorie"  zu  nähern  und  ihm  die  Gefahr,  „Logos 


T02 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


zu  werden",  stets  gegenwärtig  zu  halten,  wie  er  im  VII.  Brief  rück- 
schauend es  formuliert.  Daher  versicherte  er  sich  im  ersten  Abschnitt 
seines  philosophischen  Wirkens  der  Lebensfülle  und  Wirklichkeitsnähe 
durch  die  dichterisch-anschauliche  Ausgestaltung  des  sokratischen  Da- 
seins und  der  in  diesem  verkörperten  Denkleistung.  Diese  ist  im  letzten 
Teile  unserer  Darlegungen  so  geschildert  worden,  daß  die  unaufhörliche 
Um-  und  Weiterbildung  in  der  gestaltenden  Perspektive  der  platonischen 
Theorie  ohne  weiteres  verständlich  werden  wird. 

Platon  setzte  damit  die  griechische  Art  der  Überlieferung  geistiger 
Güter  unmittelbar  fort:  ein  paradeigmatisches  Vorbild,  das  dauernd  auf  10 
immer  bestimmter  gesehenen,  aber  noch  nicht  begrifflich  festgelegten 
Sinngehalt  hin  umgestaltet  wird  —  wir  zeigten  diese  Art  konkret-exi- 
stenzieller  Tradition  und  Ideengestaltung  an  der  Tragödie.  Aber  die  Ent- 
wicklung drängte  auf  Begriff  und  Wissenschaft,  und  schon  der  Schritt 
zur  Prosa  des  dichterisch  gestalteten  philosophischen  Gespräches,  den 
Platon  vollzog,  ist  hierfür  von  größter  Bedeutung;  denn  er  schafft  die 
Möglichkeit,  in  das  Bild  des  als  gegenwärtig  gedachten  Menschen  Sokrates 
die  Züge  der  Wissenschaft  ungehemmt  aufzunehmen;  man  ermißt  die 
Wichtigkeit  dieser  scheinbaren  Selbstverständlichkeit,  wenn  man  an  die 
versteckten  und  offenen  philosophischen  und  wissenschaftlichen  „Moder-  20 
nismen"  denkt,  die  den  Rahmen  des  Tragödienstiles  bei  Euripides  dau- 
ernd zu  sprengen  drohen  und  ihn  schließlich  gesprengt  haben.  Auch  für 
den  sokratischen  Dialog  trat  der  Augenblick  ein,  an  dem  das  Fassungs- 
vermögen der  sokratischen  Gestalt  nicht  mehr  ausreichte  und  zunächst 
andere  Formen  menschlicher  Paradeigmata,  schließlich  die  einfache  sach- 
liche Mitteilung  philosophisch-wissenschaftlicher  Ergebnisse  notwendig 
wurde.  Der  Schlußteil  des  Phaidros  zeigt,  wie  wichtig  Platon  den  Gegen- 
satz zwischen  dem  lebendigen  Gespräch  wirklicher  Menschen  bzw.  deren 
gestaltetem  Abbilde  und  dem  „Buche",  das  nicht  antworten  kann,  son- 
dern stumm  bleibt,  jederzeit  genommen  hat.  30 

Für  die  metaphysische  Grundstellung  Piatons  haben  diese  Form- 
bedingungen seines  Werkes  zwei  wesentliche  Folgen.  Erstens  reinigt  und 
verstärkt  sich  die  „anthropologische"  Grundhaltung  der  griechischen 
Metaphysik  am  Paradeigma  des  Sokrates  bis  zu  einer  Selbstverständlich- 
keit, die  gar  nicht  mehr  ausdrücklich  ausgesprochen  zu  werden  braucht: 
alles,  was  an  sachlich-wissenschaftlichem  Gehalt  durch  den  Mund  des 
Sokrates  mitgeteilt  wird,  ist  damit  von  vornherein  auf  dessen  Grund- 
absicht, Bildung  des  Menschen  für  sein  tätiges  Dasein  in  der  Gemein- 
schaft, bezogen.  Alle  scheinbar  erkenntnistheoretisch-logischen  Erörte- 
rungen stehen  immer  zugleich  unter  diesem  Gesichtspunkt ;  dies  bedeutet  40 
für  die  metaphysische  Theorie  die  stete  Beziehung  auf  jenes  an  Sokrates 
entwickelte  Verwirklichungsproblem,  das  stete  Messen  und  Beurteilen 
des  Seienden  an  seiner  Leistung  für  die  Konkretisierung  der  Willensziele. 
Die  andere  Folge,  der  ersten  wie  ein  Spiegelbild  zugeordnet,  ist  die  im 


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PLATON.    STAND  DER  FORSCHUNG. 


103 


sicheren  Bewußtsein  dieses  Zusammenhanges  sorglose  Hingabe  an  — 
scheinbar  —  reine  und  „abstrakte"  Erkenntnis;  die  vielberedete  „Intel- 
lektualisierung"  der  attischen  Philosophie,  die  in  der  Tat  die  Eindeutig- 
keit der  metaphysischen  Grundtheorie  in  der  Darstellung,  nicht  in  der 
Sache,  dauernd  verdunkelt. 

Wenn  diese  „Vielstimmigkeit44  und  nakivrovog  aQy-ovfa  des  platonischen  Denkens 
nicht  berücksichtigt  wird,  ist  die  Einheit  und  damit  der  volle  Sinn  der  platonischen 
Philosophie  gefährdet.  Die  Geschichte  der  Piatonforschung  beweist  dies  nur  allzu 
deutlich.  Für  die  im  engeren  Sinne  metaphysische  Problemstellung  kann  aus  diesem 

10  interessanten  Kapitel  der  Wissenschaftsgeschichte  nur  einiges  herausgegriffen  werden; 
es  sei  ausdrücklich  daran  erinnert,  daß  die  Gesichtspunkte  der  allgemeinen  Einleitung 
notwendig  auf  das  Kernstück  der  ganzen  griechischen  Philosophie,  auf  den  Piatonismus, 
vorweisend  Rücksicht  nehmen  mußten,  und  deshalb  zur  Ergänzung  des  folgenden 
dauernd  hinzuzuziehen  sind.  So  ist  zur  Übersicht  über  die  Etappen  der  Piaton- 
forschung zu  vergleichen  Jaegers,  aus  der  Fülle  originaler  Arbeit  an  Piaton  und  Aristo- 
teles geschöpfte  geschichtsphilosophische  Besinnung  in  der  Aufsatzreihe  der  „Antike44 
(s.  o.  S.  10)  vorher  seine  kürzere  Übersicht  DLZ  1924,  S.  2053  (vgl.  auch  DLZ  1915, 
S.  334).  Bis  zum  Jahre  1922  orientiert  neben  den  bekannten  Jahresberichten  gut 
E.  Hoffmanns  Anhang  zur  letzten  unveränderten  Auflage  von  Zellers  Darstellung  in 

20  der  Geschichte  der  Philosophie.  Neuerdings  referiert  nüchtern  und  fleißig  Leisegang 
über  die  „Piatondeutung  der  Gegenwart44  (Karlsruhe  1929).  C.  Ritters  Jahres- 
berichte bei  Bursian  sind  für  die  Entwicklnug  der  Forschungsmethode  sehr  bezeichnend. 
Die  Darstellungen  Piatons  werden  im  Zusammenhang  des  Folgenden  genannt. 

Schleiermachers  epochemachende  Übersetzung  mit  Gesamt-  und  Einzel- 
einleitungen bildet  den  Anfang  der  für  uns  heute  noch  wichtigen  Forschung.  Sie  steht 
im  Gegensatz  zu  einer  ersten  kantianisierenden  Auffassung  Piatons  (Tennemann)  und 
zu  anderen  philosophischen  Modernisierungen  der  damaligen  Zeit.  Sie  geht  deshalb  auf 
die  Einzelabsicht  der  Dialoge,  die  als  Formeinheiten  für  sich  betrachtet  werden,  ein; 
freilich  wird  hierbei  ein  pädagogischer  Gesamtplan  angenommen,  nach  dem  Piaton 

30  „aus  einer  Ahndung  des  Ganzen44  den  Phaidros  als  Programm  seinen  Werken  voran- 
gestellt und,  um  alles  im  einzelnen  ausführlicher  auszugestalten,  später  danach  seine 
Dialoge  geschrieben  hätte.  Man  hat  nach  den  Übertreibungen  der  als  Gegenzug  zu 
Schleiermacher  sehr  verständlichen  Entwicklungsforschung  von  K.  F.  Hermanns 
„Gesch.  u.  System  der  plat.  Philos.44  I,  1839  an  über  Susemihl  „Plat.  genet.  Entwicklung44 
bis  in  die  neueste  Zeit  Schleiermachers  Leistung  auch  für  die  Gesamtauffassung  der 
Entwicklung  unbefangener  würdigen  gelernt,  nachdem  man  die  alles  verwirrende 
Frühansetzung  des  Phaidros  ausgemerzt  hatte,  vgl.  H.  v.  Arnim,  Plat.  Jugenddialoge 
u.  d.  Entstehungszeit  des  Phaidros,  Leipzig-Berlin  1914.  Zum  Begriff  der  platonischeu 
Entwicklung  vgl.  Jaeger,  Antike  IV,  S.  88 ff.  Das  Streben  nach  einer  im  persönlichen 

40  Sein  des  Philosophen  wurzelnden  Einheit  seiner  Entwicklung  erfuhr  eine  erste  Hem- 
mung und  Diskreditierung  durch  diejenigen  Forscher,  die  ein  äußerlich  bestimmtes, 
ohne  philosophische  und  philologisch-geschichtliche  Weite  des  Blickes  stabilisiertes 
Bild  einer  einheitlichen  Lehre  und  einer  recht  willkürlichen  menschlichen  Einheit  zn- 
grunde  legten  und  von  ihm  mißleitet  zu  den  heute  oft  lächerlich  scheinenden  Athe- 
thesen  gelangten.  Man  vergesse  aber  nicht,  daß  nicht  nur  der  junge  Zell  er  die  Gesetze 
athetierte,  sondern  auch  noch  Windelband  sehr  geneigt  war,  den  Sophistes  und 
Politikos,  heute  die  Hauptzeugen  der  platonischen  Metaphysik  und  Ontologie,  für 
unechte  Schulübungen  zu  halten,  und  daß  der  metaphysische  Gipfel  der  Dialoge,  der 
„Parmenides44,  und  die  Briefe,  besonders  der  VII.  mit  seinem  fundamentalen  philo- 

50  sophischen  Exkurs,  noch  länger  verdächtigt  worden  sind.  Demgegenüber  mußte  zur 
Erklärung  gewisser  „Widersprüche44  eine  Entwicklung  angenommen  werden,  deren 
Ziel  endlich  durch  die  Festsetzung  der  platonischen  Spätdialoge  festgelegt  war. 


104 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Diese  Festsetzung  gelang  durch  die  sprachstatistische  stilometrische  Methode, 
bei  deren  Ausbildung  die  englische  und  deutsche  Piatonforschung  (Campbell,  Ditten- 
berger,  Kitter,  v.  Arnim,  Lutoslawski)  sich  damals  in  einer  prästabilierten  Harmonie 
betätigte.  Indem  die  Sprachstatistik  als  Spätdialoge  gerade  die  oben  genannten 
kontroversen  metaphysischen  Werke,  zu  denen  noch  der  Philebos  tritt,  erwies,  kommt 
ihr  für  die  Erschließung  der  platonischen  Metaphysik  ein  beträchtliches  Verdienst  zu. 

Freilich  trug  dieser  große  Erfolg  der  Sprachstatistik  dazu  bei,  den  Gedanken  der 
Entwicklung  des  platonischen  Werkes  zu  überspannen  und  die  Festsetzung  einer 
linearen  schrittweise  in  jedem  Dialoge  faßbaren  Entwicklung  für  das  letzte  Ziel  auszu- 
geben. Einzelne  Stimmen,  wie  z.  B.  die  P.  Shorey's  in  seinem  Aufsatz  „The  unity  of  10 
Plato's  thought,  dessen  Gedanken  Hans  v.  Arnim  aufnahm,  erhoben  sich  wiederum 
aus  einer  gewissen  Einseitigkeit  dagegen.  Inzwischen  ist  jedoch  immer  mehr  der  Ge- 
danke durchgedrungen,  daß  man  bei  einem  so  reichen  und  unter  so  mannigfaltigen  An- 
trieben schreibenden  Philosophen  wie  Piaton  die  Entfaltung  eines  freilich  höchst  ver- 
schiedenartigen Ansatzes,  die  lebendige  Entwicklung  einer  geprägten  Form  aufsuchen 
und  sich  des  allgemeinen  Gesetzes  etwaiger  Wandlungen  sehr  wohl  bemächtigen,  auf 
die  Einsicht  in  eine  notwendige  Folge  der  einzelnen  Dialoge  aber  verzichten  muß. 

In  diese  Situation  hinein  erfolgte  der  folgenreiche  Einsatz  der  „Marburger*4 
Philosophischen  Deutung,  die  von  Cohens  Aufsatz  Plat.  Ideenlehre  u.  d.  Mathematik 
Prgr.  Marb.  1879,  ausgeht,  und  in  Natorps  Plat.  Ideenlehre,  eine  Einführung  in  den  20 
Idealismus,  Lpz.  1903,  gipfelt,  fortgeführt  in  N.  Hartmanns  Buch  über  Plat.  Logik 
des  Seins  (Gießen  1909).  Zum  ersten  Male  seit  Schleiermacher  wurde  Piaton  als  Philo- 
soph im  ganzen  ernst  genommen,  wurden  wirkliche  philosophische  Fragen  an  ihn  ge- 
richtet; freilich  wurde  Piatons  Antwort  weitgehend  aus  eigener  systematischer  Haltung 
umgehört.  Die  an  der  mathematischen  Naturwissenschaft  und  ihrer  Methode  orientierte 
—  übrigens  nicht  einmal  diesem  Gegenstande  adäquat  durchgeführte  —  Systematik 
dieser  Forscher  schien  der  platonischen,  das  Mathematische  stark  betonenden  Wissen- 
schaftslehre zu  entsprechen.  Man  übersah,  was  der  Anhang  Natorps  zur  sonst  unverän- 
derten 2.  Auflage  seines  Werkes  offen  zugibt,  die  gesamte  mythisch-psychologische 
Substanz  der  Ideenlehre,  kurz  das  geschichtlich  Metaphysische,  das  in  der  eigent-  30 
liehen  Ideenlehre  aufgehoben  ist  und  implizit  aufs  stärkste  mitspricht. 

Dies  spürten  alle,  die  als  Philologen  und  Historiker  an  dieses  neue  Piatonbild 
herantraten,  ohne  doch  sich  der  Stringenz  jener  oben  hervorgehobenen  Übereinstim- 
mung im  Mathematischen  recht  entziehen  zu  können.  So  führte  die  Marburger  Deutung 
zu  neuer  Diskreditierung  einer  einheitlichen  philosophischen  Piatonauffassung.  Die 
philologische  Einzelarbeit  trat  mit  Recht  an  ihre  Stelle  (Pohlenz,  Aus  Plat. 
Werdezeit,  Berlin  1913).  Aber  das  Bedürfnis  nach  einer  philosophischen  Darstellung 
blieb  bestehen.  Man  empfand,  daß  z.  B.  Windelbands  bekannte  und  glänzende  Dar- 
stellung in  den  „Klassikern  der  Philosophie"  der  eigentlichen  Substanz  Piatons  zu 
fernblieb,  und  vermißte  umgekehrt  in  dem  lehrreichen  Buche  C.  Ritters  die  philo-  40 
sophische  Entschiedenheit. 

Gegen  die  Marburger  Auffassung,  die  das  naturwissenschaftliche  und  Erkenntnis- 
theoretisch-Logische im  platonischen  Werke  betonte,  und  gegen  die  lediglich  solide 
philologische  Einzelarbeit  wendet  sich  gleichermaßen  die  von  dem  Kreis  um  Stefan 
George  ausgehende  Piatondeutung,  die  neuerdings  von  Fr.  J.  Brecht,  Plat.  und  der 
George-Kreis  (Leipzig  1929)  besonders  dargestellt  worden  ist.  (Vgl.  die  Kritik  dieses 
Buches  und  der  Georgeschen  Piatonauffassung  vonR.  Härder,  DLZ  1930,  S.  974.)  Der 
klaren  negativen  Absicht  der  Georgeschen  Deutung  in  der  bezeichneten  doppelten 
Richtung  steht  als  Position  und  Positivum  lediglich  die  Angleichung  an  das  Bild  des 
gegenwärtigen  Führers  und  Gründers  zur  Seite.  Zwar  soll  nicht  geleugnet  werden,  daß  50 
gewisse  Einzelzüge  des  Piatonismus,  besonders  in  dessen  späteren  Erscheinungsformen 
durch  den  lebendigen  Vergleich  mit  dem  Bilde  des  gegenwärtigen  Dichters,  dem  bei 
seiner  Verneinung  aller  Gegenwart  die  Antike,  besonders  die  spätere,  vorzuschweben 
scheint,  in  ein  helleres  Licht  geraten.  Aber  trotzdem  ist  dieser  dritte  Typus  einer  Gesamt- 


D 


PL  A  TON.  IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINS  IDEE 


105 


anschauung  Piatons  die  willkürlichste  Modernisierung.  Das  Gegenbild  in  jedem  Sinne 
ist  Wilamo witz'  großes  Piatonwerk;  die  zeitgeschichtlich  ungemein  aufschlußreiche 
Einleitung  (vgl.  Stenzel,  Kantstudien  XXVI,  1921,  S.  430)  verzichtet  ausdrücklich 
auf  den  Anspruch,  die  Philosophie,  Logik  und  Mathematik  Piatons  darzustellen;  daß 
es  nicht  möglich  ist,  diesen  Verzicht  durchzuführen,  versteht  sich  von  selbst.  Und  so 
steht  vieles  in  dieser  auf  ausgebreiteter  Anschauung  der  griechischen  Kultur  und  auf 
wirklicher  Textinterpretation  beruhenden  Darstellung  —  der  2.  Band  ist  hierin  wohl 
noch  wichtiger  als  der  erste  — ,  was  dem  philosophischen  Deuter  nicht  ohne  weiteres 
zum  Bewußtsein  kommt. 

Aus  allen  diesen  Versuchen  der  Gesamtdarstellung  in  ihrer  eingestandenen  oder  ver- 
schwiegenen Einseitigkeit  ergibt  sich  das  Ziel,  an  dem  unsere  Zeit  zu  arbeiten  hat: 
das  Wissenschaftliche,  und  zwar  Mathematisch-Logische  in  Piatons  Werk  muß  mit  dem 
Politisch-Pädagogischen  und  Philosophisch-Metaphysischen  in  die  richtige  Beziehung 
gesetzt  werden. 

Piatons  erste  philosophische  Periode  beruht  auf  der  rückhaltlosen 
Identifizierung  seiner  Lehre  mit  dem  Sinngehalte,  den  er  in  dem  soma- 
tischen Leben  sah,  und  so  ist  dessen  Existenzialität,  die  Art,  wie  Sokrates 
sich  selbst  in  seinem  Dasein  verstand  und  wie  dieses  Verständnis  von 
Piaton  aufgefaßt  wurde,  das  einfache  und  doch  unerschöpfliche  Thema 
der  Frühdialoge,  unerschöpflich,  weil  in  dieser  Deutung  sich  immer  mehr 
die  eigene  philosophische  Haltung  Piatons  entfaltete  und  bildete  (vgl. 
Erw.  Wolff,  Piatons  Apologie,  N.  Philolog.  Unters.  1929,  bes.  S.  85 ff.). 

In  der  verstehenden  Hinwendung  zu  einer  persönlichen  Existenz  von 
der  Stärke  der  sokratischen  liegt  wohl  die  Grundlage  einer  metaphysi- 
schen Stellung  zu  Mensch  und  Welt  überhaupt,  sie  ist  der  Gegenstand 
einer  möglichen  metaphysischen  Theorie,  aber  noch  nicht  diese  selbst. 
Ehe  Piaton  zu  einer  solchen  Theorie  des  Seins,  also  zu  einer  eigentlichen 
Ontologie  gelangt,  muß  sich  die  unmittelbare  Einheit  seines  Philosophie- 
rens mit  dem  sokratischen  Paradeigma  lockern,  muß  er  den  nötigen  Ab- 
stand diesem  Erlebnis  gegenüber  erlangen.  Dieser  Vorgang  ist  deshalb 
so  wichtig  für  das  Verständnis  seiner  gesamten  menschlich-metaphysi- 
schen Haltung,  weil  er  in  keinem  Punkte  eine  Verleugnung  oder  Abwen- 
dung bedeutet,  sondern  immer  wieder  zu  einem  tieferen  Verhältnis  zum 
sokratischen  Urphänomen  führen  sollte. 

b)  Die  Idee  des  Guten  als  die  platonische  Seinsidee. 

Der  Abschluß  der  ersten  Periode  —  sie  die  „sokratische"  zu  nennen 
dürfte  nun  keinem  Mißverständnis  mehr  Vorschub  leisten  —  ist  die  erste 
sizilische  Reise  im  Jahre  388.  Sie  bedeutet  für  Piaton  dreierlei:  erstens 
erlebt  er  in  Dion  diejenige  menschliche  Begegnung,  die  nach  dem  Wenigen, 
was  aus  Gedichten  und  Briefen  uns  sichtbar  wird,  sich  mit  der  sokrati- 
schen vergleichen  läßt,  und  zwar  gewinnt  nun  Piaton  dieselbe  Stellung 
der  Aktivität  Dion  gegenüber,  die  er  Sokrates  zubilligte,  die  des  Leiten- 
den und  verantwortlich  Bildenden,  des  jjyotifisvog,  des  Führenden. 

Es  beginnt  die  Reihe  der  Erosdialoge.  Diese  personale  Aktivierung 
vereinigt  sich  mit  der  politischen:  für  Piaton  erschließt  sich  in  Sizilien 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


neu  der  Bereich  politischer  Tätigkeit,  der  Gründung  eines  Staates  aus 
der  Initiative  des  Herrschers;  das  bedeutet  den  endgültigen  Verzicht 
auf  politische  Betätigung  in  der  Heimatstadt;  aber  die  „Gesetze"  zeigen 
später,  in  welchen  Grenzen  Piaton  diesen  für  einen  athenischen  Aristo- 
kraten ungemein  wichtigen  Schritt  durch  eine  theoretische  Rückwendung 
zum  heimischen  Recht  auszugleichen  suchte.  Zunächst  waren  seine  Blicke 
von  nun  an  auf  Sizilien  gerichtet,  und  damit  auf  Staatengründung;  die 
„Politeia"  oder,  wie  überliefert  wird:  die  Politeiai,  die  Verfassungsformen 
in  ihrem  wesensmäßigen  Zusammenhange,  bezogen  auf  die  Norm  des 
Staates  überhaupt,  treten  als  der  Untergrund  des  gesamten  Philosophie- 
rens immer  deutlicher  hervor. 

Drittens  tritt  in  Sizilien  die  „pythagoreische"  Philosophie  mindestens 
als  ein  „Problem",  als  jigöfilyiua,  als  Aufgabe,  als  neue  Möglichkeit  in 
Piatons  Gesichtskreis  ein,  also  das  erste  vollwertige  Gegengewicht  gegen 
die  Sokratik,  in  deren  Auseinandersetzung  sich  bisher  sein  Denken  be- 
wegt hatte.  Drei  zunächst  in  sich  völlig  verschiedene,  ja  entgegengesetzte 
Motive  prallen  auf  die  Sokratik  auf,  deren  jedes  mit  ihr  gänzlich  unver- 
einbar scheint:  erstens  die  Unsterblichkeits-,  Jenseits-  und  Seelenwande- 
rungslehre, zweitens  die  Mathematik  als  ontologische  Wissenschaft  vom 
ersten  und  eigentlichen  Sein,  drittens  der  festgefügte  ethisch-religiös  be- 
gründete Bund,  der  nach  außen  starke  politische  Macht  entfaltete. 

Alle  drei  Motive  trafen  Piaton  in  der  Zeit,  in  der  seinem  persönlichen 
Dasein  neue  Wirkungsmöglichkeiten  sich  erschlossen.  Keines  war  ihm 
völlig  fremd  und  überraschend,  keines  aber  war  ohne  weiteres  einzuordnen 
in  den  bisherigen  Rahmen  seines  sokratischen  Philosophierens;  alle 
mußten  erst  einem  Einschmelzungsprozeß  unterworfen  werden,  für  den 
die  Bedingungen  im  persönlichen  Sein  Piatons  günstig  waren.  Piaton  sah 
sofort,  daß  die  pythagoreischen  Motive  erst  in  dem  Bezug  zur  sokrati- 
schen Paideia  unter  sich  zur  Einheit  gelangen  konnten.  Die  Auseinander- 
setzung mit  den  fünf  Motiven,  erstens  dem  erotischen  Verhältnis  zu 
Dion,  zweitens  der  Möglichkeit,  in  Sizilien  politische  Macht  zu  entfalten, 
und  den  drei  aufgeführten  pythagoreischen  Motiven,  sowie  ihre  schließ- 
liche Aufnahme  in  den  erweiterten  Rahmen  des  sokratischen  Bios  (Phai- 
dros !)  ist  der  Weg  zu  einer  Seinsidee  von  neuer  und  nur  einmal  in  der 
dichterischen  Form  des  Staates  erreichten  Fülle.  Diese  Fülle  stellt  der 
theoretischen  Bewältigung  dieser  Seinsidee,  der  Erfassung  des  zugehörigen 
und  zulänglichen  Seinsbegriffes,  die  in  der  Akademie  von  Piaton  und 
seinen  Schülern  geleistet  wird,  die  eigentlich  griechische  Aufgabe.  Wir 
unterscheiden  also  eine  zweite  Periode,  in  der  sich  alles  bisher  Erwähnte 
in  der  Idee  des  Guten  zusammenfaßt,  von  der  dritten  einer  theoretisch 
durchgebildeten  Seins-  und  Einheitslehre.  Die  Dialogreihe,  in  der  der 
Aufstieg  zum  „Staat"  sich  vollzieht,  wird  durch  Lysis- Symposion,  Menon- 
Gorgias-Phaidon  bezeichnet.  Dabei  bleibe  die  Reihenfolge  im  einzelnen 
frei.  Nach  dem  „Staat"  setzt  die  Reihe  der  ontologischen  Dialoge  mit 


D 


PLATON.    IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINSIDEE 


107 


Theaitetos,  Sophistes,  Politikos  ein,  gipfelt  im  Parmenides,  Philebos  und 
Timaios  —  wobei  wieder  die  Freiheit  künstlerischer  Gestaltung  manches 
vorwegnehmen  oder  ebensogut  im  Rückblick  zusammenfassend  und  kürzer 
behandeln  kann;  der  Parmenides  kann  früher  sein  als  der  Sophistes,  der 
Timaios  als  der  Philebos  - —  dies  zu  entscheiden  ist  nicht  Aufgabe  einer 
philosophischen  Betrachtung.  Zuletzt  versuchen  die  „Gesetze"  noch  einmal 
wie  der  „Staat"  den  jetzt  theoretisch  auseinandergelegten  Seinsbegriff 
wieder  praktisch  werden  zu  lassen. 

Die  fünf  Motive,  von  denen  die  letzten  drei  unter  dem  Sammelnamen 
des  Pythagorismus  zusammengefaßt  wurden,  sind  nun  im  einzelnen  in 
ihrer  Einwirkung  auf  die  Seinsidee  Piatons  zu  betrachten. 

Das  erotische  Motiv,  keinem  der  früheren  Dialoge  ganz  fremd  (Prota- 
goras,  Charmides),  tritt  im  Lysis,  wie  es  scheint  zum  ersten  Male,  als 
Grundlage  einer  Zwecklehre  auf.  Alles  Geschehen  erfolgt  um  eines  „Lie- 
ben", (pilnv,  willen;  also  muß  es  ein  „erstes  Liebes"  geben,  um  dessen 
willen  alles  andere  „lieb",  erstrebenswert  ist  (219  d)  oder  in  dem  alles 
andere  Liebe  „endet"  (220 d),  also  Ruhe  findet.  Der  befremdliche  Aus- 
druck des  (piXov,  des  Lieben,  für  den  Zweck  enthüllt  die  metaphysisch- 
anthropologische  Grundlage  der  Seinsvorstellung.  Aller  Wirklichkeit 
gegenüber  werden  die  Kategorien  des  personalen  Vorbildes  und  seiner 
Nachfolge  angewandt,  und  dies  ist  ohne  sentimentalische  Überspannung 
möglich,  weil  der  Personbegriff  von  Piaton  stets  objektiviert,  d.  h.  von 
einer  überspitzt  subjektivistischen  Ichhaftigkeit  freigehalten  wird.  So 
kann  schlechthin  alles,  was  Sinn  hat,  jedes  Existierende,  in  seiner  Exi- 
stenz so  aufgefaßt  werden,  daß  es  nach  seinem  Seinssinn  „strebt",  ihm 
ähnlich  zu  werden  „begehrt";  es  ist  „schlechter"  als  das,  was  ihm  als 
sein  Sinn,  als  das  nachahmenswerte  Vorbild  vorgesetzt  ist. 

Phaidon  74 d  9: 

Ovxovv  6/uokoyov/uev,  orav  rig  ti  Idwv  irroqo~y  ort,  ßovktTcci  usv  rovro  o  vvv  iyio 
vqw  elvcci  oiov  cckko  rt>  rwv  ovriov,  ivdeT  de  xcci  ov  dvvatav  roiovrov  elvat,  oiov  IxeTvo, 
dkk1  i-Giiv  öpctvkorsQov,  ccrccyxaTor  nov  tov  tovto  ivvoovvrcc  rv/elv  npoeidorcc  ixetvo  <a  (ptjav 
avro  npoceoixivcct  /ufr,  Ivd&eoreowg  de  tyeiv; 

Phaidon  75  a  11: 

'Akku  [xev  drj  ix  ye  riöv  ccla&qceüiv  dst  svvoijov.i,  ori  nccvrcc  tcc  iv  rotTg  alo&tjffeatv 
Ixüvov  T€  opeyerat,  tov  o  iariv  i'oov,  xcci  ccvrov  ivdfearepd  ianr  •  tj  nwg  keyo/uev;  .  .  Ilgo 
tov  äga  ctQl-cco&ai  rjfiäg  oqvcv  xal  ccxovetv  xcci  rdkkcc  cclo&dveo&cct  rv/sTv  t'det  nov  eikrj- 
(püTccg  inioTtjfiqv  ccvrov  tov  taov  ort  i'oriv,  ei  ifxekkofiev  tcc  Ix  tüjv  cclo^aeiov  toa  ixeToe 
uvoioeiv,  ort,  nQott-vfxeTrcci  jusr  nccvrcc  roiccvr  elvcct  oiov  ixsTvo,  ianv  de  ccvrov  (pccvkoreQa. 

Aus  der  letzten  vollständigsten  Fassung  dieses  Gedankens  geht  hervor,  daß  diese 
vorhandene  Strebung  im  Existenten,  dieser  Anspruch  der  Dinge,  der  Grund  ist  für  die 
Anwendbarkeit  der  aus  vorhergehenden  Einsichten  gewonnenen  „Ideen"  des  Gleichen 
usw.,  kurz  für  das  verstehende  Auffassen  des  Wirklichen  —  nicht  umgekehrt. 

Dieses  Streben  in  den  „Dingen"  wird  im  Lysis  mit  denselben  Worten  dargestellt 
wie  im  Symposion:  das  Liebende  (Strebende)  kann  nicht  selbst  gut  sein,  wenn  es 
nach  dem  Guten  verlangt.  Aber  auch  nicht  schlecht,  sondern  ein  Mittleres  da- 
zwischen. 


10$ 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Lysis  220  d  4: 

(u)'  othrtü  Tliipvxi  if  xai  (fikfTmi  Tayaftdi>  dtd  to  xaxov  v(f  r^iior,  tcöp  fxeTa'iv  ovtojv 
rov  xaxov  u  xccl  layaftui  . . . .  Oiov  je  ovr  iariv  im&vfiovpra  xai  tQiövTa  tovtov  ov  im&v/uei 
xai  io$  fjuj  (jr/Af/V;  Zur  parallelen  Theorie  de8  Symp.  vgl.  Plat.  d.  Erz.  214 — 217. 

Dieser  der  gesamten  Physis  immanente  Nachahmungsvorgang  wird 
im  Symposion  207  a  ff.  als  Eros  entwickelt,  als  das  Streben,  sein  „Ziel", 
sein  Wesen  zu  verwirklichen.  Die  Stufenfolge  führt  vom  Tierreich,  das 
in  der  Zeugung  seine  gattungsmäßige  Form  erhalten  und  so  unsterblich 
sein  will,  über  das  geistig-leibliche  Individuum,  das  im  Lebensvorgang 
die  Formbestimmtheit  seiner  Hyle  in  allen  Entwicklungsstufen  bewahrt 
und  so  sich  identisch  erhält,  zum  Wissen  des  denkenden  Wesens  um  seine 
geistige  Einheit;  die  „Erinnerung",  [iv>jj[i7],  läßt  die  im  seelischen  Werden 
sich  dauernd  verändernden  Akte  des  Wissens,  Fühlens,  Fürchtens  usw. 
als  dieselben  wiedererkennen:  sie  scheinen  aber  nur  dem  endlichen 
Wesen  dieselben  zu  sein,  während  das  Identisch- Sein  schlechthin  nur 
dem  Göttlichen  zukommt. 

Diese  Seelenauffassung  führt  über  den  Phaidon  und  das  X.  Buch  der  Gesetze  — 
vgl.  das  Programm  Über  zwei  Begriffe  der  plat.  Mystik  ZQION  und  KINHJlIJZ,,  Breslau 
1916  —  zu  der  Definition  der  Seele,  Gesetze  XII,  966  d  9.  feV  fxev  o  tisqI  tj?V  tpv%ijv 
Ikiyofxev,  u>s  TiQeoßvTaTov  T£  xai  fteioTaTov  £otiv  navTOiv  wv  xivrjoig  yivzcw  naoakaßovaa 
divaov  ovaCav  snÖQioev.  Eines  davon  ist  das,  was  wir  über  die  Seele  sagten,  daß  sie 
das  Ehrwürdigste  und  Göttlichste  ist  unter  alledem,  bei  dem  die  Bewegung,  das  Werden 
zuhilfe  nehmend,  ein  ewig  fließendes  Sein  hervorbringt.  Als  Zielpunkt  der  Ent- 
wicklung ist  dies  auch  für  das  Folgende  zu  beachten. 

Die  personale  Existenz  war  durch  das  Wissen  um  ihre  geistige  Einheit 
charakterisiert  worden.  Piaton  geht  nun  einen  Schritt  weiter,  indem  er 
das  Streben  nach  geschichtlicher  Dauer,  nach  der  Unsterblichkeit  des 
Ruhmes  als  des  vorweggenommenen  Lebens  in  der  Zukunft,  in  den  Be- 
griff des  Menschen  aufnimmt  und  nach  der  Art  und  der  Stärke  dieses  Eros 
die  Menschen  sich  unterscheiden  läßt.  Die  Sphäre,  in  der  diese  Dauer  sich 
gründet,  ist  die  pädagogische  und  politische,  noch  bezeichnet  durch  die 
großen  erzieherischen  Dichterpersönlichkeiten  Homer,  Hesiod,  Lykurgos, 
Solon.  Nach  einem  deutlichen  Einschnitt  209  e  5  kommt  nun  die 
Schilderung  des  letzten  Zweckes  ,,t«  islea  xai  ijioTtTixä"  (Wortspiel  mit 
t£Xoq  Zweck,  Ende  und  t^Xtj  Weihen),  um  dessentwillen  auch  dieses  ist 
<bv  E  >exa  xai  zavra  hdxiv.  Was  das  „erste  Liebe"  allgemein  bezeich- 
nete, das  wird  nun  inhaltlich  bestimmt  als  Schönes  an  sich,  das  nicht 
mehr  bloß  Bild,  sondern  Wesen  des  Schönen  ist  (auch  der  Lysis  spricht 
219d3  von  den  d'öwXa,  den  Abbildern  des  höchsten  Lieben).  Die  anfäng- 
liche Bestimmung  des  letzten  Zweckes  des  Eros  205a  lautet: 

Durch  den  Erwerb  des  Guten  werden  die  Glücklichen  glücklich. 
Kxr/Ofi  yaq  äya&wr  ol  evdatixoreg  tvdai[xoveg,  xai  ovxeri  nQoadn  eQf'o&at,  "Iva  ri  di 
ßovXtTat  (vdat/Liüw  tlvai,  6  ßovkofxerog;  dkkd  Tekog  doxst  fyew  fj  dnoxQicig. 

Dieser  Eros  wird  als  allen  Menschen  gemeinsam  erklärt.  Hinzugefügt 
wird  noch  die  für  das  Schöne  selbst  (xaXbv  attzö)  —  wir  können  es  eben- 


D 


PLATON.  IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINSIDEE 


109 


sogut  „erstes  Schönes",  tvq&tov  xaXov  nennen  —  wichtige  zeitliche  Be- 
stimmung: 1.  die  Menschen  streben  nach  dem  Guten;  2.  sie  streben,  daß 
ihnen  das  Gute  zuteil  werde;  3.  nicht  nur,  daß  es  zuteil  werde,  sondern 
daß  es  immer  zuteil  werde.  Sichtlich  steht  die  Dauer,  die  Gegenwart 
(nagovaCa)  des  Guten  mit  dem  Begriff  des  ersten  (letzten)  Zieles  und  der 
Befriedigung  des  Strebens  (ejtdaifiovta,  Glückseligkeit)  in  einem  Wesens- 
zusammenhang. 

Alle  diese  Bestimmungen  müssen  beachtet  werden,  um  jenen  Aufstieg 
zu  verstehen,  über  das  Schöne  in  den  einzelnen  schönen  Leibern  (ady^ara, 
10  im  Griechischen  zugleich  individuelle  Personen),  in  den  Seelen,  den  Be- 
tätigungen (imTTjdeö/iccTa)  und  Gesetzen  und  Bräuchen  (vof^oi),  Wissen- 
schaften (iTt'Orij/iLcti)  zum  Wissen  um  das  Schöne  selbst,  zu  dem  uner- 
schöpflichen Meer  des  Schönen;  zu  ihm  führt  „neidloses  Philosophieren", 
das  wachsen  und  stark  werden  läßt,  bis  plötzlich  jene  Schau  des  Schönen 
aufleuchtet. 

Bei  einer  Wiederholung  des  Gedankenganges,  die  bei  Piaton  immer 
bestimmte  Absichten  verfolgt,  wird  in  der  Stufenfolge  statt  Wissenschaft, 
i7iiGT7jfM],  Lerngegenstand,  ftä&Tjjiia,  gesagt  und  das  letzte  Ziel  des  Eros 
als  „Mathema  des  Schönen  selbst"  bezeichnet.  Es  führt  den  Menschen 

20  „zu  keinem  schlechten  Leben"  (211  e),  läßt  ihn  echte  Tugend,  nicht  nur 
deren  Abbilder,  erzeugen  und  so  „gottgeliebt"  und  unsterblich  werden, 
soweit  es  einem  Menschen  möglich  ist.  Was  hier  immer  als  ganz  beson- 
ders auffällig  empfunden  wurde,  daß  die  „Unsterblichkeit  der  indivi- 
duellen Seele"  sichtlich  nicht  der  Sinn  dieses  hier  erschauten  Seins  ist, 
muß  für  den  modernen  Deuter  vor  allem  andern  festgehalten  werden. 
Es  bestätigt  sich  immer  das,  wovon  wir  hier  ausgingen:  die  gemilderte 
Ichhaftigkeit  der  Personalität  und  gerade  die  Einführung  des  „Gött- 
lichen" (nicht  „Gottes")  im  Schlußgedanken  zeigt,  daß  von  der  niedersten 
bis  zur  höchsten  Sphäre  diese  Haltung  bewußt  festgehalten  wird.  Man 

30  kann  sagen,  daß  immer  nur  so  viel  an  subjektiver  Personhaftigkeit  bei 
Gott  und  Mensch  von  Piaton  gemeint  wird,  wie  nötig  ist,  um  allenthalben 
das  ö/ioiwaic-  Verhältnis,  die  Nachahmung  und  Nachfolge  einerseits  über- 
haupt möglich  zu  machen  und  andererseits  ungestört  von  jeder  puren 
Subjektivität  sich  auswirken  zu  lassen.  So  wird  die  am  Eingang  des 
letzten  Teiles  der  Diotimarede  geradezu  geforderte  Entpersönlichung  des 
Eros  verständlich  und  damit  dessen  ausdrücklicher  Einbau  in  den  der 
staatlich-geschichtlichen  Gemeinschaft.  Wenn  demnach  die  Idee  des 
Schönen  die  Idee  der  Person,  also  die  ideelle  Personhaftigkeit  — 
Persönlichkeit  —  bezeichnet,  woran  nicht  zu  zweifeln  ist,  so  muß  hinzu- 

40  gefügt  werden,  daß  als  die  Norm  dieses  Seins  der  Person  ihre  Zuordnung 
zu  anderen  ihresgleichen  in  der  ideellen  Gemeinschaft  vorausgesetzt  ist. 
Dieser  Normbegriff  ist  für  Piaton  immer  zwischen  das  Ich  und  seine  gött- 
liche Idee  dazwischen  geschaltet;  aber  nicht  nur  dieser  Normbegriff,  son- 
dern noch  sehr  viel  mehr. 


HO 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Das  lehrt  der  Vergleich  mit  der  dritten  Ausprägung  derselben  Seins- 
idee, der  Idee  des  Guten  im  Staate.  Fast  alle  Bestimmungen  kehren  hier 
wieder,  freilich  wesentlich  bereichert.  Vor  allem  wird  der  pädagogische 
ilfotfcema-charakter  des  Schönen  im  ersten  Guten,  dem  größten  Lern- 
gegenstand,  der  doxy  des  Seins,  ganz  anders  herausgearbeitet.  Vom 
Staate  aus  fällt  auf  alle  die  früheren  Ansätze  zu  einer  umfassenden  Seins- 
idee erst  das  rechte  Licht. 

Die  unverrückbar  festgehaltene  Disposition  des  Staates  führt  in  einer 
Wellenlinie  mit  dauernden  Ausschwüngen  in  andere,  aber  zugehörige 
Problembereiche,  mit  der  naiven  Frage  nach  der  Glückseligkeit  des  Ge-  to 
rechten  beginnend,  bis  zum  Staatsmythus,  zur  endgültigen  Befriedung 
des  Menschen  im  Ewigen,  wobei  dieses  Ewige  immer  nur,  als  ein  Kraft- 
quell für  die  volleibliche  Existenz,  im  konkret-irdischen  Staate  sich  be- 
währen kann  und  soll.  Eine  Wellenbewegung  kommt  in  die  Gedanken- 
entwicklung durch  zwei  Antriebe.  Erstens  sichert  Piaton  das  „Absolute" 
der  Idee  des  Guten,  auf  das  er  die  ganze  Erörterung  hinleitet,  dauernd 
vor  dem  „Chorismos" ,  der  abstrakten,  schlechten  Verabsolutierung.  Und 
zwar  wird  die  Idee  des  Guten  einmal  dauernd  hineingestellt  in  die  kon- 
kretgeschichtliche griechische  Bildungssituation:  die  gymnastisch-mu- 
sische Paideia  soll  lediglich  „gerettet",  d.  h.  ihr  verlorener  Sinn,  ihre  20 
ägxccict  cpvöic,  aus  Kräften  des  Logos  wiederhergestellt  werden.  Zugleich 
sorgt  Piaton  dauernd  für  das  im  Eros  des  Symposion  hervorgehobene 
Motiv:  die  Kraft  der  Idee  soll  das  gesamte  leiblich-geistige  Leben  mit- 
bestimmen, und  der  Naturbegriff  Piatons  ist  so  weit  gefaßt,  daß  die  Fragen 
der  Erotik  und  Erzeugung  notwendig  zur  Erörterung  gelangen  müssen. 
Auch  in  der  Beziehung  von  Tapferkeit  und  Erotik  trägt  Piaton  der  ge- 
schichtlichen Bildungssituation  weithin  Rechnung.  (Vgl.  das  Genauere  in 
Plat.  d.  Erzieher  S.  191  ff.)  Erst  aus  dieser  unerhörten  Konkretisierungs- 
tendenz dem  Absoluten  gegenüber  wird  der  „Staat"  richtig  erfaßt  werden. 

Zu  diesem  ersten,  den  Gang  des  Gespräches  zu  gewaltigen  Ausschlägen  30 
nach  vielen  Seiten  zwingenden  Motiv  tritt  nun  für  die  Gedankenanord- 
nung als  fundamental  wichtig  hinzu  der  dauernde  Wechsel  der  Betrach- 
tung, indem  einmal  „der  Mensch",  der  in  seinem  Sein  bestimmte  verant- 
wortliche einzelne  Geist  in  seiner  Einwirkung  auf  die  sich  bildende  und 
erhaltende  Staats-  und  Erziehungsgemeinschaft  gefaßt  wird  und  so  Aus- 
gangspunkt der  Betrachtung  ist,  ein  andermal  die  Form  der  Verfassung 
der  Gemeinschaft  in  ihrem  Einfluß  auf  die  Herausbildung  eines  durch 
das  Zusammensein  mit  anderen  bestimmten  Menschentypus  betrachtet 
wird.  Ob  „der  Gerechte"  ohne  die  „größere  Schrift  des  gerechten  Staates" 
erblickt  werden  könnte,  ist  ja  der  Ausgangspunkt  des  Ganzen.  40 

Die  alte  Frage,  ob  etwa  die  Dreiteilung  der  Seele  oder  die  ständische  Gliederung 
des  Staates  das  Prius  im  Gedanken  Piatons  ist,  verrät  ein  echtes  Problembewußtsein 
—  die  Frage  nach  dem  zeitlichen  Prius  steht  auf  einem  ganz  anderen  Blatte  und  hat 
mit  der  uns  beschäftigenden  Frage,  ob  Piaton  vor  dem  Ganzen  seiner  Gedanken  dem 


D 


PLATON.    IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINSIDEE 


111 


einen  oder  dem  anderen  Sachverhalt  einen  Seinsvorrang  zuwies,  im  Grunde  nichts  zu 
tun;  es  ist  nach  allem  oben  Entwickelten  wahrscheinlich,  daß  Piaton  sich  für  den  Glau- 
ben an  ein  absolutes  Gleichgewicht  des  Seinsverhältnisses  von  wesentlichem  Menschen 
und  wesentlicher  Gemeinschaft  bewußt  und  ausdrücklich  entschieden  und  ihn  zur 
Grundlage  seines  Paideia  gedankens  gemacht  hat. 

Platon  gelangt  auf  den  durch  diese  komplexen  Absichten  bezeichneten 
Wegen  zu  einer  Festsetzung  der  vier  Kardinaltugenden  Gerechtigkeit, 
Tapferkeit,  Besonnenheit  und  Weisheit  (Staat  IV  427 e  ff.).  Die  Gerech- 
tigkeit, das  Anfangs-  und  Hauptthema  des  Ganzen,  wird  eigentümlicher- 
weise durch  ein  Ausschließungsverfahren  entdeckt;  was  jeder  Dialog  vom 
„Protagoras"  an  lehrte,  daß  die  Zerspaltung  der  ZvXh'ißdqv  äoexi]  in  die 
einzelnen  Tugenden  nichts  Ursprüngliches  ist  und  nichts  Endgültiges 
bleiben  darf,  diese  Frage  muß  für  alles  Folgende  ebenso  gegenwärtig  blei- 
ben wie  die  Antwort,  die  die  früheren  Dialoge  nahelegten;  wir  haben  die 
Antwort  oben  so  gedeutet,  daß  es  sich  hier  um  das  richtige  Verhalten  der 
einheitlichen  Person  im  konkreten  Lebenszusammenhange  handelt. 

Vgl.  R.  E.  Logik,  S.  1001.  Wissenschaft  und  Bildg.  i.  plat.  Erziehungsbegr.,  Ztschr. 
f.  Gesch.  d.  Erzieh,  u.  d.  Unterrichts,  Berlin  (Weidmann)  1930,  S.  97. 

Im  VI.  Buche  des  Staates  bestimmt  sich  die  Einheit  des  Menschen 
als  die  des  wahren  Philosophen,  der  der  einheitlichen  Weltganzheit  gegen- 
übersteht und  sie  sich  erkennend-tätig,  erziehend-regierend  zu  erschließen 
hat.  Mit  dem  neuen  sizilischen  Antrieb  zu  praktischer  Politik  dauernd  be- 
schäftigt, stellt  Platon  dem  durch  „Unbrauchbarkeit",  d%Q^aTCa^  cha- 
rakterisierten falschen  Philosophen  den  echten  gegenüber,  der  zur  Ver- 
wirklichung seiner  Ideen  erzogen  ist  und  sich  selbst  dauernd  für  diese 
höchste  Aufgabe  bildet.  Platon  kann  nicht  vermeiden,  eine  gewisse  Di- 
stanzierung gegen  den  geschichtlichen  Sokrates  von  dem  Sokrates,  der 
seine,  Piatons,  Gedanken  zum  Ausdruck  bringt,  zart  anzudeuten :  es  wird 
die  eigentliche  Leistung  des  sokratischen  Bios  dessen  geschichtlicher  Er- 
scheinungsform gegenübergestellt;  die  Frage  des  „Einsprungs"  ins  aktiv- 
politische Leben  pulsiert  dauernd,  besonders  im  VI.  Buche,  hinter  der 
Gedankenführung,  die  zur  Idee  des  Guten  führt.  Wenn  diese  allgemein 
als  das  „Größere"  gegenüber  der  Gerechtigkeit  und  allem  bisher  Er- 
örterten erscheint  (504  d),  so  wird  dieser  Vorrang  folgendermaßen  be- 
gründet (505  a) :  sie  ist  das  Größte,  was  zu  lernen  ist,  weil  erst  dadurch, 
daß  das  Gerechte  und  das  andere  sie  hinzugebrauchen,  diese  brauchbar 
und  nützlich  werden. 

inei  ort  ys  t]  tov  uya&ov  töecc  fieyiOTov  fid&rj^icc,  nokkdxig  dxqxoccg,  fj  dt}  xai  di'xata 
xcci  rdkka  7iQOC>x()t}oa,fX€va  x^rjoifxa  xai  ujq>(ki{xa  yiyvejai. 

Um  diesen,  wörtlich  übersetzt  trivialen,  Wendungen  den  platonischen 
Sinn  zu  geben,  der  ihnen  nach  dem  Gewicht  dieses  Zusammenhanges 
sichtlich  zukommt,  muß  das  Motiv  des  Gebrauchens,  der  %qiioic,  plato- 
nisch verstanden  werden.  Im  Euthydemos  (291  ff.)  wird  dem  den  ganzen 
Dialog  sonst  beherrschenden  Bilde  falscher,  unproduktiver  logischer  Spitz- 


112 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


findigkeit  das  echte  Wissen  als  die  königliche  und  staatsmännische  Kunst 
ge  genübergestellt,  die  alle  Dinge  zu  gebrauchen,  also  brauchbar  zu  machen 
versteht  und  damit  zur  Lenkerin  des  Staates  bestimmt  ist,  in  dem  sie 
alle  gut  und  wissend  macht.  Wissen  macht  alle  Menschen  dadurch  glück- 
selig, wie  vorher  bereits  282  a  festgestellt  ist,  daß  es  mit  den  Dingen  um- 
gehen (toZq  TiQ&YixaGiv  %Qtfö&cci)  lehrt  —  der  ganze  Zusammenhang  und 
einzelne  Wendlingen  weisen  deutlich  auf  die  Problematik  des  Staates  hin. 

Ergänzt  wird  dies  durch  eine  im  Kratylos  390  b  als  selbstverständlich  angenommene 
These,  daß  der  zukünftige  Gebrauchende  das  entscheidende  Urteil  über  die  Richtigkeit, 
o^dvnjg,  jeglichen  Dinges  hat;  man  sieht  deutlich,  wie  wesentlich  der  Begriff  des  Ge-  10 
brauchen*,  des und  des  Brauchbaren,  des  XQ^ai/Llor'>  ist.  Die  zunächst  liegenden 
deutschen  Übersetzungen  führen  ganz  in  die  Irre,  weil  sie  „utilitaristisch"  klingen;  die 
manchmal  für  nötig  gehaltene  Verteidigung  Piatons  gegen  diesen  erst  dem  19.  Jahr- 
hundert entsprungenen  sog.  philosophischen  Standpunkt  ist  unnötig  und  unzulänglich. 
Die  gelegentliche  Ubersetzung  von  wyskeia  mit  dem  der  griechischen  Theorie  fremden 
Wertbegriff  kann,  richtig  verstanden,  weiterführen,  wie  etwa  Theait.  186  c:  „die  über- 
legenden Schlüsse  auf  Sein  und  Wert"  werden  —  wenn  überhaupt  —  mühsam  nach 
langer  Zeit  durch  viele  Erfahrung  und  Erziehung  zuteil  {ja  de  nsQi  tovtwv  dvakoyia- 
[xctra  TiQog  T€  ovoiav  xal  wcpsksiav  [xoyig  xal  ev  /Qoru)  diä  nokkwv  nQayfxdjinv  xal  nat- 
dfiag  naoayiyveTai.  oi?  av  xal  naQayiyvsrai.  Obwohl  w(piki/uog  und  ^r\ciy,og  eng  zu-  m 
sammenhängen,  weisen  sie  doch  auf  verschiedene  Sachverhalte  hin. 

In  allen  Ableitungen  von  %Q7j(f&cci  wirkt  die  aus  der  verbalen  Kraft  her- 
kommende Bedeutung  stark  nach,  und  zwar  die  doppelte  Bedeutung  „Um- 
gehen mit  Dingen"  (ngayfiaai  xQ^atiat)  und  „Umgehen  mit  Menschen" 
(z.  B.  (piXcp  rivl  xQfjüücci);  daher  stand  an  der  zuletzt  zitierten  Theaitetos- 
stelle  die  Paideia  neben  den  Dingen,  den  Ttgdcy^ara;  denn  Paideia  ist 
ein  „Zusammensein",  awovatec,  ein  Zusammenleben,  Gv£fjv,  bei  dem  die 
verschiedenen  Leistungskräfte,  ägerai,  in  Bewegung  geraten  und  sich 
steigern  —  besondere  Lehranstalten  können  infolgedessen  bei  dieser 
Paideia  zurücktreten.  Daß  das  Umgehen  in  seinem  vollen  Umfange  von  30 
den  handfesten  Dingen  der  handwerklich  demiurgischen  Sphäre  bis  zum 
persönlichen  Tat-  und  Wirkungszusammenhang  sichtlich  auf  dem  Hinter- 
grunde höchster  theoretischer  Prinzipien  gesehen  wird,  dürfte  nicht  mehr 
verwunderlich  erscheinen;  wir  bewegen  uns  wieder  auf  dem  Boden  der 
oben  entwickelten  Te/oslehre  und  der  für  Piaton  charakteristischen  Idee 
vom  Sein,  vom  Menschen,  vom  Staate  und  schließlich  von  der  Welt  über- 
haupt, in  derjenigen  Sphäre,  in  der  ein  Arete- geleitetes  Streben  allent- 
halben wirkt  und  einen  Anruf  zum  „Gebrauchen",  zum  Umgang,  gemäß 
seinem  Wesen,  seinem  Eidos  bedeutet  für  den,  der  Wesensmäßiges  zu 
hören  und  zu  schauen  gelernt  hat,  für  den,  der  also  weiß,  wozu  jegliches 
Ding  der  Welt  „gut"  ist.  Dieses  Lernen  ist  nun  das  große  Mathema  der 
Idee  des  Guten,  das  alles  „nützlich  und  brauchbar",  „im  Umgang  wirk- 
sam" macht. 

Gewiß  besteht  demnach  eine  sachliche  Beziehung  zum  Wertbegriff,  besonders  wenn 
man  —  ich  denke  an  Scheler  —  den  Wertungsakt  als  ursprüngliches  Vorziehen  nimmt 
und  ein  Erfahren  des  Wertes  im  unmittelbaren  „Umgang",  in  der  Begegnung  mit 


D  PLATON.    IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINSIDEE  113 


Dingen  und  Menschen  im  Sinne  hat,  also  das  ursprüngliche  primäre,  im  geistigen  Dasein 
selbst  gesetzte  Verstehen,  das  in  der  neuen  Fundamentalontologie  wiederentdeckt 
worden  ist. 

Damit  ist  auch  die  Verbindung  mit  dem  platonischen  Erosbegriff  neu 
hergestellt.  Jenes  ursprüngliche  „Haben  des  Wertes",  überhaupt  das  un- 
mittelbare Wissen  ums  Dasein,  hat  auch  in  der  gegenwärtigen  Philoso- 
phie den  freilich  noch  mannigfacher  Klärung  bedürftigen  Begriff  des  Ge- 
fühls, des  Fühlens  nicht  umgehen  können;  im  Eros  hat  Piaton  das  Er- 
fühlen des  Sinnes,  das  sich  gefühlsmäßig  auf  den  Sinn- Gerichtet- Wissen, 
zur  Grundlage  auch  des  sogenannten  sachlich  theoretischen  Erkennens 
gemacht.  Im  Eros  ist  das  Moment  des  Umgehens  mit  etwas,  der  kon- 
kreten leiblich-geistigen  Begegnung,  wesentlich.  Deshalb  hat  Piaton  nicht 
versäumt,  in  den  Gedankengang,  der  vom  unechten,  unbrauchbaren  und 
zu  keiner  XQfjmc,  mit  den  Dingen  und  Menschen  taugenden  Philosophen 
zur  Idee  des  Guten  führt,  die  Quintessenz  des  Symposions  einzufügen: 

Staat  490 ab:  „Der  wirklich  Lerneifrige  ist  geschaffen,  nach  dem  Sei- 
enden zu  ringen;  er  bleibt  nicht  stehen  bei  allerlei  Dingen,  die  in  ihrer 
Vielheit  nur  zu  sein  scheinen,  sondern  er  geht  weiter  und  hört  nicht  auf 
in  seinem  Streben  (Eros),  bevor  er  das,  was  jegliches  Ding  selbst  ist, 
in  seinem  Wesen  erfaßt  hat,  und  zwar  mit  dem  Teil  seiner  Seele,  dem  es 
zukommt,  ein  solches  Wesen  zu  erfassen  —  es  kommt  aber  dem  Ver- 
wandten (in  der  Seele)  zu;  dem  wahrhaft  Seienden  nähert  er  sich,  mit 
ihm  vereinigt  er  sich  und  erzeugt  so  Geist  und  Wahrheit,  erkennt  es,  und 
nun  lebt  und  nährt  er  sich  wahrhaft  in  ihm  und  seine  Wehen  hören  auf." 

