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METAPHYSIK DES ALTERTUMS
VON
JULIUS STENZEL
Hans Heinrich Schaeder
gewidmet
I. EINLEITUNG.
1. VORLÄUFIGE BEGRENZUNG DES BEGRIFFS METAPHYSIK.
Metaphysik ist weder ein eindeutiger noch ein ohne weiteres in einer
Definition bestimmbarer Begriff. Die übliche Definition ist: Lehre vom
Sein, also Ontologie. Die Griechen haben sehr früh über ov, ovata speku-
liert. Man könnte also die Aufgabe darauf beschränken, durch möglichst
genaue Interpretation festzustellen, was diejenigen Griechen, die über
ov und otiaCa gesprochen haben, eigentlich darunter verstanden haben.
Die moderne Ontologie hat uns aber den Blick dafür geschärft, daß die
Frage nach dem Sein und dem Seienden aufs engste verbunden ist mit
der Frage nach dem Dasein des Fragenden selber, und hat uns den Zu-
sammenhang von Sein, Welt- und Selbstbewußtsein als eigentliches
Problem jeder Metaphysik kennen gelehrt. Da in jeder Epoche der Ge-
schichte ein Zusammenhang zwischen den theoretischen Lehren über das
Sein und zwischen dem Weltdenken und unmittelbar erlebten Welt-
fühlen besteht, so soll hier einmal ausdrücklich dieser Zusammenhang
von vornherein beim Anfassen der Aufgabe mitberücksichtigt werden.
Das bedeutet, daß nicht einfach versucht wird, nur die bewußten Lehren
über Sein und Seiendes zu deuten, sondern mit dieser Aufgabe ausdrück-
lich verbunden wird die weitere: zu erkennen, wie die Griechen auch
in ihrer vor- und außertheoretischen Haltung ihr Dasein in der Welt
aufgefaßt und zum Ausdruck gebracht haben. Untersuchungen über den
griechischen Geist, den griechischen Menschen, die griechische Welt-
anschauung sind nicht neu; was hier versucht wird, ist, diese etwas
verschwimmende schwer faßbare Aufgabe von vornherein im ausdrück-
lichen Hinblick auf die bewußte griechische Seinslehre hin durchzuführen
und beides, die bewußt-philosophischen Lehren vom Sein und die Selbst-
auffassung dieser gesamten Kultur als Entwicklung einer konkreten
historischen Gegebenheit in ihrer zeitlichen und räumlichen Entfaltung
zu begreifen.
Diese notwendige Erweiterung unserer Darstellung über die aus-
drücklichen metaphysischen oder genauer ontologischen Erörterungen
innerhalb der antiken Philosophie hinaus auf die Art und Weise, wie das
ganze Dasein, das Orientiertsein in der Welt, sich philosophisch aus-
drückt, soll demnach nur dem obersten Zwecke dienen, die eigentlichen
Theorien des Seins in ihrem geschichtlich konkreten geistigen Leben
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und damit in ihrer überzeitlichen sachlichen Bedeutung klarer werden
zu lassen. Ober die klassischen Darstellungen der theoretischen
Ontologie hinauszugehen wird sich aber auch deshalb als notwendig
erweisen, weil sonst die metaphysische Bedeutung weder der archaischen
noch der hellenistischen und besonders der römischen Philosophie faßbar
wird. Denn was der ersten und im Grunde an Wucht und Kraft unüber-
botenen Ontologie der Eleaten vorhergeht und sie vorbereitet, ist auch
für deren Verständnis grundwichtig, ganz abgesehen von dem hohen
Reiz, den dieses fragmentarische und in wenigen Trümmern uns über-
lieferte Denken für jeden Betrachter haben muß. Die vorläufige De-
struktion der eleatischen Metaphysik in der Sophistik ist wieder alles
andere als bewußte Ontologie und doch eine metaphysische Angelegen-
heit allerersten Ranges und höchster Aktualität. Was andrerseits nach
der klassischen Fundierung der Metaphysik durch Piaton und Aristoteles
an Neuem in der Geschichte der Metaphysik hinzutritt, ist keine neue
Gedankenbildung im eigentlichen Sinne, sind keine neuen theoretischen
Begriffe, sondern ist der Einsatz des reichen metaphysisch-ontologischen
Gedankengutes der Vorzeit zum Ausdruck eines sich im Tiefsten ver-
ändernden Selbst- und Wirklichkeitsbewußtseins. Dies gilt nicht nur für
die Metaphysik des Hellenismus, sondern auch für die letzte große geistige
Leistung der antiken Philosophie, für Plotin und den sogenannten Neu-
platonismus; in ihm sucht eine ganz allmählich sich vollziehende Ver-
änderung des geistigen Seins ihren letzten, zusammenfassenden Ausdruck,
und zwar wird in bewußtem Zurückgreifen auf die ältere Philosophie
deren gedankliche Fülle nun zum letzten Male innerhalb der Antike
neu erfaßt und gedeutet.
2. METHODE UND ÄUSSERE BESCHRÄNKUNG DER DURCH-
FÜHRUNG.
Die Durchführung unserer Aufgabe kann hier nur in einer zusammen-
fassenden Darstellung geschehen, und die eindringende Einzelinterpre-
tation wird auf die wenigen Höhepunkte der bewußten Seinsspekulation
beschränkt werden müssen. Die Fühlung mit der konkreten historischen
Substanz, auf die natürlich alles ankommt, muß für die übrigen Gebiete
der zu behandelnden Aufgabe auf andere Weise gesichert werden ; es muß
zunächst der Nachweis geführt werden, daß der Seinsbegriff in diesem
doppelten Sinne, einmal gerichtet auf Sache und objektives Sein, zum
andern gerichtet auf das Subjekt, das dieses Sein denkt, kurz der Zu-
sammenhang von Erkenntnis und Persönlichkeit in anderer Form
seit langem das treibende Problem der Altertumswissenschaft ist, und
daß die Energien dieser dem Altertum spezifisch zugewandten Wissen-
schaft der philosophischen Bearbeitung dieser Aufgabe zugeführt werden
können. Die verfeinerten Mittel der Philologie sollen im folgenden auf
ihre Verwendbarkeit für unsere Aufgabe geprüft werden.
D METHODE U. ÄUSSERE BESCHRÄNKUNG D. DURCHFÜHRUNG 5
Man hat in neuerer Zeit in der Altertumswissenschaft für die Verände-
rungen eines gedanklich identischen Motivs, gleichviel ob künstlerischer
oder wissenschaftlicher Art, den Begriff des Formwandels eingeführt.
Form ist hier die aus dem Wesen einer individuellen Situation entsprin-
gende Abwandlung, in der „dieselben Gedanken44, „dasselbe44 plastische,
malerische oder literarische Motiv, „dasselbe44 stilistische, wissenschaft-
liche oder religiöse Prinzip in einer andern geistigen Umwelt sich dar-
stellen. Durch diesen Formbegriff erhält diese allgemein erstrebte „geistes-
geschichtliche44 Methode ein bestimmtes Ziel. Sie läßt sich auf die Philo-
sophiegeschichte ausdehnen. Die Totalität des geistigen Lebens in seiner
jeweiligen geschichtlichen konkreten Individualität ausdrücklich zum
Gegenstande der Betrachtung zu machen, die Einheit zu zeigen, aus der
sich die besondern religiösen, ästhetischen, literarischen Züge verstehen
lassen, dieses Ziel darf auch in einer Geschichte der Metaphysik nicht
fehlen. Hier liegt das Gebiet jener nicht über das Sein reflektierenden,
sondern den Sinn des Seins unmittelbar darstellenden metaphysischen
Haltung, von der wir gesprochen haben. Was Form hier dem Ganzen des
Seins gegenüber bedeutet, das bedarf freilich einer näheren Bestimmung.
Die Erweiterung und Verwicklung unserer Aufgabe durch die Einbe-
ziehung auch der Nicht-Philosophen würde nicht gerechtfertigt sein,
wenn nicht in der heutigen systematischen Behandlung der Metaphysik
eine Einbeziehung des geistigen Daseins geschichtlicher Individualität
selbst neu begründet worden wäre. Mit immer größerer Klarheit ist
neuerdings die innere Verbindung der metaphysischen Seinsfrage mit
der nach dem Dasein des Menschen in der Geschichte begriffen worden.
Zwar darf man ohne Zweifel Metaphysik der Natur definieren als „Wirk-
lichkeitslehre44 (Driesch, dieses Handbuch S. 3, 4), als Lehre vom Wirk-
lichen an sich, als von dem, was nicht nur für mich, nicht nur „Er-
scheinung44 ist; aber die Geschichte der Metaphysik zeigt als deren
wichtigste, immer wieder bestätigte Wahrheit ein eigentümliches Um-
biegen dieser Gedankenrichtung. Das metaphysisch forschende Subjekt,
das sich bemüht, absolutes Sein zu erfassen, findet sich an entscheiden-
der Stelle zurückgeworfen auf sich selbst, auf einen inneren Kern und
Grundbestand seines eigenen geistigen Daseins, mit dem das Sein und
Wesen der sogenannten äußeren Wirklichkeit in enger Wechselbeziehung
verbunden bleibt. Auch hier taucht zur Bezeichnung dieses Wechselver-
hältnisses zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Gegenständlich-
keit, zwischen Begriff und Gegebenheit immer wieder das Wort „Form44
und „Formung44 auf, um den Anteil des Subjektes an der Gestaltung
und Erfassung der objektiven Wirklichkeit zu bezeichnen. Wie in den
verschiedenen geschichtlichen Stufen die Anordnung und Gestaltung
einzelner geistiger Gehalte aus einer konkreten personalen Einheit als
Formung bezeichnet werden konnte, so erscheint hier analog der
tätige Anteil des Subjektes, das das Ganze der Wirklichkeit begreift
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und ihre Mannigfaltigkeit denkend vereinheitlicht, ebenfalls als ein
Formungsprozeß allgemeiner Art. Wie verschieden auch die Gesichts-
punkte sind, unter denen im einzelnen Falle die Formung einer „Ge-
gebenheit^ vollzogen wird und wie abgestuft die Einheitsvorstellungen,
die als Träger dieser Formkraft unterschieden werden können und müssen,
BO wichtig ist die Tatsache, daß es immer ein konkreter wirklicher Mensch
ist. der jene Formung vollzieht und damit sein subjektiv erlebtes Dasein
mit objektivem verknüpft. Es ist wesentlicher Inhalt und entscheidende
Aufgabe der Metaphysik als philosophischer Wissenschaft, die Be-
ziehungen zwischen demjenigen geschichtlichen Menschen aufzudecken, 10
der sein konkretes individuelles Dasein in der Formung seines Welt-
bildes an einer bestimmten Zeitstelle zum Ausdruck bringt, und jenem
Subjekt, das in metaphysischer Besinnung forschend die Wirklichkeit
sich gegenüberstellt, sie von sich „ablöst", sie also absolut denken will
und grade dadurch sie unter die jeweilige „Form" seines erkennenden
Bewußtseins stellt.
3. WANDLUNGEN DER GESCHICHTE DER ANTIKEN PHILO-
SOPHIE VOM 19. ZUM 20. JAHRHUNDERT IN PHILOSOPHIE UND
ALTERTUMSWISSENSCHAFT.
Der hier angedeutete Begriff der Metaphysik scheint zu der herr-
schenden Auffassung von der Geschichte der antiken Philosophie nicht
zu passen. Tritt doch in der antiken Seinslehre, der oiwtcc- Spekulation,
die Gegenständlichkeit durchaus in den Vordergrund, ja, scheint doch 20
die Schranke antiken Denkens grade auf metaphysischem Gebiete zu
sein, daß alles dasjenige, was mit dem vieldeutigen Worte des Subjek-
tiven, Ich-Zugewandten zusammengefaßt werden kann, zurücktritt und
gleichsam abgeblendet wird. Die Geschichte der Philosophie meinte
stets als die eigentümliche und wichtige Leistung des Griechentums die
Schöpfung der objektiven Wissenschaft herausarbeiten zu müssen,
und zwar zunächst die der rationalen Naturwissenschaft, deren Anfänge
sie bereits bei Thaies und den andern Vors okr atikern in abgestufter
Reinheit und Sicherheit feststellen zu können glaubt. Diese Tendenz
gipfelt dann in der sogenannten Marburger Philosophiegeschichte, für 30
die Piaton zum Vorläufer Kants wird, und zwar eines bereits einseitig
umgedeuteten Kant, für den die Erkenntnistheorie der Naturwissen-
schaft zum Zentrum des Philosophierens geworden ist. Die philosophische
Energie, mit der diese Auffassung für weite Gebiete der griechischen Philo-
sophie durchgeführt wurde, bestimmt noch mehr als es bei der grundsätz-
lichen Preisgabe dieses Programms möglich scheinen könnte, die heutige
Auffassung im einzelnen. Denn hier ist der Zeitcharakter des 19. Jahr-
hunderts der Nährboden einer geschichtlichen Einstellung gewesen:
wenn die Wirkungen der Naturwissenschaften so stark das gesamte
Leben bestimmen, so scheint kein Verdienst der Väter und gestaltenden 40
D WANDLUNGEN DER GESCHICHTE DER ANTIKEN PHILOSOPHIE 7
Urheber unserer europäischen Kultur größer und der Hervorhebung
würdiger als eben jenes, auch zu einer rationalen Durchforschung und
Bewältigung der Natur die entscheidenden Schritte getan und der ge-
samten Folgezeit die Wege gewiesen zu haben.
Inzwischen hatte die klassische Philologie und die allgemeine Geistes -
geschichte der Antike ihr Bemühen an die Aufgabe gesetzt, in der grie-
chischen Geschichte und Dichtung die selbstbewußte, von individuel-
lem Leben erfüllte Persönlichkeit in ihrer Entwicklung vom 7. bis zum
5. Jahrhundert zu erfassen und die weitere Fortbildung des „Menschen"
in den späteren Jahrhunderten und im Römertum zu verfolgen. Die For-
scher dieser Richtung sehen hierin dasjenige Gut, das die europäische
Geistesentwicklung den Griechen und der Antike überhaupt zu danken
hat. Den „Charakterkopf44, den lebendigen Menschen dort zu entdecken,
wo die klassizistische Altertumswissenschaft objektivierte idealisch
blasse Typen gesehen hatte, ist das Ziel der geschichtlich orientier-
ten Altertumswissenschaft am Ende des 19. Jahrhundert geworden,
ein Ziel, das ganz dem „geschichtlichen44, nach „Realität" auch in der
Region nicht naturhaften Daseins verlangenden Jahrhundert entsprach.
Die methodischen Veränderungen aller einzelnen Wissenschaften und
der Philosophie und die Wandlungen in der Auffassung ihres kulturellen
Sinnes im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, deren ganzes Ausmaß
spätere Geschlechter besser als wir langsam Mitlebenden überschauen
werden, haben natürlich auch jenen Gegensatz zwischen einer aufs
Individuell-Menschliche gerichteten Gechichte des Altertums und einer
die Wissenschaftstendenz der alten Philosophie unterstreichenden Philo-
sophiegeschichte mannigfach verändert und ausgeglichen. Aus den
philosophischen und philologischen Bestrebungen, deren Ziel eine neue
Stellung zum Griechentum geworden ist, sollen hier nur diejenigen
herausgegriffen werden, die unmittelbar die antike Metaphysik angehen.
Zuerst ist die geschichtliche Individualitätsforschung, das Suchen der
charakteristischen Persönlichkeit, einfach psychologistisch auf die Philo-
sophen übertragen worden. Zwar hat die philologisch-geschichtlich ver-
tiefte Bearbeitung der alten Philosophen die zu erforschenden Grund-
lagen, das gegebene Material gesichert und erweitert, und die lebendige
Erfassung der Einzelheiten stellte viele ganz neue Aufgaben. Aber die
eigentliche philosophische Durchdringung des Stoffes wurde durch die
äußere KompJizierung der Fragen mehr gelähmt als gefördert, die be-
queme Bereitstellung des Quellenmaterials, z.T. sogar mit deutscher Uber-
setzung, erzeugte eine Vielgeschäftigkeit, und nach derselben Richtung der
äußeren Komplizierung und Vereinzelung wirkte das, was an die Stelle
jener wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Auffassung der griechi-
schen Philosophie zu treten begann, als man Zivilisation, Technik und
Kultur besser zu scheiden lernte und nach andern als bloß naturwissen-
schaftlichen Motiven im Denken der alten Philosophen suchte. So hat
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merkwürdigerweise eine im einzelnen vertiefte geschichtliche Forschung
den Sinn, den die eigentliche Philosophie aus der Betrachtung ihrer
(»t schiohte gewinnen konnte, mehr verdunkelt als erhellt.
Es ist nun zu untersuchen, in welcher Richtung der allgemeine
gi "isti^e \\ andel des 2Q>. Jahrhunderts die These der philosophiegeschicht-
lichen \ ulgata modifizierte, daß die Wissenschaft, und zwar die ratio-
nale mathematisch-physikalische Bewältigung der Natur, die große
Errungenschaft des griechischen Geistes gewesen sei. Hier ist nun zu-
nächst festzustellen, daß in der Kulturkrise des 20. Jahrhunderts diese
These vielfach nicht modifiziert, sondern das rational wissenschaft-
liehe Motiv in der griechischen Philosophie radikal vernachlässigt
und in seiner großen Bedeutung für das Gesamtbild des griechischen
Geistes geleugnet worden ist. Um das Überpersönlich- Sachliche als
..Irrationales" aus dem Bestände der griechischen Philosophie heraus-
zuholen, ließ man sie in dem vieldeutigen Begriff des Mythos gipfeln,
hinter dem alles andere zurückzutreten hätte.
Zwei Motive laufen in der modernen Mythosforschung oft unklar durcheinander.
Einmal wird der Mythos als geheimnisvolles Produkt überindividueller Kräfte, als
Werk des Volksgeistes aufgefaßt, zum zweiten wird die Wurzel des Mythos in gewisse
Regionen der individuellen Seele verlegt und der Mythos zum Ausdruck der irrationalen
Vermögen des Menschen gemacht, die neben und über den rationalen Kräften sein
Wesen konstituieren. Wichtige philosophisch-metaphysische Möglichkeiten sind sicht-
lich in diesem Mythosbegriff latent; aber daneben Möglichkeiten höchst gefährlicher,
den Sinn der Antike zerstörender Modernisierungen. Wenn sogar das philosophische
Denken lediglich zum bunten Spiel dichterischer Phantasie wird, kann seine Einheit
nur in der irrationalen „mythischen Tiefe" der einzelnen Seele gesehen werden. Individu-
ellen Absonderlichkeiten nachzuspüren, diese im Physiologisch-Pathologischen zu ver-
ankern, entspricht der modernen Individualitätsforschung. So petzen ^ich Psychoanalyse
und Tiefenpsychologie, um die letzten Ausstrahlungen dieser Betrachtungsweise zu nen-
nen, in die engste Beziehung zum Mythos; zur „Vertiefung" des Seelenproblems durch
erotische Komplexe bietet ja der Mythos aller Völker gewisse Vorwände. Aber auch
wenn von diesen extremen Formen der Mythospsychologie abgesehen wird, bleibt es
ihre allgemeine Tendenz, von dem objektiven Gehalte, »m derentwillen sich die
Philosophie um die Antike zu kümmern hätte, nicht eben viel übrig zu lassen.
Auch die Mythosphilosophie dieser Art — E. Cassirers Philosophie
des Mythos wird von dieser Kritik nicht getroffen — treibt letzten Endes
darauf hin, das Gedankliche auf die charakteristische individualpsycho-
logische Konstitution zurückzuführen. Hierin läuft sie weithin zusammen
mit der vorher geschilderten Richtung auf charakteristische Indivi-
dualität schlechthin, deren Gefahr die Vereinfachung und unbewußte
Anglei chung an den modernen geistigen Typus war. Andrerseits aber hat
diese moderne Mythosphilosophie und -philologie die Ehrfurcht vor den
ganz andern, uns entschwundenen Lebensmächten archaischer Zeiten,
das Gefühl der Distanz zu ihnen zweifellos gestärkt; hierin liegen wichtige
Fingerzeige für die heutigen Aufgaben der Metaphysik; aber die Gefahr
ist oft nicht vermieden worden, in ein recht unantikes Raffinement zu
geraten, für sehr moderne pseudoreligiöse oder ästhetisierende Sehnsüchte
D WANDLUNGEN DER GESCHICHTE DER ANTIKEN PHILOSOPHIE 9
einen Eideshelfer in der Antike zu suchen und sie im Sinne eines ver-
feinerten Bildungs- und Menschenideals umzudeuten. Die starken An-
triebe zur wirklich sachgemäßen Verfeinerung der Methoden der Altertums-
wissenschaft überhaupt und der antiken Philosophiegeschichte im beson-
dern, die von diesen Bestrebungen ausgingen, in die auch die Anregungen
des Stefan George-Kreises einzuordnen sind, sollen nicht verkannt werden.
Wenn modernste Geistigkeit in der Antike Züge zu sehen glaubt, die ihr
zum Aufbau einer Persönlichkeitskultur geeignet zu sein scheinen, so ist
auch dies noch ein guter Beweis, daß hinter der gewaltigen sachlichen
Leistung des Griechentums und der Antike überhaupt Form- und Bil-
dungskräfte besonderer Art wirksam sind und ein allgemeineres Mensch-
liches in ihr lebendig sein muß. Diese Bestrebungen tragen ein neues
Interesse auch an der griechischen Philosophie weit über die von Berufs
wegen der Antike zugewandten Kreise hinaus.
Zu den Fragen, die in diesen philosophischen und außerphilosophi-
schen Bewegungen neu gesehen erschienen, mußte wiederum die eigent-
liche strengere Altertumswissenschaft Stellung nehmen. Soweit sie
für die mit ihrem Wesen geforderte humanistische Problematik gar kein
besonderes Interesse aufbringt und sich als historische oder philologische
Spezialwissenschaft fühlt, hat sie diese in der Tat zum Teil mehr lite-
ratenhaft sich äußernden Bestrebungen kaum einer erheblichen Beach-
tung gewürdigt. Ein zweiter Teil der Forscher hat sich offen, auch im
Stil und literarischen Gehaben, dieser neuen Richtung hingegeben und
versucht, auf diese Weise die neuen Probleme in die eigene Forschung
einzubeziehen. Bei weitem am wichtigsten und fruchtbarsten ist aber
die von W. Jaeger ausgehende neueste Humanisierung der Altertums-
wissenschaft, die mit dem mehrdeutigen Worte der Paideia-Forschung
zunächst bezeichnet sei. Insofern in ihr latent eine bestimmte ge-
schichtsphilosophische Stellung zum Ausdruck drängt, führt sie an
die Schwelle unserer metaphysischen Problemstellung unmittelbar
heran. Diese Geschichtsphilosophie sucht die historische Haltung des
19. Jahrhunderts unter Vermeidung ihrer bedenklichen Konsequenzen
beizubehalten: nicht lediglich die tatsächlichen Leistungen der griechi-
schen Kultur als die eines Volkes neben andern gilt es zu erfor-
schen, sondern die besonderen Momente und Motive, die diese Leistung
zur Fortwirkung befähigen, sie „renaissancefähig" machen. Nicht die
bloßen Tatsachen der historischen Kontinuität vom Altertum zur Ge-
genwart auf allen Kulturgebieten, in deren oft äußerlicher Sammlung
sich der Humanismus leicht zu verzetteln droht, sondern das Prinzip
dieser Kontinuität selbst wird in den Mittel- und Blickpunkt gerückt.
Beide Ziele sind in eine Betrachtung zusammenzufassen, in die Betrach-
tung der die europäische Geschichte von allen andern abhebenden Kul-
turidee, die in der Paideia, der bewußten Selbstformung des griechischen
Volkes ihr Prinzip hat, ihre äq^'l m dem doppelten griechischen Sinne,
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der sowohl den zeitlichen Anfang wie die sich aus dessen Kraftentfaltung
ergebende Gesetzmäßigkeit bezeichnet.
In Jaegers Vortragsreihe ,, Piatos Stellung im Aufbau der griechi-
schen Bildung" S. 29 ff. = Antike IV94 wird die innere Beziehung dieser
auf dein Boden der Altertumswissenschaft erwachsenen Idee vom ge-
schichtlichen Wesen des europäischen Menschen zur Sache der Philo-
sophie zum ersten Male deutlicher greifbar. Zwar ist von Piatondeutung
die Rede, aber diese hängt nun einmal mit der gesamten griechischen
Philosophie und schließlich mit der Philosophie überhaupt aufs engste
zusammen. Jaeger setzt S. 29 „eine moderne Fachphilosophie" voraus,
für die „die Gleichung des Logischen mit dem Wesen und eigentlichen
Kern der Philosophie" „naheliegend und selbstverständlich" ist, wobei
dann das Logische wieder in dem spezifisch modernen Sinne genommen
wurde, daß man erst die ontologische Seite und die Einheit mit dem
Ethischen abzog, um das „Rein"-Logische zu erhalten.
Daß dies für die Marburger Philosophen, als sie ihre Piatonwerke
schrieben, zutraf, und daß die von diesem Zentrum ausgehende Gesamt-
auffassung der griechischen Philosophie weithin herrschend ist, wurde
oben zugegeben. In der Tat hat die heutige Philosophie eben erst be-
gonnen, die methodisch und sachlich von einer ganzen Schule getragene
Marburger Piatondeutung zu überwinden und durch ein neues aus ihrer
eigenen philosophischen Problematik erzeugtes, philosophisch ebenso
tief gegründetes, aber mit reinerem historischem Gewissen empfangenes
Piatonbild zu ersetzen. Doch die systematische Entwicklung ist über
die ursprüngliche Marburger Lehre längst hinweggeschritten, und hier
muß die These Jaegers weitgehend eingeschränkt werden. Das beweist
schlagend das gegenwärtige Philosophieren der beiden originalsten
aus der Marburger Schule hervorgegangenen Forscher, Ernst Cassirer
und Nicolai Hartmann. Die „Logik", auf die Jaegers Charakteristik
zutrifft, ist nicht mehr selbstverständlicher Ausgangspunkt, sondern
ein heiß umstrittenes Problem der gegenwärtigen Philosophie. Was er
dagegen einer philosophischen Behandlung der griechischen Philosophie
neben- oder überordnet (S. 30), ihre Einfügung in die geistige Substanz
der gesamten antiken Kultur, entspricht dem Ziel einer metaphysi-
schen Betrachtung, wie sie sich genau und streng aus der heutigen
Lage der Fachphilosophie ergibt. Es ist eben kein Zufall, daß gerade
in dieser heutigen Situation der Philosophie die Idee jenes humanisti-
schen Menschenbegriffs und eines humanistischen Logos als Forderung
der Altertumswissenschaft auftrat.
4. ZIELSETZUNG DER DARSTELLUNG.
Die Aufgaben einer Darstellung der griechischen Metaphysik sind da-
mit einigermaßen abgesteckt. Auf drei Punkte müßte eine umfassendere
Darstellung das Schwergewicht gleichmäßig zu verteilen suchen: ein-
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ZIELSETZUNG DER DARSTELLUNG
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mal müßte das charakteristische menschliche Dasein der Philosophen
aus dem Ganzen ihrer geschichtlichen Lage verständlich werden. Zweitens
müßte in ihrer philosophischen Selbsterkenntnis das Bewußtwerden ihres
einmaligen geschichtlichen Daseins aufgesucht und in ihm die syste-
matische Einheit der Lehren gewonnen werden. Das Dritte und Letzte
ist das Wichtigste: an und mit dem Begreifen dieses sich selbst ver-
stehenden philosophischen Daseins, wie es die Geschichte der Philosophie
uns aufgibt, muß die von den Griechen herreichende und uns mit um-
fassende Entwicklung des menschlichen Geistes als menschliches Sein,
so wie es wirklich war und ist, als inneres Schicksal unseres eigenen
denkenden Bewußtseins hervortreten. Nicht indem wir unser heutiges
Denken hineindeuten in die Vergangenheit, erheben wir uns selbständig
über sie, sondern indem wir unsere geschichtlich gewordene Existenz
bewußt anerkennen, das früher wahr Gewesene in seinem eigenen Sinne
durchschauen, indem wir dadurch durchschauen und durchstoßen bis
zum menschlichen, d. h. geschichtlichen Sein schlechthin, bis zu dem-
jenigen Grunde, in dem die Einheit des früheren und des heutigen
Daseins sich als sachliches Wesen des Menschen erfüllt und den über-
greifenden Zusammenhang von Einst und Jetzt herstellt. Dann werden
die in dem verengten Blick der bloßen Gegenwart uns entschwun-
denen, durch allerlei Zufälle verschütteten Probleme der Metaphysik
wieder lebendig werden und diese wird sich zur umfassenden Seinslehre
erweitern.
Diese allgemeine, durch die Sache geforderte Zielsetzung muß auch
trotz der gebotenen Einschränkung dieses Abrisses in der Methode
der Betrachtung festgehalten werden. Dem Plan dieses Handbuches
entsprechend darf bei der Auswahl des Stoffes die bescheidenere Ziel-
setzung eintreten, „das, was bei der eigenen philosophischen Arbeit
aus dem Früheren lebendig und bedeutsam geworden ist", für die aktuelle
systematische Frage nach einer Metaphysik des Menschen fruchtbar
zu machen.
5. LITERATUR.
Die hier zugrunde gelegte Auffassung von Metaphysik wäre wesenlos, wenn sie
in einer programmatischen Angabe geklärt und bezeichnet werden könnte; kommt doch
alles darauf an, den Sinngehalt der zur vorläufigen Umschreibung benutzten, völlig
vagen Begriffe, wie menschliches Dasein, rationale und wissenschaftliche Haltung usw.
anders zu bestimmen und zu erfüllen, als sie dem modernen Bewußtsein zunächst vor-
zuschweben pflegen. Danach kann die vorstehende Einleitung zunächst lediglich dazu
dienen, gegenüber den verwandten Teilen des Handbuches die Richtung der Unter-
suchung ungefähr anzudeuten, also gegenüber der Metaphysik der Natur von Driesch
(II B), der Erkenntnistheorie von Kuntze (I B), der Philosophischen Anthropologie von
Groethuysen (IV A), der Metaphysik der Seele von Seifert, der Ethik des Altertums von
Howald (III F, B). Die immanente Stellungnahme zu diesen Arbeiten ist keine Kritik,
sondern Ergänzung; das dort nicht Behandelte, diejenigen Seiten des doch schließlich
einheitlichen Gegenstandes der Antike, die nach dem Blickpunkt jener Verfasser zurück-
treten durften und mußten, sind hier bewußt herausgearbeitet. Soweit ist die durch
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Thema und Raum geforderte Auswahl, die Akzentuierung der stofflichen Gebiete von jenen
Arbeiten in gewissem Sinne abhängig. Daraus ergibt sich für den Leser die Notwendig-
keit, die andern genannten Teile immer im Auge zu behalten. Um demjenigen, was sich
mir beim Durchdenken der alten Philosophie unter der besonderen Aufgabe dieses
Sandbuchs an neuen Einsichten ergeben hat, Raum zu schaffen, muß von dem Recht des
\ erweisens auf fremde und eigene Arbeiten Gebrauch gemacht werden. Die allgemeine
Auffassung der Metaphysik als der verstehenden Analyse des menschlichen Daseins in
seiner geschichtlichen Entwicklung liegt meinen Arbeiten seit meiner Habilitations-
schrift „Zum Problem der Philosophiegeschichte'* Kantstud. 1921, zugrunde; eine
allgemeinere Erörterung des Seinsbegriffs bietet ({er Aufsatz: Das Problem der Willens- 10
freiheit im Piatonismus, Antike IV. Die besonderen Anwendungen auf die Philosophie
der Griechen werden von Fall zu Fall erwähnt werden.
Die Hinwendung der Metaphysik zu einer Ontologie geistig-seelischen Daseins ent-
spricht so sehr dem allgemeinen Trieb der gegenwärtigen Philosophie, daß die Auswahl
zufällig bleiben muß. Diltheys Ringen um die „Kritik der historischen Vernunft", seine
Darstellung der Geschichte der Philosophie im zweiten Teile der Einleitung in die Geistes-
wissenschaften mit ihrer Entgegenstellung von Metaphysik und „ihrem Schatten, dem
Skeptizismus" ist mir zuerst wichtig geworden. Seine Forderung einer neuen, den geistes-
wissenschaftlichen Aufgaben gewachsenen Psychologie ist auf verschiedene Weise in der
Denkspychologie und in der Phänomenologie erfüllt worden. Die Denkpsychologie hat 20
in der philosophisch vertieften Form, die ihr R. Hönigswald gegeben hat, für meine
Auffassung der metaphysischen Probleme eine große Bedeutung gewonnen. Indem
jede objektive Gegenständlichkeit ihre Beziehung zum „Prinzip und zur Tatsache des
— hic et nunc erlebenden — Ich" erhält, entsteht für die Erkenntnistheorie die Mög-
lichkeit einer metaphysischen Begründung im Dasein der Person, der geistigen Monade;
indem deren Erkenntniserlebnisse mit denen der andern Monaden im „Verständnis-
prozesse" innerlich verknüpft werden, wird der Hönigswaldsche Begriffsapparat gerade
besonders fruchtbar für die Erschließung des antiken Menschenbegriffes, in dem die Ver-
einzelung des denkenden Ichs, diese crux metaphysica des modernen Denkens, immer
wieder, wo sie auftrat, erkenntnistheoretisch sofort überwunden wurde (z. B. die So- 30
phistik in Sokrates). Wesentliche Aufschlüsse über das Gesamtsein der Antike im Gegen-
satze zum Christentum sind immer noch bei Hegel zu gewinnen; weniger aus den aus-
drücklich diesen Dingen zugewandten Vorlesungen als aus den Werken, in denen die
systematische Kraft des Denkens auch seinen historischen Blick schärft, also vor allem
in der Phänomenologie; auch die theologischen Jugendschriften waren mir sehr wichtig.
Die moderne Phänomenologie bleibt historisch und sachlich mit der Ontologie der anti-
ken Philosophie verbunden; auch Heideggers neueste Wendung des Ganzen knüpft
an die Seinslehre des platonischen Sophistes und der aristotelischen Metaphysik an.
Von Heidegger ist die metaphysische Frage des „Menschen und seines Daseins" am um-
fassendsten gestellt und über ihre antike Form hinausgeführt worden, indem mensch- 40
liches Dasein nicht nur in seiner menschlichen Umwelt, in seiner monadischen Existenz
gleichsam flächenmäßig, sondern zugleich in seiner geschichtlichen Tiefe, in seiner Zeit-
lichkeit aufgewiesen worden ist. Da in dem Verhältnis der Phänomenologie Husserls
zu der Schelers und Heideggers sich eine parallele Dialektik abspielt wie in der antiken
Philosophie im Übergange von Sokrates-Platon zu Aristoteles, soll später darauf noch
einmal zurückgegriffen werden. Soviel zur allgemeinen systematischen Orientierung.
Die notwendige und fruchtbare Tendenz zum „Charakteristischen" ift wie mir scheint
am schärfsten formuliert bei Ed. Schwartz, Charakterköpfe aus der antiken Literatur I
(Lpz. 1906), S. 1, bes. S. 2: „Den Idealtypus soll der Charakterkopf ersetzen, die klassi-
schen Gespenster sich verdichten zu Individuen leibhaftigen Wesens". Höchst wichtig 50
die sofort folgende Einschränkung: „Auch einer solchen Betrachtung schieben sich nur
zu leicht Phantome vor die echten Bilder. Das in der Übertreibung falsche Prinzip, in
jedem Literaturwerk ein persönliches Bekenntnis zu sehen, und die nie aussterbende
Neigung der Menge, in den Großen des Geistes die eigene Kleinheit wiederzufinden,
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LITERATUR
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nähren immer von neuem die Meinung, es käme nur darauf an, die Neigungen und Leiden-
schaften, die individuellen Fehler und die Zufälligkeiten des einzelnen Menschendaseins,
oder gar, um den greulichen Ausdruck zu gebrauchen, das sog. Milieu möglichst genau
herauszupräparieren und vor Augen zu stellen, als sei damit das volle Verständnis einer
geistigen Persönlichkit und ihres Werkes gesichert." Dieser Kritik Schwanz' verfällt
ein großer Teil der Philosophiegeschichte. Darin ist das philosophisch Unzureichende
der Darstellung etwa in Th. Gomperz „Griechischen Denkern" begründet. Versuche,
moderne Psychologie auf die Antike zu übertragen: Heinrich Gomperz, Psychologische
Beobachtungen an griechischen Philosophen (Internat, psychoanal. Verl. 1924); Ho-
10 wald, Die Anfange der europäischen Philosophie (München 1925); die Einleitung in-
teressant durch den Versuch, dem archaischen Denken durch eine „Reihenpsycho-
logie" — „Ersatz für Individualpsychologie" — beizukommen, ohne die modernen
Kategorien aufzugeben.
Der „Formbegriff" in der obigen Bedeutung ist vor allem von Werner Jaeger und
Karl Reinhardt angewandt worden, von Jaeger in der Einleitung seines Aristoteles
(Berlin 1923). Jaeger gewann ihn sichtlich an der Gegenüberstellung des platonischen
und aristotelischen Philosophierens, Reinhardt an der Erfassung des Poseidonios.
Die beiden großen Bücher von Reinhardt: „Poseidonios" (München 1921) und
„Kosmos und Sympathie" (München 1926) s. Poseidonios S. 1 „Das für wahr Ge-
20 haltene wird nun abhängig von einer inneren Form, und diese wird für uns das Tönende,
Vertrautere, auch wo die Inhalte anfangen, uns zu befremden. Diese Form ist etwas
anderes als die Persönlichkeit, der Mensch als Gegenüber seines Werks, was doch nur
wieder ein anderer, ebenso oberflächenhafter Inhalt wäre, äußerlich lebendiger viel-
leicht für Schaulustige anzusehen, doch starr wie das Modell eines verschwundenen
Tieres, das man nach seinen Knochen konstruiert: die innere Form ist für uns das, was
im Erstarrten und für wahr Gehaltenen selber für uns nicht erstarrt". — Der von Jaeger
neuentdeckte Begriff der Paideia: Humanismus und Jugendbildung, Berlin, Weidmann
1921 und in der genannten Abhandlung Antike IV, auch als Sonderdruck.
Die Fragmente der Vorsokratiker werden nach Diels' Sammlung zitiert. Von allge-
30 meineren Werken seien hier ein für allemal genannt: Zellers Philosophie der Griechen,
Praechters Darstellung in Überweg-Heinzes Grundriß und Burnets Anfänge der
griechischen Philosophie. In Burnets gediegener und anregender Behandlung ist die in
vielem von der deutschen Forschung abweichende Aufassung, die in England über
wesentliche Fragen der griechischen Philosophie besteht, zusammengefaßt. Hönigs-
walds Philosophie des Altertums ist energisch problemgeschichtlich orientiert, vgl.
Gnomon II 1. Wichtig wurde mir immer die Auseinandersetzung mit Ernst Cassirers
klaren und weitschauenden Darstellungen, die er an verschiedenen Stellen gegeben
hat, zuletzt in Dessoirs Lehrbuch der Philosophie.
Zu der Schlußbemerkung des Absatzes hier nur soviel: die oft, meistens von mathe-
40 matisch-naturwissenschaftlich orientierten Philosophen wiederholte, gegen den Sinn der
Philosophiegeschichte ausgespielte Bemerkung Kants, die Gegenüberstellung von
„Gelehrten, denen die Geschichte der Philosophie (der alten sowohl als neuen) selbst ihre
Philosophie ist" und denjenigen, „die aus den Quellen der Vernunft selbst schöpfen", hat
ihren guten Sinn. Es gibt eine — m. E. durchaus notwendige — Behandlungsweise der
Philosophiegeschichte, die nur das „Tatsächliche" feststellen will und die eigene philo-
sophische Bewegung und Stellungnahme ausschaltet bzw. gar nicht erst in Gang bringt
(wie weit dies möglich, wie weit dieser Versuch oft auf Selbsttäuschung beruht, darüber
vgl. die oben genannte Abhandlung „Zum Problem der Philosophiegeschichte"). Ferner
gibt es eine Art systematischen Philosophierens, das die Probleme aktiv angreift, aber doch
50 die Geschichte als Stütze, zur gelegentlichen mehr beispielsweisen Illustration nicht ent-
behren will. Beiden Arten der Philosophiegeschichte steht diejenige gegenüber, die hier
versucht wird. Sie beruht auf der Überzeugung von der Geschichtlichkeit unseres philo-
sophischen Denkens. Um Wahrheit haben sich auch die „historischen" Philosophen be-
müht und oft genug, was ich hier zu zeigen hoffe, aus einer für den Ansatz und die Auf-
/ /
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
bdlung gewisser, besonders metaphysischer Problemstellungen sehr viel günstigeren
geistigen Umwelt heraus als es unsere Gegenwart ist. Andrerseits sind wir „Gegen-
warf*. ^ ir mögen uns stellen wie wir wollen, wir können in die geistige Haut früherer
Geschlechter nicht mehr hineinschlüpfen, nicht einmal in die der vorigen Generation; wir
Bind genötigt, alles frühere zu „deuten" und auszulegen. Je lebhafter wir die Organe
dieser Deutung zur treuen Aufnahme des früheren Wahrheitsstrebens ausbilden und
üben, je mehr wir das Geschichtliche der Vergangenheit in seiner wahren philosophischen
Substantialität in Bewegung setzen, desto tiefere Regionen der „Sache" decken wir auf.
Ob es eine solche Philosophiegeschichte gibt und ein solches Philosophieren, und wie
weit wir heute dazu schon fähig sind, kann nur die Erprobung lehren.
II. VORTHEORETISCHE METAPHYSIK.
1. DER ANFANG METAPHYSISCHEN DENKENS.
Um gegenüber einem so mannigfaltig in sich selbst sich gliedernden
Gebilde wie der vorsokratischen Philosophie aus den Trümmern der Zeug-
nisse den richtigen Ansatz zu finden, verwerten wir das bisher Erörterte.
Wir schlössen oben mit der allgemeinen metaphysischen Behauptung,
es sei möglich, hin durch zusehen durch die Erscheinungen der Ge-
schichte auf ein Tieferes, auf Etwas, das sich in den abwandelnden Er-
scheinungsformen selbst dauernd darstellt. Auf dieser Möglichkeit beruht
jede philosophische Auswertung früherer Philosophie, die Deutung ihrer
zunächst in „natürlicher44 geschichtlicher Einstellung aufzusuchenden
Zeugnisse aus einem sachlichen Ganzen, über dessen Existenzform
hiermit zunächst noch nichts Genaueres gesagt sein soll. Dieses Prinzip,
aus seiner Verengerung befreit und von der Deutung der Philosophie-
geschichte erweitert zur Deutung jedes Wirklichen und schließlich aller
Wirklichkeit, ist zugleich das erste und, so wie es bisher ausgesprochen
ist, noch rohe Prinzip der Metaphysik selbst: nämlich fortzuschreiten von
der schlichten Hinnahme der Wirklichkeit, von dem einfachen Dasein
in der Welt zu einem andern Sein, zu dessen Charakteristik zunächst
bloß die unentschiedene und bedenkliche Bezeichnung des „Tieferen44,
Eigentlichen wiederholt sei. Diesen Ubergang von der „natürlichen44 Ein-
stellung zu einer andern hat G. Misch als den „Weg in die Philosophie44
dargestellt, denn ihm schien das, was hier „metaphysisch44 genannt
wurde, den allgemeinen Titel des Philosophischen überhaupt zu ver-
dienen. Uberraschend ähnlich klingt zunächst in der Tat die Schilderung
dieses Uberganges von der einen Haltung zur andern in den Worten
Goethes, Diltheys, Husserls, Dschuangtses, Buddhas, Spinozas, Piatons.
Ich wähle die Problemstellung Mischs zum Ausgangspunkte und empfehle nicht nur
die von ihm gebotenen Texte, sondern auch die einleitenden und verknüpfenden Be-
trachtungen Mischs der sorgfältigsten Beachtung. Gerade daß kein Versuch gemacht
wird, geschichtliche Beziehungen zwischen der östlichen und westlichen Philosophie zu
stiften, sondern die parallelen Formen des gleichen Motivs rein nebeneinander gestellt
sind, bietet den großen, bis jetzt so viel ich weiß an keiner andern Stelle gebotenen
D
DER ANFANG METAPHYSISCHEN DENKENS
15
Vorteil, die besondere Struktur jeder einzelnen Form durch den Gegensatz klarer zu
erfassen. Gerade durch Verzicht auf die historische Ableitung kommt so ein treffliches
Hilfsmittel zustande, die konkrete geschichtliche Gegebenheit zu erfassen. Es verdient
hervorgehoben zu werden, daß Misch grade die iranischen Lehren, denen nach An-
sicht mancher anderer Forscher, besonders Reitzensteins, auch für die griechische
Frühzeit Bedeutung zukommt, zu seiner Parallelisierung nicht verwendet hat.
Zu der gesamten Frage hier nur ein grundsätzliches Wort. Ich glaube, daß die Mög-
lichkeit orientalischen Einflusses auf die griechische Philosophie der Frühzeit durchaus
zugegeben werden kann. Man kann eine Behauptung wie die, daß übereinstimmende
Erscheinungen hier und dort spontan entstanden sind, nicht beweisen und nicht wider-
legen. Wichtiger scheint es mir, aus der typischen Reaktion, mit der etwa in der alten
Akademie oder in der Stoa und im Neuplatonismus notorische Einflüsse orientalischer
Anschauungen beantwortet werden, für die Frühzeit Schlüsse zu ziehen. Diese könnten
nur so lauten: wie später die griechische Philosophie alles Orientalische, das sie auf-
nahm, in einer ganz bestimmten Weise umgestaltete und es in griechische Form goß
und eine Reihe von Gedanken stets bewußt von sich fern hielt, so wird es auch
mutatis mutandis früher gewesen sein. Die spezifischen Kräfte des griechischen Denkens
könnten gerade durch die Entgegensetzung gesteigert und zur Wirkung gebracht worden
sein. Beweisbar und zugleich geschichtlich wie historisch wichtig ist lediglich die tiefe
Abwandlung der ganzen Gedankenbildung; das charakteristisch Griechische hervorzu-
heben wird in der ganzen folgenden Erörterung das Hauptbestreben bleiben. Und
dieses Ziel empfahl die Anknüpfung an die Mischsche Fibel.
Zunächst ergeben sich im Anschluß an die von Misch gegebenen Pa-
rallelen eine Reihe von Fragen. Misch hebt drei große Typen des Durch-
bruchs durch die natürliche Einstellung hervor, je nach dem Ansatz beim
Ich, bei der Gemeinschaft und bei der Welt. Der Durchbruch wiederholt
sich auch innerhalb einer und derselben Kultur auf verschiedenen Ent-
wicklungsstufen. Auf jeder Stufe der Entwicklung kann ein „Verfallen"
(Heidegger), ein Einschlafen des metaphysischen Bewußtseins eintreten
und je nachdem völlig verschiedene neue Reaktionen nötig machen.
Zum Zwecke weiterer Differenzierungen seien zunächst einige Probleme
ganz schematisch formuliert — sie zu verfeinern wird gerade die Ge-
schichte der griechischen Metaphysik sofort Veranlassung geben:
1. Ist die sogenannte natürliche Einstellung, der Tat- und Geschehens-
zusammenhang, in dem sich das Bewußtsein vorfindet, überall die-
selbe ?
2. Wie weit läßt sich für eine metaphysische Betrachtung die unter be-
stimmten anderen Gesichtspunkten durchaus notwendige Unter-
scheidung einer theoretischen und praktischen Vernunft — von
anderen Verhaltungsweisen zunächst abgesehen — durchführen, wie
weit lassen sich Entsprechungen dieser Scheidung im vorphilo-
sophischen Denken der natürlichen Einstellung nachweisen ?
3. Angenommen, diese und vielleicht noch andere Verhaltungsweisen
ließen sich scheiden: welche Typen des „Durchbruchs zum wahren
Sein" lassen sich überhaupt aufstellen ? Wir versuchen eine vor-
vorläufige Gruppierung.
16
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
a) Der unbewußt tätige Mensch der natürlichen Einstellung geht
vom Tun zum Denken über, er gibt sich Rechenschaft irgend-
welcher Art über sein Tun, tritt also aus der natürlichen Bahn
heraus in eine Theoria, die der Wissenschaft mannigfach sich
annähern kann.
b) Ein ursprünglich zur Reflexion geneigter und äußerlich und
innerlich dazu befähigter Mensch glaubt handeln zu müssen;
der Übergang ist auf Tätigkeit schlechthin gerichtet.
c) Übergang von einem Tätigkeitstypus zum andern, z. B. von der
Vielgeschäftigkeit zur verinnerlichten Tätigkeit; der Wert-
gesichtspunkt ist entscheidend: es soll „gut", besser als bisher
gehandelt werden.
4. Wie steht jener Vorgang, den wir bisher metaphysisch orientierten,
zur ,, Erweckung" ? Wo liegen die Ähnlichkeiten, wo die Verschieden-
heiten ? Wir unterscheiden wieder einige typische Möglichkeiten :
a) Den Fall der „Berufung" : aus gleichgültigem Zustand Intensi-
vierung, Glauben.
b) Durch „Aufklärung" tritt in einer religiösen Haltung Zweifel
ein ; im Zweifel lassen sich eine Reihe von Stufen unterscheiden.
c) Die „Aufklärung" kann aber auch umgekehrt als Bestätigung des
Glaubens wirken, sie kann sich an seine Stelle setzen, „dieselben"
Wirkungen hervorrufen — der an sich unwahrscheinlichste,
aber für die griechische Metaphysik wichtigste Fall.
5. Welche Bedeutung hat unter dem Gesichtspunkte des Überganges
von natürlicher zu philosophischer Haltung das ästhetische Ver-
halten ? Gibt es etwa auch in der natürlichen Einstellung ästhetische
Verhaltungsmöglichkeiten ? Ist umgekehrt die philosophische Theo-
ria ablösbar durch die ästhetische ? (auch diese Frage gerade für
die Antike zu erwägen).
Misch hat die Unterschiede zunächst einmal hinter dem Grundphäno-
men jenes „Durchbruchs" zurücktreten lassen; in der Tat könnte man
formal in allen möglichen Fällen eine Änderung des Seins- und des Da-
seinserlebnisses anerkennen, die als Übergang zum besseren, wertvolleren,
wahreren Sein und Dasein empfunden wird. Gerade wenn man dies fest-
hält, tritt die unendlich reiche Fülle der Möglichkeiten hervor, in denen
dieser Vorgang sich darstellen kann, die Verschiedenheiten der Richtung
und die Wirkung des Ausgangs- und Zielpunktes, die oben angedeutet
wurden. Angesichts dieser verschiedenen Möglichkeiten muß es unsere
erste Aufgabe sein, den Anfang der europäischen Geistesgeschichte, d. h.
die geistige Lage der Griechen, in der die Geschichte ihrer Metaphysik
und Philosophie anhebt, richtig zu fassen.
D
DER MENSCH IN SEINER WELT BEI HOMER UND HESIOD
17
2. DER MENSCH IN SEINER WELT BEI HOMER UND HESIOD.
Als umfänglichere Zeugnisse aus älterer Zeit, aus denen eine be-
stimmte Gesamthaltung dem Dasein gegenüber mit einiger Sicherheit
erschlossen werden kann, kommen nur die Homerischen und Hesiodischen
Gedichte in Frage.
Hinter diese Zeit zurückzugehen ist nur insofern möglich, als aus dem höchst kom-
plexen, in sich uneinheitlichen Bilde, das Homer und Hesiod bieten, auf eine räumlich-
zeitliche Gliederung dessen, was als „die Griechen" notwendig zusammengefaßt werden
muß, und damit auf die vorhergehende Entwicklung zurückgeschlossen werden kann
und muß. Die griechische Welt ist in dem Augenblicke, in dem sie für uns sichtbar in die
10 Geistesgeschichte eintritt, nicht nur nach Stämmen verschiedener Eigenart gegliedert,
sondern diese Stämme haben noch jeder eine verschiedene Entwicklung hinter sich, und
ihre kulturell-geistige Entwicklungsstufe ist sehr verschieden; beide Momente durch-
dringen und überschneiden sich natürlich mannigfaltig. Der ionische Stamm in Kleinasien
ist „weiter", weil er eine andere Geschichte gehabt hat, weil er andern Einflüssen
unterlegen ist als die festländischen Griechen des Mutterlandes; zugleich ist er an sich
anders, hat für diese Einflüsse eine andere Empfänglichkeit; es ist hier nicht unsere
Sache, über die Feststellung dieser zusammengehörigen, in Wechselwirkung stehenden
Züge hinauszugehen und weitere geschichtliche Fragen zu stellen.
Es gilt heut als sicher, daß die Homerischen Gedichte ihre entschei-
20 dende Formung dem ionischen Geiste verdanken. Hesiod, dessen Vater
zwar aus Kleinasien eingewandert ist, gilt als Vertreter mutterländischen
Empfindens.
Die „Bauerngesinnung" der „Erga", das Rechtsgefühl, besser die Rechtssehnsucht,
die Schwere des Geistes, wird nicht nur individuelle zufällige Eigenheit des Menschen
Hesiod und seines persönlichen Schicksals, des vom Bruder erfahrenen Unrechts sein. Es
greifen mindestens starke Unterschiede des sozialen Hintergrundes ein. Hesiod verfolgt
die „Geschenkefressenden" Richterkönige mit seinem Haß, die homerische Welt aber ist
die der feudalen Rittergesellschaft Ioniens, für deren Höfe die homerischen Sänger
da waren.
3Ü Desto wichtiger sind für uns gewisse gemeinsame Züge der allge-
meinen Stellung zum Dasein. Ihre Beziehung zu grundlegenden Proble-
men der griechischen Metaphysik wird sofort hervortreten, auch wenn
wir diese Züge zunächst wieder ganz schematisch zusammenstellen.
Wir wollen uns aber vorher kurz die Frage vorlegen, welche Stellung-
nahme zum Dasein der extreme Klassizismus Homer und den Griechen
überhaupt zuschrieb. Sorgloses, unproblematisches Hinnehmen des eige-
nen Seins und des Seins der Welt, „Ungebrochenheit" der geistig-sinn-
lichen Natur, „Naivität" bezeichnen dieses Wunschbild des Daseins,
das man auch in den Homerischen Gedichten zu finden glaubte, nachdem
40 man es aus ganz andern Regionen — von Theokrit und der hellenistischen
Bukolik überhaupt — empfangen hatte. Dagegen stellte Nietzsche den
Pessimismus der Griechen, den Silensspruch vom wertlosen Dasein, vom
Wunsche nach dem Nichts. Gemildert und vielfach eingeschränkt liegt
der Pessimismus den Hesiodischen Gedichten zugrunde. Doch mit
einem so einfachen Schlagworte ist keine Stellungnahme zu bezeichnen.
Handb. d. Phil. I. D 2
METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
Ein eigentümlich verkleideter Rest klassizistischer Auffassung hat sich
aber hartnäckig in der Vulgata der Philosophiegeschichte gehalten. Der
Selbstauffassung des griechischen Denkens wurde dieselbe ungeschicht-
liche \ erabsolutierung des Seins zugeschrieben, in der der Klassizismus in
rückwärts gewendeter Betrachtung das Griechentum sah. So entstand
die Meinung von der „Ungeschichtlichkeit" des griechischen Geistes, der
rationalistisch" das „Werden" verleugnet hätte und stets dem „zeitlos
Seienden" auf der Spur gewesen sei. Hier liegt ein ernstes metaphysisches
Problem. Daß erst dem 19. Jahrhundert das eigentliche Bewußtsein ge-
schichtlichen Werdens aufgegangen ist, daß die „Geschichtlichkeit" des
Daseins erst in der neuesten metaphysischen Forschung aufgehellt worden
ist, muß zugegeben werden (vgl. Antike IV, 42 Die Gefahren modernen
Denkens und der Humanismus); aber die Wichtigkeit dieser Entdeckung
kann in unserer Auffassung nur steigen, wenn es sich herausstellen
sollte, daß trotzdem kein früheres Bewußtsein ohne eine Form des
Wissens um seine Geschichtlichkeit existiert hat. In welcher Form lebt
dieses Wissen in der alten Epik ? Das ist die erste Frage.
1. Eine Evolution, ein Fortschreiten zum Besseren als Gesamtsinn
geschichtlicher Entwicklung gibt es im Umkreis dieses griechischen
Denkens nicht: Presbytaton, das Alteste zugleich als das Ehrwürdig-
ste, bleibt eine Grundkategorie griechischer Seinsvorstellung. Es be-
stimmt also die Form des Abstiegs, der Verschlechterung, wie sie in
der Fabel der Weltalter bei Hesiod ausdrücklich beschrieben wird, das
Welt- und Ichverständnis. Genau die gleiche Auffassung herrscht im
homerischen Epos, nur anders gewendet. (Nestor ist ihr typischer Ver-
treter.)
2. Liegt nun der Glaube vor, daß der Mensch einer dauernden Ver-
schlechterung verfallen sei ? Dies ist nicht der Fall, und damit tritt die
erste Antinomie auf: über die Vorstellung des dauernden Abstiegs
schiebt sich eine andere, die kurz und schematisch so bezeichnet werden
kann: Der Abstieg hat eine Grenze, er kann aufgehalten werden; eine
Soteria, Rettung, Bewahrung ist möglich; auch dies ist eine griechische
Grundkategorie. Und schon in der ältesten Zeit gewinnt diese Vorstellung
den Sinn: es ist gut, daß der Abstieg gerade an dieser, dem gegenwär-
tigen Sein entsprechenden Stelle der großen Entwicklung aufhört; wenn
auch das Leben schwer ist, so müssen wir doch wünschen, daß dieser
„wirkliche" Zustand innerhalb seiner spezifischen Seinsmöglichkeiten sich
entwickelt und brauchen dann nicht auf eine Wiederkehr des „goldenen
Zeitalters", d. h. auf eine grundsätzlich andersartige Seinsart zu rechnen.
Bei Hesiod ist die gesamte Theogonie und Anthropogonie darauf angelegt, die Herr-
schaft des Zeus genetisch zu erklären als den Zielpunkt einer Entwicklung; Zeus hat
„mit Recht" seinen Vater besiegt, und deshalb hat seine Herrschaft ein Anrecht auf
Bestand. Wenn das mit ihm in die Welt eintretende Prinzip der Difee, der Gerechtigkeit,
dem er seine Herrschaft verdankt, auch bei den Menschen durchgeführt wird, dann wird
D
DER MENSCH IN SEINER WELT BEI HOMER UND HESIOD
19
sein Zeitalter auch für die Menschen nach ihrer Natur der wünschenswerteste Zustand
sein. Genau dieselbe Vorstellung bei Homer, nur daß da die Herrschaft des Zeus bereits
völlig konsolidiert ist. Diese Tatsache ist desto wichtiger, weil oft genug die Spuren der
theogonischen Idee sich vorfinden, deutliche Hinweise, daß den Dichtern die kämpfe-
reiche Vorgeschichte der Zeusherrschaft durchaus bekannt ist und sie darauf Rücksicht
nehmen. Als im 1. Buche der Ilias die feste Ordnung des Götterkreises gestört zu werden
droht, erinnert Zeus an die Zeit, in der er wider alle Götter stand. Im Ton und Gehalt
veränderte Motive theogonischer Spekulation klingen in die merkwürdige Szene von der
Überlistung des Zeus durch Hera hinein.
!0 Zusammengefaßt und als metaphysische Haltung betrachtet kann
also die Stellung beider Gedichte als der Entschluß zur Bejahung dieser
erlebten wirklichen Welt bezeichnet werden. Aus dem lebhaft empfunde-
nen — gleichviel aus welchen Quellen empfangenen — Glauben vom
Verfallen des Gesamtdaseins menschlich-göttlicher Entwicklung und
dem stärksten Erlebnis der Schwere dieses Daseins für alle an ihm be-
teiligten Wesen wächst der in äußerster Spannung zu diesem Glauben
stehende Optimismus hervor, der seine Wünsche und Hoffnungen in
diesem Dasein beschlossen sein läßt. Dieser dem Diesseits zugekehrte
Wirklichkeitssinn bestätigt sich in dem folgenden dritten Gedanken-
20 gange.
3. Genau so wie in der mythisch sich symbolisierenden Wertgliederung
der zeitlichen Abfolge möglicher, an sich erwünschter und dem religiösen
Glauben zugänglicher Daseinsweisen die volle Kraft metaphysischer Be-
jahung auf diesen Ablauf, auf die Zeusepoche fällt, und alle Tatbereit-
schaft dem Zwecke gilt, dieses Leben in seinem wesensmäßigen Bestände
zu verwirklichen und zu bewahren, so wird auch in der gleichsam räum-
lich vertikalen Gliederung gleichzeitig bestehender Seinsweisen der Götter,
der Menschen, der abgeschiedenen Seelen dieses menschliche Leben in
mehrfachem Sinne zum mittleren zwischen extremen Seinsformen, und
30 zwar wird in ihm der Mittel- und Zielpunkt erfaßt, nach dem alle
andern Seinsarten vorgestellt werden. Wir betrachten erst die Spiege-
lung des menschlichen Daseins in der Götterwelt und dann die in dem
Totenreiche, in dem die Seelen als kraftlose „Abbilder" der volleiblichen
Existenz ein „Schattendasein44 führen.
In unserem ersten und zweiten Gedankengange hatten wir das meta-
physische Bewußtsein eines mythischen Abstiegs einfach neben das des
„ontischen44 Übergewichts dieser erlebten Seinsordnung stellen müssen,
um zunächst einmal den Tatbestand zu beschreiben, wie er sich aus den
Quellen ergibt. Wir müssen nun fragen : wie stellt sich einem Bewußtsein,
40 das an ein Ende des Abstiegs, an sein Einmünden in eine bestehende
und zwar zu „Recht44 bestehende Ordnung glaubt, jener dem Abstieg
vorhergehende höhere Zustand dar ? Man könnte meinen, daß von einem
solchen Bewußtsein der Diesseitigkeit aus jenes Presbyteron, die ehr-
würdige Ahnenzeit besserer Zeitalter, und die sie erfüllenden göttlichen
Wesen einfach verblassen und damit eine „realistische44 Weltauflassung
D 2*
20
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
sieh auf den Umkreis der unmittelbar erfahrenen Wirklichkeit be-
schränkt und verengt. Dies nicht zu tun, nichts Früheres aufzu-
gehen, sondern dem neuen Zustande des Geistes unwillkürlich anzu-
passen, darin spricht sich eine noch lange wirksame Eigentümlichkeit
des griechischen Geistes aus. Gegenüber dem starren Konservativismus
anderer großer archaischer Kulturen einerseits und dem selbstbewußten
Pochen auf Fortschritt und Höherentwicklung andrerseits, in dem wir
Späteren leben, lebt die griechische Antike in einer beispiellosen und
darum ewig vorbildlichen Kraft der Metamorphose; nachdem einmal die
Soteria, die Bewahrung des Vorhandenen als metaphysisches Grundmotiv 10
wirksam ist, weitet sich ihr Anwendungsbereich auf alles Frühere aus,
indem auch für die schöneren und besseren Daseinsformen in einer an-
dern Dimension eine Fortdauer gesucht und in dem Leben der olympi-
schen Götter gefunden wird. (Bereits das bedeutet einen ersten Schritt
zu jener merkwürdigen Freiheit dem Zeitbegriff gegenüber, die für das
griechische metaphysische Denken immer charakteristisch bleiben wird;
die ägxtfi ursprünglich das Frühere vor dem Sein, wird zum „Prinzip",
zu einem wesentlichen Bestandstück des einheitlich Seienden.)
Wir sahen, daß die theogonische Spekulation einen mythischen Vor-
gang zunächst einfach so beschreibt : Zeus siegt im Kampfe mit früheren 20
Göttergeschlechtern auf Grund seines Rechtes; Wahrer des Rechtes,
der Dike bleibt er in der mutterländischen Dichtung, bei Hesiod, bei
Solon, im ganzen noch bei den älteren Tragikern. In den Homerischen
Gedichten ist die Einbeziehung des göttlichen Daseins in die Sphäre
der diesseitigen Wirklichkeit vollendet. Dem ungemeinen Reichtum des
homerischen Weltbildes gegenüber bleibt hier für uns nur die ganz sche-
matische Zusammenstellung einzelner Züge möglich.
a) Die Götter bleiben von einem merkwürdigen Glanz umgeben, der
im letzten Grunde auf ihrer Unabhängigkeit von der Zeit, vom Alter
und Tod, von allen menschlichen Tributen an die Zeitlichkeit beruht ; sie 30
sind die ewig Währenden.
b) Diesen Eindruck zu wahren, erfordert die größte Meisterschaft
des Dichters, denn nichts Menschliches ist ihnen fremd. Sie werden so-
gar verwundet, aber ihre Wunden heilen schnell; auch ihre Ehre, mensch-
lich gesprochen, kann vorübergehend gefährdet werden, aber wie feudale
Herren überstehen sie auch peinliche Situationen rasch, und bald ist
alles wie's war; es ändert sich nichts, es tritt kein neuer Gott in den
Olympos ein, das göttliche Reich ist konsolidiert. Anthropomorphismus
und Anthropopathismus gilt gemeinhin für bloße Unfähigkeit, einen
reinen Gottesbegriff zu bilden ; hier ist aber sichtlich geradezu das Motiv 40
wirksam, Götter soviel als möglich den Menschen anzunähern, damit
sie ihre eigentliche Funktion erfüllen.
c) Diese besteht in der handgreiflichen Regelung des menschlichen
Daseins. Dadurch allein kommt die göttliche Macht zum Ausdruck;
D
DER MENSCH IN SEINER WELT BEI HOMER UND HESIOD
21
mit Fleiß haben diese Dichter für das Dasein und Leben der Götter
eigentlich nichts übrig gelassen, wenn man ihre Sorge um ihre Schütz-
linge, ihr Eingreifen in deren Leben abzieht; hierfür aber müssen sie
„anthropomorph" sein, wie wir in den Gedichten deutlich sehen; sie
nehmen ja nur zum Zwecke ihres Eingreifens Gestalt an, diese oder
jene; daß sie das tun können, das ist ein wesentlicher Teil ihrer Gött-
lichkeit. Wie sie sonst aussehen, was sie „an sich" sind, darüber erhalten
wir keine eindeutige Antwort : denn Menschen dürfen sie s o nicht sehen^
etwa Athene mit der Aegis — daß man sie sehen könnte, wenn man die
10 ungünstigen Folgen auf sich nimmt, ist wohl keine Frage.
d) Aus dieser wesensmäßigen Aufgabe entspringt auch notgedrungen
der Anthropopathismus : da die Menschen widerstreitende Ziele haben,
alle aber der göttlichen Allmacht unterstehen, so müssen eben die Götter
unter sich uneins sein — darin liegt eine Folgerichtigkeit der griechischen
Anschauung, über die sich keine Zeit überlegen dünken möge. Also müssen
die Götter sich streiten, sich betrügen; selbst Zeus erliegt vorübergehend
dem Trug der Hera, obwohl er mit jener Macht am nächsten verbunden
ist, die über Göttern und Menschen gleichermaßen waltet, dem Schick-
sal, der gewaltigen Moira. Eine einheitliche Kraft muß natürlich für
20 den Ausgleich aller himmlisch-irdischen Kompetenzkonflikte so "gen.
Aber die Götter unterstehen dem Schicksal nur insofern, als sie sich
auf die widerspruchsvolle Aufgabe einlassen, das Menschenleben zu ord-
nen. Ihr eigentliches Sein wird vom Schicksal nicht berührt, aber es
ist ja die Frage, wie weit von einem absoluten Sein der Götter über-
haupt gesprochen werden kann.
Daß die homerischen Götter keinen ethischen Vorrang vor den Menschen haben, ist
klar, und an diesem Punkte setzte bekanntlich die philosophische Kritik zuerst ein.
Auch die Dike, die mit Zeus in die Welt kommt, ist bei Hesiod noch kein Prinzip der
Sittlichkeit im strengen Sinne. Gerade die Unklarheiten und Widersprüche beweisen
30 das eine: der damalige Mensch, der diese Gestalten entwarf oder ihre Züge sammelte
oder schließlich sie als Grundlage der Erziehung gelten ließ, ist entschlossen, die Ge-
gebenheit dieser Welt mit ihrer bunten Fülle von Gewalt und Leiden, von Ungleichheit
und Unerklärlichkeit des Schicksals gelten zu lassen so wie sie ist, und als oberstes Prin-
zip, aus dem Tun und Leiden begriffen werden soll, nur ein eigentümliches Gesetz des
Ausgleichs festzusetzen. In diesem Gesetz ist der Charakter einfach gesetzmäßigen Na-
turgeschehens ebenso beschlossen wie der des Ablaufs des menschlichen Lebens. Wenn
Zeus in der Ilias den Entscheidungskampf zwischen den beiden Haupthelden durch die
Schicksalswage entscheidet, so liegt darin bereits ein einfaches Symbol einer statisch
objektiven Maßethik, für die erst spätere Zeiten des Griechentums Gründe und ver-
40 Btehbare Ausdrucksmöglichkeiten suchten und fanden. Jedenfalls wird damit den
Göttern ebenso wie die höhere Sittlichkeit auch eine höhere Freiheit entzogen, etwa nach
Gutdünken, nach Liebe und Haß das Leben der Menschen letztlich zu gestalten. W ie in
den eigentlichen Kerngedichten der homerische Held in den Betätigungen seiner Kraft
innerhalb der dynamischen Möglichkeiten wirklichen Daseins bleibt, so waltet auch im
wunderbaren Göttertum der homerischen Welt, verglichen mit orientalischem Wunder-
glauben und Wundersehnsucht, eine eigentümliche Zurückhaltung. Die Seinsweisen
der Götter und Menschen bleiben durch Mittelglieder verbunden; nirgends hat die
religiöse Urvorstellung der Gotteskindschaft eine so naive Form gewonnen wie bei den
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Griechen. Zeus und die andern Götter sind Stammväter der Heldengeschlechter; wenn
der Bestand der Götterfamilien in sich auch streng gewahrt wird, so wird doch der
göttliche Same über das Menschengeschlecht verstreut, um in diesem die Möglichkeiten
menschlichen Daseins vorbildlich im Melden und König zur Erfüllung zu bringen. Wer
immer an die Theogonie Hesiods die Frauenkataloge angefügt haben mag, in denen alle
die Verbindungen von Göttern und Menschen registriert sind, er hat hier die griechische
Auflassung vom Sinne göttlichen Daseins als dauerndem schöpferischen Hineinwirken
göttlicher Kraft in das menschliche Sein ganz charakteristisch und spezifisch griechisch
zum Ausdruck gebracht. (Ein merkwürdiger Vers der hesiodischen Erga faßt dies alles
schlicht zusammen (108): Von gleicher Herkunft sind Götter und Menschen1).
4. Wie alles Sinnen über Götter und Schicksal letzten Endes immer
wieder auf dieses menschliche Dasein zurückführt und seine Kraft und
Würde befestigt, so tragen auch alle Vorstellungen über den Tod und
die vom Leibe getrennte Seele nur dazu bei, das volle leiblich-geistige
Leben in dieser Welt als das Sein kaf exoehen auszuzeichnen. Wie das
Verhältnis dieser Welt zu der göttlichen Region sich am sinnfälligsten
in dem vertraulichen Umgangstone zwischen Menschen und Göttern
ausdrückt, so ist das Lebensgefühl dieser Menschen am eindringlichsten
in dem für jeden der ihn kennt unvergeßlichen Ausbruch des Achilles
zu fühlen, als er, in der Unterwelt von Odysseus gefragt, dieses und jenes
Leben vergleicht. Dabei ist das Dasein der Seele nach dem Tode durchaus
ein Leben, nur ein Leben von abgeleiteter, sekundärer Seinsart, ein
schwacher kraftloser Abglanz dieses Lebens, ein Dämmerzustand, kein
traumloser Schlaf, wie ihn Sokrates später als höchstes Glück der müden
Seele an einer merkwürdigen Stelle der platonischen Apologie ausmalt,
sondern ein halber Wachzustand, der die trostlose Schwäche deutlich
zu erleben zwingt. Kein Zug dieses qualvoll ewigen Lebens zeichnet es
positiv gegenüber der menschlichen Seinsweise aus, alles ist nur ent-
kräftete Menschlichkeit. Kein belohnendes Glück, keine rächende Strafe
ist diesem Leben nach dem Tode in der eigentlich homerischen Fassung
eigentümlich; die gestraften Sünder der Nekyia gehören anderer Speku-
lation an — ob späterer oder früherer, bleibe dahingestellt, wenn auch
die Fassung dieser Stelle sicher später ist.
Älter sind sicher die Überreste des Seelenkultes beim Totenopfer des Achilleus und
bei der Totenbeschwörung des Odysseus.
Wie wir es bei den theogonischen Mythen sahen, so ist auch hier die
homerische Welt in sich selbst von deutlich faßbarer Einheit, sie zeigt
die Züge fremden Denkens und Fühlens nur am Horizonte; ihr Umkreis
ist umstellt mit fremden Riten, Gebärden und Gefühlen, die aber in
ihrer eigentümlichen Bedeutung völlig umgestaltet sind.
2) Ob dieser Vers in der Tat den Sinn der Weltalterlehre vorausnehmend bezeichnen
soll — an dieser Stelle steht er — ist schwer zu sagen. Er müßte dann so verstanden
werden, daß insofern auch die Götter geworden sind, sie derselben Seinsweise wie die
Menschen angehören. Deren absteigende Entwicklung läßt immerhin einen höheren Ur-
sprung noch über das erste Zeitalter hinaus vermuten. Vgl. jetzt v. Wilamowitz zur Stelle.
D DER MENSCH IN SEINER WELT BEI HOMER UND HESIOD
23
Wenn Achilleus dem toten Freunde die trojanischen Jünglinge opfert, so wirkt dies
auf keinen unbefangenen Leser als eine Beschwichtigung der Rache des Toten; jeder
Gedanke daran würde die „Form" dieser Stelle zerstören; denn nur die ungemeine
Größe der Freundschaft und der Rache — also im Grunde unveränderliche menschliche
Gefühle — sollen durch die archaische Geste dieses Opfers ausgedrückt werden. Wenn
Odysseus den Toten das Blut der Opfer fließen läßt, so hat sich auch der Sinn dieses
Opfers wesentlich geändert; nicht die übermenschliche Kraft der Schatten soll versöhnt
werden, sondern im Gegenteil sollen sie durch den Trank des Blutes für kurze Zeit die
Kraft ihres menschlich-irdischen Daseins wiedererhalten und aus dem Dämmerzustand
in die Verständigungsgemeinschaft mit wirklichen Menschen vorübergehend erhoben
werden.
Es wird also wieder altes religiöses Gut umgeschmolzen in eine andere
Form; nicht etwa wird das Fortleben der Seele nach dem Tode verneint
oder diese Frage gleichgültig gar nicht gestellt: wie überhaupt die Vor-
stellungen eines völligen Vergehens oder Entstehens aus dem Nichts
schwer Raum im griechischen Denken finden. Die unzerstörbare Existenz
der Seele wird einfach vorausgesetzt, aber in einer Form, für die wie kaum
für eine andere Religion das Goethesche Wort gilt, daß sie ,,den Men-
schen ins Leben zurückdrängt und ihn handeln lehrt".
5. Die unter 3 und 4 behandelten Gesichtspunkte sind deshalb so
wichtig, weil sie zeigen, daß die „Diesseitigkeit'4 des griechischen Seins-
erlebnisses nicht bloße Beschränktheit auf diese Welt ist. Sondern die
Griechen behalten die andern über- und unterweltlichen Regionen durch-
aus im Blick, lassen sich aber weder durch himmlischen Glanz noch durch
mythische Abgründigkeit geblendet von der bunten Fülle dieser Welt
abwenden, sondern stellen sich frei und selbständig auf den Standpunkt
ihres menschlichen Daseins und bejahen es als höchste Realität vor allen
andern Seinsweisen. Denn das ist die zur Genüge bekannte Eigentüm-
lichkeit des griechischen Welterlebnisses von Anfang an, die Scharfsinnig-
keit in dem eigentlichen und in dem uns vertrauteren übertragenen
Sinne, die Gegenstandsnähe des erkennenden Blicks, die ungemeine
Kraft der Wahrnehmung, die Bereitschaft, mit allen Organen die Gliede-
rung und Ordnung der sinnenmäßig gegebenen Welt in sich aufzunehmen.
Nicht etwa nur die vielberedete Visualität, die die Griechen zum Eidos
und zur Idea führt, sondern die viel umfassendere Aufgeschlossenheit,
die eigentlich gerade dadurch charakterisiert wird, daß sie beim einzel-
nen sinnlichen Eindruck nicht stehen bleibt, sich nicht in ihm verliert,
wie das orientalische Märchen sich in einen wunderbaren Goldglanz, in
einen zauberhaft süßen Klang gleichsam einspinnt; bei aller Schärfe
der Beobachtung, die in den homerischen Gleichnissen immer wieder
erstaunen läßt, ist es doch eben gar nicht das Einzelne, das eigentlich
gemeint wird, sondern die im Denken erfaßte Beziehung zu anderem, die
Verknüpfung; und wenn das Gleichnis sich auch gerne in Einzelheiten
ergeht, die vom kühl intellektuellen Standpunkt aus nicht zur Sache
gehören, so ist doch diese Beschreibungsfreude entbunden und ent-
24
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
schuldigt durch jenes andere Bedürfnis des Zusammenhangs; zudem
greift das Gleichnis meist hinter den sinnlichen Eindruck, es schildert
innere, nicht äußere, dynamische, nicht anschauliche Vorgänge. Indem
das Gleichnis den großartigeren, heroischen Actus in Parallele setzt
mit dem einfachen Vorgang des Tierlebens, des handwerklichen Tuns,
jedenfalls der schlichten Wirklichkeit des Alltags, trägt es so zu dem Ab-
blenden aller verstiegenen Phantastik bei, zu der großartigen Ernüchte-
rung, in der die gesamte Wirklichkeit als ein einheitlicher Zusammen-
hang erscheint, innerhalb dessen sich das von den Gottheiten geleitete
Tun und Lassen der Menschen abspielt, ohne Einbrüche einer Wunder- 10
weit, die zur völligen Aufgabe des einheitlich verstehbaren Naturzu-
sammenhangs zwänge.
6. Nach derselben Richtung treibt auch ein anderes Motiv, das wie
alle bisher geschilderten noch weiter konstitutiv für alle griechische
Wirklichkeitsauffassung bleibt. Alles Wirkliche wird immer unter dem
Gesichtspunkt des politisch-ethischen Lebens, also des eigentlichen
menschlichen Daseins betrachtet. Wo ein rein theoretisches Interesse
an der ,, Natur" als solcher in unserem Sinne vorzuliegen scheint, ist
dies meist nur unsere Perspektive, die für das damalige Denken Selbst-
verständliches wegläßt und uns heute Selbstverständliches ohne weiteres 20
ergänzend hinzufügt.
Zu jedem einzelnen der bisher behandelten Punkte müßte eigentlich von hier aus
noch eine Ergänzung hinzutreten. Der Zusammenhang zwischen Göttern und Menseben,
wie er den Frauenkatalogen zugrunde liegt, hat auch eine dynastische Bedeutung; der
König will sich und sein Geschlecht legitimieren, ihm eine unzweifelhafte Begnadung zu-
schreiben. Das Weltbild der homerischen Gedichte entspricht, wie man oft gesagt hat,
einem feudalen Herrenstand, für den der Sänger zunächst singt. Aber der Sänger hat eine
unverkennbare, im einzelnen schwer zu fassende Überlegenheit über diese ständische
Gliederung: nicht alle Könige sind mit dem Glänze umgeben, der ihrer göttlichen Geburt
entspräche; aus rein menschlichem Geschlecht entstammende Männer und Frauen 30
erhalten ein wirklich menschliches Ethos, das hinter dem aller jener Göttersöhne und
-enkel durchaus nicht zurücksteht. Der Gegensatz der hesiodischen Gedichte, in denen
die große Bewegung zur Demokratie, die Kritik der bestechlichen Richterkönige offen
hervorbricht, zur geistigen Haltung der homerischen Dichter ist im Grunde nicht allzu
groß. Die Thersitesreden im Zusammenhang der immerhin merkwürdigen „Peira", der
Versuchung des Heerkönigs im 2. Buche der Ibas (v. Wilam. Ilias, 260 ff.) werden zwar
mit der ganzen Person des sehr freimütigen Redners der Verachtung preisgegeben.
Aber wenn man den Ton berücksichtigt, in dem von Göttern und Helden gelegentlich
gesprochen wird, und wenn man daneben den Inhalt der Thersitesreden hält, wird man
im Zweifel sein dürfen, was ursprünglicher ist: die eigentümliche Überlegenheit, mit der 40
hier die Helden und deren Schwächen, oder die Gelassenheit, mit der dort die Beziehungen
zwischen den Helden und den Göttern behandelt werden, denn beides hängt eng genug
miteinander zusammen. Wenn andrerseits die Wirkung des guten Königs sich nach der
bekannten Stelle der Odyssee XIX 108 bis auf die Fruchtbarkeit von Acker und Vieh er-
streckt, so kann eine religiös mystische Verehrung des „Zeusgenährten" Fürsten und
seiner Funktion kaum einfacher und stärker ausgesprochen werden als es hier geschieht.
Gewiß kann man hier „Widersprüche" innerhalb der epischen Dichtung sehen, und es
werden wohl diese verschiedenen Ansichten durch verschiedene Menschen zu ver-
schiedenen Zeiten ihre Prägung erhalten haben (vgl. Piaton Gesetze IV c. 9).
D
DIKE UND SCHULDBEGRIFF
25
Die kritische Tätigkeit der Philologie, die festzustellen sucht, welche
Stücke der homerischen Gedichte verschiedener Herkunft sein mögen,
zeigt uns die gewissermaßen natürlichen Ursachen des ungemeinen
Reichtums der epischen Dichtung. Aber die — nicht ästhetische, sondern
pädagogische — Einheit dieser Dichtung, die als Grundlage der Bildung
und Erziehung auf die geistige Entwicklung der Griechen einwirkte, das
freie, um die „ästhetische" Einheit unbekümmerte Hinnehmen alles dessen,
was sich schließlich zum Werke „Homers" oder „Hesiods" zusammen-
schloß wie die Teile einer kristallisierenden Flüssigkeit, hat mit dazu
beigetragen, die Weite des griechischen Geistes zu erhalten und ihm die
geschichtliche Tiefe zu geben, die räumlich verschiedene Stämme und
zeitlich das Lebensgefühl sehr verschiedener Zeitalter und Generationen
zusammenfaßt. Vgl. Handb. d. Pädag. herausg. v. Nohl u. Pallat I. Bd.,
Abschnitt 2. Schon daraus ergibt sich ein ganz besonderes Verhältnis
der griechischen Denker zur Geschichte und zur Geschichtlichkeit des
Daseins; an dieser Stelle wird sich immer deutlicher die wesentliche
Grundlage der griechischen Metaphysik und damit die wichtige Ab-
weichung von aller Modernität zeigen.
3. DIKE UND SCHULDBEGRIFF.
Es war bereits mehrfach der Begriff der Dike, des „Rechtes",
wie man ihn übersetzen mag, erwähnt worden, ein Begriff, der näher
bestimmt werden muß, um für diese Zeiten griechischer Kultur zu passen.
Eine Reihe von Zügen der oben geschilderten Grundhaltung dem Sein
gegenüber sind der Ausbildung eines sittlichen Rechts, d. h. eines Verant-
wortungsbewußtseins, einer klaren Vorstellung von sittlicher Schuld und
entsprechender Sühne hinderlich. Die großartige Gelassenheit, mit der
grade das Wollen und Handeln der Menschen unter den Einfluß der
Götter gestellt wird, die selbstverständliche Ergebenheit, mit der Erfolg
oder Mißerfolg, Sieg oder Untergang, langes Leben oder früher Tod als
unvermeidliches Schicksal und göttliche Fügung hingenommen wird,
andrerseits die Kraft, die aus dieser Einsicht für die unbeirrbare Durch-
führung der schicksalsgemäßen Mission (Achilles) gewonnen wird —
alles dies ist einem sittlich und rechtlich den Anteil freier Selbstbestim-
mung am Tun und Lassen abwägenden Verantwortungsgefühl nicht
eben förderlich, jedenfalls nicht einer Verantwortlichkeit der einzelnen,
zu sich selber sich wendenden Person, und an diese müssen wir doch un-
serem Begriff der Schuld entsprechend letzten Endes immer denken.
Aber das eigentliche Welt- und Selbstbewußtsein ist eben hier noch
nicht zu derjenigen individuellen Reflexion entwickelt, die sich und das
eigene Tun zum Gegenstande hat oder gar ausdrücklich sich, das Ich,
als den entscheidenden Ausgangspunkt des Geschehens begreifen will.
Sondern der Mensch fühlt sich im letzten Grunde Gegebenheiten mannig-
facher Art gegenüber leidend. Nichts bezeichnet besser den Gesamt-
26
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
charaktrr der antiken Metaphysik als dieses „Haben" von Gegebenem,
dieses Verhaftetsein an Seiendes. Diese Haltung ist nicht bloß theoretisch,
sondern sie schließt auch Wollen und Fühlen in sich, und selbst in ihren
höchsten theoretischen Sublimierungen reichen die Wurzeln der griechi-
schen Metaphysik bis in die mythische Sphäre hinab.
Desto auffälliger sind die Spuren, die auf den Durchbruch eines
anderen Schuldbewußtseins durch die Schicht dieser eben bezeichneten
Gedankenwelt schließen lassen. Zeus setzt am Anfang der Odyssee in
der Götterversammlung den Anteil der Menschen an ihrem Glück und
Unglück auseinander (I, 32). Zum ersten Male in der griechischen Litera-
tur wird die Wahrheit ausgesprochen, in der Piaton seinen Staats-
mythos gipfeln läßt: Gott ist unschuldig, die Schuld ist des das Gute
oder Schlechte wählenden Menschen:
„öJ Ttönov oiov Ö7j vv &£ovq ßgorol ahidovrat.
i£ 7]fi£(ov yccg (padl xax* tfifievai ' 6ä xal ccütoC
ocpfjaiv draG&aXtrjüiv ütiSq {iöqov ^Xye i'^ovaiv.
wg xal vvv AlyioOog tin&Q fiögov ^Argetdao
ytßi älo%ov fiPTjdr^v rbv fttxiave voorrjGavTa,
eldwg alrcvv oXe&vov, Insl ttqö ol eYrco^sv f^islg
cEQ^t€fav n£[i\pavT€q Ivaxonov dgyei'cpövTTjv
lir[% avrbv XTtiveiv pjjre iiväaa&ai äxoiziv '
Ix yäq ^OgtGrao iiGig iGGerai "ATQeldao,
brniÖT äv fjßjjarj xe xal fjg Xiieigeiai atyg.
oig tcpa&* 'Eofietccg, dW od nqivccg Aiyi'aOoio
nelxf äya&a yoovtwv ' vTiv d'ä&oöa navx* dnifiiaev!'
Alles Böse kommt von den Göttern, so sagen die Menschen. „Böses",
das für die Menschen Schlechte, das „Übel", wird auf die Bosheit, die
böse Absicht der Götter zurückgeführt. Zu unrecht. Durch ihre eigene
„Torheit", ihre Verblendung haben die Menschen Leid über den ihnen
vom Schicksal bestimmten Anteil hinaus. So überschritt Aigisthos
seinen „Anteil", sein ihm zugeordnetes Schicksal. Moira, die in imäg {iöqov,
„über den Anteil hinaus", liegende Grundvorstellung, bezeichnet also
den Anteil des Menschen an der Gesamtmenge von innerem und äußerem
Geschehen, von Schmerzen, Lust und Freude, Tun und Leiden, Aufgaben
und Leistungen, Erfolg und Unglück, alles zusammengenommen ohne
klare Trennung dieser Bestandteile; tini-Q [io'qov scheint also etwas
Doppeltes zu bezeichnen: Schmerzen mehr als die Menschen zu erleiden
brauchten nach dem Schicksal; zweitens bezeichnet es ein Handeln,
das über die Grenze dessen, wozu ein Mensch berechtigt ist, hinausgeht;
in Wirklichkeit wird der Dichter dieser Stelle das Wort in den beiden
aufeinanderfolgenden Zeilen in derselben umfassenderen Bedeutung ge-
meint haben, die sich aus dem über die Moira Gesagten ergibt (vgl. zu
diesem Begriff auch Stenzel, Piaton der Erzieher S. 18 ff.).
D
DIE ALLMÄHLICHE RATIONALISIERUNG DER DIKE
27
Dabei wußte Aigisthos, was ihm bevorsteht; denn wir ließen es ihm
durch den Götterboten Hermes, den Warner sagen; er wußte, daß
Büßung, Strafe (rCaic) eintreten wird. Nun hat er — nach langer Zeit
des ungestraften Genusses — alles zusammen abgebüßt: Gottes und
des Schicksals Mühlen mahlen langsam, dip£ Üewv äliovav fivXai.
Jaeger hat diese Worte eines jungen Dichters, eines Problematikers,
der bereits in das Zeitalter des werdenden „ionischen Rationalismus
gehört" (Stzb. d. preuß. Akad. d. Wiss. Phil. hist. Klasse 1926, 72) in den
Zusammenhang des griechischen Denkens eingeordnet und an einem
Musterbeispiel gezeigt, wie ein bestimmtes Motiv, das des Warners, in
verschiedener geistiger Formung und Erfüllung durch die Dichtung hin-
durchgeht. Er zeigt, wie bei Aschylos am Schlüsse des „Prometheus44 ge-
nau dasselbe Motiv des Warners auftritt, vor allem, wie es bei Solon
einen ganz neuen Sinn gewinnt, der unmittelbar auf die Anfänge der
Philosophie bei Anaximander hinweist.
4. DIE ALLMÄHLICHE RATIONALISIERUNG DES BEGRIFFES
DER DIKE VON HOMER BIS SOLON.
Das Neue, das in dem Denken Solons auftritt, des ältesten attischen,
durch die ionische Aufklärung beeinflußten Weisen, ist die Ausschaltung
der spontanen Akte göttlicher Strafe und göttlicher Warnung. An ihre
Stelle tritt der unaufhebbare Zusammenhang der Ereignisse, den der
Geist des klugen und weisen Menschen erkennen kann; so kann der ein-
sichtige Geist des Führers zum Warner werden, wie in dem Eunomie-
gedicht (Nr. 3, 30 Diehl) des Solon: mein Sinn (&vfi6g) heißt mich die
Athener belehren (didd'£ai). Der Form nach ist diese Lehre die alte
Warnung: Zeus und die Dike werden die gute Verfassung der Bürger
segnen, die schlechte verderben und bestrafen; dem Inhalte nach —
das hat Jaeger mit vollem Rechte herausgearbeitet — ist es eine ganz
andere Einsicht: aus immanenten Gesetzen der sich entwickelnden
Wirklichkeit, nach dem Rechte der Zeit (so frg. 24, 3 Diehl) verfällt
das Schlechte und das Gute gedeiht und setzt sich durch; und zwar so
sicher wie aus der Wolke Schnee oder Hagel kommt, wie auf den Blitz-
strahl der Donner folgt (fr. 10), so folgt „naturnotwendig44 auf soziales
und politisches Unrecht die Strafe. Soziales Unrecht ist eine Wunde am
Organismus der Gemeinschaft, die geheilt werden muß, oder zum Tode
führt. Und wie die Heilung der physischen Wunden immer rationaler
wird, immer weniger rein magischen Gewalten überantwortet wird, so
tritt auch im sozialen und politischen Leben die „Rationalisierung44 ein.
Doch hier ist ein uns Modernen sehr naheliegendes Mißverständnis
fernzuhalten. Diese „Rationalisierung44 schließt nicht etwa eine religiöse
Haltung zur Wirklichkeit aus, sondern vertieft sie im Gegenteil: gerade
die verstehbare, als notwendig erkannte Ordnung der Wirklichkeit
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
in ihrem zeitlichen Verlauf ist göttlich; in ihr spricht sich die göttliche
Kraft deutlicher aus als in irgendwelchen Wundern, in irrationalen
Akten göttlichen Eingreifens (Jaeger, Solons Eunomie S. 80 und 81,
Stenzel, Platon d. Erzieher 15 ff; zur Sache s. oben S. 16, 4 c).
Dieser Sachverhalt muß als die Grundvoraussetzung der griechischen
Metaphysik angesehen werden; der Vernunft- und denkgemäße Logos
wird zu einer metaphysischen Angelegenheit, das Metaphysische
wird einbezogen in eine verstehbare Ordnung, ohne in die-
ser Rationalität seinen metaphysischen Charakter zu ver-
lieren, ig
Jaeger sucht seinem besonderen Zwecke gemäß grade die charakte-
ristische Wandlung des Warner- und Difte-Motivs herauszustellen, er
ist auf die Unterschiede gerichtet. Hier kommt es darauf an, gegenüber
moderner Einfühlung das Gemeinsame dieser archaischen griechischen
Stellung zu Leben und Welt, zu Gott und Schuld und Sühne herauszu-
heben. Die Metamorphose des Warnermotivs vollzog sich deshalb so
leicht, weil auch hinter dem naiven Göttermythos des 1. Buches der
Odyssee ein Dichter steht, dem sich bereits die Vorstellung vom indivi-
duellen Götterwillen mit der eines allgemeinen Schicksals ausgeglichen
hatte. Man muß als Gegensatz sich das Pathos eines alttestamentlichen 20
Propheten vorstellen, um das Gemeinsame, das bereits den Dichter
der Odyssee und Solon umgreift, zu erkennen.
Die Gelassenheit und Leidenschaftslosigkeit in den Beziehungen zwischen Göt-
tern und Menschen trat uns in der Odyssee in der Sphäre des Wollens schuldhaften
Handelns von einer neuen Seite entgegen. Gottvater Zeus schiebt die Schuld den
Menschen zu, er lehnt die Verantwortung ab. Er sagt: ich kann nicht dafür, sie selbst
haben es sich zuzuschreiben. Denn ich habe ihnen mitgeteilt, was ihr Schicksal sein
wird. Nicht ich, Zeus, verhänge die Strafe, sondern diese ergibt sich aus der Ordnung
der Dinge, dem Gesetze der Vergeltung: wer mehr, über sein Teil hinaus tut, der hat
mehr (beidemal das Wort vneQ juSpor) zu leiden. Daß Zeus als persönlicher Gott strafen 30
will, davon steht nichts da. Alle Worte sind so gewählt, als ob Zeus nunmehr durch das
Tun der Menschen eine Gesetzmäßigkeit ablaufen läßt, nicht eigentlich eine solche
schafft. Gewiß bleibt der mythologische Apparat des warnenden und strafenden Gottes
als ein gewichtiger Unterschied bestehen, aber nichts weist darauf hin, daß diese war-
nende Botschaft den Menschen etwas grundsätzlich Neues sagt, sondern es ist eigentlich
nur das, was alle Menschen als Gesetz anerkennen, über das nur der eine oder andere der
Großen sich hinwegsetzen zu können glaubt. Gemeinsam ist ferner dem homerischen
und dem attischen Dichter die Bewertung der Zeit; die Buße tritt nicht sofort ein; Gott
läßt die Schuld anstehen, schließlich büßt der Schuldige alles auf einmal oder wie Solon
ausdrücklich (1, 31) sagt: er oder seine Nachkommen und sein ganzes Geschlecht. 40
Auch hier bei Homer wie so oft anderwärts erscheinen die Götter nur als Voll-
strecker eines Gesetzes, das menschlicher Erkenntnis zugänglich ist, an das die Götter
eigentlich nur erinnern, von dem sie wohlwollend zu überzeugen versuchen, und das
vom Willen der Götter unabhängig ist. Wenn die Menschen darauf nicht hören,
so ist dies Unverstand, Torheit, Verblendung; charakteristischerweise wird die Deutlich-
keit der intellektuellen Komponente in den Ausdrücken für diese „Verblendung" von
Homer über Solon bis zu Äschylus immer stärker. Aber auch schon bei Homer erscheint
die Schuld als Unklarheit des Denkens, die Ate als eine „Verqualmung" des Gemütes
D
GRUNDZÜGE DER ARCHAISCHEN METAPHYSIK
29
durch Zorn, als ein individuelles oder gemeinschaftspsychologisches Phänomen, das die
klare Einsicht in den Zusammenhang der Dinge trübt.
Wenn dies auch auf eine gemeinsame Grundlage hinweist, so darf
doch der wesentliche Schritt, den Jaeger vom homerischen Dichter zu
Solon herausarbeitet, nicht einen Augenblick verkannt werden. Es
bleiben doch nun einmal einzelne Facta, Sendung des Hermes, Gehor-
sam oder Ungehorsam des Aigisthos, die der homerische Dichter schil-
dert und von denen er den Ablauf der Ereignisse bestimmen läßt. Er
selbst tritt mit seinem eigentlichen Glauben zurück, wir wissen nicht,
wie er selber sein eignes Tun beurteilen würde.
Darum ist diejenige metaphysische Stellung zum Dasein, die wir der
solonischen als Kontrast entgegenstellen, deutlicher dort zu sehen, wo,
wie bei Hesiod oder Tyrtäus, der unbedingte Glaube an ein einmaliges
göttliches Geschehen in der Zeit, das Recht und Unrecht geschieden
und das eine Verfassung begründet hat, sich mit der Uberzeugung ver-
bindet, daß die Wahrung des Rechtes, die Erstattung der Schuld an spon-
tane Akte göttlicher Dike gebunden sind. Erst durch diesen Gegensatz
wird die metaphysische Bedeutung der solonischen Konzeption klar: wenn
der Ausgleich von Recht und Gedeihen, von Unrecht und Unglück nach
ehernen ewigen Gesetzen erfolgt, so taucht eine ganz neue Seinsregion
auf, eben die jener „zeitlosen" ewigen Gesetzmäßigkeiten, die hinter
allem Wandel des Geschehens als wahre Gesetze erkannt werden
können.
5. GRUNDZÜGE DER ARCHAISCHEN METAPHYSIK.
Wir heben nun an diesem paradeigmatischen „Urphänomen" der
griechischen Metaphysik kurz einige für alles Folgende wichtige Züge
zusammenfassend hervor.
1. Der Ubergang von einer religiösen Haltung zu einer rationalen
ist keine Entgötterung des Daseins. Es geht das wesentlich Religiöse
nicht verloren.
2. Die entscheidenden Wandlungen des Weltdenkens und -fühlens
sind nicht „theoretisch", sondern umspannen das Ganze des tätigen
handelnden Lebens; die soziale und politische Wirklichkeit wird der
„Natur" nicht gegenübergestellt. „Sein" behält immer die doppelte Be-
deutung, die über der Scheidung von Subjekt und Objekt liegt; es be-
deutet zugleich die dem Bewußtsein entgegenstehende gegenständliche
Wirklichkeit und das, was dieses Bewußtsein selbst metaphysisch trägt,
das Sein des Menschen als Menschen, d. h. als Gliedes von Staat und Ge-
meinschaft, als auch geistig lebender, sich mit anderen verständigender
Person. Das, was wir heut eine kosmische Auffassung des Menschen
nennen würden, ist der griechischen Metaphysik selbstverständliche
Voraussetzung — so selbstverständlich, daß sie oft gar nicht ausgesprochen
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
wird, sondern uns erst entgegenspringt, wenn wir den Zusammenhang
der Gedanken verstehen.
3. Dieser umfassende Seinsbegriff treibt frühzeitig Denk-, Darstel-
lung- und Ausdrucksmittel hervor, die uns in der Philosophie fremd
geworden sind. Man kann mit Recht schwanken, ob in den homerischen
Gedichten, in Solons Elegien (vgl. Jaeger S.81 Anm. 1) die Parallele zwi-
schen einem naturhaften Vorgang (Fallen der Blätter im Herbst, Ausbruch
des Gewitters aus der Wolke) und einem menschlichen Seinsvorgang
(Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, überraschender Eintritt der Strafe des
Frevlers) nur als ein Bild, ein Gleichnis vorliegt oder ob eine tiefere 10
Wesensgleichheit beider Vorgänge bezeichnet, also das Eintreten der
Strafe aus den tieferen Gründen einer naturhaften Gesetzlichkeit be-
griffen und ausgedrückt wird. Das Gleichnis, die Analogie, ist
eine spezifische Form griechischen Denkens, die sich in der
platonischen Spätphilosophie zu einer exakten Theorie verdichtet. All-
gemeiner gefaßt bezeichnet dieses analogische „symbolische" Denken
den Punkt, wo das Dichterische zur Ausdeutung des eigentlichen philo-
sophischen Denkens eingesetzt wird und ihm Bereiche erschließt, die
nicht nur den Standort griechischer Theorie, sondern letzten Endes den
jeder intellektuellen Philosophie übersteigen. 20
So grenzt Logos an Mythos, da eine nie ganz entschwindende Bedeutungskom-
ponente des Wortes Logos, nämlich die der „Beziehung zwischen", neben der exakt
mathematischen zugleich die des poetischen Vergleiches und Gleichnisses, also letzten
Endes des Mythos, in sich trägt.
4. Der durch das (unter Nr. 3 geschilderte) Mittel des Gleichnisses
bezeichnete metaphysische Sachverhalt jenes doppelseitigen Seins einer
„kosmischen" Auffassung des Menschen geht in Wechselwirkung zu-
sammen mit einer Abdämpfung des individuellen Selbstbewußtseins,
indem der Einzelne nicht auf sich zu — reflektierend — sondern von sich
weg ins Gegenständliche hinein seinen Blick richtet. Das bedingt nun 30
wieder weiter ein Gebundensein und Getragenwerden des Einzelnen
durch die Gemeinschaft. Der Einzelne sieht sich und sein tätiges Dasein
an seinesgleichen geknüpft, und diese Verbundenheit ist der primäre
Gegenstand seines Nachdenkens. Weil sich die sozialen und politischen
Vorgänge aber nur zum kleinsten Teil durch den Einzelwillen bestimmen
lassen und das Denken in ihnen einen sehr starken Widerstand vorfindet,
so erlebt das Ich hier sehr empfindlich eine reale Gegenständlichkeit.
Sobald also sein Denken erwacht, wendet es sich auch in der Reflexion
über Tun und Lassen nach außen, sucht eine Ordnung zu entdecken
und denkt diese nach Analogie der sein eigenes konkretes Sein beherr- 40
sehenden naturhaften Vorgänge. Daher der Vergleich von Aufruhr mit
Krankheit, von staatlicher Ordnung mit physischer Gesundheit; die
naturhafte Auffassung des eigenen leiblichen Seins wird also auf den ge-
samten Bestand des Ichs „in der Welt" ausgedehnt.
D
GRUNDZÜGE DER ARCHAISCHEN METAPHYSIK
31
5. Daraus ergibt sich weiter ein die gesamte griechische Metaphysik
beherrschender Begriffskomplex, der mit den Ausdrücken des Nutzens,
des Erhaltenden, Fördernden, Gedeihlichen, Gesunden nur unzuläng-
lich wiedergegeben werden kann und in dem Grundbegriff des „Guten44
der Interpretation die schwersten Aufgaben stellt. Wenn Solon vom Guten
und den Guten spricht, so liegt hierin gewiß eine sittliche Bedeutung;
aber hinzu tritt der Gedanke, daß das Gute zugleich das Realste, das
Seiendste und Wirklichste ist, dasjenige, das allem vereinzelten Sein
Bestand und Erfolg, Gedeihen und Glück gibt. Kurz es tritt in den
10 Begriff des Sittlich- Guten von vornherein das hinein, was spätere Speku-
lation aus außer- und überethischen, religiösen und metaphysischen
Regionen zu ihm als etwas ihm zunächst Fremdes hinzufügen wollte:
die mit der Moralität verbundene proportionierte Glückseligkeit (Kant
Kr. d. r. Vernunft 837). Bewiesen zu haben, „daß der gute Mensch
zugleich glückselig ist44, darin hat Aristoteles die Leistung Piatons zu-
sammengefaßt. Sachlich ist diese metaphysische Uberzeugung dem
Denken Solons ebenso selbstverständlich wie dem der homerisch3n Ge-
dichte: oi>x ägera xaxä 1'qyct, nicht gedeihen schlechte Taten (Odyssee
XVIII 329); in dem Worte ägeräv ist der Ursinn dessen, was ägezt^
|-0 d. h. sittliche Tüchtigkeit, immer mit bedeutet, klar zu sehen: Gedeihen,
Bestanderhaltung dessen, was diese ägerfi betätigt hat und betätigt, aus
geistigen Kräften heraus.
III. DIE VORSOKRATISCHE METAPHYSIK.
1. THALES. ANAXIMANDER. ANAXIMENES.
Die Wichtigkeit dieser im ersten Abschnitt entwickelten Grundtat-
sachen des griechischen Weltdenkens und damit die Berechtigung ihrer
ausführlichen Darstellung erweist sich sofort, sobald wir nun zu den ersten
eigentlichen Philosophen, den Naturphilosophen Thaies, Anaximander
und Anaximenes übergehen.
W. Jaeger hat an der oben S. 9 zitierten Stelle eine wichtige Parallele
zwischen den beiden Zeitgenossen Solon und Anaximander gezogen.
10 Das vielbehandelte einzige im Wortlaut annähernd überlieferte Frag-
ment Anaximanders (Diels 2 A 9) faßt den Weltlauf als Buße und Strafe
auf, die auch die Dinge für ihre Ungerechtigkeit erleiden müssen.
ttQX^v 1V)V ovTiüv to äntioov ' i£ o>v de yhveaig «<m ToTg ovai. xai rtjy (p&ofjccv elg ravicc
yivi-c>>')cti xaid to %ostav ' ihdövav ydo ccvra dixt]v xai uaiv dkkrjkotg lijg ddixiag xaxd rtjv
rov xqovov -iv.'iiv. Anfang der Dinge ist das Unendliche. Woraus aber ihnen die Geburt
ist, dahin geht auch ihr Sterben nach der Notwendigkeit. Denn sie zahlen einander
Strafe und Buße für ihre Widerrechtlichkeit nach der Zeit Ordnung.
Nichts wäre falscher, als eine sentimentale Auffassung, einen Anthro-
popathismus hineinzulegen, indem man die ethischen entwickelten Vor-
;>2
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Stellungen von Schuld und Sühne hineinfühlt. Vielmehr liegt diesem
\ ergleich — dies Prinzip in dem oben angedeuteten Sinne gefaßt —
von vornherein diejenige Auffassung menschlicher sozialer und politischer
Verhältnisse zugrunde, die wir bei Solon antrafen: menschliches Tun
Steht unter einer objektiven, übergreifenden, auch das göttliche Walten
bestimmenden Gesetzmäßigkeit der Zeit, die alle Ungleichheit, jedes
Zuviel und Zuwenig ausgleicht. In diesem erfüllten Zeitbegriff gehen
Schicksal und Naturgesetz ineinander über. Dadurch wird ein Welt-
und Naturbegriff, der schlechtweg über allem, über dem Ganzen und
seinem zeitlichen Verlauf steht und alles Seiende gleichmäßig umspannt, 10
die Grundlage der griechischen Metaphysik, die Zug um Zug ins theore-
tische Bewußtsein hinübertritt.
Es wäre verfrüht, schon hier das Streben, die quantitativen Vorgänge als Prototyp
alles Ausgleichs aufzufassen, als bewußte Erkenntnistendenz anzusetzen — vorbereitet
ist es ohne Zweifel schon hier.
Die Stufe dieser Entwicklung, auf der die ionischen Philosophen
von Thaies bis Anaximenes stehen, ist nach dem Gesagten nun leicht
zu bestimmen. Bekanntlich haben sie alle eines der später sogenannten
vier Elemente als Wesenheit, yvcfic, oder wie die spätere Terminologie
sagte, als äQ%S , als „Anfang" oder „Prinzip" allem Sein zugrunde gelegt, 20
und man kann in diesen Thesen: alles ist — im Grunde — Wasser oder
Feuer oder Luft, besonders wenn man die mannigfachen naturwissen-
schaftlichen Entdeckungen dieser Männer entsprechend in Betracht
zieht, mit einem gewissen Recht den Übergang von einer mythischen
zu einer naturwissenschaftlichen Weltauffassung deutlich bezeichnet
sehen. Auf Grund der genauen Fassung der metaphysischen Voraus-
setzungen läßt sich bestimmter der Sinn jener Thesen angeben, die als
allgemeine naturwissenschaftliche Theorien sehr sonderbar anmuten.
Jenes Weltbild, in dem grundsätzlich die Grenze zwischen naturhaftem
und menschlich persönlichem Sein überbrückt ist, bleibt bestehen, aber 30
der Schwerpunkt rückt nach der Naturseite hinüber, der Blick des Den-
kers sucht Vorgänge einer einfachen Gesetzmäßigkeit, die sowohl mensch-
lich kulturelles wie naturhaftes Sein umfaßt, und findet sie in den Le-
bensvorgängen schlechthin. Denn dies ist das erste, was bei diesen
sogenannten Naturwissenschaftlern festgehalten werden muß: Lebens-
vorgänge, nicht etwa physikalische Tatsachen bestimmen ihr Weltbild,
und diese werden nach jenen, nicht umgekehrt, gemodelt:
Im Magneten ist eine Seele wirksam (Diels 1. Diog. I 24 nach Aristoteles). Wasser
trägt nach Thaies die Erde als schwimmende Scheibe, Wasser verdunstet und gefriert und
zeigt damit seine Wandlungsfähigkeit, Wasser ist eine Voraussetzung organischen Le- 4
bens, der Same ist feucht, aus dem alles Leben entsteht, im Wasser regt sich „unend-
liche Lebendigkeit", aus dem Nilschlamm entsteht vegetatives Leben (Thaies kannte
Ägypten), die Flüsse schwemmen an ihren Mündungen Land an usw. Schließlich wird der
Milesier auch die kulturelle Bedeutung des Meeres mit in seine plastisch-anschauliche
D
GRUNDZÜGE DER ARCHAISCHEN METAPHYSIK 33
Theorie aufgenommen haben, wie sie Goethe in der klassischen Walpurgisnacht intuitiv-
gezeichnet hat.
Daß entsprechende Motive bei der Theorie des Anaximenes mitge-
sprochen haben, der die Luft zum Prinzip alles lebendigen Seins erhob, be-
darf keines weiteren Wortes. Uber Heraklits scheinbar entgegengesetzte
Theorie, die das Prinzip der ^ärme und des Lichtes ausdrücklich als Feuer
einführte — Anaximenes begnügte sich, die Verdünnungsform der Luft
den cci&tfQ, als Feuer aufzufassen (Diels A 7, 3), — sei hier nur so viel
gesagt, daß sie natürlich sehr viel reicher an Motiven ist, aber mit einem
ihrer Grundzüge sich doch sehr gut an diese Milesier anschließen läßt.
Die Frage, warum keiner der Philosophen die Erde, die „Mutter Erde"
zum Prinzip erhoben hat, was Aristoteles met. A 8 989 a 5 ausdrücklich
feststellt, führt uns auf den zweiten Grundzug des gesamten Weltbildes
dieser Philosophen, der den ersten, den Blick auf das Lebendige, in
seiner ganzen Fülle näher bestimmt. Die Erde ist dasjenige Element,
das den anderen gegenüber für ein ursprüngliches Anschauen durch zwei
Züge charakterisiert ist, durch starre Beharrung und harte Geformtheit.
Offenbar geht aber die Spekulation dieser Philosophen auf ein entgegen-
gesetztes Prinzip hin: auf einen Träger dauernder Bewegung, auf ein
Lebendiges, das allem Geformten und Bestimmten zugrunde liegt und das
infolgedessen nicht bloß die relative Beharrung der festen, aber vergäng-
lichen Gegenstände haben darf. So stark ist sichtlich das metaphysische
Bewußtsein der Vergänglichkeit auch in diesen Philosophen — wie bei
den ionischen Dichtem des Epos — , daß sie zwar ein Gegenstück gegen
diesen Wechsel suchen, in dieses „Beharrende" aber die Bewegung als
Prinzip mit hineinnehmen wollen. Wasser und Luft und Feuer können
einem sich eben erst besinnenden Denken sehr gut als Inbegriffe und Ur-
sprünge, also als uQ%a( lebendiger Bewegung erscheinen, die die cpvaig, das
ewige Werden und Sich-Erzeugen der Wirklichkeit bedingen, zugleich
aber auch als das im letzten Sinne Bleibende, Erste und Letzte in einem,
in das alle die einzelnen Gestaltungen wieder zurückkehren. Zu wessen
Wesen die Veränderung, das Fließen und Werden gehört, das ruht zu-
gleich in diesem seinem So- Sein, es selbst ist dem entrückt, was es allen
andern verleiht: Bewegung, Unruhe, Zeitlichkeit, Entstehen und Ver-
gehen. Man unterschätze nicht die Antriebe, zu einem andern, tieferen
Seinsbegriffe zu streben, die in der archaischen Paradoxie einer so ge-
faßten u.oyri wirksam sind, aber man überschreite nicht die symbolische
Sphäre, in der ein solches Prinzip zugleich noch Gleichnis ist: so wie
Wasser und Luft sich in Wechsel und Bewegung darstellt, so wird analog
auch die letzte Wirklichkeit, das eigentliche Seiende gedacht.
Damit ist also das metaphysische Denken auf ein Ungestaltetes, aber
alle Gestaltung Bedingendes und Beginnendes gerichtet; in dieser Para-
doxie liegt ein nicht weiter zurückführbares philosophisches Problem,
dasselbe, das letzten Endes noch im Ideenbegriff Kants wirksam und
Handb. d. Phil. I. I) 3
34
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
treibend ist: was die Kausalitätsreihe „ermöglicht", ihr Zusammenhalt
und Bestimmtheit gibt, ist ein grundsätzlich Entgegengesetztes, Nicht-
Kausales; was alle Endlichkeit umgibt, ist etwas, dem die entgegenge-
setzten Eigenschaften zukommen wie dem Sein innerhalb dieser Endlich-
keit. Auf dieser Stufe der Philosophie bleibt aber das Denken bei dem
eben entdeckten Formlosen, Unbegrenzten stehen und sieht in ihm das
entscheidende „ursächliche, begründende Sein der äQ%ij. Es ist zunächst
höchst merkwürdig, daß die antike Überlieferung diejenige Fassung der
uoy i , die die relative Bestimmtheit der Luft, des Wassers radikal auf-
gibt und in der Richtung jener Spekulation zum „Unbegrenzten46 bzw.
„Unbestimmten", dem äjieiqov des Anaximander fortschreitet, nicht als
etwas wesentlich anderes den ä^ai des Thaies und Anaximenes ent-
gegengestellt, sondern ganz unzweideutig bei Anaximander nur die
schärfere Fassung desselben Motivs gesehen hat, das auch dort vorliegt.
Es wird auch ausdrücklich für Anaximenes überliefert (Diels A 10),
daß die Unbestimmtheit der Luft für ihn der Grund war, hier die äqyj]
zu sehen, und für Thaies ist hinsichtlich des Wassers dasselbe anzu-
nehmen. Darum darf der scheinbar so große Unterschied zwischen dem
„abstrakten" änei^ov des Anaximander und den andern äQ%aC nicht
so betont werden. Wenn Anaximander dasjenige, was an der Luft,
an dem Wasser, diese „Elemente" zum Urstoff befähigte, ausdrücklich
aussprach, so ist damit noch nicht gesagt, daß er sich dieses „äjtsiqov"
seinsmäßig anders dachte als jene bestimmten Symbole des äitsiQov.
Sondern seine Theorie lehrt nur, was bei den andern mitzudenken ist.
Wenn die einen das Allgemeine des Unbegrenzten am Konkreten
sich vorstellten, dieser in das Allgemeine noch die Seinsweise des bestimm-
teren „Urstoffes" hineinnahm, so treffen wir an dieser Repräsentation
des Allgemeinen im Besonderen zum ersten Male eine Denkweise an,
die als nie verlorene Grundlage oder doch als immer wieder neu betrach-
tetes Problem die griechische Metaphysik charakterisiert. Die Wider-
sprüche, die für unsere heutige Betrachtungsweise hier liegen, kommen
erst durch unsere Begriffe von Materie, vom Abstrakten, Konkreten,
Endlichen und Unendlichen hinein, besonders, wenn wir alle diese Be-
griffe mit der dogmatischen Sicherheit des „gesunden Menschenver-
standes" betrachten. Aber grade die genauere philosophische Analyse
und die Kenntnis der späteren griechischen Diskussion lehrt uns den
synthetischen Blick dieser alten Philosophen verstehen und die Wider-
sprüche in tieferer Einheit aufheben.
Bisher wurde das uneiqov als Gegensatz zu der qualitativen Be-
stimmtheit des Wassers, der Luft als das qualitativ Unbegrenzte und
Unbestimmte interpretiert. Tatsächlich ist mit dieser Bedeutung die
andere des „Unendlichen" als des alle Größe Übersteigenden eng genug
verknüpft. Zwar wurde auch die Luft, das Wasser als unendlicher
Grundstoff aufgefaßt, und ohne Zweifel war die anschauliche Unendlich-
D
GRUNDZÜGE DER ARCHAISCHEN METAPHYSIK 35
keit des Wassers im Meere, im Himmel, auf der Erde, und noch mehr die
Grenzenlosigkeit des Luftreiches für dieses archaische Denken der Aus-
gangspunkt, von dem aus es zu einer mehr begrifflichen Unendlichkeit
fortschritt. Das zeigt sehr schön eine Argumentation (Aristot. Phys. V
204 b 28), die vielleicht die spätere Schärfung eines sicherlich archaischen
Motivs ist : Wenn eine qualitativ bestimmte Wesenheit, wie Wasser oder
Luft, „unendlich44 wäre, und dieser Gedanke streng durchgedacht würde,
dann müßte sich dieses „Unendliche44 auf Kosten aller anderen Bestimmt-
heiten ausbreiten, also die Luft etwa Wasser, Feuer und Erde vernichten
und damit alle wechselnde Mannigfaltigkeit unmöglich machen. Also
müßte ein „Unendliches44 auch unbestimmt sein, und es stellt sich diese
doppelte Bedeutung des äjveoQov als ein Sachverhalt dar, zu dessen Er-
kenntnis vielerlei Erwägungen beigetragen haben können, in denen An-
schauliches und Begriffliches sich merkwürdig mischen. So entstand also
die Vorstellung einer qualitätsfreien unendlichen Grundsubstanz, deren
beide Bestimmungen der Eigenschaftslosigkeit und Unendlichkeit ein-
ander fördern. Wir sahen, daß das Unendliche eigenschaftslos sein muß.
Aber umgekehrt: wie soll dem, das eigenschaftslos existiert, eine Grenze
auferlegt sein ? Wie sollte diese aussehen ? Wir werden sehen, daß die
eleatische Philosophie genau an dieser Stelle zu neuen metaphysischen
Entdeckungen auf Grund eines bestimmten metaphysischen Weltdenkens
ausholt. Bei Anaximander und Anaximenes treffen wir zum ersten Male
den Gedanken, daß dieses ursprünglich Seiende die Seinsgrundlage her-
gebe zu einer unendlichen Anzahl von Welten hinter- und nebeneinander.
Jene ersten Unendlichkeitsphilosophen würden auf die Frage, ob sie
eine unendliche Reihe von zeitlich aufeinanderfolgenden Weltzuständen
oder eine Menge gleichzeitig nebeneinander existierender, vom Unend-
lichen umschlossener Welten gemeint haben, schwerlich eine genaue Ant-
wort gegeben haben. Die meisten Zeugnisse stellen das Nebeneinander
der Welten sicher — wird doch sogar von einem Abstand gesprochen.
Der Schritt von diesem kühnen Gedanken zu dem Gestaltwandel der
immer neu sich erzeugenden Welt liegt schon deshalb nahe, weil er ledig-
lich dasjenige Urphänomen, das innerhalb der Erfahrungswelt den An-
stoß zu der ganzen Physisspekulation gegeben hatte, den ewigen Ge-
staltwandel, auf die ganze Welt ausdehnt.
Entscheidend wichtig ist aber an dieser Stelle, daß das Unendliche
hier als eine metaphysische Realität vorgestellt wird, daß ein auf Er-
kenntnis der Welt gerichtetes Denken dem Unendlichen die Bedeutung
eines Prinzips, eines Weltgrundes gibt. Bei der eigenartigen Spannung,
die zwischen den Begriffen Welt und Unendlichkeit besteht, einer
Spannung, die die Triebfeder der griechischen Spekulation bleiben und
zu Versuchen der Überwindung und Bewältigung des Unendlichen
führen wird, ist die naive Bejahung des Unendlichen bei diesen Philoso-
phen sehr merkwürdig und genauerer Beachtung wert.
METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
Eine naturwissenschaftliche Betrachtung dieser Philosophen würde
ihnen kein metaphysisches Erlebnis des Unendlichen zuweisen, son-
dern eine mehr intellektuelle Feststellung etwa des Sinnes, daß die
Annahme einer unendlichen „Substanz" sich in gewissen Gedanken-
gängen als „denknotwendig" erweist. Eine solche Betrachtung muß
naturgemäß eine Angabe wie die von Thaies überlieferte, daß „alles
von Göttern erfüllt" sei, in ihrer Bedeutung herabsetzen oder sie ihm
mehr als „einem der sieben Weisen als als Gründer der milesischen Schule"
zuweisen (Burnet-Schenkl, S. 40, der sonst die archaischen Züge sehr
wohl berücksichtigt). Gewiß konnte jeder gläubige Hellene eine solche 10
Behauptung in dem ihm naheliegenden polytheistischen Sinne verstehen
(vgl. v. Wilamowitz, Antigonos von Karystos 275/6). Wollten wir diese
Ansicht, die uns grade von Thaies überliefert, aber sicher auch den andern
Milesiern gemäß ist, mit jener naturwissenschaftlichen Gesamtdeutung
der milesischen Philosophie vereinen, so müßten wir sie so interpretieren:
auf den Urstoff, der allem Wandel zugrunde liegt, wirken dauernde Form-
kräfte ein, die ihm Leben und Gestalt verleihen, und diese Kräfte sind
Götter. Die andere, richtigere Auffassung verlegt diese Kräfte der For-
mung in den unendlichen Urstoff selbst, der aus sich heraus alle die Ge-
stalten treibt und sie wieder in sich aufnimmt. Man hat diese Anschauung 20
mit dem Ausdruck „Hylozoismus" bezeichnen wollen; dadurch aber
wird das Mißverständnis, das leider jede analytische Beschreibung mit
späteren Begriffen hervorrufen kann, besonders nahe gelegt. Es sieht
so aus, als ob eine tote Materie nun von einer andern Kraft belebt würde,
während die Abstraktion einer solchen Materie noch gar nicht vollzogen
ist, sondern das Lebendige noch Grundkategorie alles Seins ist. Immer-
hin wird die Entformung, die den Urstoff zu einem aneiQov macht,
auch auf die in ihm wirkenden Kräfte ausgedehnt, und so werden die
Götter, von denen ja jenes Wort des Thaies wörtlich spricht, nur ein
Ausdruck für „das Göttliche" sein, von dem ja die Griechen nun zu 30
reden beginnen, die allgemeine einheitliche göttliche Kraft, deren ein-
zelne Manifestationen dem Auge als Wirkungen von besonderen Göttern
erscheinen, während die Erkenntnis eine tiefere Gesetzlichkeit in allem
sieht.
Auch hier wird es nach den in mannigfacher Brechung, in mittel-
baren Zitaten überlieferten Fragmenten dieser Philosophen nicht mög-
lich sein, die Entscheidung mit voller Sicherheit zu treffen. Eins aber kann
gesagt werden und ist wichtig genug: Die Tendenz zu jener pantheisti-
schen Entformung der einzelnen Götter, zur Gleichsetzung von Welt
und Gott (Anaximander, Diels, Vors. 2 A 15 = Ar. Phys. T4, 203 b 13) liegt 4(
ohne Zweifel vor und damit eine wesentliche Veränderung der meta-
physischen Grundhaltung. Es ist nicht unwichtig, daß Anaximander
als erster den Gedanken einer Entwicklung auch des Menschen aus nie-
deren Lebensformen zu denken gewagt hat (Diels A 10, vgl. Konrad
D
XENOPHANES VON KOLOPHON
37
Ziegler, Menschen- und Weltenwerden. Neue Jahrb. f. d. kl. Altert.
Lpzg., 1913 I 36).
Aber jene Tendenz zur Entformung nach der einen Richtung trägt
ein neues, höchst folgenreiches auf die Einheit alles Wirklichen gerichtetes
Formstreben in sich. Der stärkste Beweis hierfür ist die Philosophie
des Xenophanes, in der die Einheit der Welt und die Einheit des gött-
lichen Wesens unzweideutig ausgesprochen und dem polytheistischen
Weltbilde Homers entgegengesetzt wird.
2. XENOPHANES VON KOLOPHON.
So dürfen wir trotz chronologischer Bedenken, getragen von dem
iio sachlichen Zusammenhang, die Betrachtung des Xenophanes von Kolo-
phon an die der milesischen Philosophen anschließen; an ihm können
eine Reihe charakteristischer Züge des griechischen Denkens in beson-
derer Deutlichkeit aufgewiesen werden.
1. Zum ersten Male wendet sich das philosophische Denken ausdrück-
lich gegen die „Erzieher Griechenlands", gegen Homer und Hesiod, d. h.
gegen die Ganzheit des epischen Weltbildes. ,,Da alle Menschen nach
Homer gelernt haben" (fr. 10 Diels), so müssen seine religiösen An-
schauungen geprüft werden. Die Auseinandersetzung mit Homer bleibt
ein Motiv der griechischen Philosophie bis zu ihrem Ende. Xenophanes
to schlägt bereits das Motiv an, das für Piatons Dichterkritik entscheidend
ist: die homerischen und hesiodischen Götter handeln so unsittlich wie
die Menschen. Xenophanes geht bis zur radikalen Bekämpfung des poly-
theistischen Anthropomorphismus weiter. Es gibt keine Theogonie, denn
es ist Wahn, daß die Götter erzeugt würden, Kleider trügen und Stimme
und Gestalt hätten wie die Menschen; jeder Stamm bildet sich die
Götter nach dem eigenen körperlichen Ideal, und wenn die Tiere sich
Götter vorstellten, und sie bilden könnten, so würden sie sie als Stiere,
Pferde und Löwen darstellen; vielleicht denkt Xenophanes hier zugleich
an die tiergestaltigen Götter der Ägypter. Uber die Gottesvorstellung,
o die Xenophanes den Göttern der griechischen Religion entgegensetzt,
werden wir später reden, denn die folgenden Gesichtspunkte sind für
ihre Erfassung wesentlich.
2. Der zweite für alles griechische Philosophieren charakteristische
Zug ist ein produktiver Eklektizismus, oder um mit einem anderen
Schlagwort dasselbe anzudeuten, die synthetische Art des Gedanken-
aufbaus. Die griechischen Denker haben ein geringes Interesse daran,
ihre Lehren im Gegensatz zu anderen auszubilden, sie nehmen viel-
mehr weithin die Lehren der Früheren in ihren eigenen Gedankenbau
auf, oft ohne ganz streng die dadurch sich bildenden Widersprüche zu
0 vermeiden. Das schließt Polemik, ja Spott nicht aus, aber nach einem
allgemeinen griechischen Stilprinzip hindert diese laute Ablehnung ein-
zelner Züge durchaus nicht stillschweigendes Aufnehmen anderer Ge-
SS
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
danken desselben „Gegners". Die sehr unbefangene Anwendung dieses
— übrigens zu keiner Zeit ganz fehlenden — Stilprinzips ist einer der
Gründe für den plastischen Reichtum der griechischen Philosophie,
freilich auch für die Schwierigkeit der Interpretation. Natürlich ist die
unbefangene Aufgeschlossenheit den Lehren anderer gegenüber hier
ein besonderer Fall der oben beschriebenen Haltung des griechischen
Geistes, nichts Vergangenes verloren gehen zu lassen, sondern „das alte
Gute anzufassen" und zum Aufbau des eignen Seins kräftig zu verwerten.
3. Dieses synthetische Verarbeiten sogar einzelner widersprechender 10
Züge geht zusammen mit einer gleichsam dichterischen Hingabe des
Denkers an fremde Gedanken. Gerade in den Regionen, in denen das
archaische Denken sich bewegt, ist es vielfach unmöglich, sichere Ent-
scheidungen zu treffen, die der einen Seite eines Paralogismus oder einer
Antinomie den Vorzug geben. Wir werden sehen, wie früh, wenn auch
noch nicht bei Xenophanes, das griechische Denken sich bewußt, dialek-
tisch in Antinomien bewegt. Zunächst aber folgt der Dichterphilosoph je
nach seiner geistigen Lage, zu deren Kenntnis uns heute meist der Zu-
gang genommen ist, in solchen Fällen diesem oder jenem Vorgänger ; er er-
probt gleichsam die Denkbarkeit einer These, indem er sie aufgreift, ohne 20
zu einer letzten Rechenschaft befähigt oder überhaupt geneigt zu sein.
Daraus ergibt sich unmittelbar
4. eine früh auftretende Skepsis, ein sehr frühreifes Bewußtsein der
Grenzen der Erkenntnis, und damit die Bereitschaft, religiöse und dich-
terische Motive zur Uberbauung der Erkenntnis aufzunehmen. So greift
Xenophanes unbekümmert sowohl Lehren des Thaies und Anaximander
(HA 33, 5 Diels) wie populäre Vorstellungen von der Mutter Erde auf:
„Erde und Wasser ist alles, was da wird und wächst" (fr. 29 Diels). Aus
der Erde stammt alles und zur Erde geht wieder alles. Seine Kosmologie
ist höchst widerspruchsvoll, er scheint den Augenschein, der die Gestirne 30
untergehen läßt, durch eine merkwürdige Theorie vom Verlöschen und
Wiederaufflammen der Gestirne gestützt zu haben. Es scheint in der
Tat, daß Xenophanes bei allen seinen Aufstellungen in erster Linie
an seine Hauptabsicht denkt, irgendeinen der Volksgötter, sei es nun
Helios oder wer sonst, als vergänglich und ungöttlich zu erweisen —
„es gibt viele vergängliche Sonnen" — , und erst in zweiter Linie sich um
die Einheit und Widerspruchslosigkeit seines Weltbildes gekümmert hat.
Immerhin kann er als der erste Vertreter einer Einheit s lehre, als den
Piaton ihn nennt, angesprochen werden.
Damit kommen wir zu der Gottesvorstellung des Xenophanes. Sie
ist nach dem Wortlaut des Fragmentes 23 Diels einfach die Negation des
von ihm bekämpften homerischen Anthropomorphismus. fr. 23:
elg &€Ög ev T€ üeoXgi xcct äv&Q(*)7TOl(fl [liyiGlOQ,
ovti dfyag &vr\TolGiv Sfioüog oddi v6t][na,
ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der größte, weder an
D
XENOPHANES VON KOLOPHON
39
Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken. Fragm. 26 fügt noch
das Moment der Unbeweglichkeit hinzu:
aiei d'iv rairwi fiffivei xivotifisvoc odd£v,
Stets am selben Ort verharrt er sich nirgends bewegend, und es ziemt
ihm nicht bald hierhin bald dorthin zu wandern (fr. 26). Die positiven
Aussagen sind schwer zu interpretieren : Die Gottheit ist ganz Auge, ganz
Geist, ganz Ohr (fr. 24). Doch sonder Müh erschüttert er das All mit des
Geistes Denkkraft (fr. 25). Zunächst geht auch aus diesen Äußerungen
hervor, daß Xenophanes die einzelnen Götter nicht „geleugnet", sondern
nur über ihnen eine höchste, allgemeinste Gottheit angenommen hat.
Die Tendenz der Volksreligion, auch bei den Göttern durch Über- und
Unterordnung Einheit zu schaffen, geht hier weiter, aber auch dem
höchsten Gotte verbleiben die persönlich geistigen Züge, die das Lebendig-
Sein ausmachen. Einige allgemeine Erwägungen werden dies verdeutlichen.
Die Frage, ob Xenophanes Polytheist oder Monotheist war, ist falsch
gestellt; daß aus der polaren Ausdrucksweise (Burnet) nicht gefolgert
werden darf, daß er die Einzelgötter einfach neben seinen Allgott stellte,
ist ebenso klar wie daß er natürlich innerhalb des Alls einzelne Manife-
stationen göttlicher Kraft annahm. Eine ähnliche Weitherzigkeit haben
wir bereits bei Thaies angetroffen und werden sie später immer wieder
antreffen (vgl. auch hierzu die sehr belehrenden Äußerungen bei Burnet-
Schenkl 112).
Die oft rücksichtslose problemgeschichtliche Methode der alten Phi-
losophiegeschichte scheint schon zu Piatons Zeiten den Xenophanes zum
Pantheisten gemacht und seinen Gott der Welt gleichgesetzt zu haben.
Daß seine Lehre nach dieser Richtung ging, ist sicher, aber für die Wir-
kung, die Xenophanes auf seine Zeit ausgeübt hat, ist nicht die Imma-
nenz des Göttlichen in der Welt das eigentlich Neue, denn das sah der
Volksglaube im Grunde genau so, sondern die Einheit dieses Göttlichen.
Andrerseits ist die Einheit der göttlichen Welt für Xenophanes nicht nur
mit den oben angedeuteten polytheistischen Rudimenten, sondern auch
mit der „Unendlichkeit" der Welt verträglich; denn die Deutung des
Aristoteles (Met. A 5, 986 b 27), daß Xenophanes über die Endlichkeit
oder Unendlichkeit der Welt nichts klar ausgesagt habe, trifft sicher
mehr zu als die entgegengesetzte Ansicht Theophrasts, der wohl Xeno-
phanes an Parmenides angleicht und ihn die Welt wie diesen als be-
grenzt auffassen läßt. „Die Erde reicht ins änsigov hinab, die Luft
unermeßlich nach oben" fr. 28 — also das Unendliche der Welt wird
stark empfunden, auch hierin setzt Xenophanes die Anschauung der
Milesier geradlinig fort. Hinzu tritt nur die ausdrückliche Betonung
der Einheit des göttlichen Wesens, das nun „als Ganzes" hört, als
Ganzes sieht und denkt und Bewegungsquell ist, selbst ruhend.
10
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Die Frage, wie das lebendige Weltall selbst Lebewesen sei, hat die
griechische Philosophie bis ans Ende beschäftigt. Eine Urvorstellung der
.Menschheit, die Mensch und Welt als parallele Kosmoi auffaßt, die
Welt als ungeheures organisches Wesen, den Menschen als Abbild dieses
W csens, ist der griechischen Philosophie nie ganz verloren gegangen.
Hier tritt sie zum ersten Male befreit von mythologisch derber Primitivi-
tät als kosmologisches Problem uns aus den kümmerlichen Fetzen der
V erse desjenigen Philosophen entgegen, der den Kampf gegen den An-
thropomorphismus der einzelnen Götter so beredt zu führen wußte.
Der Himmel sieht, weil er uns sehen macht, die Luft läßt uns hören,
der Sinn der Welt läßt uns sie begreifen und erweckt in uns das Denken.
Aber dies alles ist Einwirkung von außen, nicht wir sind letzten Endes
aktiv, sondern ein höheres Etwas erzeugt auch unsere sinnlich geistigen
Fähigkeiten, und so müssen diese außer uns vorgestellt werden — das
ist ein Grundmotiv der griechischen Metaphysik. So wie wir in der Welt
und doch nicht „die Welt" sind, sondern ihr gegenüberstehen, indem sie
für uns Gegenstand wird, so steht auch jene andere Seh- und Hör- und
Denkkraft der Welt gegenüber, obwohl sie die Welt sein läßt, was sie ist
— diese metaphysische Grundeinstellung tritt genährt von den Motiven
der früheren Philosophen und vielleicht aus uns unbekannten religiösen
Reminiszenzen bei Xenophanes zum ersten Male ans Licht (vgl. auch
Warburg, Zwei Fragen zum Kratylos, Neue Philolog. Untersuchungen,
Heft 5, Weidmann 1929). Das rationale Rechenschaftsbedürfnis, das fragt:
ist die Welt dem göttlichen Wesen „gleich", ist sie dasselbe, ist bei ihm
noch schwach entwickelt — Paradoxien des Unendlichen kümmern ihn
nicht. Aber der Zweifel an der gleichmäßigen Geltung aller der Meinun-
gen über Götter und Welt, der eigenen und fremden, tritt leise hervor,
fr. 34 Diels :
xal To jüiv of)v Gayec, o^tlc äv^Q yiveT o\)6i Tic e'öTai
eidwc äfjifpl Itswv T€ xal äaaa X£yw neql tt&vtwv.
ei yäq xal tcc ^laXidTa Tti%ot T£TeXe(f[i£vov eiti&v,
cxütös b'ficog otix olöe ' ööxog ö^lnl näöi t€tvxtcci.
„Und das Genaue nun hat nie ein Mensch erblickt, so wie es auch nie
einen geben wird, der es kennt hinsichtlich der Götter und sämtlicher
Dinge, die ich irgend (in diesem Werke) behaupte, denn selbst wenn
es jemandem vor allen andern (durchaus) gelingen sollte, das wirklich
Vorhandene auszusprechen, so hat er doch kein Wissen, sondern über
alles ist Schein gebreitet"1). Sicher liegt in diesem Fragment eine begin-
nende Reflexion über verschiedene Grade der Wahrheit und Sicherheit
der Erkenntnis: vom Scheine ist die Rede, der über alles gebreitet ist.
Diese Haltung ist sicher keine allgemeine Skepsis, wie die antike Problem-
Ich schließe mich bis auf die zu bewußt empirische Deutung des „Wissens'*
Herrn. Frankel, Hermes 1925, 189 an.
D
PYTHAGOREISMUS
41
geschichte (Sotion, vgl. Pauly-Wissowa-Krolls Realenzyklopädie XIII
1237), sie später faßte, sondern sie erfolgte natürlich aus jenem Auf-
greifen verschiedener, in einer Hinsicht einleuchtender Ansichten, aus
jenem „produktiven Eklektizismus" des Xenophanes. Produktiv bleibt
er auch an dieser Stelle.
Xenophanes' Hauptgedanke von der göttlichen All-Einheit beruht
auf einer unangreifbaren metaphysischen Grundhaltung. Aber an diesem
einfachen Setzen eines unbeweisbaren und des Beweises nicht bedürftigen
„wahreren", besseren, dem eigenen Lebensgefühl gemäßeren Seins tritt
hier das neue Motiv heraus, daß dieses Sein auch richtiger gewußt und
bewiesen werden müßte, und das Bewußtsein, daß dies zur Zeit jedenfalls
nicht möglich sei. Zur Metaphysik tritt ein Anfang der Erkenntnis-
theorie.
Aber aus der metaphysischen Haltung des Xenophanes konnte ein
weiterer Schritt kaum erfolgen, so wenig wie aus der Lehre der Milesier.
Die Antriebe zu einer geschärften Logik, zu einem stärkeren Heraustreten
begrifflicher Züge in diesem synthetischen Welterfassen, das Fühlen,
Anschauen und Denken noch als eine Kraft betätigte, kommen von
einer andern Seite her. Es schien notwendig zu sein, daß die Klärung
eines so erfüllten archaischen Weltdenkens zunächst aus derjenigen
Wissenschaft entsprang, die in sich selbst Anschauung und Denken
vereinigt, von der Mathematik. Genauer: innerhalb dieses synthetischen
Denkens entwickeln sich Züge, die nach mannigfachen Krisen und
Wandlungen schließlich zu dem führten, was wir heute Mathematik
nennen.
3. PYTHAGOREISMUS.
Ursprünglich war das, was uns im älteren Pythagoreismus von Zügen
der oben charakterisierten Richtung faßbar wird, eine naiv metaphysische
Denkweise. In einer seiner Elegien berichtet Xenophanes, wie Pythago-
ras im kläglichen Winseln eines gemißhandelten Hündchens die Stimme
eines Freundes wiedererkannte und um dessen Schonung gebeten haben
soll. Ob Xenophanes die Pythagoreer verspotten will oder ob er lediglich
eine merkwürdige Ansicht berichtet, ist kaum zu entscheiden. Jedenfalls
enthält das älteste Zeugnis über Pythagoras einen Hinweis auf eine
metaphysische Theorie, die Seelenwanderung. Diese Theorie be-
gleitet die griechische Metaphysik sehr lange; sie ist in ihrer Herkunft
und ihrer Wirkung auf das metaphysische Denken nun zu analysieren,
ehe wir die mathematische Seite des Pythagoreismus unter denselben
Gesichtspunkten, nach Herkunft und Wirkung, erörtern.
Die Voraussetzung der Seelenwanderungslehre ist die Wiederbelebung
religiöser Antriebe im 7. und 6. Jahrhundert, und zwar älterer Trieb-
kräfte, die vor der im homerischen Epos erreichten Entwicklungsstufe
liegen und in diese als Rudimente hineinklingen.
42
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Die Furcht vor der Macht der abgeschiedenen Seele, die damit als ein
mächtigeres Wesen vorgestellt wird, ist die Grundanschauung dieser
animistischen Religiosität; ihre Form ist im alten Epos Seelen- und
Totenkult : Menschenopfer am Grabe des Patroklos, Totenopfer des
Odysseus, alles der stärkste Gegensatz zu der sonstigen homerischen
Auffassung der Seelen als flatternder kraftloser Schatten und Abbilder
des Leibes. Die neue religiöse Welle hebt die alten Vorstellungen, daß
die Seele ein mächtiges Dasein nach dem Tode habe, wieder stark empor,
gibt dieser Tatsache aber eine ganz neue, der erreichten geistigen Stufe
angemessene Bedeutung. Während früher der Gläubige kaum an die
in einem lebendigen Leibe wohnende Seele dachte, sondern ihm nur
angesichts des „Toten" die Tatsache des Abscheidens der Seele bewußt
wurde, wendet sich nun die Reflexion zum eigenen Ich zurück und richtet
sich auf die Seele, die dem lebendigen Leibe innewohnt. Aus dieser Auf-
fassung des eigenen Daseins als Seele werden dann theoretische und prak-
tische Folgerungen gezogen.
Allerdings wird dieser Gedanke noch nicht bis zu denjenigen Konse-
quenzen entfaltet, die bei der eben angedeuteten Beziehung zwischen Ich
und Seele naheliegen: das Ich wird in der Seele noch nicht gesucht,
sondern das selbstbewußte Ich bleibt im Hintergrunde und wird auch
in dieser Phase noch einmal zurückgedrängt, das Licht des reflexiven
Selbstbewußtseins noch einmal abgeblendet: die Einzigkeit des Ich, das
Charakteristische aller modernen Subjektivität, wird nicht empfunden,
sondern es wird der Seele eine Beziehung zu vielen Ichzuständen zuge-
wiesen, d. h. also die Seele wandert von Ichzustand zu Ichzustand, oder
was dasselbe ist, von Leib zu Leib; denn die Einsicht, daß zum Ich der
Leib gehört, war dem philosophischen Instinkt der Griechen immer selbst-
verständlich.
Die Seelenwanderungslehre kann der Ausdruck mannigfaltiger meta-
physischer Tendenzen sein, wobei zunächst dahingestellt bleibe, ob diese
Tendenzen sie herausbilden helfen oder ob ein metaphysisches Grund-
erlebnis sich der Seelenwanderungsvorstellung als eines Ausdrucks-
mittels bedient. Erstens ist sie ein Versuch, das Selbstbewußtsein zu
objektivieren, etwas über das dem Denken zugrunde liegende meta-
physische Sein auszusagen, ohne sich auf das Ich reflexiv zurückzu-
wenden.
Das bedeutet zweitens faktisch eine Entformung des Ichs, wenn man
dessen bewußt reflexive individuelle, uns gemäße Form zum Maßstabe
nimmt. Auch hier schreitet das theoretische Denken von dem indivi-
duellen einzelnen Ich sofort zu einer Allgemeinvorstellung weiter. Wie
das objektive Seiende der ionischen Naturphilosophen das bestimmte
Einzelne zu überschreiten, „unendlich" und unbestimmt zu werden
strebte, so wird auch nach der subjektiven Seite die letzte Gegebenheit
alles Daseins, das Ich, seiner Individualität entkleidet und als eine
D
PYTHA GOREISMUS
43
Kraft aufgefaßt, die in allen möglichen Formen sich lebendig darstellen
kann und doch im Grunde etwas anderes ist als dieses oder jenes ein-
zelne Ich.
Drittens kann dieses Hinauswollen über das einzelne Ich der Ausdruck
sein für tiefe Unzufriedenheit mit dem jeweiligen Zustande, ein sich
Hinwünschen in einen anderen besseren Zustand als den der einzelnen
leiblichen ichhaften Existenz. Aber dieses Streben zum Transzendenten
ist — etwa verglichen mit einem späteren Dualismus — wieder gemil-
dert, indem die vollständige Loslösung der Seele vom Leiblichen nur
10 unter besonderen Umständen und höchstens nach mehreren Einkörpe-
rungen erfolgen kann. Denn es gehört zum Wesen der Seele, sich um alles
Unbeseelte zu kümmern (Piaton Phaidros 246b); m. a.W. die Seele bleibt
die äqyi] a^es Lebendigen.
Aus diesem gemilderten Dualismus ergeben sich für die metaphysische
Spekulation eine Reihe von Fragen. Wie ist das Sein der das Leibliche
transzendierenden Seele ? Was tut sie ? Welche Bedeutung hat ihr Ver-
halten in diesem Zustande für ihr leibliches Sein und umgekehrt dieses
für jenes ? Was für Forderungen an den Menschen ergeben sich daraus ?
Diese Andeutungen sollten zeigen, inwiefern die Lehre von der Seelen-
to Wanderung durchaus der bestimmten geistigen Form jener Zeit entspricht,
und so die an sich befremdliche Tatsache erklären, daß die griechische
Metaphysik sehr zähe an dieser Lehre eines gemilderten Dualismus
festgehalten hat.
Über die Quellen jener neuen Bewegung sei hier nur so viel bemerkt, daß sie im
Mutterlande und nicht in Ionien zu liegen scheinen. Die „thrakische" Dionysosreligion,
die Lehren um Orpheus haben sehr wesentlich zur Verbreitung dieser Vorstellungen von
einem erhöhten göttlichen Sein der Seele beigetragen, indem der Tod als Befreiung aus
der Haft der. Körpers und der ekstatische Rauschzustand als eine Vorwegnahme dieser
Erlösung angesehen wurde. Diese religiöse Haltung reicht wahrscheinlich in die vor-
30 griechische Zeit zurück und nimmt nun neue Formen an; schon Hesiod, der von diesen
„orphischen" Vorstellungen noch frei ist, hat eine gegenüber der ionischen eher diesen
späteren mutterländischen Formen verwandte Religiosität. Jedenfalls tritt zu dem
homerischen Denken und dem der ionischen Naturphilosophen etwas Neues hinzu;
wahrscheinlich sind diese letzteren nicht unberührt davon. Aber die endgültige und
schöpferische Aufnahme dieser religiösen Ideen vollzog sich bei den Pythagoreern und
den auf sie folgenden Philosophen. Pythagoras wandert aus Samos aus, geht wie Xeno-
phanes nach dem Westen; Unteritalien wird nun eine Zeitlang der Herd philosophischer
Spekulationen. Wie weit hinter den orphischen Vorstellungen Orientalisches sich ver-
birgt, ist zurzeit nicht zu entscheiden. Vgl. Reitzenstein, Vortrag Warburg, 1924/25.
40 Die Analyse des für das Griechische Charakteristischen in dem hier versuchten Sinne
als reine Deskription der Motive muß zunächst unabhängig von solchen Überlegungen
durchgeführt werden. Vgl. Rohdes Psyche, Burnet, Zeller.
Naturgemäß entwickelte sich dieser neue Seelen- und Unsterblich-
keitsgedanke erst allmählich zu eigentlich metaphysischen Spekulationen
und blieb zuerst in rein kultischen Formen, denen z. T. sicher primitive
Vorstellungen von der Verwandtschaft aller Lebewesen — daher kein
Fleischgenuß — und ebensolche vom Dasein der Seele im Jenseits ent-
44
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
sprachen. Die Pythagoreer legten großen Wert auf Riten, Speisegesetze,
und die Sublimierung aller dieser Dinge vollzog sich mehr im praktischen
als theoretischen Bereiche.
Lebensführung des Einzelnen, richtige Ordnung des Staates sind die-
jenigen Züge, die in der Uberlieferung am Pythagoreismus hervortreten.
Aber unmittelbar aus der Lebenspraxis der alten Pythagoreer erwuchs
ein neues Motiv, das uns endlich zu den Anfängen der ionischen Wissen-
schaft, zur taroQi'ij, zurückführt.
So dunkel die Uberlieferung ist, so undurchdringlich der problemge-
schichtliche Nebel scheint, den die Sucht der griechischen Tradition,
alles Wahre auf die wissenschaftlichen Ahnen zurückzuführen und diese
nach dem eigenen Bilde zu modeln, über die Anfänge des Pythagoreismus
gebreitet hat, eins ist sicher : in den Riten, mit denen die Pythagoreer die
Reinigung der Seele vorgenommen haben, spielt die Musik eine Rolle,
und Pythagoras hat von der Musik einen Zugang zur Mathematik an-
gebahnt. Dieser Typus des Philosophierens scheint in allem durch, was
sich früher oder später als pythagoreisch kundgibt. Hier ist nun ein be-
stimmtes Urphänomen der griechischen Metaphysik herauszuarbeiten.
Wie auf allen griechischen Lebensgebieten vollziehen sich auch hier die
Entwicklungen fließend und leise. Nichts verdirbt mehr die Einsicht in
das Wesentliche, als wenn man dem geschichtlichen Bewußtsein der
Griechen zuwider plötzliche schlagartig auftretende Entdeckungen an-
setzt, auf die ein Einzelner Anspruch erhebt und auf deren Neuheit er
Wert legt. Im Gegenteil, alles Wichtige und Wesentliche wird durch
sein Alter, durch sein längst bestehendes Dasein legitimiert. Wir haben
diese Stellung zum Sein schon früher hervorgehoben und dürfen sie nicht
vergessen, wenn wir nun in eine Epoche eintreten, in der eine dichte
Reihe für unsern Blick erstaunlicher Entdeckungen auf allen Gebieten
des Wissens uns entgegentritt.
Alle Geschehnisse der Welt nach einem bestimmten Gesetze geordnet
vorzustellen ist uraltes griechisches Streben, das in dem Denken der
Milesier bereits wissenschaftliche Form anzunehmen begann. Die Er-
scheinungen des Himmels, nicht nur den regelmäßigen Zyklus von Sonne,
Mond und Sternen, sondern auch scheinbare Ausnahmen wie Sonnen-
finsternisse auf ihre Regelmäßigkeit zu prüfen, war eine wesentliche
Seite dieses Bestrebens, und wenn Thaies babylonische Beobachtungen
verwertete, so konnte er die Bestätigung einer Ordnung auch dort sehen,
wo der Unerfahrene den sichtbarsten Ausdruck übernatürlicher Willkür
annahm. Daß mathematische Überlegungen gelegentlich bei den Mi-
lesiern angestellt wurden, wird sicher bezeugt; man kannte mathemati-
sche Probleme, man erfuhr genug von Babyloniern und Ägyptern —
kann man doch nach den neuesten Forschungen (O. Neugebauer, Nachr.
d. Gött. G. d. W. Math. Phys. Klasse 1928, p. 4) „an der Möglichkeit
eines babylonischen Ursprungs des pythagoreischen Lehrsatzes nicht mehr
D
PYTHA GOREISMUS
45
vorübergehen". Daß im geregelten Tanz und Gesang zahlenmäßig
festlegbare Maße, Metra, die Richtigkeit und Ordnung eines mit
vielen Gemüts- und Gefühlswerten erfüllten Tuns bezeichneten, muß in
Griechenland früh bemerkt worden sein; ob der dorische Stamm hierin
stärker als andere das Gemessene empfand, ist nicht beweisbar, obwohl
nicht unwahrscheinlich. Früh treten für geregeltes Leben und Denken
und für geregelte Kunstbetätigung dieselben Wortwurzeln auf: (iizXoq
mit allen Ableitungen, i/ipekijs bei Aristophanes, TtXijfiiisfo'jc Sophokles,
[i£tqov, -loq Hesiod, Tragiker, av^fiezQog Tragiker, qv&iii6<; Archilochos).
Alles dies wird aber unterbaut und zusammengefaßt von dem Grund-
phänomen der Harmonik und Akustik: der Zahlenmäßigkeit, d. h. des
zahlenmäßig einfachen Verhältnisses konsonanter Saitenlängen, überhaupt
der zahlenmäßig faßbaren Ordnung der Töne im Gegensatz zur Unbe-
stimmbarkeit der Geräusche. Gerade die Homophonie der griechischen
Musik, in der nicht der gleichzeitige Zusammenklang, sondern das ge-
ordnete Weitergehen der Melodie das Grundphänomen ist, schuf die
Möglichkeit, die harmonische Bewegung als Typus eines gerichteten
Geschehens überhaupt aufzufassen, ein Sachverhalt, der bei der moder-
nen Auffassung des Zusammenklangs verdunkelt wird. Diese Zurück-
führung der qualitativen Empfindung des harmonischen Intervall-
schrittes auf die quantitativen Verhältnisse der Saitenlängen war da-
her für das unbewußt „rationale" Bestreben der beginnenden Natur-
wissenschaft ein methodisches Muster und eröffnete unbegrenzte Aus-
blicke auf weitere Bewältigung der Wirklichkeit durch analoge quanti-
tierende Gesetze. Und was für die griechische Phase der abendländischen
Naturwissenschaft nicht vergessen sei: das Eingebettetsein dieses Phä-
nomens in die Ordnungen des Gesanges und Tanzes und damit des ästhe-
tisch Erziehlichen erweitert den Bereich rationaler Gestaltung unmittel-
bar auf das ganze tätig-sittliche Leben, das ja — wir sahen es bei Solon
und Anaximander — für die Griechen von vornherein unter eine gleiche
alles umfassende Gesetzlichkeit gestellt war.
Indem hier der bereits erwachte intellektuelle Instinkt auf rationale
Bewältigung des Daseins von dem Gang der Gestirne an über das ge-
fühlte Lustvolle in Tönen und Rhythmen bis zum geordneten Leben über-
haupt sich weithin bestätigt und zu größter Kraftanspannung berech-
tigt und verpflichtet fühlte, kräftigte und reinigte sich zugleich eine be-
sondere Erscheinungsform dieses Instinktes, die ihn — allerdings nur
für unser heutiges Urteil — vom Wege der nüchternen Rationalität ab-
zudrängen scheint. Wir sahen, daß von den homerischen Gedichten
an dieser Instinkt sich der Gleichnisse, der Vergleiche, der Analogien
bediente, um den Blick auf Sachverhalte zu lenken, die sich auf andere
Weise kaum erfassen oder gar mitteilen ließen. Eine scharfsinnige
Analyse der Anfänge griechischer Zahlenspekulation (Helmut Hasse
und Heinrich Scholz, Die Grundlagenkrisis der griechischen Mathematik,
4t;
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Kant Studien Bd. XXXIII 1928) hat das pythagoreische Urphänomen
auf die Form gebracht: alles, was sich wie Zahl verhält, ist Zahl. Wir
fügen hinzu: deshalb konnten die Pythagoreer — ob schon Pythagoras,
bleibe dahingestellt — sagen: alles ist Zahl, weil ihnen jenes gleichnis-
hat 'te Denken im Blute lag; zeigt doch auch die griechische Sprache in
ftioioq die Bedeutungen „ähnlich" und „gleich" verbunden. Sie durften
es mit demselben Rechte sagen, mit dem der Mathematiker heut zwischen
dem Verhältnis zweier kommensurabler Strecken und dessen zahlen-
mäßigem Ausdruck das Gleichheitszeichen setzt.
Die Seinsansicht, die hinter solchem Denken steht, ist metaphysisch
von größter Tragweite. Das Verstehbare im Sein, seinen Sinn als das
Eigentliche in ihm aufzufassen, diese Urabsicht aller Onto-logie tritt
hier mit archaischer Einfachheit ans Licht. Wie weit die Kraft solcher
Anschauungen bereits in der Zeit, von der wir sprechen, aus der allge-
meineren metaphysischen Sphäre, in der die Zahl zum Seinsgrund
schlechthin erhoben worden war, in den Bereich exakt mathematischer
Erkenntnis geleitet wurde, wird hoffentlich die zukünftige Forschung
immer deutlicher beurteilen lehren. Die oben genannte Abhandlung
hat in der Darstellung Zenons geschichtliche Aporien aufgewiesen, deren
einfachste Lösung die Annahme recht weit zurückreichender zahlen-
metaphysischer Spekulationen wäre, gegen die Zenon sich polemisch
richtet.
Die Beziehung von Zenon auf die Pythagoreer ist bereits ausgesprochen bei Tannery,
Pour l'histoire de la science Hellene, 249 ff.; Bäumker, Das Problem d. Materie i. d. gr.
Philosophie, 60 ff. ; Cassirer, Philos. d. Gr., 46. Diese Annahme, die der Errechnung
eines unentdeckten Planeten auf Grund seiner Fernwirkungen auf die Bahn anderer
vergleichbar ist, steht vorläufig zu der Meinung eines Teiles der Mathematiker, Historiker
und Philologen in Widerspruch, die alles Pythagoreische am liebsten bis ins 4. Jahr-
hundert herabrücken möchten.
4. PARMENIDES VON ELEA.
Mit Zenons Erwähnung übergingen wir denjenigen Philosophen, auf
dessen Werk das Zenonische sich unmittelbar bezieht, und das, wenn
jene Annahme der Polemik gegen die Pythagoreer richtig ist, notwendig
selbst mit dieser Polemik in Beziehung stehen muß. Da die eleatische
Philosophie die erste Etappe auf dem Wege griechischer Ontologie ist
und uns außerdem viel sicherer als alles Pythagoreische überliefert ist,
so können wir erst von ihr aus zusammenfassend auf den Pythagoreismus
und die in ihm beschlossene Metaphysik zurückblicken.
Die Kontinuität, die wir an dem griechischen Philosophieren wahr-
nehmen, zeigt sich dem Betrachter einmal als überraschendes Vorgreifen
älterer Philosophen in die Zukunft : alles Neue ist längst vorbereitet und
verstärkt nur diesen oder jenen Zug, der früher noch nicht so deutlich
war. Zweitens zeigt sich die Kontinuität in der Hartnäckigkeit, mit der
sich Gedankenbildungen, die die Entwicklung scheinbar bereits überholt
D
PARMENIDES VON ELEA
47
hat, neben dem Neuen behaupten, ohne daß etwa der Weiterbestand einer
Schultradition als Erklärungsgrund hinreichte. Wir werden gut tun,
den Typus der milesischen Naturphilosophen und das über die Grund-
form des Pythagoreismus Gesagte bei der Betrachtung des Eleatismus
immer festzuhalten, desto mehr, je größer der Formunterschied ist.
Parmenides ist der erste Philosoph, der für sein Lehrwerk jt€qI yvGewc, die
alte epische Form des Hexameters aufgreift — Xenophanes ist ja Dichter
und Rhapsode, und ob er ein ausdrückliches Lehrgedicht geschrieben
hat, ist zweifelhaft. Und doch ist dasjenige philosophische Motiv, das
10 nach allgemeinem Eindruck bei Parmenides zum ersten Male in reiner
Form zum Ausdruck kommt, die Logik.
Keiner hat dies stärker ausgesprochen als der um das Verständnis des Parmenides
hochverdiente C. Reinhardt, Parmenides 256: „Parmenides, der keinen Wunsch kennt
als Erkenntnis, keine Fessel fühlt als seine Logik, den Gott und Gefühl gleichgültig
lassen." Über die Ausgleichsversuche, die auch in dem in hoher dichterischer Sprache ge-
schriebenen Proömium eher „verstandesmäßige Konstruktion als dichterisches Erlebnis"
(übrigens ein für die Antike nicht eindeutiger Begriff) sehen wollen, vgl. Kranz, Sitz.ber.
d. Pr. Ak. d. Wiss. 1916, 1162, und die allgemeine Literatur. Zum Hauptproblem der
Interpretation, dem Zusammenhang der zwei Teile des Gedichtes, vgl. Reinhardt 1. c.
20 und die Darstellungen bei Zeller, Burnet, Cassirer und Praechter. Die folgende Betrach-
tung beschränkt sich darauf, die metaphysische Grundhaltung herauszuarbeiten und
muß auf jede Einzelauseinandersetzung verzichten; vorbereitet ist diese Darstellung
Antike I 244—71.
Im letzten Grunde beruhen beide Tendenzen, die zur „Logik41 und
die zur dichterischen Gestaltung, auf dem Bedürfnis, den Trieb zur
Entformung, den wir als tiefere verborgene Richtung in der ionischen
Denkweise angetroffen haben, in letzter Steigerung sich selbst über-
winden zu lassen. Nun hatte der Pythagoreismus — wenn er die ihm
oben zugeschriebene Leistung bereits in seinem ersten Stadium zu hin-
50 länglicher Klarheit entwickelt hatte — bereits in der Zahl als weltbeherr-
schender äo%/], in dem Logos, der Proportion und Symmetria ein neues
Formprinzip gefunden, das wie alles Mathematische stärkste logische
Motive in sich schloß. Man müßte daher annehmen, daß Parmenides
an die Pythagoreer anknüpfte, selbst wenn es nicht ausdrücklich über-
liefert wäre: tatsächlich erscheint Parmenides als Schüler des Pytha-
goreers Ameinias in der unverächtlichen Tradition des Sotion (vgl.
Pauly-Wiss.-Kroll III A 1237).
Diese Tradition darf desto mehr Beachtung beanspruchen, weil die spätere antike
und die neuere Philosophiegeschichte sachlich mit diesem Zusammenhange nicht viel
0 anzufangen wußte und die Abhängigkeit des Parmenides von den Pythagoreern auf die
Lebensauffassung (Zeller) und die Kosmologie des zweiten Teiles seines Gedichtes be-
schränkt, wo der Zusammenhang unleugbar ist (Burnet), während ihr der Zusammen-
hang zwischen dem tv des Parmenides und dem Gotte des Xenophanes auf der Hand
zu liegen schien. Deshalb wird die Auffassung des Sotion kaum nachträglich kon-
struiert sein, wie so vieles über die Abhängigkeitsverhältnisse der alten Philosophen. Im
folgenden soll der Zusammenhang der eleatischen mit der pythagoreischen Ontologie
ernst genommen werden.
IS METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
Zwei metaphysische Motive müssen nun im Hinblick auf die Ontologie
des einen zusammenhängenden Seins des Parmenides hervorgehoben
werden. Wer der Zahl eine besondere metaphysische Realität zuweist
und auch nur den ersten Blick auf das Wesen der Zahl gerichtet hat,
inu (3 bemerken, daß er damit die Wirklichkeit in eine Anzahl — endliche
oder unendliche, das bleibe dahingestellt — diskreter Teile auflöst, die
nunmehr dem Gesetz der Zahl als der Gesetzmäßigkeit des Diskreten
unterworfen werden können. Mögen die Pythagoreer ursprünglich den ge-
stirnten Himmel, auf dem die leuchtenden Lichter durch das leere
Dunkel des Himmels, des „Dunstes" der Luft getrennt werden, als 10
Sinnbild (in der vollen Bedeutung des Bildes für einen gemeinten Sinn)
von Peras und Apeiron, von Grenze und Unbegrenztsein, angesehen
haben, bei der ersten Reflexion über das Wesen der Zahl muß als das
Gemeinsame an Sinn und Bild die Tatsache der diskreten Menge, der
Mannigfaltigkeit, der Reihe, in das philosophische Denken eingetreten
sein. Es wäre leicht, für diese arithmetische Bewußtheit aus späteren
Zeugnissen Belege anzuführen — aber worauf es bei dem Stande der
Forschung, bei der weitgehenden Skepsis den alten Pythagoreern gegen-
über einzig und allein ankommt, das ist die polemische Haltung der
eleatischen Kontinuumslehre, die schlechterdings unverständlich ist,
wenn sie nicht irgendwo einen Zielpunkt hat: Parmenides Fragment 2:
Denn er wird ja das Seiende nicht aus dem Zusammenhange des 20
Seienden schneiden, weder so, daß es sich in seinem Gefüge überall
gänzlich auflockere, noch so, daß es sich zusammenballe. B 8, 22 bis 25:
ovde öiaiQsröv iaviv, enel nav eavvv öfiolov
oi>ö£ ti %£iq6t€Qov, näv fft'iinXtöv eanv eövrog,
t&i %vvs%k<; Ttäv Igtiv ' ebv yäq 16vtv 7ieXaL,ei.
„Auch teilbar ist es nicht, weil es ganz gleichartig ist. Und es gibt
nirgend ein stärkeres Sein, das seinen Zusammenhang hindern könnte,
noch ein geringeres; es ist vielmehr ganz von Seiendem erfüllt. Darum 30
ist es ganz zusammenhängend; denn ein Seiendes stößt dicht an das
andere." Wer wie Parmenides von vornherein den Weg der Wahrheit
von einem entgegengesetzten Irrweg abhebt, der meint an diesen Stellen :
es gibt Leute, die das Seiende durch Zwischenräume aufgelockert denken,
die es für teilbar halten und ihm seinen Kontinuumscharakter nehmen.
Und wenn man selbst die Nachricht des Favorinus bezweifeln sollte, daß
Parmenides die Schluß- und Denkweise seines Schülers Zenon bereits
selbst gehabt und den Achilleus-Trugschluß als Problem aufgeworfen
habe, es ist doch nun einmal der unmittelbare Schüler den Paradoxien
der unendlichen Teilung eines Kontinuums so sichtlich auf der Spur, 40
daß man sich schwer entschließen wird, zwischen den Gedanken des
Schülers und des Meisters eine große Kluft anzunehmen.
D
PARMENIDES VON ELEA
49
Reinhardt p. 108 bezeichnet gut die Problemlage. Er findet „fast wie zufällig44
bei Parmenides den Begriff des o^oiov und des &muqst6v. „Welche dialektischen Kräfte
in diesem Begriffe schlummern, ist so wenig noch erkannt, daß er zu weiter nichts
als einer rein intuitiven Begründung der Unteilbarkeit verwandt wird.'4 Die
von mir gesperrten Worte bezeichnen scharf die dnooia. Ich glaube, das Paradoxon
einer intuitiven Begründung, zu dem R. sich genötigt sieht, empfiehlt eine
andere Auflösung der Aporie.
Ist demnach der allgemeine Hintergrund einer „pluralistischen", ino-
nadologischen Metaphysik, auf die sich Parmenides polemisch bezieht,
zutage getreten, so wäre es voreilig, dieser „Monadologie" eine bewußt
theoretische Ausbildung zuzusprechen. Vielmehr wird man sich die An-
fänge der pythagoreischen Metaphysik recht naiv denken können. So
könnte man eine sonst sehr merkwürdige Notiz bei Aristoteles de anima
A 2 404 a 16 (Biels 45 B 40), daß die Pythagoreer die tanzenden Sonnen-
stäubchen bzw. die sie bewegenden Kräfte für Seelen hielten, auf eine
naive Monadologie beziehen. Wie im Sonnenstrahle sich das für den
groben Blick Leere erfüllt und gegliedert zeigt von einer Reihe unfaßbar
kleiner, sich selbst bewegender Teilchen, so mag man sich analog dazu
auch in anderen Seinsregionen eine ähnliche Struktur ausgemalt haben:
kleinste Teile, getrennt durch Zwischenräume. Daß die Pythagoreer
diese luftigen und leuchtenden Teile als Seelen ansahen, ist ein philoso-
phiegeschichtlich höchst merkwürdiges Zeugnis dafür, daß die physischen
und die psychischen „Monaden44 schon bei der ersten Entstehung dieser
Denkform nicht durch eine scharfe Grenze getrennt erschienen.
Je unbefangener wir für diese unbekannten Vorläufer des Atomismus
eine panpsychistische, mythisch verpuppte Denkform annehmen, desto
berechtigter erscheint uns der mit gewaltigem Denkerpathos unter-
nommene Gegenstoß des Parmenides. Man hat seinen Grundgedanken:
das Seiende ist, tautologisch-trivial gefunden, oder mit kritizistisch-
idealistischen Verbrämungen ihn zu retten versucht. Man hat infolge-
dessen durch falsches Fragen widerspruchsvolle Antworten erhalten
und ihn so entweder als den Vater des Idealismus (Cohen) oder des
Materialismus (Burnet) begrüßt. Aber auf dem Hintergrunde des pythago-
reischen Pluralismus ist Ansatz und Durchführung dieses Vorstoßes klar.
Daß der Bimsstein, der Schwamm, zwischen seinen Teilen Leeres enthält,
weiß Parmenides; daß analog die Dichtigkeit aller sinnlich wahrnehm-
baren Dinge nur relativ ist, also Verdichtung und Verdünnung — Ge-
frieren und Verdunsten des Flüssigen — sehr wohl kosmologisch frucht-
bare Hypothesen sind, auch diese Einsicht wird man Parmenides gut
zutrauen dürfen. Daß aber auch jenes Leere nur relativ ist, daß ein
grundsätzlich zusammenhängendes Etwas, der Raum oder wie sonst dies
Etwas gedacht sei, allem Seienden zugrunde liegt, das will Parmenides
beweisen, und zwar neu beweisen. Diese Beweisart ist das eigentlich
Neue, das mit Parmenides in ein helleres philosophisches Bewußtsein
tritt, nicht die Annahme eines qualitätslosen, allem Qualitativen zu-
Handb. d. Phil. I. D i
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
gründe liegenden Urstoffes — den hatte schon Anaximander in seinem
änetQOV begriffen.
Doch wie ist dieses neue Beweisverfahren, diese neue Logik zu charak-
terisieren? Zunächst erscheint die Widerlegung des Nichtseienden ein-
fach in dieser Form : Nichtseiendes kann nicht sein, weil es nicht gedacht
werden kann. Es kann nicht gedacht werden, weil jedes Denken sich
auf etwas richtet; „Denken und Sein ist dasselbe61 (Fragm. 5), oder nach
Burnets möglicher Ubersetzung: es ist dasselbe, was gedacht werden
kann und was sein kann. Für unsern Zweck kommt beides auf dasselbe
heraus und wird bestätigt durch Fragment 8, 34: Dasselbe ist Denken io
und um wessen willen der Gedanke ist, Gedanke und des Gedankens
Ziel (Intention) ist dasselbe. Man gebe diesem Satze nicht sofort eine
allzu modern erkenntnis-theoretische Deutung. Auf dem Hintergrunde
der bekämpften Lehre soll dies einfach besagen : Denke dir immer Feine-
res zwischen den Teilen der Dinge — du kommst an kein Ende; auch
das, was du Leeres nennst, ist ein Etwas, dem du dadurch ein Sein zu-
weist, indem du es „zwischen" anderem „sein" läßt. Gewiß nichts
„Sichtbares", Wahrnehmbares dazwischen, sondern ein Denkbares; aber
dieses „nur Denkbare" wird nun ein letztes Sein, es wird die doxy, die
von allen gesucht, aber immer nur in der Sinnenwelt vermutet wurde; 20
diese letzte äqyjl *st gerade dadurch &oyJ\ und dadurch erwiesen, daß sie
lediglich das Etwas ist, das in jedem Gedanken notwendig gesetzt ist.
Nach einem ehernen Gesetze der Logik haftet damit für Parmenides
dieses Seiende am Denken, es gehört zu ihm, und gegenständlich, wie
auch dieser erste scheinbar ins Formale hinausweisende griechische
Denker bleibt, wird für ihn nun „Denken" einfach das Wesen dieses letz-
ten äqyJi -haften Seins. Wir müssen bei Parmenides die Identifikation
von Sein und Denken, von Seiendem und letztem intentionalem Etwas
ganz ernst nehmen.
Was ist über dieses letzte Sein nun noch auszusagen ? Parmenides 30
hatte in dem bisher Entwickelten den Gedanken des Apeiron im Sinne
des qualitativ Unbestimmten zu höherer Klarheit weitergedacht; aber
er konnte dies nur, indem er aufs strengste von diesem Apeiron das
andere schied, das quantitativ Unbegrenzte ; wie bekannt der eleatischen
Schule dieser milesische Begriff des Apeiron war, zeigt die frappierende
Tatsache, daß der Samier Melissos, obwohl Eleate, ihn unbedenklich
in seiner ganzen Bedeutung wiedereinsetzte und mit dem Eleatismus
verschmolz. Parmenides hingegen holt aus dem Begriff dieses allgemein-
sten „gleichmäßig" Seienden, wie wir es bisher schilderten, nun seine
quantitative Endlichkeit heraus, und so steht seine äo%i) grundsätzlich 40
über dem Gegensatz von Peras und Apeiron — der der Sache nach zu
dem ältesten Bestände des Pythagoreismus gehört.
Das Seiende ist nicht teilbar, es ist aber auch nicht zusammenzu-
setzen; man kann nicht, wenn man sich ans „Ende der Welt" versetzt
D
PARMENIDES VON ELEA
51
denkt, neue Welten hinzufügen. Parmenides entdeckt den Einheits- und
Ganzheitscharakter der „Welt", genauer des Seins (fragm. 8, 26 — 34).
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Eötiv ävaq%ov änavarov Ittel yiveöig xai oXe&gog
TrjXe iiäUt tnX&i&riaav , äjt&ae d£ ixiGTig äXq&rjg.
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Zeile 42 : ai)TctQ inst iTElqag ttv/ucctov teteXeG[i£vov iöTC
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li£<sa6&Ev taojraXeg tx&vtiii ' to yäg oVte tv fiel^ov
oi)T€ ti ßaiÖT€oov neXivai xgsov itti Tfji r] tt\i.
o$t€ yäg ov T€ov £(Jti, tö xev Tcuvoi fiiv Ixvela&ai
dg öfiöv, ovt ibv I'gtiv üttmq el'rj xev iövTog
tt\i fiäXXov ttJi d'fjaaov, inel näv ioTiv äavXov '
ol yäg TtävTo&ev laov, öfi&g iv neigatii xvgei.
Jedes anschauende Hinausgehen über die Grenze zeigt, daß diese
„Grenze" noch nicht Grenze ist; was wirklich Grenze, Peras, ist, kann
nicht „zwischen" zwei andern Dingen sein, sondern muß ein für allemal
ein Ende setzen; der Wahn, hinter der Grenze sei immer wieder Nicht-
Seiendes, setzt einen unvollendbaren Prozeß (odx ävvGTÖv) voraus;
diese Vorstellung eines unendlichen Fortganges entspringt aber nur dem
anschaulichen Moment im Denken; folglich muß der Gedanke selbst
die Grenze sein, das Denken der Welt muß sich selbst beschränken und
die Grenze fordern; wie das letzte Sein im qualitativen Sinne schließ-
lich ein Apeiron ohne anschauliche Bestimmtheit, pures „Etwas", also
„Gedanke" wurde, so wird auch hier das letzte quantitative Etwas,
das alles Seiende umschließt, geforderter Gedanke (vgl. hierzu Antike
I, 244).
Zum ersten Male entfaltet sich hier das Urproblem der Erkenntnis,
der Zusammenstoß oder das Zusammenwirken von Denken und anschau-
lichem Vorstellen. Ganz unverhüllt drängt sich ein anschaulicher Zug
grade in die vom Verstände geforderte Idee der die Welt umschließen-
den Grenze, des Peras. Wir sahen, daß Parmenides auf die Fülle, die
Dichtigkeit seines gedanklich postulierten Seins entscheidenden Wert legt.
Nun gehört zu dieser Vorstellung notwendig, für Parmenides gedanklich
zwingend, auf dem X6yio xglvai fr. 1, 36 beruhend, ein Etwas, das ein Aus-
einandertreten, ein Zerfließen oder Zerfallen dieses Dichten verhütet,
eine gestaltende Grenze (vgl. Piaton Menon 75 e die Beziehung von
itXtvTi), rtigag, %<S%ctrov und oytj/iu). Diese Grenze ist „der Kugelfläche
vergleichbar", weil schlechterdings nicht einzusehen ist, warum das
Di*
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Seiende weiter nach irgendeiner Richtung als nach einer andern reichen,
warum es irgendeine Unregelmäßigkeit der Form haben sollte, das
Seiende, das in seiner Substanz gleichmäßig ist, keine Verdichtung und
Verdünnung kennt (fr. 8, 45—49). So erwächst die mathematische Ge-
staltung aus logischen Erwägungen und nimmt zugleich eine dynamische
Kraft, die des Zusammenhaltes, in sich auf — eine für die spätere Meta-
physik des Geist- und iVusbegriffes höchst folgenreiche Trias.
Wie in dem pythagoreischen „Gleichnis" der Zahlen eine mathe-
matisierende Auffassung des „Logos" das Bildhafte bereits in einer
tieferen, erkenntnistheoretischen Schicht überwand, so ist auch in den 10
eleatischen Seinsbegriff die Ähnlichkeit mit der Kugelgestalt (eüxvxlov
(Ufuio^z h'etXi'yy.ioc oyxco 8; 43) mit aufgenommen: schon bei der Ein-
führung des Seinsbegriffes wird ja von der „Wahrheit wohlgeründetem
Herzen" gesprochen (1, 29). Angesichts der konkreten geschichtlichen
Situation dieses Denkens versagen die gewöhnlichen Termini, mit denen
man seinen erkenntnistheoretischen und metaphysischen Gehalt zu er-
fassen gesucht hat. Gewiß ist das Seiende des Parmenides die Fortführung
des äoyjj- Gedankens und insofern auch „Materie", Substanz der physi-
schen Realität. Aber im Apeiron des Anaximander war diese Materiali-
tät bereits wesentlich modifiziert; freilich blieb dort die ausdrückliche 20
Bestimmung dieser neuen äoyr\ durchaus negativ; denn damit, daß das
Apeiron von aller sinnlichen Bestimmung frei gedacht wurde, war die
Einsicht noch nicht gegeben oder jedenfalls noch nicht klar ausgedrückt,
daß das Gedachtwerden selbst das konstitutive Prinzip der zugrunde
liegenden letzten aQ%7j des eigentlich Seienden wird. Dieser große Schritt
wird von Parmenides mit archaischer Gewaltsamkeit bewußt getan:
„Sein", im Sinne letzter Gegebenheit, und Denken wird als „dasselbe"
angesprochen, und diese neue einzigartige Bestimmtheit des Seins wird
als Peras dem Apeiron aufgezwungen.
Es kann sehr wohl die Frage gestellt werden, und um die metaphysi- 30
sehe Haltung des Parmenides geschichtlich scharf zu erfassen, muß sie
sogar ausdrücklich gestellt werden, ob in dieser Gleichung zwischen
Sein und Denken — unsere Begriffe vorausgesetzt — das erstere mehr
dem zweiten oder dieses jenem angeglichen ist, ob Parmenides dem ge-
genständlichen Etwas der Welt, ihrem Wirklichkeitskern, wie er ihn
objektiv fühlte und dachte, das Wesen des „Denkens" gegeben hat —
es bleibt hier im Ausdruck bei ihm so vieles dunkel — oder ob das Denken,
das voelvx für ihn die primäre Gegebenheit war, von der aus er einen
völlig neuen Seinsbegriff konstituierte. Diese Frage stellen heißt eine
einfache Entscheidung für diese oder jene Antwort als unmöglich be- 40
greifen. Vielmehr ist der bestimmende Zug des parmenideischen Seienden
jener Doppelcharakter: die naiv-mythische Vorstellung der Beseeltheit
der Welt, und zwar des Weltleibes (wie vielleicht besser als Körper
oder Materie gesagt sei) wandelt sich zu der Annahme, daß dem letzten
D
PARMENIDES VON ELEA
53
und umfassenden Seienden eine Affinität zum Denken, zur Denkbarkeit
und Denknotwendigkeit wesensmäßig anhaftet.
Demnach darf der Eleatismus ebensowenig als „Materialismus" (mit Burnet) wie
umgekehrt als „Idealismus" bezeichnet werden, man müßte denn diesen Begriff bereits
auf einen dem Eleatismus in seinem systematischen Sinn angenäherten Realismus
gründen, eine Synthese, die auch in neuerer Zeit wiederholt versucht worden ist. Denn
in der Tat ist der klassische Eleatismus des Parmenides die erste großartige Überwin-
dung des Gegensatzes von Inhalt und Form, von Objekt und Subjekt — eine Über-
windung, die freilich noch diesseits derjenigen Zuspitzung beider Gegensatzpaare liegt,
10 die die geistesgeschichtliche Grundlage und die stete Gefahr der neueren Philosophie
bildet. Für Parmenides war so wenig wie für irgendeinen seiner Vorgänger das Subjektiv-
Geistige und Seelische bereits eine Macht, die für sich gedacht und die infolgedessen
erst dem Gegenständlichen gegenübergestellt werden mußte, sondern „Denken und des
Gedankens Ziel ist dasselbe". Dies so auszusprechen wie es Parmenides tat, setzt freilich
eine gewisse Bewußtheit voraus, ein Verlassen des unmittelbar gegenständlichen
Denkens, aber noch wird in diesem Übergange die Einheit mit rücksichtsloser Denk-
energie behauptet. Denken wird auf Wirklichkeit und Wirklichkeit auf Denken fest
gegründet und im Geist, dem Nus, die letzte einheitliche, alles umspannende Wirklich-
keit und Fülle begriffen. So ist die Lehre des Parmenides ein Wendepunkt, ein Übergang,
20 der Früheres und Späteres übergreifend verbindet.
Die Starrheit und Unbeweglichkeit dieses Seienden, die „Leerheit44
dieses Inbegriffs des „Vollen44, in der der Ganzheitsbegriff sich zunächst
darstellt, erfordert die Erwägung, wie der den ersten sichtlich ergänzende
zweite, der Doxateil des Gedichtes, der der bunten Mannigfaltigkeit der
sinnlichen Wirklichkeit zugewandt ist, eigentlich gemeint sei.
Parmenides hat in der Rede seiner Göttin (fr. 1, 26 — 32) beide Wege geschildert:
„Für dich ist es notwendig alles zu erfahren, sowohl der Wahrheit wohlgeründetes
Herz als auch die Scheinmeinungen der Sterblichen, denen verläßliche Wahrheit nicht
innewohnt. Aber du wirst auch das erfahren, wie der Schein verläßlich werden sollte,
30 indem er durch alles hindurchdrang." Auch hier sind die messt herangezogenen Vorstel-
lungen zu grob und dem synthetischen Charakter des Überganges nicht gewachsen.
Dieser Übergangscharakter darf zunächst nicht so verstanden werden, daß Parmenides
im zweiten Teil die Meinungen der früheren Philosophen doxographisch als Ausdruck
gewöhnlicher menschlicher Anschauungen berichtet und diese fremden Meinungen als
falsch der eigenen richtigen Meinung gegenüberstellt. Ein quasi historisches Interesse,
den Wunsch, frühere Meinungen aufzubewahren, dürfte man diesem Denker wohl kaum
zuschreiben. Andrerseits darf man nicht einfach sagen: der erste Teil ist dem Denken der
Gottheit entsprechend, der zweite ist die Form, in der auch Parmenides als sterblicher
Mensch in dieser zeitlichen Welt diese sehen mußte, von der ersten Art der Betrach-
40 tung als Mensch ausgeschlossen. Es ist für die metaphysische Haltung des Parmenides
charakteristisch, daß er seine neue Erkenntnis des Logisch-Zwingenden, der begriff-
lichen Urdyxq in einer ekstatischen Form ausspricht; die Hinwendung zum geistigen
Sein der Wirklichkeit ist als Austritt aus der sinnlichen Welt und als Überschreiten der
sinnlichen Erkenntnis in die Form der Inspiration, der Berufung durch eine Gottheit
gekleidet. Zwar ist auch in der Art, in der dieses religiöse und wohl bereits vor Parmeni-
des angewandte literarische Motiv im Proömium ausgeführt wird, der oben bezeichnete
Peras charakter des in dieser Berufung dem Denker sich erschließenden Seins deutlich
festgehalten: eine Umfahrt der Welt auf den Pfaden des Himmels entspricht dem ge-
danklich begrifflichen Umgreifen des Weltganzen, als das sich uns das voeTv des Parmeni-
j>0 des darstellte. Eine derartige ekstatische Erkenntnishaltung schließt notwendig eine
Abwertung der ihr gegenüberstehenden „normalen" Erkenntnishaltung, der natürlichen
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Einstellung in sich. Gegenüber der in göttlicher Berufung sich erschließenden Erkenntnis
des Kinen, Seienden sind die Meinungen der Sterblichen über das Viele trügerisch; denn
sie beziehen sich auf ewig wechselnde, in Gegensätzen befindliche und damit vergäng-
liche Dinge. Es ist daher natürlich, daß die Reflexion über die etwa in diesem Wechsel
wieder auftretenden und erkennbaren Gesetzmäßigkeiten zunächst zurücktritt gegen-
über der klaren Abhebung beider Seinsregionen und der ihnen zugeordneten Erkenntnis-
regionen gegeneinander, daß die Welt der mannigfachen Wirklichkeit „eingeklammert"
wird gegenüber dem im Denken erfaßten Sein.