^Aq*  ovv  dy  ov  [i£TQt.iog  anokoyrjGOfAt&a  ort,  noog  to  ov  neyvxojg  eft]  d/uikkäo&ai  o  ye 
bmutg  (fikofxa&rjg,  xal  ovx  em^itvoi,  inl  roTg  doZa^o/utvoig  tlvcu  nokkoTg  exdoroig,  dkk*  Tot 
xal  ovx  dfißkvvono  ovd1  änokriyot  tov  iotorog,  tiqiv  amov  o  I'otiv  ixdorov  rrjg  (pvaswg 
axpaoftai  d)  TTQoarjXfi  tpv/f/g  t  ydnre  a&a  i,  tov  toiovtov  —  noooqxei  de  cvyyevei  —  w  nkt]- 
aidoag  xcci  /uiyelg  tw  bvri  bvrwg,  ysvvrjaag  vo~v  xcel  dkij&€iccr,  yvoi'Tj  ts  xal  dkrjO-ibg  C^V 
xal  iQtcpono  xal  ovto)  kqyoi  lodlvog,  nqlv  d*ov; 

Jedes  Wort  ist  hier  bedeutungsvoll;  neu  gegenüber  dem  Symposion 
ist  die  starke  Betonung  der  Mannigfaltigkeit  des  zu  Erkennenden;  jeg- 
liches wirklich  Seiende  innerhalb  der  Physis  gilt  es  zu  erfassen  mit  dem 
diesem  Sein  Verwandten  in  der  Seele;  im  Schönen  selbst  war  dort  stärker 
die  Einheit  des  Seins  betont,  in  dessen  Erfassung  die  Seele  zum  wahren 
Leben  gelangt;  Staat  493 e  wird  ausdrücklich  das  Schöne  selbst  neben 
die  anderen  analogen  einzelnen  „Selbsts"  gestellt  —  wie  es  im  Phaidon 
(65  d,  100  b)  und  überall  sonst  die  Regel  ist.  Aus  diesem  Dialoge  kann 
auch  die  „Verwandtschaft"  der  Seele  mit  dem  reinen  Sein  des  Erkenntnis- 
gegenstandes verdeutlicht  werden.  Es  wird  nämlich  im  Phaidon  77  a  die 
Unsterblichkeit  der  Seele  gedeutet  als  die  Ähnlichkeit  ihrer  Seinsart  in 
der  Präexistenz  mit  der  Seinsart  der  unsinnlichen  Dinge  an  sich;  daß  die 
Seele  solcherlei  erfassen,  erreichen  kann  (tyuTcieaÖai,  Staat  490  b,  der 
spätere  Terminus  der  aristotelischen  Ontologie),  das  beruht  auf  ihrer 
Wesensverwandtschaft  mit  dem  Ansichsein,  und  darin  besteht  ihre  Un- 

Handb.  d.  Phil.  I.    I)  8 


114 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Sterblichkeit.  Aus  dem  Symposion  wissen  wir,  daß  diese  „Unsterblich- 
keit" nicht  auf  eine  Verewigung  des  Individuellen  in  der  Seele  hinzielt; 
deshalb  ist  hier  diese  Näherung  der  Seele  an  die  Dinge  selbst  das  eigent- 
liche und  stärkste  Mittel,  um  die  individuellen  Seelen  zusammenzubinden 
EU  einer  überindividuellen  Gemeinschaft.  Alle  Erziehung  muß  auf  diese 
Region  letzten  Endes  gerichtet  sein,  in  der  es  keine  individuellen  Diffe- 
renzen mehr  gibt,  sondern  nur  die  Gegenständlichkeit  der  Erkenntnis. 
Das  Aufleuchten  des  Geistes  (vove),  von  dem  hier  und  später  noch  einmal 
mitten  in  der  Wissenschaftslehre  gesprochen  wird  (508 d),  ist  nicht  eine 
in  der  einzelnen  Seele  für  sie  allein  aufleuchtende  Intuition,  sondern  um- 
gekehrt das  die  einzelnen  Seelen  in  der  Einheit  der  einen  objektiven  Welt 
verbindende  Licht  der  echten  Erkenntnis.  Alle  Erziehung  ist  darauf  ge- 
richtet, dieses  Medium  zu  schaffen,  in  dem  der  Geist  „wächst  und  sich 
mehrt"  und  so  die  Seelen  genährt  werden  —  diese  organisch-vegetativen 
Bilder  bevorzugt  Piaton  bei  der  Schilderung  dieser  geistig-leiblichen 
Physis  (natura  naturans)  des  Seienden.  Das  Gute  gibt  im  Erkenntnisakt 
den  Gegenständen  und  dem  sie  Erkennenden  die  Wahrheit  (508  e);  man 
beachte  die  ontologisch  wichtige  Voranstellung  der  Gegenstandsseite: 

70  Tt)v  ttktj&ficcv  naQt/ov  ro7g  y  i  y v  tu  o  x  o  fi  € v  o  i  g  xal  nJ  yiyvwGxovji  Trjv  dvvauiv 
änodidov  r>)v  iov  äya&ov  idscev  (pafhi  elveu. 

Diese  Erleuchtung,  genauer  diese  Gelichtetheit  des  Seins  und  der  ihm 
zugeordneten  „verwandten"  Seelenkraft  ist  das  Medium,  in  dem  die  Philo- 
sophie „brauchbar",  d.  h.  mächtig  und  wirksam,  im  strengsten  Sinne 
wirklich,  wird.  In  diesem  Medium  wird  deswegen  alles  ideelle  Sein  —  das 
Schöne,  Gerechte,  Tapfere  —  erst  „nützlich  und  brauchbar",  weil  es  von 
allen  in  seiner  Kraft  und  in  seinem  Sinn  erkannt  wird.  Insofern  ist  die 
Idee  des  Guten  noch  jenseits  des  Seienden  —  der  anderen  Ideen  und 
alles  ruhenden  Seins  —  an  „ehrwürdigem  Alter",  d.  h.  an  Anfangs-  und 
Ursprungsnähe,  und  an  Kraft,  dvvafiiQ  (509b),  denn  sie  läßt  nicht  nur 
sehen,  sondern  auch  wachsen,  wie  die  Sonne  im  sichtbaren  Bereiche  sehen 
läßt  und  darüber  hinaus  noch  am  Wachstum  aktiv  beteiligt  ist,  alle 
Keime  —  die  tfdq  iv  rrj  eptiaet,  —  zur  Entfaltung  und  Verwirklichung 
treibt. 

Die  metaphysisch-ontologische  Grundabsicht  ist  demnach  zusammen- 
fassend so  zu  bezeichnen:  Piaton  strebt  hindurch  durch  die  rein  theore- 
tische Sphäre  der  Erkenntnis,  der  tmortitirj,  zu  etwas  Fundamentalerem, 
der  praktischen  tätigen  Selbstbewegung  der  Seele  Zugeordneten. 

Soweit  ist  er  in  Übereinstimmung  mit  allen  metaphysischen  Theorien.  Auch  der 
Primat  der  praktischen  Vernunft  bei  Kant  sieht  die  eigentliche  Fundamentalschicht 
des  Seienden  in  der  Ausgangssphäre  menschlicher  Freiheit  und  Selbstbestimmung: 
die  „Dinge"  an  sich  haben  dieselbe  Seinsart  wie  die  freien,  sich  selbst  verantwortlichen 
Seelen  —  so  könnte  Kant  in  wörtlicher  Übereinstimmung  mit  Piaton  sagen.  Mag 
Scheler  auch  in  Verkennung  des  eigentlich  Metaphysisch- Anthropologischen  bei  Kant 
seine  Gedanken  in  der  Polemik  gegen  ihn  in  Bewegung  setzen:  es  kommt  auf  genau  das- 
selbe metaphysische  Motiv  heraus,  wenn  er  im  unmittelbaren  Wertfühlen  und  der 


D 


PLATON.   IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINSIDEE 


115 


gegenseitigen  Reaktion  der  Menschen  aus  diesem  Wertfühlen  ein  personales  Sein  des 
Menschen  aufweist,  das  an  Kraft  und  Ursprünglichkeit  noch  hinter  die  Schicht  der  Er- 
kenntnis zurückreicht.  Auf  Heideggers  primäres  Verstehen,  von  dem  das  theoretisch- 
wissenschaftliche erst  abgeleitet  ist,  konnte  schon  im  Zusammenhang  der  XQ^°l?->  des 
Umgehens  und  Begegnens  hingewiesen  werden.  Die  Verwandtschaft  der  eigentlichen 
metaphysischen  Grundabsicht  tritt  dann  besonders  hervor,  wenn  in  dem  fundamentalen 
Verstehen  bei  Heidegger  die  dadurch  sich  ergebende  „Lichtung"  des  Seienden  als 
Voraussetzung  und  Ansatz  jedes  expliziten  Erkennens  stark  betont  wird.  Dieser  Grund- 
hang des  metaphysischen  Denkens  zum  Primat  des  tätigen  Prinzips  wird  häufig  ver- 
deckt durch  den  Einsatz  des  religiösen  Motivs  an  einer  früheren  Stelle  des  Argumen- 
tationszusammenhanges. In  der  Hingabe  der  Seele  an  eine  göttliche  Macht  erfährt  ihre 
Aktivität  eine  spezifische  Modifikation;  innerhalb  der  religiösen  Umkleidung  des  meta- 
physischen Problems  treten  dann  dieselben  Dilemmata  zwischen  der  kontemplativen, 
Gesinnung  bestimmenden  und  der  praktischen,  zum  Werk  verpflichtenden  Kraft  des 
Glaubens  neu  hervor. 

Der  praktisch-tätigen  Aktivität  dieser  Bewegung  und  ihrem  Einfluß 
auf  das  Seiende  steht  freilich  auf  dem  Boden  der  antiken  Metaphysik 
scheinbar  entgegen  jener  Vorrang  der  in  den  dem  Bewußtsein  entgegen- 
stehenden Dingen  vorgegebenen  Bewegung;  die  Dinge  selbst  wollen, 
streben  (s.o.  S.  107  f.),  und  deshalb  können  wir  sie  in  ihrem  Sinne  erkennen 
und  gebrauchen.  Aber  daraus  leitet  Piaton  ohne  Zweifel  gerade  eine  viel 
höhere  Möglichkeit  des  Einsatzes  eigener  Kraft,  die  größere  Sicherheit 
der  Verwirklichung  ab,  indem  die  „Attrattiva  der  Dinge"  (cf.  Antike  IV, 
306)  gleichsam  die  Aktivität  des  Menschen  ansaugt  und  er  sich  nur  ein- 
zuordnen braucht  in  einen  vorgegebenen,  ihm  nur  vorher  verdeckten  und 
deshalb  zu  enthüllenden  Bewegungsrhythmus. 

Daß  der  Einsatz  des  Tuns  immer  ins  bereits  Gegebene,  Vorbestimmte, 
nicht  ins  „Nichts"  erfolgt,  daß  der  Mensch  also  vor  sich  und  hinter  sich 
als  „Beweggrund"  „etwas"  weiß,  und  zwar  eine  bereits  im  Sinne  seines 
Tuns  vorbestimmte  Ordnung,  diese  Einschränkung  der  metaphysischen 
Aktivität  ist  für  die  Antike  charakteristisch;  sie  ist  fundamentaler,  wich- 
tiger und  folgenreicher  als  die  rein  theoretische  Seite  des  Realismus,  von 
der  man  gewöhnlich  nur  spricht.  Wir  werden  ihr  bald  wieder  begegnen 
beim  Staatsmythos  und  später  beim  Schöpfungsbegriff,  in  dem  jede 
Philosophie  das  Prototypon  ihres  Tatbegriffs  hat  und  ihn  gleichsam  in 
großer  Schrift  verdeutlicht,  und  in  der  charakteristisch  abgewandelten 
Theorie  des  „Nichts",  des  Nichtseienden.  An  der  Stelle  des  Staates,  an 
der  wir  jetzt  stehen,  ist  der  Grund  der  Zurückhaltung  des  antiken  meta- 
physischen Denkens  auf  seinem  Wege  deutlich  genug.  Jener  Radikalis- 
mus des  Tatbegriffs  hat  eine  größere  Isolierung  des  einzelnen  Ich  zur 
Voraussetzung  als  für  das  antike  Denken  in  Frage  kam.  Piaton  will  ja 
gerade  umgekehrt  das  Pronomen  „Mein"  in  seinem  Staate  so  viel  wie  mög- 
lich einschränken  (464  a).  An  die  Stelle  einer  Ich-Metaphysik  soll  ja 
gerade  eine  Wir-Metaphysik  treten;  für  diese  ist  das  Zusammengehen  mit 
allem,  was  dem  einzelnen  Ich  gegenübersteht,  die  naturgemäße  Haltung; 
auf  Vergewaltigung  des  anderen  —  weder  der  anderen  Person  noch  der 

D  8* 


116 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Dinge  —  gründet  sich  keine  dauernde  Gemeinschaft,  und  so  dämmt  PJa- 
ton  im  Gegenteil  eine  geistige  Entwicklung  zurück,  die  in  der  Sophistik 
bereits  zu  einer  gleichsam  punktuellen  Zuspitzung  des  Ichbegriffs  und 
damit  folgerichtig  sofort  zu  einer  radikaleren  Theorie  des  Nichtseienden 
(Gorgias)  geführt  hatte,  und  tut  alles,  um  eine  Ausbreitung  der  im  Ich 
sich  konzentrierenden  Energie  auf  das  gesamte  Sein  wiederherzustellen 
—  ein  Ziel,  dem  in  noch  gefährdeterer  Lage  die  heutige  Metaphysik  un- 
zweideutig wieder  zustrebt  (vgl.  Heidegger,  Sein  u.  Zeit  204  ff.  u.  229  ff.). 

Diese  Wir-Metaphysik  begünstigt  die  vollständige  Auflösung  der 
Grenze  von  Innen  und  Außen,  von  Sach-  und  Personwelt,  die  auch  von  10 
einer  Reihe  anderer  Antriebe  in  der  bisherigen  Darstellung  verständlich 
gemacht  werden  konnte  (ciXog-  und  ^/ovc-Lehre).  Diese  Verschmelzung 
findet  ihren  schärfsten  Ausdruck  in  der  ideellen  Sphäre,  insofern,  wie  wir 
sahen,  die  ideellen  Wesen  und  Sinneinheiten  der  Gegenständlichkeit, 
die  Dinge  selbst,  geradezu  zum  Wesen  der  Seele  werden,  Person  und  Welt 
also  gerade  in  jenem  philosophisch-metaphysisch  unterbauten  Erkennt- 
nisprozeß einander  angenähert  werden.  Je  wesentlicher  also  die  Gegen- 
stände der  Erkenntnis  erfaßt  werden,  desto  sicherer  gehen  sie  als  Bildungs- 
stoff in  jenem  höchsten,  Tun  und  Lassen  bestimmenden,  Sinne  in  die  Seele 
ein,  bemächtigen  sich  ihres  eigentlichen  Seins  und  befähigen  sie  zum  Ein-  20 
satz  ihres  eigenen  sinngerichteten  Wollens  in  die  dieses  Wollen  gleichsam 
erwartende  und  verlangende  Welt  Wirklichkeit.  Erst  von  dieser  Erwägung 
aus  kann  der  Einsatz  der  Wissenschaft  in  den  vielsträngigen  Gedanken- 
gang unseres  VI.  Buches  verständlich  gemacht  und  damit  die  Stelle  der 
Wissenschaft  im  System  Piatons  bestimmt  werden. 

Hier  ist  nun  Piatons  metaphysische  Theorie  von  der  Begegnung  mit 
einer  einzigartigen  Wissenschaftssituation  bestimmt  worden.  Wir  treten 
damit  dem  „Pythagorismus"  näher;  wir  unterschieden  drei  Motive,  die 
von  ihm  aus  auf  Piaton  wirkten.  Das  erste,  die  „Unsterblichkeit"  der 
Seele,  haben  wir  bereits  in  seiner  platonischen  Ausbildung  dargestellt;  30 
das  dritte  Motiv,  den  politisch  wirksamen  ethisch-religiös  fundierten  Bund 
haben  wir  unschwer  in  den  metaphysisch  unterbauten  Gemeinschafts- 
begriff aufgehen  sehen,  den  die  Akademie  in  die  Wirklichkeit  umzusetzen 
unternahm.  Dagegen  das  zentrale  Motiv  der  Mathematik  muß  nun  ein- 
gefügt werden  in  den  Aufbau  der  Wissenschaftslehre,  in  das  innere 
Kräftespiel  der  Idee  des  Guten. 

Z.  Folgd.  vgl.  Helmut  Hasse  u.  Heinrich  Scholz,  Die  Grundlagenkrisis  in  der  griech. 
Mathemat.  Kantstudien  1928,  S.  4;  Toeplitz,  Das  Verh.  v.  Mathemat.  u.  Ideenlehre 
bei  Plat.  Quellen  u.  Stud.  z.  Gesch.  d.  Mathem.  Berlin  1929,  S.  9;  Stenzel,  Z.  Theorie 
des  Logos  bei  Aristot.  ib.  S.  55.  Für  eine  archaisch-primitive,  sicher  aber  auch  für  40 
Piaton  ungemein  eindrucksvolle  Gedankenschicht  des  Pythagorismus  muß  auf  die  aus- 
führliche Erörterung  des  ersten  Teiles  dieser  Darstellung  verwiesen  werden.  Ent- 
scheidend wichtig  ist,  daß  Piaton  diesen  Gedankenkomplex  in  einem  Auflösungs- 
zustand, in  einer  inneren  Krisis  aufgriff,  die  eine  Übernahme  der  oben  S.  41 — 46 
entwickelten  Gedanken  absolut  ausschloß.  Der  Weg,  der  Piaton  schließlich  zu  einer 


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PLATON.    IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINSIDEE 


117 


Gleichsetzung  von  Idee  und  Zahl  und  damit  zur  scheinbaren  Wiederaufnahme  der 
Theorie  von  der  Zahl  als  dem  Wesen  der  Dinge  führen  sollte,  geht  über  eine  legitime, 
im  strengsten  Sinne  wissenschaftliche  Grundlagenkrisis  der  Mathematik.  Diese  Krisis 
ist  —  es  scheint  zunächst  merkwürdig  genug  —  in  die  Darstellung  der  Idee  des  Guten 
im  VI.  Buche  des  Staates  so  hineingewoben,  daß  der  Faden  völlig  sichtbar  verläuft 
und  leicht  aus  dem  Gewebe  der  anderen  Motive  herausgelöst  werden  kann  (vgl.  Wiss. 
u.  Bildg.  i.  plat.  Erziehungsbegr.  S.  107). 

In  den  Dialogen,  in  denen  der  Unsterblichkeitsglaube  zuerst  hervortritt, 
im  Menon,  Gorgias,  Phaidon,  werden  zugleich  auch  die  mathematischen 

10  Gegenstände  als  exemplarischer  Fall  zur  Verdeutlichung  der  Wesens- 
erfassung entwickelt.  Aber  schon  im  Menon  wird  zwar  an  der  großen 
mathematischen  Stelle  das  einfache  Ablesen  eines  Sachverhaltes  von  der 
Figur  breit  dargestellt,  aber  an  der  letzten  Stelle  das  begrifflich-schlie» 
ßende  Verfahren  einer  Analysis  vorgeführt,  in  dem  der  anschaulich  ge- 
gebene Sachverhalt  nicht  Selbstzweck,  sondern  nur  ein  Stück  in  einem 
Beweiszusammenhange  ist.  Dieses  Hinausgehen  über  den  in  einer  ein- 
zelnen Figur  repräsentierten  Sachverhalt  mußte  in  seiner  Notwendigkeit 
besonders  bewußt  werden  angesichts  desjenigen  „Skandals",  von  dem 
die  Grundlagenkrisis  in  der  pythagoreischen  und  von  da  aus  in  der  ge- 

20  samten  griechischen  Mathematik  sich  ausbreitete,  der  Inkommensurabi- 
lität  der  Diagonale  und  Seite  eines  Quadrates.  So  einfach  der  Aufweis  ist, 
den  die  Sklavenstelle  im  Menon  darstellt,  nämlich,  daß  das  Quadrat  über 
der  Diagonale  doppelt  so  groß  ist  wie  das  ursprüngliche,  so  unlösbar  ist 
hier  die  Erfüllung  der  pythagoreischen  Forderung  „alles  ist  Zahl",  ge- 
nauer: alles  verhält  sich  wie  Zahl  (vgl.  Hasse- Scholz  1.  c.  S.  5).  Denn 
kein  Verhältnis  (Logos)  ganzer  Zahlen  gibt  das  zwischen  Seite  und 
Diagonale  bestehende  genau  an.  Die  Arithmetisierung  versagt  gerade 
dort,  wo  sie  einen  schlichten  wissenschaftlichen  Sinn  hat,  in  der  mathe- 
matischen Sphäre  selbst !  Desto  klarer  ist  die  Aufgabe  einer  allgemeinen 

30  Arithmetisierung  selbst  nun  zu  stellen :  sie  muß  zugleich  eine  Logisierung 
der  Mathematik  im  Sinne  des  begrifflich  schließenden  Verfahrens  sein, 
und  sie  muß  damit  auf  eine  allgemeine  Logik  hinleiten,  die  nun  nicht 
mehr  bloß  eine  mathematische  Angelegenheit  ist,  oder  umgekehrt :  wenn 
man  diese  Einsichten  weiter  als  mathematische  bezeichnen  will,  er- 
weitert sich  die  Mathematik  zur  Mathesis  universalis,  die  Ideen  werden 
Zahlen,  jedenfalls  werden  sie  für  die  Mathematik  wesentliche  und  not- 
wendige Gebilde. 

Ob  unter  diesen  mathematisch-logischen  Grundbegriffen  der  Logos,  das  Verhältnis, 
bereits  hier  im  Staate  mitgemeint  ist  oder  ob  mit  Logos  hier  die  schließende,  begriff- 
40  lieh  und  wesensmäßig  ordnende  Grundkraft  des  Beweises  schlechthin  gemeint  ist,  bleibe 
dahingestellt.  Daß  der  Ausgangspunkt  der  metaphysischen  Seinsgliederung  und  der  in 
sie  eingearbeiteten  mathematischen  Theorie  eine  Proportion  ist  zwischen  den  vierfach 
geteilten  Abschnitten  einer  Linie,  den  durch  diese  Abschnitte  symbolisierten  Seins- 
bereichen und  den  vier  ihnen  verwandten  Erkenntniskräften  in  der  Seele,  soll  noch 
nicht  als  sicheres  Zeichen  für  die  Einsicht  in  die  Wichtigkeit  der  Proportionslehre  an- 
gesehen werden. 


IIS 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Aus  der  mathematischen  Problematik  heraus  gewinnt  Piaton  folgende 
vier  mathematische  Regionen:  handfeste  mathematische  Modelle  und 
konkret  gezeichnete  Dreiecke  —  wie  das  Dreieck,  das  Sokrates  im  Menon 
in  den  Sand  zeichnet.  Darüber  steht  der  Kegel,  das  Dreieck,  das  eigent- 
lich der  Mathematiker  im  Sinne  hat,  wenn  er  Aussagen  macht  und  Sätze 
über  mathematische  Sachverhalte  ausspricht,  „das  er  nur  mit  dem  Ver- 
stände (öiavoCa)  sieht"  (510 e).  Darunter  steht  ein  Abbild,  Spiegelbild 
der  konkreten  mathematischen  Dinge;  beim  Körper  könnte  man  an  eine 
Zeichnung  in  einer  Ebene  denken,  beim  planen  Gebilde  an  verzerrende 
Sichten,  ,, Abschattungen"  u.  dgl.  Diese  drei  Regionen  und  ihre  Unter- 
schiede lassen  sich  leicht  auf  alle  Gegenstände  ausdehnen:  Abbilder, 
Spiegelbilder  (Abschattungen)  konkreter  Dinge,  diese  selbst  (Natur-  und 
Kunstgegenstände),  darüber  die  Region  der  Ideen  —  die  Dinge  an  sich, 
die  Kline  an  sich,  von  der  das  X.  Buch  redet,  auf  die  hin  der  Handwerker 
seine  Klinai  schafft,  und  an  der  der  Gebrauchende  die  Trefflichkeit,  das 
.,Gute"  an  ihr,  ihre  Arete,  ihre  Werkleistung  mißt  und  beurteilt. 

Die  höchste  Stufe  der  Idee  des  Guten  wird  durch  die  negative  Be- 
stimmung der  völligen  Anschauungsfreiheit  bezeichnet  (511c)  und  die 
Stufe  der  Dialektik  genannt.  Einfacher  als  der  Staat  beschreibt  der  Eu- 
thydemos  ihren  Sinn  und  enthüllt  zugleich  den  Zusammenhang  der  mathe- 
matischen Sphäre  mit  den  allgemeineren  Bestimmungen  der  Idee  des 
Guten,  wie  wir  sie  eine  nach  der  anderen  aus  dem  Aufbau  des  VI.  Buches 
zusammenfügen  konnten.  Das  Verhältnis  der  gebrauchenden  königlichen 
Kunst  zu  den  anderen  Künsten  wird  zunächst  an  der  Beziehung  zwischen 
der  Koch-  und  der  Jagdkunst  verdeutlicht  —  die  Einteilungsprinzipien 
weisen  sachlich  schon  auf  spätere  Überlegungen  (Sophistes,  Politi- 
kos)  hin.  Euthyd.  290  b: 

„Keine  Seite  der  Jagdkunst  weist  über  das  Erjagen  und  sich  Bemächtigen  hinaus. 
Haben  sie  sich  des  Gegenstandes  des  Jagens  bemächtigt,  so  können  sie  nichts  damit 
anfangen,  sondern  die  Jäger  und  Fischer  z.  B.  übergeben  die  Beute  den  Kochkünstlern, 
die  Geometer  aber  und  Astronomen  und  Rechenkünstler  (denn  auch  sie  sind  eine  Art 
Jäger,  weil  sie  alle  ja  nicht  die  Figuren  machen,  sondern  nur  Seiendes  auffinden), 
außerstande,  selbst  mit  ihnen  etwas  anzufangen,  sondern  eben  nur  sie  zu  erjagen,  über- 
geben doch  gewiß  den  Dialektikern  ihre  Funde  zum  Gebrauch,  wenigstens  die  nicht 
ganz  Unverständigen  unter  ihnen." 

Ovdtuia  Ttjg  ^rjQfvnxtjg  aviijg  im  nkiov  bgtIp  rj  ooor  &*}Q£vgcu  xal  %€iQMGaG&cu'  inet- 
dar  de  /(iqojgmptcci  tovto  b  av  &qQev(orTcci,  ov  dvvavTat,  tovtio  %Qi]Gfrai,  dkV  oi  ftsv  xvvrj- 
yirai  xal  oi  dkirjg  ro7g  oxponoioTg  naqadidbaciv ,  oi  d*  av  yew/ueTQcci  xai  oi  <xgtqoi'6[xoi  xal 
oi  XoyiGTixoi  —  &r]Q€VTixoi  yaq  eloi  xal  ovtoi  '  ov  yccQ  tioiovgi  ia  dtayQccfx^iaTa  exacrot 

TOVTO) V,    dkkü}    TCC    OVTCC    fXVEVQlGXOVGlV    «Tf    OVV   XQrjG&ai    CCVTOI    CCVToTg  OVX  imOTttJU£t'Otf 

akkd  ■d-t]o€vocu  fxövov,  nccQadidoccGi,  drjnov  To7g  dictk&xnxo'g  xaTa%Qr]G&<u  avTwv  wTg  evQij- 
{av.giv,  ogoi  ye  avTÜv  fxrj  nuvTanaGiv  cci'otjtoi  stGir  (vgl.  Soph.  219  c). 

Im  Staate  heißt  es,  die  Mathematiker  begnügen  sich  damit,  Gerades 
und  Ungerades,  die  Figuren,  drei  Arten  von  Winkeln  usw.  zugrunde  zu 
legen,  sie  gehen  aber  über  diese  ihre  Funde  —  die  sie  an  den  Figuren  und 
Zahlen  usw.  gemacht  haben  —  nicht  hinaus,  sie  geben  sich  über  die 


D 


PLATON.    IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINSIDEE 


119 


Gründe,  aus  denen  dies  an  den  Zahlen  und  Figuren  usw.  Aufgewiesene 
wahr  ist,  keine  Rechenschaft  mehr,  obwohl  dies  möglich  ist.  Die  Dialektik 
fragt  also  weiter,  nach  dem  „Anfang",  von  dem  aus  die  Einzeleinsichten, 
die  man  mit  mehr  oder  weniger  Jagdglück  erbeutet  hat,  zu  einem  Zu- 
sammenhang sich  zusammenschließen  und  sich  unter  oberste  Prinzipien 
allgemeinerer  Art  ordnen.  Die  Mathematiker,  Astronomen  und  Logistiker 
(Rechenkundigen)  können  also  mit  ihren  Ergebnissen  gar  nicht  frei  und 
überlegen  umgehen,  sie  richtig  verwerten,  mit  ihnen  produktiv  schalten 
und  in  neuen  Operationen  neue  Ergebnisse  planmäßig  erzielen.  Der  Dia- 

io  lektiker  dagegen  macht  die  einzelnen  Findungen  (e^QrjfiaTa  im  Euthyde- 
mos)  zu  „Hypothesen",  d.  h.  zu  Stufen  und  Ausgangspunkten  für  höhere 
Einsicht  und  gelangt  so  zur  Einheit,  zunächst  in  einer  Seinssphäre,  also 
etwa  der  Mathematik.  Er  findet  deren  letzte  nicht  weiter  ableitbare,  also 
„unbedingte"  Voraussetzungen.  Darüber  hinaus  eröffnet  ihm  dieser  Auf- 
stieg aber  die  Region,  in  der  die  allgemeinsten  Prinzipien  der  Erkenntnis 
überhaupt  angetroffen  werden;  denn  die  mathematischen  Prinzipien  gehen 
ins  Logische  hinüber.  Es  genügt  hier,  auf  diese  Möglichkeit  hinzuweisen 
—  an  diese  Stelle  werden  die  später  folgenden  Erörterungen  über  den 
dialektischen  Seinsbegriff  Piatons  und  dessen  Prinzipien  (aQxai)  immer 

20    wieder  anknüpfen  müssen. 

Der  Sinn  der  höchsten  Stufe,  der  in  der  mathematischen  Sphäre  zu- 
länglich klar  wird,  kann  und  muß  auch  genau  so,  wie  es  bei  den  anderen 
Stufen  möglich  war,  auf  die  gesamte  Breite  des  Seins  ausgedehnt  werden. 
Wenn  auch  der  Aufstieg  im  mathematischen  Bereich  bereits  zu  allgemei- 
neren Prinzipien  führte,  so  stellen  diese  doch  die  Spitze  einer  Pyramide 
dar,  zu  der  man  auch  auf  deren  anderen  Seitenflächen  gelangen  kann. 
Auch  die  Ideen  der  anderen  Seinsbereiche,  also  die  eigentlichen  Gehalte 
der  sog.  Ideenlehre,  breiten  zwar  das  Sein,  und  zwar  das  echte  eigentliche 
Sein,  in  seiner  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  aus,  aber  auch  hier  bedarf  es 

30  einer  königlichen  Kunst  der  Ordnung,  des  verfügenden  Gebrauches  diesem 
Sein  gegenüber,  der  nur  von  einem  höheren  freieren  Blickpunkt  aus  „noch 
jenseits  (ijtfxeivct)  des  Seins  dieser  Wesenheiten"  (öVr«)  gewonnen  wer- 
den kann.  Es  bedarf  der  Beherrschung  gewisser  Prinzipien,  um  diese  ganze 
Fülle  auch  nur  denken,  geschweige  denn  sie  zur  Bildung,  Erziehung  und 
Leitung  entscheidend  einsetzen  zu  können.  Wie  im  Mathematischen  die 
erfolgte  Unterordnung  unter  einheitliche  Prinzipien  neue  Wahrheiten  zu 
finden  gestattet,  so  muß  auch  im  ganzen  Weltbereiche  sich  im  wirklichen 
und  tätigen  Umgange  mit  den  Dingen  und  Menschen  (Staat  534c  baut 
Piaton  dies  einfach  ins  echte  sokratische  Gespräch  hinein!)  sich  deren 

40  Erkenntnis  ausbreiten  und  im  strengsten  Sinne  „erfüllen",  d.  h.  mehren 
(ai)'£&veax')ai)  und  fruchtbar  wachsen  (rp^pffi'/«/),  womit  wir  bei  den 
vorher  entwickelten  Bestimmungen  der  Idee  des  Guten  wieder  an- 
gelangt sind. 

Wenn  in  dem  zuletzt  Entwickelten  der  Sinn  der  höchsten  Stufe,  be- 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


stimmt  von  den  mathematischen  Gedanken,  sich  bereits  in  den  engeren 
Kaum  weniger  Prinzipien  zusammenzuziehen  schien,  so  kann  dieser  Ein- 
druck leicht  durch  die  Würdigung  des  bereits  erwähnten  großen  Licht- 
vergleiches  ergänzt  werden.  Die  Sonne  im  Reiche  des  Werdens  erzeugt 
und  lichtet  die  Dinge  der  sichtbaren  Welt,  die  ato&qTd,  so  wie  die  Idee 
des  Guten  die  der  „intelligiblen44  Welt,  die  voijtcc.  Diese  beiden  parallelen 
Bereiche  werden  aber  im  mathematischen  Symbol  der  vierfach  geteilten 
Linie  hintereinandergeschaltet  und  damit  zu  einem  Aufbau  gestaltet,  bei 
dem  eine  Stufe  immer  auf  die  höhere  verweist  und  alle  untereinander 
durch  das  Abbildverhältnis,  durch  Ähnlichkeit  und  „Nachahmung" 
(oitni'uHT/c  und  fiffit^fic)  kontinuierlich  verbunden  sind.  Zu  allem  dem 
hinzu  wird  durch  das  Vater- Sohngleichnis  (das  Gute  als  Vater  der  Sonne) 
das  Gute  zum  schöpferischen  Prinzip  auch  der  sichtbaren  Welt  gemacht. 

Damit  muß  das  Rangverhältnis  der  vier  Seinsregionen  aus  einem 
Prinzip  bestimmt  werden.  Die  platonische  Seinslehre  bevorzugt  später 
immer  mehr  als  Rangprinzip  den  Unterschied  von  Einheit  und  Vielheit, 
oft  bis  zur  Mißachtung  anderer,  uns  heute  wesentlicher  ontologischer 
Seinsdifferenzen.  Wenn  wir  wieder  von  der  Sphäre  der  schlicht  erfahrenen 
Dingwelt,  dem  Reiche  des  „Glaubens44,  d.  h.  des  schlichten  ungeprüften 
Hinnehmens  (nCmtc)  ausgehen,  so  können  wir  leicht  die  beiden  angren- 
zenden Seinsregionen  nach  dem  Prinzip  der  Vielheit  charakterisieren.  Der 
endlichen  Anzahl  dieser  Dinge  steht  eine  unendliche  Zahl  von  Abbildern, 
Spiegelbildern,  „Sichten44,  Abschattungen  gegenüber;  das  eine  Haus  der 
Wirklichkeit  stellt  sich  in  jedem  Betrachter,  in  jeder  Haltung  und  Stel- 
lung dieses  Betrachters  verschieden  dar;  jeder  Spiegel,  in  jeder  verschie- 
denen Haltung  wieder  anders,  ergibt  ein  anderes  Bild;  das  Schattenbild 
ist  je  nach  dem  Stande  der  Sonne,  nach  der  Fläche,  auf  die  der  Schatten 
fällt,  verschieden  —  dieser  Seinsbereich  der  Abbilder  stellt  sich  für  den 
verwandten  Teil  der  Seele,  die  „Bildkraft44,  die  sixaata,  als  eine  unend- 
liche, jedenfalls  sehr  große  Mannigfaltigkeit  dar,  wobei  wir  ganz  davon 
absehen,  daß  der  Gegenstand  selbst  sich  dauernd  verändert,  verwittert 
usw.  Dieser  Fülle  steht  das  Haus  jedesmal  als  eine  Einheit  gegenüber. 
Genau  dasselbe  Verhältnis  wiederholt  sich  im  Verhältnis  der  beiden  nächst 
höheren  Stufen:  dem  Haus  als  einer  Gestalts-,  Wirkungs-,  Bedeutungs- 
und Begriffseinheit,  dem  Eidos  des  Hauses,  steht  die  ungeheure  Fülle 
wirklicher  und  möglicher  Verwirklichungen  gegenüber,  von  denen  jede 
einzelne  ihrerseits  wieder  die  unendlichen  Möglichkeiten  der  Abschattung, 
der  sixaaCa,  in  sich  trägt.  In  einer  anderen,  aber  analogen  Weise  können 
wir  also  auch  von  der  Idee  sagen,  daß  sie  sich  in  allen  ihren  Verwirk- 
lichungen abschattet,  daß  diese  alle  sie  „abbilden44,  ihr  „ähnlich  sein 
wollen44,  also  sie  nachahmen.  Aber  so  groß  die  Mannigfaltigkeit  bei  der 
zweiten  Stufe  auch  sein  mag,  sichtlich  verjüngt  sich  die  Pyramide  der 
Wirklichkeit  nach  oben  in  dieser  Region  schon  erheblich;  diese  Ver- 
einheitlichung der  Wirklichkeit  ist  das  Werk  der  Ideen,  der  etdrj. 


D 


PLATON.    IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINS  IDEE 


121 


So  kann  der  Übergang  zur  höchsten  Stufe  auch  hier,  wie  in  der  Mathe- 
matik, nur  eine  immer  weiter  gehende  Vereinheitlichung  bedeuten.  Wie- 
weit Piaton  hier  bereits  das  später  für  ihn  so  wichtige  Uber-  und  Unter- 
ordnungsverhältnis der  Ideen  untereinander  im  Auge  hatte,  ist  schwer  zu 
entscheiden.  Wichtiger  ist  ihm  hier  sicher  —  das  lehrt  das  VII.  Buch  — 
die  Gemeinsamkeit  (xoipwvkc,  xoiva)  der  Prinzipien  in  den  mathematisch- 
naturwissenschaftlichen Disziplinen  der  Bewegungslehre,  Astronomie, 
Musik,  Geometrie  und  Arithmetik,  kurz  die  pädagogische  Einheit  des 
Erziehungsweges  für  den  Menschen,  der  als  Philosoph  und  Herrscher  der 

10  vollen  Paideia  bis  zur  höchsten  Stufe  des  Wissens  teilhaftig  sein  muß;  am 
Anfang  des  VII.  Buches  wird  alles  sich  nun  Anschließende  ausdrücklich 
unter  den  Gesichtspunkt  der  Bildung  und  Unbildung  gestellt,  den  das 
Höhlengleichnis  verdeutlichen  soll. 

Um  Piatons  wissenschaftstheoretische  Absichten  nun  endgültig  auf 
ihren  Mittelpunkt,  den  zu  bildenden  Menschen,  zurückführen  zu  können, 
soll  die  eben  für  die  Dingwelt  gebrauchte  Abstufung  einmal  für  das  leben- 
dige Wesen,  für  den  Menschen,  durchgeführt  werden.  Daß  auch  diese 
Wesen  als  leibhaftige  Dinge  abgespiegelt  und  abgeschattet  werden  können, 
bedarf  keines  Wortes.  Aber  die  in  der  Dingwelt  so  einfache  Beziehung  der 

20  zweiten  zur  dritten  Stufe  ist  hier  verwickelter,  ist  mannigfaltiger  mit  der 
niederen  2.  und  höchsten  4.  verwebt,  weil  die  Idee  des  Menschen  als  einer 
geistigen,  die  Welt  denkenden  Person  keinesfalls  eine  Idee  unter  und 
neben  den  anderen  sein  kann.  Der  Mensch  als  lebendiges  Wesen  wächst, 
reift  und  altert;  als  denkendes  Wesen  —  wir  erinnern  uns  an  Symp.  207 d 
—  lernt  er  und  vergißt,  lernt  wieder,  erkennt  wieder,  was  er  wußte, 
„meint"  Richtiges  und  Falsches,  irrt  sich,  täuscht  sich,  sieht  Irrtümer 
ein  oder  bleibt  gern  im  Irrtum,  fühlt,  strebt,  verbessert  auch  dies  Streben, 
ersieht  aus  dem  Erfolg,  was  er  „eigentlich"  wollte,  oder  sieht  das  nicht 
ein  und  bleibt  im  Scheine,  im  Scheine  der  Tugend,  der  Gerechtigkeit.  Der 

30  Mensch  ist  viel  größeren  und  vielfältigeren  „Uneigentlichkeiten"  aus- 
gesetzt und  kann  ihnen  jederzeit  verfallen. 

Dem  ist  eine  Stelle  des  Staates  zur  Seite  zu  stellen,  an  der  der  Sinn  des  Guten  im 
Zusammenhang  mit  dem  Problem  der  des  Nutzens  nun  von  einer  neuen  Seite 

sichtbar  wird.  505  d  5:  Tode  ov  (paveoov,  (6g  dixaia  /uer  xai  xakd  nokkoi  dv  tkoivTO  tcc 
doxovrra,  xäv  (et)  /uij  etrj,  ojxwg  ravra  n^drrsir  xal  xeXTtja&cct  xai  dox&v,  dyatld  dt  ovdsvi 
(u  (xqxh   id  doxovvia  xiäodai,   dkkd  rd  orra  ^tovoiv,  Ttjv  df  do'£av  irrav&a  rjdr]  nag 

drifj-d^n;  .  .  .  lÖ  drj  diioxei  fxfv  dnaoa  xpv/i]  xai  iovtov  ivsxa  ndxna  7i()drrei  

Ist  das  nicht  klar:  Reim  Gerechten  und  Schönen  entscheiden  sich  wohl  viele  dafür, 
das,  was  nur  so  scheint,  ohne  es  zu  sein,  zu  tun,  zu  besitzen  und  so  zu  scheinen;  beim 
40     Guten  aber  genügt  es  niemandem  mehr,  nur  den  Schein  zu  besitzen,  sondern  da  suchen 
sie  das  Seiende,  den  Schein  aber  verachtet  hier  jeder  .  .  .  Was  aber  jede  Seele  ver- 
folgt, um  dessen  willen  sie  alles  tut  .  .  . 

Charakteristischerweise  hatte  Piaton  vorher  diskutiert,  ob  dieses  Gute  nicht  die 
Lust  wäre.  Wenn  wir  auch  auf  die  Lust,  im  Sinne  der  Meßkunst  des  Protagoras  (356d) 
das  Prinzip  der  Abschattung  anwenden,  so  wird  es  sofort  klar,  was  Piaton  hier  im  Auge 
hat:  in  dem  Fühlen  der  Lust,  in  seinem  Glücksstreben,  im  Eros,  unterliegt  der  Mensch 


122  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 

unaufhörlich  Täuschungen  —  die  perspektivischen  Verzerrungen  durch  die  Über- 
schätzung der  gegenwärtigen  nahen  Lnst  und  der  fernen  Unlust  und  umgekehrt  werden 
im  Protagoras  näher  geschildert  (vgl.  Wiss.  u.  Bildg.  i.  plat.  Erziehungsbegr.  105);  sie 
täuschen  über  den  wahren  Nutzen,  den  öyekog.  Es  gibt  aber  eine  echte  Triebfeder  im 
Mensehen,  das,  was  jeder  Mensch  als  sein  Innerstes  und  Eigentliches  anerkennt,  aus 
dein  sein  Fühlen  und  Wollen  letzten  Endes  entspringt  und  aus  dem  heraus  er  sich  echt, 
recht  und  „wahr"  verhalten  will,  an  das  er  keinen  „Schein"  heranläßt,  sondern  ihn, 
wo  er  auftritt,  über  kurz  oder  lang  immer  wieder  abstößt.  Es  bewährt  sich  im  Umgange, 
im  ..wirklichen  Leben",  wie  es  immer  heißt,  das  zum  Glück,  zur  Eudaimonia  führt. 
Den  ganzen  Staat  durchzieht  der  Gedanke,  in  dem  Aristoteles  die  Quintessenz  des  10 
Piatonismus  gesehen  hat  (vgl.  Jaeger,  Aristotel.  107): 

Daß  der  Gute  zugleich  glücklich  ist,  hat  Piaton  durch  Lehre  und  Leben  bewiesen. 

ug  f.iorog  /;  tiqwtos  &vr\nin>  xccredsi^sr  svctQywg 

olxfiio  ts  ßCio  xcti  jusfto  do  toi  koycor, 

iog  äya&og  ts  xcti  svdcti' /ucov  a^ia  yCvsrctt,  ctvrjQ. 

Das  Gute  ist  diejenige  Einsicht,  (pgövycnc,  die  durch  alle  die  Abschal- 
tungen der  Doxai,  d.  h.  der  praktischen  und  theoretischen  Meinungen, 
Hoffnungen,  Wünsche,  Strebungen,  Erkenntnisse  hindurchleuchtet,  das 
Licht,  das  alle  Abschattungen  möglich  macht,  aber  zugleich  ihre  Tiefen- 
perspektive, d.  h.  ihren  Ort  im  ganzen  des  Seins  bestimmt  und  erkennen  20 
läßt.  Wer  in  der  Zeichnung  des  Kegels  den  wirklichen  plastischen  Kegel 
sieht,  durch  diesen  den  Kegel,  das  mathematische  Gebilde  erschaut,  in 
diesem  die  stereometrischen  Axiome  zu  erkennen  vermag,  in  dem  leuchtet 
der  Nus  ebenso  auf  wie  in  dem,  der  durch  alle  Erscheinungsformen  eines 
Baumes,  eines  Tieres  oder  irgendeines  Dinges  dessen  eigentliche  Kraft, 
Arete  und  Dynamis,  zu  erfahren  gelernt  hat.  Das  Gute  ist  demnach  das 
Prinzip  der  Entfaltung  und  Abstufung  des  Seins  in  seinen  verschiedenen 
Regionen  und  deren  einheitlicher  Ursprungs-  und  Bezugspunkt.  Das  ist 
der  Sinn  des  Höhlengleichnisses,  das  dieselben  Gegenstände  erst  als 
Schattenbilder,  geworfen  vom  flackernden  Feuer,  dann  selbst  von  diesem  30 
beleuchtet,  schließlich  im  Schatten  des  Sonnenlichtes  und  zuletzt  in  heller 
Sonne  vorstellt.  Wenn  uns  die  «eigentliche  Absicht  Piatons  im  mathema- 
tischen Bereiche  viel  greifbarer  und  klarer  wird,  so  bestätigen  selbst  wir 
die  Darstellungs-  und  Erziehungsabsicht,  die  Piaton  zur  Einführung  der 
Wissenschaft  bestimmte. 

Nichts  liegt  ihm  ferner  als  von  den  „Wissenschaften"  als  Darbietungen 
von  fertigen  „Tatsachen"  und  fertigen  Erkenntnissen  eine  das  eigentliche 
Sein  des  Menschen  angreifende  Umgestaltung  zu  erwarten.  Die  Wissen- 
schaften werden  nicht  „angewandt"  auf  Erziehung,  sondern  sie  wecken, 
wenn  sie  selbst  sich  in  ihrer  Sphäre  auf  ihre  Grundlagen,  auf  ihre  spezi-  40 
fische  Lebendigkeit  besinnen,  diejenige  Kraft  im  Menschen,  die  auch  sein 
Wollen  und  Fühlen  in  sich  selbst  „gerade"  (dgl/foc)  richtet  und  ihn  die 
Abstufungen  der  Wirklichkeit  von  zerflatternder  Mannigfaltigkeit  des 
Scheines  der  Doxa  bis  zur  Einheit  im  Gipfel  der  Seinspyramide  erkennen, 
durch  sie  hindurchschauen  und  mit  ihnen  „richtig"  umgehen  lehrt.  Die 
Abbilder,  die  fiififjaeig,  müssen  immer  wieder  durchlaufen  werden;  sie 


D 


PLATON.    IDEE  DES  GUTEN  ALS  SEINSIDEE 


123 


werden  nicht  überwunden  und  zurückgelassen,  sondern  erkannt  in  ihrem 
Wesenszusammenhange.  Das  wäre  nicht  nur  ein  schlechter  Mathematiker, 
sondern  überhaupt  keiner,  der  nur  die  Axiome  gelernt  hätte  ohne  fähig 
und  bereit  zu  sein,  den  ganzen  Seinsbereich  der  Mathematik  von  ihnen 
aus  beherrschend  zu  durchdringen!  Nein,  „der  Philosoph  muß  wieder 
hinein  in  die  Höhle64,  in  die  Wirklichkeit  und  Gemeinschaft  des  endlichen 
Daseins,  in  dem  keine  Seinsstufe  fehlen  darf. 

Piaton  bezeichnet  die  Wirkung  der  Idee  des  Guten  allerdings  damit, 
daß  sie  alles,  was  unter  sie  fällt,  zum  Eidos  macht  und  damit  die  Einheit 

10  alles  Wirklichen  zu  denken  gestattet:  „wer  von  ihr  aus  herabsteigt,  der 
bewegt  sich  nur  von  Eidos  zu  Eidos,  also  in  Ideen,  und  gelangt  so  zum 
Ende"  (511c).  Auf  dieser  Möglichkeit,  im  Besitz  der  Idee  des  Guten 
die  Welt  als  einen  Kosmos  von  Ideen  aufzufassen,  die  in  den  Wissen- 
schaften sich  darstellen,  beruht  der  Begriff  des  ausgebildeten  und  er- 
füllten menschlichen  Lebens,  der  Begriff  des  Menschen  an  sich,  der  die 
Welt  in  ihrem  ideellen  Bedeutungs-  und  Sinngehalt,  jenes  Paradeigma, 
von  dem  im  Staate  so  oft  die  Rede  ist,  in  sich  tragen  und  sie  aus  sich 
heraussetzen  soll. 

Wir  müssen  nun  näher  betrachten,  wie  Piaton  die  schöpferische  Tat 

20  eines  solchen  Menschen  philosophisch-metaphysisch  sich  vorstellt.  Daß 
ihm  die  Willensfreiheit  ein  entschieden  metaphysisches  Problem  war, 
das  zeigt  der  den  ganzen  Staat  abkrönende  Mythos,  in  dem  der  Philosoph, 
der  die  Dichter  aus  seinem  Staate  von  ihrem  Platze  als  Erzieher  ver- 
drängt hatte,  nun  selbst  als  religiöser  Dichter  zu  uns  redet.  Aber  gerade, 
weil  er  als  Dichter  spricht,  muß  an  einige  Voraussetzungen  dieser  Frei- 
heitslehre erinnert  werden. 

Daß  die  Aktivität  des  wollenden  und  handelnden  Menschen  auf  dem 
Boden  der  platonischen  Seinsidee  nicht  bedeutet,  daß  aus  dem  Nichts 
ins  Nichts  hinein  eine  absolute  Produktivität  wirkt,  sahen  wir  bereits 

10  —  diese  Produktivität  wird  nicht  einmal  dem  Schöpfergott  im  Timaios 
zugebilligt.  Damit  stimmt  nun  genau  überein  der  Zusammenhang,  der 
die  höheren  Seinsregionen  mit  den  tieferen  verbindet:  die  beiden  stehen 
nicht  einem  formlosen  Chaos  gegenüber,  sondern  in  der  Sinnen  weit,  bis 
hinein  in  die  der  Abbilder,  treffen  wir,  mit  dem  „Phaidon"  zu  reden,  ein 
Streben  nach  der  Idee,  nach  dem  eigentlichen  Sein  an,  das  dem  Zugriff 
der  Vernunft  entgegenkommt;  es  kommt  also  auch  bei  der  Tat  aus  dem 
Sinnbewußtsein  der  Welt  heraus  mehr  darauf  an,  die  Einsatzstelle  im 
Zusammenhange  des  ganzen  Seins  zu  finden  oder,  wie  wir  sagten,  den 
„Anruf"  der  „Welt"  richtig  zu  verstehen,  sich  ihm  nicht  zu  verschließen, 

io  sondern  das  Seiende  zu  sehen.  Wir  treffen  hier  auf  die  tiefste  Deutung 
des  sokratischen  Ur- Satzes,  daß  das  Wissen,  das  Durchschauen  der  Welt 
die  Tugend  ist.  Nun  läge  es  ganz  nahe,  hier  einen  religiös  begründeten 
Determinismus  anzunehmen,  für  den  die  Freiheit  nur  negativ  zu  bezeich- 
nen wäre:  nicht  zu  widerstreben  den  aus  der  Tiefe  der  göttlich  geordneten 


m 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Welt  sprechenden  Kräften,  sie  zu  befreien  aus  der  Verdeckung  und  Über- 
lagerung, die  «oyia'a  tfÖGic,  das  uranfängliche  Wesen,  wiederherzustellen 
im  ewigen  Kreislauf  des  Geschehens.  Die  Antwort  des  Staatsmythos  be- 
weist nun  das  deutliche  Bewußtsein  von  den  hier  liegenden  Problemen. 
Schon  im  1.  Buche  hatte  Piaton  festgestellt,  daß  Gott  zwar  alles  Guten 
Ursache,  aber  an  allem  Bösen  unschuldig  sei.  Hier  im  Mythos  heißt  es  im 
Spruche  der  Lachesis:  „die  Tugend  (Arete)  ist  frei,  jeder  wird  sie  achtend 
oder  mißehrend  mehr  oder  weniger  von  ihr  haben.  Die  Schuld  trägt  der 
Wählende i  Gott  ist  unschuldig44  (ägsrij  de  äd£<mi>Tov i\v  ti»&v  xai  &ti- 
fid£(üv  7tk£ov  xai  ll(ci  ror  avrJjc  exaoTog  s^fi  '  ahCa  k\ou£vov  '  &£Ö<;  ävaCnog.) 

Wir  können  hier  die  mythische  Anordnung  der  Seelenwahl  rasch 
übergehen.  Jede  Seele  kann  ihr  irdisches  Los  wählen,  in  einem  unge- 
heuren mythischen  Akte  der  Freiheit.  Die  Einheit  der  Person  und  des 
persönlichen  Lebens  soll  dadurch  bekräftigt  werden,  noch  mehr  aber 
durch  die  ganze  Szenerie  der  Seelenwahl  die  „kosmische44  Einordnung 
des  Einzellebens  in  die  Weltgesetzlichkeit  überhaupt.  So  sehr  dies  zur 
Bestätigung  und  Abrundung  der  Menschenidee  Piatons,  so  wie  wir  sie 
hier  entwickelten,  beitragen  kann :  wichtiger  ist  die  eigentümliche  Durch- 
brechung des  Mythos  (618b — 19  a),  in  der  des  Sokrates  sittliche  Forde- 
rung, zugleich  die  Quintessenz  der  Erkenntnisforderung  des  Staates,  auf 
die  Ebene  dieses  Mythos  gehoben  wird  und  diesem  dadurch  ein  völlig 
realer,  schlicht  ethischer  Sinn  gegeben  wird.  Mit  einer  eigenartigen  Um- 
kehrung des  Anamnesisgedankens  wird  das  irdische  Leben  aufgefaßt  als 
eine  dauernde  Vorbereitung  auf  jenen  außerirdischen  Akt  der  entschei- 
denden Wahl.  Diese  Vorbereitung  besteht  in  dem  Mathema,  das  ein  gutes 
und  schlechtes  Leben  zu  unterscheiden  befähigt.  Hier  erhält  das  Mathema 
des  Guten  den  ethischen  Sinn  der  sittlichen  Entscheidung:  gut  zu  han- 
deln. Aber  für  diese  Entscheidung  muß  man  viel  gelernt  haben:  was 
Reichtum,  Herrschaft,  Gerechtigkeit,  Kraft,  Lernfähigkeit  für  die  Seele 
bedeutet  —  alles,  was  im  „Staat44  behandelt  worden  ist,  auf  deren  Wesen 
blickend  muß  man  aus  dem  Möglichen  immer  das  bessere  ergreifen; 
dies  ist  für  den  Lebenden  und  für  die  Abgeschiedenen  die 
stärkste  Wahl  (fj  xgeertatt]  algeaic).  In  diesen  Akten  des  Erfassens 
und  Ergreifens  des  Guten  —  es  steht  aigeöig  da,  nicht  das  spätere  ari- 
stotelische ix  q  o  ai'gsGic  —  baut  sich  die  sittliche  Person  zur  Einheit  des 
Charakters  auf;  daß  der  empirische  Charakter  stets  das  Ergebnis  des 
intelligiblen  und  seiner  Freiheitsakte  bleibt,  das  ist  der  Sinn  dieses  My- 
thos, mit  dem  der  Staat  abschließt.  Das  letzte  Wort  ist  das  mehrdeutige 
Wort  ed  TtgdTTeiv,  —  gut  tun,  handeln  und  damit  durchkommen,  Erfolg 
haben  liegt  darin  und  das  „Wohlergehen  auf  Erden44  und  im  Jenseits, 
also  in  der  ganzen  Zeit. 

Von  diesem  Mythos  aus  stellt  sich  das  Freiheitsproblem  noch  einmal 
ganz  deutlich  dar.  Die  Paradoxie,  die  im  Begriff  des  Charakters  und  der 
Person  liegt,  ist  ohne  Verwischung  auseinandergelegt.  Obwohl  die  Person 


D 


PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


125 


in  allen  ihren  Möglichkeiten  bestimmt  gedacht  werden  muß  von  Anfang 
an,  so  schließt  diese  Bestimmtheit  die  Pflicht  der  Entscheidung  zum 
Guten  durchaus  ein;  das  mögliche  Gute  zu  erkennen,  ist  eine  dauernd 
neu  gestellte  Aufgabe,  weil  das  Gute  verdeckt  ist  und  als  die  Wirklich- 
keit vorgegebenen  möglichen  Sinnes  durch  den  Einsatz  der  Erkenntnis 
immer  wieder  neu  geschaffen  („gerettet")  werden  muß.  Die  Aktivität, 
die  dazu  notwendig  ist,  leitet  die  Person  hinein  in  die  Ordnung,  in  der 
sie  von  jeher  stand,  ohne  es  vorher  zu  wissen.  Diese  Paradoxie  ist  eine 
Paradoxie  der  Zeit  und  nur  vom  Zeitbegriff  her  aufzulösen.  Dies  tut 
o  Piaton,  als  er,  wie  schon  angedeutet,  vom  Schöpfungsbegriff  her  noch 
einmal  die  Probleme  der  freien  schöpferischen  Aktivität  darstellt;  später 
endet  die  gesamte  Metaphysik  des  Altertums  bei  Plotin  in  einer  Meta- 
physik der  Zeit. 

c)  Die  Dialektik  des  platonischen  Seinsbegriffs. 
Wenn  Piaton  in  der  zweiten  Phase  seiner  metaphysischen  Entwick- 
lung, die  durch  die  Herausbildung  der  Idee  des  Guten  als  einer  spezifi- 
schen Seinsidee  bezeichnet  wurde,  sich  auch  von  der  unmittelbaren 
Identifizierung  seiner  Lehre  mit  dem  Bios  und  dem  „Pragma"  (Erw. 
Wolff)  des  Sokrates  freigemacht  hat,  so  ist  diese  Seinsidee  doch  noch 
orientiert  an  dem  Problem  der  persönlichen  Nachfolge,  an  dem  „echten", 

'.o  weil  letztlich  immer  auf  das  ideelle  Vorbild  gerichteten  „Nachahmen" 
eines  Paradeigma.  Wir  sahen,  wie  diese  Orientierung  bis  in  die  Regionen 
der  dinglichen  Welt  sich  durchsetzt  und  in  dem  Zusammensein  der 
lebendigen  nach  Generationen  abgestuften  Glieder  einer  Erziehungs- 
gemeinschaft immer  wieder  neue  Nahrung  findet.  Piaton  begründete 
diesen  Nachahmungsvorgang  bis  in  das  gefühlte,  der  „ästhetischen"  Er- 
ziehung und  Betrachtung  allein  zugängliche  volle,  leiblich-geistige  Da- 
sein des  Menschen  hinein.  Die  im  Eros  bereits  angelegte  Möglichkeit  des 
Sinn- Erfühlens  spielt  im  Erziehungsbegriff  Piatons  vom  dritten  Buch  des 
Staates  bis  zu  den  Gesetzen  eine  entscheidende  Rolle:  im  disziplinierten 

o  Gefühl,  in  der  richtigen  Ablehnung  und  der  richtigen  Zustimmung  des  füh- 
lenden Seelenteiles,  im  richtigen  Zorn  des  zweiten  Seelenteiles  und  dessen 
richtiger  Freude  wird  die  Seele  vorbereitet,  den  „Logos"  zu  empfangen, 
wenn  sie  dazu  reif  ist  (vgl.  Plat.  d.  Erz.,  S.  35,  Wiss.  u.  Bild.  etc.  S.  7); 
und  sie  wird  reif  dazu,  wenn  sie  die  abgestuften  „Abbilder"  der  „Hal- 
tung" des  Guten,  die  Verleiblichungen  des  rechten  „Ethos",  wo  immer 
sie  ihr  begegnen,  zu  erkennen,  d.  h.  ihren  Sinn-  und  Kerngehalt  im  Vor- 
ausblick auf  die  zentrale  Idee  des  Guten :  den  „Logos  selbst"  zu  erfassen 
versteht.  Das  Aufsteigen  zum  Logos  selbst,  das  im  „Staate"  in  den  Bü- 
chern VI  und  VII  beschrieben  wird,  baut  zwar  die  Wissenschaft  des 

o  höchsten  Mathema  in  einem  großzügigen  Erziehungsprogramm  auf,  aber 
auch  die  Funktion  der  Wissenschaft,  im  besonderen  der  Kernwissenschaft 
der  Zahlenlehre  bleibt  noch  beschlossen  in  der  Grundvorstellung  des  zum 


126 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Sein  „Hinaufziehenden",  des  Aufweckens  zum  Nus;  die  Mathematik 
und  besonders  die  Arithmetik  wird  selbst  ein  Paradeigma,  an  dem  die 
Paideia  bis  in  ihre  anfänglichsten  mimetisch-ästhetischen  Stufen  orien- 
tiert ist.  Aber  der  Grundbegriff,  der  hierbei  immer  vorausgesetzt  wird, 
dieses  Nachahmen  des  Vorbildlichen,  das  Ähnlichsein  beider,  die  Teilhabe 
am  Höheren,  seine  Gegenwärtigkeit  im  Niederen,  dieses  zentrale  Problem 
wird  hierbei  nicht  geklärt.  Dies  liegt  in  der  Natur  desjenigen  Grundphäno- 
mens,  das  den  ganzen  Aufbau  der  Gedanken  bis  zum  Staat  trägt,  des 
Phänomens  der  Tat,  der  Handlung.  Dies  Phänomen  erfordert  lediglich  die 
deutliche  Spannung  zwischen  der  vorausgesetzten  vorliegenden  Ausgangs-  io 
Situation,  die  als  Telos,  als  Muster  des  Handlungsvorgangs  vorschwebt. 
Je  größer  die  Spannung  ist,  je  weiter  also  qualitativ  wertmäßig  die  ideale 
Hexis  gesteigert  ist,  desto  größer  wird  der  „Zug"  —  wir  kennen  ja  den 
Ausdruck  —  diese  Differenz,  diesen  „Chorismos"  auszugleichen.  Man  muß 
das  „Ideal"  so  wählen,  daß  kein  sattes  Behagen  des  Erreichthabens  ein- 
tritt, sondern  auch  auf  der  erreichten,  durch  die  Wahl  als  besseres  ge- 
setzten Stufe  noch  immer  diese  Bewegung  erhalten  bleibt,  in  der  die 
Seele  —  im  Einklang  mit  den  allenthalben  wirkenden  Kräften  der  Ding- 
welt, die  ja  auch  „ihre  Mangelhaftigkeit  fühlt"  und  gut  zu  werden  ver- 
langt und  strebt  — ,  wie  in  ihrem  eigentlichen  Lebenselement  sich  vor-  20 
findet.  Die  Methexis  ist  eben  auch  wörtlich  Hexis,  Haltung  im  Ein- 
klang mit  diesen  Kräften.  Die  verschiedenen  Seinsregionen  haben  den- 
selben Bildinhalt,  sie  sind  nur  schwächer,  dunkler  in  ihrem  Umriß,  in 
der  Leuchtkraft,  von  dem  im  Dunkel  verschwindenden  Schattenbilde  bis 
zum  obersten  Paradeigma,  das  in  seinem  überhellen  Glänze  in  neuer  Ein- 
heit sich  darstellt  und  mit  einzelnen  Zügen  nicht  mehr  vorgestellt  werden 
kann  (das  Schöne  an  sich  des  Symposion!).  In  ihrer  konkreten  Tatauf- 
gabe fühlt  sich  die  handelnde  Seele  durch  alle  Regionen  der  Nach-  und 
Vorbilder,  durch  alle  vier  Seinsbereiche  hindurch  inmitten  von  Schein 
und  Uneigentlichkeit  im  Augenblick  der  Selbstbestimmung  mit  dem  so 
reinsten  Kraftzentrum  des  Guten,  von  dem  alle  Einsicht  und  Selbstheit 
kommt,  lückenlos  verbunden;  es  herrscht  ein  Kraftzusammenhang  zwi- 
schen dem  dieser  höchsten  Kraft  verwandten  „Guthaften",  äya&nsititc« 
in  der  Seele  und  jenem  Erleuchtungsmittelpunkt;  die  Richtung  läßt 
sich  nicht  angeben,  Telos,  Ziel  und  Arche,  Ausgangspunkt  der  Kraft  sind 
ineinandergebannt  und  entziehen  sich  der  räumlichen  Bezeichnung  — 
es  gibt  keine  Richtung  von  einem  zum  andern,  sondern  nur  einen  sich 
steigernden  Kraftausgleich,  der  von  beiden  Punkten  ausgeht. 