Dennoch fehlt die Einsicht, daß auch im Gebiete der sinnlichen Erscheinung Er-
kennt nismöglichkeiten bestehen, bei Parmenides durchaus nicht, und es ist wohl das 10
größte Verdienst Reinhardts, grade auf diesen bereits hier wirksamen echt griechischen
Glauben an die Überbrückbarkeit der beiden Reiche und damit auf den Zusammenhang
der beiden Teile des Gedichtes nachdrücklich hingewiesen zu haben, gegenüber einer
vereinfachten Ausdeutung, die auf der Seite der Doxa „Trug", Wahn oder gar Nichtsein
annahm.
Wenn Parmenides auch das von ihm neugefundene Denkprinzip allen
früheren Erklärungen gegenübergestellt hat, so konnte und wollte er
sich doch nicht losmachen von den kosmologischen Erklärungen der
früheren, besonders der pythagoreischen Denker, und wir hatten schon
oben auf die allgemeine Rezeptivität der griechischen Philosophen als 20
den Grund des Reichtums der Entwicklung hingewiesen; auch der dem
Einen zugewandte Denker sucht die in den früheren Leistungen enthal-
tene Wahrheit festzuhalten und einzubauen. Dieser „Einbau" in das Eine
ist zunächst ganz wortwörtlich zu verstehen: da das „Eine" die Grenze,
das Peras aller Wirklichkeit ist, ist diese in ihm „enthalten", und das
„dichte", „volle" Sein, das in diesem „Einen" eingeschlossen ist, ist
ja die äg%7j auch alles dessen, was in diesem Ganzen geschieht, sich ver-
ändert, entsteht, vergeht.
Damit kommt das zweite Motiv zur Geltung, das zur Uberbrückung
der beiden Reiche bzw. der beiden Gedichtsteile anzusetzen ist: das 30
starre, feste, allem zugrunde liegende Sein erhält seinen Sinn erst durch
die Gegenüberstellung eines in ihm, durch es hindurch sich Entwickeln-
den. Man kann nach manchen Wendungen des Gedichtes wohl annehmen,
daß der Hauptinhalt des zweiten Teiles eine Kosmogonie, die Welt-
entstehung war (besonders fr. 10, 5. 6. fr. 11, 19; weniger deutlich 1, 32,
wo elpai, nicht yCyvea&cu steht). Dann läge bei Parmenides bereits eine
Vorform des spezifisch griechischen Weltschöpfungsgedankens zugrunde,
den wir später in Piatons Timaios ausführlicher behandelt sehen, ein
Schöpfungsgedanke, in dem das „Im Werden Sein" als theoretisches
Problem durchaus das des eigentlich zeitlichen Anstoßes überwiegt. Dem 4
wesensmäßig im Werden Verhaftetsein, für das Parmenides (fr. 8, 60)
wie Piaton den Ausdruck der „Scheinbaren Welt" hat, des eoixwc
didxotifiog, stellt er das im „Jetzt" stehende Sein ausdrücklich gegenüber
(8, 5). Nirgends ist der Geistcharakter des nie vergangenen und nie
zukünftigen und doch Vergangenheit und Zukunft in sich tragenden
Seins stärker zum Ausdruck gebracht als hier.
D
P ARM EN IDES VON ELEA
55
Wir werden später sehen, wie Piaton, auf den Eleatismus zurück-
greifend, diesen Zeitbegriff entfaltet; der eleatische Grundgedanke ist
der dankbarste Vorwurf für eine Darstellung des Formwandels eines
philosophischen Motivs, das sich in mannigfaltigen Ausdrucksformen
identisch erhält. Die Ausdrucksform des Gleichnishaften, das Sinnbild
— ich erinnere an die Proportion, den Logos bei den Pythagoreern —
hat auch Parmenides durchaus noch nicht überwunden. In welchem
Sinne das Bild der Kugel mehr ist als ein Gleichnis, haben wir gesehen.
Die Verleiblichung jenes ursprünglich abstrakten Seins geht nun in dem
2. Teile des Gedichtes — das hat Reinhardt erkannt — weiter; Licht
und Finsternis werden zum Ausdruck des Seins und Nichtseins, ohne
etwa mit ihnen gleich gesetzt zu werden: es sind zwei „Formen", auf
die die Sterblichen alles gebracht haben.
Die Schilderung der Verse fr. 8, 53 ff. zeigt den oben angedeuteten Ausgangs-
punkt der pythagoreischen Peras- und ^peironlehre ganz deutlich: den von „Zeichen'*,
cr^ara, geteilten „begrenzten * Nachthimmel.
Das Licht als Ausdruck des entfalteten, belebten, erfüllten, erlebten
und gegenständlichen Raumes wird in der griechischen Metaphysik
bis Plotin festgehalten. Parmenides erkennt das sichtbare Sinnbild des
Seins, den gestirnten Himmel, als unzulänglich; denn auch zwischen den
leuchtenden Sternen ist der Weltenratim nicht „leer", sondern das gei-
stige Auge „sieht" auch ihn erfüllt, auch das für das sinnliche Auge
dunkle erhellt sich dem Blick des Verstandes, und „so hätten die Sterb-
lichen diese zweite Form des Dunkels nicht benennen", d. h. als seiend
auffassen sollen. Denn dies ist der letzte Grund, weshalb Parmenides
auf die symbolische Darstellung des Seienden durch Licht und Kugel
geraten mußte: er hatte als erster den metaphysischen Zusammenhang
begriffen, in den die Sprache als Ausdrucksmittel des Seienden gehört:
Freilich hatte er die in der Sprache liegende metaphysische Paradoxie
noch nicht bewältigt.
Diese Paradoxie liegt zuerst in der Zufälligkeit des einzelnen Ausdrucks
gegenüber der Notwendigkeit derjenigen geistigen Grundkraft, aus der
jede wirkliche Sinngebung entspringt und auf die sie zurückweist. Par-
menides sieht die Zufälligkeit der verschiedenen dv6(uara, die die Men-
schen als Namensstempel den einzelnen Dingen aufgedrückt haben,
sehr deutlich im Gegensatz zu der Notwendigkeit, die er seinem Begriff
des Seienden durchaus geben will. Aber ihm ist die metaphysische Be-
wegung eines Geistes, den das Seiende mit dem Sinn, der in ihm liegt,
anspricht, und der diesem Ansprechen antwortet, aufgegangen. Fr. 8,
36: Deshalb muß alles bloßer Name sein, was die Sterblichen festgelegt
haben, überzeugt, es sei wahr.
Hier ist der theoretisch höchste Punkt erreicht, zu dem das meta-
physische Bewußtsein damals fortschritt ; es ist in der Tat nur ein Schritt
bis zu dem Logos des Heraklit, der „sich selbst sucht", wenn er den
56 METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
Sinn der Welt finden will. Zwar hat erst 700 Jahre später die griechische
Philosophie das Ich (rdv tyth, Plotin) als philosophisches Prinzip bezeich-
ne t ; aber in der Leistung des Parmenides konnte die gesamte spätere
Philosophie den Umkreis und das Ganze der Metaphysik durchmessen
st lien und immer wieder in dieses in aller Paradoxie reine und weite
Gefäß den mannigfaltigsten Inhalt ergießen.
Die letzten Ausführungen haben die beiden Aufgaben, die die Philosophie des Par-
inenides den Nachfolgern überließ, deutlich bezeichnet: Einmal die rationale Bewälti-
gung des in dein Ganzen enthaltenen, ihm gegenüberstehenden Einzelnen. Das bedeutet
anders gewendet die Fortführung der im Pythagoreismus gegebenen monadologischen
und atomistischen Ansätze zu bewußter Theorie durch den Begriffsapparat der eleati-
schen Seinslehre. Deshalb soll die Linie von Parmenides' Nachfolgern Melissos — Zenon
zu Leukippos — Demokritos später im Zusammenhang verfolgt werden.
5. HERAKLIT.
Der zweite Punkt, an dem die eleatische Philosophie über sich hinaus-
wies, ist durch die Verbindung mit Heraklit oben bereits bezeichnet
worden; durch diesen Denker erfährt die subjektive Seite des eleatischen
Seins- und Geistbegriffs eine wesentliche Verstärkung und damit der
Gesamtcharakter der bisherigen Metaphysik eine grundlegende Ver-
änderung.
Diese Veränderung geht das Ganze des Gedankenzusammenhanges an, nicht die 20
einzelnen Gedankenmotive. In ihnen bestätigt sich vielmehr die strenge Kontinuität
der Gedanken, wie sie überall sich gezeigt hatte, und zwar in einem Maße, das die sichere
Entscheidung bestimmter Beziehungen des Heraklit zu anderen Philosophen sehr
erschwert. Polemisch genannt wird fr. 40 Hesiod, Pythagoras, Xenophanes, Hekatäus;
als weisester der Griechen wird Homer gerühmt. Immerhin halte ich die Beziehung des
Heraklit auf Parmenides — nicht umgekehrt — für gesichert (Reinhardt 1. c, bes. 200 ff.)
In Einzelheiten finden wir bei ihm wahllose Benutzung früherer Motive, z. B. A 1, 57 :
9 : narrt* nkijorj #etth>; die des Anaximander als Hüterin kosmischer Ordnung, noch
verstärkt durch die Erinyen fr. 94: Denn die Sonne wird ihre Maße nicht überschreiten;
sonst werden die Erinyen, der Dike Schergen, sie ausfindig machen, (rjfoog yuQ ov% 30
l7lEQßrjGf:Tt'.l [XbTQCC (I Ö~S /LH], 'EoiVVEg fXIV JlXTjg iniXOVQOl, &-EVQT1GOVGIV.)
Alles tritt zurück gegenüber der Bedeutung des parmenideischen
Eleatismus. Heraklit hält den Grundgedanken der Einheitslehre durch-
aus fest (B 10 am Schluß: xal ix irärrcov £p aal ivög ndvia). Er greift
aber das damit neu gestellte Problem der Vielheit mit radikaler Kraft
auf: für ihn ist das sv die Gesamtheit aller Dinge; deren Existenz ist
auch für ihn abgeleitet, sekundär gegenüber dem Einen, aber das Eine
ist ebenso wesensmäßig auf die ihm gegenüberstehende Vielheit ange-
wiesen, es ist das Ganze, das notwendig Teile braucht, es ist die Einheit
des Mannigfaltigen. Diese Funktion der Einheit erscheint bei Heraklit 40
zunächst scheinbar eingeschränkt, in der Tat ist sie aber intensiviert als
Einheit desjenigen Mannigfaltigen, das sich — scheinbar — der Einheit
am stärksten entzieht, ihr wesensmäßig zu widerstreben scheint, der
Einheit des Gegensätzlichen. Wenn Heraklit die Einheit der Ge-
D
HERAKLIT
57
gensätze nachweist, glaubt er die umfassende — eleatische — Wahrheit
mitbewiesen zu haben, daß „alles eins" ist.
Hier wirkt in Heraklit sich einfach die alte (*QX*1 Bedeutung aus: alles ist das eine
Wasser, Luft usw., die ja bei ihm in der These: alles ist Feuer unmittelbar nachklingt,
und zweitens wohl die pythagoreische Gegensatzlehre, deren Tafel Heraklit einfach
aufgreift.
Damit ist aber in dem komplexen Begriff des eleatischen eV eine
wichtige Umlagerung des Akzentes eingetreten. Das logische Motiv, ge-
wiß in der eleatischen Deduktion unverkennbar, befreit sich aus der
engen Verbindung mit dem mathematisch-quantitativen Anschaulichen.
Die logische Einsicht, daß Gegensätze einander zugeordnet sind, ver-
bundener sind als disparate Begriffe, ist ein Gesetz qualitativer Bedeu-
tungen. Der Bedeutungscharakter des §V, die von einem Bewußtsein
gemeinte Einheit, die als mit sich identisch in den verschiedenen Fällen
wiedererkannt, auf Mannigfaltiges angewandt werden kann, treibt aus
diesem gV notwendig zwei Seiten stärker hervor, das xoivov als das im
Verschiedenen Gemeinsame — bei Parmenides war koivov das Räumlich-
Anschaulich-Zusammenhängende ! — und schließlich dasjenige, worin
der eleatische Begriff des ev übergeht, den Logos. Reinhardt 219 betont,
daß Logos „nicht Weltgesetz noch Weltvernunft noch überhaupt gött-
liches Prinzip" ist, sondern „die Denknotwendigkeit, das logische Ge-
setz, die philosophische Einstellung", wie bei Parmenides vom loyco
xglvcci die Rede war. Im Zuge der hier gegebenen Entwicklung wird der
richtige Kern dieser zunächst modernisierenden These klar. Die subjektive
Seite des Einheitsdenkens tritt bei Heraklit viel stärker hervor — ohne
freilich die Beziehung auf das „Kosmische" zu verlieren. Philosophisch
gesehen liegt die Bedeutung dieser Denker ja gerade in der zunehmenden
Erkenntnis, daß dem Denken eine objektive Ordnung der Wirklichkeit
korrespondiert, daß die Frage des Subjekts und die Antwort der Welt,
oder ebenso richtig : die Frage, die das Wesen der Wirklichkeit dem Den-
ken aufgibt, und die Antwort, die Rede, der Logos, den das Denken
der Frage entgegenstellt, zusammenstimmen.
Wem die Einheit des Seins zum Einheits denken geworden, die par-
menideische Grundsynthese von Sein und Denken sich mit dem Heraus-
treiben des Einheits begriff es verdichtet hat, der muß notwendig die
Seele als Trägerin dieses Denkens, als philosophisches Problem erfassen.
Heraklit erkennt ihren „tiefen Sinn", ßaftvv Xoyov, fr. 45. Er betont
dessen „Unermeßlichkeit"; der Gedanke des Apeiron, dessen „TttQara
man nicht finden kann", wird hier zum Erlebnis des inneren Sinnes.
Mit einem Schlage werden eine Reihe von Problemen sichtbar, die in den
früheren Phasen des griechischen Denkens latent geblieben waren oder
wenigstens in der Überlieferung keine greifbaren Spuren hinterlassen
haben. Heraklit „sucht sich selbst", fr. 101 ; er befragt reflexiv sein
eigenes Dasein. Der Stolz dieses Philosophen, der niemandes Schüler ist
58
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
(fr. 108) (auch der erste Teil des Fragmentes 1 geht auf die vorher-
gehenden Denker) — zeigt die Bewußtheit seines individuellen Selbst-
und W eltgefühls (vgl. H. Gomperz, Festschr. f. Schlosser, Amalthea-
Verlag, S. 11).
Und so gerät er auf die Problematik der Seele in ihrem Verhältnis
zu andern Seelen. „Alle Menschen könnten sich selbst erkennen und rich-
tig denken" (fr. 116), aber wenige tun es, deshalb stehen neben diesem
Spruch, der einer jeden Seele den Logos als Möglichkeit zuerkennt,
die bekannten „aristokratischen" Zeugnisse der Menschenverachtung,
die auch auf die philosophischen Vorgänger und Zeitgenossen übergreift.
Wenn Heraklit sich selbst befragt, so will er gewiß alles andere damit
sagen, als daß er seine idia tpQÖvqaig erforschen wolle, sondern in dieser
Hinwendung zum „tiefen Logos der Seele" soll dasjenige, was allen
Seelen als denknotwendig erscheinen würde, wenn sie sich darauf rich-
teten, der xoivbc Xdyoc, sich erheben als Sinn des menschlichen Daseins
und Sinn des Seins der Welt. In dem Bilde von der gemeinsamen Welt
der Wachenden und der eigenen Welt der Schlafenden tritt das, was
Heraklit sich als den Weltgehalt des zu höherer erkennender Wachheit
und Einsicht sich mehrenden Logos denkt, ganz deutlich hervor. Um
dieses Bild voll zu verstehen, muß man fr. 75 hinzunehmen, in dem Hera-
klit die Schläfer „Arbeiter und Mithelfer an dem im Kosmos Geschehen-
den" nennt. Wie dieselbe Weltordnung über den Schlafenden und über
den Wachenden steht und deren Dasein in ihr Sein aufgenommen hat,
ohne daß sie es wissen, ohne daß für sie die Möglichkeit besteht ihr zu
widerstreben und ihren Ablauf zu stören — deshalb sind sie als Mithelfer
bezeichnet — , so steht über allen Wachenden, ob sie es nun erkennen
oder nicht, die allen gemeinsame Weltordnung; der Unverständige er-
kennt sie nicht, „tut, als ob er eine eigene Einsicht hätte" (fr. 2) ; er lockt
gegen den Stachel Gottes, durch dessen Schlag alles zur Weide getrieben
wird (fr. 11), und muß doch das Weltgesetz vollziehen wie der Schlafende
oder wie der Weise, der den Sinn des Weltgeschehens weiß und das Gesetz
nun wissend vollzieht.
Aus dem symbolischen Sinn dieses Gleichnisses, das den Weisen dem
von keinen individuellen Träumen isolierten Schlafenden als dessen
höhere Entsprechung zuordnet, ergibt sich auch eine Erklärung für die
eigentümliche Todesmetaphysik des Heraklit. Das Gleichnis besagt: der
Sinn des Lebens ist der Tod als der Übergang in die Einheit der Welt
und in einen Zustand, in dem keine individuelle Strebung mehr der
Weltordnung widerstreben kann. Um die durchaus positive Bedeutung
dieser Auffassung des „Seins zum Tode", des Philosophierens als Ster-
bensbereitschaft zu erfassen, braucht man sich nur an den platonischen
Phaidon zu erinnern, und nicht zuletzt an die merkwürdige Stelle am
Schlüsse der platonischen Apologie 40 c d, die als Nachklang herakli-
tischer Gedanken am ehesten verständlich ist. Was soll es sonst be-
D
HERAKLIT
59
deuten, daß — nach Sokrates' Ansicht — kein Mensch, auch der Großkönig
nicht, ein höheres Glück kenne als einen traumlosen Schlaf, und wenn
dies der Tod wäre, so würde es gewiß das Törichteste von der Welt sein,
den Tod zu fürchten, in dem nun „die ganze Zeit wäre wie eine Nacht44.
Heraklit hat die Verknüpfung von Tod, Schlaf und wachem Leben
auch im Fragment 26 so dargestellt, daß der Tod dem wachen Leben zwar
entgegengesetzt ist, aber zugleich auch den Sinn des Seins im Letzten
erfüllt. Man darf vermuten, daß in dieser höchsten und letzten Einheit
der Gegensätze die Grundthese des Heraklit sich immer wieder mit leben-
diger metaphysischer Gewißheit erfüllen müßte, wenn sie nicht überhaupt
von dieser Paradoxie des Seinserlebnisses ihren Ausgang genommen hat.
Der Mensch zündet sich in der Nacht ein Licht an, wann er gestorben
ist und doch lebt. Er berührt den Toten im Schlummer, wann sein Augen-
licht erloschen; im Wachen berührt er den Schlummernden.
Obwohl bei Heraklit, dem Erben reifer ionischer Geistesentwicklung,
das Selbstbewußtsein diesen hohen Grad von Verinnerlichung und meta-
physischer Tiefe erlangt hat, war es doch für jene Zeitepoche natürlich,
daß er die volle Problematik der Zeitlichkeit des Daseins philosophisch
noch nicht klar faßbar machen konnte, sondern gerade an diesen Stellen
seiner Lehre zu den Hilfsmitteln einer religiös dichterischen Bilder- und
Gleichnissprache seine Zuflucht nahm. Aber ein Gedanke, der die ganze
spätere Metaphysik beherrscht, ist auch dem dunklen Gleichnis der drei-
fachen Beziehung zwischen Schlaf, wachem Leben und Tod deutlich
zu entnehmen: die Erkenntniskraft des Menschen umspannt zwar das
ganze Sein der Welt, aber die Erfüllung des Erkennens mit der Welt
und ihrem Gehalt bedeutet ein Zurückdrängen und „Abtöten44 der in-
dividuellen seelischen Kräfte, sofern sie nicht auf das „Eine44 und Ganze
gerichtet sind, ein Eingehen der individuellen Denkbewegung in die große
kosmische Bewegungseinheit der Welt, ein Nichtwiderstreben gegenüber
der alles Sein und Geschehen tragenden göttlichen Kraft ; folgerecht kann
das Aufhören der seelischen Einzelexistenz mit ihren unendlichen Möglich-
keiten des Irrens, also der Tod, das „Eingehen44 in die Kräfte des „Einen44,
als Erfüllung grade des erkennenden, denkenden Lebens erscheinen.
Hält man sich diese metaphysische Grundhaltung der heraklitischen
Lehre gegenwärtig, so ergibt sich sofort eine sichere Entscheidung der
die Forschung beunruhigenden Frage, ob Heraklit den Erkenntniswert
der sinnlichen Anschauung bestritten oder wie er ihn eingeschränkt habe.
Da der eigentliche Zweck der Erkenntnis die Einbeziehung der Welt in
das Denken und Leben der Seele ist, so kann natürlich nicht etwa die
abstrakte Einsicht, daß alle Gegensätze eins sind, der einzige Gehalt des
Erkennens überhaupt sein. Vielmehr gehört zum Begriff der Welt ihre
anschauliche Fülle, wie die Sinne sie darbieten, notwendig hinzu. Dieser
Gedanke taucht in dem grade erhaltenen Fragment 55 deutlich empor,
freilich eingeschränkt und näher bestimmt durch Fragment 107: Schlimme
60
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Zeugen sind Augen und Ohren den Menschen, sofern sie Barbarenseelen
haben (fiowv oif'ic, uzot] fiuv'hjatQ, radza tyco 7TQOTif.i£wy aber xccxoi (jb&QTVoeg,
dp i'f otö loiair dfp&aÄfiol xccl (ora ßaoßäQovQ xpv^äq £%6vtcov).
Aber „wovon es ein Sehen, Hören, Lernen gibt, das ziehe ich vor".
Wem ? fragt Reinhardt Parmenides S. 213 und ergänzt: der „abstrakten
Logik des Parmenides, die die Sinnenwelt als ,falsch' erwies". Die
Richtung des Gedankens wird ohne Zweifel hierdurch bezeichnet. Fr. 107
zeigt, daß es auf die richtige Deutung der sinnlichen Eindrücke an-
kommt; der Logos muß mit ihrem Zeugnis etwas anzufangen wissen,
das heißt, er muß aus ihnen die Bestätigung für den Zusammenfall der
Gegensätze und für den dauernden Wechsel entnehmen. Da der Logos
allgegenwärtig ist, so muß er „in der Welt" sein; in der Tat kann man
die Tendenz der heraklitischen Lehre als Versöhnung der ala^rjasic mit
dem Logos bezeichnen (Reinhardt 213). Wir sahen, daß auch von Par-
menides der Bereich der Doxa in den des Logos im eigentlichen Sinne des
Wortes hineingenommen wurde. Hier nun wird umgekehrt der Logos
aus seiner anschaulichen Peras-Funktion, die sich im All-umfassenden
Seienden entfaltet, ausdrücklich als Gliederungsprinzip in die bunte
Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit hineingenommen als ein Mittel, diese
Weltgliederung logisch zu verstehen und für ihre Gegensätzlichkeit eine
neue Formel zu finden.
Immer deutlicher entfaltet sich das für den Weltbegriff der grie-
chischen Metaphysik typische Motiv: ein Prinzip, das scheinbar von der
anschaulichen Fülle der Wirklichkeit hinwegzuführen droht, wird
gerade zum Organ des Weltdenkens. Der Rhythmus der philosophi-
schen Entwicklung der Griechen wird uns immer wieder an die Grenze
führen, an der Logos und Aisthesis, Denken und Anschauen sich ent-
zweien und die „Gigantomachie" zu liefern beginnen. Aber sofort wird
der metaphysische Instinkt sich dagegen wehren und den vollen, beide
Gegensätze umspannenden Weltbegriff wieder herstellen; das scheinbar
entgegenstehende „Logische" oder wie immer man diese an sich nie ge-
gebene Region benennen mag, wird über kurz oder lang in seiner Ange-
wiesenheit auf das Andere, „Anschauliche" erkannt ; je weiter die „Ab-
straktion" vorgetrieben wird, desto reicher und sinnerfüllter wird der
Weltbegriff sich wieder herstellen. Manchmal wird der Rhythmus in dem
Werkeines und desselben Philosophen nach beiden Richtungen schwingen,
öfter aber wird erst in verschiedenen Philosophen sich diese „widerstre-
bende Harmonie" herstellen.
6. DIE ENTWICKLUNG DER VORSOKRATISCHEN META-
PHYSIK BIS ZUR SOPHISTIK.
Die Darstellung dieses Absatzes muß sich ganz besonders gegen den Anspruch
verwahren, als eine „Philosophiegeschichte" betrachtet zu werden. Sie strebt mit
Macht dem zweiten großen Höhepunkt der eigentlichen griechischen Metaphysik, der
D
DIE ENTWICKLUNG BIS ZUR SOPHISTIK
Gl
platonischen Philosophie, zu. Wie im vorhergehenden der Metaphysik der Eleaten alles
andere zu- und untergeordnet wurde, bezweckt die nächste summarische Darstellung
lediglich, die Metamorphose des Eleatismus im Piatonismus aus den inzwischen
erfolgten geistigen Umlagerungen und Bereicherungen verständlich zu machen.
Die Triebfeder aller Metaphysik ist in der eleatischen Problemstellung,
alle späteren Zeiten orientierend, sichtbar geworden: Sein auf Denken
und Denken auf Sein so eng wie möglich zu beziehen, das Seinsverständ-
nis, die Ontologie, zu begründen auf denkendes Seiendes und seiendes
Gedachtes. Damit ist nicht behauptet, daß diese doppelte Seite der
Ontologie dem nach Piaton Theätet 182 e „ganz ehrwürdigen44 Urheber
dieser Metaphysik schon klar zu Bewußtsein gekommen wäre. Aber
deutlich ist mit jener Gleichsetzung von Sein und Denken der späteren
Philosophie die Aufgabe gestellt, als seiend nur das anzuerkennen, was
sich dem Denken zugänglich erweist, was „rational44 aufgefaßt werden
kann. Die Gegenüberstellung von Heraklit und Parmenides zeigt nun,
daß der eigentliche Eleatismus des Parmenides für das qualitativ-
Bestimmte der Empfindungen noch keine adäquate Denkform gefunden
hatte, sondern für die Wahrheit, die älfföeia, sich an die „mathemati-
sierende Ideation44 (mit Jaegers glücklichem Terminus zu reden, D. L. Z.
1924, S. 2053) hielt, an die erfüllte Räumlichkeit des zusammenhängenden
Seins; Heraklit hingegen sucht die „umfallenden44 {jigtclttitcteiv ^ fr. 88)
Gegensätze der sinnlichen Empfindungsqualitäten in einem Logos, in
einer rationalen Formel einzufangen, wobei er diese Formel als allge-
meinstes Seinsgesetz auf alle Gegensätze schlechthin, etwa auch auf die
von gut und schlecht übertrug (fr. 58, fr. 67) und in dem empfindlich-
sten Gegensatz des Seins, dem von Leben und Tod, sichtlich gipfeln läßt.
Daß er damit in eine Sphäre vorstieß, in der in einer ganz anderen wirk-
lich metaphysischen Betrachtung Sein und Denken sich als dasselbe er-
weist, und daß hier möglicherweise die ägxtf seines Denkens, seine be-
sondere unvergängliche Leistung für die metaphysische Verknüpfung
von Sein und Dasein liegt, deuteten wir oben, S. 59, an. Wir müssen aber
die — gemessen an dieser Daseinsmetaphysik, für die Gott das Substrat
aller Gegensätze wird (fr. 67) — triviale Frage wieder aufnehmen, welche
Bedeutung das Quantitative in dem rationalen Denken des Heraklit
hat. Da scheint es in der Tat, daß zwar das Quantitative wie bei allen
griechischen Metaphysikern als die mehr oder weniger vage Idee von der
quantitativ unwandelbaren Weltsubstanz dem Wechsel der Erschei-
nungsformen zugrunde liegt, sonst aber keine Rolle spielt und jedenfalls
für die Erklärung des Werdens der Gegensätze in keiner Weise herange-
zogen wird.
Wir müssen diesen Punkt genau beachten, wenn wir das bereits oben
S. 56 entwickelte pluralistische Problem verstehen wollen. Wir wissen
ja, daß im Pythagoreismus das Quantitative im Sinne des Vielen, der
bestimmten Menge, in eine klare Beziehung gesetzt war zu den sinn-
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
lieh wahrnehmbaren Gegensätzen des hohen und tiefen Tones, des
Schönen und Häßlichen, und wie alle die Gegensätze heißen, die in den
Gegensatztafeln der Pythagoreer und in der Gegensatzlehre des Heraklit
auf treten. Und nun sehen wir zu unserer Überraschung, daß Zenon auch
auf den quantitativen Gegensatz des Großen und Kleinen die heraklitische
Formel von dem Zusammenfall der Gegensätze anwendet und aus diesem
Sachverhalt seine Schlüsse zieht.
Zenon fr. 1, Diels: Z. zeigt zuerst, daß wenn das Seiende keine Größe besitze,
es auch nicht vorhanden sei. Dann fährt er fort: Ist es aber vorhanden, so muß ein
jeder seiner einzelnen Teile eine gewisse Größe und Dicke und Abstand vom anderen 10
haben. Und dasselbe läßt sich von dem vor jenem liegenden Teile behaupten. Auch dieser
wird natürlich Größe haben, und es wird ein anderer vor ihm liegen. Das gleiche gilt
also ein für allemal. Denn kein derartiger Teil desselben (des Ganzen) wird die äußerste
Grenze bilden, und nie wird der eine ohne Beziehung zum andern sein. Wenn es also
viele Dinge gibt, so müssen sie notwendig zugleich klein und groß sein: klein bis zur
Nichtigkeit, groß bis zur Unendlichkeit.
Ei utj fyot, [xeye&og to ov3 ovd3 av ety. et de I'gtiv, dvdyxt] exaawv [xeye&og rt e/eir
xal nd/og xal dne/eiv avrov rd ereQov dnu rov iregov. xal negl rov nqov%ovrog 6 avrog
koyog. xal yaQ exe~vo jueyexlog xal nQoe^ei avrov rt. ofxoiov dt] rovro ana'% re eineTv
xal del keyeiv • ovdsv yaQ avrov roiovrov eo^arov eorai ovre ereQov nQog ereQov ovx £o~rai. 20
ovTwg (i nokkd ionv, dvdyxrj avrd juixgd ts zlvat, xal /nsydka • fxix.Qa pev wgts futj fyeiv
fiäye&og, /ueydka di wäre dnsiga elrai.
Fr. 3: Wenn es Vieles gibt, so muß es notwendig gerade so viel Dinge geben, als
wirklich vorhanden sind, nicht mehr, nicht minder. Gibt es aber so viel Dinge, als es
eben gibt, so sind sie (der Zahl nach) begrenzt. — Wenn es Vieles gibt, so ist das Seiende
(der Zahl nach) unbegrenzt. Denn zwischen den einzelnen Dingen liegen stets andere
und zwischen jenen wieder andere. Und somit ist das Seiende unbegrenzt.
fl nokkd Igjiv, dvdyxt] roaavTa slvai oaa sotI xal ovts nksiova avrwv ovre ekdiTOva.
€i de Toaavrd ianv oaa ecri, neneQaofxeva dv etij. — nokkd iariv, dneiQa rd övra Igtiv-
del yaQ erepa [ieTa't;v twv ovtojv Ioti, xal ndkiv ixeivior ereQa [xera'^v. xal ovrwg dneiga 30
rd bvra eaiC.
Man könnte dies einfach als Kommentar zu den Zeilen des Parmenides, fr. 8, 22 ff.,
auffassen (vgl. oben, S. 48): aus der Gleichheit = Homogeneität und der Dichtigkeit des
Seins wird die Unmöglichkeit — nicht der Teilung, sondern einer Teilbarkeit in end-
lichen Schritten aufgewiesen. Damit fallen nicht nur die Gegensätze von Groß und
Klein, sondern auch die pythagoreischen Grundgegensätze von Peras und Apeiron als
Prädikate bestimmter Gegenstände zusammen. Allerdings nur bei der Voraussetzung
der Dichtigkeit des Seins; das Leere ist demnach das Problem, das weitertreibt, denn
mit dem Leeren hängt sichtlich auch die Bewegung zusammen. Beides, Leeres und Be-
wegung, wird von Zenon geleugnet, d. h. in rationalen Beweisgängen als zu Wider- 40
Sprüchen führend erwiesen.
Wichtig ist in dem oben skizzierten Zusammenhange, daß Zenon auch
die akustischen Phänomene in seine die quantitative Gliederung der
Wirklichkeit leugnende Betrachtung einbezogen hat. Zenon stellt das
Verhältnis auf zwischen dem Scheffel Hirse und dem Korn bzw. sogar
dem Tausendstel des Kornes zum ganzen Scheffel. Von einem analogen
Verhältnis der Geräusche, die diese drei Körper ergeben, ist keine Rede;
das fallende Korn schon ist unhörbar. Das akustische Problem der
Pythagoreer, die Entstehung des Tones aus einer Komposition einzelner 50
D
DIE ENTWICKLUNG BIS ZUR SOPHISTIK
63
Stöße (nlriyai), beschäftigt noch die Akademie (Xenokrates, fr. 9,
Heinze). Bei Zenon liegt zunächst einfach ein Einwand gegen die Be-
ziehung sinnlicher Eindrücke auf quantitative Elemente vor, also gegen
das Prinzip pythagoreischer Welterklärung. Schon aus diesen Beispielen
geht die polemisch-dialektische Absicht der zenonischen Lehre hervor.
Ihre allgemein angenommene Deutung hat Piaton zuerst im Parmenides
ausgesprochen (128 d): Zenon will allen denen, die die Einheitslehre des
Parmenides als paradox empfanden und die „Vielheit" als ein völlig
gleichwertiges Prinzip auffaßten, zeigen, in welche Widersprüche sich
die pluralistischen Theorien verwickeln. Hierbei bleibt aber die meta-
physische Position des Zenon noch unbestimmt. In welchem Sinne hat
er die Vielheit „geleugnet" ? Hat er die Sinnenwelt verachtet ? Hat
er eine mystische Kontemplation des AU-Einen als Versenkung in die
innerlich erlebte Einheit des Ich — diesen äußersten Zusammenfall des
denkenden und des gedachten Seienden — durch seine scharfsinnige Argu-
mentation befördern wollen ? Diese Möglichkeiten heben sich selbst auf,
wenn man sie sich deutlich genug vorstellt. Vielmehr gehört Zenon bereits
ebenso in die Geschichte der inzwischen immer selbständiger gewordenen
mathematischen Logik wie in die der Metaphysik. Tatsächlich hat die
Fragestellung des Zenon die mathematische Diskussion in Atem gehalten
mindestens bis zur Tätigkeit des Eudoxos in der platonischen Akademie.
Ob dies ursprünglich Zenons Hauptabsicht war, Paradoxien des Unend-
lichen aufzustellen und zu ihrer Lösung durch die Aporien beizutragen,
kann zweifelhaft sein; sicher ist, daß der metaphysische Gefühlsimpuls,
den Parmenides aus der pythagoreischen Problematik empfangen, aufs
höchste gesteigert und doch in unmittelbarer Nähe der logisch-erkennt-
nistheoretischen Fragestellung zu halten gewußt hatte, sich nun ent-
spannt und ernüchtert. Es ist übertrieben, wenn Prantl (Gesch. der
Logik 9) hier bereits den rabulistischen Zug des griechischen Geistes
wirksam sieht ; denn das Interesse Zenons an schwierigen Denkaufgaben,
deren Lösung dem pluralistischen Gegner zugeschoben wird, ist immer
noch ein echtes logisches Interesse an dem Wesen der Vernunft, an der
Frage, wie die sich entbindenden logischen Kräfte zum Wirklich-
Seienden stehen. Noch ist alles andere eher beabsichtigt, als die Vernunft
selbst durch diese Dialektik zu diskreditieren; wenn diese Absicht ein-
tritt, stehen wir an der Schwelle der Sophistik. Es ist wichtig, sich klar
zu machen, daß nicht eine neue sachliche Problematik, sondern ein ver-
ändertes metaphysisches Ethos die Grenze bezeichnet, und daß die sach-
liche Problematik der Sophisten gerade aus dem Gebiete sich speist, in
dem die logischen Errungenschaften des Heraklit und des Parmenides
sich durchkreuzen, aus der zenonischen Dialektik.
Wir werden die mathematischen Sachverhalte näher kennen lernen
müssen, wenn wir beim späten Piaton noch einmal der metaphysischen
Neubelebung aller dieser jetzt bereits dem Verfall sich zuneigenden
64
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Motive begegnen werden. Dies gilt auch von dem Motiv der Zeit, das
von Zenon in seinen Beweisen gegen die Bewegung in seiner ganzen
Schwierigkeit von einer neuen Seite beleuchtet wird. Wir haben das Zeit-
problem bisher in dem „mythischen" Bewußtsein von der Zeitlichkeit
und Vergänglichkeit des Daseins angetroffen und in ihm den Trieb zu
einer ..Bewahrung", crwrtjQi'a, des Jetzigen als für die griechische An-
schauung charakteristisch hervorgehoben. Oft ist das mythische Be-
wußtsein, dem dichterischen vergleichbar, reicher und zugleich einfacher,
faßlicher, weil es der Wirklichkeit — dies Wort in vollem, alle erkenn-
baren Sachverhalte umfassendem Sinne genommen — innerlich näher
bleibt als das theoretische Philosophieren, das seiner Aufgabe nie voll
gewachsen ist, gewaltsam Züge der Wirklichkeit nicht mit einbezieht
oder ausscheidet. Aber ein archaisches Philosophieren wie das der Vor-
sokratiker öffnet sich immer wieder der Wirklichkeit, oft auf Kosten
der Einheitlichkeit des gedanklichen Gerüstes der Lehre, oft — schein-
bar oder wirklich — in der Form der Synthese früherer, für sich ge-
nommen einseitiger Lehren. Diese zusammenfassende Verschmelzung
des Eigenen und Fremden entspringt einer Haltung, die auf anderen
Gebieten antiken Lebens — Literatur, Kunst — längst erkannt ist und
auch beim Verstehen der philosophischen Entwicklung immer wieder
hervorgehoben zu werden verdient. Dies alles ist auch bei der Erör-
terung der mit dem Zeitproblem zusammenhängenden metaphysischen
Fragen festzuhalten.
Die Einsicht, daß Denken und Sein, weiter daß Denken und Zeit,
damit Sein und Zeit in einem freilich schwer zu analysierenden Zusammen-
hange stehen, daß die Ganzheit des %i> nur deshalb im Denken er-
faßt werden kann, weil im Denken ein „Jetzt" zugleich mit der ganzen
Erstreckung der Zeit verkoppelt ist, erscheint überraschend für einen
Augenblick bei Parmenides an einer Stelle, die wir gleich besprechen
werden. Sobald die Zeit als Problem auch nur von ferne gesehen wird,
tritt zunächst eine Art Abhärtung gegen logische Paradoxien auf; denn
der Widerspruch zwischen der Einschnitthaftigkeit des Jetzt und seinem
„Streckenwert", seine Erfülltheit mit Vorher und Nachher drängen sich
sofort quälend auf. Denn die Zeit ist nun einmal die Form des inneren
Sinnes, und an keiner Stelle rückt die Paradoxie dem eigenen Selbst
näher, trifft sie es härter als in der instinktiv immer als metaphysisch
fundamental empfundenen Zeitfrage. Entweder wird, wie wir bei Hera-
klit sahen, die Zeitlichkeit, das Wissen um die Vergänglichkeit des eige-
nen Daseins zur allumfassenden paradoxen Theorie vom Zusammenfallen
der Gegensätze ausgebildet, die Koexistenz und Koinzidenz unklar ver-
mengt.
Heraklits AionbegTÜi (stehende, ruhende Zeit?) ist aus dem dunklen Fragment 52
nicht zulänglich zu erschließen; sachliche und historische Vermutungen liegen allzu
nahe; es lohnt sich nicht, sie im einzelnen zu betrachten.
D
DIE ENTWICKLUNG BIS ZUR SOPHISTIK
65
Oder es wird der Ausweg in der Richtung der Zeitlosigkeit über-
haupt gesucht; man will diesem unheimlichen Etwas dadurch entrinnen,
daß man der Zeit das Sein zu entwinden sucht. Aus dem Bewahrungs-
(tfwr//£//'«)Motiv wird das der Vergegenwärtigung4', die Vergangenheit
und Zukunft einfach abzuschneiden sucht, die das Jetzt und die Bewe-
gung der Zeit in schärfsten Gegensatz bringt und die Bewegung als dem
seienden Jetzt widersprechend dem Scheine überantwortet.
Parmenides fr. 8, 3 ff. : oidt nor' tjv ovd" eorai, intl vvv i'cnv ojuov nav,
evy avv£%sg.
10 ... es war nie und wird nicht sein, weil es j etzt zugleich ist als Ganzes = Einheit-
liches, Zusammenhängendes. — Vergangenheit und Zukunft, also die zeitliche Bewegung
gerät unter die widerspruchsvollen Prädikate des Seins. Auch hier bestätigt Zenon die
allgemeine Theorie des Lehrers durch eine polemische Behandlung der einzelnen wirk-
lichen Bewegung; wer sich auf deren Tatsächlichkeit beruft, soll erst ihre „Möglich-
keit" beweisen, d. h. sie widerspruchslos erklären. Zenon analysiert den einzelnen
Bewegungsvorgang in der Natur; der begrenzte Zeitabschnitt, in dem er verläuft, und
die räumliche Erstreckung werden eingeteilt, um nachzuweisen, daß die Fortführung
der Teilung ins Unendliche einerseits gefordert, andierseits unmöglich ist. Dies ist eine
wesentliche Vorarbeit innerhalb der eleatischen Schule für die kommende Atomistik.
20 In dieser Negativität konnte die eleatische These nicht stehen bleiben.
Wir werden sehen, daß Zug um Zug diese negative Strenge sich auf
der ganzen Linie lockert und schließlich etwas ganz Verändertes heraus-
kommt.
Es ist wichtig, daß bei Zenons Nachfolger Melissos diese Entwick-
lung gerade am Zeitproblem einsetzt, aber sofort von diesem Punkte aus
weitere Kreise zieht.
Er beginnt nach Simplicius (fr. 1 Diels) seine Schrift so : „Immerdar war, was da
war, und immerdar wird es sein; denn wäre es entstanden, so müßte es notwendiger-
weise vor dem Entstehen nichts sein. Wenn es nun also nichts war, so könnte unter
30 keiner Bedingung etwas aus nichts entstehen*4. Man vergleiche den Gedanken des Par-
menides: aus dem „Jetzt", das Vergangenheit und Zukunft ausschloß, ist nun die
„Ewigkeit" geworden, die lediglich den Anfang und das Ende des Seins ausschließt.
Der tiefsinnig vorausgeahnte Zusammenhang von Denken und Zeit im Sinne des
präsentiellen Jetzt scheint aufgegeben, verloren. Tatsächlich aber stellt sich in des
Melissos Auffassung der eigentliche Zeitcharakter erst wieder her, der auch das Jetzt,
das vvv in seiner präsentiellen Bedeutung erst möglich macht. Parmenides hatte ein
von der Anschauung freies Denken erzwingen wollen und hatte in seiner archaischen
Kühnheit ganz folgerichtig die Anschauung aus seinem „Seienden" herauszupressen
gesucht. So gewiß seine Absicht auf den Ausschluß jeder Anschauung ging, so hatte
40 er gemäß der Gegenständlichkeit seines echt griechischen Denkens sich zunächst der
Anschauung des inneren Sinnes zu entledigen versucht; die Zeit als verlaufendes Etwas
wurde auf die Seite des Scheines, der Doxa, gedrängt, als der Denkweise des end-
lichen menschlichen „sterblichen" Daseins zugehörig. Dieser Denkweise hatte er als
etwas ganz andere s seinen Seinsbegriff entgegengestellt. Wir sahen aber, wie er zur Be-
schreibung, zum Ausdruck des eigentlichen Seienden nicht nur dauernd negativ ab-
hebend auf die „Welt" der Doxa, den Kosmos, zurückgreifen, sondern sogar eine dem
eigentlichen Sein eigentümliche räumliche Form notgedrungen zulassen mußte; d. h.
als letzte und einzige Vorstellungs- und Denkmöglichkeit erschien ihm die Kugel, ein
Gleichnis, Bild, „Schema" und („Gestalt") der Ganzheit und Einheit. Deren
ILndb. d. Phil. I. D 5
66
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Denknotwendigkeit drückt er absichtlich negativ aus: warum sollte das Sein irgendeine
l aebenheit, eine Ungleichheit, eine Dimensionsverschiedenheit haben? (fr. 8,43 ff.).
Indem er dem Anschaulichen, dem Reiche der Doxa, ein im Denken begründetes
Perus gab. verfiel er der Endlichkeit aller Anschauung gerade dort, wo er sie am stärk-
sten EU überwinden glaubte. Melissos gibt nun dem Raum das, was des Raumes ist,
genau so zurück, wie er die Zeit in ihrem spezifischen Charakter wieder herzustellen
begann. Wie er das Jetzt, das t'ir, in die verlaufende Zeit sich entfalten läßt, so sucht
er eine sachgemäßere Vereinigung auch von räumlicher Anschauung und Denken, gibt
aber damit unbedenklich die in ihrer Kühnheit tiefsinnigste Vorstellung des Parmenides
preis: für Melissos ist eine Kugel eo ipso ein endlicher, vom unendlichen „Leeren4' be- 10
grenzter Körper, und durch diese einfache Argumentation wird die kühne Paradoxie
des Parmenides, Anschauung und Denken sich gegenseitig begrenzen und aufheben zu
lassen, beseitigt, damit freilich auch die im Anschauungscharakter begründete Unend-
lichkeit des Raumes wiederhergestellt: nach Zeit und Raum unendlich breitet und weitet
sich das Seiende (fr. 3; dazu Burnet, S. 292), end- und anfangslos (fr. 4) — wie das
ipeiron des Anaximander.
Dies ist ein erster Punkt, an dem sich die Entwicklung als ein Hineinnehmen
früherer Lehren darstellt. Vom Standpunkt der eleatischen Philosophie aus gesehen ist
des Melissos Lehre ein erster Ausgleich der beiden Reiche des Denkens und Anschauens,
des Seins und Werdens: mit der räumlichen Unendlichkeit ist die „Zeitlichkeit" im 20
Sinne der zeitlichen Dauer in das Sein hineingenommen worden. Aber die eleatische
Grundrichtung auch dieses Denkens bleibt noch so stark, daß Melissos die nun mit dem
Sein verknüpften Anschauungsformen des Raumes und der Zeit charakteristischen
Sicherungs- und Reinigungsmaßnahmen unterwirft, um die Reinheit des Seins zu be-
wahren. Sofort nämlich wendet, was die Zeit anbetrifft, der Denker sich gegen die
auch ihm als Einwand naheliegende Vorstellung, das Sein könnte in seiner Zeitlichkeit
„verfallen", könnte „krank werden", Schmerzen und Unruhe erfahren. Wir kennen diese
Motive von der mythischen Periode her, und wir begegnen hier der ausdrücklichen Ab-
wehr dieser Gedanken. Da das Seiende anfangs- und endlos ist, kann es sich nicht „ver-
ändern", aber diese bekannte eleatische Grundthese erfährt hier die merkwürdige Aus- 30
führung (fr. 7, § 1—6):
So ist es denn ewig und unendlich und eins und vollständig gleichmäßig. Und
es könnte nicht irgend einmal untergehen oder sich vergrößern oder umgestalten, noch
empfindet es Schmerz oder Leid. Denn empfände es dergleichen, so wäre es nicht mehr
eines. Wird es nämlich anders, so muß notwendigerweise das, was ist, nicht mehr gleich-
mäßig vorhanden sein, sondern es muß das, was vorher vorhanden war, untergehen
und das, was nicht vorhanden war, entstehen. Wenn es nun also in zehntausend Jahren
auch nur um ein Haar anders würde, so muß es in der Ewigkeit vollständig zugrunde
gehen. Aber auch eine Umgestaltung ist unmöglich. Denn die frühere Gestaltung geht
nicht unter und die nicht vorhandene entsteht nicht. Da aber nichts dazukommt 40
und nichts verloren geht oder anders wird, wie sollte es nach der Umgestaltung noch zu
dem Seienden zählen? Denn würde etwas anders, so wäre es ja bereits umgestaltet;
auch empfindet es keinen Schmerz. Denn es könnte nicht vollständig im Sein aufgehen,
wenn es ihn empfände; denn ein Schmerz empfindendes Ding könnte nicht ewig sein
und besitzt auch nicht dieselbe Kraft wie ein gesundes. Auch wär* es nicht gleichmäßig
vorhanden, wenn es Schmerz empfände. Denn es empfände ihn doch über Zu- und
Abgang irgendeines Dinges, und es wäre so nicht mehr gleichmäßig vorhanden. Auch
könnte das Gesunde nicht wohl Schmerz empfinden. Denn dann ginge ja das Gesunde
und das Vorhandene zugrunde, und das Nichtvorhandene entstünde. Und für die Leid-
empfindung gilt der Beweis ebenso. 50
So schützt die Theorie des Melissos das von ihm eigentlich erst zeit-
lich gemachte Sein vor allen Wirkungen der Zeitlichkeit, die seinen
Bestand verletzen könnten; wir werden sehen, wie stark diese Ge-
D
DIE ENTWICKLUNG BIS ZUR SOPHISTIK
67
dankengänge weiterwirken werden. Melissos muß nun auch den von ihm
in seiner eigentlichen Anschauungsnatur hergestellten Raum mit den
eleatischen Grundforderungen in Übereinstimmung setzen. Er tut dies,
indem er ausdrücklich die Unkörperlichkeit des im unendlichen Räume
sich breitenden Seienden unterstreicht (fr. 9).
Wenn es also überhaupt vorhanden ist, so muß es eins sein. Ist es aber eines, so darf
es keinen Körper besitzen. Besäße es Dicke, so besäße es auch Teile und wäre dann
nicht mehr eines.
Melissos gibt damit den Grund an, der ihn zur Aufhebung der Kugel
10 als Seins- Peras getrieben hatte. Diese Grenze machte ihm das Seiende
zum Körper, sie muß fallen, damit die reine Räumlichkeit erst mög-
lich und zugleich die Denkhaftigkeit, die Unanschaulichkeit des Seienden
im geometrisch-plastischen Sinne neu begründet werde. Stark unterstreicht
er noch einmal die diesem Seienden trotz seiner Grenzenlosigkeit an-
haftende Dichte in neuen Beweisgängen gegen das Leere, gegen die
Möglichkeit des Vielen, der noXXd. Das Motiv der Zeitlichkeit war von
Melissos, wie wir sahen, in Verbindung gesetzt worden mit dem der
qualitativen, ja der organisch - psychischen Veränderung. Der Be-
stand des Seienden mußte gegen jede Möglichkeit qualitativer, natürlich
20 auch quantitativer Veränderung geschützt werden. Während bei Zenon
noch die Abwehr der quantitativen Mannigfaltigkeit im Vordergrunde
stand, rückt nun für Melissos und noch mehr für die folgenden Philo-
sophen das Qualitative vor. Die beobachteten Übergänge von Hart zu
Weich, Kalt zu Warm, Lebendigem zu Totem können im Bereich des
eigentlichen Seins keinen Raum beanspruchen. Gäbe es viele ewige
Dinge, wie man sagt, die bestimmte Gestalten und Festigkeit hätten,
so müßten sie genau dieselben Eigenschaften wie das Eine besitzen.
(Fr. 8, § 4 und 6): ov loivvv ravrcc dkktjkoig ouokoyet. (pa^ivoig yaQ elvai nokkd xccl
dtdia xccl eidrj re xccl io%vv I'/ovtcc, ndvTcc ixegoiobod-cci rj^uv doxel xal ueiccnimeiv ix tov
30 £xdßTOT€ oQw/ntvov. . . . rjv de /xerccneaqi, to per eov dnwkeTO, to de ovx iot> yeyovev. oincag
ovv ei nokkd eirj, toiccvtcc %qt] elvcci oiöv ne$ to ev.
„Das stimmt also nicht miteinander. Denn obgleich man behauptet, es gäbe viele
ewige Dinge, die bestimmte Gestalten und Festigkeit besäßen, lehrt uns der Augen-
schein auf Grund der einzelnen Wahrnehmung, daß alles sich ändert und umschlägt . . .
Schlägt aber etwas um, so geht das Vorhandene zugrunde und das Nichtvorhandene
ist entstanden. So ergibt sich also: gäb' es eine Vielheit von Dingen, so müßten sie
genau dieselben Eigenschaften besitzen wie das Eins.44
Ob die Fassung der letzten Worte auf Theorien geht, die diesem unserem Glauben
an die „efdy* bestimmter mannigfaltiger Dinge Ausdruck geben, ist kaum zu ent-
40 scheiden. Wenn Simplicius wörtlich zitiert, könnte auch diese Stelle den besonders von
den Engländern vertretenen Standpunkt bestätigen, dem Terminus Eidos eine längere
vorplatonische Geschichte zuzuweisen, cf. Burnet- Schenkl 280 ff., Taylor Varia So-
cratica, Oxford 1911 S. 478.
Hier ist der Weg zu neuen Lösungen merkwürdig deutlich bezeichnet.
Die fortschreitende Erkenntnis verwandelt einfach diese Probleme in
Postulate, und zwar in der doppelten Richtung, die sich aus der Mehr-
D 5*
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
deutigkeit des „Vielen" bei Melissos, aus der ganzen vorsokratischen
Gedankenordnung ergibt. Dort, wo das Quantitative ausdrücklich im
Blickpunkt steht, wie bei den Pythagoreern, erklärt es zugleich die
sinnlich wahrnehmbare, qualitative Mannigfaltigkeit mit, die auf
quantitative Gliederung der Saiten zurückgeführten „hohen", tiefen,
schönen, häßlichen, stimmenden, nichtstimmenden, „maßhaften", maß-
losen Töne. Dieser Zusammenhang wird aber nicht immer gesucht; es
kann die sinnliche Mannigfaltigkeit unmittelbar angeschaut und als quali-
tative zum Gegenstand philosophischer Überlegungen gemacht werden,
ohne daß sie ausdrücklich auf Quantitatives bezogen oder daraus abge-
leitet würde.
Die Bewältigung des qualitativ und quantitativ Mannigfaltigen
(rcc noXXa) ist die eine Aufgabe, die die nun zu betrachtenden Philo-
sophen aufgreifen. Sie bleibt eng verbunden mit der anderen Frage,
von der aus wir zu ihr gelangten: wie das in der eleatischen Philosophie
zum ersten Male sich isolierende Denken sich zur Anschauung von Raum
und Zeit verhalte, oder gegenständlich ausgedrückt, wie das Seiende
im Raum und in der Zeit steht, wie der „Geist", der denkt, sich zu all
diesem anderen verhält, das ihm „entgegensteht" und das doch zu ihm
gehört und ihn möglich und wirklich macht. Immer näher rücken alle
diese Probleme einerseits an das der Schöpfung heran, anderseits an
das des Menschen, als des Geist in sich tragenden d. h. Welt erkennen-
den Wesens.
Die synthetische Einbeziehung ionischen Philosophierens in die
eleatische Grundhaltung greift bei Empedokles von Akragas bereits
viel weiter als bei Melissos. Sämtliche Archai der ionischen Denker:
Feuer, Wasser, Luft, werden, ergänzt durch die Erde, als „Wurzeln"
aller Dinge anerkannt, als Urqualitäten des Seienden, von denen keine
einen Seinsvorrang beanspruchen kann (fr. 6). Durch ihre Mischung und
Trennung entstehen alle Dinge und vergehen sie ; es gibt also kein Ent-
stehen und Vergehen im eigentlichen Sinne, sondern Geburt und Tod
sind nur Namen, deren man sich als Mensch bedienen muß (fr. 9). Tor-
heit ist es, an ein Entstehen aus dem Nichts zu glauben (fr. 11). Wenn
diese vier qualitativ bestimmten Urstoffe zum Gegenstand des Denkens,
des voelv werden, so kann dieses der sinnlichen Empfindung nicht mehr
gegenübergestellt werden :
Fr. 4, Z. 9 — 14: u.)X äy' cc&Q€i ndayi nakcc^irji,) nrji, drjhov 'dxaßTov,
/U1$T€ TW OXplV l/COV TlCOTfl TlksOV T} XCCT (XXOVTjV
rj d/.ovTjv BQidovTiov vtisq TQ<xvi6{ictTcc ykiöoorjg,
£Lt]T(- Tl 1(hv äkkiiiV, 07l6GT]l TlOQOg tOTL VOT]G(U,
yvioiv niGTiv fQv/.e, rosi d° rji dykov k'xaoTov.
Betrachte jedes Einzelne mit jedem Sinne genau, inwiefern es klar liegt, und halte
nicht etwa den Blick in weiterem Umfang für vertrauenswürdig als das im Vergleich
zum Gehör zulässig ist, oder schätze das brausende Gehör höher als deutliche Wahr-
nehmungen des Gaumens, und stelle nicht etwa um dieser willen die Glaubwürdigkeit
D
DIE ENTWICKLUNG BIS ZUR SOPHISTIK
69
der übrigen Organe zurück, soweit es einen Pfad der Erkenntnis gibt, sondern erkenne
jedes Einzelne in der Weise, in der es klar ist.
Wenn Aristoteles de anima r 3, 427 a 21 (vgl. Diels fr. 106, auch 107)
deshalb dem Empedokles die volle Gleichsetzung von Denken und
Empfinden (cpooveiv und alc&ävea?* ai) zuschreibt, so ist dies freilich
insofern nicht ganz zutreffend, als Empedokles durch die Forderung, die
Grenzen der einzelnen Sinne zu erkennen, das Ganze und Eine, d. h. den
Zusammenhang der Dinge in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu erfassen,
dem eleatischen Erkenntnisbegriff durchaus Rechnung trägt. Freilich
ist mit dem im Denken erfaßten Einen und Ganzen eine bemerkenswerte
Verwandlung vorgegangen.
Piaton hat im Sophistes 242 d den entscheidenden Punkt mit größter
Schärfe bezeichnet. Er stellt der „strengeren" Richtung, die wie
Herakleitos eine dauernde Einheit der Gegensätze im mannigfachen
Wechsel des Werdens behauptete, die „schlaffere" Ansicht entgegen,
nach der „abwechselnd", tv uiQet (wörtlich so Empedokl. fr. 26, 1)
das Eine oder die vielen Dinge der Mannigfaltigkeit die Oberhand haben
und das Seiende darstellen. Das „Eine", um dessen Sinn Empedokles
sich lebhaft bemüht, wird nun zu einem Zustand der Welt in einer be-
stimmten Zeit, auf den im Fortschreiten der Zeit ein anderer, unserer
menschlichen Welt entsprechender folgt. Unbeschwert von den logischen
Aporien, zu denen der Eleatismus bereits gelangt war, glaubt Empe-
dokles auch die Kugelgestalt des Seienden beibehalten zu können. Der
kugelige Sphairos (fr. 26 ff.) ist für Empedokles zunächst derjenige
Übergangszustand der Weltentwicklung, in dem die Liebe ((pilörrjg)
allein herrscht und das Seiende in ihrer Harmonia festhält und in dem
der Streit, das andere kosmische Prinzip, das zur Entzweiung und
Mannigfaltigkeit drängt, noch nicht sein Spiel begonnen hat. Dieser
Sphairos ist ein Gott (fr. 31), ein heiliger Geist ((poqv leotj, fr. 134): man
sieht, wie hier Motive des Xenophanes wiedererscheinen und mit genialer
Naivität die „pantheistischen" und „panpsychistischen" Hintergründe
des vorsokratischen Denkens deutlich ausgesprochen werden. Jenem
Weltwesen werden zwar mit großer Drastik die anthropomorphen Glieder
abgesprochen (fr. 29), aber es „freut sich der ringsum herrschenden
Einsamkeit". Wie das parmenideische Prädikat „von allen Seiten
gleich, verwahrt in dem festen Verließ der Harmonia" sich mit dem
melissischen „ganz und gar endlos" verträgt und beide Prädikate mit
der Leugnung des Leeren (fr. 13/14), das kümmert Empedokles nicht.
In keinem Metaphysiker der Frühzeit ist der sorgfältige Arzt und auf-
geschlossene Beobachter organischen Lebens so unmittelbar zu Worte
gekommen wie in Empedokles, der das „starre" eleatische Sein in den
Lebensvorgang des Makro- und Mikrokosmos gleichermaßen hineinge-
zogen hat. In keinem Denker hat unbefangener eine im letzten Grunde
mythisch-magische Denkweise sich mit schärfster Beobachtung der Wirk-
TO
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
lichkeit und offenem Bliek für die Aufgaben der Wissenschaft vertragen
als in diesem Diehterphilosophen, der an der Grenze zweier Zeitalter
und zweier großer Reiche griechischen Geistes, ionischer Naturforschung
und westlicher unteritalischer Mystik sich zu einem wirklichen „Cha-
rakterkopf44 entwickelte, dessen Züge auch uns noch leidlich faßbar sind.
Nach dem Umrisse der Gedanken sieht es so aus, als ob das parme-
nideisehe Eins nun zum Mythos geworden wäre, zum Symbol einer
höchsten Einheit, die einmal an einer bestimmten Zeitstelle der Ver-
gangenheit bestanden hat.
In der Tat haben Empedokles die Fragen des goldenen Zeitalters wieder bewegt,
und die innere Zerrissenheit seiner Gegenwart scheint in ihm bereits das Idealbild einer
letzten göttlichen „Einheit mit sich selbst", diesen Grundgedanken aller Mystik,
erzeugt zu haben (fr. 128). Aber sofort schieben sich die zeitlich auseinandergezogenen
Zustände im Denken des Philosophen wieder übereinander, und ein neuer Zeit- und
Vergangenheitsbegriff, eine echt metaphysische Mythosauffassung bereitet sich vor,
in deren Ausbildung die Metaphysik der Wiedererinnerung, der Anamnesis, bald ihre
eigentliche Aufgabe erkennen wird.
Indem Empedokles jenen Ausweg aus dem quälenden Gegensatze der
eleatischen äXrj&eia und d6£a sucht und findet, ist er weit davon ent-
fernt, die Bedeutung des Eins für die Phasen der zur Mannigfaltigkeit
sich entzweienden Welt zu bestreiten. Vielmehr kommt bei ihm der
Form- und Ganzheitssinn des Eins erst voll zur Geltung; der Sphairos
bleibt in gewissem Sinne auch für die Welt der Vielheit die Form, die das
Ganze zusammenhält, die „Idee" der Welt, die der erkennende Mensch
im Auge haben muß, um nicht dem Truge der Sinne zu verfallen.
Dem Trug der Sinne erliegen heißt für Empedokles den Teil für das
Ganze halten, die Endlichkeit, Stückhaftigkeit alles menschlichen Er-
kennens nicht verstehen.
Fr. 2: GTtivamol y,hv yccQ nakdfXKi xcctcc yv7a xtyvvTai ■
nokkd d£ dtik* ffxnaia, tcc j dfxßkvvovot fjLSQCfivag.
navqov de C,iofjg idi'ov /ufiQog dd-Q^am'ieg
wzv/uoQot xanvoio dixi]v dq&ivitg äntnrccv
CCVTO fXOPOV miG&tVTSS OTIOI 7lQOG£XVQG£V SXCCGTOg
nävToo'1 ikavrojufpoi, to dy okov nccg €v/€tcci €vq£?v '
ovToug ovr imd^Qxrd rdd' cird^doiv ovt enaxovGTcc
ovt€ vbixii nsQikijnrd. gv d' ovv, inu wd' ekiaG&rjg,
Tifvotat ov nkiov rjf ßQOTftrj ^utjrig oqwq£v.
Denn engbezirkt sind die Sinneswerkzeuge, die über die Glieder der Menschen
gebreitet sind. Viel Armseliges dringt auf sie ein, das ihr Nachdenken abstumpft. Kaum
haben sie einen kleinen Teil des eigenen Lebens überschaut, so fliegen sie davon, vom
raschen Geschick wie Rauch in die Höhe entführt. So glaubt jeder nur an das, worauf
er gerade bei seinen mannigfachen Irrfahrten gestoßen, und doch rühmt sich jeder, das
Ganze gefunden zu haben. So wenig läßt sich dies für die Menschen sehen oder hören
oder mit dem Geiste erfassen. Du wenigstens sollst es aber doch, da du nun einmal
abseits von der Straße hierher gekommen bist, erfahren, freilich nicht mehr als sich
menschliche Einsicht zu erheben vermag.
Indem Empedokles dies erfaßt, kann er die Erkenntnisaufgabe des
Menschen klar bezeichnen: den Ausschnitt der Welt, der dem kurzen
D
DIE ENTWICKLUNG BIS ZUR SOPHISTIK
71
Leben des Einzelnen gegeben ist, möglichst zu weiten und von dem
Sinn, der auch in der entzweiten Welt ist, möglichst viel in sich hinein-
zuziehen.
Fr. 110, 1 — 5: sl yccg xiv Gq>' ädivijiair vno nQanideGGw tQsiGag
€vfA£v£u)g xa&ccQTjioiv l7io7iT€VGT]i? ^.sk&rrjiGiv ,
rccvm te Got fxdka ndvja di>' ctlwvog TiaQiaovTai,,
cckka T€ 7iokk' and Tcovd" £xryo€cci> ' avrd yaQ av%€t
tccvt' fig ij&og exctorov, onrji (pvGig bgtIv ixccarwi.
Wenn du nämlich auf deinen festen Geist gestützt wohlgesinnt mit reinem Be-
10 mühen sie (die Lehren des Meister?) betrachtest, so werden dir nicht nur diese alle-
samt auf Lebenszeit zu Gebote stehen, sondern du wirst noch viel anderes daraus
gewinnen. Denn es wächst von selbst dieser Schatz in deinen inneren Kern hinein,
wie eines jeden Natur ist.
Den Erkenntnisvorgang faßt Empedokles als eine Vereinigung des im
Menschengeiste vorhandenen Denkens mit derjenigen Phronesis, dem-
jenigen vÖTjjna, von dem alle Dinge erfüllt sind.
Fr. 110, 10: ndvra ydq ig&i, yporyatv fyeiv xai vwfxctTog cciaccr.
Den Grundsatz der ö^oioTid&sicc von Makro- und Mikrokosmos spricht
fr. 109 deutlich aus:
IQ yai'rji fxkv yccQ ycuav ÖTKanctfisv, vdari cf' vdwQ,
cti&tQi ef al&iQcc d7ov, cctkq tivqI tivq didrjkov,
aroQyrjv ds OTOQyiji, v&xog de t€ vefxe'i kvygdii.
Denn mit unserem Erdstoff erblicken wir die Erde, mit unserem Wasser das Wasser,
mit unserer Luft die göttliche Luft, mit unserem Feuer endlich das vernichtende Feuer;
mit unserer Liebe ferner die Liebe und ihren Haß mit unserem traurigen Haß.
Dies muß ergänzt werden durch den wesentlichen Gedanken, daß
auch zwischen der Phronesis draußen und drinnen dieselbe Beziehung
besteht und daß der Mensch durch das Denken, das voelv, sich dem
Ganzen der Welt nähert, wie wir es oben von einer anderen Seite her
o aus dem eleatischen Zusammenhang schon dargestellt haben.
Die Ausweitung der menschlichen Individualität, des jj&og — man
denke an Heraklits Spruch fr. 119: fj'loc, äv&QWTZm datfitov — zum
metaphysisch unterbauten Personenbegriff geht nach Empedokles in
bevorzugten Individuen über die kurze Spanne eines individuellen
Seelenlebens hinaus — hier münden die Gedanken des Empedokles in
die orphischen Seelenwanderungslehren ein. Im Fragment 129 spricht
er von einem Mann von übermenschlichem Wissen, dessen Erinnerungs-
kraft bei genügender Anspannung über zwanzig Menschenleben zurück-
reicht :
»0 de rig iv xeivoiGiv dvt]Q mgiwoicc eldwg,
ijg dr) juyxicrov noctmdiov ixirjoaro nkoviov
nciVTotiav T€ /udkiGTCc Gocpiov imrjQavog tQycov '
67l7l()T€ ycCQ Tldctjuni' 6qÜ;CUTO 7lQCCmd(GGlt>,
o ye jüiv ovküv Jidvriov kevGGecxev Bxaffrov
xai re dex' dv&Q<o7l(OV xai j ti'xoGiv altaveaaw
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Der Ausdruck rtavra lä tfvra und exaarov ist für die pluralistische
auf die Fülle der Erscheinungen gerichtete Wendung bezeichnend. Ob
Empedokles hier an Pythagoras dachte oder ob er eine solche Steigerungs-
möglichkeit allgemeiner bezeichnen wollte, ist nicht zu entscheiden;
jedenfalls nahm er in dem Sühnelied'4 auch für sich selbst göttliche
Kraft in Anspruch.
Fr. 112, 4: iyta (J1' vfiiv ütog cc^ißpoToc, ovxin d-vrjTos moktvfAeu . . .
Ich aber wandle jetzt als unsterblicher Gott, nicht mehr als Sterblicher vor Euch.
Diese Steigerung des individuellen Selbstbewußtseins bis zur Apo-
theose, nicht des eigentlichen Seelenkernes, sondern dessen indivi- 10
dueller Verkörperung ist in dieser Deutlichkeit unerhört im gesamten
Verlaufe der griechischen Metaphysik und bezeichnet den Anbruch
einer individualistischen Epoche, zu deren Uberwindung ganz neue
philosophische Kräfte angesetzt werden mußten. Zwar ist der Hinter-
grund der empedokleischen Haltung, die orphische Seelenmetaphysik,
stets gegenwärtig zu halten, und es ist zu berücksichtigen, was oben S.42
über die allgemeinen Voraussetzungen und Folgen der Seelenwanderungs-
lehre gesagt wurde. Aber das Bewußtsein, aus Glück, Glanz und Fülle
der Erkenntnis, aus der Einheit und All Verbundenheit einer hyperphy-
sischen Existenz zu stammen und einen göttlichen Seelenkern in das 20
menschliche beschränkte Dasein hineinzutragen (fr. 119), also die all-
gemeine Göttlichkeit des Seelenkernes, kann höchstens als eine gewisse
Milderung jenes individuellen Anspruchs auf Göttlichkeit angesehen
werden; die Selbstverkündigung des Wunderarztes und Sühneprie-
sters übertönt hier sowohl das Schuldbewußtsein der menschlichen
Seele als auch den für die Folgezeit wichtigsten Gedanken, daß nur der
angespannte Erkenntnis wille und die Erkenntnisarbeit den Seelenkern,
das Göttliche in der Seele in einer reineren Welterkenntnis objektivieren
können. So wichtig der Zusammenhang des Empedokles mit dem Elea-
tismus bleibt, gerade die Abwandlung des in diesem angelegten reinen 30
Erkenntnis-, ja Logikprinzips, die Verquickung mit großzügiger Empirie
auf der einen, aber auch mit magischer Naturbeherrschung auf der
anderen Seite ist ein Symptom für das Auslaufen und die Zersetzung
eines Zeitalters. Diese Art der „Religiosität" mußte rasch dem Skepti-
zismus verfallen, und es mußte lediglich das gesteigerte Selbstgefühl des
erkennenden Geistes übrigbleiben, wie es in der Sophistik des Gorgias
und Protagoras als Verfallsform eleatischer Dialektik sich uns zeigen
wird. Die Verbindung des Empedokles mit der Rhetorik, die Aristoteles
im „Sophistes", fr. 65, feststellt, trifft für die innere Haltung vielleicht
noch mehr zu als für die Form der Gedankenfügung (z. B. Vergleiche «
usw., woran Aristoteles zunächst gedacht haben mag).
Bei Empedokles konnte es Aristoteles so scheinen, als ob Denken
und Wahrnehmen, voelv und aiad äveaÜai, völlig gleichgesetzt, also
das sinnliche Dasein des Menschen innerhalb der qualitativen Mannig-
D
DIE ENTWICKLUNG BIS ZUR SOPHISTIK
faltigkeit mit seinem geistigen Dasein in der Erkenntnis schlechthin
identifiziert werde. Deshalb soll ihm derjenige Philosoph angereiht
werden, dem die Begründung eines reinen iVwsbegriffes und damit die
des Dualismus von Geist und Natur zugeschrieben zu werden pflegt,
Anaxagor as.
Zur Ergänzung des Folgenden, sei auf die in der Antike I, 244ff., gegebene „Ent-
wicklung des Geistbegriffs" verwiesen und besonders auf den III. Abschnitt, der
Anaxagoras und Sokrates im Anschluß an die Kritik des Anaxagoras im platonischen
Phaidon in einen größeren Zusammenhang einordnet.
Anaxagoras stimmt mit Empedokles überein in der Lehre von der
Mischung und Sonderung, in dem ausdrücklichen Interesse für die
qualitative Mannigfaltigkeit, freilich unter stärkerer Wahrung des
eleatischen Einheitsgedankens. Es fehlt ihm jeder Einschuß orphisch-
pythagoreischer Mystik, während er unmittelbar an Zenons Probleme
anknüpfend die mathematische Seite des pythagoreischen „Pluralismus44
kennt und würdigt ; er ist auch Mathematiker, eine Seite, die bei Empe-
dokles zurücktritt. Anaxagoras ist Ionier. Nicht zufällig hat er die engste
Beziehung unter allen bisher behandelten Philosophen zu Attika, zu
Athen; er ist der Freund des Perikles.
Während Zenon aus der unendlichen Teilbarkeit der quantitativen
Mannigfaltigkeit, der nollä, die negative Folgerung zog, daß sie zugleich
groß und klein sei, also einen logischen Widerspruch enthalte und daher
gegenüber dem einen Seienden nicht wirklich wäre, benützt Anaxagoras
diesen Gedankengang gerade zur Erklärung der qualitativen Mannig-
faltigkeit.
Über des Anaxagoras Stellung zu den quantitativen, d. h. hier mathematischen
Sachverhalten, die Zenon mit seiner These angeschnitten hat, wage ich noch nicht zu
urteilen. Fr. 3 kann m. E. weder mit tofxi, noch mit 10 ohne weitere Änderung ge-
lesen werden. Daß Anaxagoras auch dem Begriff des quantitativen Kontinuums nahe
war, scheint mir wahrscheinlich; die eigentliche Energie der Denkbewegung des Anaxa-
goras in den uns erhaltenen und bis jetzt faßbaren Fragmenten aber geht nach der
Richtung des Qualitativen.
Anaxagoras überträgt die eleatische Grundüberzeugung, daß nichts
aus nichts entsteht und Seiendes in jedem Sinne „schon da ist44, auf die
qualitativ bestimmten Dinge.
Fr. 10: 7iw? yaQ &v tx TQi/og ytvono #(?t| xal cd^ ix ur} GaQxog;
Denn wie sollte Haar aus Nicht-Haar und Fleisch aus Nicht-Fleisch entstehen
können ?
Die unendliche Teilbarkeit gibt ihm nun eine Lösung an die Hand.
Fr. 4, 1 : lovnov de ovrwg i/ovrojv /in] doxeTv svsTvcu nokkä rs xal navxoia iv näoi rotg
avyy.Qivoutvoig xal oneQjuara ndrreoy /(j^/j-cckov y.al Miag navroiag tyovra xal xQoidg xal rjdo-
väg.
Wenn sich dies so verhält, so muß man annehmen, daß in allem, was sich vereinigt,
Vieles und Mannigfaltiges enthalten ist und Keime von allen Dingen, die mannigfache
Gestalten, Farben und Geschmäcke haben.
74
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Fr. 6: X«i 0T€ df uicci {AoTqccI eiai tov ts iieydkov xal tov a/uixpov nkij&og, xccl ovriog av
ti>; u:) il tun« ■ ovdi fouv tlvcti, dkkd ndvTa naviog [xo~Qav [ifrfyei. ots Tovkd/KJrov
u>- ümv f-h ui, ovx av &vvcutq XMQiad-rjvcti, otd" dv i(p' iccvTov yeviad-ai, cckk' omoansQ ccq^tjv
elvat y.cl vin> lavm öuov. iv näoi de nokkd ivsajt, xccl twv dnoxQivo/usvwv toa nkij&og iv
mTs ufiCoci m- x(xi ikdcooGi.
Und da vom Großen und vom Kleinen gleich viel Teilchen vorhanden sind, so ist
auch nach dieser Auffassung alles in allem enthalten. Auch kann es kein Sonderdasein
geben, sondern alles hat an allem teil. Da es kein Kleinstes geben kann, so kann es sich
niemals absondern und für sich leben, sondern alles muß wie anfangs so auch jetzt
zusammen sein. In allem aber ist vieles enthalten, und zwar ebenso viel in den größeren 10
wie in den kleineren der sich ausscheidenden Dinge.
Wie Empedokles nimmt also auch Anaxagoras einen Zustand des
ofiov nana an, der sowohl als zeitlicher Ursprung des Alls wie als Prinzip
jedes einzelnen gegenwärtigen Dinges gedacht wird. Die Forderung
des Melissos, daß jedes einzelne Seiende, wenn es viele solche Seiende
gäbe, so wie das eine ganze Seiende gedacht werden müsste, beginnt sich
nun zu erfüllen : in jedem Einzelnen ist alles enthalten, das Eine ist der
Möglichkeit nach nicht nur vieles, sondern alles! Vor allem enthält
es auch alle qualitativen Gegensätze, die nicht „mit dem Beil abgehauen
sind" (fr. 8), sondern ineinander übergehen. 20
Der Begriff des Atomon fehlt bei dem Philosophen des Kontinuums offenbar auch
im Qualitativen; die Ideen (Gestalten, Farben, Geschmäcke), von denen fr. 4 spricht,
sind also nur Momente fließender Übergänge; es ist interessant, diese Meinung wieder
unter dem von Piaton aufgestellten Gesichtspunkt zu betrachten, wie weit eine Locke-
rung der „strengeren" heraklitischen Gegensatzlehre hier vorliegt; die Lockerung liegt
in einer anderen Dimension als bei Empedokles.
Die Sonderung des ursprünglichen Zusammenseins aller Dinge wird
durch zwei an sich unverträgliche Prinzipien erklärt, durch den Geist
und durch die Wucht einer schnellen Wirbelbewegung (TTeoix&Q'qatc),
fr. 9. Der Geist leitet die Bewegung ein, fr. 13, es bleibt aber ungewiß, 3(
ob die Bewegung nun nach ihrer eigenen „natürlichen" Gesetzmäßig-
keit, etwa der Trägheit, weiterwirkt; nach Eudemus' (bei Simpl. z.
Phys. 327, 26) guter Formulierung „automatisiert" Anaxagoras den
Weltprozeß :
xal IdvaZayöoag tov vovv iäaag . . xal at)ToixarCt.Mv rä rtoXXä avvforqai.
Gegen diese Unklarheit der iVwslehre richteten sich die Vorwürfe des
Altertums und der späteren Zeit, am schärfsten — nach dem Vorgange
Piatons im Phädon 97 b 3 — Aristoteles Metaphysik A4 985 a 18:
A. T€ ydq /u^avrji xqtjtcu tmi voji UQog Ttjv xoo/uonoitav, xccl orccr dnoQtjOrji did «V ahiav
dvayxijg eGTCj totc naQtkxei avrov, iv di ro7g dkkoig ndvia juäkkov ahiärat twv yiyvo^ieviov 4'
T} vovv.
„Denn Anaxagoras gebraucht bei seiner Weltbildung den Nus als
Maschinengott, und wenn er in Verlegenheit kommt, aus welcher Ur-
sache denn etwas notwendig sein soll, dann zieht er ihn herbei; im übrigen
aber sucht er die Ursache für das Werdende in allem anderen eher als im
Nus" In der Tat ist die Formulierung, die Anaxagoras seinem Nusbe-
D
DIE ENTWICKLUNG BIS ZUR SOPHISTIK
75
griff zu geben weiß, noch unentschieden, aber für die metaphysische
Haltung dieser Zeit deshalb besonders aufschlußreich.
Fr. 12: tcc fxev äkka navTog /uoTqccv /ueTe/ei, vovg de egtiv aneiQov xai avToxoarig xcd
jue/ueixTat ovdevi xQy/uccTi, dkkd fxovog avTog eq>' eavTov ionv. ei fxtj yccQ ecp' iavTov qv, dkkd
T€ü)t e/ue/uetx.TO äkkwi, /uereT/ev dv dndvnwv /oTjficcTtüv, ei e/ue/uecx.TO Tecot • ev navtl ydg navTog
[ao7q(x. eveGTiv, <x>G7i6Q ev Tolg nQocO-ev fxoi kekexrai • xcci dv exwkvev avTov tcc Gvfxfxefxeiyfxeva,
wäre [xydevog xQrjfxarog XQ<xxe7v 6/uoi'wg wg xai /uovov eovTa ecp' eavTov. icri yciQ kemoTaTov re
navTwv xQT]fAaT(t)v xai xa&ctQWTCCTov, xai yvMfxrjv ye ne^i navTog ndcav ic/et xai
io/vei [xiyiGTov. xai oca ye xpvxtjv i%et xai fieiXo) xai ekaGGO), ndvrojv vovg XQarel. xai irjg
0 7i€Qi/a)Q)]Giog rijg GVfxnaGijg vovg exQanjGev, wgt€ neQi/wQijGai rrjv ccq^v .... xai tcc GVfxuiG-
yojxevd Ts xai dnoxQivofxeva xai diaxQivb{Aeva ndvia fyvoj vovg .... navTanaci de ovder
dnoxqiveTat, ovde diaxqiveTai e\eoov and tov heQov nkrjv vov. vovg de nag ojnoiog e ö~t t>
xai 6 [leC^iov xai 6 ekdniav. eregov de ovdev iüTiv ofxoiov ovdevi, dkk' otiov nkeiOTcc
evi, ravTa evdrjkoTara e'v exaGTov eoTt xai tjv.
Das übrige hat Anteil an jedem, der Geist aber ist unendlich und selbstherrlich
und mit keinem Dinge vermischt, sondern allein, selbständig, für sich. Denn wenn er
nicht für sich, sondern mit irgendetwas anderem vermischt wäre, so hätte er an allen
Dingen teil, vorausgesetzt nämlich, er wäre mit irgendetwas vermischt. Denn in jedem
ist ein Teil von jedem enthalten, wie ich im vorigen gesagt habe; und dann würden ihn
die beigemischten Stoffe hindern, so daß er nicht ebensogut die Herrschaft über jeg-
3 liches Ding ausüben könnte wie allein für sich. Denn er ist das dünnste aller Dinge
und das reinste, und er besitzt jegliche Einsicht über jegliches Ding und die
größte Kraft. Und über alles, was nur eine Seele hat, Großes wie Kleines,
hat der Geist die Herrschaft. So hat er auch die Herrschaft über die gesamte
Wirbelbewegung, so daß er dieser Bewegung den Anstoß gibt . . . Und alles, was sich
da mischte und absonderte und voneinander schied, kannte der Geist. Vollständig
aber scheidet sich nichts vom andern ab oder auseinander, abgesehen vom Geiste.
Jeder Geist aber ist von gleicher Art, der größere wie der kleinere.
Sonst aber ist nichts dem andern gleichartig, sondern wovon am meisten
in einem Dinge vorhanden ist, dies bildet und bildete als das deutlichst Erkennbare
) das einheitliche Einzelding.
Fr. 13: xai enei rjQ'^aro 6 vovg xiveTv, and tov xivovjuevov natnog dnexotveTo, xcd oaov
exivrjGev 6 vovg, näv tovto diexQi&t] ' xivovfievtav de xai diccxQivofxevoxv *) neQt^iüorjGig nokkun
[xäkkov enoi'et diaxQiveo&at.
Und als der Geist die Bewegung eingeleitet hatte, sonderte er sich von allem,
was nun in Bewegung geriet; und so viel der Geist in Bewegung gesetzt hatte, das
wurde alles voneinander geschieden. Während der Bewegung und Scheidung aber be-
wirkte der Wirbel eine noch viel stärkere Scheidung der Dinge voneinander.
Fr. 14: 6 de vovg, og dei ecm, to xccQTa xai vvv ionv Tva xai tcc dkka ndvTa, ev Toit
nokkojt neQifyovTi xai ev ToTg nQoaxQi&eJoi, xai ev ToTg dnoxexoi uevoig.
Der Geist, der ewig ist, ist doch fürwahr auch jetzt da, wo alles andere ist, in der
) umgebenden Masse und in dem, was sich daran ansetzte und in dem Ausgeschiedenen.
Für diese Formulierungen ist charakteristisch :
1. Das Bestreben, den Geist allem Stofflichen entgegenzusetzen, ihm
Einsicht, Denken, Voraussicht, kurz die psychologischen Prädi-
kate des Geistigen beizulegen, die noetische Seite im eleatischen
Sein abzusondern. Seele ist der eigentliche Machtbereich des
Geistes. Geist ist stets von gleicher Art, er ist nicht meßbar (fr. 12,
Ende).
76
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
2. Trotzdem ist der Geist das „dünnste und feinste aller Dinge"; er
bleibl also doch in derjenigen gegenständlichen Sphäre, der er
gegenübergestellt werden soll! Dabei ist andrerseits
<\. die kosmogonische und die psychologische Leistung immer wieder
zusammengenommen: fr. 14.
Das parmenideische „Jetzt44, jw, und das melissische „Immer44,
(ui\ sind in eins gesetzt; also überall auch jetzt noch, wo immer Be-
wegung ist, ist der Geist wirksam; andrerseits heißt es, daß nachdem der
Geist die Bewegung eingeleitet hatte, die Umdrehung (rc6()i%(bo7j(ric)
selbst noch „viel mehr44 die Scheidung bewirkt. Wir sehen, wie erstens 10
das unbewältigte Problem der Schöpfung, also das der Zeit, ihrer Ent-
stehung und ihrer Dauer im denkenden Geiste, den Philosophen treibt,
ohne daß er es beherrschte. Zweitens aber das Problem der Bewegung.
Bewegung braucht sowohl Antrieb als auch Masse; gerade weil die
griechische Philosophie sich gegen den Mechanismus einer trägen Be-
wegung immer wieder sperrt, selbst wenn diese im Prinzip entdeckt ist,
macht sich immer wieder auch bei der geistigen Bewegung das Bedürfnis
geltend, ihr sozusagen einen Auslauf, ein Ausschwingen zu ermöglichen,
einen Ablauf, der den geistigen Bewegungsimpuls in sich aufnimmt,
ohne ihn dauernd als Anstoß zu brauchen. Immer wieder zeigt es sich, 20
daß das Prototypen von Bewegung für alle diese Philosophen der auf
einem Zeugungsakte beruhende Lebensvorgang in seiner ganzen Fülle ist.
Die geschichtliche Belastung der vorsokratischen Philosophie mit
dem mythisch-pantheistischen Begriff der belebten Welt tritt noch
einmal in die Erscheinung. Bei Diogenes von Apollonia ganz un-
verhüllt; scheinbar greift er mit seinem Urstoffe, der Luft, einfach auf
Anaximenes zurück. Aber der Formwandel, von dem wir eingangs spra-
chen, drückt sich in einer größeren Ausführlichkeit der Begründung aus ;
es ist inzwischen viel beobachtet und geschrieben worden, und es spricht
sich in allem eine größere Bewußtheit aus, die sich bis zu methodischen 30
Erwägungen der Darstellungsform steigert (Diog. fr. 1). Diogenes be-
schreibt die Bedeutung der Luft für das organische Leben in der Haltung
des Arztes und Naturforschers; das Thema des 2. Buches der Schrift
(cf. Diels vor B 1) über die menschliche Natur, neol äp&gcoTiov <p?'o>a>c,
ist sichtlich medizinisch gemeint. Alles, was vielleicht bei dem früheren
Denker mitgesprochen hat, wird hier deutlich gesagt.
Fr. 1 : Bei Beginn jeder Darlegung muß meines Bedünkens der Anfang (das Prinzip),
den man darbietet, unbestreitbar und die Sprache einfach und würdig sein. Fr. 2:
Meines Bedünkens sind, um das Ganze zusammenzufassen, alle vorhandenen Dinge
Abänderungen desselben Urstoffes und ein und dasselbe. Und das liegt auf der Hand. 40
Denn wenn der Inhalt dieser jetzigen Weltordnung, Erde, Wasser, Luft und Feuer und
was sonst in dieser Weltordnung in die Erscheinung tritt, wenn davon irgendetwas
anders wäre als das andere, d. h. anders in seinem eigentlichen Wesen, und wenn es nicht
bei seinen vielfachen Umschlägen und Abänderungen dasselbe bliebe, dann könnte es
sich auf keine Weise miteinander vermischen noch eins dem andern zum Nutzen
D
DIE ENTWICKLUNG BTS ZUR SOPHTSTIK
77
(cocpskrjaig) oder Schaden (ßkdßt]) gereichen noch auch etwa eine Pflanze aus der Erde
sprießen oder ein Tier oder sonst etwas entstehen, wenn es nicht so beschaffen wäre,
daß es ein und dasselbe ist. Vielmehr ändern sich alle diese Dinge aus demselben Ur-
stoff ab, nehmen bald diese, bald jene Gestalt an und kehren dann wieder in denselben
Urstoff zurück. Fr. 3: Denn ohne Geisteskraft (avev rotjGiog) wäre eine solche Ver-
teilung (des Urstoffes) unmöglich, daß er mit allen Dingen ein bestimmtes Maß einhielte,
mit Sommer und Winter, Nacht und Tag, Regen, Wind und Sonnenschein. Auch das
Übrige kann man, wenn man nur nachdenken will, so geordnet finden, wie es nur am
besten ausführbar ist.
Was Piaton am Nus des Anaxagoras vermißte, die Rücksicht auf
das Gute — Diogenes scheint es von dem pythagoreischen Harmonie-
und dem allgemein griechischen Maßgedanken aus, für Sokrates-Platon
unzulänglich, erwogen zu haben (fr. 3).
Der Hinweis auf die Lebensfunktion als breite Variation der Anaximenesthese
fr. 4: Ferner kommen dazu noch folgende wichtige Beweise. Die Menschen und die
übrigen Lebewesen leben durch Einatmen der Luft. Und dies ist ihnen Seele und Geistes-
kraft (l orjcng), wie in dieser Schrift noch klar dargelegt werden wird, und wenn sie sich
lostrennt, dann sterben sie und die Geisteskraft erlischt.
Die merkwürdig naive Gleichsetzung von Luft und Geist fr. 5: xal iioi doxst to
■njr votjoiv €/ov tivai b ctrjQ xakovfxevog vno twv avd-Qwnoiv, xal vno tovtov ndvTag xal
xvßeoräo&ai xal nävTOJV xqaTziv • amb yäo /uot tovto &tog doxsT elvcu xal hü näv dcfJ^^at
xal nävra diaTi&evai xal iv navil sveivai. xal touv ovde st> o ti juij ixiitysi tovtov.
Und dieses mit Geisteskraft Ausgestattete ist meines Bedünkens das, was von den
Leuten die Luft genannt wird, und es lenkt alle und beherrscht alle. Denn gerade dieses,
dünkt mich, ist Gott, ist allgegenwärtig und alles verwaltend und in allem vorhanden.
Und es gibt auch nicht das Geringste, das nicht an seinem Wesen teilhätte.
Wir können der Überlieferung dankbar sein, daß sie uns die Quint-
essenz vorsokratischer Metaphysik, soweit sie nicht der Eleatismus
innerlich begriffen und in sich aufgenommen hat, noch einmal zusammen-
gefaßt aufbewahrt hat. Es bestätigt sich,was der ganze Verlauf gezeigt hatte :
die „Entseelung64 der Natur, die dem modernen Menschen selbstverständ-
lich ist, die ästhetisch, religiös wieder aufzuheben gelegentlich sein
Bemühen ist, sie ist eine ungeheure Abstraktionsleistung. Der Begriff
einer Materie, einer mechanischen, auf Schwere, Trägheit oder ähnlich
„entseelten" Vorgängen beruhenden Bewegung mußte erst in ungemein
schwierigen Gedankengängen entdeckt werden, und gegen die Anfänge
dieses Prozesses innerhalb des griechischen Denkens setzte in der
attischen Philosophie sofort ein gewaltiger Gegenstoß ein.
Die genannte Abstraktion ist am weitesten in der letzten Ausstrah-
lung der eleatischen Schule, in der Atomistik, durch Leukippos und
Demokritos vollzogen worden. Hier vollendet sich die im Eleatismus
angelegte Umwandlung des Problems in ein Postulat : die Charakteristika
des Einen und Ganzen werden auf die unzähligen „Atome", d. h. nicht
weiter auflösbaren Einheiten des Vielen, der ttoXXcc, restlos übertragen.
Arist. de gen. corr. A 8, 324b 35 ff. — Diels Vors. 54 A 7; dazu Burnet- Schenkl
303 ff. Das Leere als Voraussetzung der Bewegung angenommen, Demokr. fr. 156:
fxr] fläkkov to d£v TO /urjOt-v ftre.i.
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Echt eleatisch wird die Erkenntnis dieser Einheiten die echte, die
sinnliche dagegen die unechte genannt (Dem. fr. 11), wobei freilich
wieder typisch griechisch die echte nur die Fortführung der sinnlichen
bleibt :
orav >) oxoxty utjxeit dvi'tjrcu jmjTe bqrjv in' i-kariov [xtjrs axovfiv [x^rs odfxäa&ai jutjrf
}'fif(h'hci ui'jif- ir jiji ipavosi cclo&txvGG&cu, dkk' im ke7uöj£Qov (det]i ^tjtsJv, tots imyivsjai
i\ ; i ',0V; an ogyccrop fyovocc tov riöocct kemoTsgor) (ergänzt v. Diels).
„Wenn die unechte nicht mehr ins Kleinere sehen oder hören oder
riechen oder schmecken oder tasten kann, sondern die Untersuchung ins
Feinere geführt werden muß, dann tritt an ihre Stelle die echte, die ein
feineres Denkorgan besitzt". Der Wirbel, die Bewegung der Atome
(Dem. fr. 167/168), erfolgt ohne besonderen Anstoß, ohne die Liebe und
den Haß des Empedokles, ohne den Geist des Anaxagoras. Aber auch nicht
etwa durch Zufall, Leukipp, fr. 2 :
ovdiv XQ^iUa yfrBTCU, eckka ndvTa. ix koyov rs xai in' dvdyxrjg.
Kein Ding entsteht ohne Ursache, sondern alles aus bestimmtem Grunde und unter
dem Drucke der Notwendigkeit.
Daß auch hier von keiner Schwere oder Trägheit im physikalischen
Sinne die Rede ist, halte ich durch die kurze Geschichte der Vorstellung
von Schwere bei Burnet- Schenkl, S. 311, für erwiesen, so sicher die Ab-
sicht, auf die ich oben die Unklarheiten des Anaxagoreischen Nus-
begriffes zurückführte, hier noch deutlicher ist. Um diese Absicht zu
verstehen, muß man sich die Bedeutung von löyog und äväyy.ri im
Zusammenhange dieses Leukippfragmentes überlegen. Alles Erkennen
sucht Gesetzmäßigkeiten zu erfassen; je ausnahmsloser, „unfreier",
zwangsläufiger, der äväyy.rj entsprechend die Gesetzmäßigkeit ist, desto
mehr ist dem Logosbedürfnis entsprochen. Deshalb konnten die Ato-
misten hier einen neuen und eigentlichen Geistbegriff postulieren —
das zitierte Wort des Leukipp steht in einer Schrift tisql vovl Wir
müssen uns nun immer gegenwärtig halten, daß die antike Metaphysik
so weit wie möglich die Scheidung einer Kultur- und Natursphäre ver-
mied. Dies ermöglichte einerseits das Festhalten an dem Begriffe des
Lebens in seiner diese Scheidung überbrückenden Allgemeinheit, be-
wirkte aber gleichzeitig, daß die der Natursphäre angemessene Art der
Gesetzmäßigkeit auch auf die Kultursphäre übergreift. Auch das Men-
schenleben steht für Demokrit unter einer aus sich wirkenden Gesetz-
mäßigkeit, die nicht zu stören die Hauptpflicht des Menschen wird. Die
übergreifende Einheit der Welt, um die sich Anaximander und Solon
bemühten, bleibt auch hier das Ziel.
Burnet hat S. 314 m. E. mit vollem Rechte auf zwei Umstände hingewiesen, die
diesen scharfen Beobachter und Denker gehindert haben, die Schwere, besonders in
der Form der kosmischen Fliehkraft, und damit die der physikalischen Natur für sich
angemessene Gesetzlichkeit zu erkennen. Einmal die bei der geozentrischen Auffassung
natürliche Meinung, daß die Erde als das Schwerste gerade im Mittelpunkt bleibt — ■
D
DIE ENTWICKLUNG BIS ZUR SOPHISTIK
79
hier haben die Wirbeltheorien sich redlich abgequält, eine Erklärung zu finden. Zweitens
die nach Arist. de anima 2, 403b 28 von Demokrit angegriffene pythagoreische Theorie
von den „schwerelosen" Sonnenstäubchen, über die oben S. 49 einiges gesagt wurde,
das ebenso für die „Monadologie" der Atomisten gilt.
Was immer wieder beobachtet werden kann, daß der Glaube an eine
feststehende, unverbrüchliche Gesetzmäßigkeit die Tatkraft nicht nur
nicht ausschaltet, sondern befördert, bestätigt sich auch hier. Derjenige
Denker, der den Satz des Leukipp von Xöyoc und ävdyxrj sich sicher-
lich voll angeeignet hat, prägt das Wort: Gut ist noch nicht Nicht-
0 Freveln, sondern Nicht-einmal-freveln-wollen (Dem. fr. 62 ; vgl. 68, 89).
Fragment 119 beweist, wie einheitlich die naturhafte und menschliche
Gesetzmäßigkeit gemeint ist: Die Menschen haben sich ein Idol des Zu-
falls gebildet zur Beschönigung ihrer eigenen Ratlosigkeit. Denn nur in
seltenen Fällen wirkt der Zufall der Klugheit entgegen: das meiste im
Leben weiß ein wohlverständiger Scharfblick ins Gerade zu richten.
Dazu das schöne Wort fr. 176: Der Zufall ist freigebig, aber unzuver-
lässig, die Natur dagegen ruht auf sich selbst (cpvöig de adräQxijc). Und
darum trägt sie mit ihren geringeren, aber zuverlässigen Mitteln doch
den Sieg davon über die größeren Verheißungen der Hoffnung.
0 Natur und Erziehung werden verglichen als zwei aufeinander bezogene
parallele Mächte, fr. 33: „Die Natur und die Erziehung sind ähnlich.
Denn die Erziehung formt den Menschen um, aber durch diese Um-
formung schafft sie Natur." An Solons Verhältnis zu dem Dichter der
Götterversammlung im Anfang der Odyssee (s. o. S. 28) werden wir
erinnert, wenn wir hören: Die Götter gewähren den Menschen alles Gute,
jetzt und ehedem. Nur alles, was schlimm, schädlich und unnütz ist,
das schenken die Götter weder jetzt noch ehedem den Menschen, sondern
sie selbst tappen hinein infolge ihrer Sinnesverblendung und Torheit
(fr. 175).
o Daß die Götter hier nichts anderes sind als die Garanten der in sich
ruhenden (pvoig adrccQy.rjc (fr. 176), geht aus der „atheistischen" Haltung
der Atomisten hervor (vgl. etwa fr. 30, das sich gegen Diogenes richten
könnte : Einige der gelehrten Männer erheben die Hände zu dem Orte,
wo wir Hellenen sagen, daß die Luft sich befinde, und sprechen dabei:
alles beredet Zeus mit sich ... ).
Lucrez zeigt, daß bei dem größten Temperamentsunterschied die
atheistische Struktur der atomistischen Weltanschauung noch nach
Jahrhunderten dieselbe bleibt. Wenn Lucrez im ersten Buch einen Hym-
nus auf Empedokles einlegt in aller Form religiöser Apotheose -
|o so ergibt sich aus dem Vergleich eine bei allen Atomisten anzutreffende
neue geistige Haltung. Bei Empedokles sahen wir die Apotheose des
Menschen in der oben S. 72 beschriebenen Form, der Lucrezens Hymnus
gut entspricht. Bei Demokrit ist äußerlich der Anblick ganz anders.
Gelassen und frei von jedem übermenschlichen Anspruch findet auch er
80
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
das Göttliche zunächst im bedeutenden Menschen — von ihm stammt
die erste Theorie des Genies, fr. 18 — schließlich in jedem Menschen,
der den störenden Überschwang der Individualität zu dämpfen versteht:
die Seele wird das Haus eines Dämons (fr. 171). Die Seele des sich be-
herrschenden, zu Maß und Stille bestimmenden Menschen wird die Quelle
derjenigen Güter, die die Menschen sonst auf die Götter zurückführen,
fr. 170: eddctifiovty lpv%fjg xal xaxodaifiovii] Seligkeit und Unseligkeit
ruht in der Seele.
Einsicht und Wissen, ativetfig und imartfiut] gehören zu diesem Tugend-
begriff (fr. 181), und so weist auch diese Haltung auf die sich gleich-
zeitig entwickelnde attische Philosophie hin.
Es ist merkwürdig, wie vielfältig und in ihrem einheitlichen Ursprung
oft schwer erkennbar alle diejenigen Lehren und Haltungen sind, die
entweder sachlich aus dem Eleatismus entsprangen (wie die Atomistik)
oder die zur Bestätigung eigener Lehren auf diese erste und größte
logische Metaphysik oder metaphysische Logik zurückgegriffen haben.
Dies gilt von der negativen Metaphysik der Sophisten, negativ,
insofern bei gleichbleibender Argumentation die unausgesprochenen
geistigen Grundlagen sich schließlich ins Gegenteil verkehren, der Nus
zum subjektiven Einzelbewußtsein wird. Je länger man die Entwicklung
des griechischen Denkens in der angegebenen Weise verfolgt, desto
fließender wird der Ubergang, der von Zenon zu Protagoras und Gorgias
führt; jedenfalls gehört Demokrit schon völlig in diese Bewegung hinein,
genau so wie sich das Weltbild des Thukydides mit den eben skizzierten
Tendenzen nach einer allmächtigen, aber dem Menschen kein Wollen und
Tun ersparenden Gesetzmäßigkeit leicht in Zusammenhang bringen läßt.
Die Tendenzen, die wir bisher festgestellt haben, kulminieren in
folgender Weise, überspitzen sich, isolieren sich voneinander und rufen
Neues auf den Plan:
1. Die „atheistische" Tendenz wird wirklich zur Gottesleugnung ; nicht
zur Aufnahme des Göttlichen aus dem Makrokosmos in den Mikrokosmos,
sondern zu einem Bestreiten des Göttlichen in jeder Form, als allge-
meiner, aufreizender, vor allem unverbindlicher Zweifel: Protagoras
fr. 4: „Von den Göttern vermag ich nicht zu erkennen, ob sie sind
oder ob sie nicht sind, noch welcher Art ihre Gestalt sei. Vielfältig ist
nämlich das, was eine Erkenntnis von ihnen hindert, einerseits ihre
Unerforschbarkeit, andrerseits ist das menschliche Leben zu kurz".
Oder verdächtigende kulturphilosophische Ableitung des Götterglaubens
von Bosheit und Dummheit (Kritias, fr. 25). Charakteristisch ist die
säkulare Stimmung bei Thrasymachos (fr. 1 der politischen Musterrede),
verbunden mit einer bewußten, das TiQeaßvTaxov ableugnenden „Jugend-
bewegung44 : „Ich wünschte wohl, Athener, ich hätte in jener alten Zeit
gelebt, als die Jüngeren schweigen durften, da die Verhältnisse sie nicht
zwangen, öffentlich zu reden, und die Älteren den Staat richtig verwal-
D DIE ENTWICKLUNG DER VORSOKRATISCHEN METAPHYSIK 81
teten. Da uns aber das Geschick in eine solche Zeit gestellt hat, wo wir
zwar auf andere, die den Staat beherrschen, hören, das Unheil aber selbst
tragen müssen, das — und das ist das Schlimmste — nicht Werk der
Götter oder des Zufalls, sondern der jeweils Verantwortlichen ist, so
ist es notwendig, zu sprechen."
2. Die Wichtigkeit der einzelnen Individualität übersteigert sich : (Pro-
tag, fr. 1, TtavTtav xQ7ifl^T(,)V pfToov earlv äv&Qwnoq. Der Mensch ist
das Maß aller Dinge), wobei die verpflichtende Berufung auf die im
Seelenkern ruhenden und wachzurufenden göttlichen Kräfte zurücktritt,
also vom „Menschen" nichts übrig bleibt als leere Subjektivität.
3. Der Erkenntnis- und Lernbegriff verflacht; die Einheits- und
Ganzheitstendenz des voelv geht verloren. Dem theoretischen Sensua-
lismus entspricht ein lediglich enzyklopädisches Bereitstellen und
Aneignen von fertigem, handgerechtem Wissen, jene natürliche Folge
einer gesteigerten Produktion echter einzelwissenschaftlicher Erkennt-
nisse, die wir allenthalben sich ankündigen sahen.
4. Aus dem zweiten ergibt sich die Notwendigkeit, dem aus seinen
Bindungen befreiten Ich eine neue Form überpersönlicher Inhalte im
Politischen zu schaffen (Demokratie). Allenthalben erwacht das Interesse
am Staate, an der Polis, an der Geschichte, an der Kulturkritik, d. h. an
Theorien über die Bürgertugend, äqex^ 7iofoux?j, vor allem aber an
dem Mittel der Beeinflussung der anderen: Rhetorik, als Kunst über-
zeugender Rede (Gorgias in Piatons gleichnamigem Dialoge 453 a;
Diels 76 A, 29; 27). Aus dem dritten folgt, daß das an sich haltlose und
ungegründete Wissen von Tatsachen zur Neugliederung der Gesellschaft,
zur sozialen Differenzierung eingesetzt wird. Daher die doppelte Absicht
aller Sophisten : Vermittlung fertigen Wissens, „Bildung", und zugleich
der Anspruch, politische Tüchtigkeit und Einfluß in der Polis ver-
schaffen zu können.
Wir nannten die Sophistik negative Metaphysik; sie könnte auch
defiziente Anthropologie heißen. Sie macht alle positiven Aufgaben der
Metaphysik und Anthropologie besonders deutlich.
In Attika hatte sich ein — im Gegensatz zur Sophistik — boden-
ständiges Denken auf allen den bisher genannten Gebieten gerade so
weit entwickelt, daß nun der Rückschlag gegen die Sophistik, der Vor-
stoß zu einer neuen Metaphysik, erfolgen konnte. Wir hatten bisher den
Anschein nicht gemieden, als ob die Entwicklung der griechischen Meta-
physik vorwiegend eine problemgeschichtlich zu betrachtende Eigen-
bewegung des „objektiven Geistes" sei, in der die einzelnen Individuen
weniger als Individualitäten denn als Ausdruck einer höheren Gesetz-
lichkeit zu betrachten sind. In Sokrates, Piaton und Aristoteles stehen
nun drei Größen vor uns, die aus X6yog und ärdyxrj nicht zu erklären sind.
Daß Sokrates in die Geschichte der Metaphysik gehört, ist erst zu
beweisen. Auch hier liegt eine „negative" Metaphysik vor — aber in
Handb. d. Phil. I. D 6
82
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
anderem Sinne als bei den Sophisten. Dort ein Aufgeben und Fallen-
lassen mächtiger Aufgaben, die vorher schon alle gestellt und ange-
faßt waren, oder — noch gefährlicher — ihre Scheinlösung. Hier bei
Sokrates das übermächtige Bewußtsein der Verantwortung jeder ein-
zelnen Aufgabe gegenüber, und daher ein ebenso großer Zweifel, die
Aufgabe theoretisch lösen zu können, wie der unerschütterliche Glaube,
trotzdem im Sinne der Aufgabe leben zu sollen. War die Sophistik
ungenügende Lehre vom Menschen, so ist Sokrates das Paradeigma des
Menschen, das für den geeigneten Betrachter den Logos des Menschen
neu zu finden ermöglicht. Es hat nie ein bedeutenderer Mensch größere
Biographen gehabt als Sokrates in seinen Schülern — und das heißt für
uns : in Piaton. Mit Sokrates beginnt sich die griechische „Metaphysik"
auf ihre eigenste und engste Aufgabe, den Menschen, zu konzentrieren,
und Piaton tritt den Nachweis an, daß diese zugleich ihre größte und
reichste werden und daß in dieses Gefäß der gesamte Inhalt der bisherigen
Metaphysik aufgenommen werden kann. Der Ansatzpunkt ist der denk-
bar einfachste, wenn man auf Piatons Kritik des Anaxagoras im Phaidon
immer wieder hinblickt : es ist der Vorrang der Frage : was soll ich tun ?
vor der Frage : was ist ? Die durch Kant gekennzeichnete Lösung des
metaphysischen Problems ist hier genau vorgezeichnet — vielleicht auch
die Richtung ihrer tieferliegenden Überwindung, d. h. der Vereinigung
des Sollens und Seins im Menschenbegriffe. Kant selbst stellte über die
drei Fragen : was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen ?
die vierte : was ist der Mensch ?
IV. DIE NEUBEGRÜNDUNG DER METAPHYSIK IN DER
ATTISCHEN PHILOSOPHIE.
1. ATTISCHES DRAMA. SOKRATES.
Um die Leistung des Sokrates zu kennzeichnen, wird seit dem Alter-
tum gern die Wendung gebraucht, er habe die Philosophie vom Himmel
herabgerufen und unter den Menschen des Marktes usw. angesiedelt.
(Cicero, Tusc. V ivio.) Die gesamte bisherige Darlegung der griechischen
Metaphysik muß gezeigt haben, in welchem durchaus eingeschränkten
Sinne dies richtig ist, wie weit dieses „Herabführen" denn überhaupt nötig
war. Man könnte eher die in der Sophistik zum Durchbruch kommende
Entwicklung dadurch kennzeichnen, daß sie erst die Voraussetzungen ge-
schaffen hat, von denen aus ein Gegensatz zwischen den Dingen am Himmel
und den Angelegenheiten der Menschen so erlebt wird, wie er in jenen
Worten bei Cicero zum Ausdruck kommt. Denn die vorsophistische Meta-
physik philosophierte instinktiv und grundsätzlich aus einer Haltung
heraus, für die der Logos das „ganze Sein" — die Welt im weitesten Sinne
und das menschliche Tun in ihr im engsten Sinne konkreten Handelns —
D
ATTISCHES DRAMA. SOKRATES
83
gleichmäßig umspannte, und erst seit der Sophistik gab es für beide
Seiten besondere Wissenschaften. Von der Wissenschaft der „Meteora",
der Dinge am Himmel, und auch der „unter der Erde ruhenden Geheim-
nisse der Natur", konnte der Sokrates der platonischen Apologie, dem die
Parodie philosophischer „Exaktheit" in den Wolken des Aristophanes
vorschwebte, mit Recht erklären, er betriebe sie nicht. Ein halbes Jahr-
hundert später kann Piaton im Theaitetos (173 e) mit Berufung auf Tha-
ies, also auf das vorsokratische Bild des Philosophen, dem Sokrates Worte
in den Mund legen, die wie eine ausdrückliche Zurücknahme des in der
10 Apologie (17b) Gesagten klingen; denn hier ist es Pflicht und Vorrecht
des Weisen, sich um die „Dinge am Himmel" und die „unter der Erde"
zu kümmern, mag er auch dadurch den Ränken des Marktes und des
Gerichtes hilflos unterliegen. Das klingt immer noch echt im Munde des
Sokrates für den, der sich seinen Tod Jahrzehnte später in seiner inneren
Notwendigkeit vorzustellen sucht, und Piaton hat den Lehrer nie etwas
sagen lassen, das aus dem Idealbilde herausgefallen und mit seinem tief-
sten Wesen unvereinbar gewesen wäre. So bezeichnen diese beiden Stellen
der Apologie und des Theaitetos die Pole, zwischen denen sich die Theorie
einer metaphysischen Anthropologie notwendig bewegen muß, wenn sie
20 auf die Frage Kants „was ist der Mensch" eine dem vollen Sinn dieser
Frage entsprechende Antwort sucht. Diese Antwort kann dem einen oder
dem anderen Pole bald näher, bald ferner bleiben; bald sucht dieseWissen-
6chaft sich der auch alles menschliche Tun umspannenden Gesetzmäßig-
keit kontemplativ zu bemächtigen — „was kann ich wissen ?" — , bald
wendet sie sich zu den Pflichten des Menschen in seiner irdischen Welt
und stellt ihm die Frage der Freiheit vor Augen : „was soll ich als Mensch
und Bürger dieser Welt tun ?", bald sucht sie in der dritten Frage, „was
darf ich hoffen", religiös sich des Zusammenhanges der beiden ersten
Fragen zu versichern.
30 Nachdem wir jene ciceronische Charakterisierung in ihrer Berechti-
gung eingeschränkt haben, dürfen wir zugeben, daß in ihr ein richtiger
Kern ist; die griechische Metaphysik gewinnt in der attischen Philosophie
eine bestimmtere neue Bodenständigkeit „in diesem Leben", die Entwick-
lungslinie, die wir durch die Stufen Hesiod und Solon bezeichnet
haben, setzt sich fort, und zwar unmittelbarer als die übliche Anordnung
Sophistik- Sokrates zeigt. Man darf nicht vergessen, daß Sokrates geboren
wurde, als die Generation der Marathon- und Salamiskämpfer noch lebte
und dem jungen Menschen noch das Bild einer in sich ruhenden, von
einem fast übermenschlichen kriegerischen und nationalen Erfolge getra-
40 genen Stadtgemeinschaft einpflanzen konnte. Hiermit hängt die philo-
sophische Haltung des Sokrates eng zusammen. Es kann ein Denker, wie
die Sophisten, von Stadt zu Stadt wandern und über die Dinge des
Staates verallgemeinernd und abstrahierend reflektieren; oder er kann
aus der Heimat auswandernd die Fassung der väterlichen Gesetze freier
D 6*
84 METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
gestaltend für eine Kolonie sich die geeignetste Staatsform aussinnen —
ein unter den Griechen recht häufiger Typus staatsphilosophischer Be-
tätigung — ; er kann wie Sokrates in seiner Vaterstadt wurzelnd sie auch
in eigener Not und von ihr verkannt festhalten (Kriton 50 c ff.) und aus
einer schlechthin unüberbietbaren tätig-leidenden Verbundenheit heraus
an ihr in ,,ideierender Anschauung" das Wesen der Stadt und der mensch-
lichen Gemeinschaft überhaupt denkend erfassen und sie in tätigem vor-
bildlichem Leben und Sterben in höchster Leibhaftigkeit und Anschau-
lichkeit darstellen.
Bei dieser Verwurzelung des Sokrates in der heimischen Erde — von
Bauerngesinnung hat man mit Recht bei diesem attischen Ackerbürger
sprechen können — muß hier ein Wort über das attische Drama gesagt
werden. Wie für die Darstellung der ersten Periode des metaphysischen
Denkens das Epos berücksichtigt werden mußte, so hier bei der zweiten
diejenige Kunstgattung, in der attisches Gestalten und Denken aus man-
nigfaltigen äußeren Anstößen und Anregungen sich eine charakteristische
Form geschaffen hat, die für den platonischen Dialog Vorbild wurde.
„Piaton will der diccdo/og der großen attischen Kunst sein, in ihm sind der ideale
Tragiker und Komiker des Symposion zu einer höheren Einheit aufgehoben" (Jaeger,
Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles, 1912, 140). Wir
dürfen uns hier wesentlich kürzer fassen, weil das auf alles Spätere in seiner Wirkung
übergreifende homerische Epos ausführlich entwickelt ist, vor allem aber, weil wir nun
neben dem dichterisch geformten Gesamtbilde der Welt in der attischen Philosophie
eine viel vollständigere Darstellung des metaphysischen Denkens haben als in der
ersten fragmentarisch überlieferten Epoche — abgesehen von Sokrates!
Die Beziehung des Solon zu dem homerischen Warnermotiv (s. o.
S. 25 ff.) hat eine große Parallele in den „Eumeniden" des Aeschylus,
die uns in den Mittelpunkt desjenigen metaphysischen Weltfühlens und
-denkens versetzen, das wir als den Untergrund der attischen Philosophie
verstehen müssen. Es ist hier wie in der Odyssee die Freveltat des
Aigisthos und der Klytaimnestra, die bei ihrem Weiterwirken, dem
Muttermord des Orestes und dessen Entsühnung, in der Gestaltung
durch Mythos und Tragödie mit der Geschichte Athens und der Idee,
die für jene Generationen sich in ihr verkörperte, verknüpft wird.
Aeschylus fand folgende Überlieferung vor, deren zum Teil widersprechende, zum
Teil vielleicht auch bereits für ihn unbestimmte Züge sich ihm zum unmittelbaren
Ausdruck dieser Idee gestalteten. Apollo, der den Muttermord des Orestes an Kly-
taimnestra nach dem Gesetz der Blutrache forderte, hilft ihm auch gegen die zürnende
Seele der Mutter und die mit ihr verbündeten Gottheiten der mütterlichen Erdtiefe,
indem er diese mit Gewalt vertreibt und durch ein je nach Zeit und Glauben verschieden
gestimmtes Sühnritual den Mörder vom Mutterblute reinigt und so endgültig entsühnt.
Aus einer ganz neuen Schicht von Anschauungen stammt die andere Nachricht, daß
Orestes wie manche anderen Blutverbrecher vor dem Blutgerichtshof in Athen auf
dem Areopag erschienen und dort freigesprochen worden sei, wobei allerdings der
Muttermord nicht das Entscheidende, sondern der Mord an Aigisthos mindestens
ebenso wichtig war (vgl. v. Wilamowitz, Einl. in die Übersetzung der Eumeniden).
Aeschylus vereinigt beide Hauptschichten der Überlieferung so, daß er im ersten Akte
D
ATTISCHES DRAMA
85
Apollo die Erynnien aus seinem Tempel verjagen, sie aber den Orestes nach Athen ver-
folgen läßt, wo dieser auf Apollos Rat Entsühnung sucht, und er betont das Ätio-
logische des Mythos, in dem zu einer bestehenden Einrichtung der mythische Anlaß,
die Ursache ihrer Einsetzung, gesucht wird.
Obwohl die beiden streitenden Mächte, die Erynnien und Apollo,
bereit sind, sich dem Spruch der Athene zu unterwerfen, lehnt diese es
ab, diesen besonderen Rechtsfall zu entscheiden und setzt den Areopag ein.
Zum ersten Male also werden Menschen, Bürger der Stadt Athen, zu diesem
Richteramt berufen. Alle göttlichen Mächte unterwerfen sich dem mensch-
lichen, freilich von Athene sichtbar eingesetzten Gerichtshofe. Sie selbst
stimmt als letzte ab, und offen gibt sie ihre Stimme dem Freispruch, der
mit Stimmengleichheit erfolgt, nach dem alten Rechtsgrundsatz, daß im
Zweifelsfalle für den Angeklagten entschieden wird. Die alten Gottheiten
der Erdtiefe begehren auf, aber Athene versöhnt sie, indem sie den Kult
der Eumeniden in Athen einrichtet und die erste Prozession anführt, die
die versöhnten Erinnyen, nun wirklich „Eumeniden", zu ihren Wohn-
sitzen am Fuße der Burg geleitet.
Das Zurückgreifen auf die kultische Urbedeutung der Tragödie, indem
sich alle Darsteller, ein ansehnlicher Teil des Volkes, am Schluß in jubeln-
dem Festzuge vereinigen, die ätiologische Einsetzung eines höheren Ge-
richtshofes, dessen Kompetenzbeschränkung auf die im Einsetzungs-
mythos vorgegebene Blutgerichtsbarkeit im geschichtlichen Augenblick
der Dichtung eine hohe innerpolitische Bedeutung hatte, die Aktualität
des Bündnisses zwischen Athen und Argos, als dessen König Orestes auf-
tritt, die Rezeption der möglicherweise argivischen Bezeichnung Eume-
niden zusammen mit der Befriedung jener aus früherer Religiosität stam-
menden unheimlichen Gottheiten, die Lokalisierung ihres Kultes in Athen
— alles das gibt der über dem Ganzen stehenden ungeheuerlichen Idee,
göttliche Mächte unter ein schlichtes, wenn man will ratloses, jedenfalls
zu keiner eigentlichen Entscheidung gelangendes menschliches Gericht
zu stellen und dadurch diesem Gerichte und der ganzen Stadt sinnfällig
göttliche Legitimierung und göttliche Kraft zu verleihen, jene Boden-
ständigkeit in der Konkretion dieser in Athen am Dionysosfeste des
Jahres 458 aufgeführten Tragödie. Dieses Ineinander von Idee und un-
mittelbarer substantieller Existenz zu erfassen, als Ausdruck einer ganz
bestimmten metaphysischen Haltung zu würdigen, ist unsere eigentliche
Aufgabe an dieser Stelle unserer Erörterungen. Die Chöre der versöhnten
Eumeniden, die nun statt des Unglücks alles Glück, das mütterliche Erd-
gottheiten spenden können, der Stadt in Aussicht stellen, klingen an die
Gedanken der solonischen Eunomia (s. S. 27) deutlich an (V. 976 — 987):
Und er, nimmer satt des Unheils, nie soll durch diese Stadt,
ich wünsche es ihr, der Bürgerkrieg dröhnen; nie möge
der Staub, trank er schwarzes Blut der Stadtgenossen,
im Heimzahl-Eifer neuen Unheils mörderisch
Entgelt heischen in der Stadt. Freudenzoll sollen sie
86
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
tauschen, den Sinn dem Ganzen zugetan,
Und eines Herzens sei ihr Haß.
Das ist, unter Menschen, vieler Dinge Heilung. R. Härder.
Die Stellen Piaton Timaios 40b und Aeschylus Choephoren 127 „die
Erde, unsere Nährerin, die alles erzeugt und nährt", wiederholen Ge-
danken, wie wir sie oben (S. 27) aus den homerischen Gedichten belegen
konnten; die sinnfällige Einheit der Entwicklung bei allem Wandel der
Erscheinungsformen ist der zweite für die Geschichte der griechischen
Metaphysik wichtige Zug.
Wird aber nicht in den „Eumeniden" die Herrschaft den Göttern 10
aus der Hand genommen und der menschlichen Gemeinschaft übergeben ?
Klingt das nicht auch an die Rede des Thrasymachos an, die wir S. 80
anführten? Dieser Vergleich ist der wichtigste; denn wir sehen doch so-
fort die große Verschiedenheit: die Zeit der Götter ist nicht vorüber,
aber ihr Sein wird anders aufgefaßt. Wenn irgendwo Schillers Wort sich
mit Anschauung füllt, dann hier; nimm die Gottheit auf in deinen Willen,
und sie steigt von ihrem Herrscherthron. Die entscheidende Entwicklung
zur Immanenz des Übersinnlichen im Sinnlichen, die die Philosophie erst
in langem schwerem Ringen sich begrifflich klar machte, ist von der
dichterischen Gestaltung vorweggenommen worden. 20
Wilamowitz hat dies in schlichter Deutlichkeit so ausgedrückt (a. a. O. 246): „Die
geordnete menschliche Gesellschaft, deren Ordnung der Staat ist, deren Organe die
Beamten und Gerichte, übernimmt die Pflicht, für die sittliche Gesundheit der Gesell-
schaft zu sorgen: dann werden solche Taten, die den Rächerinnen verfielen, gar nicht
geschehen; kommt es aber doch dazu, so kann die mündig gewordene Gesellschaft selbst
die Ahndung übernehmen. Die Menschheit ist in ein neues Stadium der Entwicklung
übergetreten, wo sie sich ohne das materielle Eingreifen der göttlichen Personen er-
halten kann: sie kann es freilich nur, indem sie den ewigen Mächten, die bisher von
außen gewaltsam eingriffen, in sich eine bleibende Stätte bereitet. Der Mensch ist
frei geworden; seine Freiheit benutzt er dazu, durch den gemeinsamen Willen zum 30
Guten seine Gesellschaftsordnung zu schaffen, der sich der Einzelne unbeschadet seiner
Freiheit unterwirft. Diese Ordnung ist der Staat; er genügt, aber genügt nur, weil und
so lange er ein Organ der Sittlichkeit und der Freiheit zugleich ist."
Diese Freiheit des Handelns wird nun das wichtige, die metaphysische Problem-
stellung bestimmende Motiv, die auch in der Verbrecherin Klytaimnestra wirksame
gottbewußte Freiheit, aus welcher alle Kraft und Freudigkeit zum Besten und Edel-
sten fließt" (Welker, Götterlehre I 249) bei Wilamowitz S. 47, der so fortfährt: „von
der ahnt der Orient, einerlei ob arisch, semitisch oder ägyptisch, nichts. Ob Aischylos
größer ist, wenn er durch die vollen Töne der Hingabe an die Gottheit unser Herz
erbaut, oder wenn er es durch die furchtbaren Taten und Leiden der menschlichen 40
Willensfreiheit erschüttert, bemesse ein jeglicher nach der eigenen, vermutlich wechseln-
den Erfahrung."
Die innere Freiheit, deren Anbruch Aeschylus dem Zeus als Verdienst
zuschreibt (Agamemnon 176) :
JOV <fiQOV£7v ßQoxovg öduj
■d-tvra xvQi'ojg t/tw,
Der zur Einsicht führt die Menschen
Und den Satz „durch Leiden lernen1,4
Hingestellt hat als Gesetz. F.Jacoby.
D
ATTISCHES DRAMA
87
auch hierin das hesiodeische Dike-Motiv aufgreifend, steht mit dem
unübersetzbaren, den Kern aller griechischen Metaphysik berühren-
den Worte der Phronesis in enger Verbindung. Diese Besinnungskraft, die
zur Besonnenheit aco-cpQoavvT] bei Solon führte, beruht auf dem Glauben
an eine einheitliche verstehbare Weltordnung, in der ein Ausgleich von
Frevel und Übermut, von allem Übermäßigen, Maßlosen zu erwarten ist,
in der es demnach möglich ist, sein Tun zu regeln nach dem bestimmten,
erkennbaren Verhältnis von Schuld und Strafe, also Einsicht zu lernen
durch die Paradeigmata großen Leides in mythischer Vorzeit oder
10 eigenes Erfahren der Wirkungen (nd&si fiä&oc). Eine solche Maßlosigkeit ist
der immer weiterlaufende Vergeltungsgedanke der Blutrache, der Selbst-
hilfe der sich gegenseitig zerfleischenden Sippen. Die höhere Ordnung,
die zunächst einfach einmal Schluß macht, sühnt und befreit, ist hier
nun so sichtlich wie nur möglich die Polis und der in ihr verkörperte
Staatsgedanke. Der Staat als richtende Instanz sagt: die Rache ist mein;
er mäßigt die Rache zur Strafe, wo Blut vergossen ist, aber, was noch
wichtiger ist, er verhindert solche Taten, er „erzieht" zum Besseren in
dem entscheidenden griechischen Sinne, der gestattet, Bürger einer wohl-
regierten Stadt „Erzeugnisse und Zöglinge44, yevvijfjiaTa und Ttccidev/uaTa
io der Götter zu nennen — so heißen die Bürger der uralten Athenestadt
bei Piaton Timaios 24 d. Wir können das alles in breitester Ausführung
im Kriton Piatons als die feste Überzeugung des Sokrates lesen.
Die attische Philosophie brauchte, um aus dem Gedankengut, das in
einer Tragödie wie den „Eumeniden" als ein weithin sichtbares Paradeigma
gestaltet war, die echte vollwertige Münze theoretischer Erkenntnis zu
schlagen, eine lange Zeit und mannigfache Vorbereitung. Die Tragödie
von Aeschylus bis Euripides vollzog langsam aber unverkennbar eine An-
näherung an die eigentliche Sprache des Logos. Sophokles betont aller-
dings, wo ihm allgemeinere Erwägungen anzustellen gut scheint, inner-
*o halb der geschilderten Gesamtauffassung von göttlichem und mensch-
lichem Wesen stärker die grundsätzliche Verschiedenheit von Gott und
Mensch, die unbedingte Überlegenheit Gottes; Goethes Worte: „sie halten
die Herrschaft in ewigen Händen und können sie brauchen, wie's ihnen
gefällt" bezeichnen seinen Standpunkt, den alt - griechischen Ge-
danken des Erkenne Dich selbst, d. h. erkenne dich in deinen mensch-
lichen Grenzen1). Euripides dagegen ist vielleicht in keinem Punkte
Sokrates verwandter als dort, wo auch er der archaischem Denken un-
faßbaren Einsicht auf der Spur ist, daß Göttliches und Menschliches
nirgends tiefer ineinander übergehen als im innersten sich auf sich selbst
»0 stellenden denkenden Menschengeiste.
*) Vgl. v. Wilamowitz, Reden und Vorträge S. 171, sowie Regenbogen: Die Ge-
schichte von Solon und Kroisos, Hum. Gymn. 1930, I, 1, R. Härder, Uber Ciceros
Somnium Scipionis 1929, 6, bes. Anm. 5.
88
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Auch Sokrates könnte wie Euripides fragen: wer immer du bist, Zeus, du schwer
erkennbarer, Gesetz der Natur oder Geist der Sterblichen
oötk (nor) el av dvaronctCTOs eiai&etv,
Zeig, Sit dvayxtj yvoeog ehe vov g ßgoruiv,
Vgl. dazu die wichtigen Betrachtungen von K. Reinhardt über Seele und Gott (Kosmos
und Sympathie, S. 276 ff.).
Wir sehen an dieser Stelle, wie der Subjektivierungsprozeß, den mit
immer neuen Retardierungen die Geschichte der Metaphysik darstellt,
auch auf die Tragödie übergreift und sie damit aufzulösen beginnt. Die
Vermenschlichung des Göttlichen schreitet in breiter Front in verschie-
denen Formen immer weiter vor; aber wie in aller geistigen Entwicklung
tritt zugleich ein Ausgleich ein, in dem das Menschliche durch eben diesen
Vorgang erhoben und zur Freiheit entbunden wird und den archaischen
Bindungen entwächst. Euripides, der an der obigen Stelle so merkwürdig
allgemein theoretisch diesen Vermenschlichungsprozeß der obersten Po-
tenz erwägt, geht in der Einordnung der heroischen Gestalten in die
Formen menschlichen Lebens am weitesten und gleicht so den Unter-
schied zwischen der Tragödie und ihrem Spiegelbild, der Komödie, aus.
In ihr werden die göttlichen Gestalten zum Spiel der freien Gestaltungs-
kraft und höchsten inneren Freiheit. Wo die Komödie menschliches Leben
behandelt, da schlägt sie den entgegengesetzten Weg wie die alte Tragödie
ein. Während diese die konkrete Gegenwart — die Stadt und ihre Ein-
richtungen — auf deren göttliche Ursprünglichkeit und Würde zurück-
führt, verlängert die Komödie den Gang der Entwicklung nach der andern
Zeitdimension, der Zukunft; sie steigert den Verfallsprozeß zu den gro-
tesken Phantasiebildern höchster Entartung, erfindet utopische Folgen
derjenigen Tendenzen und Antriebe, von denen sie die Zeit beherrscht
glaubt, und erfüllt so, selbst in „interesselosem Spiel44 den eigenen Er-
ziehungswillen verbergend, dieselbe Aufgabe wie die Tragödie, den mün-
dig gewordenen individuellen Geist auf die Kräfte seiner entbundenen
Subjektivität, aber auch auf die ihm drohenden Gefahren, auf die größte
des allgemeinen hemmungslosen Un-Ernstes aufmerksam zu machen.
Spiel und Ernst, naidid und artovS^ wird ein tiefes Problem der platoni-
schen Weltanschauung und im „ernsten44, aus allzu großer Gelöstheit
sich anspannenden Menschen, im arcovdaioc, sieht spätere Philosophie
das Kriterium der Sittlichkeit. Darum haben Sokrates und Piaton die
innere Beziehung zur Komödie, beide in sehr verschiedener Weise. Denn
die Grundfrage aller Metaphysik, wieweit Freiheit und Subjektivierung
der Individualität zum Wesen des Menschen gehört und für ihn der un-
vermeidliche Zugang zum Absoluten ist, wieweit andererseits diese Sub-
jektivierung andere Schichten des personalen Daseins auflöst und zer-
setzt — diese Urfrage aller Metaphysik bewegt Sokrates und muß ihn
bewegen, weil er die Veränderung der geistigen Substanz seiner Um-
welt, die Entgegensetzung und Entgegenwirkung ionischer und attischer,
D
ATTISCHES DRAMA
89
staatsgelöster und stadtgebundener Geistigkeit mit offenen Augen mit-
leidslos und klar verfolgt und aus dem Entwicklungsgesetz seiner Zeit
die Folgerungen zu ziehen den Mut und die Kraft hat.
Als Aeschylus seine Orestie dichtete, gab es wohl Schwierigkeiten der
äußeren und inneren Politik für Athen, aber „in keinem Augenblicke ist
die Einigung von Hellas unter der Herrschaft Athens der Verwirklichung
so nahe gewesen, hat die Volkskraft Athens auf allen Gebieten mensch-
lichen Strebens sich so frisch und stark fühlen dürfen, hat die Barke
des athenischen Glückes so vollen Wind zur geradesten Fahrt in den
10 Segeln gehabt" (v. Wilamowitz 1. c. 308). Aus solchem Dasein heraus
erhielt die staatlich-nationale Gemeinschaft die Kraft, die gesamte Wirk-
lichkeit unmittelbar zu beeinflussen. Auch in das eigentliche Selbst-
bewußtsein des Menschen, in sein Wissen um seine Individualität ging
das Wissen um die Zusammengehörigkeit mit der Stadt und ihren Bür-
gern unreflektiert, ungebrochen ein, und zwar mit einer Selbstverständ-
lichkeit, die aus theoretischer Reflexion auf die Gehalte eines derartigen
Gemeinschaftsbewußtseins wieder zu erzeugen für spätere Zeiten eine
besondere Aufgabe werden muß. Dieses Gemeinschaftsbewußtsein darf
dann als ein religiöses bezeichnet werden, wenn es sich nicht in dem
20 schlichten Haben der Realität der eigenen Person im Kreise der Gemein-
schaft erschöpft, sondern sich in eine Seins- und Sinnesschicht hinein-
steigert, die dieser gesamten Existenz als ein tieferes, eigentliches bei-
steht und innewohnt — der Ausdruck „gegenübersteht44 sei absichtlich
vermieden.
Dieses Bewußtsein eines anderen, tieferen, ist in einem Dasein von der geschilderten
Art immer zunächst ein religiöses Fühlen göttlicher Kräfte und ein Schauen göttlicher
Gestalten. Je sicherer das einzelne Ich sich mit den anderen seinesgleichen verbunden
weiß, desto selbstverständlicher und reibungsloser erträgt es die Vielheit göttlicher
Gestalten und Kräfte, und es sorgt höchstens für die Eintracht in dem göttlichen
30 Bezirk, für die Versöhnung etwa widerstreitender göttlicher Ansprüche. Der Zusammen-
hang der beiden eben angedeuteten Gedankenreihen, d. h. die Zugehörigkeit einer
bestimmten staatlichen Existenzweise zu einer bestimmten Religiosität kann nicht
schlichter und sinnfälliger ausgedrückt werden als durch das Bild der „Eumeniden";
durch einen geschichtlichen Akt der Stadtgemeinde, durch eine zu bestimmter Zeit zu
denkende Rezeption von Gottheiten, durch eine befriedende Einsetzung eines Kultes und
Ritus wurde hier die Einigkeit zwischen widerstreitenden göttlichen Kräften hergestellt
und nun wieder aus dieser Einigung die Stärkung und Sicherung, das Gedeihen und
Erstarken der heimatlichen Stadtgemeinde hergeleitet. Daß aus einem gottgewollten,
aber faktisch von freien Bürgern vollzogenen geschichtlichen Akt eine Zurechtsetzung,
40 eine Schlichtung göttlichen Streites und daraus ein auf die Stadt zurückquellender
Segen entsteht — dieses schlicht hingenommene Wechselverhältnis ist für die religiöse
Durchleuchtung des Daseins charakteristisch.
Wo immer ein solcher naiver und großer Glaube auch in veränderten
Formen auftritt, da ist er ein Durchgang durch einen Zenith, dem der
allmähliche Abstieg, der Übergang in andere Formen des Bewußtseins
folgen muß, unaufhaltsam, aber in anderem Sinne wieder Bereicherung
und neuen Aufstieg ermöglichend. Im Leben des Sokrates, der kein Dichter
90 METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
und kein „Schreiber" („zusammenfassen" Hegt im griechischen Worte
£ryyo(<(f t-rc) war, der selbst also die Stufen der Entwicklung nicht im
Hilde festhielt, sondern die dauernde Bewegung in sich als Erkenntnis
aufspeicherte und so in sein persönliches Handeln aufnahm, mußte
dieses griechische religiöse Bewußtsein angesichts der immer problemati-
scher werdenden Wirklichkeit schließlich auch als metaphysische Hal-
tung anders werden. Für denjenigen, der wie Sokrates die Störung jenes
Gleichgewichtes von göttlichem Sinnbestande des Daseins und seiner
äußeren Form empfand, gab es viele Möglichkeiten: z. B. konnte er, wie
es ihrer Heimat entwurzelte kluge Zeitgenossen taten, auch an den Göt- 10
tern zweifeln, er konnte an allem zweifeln und damit wie Protagoras
im Menschen und seinem Denken ein Maß für alle Wirklichkeit ent-
decken; oder er konnte als Dichter wie Aristophanes das Bild der Auf-
lösung gestalten und durch Parodia die eigentliche Weise hören
lassen, oder er konnte einfach unter den veränderten Verhältnissen
weiterleben und sein eigenes Dasein im engeren persönlichen Kreise
durchzuführen suchen — wie wohl immer die meisten tun; schließlich
konnte er auch ohne die befreiende Heiterkeit des Aristophanes als
klagender Reaktionär die „gute alte Zeit" herbeiwünschen, ihr Äußeres
festzuhalten, vielleicht sogar zu übertreiben und aus der Absonderung 20
von der Gegenwart das eigene Dasein aufzubauen versuchen; dies
tun zu allen solchen Zeiten viele, ohne sich dadurch allzusehr von der
als drittes geschilderten Klasse zu unterscheiden. Prüfen wir alle diese
Haltungen auf ihre metaphysische Stellung zum Dasein, so ergeben alle,
so verschieden sie sind, ein Gemeinsames: alle wenden den Menschen auf
sich selbst, sie reizen die Kräfte der Subjektivität, es schwindet die Im-
manenz des Sinnes im Dasein; was eigentlich ist — oder sein sollte —
stellt sich der Wirklichkeit entgegen als ein Unwirkliches, insofern im
Dasein der Sinn vermißt oder gar nicht mehr gesucht wird, als spieleri-
sches Gegenbild, als schwacher Abklatsch der Erinnerung und Tradition 30
— man erkennt unschwer allenthalben eine unkräftige Nachwirkung und
Umformung eleatischer dualistischer Motive.
In Sokrates sind merkwürdigerweise alle diese Verhaltungsweisen
anzutreffen, aber sie sind weitergedacht und vorgetrieben bis zu einem
Punkte der Vereinigung, der allem ein anderes Gesicht gibt, der in der
Zusammenfügung aller dieser Züge zu einer persönlich sachlichen Ein-
heit das Negative jedes einzelnen Zuges zum Positiven wendet und nun
von erhöhtem Standpunkt aus den Rückgriff auf das gute Alte ge-
stattet.
Der erste Punkt ist der wichtigste und bedarf etwas längerer Erörte- 40
rung. Daß Sokrates die geistigen Voraussetzungen zu einem alles um-
fassenden Zweifel besaß, daß er wie sein Zeitgenosse, der Sophist Gorgias,
den Gedanken fassen konnte, zur Beurteilung aller Realität erst einmal
außerhalb dieser Realität im Nicht- Seienden, im Nichts Stellung zu neh-
D
SOKRATES
91
men, ist sicher; sicherer noch, daß er bewußter und klarer als alle Sophi-
sten durch diesen Schritt gerade zur Erschaffung einer neuen Wirklich-
keit und ihrer Bewahrung mit Hilfe der Denkkraft geführt wurde.
Doch hier ist Vorsicht geboten; wir dürfen nicht einen Augenblick die Bewußtheit
des Sokrates mit der eines Descartes verwechseln — wir würden sonst den entscheiden-
den metaphysischen Zug an Sokrates' geistiger Existenz verkennen. Vielmehr müssen
wir uns an seine Mittelstellung in der Abfolge der Zeit erinnern; er war doch noch ein
Mensch des 5. Jahrhunderts. Man vergesse nicht, wie rasch die griechische Philosophie
immer wieder verstand, dem Nicht- Seienden einen positiven Sinn abzugewinnen
0 (Parmenides — Atomistik, Gorgias — Piaton „Sophistes" und „Parmenides"), und
wie eben nur in den Sophisten — merkwürdig genug — der Anfang einer radikalen
Negation im eigentlichen Sinne anzuklingen scheint. Und so soll dem Sokrates ein
bewußt theoretisch-metaphysischer Einsatz des Nicht- Seienden in der Weise der
neueren Philosophie seit Descartes durchaus nicht zugeschrieben werden, wohl aber eine
praktische Negation, die den Sinn des Daseins und damit des menschlichen Tuns
in Zweifel zu ziehen wagt. Die merkwürdige Stelle am Schlüsse der Apologie 40 cd,
auf die wir oben S. 58 im Zusammenhang des Heraklitischen „Seins zum Tode" bereits
hinwiesen, an der Sokrates alle bewußte Fülle des Lebens für minderwertig hält, ver-
glichen mit dem Glück eines traumlosen Schlafes, dem wirklichen (pQov&v to fxrj^ev
0 ydiGTov des sophokleischen Aias — diese Stelle soll sicher keine Augenblicksstimmung
des zum Tode verurteilten Angeklagten bedeuten, vielmehr gehört diese Abwertung des
menschlichen Lebens in den Zusammenhang delphischer apollinischer Weisheit, des
yvu')&i ceccvTov, von dem wir schon sprachen, kurz, in die religiöse Sphäre. Der Grund-
gedanke dieser Religiosität ist der, daß alles menschliche Wesen nichtig ist vor dem
göttlichen, daß eine möglichst kurze Spanne dieses Lebens, ja gar nicht geboren zu
werden, höchstes Glück ist und daß alle Erkenntnis, vor allem die Selbsterkenntnis,
eben diesen Sinn hätte, dem Menschen seine Nichtigkeit klarzumachen (der Zu-
sammenhang des Sokrates mit Delphi ist bekannt, vgl. außer dem Regenbogenschen
Aufsatz, der naturgemäß vor allem vom Sinn der delphischen Religiosität in der Solon-
0 Kroisos- Geschichte, weniger von dem Späteren spricht, R. Herzogs Anhang zu E.
Horneffer, Der junge Piaton, und auch für das Folgende meine Darstellung des Sokrates
Pauly-Wissowa-Kroll R. E. III A 811— 890 und Piaton d. Erz., 53—80).
Zunächst ist also zu beachten, daß hier der Grundzug der griechi-
schen Philosophie auch an Sokrates hervortritt, der „Primat der prak-
tischen Vernunft", wenn man unter ihm im weiteren Sinn den Vorrang
des vom wertenden Bewußtsein als notwendig Erkannten vor dem in
theoretischer Anschauung Erfaßten versteht.
Nebenbei bemerkt dürfte die Einheit der verschiedenen platonischen, vielleicht
sogar auch der andern Sokratesbilder untereinander und mit dem Urbilde weit-
0 gehend auf gleichen Wertungen beruhen, bei freier Variation der Vorstellungen, der
theoretischen Erkenntnisse usw., mit denen die in ihrer personalen Einheitlichkeit
festgehaltene Wertung ausgedrückt ist.
Sokrates' scheinbar so pessimistische Wertung des Daseins erstreckt
sich aber nur auf die menschliche Sphäre, und auf diese auch nur, soweit
sie sich auf das vereinzelte Individuum gründet oder genauer darauf zu
gründen versucht. Sokrates konnte den Anspruch des einzelnen indivi-
duellen Menschen, das Maß der Dinge sein zu wollen — eine nur als prak-
tische Werterkenntnis, noch nicht mit erkenntnistheoretischer Moderni-
sierung aufzufassende These — deshalb mit solcher Schärfe zurückweisen,
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
weil er in jener oben mit den äschyleischen Farben bezeichneten Haltung
lebte, in der göttliches und menschliches Dasein noch in gegenseitiger
Immanenz zur Einheit gebunden war, und diese Einheit wirkte sich für
ihn schlicht in der Tatgemeinschaft der konkreten lebendigen Polis aus;
sie war einfach die richtig von ihren Mitgliedern gelebte und „getane"
Gemeinschaft. Piaton bezeichnet am Ende seines Lebens mit deutlicher
Anspielung auf Protagoras Gott als das Maß aller Dinge; für Sokrates
stellt die als erste metaphysische Realität gesetzte Stadt mit ihren, den
einzelnen Menschen als solchen erst möglich machenden, „Gesetzen" und
Einrichtungen das Göttliche dar. Die dämonische Stimme seines Inneren 10
ist gewiß zunächst sein individueller Dämon, aber gerade dieser rät ihm
immer ab, gegen den Sinn der Polis zu handeln, noch in der letzten Ent-
scheidung beim Plan, aus dem Kerker zu fliehen. Dieses Daimonion
„redet" nicht, es empfiehlt nichts positiv, es wehrt nur ab; der Logos
redet, der aus dem Ganzen der Wirklichkeit heraus erfaßt und als Logos
(ratio) zum innersten Besitz gemacht und zum inneren Beweger des Men-
schen erhoben wird. So ist die Lehre vom Daimonion, die scheinbar das
Individuellste am Geiste mit dem Göttlichen in Beziehung setzt, in Wirk-
lichkeit ein Beweis für die von Sokrates klar erstrebte Objektivierung des
Geistes; das Daimonion ist der jeweils nicht zur rationalen Objektivie- 2(
rung gelangte Restbestand von Irrationalem und Subjektivem, der in
jedem Augenblick sich geltend machen kann. Die ironische Frage des
Sokrates wendet sich also gegen jedes bequeme Vertrauen auf den indi-
viduellen Dämon, solange noch Rechenschaft und Logos möglich ist,
also gegen jedes Liebäugeln mit „irrationaler" Subjektivität. Der Zweifel
des Sokrates richtet sich daher in einer höchst bedeutsamen Steigerung
der Reflexion gegen diejenige Instanz, die sich im Satze: äv&QWTioc
fi&cqov änüvrcov als Kriterium der Wirklichkeit anzubieten begann, gegen
die Subjektivität selbst.
Durch diese Überlegungen sind wir bereits zu dem zweiten der oben 3i
aufgezählten Punkte gelangt. Denn aus dem Zweifel an der Subjektivität
ergibt sich sofort die Ironie des Sokrates, die auch dem eigenen Ich
gegenüber festgehaltene, den anderen aufgezwungene Einsicht in das
Nicht- Wissen, die damit aufs höchste gesteigerte Fragestellung und -hal-
tung, d. h. die Bereitschaft, jeden sich bietenden, das eigene Ich erwei-
ternden Sinn aufzunehmen.
Über die sokratische Ironie und ihren Zusammenhang mit Frage und Zweifel
vgl. Kierkegaards sehr wesentliche Bemerkungen im 2. Teil seiner Magisterschrift,
bes. S. 211 f. der Übersetzung von H. H. Schaeder, ferner P. Friedländers diesem Kapitel
gewidmete geistvolle Bemerkungen Piaton I S. 160 flf. 4
Soweit diese Ironie sich in der Prüfung und Entlarvung des Nicht-
wissens betätigt, zeigt sie deutlich ihre Verwandtschaft mit der Komödie,
und die innere Beziehung zwischen der geistigen Freiheit hier und dort
scheint jedenfalls Piaton stark gefühlt zu haben. Die Komödie stellt
D
SOKRATES
93
die Frage und den Zweifel anschaulich dar, während die Tragödie
des Aeschylus ein heroisches Vorbild gezeigt hatte. Sokrates konnte
den Sinn seines Daseins — damit kommen wir zum dritten Punkte
— nur durch die Betätigung in der Stadt aufweisen: er lebte weiter in der
Stadt, aber nicht in bequemer Anpassung, sondern in dem oben charak-
terisierten Bewußtsein, daß seine Mitarbeit an den wahren Ideen des
Gemeinwesens zu allen Zeiten möglich und gerade in problematischen
Zeiten die einzige wirksame und sinnvolle „Philosophie" sei. Piaton hat
im echtesten sokratischen Geiste den Meister am Ende des 9. Buches
seines Staates versichern lassen: wo das Idealbild des Staates existiere,
das bleibe dahingestellt; er könne immer nur das tun, was dem Sinn des
wahren Staates entspräche. Deshalb gerät Sokrates viertens in gelegent-
lichen Lebensäußerungen durchaus an die Seite derer, die den alten Staat,
die Ti&TQiog 7ToXiz€i'a, wieder erstehen lassen wollen. Nur daß er konse-
quent sich auf die inneren Bedingungen des alten Guten besinnt, diese
in sich zu erfassen und in seinen konkreten Handlungen zu betätigen und
so den Sinn der staatlichen sittlichen Gemeinschaft zu verwirklichen sucht.
Nicht „Staatsmann" zu sein, nicht Theoretiker des Staates, sondern
„einer der tüchtigen Athener" (hg äv Tig eis; r&v %Qt(aT&v ^AÜ^vaiMv (Ion
bei Athenaios XIII 604 d von Sophokles), ein Athener wie Tellos, den So-
Ion für den glücklichsten Menschen hielt, das ist Sokrates' Philosophie —
wie auch auf Aeschylus' Grabstein nur stand, daß er bei Marathon mit-
gefochten hatte.
Von diesen Grundlagen aus ist es möglich, die Daseinshaltung des
Sokrates geschichtlich scharf zu erfassen und zugleich den bisher noch
nicht geklärten Schritt aus einer religiösen Haltung — dies gilt auch
von der spezifisch staatsethisch fundierten Religiosität der alten Griechen
— zur metaphysischen zu präzisieren. Der Sinnzusammenhang der Welt,
der von dem religiösen Bewußtsein als Ganzes mit seinen Teilgestaltungen
hingenommen wird, wird in metaphysischer Überlegung in die Form sach-
lich zusammenhängender gegenständlicher Evidenzen übergeführt; ihre
Notwendigkeit soll nicht nur religiös geschaut und gefühlt, sondern eigent-
lich erkannt werden. So teilt Metaphysik den Gegenstand mit der reli-
giösen Besinnung, drängt aber ihrer Methode nach zu den „Wissen-
schaften" hin; hieraus ergibt sich ihre Problematik und vor allem ihre
langsame Entwicklung, die sie zwischen Religion und Wissenschaft sich
ihren Weg suchen läßt. In Sokrates wagt die Religiosität den kühnen
Schritt zur Wissenschaft; so kühn ist der Schritt noch, soweit die zu
überschreitende Kluft, daß der Zweifel und die Unsicherheit des Sokrates
ganz verständlich sind. Denn Sokrates greift, wie es scheint, sofort nach
dem elementaren notwendigsten Werkzeug der Wissenschaft, dem Be-
griff, und will mit ihm gerade die innere Natur der ethisch politischen
Sphäre erschließen. Nach drei Seiten verknüpft ihn diese Absicht mit
seiner Zeit und der griechischen Gesamtentwicklung. Erstens nach der
94
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Vergangenheit hin; es gipfelt in ihm die Aufklärungs- und Lichtungsten-
denz des griechischen Geistes; der urwüchsige, die gesamte Vorsokratik
tragende Glaube: jede, auch die im engeren Sinne wissenschaftliche Er-
hellung eines Wirklichkeitsgebietes trägt zur umfassenden Aufhellung
des menschlichen Daseins als solchen bei, und echtes Wissen und echte
Erkenntnis muß einfach zusammenfallen mit jener gerade das tätige
Leben des Menschen bestimmenden „Besinnung", der (poörrjoig, die
allein Bestand und Ordnung des Wirklichen und Wirkenden garantiert.
Dieser urwüchsige, naive Glaube an die ratio, den Logos, geht bei
Sokrates durch den Zweifel hindurch über in die bestimmte Forde-
rung an die zeitgenössische Wissenschaft, sich in ihrem eigenen Er-
kenntnischarakter so zu bestimmen und zu gestalten, daß sie dieser
Forderung genügt.
Hieraus ergibt sich zweitens sofort die Wirkung des Sokrates nach
vorwärts auf die folgende Philosophie, besonders auf Piaton, der dieses
durch Sokrates und sein Verhalten aufgegebene Programm genau in
dessen Sinne durchzuführen unternimmt. Dieser zweite Punkt bedarf
keiner näheren Begründung — würde doch wahrscheinlich diese Auffas-
sung des Sokrates eher als eine Umdeutung auf Piaton hin erscheinen als
ihre geradlinige Fortsetzung durch Piaton bestritten werden.
Vielleicht trägt aber zur Bestätigung dieser Sokratesauffassung bei,
daß drittens in der Dimension der sokratisch-sophistischen Gegenwart
sich das positiv kritische Verhältnis des Sokrates zur Sophistik von ihr
aus scharf bezeichnen läßt. Sokrates billigt den Einsatz der „Wissen-
schaften" in die cpQÖvTjatg unbedingt, hält ihn für unumgänglich, bedient
sich infolgedessen der wissenschaftlichen Problemstellungen, Ansatz-
punkte und Methoden (Dialektik!) seiner Zeit bis zur Verwechslungsmög-
lichkeit — in alter und neuer Zeit erschien Sokrates als Sophist, trotz
Piatons Kritik. Er greift die sophistische Hauptthese auf von der Lehr-
barkeit der Tugend und der Gleichsetzung von Tugend und Wissen, er-
kennt aber für den augenblicklichen, vorliegenden Stand dieser Er-
kenntnis in keinem Punkte irgend etwas von diesem allen an! Da-
durch wird Sokrates das Ferment einer positiven Wissenschaftskritik,
wobei noch eine Alternative offen bleiben muß. Einmal kann er, so wie
Piaton selbst die sachliche Situation auffaßte, in der Tat die Möglichkeit
einer anderen Wissenschafts- und Erkenntnisart selbst gesehen und
deren konkrete Verwirklichung positiv befördert haben. Andererseits
kann seine Wissenschaftskritik radikaler gewesen sein und trotz der
von ihm sicher zugegebenen Verbesserungs- und Erweiterungsmög-
lichkeit des sophistischen Wissens sich auf Wissenschaft schlechthin in
dem Sinne bezogen haben, daß Wissenschaft immer zur Kunde, zum
bloßen Wissensstoff werden, d. h. in ihrem eigenen Bestände als Wissen-
schaft und in ihrer (pQÖvtjoic - Fähigkeit verdorben werden müsse, wenn
nicht zu jeder Zeit, auf jeder Stufe wissenschaftlicher Erkenntnis noch
D
SOKRATES
95
besondere Möglichkeiten einer inneren Aneignung und Einverleibung des
Erkannten und Gewußten ins Auge gefaßt und verwirklicht werden.
Die Entscheidung zwischen diesen beiden Auffassungen der sokrati-
schen Wissenschaftskritik wird leichter sein, wenn der sokratische , be-
griff", das Mittel seiner Kritik und damit das Organ jener Einverleibung,
das Kriterium der sokratischen Elenktik und der hinter ihr stehenden
und durch sie wirkenden sokratischen Phronesis betrachtet ist. Denn es
kommt nun alles darauf an, wie der „Begriff" verstanden wird. Diese
Frage ist besonders wichtig, wenn man sich daran erinnert, daß die sog.
Tugendbegriffe, das Tapfere, Besonnene, Gerechte, Gute der ursprüngliche
Bereich des sokratischen Fragens nach dem eigentlichen Sinn und Wesen
aller jener gemeinten Bedeutungen waren. Hieraus ergibt sich sofort,
daß in der Grundabsicht des sokratischen Fragens etwas anderes als etwa
eine bloß formale Begrifflichkeit beschlossen war, vielmehr nach einer
materialen Ontologie zunächst jener Tugendbegriffe gesucht wurde. So-
fort aber drängt sich nach allem, was über die Verwurzelung der Philo-
sophie des Sokrates in seiner konkreten religiös erlebten Existenz gesagt
wurde, die Vermutung auf, daß das fundamentale Sein, nach dem in
dieser Ontologie gefragt wird, nicht lediglich in der Sphäre des theoreti-
schen Begriffes liegen kann. Statt die Frage nach dem „Sein44 dieser
sokratischen Wesensbegriffe sofort theoretisch zu wenden, muß dem
Quellgebiet der sokratischen Ontologie entsprechend die „praktische44
Struktur dieser Tugendbegriffe und demnach der praktische Sinn jener
Tieferlegung und Begründung aller Wissenschaft erfaßt werden.
Der Ausgangsgedanke ist von charakteristischer Einfachheit. Was ist
z. B. Tapferkeit ? Wer weiß, was sie „eigentlich44 ist ? Nicht der, der eine
einsichtige Definition weiß, obwohl es wichtig und notwendig ist, eine
solche zu suchen; sondern der Tapfere selbst, der wirklich tapfer Han-
delnde muß im eigentlichen Besitze dessen sein, was Tapferkeit an sich
ist. Nur dann also, wenn dieses Haben der Bedeutung „Tapferkeit44 sich
als Tun einsetzen kann, ist die Substantialität der Tapferkeit erreicht.
Aber andererseits braucht nicht jeder, der das äußere erfahrungsgemäß
mit dem als tapfer bezeichneten Verhalten verbundene Gehaben zeigt,
tapfer zu sein, noch weniger der, der am falschen Orte und zu falscher
Zeit, kurz in einer nicht entsprechenden Situation dieses Gehaben an-
wendet. Also gehört einmal das richtige innere Verhältnis — modern ge-
wendet: die richtige Gesinnung beim Tun — , ferner die Unterscheidungs-
gabe der Situationen dazu, die Erkenntnisfähigkeit für diejenigen Situa-
tionen, in denen gleichsam als Antwort auf eine Frage die Reaktion der
Tapferkeit zu erfolgen hat. Man muß wissen, wann und wo Tapferkeit
möglich und danach notwendig ist, also umgekehrt, wo diese fehl am Ort
wäre und Vorsicht, „Furcht44 am Platze ist. Also wird der wirklich Tap-
fere, d. h. der Furchtlose im eigentlichen Sinne zugleich derjenige sein,
der sich an der richtigen Stelle fürchtet, d. h. auf das äußere Gebaren
96
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
der Tapferkeit verzichtet. Ist aber das, worauf man dann verzichtet, noch
Tapferkeit ? Oder ist es gerade das Wesen der Tapferkeit, zu wissen, was
furchtbar, was zu fürchten und was nicht zu fürchten, was Mut erfordernd
ist ? — wie es schlicht der Sokrates des platonischen „Laches" formuliert
(S. 194e). Umgekehrt, darf jene Furcht so benannt und damit in einen
Gegensatz zur Tapferkeit gestellt werden?
Schon bei dieser scheinbar affekthaften „Tugend" tauchen also hohe
Anforderungen an die Erkenntniskraft des Menschen auf, in deren Er-
füllung sich erst das Wesen der Tapferkeit vollenden kann. Andererseits
ist es gerade hier klar, daß die sophistisch-sokratische Gleichung von
Tugend und Wissen viel mehr umgreift als eine „Definition", eine Er-
fassung des Wesens der Tapferkeit, nämlich zu diesem ersten hinzu noch
eine Erfassung des gesamten Tat- und Wirklichkeitszusammenhanges,
an dessen einen Punkt die tugendverwirklichende Tat einzusetzen hat —
Sokrates glaubte bekanntlich, daß bei einer klaren Erfassung aller dieser
Umstände die Tat notwendig einsetzt. Denken wir nicht an die Tapfer-
keit, sondern etwa an die Gerechtigkeit, so nähert sich die auch hier
geforderte Erkenntnisleistung gerade im praktischen, konkreten Einzel-
falle der Sachkenntnis noch sichtlicher; man muß wissen, was das Wesen
dieser oder jener handwerklichen Leistung ist, was ein guter brauchbarer
Tisch, eine Kline, eine Spindel ist, wenn etwa eine Streitigkeit hierüber
zwischen dem Verfertigenden und Gebrauchenden richtig und gerecht
entschieden werden soll, sei es von den beteiligten Parteien oder vom
entscheidenden Richter. Andererseits tritt auch hier wieder mit großer
Deutlichkeit hervor, daß weder das Wissen um den Sachverhalt, noch
um das abstrakte Wesen der Gerechtigkeit, etwa der Isonomie, in irgend-
einem präzisierten Sinne (Gorgias) ohne den ausdrücklichen tätigen Ein-
satz des das Gerechte verwirklichenden Menschen ausreicht, um den
Sachverhalt der Gerechtigkeit zu realisieren. Es hieße die sokratisch-
platonische Ethik und die griechische Phronesis gleichermaßen triviali-
sieren, wollte man die Einsicht in dieses zweite Motiv der Sache nach den
beiden Philosophen absprechen, sie auf die eine Seite der Einsicht sich
beschränken lassen und sie so eines platten und mit einem Schlage zu
widerlegenden Intellektualismus und Rationalismus beschuldigen. Viel-
mehr liegt hier das entscheidende metaphysische Dilemma vor, das zu
allen Zeiten bestand und heute auch wieder sichtbar zu werden beginnt,
nachdem wir Modernen — nicht die Griechen — lange Zeit uns eines
Intellektualismus schuldig gemacht haben und noch schuldig machen.
Dieses metaphysische Dilemma tritt in der sokratischen Position mit
unüberbietbarer Anschaulichkeit heraus, wenn wir die geschilderte Situa-
tion des Tapferen, des Gerechten weiter analysieren.
Zunächst versichern wir uns der unmittelbaren Beziehung der Erörte-
rung zu dem sokratischen Paradoxon: niemand fehlt wissend, d. h. wer
das Wissen um Tapferkeit im oben dargelegten Sinne hat, ist tapfer,
D
S OK RATES
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betätigt dieses Wissen. Wissen reicht aus — der sog. sokratische Intellek-
tualismus ; auf der anderen Seite : niemand, auch Sokrates nicht, hat ein
ausreichendes Wissen, trotzdem muß und kann man tapfer handeln, und
die Forderung bleibt trotz ihres offensichtlichen Gegensatzes zur ersten
These bestehen. Dieses sokratische Paradoxon als metaphysisches Di-
lemma gefaßt, besagt : wendest du dich lediglich reflektierend nach innen,
auf dich selbst zurück, so löst sich dieses Beginnen in Schein, Trug und
Schwäche auf; es gibt keinen Gegenstand dieser Selbsterkenntnis. Viel-
mehr hast du dich nach außen zu wenden, zu „erkennen", zu „wissen",
10 dein Dasein in der Welt zu klären, und nicht etwa nur in allgemeiner
Reflexion, sondern bis zur Aufhellung, zum Durchschauen der konkreten
Tatsituation, also : Tugend ist Wissen. Glaubst du aber andererseits, diese
Blickwendung nach außen genüge, so täuschst du dich ebenfalls ; du bist
in dauernder Gefahr, dich zu verlieren und gerade das Wesentliche, in
des Wortes voller Bedeutung Entscheidende zu verfehlen. Denn du hast
kein für die Entscheidung ausreichendes Wissen, so wenig wie irgendein
anderer Mensch, so wenig wie Sokrates; du sollst wissen, daß du nichts
weißt, und daß du die Entscheidung aus einer Hinwendung an ein an-
deres inneres Sein zu erwarten hast.
20 Das metaphysische Dilemma treibt zunächst gebieterisch zu einer
Uberwindung des Gegensatzes von innen und außen — und alle Denker,
in denen etwas vom griechischen Geiste lebendig geworden ist, haben
bekanntlich immer an dieser Stelle eingesetzt und, wie Goethe, die nach
innen gewandte „Selbsterkenntnis" als eine zweideutige Forderung an-
gesehen (Bd. XXXIX der Jub.-Ausg. S. 49: „Der Mensch kennt nur sich
selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr
gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues
Organ in uns auf").
Wir haben zur Klärung der Begriffe oben nicht den Anklang an gewisse Modernismen
30 gescheut, haben von der „Entscheidung", dem Einsatz des Tuns in die konkrete Situa-
tion gesprochen, kurz den Anschein, das „Absolute" im Kern des einzelnen Ich zu suchen,
nicht gemieden. Wie leicht die Angleichung des Sokrates an diese Vorstellungen weiter-
getrieben werden kann, zeigt die ungemein eindrucksvolle Betrachtung des Sokrates
bei Kierkegaard am Anfang der „Philosophischen Brocken". Eine gemilderte und säku-
larisierte Form dieser religiösen Auffassung stellt im Grunde auch H. Maiers Sokrates-
bild dar, dessen emotionaler Voluntarismus, dessen „definitorische Frage" — nicht
Definition — mir seinerzeit sehr wichtig wurde; cf. „Logik" und Sokr. R. E.
Wir müssen und können von diesem sachlichen Untergrunde die spezi-
fische Wendung der sokratisch-platonischen Philosophie nun kräftig ab-
40 heben. Wir können gerade hier den Gedanken der Überwindung des
Gegensatzes von innen und außen benützen, so wenig wir diese Unter-
scheidung als eine prinzipielle und letzte zugeben dürfen. Sokrates nahm
die Überwindung dieses Gegensatzes nicht von innen her nach außen,
sondern umgekehrt vor. Während der moderne Mensch, sobald er auf
solche Gedanken kommt, wie Kierkegaard, das Zentrum der Freiheit,
Handb. d. Phil. I. D 7
98
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Spontaneität und Erkenntnis im Innern des Menschen, im Ich, annimmt
und von ihm aus sich nach außen wendet, die Welt durchdringen und
tätig erkennen zu können vermeint, denkt sich der antike Mensch diese
Üb erwindung umgekehrt: er glaubt, gegenständlich denkend, daß aus
der Welt und der Wirklichkeit auf das Innere eine unmittelbar auch das
tätige Verhalten bestimmende Kraft ausgeht, wenn die Welt wirklich in
ihrem eigentlichen Sein, ihrer Ordnung und ihrem Zusammenhange rein
und treu erfaßt wird. Hier liegt die Bewährung der Evidenz aller Erkennt-
nis; nur wo sie das Zentrum des Menschen ist, an dem Handeln ent-
springt, angreift und zur Antwort nötigt, da ist die wahre, eigentliche
Erkenntnis, sonst nur „Meinung", Selbsttäuschung und zugleich Täu-
schung über das Objektive. Äußerlich läßt sich die hier umrissene
Situation klar bezeichnen durch die Verschiebung des Zusatzes „selbst",
ccÜtöc, von der ursprünglich ihr zukommenden subjektiven Seite auf
die gegenständliche : nicht „Ich selbst", was so nahe als Bedeutung von
avioc liegt, sondern das Tapfere, Gerechte, Schöne und Gute selbst usw.
ist die letzte metaphysische Gegebenheit, ist Ziel und Ursprung der in
„Begriffen" erfaßten Gegenständlichkeit.
Der eben beschriebene, dem sokratischen Denken zugrunde liegende
Sachverhalt hat nun zwei ganz verschiedene Seiten; sie beide gleichmäßig
auszugestalten und doch ihren Auseinanderfall zu verhüten ist das be-
wußte Ziel Piatons, das er mit äußerster philosophischer und künstleri-
scher Gestaltungskraft zu erreichen sucht. Einmal weist jener Sachverhalt
einfach auf das Faktum objektiver Wissenschaft, und zwar begrifflich
einsichtiger Wissenschaft hin. Das Denken entdeckt in seinem freien
Fortgange Widerstände, Gegenstände in des Wortes eigentlicher Bedeu-
tung, Hindernisse einer schweifenden, meinenden Subjektivität, Festes,
Ruhendes, Seiendes. Es ist nicht verwunderlich, daß zunächst die fei-
neren Abstufungen dieser Sicherheit und Festigkeit, die Unterschiede ver-
stehenden Sinnerfassens und erklärenden Naturerkennens, zurücktreten
vor dem elementaren Erlebnis dieses festen Seienden, auf das das Denken
trifft, das es erfaßt und „berührt", und daß die Evidenz wissenschaft-
licher Erkenntnis schlechthin noch ungeschieden in einem fundamentalen
Erlebnis erfahren wird und die apriorische Sicherheit der Erkenntnis
aus reinen Begriffen als Prototyp der Wissenschaft überhaupt erscheint.
Daraus folgt zunächst die unterschiedslos erhobene Forderung, allem
Denken die an charakteristischen Sachverhalten erfahrene Einsichtigkeit
zu geben, d. h. den Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt
und der begrifflich-einsichtigen im besonderen so weit wie möglich zu
fassen. Und da dieser Erkenntnisdrang auf die Totalität alles Seienden
geht, enthält er selbstverständlich auch die „Gesetze" des eigenen Lebens
und Tuns. Die weitere Folge dieser Überspannung ist, daß der dem ein-
zelnen Individuum zugängliche Anteil gering angeschlagen und das Nicht-
wissen des einzelnen Subjektes stark erlebt wird, wie wir es an Sokrates
D
SOKRA TES
90
sehen. Zusammengefaßt: jene ungestüme Steigerung des die ganze grie-
chische Entwicklung tragenden Aufklärungsstrebens hat eine durchaus
rationale, wissenschaftstheoretische Seite, den Drang zum Begriff.
Eine ganz andere Seite ergibt sich aus jener Überspannung als deren
Ergänzung. Weil diese totale Begrifflichkeit der Welt nur Forderung ist,
eine noch unerfüllte Aufgabe, bleibt lange bis in diese rationalistische
Entwicklung hinein mit gleicher Mächtigkeit der archaische Glaube be-
stehen, daß die jener Begreif lichkeit entsprechende Ordnung und Sinn-
haftigkeit in der Wirklichkeit vorgebildet ist, auch wo sie noch nicht ex-
plizit erkannt ist; dies stellt dem Menschen freilich dauernd die Erkennt-
nisaufgabe, aber diese wird erfüllt in einer tätigen Hingabe an die Welt,
in dem Eingehen in die dem eigenen denkenden Dasein zugrunde liegen-
den Lebensordnungen. Da von den Griechen allenthalben göttliche Re-
präsentanten einer inneren Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit angenommen
wurden, so enthält diese scheinbar bloß rationale Forderung des Welt-
verständnisses ganz von selbst einen religiösen Einschlag, und diese beiden
Seiten erscheinen nur von unserer ganz veränderten geistigen Lage aus
unverträglich; im Grunde sind sie Ausdruck ein und desselben Sachver-
haltes; und gerade wenn man diese seine doppelte Seite stets im Auge
behält, schließt er sich mit dem unausgesprochenen, weil immer voraus-
gesetzten Glauben an die den Willen bestimmende Kraft der Erkenntnis
zusammen. Als die naive Form des Glaubens an Götter und Heroen ge-
schwunden war, erhielt sich die religiöse Energie in dieser veränderten
Form weiter und erzeugte den spezifisch griechischen, metaphysisch unter-
bauten Erkenntnisbegriff. Der Ubergang vollzog sich über den Begriff
der Gemeinschaft. Wir haben gerade die „Eumeniden" des Aeschylus
hervorgehoben, um diesen Ubergang und damit die Fortwirkung der
vorsokratischen, besonders solonisch-attischen Motive zur Anschauung
zu bringen. Länger als der alte Glaube an die einzelnen Götter und
Heroen hielt sich der Glaube an den religiösen Sinn alles menschlichen
Zusammenwirkens, vor allem des tätigen Lebens in der konkreten poli-
tischen Gemeinschaft. Dieses Zusammenleben war, weil auf der religiösen
Idee der Polis beruhend, auch das geeignete Gefäß zur Aufnahme jenes
metaphysischen Erkenntnisbegriffs. Denn mit dem Überschwang der
schöpferischen anfangs erlebten Einsichtigkeit des Wissens fühlte der ein-
zelne sich in seinem Denken gebunden an die „erkannte Gegenständlich-
keit" und hielt diese zugleich für die festeste Grundlage aller Gemeinsam-
keit zwischen Menschen, also auch der staatlichen Gemeinschaft. Ver-
ständigung gab der Eintracht, ohne ihr von ihren gefühlsmäßigen
Grundlagen etwas zu nehmen, ein neues festes Band. Bei einem so un-
gemein weit gespannten Begriff der Erkenntnis darf auch dieser Ver-
ständigung sehr wohl eine solche Wirkung zugetraut werden.
Damit sind wir zu dem einfachen Ausgangspunkt des sokratischen
Logos zurückgekehrt. Er ist dialektische Verständigung, im schlichten
D 7*
wo
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Sinne des ehrlich geführten, auf Wahrheit gerichteten Gespräches über
die Bedeutung des Guten, Schönen, schließlich über alles, was zum
Dasein des Menschen gehört. Diese Verständigung, diese Rechenschaft
ist für Sokrates selbstverständlich begleitet von der Bereitschaft, jeder-
zeit für das Gesagte einzustehen; umgekehrt ist das lebendig angeschaute
Beispiel derer, die den Sinn der Po/isgemeinschaft wirklich dauernd voll-
ziehen, die Grundlage der dialektischen Aussprache und Verständigung.
Aus der so verstandenen Gemeinschaft erklärt sich allein das Vertrauen,
auch im elenktischen „ergebnislosen" Gespräch das in tieferen Schichten
ruhende Wissen mäeutisch aufzuregen. In Wort und Tat dialektischer, 10
h'tyu) mal t^yto dialsxTixcoTfgovc, machte Sokrates seine Freunde, das
ist die einfache Formel, mit der Xenophon den Sachverhalt wiederholt
bezeichnet. Dialektischer, das deutet er mit einem Wortspiel, das sicher-
lich in der sokratischen Gedankenwelt entstanden ist, als: Gutes und
Schlechtes sondern, also das Bessere auslesen. Gerade aus der Verwurze-
lung der sokratischen Begriffstheorie in der Praxis des tätigen Lebens er-
gibt sich die Gleichsetzung von Erkennen und „das Bessere Auswählen" :
wenn ich die ganze Lebensordnung auf ihren Sinn, auf die in ihr wirk-
samen „Bedeutungen" prüfe, frage ich nicht, was gerade noch den Sinn
der Spindel, der xkiv?], der Hirtenkunst, der Reitkunst usw. allenfalls 20
erfüllt, sondern was seine eigentliche Norm, die ideale Höchstleistung
ist, die dcQ€TTj, die jeweils als zu verwirklichende vorschwebt, mag sie
kaum je erreicht werden. Also das Bessere ist das, was in jedem Falle
erkannt werden soll; und was so erkannt wird, trägt zur Besserung, zum
„Nutzen" bei für das tätige Leben der ganzen Gemeinschaft.
In der Apologie 36 c faßt Sokrates seine Tätigkeit, die Wohltat, für
die er die Staatsrente in Form der Speisung beantragt, zusammen als
den Rat an jedermann, sich eher um sich selbst zu sorgen als um irgend
etwas, das zu ihm gehört, um die Stadt selbst eher als um die Dinge in
der Stadt, die der übliche Politiker betreibt, und in derselben Weise 30
weiter bei allem andern; das heißt also, sich um das Wesen der eigenen
Seele (29 e), um das Wesen der Stadt, schließlich der einzelnen Wirklich-
keiten zu sorgen. Schlichter kann alles bisher Gesagte nicht zusammen-
gefaßt und bestätigt werden als in diesen Worten der Verteidigungs-
schrift.
2. PLATON.
a) Allgemeines. Stand der Forschung. Sokratische Periode.
Die Fülle der theoretischen und praktischen, religiösen und wissen-
schaftlich-logischen Ansätze, die in dem Denken und Sein des Sokrates
aufgewiesen wurden, steht in einem Gegensatz zu den einfachen sokra-
tischen Formeln, in die am Schlüsse des letzten Absatzes dieser reiche
Inhalt sich zusammendrängen ließ. Dieser Gegensatz einer lebendigen, 40
noch in ihrer Anschaulichkeit gemeinten Weltsicht und einiger weniger
D
PLATON. ALLGEMEINES
101
scheinbar enger Formeln und „Prinzipien" wird sich am Schlüsse der
Betrachtung der platonischen Metaphysik mit gesteigerter Stärke wieder
aufdrängen; wir haben in ihm ein Grundphänomen griechischer Philo-
sophie anzuerkennen, das auf einen Wesenszug des griechischen Geistes
überhaupt zurückweist. Nüchternes Streben nach letzter begrifflicher
Einfachheit und Klarheit und uneingeschränkte Fühlung mit der an-
schaulich gegebenen Wirklichkeit, auf die jene Formeln hinzielen, schienen
dem griechischen Denken nicht unvereinbar zu sein, sondern vielmehr
einander gegenseitig zu fordern. Der schlichte Ausdruck dieser coinci-
dentia oppositorum ist das Eidos. Es entbehrt nicht der Bestimmtheit,
die nur je dem wissenschaftlichen Begriff zugesprochen werden kann; es
ist andererseits Ergebnis und Organ einer „Intuition", in der nicht ein
Zug der konkreten Wirklichkeit durch Abstraktion verkümmert oder
verzerrt ist. Diese Synthese zur theoretischen Bewußtheit und Ausdrucks-
fähigkeit zu erheben, dazu bedurfte es der langen reichen Entwicklung
des platonischen Denkens und Werkes.
Der angedeutete Gegensatz und damit der Sinn des Eidos tritt an den
beiden Prinzipien des sokratischen Denkens, der „Seele selbst" und der
„Stadt selbst", deutlich in die Erscheinung. Sokrates scheint die Definition
der einzelnen Teilbestände, der Tugenden, die die „Seele" in der Stadt
entfaltet, zu suchen, aber in Wahrheit sucht er das, was in der Definition
gemeint ist, und das, was jeder Definition als Ziel vorschwebt und im
Suchen bereits vorgestellt ist, wenn anders dieses Suchen in seinen ein-
zelnen Schritten gerichtet ist und Kriterien in sich trägt für das Passen
oder Nichtpassen der Definitionselemente in ihrer Zusammenfügung.
Wie das eleatische Denken am umfassendsten „Begriff", dem des Einen
und Ganzen, seine Beziehung zur Anschauung erprobte, so gerät auch
hier das griechische Denken, nachdem der ethisch-politische Gehalt im
gesamten Wirklichkeitserlebnis stärker herausgetreten war, an die kom-
pliziertesten letzten „Begriffe": an den Begriff des Menschen als seeli-
scher Einheit und an den Begriff des Feldes, mit dem damals der Umkreis
menschlicher Betätigung umgrenzt schien, der politischen Einheit, der
Stadtgemeinde. Der Fülle seiner Anschauungskraft vertrauend, versuchte
das griechische Denken, auch an diesen „allgemeinsten" Begriffen An-
schaulichkeit und logische Bestimmtheit zusammen zu erfassen.
Sokrates sprach den Gehalt seiner Tugendbegriffe nicht in Worten
aus, sondern zeigte ihn in tätiger Auseinandersetzung, Xoyco xai t'oya)
diaXexTixög. Und doch drängte er mit aller Macht auf begrifflich wissen-
schaftliche Bestimmung aller Realität hin. Piaton wurde von eigener
politischer Betätigung an einer seinem Stande entsprechenden Stelle
durch mancherlei Umstände abgehalten (vgl. VII. Brief und meine Inter-
pretation Plat. als Erz. S. 81 ff.). Dieser äußere Zwang wirkte sichtlich
mit Fähigkeiten seines Geistes und der Entwicklung seines Zeitalters zu-
sammen, um ihn der „Theorie" zu nähern und ihm die Gefahr, „Logos
T02
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
zu werden", stets gegenwärtig zu halten, wie er im VII. Brief rück-
schauend es formuliert. Daher versicherte er sich im ersten Abschnitt
seines philosophischen Wirkens der Lebensfülle und Wirklichkeitsnähe
durch die dichterisch-anschauliche Ausgestaltung des sokratischen Da-
seins und der in diesem verkörperten Denkleistung. Diese ist im letzten
Teile unserer Darlegungen so geschildert worden, daß die unaufhörliche
Um- und Weiterbildung in der gestaltenden Perspektive der platonischen
Theorie ohne weiteres verständlich werden wird.
Platon setzte damit die griechische Art der Überlieferung geistiger
Güter unmittelbar fort: ein paradeigmatisches Vorbild, das dauernd auf 10
immer bestimmter gesehenen, aber noch nicht begrifflich festgelegten
Sinngehalt hin umgestaltet wird — wir zeigten diese Art konkret-exi-
stenzieller Tradition und Ideengestaltung an der Tragödie. Aber die Ent-
wicklung drängte auf Begriff und Wissenschaft, und schon der Schritt
zur Prosa des dichterisch gestalteten philosophischen Gespräches, den
Platon vollzog, ist hierfür von größter Bedeutung; denn er schafft die
Möglichkeit, in das Bild des als gegenwärtig gedachten Menschen Sokrates
die Züge der Wissenschaft ungehemmt aufzunehmen; man ermißt die
Wichtigkeit dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit, wenn man an die
versteckten und offenen philosophischen und wissenschaftlichen „Moder- 20
nismen" denkt, die den Rahmen des Tragödienstiles bei Euripides dau-
ernd zu sprengen drohen und ihn schließlich gesprengt haben. Auch für
den sokratischen Dialog trat der Augenblick ein, an dem das Fassungs-
vermögen der sokratischen Gestalt nicht mehr ausreichte und zunächst
andere Formen menschlicher Paradeigmata, schließlich die einfache sach-
liche Mitteilung philosophisch-wissenschaftlicher Ergebnisse notwendig
wurde. Der Schlußteil des Phaidros zeigt, wie wichtig Platon den Gegen-
satz zwischen dem lebendigen Gespräch wirklicher Menschen bzw. deren
gestaltetem Abbilde und dem „Buche", das nicht antworten kann, son-
dern stumm bleibt, jederzeit genommen hat. 30
Für die metaphysische Grundstellung Piatons haben diese Form-
bedingungen seines Werkes zwei wesentliche Folgen. Erstens reinigt und
verstärkt sich die „anthropologische" Grundhaltung der griechischen
Metaphysik am Paradeigma des Sokrates bis zu einer Selbstverständlich-
keit, die gar nicht mehr ausdrücklich ausgesprochen zu werden braucht:
alles, was an sachlich-wissenschaftlichem Gehalt durch den Mund des
Sokrates mitgeteilt wird, ist damit von vornherein auf dessen Grund-
absicht, Bildung des Menschen für sein tätiges Dasein in der Gemein-
schaft, bezogen. Alle scheinbar erkenntnistheoretisch-logischen Erörte-
rungen stehen immer zugleich unter diesem Gesichtspunkt ; dies bedeutet 40
für die metaphysische Theorie die stete Beziehung auf jenes an Sokrates
entwickelte Verwirklichungsproblem, das stete Messen und Beurteilen
des Seienden an seiner Leistung für die Konkretisierung der Willensziele.
Die andere Folge, der ersten wie ein Spiegelbild zugeordnet, ist die im
D
PLATON. STAND DER FORSCHUNG.
103
sicheren Bewußtsein dieses Zusammenhanges sorglose Hingabe an —
scheinbar — reine und „abstrakte" Erkenntnis; die vielberedete „Intel-
lektualisierung" der attischen Philosophie, die in der Tat die Eindeutig-
keit der metaphysischen Grundtheorie in der Darstellung, nicht in der
Sache, dauernd verdunkelt.
Wenn diese „Vielstimmigkeit44 und nakivrovog aQy-ovfa des platonischen Denkens
nicht berücksichtigt wird, ist die Einheit und damit der volle Sinn der platonischen
Philosophie gefährdet. Die Geschichte der Piatonforschung beweist dies nur allzu
deutlich. Für die im engeren Sinne metaphysische Problemstellung kann aus diesem
10 interessanten Kapitel der Wissenschaftsgeschichte nur einiges herausgegriffen werden;
es sei ausdrücklich daran erinnert, daß die Gesichtspunkte der allgemeinen Einleitung
notwendig auf das Kernstück der ganzen griechischen Philosophie, auf den Piatonismus,
vorweisend Rücksicht nehmen mußten, und deshalb zur Ergänzung des folgenden
dauernd hinzuzuziehen sind. So ist zur Übersicht über die Etappen der Piaton-
forschung zu vergleichen Jaegers, aus der Fülle originaler Arbeit an Piaton und Aristo-
teles geschöpfte geschichtsphilosophische Besinnung in der Aufsatzreihe der „Antike44
(s. o. S. 10) vorher seine kürzere Übersicht DLZ 1924, S. 2053 (vgl. auch DLZ 1915,
S. 334). Bis zum Jahre 1922 orientiert neben den bekannten Jahresberichten gut
E. Hoffmanns Anhang zur letzten unveränderten Auflage von Zellers Darstellung in
20 der Geschichte der Philosophie. Neuerdings referiert nüchtern und fleißig Leisegang
über die „Piatondeutung der Gegenwart44 (Karlsruhe 1929). C. Ritters Jahres-
berichte bei Bursian sind für die Entwicklnug der Forschungsmethode sehr bezeichnend.