Dieses  Durchschlagen  —  von  einem  springenden  Funken  spricht  Pia- 
tons VII.  Brief  —  aller  Seinsregionen  von  der  Einheit  des  Bewußtseins  40 
bis  zur  Einheit  des  höchsten  Seins,  von  der  individuellen  Situation  bis 
zum  allgemeinsten  Prinzip,  erfolgt  also  in  der  Tiefenrichtung  der  über- 
einandergelagerten  Seinsregionen  und  läßt  deren  Breite  und  Fülle  außer 
acht  —  es  muß  an  dem  ethischen  Grundphänomen  liegen,  daß  es  immer 


D 


PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


127 


und  immer  wieder,  bei  Kant  in  seinem  sog.  Formalismus,  bei  den  spä- 
teren religiösen  Ethikern  in  der  isolierten  Entscheidungssituation  die 
Fülle  der  Wirklichkeit  überspringt  und  ins  Absolute  hinausweist.  Nun 
ist  das  „Absolute"  Piatons  gegliedert  auf  die  ganze  Fülle  der  Wirklich- 
keit hin,  die  Seele  soll  sich  für  das  sittliche  Tun  —  wie  ein  haltendes 
Gefäß  (aztyov  Staat  586ab),  nicht  wie  ein  Danaidensieb  (Gorg.  493b)  — 
mit  dem  wahren  Seienden  erfüllen,  und  dieses  Sein  muß  aufgeteilt,  ge- 
lichtet sein,  um  den  richtigen  Weg  der  Tat  zu  ermöglichen.  Aber  für  die 
Tat  und  infolgedessen  für  eine  Seinsidee,  die  der  Tat  vorwiegend  zu- 

10  gewandt  ist,  steht  die  Breitengliederung  der  Seinssphären  als  Problem 
im  Vordergrund.  So  hatte  der  erste  große  Entwurf  der  Seinsidee  die  Pro- 
bleme der  „Teilhabe"  der  verschiedenen  Seinsregionen  aneinander  und 
der  Beziehung  der  einzelnen  Teilinhalte  jeder  einzelnen  Region,  speziell 
der  Ideensphäre,  zueinander  in  kühnem  Anlaufe  mehr  übersprungen  als 
eigentlich  gelöst:  er  hatte  „erzwungen"  —  mit  Parmenides  zu  reden  — , 
daß  es  das  alles  gibt,  ohne  die  Theorie  dafür  zu  entwickeln.  Das  Be- 
dürfnis nach  einer  Theorie  mußte  in  dem  Augenblicke  eintreten,  in  dem 
der  Philosoph  nicht  mehr  primär  in  der  Richtung  jenes  Tatstrahles  aus 
der  wertmäßig-dynamischen  Spannung  der  Seinssphäre  heraus  philoso- 

20  phierte,  sondern  diese  Seinsidee  vollständiger  auf  einer  neuen  Stufe 
theoretischen  Bewußtseins  von  innen  erfaßte  und  sie  als  einen  Zusammen- 
hang reich  gegliederter  gegenständlicher  Phänomene,  also  ontologisch  be- 
trachtete, ohne  bei  aller  Annäherung  an  die  Prosa  des  Gedankens,  an 
den  Begriff,  etwas  von  der  Fülle  der  ursprünglichen  Anschauung  preis- 
zugeben. 

Es  kommt  zu  dem  Neuanfange  des  platonischen  Philosophierens,  zu 
einer  Selbstkritik,  die  das  Hauptstück  des  Systems,  die  Ideenlehre,  in 
Frage  stellt.  Was  Piaton  so  oft  in  seinen  Dialogen  eintreten  läßt:  „wir 
wollen  von  Anfang  anfangen",  dieses  Prinzip  des  Terrassenaufbaus,  hier 

J0  greift  es  auf  sein  eigentliches,  hinter  den  einzelnen  Dialogen  sichtbares 
Werk  über.  Piaton  kann,  gedeckt  in  der  noch  mittelbaren  Selbstdarstel- 
lung des  Dialoges,  diese  Wendung  mit  größter  Kraft  durchführen;  er  hat 
die  Kritik  an  der  Idee,  an  ihrer  bisherigen  Form  zunächst  mit  einer  ver- 
wirrenden Schärfe  ausgesprochen,  und  er  konnte  dies  tun,  weil  sich  die 
ursprüngliche  Absicht  nur  noch  deutlicher  auf  Grund  dieser  systema- 
tischen Katharsis  wiederherstellen  sollte;  liegt  es  doch  im  Wesen  der 
Seinsidee,  der  im  eigentlichen  Sinne  genial  gestalteten  Form  des  Philo- 
sophierens, daß  ihr  nichts  fremd  geblieben  ist,  daß  in  ihrer  Fortentwick- 
lung nur  mißverständliche  Züge  richtiggestellt  und  das  in  einer  be- 

40  stimmten  Intuition  nur  flüchtig  Angedeutete  von  der  Peripherie  her  in 
den  Blickpunkt  gerückt  zu  werden  braucht.  Es  wird  nichts  zurück- 
genommen, sondern  nur  aus  einer  tieferen  Absicht  verdeutlicht. 

Uber  die  äußeren  Anstöße,  die  nach  dem  Staate  Piaton  zu  dieser  Wandlung  be- 
stimmt haben  können,  können  nur  Vermutungen  geäußert  werden.  Selbst  wenn  wir 


m 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


mehr  über  die  äußeren  Vorgänge  im  Leben  Piatons  wüßten,  so  müßte  doch  das  Ent- 
scheidende immer  aus  der  Interpretation  des  Werkes  in  seinem  Zusammenhang  ge- 
wonnen werden.  Es  läßt  sich  eine  ganz  neue  Wichtigkeit  des  eleatischen  Problem- 
kreises konstatieren,  wie  ich  glaube  von  vornherein  im  Zusammenhange  mit  der  folgen- 
reichsten Umbildung  des  Eleatismus,  dem  Atomismus  bzw.  den  mathematischen 
Problemen,  die  sich  an  die  zenonischen  Aporien  und  deren  möglichen,  oben  S.  49 
angedeuteten  historischen  Hintergrund  anschlössen.  Wenn  auch  das  mathematische 
Interesse,  Piaton  nie  ganz  fremd,  bereits  in  der  zum  „Staat"  führenden  Entwicklung 
eine  feststellbare  Steigerung  erfahren  hat,  so  gerät  die  mathematische  Prinzipienlehre 
nun  noch  viel  mehr  in  den  Mittelpunkt  der  Lehre.  Hier  können  äußere  Begegnungen 
mit  Theodoras,  Theaitetos,  Eudoxos  einen  Einfluß  auf  Piaton  ausgeübt  haben.  Voraus- 
setzung hierfür  ist  die  Konsolidierung  des  persönlichen  Bundes  mit  gleichgesinnten 
Freunden  und  Verwandten  zur  Akademie,  zur  Schule,  in  der  die  Wissenschaften  nun 
alle  zu  Worte  kamen,  besonders  zunächst  die  Mathematik. 

Die  Einbeziehung  der  Mathematikgeschichte  in  die  Piatoninterpretation  ist  in  vollem 
Gange.  Burnets  Early  Greek  Philosophy,  die  Forschungen  der  Historiker  der  Mathe- 
matik haben  auf  vieles  aufmerksam  gemacht,  was  allmählich  in  seiner  Wichtigkeit 
erkannt  wird.  Die  These  der  englischen  Platoniker,  daß  „die  Ideenlehre"  aus  einer 
pythagoreischen  Doktrin  stammt,  Burnet,  Early  Greek  Philosophy,  Taylor,  Com- 
mentar  zu  Piatos  Timaios,  unter  deren  Einfluß  bereits  Sokrates  stand,  scheint  mir 
in  dieser  Form  nicht  richtig,  aber  als  heuristisches  Interpretationsprinzip  sehr  wichtig. 
Die  an  mein  Buch  „Zahl  und  Gestalt  b.  Piaton  u.  Aristoteles",  Leipzig  1924,  an- 
knüpfende Literatur  (Taylor,  Gnomon  1926,  S.  396;  Forms  and  Numbers,  Mind 
XXXV,  N.  S.  No.  140,  XXXVI,  N.  S.  Nr.  141.  D'Arcy  Wentworth  Thompson, 
Excess  and  Defect:  or  the  little  more  and  the  little  Less,  Mind  XXXVIII,  N.  S.  No.  149. 
Toeplitz,  Quellen u.  Stud.  1.  c,  Stenzel  ibid.  sowie  Pauly-Wiss.  Kroll,  Real-Enzykl. 
„Speusippos")  soll  in  einer  Sonderbehandlung  in  den  Quellen  und  Studien  von  den 
Herausgebern  zusammengefaßt  und  auf  eine  eingehende  Interpretation  aller  mathe- 
matischen Stellen  bei  Piaton  gegründet  werden,  zu  denen  später  noch  eine  analoge 
Behandlung  der  mathematischen  Stellen  bei  Aristoteles  treten  müßte.  Die  von  Taylor 
und  seinen  Anhängern  versuchte  Aufhellung  der  Problematik  durch  moderne  mathe- 
matische Theoreme  wird  für  diesen  Bereich  eine  ähnliche  Wichtigkeit  erhalten  wie 
seinerzeit  die  Natorpsche  Modernisierung  und  Tieferlegung  der  Probleme:  eine  Forde- 
rung, nichts  zu  vereinfachen  und  zu  primitivieren,  der  man  sich  nicht  wird  entziehen 
können.  —  Die  von  mir  bereits  in  den  „Studien  z.  Entwicklung  der  platonischen  Dia- 
lektik", Breslau  1916,  dargestellte  Wandlung  der  platonischen  Motive  und  ihr  Zu- 
sammenhang mit  den  Problemen  der  Diairesis  (Begriffsspaltung)  wird  von  den  meisten 
anerkannt.  Leisegang  hat  in  seinen  „Denkformen"  1928  gute  Ergänzungen  gegeben. 
Vgl.  außerdem  in  diesem  Handbuch  die  Darstellung  der  Erkenntnistheorie  von  Fr. 
Kuntze. 

Der  Kreislauf  von  der  Kritik  über  die  positive  Erweiterung  des  Pro- 
blembestandes und  die  ausdrücklichste  Stellung  der  Seinsfrage  bis  zur 
Rückbeziehung  des  Gewonnenen  auf  die  Probleme  der  Politik  wird  durch 
die  Dialoge  Parmenides-Sophistes-Politikos  bezeichnet.  Die  Kritik  an  der 
sog.  Ideenlehre  im  „P  arme  nid  es"  ist  geschichtliche  Anknüpfung  an 
den  Eleatismus.  Mühsam  genug  ist  sie  äußerlich  hergestellt  durch  die 
Begegnung  des  ganz  alten  Parmenides  mit  dem  ganz  jungen  Sokrates  und 
wird  programmatisch  als  Diskussion  des  Seinsbegriffes  bezeichnet.  Die 
erste  These  einer  eben  verlesenen  Schrift  des  Zenon  wird  zum  Anlaß 
einer  Diskussion  genommen.  Sie  lautet:  wenn  das  Seiende  vieles  ist,  so 
muß  es  sowohl  ähnlich  als  unähnlich  sein  —  und  das  ist  unmöglich. 


D 


PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


J29 


Dieser  Nachweis  soll  negativ  —  so  deutet  Sokrates  die  Absicht  Zenons 
(etwas  zu  ernst,  wie  dieser  nachher  erklärt)  —  die  These  des  Parmenides 
beweisen,  daß  das  All  eins  ist  (128b). 

Vom  ersten  Augenblick  an  wird  das  Sein  von  dem  Begriff  der  Ähnlichkeit  aus  er- 
örtert, von  demjenigen  Begriff,  den  die  vergangene  Phase  der  Ideenlehre  für  ihre  Form 
der  mimetischen  Teilhabe  ungeprüft  verwandt  hatte;  der  Sophistes  leitet  seine  ganze 
Seinsproblematik  ab  aus  einer  Erörterung  des  Mimesisbegriffes  und  schließt  mit  einer 
genaueren  Definition  des  Nachahmenden,  des  fxifxrjjrjg^  als  der  Definition  des  Sophisten. 
Der  Politikos  setzt  neu  die  Begriffe  des  Vorbildes,  des  Paradeigma  und  des  Ahnlichen 

10  fest,  und  zwar  in  der  Form,  in  der  sie  die  Philosophie  von  Piatons  Nachfolger  Speusipp 
beherrschen.  Dies  muß  man  festhalten;  diese  Rahmenprobleme  werden  gegenüber  den 
behandelten  Seinsfragen  meist  ungebührlich  vernachlässigt,  obwohl  sichtlich  der  Angel- 
punkt der  platonischen  Entwicklung  hier  liegt,  nämlich  die  Anknüpfung  an  die  offen 
gebliebenen  Fragen  der  Idee  des  Guten  und  des  zu  ihr  gehörigen  Pacfeiabegriffes. 
Und  sofort  wendet  Sokrates  die  Erörterung  auf  das  mit  der  Mimesisform  der  Ideen- 
lehre gegebene  Phänomen  der  Spannung  zwischen  den  Seinssphären,  des  Chorismos. 
Die  Partikel  X^Q^i  abgetrennt,  beherrscht  die  folgende  Erörterung.  Sokrates  fragt 
zunächst,  ob  Zenon  nicht  wie  er  ein  Eidos  der  Ähnlichkeit  und  Unähnlichkeit  von  den 
ähnlichen  und  unähnlichen  Dingen  unterscheide,  die  an  diesem  mehr  oder  weniger 

j  20  Anteil  haben.  Diese  Dinge  der  Wirklichkeit  könnten  sehr  wohl  eins  und  vieles,  ähnlich 
und  unähnlich,  ruhend  und  bewegt  sein  —  so  hatte  Sokrates  in  der  Tat  auch  Staat  IV, 
437  d,  über  die  Vereinigung  von  Bewegung  und  Ruhe  reflektiert.  Aber  die  Frage  ist, 
ob  auch  die  Ähnlichkeit  selbst  unähnlich,  ob  das  Eins  an  sich  Vieles  werden  könne; 
ich  würde  mich  wundern,  schließt  Sokrates,  wenn  auch  diese  Ideen  „vermischt44  und  ge- 
sondert werden  könnten,  wenn  diese  „Verlegenheit  der  Verflechtung44,  der  wir  leicht  bei 
den  sichtbaren  Dingen  begegnen,  auch  bei  dem  vorliegt,  was  nur  mit  dem  schließenden 
Verstände  (koyiojuw)  erfaßt  wird  (129  e).  Parmenides  legt  nun  Sokrates  ausdrücklich 
auf  die  Trennung  der  beiden  Sphären  fest  und  fragt  ihn,  bei  welchen  Gegenständen  er 
diese  Sonderung  vollzogen  hätte.  Hier  ist  es  nun  sehr  interessant,  die  Genesis  der  Ideen- 

30  lehre  zu  verfolgen.  Daß  vom  Gerechten,  Schönen  und  Guten  ein  abgesondertes  Eidos 
gedacht  werden  müsse,  gibt  Sokrates  ohne  Umschweife  zu;  bedenklich  wird  er  schon 
beim  Eidos  des  Menschen  und  beim  Eidos  des  Feuers  und  Wassers.  Und  ganz  zweifel- 
haft wird  er  bei  den  Begriffen  von  Haaren,  Lehm  und  Schmutz  —  wo  also  die  Wert- 
spannung ganz  und  gar  nicht  möglich  scheint  (cf.  Studien  S.  25  ff.).  Nachdem  die  Stel- 
lung des  Sokrates  höchst  unsicher  geworden  ist,  wird  nun  sehr  sinnreich  gezeigt,  daß 
in  der  „Teilhabe44  der  vielen  einzelnen  Sinnendinge  an  der  einen  Idee  eigentlich  die 
eine  Idee  zugleich  als  vielfach  geteilt  gedacht  werden  müsse  —  was  Sokrates  gerade 
bestritten  hatte  und  auch  jetzt  nicht  erklären  kann.  Die  Idee  ist  also  „zerteilt44  zu  denken; 
auf  welche  Weise,  darüber  fällt  keine  Entscheidung.  Diese  rein  extensive  Auffassung 

40  der  Idee  wird  nun  an  der  Idee  der  Größe  und  Kleinheit  besonders  durchgeführt  —  es 
ist  die  erste  Stelle  von  den  vielen,  an  denen  ein  mathematischer  Hintergrund  sicht- 
bar wird. 

Parmenides  legt  dem  recht  kleinlaut  gewordenen  Sokrates  nun  eine  Reihe  von 
möglichen  Erklärungen  und  Verdeutlichungen  des  Ideenbegriffes  vor,  um  sie  alle  zu 
widerlegen.  Zunächst  zwei  erkenntnistheoretische  Auffassungen:  die  Idee  wäre  die 
„Sicht44,  /ui'cc  iVf«,  unter  der  man  etwa  mehrere  große  Dinge  als  große  zusammensieht. 
Aber  diese  Sicht,  als  das  eine  abgesonderte  Große  aufgefaßt,  brauchte  wieder  eine  neue 
Sicht,  um  die  Anwendungsmöglichkeit,  die  Beziehung  auf  die  Dinge,  denen  diese  Be- 
deutung zukommt,  begreiflich  zu  machen  —  was  einen  regressus  ad  infinitum  bedeutet 
I  5Q     (das  Argument  des  To/'rog  äv&yumog). 

Der  nächste  Versuch,  den  Sokrates  macht,  schließt  sich  eng  an  den  vorhergehenden 
an:  ist  die  Idee  nur  in  den  Seelen  als  Noema?  Parmenides,  der  die  Einheit  von  Gemein- 
tem und  Seiendem  gelehrt  hat,  widerlegt  diese  Auffassung  durch  seine  eigene  Ontologie: 

Handb.  d.  Phil  I. 


130 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


je  dos  Noema  ist  ein  Noema  von  etwas,  von  einem  Seienden;  es  kann  nicht  Gedanke 
von  nichts,  ohne  Bedeutung  sein;  denn  dann  hätte  es  keine  Anwendbarkeit  auf  die 
Dinge  der  Wirklichkeit  —  es  müßten  denn  diese  nichts  als  Noemata  sein.  Sind  die  Dinge 
gegenständlich  bestimmt,  so  sind  es  auch  die  Noemata,  die  sie  meinen  —  und  wir  sind 
am  keinen  Schritt  weiter.  Nun  schlägt  Sokrates  das  Paradeigmaverhältnis,  also  einen 
neuen  Fall  des  i^/tos  urOoumoc;  vor.  Hiermit  schließt  dieser  Abschnitt  ab  —  dasÄhnlich- 
keitsverhältnis  war  mit  Absicht  an  den  Schluß  gestellt  worden;  nach  den  vorherge- 
gangenen Erörterungen  ist  nichts  mehr  hinzuzufügen. 

Parmenides  erklärt,  diese  eben  aufgewiesenen  Schwierigkeiten  im  Verhältnis 
der  Ideen  zu  den  Dingen,  die  an  ihnen  teilhaben,  wären  noch  gar  nicht  die  größten.  10 
Die  anderen  könnte  nur  einer  behandeln,  der  über  ein  ausgebreitetes  Wissen  verfüge 
und  auch  entlegeneren  Gedankengängen  zu  folgen  sich  entschlösse  —  ein  Hinweis  auf 
das  Folgende  und  wohl  auch  auf  die  mathematischen  Kenntnisse,  die  für  Piaton  immer 
mehr  zur  Voraussetzung  werden,  um  gewisse  Seinsfragen  zu  bewältigen. 

Die  neue  Problemreihe,  die  noch  größere  Anstalten  für  ihre  Auflösung 
erfordert  als  die  erste,  die  durch  den  „Chorismos" ,  die  scharfe  Trennung 
der  Ideensphäre  von  der  Welt  der  Wirklichkeit,  entstand,  ergibt  sich  aus 
der  ersten.  Mit  der  Auseinanderreißung  der  beiden  Sphären  der  Ideen  und 
der  an  ihnen  teilhabenden  Dinge  hört  auch  die  Erkennbarkeit  der  einen 
Sphäre  von  der  andern  aus  auf;  weder  könnte  der  der  konkreten  Wirk-  20 
lichkeit  angehörige  Mensch  diese  Ideen  in  seine  Seele  aufnehmen,  noch 
könnte  etwa  ein  in  der  Ideensphäre  denkendes  göttliches  Bewußtsein 
etwas  aus  der  irdischen  Sphäre  verstehen  und  auf  sie  Einfluß  gewinnen 
oder  auch  nur  zu  gewinnen  suchen.  Das  wahre  Wissen  an  sich  könnte  von 
der  „menschlichen  Natur64  nicht  erkannt  werden,  ihm  fehlte  die  Kraft 
des  Erkanntwerdens,  die  övra/nig  rov  yiyvwtfxeo&ai,  die  der  Sophistes 
(248  d)  ausdrücklich  zum  Thema  macht. 

Von  hier  aus  wird  das  anderwärts  formulierte  Problem  der  ak^tjg  do'Scc,  der  richtigen 
Vorstellung  (im  doppelten  Sinne  als  richtiger  Gedanke  eines  konkreten  menschlichen 
Wesens  über  Ideelles  oder  als  die  aus  ideellen  Bestandstücken  sich  aufbauende  Erkennt-  30 
nis  eines  konkreten  Gegenstandes)  in  seiner  ganzen  Wichtigkeit  sichtbar  (Studien, 
S.  71  ff.).  Eng  verknüpft  mit  diesem  in  der  Tat  noch  fundamentaleren,  weil  das  erste 
einschließenden  Motiv  ist  ein  weiteres:  die  gegenseitige  Beziehung  von  Ideen  aufeinander 
(etwa  der  Herrschaft  zur  Sklavenschaft)  müßte  auch  streng  getrennt  werden  von  jeg- 
licher Auswirkung  dieses  Verhältnisses  auf  die  sie  nachahmenden  Dinge  (6/uotvojuaia 
oder  wie  man  sie  bezeichnen  mag).  Diese  gleichnamigen  Verhältnisse  unter  Menschen 
wären  streng  auf  sich  selbst,  nicht  etwa  auf  die  Beziehung  der  etd*]  untereinander  ge- 
stellt (133  d),  also  auch  Erkenntnis  und  Erkanntes  in  der  einen  Sphäre  und  in  der 
anderen  Sphäre  ganz  voneinander  getrennt.  Dies  gibt  also  noch  einen  weiteren  Grund 
ab  für  die  Isoliertheit  der  wahren,  eigentlich  ideellen  Erkenntnis  von  der  menschlichen  40 
Seele. 

Aber  hier  liegt  zugleich  der  Ansatz  zur  Lösung;  von  der  Tatsache  aus,  daß  Ideen 
miteinander  zusammenhängen,  daß  sich  ihr  Sinn  nur  darstellt  in  bezug  auf  den  Sinn 
anderer  Ideen,  werden  diese  Bedeutungszusammenhänge  (xowioi  ia)  den  Weg  zu  einer 
anderen  Auffassung  des  ganzen  Ideenproblems  bereiten  helfen.  Obwohl  die  große  Frage 
noch  lange  offen  bleiben  wird,  wie  dieser  Weg  herausführt  aus  dem  Reiche  der  Ideen  in 
die  Sphäre  der  Wirklichkeit,  ins  psychische  und  dingliche  Sein,  so  wird  doch  in  dem  Aus- 
gang des  Vorgespräches  immer  deutlicher  gesagt,  daß  mit  der  Widerlegung  eines  abge- 
sonderten Ideenreiches  nicht  auch  zugleich  die  Annahme  von  Ideen  überhaupt  widerlegt 
sei.  Wollte  jemand  diese  schlechthin  leugnen,  so  würde  er  die  Möglichkeit  des  „Sich-  50 


D 


PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


131 


unterredens",  T17V  dvvajuiy  tov  diake'yeo&ai,  der  Verständigung  über  Gegenständliches, 
zerstören;  man  wüßte  nicht,  worauf  man  sein  Denken  (diüvoia)  richten  sollte,  wenn  nicht 
ein  Eidos  immer  als  mit  sich  identisch  bestimmt  würde  (135  b).  So  wird  Sokrates  noch 
einmal  ausdrücklich  belobt,  daß  er  darauf  bestanden  hätte,  die  Fragen  des  Zenon 
nicht  für  den  Bereich  des  Sichtbaren  zu  untersuchen,  sondern  für  jene  Gegenstände, 
„die  einer  in  der  Tat  am  ehesten  mit  dem  Logos  erfassen  und  als  Eide  ansprechen 
könnte"  (135  e).  Freilich  bedarf  es  als  Vorübung  einer  dialektischen  „Gymnastik", 
eines  „Durchziehens"  und  Beweglichmachens  mit  Hilfe  der  von  vielen  verachteten 
hypothetischen  Kunst,  die  prüft,  was  aus  gewissen  Annahmen  sich  ergibt,  und  zwar 

10  aus  den  positiven  und  negativen  Annahmen.  Wir  kennen  Piatons  Interesse  für  dieses 
Verfahren  vom  Protagoras  und  dem  letzten  mathematischen  Beispiel  des  Menon  her. 
Es  müßten  folgende  Fragen  behandelt  werden  (136a4):  „Wenn  z.  B.  vieles  ist,  was  sich 
für  das  Viele  selbst  in  bezug  auf  sich  und  auf  das  Eins  und  für  das  Eins  in  bezug  auf 
sich  und  auf  das  Viele  ergeben  muß.  Und  zweitens,  wenn  vieles  nicht  ist,  was  sich  für 
das  Eins  und  das  Viele  in  bezug  auf  sich  selbst  und  aufeinander  ergeben  wird.  Und 
wenn  du  drittens  die  Hypothesis  machst:  es  gibt  Ähnlichkeit  oder  nicht,  was  sich  bei 
jeder  Hypothesis  sowohl  für  das  Vorausgesetzte  wie  für  das  andere  in  bezug  auf  sich 
und  in  bezug  aufeinander  ergibt.  Und  ebenso  verhält  es  sich  bei  dem  Unähnlichen  und 
bei  Bewegung  und  Ruhe  und  Werden  und  Vergehen  und  beim  Sein  selbst  und  beim 

20  Nichtsein.  Und  mit  einem  Wort:  von  welchem  beliebigen  Ding  du  zugrunde  legst, 
es  sei  oder  es  sei  nicht  oder  erlitte  irgendeinen  beliebigen  Zustand,  immer  muß  man  das 
erforschen,  was  sich  in  bezug  auf  es  selbst  und  auf  jedes  Einzelne  von  den  anderen,  das 
du  gerade  herausgreifst,  ergibt  und  in  bezug  auf  mehrere  von  diesen  Begriffen  und 
schließlich  auf  alle  in  der  gleichen  Weise"  usw. 

Wir  sehen,  daß  hier  die  Themen  der  früheren  Dialoge  —  des  Phaidon, 
der  aus  der  Unsterblichkeits-  und  Ideenlehre  heraus  die  große  Frage  von 
Werden  und  Vergehen  behandelte  (95  e),  und  die  der  folgenden,  besonders 
des  Sophistes  und  Philebos,  vereinigt  sind.  Wenn  auch  das  Eins,  das  Sein 
und  die  Vielheit  im  Parmenides  immer  das  eigentliche  Thema  bleibt,  so 

30  lehrt  doch  der  Verlauf,  daß  Ähnlichkeit,  Bewegung,  Werden  und  ihre 
Gegensätze  organisch  herauswachsen  aus  der  Diskussion  des  Eins  und 
des  Vielen.  Dadurch  wird  zwar  die  ontologische  Hauptabsicht  Piatons, 
das  Eins  und  noch  ein  anderes  Prinzip  als  die  dtQ%a(  der  gesamten  xoi- 
vwn'cc  t&v  eld&v  aufzuweisen,  in  diesem  Dialog  noch  nicht  begrifflich 
bezeichnet,  aber,  was  noch  mehr  ist,  als  dialektischer  Vorgang  in  schlichter 
Anknüpfung  an  die  geschichtliche  eleatische  Situation  anschaulich  vor- 
geführt. Wir  sehen,  wie  aus  diesen  beiden  Prinzipien,  wenn  sie  richtig 
gefaßt  sind,  ein  unerhörter  Reichtum  quillt  —  wir  sehen  das  vor  unseren 
Augen  sich  abspielen.  Parmenides  entschließt  sich  auf  die  Bitten  des 

40  Sokrates  und  des  Zenon  zu  dem  schweren  Werk  dieses  trotz  des  Urteils 
der  unwissenden  Menge  unentbehrlichen  ,, Durchgehens  und  Schweifens 
durch  alles;  diese  doppelte  Charakteristik  fj  diä  zovtcov  öi^oöoc  xccl 
rtX&vri  bezeichnet  die  positive  und  negative  Seite  des  nun  folgenden  dia- 
lektischen Geschäftes. 

Die  beiden  Thesen,  Thesis  und  Antithesis,  werden  folgendermaßen  unterschieden: 
si  fV  iariv  und  iv  ei  i<mv.  Die  verschiedenen  Akzente  auf  dem  „Ist"  bezeichnen  den 
Unterschied  zweier  Arten  des  Seins.  Der  ganze  Zusammenhang  lehrt,  daß  mit  dem 
unbetonten  „Sein"  nicht  aus  dem  Bedeutungsgehalt  des  ti\  des  Eins,  herausgegangen 
werden  soll,  dieses  also  „für  sich"  betrachtet  werden  soll.  Dieses  „Sein"  ist  einfach  gleich 
D  9* 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


...Beilouten",  wobei  man  auf  jede  Erweiterung  oder  Aufspaltung  des  Bedeutens  in  der 
Weise,  daß  irgendetwas  (irgendein  Ausdruck)  irgend  etwas  anderes  (einen  Sinn)  bedeutet, 
ausdrücklich  verzichten  muß.  Da  wir  dieses  ev  in  der  Seele  haben,  da  wir  es  meinen,  es 
also  eine  tfö|a  von  uns  Menschen  ist,  über  die  wir  uns  mit  Piaton  und  Parmenides  verstän- 
digen, und  wir  von  dieser  Methexis  des  „yiyvwaxea&ctt"  beim  besten  Willen  nicht  ab- 
sehen können,  so  bleibt  Piaton  nichts  anderes  übrig,  als  zunächst  die  Bedeutung  des  ev 
innerhalb  der  Bedeutungssphäre  selbst  zu  isolieren,  das  Eins  von  jeder  Art 
des  Vielen  freizuhalten.  Mehr  können  wir  als  in  der  Zeit  existierende,  denkende 
psychische  Subjekte  zunächst  nicht  tun  —  und  mehr  kann  Piaton  uns  auch  nicht  an- 
muten. 10 

Er  zeigt  nun,  wie  die  reine  isolierte  Bedeutung  des  ev  sich  der  Reihe  nach  von  einer 
Bedeutung  nach  der  anderen  abhebt;  weder  —  noch  ist  die  Begriffsform,  in  der  allein 
über  dieses  Eins  Aussagen  gemacht  werden  können:  weder  Teil  noch  Ganzes  kann  es, 
sein;  denn  dann  enthielte  es  einen  Bezug  auf  Vieles.  Daraus  ergibt  sich  weiter,  daß  es 
weder  Anfang  noch  Ende  haben  kann;  also,  da  diese  beiden,  sowohl  ag/y  wie  jekevrtj, 
unter  den  Oberbegriff  des  Peras  fallen  —  eine  übrigens  für  den  „Philebos"  nicht  un- 
wichtige Feststellung  —  so  ist  es  „unbegrenzt44,  uneiQov.  Ferner  gestaltlos,  also  weder 
rund  noch  gerade  —  die  erste  sichtliche  Korrektur  am  historischen  Parmenides!  nicht 
in  sich  noch  in  einem  anderen,  weder  bewegt  noch  ruhend  usw.  Diese  Ausschließungen 
gehen  auf  die  räumliche  Existenz  des  Eins  und  schließen  sie  aus.  20 

Man  darf  vermuten,  daß  Piaton  hier  von  mathematischen  Diskussionen  nicht 
unbeeinflußt  ist,  etwa  von  der  Erörterung  des  Begriffes  Punkt;  die  Akademie  hatte 
in  seiner  Definition  vermieden,  ihn  schlechthin  als  dimensionslos  aufzufassen;  später 
werden  die  Probleme  der  Berührung,  des  §<p£&jg.  Nacheinander,  und  des  fyeo&ai, 
Angrenzend,  erörtert  (148  d  ff.),  vgl.  Aristot.  Phys.  Vc  3. 

Es  folgen  eine  Reihe  logischer  Sachverhalte.  Das  Eins  kann  weder  mit  sich  noch 
mit  einem  anderen  identisch,  tccvtov,  noch  anders  als  es  selbst  oder  ein  anderes,  eregov, 
sein.  Denn  in  jedem  Falle  wird  das  Eins  entgegen  seiner  eigentlichen  absoluten  Be- 
deutung in  Gedanken  doppelt  gesetzt.  Eins  und  dasselbe  ist  bedeutungsmäßig  ver- 
schieden; käme  dies  „Selbe"  dem  Eins  zu,  so  trüge  es  eine  Mehrheit  von  Bedeutungen  39 
an  sich.  Deswegen  kann  es  auch  weder  sich  noch  einem  anderen  ähnlich  sein.  Ähnlich 
sein  einem  andern  heißt  dasselbe  „irgendwie"  erfahren  wie  ein  anderes.  Dasselbe-sein 
ist  wieder  von  Eins-sein  verschieden;  das  Eins  erführe  wieder  eine  Mehrheit,  140  a: 
l4kÄd  fxrjr  sl  rv  nenov&e  tov  ev  elvai,  to  ev,  nketo)  äv  elvai  nenov&oi  rj  ev,  tovto 

de  ddvvawv. 

Daß  Ähnlichkeit  nur  partielle  Identität  bedeutet,  ist  durch  den  Zusatz  nov  zwar 
angedeutet  (139  d  8),  aber  nicht  dahin  verwendet,  daß  eine  „teilweise"  Identität  das 
ev  zum  fxeoiaiov,  zum  Geteilten  machen  würde. 

Ferner  kann  das  Eins  weder  gleich  noch  ungleich  sein;  gleich  sein  heißt  dieselben 
Maßeinheiten  wie  ein  anderes  haben,  erstens  aber  hat  das  Eins,  wie  wir  sahen,  über-  40 
haupt  keinen  Anteil  an  dem  „Selben",  also  auch  nicht  an  demselben  Maße.  Ungleich- 
heit setzt  Gleichheit  als  Maßstab  voraus,  es  ist  größer  oder  kleiner  als  ein  anderes,  und 
beides  wird  durch  das  dazwischen  liegende  Gleiche  begrifflich  bestimmt.  Außerdem 
macht  überhaupt  das  Messen  notwendig  das  Gemessene  wieder  zu  einem  [xeQiciov,  zu 
einer  Vielheit  von  Teilen  (140  b  6  —  d2). 

Größer  als  —  kleiner  als,  gleich,  Maß,  ovju^eiQov  weist  wieder  wie  auch  das  Spätere 
auf  die  mathematischen  Anwendungsmöglichkeiten  aller  dieser  grundsätzlich  hinter 
aller  Logik  und  Mathematik  zugleich  liegenden  Prinzipienerörterungen  hin,  und  spielt 
in  der  akademischen  Proportionenlehre  —  diese  ist  ja  schließlich  bei  jedem  Messen 
vorausgesetzt  —  eine  wichtige  Rolle  (vgl.  zur  Theorie  des  Logos  bei  Arist.  1.  c).  50 

Der  nächste  Gedankengang  schließt  dieses  Eins  von  der  Zeit  aus  und  die  Zeit 
von  ihm:  es  könnte  überhaupt  bei  dieser  Hypothesis  nicht  in  der  Zeit  sein.  Älter,  gleich- 
altrig und  jünger  als  etwas  anderes  kann  es  nicht  sein  auf  Grund  des  vorher  bewiesenen 
Ausschlusses  von  gleich,  demselben  und  ähnlichen.  Aber  auch  nicht  älter,  als  es  selbst 


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PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


133 


oder  jünger  oder  gleich  alt  —  und  dieses  in  der  Zeit  Fortschreiten  und  sich  auf  deren 
frühere  Phasen  Beziehen,  zugleich  aber  in  derselben  Zeit  verharren  und  der  folgenden 
entgegengehen  heißt  in  der  Zeit  sein.  „Also  in  keiner  Zeit  ist,  wird  oder  ist  geworden 
das  Eins;  es  hat  keinen  Anteil  an  der  vergangenen,  der  jetzt  gegenwärtigen  und  der 
künftig  kommenden  Zeit.  Ei  apcc  to  £V  {u^da/uy  fxrj&evog  /uere/si  %q6vov .  ovts  tiots 
ytyovev  ovt  eyiyrtTO  ovt  rjv  nore,  ovte  vvv  yiyovev  ovts  yiyveTai  ovts  sgtiv,  ovt  ineira 
yevqofTcu  ovts  yevrj&rjotTcti,  ovts  I'gtcu  ..." 
Kann  etwas   nun  auf  irgendeine 

andere  Weise   als  gemäß  einer  "Egtiv  ovv  ovciag  önwg  av  ti  jue- 

10    von    diesen    Bestimmungen    am      tccg%oi  äkkiog  rj  xcctcc  tovtwv  ti; 
Sein  Anteil  haben?  (141e). 

„Also  hat  das  Eins  auf  keine  Weise  am  Sein  Anteil.  Also  ist  es  auf  keine  Weise. 
Es  ist  also  auch  gar  nicht  so,  daß  es  ein  Eins  sein  könnte;  denn  dann  hätte  es  am  Sein 
Anteil.  Also  ist  dies  Eins  weder  eines  noch  ist  es  überhaupt.  Kann  dem  Nichtseienden 
etwas  sein  oder  kann  an  ihm  etwas  sein?  Nein.  Ihm  kommt  kein  Name,  kein  Begriff 
(Logos),  kein  Wissen,  keine  Wahrnehmung  und  keine  Doxa  zu;  es  wird  also  weder  be- 
nannt noch  gemeint  noch  gedacht  noch  erkannt,  noch  etwas  von  ihm  wahrgenommen 
(etwa  sein  Name)."  „Es  scheint  nicht.'4  „Kann  es  sich  also  mit  dem  Eins  so  verhalten  ?" 
„Nein"  (141  e —  142  a).  Wir  haben  also  von  diesem  Eins  gar  nicht  gesprochen  —  wir 
20  haben  es  ja  dauernd  mit  dem  in  Beziehung  gesetzt,  das  sein  Begriff  ausschloß.  Es  ist 
also  ein  Nichts  gewesen;  es  hat  sich  die  erste  Hypothesis,  das  zuerst  Gemeinte,  in  sich 
selbst  aufgelöst;  es  gibt  keine  für  sich  stehende  Idee,  keine  isolierte  Bedeutung.  Was 
wir  in  der  Sphäre  der  Begriffe  selbst  zu  isolieren  versucht  haben,  verschwindet  über- 
haupt für  unser  Denken;  was  keine  Verbindung  mit  Nachbarbegriffen  hat,  hat  auch 
keine  mit  unserer  Seele. 

Mit  der  neuen  These  ev  ei  eanv  (142  b)  ist  eine  völlig  andere  Situation  gegeben.  Die 
Betonung  des  I'gtiv,  des  Ist,  macht  eine  dem  Ergebnis  der  ersten  These  strikt  entgegen- 
gesetzte Voraussetzung:  Das  Eins  ist.  Wir  wissen  aus  dem  ganzen  ersten  Beweisgange, 
daß  damit  zu  dem  unmittelbaren  Bedeutungsgehalt  „Eins"  etwas  Wesentliches  hinzu- 
30  gefügt  ist;  ei  tv  ev  ist  etwas  anderes  als  ei  ev  Igtiv;  das  Sein  ovoia  und  das  Eins  ev 
ist  nicht  dasselbe.  Sagen  wir  also  die  gvaia  vom  ev  aus,  so  ist  dieses  nicht  mehr  eins, 
sondern  es  ist  bereits  ein  Geteiltes;  tv  6V,  das  seiende  Eins,  ist  das  Ganze,  ev  und  elvat 
sind  seine  beiden  Teile,  diese  Teile  ihrerseits  sind  Teile  dieses  Ganzen. 

Aber  diese  beiden  Teile  lassen  das  Ganze  nicht  los;  beide  sind  auch  als  Teile  eins 
und  seiend;  der  kleinste  Teil  besteht  aus  zwei  Teilen,  und  dies  hört  bei  weiterer  Teilung 
nicht  auf;  das  Seiende  hat  immer  das  Eins  und  das  Eins  immer  das  Seiende,  jeder  ent- 
stehende Teil  ist  immer  zwei  geworden,  das  Zwei  werdende  ist  niemals  eins;  das  Eins 
ist  unendlich  an  Menge  (143  a). 

Wir  stehen  hier  an  den  ägyaC  der  platonischen  Ontologie:  das  Eins 
40    und  eine  —  später  näher  zu  bestimmende  —  Zweiheit  sind  die  Prinzipien 
des  Seins !  Wir  bezeichnen  diesen  Punkt,  ohne  den  Gedankengang  zu 
unterbrechen. 

Und  doch  können  wir  in  Gedanken  {ev  rij  diccvoia)  sehr  wohl  das  Eins  vom  Sein, 
überhaupt  von  allem,  woran  es  Teil  hat,  trennen.  Denn  „etwas  anderes  ist  das  Sein, 
etwas  anderes  ist  das  Eins".  Nicht  durchs  Einssein  sind  beide  ein  anderes,  eregov, 
sondern  durch  die  neue  Bedeutung  des  Anderen.  Das  Andere  ist  nicht  dasselbe  wie  das 
Sein  noch  wie  das  Eins  (143  a — b). 

Verbinden  wir  zwei  dieser  Bedeutungen  in  beliebiger  Paarung,  so  ist  dieses  „beide", 
u/Mporepw,  das  die  Zusammenfassung  bezeichnet,  eine  neue  Benennung  (xaketa&cci). 
50  Dieses  Paar,  das  aus  zwei  ev  besteht,  kann  ich  mit  einem  ev  zur  Dreiheit  vereinigen, 
habe  damit  gerade  und  ungerade  Zahlen,  die  in  beliebiger  Erweiterung  der  fundamen- 
talen Begriffe  schließlich  die  ganze  Zahlenreihe  ergeben;  mit  dem  Eins,  sofern  es  als 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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seiend  gemeint  wird,  ist  also  das  Viele  und  damit  die  Menge  der  Zahlen  gegeben 
(143 c-    144  a). 

Wie  das  Sein  nun  ins  Unendliche  verteilt  ist,  so  auch  das  Eins;  wo  überall  Seiendes 
ist.  da  ist  es  eins,  sei  es  das  Größte  oder  Kleinste:  die  Teile  des  ev  sind  gleich  viele  wie 
die  Teile  des  Seienden,  von  dem  das  Eins  so  zerstückelt  wird.  Die  paradoxe  Vereini- 
gung vom  Eins  und  Vielen,  dieses  Fundamentalgesetz,  überträgt  sich  sinngemäß 
auf  alle  die  Bestimmungen,  die  dem  Eins  in  dem  Gedankengang  der  ersten  Thesis 
eben  wegen  des  vorausgesetzten  Ausschlusses  des  Vielen  abgesprochen  werden  mußten. 
So  ist  es  anendlich  und  begrenzt,  es  ist  in  sich  und  in  einem  andern,  ruhend  und  bewegt 
(144  b  —  e).  10 

Die  zeitliche  Bestimmung  des  „Immer"  wird  zur  Bestimmung  dieses  Seinsver- 
haltens verwandt  (146  a).  Später  wird  ganz  ausführlich  die  Beziehung  dieses  Eins  zur 
Zeit  erörtert,  154eff.;  ist  doch  Existieren,  fti'ßt,  nichts  anderes  „als  Teilhaben  am  Sein 
(ovffia)  mit  gegenwärtiger  Zeit".  „War"  heißt  Gemeinschaft  (xoivioricc)  am  Sein  mit  der 
vergangenen  und  „wird  sein"  mit  der  zukünftigen  Zeit  (151  e).  Was  am  Sein  Anteil  hat, 
hat  also  an  der  Zeit  Anteil,  und  zwar  an  der  verlaufenden  Zeit  (noQtvofAivov /qovov) 
(152  a). 

Wie  am  Ende  des  ersten  Beweisganges  der  Ausschluß  jenes  absoluten 
Eins  von  der  Zeit  der  endgültige  Beweis  seiner  Nichtexistenz  war,  so  ist 
hier  das  Verhältnis  zur  sich  fortbewegenden  Zeit  der  abschließende  Be-  20 
weis  für  die  Existenz  des  anderen  Eins.  Diese  Existenz  besteht,  wie  wir 
vorausgreifend  einfügen,  in  der  Möglichkeit,  benannt,  gemeint,  gewußt 
und  wahrgenommen  zu  werden  (155  d)  —  genau  entsprechend  dem  Aus- 
schluß dieser  Möglichkeit  am  Ende  der  ersten  These.  In  dieser  Möglich- 
keit ist  die  Existenz  des  seienden  Eins  beschlossen:  es  ist  dasselbe  in  den 
verschiedenen  Akten  seiner  Erfassung  und  muß  deshalb  an  der  Zeit 
teilhaben.  Es  ist  in  diesen  verschiedenen  Formen  seiner  övva^vc  tov 
yiyvibay.fGÜai  immer  neu  gegenwärtig;  es  ist  nicht  ein  sog.  zeitlos  iden- 
tischer Begriffsinhalt,  wie  frühere  Erkenntnistheorie  es  gern  ausdrückte, 
sondern  es  kommt  selbst  mit  in  die  Zeit  hinein,  es  ist  kein  lebloses  starres  30 
bewegungsloses  Sein  (Soph.  249  a),  sondern  es  ist  auch  in  der  Sphäre 
seines  Seins  in  Bewegung;  es  verknüpft  sich  mit  anderen  Ideen,  entläßt 
diese  aus  sich  —  wir  erkennen  unschwer,  wie  die  frühere  dynamische 
Seinsidee  Piatons  hier  durchaus  nicht  aufgegeben  ist,  sondern  im  Gegen- 
teil nur  klarer  aus  neuen  Aufgaben  neu  verstanden  wird;  oder  da  sie  ja 
im  Erkanntwerden  ihr  Sein  entfaltet  und  damit  dem  ewig  „fließenden 
Sein44  der  Seele  „verwandt44  bleibt,  und  dieses  verwandte  Sein  der  Seele 
in  jenem  gegenständlichen  Sein  beschlossen  ist,  indem  „Denken  und  des 
Gedankens  Ziel44  sich  hier  neu  als  dasselbe  begründet,  so  können  wir 
auch  sagen:  das  Sein  begreift  sich  selbst,  indem  es  in  die  Zeit  und  damit  40 
in  die  Bereiche  von  entOT^jnt],  do'Za,  ai'a&Tjöic,  also  sig  dv^QWTiov  cpvaiv 
eintritt. 

Der  gegenständlich  gerichteten  Theorie  Piatons  stellt  sich  dies  alles 
einfach  an  der  Zeitlichkeit  des  seienden  Eins  dar.  Das  Eins,  kraft  der 
ideellen  Vielheit,  die  aus  ihm  herausquillt,  wird  älter  als  es  selbst,  aber 
zugleich  jünger;  ist  es  doch  „dasselbe44,  das  mitgeht  mit  der  Zeit.  Hierbei 
überspringt  es  nicht  das  Jetzt,  die  Grenze  von  dem,  was  „war44  und  dem 


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PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRTFFS 


135 


„wird  Sein";  daß  das  Jetzt,  jener  Inbegriff  der  erlebten  Zeit,  dem  Eins 
zugänglich  ist,  ist  auf  Grund  der  angedeuteten  Doppelheit  der  platoni- 
schen Seinsidee  selbstverständlich.  Das  Eins  hält  inne  mit  dem  Alter- 
werden, wenn  es  aufs  Jetzt  trifft;  hier  wird  es  nicht,  sondern  ist  bereits 
älter;  vorschreitend  würde  es  vom  Jetzt  nicht  erfaßt  werden.  Es  ist  also 
das  Vorschreitende  so  zu  denken,  daß  es  das  Jetzt  und  das  Nachher 
„berührt"  (i  /  &tzt£tco)  ;  es  läßt  das  eine  los  und  greift  auch  nach  dem 
anderen,  ist  also  dazwischen  (ßercclSv).  Also  ist  das  Eins,  wenn  es  auf  das 
Jetzt  stößt,  sowohl  älter  als  auch  jünger  als  es  selbst.  Da  aber  das  Jetzt 
10  das  Eins  durch  sein  ganzes  Sein  hindurch  begleitet  (152  e),  so  ist  und 
wird  es  auch  immer  zugleich  älter  und  jünger  als  es  selbst.  Da  es  aber  die 
gleich  große  Zeit  ist  und  wird  wie  es  selbst,  so  ist  es  auch  gleichaltrig  mit 
sich  selbst. 

Man  vergleiche  zu  diesem  den  Präsenzbegriff  der  prinzipiellen  Psychologie:  Hönigs- 
wald,  Die  Grundlagen  der  Denkpsychologie,  S.  84.  Auf  die  handgreiflichen  Beziehungen 
zur  fundamentalontologischen  Analyse  von  „Sein  und  Zeit"  braucht  nicht  verwiesen 
zu  werden;  sie  springen  in  die  Augen. 

Diese  Paradoxie,  die  auf  dem  oben  geschilderten  Mitgehen  des  Eins 
mit  dem  verfließenden  Denken,  seiner  Unstarrheit,  beruht,  stellt  sich 
20  nun  Piaton  immer  auch  von  der  Seite  dar,  die  zugleich  den  Zahl- 
charakter  des  Eins  in  sich  begreift;  daher  die  immer  engere  Verknüpfung 
von  Eidos  und  Zahl.  Der  vermittelnde  Begriff  ist  natürlich  hierbei  das 
Eins  in  dem  Sinne,  wie  es  sich  hier  vor  uns  ausbreitet. 

Piaton  schließt  an  die  Erörterung,  die  aus  der  Zeitlichkeit  des  Eins  sein  ,, Alter", 
d.  h.  seine  Beziehung  zum  Zeitverlauf  erschloß,  den  Gedankengang  an,  der  das  ev  zum 
tiqwtov,  das  Eins  also  zur  Ordinalzahl  macht.  Wenn  das,  was  dem  Eins  gegenübersteht, 
«Vf^«,  andere  (Neutr.  Pluralis)  sind,  so  sind  sie  mehr  {nktiui)  als  eins:  das  andere,  'htQor^ 
wäre  eins,  also  steht  dem  Eins  eine  Menge  (nkrj&og)  gegenüber,  die  an  einer  „mehreren 
Zahl",  7ikHovogä()i'hfAov,  Anteil  hat  als  das  Eins.  Da  nun  bei  der  Zahl  das  „Weniger" 

30  vor  dem  Mehreren  entsteht,  so  ist  das  wenigste  (6tiyi<noi>)  das  erste;  also  ist  das  Eins  das 
erste  von  allem,  was  Zahl  hat.  Es  hat  aber  alles  andere  Zahl,  wenn  es  anderes  im  Plural, 
t'ckkcc  ist.  So  ist  also  das  Eins  zugleich  nqihiov  und  7iQ£ößv7£Qoi\  älter  und  ehrwürdiger, 
das  andere,  tcc  cckka  dagegen  jünger,  rewrfQa  (153  a  b). 

Aber  der  Blick  auf  die  Zahlenreihe  enthüllt  neue  Paradoxa.  Das  Eins  hat  Teile, 
und  unter  diesen  infolge  seiner  Zeitlichkeit  Anfang,  Mitte  und  Ende.  Wenn  diese  Teile 
nun  in  der  Zeit  entstehen,  so  ist  das  Eins,  dessen  Teile  doch  diese  waren,  erst  fertig, 
wenn  das  Ende,  das  Letzte  geworden  ist;  daher  ist,  wenn  dieses  Eins  nicht  gegen  die 
natürliche  Ordnung,  nagd  cpvoir,  entsteht,  das  Eins  als  Ganzes  jünger  als  das  andere.  Aber 
der  Anfang,  wenn  er  ein  Teil  ist  des  ganzen  Eins,  und  somit  ein  jeder  Teil  als  einer, 

40  kann  doch  nicht  ohne  das  Eins  sein;  dieses  kann  also  im  Werden  vom  ersten  bis  zum 
letzten  nichts  verlassen;  es  geht  mit  allen  Teilen  mit,  ist  also  gleichaltrig.  Also  ist  das 
Eins  älter,  gleichaltrig,  und  jünger  als  das  Andere,  wie  es  auch  im  Verhältnis  zu  sich 
selbst  älter,  gleichaltrig  und  jünger  ist  (153  b  —  154  a). 

In  einem  neuen  Beweisgange  wird  das  Älter-  und  Jüngerwerden  behandelt;  es 
wird  weder  älter  noch  jünger  als  das  andere,  denn  es  kann  nicht  älter  werden  als  es 
unmittelbar  bei  seinem  Entstehen  war,  und  auch  nicht  jünger;  denn  gleiches  zu  un- 
gleichem hinzugefügt,  zu  Zeit  oder  zu  irgendetwas  anderem,  verändert  die  ur- 
sprüngliche Ungleichheit  nicht.  So  ist  zwar  und  ist  geworden  (yeyorf)  das  Ältere  älter, 
wird  es  aber  nicht  mehr  im  Verlaufe  der  Zeit  (154a — :c). 


136 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Um  die  Gegenthese  zu  beweisen,  daß  auch  eine  Veränderung  ins  Werden  eintritt, 
wird  nun  nicht  mehr  das  Älterwerden  von  der  Differenz  der  Lebensalter,  sondern 
nach  deren  Verhältnis  bestimmt;  danach  ergibt  sich,  daß  im  Verlaufe  der  Zeit  das 
Jüngere  im  Verhältnis  zum  Älteren  immer  älter  wird  und  umgekehrt,  die  Entwicklung 
also  nach  dem  Gegensätzlichen  stattfindet;  wer  doppelt  so  alt  ist  wie  ein  anderer,  ist 
im  nächsten  Jahre  schon  im  Verhältnis  jünger  geworden;  der  „Logos",  das  Verhältnis, 
ist  kleiner  geworden  (154c  —  155  b). 

Hier  wird  es  wieder  besonders  deutlich,  daß  Piaton  an  Sachverhalte  denkt,  die  auch 
mathematisch  relevant  sind;  der  oben  gesperrte  Zusatz  zeigt,  daß  er  allgemeinere 
Gesetzmäßigkeiten,  die  nicht  nur  für  das  Verhältnis  zunehmender  Zeitgrößen  gelten,  im  io 
Auge  hat.  Für  jeden  Logos,  jedes  Verhältnis  zweier  beliebiger  Größen  gilt  der  Satz,  daß 
er  sich  ändert,  wenn  zu  beiden  Größen  gleiche  Größen  hinzugefügt  oder  weggenommen 
werden,  während  die  Differenz  immer  dieselbe  bleibt.  Solche  gemeinsamen  Gesetz- 
mäßigkeiten (xoud)  haben  die  Akademie  sehr  beschäftigt  (s.  Speusippos  1.  c.)  und  eine 
allgemeine  Proportionsichre  ist  eine  der  wichtigsten  Brücken  zwischen  Zahl  und  Idee 
(siehe  die  Literatur  oben  S.  128).  Eine  Stelle  wie  diese  hier  ist  für  die  Gesamtauffassung 
des  „Parmenides"  und  seiner  logisch-mathematischen  Schichten  zu  beachten;  z.  B. 
hat  die  „Ableitung"  der  Ordinalzahl  ebenfalls  nur  paradeigmatische  Bedeutung  für 
einen  allgemeineren  Ordnungsgedanken,  der  dahinter  steht. 

Die  Schlußfolgerung  ist  bereits  oben  vorwegnehmend  besprochen  20 
worden;  sie  ist  grundsätzlich  höchst  wichtig  und  wird  uns  beim  Sophisten, 
der  sie  auseinandergelegt  darstellt,  noch  beschäftigen.  Während  bei  der 
ersten  Hypothesis  sich  der  Gegenstand  unserer  Erörterung  für  ein  end- 
liches Denken  auflöste,  ist  das  hier  behandelte  Eins  dadurch  als  existent 
bewiesen,  daß  wir  mit  ihm  „operieren",  daß  wir  es  in  unserem  gedank- 
lichen Umgang  haben:  TiodTTOjaev  neql  ccütov.  So  lautet  die  Folgerung 
also  zusammenfassend  (155  d): 

Es  war  also  das  Eins,  und  es  ist  und 
es  wird  sein,  und  es  wurde  und  es  wird 
und  es  wird  werden.  Und  es  besteht  etwas 
für  es  und  von  ihm,  und  zwar  in  Vergangen- 
heit und  Gegenwart  und  Zukunft.  Es  gibt 
also  auch  von  ihm  ein  Wissen  und  eine  Vor- 
stellung und  eine  Wahrnehmung,  sofern 
wir  auch  jetzt  in  allen  diesen  Weisen  mit 
ihm  umgehen.  Es  hat  also  auch  einen 
Namen  und  eine  Bedeutung,  und  es  wird 
benannt  und  gemeint.  Und  alles,  was  von 
derartigem  an  anderen  Dingen  ist,  ist  auch 
an  dem  Eins. 

Der  nächste  Beweisgang  führt  die  „ganz  merkwürdige  Wesenheit" 
des  „Plötzlich"  ein  (fj  iZcci<p'  tjq  avT/q  cpv  ig  äroTtoc  .  .  .  156  d  6). 

Sie  ist  der  Übergang  von  einer  der  gegensätzlichen  Bestimmungen 
des  Eins  zur  anderen,  die  gleichzeitig  miteinander  unverträglich  sind, 
also  das  eigentliche  Prinzip  des  Werdens  in  allen  seinen  Formen  (156a  5). 
Dieser  Begriff  erst  macht  die  Erörterungen  des  zweiten  Teiles  zur  Dia- 
lektik. Er  ist  vorbereitet  in  der  dynamischen  Seinsidee  als  Eros,  der  auch 
den  Übergang  von  einem  Gegensatz  zum  anderen  erklärt;  hier  erscheint 
das  entsprechende  Prinzip  als  ein  Grenzbegriff  der  Zeit,  streng  zu  scheiden 


^Hv  ctQct.  t6  sv  '/.cd  am  y.v.1  iarai  xal 
iyiyvero  xal  yiyvtrai  xal  yerijaerai.  ...  «jq 
Kai  etij  av  n  ixti'vio  xal  ixetvov,  xal  ijv 
xal  tortv  xal  torat,  ....  Kai  emor^/ur] 
Sit]  av  avrov  xal  efo£a  xal  aiG^rjaic, 
(l'7i€Q  xal  vvv  tj/ueTg  nsQi  avrov  ndvra 
ravra  nQdrrofXtv  .  .  .  Kai  ovo/ua  dtj  xal 
koyog  iortv  avrio,  xal  6vofxaC,STai,  xal  ke- 
ysrai  '  xal  ocaneQ  xal  tisqI  rd  dkka  reov 
TotovTUiv  Tvy^dvst  bvra,  xal  mgl  to  h' 

hGTIV. 


D 


PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


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vom  Jetzt,  vom  vvv,  das  die  Tendenz  zur  Ausbreitung  hat.  Logisch 
gefordert  aus  der  Gegensätzlichkeit  des  seienden  Eins  zeigt  das  „Plötz- 
lich" die  innerste  Verknüpfung  der  ideell-logischen  Region  der  Eide 
mit  der  Zeit  —  die  alte  und  wieder  neue  Frage,  ob  nicht  Widerspruch 
und  Identität  nur  mit  Hilfe  der  Zeit  begrifflich  erfaßt  werden  können,  ist 
eine  Teilfrage,  die  für  Piaton  in  einem  umfassenden  Seinsbegriff  auf- 
gehoben ist,  von  dem  aus  ihre  Bejahung  selbstverständlich  ist. 

Mit  dem  nächsten  Beweisgange  wendet  sich  Piaton  zu  dem,  was  dem  Prinzip  des 
Eins  als  „die  anderen",  tcc  ä/./.a,  gegenübersteht.  Fragte  er  vorher,  was  mit  dem  Eins 

10  geschieht,  wenn  es  nicht  losgelöst,  sondern  in  Gemeinschaft  mit  ihnen  betrachtet  wird, 
so  fragt  er  nun  umgekehrt,  was  mit  den  „Anderen"  in  dieser  Gemeinschaft  vorgeht, 
welche  Einwirkungen  sie  erfahren  (157  b  6):  h>  si  *gti,  Takka  tov  ivog  tl  /otj  ntnov&ivai. 
Die  Antwort  läßt  sich  so  zusammenfassen:  die  anderen  können  nicht  selbst  eins  sein, 
müssen  aber  am  Eins  teilhaben,  indem  sowohl  die  Teile,  aus  denen  diese  anderen  be- 
stehen, „jeglicher"  als  ein  Teil  am  Eins  Anteil  haben,  als  auch  das  Ganze,  als  dessen 
Teile  sie  erst  dies,  eben  Teile,  sind,  als  eine  „Idee"  zusammengefaßt  ist.  Schon  wieder- 
holt war  vorher  das  Eins  ah  Zusammenfassung  einer  Menge  gebraucht  worden;  hier 
steht  es  einmal  wörtlich  da  (157 d  7):  Ovx  doa  tojv  nokkwv  ovds  Tiamon'  to  uöoiov 
fxöotov,  dkkd  juiäg  Jivoq  tdeag  xai  ii'og  Tivog  o  y.akovusv  okov,  e|  dndvroiv  ev  rtkeiov  yf- 

20  yovög,  tovtov  uboiov  uv  to  /uoqiov  e?q.  Piaton  betont  aufs  Stärkste,  daß  das  dem  Eins 
Gegenüberstehende,  sofern  es  nicht  am  Eins  Anteil  hat,  nkij&og,  Menge  ist,  „auch  wenn 
man  gedanklich  den  winzigsten  Teil  davon  abtrennt"  (158c  2):  ei  i&iko/uev  diavoia 
t6)v  ioiovhüv  dqekeTv  o'jg  oioC  ri  icatv  ort  okiytorov   Auch  damit  wird  an  wich- 

tige mathematische  Probleme  gerührt  (Exhaustion).  Vgl.  dazu  164  c  8  ty.aoioq,  u>g 
toixtv,  6  oy/.og  avTojv  dntioog  iari  7ik*j&€t,  xav  to  ouiy-ootutov  doxo'vv  elvat  kdßy  ng,  ojgtwo 
"pcto  iv  vnt'oj  (fatvtTcii  i^aiqü ijs  dvri  irog  6ö%avrog  (ivcct  nokkd  xai  dvri  Gui/.ooidrov  na/n- 
ptyt&tg  noog  rd  xeofxaTiCoutva  £'£  avrov.  „Wenn  wir  also  diese  andere  Wesenheit 
für  sich  betrachten,  so  ist  was  wir  von  ihrer  Art  jeweilig  sehen,  unbegrenzt  der 
Menge  nach",  158  c  5:  Ovxovv  ovrujg  dti  GxonoviTfg  amrtv  xa&'  avrtjy  rr/v  fr&oav  cpvGii> 

30  tov  tfdovg  ogov  dv  avTyg  aei  ooüu&v  azitioov  (gtcu  nkq&st.  Hier  ist  deutlich  zu  lesen, 
welches  Prinzip  Piaton  dem  Eins  gegenüberstellt  —  eine  mögliche  Menge,  eine  un- 
bestimmte Zweiheit.  Bestimmt  wird  sie  —  was  die  Überlieferung  über  diese 
Prinzipien  immer  wiederholt  —  durch  die  Teilhabe  an  dem  Eins;  so  steht  es  auch 
hier:  sofern  jeglicher  einzelne  Teil  der  Menge  Teil  ist,  haben  die  Teile  bereits  eine  Be- 
grenzung {neoug)  gegeneinander  und  gegen  das  Ganze,  und  das  Ganze  gegen  die 
Teile.  Den  „Dingen",  die  anders  sind  als  das  Eins  (das  Fehlen  des  Neutrum  Plur.  im 
Deutschen  erschwert  den  Ausdruck),  begegnet  es,  auf  Grund  des  Zusammentreffens 
von  dem  Eins  und  ihnen  selbst,  daß  ein  anderes  in  ihnen  eintritt,  was  Begrenzung  be- 
wirkt; ihre  eigene  Natur  an  ihnen  selbst  bewirkt  Unbegrenztheit  (oder  ist  Unbegrenzt- 

40  heit,  nach  dei  anderen  Überlieferung)  (158  d  2):  To7g  äkkoig  dt]  tov  irog  Gvußaii'si,  ix 
/Atv  tov  ivog  xai  i'%  iaiTtbv  xoiviüVTjGdvTon',  ojg  foixev,  ertoov  ti  yiyvea&ai  iv  iavToTg,  o 
efij  nioag  naotG/t  noog  dkkrjka  ■  rj  (FiavTidv  q>votg  xa&'  iavrd  dntiqiav  (dmioia  . 

Platon  unterstreicht  hier,  daß  ein  zweites,  wesensmäßig  anderes 
Prinzip  dem  Eins  entgegenstehen  muß,  damit  das  Eins  selbst  wirklich 
werden  kann.  Zugleich  sind  diese  Ausführungen  wichtig  für  die  Grund- 
absicht des  „Philebos44,  der  Peras,  Apeiron  und  das  aus  beiden  gemischte 
Sein  entwickelt.  Peras  und  Eins  ist  scharf  gesehen  nicht  dasselbe,  Peras 
ist  die  Verfassung,  in  die  das  Eins  ,,die  anderen  Dinge44  bringt,  die  an 
sich  Apeira  sind;  Platon  schließt  deshalb  noch  einmal  ausdrücklich: 
50    so  ist  das  als  Anderes  dem  Eins  Entgegenstehende  als  Ganzes  und 


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nach    seinen    Teilen    einerseits  unbegrenzt,    andererseits    hat   es  am 
Penis  teil. 

Hieraus  ergibt  sich,  daß  die  Anderen,  je  nachdem,  ob  sie  an  sich  oder  unter  der 
Einwirkung  des  Eins  betrachtet  werden,  alle  die  entgegengesetzten  Eigenschaften 
haben  können,  wie  ähnlich  und  unähnlich  usw.  —  „das  werden  wir  unschwer  finden*', 
schließt  Piaton  nach  wenigen  Beispielen  159a. 

Schon  liier  kürzt  Piaton  die  Beweisgänge  ab,  und  dies  geschieht  im  folgenden  noch 
>tärkt  r.  Nachdem  die  Notwendigkeit  der  zwei  Archai  des  Seins,  des  Eins  und  der  dkka 
und  ihre  xoivuivict  entwickelt  ist,  kann  alles  Folgende  nur  indirekte  Bestätigung  des  Er- 
reichten sein,  die  im  Grunde  immer  auf  die  erste  These  hinausläuft.  Die  indirekte  Beweis-  *^ 
führnng  verläuft  in  folgenden  Formen:  1.  es  wird  zwar  das  Eins  und  rd  akka  angenom- 
men, sie  werden  aber/«>«'V,  abgesondert,  gesetzt;  die  eben  ausführlich  geschilderte  gegen- 
seitige Einwirkung  soll  wegfallen.  Die  Folge  ist,  daß  das  Eins  auf  diese  Weise  zwar  „alles*' 
ist  (daß  es  also  nichts  neben  ihm  gibt),  daß  es  aber  in  dieser  Isolierung  sich  selbst  aufhebt; 
160  b  2:  Ovxüi  dVj  IV  et  icnv,  nana  ri  ean  ro  sv  y.al  ovde  ev  eori  xal  noog  eavro  xal  tiqos  rd 
akka  wo«  hing.  —  2.  Deshalb  ist  weiter  zu  fragen:  Was  ergibt  sich,  wenn  das  Eins,  das 
wir  nun  in  seinen  Wirkungen  erkannt  haben,  nicht  ist  ?  Zuerst  wird  der  Sinn  dieser 
Frage  untersucht  und  festgetellt,  was  von  dem  Eins,  dessen  Nichtsein  angenommen 
wird,  sonst  noch  —  negativ  —  ausgesagt  werden  kann,  d.  h.  welchen  Sinn  eine  solche 
negative  Hypothese  überhaupt  hat.  Es  ergibt  sich  im  ersten  Beweisgange  das  Resultat  20 
(163  b  4):  xal  ovrw  rd  £V  f.irj  bv  yiyverat  re  xal  dnokkvrai  xal  ovre  yiyverai  ovr  dnokkvrai. 

„Und  auf  diese  Weise  entsteht  das  nichtseiende  Eins  und  vergeht  und  entsteht 
weder  noch  vergeht." 

Im  zweiten  Beweis  ergibt  sich  die  völlige  Negation,  genau  so  wie  bei  der  absoluten 
Setzung  in  der  ersten  Hypothesis.  Die  Parallelität  des  Ergebnisses  (164  ab  ff.)  erhärtet 
die  Negativität  der  abgetrennten  Setzung:  ei  ev  eon  und  er  ei  y,rj  ean  ist  inhaltlich 
dasselbe.  —  3.  Dies  ergab  sich  für  das  Eins  selbst  aus  seiner  Negation.  Was  ergibt  sich 
aus  ihr  für  das  andere,  rd  akka?  (164  b  5  ff.).  Es  wird  ein  verschwommenes  Bild  von  ihm 
möglich  sein,  mehr  nicht;  ein  Schein  von  Vielheit,  von  Zahl,  von  Gleichheit  der  Teile 
usw.  wird  sich  ergeben,  aber  nichts  Bestimmtes,  kein  Peras;  ein  döoicrov,  eine  unbe- 
stimmte Zweiheit.  dürfen  wir  ergänzen.  Keine  bestimmte  Aussage  wird  möglich  sein, 
es  wird  sowohl  dies  als  auch  das  Gegenteil  möglich  scheinen.  In  einem  bestimmteren 
Sinne  kann,  dies  zeigt  der  letzte  Beweisgang,  weder  das  Eins  noch  das  Andere  ausgesagt 
werden.  Das  dauernd  festgehaltene  Schema  des  Sowohl-als-Auch  und  des  Weder-Noch 
wird  zum  letzten  Male  auch  auf  diese  Frage  angewandt;  wenn  das  Eine  nicht  ist,  ist 
weder  das  andere  noch  wird  es  als  eins  oder  als  vieles  angesehen  (166  b  7): 

„So  können  wir  zusammenfassend  sagen:  Ovxovv  xal  avkkrjßdrjr  ei  efnot/uev,  ev 

wenn  das  Eins  nicht  ist,  ist  nichts;  je  ei  p7  eonr,  ovdev  eoriv,  öo&wg  dv  efooi- 

nachdem  das  Eins  ist  oder  nicht  ist,  ist  fiev;  ....    EtQ^ad^to  roivvv  tovtö  re  xal 

es  selbst  und  das  andere  im  Verhältnis  ort,  tog  eoixev,  er  eh3  earir  ehe  p?  eonr, 

zu  sich  und  zueinander  alles,  auf  alle  Weise  aho  je  xal  rdkka  xal  7iQog  avrd  xal  7iQÖg 

und  ist  es  nicht  und  erscheint  und  er-  dkkt]ka  nana  ndvjwg  eoTi  re  xal  ovx 

scheint  nicht."  eart  xal  (paiveiat  re  xal  ov  cpatrerat. 

Ehe  wir  die  Erörterungen  des  Sophistes,  Politikos  und  Philebos  zur 
Klärung  und  näheren  Bestimmung  des  „Parmenides"  heranziehen, 
müssen  wir  erst  das  sachlich-metaphysische  Problem  einmal  zu  präzi- 
sieren beginnen.  Der  Chorismos  der  beiden  Reiche  (der  Ideen  an  sich  und 
der  Erscheinungen)  bezeichnet  das  eine  ontologische  Problem,  den  Gegen- 
satz der  Dinge  an  sich"  und  der  Erscheinungen;  auch  bei  Piaton  ist 
dieses  Problem  mit  dem  erkenntnistheoretischen  der  Transzendenz  ver-  50 


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knüpft  und  läßt  sich  daher  so  aussprechen:  a)  Die  Erkenntnis  der  Welt 
ist  nur  möglich,  wenn  sich  unser  Denken  auf  etwas  Objektives,  der  Er- 
kenntnis Entgegenstehendes,  Bleibendes  richtet,  b)  Ist  dieses  andere 
aber  „getrennt44  von  der  Sphäre  der  Erscheinungen,  aus  der  heraus  wir 
als  endliche  Wesen  Erkenntnis  treiben,  so  ist  die  Erkenntnis  wieder  un- 
möglich aus  einem  dem  ersten  entgegengesetzten  Grunde.  Hieß  es  bei  a: 
wie  kommt  ein  Gegenstand  aus  unserem  Erkenntnisvorgang  heraus 
zustande?  so  heißt  es  jetzt:  wie  kommt  er  in  ihn  hinein? 

Die  metaphysischen  Positionen  unterscheiden  sich  nach  größerer  oder  geringerer 
Ö  Nähe  zu  zwei  möglichen  Grenzfällen;  der  eine  Grenzfall  läßt  die  Gegenständlichkeit 
sich  einfach  „abbilden"  im  Erkenntnisvorgang  (naiver  Realismus),  der  andere  betraut 
den  Erkenntnisvorgang  mit  der  „Erzeugung"  der  Gegenständlichkeit  (subjektiver 
Idealismus).  Alle  mittleren  Stellungen  bemühen  sich  um  den  Begriff  der  Methexis,  der 
Ähnlichkeit  zwischen  den  beiden  Reichen. 

Das  zweite  ontologische  Problem  läßt  sich  anknüpfen  an  seinen 
bekanntesten  Sonderfall,  den  sog.  ontologischen  Gottesbeweis.  Es  läßt 
sich  allgemein  so  formulieren:  ergibt  sich  aus  dem  Zusammenhang  von 
Ideen  (Bedeutungen,  Phänomenen,  Erscheinungsweisen)  das  ,,Sein"  im 
Sinne  des  Daseins,  der  Existenz?  Oder  umgekehrt:  ist  Dasein,  tiefer 

0  gefaßt,  erlebter  Zusammenhang  von  Ideen,  Bedeutungen,  Phänomenen 
(im  eigentlichen  Sinne  des  (paCverai  im  letzten  Satz  des  Parmenides)  ? 
Die  Betrachtung  des  Parmenides  hat  gezeigt,  daß  beide  ontologischen 
Probleme  in  der  Erörterung  gegenwärtig  sind;  Piaton  exponiert  in  der 
Einleitung  die  Frage  des  ersten  Problems,  des  Chorismos;  in  der  Aus- 
führung behandelt  er  die  zweite  Frage,  indem  er  das  Sein  des  Eins 
aus  der  Verknüpfung  (xoivmv(o)  begreift,  in  der  es  mit  einer  Reihe  anderer 
Ideen,  Bedeutungen,  Phänomene  steht.  Es  ist  ein  Beweis  für  die  innere 
Verknüpfung  der  beiden  Probleme,  wenn  Piaton  die  Frage  des  ersten  mit 
der  Antwort  auf  die  des  zweiten  zu  lösen  unternimmt.  Das  wirft  auf  den 

o  Seinsbegriff,  den  er  zugrunde  legt,  ein  erstes  Licht.  Es  bleibt  bei  näherem 
Zusehen  kein  Zweifel,  daß  Piaton  das  Sein  des  Eins  bestimmte  nach  der 
Seinsweise  des  erkennenden,  sinnlich-endlichen  Menschen. 

Der  Sophistes  erläutert  dieses  Sein  noch  näher  und  läßt  gerade 
über  die  Absicht  Piatons,  die  Methexis  im  Sinne  des  ersten  Problems 
durch  die  xmvMvCa  im  Sinne  des  zweiten  zu  bewirken,  keinen  Zweifel 
mehr.  Er  gehört  mit  Theaitetos  und  Politikos  sachlich  zusammen.  Der 
Theaitetos,  dieses  Grundbuch  der  platonischen  Erkenntnistheorie, 
stellt  den  1.  Satz  vor  Augen,  mit  dem  vorhin  die  ontologische  Frage 
bezeichnet  wurde.   Sein  Thema  ist  „Gegenständlichkeit44.  Mit  auffälliger 

o  Umsicht  und  Vorsicht  wird  der  Anspruch  des  Sensualismus,  objektiv- 
gegenständliches Wissen,  imar^fif^  unmittelbar  und  einzig  und  allein 
auf  Aisthesis  zu  gründen,  zurückgewiesen.  Der  Anspruch,  auch  das  Gute 
nur  auf  die  subjektive  Kraft  der  bedeutenden  Persönlichkeit  und  ihre  Uber- 
zeugungskraft zurückzuführen,  wird  nach  eingehender  Erörterung  natür- 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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lieh  abgetan  (Theait  166  a  —  168  c).  Im  Mittelteil  wird  ein  Fall  der  Nach- 
folge, der  Nachahmung  zugelassen,  die  ößoCwaic,  &e&:  Gott,  dem  Urbild 
aller  Personhaftigkeit,  dem  Paradeigma  des  guten  Lebens  nachzufolgen, 
wird  hier  als  das  TTQäyfia  des  Sokrates  dargestellt  —  aber  schon  recht 
theoretisch  wird  an  Thaies  und  seine  weitabgewandte  Mathematik  er- 
innert. Der  letzte  Teil  behandelt  die  Frage  der  Doxa;  wir  sahen  bereits, 
daß  sich  in  ihr  die  eine  Dimension  der  Me(/iex£sfrage  zusammenfaßt,  wie 
in en sehliches  Meinen  sich  mit  Gegenständlichkeit  erfüllen,  also  wahre 
Meinung  werden  könne.  Was  wir  oben  als  naiven  Realismus  charakteri- 
sierten, kommt  grundsätzlich  hier  zur  Erörterung.  Doxa  als  einfaches  io 
Abbilden,  als  „Einfangen"  objektiver  Wahrheit,  wird  als  unmöglich 
erwiesen. 

Der  Sophistes  beantwortet  die  im  Theaitetos  aporetisch  behandelte 
Frage  der  wahren  Wahrnehmung  und  der  wahren  Doxa,  die  echte  und  un- 
echte Nachahmung,  der  Politikos  die  Beziehung  von  rein  erkennendem 
und  handelndem  Wissen,  von  echtem  und  unechtem  Vorbild,  Para- 
deigma. Der  Sophistes  kündet  das  einheitliche  Thema  an:  Sophistes, 
Politikos,  Philosophos.  Piaton  braucht  den  dritten  Dialog  Philosophos 
nicht  zu  schreiben  —  denn  das  einheitliche  Sein,  das  Thema  des  Philo- 
sophen, wird  überall,  positiv  und  negativ,  behandelt.  Die  Seinsidee  20 
des  Guten  sehen  wir  hier  aufgeteilt  und  wieder  zusammengefaßt;  wie 
wenig  sich  der  Gehalt  geändert  hat,  wie  viel  sicherer  und  bewußter  aber 
die  Erfassung  und  Darstellung  geworden  ist,  zeigt  eine  Stelle  des  So- 
phistes, die  sowohl  das  Motiv  der  /(wyove,  des  Umgangs  mit  den  Dingen 
wie  die  echte  philosophische  Haltung  überhaupt  scharf  zum  Ausdruck 
bringt  und  uns  mit  einem  Schlage  in  den  neuen  Seinsbegriff  des  Sophisten- 
dialogs einführt. 

Der  Übergang  von  der  Haltung  unechten  Scheines,  angenommener  Überredung, 
zur  echten  Wahrheit,  vom  Reich  des  Sophisten  zum  Reiche  des  Philosophen  wird 
geschildert;  man  beachte  die  unübersetzbare  Wendung  icpdmeo&ai  234  d.  30 

Tovg  nokkovg  ovv  .  .  .  rwv  tots  dxovbvjwv  ccg*  ovx  dvdyxrj,  %qovov  ts  snsk&övTog  avwTg 
ixecrov  y.cci  n^oiovorjg  fjkixictg,  ro7g  ts  ovai  nQoanimovrag  syyvftsv  xal  did  na&q pariar 
üvctyxaC,ofjLtvovg  iraQywg  stpdnTso&ai  twv  ovxwv,  jusTaßdkksir  rag  tots  yevofxivag  do'i,ag, 
(sjoif  gjxixqcc  fxkv  yaivs a&ai  t<x  fxsydka,  /eckend  ds  id  Qydia.  xal  ndi'Ta  ndvTfj  dpccTSTgdcp&ai 
id  ir  ro7g  koyoig  (pccpTdo/uaTa  vno  tmv  sv  roTg  TiQa^soiv  Igyiov  naQaysvofxiviov. 

„Müssen  nicht  die  meisten  von  denen,  die  damals  (die  sophistische 
Überredung)  hörten,  wenn  ihnen  genügend  Zeit  verstrichen  und  ihr  Alter 
fortgeschritten  ist,  so  daß  sie  den  seienden  Dingen  nun  näher  auf  den 
Leib  rücken  und  durch  Einwirkungen  gezwungen  werden,  das  Seiende 
deutlich  zu  greifen  und  zu  fühlen  [nach  Campbell],  die  Ansichten,  die  40 
damals  entstanden  sind,  umstürzen,  bis  ihnen  das  <damalige>  Große  klein 
und  das  Leichte  schwierig  erscheint  und  alle  im  Gerede  erzeugten  Schein- 
bilder gänzlich  umgewendet  werden  unter  dem  Druck  des  im  Handeln 
jeweils  sich  ergebenden  Werkes?44 


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Was  tut  derjenige,  der  Nachbilder  dieses  echten  Seienden,  dieser 
Werke  denkt,  der  im  Schein  und  Phantasma  lebt  ?  Er  denkt  „Nicht- 
Seiendes", so  sagt  man.    Kann  man  das  denken  ? 

Piaton  arbeitet  hier  klar  den  Punkt  heraus,  an  dem  der  Eleatismus 
dem  sophistischen  Subjektivismus  die  stärkste  Waffe  geliefert  hatte. 
Wenn  die  Gleichheit  von  voe lv  und  vorjöv,  von  Meinen  und  dem  Gegen- 
stande dieses  Meinens  so  verstanden  wird,  daß  nicht  mehr  wie  im  echten 
Eleatismus  diese  These  für  das  eine  und  ganze  Sein  und  das  diesem  Sein 
zugeordnete  Denken  gilt,  sondern  für  das  Stück  des  geteilten  Seins,  das 

to  der  Doxa  eines  Einzelbewußtseins,  die  in  ein  zufälliges  Verhältnis  dazu 
gerät,  zugeordnet  ist  —  wenn  auch  hier  es  kein  Nicht- Seiendes  geben  soll, 
sondern  auch  die  zufällige  Zuordnung  von  Meinen  und  Gegenständlich- 
keit als  Einssein  von  Sein  und  Denken  bezeichnet  wird,  dann  gibt  es 
allerdings  kein  Nichtseiendes,  keinen  Irrtum,  keine  falsche  Meinung,  kein 
falsches  Bild  oder  Abbild  (efdcaXop  oder  eix&v),  keine  falsche  Nach- 
ahmung (  ifu^uara)  und  keine  „falschen  Erscheinungen44  (cpavTaGfiai  a 
Sophistes  241  e)  —  aber  es  gibt  auch  keine  wahren  mehr.  So  hängt  alles 
an  dem  „Sein  des  Nichtseienden44 ;  es  muß  einen  Sinn  haben,  von  ihm  zu 
reden,  wie  es  auch  im  „Parmenides44  implicite  dauernd  geschieht.  Der 

20  geschichtliche  Parmenides  hatte  an  das  Sein  des  Nichtseins  zu  glauben 
verboten  —  diesem  Gebote  des  Vaters  Parmenides  muß  sich  der  eleatische 
Gastfreund  nun  widersetzen  —  das  Sein  des  Nichtseins  und  damit  der 
neue  Sinn  auch  des  Seins  ist  zu  begründen,  das  „Märchen44  vom  Sein, 
das  uns  wie  Kindern  die  väterlichen  Philosophen  erzählt  haben,  ist  durch 
einen  Seins  begriff  zu  ersetzen. 

Die  hier  gegebene  Darstellung  hat  die  Frage,  inwiefern  Piaton  sich  dem  echten 
Eleatismus  entgegenstellt,  bereits  beantwortet  durch  die  Unterscheidung  von  ganzem 
Sein  und  teilhaftem  Sein.  Von  der  oben  S.  54  gegebenen  Darstellung  aus  ist  Piatons 
Lehre  die  konsequente  echte  Weiterführung  einer  im  Ansatz  des  Doxateiles  beim  ge- 
30  schichtlichen  Parmenides  mitgemeinten  Erfüllung  des  Eins  und  eine  Überwindung 
der  falschen  oben  angedeuteten  sophistischen  Anwendung  des  unveränderten  eleatischen 
Grundgedankens.  Der  geschichtliche  vergleichende  Rückblick  auf  die  Ausbreitung  des 
eleatischen  Gedankens  ist  oben  S.  46  ff.  bereits  besprochen. 

Soweit  die  Erörterung  zu  dem  im  „Parmenides"  Entwickelten  nichts  Neues  hinzu- 
bringt, darf  sie  übergangen  werden  (243  b  ff.).  Daß  Eins  und  Sein  schon  zwei  Bedeutungen 
sind,  wie  sich  deshalb  Eins,  Ganzes  und  Anderes  aufeinander  beziehen,  wird  hier  nicht 
so  streng  schulgemäß  wie  im  Parmenides  entwickelt,  sondern  zum  Ausgangspunkt  ge- 
nommen, um  die  „Gigantomachie44  zu  schildern,  die  von  den  „weniger  genau  als  die 
Älteren44  denkenden  Philosophen  ausgefochten  wird  über  die  Frage,  was  denn  nun  das 
40  überall  gebrauchte  Wort  „Sein44  eigentlich  bedeute.  Ironisch  werden  die  Giganten 
des  Materialismus  geschildert,  die  das  Sein  dem  Körper  gleichsetzen  und  sein  Wesen 
durch  körperlichen  Widerstand  (noooßobj)  und  Berührung  (inacpij)  bestimmen  (246 e). 
Ihnen  stehen  entgegen  die  Ideenfreunde,  die  sich  vorsichtig  aus  der  Höhe  irgendwo 
vom  Unsichtbaren  her  wehren,  gewisse  intelligible  unkörperliche  Ideen  annehmen  und 
diese  für  das  wahre  Sein  erklären;  die  „Körper44  jener  anderen  und  ihr  angebliches  Sein 
zerstoßen  sie  in  ihren  Reden  in  kleine  Teile  und  nennen  es  statt  Sein  flüchtiges  Werden 
(246  b). 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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Die  Widerlegung  der  Materialisten  geschieht,  wie  schon  in  den  frühesten  Dialogen, 
von  dem  Phänomen  des  Lebens,  des  beseelten  Körpers,  der  gerechten  —  verständigen  — 
und  ungerechten  —  unverständigen  —  Seele  aus,  also  von  dem  Grundphänomen  der 
dynamischen,  dem  sittlichen  Handeln  primär  zugewandten  Seinsidee  des  Guten  aus. 
Wenn  nur  das  geringste  „Unkörperliche"  dieser  Art  zugegeben  ist,  so  ist  diese  Partei 
erledigt.  Der  Eleate  kommt  ihrer  realistischen  Seinsauffassung  (nooaßokq  und  enayr] !) 
scheinbar  entgegen  mit  folgender  Definition:  eigentlich  seiend  soll  heißen,  was  irgendeine 
Fähigkeit  (I) yuamis)  besitzt,  auch  nur  die  geringste  Wirkung  auszuüben  oder  vom 
Geringsten  das  Kleinste  zu  erleiden  (247 d):  16  xal  bnoiavovv  xexrrjyevov  dvvay.iv, 
ii$  10  noteTv  ih'ieoov  bnovv  neyvxog,  eh'  eig  id  na&e7v  xal  oyixQorarov  vno  rov  (pavkoidwv.  10 

Kurz:  Seiendes  (pvra)  ist  nichts  anderes  als  Dynamis,  Wirkungskraft  (247 e  3). 
Damit  ist  der  Zusammenhang  mit  der  dynamischen  Seinsidee  hergestellt,  wenn  auch 
Piaton  diese  Definition  nur  als  eine  vorläufige,  noch  näher  zu  bestimmende  bezeichnet. 
Von  ihr  aus  gelangt  er  leicht  zu  einer  Widerlegung  der  „Ideenfreunde",  wie  sie  jetzt 
genannt  werden.  Diese  gehen  von  der  scharfen  Trennung  von  Sein  und  Werden  aus 
und  behaupten:  mit  der  Seele  haben  wir  durch  den  schließenden  Verstand  (koytajup) 
am  wahren  Sein,  der  bvitog  ovaicc,  die  sich  immer  identisch  verhält,  durch  die  Wahr- 
nehmung am  Werden  teil,  das  dauernd  wechselt  (248  a  10).  Was  heißt  aber  das  „Teil- 
haben", das  sie  beiden  Reichen  gegenüber  annehmen?  Piaton  benützt  hier  die  Dynamis- 
definition:  Teilhaben  heißt  ein  Erleiden  oder  Tun,  das  auf  Grund  einer  Dynamis  von  20 
zueinanderkommenden  „Dingen"  (im  Griechischen  unbestimmtes  Neutrum  Plur.)  er- 
folgt, Tuxxt-rjjucc  rj  noitiy.ee  ex  dvvdyewg  Tivog  dno  rwv  7100g  dkkrjka  avviöviiov  yiyvöyevov 
(248  b  5).  Das  geben  aber  die  Ideenfreunde  —  wie  der  Eleate  aus  langer  Bekanntschaft 
mit  ihnen  weiß  —  nur  für  die  Körperwelt  zu;  diese  Beschreibung  des  „Teilhabens"  passe 
zum  Werden,  nicht  zum  Sein.  Wie  wollen  sie  aber  das  Teilnehmen  der  Seele  am  Sein  — 
das  sie  einfach  postulieren  —  auffassen?  Sie  bleiben  nun  bei  dem  in  der  Einleitung 
des  Parmenides  geschilderten  Chorismos  stehen,  behaupten,  die  Seele  erkenne  und  das 
Sein  werde  erkannt,  wissen  jedoch  nicht  anzugeben,  wie  das  vor  sich  geht.  Sie  werden 
deshalb  vor  die  Frage  gestellt:  Ist  Eurer  Meinung  nach  das  Erkennen  oder  das  Erkannt- 
werden ein  Tun  oder  Leiden  oder  beides?  Oder  das  eine  ein  Leiden,  das  andere  ein  30 
Tun  ?  Oder  hat  keins  von  beiden  an  keinem  von  diesen  irgendeinen  Anteil  ?  —  Diese 
Frage  müssen  sie  konsequenterweise  verneinen. 

Aber  welchen  SeinsbegrifF  setzt  das  voraus?  Piaton  läßt  dem  ihren  nun  den 
seinigen  entgegenstellen,  der  die  volle  Konsequenz  aus  der  dynamischen  Seinsdefinition 
ist  und  der  den  positiven  Gedankengängen  des  „Parmenides"  zugrunde  gelegen  hatte: 
Wenn  das  Erkennen  ein  Tun  (Machen)  ist,  so  muß  das  Erkannte  während  es  erkannt 
wird  (Part.  Praes.)  leiden.  Nach  dieser  Annahme  wird  das  Sein,  indem  es  erkannt  wird, 
von  der  Erkenntnis,  soweit  es  erkannt  wird,  bewegt  werden  durch  das  Erleiden,  was 
unserer  Meinung  nach  am  Ruhenden  nicht  geschehen  kann.  —  „Und  wie,  beim  Zeus! 
Können  wir  uns  leicht  überreden  lassen,  daß  in  Wahrheit  Bewegung  40 
und  Leben  und  Seele  und  Besinnung  dem  vollen  Seienden  nicht  bei- 
wohne, und  daß  es  nicht  lebe  und  sich  besinne,  sondern  feierlich  und 
heilig,  ohne  Geist,  unbeweglich  stehend  sei?"  (248e):  Tt  de  7106g  Jwg;  tag 
dktj&wg  xi'vTjoiv  xal  C,wrjv  xal  xpv/tjv  xal  (ppovqoiv  tj  yttdiwg  neio&tjGoye&a  to)  navrekiög 
ovri  ytj  nocpei'vai.,  ytjde  Cw  civjo  yrjde  rpooveTv,  dkkd  oeyvov  xal  ayiov,  vovv  ovx  e/ov 
dxi'vtjjov  eoiog  elvai;  Piaton  läßt  die  zunächst  einfach  vereinigten  Bestimmungen  des 
Seins  sich  noch  einmal  logisch  aus  derjenigen  entwickeln,  die  man  am  ehesten  (Par- 
menides) dem  Sein  zuerkennen  konnte,  dem  Nus;  eins  nach  dem  anderen  wird  als 
notwendig  erwiesen. 

„Aber  wollen  wir  ihm  Geist  zuschreiben,  Leben  nicht?  Muß  dieses  nicht  in  einer  50 
Seele  wohnen?  Soll  es  beseelt  und  doch  unbeweglich  sein?  Dies  ist  doch  sichtlich  un- 
logisch (uhoyu).  Bewegtes  und  Bewegung  ist  seiend;  wo  das  Seiende  unbewegt  ist,  da 
hat  niemand  Bewußtsein  irgendwo  von  irgendwas"  (249  a).  Aber  nicht  alles  darf  Schwung 
und  Bewegung  annehmen;  es  gehört  Stehen,  Ruhe  zu  dem  in  sich  identischen  Gegen" 


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PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


143 


stand,  und  ohne  diesen  kann  kein  iVus,  kein  Bewußtsein  sein  oder  entstehen.  So  muß 
der  Philosoph  „wie  die  Kinder  bitten",  daß  beides  bestehe,  Unbewegtes  und  Bewegtes 
(249  d). 

Nun  wird  —  ein  bei  Piaton  häufiges  kunstreiches  Schema  —  an  den  Begriffen  Be- 
wegung und  Ruhe  die  Bewegung  und  Ruhe  der  Begriffe  überhaupt  demonstriert;  wir 
kennen  die  Methode  dieses  Beweises  von  der  analogen  Behandlung  des  Eins  im  Par- 
menides:  beides,  Ruhe  und  Bewegung,  wird  mit  dem  übergeordneten  dritten  Begriff 
des  Seins  verknüpft;  wenn  beide  sind,  so  kann  umgekehrt  das  Sein  weder  mit  der 
Bewegung  noch  mit  der  Ruhe  gleichgesetzt  werden;  „nach  seinem  eigenen  Wesen  (qpt/ff/?) 
10  steht  also  weder  das  Sein  noch  bewegt  es  sich"  (250  c  6).  Damit  ist  die  „Bitte  der  Kin- 
der", die  von  beiden  um  den  Sinn  des  Seins  streitenden  Parteien  etwas  haben  wollten, 
aus  dem  Wesen  der  Verknüpfung  der  Begriffe,  aus  der  y.oivwviu  gerechtfertigt.  Aber 
damit  ist  die  Schwierigkeit,  „wohin  wir  unser  Denken  richten  sollen,  wenn  wir  etwas 
Klares  über  das  Sein  festlegen  wollen",  noch  größer  geworden  (250  c);  das  Seiende  ist 
so  dunkel  geworden  wie  das  Nichtseiende  —  es  bleibt  uns  nur  die  Hoffnung,  uns  der 
Beziehung  zwischen  beiden  zu  versichern  {iov  koyov,  des  Verhältnisses,  mit  O. 
Toeplitz,  Quellen  u.  Studien  z.  Gesch.  d.  Math.  I  S.  17.  Dazu  R.  E.  s.  v.  Speusippos 
S.  1645):  wenn  uns  von  einem  etwas  mehr  oder  weniger  klar  wird,  so  wird  auch  ent- 
sprechend das  andere  klar. 

20  In  der  Tat  ist  die  Beziehung  von  Seiendem  und  Nichtseiendem  die 
Lösung  der  Schwierigkeit.  Das  Prädikatsproblem  von  Nicht-Identischem 
und  doch  durch  eine  xoivwvCa  Zusammengehörigem  —  tautologische 
Urteile  bedeuten  keine  Erkenntniserweiterung  —  ist  der  Ansatz  für  den 
neuen  Begriff  der  Dialektik:  da  manche  „ideellen  Bedeutungseinheiten44, 
wie  Bewegung  und  Ruhe,  nicht  miteinander  verknüpft  werden  können, 
wohl  aber  beide  mit  dem  Begriff  des  Seins,  so  ist  klar,  daß  weder  die 
Ideen  bzw.  Begriffe  „abgesondert44,  unverknüpfbar  (%cdqic)  nebeneinander- 
stehen, noch  alle  miteinander  verknüpft  werden  können,  sondern  daß 
diese  Entscheidung,  ob  Begriffe  Gemeinschaft  haben  oder  nicht,  im  ein- 

30  zelnen  Falle  zu  treffen  ist.  Diese  Mischungsfähigkeit  festzustellen  ist  das 
Geschäft  des  Dialektikers,  dessen  Definition  253  d  genau  gegeben  wird 
(vgl.  Studien  z.  plat.  Dial.  62 — 71).  Er  hat  festzustellen,  ob  ein  Etwas 
dies  ist  —  also  Verknüpf  barkeit  besteht  —  oder  dies  nicht  ist.  Dieses 
Nichtsein  hat  den  positiven  Sinn  des  Andersseins,  und  jedes  Seiende  ist 
tausendfach  nicht,  hat  also  auf  tausendfältige  Weise  am  Nichtseienden 
(Anderen,  tregov)  teil  (259  b).  Piaton  hat  bereits  von  Anfang  an  in  diesem 
Dialoge  das  Verfahren  eingeübt,  das  die  Verknüpfung  des  Seienden  und 
Nichtseienden  sinnfällig  demonstriert,  die  Diairesis  und  die  Anwendung 
der  xoivwvia  in  der  av^nXoxr],  der  Zusammenflechtung  der  Begriffe  zur 

40  Definition.  Als  er  den  Angelfischer  bestimmen  wollte  zur  Einübung  für 
das  Definieren  des  Sophisten,  teilte  er  die  Kunstfertigkeit  in  schaffende 
und  erwerbende,  diese  in  tauschende  und  unterjochende  usw.  (221c). 
Alles  bisher  Festgestellte  ist  an  dem  Schema  einer  solchen  Einteilung 
sofort  abzulesen;  das  spezifische,  qualitativ  bestimmte  Sein  der  Kunst- 
fertigkeit vereinigt  sich  mit  allen  Besonderungen;  aber  die  schaffende 
und  erwerbende  Kunst  sind  in  Bezug  auf  einander  Nicht- Seiendes, 
Anderes,  und  schließlich  wird  das  Definiendum,  die  Angelfischerei,  durch 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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eine  zusammengefaßte  Reihe  von  Bedeutungsstücken,  den  xoivä  —  er- 
werbende, unterjochende  Kunst  usw.  —  als  Bedeutungseinheit  kon- 
stituiert (cf.  auch  264 e). 

Ich  kann  mich  hier  kurz  fassen.  Die  Wichtigkeit  der  Diairesis  für  die  platonisch- 
akademische  und  die  aristotelische  Ontologie  und  Logik  ist,  seitdem  ich  sie  zuerst  in 
den  „Studien",  dann  kurz  in  „Plat.  u.  Demokr.",  Neue  Jahrb.  1920,  89,  und  dann  in 
„Zahl  u.  Gestalt",  ferner  R.  E.  s.  v.  „Logik"  entwickelt  habe,  allenthalben  anerkannt; 
vgl.  dieses  Handbuch,  Fr.  Kuntze,  Erkenntnistheorie  I  B  20,  und  Leisegang,  Denk- 
formen S.  201,  sowie  Fr.  Solmsen,  Die  Entwickl.  d.  Aristotelischen  Logik  u.  Rhet. 
Herlin  1929.  Die  Darstellung  Piatons  ist  hier  unter  dem  Gesichtspunkte  geschrieben,  10 
daß  möglichst  wenig  wiederholt,  vielmehr  das  früher  von  mir  nicht  Behandelte  (Par- 
menides)  in  den  Vordergrund  gerückt  ist.  Das  macht  natürlich  die  Ergänzung  durch  die 
anderen  Werke  erforderlich. 

Platon  spricht  hier  von  Prädikation;  er  entwickelt  eine  Theorie  des 
sprachlichen  Satzes  (261  dff.),  aus  der  Verknüpfung  von  Namensbezeich- 
nungen (dvöfiaTct)  (vgl.  Studien  S.  88 ff.).  Das  darf  aber  nicht  darüber 
täuschen,  daß  er  immer  die  ontologische  Grundlage  im  Sinne  hat,  auf  die 
hin  Aussagen  geschehen.  Die  Wesensverhältnisse,  ihre  seienden  Be- 
ziehungen hat  er  im  Auge,  wo  er  von  Aussagen  und  Gemeintem  redet. 
Die  Diairesis,  auch  wo  sie  gelegentlich  mit  spielerischer  Ubergenauigkeit  20 
aufzutreten  scheint,  schafft  nicht  etwa  Klasseneinheiten,  sondern  sie  sucht 
die  natürlichen  „Fugen"  des  Seins  auf  (so  der  „Politikos"  über  dieses 
Verfahren,  p.  259  d),  also  die  vorgegebene  Gliederung  des  Seins.  So  steht 
hinter  den  Diairesen  —  die  Beispiele  des  Sophistes  und  Politikos  um- 
spannen grundsätzlich  sämtliche  Natur-  und  Kultursphären  —  die  große 
Idee  eines  Reiches  wesenhafter  Begriffe,  ein  porjrdg  xöcTjuoc,  eine  Seins- 
gliederung und  Ordnung;  sie  ist  nicht  starr,  sie  ist  lebendig  —  jetzt  müssen 
wir  an  die  Schilderung  248  e  oben  S.  142,  39  zurückdenken. 

Das  Reich  der  Ideen  umspannt  beileibe  nicht  etwa  nur  das  Natur- 
reich in  unserem  Sinne,  sondern  auch  die  Mannigfaltigkeit  der  Technai,  30 
wie  wir  sahen,  kurz  alles,  was  sinnvoll  je  „gemeint"  und  in  sinnvollem 
Tun  verwirklicht  werden  kann  im  ganzen  Umkreis  des  Seins.  Es  wird 
„bewegt",  so  hieß  es  248 e,  insofern  es  erkannt  wird.  Das  heißt  nichts 
anderes,  als  daß  die  Verknüpfungsmöglichkeiten  unerschöpflich  sind; 
Nichtseiendes  und  Seiendes  wird  durch  die  „durchlaufenden"  (259  a) 
Ideen  des  Selbigen  und  Anderen  immer  neu  verknüpft  und  getrennt. 
Diese  Verknüpfungsfreiheit  findet  am  Sein  einen  ganz  bestimmten  Wider- 
stand, eine  Festigkeit,  „Unbeweglichkeit" ;  sonst  hätte  die  Bewegung  der 
Eide  ja  gar  keinen  Sinn  und  wäre  ein  trübes  Fließen,  ein  Grau  an  Be- 
deutungen, keine  Mannigfaltigkeit,  geschweige  denn  eine  Ordnung.  Ein  40 
Denken,  das  dieses  „sich  immer  Verhaltende"  nicht  respektiert,  das 
Nichtseiendes  für  Seiendes  und  umgekehrt  hält,  ist  im  Irrtum.  Grade 
weil  das  Nichtseiende  einen  klaren  Sinn  bekommen  hat,  einen  Ort  in 
der  Ordnung  des  Seins,  ist  nun  Irrtum  und  Trug  genau  zu  bestimmen; 
es  ist  eine  Grenzverschiebung,  eine  Teilung,  wo  keine  „Fuge"  ist  oder  das 


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PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


145 


Übersehen  einer  solchen;  es  ist  nicht  Zusammengehörendes  in  den  Akten 
der  Zusammenflechtung  zusammengefaßt  worden. 

So  steht  also  die  Bewegung  (Beweglichkeit)  der  Eide  und  die  Be- 
wegung der  Erkenntnis  in  dem  dynamischen  Wechselverhältnis  von  Tun 
und  Leiden.  Höchst  bezeichnend  ist  der  Zusatz  Piatons  dort,  wo  er  diese 
Möglichkeiten  beschreibt  (248  d):  „ist  das  Erkennen  oder  das  Erkannt- 
werden Tun  oder  Leiden  oder  beides?"  Es  liegt  auf  Grund  des  Ent- 
wickelten nahe,  den  Widerstand,  den  die  Denkbewegung  erfährt,  als 
Erleiden  zu  deuten  —  wie  also  das  Sein  sich  den  jeweiligen  Verknüp- 
fungen der  Erkenntnis  fügt  und  so  bewegt  wird,  so  erfährt  auch  das 
Denken  eine  Einwirkung  vom  Sein,  freilich  nicht  im  Sinne  der  Bewegung, 
sondern  im  Erleben  jener  „Gegenständlichkeit",  die  als  Widerstand 
ebenso  notwendig  zum  Erkennen  gehört  wie  seine  Freiheit. 

Durch  die  dynamische  Verknüpfung  der  Bewegung  im  Sein  und  des 
diese  Bewegung  bewirkenden  Erkenntnisvorgangs  ist  die  xoiroovt'ct  beider 
Reiche,  also  Erkenntnis  möglich.  Piaton  drückt  dies  so  aus,  daß  das 
Denken  (ötdpota)  die  Meinung,  Doxa  als  einzelner  Abschluß  (Ergebnis) 
des  Denkens  (264b)  und  die  ausgesprochene  Meinung,  der  Logos  als 
$€p(i-a  diä  tov  GTÖficcToc  der  sinnlich  wahrnehmbaren  Sprache,  sich  mit 
Seiendem  und  Nichtseiendem  verflechten,  also  wahr  und  falsch  sein 
können.  Damit  ist  die  Kraft  des  Seienden  schon  tief  mit  dem  Reich  des 
Werdens,  dem  konkreten  Dasein  der  erkennenden  Menschen  verbunden. 
Da  die  Bewegung  der  Ideen  sich  aus  dieser  Verflechtung  allein  herleitet 
—  das  Sein  wird  ja  in  der  Erkenntnis  bewegt  — ,  diese  Beweglichkeit  aber 
als  wesensmäßiger  Zug  des  Seins  sich  herausstellte,  so  ist  das  Sein  in 
Korrelation  zum  erkennenden  Bewußtsein  aufgewiesen.  Piaton  drückt 
auch  das  wieder  gegenständlich  so  aus,  daß  dem  Sein  selbst  die  Attribute 
des  psychisch-geistigen  Daseins  zugesprochen  werden.  Im  Sinne  unseres 
ersten  ontologischen  Problems  könnte  man  seine  Stellung  als  ein  Gleich- 
gewicht, eine  metaphysische  Äquivalenz  bezeichnen,  bei  der  von 
einem  seinsmäßigen  Vorrang  des  erkennenden  Bewußtseins  vor  dem 
schlechthinnigen  Sein  oder  umgekehrt  nicht  gesprochen  werden  kann, 
vielmehr  beides  zu  einem  „Dasein"  vereinigt  ist. 

Dies  ist  noch  deutlicher,  wenn  unter  dem  Gesichtspunkt  des  zweiten 
oben  S.  139  gestellten  ontologischen  Problems  das  Vorhergehende  ergänzt 
wird  durch  die  Beziehung  des  Seienden  und  Nichtseienden  zur  Wahr- 
nehmung. Denn  nicht  nur  zu  diävoia,  dö'Za  und  Logos,  sondern  auch  zur 
cua'Jr/aig  tritt  das  Sein  in  Gemeinschaft  (xoiv(ovCa):  mit  dem,  was  im 
„(pah'trai,  es  erzeigt  sich",  gemeint  ist  (264  b). 

Wir  erinnern  uns  an  den  Schluß  des  Parmenides,  wo  die  Wirklichkeit  des  Eins  mit 
(an  und  (paCvetcu  bezeichnet  war  (vgl.  Stud.  S.  71  ff.,  wo  auch  S.  77  die  ausführ- 
lichere Darstellung  der  wahren  und  falschen  Aisthesis  im  Philebos  38 ff.  erläutert  ist). 

Wieder  kann  Piatons  Absicht  am  leichtesten  an  der  diabetischen  Be- 
griffsbestimmung erläutert  werden.  Die  Techne,  die  erzeugende  und  die 

llandb.  d.  Phil.  I.   ü  10 


146 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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erwerbende  usw.  lassen  sich  denken;  anschaulich  und  konkret  vorstellen 
dagegen  Läßt  sich  nur  die  unterste  bestimmte  Kunst;  wenn  keine  Teilung 
mehr  möglich  ist,  weil  wir  bereits  zum  „Atomon  Eidos"  gelangt  sind, 
dann  plötzlich  tritt  die  Aisthesis  an  die  Idee,  an  die  Bedeutungseinheit 
des  letzten  Gliedes  der  Diairesis  heran!  Indem  „Eins"  dieses  Atomon 
Eidos  ist  eine  spezifische  Wesensmöglichkeit  erreicht,  die 
man  als  Wahrnehmbarkeit  bezeichnet:  tpafrvtai.  Versuche  ich 
die  Aisthesis  auch  an  höhere  Glieder  der  Diairesis  heranzubringen,  so 
kann  ich  nur  die  Vielheit  der  unter  die  höhere  Art  fallenden  äro/ua  €l'drj 
mir  vorstellen;  entweder  alle  oder  eines  als  Beispiel,  an  dem  ich  das  in  lö 
der  höheren  Gattung  beschlossene  Bedeutungsmoment  —  Nagetier  — 
an  dem  bestimmten  Nagetier,  z.  B.  der  Maus,  mir  zur  Gegebenheit  bringe. 
Echte  anschauliche  Erfüllung  erfährt  nur  das  Atomon  Eidos,  entweder  in 
der  reproduzierenden  Phantasievorstellung  oder  „wenn  es  in  der  Wahr- 
nehmung gegenwärtig  ist"  264  c.  Piaton  nennt  auch  die  letztere  mit  dem 
aktiven  Worte  (pccvTccai'cc;  denn  auch  das  Gegebene  muß  in  seinem  Wesen 
verstanden  werden.  Also  muß  auch  in  der  gegebenen  Wahrnehmung 
das  aus  den  xoiva  zusammengesetzte  Atomon  Eidos  gegenwärtig  sein. 

Dadurch  wird  zunächst  der  Unterschied  zwischen  der  Wahrnehmbar- 
keit und  der  Wahrgenommenheit  verwischt,  der  für  die  konkrete  Situation  20 
des  einzelnen  Individuums  entscheidend  wichtig  ist,  das  in  einem  Fall 
irgendein  „Ding"  vor  sich,  real,  hic  et  nunc  sich  gegenüber  weiß,  im 
andern  Fall  dieses  selbe  Ding  nur  in  seiner  möglichen  Konkretheit 
denkt.  Die  platonische  Ontologie  gibt,  wie  wir  sahen,  dem  „Jetzt"  eine 
andere  Funktion;  die  Individualisierung  und  Psychologisierung  der  Er- 
kenntnissituation spielt  für  sie  nicht  die  Rolle,  wie  für  spätere  Zeiten, 
die  umgekehrt  sich  durch  die  Überbetonung  dieses  Unterschiedes  den 
Blick  auf  die  in  jeder  Wahrnehmung  liegende  Antizipation  verstellt 
haben.  Um  so  nötiger  ist  es,  die  antike  Ontologie  grade  an  dieser  Stelle 
getreu  und  geduldig  zu  befragen,  welchen  Sinn  sie  dem  Hier  und  Jetzt  gab.  30 

Das  zweite  ontologische  Problem  fragte,  ob  diese  „Existenz",  von  der 
hier  die  Rede  ist,  aus  der  Fügung  von  ideellen  Bedeutungen  sich  ableiten 
läßt  —  oder  sich  schließlich  einfach  als  eine  solche  Bedeutungsverbin- 
dung, eine  avfJLTtXom)  ausweist.  Nun  zeigt  die  Diairesis  in  ihrem  Gange 
bis  zum  Atomon  Eidos  eine  solche  Ableitung.  Von  unbestreitbaren  Wesen- 
heiten aus  gelangt  sie  durch  Aufsuchen  von  deren  „Fugen"  bis  an  einen 
Punkt,  an  dem  dieses  Suchen  auf  einen  Widerstand,  auf  ein  nicht  mehr 
teilbares  ädiaCqtTov  stößt,  in  dem  sich  alle  durchlaufenen  Stufen,  als 
Bedeutungsstücke  zusammengeschlossen,  plötzlich  noch  um  die  „Wahr- 
nehmbarkeit" vermehren;  mag  es  nun  der  Angelfischer  selbst  oder  seine  40 
Kunst  als  ein  sichtbares  Tigayfia,  ein  Lebewesen  oder  ein  Kunstgegenstand 
sein:  yaCveiuil  Hier  liegt  also  der  im  zweiten  ontologischen  Problem 
geschilderte  Sachverhalt  vor:  es  gleitet  hier  leibhaftige  Existenz  aus 
einer  methodischen  Bewegung  von  Ideen  heraus,  Existenz  stellt  sich  dar 


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PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


147 


als  ein  bestimmter  Sinn,  ein  bedeutungsmäßig  faßbares  So- Sein.  In 
Goethes  Worten  bezeichnet:  das  Feste  (der  naiv  genommenen  Realität) 
zerrinnt  erst  zu  Geist,  um  dann  als  Geist  erzeugtes  sp  b'Äor,  als  avv<  h>v, 
als  Sinnhaftigkeit  und  Sinnlichkeit  fest  verwahrt  zu  werden  (Schillers 
Reliquien  Schluß). 

Aber  während  es  vom  modernen  realistisch  eingestellten  Bewußtsein 
verlangt  werden  muß,  daß  es  erst  einmal  als  dialektische  Stufe  die  Wirk- 
lichkeit „in  die  Klammer44  setze,  um  diese  Leibhaftigkeit  in  ihrem  ideellen 
Sinngehalt  überhaupt  nur  zu  sehen,  scheint  hier  der  Fall  vorzuliegen, 
10  daß  ein  in  dieser  phänomenologischen  „Reduktion44  denkendes  Bewußt- 
sein theoretisch  gar  nicht  den  Zugang  findet  zu  der  Konkretion  des 
Daseins. 

Dieser  Schein  verschwindet  aber  sofort,  wenn  das  Bedeutungsganze, 
aus  dessen  Gliederung  jenes  wahrnehmbare  Atomon  Eidos  sich  herleitet, 
auf  seine  ersten  und  obersten  Prinzipien  hin  betrachtet  wird.  Wir  haben 
bisher  nur  die  relativ  willkürlichen  Ausgangspunkte  betrachtet,  von 
denen  die  Diairesen  des  Sophistes  und  Politikos  ausgehen.  Aber  hinter 
allen  Einzeldiairesen  steht  immer  ein  oberstes  Seiendes,  ein  oV,  das  k'v 
im  strengsten  Sinne  des  Umfassens,  des  itsoifyov  ist,  die  Einheit  des 
in  ganzen  vo^rög  xoo^ioc.  Kosmos  muß  wesensmäßig  Einheit  sein.  So  er- 
langen wir  den  Anschluß  an  die  „eleatische44  Problemstellung  des  „Par- 
menides44  nach  der  einen,  an  den  Timaios  und  die  eigentliche  Prin- 
zipienlehre des  letzten  Piaton  nach  der  anderen  Richtung.  Dieses  eine 
Sein  ist  für  Piaton  alles  andere  als  der  leerste  Begriff,  es  ist,  wie  wir 
sahen,  im  Gegenteil  dasjenige  Sein,  in  dem  sich  alle  entfaltete  Fülle 
auf  die  Einheit  eines  denkenden  Bewußtseins  zurückwendet,  das  sich 
im  Dasein  weiß  und  dieses  Dasein  in  der  lebendigen  Entfaltung  der 
Weltmannigfaltigkeit  in  ihrer  Ordnung  begreift.  Darum  steht  dieser 
„Anfang44   des  dialektischen  Prozesses  in  einer  besonderen  Wesens- 

o  gemeinschaft  mit  dem  Telos  seines  untersten  wahrnehmbaren  Gliedes, 
des  Atomon  Eidos;  beide  sind  eins,  das  Eins,  das  alle  Wirklichkeit  in 
sich  trägt  und  das  ev  äro/nov  tidoc,  das  umgekehrt  in  seiner  konkreten 
Bestimmtheit  ebenfalls  die  Verflechtung  sämtliches  Seienden,  der  Ifpva, 
und  Nichtseienden,  ^  opia  repräsentiert  ;  gerade  dann,  wenn  es  wirklich 
alles  ist,  wenn  keine  Fuge  des  Seins  mehr  in  ihm  ist,  dann  stellt  es  sich 
dar,  yaCveTai;  natürlich  nicht  in  jedem  Zeitpunkt  und  an  jedem  Orte; 
aber  wir  wissen,  daß  seine  Wahrnehmbarkeit  jederzeit  wirklich  werden 
kann,  wenn  wir  unsere  zufällige  Stelle  im  Raum  verändern  oder  einen 
anderen  Zeitpunkt  abwarten.  Wir  wissen,  daß  es  in  die  Ordnung  der 

0  ganzen  wahrnehmbaren  Dinge,  in  den  cciG&qTÖg  xotyiog  gehört,  in  die  er- 
schaffene Welt,  die  wir  nie  anders  denn  als  Teil  haben. 