Die Darstellungen Piatons werden im Zusammenhang des Folgenden genannt.
Schleiermachers epochemachende Übersetzung mit Gesamt- und Einzel-
einleitungen bildet den Anfang der für uns heute noch wichtigen Forschung. Sie steht
im Gegensatz zu einer ersten kantianisierenden Auffassung Piatons (Tennemann) und
zu anderen philosophischen Modernisierungen der damaligen Zeit. Sie geht deshalb auf
die Einzelabsicht der Dialoge, die als Formeinheiten für sich betrachtet werden, ein;
freilich wird hierbei ein pädagogischer Gesamtplan angenommen, nach dem Piaton
30 „aus einer Ahndung des Ganzen44 den Phaidros als Programm seinen Werken voran-
gestellt und, um alles im einzelnen ausführlicher auszugestalten, später danach seine
Dialoge geschrieben hätte. Man hat nach den Übertreibungen der als Gegenzug zu
Schleiermacher sehr verständlichen Entwicklungsforschung von K. F. Hermanns
„Gesch. u. System der plat. Philos.44 I, 1839 an über Susemihl „Plat. genet. Entwicklung44
bis in die neueste Zeit Schleiermachers Leistung auch für die Gesamtauffassung der
Entwicklung unbefangener würdigen gelernt, nachdem man die alles verwirrende
Frühansetzung des Phaidros ausgemerzt hatte, vgl. H. v. Arnim, Plat. Jugenddialoge
u. d. Entstehungszeit des Phaidros, Leipzig-Berlin 1914. Zum Begriff der platonischeu
Entwicklung vgl. Jaeger, Antike IV, S. 88 ff. Das Streben nach einer im persönlichen
40 Sein des Philosophen wurzelnden Einheit seiner Entwicklung erfuhr eine erste Hem-
mung und Diskreditierung durch diejenigen Forscher, die ein äußerlich bestimmtes,
ohne philosophische und philologisch-geschichtliche Weite des Blickes stabilisiertes
Bild einer einheitlichen Lehre und einer recht willkürlichen menschlichen Einheit zn-
grunde legten und von ihm mißleitet zu den heute oft lächerlich scheinenden Athe-
thesen gelangten. Man vergesse aber nicht, daß nicht nur der junge Zell er die Gesetze
athetierte, sondern auch noch Windelband sehr geneigt war, den Sophistes und
Politikos, heute die Hauptzeugen der platonischen Metaphysik und Ontologie, für
unechte Schulübungen zu halten, und daß der metaphysische Gipfel der Dialoge, der
„Parmenides44, und die Briefe, besonders der VII. mit seinem fundamentalen philo-
50 sophischen Exkurs, noch länger verdächtigt worden sind. Demgegenüber mußte zur
Erklärung gewisser „Widersprüche44 eine Entwicklung angenommen werden, deren
Ziel endlich durch die Festsetzung der platonischen Spätdialoge festgelegt war.
104
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Diese Festsetzung gelang durch die sprachstatistische stilometrische Methode,
bei deren Ausbildung die englische und deutsche Piatonforschung (Campbell, Ditten-
berger, Kitter, v. Arnim, Lutoslawski) sich damals in einer prästabilierten Harmonie
betätigte. Indem die Sprachstatistik als Spätdialoge gerade die oben genannten
kontroversen metaphysischen Werke, zu denen noch der Philebos tritt, erwies, kommt
ihr für die Erschließung der platonischen Metaphysik ein beträchtliches Verdienst zu.
Freilich trug dieser große Erfolg der Sprachstatistik dazu bei, den Gedanken der
Entwicklung des platonischen Werkes zu überspannen und die Festsetzung einer
linearen schrittweise in jedem Dialoge faßbaren Entwicklung für das letzte Ziel auszu-
geben. Einzelne Stimmen, wie z. B. die P. Shorey's in seinem Aufsatz „The unity of 10
Plato's thought, dessen Gedanken Hans v. Arnim aufnahm, erhoben sich wiederum
aus einer gewissen Einseitigkeit dagegen. Inzwischen ist jedoch immer mehr der Ge-
danke durchgedrungen, daß man bei einem so reichen und unter so mannigfaltigen An-
trieben schreibenden Philosophen wie Piaton die Entfaltung eines freilich höchst ver-
schiedenartigen Ansatzes, die lebendige Entwicklung einer geprägten Form aufsuchen
und sich des allgemeinen Gesetzes etwaiger Wandlungen sehr wohl bemächtigen, auf
die Einsicht in eine notwendige Folge der einzelnen Dialoge aber verzichten muß.
In diese Situation hinein erfolgte der folgenreiche Einsatz der „Marburger*4
Philosophischen Deutung, die von Cohens Aufsatz Plat. Ideenlehre u. d. Mathematik
Prgr. Marb. 1879, ausgeht, und in Natorps Plat. Ideenlehre, eine Einführung in den 20
Idealismus, Lpz. 1903, gipfelt, fortgeführt in N. Hartmanns Buch über Plat. Logik
des Seins (Gießen 1909). Zum ersten Male seit Schleiermacher wurde Piaton als Philo-
soph im ganzen ernst genommen, wurden wirkliche philosophische Fragen an ihn ge-
richtet; freilich wurde Piatons Antwort weitgehend aus eigener systematischer Haltung
umgehört. Die an der mathematischen Naturwissenschaft und ihrer Methode orientierte
— übrigens nicht einmal diesem Gegenstande adäquat durchgeführte — Systematik
dieser Forscher schien der platonischen, das Mathematische stark betonenden Wissen-
schaftslehre zu entsprechen. Man übersah, was der Anhang Natorps zur sonst unverän-
derten 2. Auflage seines Werkes offen zugibt, die gesamte mythisch-psychologische
Substanz der Ideenlehre, kurz das geschichtlich Metaphysische, das in der eigent- 30
liehen Ideenlehre aufgehoben ist und implizit aufs stärkste mitspricht.
Dies spürten alle, die als Philologen und Historiker an dieses neue Piatonbild
herantraten, ohne doch sich der Stringenz jener oben hervorgehobenen Übereinstim-
mung im Mathematischen recht entziehen zu können. So führte die Marburger Deutung
zu neuer Diskreditierung einer einheitlichen philosophischen Piatonauffassung. Die
philologische Einzelarbeit trat mit Recht an ihre Stelle (Pohlenz, Aus Plat.
Werdezeit, Berlin 1913). Aber das Bedürfnis nach einer philosophischen Darstellung
blieb bestehen. Man empfand, daß z. B. Windelbands bekannte und glänzende Dar-
stellung in den „Klassikern der Philosophie" der eigentlichen Substanz Piatons zu
fernblieb, und vermißte umgekehrt in dem lehrreichen Buche C. Ritters die philo- 40
sophische Entschiedenheit.
Gegen die Marburger Auffassung, die das naturwissenschaftliche und Erkenntnis-
theoretisch-Logische im platonischen Werke betonte, und gegen die lediglich solide
philologische Einzelarbeit wendet sich gleichermaßen die von dem Kreis um Stefan
George ausgehende Piatondeutung, die neuerdings von Fr. J. Brecht, Plat. und der
George-Kreis (Leipzig 1929) besonders dargestellt worden ist. (Vgl. die Kritik dieses
Buches und der Georgeschen Piatonauffassung vonR. Härder, DLZ 1930, S. 974.) Der
klaren negativen Absicht der Georgeschen Deutung in der bezeichneten doppelten
Richtung steht als Position und Positivum lediglich die Angleichung an das Bild des
gegenwärtigen Führers und Gründers zur Seite. Zwar soll nicht geleugnet werden, daß 50
gewisse Einzelzüge des Piatonismus, besonders in dessen späteren Erscheinungsformen
durch den lebendigen Vergleich mit dem Bilde des gegenwärtigen Dichters, dem bei
seiner Verneinung aller Gegenwart die Antike, besonders die spätere, vorzuschweben
scheint, in ein helleres Licht geraten. Aber trotzdem ist dieser dritte Typus einer Gesamt-
D
PL A TON. IDEE DES GUTEN ALS SEINS IDEE
105
anschauung Piatons die willkürlichste Modernisierung. Das Gegenbild in jedem Sinne
ist Wilamo witz' großes Piatonwerk; die zeitgeschichtlich ungemein aufschlußreiche
Einleitung (vgl. Stenzel, Kantstudien XXVI, 1921, S. 430) verzichtet ausdrücklich
auf den Anspruch, die Philosophie, Logik und Mathematik Piatons darzustellen; daß
es nicht möglich ist, diesen Verzicht durchzuführen, versteht sich von selbst. Und so
steht vieles in dieser auf ausgebreiteter Anschauung der griechischen Kultur und auf
wirklicher Textinterpretation beruhenden Darstellung — der 2. Band ist hierin wohl
noch wichtiger als der erste — , was dem philosophischen Deuter nicht ohne weiteres
zum Bewußtsein kommt.
Aus allen diesen Versuchen der Gesamtdarstellung in ihrer eingestandenen oder ver-
schwiegenen Einseitigkeit ergibt sich das Ziel, an dem unsere Zeit zu arbeiten hat:
das Wissenschaftliche, und zwar Mathematisch-Logische in Piatons Werk muß mit dem
Politisch-Pädagogischen und Philosophisch-Metaphysischen in die richtige Beziehung
gesetzt werden.
Piatons erste philosophische Periode beruht auf der rückhaltlosen
Identifizierung seiner Lehre mit dem Sinngehalte, den er in dem soma-
tischen Leben sah, und so ist dessen Existenzialität, die Art, wie Sokrates
sich selbst in seinem Dasein verstand und wie dieses Verständnis von
Piaton aufgefaßt wurde, das einfache und doch unerschöpfliche Thema
der Frühdialoge, unerschöpflich, weil in dieser Deutung sich immer mehr
die eigene philosophische Haltung Piatons entfaltete und bildete (vgl.
Erw. Wolff, Piatons Apologie, N. Philolog. Unters. 1929, bes. S. 85 ff.).
In der verstehenden Hinwendung zu einer persönlichen Existenz von
der Stärke der sokratischen liegt wohl die Grundlage einer metaphysi-
schen Stellung zu Mensch und Welt überhaupt, sie ist der Gegenstand
einer möglichen metaphysischen Theorie, aber noch nicht diese selbst.
Ehe Piaton zu einer solchen Theorie des Seins, also zu einer eigentlichen
Ontologie gelangt, muß sich die unmittelbare Einheit seines Philosophie-
rens mit dem sokratischen Paradeigma lockern, muß er den nötigen Ab-
stand diesem Erlebnis gegenüber erlangen. Dieser Vorgang ist deshalb
so wichtig für das Verständnis seiner gesamten menschlich-metaphysi-
schen Haltung, weil er in keinem Punkte eine Verleugnung oder Abwen-
dung bedeutet, sondern immer wieder zu einem tieferen Verhältnis zum
sokratischen Urphänomen führen sollte.
b) Die Idee des Guten als die platonische Seinsidee.
Der Abschluß der ersten Periode — sie die „sokratische" zu nennen
dürfte nun keinem Mißverständnis mehr Vorschub leisten — ist die erste
sizilische Reise im Jahre 388. Sie bedeutet für Piaton dreierlei: erstens
erlebt er in Dion diejenige menschliche Begegnung, die nach dem Wenigen,
was aus Gedichten und Briefen uns sichtbar wird, sich mit der sokrati-
schen vergleichen läßt, und zwar gewinnt nun Piaton dieselbe Stellung
der Aktivität Dion gegenüber, die er Sokrates zubilligte, die des Leiten-
den und verantwortlich Bildenden, des jjyotifisvog, des Führenden.
Es beginnt die Reihe der Erosdialoge. Diese personale Aktivierung
vereinigt sich mit der politischen: für Piaton erschließt sich in Sizilien
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
neu der Bereich politischer Tätigkeit, der Gründung eines Staates aus
der Initiative des Herrschers; das bedeutet den endgültigen Verzicht
auf politische Betätigung in der Heimatstadt; aber die „Gesetze" zeigen
später, in welchen Grenzen Piaton diesen für einen athenischen Aristo-
kraten ungemein wichtigen Schritt durch eine theoretische Rückwendung
zum heimischen Recht auszugleichen suchte. Zunächst waren seine Blicke
von nun an auf Sizilien gerichtet, und damit auf Staatengründung; die
„Politeia" oder, wie überliefert wird: die Politeiai, die Verfassungsformen
in ihrem wesensmäßigen Zusammenhange, bezogen auf die Norm des
Staates überhaupt, treten als der Untergrund des gesamten Philosophie-
rens immer deutlicher hervor.
Drittens tritt in Sizilien die „pythagoreische" Philosophie mindestens
als ein „Problem", als jigöfilyiua, als Aufgabe, als neue Möglichkeit in
Piatons Gesichtskreis ein, also das erste vollwertige Gegengewicht gegen
die Sokratik, in deren Auseinandersetzung sich bisher sein Denken be-
wegt hatte. Drei zunächst in sich völlig verschiedene, ja entgegengesetzte
Motive prallen auf die Sokratik auf, deren jedes mit ihr gänzlich unver-
einbar scheint: erstens die Unsterblichkeits-, Jenseits- und Seelenwande-
rungslehre, zweitens die Mathematik als ontologische Wissenschaft vom
ersten und eigentlichen Sein, drittens der festgefügte ethisch-religiös be-
gründete Bund, der nach außen starke politische Macht entfaltete.
Alle drei Motive trafen Piaton in der Zeit, in der seinem persönlichen
Dasein neue Wirkungsmöglichkeiten sich erschlossen. Keines war ihm
völlig fremd und überraschend, keines aber war ohne weiteres einzuordnen
in den bisherigen Rahmen seines sokratischen Philosophierens; alle
mußten erst einem Einschmelzungsprozeß unterworfen werden, für den
die Bedingungen im persönlichen Sein Piatons günstig waren. Piaton sah
sofort, daß die pythagoreischen Motive erst in dem Bezug zur sokrati-
schen Paideia unter sich zur Einheit gelangen konnten. Die Auseinander-
setzung mit den fünf Motiven, erstens dem erotischen Verhältnis zu
Dion, zweitens der Möglichkeit, in Sizilien politische Macht zu entfalten,
und den drei aufgeführten pythagoreischen Motiven, sowie ihre schließ-
liche Aufnahme in den erweiterten Rahmen des sokratischen Bios (Phai-
dros !) ist der Weg zu einer Seinsidee von neuer und nur einmal in der
dichterischen Form des Staates erreichten Fülle. Diese Fülle stellt der
theoretischen Bewältigung dieser Seinsidee, der Erfassung des zugehörigen
und zulänglichen Seinsbegriffes, die in der Akademie von Piaton und
seinen Schülern geleistet wird, die eigentlich griechische Aufgabe. Wir
unterscheiden also eine zweite Periode, in der sich alles bisher Erwähnte
in der Idee des Guten zusammenfaßt, von der dritten einer theoretisch
durchgebildeten Seins- und Einheitslehre. Die Dialogreihe, in der der
Aufstieg zum „Staat" sich vollzieht, wird durch Lysis- Symposion, Menon-
Gorgias-Phaidon bezeichnet. Dabei bleibe die Reihenfolge im einzelnen
frei. Nach dem „Staat" setzt die Reihe der ontologischen Dialoge mit
D
PLATON. IDEE DES GUTEN ALS SEINSIDEE
107
Theaitetos, Sophistes, Politikos ein, gipfelt im Parmenides, Philebos und
Timaios — wobei wieder die Freiheit künstlerischer Gestaltung manches
vorwegnehmen oder ebensogut im Rückblick zusammenfassend und kürzer
behandeln kann; der Parmenides kann früher sein als der Sophistes, der
Timaios als der Philebos - — dies zu entscheiden ist nicht Aufgabe einer
philosophischen Betrachtung. Zuletzt versuchen die „Gesetze" noch einmal
wie der „Staat" den jetzt theoretisch auseinandergelegten Seinsbegriff
wieder praktisch werden zu lassen.
Die fünf Motive, von denen die letzten drei unter dem Sammelnamen
des Pythagorismus zusammengefaßt wurden, sind nun im einzelnen in
ihrer Einwirkung auf die Seinsidee Piatons zu betrachten.
Das erotische Motiv, keinem der früheren Dialoge ganz fremd (Prota-
goras, Charmides), tritt im Lysis, wie es scheint zum ersten Male, als
Grundlage einer Zwecklehre auf. Alles Geschehen erfolgt um eines „Lie-
ben", (pilnv, willen; also muß es ein „erstes Liebes" geben, um dessen
willen alles andere „lieb", erstrebenswert ist (219 d) oder in dem alles
andere Liebe „endet" (220 d), also Ruhe findet. Der befremdliche Aus-
druck des (piXov, des Lieben, für den Zweck enthüllt die metaphysisch-
anthropologische Grundlage der Seinsvorstellung. Aller Wirklichkeit
gegenüber werden die Kategorien des personalen Vorbildes und seiner
Nachfolge angewandt, und dies ist ohne sentimentalische Überspannung
möglich, weil der Personbegriff von Piaton stets objektiviert, d. h. von
einer überspitzt subjektivistischen Ichhaftigkeit freigehalten wird. So
kann schlechthin alles, was Sinn hat, jedes Existierende, in seiner Exi-
stenz so aufgefaßt werden, daß es nach seinem Seinssinn „strebt", ihm
ähnlich zu werden „begehrt"; es ist „schlechter" als das, was ihm als
sein Sinn, als das nachahmenswerte Vorbild vorgesetzt ist.
Phaidon 74 d 9:
Ovxovv 6/uokoyov/uev, orav rig ti Idwv irroqo~y ort, ßovktTcci usv rovro o vvv iyio
vqw elvcci oiov cckko rt> rwv ovriov, ivdeT de xcci ov dvvatav roiovrov elvat, oiov IxeTvo,
dkk1 i-Giiv öpctvkorsQov, ccrccyxaTor nov tov tovto ivvoovvrcc rv/elv npoeidorcc ixetvo <a (ptjav
avro npoceoixivcct /ufr, Ivd&eoreowg de tyeiv;
Phaidon 75 a 11:
'Akku [xev drj ix ye riöv ccla&qceüiv dst svvoijov.i, ori nccvrcc tcc iv rotTg alo&tjffeatv
Ixüvov T€ opeyerat, tov o iariv i'oov, xcci ccvrov ivdfearepd ianr • tj nwg keyo/uev; . . Ilgo
tov äga ctQl-cco&ai rjfiäg oqvcv xal ccxovetv xcci rdkkcc cclo&dveo&cct rv/sTv t'det nov eikrj-
(püTccg inioTtjfiqv ccvrov tov taov ort i'oriv, ei ifxekkofiev tcc Ix tüjv cclo^aeiov toa ixeToe
uvoioeiv, ort, nQott-vfxeTrcci jusr nccvrcc roiccvr elvcct oiov ixsTvo, ianv de ccvrov (pccvkoreQa.
Aus der letzten vollständigsten Fassung dieses Gedankens geht hervor, daß diese
vorhandene Strebung im Existenten, dieser Anspruch der Dinge, der Grund ist für die
Anwendbarkeit der aus vorhergehenden Einsichten gewonnenen „Ideen" des Gleichen
usw., kurz für das verstehende Auffassen des Wirklichen — nicht umgekehrt.
Dieses Streben in den „Dingen" wird im Lysis mit denselben Worten dargestellt
wie im Symposion: das Liebende (Strebende) kann nicht selbst gut sein, wenn es
nach dem Guten verlangt. Aber auch nicht schlecht, sondern ein Mittleres da-
zwischen.
10$
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Lysis 220 d 4:
(u)' othrtü Tliipvxi if xai (fikfTmi Tayaftdi> dtd to xaxov v(f r^iior, tcöp fxeTa'iv ovtojv
rov xaxov u xccl layaftui . . . . Oiov je ovr iariv im&vfiovpra xai tQiövTa tovtov ov im&v/uei
xai io$ fjuj (jr/Af/V; Zur parallelen Theorie de8 Symp. vgl. Plat. d. Erz. 214 — 217.
Dieser der gesamten Physis immanente Nachahmungsvorgang wird
im Symposion 207 a ff. als Eros entwickelt, als das Streben, sein „Ziel",
sein Wesen zu verwirklichen. Die Stufenfolge führt vom Tierreich, das
in der Zeugung seine gattungsmäßige Form erhalten und so unsterblich
sein will, über das geistig-leibliche Individuum, das im Lebensvorgang
die Formbestimmtheit seiner Hyle in allen Entwicklungsstufen bewahrt
und so sich identisch erhält, zum Wissen des denkenden Wesens um seine
geistige Einheit; die „Erinnerung", [iv>jj[i7], läßt die im seelischen Werden
sich dauernd verändernden Akte des Wissens, Fühlens, Fürchtens usw.
als dieselben wiedererkennen: sie scheinen aber nur dem endlichen
Wesen dieselben zu sein, während das Identisch- Sein schlechthin nur
dem Göttlichen zukommt.
Diese Seelenauffassung führt über den Phaidon und das X. Buch der Gesetze —
vgl. das Programm Über zwei Begriffe der plat. Mystik ZQION und KINHJlIJZ,, Breslau
1916 — zu der Definition der Seele, Gesetze XII, 966 d 9. feV fxev o tisqI tj?V tpv%ijv
Ikiyofxev, u>s TiQeoßvTaTov T£ xai fteioTaTov £otiv navTOiv wv xivrjoig yivzcw naoakaßovaa
divaov ovaCav snÖQioev. Eines davon ist das, was wir über die Seele sagten, daß sie
das Ehrwürdigste und Göttlichste ist unter alledem, bei dem die Bewegung, das Werden
zuhilfe nehmend, ein ewig fließendes Sein hervorbringt. Als Zielpunkt der Ent-
wicklung ist dies auch für das Folgende zu beachten.
Die personale Existenz war durch das Wissen um ihre geistige Einheit
charakterisiert worden. Piaton geht nun einen Schritt weiter, indem er
das Streben nach geschichtlicher Dauer, nach der Unsterblichkeit des
Ruhmes als des vorweggenommenen Lebens in der Zukunft, in den Be-
griff des Menschen aufnimmt und nach der Art und der Stärke dieses Eros
die Menschen sich unterscheiden läßt. Die Sphäre, in der diese Dauer sich
gründet, ist die pädagogische und politische, noch bezeichnet durch die
großen erzieherischen Dichterpersönlichkeiten Homer, Hesiod, Lykurgos,
Solon. Nach einem deutlichen Einschnitt 209 e 5 kommt nun die
Schilderung des letzten Zweckes ,,t« islea xai ijioTtTixä" (Wortspiel mit
t£Xoq Zweck, Ende und t^Xtj Weihen), um dessentwillen auch dieses ist
<bv E >exa xai zavra hdxiv. Was das „erste Liebe" allgemein bezeich-
nete, das wird nun inhaltlich bestimmt als Schönes an sich, das nicht
mehr bloß Bild, sondern Wesen des Schönen ist (auch der Lysis spricht
219d3 von den d'öwXa, den Abbildern des höchsten Lieben). Die anfäng-
liche Bestimmung des letzten Zweckes des Eros 205a lautet:
Durch den Erwerb des Guten werden die Glücklichen glücklich.
Kxr/Ofi yaq äya&wr ol evdatixoreg tvdai[xoveg, xai ovxeri nQoadn eQf'o&at, "Iva ri di
ßovXtTat (vdat/Liüw tlvai, 6 ßovkofxerog; dkkd Tekog doxst fyew fj dnoxQicig.
Dieser Eros wird als allen Menschen gemeinsam erklärt. Hinzugefügt
wird noch die für das Schöne selbst (xaXbv attzö) — wir können es eben-
D
PLATON. IDEE DES GUTEN ALS SEINSIDEE
109
sogut „erstes Schönes", tvq&tov xaXov nennen — wichtige zeitliche Be-
stimmung: 1. die Menschen streben nach dem Guten; 2. sie streben, daß
ihnen das Gute zuteil werde; 3. nicht nur, daß es zuteil werde, sondern
daß es immer zuteil werde. Sichtlich steht die Dauer, die Gegenwart
(nagovaCa) des Guten mit dem Begriff des ersten (letzten) Zieles und der
Befriedigung des Strebens (ejtdaifiovta, Glückseligkeit) in einem Wesens-
zusammenhang.
Alle diese Bestimmungen müssen beachtet werden, um jenen Aufstieg
zu verstehen, über das Schöne in den einzelnen schönen Leibern (ady^ara,
10 im Griechischen zugleich individuelle Personen), in den Seelen, den Be-
tätigungen (imTTjdeö/iccTa) und Gesetzen und Bräuchen (vof^oi), Wissen-
schaften (iTt'Orij/iLcti) zum Wissen um das Schöne selbst, zu dem uner-
schöpflichen Meer des Schönen; zu ihm führt „neidloses Philosophieren",
das wachsen und stark werden läßt, bis plötzlich jene Schau des Schönen
aufleuchtet.
Bei einer Wiederholung des Gedankenganges, die bei Piaton immer
bestimmte Absichten verfolgt, wird in der Stufenfolge statt Wissenschaft,
i7iiGT7jfM], Lerngegenstand, ftä&Tjjiia, gesagt und das letzte Ziel des Eros
als „Mathema des Schönen selbst" bezeichnet. Es führt den Menschen
20 „zu keinem schlechten Leben" (211 e), läßt ihn echte Tugend, nicht nur
deren Abbilder, erzeugen und so „gottgeliebt" und unsterblich werden,
soweit es einem Menschen möglich ist. Was hier immer als ganz beson-
ders auffällig empfunden wurde, daß die „Unsterblichkeit der indivi-
duellen Seele" sichtlich nicht der Sinn dieses hier erschauten Seins ist,
muß für den modernen Deuter vor allem andern festgehalten werden.
Es bestätigt sich immer das, wovon wir hier ausgingen: die gemilderte
Ichhaftigkeit der Personalität und gerade die Einführung des „Gött-
lichen" (nicht „Gottes") im Schlußgedanken zeigt, daß von der niedersten
bis zur höchsten Sphäre diese Haltung bewußt festgehalten wird. Man
30 kann sagen, daß immer nur so viel an subjektiver Personhaftigkeit bei
Gott und Mensch von Piaton gemeint wird, wie nötig ist, um allenthalben
das ö/ioiwaic- Verhältnis, die Nachahmung und Nachfolge einerseits über-
haupt möglich zu machen und andererseits ungestört von jeder puren
Subjektivität sich auswirken zu lassen. So wird die am Eingang des
letzten Teiles der Diotimarede geradezu geforderte Entpersönlichung des
Eros verständlich und damit dessen ausdrücklicher Einbau in den der
staatlich-geschichtlichen Gemeinschaft. Wenn demnach die Idee des
Schönen die Idee der Person, also die ideelle Personhaftigkeit —
Persönlichkeit — bezeichnet, woran nicht zu zweifeln ist, so muß hinzu-
40 gefügt werden, daß als die Norm dieses Seins der Person ihre Zuordnung
zu anderen ihresgleichen in der ideellen Gemeinschaft vorausgesetzt ist.
Dieser Normbegriff ist für Piaton immer zwischen das Ich und seine gött-
liche Idee dazwischen geschaltet; aber nicht nur dieser Normbegriff, son-
dern noch sehr viel mehr.
HO
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Das lehrt der Vergleich mit der dritten Ausprägung derselben Seins-
idee, der Idee des Guten im Staate. Fast alle Bestimmungen kehren hier
wieder, freilich wesentlich bereichert. Vor allem wird der pädagogische
ilfotfcema-charakter des Schönen im ersten Guten, dem größten Lern-
gegenstand, der doxy des Seins, ganz anders herausgearbeitet. Vom
Staate aus fällt auf alle die früheren Ansätze zu einer umfassenden Seins-
idee erst das rechte Licht.
Die unverrückbar festgehaltene Disposition des Staates führt in einer
Wellenlinie mit dauernden Ausschwüngen in andere, aber zugehörige
Problembereiche, mit der naiven Frage nach der Glückseligkeit des Ge- to
rechten beginnend, bis zum Staatsmythus, zur endgültigen Befriedung
des Menschen im Ewigen, wobei dieses Ewige immer nur, als ein Kraft-
quell für die volleibliche Existenz, im konkret-irdischen Staate sich be-
währen kann und soll. Eine Wellenbewegung kommt in die Gedanken-
entwicklung durch zwei Antriebe. Erstens sichert Piaton das „Absolute"
der Idee des Guten, auf das er die ganze Erörterung hinleitet, dauernd
vor dem „Chorismos" , der abstrakten, schlechten Verabsolutierung. Und
zwar wird die Idee des Guten einmal dauernd hineingestellt in die kon-
kretgeschichtliche griechische Bildungssituation: die gymnastisch-mu-
sische Paideia soll lediglich „gerettet", d. h. ihr verlorener Sinn, ihre 20
ägxccict cpvöic, aus Kräften des Logos wiederhergestellt werden. Zugleich
sorgt Piaton dauernd für das im Eros des Symposion hervorgehobene
Motiv: die Kraft der Idee soll das gesamte leiblich-geistige Leben mit-
bestimmen, und der Naturbegriff Piatons ist so weit gefaßt, daß die Fragen
der Erotik und Erzeugung notwendig zur Erörterung gelangen müssen.
Auch in der Beziehung von Tapferkeit und Erotik trägt Piaton der ge-
schichtlichen Bildungssituation weithin Rechnung. (Vgl. das Genauere in
Plat. d. Erzieher S. 191 ff.) Erst aus dieser unerhörten Konkretisierungs-
tendenz dem Absoluten gegenüber wird der „Staat" richtig erfaßt werden.
Zu diesem ersten, den Gang des Gespräches zu gewaltigen Ausschlägen 30
nach vielen Seiten zwingenden Motiv tritt nun für die Gedankenanord-
nung als fundamental wichtig hinzu der dauernde Wechsel der Betrach-
tung, indem einmal „der Mensch", der in seinem Sein bestimmte verant-
wortliche einzelne Geist in seiner Einwirkung auf die sich bildende und
erhaltende Staats- und Erziehungsgemeinschaft gefaßt wird und so Aus-
gangspunkt der Betrachtung ist, ein andermal die Form der Verfassung
der Gemeinschaft in ihrem Einfluß auf die Herausbildung eines durch
das Zusammensein mit anderen bestimmten Menschentypus betrachtet
wird. Ob „der Gerechte" ohne die „größere Schrift des gerechten Staates"
erblickt werden könnte, ist ja der Ausgangspunkt des Ganzen. 40
Die alte Frage, ob etwa die Dreiteilung der Seele oder die ständische Gliederung
des Staates das Prius im Gedanken Piatons ist, verrät ein echtes Problembewußtsein
— die Frage nach dem zeitlichen Prius steht auf einem ganz anderen Blatte und hat
mit der uns beschäftigenden Frage, ob Piaton vor dem Ganzen seiner Gedanken dem
D
PLATON. IDEE DES GUTEN ALS SEINSIDEE
111
einen oder dem anderen Sachverhalt einen Seinsvorrang zuwies, im Grunde nichts zu
tun; es ist nach allem oben Entwickelten wahrscheinlich, daß Piaton sich für den Glau-
ben an ein absolutes Gleichgewicht des Seinsverhältnisses von wesentlichem Menschen
und wesentlicher Gemeinschaft bewußt und ausdrücklich entschieden und ihn zur
Grundlage seines Paideia gedankens gemacht hat.
Platon gelangt auf den durch diese komplexen Absichten bezeichneten
Wegen zu einer Festsetzung der vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit,
Tapferkeit, Besonnenheit und Weisheit (Staat IV 427 e ff.). Die Gerech-
tigkeit, das Anfangs- und Hauptthema des Ganzen, wird eigentümlicher-
weise durch ein Ausschließungsverfahren entdeckt; was jeder Dialog vom
„Protagoras" an lehrte, daß die Zerspaltung der ZvXh'ißdqv äoexi] in die
einzelnen Tugenden nichts Ursprüngliches ist und nichts Endgültiges
bleiben darf, diese Frage muß für alles Folgende ebenso gegenwärtig blei-
ben wie die Antwort, die die früheren Dialoge nahelegten; wir haben die
Antwort oben so gedeutet, daß es sich hier um das richtige Verhalten der
einheitlichen Person im konkreten Lebenszusammenhange handelt.
Vgl. R. E. Logik, S. 1001. Wissenschaft und Bildg. i. plat. Erziehungsbegr., Ztschr.
f. Gesch. d. Erzieh, u. d. Unterrichts, Berlin (Weidmann) 1930, S. 97.
Im VI. Buche des Staates bestimmt sich die Einheit des Menschen
als die des wahren Philosophen, der der einheitlichen Weltganzheit gegen-
übersteht und sie sich erkennend-tätig, erziehend-regierend zu erschließen
hat. Mit dem neuen sizilischen Antrieb zu praktischer Politik dauernd be-
schäftigt, stellt Platon dem durch „Unbrauchbarkeit", d%Q^aTCa^ cha-
rakterisierten falschen Philosophen den echten gegenüber, der zur Ver-
wirklichung seiner Ideen erzogen ist und sich selbst dauernd für diese
höchste Aufgabe bildet. Platon kann nicht vermeiden, eine gewisse Di-
stanzierung gegen den geschichtlichen Sokrates von dem Sokrates, der
seine, Piatons, Gedanken zum Ausdruck bringt, zart anzudeuten : es wird
die eigentliche Leistung des sokratischen Bios dessen geschichtlicher Er-
scheinungsform gegenübergestellt; die Frage des „Einsprungs" ins aktiv-
politische Leben pulsiert dauernd, besonders im VI. Buche, hinter der
Gedankenführung, die zur Idee des Guten führt. Wenn diese allgemein
als das „Größere" gegenüber der Gerechtigkeit und allem bisher Er-
örterten erscheint (504 d), so wird dieser Vorrang folgendermaßen be-
gründet (505 a) : sie ist das Größte, was zu lernen ist, weil erst dadurch,
daß das Gerechte und das andere sie hinzugebrauchen, diese brauchbar
und nützlich werden.
inei ort ys t] tov uya&ov töecc fieyiOTov fid&rj^icc, nokkdxig dxqxoccg, fj dt} xai di'xata
xcci rdkka 7iQOC>x()t}oa,fX€va x^rjoifxa xai ujq>(ki{xa yiyvejai.
Um diesen, wörtlich übersetzt trivialen, Wendungen den platonischen
Sinn zu geben, der ihnen nach dem Gewicht dieses Zusammenhanges
sichtlich zukommt, muß das Motiv des Gebrauchens, der %qiioic, plato-
nisch verstanden werden. Im Euthydemos (291 ff.) wird dem den ganzen
Dialog sonst beherrschenden Bilde falscher, unproduktiver logischer Spitz-
112
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
findigkeit das echte Wissen als die königliche und staatsmännische Kunst
ge genübergestellt, die alle Dinge zu gebrauchen, also brauchbar zu machen
versteht und damit zur Lenkerin des Staates bestimmt ist, in dem sie
alle gut und wissend macht. Wissen macht alle Menschen dadurch glück-
selig, wie vorher bereits 282 a festgestellt ist, daß es mit den Dingen um-
gehen (toZq TiQ&YixaGiv %Qtfö&cci) lehrt — der ganze Zusammenhang und
einzelne Wendlingen weisen deutlich auf die Problematik des Staates hin.
Ergänzt wird dies durch eine im Kratylos 390 b als selbstverständlich angenommene
These, daß der zukünftige Gebrauchende das entscheidende Urteil über die Richtigkeit,
o^dvnjg, jeglichen Dinges hat; man sieht deutlich, wie wesentlich der Begriff des Ge- 10
brauchen*, des und des Brauchbaren, des XQ^ai/Llor'> ist. Die zunächst liegenden
deutschen Übersetzungen führen ganz in die Irre, weil sie „utilitaristisch" klingen; die
manchmal für nötig gehaltene Verteidigung Piatons gegen diesen erst dem 19. Jahr-
hundert entsprungenen sog. philosophischen Standpunkt ist unnötig und unzulänglich.
Die gelegentliche Ubersetzung von wyskeia mit dem der griechischen Theorie fremden
Wertbegriff kann, richtig verstanden, weiterführen, wie etwa Theait. 186 c: „die über-
legenden Schlüsse auf Sein und Wert" werden — wenn überhaupt — mühsam nach
langer Zeit durch viele Erfahrung und Erziehung zuteil {ja de nsQi tovtwv dvakoyia-
[xctra TiQog T€ ovoiav xal wcpsksiav [xoyig xal ev /Qoru) diä nokkwv nQayfxdjinv xal nat-
dfiag naoayiyveTai. oi? av xal naQayiyvsrai. Obwohl w(piki/uog und ^r\ciy,og eng zu- m
sammenhängen, weisen sie doch auf verschiedene Sachverhalte hin.
In allen Ableitungen von %Q7j(f&cci wirkt die aus der verbalen Kraft her-
kommende Bedeutung stark nach, und zwar die doppelte Bedeutung „Um-
gehen mit Dingen" (ngayfiaai xQ^atiat) und „Umgehen mit Menschen"
(z. B. (piXcp rivl xQfjüücci); daher stand an der zuletzt zitierten Theaitetos-
stelle die Paideia neben den Dingen, den Ttgdcy^ara; denn Paideia ist
ein „Zusammensein", awovatec, ein Zusammenleben, Gv£fjv, bei dem die
verschiedenen Leistungskräfte, ägerai, in Bewegung geraten und sich
steigern — besondere Lehranstalten können infolgedessen bei dieser
Paideia zurücktreten. Daß das Umgehen in seinem vollen Umfange von 30
den handfesten Dingen der handwerklich demiurgischen Sphäre bis zum
persönlichen Tat- und Wirkungszusammenhang sichtlich auf dem Hinter-
grunde höchster theoretischer Prinzipien gesehen wird, dürfte nicht mehr
verwunderlich erscheinen; wir bewegen uns wieder auf dem Boden der
oben entwickelten Te/oslehre und der für Piaton charakteristischen Idee
vom Sein, vom Menschen, vom Staate und schließlich von der Welt über-
haupt, in derjenigen Sphäre, in der ein Arete- geleitetes Streben allent-
halben wirkt und einen Anruf zum „Gebrauchen", zum Umgang, gemäß
seinem Wesen, seinem Eidos bedeutet für den, der Wesensmäßiges zu
hören und zu schauen gelernt hat, für den, der also weiß, wozu jegliches
Ding der Welt „gut" ist. Dieses Lernen ist nun das große Mathema der
Idee des Guten, das alles „nützlich und brauchbar", „im Umgang wirk-
sam" macht.
Gewiß besteht demnach eine sachliche Beziehung zum Wertbegriff, besonders wenn
man — ich denke an Scheler — den Wertungsakt als ursprüngliches Vorziehen nimmt
und ein Erfahren des Wertes im unmittelbaren „Umgang", in der Begegnung mit
D PLATON. IDEE DES GUTEN ALS SEINSIDEE 113
Dingen und Menschen im Sinne hat, also das ursprüngliche primäre, im geistigen Dasein
selbst gesetzte Verstehen, das in der neuen Fundamentalontologie wiederentdeckt
worden ist.
Damit ist auch die Verbindung mit dem platonischen Erosbegriff neu
hergestellt. Jenes ursprüngliche „Haben des Wertes", überhaupt das un-
mittelbare Wissen ums Dasein, hat auch in der gegenwärtigen Philoso-
phie den freilich noch mannigfacher Klärung bedürftigen Begriff des Ge-
fühls, des Fühlens nicht umgehen können; im Eros hat Piaton das Er-
fühlen des Sinnes, das sich gefühlsmäßig auf den Sinn- Gerichtet- Wissen,
zur Grundlage auch des sogenannten sachlich theoretischen Erkennens
gemacht. Im Eros ist das Moment des Umgehens mit etwas, der kon-
kreten leiblich-geistigen Begegnung, wesentlich. Deshalb hat Piaton nicht
versäumt, in den Gedankengang, der vom unechten, unbrauchbaren und
zu keiner XQfjmc, mit den Dingen und Menschen taugenden Philosophen
zur Idee des Guten führt, die Quintessenz des Symposions einzufügen:
Staat 490 ab: „Der wirklich Lerneifrige ist geschaffen, nach dem Sei-
enden zu ringen; er bleibt nicht stehen bei allerlei Dingen, die in ihrer
Vielheit nur zu sein scheinen, sondern er geht weiter und hört nicht auf
in seinem Streben (Eros), bevor er das, was jegliches Ding selbst ist,
in seinem Wesen erfaßt hat, und zwar mit dem Teil seiner Seele, dem es
zukommt, ein solches Wesen zu erfassen — es kommt aber dem Ver-
wandten (in der Seele) zu; dem wahrhaft Seienden nähert er sich, mit
ihm vereinigt er sich und erzeugt so Geist und Wahrheit, erkennt es, und
nun lebt und nährt er sich wahrhaft in ihm und seine Wehen hören auf."
^Aq* ovv dy ov [i£TQt.iog anokoyrjGOfAt&a ort, noog to ov neyvxojg eft] d/uikkäo&ai o ye
bmutg (fikofxa&rjg, xal ovx em^itvoi, inl roTg doZa^o/utvoig tlvcu nokkoTg exdoroig, dkk* Tot
xal ovx dfißkvvono ovd1 änokriyot tov iotorog, tiqiv amov o I'otiv ixdorov rrjg (pvaswg
axpaoftai d) TTQoarjXfi tpv/f/g t ydnre a&a i, tov toiovtov — noooqxei de cvyyevei — w nkt]-
aidoag xcci /uiyelg tw bvri bvrwg, ysvvrjaag vo~v xcel dkij&€iccr, yvoi'Tj ts xal dkrjO-ibg C^V
xal iQtcpono xal ovto) kqyoi lodlvog, nqlv d*ov;
Jedes Wort ist hier bedeutungsvoll; neu gegenüber dem Symposion
ist die starke Betonung der Mannigfaltigkeit des zu Erkennenden; jeg-
liches wirklich Seiende innerhalb der Physis gilt es zu erfassen mit dem
diesem Sein Verwandten in der Seele; im Schönen selbst war dort stärker
die Einheit des Seins betont, in dessen Erfassung die Seele zum wahren
Leben gelangt; Staat 493 e wird ausdrücklich das Schöne selbst neben
die anderen analogen einzelnen „Selbsts" gestellt — wie es im Phaidon
(65 d, 100 b) und überall sonst die Regel ist. Aus diesem Dialoge kann
auch die „Verwandtschaft" der Seele mit dem reinen Sein des Erkenntnis-
gegenstandes verdeutlicht werden. Es wird nämlich im Phaidon 77 a die
Unsterblichkeit der Seele gedeutet als die Ähnlichkeit ihrer Seinsart in
der Präexistenz mit der Seinsart der unsinnlichen Dinge an sich; daß die
Seele solcherlei erfassen, erreichen kann (tyuTcieaÖai, Staat 490 b, der
spätere Terminus der aristotelischen Ontologie), das beruht auf ihrer
Wesensverwandtschaft mit dem Ansichsein, und darin besteht ihre Un-
Handb. d. Phil. I. I) 8
114
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Sterblichkeit. Aus dem Symposion wissen wir, daß diese „Unsterblich-
keit" nicht auf eine Verewigung des Individuellen in der Seele hinzielt;
deshalb ist hier diese Näherung der Seele an die Dinge selbst das eigent-
liche und stärkste Mittel, um die individuellen Seelen zusammenzubinden
EU einer überindividuellen Gemeinschaft. Alle Erziehung muß auf diese
Region letzten Endes gerichtet sein, in der es keine individuellen Diffe-
renzen mehr gibt, sondern nur die Gegenständlichkeit der Erkenntnis.
Das Aufleuchten des Geistes (vove), von dem hier und später noch einmal
mitten in der Wissenschaftslehre gesprochen wird (508 d), ist nicht eine
in der einzelnen Seele für sie allein aufleuchtende Intuition, sondern um-
gekehrt das die einzelnen Seelen in der Einheit der einen objektiven Welt
verbindende Licht der echten Erkenntnis. Alle Erziehung ist darauf ge-
richtet, dieses Medium zu schaffen, in dem der Geist „wächst und sich
mehrt" und so die Seelen genährt werden — diese organisch-vegetativen
Bilder bevorzugt Piaton bei der Schilderung dieser geistig-leiblichen
Physis (natura naturans) des Seienden. Das Gute gibt im Erkenntnisakt
den Gegenständen und dem sie Erkennenden die Wahrheit (508 e); man
beachte die ontologisch wichtige Voranstellung der Gegenstandsseite:
70 Tt)v ttktj&ficcv naQt/ov ro7g y i y v tu o x o fi € v o i g xal nJ yiyvwGxovji Trjv dvvauiv
änodidov r>)v iov äya&ov idscev (pafhi elveu.
Diese Erleuchtung, genauer diese Gelichtetheit des Seins und der ihm
zugeordneten „verwandten" Seelenkraft ist das Medium, in dem die Philo-
sophie „brauchbar", d. h. mächtig und wirksam, im strengsten Sinne
wirklich, wird. In diesem Medium wird deswegen alles ideelle Sein — das
Schöne, Gerechte, Tapfere — erst „nützlich und brauchbar", weil es von
allen in seiner Kraft und in seinem Sinn erkannt wird. Insofern ist die
Idee des Guten noch jenseits des Seienden — der anderen Ideen und
alles ruhenden Seins — an „ehrwürdigem Alter", d. h. an Anfangs- und
Ursprungsnähe, und an Kraft, dvvafiiQ (509b), denn sie läßt nicht nur
sehen, sondern auch wachsen, wie die Sonne im sichtbaren Bereiche sehen
läßt und darüber hinaus noch am Wachstum aktiv beteiligt ist, alle
Keime — die tfdq iv rrj eptiaet, — zur Entfaltung und Verwirklichung
treibt.
Die metaphysisch-ontologische Grundabsicht ist demnach zusammen-
fassend so zu bezeichnen: Piaton strebt hindurch durch die rein theore-
tische Sphäre der Erkenntnis, der tmortitirj, zu etwas Fundamentalerem,
der praktischen tätigen Selbstbewegung der Seele Zugeordneten.
Soweit ist er in Übereinstimmung mit allen metaphysischen Theorien. Auch der
Primat der praktischen Vernunft bei Kant sieht die eigentliche Fundamentalschicht
des Seienden in der Ausgangssphäre menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung:
die „Dinge" an sich haben dieselbe Seinsart wie die freien, sich selbst verantwortlichen
Seelen — so könnte Kant in wörtlicher Übereinstimmung mit Piaton sagen. Mag
Scheler auch in Verkennung des eigentlich Metaphysisch- Anthropologischen bei Kant
seine Gedanken in der Polemik gegen ihn in Bewegung setzen: es kommt auf genau das-
selbe metaphysische Motiv heraus, wenn er im unmittelbaren Wertfühlen und der
D
PLATON. IDEE DES GUTEN ALS SEINSIDEE
115
gegenseitigen Reaktion der Menschen aus diesem Wertfühlen ein personales Sein des
Menschen aufweist, das an Kraft und Ursprünglichkeit noch hinter die Schicht der Er-
kenntnis zurückreicht. Auf Heideggers primäres Verstehen, von dem das theoretisch-
wissenschaftliche erst abgeleitet ist, konnte schon im Zusammenhang der XQ^°l?-> des
Umgehens und Begegnens hingewiesen werden. Die Verwandtschaft der eigentlichen
metaphysischen Grundabsicht tritt dann besonders hervor, wenn in dem fundamentalen
Verstehen bei Heidegger die dadurch sich ergebende „Lichtung" des Seienden als
Voraussetzung und Ansatz jedes expliziten Erkennens stark betont wird. Dieser Grund-
hang des metaphysischen Denkens zum Primat des tätigen Prinzips wird häufig ver-
deckt durch den Einsatz des religiösen Motivs an einer früheren Stelle des Argumen-
tationszusammenhanges. In der Hingabe der Seele an eine göttliche Macht erfährt ihre
Aktivität eine spezifische Modifikation; innerhalb der religiösen Umkleidung des meta-
physischen Problems treten dann dieselben Dilemmata zwischen der kontemplativen,
Gesinnung bestimmenden und der praktischen, zum Werk verpflichtenden Kraft des
Glaubens neu hervor.
Der praktisch-tätigen Aktivität dieser Bewegung und ihrem Einfluß
auf das Seiende steht freilich auf dem Boden der antiken Metaphysik
scheinbar entgegen jener Vorrang der in den dem Bewußtsein entgegen-
stehenden Dingen vorgegebenen Bewegung; die Dinge selbst wollen,
streben (s.o. S. 107 f.), und deshalb können wir sie in ihrem Sinne erkennen
und gebrauchen. Aber daraus leitet Piaton ohne Zweifel gerade eine viel
höhere Möglichkeit des Einsatzes eigener Kraft, die größere Sicherheit
der Verwirklichung ab, indem die „Attrattiva der Dinge" (cf. Antike IV,
306) gleichsam die Aktivität des Menschen ansaugt und er sich nur ein-
zuordnen braucht in einen vorgegebenen, ihm nur vorher verdeckten und
deshalb zu enthüllenden Bewegungsrhythmus.
Daß der Einsatz des Tuns immer ins bereits Gegebene, Vorbestimmte,
nicht ins „Nichts" erfolgt, daß der Mensch also vor sich und hinter sich
als „Beweggrund" „etwas" weiß, und zwar eine bereits im Sinne seines
Tuns vorbestimmte Ordnung, diese Einschränkung der metaphysischen
Aktivität ist für die Antike charakteristisch; sie ist fundamentaler, wich-
tiger und folgenreicher als die rein theoretische Seite des Realismus, von
der man gewöhnlich nur spricht. Wir werden ihr bald wieder begegnen
beim Staatsmythos und später beim Schöpfungsbegriff, in dem jede
Philosophie das Prototypon ihres Tatbegriffs hat und ihn gleichsam in
großer Schrift verdeutlicht, und in der charakteristisch abgewandelten
Theorie des „Nichts", des Nichtseienden. An der Stelle des Staates, an
der wir jetzt stehen, ist der Grund der Zurückhaltung des antiken meta-
physischen Denkens auf seinem Wege deutlich genug. Jener Radikalis-
mus des Tatbegriffs hat eine größere Isolierung des einzelnen Ich zur
Voraussetzung als für das antike Denken in Frage kam. Piaton will ja
gerade umgekehrt das Pronomen „Mein" in seinem Staate so viel wie mög-
lich einschränken (464 a). An die Stelle einer Ich-Metaphysik soll ja
gerade eine Wir-Metaphysik treten; für diese ist das Zusammengehen mit
allem, was dem einzelnen Ich gegenübersteht, die naturgemäße Haltung;
auf Vergewaltigung des anderen — weder der anderen Person noch der
D 8*
116
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Dinge — gründet sich keine dauernde Gemeinschaft, und so dämmt PJa-
ton im Gegenteil eine geistige Entwicklung zurück, die in der Sophistik
bereits zu einer gleichsam punktuellen Zuspitzung des Ichbegriffs und
damit folgerichtig sofort zu einer radikaleren Theorie des Nichtseienden
(Gorgias) geführt hatte, und tut alles, um eine Ausbreitung der im Ich
sich konzentrierenden Energie auf das gesamte Sein wiederherzustellen
— ein Ziel, dem in noch gefährdeterer Lage die heutige Metaphysik un-
zweideutig wieder zustrebt (vgl. Heidegger, Sein u. Zeit 204 ff. u. 229 ff.).
Diese Wir-Metaphysik begünstigt die vollständige Auflösung der
Grenze von Innen und Außen, von Sach- und Personwelt, die auch von 10
einer Reihe anderer Antriebe in der bisherigen Darstellung verständlich
gemacht werden konnte (ciXog- und ^/ovc-Lehre). Diese Verschmelzung
findet ihren schärfsten Ausdruck in der ideellen Sphäre, insofern, wie wir
sahen, die ideellen Wesen und Sinneinheiten der Gegenständlichkeit,
die Dinge selbst, geradezu zum Wesen der Seele werden, Person und Welt
also gerade in jenem philosophisch-metaphysisch unterbauten Erkennt-
nisprozeß einander angenähert werden. Je wesentlicher also die Gegen-
stände der Erkenntnis erfaßt werden, desto sicherer gehen sie als Bildungs-
stoff in jenem höchsten, Tun und Lassen bestimmenden, Sinne in die Seele
ein, bemächtigen sich ihres eigentlichen Seins und befähigen sie zum Ein- 20
satz ihres eigenen sinngerichteten Wollens in die dieses Wollen gleichsam
erwartende und verlangende Welt Wirklichkeit. Erst von dieser Erwägung
aus kann der Einsatz der Wissenschaft in den vielsträngigen Gedanken-
gang unseres VI. Buches verständlich gemacht und damit die Stelle der
Wissenschaft im System Piatons bestimmt werden.
Hier ist nun Piatons metaphysische Theorie von der Begegnung mit
einer einzigartigen Wissenschaftssituation bestimmt worden. Wir treten
damit dem „Pythagorismus" näher; wir unterschieden drei Motive, die
von ihm aus auf Piaton wirkten. Das erste, die „Unsterblichkeit" der
Seele, haben wir bereits in seiner platonischen Ausbildung dargestellt; 30
das dritte Motiv, den politisch wirksamen ethisch-religiös fundierten Bund
haben wir unschwer in den metaphysisch unterbauten Gemeinschafts-
begriff aufgehen sehen, den die Akademie in die Wirklichkeit umzusetzen
unternahm. Dagegen das zentrale Motiv der Mathematik muß nun ein-
gefügt werden in den Aufbau der Wissenschaftslehre, in das innere
Kräftespiel der Idee des Guten.
Z. Folgd. vgl. Helmut Hasse u. Heinrich Scholz, Die Grundlagenkrisis in der griech.
Mathemat. Kantstudien 1928, S. 4; Toeplitz, Das Verh. v. Mathemat. u. Ideenlehre
bei Plat. Quellen u. Stud. z. Gesch. d. Mathem. Berlin 1929, S. 9; Stenzel, Z. Theorie
des Logos bei Aristot. ib. S. 55. Für eine archaisch-primitive, sicher aber auch für 40
Piaton ungemein eindrucksvolle Gedankenschicht des Pythagorismus muß auf die aus-
führliche Erörterung des ersten Teiles dieser Darstellung verwiesen werden. Ent-
scheidend wichtig ist, daß Piaton diesen Gedankenkomplex in einem Auflösungs-
zustand, in einer inneren Krisis aufgriff, die eine Übernahme der oben S. 41 — 46
entwickelten Gedanken absolut ausschloß. Der Weg, der Piaton schließlich zu einer
D
PLATON. IDEE DES GUTEN ALS SEINSIDEE
117
Gleichsetzung von Idee und Zahl und damit zur scheinbaren Wiederaufnahme der
Theorie von der Zahl als dem Wesen der Dinge führen sollte, geht über eine legitime,
im strengsten Sinne wissenschaftliche Grundlagenkrisis der Mathematik. Diese Krisis
ist — es scheint zunächst merkwürdig genug — in die Darstellung der Idee des Guten
im VI. Buche des Staates so hineingewoben, daß der Faden völlig sichtbar verläuft
und leicht aus dem Gewebe der anderen Motive herausgelöst werden kann (vgl. Wiss.
u. Bildg. i. plat. Erziehungsbegr. S. 107).
In den Dialogen, in denen der Unsterblichkeitsglaube zuerst hervortritt,
im Menon, Gorgias, Phaidon, werden zugleich auch die mathematischen
10 Gegenstände als exemplarischer Fall zur Verdeutlichung der Wesens-
erfassung entwickelt. Aber schon im Menon wird zwar an der großen
mathematischen Stelle das einfache Ablesen eines Sachverhaltes von der
Figur breit dargestellt, aber an der letzten Stelle das begrifflich-schlie»
ßende Verfahren einer Analysis vorgeführt, in dem der anschaulich ge-
gebene Sachverhalt nicht Selbstzweck, sondern nur ein Stück in einem
Beweiszusammenhange ist. Dieses Hinausgehen über den in einer ein-
zelnen Figur repräsentierten Sachverhalt mußte in seiner Notwendigkeit
besonders bewußt werden angesichts desjenigen „Skandals", von dem
die Grundlagenkrisis in der pythagoreischen und von da aus in der ge-
20 samten griechischen Mathematik sich ausbreitete, der Inkommensurabi-
lität der Diagonale und Seite eines Quadrates. So einfach der Aufweis ist,
den die Sklavenstelle im Menon darstellt, nämlich, daß das Quadrat über
der Diagonale doppelt so groß ist wie das ursprüngliche, so unlösbar ist
hier die Erfüllung der pythagoreischen Forderung „alles ist Zahl", ge-
nauer: alles verhält sich wie Zahl (vgl. Hasse- Scholz 1. c. S. 5). Denn
kein Verhältnis (Logos) ganzer Zahlen gibt das zwischen Seite und
Diagonale bestehende genau an. Die Arithmetisierung versagt gerade
dort, wo sie einen schlichten wissenschaftlichen Sinn hat, in der mathe-
matischen Sphäre selbst ! Desto klarer ist die Aufgabe einer allgemeinen
30 Arithmetisierung selbst nun zu stellen : sie muß zugleich eine Logisierung
der Mathematik im Sinne des begrifflich schließenden Verfahrens sein,
und sie muß damit auf eine allgemeine Logik hinleiten, die nun nicht
mehr bloß eine mathematische Angelegenheit ist, oder umgekehrt : wenn
man diese Einsichten weiter als mathematische bezeichnen will, er-
weitert sich die Mathematik zur Mathesis universalis, die Ideen werden
Zahlen, jedenfalls werden sie für die Mathematik wesentliche und not-
wendige Gebilde.
Ob unter diesen mathematisch-logischen Grundbegriffen der Logos, das Verhältnis,
bereits hier im Staate mitgemeint ist oder ob mit Logos hier die schließende, begriff-
40 lieh und wesensmäßig ordnende Grundkraft des Beweises schlechthin gemeint ist, bleibe
dahingestellt. Daß der Ausgangspunkt der metaphysischen Seinsgliederung und der in
sie eingearbeiteten mathematischen Theorie eine Proportion ist zwischen den vierfach
geteilten Abschnitten einer Linie, den durch diese Abschnitte symbolisierten Seins-
bereichen und den vier ihnen verwandten Erkenntniskräften in der Seele, soll noch
nicht als sicheres Zeichen für die Einsicht in die Wichtigkeit der Proportionslehre an-
gesehen werden.
IIS
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Aus der mathematischen Problematik heraus gewinnt Piaton folgende
vier mathematische Regionen: handfeste mathematische Modelle und
konkret gezeichnete Dreiecke — wie das Dreieck, das Sokrates im Menon
in den Sand zeichnet. Darüber steht der Kegel, das Dreieck, das eigent-
lich der Mathematiker im Sinne hat, wenn er Aussagen macht und Sätze
über mathematische Sachverhalte ausspricht, „das er nur mit dem Ver-
stände (öiavoCa) sieht" (510 e). Darunter steht ein Abbild, Spiegelbild
der konkreten mathematischen Dinge; beim Körper könnte man an eine
Zeichnung in einer Ebene denken, beim planen Gebilde an verzerrende
Sichten, ,, Abschattungen" u. dgl. Diese drei Regionen und ihre Unter-
schiede lassen sich leicht auf alle Gegenstände ausdehnen: Abbilder,
Spiegelbilder (Abschattungen) konkreter Dinge, diese selbst (Natur- und
Kunstgegenstände), darüber die Region der Ideen — die Dinge an sich,
die Kline an sich, von der das X. Buch redet, auf die hin der Handwerker
seine Klinai schafft, und an der der Gebrauchende die Trefflichkeit, das
.,Gute" an ihr, ihre Arete, ihre Werkleistung mißt und beurteilt.
Die höchste Stufe der Idee des Guten wird durch die negative Be-
stimmung der völligen Anschauungsfreiheit bezeichnet (511c) und die
Stufe der Dialektik genannt. Einfacher als der Staat beschreibt der Eu-
thydemos ihren Sinn und enthüllt zugleich den Zusammenhang der mathe-
matischen Sphäre mit den allgemeineren Bestimmungen der Idee des
Guten, wie wir sie eine nach der anderen aus dem Aufbau des VI. Buches
zusammenfügen konnten. Das Verhältnis der gebrauchenden königlichen
Kunst zu den anderen Künsten wird zunächst an der Beziehung zwischen
der Koch- und der Jagdkunst verdeutlicht — die Einteilungsprinzipien
weisen sachlich schon auf spätere Überlegungen (Sophistes, Politi-
kos) hin. Euthyd. 290 b:
„Keine Seite der Jagdkunst weist über das Erjagen und sich Bemächtigen hinaus.
Haben sie sich des Gegenstandes des Jagens bemächtigt, so können sie nichts damit
anfangen, sondern die Jäger und Fischer z. B. übergeben die Beute den Kochkünstlern,
die Geometer aber und Astronomen und Rechenkünstler (denn auch sie sind eine Art
Jäger, weil sie alle ja nicht die Figuren machen, sondern nur Seiendes auffinden),
außerstande, selbst mit ihnen etwas anzufangen, sondern eben nur sie zu erjagen, über-
geben doch gewiß den Dialektikern ihre Funde zum Gebrauch, wenigstens die nicht
ganz Unverständigen unter ihnen."
Ovdtuia Ttjg ^rjQfvnxtjg aviijg im nkiov bgtIp rj ooor &*}Q£vgcu xal %€iQMGaG&cu' inet-
dar de /(iqojgmptcci tovto b av &qQev(orTcci, ov dvvavTat, tovtio %Qi]Gfrai, dkV oi ftsv xvvrj-
yirai xal oi dkirjg ro7g oxponoioTg naqadidbaciv , oi d* av yew/ueTQcci xai oi <xgtqoi'6[xoi xal
oi XoyiGTixoi — &r]Q€VTixoi yaq eloi xal ovtoi ' ov yccQ tioiovgi ia dtayQccfx^iaTa exacrot
TOVTO) V, dkkü} TCC OVTCC fXVEVQlGXOVGlV «Tf OVV XQrjG&ai CCVTOI CCVToTg OVX imOTttJU£t'Otf
akkd ■d-t]o€vocu fxövov, nccQadidoccGi, drjnov To7g dictk&xnxo'g xaTa%Qr]G&<u avTwv wTg evQij-
{av.giv, ogoi ye avTÜv fxrj nuvTanaGiv cci'otjtoi stGir (vgl. Soph. 219 c).
Im Staate heißt es, die Mathematiker begnügen sich damit, Gerades
und Ungerades, die Figuren, drei Arten von Winkeln usw. zugrunde zu
legen, sie gehen aber über diese ihre Funde — die sie an den Figuren und
Zahlen usw. gemacht haben — nicht hinaus, sie geben sich über die
D
PLATON. IDEE DES GUTEN ALS SEINSIDEE
119
Gründe, aus denen dies an den Zahlen und Figuren usw. Aufgewiesene
wahr ist, keine Rechenschaft mehr, obwohl dies möglich ist. Die Dialektik
fragt also weiter, nach dem „Anfang", von dem aus die Einzeleinsichten,
die man mit mehr oder weniger Jagdglück erbeutet hat, zu einem Zu-
sammenhang sich zusammenschließen und sich unter oberste Prinzipien
allgemeinerer Art ordnen. Die Mathematiker, Astronomen und Logistiker
(Rechenkundigen) können also mit ihren Ergebnissen gar nicht frei und
überlegen umgehen, sie richtig verwerten, mit ihnen produktiv schalten
und in neuen Operationen neue Ergebnisse planmäßig erzielen. Der Dia-
io lektiker dagegen macht die einzelnen Findungen (e^QrjfiaTa im Euthyde-
mos) zu „Hypothesen", d. h. zu Stufen und Ausgangspunkten für höhere
Einsicht und gelangt so zur Einheit, zunächst in einer Seinssphäre, also
etwa der Mathematik. Er findet deren letzte nicht weiter ableitbare, also
„unbedingte" Voraussetzungen. Darüber hinaus eröffnet ihm dieser Auf-
stieg aber die Region, in der die allgemeinsten Prinzipien der Erkenntnis
überhaupt angetroffen werden; denn die mathematischen Prinzipien gehen
ins Logische hinüber. Es genügt hier, auf diese Möglichkeit hinzuweisen
— an diese Stelle werden die später folgenden Erörterungen über den
dialektischen Seinsbegriff Piatons und dessen Prinzipien (aQxai) immer
20 wieder anknüpfen müssen.
Der Sinn der höchsten Stufe, der in der mathematischen Sphäre zu-
länglich klar wird, kann und muß auch genau so, wie es bei den anderen
Stufen möglich war, auf die gesamte Breite des Seins ausgedehnt werden.
Wenn auch der Aufstieg im mathematischen Bereich bereits zu allgemei-
neren Prinzipien führte, so stellen diese doch die Spitze einer Pyramide
dar, zu der man auch auf deren anderen Seitenflächen gelangen kann.
Auch die Ideen der anderen Seinsbereiche, also die eigentlichen Gehalte
der sog. Ideenlehre, breiten zwar das Sein, und zwar das echte eigentliche
Sein, in seiner Fülle und Mannigfaltigkeit aus, aber auch hier bedarf es
30 einer königlichen Kunst der Ordnung, des verfügenden Gebrauches diesem
Sein gegenüber, der nur von einem höheren freieren Blickpunkt aus „noch
jenseits (ijtfxeivct) des Seins dieser Wesenheiten" (öVr«) gewonnen wer-
den kann. Es bedarf der Beherrschung gewisser Prinzipien, um diese ganze
Fülle auch nur denken, geschweige denn sie zur Bildung, Erziehung und
Leitung entscheidend einsetzen zu können. Wie im Mathematischen die
erfolgte Unterordnung unter einheitliche Prinzipien neue Wahrheiten zu
finden gestattet, so muß auch im ganzen Weltbereiche sich im wirklichen
und tätigen Umgange mit den Dingen und Menschen (Staat 534c baut
Piaton dies einfach ins echte sokratische Gespräch hinein!) sich deren
40 Erkenntnis ausbreiten und im strengsten Sinne „erfüllen", d. h. mehren
(ai)'£&veax')ai) und fruchtbar wachsen (rp^pffi'/«/), womit wir bei den
vorher entwickelten Bestimmungen der Idee des Guten wieder an-
gelangt sind.
Wenn in dem zuletzt Entwickelten der Sinn der höchsten Stufe, be-
120
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
stimmt von den mathematischen Gedanken, sich bereits in den engeren
Kaum weniger Prinzipien zusammenzuziehen schien, so kann dieser Ein-
druck leicht durch die Würdigung des bereits erwähnten großen Licht-
vergleiches ergänzt werden. Die Sonne im Reiche des Werdens erzeugt
und lichtet die Dinge der sichtbaren Welt, die ato&qTd, so wie die Idee
des Guten die der „intelligiblen44 Welt, die voijtcc. Diese beiden parallelen
Bereiche werden aber im mathematischen Symbol der vierfach geteilten
Linie hintereinandergeschaltet und damit zu einem Aufbau gestaltet, bei
dem eine Stufe immer auf die höhere verweist und alle untereinander
durch das Abbildverhältnis, durch Ähnlichkeit und „Nachahmung"
(oitni'uHT/c und fiffit^fic) kontinuierlich verbunden sind. Zu allem dem
hinzu wird durch das Vater- Sohngleichnis (das Gute als Vater der Sonne)
das Gute zum schöpferischen Prinzip auch der sichtbaren Welt gemacht.
Damit muß das Rangverhältnis der vier Seinsregionen aus einem
Prinzip bestimmt werden. Die platonische Seinslehre bevorzugt später
immer mehr als Rangprinzip den Unterschied von Einheit und Vielheit,
oft bis zur Mißachtung anderer, uns heute wesentlicher ontologischer
Seinsdifferenzen. Wenn wir wieder von der Sphäre der schlicht erfahrenen
Dingwelt, dem Reiche des „Glaubens44, d. h. des schlichten ungeprüften
Hinnehmens (nCmtc) ausgehen, so können wir leicht die beiden angren-
zenden Seinsregionen nach dem Prinzip der Vielheit charakterisieren. Der
endlichen Anzahl dieser Dinge steht eine unendliche Zahl von Abbildern,
Spiegelbildern, „Sichten44, Abschattungen gegenüber; das eine Haus der
Wirklichkeit stellt sich in jedem Betrachter, in jeder Haltung und Stel-
lung dieses Betrachters verschieden dar; jeder Spiegel, in jeder verschie-
denen Haltung wieder anders, ergibt ein anderes Bild; das Schattenbild
ist je nach dem Stande der Sonne, nach der Fläche, auf die der Schatten
fällt, verschieden — dieser Seinsbereich der Abbilder stellt sich für den
verwandten Teil der Seele, die „Bildkraft44, die sixaata, als eine unend-
liche, jedenfalls sehr große Mannigfaltigkeit dar, wobei wir ganz davon
absehen, daß der Gegenstand selbst sich dauernd verändert, verwittert
usw. Dieser Fülle steht das Haus jedesmal als eine Einheit gegenüber.
Genau dasselbe Verhältnis wiederholt sich im Verhältnis der beiden nächst
höheren Stufen: dem Haus als einer Gestalts-, Wirkungs-, Bedeutungs-
und Begriffseinheit, dem Eidos des Hauses, steht die ungeheure Fülle
wirklicher und möglicher Verwirklichungen gegenüber, von denen jede
einzelne ihrerseits wieder die unendlichen Möglichkeiten der Abschattung,
der sixaaCa, in sich trägt. In einer anderen, aber analogen Weise können
wir also auch von der Idee sagen, daß sie sich in allen ihren Verwirk-
lichungen abschattet, daß diese alle sie „abbilden44, ihr „ähnlich sein
wollen44, also sie nachahmen. Aber so groß die Mannigfaltigkeit bei der
zweiten Stufe auch sein mag, sichtlich verjüngt sich die Pyramide der
Wirklichkeit nach oben in dieser Region schon erheblich; diese Ver-
einheitlichung der Wirklichkeit ist das Werk der Ideen, der etdrj.
D
PLATON. IDEE DES GUTEN ALS SEINS IDEE
121
So kann der Übergang zur höchsten Stufe auch hier, wie in der Mathe-
matik, nur eine immer weiter gehende Vereinheitlichung bedeuten. Wie-
weit Piaton hier bereits das später für ihn so wichtige Uber- und Unter-
ordnungsverhältnis der Ideen untereinander im Auge hatte, ist schwer zu
entscheiden. Wichtiger ist ihm hier sicher — das lehrt das VII. Buch —
die Gemeinsamkeit (xoipwvkc, xoiva) der Prinzipien in den mathematisch-
naturwissenschaftlichen Disziplinen der Bewegungslehre, Astronomie,
Musik, Geometrie und Arithmetik, kurz die pädagogische Einheit des
Erziehungsweges für den Menschen, der als Philosoph und Herrscher der
10 vollen Paideia bis zur höchsten Stufe des Wissens teilhaftig sein muß; am
Anfang des VII. Buches wird alles sich nun Anschließende ausdrücklich
unter den Gesichtspunkt der Bildung und Unbildung gestellt, den das
Höhlengleichnis verdeutlichen soll.
Um Piatons wissenschaftstheoretische Absichten nun endgültig auf
ihren Mittelpunkt, den zu bildenden Menschen, zurückführen zu können,
soll die eben für die Dingwelt gebrauchte Abstufung einmal für das leben-
dige Wesen, für den Menschen, durchgeführt werden. Daß auch diese
Wesen als leibhaftige Dinge abgespiegelt und abgeschattet werden können,
bedarf keines Wortes. Aber die in der Dingwelt so einfache Beziehung der
20 zweiten zur dritten Stufe ist hier verwickelter, ist mannigfaltiger mit der
niederen 2. und höchsten 4. verwebt, weil die Idee des Menschen als einer
geistigen, die Welt denkenden Person keinesfalls eine Idee unter und
neben den anderen sein kann. Der Mensch als lebendiges Wesen wächst,
reift und altert; als denkendes Wesen — wir erinnern uns an Symp. 207 d
— lernt er und vergißt, lernt wieder, erkennt wieder, was er wußte,
„meint" Richtiges und Falsches, irrt sich, täuscht sich, sieht Irrtümer
ein oder bleibt gern im Irrtum, fühlt, strebt, verbessert auch dies Streben,
ersieht aus dem Erfolg, was er „eigentlich" wollte, oder sieht das nicht
ein und bleibt im Scheine, im Scheine der Tugend, der Gerechtigkeit. Der
30 Mensch ist viel größeren und vielfältigeren „Uneigentlichkeiten" aus-
gesetzt und kann ihnen jederzeit verfallen.
Dem ist eine Stelle des Staates zur Seite zu stellen, an der der Sinn des Guten im
Zusammenhang mit dem Problem der des Nutzens nun von einer neuen Seite
sichtbar wird. 505 d 5: Tode ov (paveoov, (6g dixaia /uer xai xakd nokkoi dv tkoivTO tcc
doxovrra, xäv (et) /uij etrj, ojxwg ravra n^drrsir xal xeXTtja&cct xai dox&v, dyatld dt ovdsvi
(u (xqxh id doxovvia xiäodai, dkkd rd orra ^tovoiv, Ttjv df do'£av irrav&a rjdr] nag
drifj-d^n; . . . lÖ drj diioxei fxfv dnaoa xpv/i] xai iovtov ivsxa ndxna 7i()drrei
Ist das nicht klar: Reim Gerechten und Schönen entscheiden sich wohl viele dafür,
das, was nur so scheint, ohne es zu sein, zu tun, zu besitzen und so zu scheinen; beim
40 Guten aber genügt es niemandem mehr, nur den Schein zu besitzen, sondern da suchen
sie das Seiende, den Schein aber verachtet hier jeder . . . Was aber jede Seele ver-
folgt, um dessen willen sie alles tut . . .
Charakteristischerweise hatte Piaton vorher diskutiert, ob dieses Gute nicht die
Lust wäre. Wenn wir auch auf die Lust, im Sinne der Meßkunst des Protagoras (356d)
das Prinzip der Abschattung anwenden, so wird es sofort klar, was Piaton hier im Auge
hat: in dem Fühlen der Lust, in seinem Glücksstreben, im Eros, unterliegt der Mensch
122 METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
unaufhörlich Täuschungen — die perspektivischen Verzerrungen durch die Über-
schätzung der gegenwärtigen nahen Lnst und der fernen Unlust und umgekehrt werden
im Protagoras näher geschildert (vgl. Wiss. u. Bildg. i. plat. Erziehungsbegr. 105); sie
täuschen über den wahren Nutzen, den öyekog. Es gibt aber eine echte Triebfeder im
Mensehen, das, was jeder Mensch als sein Innerstes und Eigentliches anerkennt, aus
dein sein Fühlen und Wollen letzten Endes entspringt und aus dem heraus er sich echt,
recht und „wahr" verhalten will, an das er keinen „Schein" heranläßt, sondern ihn,
wo er auftritt, über kurz oder lang immer wieder abstößt. Es bewährt sich im Umgange,
im ..wirklichen Leben", wie es immer heißt, das zum Glück, zur Eudaimonia führt.
Den ganzen Staat durchzieht der Gedanke, in dem Aristoteles die Quintessenz des 10
Piatonismus gesehen hat (vgl. Jaeger, Aristotel. 107):
Daß der Gute zugleich glücklich ist, hat Piaton durch Lehre und Leben bewiesen.
ug f.iorog /; tiqwtos &vr\nin> xccredsi^sr svctQywg
olxfiio ts ßCio xcti jusfto do toi koycor,
iog äya&og ts xcti svdcti' /ucov a^ia yCvsrctt, ctvrjQ.
Das Gute ist diejenige Einsicht, (pgövycnc, die durch alle die Abschal-
tungen der Doxai, d. h. der praktischen und theoretischen Meinungen,
Hoffnungen, Wünsche, Strebungen, Erkenntnisse hindurchleuchtet, das
Licht, das alle Abschattungen möglich macht, aber zugleich ihre Tiefen-
perspektive, d. h. ihren Ort im ganzen des Seins bestimmt und erkennen 20
läßt. Wer in der Zeichnung des Kegels den wirklichen plastischen Kegel
sieht, durch diesen den Kegel, das mathematische Gebilde erschaut, in
diesem die stereometrischen Axiome zu erkennen vermag, in dem leuchtet
der Nus ebenso auf wie in dem, der durch alle Erscheinungsformen eines
Baumes, eines Tieres oder irgendeines Dinges dessen eigentliche Kraft,
Arete und Dynamis, zu erfahren gelernt hat. Das Gute ist demnach das
Prinzip der Entfaltung und Abstufung des Seins in seinen verschiedenen
Regionen und deren einheitlicher Ursprungs- und Bezugspunkt. Das ist
der Sinn des Höhlengleichnisses, das dieselben Gegenstände erst als
Schattenbilder, geworfen vom flackernden Feuer, dann selbst von diesem 30
beleuchtet, schließlich im Schatten des Sonnenlichtes und zuletzt in heller
Sonne vorstellt. Wenn uns die «eigentliche Absicht Piatons im mathema-
tischen Bereiche viel greifbarer und klarer wird, so bestätigen selbst wir
die Darstellungs- und Erziehungsabsicht, die Piaton zur Einführung der
Wissenschaft bestimmte.
Nichts liegt ihm ferner als von den „Wissenschaften" als Darbietungen
von fertigen „Tatsachen" und fertigen Erkenntnissen eine das eigentliche
Sein des Menschen angreifende Umgestaltung zu erwarten. Die Wissen-
schaften werden nicht „angewandt" auf Erziehung, sondern sie wecken,
wenn sie selbst sich in ihrer Sphäre auf ihre Grundlagen, auf ihre spezi- 40
fische Lebendigkeit besinnen, diejenige Kraft im Menschen, die auch sein
Wollen und Fühlen in sich selbst „gerade" (dgl/foc) richtet und ihn die
Abstufungen der Wirklichkeit von zerflatternder Mannigfaltigkeit des
Scheines der Doxa bis zur Einheit im Gipfel der Seinspyramide erkennen,
durch sie hindurchschauen und mit ihnen „richtig" umgehen lehrt. Die
Abbilder, die fiififjaeig, müssen immer wieder durchlaufen werden; sie
D
PLATON. IDEE DES GUTEN ALS SEINSIDEE
123
werden nicht überwunden und zurückgelassen, sondern erkannt in ihrem
Wesenszusammenhange. Das wäre nicht nur ein schlechter Mathematiker,
sondern überhaupt keiner, der nur die Axiome gelernt hätte ohne fähig
und bereit zu sein, den ganzen Seinsbereich der Mathematik von ihnen
aus beherrschend zu durchdringen! Nein, „der Philosoph muß wieder
hinein in die Höhle64, in die Wirklichkeit und Gemeinschaft des endlichen
Daseins, in dem keine Seinsstufe fehlen darf.
Piaton bezeichnet die Wirkung der Idee des Guten allerdings damit,
daß sie alles, was unter sie fällt, zum Eidos macht und damit die Einheit
10 alles Wirklichen zu denken gestattet: „wer von ihr aus herabsteigt, der
bewegt sich nur von Eidos zu Eidos, also in Ideen, und gelangt so zum
Ende" (511c). Auf dieser Möglichkeit, im Besitz der Idee des Guten
die Welt als einen Kosmos von Ideen aufzufassen, die in den Wissen-
schaften sich darstellen, beruht der Begriff des ausgebildeten und er-
füllten menschlichen Lebens, der Begriff des Menschen an sich, der die
Welt in ihrem ideellen Bedeutungs- und Sinngehalt, jenes Paradeigma,
von dem im Staate so oft die Rede ist, in sich tragen und sie aus sich
heraussetzen soll.
Wir müssen nun näher betrachten, wie Piaton die schöpferische Tat
20 eines solchen Menschen philosophisch-metaphysisch sich vorstellt. Daß
ihm die Willensfreiheit ein entschieden metaphysisches Problem war,
das zeigt der den ganzen Staat abkrönende Mythos, in dem der Philosoph,
der die Dichter aus seinem Staate von ihrem Platze als Erzieher ver-
drängt hatte, nun selbst als religiöser Dichter zu uns redet. Aber gerade,
weil er als Dichter spricht, muß an einige Voraussetzungen dieser Frei-
heitslehre erinnert werden.
Daß die Aktivität des wollenden und handelnden Menschen auf dem
Boden der platonischen Seinsidee nicht bedeutet, daß aus dem Nichts
ins Nichts hinein eine absolute Produktivität wirkt, sahen wir bereits
10 — diese Produktivität wird nicht einmal dem Schöpfergott im Timaios
zugebilligt. Damit stimmt nun genau überein der Zusammenhang, der
die höheren Seinsregionen mit den tieferen verbindet: die beiden stehen
nicht einem formlosen Chaos gegenüber, sondern in der Sinnen weit, bis
hinein in die der Abbilder, treffen wir, mit dem „Phaidon" zu reden, ein
Streben nach der Idee, nach dem eigentlichen Sein an, das dem Zugriff
der Vernunft entgegenkommt; es kommt also auch bei der Tat aus dem
Sinnbewußtsein der Welt heraus mehr darauf an, die Einsatzstelle im
Zusammenhange des ganzen Seins zu finden oder, wie wir sagten, den
„Anruf" der „Welt" richtig zu verstehen, sich ihm nicht zu verschließen,
io sondern das Seiende zu sehen. Wir treffen hier auf die tiefste Deutung
des sokratischen Ur- Satzes, daß das Wissen, das Durchschauen der Welt
die Tugend ist. Nun läge es ganz nahe, hier einen religiös begründeten
Determinismus anzunehmen, für den die Freiheit nur negativ zu bezeich-
nen wäre: nicht zu widerstreben den aus der Tiefe der göttlich geordneten
m
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Welt sprechenden Kräften, sie zu befreien aus der Verdeckung und Über-
lagerung, die «oyia'a tfÖGic, das uranfängliche Wesen, wiederherzustellen
im ewigen Kreislauf des Geschehens. Die Antwort des Staatsmythos be-
weist nun das deutliche Bewußtsein von den hier liegenden Problemen.
Schon im 1. Buche hatte Piaton festgestellt, daß Gott zwar alles Guten
Ursache, aber an allem Bösen unschuldig sei. Hier im Mythos heißt es im
Spruche der Lachesis: „die Tugend (Arete) ist frei, jeder wird sie achtend
oder mißehrend mehr oder weniger von ihr haben. Die Schuld trägt der
Wählende i Gott ist unschuldig44 (ägsrij de äd£<mi>Tov i\v ti»&v xai &ti-
fid£(üv 7tk£ov xai ll(ci ror avrJjc exaoTog s^fi ' ahCa k\ou£vov ' &£Ö<; ävaCnog.)
Wir können hier die mythische Anordnung der Seelenwahl rasch
übergehen. Jede Seele kann ihr irdisches Los wählen, in einem unge-
heuren mythischen Akte der Freiheit. Die Einheit der Person und des
persönlichen Lebens soll dadurch bekräftigt werden, noch mehr aber
durch die ganze Szenerie der Seelenwahl die „kosmische44 Einordnung
des Einzellebens in die Weltgesetzlichkeit überhaupt. So sehr dies zur
Bestätigung und Abrundung der Menschenidee Piatons, so wie wir sie
hier entwickelten, beitragen kann : wichtiger ist die eigentümliche Durch-
brechung des Mythos (618b — 19 a), in der des Sokrates sittliche Forde-
rung, zugleich die Quintessenz der Erkenntnisforderung des Staates, auf
die Ebene dieses Mythos gehoben wird und diesem dadurch ein völlig
realer, schlicht ethischer Sinn gegeben wird. Mit einer eigenartigen Um-
kehrung des Anamnesisgedankens wird das irdische Leben aufgefaßt als
eine dauernde Vorbereitung auf jenen außerirdischen Akt der entschei-
denden Wahl. Diese Vorbereitung besteht in dem Mathema, das ein gutes
und schlechtes Leben zu unterscheiden befähigt. Hier erhält das Mathema
des Guten den ethischen Sinn der sittlichen Entscheidung: gut zu han-
deln. Aber für diese Entscheidung muß man viel gelernt haben: was
Reichtum, Herrschaft, Gerechtigkeit, Kraft, Lernfähigkeit für die Seele
bedeutet — alles, was im „Staat44 behandelt worden ist, auf deren Wesen
blickend muß man aus dem Möglichen immer das bessere ergreifen;
dies ist für den Lebenden und für die Abgeschiedenen die
stärkste Wahl (fj xgeertatt] algeaic). In diesen Akten des Erfassens
und Ergreifens des Guten — es steht aigeöig da, nicht das spätere ari-
stotelische ix q o ai'gsGic — baut sich die sittliche Person zur Einheit des
Charakters auf; daß der empirische Charakter stets das Ergebnis des
intelligiblen und seiner Freiheitsakte bleibt, das ist der Sinn dieses My-
thos, mit dem der Staat abschließt. Das letzte Wort ist das mehrdeutige
Wort ed TtgdTTeiv, — gut tun, handeln und damit durchkommen, Erfolg
haben liegt darin und das „Wohlergehen auf Erden44 und im Jenseits,
also in der ganzen Zeit.
Von diesem Mythos aus stellt sich das Freiheitsproblem noch einmal
ganz deutlich dar. Die Paradoxie, die im Begriff des Charakters und der
Person liegt, ist ohne Verwischung auseinandergelegt. Obwohl die Person
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
125
in allen ihren Möglichkeiten bestimmt gedacht werden muß von Anfang
an, so schließt diese Bestimmtheit die Pflicht der Entscheidung zum
Guten durchaus ein; das mögliche Gute zu erkennen, ist eine dauernd
neu gestellte Aufgabe, weil das Gute verdeckt ist und als die Wirklich-
keit vorgegebenen möglichen Sinnes durch den Einsatz der Erkenntnis
immer wieder neu geschaffen („gerettet") werden muß. Die Aktivität,
die dazu notwendig ist, leitet die Person hinein in die Ordnung, in der
sie von jeher stand, ohne es vorher zu wissen. Diese Paradoxie ist eine
Paradoxie der Zeit und nur vom Zeitbegriff her aufzulösen. Dies tut
o Piaton, als er, wie schon angedeutet, vom Schöpfungsbegriff her noch
einmal die Probleme der freien schöpferischen Aktivität darstellt; später
endet die gesamte Metaphysik des Altertums bei Plotin in einer Meta-
physik der Zeit.
c) Die Dialektik des platonischen Seinsbegriffs.
Wenn Piaton in der zweiten Phase seiner metaphysischen Entwick-
lung, die durch die Herausbildung der Idee des Guten als einer spezifi-
schen Seinsidee bezeichnet wurde, sich auch von der unmittelbaren
Identifizierung seiner Lehre mit dem Bios und dem „Pragma" (Erw.
Wolff) des Sokrates freigemacht hat, so ist diese Seinsidee doch noch
orientiert an dem Problem der persönlichen Nachfolge, an dem „echten",
'.o weil letztlich immer auf das ideelle Vorbild gerichteten „Nachahmen"
eines Paradeigma. Wir sahen, wie diese Orientierung bis in die Regionen
der dinglichen Welt sich durchsetzt und in dem Zusammensein der
lebendigen nach Generationen abgestuften Glieder einer Erziehungs-
gemeinschaft immer wieder neue Nahrung findet. Piaton begründete
diesen Nachahmungsvorgang bis in das gefühlte, der „ästhetischen" Er-
ziehung und Betrachtung allein zugängliche volle, leiblich-geistige Da-
sein des Menschen hinein. Die im Eros bereits angelegte Möglichkeit des
Sinn- Erfühlens spielt im Erziehungsbegriff Piatons vom dritten Buch des
Staates bis zu den Gesetzen eine entscheidende Rolle: im disziplinierten
o Gefühl, in der richtigen Ablehnung und der richtigen Zustimmung des füh-
lenden Seelenteiles, im richtigen Zorn des zweiten Seelenteiles und dessen
richtiger Freude wird die Seele vorbereitet, den „Logos" zu empfangen,
wenn sie dazu reif ist (vgl. Plat. d. Erz., S. 35, Wiss. u. Bild. etc. S. 7);
und sie wird reif dazu, wenn sie die abgestuften „Abbilder" der „Hal-
tung" des Guten, die Verleiblichungen des rechten „Ethos", wo immer
sie ihr begegnen, zu erkennen, d. h. ihren Sinn- und Kerngehalt im Vor-
ausblick auf die zentrale Idee des Guten : den „Logos selbst" zu erfassen
versteht. Das Aufsteigen zum Logos selbst, das im „Staate" in den Bü-
chern VI und VII beschrieben wird, baut zwar die Wissenschaft des
o höchsten Mathema in einem großzügigen Erziehungsprogramm auf, aber
auch die Funktion der Wissenschaft, im besonderen der Kernwissenschaft
der Zahlenlehre bleibt noch beschlossen in der Grundvorstellung des zum
126
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Sein „Hinaufziehenden", des Aufweckens zum Nus; die Mathematik
und besonders die Arithmetik wird selbst ein Paradeigma, an dem die
Paideia bis in ihre anfänglichsten mimetisch-ästhetischen Stufen orien-
tiert ist. Aber der Grundbegriff, der hierbei immer vorausgesetzt wird,
dieses Nachahmen des Vorbildlichen, das Ähnlichsein beider, die Teilhabe
am Höheren, seine Gegenwärtigkeit im Niederen, dieses zentrale Problem
wird hierbei nicht geklärt. Dies liegt in der Natur desjenigen Grundphäno-
mens, das den ganzen Aufbau der Gedanken bis zum Staat trägt, des
Phänomens der Tat, der Handlung. Dies Phänomen erfordert lediglich die
deutliche Spannung zwischen der vorausgesetzten vorliegenden Ausgangs- io
Situation, die als Telos, als Muster des Handlungsvorgangs vorschwebt.
Je größer die Spannung ist, je weiter also qualitativ wertmäßig die ideale
Hexis gesteigert ist, desto größer wird der „Zug" — wir kennen ja den
Ausdruck — diese Differenz, diesen „Chorismos" auszugleichen. Man muß
das „Ideal" so wählen, daß kein sattes Behagen des Erreichthabens ein-
tritt, sondern auch auf der erreichten, durch die Wahl als besseres ge-
setzten Stufe noch immer diese Bewegung erhalten bleibt, in der die
Seele — im Einklang mit den allenthalben wirkenden Kräften der Ding-
welt, die ja auch „ihre Mangelhaftigkeit fühlt" und gut zu werden ver-
langt und strebt — , wie in ihrem eigentlichen Lebenselement sich vor- 20
findet. Die Methexis ist eben auch wörtlich Hexis, Haltung im Ein-
klang mit diesen Kräften. Die verschiedenen Seinsregionen haben den-
selben Bildinhalt, sie sind nur schwächer, dunkler in ihrem Umriß, in
der Leuchtkraft, von dem im Dunkel verschwindenden Schattenbilde bis
zum obersten Paradeigma, das in seinem überhellen Glänze in neuer Ein-
heit sich darstellt und mit einzelnen Zügen nicht mehr vorgestellt werden
kann (das Schöne an sich des Symposion!). In ihrer konkreten Tatauf-
gabe fühlt sich die handelnde Seele durch alle Regionen der Nach- und
Vorbilder, durch alle vier Seinsbereiche hindurch inmitten von Schein
und Uneigentlichkeit im Augenblick der Selbstbestimmung mit dem so
reinsten Kraftzentrum des Guten, von dem alle Einsicht und Selbstheit
kommt, lückenlos verbunden; es herrscht ein Kraftzusammenhang zwi-
schen dem dieser höchsten Kraft verwandten „Guthaften", äya&nsititc«
in der Seele und jenem Erleuchtungsmittelpunkt; die Richtung läßt
sich nicht angeben, Telos, Ziel und Arche, Ausgangspunkt der Kraft sind
ineinandergebannt und entziehen sich der räumlichen Bezeichnung —
es gibt keine Richtung von einem zum andern, sondern nur einen sich
steigernden Kraftausgleich, der von beiden Punkten ausgeht.
Dieses Durchschlagen — von einem springenden Funken spricht Pia-
tons VII. Brief — aller Seinsregionen von der Einheit des Bewußtseins 40
bis zur Einheit des höchsten Seins, von der individuellen Situation bis
zum allgemeinsten Prinzip, erfolgt also in der Tiefenrichtung der über-
einandergelagerten Seinsregionen und läßt deren Breite und Fülle außer
acht — es muß an dem ethischen Grundphänomen liegen, daß es immer
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
127
und immer wieder, bei Kant in seinem sog. Formalismus, bei den spä-
teren religiösen Ethikern in der isolierten Entscheidungssituation die
Fülle der Wirklichkeit überspringt und ins Absolute hinausweist. Nun
ist das „Absolute" Piatons gegliedert auf die ganze Fülle der Wirklich-
keit hin, die Seele soll sich für das sittliche Tun — wie ein haltendes
Gefäß (aztyov Staat 586ab), nicht wie ein Danaidensieb (Gorg. 493b) —
mit dem wahren Seienden erfüllen, und dieses Sein muß aufgeteilt, ge-
lichtet sein, um den richtigen Weg der Tat zu ermöglichen. Aber für die
Tat und infolgedessen für eine Seinsidee, die der Tat vorwiegend zu-
10 gewandt ist, steht die Breitengliederung der Seinssphären als Problem
im Vordergrund. So hatte der erste große Entwurf der Seinsidee die Pro-
bleme der „Teilhabe" der verschiedenen Seinsregionen aneinander und
der Beziehung der einzelnen Teilinhalte jeder einzelnen Region, speziell
der Ideensphäre, zueinander in kühnem Anlaufe mehr übersprungen als
eigentlich gelöst: er hatte „erzwungen" — mit Parmenides zu reden — ,
daß es das alles gibt, ohne die Theorie dafür zu entwickeln. Das Be-
dürfnis nach einer Theorie mußte in dem Augenblicke eintreten, in dem
der Philosoph nicht mehr primär in der Richtung jenes Tatstrahles aus
der wertmäßig-dynamischen Spannung der Seinssphäre heraus philoso-
20 phierte, sondern diese Seinsidee vollständiger auf einer neuen Stufe
theoretischen Bewußtseins von innen erfaßte und sie als einen Zusammen-
hang reich gegliederter gegenständlicher Phänomene, also ontologisch be-
trachtete, ohne bei aller Annäherung an die Prosa des Gedankens, an
den Begriff, etwas von der Fülle der ursprünglichen Anschauung preis-
zugeben.
Es kommt zu dem Neuanfange des platonischen Philosophierens, zu
einer Selbstkritik, die das Hauptstück des Systems, die Ideenlehre, in
Frage stellt. Was Piaton so oft in seinen Dialogen eintreten läßt: „wir
wollen von Anfang anfangen", dieses Prinzip des Terrassenaufbaus, hier
J0 greift es auf sein eigentliches, hinter den einzelnen Dialogen sichtbares
Werk über. Piaton kann, gedeckt in der noch mittelbaren Selbstdarstel-
lung des Dialoges, diese Wendung mit größter Kraft durchführen; er hat
die Kritik an der Idee, an ihrer bisherigen Form zunächst mit einer ver-
wirrenden Schärfe ausgesprochen, und er konnte dies tun, weil sich die
ursprüngliche Absicht nur noch deutlicher auf Grund dieser systema-
tischen Katharsis wiederherstellen sollte; liegt es doch im Wesen der
Seinsidee, der im eigentlichen Sinne genial gestalteten Form des Philo-
sophierens, daß ihr nichts fremd geblieben ist, daß in ihrer Fortentwick-
lung nur mißverständliche Züge richtiggestellt und das in einer be-
40 stimmten Intuition nur flüchtig Angedeutete von der Peripherie her in
den Blickpunkt gerückt zu werden braucht. Es wird nichts zurück-
genommen, sondern nur aus einer tieferen Absicht verdeutlicht.
Uber die äußeren Anstöße, die nach dem Staate Piaton zu dieser Wandlung be-
stimmt haben können, können nur Vermutungen geäußert werden. Selbst wenn wir
m
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
mehr über die äußeren Vorgänge im Leben Piatons wüßten, so müßte doch das Ent-
scheidende immer aus der Interpretation des Werkes in seinem Zusammenhang ge-
wonnen werden. Es läßt sich eine ganz neue Wichtigkeit des eleatischen Problem-
kreises konstatieren, wie ich glaube von vornherein im Zusammenhange mit der folgen-
reichsten Umbildung des Eleatismus, dem Atomismus bzw. den mathematischen
Problemen, die sich an die zenonischen Aporien und deren möglichen, oben S. 49
angedeuteten historischen Hintergrund anschlössen. Wenn auch das mathematische
Interesse, Piaton nie ganz fremd, bereits in der zum „Staat" führenden Entwicklung
eine feststellbare Steigerung erfahren hat, so gerät die mathematische Prinzipienlehre
nun noch viel mehr in den Mittelpunkt der Lehre. Hier können äußere Begegnungen
mit Theodoras, Theaitetos, Eudoxos einen Einfluß auf Piaton ausgeübt haben. Voraus-
setzung hierfür ist die Konsolidierung des persönlichen Bundes mit gleichgesinnten
Freunden und Verwandten zur Akademie, zur Schule, in der die Wissenschaften nun
alle zu Worte kamen, besonders zunächst die Mathematik.
Die Einbeziehung der Mathematikgeschichte in die Piatoninterpretation ist in vollem
Gange. Burnets Early Greek Philosophy, die Forschungen der Historiker der Mathe-
matik haben auf vieles aufmerksam gemacht, was allmählich in seiner Wichtigkeit
erkannt wird. Die These der englischen Platoniker, daß „die Ideenlehre" aus einer
pythagoreischen Doktrin stammt, Burnet, Early Greek Philosophy, Taylor, Com-
mentar zu Piatos Timaios, unter deren Einfluß bereits Sokrates stand, scheint mir
in dieser Form nicht richtig, aber als heuristisches Interpretationsprinzip sehr wichtig.
Die an mein Buch „Zahl und Gestalt b. Piaton u. Aristoteles", Leipzig 1924, an-
knüpfende Literatur (Taylor, Gnomon 1926, S. 396; Forms and Numbers, Mind
XXXV, N. S. No. 140, XXXVI, N. S. Nr. 141. D'Arcy Wentworth Thompson,
Excess and Defect: or the little more and the little Less, Mind XXXVIII, N. S. No. 149.
Toeplitz, Quellen u. Stud. 1. c, Stenzel ibid. sowie Pauly-Wiss. Kroll, Real-Enzykl.
„Speusippos") soll in einer Sonderbehandlung in den Quellen und Studien von den
Herausgebern zusammengefaßt und auf eine eingehende Interpretation aller mathe-
matischen Stellen bei Piaton gegründet werden, zu denen später noch eine analoge
Behandlung der mathematischen Stellen bei Aristoteles treten müßte. Die von Taylor
und seinen Anhängern versuchte Aufhellung der Problematik durch moderne mathe-
matische Theoreme wird für diesen Bereich eine ähnliche Wichtigkeit erhalten wie
seinerzeit die Natorpsche Modernisierung und Tieferlegung der Probleme: eine Forde-
rung, nichts zu vereinfachen und zu primitivieren, der man sich nicht wird entziehen
können. — Die von mir bereits in den „Studien z. Entwicklung der platonischen Dia-
lektik", Breslau 1916, dargestellte Wandlung der platonischen Motive und ihr Zu-
sammenhang mit den Problemen der Diairesis (Begriffsspaltung) wird von den meisten
anerkannt. Leisegang hat in seinen „Denkformen" 1928 gute Ergänzungen gegeben.
Vgl. außerdem in diesem Handbuch die Darstellung der Erkenntnistheorie von Fr.
Kuntze.
Der Kreislauf von der Kritik über die positive Erweiterung des Pro-
blembestandes und die ausdrücklichste Stellung der Seinsfrage bis zur
Rückbeziehung des Gewonnenen auf die Probleme der Politik wird durch
die Dialoge Parmenides-Sophistes-Politikos bezeichnet. Die Kritik an der
sog. Ideenlehre im „P arme nid es" ist geschichtliche Anknüpfung an
den Eleatismus. Mühsam genug ist sie äußerlich hergestellt durch die
Begegnung des ganz alten Parmenides mit dem ganz jungen Sokrates und
wird programmatisch als Diskussion des Seinsbegriffes bezeichnet. Die
erste These einer eben verlesenen Schrift des Zenon wird zum Anlaß
einer Diskussion genommen. Sie lautet: wenn das Seiende vieles ist, so
muß es sowohl ähnlich als unähnlich sein — und das ist unmöglich.
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
J29
Dieser Nachweis soll negativ — so deutet Sokrates die Absicht Zenons
(etwas zu ernst, wie dieser nachher erklärt) — die These des Parmenides
beweisen, daß das All eins ist (128b).
Vom ersten Augenblick an wird das Sein von dem Begriff der Ähnlichkeit aus er-
örtert, von demjenigen Begriff, den die vergangene Phase der Ideenlehre für ihre Form
der mimetischen Teilhabe ungeprüft verwandt hatte; der Sophistes leitet seine ganze
Seinsproblematik ab aus einer Erörterung des Mimesisbegriffes und schließt mit einer
genaueren Definition des Nachahmenden, des fxifxrjjrjg^ als der Definition des Sophisten.
Der Politikos setzt neu die Begriffe des Vorbildes, des Paradeigma und des Ahnlichen
10 fest, und zwar in der Form, in der sie die Philosophie von Piatons Nachfolger Speusipp
beherrschen. Dies muß man festhalten; diese Rahmenprobleme werden gegenüber den
behandelten Seinsfragen meist ungebührlich vernachlässigt, obwohl sichtlich der Angel-
punkt der platonischen Entwicklung hier liegt, nämlich die Anknüpfung an die offen
gebliebenen Fragen der Idee des Guten und des zu ihr gehörigen Pacfeiabegriffes.
Und sofort wendet Sokrates die Erörterung auf das mit der Mimesisform der Ideen-
lehre gegebene Phänomen der Spannung zwischen den Seinssphären, des Chorismos.
Die Partikel X^Q^i abgetrennt, beherrscht die folgende Erörterung. Sokrates fragt
zunächst, ob Zenon nicht wie er ein Eidos der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit von den
ähnlichen und unähnlichen Dingen unterscheide, die an diesem mehr oder weniger
j 20 Anteil haben. Diese Dinge der Wirklichkeit könnten sehr wohl eins und vieles, ähnlich
und unähnlich, ruhend und bewegt sein — so hatte Sokrates in der Tat auch Staat IV,
437 d, über die Vereinigung von Bewegung und Ruhe reflektiert. Aber die Frage ist,
ob auch die Ähnlichkeit selbst unähnlich, ob das Eins an sich Vieles werden könne;
ich würde mich wundern, schließt Sokrates, wenn auch diese Ideen „vermischt44 und ge-
sondert werden könnten, wenn diese „Verlegenheit der Verflechtung44, der wir leicht bei
den sichtbaren Dingen begegnen, auch bei dem vorliegt, was nur mit dem schließenden
Verstände (koyiojuw) erfaßt wird (129 e). Parmenides legt nun Sokrates ausdrücklich
auf die Trennung der beiden Sphären fest und fragt ihn, bei welchen Gegenständen er
diese Sonderung vollzogen hätte. Hier ist es nun sehr interessant, die Genesis der Ideen-
30 lehre zu verfolgen. Daß vom Gerechten, Schönen und Guten ein abgesondertes Eidos
gedacht werden müsse, gibt Sokrates ohne Umschweife zu; bedenklich wird er schon
beim Eidos des Menschen und beim Eidos des Feuers und Wassers. Und ganz zweifel-
haft wird er bei den Begriffen von Haaren, Lehm und Schmutz — wo also die Wert-
spannung ganz und gar nicht möglich scheint (cf. Studien S. 25 ff.). Nachdem die Stel-
lung des Sokrates höchst unsicher geworden ist, wird nun sehr sinnreich gezeigt, daß
in der „Teilhabe44 der vielen einzelnen Sinnendinge an der einen Idee eigentlich die
eine Idee zugleich als vielfach geteilt gedacht werden müsse — was Sokrates gerade
bestritten hatte und auch jetzt nicht erklären kann. Die Idee ist also „zerteilt44 zu denken;
auf welche Weise, darüber fällt keine Entscheidung. Diese rein extensive Auffassung
40 der Idee wird nun an der Idee der Größe und Kleinheit besonders durchgeführt — es
ist die erste Stelle von den vielen, an denen ein mathematischer Hintergrund sicht-
bar wird.
Parmenides legt dem recht kleinlaut gewordenen Sokrates nun eine Reihe von
möglichen Erklärungen und Verdeutlichungen des Ideenbegriffes vor, um sie alle zu
widerlegen. Zunächst zwei erkenntnistheoretische Auffassungen: die Idee wäre die
„Sicht44, /ui'cc iVf«, unter der man etwa mehrere große Dinge als große zusammensieht.
Aber diese Sicht, als das eine abgesonderte Große aufgefaßt, brauchte wieder eine neue
Sicht, um die Anwendungsmöglichkeit, die Beziehung auf die Dinge, denen diese Be-
deutung zukommt, begreiflich zu machen — was einen regressus ad infinitum bedeutet
I 5Q (das Argument des To/'rog äv&yumog).
Der nächste Versuch, den Sokrates macht, schließt sich eng an den vorhergehenden
an: ist die Idee nur in den Seelen als Noema? Parmenides, der die Einheit von Gemein-
tem und Seiendem gelehrt hat, widerlegt diese Auffassung durch seine eigene Ontologie:
Handb. d. Phil I.
130
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
je dos Noema ist ein Noema von etwas, von einem Seienden; es kann nicht Gedanke
von nichts, ohne Bedeutung sein; denn dann hätte es keine Anwendbarkeit auf die
Dinge der Wirklichkeit — es müßten denn diese nichts als Noemata sein. Sind die Dinge
gegenständlich bestimmt, so sind es auch die Noemata, die sie meinen — und wir sind
am keinen Schritt weiter. Nun schlägt Sokrates das Paradeigmaverhältnis, also einen
neuen Fall des i^/tos urOoumoc; vor. Hiermit schließt dieser Abschnitt ab — dasÄhnlich-
keitsverhältnis war mit Absicht an den Schluß gestellt worden; nach den vorherge-
gangenen Erörterungen ist nichts mehr hinzuzufügen.
Parmenides erklärt, diese eben aufgewiesenen Schwierigkeiten im Verhältnis
der Ideen zu den Dingen, die an ihnen teilhaben, wären noch gar nicht die größten. 10
Die anderen könnte nur einer behandeln, der über ein ausgebreitetes Wissen verfüge
und auch entlegeneren Gedankengängen zu folgen sich entschlösse — ein Hinweis auf
das Folgende und wohl auch auf die mathematischen Kenntnisse, die für Piaton immer
mehr zur Voraussetzung werden, um gewisse Seinsfragen zu bewältigen.
Die neue Problemreihe, die noch größere Anstalten für ihre Auflösung
erfordert als die erste, die durch den „Chorismos" , die scharfe Trennung
der Ideensphäre von der Welt der Wirklichkeit, entstand, ergibt sich aus
der ersten. Mit der Auseinanderreißung der beiden Sphären der Ideen und
der an ihnen teilhabenden Dinge hört auch die Erkennbarkeit der einen
Sphäre von der andern aus auf; weder könnte der der konkreten Wirk- 20
lichkeit angehörige Mensch diese Ideen in seine Seele aufnehmen, noch
könnte etwa ein in der Ideensphäre denkendes göttliches Bewußtsein
etwas aus der irdischen Sphäre verstehen und auf sie Einfluß gewinnen
oder auch nur zu gewinnen suchen. Das wahre Wissen an sich könnte von
der „menschlichen Natur64 nicht erkannt werden, ihm fehlte die Kraft
des Erkanntwerdens, die övra/nig rov yiyvwtfxeo&ai, die der Sophistes
(248 d) ausdrücklich zum Thema macht.
Von hier aus wird das anderwärts formulierte Problem der ak^tjg do'Scc, der richtigen
Vorstellung (im doppelten Sinne als richtiger Gedanke eines konkreten menschlichen
Wesens über Ideelles oder als die aus ideellen Bestandstücken sich aufbauende Erkennt- 30
nis eines konkreten Gegenstandes) in seiner ganzen Wichtigkeit sichtbar (Studien,
S. 71 ff.). Eng verknüpft mit diesem in der Tat noch fundamentaleren, weil das erste
einschließenden Motiv ist ein weiteres: die gegenseitige Beziehung von Ideen aufeinander
(etwa der Herrschaft zur Sklavenschaft) müßte auch streng getrennt werden von jeg-
licher Auswirkung dieses Verhältnisses auf die sie nachahmenden Dinge (6/uotvojuaia
oder wie man sie bezeichnen mag). Diese gleichnamigen Verhältnisse unter Menschen
wären streng auf sich selbst, nicht etwa auf die Beziehung der etd*] untereinander ge-
stellt (133 d), also auch Erkenntnis und Erkanntes in der einen Sphäre und in der
anderen Sphäre ganz voneinander getrennt. Dies gibt also noch einen weiteren Grund
ab für die Isoliertheit der wahren, eigentlich ideellen Erkenntnis von der menschlichen 40
Seele.
Aber hier liegt zugleich der Ansatz zur Lösung; von der Tatsache aus, daß Ideen
miteinander zusammenhängen, daß sich ihr Sinn nur darstellt in bezug auf den Sinn
anderer Ideen, werden diese Bedeutungszusammenhänge (xowioi ia) den Weg zu einer
anderen Auffassung des ganzen Ideenproblems bereiten helfen. Obwohl die große Frage
noch lange offen bleiben wird, wie dieser Weg herausführt aus dem Reiche der Ideen in
die Sphäre der Wirklichkeit, ins psychische und dingliche Sein, so wird doch in dem Aus-
gang des Vorgespräches immer deutlicher gesagt, daß mit der Widerlegung eines abge-
sonderten Ideenreiches nicht auch zugleich die Annahme von Ideen überhaupt widerlegt
sei. Wollte jemand diese schlechthin leugnen, so würde er die Möglichkeit des „Sich- 50
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
131
unterredens", T17V dvvajuiy tov diake'yeo&ai, der Verständigung über Gegenständliches,
zerstören; man wüßte nicht, worauf man sein Denken (diüvoia) richten sollte, wenn nicht
ein Eidos immer als mit sich identisch bestimmt würde (135 b). So wird Sokrates noch
einmal ausdrücklich belobt, daß er darauf bestanden hätte, die Fragen des Zenon
nicht für den Bereich des Sichtbaren zu untersuchen, sondern für jene Gegenstände,
„die einer in der Tat am ehesten mit dem Logos erfassen und als Eide ansprechen
könnte" (135 e). Freilich bedarf es als Vorübung einer dialektischen „Gymnastik",
eines „Durchziehens" und Beweglichmachens mit Hilfe der von vielen verachteten
hypothetischen Kunst, die prüft, was aus gewissen Annahmen sich ergibt, und zwar
10 aus den positiven und negativen Annahmen. Wir kennen Piatons Interesse für dieses
Verfahren vom Protagoras und dem letzten mathematischen Beispiel des Menon her.
Es müßten folgende Fragen behandelt werden (136a4): „Wenn z. B. vieles ist, was sich
für das Viele selbst in bezug auf sich und auf das Eins und für das Eins in bezug auf
sich und auf das Viele ergeben muß. Und zweitens, wenn vieles nicht ist, was sich für
das Eins und das Viele in bezug auf sich selbst und aufeinander ergeben wird. Und
wenn du drittens die Hypothesis machst: es gibt Ähnlichkeit oder nicht, was sich bei
jeder Hypothesis sowohl für das Vorausgesetzte wie für das andere in bezug auf sich
und in bezug aufeinander ergibt. Und ebenso verhält es sich bei dem Unähnlichen und
bei Bewegung und Ruhe und Werden und Vergehen und beim Sein selbst und beim
20 Nichtsein. Und mit einem Wort: von welchem beliebigen Ding du zugrunde legst,
es sei oder es sei nicht oder erlitte irgendeinen beliebigen Zustand, immer muß man das
erforschen, was sich in bezug auf es selbst und auf jedes Einzelne von den anderen, das
du gerade herausgreifst, ergibt und in bezug auf mehrere von diesen Begriffen und
schließlich auf alle in der gleichen Weise" usw.
Wir sehen, daß hier die Themen der früheren Dialoge — des Phaidon,
der aus der Unsterblichkeits- und Ideenlehre heraus die große Frage von
Werden und Vergehen behandelte (95 e), und die der folgenden, besonders
des Sophistes und Philebos, vereinigt sind. Wenn auch das Eins, das Sein
und die Vielheit im Parmenides immer das eigentliche Thema bleibt, so
30 lehrt doch der Verlauf, daß Ähnlichkeit, Bewegung, Werden und ihre
Gegensätze organisch herauswachsen aus der Diskussion des Eins und
des Vielen. Dadurch wird zwar die ontologische Hauptabsicht Piatons,
das Eins und noch ein anderes Prinzip als die dtQ%a( der gesamten xoi-
vwn'cc t&v eld&v aufzuweisen, in diesem Dialog noch nicht begrifflich
bezeichnet, aber, was noch mehr ist, als dialektischer Vorgang in schlichter
Anknüpfung an die geschichtliche eleatische Situation anschaulich vor-
geführt. Wir sehen, wie aus diesen beiden Prinzipien, wenn sie richtig
gefaßt sind, ein unerhörter Reichtum quillt — wir sehen das vor unseren
Augen sich abspielen. Parmenides entschließt sich auf die Bitten des
40 Sokrates und des Zenon zu dem schweren Werk dieses trotz des Urteils
der unwissenden Menge unentbehrlichen ,, Durchgehens und Schweifens
durch alles; diese doppelte Charakteristik fj diä zovtcov öi^oöoc xccl
rtX&vri bezeichnet die positive und negative Seite des nun folgenden dia-
lektischen Geschäftes.
Die beiden Thesen, Thesis und Antithesis, werden folgendermaßen unterschieden:
si fV iariv und iv ei i<mv. Die verschiedenen Akzente auf dem „Ist" bezeichnen den
Unterschied zweier Arten des Seins. Der ganze Zusammenhang lehrt, daß mit dem
unbetonten „Sein" nicht aus dem Bedeutungsgehalt des ti\ des Eins, herausgegangen
werden soll, dieses also „für sich" betrachtet werden soll. Dieses „Sein" ist einfach gleich
D 9*
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
...Beilouten", wobei man auf jede Erweiterung oder Aufspaltung des Bedeutens in der
Weise, daß irgendetwas (irgendein Ausdruck) irgend etwas anderes (einen Sinn) bedeutet,
ausdrücklich verzichten muß. Da wir dieses ev in der Seele haben, da wir es meinen, es
also eine tfö|a von uns Menschen ist, über die wir uns mit Piaton und Parmenides verstän-
digen, und wir von dieser Methexis des „yiyvwaxea&ctt" beim besten Willen nicht ab-
sehen können, so bleibt Piaton nichts anderes übrig, als zunächst die Bedeutung des ev
innerhalb der Bedeutungssphäre selbst zu isolieren, das Eins von jeder Art
des Vielen freizuhalten. Mehr können wir als in der Zeit existierende, denkende
psychische Subjekte zunächst nicht tun — und mehr kann Piaton uns auch nicht an-
muten. 10
Er zeigt nun, wie die reine isolierte Bedeutung des ev sich der Reihe nach von einer
Bedeutung nach der anderen abhebt; weder — noch ist die Begriffsform, in der allein
über dieses Eins Aussagen gemacht werden können: weder Teil noch Ganzes kann es,
sein; denn dann enthielte es einen Bezug auf Vieles. Daraus ergibt sich weiter, daß es
weder Anfang noch Ende haben kann; also, da diese beiden, sowohl ag/y wie jekevrtj,
unter den Oberbegriff des Peras fallen — eine übrigens für den „Philebos" nicht un-
wichtige Feststellung — so ist es „unbegrenzt44, uneiQov. Ferner gestaltlos, also weder
rund noch gerade — die erste sichtliche Korrektur am historischen Parmenides! nicht
in sich noch in einem anderen, weder bewegt noch ruhend usw. Diese Ausschließungen
gehen auf die räumliche Existenz des Eins und schließen sie aus. 20
Man darf vermuten, daß Piaton hier von mathematischen Diskussionen nicht
unbeeinflußt ist, etwa von der Erörterung des Begriffes Punkt; die Akademie hatte
in seiner Definition vermieden, ihn schlechthin als dimensionslos aufzufassen; später
werden die Probleme der Berührung, des §<p£&jg. Nacheinander, und des fyeo&ai,
Angrenzend, erörtert (148 d ff.), vgl. Aristot. Phys. Vc 3.
Es folgen eine Reihe logischer Sachverhalte. Das Eins kann weder mit sich noch
mit einem anderen identisch, tccvtov, noch anders als es selbst oder ein anderes, eregov,
sein. Denn in jedem Falle wird das Eins entgegen seiner eigentlichen absoluten Be-
deutung in Gedanken doppelt gesetzt. Eins und dasselbe ist bedeutungsmäßig ver-
schieden; käme dies „Selbe" dem Eins zu, so trüge es eine Mehrheit von Bedeutungen 39
an sich. Deswegen kann es auch weder sich noch einem anderen ähnlich sein. Ähnlich
sein einem andern heißt dasselbe „irgendwie" erfahren wie ein anderes. Dasselbe-sein
ist wieder von Eins-sein verschieden; das Eins erführe wieder eine Mehrheit, 140 a:
l4kÄd fxrjr sl rv nenov&e tov ev elvai, to ev, nketo) äv elvai nenov&oi rj ev, tovto
de ddvvawv.
Daß Ähnlichkeit nur partielle Identität bedeutet, ist durch den Zusatz nov zwar
angedeutet (139 d 8), aber nicht dahin verwendet, daß eine „teilweise" Identität das
ev zum fxeoiaiov, zum Geteilten machen würde.
Ferner kann das Eins weder gleich noch ungleich sein; gleich sein heißt dieselben
Maßeinheiten wie ein anderes haben, erstens aber hat das Eins, wie wir sahen, über- 40
haupt keinen Anteil an dem „Selben", also auch nicht an demselben Maße. Ungleich-
heit setzt Gleichheit als Maßstab voraus, es ist größer oder kleiner als ein anderes, und
beides wird durch das dazwischen liegende Gleiche begrifflich bestimmt. Außerdem
macht überhaupt das Messen notwendig das Gemessene wieder zu einem [xeQiciov, zu
einer Vielheit von Teilen (140 b 6 — d2).
Größer als — kleiner als, gleich, Maß, ovju^eiQov weist wieder wie auch das Spätere
auf die mathematischen Anwendungsmöglichkeiten aller dieser grundsätzlich hinter
aller Logik und Mathematik zugleich liegenden Prinzipienerörterungen hin, und spielt
in der akademischen Proportionenlehre — diese ist ja schließlich bei jedem Messen
vorausgesetzt — eine wichtige Rolle (vgl. zur Theorie des Logos bei Arist. 1. c). 50
Der nächste Gedankengang schließt dieses Eins von der Zeit aus und die Zeit
von ihm: es könnte überhaupt bei dieser Hypothesis nicht in der Zeit sein. Älter, gleich-
altrig und jünger als etwas anderes kann es nicht sein auf Grund des vorher bewiesenen
Ausschlusses von gleich, demselben und ähnlichen. Aber auch nicht älter, als es selbst
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
133
oder jünger oder gleich alt — und dieses in der Zeit Fortschreiten und sich auf deren
frühere Phasen Beziehen, zugleich aber in derselben Zeit verharren und der folgenden
entgegengehen heißt in der Zeit sein. „Also in keiner Zeit ist, wird oder ist geworden
das Eins; es hat keinen Anteil an der vergangenen, der jetzt gegenwärtigen und der
künftig kommenden Zeit. Ei apcc to £V {u^da/uy fxrj&evog /uere/si %q6vov . ovts tiots
ytyovev ovt eyiyrtTO ovt rjv nore, ovte vvv yiyovev ovts yiyveTai ovts sgtiv, ovt ineira
yevqofTcu ovts yevrj&rjotTcti, ovts I'gtcu ..."
Kann etwas nun auf irgendeine
andere Weise als gemäß einer "Egtiv ovv ovciag önwg av ti jue-
10 von diesen Bestimmungen am tccg%oi äkkiog rj xcctcc tovtwv ti;
Sein Anteil haben? (141e).
„Also hat das Eins auf keine Weise am Sein Anteil. Also ist es auf keine Weise.
Es ist also auch gar nicht so, daß es ein Eins sein könnte; denn dann hätte es am Sein
Anteil. Also ist dies Eins weder eines noch ist es überhaupt. Kann dem Nichtseienden
etwas sein oder kann an ihm etwas sein? Nein. Ihm kommt kein Name, kein Begriff
(Logos), kein Wissen, keine Wahrnehmung und keine Doxa zu; es wird also weder be-
nannt noch gemeint noch gedacht noch erkannt, noch etwas von ihm wahrgenommen
(etwa sein Name)." „Es scheint nicht.'4 „Kann es sich also mit dem Eins so verhalten ?"
„Nein" (141 e — 142 a). Wir haben also von diesem Eins gar nicht gesprochen — wir
20 haben es ja dauernd mit dem in Beziehung gesetzt, das sein Begriff ausschloß. Es ist
also ein Nichts gewesen; es hat sich die erste Hypothesis, das zuerst Gemeinte, in sich
selbst aufgelöst; es gibt keine für sich stehende Idee, keine isolierte Bedeutung. Was
wir in der Sphäre der Begriffe selbst zu isolieren versucht haben, verschwindet über-
haupt für unser Denken; was keine Verbindung mit Nachbarbegriffen hat, hat auch
keine mit unserer Seele.
Mit der neuen These ev ei eanv (142 b) ist eine völlig andere Situation gegeben. Die
Betonung des I'gtiv, des Ist, macht eine dem Ergebnis der ersten These strikt entgegen-
gesetzte Voraussetzung: Das Eins ist. Wir wissen aus dem ganzen ersten Beweisgange,
daß damit zu dem unmittelbaren Bedeutungsgehalt „Eins" etwas Wesentliches hinzu-
30 gefügt ist; ei tv ev ist etwas anderes als ei ev Igtiv; das Sein ovoia und das Eins ev
ist nicht dasselbe. Sagen wir also die gvaia vom ev aus, so ist dieses nicht mehr eins,
sondern es ist bereits ein Geteiltes; tv 6V, das seiende Eins, ist das Ganze, ev und elvat
sind seine beiden Teile, diese Teile ihrerseits sind Teile dieses Ganzen.
Aber diese beiden Teile lassen das Ganze nicht los; beide sind auch als Teile eins
und seiend; der kleinste Teil besteht aus zwei Teilen, und dies hört bei weiterer Teilung
nicht auf; das Seiende hat immer das Eins und das Eins immer das Seiende, jeder ent-
stehende Teil ist immer zwei geworden, das Zwei werdende ist niemals eins; das Eins
ist unendlich an Menge (143 a).
Wir stehen hier an den ägyaC der platonischen Ontologie: das Eins
40 und eine — später näher zu bestimmende — Zweiheit sind die Prinzipien
des Seins ! Wir bezeichnen diesen Punkt, ohne den Gedankengang zu
unterbrechen.
Und doch können wir in Gedanken {ev rij diccvoia) sehr wohl das Eins vom Sein,
überhaupt von allem, woran es Teil hat, trennen. Denn „etwas anderes ist das Sein,
etwas anderes ist das Eins". Nicht durchs Einssein sind beide ein anderes, eregov,
sondern durch die neue Bedeutung des Anderen. Das Andere ist nicht dasselbe wie das
Sein noch wie das Eins (143 a — b).
Verbinden wir zwei dieser Bedeutungen in beliebiger Paarung, so ist dieses „beide",
u/Mporepw, das die Zusammenfassung bezeichnet, eine neue Benennung (xaketa&cci).
50 Dieses Paar, das aus zwei ev besteht, kann ich mit einem ev zur Dreiheit vereinigen,
habe damit gerade und ungerade Zahlen, die in beliebiger Erweiterung der fundamen-
talen Begriffe schließlich die ganze Zahlenreihe ergeben; mit dem Eins, sofern es als
m
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
seiend gemeint wird, ist also das Viele und damit die Menge der Zahlen gegeben
(143 c- 144 a).
Wie das Sein nun ins Unendliche verteilt ist, so auch das Eins; wo überall Seiendes
ist. da ist es eins, sei es das Größte oder Kleinste: die Teile des ev sind gleich viele wie
die Teile des Seienden, von dem das Eins so zerstückelt wird. Die paradoxe Vereini-
gung vom Eins und Vielen, dieses Fundamentalgesetz, überträgt sich sinngemäß
auf alle die Bestimmungen, die dem Eins in dem Gedankengang der ersten Thesis
eben wegen des vorausgesetzten Ausschlusses des Vielen abgesprochen werden mußten.
So ist es anendlich und begrenzt, es ist in sich und in einem andern, ruhend und bewegt
(144 b — e). 10
Die zeitliche Bestimmung des „Immer" wird zur Bestimmung dieses Seinsver-
haltens verwandt (146 a). Später wird ganz ausführlich die Beziehung dieses Eins zur
Zeit erörtert, 154eff.; ist doch Existieren, fti'ßt, nichts anderes „als Teilhaben am Sein
(ovffia) mit gegenwärtiger Zeit". „War" heißt Gemeinschaft (xoivioricc) am Sein mit der
vergangenen und „wird sein" mit der zukünftigen Zeit (151 e). Was am Sein Anteil hat,
hat also an der Zeit Anteil, und zwar an der verlaufenden Zeit (noQtvofAivov /qovov)
(152 a).
Wie am Ende des ersten Beweisganges der Ausschluß jenes absoluten
Eins von der Zeit der endgültige Beweis seiner Nichtexistenz war, so ist
hier das Verhältnis zur sich fortbewegenden Zeit der abschließende Be- 20
weis für die Existenz des anderen Eins. Diese Existenz besteht, wie wir
vorausgreifend einfügen, in der Möglichkeit, benannt, gemeint, gewußt
und wahrgenommen zu werden (155 d) — genau entsprechend dem Aus-
schluß dieser Möglichkeit am Ende der ersten These. In dieser Möglich-
keit ist die Existenz des seienden Eins beschlossen: es ist dasselbe in den
verschiedenen Akten seiner Erfassung und muß deshalb an der Zeit
teilhaben. Es ist in diesen verschiedenen Formen seiner övva^vc tov
yiyvibay.fGÜai immer neu gegenwärtig; es ist nicht ein sog. zeitlos iden-
tischer Begriffsinhalt, wie frühere Erkenntnistheorie es gern ausdrückte,
sondern es kommt selbst mit in die Zeit hinein, es ist kein lebloses starres 30
bewegungsloses Sein (Soph. 249 a), sondern es ist auch in der Sphäre
seines Seins in Bewegung; es verknüpft sich mit anderen Ideen, entläßt
diese aus sich — wir erkennen unschwer, wie die frühere dynamische
Seinsidee Piatons hier durchaus nicht aufgegeben ist, sondern im Gegen-
teil nur klarer aus neuen Aufgaben neu verstanden wird; oder da sie ja
im Erkanntwerden ihr Sein entfaltet und damit dem ewig „fließenden
Sein44 der Seele „verwandt44 bleibt, und dieses verwandte Sein der Seele
in jenem gegenständlichen Sein beschlossen ist, indem „Denken und des
Gedankens Ziel44 sich hier neu als dasselbe begründet, so können wir
auch sagen: das Sein begreift sich selbst, indem es in die Zeit und damit 40
in die Bereiche von entOT^jnt], do'Za, ai'a&Tjöic, also sig dv^QWTiov cpvaiv
eintritt.
Der gegenständlich gerichteten Theorie Piatons stellt sich dies alles
einfach an der Zeitlichkeit des seienden Eins dar. Das Eins, kraft der
ideellen Vielheit, die aus ihm herausquillt, wird älter als es selbst, aber
zugleich jünger; ist es doch „dasselbe44, das mitgeht mit der Zeit. Hierbei
überspringt es nicht das Jetzt, die Grenze von dem, was „war44 und dem
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRTFFS
135
„wird Sein"; daß das Jetzt, jener Inbegriff der erlebten Zeit, dem Eins
zugänglich ist, ist auf Grund der angedeuteten Doppelheit der platoni-
schen Seinsidee selbstverständlich. Das Eins hält inne mit dem Alter-
werden, wenn es aufs Jetzt trifft; hier wird es nicht, sondern ist bereits
älter; vorschreitend würde es vom Jetzt nicht erfaßt werden. Es ist also
das Vorschreitende so zu denken, daß es das Jetzt und das Nachher
„berührt" (i / &tzt£tco) ; es läßt das eine los und greift auch nach dem
anderen, ist also dazwischen (ßercclSv). Also ist das Eins, wenn es auf das
Jetzt stößt, sowohl älter als auch jünger als es selbst. Da aber das Jetzt
10 das Eins durch sein ganzes Sein hindurch begleitet (152 e), so ist und
wird es auch immer zugleich älter und jünger als es selbst. Da es aber die
gleich große Zeit ist und wird wie es selbst, so ist es auch gleichaltrig mit
sich selbst.
Man vergleiche zu diesem den Präsenzbegriff der prinzipiellen Psychologie: Hönigs-
wald, Die Grundlagen der Denkpsychologie, S. 84. Auf die handgreiflichen Beziehungen
zur fundamentalontologischen Analyse von „Sein und Zeit" braucht nicht verwiesen
zu werden; sie springen in die Augen.
Diese Paradoxie, die auf dem oben geschilderten Mitgehen des Eins
mit dem verfließenden Denken, seiner Unstarrheit, beruht, stellt sich
20 nun Piaton immer auch von der Seite dar, die zugleich den Zahl-
charakter des Eins in sich begreift; daher die immer engere Verknüpfung
von Eidos und Zahl. Der vermittelnde Begriff ist natürlich hierbei das
Eins in dem Sinne, wie es sich hier vor uns ausbreitet.
Piaton schließt an die Erörterung, die aus der Zeitlichkeit des Eins sein ,, Alter",
d. h. seine Beziehung zum Zeitverlauf erschloß, den Gedankengang an, der das ev zum
tiqwtov, das Eins also zur Ordinalzahl macht. Wenn das, was dem Eins gegenübersteht,
«Vf^«, andere (Neutr. Pluralis) sind, so sind sie mehr {nktiui) als eins: das andere, 'htQor^
wäre eins, also steht dem Eins eine Menge (nkrj&og) gegenüber, die an einer „mehreren
Zahl", 7ikHovogä()i'hfAov, Anteil hat als das Eins. Da nun bei der Zahl das „Weniger"
30 vor dem Mehreren entsteht, so ist das wenigste (6tiyi<noi>) das erste; also ist das Eins das
erste von allem, was Zahl hat. Es hat aber alles andere Zahl, wenn es anderes im Plural,
t'ckkcc ist. So ist also das Eins zugleich nqihiov und 7iQ£ößv7£Qoi\ älter und ehrwürdiger,
das andere, tcc cckka dagegen jünger, rewrfQa (153 a b).
Aber der Blick auf die Zahlenreihe enthüllt neue Paradoxa. Das Eins hat Teile,
und unter diesen infolge seiner Zeitlichkeit Anfang, Mitte und Ende. Wenn diese Teile
nun in der Zeit entstehen, so ist das Eins, dessen Teile doch diese waren, erst fertig,
wenn das Ende, das Letzte geworden ist; daher ist, wenn dieses Eins nicht gegen die
natürliche Ordnung, nagd cpvoir, entsteht, das Eins als Ganzes jünger als das andere. Aber
der Anfang, wenn er ein Teil ist des ganzen Eins, und somit ein jeder Teil als einer,
40 kann doch nicht ohne das Eins sein; dieses kann also im Werden vom ersten bis zum
letzten nichts verlassen; es geht mit allen Teilen mit, ist also gleichaltrig. Also ist das
Eins älter, gleichaltrig, und jünger als das Andere, wie es auch im Verhältnis zu sich
selbst älter, gleichaltrig und jünger ist (153 b — 154 a).
In einem neuen Beweisgange wird das Älter- und Jüngerwerden behandelt; es
wird weder älter noch jünger als das andere, denn es kann nicht älter werden als es
unmittelbar bei seinem Entstehen war, und auch nicht jünger; denn gleiches zu un-
gleichem hinzugefügt, zu Zeit oder zu irgendetwas anderem, verändert die ur-
sprüngliche Ungleichheit nicht. So ist zwar und ist geworden (yeyorf) das Ältere älter,
wird es aber nicht mehr im Verlaufe der Zeit (154a — :c).
136
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Um die Gegenthese zu beweisen, daß auch eine Veränderung ins Werden eintritt,
wird nun nicht mehr das Älterwerden von der Differenz der Lebensalter, sondern
nach deren Verhältnis bestimmt; danach ergibt sich, daß im Verlaufe der Zeit das
Jüngere im Verhältnis zum Älteren immer älter wird und umgekehrt, die Entwicklung
also nach dem Gegensätzlichen stattfindet; wer doppelt so alt ist wie ein anderer, ist
im nächsten Jahre schon im Verhältnis jünger geworden; der „Logos", das Verhältnis,
ist kleiner geworden (154c — 155 b).
Hier wird es wieder besonders deutlich, daß Piaton an Sachverhalte denkt, die auch
mathematisch relevant sind; der oben gesperrte Zusatz zeigt, daß er allgemeinere
Gesetzmäßigkeiten, die nicht nur für das Verhältnis zunehmender Zeitgrößen gelten, im io
Auge hat. Für jeden Logos, jedes Verhältnis zweier beliebiger Größen gilt der Satz, daß
er sich ändert, wenn zu beiden Größen gleiche Größen hinzugefügt oder weggenommen
werden, während die Differenz immer dieselbe bleibt. Solche gemeinsamen Gesetz-
mäßigkeiten (xoud) haben die Akademie sehr beschäftigt (s. Speusippos 1. c.) und eine
allgemeine Proportionsichre ist eine der wichtigsten Brücken zwischen Zahl und Idee
(siehe die Literatur oben S. 128). Eine Stelle wie diese hier ist für die Gesamtauffassung
des „Parmenides" und seiner logisch-mathematischen Schichten zu beachten; z. B.
hat die „Ableitung" der Ordinalzahl ebenfalls nur paradeigmatische Bedeutung für
einen allgemeineren Ordnungsgedanken, der dahinter steht.
Die Schlußfolgerung ist bereits oben vorwegnehmend besprochen 20
worden; sie ist grundsätzlich höchst wichtig und wird uns beim Sophisten,
der sie auseinandergelegt darstellt, noch beschäftigen. Während bei der
ersten Hypothesis sich der Gegenstand unserer Erörterung für ein end-
liches Denken auflöste, ist das hier behandelte Eins dadurch als existent
bewiesen, daß wir mit ihm „operieren", daß wir es in unserem gedank-
lichen Umgang haben: TiodTTOjaev neql ccütov. So lautet die Folgerung
also zusammenfassend (155 d):
Es war also das Eins, und es ist und
es wird sein, und es wurde und es wird
und es wird werden. Und es besteht etwas
für es und von ihm, und zwar in Vergangen-
heit und Gegenwart und Zukunft. Es gibt
also auch von ihm ein Wissen und eine Vor-
stellung und eine Wahrnehmung, sofern
wir auch jetzt in allen diesen Weisen mit
ihm umgehen. Es hat also auch einen
Namen und eine Bedeutung, und es wird
benannt und gemeint. Und alles, was von
derartigem an anderen Dingen ist, ist auch
an dem Eins.
Der nächste Beweisgang führt die „ganz merkwürdige Wesenheit"
des „Plötzlich" ein (fj iZcci<p' tjq avT/q cpv ig äroTtoc . . . 156 d 6).
Sie ist der Übergang von einer der gegensätzlichen Bestimmungen
des Eins zur anderen, die gleichzeitig miteinander unverträglich sind,
also das eigentliche Prinzip des Werdens in allen seinen Formen (156a 5).
Dieser Begriff erst macht die Erörterungen des zweiten Teiles zur Dia-
lektik. Er ist vorbereitet in der dynamischen Seinsidee als Eros, der auch
den Übergang von einem Gegensatz zum anderen erklärt; hier erscheint
das entsprechende Prinzip als ein Grenzbegriff der Zeit, streng zu scheiden
^Hv ctQct. t6 sv '/.cd am y.v.1 iarai xal
iyiyvero xal yiyvtrai xal yerijaerai. ... «jq
Kai etij av n ixti'vio xal ixetvov, xal ijv
xal tortv xal torat, .... Kai emor^/ur]
Sit] av avrov xal efo£a xal aiG^rjaic,
(l'7i€Q xal vvv tj/ueTg nsQi avrov ndvra
ravra nQdrrofXtv . . . Kai ovo/ua dtj xal
koyog iortv avrio, xal 6vofxaC,STai, xal ke-
ysrai ' xal ocaneQ xal tisqI rd dkka reov
TotovTUiv Tvy^dvst bvra, xal mgl to h'
hGTIV.
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
137
vom Jetzt, vom vvv, das die Tendenz zur Ausbreitung hat. Logisch
gefordert aus der Gegensätzlichkeit des seienden Eins zeigt das „Plötz-
lich" die innerste Verknüpfung der ideell-logischen Region der Eide
mit der Zeit — die alte und wieder neue Frage, ob nicht Widerspruch
und Identität nur mit Hilfe der Zeit begrifflich erfaßt werden können, ist
eine Teilfrage, die für Piaton in einem umfassenden Seinsbegriff auf-
gehoben ist, von dem aus ihre Bejahung selbstverständlich ist.
Mit dem nächsten Beweisgange wendet sich Piaton zu dem, was dem Prinzip des
Eins als „die anderen", tcc ä/./.a, gegenübersteht. Fragte er vorher, was mit dem Eins
10 geschieht, wenn es nicht losgelöst, sondern in Gemeinschaft mit ihnen betrachtet wird,
so fragt er nun umgekehrt, was mit den „Anderen" in dieser Gemeinschaft vorgeht,
welche Einwirkungen sie erfahren (157 b 6): h> si *gti, Takka tov ivog tl /otj ntnov&ivai.
Die Antwort läßt sich so zusammenfassen: die anderen können nicht selbst eins sein,
müssen aber am Eins teilhaben, indem sowohl die Teile, aus denen diese anderen be-
stehen, „jeglicher" als ein Teil am Eins Anteil haben, als auch das Ganze, als dessen
Teile sie erst dies, eben Teile, sind, als eine „Idee" zusammengefaßt ist. Schon wieder-
holt war vorher das Eins ah Zusammenfassung einer Menge gebraucht worden; hier
steht es einmal wörtlich da (157 d 7): Ovx doa tojv nokkwv ovds Tiamon' to uöoiov
fxöotov, dkkd juiäg Jivoq tdeag xai ii'og Tivog o y.akovusv okov, e| dndvroiv ev rtkeiov yf-
20 yovög, tovtov uboiov uv to /uoqiov e?q. Piaton betont aufs Stärkste, daß das dem Eins
Gegenüberstehende, sofern es nicht am Eins Anteil hat, nkij&og, Menge ist, „auch wenn
man gedanklich den winzigsten Teil davon abtrennt" (158c 2): ei i&iko/uev diavoia
t6)v ioiovhüv dqekeTv o'jg oioC ri icatv ort okiytorov Auch damit wird an wich-
tige mathematische Probleme gerührt (Exhaustion). Vgl. dazu 164 c 8 ty.aoioq, u>g
toixtv, 6 oy/.og avTojv dntioog iari 7ik*j&€t, xav to ouiy-ootutov doxo'vv elvat kdßy ng, ojgtwo
"pcto iv vnt'oj (fatvtTcii i^aiqü ijs dvri irog 6ö%avrog (ivcct nokkd xai dvri Gui/.ooidrov na/n-
ptyt&tg noog rd xeofxaTiCoutva £'£ avrov. „Wenn wir also diese andere Wesenheit
für sich betrachten, so ist was wir von ihrer Art jeweilig sehen, unbegrenzt der
Menge nach", 158 c 5: Ovxovv ovrujg dti GxonoviTfg amrtv xa&' avrtjy rr/v fr&oav cpvGii>
30 tov tfdovg ogov dv avTyg aei ooüu&v azitioov (gtcu nkq&st. Hier ist deutlich zu lesen,
welches Prinzip Piaton dem Eins gegenüberstellt — eine mögliche Menge, eine un-
bestimmte Zweiheit. Bestimmt wird sie — was die Überlieferung über diese
Prinzipien immer wiederholt — durch die Teilhabe an dem Eins; so steht es auch
hier: sofern jeglicher einzelne Teil der Menge Teil ist, haben die Teile bereits eine Be-
grenzung {neoug) gegeneinander und gegen das Ganze, und das Ganze gegen die
Teile. Den „Dingen", die anders sind als das Eins (das Fehlen des Neutrum Plur. im
Deutschen erschwert den Ausdruck), begegnet es, auf Grund des Zusammentreffens
von dem Eins und ihnen selbst, daß ein anderes in ihnen eintritt, was Begrenzung be-
wirkt; ihre eigene Natur an ihnen selbst bewirkt Unbegrenztheit (oder ist Unbegrenzt-
40 heit, nach dei anderen Überlieferung) (158 d 2): To7g äkkoig dt] tov irog Gvußaii'si, ix
/Atv tov ivog xai i'% iaiTtbv xoiviüVTjGdvTon', ojg foixev, ertoov ti yiyvea&ai iv iavToTg, o
efij nioag naotG/t noog dkkrjka ■ rj (FiavTidv q>votg xa&' iavrd dntiqiav (dmioia .
Platon unterstreicht hier, daß ein zweites, wesensmäßig anderes
Prinzip dem Eins entgegenstehen muß, damit das Eins selbst wirklich
werden kann. Zugleich sind diese Ausführungen wichtig für die Grund-
absicht des „Philebos44, der Peras, Apeiron und das aus beiden gemischte
Sein entwickelt. Peras und Eins ist scharf gesehen nicht dasselbe, Peras
ist die Verfassung, in die das Eins ,,die anderen Dinge44 bringt, die an
sich Apeira sind; Platon schließt deshalb noch einmal ausdrücklich:
50 so ist das als Anderes dem Eins Entgegenstehende als Ganzes und
138
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
nach seinen Teilen einerseits unbegrenzt, andererseits hat es am
Penis teil.
Hieraus ergibt sich, daß die Anderen, je nachdem, ob sie an sich oder unter der
Einwirkung des Eins betrachtet werden, alle die entgegengesetzten Eigenschaften
haben können, wie ähnlich und unähnlich usw. — „das werden wir unschwer finden*',
schließt Piaton nach wenigen Beispielen 159a.
Schon liier kürzt Piaton die Beweisgänge ab, und dies geschieht im folgenden noch
>tärkt r. Nachdem die Notwendigkeit der zwei Archai des Seins, des Eins und der dkka
und ihre xoivuivict entwickelt ist, kann alles Folgende nur indirekte Bestätigung des Er-
reichten sein, die im Grunde immer auf die erste These hinausläuft. Die indirekte Beweis- *^
führnng verläuft in folgenden Formen: 1. es wird zwar das Eins und rd akka angenom-
men, sie werden aber/«>«'V, abgesondert, gesetzt; die eben ausführlich geschilderte gegen-
seitige Einwirkung soll wegfallen. Die Folge ist, daß das Eins auf diese Weise zwar „alles*'
ist (daß es also nichts neben ihm gibt), daß es aber in dieser Isolierung sich selbst aufhebt;
160 b 2: Ovxüi dVj IV et icnv, nana ri ean ro sv y.al ovde ev eori xal noog eavro xal tiqos rd
akka wo« hing. — 2. Deshalb ist weiter zu fragen: Was ergibt sich, wenn das Eins, das
wir nun in seinen Wirkungen erkannt haben, nicht ist ? Zuerst wird der Sinn dieser
Frage untersucht und festgetellt, was von dem Eins, dessen Nichtsein angenommen
wird, sonst noch — negativ — ausgesagt werden kann, d. h. welchen Sinn eine solche
negative Hypothese überhaupt hat. Es ergibt sich im ersten Beweisgange das Resultat 20
(163 b 4): xal ovrw rd £V f.irj bv yiyverat re xal dnokkvrai xal ovre yiyverai ovr dnokkvrai.
„Und auf diese Weise entsteht das nichtseiende Eins und vergeht und entsteht
weder noch vergeht."
Im zweiten Beweis ergibt sich die völlige Negation, genau so wie bei der absoluten
Setzung in der ersten Hypothesis. Die Parallelität des Ergebnisses (164 ab ff.) erhärtet
die Negativität der abgetrennten Setzung: ei ev eon und er ei y,rj ean ist inhaltlich
dasselbe. — 3. Dies ergab sich für das Eins selbst aus seiner Negation. Was ergibt sich
aus ihr für das andere, rd akka? (164 b 5 ff.). Es wird ein verschwommenes Bild von ihm
möglich sein, mehr nicht; ein Schein von Vielheit, von Zahl, von Gleichheit der Teile
usw. wird sich ergeben, aber nichts Bestimmtes, kein Peras; ein döoicrov, eine unbe-
stimmte Zweiheit. dürfen wir ergänzen. Keine bestimmte Aussage wird möglich sein,
es wird sowohl dies als auch das Gegenteil möglich scheinen. In einem bestimmteren
Sinne kann, dies zeigt der letzte Beweisgang, weder das Eins noch das Andere ausgesagt
werden. Das dauernd festgehaltene Schema des Sowohl-als-Auch und des Weder-Noch
wird zum letzten Male auch auf diese Frage angewandt; wenn das Eine nicht ist, ist
weder das andere noch wird es als eins oder als vieles angesehen (166 b 7):
„So können wir zusammenfassend sagen: Ovxovv xal avkkrjßdrjr ei efnot/uev, ev
wenn das Eins nicht ist, ist nichts; je ei p7 eonr, ovdev eoriv, öo&wg dv efooi-
nachdem das Eins ist oder nicht ist, ist fiev; .... EtQ^ad^to roivvv tovtö re xal
es selbst und das andere im Verhältnis ort, tog eoixev, er eh3 earir ehe p? eonr,
zu sich und zueinander alles, auf alle Weise aho je xal rdkka xal 7iQog avrd xal 7iQÖg
und ist es nicht und erscheint und er- dkkt]ka nana ndvjwg eoTi re xal ovx
scheint nicht." eart xal (paiveiat re xal ov cpatrerat.
Ehe wir die Erörterungen des Sophistes, Politikos und Philebos zur
Klärung und näheren Bestimmung des „Parmenides" heranziehen,
müssen wir erst das sachlich-metaphysische Problem einmal zu präzi-
sieren beginnen. Der Chorismos der beiden Reiche (der Ideen an sich und
der Erscheinungen) bezeichnet das eine ontologische Problem, den Gegen-
satz der Dinge an sich" und der Erscheinungen; auch bei Piaton ist
dieses Problem mit dem erkenntnistheoretischen der Transzendenz ver- 50
30
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
139
knüpft und läßt sich daher so aussprechen: a) Die Erkenntnis der Welt
ist nur möglich, wenn sich unser Denken auf etwas Objektives, der Er-
kenntnis Entgegenstehendes, Bleibendes richtet, b) Ist dieses andere
aber „getrennt44 von der Sphäre der Erscheinungen, aus der heraus wir
als endliche Wesen Erkenntnis treiben, so ist die Erkenntnis wieder un-
möglich aus einem dem ersten entgegengesetzten Grunde. Hieß es bei a:
wie kommt ein Gegenstand aus unserem Erkenntnisvorgang heraus
zustande? so heißt es jetzt: wie kommt er in ihn hinein?
Die metaphysischen Positionen unterscheiden sich nach größerer oder geringerer
Ö Nähe zu zwei möglichen Grenzfällen; der eine Grenzfall läßt die Gegenständlichkeit
sich einfach „abbilden" im Erkenntnisvorgang (naiver Realismus), der andere betraut
den Erkenntnisvorgang mit der „Erzeugung" der Gegenständlichkeit (subjektiver
Idealismus). Alle mittleren Stellungen bemühen sich um den Begriff der Methexis, der
Ähnlichkeit zwischen den beiden Reichen.
Das zweite ontologische Problem läßt sich anknüpfen an seinen
bekanntesten Sonderfall, den sog. ontologischen Gottesbeweis. Es läßt
sich allgemein so formulieren: ergibt sich aus dem Zusammenhang von
Ideen (Bedeutungen, Phänomenen, Erscheinungsweisen) das ,,Sein" im
Sinne des Daseins, der Existenz? Oder umgekehrt: ist Dasein, tiefer
0 gefaßt, erlebter Zusammenhang von Ideen, Bedeutungen, Phänomenen
(im eigentlichen Sinne des (paCverai im letzten Satz des Parmenides) ?
Die Betrachtung des Parmenides hat gezeigt, daß beide ontologischen
Probleme in der Erörterung gegenwärtig sind; Piaton exponiert in der
Einleitung die Frage des ersten Problems, des Chorismos; in der Aus-
führung behandelt er die zweite Frage, indem er das Sein des Eins
aus der Verknüpfung (xoivmv(o) begreift, in der es mit einer Reihe anderer
Ideen, Bedeutungen, Phänomene steht. Es ist ein Beweis für die innere
Verknüpfung der beiden Probleme, wenn Piaton die Frage des ersten mit
der Antwort auf die des zweiten zu lösen unternimmt. Das wirft auf den
o Seinsbegriff, den er zugrunde legt, ein erstes Licht. Es bleibt bei näherem
Zusehen kein Zweifel, daß Piaton das Sein des Eins bestimmte nach der
Seinsweise des erkennenden, sinnlich-endlichen Menschen.
Der Sophistes erläutert dieses Sein noch näher und läßt gerade
über die Absicht Piatons, die Methexis im Sinne des ersten Problems
durch die xmvMvCa im Sinne des zweiten zu bewirken, keinen Zweifel
mehr. Er gehört mit Theaitetos und Politikos sachlich zusammen. Der
Theaitetos, dieses Grundbuch der platonischen Erkenntnistheorie,
stellt den 1. Satz vor Augen, mit dem vorhin die ontologische Frage
bezeichnet wurde. Sein Thema ist „Gegenständlichkeit44. Mit auffälliger
o Umsicht und Vorsicht wird der Anspruch des Sensualismus, objektiv-
gegenständliches Wissen, imar^fif^ unmittelbar und einzig und allein
auf Aisthesis zu gründen, zurückgewiesen. Der Anspruch, auch das Gute
nur auf die subjektive Kraft der bedeutenden Persönlichkeit und ihre Uber-
zeugungskraft zurückzuführen, wird nach eingehender Erörterung natür-
i
140
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
lieh abgetan (Theait 166 a — 168 c). Im Mittelteil wird ein Fall der Nach-
folge, der Nachahmung zugelassen, die ößoCwaic, &e&: Gott, dem Urbild
aller Personhaftigkeit, dem Paradeigma des guten Lebens nachzufolgen,
wird hier als das TTQäyfia des Sokrates dargestellt — aber schon recht
theoretisch wird an Thaies und seine weitabgewandte Mathematik er-
innert. Der letzte Teil behandelt die Frage der Doxa; wir sahen bereits,
daß sich in ihr die eine Dimension der Me(/iex£sfrage zusammenfaßt, wie
in en sehliches Meinen sich mit Gegenständlichkeit erfüllen, also wahre
Meinung werden könne. Was wir oben als naiven Realismus charakteri-
sierten, kommt grundsätzlich hier zur Erörterung. Doxa als einfaches io
Abbilden, als „Einfangen" objektiver Wahrheit, wird als unmöglich
erwiesen.
Der Sophistes beantwortet die im Theaitetos aporetisch behandelte
Frage der wahren Wahrnehmung und der wahren Doxa, die echte und un-
echte Nachahmung, der Politikos die Beziehung von rein erkennendem
und handelndem Wissen, von echtem und unechtem Vorbild, Para-
deigma. Der Sophistes kündet das einheitliche Thema an: Sophistes,
Politikos, Philosophos. Piaton braucht den dritten Dialog Philosophos
nicht zu schreiben — denn das einheitliche Sein, das Thema des Philo-
sophen, wird überall, positiv und negativ, behandelt. Die Seinsidee 20
des Guten sehen wir hier aufgeteilt und wieder zusammengefaßt; wie
wenig sich der Gehalt geändert hat, wie viel sicherer und bewußter aber
die Erfassung und Darstellung geworden ist, zeigt eine Stelle des So-
phistes, die sowohl das Motiv der /(wyove, des Umgangs mit den Dingen
wie die echte philosophische Haltung überhaupt scharf zum Ausdruck
bringt und uns mit einem Schlage in den neuen Seinsbegriff des Sophisten-
dialogs einführt.
Der Übergang von der Haltung unechten Scheines, angenommener Überredung,
zur echten Wahrheit, vom Reich des Sophisten zum Reiche des Philosophen wird
geschildert; man beachte die unübersetzbare Wendung icpdmeo&ai 234 d. 30
Tovg nokkovg ovv . . . rwv tots dxovbvjwv ccg* ovx dvdyxrj, %qovov ts snsk&övTog avwTg
ixecrov y.cci n^oiovorjg fjkixictg, ro7g ts ovai nQoanimovrag syyvftsv xal did na&q pariar
üvctyxaC,ofjLtvovg iraQywg stpdnTso&ai twv ovxwv, jusTaßdkksir rag tots yevofxivag do'i,ag,
(sjoif gjxixqcc fxkv yaivs a&ai t<x fxsydka, /eckend ds id Qydia. xal ndi'Ta ndvTfj dpccTSTgdcp&ai
id ir ro7g koyoig (pccpTdo/uaTa vno tmv sv roTg TiQa^soiv Igyiov naQaysvofxiviov.
„Müssen nicht die meisten von denen, die damals (die sophistische
Überredung) hörten, wenn ihnen genügend Zeit verstrichen und ihr Alter
fortgeschritten ist, so daß sie den seienden Dingen nun näher auf den
Leib rücken und durch Einwirkungen gezwungen werden, das Seiende
deutlich zu greifen und zu fühlen [nach Campbell], die Ansichten, die 40
damals entstanden sind, umstürzen, bis ihnen das <damalige> Große klein
und das Leichte schwierig erscheint und alle im Gerede erzeugten Schein-
bilder gänzlich umgewendet werden unter dem Druck des im Handeln
jeweils sich ergebenden Werkes?44
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS.
141
Was tut derjenige, der Nachbilder dieses echten Seienden, dieser
Werke denkt, der im Schein und Phantasma lebt ? Er denkt „Nicht-
Seiendes", so sagt man. Kann man das denken ?
Piaton arbeitet hier klar den Punkt heraus, an dem der Eleatismus
dem sophistischen Subjektivismus die stärkste Waffe geliefert hatte.
Wenn die Gleichheit von voe lv und vorjöv, von Meinen und dem Gegen-
stande dieses Meinens so verstanden wird, daß nicht mehr wie im echten
Eleatismus diese These für das eine und ganze Sein und das diesem Sein
zugeordnete Denken gilt, sondern für das Stück des geteilten Seins, das
to der Doxa eines Einzelbewußtseins, die in ein zufälliges Verhältnis dazu
gerät, zugeordnet ist — wenn auch hier es kein Nicht- Seiendes geben soll,
sondern auch die zufällige Zuordnung von Meinen und Gegenständlich-
keit als Einssein von Sein und Denken bezeichnet wird, dann gibt es
allerdings kein Nichtseiendes, keinen Irrtum, keine falsche Meinung, kein
falsches Bild oder Abbild (efdcaXop oder eix&v), keine falsche Nach-
ahmung ( ifu^uara) und keine „falschen Erscheinungen44 (cpavTaGfiai a
Sophistes 241 e) — aber es gibt auch keine wahren mehr. So hängt alles
an dem „Sein des Nichtseienden44 ; es muß einen Sinn haben, von ihm zu
reden, wie es auch im „Parmenides44 implicite dauernd geschieht. Der
20 geschichtliche Parmenides hatte an das Sein des Nichtseins zu glauben
verboten — diesem Gebote des Vaters Parmenides muß sich der eleatische
Gastfreund nun widersetzen — das Sein des Nichtseins und damit der
neue Sinn auch des Seins ist zu begründen, das „Märchen44 vom Sein,
das uns wie Kindern die väterlichen Philosophen erzählt haben, ist durch
einen Seins begriff zu ersetzen.
Die hier gegebene Darstellung hat die Frage, inwiefern Piaton sich dem echten
Eleatismus entgegenstellt, bereits beantwortet durch die Unterscheidung von ganzem
Sein und teilhaftem Sein. Von der oben S. 54 gegebenen Darstellung aus ist Piatons
Lehre die konsequente echte Weiterführung einer im Ansatz des Doxateiles beim ge-
30 schichtlichen Parmenides mitgemeinten Erfüllung des Eins und eine Überwindung
der falschen oben angedeuteten sophistischen Anwendung des unveränderten eleatischen
Grundgedankens. Der geschichtliche vergleichende Rückblick auf die Ausbreitung des
eleatischen Gedankens ist oben S. 46 ff. bereits besprochen.
Soweit die Erörterung zu dem im „Parmenides" Entwickelten nichts Neues hinzu-
bringt, darf sie übergangen werden (243 b ff.). Daß Eins und Sein schon zwei Bedeutungen
sind, wie sich deshalb Eins, Ganzes und Anderes aufeinander beziehen, wird hier nicht
so streng schulgemäß wie im Parmenides entwickelt, sondern zum Ausgangspunkt ge-
nommen, um die „Gigantomachie44 zu schildern, die von den „weniger genau als die
Älteren44 denkenden Philosophen ausgefochten wird über die Frage, was denn nun das
40 überall gebrauchte Wort „Sein44 eigentlich bedeute. Ironisch werden die Giganten
des Materialismus geschildert, die das Sein dem Körper gleichsetzen und sein Wesen
durch körperlichen Widerstand (noooßobj) und Berührung (inacpij) bestimmen (246 e).
Ihnen stehen entgegen die Ideenfreunde, die sich vorsichtig aus der Höhe irgendwo
vom Unsichtbaren her wehren, gewisse intelligible unkörperliche Ideen annehmen und
diese für das wahre Sein erklären; die „Körper44 jener anderen und ihr angebliches Sein
zerstoßen sie in ihren Reden in kleine Teile und nennen es statt Sein flüchtiges Werden
(246 b).
142
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Die Widerlegung der Materialisten geschieht, wie schon in den frühesten Dialogen,
von dem Phänomen des Lebens, des beseelten Körpers, der gerechten — verständigen —
und ungerechten — unverständigen — Seele aus, also von dem Grundphänomen der
dynamischen, dem sittlichen Handeln primär zugewandten Seinsidee des Guten aus.
Wenn nur das geringste „Unkörperliche" dieser Art zugegeben ist, so ist diese Partei
erledigt. Der Eleate kommt ihrer realistischen Seinsauffassung (nooaßokq und enayr] !)
scheinbar entgegen mit folgender Definition: eigentlich seiend soll heißen, was irgendeine
Fähigkeit (I) yuamis) besitzt, auch nur die geringste Wirkung auszuüben oder vom
Geringsten das Kleinste zu erleiden (247 d): 16 xal bnoiavovv xexrrjyevov dvvay.iv,
ii$ 10 noteTv ih'ieoov bnovv neyvxog, eh' eig id na&e7v xal oyixQorarov vno rov (pavkoidwv. 10
Kurz: Seiendes (pvra) ist nichts anderes als Dynamis, Wirkungskraft (247 e 3).
Damit ist der Zusammenhang mit der dynamischen Seinsidee hergestellt, wenn auch
Piaton diese Definition nur als eine vorläufige, noch näher zu bestimmende bezeichnet.
Von ihr aus gelangt er leicht zu einer Widerlegung der „Ideenfreunde", wie sie jetzt
genannt werden. Diese gehen von der scharfen Trennung von Sein und Werden aus
und behaupten: mit der Seele haben wir durch den schließenden Verstand (koytajup)
am wahren Sein, der bvitog ovaicc, die sich immer identisch verhält, durch die Wahr-
nehmung am Werden teil, das dauernd wechselt (248 a 10). Was heißt aber das „Teil-
haben", das sie beiden Reichen gegenüber annehmen? Piaton benützt hier die Dynamis-
definition: Teilhaben heißt ein Erleiden oder Tun, das auf Grund einer Dynamis von 20
zueinanderkommenden „Dingen" (im Griechischen unbestimmtes Neutrum Plur.) er-
folgt, Tuxxt-rjjucc rj noitiy.ee ex dvvdyewg Tivog dno rwv 7100g dkkrjka avviöviiov yiyvöyevov
(248 b 5). Das geben aber die Ideenfreunde — wie der Eleate aus langer Bekanntschaft
mit ihnen weiß — nur für die Körperwelt zu; diese Beschreibung des „Teilhabens" passe
zum Werden, nicht zum Sein. Wie wollen sie aber das Teilnehmen der Seele am Sein —
das sie einfach postulieren — auffassen? Sie bleiben nun bei dem in der Einleitung
des Parmenides geschilderten Chorismos stehen, behaupten, die Seele erkenne und das
Sein werde erkannt, wissen jedoch nicht anzugeben, wie das vor sich geht. Sie werden
deshalb vor die Frage gestellt: Ist Eurer Meinung nach das Erkennen oder das Erkannt-
werden ein Tun oder Leiden oder beides? Oder das eine ein Leiden, das andere ein 30
Tun ? Oder hat keins von beiden an keinem von diesen irgendeinen Anteil ? — Diese
Frage müssen sie konsequenterweise verneinen.
Aber welchen SeinsbegrifF setzt das voraus? Piaton läßt dem ihren nun den
seinigen entgegenstellen, der die volle Konsequenz aus der dynamischen Seinsdefinition
ist und der den positiven Gedankengängen des „Parmenides" zugrunde gelegen hatte:
Wenn das Erkennen ein Tun (Machen) ist, so muß das Erkannte während es erkannt
wird (Part. Praes.) leiden. Nach dieser Annahme wird das Sein, indem es erkannt wird,
von der Erkenntnis, soweit es erkannt wird, bewegt werden durch das Erleiden, was
unserer Meinung nach am Ruhenden nicht geschehen kann. — „Und wie, beim Zeus!
Können wir uns leicht überreden lassen, daß in Wahrheit Bewegung 40
und Leben und Seele und Besinnung dem vollen Seienden nicht bei-
wohne, und daß es nicht lebe und sich besinne, sondern feierlich und
heilig, ohne Geist, unbeweglich stehend sei?" (248e): Tt de 7106g Jwg; tag
dktj&wg xi'vTjoiv xal C,wrjv xal xpv/tjv xal (ppovqoiv tj yttdiwg neio&tjGoye&a to) navrekiög
ovri ytj nocpei'vai., ytjde Cw civjo yrjde rpooveTv, dkkd oeyvov xal ayiov, vovv ovx e/ov
dxi'vtjjov eoiog elvai; Piaton läßt die zunächst einfach vereinigten Bestimmungen des
Seins sich noch einmal logisch aus derjenigen entwickeln, die man am ehesten (Par-
menides) dem Sein zuerkennen konnte, dem Nus; eins nach dem anderen wird als
notwendig erwiesen.
„Aber wollen wir ihm Geist zuschreiben, Leben nicht? Muß dieses nicht in einer 50
Seele wohnen? Soll es beseelt und doch unbeweglich sein? Dies ist doch sichtlich un-
logisch (uhoyu). Bewegtes und Bewegung ist seiend; wo das Seiende unbewegt ist, da
hat niemand Bewußtsein irgendwo von irgendwas" (249 a). Aber nicht alles darf Schwung
und Bewegung annehmen; es gehört Stehen, Ruhe zu dem in sich identischen Gegen"
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
143
stand, und ohne diesen kann kein iVus, kein Bewußtsein sein oder entstehen. So muß
der Philosoph „wie die Kinder bitten", daß beides bestehe, Unbewegtes und Bewegtes
(249 d).
Nun wird — ein bei Piaton häufiges kunstreiches Schema — an den Begriffen Be-
wegung und Ruhe die Bewegung und Ruhe der Begriffe überhaupt demonstriert; wir
kennen die Methode dieses Beweises von der analogen Behandlung des Eins im Par-
menides: beides, Ruhe und Bewegung, wird mit dem übergeordneten dritten Begriff
des Seins verknüpft; wenn beide sind, so kann umgekehrt das Sein weder mit der
Bewegung noch mit der Ruhe gleichgesetzt werden; „nach seinem eigenen Wesen (qpt/ff/?)
10 steht also weder das Sein noch bewegt es sich" (250 c 6). Damit ist die „Bitte der Kin-
der", die von beiden um den Sinn des Seins streitenden Parteien etwas haben wollten,
aus dem Wesen der Verknüpfung der Begriffe, aus der y.oivwviu gerechtfertigt. Aber
damit ist die Schwierigkeit, „wohin wir unser Denken richten sollen, wenn wir etwas
Klares über das Sein festlegen wollen", noch größer geworden (250 c); das Seiende ist
so dunkel geworden wie das Nichtseiende — es bleibt uns nur die Hoffnung, uns der
Beziehung zwischen beiden zu versichern {iov koyov, des Verhältnisses, mit O.
Toeplitz, Quellen u. Studien z. Gesch. d. Math. I S. 17. Dazu R. E. s. v. Speusippos
S. 1645): wenn uns von einem etwas mehr oder weniger klar wird, so wird auch ent-
sprechend das andere klar.
20 In der Tat ist die Beziehung von Seiendem und Nichtseiendem die
Lösung der Schwierigkeit. Das Prädikatsproblem von Nicht-Identischem
und doch durch eine xoivwvCa Zusammengehörigem — tautologische
Urteile bedeuten keine Erkenntniserweiterung — ist der Ansatz für den
neuen Begriff der Dialektik: da manche „ideellen Bedeutungseinheiten44,
wie Bewegung und Ruhe, nicht miteinander verknüpft werden können,
wohl aber beide mit dem Begriff des Seins, so ist klar, daß weder die
Ideen bzw. Begriffe „abgesondert44, unverknüpfbar (%cdqic) nebeneinander-
stehen, noch alle miteinander verknüpft werden können, sondern daß
diese Entscheidung, ob Begriffe Gemeinschaft haben oder nicht, im ein-
30 zelnen Falle zu treffen ist. Diese Mischungsfähigkeit festzustellen ist das
Geschäft des Dialektikers, dessen Definition 253 d genau gegeben wird
(vgl. Studien z. plat. Dial. 62 — 71). Er hat festzustellen, ob ein Etwas
dies ist — also Verknüpf barkeit besteht — oder dies nicht ist. Dieses
Nichtsein hat den positiven Sinn des Andersseins, und jedes Seiende ist
tausendfach nicht, hat also auf tausendfältige Weise am Nichtseienden
(Anderen, tregov) teil (259 b). Piaton hat bereits von Anfang an in diesem
Dialoge das Verfahren eingeübt, das die Verknüpfung des Seienden und
Nichtseienden sinnfällig demonstriert, die Diairesis und die Anwendung
der xoivwvia in der av^nXoxr], der Zusammenflechtung der Begriffe zur
40 Definition. Als er den Angelfischer bestimmen wollte zur Einübung für
das Definieren des Sophisten, teilte er die Kunstfertigkeit in schaffende
und erwerbende, diese in tauschende und unterjochende usw. (221c).
Alles bisher Festgestellte ist an dem Schema einer solchen Einteilung
sofort abzulesen; das spezifische, qualitativ bestimmte Sein der Kunst-
fertigkeit vereinigt sich mit allen Besonderungen; aber die schaffende
und erwerbende Kunst sind in Bezug auf einander Nicht- Seiendes,
Anderes, und schließlich wird das Definiendum, die Angelfischerei, durch
144
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
eine zusammengefaßte Reihe von Bedeutungsstücken, den xoivä — er-
werbende, unterjochende Kunst usw. — als Bedeutungseinheit kon-
stituiert (cf. auch 264 e).
Ich kann mich hier kurz fassen. Die Wichtigkeit der Diairesis für die platonisch-
akademische und die aristotelische Ontologie und Logik ist, seitdem ich sie zuerst in
den „Studien", dann kurz in „Plat. u. Demokr.", Neue Jahrb. 1920, 89, und dann in
„Zahl u. Gestalt", ferner R. E. s. v. „Logik" entwickelt habe, allenthalben anerkannt;
vgl. dieses Handbuch, Fr. Kuntze, Erkenntnistheorie I B 20, und Leisegang, Denk-
formen S. 201, sowie Fr. Solmsen, Die Entwickl. d. Aristotelischen Logik u. Rhet.
Herlin 1929. Die Darstellung Piatons ist hier unter dem Gesichtspunkte geschrieben, 10
daß möglichst wenig wiederholt, vielmehr das früher von mir nicht Behandelte (Par-
menides) in den Vordergrund gerückt ist. Das macht natürlich die Ergänzung durch die
anderen Werke erforderlich.
Platon spricht hier von Prädikation; er entwickelt eine Theorie des
sprachlichen Satzes (261 dff.), aus der Verknüpfung von Namensbezeich-
nungen (dvöfiaTct) (vgl. Studien S. 88 ff.). Das darf aber nicht darüber
täuschen, daß er immer die ontologische Grundlage im Sinne hat, auf die
hin Aussagen geschehen. Die Wesensverhältnisse, ihre seienden Be-
ziehungen hat er im Auge, wo er von Aussagen und Gemeintem redet.
Die Diairesis, auch wo sie gelegentlich mit spielerischer Ubergenauigkeit 20
aufzutreten scheint, schafft nicht etwa Klasseneinheiten, sondern sie sucht
die natürlichen „Fugen" des Seins auf (so der „Politikos" über dieses
Verfahren, p. 259 d), also die vorgegebene Gliederung des Seins. So steht
hinter den Diairesen — die Beispiele des Sophistes und Politikos um-
spannen grundsätzlich sämtliche Natur- und Kultursphären — die große
Idee eines Reiches wesenhafter Begriffe, ein porjrdg xöcTjuoc, eine Seins-
gliederung und Ordnung; sie ist nicht starr, sie ist lebendig — jetzt müssen
wir an die Schilderung 248 e oben S. 142, 39 zurückdenken.
Das Reich der Ideen umspannt beileibe nicht etwa nur das Natur-
reich in unserem Sinne, sondern auch die Mannigfaltigkeit der Technai, 30
wie wir sahen, kurz alles, was sinnvoll je „gemeint" und in sinnvollem
Tun verwirklicht werden kann im ganzen Umkreis des Seins. Es wird
„bewegt", so hieß es 248 e, insofern es erkannt wird. Das heißt nichts
anderes, als daß die Verknüpfungsmöglichkeiten unerschöpflich sind;
Nichtseiendes und Seiendes wird durch die „durchlaufenden" (259 a)
Ideen des Selbigen und Anderen immer neu verknüpft und getrennt.
Diese Verknüpfungsfreiheit findet am Sein einen ganz bestimmten Wider-
stand, eine Festigkeit, „Unbeweglichkeit" ; sonst hätte die Bewegung der
Eide ja gar keinen Sinn und wäre ein trübes Fließen, ein Grau an Be-
deutungen, keine Mannigfaltigkeit, geschweige denn eine Ordnung. Ein 40
Denken, das dieses „sich immer Verhaltende" nicht respektiert, das
Nichtseiendes für Seiendes und umgekehrt hält, ist im Irrtum. Grade
weil das Nichtseiende einen klaren Sinn bekommen hat, einen Ort in
der Ordnung des Seins, ist nun Irrtum und Trug genau zu bestimmen;
es ist eine Grenzverschiebung, eine Teilung, wo keine „Fuge" ist oder das
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
145
Übersehen einer solchen; es ist nicht Zusammengehörendes in den Akten
der Zusammenflechtung zusammengefaßt worden.
So steht also die Bewegung (Beweglichkeit) der Eide und die Be-
wegung der Erkenntnis in dem dynamischen Wechselverhältnis von Tun
und Leiden. Höchst bezeichnend ist der Zusatz Piatons dort, wo er diese
Möglichkeiten beschreibt (248 d): „ist das Erkennen oder das Erkannt-
werden Tun oder Leiden oder beides?" Es liegt auf Grund des Ent-
wickelten nahe, den Widerstand, den die Denkbewegung erfährt, als
Erleiden zu deuten — wie also das Sein sich den jeweiligen Verknüp-
fungen der Erkenntnis fügt und so bewegt wird, so erfährt auch das
Denken eine Einwirkung vom Sein, freilich nicht im Sinne der Bewegung,
sondern im Erleben jener „Gegenständlichkeit", die als Widerstand
ebenso notwendig zum Erkennen gehört wie seine Freiheit.
Durch die dynamische Verknüpfung der Bewegung im Sein und des
diese Bewegung bewirkenden Erkenntnisvorgangs ist die xoiroovt'ct beider
Reiche, also Erkenntnis möglich. Piaton drückt dies so aus, daß das
Denken (ötdpota) die Meinung, Doxa als einzelner Abschluß (Ergebnis)
des Denkens (264b) und die ausgesprochene Meinung, der Logos als
$€p(i-a diä tov GTÖficcToc der sinnlich wahrnehmbaren Sprache, sich mit
Seiendem und Nichtseiendem verflechten, also wahr und falsch sein
können. Damit ist die Kraft des Seienden schon tief mit dem Reich des
Werdens, dem konkreten Dasein der erkennenden Menschen verbunden.
Da die Bewegung der Ideen sich aus dieser Verflechtung allein herleitet
— das Sein wird ja in der Erkenntnis bewegt — , diese Beweglichkeit aber
als wesensmäßiger Zug des Seins sich herausstellte, so ist das Sein in
Korrelation zum erkennenden Bewußtsein aufgewiesen. Piaton drückt
auch das wieder gegenständlich so aus, daß dem Sein selbst die Attribute
des psychisch-geistigen Daseins zugesprochen werden. Im Sinne unseres
ersten ontologischen Problems könnte man seine Stellung als ein Gleich-
gewicht, eine metaphysische Äquivalenz bezeichnen, bei der von
einem seinsmäßigen Vorrang des erkennenden Bewußtseins vor dem
schlechthinnigen Sein oder umgekehrt nicht gesprochen werden kann,
vielmehr beides zu einem „Dasein" vereinigt ist.
Dies ist noch deutlicher, wenn unter dem Gesichtspunkt des zweiten
oben S. 139 gestellten ontologischen Problems das Vorhergehende ergänzt
wird durch die Beziehung des Seienden und Nichtseienden zur Wahr-
nehmung. Denn nicht nur zu diävoia, dö'Za und Logos, sondern auch zur
cua'Jr/aig tritt das Sein in Gemeinschaft (xoiv(ovCa): mit dem, was im
„(pah'trai, es erzeigt sich", gemeint ist (264 b).
Wir erinnern uns an den Schluß des Parmenides, wo die Wirklichkeit des Eins mit
(an und (paCvetcu bezeichnet war (vgl. Stud. S. 71 ff., wo auch S. 77 die ausführ-
lichere Darstellung der wahren und falschen Aisthesis im Philebos 38 ff. erläutert ist).
Wieder kann Piatons Absicht am leichtesten an der diabetischen Be-
griffsbestimmung erläutert werden. Die Techne, die erzeugende und die
llandb. d. Phil. I. ü 10
146
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
erwerbende usw. lassen sich denken; anschaulich und konkret vorstellen
dagegen Läßt sich nur die unterste bestimmte Kunst; wenn keine Teilung
mehr möglich ist, weil wir bereits zum „Atomon Eidos" gelangt sind,
dann plötzlich tritt die Aisthesis an die Idee, an die Bedeutungseinheit
des letzten Gliedes der Diairesis heran! Indem „Eins" dieses Atomon
Eidos ist eine spezifische Wesensmöglichkeit erreicht, die
man als Wahrnehmbarkeit bezeichnet: tpafrvtai. Versuche ich
die Aisthesis auch an höhere Glieder der Diairesis heranzubringen, so
kann ich nur die Vielheit der unter die höhere Art fallenden äro/ua €l'drj
mir vorstellen; entweder alle oder eines als Beispiel, an dem ich das in lö
der höheren Gattung beschlossene Bedeutungsmoment — Nagetier —
an dem bestimmten Nagetier, z. B. der Maus, mir zur Gegebenheit bringe.
Echte anschauliche Erfüllung erfährt nur das Atomon Eidos, entweder in
der reproduzierenden Phantasievorstellung oder „wenn es in der Wahr-
nehmung gegenwärtig ist" 264 c. Piaton nennt auch die letztere mit dem
aktiven Worte (pccvTccai'cc; denn auch das Gegebene muß in seinem Wesen
verstanden werden. Also muß auch in der gegebenen Wahrnehmung
das aus den xoiva zusammengesetzte Atomon Eidos gegenwärtig sein.
Dadurch wird zunächst der Unterschied zwischen der Wahrnehmbar-
keit und der Wahrgenommenheit verwischt, der für die konkrete Situation 20
des einzelnen Individuums entscheidend wichtig ist, das in einem Fall
irgendein „Ding" vor sich, real, hic et nunc sich gegenüber weiß, im
andern Fall dieses selbe Ding nur in seiner möglichen Konkretheit
denkt. Die platonische Ontologie gibt, wie wir sahen, dem „Jetzt" eine
andere Funktion; die Individualisierung und Psychologisierung der Er-
kenntnissituation spielt für sie nicht die Rolle, wie für spätere Zeiten,
die umgekehrt sich durch die Überbetonung dieses Unterschiedes den
Blick auf die in jeder Wahrnehmung liegende Antizipation verstellt
haben. Um so nötiger ist es, die antike Ontologie grade an dieser Stelle
getreu und geduldig zu befragen, welchen Sinn sie dem Hier und Jetzt gab. 30
Das zweite ontologische Problem fragte, ob diese „Existenz", von der
hier die Rede ist, aus der Fügung von ideellen Bedeutungen sich ableiten
läßt — oder sich schließlich einfach als eine solche Bedeutungsverbin-
dung, eine avfJLTtXom) ausweist. Nun zeigt die Diairesis in ihrem Gange
bis zum Atomon Eidos eine solche Ableitung. Von unbestreitbaren Wesen-
heiten aus gelangt sie durch Aufsuchen von deren „Fugen" bis an einen
Punkt, an dem dieses Suchen auf einen Widerstand, auf ein nicht mehr
teilbares ädiaCqtTov stößt, in dem sich alle durchlaufenen Stufen, als
Bedeutungsstücke zusammengeschlossen, plötzlich noch um die „Wahr-
nehmbarkeit" vermehren; mag es nun der Angelfischer selbst oder seine 40
Kunst als ein sichtbares Tigayfia, ein Lebewesen oder ein Kunstgegenstand
sein: yaCveiuil Hier liegt also der im zweiten ontologischen Problem
geschilderte Sachverhalt vor: es gleitet hier leibhaftige Existenz aus
einer methodischen Bewegung von Ideen heraus, Existenz stellt sich dar
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
147
als ein bestimmter Sinn, ein bedeutungsmäßig faßbares So- Sein. In
Goethes Worten bezeichnet: das Feste (der naiv genommenen Realität)
zerrinnt erst zu Geist, um dann als Geist erzeugtes sp b'Äor, als avv< h>v,
als Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit fest verwahrt zu werden (Schillers
Reliquien Schluß).
Aber während es vom modernen realistisch eingestellten Bewußtsein
verlangt werden muß, daß es erst einmal als dialektische Stufe die Wirk-
lichkeit „in die Klammer44 setze, um diese Leibhaftigkeit in ihrem ideellen
Sinngehalt überhaupt nur zu sehen, scheint hier der Fall vorzuliegen,
10 daß ein in dieser phänomenologischen „Reduktion44 denkendes Bewußt-
sein theoretisch gar nicht den Zugang findet zu der Konkretion des
Daseins.
Dieser Schein verschwindet aber sofort, wenn das Bedeutungsganze,
aus dessen Gliederung jenes wahrnehmbare Atomon Eidos sich herleitet,
auf seine ersten und obersten Prinzipien hin betrachtet wird. Wir haben
bisher nur die relativ willkürlichen Ausgangspunkte betrachtet, von
denen die Diairesen des Sophistes und Politikos ausgehen. Aber hinter
allen Einzeldiairesen steht immer ein oberstes Seiendes, ein oV, das k'v
im strengsten Sinne des Umfassens, des itsoifyov ist, die Einheit des
in ganzen vo^rög xoo^ioc. Kosmos muß wesensmäßig Einheit sein. So er-
langen wir den Anschluß an die „eleatische44 Problemstellung des „Par-
menides44 nach der einen, an den Timaios und die eigentliche Prin-
zipienlehre des letzten Piaton nach der anderen Richtung. Dieses eine
Sein ist für Piaton alles andere als der leerste Begriff, es ist, wie wir
sahen, im Gegenteil dasjenige Sein, in dem sich alle entfaltete Fülle
auf die Einheit eines denkenden Bewußtseins zurückwendet, das sich
im Dasein weiß und dieses Dasein in der lebendigen Entfaltung der
Weltmannigfaltigkeit in ihrer Ordnung begreift. Darum steht dieser
„Anfang44 des dialektischen Prozesses in einer besonderen Wesens-
o gemeinschaft mit dem Telos seines untersten wahrnehmbaren Gliedes,
des Atomon Eidos; beide sind eins, das Eins, das alle Wirklichkeit in
sich trägt und das ev äro/nov tidoc, das umgekehrt in seiner konkreten
Bestimmtheit ebenfalls die Verflechtung sämtliches Seienden, der Ifpva,
und Nichtseienden, ^ opia repräsentiert ; gerade dann, wenn es wirklich
alles ist, wenn keine Fuge des Seins mehr in ihm ist, dann stellt es sich
dar, yaCveTai; natürlich nicht in jedem Zeitpunkt und an jedem Orte;
aber wir wissen, daß seine Wahrnehmbarkeit jederzeit wirklich werden
kann, wenn wir unsere zufällige Stelle im Raum verändern oder einen
anderen Zeitpunkt abwarten. Wir wissen, daß es in die Ordnung der
0 ganzen wahrnehmbaren Dinge, in den cciG&qTÖg xotyiog gehört, in die er-
schaffene Welt, die wir nie anders denn als Teil haben.
Das lebendige, im Erkennen bewegte Sein wird im Sophistes nicht
unmittelbar mit Gott gleichgesetzt — so wenig wie die Idee des Guten
im Staat. In der Tat stellt auch der Timaios dem göttlichen Schöpfer
D 10*
14%
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
der Welt das Sein des voijibc xotyioc gegenüber als das Urbild, das er in
die Zeit hineinbildet und damit schaffend „erscheinen" (cpatvea&ttt) läßt.
Bei den mannigfachen Unklarheiten, die in der Überlieferung hier be-
stehen, muß festgestellt werden, daß Piaton nicht daran gedacht hat,
Sein, Eins und Gott einfach aneinander anzugleichen, sondern für ihn
ist das Eigentliche des göttlichen Wesens in der Verwirklichung des
Seins gegeben; Gott stellt das Sein, das in der unbewegten Zeit ihm allein
zugänglich ist (Timaios 37e), für uns Menschen aber „nur wenig" er-
kennbar ist (Tim. 51 e), in die bewegte Zeit hinein. Die „Zeit" Gottes
ist ohne Bewegung, ohne Teile, ohne Vergangenheit, Gegenwart und 10
Zukunft, also Gegenwart schlechthin, Aion. Ohne es zu bemerken,
übertragen wir die für uns notwendigen Anschauungsformen von
Raum und Zeit auf das göttliche Sein (Tim. 37e und 52 b), weil wir eben
nicht anders können; wir sahen ja am „Parmenides" : wenn wir uns ein
Eins ohne Teile, kurz ohne die unserer Endlichkeit entsprechenden
Denkmittel denken wollen, so löst es sich ins Nichts auf, nicht etwa in
das in der Entfaltung des Seins sehr wohl denkbare Nichtsein des
Sophistes, sondern ins schlechthin Undenkbare und Unvorstellbare
(Tim. 52 b 5). So schafft also der Schöpfer zugleich mit der Teilung des
Seins auch dessen Erkennbarkeit für uns; damit entsteht dasjenige 20
Sein, das Vielheit und Bewegung in sich trägt, dasjenige Sein, das im
Sophistes geschildert ist, das wir an der geschaffenen Welt — yaCvfTai —
und nur an ihr erkennen können: die bereits gegliederte Ordnung der
Welt. Wie Gott dieses von uns nur im Hinblick auf die Entfaltung denk-
bare Eins sieht, wie ihm der „nichtwirkliche" vorjTog xoa^oc erscheint,
das können wir in unserer Endlichkeit nicht denken, weil wir nicht über
eine „gesetzgebende Vernunft (intellectus archetypus)" verfügen „von
der alle systematische Einheit der Natur als dem Gegenstande unserer
Vernunft abzuleiten sei" (Kant, Kr. d. r. Vern., 2. Aufl. 723). Aber
indem wir die Einheit und den Zusammenhang des gegliederten Seins
denken, indem wir — wie im „Parmenides" — das Eins seiend (tari, 30
sccct (paiv€Tcci) zu denken versuchen und sehen, wie eine Bestimmung nach
der anderen aus ihm hervorgeht und Wirklichkeit bis zur Wahrnehmung
hin schafft, so erleben wir in diesem voelv den Schöpfungsakt nach, das
Zeitlichwerden des Einen, Ungeteilten und Ewigen.