Das  lebendige,  im  Erkennen  bewegte  Sein  wird  im  Sophistes  nicht 
unmittelbar  mit  Gott  gleichgesetzt  —  so  wenig  wie  die  Idee  des  Guten 
im  Staat.  In  der  Tat  stellt  auch  der  Timaios  dem  göttlichen  Schöpfer 

D  10* 


14% 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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der  Welt  das  Sein  des  voijibc  xotyioc  gegenüber  als  das  Urbild,  das  er  in 
die  Zeit  hineinbildet  und  damit  schaffend  „erscheinen"  (cpatvea&ttt)  läßt. 
Bei  den  mannigfachen  Unklarheiten,  die  in  der  Überlieferung  hier  be- 
stehen, muß  festgestellt  werden,  daß  Piaton  nicht  daran  gedacht  hat, 
Sein,  Eins  und  Gott  einfach  aneinander  anzugleichen,  sondern  für  ihn 
ist  das  Eigentliche  des  göttlichen  Wesens  in  der  Verwirklichung  des 
Seins  gegeben;  Gott  stellt  das  Sein,  das  in  der  unbewegten  Zeit  ihm  allein 
zugänglich  ist  (Timaios  37e),  für  uns  Menschen  aber  „nur  wenig"  er- 
kennbar ist  (Tim.  51  e),  in  die  bewegte  Zeit  hinein.  Die  „Zeit"  Gottes 
ist  ohne  Bewegung,  ohne  Teile,  ohne  Vergangenheit,  Gegenwart  und  10 
Zukunft,  also  Gegenwart  schlechthin,  Aion.  Ohne  es  zu  bemerken, 
übertragen  wir  die  für  uns  notwendigen  Anschauungsformen  von 
Raum  und  Zeit  auf  das  göttliche  Sein  (Tim.  37e  und  52  b),  weil  wir  eben 
nicht  anders  können;  wir  sahen  ja  am  „Parmenides" :  wenn  wir  uns  ein 
Eins  ohne  Teile,  kurz  ohne  die  unserer  Endlichkeit  entsprechenden 
Denkmittel  denken  wollen,  so  löst  es  sich  ins  Nichts  auf,  nicht  etwa  in 
das  in  der  Entfaltung  des  Seins  sehr  wohl  denkbare  Nichtsein  des 
Sophistes,  sondern  ins  schlechthin  Undenkbare  und  Unvorstellbare 
(Tim.  52  b  5).  So  schafft  also  der  Schöpfer  zugleich  mit  der  Teilung  des 
Seins  auch  dessen  Erkennbarkeit  für  uns;  damit  entsteht  dasjenige  20 
Sein,  das  Vielheit  und  Bewegung  in  sich  trägt,  dasjenige  Sein,  das  im 
Sophistes  geschildert  ist,  das  wir  an  der  geschaffenen  Welt  —  yaCvfTai  — 
und  nur  an  ihr  erkennen  können:  die  bereits  gegliederte  Ordnung  der 
Welt.  Wie  Gott  dieses  von  uns  nur  im  Hinblick  auf  die  Entfaltung  denk- 
bare Eins  sieht,  wie  ihm  der  „nichtwirkliche"  vorjTog  xoa^oc  erscheint, 
das  können  wir  in  unserer  Endlichkeit  nicht  denken,  weil  wir  nicht  über 
eine  „gesetzgebende  Vernunft  (intellectus  archetypus)"  verfügen  „von 
der  alle  systematische  Einheit  der  Natur  als  dem  Gegenstande  unserer 
Vernunft  abzuleiten  sei"  (Kant,  Kr.  d.  r.  Vern.,  2.  Aufl.  723).  Aber 
indem  wir  die  Einheit  und  den  Zusammenhang  des  gegliederten  Seins 
denken,  indem  wir  —  wie  im  „Parmenides"  —  das  Eins  seiend  (tari,  30 
sccct  (paiv€Tcci)  zu  denken  versuchen  und  sehen,  wie  eine  Bestimmung  nach 
der  anderen  aus  ihm  hervorgeht  und  Wirklichkeit  bis  zur  Wahrnehmung 
hin  schafft,  so  erleben  wir  in  diesem  voelv  den  Schöpfungsakt  nach,  das 
Zeitlichwerden  des  Einen,  Ungeteilten  und  Ewigen. 

Wir  kommen  demnach  dem  göttlichen  Sein  am  nächsten,  wenn  wir 
uns  so  hoch  wie  nur  möglich  in  der  Stufenleiter  der  Diairesis  an  das  Eins 
heranbewegen.  Das  Eins  aber  für  sich  zu  denken,  geht  nicht  an;  also 
müssen  wir  die  dauernde  Möglichkeit  der  Vielheit  mitdenken;  die  mög- 
liche noch  unbestimmte  Zweiheit,  dasjenige,  was  aus  dem  Wesen  unseres 
Denkens  vom  Seienden  entspringend  sich  sofort  neben  das  Eins  stellt,  40 
sobald  wir  überhaupt  wirklich  denken.  So  sind  dies  die  beiden  äu%a(,  die 
beiden  Voraussetzungen  unseres  Denkens,  hinter  die  wir  nicht  mehr 
zurückgehen  können,  die  wir  zwar  hypothetisch  wegdenken  können  — 


D 


PLATON.    DIALEKTIK  DES  SEINSBEGRIFFS 


149 


das  tat  der  „Parmenides44 ;  aber  er  zeigte  gleichzeitig,  daß  dies  nur  um 
den  Preis  der  gesamten  Wirklichkeit  geschehen  kann. 

Diese  beiden  Grundprinzipien  der  Einheit  und  der  unbestimmten 
Zweiheit,  die  das  Maximum  von  für  uns  vollziehbarer  Vereinfachung 
und  Vereinheitlichung  der  denkbaren  Wirklichkeit  bedeuten,  bewähren 
sich  nicht  nur  in  solchen  Überlegungen  als  Ursprünge,  ägyai,  sondern 
sichern  als  Ordnungsprinzipien  den  Gang  unseres  fortschreitenden  Den- 
kens weiter  auf  seiner  Methodos  durch  die  gesamte  Wirklichkeit.  Das 
anfängliche  Eins  begleitet  mit  der  Zweiheit  zusammen  den  Lichtungs- 
und Auflösungsprozeß  der  Diairesis  dauernd  bis  zum  Telos;  schon  der 
Staat  kennt  diese  grundsätzliche  Funktion  von  Einheit  und  Zweiheit: 
bei  allem,  was  sich  der  Seele  „meldet44,  (exaara  t&v  inayytXhwfVMV 
524  b)  ruft  sie  Denken  und  Vernunft  zur  Untersuchung  auf,  ob  das  ihr 
Begegnende  schon  wirklich  eins  ist  oder  ob  noch  eine  „verschüttete44 
Zweiheit  vorliegt,  die  das  Denken  nun  in  zwei  klare  Eins  trennt  und  damit 
eine  bestimmte  Zweiheit  schafft.  Als  die  Diairesis  die  Ontologie  zu  be- 
herrschen beginnt,  wird  die  rechte  Auflösung  von  Zweiheiten  und  Viel- 
heiten noch  viel  deutlicher  zur  dialektischen  Aufgabe.  Jetzt  ist  nicht 
mehr  der  Name  das  diaxgiTiy.dv  ogyavov  rfjg  otHJtac,  wie  es  im  Kratylos 
388  b  heißt,  sondern  auch  dort,  wo  die  Sprache  nicht  mehr  hinleitet, 
kann  in  der  nach  natürlichen  Fugen  sich  erschließenden  Wirklichkeit 
das  fV,  die  Einheit  der  Bedeutung,  durch  die  Stelle  im  Seienden  be- 
zeichnet werden,  durch  die  Abgrenzung  gegen  das  Nichtseiende.  Die 
grundsätzliche  Zählbarkeit  der  Schritte  bei  der  Begriffsspaltung  und 
damit  der  Bestimmungsstücke  des  einzelnen  Seienden  (Philebos  17  c 
vgl.  „Zahl  und  Gestalt"  13  ff.)1)  zeigt  den  Zusammenhang  zwischen 
der  logischen  Funktion  von  Eins  und  Zweiheit  mit  ihrer  mathematischen. 
Denn  daß  diese  beiden  allgemeinen  Prinzipien  auch  die  Zahl  herzuleiten 
gestatten,  das  wurde  an  der  oben  S.  133,47  u.  135,24  ff.  behandelten 
Stelle  des  „Parmenides"  deutlich  (Z.  Theorie  des  Logos,  S.  64). 

Man  hat  sich  oft  gewundert,  wie  die  Seinsidee  des  Guten,  deren  Fülle 
im  Staat  überzuquellen  schien  über  die  Möglichkeit  begrifflicher  Ver- 
deutlichung, nun  zu  einem  Seinsbegriff  werden  kann,  der  aus  zwei  so 
„dürren44  Prinzipien  besteht,  wie  es  das  Eins  und  die  unbestimmte  Zwei- 
heit sind.  Schon  die  Zuhörer  der  Vorlesung  Piatons,  die  den  Titel  trug 
„Vom  Guten44  und  dann  nur  von  diesen  Prinzipien  handelte,  haben  sich 
über  diesen  Kontrast  gewundert. 

Aber  gerade  die  Sicherheit  in  der  Fülle,  das  Bewußtsein  eines  auf 
das  Ganze  der  Wirklichkeit  und  des  Lebens  gerichteten  Verstehens, 
jenes  {(p&Tvrea&ai  iv  oic  xcci  ngd^sciist  die  Grundlage  solcher  Prinzipien, 
die  lediglich  dem  lebendig  entfalteten  Sein  gegenüber  Sinn  haben.  Die  ein 
Muster  formaler  „Wenn-So"-Diskussion  darstellenden  Gedankengänge 

l)  Zu  diesem  ganzen  stark  zusammenfassenden  Teil  ist  „Zahl  und  Gestalt"  auch 
sonst  zu  vergleichen. 


150 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


des  „Parmenides"  setzen  gewiß  nicht  einfach  voraus,  was  Bewegung, 
Sein.  Ähnlichkeit  ist,  aher  ihre  Beweisgänge  —  wie  alles  mit  der  Diai- 
resis  Zusammenhängende  —  rechnen  damit,  daß  in  der  formalen  Arbeit 
ein  vorhergehendes  Wissen  um  den  Sinn  von  Bewegung,  Ruhe,  Ähnlich 
usw.  heraufgeholt  wird;  der  voijibc  xöfTfiog  liegt  auf  dem  Grunde  jeder 
Seele  und  kommt  durch  den  Umgang  mit  der  Welt  zur  ersten,  durch 
\\  issen  und  Erkennen  zur  zweiten,  stärkeren  Entfaltung;  in  diesem 
Sinne  ist  der  Gedanke  der  Anamnesis  immer  lebendig  geblieben. 

Pia  ton  hat  im  Sophistes  und  Politikos,  die  beide  von  den  dialektisch- 
logischen  Problemen  der  Diairesis  erfüllt  sind,  den  vollen  Gehalt  der 
Seinsidee  des  Guten  immer  wieder  mit  größerer  Klarheit  herzustellen 
gewußt.  Im  Sophistes  schließt  der  Gedankengang  des  Dialoges  streng 
zusammen  durch  die  nun  endgültige  Definition  des  Sophisten,  der  im 
Schein,  im  Unwesentlichen  Erscheinungen  nachahmt  und  so  dem  eigent- 
lichen Sein  fernbleibt.  Er  steht  auf  einer  Linie  mit  denen,  die  nur  das 
Gebaren,  also  die  Erscheinung  des  Gerechten  nachahmen  und  nicht  die 
seiende  Gerechtigkeit  darstellen  (267c);  wir  erinnern  uns  an  die  Schein- 
auflösende Wirkung  des  Guten  in  einem  ganz  entsprechenden  Gedanken- 
gange, Staat  VI  505  d  (s.  o.  S.  121,32).  Im  Gegensatz  dazu  wird,  was  im 
X.  Buche  des  Staates  noch  unklar  blieb,  das  tätige  Verhalten  des  Ge- 
rechten, als  eine  mit  Wissen  erfolgende  Mimesis  bezeichnet  (267c),  also 
als  „Darstellung",  Verwirklichung  der  im  Sein  entsprungenen  Arete.  Der 
Seinsbegriff,  der  im  Anschluß  an  das  Schöpfungsproblem  des  Timaios 
oben  entwickelt  wurde,  ermöglicht  es  Piaton,  gerade  die  praktische  Seite 
der  Seinsidee  des  Guten  noch  konkreter  zu  fassen.  Sogar  theoretisch 
können  wir  also  das  eigentliche  Seiende  nur  in  der  Entfaltung,  in  der 
Verwirklichung  der  Schöpfung  begreifen,  und  an  die  Schranken  der  End- 
lichkeit sind  wir  auch  dann  gebunden,  wenn  wir  bis  zu  den  höchsten 
Prinzipien  uns  erheben ;  dann  kann  auch  die  staatliche  sittliche  Welt,  wie 
sie  nun  einmal  ist,  dem  „Tätigen  nicht  stumm"  bleiben.  Ein  solcher 
Gottesbegriff,  wie  der  des  platonischen  Timaios,  macht  nicht  wirklich- 
keitsfremd, sondern  weltnäher;  wer  die  Paidagogik  Gottes  in  der  ge- 
schaffenen Wirklichkeit  wiedererkennt  (Gesetze  897b),  für  den  bekommt 
alle  Wirklichkeitserkenntnis,  gleichviel,  ob  es  das  alte  attische  Recht, 
die  Proportionenlehre,  die  Bewegung  der  Gestirne,  die  Einteilung  der 
Tiere  und  Gewächse  ist,  ein  ganz  anderes  Gewicht.  Das  Paradeigma  der 
Gerechtigkeit  wird  nicht  mehr  im  Himmel,  sondern  in  einer  früheren 
geschichtlichen  Zeit  gesucht;  Gedanken  von  Weltperioden  stehen  inner- 
lich und  äußerlich  mit  dem  Schöpfungsdialoge  im  Zusammenhang.  Der 
Gedanke  der  göttlichen  Erziehung  und  Lenkung  erfährt  Ergänzungen, 
die  an  die  Rede  des  Sophisten  Thrasymachos  erinnern  (s.  o.  S.  80  u.  81); 
in  der  einen  Weltperiode  läßt  Gott  das  Steuer  der  Welt  los  und  sie  gleitet 
in  ihre  eigene  Bewegung  zurück  (Politikos  269c). 

Je  mehr  sich  die  Erkenntnis  auf  alles  Wirkliche  ausdehnt,  desto 


D 


ARISTOTELES 


151 


sicherer  kann  der  alte  Anspruch  durchgeführt  werden,  daß  auch  für  die 
sittlich-politische  Gestaltung  der  Wirklichkeit  umfassende  Erkenntnis 
notwendig  ist.  Der  „Politikos"  scheidet  klar  die  nur  erkennende,  vom 
Tun  freie  Wissenschaft,  wie  die  Zahlenlehre,  dann  diejenige  evciaTr^iri^ 
die  aus  der  Tätigkeit,  aus  der  Ausübung  eines  Wissens  von  selbst  er- 
wächst, wie  Baukunst  und  alles  Handwerk.  Sofort  ergibt  sich  aus  der 
Wissenschaft  des  Baumeisters  die  neue  Form  des  befehlenden  Wissens, 
die  i7TiraxTixfj  $7ttatrf[M],  die  nicht  nur  wie  ein  Zuschauer  beurteilt, 
sondern  auf  das  Tun  anderer  gerichtet  befiehlt.  Alle  aber  sind  erkennende 
—  das  wird  unbedingt  festgehalten;  selbstbefehlend  kann  die  königliche 
Kunst  dann  sein,  sogar  über  dem  Gesetz  wenn  der  Herrschende  wahrhaft 
kundig  ist  und  nicht  nur  scheint  (293  e). 

Ein  solches  Wissen  wird  nur  wenigen  zuteilwerden  können;  das  sieht 
Piaton  deutlicher,  je  mehr  er  eine  umfassende  Erfahrungserkenntnis  für 
notwendig  hält.  Im  Staate  hatte  Piaton  den  Gedanken  der  selbstherr- 
lichen Vernunfterkenntnis  aufs  höchste  gesteigert  (VII,  530 ff.);  im 
VII.  Brief  (342  äff.)  besteht  er  darauf,  daß  man  von  allem,  was  erkennbar 
ist,  auch  das  sichtbare  Mimema,  das  Eidolon,  anerkennen,  und  nur  in  der 
unablässigen  Bewegung  von  dem  Sichtbaren,  der  Sphäre  des  yaCveTcci, 
ins  Erkenntnismäßige  und  umgekehrt,  in  stetem  Umgang  mit  den  Dingen 
und  denen,  die  gleichstrebend  sich  um  deren  Erkenntnis  bemühen,  kann 
diese  wirklich  „aufleuchten"  (341  c;  dasselbe  Bild  wie  im  Symposion 210e 
und  Staat  VI  508  d) ;  die  Erkenntnis  von  Trug  und  Wahrheit  im 
ganzen  Sein  (344b)  bleibt  die  Voraussetzung  der  Erkenntnis  von  Gut 
und  Böse,  von  Gerecht  und  Ungerecht  (344  b).  So  hält  Piaton  bis  zuletzt 
an  einem  Seinsbegriff  fest,  der  die  Seinsidee  vom  in  seiner  Welt  tätigen 
Menschen  mit  der  Erkenntnis  des  Seins  zusammenschloß.  Diese 
Vereinigung  von  ÜewQCa  und  TtQäl^iq  im  Begriff  des  Menschen  selbst  ist 
nie  wieder  so  erreicht  worden. 

3.  ARISTOTELES. 

a)  Die  alte  Akademie. 

Der  kurze  Uberblick  über  die  platonische  Spätphilosophie  (zur  Er- 
gänzung vgl.  Zahl  und  Gestalt  105  ff.)  wird  gezeigt  haben,  daß  Piaton 
auch  in  die  letzte,  die  mimetische  Form  des  sokratischen  Dialoges  immer 
mehr  überwachsende  Phase  seines  Philosophierens  dessen  ganzen  Reich- 
tum hinübernehmen  wollte  und  durch  seine  gedanklich-systematische  und 
darstellerische  Kraft,  die  ohne  Vorgänger  und  ohne  Nachfolger  geblieben 
ist,  auch  hineinnehmen  konnte.  Für  die  Männer,  die,  zum  Teil  wenig 
jünger  als  er,  in  seiner  „Schule",  in  freiem  Umgange  mit  Wort  und 
Schrift  des  Lehrers,  den  einzelnen  Wissenschaften  in  größerer  oder  ge- 
ringerer Produktivität  zugewandt,  die  philosophische  Arbeit  Piatons 
aufgriffen  und  sie  fortführen  wollten,  bedeutete  gerade  der  letzte  Stil 


152 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


seines  Philosophiereiis  eine  philosophische  Aufgabe,  von  deren  äußerer 
Größe  und  innerer  Schwierigkeit  sich  ihre  Tadler  kaum  eine  zulängliche 
Vorstellung  zu  machen  pflegen.  Dies  gilt  auch  für  diejenigen,  die  aus  dem 
veränderten  Stil  des  Philosophierens  auch  Aristoteles  in  einer  unbilligen 
Vergleichung  mit  dem  „Dichter"  Piaton  einen  Vorwurf  glauben  machen 
zu  dürfen.  Es  ist  nicht  im  geringsten  verwunderlich,  wenn  die  unmittel- 
baren Nachfolger  Piatons  bei  dem  Versuche,  die  letzte  Phase  Piatons 
in  ihrem  systematischen  Gehalt  aufzufassen,  ihn  dogmatisierten  und  die- 
jenigen Motive,  die  bei  ihm  in  der  dichterischen  Hülle  verschleiert  waren, 
häufig  genug  in  ein  grelles  Licht  stellten.  So  kommt  es,  daß  Xenokrates 
aus  den  halbdicbterischen  Andeutungen  des  Symposions  und  des  Timaios 
—  von  der  Epinomis  sei  hier  einmal  abgesehen  —  eine  Dämonenlehre 
machte,  daß  andere  gewisse  Vergleiche  Piatons  im  Sinne  einer  Vergottung 
des  großen  Führers  und  einer  Gleichsetzung  von  Seelenkern  und  Gottheit 
deuteten.  Gewiß  kommt  auch  hier  manches  auf  die  Rechnung  des  dich- 
terisch oder  mindestens  rhetorisch  gestalteten  philosophischen  Dialoges, 
den  neben  der  Lehrschrift  zu  pflegen  von  allen  für  Recht  und  Pflicht 
gehalten  wurde.  So  brach  die  Philosophie,  die  Piaton  immer  noch  zu- 
sammenhalten konnte,  in  eine  religiöse  und  einzelwissenschaftliche,  meta- 
physische und  logisch-erkenntnistheoretische  auseinander. 

Es  ist  für  den  Gesamtaspekt,  unter  dem  der  nächsten  Umgebung 
die  Spätphilosophie  erschien,  bezeichnend,  welche  Motive  der  plato- 
nischen Metaphysik  von  seinen  Nachfolgern  in  den  Vordergrund  gestellt 
wurden.  Speusippos  verknüpfte  das  Motiv  der  Diairesis,  und  zwar 
mit  größter  Betonung  der  exakt  kultur-  und  naturbeschreibenden  Voll- 
ständigkeit der  Gegenstände,  mit  dem  Gedanken  der  Paradeigmata  und 
des  Ahnlichen,  wie  wir  ihn  im  Politikos  bereits  deutlich  vorgebildet 
finden.  In  allen  Diairesen  treten  „analoge"  Verhältnisse  auf;  die  Paare 
der  Klassen  und  ihr  Einteilungsprinzip  kehren  auf  anderen  Stufen  wieder; 
Speusippos  konnte  also  sehr  wohl  ein  solches  System  „Ähnlichkeiten", 
b'/uoia,  nennen,  und  ebenso  wie  Piaton  Politikos  S.  278b,  286  a  einfachere,  im 
Anschaulichen  vorgebildete  Begriffsverhältnisse  für  Paradeigmata  halten, 
an  denen  wichtigere,  verborgenere,  schließlich  völlig  „anschauungsfreie" 
Sachverhalte  (äaw^axa  tför/)  mittelbar  erfaßt  und  dargestellt  werden 
konnten  (Genaueres  im  „Speusippos"  1646).  Diese  Ähnlichkeiten  gingen 
zusammen  mit  den  mathematischen  Analogien  und  deren  Elementen, 
den  Logoi,  den  Verhältnissen,  die  in  der  akademischen  Mathematik  und 
damit  in  der  Idealzahlenlehre  eine  überaus  wichtige  Rolle  gespielt  haben 
(s.  Lit.  S.  128).  Die  „abbildhafte",  analogische  Verknüpfung  aller  Wesen 
und  Dinge  mußte  wichtig  sein  für  ein  Weltbild,  in  dem  der  „Syndesmos", 
die  Verbindung  und  Überbrückung  alles  Gegensätzlichen  durch  Mittel- 
glieder, beabsichtigt  war.  Es  ist  kein  Wunder,  daß  der  große  Mathematiker 
Eudoxos  nicht  nur  die  Proportionenlehre  entwickelte,  sondern  auch  im 
Anschluß  an  die  Theorie  Piatons  von  der  Gemeinschaft  der  Ideen  unter- 


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ARISTOTELES 


einander  eine  metaphysische  Theorie  beisteuerte  von  der  „ Mischung" 
der  gegensätzlichen  Seinsbereiche,  deren  Chorismos  der  platonische 
Parmenides  in  der  Einleitung  entwickelt  hatte.  Am  Chorismosproblem 
sollten  sich  in  der  Akademie  die  Geister  scheiden. 

Xenokrates,  der  Nachfolger  des  Speusippos,  scheint  neben  seiner 
Theorie  einer  atomistischen  Mathematik  sich  besonders  der  Theorie  der 
Wahrnehmung  gewidmet  zu  haben,  der  die  Akademie,  wie  es  scheint, 
immer  bewußter  ihren  Anteil  an  der  Erkenntnis  zu  sichern  bemüht  war. 
Dies  mag  mit  der  immer  größer  werdenden  Wichtigkeit  der  astrophysi- 
10  sehen  Theorie  zusammenhängen,  mit  der  bereits  damals  auftretenden 
Frage,  welcher  Anteil  dem  Zeugnis  der  Sinne  bei  der  Theorie  der  Gestirn- 
bewegungen zukäme,  ob  und  wie  die  mathematische  Theorie  den  Sinnes- 
eindruck „bestätigen"  (rä  (paipn/aepa  aw&iv)  solle.  Herakleides  von  Pontos, 
dem  Piaton  während  der  zweiten  sizilischen  Reise  seine  Vertretung  über- 
trug, und  Philippos  von  Opus,  der  Redaktor  der  „Gesetze",  scheinen 
auf  diesem  Gebiete  sich  besonders  betätigt  zu  haben,  vor  allem  aber  der 
größte  Mathematiker  seiner  Zeit,  der  schon  genannte  Eudoxos. 

Alle  hier  berührten  sachlichen  Probleme  wirken  auf  die  Wendung  ein, 
die  Aristoteles  der  metaphysischen  Theorie  Piatons  geben  sollte. 
20  Aristoteles  trat  367,  während  Piatons  zweitem  sizilischen  Aufenthalt, 
18 jährig,  im  eindrucksfähigstem  Alter,  in  die  Akademie  ein,  der  er 
20  Jahre  angehörte.  Es  ist  schwer  vorstellbar,  daß  je  wieder  ein  Mensch 
so  vollkommen  jedes  Wort  Piatons  gegenwärtig  gehabt,  jedes  philo- 
sophische Motiv  in  sich  aufgenommen  hat  wie  der  „Leser"  Aristoteles. 

Je  mehr  man  sich  mit  dem  inneren  Zusammenhang  der  platonischen  Spätphilo- 
sophie in  sich  und  mit  der  gesamten  Arbeit  der  alten  Akademie  beschäftigt,  desto 
frappierender  ist  die  dauernde  Gegenwart  platonischer  Gedanken  bis  in  ihren  spezi- 
fischen Wortlaut  hinein.  Jaeger  hat  in  den  „Studien  zur  Entstehungsgeschichte  der 
Metaphysik  d.  Arist.",  Berlin  1912,  später  in  seinem  „Aristoteles,  Grundlage  einer 

30  Geschichte  seiner  Entwicklung  1923"  zum  ersten  Male  ernst  gemacht  mit  diesem  Ver- 
hältnis, das  durch  den  alleräußerlichsten  Eindruck  einer  in  ihren  Motiven  sehr  ver- 
wickelten Polemik  des  Aristoteles  gegen  die  Ideenlehre  lange  verdeckt  war.  Jaeger 
hat  vor  allem  gezeigt,  wie  langsam  sich  Aristoteles  aus  der  Abhängigkeit  von  Piaton 
auf  seine  eigene  Lehre  besonnen  hat,  und  hier  die  entscheidenden  Motive  einer  Entwick- 
lung aufgewiesen.  Seit  Jaegers  Werk  ist  eigentlich  jede  Darstellung  der  Metaphysik  vor 
die  Frage  gestellt,  die  so  früher  gar  nicht  bestand,  wie  sich  die  aristotelische  Begriffs- 
arbeit aus  der  platonischen  entwickelt  hat.  Nur  auf  diesem  Boden  können  die  Unter- 
schiede klar  erfaßt  werden,  ohne  beiden  Unrecht  zu  tun.  Auf  diese  Frage  gibt  natürlich 
keine  der  früheren  Darstellungen  Auskunft.  Bei  Jaeger  stehen  die  grundlegenden  Fragen 

40  der  Überlieferung  und  der  Form  im  Vordergrund,  aber  eine  philosophische  Stellung- 
nahme ist  überall  deutlich,  und  ich  verweise  deshalb  außer  auf  dieses  Buch  nur  auf  die 
Ausgaben  und  die  Ubersetzungen.  Die  einzige  Ausgabe,  die  heute  in  Frage  kommt  und 
zu  haben  ist,  ist  die  philologisch  und  philosophisch  ausgezeichnet  kommentierte  Aus- 
gabe von  W.  D.  Ross,  Aristotle's  Metaphysics,  Oxford  1924  (vgl.  dazu  Jaeger, 
Gnomon  1925,  S.  57).  Deutsche  Übersetzungen  von  Bonitz  (von  E.  Wellmann  heraus- 
gegeben, 1890)  und  Rolfes  (Philos.  Bibliothek).  Unentbehrlich  für  jede  wiss.  Be- 
schäftigung sind  die  antiken  Kommentare  in  der  Slg.  d.  Pr.  Akademie.  Für  alles  weitere 
sei  hier  auf  Überweg-Praechters  Grundriß  verwiesen. 


154 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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In  ..Zahl  und  Gestalt"  habe  ich  versucht,  die  Spätphilosophie  Piatons  und  die 
W  endung,  die  Aristoteles  deren  Motiven  gab,  begreiflich  zu  machen;  in  dieser  Richtung 
versuche  ich  hier  weiterzugehen. 

\\  ir  haben  von  Anfang  an  in  den  Begriff  der  Metaphysik  die  Lehre  vom 
Sein  des  Mensehen  als  einem  Dasein  in  der  Welt  aufgenommen,  andrer- 
seits immei  betont,  daß  der  Mensch  in  diesem  Zusammenhange  auf 
eine  Norm,  auf  die  Idee  eines  Menschen  selbst,  also  auf  erweiterte  objek- 
tivierte  Individualität  gerichtet  verstanden  werden  soll;  nicht  die  be- 
liebige W  eltanschauung  eines  Individuums  ist  der  Gegenstand  einer  Ge- 
schichte  der  Metaphysik,  sondern  immer  das  Ganze  des  Seins,  bezogen  10 
auf  diese  letzte  Gegebenheit  des  jeweilig  in  der  Geschichte  konkreten 
Menschendaseins.  Kein  Philosoph  hat  sich  selbst  unmittelbarer  darge- 
stellt in  seiner  Metaphysik  als  Piaton,  indem  er  von  Anfang  bis  zu  Ende 
gezeigt  hat,  wie  Sein  sich  im  Menschen  und  an  Menschen  darstellt. 
Bei  keinem  Philosophen  ist  es  daher  weniger  nötig,  bei  der  Erklärung 
seines  Seinsbegriffes  den  Menschen  zu  suchen,  der  „hinter  dem  Werke 
steht44,  wie  man  zu  sagen  pflegt;  denn  er  steht  nicht  dahinter,  sondern 
mitten  darin  in  der  lebendigen  Gemeinschaft  der  Gestalten,  die  er  ge- 
schaffen hat  und  die  sich  vor  uns  in  ihren  Gedanken  über  das  Seiende 
aussprechen.  20 

Dies  ist  in  dem  Werke  des  Aristoteles  nicht  mehr  in  demselben  Maße 
der  Fall.  Je  objektiver  die  Form  wird,  in  der  eine  „Metaphysik44  das 
Ganze  des  Seins  darstellen  will,  desto  sicherer  kommt  die  Stelle,  an  der 
man  nun  fragen  muß,  wer  „hinter  dem  Werke  steht44,  weil  sich  eine 
andere  Form  des  menschlichen  Daseins  doch  hier  bemerkbar  macht  in 
dem  Begriff  vom  Seienden  schlechthin;  denn  je  nach  Form  und  Grad  der 
Subjektivität  sind  die  Mittel  andere,  die  den  Objektivierungsprozeß  zum 
An-sich- Seienden  tragen  und  bestimmen. 

Noch  vor  kurzem  hätte  eine  solche  Frage  für  Aristoteles  kaum  gestellt 
und  sicher  nicht  beantwortet  werden  können.  Man  kannte  nur  äußere,  30 
zudem  oft  schlecht  bezeugte  Züge  seines  Bios,  und  diese  geben  in  keinem 
Falle  etwas  aus  für  diejenige  Einheit  des  Menschen  und  seiner  Welt, 
auf  die  es  hier  ankommt.  Wie  bei  den  Briefen  Piatons  hatte  man  die 
Zeugnisse,  die  hier  Auskunft  geben  können,  verdächtigt  und  entwertet. 
Die  Dialoge,  die  der  jüngere  Aristoteles  noch  völlig  in  der  Akademie 
wurzelnd  geschrieben  hatte,  die  Erbauungsschriften,  in  denen  er  sich 
über  den  Sinn  der  Philosophie  aussprach,  hatte  man  ihm  abgesprochen 
und  den  wenigen,  desto  wertvolleren  Fragmenten,  die  erhalten  sind, 
keinen  Wert  beigelegt  —  im  letzten  Grunde  nur  deshalb,  weil  sie  zu 
platonisch  schienen.  Jaeger  hat  diesen  Aristoteles  wiederentdeckt,  40 
indem  er  ihn  in  eine  sinnvolle  Entwicklung  seiner  Lehre  einfügte.  Es 
soll  als  eine  Verdeutlichung  des  in  dieser  gesamten  Darstellung  zugrunde 
gelegten  systematischen  Seinsbegriffes  aufgefaßt  werden,  wenn  wir 
zwischen  den  Antworten,  die  Aristoteles'  Metaphysik  auf  die  sachlichen 


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ARISTOTELES 


155 


Fragen  der  platonischen  Spätphilosophie  und  die  sachlichen  Probleme 
der  Akademie  gibt,  wie  wir  sie  bei  den  Hauptvertretern  vorfinden,  und 
zwischen  persönlichen  Äußerungen  des  Aristoteles  einen  Zusammenhang 
annehmen  und  aus  ihm  jenes  „Mißverständnis"  der  platonischen  Motive 
verstehen  wollen,  das  im  Grunde  nur  ein  Weitergehen  echter  wissen- 
schaftlicher philosophischer  Arbeit  ist,  und  keinen  Tadel  für  den  einen 
oder  den  anderen  bedeutet. 

Aus  dem  Protreptikos  des  Aristoteles,  einer  philosophischen  Mahnrede 
zur  Philosophie,  die  eine  große  Wirkung  durch  das  ganze  Altertum 
getan  hat,  von  Krates  dem  Kyniker  an  über  Cicero  mittelbar  bis  zu 
Augustin,  kann  man  zwei  Gedanken  herauslesen;  vielleicht  ist  ihr  ur- 
sprünglicher Sinn  auch  für  uns  durch  ihre  Überlieferung  leise  ver- 
ändert. Die  Philosophie  ist  reine  Theoria,  Betrachtung,  reine  cpgövr/oic, 
der  Philosoph  ist  ein  Zuschauer  der  Welt.  Er  sucht  also,  platonisch 
gesprochen,  aus  der  „Höhle"  der  Welt  herauszutreten  —  das  soll  auch 
der  platonische  Philosoph,  aber  dieser  muß  wieder  zurück  in  die 
Höhle,  der  früharistotelische  aber  bleibt  unbewegt  in  reiner  Schau, 
wie  die  Zuschauer  beim  olympischen  Festspiel.  Der  Philosoph  also, 
dies  ist  der  zweite  Gedanke,  soll  diesem  Leben  sterben,  um  zu 
einem  höheren  zu  erwachen.  Die  Stimmung  des  platonischen  Phaidon, 
an  den  der  Dialog  „Eudemos"  ausdrücklich  anknüpft,  wird  in  diesem 
aristotelischen  Werke  festgehalten,  die  Unsterblichkeit  der  Seele 
wird  verstanden  als  ein  dauerndes  Hinausblicken  über  die  qualvolle 
unerträgliche  Existenz  der  eingekörperten  gefangenen  Seele.  Die  Seele 
fühlt  sich  in  ihrer  Fesselung  wie  die  Gefangenen  etruskischer  See- 
räuber; diese  wurden  Angesicht  zu  Angesicht  an  Leichen  gebunden 
und  mußten  in  dieser  Verkettung  mit  der  Verwesung  dahinschmachten. 
Diese  grauenhafte  Ubersteigerung  und  Isolierung  der  platonischen 
Motive  ist,  wie  Jaeger  S.  99 — 102  hervorhebt,  der  Ausdruck  eines 
neuen  ethischen  Lebensgefühls  und  einer  neuen  religiösen  Überzeugung. 
Hier  wurzelt  aber  auch  eine  neue  Auffassung  des  Seins,  insofern  jede 
Stellung  zum  Sein  auf  der  Art  beruht,  in  der  ein  Mensch  sich  in  der  Welt, 
ihren  Möglichkeiten  und  Wirklichkeiten  gegenüber  betätigt,  fühlt  und 
weiß.  Hier  wurzelt  mit  einem  Wort  ein  metaphysisch-religiös  begründeter 
Dualismus,  eine  Abtrennung  und  Losreißung  der  transzendenten  Welt 
von  der  irdischen,  ein  Chorismos,  der  den  platonischen  weit  übertrifft,  und 
der  früher  oder  später  einen  Ausgleich  brauchte  und,  wie  wir  grade  am  ent- 
wickelten Begriff  der  Theoria  zeigen  werden,  gefunden  hat.  Die  Entwick- 
lung vom  Religiösen  zum  Metaphysischen,  die  wir  oben  S.  93,28  ff.  allgemein 
bezeichneten,  kann  auch  in  dem  Leben  eines  Individuums  zur  „Wissen- 
schaft", ja,  zur  realistischen  These  vom  Seinsvorrang  der  konkreten  in 
Form  und  Stoff  zusammengesetzten  Substanz  führen.  Die  Intensität 
jenes  Lebensgefühls  bedeutet  —  man  lasse  sich  nicht  durch  den  Schein 
täuschen  —  eine  ungemeine  Nähe  zur  Realität  schlechthin,  die  viel- 


156 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


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leicht  zunächst  sich  staute  und  noch  nicht  ihre  eigentümliche  Auswir- 
kung fand.  Ein  Individuum,  das  so  empfindet,  weiß  sich  allein  vor  dem 
Sein,  es  wird  nicht  getragen  von  dem  Medium,  das  wir  für  die  platonische 
Idee  des  Guten  oben,  S.  114,  entwickelten.  Das  Gute,  das  bei  Piaton 
gleichsam  sichtbar  aufleuchtet  als  ein  lichterfüllter  Raum  über  die  Ein- 
zelnen bin,  wird  für  ein  solches,  zu  ganz  anderer  Abstraktion  fähiges 
Bewußtsein  „unräumlicher",  geistiger  sein;  die  Dinge  dieser  Welt,  wenn 
erst  der  philosophische  Blick  sich  ihnen  zuwenden  wird,  werden  schärfer 
im  Umriß,  in  eigener  Kontur  und  eigener  Farbe  jedes  für  sich  dastehen. 

Aristoteles  trat  in  die  Akademie  ein,  als  Piaton  in  der  Theaitetos- 
episode  sowohl  die  Abgewandtheit  von  der  „dem  Bösen44  zugänglichen 
Welt  wie  die  Theorie  der  reinen  Wissenschaft  stark  zum  Ausdruck 
brachte.  Wir  glaubten  allerdings,  oben  S.  139,37,  die  eigentliche  Haupt- 
absicht dieses  Dialoges  in  der  theoretisch  wissenschaftlichen  Richtung 
suchen  zu  müssen,  und  auch  der  Ton  jener  Theaitetosepisode  und  des 
Protreptikos  stechen  an  sich  weit  genug  voneinander  ab.  Immerhin 
kommen  diejenigen  Töne,  die  wir  durch  den  Resonator  der  aristotelischen 
Frühschriften  verstärkt  hören,  auch  sonst  in  den  späteren  Dialogen  zum 
Ausdruck.  Die  Erweiterung  des  Feldes  wissenschaftlicher  Forschung 
und  die  Umänderung  der  Seinsauffassung  in  einem  Sinne,  der  diesem 
wissenschaftlichen  Interesse  Rechnung  trug,  findet  einen  Ausgleich  und 
eine  stimmungsmäßige  Ergänzung  in  der  Resignation,  mit  der  im  Timaios 
(51c)  die  reine  Erkenntniskraft,  der  iVus,  nur  Gott  zuerkannt  wird,  den 
Menschen  aber  nur  ein  „kleines  Stück44.  Auch  im  Timaios  wendet  sich  das 
doppelte,  zugleich  wissenschaftliche  und  religiöse  Interesse  Piatons 
zu  den  Gebilden,  die  sinnlich-wahrnehmbar  und  doch  mit  dem  Gött- 
lichsten verwandt,  ja  selber  göttliche  Wesen,  aus  göttlicher  Kraft  be- 
wegt schienen,  zu  den  Gestirnen  und  ihren  Umläufen.  In  ihnen  war 
auch  für  Piaton  eine  metaphysische  Wesenheit  von  besonderem  Sein 
wirksam  anzutreffen ;  Piaton  nannte  sie  Seele.  Die  Weltseele,  die  Gestirn- 
seelen und  diejenigen  Seelen,  denen  die  Einkörperung  in  menschliche 
Leiber  bestimmt  ist,  gingen  für  Piaton  in  einer  einheitlichen  Seelenkraft 
zusammen,  deren  Wesen  zunächst  darin  besteht,  sich  selbst  und  anderes 
zu  bewegen,  sich  einfügend  in  alles  Tun  und  Leiden  (cf.  S.  142,7).  Das 
vollendet  Seiende  (navrthoc  8  )  des  Sophistes  248  e  hat  teil  an  Seele 
und  Bewegung;  man  wird  daran  denken  müssen,  daß  neben  der  onto- 
logisch-erkenntnistheoretischen  Seite,  die  wir  oben  aus  dem  Zusammen- 
hange des  Sophistes  heraus  betonen  mußten,  diese  astro-metaphysische 
Bedeutung  des  Seienden  mitgedacht  war.  Piaton  redet  im  10.  Buch  der 
Gesetze,  wo  er  am  deutlichsten  die  Ausführungen  ergänzt  und  erweitert, 
die  der  Phaidrosmythos  über  die  Seele  als  Quelle  der  Bewegung  enthält, 
vom  Wesen  der  Gestirnseelen  und  betont  auffällig  stark  den  wirklich 
psychischen  Charakter  dieser  Seelen.  Die  Definition  der  Seele  ist:  erstes 
Werden  und  Bewegung  und  Ursache  von  Gegenwärtigem,  Vergangenem 


D 


ARISTOTELES 


157 


und  Zukünftigem  und  von  allem  diesem  Entgegengesetzten  zu  sein 
(896  a).  Ihre  Kraft  äußert  sich  als  Wollen,  Suchen,  Sich  Sorgen,  Sich 
Beraten,  Richtig  oder  Falsch  Meinen,  unter  Freude,  Trauer,  Mut  und 
Furcht,  Haß  und  Liebe  (896  e). 

Die  Übertragung  einer  solchen  Seelenvorstellung  auf  die  Bewegung 
der  Gestirne,  wie  sie  Aristoteles  nach  Piatons  Vorgang  unbedingt  an- 
nimmt und  weiter  ausführt,  darf  nicht  primär  als  eine  „Einfühlung" 
persönlich -individuellen  Innenlebens  in  die  Sternenbewegungen  aufge- 
faßt werden.  Umgekehrt  liegt  hier  vielmehr  eine  „Kosmisierung"  — 
Kosmos  als  Ordnung  gefaßt  (Timaios  90  c)  —  vor :  wer  geübt  ist  im  Denken 
der  Wahrheit,  wird  in  der  Erfassung  dieses  Göttlichen  und  Unvergäng- 
lichen die  Bewegung  der  eigenen  Seele  an  der  Unsterblichkeit  teilnehmen 
lassen,  denn  dem  Göttlichen  in  uns  verwandte  Bewegungen  sind  die 
„Denkakte66,  diavorfieic,  und  die  Umschwünge  am  Himmel.  Jeder  muß 
mit  diesen  mitgehend  die  im  Umkreise  des  Werdens  verdorbenen  Um- 
läufe (jveoiodtnK)  im  Kopfe  richtig  machen  (tlSioQ&ovv)  und  dadurch,  daß 
er  die  Harmonien  und  Umschwünge  des  Alls  begreift  (xarafiav^<  veiv), 
das  Begreifende  dem  Begriffenen  ähnlich  machen  gemäß  der  ursprüng- 
lichen Natur  (xarä  rijv  äo%vtCixv  ywatv);  wenn  er  sie  aber  angeglichen  hat 
(6fioid)(savT((),  „dann  hat  er  das  Ziel  (Telos)  erreicht  des  den  Menschen 
von  den  Göttern  als  Aufgabe  gestellten  besten  Lebens  für  jetzt  und  für 
die  spätere  Zeit66  (Timaios  90  d).  Derselbe  Gedanke  liegt  der  Stelle  der 
Gesetze  zugrunde,  die  oben  S.  108  bereits  zitiert  wurde  (XII,  966  de): 
die  stärksten  Antriebe  des  Götterglaubens  sind  das  ewigfließende  Sein 
der  Seele  und  der  Lauf  der  Gestirne,  und  alles  andere,  das  der  alles 
durchwaltende  Geist  (vovq  in  izuv  di(txoa^riaac),  nicht  eine  mechanisch 
naturgesetzliche  Kraft,  in  seiner  Gewalt  hat.  Was  wir  oben  S.  145,30  als 
das  ontologische  Gleichgewicht  zwischen  Erkenntnis  und  Seiendem 
bezeichnet  haben,  tritt  uns  hier  in  der  Aufnahme  der  Welt  in  die  Seele 
und  in  der  Ausweitung  der  Seele  bis  an  die  Grenzen  des  Denkbaren  sinn- 
fällig entgegen. 

Bei  Aristoteles  gewinnt  das  Pathos  des  Timaios  und  der  Gesetze,  auch 
der  Epinomis  —  ich  lasse  dahingestellt,  wie  weit  deren  Gedanken  echt 
platonisch  sind  oder  auf  Philippos  von  Opus  zurückgehen  —  eine  besondere 
Gefühlsbetonung,  das  Pathos,  das  in  der  „Theoria"  der  Gestirne  die 
drei  Motive:  sinnliches  Schauen  des  Glanzes  und  der  Schönheit  des 
Himmels  (Tim.  47a),  theoretisches  Wissen  um  die  zahlenmäßige  exakte 
Ordnung  der  Gestirnbahnen  und  das  religiöse  Gefühl  der  Abhängigkeit 
von  den  dort  rein  verkörperten  göttlichen  Mächten  als  Einheit  erlebt 
und  das  aus  dieser  Einheit  ein  besonders  lebhaftes  Gefühl  der  kon- 
kreten Energeia  in  jedem  erlebten  Augenblick  gewinnt.  Das  zeigen 
die  Dialoge  deutlich  genug.  Jaeger,  S.  161  ff.,  weist  überzeugend  und 
eindrucksvoll  im  einzelnen  nach,  wie  überhaupt  hier  erst  ein  neues 
eigentlich  religiöses   Erlebnis   sich   seinen  Ausdruck   sucht,   ein  Er- 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


lebnis,  das  es  vorher  in  dieser  so  gefühlten  Nähe  zu  seinem  Gegenstand 
nicht  gab.  Für  unsere  nächste  Aufgabe  kommt  es  darauf  an  zu  erkennen, 
wie  aus  dem  bis  ins  Innerste  gefühlsgeladenen  Gotteserlebnis  des  Aristo- 
teles sich  eine  wissenschaftliche  metaphysische  Konzeption  des 
ersten  Bewegers  entwickeln  konnte,  welche  platonischen  Ansätze  hier 
aufgenommen  und  in  welche  wissenschaftliche  Form  sie  gebracht  wurden. 
Denn  auf  dieser  Idee  des  unbewegten  Bewegers  beruht  —  mindestens  in 
der  ersten  Periode  —  die  Metaphysik  des  Aristoteles. 

Seitdem  Jaeger  durch  den  Nachweis  der  allmählichen  Entstehung  des  Meta- 
physikwerkes  auch  die  Entwicklung  der  in  ihm  niedergelegten  philosophischen 
Anschauungen  zum  Problem  gemacht  hat,  muß  eine  auf  die  Gesamtanschauung 
eines  Sachbereiches  —  hier  den  metaphysischen  Hintergrund  der  Seinslehre  im 
Nus-Begriff  —  gerichtete  Darstellung  sich  vor  einer  unechten  Harmonisierung  hüten. 
Die  größte  Sicherheit  schien  mir,  ein  zusammenhängendes  Stück,  das  Buch  yl  — 
mit  Ausnahme  von  Kapitel  8  —  zugrunde  zu  legen,  und  Parallelen  nur  so  weit 
heranzuziehen,  als  sie  durch  Klärung  des  in  A  gegebenen  Zusammenhanges  sich  als 
Bestandteile  einer  einheitlichen  Gedankenfügung  ausweisen,  Die  Zurückdrängung 
der  Ergänzungen  aus  den  andern  Büchern  und  Werken  durch  kleinen  Druck  dient 
dieser  Interpretationabsicht  und  besagt  nicht,  daß  die  dort  behanuelten  Dinge 
sachlich  unwichtiger  wären  als  der  Haupttext. 

b)  Der  platonische  und  der  aristotelische  Gottesbegriff. 
Bewegung  und  Unbewegtes. 

Der  Hauptsatz  der  aristotelischen  Wissenschaftslehre,  der  die  2.  Analy- 
tiken eröffnet,  lautet :  Jede  Belehrung  und  jedes  begriffliche  Lernen  ent- 
springt aus  einer  vorhergehenden  Einsicht  (näaa  didaoxaXia  xal  näaa 
diavoTjTtyJj  ^lä&ijaig  ix  7tQov7taQ%ovarjg  yi'verai  ypwaeojg).  Diese  „vorgängige44 
Einsicht  bezieht  sich  erstens  darauf,  daß  überhaupt  etwas  ist,  und  zweitens 
muß  man  wissen,  was  das  Gemeinte  bedeutet;  also  ein  Sein,  und  der  Sinn 
dieses  Seins  muß  als  Anfang  vorausgesetzt  werden,  ein  ov  und  seine  otiat'a, 
die  man  mit  ihm  meint.  Im  Kapitel  33  bezeichnet  Aristoteles  den  Nus 
als  die  Arche,  den  Anfang  und  das  Prinzip  jedes  Wissens;  also  muß  der 
Nus  auch  mit  diesem  doppelten  „Vorerkennen44  etwas  zu  tun  haben.  In 
der  Tat  bezeichnet  Aristoteles  ein  vor  aller  verknüpfenden  Denktätigkeit 
vorausgehendes  Erfassen  der  Dinge,  der  ngayfiara,  entweder  mit  tiiyeiv, 
Otyyäveiv,  „erfassen,  berühren44  (ov)  oder  yavai  „ansprechen  als44  (otiatav); 
cpävai  unterschieden  von  Bejahung  xaräcpaaic  und  Verneinung,  änocpaoig; 
diese  beruhen  auf  der  Trennung  und  Verbindung,  diaigeaig  und  avfinXox^ ; 
die  einfachen  Gegenstände  aber,  die  ädiaioexa  und  äavvüeza  werden 
gedacht  oder  nicht  gedacht.  Zu  ihnen  gehört  das,  „was  man  nicht  be- 
weisen kann  und  nicht  zu  beweisen  braucht,  was  sich  nicht  anders 
verhalten  kann44  (2.  Analytiken,  Schluß;  Metaph.  E  4  und  0  10;  dazu 
Jaeger  212). 

Durch  das  voelv  in  diesem  Sinne  ist  alle  wissenschaftliche  Erkenntnis 
mit  derjenigen  Sphäre  verknüpft,  in  die  wir  nun  eintreten.    Das  Sein 


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ARISTOTELES 


15? 


und  das  Seiende  wird  von  Aristoteles  in  der  Einleitung  zu  seiner  Theo- 
logie (A 1)  in  die  zwei  großen  Klassen  des  sinnlichen  bewegten  und  des 
unsinnlichen  unbewegten  Seins  eingeteilt;  die  sinnliche  in  Vergängliches 
und  Ewiges  (die  Gestirne) ;  ob  das  unsinnliche  Unbewegte  in  zwei  Klassen 
sich  teile,  das  Mathematische  und  das  Ideenmäßige,  diese  Frage  ist 
für  Aristoteles  sehr  bald  aufgetaucht.  Dasjenige  Sein,  dem  er  das  Wesen 
eines  unsinnlichen  Seins  zuwies,  ist  in  jedem  Falle  die  Grundlage  der 
einen  großen  Teil  seines  metaphysischen  Werkes  füllenden  Kritik  anderer 
Lehren,  auch  der  „sogenannten  Ideen-  und  Zahlenlehre".  An  ihm  mißt 

10    er  den  Wahrheitsgrad  aller  bisher  aufgestellten  Seinstheorien. 

Wir  werden  dieses  Sein,  diese  oixsCa  des  Aristoteles,  ausdrücklich  den- 
jenigen Ausführungen  Piatons  gegenüberstellen,  die  am  ehesten  dem 
allgemeinen  Seinsbegriff  des  Aristoteles  vergleichbar  sind  und  zweifellos 
auch  zu  seiner  Entwicklung  wesentliches  beigetragen  haben;  wenn  wirk- 
lich der  oberste  Seinsbegriff  des  Aristoteles,  der  unbewegte  Beweger, 
wie  Jaeger,  S.  144,  sagt,  „dem  Geist  nach  ein  platonischer  Gedanke" 
ist,  dann  müssen  wir,  um  ihn  zu  erfassen,  ihn  an  diejenigen  Stellen  des 
platonischen  Denkens  halten,  die  ihm  am  nächsten  zu  stehen  scheinen. 
Jaeger  hat  eine  solche  Stelle  bezeichnet.  Piaton  erwägt  in  den  Gesetzen 

20  (X  898  d  8)  drei  Möglichkeiten,  wie  das  Einwirken  der  bewegenden  Seelen 
auf  die  bewegten  Gestirne  zu  denken  ist.  Für  keine  entscheidet  sich 
Piaton.  Wohnt  die  Seele  dem  sichtbaren  Leibe  des  Gestirns  inne  wie 
unsere  Seele  in  unserem  Leibe,  ihn  ganz  durchdringend,  oder  stößt  sie 
zweitens  von  außen  mit  Gewalt  Leib  mit  Leib  an,  indem  sie  sich  selbst 
noch  einen  Leib  aus  Feuer  oder  „einer  Art  Luft",  wie  einige  sagen,  ver- 
schafft hat,  oder  ist  sie  drittens  selbst  frei  von  Körper,  und  führt  den 
Stern  im  Besitze  anderer  über  die  Maßen  erstaunlicher  Kräfte  und  lenkt 
so  den  Stern  ? 

Jaeger  hält  die  erste  Theorie  für  die  Piatons,  die  zweite  für  die  derjenigen,  die  die 
30  Sphären  grob  materiell  auffassen.  Man  könnte  an  die  Dilemmata  des  Phaisdrosmythos 
denken,  in  dem  die  Seele  einen  anderen,  dem  yt\ivov  gw/licc  gegenübergestellten  Körper  hat 
und  damit  die  Theorie  der  ätherischen  Körper  bereits  einwirken  sehen.  Die  dritte  Auf- 
fassung hält  Jaeger  für  den  Ursprung  des  unbewegten  Bewegers:  die  wunderbaren 
Kräfte,  von  denen  Piaton  spricht,  denkt  man  sich  ähnlich  der  Sehnsucht  der  Sinnen- 
dinge nach  der  Idee  und  der  aristotelischen  og€%is. 

Daß  hier  ein  Ansatz  zur  aristotelischen  Gottesvorstellung  vorliegt, 
ist  sicher;  nur  muß  man  statt  an  die  Seelen  der  Gestirne  zu  denken,  sich 
die  umfassendere,  das  ganze  All  umschließende  Sphäre  denken,  aus  deren 
Ganzheitsbegriff  sich  für  Aristoteles  nun  allerdings  entscheidende  Ver- 
40  änderungen  ergeben.  Die  wichtigste  ist  der  ausdrückliche  Verzicht  auf  die 
Vorstellung  einer  Weltseele  in  diesem  ersten  Himmel,  dieser  umfassenden 
Sphäre  (vgl.  Stenzel,  Üb.  zwei  Begr.  d.  plat.  Mystik.  Progr.  Breslau  1916). 
Aristoteles  verspottet  diese  Konzeption  geradezu  in  den  Büchern  vom 
Himmel  in  einem  Vergleich  mit  dem  aufs  Rad  geflochtenen  Ixion. 


160 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Wir  wenden  uns  daher  jetzt  zu  den  Vorstellungen  Piatons  von  einem 
ganzen  objektiven  Seienden,  das  nicht  als  Seele  bezeichnet  wird;  zu 
dem  vollendeten  Sein  des  Sophistes,  dem  Vorbild  des  Schöpfungs- 
prozesses im  Timaios,  dem  rot/rdc  xöa^oa,  der  ja  zugleich  ein  vmfibv  £>&ov 
ist,  drittens  zu  dem  absoluten  Eins  des  „Parmenides44,  das  für  menschliche 
Anschauung  unfaßbar  sich  in  ein  Nichts  auflöste,  aber  doch  zu  dem  an 
zweiter  Stelle  genannten  Gebilde  Beziehungen  zu  haben  schien  (vgl. 
o.  S.  147).  Wir  brauchen  zunächst  von  der  höchsten  otiai'a  des  Aristoteles 
nur  zu  wissen,  daß  Aristoteles  jedenfalls  das  platonische  Bewegungs- 
prinzip,  die  uoyj'i  xiptfttwc  oder  nuibrr}  ytvtaic,  als  selbst  unbewegt  auffaßte 
und  es  mit  dem  Nus  und  Leben  in  Beziehung  setzte.  Das  vollendete 
Sein  des  Sophistes  war  nun  gerade  von  der  Erstarrung  erlöst  worden; 
es  sollte  nicht  wie  ein  Götterbild  dastehen,  sondern  es  sollte  alles  das 
haben,  was  dem  ihm  zugewandten  erkennenden  Bewußtsein  eignet: 
Leben,  Bewegung,  Seele,  Vernunft  und  Besinnung.  Aristoteles  streicht 
wieder  einen  Teil  —  wohlgemerkt  nicht  etwa  alle  Bestimmungen,  die 
dieses  Sein  gegen  das  „eleatisch  starre"  abgehoben  hatten;  wie  bei  der 
unmittelbar  kosmischen  Auffassung  die  Weltseele  von  Aristoteles  be- 
stritten wurde,  so  wird  auch  hier  deutlich,  daß  mit  der  Bewegung  zu- 
gleich das  Seelische,  auf  das  Piaton  gerade  Wert  legte,  fernzuhalten  ist; 
es  bleibt  die  wichtige  Übereinstimmung,  daß  dem  unbewegten  Beweger 
trotzdem  Leben  und  Nus  zugesprochen  wird. 

^  arum  nimmt  Piaton  mehr  Bestimmungen  an  ?  Warum  sollte  sich 
das  Seiende  beseelt  bewegen  ?  Wir  brauchen  nur  an  den  Sinn  dieser  Be- 
wegung uns  zu  erinnern,  an  die  Bewegung  der  Ideen,  die  zunächst  eine 
innerhalb  der  Seinsregion  sich  abspielende  „dialektische44  Bewegung 
war;  durch  diese  geriet  das  vollendete  Sein  in  das  Dynamisverhält- 
nis  zum  immer  diskursiven  Verstände  in  der  einzelnen  menschlichen 
Seele  und  mußte  nun  sich  diesem  angleichen  —  auch  das  Vorbild  muß 
ähnlich  sein,  damit  es  als  Vorbild  nachgeahmt  werden  kann.  Ähnlichkeit 
war  ja  das  treibende  Motiv  geworden,  mit  Hilfe  des  exakt  mathematischen 
Verhältnis- (Logos-) Begriffes  bis  ins  feinste  durchgearbeitet  (Speusippos). 

Dieses  Vorbild  stand  aber  in  dem  platonischen  Weltschöpfungs- 
gedanken auch  vor  Gott  als  Muster,  auf  das  hinblickend  er  die  Welt 
schuf.  Wir  mußten  oben  die  Frage  aufwerfen,  in  welchem  Grade  der  Ent- 
faltung dieses  Vorbild  im  Denken  Gottes  angenommen  werden  solle, 
und  wir  sahen  Piaton  in  ein  Dilemma  geraten  zwischen  der  „Zeitlosigkeit44 
des  göttlichen  Seins  und  Denkens  und  den  der  menschlich  irdischen  End- 
lichkeit entsprechenden  Anschauungsformen,  in  die  hinein  Gott  das  für 
seinen  göttlichen  Geist  erkennbare  Sein  bilden  muß  —  er  schafft  die  Zeit, 
er  bildet  das  Sein  in  sie  und  in  den  Raum,  die  xwya  hinein,  damit  es  für 
uns  überhaupt  erkennbar  und  darstellbar  wird.  Deshalb  „träumen  wir44, 
zu  voller  göttlicher  Wachheit  und  Geisteskraft  nie  erwachend,  es  müßte 
„alles  schlaflose44  Seiende  an  einem  Orte  sein  (Tim.  52  äff.). 


D 


ARISTOTELES 


161 


Es  sind  aber  drei  Wesenheiten  nötig:  das  eigentliche  Sein  der  Vor- 
bilder, die  ihm  nachstrebende  Sphäre  der  Erscheinungen  und  das,  worin 
diese  Erscheinungen  abgebildet  sind,  der  sie  aufnehmende  Raum.  In 
einem  doppelten  Sinne  sind  nun  die  Dinge  der  Wirklichkeit  als  abhängig 
von  etwas  anderem  aufzufassen :  als  Abbilder  von  dem  vorbildlichen  Sein 
und  als  Abbilder  in  dem  Räume.  Daher  müssen  wir  zweierlei  hinter  den 
Dingen  vermuten:  erstens  die  Urbilder,  als  die  sie  uns  erscheinen,  und 
zweitens  die  ihnen  spezifisch  zugeordnete  Raumform,  die  die  uns 

nur  im  Zusammenhang  dieser  Dinge  vorstellig  wird.  Dabei  können  wir 

10  diese  Trennung  nur  traumhaft  vollziehen,  insofern  wir  uns  als  endliche, 
an  Raum  und  Zeit  gebundene  Menschen  weder  die  Dinge  an  sich  anders 
denn  als  räumlich-zeitlich  verwirklicht,  die  Erscheinung  nicht  anders 
denn  als  sinnbestimmt,  d.  h.  als  Erscheinung  von  etwas  anderem,  denken 
können,  und  auch  den  Raum  nicht  anders  denn  als  gestaltet  und  geordnet 
vorzustellen  vermögen,  als  Gegenstand  jener  mittleren  Wissenschaft  der 
Mathematik,  auf  die  der  „unechte  Verstandesgebrauch44  hinweist.  Infolge 
dieser  engen  Beziehung  der  drei  Reiche,  des  reinen  Seins,  des  Raumes 
und  der  Erscheinungen,  können  wir  nicht  einmal  genau  sagen,  ob  die 
Erscheinungen  und  der  Raum,  den  sie  gestalten,  ein  oder  zwei  Dinge  sind, 

20  eines  im  anderen.  Gott,  der  die  unbewegte  Welt  bewegt,  d.  h.  sie  räum- 
lich, für  uns  Menschen  erkennbar  macht  —  in  welchem  Verhältnis  steht 
er  eigentlich  zu  dem  Unbewegten,  auf  das  er  hinblickt  ? 

Spätere  religiöse  Spekulation  setzte  hier  weiterbildend  an:  als  eine  Gottesvor- 
stellung wirksam  wurde,  zu  der  gehörte,  daß  Gott  aus  Nichts  die  Welt  erschafft,  da 
ließ  man  ihn  erst  die  unbewegte  urbildliche  Welt  schaffen,  dann  die  zeiträumliche  ver- 
wirklichen; und  Philon  konnte  so  den  doppelten  Schöpfungsbericht  der  Genesis  und 
den  platonischen  Timaios  auseinander  deuten,  de  opificio  mundi. 

Aristoteles  sucht  die  Schwierigkeiten,  die  sich  aus  der  Trennung  des 
unbewegten  Urbildes  und  des  Bewegergottes  ergeben,  anders  zu  lösen  — 
0  vielleicht  lag  hier  für  ihn  der  größte,  schwerste  und  für  alles  andere  ent- 
scheidende ontologische  Chorismos  und  die  ihm  wichtigste  Möglichkeit 
und  dringendste  Notwendigkeit  seiner  Uberwindung!  Vielleicht  ist  hier 
das  Urphänomen  seiner  auf  alle  ontologischen  Probleme  ausstrahlenden 
metaphysischen  Grundhaltung  faßbar. 

c)  Dy  namis  und  E  nergeia. 

Wir  wollen  nun  zunächst  die  Hauptstelle  der  Theologie  A  6,  7  näher 
betrachten,  aber  vorher  die  aus  Piaton  für  die  Interpretation  gewonnenen 
Gesichtspunkte  noch  einmal  kurz  zusammenstellen:  erstens  die  sich 
selbst  bewegende  „erste  Bewegung44,  im  besonderen  der  immanenten  Ge- 
stirnseele, übertragen  auf  das  Ganze  der  Welt,  zweitens  das  vollendete 
0  belebte  Seiende  des  ,,Sophistes44,  drittens  der  ro^roc  xörtfiög  als  das  Vor- 
bild und  Ziel  der  schöpferischen  Bewegung,  anders  ausgedrückt  viertens 
das  aus  dieser  zeiträumlichen  Bewegung  herausgehobene  und  daher  für 

II  and  b.  d.  Phil.  I.  Ol! 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


menschliches  Vorstellen  zum  Nichts  werdende  Eins  an  sich  des  „Par- 
menides".  Soweit  die  bereits  entwickelten  Anknüpfungsmöglichkeiten  in 
der  platonischen  Spätphilosophie  —  auf  anderes  aus  der  platonischen 
Frühzeit  wird  uns  die  Interpretation  selbst  führen.  Zunächst  muß  der 
Inhalt  der  ersten  fünf  Kapitel  des  Buches  A  in  seiner  wesentlichen  Ab- 
sicht zusammengefaßt  werden. 

Aristoteles  knüpft  an  die  zwei  Theoreme  des  platonischen  Sophistes 
vom  Nichtseienden  als  dem  Anderen  und  vom  Sein  als  der  dvvafuc,  der 
Kraft  und  Möglichkeit  des  Erleidens  und  Tuns,  an,  indem  er  beide  unter 
Weiterführung  der  in  ihnen  angelegten  philosophischen  Motive  aufs 
engste  miteinander  verbindet.  Wie  Piaton  und  die  gesamte  griechische 
Philosophie  um  die  gegenseitige  Klärung  des  BegrifFspaares  Sein  und  Be- 
wegung fundamental  bemüht,  fragt  er:  wie  kann  aus  einer  Seinsbestimmt- 
heit eine  andere  hervorgehen  ?  Die  erste  ist  sicher  nicht  seiend  in  Bezug 
auf  die  Bestimmtheit  der  zweiten,  also  entsteht  zwar  alles  Seiende  aus 
einem  qualifizierten  Nichtseienden;  dieses  Nichtseiende  ist  aber  nie 
unabhängig  von  dem  zweiten  Seienden,  auf  das  es  sich  hinbewegt,  zu 
denken,  sondern  das  Nichtseiende,  aus  dem  ein  Seiendes  entstehen  kann, 
hat  bereits  eine  Richtung  auf  etwas,  es  ist  eingegrenzt  in  seinen  Möglich- 
keiten durch  seine  spätere  Wirklichkeit.  Holz  kann  zu  Kohle,  zu  Asche 
verbrannt,  zu  Figuren  geschnitzt  werden,  kann  quellen,  faulen,  ver- 
trocknen, aber  jedes  Eidos  ist  zugleich  bestimmt  durch  alles  das,  was  es 
nicht  werden  kann,  z.  B.  das  des  Holzes  durch  die  Fähigkeit,  dies  alles 
zu  tun  und  zu  erleiden  und  anderes  nicht  zu  tun  und  zu  erleiden.  In 
solchen  Grenzen  spielt  sich  alles  Werden  ab.  Diese  Grenzen  sind  bestimm- 
bar und  erfaßbar  nur  durch  den  Wirkungs-  und  Wirklichkeitszusammen- 
hang der  ganzen,  erfüllten  Welt,  des  ganzen  Seins,  mag  dieses  Wirken 
durch  rfyvi]  „in  einem  anderen"  oder  durch  yvcuc  „in  dem  (jeweiligen 
Stück  Wirklichkeit)  selbst44  sich  vollziehen,  1070  a,  b;  für  den,  der  das 
Wesen  des  Holzes  erfassen  soll,  müssen  alle  seine  Möglichkeiten  einmal 
wirklich  geworden  sein,  er  muß  sie  erfahren  haben.  Jener  gleichmäßige 
Apriorismus  des  platonischen  Denkens,  den  wir  oben  S.  98,  119  feststellen 
konnten,  bleibt  trotzdem  wirksam.  Für  den,  der  dem  Ganzen  des  Seins 
sich  gegenüber  weiß  und  die  Verpflichtung  zu  unverdrossenem  uner- 
schöpflichem „Sehen"  und  Staunen  dauernd  festhält,  ordnet  sich  schlecht- 
hin jedes  Geschehen  auf  gewisse  Gesetzlichkeiten  hin:  auch  die  Erkennt- 
nis, daß  Holz  nicht  rostet,  sondern  verfault,  erscheint  aus  dem  Wesen, 
aus  dem  Eidos  des  Holzes  einsichtig;  man  würde  sich  wundern,  wenn  es 
anders  wäre;  man  erlebt  auch  hier  Notwendigkeiten,  die  aus  dem  „Sehen44 
des  Seienden  genau  so  sich  ergeben  wie  im  mathematischen  Felde.  Hier 
wurzelt  das  spezifische  aristotelische  Gotteserlebnis: 

4>  tronoiöc  adrov  xal  ÖWwvq-  <Lie  «^tstiftende  und  schöpferische 
'    „,  .  >,      *        Kraft  (dvi'a/Litsl)  Gottes  ist  von  allem 

yr^    övvaiiig    ndvrav   r&v  ^  optcov      Seienden  der  Grund,  daß  es  sich  so  ver. 

ah  Ca  iarl  tov  tyeiv  &OTt€Q  fyei-  halte,  wie  es  sich  verhält. 


D 


ARISTOTELES 


163 


So  drückt  der  antike  Kommentar  zur  Metaphysik  (Pseudo-Alexander 
564,  20  Hayduck)  diese  religiöse  Überzeugung  des  Aristoteles  aus. 

Damit  tritt  der  aristotelische  Gottes-  und  Demiurgenbegriff  in  einen 
deutlichen  Gegensatz  zum  platonischen.  Daß  die  Welt  in  der  Zeit  ist 
und  demnach  in  sie  eingetreten  ist,  diese  Frage  bewegte  den  platonischen 
Timaios.  Aber  dadurch,  daß  Piaton  den  votjtöc  xöa^ioc^  die  „eidetische" 
Mannigfaltigkeit  des  Seins,  der  Schöpfung  präexistieren  ließ  —  der 
Schöpfer  blickt  auf  den  vrjibc  xfafioc  hin  —  war  für  Aristoteles  ein 
Dilemma  schwerster  Art  aufgetan.    Entweder  war  der  vorjToc  ada/iwc, 

10  das  intelligible  Urbild  der  Schöpfung,  wirklich  schon  gegliederte  Mannig- 
faltigkeit, also  Entfaltung;  dann  enthielt  er  bereits  zeiträumliche  Prin- 
zipien —  wenn  nicht  die  ganze  Deduktion  des  „Parmenides"  hinfällig  sein 
sollte,  die  die  Mannigfaltigkeit  des  Seins  mit  dem  yaCverai  in  innerer 
Verknüpfung  aufgewiesen  hatte.  Dann  war  die  Schöpfung  vorweg- 
genommen und  damit  die  Welt  in  einem  unnötigen  Chorismos  verdoppelt 
und  der  ganze  Paralogismus  des  Zeitbegriffes  heraufbeschworen.  Oder  der 
Geist  Gottes,  der  das  Urbild  denkt,  war  wirklich  das  Eine;  und  dann  war 
er  ein  „Nichts",  und  der  Ubergang  von  diesem  Nichtseienden  zum 
Seienden  war  unvorstellbar,  wie  wir  eben  gesehen  haben.  Aristoteles  sah, 

20  daß  die  Lösung  nicht  durch  die  einfache  Entscheidung  für  eines  der  beiden 
Glieder  der  Alternative,  sondern  nur  durch  eine  Umbildung  der  Glieder 
erreicht  werden  konnte,  und  diese  Umbildung  schien  ihm  durch  eine 
Reihe  anderer  platonischer  Motive  möglich.  Zwangsläufig  stellte  sich  nun 
die  Unterscheidung  von  Dynamis  und  Energeia  ein,  und  da  die  £v£oyeia, 
das  verwirklichte  Sein,  zur  Bestimmung  der  övra/uic  nötig  ist  und  ihr 
demnach  wesensmäßig  vorhergeht,  qiyasi  tvqötsqov  ist,  so  muß  der  Ge- 
danke einer  Schöpfung  als  einmaliger  Tat  aufgegeben  werden;  es  kann 
nur  dauernde  Entfaltung  durch  Entstehen  und  Vergehen  innerhalb 
eines  ewigen  ungewordenen  Seinsganzen  gedacht  werden.  Das 

30  eigentlich  Schöpferische  wird  in  der  Kraft  gesehen,  die  diese  ewige  Be- 
wegung trägt,  richtet  und  unermattet  festhält.  Die  Dynamisierung,  auf 
die  Piatons  Seinsidee  angelegt  war,  tritt  nun  in  das  volle  theoretische 
Bewußtsein;  nur  aus  diesem  geschichtlichen  Zusammenhange  ist  der 
eigentliche  spezifische  Sinn  der  aristotelischen  Formulierungen  zu  ver- 
stehen. 

Eine  ausgezeichnete  Eigentümlichkeit  der  platonischen  Seinsidee  be- 
gegnet uns  sofort  bei  dem  aristotelischen  Begriff  der  Hyle  wieder,  nun  in 
theoretischer  Bewußtheit  in  strengem  Zusammenhange  mit  dem  oben 
über  das  Nichtseiende  Entwickelten.  Die  im  Phaidon  gelegentlich  schlicht 
40  ausgedrückte  Meinung,  daß  in  den  Dingen  ein  Hang,  ein  Streben  zur 
Verwirklichung  der  in  ihnen  angelegten  Möglichkeit  liege,  wird  zur  Grund- 
lage der  aristotelischen  Hy/evorstellung.  Wäre  die  Hyle  nicht  bereits  an- 
gelegt auf  die  Differenzierung  zur  Mannigfaltigkeit,  zum  zööe  zt,  dem 
„Dies"  und  Nicht- Jenes,  so  wäre  die  Mannigfaltigkeit  der  Welt  nicht 

D  11* 


104 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


erklärbar.  Denn  vom  einigen  Geist  allein  kann  sie  nicht  kommen;  der 
würde  alles  zu  Einem  machen.  Wäre  auch  die  Hyle  eine,  so  würde  das, 
was  die  Hyle  wäre,  auch  die  entfaltete  Wirklichkeit  sein  (s/2.  1069b  30/31). 

Die  problemgeschichtliche  Anknüpfung  an  das  o/nov  nävia  des  Anaxagoras  und  den 
sondernden  Geist  ist  sehr  begreiflicherweise  in  diesen  Kapiteln  wiederholt  festzustellen 
(cf.  oben  S.  731V.);  also  die  „Vorgeformtheit"  der  Hyle  (vgl.  dazu  Zahl  u.  Gestalt  141  ff.). 

Weil  bei  aller  Veränderung  ein  etwas  sich  unter  der  Einwirkung  von 
etwas  in  etwas  verwandelt,  so  muß  die  letzte  Hyle  und  das  letzte  Eidos 
außerhalb  des  Werdens  bleiben  (1069b  35,  36). 

Die  Hyle  ist  bereits  ein  „Dies"  dadurch,  „daß  sie  erscheint"  (1070a  10);  die  Schwie- 
rigkeiten, den  Sinn  dieser  Worte  genau  zu  erfassen,  die  Ross  zur  Stelle  (S.  356)  anführt, 
beruhen  auf  dem  von  Piaton  im  Timaios  (s.  S.  148,  160)  genau  entwickelten  Sachverhalt : 
die  Hyle  ist  die  Bedingung  des  Erscheinens,  aber  alles  Erscheinende  erscheint  bereits 
als  „Dies  da";  es  entwickelt  sich  auf  das  Eidos  hin,  ist  also  dvvd/zei  bereits  dies.  Denn 
umgekehrt  ist  auch  das  Eidos  schon  „irgendwo"  und  „irgendwann".  Piaton  bedauert, 
dies  feststellen  zu  müssen,  da  er  in  dem  Bestreben,  dem  Nus  noch  ein  „kleines  Stück" 
reiner  Erkenntnis  (Tim.  51  e)  zu  retten,  die  Ideenlehre  festhält.  Aristoteles  zieht  rück- 
sichtlos die  Konsequenz  aus  dem  auch  von  Piaton  zugegebenen  Sachverhalt  der  End- 
lichkeit unserer  Erkenntnis;  er  macht  Ernst  damit,  daß  das  Eidos  wie  alles  Seiende 
immer  „irgendwo  und  irgendwann"  gedacht  werden  will,  und  verbindet  dessen  Sein 
ein-  für  allemal  mit  der  Hyle;  begrifflich  kann  man  wohl  die  Hyle  und  die  Form  der 
wirklichen  Dinge  trennen,  dem  Wesen  nach  aber  nicht. 

Die  dauernde  Erwägung  der  platonischen  Theoreme,  die  vielleicht  zu  verschiedenen 
Zeiten  verschiedene  Festigkeit  der  aristotelischen  Terminologie,  vor  allem  aber  die  stete 
Gegenwart  der  oben  S.lllff.  erwähnten  mit  der  /ptjoig  zusammenhängenden  Probleme 
beleuchtet  eine  Stelle  wie  die  1070  a  13: 
bei  einigen  Dingen  ist  das  „dies  da"  nicht 
neben  der  zusammengesetzten  Wesenheit, 
wie  z.  B.  beim  Hause  seine  Gestalt,  außer 
etwa  in  der  Baukunst  (denn  es  gibt  kein 
Werden  und  Vergehen  bei  diesen  Dingen, 
sondern  auf  andere  Weise  sind  seiend  und 
nichtseiend  das  Haus  ohne  eine  Hyle  und 
die  Gesundheit  und  alles  Künstliche),  und 
wenn  es  das  sc.  eine  Trennung  von  Form 
und  Hyle)  überhaupt  gäbe,  dann  bei  den 
Naturgegenständen. 

Diese  Erörterungen  sind  zu  verbinden  mit  dem  im  letzten  Teil  von  „Zahl  und 
Gestalt"  gegebenen  Nachweis,  daß  das  Atomon  Eidos  die  erste  Wesenheit  wird,  und  daß 
zwischen  dem  obersten  und  untersten  Gliede  der  Diairesis  ein  wesensmäßiger  Zusammen- 
hang besteht. 

Aristoteles  stellt  neben  die  zwei  Wesenheiten  Stoff  und  Form  grade 
hier  mit  besonderer  Betonung  diejenige  dritte,  „unter  deren  Einwirkung", 
i)7ib  tivoc,  sich  diese  Formung  und  Bestimmung  vollzieht  —  das  „erste 
Bewegende",  wie  er  1070  a  1  es  kurz  bezeichnet.  Was  damit  gemeint  ist, 
geht  aus  dem  5.  Kapitel  der  Theologie  klar  hervor. 

Die  aus  Stoff  und  Form  „zusammengesetzte  Wesenheit",  das  einzelne 
verwirklichte  Eidos,  das  xatf  EmüTov,  entsteht  immer  nur  aus  der  Ein- 
wirkung eines  ebensolchen  Einzelnen. 


im  [ikr  ovv  tivwv  io  rode  ti  ovx  fori  nccocc  jrtv 
Gvv&€Ti]v  ovoiav,  olov  olxi'ccg  id  tldog,  e*  fiij 
rj  Tt%vri  (ovo*1  ton  yivBOig  xccl  q&oocc  rovrior, 
cckk'  cckkor  TQonov  flol  xccl  ovx  elolv  olxicc 
ts  i]  ccvev  vlrjg  xal  vyieta  xccl  nccv  io  xcctcc 
Tt%i'7]r),  dkV  slneo,  im  twv  cpvoei 1 


D 


ARISTOTELES 


165 


1071a  20: 

Anfang  («QX1})  der  einzelnen  Dinge  ist  das  Einzelne.  Der  Mensch  im  allgemeinen 
wäre  Anfang  des  Menschen  im  allgemeinen,  aber  es  gibt  keinen,  sondern  Peleus  ist  der 
Anfang  des  Achilleus,  deiner  ist  dein  Vater  usw.  Man  könnte  ein  platonisches  Beispiel 
hierfür  einsetzen:  die  Herrschaft  an  sich  wäre  Herrschaft  über  die  Unterworfenheit  an 
sich  —  ,,aber  es  gibt  keine  Herrschaft  an  sich".  Dieser  bestimmte  Herr  ist  Herr 
dieses  bestimmten  Sklaven. 

Die  Aporie  des  „Parmenides",  daß  die  Herrschaft  an  sich  und  die  Sklavenschaft 
an  sich  radikal  abgeschnitten  sei  von  einem  konkreten  Herren- Sklavenverhältnis  (s.  o. 

10  S.  130,3.;)  wirkt  also  in  unverminderter  Stärke  hier  fort  —  wenn  diese  Aporie  nicht  in  jenem 
platonischen  Dialoge  bereits  durch  Theoreme  aristotelischer  Prägung  ausgelöst  worden 
ist.  Aristoteles  gibt  dem  im  Sachverhalt  der  /o^c,  des  tätigen  Umgangs,  angelegten 
Problemzusammenhang  die  volle  prinzipielle  Schärfe:  alles  Handeln  und  Geschehen, 
allgemeiner,  jede  Bewegung  im  eigentlichen  Sinne  kann  nur  in  einem  konkret-be- 
stimmten Zusammenhange  vor  sich  gehen,  setzt  aber  andrerseits  die  sinnhafte  Bestimmt- 
heit der  Bewegung  voraus.  Alles  Seiende  ist  nie  bloßer  Stoff,  sondern  geformt  durch 
das  Eidos;  und  zwischen  diesen  beiden  Seiten  des  Problems:  der  notwendigen  Kon- 
kretion der  Bewegung  und  der  Idealität,  der  .Eicfosbezogenheit  alles  Seienden,  muß 
grade  ein  wesensmäßiger  Zusammenhang  begriffen  werden. 

20  Als  wir  oben  S.  146,31  jenen  Übergang  des  Atomon  Eidos  ins  Konkrete,  Anschaulich- 

sich- Gebende  aus  platonischen  Motiven  begreiflich  zu  machen  versuchten,  verwiesen 
wir  nachdrücklich  auf  die  im  diairetischen  Verfahren  vorausgesetzte  Ganzheitsfunktion 
des  obersten  einen  umfassenden  Seins.  Wir  hoben  ferner  (S.149,.n)  hervor,  daß  die  schein- 
bare Dürre  der  platonischen  Prinzipien  der  Einheit  und  unbestimmten  Zweiheit  nur 
verständlich  wird  aus  der  in  allen  diesen  Theorien  vorausgesetzten  Gegebenheit  der 
gesamten  gegliederten  Seinsfülle,  in  der  die  natürlichen  „Fugen"  aufzusuchen  sind.  In 
„Zahl  und  Gestalt"  ist  ausführlich  bewiesen,  daß  Aristoteles  aus  diesen  platonischen 
Überlegungen  eine  radikale  Konsequenz  zieht  und  auch  auf  jeden  Schein  einer  Deduktion 
—  den  die  platonische  Gedankenordnung  nicht  vermied  —  dieser  gesamten  Seins- 

30  Ordnung  aus  den  Prinzipien  verzichtet;  diese  Konsequenz,  beruhend  auf  einer  schärferen 
Erfassung  der  wissenschaftlichen  Deduktion  und  des  wissenschaftlichen  Beweises  über- 
haupt, führte  zu  dem  oben  entwickelten  HyZebegriff,  und  sie  spricht  sich  aus  in  der 
bewußten  Ablehnung  der  bei  der  platonischen  Anordnung  der  Gedanken  notwendigen 
Unterordnung  alles  Seienden  unter  die  Oberbegriffe  des  Einen  und  Seienden;  war  doch 
sichtlich  bereits  von  Piaton  eine  Subsumption  unter  einen  Begriff  ganz  besonderer  Art 
gemeint,  die  grade  ein  logisch-syllogistisch  stark  differenziertes  Denken  wie  das  des 
Aristoteles  zu  neuen  Ansätzen  weitertreiben  mußte. 

So  lehnt  denn  Aristoteles  (Met.  H  6  1045  b  2)  ganz  ausdrücklich  es  ab,  das  ev  und 
oV  als  „Wasbestimmung"  zum  Begriff  des  wirklichen  Etwas  hinzuzufügen,  und  auch 

40  hier  wird  dieser  Gedanke  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  das  ev  und  das  ov  keine  Ele- 
mente des  Intelligiblen  sein  können  (1070  b  7),  da  beide  auch  dem  Zusammengesetzten 
in  der  gleichen  Weise  zugrunde  liegen  —  eine  Feststellung,  deren  Sinn  sich  noch  mehr 
klären  wird,  wenn  wir  gezeigt  haben  werden,  in  welcher  Weise  Aristoteles  den  in  jener 
platonischen  „Subsumption"  unter  ein  umfassendes  ev  und  ov  enthaltenen  richtigen 
Gedanken  zur  Geltung  bringt.  Aristoteles  überträgt  die  Ganzheitsfunktion 
auf  das  bewegende  Prinzip,  jene  dritte  ovoia,  die  neben  dem  ii  und  elg  «  das 
vno  livoq  bezeichnet  als  eine  wirkende  Kraft,  die  die  övi  u.uig  zur  ivigyeux  führt. 

Im  fünften  Kapitel  (1071a  15)  wird  die  entscheidende  Wendung  zum 
Einzelnen,  zum  y.a')'  e  ctürov,  durch  folgenden  Gedankengang  weiter- 
50    geführt:  Ursache  des  einzelnen  Menschen  sind  neben  den  Elementen  und 
dem  ihm  eigentümlichen  Eidos  die  bewegenden  äußeren  Kräfte :  der  Vater, 
daneben  die  Sonne  und  die  Ekliptik.  Die  Sonne,  die  auch  für  Piaton 


166  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 


im  Staate  der  Quell  alles  Erscheinens  und  Werdens  war,  hat  den  Men- 
schen wachsen  und  groß  werden  lassen,  und  diese  Einwirkung  war  modi- 
fiziert durch  die  aus  der  Sonnenhahn  sich  ergebenden  Unterschiede  der 
Jahreszeiten  usw.  Wenn  man  diese  Gedanken  weiterdenkt,  heißt  das  also, 
daß  der  gesamte  Wirkungszusammenhang  des  Seins,  die  Welt  in  ihrem 
vollen,  die  Natur  einschließenden  Sinne,  jegliches  Einzelne  in  Zeit  und 
Kaum  auf  seiner  Verwirklichungsstufe  bestimmt;  denn  wie  die  Sonne 
von  der  Ekliptik,  so  ist  diese  wieder  von  weiteren  „Konstellationen" 
abhängig.  Überlegungen  dieser  Art  haben  Piaton  und  viele  seiner  Vor- 
gänger ebenfalls  bestimmt  und  dazu  geführt,  dem  Himmel,  den  Sternen 
den  Rang  einer  ausgezeichneten  ersten  Wesenheit  zu  verleihen.  Bei 
Aristoteles  wird  der  Gedanke,  den  wir  oben  S.  157,5  aus  dem  Timaios  be- 
legten, einfacher  und  nüchterner  angesetzt;  wir  werden  noch  sehen,  daß 
an  den  Höhepunkt  der  Gottesschilderung  sich  der  Hinweis  auf  den  Sach- 
verhalt organischer  Zeugung  anschließt.  Die  Einordnung  des  Menschen 
und  alles  Geschehens  in  einen  gesetzmäßigen  Zusammenhang  führt  not- 
wendig zu  der  Idee  einer  Totalität  des  Seins,  in  der  jenes  Austauschen  der 
Kräfte,  der  Wechsel  des  Geschehens,  der  Übergang  von  der  tivvccpic  zur 
li  foyeicc  eine  Grenze,  ein  Ende  und  Ziel  findet.  Hier  mündet  eine  aus 
der  Struktur  des  konkreten  Seins  schlechthin  geforderte  Überlegung  in 
astronomische  Gedankengänge  eines  äußersten  Himmels,  der  das  sicht- 
bare Bild  dieser  Ganzheit  des  Seins  in  seiner  einfachen  Kreisbewegung  ist. 

Die  astronomischen  Hintergründe  des  unbewegten  Bewegers  sind  von  Jaeger  S.  144 
in  ihrer  ganzen  Wichtigkeit  dargestellt  worden.  „Philosophische  Motive  i.  Weltbild  d, 
Aristot."  sind  aus  dem  1.  Buche  de  Caelo  entwickelt  von  B.  Stenzel-Mugdan,  Neue 
Jahrb.  1923  S.  lff.  H.  Scholz  hat  in  „Eros  und  Caritas"  Halle  1929  S.  17  die  physikali- 
schen Voraussetzungen  in  axiomatischer  Form  von  dem  eigentlichen  iVus-Problem  los- 
gelöst dargestellt.  Die  im  engeren  Sinne  metaphysischen  Motive  können  durch  die 
Funktion  der  Ideen  Kants  für  das  Ganze  der  Erfahrung  bezeichnet  werden.  Vor  allem 
muß  man  sich  für  jede  umfassende  Deutung  des  unbewegten  Bewegers  immer  die 
kantische  Aporie  vor  Augen  halten,  daß  das  Intelligible  zugleich  das  Prinzip  eines  reinen 
Begehrens  und  der  konkret  dinglichen  Existenz  des  Wirklichen  ist,  also  „Ding"  an  sich 
und  sich  frei  bestimmendes  Bewußtsein  aufs  engste  miteinander  verknüpft  sind,  genau 
so  wie  die  Monade  Leibnizens  grundsätzlich  über  der  Unterscheidung  von  denkender 
und  physikalischer  Einheit  liegend  gemeint  ist.  In  ganz  vorsichtiger  Orientierung  an 
diesen  problemhistorischen  Parallelen  wollen  wir  uns  der  Deutung  des  unbewegten 
Bewegers  nähern. 

d)  Die  Notwendigkeit  eines  Unbewegten. 

Aristoteles  hatte  durch  die  Unterscheidung  von  örva^ic  und  ivfgyeia 
ein  Sein  gefordert,  welches  jenseits  von  dieser  Gegenüberstellung  lag. 
Wenn  es  das  Wesen  des  dvväfisi  Seienden  ist,  daß  es  ebenso  auch  „nicht 
dies  sein  kann",  so  ist  es  möglich,  daß  einmal  alles  dvva^iei  Bestehende 
sozusagen  keinen  Gebrauch  macht  von  seinen  Möglichkeiten,  wenn  nicht 
durch  irgendeine  Wesenheit  dies  verhindert  würde;  die  platonischen 
,, Ideen",  als  die  äqexaC.  die  bestimmten  Verwirklichungsmöglichkeiten 


D 


ARISTOTELES 


167 


und  -ziele  wären  in  der  Tat  ungenügend,  wenn  nicht  eine  Kraft  da  wäre, 
die  den  Dingen,  dem  hyletischen  Sein,  jenes  „Begehren"  einpflanzte, 
von  dem  Piaton  im  Phaidon  sprach,  und  das  die  Idee  des  Guten  ver- 
deutlichen sollte  (1071b  12  ff.: 


Wenn  also  ein  Bewegungs-  oder  er- 
zeugungsfähiges ist  ohne  sich  zu  verwirk- 
lichen, dann  wird  keine  Bewegung  sein. 
Denn  dasjenige,  was  nur  die  Dynamis 
hat,  kann  auch  sich  nicht  verwirklichen. 

10  Es  hat  aiso  keinen  Nutzen,  wenn  wir 
ewige  Wesenheiten  annehmen  wie  die  Ver- 
treter der  Ideenlehre,  falls  nicht  ein  Prin- 
zip, das  verändern  kann,  ihnen  innewohnt. 
Aber  sicherlich  ist  auch  das  noch  nicht 
ausreichend  und  auch  keine  andere  Wesen- 
heit neben  den  Ideen.  Denn  wenn  sie  nicht 
in  Verwirklichung  ist,  wird  keine  Bewe- 
gung sein.  Und  nicht  einmal,  wenn  sie  in 
Verwirklichung  ist,  ihr  Wesen  aber  nur 

20  Dynamis  ist.  Denn  das  der  Dynamis  nach 
Seiende  kann  auch  nicht  sein.  Es  muß 
also  die  Arche  derart  sein,  daß  ihr  Wesen 
wirkliche  Tätigkeit  ist. 


*Allä  [ii)v  ei  I'üti  xivqTixbv  ?j 
TiocijTixöv,  [i7j  evegyovv  d£  n,  odx 
i'axai  xCvTjaiq  '  evö^erai  yäg  rb  dv- 
vccfiiv  t'xov  [ii)  ivegyelp.  otilhev  ägcc 
fifeloq  ovdi  eäv  ovaCaq  7ioi7jaM[iev 
äidiovc,  warreg  ol  rä  el'drj,  ei  [ii]  Tic, 
dvvctßfvi]  ivtorai  äQX^i  [lerccßäXleiv  • 
od  toCvvv  odd*  avrrj  txccvrj,  ovd*  äXXrj 
oi)(Si'a  nagä  %a  el'dtj'  ei  yäg  [irj  eveg- 
yijaei,  odx  I'gtcci  xivtjaig .  tri  otid*  ei 
ivegyrjaei,  i)  ö\daia  adrrjc  dvvcc[nc  • 
od  yäg  earai  xtvfjdtg  äldioc  .  evde- 
%eTcci  yäg  to  dvvä[iei  ov  [ir)  eivai. 
öel  äga  eivai  äg%7)v  toiccvtijv  i)q  r) 
ovaCa  lv£gyeia. 


Aristoteles  will  nun  dieser  Kraft  eine  wesensmäßige  Sicherheit  geben, 
er  will  sie  verankern  in  des  Wortes  eigentlicher  Bedeutung.  Kein  ewiges 
Streben,  keine  sich  selbst  bewegende  göttliche  Dynamis  scheint  ihm  aus- 
reichend (1071b  37  ff.),  sondern  nur  etwas,  das  „sich  nicht  anders  ver- 
halten kann",  o  odx  evö^erai  üXXwc,  i'%eiv,  um  den  die  ganze  Anwen- 
dungsweite des  aristotelischen  iVwsbegriffes  bezeichnenden  Terminus  an- 
zuwenden. Dieses  Sein  muß  infolgedessen  wesensmäßig  wirklich,  ivegyeia 
im  Sinne  des  notwendigen  Da-  und  Diesseins  sein.  Daher  kann  es  nicht  das- 
jenige in  sich  tragen,  was  den  Unterschied  von  öiva[iic  und  ivegyeia 
bedingt,  die  Hyle,  das  zu  Formende  (1071b  21);  es  muß  reine  evfuyeia, 
ewig  wirkliche  Form  sein.  Aristoteles  diskutiert  ausdrücklich  die  Meinung, 
daß  die  Dynamis  vor  der  Energeia  ist,  und  gibt  zu,  daß  manches  für  sie 
zu  sprechen  scheine,  wobei  er  Piaton  wie  in  dem  ganzen  Kapitel  im  Auge 
hat  (1071b  33—37,  1072  a  2 — 4).  Er  gibt  zu,  man  könnte  daraus,  daß 
das  dynamisch  Seiende  noch  nicht  verwirklicht  zu  werden  braucht, 
während  umgekehrt  jedes  eveoyov  ,  jedes  wirkende  Wirkliche  die  Mög- 
lichkeit zu  sein  in  sich  schließt,  folgern,  daß  die  Dynamis  das  allgemeinere 
Prinzip  sei;  aber  dann  „wird  nichts  sein  vom  Seienden,  denn  das  Mög- 
liche ist  immer  noch  nicht",  und  das  widerspricht  der  ,, Jetztheit",  der 
Gegenwärtigkeit  des  Seienden  (1071b  23 — 26).  Das  „Noch  nicht"  be- 
deutet Nacht,  Chaos  (1072  a  8),  bedeutet  ein  unendliches  „Vorher"  vor 
der  Zeit,  also  einen  Widerspruch  in  sich  (1071b  8),  den  nur  die  ewige 
Gegenwärtigkeit  des  Geistes  überwindet,  die  kvigyeia  an  sich. 


168  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 


Indem  Aristoteles  den  Dynamisbegriff  schärfer  auf  seine  logischen  Voraussetzungen 
—  im  Zusammenhange  der  inj  or-Lehre,  s.  o.  S.  62  —  untersucht,  gelangt  er  einerseits 
zur  Bewältigung  gewisser  noch  ungelöster  Probleme  der  dynamischen  Seinsidee  Piatons 
und  bringt  andrerseits  doch  deren  innerstes  unverlierbares  Motiv  zusammen  mit  dem 
der  Ideenlehre  erneut  und  gereinigt  zur  Geltung.  Was  bei  Piaton  in  einem  ebenso 
starken  wie  unmerklichen  Formungswillen  an  Problematik  verhüllt  war,  bricht  jetzt 
als  „Widerspruch**  auseinander  —  es  steht  aber  kein  Widerspruch  bei  Aristoteles,  der 
nicht  auf  dem  Grunde  der  platonischen  Seinsidee  anzutreffen  wäre. 

Es  mögen  diese  und  auch  die  folgenden  Erwägungen  nicht  so  verstanden  werden, 
als  ob  Piaton  durch  Aristoteles  zu  recht  „korrigiert"  worden  wäre.  In  dieser  gefähr- 
lichsten Sphäre  der  Philosophie,  in  der  die  kosmologischen  und  psychologischen 
Paralogismen  und  Antinomien  zusammenstoßen  und  das  Problem  der  Existenz  der 
Welt  und  des  sie  denkenden  Bewußtseins  tragen,  gibt  es  keine  zulängliche  „Lösung". 
Wenn  die  Philosophie  nicht  in  begreiflicher,  aber  letzten  Endes  doch  unbefriedigender 
Selbstbeschränkung  auf  diese  Bereiche  verzichtend  sich  in  größerer  Nähe  irgendeiner 
Einzelwissenschaft  anbaut,  sei  es  Mathematik  oder  Naturwissenschaft  oder  sonst  eine 
Insel  der  strengen  Exaktheit,  so  wird  sie  immer  zwischen  den  beiden  Möglichkeiten 
Piaton  oder  Aristoteles  wählen  müssen:  entweder  wird  sie  der  dichterischen  Form  sich 
näher  haltend  das  Ganze  der  Gedanken  zum  Ausdruck  zu  bringen  suchen  —  mit  dauernd 
geringerem  Erfolge  und  mit  immer  schlechterem  Gewissen,  wenn  sie  sich  an  dem  Vor- 
bilde Piatons  ehrlich  mißt;  oder  sie  wird  den  aristotelischen  Weg  letzter  Begrifflichkeit 
und  analytischer  Strenge  suchen  und  durch  den  steten  Neuansatz  der  Probleme  sich 
zwar  konzentrisch  auf  die  Mitte  und  Einheit  des  Systems  zu  bewegen  und  doch  darauf 
verzichten,  diese  Einheit  thematisch  zum  Gegenstande  zu  machen.  Grade  in  dem  Ent- 
wurf des  Buches  J  ist  das  rhapsodische  Anschlagen  der  Themen  um  einen  implizit 
vorausgesetzten,  aber  nicht  zulänglich  ausgedrückten  Mittelpunkt  sehr  deutlich  (vgl. 
Jaeger  über  den  Stil  dieses  Buches,  aus  dem  nur  Kapitel  8  herausfällt,  S.  369).  Der 
Versuch,  der  hier  gemacht  wird,  die  rhapsodische  Vielstimmigkeit  in  der  eigentlich 
philosophisch-sachlichen  Ebene  als  Ausdruck  einer  umfassenden  einheitlichen  Seins- 
auffassung aus  der  menschlich-geschichtlichen  Gesamtsituation  des  Aristoteles  zu 
deuten,  bedarf  natürlich  noch  nach  allen  Seiten  der  Ausarbeitung  und  Ergänzung. 

e)  Das  Streben  (  Oqe tic). 

Mit  dem  7.  Kapitel  tritt  ein  Strang  des  vielfältigen  Gedankenganges 
an  die  Oberfläche,  der  zweifellos  schon  während  aller  der  mehr  physika- 
lisch orientierten  Erörterungen  mitzudenken  war,  die  Ineinssetzung  der 
zunächst  als  physische  Ortsbewegung  gefaßten  ewigen  wesenhaften  ak- 
tuellen Kreis-Kinesis  mit  der  zielgeleiteten  menschlichen  Wollensbewe- 
gung,  der  ogehc  und  ßovXyöic.  Und  was  das  Wichtigste  ist,  mit  der 
Denkbewegung44,  der  vöqaic;  denn  das  Erstrebte  und  durch  die  vnyGig 
Gedachte  „bewegt,  selber  unbewegt44;  und  die  vo^ave  ist  äqyj\  (1072a 
19—30). 

Daß  hier  kein  plumper  Anthropomorphismus  vorliegt,  keine  naive  Teleologie, 
sondern  eine  konsequente  Physik  ohne  Gravitation,  unterstreichen  auch  diejenigen, 
die  den  physikalischen  Sinn  in  den  Vordergrund  stellen  und  auf  eine  Erklärungs- 
möglichkeit der  v6t]cn<;  rotjaewg,  sichtlich  des  metaphysischen  Höhe-  und  Zielpunktes 
des  Ganzen,  ausdrücklich  verzichten  (wie  H.  Scholz  1.  c.  S.  42).  Unsere  Darstellung 
kann  hier  an  die  oben  S.  157  entwickelte  These  anknüpfen,  daß  die  Vergleichung 
der  astrisch-kosmischen  Bewegung  mit  der  psychischen  weniger  eine  Psychisierung  der 
ersteren  als  eine  „Kosmisierung"  der  letzteren  bedeutet.  Wir  treten  damit  wieder  in  den 


D 


ARISTOTELES 


169 


platonischen  Urgrund  der  aristotelischen  Gedanken  ein,  und  müssen  diese  Rück- 
beziehung  noch  ein  erhebliches  Stück  weiter  als  bis  zum  Timaios  verfolgen.  Denn 
Aristoteles  setzt  hier  bei  folgenden  Begriffen  des  früheren  Piatonismus  an:  1.  beim 
„ersten  Erstrebten"  des  Lysis,  dem  ngÜTov  cpr'koi>;  s.  o.  S.  107.  Indem  2.  das  xcckov 
als  Gegenstand  des  Begehrens  und  Wollens  und  das  kqigtov  eingeführt  werden,  ist  der 
ganze  Zusammenhang  des  Symposion  einschließlich  der  Idee  des  Guten  gegeben;  die 
„Einfachheit",  ccnkovi',  des  /.aköv  greift  das  povoeideg  y.akov  wieder  auf.  Aristoteles 
findet  3.  den  Zusammenhang  zwischen  dem  ersten  physikalischen  Beweger  und  dem 
den  reinen  Geist  selbst  unbewegt  bewegenden  Denk-  und  Strebensgegenstand  in  dem 
Motiv  des  ntQas^  der  Grenze,  die  «q/ij  und  rf'Aoc,  Erstes  und  letztes  Umfassendes 
zugleich  ist  und  dem  Regressus  eh  ccnsioor  in  allen  Richtungen  ein  Ziel  setzt.  Deshalb 
kann  nicht  jedes  Objekt  des  Strebens  als  schlechthin  unbewegt  Bewegendes  ange- 
sprochen werden,  sondern  nur  dasjenige,  das  als  vorjTÖv  nicht  nur  zufällig  unbewegt  ist, 
sondern  wesensmäßig  im  ruhenden  Sein  begründet  ist.  Die  trivialen  Beispiele,  mit  denen 
Pseudo-Alexander  die  Erläuterung  der  Zeilen  1072  a  26  anhebt,  bezeichnen  immerhin 
den  Ausgangspunkt  der  Erörterung:  das  Futterbündel,  selbst  unbewegt,  bewegt  den 
Esel;  andrerseits  bewegt  Intelligibles,  wenn  es  z.  B.  das  Schlechte  ist,  nicht.  Aristoteles 
selbst  führt  die  Erörterung  über  diese  Sphäre  sofort  hinaus  durch  die  Unterscheidung 
von  dem  Begehren  (im  Sinne  der  Begierde,  emfrvjui'cc),  das  vom  schön  Scheinenden 
bewegt  wird,  und  dem  Wollen,  das  durch  seiendes  Schönes  bewegt  wird,  deutet  aber 
sofort  an,  daß  ein  erstes  /.v.k6v,  ein  erstes  an  sich  zu  Wählendes,  ein  einfaches 
Bestes  erst  den  Sinn  des  hier  gemeinten  ooexTÖv,  des  Strebensgegenstandes  an  sich, 
erfüllt.  Diese  Gedanken  sind  Aristoteles,  dem  Leser  des  „Lysis",  als  nyiinor  yikov  ge- 
läufig, und  die  so  wichtige  Feststellung,  daß  „wir  streben,  weil  uns  etwas  schön  erscheint 
mehr  als  daß  uns  umgekehrt  etwas  gut  erschiene,  weil  wir  es  erstreben"  (1072a  29),  be- 
schäftigte Piaton  bereits  im  Euthyphron  (10  e),  wo  der  Zentralbegriff  der  tttokoy/'a, 
das  oawr  in  seinem  Selbstsein  festgehalten  wird  selbst  den  Göttern  gegenüber;  nicht 
weil  es  den  Göttern  lieb  ist,  ist  etwas  heilig,  sondern  umgekehrt,  weil  es  in  seinem  Sein 
heilig  ist,  wird  es  von  den  Göttern  geliebt  und  ist  für  die  Menschen  verbindlich.  Das 
setzt  Aristoteles  bei  seinen  Hörern  voraus,  und  an  Leser  dieser  Schrift  außerhalb  seiner 
Schule  dürfte  er  in  der  Tat  kaum  gedacht  haben  (s.  Jaeger  1.  c).  Somit  dürfen  wir 
uns  nicht  wundern,  wenn  Aristoteles  sofort  weiterschreitet  zu  der  Sphäre  desjenigen 
Guten  oder  Schönen,  „das  sich  niemals  anders  verhalten  kann"  (1072  b  13),  das  also 
nicht  nur  in  seinem  Dasein,  sondern  auch  in  seinem  Wesen  ruhend,  „unbewegt",  un- 
verrückbar ist,  um  desto  sicherer  und  unwiderstehlicher  die  Bewegung  des  Strebens 
auszulösen.  Alles,  was  wir  oben  über  die  im  Piatonismus  sich  entfaltende  sokratische 
Grundthese  vom  einsichtigen  Guten  als  dem  stärksten,  als  dem  im  letzten  Grunde 
einzigen  Willensimpuls  gesagt  haben,  ist  hier  sichtlich  in  die  Formeln  des  Aristoteles 
eingegangen. 

Das  Bewußtsein  der  umfassenden  Synthese,  die  wir  durch  den  dau- 
ernden Bezug  auf  platonische  Gedankenbereiche  vorbereiteten,  spricht 
auch  in  dem  gelassenen  Stil  der  aristotelischen  Lehrschrift  verhüllt  aus 
jeder  Zeile  der  Theologie;  die  Erklärung  für  das  hier  im  Gottesbegriff 
Zusammengedrängte  erfordert  den  steten  Rückgang  auf  die  ausführ- 
licheren Darlegungen  des  iVusbegriffes  in  der  Schrift  von  der  Seele  (III,  c. 
4 — 6)  und  im  letzten  Buch  der  nikomachischen  Ethik,  wo  die  iVuslehre 
aus  der  Theorie  der  Lust  und  Glückseligkeit  herauswächst.  Met.  A  I 
1072  b  13:  „An  einem  solchen  Prinzip,  aq^i]  ist  der  Himmel  und  die 
Natur  gehängt"  (fjorrjTat);  sie  ist  von  ihm  abhängig  —  von  einem  solchen 
ersten  Strebensgegenstand.  Himmel,  odgccvög,  ist  die  Ganzheit  alles  Sicht- 
baren, die  Natur,  yraic,  das  innerhalb  dieses  Ganzen  der  Welt  sich 


170 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


lebendig  Bewegende.  „Es  ist  (tätiges)  Verhalten  (diaywyfj)  von  der  Art, 
wie  das  beste  für  uns  ist,  (an  dem  wir)  nur  kurze  Zeit  (teilhaben). 
So  aber  verhält  sich  jenes  Wesen  immer  (während  uns  dies  unmöglich 
ist),  da  seine  tätige  Wirklichkeit  auch  Freude  ist  (ircel  xal  fjdovty  f\ 
i\tü)tia  loriov),  und  deshalb  ist  Wachheit,  Wahrnehmung,  Denken 
(vdfjmc)  das  Erfreulichste  und  dieser  (der  letzteren)  wegen  wiederum 
Hoffnung  und  Erinnerung". 

Hier  muß  die  Theorie  des  Gefühls,  und  zwar  des  positiven  Gefühls  der  ydonj  heran- 
gezogen werden.  Was  wir  heute  erst  allmählich  als  philosophisch-metaphysisches  Pro- 
blem wieder  zu  entdecken  beginnen,  ein  Verständnis  des  Gefühles  als  eines  umfassenden 
(iesamtverhaltens,  das  ist  von  Aristoteles  bereits  in  wesentlichem  Ansatz  geleistet 
worden;  es  bestätigt  sich  hier  an  einer  prägnanten  Stelle,  was  N.  H artmann  (Ethik 
p.  VII)  allgemein  über  die  unmittelbare  Gegenwartsbedeutung  der  aristotelischen 
Ethik  sagt. 

Im  Buche  H  13  der  Nikomachischen  Ethik  bekämpft  Aristoteles  die  Auffassung  der 
y&ovij  als  eines  Werdens;  Piaton  hat  Ansätze  einer  Gefühlstheorie  im  Begriff  des  Eros, 
im  Mischungsproblem  des  Philebos,  vor  allem  in  der  Begründung  der  Paideia  auf  eine 
Disziplinierung  der  Gefühlsreaktionen  (Staat  III  401  d  Gesetze  II  653a.  Dazu  Plato  d. 
Erzieher  S.  134 f.  u.  bes.  Wiss.  u.  Bildg.  i.  pl.  Erziehungsbegr.  S.  111).  Aristoteles  ersetzte 
die  Verknüpfung  des  Gefühls  mit  dem  Werden  durch  die  Verknüpfung  mit  dem  „Um- 
gehen", der  lebendigen  Erfahrung  (1153a  8ff.):  m  ovx  dvccyxrj  ht^öv  ti  drai  ßekrtov  ryg 
tjdoi't]c,  a>G7i€Q  Tivtg  yccoi  jo  rikog  Ttjg  ysviaewg'  ov  yaQ  ytvtoeig  slolv  ovds  [Atta  yereoetog 
nctacti,  dkk1  evsQyewi  xal  Tt'kog  •  ovds  yivo^viav  Gv^ißcuvovaiv,  dkkd  /qio /u&rior '  xal  rikog 
ov  naoüiv  eiEQov  ti,  dkkd  twv  flg  rrjr  Teketooir  dyojuerwv  rijg  (pvoeujg .  dio  ov  xakwg  fyei 
70  aioS-tjTtjp  yiveoiv  (fdvui  elpcu  Trjv  rjdoovyv,  dkkd  [xäkkov  ksxiiov  iviQyeiav  tt}  g  y.ard 
cfvaiv  €%€(o g  

Genauer  ausgeführt  wird  im  letzten  Buch  die  Beziehung  der  ydorij  zur  tvdaifxovia 
und  &€(x)q£cc,  in  der  das  ganze  Werk  gipfelt.  Die  r\dovr]  ist  außerhalb  der  zeitlichen  Ent- 
wicklung, sie  ist  im  Jetzt,  vvv,  ist  also  präsent;  sie  ist  ein  Ganzes,  ein  okor  (1174b  9). 
,, Freude  vollendet  eine  Energeia,  nicht  wie  eine  in  ihr  bereits  vorliegende  Haltung, 
sondern  als  eine  hinzutretende  Vollendung  (zt'Aoc),  wie  die  Schönheit  bei  allem  auf 
der  Höhe  der  Reife  Befindlichen.  Sobald  das  intelligible  (royioi  )  oder  das  wahrnehm- 
bare Objekt  so  ist,  wie  es  sein  soll,  und  auch  das  unterscheidende  (xqTvov)  oder  das 
schauende  Subjekt  (&£ü)qovv),  dann  wird  in  der  Verwirklichung  (Energeia)  die  Freude 
sein.  Denn  wo  immer  das  erfahrende  Subjekt  und  das  einwirkende  Objekt  ähnlich  sind 
und  auf  die  gleiche  Weise  sich  zueinander  verhalten,  da  tritt  dieselbe  Wirkung  ein'4 
(1074  b  33).  Aristoteles  entwickelt  nun  die  Unfähigkeit  des  Menschen  zu  irgendeinem 
dauernden  Verhalten,  zu  einem  ovrf/ec  iviqyth",  aber:  obwohl  das  Menschendasein 
dem  Wechsel  verhaftet  ist,  so  „wird"  doch  die  Freude  nicht,  da  sie  nicht  innerhalb  des 
<)rrv.uig-ivtqyi:i «-Prozesses  eintritt,  sondern  erst  als  Vollendung,  Ziel  (itkog)  zur  iveo- 
yeia  hinzutritt,  wie  wir  gehört  haben. 

Soviel  genüge  zunächst  zur  Erläuterung  der  ersten  Sätze  im  Theologiekapitel  der 
Metaphysik.  Das  Bild  der  Wachheit  im  Gegensatz  zum  Traum  und  Schlaf  als  Ausdruck 
für  eine  bestimmte  Bewußtheit  durchzieht  den  gesamten  Piatonismus.  Charakteristisch 
für  unsere  Stelle  und  für  die  Grundhaltung  des  Aristoteles  ist  die  auch  in  den  heran- 
gezogenen Sätzen  der  Nikomachischen  Ethik  wiederholt  bekräftigte  Stellung  der  Wahr- 
nehmung, der  ccio&ijßig,  neben  der  rorjoig.  In  de  anima  T  7  431a  8  wird  das  Wahr- 
nehmen als  ähnlich  dem  (fdvcu  und  voeiv  bezeichnet,  eine  Parallele,  die  für  uns  noch 
wichtig  werden  wird. 


ARISTOTELES  171 


f)  Nus  und  noetisches  Denken. 

Wir  müssen  nun  die  Worte  des  Aristoteles  vorsichtig  abwägend  darauf- 
hin prüfen,  wie  weit  er  von  dem  im  Grunde  allein  ausdrückbaren  und  der 
Beschreibung  zugänglichen  menschlichen  Anteil  am  Nus  aufsteigt  zu 
einer  —  natürlich  mehr  indirekten  —  Beschreibung  eines  göttlichen  Nus. 
Zuerst  gibt  er  lediglich  den  Unterschied  an,  daß  Gott  dauernd  in  einem 
Zustand  ist,  der  uns  nach  dem  Gesetz  menschlichen  Wesens  nur  vorüber- 
gehend zugänglich  ist;  er  überläßt  es  uns,  nach  seinen  Andeutungen  aus 
diesem  Fehlen  der  Unterbrechung  durch  den  gegensätzlichen  Zustand 
die  Folgerungen  für  den  Dauerzustand  zu  ziehen  und  damit  an  das  eigent- 
liche göttliche  Sein  näher  heranzukommen.  1072  b  24 — 26  gibt  er  einen 
Hinweis,  daß  der  göttliche  Zustand  über  die  einfach  quantitative  zeit- 
liche Ausdehnung  der  höchsten  Augenblicke  unseres  Daseins  sehr  wohl 
noch  qualitativ  hinausliegt.  Es  ist  ja  keine  Frage,  daß  ein  Wachen  ohne 
jede  Unterbrechung  durch  Müdigkeit  und  Schlaf  infolge  des  fehlenden 
Gegensatzes  etwas  wesentlich  anderes  wird,  und  daß  auch  der  Unterschied 
von  Wahrnehmung  und  Denken  in  einem  Zustand  völlig  gleichmäßiger 
Energeia  schwindet  und  dadurch  beides  modifiziert  wird.  Freilich  darf 
dies  echt  philosophische  Bestreben  des  Aristoteles  nicht  aufgefaßt  werden 
als  ein  spintisierender  Versuch,  ins  Undenkbare  einzudringen;  er  geht 
auf  diesem  Wege  nicht  einen  Schritt  weiter  als  nötig  ist,  um  durch  Ge- 
winnung von  Grenzbegriffen  die  menschliche  Weise  des  Lebens  im  Nus 
zu  verdeutlichen,  zu  der  der  Ausblick  auf  diesen  transzendenten  Nus 
nun  einmal  gehört. 

Ross  macht  im  Kommentar  sehr  fein  auf  gewisse  sprachlich-stilistische  Eigentüm- 
lichkeiten aufmerksam,  die  von  vornherein  die  ganz  besondere  Seinsart  des  Göttlichen 
andeuten.  So  das  Fehlen  des  Genitivs  bei  diayuyq  ;  nicht  sein  Leben  ist  .  .  .,  sondern 
es,  das  Göttliche  ist  einfach  dtccytoy^i  in  dtayiDyrj  liegt  bereits  implizit  die  Freude,  wie 
Ross  hervorhebt  (diayu>yi]  oft  =  lustvolle  Unterhaltung).  Daher  wieder  eine  strenge 
Gleichsetzung  von  r/donj  und  h'tyytuc  tovtov;  seine  Energeia  ist  Freude,  nicht  daß 
sie  zur  Freude  führte;  für  menschliche  Wesen  ist  die  Freude  die  am  Ende  des  Weges 
von  Dynamis  zu  Energeia  hinzukommende  Erfüllung;  hier  ist  die  Energeia  immer 
erfüllt,  also  unmittelbare  Freude.  Es  ist  ferner  aus  dem  analogen  Grunde  klar,  daß 
Hoffnung  und  Erinnerung  durchaus  menschliche  Verhaltungsweisen  sind;  sie  erhalten 
aber  ihren  letzten  Sinn  als  Überbrückungen  der  Lücken  der  Energeia  aus  dem  Gegen- 
bild eines  einfachen  göttlichen  dauernden  Bewußtseins.  Grade  hier  ist  das  Verhältnis 
zu  den  platonischen  Gedankengängen  charakteristisch.  Die  oben  S.  108,5  besprochene 
Mnemestelle  des  Symposions  208  a  6  ist  die  Quelle  und  deshalb  der  beste  Kommentar 
zur  aristotelischen  xtvycug-toiog-Lehre;  auch  dort  der  Vergleich  mit  dem  kontinuier- 
lichen göttlichen  Bewußtsein.  Aristoteles  gelangt  aber  durch  die  radikalere  Abhebung 
von  und  vovg  zur  Ablehnung  der  Anamnesislehre;  denn  die  genaue  Fassung  von 

Nus  und  Noesis  ist  nun  die  Aufgabe.  Sie  erfordert  ein  besonders  scharfes  Hinhören  auf 
den  Zusammenhang  des  Vorhergehenden  mit  den  folgenden  Sätzen. 

Met.  si  7  1072  b  18  ff. :  „Das  Denken  an  sich  aber  geht  auf  das  an  sich 
Beste,  und  das  (,bei  dem  sich  der  Sachverhalt  des  „an  sich44)  am  meisten 
(verwirklicht,)  auf  das  am  meisten  (Beste)44  (die  Umständlichkeit  des  Aus- 


m 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


druc  ks  ontspricht  der  komprimierten  Fassung:  xal  fj  naliGTa  tov  fidXiara). 
Sich  selbst  aber  denkt  der  Nus  im  Erfassen  des  Denkbaren  (votjtöv). 
Denn  er  wird  denkbar  im  Berühren  (ihyyävwv,  s.  o.)  und  im  Denken,  so- 
daß  Nus  und  Gedachtes  dasselbe  wird.  Denn  das  Aufnehmende  für  das 
Denkbare  und  für  das  Sein,  das  ist  eben  Nus  (rd  yäo  dexTixbv  tov  votjtov 
xal  vfjq  otiaCac  votic).  Er  ist  aber  in  Tätigkeit,  sofern  er  jenes  (voitov  und 
otiala)  hat.  Daher  ist  mehr  als  jenes  (aufnahmefähig  zu  sein  für  voitov 
und  oüatct)  dieses  (ßvegyel  di  E%(ßv)  das,  was  der  Nus  Göttliches  zu 
haben  scheint,  und  die  Theoria  ist  das  erfreulichste"  (ßor'  IxeCv  -v  fiälXov 
i  <>rio  o  öoxel  ö  roPc  &eiov  i'%eiv,  xal  ?)  üewQCa  tö  fJdiöTov  xal  äo,GToi).  Für 
Text  und  Interpretation  dieser  Stelle  verweise  ich  auf  Ross'  umsichtige 
Komnientierung. 