Wir kommen demnach dem göttlichen Sein am nächsten, wenn wir
uns so hoch wie nur möglich in der Stufenleiter der Diairesis an das Eins
heranbewegen. Das Eins aber für sich zu denken, geht nicht an; also
müssen wir die dauernde Möglichkeit der Vielheit mitdenken; die mög-
liche noch unbestimmte Zweiheit, dasjenige, was aus dem Wesen unseres
Denkens vom Seienden entspringend sich sofort neben das Eins stellt, 40
sobald wir überhaupt wirklich denken. So sind dies die beiden äu%a(, die
beiden Voraussetzungen unseres Denkens, hinter die wir nicht mehr
zurückgehen können, die wir zwar hypothetisch wegdenken können —
D
PLATON. DIALEKTIK DES SEINSBEGRIFFS
149
das tat der „Parmenides44 ; aber er zeigte gleichzeitig, daß dies nur um
den Preis der gesamten Wirklichkeit geschehen kann.
Diese beiden Grundprinzipien der Einheit und der unbestimmten
Zweiheit, die das Maximum von für uns vollziehbarer Vereinfachung
und Vereinheitlichung der denkbaren Wirklichkeit bedeuten, bewähren
sich nicht nur in solchen Überlegungen als Ursprünge, ägyai, sondern
sichern als Ordnungsprinzipien den Gang unseres fortschreitenden Den-
kens weiter auf seiner Methodos durch die gesamte Wirklichkeit. Das
anfängliche Eins begleitet mit der Zweiheit zusammen den Lichtungs-
und Auflösungsprozeß der Diairesis dauernd bis zum Telos; schon der
Staat kennt diese grundsätzliche Funktion von Einheit und Zweiheit:
bei allem, was sich der Seele „meldet44, (exaara t&v inayytXhwfVMV
524 b) ruft sie Denken und Vernunft zur Untersuchung auf, ob das ihr
Begegnende schon wirklich eins ist oder ob noch eine „verschüttete44
Zweiheit vorliegt, die das Denken nun in zwei klare Eins trennt und damit
eine bestimmte Zweiheit schafft. Als die Diairesis die Ontologie zu be-
herrschen beginnt, wird die rechte Auflösung von Zweiheiten und Viel-
heiten noch viel deutlicher zur dialektischen Aufgabe. Jetzt ist nicht
mehr der Name das diaxgiTiy.dv ogyavov rfjg otHJtac, wie es im Kratylos
388 b heißt, sondern auch dort, wo die Sprache nicht mehr hinleitet,
kann in der nach natürlichen Fugen sich erschließenden Wirklichkeit
das fV, die Einheit der Bedeutung, durch die Stelle im Seienden be-
zeichnet werden, durch die Abgrenzung gegen das Nichtseiende. Die
grundsätzliche Zählbarkeit der Schritte bei der Begriffsspaltung und
damit der Bestimmungsstücke des einzelnen Seienden (Philebos 17 c
vgl. „Zahl und Gestalt" 13 ff.)1) zeigt den Zusammenhang zwischen
der logischen Funktion von Eins und Zweiheit mit ihrer mathematischen.
Denn daß diese beiden allgemeinen Prinzipien auch die Zahl herzuleiten
gestatten, das wurde an der oben S. 133,47 u. 135,24 ff. behandelten
Stelle des „Parmenides" deutlich (Z. Theorie des Logos, S. 64).
Man hat sich oft gewundert, wie die Seinsidee des Guten, deren Fülle
im Staat überzuquellen schien über die Möglichkeit begrifflicher Ver-
deutlichung, nun zu einem Seinsbegriff werden kann, der aus zwei so
„dürren44 Prinzipien besteht, wie es das Eins und die unbestimmte Zwei-
heit sind. Schon die Zuhörer der Vorlesung Piatons, die den Titel trug
„Vom Guten44 und dann nur von diesen Prinzipien handelte, haben sich
über diesen Kontrast gewundert.
Aber gerade die Sicherheit in der Fülle, das Bewußtsein eines auf
das Ganze der Wirklichkeit und des Lebens gerichteten Verstehens,
jenes {(p&Tvrea&ai iv oic xcci ngd^sciist die Grundlage solcher Prinzipien,
die lediglich dem lebendig entfalteten Sein gegenüber Sinn haben. Die ein
Muster formaler „Wenn-So"-Diskussion darstellenden Gedankengänge
l) Zu diesem ganzen stark zusammenfassenden Teil ist „Zahl und Gestalt" auch
sonst zu vergleichen.
150
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
des „Parmenides" setzen gewiß nicht einfach voraus, was Bewegung,
Sein. Ähnlichkeit ist, aher ihre Beweisgänge — wie alles mit der Diai-
resis Zusammenhängende — rechnen damit, daß in der formalen Arbeit
ein vorhergehendes Wissen um den Sinn von Bewegung, Ruhe, Ähnlich
usw. heraufgeholt wird; der voijibc xöfTfiog liegt auf dem Grunde jeder
Seele und kommt durch den Umgang mit der Welt zur ersten, durch
\\ issen und Erkennen zur zweiten, stärkeren Entfaltung; in diesem
Sinne ist der Gedanke der Anamnesis immer lebendig geblieben.
Pia ton hat im Sophistes und Politikos, die beide von den dialektisch-
logischen Problemen der Diairesis erfüllt sind, den vollen Gehalt der
Seinsidee des Guten immer wieder mit größerer Klarheit herzustellen
gewußt. Im Sophistes schließt der Gedankengang des Dialoges streng
zusammen durch die nun endgültige Definition des Sophisten, der im
Schein, im Unwesentlichen Erscheinungen nachahmt und so dem eigent-
lichen Sein fernbleibt. Er steht auf einer Linie mit denen, die nur das
Gebaren, also die Erscheinung des Gerechten nachahmen und nicht die
seiende Gerechtigkeit darstellen (267c); wir erinnern uns an die Schein-
auflösende Wirkung des Guten in einem ganz entsprechenden Gedanken-
gange, Staat VI 505 d (s. o. S. 121,32). Im Gegensatz dazu wird, was im
X. Buche des Staates noch unklar blieb, das tätige Verhalten des Ge-
rechten, als eine mit Wissen erfolgende Mimesis bezeichnet (267c), also
als „Darstellung", Verwirklichung der im Sein entsprungenen Arete. Der
Seinsbegriff, der im Anschluß an das Schöpfungsproblem des Timaios
oben entwickelt wurde, ermöglicht es Piaton, gerade die praktische Seite
der Seinsidee des Guten noch konkreter zu fassen. Sogar theoretisch
können wir also das eigentliche Seiende nur in der Entfaltung, in der
Verwirklichung der Schöpfung begreifen, und an die Schranken der End-
lichkeit sind wir auch dann gebunden, wenn wir bis zu den höchsten
Prinzipien uns erheben ; dann kann auch die staatliche sittliche Welt, wie
sie nun einmal ist, dem „Tätigen nicht stumm" bleiben. Ein solcher
Gottesbegriff, wie der des platonischen Timaios, macht nicht wirklich-
keitsfremd, sondern weltnäher; wer die Paidagogik Gottes in der ge-
schaffenen Wirklichkeit wiedererkennt (Gesetze 897b), für den bekommt
alle Wirklichkeitserkenntnis, gleichviel, ob es das alte attische Recht,
die Proportionenlehre, die Bewegung der Gestirne, die Einteilung der
Tiere und Gewächse ist, ein ganz anderes Gewicht. Das Paradeigma der
Gerechtigkeit wird nicht mehr im Himmel, sondern in einer früheren
geschichtlichen Zeit gesucht; Gedanken von Weltperioden stehen inner-
lich und äußerlich mit dem Schöpfungsdialoge im Zusammenhang. Der
Gedanke der göttlichen Erziehung und Lenkung erfährt Ergänzungen,
die an die Rede des Sophisten Thrasymachos erinnern (s. o. S. 80 u. 81);
in der einen Weltperiode läßt Gott das Steuer der Welt los und sie gleitet
in ihre eigene Bewegung zurück (Politikos 269c).
Je mehr sich die Erkenntnis auf alles Wirkliche ausdehnt, desto
D
ARISTOTELES
151
sicherer kann der alte Anspruch durchgeführt werden, daß auch für die
sittlich-politische Gestaltung der Wirklichkeit umfassende Erkenntnis
notwendig ist. Der „Politikos" scheidet klar die nur erkennende, vom
Tun freie Wissenschaft, wie die Zahlenlehre, dann diejenige evciaTr^iri^
die aus der Tätigkeit, aus der Ausübung eines Wissens von selbst er-
wächst, wie Baukunst und alles Handwerk. Sofort ergibt sich aus der
Wissenschaft des Baumeisters die neue Form des befehlenden Wissens,
die i7TiraxTixfj $7ttatrf[M], die nicht nur wie ein Zuschauer beurteilt,
sondern auf das Tun anderer gerichtet befiehlt. Alle aber sind erkennende
— das wird unbedingt festgehalten; selbstbefehlend kann die königliche
Kunst dann sein, sogar über dem Gesetz wenn der Herrschende wahrhaft
kundig ist und nicht nur scheint (293 e).
Ein solches Wissen wird nur wenigen zuteilwerden können; das sieht
Piaton deutlicher, je mehr er eine umfassende Erfahrungserkenntnis für
notwendig hält. Im Staate hatte Piaton den Gedanken der selbstherr-
lichen Vernunfterkenntnis aufs höchste gesteigert (VII, 530 ff.); im
VII. Brief (342 äff.) besteht er darauf, daß man von allem, was erkennbar
ist, auch das sichtbare Mimema, das Eidolon, anerkennen, und nur in der
unablässigen Bewegung von dem Sichtbaren, der Sphäre des yaCveTcci,
ins Erkenntnismäßige und umgekehrt, in stetem Umgang mit den Dingen
und denen, die gleichstrebend sich um deren Erkenntnis bemühen, kann
diese wirklich „aufleuchten" (341 c; dasselbe Bild wie im Symposion 210e
und Staat VI 508 d) ; die Erkenntnis von Trug und Wahrheit im
ganzen Sein (344b) bleibt die Voraussetzung der Erkenntnis von Gut
und Böse, von Gerecht und Ungerecht (344 b). So hält Piaton bis zuletzt
an einem Seinsbegriff fest, der die Seinsidee vom in seiner Welt tätigen
Menschen mit der Erkenntnis des Seins zusammenschloß. Diese
Vereinigung von ÜewQCa und TtQäl^iq im Begriff des Menschen selbst ist
nie wieder so erreicht worden.
3. ARISTOTELES.
a) Die alte Akademie.
Der kurze Uberblick über die platonische Spätphilosophie (zur Er-
gänzung vgl. Zahl und Gestalt 105 ff.) wird gezeigt haben, daß Piaton
auch in die letzte, die mimetische Form des sokratischen Dialoges immer
mehr überwachsende Phase seines Philosophierens dessen ganzen Reich-
tum hinübernehmen wollte und durch seine gedanklich-systematische und
darstellerische Kraft, die ohne Vorgänger und ohne Nachfolger geblieben
ist, auch hineinnehmen konnte. Für die Männer, die, zum Teil wenig
jünger als er, in seiner „Schule", in freiem Umgange mit Wort und
Schrift des Lehrers, den einzelnen Wissenschaften in größerer oder ge-
ringerer Produktivität zugewandt, die philosophische Arbeit Piatons
aufgriffen und sie fortführen wollten, bedeutete gerade der letzte Stil
152
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
seines Philosophiereiis eine philosophische Aufgabe, von deren äußerer
Größe und innerer Schwierigkeit sich ihre Tadler kaum eine zulängliche
Vorstellung zu machen pflegen. Dies gilt auch für diejenigen, die aus dem
veränderten Stil des Philosophierens auch Aristoteles in einer unbilligen
Vergleichung mit dem „Dichter" Piaton einen Vorwurf glauben machen
zu dürfen. Es ist nicht im geringsten verwunderlich, wenn die unmittel-
baren Nachfolger Piatons bei dem Versuche, die letzte Phase Piatons
in ihrem systematischen Gehalt aufzufassen, ihn dogmatisierten und die-
jenigen Motive, die bei ihm in der dichterischen Hülle verschleiert waren,
häufig genug in ein grelles Licht stellten. So kommt es, daß Xenokrates
aus den halbdicbterischen Andeutungen des Symposions und des Timaios
— von der Epinomis sei hier einmal abgesehen — eine Dämonenlehre
machte, daß andere gewisse Vergleiche Piatons im Sinne einer Vergottung
des großen Führers und einer Gleichsetzung von Seelenkern und Gottheit
deuteten. Gewiß kommt auch hier manches auf die Rechnung des dich-
terisch oder mindestens rhetorisch gestalteten philosophischen Dialoges,
den neben der Lehrschrift zu pflegen von allen für Recht und Pflicht
gehalten wurde. So brach die Philosophie, die Piaton immer noch zu-
sammenhalten konnte, in eine religiöse und einzelwissenschaftliche, meta-
physische und logisch-erkenntnistheoretische auseinander.
Es ist für den Gesamtaspekt, unter dem der nächsten Umgebung
die Spätphilosophie erschien, bezeichnend, welche Motive der plato-
nischen Metaphysik von seinen Nachfolgern in den Vordergrund gestellt
wurden. Speusippos verknüpfte das Motiv der Diairesis, und zwar
mit größter Betonung der exakt kultur- und naturbeschreibenden Voll-
ständigkeit der Gegenstände, mit dem Gedanken der Paradeigmata und
des Ahnlichen, wie wir ihn im Politikos bereits deutlich vorgebildet
finden. In allen Diairesen treten „analoge" Verhältnisse auf; die Paare
der Klassen und ihr Einteilungsprinzip kehren auf anderen Stufen wieder;
Speusippos konnte also sehr wohl ein solches System „Ähnlichkeiten",
b'/uoia, nennen, und ebenso wie Piaton Politikos S. 278b, 286 a einfachere, im
Anschaulichen vorgebildete Begriffsverhältnisse für Paradeigmata halten,
an denen wichtigere, verborgenere, schließlich völlig „anschauungsfreie"
Sachverhalte (äaw^axa tför/) mittelbar erfaßt und dargestellt werden
konnten (Genaueres im „Speusippos" 1646). Diese Ähnlichkeiten gingen
zusammen mit den mathematischen Analogien und deren Elementen,
den Logoi, den Verhältnissen, die in der akademischen Mathematik und
damit in der Idealzahlenlehre eine überaus wichtige Rolle gespielt haben
(s. Lit. S. 128). Die „abbildhafte", analogische Verknüpfung aller Wesen
und Dinge mußte wichtig sein für ein Weltbild, in dem der „Syndesmos",
die Verbindung und Überbrückung alles Gegensätzlichen durch Mittel-
glieder, beabsichtigt war. Es ist kein Wunder, daß der große Mathematiker
Eudoxos nicht nur die Proportionenlehre entwickelte, sondern auch im
Anschluß an die Theorie Piatons von der Gemeinschaft der Ideen unter-
D
ARISTOTELES
einander eine metaphysische Theorie beisteuerte von der „ Mischung"
der gegensätzlichen Seinsbereiche, deren Chorismos der platonische
Parmenides in der Einleitung entwickelt hatte. Am Chorismosproblem
sollten sich in der Akademie die Geister scheiden.
Xenokrates, der Nachfolger des Speusippos, scheint neben seiner
Theorie einer atomistischen Mathematik sich besonders der Theorie der
Wahrnehmung gewidmet zu haben, der die Akademie, wie es scheint,
immer bewußter ihren Anteil an der Erkenntnis zu sichern bemüht war.
Dies mag mit der immer größer werdenden Wichtigkeit der astrophysi-
10 sehen Theorie zusammenhängen, mit der bereits damals auftretenden
Frage, welcher Anteil dem Zeugnis der Sinne bei der Theorie der Gestirn-
bewegungen zukäme, ob und wie die mathematische Theorie den Sinnes-
eindruck „bestätigen" (rä (paipn/aepa aw&iv) solle. Herakleides von Pontos,
dem Piaton während der zweiten sizilischen Reise seine Vertretung über-
trug, und Philippos von Opus, der Redaktor der „Gesetze", scheinen
auf diesem Gebiete sich besonders betätigt zu haben, vor allem aber der
größte Mathematiker seiner Zeit, der schon genannte Eudoxos.
Alle hier berührten sachlichen Probleme wirken auf die Wendung ein,
die Aristoteles der metaphysischen Theorie Piatons geben sollte.
20 Aristoteles trat 367, während Piatons zweitem sizilischen Aufenthalt,
18 jährig, im eindrucksfähigstem Alter, in die Akademie ein, der er
20 Jahre angehörte. Es ist schwer vorstellbar, daß je wieder ein Mensch
so vollkommen jedes Wort Piatons gegenwärtig gehabt, jedes philo-
sophische Motiv in sich aufgenommen hat wie der „Leser" Aristoteles.
Je mehr man sich mit dem inneren Zusammenhang der platonischen Spätphilo-
sophie in sich und mit der gesamten Arbeit der alten Akademie beschäftigt, desto
frappierender ist die dauernde Gegenwart platonischer Gedanken bis in ihren spezi-
fischen Wortlaut hinein. Jaeger hat in den „Studien zur Entstehungsgeschichte der
Metaphysik d. Arist.", Berlin 1912, später in seinem „Aristoteles, Grundlage einer
30 Geschichte seiner Entwicklung 1923" zum ersten Male ernst gemacht mit diesem Ver-
hältnis, das durch den alleräußerlichsten Eindruck einer in ihren Motiven sehr ver-
wickelten Polemik des Aristoteles gegen die Ideenlehre lange verdeckt war. Jaeger
hat vor allem gezeigt, wie langsam sich Aristoteles aus der Abhängigkeit von Piaton
auf seine eigene Lehre besonnen hat, und hier die entscheidenden Motive einer Entwick-
lung aufgewiesen. Seit Jaegers Werk ist eigentlich jede Darstellung der Metaphysik vor
die Frage gestellt, die so früher gar nicht bestand, wie sich die aristotelische Begriffs-
arbeit aus der platonischen entwickelt hat. Nur auf diesem Boden können die Unter-
schiede klar erfaßt werden, ohne beiden Unrecht zu tun. Auf diese Frage gibt natürlich
keine der früheren Darstellungen Auskunft. Bei Jaeger stehen die grundlegenden Fragen
40 der Überlieferung und der Form im Vordergrund, aber eine philosophische Stellung-
nahme ist überall deutlich, und ich verweise deshalb außer auf dieses Buch nur auf die
Ausgaben und die Ubersetzungen. Die einzige Ausgabe, die heute in Frage kommt und
zu haben ist, ist die philologisch und philosophisch ausgezeichnet kommentierte Aus-
gabe von W. D. Ross, Aristotle's Metaphysics, Oxford 1924 (vgl. dazu Jaeger,
Gnomon 1925, S. 57). Deutsche Übersetzungen von Bonitz (von E. Wellmann heraus-
gegeben, 1890) und Rolfes (Philos. Bibliothek). Unentbehrlich für jede wiss. Be-
schäftigung sind die antiken Kommentare in der Slg. d. Pr. Akademie. Für alles weitere
sei hier auf Überweg-Praechters Grundriß verwiesen.
154
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
In ..Zahl und Gestalt" habe ich versucht, die Spätphilosophie Piatons und die
W endung, die Aristoteles deren Motiven gab, begreiflich zu machen; in dieser Richtung
versuche ich hier weiterzugehen.
\\ ir haben von Anfang an in den Begriff der Metaphysik die Lehre vom
Sein des Mensehen als einem Dasein in der Welt aufgenommen, andrer-
seits immei betont, daß der Mensch in diesem Zusammenhange auf
eine Norm, auf die Idee eines Menschen selbst, also auf erweiterte objek-
tivierte Individualität gerichtet verstanden werden soll; nicht die be-
liebige W eltanschauung eines Individuums ist der Gegenstand einer Ge-
schichte der Metaphysik, sondern immer das Ganze des Seins, bezogen 10
auf diese letzte Gegebenheit des jeweilig in der Geschichte konkreten
Menschendaseins. Kein Philosoph hat sich selbst unmittelbarer darge-
stellt in seiner Metaphysik als Piaton, indem er von Anfang bis zu Ende
gezeigt hat, wie Sein sich im Menschen und an Menschen darstellt.
Bei keinem Philosophen ist es daher weniger nötig, bei der Erklärung
seines Seinsbegriffes den Menschen zu suchen, der „hinter dem Werke
steht44, wie man zu sagen pflegt; denn er steht nicht dahinter, sondern
mitten darin in der lebendigen Gemeinschaft der Gestalten, die er ge-
schaffen hat und die sich vor uns in ihren Gedanken über das Seiende
aussprechen. 20
Dies ist in dem Werke des Aristoteles nicht mehr in demselben Maße
der Fall. Je objektiver die Form wird, in der eine „Metaphysik44 das
Ganze des Seins darstellen will, desto sicherer kommt die Stelle, an der
man nun fragen muß, wer „hinter dem Werke steht44, weil sich eine
andere Form des menschlichen Daseins doch hier bemerkbar macht in
dem Begriff vom Seienden schlechthin; denn je nach Form und Grad der
Subjektivität sind die Mittel andere, die den Objektivierungsprozeß zum
An-sich- Seienden tragen und bestimmen.
Noch vor kurzem hätte eine solche Frage für Aristoteles kaum gestellt
und sicher nicht beantwortet werden können. Man kannte nur äußere, 30
zudem oft schlecht bezeugte Züge seines Bios, und diese geben in keinem
Falle etwas aus für diejenige Einheit des Menschen und seiner Welt,
auf die es hier ankommt. Wie bei den Briefen Piatons hatte man die
Zeugnisse, die hier Auskunft geben können, verdächtigt und entwertet.
Die Dialoge, die der jüngere Aristoteles noch völlig in der Akademie
wurzelnd geschrieben hatte, die Erbauungsschriften, in denen er sich
über den Sinn der Philosophie aussprach, hatte man ihm abgesprochen
und den wenigen, desto wertvolleren Fragmenten, die erhalten sind,
keinen Wert beigelegt — im letzten Grunde nur deshalb, weil sie zu
platonisch schienen. Jaeger hat diesen Aristoteles wiederentdeckt, 40
indem er ihn in eine sinnvolle Entwicklung seiner Lehre einfügte. Es
soll als eine Verdeutlichung des in dieser gesamten Darstellung zugrunde
gelegten systematischen Seinsbegriffes aufgefaßt werden, wenn wir
zwischen den Antworten, die Aristoteles' Metaphysik auf die sachlichen
D
ARISTOTELES
155
Fragen der platonischen Spätphilosophie und die sachlichen Probleme
der Akademie gibt, wie wir sie bei den Hauptvertretern vorfinden, und
zwischen persönlichen Äußerungen des Aristoteles einen Zusammenhang
annehmen und aus ihm jenes „Mißverständnis" der platonischen Motive
verstehen wollen, das im Grunde nur ein Weitergehen echter wissen-
schaftlicher philosophischer Arbeit ist, und keinen Tadel für den einen
oder den anderen bedeutet.
Aus dem Protreptikos des Aristoteles, einer philosophischen Mahnrede
zur Philosophie, die eine große Wirkung durch das ganze Altertum
getan hat, von Krates dem Kyniker an über Cicero mittelbar bis zu
Augustin, kann man zwei Gedanken herauslesen; vielleicht ist ihr ur-
sprünglicher Sinn auch für uns durch ihre Überlieferung leise ver-
ändert. Die Philosophie ist reine Theoria, Betrachtung, reine cpgövr/oic,
der Philosoph ist ein Zuschauer der Welt. Er sucht also, platonisch
gesprochen, aus der „Höhle" der Welt herauszutreten — das soll auch
der platonische Philosoph, aber dieser muß wieder zurück in die
Höhle, der früharistotelische aber bleibt unbewegt in reiner Schau,
wie die Zuschauer beim olympischen Festspiel. Der Philosoph also,
dies ist der zweite Gedanke, soll diesem Leben sterben, um zu
einem höheren zu erwachen. Die Stimmung des platonischen Phaidon,
an den der Dialog „Eudemos" ausdrücklich anknüpft, wird in diesem
aristotelischen Werke festgehalten, die Unsterblichkeit der Seele
wird verstanden als ein dauerndes Hinausblicken über die qualvolle
unerträgliche Existenz der eingekörperten gefangenen Seele. Die Seele
fühlt sich in ihrer Fesselung wie die Gefangenen etruskischer See-
räuber; diese wurden Angesicht zu Angesicht an Leichen gebunden
und mußten in dieser Verkettung mit der Verwesung dahinschmachten.
Diese grauenhafte Ubersteigerung und Isolierung der platonischen
Motive ist, wie Jaeger S. 99 — 102 hervorhebt, der Ausdruck eines
neuen ethischen Lebensgefühls und einer neuen religiösen Überzeugung.
Hier wurzelt aber auch eine neue Auffassung des Seins, insofern jede
Stellung zum Sein auf der Art beruht, in der ein Mensch sich in der Welt,
ihren Möglichkeiten und Wirklichkeiten gegenüber betätigt, fühlt und
weiß. Hier wurzelt mit einem Wort ein metaphysisch-religiös begründeter
Dualismus, eine Abtrennung und Losreißung der transzendenten Welt
von der irdischen, ein Chorismos, der den platonischen weit übertrifft, und
der früher oder später einen Ausgleich brauchte und, wie wir grade am ent-
wickelten Begriff der Theoria zeigen werden, gefunden hat. Die Entwick-
lung vom Religiösen zum Metaphysischen, die wir oben S. 93,28 ff. allgemein
bezeichneten, kann auch in dem Leben eines Individuums zur „Wissen-
schaft", ja, zur realistischen These vom Seinsvorrang der konkreten in
Form und Stoff zusammengesetzten Substanz führen. Die Intensität
jenes Lebensgefühls bedeutet — man lasse sich nicht durch den Schein
täuschen — eine ungemeine Nähe zur Realität schlechthin, die viel-
156
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
leicht zunächst sich staute und noch nicht ihre eigentümliche Auswir-
kung fand. Ein Individuum, das so empfindet, weiß sich allein vor dem
Sein, es wird nicht getragen von dem Medium, das wir für die platonische
Idee des Guten oben, S. 114, entwickelten. Das Gute, das bei Piaton
gleichsam sichtbar aufleuchtet als ein lichterfüllter Raum über die Ein-
zelnen bin, wird für ein solches, zu ganz anderer Abstraktion fähiges
Bewußtsein „unräumlicher", geistiger sein; die Dinge dieser Welt, wenn
erst der philosophische Blick sich ihnen zuwenden wird, werden schärfer
im Umriß, in eigener Kontur und eigener Farbe jedes für sich dastehen.
Aristoteles trat in die Akademie ein, als Piaton in der Theaitetos-
episode sowohl die Abgewandtheit von der „dem Bösen44 zugänglichen
Welt wie die Theorie der reinen Wissenschaft stark zum Ausdruck
brachte. Wir glaubten allerdings, oben S. 139,37, die eigentliche Haupt-
absicht dieses Dialoges in der theoretisch wissenschaftlichen Richtung
suchen zu müssen, und auch der Ton jener Theaitetosepisode und des
Protreptikos stechen an sich weit genug voneinander ab. Immerhin
kommen diejenigen Töne, die wir durch den Resonator der aristotelischen
Frühschriften verstärkt hören, auch sonst in den späteren Dialogen zum
Ausdruck. Die Erweiterung des Feldes wissenschaftlicher Forschung
und die Umänderung der Seinsauffassung in einem Sinne, der diesem
wissenschaftlichen Interesse Rechnung trug, findet einen Ausgleich und
eine stimmungsmäßige Ergänzung in der Resignation, mit der im Timaios
(51c) die reine Erkenntniskraft, der iVus, nur Gott zuerkannt wird, den
Menschen aber nur ein „kleines Stück44. Auch im Timaios wendet sich das
doppelte, zugleich wissenschaftliche und religiöse Interesse Piatons
zu den Gebilden, die sinnlich-wahrnehmbar und doch mit dem Gött-
lichsten verwandt, ja selber göttliche Wesen, aus göttlicher Kraft be-
wegt schienen, zu den Gestirnen und ihren Umläufen. In ihnen war
auch für Piaton eine metaphysische Wesenheit von besonderem Sein
wirksam anzutreffen ; Piaton nannte sie Seele. Die Weltseele, die Gestirn-
seelen und diejenigen Seelen, denen die Einkörperung in menschliche
Leiber bestimmt ist, gingen für Piaton in einer einheitlichen Seelenkraft
zusammen, deren Wesen zunächst darin besteht, sich selbst und anderes
zu bewegen, sich einfügend in alles Tun und Leiden (cf. S. 142,7). Das
vollendet Seiende (navrthoc 8 ) des Sophistes 248 e hat teil an Seele
und Bewegung; man wird daran denken müssen, daß neben der onto-
logisch-erkenntnistheoretischen Seite, die wir oben aus dem Zusammen-
hange des Sophistes heraus betonen mußten, diese astro-metaphysische
Bedeutung des Seienden mitgedacht war. Piaton redet im 10. Buch der
Gesetze, wo er am deutlichsten die Ausführungen ergänzt und erweitert,
die der Phaidrosmythos über die Seele als Quelle der Bewegung enthält,
vom Wesen der Gestirnseelen und betont auffällig stark den wirklich
psychischen Charakter dieser Seelen. Die Definition der Seele ist: erstes
Werden und Bewegung und Ursache von Gegenwärtigem, Vergangenem
D
ARISTOTELES
157
und Zukünftigem und von allem diesem Entgegengesetzten zu sein
(896 a). Ihre Kraft äußert sich als Wollen, Suchen, Sich Sorgen, Sich
Beraten, Richtig oder Falsch Meinen, unter Freude, Trauer, Mut und
Furcht, Haß und Liebe (896 e).
Die Übertragung einer solchen Seelenvorstellung auf die Bewegung
der Gestirne, wie sie Aristoteles nach Piatons Vorgang unbedingt an-
nimmt und weiter ausführt, darf nicht primär als eine „Einfühlung"
persönlich -individuellen Innenlebens in die Sternenbewegungen aufge-
faßt werden. Umgekehrt liegt hier vielmehr eine „Kosmisierung" —
Kosmos als Ordnung gefaßt (Timaios 90 c) — vor : wer geübt ist im Denken
der Wahrheit, wird in der Erfassung dieses Göttlichen und Unvergäng-
lichen die Bewegung der eigenen Seele an der Unsterblichkeit teilnehmen
lassen, denn dem Göttlichen in uns verwandte Bewegungen sind die
„Denkakte66, diavorfieic, und die Umschwünge am Himmel. Jeder muß
mit diesen mitgehend die im Umkreise des Werdens verdorbenen Um-
läufe (jveoiodtnK) im Kopfe richtig machen (tlSioQ&ovv) und dadurch, daß
er die Harmonien und Umschwünge des Alls begreift (xarafiav^< veiv),
das Begreifende dem Begriffenen ähnlich machen gemäß der ursprüng-
lichen Natur (xarä rijv äo%vtCixv ywatv); wenn er sie aber angeglichen hat
(6fioid)(savT((), „dann hat er das Ziel (Telos) erreicht des den Menschen
von den Göttern als Aufgabe gestellten besten Lebens für jetzt und für
die spätere Zeit66 (Timaios 90 d). Derselbe Gedanke liegt der Stelle der
Gesetze zugrunde, die oben S. 108 bereits zitiert wurde (XII, 966 de):
die stärksten Antriebe des Götterglaubens sind das ewigfließende Sein
der Seele und der Lauf der Gestirne, und alles andere, das der alles
durchwaltende Geist (vovq in izuv di(txoa^riaac), nicht eine mechanisch
naturgesetzliche Kraft, in seiner Gewalt hat. Was wir oben S. 145,30 als
das ontologische Gleichgewicht zwischen Erkenntnis und Seiendem
bezeichnet haben, tritt uns hier in der Aufnahme der Welt in die Seele
und in der Ausweitung der Seele bis an die Grenzen des Denkbaren sinn-
fällig entgegen.
Bei Aristoteles gewinnt das Pathos des Timaios und der Gesetze, auch
der Epinomis — ich lasse dahingestellt, wie weit deren Gedanken echt
platonisch sind oder auf Philippos von Opus zurückgehen — eine besondere
Gefühlsbetonung, das Pathos, das in der „Theoria" der Gestirne die
drei Motive: sinnliches Schauen des Glanzes und der Schönheit des
Himmels (Tim. 47a), theoretisches Wissen um die zahlenmäßige exakte
Ordnung der Gestirnbahnen und das religiöse Gefühl der Abhängigkeit
von den dort rein verkörperten göttlichen Mächten als Einheit erlebt
und das aus dieser Einheit ein besonders lebhaftes Gefühl der kon-
kreten Energeia in jedem erlebten Augenblick gewinnt. Das zeigen
die Dialoge deutlich genug. Jaeger, S. 161 ff., weist überzeugend und
eindrucksvoll im einzelnen nach, wie überhaupt hier erst ein neues
eigentlich religiöses Erlebnis sich seinen Ausdruck sucht, ein Er-
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
lebnis, das es vorher in dieser so gefühlten Nähe zu seinem Gegenstand
nicht gab. Für unsere nächste Aufgabe kommt es darauf an zu erkennen,
wie aus dem bis ins Innerste gefühlsgeladenen Gotteserlebnis des Aristo-
teles sich eine wissenschaftliche metaphysische Konzeption des
ersten Bewegers entwickeln konnte, welche platonischen Ansätze hier
aufgenommen und in welche wissenschaftliche Form sie gebracht wurden.
Denn auf dieser Idee des unbewegten Bewegers beruht — mindestens in
der ersten Periode — die Metaphysik des Aristoteles.
Seitdem Jaeger durch den Nachweis der allmählichen Entstehung des Meta-
physikwerkes auch die Entwicklung der in ihm niedergelegten philosophischen
Anschauungen zum Problem gemacht hat, muß eine auf die Gesamtanschauung
eines Sachbereiches — hier den metaphysischen Hintergrund der Seinslehre im
Nus-Begriff — gerichtete Darstellung sich vor einer unechten Harmonisierung hüten.
Die größte Sicherheit schien mir, ein zusammenhängendes Stück, das Buch yl —
mit Ausnahme von Kapitel 8 — zugrunde zu legen, und Parallelen nur so weit
heranzuziehen, als sie durch Klärung des in A gegebenen Zusammenhanges sich als
Bestandteile einer einheitlichen Gedankenfügung ausweisen, Die Zurückdrängung
der Ergänzungen aus den andern Büchern und Werken durch kleinen Druck dient
dieser Interpretationabsicht und besagt nicht, daß die dort behanuelten Dinge
sachlich unwichtiger wären als der Haupttext.
b) Der platonische und der aristotelische Gottesbegriff.
Bewegung und Unbewegtes.
Der Hauptsatz der aristotelischen Wissenschaftslehre, der die 2. Analy-
tiken eröffnet, lautet : Jede Belehrung und jedes begriffliche Lernen ent-
springt aus einer vorhergehenden Einsicht (näaa didaoxaXia xal näaa
diavoTjTtyJj ^lä&ijaig ix 7tQov7taQ%ovarjg yi'verai ypwaeojg). Diese „vorgängige44
Einsicht bezieht sich erstens darauf, daß überhaupt etwas ist, und zweitens
muß man wissen, was das Gemeinte bedeutet; also ein Sein, und der Sinn
dieses Seins muß als Anfang vorausgesetzt werden, ein ov und seine otiat'a,
die man mit ihm meint. Im Kapitel 33 bezeichnet Aristoteles den Nus
als die Arche, den Anfang und das Prinzip jedes Wissens; also muß der
Nus auch mit diesem doppelten „Vorerkennen44 etwas zu tun haben. In
der Tat bezeichnet Aristoteles ein vor aller verknüpfenden Denktätigkeit
vorausgehendes Erfassen der Dinge, der ngayfiara, entweder mit tiiyeiv,
Otyyäveiv, „erfassen, berühren44 (ov) oder yavai „ansprechen als44 (otiatav);
cpävai unterschieden von Bejahung xaräcpaaic und Verneinung, änocpaoig;
diese beruhen auf der Trennung und Verbindung, diaigeaig und avfinXox^ ;
die einfachen Gegenstände aber, die ädiaioexa und äavvüeza werden
gedacht oder nicht gedacht. Zu ihnen gehört das, „was man nicht be-
weisen kann und nicht zu beweisen braucht, was sich nicht anders
verhalten kann44 (2. Analytiken, Schluß; Metaph. E 4 und 0 10; dazu
Jaeger 212).
Durch das voelv in diesem Sinne ist alle wissenschaftliche Erkenntnis
mit derjenigen Sphäre verknüpft, in die wir nun eintreten. Das Sein
D
ARISTOTELES
15?
und das Seiende wird von Aristoteles in der Einleitung zu seiner Theo-
logie (A 1) in die zwei großen Klassen des sinnlichen bewegten und des
unsinnlichen unbewegten Seins eingeteilt; die sinnliche in Vergängliches
und Ewiges (die Gestirne) ; ob das unsinnliche Unbewegte in zwei Klassen
sich teile, das Mathematische und das Ideenmäßige, diese Frage ist
für Aristoteles sehr bald aufgetaucht. Dasjenige Sein, dem er das Wesen
eines unsinnlichen Seins zuwies, ist in jedem Falle die Grundlage der
einen großen Teil seines metaphysischen Werkes füllenden Kritik anderer
Lehren, auch der „sogenannten Ideen- und Zahlenlehre". An ihm mißt
10 er den Wahrheitsgrad aller bisher aufgestellten Seinstheorien.
Wir werden dieses Sein, diese oixsCa des Aristoteles, ausdrücklich den-
jenigen Ausführungen Piatons gegenüberstellen, die am ehesten dem
allgemeinen Seinsbegriff des Aristoteles vergleichbar sind und zweifellos
auch zu seiner Entwicklung wesentliches beigetragen haben; wenn wirk-
lich der oberste Seinsbegriff des Aristoteles, der unbewegte Beweger,
wie Jaeger, S. 144, sagt, „dem Geist nach ein platonischer Gedanke"
ist, dann müssen wir, um ihn zu erfassen, ihn an diejenigen Stellen des
platonischen Denkens halten, die ihm am nächsten zu stehen scheinen.
Jaeger hat eine solche Stelle bezeichnet. Piaton erwägt in den Gesetzen
20 (X 898 d 8) drei Möglichkeiten, wie das Einwirken der bewegenden Seelen
auf die bewegten Gestirne zu denken ist. Für keine entscheidet sich
Piaton. Wohnt die Seele dem sichtbaren Leibe des Gestirns inne wie
unsere Seele in unserem Leibe, ihn ganz durchdringend, oder stößt sie
zweitens von außen mit Gewalt Leib mit Leib an, indem sie sich selbst
noch einen Leib aus Feuer oder „einer Art Luft", wie einige sagen, ver-
schafft hat, oder ist sie drittens selbst frei von Körper, und führt den
Stern im Besitze anderer über die Maßen erstaunlicher Kräfte und lenkt
so den Stern ?
Jaeger hält die erste Theorie für die Piatons, die zweite für die derjenigen, die die
30 Sphären grob materiell auffassen. Man könnte an die Dilemmata des Phaisdrosmythos
denken, in dem die Seele einen anderen, dem yt\ivov gw/licc gegenübergestellten Körper hat
und damit die Theorie der ätherischen Körper bereits einwirken sehen. Die dritte Auf-
fassung hält Jaeger für den Ursprung des unbewegten Bewegers: die wunderbaren
Kräfte, von denen Piaton spricht, denkt man sich ähnlich der Sehnsucht der Sinnen-
dinge nach der Idee und der aristotelischen og€%is.
Daß hier ein Ansatz zur aristotelischen Gottesvorstellung vorliegt,
ist sicher; nur muß man statt an die Seelen der Gestirne zu denken, sich
die umfassendere, das ganze All umschließende Sphäre denken, aus deren
Ganzheitsbegriff sich für Aristoteles nun allerdings entscheidende Ver-
40 änderungen ergeben. Die wichtigste ist der ausdrückliche Verzicht auf die
Vorstellung einer Weltseele in diesem ersten Himmel, dieser umfassenden
Sphäre (vgl. Stenzel, Üb. zwei Begr. d. plat. Mystik. Progr. Breslau 1916).
Aristoteles verspottet diese Konzeption geradezu in den Büchern vom
Himmel in einem Vergleich mit dem aufs Rad geflochtenen Ixion.
160
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Wir wenden uns daher jetzt zu den Vorstellungen Piatons von einem
ganzen objektiven Seienden, das nicht als Seele bezeichnet wird; zu
dem vollendeten Sein des Sophistes, dem Vorbild des Schöpfungs-
prozesses im Timaios, dem rot/rdc xöa^oa, der ja zugleich ein vmfibv £>&ov
ist, drittens zu dem absoluten Eins des „Parmenides44, das für menschliche
Anschauung unfaßbar sich in ein Nichts auflöste, aber doch zu dem an
zweiter Stelle genannten Gebilde Beziehungen zu haben schien (vgl.
o. S. 147). Wir brauchen zunächst von der höchsten otiai'a des Aristoteles
nur zu wissen, daß Aristoteles jedenfalls das platonische Bewegungs-
prinzip, die uoyj'i xiptfttwc oder nuibrr} ytvtaic, als selbst unbewegt auffaßte
und es mit dem Nus und Leben in Beziehung setzte. Das vollendete
Sein des Sophistes war nun gerade von der Erstarrung erlöst worden;
es sollte nicht wie ein Götterbild dastehen, sondern es sollte alles das
haben, was dem ihm zugewandten erkennenden Bewußtsein eignet:
Leben, Bewegung, Seele, Vernunft und Besinnung. Aristoteles streicht
wieder einen Teil — wohlgemerkt nicht etwa alle Bestimmungen, die
dieses Sein gegen das „eleatisch starre" abgehoben hatten; wie bei der
unmittelbar kosmischen Auffassung die Weltseele von Aristoteles be-
stritten wurde, so wird auch hier deutlich, daß mit der Bewegung zu-
gleich das Seelische, auf das Piaton gerade Wert legte, fernzuhalten ist;
es bleibt die wichtige Übereinstimmung, daß dem unbewegten Beweger
trotzdem Leben und Nus zugesprochen wird.
^ arum nimmt Piaton mehr Bestimmungen an ? Warum sollte sich
das Seiende beseelt bewegen ? Wir brauchen nur an den Sinn dieser Be-
wegung uns zu erinnern, an die Bewegung der Ideen, die zunächst eine
innerhalb der Seinsregion sich abspielende „dialektische44 Bewegung
war; durch diese geriet das vollendete Sein in das Dynamisverhält-
nis zum immer diskursiven Verstände in der einzelnen menschlichen
Seele und mußte nun sich diesem angleichen — auch das Vorbild muß
ähnlich sein, damit es als Vorbild nachgeahmt werden kann. Ähnlichkeit
war ja das treibende Motiv geworden, mit Hilfe des exakt mathematischen
Verhältnis- (Logos-) Begriffes bis ins feinste durchgearbeitet (Speusippos).
Dieses Vorbild stand aber in dem platonischen Weltschöpfungs-
gedanken auch vor Gott als Muster, auf das hinblickend er die Welt
schuf. Wir mußten oben die Frage aufwerfen, in welchem Grade der Ent-
faltung dieses Vorbild im Denken Gottes angenommen werden solle,
und wir sahen Piaton in ein Dilemma geraten zwischen der „Zeitlosigkeit44
des göttlichen Seins und Denkens und den der menschlich irdischen End-
lichkeit entsprechenden Anschauungsformen, in die hinein Gott das für
seinen göttlichen Geist erkennbare Sein bilden muß — er schafft die Zeit,
er bildet das Sein in sie und in den Raum, die xwya hinein, damit es für
uns überhaupt erkennbar und darstellbar wird. Deshalb „träumen wir44,
zu voller göttlicher Wachheit und Geisteskraft nie erwachend, es müßte
„alles schlaflose44 Seiende an einem Orte sein (Tim. 52 äff.).
D
ARISTOTELES
161
Es sind aber drei Wesenheiten nötig: das eigentliche Sein der Vor-
bilder, die ihm nachstrebende Sphäre der Erscheinungen und das, worin
diese Erscheinungen abgebildet sind, der sie aufnehmende Raum. In
einem doppelten Sinne sind nun die Dinge der Wirklichkeit als abhängig
von etwas anderem aufzufassen : als Abbilder von dem vorbildlichen Sein
und als Abbilder in dem Räume. Daher müssen wir zweierlei hinter den
Dingen vermuten: erstens die Urbilder, als die sie uns erscheinen, und
zweitens die ihnen spezifisch zugeordnete Raumform, die die uns
nur im Zusammenhang dieser Dinge vorstellig wird. Dabei können wir
10 diese Trennung nur traumhaft vollziehen, insofern wir uns als endliche,
an Raum und Zeit gebundene Menschen weder die Dinge an sich anders
denn als räumlich-zeitlich verwirklicht, die Erscheinung nicht anders
denn als sinnbestimmt, d. h. als Erscheinung von etwas anderem, denken
können, und auch den Raum nicht anders denn als gestaltet und geordnet
vorzustellen vermögen, als Gegenstand jener mittleren Wissenschaft der
Mathematik, auf die der „unechte Verstandesgebrauch44 hinweist. Infolge
dieser engen Beziehung der drei Reiche, des reinen Seins, des Raumes
und der Erscheinungen, können wir nicht einmal genau sagen, ob die
Erscheinungen und der Raum, den sie gestalten, ein oder zwei Dinge sind,
20 eines im anderen. Gott, der die unbewegte Welt bewegt, d. h. sie räum-
lich, für uns Menschen erkennbar macht — in welchem Verhältnis steht
er eigentlich zu dem Unbewegten, auf das er hinblickt ?
Spätere religiöse Spekulation setzte hier weiterbildend an: als eine Gottesvor-
stellung wirksam wurde, zu der gehörte, daß Gott aus Nichts die Welt erschafft, da
ließ man ihn erst die unbewegte urbildliche Welt schaffen, dann die zeiträumliche ver-
wirklichen; und Philon konnte so den doppelten Schöpfungsbericht der Genesis und
den platonischen Timaios auseinander deuten, de opificio mundi.
Aristoteles sucht die Schwierigkeiten, die sich aus der Trennung des
unbewegten Urbildes und des Bewegergottes ergeben, anders zu lösen —
0 vielleicht lag hier für ihn der größte, schwerste und für alles andere ent-
scheidende ontologische Chorismos und die ihm wichtigste Möglichkeit
und dringendste Notwendigkeit seiner Uberwindung! Vielleicht ist hier
das Urphänomen seiner auf alle ontologischen Probleme ausstrahlenden
metaphysischen Grundhaltung faßbar.
c) Dy namis und E nergeia.
Wir wollen nun zunächst die Hauptstelle der Theologie A 6, 7 näher
betrachten, aber vorher die aus Piaton für die Interpretation gewonnenen
Gesichtspunkte noch einmal kurz zusammenstellen: erstens die sich
selbst bewegende „erste Bewegung44, im besonderen der immanenten Ge-
stirnseele, übertragen auf das Ganze der Welt, zweitens das vollendete
0 belebte Seiende des ,,Sophistes44, drittens der ro^roc xörtfiög als das Vor-
bild und Ziel der schöpferischen Bewegung, anders ausgedrückt viertens
das aus dieser zeiträumlichen Bewegung herausgehobene und daher für
II and b. d. Phil. I. Ol!
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
menschliches Vorstellen zum Nichts werdende Eins an sich des „Par-
menides". Soweit die bereits entwickelten Anknüpfungsmöglichkeiten in
der platonischen Spätphilosophie — auf anderes aus der platonischen
Frühzeit wird uns die Interpretation selbst führen. Zunächst muß der
Inhalt der ersten fünf Kapitel des Buches A in seiner wesentlichen Ab-
sicht zusammengefaßt werden.
Aristoteles knüpft an die zwei Theoreme des platonischen Sophistes
vom Nichtseienden als dem Anderen und vom Sein als der dvvafuc, der
Kraft und Möglichkeit des Erleidens und Tuns, an, indem er beide unter
Weiterführung der in ihnen angelegten philosophischen Motive aufs
engste miteinander verbindet. Wie Piaton und die gesamte griechische
Philosophie um die gegenseitige Klärung des BegrifFspaares Sein und Be-
wegung fundamental bemüht, fragt er: wie kann aus einer Seinsbestimmt-
heit eine andere hervorgehen ? Die erste ist sicher nicht seiend in Bezug
auf die Bestimmtheit der zweiten, also entsteht zwar alles Seiende aus
einem qualifizierten Nichtseienden; dieses Nichtseiende ist aber nie
unabhängig von dem zweiten Seienden, auf das es sich hinbewegt, zu
denken, sondern das Nichtseiende, aus dem ein Seiendes entstehen kann,
hat bereits eine Richtung auf etwas, es ist eingegrenzt in seinen Möglich-
keiten durch seine spätere Wirklichkeit. Holz kann zu Kohle, zu Asche
verbrannt, zu Figuren geschnitzt werden, kann quellen, faulen, ver-
trocknen, aber jedes Eidos ist zugleich bestimmt durch alles das, was es
nicht werden kann, z. B. das des Holzes durch die Fähigkeit, dies alles
zu tun und zu erleiden und anderes nicht zu tun und zu erleiden. In
solchen Grenzen spielt sich alles Werden ab. Diese Grenzen sind bestimm-
bar und erfaßbar nur durch den Wirkungs- und Wirklichkeitszusammen-
hang der ganzen, erfüllten Welt, des ganzen Seins, mag dieses Wirken
durch rfyvi] „in einem anderen" oder durch yvcuc „in dem (jeweiligen
Stück Wirklichkeit) selbst44 sich vollziehen, 1070 a, b; für den, der das
Wesen des Holzes erfassen soll, müssen alle seine Möglichkeiten einmal
wirklich geworden sein, er muß sie erfahren haben. Jener gleichmäßige
Apriorismus des platonischen Denkens, den wir oben S. 98, 119 feststellen
konnten, bleibt trotzdem wirksam. Für den, der dem Ganzen des Seins
sich gegenüber weiß und die Verpflichtung zu unverdrossenem uner-
schöpflichem „Sehen" und Staunen dauernd festhält, ordnet sich schlecht-
hin jedes Geschehen auf gewisse Gesetzlichkeiten hin: auch die Erkennt-
nis, daß Holz nicht rostet, sondern verfault, erscheint aus dem Wesen,
aus dem Eidos des Holzes einsichtig; man würde sich wundern, wenn es
anders wäre; man erlebt auch hier Notwendigkeiten, die aus dem „Sehen44
des Seienden genau so sich ergeben wie im mathematischen Felde. Hier
wurzelt das spezifische aristotelische Gotteserlebnis:
4> tronoiöc adrov xal ÖWwvq- <Lie «^tstiftende und schöpferische
' „, . >, * Kraft (dvi'a/Litsl) Gottes ist von allem
yr^ övvaiiig ndvrav r&v ^ optcov Seienden der Grund, daß es sich so ver.
ah Ca iarl tov tyeiv &OTt€Q fyei- halte, wie es sich verhält.
D
ARISTOTELES
163
So drückt der antike Kommentar zur Metaphysik (Pseudo-Alexander
564, 20 Hayduck) diese religiöse Überzeugung des Aristoteles aus.
Damit tritt der aristotelische Gottes- und Demiurgenbegriff in einen
deutlichen Gegensatz zum platonischen. Daß die Welt in der Zeit ist
und demnach in sie eingetreten ist, diese Frage bewegte den platonischen
Timaios. Aber dadurch, daß Piaton den votjtöc xöa^ioc^ die „eidetische"
Mannigfaltigkeit des Seins, der Schöpfung präexistieren ließ — der
Schöpfer blickt auf den vrjibc xfafioc hin — war für Aristoteles ein
Dilemma schwerster Art aufgetan. Entweder war der vorjToc ada/iwc,
10 das intelligible Urbild der Schöpfung, wirklich schon gegliederte Mannig-
faltigkeit, also Entfaltung; dann enthielt er bereits zeiträumliche Prin-
zipien — wenn nicht die ganze Deduktion des „Parmenides" hinfällig sein
sollte, die die Mannigfaltigkeit des Seins mit dem yaCverai in innerer
Verknüpfung aufgewiesen hatte. Dann war die Schöpfung vorweg-
genommen und damit die Welt in einem unnötigen Chorismos verdoppelt
und der ganze Paralogismus des Zeitbegriffes heraufbeschworen. Oder der
Geist Gottes, der das Urbild denkt, war wirklich das Eine; und dann war
er ein „Nichts", und der Ubergang von diesem Nichtseienden zum
Seienden war unvorstellbar, wie wir eben gesehen haben. Aristoteles sah,
20 daß die Lösung nicht durch die einfache Entscheidung für eines der beiden
Glieder der Alternative, sondern nur durch eine Umbildung der Glieder
erreicht werden konnte, und diese Umbildung schien ihm durch eine
Reihe anderer platonischer Motive möglich. Zwangsläufig stellte sich nun
die Unterscheidung von Dynamis und Energeia ein, und da die £v£oyeia,
das verwirklichte Sein, zur Bestimmung der övra/uic nötig ist und ihr
demnach wesensmäßig vorhergeht, qiyasi tvqötsqov ist, so muß der Ge-
danke einer Schöpfung als einmaliger Tat aufgegeben werden; es kann
nur dauernde Entfaltung durch Entstehen und Vergehen innerhalb
eines ewigen ungewordenen Seinsganzen gedacht werden. Das
30 eigentlich Schöpferische wird in der Kraft gesehen, die diese ewige Be-
wegung trägt, richtet und unermattet festhält. Die Dynamisierung, auf
die Piatons Seinsidee angelegt war, tritt nun in das volle theoretische
Bewußtsein; nur aus diesem geschichtlichen Zusammenhange ist der
eigentliche spezifische Sinn der aristotelischen Formulierungen zu ver-
stehen.
Eine ausgezeichnete Eigentümlichkeit der platonischen Seinsidee be-
gegnet uns sofort bei dem aristotelischen Begriff der Hyle wieder, nun in
theoretischer Bewußtheit in strengem Zusammenhange mit dem oben
über das Nichtseiende Entwickelten. Die im Phaidon gelegentlich schlicht
40 ausgedrückte Meinung, daß in den Dingen ein Hang, ein Streben zur
Verwirklichung der in ihnen angelegten Möglichkeit liege, wird zur Grund-
lage der aristotelischen Hy/evorstellung. Wäre die Hyle nicht bereits an-
gelegt auf die Differenzierung zur Mannigfaltigkeit, zum zööe zt, dem
„Dies" und Nicht- Jenes, so wäre die Mannigfaltigkeit der Welt nicht
D 11*
104
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
erklärbar. Denn vom einigen Geist allein kann sie nicht kommen; der
würde alles zu Einem machen. Wäre auch die Hyle eine, so würde das,
was die Hyle wäre, auch die entfaltete Wirklichkeit sein (s/2. 1069b 30/31).
Die problemgeschichtliche Anknüpfung an das o/nov nävia des Anaxagoras und den
sondernden Geist ist sehr begreiflicherweise in diesen Kapiteln wiederholt festzustellen
(cf. oben S. 731V.); also die „Vorgeformtheit" der Hyle (vgl. dazu Zahl u. Gestalt 141 ff.).
Weil bei aller Veränderung ein etwas sich unter der Einwirkung von
etwas in etwas verwandelt, so muß die letzte Hyle und das letzte Eidos
außerhalb des Werdens bleiben (1069b 35, 36).
Die Hyle ist bereits ein „Dies" dadurch, „daß sie erscheint" (1070a 10); die Schwie-
rigkeiten, den Sinn dieser Worte genau zu erfassen, die Ross zur Stelle (S. 356) anführt,
beruhen auf dem von Piaton im Timaios (s. S. 148, 160) genau entwickelten Sachverhalt :
die Hyle ist die Bedingung des Erscheinens, aber alles Erscheinende erscheint bereits
als „Dies da"; es entwickelt sich auf das Eidos hin, ist also dvvd/zei bereits dies. Denn
umgekehrt ist auch das Eidos schon „irgendwo" und „irgendwann". Piaton bedauert,
dies feststellen zu müssen, da er in dem Bestreben, dem Nus noch ein „kleines Stück"
reiner Erkenntnis (Tim. 51 e) zu retten, die Ideenlehre festhält. Aristoteles zieht rück-
sichtlos die Konsequenz aus dem auch von Piaton zugegebenen Sachverhalt der End-
lichkeit unserer Erkenntnis; er macht Ernst damit, daß das Eidos wie alles Seiende
immer „irgendwo und irgendwann" gedacht werden will, und verbindet dessen Sein
ein- für allemal mit der Hyle; begrifflich kann man wohl die Hyle und die Form der
wirklichen Dinge trennen, dem Wesen nach aber nicht.
Die dauernde Erwägung der platonischen Theoreme, die vielleicht zu verschiedenen
Zeiten verschiedene Festigkeit der aristotelischen Terminologie, vor allem aber die stete
Gegenwart der oben S.lllff. erwähnten mit der /ptjoig zusammenhängenden Probleme
beleuchtet eine Stelle wie die 1070 a 13:
bei einigen Dingen ist das „dies da" nicht
neben der zusammengesetzten Wesenheit,
wie z. B. beim Hause seine Gestalt, außer
etwa in der Baukunst (denn es gibt kein
Werden und Vergehen bei diesen Dingen,
sondern auf andere Weise sind seiend und
nichtseiend das Haus ohne eine Hyle und
die Gesundheit und alles Künstliche), und
wenn es das sc. eine Trennung von Form
und Hyle) überhaupt gäbe, dann bei den
Naturgegenständen.
Diese Erörterungen sind zu verbinden mit dem im letzten Teil von „Zahl und
Gestalt" gegebenen Nachweis, daß das Atomon Eidos die erste Wesenheit wird, und daß
zwischen dem obersten und untersten Gliede der Diairesis ein wesensmäßiger Zusammen-
hang besteht.
Aristoteles stellt neben die zwei Wesenheiten Stoff und Form grade
hier mit besonderer Betonung diejenige dritte, „unter deren Einwirkung",
i)7ib tivoc, sich diese Formung und Bestimmung vollzieht — das „erste
Bewegende", wie er 1070 a 1 es kurz bezeichnet. Was damit gemeint ist,
geht aus dem 5. Kapitel der Theologie klar hervor.
Die aus Stoff und Form „zusammengesetzte Wesenheit", das einzelne
verwirklichte Eidos, das xatf EmüTov, entsteht immer nur aus der Ein-
wirkung eines ebensolchen Einzelnen.
im [ikr ovv tivwv io rode ti ovx fori nccocc jrtv
Gvv&€Ti]v ovoiav, olov olxi'ccg id tldog, e* fiij
rj Tt%vri (ovo*1 ton yivBOig xccl q&oocc rovrior,
cckk' cckkor TQonov flol xccl ovx elolv olxicc
ts i] ccvev vlrjg xal vyieta xccl nccv io xcctcc
Tt%i'7]r), dkV slneo, im twv cpvoei 1
D
ARISTOTELES
165
1071a 20:
Anfang («QX1}) der einzelnen Dinge ist das Einzelne. Der Mensch im allgemeinen
wäre Anfang des Menschen im allgemeinen, aber es gibt keinen, sondern Peleus ist der
Anfang des Achilleus, deiner ist dein Vater usw. Man könnte ein platonisches Beispiel
hierfür einsetzen: die Herrschaft an sich wäre Herrschaft über die Unterworfenheit an
sich — ,,aber es gibt keine Herrschaft an sich". Dieser bestimmte Herr ist Herr
dieses bestimmten Sklaven.
Die Aporie des „Parmenides", daß die Herrschaft an sich und die Sklavenschaft
an sich radikal abgeschnitten sei von einem konkreten Herren- Sklavenverhältnis (s. o.
10 S. 130,3.;) wirkt also in unverminderter Stärke hier fort — wenn diese Aporie nicht in jenem
platonischen Dialoge bereits durch Theoreme aristotelischer Prägung ausgelöst worden
ist. Aristoteles gibt dem im Sachverhalt der /o^c, des tätigen Umgangs, angelegten
Problemzusammenhang die volle prinzipielle Schärfe: alles Handeln und Geschehen,
allgemeiner, jede Bewegung im eigentlichen Sinne kann nur in einem konkret-be-
stimmten Zusammenhange vor sich gehen, setzt aber andrerseits die sinnhafte Bestimmt-
heit der Bewegung voraus. Alles Seiende ist nie bloßer Stoff, sondern geformt durch
das Eidos; und zwischen diesen beiden Seiten des Problems: der notwendigen Kon-
kretion der Bewegung und der Idealität, der .Eicfosbezogenheit alles Seienden, muß
grade ein wesensmäßiger Zusammenhang begriffen werden.
20 Als wir oben S. 146,31 jenen Übergang des Atomon Eidos ins Konkrete, Anschaulich-
sich- Gebende aus platonischen Motiven begreiflich zu machen versuchten, verwiesen
wir nachdrücklich auf die im diairetischen Verfahren vorausgesetzte Ganzheitsfunktion
des obersten einen umfassenden Seins. Wir hoben ferner (S.149,.n) hervor, daß die schein-
bare Dürre der platonischen Prinzipien der Einheit und unbestimmten Zweiheit nur
verständlich wird aus der in allen diesen Theorien vorausgesetzten Gegebenheit der
gesamten gegliederten Seinsfülle, in der die natürlichen „Fugen" aufzusuchen sind. In
„Zahl und Gestalt" ist ausführlich bewiesen, daß Aristoteles aus diesen platonischen
Überlegungen eine radikale Konsequenz zieht und auch auf jeden Schein einer Deduktion
— den die platonische Gedankenordnung nicht vermied — dieser gesamten Seins-
30 Ordnung aus den Prinzipien verzichtet; diese Konsequenz, beruhend auf einer schärferen
Erfassung der wissenschaftlichen Deduktion und des wissenschaftlichen Beweises über-
haupt, führte zu dem oben entwickelten HyZebegriff, und sie spricht sich aus in der
bewußten Ablehnung der bei der platonischen Anordnung der Gedanken notwendigen
Unterordnung alles Seienden unter die Oberbegriffe des Einen und Seienden; war doch
sichtlich bereits von Piaton eine Subsumption unter einen Begriff ganz besonderer Art
gemeint, die grade ein logisch-syllogistisch stark differenziertes Denken wie das des
Aristoteles zu neuen Ansätzen weitertreiben mußte.
So lehnt denn Aristoteles (Met. H 6 1045 b 2) ganz ausdrücklich es ab, das ev und
oV als „Wasbestimmung" zum Begriff des wirklichen Etwas hinzuzufügen, und auch
40 hier wird dieser Gedanke ausdrücklich hervorgehoben, daß das ev und das ov keine Ele-
mente des Intelligiblen sein können (1070 b 7), da beide auch dem Zusammengesetzten
in der gleichen Weise zugrunde liegen — eine Feststellung, deren Sinn sich noch mehr
klären wird, wenn wir gezeigt haben werden, in welcher Weise Aristoteles den in jener
platonischen „Subsumption" unter ein umfassendes ev und ov enthaltenen richtigen
Gedanken zur Geltung bringt. Aristoteles überträgt die Ganzheitsfunktion
auf das bewegende Prinzip, jene dritte ovoia, die neben dem ii und elg « das
vno livoq bezeichnet als eine wirkende Kraft, die die övi u.uig zur ivigyeux führt.
Im fünften Kapitel (1071a 15) wird die entscheidende Wendung zum
Einzelnen, zum y.a')' e ctürov, durch folgenden Gedankengang weiter-
50 geführt: Ursache des einzelnen Menschen sind neben den Elementen und
dem ihm eigentümlichen Eidos die bewegenden äußeren Kräfte : der Vater,
daneben die Sonne und die Ekliptik. Die Sonne, die auch für Piaton
166 METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
im Staate der Quell alles Erscheinens und Werdens war, hat den Men-
schen wachsen und groß werden lassen, und diese Einwirkung war modi-
fiziert durch die aus der Sonnenhahn sich ergebenden Unterschiede der
Jahreszeiten usw. Wenn man diese Gedanken weiterdenkt, heißt das also,
daß der gesamte Wirkungszusammenhang des Seins, die Welt in ihrem
vollen, die Natur einschließenden Sinne, jegliches Einzelne in Zeit und
Kaum auf seiner Verwirklichungsstufe bestimmt; denn wie die Sonne
von der Ekliptik, so ist diese wieder von weiteren „Konstellationen"
abhängig. Überlegungen dieser Art haben Piaton und viele seiner Vor-
gänger ebenfalls bestimmt und dazu geführt, dem Himmel, den Sternen
den Rang einer ausgezeichneten ersten Wesenheit zu verleihen. Bei
Aristoteles wird der Gedanke, den wir oben S. 157,5 aus dem Timaios be-
legten, einfacher und nüchterner angesetzt; wir werden noch sehen, daß
an den Höhepunkt der Gottesschilderung sich der Hinweis auf den Sach-
verhalt organischer Zeugung anschließt. Die Einordnung des Menschen
und alles Geschehens in einen gesetzmäßigen Zusammenhang führt not-
wendig zu der Idee einer Totalität des Seins, in der jenes Austauschen der
Kräfte, der Wechsel des Geschehens, der Übergang von der tivvccpic zur
li foyeicc eine Grenze, ein Ende und Ziel findet. Hier mündet eine aus
der Struktur des konkreten Seins schlechthin geforderte Überlegung in
astronomische Gedankengänge eines äußersten Himmels, der das sicht-
bare Bild dieser Ganzheit des Seins in seiner einfachen Kreisbewegung ist.
Die astronomischen Hintergründe des unbewegten Bewegers sind von Jaeger S. 144
in ihrer ganzen Wichtigkeit dargestellt worden. „Philosophische Motive i. Weltbild d,
Aristot." sind aus dem 1. Buche de Caelo entwickelt von B. Stenzel-Mugdan, Neue
Jahrb. 1923 S. lff. H. Scholz hat in „Eros und Caritas" Halle 1929 S. 17 die physikali-
schen Voraussetzungen in axiomatischer Form von dem eigentlichen iVus-Problem los-
gelöst dargestellt. Die im engeren Sinne metaphysischen Motive können durch die
Funktion der Ideen Kants für das Ganze der Erfahrung bezeichnet werden. Vor allem
muß man sich für jede umfassende Deutung des unbewegten Bewegers immer die
kantische Aporie vor Augen halten, daß das Intelligible zugleich das Prinzip eines reinen
Begehrens und der konkret dinglichen Existenz des Wirklichen ist, also „Ding" an sich
und sich frei bestimmendes Bewußtsein aufs engste miteinander verknüpft sind, genau
so wie die Monade Leibnizens grundsätzlich über der Unterscheidung von denkender
und physikalischer Einheit liegend gemeint ist. In ganz vorsichtiger Orientierung an
diesen problemhistorischen Parallelen wollen wir uns der Deutung des unbewegten
Bewegers nähern.
d) Die Notwendigkeit eines Unbewegten.
Aristoteles hatte durch die Unterscheidung von örva^ic und ivfgyeia
ein Sein gefordert, welches jenseits von dieser Gegenüberstellung lag.
Wenn es das Wesen des dvväfisi Seienden ist, daß es ebenso auch „nicht
dies sein kann", so ist es möglich, daß einmal alles dvva^iei Bestehende
sozusagen keinen Gebrauch macht von seinen Möglichkeiten, wenn nicht
durch irgendeine Wesenheit dies verhindert würde; die platonischen
,, Ideen", als die äqexaC. die bestimmten Verwirklichungsmöglichkeiten
D
ARISTOTELES
167
und -ziele wären in der Tat ungenügend, wenn nicht eine Kraft da wäre,
die den Dingen, dem hyletischen Sein, jenes „Begehren" einpflanzte,
von dem Piaton im Phaidon sprach, und das die Idee des Guten ver-
deutlichen sollte (1071b 12 ff.:
Wenn also ein Bewegungs- oder er-
zeugungsfähiges ist ohne sich zu verwirk-
lichen, dann wird keine Bewegung sein.
Denn dasjenige, was nur die Dynamis
hat, kann auch sich nicht verwirklichen.
10 Es hat aiso keinen Nutzen, wenn wir
ewige Wesenheiten annehmen wie die Ver-
treter der Ideenlehre, falls nicht ein Prin-
zip, das verändern kann, ihnen innewohnt.
Aber sicherlich ist auch das noch nicht
ausreichend und auch keine andere Wesen-
heit neben den Ideen. Denn wenn sie nicht
in Verwirklichung ist, wird keine Bewe-
gung sein. Und nicht einmal, wenn sie in
Verwirklichung ist, ihr Wesen aber nur
20 Dynamis ist. Denn das der Dynamis nach
Seiende kann auch nicht sein. Es muß
also die Arche derart sein, daß ihr Wesen
wirkliche Tätigkeit ist.
*Allä [ii)v ei I'üti xivqTixbv ?j
TiocijTixöv, [i7j evegyovv d£ n, odx
i'axai xCvTjaiq ' evö^erai yäg rb dv-
vccfiiv t'xov [ii) ivegyelp. otilhev ägcc
fifeloq ovdi eäv ovaCaq 7ioi7jaM[iev
äidiovc, warreg ol rä el'drj, ei [ii] Tic,
dvvctßfvi] ivtorai äQX^i [lerccßäXleiv •
od toCvvv odd* avrrj txccvrj, ovd* äXXrj
oi)(Si'a nagä %a el'dtj' ei yäg [irj eveg-
yijaei, odx I'gtcci xivtjaig . tri otid* ei
ivegyrjaei, i) ö\daia adrrjc dvvcc[nc •
od yäg earai xtvfjdtg äldioc . evde-
%eTcci yäg to dvvä[iei ov [ir) eivai.
öel äga eivai äg%7)v toiccvtijv i)q r)
ovaCa lv£gyeia.
Aristoteles will nun dieser Kraft eine wesensmäßige Sicherheit geben,
er will sie verankern in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Kein ewiges
Streben, keine sich selbst bewegende göttliche Dynamis scheint ihm aus-
reichend (1071b 37 ff.), sondern nur etwas, das „sich nicht anders ver-
halten kann", o odx evö^erai üXXwc, i'%eiv, um den die ganze Anwen-
dungsweite des aristotelischen iVwsbegriffes bezeichnenden Terminus an-
zuwenden. Dieses Sein muß infolgedessen wesensmäßig wirklich, ivegyeia
im Sinne des notwendigen Da- und Diesseins sein. Daher kann es nicht das-
jenige in sich tragen, was den Unterschied von öiva[iic und ivegyeia
bedingt, die Hyle, das zu Formende (1071b 21); es muß reine evfuyeia,
ewig wirkliche Form sein. Aristoteles diskutiert ausdrücklich die Meinung,
daß die Dynamis vor der Energeia ist, und gibt zu, daß manches für sie
zu sprechen scheine, wobei er Piaton wie in dem ganzen Kapitel im Auge
hat (1071b 33—37, 1072 a 2 — 4). Er gibt zu, man könnte daraus, daß
das dynamisch Seiende noch nicht verwirklicht zu werden braucht,
während umgekehrt jedes eveoyov , jedes wirkende Wirkliche die Mög-
lichkeit zu sein in sich schließt, folgern, daß die Dynamis das allgemeinere
Prinzip sei; aber dann „wird nichts sein vom Seienden, denn das Mög-
liche ist immer noch nicht", und das widerspricht der ,, Jetztheit", der
Gegenwärtigkeit des Seienden (1071b 23 — 26). Das „Noch nicht" be-
deutet Nacht, Chaos (1072 a 8), bedeutet ein unendliches „Vorher" vor
der Zeit, also einen Widerspruch in sich (1071b 8), den nur die ewige
Gegenwärtigkeit des Geistes überwindet, die kvigyeia an sich.
168 METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
Indem Aristoteles den Dynamisbegriff schärfer auf seine logischen Voraussetzungen
— im Zusammenhange der inj or-Lehre, s. o. S. 62 — untersucht, gelangt er einerseits
zur Bewältigung gewisser noch ungelöster Probleme der dynamischen Seinsidee Piatons
und bringt andrerseits doch deren innerstes unverlierbares Motiv zusammen mit dem
der Ideenlehre erneut und gereinigt zur Geltung. Was bei Piaton in einem ebenso
starken wie unmerklichen Formungswillen an Problematik verhüllt war, bricht jetzt
als „Widerspruch** auseinander — es steht aber kein Widerspruch bei Aristoteles, der
nicht auf dem Grunde der platonischen Seinsidee anzutreffen wäre.
Es mögen diese und auch die folgenden Erwägungen nicht so verstanden werden,
als ob Piaton durch Aristoteles zu recht „korrigiert" worden wäre. In dieser gefähr-
lichsten Sphäre der Philosophie, in der die kosmologischen und psychologischen
Paralogismen und Antinomien zusammenstoßen und das Problem der Existenz der
Welt und des sie denkenden Bewußtseins tragen, gibt es keine zulängliche „Lösung".
Wenn die Philosophie nicht in begreiflicher, aber letzten Endes doch unbefriedigender
Selbstbeschränkung auf diese Bereiche verzichtend sich in größerer Nähe irgendeiner
Einzelwissenschaft anbaut, sei es Mathematik oder Naturwissenschaft oder sonst eine
Insel der strengen Exaktheit, so wird sie immer zwischen den beiden Möglichkeiten
Piaton oder Aristoteles wählen müssen: entweder wird sie der dichterischen Form sich
näher haltend das Ganze der Gedanken zum Ausdruck zu bringen suchen — mit dauernd
geringerem Erfolge und mit immer schlechterem Gewissen, wenn sie sich an dem Vor-
bilde Piatons ehrlich mißt; oder sie wird den aristotelischen Weg letzter Begrifflichkeit
und analytischer Strenge suchen und durch den steten Neuansatz der Probleme sich
zwar konzentrisch auf die Mitte und Einheit des Systems zu bewegen und doch darauf
verzichten, diese Einheit thematisch zum Gegenstande zu machen. Grade in dem Ent-
wurf des Buches J ist das rhapsodische Anschlagen der Themen um einen implizit
vorausgesetzten, aber nicht zulänglich ausgedrückten Mittelpunkt sehr deutlich (vgl.
Jaeger über den Stil dieses Buches, aus dem nur Kapitel 8 herausfällt, S. 369). Der
Versuch, der hier gemacht wird, die rhapsodische Vielstimmigkeit in der eigentlich
philosophisch-sachlichen Ebene als Ausdruck einer umfassenden einheitlichen Seins-
auffassung aus der menschlich-geschichtlichen Gesamtsituation des Aristoteles zu
deuten, bedarf natürlich noch nach allen Seiten der Ausarbeitung und Ergänzung.
e) Das Streben ( Oqe tic).
Mit dem 7. Kapitel tritt ein Strang des vielfältigen Gedankenganges
an die Oberfläche, der zweifellos schon während aller der mehr physika-
lisch orientierten Erörterungen mitzudenken war, die Ineinssetzung der
zunächst als physische Ortsbewegung gefaßten ewigen wesenhaften ak-
tuellen Kreis-Kinesis mit der zielgeleiteten menschlichen Wollensbewe-
gung, der ogehc und ßovXyöic. Und was das Wichtigste ist, mit der
Denkbewegung44, der vöqaic; denn das Erstrebte und durch die vnyGig
Gedachte „bewegt, selber unbewegt44; und die vo^ave ist äqyj\ (1072a
19—30).
Daß hier kein plumper Anthropomorphismus vorliegt, keine naive Teleologie,
sondern eine konsequente Physik ohne Gravitation, unterstreichen auch diejenigen,
die den physikalischen Sinn in den Vordergrund stellen und auf eine Erklärungs-
möglichkeit der v6t]cn<; rotjaewg, sichtlich des metaphysischen Höhe- und Zielpunktes
des Ganzen, ausdrücklich verzichten (wie H. Scholz 1. c. S. 42). Unsere Darstellung
kann hier an die oben S. 157 entwickelte These anknüpfen, daß die Vergleichung
der astrisch-kosmischen Bewegung mit der psychischen weniger eine Psychisierung der
ersteren als eine „Kosmisierung" der letzteren bedeutet. Wir treten damit wieder in den
D
ARISTOTELES
169
platonischen Urgrund der aristotelischen Gedanken ein, und müssen diese Rück-
beziehung noch ein erhebliches Stück weiter als bis zum Timaios verfolgen. Denn
Aristoteles setzt hier bei folgenden Begriffen des früheren Piatonismus an: 1. beim
„ersten Erstrebten" des Lysis, dem ngÜTov cpr'koi>; s. o. S. 107. Indem 2. das xcckov
als Gegenstand des Begehrens und Wollens und das kqigtov eingeführt werden, ist der
ganze Zusammenhang des Symposion einschließlich der Idee des Guten gegeben; die
„Einfachheit", ccnkovi', des /.aköv greift das povoeideg y.akov wieder auf. Aristoteles
findet 3. den Zusammenhang zwischen dem ersten physikalischen Beweger und dem
den reinen Geist selbst unbewegt bewegenden Denk- und Strebensgegenstand in dem
Motiv des ntQas^ der Grenze, die «q/ij und rf'Aoc, Erstes und letztes Umfassendes
zugleich ist und dem Regressus eh ccnsioor in allen Richtungen ein Ziel setzt. Deshalb
kann nicht jedes Objekt des Strebens als schlechthin unbewegt Bewegendes ange-
sprochen werden, sondern nur dasjenige, das als vorjTÖv nicht nur zufällig unbewegt ist,
sondern wesensmäßig im ruhenden Sein begründet ist. Die trivialen Beispiele, mit denen
Pseudo-Alexander die Erläuterung der Zeilen 1072 a 26 anhebt, bezeichnen immerhin
den Ausgangspunkt der Erörterung: das Futterbündel, selbst unbewegt, bewegt den
Esel; andrerseits bewegt Intelligibles, wenn es z. B. das Schlechte ist, nicht. Aristoteles
selbst führt die Erörterung über diese Sphäre sofort hinaus durch die Unterscheidung
von dem Begehren (im Sinne der Begierde, emfrvjui'cc), das vom schön Scheinenden
bewegt wird, und dem Wollen, das durch seiendes Schönes bewegt wird, deutet aber
sofort an, daß ein erstes /.v.k6v, ein erstes an sich zu Wählendes, ein einfaches
Bestes erst den Sinn des hier gemeinten ooexTÖv, des Strebensgegenstandes an sich,
erfüllt. Diese Gedanken sind Aristoteles, dem Leser des „Lysis", als nyiinor yikov ge-
läufig, und die so wichtige Feststellung, daß „wir streben, weil uns etwas schön erscheint
mehr als daß uns umgekehrt etwas gut erschiene, weil wir es erstreben" (1072a 29), be-
schäftigte Piaton bereits im Euthyphron (10 e), wo der Zentralbegriff der tttokoy/'a,
das oawr in seinem Selbstsein festgehalten wird selbst den Göttern gegenüber; nicht
weil es den Göttern lieb ist, ist etwas heilig, sondern umgekehrt, weil es in seinem Sein
heilig ist, wird es von den Göttern geliebt und ist für die Menschen verbindlich. Das
setzt Aristoteles bei seinen Hörern voraus, und an Leser dieser Schrift außerhalb seiner
Schule dürfte er in der Tat kaum gedacht haben (s. Jaeger 1. c). Somit dürfen wir
uns nicht wundern, wenn Aristoteles sofort weiterschreitet zu der Sphäre desjenigen
Guten oder Schönen, „das sich niemals anders verhalten kann" (1072 b 13), das also
nicht nur in seinem Dasein, sondern auch in seinem Wesen ruhend, „unbewegt", un-
verrückbar ist, um desto sicherer und unwiderstehlicher die Bewegung des Strebens
auszulösen. Alles, was wir oben über die im Piatonismus sich entfaltende sokratische
Grundthese vom einsichtigen Guten als dem stärksten, als dem im letzten Grunde
einzigen Willensimpuls gesagt haben, ist hier sichtlich in die Formeln des Aristoteles
eingegangen.
Das Bewußtsein der umfassenden Synthese, die wir durch den dau-
ernden Bezug auf platonische Gedankenbereiche vorbereiteten, spricht
auch in dem gelassenen Stil der aristotelischen Lehrschrift verhüllt aus
jeder Zeile der Theologie; die Erklärung für das hier im Gottesbegriff
Zusammengedrängte erfordert den steten Rückgang auf die ausführ-
licheren Darlegungen des iVusbegriffes in der Schrift von der Seele (III, c.
4 — 6) und im letzten Buch der nikomachischen Ethik, wo die iVuslehre
aus der Theorie der Lust und Glückseligkeit herauswächst. Met. A I
1072 b 13: „An einem solchen Prinzip, aq^i] ist der Himmel und die
Natur gehängt" (fjorrjTat); sie ist von ihm abhängig — von einem solchen
ersten Strebensgegenstand. Himmel, odgccvög, ist die Ganzheit alles Sicht-
baren, die Natur, yraic, das innerhalb dieses Ganzen der Welt sich
170
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
lebendig Bewegende. „Es ist (tätiges) Verhalten (diaywyfj) von der Art,
wie das beste für uns ist, (an dem wir) nur kurze Zeit (teilhaben).
So aber verhält sich jenes Wesen immer (während uns dies unmöglich
ist), da seine tätige Wirklichkeit auch Freude ist (ircel xal fjdovty f\
i\tü)tia loriov), und deshalb ist Wachheit, Wahrnehmung, Denken
(vdfjmc) das Erfreulichste und dieser (der letzteren) wegen wiederum
Hoffnung und Erinnerung".
Hier muß die Theorie des Gefühls, und zwar des positiven Gefühls der ydonj heran-
gezogen werden. Was wir heute erst allmählich als philosophisch-metaphysisches Pro-
blem wieder zu entdecken beginnen, ein Verständnis des Gefühles als eines umfassenden
(iesamtverhaltens, das ist von Aristoteles bereits in wesentlichem Ansatz geleistet
worden; es bestätigt sich hier an einer prägnanten Stelle, was N. H artmann (Ethik
p. VII) allgemein über die unmittelbare Gegenwartsbedeutung der aristotelischen
Ethik sagt.
Im Buche H 13 der Nikomachischen Ethik bekämpft Aristoteles die Auffassung der
y&ovij als eines Werdens; Piaton hat Ansätze einer Gefühlstheorie im Begriff des Eros,
im Mischungsproblem des Philebos, vor allem in der Begründung der Paideia auf eine
Disziplinierung der Gefühlsreaktionen (Staat III 401 d Gesetze II 653a. Dazu Plato d.
Erzieher S. 134 f. u. bes. Wiss. u. Bildg. i. pl. Erziehungsbegr. S. 111). Aristoteles ersetzte
die Verknüpfung des Gefühls mit dem Werden durch die Verknüpfung mit dem „Um-
gehen", der lebendigen Erfahrung (1153a 8ff.): m ovx dvccyxrj ht^öv ti drai ßekrtov ryg
tjdoi't]c, a>G7i€Q Tivtg yccoi jo rikog Ttjg ysviaewg' ov yaQ ytvtoeig slolv ovds [Atta yereoetog
nctacti, dkk1 evsQyewi xal Tt'kog • ovds yivo^viav Gv^ißcuvovaiv, dkkd /qio /u&rior ' xal rikog
ov naoüiv eiEQov ti, dkkd twv flg rrjr Teketooir dyojuerwv rijg (pvoeujg . dio ov xakwg fyei
70 aioS-tjTtjp yiveoiv (fdvui elpcu Trjv rjdoovyv, dkkd [xäkkov ksxiiov iviQyeiav tt} g y.ard
cfvaiv €%€(o g
Genauer ausgeführt wird im letzten Buch die Beziehung der ydorij zur tvdaifxovia
und &€(x)q£cc, in der das ganze Werk gipfelt. Die r\dovr] ist außerhalb der zeitlichen Ent-
wicklung, sie ist im Jetzt, vvv, ist also präsent; sie ist ein Ganzes, ein okor (1174b 9).
,, Freude vollendet eine Energeia, nicht wie eine in ihr bereits vorliegende Haltung,
sondern als eine hinzutretende Vollendung (zt'Aoc), wie die Schönheit bei allem auf
der Höhe der Reife Befindlichen. Sobald das intelligible (royioi ) oder das wahrnehm-
bare Objekt so ist, wie es sein soll, und auch das unterscheidende (xqTvov) oder das
schauende Subjekt (&£ü)qovv), dann wird in der Verwirklichung (Energeia) die Freude
sein. Denn wo immer das erfahrende Subjekt und das einwirkende Objekt ähnlich sind
und auf die gleiche Weise sich zueinander verhalten, da tritt dieselbe Wirkung ein'4
(1074 b 33). Aristoteles entwickelt nun die Unfähigkeit des Menschen zu irgendeinem
dauernden Verhalten, zu einem ovrf/ec iviqyth", aber: obwohl das Menschendasein
dem Wechsel verhaftet ist, so „wird" doch die Freude nicht, da sie nicht innerhalb des
<)rrv.uig-ivtqyi:i «-Prozesses eintritt, sondern erst als Vollendung, Ziel (itkog) zur iveo-
yeia hinzutritt, wie wir gehört haben.
Soviel genüge zunächst zur Erläuterung der ersten Sätze im Theologiekapitel der
Metaphysik. Das Bild der Wachheit im Gegensatz zum Traum und Schlaf als Ausdruck
für eine bestimmte Bewußtheit durchzieht den gesamten Piatonismus. Charakteristisch
für unsere Stelle und für die Grundhaltung des Aristoteles ist die auch in den heran-
gezogenen Sätzen der Nikomachischen Ethik wiederholt bekräftigte Stellung der Wahr-
nehmung, der ccio&ijßig, neben der rorjoig. In de anima T 7 431a 8 wird das Wahr-
nehmen als ähnlich dem (fdvcu und voeiv bezeichnet, eine Parallele, die für uns noch
wichtig werden wird.
ARISTOTELES 171
f) Nus und noetisches Denken.
Wir müssen nun die Worte des Aristoteles vorsichtig abwägend darauf-
hin prüfen, wie weit er von dem im Grunde allein ausdrückbaren und der
Beschreibung zugänglichen menschlichen Anteil am Nus aufsteigt zu
einer — natürlich mehr indirekten — Beschreibung eines göttlichen Nus.
Zuerst gibt er lediglich den Unterschied an, daß Gott dauernd in einem
Zustand ist, der uns nach dem Gesetz menschlichen Wesens nur vorüber-
gehend zugänglich ist; er überläßt es uns, nach seinen Andeutungen aus
diesem Fehlen der Unterbrechung durch den gegensätzlichen Zustand
die Folgerungen für den Dauerzustand zu ziehen und damit an das eigent-
liche göttliche Sein näher heranzukommen. 1072 b 24 — 26 gibt er einen
Hinweis, daß der göttliche Zustand über die einfach quantitative zeit-
liche Ausdehnung der höchsten Augenblicke unseres Daseins sehr wohl
noch qualitativ hinausliegt. Es ist ja keine Frage, daß ein Wachen ohne
jede Unterbrechung durch Müdigkeit und Schlaf infolge des fehlenden
Gegensatzes etwas wesentlich anderes wird, und daß auch der Unterschied
von Wahrnehmung und Denken in einem Zustand völlig gleichmäßiger
Energeia schwindet und dadurch beides modifiziert wird. Freilich darf
dies echt philosophische Bestreben des Aristoteles nicht aufgefaßt werden
als ein spintisierender Versuch, ins Undenkbare einzudringen; er geht
auf diesem Wege nicht einen Schritt weiter als nötig ist, um durch Ge-
winnung von Grenzbegriffen die menschliche Weise des Lebens im Nus
zu verdeutlichen, zu der der Ausblick auf diesen transzendenten Nus
nun einmal gehört.
Ross macht im Kommentar sehr fein auf gewisse sprachlich-stilistische Eigentüm-
lichkeiten aufmerksam, die von vornherein die ganz besondere Seinsart des Göttlichen
andeuten. So das Fehlen des Genitivs bei diayuyq ; nicht sein Leben ist . . ., sondern
es, das Göttliche ist einfach dtccytoy^i in dtayiDyrj liegt bereits implizit die Freude, wie
Ross hervorhebt (diayu>yi] oft = lustvolle Unterhaltung). Daher wieder eine strenge
Gleichsetzung von r/donj und h'tyytuc tovtov; seine Energeia ist Freude, nicht daß
sie zur Freude führte; für menschliche Wesen ist die Freude die am Ende des Weges
von Dynamis zu Energeia hinzukommende Erfüllung; hier ist die Energeia immer
erfüllt, also unmittelbare Freude. Es ist ferner aus dem analogen Grunde klar, daß
Hoffnung und Erinnerung durchaus menschliche Verhaltungsweisen sind; sie erhalten
aber ihren letzten Sinn als Überbrückungen der Lücken der Energeia aus dem Gegen-
bild eines einfachen göttlichen dauernden Bewußtseins. Grade hier ist das Verhältnis
zu den platonischen Gedankengängen charakteristisch. Die oben S. 108,5 besprochene
Mnemestelle des Symposions 208 a 6 ist die Quelle und deshalb der beste Kommentar
zur aristotelischen xtvycug-toiog-Lehre; auch dort der Vergleich mit dem kontinuier-
lichen göttlichen Bewußtsein. Aristoteles gelangt aber durch die radikalere Abhebung
von und vovg zur Ablehnung der Anamnesislehre; denn die genaue Fassung von
Nus und Noesis ist nun die Aufgabe. Sie erfordert ein besonders scharfes Hinhören auf
den Zusammenhang des Vorhergehenden mit den folgenden Sätzen.
Met. si 7 1072 b 18 ff. : „Das Denken an sich aber geht auf das an sich
Beste, und das (,bei dem sich der Sachverhalt des „an sich44) am meisten
(verwirklicht,) auf das am meisten (Beste)44 (die Umständlichkeit des Aus-
m
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
druc ks ontspricht der komprimierten Fassung: xal fj naliGTa tov fidXiara).
Sich selbst aber denkt der Nus im Erfassen des Denkbaren (votjtöv).
Denn er wird denkbar im Berühren (ihyyävwv, s. o.) und im Denken, so-
daß Nus und Gedachtes dasselbe wird. Denn das Aufnehmende für das
Denkbare und für das Sein, das ist eben Nus (rd yäo dexTixbv tov votjtov
xal vfjq otiaCac votic). Er ist aber in Tätigkeit, sofern er jenes (voitov und
otiala) hat. Daher ist mehr als jenes (aufnahmefähig zu sein für voitov
und oüatct) dieses (ßvegyel di E%(ßv) das, was der Nus Göttliches zu
haben scheint, und die Theoria ist das erfreulichste" (ßor' IxeCv -v fiälXov
i <>rio o öoxel ö roPc &eiov i'%eiv, xal ?) üewQCa tö fJdiöTov xal äo,GToi). Für
Text und Interpretation dieser Stelle verweise ich auf Ross' umsichtige
Komnientierung.
Der Ubergang zur Noesis setzt voraus, daß in der vorhergehenden
Reihe: (Wachheit, Wahrnehmung und Noesis) diese letzte nicht nur als
der Hauptbegriff, sondern als die Zusammenfassung zu betrachten ist.