Der  Ubergang  zur  Noesis  setzt  voraus,  daß  in  der  vorhergehenden 
Reihe:  (Wachheit,  Wahrnehmung  und  Noesis)  diese  letzte  nicht  nur  als 
der  Hauptbegriff,  sondern  als  die  Zusammenfassung  zu  betrachten  ist. 
Die  Steigerungsmöglichkeit,  die  in  dem  doppelten  iiclXigtu  liegt,  beweist 
wieder,  daß  dieses  „sich  selbst  denken",  das  zugleich  Denken  des  Besten 
ist,  zum  Nus  schlechthin  gehört,  auch  zu  dem  dem  Menschen  zugänglichen, 
und  legt  diese  Erweiterung  auch  für  alles  folgende  nahe.  Durch  das  „Beste" 
ist  nun  auch  der  Zusammenhang  mit  dem  öqcxtöv  wieder  hergestellt;  und 
auf  diesem  Zusammenhang  beruht  sichtlich  die  innere  Beziehung  von 
Nus  und  erstem  Beweger,  von  Geist-Lehre  und  physikalisch- astronomi- 
scher Bewegungslehre.  Der  Zusammenhang  beruht  erstens  auf  der  ein- 
fachen, als  selbstverständlich  geforderten  Beziehung  von  Gut  und 
Streben,  Bewegung;  doch  damit  ist  erst  der  Schauplatz  der  Bewegung 
bezeichnet,  aber  noch  nicht  die  im  Begriffe  des  Nus  geforderte  Unbewegt  - 
heit.  Deshalb  muß  zugleich  der  (logische)  Peras-Charakter  des  Nus  heran- 
gezogen werden,  den  wir  eingangs  wegen  seiner  ganz  besonderen  Wichtig- 
keit hervorgehoben  und  mit  der  Ganzheitsfunktion  der  Kantischen  Idee 
in  Beziehung  gesetzt  haben.  Die  Funktion  des  Peras  ist  bei  Aristoteles 
immer  die  Abstellung  und  Feststellung  —  im  doppelten  Sinne  —  eines 
Regressus  slg  äitemov^  im  superlativisch  gefaßten  aqiarov  —  Piaton 
hatte  von  der  Idee  des  Guten  an  sich  gesprochen  (vgl.  die  Kritik  des 
Aristoteles  1075  a  37  ff.)  —  ist  dieser  Regressusgedanke  inhaltlich- 
qualitativ gewendet;  es  muß  ein  würdigstes  Objekt  der  Noesis  geben, 
bei  dem  auch  die  in  ihr  angelegte  Bewegung  wie  jede  andere  ihr  Telos 
findet.  Die  Unterscheidung  einer  ideellen  und  einer  physikalischen  Be- 
wegung, die  leicht  genug  im  niederen  Bereich  festzuhalten  ist,  muß  in  der 
Sphäre  des  ersten  Bewegers  suspendiert  werden.  Vor  allem  muß  auch  die 
Bewegung  des  Denkens,  solange  sie  noch  als  Ubergang  von  einem  Subjekt 
zu  einem  Objekt  oder  umgekehrt  erscheint,  aufgehoben  sein  —  damit 
entfiele  die  oben  S.  139,1  entwickelte  systematisch- ontologische  Aporie. 
Das  heißt,  der  Nus  muß  bei  sich  selbst  bleiben  und  sich  selbst  denken. 
Damit  tritt  aber  eine  neue  Schwierigkeit,  die  Gefahr  leerer  Reflexion 


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ARISTOTELES 


173 


auf,  mehr  für  uns  als  für  das  gegenständlich  gerichtete  griechische 
Denken,  eine  Gefahr,  die  Aristoteles  sofort  durch  den  Zusatz  bezeichnet : 
„der  Nus  denkt  sich  selbst  im  Erfassen  des  Denkbaren44.  Wie  stark  auch 
hier  der  Regressus-£/c-#7r^(>o^-  Gedanke  mitspielt,  zeigt  die  Erläute- 
rung, die  Aristoteles  selbst  A  9  diesem  Zusammenfall  von  Nus  und  vorjTa 
gibt;  die  Tatsache  behandelt  er  auch  in  der  Schrift  von  der  Seele,  c.  5 — 8. 

A  9  1074b  15  fragt  Aristoteles:  was  denkt  der  Nus,  „das  göttlichste 
aller  Phänomene44  ?  Sicher  etwas;  sonst  schliefe  er  und  wäre  nicht  wach. 
Wenn  er  aber  etwas  denkt,  so  ist  ein  anderes  des  Nus  mächtig  (tovtov 
<T  äkXo  xvqioi');  es  bestimmt  ihn,  es  bringt  seine  Dynamis  zur  Energeia; 
es  verwirklicht  ihn.  Und  so  wäre  er  nicht  das  beste  Sein,  sondern  jenes 
wäre  noch  würdiger.  Er  würde  sich  verändern,  wenn  er  etwas  anderes 
dächte,  gemessen  an  dem  Zustand,  ehe  er  es  dachte,  und  zwar  zum 
Höheren,  was  seinem  Wesen  widerspräche.  Umgekehrt  kann  er  auch  nicht 
Schlechteres  denken,  als  er  selbst  ist,  denn  dann  würde  er  sich  zum 
Schlechteren  verändern  —  Gedanken,  die  auch  Piaton  im  2.  Buch  des 
Staates  (381b  ff.)  zur  Annahme  von  der  Unveränderlichkeit  Gottes  be- 
stimmt hatten.  Der  Übergang  von  einem  zum  anderen  Zustand  würde 
den  Nus  nicht  nur  mit  der  Dynamis,  sondern  auch  mit  der  Hyle  in  Ver- 
bindung bringen,  denn  alle  Veränderung  setzt  die  Trennung  des  Trägers, 
an  dem  die  veränderten  Zustände  stattfinden,  von  diesen  Veränderungen 
voraus  (cf.  Met.  K  12  1068b  10).  Die  Seele  ist  veränderlich,  sie  ist  ein 
möglicher  Ort  für  die  Formen  und  für  das  Gedachte  (dvvd/nei  rÖTiog  eid&v 
xal  voyrwv),  dagegen  der  Nus  ist  das  Gedachte  (rorjTÖv),  wie  in  der 
Schrift  von  der  Seele  (r  3  431  b  17)  auseinandergesetzt  wird:  „der  Nus 
ist  in  seiner  Wirklichkeit  die  Dinge44  (6  vovg  eoTlv  ö  xax  ev^yeiav  rä 
TiQdyjLiaTa).  Die  Seele  als  Aufnahmegefäß  des  Nus  ist  infolgedessen  „in 
gewissem  Sinne44  ebenfalls  das  Seiende  (fj  tyvyr\  vä  ovra  tiwc  laziv, 
ib.  Zeile  1).  Für  die  Seele  ist  es  mühsam,  dauernd  ihre  Funktionen  aus- 
zuüben, denn  sie  ist  den  menschlichen  Wesen  zugehörig;  daher  kennt 
Aristoteles  keine  Welt s eele.  Der  Geist  „denkt  nicht  manchmal,  manch- 
mal wieder  nicht,  sondern  er  ist  überhaupt  nicht  in  der  Zeit  (de  an. 
FS  430a  22),  er  ist  „jetzt44,  präsent  —  wie  die  Freude! 

Wie  die  Seele  deutlich  und  bewußt  dem  Nus  gegenübergestellt  ist, 
so  werden  in  den  nachträglichen  Erläuterungen  des  Kapitels  9  der 
Theologie  auch  die  InunT^iai ,  das  Wissen,  die  Wahrnehmung,  die  Mei- 
nung und  der  Verstand  (ötdvoia)  grade  durch  die  andere  Art  des  Sich- 
selbstdenkens der  Noesis  entgegengestellt.  Alle  diese  Tätigkeiten  beziehen 
sich  in  erster  Linie  „auf  etwas  anderes44,  nur  „nebenbei44,  Iv  TcaQfoyw, 
auf  sich  selbst.  Das  ist  ein  wichtiger  Hinweis,  der  die  Beteiligung  des  Nus 
auch  an  diesen  Tätigkeiten  zum  Problem  macht.  Auch  der  Erkennende 
weiß,  daß  er  erkennt,  der  Wahrnehmende,  daß  er  wahrnimmt,  aber  er 
befindet  sich  in  der  charakteristischen  Lage,  den  Gegenstand  seiner  Er- 
kenntnis und  seiner  Wahrnehmung  von  diesen  Akten  selbst  unterscheiden 


174  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 


zu  können  und  zu  müssen;  er  ist  ja  nicht  frei,  nicht  schöpferisch,  ihm 
ist  etwas  „gegeben",  er  ist  rezeptiv,  nicht  selbstgebend. 

IS' im  muß  man,  das  zeigen  die  zuletzt  übersetzten  Worte  unserer 
Theologie,  auch  im  Nus  —  mindestens  begrifflich  —  das  Aufneh- 
mende, dsxTixöv,  von  dem  Aufgenommenen,  dem  po^töv,  unterscheiden, 
in  dessen  Berührung  der  Nus  selbst  „denkbar",  vo^rög  wird,  sodaß 
er  sich  selbst  denken  kann.  Aristoteles  sagt  aber  ausdrücklich,  daß  mehr 
als  jene  Aufnahmefähigkeit  die  Energeia,  das  tätige  Wirken  das  Gött- 
liche in  uns  ist,  an  dem  wir  nur  Anteil  haben,  während  Gott  dies  rein 
und  ganz  hat.  Die  Schrift  von  der  Seele,  ausdrücklicher  auf  die  Ver-  10 
deutlichung  jenes  menschlichen  Anteils  gerichtet,  führt  folgerichtig  hier 
die  Scheidung  des  Nus  tvoitjuxoc,  des  tätigen,  und  des  Nus  tcccI/^tixöc, 
des  leidenden,  ein;  obwohl  eine  ganz  genaue  Entsprechung  nicht  be- 
hauptet werden  soll,  besteht  zwischen  dem  Aufnehmenden,  dexTixdv, 
und  dem  vodg  naürjnxöq  die  engste  sachliche  Beziehung. 

g)  Theoria. 

Die  in  dem  Zusammenfall  von  Nus  und  seinem  Inhalt  sich  ergebende 
Energeia  des  Nus  ist  nun  nach  dem  Zusammenhang  der  aristotelischen 
Sätze  der  Grund  für  die  letzte  Folgerung:  „daher  ist  auch  die  Theoria 
das  Erfreulichste  und  Beste".  Was  hier  nach  diesem  Zusammenhang  20 
Theoria  heißt,  ist  nun  die  entscheidende  Frage;  die  Beziehung  zum  Er- 
strebten, 6q£xt6v,  und  zur  Energeia  schränkt  von  vornherein  die  An- 
näherung an  die  „theoretische  Vernunft"  wesentlich  ein.  Auch  die 
nächsten  Sätze  wollen  wir  unter  demselben  Gesichtspunkt  lesen.  In 
ihnen  wird  die  bekannteste,  am  meisten  zitierte  Gleichsetzung  des 
„Lebens"  mit  der  Energeia  des  Nus  vollzogen.  „Wenn  Gott  sich  immer 
so  wohl  verhält,  wie  wir  nur  manchmal,  so  ist  das  schon  erstaunlich, 
wenn  aber  in  noch  höherem  Grade,  noch  erstaunlicher.  Er  verhält  sich 
aber  folgendermaßen:  auch  Leben  kommt  ihm  zu;  denn  des  Nus  Energeia 
ist  Leben,  und  Gott  ist  tätiges  Wirken  (Energeia).  Tätiges  Wirken  an  sich  30 
ist  das  beste  und  ewige  Leben  Gottes"  (1072b  24 ff).  Aristoteles  bestimmt 
das  Wesen  der  Gottheit  so:  sie  ist  das  beste  ewige  Lebewesen  (£wov), 
und  schließt  daraus,  daß  dem  Nus  als  dem  besten  Lebendigen  die  Be- 
zeichnung „Gott"  zukommt.  Es  folgt  eine  Polemik  gegen  eine  falsche 
Theologie  der  Pythagoreer  und  des  Speusippos,  für  die  das  Beste  und 
Schönste  nicht  am  Anfang,  sondern  am  Ende  steht.  Sie  unterbricht  für 
den,  der  in  dem  Vorhergehenden  das  Mystisch- Weihevolle  stark  emp- 
funden hat,  den  Zug  der  Gedanken;  der  oft  von  Aristoteles  genannte 
Grundsatz  „der  Mensch  erzeugt  den  Menschen",  den  wir  oben  S.  164,7 
in  den  Zusammenhang  des  Schöpfungsproblems  stellten,  tritt  in  der  prä-  40 
zisenForm  auf:  das  vollendete  Wesen,  z.  B.  der  Mensch,  ist  wesensmäßig 
vor  dem  Samen,  nicht  umgekehrt.  Unmittelbar  daran  schließt  sich  die 


D 


ARISTOTELES 


175 


metaphysische  Schlußfolgerung:  es  ist  gezeigt  (durch  den  ganzen  Zu- 
sammenhang der  Argumentation,  cf.  Ross  zur  Stelle  II  382),  daß  diese 
göttliche  Wesenheit  keine  Größe  haben  kann,  sondern  ohne  Teile, 
äfitQric,  und  nicht  mehr  teilbar,  ädiaiosTov,  ist;  denn  sie  bewegt  sich 
durch  unendliche  Zeit ;  das  vermag  keine  endliche  Größe ;  eine  unendliche 
Größe  gibt  es  aber  nicht.  —  Daran  schließt  sich  wieder  überraschend 
schnell  der  Schluß  an,  daß  dieses  Sein  auch  ohne  Erleiden,  analt^c,  und 
unveränderlich,  ävalXoCwTov,  sein  müßte,  da  diese  anderen  „Bewegun- 
gen", wie  Veränderung  usw.  später  sind,  abgeleitet  von  der  Ortsbewegung. 

10  Wir  treffen  also  als  wesensmäßig  zusammengehörige  Bestimmungen  des 
göttlichen  Seins  bzw.  des  Nus  die  eleatischen  Bestimmungen  an,  die  wir 
zuletzt  bei  der  einen  Hypothesenreihe  des  Parmenides  gehört  haben :  ohne 
Größe,  ohne  Teile  und  nicht  mehr  teilbar,  ohne  Bewegung  jeder  Art,  d.  h. 
ohne  Veränderung,  ohne  Erleiden.  Die  Teilhabe  an  einem  solchen  Sein 
soll  Theoria  sein;  sie  bedeutet:  den  unbewegten  Beweger  des  Himmels 
und  der  Physis,  das  „Leben44  in  seinem  höchsten  Sinne,  in  die  mensch- 
liche Seele  hineinzustellen  und  so  für  Augenblicke  dasselbe  Leben  zu 
führen  wie  die  Gottheit,  einen  Abglanz  ihrer  Freude  zu  erfahren  und  den 
vovc  7ToirjTiy.6c,  die  höchste  Aktivität  und  Energeia  zu  betätigen.  Aristo- 

20  teles  hat  über  den  Sinn  der  Theoria  sich  mit  unzweideutiger  Klarheit 
ausgesprochen. 

Bei  der  Erörterung  des  Dynamis-  und  Ener geiabegriffes  stellt  er  im  Buche  S  6 
den  Unterschied  zwischen  Wissen  und  Theoria  so  fest,  daß  der  Wissende  der  Mög- 
lichkeit nach,  dvra/ufi,  das  ist,  was  der  Szwomv  der  Energie  nach  ist  (1048a  34);  unter 
den  erläuternden  Beispielen  finden  wir  wieder  Wachen  und  Schlafen,  Sehen  und  die 
Augen  geschlossen  halten.  Im  8.  Kapitel  dieses  Buches  wird  dieser  Gegensatz  noch  weiter 
ausgeführt,  1050  a  11:  „Die  Menschen  haben  die  Baukunst,  damit  sie  bauen,  und  die 
Fälligkeit  der  Theoria,  damit  sie  „einsehen"  (rVa  &€wqiügw);  aber  sie  sehen  nicht  eio, 
damit  sie  die  Fähigkeit  dazu  haben,  außer  denjenigen,  die  sich  üben;  aber  diese  üben 

30  gar  nicht  Theoria  aus,  oder  nur  so,  oder  weil  sie  nichts  einzusehen 
haben  .  .  .  Denn  das  Werk  ist  das  Ziel  und  die  Energeia  ist  das  Werk 
(foyop),  daher  ihr  Name.  Das  äußerste  (ia/aror,  also  =  Ziel,  rekoc)  ist  bei  ge- 
wissen Fähigkeiten  der  Gebrauch,  /^<>'C,  bei  anderen  das  Werk"  (Zu 
&€(oqCcc,  toyov,  treoy&icc  beim  frühen  Aristoteles  cf.  Jaeger,  Arist.  67).  Es  sei  kurz  an 
alles  das  erinnert,  was  wir  oben  S.  Hl,40  über  den  existenzial-ontologischen  Sinn  der 
/(^f><c  bei  Piaton  und  über  ihre  Beziehung  zur  Wesenserfassung  gesagt  haben;  und  wir 
gehen  gleich  zu  einer  weiteren  Stelle  über,  die  den  Zusammenhang  mit  der  sokratisch- 
platonischen  7ioǤ<  ^--Philosophie  unzweideutig  herstellt.  In  der  Nikomachischen  Ethik 
erörtert  Aristoteles  den  Begriff  der  sittlichen  Schwäche  (ccxoccata),  im  Gegensatz  zur 

40  Zügellosigkeit  einerseits  und  zur  Beherrschtheit  andrerseits,  im  Verhältnis  zur  noottCosaiQ 
und  zur  Begierde,  zur  öo'ia  dktjttys  oder  miairjurj  (Buch  VII  3 ff.);  er  gibt  zu,  daß  das 
Wissen  um  das  Gute  nicht  immer  die  Begierden  bezwingt.  „Aber,  so  fährt  er  fort 
(1146  b  35),  da  wir  zwiefach  vom  Wissen  sprechen  (denn  sowohl  von  dem,  der  es  hat, 
aber  es  nicht  anwendet,  als  von  dem,  der  es  anwendet  (xQtofxerog)  sagt  man,  er  wisse), 
so  wird  es  ein  großer  Unterschied  sein,  ob  einer,  der  das  Wissen  von  dem,  was  man  nicht 
tun  darf,  bloß  hat,  aber  es  nicht  in  die  konkrete  Situation)  bewußt  einsetzt  (&€(üqei) 
oder  ob  einer  es  hat  und  sich  (in  der  konkreten  Situation  dessen)  bewußt  ist  (d-eugeT). 
Denn  dieses  letztere  wäre  höchst  verwunderlich,  aber  nicht,  wenn  er  sich  nicht  bewußt 
wäre"  (pi  ünonon). 


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METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Je  mehr  wir  in  den  Blick  bekommen,  was  ÜeioQi'a  heißt,  desto  schwerer 
wird  es,  einen  einheitlichen  Ausdruck  im  Deutschen  dafür  zu  finden. 
Sicht licli  bezeichnet  es  sowohl  die  psychische  Aktualität  wie  den  Einsatz 
der  Erkenntniskraft  in  die  konkrete  Situation,  also  ein  nach  beiden 
Rieht ungen  näher  zu  bestimmendes  Evidenzerlebnis.  Keinesfalls  geht 
aber  die  Bedeutung  der  Theoria  nach  der  Richtung  bloßer  beschaulicher 
Betrachtung.  Das  Kontemplative  tritt  hier  gar  nicht  hervor,  und  auch 
in  den  berühmten  Schilderungen  der  Nikomachischen  Ethik,  in  denen  die 
(»öt tlichkeit  der  Theoria  stark  hervorgehoben  und  damit  der  Vergleich 
mit  der  Theologie  nahegelegt  wird,  müssen  wir  uns  vor  Modernisierung 
hüten,  zu  der  uns  die  Bedeutungsentwicklung  der  von  Aristoteles  ge- 
brauchten Worte  nur  allzu  leicht  verleitet. 

h)  Der  „einfache44  Gegenstand  des  noetischen  Denkens. 

Ehe  wir  aber  diese,  aus  einer  späteren  Entwicklungsstufe  des  Ari- 
stoteles stammenden,  auf  den  Ubergang  zur  „Politik44  abgestimmten 
Ausführungen  betrachten,  wollten  wir  erst  die  anderen  Bestimmungs- 
möglichkeiten der  im  göttlichen  Nus  enthaltenen  Seinslehre  zu  benutzen 
versuchen;  das  dauernd  zu  beobachtende  Hin-  und  Herschwingen  der 
Aristotelischen  Gedanken  zwischen  dem  Nus  als  einer  Verhaltungsweise 
des  Menschen,  allerdings  derjenigen,  die  ihn  von  allen  niederen  Lebe- 
wesen unterscheidet  (Nie.  Eth.  K  7  1178a  4 — 7)  und  dem  Nus  als  einer 
menschliches  Sein  übersteigenden  Idee,  soll  nicht  gewaltsam  stillgelegt 
werden;  anders  gewendet:  das  voelv  dem  einzelnen  voytöv  gegenüber 
und  das  voetv  als  das  spezifische  Verhalten  eines  Ganzen  zum  Ganzen  — 
woraus  sofort  der  Zusammenfall  dieser  beiden  Ganzheiten  zu  einem 
Ganzen  logisch  gefordert  erscheint  —  soll  auf  seinen  systematischen  Zu- 
sammenhang geprüft  werden. 

Wir  gehen  von  einer  Begriffsreihe  aus,  durch  die  sowohl  das  „Ganze44 
der  ersten  Wesenheit  im  si  wie  die  einzelnen  Gegenstände  des  voelv 
charakterisiert  werden:  von  dem  Nicht  -  mehr  -  Teilbaren,  ohne  Teile 
Seienden,  Einfachen,  Unzusammengesetzten  —  alle  diese  Prädikate 
pflegen  im  Umkreise  des  voelv  aufzutauchen.  Wir  müssen  hierbei  das 
schwierige  Kapitel  der  Metaphysik  010  (cf.  Ross,  Comm.  II  273  ff.)  an  den 
Anfang  stellen.  Aristoteles  setzt  folgende  drei  Bedeutungen  von  Nicht- 
seiendem  und  Seiendem  fest:  1.  Seiend  gemäß  den  Schemata  der  Kate- 
gorien, 2.  das  nach  Dynamis  und  Energeia  bestimmte  Seiende,  3.  das 
wahr  oder  falsch  Seiende.  Wie  diese  drei  Gesichtspunkte  sich  im  beson- 
deren Fall  vereinigen,  bleibe  dahingestellt.  Wichtig  ist  für  Aristoteles  die 
Abhängigkeit  der  Wahrheit  oder  Falschheit  aller  Aussagen  von  der  rich- 
tigen Verknüpfung  und  Trennung  der  „in  den  Dingen  liegenden44  Einzel- 
sachverhalte.  „Es  täuscht  sich,  wer  sich  den  Dingen  (rolg  ngAyfiadi)  ent- 
gegen verhält44  (1051b  4).  Der  zu  den  „Dingen44  sich  richtig  Verhaltende 
verknüpft  das  Zusammengehörige  und  trennt  das  nicht  Zusammen- 


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ARISTOTELES 


177 


gehörige;  er  beachtet  die  gegebenen  Einheitsmöglichkeiten  und  Wirk- 
lichkeiten". Sein  heißt  zusammengefügt  und  eins  sein,  Nichtsein  das 
Nicht-Zusammengefügt  und  Mehreres  sein"  (1051b  11).  Es  braucht  nur 
kurz  auf  die  unmittelbar  einsichtige  Beziehung  zu  der  von  Piaton  im 
„Sophistes"  entwickelten  Bedeutung  von  Verknüpfung  und  Diairesis  der 
Svtcc  und  ovTa  hingewiesen  zu  werden.  Diesem  Bereich  des  syllogisti- 
schen  Denkens  stellt  Aristoteles  den  Bereich  des  das  Unzusammen- 
gesetzte, Einfache  erfassenden  poel  (thyelv)  gegenüber,  in  dem  es  nur 
Erfassen  oder  Nicht-Erfassen,  „Sagen"  ((pävcu),  ansprechen  als  etwas, 
nicht  Bejahung  oder  Verneinung  einer  Zusammengehörigkeit  von  Ge- 
trenntem, daher  eigentlich  kein  Sich  -  Täuschen  gibt,  für  den  also 
ein  anderer  Seins-  und  Wahrheitsbegriff  anzusetzen  ist.  In  dem  parallelen 
Kapitel  E  4  werden  dieselben  Gegenstände,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
als  änXä  und  rä  tC  hativ  bezeichnet  und  die  Sphäre,  in  der  das  auf  Ver- 
knüpfung und  Trennung  beruhende  Wahrheitsfinden  sich  abspielt,  als 
diävoia,  als  diskursives  Denken,  vom  voelv  abgehoben. 

Denselben  Sachverhalt  entwickelt  de  anima  T  6  430  a  26.  Dort  schließt  sich  an  die 
Unterscheidung  des  tätigen  und  leidenden  Nus  eine  Theorie  des  „Denkens  von  Unteil- 
barem" (voe7v  tcc  ddicu'p&icc)  an,  „bei  dem  es  keinen  Irrtum  gibt".  Das  Einheitstiftende 
(eV  noiovi )  auch  für  das  Zusammengesetzte  ist  der  Nus,  430  b  5.  Er  denkt  die  unteilbare 
Gestalt  (<xdicn'(J€Toy  fiVoc)  in  einer  unteilbaren  Zeit  und  mit  Hilfe  eines  Unteilbaren 
in  der  Seele,  430  b  14.  Einheit  zu  stiften  ist  die  eigentliche  Tätigkeit  des  tätigen  Nus, 
und  zwar  in  dem  Maße,  daß  er  alles  zu  Eins  machen  würde,  wenn  ihm  nicht  Mannig- 
faltigkeit gegenüberstünde  (ausdrücklich  so  Met.  j  2  1069  b  31). 

Um  diese  Aktivität  richtig  zu  verstehen,  ist  auf  die  in  Met.  H  6  und 
Z  12  durchgefochtene  These  des  Aristoteles  zu  verweisen  (1045  b  3): 

Das   bestimmte  Wesen  ist   sofort  ein 
Eins,  wie  es  auch  ein  Seiendes  ist.   Denn       Etil)  VC  .  .  .  e'tccöTÖv  tGTii  ov  Ti  xal 
sofort  ist  jegliches  seiend  und  eins,  nicht  ^  ^     *    &q  fV    ^  ß$  T&  yav  r  ~ 

wie  dem  Seienden  und  dem  Einen  gat-    ,  ,     •>  £  ,  m    '„  ; 

tungsmaßig  untergeordnet  und  nicht  so,        '  »  *   s  ^ 

als  ob  diese  beiden  Begriffe  neben  dem  TCC  BxacSi  cc. 

Einzelnen  abgetrennt  bestünden. 

(Für  alles  Nähere  vgl.  die  ausführliche  Interpretation  „Zahl  und  Gestalt" 
S.  141  ff.  und  das  oben  S.  147,17  Entwickelte.) 

Der  Widerspruch,  der  zwischen  der  einheitstiftenden  Kraft  des  Nus 
und  dieser  so  stark  betonten  Gegebenheit  des  durch  seine  Formbestimmt- 
heit bereits  einheitlichen  Wesens  zu  bestehen  scheint,  löst  sich  sofort  auf, 
wenn  wir  den  Zusammenfall  des  Nus  mit  den  vor^iä  auch  hier  festhalten; 
der  Nus  ist  eben  nicht  nur  erster  Beweger  des  Himmels,  sondern  auch  der 
Physis  —  wir  kommen  nun  allmählich  dem  Sinn  dieser  offenbar  grund- 
sätzlichen These  der  Theologia  1072  b  14  auf  die  Spur.  Ist  am  Ende 
Physis  auch  für  Aristoteles  die  gegliederte  Mannigfaltigkeit,  wie  sie  in 
den  einzelnen  vo^zä  sich  darstellt,  in  den  unteilbaren  Gestalten  (döiaioeza 
efdfj)?    Soviel  ist  schon  hier  klar:  wir  sehen  Aristoteles  vor  demselben 

Handb.  d.  Phil.  L  D  12 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Problem  stehen,  das  Platon  zur  Gleichsetzung  des  obersten  und  untersten 
Gliedes  der  Diairesis  geführt  hatte.  Wir  haben  oben  S.  146  die  eigentüm- 
liche  Bewegung  von  dem  Eins  und  Seienden  über  die  Stufen  der  Entfal- 
tung geschildert,  die  bei  Platon  aus  der  Verflechtung  der  y£vq  und  efdq 
das  Atomon  Eidos,  das  Erscheinende  (tpatvdfitvov)  entstehen  läßt;  wir 
haben  die  Bedeutung  der  Hyle  und  der  Zeit  für  das  „(patveTcci"  dar- 
gestellt (S.  148).  Wir  müssen  nun  versuchen,  auf  der  Grundlage  dieser 
platonischen  Probleme  und  der  bereits  entwickelten  Antworten  des  Ari- 
stoteles zum  Abschluß  den  Seinsbegriff  seiner  Metaphysik  zu  entwerfen 
und  zu  zeigen,  wie  er  das  höchste  abgetrennte  göttliche  Sein  und  das  Sein  10 
schlecht  hin  durch  seinen  iVwsbegriff  zu  umspannen  suchte.  „Die  Wahr- 
nehmung ist  das  Aufnehmende  (dexrixor)  für  die  sinnlichen  Formen  ohne 
den  Stoff"  (de  an.  B  12  424a  17).  „Der  Nus  ist  das  Aufnehmende  für  das 
vorpdi 44  (d.  h.  für  die  ädiaiQtra,  änXä,  davv^era  und  die  otiaCct)  (Met.^/7 
1072b  22,  dazu  oben  S.  174,3).  Nus  und  Aisthesis  gehen  also  beide  auf  die 
Form;  die  Aisthesis  geht  nicht  etwa  auf  das  e'vvhov  eiöoc,  das  in  der  Hyle 
verwirklichte,  d.  h.  also  einmalig  existente  Einzelne  als  solches,  sondern 
Aristoteles  setzt  hinzu  „ohne  die  Hyle".  Wahrnehmung  hat  hierin  also 
eine  Ähnlichkeit  mit  dem  Nus,  der  die  reine,  d.  h.  hyleheie  Form  denkt. 
Sie  hat  mit  dem  Üiyelv  und  (pävai,  den  spezifischen  Verhaltungsweisen  20 
des  Nus  die  noch  wichtigere  Ähnlichkeit:  sie  kann  als  Wahrnehmung 
nicht  falsch  sein  (de  an.  427b  12 :  r\  aYa&qtSiQ  t&v  löicov  ä^l  älij&rjc),  als 
Wahrnehmung  des  spezifisch  Wahrnehmbaren.  Was  sind  diese  i'dia,  das 
Spezifische  der  Wahrnehmung  ?  Nicht  ihre  sinnlichen  Data,  sondern  die 
„Formen",  die  gestaltete  Wahrnehmung,  wie  aus  der  obigen  Definition 
der  Aisthesis  hervorgeht.  Wann  hört  der  wahrnehmungsgemäße  For- 
mungsprozeß auf  und  wann  beginnt  ein  anderer,  der  vom  Nus  ausgeht  ? 
Andrerseits  gibt  es  „intelligible  (porjrr)  Hyle  (Genaueres  s.  Zahl  und  Gestalt 
132).  Die  in  H  6  1045b  18  ausgesprochene  These,  daß  der  letzte 
Stoff  (tG%aTTi  vht)  und  die  Gestalt  eins  und  dasselbe  sind,  gibt  den  30 
Schlüssel  zur  Lösung  dieser  Grundprobleme  der  aristotelischen  Seins- 
lehre. Grade  für  diese  Begriffe  ist  die  vereinfachte  schulmäßige  Form, 
in  die  spätere  Zeiten  die  Lehre  zwängten,  verhängnisvoll;  es  gilt  in  der 
noch  lebendig  fließenden  Gedankenbewegung  der  Schriften  gewisse 
Motive,  gedankliche  Triebkräfte  im  eigentlichen  Sinn,  herauszuholen. 

i)  Erste  Hyle  und  letztes  Eidos. 

Als  ein  solches  Grundmotiv  ist  die  Relativierung  der  Hyle  und  damit 
des  Formbegriffes  durchzuführen,  und  zwar  Relativierung  im  strengsten 
Sinne  einer  klar  bestimmten  funktionellen  Beziehung  eigener  Art.  Was 
bezeichnet  die  noetische  Hyle  ?  Die  oberen  Arten,  y£vrj,  der  platonischen 
Diairesis,  allgemeiner  alles  das,  an  dem  ein  Übergang  von  Dynamis  zu  40 
Energeia  möglich  ist  und  festgestellt  werden  kann.  Das  Säugetier,  das 


ARISTOTELES 


179 


zweifüßige  Tier  usw.  sind  erst  der  Möglichkeit  nach,  dvvdfiti,  das  wirk- 
liche Tier,  das  nun  als  bestimmtes  dies  da  erscheint  (  p a(v erat).  In  der 
Sphäre  der  Wahrnehmung  ist  Lehm  geformter  Stoff,  er  selbst  Stoff  für 
die  geformteren  Ziegel,  diese  für  das  Haus  —  wir  würden  die  Reihe  noch 
fortsetzen :  dieses  wieder  für  eine  geordnete  Siedlung  usw.  Trotzdem  würden 
wir  wie  Aristoteles  bei  dem  Hause  einen  gewissen  Einschnitt  anerkennen, 
weil  es  unmittelbar  einen  Zweck  erfüllt,  weil  es  als  Haus  „gebraucht"  werden 
kann  in  einem  anderen  Sinne  als  der  Ziegel.  Die  Lebewesen,  Tiere  und  Pflan- 
zen, geben,  wie  man  oft  gesagt  hat,  den  Typus  dieser  Denkweise  ab; 

10  sie  stellen  als  Wirklichkeiten  ein  Telos  dar;  nicht  nur  im  Verhältnis  zu 
den  höheren  Arten,  die  Aristoteles  als  Bestandstücke  ihres  Wesens  auf- 
faßt, sondern  in  ihrem  eigenen  Dasein  gibt  es  eine  Reife,  einen  Höhe- 
punkt der  Formverwirklichung,  dann  Stillstand  und  Abstieg.  Es  ist  be- 
kannt, daß  Aristoteles  auch  von  den  Kunstformen  eine  solche  Reife  an- 
nimmt: f[  TQuywdia  TfXoc  £a%tv.  Diese  Ziele  von  Entwicklungen  jeder  Art 
sind  zugleich  die  Formen,  als  die  sie  erkannt  werden  können;  wer  ein 
bestimmtes  Tier  recht  beurteilen  will,  wer  eine  Tragödie  richtig  dichten 
oder  sie  im  Anhören  recht  „gebrauchen"  will,  muß  dieses  ihr  Telos  er- 
fahren, sonst  hielte  er  eine  Raupe  für  ein  besonderes  Tier  für  sich,  eine 

20  archaische  Tragödie  oder  eine  überfeinerte  nicht  für  das,  was  sie  sind. 
Die  Bewegung  von  Dynamis  zu  Energeia  und  die  Bewegung  der  Erkennt- 
nis sind  aufeinander  bezogen  und  fallen  ihrem  Sinne  nach  in  der  Energeia 
des  jeweilig  Wirklichen  zusammen.  Auf  allen  Erkenntnisgebieten  kann 
ein  analoges  Erfassen  dessen,  was  eigentlich  ist,  was  vorliegt,  worauf 
es  ankommt,  leicht  genug  vorgestellt  werden;  Wahrheit  ist  das  Erfassen 
eines  Seienden,  Wirklichkeit  das  Geschehen  einer  Wahrheit  oder  Rich- 
tigkeit (ÖQ&ÖTTjc),  manchmal  vielleicht  nur  die  Richtung  auf  sie  hin  wie 
die  Krüppelbildung  ist  und  erfaßt  wird  auch  in  ihrem  Sein  durch  das 
Telos,  auf  das  sie  gerichtet  ist,  ohne  es  zu  erreichen.  Wenn  damit  Wirk- 

30  lichkeit  und  Denken  auf  einen  dauernden  Übergang  von  Möglichkeit  zu 
höherer  Vorgeformtheit  in  allmählicher  Steigerung  zum  Telos  und  dem 
Wiedervergehen  zur  Formminderung  beruhen,  so  ergibt  sich  notwendig 
aus  dieser  Bewegung  die  Frage  nach  den  beiden  äußersten  Punkten  dieses 
hin-  und  herschwingenden  Wechsels,  hinter  die  zurückzugehen  keinen 
Sinn  mehr  hat. 

Leicht  ist  der  eine  Grenzfall  einer  formfreien  Hyle  zu  denken.  Sie  ist 
zu  charakterisieren  als  das  in  jedem  Sinne  Formlose,  d.  h.  das,  was  in 
keiner  Kategorie  erfahren  werden,  worüber  schlechthin  nichts  ausge- 
sagt werden  kann;  es  kann  als  nichts  angesprochen  werden.  Und  doch 
40  bleibt  die  Hyle  auch  in  diesem  Sinne  ein  unentbehrliches  Moment;  sie 
bewirkt  in  der  Wahrnehmung  das  „yaCvexai''' ;  aber  auch  jeder  Denk- 
vorgang findet  irgendwo  und  irgendwann  statt;  er  ist  auf  diese  Hyle  be- 
zogen ;  abgesehen  davon,  daß  in  jeder  Denkbewegung,  die  von  einem  Etwas 
zu  einem  anderen  geht,  die  einen  Gedanken  aus  dem  anderen  „entwickelt", 

D  12* 


ISO 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


von  der  Dynamis  zur  Energeia  führt,  eine  Hyle  vorausgesetzt  ist.  Kurz: 
Bewegung  jeder  Art  braucht  eine  Hyle  —  und  grade  diese  erste  Hyle  ist 
in  allen  höheren  Formen  immer  vorausgesetzt  und  mitgemeint;  wäre 
doch  sonst  alles  eins,  wenn  die  Hyle  nicht  der  Form  als  Prinzip  der  Glie- 
derung entgegenstünde. 

Nun  wollen  wir  versuchen,  auch  den  Gegenbegriff  einer  ersten  Form 
aus  der  Relativierung  des  HyZe-jEidosverhältnisses  abzuleiten,  ihn  nicht 
nur  aus  der  gesamten  platonisch-aristotelischen  Gedankenbewegung  zu 
verstehen.  Frei  von  Hyle  wird  jedes  Eidos  gedacht  und  wahrgenommen; 
es  kann  abgetrennt  werden.  Das  oberste  Eidos  muß  aber  notwendig 
frei  von  Hyle,  d.  h.  der  Bewegung  von  Dynamis  zu  Energeia  entrückt 
sein,  also  unbewegte  pure  Energeia:  oftx  tvdf^ttai  äXlwc  t%uv.  Da  frei 
von  Hyle,  muß  es  abgetrennt  sein,  aber  nicht  „wie  mit  dem  Beil  abge- 
hauen44, nicht  losgerissen,  sondern  als  „Idee"  sich  notwendig  erzeigend 
an  der  Grenze,  am  Peras  demjenigen  Seins,  das  uns  Menschen  in  unserem 
Denken  zugänglich  ist.  Wir  können  logisch  folgern,  daß  es  ein  solches 
Sein  gibt,  und  können  noch  eine  Reihe  weiterer  Bestimmungen  dieses 
Seins  mittelbar  angeben.  Wir  müssen  nur  von  dem  uns  zugänglichen  Be- 
reiche der  Wirklichkeit  ausgehen  und  sie  nach  ihren  denknotwendigen 
Voraussetzungen  analysieren.  Wir  werden  dann  finden,  daß  unsere  Wirk- 
lichkeit als  Mitte  zwischen  Extremen,  zwischen  Perata,  „aufgehängt" 
ist,  von  denen  sie  „abhängt"  —  in  jedem  Sinne. 

Wir  haben  ein  ausgezeichnetes  Telos  an  dem  Beispiel  von  Lehm- 
Ziegel- Haus  gefunden  in  den  geformten  Dingen  der  Wirklichkeit,  die  als 
reine  Formen  gedacht  werden,  aber  nur  an  dem  konkreten  Einzelnen  er- 
scheinen. Nachdem  wir  uns  das  Wesen  der  ersten  Hyle  klar  gemacht 
haben,  sehen  wir,  daß  grade  dann  der  Formungsprozeß  seinen  höchsten 
Grad  erreicht,  wenn  nur  jene  erste  Hyle  übrig  bleibt,  wenn  also  die  Form 
in  jeder  Hinsicht  den  Stoff  durchdringt  und  „durchgeistigt"  und  die  Hyle 
nur  ihre  Grundfunktion  erfüllt,  das  Geformte  jetzt  und  hier  erscheinen 
zu  lassen.  Diese  Restfunktion  der  Hyle  ist  aber  ungemein  wichtig;  an 
ihr  hängt  mit  der  Verwirklichung  des  Nus  auch  seine  innere  Mannig- 
faltigkeit ;  wäre  die  Hyle  nur  eine,  so  wäre  alles  ein  ungeteiltes  Eins  (s.  o. 
S.  163,36) ;  in  dem  „hier  und  jetzt44  liegt  also  für  Aristoteles  auch  die  Man- 
nigfaltigkeit, die  Gliederungs-  und  Entfaltungsfähigkeit  des  Nus  be- 
schlossen, was  sehr  wichtig  ist.  Denn  nun  erhebt  sich  die  Frage :  kann  die 
Hyle  sich  selbst  gliedern  ?  Wenn  die  letzte  Hyle  die  Form  ist,  wann  hat 
das  Eingreifen  desjenigen  Prinzips  begonnen,  das  die  Hyle  bis  an  die 
Form  heran  vorformt  ?  Auf  diese  Frage  gibt  es  nur  eine  Antwort :  dieser 
Punkt  ist  wesensmäßig  in  keinem  Falle  zu  bestimmen;  die  beiden  Prin- 
zipien der  Form  und  des  Stoffes  durchdringen  einander  vollständig  in 
dem  Übergang  von  Dynamis  zu  Energeia,  den  der  erste  Beweger  in 
Bewegung  erhält.  Dieser  erste  Beweger  muß  also  grundsätzlich  vor  der 
Entfaltung  liegen,  er  muß  reine  Einheit  sein,  weil  er  sonst  innerhalb 


D 


ARISTOTELES 


181 


jenes  Wechselspieles  von  Hyle  und  Eidos  stünde;  er  muß  aber  die  ge- 
samten Entfaltungsmöglichkeiten  der  voyrä  immer  vor  sich  haben,  um 
sie  beherrschen  zu  können.  Das  heißt:  er  muß  das  Ganze  der  Wirk- 
lichkeit denken. 

k)  Noesis  und  s  yllogistis  che  Diano  ia. 
Wir  denken  das  Ganze  immer  „monadisch46  von  einem  Hier  und 
Jetzt  aus.  Ein  solches  gibt  es  dort  nicht,  wo  Aristoteles  jenen  Geist  sich 
als  Beweger  der  Wirklichkeit  denkt.  Es  gibt  kein  Hier  mehr,  also  über- 
haupt keinen  Ort  mehr  (vgl.  dazu  B.  Stenzel-Mugdan,  1.  c.  S.  13).  Was 
uns  die  Gleichsetzung  von  himmlischer  Kreisbewegung  mit  einer  Denk- 

io  bewegung  zunächst  so  schwer  verständlich  macht  und  uns  Anthropomor- 
phismen  vermuten  läßt,  fällt  tatsächlich  weg,  wenn  wir  die  aristoteli- 
schen Gedanken  zu  Ende  denken,  wirklich  bis  an  das  „Ende44,  wo  Größe, 
Raum  und  Zeit,  als  endliche  Formen  endlichen  Daseins  und  Denkens 
zurückbleiben  und  versagen.  Aristoteles  wollte,  daß  sie  versagen;  Raum 
und  Zeit,  Hyle  und  Dynamis  spannte  er  in  einen  logischen  Zusammen- 
hang, in  dem  sie  sich  an  jener  Grenze  selbst  aufheben  und  einem  neuen 
Sein  weichen.  Denn  grade  dieser  Zusammenhang  konstituiert  das  Ganze 
des  Seins,  dessen  Wesen  nun  freilich  nicht  mehr  mit  den  endlichen  Kate- 
gorien ausgedrückt  werden  kann.  So  mußte  eine  Bestimmung  des  gött- 

20  liehen  noetischen  Seins  nach  der  andern  fallen.  Es  bleibt  nur  die  im 
Selbstbewußtsein  der  Verwirklichungskraft  erlebte  Freude  Gottes  an 
seiner  einheitlichen,  das  Ganze  der  Welt  in  ihrer  Wirklichkeit  erhaltenden 
Kraft.  Das  Gefühl  ist  nicht  hier  und  dort,  nicht  gegliedert,  nicht  un- 
mittelbar gegenstandsbezogen;  es  wird  mittelbar  gegenstandsbezogen, 
sofern  es  Ausdruck  der  Verwirklichung,  der  Vollendung  (reXeCwötc)  ist. 
Dieser  Unterschied  von  mittelbar  und  unmittelbar  fällt  für  Gott  weg, 
weil  er  ja  immer  in  dem  Zustand  der  erfüllten  Energeia  ist,  weil  er  in 
der  Vollendung  gleichsam  steht  —  wenn  Stehen  nicht  als  Gegensatz  zu 
Bewegung  verendlicht  wäre.  Aber  das  gilt  gleichmäßig  für  alle  die  Worte, 

30  in  denen  man  eine  Wesenheit,  die  „teillos,  größenlos,  ohne  Erleiden44  ist, 
bezeichnen  mag;  diese  Wesenheit  liegt  jenseits  aller  Gegensätze,  auch 
jenseits  des  Gegensatzes  von  begrenzt  und  unbegrenzt,  von  ausgedehnt 
und  unausgedehnt,  damit  von  v<n  i6v  und  aioxJrjTÖv;  sie  kann  nur 
sich  selbst  denken,  aber  auch  nur  sich  selbst  erscheinen.  Oatverai, 
i6de  Tt,  voel  und  vosirai,  tC  iartv,  to  tI  f^v  sivai  wird  in  dieser  otiaCa 
7Zi<vTih7)c  odaa  als  Unterschied  hinfällig  und  in  einem  uns  unbegreif- 
lichen Zusammenfall  aufgehoben  in  einem  Ganzen,  das  doch  zugleich 
die  Voraussetzung  für  unsere  Analysis  dieser  Bestimmungen  darstellt. 

Die  voraristotelische  Entwicklung  dieser  Gedanken  ist  behandelt  worden.  Ihre 
4  0     Nachwirkung  sei  durch  die  Themen:  coincidentia  oppositorum,  Ideenlehre  Kants  und 
Hegeische  Logik  und  Dialektik  bezeichnet,  vor  allem  aber  durch  die  Monadologie  in 
allen  ihren  Formen,  vgl.  Zahl  und  Gestalt  119  ff. 

Nun  kann  der  eingeschränkte  Anteil  des  Menschen  am  göttlichen  Nus 


m 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


bezeichnet  werden.  Aristoteles  hat  in  der  Schrift  „über  das  Werden  und 
Vergehen'*  B  10  336b  31  das  Wesen  Gottes  dahin  bestimmt,  daß  es  die 
.,\\  elt  erfüllt",  sie  vollständig  zu  einem  Ganzen  macht.  Wie  ernst  es  ihm 
mit  dem  vollen  Begriff  des  ersten  Bewegers  ist,  zeigt  die  Ableitung  der 
irdisch-wechselnden  „Bewegung"  des  Entstehens  und  Vergehens  von  der 
Ekliptik  —  cf.  oben  S.  165,48  — ,  während  die  Kontinuität  des  Werdens 
und  Vergehens,  das  avvty/c  der  Bewegung  von  der  ersten  kreisförmigen 
</  oqü  abhängig  gedacht  wird.  Alle  Physis  strebt  nach  dem  Besseren,  und 
Sein  ist  besser  als  Nicht- Sein;  aber  alles  einzelne  Sein  steht  weit  ab  von 
dem  vollendeten  Sein  des  unbewegten  Bewegers  und  der  ihm  zunächst  10 
zugeordneten  Kreisbewegung.  Unser  Denken  ist  angewiesen  auf  diese 
Entfaltung,  es  kann  aber  alles  Einzelne  auf  das  Ganze  beziehen.  Grade 
dann,  wenn  es  das  einzelne  konkrete  Wesen  so  erfaßt,  wie  es  sich  in 
seiner  echten  Wirklichkeit,  in  seiner  Energeia  darstellt,  ist  das  Denken 
den  royra  nahe,  nahe  bis  zur  Berührung,  zum  Üiyetv,  zum  etpänTea^ai. 
Von  der  göttlichen,  alles  umfassenden  Energeia  hat  jegliches  Seiende 
sein  Ziel,  seine  „Aufgabe"  erhalten,  die  es  erfüllen,  auf  die  hin  es  sich  ver- 
wirklichen will.  Der  Mensch  kann  auf  die  verschiedensten  Weisen  mit 
diesem  Sein  in  Berührung  kommen:  wenn  er  erfaßt  —  gleichviel  ob  als 
Dichter  oder  Betrachter  — ,  was  das  Ziel  der  Tragödie  ist,  genau  so,  wie  20 
wenn  er  ein  Naturwesen  richtig,  d.  h.  so  wie  es  in  seiner  Energeia  ist, 
„sieht",  und  sein  Wesenswas  denkt,  oder  wenn  er  ein  Schiff,  ein  Haus 
nach  den  Gesetzen  seiner  „Wirkungskraft"  baut,  also  mit  der  Wirklich- 
keit „umgeht".  Und  es  ist  das  Merkwürdige,  daß  das  Diessein  (die 
Essenz)  jeglichen  Dinges  grade  in  seinem  konkreten  Da- sein  (der  Exi- 
stenz) sichtbar  wird  und  umgekehrt.  Nicht  nur  etwa  das  Genie  wirkt 
wie  Natur  —  so  der  moderne  Philosoph.  Nach  Aristoteles  entdeckt  der 
Dichter,  ohne  daß  ihm  deshalb  ein  besonderer  Rang  zugesprochen  wird, 
die  Tragödie;  sie  ist  da,  weil  sie  immer  da  war  (rb  ti  elvai),  weil 
die  Natur  in  ihrer  iVushaftigkeit  ja  selber  zum  „Besseren",  d.  h.  zum  30 
Wirklichsein  alles  Möglichen  drängte.  Der  schaffende  Nus  noirputoQ 
ist  im  Ganzen  der  Welt  dauernd  wirksam,  und  der  Mensch  kann  an  seinem 
Sein  Anteil  gewinnen :  er  merkt  im  voeiv,  daß  er  dies  immer  hätte  meinen 
können  und  sollen  — ,  ja,  daß  er  es  immer  gemeint  hat,  streng  genommen. 
Wenn  er  auch  nicht  „berührte",  so  war  sein  Denken  doch  auf  dem  Wege 
zu  dieser  Berührung.  Ist  sie  erfolgt,  so  kann  der  Mensch  den  Sinn,  das 
%i  tax iv  in  dem  iVus-erzeugten  Sein  aussprechen:  cpävcu,  ein  bestimmtes 
so-da- Seiendes  in  seiner  gegebenen  Einheit  (s.  o.  S.  177,6)  als  solches  an- 
sprechen; voslv,  (pdi^ai,  -d-tyeiv  sind  Wechselbegriffe,  die  denselben  Sach- 
verhalt von  verschiedenen  Seiten  bezeichnen.  40 

Dieses  voeiv  —  so  sahen  wir  —  ist  implizit  überall  da,  wo  Wirklich- 
keit erfahren  wird1).  Aber  es  kann  und  muß  auch  ausdrücklich  geübt 

])  Sokrates  kann  nach  seiner  Verurteilung  fragen:  ri  ro&r  to  av/ußeßyxos,  was  hat 
dieses  Ereignis  für  einen  Sinn,  Plat.  Apol.  40a.  Die  gegenständliche  Seite  des  Nus 
entspricht  also  durchaus  dem  Sprachbewußtsein. 


D 


ARISTOTELES 


183 


werden.  Die  ausdrückliche  Ausübung  heißt  Theoria.  Die  Wege,  zu  ihr 
zu  gelangen,  sind  für  den  Menschen  so  mannigfaltig  wie  die  Möglich- 
keiten, zum  voelv  zu  gelangen.  Die  Einheit  des  Nus  bewirkt  die  Mög- 
lichkeit, von  einem  Dinge  zum  andern  zu  gehen :  das  Wesensbegriffe  ver- 
knüpfende und  sie  auflösende  Schließen.  Innerhalb  der  syllogistischen 
Bewegung  werden  die  Haltepunkte  gefunden,  die  im  voelv  erfaßt  werden 
müssen;  sie  liegen  dem  syllogistischen  Denken  wie  jedem  geistigen  Vor- 
gang zugrunde:  näaa  didatfxaXla  xal  Ttäcfa  diavor]Tixri  jtiä&qGic  ix  ttqovjt- 
aQ%ovar]c,  yivtrat,  yv&aewq.  Diese  Gnosis  kann  und  braucht  nicht  aus  dem 

10  diskursiven  Denkprozeß  herausgelöst  zu  werden,  sondern  sie  ist  in  ihm 
immanent.  Ob  der  Nus  das  tC  iariv  der  bestimmten  Formen  der  e'xa&ra 
erfaßt  oder  ob  er  die  in  den  Axiomen  ausgedrückten  Sachverhalte  be- 
greift, es  ist  das  voelv  des  Wirklichen,  des  Einfachen,  „Unbewegten", 
was  der  Bewegung  des  Geistes  Ziel  und  Halt  gibt ;  der  Nus  ist  das 
Prinzip  des  Wissens. 

Deshalb  ist  Theoria  nicht  schlechthin  Denken,  sondern  Begegnung  j 
mit  dem  eigentlich  Seienden.  Während  die  Theoria  Gottes  eine  wirklich  \ 
einfache  jzoaZic,  äitlij  ist  (vgl.  Nie.  Eth.  1154  b  26),  ist  unser  menschliches 
roeiv  dies  nur  in  abgeleitetem  Sinne;  aber  es  ist  ebenfalls  Troähg,  weil 

20  es  xQtfMS  *st'  Umgang  mit  Existentem.  Wenn  jede  Tätigkeit  (7TQä'£ig) 
das  Einzelne  betreffend  (ti€qI  tö  xaiP  exaarov)  ist,  dagegen  Wissen  und 
Kunstfertigkeit  aufs  Allgemeine  gehen  (Met.  A  981a  17),  so  verleiht  doch 
die  metaphysische,  Aristoteles  von  Piaton  scheidende  Grundthese  von 
dem  Seinsvorrang  des  avvoXov,  der  verwirklichten  Form,  dem  voeiv  eine 
innere  Beziehung  zur  nqa£ic,  die  in  dem  hier  und  oben  herausgestellten 
Sinne  der  Theoria  zum  Ausdruck  kommt.  Es  sind  die  Probleme  der 
Urteilskraft,  die  hier  zum  ersten  Male  mit  voller  Deutlichkeit  gesehen 
sind  und  wie  überall,  wo  sie  überhaupt  erfaßt  sind,  in  das  Innerste  der  j 
Seinsprobleme  hineinwirken. 

30  Wenn  die  Durchführung  dieser  Gedanken  im  letzten  Buche  der  Niko- 
machischen  Ethik  (s.  o.  S.  170,8)  bereits  eine  größere  Hinneigung  zum  ßiog 
&€WQi]Tixö'g  im  späteren  Sinne  zeigt,  so  mag  das  mit  der  Wendung  des 
aristotelischen  Denkens  zusammenhängen,  die  an  jener  berühmten  Stelle 
de  part.  anim.  I  c.  5  am  deutlichsten  ausgesprochen  ist,  der  Wendung 
von  den  ewigen  unvergänglichen  Wesenheiten  zu  den  unscheinbaren 
Gegenständen  der  naturwissenschaftlichen  Einzelforschung,  in  denen 
doch  auch  die  Physis  und  ihre  Schönheit  zum  Ausdruck  kommt  (645  a  23). 
Der  Zustand  des  Theologiebuches  läßt  uns  einen  wesentlichen  Grund 
erraten:  grade  die  astronomisch-physikalische  Seite  der  Theoria  des  ersten 

40  Bewegers  kam  in  Schwierigkeiten  durch  die  im  8.  Kapitel  behandelte 
Frage,  ob  für  jede  Sphäre  ein  solcher  unbewegter  Beweger  anzunehmen 
wäre.  Wie  die  neuen  Theoreme  mit  der  Einheit  der  Welt,  der  Ganzheits- 
bedeutung der  ursprünglichen  Konzeption  ausgeglichen  werden  könnten 
—  diese  neue  Aufgabe  hat  Aristoteles  nicht  mehr  lösen  wollen  oder 


184  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 

können;  jedenfalls  wissen  wir  nichts  davon.  Die  Nachwirkung  der  Theorie 
von  der  göttlichen  Einheit  und  von  der  Ganzheit  der  Welt  hat  gezeigt, 
da  13  auch  abgesehen  von  den  physikalisch-astronomischen  Problemen  ein 
dauernder  metaphysischer  Gehalt  in  diesen  Gedanken  lebendig  ist.  Dieser 
sollte  hier  in  seinen  Motiven  entwickelt  werden. 

V.  DER  AUSGANG  DER  METAPHYSIK  DES 
ALTERTUMS. 

1.  DER  VERÄNDERTE  WELT-  UND  ICHBEGRIFF  IM 
HELLENISMUS. 
Die  griechische  Metaphysik  wird  von  Anfang  an  von  dem  produktiven 
Ausgleich  religiöser  und  philosophischer  Antriebe  beherrscht.  Die  religiöse 
Gefühls-  und  Tatbereitschaft  ist  auf  Lichtung  des  Daseins,  das  heißt  auf 
Durchdringung  alles  Seins  mit  echtem  Logos  gerichtet,  dieser  umgekehrt 
tief  und  weit  genug,  um  alle  Kräfte  des  Menschen  in  sich  aufzunehmen. 
Immer  erfolgt  der  Anstoß  zu  einer  erneuten  religiösen  Durchdringung 
alles  Seins  von  außen.  Die  erste  orphische  Welle  wird  von  den  vorsokrati- 
schen  Philosophien  logisiert  in  verschiedenem  Grade,  am  meisten  in  Par- 
menides,  der  das  Motiv  von  Einheit,  Ganzheit  und  Geist  zum  unverlier- 
baren Grundproblem  der  griechischen  Philosophie  macht.  Den  nächsten 
Durchbruch  des  religiösen  Motivs  in  der  orphisch-pythagoreischen  Periode 
Piatons  sehen  wir  im  „Phaidon"  und  „Gorgias"  bereits  tief  in  den  Kern 
der  philosophisch-metaphysischen  Gedankenwelt  vorstoßen.  Die  alte 
Polis  hatte  in  der  ersten  Periode  griechischer  Geistesgeschichte  das 
religiöse  Motiv  zu  einer  Staatsethik  objektiviert.  Die  Idee  des  Guten 
der  platonischen  Politeia  bannt  noch  einmal  das  „Jenseits  des  Seins" 
ins  Vor-  oder  Überpersönliche  zurück,  und  in  den  späteren  Perioden  der 
platonischen  Entwicklung  hält  die  Weiterführung  der  Paideia  über  die 
Polis  hinaus  zur  objektiven  Wissenschaft  überhaupt  die  bereits  aus- 
einanderstrebenden Motive  des  Religiösen  und  Philosophischen  in  einer 
noch  echten  Synthese  zusammen.  Im  jungen  Aristoteles  lebte  bereits  jene 
„hellenistische  Religiosität"1),  jene  noch  gesteigerte  Haltung  des  Phaidon, 
die  zugleich  ein  neues  Gefühl  für  das  Konkrete  bedeutete ;  er  zwang  diese 
Haltung  in  ein  gegenständliches  Denken  hinein  durch  den  unverrückten 
Blick  auf  den  ganzen  vollen  Piaton,  in  konsequenter  Ablehnung  der 
letzten  Phase  und  ihrer  altakademischen  Ausgestaltung,  und  darüber 
hinaus  sammelten  sich  in  seiner  Lehre  die  gegenständlichen  Kräfte  der 
gesamten  griechischen  Vorzeit  bis  Piaton.  So  gelangte  er  zu  einem  Gottes- 
begriff,  der  die  höchste  Steigerung  von  Logos  und  Nus  war,  wie  er  ja 
aus  deren  höchster  Anspannung  sich  ihm  ergeben  hatte,  jenseits  und  ab- 
getrennt, und  doch  Garant  und  Träger  der  einheitlichen  ganzen  Wirk- 


2)  S.  o.  Jaeger,  bes.  über  das  Gebet  S.  163  ff. 


D    DER  VERÄNDERTE  WELT-  UND  ICH  BEGRIFF  IM  HELLENISMUS  185 


lichkeit,  die  durch  keinen  Chorismos  innerhalb  des  Seienden  —  wie  bei 
Piaton  —  mehr  zerteilt  war. 

Im  Hellenismus  erfolgte  kein  bloßer  Einbruch  einer  religiösen  Strö- 
mung mehr,  sondern  ein  breites  Uberfluten.  Der  Zusammenhang  der 
älteren  Orphik  und  verwandter  Erscheinungen  mit  orientalischer  Reli- 
giosität ist  dunkel;  nun  tritt  die  Vermischung  westlichen  und  östlichen 
Denkens  und  Fühlens  ungehemmt  und  unzweideutig  in  die  Erscheinung. 
Schon  die  Akademie  kann  als  ein  Brennpunkt  orientalisierender  Be- 
strebungen aufgefaßt  werden  (Jaeger  133);  die  böse  Weltseele  (Gesetze 
X  896 e),  vielleicht  sogar  die  Schöpfungsidee  (Reitzenstein,  Studien 
zum  antiken  Synkretismus,  Teubner  1926  S.  35)  sind  bereits  beeinflußt 
vom  Geiste  einer  fremden  Religiosität  —  Aristoteles  hält  mit  dem  Blick 
auf  das  Ganze  der  Philosophie  beiden  Lehren  gegenüber  an  einer  den 
durchlaufenden  Grundkräften  des  griechischen  Denkens  angemesseneren 
Denkweise  fest. 

Die  hellenistische  Philosophie  ebenso  wie  der  griechische  Geist  in 
allen  seinen  anderen  Erscheinungsformen  setzt  dem  Einfluß  einer  öst- 
lichen Religiosität  grundsätzlich  keinen  Widerstand  entgegen.  Es  geht 
nicht  an,  diesen  Ablauf,  der  schließlich  zur  Ausbildung  des  Christentums 
so  Wesentliches  beitrug,  nur  an  der  metaphyischen  Leistung  des  Piaton 
und  Aristoteles  zu  messen  und  danach  zu  beurteilen.  Wir  haben  der 
attischen  Philosophie  ihrem  Ideengehalte  entsprechend  einen  sehr  großen 
Raum  gewidmet;  das  darf  darüber  nicht  täuschen,  daß  die  attische  Philo- 
sophie in  dem  Gesamtstrome  der  griechischen  Entwicklung  einer  Insel 
zu  vergleichen  ist,  an  der  dieser  Strom  sich  teilt,  ohne  an  Kraft  und  Breite 
zu  verlieren,  um  nachher  wieder  in  noch  größerem  Flusse  sich  zu  vereinigen, 
weithin  die  Ausläufer  jener  Insel  überspülend  und  die  Zeitspanne  eines 
Jahrtausends  umfassend,  in  dessen  zweitem  Teil  die  „Wende  der  Zeiten44 
liegt.  Die  vorsokratische  Philosophie  setzte  sich  in  der  griechischen  Natur- 
wissenschaft, in  der  sogenannten  Sophistik,  in  den  sokratischen  Schulen, 
die  deshalb  einseitig  sind,  weil  sie  den  sokratischen  Anstoß  in  eine  bereits 
bestehende  Gedankenbewegung  aufnahmen,  gradenweges  in  den  helleni- 
stischen Schulen  fort.  Die  Entwicklung  vom  zenonischen  Eleatismus  über 
Protagoras  und  die  Megariker  zum  Skeptizismus,  zuzeiten  innerhalb  der 
akademischen  Tradition  mit  einem  Einschuß  mißverstandener  somati- 
scher Elenktik,  die  Fortführung  der  atomistischen  Physik  und  des 
demokriteischen  Lebensideals  bei  Epikur,  die  Reihe  Gorgias-Anti- 
sthenes-Kynismus,  die  Nachwirkungen  Heraklits,  des  Diogenes  von 
Apollonia,  überhaupt  der  gesamten  vorsokratischen  Tradition  in  der 
Stoa,  der  in  seiner  Filiation  noch  unklare  Neupythagoreismus  —  alles 
dies  erläutert  das  Gleichnis  von  Strom  und  Insel.  Die  vollkommene 
Synthese  der  attischen  Philosophie  wirkte  hierbei  mehr  oder  weniger 
nach,  auf  die  Stoa  stark,  auf  den  Epikureismus  so  gut  wie  gar  nicht. 

Es  ist  klar,  daß  bei  dem  Festhalten  an  der  ganzen  Fülle  philosophi- 


m  METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS  D 


scher  Vergangenheit  der  synoptisch-systematischen  Kraft  ganz  besondere 
Aufgaben  erwuchsen.  Auch  in  die  Philosophie  des  Piaton  und  Aristoteles 
war  die  Fülle  der  Vergangenheit  aufgenommen  worden,  aber  die  Zu- 
saminenf ugung  zum  Ganzen  erfolgte  in  unaufhörlichem  Ausgleich  der 
verschiedenen  philosophischen  Ansatzpunkte,  in  der  Klärung  der  Sach- 
verhalte selbst.  Je  weiter  und  erfolgreicher  die  Arbeit  der  großen  attischen 
Philosophie  in  dieser  Richtung  getrieben  worden  war,  desto  mehr  waren 
die  Probleme  zu  einer  gewissen  Bestimmtheit  geführt  und  eben  „fertig" 
geworden,  was  gewiß  nicht  eine  endgültige  Erledigung  bedeutet  und  wohl 
auch  nicht  von  Piaton  und  kaum  von  Aristoteles  so  gemeint  worden  war.  10 
Bei  ihrer  Bereitschaft  und  Kraft,  die  Fragen  in  lebendiger  Bewegung  zu 
halten,  sahen  sie  gewiß  in  viel  höherem  Maße  sich  immer  noch  als  Su- 
chende, als  es  ihren  Nachfolgern  erscheinen  mochte.  Diese  faßten  nun 
dort,  wo  die  Meinungen  der  Autoritäten  sich  zu  widersprechen  schienen, 
ihre  Aufgabe  lediglich  als  ein  Auswählen  auf;  sie  griffen  Einzelnes  heraus 
und  stellten  es  mit  Einzelnem  zusammen;  der  Eklektizismus  wurde  die 
gegebene  Form  dieser  Periode.  Die  Verfestigung  des  Einzelnen  wurde  ver- 
stärkt durch  die  sich  immer  kräftiger  entwickelnden  Wissenschaften, 
deren  Arbeit  nur  in  der  Richtung  auf  bestimmte  Einzelerkenntnisse 
liegen  konnte.  Das  Differenzierungs-  und  Einteilungsbedürfnis  der  Wissen-  20 
Schäften  griff  auf  die  Philosophie  über;  die  Sonderbereiche  der  Philo- 
sophie wurden  voneinander  getrennt,  und  die  mit  der  Philosophie  ge- 
gebene Frage  nach  der  Einheit  des  Seins  mußte  anderswo  gesucht  werden. 

Denn  die  Frage  des  Einen  und  Ganzen  ist  aus  der  Philosophie  nicht 
wegzudenken.  Symptomatisch  und  zugleich  eine  Bestätigung  des  oben 
behaupteten  Zusammenhanges  der  hellenistischen  Philosophie  mit  den 
kleineren  sokratischen  Schulen  ist  eine  Einzelheit,  ein  Satz  wie  der  des 
Eukleides  von  Megara:  „das  Gute  ist  das  Eine,  das  mit  vielen  Namen 
genannt  wird,  bald  heißt  es  nämlich  Einsicht,  bald  Gott,  und  dann 
wieder  Vernunft  und  wie  die  sonstigen  Bezeichnungen  lauten"  (Diog.  30 
Laert.  2,  106).  Nach  rückwärts  erinnert  eine  solche  Denkweise  an  Herakli- 
tische  Motive,  an  sein  Wort:  „Eins,  das  allein  Weise,  will  nicht  und  will 
doch  auch  wieder  mit  Zeus'  Namen  benannt  werden"  (Diels  I  12  B  32), 
weiter  an  das  Euripidesfragment  oben  S.  88.  Diese  Denkweise  wird  nun 
in  der  Stoa  wieder  aufgegriffen  und  könnte  das  Motto  für  das  spätere 
Systembedürfnis  und  seine  vereinfachte  Befriedigung  sein  (Diog.  Laert. 
VII  135  a.  Ende,  Arnim  Fragm.  Stoic.  I  102) :  „Eins  ist  Gott  und  der  Nus 
und  das  Schicksal  und  Zeus,  und  es  wird  noch  mit  vielen  anderen  Namen 
genannt." 

Man  vergleiche  den  in  strengster  begrifflich  analytischer  Arbeit  gewon-  40 
nenen  TVwsbegriff  des  Aristoteles,  um  den  Gegensatz  zu  ermessen:  dort 
die  Ganzheit  und  Einheit  des  Seins  die  Aufgabe,  für  deren  Lösung 
jedem  der  physikalischen,  astronomischen,  noetischen,  psychischen  und 
hyletischen  Sachverhalte  sein  Platz  in  der  Ordnung  des  Ganzen  ange- 


D  DER  VERÄNDERTE  WELT-  UND  ICHBEGRIFF  IM  HELLENISMUS  187 


wiesen  wurde,  hier  einfach  die  These,  daß  den  verschiedenen  Namen  ein 
einheitlicher  Sinn  zugrunde  liege,  den  man  meine,  wo  immer  man  auf  ihn 
sich  richte.  Daß  hier  ein  schweres  Problem  liegt  und  daß  die  Gliederung 
des  Verschiedenen  am  Einheitlichen  nicht  einfach  auf  die  Worte  abge- 
schoben werden  kann,  weil  Worte  an  sich  nicht  gliedern  und  erst  dann 
weiterhelfen  können,  wenn  ihre  einzelnen  Bedeutungen  auf  einen  einheit- 
lichen Sinn  bezogen  werden,  liegt  auf  der  Hand,  ebenso  wie  die  problem- 
geschichtliche Verflechtung  mit  dem  eleatischen  Einen  und  dem  Anaxa- 
goreischen  öfiov  närra,  von  dem  Aristoteles  so  oft  ausgeht,  wenn  er  an 
diese  Sachverhalte  herantritt.  Wesentlicher  aber  ist,  daß  hier  in  diesen 
naiv  klingenden  Sätzen  sich  das  neue  philosophische  Prinzip  ankündigt, 
das  in  diesem  hellenistischen  Philosophieren  zum  ersten  Male  in  noch 
unvollkommener  Form  sich  emporringt:  jene  Einheit  des  Meinens,  die 
hinter  die  entfalteten  Bedeutungen  zurückgreifen  will,  ist  die  Einheit  des 
Ich,  die  hier  zum  ersten  Male  den  Kern  der  philosophischen  Synthesis 
selbst  angreift. 

Von  hier  aus  gewinnt  die  gewiß  unverkennbare  Tatsache,  daß  der 
Mensch,  die  Person  als  autarke  Persönlichkeit,  in  ungleich  höherem  Grade 
Gegenstand  und  Problem  des  hellenistischen  Philosophierens  ist,  eine 
neue  Bedeutung;  die  Person  wird  nicht  bloß  Gegenstand  des  Philoso- 
phierens —  das  war  sie  eigentlich  längst  —  sondern  sie  wird  „Prinzip", 
&Q%r\,  und  damit  tritt  sie  natürlich  auch  als  Gegenstand,  nunmehr  als 
Gegenstand  philosophischer  „Selbsterkenntnis"  in  ein  neues  Licht. 

Das  bedeutet  keine  Psychologisierung  —  am  allerwenigsten  dort,  wo  das  Problem 
des  Geistes  in  dem  der  Seele  so  sichtbar  bleibt  wie  bei  Plotin.  Grundsätzlich  sei  hier 
bemerkt:  eine  Psychologisierung  wird  nie  dadurch  vermieden,  daß  man  einfach  von  der 
Verknüpfung  jedes  noch  so  „rein44  gedachten  Bewußtseins,  von  seiner  Personalunion 
mit  einem  individuellen  Ich  absieht.  Die  Tatsache  dieser  Verknüpfung,  also  die  konkrete 
Situation  jedes  Bewußtseins  muß  im  Gegenteil  in  jede  Theorie  mit  eingehen,  sonst 
besteht  die  Gefahr,  daß  sich  Anthropologisches  an  falscher  Stelle  einschleicht.  Daß  die 
griechische  Philosophie  diesen  Zusammenhang  als  ontologisches  Problem  von  vorn- 
herein im  Blick  hat,  und  deshalb  grade  zu  ihrer  vorbildlichen  Gegenständlichkeit  ge- 
langte, wollte  diese  Darstellung  in  den  Vordergrund  stellen. 

Wir  haben  im  Verlaufe  unserer  Darstellung  wiederholt  betont,  daß 
die  Entwicklung  des  Ichbewußtseins  durch  eine  Reihe  von  Umständen 
zurückgehalten  worden  ist  (S.  109,26).  Das  zähe  Festhalten  an  der  Idee  der 
Polis,  der  „übersichtlichen"  (Aristot.  Polit.  1327  a  1),  also  in  einem  be- 
sonderen Sinne  erlebbaren  politischen  Gemeinschaft,  hängt  hiermit  aufs 
Engste  zusammen.  Schon  bei  Aristoteles  entsprach  diese  Idee  nicht  mehr 
der  Zeit;  was  sich  in  den  Schulen  des  Aristipp  und  Antisthenes  längst 
vorbereitet  hatte,  eine  Auflösung  dieser  staatsethischen  Bindung,  be- 
herrscht die  Philosophie  des  Hellenismus  weithin.  Auch  wo  noch  nicht 
ein  weltbürgerliches  Empfinden  hervortrat,  vermochte  die  bloße  Zu- 
gehörigkeit zu  weiträumigen  politischen  Gebilden  das  Gefühl  der  Autarkie 
der  einzelnen  Person  nicht  einzuschränken;  die  kommunalpartikularisti- 


188 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


sehe  Gesinnung  des  hellenistischen  Städters  stellte  keinen  Ersatz  für 
das  Vergangene  dar.  Die  Problematik  des  platonischen  „Politikos",  die 
den  aufgeklärten  Despoten  gelten  ließ,  wenn  er  sich  zum  Träger  staat- 
lichen Normwillens  und  einer  hinter  diesem  stehenden  Sachsphäre 
machte,  wurde  vereinfacht:  der  Herrscher,  der  große  Mensch  in  seiner 
Spontaneität  ist  eine  letzte  Gegebenheit,  ist  Prinzip.  Wenn  man  sieht,  in 
welchem  Sinne  Epikur  als  „Meister"  aufgefaßt  wurde,  so  begreift  man 
die  Wandlung  des  Personbegriffs  auch  in  der  Philosophie.  Eine  solche 
Haltung  veränderte  auch  das  Verhältnis  zu  den  früheren  Philosophen  und 
ermöglichte  schließlich  die  kommentierende  deutende  Tätigkeit,  die  Wis-  10 
senschaft  der  Exegese,  der  methodischen  Sammlung  des  überlieferten  Be- 
st andes.  Die  Kehrseite  dieses  Autoritätsbedürfnisses  ist  die  Umdeutung 
späterer  Lehren  als  alte  Tradition,  schließlich  die  fälschende  Nachliefe- 
rung fehlender  Bezeugung.  Wie  die  höchste  Idee  der  Persönlichkeit,  der 
Sehöpfergott,  nun  von  jeder  Bindung  an  vor  ihm  Seiendes  befreit  wurde, 
haben  wir  oben  S.  161,23  vorwegnehmend  angedeutet. 

Daß  aus  einer  so  veränderten  Grundhaltung  dem  „Menschen"  gegen- 
über sich  neue  ethische  und  religiöse  Möglichkeiten  ergeben,  ist  klar,  und 
damit  die  Empfänglichkeit  für  aus  anderer  Sphäre  stammende  Reli- 
gionen. Daß  freilich  auch  noch  andere  Kräfte  sich  entwickeln  können,  20 
zeigt  der  Einfluß  der  hellenistischen  Philosophie  auf  die  Theorie  der 
römischen  Staatsethik.  Doch  hier  sei  nur  kurz  auf  die  Folgen  jener  meta- 
physischen Umlagerung  der  äg^rj  ins  persönlich  ichhaft  erlebte  Subjekt 
hingewiesen.  Wenn  die  eigentlich  klassische  Haltung  der  griechischen 
Metaphysik  den  Nus  in  der  Welt  für  das  Frühere  vor  dem  Menschen 
ansah  und  die  innigste  Durchdringung  beider  Seiten  für  die  immer  wieder 
neu  zu  begründende  Aufgabe  metaphysischer  Theorie  hielt,  so  zieht  jetzt 
das  Subjekt  diese  im  Kosmos  wirkenden  Kräfte  an  sich.  Die  Folge  ist  die 
Materialisierung  der  Gegenständlichkeit;  erst  von  einer  individuell  per- 
sönlichen Ichhaltung  aus  ergibt  sich  die  wirkliche  „Materie"  —  in  wie  ein-  30 
geschränktem  Sinne  die  platonische  und  die  aristotelische  Hyle  dies  war, 
ist  ausführlich  gezeigt  worden.  Man  hat  bereits  Parmenides  als  ersten 
„Materialisten"  bezeichnen  wollen  (s.  o.  S.  53):  wir  haben  dies  mit 
der  Begründung  abgewiesen,  daß  die  Trennung  des  Denkens  von  seinem 
Gegenstande  noch  gar  nicht  so  weit  vorgeschritten  war,  um  eine  Schei- 
dung zwischen  einem  Materialismus  und  Spiritualismus  zu  ermöglichen. 
Nun  tritt  in  der  Stoa  ein,  was  Piaton  in  der  Schilderung  der  Giganto- 
machie  des  Sophistes  (s.  o.  S.  141,38)  ausgeführt  hatte:  ein  verfestigter 
Seinsbegriff  entsteht,  freilich  auch  ein  verinnerlichtes  Ichbewußtsein. 
Es  treten  Philosophen  auf,  die  auch  das  Gute  für  ö&jaa,  für  materiell  40 
erklären,  weil  es  ja  sonst  nicht  auf  uns  wirken  könnte  (z.  B.  Seneca  ep. 
106,  3  f.).  Bei  der  Erklärung  der  höheren  Materialität  —  Pneumal  — 
klingen  Lehren  des  Anaximenes,  des  Diogenes  von  Apollonia  (s.  o.  S.  77) 
an;  aber  gegen  alle  materialistischen  Motive  werden  wieder  religiös- 


D  DER  VERÄNDERTE  WELT-  UND  ICHBEGRIFF  IM  HELLENISMUS  189 


spiritualistische  wirksam  —  das  alles  beweist  nur,  wie  wenig  die  auf 
neuen  Erlebnismöglichkeiten  beruhenden  Nuancen  mit  sachlich  wider- 
sprechenden, aber  aus  anderen  seelischen  Bedürfnissen  heraus  aufge- 
griffenen Lehrmeinungen  früherer  Philosophen  wirklich  ausgeglichen 
wurden.  Und  nur  zu  viele  geistige  Bedürfnisse  würden  ja  bei  konsequen- 
tem Materialismus  leer  ausgehen;  deshalb  gesellt  sich  paradoxerweise  zu 
allen  Zeiten  zu  einer  solchen  Vorstellung  von  der  Materialität  aller  Wirk- 
lichkeit ein  gefühlvoller  Naturbegriff.  Erst  jetzt  erhält  „Physis"  in  der 
griechischen  Philosophie  den  charakteristischen  Sinn,  der  sie  dem  gei- 
stigen Tun  der  Menschen  gegenüberzustellen,  zugleich  aber  als  eine  Norm 
aktiven  Verhaltens  aufzufassen  zwingt.  In  Ubereinstimmung  mit  der 
Natur  zu  leben,  SfioXoyoVft&cog  rrj  yvaei,  wird  der  ethische  Leit- 
spruch; damit  verträgt  sich  merkwürdigerweise  ein  Mißtrauen  gegen  die 
„natürlichen"  Kräfte  der  Seele,  die  Affekte,  die  bekämpft  werden  müssen. 
Für  Piaton  und  Aristoteles  konnte  die  Physis  nie  eine  dem  Handeln  gegen- 
überstehende Norm  sein,  weil  die  Physis  in  ihrem  Sinne  von  vornherein 
menschliches  Verhalten  unmittelbar  umschloß.  Es  mußte  erst  zwischen 
Natur  und  Ich  ein  Bruch  eintreten,  um  dieses  neue  Verhältnis  zu  ermög- 
lichen. 

Die  hier  angedeuteten  Sachverhalte  bezeichnen  ganz  kurz  einen 
Symptomzusammenhang,  der  in  sehr  verschiedener  Weise  im  einzelnen 
Falle  betont  und  gestaltet,  ausgeglichen  oder  verdeckt  sein  kann.  Daß 
alles  dies  längst  vorbereitet  ist,  ergibt  sich  aus  den  weit  vor  dem  4.  Jahr- 
hundert liegenden  Ursprüngen  dieser  Entwicklung,  die  mit  der  allen 
anderen  griechischen  Stämmen  voraneilenden  geistigen  Differenzierung 
der  Ionier  und  ihrem  großen  Einflüsse  auf  alles  griechische  Wesen  zu- 
sammenhängen mag.  Schon  längst  gab  es  Einzelwissenschaften,  nun  aber 
erst  erlangte  das  menschliche  Bewußtsein  den  vollen  Abstand  von  den 
Dingen  und  von  dem  früher  Gedachten.  Es  entstehen  vor  allem  geschicht- 
liche Wissenschaften,  deren  Sinn  es  ist,  einmaliges  individuelles  geistiges 
Leben  neben  der  eigenen  Individualität  gelten  zu  lassen  und  in  seiner 
entschwindenden  Einmaligkeit  festzuhalten.  Metaphysisch  kann  dies 
alles  auf  den  einen  Mittelpunkt  bezogen  werden:  die  Verschärfung  des 
subjektiven  Icherlebens.  Die  Rückwirkungen  hiervon  können  ganz  ver- 
schieden sein:  das  Bild  des  Stoikers  ist  bekannt:  des  Epikureers  Glücks- 
suchen kann  in  Weltflucht  bis  zur  Todessehnsucht  oder  in  Langeweile  um- 
schlagen —  eadem  sunt  omnia  semperl  — ,  der  Skeptizismus  kann  zu  sehr 
verschiedenen  Stimmungen  des  Ich  führen:  zu  pessimistischem  Zweifel 
in  die  Entscheidbarkeit  des  eigenen  philosophischen  Fragens,  in  dessen 
voller  Beherrschung  die  attische  Philosophie  den  Sinn  menschlichen  Den- 
kens sah,  oder  zu  verwegenem  Selbstvertrauen  in  die  Autarkie  des  eigenen 
Ich,  das  sich  infolge  der  gleichen  Kraft  (lüoa&iveict)  aller  einander  wider- 
sprechenden Aussagen  auch  durch  keinen  logischen  Zwang  mehr  in  seiner 
Willkür  beschränkt  sieht. 


190 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


2.  PLOTIN. 

Je  tiefer  in  der  gesamtgriechischen  Entwicklung  begründet  der  Ver- 
lauf der  ionisch-hellenistischen  Philosophie  aufgefaßt  wird,  desto  größer 
erscheint  der  bewußte  Formungswille  der  attischen  Philosophie  und  desto 
bewundernswerter  sein  Erfolg.  Diese  Formungskraft  der  attischen  Philo- 
sophie bewährt  sich  am  Ausgange  des  Altertums  noch  einmal  im  Neu« 
plat  onismus,  genauer  in  dem  letzten  originalen  antiken  Philosophen. 
Plotin  konnte  die  Fragen  des  Piaton  und  Aristoteles  lebendig  vernehmen 
und  auf  sie  aus  dem  veränderten  Geiste  seines  Zeitalters  neu  antworten. 

Als  Begründer  des  Neuplatonismus  und  Lehrer  des  Plotin  gilt  Ammonios  Sakkas 
aus  Alexandria,  Christ,  dann  wieder  Heide;  er  hat  keine  Schriften  hinterlassen.  Sein  10 
Ziel  soll  gewesen  sein,  Piaton  und  Aristoteles  in  Übereinstimmung  zu  zeigen  —  was  an 
sich  nicht  neu  war;  Antiochos  von  Askalon  und  Poseidonios  können  hierin  ebenso  als 
Vorbereiter  des  Neuplatonismus  gelten  (vgl.  die  Arbeit  von  H.  Strache  über  den 
,.]  Eklektizismus  des  Antiochus  von  Askalon",  Philolog.  Unters,  ed.  Kießling  u.  v.  Wilamo- 
witz,  Berlin  1921,  sowie  Jaeger,  Nemesios  v.  Emesa,  Berlin  1914  II  1,  der  Poseido- 
nios kurzweg  den  ersten  Neuplatoniker  nennt;  dazu  W.  T  heil  er,  Die  Vorbereitung  d. 
Neuplatonismus,  Problemata  Heft  1  Berlin  1930;  zu  Poseidonios  die  oben  S.  13  Zeile  18 
genannte  Literatur).  Natürlich  muß  unter  diesen  Umständen  eine  vergleichende  Dar- 
stellung der  platonischen  und  aristotelischen  Gedanken  für  die  Entstehung  des  Neu- 
platonismus von  Wichtigkeit  sein.  Die  problemgeschichtliche  Durchdringung  der  Be-  20 
Ziehungen  von  Aristoteles  und  Piaton,  wie  sie  oben  versucht  wurde,  steht  erst  in  ihren 
Anfängen  und  wird  grade  für  die  präzise  Erfassung  der  Lehren  beider  noch  viel  ergeben 
—  die  Befürchtung,  es  könnte  sich  Piaton  in  Sokrates  nach  der  einen  und  Aristoteles 
nach  der  anderen  Seite  auflösen  (Burnet),  verkennt  Absicht  und  Methode  dieser  ver- 
gleichenden Interpretation.  Jeder  Schritt  in  der  Erkenntnis  grade  des  späten  Piaton 
wird  in  die  Frage  der  Herkunft  des  Neuplatonismus  eingreifen.  Die  folgende  Betrachtung 
will  versuchen,  das  vorher  Entwickelte  für  das  Verständnis  der  Absichten  Plotins 
fruchtbar  zu  machen.  Eine  Auseinandersetzung  mit  der  Plotinliteratur  ist  in  diesem 
Rahmen  nicht  möglich,  ich  verweise  nur  auf  die  Ausgabe  von  Brehier,  Paris  1924,  mit 
französischer  Übersetzung  (im  Erscheinen)  und  auf  die  deutsche  Übersetzung  von  Har-  30 
der,  Philos.  Bibliothek,  von  der  bisher  ein  Band  erschienen  ist.  Vgl.  auch  Härder, 
„Antike"  I  363  und  V  53. 

Plotin  deutet  Piaton  und  Aristoteles  neu  aus  demjenigen  Geiste,  den 
wir  als  hellenistisch  auf  ein  Prinzip  zurückgeführt  und  in  seiner  Gliede- 
rung angedeutet  hatten.  Wir  werden  allen  Motiven  wieder  begegnen  und 
bei  der  Entwicklung  der  plotinischen  Hauptlehren  auf  sie  hinweisen.  Die 
metaphysischen  Grundgedanken  des  Piaton  und  Aristoteles,  wie  wir  sie 
gedeutet  haben,  erfahren  alle  eine  neue  Formung  in  dem  Sinne,  den  wir 
S.  5  bezeichnet  haben.  Die  Prinzipien  des  Einen  und  des  Guten  werden 
gleichgesetzt  —  sie  besagen  dasselbe;  diese  Gleichsetzung  kennen  wir  von  40 
Eukleides  von  Megara  her;  sie  erscheint  bei  Plotin  als  bewußte  Synthese 
der  platonischen  Seinsidee  und  des  platonischen  Seinsbegriffes,  der 
Brennpunkte  der  beiden  platonischen  Entwicklungsperioden.  Plotin  wie 
Aristoteles  richten  ihren  Blick  auf  den  ganzen  Piaton  —  vielleicht  sind 
die  Übereinstimmungen  zwischen  Aristoteles  und  Plotin  primär  daher 
bestimmt  und  erst  in  zweiter  Linie  durch  die  Bestätigung  dieser  Synopsis 
durch  Aristoteles.    Die  anderen  megarischen  „Namen"  des  Einen  sind 


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PLOTIN 


191 


Gott  und  Nus.  Gott  und  das  Gute  schienen  schon  im  platonischen 
Staate  sich  einander  anzugleichen.  Der  Nus  aber  wird  ausdrücklich  nicht 
dem  obersten  Prinzip  gleichgesetzt  —  also  eine  deutliche  Abweichung 
von  Aristoteles,  dessen  Überlegungen  über  den  unbewegten  Beweger 
freilich  in  jedem  Worte  Plotins  über  das  Eins  gegenwärtig  sind  und 
damit  zugleich  die  Problematik  des  Parmenidesdialoges,  der  wieder- 
holt von  Plotin  geradezu  kommentiert  wird.  Wenn  Plotin  bis  auf  Motive 
des  historischen  Parmenides  zurückgeht,  so  sehen  wir  ihn  wieder  in 
Übereinstimmung  mit  Tendenzen  des  Hellenismus ;  er  kennt  sichtlich  auch 
die  wissenschaftliche  Erklärungsarbeit  an  Piaton  und  Aristoteles  mit 
allen  ihren  Kontroversen.  Wie  Aristoteles  Nus  und  Seele  anders  als  Piaton 
einander  gegenüberstellte,  so  differenziert  nun  Plotin  schärfer  den  sich 
selbst  denkenden,  also  mit  der  Zweiheit  von  votjtov  und  voelv  wesens- 
mäßig behafteten  Nus  gegen  die  oberste  Einheit,  der  er  freilich  die  Kraft 
des  ersten  Bewegers  durch  die  Gleichsetzung  mit  dem  Guten  zuspricht. 
Die  Seele,  die  Plotin  mit  Aristoteles  deutlich  gegen  den  Nus  als  dritte 
Stufe  abhebt,  gewinnt  bei  ihm,  indem  die  Physis  als  eine  Art  Seele  auf- 
gefaßt wird,  eine  so  große  Ausbreitung  und  Wichtigkeit,  daß  man  diese 
Problematik  als  Ausgangspunkt  des  ganzen  plotinischen  Systems  an- 
sprechen wollte  (Heinemann,  Plotin,  Leipzig  1921;  J.  Theodorakopulos, 
Plotins  Metaphysik  des  Seins,  1928).  Als  unterste  Stufe  tritt  die  Hyle 
nun  hinzu;  wie  Aristoteles  stuft  auch  Plotin  die  Hyle  mannigfach  ab, 
nimmt  eine  geistige  und  eine  sinnliche  an  —  hierin  schließt  er  sich  eng 
an  Aristoteles  an. 

Dieses  Schema  erhält  die  spezifisch  plotinische  Prägung  dadurch,  daß 
die  individuell  erlebte  Ichhaftigkeit  der  Person  nun  den  ganzen  Bau 
beherrscht  —  6  iyw  wird  philosophischer  Terminus  —  und  jedem  der 
früheren  Motive  eine  neue  Färbung  gibt,  und  zwar  eine  durchaus  der 
späteren  europäischen  Geistigkeit  gemäße.  Daher  die  ungemessene  Nach- 
wirkung Plotins.  Bis  in  die  Zeit  Goethes  und  Schillers  sah  man  alles 
Platonische  durch  die  Formung  Plotins  hindurch.  Plotin  ist  zwar  nicht, 
wie  sein  Lehrer  Ammonios  Sakkas,  selber  durch  das  Christentum  hin- 
durchgegangen, aber  die  Formung  des  Ichbewußtseins,  die,  im  Hellenismus 
entstanden,  im  Christentum  ihren  entscheidenden  Ausdruck  gefunden 
hat,  die  unmittelbar  gefühlte  in  den  Augenblicken  höchsten  Glückes  wirk- 
lich erlebte  Gottverwandtschaft  der  Menschenseele  ist  das  Grundproblem 
des  plotinischen  Systems :  Gott  und  Mensch  nähern  sich  einander  —  aber 
freilich  beschränkt  sich  der  Grieche  auf  die  6/iotco<fig  ^w,  auf  die  er- 
strebte Gottwerdung  des  Menschen;  die  Menschwerdung  Gottes  tritt 
nicht  in  seinen  Gesichtskreis;  es  herrscht  aber  die  Idee  der  Welt  werdung 
Gottes.  So  muß  nun  die  urgriechische  Beziehung  von  Welt  und  Mensch 
eine  besondere  Kraft  und  Wärme  erhalten;  zugleich  wird  der  Mensch  als 
Individuum  in  dieser  Welt  Problem.  Ob  es  von  der  Individualität  eine 
Idee  gibt  —  diese  Frage  wirkt  bis  in  die  letzten  systematischen  Über- 


192 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


Legungen  hinein;  ist  doch  nun  auch  das  göttliche  Eine  in  seiner  Einzigkeit 
und  Ganzheit  begriffen. 

Plotins  Philosophieren  ist  ein  inneres  Gespräch  der  individuellen 
Person  Plotin  mit  den  eigenen  Gedanken,  Denken  als  ein  Gespräch  „der 
Seele  mit  sich  selbst",  wie  es  im  Theaitetos  und  Sophistes  hieß,  aber  aus- 
gedehnt auf  den  ganzen  Gehalt  des  sokratisch-platonischen  Dialoges; 
auc  h  die  Sprache  ist  individuellster  Ausdruck  der  im  Augenblick  erlebten 
Sicht  der  Gedanken:  La  phrase  de  Plotin  est  une  phrase  parlee,  oü  les 
nuances  successives  et  les  articulations  de  la  pensee  ne  peuvent  etre  saisies 
que  gräce  d  une  parole  elle-meme  nuancee  (Brehier,  Plotin  Enneades,  Bd.  I  10 
XXXVII). 

Die  Wirkung,  die  dieses  Urphänomen  des  plotinischen  Denkens  auf 
das  Verhältnis  der  vier  großen  Seinsbereiche  ausübt,  also  die  innere 
philosophische  Form  soll  an  der  Gedankenfügung  einer  der  umfassendsten 
und  abgeschlossensten  Abhandlungen,  n  qv  yvaeutc  xal  tieonoCaq  xal  tov 
ivöq  (III,  8)  dargestellt  werden;  ihr  Gedankengang  liegt  dem  Folgenden 
zugrunde  deshalb,  weil  sie  die  plotinische  Fassung  der  Theoria  zum  Aus- 
druck bringt,  in  der  auch  bei  Aristoteles  mannigfache  Motive  zusam- 
menliefen. 

(c.  1.)  Plotin  beginnt  scherzend  mit  der  Paradoxie:  Alles  geschieht  aus  Theoria  und  20 
um  der  Theoria  willen  —  auch  der  Scherz  ist  sinnhaft  auf  Ernstes  bezogen,  ist  Theoria; 
sie  braucht  also  nicht  immer  auf  der  Oberfläche  zu  liegen;  auch  die  Natur,  die  ohne 
Vorstellung  und  ohne  Denken  ist,  tut  alles  nur  durch  Theoria.  (Wir  heben  hervor: 
grade  alles  Handeln  und  Geschehen  setzt  Theoria  voraus,  die  immer  dort  vorliegt,  wo 
ein  ruhendes  (Bleibendes)  etwas  in  Bewegung  setzt;  also  genau  die  aristotelische  Auf- 
fassung vom  unbewegten  Beweger,  nur  prinzipiell  und  allgemein  gefaßt.) 

(c.  2.)  Ohne  Werkzeuge  schafft  die  Natur;  sie  braucht  bloß  die  Hyle,  an  der  sie  ihre 
Formkraft  übt;  diese  Formkraft  ist  sinn-  und  gestaltgebend,  Logos  und  Theoria;  in- 
dem sie  wirksam  ist,  hat  sie  bereits  die  Hyle  sinnvoll  gestaltet,  „logisiert",  vkr\  ko- 
yioif^oti.  (In  der  Physis  ist  eine  Stufenreihe  von  Logoi;  der  unterste  Logos,  der-  30 
jenige,  der  sich  endgültig  verwirklicht  hat,  ist  bereits  tot,  denn  er  erzeugt  nicht 
weitere  Logoi  aus  sich.  Je  näher  dem  Ursprung,  desto  mehr  Leben  im  Logos  —  die 
aristotelische  Abstufung  von  Hyle  und  Eidos,  weiter  ausgearbeitet  und  mit  der  diai- 
retischen  Stufenfolge  des  Seins  bis  zum  Atomon  Eidos  herab  verknüpft:  alles  was  Ver- 
bindung stiftet,  ist  sowohl  das  eine  als  das  andere;  „Parmenides",  ^fr«|i'-Erörterung.) 

(c.  3.)  Wenn  auch  alle  diese  Begriffe  sich  berühren,  so  sind  sie  doch  auseinanderzu- 
halten; wenn  eine  Handlung  (n^aiic)  dem  Logos  gemäß  sich  vollzieht,  muß  dieser  als 
Besonderes  von  ihr  abgehoben  werden.  Der  in  der  Theoria  gemeinte  Logos,  6  loyoq 
7f .Vm  k^ ufVoc,  ist  selbst  Theoria  und  erzeugt  die  späteren  Logoi. 

Diese  entfernteren  Logoi  sind  die  in  der  individuellen  Seele  erlebten  und  die  in  der  40 
Physis  verwirklichten,  das  Ergebnis  einer  Theoria  und  eines,  der  sie  ausübt,  änoTtkeofxa 
&€(ü(jiag  xal  Utmo^oaviog  zivog.  Gewiß  kann  die  Physis  über  den  Inhalt  ihres  Logos 
und  ihrer  Theoria  nicht  forschen,  oxon&o&ai;  aber  das  ist  grade  ein  Zeichen,  daß  sie 
die  Inhalte  hat  und  nicht  zu  suchen  braucht.  Daher  schließt  sich  (c.  4)  ein  Preis  dessen 
an,  was  an  der  Physis  dadurch  grade  vorbildlich  ist:  sie  schweigt.  „Das  Gewordene  ist 
Gegenstand  meiner  schweigenden  Schau.  Verstehe  mich  schweigend,  aber  frage  mich 
nicht",  würde  die  Natur  sagen,  wenn  sie  nicht  eben  schwiege.  Sie  blickt  nicht  nach 
oben  und  nicht  nach  unten;  sie  schaut  nicht  über  sich,  da  sie  einen  so  herrlichen  und 
liebenswerten  Gegenstand  der  Schau  erzeugt  hat  (die  hellenistische  Naturverklärung, 


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PLOTIN 


193 


verbunden  mit  der  schöpferischen  Weltseele  des  Timaios,  in  gewissem  Widerspruch 
zu  den  Hauptsätzen  des  Systems,  wie  das  nächste  zeigt). 

Trotzdem  gibt  es  eine  höhere,  kräftiger  lebende  Seele;  von  dieser  ist  diejenige  Seele, 
die  als  Natur  sich  in  sich  selbst  fühlt  und  denkt,  erzeugt  worden.  Im  Vergleich  zu 
dieser  höheren  Seele,  die  ihre  besondere  Klarheit  der  Theoria  hat,  ist  die  Physis  herab- 
zusetzen. Wie  die  Menschen  grade  im  Zustande  einer  Schwäche  der  Theoria,  außerstande 
den  Sinn  ihres  Meinens  in  reiner  Theoria  zu  erfassen  und  sich  mit  ihm  zu  erfüllen 
(nkrjoovo&ca),  zur  Praxis  übergehen,  um  doch  den  Sinn  vor  sich  zu  sehen,  so  ist  auch 
die  Physis  entweder  Schwäche  oder  Folge  der  Theoria;  Schwäche,  insofern  nichts  mehr 

1 0    weiter  durch  sie  erfolgt,  Folge,  insofern  sie  ein  Stärkeres  über  sich  hat. 

(c.  5.)  Die  höhere  Seele  mit  ihrer  Lernfreude  und  dem  Sucherischen  und  ihrem 
weiteren  Erkenntnisdrang  auf  Grund  der  ganzen  Fülle  dessen,  das  sie  bereits  erkannt 
hat,  wird  ganz  zum  „Gegenstand"  der  Theoria  und  bringt  so  aus  sich  ein  anderes  „Theo- 
remo",  eben  die  Physis  hervor  —  wie  die  Techne  im  Meister  ein  dunkleres  Abbild  im 
Schüler  erzeugt,  das  nicht  aus  sich  heraus  weiterzeugen  kann.  Diese  Seele  verhält  sich 
stets  in  doppelter  Richtung :  sie  blickt  nach  oben  und  verharrt  so  in  ihrem  Sein,  während 
sie  nach  unten  ihre  Kraft  auf  alles  wirken  läßt ;  nichts  entzieht  sich  ihr,  alles  nimmt  an 
ihrem  Leben  teil;  sie  könnte  in  jedem  ganz  sein,  weil  sie  überhaupt  nicht  Größe  hat, 
deshalb  strebt  jedes  über  den  Anteil,  den  es  bis  jetzt  gewonnen  hat,  hinaus,  um  ihrer 

20    ganz  teilhaft  zu  werden  (Platonischer  Eros,  Anspielung  auf  Symposion  und  Phaidros). 

(c.  6.)  Die  Theoria  wird  nun  näher  in  ihrem  Verhältnis  zum  Handeln  bestimmt; 
alles  Handeln  meint  ein  Ziel,  das  wieder  Gegenstand  einer  Theoria  werden  kann.  Han- 
deln geschieht  also  aus  einem  Sinnerlebnis  heraus  und  will  wieder  zu  einem  andern 
solchen  führen;  es  will  ein  Gemeintes  gegenwärtig  machen.  Also  ist  grade  das,  was 
zwischen  den  beiden  Theoriai  liegt,  schwächer,  wertloser,  und  ist  in  der  Theoria  auf- 
gehoben. Diejenige  Theoria  der  Seele,  die  völlig  in  sich  verharrt,  die  eins  mit  ihrem  Gegen- 
stande wird,  in  der  jede  Zweiheit  überwunden  ist  —  auch  die  von  Erkennendem  und 
Erkanntem  — ,  sie  nähert  sich  bereits  dem  nächsthöheren  Bereiche.  Der  in  solcher 
Haltung  denkende  ist  bereits  „vom  Logos  durchdrungen"  (wie  oben  von  der  Physis 

30  gesagt  wurde:  „tekoyiGwi");  er  hat  nichts  mehr  außer  sich,  sondern  alles  in  sich. 
(Das  Verharren,  [xsveiv,  sich  Sammeln,  das  es  nicht  nötig  hat,  sich  nach  außen  zu 
beweisen,  aber  grade  dadurch  weiterwirken  kann  —  also  das  auf  jeder  Seinsstufe  wieder- 
kehrende Dynamis-I?raergeia-Verhältnis  —  wird  hier  sichtlich  zum  Erlebnis  der 
Dynamis;  dadurch  daß  Plotin  mit  Piaton  den  Akzent  auf  die  Einheit  des  noch  nicht 
entfalteten,  aber  die  Entfaltungsmöglichkeiten  in  sich  tragenden  Seins  legt,  erhält  die 
Dynamis  eine  neue  Wertbetonung,  was  gewisse  Modifikationen  der  aristotelischen  Meta- 
physik nach  sich  zieht.  Der  Nus  hat  im  allgemeinen  griechischen  Sprachbewußtsein 
und  daher  auch  bei  Piaton  und  Aristoteles  die  doppelte  Bedeutung  von  erlebtem 
„Bewußtsein"  \uvev  vov,  bewußtlos]  —  daher  die  Aktualität  der  Theoria  —  und  von 

40  Meinen  eines  bestimmten  evidenten  Sachverhaltes,  vovg  =  rosTr  ta  rorjm.  Nach  der 
ganzen  Tendenz  des  plotinischen,  hierin  hellenistischen  Denkens  auf  die  personale 
Erlebnissphäre  hin  wird  die  erste  Bedeutung  stärker  als  bei  Aristoteles  betont  und  damit 
der  Anwendungsbereich  des  Nus  auf  alles  Erlebbare,  also  alles  Seiende  ermöglicht. 
Damit  stuft  sich  auch  Theoria  und  Logos  so  ab,  wie  wir  grade  in  unserer  Abhandlung 
sehen,  daß  der  Logos  von  der  Einheit  bis  zur  „toten",  d.  h.  nicht  mehr  weiterwirkenden, 
nichts  mehr  unter  sich  entlassenden,  keine  Hypostasen  mehr  erzeugenden  konkreten 
Wirklichkeit  alle  Sphären  begleiten  kann.) 

In  Kapitel  7  tritt  zur  Bezeichnung  der  Hypostasen  der  uns  aus  Piaton  wohlbekannte 
Ausdruck  des  jui'juqjua  auf. 
50  (c.  8.)  Der  Unterschied  der  verschiedenen  Stufen  der  Noesis,  je  nachdem  auf  ihnen 
die  „Einheit  von  Denken  und  Sein"  mehr  oder  weniger  erreicht  ist,  wird  nun  näher 
beschrieben,  wobei  Leben  (Cwtf)  und  Noesis  in  Beziehung  gesetzt  werden.  Jedes  Leben 
ist  eine  Art  Noesis,  und  eine  Art  Logos.  Die  uns  bereits  bekannten  dunkleren 
Arten  der  Noesis  führen  auf  die  Gegenvorstellung  einer  möglichst  hellen  ersten  NoSsis, 

Handb.  d.  Phil.  I.   ü  13 


194 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


der  ein  „erstes  Leben",  wie  bei  Aristoteles,  zugeordnet  ist.  Mit  dauernder  Verwendung 
der  Gedanken  des  platonischen  Parmenides  und  des  aristotelischen  vovg  vorjoetog  führt 
nun  Plotin  die  Noesis  bis  an  den  Punkt  des  Überganges  zum  Denken  des  wirklich  Einen 
heran.  Aber  noch  immer  denkt  die  Noesis  sich  als  lebendig,  Denken  und  Leben  ist 
zwar  eins,  aber  dies  Eins  ist  eben  doch  dies  Beides;  und  selbst  wenn  der  Nus  nur 
das  Eine  denkt,  so  geht  er  doch  im  Denken  über  von  dem  Einen  zum  Vielen,  „er  merkt 
gar  nicht,  daß  er  schon  vieles  gewordenist"  (S.  272,5Mueller).  In  diesem  Übergang  wird 
grundsätzlich  die  im  Nus  liegende  Ganzheit  bereits  entwickelt:  er  ist  schon  nag  geworden, 
Allgeist,  der  überall  und  alles  denkt.  Nus  involviert  Allheit,  also  ist  er  bereits  Nus 
ravnuv,  Geist  aller  Subjekte  und  aller  Objekte.  Wo  gedacht  wird,  ist  er  ganz.  (Der  iO 
Monadensachverhalt  wird  abgeleitet  aus  der  Tatsache,  daß  im  Nus  Subjekt  und  Objekt 
zusammenfallen,  es  wird  also  die  Ganzheitsbeziehung  des  einzelnen  Gegenständlichen 
(Zahl  und  Gestalt  121)  kombiniert  mit  der  Unteilbarkeit  des  Geistes  in  allen  indivi- 
duellen Subjekten.  Ohne  seine  Einheit  zu  verlieren,  da  er  unzusammengesetzt  ist, 
wird  der  Nus  „unendlich"  —  eine  für  Plotin  charakteristische  Eigenschaft  des  Nus. 
Deshalb  ist  er  noch  nicht  primär  (nowTtog),  sondern  es  gibt  noch  ein  „Jenseits",  ein 
btixetva,  das  Eins  zu  der  wesensnotwendigen  Zwei heit,  die  eben  im  Nus  festgestellt 
wurde;  darum  ist  das  Eins  weder  das  Gedachte  noch  der  iVus,  denn  jedes  von  diesen 
ist  mit  dem  anderen  zusammengejocht;  der  Nus  ist  immer  im  Durchgang,  und  zwar  im 
bereits  vergangenen  {ßv  dif%6d(x>  twv  navuav  .  .  .  ov  rfj  die^iovaij,  eckka  rfj  die&k&ovGt]  20 
(273,  23);  Aristoteles:  voslv  ist  immer  zugleich  VBvorixivm). 

(c.  9.)  Das  wirklich  Eine  muß  nun  nicht  Durchgang,  sondern  Anfang  (Prinzip)  des 
Durchgangs,  nicht  Leben,  sondern  kq^V  des  Lebens,  nicht  Nus,  sondern  <xQ/ij  des  Nus 
und  do^ri  von  allem  sein;  es  muß  vor  aller  Menge,  vor  aller^Entfaltung  (einheitliches 
Subjekt  und  einheitliches  Objekt  als  wirklich  eins)  sein. 

(c.  10.)  Nun  wird  dieses  &av[xci  verdeutlicht  durch  zwei  Bilder:  die  Quelle,  die  un- 
versieglich  Ströme  entsendet  (aivaog  ovaia  Piatons),  und  die  Wurzel  eines  durch  das 
ganze  Sein  wachsenden  Baumes.  Wie  die  Einheit  jedes  Wesens,  der  Seele,  des  Alls,  das 
Ehrwürdigste  ist,  so  die  einheitlich  in  ruhiger  Kraft  verharrende  Dynamis  alles  Seins. 
Mit  keiner  der  anderen  Seinsbereichen  angehörigen  Kategorien  ist  es  zu  bezeichnen,  30 
es  ist  nicht  seiend,  nicht  Leben,  nicht  Nus  usw.  Nur  durch  den  Einsatz  schärfster  Auf- 
merksamkeit, noooßoky,  und  durch  eine  Zusammenschau  des  Großen  in  ihm  mit  dem, 
was  aus  diesem  Großen  nach  ihm  sich  ergibt,  kann  es  erkannt  werden. 

(c.  11.)  Da  Plotin  das  Dynamis-jBnergeioverhältnis  auf  den  Nus  angewendet  hat, 
so  ergibt  sich  für  ihn  notwendig  auch  ein  ify/e-£ic?osverhältnis :  Das  Eine  ist  die  Form 
des  iVus,  der  Archetypus  zu  der  „Spur",  dem  Eindruck,  der  im  Nus  sichtbar  ist:  der 
Nus  ist  gutartig;  also  ist  das  Eine  das  Gute.  „Sprich  aus:  das  Gute  ohne  etwas  hinzu- 
zudenken" (also  das  reine  Erlebnis  eines  gemeinten  Sinnes,  von  dem  wir  oben  S.  187,13 
bereits  sprachen.  Es  klingt  nach:  das  nowrov  yikov -Motiv  in  der  letzten  Mangel-  und 
Bedürfnislosigkeit,  wo  alles  Streben  erfüllt,  gesättigt  ist;  Wortspiel  zwischen  xooog  40 
Sättigung  mit  der  anderen  Bedeutung  Sohn,  wie  Piaton  an  der  Plotin  vorschwebenden 
Stelle  Staat  VI  507  a  mit  roxog  Zins  und  Sohn  spielte).  In  hellstem  Licht  und  Glanz 
leuchtet  im  Einen  der  Schöpfer  des  royrog  xoofxog  (s.  o.  S.  160,36),  dessen  Sohn  der  ent- 
faltete Nus  ist;  der  Vater  selbst  ist  noch  vor  jeder  Entfaltung. 

Diese  Paraphrase  sollte  zunächst  zeigen,  wie  sich  Plotin  den  Übergang 
der  einzelnen  Seinssphären  ineinander  denkt;  er  zerlegt  jede  Sphäre  nach 
Dynamis  und  Energeia,  nach  Stoff  und  Form;  die  „Relativierung"  dieser 
einander  zugeordneten  Begriffspaare  ist  durchgeführt.  Auf  ihr  beruht  der 
Syndesmos  des  Systems.  Plotin  schildert  hier  den  Aufstieg,  dessen  Motiv 
das  Suchen  einer  zunächst  relativen  Einheit  „vor"  der  nach  Dynamis  50 
und  Energeia,  Stoff  und  Form  sich  zerlegenden  niederen  Stufe  ist.  Um- 


D 


PLOTIN 


195 


gekehrt  beruht  der  Abstieg  grade  darauf,  daß  diese  Einheit  etwas  „nach 
unten"  (1)7x6)  heraussetzt,  und  zwar  gehört  dieses  Heraussetzen  zu  ihrem 
Wesen,  es  geschieht  dauernd,  sie  muß  also  zugleich  in  ihrem  Sein  ver- 
harren (bleiben,  ptveiv).  Zweitens  sollte  die  Paraphrase  die  eigentüm- 
liche subjektivere  Färbung  spüren  lassen,  die  alle  die  platonischen  und 
aristotelischen  Gedanken  bei  Plotin  erhalten,  und  die  sich  nur  an  der 
Darstellung  selbst  einigermaßen  aufweisen  läßt. 

Dieser  Aufweis  mag  ergänzt  werden  durch  einen  Blick  auf  die  Be- 
handlung des  Zeitproblems  neol  alwvog  xal  %qovov  (III,  7,  bes.  c.  11  und 
12).  Plotin  beginnt  mit  den  früheren  Zeittheorien,  besonders  mit  den  pla- 
tonischen und  aristotelischen;  aus  der  Sache,  so  sagt  er  in  dem  me- 
thodisch wichtigen  Einleitungskapitel,  kann  allein  die  Entscheidung  ge- 
troffen werden,  welcher  der  früheren  Weisen  die  Wahrheit  gefunden  hat. 
Er  kritisiert  die  „Zurückführung"  der  Zeit  auf  irgend  etwas  anderes, 
auf  Bewegung,  Zahl  und  Maß,  auch  Bewegung  des  Himmels  und  deren 
Maß,  und  versucht  den  eigentlichen  Sinn  von  Zeit  direkt  zu  erfassen. 
Er  sieht  ihn  durchaus  in  dem  seelischen  dUZodog,  dem  Weiterschreiten 
von  dem  einen  zum  andern.  Da  Plotin  die  Natur  als  eine  Seele  auffaßt, 
kann  er  unmittelbar  an  die  Weltseele  des  „Timaios"  anknüpfen,  dessen 
Aion-  C/irorcos-kapitel  von  der  allergrößten  Wirkung  auf  Plotin  und  auf  alle 
spätere  Zeittheorie  gewesen  ist  (vgl.  Leisegang,  Die  Begriffe  der  Zeit  und 
Ewigkeit  im  späteren  Piatonismus,  Münster  1915).  Plotin  deutet  Piaton 
so,  daß  die  bewegte  Himmelsordnung  nur  Verdeutlichung,  Offenbarung 
der  Zeit  sei;  diese  selbst  aber  sieht  er  in  dem  seelischen  Prozeß  sich  voll- 
ziehen. Es  ist  also  aus  jener  ,, Verlebendigung"  der  Gedanken  heraus  die 
Eroberung  eines  neuen  Problemgebietes  erfolgt.  Plotin  stellt  das  Erlebnis 
der  Zeit  der  sie  messenden  Bewegung  des  Himmels  gegenüber  und  beginnt 
damit  das  Phänomen  Zeit  zu  differenzieren.  Aristoteles  mußte  durch  seine 
Ablehnung  der  Weltseele  diese  Seite  der  Zeit  zurücktreten  lassen,  und  so 
trifft  seine  Zeitdefinition  (Zeit  als  Maß  und  Zahl  der  Bewegung)  besten- 
falls jene  objektive  gemessene  Zeit,  wobei  Wesentliches  bereits  voraus- 
gesetzt wird,  jedenfalls  nicht  das  ganze  Phänomen  erfaßt  ist.  Da  Plotin 
die  ganze  Stufenfolge  des  Seins  von  denselben  Prinzipien  des  Nus  und 
der  Seele  durchdrungen  werden  läßt,  so  stößt  er  bis  zum  Zeiterlebnis  der 
Einzelseele  vor,  und  grade  an  seiner  Zeittheorie  wird  es  deutlich,  daß  er 
auch  dort,  wo  er  von  der  Weltseele  zu  reden  scheint,  das  im  engeren  und 
für  uns  eigentlichen  Sinne  Seelische,  d.  h.  Bewußtseinsmäßige,  le  dyna- 
misme  interne  de  Vintelligence  (Brehier  III  125)  stets  im  Blick  hat. 
So  geht  er  (258,6)  von  der  „nicht  ruhigen  Dynamis  der  Seele"  aus:  indem 
sie  ihre  noetischen  Inhalte  nicht  in  jener  Identität  festhält,  sondern  ans 
Einzelne  heranbringen  will,  will  sie  nicht,  daß  das  Denkbare  ihr  als  Ganzes 
gegenwärtig  sei,  und  deshalb  „zeitet"  sie  sich,  £%QÖv(*)<sev  iavrijv,  und 
fügt  sich  so  der  Welt  ein  und  diese  sich.  Deshalb  ist  Zeit  „Lebendig- 
keit, der  Seele  in  einer  von  einem  Einzelleben  (ßi'oq)  zum 


196 


METAPHYSIK  DES  ALTERTUMS 


D 


anderen  übergehenden  Bewegung"  (258,  29).  Von  den  Voraus- 
setzungen des  plotinischen  Systems  aus  ist  die  Definition  des  Aion,  der 
ruhenden  Zeit  (Ewigkeit)  mit  einem  Wort  zu  geben:  es  ist  das  Zeithafte, 
das  vor  der  entfalteten  Zeit  als  ihr  Prinzip  zu  denken  ist,  diejenige 
„Gegenwart",  die  in  jedem  Zeitbewußtsein  wesensmäßig  gegenwärtig  ist. 

Hier  sehen  wir  Plotin  den  Problemen  auf  der  Spur,  die  uns  heute 
wieder  erneut  bewegen;  seine  Philosophie  zeigt,  wie  der  Geist  der  klassi- 
sehen  griechischen  Philosophie  sich  mit  dem  Geiste  eines  neuen  Zeitalters 
in  gegenseitiger  Formung  durchdringt.  Aus  der  besonders  lehrreichen  Aus- 
einandersetzung Plotins  mit  den  Gnostikern  und  Christen  (II  9)  seien  10 
zum  Abschluß  noch  diejenigen  Punkte  kurz  bezeichnet,  an  denen  der 
hellenische  Instinkt  Plotins  sich  gegen  den  Geist  der  Gnosis  wehrt. 
Erstens  gegen  die  schrankenlose  Vervielfältigung  der  Seinsstufen,  die  er 
aus  bestimmten  Voraussetzungen  in  bestimmter  Anzahl  abgeleitet  hatte. 
Interessant  ist  hierbei  eine  gelegentliche  Bemerkung,  die  das  gegenständ- 
liche Denken  auch  bei  ihm  noch  wirksam  zeigt;  er  lehnt  eine  weitere  Ab- 
stufung des  Nus  ab,  weil  es  „kein  anderes  Denken  ist,  das  denkt,  daß  es 
denkt".  Er  läßt  nur  diejenige  Reflexion  gelten,  die  sich  selbst  im  Denken 
des  Gegenstandes  mitdenkt.  Zweitens  bekämpft  er  die  Entseelung  des 
Kosmos :  die  elendesten  Menschen  sollen  göttlich  und  unsterblich  sein  —  20 
aber  die  in  den  Gestirnen  und  dem  Kosmos  wirksame  seelische  Kraft 
nicht  ?  Also  muß  er  auch  für  die  Ewigkeit  und  Anfangslosigkeit  der  Welt 
und  gegen  eine  zeitliche  Schöpfung  kämpfen;  und  gar  das  Böse  als  den 
Grund  des  „Abfalls  des  Ewigen  ins  Zeitliche"  anzunehmen,  ist  ihm  ärgste 
Gottlosigkeit.  Gewiß  hatte  er  selbst  stark  den  Unterschied  zwischen  dem 
Dunkel  der  unteren  Seinsstufen  und  dem  Glanz  der  höheren  betont  — 
aber  für  ihn  ist  das  Dunkle  und  Schlechte  eben  das  ^  b'v,  der  Schatten 
des  Lichtes  und  des  Guten.  Wie  die  Welt  aus  ihrem  Wesen  zum  Guten 
drängt,  so  steht  dem  Menschen  bei  aller  Verstrickung  in  die  Endlichkeit 
seines  irdischen  Daseins  immer  aus  eigener  Kraft  der  Weg  zu  dem  30 
Glänze  und  der  Freude  des  Lebens  im  Geiste  und  in  der  Wahrheit  offen. 
Dies  allein  entspricht  einer  Ttsnaidev^^virj  xal  SfifieXtfq  yvwöig,  einer  als 
Selbsterziehung  geformten  und  alle  Kräfte  des  Menschen  zur  Einheit 
stimmenden  Erkenntnis. 


Verbesserung. 

S.  40, 29  ist  die  Lesung  des  Sextus:  l'dev  statt  y&er  einzusetzen. 


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