Die Steigerungsmöglichkeit, die in dem doppelten iiclXigtu liegt, beweist
wieder, daß dieses „sich selbst denken", das zugleich Denken des Besten
ist, zum Nus schlechthin gehört, auch zu dem dem Menschen zugänglichen,
und legt diese Erweiterung auch für alles folgende nahe. Durch das „Beste"
ist nun auch der Zusammenhang mit dem öqcxtöv wieder hergestellt; und
auf diesem Zusammenhang beruht sichtlich die innere Beziehung von
Nus und erstem Beweger, von Geist-Lehre und physikalisch- astronomi-
scher Bewegungslehre. Der Zusammenhang beruht erstens auf der ein-
fachen, als selbstverständlich geforderten Beziehung von Gut und
Streben, Bewegung; doch damit ist erst der Schauplatz der Bewegung
bezeichnet, aber noch nicht die im Begriffe des Nus geforderte Unbewegt -
heit. Deshalb muß zugleich der (logische) Peras-Charakter des Nus heran-
gezogen werden, den wir eingangs wegen seiner ganz besonderen Wichtig-
keit hervorgehoben und mit der Ganzheitsfunktion der Kantischen Idee
in Beziehung gesetzt haben. Die Funktion des Peras ist bei Aristoteles
immer die Abstellung und Feststellung — im doppelten Sinne — eines
Regressus slg äitemov^ im superlativisch gefaßten aqiarov — Piaton
hatte von der Idee des Guten an sich gesprochen (vgl. die Kritik des
Aristoteles 1075 a 37 ff.) — ist dieser Regressusgedanke inhaltlich-
qualitativ gewendet; es muß ein würdigstes Objekt der Noesis geben,
bei dem auch die in ihr angelegte Bewegung wie jede andere ihr Telos
findet. Die Unterscheidung einer ideellen und einer physikalischen Be-
wegung, die leicht genug im niederen Bereich festzuhalten ist, muß in der
Sphäre des ersten Bewegers suspendiert werden. Vor allem muß auch die
Bewegung des Denkens, solange sie noch als Ubergang von einem Subjekt
zu einem Objekt oder umgekehrt erscheint, aufgehoben sein — damit
entfiele die oben S. 139,1 entwickelte systematisch- ontologische Aporie.
Das heißt, der Nus muß bei sich selbst bleiben und sich selbst denken.
Damit tritt aber eine neue Schwierigkeit, die Gefahr leerer Reflexion
D
ARISTOTELES
173
auf, mehr für uns als für das gegenständlich gerichtete griechische
Denken, eine Gefahr, die Aristoteles sofort durch den Zusatz bezeichnet :
„der Nus denkt sich selbst im Erfassen des Denkbaren44. Wie stark auch
hier der Regressus-£/c-#7r^(>o^- Gedanke mitspielt, zeigt die Erläute-
rung, die Aristoteles selbst A 9 diesem Zusammenfall von Nus und vorjTa
gibt; die Tatsache behandelt er auch in der Schrift von der Seele, c. 5 — 8.
A 9 1074b 15 fragt Aristoteles: was denkt der Nus, „das göttlichste
aller Phänomene44 ? Sicher etwas; sonst schliefe er und wäre nicht wach.
Wenn er aber etwas denkt, so ist ein anderes des Nus mächtig (tovtov
<T äkXo xvqioi'); es bestimmt ihn, es bringt seine Dynamis zur Energeia;
es verwirklicht ihn. Und so wäre er nicht das beste Sein, sondern jenes
wäre noch würdiger. Er würde sich verändern, wenn er etwas anderes
dächte, gemessen an dem Zustand, ehe er es dachte, und zwar zum
Höheren, was seinem Wesen widerspräche. Umgekehrt kann er auch nicht
Schlechteres denken, als er selbst ist, denn dann würde er sich zum
Schlechteren verändern — Gedanken, die auch Piaton im 2. Buch des
Staates (381b ff.) zur Annahme von der Unveränderlichkeit Gottes be-
stimmt hatten. Der Übergang von einem zum anderen Zustand würde
den Nus nicht nur mit der Dynamis, sondern auch mit der Hyle in Ver-
bindung bringen, denn alle Veränderung setzt die Trennung des Trägers,
an dem die veränderten Zustände stattfinden, von diesen Veränderungen
voraus (cf. Met. K 12 1068b 10). Die Seele ist veränderlich, sie ist ein
möglicher Ort für die Formen und für das Gedachte (dvvd/nei rÖTiog eid&v
xal voyrwv), dagegen der Nus ist das Gedachte (rorjTÖv), wie in der
Schrift von der Seele (r 3 431 b 17) auseinandergesetzt wird: „der Nus
ist in seiner Wirklichkeit die Dinge44 (6 vovg eoTlv ö xax ev^yeiav rä
TiQdyjLiaTa). Die Seele als Aufnahmegefäß des Nus ist infolgedessen „in
gewissem Sinne44 ebenfalls das Seiende (fj tyvyr\ vä ovra tiwc laziv,
ib. Zeile 1). Für die Seele ist es mühsam, dauernd ihre Funktionen aus-
zuüben, denn sie ist den menschlichen Wesen zugehörig; daher kennt
Aristoteles keine Welt s eele. Der Geist „denkt nicht manchmal, manch-
mal wieder nicht, sondern er ist überhaupt nicht in der Zeit (de an.
FS 430a 22), er ist „jetzt44, präsent — wie die Freude!
Wie die Seele deutlich und bewußt dem Nus gegenübergestellt ist,
so werden in den nachträglichen Erläuterungen des Kapitels 9 der
Theologie auch die InunT^iai , das Wissen, die Wahrnehmung, die Mei-
nung und der Verstand (ötdvoia) grade durch die andere Art des Sich-
selbstdenkens der Noesis entgegengestellt. Alle diese Tätigkeiten beziehen
sich in erster Linie „auf etwas anderes44, nur „nebenbei44, Iv TcaQfoyw,
auf sich selbst. Das ist ein wichtiger Hinweis, der die Beteiligung des Nus
auch an diesen Tätigkeiten zum Problem macht. Auch der Erkennende
weiß, daß er erkennt, der Wahrnehmende, daß er wahrnimmt, aber er
befindet sich in der charakteristischen Lage, den Gegenstand seiner Er-
kenntnis und seiner Wahrnehmung von diesen Akten selbst unterscheiden
174 METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
zu können und zu müssen; er ist ja nicht frei, nicht schöpferisch, ihm
ist etwas „gegeben", er ist rezeptiv, nicht selbstgebend.
IS' im muß man, das zeigen die zuletzt übersetzten Worte unserer
Theologie, auch im Nus — mindestens begrifflich — das Aufneh-
mende, dsxTixöv, von dem Aufgenommenen, dem po^töv, unterscheiden,
in dessen Berührung der Nus selbst „denkbar", vo^rög wird, sodaß
er sich selbst denken kann. Aristoteles sagt aber ausdrücklich, daß mehr
als jene Aufnahmefähigkeit die Energeia, das tätige Wirken das Gött-
liche in uns ist, an dem wir nur Anteil haben, während Gott dies rein
und ganz hat. Die Schrift von der Seele, ausdrücklicher auf die Ver- 10
deutlichung jenes menschlichen Anteils gerichtet, führt folgerichtig hier
die Scheidung des Nus tvoitjuxoc, des tätigen, und des Nus tcccI/^tixöc,
des leidenden, ein; obwohl eine ganz genaue Entsprechung nicht be-
hauptet werden soll, besteht zwischen dem Aufnehmenden, dexTixdv,
und dem vodg naürjnxöq die engste sachliche Beziehung.
g) Theoria.
Die in dem Zusammenfall von Nus und seinem Inhalt sich ergebende
Energeia des Nus ist nun nach dem Zusammenhang der aristotelischen
Sätze der Grund für die letzte Folgerung: „daher ist auch die Theoria
das Erfreulichste und Beste". Was hier nach diesem Zusammenhang 20
Theoria heißt, ist nun die entscheidende Frage; die Beziehung zum Er-
strebten, 6q£xt6v, und zur Energeia schränkt von vornherein die An-
näherung an die „theoretische Vernunft" wesentlich ein. Auch die
nächsten Sätze wollen wir unter demselben Gesichtspunkt lesen. In
ihnen wird die bekannteste, am meisten zitierte Gleichsetzung des
„Lebens" mit der Energeia des Nus vollzogen. „Wenn Gott sich immer
so wohl verhält, wie wir nur manchmal, so ist das schon erstaunlich,
wenn aber in noch höherem Grade, noch erstaunlicher. Er verhält sich
aber folgendermaßen: auch Leben kommt ihm zu; denn des Nus Energeia
ist Leben, und Gott ist tätiges Wirken (Energeia). Tätiges Wirken an sich 30
ist das beste und ewige Leben Gottes" (1072b 24 ff). Aristoteles bestimmt
das Wesen der Gottheit so: sie ist das beste ewige Lebewesen (£wov),
und schließt daraus, daß dem Nus als dem besten Lebendigen die Be-
zeichnung „Gott" zukommt. Es folgt eine Polemik gegen eine falsche
Theologie der Pythagoreer und des Speusippos, für die das Beste und
Schönste nicht am Anfang, sondern am Ende steht. Sie unterbricht für
den, der in dem Vorhergehenden das Mystisch- Weihevolle stark emp-
funden hat, den Zug der Gedanken; der oft von Aristoteles genannte
Grundsatz „der Mensch erzeugt den Menschen", den wir oben S. 164,7
in den Zusammenhang des Schöpfungsproblems stellten, tritt in der prä- 40
zisenForm auf: das vollendete Wesen, z. B. der Mensch, ist wesensmäßig
vor dem Samen, nicht umgekehrt. Unmittelbar daran schließt sich die
D
ARISTOTELES
175
metaphysische Schlußfolgerung: es ist gezeigt (durch den ganzen Zu-
sammenhang der Argumentation, cf. Ross zur Stelle II 382), daß diese
göttliche Wesenheit keine Größe haben kann, sondern ohne Teile,
äfitQric, und nicht mehr teilbar, ädiaiosTov, ist; denn sie bewegt sich
durch unendliche Zeit ; das vermag keine endliche Größe ; eine unendliche
Größe gibt es aber nicht. — Daran schließt sich wieder überraschend
schnell der Schluß an, daß dieses Sein auch ohne Erleiden, analt^c, und
unveränderlich, ävalXoCwTov, sein müßte, da diese anderen „Bewegun-
gen", wie Veränderung usw. später sind, abgeleitet von der Ortsbewegung.
10 Wir treffen also als wesensmäßig zusammengehörige Bestimmungen des
göttlichen Seins bzw. des Nus die eleatischen Bestimmungen an, die wir
zuletzt bei der einen Hypothesenreihe des Parmenides gehört haben : ohne
Größe, ohne Teile und nicht mehr teilbar, ohne Bewegung jeder Art, d. h.
ohne Veränderung, ohne Erleiden. Die Teilhabe an einem solchen Sein
soll Theoria sein; sie bedeutet: den unbewegten Beweger des Himmels
und der Physis, das „Leben44 in seinem höchsten Sinne, in die mensch-
liche Seele hineinzustellen und so für Augenblicke dasselbe Leben zu
führen wie die Gottheit, einen Abglanz ihrer Freude zu erfahren und den
vovc 7ToirjTiy.6c, die höchste Aktivität und Energeia zu betätigen. Aristo-
20 teles hat über den Sinn der Theoria sich mit unzweideutiger Klarheit
ausgesprochen.
Bei der Erörterung des Dynamis- und Ener geiabegriffes stellt er im Buche S 6
den Unterschied zwischen Wissen und Theoria so fest, daß der Wissende der Mög-
lichkeit nach, dvra/ufi, das ist, was der Szwomv der Energie nach ist (1048a 34); unter
den erläuternden Beispielen finden wir wieder Wachen und Schlafen, Sehen und die
Augen geschlossen halten. Im 8. Kapitel dieses Buches wird dieser Gegensatz noch weiter
ausgeführt, 1050 a 11: „Die Menschen haben die Baukunst, damit sie bauen, und die
Fälligkeit der Theoria, damit sie „einsehen" (rVa &€wqiügw); aber sie sehen nicht eio,
damit sie die Fähigkeit dazu haben, außer denjenigen, die sich üben; aber diese üben
30 gar nicht Theoria aus, oder nur so, oder weil sie nichts einzusehen
haben . . . Denn das Werk ist das Ziel und die Energeia ist das Werk
(foyop), daher ihr Name. Das äußerste (ia/aror, also = Ziel, rekoc) ist bei ge-
wissen Fähigkeiten der Gebrauch, /^<>'C, bei anderen das Werk" (Zu
&€(oqCcc, toyov, treoy&icc beim frühen Aristoteles cf. Jaeger, Arist. 67). Es sei kurz an
alles das erinnert, was wir oben S. Hl,40 über den existenzial-ontologischen Sinn der
/(^f><c bei Piaton und über ihre Beziehung zur Wesenserfassung gesagt haben; und wir
gehen gleich zu einer weiteren Stelle über, die den Zusammenhang mit der sokratisch-
platonischen 7ioǤ< ^--Philosophie unzweideutig herstellt. In der Nikomachischen Ethik
erörtert Aristoteles den Begriff der sittlichen Schwäche (ccxoccata), im Gegensatz zur
40 Zügellosigkeit einerseits und zur Beherrschtheit andrerseits, im Verhältnis zur noottCosaiQ
und zur Begierde, zur öo'ia dktjttys oder miairjurj (Buch VII 3 ff.); er gibt zu, daß das
Wissen um das Gute nicht immer die Begierden bezwingt. „Aber, so fährt er fort
(1146 b 35), da wir zwiefach vom Wissen sprechen (denn sowohl von dem, der es hat,
aber es nicht anwendet, als von dem, der es anwendet (xQtofxerog) sagt man, er wisse),
so wird es ein großer Unterschied sein, ob einer, der das Wissen von dem, was man nicht
tun darf, bloß hat, aber es nicht in die konkrete Situation) bewußt einsetzt (&€(üqei)
oder ob einer es hat und sich (in der konkreten Situation dessen) bewußt ist (d-eugeT).
Denn dieses letztere wäre höchst verwunderlich, aber nicht, wenn er sich nicht bewußt
wäre" (pi ünonon).
m
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Je mehr wir in den Blick bekommen, was ÜeioQi'a heißt, desto schwerer
wird es, einen einheitlichen Ausdruck im Deutschen dafür zu finden.
Sicht licli bezeichnet es sowohl die psychische Aktualität wie den Einsatz
der Erkenntniskraft in die konkrete Situation, also ein nach beiden
Rieht ungen näher zu bestimmendes Evidenzerlebnis. Keinesfalls geht
aber die Bedeutung der Theoria nach der Richtung bloßer beschaulicher
Betrachtung. Das Kontemplative tritt hier gar nicht hervor, und auch
in den berühmten Schilderungen der Nikomachischen Ethik, in denen die
(»öt tlichkeit der Theoria stark hervorgehoben und damit der Vergleich
mit der Theologie nahegelegt wird, müssen wir uns vor Modernisierung
hüten, zu der uns die Bedeutungsentwicklung der von Aristoteles ge-
brauchten Worte nur allzu leicht verleitet.
h) Der „einfache44 Gegenstand des noetischen Denkens.
Ehe wir aber diese, aus einer späteren Entwicklungsstufe des Ari-
stoteles stammenden, auf den Ubergang zur „Politik44 abgestimmten
Ausführungen betrachten, wollten wir erst die anderen Bestimmungs-
möglichkeiten der im göttlichen Nus enthaltenen Seinslehre zu benutzen
versuchen; das dauernd zu beobachtende Hin- und Herschwingen der
Aristotelischen Gedanken zwischen dem Nus als einer Verhaltungsweise
des Menschen, allerdings derjenigen, die ihn von allen niederen Lebe-
wesen unterscheidet (Nie. Eth. K 7 1178a 4 — 7) und dem Nus als einer
menschliches Sein übersteigenden Idee, soll nicht gewaltsam stillgelegt
werden; anders gewendet: das voelv dem einzelnen voytöv gegenüber
und das voetv als das spezifische Verhalten eines Ganzen zum Ganzen —
woraus sofort der Zusammenfall dieser beiden Ganzheiten zu einem
Ganzen logisch gefordert erscheint — soll auf seinen systematischen Zu-
sammenhang geprüft werden.
Wir gehen von einer Begriffsreihe aus, durch die sowohl das „Ganze44
der ersten Wesenheit im si wie die einzelnen Gegenstände des voelv
charakterisiert werden: von dem Nicht - mehr - Teilbaren, ohne Teile
Seienden, Einfachen, Unzusammengesetzten — alle diese Prädikate
pflegen im Umkreise des voelv aufzutauchen. Wir müssen hierbei das
schwierige Kapitel der Metaphysik 010 (cf. Ross, Comm. II 273 ff.) an den
Anfang stellen. Aristoteles setzt folgende drei Bedeutungen von Nicht-
seiendem und Seiendem fest: 1. Seiend gemäß den Schemata der Kate-
gorien, 2. das nach Dynamis und Energeia bestimmte Seiende, 3. das
wahr oder falsch Seiende. Wie diese drei Gesichtspunkte sich im beson-
deren Fall vereinigen, bleibe dahingestellt. Wichtig ist für Aristoteles die
Abhängigkeit der Wahrheit oder Falschheit aller Aussagen von der rich-
tigen Verknüpfung und Trennung der „in den Dingen liegenden44 Einzel-
sachverhalte. „Es täuscht sich, wer sich den Dingen (rolg ngAyfiadi) ent-
gegen verhält44 (1051b 4). Der zu den „Dingen44 sich richtig Verhaltende
verknüpft das Zusammengehörige und trennt das nicht Zusammen-
D
ARISTOTELES
177
gehörige; er beachtet die gegebenen Einheitsmöglichkeiten und Wirk-
lichkeiten". Sein heißt zusammengefügt und eins sein, Nichtsein das
Nicht-Zusammengefügt und Mehreres sein" (1051b 11). Es braucht nur
kurz auf die unmittelbar einsichtige Beziehung zu der von Piaton im
„Sophistes" entwickelten Bedeutung von Verknüpfung und Diairesis der
Svtcc und ovTa hingewiesen zu werden. Diesem Bereich des syllogisti-
schen Denkens stellt Aristoteles den Bereich des das Unzusammen-
gesetzte, Einfache erfassenden poel (thyelv) gegenüber, in dem es nur
Erfassen oder Nicht-Erfassen, „Sagen" ((pävcu), ansprechen als etwas,
nicht Bejahung oder Verneinung einer Zusammengehörigkeit von Ge-
trenntem, daher eigentlich kein Sich - Täuschen gibt, für den also
ein anderer Seins- und Wahrheitsbegriff anzusetzen ist. In dem parallelen
Kapitel E 4 werden dieselben Gegenstände, um die es sich hier handelt,
als änXä und rä tC hativ bezeichnet und die Sphäre, in der das auf Ver-
knüpfung und Trennung beruhende Wahrheitsfinden sich abspielt, als
diävoia, als diskursives Denken, vom voelv abgehoben.
Denselben Sachverhalt entwickelt de anima T 6 430 a 26. Dort schließt sich an die
Unterscheidung des tätigen und leidenden Nus eine Theorie des „Denkens von Unteil-
barem" (voe7v tcc ddicu'p&icc) an, „bei dem es keinen Irrtum gibt". Das Einheitstiftende
(eV noiovi ) auch für das Zusammengesetzte ist der Nus, 430 b 5. Er denkt die unteilbare
Gestalt (<xdicn'(J€Toy fiVoc) in einer unteilbaren Zeit und mit Hilfe eines Unteilbaren
in der Seele, 430 b 14. Einheit zu stiften ist die eigentliche Tätigkeit des tätigen Nus,
und zwar in dem Maße, daß er alles zu Eins machen würde, wenn ihm nicht Mannig-
faltigkeit gegenüberstünde (ausdrücklich so Met. j 2 1069 b 31).
Um diese Aktivität richtig zu verstehen, ist auf die in Met. H 6 und
Z 12 durchgefochtene These des Aristoteles zu verweisen (1045 b 3):
Das bestimmte Wesen ist sofort ein
Eins, wie es auch ein Seiendes ist. Denn Etil) VC . . . e'tccöTÖv tGTii ov Ti xal
sofort ist jegliches seiend und eins, nicht ^ ^ * &q fV ^ ß$ T& yav r ~
wie dem Seienden und dem Einen gat- , , •> £ , m '„ ;
tungsmaßig untergeordnet und nicht so, ' » * s ^
als ob diese beiden Begriffe neben dem TCC BxacSi cc.
Einzelnen abgetrennt bestünden.
(Für alles Nähere vgl. die ausführliche Interpretation „Zahl und Gestalt"
S. 141 ff. und das oben S. 147,17 Entwickelte.)
Der Widerspruch, der zwischen der einheitstiftenden Kraft des Nus
und dieser so stark betonten Gegebenheit des durch seine Formbestimmt-
heit bereits einheitlichen Wesens zu bestehen scheint, löst sich sofort auf,
wenn wir den Zusammenfall des Nus mit den vor^iä auch hier festhalten;
der Nus ist eben nicht nur erster Beweger des Himmels, sondern auch der
Physis — wir kommen nun allmählich dem Sinn dieser offenbar grund-
sätzlichen These der Theologia 1072 b 14 auf die Spur. Ist am Ende
Physis auch für Aristoteles die gegliederte Mannigfaltigkeit, wie sie in
den einzelnen vo^zä sich darstellt, in den unteilbaren Gestalten (döiaioeza
efdfj)? Soviel ist schon hier klar: wir sehen Aristoteles vor demselben
Handb. d. Phil. L D 12
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Problem stehen, das Platon zur Gleichsetzung des obersten und untersten
Gliedes der Diairesis geführt hatte. Wir haben oben S. 146 die eigentüm-
liche Bewegung von dem Eins und Seienden über die Stufen der Entfal-
tung geschildert, die bei Platon aus der Verflechtung der y£vq und efdq
das Atomon Eidos, das Erscheinende (tpatvdfitvov) entstehen läßt; wir
haben die Bedeutung der Hyle und der Zeit für das „(patveTcci" dar-
gestellt (S. 148). Wir müssen nun versuchen, auf der Grundlage dieser
platonischen Probleme und der bereits entwickelten Antworten des Ari-
stoteles zum Abschluß den Seinsbegriff seiner Metaphysik zu entwerfen
und zu zeigen, wie er das höchste abgetrennte göttliche Sein und das Sein 10
schlecht hin durch seinen iVwsbegriff zu umspannen suchte. „Die Wahr-
nehmung ist das Aufnehmende (dexrixor) für die sinnlichen Formen ohne
den Stoff" (de an. B 12 424a 17). „Der Nus ist das Aufnehmende für das
vorpdi 44 (d. h. für die ädiaiQtra, änXä, davv^era und die otiaCct) (Met.^/7
1072b 22, dazu oben S. 174,3). Nus und Aisthesis gehen also beide auf die
Form; die Aisthesis geht nicht etwa auf das e'vvhov eiöoc, das in der Hyle
verwirklichte, d. h. also einmalig existente Einzelne als solches, sondern
Aristoteles setzt hinzu „ohne die Hyle". Wahrnehmung hat hierin also
eine Ähnlichkeit mit dem Nus, der die reine, d. h. hyleheie Form denkt.
Sie hat mit dem Üiyelv und (pävai, den spezifischen Verhaltungsweisen 20
des Nus die noch wichtigere Ähnlichkeit: sie kann als Wahrnehmung
nicht falsch sein (de an. 427b 12 : r\ aYa&qtSiQ t&v löicov ä^l älij&rjc), als
Wahrnehmung des spezifisch Wahrnehmbaren. Was sind diese i'dia, das
Spezifische der Wahrnehmung ? Nicht ihre sinnlichen Data, sondern die
„Formen", die gestaltete Wahrnehmung, wie aus der obigen Definition
der Aisthesis hervorgeht. Wann hört der wahrnehmungsgemäße For-
mungsprozeß auf und wann beginnt ein anderer, der vom Nus ausgeht ?
Andrerseits gibt es „intelligible (porjrr) Hyle (Genaueres s. Zahl und Gestalt
132). Die in H 6 1045b 18 ausgesprochene These, daß der letzte
Stoff (tG%aTTi vht) und die Gestalt eins und dasselbe sind, gibt den 30
Schlüssel zur Lösung dieser Grundprobleme der aristotelischen Seins-
lehre. Grade für diese Begriffe ist die vereinfachte schulmäßige Form,
in die spätere Zeiten die Lehre zwängten, verhängnisvoll; es gilt in der
noch lebendig fließenden Gedankenbewegung der Schriften gewisse
Motive, gedankliche Triebkräfte im eigentlichen Sinn, herauszuholen.
i) Erste Hyle und letztes Eidos.
Als ein solches Grundmotiv ist die Relativierung der Hyle und damit
des Formbegriffes durchzuführen, und zwar Relativierung im strengsten
Sinne einer klar bestimmten funktionellen Beziehung eigener Art. Was
bezeichnet die noetische Hyle ? Die oberen Arten, y£vrj, der platonischen
Diairesis, allgemeiner alles das, an dem ein Übergang von Dynamis zu 40
Energeia möglich ist und festgestellt werden kann. Das Säugetier, das
ARISTOTELES
179
zweifüßige Tier usw. sind erst der Möglichkeit nach, dvvdfiti, das wirk-
liche Tier, das nun als bestimmtes dies da erscheint ( p a(v erat). In der
Sphäre der Wahrnehmung ist Lehm geformter Stoff, er selbst Stoff für
die geformteren Ziegel, diese für das Haus — wir würden die Reihe noch
fortsetzen : dieses wieder für eine geordnete Siedlung usw. Trotzdem würden
wir wie Aristoteles bei dem Hause einen gewissen Einschnitt anerkennen,
weil es unmittelbar einen Zweck erfüllt, weil es als Haus „gebraucht" werden
kann in einem anderen Sinne als der Ziegel. Die Lebewesen, Tiere und Pflan-
zen, geben, wie man oft gesagt hat, den Typus dieser Denkweise ab;
10 sie stellen als Wirklichkeiten ein Telos dar; nicht nur im Verhältnis zu
den höheren Arten, die Aristoteles als Bestandstücke ihres Wesens auf-
faßt, sondern in ihrem eigenen Dasein gibt es eine Reife, einen Höhe-
punkt der Formverwirklichung, dann Stillstand und Abstieg. Es ist be-
kannt, daß Aristoteles auch von den Kunstformen eine solche Reife an-
nimmt: f[ TQuywdia TfXoc £a%tv. Diese Ziele von Entwicklungen jeder Art
sind zugleich die Formen, als die sie erkannt werden können; wer ein
bestimmtes Tier recht beurteilen will, wer eine Tragödie richtig dichten
oder sie im Anhören recht „gebrauchen" will, muß dieses ihr Telos er-
fahren, sonst hielte er eine Raupe für ein besonderes Tier für sich, eine
20 archaische Tragödie oder eine überfeinerte nicht für das, was sie sind.
Die Bewegung von Dynamis zu Energeia und die Bewegung der Erkennt-
nis sind aufeinander bezogen und fallen ihrem Sinne nach in der Energeia
des jeweilig Wirklichen zusammen. Auf allen Erkenntnisgebieten kann
ein analoges Erfassen dessen, was eigentlich ist, was vorliegt, worauf
es ankommt, leicht genug vorgestellt werden; Wahrheit ist das Erfassen
eines Seienden, Wirklichkeit das Geschehen einer Wahrheit oder Rich-
tigkeit (ÖQ&ÖTTjc), manchmal vielleicht nur die Richtung auf sie hin wie
die Krüppelbildung ist und erfaßt wird auch in ihrem Sein durch das
Telos, auf das sie gerichtet ist, ohne es zu erreichen. Wenn damit Wirk-
30 lichkeit und Denken auf einen dauernden Übergang von Möglichkeit zu
höherer Vorgeformtheit in allmählicher Steigerung zum Telos und dem
Wiedervergehen zur Formminderung beruhen, so ergibt sich notwendig
aus dieser Bewegung die Frage nach den beiden äußersten Punkten dieses
hin- und herschwingenden Wechsels, hinter die zurückzugehen keinen
Sinn mehr hat.
Leicht ist der eine Grenzfall einer formfreien Hyle zu denken. Sie ist
zu charakterisieren als das in jedem Sinne Formlose, d. h. das, was in
keiner Kategorie erfahren werden, worüber schlechthin nichts ausge-
sagt werden kann; es kann als nichts angesprochen werden. Und doch
40 bleibt die Hyle auch in diesem Sinne ein unentbehrliches Moment; sie
bewirkt in der Wahrnehmung das „yaCvexai''' ; aber auch jeder Denk-
vorgang findet irgendwo und irgendwann statt; er ist auf diese Hyle be-
zogen ; abgesehen davon, daß in jeder Denkbewegung, die von einem Etwas
zu einem anderen geht, die einen Gedanken aus dem anderen „entwickelt",
D 12*
ISO
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
von der Dynamis zur Energeia führt, eine Hyle vorausgesetzt ist. Kurz:
Bewegung jeder Art braucht eine Hyle — und grade diese erste Hyle ist
in allen höheren Formen immer vorausgesetzt und mitgemeint; wäre
doch sonst alles eins, wenn die Hyle nicht der Form als Prinzip der Glie-
derung entgegenstünde.
Nun wollen wir versuchen, auch den Gegenbegriff einer ersten Form
aus der Relativierung des HyZe-jEidosverhältnisses abzuleiten, ihn nicht
nur aus der gesamten platonisch-aristotelischen Gedankenbewegung zu
verstehen. Frei von Hyle wird jedes Eidos gedacht und wahrgenommen;
es kann abgetrennt werden. Das oberste Eidos muß aber notwendig
frei von Hyle, d. h. der Bewegung von Dynamis zu Energeia entrückt
sein, also unbewegte pure Energeia: oftx tvdf^ttai äXlwc t%uv. Da frei
von Hyle, muß es abgetrennt sein, aber nicht „wie mit dem Beil abge-
hauen44, nicht losgerissen, sondern als „Idee" sich notwendig erzeigend
an der Grenze, am Peras demjenigen Seins, das uns Menschen in unserem
Denken zugänglich ist. Wir können logisch folgern, daß es ein solches
Sein gibt, und können noch eine Reihe weiterer Bestimmungen dieses
Seins mittelbar angeben. Wir müssen nur von dem uns zugänglichen Be-
reiche der Wirklichkeit ausgehen und sie nach ihren denknotwendigen
Voraussetzungen analysieren. Wir werden dann finden, daß unsere Wirk-
lichkeit als Mitte zwischen Extremen, zwischen Perata, „aufgehängt"
ist, von denen sie „abhängt" — in jedem Sinne.
Wir haben ein ausgezeichnetes Telos an dem Beispiel von Lehm-
Ziegel- Haus gefunden in den geformten Dingen der Wirklichkeit, die als
reine Formen gedacht werden, aber nur an dem konkreten Einzelnen er-
scheinen. Nachdem wir uns das Wesen der ersten Hyle klar gemacht
haben, sehen wir, daß grade dann der Formungsprozeß seinen höchsten
Grad erreicht, wenn nur jene erste Hyle übrig bleibt, wenn also die Form
in jeder Hinsicht den Stoff durchdringt und „durchgeistigt" und die Hyle
nur ihre Grundfunktion erfüllt, das Geformte jetzt und hier erscheinen
zu lassen. Diese Restfunktion der Hyle ist aber ungemein wichtig; an
ihr hängt mit der Verwirklichung des Nus auch seine innere Mannig-
faltigkeit ; wäre die Hyle nur eine, so wäre alles ein ungeteiltes Eins (s. o.
S. 163,36) ; in dem „hier und jetzt44 liegt also für Aristoteles auch die Man-
nigfaltigkeit, die Gliederungs- und Entfaltungsfähigkeit des Nus be-
schlossen, was sehr wichtig ist. Denn nun erhebt sich die Frage : kann die
Hyle sich selbst gliedern ? Wenn die letzte Hyle die Form ist, wann hat
das Eingreifen desjenigen Prinzips begonnen, das die Hyle bis an die
Form heran vorformt ? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort : dieser
Punkt ist wesensmäßig in keinem Falle zu bestimmen; die beiden Prin-
zipien der Form und des Stoffes durchdringen einander vollständig in
dem Übergang von Dynamis zu Energeia, den der erste Beweger in
Bewegung erhält. Dieser erste Beweger muß also grundsätzlich vor der
Entfaltung liegen, er muß reine Einheit sein, weil er sonst innerhalb
D
ARISTOTELES
181
jenes Wechselspieles von Hyle und Eidos stünde; er muß aber die ge-
samten Entfaltungsmöglichkeiten der voyrä immer vor sich haben, um
sie beherrschen zu können. Das heißt: er muß das Ganze der Wirk-
lichkeit denken.
k) Noesis und s yllogistis che Diano ia.
Wir denken das Ganze immer „monadisch46 von einem Hier und
Jetzt aus. Ein solches gibt es dort nicht, wo Aristoteles jenen Geist sich
als Beweger der Wirklichkeit denkt. Es gibt kein Hier mehr, also über-
haupt keinen Ort mehr (vgl. dazu B. Stenzel-Mugdan, 1. c. S. 13). Was
uns die Gleichsetzung von himmlischer Kreisbewegung mit einer Denk-
io bewegung zunächst so schwer verständlich macht und uns Anthropomor-
phismen vermuten läßt, fällt tatsächlich weg, wenn wir die aristoteli-
schen Gedanken zu Ende denken, wirklich bis an das „Ende44, wo Größe,
Raum und Zeit, als endliche Formen endlichen Daseins und Denkens
zurückbleiben und versagen. Aristoteles wollte, daß sie versagen; Raum
und Zeit, Hyle und Dynamis spannte er in einen logischen Zusammen-
hang, in dem sie sich an jener Grenze selbst aufheben und einem neuen
Sein weichen. Denn grade dieser Zusammenhang konstituiert das Ganze
des Seins, dessen Wesen nun freilich nicht mehr mit den endlichen Kate-
gorien ausgedrückt werden kann. So mußte eine Bestimmung des gött-
20 liehen noetischen Seins nach der andern fallen. Es bleibt nur die im
Selbstbewußtsein der Verwirklichungskraft erlebte Freude Gottes an
seiner einheitlichen, das Ganze der Welt in ihrer Wirklichkeit erhaltenden
Kraft. Das Gefühl ist nicht hier und dort, nicht gegliedert, nicht un-
mittelbar gegenstandsbezogen; es wird mittelbar gegenstandsbezogen,
sofern es Ausdruck der Verwirklichung, der Vollendung (reXeCwötc) ist.
Dieser Unterschied von mittelbar und unmittelbar fällt für Gott weg,
weil er ja immer in dem Zustand der erfüllten Energeia ist, weil er in
der Vollendung gleichsam steht — wenn Stehen nicht als Gegensatz zu
Bewegung verendlicht wäre. Aber das gilt gleichmäßig für alle die Worte,
30 in denen man eine Wesenheit, die „teillos, größenlos, ohne Erleiden44 ist,
bezeichnen mag; diese Wesenheit liegt jenseits aller Gegensätze, auch
jenseits des Gegensatzes von begrenzt und unbegrenzt, von ausgedehnt
und unausgedehnt, damit von v<n i6v und aioxJrjTÖv; sie kann nur
sich selbst denken, aber auch nur sich selbst erscheinen. Oatverai,
i6de Tt, voel und vosirai, tC iartv, to tI f^v sivai wird in dieser otiaCa
7Zi<vTih7)c odaa als Unterschied hinfällig und in einem uns unbegreif-
lichen Zusammenfall aufgehoben in einem Ganzen, das doch zugleich
die Voraussetzung für unsere Analysis dieser Bestimmungen darstellt.
Die voraristotelische Entwicklung dieser Gedanken ist behandelt worden. Ihre
4 0 Nachwirkung sei durch die Themen: coincidentia oppositorum, Ideenlehre Kants und
Hegeische Logik und Dialektik bezeichnet, vor allem aber durch die Monadologie in
allen ihren Formen, vgl. Zahl und Gestalt 119 ff.
Nun kann der eingeschränkte Anteil des Menschen am göttlichen Nus
m
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
bezeichnet werden. Aristoteles hat in der Schrift „über das Werden und
Vergehen'* B 10 336b 31 das Wesen Gottes dahin bestimmt, daß es die
.,\\ elt erfüllt", sie vollständig zu einem Ganzen macht. Wie ernst es ihm
mit dem vollen Begriff des ersten Bewegers ist, zeigt die Ableitung der
irdisch-wechselnden „Bewegung" des Entstehens und Vergehens von der
Ekliptik — cf. oben S. 165,48 — , während die Kontinuität des Werdens
und Vergehens, das avvty/c der Bewegung von der ersten kreisförmigen
</ oqü abhängig gedacht wird. Alle Physis strebt nach dem Besseren, und
Sein ist besser als Nicht- Sein; aber alles einzelne Sein steht weit ab von
dem vollendeten Sein des unbewegten Bewegers und der ihm zunächst 10
zugeordneten Kreisbewegung. Unser Denken ist angewiesen auf diese
Entfaltung, es kann aber alles Einzelne auf das Ganze beziehen. Grade
dann, wenn es das einzelne konkrete Wesen so erfaßt, wie es sich in
seiner echten Wirklichkeit, in seiner Energeia darstellt, ist das Denken
den royra nahe, nahe bis zur Berührung, zum Üiyetv, zum etpänTea^ai.
Von der göttlichen, alles umfassenden Energeia hat jegliches Seiende
sein Ziel, seine „Aufgabe" erhalten, die es erfüllen, auf die hin es sich ver-
wirklichen will. Der Mensch kann auf die verschiedensten Weisen mit
diesem Sein in Berührung kommen: wenn er erfaßt — gleichviel ob als
Dichter oder Betrachter — , was das Ziel der Tragödie ist, genau so, wie 20
wenn er ein Naturwesen richtig, d. h. so wie es in seiner Energeia ist,
„sieht", und sein Wesenswas denkt, oder wenn er ein Schiff, ein Haus
nach den Gesetzen seiner „Wirkungskraft" baut, also mit der Wirklich-
keit „umgeht". Und es ist das Merkwürdige, daß das Diessein (die
Essenz) jeglichen Dinges grade in seinem konkreten Da- sein (der Exi-
stenz) sichtbar wird und umgekehrt. Nicht nur etwa das Genie wirkt
wie Natur — so der moderne Philosoph. Nach Aristoteles entdeckt der
Dichter, ohne daß ihm deshalb ein besonderer Rang zugesprochen wird,
die Tragödie; sie ist da, weil sie immer da war (rb ti elvai), weil
die Natur in ihrer iVushaftigkeit ja selber zum „Besseren", d. h. zum 30
Wirklichsein alles Möglichen drängte. Der schaffende Nus noirputoQ
ist im Ganzen der Welt dauernd wirksam, und der Mensch kann an seinem
Sein Anteil gewinnen : er merkt im voeiv, daß er dies immer hätte meinen
können und sollen — , ja, daß er es immer gemeint hat, streng genommen.
Wenn er auch nicht „berührte", so war sein Denken doch auf dem Wege
zu dieser Berührung. Ist sie erfolgt, so kann der Mensch den Sinn, das
%i tax iv in dem iVus-erzeugten Sein aussprechen: cpävcu, ein bestimmtes
so-da- Seiendes in seiner gegebenen Einheit (s. o. S. 177,6) als solches an-
sprechen; voslv, (pdi^ai, -d-tyeiv sind Wechselbegriffe, die denselben Sach-
verhalt von verschiedenen Seiten bezeichnen. 40
Dieses voeiv — so sahen wir — ist implizit überall da, wo Wirklich-
keit erfahren wird1). Aber es kann und muß auch ausdrücklich geübt
]) Sokrates kann nach seiner Verurteilung fragen: ri ro&r to av/ußeßyxos, was hat
dieses Ereignis für einen Sinn, Plat. Apol. 40a. Die gegenständliche Seite des Nus
entspricht also durchaus dem Sprachbewußtsein.
D
ARISTOTELES
183
werden. Die ausdrückliche Ausübung heißt Theoria. Die Wege, zu ihr
zu gelangen, sind für den Menschen so mannigfaltig wie die Möglich-
keiten, zum voelv zu gelangen. Die Einheit des Nus bewirkt die Mög-
lichkeit, von einem Dinge zum andern zu gehen : das Wesensbegriffe ver-
knüpfende und sie auflösende Schließen. Innerhalb der syllogistischen
Bewegung werden die Haltepunkte gefunden, die im voelv erfaßt werden
müssen; sie liegen dem syllogistischen Denken wie jedem geistigen Vor-
gang zugrunde: näaa didatfxaXla xal Ttäcfa diavor]Tixri jtiä&qGic ix ttqovjt-
aQ%ovar]c, yivtrat, yv&aewq. Diese Gnosis kann und braucht nicht aus dem
10 diskursiven Denkprozeß herausgelöst zu werden, sondern sie ist in ihm
immanent. Ob der Nus das tC iariv der bestimmten Formen der e'xa&ra
erfaßt oder ob er die in den Axiomen ausgedrückten Sachverhalte be-
greift, es ist das voelv des Wirklichen, des Einfachen, „Unbewegten",
was der Bewegung des Geistes Ziel und Halt gibt ; der Nus ist das
Prinzip des Wissens.
Deshalb ist Theoria nicht schlechthin Denken, sondern Begegnung j
mit dem eigentlich Seienden. Während die Theoria Gottes eine wirklich \
einfache jzoaZic, äitlij ist (vgl. Nie. Eth. 1154 b 26), ist unser menschliches
roeiv dies nur in abgeleitetem Sinne; aber es ist ebenfalls Troähg, weil
20 es xQtfMS *st' Umgang mit Existentem. Wenn jede Tätigkeit (7TQä'£ig)
das Einzelne betreffend (ti€qI tö xaiP exaarov) ist, dagegen Wissen und
Kunstfertigkeit aufs Allgemeine gehen (Met. A 981a 17), so verleiht doch
die metaphysische, Aristoteles von Piaton scheidende Grundthese von
dem Seinsvorrang des avvoXov, der verwirklichten Form, dem voeiv eine
innere Beziehung zur nqa£ic, die in dem hier und oben herausgestellten
Sinne der Theoria zum Ausdruck kommt. Es sind die Probleme der
Urteilskraft, die hier zum ersten Male mit voller Deutlichkeit gesehen
sind und wie überall, wo sie überhaupt erfaßt sind, in das Innerste der j
Seinsprobleme hineinwirken.
30 Wenn die Durchführung dieser Gedanken im letzten Buche der Niko-
machischen Ethik (s. o. S. 170,8) bereits eine größere Hinneigung zum ßiog
&€WQi]Tixö'g im späteren Sinne zeigt, so mag das mit der Wendung des
aristotelischen Denkens zusammenhängen, die an jener berühmten Stelle
de part. anim. I c. 5 am deutlichsten ausgesprochen ist, der Wendung
von den ewigen unvergänglichen Wesenheiten zu den unscheinbaren
Gegenständen der naturwissenschaftlichen Einzelforschung, in denen
doch auch die Physis und ihre Schönheit zum Ausdruck kommt (645 a 23).
Der Zustand des Theologiebuches läßt uns einen wesentlichen Grund
erraten: grade die astronomisch-physikalische Seite der Theoria des ersten
40 Bewegers kam in Schwierigkeiten durch die im 8. Kapitel behandelte
Frage, ob für jede Sphäre ein solcher unbewegter Beweger anzunehmen
wäre. Wie die neuen Theoreme mit der Einheit der Welt, der Ganzheits-
bedeutung der ursprünglichen Konzeption ausgeglichen werden könnten
— diese neue Aufgabe hat Aristoteles nicht mehr lösen wollen oder
184 METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
können; jedenfalls wissen wir nichts davon. Die Nachwirkung der Theorie
von der göttlichen Einheit und von der Ganzheit der Welt hat gezeigt,
da 13 auch abgesehen von den physikalisch-astronomischen Problemen ein
dauernder metaphysischer Gehalt in diesen Gedanken lebendig ist. Dieser
sollte hier in seinen Motiven entwickelt werden.
V. DER AUSGANG DER METAPHYSIK DES
ALTERTUMS.
1. DER VERÄNDERTE WELT- UND ICHBEGRIFF IM
HELLENISMUS.
Die griechische Metaphysik wird von Anfang an von dem produktiven
Ausgleich religiöser und philosophischer Antriebe beherrscht. Die religiöse
Gefühls- und Tatbereitschaft ist auf Lichtung des Daseins, das heißt auf
Durchdringung alles Seins mit echtem Logos gerichtet, dieser umgekehrt
tief und weit genug, um alle Kräfte des Menschen in sich aufzunehmen.
Immer erfolgt der Anstoß zu einer erneuten religiösen Durchdringung
alles Seins von außen. Die erste orphische Welle wird von den vorsokrati-
schen Philosophien logisiert in verschiedenem Grade, am meisten in Par-
menides, der das Motiv von Einheit, Ganzheit und Geist zum unverlier-
baren Grundproblem der griechischen Philosophie macht. Den nächsten
Durchbruch des religiösen Motivs in der orphisch-pythagoreischen Periode
Piatons sehen wir im „Phaidon" und „Gorgias" bereits tief in den Kern
der philosophisch-metaphysischen Gedankenwelt vorstoßen. Die alte
Polis hatte in der ersten Periode griechischer Geistesgeschichte das
religiöse Motiv zu einer Staatsethik objektiviert. Die Idee des Guten
der platonischen Politeia bannt noch einmal das „Jenseits des Seins"
ins Vor- oder Überpersönliche zurück, und in den späteren Perioden der
platonischen Entwicklung hält die Weiterführung der Paideia über die
Polis hinaus zur objektiven Wissenschaft überhaupt die bereits aus-
einanderstrebenden Motive des Religiösen und Philosophischen in einer
noch echten Synthese zusammen. Im jungen Aristoteles lebte bereits jene
„hellenistische Religiosität"1), jene noch gesteigerte Haltung des Phaidon,
die zugleich ein neues Gefühl für das Konkrete bedeutete ; er zwang diese
Haltung in ein gegenständliches Denken hinein durch den unverrückten
Blick auf den ganzen vollen Piaton, in konsequenter Ablehnung der
letzten Phase und ihrer altakademischen Ausgestaltung, und darüber
hinaus sammelten sich in seiner Lehre die gegenständlichen Kräfte der
gesamten griechischen Vorzeit bis Piaton. So gelangte er zu einem Gottes-
begriff, der die höchste Steigerung von Logos und Nus war, wie er ja
aus deren höchster Anspannung sich ihm ergeben hatte, jenseits und ab-
getrennt, und doch Garant und Träger der einheitlichen ganzen Wirk-
2) S. o. Jaeger, bes. über das Gebet S. 163 ff.
D DER VERÄNDERTE WELT- UND ICH BEGRIFF IM HELLENISMUS 185
lichkeit, die durch keinen Chorismos innerhalb des Seienden — wie bei
Piaton — mehr zerteilt war.
Im Hellenismus erfolgte kein bloßer Einbruch einer religiösen Strö-
mung mehr, sondern ein breites Uberfluten. Der Zusammenhang der
älteren Orphik und verwandter Erscheinungen mit orientalischer Reli-
giosität ist dunkel; nun tritt die Vermischung westlichen und östlichen
Denkens und Fühlens ungehemmt und unzweideutig in die Erscheinung.
Schon die Akademie kann als ein Brennpunkt orientalisierender Be-
strebungen aufgefaßt werden (Jaeger 133); die böse Weltseele (Gesetze
X 896 e), vielleicht sogar die Schöpfungsidee (Reitzenstein, Studien
zum antiken Synkretismus, Teubner 1926 S. 35) sind bereits beeinflußt
vom Geiste einer fremden Religiosität — Aristoteles hält mit dem Blick
auf das Ganze der Philosophie beiden Lehren gegenüber an einer den
durchlaufenden Grundkräften des griechischen Denkens angemesseneren
Denkweise fest.
Die hellenistische Philosophie ebenso wie der griechische Geist in
allen seinen anderen Erscheinungsformen setzt dem Einfluß einer öst-
lichen Religiosität grundsätzlich keinen Widerstand entgegen. Es geht
nicht an, diesen Ablauf, der schließlich zur Ausbildung des Christentums
so Wesentliches beitrug, nur an der metaphyischen Leistung des Piaton
und Aristoteles zu messen und danach zu beurteilen. Wir haben der
attischen Philosophie ihrem Ideengehalte entsprechend einen sehr großen
Raum gewidmet; das darf darüber nicht täuschen, daß die attische Philo-
sophie in dem Gesamtstrome der griechischen Entwicklung einer Insel
zu vergleichen ist, an der dieser Strom sich teilt, ohne an Kraft und Breite
zu verlieren, um nachher wieder in noch größerem Flusse sich zu vereinigen,
weithin die Ausläufer jener Insel überspülend und die Zeitspanne eines
Jahrtausends umfassend, in dessen zweitem Teil die „Wende der Zeiten44
liegt. Die vorsokratische Philosophie setzte sich in der griechischen Natur-
wissenschaft, in der sogenannten Sophistik, in den sokratischen Schulen,
die deshalb einseitig sind, weil sie den sokratischen Anstoß in eine bereits
bestehende Gedankenbewegung aufnahmen, gradenweges in den helleni-
stischen Schulen fort. Die Entwicklung vom zenonischen Eleatismus über
Protagoras und die Megariker zum Skeptizismus, zuzeiten innerhalb der
akademischen Tradition mit einem Einschuß mißverstandener somati-
scher Elenktik, die Fortführung der atomistischen Physik und des
demokriteischen Lebensideals bei Epikur, die Reihe Gorgias-Anti-
sthenes-Kynismus, die Nachwirkungen Heraklits, des Diogenes von
Apollonia, überhaupt der gesamten vorsokratischen Tradition in der
Stoa, der in seiner Filiation noch unklare Neupythagoreismus — alles
dies erläutert das Gleichnis von Strom und Insel. Die vollkommene
Synthese der attischen Philosophie wirkte hierbei mehr oder weniger
nach, auf die Stoa stark, auf den Epikureismus so gut wie gar nicht.
Es ist klar, daß bei dem Festhalten an der ganzen Fülle philosophi-
m METAPHYSIK DES ALTERTUMS D
scher Vergangenheit der synoptisch-systematischen Kraft ganz besondere
Aufgaben erwuchsen. Auch in die Philosophie des Piaton und Aristoteles
war die Fülle der Vergangenheit aufgenommen worden, aber die Zu-
saminenf ugung zum Ganzen erfolgte in unaufhörlichem Ausgleich der
verschiedenen philosophischen Ansatzpunkte, in der Klärung der Sach-
verhalte selbst. Je weiter und erfolgreicher die Arbeit der großen attischen
Philosophie in dieser Richtung getrieben worden war, desto mehr waren
die Probleme zu einer gewissen Bestimmtheit geführt und eben „fertig"
geworden, was gewiß nicht eine endgültige Erledigung bedeutet und wohl
auch nicht von Piaton und kaum von Aristoteles so gemeint worden war. 10
Bei ihrer Bereitschaft und Kraft, die Fragen in lebendiger Bewegung zu
halten, sahen sie gewiß in viel höherem Maße sich immer noch als Su-
chende, als es ihren Nachfolgern erscheinen mochte. Diese faßten nun
dort, wo die Meinungen der Autoritäten sich zu widersprechen schienen,
ihre Aufgabe lediglich als ein Auswählen auf; sie griffen Einzelnes heraus
und stellten es mit Einzelnem zusammen; der Eklektizismus wurde die
gegebene Form dieser Periode. Die Verfestigung des Einzelnen wurde ver-
stärkt durch die sich immer kräftiger entwickelnden Wissenschaften,
deren Arbeit nur in der Richtung auf bestimmte Einzelerkenntnisse
liegen konnte. Das Differenzierungs- und Einteilungsbedürfnis der Wissen- 20
Schäften griff auf die Philosophie über; die Sonderbereiche der Philo-
sophie wurden voneinander getrennt, und die mit der Philosophie ge-
gebene Frage nach der Einheit des Seins mußte anderswo gesucht werden.
Denn die Frage des Einen und Ganzen ist aus der Philosophie nicht
wegzudenken. Symptomatisch und zugleich eine Bestätigung des oben
behaupteten Zusammenhanges der hellenistischen Philosophie mit den
kleineren sokratischen Schulen ist eine Einzelheit, ein Satz wie der des
Eukleides von Megara: „das Gute ist das Eine, das mit vielen Namen
genannt wird, bald heißt es nämlich Einsicht, bald Gott, und dann
wieder Vernunft und wie die sonstigen Bezeichnungen lauten" (Diog. 30
Laert. 2, 106). Nach rückwärts erinnert eine solche Denkweise an Herakli-
tische Motive, an sein Wort: „Eins, das allein Weise, will nicht und will
doch auch wieder mit Zeus' Namen benannt werden" (Diels I 12 B 32),
weiter an das Euripidesfragment oben S. 88. Diese Denkweise wird nun
in der Stoa wieder aufgegriffen und könnte das Motto für das spätere
Systembedürfnis und seine vereinfachte Befriedigung sein (Diog. Laert.
VII 135 a. Ende, Arnim Fragm. Stoic. I 102) : „Eins ist Gott und der Nus
und das Schicksal und Zeus, und es wird noch mit vielen anderen Namen
genannt."
Man vergleiche den in strengster begrifflich analytischer Arbeit gewon- 40
nenen TVwsbegriff des Aristoteles, um den Gegensatz zu ermessen: dort
die Ganzheit und Einheit des Seins die Aufgabe, für deren Lösung
jedem der physikalischen, astronomischen, noetischen, psychischen und
hyletischen Sachverhalte sein Platz in der Ordnung des Ganzen ange-
D DER VERÄNDERTE WELT- UND ICHBEGRIFF IM HELLENISMUS 187
wiesen wurde, hier einfach die These, daß den verschiedenen Namen ein
einheitlicher Sinn zugrunde liege, den man meine, wo immer man auf ihn
sich richte. Daß hier ein schweres Problem liegt und daß die Gliederung
des Verschiedenen am Einheitlichen nicht einfach auf die Worte abge-
schoben werden kann, weil Worte an sich nicht gliedern und erst dann
weiterhelfen können, wenn ihre einzelnen Bedeutungen auf einen einheit-
lichen Sinn bezogen werden, liegt auf der Hand, ebenso wie die problem-
geschichtliche Verflechtung mit dem eleatischen Einen und dem Anaxa-
goreischen öfiov närra, von dem Aristoteles so oft ausgeht, wenn er an
diese Sachverhalte herantritt. Wesentlicher aber ist, daß hier in diesen
naiv klingenden Sätzen sich das neue philosophische Prinzip ankündigt,
das in diesem hellenistischen Philosophieren zum ersten Male in noch
unvollkommener Form sich emporringt: jene Einheit des Meinens, die
hinter die entfalteten Bedeutungen zurückgreifen will, ist die Einheit des
Ich, die hier zum ersten Male den Kern der philosophischen Synthesis
selbst angreift.
Von hier aus gewinnt die gewiß unverkennbare Tatsache, daß der
Mensch, die Person als autarke Persönlichkeit, in ungleich höherem Grade
Gegenstand und Problem des hellenistischen Philosophierens ist, eine
neue Bedeutung; die Person wird nicht bloß Gegenstand des Philoso-
phierens — das war sie eigentlich längst — sondern sie wird „Prinzip",
&Q%r\, und damit tritt sie natürlich auch als Gegenstand, nunmehr als
Gegenstand philosophischer „Selbsterkenntnis" in ein neues Licht.
Das bedeutet keine Psychologisierung — am allerwenigsten dort, wo das Problem
des Geistes in dem der Seele so sichtbar bleibt wie bei Plotin. Grundsätzlich sei hier
bemerkt: eine Psychologisierung wird nie dadurch vermieden, daß man einfach von der
Verknüpfung jedes noch so „rein44 gedachten Bewußtseins, von seiner Personalunion
mit einem individuellen Ich absieht. Die Tatsache dieser Verknüpfung, also die konkrete
Situation jedes Bewußtseins muß im Gegenteil in jede Theorie mit eingehen, sonst
besteht die Gefahr, daß sich Anthropologisches an falscher Stelle einschleicht. Daß die
griechische Philosophie diesen Zusammenhang als ontologisches Problem von vorn-
herein im Blick hat, und deshalb grade zu ihrer vorbildlichen Gegenständlichkeit ge-
langte, wollte diese Darstellung in den Vordergrund stellen.
Wir haben im Verlaufe unserer Darstellung wiederholt betont, daß
die Entwicklung des Ichbewußtseins durch eine Reihe von Umständen
zurückgehalten worden ist (S. 109,26). Das zähe Festhalten an der Idee der
Polis, der „übersichtlichen" (Aristot. Polit. 1327 a 1), also in einem be-
sonderen Sinne erlebbaren politischen Gemeinschaft, hängt hiermit aufs
Engste zusammen. Schon bei Aristoteles entsprach diese Idee nicht mehr
der Zeit; was sich in den Schulen des Aristipp und Antisthenes längst
vorbereitet hatte, eine Auflösung dieser staatsethischen Bindung, be-
herrscht die Philosophie des Hellenismus weithin. Auch wo noch nicht
ein weltbürgerliches Empfinden hervortrat, vermochte die bloße Zu-
gehörigkeit zu weiträumigen politischen Gebilden das Gefühl der Autarkie
der einzelnen Person nicht einzuschränken; die kommunalpartikularisti-
188
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
sehe Gesinnung des hellenistischen Städters stellte keinen Ersatz für
das Vergangene dar. Die Problematik des platonischen „Politikos", die
den aufgeklärten Despoten gelten ließ, wenn er sich zum Träger staat-
lichen Normwillens und einer hinter diesem stehenden Sachsphäre
machte, wurde vereinfacht: der Herrscher, der große Mensch in seiner
Spontaneität ist eine letzte Gegebenheit, ist Prinzip. Wenn man sieht, in
welchem Sinne Epikur als „Meister" aufgefaßt wurde, so begreift man
die Wandlung des Personbegriffs auch in der Philosophie. Eine solche
Haltung veränderte auch das Verhältnis zu den früheren Philosophen und
ermöglichte schließlich die kommentierende deutende Tätigkeit, die Wis- 10
senschaft der Exegese, der methodischen Sammlung des überlieferten Be-
st andes. Die Kehrseite dieses Autoritätsbedürfnisses ist die Umdeutung
späterer Lehren als alte Tradition, schließlich die fälschende Nachliefe-
rung fehlender Bezeugung. Wie die höchste Idee der Persönlichkeit, der
Sehöpfergott, nun von jeder Bindung an vor ihm Seiendes befreit wurde,
haben wir oben S. 161,23 vorwegnehmend angedeutet.
Daß aus einer so veränderten Grundhaltung dem „Menschen" gegen-
über sich neue ethische und religiöse Möglichkeiten ergeben, ist klar, und
damit die Empfänglichkeit für aus anderer Sphäre stammende Reli-
gionen. Daß freilich auch noch andere Kräfte sich entwickeln können, 20
zeigt der Einfluß der hellenistischen Philosophie auf die Theorie der
römischen Staatsethik. Doch hier sei nur kurz auf die Folgen jener meta-
physischen Umlagerung der äg^rj ins persönlich ichhaft erlebte Subjekt
hingewiesen. Wenn die eigentlich klassische Haltung der griechischen
Metaphysik den Nus in der Welt für das Frühere vor dem Menschen
ansah und die innigste Durchdringung beider Seiten für die immer wieder
neu zu begründende Aufgabe metaphysischer Theorie hielt, so zieht jetzt
das Subjekt diese im Kosmos wirkenden Kräfte an sich. Die Folge ist die
Materialisierung der Gegenständlichkeit; erst von einer individuell per-
sönlichen Ichhaltung aus ergibt sich die wirkliche „Materie" — in wie ein- 30
geschränktem Sinne die platonische und die aristotelische Hyle dies war,
ist ausführlich gezeigt worden. Man hat bereits Parmenides als ersten
„Materialisten" bezeichnen wollen (s. o. S. 53): wir haben dies mit
der Begründung abgewiesen, daß die Trennung des Denkens von seinem
Gegenstande noch gar nicht so weit vorgeschritten war, um eine Schei-
dung zwischen einem Materialismus und Spiritualismus zu ermöglichen.
Nun tritt in der Stoa ein, was Piaton in der Schilderung der Giganto-
machie des Sophistes (s. o. S. 141,38) ausgeführt hatte: ein verfestigter
Seinsbegriff entsteht, freilich auch ein verinnerlichtes Ichbewußtsein.
Es treten Philosophen auf, die auch das Gute für ö&jaa, für materiell 40
erklären, weil es ja sonst nicht auf uns wirken könnte (z. B. Seneca ep.
106, 3 f.). Bei der Erklärung der höheren Materialität — Pneumal —
klingen Lehren des Anaximenes, des Diogenes von Apollonia (s. o. S. 77)
an; aber gegen alle materialistischen Motive werden wieder religiös-
D DER VERÄNDERTE WELT- UND ICHBEGRIFF IM HELLENISMUS 189
spiritualistische wirksam — das alles beweist nur, wie wenig die auf
neuen Erlebnismöglichkeiten beruhenden Nuancen mit sachlich wider-
sprechenden, aber aus anderen seelischen Bedürfnissen heraus aufge-
griffenen Lehrmeinungen früherer Philosophen wirklich ausgeglichen
wurden. Und nur zu viele geistige Bedürfnisse würden ja bei konsequen-
tem Materialismus leer ausgehen; deshalb gesellt sich paradoxerweise zu
allen Zeiten zu einer solchen Vorstellung von der Materialität aller Wirk-
lichkeit ein gefühlvoller Naturbegriff. Erst jetzt erhält „Physis" in der
griechischen Philosophie den charakteristischen Sinn, der sie dem gei-
stigen Tun der Menschen gegenüberzustellen, zugleich aber als eine Norm
aktiven Verhaltens aufzufassen zwingt. In Ubereinstimmung mit der
Natur zu leben, SfioXoyoVft&cog rrj yvaei, wird der ethische Leit-
spruch; damit verträgt sich merkwürdigerweise ein Mißtrauen gegen die
„natürlichen" Kräfte der Seele, die Affekte, die bekämpft werden müssen.
Für Piaton und Aristoteles konnte die Physis nie eine dem Handeln gegen-
überstehende Norm sein, weil die Physis in ihrem Sinne von vornherein
menschliches Verhalten unmittelbar umschloß. Es mußte erst zwischen
Natur und Ich ein Bruch eintreten, um dieses neue Verhältnis zu ermög-
lichen.
Die hier angedeuteten Sachverhalte bezeichnen ganz kurz einen
Symptomzusammenhang, der in sehr verschiedener Weise im einzelnen
Falle betont und gestaltet, ausgeglichen oder verdeckt sein kann. Daß
alles dies längst vorbereitet ist, ergibt sich aus den weit vor dem 4. Jahr-
hundert liegenden Ursprüngen dieser Entwicklung, die mit der allen
anderen griechischen Stämmen voraneilenden geistigen Differenzierung
der Ionier und ihrem großen Einflüsse auf alles griechische Wesen zu-
sammenhängen mag. Schon längst gab es Einzelwissenschaften, nun aber
erst erlangte das menschliche Bewußtsein den vollen Abstand von den
Dingen und von dem früher Gedachten. Es entstehen vor allem geschicht-
liche Wissenschaften, deren Sinn es ist, einmaliges individuelles geistiges
Leben neben der eigenen Individualität gelten zu lassen und in seiner
entschwindenden Einmaligkeit festzuhalten. Metaphysisch kann dies
alles auf den einen Mittelpunkt bezogen werden: die Verschärfung des
subjektiven Icherlebens. Die Rückwirkungen hiervon können ganz ver-
schieden sein: das Bild des Stoikers ist bekannt: des Epikureers Glücks-
suchen kann in Weltflucht bis zur Todessehnsucht oder in Langeweile um-
schlagen — eadem sunt omnia semperl — , der Skeptizismus kann zu sehr
verschiedenen Stimmungen des Ich führen: zu pessimistischem Zweifel
in die Entscheidbarkeit des eigenen philosophischen Fragens, in dessen
voller Beherrschung die attische Philosophie den Sinn menschlichen Den-
kens sah, oder zu verwegenem Selbstvertrauen in die Autarkie des eigenen
Ich, das sich infolge der gleichen Kraft (lüoa&iveict) aller einander wider-
sprechenden Aussagen auch durch keinen logischen Zwang mehr in seiner
Willkür beschränkt sieht.
190
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
2. PLOTIN.
Je tiefer in der gesamtgriechischen Entwicklung begründet der Ver-
lauf der ionisch-hellenistischen Philosophie aufgefaßt wird, desto größer
erscheint der bewußte Formungswille der attischen Philosophie und desto
bewundernswerter sein Erfolg. Diese Formungskraft der attischen Philo-
sophie bewährt sich am Ausgange des Altertums noch einmal im Neu«
plat onismus, genauer in dem letzten originalen antiken Philosophen.
Plotin konnte die Fragen des Piaton und Aristoteles lebendig vernehmen
und auf sie aus dem veränderten Geiste seines Zeitalters neu antworten.
Als Begründer des Neuplatonismus und Lehrer des Plotin gilt Ammonios Sakkas
aus Alexandria, Christ, dann wieder Heide; er hat keine Schriften hinterlassen. Sein 10
Ziel soll gewesen sein, Piaton und Aristoteles in Übereinstimmung zu zeigen — was an
sich nicht neu war; Antiochos von Askalon und Poseidonios können hierin ebenso als
Vorbereiter des Neuplatonismus gelten (vgl. die Arbeit von H. Strache über den
,.] Eklektizismus des Antiochus von Askalon", Philolog. Unters, ed. Kießling u. v. Wilamo-
witz, Berlin 1921, sowie Jaeger, Nemesios v. Emesa, Berlin 1914 II 1, der Poseido-
nios kurzweg den ersten Neuplatoniker nennt; dazu W. T heil er, Die Vorbereitung d.
Neuplatonismus, Problemata Heft 1 Berlin 1930; zu Poseidonios die oben S. 13 Zeile 18
genannte Literatur). Natürlich muß unter diesen Umständen eine vergleichende Dar-
stellung der platonischen und aristotelischen Gedanken für die Entstehung des Neu-
platonismus von Wichtigkeit sein. Die problemgeschichtliche Durchdringung der Be- 20
Ziehungen von Aristoteles und Piaton, wie sie oben versucht wurde, steht erst in ihren
Anfängen und wird grade für die präzise Erfassung der Lehren beider noch viel ergeben
— die Befürchtung, es könnte sich Piaton in Sokrates nach der einen und Aristoteles
nach der anderen Seite auflösen (Burnet), verkennt Absicht und Methode dieser ver-
gleichenden Interpretation. Jeder Schritt in der Erkenntnis grade des späten Piaton
wird in die Frage der Herkunft des Neuplatonismus eingreifen. Die folgende Betrachtung
will versuchen, das vorher Entwickelte für das Verständnis der Absichten Plotins
fruchtbar zu machen. Eine Auseinandersetzung mit der Plotinliteratur ist in diesem
Rahmen nicht möglich, ich verweise nur auf die Ausgabe von Brehier, Paris 1924, mit
französischer Übersetzung (im Erscheinen) und auf die deutsche Übersetzung von Har- 30
der, Philos. Bibliothek, von der bisher ein Band erschienen ist. Vgl. auch Härder,
„Antike" I 363 und V 53.
Plotin deutet Piaton und Aristoteles neu aus demjenigen Geiste, den
wir als hellenistisch auf ein Prinzip zurückgeführt und in seiner Gliede-
rung angedeutet hatten. Wir werden allen Motiven wieder begegnen und
bei der Entwicklung der plotinischen Hauptlehren auf sie hinweisen. Die
metaphysischen Grundgedanken des Piaton und Aristoteles, wie wir sie
gedeutet haben, erfahren alle eine neue Formung in dem Sinne, den wir
S. 5 bezeichnet haben. Die Prinzipien des Einen und des Guten werden
gleichgesetzt — sie besagen dasselbe; diese Gleichsetzung kennen wir von 40
Eukleides von Megara her; sie erscheint bei Plotin als bewußte Synthese
der platonischen Seinsidee und des platonischen Seinsbegriffes, der
Brennpunkte der beiden platonischen Entwicklungsperioden. Plotin wie
Aristoteles richten ihren Blick auf den ganzen Piaton — vielleicht sind
die Übereinstimmungen zwischen Aristoteles und Plotin primär daher
bestimmt und erst in zweiter Linie durch die Bestätigung dieser Synopsis
durch Aristoteles. Die anderen megarischen „Namen" des Einen sind
D
PLOTIN
191
Gott und Nus. Gott und das Gute schienen schon im platonischen
Staate sich einander anzugleichen. Der Nus aber wird ausdrücklich nicht
dem obersten Prinzip gleichgesetzt — also eine deutliche Abweichung
von Aristoteles, dessen Überlegungen über den unbewegten Beweger
freilich in jedem Worte Plotins über das Eins gegenwärtig sind und
damit zugleich die Problematik des Parmenidesdialoges, der wieder-
holt von Plotin geradezu kommentiert wird. Wenn Plotin bis auf Motive
des historischen Parmenides zurückgeht, so sehen wir ihn wieder in
Übereinstimmung mit Tendenzen des Hellenismus ; er kennt sichtlich auch
die wissenschaftliche Erklärungsarbeit an Piaton und Aristoteles mit
allen ihren Kontroversen. Wie Aristoteles Nus und Seele anders als Piaton
einander gegenüberstellte, so differenziert nun Plotin schärfer den sich
selbst denkenden, also mit der Zweiheit von votjtov und voelv wesens-
mäßig behafteten Nus gegen die oberste Einheit, der er freilich die Kraft
des ersten Bewegers durch die Gleichsetzung mit dem Guten zuspricht.
Die Seele, die Plotin mit Aristoteles deutlich gegen den Nus als dritte
Stufe abhebt, gewinnt bei ihm, indem die Physis als eine Art Seele auf-
gefaßt wird, eine so große Ausbreitung und Wichtigkeit, daß man diese
Problematik als Ausgangspunkt des ganzen plotinischen Systems an-
sprechen wollte (Heinemann, Plotin, Leipzig 1921; J. Theodorakopulos,
Plotins Metaphysik des Seins, 1928). Als unterste Stufe tritt die Hyle
nun hinzu; wie Aristoteles stuft auch Plotin die Hyle mannigfach ab,
nimmt eine geistige und eine sinnliche an — hierin schließt er sich eng
an Aristoteles an.
Dieses Schema erhält die spezifisch plotinische Prägung dadurch, daß
die individuell erlebte Ichhaftigkeit der Person nun den ganzen Bau
beherrscht — 6 iyw wird philosophischer Terminus — und jedem der
früheren Motive eine neue Färbung gibt, und zwar eine durchaus der
späteren europäischen Geistigkeit gemäße. Daher die ungemessene Nach-
wirkung Plotins. Bis in die Zeit Goethes und Schillers sah man alles
Platonische durch die Formung Plotins hindurch. Plotin ist zwar nicht,
wie sein Lehrer Ammonios Sakkas, selber durch das Christentum hin-
durchgegangen, aber die Formung des Ichbewußtseins, die, im Hellenismus
entstanden, im Christentum ihren entscheidenden Ausdruck gefunden
hat, die unmittelbar gefühlte in den Augenblicken höchsten Glückes wirk-
lich erlebte Gottverwandtschaft der Menschenseele ist das Grundproblem
des plotinischen Systems : Gott und Mensch nähern sich einander — aber
freilich beschränkt sich der Grieche auf die 6/iotco<fig ^w, auf die er-
strebte Gottwerdung des Menschen; die Menschwerdung Gottes tritt
nicht in seinen Gesichtskreis; es herrscht aber die Idee der Welt werdung
Gottes. So muß nun die urgriechische Beziehung von Welt und Mensch
eine besondere Kraft und Wärme erhalten; zugleich wird der Mensch als
Individuum in dieser Welt Problem. Ob es von der Individualität eine
Idee gibt — diese Frage wirkt bis in die letzten systematischen Über-
192
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
Legungen hinein; ist doch nun auch das göttliche Eine in seiner Einzigkeit
und Ganzheit begriffen.
Plotins Philosophieren ist ein inneres Gespräch der individuellen
Person Plotin mit den eigenen Gedanken, Denken als ein Gespräch „der
Seele mit sich selbst", wie es im Theaitetos und Sophistes hieß, aber aus-
gedehnt auf den ganzen Gehalt des sokratisch-platonischen Dialoges;
auc h die Sprache ist individuellster Ausdruck der im Augenblick erlebten
Sicht der Gedanken: La phrase de Plotin est une phrase parlee, oü les
nuances successives et les articulations de la pensee ne peuvent etre saisies
que gräce d une parole elle-meme nuancee (Brehier, Plotin Enneades, Bd. I 10
XXXVII).
Die Wirkung, die dieses Urphänomen des plotinischen Denkens auf
das Verhältnis der vier großen Seinsbereiche ausübt, also die innere
philosophische Form soll an der Gedankenfügung einer der umfassendsten
und abgeschlossensten Abhandlungen, n qv yvaeutc xal tieonoCaq xal tov
ivöq (III, 8) dargestellt werden; ihr Gedankengang liegt dem Folgenden
zugrunde deshalb, weil sie die plotinische Fassung der Theoria zum Aus-
druck bringt, in der auch bei Aristoteles mannigfache Motive zusam-
menliefen.
(c. 1.) Plotin beginnt scherzend mit der Paradoxie: Alles geschieht aus Theoria und 20
um der Theoria willen — auch der Scherz ist sinnhaft auf Ernstes bezogen, ist Theoria;
sie braucht also nicht immer auf der Oberfläche zu liegen; auch die Natur, die ohne
Vorstellung und ohne Denken ist, tut alles nur durch Theoria. (Wir heben hervor:
grade alles Handeln und Geschehen setzt Theoria voraus, die immer dort vorliegt, wo
ein ruhendes (Bleibendes) etwas in Bewegung setzt; also genau die aristotelische Auf-
fassung vom unbewegten Beweger, nur prinzipiell und allgemein gefaßt.)
(c. 2.) Ohne Werkzeuge schafft die Natur; sie braucht bloß die Hyle, an der sie ihre
Formkraft übt; diese Formkraft ist sinn- und gestaltgebend, Logos und Theoria; in-
dem sie wirksam ist, hat sie bereits die Hyle sinnvoll gestaltet, „logisiert", vkr\ ko-
yioif^oti. (In der Physis ist eine Stufenreihe von Logoi; der unterste Logos, der- 30
jenige, der sich endgültig verwirklicht hat, ist bereits tot, denn er erzeugt nicht
weitere Logoi aus sich. Je näher dem Ursprung, desto mehr Leben im Logos — die
aristotelische Abstufung von Hyle und Eidos, weiter ausgearbeitet und mit der diai-
retischen Stufenfolge des Seins bis zum Atomon Eidos herab verknüpft: alles was Ver-
bindung stiftet, ist sowohl das eine als das andere; „Parmenides", ^fr«|i'-Erörterung.)
(c. 3.) Wenn auch alle diese Begriffe sich berühren, so sind sie doch auseinanderzu-
halten; wenn eine Handlung (n^aiic) dem Logos gemäß sich vollzieht, muß dieser als
Besonderes von ihr abgehoben werden. Der in der Theoria gemeinte Logos, 6 loyoq
7f .Vm k^ ufVoc, ist selbst Theoria und erzeugt die späteren Logoi.
Diese entfernteren Logoi sind die in der individuellen Seele erlebten und die in der 40
Physis verwirklichten, das Ergebnis einer Theoria und eines, der sie ausübt, änoTtkeofxa
&€(ü(jiag xal Utmo^oaviog zivog. Gewiß kann die Physis über den Inhalt ihres Logos
und ihrer Theoria nicht forschen, oxon&o&ai; aber das ist grade ein Zeichen, daß sie
die Inhalte hat und nicht zu suchen braucht. Daher schließt sich (c. 4) ein Preis dessen
an, was an der Physis dadurch grade vorbildlich ist: sie schweigt. „Das Gewordene ist
Gegenstand meiner schweigenden Schau. Verstehe mich schweigend, aber frage mich
nicht", würde die Natur sagen, wenn sie nicht eben schwiege. Sie blickt nicht nach
oben und nicht nach unten; sie schaut nicht über sich, da sie einen so herrlichen und
liebenswerten Gegenstand der Schau erzeugt hat (die hellenistische Naturverklärung,
D
PLOTIN
193
verbunden mit der schöpferischen Weltseele des Timaios, in gewissem Widerspruch
zu den Hauptsätzen des Systems, wie das nächste zeigt).
Trotzdem gibt es eine höhere, kräftiger lebende Seele; von dieser ist diejenige Seele,
die als Natur sich in sich selbst fühlt und denkt, erzeugt worden. Im Vergleich zu
dieser höheren Seele, die ihre besondere Klarheit der Theoria hat, ist die Physis herab-
zusetzen. Wie die Menschen grade im Zustande einer Schwäche der Theoria, außerstande
den Sinn ihres Meinens in reiner Theoria zu erfassen und sich mit ihm zu erfüllen
(nkrjoovo&ca), zur Praxis übergehen, um doch den Sinn vor sich zu sehen, so ist auch
die Physis entweder Schwäche oder Folge der Theoria; Schwäche, insofern nichts mehr
1 0 weiter durch sie erfolgt, Folge, insofern sie ein Stärkeres über sich hat.
(c. 5.) Die höhere Seele mit ihrer Lernfreude und dem Sucherischen und ihrem
weiteren Erkenntnisdrang auf Grund der ganzen Fülle dessen, das sie bereits erkannt
hat, wird ganz zum „Gegenstand" der Theoria und bringt so aus sich ein anderes „Theo-
remo", eben die Physis hervor — wie die Techne im Meister ein dunkleres Abbild im
Schüler erzeugt, das nicht aus sich heraus weiterzeugen kann. Diese Seele verhält sich
stets in doppelter Richtung : sie blickt nach oben und verharrt so in ihrem Sein, während
sie nach unten ihre Kraft auf alles wirken läßt ; nichts entzieht sich ihr, alles nimmt an
ihrem Leben teil; sie könnte in jedem ganz sein, weil sie überhaupt nicht Größe hat,
deshalb strebt jedes über den Anteil, den es bis jetzt gewonnen hat, hinaus, um ihrer
20 ganz teilhaft zu werden (Platonischer Eros, Anspielung auf Symposion und Phaidros).
(c. 6.) Die Theoria wird nun näher in ihrem Verhältnis zum Handeln bestimmt;
alles Handeln meint ein Ziel, das wieder Gegenstand einer Theoria werden kann. Han-
deln geschieht also aus einem Sinnerlebnis heraus und will wieder zu einem andern
solchen führen; es will ein Gemeintes gegenwärtig machen. Also ist grade das, was
zwischen den beiden Theoriai liegt, schwächer, wertloser, und ist in der Theoria auf-
gehoben. Diejenige Theoria der Seele, die völlig in sich verharrt, die eins mit ihrem Gegen-
stande wird, in der jede Zweiheit überwunden ist — auch die von Erkennendem und
Erkanntem — , sie nähert sich bereits dem nächsthöheren Bereiche. Der in solcher
Haltung denkende ist bereits „vom Logos durchdrungen" (wie oben von der Physis
30 gesagt wurde: „tekoyiGwi"); er hat nichts mehr außer sich, sondern alles in sich.
(Das Verharren, [xsveiv, sich Sammeln, das es nicht nötig hat, sich nach außen zu
beweisen, aber grade dadurch weiterwirken kann — also das auf jeder Seinsstufe wieder-
kehrende Dynamis-I?raergeia-Verhältnis — wird hier sichtlich zum Erlebnis der
Dynamis; dadurch daß Plotin mit Piaton den Akzent auf die Einheit des noch nicht
entfalteten, aber die Entfaltungsmöglichkeiten in sich tragenden Seins legt, erhält die
Dynamis eine neue Wertbetonung, was gewisse Modifikationen der aristotelischen Meta-
physik nach sich zieht. Der Nus hat im allgemeinen griechischen Sprachbewußtsein
und daher auch bei Piaton und Aristoteles die doppelte Bedeutung von erlebtem
„Bewußtsein" \uvev vov, bewußtlos] — daher die Aktualität der Theoria — und von
40 Meinen eines bestimmten evidenten Sachverhaltes, vovg = rosTr ta rorjm. Nach der
ganzen Tendenz des plotinischen, hierin hellenistischen Denkens auf die personale
Erlebnissphäre hin wird die erste Bedeutung stärker als bei Aristoteles betont und damit
der Anwendungsbereich des Nus auf alles Erlebbare, also alles Seiende ermöglicht.
Damit stuft sich auch Theoria und Logos so ab, wie wir grade in unserer Abhandlung
sehen, daß der Logos von der Einheit bis zur „toten", d. h. nicht mehr weiterwirkenden,
nichts mehr unter sich entlassenden, keine Hypostasen mehr erzeugenden konkreten
Wirklichkeit alle Sphären begleiten kann.)
In Kapitel 7 tritt zur Bezeichnung der Hypostasen der uns aus Piaton wohlbekannte
Ausdruck des jui'juqjua auf.
50 (c. 8.) Der Unterschied der verschiedenen Stufen der Noesis, je nachdem auf ihnen
die „Einheit von Denken und Sein" mehr oder weniger erreicht ist, wird nun näher
beschrieben, wobei Leben (Cwtf) und Noesis in Beziehung gesetzt werden. Jedes Leben
ist eine Art Noesis, und eine Art Logos. Die uns bereits bekannten dunkleren
Arten der Noesis führen auf die Gegenvorstellung einer möglichst hellen ersten NoSsis,
Handb. d. Phil. I. ü 13
194
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
der ein „erstes Leben", wie bei Aristoteles, zugeordnet ist. Mit dauernder Verwendung
der Gedanken des platonischen Parmenides und des aristotelischen vovg vorjoetog führt
nun Plotin die Noesis bis an den Punkt des Überganges zum Denken des wirklich Einen
heran. Aber noch immer denkt die Noesis sich als lebendig, Denken und Leben ist
zwar eins, aber dies Eins ist eben doch dies Beides; und selbst wenn der Nus nur
das Eine denkt, so geht er doch im Denken über von dem Einen zum Vielen, „er merkt
gar nicht, daß er schon vieles gewordenist" (S. 272,5Mueller). In diesem Übergang wird
grundsätzlich die im Nus liegende Ganzheit bereits entwickelt: er ist schon nag geworden,
Allgeist, der überall und alles denkt. Nus involviert Allheit, also ist er bereits Nus
ravnuv, Geist aller Subjekte und aller Objekte. Wo gedacht wird, ist er ganz. (Der iO
Monadensachverhalt wird abgeleitet aus der Tatsache, daß im Nus Subjekt und Objekt
zusammenfallen, es wird also die Ganzheitsbeziehung des einzelnen Gegenständlichen
(Zahl und Gestalt 121) kombiniert mit der Unteilbarkeit des Geistes in allen indivi-
duellen Subjekten. Ohne seine Einheit zu verlieren, da er unzusammengesetzt ist,
wird der Nus „unendlich" — eine für Plotin charakteristische Eigenschaft des Nus.
Deshalb ist er noch nicht primär (nowTtog), sondern es gibt noch ein „Jenseits", ein
btixetva, das Eins zu der wesensnotwendigen Zwei heit, die eben im Nus festgestellt
wurde; darum ist das Eins weder das Gedachte noch der iVus, denn jedes von diesen
ist mit dem anderen zusammengejocht; der Nus ist immer im Durchgang, und zwar im
bereits vergangenen {ßv dif%6d(x> twv navuav . . . ov rfj die^iovaij, eckka rfj die&k&ovGt] 20
(273, 23); Aristoteles: voslv ist immer zugleich VBvorixivm).
(c. 9.) Das wirklich Eine muß nun nicht Durchgang, sondern Anfang (Prinzip) des
Durchgangs, nicht Leben, sondern kq^V des Lebens, nicht Nus, sondern <xQ/ij des Nus
und do^ri von allem sein; es muß vor aller Menge, vor aller^Entfaltung (einheitliches
Subjekt und einheitliches Objekt als wirklich eins) sein.
(c. 10.) Nun wird dieses &av[xci verdeutlicht durch zwei Bilder: die Quelle, die un-
versieglich Ströme entsendet (aivaog ovaia Piatons), und die Wurzel eines durch das
ganze Sein wachsenden Baumes. Wie die Einheit jedes Wesens, der Seele, des Alls, das
Ehrwürdigste ist, so die einheitlich in ruhiger Kraft verharrende Dynamis alles Seins.
Mit keiner der anderen Seinsbereichen angehörigen Kategorien ist es zu bezeichnen, 30
es ist nicht seiend, nicht Leben, nicht Nus usw. Nur durch den Einsatz schärfster Auf-
merksamkeit, noooßoky, und durch eine Zusammenschau des Großen in ihm mit dem,
was aus diesem Großen nach ihm sich ergibt, kann es erkannt werden.
(c. 11.) Da Plotin das Dynamis-jBnergeioverhältnis auf den Nus angewendet hat,
so ergibt sich für ihn notwendig auch ein ify/e-£ic?osverhältnis : Das Eine ist die Form
des iVus, der Archetypus zu der „Spur", dem Eindruck, der im Nus sichtbar ist: der
Nus ist gutartig; also ist das Eine das Gute. „Sprich aus: das Gute ohne etwas hinzu-
zudenken" (also das reine Erlebnis eines gemeinten Sinnes, von dem wir oben S. 187,13
bereits sprachen. Es klingt nach: das nowrov yikov -Motiv in der letzten Mangel- und
Bedürfnislosigkeit, wo alles Streben erfüllt, gesättigt ist; Wortspiel zwischen xooog 40
Sättigung mit der anderen Bedeutung Sohn, wie Piaton an der Plotin vorschwebenden
Stelle Staat VI 507 a mit roxog Zins und Sohn spielte). In hellstem Licht und Glanz
leuchtet im Einen der Schöpfer des royrog xoofxog (s. o. S. 160,36), dessen Sohn der ent-
faltete Nus ist; der Vater selbst ist noch vor jeder Entfaltung.
Diese Paraphrase sollte zunächst zeigen, wie sich Plotin den Übergang
der einzelnen Seinssphären ineinander denkt; er zerlegt jede Sphäre nach
Dynamis und Energeia, nach Stoff und Form; die „Relativierung" dieser
einander zugeordneten Begriffspaare ist durchgeführt. Auf ihr beruht der
Syndesmos des Systems. Plotin schildert hier den Aufstieg, dessen Motiv
das Suchen einer zunächst relativen Einheit „vor" der nach Dynamis 50
und Energeia, Stoff und Form sich zerlegenden niederen Stufe ist. Um-
D
PLOTIN
195
gekehrt beruht der Abstieg grade darauf, daß diese Einheit etwas „nach
unten" (1)7x6) heraussetzt, und zwar gehört dieses Heraussetzen zu ihrem
Wesen, es geschieht dauernd, sie muß also zugleich in ihrem Sein ver-
harren (bleiben, ptveiv). Zweitens sollte die Paraphrase die eigentüm-
liche subjektivere Färbung spüren lassen, die alle die platonischen und
aristotelischen Gedanken bei Plotin erhalten, und die sich nur an der
Darstellung selbst einigermaßen aufweisen läßt.
Dieser Aufweis mag ergänzt werden durch einen Blick auf die Be-
handlung des Zeitproblems neol alwvog xal %qovov (III, 7, bes. c. 11 und
12). Plotin beginnt mit den früheren Zeittheorien, besonders mit den pla-
tonischen und aristotelischen; aus der Sache, so sagt er in dem me-
thodisch wichtigen Einleitungskapitel, kann allein die Entscheidung ge-
troffen werden, welcher der früheren Weisen die Wahrheit gefunden hat.
Er kritisiert die „Zurückführung" der Zeit auf irgend etwas anderes,
auf Bewegung, Zahl und Maß, auch Bewegung des Himmels und deren
Maß, und versucht den eigentlichen Sinn von Zeit direkt zu erfassen.
Er sieht ihn durchaus in dem seelischen dUZodog, dem Weiterschreiten
von dem einen zum andern. Da Plotin die Natur als eine Seele auffaßt,
kann er unmittelbar an die Weltseele des „Timaios" anknüpfen, dessen
Aion- C/irorcos-kapitel von der allergrößten Wirkung auf Plotin und auf alle
spätere Zeittheorie gewesen ist (vgl. Leisegang, Die Begriffe der Zeit und
Ewigkeit im späteren Piatonismus, Münster 1915). Plotin deutet Piaton
so, daß die bewegte Himmelsordnung nur Verdeutlichung, Offenbarung
der Zeit sei; diese selbst aber sieht er in dem seelischen Prozeß sich voll-
ziehen. Es ist also aus jener ,, Verlebendigung" der Gedanken heraus die
Eroberung eines neuen Problemgebietes erfolgt. Plotin stellt das Erlebnis
der Zeit der sie messenden Bewegung des Himmels gegenüber und beginnt
damit das Phänomen Zeit zu differenzieren. Aristoteles mußte durch seine
Ablehnung der Weltseele diese Seite der Zeit zurücktreten lassen, und so
trifft seine Zeitdefinition (Zeit als Maß und Zahl der Bewegung) besten-
falls jene objektive gemessene Zeit, wobei Wesentliches bereits voraus-
gesetzt wird, jedenfalls nicht das ganze Phänomen erfaßt ist. Da Plotin
die ganze Stufenfolge des Seins von denselben Prinzipien des Nus und
der Seele durchdrungen werden läßt, so stößt er bis zum Zeiterlebnis der
Einzelseele vor, und grade an seiner Zeittheorie wird es deutlich, daß er
auch dort, wo er von der Weltseele zu reden scheint, das im engeren und
für uns eigentlichen Sinne Seelische, d. h. Bewußtseinsmäßige, le dyna-
misme interne de Vintelligence (Brehier III 125) stets im Blick hat.
So geht er (258,6) von der „nicht ruhigen Dynamis der Seele" aus: indem
sie ihre noetischen Inhalte nicht in jener Identität festhält, sondern ans
Einzelne heranbringen will, will sie nicht, daß das Denkbare ihr als Ganzes
gegenwärtig sei, und deshalb „zeitet" sie sich, £%QÖv(*)<sev iavrijv, und
fügt sich so der Welt ein und diese sich. Deshalb ist Zeit „Lebendig-
keit, der Seele in einer von einem Einzelleben (ßi'oq) zum
196
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
D
anderen übergehenden Bewegung" (258, 29). Von den Voraus-
setzungen des plotinischen Systems aus ist die Definition des Aion, der
ruhenden Zeit (Ewigkeit) mit einem Wort zu geben: es ist das Zeithafte,
das vor der entfalteten Zeit als ihr Prinzip zu denken ist, diejenige
„Gegenwart", die in jedem Zeitbewußtsein wesensmäßig gegenwärtig ist.
Hier sehen wir Plotin den Problemen auf der Spur, die uns heute
wieder erneut bewegen; seine Philosophie zeigt, wie der Geist der klassi-
sehen griechischen Philosophie sich mit dem Geiste eines neuen Zeitalters
in gegenseitiger Formung durchdringt. Aus der besonders lehrreichen Aus-
einandersetzung Plotins mit den Gnostikern und Christen (II 9) seien 10
zum Abschluß noch diejenigen Punkte kurz bezeichnet, an denen der
hellenische Instinkt Plotins sich gegen den Geist der Gnosis wehrt.
Erstens gegen die schrankenlose Vervielfältigung der Seinsstufen, die er
aus bestimmten Voraussetzungen in bestimmter Anzahl abgeleitet hatte.
Interessant ist hierbei eine gelegentliche Bemerkung, die das gegenständ-
liche Denken auch bei ihm noch wirksam zeigt; er lehnt eine weitere Ab-
stufung des Nus ab, weil es „kein anderes Denken ist, das denkt, daß es
denkt". Er läßt nur diejenige Reflexion gelten, die sich selbst im Denken
des Gegenstandes mitdenkt. Zweitens bekämpft er die Entseelung des
Kosmos : die elendesten Menschen sollen göttlich und unsterblich sein — 20
aber die in den Gestirnen und dem Kosmos wirksame seelische Kraft
nicht ? Also muß er auch für die Ewigkeit und Anfangslosigkeit der Welt
und gegen eine zeitliche Schöpfung kämpfen; und gar das Böse als den
Grund des „Abfalls des Ewigen ins Zeitliche" anzunehmen, ist ihm ärgste
Gottlosigkeit. Gewiß hatte er selbst stark den Unterschied zwischen dem
Dunkel der unteren Seinsstufen und dem Glanz der höheren betont —
aber für ihn ist das Dunkle und Schlechte eben das ^ b'v, der Schatten
des Lichtes und des Guten. Wie die Welt aus ihrem Wesen zum Guten
drängt, so steht dem Menschen bei aller Verstrickung in die Endlichkeit
seines irdischen Daseins immer aus eigener Kraft der Weg zu dem 30
Glänze und der Freude des Lebens im Geiste und in der Wahrheit offen.
Dies allein entspricht einer Ttsnaidev^^virj xal SfifieXtfq yvwöig, einer als
Selbsterziehung geformten und alle Kräfte des Menschen zur Einheit
stimmenden Erkenntnis.
Verbesserung.
S. 40, 29 ist die Lesung des Sextus: l'dev statt y&er einzusetzen.
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